„Am Abend des 6. Juni warf eine Frau AI. Pr. ihre zweijährige Tochter Marie und ihren halbjährigen Sohn Reinhold in die Spree. Passanten verhinderten, dass den drei ältesten Kindern das gleiche geschah." Dr. Alice Vollnhals, die Leiterin der Schwangerenfürsorge der Krankenkassen Berlins, kommt in einem Bericht über diesen Fall zu dem Ergebnis: „Die Verzweiflungstat einer Mutter hat die Öffentlichkeit aufgewühlt; aber wie oft sind Mütter, gute, sanfte Frauen, ebenfalls am Rande eines Abgrunds! Gibt es da keine wirkliche Hilfe? Doch! Geburtenregelung im weitesten Sinn des Wortes, Zerstörung der Unwissenheit in diesen Dingen!" („Berliner Tageblatt" vom 26. Juni 1928.)
„Hier starb unter auffallenden Umständen ein siebzehnjähriges Mädchen innerhalb einer Stunde. Eine amtliche Untersuchung ergab einen unerlaubten Eingriff zur Abtreibung der Leibesfrucht. Die Mutter der Verstorbenen wurde unter dem Verdacht der Beihilfe in Haft genommen." („Schwäbische Tagwacht" vom 21. Mai 1929)
„... dort lernte er die Kassiererin M.F. kennen. Als nun die F. wieder in andern Umständen war, machte er auf deren eigenes Betreiben einen Abtreibungsversuch. Dabei wollte er von dem Sanitätssergeanten A. den Rat erhalten haben, er solle die Abtreibung mit Cyankali bewerkstelligen. Die F. ist dann an dem Gift nach schwerem Todeskampf gestorben." („Süddeutsche Arbeiter-Zeitung" vom 1. März 1929, Bericht über die Verhandlung des Schwurgerichts Augsburg, Mordprozess G.)
Der 45. Deutsche Ärztetag in Eisenach schätzt die Zahl der jährlichen Abtreibungen in Deutschland auf eine halbe Million bis 800000, darunter 10000 Todesfälle (!) und 50000 Erkrankungen. „Man rechnet in Deutschland jährlich mit 50000 Erkrankungsfällen nach Fehlgeburten." (Berichterstatter Lonne im Preußischen Landesgesundheitsamt.)
„Ich verstehe nicht, dass die armen, arbeitenden Klassen ein so schreckliches Leben fuhren müssen, während die Reichen, die Kinder
haben könnten, entweder keine oder nur ein paar haben. Ich wollte, ich könnte mich auf die Dächer stellen und den armen Frauen verkünden, was sie tun müssen." (Brief einer New-Yorker Arbeiterin an die Fürsorgerin von New York, Margaret Sanger, aus „Zwangsmutterschaft".)
„Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleib tötet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft Dieselben Bestimmungen finden auf denjenigen Anwendung, welche mit Einwilligung der Schwangeren die Mittel zur Abtreibung oder Tötung bei ihr angewendet hat." (§218 des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich.)
Mutter Fent, Arbeiterwitwe
Hete, ihre Tochter
Paul, Heizer
Prosnik, Hausverwalter
Kuckuck, Zeitungsverkäufer
Max, Metallarbeiter
Frau Klee, Arbeiterfrau
Dr. Moeller, Arzt
Madame Heye
Kriminalkommissar
Kriminalwachtmeister
Eine Dame
Eine Arbeiterin
Küche bei Mutter Fent: Tisch, Bank, Hocker, Herd. An der Rückwand eine alte Chaiselongue; darüber Vergrößerung eines Photos von Vater Fent mit Medaille „Für fünfundzwanzigjährige treue Dienste". Ausgänge zum Flur und zur Kammer. Abend. Eine elektrische Birne brennt.
Hete, zwanzigjährig, kocht am Herd, nimmt dann drei bis vier paar Kinderstiefel und beginnt sie zu reinigen. - Frau Klee, dreißigjährig, mit sackartig hochgebundener Schürze, sitzt auf der Bank.
Frau Klee schnuppernd: Dachhase oder Hottehü?
Hete: 'n Hammelstück.
Frau Klee: Wie vornehm du das sagst: „'n Hammelstück"; davon laufen einem ja allein schon die Appetitstrippen zum Munde raus! Hete, sag mal, spielt ihr in der Lotterie?
Hete: Wir arbeiten.
Frau Klee: Das klingt auch wieder so nobel, Hete; alles an dir ist nobel; bist 'ne Sondernummer: wo du jetzt ruffgerutscht bist vom Packraum übers Sortierband zum Büro ... Mensch, dir steht noch Großes bevor! Das lass dir von der Minna Klee sagen, die es nicht so weit gebracht hat, sondern nur zu drei kleinen Ratten und zu 'nem Syfong von Mann, der säuft, weil ihm 's Elend zum Halse raushängt, und der keinen Kies hat, weil er stempeln muss.
Hete: Hast du denn keinen Einfluss auf ihn, Minna?
Frau Klee: „Einfluss auf ihn...", das klingt alles so vornehm, Hete! Aber du verstehst ja nichts vom Leben! Sieh mal, Hete, wenn du die Büros flimmern darfst, so ist das 'ne absolut sichre Sache. Ob Streik oder Aussperrung, auf den Büros ist immer Betrieb. Du bist also Dauerverdiener! Warum? Weil die Herren vom Büro...
Hete: Wen Zuverlässiges brauchen.
Frau Klee: Ich sage: weil die Herren vom Büro was Sauberes brauchen für die Pupille...
Hete aufstehend: Ach Quatsch!
Frau Klee: Tu dich nicht so, Mädchen! So 'ne Visage wie deine, so 'ne Figur, das ist 'n Kapital! Aber du merkst ja gar nicht, was die Männer für Stielaugen machen, wenn du abends heimgehst. Du, mir wird ganz schwach ... von dem Bratenparföng ... Hete legt ihr ein Stück mit ein paar Kartoffeln auf. Ach, das schmilzt einem direkt auf der Zunge ... isst mit ganzer Wucht, hat, während Hete sich herumdreht, schnell Brotstücke, Kartoffeln und ein Ei in den Schürzensack gesteckt. Großartig bei euch, Hete, der reinste Konsum!
Hete: Weil der Paul für Mutter 'nen Braten gebracht?
Frau Klee: Der Paul, ja der Paul, der ist knorke; hat wohl immer Schicht?
Hete: Na, der ist doch gelernter Heizer. Die Öfen blasen sie
so schnell nicht aus, auch wenn mal zwei Wochen gefeiert
wird.
Frau Klee: Habt ihr Dusel, Kinder! Wenn mein Oller nur so wäre; aber nur saufen und Bälger machen, und nun kommt schon 's vierte...
Schritte, es kommt Paul, ein kräftiger fünfundzwanzigjähriger Arbeiter, mit Paket und Heizerrolle. Er wirft das Paket mit Wurst, Büchsenmilch, Zucker, Rollmöpsen, Kakao auf den Tisch.
Frau Klee: Paul! Mensch! Betriebsstoff!
Paul wirft Sachen auf den Tisch: Los! Tanken, tanken, tanken!
Frau Klee: Junge, Junge! Knuffig! Schlackwurst, Edamer! Woher?
Paul: Kantine. Gibt ihr. Da, Minna, aber für die kleinen Ratten! Hau ab jetzt! Zu Hete: Was macht Mutter? Rollmöpse, Bohnenkaffee, Büchsenmilch ... bin nebenbei Vertrauensmann im Werk geworden, Kantinenbulle!
Frau Klee: So 'n Schweinedusel! Jetzt wird wohl ausgeteilt, was wir ringezahlt!
Paul: Pause, Minna! Die Kantine ist uns anvertraut, halbe ... halbe, da machen wir keinen Saustall draus! Da haste noch was Zucker und Kakao.
Stimme aus der Kammer: „Paul! Paul! Gib nicht alles weg!"
Keine Bange, Mutter! Für deine vier bleibt auch noch genug! Los, Hete! Nimmt einige Sachen, mit Hete in die Kammer.
Frau Klee will hinaus, bleibt unentschlossen stehen, nimmt dann schnell noch eine Dose Büchsenmilch vom Tisch: Für die kleinen Ratten, Paul, hörste! Schnell ab.
Hete und Paul aus der Kammer.
Hete: Das bringt Muttern wieder auf die Beine.
Paul: Die ist ja vor lauter Hunger schlapp, weil sie für die Bälger sich alles vom Munde abknappst. Vor der Bank, nimmt ein Paar kleine Stiefel. So vier Paar, und die Minna hat drei... Du, Hete, es werden manche bald ihr Brot drei- und viermal durchbrechen müssen...
Hete: Schluss, Paul! Jetzt biste nicht in 'ner Versammlung!
Paul: Richtig! Packt sie, setzt sich mit ihr. Du, Hete, unten bei den Stahlwerken, da wackelt's, die Gewerkschaft hat den Tarif gekündigt ... mir kann ja nichts passieren, keine Bange, ich bin Spezialarbeiter, verstehste, „werkständig"; drum haben sie mich ja auch in die Kantinenkommission gewählt. - Du, kann ich die Stiefel runtertun?
Hete: Klar. Fasst an.
Paul: Weg, lachend Genossin! Zieht sie aus, streckt sich. Junge, das ist dufte ... so auf Strümpfen, auf dem kühlen Boden, fast wie auf Gras ... Geht auf und ab. Das richtige Vergnügen, wenn man den ganzen Tag auf den heißen Stahlplatten geklebt hat ... und der Radau von der Fabrik, verstehste ... hier ist mal Ruhe, Hete ... Nimmt sie.
Schritte. Man hört eine Stimme, die singt: „Wenn alle Vöglein schweigen, dann ruft der Kuckuck immer noch: Tagblatt! Illustrierte! Das Magazin! Elegante Welt! Das große Los ist hier zu ziehn..." Der Kuckuck, ein fünfundvierzigjähriger Mann mit einer Soldatenmütze, Litewka und Zeitungsmappe ist eingetreten.
Kuckuck: Da lachen selbst die Blattläuse: Hurra! Der Kuckuck ist da! Ablegend. 'n Abend, fromme Gemeinde!
Paul: So früh, Kuckuck?
Kuckuck auf seine Mappe: Ausverkauft! Leergepickt wie 'n Ei! Stand auch was drin in den Blättern, wartet mal: In
Mexiko die Aufständischen bei Tampico eingeschlossen, USA-Fluggeschwader an der Grenze massiert... Bird und Raillay haben neue Goldlager am Südpol entdeckt, England erhebt Protest...
Hete setzt ihm Kaffee mit Brot und Kartoffeln vor: Mahlzeit, Kuckuck! Wollen in die Klappe.
Kuckuck essend: So eilig heute die jungen Leute, na ja ... verständlich ... aber es kommen noch andere Sachen: Im Simplontunnel ein Zug in Brand geraten, Schreckensszenen, fünfzehn Tote ... Li da Gita bricht den achtundsechzigstündigen Dauertanzrekord zwischen zwei Klavieren ... Krupka, der Stier von Hamburg, zieht Schönrath schon im ersten Gang Blut aus der Nase, schließt ihm im zweiten das linke Auge und schickt ihn mit einem klaren Kinnhaken ins Traumland!
Paul: Blöde.
Kuckuck: Muss wohl Paprika bringen! Liest essend: In Hull gigantische Gasexplosion, ganze Straßenzüge eingestürzt, bis jetzt hundertzwanzig Tote gemeldet ... was! ... Übrigens ist die Eckert mit ihren zwei Bälgern ins Wasser gegangen, das dritte war unterwegs...
Hete: Die Eckert ... wo der Alte stempeln geht?
Kuckuck: Was soll sie machen? ... Willst du mit fünf Mäulern leben bei zwanzig Mark die Woche? Nicht für 'nen Wald voll Affen! Stille. Kuckuck steht auf, nimmt seine Mappe. Den „Sportbericht", Paul?
Paul haut's ihm aus der Hund: Scheißblätter!
Kuckuck: Nicht solche Bogen gespuckt, Paul ... Gute Pension, hier ... esst mehr Obst, habt mehr Durchfall; morgen wieder!
Singt im Abgehen: „Wenn alle Vöglein schweigen, dann ruft der Kuckuck immer noch: Tagblatt, Illustrierte, Das Magazin, Elegante Welt, das große Los ist hier zu ziehn. Da lachen selbst die Blattläuse." - Stille. - Paul ist nach links gegangen, kommt wieder zurück.
Paul: Kommt heut niemand mehr?
Hete: Nee.
Paul: Schlafen die Würmer schon?
Hete: Na klar, schon lange.
Paul: Schön stille ist's jetzt hier...
Hete: Biste gern bei mir?
Paul: Ausgeschlossen! Küsst sie.
Hete: Paul, ich weiß ja; aber sag mir's doch noch mal...
Paul: Nicht für 'n Groschen! Presst sie an sich. Du ... dass unsereins nirgends allein ist, überall tritt man auf Menschen, auf Kinder, auf Werkzeug ... das macht uns so schlapp und feige, dass wir uns alles stehlen müssen, alles...
Hete: Ich kann schon nicht mehr denken ... mach's Licht aus!
Paul: Ja. Geht zum Schalter. Nee, das merkt der drunten, der
Prosnik; der sah mich raufgehn.
Hete: Haste auch Mores vor dem Herrn Verwalter? Leise: Du, Paul... Paul: Was ist denn?
Hete: Paul, ich bin letzte Zeit so müde, so kaputt ... du!!
Es ist nicht mehr gekommen.
Paul: Wie?
Hete leise: Schon sechs Wochen ist's weggeblieben; das war
noch nie ... mir ist so schlecht. Paul: Ausgeschlossen! Hete: So seid ihr!
Paul: Unsinn, Hete! Ich komm doch dafür auf!
Hete: Und wo soll's hin?
Paul: In den Stall hier...
Hete: Wo keine Luft, kein Platz, keine Ruhe, wo sie mit scheelen Augen auf jeden Bissen gucken?
Paul schweigt, dann hoch: Viecherei auf dieser Scheißwelt! Die andern haben Platz und Ruhe und wissen's, wie
man's macht; aber uns hängt so 'n verfluchter Balg...
Hete hält ihm den Mund zu: Du sollst es nicht verfluchen Paul!
Paul schaut sie an: Heiliges Kanonenrohr, du hast's wohl schon gerne?
Hete: Frag nicht so blöde! Hör mal, Paul, ich glaube, wir können's doch behalten, wo wir zwei beide jetzt verdienen.
Paul: Wo wir zwei „in gehobener Stellung" sind. Schritte die Treppe hinauf. Beide horchen nach links.
Hete reißt sich los: Der Prosnik!
Paul: Verdammt. ...
Klopfen. Dann Stimme vom Flur: „Machen Sie auf! Ich weiß genau, wer bei Ihnen ist!" Stille. - Stimme vom Flur: „Ich ruf die Polizei!"' - Stimme aus der Kammer: „Mach auf, Hete!" - Hete öffnet. - Von links kommt der Hausmeister Prosnik, ein etwa vierzigjähriger, hinkender Mann; er bleibt stehen, hat seine Uhr gezogen und schaut in verhaltener Erregung auf Paul.
Prosnik: Na?
Paul: 'n Abend.
Prosnik: Zehn nach zehn! Um zehn ist die Haustür geschlossen! Verlassen Sie die Wohnung!
Paul: Sonst ist's Ihnen wohl? Was wollen Sie denn überhaupt hier?
Hete: Haben Sie die Küche gemietet oder wir?
Prosnik: Großartig. Wie lange sind wir denn die Miete schuldig? Zwei oder drei Monate?
Hete: Der Herr hat hier Abendtisch bei uns.
Prosnik: „Abendtisch" ... na ja, wie lange dauert denn so 'n Abendtisch? Ich habe da so verschiedenes munkeln gehört; erlebe ich das noch einmal ... dann am Ersten raus hier!
Paul: Mensch, tu dir bloß nicht so dicke! Du bist doch auch nur so 'n mieser, verprügelter Köter wie wir alle.
Prosnik: Es kann nicht jeder gerade Knochen haben. - Na ... also?!
Paul heftig: Herrgott, kann man ums Verrecken nicht mal abends mit 'nem Mädchen zusammensitzen, wenn man den ganzen Tag geschuftet hat?!
Prosnik: Das Haus ist kein Karnickelstall. Alle Woche dreht eine 'n Gashahn auf oder geht ins Wasser! Das kommt mir in dem Haus nicht vor! Garantiert!!
Hete: Was ist denn heut los!
Prosnik: Ach was, jetzt wird's mir aber zu dumm! Ich habe den Herrn schon 'n paar Mal in der Frühe hier runtergehen sehen! Frag mal deine Mutter; die wird wissen, was auf Kuppelei...
Paul: packt ihn mit einer Hand am Hals und drückt ihn gegen den Tisch.
Mutter Fent kommt aus der Kammer.
Mutter Fent: Paul! Paul! Zieht ihn weg. Bist du verrückt. Den Herrn Verwalter, den Herrn Prosnik...
Prosnik: Macht nichts, Frau Fent! Recht so! Ist ja ganz schön, wenn man weiß, mit wem man's zu tun hat!
Mutter Fent: Aber Herr Prosnik, junge Leute!
Prosnik: Ich bin auch kein Greis und bin doch kein Viech! Falls Sie diese Handlung billigen...
Hete: Jetzt hauen Sie aber ab!
Mutter Fent: Klappe, Hete! - Welche „Handlungen"? Herr Prosnik, für meine Kinder lege ich die Hände ins Feuer. Wir haben immer auf Reellität gehalten, mein seliger Mann und ich. Stolz. Glauben Sie, der hätte für nichts und wieder nichts die „Silberne Medaille für treue Dienste" bekommen?! Redlichkeit nährt jederzeit; und wo rechte Eltern sind, da müssen auch rechte Kinder sein!
Prosnik: Das ist 'ne Grundlage...
Frau Klee eilig herein.
Frau Klee: Kinders! Kinders! Die Nachtschicht kommt
nach Hause... Plakate sind angeschlagen...
Paul: Wo?
Frau Klee: Vor dem „Konsum" steht 'ne Schlange Frauen...
Paul: Quatsch!
Mutter Fent: Schnell, Minna, runter... da ist was los ... nimm 'nen Sack mit ... Streik ... die schrauben in der Stadt die Preise wieder hoch...
Frau Klee: Mensch, jetzt heißt's Tempo!
Mit Mutter Fent ab. - Max, ein junger Arbeiter, eiligst herein.
Max: Aussperrung, Paul!
Paul: Scheiße! Zieht schnell die Schuhe an. Der Nordbezirk?
Max: Seit Abend alle Betriebe!
Paul: Das Syndikat wird schon wieder verhandeln!
Max: Aber unsere Leute sind unruhig; die Preise für die Lebensmittel könnten steigen wie drunten bei den Zechen und beim englischen Kohlenstreik; die Frauen stehen schon vorm Werk...
Paul: Wo ist der Betriebsrat?!
Max: Vergast!
Paul: Los! Will ab.
Hete: Paul ...
Paul vor ihr: Was ist?
Hete sieht ihn an: Nichts. - Mach's gut!
Paul und Max schnell ab. - Stille.
Prosnik in der Mitte der Stube, zu Hete: Die gehn ran an den Speck!
Hete: Machen Sie sich keine Hoffnung, dass es wieder Stunk gibt, wenn der Paul dabei ist!
Prosnik: Stramme Jungens ... aber wenn die Aussperrung zwei Monate dauert oder gar drei, da wird auch der fetteste Hahn klapprig.
Hete: Die fettesten sind lange nicht die besten!
Prosnik packt sie.
Hete ihn abschüttelnd: Sie lahmer Hund!!
Prosnik zur Tür hin: Danke schön. Schnell ab.
Hete setzt sich erschöpft. Dann Stimme vom Flur: „Hete! Hete! Der Konsum ausverkauft! Sie ziehen zur Kantine! Säcke her! Körbe! Schnell, Hete!"
Hete steht auf: Ja... ja... Geht mit dem Korb hinaus.
Zimmer von Prosnik: Langer Tisch, wie eine Barriere, darauf großes Kontobuch. In der linken Ecke ein Bett, daneben kleines Schränkchen. Prosnik sitzt am Tisch und rechnet. Frau Klee und Frau Witt, eine abgehärmte, etwa fünfunddreißigjährige Arbeiterin, kommen von links.
Prosnik: Raus mit die Kinder! Ich weiß, dass Sie sechs Bälger haben! Die Mitleidsoffensive zieht nicht mehr!
Frau Klee: Machen Sie sich doch nicht so künstlich, Herr Prosnik!
Prosnik: Künstlich? Meint ihr, es macht dem Prosnik Spaß, in so 'nem Hasenstall die Miete einzutreiben!
Frau Klee: Es geht ja gar nicht um die Miete, Herr Prosnik ...
Prosnik: Wohl ums Lotteriespiel!
Frau Klee: Beinah, Herr Prosnik! Leise. Die Witt ist wieder hops.
Prosnik: Was! Sechs Kinder, der Mann arbeitslos, mit der Miete seit Monaten im Rückstand, und jetzt das siebente ... Sie, Witt, was denken Sie sich eigentlich dabei!
Frau Klee zieht ihn weg: Die kann doch längst nicht mehr denken, Herr Prosnik. Aber geholfen werden muss, Herr Prosnik.
Prosnik: Ausziehen muss die Bagage! Mit der Miete im Verzug, aber Kinder kann man sich leisten! Ausziehen, à tempo! Dies Haus ist kein Bums!
Frau Klee nimmt Prosnik beiseite: Die Witt bleibt, Herr ... Verwalter! Und Sie werden ihr helfen, Herr Verwalter, so wie Sie ... mir vor drei Jahren geholfen haben!
Prosnik erschrocken: Bist verrückt!
Frau Klee: Es gibt da... so 'n Ding, Herr Verwalter, so 'n Instrument...
Prosnik: Unsinn, lächerlich... davon weiß ich nichts.
Frau Klee: Davon wissen Sie nichts mehr! Da war ich noch jung und knusprig ... davon wissen Sie nichts mehr? Aber es gibt andere, die davon wissen!
Prosnik: Minna, ihr seid ja alle toll! Ihr saust ja alle mit herein! Zuchthaus steht darauf, Zuchthaus...
Frau Klee unbeirrt zum Tisch: Da drinnen lag's, in der Schublade, ganz rechts, ganz hinten, in 'ner Schachtel, und dann noch in Watte gewickelt...
Prosnik stellt sich vor die Schublade: Ich hab's nicht mehr!
Frau Klee vor ihm, leise und heftig: So kaufen Sie eben ein neues, Sie!! Ruhig. Oder ich kann ja auch in so 'n Geschäft gehen und sagen, ich möcht so 'n Instrument, so 'ne Spritze, wie der Herr Verwalter eine hatte...
Stimme von draußen: „Wenn alle Vöglein schweigen, dann ruft der Kuckuck immer noch: Tagblatt! Illustrierte! Das Magazin! Elegante Welt! Das große Los ist hier zu ziehn..." Der Kuckuck mit Mutter Fent eintretend: „Da lachen selbst die Blattläuse: Hurra, der Kuckuck ist da!"
Kuckuck mit neuen Zeitungen: Imposante Zahlen, was, tolle Zahlen, diese Aussperrung ... die Börse lustlos, die Lebensmittelpreise ziehen an, sieben Selbstmorde in einer Spalte ... bedauerlich, dem Kuckuck bleibt sein Lied weg und Herrn Prosnik die Spucke...
Prosnik mit Zeitung: Die Hochöfen ausgeblasen?
Mutter Fent: Die Hochöfen?
Kuckuck: Jawohl, meine Herrschaften, es wird immer großzügiger: seit die Öfen kalt, haben die Eisenhütten die Lieferungssperre über die Blechfabriken und Walzwerke verhängt; das Syndikat hat den Spruch des Schlichters abgelehnt, es gibt diesmal eine verlängerte Suppe ...
Prosnik liest: Bis heute neunzigtausend Arbeiter ausgesperrt ...
Mutter Fent: Neunzigtausend?! Aber die müssen doch leben, die müssen doch essen...
Kuckuck: Scheibenhonig, Mutter! Das kann noch Wochen dauern, Monate, Jahre, Jahrzehnte ... in England waren die Kumpels ein Jahr lang nicht in den Gruben. Zieht eine Zeitung. Hier: „Arbeitslosenkrise, ein Weltphänomen!"
Prosnik: Weil um jeden Dreck gestreikt wird!
Frau Klee: Quatsch! Ausgesperrt sind wir!
Prosnik: Jacke wie Hose! Immer geht's um die Lohntüte! Hier im „Anzeiger" klar wie Brühe: „Infolge dauernder Streiks und Lohnforderungen stehen die Reallöhne heute schon zwanzig Prozent über dem Friedenssatz und haben die Waren so verteuert, dass der Mittelstand nicht mehr kaufen kann und der Innenmarkt völlig erlahmt..."
Mutter Fent: Wenn nur der Konsum wieder aufmacht!
Hete schnell von links.
Hete: Mutter! Auch die Betriebsleitung schließt! Frau Klee: Aha!
Hete: Was „aha"! Die Generaldirektion bleibt offen; da habe ich drei Räume in Schuss zu halten, das ist meine Arbeit, die bleibt!
Frau Klee: Gratuliere.
Mutter Fent: Du bist nicht gekündigt?
Hete: Gekündigt? Der Herr Direktor sagte zu mir: „Fräulein Fent, in Ihnen sehe ich noch ein Reis vom alten Stamm, noch einen Menschen, dem Treue und Pflichterfüllung kein leerer Wahn sind! Solche Menschen sind in diesen Tagen des Verfalls ein Geschenk!" sagte er.
Kuckuck: Sagte er.
Hete: Ich soll als Hilfe für die gnädige Frau mit ihnen ins
Sommerhaus an die See. Mutter Fent stolz: Na, Herr Prosnik, ich glaube, um unsre
Miete brauchen Sie sich nicht mehr zu sorgen!
Prosnik: Doch Sie vielleicht um die Hete! Zieht sie beiseite.
Lassen Sie das nicht zu! Das ist Gift für das Mädchen, das
ist 'ne Versuchung...
Mutter Fent: Keine Bange, Herr Prosnik, das Mädchen ist
aus reeller Familie, das ist ein Reis vom alten Stamm!
Frau Klee bei Hete: Und Dusel muss man haben, 'nen Schweinedusel, Hete ... Kuckuck : Großartig gemurmelt: das Leben ist 'ne Lotterie,
nur 'ne umgekehrte. Heute hingen wieder so zwei kleine Würmer, pro Nase einen Tag alt, in der Schleuse.
Hete: Zwei Kinder?
Kuckuck: Nu was denn!
Hete: Tot?
Kuckuck: Auf der Wanderung ins ewige Leben.
Frau Klee: Aber was tuste dagegen?
Kuckuck: Ist ja der Jammer, dass ihr's immer noch nicht wisst! Letzte Woche stand im „Lokalanzeiger" 'n Bericht des Ärztetags: In Deutschland gehen jährlich achthunderttausend Mütter zum Abtreiber und verschaffen sich damit 'n Freibillett ins Zuchthaus, wenn man sie schnappt. Nachdenklich. Achthunderttausend Mütter ... 'ne ganze Großstadt voll. Plötzlich. Oder wenn man sie aneinanderstellt, mit ausgestreckten Armen, meine ich, je Mutter gleich einen Meter ... und dann noch die toten Würmer dazu ...
Hete: Hör auf!
Frau Witt geht zur Tür.
Frau Klee zu ihr: Was hast du?
Frau Witt: Mir ist schlecht. Hinaus.
Frau Klee: Die sollt man nicht alleine lassen. Will nach.
Kuckuck: Ich meine wegen der Anschauung...
Frau Klee bleibt stehen.
Kuckuck von Frau Klee bis Hete die Stube gleichsam ausmessend: Wenn man sie so aneinanderstellt, je Mutter gleich einen Meter, dann sind das achthundert Kilometer, oder 'ne Entfernung wie von Köln nach Stettin... achthunderttausend Mütter...
Stimmen und Lärm draußen.
Prosnik zum Fenster: Immer dieselben Zicken.
Kuckuck: Demonstration!
Mutter Fent: Zur Kantine; da gibt's Späne!
Frau Klee: Und was zu fressen!
Mutter Fent: Wenn sie nur nicht das Lager stürmen!
Frau Klee: Kartoffeln! Wurst! Mehl! Raus!! Zieht Mutter Fent mit hinaus.
Kuckuck: So 'n Weibersturm ist mehr wie 'n Gasangriff!
Prosnik: Kommt noch ganz anders ... Sieht Hete. Na, Fräulein Hete, möchten Sie nicht auch an dem Vormarsch der Arbeiterbataillone teilnehmen?
Hete zu Kuckuck: Wem haben denn die zwei Kinder gehört?
Kuckuck: Die zwei Kinder? - Ach, jetzt ist die immer noch bei den eingewässerten Würmern in der Schleuse! Das macht man doch nachts ... und 'n bisschen Mitleid hat
doch auch die Polente ... wenn die all den stummen Kindlein und Unglücksmüttern nachforschen wollte!
Hete: Aber ich denke, es werden jedes Jahr soviel bestraft?
Kuckuck: Klar! Aber doch nicht alle; Not macht helle!
Hete: Und manche sterben?
Kuckuck: Natürlich ... Klar ... wenn man zuviel einnimmt ... es hat alles seine Grenzen. Im Weltkrieg, da bei Lille und Maubeuge, da gab's ja mehr internationale Kinder als Knöppe an den Waffenröcken; da nahmen die Franzosenmädels ooch so 'n Zeug wie Cyankali...
Prosnik: Lassen Sie solche Gespräche in diesem Haus!
Kuckuck: Richtig, bon gezwitschert; Herr Prosnik ist orthodox; das muss ein Verwalter sein, verstehe...
Prosnik: Man braucht ja nicht alles gleich herauszukotzen, was man weiß!
Kuckuck: Prächtig tiriliert! Par exemple? Ein Wörtlein nur, Herr Einsiedler, bloß um zu wissen, wie der Klöppel hängt...
Prosnik: Zwei, wenn du willst! Glaubst du, ich bin ein Idiot, oder ein Eunuche, was, 'ne impotente Wanze, wie ... Hete, geh hinaus ... zwei statt einem ... leise Schmierseife und Cyankali!
Kuckuck: Donner! Ich habe Sie unterschätzt, Herr Prosnik! Sie haben von der Warte geschaut...
Hete: Wie heißt das?
Kuckuck: Was?
Hete: Das Mittel!
Kuckuck: Ein Mittel? Welches Mittel? Haben wir von einem Mittel gesprochen, Herr Verwalter? Ausgeschlossen! Diese Phantasie! Du willst wohl behaupten, dass wir solche Mittel vertreiben? Träume nicht am hellen Tag, mein Kind, das Leben ist ein Blatt im Wind ... wir halten uns da raus, nicht wahr, Herr Prosnik? - Abflug! Die Blattläuse warten!
Singend ab. - Prosnik hat sich hinter den Tisch gesetzt und in sein Kontobuch vertieft. Hete geht nach links.
Prosnik: Bleiben! Deine Mutter ist noch mit 'nem Monat
Miete im Verzug!
Hete legt einen Schein hin: Bitte!
Prosnik sieht sie an: Woher?
Hete: Wollen Sie's abziehn.
Prosnik: Der Tonfall der Direktion ... absolut! Das lernt man nicht auf einmal. Hoch. Hete, Mädchen, du gehst nicht mit ihnen.
Hete: Was wollen Sie?
Prosnik: Nichts ... gar nichts ... Hält sie plötzlich am Handgelenk. Dageblieben, Hete, hier bei uns ... wir brauchen auch mal was Glattes, Sauberes, Schniekes ... die Hengste in den Büros sollen uns nicht immer 's Frühgras fressen!
Hete: Als ob Sie's nicht mit denen hielten...
Prosnik: Weil ich dem Kommerzienrat die Miete apportieren muss wie ein Jagdhund den Hasen und weil ich euch dabei in die Rippen packe und du mir dann sagst: Du lahmer Hund! Mensch, ich will doch auch mal was Besseres.
Hete: Ich will nicht...
Prosnik hilflos wild: Wehre dich nicht, Hete, ich könnte dir das Herz herausholen und das Blut aus deinem Hals. Pack t sie. Du bist ja so gut, so süß, so 'n süßes Stück Fleisch. . .
Hete: Paul!!
Prosnik hält ihr den Mund zu, kämpft mit ihr.
Hete stößt ihm die Hände vor die Brust: Ich bin schwanger. . .
Prosnik: Ah ... das soll dir helfen! Sieht sie plötzlich an. Der?
Hete nickt.
Prosnik: Und jetzt bereust du's?
Hete: Wir können das Kind doch nicht haben, wo die Öfen aus sind, die Betriebe still, der Paul arbeitslos und nur ich verdiene... Plötzlich. Du!! Das Mittel! Schnell, das Mitte!!
Prosnik, lieber Prosnik, sag es mir! Es darf nicht kommen!
Prosnik: Was geht das mich an?
Hete: Doch geht es dich an! Doch! Du kennst das Mittel! Wir sind ja so dumm, so hilflos, so erledigt! Hilf mir, Prosnik! Ich tue ja alles! Klammert sich an ihn. Hilf mir, hilf mir, guter Prosnik!
Prosnik: Als ob das so einfach wäre...
Hete: Du kannst es, du kannst es...
Prosnik beklemmt: Loslassen! Arme weg!
Hete: Erst sieben Wochen ist's ja ... aber es darf nicht kommen ... wohin soll es denn ... es lebt ja noch gar nicht, so 'n Punkt, so 'n Nichts, da geht's doch noch, und du hast das Mittel ... ich hab ja so Angst, so Angst...
Prosnik: Lass mich los, du; das tut nicht gut, wie du mich hältst... weg, das tut nicht gut... Presst sie über den Tisch. Ich lasse die Nacht hier auf... du, hörst du?
Hete schweigt.
Prosnik: Hörst du?!
Hete reglos: Kannst du mir helfen?
Prosnik hat sie losgelassen, geht um den Tisch zu dem Schränkchen am Bett, öffnet eine Schublade und nimmt dort eine längliche Schachtel.
Hete: Tut es weh?
Prosnik: Das geht leicht, Kind, leicht, sage ich ... Umfasst sie. Ganz leicht...
Schritte vom Flur. - Hete horcht erschreckt. - Stimme: „Hete! Hete!"
Hete: Der Paul!
Prosnik will links zur Tür.
Paul schnell von links: Gott sei Dank!
Prosnik: Sie wünschen?
Paul: Hete ... die Schupo hat die Kantine besetzt! Schussgefahr! Deine Mutter??
Hete: Fort ...
Paul: Ich hole sie ...
Hete Sprung zu ihm: Nein, Paul, nein!!
Paul: Ich muss ja doch hin, die Weiber sind wie 'n Sack wilder Wanzen, die Gewehre gehen sonst los...
Hete: Paul, Paul ... bleib!!
Paul: Was machst du für Augen?
Hete: Geh nicht fort, du, geh nicht fort! Du darfst jetzt nicht gehen ... bleiben, Paul, bleiben ... du, ich hab ja so Angst, so Angst!
Paul: Unsinn!
Hete: Ich gehe mit, ich gehe mit, Paul!
Paul: Ich schließ dich hier ein, du!
Hete außer sich: Paul, Paul, er packt mich wieder ... Will schnell die Schachtel mit dem Instrument greifen. Das da!
Prosnik reißt die Schachtel vom Tisch an sich: Verrückt?
Paul: Nanu?
Hete an ihn geklammert: Hilf du mir, hilf du mir, Paul ... er will mir helfen, ja ... aber er will noch mehr, noch mehr, noch viel mehr...
Prosnik retiriert hinter den Tisch: Verrückt, vollständig verrückt!
Hete: Ich kann das doch nicht tun, Paul, bloß weil er's hat, und weil sonst keiner mir hilft, keiner ... und das Kind in meinem Leib, das wächst, wächst, bald ist's so groß, dass man nicht mehr helfen kann ... aber man soll mir helfen, dafür kann er alles verlangen...
Paul gegen Prosnik: Ich schlag ihm die Zähne...
Hete: Halt, Paul! Lass ihn, er hat's ... wir brauchen's!
Prosnik reißt eine Schublade auf: Bitte, diesen Raum sofort zu verlassen! Hausfriedensbruch!!
Paul, der ihm gefolgt: Bitte, uns doch einmal zu zeigen, was Sie da haben!
Prosnik weicht vor Paul rückwärts um den Tisch herum aus, bis er wieder neben Hete steht; erschrickt vor dieser Einkreisung: Machen Sie sich nicht unglücklich, Sie! Vergreifen Sie sich nicht an meinem Eigentum!
Paul hat Prosniks Arm gepackt: Her das Ding!!
Prosnik: Ich tu's schon...
Paul: Dreck!
Prosnik: Wenn du noch lange meine Hand schraubst, geht es vorher kaputt...
Hete: Paul!!
Paul haut Prosnik die Faust zwischen die Augen.
Prosnik sackt um.
Hete schleicht zu dem Betäubten, nimmt ihm die Schachtel vorsichtig aus der Hand, springt zu Paul und zieht ihn in eine Ecke: Du ... Du ... da ist's ... da ist's...
Paul: Ja, ja ... Geht zu Prosnik, hebt seinen Arm, der niedersinkt, fühlt seinen Puls. Schlapp, aber noch da ... das hätte gefehlt!
Rufe: „Sanitäter! Sanitäter! Herr Prosnik!" - Hete springt zur Tür, schließt ab. - Von draußen Klopfen: „Herr Prosnik, Herr Prosnik! Die Witt ist tot, aus dem Fenster gesprungen, kaputt, tot!!!" - Klopfen. „Herr Prosnik!! Hören Sie denn nicht ... zum Fenster hinaus..."
Hete hat während des Klopfens Paul zu sich in die Ecke gezogen, klammert sich an ihn, hält sich die Ohren zu: Ist sie weg, Paul? Ist sie ruhig, Paul? Ist sie weg?
Paul streicht ihr über den Kopf und Rücken: Ja, du...
Hete: Die Witt ... mit ihren sechs Bälgern ... die Witt aus dem Fenster gesprungen, kaputt ... ja, was solln denn jetzt die Kinder ...In wilder Angst reißt sie die Schachtel an sich, drückt sie Paul in die Hand. Aber du hilfst mir, du ... schwör es mir, heute noch ... Paul, du hilfst mir!!
Paul nimmt die Schachtel, betrachtet sie, dreht sie hin und her: Wenn ich nur wüsste...
Hete: Red nicht, Paul! Hast du Angst, Paul, ekelt's Dich, Paul, sag mir's! Packt ihn. Paul, hast du mich noch lieb, hast du mich noch lieb!!
Paul hilflos, benommen: Wenn ich nur wüsste, wie ... Sieht Hete, nimmt ihren Kopf. Aber wenn du schreist, und wenn es dir weh tut ... Sie stehen ratlos da.
Küche bei Mutter Fent. Um den Tisch sitzen: Mutter Fent, Frau Klee, der Kuckuck und Hete. Alle brocken schweigend trockne Brotstücke in ihre Kaffeetassen.
Frau Klee: Ja, ja ... „schnell tritt der Tod den Menschen an"; ich sagte doch gleich, man solle die Witt nicht alleine lassen ... die hatte 'ne ganz weiße Nase, und in ihrer Pupille war ein Kreuz...
Kuckuck: Nase hin, Pupille her, liebe Blattlaus... die Sache hängt mit den roten Blutkörperchen zusammen ... wer die „Koralle" liest, der weiß genau, dass der Mensch fünf Millionen rote Blutkörperchen hat; fehlt aber davon ein Teil, sagen wir eine Million, so gibt zuerst die Leber ihre aufgespeicherten Blutzellen her...
Frau Klee: Red keine Brühe, Kuckuck! Darum brauchte die Witt doch nicht 'ne Viertelstunde drauf aus dem dritten Stock 'nen Kopfsprung aufs Straßenpflaster zu machen, dass man sie nachher zusammenrollen konnte wie 'n Gasschlauch!
Kuckuck brockt und trinkt: Minderwertigkeitsgefühle.
Mutter Fent: Man soll 'ne Tote nicht beschimpfen!
Kuckuck: Beschimpfen? Schiebt seine Tasse fort: Die Sache ist doch so: Wenn statt fünf Millionen Blutkörperchen infolge mangelnden Betriebsstoffes nur drei Millionen da sind, so gibt zuerst die Leber ihre Vorräte her, das dauert so zwei bis drei Wochen; dann in der vierten Woche kommen die Muskeln dran und schließlich der Herzmuskel, der wird dann immer dünner und schrumpft, weil die roten Blutkörperchen...
Frau Klee: Hör auf mit deinen Blutkörperchen, olle Mistkrähe ...
Will der Geist entweichen schon, Trink die schwarze Volksbouillon!
Gießt Kaffee ein.
Mutter Fent: Wenn die Blutkörperchen aber nun immer weniger werden, dann ... „schrumpft" der Herzmuskel?
Kuckuck feierlich: Er schrumpft!
Mutter Fent unruhig: Hete, musst du nicht aufs Büro?
Hete : Heut nicht.
Mutter Fent: Warum?
Frau Klee: Den Morgen ist die ganze Direktion abgerückt, als würde sie schon in 'ner Stunde zu Hackepeter verarbeitet.
Kuckuck: Man könnte sich 'n Monogramm in den Hintern beißen!
Er legt den Kopf auf den Tisch. Alle sitzen da und brüten vor sich hin. Frau Klee und Kuckuck, die ganz vorn hocken, legen den Kopf auf die Arme, als wollten sie schlafen; sie sprechen dann leise, ohne ihre Haltung zu ändern.
Frau Klee: Hast noch 'nen Brocken, Kuckuck?
Kuckuck gibt ihr aus der Tasche.
Frau Klee: Zementsteine sind Butter dagegen.
Kuckuck: Nicht so schlingen, liebe Lerche! Hartes Brot macht Wangen rot! Gut im Mund herumwälzen ... immer wieder von rechts nach links, von links nach rechts ... sättigt enorm.
Frau Klee: Kuckuck ... müssen wir denn alle verrecken?
Kuckuck: Nicht alle ... nein ... höchstens ein Drittel oder die Hälfte, verstehst du ... und dann „verrecken", das ist so eine eurer Übertreibungen; die Organe trocknen ein bisschen ein, das Darmfett schwindet - soll übrigens gesund sein gegen Gicht - und dann schrumpft die Leber und der Herzmuskel...
Frau Klee: Und die Blutkörperchen! Springt auf; zu Mutter Fent. Zur Kantine!! Zu fressen will ich haben!! Wo sind denn die all mit ihrer großen Klappe, der Paul und der Maxe...
Hete: Der Paul hat nicht so 'ne Revolverschnauze wie du; der handelt...
Frau Klee: Jawohl, der handelt; der mimt Ordnung, wenn
uns die Rippen durch die Haut spießen! Scheibenhonig alles, was ihr da quasselt! Es gibt nur eins auf der Welt, was kein Schwindel ist: Fressen, Pennen und Kinderkriegen...
Kuckuck hat, um abzulenken, aus der Ecke die „Gewehrgeige" geholt: ein Militärgewehr 08, dessen Lauf entfernt ist; statt de. Laufes sind von dem Schaft her über das Visier - über Kim zum Korn - ein paar dicke Stahlseiten gespannt. Pause. Sammlung! Wie denken die Herrschaften über ein Lied. Stimmt die Geige. Präludium geschenkt... während der Vorführung bleiben die Saaltüren geschlossen ... also singt:
Der Heizer Christian Schulze, sonst ein rechtlicher Mann, Eines Tages er zu seiner Arbeitsstelle kam: Betriebseinschränkung! - Er ward nochmals entlohnt; Dann stand er auf der Straße und guckte in den Mond. Wir müssen sparen und rationalisieren, Die Wirtschaft neu aufbaun und sanieren, Klar, Mensch!
Mit Christian Schulze der Neuaufbau begann, Morgen kommen auch du und ich daran, Bitte, nicht drängeln!
Alle, während der Kuckuck mit bumsendem Kolben den Takt angibt:
Mit Christian Schulze der Neuaufbau begann, Morgen kommen auch du und ich daran, Bitte, nicht drängeln!
Kuckuck:
Der Heizer Christian Schulze nun stempeln ging, Achtzehn Mark die Woche ein Jahr lang er empfing, Achtzehn Mark die Woche für fünf Kinder, Weib und sich; Eines Tags 'ne Grippe bei ihm sich einschlich. Da änderte er das Datum für das Krankengeld, Da ward er ob Betrugs vor Gericht gestellt, Klar, Mensch!
Mit Christian Schulze der Neuaufbau begann, Morgen kommen auch du und ich daran, Bitte, nicht drängeln!
Frau Klee: Mit Christian Schulze der Neuaufbau begann...
Kuckuck: Na ... was singt ihr nicht?
Frau Klee: Morgen kommen auch du und ich daran ...
Du, das ist schon kein Lied mehr.
Hete: Wir machen wohl doch noch 'nen Kaffee, Mutter!
Mutter Fent: Meinetwegen ... wenn's alle ist, ist's alle.
Hete beginnt Kaffee zu mahlen; alle sitzen schweigend da. - Auf einmal hört man Schritte. Langsam sieht einer nach dem andern auf. Frau Klee zu Kuckuck: „Polente?" - Hete hat die Kaffeemühle auf den Boden gestellt und ist nach links zur Tür gelaufen ...
Hete: Paul!!
Von links Paul und Max; sie gehen langsam vor und bleiben stehen.
Paul: Kohldampf, Mensch!
Kuckuck: Herzlichstes Beileid! Unser Diner ist eben beendet; wir sind grade bei der Nachspeise: Fletschere mit Luft!
Paul: Los, Hete, zwei Schwerarbeiter kommen zum Schanzen!
Hete: Nichts da.
Paul: Na was, Maxe?
Max: So 'n Beschiss!
Frau Klee hoch: Ihr müsst grad reden, ihr!! Lasst euch als Betriebsräte wählen, die Arbeiterinteressen zu vertreten, und jetzt, wo wir ausgesperrt sind, lasst ihr keinen an die Kantine, bis wir alle verrecken, ihr Arschwedel!
Paul hat aus Rock und Hosen schnell Würste, Büchsenmilch, Konserven hervorgezogen, haut Frau Klee eine Wurst über die Schulter. Fangen wir mit dem Verrecken mal an, liebe Lerche.
Frau Klee zupackend: Würste, Milch! Rollmöpse!!
Max zieht aus seinen Knickerbockers ebenfalls Würste, Brötchen, Eier, Käse: Jawohl, wir bringen was mit in die Ehe!
Kuckuck: Da staunen die Blattläuse! Manna vom Himmel! Beginnt.
Frau Klee springt auf, gibt Max einen Kuss: Liebling! Herzchen!!
Paul zu Frau Klee, die mit Macht isst: Langsam, Minna, du frisst dir 'nen Bruch!
Frau Klee mampfend: Lass mich, Herzchen, lass mich...
Kuckuck ebenfalls mit breiten Armen überm Tisch: So 'n Rollmops, 'n wundervolles Tier ... Entbüchst, streicht Brötchen,
wickelt Käse aus. ... 'n wahrer Lebensretter ... da sprudeln die Magensäfte, da feiern die Blutkörperchen Hochzeit, enorme Vermehrung, mindestens fünf Millionen ... da lacht das Herze und wird wieder gut ... Mutter, die Volksbouillon!
Der Kaffee wird herangebracht, Hete gießt ein, alle haben sich um den Tisch gesetzt, greifen sich, was grade vor ihnen liegt, und beginnen stumm und mit ganzer Kraft zu essen; Hete versucht einen Bissen, legt ihn aber wieder hin und trinkt nur ab und zu einen Schluck Kaffee; sie sitzt wie unbeteiligt da. Die andern essen in mächtigem Rhythmus; die folgenden Sätze fallen nur wie Brocken ihnen aus dem Mund.
Max: Endlich!
Paul: War höchste Eisenbahn!
Mutter Fent immer essend: Woher habt ihr das?
Kuckuck zu Frau Klee, die sich kauend zur Wand abgewandt: Minna, friss nicht so! Das ist unfein und gibt Leberkrebs! Dreht sie dem Zimmer zu: sie hat in der einen Hand eine Wurst, in der andern eine Gurke und beißt abwechselnd hinein. Seht nur, ihre Augen sind geschlossen, ihr Gesicht ist ganz verklärt!
Mutter Fent: Quassel nicht; aber ruhiger macht das. Immer essend zu Paul: Ist das ausgeteilt?
Max: Jawohl, Mutter ... „ausgeteilt".
Paul: Aus der Kantine.
Mutter Fent: Wieder offen?
Paul mit Geste: Klar.
Frau Klee: Gekrampft, Herzchen, gekrampft!
Hete: Gekrampft, Paul?
Mutter Fent: Eingebrochen?!
Paul: 'n Schloss ging schon hops dabei. Aber nun feste ran an die Mutter! Hete, 'ne Pfanne her, acht Eier hineingeblättert und Wurst drüber...
Mutter Fent steht auf: Fünfzig Jahre bin ich ehrlich gewesen ...
Frau Klee kauend: Und jetzt haste Hunger!
Paul zu ihr: Mutter, hör mal, wir machen's doch wahrhaftig nicht zum Spaß oder um Kies draus zu schlagen ... nee, aber kann man euch denn langsam hier verrecken sehn ... die Sache ist doch nicht von heute oder morgen, die geht über Monate!
Mutter Fent: Und wenn wir das hier verdrückt haben,
was dann? Paul : Wird sich finden.
Kuckuck ganz versunken mit Frau Klee essend: Zauberhaft, liebe Blattlaus, wunderbar... weißte, Minna, mit drei Millionen Blutkörperchen, da biste 'n hungriges Biest, 'n Verbrecher, mit vier Millionen biste einer, der stempeln geht, aber mit fünf Millionen Blutkörperchen, da bist du ein sittliches Wesen, ein Mensch.
Frau Klee isst mit ganzer Wucht: Großartig, Herzchen, großartig!
Max: Minna, du schaufelst ja wie 'ne Baggermaschine! Minna, Täubchen, denkst du auch an deine Kinder?
Frau Klee füllt ihre Schürze mit Sachen: Klar, aber man muss doch erst wieder Betriebsstoff haben in der Untergrundbahn!
Mutter Fent: Das sind Grundsätze!
Kuckuck: Still, Mutter! Verdirb nicht die Akustik! Zieht sie zu sich. Dein Wohl, Max, alter Räuber! Winkt ihm mit einer Wurst.
Max empfindlich: Räuber?! Wir haben Ordnung geschafft!
Frau Klee steckt ihm eine Wurstecke in den Mund: Still, mein Junge, iss, Bruderherz ... mir ist so sanft jetzt, kein Streit! -Kuckuck, die Klimperminna, die Hallelujakiste ... lasst uns singen, liebe Andächtigen...
Kuckuck holt die Gewehrgeige und stimmt sie: So lustig heute, die jungen Leute! Na ja, man ist ein andrer Mensch, wenn man was im Bauch hat... obschon man zu großen Taten hungrig sein soll! Aber alle den Refrain jetzt mitsingen, wenn ich „peng" mache! Singt:
Der Heizer Christian Schulze, ein Betrüger von Rufe,
Schnell sank er jetzt tiefer von Stufe zu Stufe:
Er stahl, stach, schoss, bekam sehr schlechte Manieren,
Drei Schupos killte er, hatte nichts zu verlieren;
Sogar ein besseres Fräulein er in die Ewigkeit sandte,
Bis ihn der Arm der Gerechtigkeit übermannte,
Gottlob!
Mit Christian Schulze der Neuaufbau begann, Morgen kommen auch du und ich daran, Bitte, nicht drängeln!
Alle:
Morgen kommen auch du und ich daran, Bitte nicht drängeln!
Kuckuck:
Der Mörder Christian Schulze, ohne Spur von Qual Verzehrt er in Ruhe sein Henkersmahl: Kraut, Braten und einen halben Liter Wein; Da spricht er: „Nun lasst uns einmal ganz fröhlich sein! Zum ersten Mal in meinem Leben aß ich mich knüppelsatt,
Nicht jeder in seinem Leben das Glück je hat! - Fertig! Los!"
Mit Christian Schulze der Neuaufbau begann, Morgen kommen auch du und ich daran, Bitte, nicht drängeln!
Alle wild:
Mit Christian Schulze der Neuaufbau begann, Morgen kommen auch du und ich daran, Bitte, nicht drängeln!
Frau Klee aufspringend: Kuckuck! Gerührt. Komm her, ich muss dich lieben! Küsst ihn.
Max: Aber diese Welt sollte man in Klump hauen, wo man schießen und krampfen muss, um zu seinem Fraß zu kommen...
Frau Klee: Reg dich nicht auf, Maxe, mein Süßer... solange nicht die Hose am Kronleuchter hängt, ist das alles... Kinder, mir ist so wohl ... ha, schau, die Mutter, wie sie stopft! Da schweigen alle Geigen!
Mutter Fent essend: Man wird ruhiger...
Kuckuck: Oder verrückt ... Hat seine Gewehrgeige genommen und tanzt mit ihr:
Hullala, tirallala ... Die Geige ist des Kuckucks Liebe, In ihr da schlummern all seine Triebe, Hullala, tirallala ... ich glaube, der Geist kommt über mich!
Frau Klee: Kommen lassen! Kommen lassen! Tanzt mit ihm.
Paul, der mit Hete beiseite gestanden: Total besoffen!
Max: Kannste wohl werden, vom bloßen Fressen kannste besoffen werden, wenn du 'ne Woche gehungert hast!
Frau Klee sinkt erschöpft auf ihren Platz: Dufte, dufte, Jungens... direkt 'n Gedanke mit Backobst ... Plötzlich: Aber jetzt muss ich zu meinen Gören!
Packt Essen ein; schnell ab. Die andern sitzen wieder um den Tisch; sie essen weiter oder legen den Kopf auf den Arm, um zu nicken. Hete ist zum Herd getreten; Paul ihr nach.
Paul: Du hast ja keinen Bissen gegessen!
Hete: Mir ist so übel.
Paul: Wie siehst du denn aus?
Hete: Sei doch still! Wenn's jemand hört! - Du, Paul, ist die Direktion wirklich abgerückt?
Paul: Total vergast!
Hete: Jetzt verdienen wir alle nichts mehr.
Paul leise: Du! Geh doch mal zum Arzt.
Hete: Meinste wirklich?
Draußen Stimmen. Frau Klee mit Prosnik von links.
Frau Klee: Keine Geheimnisse, Herr Prosnik! In diesem Palast zieht der Schmalzparföng durch alle Dielen und Ritzen! Tief atmen, Herr Prosnik; das alleine macht schon satt!
Prosnik: Gute Stimmung, scheint's.
Kuckuck immer noch essend: Einfach himmlisch, Herr Verwalter; bitte sich zu bedienen; es ist reichlich!
Prosnik: Es soll eingebrochen sein.
Frau Klee: Unglaublich!
Prosnik: Ihr fühlt euch verdammt sicher!
Max auf der Bank liegend, spielt Mundharmonika: Was kann uns schon passieren?
Paul vor ihm: Verpfeift uns der Herr Verwalter, so tät's mir leid um ihn!
Hete dazwischen: Paul!!!
Prosnik: Ist wohl alles gekauft, was da liegt?
Paul: Gegen so 'n krummen Hund bin ich mir zu schade! Dreht sich weg.
Prosnik wild: Aber nicht zu schade, 'nem Mädel 'nen dicken Bauch zu machen!
Paul fährt herum; hält an sich; ruhig: Los, Max; hier tritt man auf Wanzen. Komm!
Mutter Fent: Was habt ihr nur?
Paul: Lass gut sein, Mutter! Leise zu Hete: Zum Abend! Mi Max ab.
Prosnik auflachend: Guten Rutsch, meine Herren!
Hete erregt gegen ihn: Was haben Sie? Was lachen Sie so?
Prosnik: Man wird sich doch noch seines Lebens freuen dürfen, Fräulein Hete!
Paul und Max im Sprung herein.
Max: Polente! Hof und Straße besetzt!
Frau Klee gegen Prosnik: Der Hund! Lach doch! Lach doch! Gebt ihm zu lachen!!
Paul bei Hete: Bleiben?
Hete: Übers Dach!!
Paul springt mit Max rechts in die Kammer. Man hört Schritte und Rufe.
Frau Klee zu Mutter Fent: Mutter ... auf den Flur, die Kerle anquasseln, und quatschen, quatschen, quatschen, bis die beiden vergast sind!!
Zieht Mutter Fent und Kuckuck mit hinaus. Man hört draußen erregte Worte und Rufe, die sich entfernen. Dann Stille Prosnik steht in einer Ecke. Hete räumt den Tisch ab.
Hete: Weshalb stehen Sie noch da?
Prosnik: Weshalb nicht?
Hete: Muss Paul Ihnen noch mal eine hinfunken?
Prosnik: Hat er Ihnen schon...
Hete: Biest!
Prosnik: Vielleicht kann dir das „Biest" mal nützen, nachdem der Freund verschütt ging.
Hete: Der kommt wieder!
Prosnik: Zweifelhaft! Landfriedensbruch, Einbruch, Raub Fräulein Hete.
Hete: Ich bin nicht „Hete" für Sie, verstehen Sie mich!
Prosnik: Ich vergreife mich nicht an dir, keine Angst...
Rufe im Hof.
Hete am Fenster: Lauf, Paul! Lauf, lauf! Sie laufen auf den Dächern! Duck dich! Halte dich!
Mutter Fent herein.
Mutter Fent: Verduftet!
Prosnik: Sie werden auch so noch geklappt...
Hete: Sie ... Schuft!
Prosnik: Es fragt sich, wer der größere Schuft ist: der ein
Mädel hops macht, oder der ihm helfen will!
Mutter Fent: Was heißt das?
Prosnik auf Hete: Fragen Sie die!
Mutter Fent vor ihr: Du! Was ist?!
Hete schweigt.
Mutter Fent packt sie: Das ist nicht wahr!!
Hete: Doch, Mutter.
Mutter Fent: Gelogen!
Hete: Mutter, Mutter, Angst habe ich, vor dem, was kommt, wenn niemand mir hilft und dem Kind, Mutter ... Angst!!
Mutter Fent: Und ich? Und dein toter Vater?
Hete: Mein Vater, mein Vater ... meinem Vater, dem tut es nicht mehr weh, Mutter. Heftig. Aber mir tut es weh, mir und dem Kind in meinem Leib und auch dem Paul, der tausendmal sauberer ist als alle, die ihm was anschmeißen wollen!
Mutter Fent: Halt den Mund! Glaubst du, du kannst noch 'nen Fresser zu Tisch bringen, der nichts verdient!
Hete: Mutter!!
Mutter Fent: Ach was: Mutter!! Hast du mich gefragt? Meinst du, du kannst hier niederkommen, dass die ganze Straße mit Fingern auf mich alte Frau zeigt!
Hete: Das glaubst du ja selbst nicht, Mutter!!
Mutter Fent: Red nicht so doof!
Prosnik nimmt sie beiseite: Ich will Ihnen mal was sagen: Sie sollten vielleicht doch anders reden, Frau Fent! Ich habe da unten bei mir 'ne Kammer, 'ne ruhige, stille Kammer ... sie wird da nicht hungern und nicht frieren und vor Blicken geschützt sein.
Hete: Sie sind verrückt!
Mutter Fent gibt ihr eine Ohrfeige: Auch noch frech ist die
Schlampe!
Hete steht starr; nimmt schnell ihre Mütze, rennt hinaus. Prosnik: Wo wollen Sie hin? Ihr nach.
Mutter Fent steht ratlos: Muss man dazu Kinder haben?
Sprechzimmer von Dr.Moeller: Schreibtisch, Instrumentenschrank Solluxlampe, Waschbecken, Stühle. Zugänge rechts und links. ~, Dr. Moeller hat eben eine Dame untersucht und beraten; er hat ein Zeugnis geschrieben und kuvertiert es.
Dame: Ich kann bestimmt auf Ihre Diskretion rechnen, Herr Doktor?
Dr. Moeller: Ärztliche Schweigepflicht, meine Gnädigste!
Stempelt den Umschlag und gibt ihr den Brief.
Dame: Darf man wissen, Herr Doktor, ob das Zeugnis positiv ausfiel?
Dr.Moeller: Es unterliegt noch der Entscheidung des ausführenden Gynäkologen, der den Eingriff zu machen hat.
Dame schnell: Dafür garantiere ich.
Dr.Moeller: Sie unterschätzen unsere Verantwortlichkeit!
Dame: Was haben Sie zu riskieren? Bitte, ich verstehe! Aber soll ich mir wegen eines Zufalls einen ganzen Winter verderben lassen, jetzt, da ich in bester Form bin! Mein Hockeyteam in Davos erwartet mich dringend.
Dr. Moeller: Unser Gutachten gründet sich lediglich auf den sachlichen Befund.
Dame: Herr Doktor, ich liebe es nicht, mich durch Nichtbeantwortung von Fragen demütigen zu lassen: Haben Sie den Eingriff befürwortet?
Dr.Moeller: Glauben Sie, ich schreibe sonst! Hilft ihr in den Mantel.
Dame: Tausend Dank! Ich danke Ihnen sehr...
Dame, vom Arzt geleitet, nach links ab. Dr. Moeller geht umher, ordnet seine Instrumente, setzt sich an den Schreibtisch, macht eine Eintragung; geht dann nach rechts: „Na, bitte!" - Von rechts kommt Max.
Max tritt vor und legt seinen Krankenschein auf den Schreibtisch. Dr.Moeller nimmt ihn und macht seine Eintragungen: Wo fehlts?
Max: Zwischen den Rippen, Herr Doktor.
Dr.Moeller: Fieber?
Max: Ich weiß nicht.
Dr.Moeller immer noch schreibend: Machen Sie frei!
Max: Ganz?
Dr.Moeller: Doch nur, wo Sie Beschwerden haben, Mensch! Schon acht Mann heut von eurem Betrieb! Streikfieber, was?
Max: Wie meinen, Herr Doktor?
Dr.Moeller: Ich meine, Krankengeld ist auch nicht zu verachten, wenn die Gewerkschaftskasse versagt und der Staat keinen Kies mehr hat, was?
Max mit nacktem Oberkörper: Ich bin zur Untersuchung gekommen, Herr Doktor.
Dr. Moeller mustert ihn scharf: Aha! Wo sitzt es denn, mein Sohn?
Max: Hier, zwischen den Rippen ... Schmerzen beim Atmen.
Dr. Moeller mit Hörrohr horchend: Einatmen ... aus! Einatmen ... aus! Luft anhalten! Legt die Hände unter die Schulterblätter. Sagen Sie: Neunhundertneunzig! Siebenhundertsiebenundsiebzig! - Prima! Immerhin, fabelhaftes System, das ihr da habt ... unkontrollierbar, denkt ihr ... Setzt sich wieder an den Tisch. Rippenfellentzündung, was?
Max: Möglich.
Dr. Moeller: Essig! Meinen Sie, mich zwickt's nicht einmal bei dem Sudelwetter hier und da? Nein, da sage ich mir: Nacken steif! Zähne aufeinander! Es ist der Geist, der sich den Körper schafft!
Max: Was fehlt mir, Herr Doktor?
Dr.Moeller: Etwas Härte gegen sich selbst, Verantwortungsgefühl gegenüber dem Staat...
Max: Wenn man sich nicht mal zwei Eier kaufen kann und einen Liter Milch!
Dr.Moeller: Aha!
Max erregt: Natürlich! Für euch ist Hunger keene Krankheit!!
Dr.Moeller: Schlagworte! Phrasen! Auf den Menschen
kommt es an, auf den Menschen! Auf seinen Glauben an Fleiß, Redlichkeit, Tüchtigkeit! Selbst eure Frauen streiken ja und wollen keine Kinder mehr! Kein Tag vergeht, dass nicht eine den Gashahn aufdreht oder zu uns kommt mit verbrecherischem Ansinnen!
Max: Soll es denn noch mehr Kinder geben, und Hungerkrüppel, und Arbeitslose?
Dr.Moeller: Wollen Sie gegen das wichtigste göttliche Gebot handeln: Du sollst nicht töten!
Max sieht ihn nur an.
Dr.Moeller: Ein Volk, das keinen Geburtenüberschuss hat...
Max: Wird kein Kanonenfutter und keine Reservearmee von Streikbrechern mehr liefern!
Dr.Moeller: Moskau!! Der Rubel rollt wieder! Meinen Sie, wir merken das nicht! - Hier Ihr Schein!
Max blickt darauf: Gesund! Grabendienstfähig! Ich danke, Herr Doktor! Will nach rechts.
Dr.Moeller nach links weisend: Dort! Max links ab. Das! fehlte mir noch im Wartezimmer! Wäscht sich; nach rechts. Bitte!
Herein kommt Hete, sehr zögernd.
Dr.Moeller am Schreibtisch: Bitte, den Krankenschein Sieht auf. Hätten Sie die Güte, sich etwas schneller zu äußern! Was fehlt Ihnen?
Hete: Herr Doktor ... Schweigt.
Dr. Moeller erkennt jetzt: Es warten draußen noch zehn Kranke, Verehrteste, die alle auf mich ein Anrecht haben; ich bitte, sich kurz zu fassen!
Hete heftig, aber leise: Sie müssen mir helfen, Herr Doktor!
Dr. Moeller obschon er es weiß: Nochmals, worum handelt es sich?
Hete in großer Angst: Es ist kein Verbrechen, Herr Doktor..., es ist wirklich kein Verbrechen, wenn Sie mir helfen, Herr Doktor!! Ich musste weg von Haus ... wir haben ja für uns selber nichts ... die Aussperrung nun schon vier Wochen, kaum Brot und Kartoffeln, sechs Menschen in einer Kammer ... wie soll da noch ein siebentes herein! Sie sind doch Arzt, Sie sehen täglich ja das ganze Elend, Sie müssen mir helfen!!
Dr. Moeller aufstehend: Wenn ich recht verstehe, fordern Sie von mir eine strafbare Handlung!
Hete: Herr Doktor, ich weiß nicht, was Sie da sagen ... ich brauche Ihre Hilfe, Herr Doktor ... wir Arbeiterinnen wissen ja viel zu wenig von diesen Dingen, die wir wissen müssten, jeden Tag kommen sie an uns heran ... und dann hilft uns niemand.
Dr.Moeller: Und Ihre Mutter, was sagt die?
Hete: Die redet ... von Schande.
Dr.Moeller: Ist's vielleicht 'ne Ehrentat? Aber eine Errungenschaft der „neuen Zeit" ist es, da alle Bindungen und Zügelungen zerschnitten! Oder nicht?
Hete: Ja, jaja, Herr Doktor! Sie haben recht! Aber ich brauche jetzt Hilfe, Herr Doktor, Hilfe! Es darf nicht kommen: es hat keinen Fleck zum Liegen, keine Windel, keinen Korb, keine Nahrung...
Dr.Moeller: Und der Vater?
Hete: Oh, Herr Doktor von Weinen geschüttelt, ich kann nicht mehr...
Dr. Moeller fasst sie an der Schulter: Immer dasselbe, jede Sprechstunde ... Streicht ihr übers Haar. Kommt denn niemand für das Kind auf?
Hete: Doch, Herr Doktor, doch..., aber er hat doch keine Arbeit.
Dr.Moeller: So drücken sich alle.
Hete vor ihm: Der drückt sich nicht, der steht für das hin,
der mir's gemacht hat!
Dr.Moeller: Weshalb ist er denn nicht hier ... jetzt?
Hete: Weil er türmen musste.
Dr. Moeller: Ah so!
Hete: Nein, nein, Herr Doktor, kein gemeiner Mensch, kein Dreckskerl! Ein Mensch, der hinseht für die andern, der Paul! Er hat nur aus Not gehandelt, für die andern, Herr Doktor!
Dr.Moeller: Aber Sie lässt er in Not?
Hete erschlafft einen Augenblick, reißt sich dann zusammen: Er würde hinstehen, auch für das Kind; aber Sie sehen selbst, dass er verfolgt ist; Sie sind doch auch ein Mensch, ein Mensch, ein Arzt, der helfen soll...
Dr. Moeller: Wenn ich Ihnen helfen dürfte. Wie soll ich's denn machen? Das Gesetz bindet uns Ärzten doch die
Hände ... Einen Augenblick schwankend; dann: Die Sache scheint Ihnen doch nicht ganz klar, meine Teure! Holt aus dem Schreibtisch ein Buch. Hier, hier, im Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches der §218, bitte: „Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleib tötet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft. Dieselben Strafvorschriften finden auf denjenigen Anwendung, welcher die Mittel zur Abtreibung bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat." - Bitte! Hete steht schweigend da.
Dr. Moeller eifernd, fast begeistert: Nicht wahr, das klingt anders! Und dann: Der 45. Deutsche Ärztetag in Eisenach und der Reichstagsausschuss haben bekundet, dass in Deutschland dennoch jedes Jahr mindestens achthunderttausend verbotene Abtreibungen stattfinden; über zehntausend deutscher Mütter sterben jährlich an solch unsachgemäßer Behandlung durch Nichtärzte! Gegen fünfzigtausend schwere Erkrankungsfälle kommen nach solchen schwarzen „Fehlgeburten" in Deutschland jährlich zu unsrer Kenntnis!
Hete sieht ihn an: Und da können Sic noch Arzt sein?
Dr.Moeller stutzt: Wie? Was soll das heißen? Wollen Sie mir etwa die Schuld an diesen Zuständen zuschreiben? Gerade wir Ärzte, wir reden uns ja die Lungen lahm; aber wenn heute alle Bindungen und Pflichten fallen, wenn man lieber in die Kinos und auf die Sportplätze rennt und die ewige Wahrheit verhöhnt: „In Schmerzen sollst du Kinder gebären..."
Hete geht stumm zur Tür.
Dr.Moeller ihr nach: Was wollen Sie tun?
Hete sieht ihn an: Dorthin gehen, wo man mir hilft.
Dr.Moeller: Machen Sie keine Dummheiten, Mädchen! Gehen Sie nicht dahin, Mädchen, wo man Ihnen Cyankali gibt oder mit Schmierseife spritzt, oder wo man Sie mit einem unsauberen Instrument verletzt, wo Sie dann im Kindbettfieber in Krämpfen sterben; gehen Sie nicht dahin, ich warne Sie!
Hete aufschreiend: Aber Sie ... Sie schicken mich ja dahin!!
Dr.Moeller erschrocken: Ich? Ich schicke Sie dahin? Sind Sie toll? Ich habe Sie nicht gerufen und nicht weggeschickt! Soll ich ein Verbrechen begehen? Kann ich den Paragraph ändern?
Hete starrt ihn an: So viele Ärzte seid ihr in Deutschland ... tausende Ärzte ... und so lasst ihr die Menschen sterben? Hält sich am Tisch.
Dr. Moeller: Setzen Sie sich doch ... hier ... Sie sind überreizt, seien Sie doch ruhig, nehmen Sie sich zusammen ... Gießt Hoffmannstropfen in ein Glas Wasser. Trinken Sie, es wird Ihnen sofort leichter ... sehen Sie, sagte ich nicht... alles geht vorüber, mein Kind, alles...
Hete steht auf.
Dr. Moeller: So, mein Kind, nun überschlaf das Ganze ... morgen sieht das alles schon ganz anders aus ... eine rein psychogene Sache, mein Kind, sehr typisch für den zweiten Monat ... jovial und nun gehst du zu deiner Mutter, hörst du, zu deiner Mutter; es wird alles wieder gut! Führt sie nach links. Weißt du, man muss nur den Kopf nicht verlieren, immer tapfer sein und den Nacken steif, Nacken steif...
Hete hilflos links ab.
In einem Zeitungskiosk an einer Straßenecke. Ein Drittel des Raum links dient dem Verkauf; dort zwei kleine Fenster mit Zahlbrett und Auslage. Der größere Teil des Kiosks ist als kleiner Wohnraum eingerichtet: Öfchen, Hocker und im Hintergrund eine Schlafpritsche, unter der Stöße von Zeitungen und Zeitschriften liegen. Die Schlafpritsche selbst ist durch zwei Zeltbahnen, die hochgeschlagen werden können, verdeckt. Der ganze Kiosk wird von Häusern überragt, Straßenlärm draußen.
Am Schalter links verkauft Kuckuck dauernd Zeitungen. Auf einem Hocker im Wohnteil sitzt Max und sortiert.
Kuckuck am Schalter: „Berliner Illustrierte", „Die Morgenausgabe", „AIZ" ... zwanzig Pfennige, bitte! „The Star of Oklahoma" auf dem Weg zum Südpol gesichtet ... Selbstredend schon in dieser Nummer! ... Streikender Mob der Walzwerke demonstriert und nötigt Polizei zum Eingreifen: neun Tote, fünfunddreißig Verwundete ... Immer verkaufend: In Pforzheim zwei Elefanten von Sarasani ausgebrochen, rennen bei Tietz in die Herrenabteilung, erheblicher Sachschaden, doch keine Menschenleben zu beklagen ... zu Max: „Das Tagblatt", los! Nimmt, wieder vorn. Sturmfahrt des „Graf Zeppelin" über Mittelasien; der Luftriese wechselt einen Propeller bei voller Fahrt...
Max: Schon zwölf?
Kuckuck: Halb; um zwölf wird's erst schnaffte!
Max: Keine „Rote Fahne" heute?
Kuckuck: Beschlagnahmt!
Max: Scheiße! Aber diese Dreckblätter, die immer grad uns
mit Jauche bespritzen, die verkaufste!
Kuckuck: Leben, fressen ... fressen, leben, liebe Blattlaus!
Max: Ist das konsequent?
Kuckuck: Wäre der Kuckuck konsequent, hätte keiner von
uns 'nen Platz, wo er pennt! - Allright ... weder du, noch
ich, noch Paul ... please!
Max: Zu blöde, sie machen richtig Jagd auf ihn ... auf der
Straße drehten sie schon ihre Köppe nach uns.
Kuckuck: Bist doch ein mickriges Würmchen, Max, dass
du nicht mal auf das Mädchen gewartet!
Max: Türme du mal drei Tage und Nächte herum, wenn
dir alle auf den Schlips gucken...
Kuckuck: Was du dir nicht einbildest! Nur der Paul ist mit
Namen genannt, weil er der „Rädelsführer" ist!
Max: Als hätten wir unter Mutterns Rock Erbsen gepflückt!
Kuckuck erregt: Aber nur einer ist doch der „Rädelsführer"!
Mensch, das ist doch 'n Begriff! Verkauft immer.
Max nach der Pritsche: Sei doch stille!
Kuckuck am Schalter: Zwanzig Pfennige, mein Herr, für die „Illustrierte" ... das weiß doch jedes Kind! Das ist doch 'n Begriff! Hören Sie nicht! Zwanzig! Haltet ihn, haltet ihn! Sie!! Sie Hochstapler!! Rennt links zur Tür hinaus.
Max tritt an den Schalter: „Die Morgenpost", „Generalanzeiger", die zweite Ausgabe „Deutsche Zeitung" ... Von der Pritsche blickt unter der Zeltbahn Paul hervor; er ist übernächtigt und verwahrlost.
Paul springt auf: Max, Mensch, biste blöde! Weg vom Schalter, lass die Klappe runter! Zieht ihn fort; zeigt ihm eine zusammengeknüllte Zeitung mit einem Bild.
Max: Junge, das biste ja selbst! Puppe! Liest: „Paul Krüger, der Rädelsführer der sabotierenden Arbeiter, ist wegen Einbruch, Raub und Landfriedensbruch unter Anklage gestellt. Für die Ergreifung des Krüger oder die Mitwirkung an seiner Ergreifung wird eine Belohnung von eintausend Mark ausgesetzt." Schaut ihn mit Hochachtung an. Mensch!
Paul: Na?
Max: Sei nicht gemein!
Paul: Aber an den Schalter darfst du dich nicht mehr stellen, klar, Max! Wo sie uns doch früher immer zusammen gesehn haben! Und dem Kuckuck kocht ja so schon 's Wasser in der Hose! Liest der's, ist's hier aus!
Max: Verfluchter Mist!
Kuckuck stürzt herein, Paul hat sich schnell auf die Pritsche gehauen.
Kuckuck atemlos: Ist das noch Christentum! Ist das noch Menschentum! 'nen armen Kolporteur um einen Groschen zu betrügen. Er saust mit der geklauten „Illustrierten" los, ich hinter ihm her, er springt auf die Elektrische, ich gucke in den Mond; aus! Heftig. Seit zweitausend Jahren predigen sie, wie der Mensch leben soll! Aber wie lebt er?
Max: Dreckig.
Kuckuck erregt vor ihm: Aber wieso lebt er denn dreckig und kommt in zweitausend Jahren nicht 'nen Zentimeter vorwärts?
Max ruhig: Wieso kommt Kuhscheiße aufs Dach?
Es klopft am Schalter. Kuckuck springt hin, öffnet: „Die Illustrierte", „Tagblatt",
„Generalanzeiger" ... Fährt zurück. Mutter Fents Kopf im
Schalter.
Mutter Fent: Ich sah dich laufen, Kuckuck. Kann ich mal rein?
Kuckuck: O je, die Mutter ... da staunen die Blattläuse! Während Kuckuck links zur Tür geht, wirft sich auch Max schnell auf die Pritsche; beide ziehen die Zeltplane zu Mutter Fent tritt langsam ein.
Kuckuck zieht sie nach vorn: Schön von dir, Mutter, dass du auch mal den Pressechef besuchst ... bisschen eng, was ... na, setz dich, bist wohl müde. Schiebt ihr einen Schemel hin. Sind die kleinen Blattläuse gesund, na, ich meine doch nur so... was redste denn nicht, Mutter ... Hier haste noch 'ne Mark, kein Pensionsgeld, nur für Milch für die kleinen Würmer.
Mutter Fent steckt das Geld mechanisch ein: Hast du sie gesehn?
Kuckuck verlegen: Wen meinste? Ach so, ja, weißte, ich komme aus meinem Kabuff hier auch nicht raus ... nee, wirklich, ich habe sie nicht gesehen, die Hete ... aber das ist kein schlechtes Zeichen, du! Die wird Arbeit suchen.
Mutter Fent starr: Hier auf der Hauptstraße soll sie sein... so um sechs Uhr ... manchmal nachts, manchmal mittags...
Kuckuck: Da muss man dann aber scharf hinsehen ... um sechs Uhr abends bei dem Betrieb!
Mutter Fent vergräbt den Kopf in den Händen: Ich Aas! Ich Aas! Wenn sie umkommt, wenn sie schon im Dreck liegt! Springt auf. Ich glaube, du, ich hab sie vorhin gesehn, da an der Haltestelle; schon war sie weg ... dann kamst du gelaufen, und ich glaub, auch du rennst hinter ihr her ... wir liefen alle umeinander rum in dem Schlamassel ... sie muss noch draußen sein, Kuckuck ... lass, lass mich!!
Stürzt hinaus. Kuckuck steht still da. Dann hebt sich die Zeltplane, Max und Paul kriechen vorsichtig heraus.
Paul: Was hat sie gesagt? Hinter den Lappen hier hört man
auch gar nichts!
Kuckuck: Na ... sie hat nach ihr gefragt.
Paul: Wie kommt sie denn her?
Kuckuck: Hat mich draußen gesehn; da dacht sie wohl, wo der Kuckuck rennt, da gibts Rosinen.
Die Tür geht auf. Schnell ist, Hete drin, zieht die Tür zu, bleibt stehen.
Paul Sprung zu ihr: Hete!!
Hete: Ist die Mutter fort?
Paul: Die Minute.
Hete dreht den Schlüssel herum: Kann ich sitzen? Max bringt ihr einen Hocker.
Kuckuck: Mensch, das ist 'n Fest! Mach mal Kaffee, Paul!
Es klopft dauernd am Schalter; Stimmen: „Ist das 'n Betrieb! Herr Kollege, Ihnen haben sie wohl hypnotisiert?" - „Saubande!" Springt zum Schalter. „Sofort, meine Herrschaften! Bitte sehr! Sofort! Zwanzig Pfennige!" Zurückrufend: „Zureichen, Maxe, Munition! - Jawohl, frischgelegt, noch warm aus der Presse! Das Wochenblatt, Der Junggeselle, selbstverständlich! Jedem das Seine, mein Herr! Eine Mark, bitte!" Er verkauft, während Max, der nun auch ganz links steht, wie eine Maschine ihm zureicht; zwischendurch und später werden Zeitungspacks „Der Mittag", „Die Abendausgabe" durchs Fenster geworfen, die Max aus der Umhüllung schneidet und schnell ordnet.
Paul hat eine Kaffeemühle genommen und beginnt zu mahlen. Hete steht auf geht zu ihm, streicht ihm übers Haar.
Paul hält inne.
Hete nimmt seinen Kopf hoch: Du!
Paul steht auf, presst sie an sich: Hete, ich bin ja so gemein!
Hete hält ihm den Mund zu: Red nicht solch Zeug! Das hat
keinen Wert. Sag nur ... ob du mich lieb hast, ob du
mich immer noch lieb hast?
Paul: Du! Küsst sie.
Kuckuck am Schalter: Selbstverständlich ... „Die elegante Welt", „Das Leben", „Die Schönheit" ... an diesem Dessin fehlt es nie bei uns, bitte ... auch „Sport und Sonne" ... eine Mark bitte!
Hete die zurückgetreten: Bist du immer hier?
Paul: Sie sind mir auf den Hacken, Hete. Hier mitten in der Stadt sucht mich keiner.
Hete: Weshalb bist du überhaupt noch in der Stadt?
Paul: Weil ... du noch hier bist, siehste! Aber ich konnt nicht zu euch kommen, Hete, am Abend, was hätt das für 'n Sinn, wenn sie mich gleich schnappten.
Hete: Ich weiß doch.
Paul: Was guckste?
Hete: Wie lang ist's eigentlich her, dass die Polente kam?
Paul: Zehn Tage.
Hete: Lange Zeit.
Paul: Verflucht lange.
Hete: Haste auch gehungert?
Paul: Und ob.
Hete: Und wo haste ... gepennt?
Paul: Na, überall... bei Genossen, unter 'ner Brücke ... auf
den Bänken, wo man trocken liegt, durfte ich doch nicht,
wo man mich sucht ... auch mal Platte geschoben und
mal auf 'nem Dach.
Hete streichelt ihn: Siehst auch arg ruppig aus.
Paul sie betrachtend: Na, dir hat's nicht viel geschadet; bist
ja ganz schnieke ... hast wohl doch noch 'ne Stelle beim
Direktor gefasst?
Hete sieht ihn an: Du Kind, du ... Plötzlich: Hast du's noch?
Paul fasst unter seinen Rock: Hier.
Hete scheu: Zeig's mal!
Paul sieht sich um, dreht sich dann mit der Schachtel der Rückwand zu: Weißt du's jetzt?
Hete zögernd: Ja...
Paul: Ist's ... gemacht?
Hete: Nein. Fasst ihn. Nein, Paul! Keiner hat mir geholfen, keiner! Aber du musst mir helfen, jetzt sind wir noch beisammen! Paul, ich kann's nicht allein, ich tu mir was ... Leise, heftig: Du musst's tun, gleich hier ...
Paul: Gleich hier?!
Hete: Hier! Hier! Da auf Pritsche, dahinter ... da kann man liegen ... jetzt ist Hochbetrieb da vorn, keiner merkt's jetzt, keiner hört's in dem Lärm, wenn ich stöhne ... nein, nein, ich werd ganz stille sein, auch wenn's weh tut, bestimmt, Paul, sicher, keinen Laut ... Paul, komm, komm doch!!
Paul hilflos: Muss ich 's nicht sauber machen?
Hete: Ja, ja, da ist Seife und Wasser ... die brauchste ja sowieso ... Sie legt sich auf die Pritsche hinter den Zeltbahnen, schaut nochmals nach dem Schalter und zieht dann die Zeltbahn ganz vor das Lager.
Paul tritt hinter den Schirm. - Links am Schalter eifriger Zeitungsverkauf; Max reicht an, Kuckuck setzt ab. - Leiser Schrei: „Paul!" Ein Instrument klirrt zu Boden. Paul kommt verstört nach vorn.
Paul leise: Verfluchter Dreck, wenn man's nicht versteht!
Hete ihm nach, nach vorn: Ich schreie bestimmt nicht mehr,
Paul... ich bin ganz still, ich schwöre dir's ... Will ihn
nach hinten ziehen. Paul unbeweglich: Nee, nee, du ... Blut!
Hete: Hast du Angst? Paul schweigt.
Hete plötzlich: Oder ... du, ekelt's dich? Ekelt's dich?!
Nimmt seinen Kopf. Du, sieh mich an, sieh mich doch an! Paul steht da. Hete geht zur Tür.
Paul hält sie; müde: Ich mach's ja.
Hete sieht ihn an: Armer Junge.
Paul heftig: Warum?
Hete leise: Weil du dich ekelst, Paul... Weil du dich vor mir ekelst.
Paul rasch: Quatsch! Ich mach's!
Hete: Nein, Paul, nein, du sollst es nicht machen, du sollst dich nicht ekeln vor mir; dafür hab ich dich zu lieb.
Paul : Das ist ja zum närrisch werden!!
Hete nimmt seinen Kopf, streichelt ihn: Mein Paul, Junge, es ist ja gar nicht so schlimm, sei doch ruhig! Das ist doch alle Unsinn ... das wird ja alles gut, sei doch ruhig, Paul... geh jetzt, geh und sei heut Abend Punkt zehn am Schlesischen geh jetzt...
Paul sieht sie an, nimmt das Instrument vom Boden.
Hete sieht das Instrument, packt es schnell: Das lass mir! Nur, falls wir uns verfehlen ... am Abend! Geh jetzt, Paul, geh!
Sie schließt auf und schiebt ihn zur Tür hinaus, dann schließt sie schnell wieder ab. Stille im Pritschenraum; wilder Zeitungsverkauf und Lärm links am Schalter.
Hete hat das Instrument genommen, geht dann langsam hinter de Wandschirm.
Kuckuck links: Sie können alles bei mir haben, mein Herr... Von der „Deutschen Zeitung" bis zur „Roten Fahne". Wir sind völlig auf der Höhe H... Wirft Max neue Kolli zu. Aufpacken, lieber Blatthengst! Dalli, dalli! Von sechs bis halb sieben, das ist die große Stunde des Pressemanns ... da saust der Frack, da zittert das Hemde! Tempo, Max Tempo!
Kurzer Schrei, der von dem Lärm des Zeitungsausrufers und der Straßengeräusche fast verschlungen wird. - Hete kommt hervor sie hält sich den Leib und setzt sich auf einen Hocker.
Max von links mit Zeitungspacks; zu Hete: Du, das ist Sache hier was! Hochbetrieb ... na, schnür nur mal den Packen da auf und reich mir immer so 'nen Stoß rüber ... immer nur rüberreichen den Schwung, kannste doch?
Hete: Klar.
Max: Biste müde?
Hete: Ach was.
Hete reißt das Zeitungspaket auf und reicht - wie eine Maschine 4 Stoß um Stoß die Blätter Max herüber. Links wilder Verkauf.
Stube von Madame Heye: Tisch, ein paar Stühle und ein kleiner Wandschrank mit Lysolflasche, Borsäurelösung, Watte und in Tücher gehüllten Instrumenten; das Ganze die Verwirklichung der kleinen zweizeiligen Annoncen: „Frauen und Mädchen finden diskrete Aufnahme..." - Madame Heye sitzt in einem Lehnstuhl bei Wurst, Butterbrot, Rettich und einer Flasche Bier; sie mampft mit dem Genuss eines Menschen, der sich unbeobachtet weiß (spießt mit dem Messer eine Wurstscheibe auf und stößt sie sich mit großer Kunst wie ein Degenschlucker in den Rachen); dabei liest sie die Zeitung. Es klopft.
Madame Heye stellt schnell das Vesper seitlich auf einen Stuhl und zieht ihren weißen Schwesternmantel an: Ja!
Von rechts kommt Hete; sie bleibt zögernd stehen.
Madame Heye streng: Halb acht abends! Was gibt's noch?
Hete mit Zeitungsausschnitt: Bin ich hier recht?
Madame Heye knüllt den Ausschnitt zusammen: Haben Sie
das jemand im Haus gezeigt?
Hete: Nein.
Madame Heye: Setzen Sie sich! - Sie sind müde.
Hete: Ja.
Madame Heye: Sie sind noch jung?
Hete: Zwanzig.
Madame Heye: Nicht volljährig. - Reden Sie doch!
Hete: Ich komme zu Ihnen ... aber Sie wissen das ja alles,
quälen Sie mich nicht! Leise: Sie müssen mir helfen, Sie!!
Madame Heye: Richtig. Betrachtet sie. Legen Sie Ihren
Mantel ab. Etwas mitgenommen siehste aus.
Hete sieht sie an: Lassen Sie das! Ich zahle.
Madame Heye: Klar. - Warste schon mal beim Arzt?
Hete: Nein.
Madame Heye sieht sie an: Hast du's selbst mal probiert?
Hete: Nein.
Madame Heye: Du siehst so elend aus...
Hete: Was sagen Sie?
Madame Heye: Hast du 'ne Mutter?
Hete steht auf: Ich zahle doch! Bin ich denn hier beim Doktor?!
Madame Heye aufhorchend: Wieso beim Doktor?
Hete setzt sich, müde: Ich meinte bloß.
Madame Heye misstrauisch: Hat deine Mutter dir's Gel gegeben, oder hast du so 'n Kavalier unterwegs ... bleib nur, ich meine, du siehst gar nicht so aus wie 'ne Nutte ... brauchst nicht hochzugehen, das zieht hier nicht, wir sind reell und wollen wissen, wen wir bedienen! - Wie heißt er denn?
Hete: Kein Klauenfritze, Sie!! Nee! Wenn er auch türmen
musste wegen der Kantine ... der bekommt schon wieder
Arbeit, der Paul! Madame Heye: Ach so, der ... der Kantinen-Paul, ach so ...
natürlich kriegt der Arbeit, aber Tütenkleben und Mattenflechten; der sitzt hinterm Gitter ...
Hete: Nein!!
Madame Heye: Gestern haben sie ihn geschnappt; dem sind
ein paar Jahre sicher. Hete geht nach rechts.
Madame Heye vor ihr: Wohin, Kind! Keine Menkenken So was kommt doch alle Tage vor! Nur nicht die Noble markiert! Haste denn Pinke?
Hete: Nicht viel; wir sind doch arbeitslos.
Madame Heye: Wie viel?
Hete: ... zehn Mark.
Madame Heye: Du bist verrückt! Streckst du dafür deine Kopf in die Schlinge? Und damit dir gleich 'ne Latüchte aufgeht: Hier biste in solidem Haus, in prima Bedienung ... alles mit die Antisepsis und Sterilisation, verstehste, von wegen dem Kindbettfieber ... holt aus dem Schränkchen in Tücher und Papier gewickelte Instrumente und von wegen die Sepsis, die leicht den Uterus heraufschleicht, verstehste, und wenn was darin zurückbleibt, das gibt dann die Sauerei mit dem Gericht und das Purperalfieber; jawohl, mein Kind, da staunste, Madame Heye hat da studieren
müssen vor zwanzig Jahren von der Gynäkologie bis zur Diagnose, alles tipptopp ... und nun von wegen dem Zaster: Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert! Zwanzig Mark gleich, zehn in 'ner Woche!
Hete: Ich habe aber nur ... Schweigt.
Madame Heye: Das habe ich gern! Den Ofen anstecken, und nachher ist kein Koks da! Zehn Mark bei die Polizeibespitzelung heute, wo doch die ganze Moral uns auf die Hacken ist! Ausgeschlossen! Servus! Packt Instrumente wieder ein.
Hete wendet sich und geht nach rechts.
Madame Heye schnell: Wenn man nicht so 'n gutes Herz
hätte! Komm mal her, du, wie heißt du denn?
Hete: Hete.
Madame Heye betrachtet sie: Hete, Mensch, du bist doch 'n sauberes Stück, Mädchen ... betastet sie die Arme, die ganze Figur ... wer wird denn da herumlaufen mit schiefen Absätzen und zerbrochener Seele! Na was denn, Hete! Nase in die Luft! Weil du's bist, Hete, ich weiß da einen Gönner ... ganz ungefährlich, so 'n sechzigjähriger Greis mit Silberhaar und rosigen Bäcklein und mit Pinke in der Busentasche, na ja schon, der hat schon vielen geholfen, die so waren wie du, und die mit 'ner Empfehlung von mir kamen.
Hete: Ich verstehe Sie nicht.
Madame Heye: Wirste schon verstehen, wenn dir der richtige Knopf aufgeht, mein Kind! Nur Geduld, du wirst Madame Heye noch im Grabe segnen! Weil sie so 'n schwaches Herze für dich hat! - Wo haste deinen Kies?
Hete holt zehn Mark aus ihrer Tasche, gibt es.
Madame Heye steckt's ein, stöhnend: Zehn Märker? Lächerlich! Es wird immer unreeller und liederlicher auf der Welt! — Was stehst du so krumm und verbogen da, was? Hast doch keine Schmerzen, wie? Das sag man gleich!
Hete: Ich bin nur müde.
Madame Heye: Geh nebenan! Führt sie nach links. Da hinein, nicht so zimperlich, mach frei, leg dich hin! Sie krempelt die Ärmel hoch, holt Instrumente und Lysoform, das sie in Wasser verdünnt. Ich muss das hier fertig machen.
Hete bleibt links stehen: Glauben Sie, es geht?
Madame Heye: Red keine Brühe! Wo ich doch die diskretesten Manipulationen ausführe in meiner Praxis! Los, los!
Hete geht links in den Raum. Madame Heye schließt die Zugangstür ab, knipst das Licht aus und folgt ihr. — Stille. — Madame Heye schnell von links; sie knipst das Licht wieder an; hinter ihr Hete.
Madame Heye erregt: Sieh mich an, du! Dich hat schon vorher jemand in Kur gehabt ... Du ... das muss ich wissen!!
Hete sitzt gekrümmt auf einem Stuhl: Lassen Sie mich!
Madame Heye: Nee, nee, du ... das lassen wir gar nicht! Du willst wohl mit gelernten Leuten Quatsch machen? Deine Hand! Nimmt sie, zählt den Puls.
Hete: Fieber?!
Madame Heye: Schrei nicht so, du! Hast wohl Madame Heye mit 'ner vermasselten Sache reinlegen wollen, wie! Nee, nee! Is nich! Daran verbrenn sich 'ne andre die Finger!
Hete: Nein, nein, ich gehe nicht, Sie; ich rühre mich nicht hier weg ... ich lasse mich nicht mehr fortschicken!! Rufen Sie doch die Polizei, rufen Sie doch die ...
Madame Heye hält ihr entsetzt den Mund zu.
Hete sich befreiend, umklammert sie: Sie! Sie müssen mir helfen!! Sie wissen, was das ist ... das Fieber, das Fieber ... das verfault jetzt in mir!!
Madame Heye: Nerven sind das, Kind, Nerven! Still!
Hete: Nicht still, ich will nicht still sein!! Ich lasse mir nicht den Mund zustopfen! Das Fieber ... Aufschreiend: Ich will nicht sterben, du!! Ich bin noch jung, du! Ich will nicht sterben! Paul!!
Madame Heye: Du, man hört das!
Hete: Lass sie's doch hören!! Plötzlich ganz ruhig, wie erwachend; sieht Madame Heye an: Ich lebe ja noch, wie ... aber wenn mir niemand hilft, dann gibt's doch nur eines noch ... gradeaus, immer gradeaus ... Packt Madame Heye: Aber ... wenn man hundert Mark hätte, oder zweihundert oder dreihundert, dann brauchte man nicht gradeaus!
Madame Heye: Soviel gibt's ja gar nicht auf einen Haufen!
Hete: Dann brauchte man nicht immer gradeaus, bis zu Kanal, bis zur Eckert und ihrem Kind ...
Madame Heye erschreckt: Bist du verrückt! Mach mir kein
Zicken, Mädchen, dass es nachher noch an mir hängen bleibt! Komm her, du! Hier hast du was ... Geht zum Schrank, holt ein Fläschchen. Davon nur fünf Tropfen, einmal am Tag, hörste!! rüttelt sie, fünf Tropfen, nicht mehr, verstehste!! Hete nickt.
Madame Heye leise: Das ist Gift, eigentlich ... aber nur 'ne ganz schwache Lösung, und in kleinen Mengen, da hilft's ... das Cyankali.
Hete greift danach.
Madame Heye: Nur wenn du mir versprichst, sofort zu deiner Mutter zu gehn, nirgendwo andershin! Zu deiner Mutter!
Hete schaut sie an.
Madame Heye: Zur Mutter, hörste!
Hete nickt.
Madame Heye gibt ihr's: Nur fünf Tropfen, du!
Hete: Danke. Rechts ab.
Madame Heye schließt das Schränkchen wieder, zieht die zehn Mark aus der Tasche, betrachtet sie, steckt sie wieder ein, streift die Ärmel wieder herunter; über sich selbst gerührt: ... wenn man nicht so 'n gutes Herz hätte!
Küche von Mutter Fent. Es ist Abend. Der Kuckuck und Frau Klee sitzen am Tisch und brocken stumpf vor sich hin Brotrinden in ihre Kaffeetassen; der Kuckuck liest dazu aus einem Zeitungsfetzen. Mutter Fent schafft am Ofen und wischt auf.
Kuckuck lesend, vor sich hin: Wird noch 'ne Weltberühmtheit der Paul, alle Nasen lang steht was drin von ihm ... jetzt, wo sie ihn liquidiert und auf Nummero Sicher haben, jetzt kommt erst das ganze Register zum Vorschein; hat vor seiner Verhaftung noch 'nen Kriminal durch 'nen Kopfschuss umgelegt ...
Frau Klee singt:
Im Rüdesheimer Schloss steht eine Linde,
Der Frühlingswind zieht durch die Blätter grün,
Ein Herz ...
Oh, ihr lieben Arschwedel, wenn nur einer von euch
Viertel so wäre wie der Paul! Kuckuck mit Blick auf Mutter Fent: Pst!
Frau Klee: Ach was, irgendwo muss die Seele doch Luft
haben!
Kuckuck beginnt, um abzulenken, zu singen:
Der Heizer Christian Schulze, sonst ein rechtlicher Mann Eines Tages er zu seiner Arbeitsstelle kam: Betriebseinschränkung! Er ward nochmals entlohnt, Dann stand er auf der Straße ...
Bricht ab, verlegenes Schweigen.
Frau Klee: Übrigens fangen sie drunten wieder an zu arbeiten; halbe Schicht! Gut sortiert!
Mutter Fent plötzlich: Hast du sie gesehn?
Frau Klee: Ich, nee; aber der Maxe sagt, sie sei wieder im Viertel.
Kuckuck: Wo soll sie auch hin, wenn sie nicht ...
Mutter Fent: Ins Wasser geht.
Frau Klee: Mecker nicht, Mutter; heut früh hat der
Kuckuck sie doch noch hier am Haus gesehn.
Mutter Fent packt ihn: Wo?
Kuckuck: Die rannte, wie sie mich sah ...
Max, ziemlich elend, von links.
Max: Die Saubande fängt wieder an zu schaffen mit 'ner
halben Amnestie!
Frau Klee: Und du?
Max: Meinste, die mit dem Paul waren, die lassen sie wieder ran? Hete stand drüben auf der Straße; aber wie ich zu ihr wollte, weg war sie!
Mutter Fent: Die wartet grad auf dich! Will nach links.
Prosnik tritt ein; er scheint sehr guter Laune, jovial, mustert in Ruhe die vier.
Prosnik: 'n Abend! Wieder Volksversammlung! Auf Max: Sogar alte Bekannte?
Max mit gekreuzten Händen: Bitte abführen, Herr Spitzel!
Prosnik: Kein Interesse an Kleinvieh. - Der Genosse Paul hat seine Laufbahn ja konsequent fortgesetzt, sich zu 'nem richtigen Knallheinrich entwickelt, brummt jetzt die nächsten Jahre im Kasten.
Max: Und Sie Arsch mit Ohren, Sie knistern die nächsten Tage vielleicht im Sarge! Mahlzeit! Schnell ab.
Prosnik: Letzte Zuckungen! - Es gibt wieder Arbeit, Minna, was! Der Konsum macht wieder auf! Die „Rote Fahne" erscheint wieder, Kuckuck!
Kuckuck vor ihm: Darf ich mir gestatten, dem Herr Verwalter ein Exemplar gratis und franko zu überreichen? Ab.
Frau Klee: Warte, Kuckuck, ich komme mit. Ihm nach.
Prosnik steht unentschlossen da; Mutter Fent räumt auf. Schweigen.
Prosnik: Haben Sie was von ihr gehört?
Mutter Fent: Ach was.
Prosnik: Ist Ihnen das gleich?
Mutter Fent: Lassen Sie mich in Frieden!
Prosnik: Wir hätten sie halten sollen.
Mutter Fent: Möcht wissen, wie? Prosnik : Sie haben sie geohrfeigt. Sie sprachen von Schande. Ich wollte sie zu mir nehmen. Langsam ab.
Mutter Fent setzt sich erschöpft auf einen Schemel. Sie ruht so eine Weile, dann horcht sie, steht auf, geht an den Tisch, räumt ab. - Hete tritt leise von rechts ein. Mutter Fent dreht sich um, steht einen Augenblick starr, fängt dann wieder an, den Tisch abzuwischen.
Hete: 'n Abend, Mutter. Mutter Fent reinigt den Tisch. Hete: Möcht mich setzen. Mutter Fent wischt immer noch, schiebt mit dem Fuß einen Schemel hin.
Hete: Den ganzen Abend hab ich draußen gewartet ... Mutter Fent schweigt. Hete: Ich wollt dich noch mal sehn. Mutter Fent hat ihr Kaffee eingegossen und hingestellt. Hete nimmt fast ungläubig die Kaffeetasse, stellt sie wieder nieder,
spricht dann vor sich hin: Die andern sind ja alle weg, nicht
wahr ..., da wollt ich noch mal zu dir ... Mutter Fent stellt die Tasse auf eine Untertasse. Hete: Weil du mir doch noch 'n Wort vielleicht sagen
konntest ..., ach, bin ich durstig, so heiß ist mir ... so den
ganzen Tag ... Sie trinkt gierig. So durstig ... Setzt die Tasse
hin; dann: Wie geht's auch den Kindern? Mutter Fent: Gut. Hete: Und dir?
Mutter Fent ohne sie anzusehen: Gut.
Hete steht auf, wartet auf Mutter Fent, die arbeitet und an ihr vorübergeht, als wäre sie Luft; dann: 'n Abend, Mutter. Geht nach links.
Mutter Fent packt sie plötzlich, reißt sie zu sich, presst Hetes Kopf an ihre Brust: Nicht wieder weggehn, Hete! Nicht wieder gehn! Wo warst du? Wohin willst du, Kind? Weshalb hab ich dich gehen lassen! Wie siehst du denn aus, Hete! Wer hat dir was getan, Du!?
Hete scheint plötzlich ganz müde.
Mutter Fent : Setz dich, Kind, du bist ja ganz schwach ...
du hast Hunger, nicht wahr ... komm, hier ist was Brot!
Nimm, iss, du musst jetzt zu Kraft kommen, du musst
essen, Kind! Hete: Lass, Mutter, ich muss ja alles brechen. Mutter Fent hat ihre Hände gefasst: Wie heiß du bist, Kind;
du musst mir gleich ins Bett, das ist ja Fieber! Hete nickt.
Mutter Fent: Das kommt vom späten Draußenstehn, wenn man sich erkältet ... 'ne Grippe, 'ne richtige ... Grippe.
Hete sieht sie an.
Mutter Fent begreift plötzlich: Daher? Hete leise: Ja.
Mutter Fent: Kind, wer hat dir was getan?
Hete an sie geklammert: Mutter! Mutter! Ich muss sterben,
Mutter ... niemand hilft mir, Mutter ... das Fieber ist
schon in meinem Bauch, Mutter!! Mutter Fent hart: Red kein Blech, Hete! Erschrocken.
Ruhig, Hete, ganz still, Du! Ich rufe den Doktor. Hete: Bist du verrückt, Mutter!? Bleib!! Der bringt uns
doch ins Zuchthaus!! Mutter Fent: Du hast es gemacht? Hete nickt.
Mutter Fent: Ist es fort?
Hete: Nein, Mutter; ich konnt's doch nicht allein, keiner half mir; jetzt bin ich krank, Mutter, weil ich's nicht richtig wusste ... Außer sich. Ich hab mir was getan, Mutter, und jetzt hab ich das Fieber im Leib, Mutter, das Fieber, und dazu noch das tote Kind!!
Mutter Fent will hinaus.
Hete: Wohin?
Mutter Fent: Der Arzt muss her!
Hete: Der hilft nicht! Ich weiß es doch!
Mutter Fent: Aber es muss doch einer helfen!!
Hete umfasst sie: Du, Mutter ... du musst mir helfen ... still, Mutter! Hier ... das kleine Fläschchen, das gab mir die Frau, und davon bloß fünf Tropfen, siehst du ... Holt es hervor. So 'n Fläschchen, siehst du!
Mutter Fent: Das soll's schaffen?
Hete leise: Cyankali.
Mutter Fent: Das klingt ja wie Gift?
Hete: Wenn man zuviel davon nimmt. Aber fünf Tropfen bloß, das macht dann nur Krämpfe; dann kommt's ... und dann ist's vorüber, die Angst, Mutter, die schreckliche Angst, das muss doch mal vorüber sein ... wo's vielleicht schon tot ist! Packt sie. Mutter! Nimmt den Pfropfen ab. Du gibst mir's, Mutter, du schickst mich nicht fort, Mutter, du bleibst bei mir, wenn's mir Krämpfe macht ...
Mutter Fent: Aber wenn es Gift ist?!
Hete verzweifelt: Es hilft, es hilft, Mutter!!
Mutter Fent: Still, Kind; du hast Fieber, Kind! Sei einmal still, hör einmal her, du ... deine Mutter will dir helfen, hilft dir, lass sie erst zu Atem kommen ... du bist doch mein Kind! Zieht einen Schemel heran, setzt sich. Du willst jetzt, dass deine Mutter dir zu trinken gibt, das willst du jetzt?
Hete nickt.
Mutter Fent: Und wenn du Schmerzen hast, so willst du
dass deine Mutter dann bei dir bleibt? Hete nickt.
Mutter Fent ist aufgestanden und hat ein Glas mit Wasser gefüllt: Und da soll das jetzt herein? Und dann wirst du's trinken und ganz ruhig sein, Hete, ganz ruhig. - Wie viel, Hete?
Hete gibt einige Tropfen hinein, zögert: Dass es auch ja hilft! Gibt noch mehrere Tropfen hinzu.
Beide sitzen dicht nebeneinander auf ihren zwei Schemeln, ganz vorne. Mutter Fent hält das Glas. Hete schaut in großer Angst vor sich hin.
Mutter Fent hat Hetes Kopf an ihre Schulter gezogen: Ruhig, Kind, ruhig ... das sind ja nur 'n paar Schlücke, siehste ... still, ich bleib ja bei dir, Kind; leg deinen Kopf an meine Schulter, ganz ruhig, so ... so war's schon mal, als du ganz klein warst, Hete ...
Hete plötzlich in Heiterkeit: Du Mutter, als ich noch klein war, da gabst du uns mal zwei Pulver für 'ne Brauselimonade, für fünf Pfennige, weißt du, ein weißes und rosanes, di musste man in ein Glas tun, zuerst das weiße ... und dann Wasser darauf, und dann das rosane ... das ging dann hoch wie Selters ...
Mutter Fent: Na siehste, das ist doch alles nicht so schlimm, nicht wahr? Nimmt sie ganz an ihre Schulter wie ein Kind.
Komm! Gibt ihr zu trinken. Hete plötzlich in großer Angst über das Glas weg: Ob's mich
nicht doch kaputt macht, Mutter?! Mutter Fent drückt Hetes Kopf fest an sich.
Küche von Mutter Fent. Mitten in der Küche steht die Chaiselongue, als Bett hergerichtet, in dem Hete liegt. Sie ist sehr blass, sitzt halb auf und blickt auf einen Fleck. Mutter Fent kommt mit einer Tasse Milch. - Heller Tag.
Mutter Fent: Du musst was trinken, Kind ... hörst du? Hete sitzt reglos da.
Mutter Fent: Hete, Kind, ist's hier nicht besser als in de
Kammer? Hete: Mein Leib, Mutter!
Mutter Fent: Die Nachwehen, ja ... die Krämpfe; aber
jetzt ist's doch weg. Hete: Kommt der Doktor wieder?
Mutter Fent: Ja! Er sagt, du hast zuviel Blut verloren. Hete: Was sagt er noch?
Mutter Fent: Nichts, Kind, nichts! Was soll er denn sonst gesagt haben? Soviel Mensch wird er doch sein!
Frau Klee von links.
Hete: Die Angst ist weg ... die furchtbare Angst. Frau Klee: Na siehste! Zieht Mutter Fent beiseite. Du! Man
munkelt, es sei heraus; der Arzt hab es melden müssen! Mutter Fent: Nein!! Hete: Was redet ihr da? Die Angst ist weg, die große
Angst... das ist doch die Hauptsache, nicht wahr ... aber
müde bin ich und kalt, ganz kalt. Legt sich auf die Seite. Mutter Fent: Ja, leg dich aufs Ohr, Kind, und schlaf mal
rum! Deckt sie bis obenhin zu. Frau Klee: Die klappert ja mit den Zähnen? Plötzlich. Du
Mutter! Du musst wissen, was du nachher sagst, wenn di
kommen! Man hat Blutspuren gesehn von hier bis unten
zum Abtritt und auch im Mülleimer ...
Mutter Fent: Wer hat das verpfiffen?!
Frau Klee: Sie quasseln schon alle im Hause drüber.
Der Kuckuck schnell von links. Kuckuck leise: Dicke Luft, Herrschaften! Es wird untersucht! Die ganze Straße ist's rum; der Doktor hat ooch schon gequatscht ... Horcht. Also ich sage, Apfelsinen und Zitronensaft ist garantiert das Beste gegen das Fieber ...
Prosnik erregt hinein. Prosnik: Sauerei! In meinem Hause!! Frau Klee: Sie müssen grad reden, Sie! Prosnik: Mich schmeißt der Herr Kommerzienrat auf die
Straße, und Sie fliegen ins Zuchthaus! Da können Sie
Ihrer Freundin ja Gesellschaft leisten! Schnell ab. Frau Klee ihm nachrufend: Dann aber nicht alleene! -
Kuckuck, ihm nach, dass der's Gericht nicht beschmust,
wenn sie gleich kommen! Kuckuck vertattert: Warum ich?
Frau Klee: Weil du 'n Mann bist, Mensch, und 'n „Charakterkopf"! Packt ihn. Und überhaupt, Mensch, du sollst hinstehen! Steh doch mal senkrecht da, drück mal die Knie durch und der Polente fest in die Pupille geguckt! Draußen Schritte.
Kuckuck wird merklich kleiner und will abhaun.
Kuckuck: Soll ich jetzt runter? Frau Klee hält ihn: Nu bleib schon.
Von links treten ein: der Kriminalkommissar, ein vierzigjähriger, quadratischer Mann, mit ihm Dr. Moeller und Prosnik, dann ein Kriminalwachtmeister mit Mappe.
Kriminalkommissar: Bitte ... Witwe Emmi Fent! Mutter Fent tritt vor.
Kriminalkommissar: Frau Fent! Es sind im Laufe des gestrigen Tages Gerüchte zu uns gedrungen, die sich zu einer Anzeige verdichtet haben: Es soll in Ihrer Wohnung ein Verbrechen wider den § 218, ein Verbrechen wider das keimende Leben begangen worden sein. Ich habe als Kriminalkommissar den Tatbestand zu klären. Da Ihre Tochter nicht transportfähig ist und Verdunkelungsgefahr vorliegt, muss ich hier zur Vernehmung schreiten. Gegen
die anderen. Wohl Hausbewohner? Zum Kriminalbeamten. Draußen warten!
Kriminalwachtmeister übergibt dem Kommissar die Mappe; dann mit Frau Klee und Kuckuck ab. Prosnik redet leise auf den Kriminalkommissar ein.
Kriminalkommissar zu Prosnik: Schon vorgesehen! Wird in zehn Minuten hier sein! Bitte, sich ebenfalls draußen bis zum Aufruf bereitzuhalten! Während Prosnik abgeht, aus der Akte zu Mutter Fent: Frau Fent! Sie haben eine Tochte Hedwig?
Mutter Fent: Ja.
Kriminalkommissar: Ihre Tochter ist krank? Mutter Fent: Ja. Kriminalkommissar: Wie lange ist Ihre Tochter bei Ihnen Mutter Fent: Seit drei Tagen. Kriminalkommissar: Wo war sie vorher? Mutter Fent: Das weiß ich nicht. Kriminalkommissar zu Hete: Fräulein Fent! Können Si
meinen Fragen folgen? Hete nickt.
Kriminalkommissar: Wo waren Sie vor acht Tagen? Hete schweigt.
Kriminalkommissar zum Arzt: Herr Doktor! Die Kranke ist doch in der Lage, meine Fragestellung zu erfassen?
Dr. Moeller fühlt den Puls, prüft die Pupillarreflexe: Bitte, folgen Sie mir mit den Augen, sehen Sie nach der Nasenspitze. Verstehen Sie, was ich jetzt frage? Wie viel ist dreimal neun?
Hete: Reden Sie nicht solches Blech!
Dr. Moeller zum Kriminalkommissar: Die Kranke ist verhandlungsfähig.
Kriminalkommissar: Fräulein Fent, Sie hatten Umgang m einem gewissen Paul Krüger?
Hete schweigt.
Kriminalkommissar: Wann sahen Sie ihn das letzte Mal? Hete schweigt.
Kriminalkommissar: Sie wollen nicht antworten? - Herr Doktor! Welche Zeit muss verstrichen sein zwischen einem verbotenen Eingriff und der Infektion bis zum Ausbruch des Kindbettfiebers?
Dr.Moeller: Etwa eine Woche.
Kriminalkommissar: Also müsste vor zehn Tagen der Eingriff gemacht worden sein? Dr.Moeller: Jawohl.
Kriminalkommissar: Und gestern erst der Erfolg?
Dr. Moeller: Vermutlich ein zweiter Eingriff.
Kriminalkommissar im Jagdeifer: Komplizen! - Frau Fent! Nach der Untersuchung des Arztes handelt es sich bei Ihrer Tochter um den unsachgemäßen Versuch der Fruchtabtreibung mit allen Folgen bis zum Eintritt des Kindbettfiebers. Der erste Eingriff muss vor etwa zehn Tagen geschehen sein, der zweite vor drei Tagen. Der erste Täter ist uns bekannt. Der zweite eigentliche Täter muss ermittelt werden. Frau Fent, Sie genießen einen ausgezeichneten Leumund. Sie werden uns Ihre Mithilfe nicht versagen. Wir müssen die Person auffinden, die ein so schweres Verbrechen begangen, die Ihre Tochter auf den Tod geschädigt hat. Wer hat vor drei Tagen den zweiten Eingriff bei Ihrer Tochter vorgenommen?
Mutter Fent: Ich ... weiß es nicht.
Kriminalkommissar nach links: Den Hausverwalter! Prosnik tritt ein.
Kriminalkommissar: Herr Hausverwalter Prosnik! Die Blutspuren wurden erst gestern früh in Ihrem Haus beobachtet?
Prosnik zögernd: Ja.
Kriminalkommissar: Frau Fent! In Ihrer Wohnung ist der zweite Eingriff vorgenommen worden! Sie sind eine ordentliche Frau! Wer war der Täter? Von wem war die Spritze?
Mutter Fent nach kurzem Zögern: Das fragen Sie da den
Herrn Verwalter und die andern! Kriminalkommissar nach rückwärts: Die Hausbewohner!
Der Kriminalwachtmeister lässt Frau Klee und den Kuckuck herein.
Kriminalkommissar: Ihr wisst, wer das Instrument geliefert! Wir haben es eben erfahren! Zu Kuckuck: Heraus damit!
Kuckuck sehr erschrocken: Ich das Instrument?! Ich?! Herr Kommissar, der Kuckuck - das bin ich - der hat nie 'ne Spritze gehabt, und die andern Blattläuse auch nicht ...
Kriminalkommissar: Blattläuse? Kuckuck: Verzeihen Sie, das ist so 'n Patentausdruck; aber
der ... der Herr Verwalter, der kann vielleicht Auskunft
geben.
Prosnik: Sie sind alle toll, die Leute, Herr Kommissar!! Frau Klee heftig: Er soll sagen, ob er die Spritze hatte oder nicht?!
Prosnik erregt: Der Paul, der hat sie mir doch geklaut!! Kriminalkommissar: Das sind ja tolle Zustände! - Herr
Verwalter! Sie geben also zu, eine solche Spritze gehabt
zu haben! Zu welchem Zweck? Prosnik bricht gänzlich zusammen: Herr Kommissar, ich habe
alles nur für alle Fälle dagehabt, nie ein Unrecht getan,
alles nur nach bestem Wissen und Gewissen ... ich bin
doch kein Verbrecher, Herr Kommissar. Kriminalkommissar: So seid ihr!! Erst große Reden geschwungen, und nachher will es keiner gewesen sein!
Kriminalwachtmeister von links.
Kriminalwachtmeister: Der Gefangene ist da!
Kriminalkommissar: Vorführen!
Paul wird hereingeführt. Er sieht elend aus, trägt Sträflingskleidung und Handschellen; er stutzt, stürzt dann auf Hete zu.
Paul: Hete!!
Kriminalkommissar: Krüger! Krüger! Sie sind zum Verhör geladen! Nehmen Sie sich zusammen! - Sie kennen die Hedwig Fent und den Hausverwalter?
Paul: Allerdings.
Kriminalkommissar: Geben Sie zu, den Eingriff bei d
Fent gemacht zu haben? Paul: Das geht niemand was an. Dr. Moeller: Aber dass das Mädchen jetzt im Kindbettfieber daliegt, auf Leben und Tod, das rührt Sie wohl
nicht?
Paul vor ihm: Das sagen Sie? Weshalb haben Sie es denn nicht gemacht, als das Mädchen zu Ihnen kam, Sie ... Arzt?!
Kriminalkommissar: Fordern Sie von dem Arzt ein Verbrechen?
Paul: Hilfe, Herr Kommissar!! Herr Kommissar, fragen Sie den Arzt, ob er noch nie einer Frau Generaldirektor oder
auch der Frau Käsewarenhändler geholfen hat, wenn sie ihm dafür ... Dr. Moeller auf ihn zu: Lümmel!!
Kriminalkommissar: Strafgefangener Krüger, Sie haben nur auf Fragen zu antworten! - Waren Sie vor zehn Tagen mit dem Mädchen zusammen?
Paul schweigt.
Kriminalkommissar: Hat der Hausverwalter Ihnen die Spritze gegeben?
Paul: Lasst den miesen Hund doch laufen! Der ist doch genau so 'n verprügelter Köter wie wir alle! Zum Bett. Bist du denn wirklich so krank, Hete?
Kriminalkommissar: Das genügt mir. Zum Arzt. Aber ungeklärt ist der etwaige Eingriff vor drei Tagen. Spricht leise mit dem Arzt.
Hete leise zu Paul, streicht über die Fesseln: Tut das weh, du?
Paul: Ach was.
Hete: Wie lange musste denn brummen? Paul: Na, so 'n bisschen. Du, Hete, wenn ich dann aber rauskomme...
Kriminalkommissar: Krüger, antworten Sie jetzt dem Herrn Doktor!
Dr. Moeller: Wie haben Sie das Instrument gebraucht? Paul schweigt.
Dr. Moeller: Von wem hatten Sie die Spritze? Paul: Nicht von Ihnen!
Dr. Moeller: Mein Junge, die Schnauze wird Ihnen bald trocken werden! Wenn ihr wirklich im Recht wäret, und wir paar andern wären im Unrechte, bitte, euer demokratischer Staat gibt ja den Millionen die Möglichkeit, ihre Stimmen zu erheben und den Paragraphen wegzufegen mit einer Volksabstimmung!! Aber wo sind die Millionen?! Wo ist das Volk?!
Paul: Richtig! Sie dürfen uns noch verhöhnen! Noch tut keiner 'n Mucks! Alle schlafen sie noch; sehen Sie doch nur, wie sie dastehn ... die Mutter, die Minna, der Verwalter, der Kuckuck ... wie 'n Haufen Unglück ...
Kriminalkommissar: Schweigen Sie!!
Paul: Ja ... die schweigen noch, und vielleicht müssen noch 'n paar Jahre lang Tausende Frauen am Fieber verrecken ...
Dr. Moeller: Wie wollen Sie das ändern? Paul vor ihm: Geburtenregelung.
Dr. Moeller: Geburtenregelung! Und die unerwünschten Kinder werden, wie in Russland, von Ärzten in Kliniken beseitigt!!
Paul: Jawohl!! In Kliniken!! Aber nicht heimlich!! Kriminalkommissar: Das ist der Geist, der in jedem Jahr
achthunderttausend deutsche Mütter gegen das Gesetz
sich vergehen lässt!! Paul empört: Ein Gesetz, das in jedem Jahr achthundert
tausend Mütter zu Verbrechern macht, das Gesetz ist kein
Gesetz mehr!! Kriminalkommissar zu Kriminalwachtmeister: Abführen!! Paul: Wird dadurch etwas anders, Herr Kommissar?! Wird
dadurch etwas anders?! Wird vom Kriminalwachtmeister abgeführt.
Dr. Moeller: Moskau in Reinkultur! Kriminalkommissar erregt zu den andern: Draußen warten
Die Beamten werden Ihre Personalien aufnehmen! Zu
Mutter Fent: Sie bleiben!
Prosnik, Kuckuck und Frau Klee ab. Hete wirft sich hoch: Paul!
Mutter Fent: Ich bin bei dir, Kind! Lass man!
Hete: Mutter ...
Kriminalkommissar: Frau Fent, wir können auf das Verhör nicht verzichten. Wenn Sie klar und präzise antworten sind wir gleich zu Ende. Frau Fent! Was haben Sie mir über den Verwalter noch zu sagen?
Mutter Fent schweigt.
Kriminalkommissar: Völlig falsche Rücksichten!
Dr. Moeller: Oder Angst! Die kalte Angst liegt ja auf all diesen Menschen; ich sehe das doch hundertmal in meiner Praxis; man spürt das Verbrecherische der Tat!
Mutter Fent: Das Verbrecherische?! Außer sich: Wenn mein Kind zu mir kommt ... in Todesangst?!
Dr. Moeller: Dann fühlen Sie sich berechtigt...
Mutter Fent: Dann tue ich, was ich fühle!!
Dr. Moeller: Alles?
Mutter Fent: Alles!!
Dr. Moeller: Auch bei Ihrem Kinde!!
Mutter Fent: Gerade bei ihm!!
Kriminalkommissar: Sie tun ja gerade, als hätten Sie's selbst...
Mutter Fent vor ihm: Jawohl, ich hab's getan!! Immer wieder würde ich's tun!! Und alle sollten's tun, ehe wir alle dran verrecken!!
Kriminalkommissar erregt: Ich erkläre Sie für verhaftet!!
Mutter Fent: Verhaftet?? Ins Gefängnis?! Ich gehe nicht von meinem Kind!
Dr. Moeller leise zum Kriminalkommissar: Lassen Sie die Frau noch ein paar Stunden hier; es sind die letzten für das Mädchen!
Kriminalkommissar: Verdunklungsgefahr! Ich vermute noch Komplizen! An der Tür: Frau Fent! Ich muss Sie bitten, sich bereit zu halten! Für Ihr Kind ist Pflege bestellt.
Kriminalkommissar, Dr. Moeller und Kriminalwachtmeister ab. — Mutter Fent ist an Hetes Bett getreten, streicht ihr über Schulter und Arme. - Hete liegt erschöpft da.
Mutter Fent leise: Sie nehmen mich ja nur mit zum Protokoll, Kind ... morgen bin ich wieder da, sie können mich ja nicht dort behalten, wo du so krank bist und mich brauchst ...
Der Kriminalwachtmeister ist eingetreten, er bleibt an der Tür stehen.
Kriminalwachtmeister : Sie müssen mir folgen, Frau Fent!
Mutter Fent richtet sich mühsam auf und folgt schwer und müde dem Kriminalwachtmeister. - Stille. - Hete, die den letzten Worten nur mühsam gefolgt ist, beginnt unter dem Druck der Stille sich zu rühren; sie richtet sich etwas auf.
Hete: Zehntausend ... müssen ... sterben in Todesangst hilft uns ... denn niemand ... Sinkt nieder.