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Arkadi Petrowitsch Gaidar - Russische Kindheit - 1917 (1935)
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DIE SCHULE

1. Kapitel

Unser Arsamas war eine stille kleine Stadt mit vielen Gärten, die von windschiefen Zäunen umschlossen waren. In diesen Gärten wuchsen viele Kirschen und Äpfel, blühten Schlehdorn und rote Pfingstrosen.
Teiche zogen sich durch die Stadt hindurch und an den Gärten vorbei. Schleimige Gründlinge und schlüpfrige Frösche lebten in ihrem stillen, modrigen Wasser, die besseren Fische waren längst schon gestorben. Ein kümmerliches Flüsschen, die Tescha, floss an den Hügeln entlang.
Die ganze Stadt glich einem großen Kloster. Sie zählte an die dreißig Kirchen und hatte vier Behausungen für Mönche. Auch viele wundertätige Heiligenbilder gab es bei uns, aber richtige Wunder waren nur selten. Das kam vielleicht daher, dass 60 Kilometer von Arsamas entfernt die berühmte Einsiedelei von Sarow lag. Die zog alle Wunder an sich.
In Sarow war schon einmal ein Blinder sehend und ein Buckliger gerade geworden, ein andermal hatte ein Lahmer gehen gelernt; so erzählten sich die Leute immer wieder. Nur vor unseren Heiligenbildern geschah nichts dieser Art.

*

Still und altväterlich war unsere kleine Stadt. Wenn an den Feiertagen, besonders aber während des Osterfestes, die Glocken aller dreißig Kirchen zu läuten begannen, dann ging ein Klingen von der Stadt aus, das bis zu zwanzig Kilometer weit ringsum in den Dörfern gut zu hören war.
Ich stieg immer gern auf die Glockentürme, aber das war uns Jungen nur zu Ostern erlaubt. Lange ging es auf schmaler, düsterer Stiege nach oben. In den Mauerlöchern gurrten die Tauben. Von den vielen Windungen der Treppe drehte sich mir am Ende alles im Kopfe.
Von oben war unsere ganze Stadt zu sehen und unterhalb der Stadt die Tescha mit der Ziegeninsel, die alte Mühle, das Wäldchen – und weit hinten in der Ferne tiefe Schluchten und der blaue Saum des Stadtwaldes.
Mein Vater war Soldat im 12. Sibirischen Schützenregiment. Es lag an der Front bei Riga.
Ich selbst ging damals in die zweite Klasse der Realschule. Meine Mutter war Krankenschwester und hatte immer viel zu tun. So war ich ganz auf mich allein gestellt. Doch einmal in der Woche musste ich ihr die Schulhefte mit den Zensuren vorzeigen. Die unterschrieb sie. Eilig schaute sich meine Mutter die Hefte an. Sah sie dann eine Vier im Zeichnen oder im Schönschreiben, wurde sie ärgerlich und schüttelte den Kopf: “Was soll das heißen?”
“Ich kann doch nichts dafür, Mutter. Was soll ich denn machen, wenn ich nun mal nicht zeichnen kann! Neulich, da hab ich ein Pferd gemalt, sagt der Lehrer: ‚Das ist kein Pferd, das sieht ja aus wie ein Schwein.‘ Das nächste Mal hab ich ihm dasselbe Bild gezeigt und hab gesagt: ‚Das ist ein Schwein.‘ Und da wird er ganz böse und sagt, das wär kein Schwein und auch kein Pferd. Der Teufel wüsste, was es sein sollte. Weißt du, Mutter, Maler werd ich bestimmt nicht.”
“Ja, aber die Vier im Schönschreiben…? Gib mal dein Heft her…! Junge, wie sieht das aus! Auf jeder Seite ein Klecks! Und hier hast du eine Schabe zwischen den Seiten platt gedrückt, ekelhaft!”
“Die Kleckse, die waren auf einmal da, die sind ganz von selbst gekommen, und wegen der Schabe, dafür kann ich überhaupt nichts. Ich versteh gar nicht, warum du so böse bist. Hab ich denn die Schabe reingesetzt? Die ist selbst reingekrochen, und nun soll ich schuld sein! Und Schönschreiben, was ist das schon? Ich will doch kein Schreiber werden.”
“So, und was möchtest du werden?” fuhr meine Mutter mit ärgerlichem Gesicht fort und unterschrieb meine Zensuren. “Am liebsten überhaupt nicht arbeiten, wie? Und hier lese ich schon wieder, du bist über die Feuerleiter aufs Schuldach gestiegen. Wozu soll das denn gut sein? Oder willst du Schornsteinfeger werden?”
“Nein, ich will kein Maler werden und kein Schreiber, auch kein Schornsteinfeger… Ich werde Matrose.”
Meine Mutter schüttelte den Kopf.
“Was du nicht alles sagst! Kommst du mir noch mal mit ‘ner Vier nach Hause, kriegt der Matrose was hinten drauf.”

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