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Gertrud Hermes – Rote Fahne in Not (1929)
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VI. Die Kraft.

I.

In dem Notquartier einer baufälligen Baracke gebar eine Arbeiterfrau ihren ersten Sohn.
„Wie soll er heißen?" fragte der Mann.
„Kämpfhart. Denn er soll für das Proletariat kämpfen, Aber es wird ein harter Kampf sein."
Kämpfhart sah in seiner Kindheit nichts als Stube und Küche, Hof und Straße. Mit der Schulklasse kam er manchmal ins Freie. Da lernte er Wald und Flur kennen. Als er herangewachsen war, verließ er die Eltern und ging in die Fremde.
Mit 30 Jahren kehrte er heim. Das war zu der Zeit, da der Unternehmer Hagenthal Diktator in Deutschland war. Seine Hand lastete schwer auf der Arbeiterschaft.

Am ersten Abend, da Kämpfhart in seiner Heimat wieder Arbeit gefunden hatte, ging er im Strom von zehntausend Arbeitern aus der Fabrik. Das Brausen der Masse umfing ihn. Da sprach eine Stimme in seiner Brust: „Packe ihre Hände zu Hunderten, zu Tausenden, zu Millionen! Reiße sie fort, wie man Kinder fortreißt, in einer Richtung,
gleichviel in welcher! Erspare ihnen die Wahl! Erspare ihnen die Verantwortung! Erspare ihnen das harte Los des Mündigen. Dann führst du sie zum Erfolg des Tages. Du bist ihr Held, ihr König, ihr Abgott. Die Führer werden sich vor dir beugen. Die Massen werden dich auf die Schultern heben." Lauter aber sprach die andere Stimme: „An ihrer Unmündigkeit ist die Arbeiterschaft zerbrochen! Hart ist der Weg, Kämpfhart. Einsam wirst du sterben. Doch größer als Leid und Tod ist das Wort, dessen deine Brüder bedürfen, das Wort von den zwei Wegen, von der Wahl, von der Schuld, von der Empörung und von der Kraft."
Am andern Morgen, als sie in der Fabrik beim Frühstück saßen, sprach ein Kamerad zu ihm:
„Ich wohne mit meiner Frau und fünf Kindern in einer Stube. Die Kinder haben nur ein Bett. Was soll man da machen?"
„Kämpfe in den Reihen deiner Klassengenossen als Klassenkämpfer."
„Wenn du weiter nichts weißt!! Der Kampf ist aus. Hagenthal ist unser Herr. ,Klassenkampf — das ist die Ideologie der Vergangenheit!"
„So gehe hin! Iß Hagenthals Bettelsuppen! Ersaufe dein Leid in seinen Kinos und seinen Kneipen!"
„Das will ich tun!"
Ein junger Bursch kam zu Kämpfhart.
„Jetzt hab ich ausgelernt. Morgen fliege ich auf die Straße. Denn der Lehrling von 17 Jahren ist billiger als ich, und man presst aus ihm soviel heraus wie aus mir. Die Mutter daheim liegt krank. Sie kam in die Wochen und hatte nicht mehr die Kraft dazu. Wir sind unserer neun, Was soll ich tun?"
„Du musst kämpfen! Du musst jede Minute deines arbeitslosen Daseins nutzen, um dir die Waffen für den Klassenkampf zu schmieden."
„Ich wollte schon kämpfen. Aber die Arbeiterbewegung ist in zwei Lager gespalten, der eine sagt rechts, der andere
sagt links. Der eine sagt heute, der andere sagt morgen. Dieser Zwiespalt hat den Kampf zugrunde gerichtet."
„Er hat ihn nicht zugrunde gerichtet. Er hat die Arbeiterschaft gespalten, auf dass sie lerne, die Entscheidung des Mündigen zu treffen."
„Das verstehe ich nicht. Sage mir lieber, wo soll ich kämpfen? In die Organisationen mag ich nicht gehen. Dort regieren die Alten und die Festbesoldeten und die, die es werden wollen."
„Gehe hinein und kämpfe! Kämpfe in den Verbänden für deine Genossen aus der Fabrik und auf der Straße. Wenn aber die Alten und die Festbesoldeten und die, die es werden wollen, sich dir entgegenstellen, so kämpfe auch gegen sie!"

„Du führst sie in die Irre", sagte ein alter Arbeiter, der neben Kämpfhart an der Drehbank arbeitete. „Sie müssen als treue Glieder in die Verbände gehen — nicht als Spalter." „Spalter sollen sie nicht werden. Aber sie müssen wissen, dass der Weg in den Verbänden voller Fußangeln und Fallstricke ist. Sonst sind sie enttäuscht und brechen ab, kaum dass sie angefangen haben." „Warum greifst du die Festbesoldeten an?" „Sie tragen den kapitalistischen Geist in die Bewegung." „Es gibt ihrer viele, die rechtschaffen sind." „Das weiß ich. Es geht mir nicht um die Person. Unsere festbesoldeten Genossen sind nicht besser und nicht schlechter als wir alle. Das System steht zwischen uns und ihnen." „Was meinst du damit?"
„Weißt du nicht, dass das geistige Sein einer gesellschaftlichen Schicht unter dem Einfluss ihrer wirtschaftlichen Lebensbedingungen steht?!" „Ja, das hat uns Karl Marx gelehrt!" „Wirtschaftlich gesehen stehen die Festbesoldeten auf der Plattform des Kapitalismus." „Warum?"
„Das Kapital gewährt dem Bürger eine sichere Rente. Die
Arbeiterschaft ist der Gegenpol. Ihre einzige Sicherheit ist der Tod. Weil denn die Festbesoldeten auf der wirtschaftlichen Basis der sicheren Rente leben, so unterliegen sie auch dem Geist der sicheren Rente. Darum: Sie mögen so rechtschaffen sein, wie sie wollen — sie tragen den Geist des Kapitalismus in die Bewegung. Doch das Wort gilt nur von dem Ganzen der Klasse, nie von dem Einzelnen. Dass der einzelne sich über seine Klassenlage erheben kann — das hat Marx gelehrt."
„Sie werden dich vernichten."
„Das können sie nicht. Sie können mich nur totschlagen. Mögen sie es tun!"
„Du siehst es einseitig. Was die Festbesoldeten von ihren handarbeitenden Brüdern trennt, ist nicht nur die Festbesoldung. Sondern als leitende Genossen erfahren sie, dass die Politik nicht so einfach ist, wie der Prolet es sich denkt."
„Das ist richtig. Um so mehr müssen wir die Festbesoldung bekämpfen. Sie zerstört die Gemeinschaft zwischen Führer und Masse. Sie hindert, dass die Masse an die umfassendere Einsicht des Führers glaubt. Die Masse sieht nur seine gesicherte Existenz. Die Festbesoldung zerrüttet die Bereitschaft der Masse, vom Führer zu lernen."
Andere Arbeiter kamen zu ihm. Sie klagten ihm ihre Not. Doch er tröstete sie nicht. Sondern er verwies sie auf den Kampf. Bald kannte ihn das ganze Werk. Es bildeten sich zwei Parteien. Die sprachen, wie die beiden Arbeiter gesprochen hatten. Die einen sagten: „Der Kampf ist aus!" Das war die Mehrzahl. Die andern sagten: „Der Kampf ist nicht aus, aber er ist verwirrt."
„Aus der Verwirrung sollt ihr lernen", antwortete ihnen Kämpfhart. Aber sie verstanden ihn nicht.

Eines Abends, als er aus der Fabrik heimging, gesellte sich ein junges Weib zu ihm:
„Du forderst den Kampf, Kämpfhart. Aber gibt es einen Kampf ohne Hass? Und sollen wir hassen?"
„Ja! Wir sollen hassen! Wir sollen die kapitalistische
Ordnung der menschlichen Gesellschaft hassen. Wir sollen auch ihre Träger hassen." „Ich mag keinen Menschen hassen." „Wir sollen die Feinde auch nicht als Menschen hassen, sondern weil sie den Arbeiter ausbeuten. Als Menschen sind sie unsere Brüder. Wir müssen sie lieben und hassen zugleich."
„Das können wir nicht!"
„Doch! Das können wir. Das tun wir schon heute. Stellt sich der Kapitalist der Befreiung des Proletariats engegen, dann müssen wir ihn hinwegfegen — wenn nicht anders, so mit Gewalt. Fällt aber sein Kind vor unsern Augen ins Wasser — springt da nicht jeder Prolet hinzu und rettet es bei Gefahr seines eigenen Lebens?" „Ja, das tun wir."
„Also können wir lieben und hassen zugleich." „Das ist schwer!"
„Ja! Schwer ist es! Aber es ist das Kernstück. Immer beides zugleich: Den Hass und die Liebe, das Tief und das Hoch, das Schwarz und das Weiß — und doch kein Wirrwarr und auch kein Ausweichen."

*

„Der Mann muss raus!" sagte der Vorsitzende des Betriebsrates. „Er weckt den alten Kampfgeist. Wir hatten ihn glücklich eingelullt. Die Arbeiterschaft muss sich ducken und schweigen. Dafür bin ich da!" Kämpfhart bekam seine Papiere. Nun ging er stempeln. In dem großen Hof des Arbeitsnachweises lungerten die Arbeiter herum zu Dutzenden, zu Hunderten. Kämpfhart sprach zu ihnen, wie er in der Fabrik gesprochen hatte. Sie antworteten, wie sie in der Fabrik geantwortet hatten.
Doch einige waren, denen ließ Kämpfharts Rede keine Ruhe.
„Wir wollen wissen, was du eigentlich meinst", sagten sie.
„Wollt ihr noch kämpfen?"
„Ja!"
„So kommt, dass ich euch sage, was das Kernstück ist."
Es war am Abend. Er ging mit ihnen in eine Kneipe. Sie setzten sich in ein Hinterzimmer, wo sie allein waren. Da legten die Arbeiter die Arme breit auf den Tisch. „Nun rede!"
„Genossen! Klar ist das Ziel! Wir alle wollen das Reich der Freiheit, von dem Friedrich Engels spricht."
„Ja", sagte ein junger Bursch. „Da sollen die Fabriken und der Boden und die Eisenbahnen und die Banken nicht einigen wenigen gehören, sondern allen."
„Das wissen wir auch", sagte ein anderer. „Aber Marx hat uns zwei Wege gezeigt, die zu dem Reich der Freiheit führen: Den Endkampf und den Kampf auf dem Boden des Bestehenden. Und die Arbeiterschaft ist zwei Wege gegangen. So ist der Zwiespalt in unsere Bewegung gekommen!"
„Tue ich das eine, so verlasse ich das andere; tue ich das andere, so verlasse ich das eine", sagte ein dritter. „Daran ist die Bewegung gescheitert", ein vierter. Da sprach Kämpfhart mit starker Gebärde: „Genossen, so ist es. Das wissen wir alle. Nun aber ist der Augenblick erschienen, da diese Schwäche des Proletariats in Kraft verwandelt werden soll. Dazu ist die Schwäche gekommen. Sie weist den Weg in ein neues Land." „Wie das?"
„Sie weist uns in die Tiefen des Lebens, die immer da sind, die aber heute erst sich dem Arbeiter auftun." „Wie das?!!"
„Seht Ihr denn nicht, dass die Bewegung in ihrem heutigen Stande das Handeln des Mündigen von der Arbeiterklasse fordert? Vordem waren wir Unmündige und Knechte. Nun aber sollen wir Mündige werden." „Weshalb waren wir Unmündige?"
„In den Anfängen der Arbeiterbewegung trug die Klasse als Klasse keine Verantwortung für das Ganze. Sie wurde regiert. Sie stand abseits, wie das Stiefkind abseits steht. Man misshandelte sie, wie man ein Stiefkind misshandelt. Darum konnte sie zu allem, was die andern taten, nur ,nein'
sagen. Das ging bis zur Jahrhundertwende. Da begann das Neue sich zu regen wie das Kind im Mutterleibe. Der Krieg kam. Im August 1914 pochte zum ersten Mal die verantwortliche Entscheidung an das Tor des Proletariats. Das war die Wendung. Die gesellschaftliche Notwendigkeit schlug um in geistig-seelischen Kampf, die Dialektik der gesellschaftlichen Bewegung in die Dialektik des sittlichen Handelns. Sie traten in ein neues Stadium, wie das Kind, wenn es aus dem Mutterleib tritt. Sie erschraken. Eilends sagten sie ja. Hernach gereute es sie. Sie zitterten vor der verantwortlichen Entscheidung, wie jeder vor ihr zittert, wenn er sie zum ersten Male fällen muss. Da packt uns die Angst. Denn wir ahnen, dass wir schuldig werden. So oder so — wir handeln unrecht.
Die Revolution trieb die Entwicklung weiter. Schärfer und immerwährend ward der Konflikt, wirrer der Kampf des Proletariats. Denn die Revolution, und was auf sie folgte, brachte das besondere gesellschaftliche Kräfteverhältnis jener Tage hart zum Ausdruck. Hie die Macht des Kapitals, hie die Macht der Arbeit. Alles halb und halb. In dieser gesellschaftlichen Lage trat die Zwiespältigkeit alles Handelns stärker hervor denn je. Sie ward die Signatur der Zeit. Sie gab der Epoche das Gepräge. An ihr zerbrach das Proletariat. Es vermochte nicht das Sowohl—Als auch zu fassen. Die einen wollten den Endkampf, die andern den Erfolg des Tages. Darum wurde die Verwirrung noch größer, als sie 1914 gewesen war. In dieser Verwirrung hat Hagenthal gesiegt. Aber sein Sieg kann nicht von Dauer sein. Denn der Arbeiter ist nicht ein toter Hund. Er kämpft jeden Tag seinen Existenzkampf von neuem. Darum wird er auch den Kampf des mündigen Menschen aufnehmen." „Erzähle uns von diesem Kampf!"
„Die Erkenntnis von der Zwiespältigkeit alles Handelns empört den Menschen. Das ist das erste Stadium. In dieser Empörung stößt der Mensch zum ersten Mal auf die unzerspaltene Tiefe des Lebens. Er sucht, er fordert sie, auch wenn er nichts empfindet, als den Zorn über die Zwiespältigkeit.
Denn er will ihr Gegenteil! Darum ist die Empörung der Anfang. Wir fluchen der unbekannten Macht, die uns den Stachel des Zwiespalts gegeben hat."
„Wer aber wird uns aus dieser Wirrnis befreien?"
„Befreiung wird kommen aus jenem Willen, der den Stachel dem Menschen gegeben hat, dass er Mann werde und nicht Kind bleibe. Denn die Kinder wissen nicht, was Schuld ist. Der Befreite aber, dessen Stachel gelöst ist, wird von dem Unschuldigen soviel verschieden sein, wie der Mann vom Kinde. Das Kind ist froher. Aber der Mann kennt die Höhen und Tiefen des Lebens."
„Wir verstehen dich nur halb. Erkläre es uns genauer! Wie werden wir von dem Stachel befreit?"
„Das erklärt man nicht. Das gewinnt nur im Symbol Gestalt. Noch haben wir deren keine. Ist erst zu vollem Durchbruch gekommen, was wir heute nur dunkel erleben, dann wird es auch seine Form gewinnen. Aber man scheue das Wort. Schweigen ist wesentlicher als Worte! Hat uns doch Marx unwiderruflich gelehrt: Jedes Zeitalter hat seine Worte, und alle Worte sind vergänglich. Wer Marx versteht, der ist für immer von aller Gläubigkeit an den Wortlaut befreit. Aber es verstehen ihn nur wenige. Am wenigsten die, welche aus seinen Worten einen Katechismus machen! Nur das eine vermag ich zu sagen: Unser Weg aus dem Zwiespalt zur neuen, reiferen Einheit, aus der Schwäche zur Kraft, aus der Enge zur Fülle des Unendlichen wird nicht Reue, Buße und Zerknirschung sein. Es wird ein Erlebnis der Kraft sein, nicht der Schwäche. Es wird ein Erlebnis der überschwenglichen Liebe sein. Wir werden vor der unbekannten Macht des Lebens unrecht haben wollen, wie man vor dem geliebtesten Menschen nicht recht, sondern mit Freuden unrecht hat. Wir werden ihr unser ,Recht' zu Füßen legen, wie man dem geliebtesten Menschen sein Recht zu Füßen legt. Und das Bewusstsein, immer unrecht zu handeln, wie wir auch handeln, wird zum Wegweiser des Irrenden werden, zur höchsten Freude des Irrenden und zur
unzerstörbaren Kraft des Irrenden, den ein gütiger Wille wollte und werden ließ und trägt." Da versanken sie in tiefes Sinnen. Dann sprachen sie: „Kämpfhart, deine Worte klingen fremd für den Proleten. Aber wir wollen es bedenken, was du das Kernstück nennst, und dich weiter fragen."

Schon am andern Tage, als er durch die Straße ging, hielt ihn einer fest: „Laß uns zusammengehen! Ich muss mit dir reden." Und sie gingen zusammen. Der Arbeiter sprach: „Du sagst: Man scheue das Wort. Wie aber sollen wir das Erlebnis der Kraft verkündigen, wenn wir die Worte meiden?"
„Wir werden es in unsern Häusern, unsern Brücken und Bahnhöfen aussprechen. Wir werden es in unserer Musik erklingen lassen. Unser Essen und Trinken wird es verkörpern. Unsere Kleidung wird es versinnlichen. Im Wirbel unseres Tanzes und in der Würde unseres Schreitens wird es leben. Es wird in unseren Flugzeugen rauschen, in unsern Maschinen surren. Forst und Flur werden danach geformt werden. Unsere Wissenschaft wird in diesem Zeichen stehen. Das Verhältnis von Mann und Weib, von Vater und Sohn, von Freund zu Freund, von Staat und Einzelmensch wird daran Gestalt gewinnen." Der andere sprach:
„Alles, was du da nennst: Häuser, Brücken, Bahnhöfe — das hat alles sein eigenes Wesen und muss sein eigenes Wesen haben. Wie soll es aus dem Erlebnis der Kraft gestaltet werden?"
Kämpfhart antwortete:
„Wenn der Holzarbeiter auf der Werft kostbare Täfelungen in den Luxusdampfer einbaut, so hat seine Tischlerarbeit ihr eigenes Gesetz. Er muss es kennen. Es ist bedingt durch das Wesen des Holzes, der Werkzeuge und durch den Zweck der Täfelung als Teil des Dampfers. Aber die Täfelung ist nicht nur das sinnlich-sichtbare Produkt der Holzarbeit. Sie hat noch ein anderes Wesen. Sie spricht, sie be-
kennt. Sie legt davon Zeugnis ab, dass einige wenige genießen und alle anderen ausgebeutet werden. Sie ist der Ausdruck der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die weder Freiheit, noch Gleichheit, noch Gerechtigkeit kennt. Damit ist sie bezogen auf das Unbedingte, das mannigfaltig erscheint. Dem Arbeiter aber offenbart es sich nicht im feurigen Busch, oder in der Regenwolke, sondern in der Forderung seines Gewissens nach Freiheit, nach Gerechtigkeit, nach Solidarität. So hat jedes Ding einmal sein eigenes Wesen, das in Bedingtheit sich erfüllt. Dieses eigene Wesen genau kennen zu lernen, es rein zur Auswirkung zu bringen — das war der Sinn des kapitalistischen Weltalters. Als unvergängliches Erbe haben sie uns das Wissen und Können davon hinterlassen. Doch jedes Ding hat nicht nur sein eigenes bedingtes Wesen. Es ist zugleich unaufhebbar auf das Unbedingte bezogen."
„Wie das?"
„Dreifach ist die Weise. Es kann tot sein für das Erlebnis der Kraft. Dann ist es auch in sich tot. Es kann ihm feindlich sein; es kann versöhnt in ihm ruhen. Der Kapitalismus, der den Luxusdampfer baut, ist für das Erlebnis der Kraft gestorben. Mit der Empörung stehen wir heute in der Feindschaft. Aber unser Weg wird von Feindschaft zu Versöhnung führen. Doch die Versöhnung ist kein Ausruhen. Auch sie ist Kampf, aber Kampf auf einer anderen Ebene. Sie ist der Weg aus der Nähe zur Ferne und aus der Ferne zur Nähe — von Leid zu Freud und von Freud zu Leid. Und der Rhythmus dieser Bewegung wird stärker schwingen als alles, was die Menschheit jemals erlebt hat. Es wird die Geschichte der Menschheit sein, indes alles Frühere nur ihre Vorgeschichte war."
„Lehrst du das Jenseits?" fragte ein anderer. „Welches Jenseits meinst du?"
Er sann ein wenig nach. Dann sagte er: „Das Jenseits des Todes?"
„Von ihm weiß ich nichts."
„Oder das Jenseits des Himmels?"
„Von ihm weiß ich auch nichts."
„Trotzdem! Wer an das Unbedingte glaubt, der sieht das Leben irgendwie doppelt."
„Du hast recht und unrecht zugleich. Du hast recht, wenn du sagst: Das Unbedingte ist anders als alles andere. Es hat sein eigenes Wesen. Aber zugleich ist es in allem andern als der Grund, der alles trägt, als der Rand, der alles umfängt, als der Odem, der alles durchdringt. Und wenn wir es also fühlen, in allem, was da ist — — mögen wir dann den Namen vergessen, und die Worte und die Formen und das Diesseits und das Jenseits — — — — — — Denn es ist
das Schweigen."
Doch der andere sah zweifelnd zu ihm auf. Da sprach Kämpfhart:
„Muss ich es denn mit dürren Worten sagen? An das Jenseits, wie die alte Zeit es sich dachte, glaube ich nicht. Das Jenseits erfüllt sich für unser Lebensgefühl im Diesseits. Das Unbedingte im Bedingten."

Wiederum sprach ein Arbeiter zu ihm:
„Was du lehrst, ist ein Glaube. Wir aber haben allen Glauben abgetan. Die Arbeiterschaft hat ihn von jeher verflucht!"
„Du irrst! Sie hat nur die Rute begeifert, mit der die andern sie schlugen. Eingehüllt in das Unbedingte, lebte sie noch in dem Zustand der Unschuld. Treu und kindlich glaubte sie an ein heiliges Walten, das eines Tages Unrecht in Recht verwandeln werde, an ein seliges Reich auf Erden, wie es die Menschheit von jeher getan hat, an das Wunder
der Erlösung—"
„Du redest irre!"
„Nein. Ich nenne es nur mit anderem Namen, als sie es nannten. Was tun die Worte? Die Arbeiterschaft sprach von Endreich, klassenloser Gesellschaft. Andere Zeitalter nannten es das tausendjährige Reich, oder das Reich der Vernunft, oder das Reich des ewigen Friedens. Die Arbeiterschaft glaubte an das Wunder von dem neuen Menschen — andere nannten es Erlösung. Sie glaubte an das Gesetz des gesellschaftlichen Lebens, dem der menschliche Wille nicht widerstreben solle — andere nannten es: Gott und Sünde -----------------------------Was tun die Worte? Alle Worte sind nur ein Stammeln. Alle Worte sind vergänglich. Sie sollen uns nicht trennen. Wenn wir nur danach leben!"
„Ich verstehe dich nicht. Unser Ziel war immer ein politisches."
„Das war es nur halb. Noch lebte Glaube und Politik ungeschieden in der Seele des Proleten. Das war seine Kindheit. Doch die Zeit forderte mehr, denn die Einheit des Primitiven. Darum war die Politik des Proletariats unkräftig und sein Glaube unkräftig. Die Politik war verkrüppelter Glaube, und der Glaube war verkrüppelte Politik. Jetzt ist die Stunde da, wo beides sich in seiner Seele scheidet. Glaube wird ihm nicht mehr nur Gerechtigkeit der menschlichen Gesellschaftsordnung sein. Sondern Wahl, Schuld, Fluch, Befreiung. Politik wird ihm das Handeln des Gebietsherrschaftsverbandes sein, welcher das Zusammenleben der Menschen regelt. Hier hat der Glaube nichts zu suchen. Er wird sie begreifen lernen als eine Sphäre für sich. Er wird sie meistern lernen aus ihren eigenen Gesetzen. Aber sie wird ihm kein losgelöster Bezirk für sich sein. Sie wird hineinreichen in die Tiefen des Unbedingten, in denen alles bedingte Leben ruht. Aus diesen Tiefen wird der Arbeiter die Kräfte ziehen, ohne die man in keiner Sphäre des endlichen Lebens stark handeln kann."

Ein Freidenker hörte ihr Gespräch. Es war in der Kaschemme. Da rief er zu allen, die herumsaßen:
„Seht den einfältigen Kerl da! Mir scheint, er glaubt noch an den lieben Gott!!" Da lachten sie alle, dass es schallte. Kämpfhart sprach:
„Nein! An den lieben Gott glaube ich nicht. Ich will euch etwas erzählen. Wollt Ihr zuhören?"
„Ja!" schrieen sie. „Erzähle!"
„Die kapitalistische Gesellschaft hat zwei Götzen. Der eine ist der wahre Herr der kapitalistischen Gesellschaft. Ihm opfern die Träger dieser Gesellschaft. Aber sie nennen ihn nicht. Sie hüten sich, seinen Namen auszusprechen. Das ist der Moloch, der seine eigenen Kinder frisst. Ihm bringt man die jungen Mädchen in den Fabriken und in den Kontoren dar. Er schwängert sie nicht. Aber er saugt ihnen das Blut aus den Adern und das Mark aus den Knochen. Ihm bringt man die tragenden und die nährenden Mütter dar. Er schlitzt ihnen nicht den Leib auf, wie es in alten grausen Zeiten geschah. Aber er lässt ihre Frucht verkümmern und ihre Brüste verdorren. Ihm bringt man die Jünglinge und Männer dar. Er streckt sie nicht mit dem Schwert nieder. Aber er schwächt sie, dass sie vorzeitig grau werden und alt und siech. Ihm bringt man die Helden des Proletariats dar. Er kämpft nicht mit ihnen, wie die Götter der Sage es taten. Aber er lässt sie durch die ,Laufbahn' gehen und bricht ihnen das Rückgrat Stück um Stück, das sie zuletzt sich ringeln wie geschmeidige Schlangen und kein Kampfeszorn und kein Mannesmut mehr in ihren Adern ist. Kennt ihr diesen Moloch, Genossen?"
„Wir kennen ihn!!"
„Nun hört vom zweiten Götzen des Kapitalismus. Man lehrte ihn uns in den Schulen. Er ist ein guter alter Vater."
Die Arbeiter lachten. „Den kennen wir auch!! Es ist der liebe Gott!! Er ist der alte Großpapa mit dem langen Bart. Er lässt regnen und die Sonne scheinen. Er lobt die Guten und straft die Schlechten. Der Obrigkeit borgt er seinen Rohrstock. Und zum Proleten sagt er: ,Sei geduldig, mein Sohn! Ertrage alles, was man dir auferlegt! Dann kommst du in den Himmel!'"
Da lachten die Arbeiter noch mehr und einer von ihnen schrie: „Diese Religion ist das Opium der Völker!"
„So ist es, Genossen!"
„Und diesen andern Götzen des Kapitalismus — den lieben Gott — den schweigt man nicht tot. Man baut ihm Kirchen und Häuser. Man hält ihm viele Diener. Der Kapitalismus sorgt dafür, dass sie ausreichend bezahlt werden. Denn sie bringen dem Volke das Opium dieses Götzendienstes, damit es den Klassenkampf vergesse. Sie leben von seinem Verkauf. Sie sind Opiumhändler. Stürzen müssen wir diese beiden Götzen, Genossen!"
Da wurden sie kleinlaut. Und einige begannen zu weinen wie Kinder.
„Wir stürzen sie nicht mehr, Kämpfhart. Über uns ist Hagenthal. Der schützt sie."

Als er gegessen hatte und die Kaschemme verließ, gesellte sich ein Intellektueller zu ihm. Er war zwischen den Arbeitern gewesen, als Kämpfhart zu ihnen von dem Kernstück seines Glaubens gesprochen hatte. Jetzt sagte er:
„Kämpfhart, du verfälscht Karl Marx!"
„Lehrt uns nicht Marx die zwei Wege: den großen entscheidenden Kampf und den kleinen Krieg auf dem Boden des Bestehenden?"
„Das tut er. Das ist die Dialektik des gesellschaftlichen Lebens. Du aber machst eine Dialektik der sittlichen Entscheidung daraus."
„Das ist richtig."
„Also verfälschst du Karl Marx."
„Nein! Ich habe es klar und eindeutig gesagt: Die gesellschaftliche Notwendigkeit schlägt um in geistig-sittlichen Kampf."
„Doch du gibst der geistig-sittlichen Entscheidung ein Gewicht, das sie bei Marx nicht hat. Marx hat die Eigenständigkeit des Geistigen geleugnet."
„Auch das ist richtig. Ich gebe der geistig-sittlichen Entscheidung ein Gewicht, das sie bei Marx nicht hat. Darin trenne ich mich von Marx. Du neunmal Weiser! Meinst du, Marx habe ein unwandelbares Evangelium für alle Zeiten geben wollen? Was er wollte war, den Arbeiter für den Kampf aktivieren. Das konnte er zu seiner Zeit nur mit einer Lehre von der Dialektik der gesellschaftlichen Bewegung. Heute muss es mit einer Lehre von der Dialektik
beider, der gesellschaftlichen Bewegung, wie des sittlichen Handelns, geschehen. Die Klugen aber und Gelehrten werden diese Lehre am wenigsten begreifen!"

Auch der alte Mann von der Drehbank kam wieder zu Kämpfhart. Tief gefurcht war sein Gesicht von der Not seiner Genossen und dem Grübeln nach einem Ausweg.
„Zwei Linien und mehr gibt es bei allem Handeln. So lehrst du, Kämpfhart, nicht wahr?" sprach er. „Nun aber sage mir, woher sollen wir wissen, welches die Leitlinie sei, der die andern sich beiordnen?"
Kämpfhart sprach:
„Ein Arbeiter hatte jahrelang im Akkord das gleiche Tempo gearbeitet wie alle seine Kameraden. Da erkrankte seine Frau. Ein Kind ward siech, ein anderes stürzte und brach das Bein. Er hatte viele Ausgaben.
,Du musst mehr Geld nach Haus bringen' sagte die Frau.
,Wie soll ich das machen?'
,Du musst deine Akkordleistung steigern.'
,Frau!! Du weißt nicht, was du sagst!! Das ist gegen die Solidarität!!'
,Solidarität hin, Solidarität her! Wir leiden Not. Du musst an deine Familie denken.'
,Das tue ich auch. Aber wenn das Interesse der Familie gegen das Interesse der Klasse steht, so geht das Interesse der Klasse vor!'
Die Frau murrte. ,Du bist ein Dummkopf!'
,Nein, Frau, ich bin kein Dummkopf. Ich bin klüger, als du meinst. Denn es würde mir nicht einmal viel nützen, wenn ich die Akkordleistung steigerte. Der Unternehmer würde es bald gewahr werden und den Tariflohn herabsetzen.'
Verstehst du das Beispiel? Die Solidarität — das war die Entscheidung aus der Tiefe des Gefühls. Man kann sie nicht wie ein Rechenexempel ausrechnen. Sie ist da, oder sie ist nicht da! Der Mann hatte sie, die Frau nicht. Was aber war der andere Beweggrund, der ihn bestimmte?"
„Er kannte die Praxis des Unternehmertums und wusste, welche Folgen sein Handeln haben werde."
„Das ist das andere: Die Kenntnis des Sondergebietes, um das es sich handelt. Darum ist zweierlei nötig, um zu wissen, was die Leitlinie ist: Die Grundentscheidung aus der Tiefe des Gefühls und die Sonderentscheidung aus der Kenntnis des Sondergebietes. Hast du die Grundentscheidung nicht, so wirst du die Leitlinie niemals finden, und wenn du den Stein der Weisen entdeckt hättest. Hast du die Kenntnis des Sondergebietes nicht, so bleibst du ein Pfuscher."

Es war auch unter seinen Anhängern ein junger Arbeiter, klein von Gestalt, doch mit hoher Stirn und tiefen Augen, Er kam aus dem Bürgertum. Der lud ihn zu sich ein. Als sie in dem ärmlichen Zimmer saßen, da sprach er zu Kämpfhart:
„Wie wagst du, sie in dem Wort zu bestätigen ,Wie wir handeln, wir handeln unrecht'? Damit hebst du das rechte Handeln auf. Es gibt einen Unterschied von recht und unrecht. Wie kannst du den Proleten das Gefühl dafür nehmen wollen? Sie sind ohnehin verwirrt genug!"
„Ich nehme ihnen nicht das Gefühl für Recht und Unrecht. Aber deine Frage ist schwer. Sie führt uns in die Tiefen des Geistes, wo das Dunkle hell ist und das Helle dunkel, wo das Ja ein Nein ist und das Nein ein ja. Menschlicher Verstand vermag sie nicht zu durchdringen. Aber das Gefühl gibt uns Antwort. — — — — — — Es ist so: Dieselbe
Handlung kann recht und unrecht zugleich sein."
„Das verstehe ich nicht!"
„Mit dem Verstande verstehen können wir es nicht. Wir können es nur fühlen. Wer es nicht fühlt, dass unser bestes Handeln zugleich recht und unrecht ist, der wird es mit dem Verstande nie erjagen. Ich will dir ein Beispiel sagen:
Eine Witwe im vierten Stock einer Mietskaserne hatte fünf Kinder zu versorgen. Tag und Nacht plagte sie sich, um die Kinder zu ernähren. Die Nachbarin nebenan hatte auch eine große Kinderschar. Der Mann trank, die Frau
war siech, die Kinder verhungerten. Die Witwe half ihnen oftmals mit kleinen Diensten. Da kamen eines Tages die Kinder und bettelten um Brot. Die Frau wies sie ab. Sie umringten sie und weinten. Einen Augenblick schwankte die Witwe. Dann aber sprach sie fast zornig: ,Wir haben selbst nicht satt zu essen! Wie kann ich das Brot meiner Kinder mit euch teilen?' Weinend gingen die Kinder davon. Konnte die Frau anders handeln?"
„Nein!"
„Und doch — war nicht ihre Mutterliebe die Triebfeder, dass sie sich fremdem Leid verschloss?"
Der Mann sann eine Weile nach. Dann sagte er:
„Du magst recht haben! Aber du siehst, dass der Arbeiter es nicht zu ertragen vermag. Wenn der Mensch weiß, wie ich handle, so handle ich unrecht, dann handelt er am liebsten gar nicht."
„Der Mensch — ja! Der Mensch — das ist der Bürger und alles, was seines Geistes ist, mag es sich auch noch so radikal proletarisch gebärden. Diese Art braucht Sicherheit. Der Rentner, der sein Leben mit Zins und Zinseszins sichergestellt hat bis zu seinem Tode — er ist der Repräsentant dieser Klasse. Er will auch für sein Gewissen Sicherheit haben. Er zerbricht an dem Konflikt des Handelns. Das Bürgertum, das unsere Gesellschaft verantwortlich leiten sollte und nicht die Kraft hatte, zu handeln — es ist an diesem Wort zugrunde gegangen. Darum steht es heute unter der Diktatur. Der Arbeiter aber kämpft seinen Existenzkampf jeden Tag von neuem. In ihm wohnt noch die urwüchsige Kraft aus der letzten Tiefe. Sie bricht unter der Belastung nicht zusammen. Sie strafft sich unter ihr. Wenn der Starke weiß: Ich handle unrecht auf jeden Fall, wenn er zugleich sich mitsamt seinem Handeln in den waltenden Willen eingefügt weiß — dann handelt er mit einer Kraft, wie der Rechthaber sie niemals besitzt. Er ist fester als Granit und härter als Stahl."
„Bist du der Arbeiterklasse so sicher? Ist sie heute nicht auch zerbrochen?"
„Ich bin ihrer sicher! Ich muss ihrer sicher sein, denn es ist
die letzte Hoffnung, die wir haben! Freilich __ sie kann
auch zerschellen."
Und das ärmliche Zimmer ward ärmlicher unter diesen Worten.

Kämpfhart machte sich auf und verließ die Heimat. Er durchzog das Land. Er saß bei den Arbeitern in ihren Spelunken und sprach zu ihnen in ihren Versammlungen. Er fand sie schwach und mutlos. Die meisten sagten:
„Der Kampf ist aus. Man muss Hagenthal gehorchen." Doch allenthalben gab es etliche, die den Kampf nicht aufgegeben hatten. Nur fanden sie die Leitlinie nicht. An der Zwiespältigkeit des Handelns wollten sie verzweifeln. Mit ihnen setzte er sich zusammen und wies ihnen den Weg des mündigen Menschen. Mit der Jugend freute er sich. Er schritt mit ihr im Takt ihrer Tänze und im Rhythmus ihrer Fackelzüge. Die Mädchen liebten ihn, und die Kinder brachten ihm Blumen.
Die Versammlungsredner aber sprachen: „Wo bleibt unser Geschäft, wenn dieser sein Wesen so weiter treibt?"
Als Kämpfhart ihren Neid sah, sprach er zu seinen anhängern: „Hütet euch vor den Versammlungsrednern, die in bürgerlichen Kleidern einhergehen. Sie lassen sich mit Doktortiteln und andern Titeln von den Genossen anreden und sitzen an den Vorstandstischen. Sie fressen des Arbeiters Groschen und verdummen ihn durch einfältige Reden. Sie kennen den Zwiespalt nicht. Wo sie ihn aber kennen, da verschweigen sie ihn, damit der Lohnsklave unmündig bleibe."

In einer Nacht saß Kämpfhart allein auf der Bank in einem Park. Da gesellte sich ein Festbesoldeter zu ihm. Er schrieb für eine Zeitung. Er suchte Kämpfhart in der Nacht auf aus Furcht vor den Festbesoldeten und ihrem Anhang. Denn sie stellten Aufpasser aus und ließen alle aufschreiben, die zu ihm gingen. Der Schreiber sprach:
„Du lehrst die hohe Seligkeit des verantwortlichen Handelns. Doch es gibt ein Größeres." „Was meinst du?" „Die Liebe."
Kämpfhart schwieg lange. Dann sprach er: „Es war ein Mann, kraftvoll und schön. Alle Frauen liebten ihn. Und er umfing sie mit der Glut eines heißen Herzens und starker Sinne. Uferlos ging die Fülle seiner Liebe ins Weite. Selbst der Dirne dankte er. Doch zu gleicher Zeit war ihm die Würde der Ehe unaufhebbare innere Gewissheit. So war sein Leben ein steter, wirrer Kampf zwischen dem einen und dem andern. Wie er tat — er empfand es als Unrecht.
Wieder einmal hatte ein Weib ihn umworben. Er war ihr ausgewichen; er mochte sie nicht. Doch eines Abends siegte seine Begierde. Ekel erfüllt kehrte er heim, ein Empörer gegen die Macht, die ihn werden ließ. Er nahm seine Waffe und lud sie.
,Es muss sein', sprach er zu sich selbst. ,Der Zwiespalt muss ein Ende nehmen,'
Die Waffe in der Hand versank er in qualvolles Grübeln. Da trat ein alter Mann bei ihm ein, sein väterlicher Freund, der bis auf den Grund seines Wesens schaute. Er sah, was der andere vorhatte, und sein Herz wallte über vor Sorge und Liebe. Da brach der Verzweifelte zusammen; der starke Mann begann bitterlich zu weinen. Der Alte sprach: ,Hörst du nicht die Stimme der Liebe, die dich ruft?' ,Ich höre nur ihren Fluch!'
,Sie gab dir den Stachel, der dich peinigt, nicht als Fluch! Sie gab ihn dir, dass sich das Leben dir tiefer erschließe als dem, der immer ,recht' handelt.'
In unaussprechlicher väterlicher Güte legte er eine Hand auf die Schulter seines Freundes. Da war es, als ob ein heißer Strom durch die Seele des anderen flutete. Er fühlte eine Glut, nicht minder stark, als er sie für die Frauen empfand, aber anders gerichtet, anders getönt, hingewendet zu der unbekannten Macht, die ihn hatte werden lassen und
die ihn trug. Die qualvolle Seligkeit seiner Liebe zum Weibe widerstrebte nicht mehr der anderen unsichtbaren Liebe, die in anderen Rhythmen schwingt, in anderen Akkorden ertönt, auf anderer Ebene Qual und Seligkeit zu untrennbarer Einheit vereinend. Und er fluchte ihr nicht mehr. — Verstehst du nun, wenn ich sage:
Die Liebe ist inbegriffen in dem, was ich lehre. Denn nur dem wird das verantwortliche Handeln zur hohen Seligkeit, der sich in einer unendlichen Liebe geborgen weiß und mit unendlicher Liebe darauf antwortet.
Und wenn das Reich der Freiheit gekommen sein wird, wenn unsere Genossen aus Unmündigen und Knechten zu Mündigen geworden sein werden, dann wird diese Liebe alle Menschen zu Brüdern machen. Sie wird von allen Höhen leuchten wie die Feuer zur Sonnenwende."

II.

Danach war der erste Mai. Hagenthal hatte den Arbeitern einen Umzug gestattet. Er wusste, dass er ihre Führer nicht zu fürchten hatte, und es lag ihm daran, sich bei der Menge beliebt zu machen.
„Wir wollen den Umzug nicht versäumen", sprach Kämpfhart zu den Seinen. So machten sie sich auf und stießen zu einem der Haufen, die sich zum Umzuge sammelten. Der Haufe reihte sich ins Ganze ein. Als sie den Festplatz erreicht hatten, begann einer der Festbesoldeten am Lautsprecher zu reden. Er erzählte den Massen, was er sich daheim am Schreibpult zusammengeleimt hatte. Seine Worte klangen matt und schwach. Mit halbem Ohre hörten die Arbeiter zu. Ingrimmig stand Kämpfhart dabei. Die Rede war zu Ende. Die Arbeiter wollten auseinander gehen. Da sprang Kämpfhart auf einen Stuhl und begann zu den Umstehenden aus der Kraft seines Herzens reden. Hunderte sammelten sich um ihn und Tausende. Beifall rauschte auf. Er sprach weiter. Die Menge jauchzte. Zwei kräftige Burschen packten ihn und hoben ihn auf ihre Schulter. Jubel brach los.
Man entriss die roten Fahnen ihren Trägern und scharte sich um ihn. Im Triumphzug trugen sie ihm zum Lautsprecher. Die Festbesoldeten sahen voll Wut, was geschah. Aber sie wagten nicht, es zu hindern. Und Kämpfharts Rede erscholl über den weiten Raum. Er sprach zu ihnen von ihrer Schmach, von der Angst ihres Herzens, dass sie nicht zu handeln wagten, von der Mündigwerdung der Lohnsklaven, von dem Reich der Freiheit. Alles jubelte ihn zu. Wiederum hoben sie ihn auf die Schultern, um ihn allen zu zeigen, die da waren. Und die Alten wie die Jungen, die Frauen wie die Männer schrieen:
„Das ist der Diktator des Proletariats!"

Nach diesem Ereignis liefen Berichte beim obersten Rat der Arbeiterschaft ein. Die schilderten Kämpfharts Wirken und warnten vor ihm. Der Rat beschloss, darüber zu verhandeln. Er ließ genaue Erkundigung über Kämpfhart einziehen. Auch mischten sich zwei seiner Mitglieder unerkannt unter die Haufen, zu denen Kämpfhart sprach. Als sie nun zusammengekommen waren und die Berichte entgegennahmen, erhoben sich laute Anklagen gegen Kämpfhart.
„Er ist ein Frechling! Mit seinen Worten über die Festbesoldeten greift er uns unmittelbar an." „Er beschimpft uns."
Doch der Vorsitzende wehrte diese Angriffe ab. Er war ein starker, redlicher Mann, breitschultrig, mit klugen Augen. Seit mehr denn vierzig Jahren stand er in der Bewegung. Bei jedermann genoss er Vertrauen und Achtung.
„Mag er unsere Person angreifen, Genossen", sprach er. „Das darf uns nicht beirren. Auf seine Lehre kommt es an. Dass die Festbesoldung ein schlimmer Notbehelf ist, dass sie uns trennt von unseren handarbeitenden Brüdern, welche die Güter herstellen und alle Nackenschläge der Konjunktur tragen, indes wir die Güter verbrauchen und der Sorge um die Konjunktur enthoben sind, wer wollte das bezweifeln?" „Er greift unsere Person gar nicht an", sprach der Jüngste unter den Ratsmitgliedern. Er war bei Kämpfhart gewesen,
und sein Herz schlug ihm entgegen. „Sein Kampf gilt dem System, nicht der Person."
„Um so weniger dürfen wir ihn wegen dieser Angriffe verdammen."
Aber viele der Anwesenden murrten:
„Wo kommt die Disziplin der Bewegung hin, wenn wir dulden, dass Misstrauen gegen die Führer gesät wird?"
Doch der Vorsitzende sprach:
„Es ist an uns, Genossen, uns das Vertrauen der Massen durch unsere Tat zu verdienen und zu erhalten. Dann fallen ungerechte Angriffe von selbst zu Boden. Gerechte Angriffe aber wollen wir nicht abwürgen, gleichviel ob sie dem System oder der Person gelten. Sie sind die Triebkraft der Bewegung." Da schwiegen sie widerwillig.
Neue Angreifer traten auf. „Er steckt in veralteten anschauungen. Er glaubt an metaphysische Dinge. Mit seinem Unsinn verwirrt er die Köpfe der Arbeiterschaft."
Der Vorsitzende fragte:
„Was versteht ihr unter metaphysischen Dingen?"
Alsbald erhob sich ein Disput darüber, was das Wort bedeute. Es zeigte sich, dass jeder darunter etwas anderes verstand. Da schnitt ihnen der Vorsitzende die Rede ab.
„Ihr seht, wir kommen nicht zum Ziel, Genossen. Diese Dinge sind für uns selbst unklar. Lassen wir metaphysische Fragen Privatsache sein."
Da schwiegen sie wiederum, doch ihr Widerwille war noch größer geworden. Der Jüngste unter den Mitgliedern aber sprach mit Spott:
„Wenn der Glaube an ,metaphysische Dinge' solche Kräfte auslöst — Genossen — dann möchte ich im Interesse der Bewegung wünschen, dass wir alle an ,metaphysische Dinge' glaubten!"
Eine dritte Anklage wurde laut: „Seine Lehre ist unerträglich für das Proletariat. Er bestärkt sie in dem Wahn von den zwei Wegen. Ja, er fordert von ihnen die verantwortliche Entscheidung, welcher Weg der richtige sei!"
Gelächter erscholl.
„Und vollends wirr macht er sie mit der Lehre, dass sie, wie sie auch wählen, unrecht wählen."
Da ward der Vorsitzende sehr ernst. „Das darf nicht geschehen! Der Prolet hat einen einfachen Sinn. Er muss eine klare Linie sehen. Er muss handeln im festen Vertrauen darauf, dass er recht handelt!"
Alsbald sprang der Jüngste unter den Ratsmitgliedern auf: „Ihr entstellt seine Worte. Ihr versteht ihn nicht. Er hebt nicht das entschlossene Handeln auf. Im Gegenteil! Er stellt es nur unter eine schwerere Verantwortung, als der Arbeiter sie trug, solange er Lohnsklave war. Wer nur einmal den Sinn seiner Lehre erfasst hat, der wird klarer und fester handeln, als irgendein anderer."
Und er versuchte, ihnen Kämpfharts Lehre auseinanderzulegen. Doch sie unterbrachen ihn mit vielen Zwischenrufen und entstellten den Sinn seiner Worte. Der Vorsitzende hörte dem Streit aufmerksam zu. Als er aber sah, dass der Verteidiger Kämpfharts zugeben musste, er verlange vom Proleten die Erkenntnis von den zwei Wegen — da schlossen sich seine Lippen hart zusammen. Er hatte als junger Arbeiter den Weltkrieg miterlebt. Er hatte alle Kämpfe, die ihm folgten, mit durchgekämpft. Unverbrüchlich hatte sich in ihm die Meinung verfestigt, dass es für den Arbeiter nicht tragbar sei, beides zu sehen, den Endkampf und den Kampf auf dem Boden der bestehenden Ordnung, dass man ihm in diesen und in allen Dingen die Wahl und die verantwortliche Entscheidung aus der Hand nehmen müsse. Darum sagte er, als der andere geendigt:
„Genossen! Zwiespalt darf nicht in die Bewegung getragen werden! Wenn Kämpfharts Verteidiger selbst zugibt, dass er den Proleten in der Irrlehre von den zwei Wegen bestärkt — dann ist in unserer Bewegung kein Raum für Kämpfhart."
Alle, auch die. Wackersten unter den Männern und Frauen des Rates, stimmten dieser Rede zu. Denn sie alle kannten, wie der Vorsitzende, die Arbeiterschaft dieser Tage nicht mehr. Ihr Urteil ging zurück auf' jene Zeiten
nach dem Weltkrieg, da der Arbeiter zuerst versuchte, aus selbstverantwortlicher Entscheidung zu handeln und es nicht vermochte. Darum war es ihnen allen oberstes Gesetz, dass der Arbeiter nur einen Weg sehen könnte. Von der Sehnsucht der Besten, aus Lohnsklaven, denen man befiehlt, Mündige zu werden, die unter eigner Verantwortung die Wahl vollziehen, wussten sie nichts.
Noch einmal sprang der Jüngste unter den Ratsmitgliedern auf: „Wenn für solche Erkenntnis kein Raum in der Bewegung ist, dann wird die Arbeiterschaft niemals die Herrschaft gewinnen. Nur der Lohnsklave gehorcht ohne Wahl. Eine Klasse aber, die herrschen will, muss zur verantwortlichen Entscheidung fähig sein."
Doch der Vorsitzende hatte seine Entscheidung getroffen. Als sie nun abstimmten, ward beschlossen, Kämpfharts Lehre nicht aufkommen zu lassen.
„Seiner Person aber wollen wir nichts anhaben", sagte der Vorsitzende mit Nachdruck. Da lächelten sich die beiden ärgsten Feinde Kämpfharts stillschweigend zu. Das jüngste Ratsmitglied aber legte sein Amt nieder und ging zu Kämpfhart.

Seit dieser Sitzung trachteten seine Feinde im Rat danach, wie sie ihn beseitigten. Sie hatten aber nicht die Macht, das offen zu tun, weil das Land unter der Herrschaft des kapitalistischen Diktators war. Darum begannen sie Material gegen Kämpfhart zu sammeln.
Sie brachten Zeugen bei, die am 1. Mai Kämpfharts Rede gehört hatten und bereit waren, zu beschwören, er habe sich zum proletarischen Diktator ausrufen lassen. Auch Briefe von Kämpfhart trieben sie auf, in denen von dem neuen Reich die Rede war. Als die Festbesoldeten genug Material in Händen hatten, tauchten Andeutungen in ihren Zeitungen auf über die Gefahr eines Putsches gegen die Unternehmerschaft. Die Regierung wurde aufmerksam. Sie verlangte Auskunft. Da überlieferte man ihr das Material. Das war am Mittag,
Am Abend dieses Tages ging Kämpfhart mit seinen nächsten Genossen hinab zum Hafen. Schwarz lag das Wasser vor ihnen. Lange schaute er hinaus. Dann wandte er sich wieder den Seinen zu. Angst stand in ihren Augen. Da wusste er, dass sie ihn im Stich lassen würden. Langsam gingen sie am Wasser weiter bis zu dem Brückenbogen, wo sie oft übernachtet hatten. Ein Polizist streifte vorbei und musterte sie scharf. Dann legten sie sich alle nieder. Kämpfhart aber schlief nicht. Das Grauen des Todes legte sich auf seine Seele. Da gedachte er des Proletariats. Und aller Kampf wich aus seinem Herzen.
Schwere Tritte wurden laut. Von rechts und links nahte je ein Trupp bewaffneter Polizisten. Als das seine Genossen wahrnahmen, flohen sie davon. Und die Polizisten verhafteten Kämpfhart.

Doch die Regierung zögerte, Kämpfhart den Prozess zu machen. Sie war auf Volksgunst bedacht und war nicht sicher, ob eine Aburteilung Kämpfharts nicht böses Blut machen werde. Nun war am Jahrestage der Aufrichtung der Diktatur eine Amnestie für zehn politische Verbrecher verkündet worden. Ihrer neun waren schon ausgesucht. Nur der letzte musste noch bestimmt werden. Da erschien in dem Blatt der Regierung ein Artikel mit der Überschrift: Kämpfhart oder Werner? Werner war ein völkischer Mordbube. Er hatte mehrere Menschen umgebracht. Fünf Stunden später brachte die Arbeiterpresse die Antwort: Werner.
Trotzdem beschloss die Regierung, die den Hass der Festbesoldeten gegen Kämpfhart kannte, die Stimmung der Massen zu prüfen, ehe sie ihre Entscheidung traf. Sie gab den Festbesoldeten der Arbeiterschaft einen Wink, dass sie eine Kundgebung veranstalten sollten. Da beriefen sie eine große Versammlung in der Stadt, wo Kämpfhart am 1. Mai auf die Schultern gehoben worden war. Der Saal war bis zum letzten Platz besetzt. Redner traten auf. „Er hat unsere Bewegung verhöhnt, indem er sich den
Diktator des Proletariats nennen ließ", lautete die Anklage des ersten.
„Er hat die Arbeiterbewegung geschwächt, indem er das Vertrauen zu den Führern erschütterte", lautete die Anklage des zweiten.
„Er hat die Arbeiterschaft irregeleitet, indem er unmarxistische Reden führte", lautete die Anklage des dritten. Zornige Rufe wurden laut.
„Wir müssen zum Beschluss kommen", sagte der Vorsitzende. Eine Resolution wurde eingebracht. Sie lautete: Die am 15. Mai in Kellers Festsälen versammelte Arbeiterschaft spricht der Regierung die Erwartung aus, dass sie nicht den Aufrührer Kämpfhart, sondern den Gefangenen Werner begnadigen werde.
„Wer für die Resolution ist, der hebe die Hand", sagte der Vorsitzende. Alle Hände fuhren in die Höhe. „Die Gegenprobe." Niemand meldete sich.
Als die Regierung den Verlauf der Versammlung erfuhr, gab sie ihren Befehl. Eine Stunde später wurde Kämpfhart als Hochverräter erschossen.
Am Abend dieses Tages erhielt die Regierung ein Auslandstelegramm vom Vorsitzenden des Rates der Arbeiterschaft. Er bat darin, den Prozess Kämpfhart um eine Woche hinauszuschieben.
So endete Kämpfhart, der Führer des Proletariats. Doch sein Ende war der Anfang.

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