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Albert Daudistel – Das Opfer (1925)
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Vierter Teil

1.

Der Krieg war verloren. Kaiser Wilhelm II. desertierte nach Holland. Der Waffenstillstand wurde abgeschlossen.
Die Fronten barsten. Deutschland erbebte. Millionen Opfer schreien aus heller Verzweiflung. Unentwegt aber befahl Wilson, der Präsident der Vereinigten Staaten Nordamerikas, den zermürbten deutschen Heeren: „Zurück — marsch,
marsch!"
Ein Jagen und Rennen! Ein Keuchen und Fluchen! — Die Chausseen Nordfrankreichs und Belgiens wurden belebt wie Straßen der Weltstädte. Truppen- und Transportzüge folgten nacheinander ununterbrochen — ostwärts. Auf Puffer, Trittbrett und Dach überladener Eisenbahnzüge rettete sich der alte deutsche Wunsch: nach Hause!
Friede! — Endlich Friede! Diese Tatsache entfachte die
ungeheure Flucht zu einer maßlosen Begeisterung. Und wild
stoben die deutschen Armeen nach der Heimat: ins Chaos
zerschmetterter Illusionen. Revolution! — Revolution!
Das verratene Volk tobte. Die Reichsregierung flüchtete
vor Schrecken.
Am 11. November dröhnte noch mal die Luft über Wilhelmshaven. Mehr als hunderttausend Soldaten und Arbeiter, Frauen und Kinder holten vereint aus zum letzten Schlag gegen den alten, morschen Staat: „Die sozialistische Republik, sie lebe! Hurra! Hurra!
Hurra!"
Kampfflugzeuge mit langen roten Wimpeln huldigten kaum turmhoch über den Massen dem gewaltigen Geschehnis. Die Kapellen der Kriegsschiffe spielten den Sozialistenmarsch. Entblößten Hauptes sang die Menge.
Die Luft zitterte. Es ward dunkel. Sirenen und Dampfpfeifen der Kriegsschiffe schreien auf. Rote, weiße und grüne Leuchtkugeln verwirrten ängstliche Menschen. Kirchenglocken fingen an zu läuten. Grell stachen die Scheinwerfer der Flotte in die Nacht. Der Mond schaute blass.
Die Schiffe feuerten eine Breitseite nach der andern. In Kinos, Kaschemmen, Cafes und Theatern entstand Panik und überflutete die Gassen und die Straßen. Aufruhr! — Überall Aufruhr, auf allen Schiffen, in allen Kasernen. Die Revolution durchzitterte alles.
Die versammelten Soldaten- und Arbeiterräte im Offizierskasino in Wilhelmshaven schauten starr. Denn der Heinrich betonte: „Und jetzt werden nur noch harte Worte gesprochen! Ich fordere im Namen des revolutionären Zirkels Wilhelmshaven das Leben von zehntausend Offizieren der Marine-Nordseestation als Vergeltung für die Ermordung unserer besten Freunde Max und Albin!" Schrecken bannte die Soldaten und Arbeiter. Wie versteinert stierten ihre Gesichter nach Heinrich. Er aber schrie: „Ich verlange eure Antwort!" Er ballte seine Hände zu Fäusten. Und verharrte so. Endlich erhob sich ein alter Werftarbeiter. Der stammelte: „Nicht den Bruderkrieg... Hein, nicht... "
Heinrich wandte sich und öffnete das Fenster. „Das ist der Schrei nach Recht! — Hört ihr den Massenjammer?" (Der Lärm in Stadt und Hafen toste ohrenbetäubend.) Die Versammelten erschauerten. Die Luft war eisig...
Heinrich schloss das Fenster.
Mit verärgerten Blicken schaute er nach seinen beiden Begleitern, die auf einer Chaiselongue an der Tür saßen... Dann richtete er sich wieder nach den Soldaten- und Arbeiterräten. „Mit jenen ,Brüdern', die sich heillos mit dem Blut unserer Väter und unserer besten Kameraden berauschten, muss gründlich abgerechnet werden! Der Krieg hat uns gelehrt, hart zu sein! Unserer Revolution müssen wir zu einer
ungeheuren Durchschlagskraft verhelfen. Sie muss die unbarmherzige Gesellschaft durch Schrecken erschüttern. Aber diese infame Gesellschaft ist klug!"
„Blut — Hein? Immer noch mehr von dem Blut... ?" erwiderte ein Matrose. Wie gepeitscht schrie Heinrich: „Verflucht! Auf einmal ist euch Blut heilig!"
Die Tür des Saales wurde aufgerissen. Heinrich schwieg. Fritz, die politische Stütze des revolutionären Zirkels, trat, vor Freude strahlend, ein, vergaß zu grüßen und jubelte Heinrich zu: „Für dich, Nachricht aus Italien ist's!" Während Fritz seine Aktenmappe auf den Tisch warf und einen Brief herauszog, wandte Heinrich sich an die Versammelten: „Ist schon vergessen, was gestern noch war?"
Heinrich griff nach dem gereichten Brief, musterte ihn flüchtig und rief: „Wacht auf, Kameraden! — Wacht auf!"
Der Saal war erschüttert. Heinrich setzte sich. Während er sich die Stirne wischte, trat Fritz an ihn. „... doch von deiner Frau?" Heinrich nickte. Und erhob sich. Beide gingen nach einem Fenster und flüsterten.
Die versammelten Soldaten- und Arbeiterräte saßen gebannt. Endlich begab sich Heinrichs Freund an den großen Tisch. Heinrich las, an die Wand gelehnt, den ersten Brief von seiner Frau seit 1914.
Fritz hatte einige Schriftstücke vor sich gelegt und begann: „Kameraden! Der Vorsitzende des revolutionären Zirkels hat mich eben beauftragt, unsere bereits bekannte Forderung zu begründen. Dies kann ich nicht besser tun als mit der heute abend bei uns eingetroffenen Note der Ententemächte, welche euch bedingungslos verpflichtet, die Flotte wie überhaupt die gesamten Kriegsfahrzeuge zu desarmieren, aber — fahrbereit zu halten. Kameraden! Unsere Schiffe sollen der Beutegier des alliierten Militarismus verfallen!"
Fritz brach seine Rede ab, legte seine Hände auf dem Rücken zusammen, postierte sich breitbeinig und fragte in die Augen der Soldaten: „Erhebt sich dagegen Widerspruch?"
Niedergeschlagen hockten die Versammelten.
Heinrich schielte erwartungsvoll von der Wand her über seinen Brief zu den Seeleuten...
Endlich war die plötzliche Frage allenthalben in den Köpfen durchgegangen. Ein Heizer sprang aus Empörung hoch. „Wir werden denen was spucken!"
Dann lärmten sie durcheinander: „Die sind ja verrückt... " „Die haben 'n Koller... " „Die Flotte bleibt... " „Ausgeschlossen! Die lassen wir absaufen... "
Die herausgeforderte Wut der Seeleute überschrie sich. „Jawohl!" — „Bravo!" — „Hurra!" — „Nieder mit dem Krieg!" Fritz stand wie Erz.
Heinrich atmete nun auf aus einer gewissen Zuversicht... Denn Fritz war es gelungen, den alten solidarischen Geist der Seeleute, ihren Trotz, ihr Selbstbewusstsein, über die Scheu vor ungewohnter Verantwortung zu stellen. Die Ironie, mit der Fritz unverhofft seine Frage den Soldaten ans Herz gedrückt, reizte den alten Unwillen gegen den Krieg, gegen die brutalen, herrschsüchtigen Offiziere. Wüstes Geschrei und Fluchen tobte — wie draußen auf den Straßen. Ein Sprung. Und Heinrich stand mit erhobener Hand vor dem Tisch.
„Kameraden!" — Der Lärm verebbte. Heinrich sprach: „Das ist der gewaltige Rhythmus der Revolution! In dieser heiligen Stunde, wo die entfesselten Volksmassen überall im Land maßlos in eine neue Welt jauchzen, wo sie jenen Männern blind vertrauen, die sie von ihren Tyrannen, von ihren unbarmherzigen Ausbeutern befreiten, da müssen wir uns der kolossalen Verantwortung, die uns aufgebürdet ist, voll und ganz bewusst sein! Kameraden! — Während wir zaghaft an unbedingte Notwendigkeit tasten, anstatt fest zuzupacken, während wir kostbare Zeit durch nutzloses Zögern vergeuden, erhebt sich die Reaktion! Das Binnenland schreit uns an um Hilfe. Telegramme aus verschiedenen Städten
Deutschlands liefen in dieser Nacht bei uns ein. Ihr Inhalt ist fast durchweg: ,Sendet sofort zuverlässige Truppen. Quartiere sind bereit.' Die zurückflutenden deutschen Armeen sind an den Landesgrenzen angelangt. Die Deputationen des revolutionären Zirkels, die wir unseren zerschlagenen feldgrauen Kameraden entgegensandten, damit sie über den Sturz des alten Militarismus unterrichtet und für das Banner proletarischer Freiheit gewonnen werden, klagen in ihren Berichten, wie abgestumpft, wie wehleidig diese armen Teufel schauen, die im Trommelfeuer an der Aisne oder an der Somme standgehalten, weil nun die schwarz-weiß-rote Flagge vor ihren Augen niedergeht und an derselben Leine die rote Fahne gehisst wird. Kameraden! Ich habe volles Verständnis für diese erschütternde Enttäuschung, für die Katastrophe, die in den Schädeln unserer feldgrauen Kameraden, unserer wahrhaftigen Brüder, vor sich geht. Aber: Ich sehe auch die große Gefahr, die sich aus jenen verwirrten Heeresmassen gegen unsere Sache entwickeln kann. Kameraden! — Jetzt werden sich die Folgen des Krieges zeigen. Seelische Verrohung, Demoralisation! Hunger, Kälte, Arbeitslosigkeit werden den Egoismus der dem Tod entronnenen Soldatenmassen gegen den Kameraden, gegen den Bruder, gegen Mitmenschen in brutalster Weise, wie es das vierjährige Massenmorden gelehrt hat, anfeuern! Und diese korrumpierten Zustände werden die Feinde unserer Sache auszunützen wissen!" — Heinrich drohte mit der Faust und schrie leidenschaftlich: „Die deutsche Revolution ist in Gefahr! — Kameraden! Denkt an jene kaiserlichen Offiziere, die in Finnland dreitausend und in der Ukraine fünfzehntausend Revolutionäre mit Maschinengewehren zu Dreck und Kot schossen! Wacht auf, Kameraden! — Wacht auf! Der Kampf beginnt!"
Eine Ordonnanz betrat den Saal und überreichte dem Fritz ein Bündel Schriftstücke und Telegramme. Durch die Fensterscheiben drang bereits das Grau des aufbrechenden Wintertages. Wie gequält räusperten sich die Versammelten.
Denn Heinrich hatte wieder die Forderung des revolutionären Zirkels vorgelegt.
Schweigend schob Fritz dem Heinrich einige Telegramme zu, wies ihn durch energisches Drauftippen auf die Bedeutung derselben und trat zurück.
Heinrichs Blick fiel schwer auf die Papiere. Er ergriff sie. Dann las er. Seine Stimme klang müde.
„Bremen: Heftige Kämpfe mit kaisertreuen Truppen. Tote und Verwundete unsererseits. — Munitionsmangel!
Hannover: Heimkehrende Truppen leisten erbitterten Widerstand unter Befehl ihrer Offiziere. Hilfe!
Hamburg: Husaren kaisertreu. Putsch. Schickt Truppen!"
Eine Kampfmeldung nach der anderen las Heinrich den Arbeiter- und Soldatenräten vor. Fritz saß abseits des Tisches vornübergebeugt und hielt den Kopf in Händen ...
Kalt fiel die weiße Wintersonne in die übernächtigen Gesichter der Versammelten. Die Luft im Saal war klebrig. Die abgearbeiteten Nerven der Revolutionäre waren im Erschlaffen. Nur die große Pendeluhr verriet noch Leben. Wieder betrat eine Ordonnanz den Saal, überbrachte dem Heinrich, der immer noch stand, ein verschlossenes Kuvert und entfernte sich scheu auf den Fußspitzen. Heinrich öffnete das Schreiben und nahm Einsicht. Er blieb aber ruhig. Die Köpfe der Versammelten sanken tiefer. Einige Männer schnarchten. Heinrich verharrte mit zusammengebissenen Zähnen...
Es war zehn Uhr vormittags. Da hob Heinrich seine Faust. Und zack! Da ruckten die Köpfe hoch. Wie Detonation hatte der Schlag auf den Tisch in den überarbeiteten Hirnen der Versammelten gewirkt: Sie starrten erschrocken.
Mit heiserer Stimme schrie Heinrich: „Ich mahne zum dritten Mal: Wacht auf, Kameraden! Wacht auf! Das Land brennt! Die Massen schreien uns um Hilfe an! Seid Männer! Rafft euch zusammen!" — Dann fragte er ruhig: „Erhebt sich Widerspruch gegen die Forderung des revolutionären Zirkels?"
Heinrichs Augen zitterten nach den regungslosen Gesichtern der Versammelten. Plötzlich grinste er, die Zähne gebleckt. „Da sich kein Widerspruch erhebt, ist unsere Forderung einstimmig angenommen!" Er ergriff das Kuvert, welches ihm die letzte Ordonnanz übergeben hatte. Und sagte kurz: „Kameraden!" (Er schaute nach dem Fritz und winkte ab. Fritz verließ den Saal.) Heinrich begann: „Ich gebe euch nun die Vollzugsbestimmungen unseres Entschlusses bekannt!"
Heinrich hatte dem Kuvert ein Schreiben entnommen und las und las...
Die Arbeiter- und Soldatenräte richteten sich auf. Ihre Augen wurden lebendig. Heinrich bekräftigte Punkt für Punkt der Vollzugsbestimmungen. Es war Mittag geworden. Lastautos mit zornig blickenden Soldaten durchratterten die Straßen. Die großen Fenster des Versammlungssaales der Arbeiter- und Soldatenräte klirrten: Ein gewaltiges Zittern drang durch Wilhelmshaven. Heinrichs Stimme wollte da plötzlich versagen... Schnell trank er ein Glas Wasser. Dann führte er mit sichtlichem Zwang die Bekanntgabe der Vollzugsbestimmungen zu Ende. Die Versammelten seufzten.
Noch einmal sprach Heinrich. Seine Stimme klang weh. „Die versammelten Arbeiter- und Soldatenräte der Republik Oldenburg tagten zwanzig Stunden in einem fort. Ein schwerer Entschluss wurde gefasst. In den nächsten zwanzig Stunden ist der Entschluss vollzogen: Die deutsche Flotte und zehntausend Offiziere sind gewesen. Kameraden! — Die deutsche Revolution, sie lebe ... "
Einige Männer bekamen feuchte Augen. Die meisten schreien erschreckt: „Hurra! Hurra! — Hurra!"
Die Versammlung wurde geschlossen. Bald war der Saal leer.

Schwarze Wolken zogen über Wilhelmshaven. Die Flotte qualmte aus allen Schloten. In rasendem Tempo bog ein
feldgrauer Kraftwagen in die Straße, wo sich das Standquartier des revolutionären Zirkels befand. Ein Ruck! Seine Räder schleiften. Und Funken sprühten vom Pflaster. Da stand das Auto vor dem rotbeflaggten Gebäude. Fritz trat aus dem Torbogen. Heinrich entstieg dem Wagen. Die Luft war nasskalt. Die beiden Führer des revolutionären Zirkels schritten in die Einfahrt. Fritz flüsterte eifrig. Heinrich schaute finster zu Boden und fragte: „Befinden sich alle Formationen in Alarmbereitschaft?" Fritz berichtete: „Die Aktion — ist in vollem Gange. Unsere Mitglieder halten sämtliche Zufahrtsstraßen zur Stadt, ebenfalls alle Wasserwege, den Strand, die Schleusen, alle Signalstationen an Bord wie an Land, die Post und die Telegraphen- und Fliegerstationen unter Bewachung. Gelände- und Straßenpatrouillen laufen. In der Stadt wird lächerliches Zeug gemunkelt. Schad't nix! Die Hilfsfahrzeuge, die dann... auf See die Mannschaften der Flotte übernehmen, stehen ebenfalls unter Dampf. Spätestens morgen früh um neun Uhr können die Schleusen geöffnet werden. Alles klappt wie Schlag auf Schlag!"
Heinrich nickte zu einem Posten an der Einfahrt, welcher ihm gewinkt hatte.
„Also, Fritz, sorge dafür... ! Ich muss eine Stunde ausruhen. Mir fallen die Augen zu vor Schlaf!"
Heinrich begab sich nach dem Posten. Der Matrose meldete: „Dich will eine Dame sprechen."
„Mich?"
„Ja!" Der Matrose trat aus der Einfahrt und gab einen Wink nach der Straße. Eine vornehme junge Frau in schwarzer Kleidung kam herbei. Der Matrose führte sie zu dem Heinrich.
„Was wollen Sie?"
Das elegante Weib schluchzte, lüftete ihren schwarzen Schleier und tupfte sich mit einem kleinen weißen Taschentuch die Augen. Dann stammelte sie, dass ihr Mann als U-Boot-Kommandant gefallen sei und sie jetzt für ihren Bruder, den die Bolschewisten hier heute verhaftet hätten, Für-
bitte tun und hohe Kaution stellen wolle, wenn er wieder freigelassen würde. Heinrich schaute dem Weib verständnisvoll in die Augen. Plötzlich aber befahl er: „Nein! Weg!" Ein Haufen Offiziersfrauen hatte sich in die Einfahrt gedrängt. Fritz kam aus einer Seitentür gestürzt und befahl einigen Matrosen, die Einfahrt und die Straße frei zu machen. Fritz und Heinrich begaben sich ins Gebäude. Es war Abend. Ein Trupp schwerbewaffneter Matrosen verließ das Standquartier und besetzte die beiden Enden der Straße. Und die Nacht des Schreckens begann.
Die Tür des Speisesaals im Standquartier war weit geöffnet. Es roch nach gekochtem Rindfleisch und sauren Bohnen. Heinrich ging vorbei. Vor seinem Zimmer machte er den Matrosen, der „Posten Korridor" stand, aufmerksam, dass er nicht gestört sein wolle. „Übergib das auch deiner Ablösung!"
Heinrich trat ein. Die Tür schloss sich. Es begann zu stürmen. Regenschauer prasselten gegen die Fensterscheiben. Heinrich war auf einen Klubsessel gesunken. Erschütterung ging durch das Gebäude... Wieder knatterte ein Lastauto nach dem andern, beladen mit verhafteten Offizieren, durch die Toreinfahrt des Standquartiers in den großen Hof. Heinrichs Kieferladen vibrierten. Der Brief von seiner Frau zitterte in seinen Händen... Sirenen und Dampfpfeifen heulten auf. Heinrichs Kopf neigte sich zum unwillkürlichen Schlaf.
„Notlampen klar!" schreien Matrosen durch das Haus. Und Trommelwirbel dröhnte in den Korridoren: „Alarm! — Alarm!" Einige Minuten wildes Gelaufe. Licht erlöschte. Kirchenglocken begannen zu läuten. Die Sirenen und Dampfpfeifen verstummten. Die Lastautos unten im Hof standen still. Matrosenstimmen erschollen. „Gas und Elektrizität ist überall in der Stadt ausgeschaltet! Sämtliche Truppenformationen haben alarmbereit gemeldet!" Es herrschte Ruhe.
Heinrichs Körper streckte sich. Seine Hände hingen schlaff zu Boden. Der Brief war ihm entfallen. Sein Mund
ö ffnete sich. Es hörte auf zu regnen. Mondschein bleichte Heinrichs wetterhartes Gesicht. Die offene Brust, umsäumt vom blauen Matrosenkragen, hob und senkte sich in dem Dunkel. Heinrich schlief. „Los, runter!"
Der Schlafende hörte die gefangenen Offiziere von den Lastautos abspringen. Seine Finger spreizten sich. Dann ballte er die Hände zur Faust. „Zwei Glieder Vordermann!" - „Abzählen, ihr Verfluchten!"
Im Hof liefen sie voll Angst den Befehlen nach. Und wütige Matrosen brüllten: „Lauft, ihr Hunde!"
Heinrich knirschte, zynisch grinsend. Sein Kopf wälzte sich hin und her. Die herabhängenden Arme straffte er durch, dass es knackste. Er schnaubte. Plötzlich lag sein Körper wieder ruhig. Das Toben im Hof hatte aufgehört.
Eine Wolke schob sich vor den Mond. Dumpf antwortete im Hof ein Matrose: „Siebentausendzweihundertneun — im ganzen!" Rau wiederholte eine Stimme: „Siebentausendzweihundertneun!" Dann schrie einer verbittert: „Los! — Mit diesen ebenfalls nach hinten!" Das Getrabe verlief in Patschen, dort war der Sammelplatz für die Offiziere. „Sechster Lastzug klar?" „Jawohl!"
„Abfahren!" Motoren fingen an zu knattern. Dann rumpelten die Lastautos durch die Toreinfahrt zurück in die Stadt... Das Haus bebte.
Mondschein bleichte das verzerrte Antlitz des Heinrich. Seine Augen schienen halb offen. Er röchelte. Schweiß glitzerte auf seiner Stirn. Sein Körper zuckte. Er rang nach Luft. Endlich rückte sich der Schlafende. Und seufzte. Die Uhr im Zimmer schlug. Heinrich brummte: „Die Zahl ist voll. Die Nacht der Revolution beginnt. Kameraden — die Seitengewehre pflanzt auf!" Er grinste. „Und nun: das Ganze — marsch!"
Seine Zähne blinkten im fahlen Mondschein. Er sah den endlosen Zug der zehntausend gefangenen Offiziere auf
dem Weg zum Hafen. Zu beiden Seiten der „für den Tod bestimmten Regimenter" schritten Matrosen mit Bajonetten. Er sah die zerrütteten Gesichter seiner ehemaligen Gewaltherren. Und schnaubte durch die zusammengebissenen Zähne. Plötzlich lachte er heiser. „Musik! Musik!"
Heinrichs Seele fieberte in maßloser Verbitterung. Die Nacht war stockfinster geworden. Regen prasselte plötzlich wolkenbruchartig. Und der Sturm hatte noch zugenommen. Der Schlafende glaubte, er befände sich auf der Kommandobrücke des Lloyddampfers „Bremen", der im Kriegshafen lag und der die Flotte mit den zehntausend Offizieren in See begleiten und dort — vor ihrer Versenkung — ihre Bedienungsmannschaften zu sich an Bord übernehmen sollte. Heinrich hörte, dass ihm ein Signalgast meldete: „Einschiffen beendet! Geschwader sind seeklar!"
Der Schlafende befahl: „Anker auf!" Über Heinrichs Gesicht glitt ein freudiges Lächeln. Er atmete erleichtert. Dann: Immer mehr blieb Wilhelmshaven zurück... Und die Flotte sah er in Kiellinie querab der „Bremen" dampfen. Die See rauschte. Land war bereits außer Sicht. Heinrich lachte auf. „Ha — wie sie schwabbeln, die gepanzerten Särge! Nur zu, immer nördlicher! Sechshundert Meter Tiefe sind euch bewilligt!" Lange lächelte der Schlafende... Plötzlich schrie er: „Stopp! Alle Maschinen stopp!" Und brummte: „Torpedoboote längsseit der Linienschiffe Mannschaften übernehmen. Und hier an Bord absetzen!"
Der Schlafende sah die Geleitflottille im Dunkel der Nacht auf die Flotte zujagen. Er sah sie zurückkehren. Er sah Bedienungsmannschaften der Flotte an Bord der „Bremen" übersteigen. Er sah, wie die Torpedoboote dann nach der Flotte ausschwärmten. Heinrich hörte die Meldung: „Klar zum Schuss!"
Verbissen befahl er dem Signalgast: „Feuersignal hoch!" Drei rote Lampen untereinander zeigte der Lloyddampfer am Vordermast. Die Scheinwerfer der Torpedoboote blendeten die Flotte. — Heinrich zuckte. Die Torpedos wurden
abgefeuert. Der Schlafende krampfte die Lehnen des Sessels. Und richtete sich auf: Er sah die Detonation der menschengefüllten Linienschiffe. Er sah die Flotte mit zehntausend Offizieren in der Tiefe verschwinden. Die Uhr im Zimmer schlug. Frost schüttelte den Schlafenden. Heinrichs Körper fiel zurück. Die Tür des Zimmers öffnete sich. Heinrich starrte in die feuchten Augen seines fünfjährigen Buben. Er sah, wie sein Bub nach ihm schlug. „Du Mörder!"
Schreck riss ihn wach. Vor ihm stand Fritz, sein Freund. „Hein! Wir können ausschleusen!"
Heinrich sprang hoch. „Fritz! Fritz! Lass sofort die Luken der Schiffe öffnen. Behandelt die Gefangenen menschlich und wartet weitere Befehle ab! Los, los, zum Hafen, zum Hafen!"
Fritz schaute erschrocken. Aber der Heinrich drängte: „Himmelsakrament! Verlier keine Zeit! Zum Hafen! Zum Hafen!"
Der Freund verstand plötzlich. Er stürmte aus dem Zimmer. Heinrich eilte zur Wachtstube. Und gleich radaute der Tambour durch die Korridore des Stabsquartiers: „Alarm! Alarm!"
Gewehrschlösser knatterten. Stubentüren wurden zugeschmissen. Gehetzt polterten die Matrosen die Treppe hinunter, durch den Hausflur, nach dem Sammelplatz der Offiziere.
Heinrich befahl den Freiwachen, sämtliche Arbeiter- und Soldatenräte Wilhelmshavens sofort zu einer dringenden außerordentlichen Versammlung ins Offizierskorps herbeizuholen.
Frisch fegte eine Brise über den Reichskriegshafen. Heinrich bestieg ein Auto. Dann raste der Kraftwagen in bläulichen Dunst des aufbrechenden Tages. Auch die Freiwachen schwärmten aus mit Autos, zu Fahrrad oder zu Fuß. Noch schliefen die Einwohner der Jadestädte. Aber bald klirrten leise die Lampenschirme in den Wohnungen. Bald zitterten die Fundamente der auf Schlick gebauten Häuser, ganz sachte.
Wie steife Leichen mit hochgestellten Mantelkragen saßen im großen Saal des Offizierskasinos die Arbeiter- und Soldatenräte. Sie fröstelten. Viele senkten die Köpfe. Die Beherzten seufzten auf. Denn Heinrich wiederholte feierlich: „Sind wir uns gestern über einen schweren Entschluss einig geworden, so müssen wir uns heute für den allerschwersten entscheiden. Der Auftakt zum Blutgericht ist gegeben! Unser Hass schreit! Kameraden! Die Flotte liegt mit zehntausend Menschen seeklar! Wir können ausschleusen!"
Irgendeiner der Arbeiterräte stöhnte: „Lasst sie leben!" Heinrich schaute verzweifelt. Plötzlich schrie er auf. „Das Recht der Sühne, der furchtbaren Vergeltung steht uns zu!" Und da — senkte sich sein Blick. Heinrich nickte vor sich hin und sprach: „Aber wir müssen auf unsere Rache verzichten! Wir müssen gegen unsere namenlose Verbitterung rebellieren, um der jungen Revolution willen! Denn die Revolution verlangt Amnestie! Sie verlangt das ganze deutsche Volk restlos zum Aufbau einer gemeinwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung. Sie verlangt von uns, dass wir die Verelendeten, Verkrüppelten und die durch den verfluchten Krieg demoralisierten deutschen Volksmassen vor der Verzweiflung schützen! Aber, Kameraden", betonte Heinrich, „gelingt den Ententekapitalisten, ihre Rache und Habgier an unseren Volksgenossen zu befriedigen, Kameraden, das würde in seinen Folgen den Tod von Millionen deutscher Proletarier bedeuten. Unsere jahrelange mühselige und opferreiche Vorbereitung zur Befreiung der Unterdrückten wäre umsonst gewesen! Die Verteidigung aller Erfolge unserer jungen Revolution bedingt daher, dass das verelendete deutsche Volk nicht zur Anarchie getrieben wird, sondern sich in voller Disziplin mit den gewaltigen revolutionären Massen Russlands verbindet, um vereint die sozialistische Wirtschaftsordnung aufzubauen, die jedem Menschen eine würdige Existenz garantiert. Diesem heiligen Gebot opfert der revolutionäre Zirkel sein Recht der Rache! Kameraden! Ich fordere nun, dass ihr euch auch über unseren allerschwersten Entschluss einigt! Wer dafür ist, dass darum die zehntausend Offiziere dem Leben zurückgegeben werden, den bitte ich, die Hand zu erheben!" Heinrich stand erschüttert.
Denn die müden Arbeiter- und Soldatenräte sprangen jubelnd auf. „Alle — alle!" Heinrich rief ergriffen: „In einigen Stunden sind die Schiffe leer!" Er verließ den Saal.


2.

Die Sturmflut der heimkehrenden Truppen brandete über Deutschland. Tag und Nacht erschütterten eilende Militärzüge die Fahrdämme. Überall wurde rot geflaggt und gearbeitet. Die Bahnhöfe blühten im frischen Schmuck. Die Feldgrauen lachten. Auch die Viehkessel von 1914 brodelten wieder auf den Bahnsteigen. Und unermüdlich, dabei meisterhaft, kippten die Rotkreuzschwestern aber Tausende Militärkochgeschirre voll mit breiigen Suppen, mit Steckrübengemüse oder mit mokkaschwarzem Ersatzkaffee. Die Frontsoldaten kauten und verwunderten sich. Denn auch Dauerwurst, Tafelbutter, gute Zigarren, Offizierszigaretten, Offiziersküchen und die „heiligen"- Offizierslatrinen, alles stand ihnen nun zur Verfügung. Die Soldatenräte hatten die Entlausung befohlen! Plündern und Tragen von Offiziersachselstücken war mit Lebensgefahr verbunden. Musterhaft nahm die Demobilisierung ihren Anfang. Das Volk regierte sich selbst. Die Revolution feierte ihren Sieg.
Aber der November ging zu Ende. Und die deutschen Millionenheere waren erwerbslos. Eisig pfiff der Wind. Da flatterten Flugblätter auf die Hungernden und Frierenden:
„Deutsche! — Schützt Deutschland vor dem Bolschewismus! Wahrt eure Frauen vor Schändung und eure Kinder und Greise vor der russischen Schreckensherrschaft! Steht ein für Ruhe, Ordnung und Wiederaufbau unseres Vaterlandes!"
Die Gegenrevolution hatte sich erhoben! Die Seeleute des revolutionären Zirkels aber wechselten ihre blauen Marineuniformen mit der feldgrauen. Sie nahmen Stahlhelme, Gasmasken, Pistolen, Handgranaten, Maschinengewehre, Minen- und Flammenwerfer und folgten dem Ruf des revolutionären Proletariats. Und die Leiter der revolutionären Zirkel siedelten mit allen revolutionstreuen Kameraden der Marine-Nord- und -Ostseestation im Auftrag der sozialistischen Regierung nach Berlin über.
Die Reichshauptstadt. Rede- und Pressefreiheit! Überall erhitzte Diskussionen. In den düsteren Kellerwohnungen, in weltentlegenen Mansarden der Hinterhäuser, in Straßen-, Untergrund- und Vorortbahnen, in Omnibussen und Vergnügungssälen, in Massenversammlungen der verschiedensten Parteien, an den Verkehrsknotenpunkten, allenthalben kämpfte das „Für" mit dem „Wider". Rätesystem oder Parlament. Kommunismus oder privatkapitalistische Wirtschaftsweise. Die Novemberrevolution stand windschief! Denn die Ententekapitalisten lehnten die revolutionären Arbeiter- und Soldatenräte ab. Und die Bürgerlichen organisierten sich gegen das Rätesystem. Sie riefen die berufslos gewordenen Offiziere und Soldaten zum Kampf gegen das Rätesystem auf. Und forderten Teilnahme an der Regierung. Verzweifelt gellte der Schrei des revolutionären Großstadtproletariats. „Es lebe die Räterepublik! Nieder mit der Nationalversammlung!"
In der politischen Hitze blühte die antibolschewistische Propaganda. Denn die Fabrikschlote standen kalt. Der Aufmarsch zum Kampf zwischen Kapital und Arbeit begann! Bald krachten die ersten Schüsse des Bruderkrieges.
Unauffällig errichteten die revolutionären Matrosen ihr Standquartier im ehemaligen kaiserlichen Marstall. Heinrich, seine Wilhelmshavener Freunde und eine Abteilung Seeleute aus Cuxhaven besetzten das Berliner Schloss. Ruhig leistete die Marinetruppe ihren Sicherheitsdienst. Aber ihr Führer, der Heinrich und sein Freund Fritz, trafen Vorbereitungen zur revolutionären Verteidigung, während die gegenrevolutionären Offiziere und Berufssoldaten schwerbewaffnet die Stadt durchzogen.

In einem Salon des Schlosses standen Heinrich und Fritz an dem runden Tisch, auf welchem zwei große Stadtpläne ausgebreitet lagen. Kein Wort fiel. Sie arbeiteten. Plötzlich richtete sich Heinrich auf. „Also zwölf Bezirke — drei Zentraldepots!"
Fritz knurrte: „Mit tausendsechshundert Mann — nicht ein einziges Geschütz und keinen Arzt?"
Der Heinrich: „Zwölf Bezirke, drei Zentraldepots! Stimmt! Und tausendsechshundert entschlossene Kameraden holen sich Geschütze und zwingen die Ärzte!"
„Uns holt der Teufel! — Die Geschütze werden uns zwingen... "
Heinrich erwiderte: „Wer Angst hat vor dem Tod, soll auch nicht töten!" Er drehte die Kurbel des Telefons. Dann nahm er den Hörer. „G. S. — Hallo?... Im Dunkelwerden abrücken! Sind die Abteilungen klar? — Wenn erledigt — Meldung!"
Heinrich legte den Hörer ab. Dann arbeitete er, über den Stadtplan gebeugt. Fritz beschäftigte sich mit Angriffsmaßnahmen auf die Kasernen der gegenrevolutionären Truppen. Mit größtem Eifer verfolgten die beiden Revolutionäre ihre Arbeit. Nur ihre Atemzüge waren zu hören. Fritz schaute zum Heinrich. „Tausendsechshundert Kameraden, einige Tanks und die übrigen Kleinigkeiten, die noch dazu gehören, würden die Revolution in wenigen Stunden reparieren!"
Heinrich nickte. „Mit Speckerbsen und Kommissbrot sabotiere ich die Konterrevolution noch schneller!"
Plötzlich bemerkte Fritz: „Hast du ,Stirner' gelesen, Hein?"
„Gelesen? — Vor die Stirne könnte ich mich schlagen... " Heinrichs Gesicht faltete sich. „Aber wir haben unsere schwache Seite erkannt! Nun kommt's hart auf hart!"
Eine Ordonnanz öffnete die Tür und meldete: „Hier ist eine Rotkreuzschwester. Darf sie rein?"
Heinrich bejahte. Der Matrose wich zur Seite. Else, Heinrichs Schwester, betrat das Kommandanturzimmer der revolutionären Schlossbesatzung. Sie grüßte herzlich. Fritz stellte ihr einen Sessel bereit. Er bat sie, Platz zu nehmen. Während Else sich niederließ, schaute sie respektvoll nach Heinrich. „Ich hörte, ihr solltet zur Verstärkung noch zehntausend Mariner aus Kiel erhalten?" —
Heinrichs Blick wurde ernst und streifte flüchtig den Freund. Fritz, der sich eine Zigarette anzündete, kniff ein Auge zu. Lächelnd wandte sich Heinrich nach seiner Schwester. „Ließen dich die Posten, ohne dir Schwierigkeiten zu machen, ein?" Er setzte sich. Else antwortete selbstbewusst: „Die Mariner respektieren das Rote Kreuz! Friedel aber wiesen sie zurück!"
Heinrich staunte. „Dann wartet sie gewiss in der Kälte?" „Sie wird sich mit dem Posten unterhalten!" Fritz entschuldigte sich und verließ den Salon... Heinrich saß stumm. Er sann. Seine Schwester sah interessiert zu dem großen braunpolierten Tisch, auf welchem die Stadtpläne ausgebreitet lagen. Peinliche Stille drängte sich zwischen die Geschwister. Unwillig erhob sich Else. „Warum bist du so verstimmt, Hein?" Sie ging an den Arbeitstisch. Aber Heinrich verhinderte in gebietendem Ton: „Nicht hier... " Verlegen nahm Else ihren Platz ein. „Du bist sehr liebenswürdig, Hein!"
Heinrich antwortete mit einem Lächeln, das seiner Schwester fremd war: „Hast du Interesse für die Straßen? Ich nahm an, dass du Berlin kennst!"
„Und ob! Nur staune ich, weil ihr arbeitet wie Generäle!" Heinrich senkte den Kopf und antwortete dumpf: „Wir müssen! Die kaiserlichen Schlachtmeister verlangend!" Else räusperte sich und seufzte.
Heinrich murmelte: „Sanitätspersonal aber ist unsere Sorge!"
„Sanitätspersonal?"
Heinrich richtete sich auf und zündete sich eine Zigarette an. Dann sagte er freundlich: „Else, als ich dich besuchte, versprachst du, nicht ins Schloss zu kommen."
Else stand auf. „Bin ich lästig?"
Die Tür öffnete sich. Fritz kam mit Friedel. Frisch belebt eilte Heinrich ihr entgegen. „Guten Abend! — Entschuldige, weil die Posten... Es war mein Befehl. Aber ich wusste nicht... "
Friedel nahm Platz. Der Kronleuchter strahlte festlich auf. Besorgt forschte Heinrich: „Frierst du, Friedel?"
Sie schüttelte den Kopf. Fritz unterhielt sich lebhaft mit den beiden Damen. Heinrich war froh. Er arbeitete wieder. Die Unterhaltung dauerte lange. Endlich schlug die Uhr neun. Die beiden Schwestern erhoben sich. Else erklärte: „Aber natürlich stelle ich mich der Marinetruppe zur Verfügung!" Fritz dankte. Heinrich bekräftigte: „Brav, Else!" Sie erschrak, denn das Telefon rasselte. Hastig nahm Heinrich den Hörer: „G. S.! - Hallo?... Nicht angreifen! - Bloß verteidigen."
Heinrich legte den Hörer auf den Tisch und knurrte: „Im Norden fließt schon Blut!" Else und Friedel überhörten es. Sie verabschiedeten sich von Fritz. Dann begleitete Heinrich seine Schwestern aus dem Schloss.
Erregt langte Heinrich wieder in seinem Arbeitsraum an. Fritz schritt nach der Mitte des Salons. Er schob die Hände in die Hosentaschen und starrte zu Boden. Nervös fragte Heinrich: „Was ist, Fritz — was ist?"
Fritz rührte sich nicht und antwortete monoton: „Das Weib ist gefährlich!"
Heinrich lachte. „Unserem Gegner!" Dann beteuerte Heinrich: „Fritz — Else verhehlt mir nichts!"
Fritz begab sich an den Tisch und fragte: „Hast du geforscht, wo sie die Nachricht von den zehntausend Marinen herhat?" Heinrich seufzte. „Zehntausend Berufssoldaten der Kieler Besatzung werden demnächst in Berlin eindringen.
Diese Truppe nennt sich ,Eiserne Division'! Der Mann meiner Schwester gehört dem Sanitätskorps jener gegenrevolutionären Garde an!"
Fritz nickte bedenklich. „Hein, Hein... !" Heinrich schwieg und arbeitete. Fritz ging unruhig hin und her.
Endlich trat Heinrich an den Tisch zurück. „Fritz, auf einige Tage werde ich verschwinden!"
Die beiden Revolutionäre besprachen sich. Der Morgen dämmerte. Heinrich verließ den Salon. Bald aber traf er wieder ein. Er trug Zivil. Und verabschiedete sich von Fritz.

Weihnachten kam näher. Tannen dufteten. Und Schnee fiel. Der Straßenverkehr hastete. Der Matsch spritzte. Die Schaufenster der Warenhäuser prunkten. Und freudig erregt eilten die Menschen dem bevorstehendem Christfest entgegen —
ahnungslos.
Auch Heinrich rüstete eifrig. Mit einem Teil der Marstallmatrosen hatte er ein Ausstellungsgebäude im aufrührerischen Nordwesten bezogen und zum Stützpunkt ausgebaut. Und auf den Dächern zweckdienlicher Häuser hatte er Beobachtungs- und Signalstationen errichten lassen. Einige seiner zuverlässigsten Kameraden durchstreiften schon seit Tagen in Zivil als Geheimpatrouillen die Stadt und die Regierungsgebäude. Die Marinemannschaften aber mieden die Straßen. Sie wurden für Häuser- und Straßenkämpfe ausgebildet.
Täglich musterte Heinrich seinen Stoßtrupp und kontrollierte die Waffen. Er sorgte für gute Verpflegung, für reichliche Munition und für Sanitätspersonal. Das neue Quartier war Heinrichs Freude. Denn seine Kameraden versahen ihren Dienst begeistert. Und alles funktionierte. Schon war der Kampfesmut im revolutionären Stützpunkt so gediehen, dass sich jeder nach der Stunde sehnte, in der Heinrich den Befehl gab, die johlende Konterrevolution zu stellen.
Nachdem Heinrich seinen Wilhelmshavener Freund, Jann, jenen Torpedobootheizer, zum Leiter des revolutionären
Stützpunktes bestimmt und ihm weitsichtige Kameraden zur Seite gestellt hatte, begab sich Heinrich zurück ins Berliner Schloss.
Es war zwei Tage vor Weihnachten, als Heinrich wieder bei Fritz eintraf. Ruhig hörte Heinrich den Bericht des Freundes vom Konflikt zwischen der revolutionären Marinetruppe und der sozialistischen Regierung. Dann antwortete er entschlossen: „Unsere Pflicht erfüllen wir rücksichtslos!"
Fritz aber ging gänzlich entmutigt ans Fenster. Und knirschte: „Fluch lastet auf uns seit der Stunde, wo unser Hass versagte!"
Heinrich schaute finster.
Fritz schrie aus Qual: „Raubgesindel hat sich bei uns eingeschlichen! Die Truppe bietet keinen Verlass! Sakrament, Sakrament!" Fritz sank in einen Sessel. Wut aber riss Heinrich hoch. Fluchtartig verließ er das Arbeitszimmer und eilte nach dem Raum der Hauswache. Wie wahnsinnig schrie Heinrich auf den Führer der Wache ein: „Sofort sind sämtliche Posten einzuziehen, aber alle! — Ebenso die Freiwachen alarmieren! Dringende Versammlung! Kein Mann darf fehlen! Meldung im Kommandanturzimmer!"
Der Wachthabende schaute erschrocken. Noch ehe der Befehl verhallte, war Heinrich aus dem Raum verschwunden! Keuchend hatte er sein Arbeitszimmer betreten. Er setzte sich und berichtete seinem Freund. Plötzlich brach er ab: „Wer die Revolution schändet, den stellen wir an die Wand!"
Ein Matrose trat ein und meldete: „Alles angetreten zum Appell!" Heinrich und Fritz folgten der Ordonnanz nach der versammelten Schlossbesatzung.
Aufmerksamkeit bannte die Versammelten, als Heinrich auf einen Tisch sprang. Aber als er anklagende Worte an sie richtete, entstand unter den revolutionären Seeleuten nicht wenig Unruhe. Gelassen aber hob Heinrich die Hand und schrie unter die geladenen Gemüter der Matrosen: „Kameraden! — Nun wisst's! Ruchlose Halunken unter uns haben sich
an dem Gut vergriffen, das uns die Revolution anvertraute. Während sich eure Führer bei Tag und bei Nacht abmühen, um den kommenden schweren Ereignissen gewappnet entgegentreten zu können, schleichen Menschen aus euren Reihen in diesem Bau herum und plündern! Kameraden! Ich lehne es ab, Schandtaten mit meinem Namen zu decken! Und belege euch alle mit dem Verdacht des Treubruchs!" Die Versammelten protestierten wild durcheinander.
„Ruhe!" Als Heinrichs Stimme nicht durchdrang, feuerte er ein paar Schüsse nach der Decke. Dann lenkte er ein: „Derjenige aber, welcher den Mut hat, gegen den Kameraden das Gewehr anzulegen, der uns verrät oder den Namen der revolutionären Truppe besudelt, der mag die Hand erheben!" Heinrich schaute paff. Denn alle stimmten dafür. Schnell schloss Heinrich: „Kameraden, Fritz wird euch jetzt den Bericht erstatten über unsere Lage!"
Fritz sprach. Er fesselte die Gemüter der Matrosen. Endlich betonte er kräftig: „Kameraden! — Weil wir keine Polizeigarde, sondern Stoßtrupp der Revolution sind, weil deshalb uns schwerste Kämpfe bevorstehen, weil wir wissen, dass Leute unter uns sind, die für Frau und Kind, für Mutter oder Vater zu sorgen haben, darum erkläre ich feierlichst, dass wir es keinem übel nehmen, wenn er nach Schluss der Versammlung im Kommandanturzimmer seine Entlassung aus der revolutionären Marinetruppe fordert!" Die Versammlung war zu Ende.
Heinrich und Fritz beauftragten den Führer der Hauswache mit der neuen Zusammenstellung der Schlosswache. Einige Stunden später verließen dreißig entlassene Matrosen das Schloss. Fritz zündete sich eine Zigarette an. Und Heinrich atmete auf. „So — das Gesindel sind wir los!"

Der Tag neigte sich. Die Schlossbesatzung bezog ihre Gefechtsstationen. Heinrich holte die Außenposten ein. Und stellte sie, wie die Matrosen der Hauswache, an den Treppen und in den Korridoren der Stockwerke als Befehlsübermittler oder Munitionsträger auf. Fritz ließ die Maschinengewehre nachsehen und Kühlwasser bereitstellen. Alle Lichter wurden abgeblendet. Und Heinrich lief von einer Gefechtsstation zur andern und instruierte. Dann, als „klar zum Gefecht" gemeldet war, gingen die beiden Matrosenführer in den leeren Raum der Hauswache, in dem der Gefechtsbeobachtungsstand war.

Heinrich lag vor dem Ausguck und schaute über den dunklen Schlossplatz. Fritz verharrte am Tisch. Es war nach Mitternacht, als er sich erhob und fragte: „Ist das Eingangsportal offen?"
Heinrich stand auf. Und gähnte. „Ja!" Müde schritt er nach der Tür. Während er sich die Augen rieb, brummte er mürrisch: „Ich kontrolliere die Stationen!" Rasch verließ Fritz seinen Platz am Tisch und legte sich vor die Beobachtungsscharte. Er knurrte verschlafen: „Die Bereitschaft wird wieder in nutzlose Kriegswache auslaufen!" Heinrich wiegte den Kopf und ging seine Ronde. Fritz rief plötzlich: „Die Kampfreserven!" Der Befehlsvermittler gab lang gezogen und monoton den Befehl durch das dunkle Schloss. Und bald meldeten sich die Reservemannschaften der verschiedenen Gefechtsstationen bei Fritz „zur Stelle". Fritz unterrichtete seine Kameraden. Vom Eingangsportal kamen Schritte näher. Sporen klirrten. Und eine Stimme erscholl: „Posten?" Fritz mahnte die Matrosen der Kampfreserve: „Sst!" Und entsicherte seine Pistole. Geräuschlos schlich er sich zur Tür, . die nach dem Vorraum des Hauptportals führte. Und rief den Ankömmling an. Die Gestalt stand und antwortete: „Nicht schießen!"
Fritz befahl: „Licht!" Ein Matrose kam dem Befehl nach. Fritz sah einen Feldgrauen mit Stahlhelm, der beide Hände erhob und am linken Arm die weiße Binde trug. „Herkommen!"
Der Feldgraue folgte. „Wer sind Sie?"
„Parlamentär!"
Fritz forderte den Feldgrauen auf, die erhobenen Arme niederzulassen.
Heinrich betrat den Raum. „Warum brennt hier Licht?" „Drüben sammeln sich Truppen!"
Fritz erwiderte: „Hier ist der Parlamentär!"
Heinrich ging hin. „Was wollen Sie?" Er stellte sich dem Feldgrauen als Führer der revolutionären Schlossbesatzung vor. Der Gesandte des Gegners griff in die Brusttasche. Er überreichte dem Heinrich ein Schreiben. Heinrich las. Dann gab er es zurück. „Sagen Sie Ihrem General, dass wir das Schloss lebend nicht verlassen!"
Der Parlamentär verneigte sich und ging.
Fritz bemerkte leise, aber grimmig: „Der trug Mannschaftsuniform."
„Diese Gesellschaft arbeitet mit allen Tricks!" sagte Heinrich und erklärte seiner Umgebung: „Der Befehlshaber der Regierungstruppen fordert uns auf, binnen zehn Minuten das Schloss zu übergeben, widrigenfalls er diesen Bau erstürmen lässt."
Heinrich sah auf seine Uhr. „In acht Minuten beginnt der Bruderkrieg — den wir im November ablehnten! In acht Minuten aber wird uns Gelegenheit geboten, vieles wiedergutzumachen! Kameraden, auf die Gefechtsstationen — marsch, marsch! — Alles klar zum Gefecht!"

Vor dem Schloss krachte ein Gewehrschuss. Heinrich rief lang gezogen: „Sperrfeuergruppen, entsichern! Front-MG-Gruppe erster Stock links, nach rechts ... MG-Gruppe Dach, den Platz und das Hinterhaus... MG-Gruppe zweiter Stock rechts, nach links ver-tei-di-gen! Parterreschützen die Sturmkolonnen befeuern!" Deutlich artikulierend gaben die Befehlsübermittler das Ankündigungskommando nach den Gefechtsstationen. Unterdessen wandte sich Heinrich an Fritz, der an einer Beobachtungsscharte lag: „Ich gebe noch schnell einen Funkspruch nach dem Stützpunkt!" Kaum
hatte Heinrich ausgesprochen, feuerte der Feind eine Gewehrsalve gegen das Schloss. Fritz mahnte: „Nicht antworten!" Heinrich grinste. „Noch nicht, aber... " Und eilte aus dem Gefechtsbeobachtungsstand die Treppe hoch, aufs Dach. Und bald rief er mit einer Morselampe die nächste Funkstation des revolutionären Stützpunktes an, die auf einem Haus der dem Schloss gegenüberliegenden Gebäudereihe war. Endlich wurde sein Anruf beantwortet. Schnell überreichte Heinrich einem Signalgast die Morselampe und diktierte. Der Matrose morste: „regierungstruppen haben ultimatum gestellt — wir lehnten Ultimatum ab — kampf beginnt — sperrt kampfzone — wenn rote rakete gesichtet — den gegner im rücken angreifen — wir halten aus. hein!"
Die Fernsprechstationen des revolutionären Stützpunktes meldeten „verstanden". Heinrich mahnte seine Signalgasten, scharf Ausguck zu halten. Dann hastete er zurück zu Fritz. Denn die Regierungstruppen eröffneten ein mörderisches Maschinengewehrschnellfeuer.
Noch war kein Schuss von den revolutionären Matrosen erwidert worden. Aber kaum hatte sich Heinrich neben Fritz an die Gefechtsbeobachtungsscharte gelegt, da begann ein feindlicher Stoßtrupp unter Hurrarufen zu stürmen. Heinrich atmete erregt. Plötzlich befahl er ruhig wie bei einer Übung: „Überall — Schnellfeuer!"
Und wild durcheinander knatterten die Maschinengewehre der revolutionären Schlossbesatzung.
Die Nacht war mondhell. Mit zusammengebissenen Zähnen verfolgte Heinrich durch den Ausguck die Wirkung seines Befehls auf dem Schlossplatz. Der Stoßtrupp war an dem Feuer der Parterreschützen abgeprallt. Die Sperrfeuergruppe bestrich mit schweren Maschinengewehren das Rückzuggelände. Die Front-MG-Gruppen feuerten dem Stoßtrupp in die Seiten. Und während die Parterreschützen die Köpfe der Sturmkolonnen bestrichen, feuerten die Dachschützen in die Fenster der gegenüberliegenden Häuser, aus denen feindliche Streitkräfte sich am Kampf beteiligten. Endlich erhob Heinrich die Hand. Der wilde Feuerlärm im Schloss schwächte ab. Heinrich zählte... Und grinste. „Ungefähr
achtzig sind's... "
Fritz stand auf und knurrte: „Vielleicht ist den andern
drüben die Lust vergangen!"
Auch die Regierungstruppen stellten das Gefecht ein. Ruhe herrschte. Die Luft war Pulvergestank. Auf dem Schlossplatz wimmerten zerschossene Menschen und Tiere. Heinrich befahl: „Gefechtspause! — Waffen nachsehen! — Die Gefechtsstationen ihre Ausfälle melden!"
Und wie auf ein Kommando schallte durchs dunkle Schloss das siegesbegeisterte „Hurra" der revolutionären Matrosen.
Der Läufer der Signalstation des Schlosses betrat den Gefechtsbeobachtungsstand und übergab Fritz die notierte Antwort, die der revolutionäre Stützpunkt gemorst hatte. Dann entfernte er sich. Fritz las und reichte den Fernspruch dem Heinrich, der am Boden vor dem Ausguck lag und mit dem Feldstecher nach den Regierungstruppen spähte. „Hier, Hein! - Alles klar!" Heinrich flüsterte kurz: „Störe mich nicht!" Wieder kam ein Befehlsübermittler in den Gefechtsbeobachtungsstand und meldete: „MG-Gruppe Dach — zwei Ausfälle — ein Kamerad tot — einer an der Schulter verwundet — Reserven sind eingesprungen — alle Stationen gefechtsklar!"
Plötzlich schrie Heinrich: „Breitseite auf auffahrende Artillerie!"
Fritz warf sich vor die Beobachtungsscharte. Der Ankündigungsbefehl war nach den Stationen geleitet. Heinrich zuckte. „Feuern!" Und gleich knatterten die Maschinengewehre auf die auffahrende Artillerie.
Plötzlich eine gehörzerreißende Detonation oben im Schloss. Durch die Gefechtsbeobachtungsscharten stieß die Luft, dass dem Heinrich und dem Fritz der Atem stockte. Fritz sprang auf. Er taumelte. Die wuchtigen Mauern des
Schlosses schienen zusammenzubrechen, denn salvenweise krepierten die Granaten der regierungstreuen Geschütze in den Kampfstationen der revolutionären Matrosen. Trotz diesem Höllenlärm stürmte eine Befehlsordonnanz in den Gefechtsbeobachtungsstand und schrie... Der Geschützdonner aber machte jedes Wort unverständlich. Fritz legte die Hand ans Ohr und winkte den Kameraden zu sich unter die blaue Lampe. Schreiend wiederholte der Matrose: „Erster Stock — alles tot — Regierungstruppen feuern mit Gasgranaten!"
Heinrich starrte entsetzt. In heilloser Wut schrie er auf den Befehlsübermittler ein. Der Matrose nickte und verschwand.
Fritz beugte sich zu Heinrich nieder und riet ihm, er solle sich nach dem Sammelraum im unteren Korridor begeben und mit den eintreffenden Maschinengewehrgruppen den zu erwartenden Sturmangriff der Regierungstruppen abwehren. Dann rannte Fritz nach dem beschossenen Stockwerk. Im Laufen legte er sich die Gasmaske an, die er am Koppel trug. Ungeheuer tobte und toste der Kampf. Ununterbrochen platzten die Sprenggranaten in den Salons. Mauern stürzten. Das Schloss bebte. Die Fundamente hüpften. Aber unerschütterlich blieb der Trotz der revolutionären Seeleute.

Achtundzwanzig Matrosen mit sechs schweren Maschinengewehren trafen im Sammelraum des unteren Korridors bei dem Heinrich ein. Alle trugen Gasmasken. Die Ohren hatten sie mit Putzwolle verstopft. Die Uniformen waren weiß von Schutt.
Wortlos begann Heinrich den dicken Teppich im Sammelraum aufzurollen. Seine Kameraden griffen zu. Dann schleppten sie den Teppich nach dem inneren Ende des Korridors und breiteten ihn aus. Danach klopfte Heinrich einem Matrosen auf die Schulter. Beide gingen zurück nach dem Sammelraum. Bald kamen sie mit einem schweren Maschinengewehr wieder und brachten es, acht Meter vom Ende
des Korridors entfernt, auf dem Teppich so in Stellung, dass die Gewehrmündungen nach dem vorderen Ende des Korridors zeigten. Heinrich gab den Matrosen durch einen Wink zu verstehen, die anderen Maschinengewehre zu holen. Als hätten sie Nerven aus Stahl, so ruhig führten die revolutionären Seeleute trotz des Granatengewitters oben im Schloss den Befehl aus. Nachdem die sechs Maschinengewehre auf dem Teppich nebeneinander (auf Knie- und Bauchschuss eingestellt) gestaffelt waren, legten sich die Bedienungsmannschaften schussfertig hin. Hinter ihnen an der Endwand des Korridors lagen die Reserven und füllten Patronengurte. Endlich hörte das Artilleriefeuer auf.
Totenstille erfüllte den düsteren Korridor. Wie Schatten lagen die Matrosen neben ihrer entsicherten Waffe: Sie lauerten scharf voraus — nach dem Eingangsportal.
„Hurra! 'rra! 'raa!" Wild brüllend stürmte ein Stoßtrupp des Gegners in die „Mausefalle" der revolutionären Seeleute. Aber immer noch verhielten sich die Matrosen ruhig. Schon war der Nahkampftrupp bis auf zwanzig Meter Distanz an die dunklen revolutionären Maschinengewehrgruppen herangekommen. Da eröffnete plötzlich der Heinrich ein rasendes Geknatter. Seine Kameraden steigerten das Gefecht zum erbittertsten Feuerwirbel. Der gegenrevolutionäre Stoßtrupp stand entsetzt. Unaufhörlich befeuerten die Matrosen den dunklen Menschenhaufen. Schon kochte das Kühlwasser ihrer Maschinengewehre. Aber immer wieder legten die Bedienungsmannschaften frische Patronengurte ein. Mit aller Kraft stemmten sich die Seeleute gegen ihre stoßenden Maschinengewehre. Zäh kämpften sie mit dem Tod. Der Korridor war ein Hexenkessel. In einem fort zuckten die bläulichen Schussflammen nach den gegenrevolutionären Menschen. Endlich leuchtete grau der anbrechende Tag in die Stätte des Hasses. Heinrich stellte das Feuer ein. Dann schritt er von Schütze zu Schütze und gab den Befehl: „Stopp!" Das furchtbare Echo des mörderischen Gefechts verhallte langsam. Nachdem die Revolutionäre ihre Reservemaschinengewehre und Munition und die Handgranaten aus dem Sammelraum geholt, trugen sie ihre Waffen über die zerschossenen Leichen des feindlichen Stoßtrupps zum Hauptportal.

Es war hell geworden. Die revolutionären Maschinengewehrgruppen hatten ihre Gasmasken abgenommen und lagen wieder gefechtsbereit hinter den beiden Seiten des Eingangsportals in Deckung. Ihre tiefen Atemzüge rauschten. Die Körper der Matrosen zitterten. Einigen klapperten die Kieferladen. Denn durch das offene Portal blies eisig der Morgen des 24. Dezember. Und in den Ohren der Seeleute echote der Feuerlärm der vergangenen Nacht wie Geknatter sechszylindrischer Motoren ohne Schalldämpfer in einem Tunnel. Ab und zu stöhnte einer der revolutionären Menschen. Wie erschreckt richteten sich dann wirr schauende Gesichter zum Portal. Und sanken gleich wieder, müde. Schon waren Stunden in dieser folternden Unruhe vergangen. Dadurch zur Verzweiflung gereizt, knirschte ein Matrose durch die zusammengebissenen Zähne. Plötzlich schrie Heinrich auf: „Kameraden! Fritz!" Und er streckte sich am Boden. Er keuchte röchelnd. Schaum quoll aus seinem Mund. Entsetzen riss die Matrosen hoch. Fritz stürmte hin zum Heinrich und schrie: „Raus! Schnell raus! — Gas!"
Panik entstand. Ein Matrose war mit erhobenen Armen aus dem Portal gestürmt. Gleich aber sprang er wieder zurück in den Vorraum. „Der Platz liegt voll Toter!" Hastig packte Fritz den Heinrich am Rockkragen und schleifte so den schlaffen Körper an die Luft. Bald lagen die revolutionären Seeleute restlos erschöpft, im Todeskampf nach Atem ringend, vorm Schloss in der kalten Wintersonne.

Gleich nachdem Heinrich den Fernspruch vom Schlossdach nach dem revolutionären Stützpunkt gegeben, war die Kampftruppe des revolutionären Stützpunktes schwerbewaffnet nach dem Gefechtsplatz aufgebrochen. Unauffällig
besetzte sie die Straßenecken der Stadtteile, die an das Schloss grenzten. Schwere Maschinengewehrgruppen schoben sich im Schatten der Häuser zum Kampfplatz vor. Sie öffneten Gebäude und nisteten sich ein, auf Dächern, die vortreffliches Schussfeld boten. Die Scharfschützen aber schlichen hart an den Feind heran und nahmen Deckung in Kanalschächten, hinter Litfasssäulen oder schmiegten sich schussfertig in die Gossen. Während die Artillerie der Regierungstruppen begonnen hatte, das Schloss „sturmreif" zu schießen, während der Geschützdonner dumpf über Berlin rollte, während Fritz vom Dach des Schlosses die roten Raketen in die Nacht feuerte, gab Jann, der Führer des revolutionären Stützpunktes, den Angriffsbefehl auf die gegenrevolutionären Truppen. Fahl lag Mondschein auf dem Feind. Die revolutionären Matrosen überschütteten ihr Ziel mit Prasselfeuer. Bald verstummten die feindlichen Geschütze.
Immer enger zogen die revolutionären Straßenkämpfer den Kreis um den fassungslos gewordenen Gegner. Ununterbrochen knatterten ihre Maschinengewehre. Jann drang mit einem Panzerauto ins verbittertste Gefecht. Sprungweise folgten seine Stoßtrupps. Wie die revolutionären Matrosen im unteren Korridor des Schlosses, so kämpften ihre Kameraden vom revolutionären Stützpunkt in den Straßen und auf den Dächern. Die Regierungstruppen wichen. Berlin zitterte. Ungeheuer wütete der Hass. Und die Verwundeten verbluteten hilflos.
Endlich war es Tag geworden. Schreiend, das Gewehr klar zum Anschlag oder mit gefechtsbereiten Pistolen und Handgranaten, stürmten die Kampfkolonnen des revolutionären Stützpunktes. Der Feind drängte sich verzweifelt in eine Straße und durchbrach die revolutionäre Front. Getrieben von vernichtendem Feuer, flohen die Regierungstruppen mit ihren Geschützen und ihren Verwundeten ins Stadtinnere; die tapfersten und versprengten retteten sich in die Häuser.
Fenster öffneten sich. Das Gefecht begann wild. Wo ein
Schuss krachte, wurde hingeschossen. Ziellos fielen die Handgranaten. Der Häuserkampf tobte fanatisch. Endlich ertönte ein Hornsignal. Frische Sturmkolonnen mit der roten Armbinde schwärmten in die Straßen. Wütiges Gebrüll: „Fenster zu! — Straße frei!" Revolutionäre Maschinengewehre „bestrichen" die Häuserfronten. Dann säuberten die Matrosen das Stadtviertel.

Die Signalgasten der revolutionären Schlossbesatzung hatten ihre erschöpften Kameraden der Kälte wegen dicht nebeneinander gelegt. Immer höher schien die Sonne. In den nahen Stadtteilen krachten nur noch vereinzelt Gewehrschüsse und Handgranaten. Plötzlich heulte Heinrich wie schwer verwundet. Gepeinigt wälzte er den Kopf auf den Steinplatten. Gehetzt arbeitete seine Brust. Ein Signalgast zog seinen Waffenrock aus und warf ihn über den Heinrich. Da bäumte sich der Bewusstlose wie unter erdrückender Last. Er schrie: „Wehe dem! Wehe... ." Die übrigen Signalgasten sprangen herbei. Denn kraftlos war Heinrichs Haupt zur Seite gefallen. Sein Körper streckte sich. Heiser lallte er: „Schlagt mich endlich tot... " (Lügumkloster, der Giftstachel des Hasses, marterte Heinrichs Seele!)
Schwere Wolken zogen über die Reichshauptstadt. Es ward trübe. In den Kampfvierteln herrschte Totenstille. Schnee fiel. Unter den zusammengekauert liegenden Matrosen vorm Schloss bewegten sich Glieder. Mühselig raffte sich Fritz aus dem jammervollen Menschenhaufen. Er schaute irre und wankte. Endlich entrann ihm ein Seufzer. Sein Blick wurde fest. Aufmunternd klang seine Stimme: „Kameraden, die Nacht ist um... "
Heinrich murmelte: „'s ist kalt!"
Ängstlich rief Fritz: „Bist du wach?" Keine Antwort. Viele räusperten sich. Hilflos schaute Fritz hoch zum Schloss. Er erschrak, sank auf die Knie, packte mit beiden Händen Heinrichs Schulter, rüttelte ihn und schrie: „Das Schloss ist weiß beflaggt! — Wach auf!"
Müde richtete sich Heinrich auf. „Das taten unsere Toten!"
Dann kauerte er wieder am Boden. Und stöhnte: „Die
Nacht ist zu lang... "
Fritz klapperten die Kiefer. Es war dunkel geworden. Ein Hustenanfall rüttelte den Heinrich. Plötzlich hob er den Kopf und horchte gebannt. Schrecken riss ihn auf die Beine. Kein Wort vermochte er zu rufen. Zwei Scheinwerfer eines näher kommenden Autos blendeten ihn. Auch der Fritz hatte das Bewusstsein wiedererlangt. Er klopfte sich den Schnee ab und atmete auf. Vor dem Schlossportal hielt der Kraftwagen. Vier Soldaten und ein Weib entstiegen ihm und bewegten sich stumm zum Schlosseingang. Fritz schrie erschreckt: „Halt! — Haltet!" Heinrich zuckte, sprang hoch und schrie nach dem Schlossportal: „Sanitäter, nicht... Drinnen schleicht Gas!" Die vier Soldaten und das Weib wichen zurück. Und bleich, abgehärmt, am ganzen Körper zitternd, so stand der Heinrich seinem Freund Jann und seiner Schwester Else gegenüber. Jann ergriff Heinrichs steifgefrorene Hände. Die Else weinte. Plötzlich machte sich Heinrich frei. Und stammelte: „Kommt, kommt, wir müssen retten!"
Er führte seine Schwester und den Jann mit den drei Sanitätssoldaten zu dem im Schnee liegenden Rest der revolutionären Schlossbesatzung. Und feierlich begannen die Kirchenglocken zu läuten. Es war Heiliger Abend.

Längst lagen die Schwerverwundeten der revolutionären Marinetruppe in den Garnisonlazaretten. In einem großen Raum des ehemaligen kaiserlichen Marstalls saßen aber versammelt die Matrosen der Hauswache. Trauer bannte die
Seeleute.
Plötzlich erschütterten ankommende Lastautos die Stille.
Einige Matrosen in blauer Uniform trugen ihre gefallenen Kameraden in den Saal und bahrten die Helden auf Tannengrün vor den vier mächtigen lichterstrahlenden Christbäumen auf. Ein Matrose entrollte eine große rote Fahne und
stellte sie in den Ständer zwischen den beiden mittleren Tannenbäumen. Alle Blicke senkten sich. Stumm predigte der Tod...
Wieder knatterten Autos. Die Saaltür wurde geöffnet. Hustend betraten feldgraue Matrosen mit Stahlhelmen den stillen Saal. An ihrem Koppel baumelte die Gasmaske... Geblendet schauten sie in das lichterflimmernde Gezweige der Tannen. Dann fielen ihre Blicke auf die blutigen, schmerzlich verzerrten Gesichter der Toten. Schließlich ging ein Matrose der Hauswache auf sie zu. Heiser fragte einer der Ankömmlinge: „Wo ist unser Platz?"
Der Matrose der Hauswache führte die Überlebenden der revolutionären Schlossbesatzung an die vorderste Reihe der Stühle. Und nun traf der Heinrich ein. Ihm folgten Else, die Rotkreuzschwester, der Fritz und der Jann. Jubelnd schrie die revolutionäre Matrosentruppe auf: „Hurra, Hein!" Die Totenstille war geflüchtet.
Heinrich entblößte sein Haupt und starrte erschüttert nieder zu den Gefallenen. Dann besprachen sich der Fritz und der Jann leise mit dem Heinrich. Heinrich, seine Schwester und Jann nahmen in der vordersten Stuhlreihe nebeneinander Platz. Fritz begab sich vor die Versammelten: Er schilderte die Kämpfe im Schloss. Dann betonte er: „Wäre anstatt des Offiziers ein Volksbeauftragter ins Schloss gekommen, das Blutbad hätte nicht stattgefunden. Aber den Offizieren weichen wir nie und nimmer!"
„Nie! Nie!" erscholl. Die meisten aber schreien: „Die Gefangenen, her mit allen Gefangenen! — Los! — Bringt die Hunde rin!"
Heinrich stand auf und erhob die Hand. „Kameraden! — Die Gefangenen sind verwahrt und werden abgeurteilt!"
Zornige Zwischenrufe dröhnten: „An die Wand, an die Wand mit den Hunden! — Wo sind sie?" Einige Matrosen entsicherten ihre Pistolen und stürmten nach der Saaltür: „Her mit der Bande! — Die Hunde werden gleich hier erschossen!"
Schnell sprang Heinrich zum Ausgang, versperrte den Wütigen den Weg und schrie mit zitternder Stimme: „Ich fordere mehr Achtung vor unseren Toten!"
Die Verbitterten horchten auf. Da öffnete sich die Saaltür. Ein Matrose trat ein, ging zu Heinrich und erstattete flüsternd Meldung. Heinrich nickte. Der Matrose verließ den Saal. Und bald führte er zehn Zivilisten in die Versammlung ein. Ehrfurchtsvoll senkten sich ihre Blicke vor den Toten. Heinrich schüttelte jedem die Hand und forderte sie auf, neben der Else und dem Jann Platz zu nehmen. Nur vier der Zivilisten folgten. Die anderen verharrten stehend.
Heinrich begab sich vor die Versammlung. Mahnend erhob er die Hand und schaute scharf zu seinen Kameraden. Die Matrosen verstanden seine Miene. „Kameraden!" rief Heinrich, „das Volk feiert Weihnachten! Aber wir, wir feiern einen traurigen Sieg! Große Lücken hat die Gegenrevolution in unsere Reihen geschossen! Wir sind geschwächt! Die Verfolgung des geschlagenen Feindes durchzusetzen war uns deswegen unmöglich!"
Ein Matrose unterbrach den Heinrich: „Wo ist das Proletariat?"
Heinrich zeigte nach den beiden Gruppen und antwortete
in den Saal: „Hier ist's vertreten!"
Dann schloss Heinrich keuchend (denn er war leicht gasvergiftet): „Die Vertreter des Proletariats werden uns jetzt über die Haltung des revolutionären, Proletariats informieren!"
Ein Zivilist der stehenden Gruppe schritt vor die Versammelten. „Soldaten! Mit zäher Standhaftigkeit habt ihr der Reaktion den Todesstoß gegeben. Noch pochen die ängstlichen Herzen der Bourgeoisie. Jetzt heißt's: nachrücken! In atemloser Hetze nachrücken! Noch heute Nacht muss das Proletariat in den restlichen Besitz der politischen und wirtschaftlichen Macht gelangen. Noch heute Nacht müssen sämtliche Regierungs- und Zeitungsgebäude, die Depeschenbüros, die Postanstalten, die Banken, alle Kasernen, die
Bahnhöfe und alle Fernsprechstationen besetzt werden! Wir ernennen neue, tatsächlich revolutionäre Volksbeauftragte. Und dann lassen wir den Telegraph spielen. Und morgen früh ist Deutschland eine Räterepublik! Darum, Soldaten, nicht lange zögern! Munition und Waffen haben wir genügend in den Kriegsrüstungsfabriken! Auf! Scheut kein Blut!" Heinrich stand und hemmte mit verbissenem Blick die neuentfachte Begeisterung der revolutionären Marinetruppen. Denn zwischen den beiden Gruppen der Vertreter des Proletariats hatte sich ein leidenschaftliches Geschrei entwickelt. „Das ist unerhört! Ihr seid ja wahnsinnig! Ihr Radikalinskis!"
„Und ihr Feiglinge! — Ihr elenden Bonzen! Ihr gehört verhaftet!"
„Oho!" erwiderte einer der Gemäßigten und schrie: „Mit unserem Leben stehen wir dafür ein, dass euer Wahnsinnsplan nicht zur Aktion wird! Das Blut dieser Matrosen hier ist uns heilig!"
Heinrich schüttelte bedenklich den Kopf, während die Vertreter des Proletariats sich in gehässigster Weise beschimpften. Die Matrosen machten große Augen. Aber als die Gruppe der Radikalen drohend die Fäuste nach der Gruppe der Gemäßigten erhob und Töne laut wurden wie: „Ihr konterrevolutionären Hundsfotte", da sprang Heinrich dazwischen. „Ruhe!" Auch die zermürbten Seeleute, die das Schloss verteidigt hatten, waren aufgestanden und sahen erwartungsvoll zum Heinrich. Aber ihr Eingreifen in die trostlose Szene erübrigte sich. Der Krawall der Radikalen war verstummt. Else saß starr. Leichenblass beobachtete sie ihren Bruder.
Heinrichs Augen zitterten. Seine Adern schwollen ihm an Schläfe und Hals. Und seine Brust begann wie gehetzt zu arbeiten.
„Kameraden!" schrie Heinrich aus Verzweiflung. Die Matrosen erschauerten. Einige erhoben sich im Banne einer schlimmen Ahnung. Heinrich keuchte. „Wir stehen seit Jahren in vorderster Linie des Klassenkampfes. Fortwährend haben wir große Opfer gebracht, um die unterdrückten Volksschichten von den Ausbeutern zu befreien!" (Pfeifender Husten würgte den Heinrich.) Endlich vermochte er weiterzusprechen: „Und uns Soldaten ist trotz allem gelungen, was wir wollten: Wir drückten die deutsche Revolution durch. Und erblickten als die einzige praktische und ideale Volksregierung: die Räteregierung!" in einem fort plagte Husten den Revolutionär. Aber mit Aufwand ganzer Energie zwang er seinen Körper und seine Stimme. „Deshalb haben die revolutionären Zirkel von Wilhelmshaven und von Kiel im vergangenen November ihre politische Macht an die Mannschaften der Kriegsmarine abgegeben. Auch die Landtruppen und die gesamte deutsche Arbeiterschaft wählten proletarische Räte. Ja, das Rätesystem ist wunderbar! Aber diese verfluchten Menschen versagten. Kameraden! Eure Führer haben die Hochburg der Konterrevolution, Berlin, mit zwölf Gefechtsbezirken unterminiert. Für alle Notwendigkeiten des großen Endkampfes war peinlich gesorgt worden. Imposant wäre die alte Welt zusammengestürzt, wenn das Proletariat fähig gewesen wäre, uns so beizustehen, wie während des Weltkrieges die Kameraden der Kriegsmarine dem Proletariat beigestanden haben!" Heinrich wandte sich nach den beiden Gruppen der Vertreter des Proletariats. „Die Bravsten des arbeitenden Volkes liegen hier unter den Christbäumen als Opfer ihres revolutionären Willens! Nehmt diese Leichen als heiliges Geschenk!" Der Raum war Kirche.
Plötzlich wurde die Saaltür aufgerissen. Erregt sprang ein Matrose in die feierliche Stille. „Hein! Wo ist Hein?"
Heinrich antwortete und ging auf den Matrosen zu. Atemlos, mit wirrem Blick meldete die Ordonnanz: „Regierungstruppen haben das Standquartier des revolutionären
Stützpunktes besetzt!"
Heinrich starrte. Und seufzte. „Ich weiß es: Wir sind verloren!" Und da stürzte er zu Boden.
Else, die Rotkreuzschwester, eilte herbei. Schnell knöpfte sie ihrem keuchenden Bruder den Waffenrock auf. Fritz und Jann bemühten sich, um die Versammelten zu beschwichtigen. Einige Matrosen trugen Heinrich aus dem Saal. Bald verließ ein Lazarettauto den Marstall. Und jagte mit voller Fahrt durch die Stadt.

Heinrich lag auf der unteren Bahre im Lazarettauto. Er röchelte. Neben ihm saß seine Schwester. Plötzlich keuchte Heinrich: „Else, dich hatte ich verkannt!" Er griff nach ihr. Sie weinte. Und er zerrte an seiner Brust. Wie ein Erstickender rang er nach Luft. In einem Außenviertel von Berlin hielt das Auto. Der Chauffeur und sein Begleitmann öffneten die Wagentür. Else stieg aus und huschte in den Vorgarten ihres Häuschens. Bald folgten die beiden Sanitäter mit dem Heinrich auf der Bahre. Und bald eilte das Lazarettauto wieder zurück nach dem Marstall.

Else hatte ihren Bruder aus einer gewissen Vorsicht heraus in eine wohnlich eingerichtete Dachstube ihres Häuschens tragen lassen. Spärlich entfiel der kleinen Lampe auf dem Nachttisch ein grüner Lichtschein. Else wachte auf einem Stuhl neben Heinrichs Bett. Sie sann. Es war nach Mitternacht, als endlich Heinrichs Atem ruhiger wurde.
Plötzlich rasselte die Glocke der Haustüre. Else stand auf und entfernte sich geräuschlos.
Heinrich horchte. Er hörte Kichern. Schritte kamen näher, die Türe öffnete sich. Laut lachend trat die Friedel mit Hut und Handtasche in die Stube. „Na Hein? — Du hier?" Sie ging an sein Bett. Heinrich begann zu husten. Wehleidig schaute er der Friedel in die Augen. Da neigte sie sich zu ihm. Aber Heinrich wandte sich um. „Geh, du riechst nach Tabak und Wein!" Er begann zu husten, dass sein Kopf rot anschwoll. Friedeis weinfrohes Antlitz wurde zynisch. „Gut, dann geh ich halt... " Sie verließ die Stube.
Else eilte ihr nach. „Friedel, Friedel!" Aber die Haustür
zerschlug das Rufen. Seufzend kam Else zu Heinrich zurück. Erstaunt fragte Heinrich: „Ist Friedel fort?"
Die Rotkreuzschwester nickte stumm. Heinrich stöhnte. Endlich streckte er sich erschöpft.
Der Morgen graute... Schriller Weiberschrei schreckte den Heinrich aus dem Schlaf. Da hörte er Schritte die Treppe heraufpoltern. Heinrichs Miene wurde finster. Barsch fragte an der Stubentür eine Männerstimme: „Wo ist der Matrose?" Ein Offizier und vier schwerbewaffnete Regierungssoldaten drangen in Heinrichs Zimmer und befahlen ihm: „Stehn Sie auf! Sie sind verhaftet!"
Schweigend stieg Heinrich aus dem Bett und kleidete sich an. Dann stießen ihn die Soldaten aus der Stube, die Treppe hinunter. Flehend versperrte die Else die Haustür.
„Tür frei!" befahl der Offizier. Die Rotkreuzschwester aber wich nicht. Lächelnd griff Heinrich die zitternde Hand seiner Schwester. „Ich danke dir, Else! Komm! — Du kannst die Dinge nicht aufhalten!" Else folgte den Worten ihres Bruders. Heinrich schüttelte ihr herzhaft die Hand. „Leb wohl, Else! — Grüße mein Weib und Kind!"
Dann führten die Regierungssoldaten den Heinrich in ein Personenauto. Eilig verschwand der Kraftwagen in der Stadt.

Im Hof des ehemaligen Standquartiers des revolutionären Stützpunktes hielt das Auto. Feldmarschmäßig ausgerüstete Regierungssoldaten sammelten sich an. Heinrich entstieg
dem Kraftwagen.
„Der Kerl kommt nach drüben zu den andern an der Wand!" befahl der Offizier dem Feldwebel. Heinrich starrte. Denn an der Hofmauer standen zirka dreißig revolutionäre
Matrosen. „Marsch — dorthin!"
Heinrich ging. Neben und hinter ihm knirschten Soldaten. Kurz vor den Matrosen blieb Heinrich stehen. Er schaute mitleidig. Denn er sah den Fritz und den Jann. Fluchend
stieß der Soldat das Gewehr dem Heinrich gegen den Rücken. „Wer sich rührt, wird gleich erschossen!" Dann schrie der Feldwebel zum Heinrich: „Auch da stehnbleiben!"

Heinrich stand in der vordersten Reihe der gefangenen Revolutionäre. Der Offizier, welcher den Heinrich verhaftet hatte, stellte eine Abteilung Schützen den Gefangenen gegenüber auf. Dann zog er den Säbel und schritt vor die Front der Matrosen. „Wenn sich der Kommandeur der Rebellen nicht meldet, lasse ich alle erschießen!"
Mit verbissenem Blick trat Heinrich vor. Und schrie wie im Zorn: „Ich bin schuldig, tötet nicht die andern!" Da schaute der Offizier wirr. Und befahl stotternd: „Das, das Opfer stehnbleiben — die übrigen links raus — marsch — marsch!"
Während Heinrichs Kameraden zur Seite rannten, kam durch die Toreinfahrt, am Arm eines Hauptmanns, die Friedel, Heinrichs Schwester. Lustig schwang sie die Reitpeitsche und lachte übermütig.
Der Heinrich stierte hin zu seiner Schwester. Mit Aufwand letzter Kraft schrie er auf: „Friedel? Friedel? Du Verräter... " Friedel stand ernüchtert, entsetzt.
Der Exekutionsoffizier kommandierte: „Laden!"
Gewehrschlösser knatterten. Erschreckt stieß Friedel den Hauptmann von sich. Mit erhobenen Händen stob sie zu den Schützen. „Soldaten — Soldaten!" Der Offizier befahl: „Legt an... , feuern!"
Die Gewehrsalve krachte. Heinrichs Körper stürzte.
Verzweifelt kniete sich die Friedel neben den Heinrich. Bebend umfasste sie das blutende Haupt ihres Bruders. Und schrie: „Verzeih — o Gott, o Gott! Was hab ich angerichtet, was, was? Und warum, warum? Hein! Hein!" schrie sie auf. Und weinte.
Noch einmal schaute Heinrich groß zum Himmel. Dann neigte er das Haupt nach seiner Schwester. Vor seinen Augen versank eine Welt voll Hass und Neid.
Heinrich lächelte. Und verschied.


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