Platt und weit liegt das Land im Scheine der untergehenden Sonne: eintönig, traurig, Heide, hie und da ein kümmerlicher Acker, Gebüsch, Baumgruppen, Telegraphenstangen.
Der Zug nähert sich der polnisch-sowjetischen Grenze. Eine unbestimmte Unruhe ergreift alle Reisenden. Alle: uns, die wir zum ersten Male „hinüber" fahren, den russischen Genossen, der aus Warschau kommt und den Weg über die Grenze schon dutzende Male gemacht hat, den deutschen Professor und seine Frau, die auf der Durchfahrt sind (sie reisen nach Schanghai, ohne Aufenthalt, sechzehn Tage lang), die Gesellschaft französischer Kaufleute, die nach Persien fahren, alle... alle... auch den rotwangigen, blondhaarigen amerikanischen Journalisten, dessen gleichmütiges Gesicht sonst nur durch die Bewegungen in Unruhe versetzt wird, die notwendig sind, um die kurze Pfeife ohne Zuhilfenahme der Hände von einem Mundwinkel in den andern zu schieben. Du überprüfst zum zehnten Male das Gepäck (es ist vollzählig da, ordentlich verschnürt), du nimmst die Mütze vom Haken und hängst sie wieder auf, du trittst zum Fenster und siehst immer wieder dieselbe Heide, die gleichen Büsche vorübergleiten. „Noch eine halbe Stunde bis Stolpcy..." Da setzt du dich wieder und lässt die Bilder der Vierundzwanzigstundenreise durch Polen nochmals an dir vor-
überziehen: die Gesichter im Zug die Gestalten auf den Bahnhöfen... Du erinnerst dich an die Gendarmen mit den Nummern an den Kappen und den Sturmriemen unter den martialischen Schnurrbärten (als müssten sie jeden Augenblick eines Überfalls auf die „Rzeczpospolita Polska" gewärtig sein); an die mildlächelnden Geistlichen mit den violetten Binden um das andächtig gerundete Bäuchlein; an die Grundbesitzer mit klirrenden Sporen an ihren hohen, glänzend schwarz gewichsten Reitstiefeln; an die kaftantragenden Juden mit unterwürfig nach vorn gebogenen Schultern und den Bewegungen geprügelter Hunde; an die zerlumpten Streckenarbeiter mit den stumpfen Augen, in die nur ein unbestimmtes, feindseliges Glänzen kommt, wenn der Speisewagen vorüberrollt; an die betressten, verbrämten, versilberten, vergoldeten Offiziere, deren Mützenschilder einen Blechrand haben, damit das viele Salutieren der Eleganz des Kappenschirmes nicht allzu sehr schade...
An all dies erinnerst du dich und wirst plötzlich durch das Kreischen gebremster Räder aufgestört. „Stolpcy! Polnische Pass- und Zollrevision!" Klingelnd und klirrend kommt es durch die Waggons gegangen; voran ein Offizier mit Säbel und Revolver, dahinter zwei Soldaten im Stahlhelm, das Gewehr in der Hand.
Das Licht der kleinen Waggonlampe spiegelt sich in den aufgepflanzten Bajonetten.
Sind wir im Krieg? Irgendwo an der Front?
Der Offizier nimmt die Pässe, reicht sie einem der Soldaten, klirrt vorbei.
„Aussteigen, bitte... zur Zollrevision!" Nur die zweite und dritte Klasse drängt sich in den Zollraum, die Herrschaften der ersten Klasse dürfen im Waggon bleiben. Hinter den im Kreise aufgestellten Bänken
erwarten die Zollbeamten die Reisenden. In der Mitte des Kreises sitzt - oder vielmehr: liegt fast - ein Offizier und erteilt lässig Befehle.
Spielerisch schlägt er mit der Reitgerte auf seine blanken Stiefelschäfte.
Wieder im Waggon.
Das Gepäck hast du neben dir liegen, die Mütze behältst du auf: es ist nur noch ein kurzes Stück bis „hinüber", nur noch die neutrale Zone.
Der Zug setzt sich in Bewegung. Auf den Trittbrettern fahren polnische Soldaten in Stahlhelmen mit. Gewehre, Bajonette, Handgranaten.
Draußen huscht die Trostlosigkeit der neutralen Zone an den Fenstern vorbei: braune, steppenähnliche Heide, Wald. Die Menschen, die hier wohnen - und es gibt außer den Schmugglern auch andere Bewohner dieses die ganze Grenze entlang laufenden, dreißig Kilometer breiten Landstreifens - gehören weder zu Polen, noch zur Sowjetunion, sie sind staatenlos. Die eigentliche Grenze läuft in der Mitte der Zone.
Der Zug verlangsamt seine Fahrt. Rechts und links tauchen lange Reihen von Drahtverhauen auf: bis knapp an den Bahndamm reicht ihr dorniges Gestrüpp und zieht sich zu beiden Seiten weit hin, bis dorthin, wo die Umrisse der Büsche und Bäume unklar werden und mit dem Dunkel des Bodens zu einer einzigen verschwommenen, schwarzen Masse verschmelzen.
Vor den Drahtverhauen ein Wachthaus: das polnische. Der Zug hält für eine Minute. Die Soldaten springen zu Boden, formieren sich, erstarren beim Klang eines Kommandos zu Puppen. Ein Pfiff schrillt. Der Zug fährt weiter. Noch eine Kette von Drahtverhauen, noch eine und dann, dann rollt die Lokomotive - dreimal pfeifend - langsam durch einen aus Balken gezimmerten Torbogen, von dem rote, im trüben Dämmerlicht nur schwer lesbare Buchstaben die Reisenden grüßen:
Proletarier aller Länder, vereinigt euch!
Sowjetrussland!
Vom Wachthaus weht eine rote Fahne.
Wieder hält der Zug ganz kurz. Ein Mann springt auf das Trittbrett des ersten Waggons. Winkt. Die Maschine zieht an.
Wo sind die Soldaten? Die Drahtverhaue? Die Handgranaten?
Im Vorübergleiten siehst du einen einzigen Mann vor dem Wachthaus stehen: dunkel, lang. Unendlich lang in dem bis an die Absätze reichenden Soldatenmantel. Den dreifachen Drahtverhauen der Polen gegenüber steht an der Grenze bei Negoreloje - ein langer Rotarmist. Einer! Allein. Doch tausend Kilometer ostwärts, bis nach Japan, -gibt es keine Grenze mehr, erstreckt sich die Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken.
1926
Negoreloje.
Ich hörte den Namen zum ersten Mal aus dem Munde eines glattgescheitelten Jünglings hinter dem Schalter des Reisebüros. An den Wänden hingen Plakate mit spinatgrünen Alpenwiesen, mit Butzenscheibenhäuschen, mit sonnenbeglänzten Bergesgipfeln in zartrosa gefärbtem Schnee, mit ansichtskartenblauen Meeresküsten und blonden Seejungfrauen, die ihren Schuppenschwanz kokett aus schaumbedeckten Wellen hervorstreckten und riefen: „Venga à Riccione, à Riccione, la Stella verde dell' Adriatico! Kommen Sie nach Riccione, nach Riccione, dem grünen Stern am Adriatischen Meer!" Und auf dem Schalterbrett lagen die Kursbücher der halben Welt. Der glattgescheitelte Jüngling aber fühlte nichts von dem Zauber der Alpenwiesen und Seejungfrauen, sondern fragte sachlich kühl: „Sie wünschen bitte?" Dann schob er mir die Karten zu. „In Negoreloje umsteigen! Die russischen Wagen haben eine andere Spurweite..." Und wandte sich dem nächsten Kunden zu. Ich aber stand - die Fahrkarten nach Moskau in der Hand-noch eine Weile still da und sah zu den Seejungfrauen hinüber.
Ob es in Negoreloje... ?
Nein, in Negoreloje gibt es das nicht. In Negoreloje gibt es weder Butzenscheiben noch Seejungfrauen. Nur ein paar Hütten und Scheunen sind da, eine kleine Kirche, wenige Felder inmitten ausgedehnter Wälder... und an der Bahnstrecke einige lange Holzbaracken und ein „Büfett" in einem alten, ausrangierten Wagen. Denn Negorelojes Geschichte begann erst mit dem Tage, an dem die sowjetisch-polnische Grenzkommission auf der Landstraße einen Strich zog und festsetzte: „Die Grenze überschneidet die Bahnlinie Warschau-Moskau zwischen den Ortschaften Stolpcy und Negoreloje, fünfzehn Kilometer westlich der letzteren..." Wir fahren in die Station ein.
Es ist Abend. Eine vom Wind bewegte Laterne wirft unruhiges Licht auf den Bahnsteig, als sei sie über die plötzliche Unruhe, über das Auftauchen so vieler, durcheinander wimmelnder Menschen erschrocken. Aber man braucht ihr Licht fast nicht, denn über den dunkelbraunen Holzbaracken hängt, unwahrscheinlich silbern, der Mond wie ein großer runder Lampion. Es riecht stark nach frisch gefälltem Holz, nach Harz. Im Zollraum schauen Marx, Engels und Lenin einigermaßen verwundert von den Wänden auf die aufgeregten Menschen hinunter, die ihre Koffer und Reisetaschen öffnen.
„Da! Der erste Tschekamann!" Neugierig recken sich alle Hälse.
Die grüne Mütze ins Genick geschoben, kommt der „Genosse von der GPU" in den Raum und beginnt die Bücher durchzublättern, die von den Zollbeamten aus den Koffern genommen und beiseite gelegt wurden. Die Zollbeamten, es ist unter ihnen auch eine Komsomolzin, eine Jugendgenossin, arbeiten flink, aber sehr gründlich.
„Sie haben Seide mit. Wohin fahren Sie?... Nach Moskau? Da müssen Sie die Seide verzollen." Das sagt die Komsomolzin zu meiner Nachbarin, in deren Koffer sie die Seide gefunden hat. Und uns anderen erklärt sie: „Seide gehört nämlich zu den Dingen, die wir nicht unbedingt brauchen. Deshalb legen wir Zoll auf die Einfuhr. Maschinen lassen wir zollfrei herein oder Instrumente zum Beispiel..." Und schon wühlt sie in dem großen Koffer eines semmelblonden amerikanischen Journalisten. „Was ist denn das?"
Aus dem Koffer kommen viele Döschen in weiß-blauer Verpackung zum Vorschein: zehn, zwölf, zwanzig. „Was ist das?"
Die wässrigen Augen des Amerikaners blicken ratlos in der Runde umher. „Say, what..."
Schon will ich mich helfend als Dolmetscher einmischen, da beginnt das rotbetuchte Mädchen schallend zu lachen; es hat den Inhalt der verdächtigen Büchsen erraten.
„Milchkonserven! Milchkonserven schleppt er mit, weil er wohl glaubt, dass man bei den Bolschewiken nichts zu essen bekommt oder vergiftet wird..." Das Lachen wirkt ansteckend. Denen, die nicht Russisch verstehen, übersetzt man die Worte, und sie lachen mit. Nur der Amerikaner weiß noch immer nicht, was eigentlich um ihn herum vorgeht, und macht ein halb beleidigtes, halb hilfloses Gesicht.
Nachher, wie wir schon vor den abfahrtbereiten Waggons des russischen Zuges stehen, sagt der deutsche Professor zu seiner Frau: „Weißt du, ich kann mir ganz gut vorstellen, was sich der Amerikaner gedacht hat, als er die Milchkonserven mit auf die Reise nahm... es ist doch, hm, es ist eine ganz unbekannte Welt, in die man da hineinfährt; wer weiß, wie es dort zugeht, sogar die Wagen sehen ganz anders aus als bei uns..." „Sie haben recht, mein Herr", ertönt hinter uns eine Stimme. „Sie haben recht, man hat hier eine völlig andere Spurweite als drüben. Man steigt hier gleichsam um: ins einundzwanzigste Jahrhundert nämlich." Das Glockenzeichen, voll und tief, mahnt zum Einsteigen.
In so einen breiten russischen Eisenbahnwagen steigst du immer mit einem Gefühl neugieriger Erwartung und dem Vorgeschmack vergnüglichen Faulenzerlebens ein. Du weißt: du wirst in diesem Wagen, der eigentlich ein Haus, eine ganze kleine Welt auf Rädern ist, eine hübsche Zeit lang „wohnen" (zwei Tage im Zuge sind in der Union eine „kleine" Reise!); du wirst die Lebensgeschichten, Verwandtschaftsverhältnisse und philosophischen Anschauungen aller im selben Abteil mitfahrenden Reisenden kennenlernen und deinerseits deinen Freunden (Fahrten im russischen Eisenbahnwagen bringen die Menschen einander nahe) die Kenntnis deiner Lebensphilosophie, deiner Familienverhältnisse und Schicksale vermitteln und ihren wohlgemeinten Rat entgegennehmen; du wirst vom Prowodnik - dem in jedem Waggon mitfahrenden Wagenschaffner - gegen zwei Rubel Leihgebühr eine weiche Matratze, zwei Decken, zwei Leintücher und ein Polster (alles sauber und vor deinen Augen aus dem Kerker eines plombierten Sackes befreit) entlehnen und dir auf deinem Liegeplatz ein Lager betten; du wirst auf diesem Lager ruhen und die weite, unendlich weite, platte Landschaft an dir vorübergleiten lassen, oder schlafen; du wirst von deinen Freunden zum Tee eingeladen werden und mit ihnen auf den Stationen nach heißem Wasser für den mitgeführten Tschainik (Anm.: Teekessel) du wirst in den Gaststuben der großen Bahnhöfe knusprige Piroschki (Anm.: Pasteten) und von den Bäuerinnen an den kleinen Haltestellen kanonenkugelgroße Melonen für zehn Kopeken und gebratene Hühner für 40 Kopeken kaufen - und trotz aller Erfahrungen im Feilschen beschwindelt werden; du wirst dich so an das Leben im Zuge gewöhnen, dass es dir bald eigenartig vorkommen würde, nicht beim Rollen und Rattern des Zuges einzuschlafen und aufzuwachen, und du wirst einer Eisenbahnverwaltung dankbar sein, die den Wagen so breit, die Matratzen so weich und alles so bequem eingerichtet hat.
Du wirst vielleicht von Bewunderung erfüllt sein, wenn du weißt, dass diese Eisenbahnverwaltung zu jedem Zuge nur soviel Karten verkaufen lässt, wie es Liegeplätze im Zuge gibt, und dir deinen Platz im vorhinein fest anweist, zu welchem Behufe sie dich gleichzeitig mit der Fahrkarte auch eine Platzkarte lösen heißt.
... Was an sich eine ganz vorzügliche Einrichtung, aber wie alles Irdische bisweilen Stückwerk und Haschen nach dem Winde ist und dich vor den Tücken des Schicksals nicht immer bewahren kann, wie die Geschichte der guten Leute beweist, die in Minsk zu nachtschlafender Stunde in unseren Zug einstiegen und „ihre" Plätze von vier schlafenden - nach Ausländern aussehenden - Individuen besetzt fanden, ... von uns.
Wir vier: unsere kleine, aus drei Personen bestehende Reisegesellschaft und Fanny Markowna, unsere russische Freundin, die schon die Reise durch Polen mit uns gemeinsam gemacht hafte und gleich uns nach Moskau wollte. Und Fanny Markowna war es auch gewesen, die - als wir uns auf den fremden Plätzen häuslich niederließen - gesagt hatte:
„Und in Minsk, Kinder, schlaft... oder macht wenigstens so, als ob ihr schliefet, sonst sind die Plätze futsch..." „Aber man hat ja nach Minsk telegraphiert, dass die Plätze besetzt sind und nicht verkauft werden sollen..." „Ja, wenn sie nur nicht schon verkauft waren, bevor noch das Telegramm kam..." Und sie hatte recht. Als der Zug in Minsk hielt, wurde die Waggontüre aufgerissen, ein schwarzer Menschenknäuel drängte sich ins Wageninnere.
„Still liegen und nicht mucksen!..."
Wir zogen die Decken über die Nasen.
Offen gestanden, ich glaubte nicht recht an den Erfolg dieser „Kriegslist". Denn wer, wie wir, Schlaf simulierend anderen die Plätze nimmt, erwartet den gerechten Zorn der rechtmäßigen Besitzer:
„Sie da! Hören Sie mal, wie kommen Sie denn eigentlich...?!..."
Aber niemand rüttelte uns an den Schultern, niemand zog uns an den unter der Decke hervorlugenden Beinen. Niemand dachte daran, uns zu wecken, und der Lärm, der allmählich zu unerhörten Dimensionen anwuchs, diente auch nicht diesem Zwecke, sondern war sozusagen eine bloße Folgeerscheinung der hitziger werdenden Diskussion, die sich unter den Neuankömmlingen entspann. Was nun folgt, ist die Wiedergabe eines rein akustischen Erlebnisses, denn ich hatte die Decke über den Kopf gezogen und wagte es nicht, auch nur einmal die Nase hervor zustecken und mich umzusehen. Die Sache begann so:
Eine sanfte Männerstimme - sie musste einem friedfertigen Menschen mit taubenblauen Augen gehören - sagte mit einem Male dicht neben meinen Beinen:
„Also, da liegt jemand auf unseren Plätzen..."
Der Ton, in dem die Stimme dies sagte, war schüchtern und verzagt:
„Also, da wären unsere Plätze, aber sie sind besetzt..." Die Stimme verlor sich augenscheinlich in Betrachtungen über die Eitelkeit menschlicher Hoffnungen und Pläne und hätte gewiss eine Zeitlang Ruhe bewahrt, wenn nicht eine zweite Stimme - eine energische, etwas scharf klingende Frauenstimme - dazwischengefahren wäre: „Was heißt denn das, Grigori Semjonowitsch, was heißt denn das: ,unsere Plätze sind besetzt'? Wie können unsere Plätze besetzt sein, wenn wir doch die Platzkarten...?" Die energische Frauenstimme schob sich nach vorn: „Oder haben Sie am Ende falsche Karten gekauft oder uns in einen falschen Wagen...?"
„Aber Awdotja Nikolajewna", verteidigte sich gekränkt die taubenblaue Stimme. „Aber Awdotja Nikolajewna, wie können Sie nur so etwas sagen. Sie wissen doch selber, dass ich die Karten wenigstens ein dutzendmal nachgesehen und auch den Prowodnik gefragt habe, ob dies unser Wagen sei. Aber im Übrigen: sehen Sie doch bitte selber nach. Hier, hier sind die Karten! Nummer 32 und 33... und hier sind die Plätze - auch Nummer 32 und 33... Sie sehen, Sie tun mir Unrecht, Awdotja Nikolajewna, wir stehen vor unseren Plätzen, aber die Plätze sind besetzt..." Von weiter hinten, vom Wageneingang erschollen Stimmen:
„Was ist denn vorn los, Bürger? Warum versperren Sie den Durchgang?! Wir wollen auch zu unseren Plätzen!"
„Drängen Sie nicht!" sagte die energische Frauenstimme gereizt. „Ich sage Ihnen, Bürger, drängen Sie nicht so!
Sehen sie denn nicht, dass wir nicht Platz machen können, weil jemand auf unseren..."
Aber sie konnte nicht zu Ende sprechen: „Ach was, Plätze besetzt... ,das kann jeder sagen! Was gehen uns Ihre Plätze an. Wir können doch deswegen nicht in Minsk bleiben..."
Erregt fiel die Frauenstimme in hohen Fisteltönen über den „rücksichtslosen Egoisten" her, dem das Schicksal seiner Mitmenschen gleichgültig sei, und der deshalb ein böses Ende nehmen werde.
Die Stimmen hinten wurden lauter und dringlicher: „Vorwärts!"
„Wir können nicht warten!"
„Aber Bürger..."
„Wo ist der Prowodnik?"
Es entstand ein kleiner Tumult. Einige der hinten Stehenden hatten offenbar die Geduld verloren und drängten sich durch den Menschenknäuel durch, der sich um unsere Plätze gebildet hatte.
Eine dicke, keuchende Stimme, der man es anhörte, dass sie aus einem Halse kam, dessen Nacken eine rote Fettfalte zierte, tauchte auf und knurrte empört:
„Da liegt ja auch auf meinem Platze irgendjemand, ... das ist ja..."
Ein kleines Kind, das zu seiner Großmutter nach Mittelasien fuhr (die Mutter erzählte es uns am nächsten Morgen), begann - augenscheinlich der kleinlichen europäischen Händel bereits überdrüssig - lauf und mit Ausdauer zu schreien.
Zehn verschiedene Stimmen sprachen durcheinander. Obenauf schwammen die Fisteltöne der energischen Frau. „Sie sollten sich nicht so erregen, Awdotja Nikolajewna", sagte die taubenblaue Stimme sanft, „Sie sollten sich nicht so erregen, es wird Ihrer Gesundheit schaden...", verkroch sich aber sofort in unterwürfiges Schweigen. „Was, nicht erregen? Haha... und wer wird uns denn zu unseren Plätzen verhelfen, wenn ich mich nicht errege, Grigori Semjonowitsch? Wer denn, frage ich?! Vielleicht Sie, der Sie dastehen, als wäre Ihnen der Mund zugefroren...? Sie sagen, es werde meiner Gesundheit schaden, wenn ich mich errege. Ich aber sage Ihnen, Grigori Semjonowitsch, dass es meiner Gesundheit noch viel mehr schaden wird, wenn ich meinen Platz nicht bekomme und die ganze Nacht über stehen muss..." Der Besitzer des vierten von uns besetzten Platzes entdeckte mich und sagte dröhnend:
„Da ist ja noch einer hat man so etwas schon gesehen! Vier Plätze widerrechtlich besetzt!" Er trug gewiss ein Ruderleibchen über mächtig entwickeltem Brustkasten, hatte auf dem linken Oberarm ein blaues Herz und zwei Anker eintätowiert und war eine Michael-Kohlhaas-Natur:
„Ich fahre ja nur bis Smolensk mit und hätte ohnehin nicht geschlafen..., aber Ordnung muss sein, und wenn ich schon eine Platzkarte habe, muss mir die Eisenbahnverwaltung auch einen Platz geben ..."
„Aber lieber Genosse, die Eisenbahnverwaltung kann doch ihre Augen nicht überall..." Allein Michael Kohlhaas blieb hart: „Das ist mir gleich: meinen Platz will ich haben." Er war ein aufrechter Mann, und ich liebte ihn. Schade nur, dass er gerade den Platz beanspruchte, auf dem ich lag. Der Lärm war inzwischen angewachsen. Das Kind schrie andauernd.
Eine bucklige Stimme jammerte stolz: „Also, da haben wir es. Ich sage ja immer, wir reden zu viel von der Amerikanisierung und tun nichts dazu, um sie einzuführen. Ich sage ja immer, wir müssen zuerst im Kleinen anfangen, Ordnung zu schaffen..." „Naja, Ausländer sind es!" bemerkte bissig die Fettfaltenstimme: „Amerikaner! Sehen Sie sich doch nur die Socken an!"
Ich hatte Paul immer davon abgeraten, die blaugrünen Socken mitzunehmen. Jetzt saß er in der Tinte. Jetzt würden sie ihn... Aber nein, sie warfen ihn nicht hinunter, wie ich gefürchtet hatte. Sie ließen uns auch weiterhin unbehelligt „schlafen".
Draußen erscholl das Glockenzeichen. Der Lärm wurde noch stärker.
„Ausländer...! Ausländer hin, Ausländer her..., meinen Platz will ich haben..."
Von hinten schrie man: „Bürger, der Zug geht ab!" Der Lärm schwoll zu einer ungeheuren Welle an und verschluckte alle einzelnen Stimmen. Die Lokomotive pfiff durchdringend. Ganz dicht bei meinem Ohr kreischte auf einmal die energische Frauenstimme gellend auf und zerschnitt den Lärm: „Grigori Semjonowitsch! Grigori Semjonowitsch!... Ich werde ohnmächtig, ich bin auf etwas Lebendiges getreten..."
Stille.
Nur das Kind schrie.
In die Stille sagte Grigori Semjonowitsch dumpf: „Sie haben sich geirrt, Awdotja Nikolajewna, Sie haben sich geirrt: es ist nichts Lebendiges, auf das Sie getreten sind..., es ist nur ein gebratenes Huhn, das zu Boden gefallen ist..."
Der Blautätowierte sagte drohend: „Und überhaupt gehören Amerikaner in den weichen Wagen..." Die Fettfaltenstimme pflichtete bei: „Ganz richtig, in den weichen Wagen,... die haben genug Geld..." Eine Stimme ganz hinten sagte:
„Sie sollten da nicht mitreden, Väterchen, Sie sind auch nicht gerade eine Kirchenmaus..."
Der dicke Nacken protestierte erregt.
Der Zug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Eine tiefe, milde Stimme flatterte auf Engelsflügeln herzu und meinte:
„Aber Bürger, wir sollten doch verträglich sein: wir sind doch nicht in Polen..."
Das Hohngelächter der Frauenstimme verscheuchte sie aber:
„Hehe, ein Patriot, hat sicher seinen Platz nicht besetzt gefunden..."
Stürmisch verlangten einige Stimmen nach dem „Genossen Agenten", nach dem im Zuge mitfahrenden Beamten der GPU.
Der Lärm ließ für Augenblicke nach. Ich schlief ein...
Als ich am nächsten Morgen erwachte, bot alles ein Bild vollsten Friedens. Einige Reisende lagen noch auf ihren Plätzen und schliefen, andere - auch Fanny Markowna, unsere Freundin - waren bereits aufgestanden und machten Tee.
„Nun, wie ist es gestern ausgefallen... wissen Sie es vielleicht?"
Ja, sie wusste es: der Agent war erschienen und... hatte eine lange Debatte begonnen: zuerst über die Plätze, dann über die Eisenbahn, dann über die Notwendigkeit des Regimes der Ökonomie, dann über den Kampf gegen das Analphabetentum...
„Und dann war es drei Uhr früh, und der Agent machte vier andere Plätze ausfindig, und da gingen eben alle schlafen..."
„Und das soll ich Ihnen glauben, Fanny Markowna...?" Ich war fast beleidigt darüber, dass sie glaubte, mir einen solchen Bären aufbinden zu können. Später freilich war ich selbst Zeuge ähnlicher Szenen, sah selbst, wie der Milizionär in Moskau oder Tiflis oder einer anderen Stadt mit einer ganzen großen Menge „fertig wurde", ohne den Gummiknüppel zu gebrauchen oder das berühmte „Im Namen des Gesetzes..." zu schnarren. Erlebte es selbst, wie der Milizionär eine kleine Rede hielt, wie sich zwischen ihm und den anderen Debatten entspannen, wie alles ohne Drohungen glatt abging. Glatt abging, weil die Menge fühlte, dass ihr gegenüber kein Fremder, kein Feind, sondern einer ihresgleichen stand... und weil auch der Milizionär wusste, dass er nur ein Teil jener Menge war, der er sich gegenüber befand. Damals aber, an jenem Morgen im Waggon, wusste ich es noch nicht, hatte aber keine Zeit, über die Sache weiter zu sprechen oder nachzudenken, weil der Zug gerade hielt und heißes Wasser geholt und Piroschki gekauft werden mussten.
Und als wir beim Tee saßen und die heiße Flüssigkeit vorsichtig durch die Zuckerstückchen zwischen den Zähnen schlürften, war auch keine Zeit, Fanny Markowna weiter auszufragen, denn da kam aus dem Nebenabteil „Besuch" herüber: ein rundlicher Mann mit blondem Bart und einer dicken Falte im Nacken erkundigte sich nach unserem Wohlbefinden, fragte nach Reiseziel und Zweck, fragte, woher wir kämen und was wir bisher bereits auf der Reise erlebt hätten, wünschte uns viel Glück auf unserem weiteren Wege und empfahl sich mit folgenden Worten: „Und wenn man sie gestern nachts vielleicht geweckt hat (ich will nicht hoffen, dass man so unhöflich gewesen ist), so denken sie ja nur beileibe nicht, dass es deswegen geschah, um sie von ihren Plätzen zu vertreiben... Wir in Russland haben Gott sei Dank noch immer in jedem Zuge vier Plätze frei für (hier wurde seine Stimme weich und schnurrend) unsere lieben Genossen aus Amerika..." Sprach's und ging ab.
Die rote Falte im Nacken leuchtete wie Morgenrot...
„Wohin?"
„In die Twerskaja (Anm.: heute Gorkistraße)!" „Fünfundsiebzig Kopeken." „Das ist zu viel, mein Lieber..."
Ich hatte diese Worte ganz mechanisch hergesagt, gewohnt, jedesmal um den Preis einer Droschkenfahrt erst einmal tüchtig feilschen zu müssen, bevor der Iswostschik (Droschkenkutscher) seine übertriebene Forderung auf das übliche Maß herabschraubte. Vielleicht auch hatte ich die Zahl gar nicht gehört, die er nannte, jedenfalls war ich überzeugt, dass sie zu hoch sein müsse. Ich war deshalb nicht wenig erstaunt, statt des erwarteten Bedauerns über eine entgangene Schröpfgelegenheit (gewürzt mit Klagen über schlechte Zeitläufe und eine unglaublich zahlreiche und hungrige Familie) die herbe Enttäuschung einer in ihrer Erwartung - Großherzigkeit und Bescheidenheit dankbar gewürdigt zu sehen - getäuschten edlen Seele zu vernehmen:
„Zu viel, Bürger? Fünfundsiebzig Kopeken zu viel?..." Der Schmerz steigerte sich zur Entrüstung: „Wo Sie doch Ausländer sind, und ich einen Rubel fünfundzwanzig hätte verlangen können..." Ich war beschämt. Nicht so sehr durch die Großzügigkeit, mit der er darauf verzichtete, von mir einen höheren Preis zu fordern als von einem „Eingeborenen", als vielmehr durch den Freimut, mit dem er mich auf sein gutes Recht aufmerksam machte, unverkennbare Ausländer zu schröpfen.
Ich war beschämt und stieg, ohne auch nur noch ein einziges Wort zu verlieren, ein. Fünfundsiebzig Kopeken waren wirklich kein hoher Preis. Ich nahm mir vor, ihm fünfundachtzig Kopeken zu geben... Um meine schnöde Handlungsweise von vorhin gutzumachen und dann... weil er ohnehin nicht mehr als fünfzehn Kopeken Kleingeld in seiner Tasche finden wird, wenn ich mit einem Rubelschein zahle. Und ich lehnte mich weit zurück, kniff die Augen halb zu, so dass der im blauen Mantel mit grünem Kragen und Gürtel steckende Rücken auf dem Kutschbock vor mir zu unförmlicher Breite anschwoll. Lehnte mich zurück und ließ mich von den Schaukelbewegungen des leichten Wägelchens wiegen. (Zwei Personen haben Platz darin, mehr nicht.) - Fühlte mich wohl, sowohl, wie immer, wenn ich durch diese wunderbare Stadt fuhr, die halb ungeheures asiatisches Dorf, halb amerikanische Wolkenkratzerstadt ist; deren frühere Adelspaläste in stillen, weltverlorenen Gassen noch nach verschollener Vergangenheit duften, während auf ihren menschenerfüllten Boulevards schon die Zukunft fiebert; durch diese Stadt, deren Schlosstürme wie im Märchen „von eitel Gold" sind, und über denen doch die rote Fahne einer sieghaften Wirklichkeit flattert; durch diese Stadt, in der es breitflächige, aus Glas und Beton geschaffene neue Häuser gibt, und Stadtviertel mit blindfenstrigen Hütten und unheimlichen Steinwürfeln, in deren Innern weitläufige Höfe nach Pferdeställen riechen; durch diese Stadt, auf deren größtem Platze zweihundertfünfzigtausend junge Pioniere schmetternd aufmarschieren, und in deren vergessenen Sackgassen (in Samoskworetschje, in der Nähe des Marktes, der „Sumpf" heißt) du noch anachronistische Garmoschki (Ziehharmoniken) hören kannst.
Fühlte mich wohl und dachte an Fanny Markowna, die ich soeben nach Hause begleitet hatte. An ihre Haare, die wild und ungebärdig sind wie kleine, schwarze Steppenpferdchen, und an ihre Mandelaugen, die tief sind wie die Verzweiflung eines unglücklich verliebten Gymnasiasten und schimmernd wie die Träume eines einsamen Gefangenen. An ihre Knöchel, die...
Da drehte sich mein Iswostschik auf dem Bock um und sagte unvermittelt mitten in meine Schwärmerei: „Ja, es ist ein Kreuz mit der Liebe... am besten, man geht ihr aus dem Wege..." Kutscher sind Menschenkenner und philosophisch veranlagt. Das bringt ihr Beruf mit sich. Ich war deshalb nicht weiter erstaunt, aus dem Munde meines rosslenkenden Freundes einen Ausspruch zu hören, der ebenso gut Ausfluss einer allgemein gehaltenen Lebensphilosophie, als auch - psychologischer Erkenntnis meines augenblicklichen Gemütszustandes entsprungener - Ratschlag sein konnte.
Ich war nicht erstaunt, aber ich wollte wissen, woran ich war: allgemeine Erkenntnis oder persönlicher Rat?
Und so kamen wir ins Gespräch.
Die Zügel sanken schlaff nieder, und das Pferdchen wählte den Weg nach eigenem Gutdünken.
Oh, es war ein köstliches Gespräch! Es war, von deiner Seite, teurer Porphyri Semjonowitsch (du siehst, ich habe deinen Namen und Vatersnamen behalten, obwohl es -das magst du mir glauben - für einen Fremden keine kleine Sache ist, sich die Väter zu merken, wenn man kaum noch die Söhne und Töchter kennt), einer jener unvergesslichen Sermone, gewichtig und dabei doch voll heiterer Ironie, wie sie nur ein Moskauer Iswostschik zu halten versteht, einer jener prächtigen Kerls, die dir zum Beispiel folgendes anstellen:
Du steigst ein und sagst beiläufig: „Ein schönes Pferd hast du da, Onkelchen!"... und verlierst gleich darauf die Sprache, weil der Iswostschik auf die Mähre einschlägt und die Twerskaja hinuntersaust, dass dir Hören und Sehen vergeht. Dann - unten, bevor noch der Milizionär auf der Moissejewskaja in Sicht kommt- mäßigt er das Tempo und bemerkt liebenswürdig: „Und die Hälfte dessen, was die Strafe für Schnellfahren ausmachen würde, können Sie mir geben, Bürger... der Milizionär hat nichts gemerkt!" Oder aber: du merkst, obwohl du eben erst angekommen und noch ein blutiger Neuling bist, dass dich dein guter Iswostschik schon eine halbe Stunde im Kreis herumfährt, und teilst ihm diese Entdeckung mit, worauf er gleichmütig nickt: „Nun ja, Genosse, wir fahren ein wenig länger, als es notwendig wäre, aber die Eisenbahn fährt auch nicht immer den kürzesten Weg... und dann, warum sollen Sie (der Sie doch ohnehin anderthalb Rubel zahlen) nicht einen Begriff von der Größe unseres roten Moskau haben...?..."
Oder aber - allein nicht davon will ich berichten, sondern von deinem Sermon, Porphyri Semjonowitsch, an den ich mich noch heute mit schmunzelndem Behagen und tiefer Bewunderung erinnere. Ich erinnere mich noch, wie du - von der Erkenntnis der Bitterkeit aller Liebe ausgehend - riefst: „Ja, Bürger, ja, Genosse, die Liebe ist ein grausames und bitteres Ding, aber sie hat uns alle in der Hand, und wenn Valentina Konstantinowna, meine Frau, behauptet, ich wolle mich von ihr nur deshalb scheiden lassen, um den ganzen Verdienst allein vertrinken zu können, so lügt sie infam, denn sie weiß, dass mich das Weibsbild..." Ihren Namen habe ich vergessen, nicht aber ihre Reize, deren Schönheit du in glühenden Farben maltest, um dann plötzlich zu deklamieren:
„Und sehen Sie, Genosse, ich bin stolz darauf, Mitglied eines so fortgeschrittenen, eines die Rechte der Unterdrückten und Schwachen so nachdrücklich wahrenden Staatswesens zu sein. Ich weiß, dass in der Freiheit die Wurzeln der Kraft und des Glückes liegen, und dass die Frau nur ein lange entbehrtes Recht erhält, wenn sie dem Manne gleichgestellt wird. Und ich billige freudigen Herzens alle Dekrete des Rates der Volkskommissare, des ZEK (Anm.: Zentralexekutivkomitee der UdSSR) und des WZEK (Anm.: Gesamtrussisches Zentralkomitee), auch das Dekret über Ehe und Scheidung aber sagen Sie selbst, Genosse, sagen Sie, der Sie doch als Ausländer, in dessen Heimat nicht so für die Schwachen und Unterdrückten gesorgt wird, der also von noch größerer Bewunderung für unsere Dekrete erfüllt sein muss als ich, sagen Sie selbst, ob ich dieses Dekret sabotiere, wie Valentina Konstantinowna sagt, wenn ich mich scheiden lassen will, ohne ihr die Hälfte meines Pferdes zu geben...? Sagen Sie selbst, ob das Dekret, wenn es bei der Scheidung die Teilung des gemeinsamen Besitzes verfügt, meint, dass ein Pferd, dass mein Pferd ein Besitztum ist, das geteilt werden soll...?!"
Und ich erinnere mich auch noch, wie du vom eigenen Leid die Brücke zum Leid deines Nächsten schlugst: „Das alles übrigens, mein Seelchen (und hier gingst du zum vertraulichen ,Du' über), das alles habe ich dir nur erzählt, um dich zu warnen: ich habe nämlich gesehen, wie du, nachdem das Mädchen im Haustor verschwunden war, dort gestanden bist, wie... wie..., nun eben wie jemand, der sich verlieben will... und das sollst du nicht, mein Täubchen, das sollst du nicht...!" „Wenn sie aber so schön ist, Porphyri Semjonowitsch, wenn sie aber so schön ist..." Und du darauf:
„Das sind sie alle... solange, bis sie sich verheiraten. Dann werden sie Hexen, wie Valentina Konstantinowna eine ist, die will, dass ich bei ihr bleibe oder ihr ein halbes Pferd gebe..."
„Aber Porphyri Semjonowitsch, welch ein Wort: Hexen!... Wenn du sie sähest: ihre Lippen sind samtene Rosenkissen und wenn sie ,daleko, daleko ...' sagt (was ,weit, weit...' heißt), so klingt das, wie die Kremlglocken klingen..." „...geklungen haben, Seelchen, geklungen haben. Jetzt nämlich läuten sie die Internationale... hihihihi...!" Ich blieb die Antwort schuldig. Der Wagen hielt, wir waren in der Twerskaja. Ich habe dich nie wieder gesehen, Porphyri Semjonowitsch.
Die Straße ist ein offenes Buch. Du gehst, liest: N. N. Ssanjawina, Schneiderin. O. M. Lebedjew, Uhrmacher. Reparaturen von Näh- und anderen Maschinen. Billig und gut. F. S. Dolgunow.
Alle drei Schildchen über einem einzigen, nicht gerade großen Laden.
„Privatunternehmer!" erklärt dir ein Genosse diesen in Moskau nicht gerade seltenen Fall der gemeinsamen Benutzung eines einzigen Ladens durch mehrere selbständige Unternehmer. „Die Steuern für Privatunternehmungen sind hoch, die Kontrolle der Arbeitszeit und -bedingungen streng, die Konkurrenz der Genossenschaften übermächtig, - da heißt es sich einschränken, so gut es geht..." Eine Woche später gehst du an demselben Laden vorbei: die Tafel der Schneiderin und der Reparaturwerkstätte fehlen, ihre Stelle hat das Schild eines Papierhändlers eingenommen. Der Uhrmacher ist noch da. Er sitzt (ein alter, weißbärtiger, verhutzelter Mann) neben dem Auslagefenster und hat das Vergrößerungsglas wie ein phantastisch dickes Einglas vors Auge geklemmt. Wieder eine Weile später ist der Papierhändler verschwunden. Auch der Uhrmacher sitzt nicht mehr da. Der Laden ist leer. Quer auf dem Auslagefenster klebt ein gelblicher Zettel:
Am ersten September wird in diesem Laden eine neue Verkaufsstelle der Genossenschaft „DER KOMMUNARDE" eröffnet. Die Kooperative ist die Proviantkolonne der Proletarierarmee und einer der Grundpfeiler des sozialistischen Aufbaus!
Die Moskauer Straße ist ein offenes Buch: auf seinen Seiten liest du die Geschichte des Niedergangs einer alten Welt und die ersten Kapitel der Lehre vom Sieg der kollektiven Gesellschaft...
Steppe.
Weit und breit Dunkelheit.
Durch die Nacht fährt der Zug, ein dünnes Kettchen feuriger Perlen, eine glitzernde Bewegung in der schwarzen Unbewegtheit.
An den Waggons Tafeln: „Mandschuria-Stolpcy." Eine kleine Station. Der Zug hält für wenige Augenblicke, fährt weiter. Du bist eingestiegen und gehst jetzt durch die Waggons in den Speisewagen. Die Leute im Zuge sind wie Passagiere eines Schiffes auf hoher See. Sie kennen einander (fahren schon den zehnten Tag in diesem Zug, begegnen einander immer wieder im Speisewagen, auf den Bahnsteigen der wenigen Stationen), blicken sich nach dir um, der du erst jetzt unter sie gekommen bist, der du ihnen fremd bist.
Du setzt dich an einen der Tische. Der Kellner stellt einen Teller mit rotem Borschtsch (Krautsuppe) vor dich hin -auf dem Teller steht: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" -, du siehst dich um, horchst auf fremde Worte in zwanzig verschiedenen Sprachen, siehst eine phantastisch buntgemischte Gesellschaft: Engländer, Amerikaner, Polen, Deutsche, Japaner, Perser, Chinesen... Der Zug „Mandschuria-Stolpcy" ist ein Schiff, auf dem ein Stückchen des gelbsten Asiens und ein Stück Europas und Amerikas über das ungeheure Meer UdSSR fährt. Die Passagiere des Schiffes „Mandschuria-Stolpcy" fahren über eine unbekannte See, sitzen hinter dem Glas der Fenster und blicken mit erstaunten Augen auf das, was draußen ist: Städte, Dörfer, Steppen, Wälder, Menschen... Mit erstaunten Augen, in denen Nichtverstehen, Unbehagen, Angst, Hass und Freude sitzt. Freude aber nur bei ganz wenigen, denn der Zug „Mandschuria-Stolpcy" ist ein
Schiff, auf dem ein kleines Stückchen jener fernen (ach, wie fernen) kapitalistischen Welt quer über den Ozean UdSSR fährt.
Du sitzt da und hörst zwanzig verschiedene Sprachen. In einer Ecke des Speisewagens, der eigentlich eine geräumige Gaststube auf Rädern ist, in der es sogar eine Bibliothek gibt, sitzt eine Gruppe junger Chinesen in hochgeschlossenen, weißen Hemdblusen. Ob sie übrigens jung sind? Wer weiß es? Es scheint so, weil ihre Art zu reden jugendlich wirkt. Sonst aber könntest du nicht sagen, ob es 20jährige Studenten oder 40jährige Professoren sind, die dort in der Ecke hitzig debattieren. Mit einem Mal wird das Durcheinander ihrer fremdklingenden scharfen Worte lauter, übertönt alle anderen Geräusche.
Du lässt den Löffel voll roter Suppe sinken, drehst dich um und versuchst vergeblich, auch nur ein einziges Wort aufzufangen, das an Bekanntes anklingt, das dir die Möglichkeit gibt, etwas von dem Inhalt der Debatte zu erraten, die dort hinten so hitzig geführt wird. Wovon sie wohl reden?
Und in diesem Augenblick fängst du das Bruchstück eines Gespräches auf, das am Nebentisch zwei unendlich lange, unendlich korrekte, unendlich englisch aussehende Gentlemen führen:
„Die dort...?" und die Shagpfeife des einen macht eine kaum merkliche Bewegung, als wollte sie zu den Chinesen hinüber weisen. „Yes..."
„Nach Moskau..." „Yes..."
„ ... an einer eigenen Universität..." „Yes... die Bolschewiken trichtern ihnen dort den Kommunismus ein ... haben eine eigene gelbe Universität..."
„So...?!"
Das Gespräch reißt ab. Auch die Debatte der Chinesen bricht ab. Aus dem Teller vor dir steigt verführerisch der Duft des Borschtsch empor. Du unterliegst und beginnst wieder zu essen.
Und nach einer guten Weile - du hast schon ganz das Gespräch der beiden Gentlemen am Nebentisch vergessen -hörst du den einen von ihnen sagen, als beendige er eigentlich erst jetzt die Konversation:
„Gelbe Universität... Fabrik zur Erzeugung gelben Dynamits, wollen Sie wohl sagen... wie?..." Und wieder macht die Shagpfeife eine fast unmerkliche Bewegung zu den Chinesen hinüber. Die „Fabrik zur Erzeugung gelben Dynamits" steht mitten in Moskau auf der Wolchonka. Das große, gelbbraune Gebäude trägt eine weithin leuchtende Aufschrift:
UNIVERSITÄT DER ARBEITENDEN CHINAS Dem Andenken an SUN YAT SEN
Im Garten vor der Universität, auf den Stiegen, in den Korridoren, lauter Rohmaterial für Dynamiterzeugung, lauter chinesische Studenten und Studentinnen. Lauter künftiges „gelbes Dynamit".
Genosse Hendryk Segaila, der administrative Direktor der Universität, spielt den Führer, zeigt uns die Universität. Im ersten Stock sind die Kanzleien der Verwaltung, des Rektorats, der Professoren; dann die Hörsäle, Klubräume und Bibliotheks- und Lesezimmer. Im zweiten Stock dann die Wohnräume der Studentinnen. Die Universität ist nämlich eine Art Internat: die Studenten lernen dort nicht nur, sondern werden dort auch beherbergt und beköstigt. Und Genosse Segalla öffnete die Türen zu den Schlafsälen
und lässt uns die weißen, hellen Räume, die sauberen Betten, die bunten Vorhänge, die Blumen in den kleinen Vasen auf dem Fensterbrett sehen.
„Wir haben hier 200 Betten für 200 Studentinnen. Die Studenten - 600 - wohnen zum größten Teil in unserem Haus auf der lljinka. Außerdem haben wir noch zwei Wohnhäuser in der Stadt..."
Wir gehen durch die Korridore, sehen die Wandzeitungen
an den Wänden hängen: bunte Teereklameplakate. Vor
der Wandzeitung ein Knäuel debattierender Studenten.
Durch die halboffene Tür eines Vortragssaals dringt der
Gesang junger Stimmen hervor:
„Von der Taiga bis zur britischen See ist nichts stärker als die Rote Armee ..."
„Sie singen! Haben schon russisch gelernt. Sind unglaublich fleißig: lernen vom frühen Morgen bis zum späten Abend..."
„Und was lernen sie?"
„Nationalökonomie, Geschichte der Revolutionen, historischen Materialismus usw. Neben den Universitätsvorlesungen gibt es eine ganze Menge von Klubvorträgen, von Seminaren, von Extravorlesungen. Der Klub arbeitet sehr gut, hat eine ganze Reihe von Sektionen, eine marxistische, eine leninistische, eine Musik-, Schach-, Literatur-, Esperantosektion und noch eine Menge anderer Sektionen. Außerdem arbeitet auch die Parteizelle auf dem Gebiete der Bildungsarbeit..."
„Wie? Sind denn nicht alle Studenten Kommunisten?" „Nein, die Mehrzahl von ihnen sind Kuomintang-Mitglieder. Nur eine Minderheit ist kommunistisch. Gerade gestern ist eine ganze Gruppe von Kuomintang-Leuten frisch aus China hier eingetroffen... geradenwegs aus Kanton."
Wir gehen weiter. Wir sehen die Bibliothek mit ihrem Schatz moderner China-Literatur, mit ihrer großen marxistischen Abteilung. Im Vorübergehen lesen wir einige Buchtitel: neben der deutschen Ausgabe des Kapitals steht das englische Statesman Yearbook und der französische Larousse Illustre. In einer Abteilung der Bibliothek zeigt man uns wertvolle alte chinesische Bücher und Manuskripte, in einer anderen Broschüren und Bücher, die vom Universitätsverlag herausgegeben wurden. „Hier borgt sich der Student die Bücher aus, die er zum Studium braucht, und die er von der Universität nicht geliefert bekommt; jeder Student bekommt bei uns nämlich eine ganze Anzahl von Büchern, die er zum Studium braucht, umsonst." „Umsonst?"
„Ja, selbstverständlich umsonst. Und nicht nur Bücher. Auch Hefte, Bleistifte, Papier, alles, was er zum Studium braucht. Und natürlich auch Kost, Wohnung und Kleidung..."
Und Genosse Segalla führt uns in das Magazin, wo es Tuchballen, Wäschekisten, Kisten voller Bleistifte und Hefte, Körbe voller Essbestecke gibt.
„Da... fühlen Sie mal. Ein guter Stoff, wie?" Sein Gesicht leuchtet vor Stolz, während er uns das Tuch für die Winterröcke „seiner" Studenten zeigt. Dann führt er uns in die Küche. Hier wird für 800 Personen gekocht. In großen, blinkenden Kesseln und Töpfen. Die Köche haben hohe, weiße Schürzen umgebunden. Hantieren mit langen Gabeln, zerlegen Fleisch.
Dann geht es in den Speisesaal. Viele kleine Tische, weiß gedeckt, mit Blumen geschmückt.
Dann weiter ins Ambulatorium, wo einer der beiden Universitätsärzte gerade eine kleine Operation vornimmt. Dann in die Rasierstube, in die Wäscherei... „Alles umsonst... alles umsonst!"
Und angesichts unseres Staunens:
„Sie wundern sich? Aber eine proletarische Universität kann doch von proletarischen Studenten nicht Geld dafür verlangen, dass sie lernen, um später ihrer Klasse nützlich sein zu können!"
Weiter geht es durch das Universitätskino, die Klubräume, die Krankenzimmer.
In einem der Zimmer sitzt ein Student und macht sich Notizen, schreibt etwas aus einem dicken russischen Buch ab. Die Füllfeder läuft hurtig über das Papier: von oben nach unten, von oben nach unten. Welch ein Kontrast: die amerikanische Watermanfeder und die bizarren, krausen Schriftzeichen, die da untereinander stehen! Dynamit! Dynamit für das gelbe Reich der Mitte. In einem anderen Zimmer begrüßt uns ein hagerer, langer Chinese mit den russischen Worten: „Sdrawstwujte towarischtschi...!" Lädt uns zum Sitzen ein. Wir setzen uns und beginnen ein Gespräch. Es geht nur mühsam vorwärts. Der Chinese spricht gebrochen russisch und sehr schlecht englisch. Aber wir verstehen einander doch.
Er fragt, woher wir kommen. Als er hört, dass wir Tschechoslowaken sind, sagt er langsam, mit fragendem Ton in der Stimme: „Pra-ga?" „Ja, ja ... und Sie?" „Hobee."
Die schmalen, schiefgesfellten Augen beginnen zu lächeln, als sie unsere höfliche Ratlosigkeit bemerken, die eifrig nickt:
„Hobee ... aha, ja natürlich: Hobee ..." „Hobee ... das Provinz sein in mittelchinesisches Reich ... jawohl, mittelchinesisches Reich noch ... aber bald schon wird gehören südchinesischen Republik ... Kanton ..."
Und in gebrochenem Russisch erzählt er von Hobee, wo gerade die Kämpfe zwischen Wu Pee-fu und der Kantonarmee im Gange sind. Er selbst war noch vor kurzem dort. „Wu Pee-fu viel Geld ... viel Geld von Engländern ... aber Kantoner haben gute Armee ... bessere als Geld ..." Er war Soldat in der Kantonarmee, hat gegen Wu Pee-fu gekämpft. Jetzt und auch früher schon. Gegen Wu Pee-fu und gegen die Engländer.
Zweimal haben die ihn gefangen und wollten ihn erschießen.
„So ... puff..." und er macht eine Handbewegung, als wolle er schießen.
„Aber nicht geschossen tot ... weggelaufen ..."
Und jetzt ist er nach Moskau geschickt worden, um zu lernen. Zwei Jahre soll er hier bleiben. Dann wird er
zurückkehren.
„Und dann ..."
Die schmalen, schiefgestellten Augen sind voll von Hass. Dann aber lacht er wieder: „Die laufen uns nicht davon ..."
Wir sitzen noch ein Weilchen, verabschieden uns dann. „Do swidanja towarischtschi ... auf Wiedersehen, Genossen!"
Wie wir schon auf der Schwelle stehen, fragt er:
„Ihr ... Kommunisten?"
„Ja ... und Sie? Kuomintang?"
Da zieht sich das breite Gesicht noch mehr auseinander, die weißen Zähne beginnen zu lachen und lassen ein chinesisches Wort hervorzischen, ein chinesisches Wort: „Ko-Mu-Nist."
Wirklich: ein chinesisches Wort.
Ein chinesisches Wort, das noch tausendmal chinesischer klingt, wie wir auf die Straße kommen und die kleinen Zeitungsverkäufer ausrufen hören:
„Wetschernaja Moskwa ... ! Rabotschaja Moskwa ... ! Iswestija ... ! Prawda ... ! Pobjeda kantoncew w Kitaje... Sieg Kantons in China! Die Kantonesen stürmen Hankou ... !"
Kreischend pressen die Bremsen sich an die Räder, zwingen sie zum Einhalten. Aus den Waggons quillt der schwarze Strom der Reisenden auf den Bahnsteig und vermischt sich mit dem bunten Gewimmel der Bäuerinnen, die zur Station gekommen sind, um den Passagieren des Zuges Moskau-Tiflis ihre Waren anzubieten: gebratene Hühner, Piroschki, Melonen in allen Größen und Formen, Gurken, Äpfel, Milch in kleinen, bauchigen Tonkrügen, Käse in länglichen Laiben, kupferig schimmernde geräucherte Fische, aus deren weitaufgesperrten Rachen dunkle Hölzer hervor starren, Butter in Bastkörben, auf grüne Blätter gebettet, süße, mit Früchten gefüllte Kuchen, weißes und schwarzes Brot...
Die Luft ist erfüllt von den lauten Rufen der Bäuerinnen, von dem Feilschen der Reisenden, von den tausend Gerüchen, die aus Körben, Krügen, Eimern und Schüsseln aufsteigen, von dem schweren, süßen Duft frisch gemähten Grases, der in trägen Schwaden von den Wiesen herüberzieht, die sich hinter dem niedrigen Stationsgebäude in unendlicher Weite nach rechts und links hin ausdehnen. Sonne. Buntheit. Bewegung.
Du stehst; schaust; ziehst den Duft ein.
Die Wärme legt sich dir um den Hals wie ein schmeichelndes Fell, verquirlt die Farben vor dir zu einem einzigen, buntscheckigen Klecks. Mit einem Mal sagt eine Stimme hinter dir: „Achtung, Genosse, Ihre Taschen ... !" Du schrickst auf, deine Hände machen mechanisch die schon gewohnte schützende Bewegung nach den Rocktaschen hin. Dann erst drehst du dich um, siehst den Warner (es ist der alte Eisenbahner aus Tuapse, der seit Moskau mit dir im selben Abteil fährt und vor dem Schlafengehen immer erst nachsieht, ob du, unerfahrener Ausländer, dir dein Lager auch richtig weich und bequem zurechtgemacht hast) und siehst auch die „Gefahr", vor der er dich gewarnt hat; einen kleinen, barhäuptigen, unglaublich schmutzigen Jungen, mit rissigen, kotigen Beinen und verfilztem Haar, dessen Lumpen wie Fahnen im Winde flattern. „Unser Besprisorny (Anm.: elternlose, obdachlose Kinder - ein Erbteil der Kriegs- und Bürgerkriegsjahre)... !" „Unser...?"
„Ja ... er fährt nämlich im selben Waggon wie wir ... das heißt: nicht im Waggon, sondern unter ihm ..." Und meiner erstaunten Frage zuvorkommend: „Auf dem Wagengestell nämlich, zwischen den Rädern ... man fährt ganz gut dort ... Übrigens fährt unser Besprisorny nicht allein. Vorn unter dem Postwagen hängt ein zweiter, und irgendwo hinten fahren noch zwei mit ..." Im Abteil dann, während der Zug schon wieder fährt, erzählt der Tifliser Lehrer, der uns gegenüber liegt: „Kein Zug, der im Herbst nach dem Süden abgeht, fährt ohne blinde Passagiere. Die Besprisornys sind wie die Zugvögel: wenn es kalt wird, machen sie sich nach wärmeren Gegenden auf. Die weniger Gewandten fahren auf den Lastwaggons, die Geschickteren ziehen Schnellzüge vor. Die Schaffner lassen sie in Ruhe. Wozu sich ihrer Rache aussetzen? Dafür bestiehlt kein Besprisorny einen Eisenbahner ... auch der Vagabund hat Ehrengrundsätze ... Übrigens schicken sie auch Dokumente zurück, wenn sie welche in erbeuteten Brieftaschen oder Gepäckstücken finden. An das Zentralkomitee der Partei zum Beispiel kommen täglich mit der Post Parteilegitimationen an, die Besprisornys in die Hände gefallen sind ..." Jemand fragt: „Sind ihrer viele?"
„Eine ganze Armee ... Jeder von ihnen ist schon ein dutzendmal eingefangen, gewaschen, geimpft und in eine der schönen Kinderkolonien gesteckt worden, die von der Sowjetregierung für obdachlose Kinder geschaffen wurden. Und jeder, den man auf der Eisenbahn oder in den Städten trifft, ist wieder aus der Kolonie durchgebrannt. Nicht alle der in die Kinderkolonien Gebrachten bleiben dort, manche halten das geregelte Leben nicht mehr aus; das Vagabundendasein mit seinen Diebesabenteuern, seinem Kampieren in Heuschobern und unter Brückenbogen, seinen Schwarzfahrten, seinem Herumstrolchen in großen Städten und auf weiten Landstraßen ist ein zu lockender und vor allem ein bereits zu sehr zur Gewohnheit gewordener Reiz für sie, die seit den Hunger- und Bürgerkriegsjahren ohne Eltern und ohne Zuhause sind und der Armee der Besprisornys schon seit langem angehören ..." Das dröhnende Rattern des Zuges übertönt die Worte. Am Fenster fliegen die Eisenkonstruktionen einer langen Brücke vorbei. Wie eine breite Säbelklinge glänzt ein Fluss auf und verschwindet wieder.
Ob man dort unten zwischen den Rädern auch schlafen kann ... ?
„O ja, warum denn nicht? Nur festbinden muss man sich, um nicht hinunterzufallen ..."
Und der alte Eisenbahner erzählt von vielen Nächten, die er schlafend auf dem Rahmengestell eines Eisenbahnwaggons verbracht hat. Im Bürgerkrieg, als selbst auf den Puffern kein freies Plätzchen zu finden war. Ein dritter - schweratmig, pausbackig - mischt sich ins Gespräch, entsetzt sich über eine Jugend, die es vorzieht, sich unten zwischen den Rädern einzunisten, anstatt... Der Eisenbahner beginnt eine lange Schauergeschichte von waghalsigen Schwarzfahrern und gruseligen Unglücksfällen zu erzählen und weidet sich an dem Entsetzen des Pausbackigen.
Dann hält der Zug, und wir sehen wieder unseren Besprisorny, diesmal mit seinen drei Reisekameraden. Sie hocken auf der Erde und teilen irgendetwas: Früchte oder Brotstücke. Bevor der Zug sich wiederum in Bewegung setzt, verschwinden sie mit affenartiger Behändigkeit unter den Waggons.
Wieder spricht der Tifliser Lehrer von dem Leben der Besprisornys; von den Anstrengungen der Regierung und Partei, dieser Gefahr — „und die Besprisornys sind eine Gefahr, Genosse, bedenken Sie doch nur, was in zehn Jahren aus dieser Armee junger Strolche werden muss, wenn man sie nicht an Disziplin und Ordnung gewöhnt?!" -, von der Arbeit der jungen Pioniere, die das Patronat über die Besprisornys übernommen haben und deren Abteilungen in den einzelnen Bezirken tätig sind, sich bemühen, die jungen Landstreicher erst einmal in das Pionierlager zu bekommen, dann an das Lager zu gewöhnen, an die Pioniergruppe, schließlich an Organisation und Disziplin überhaupt; von dieser Arbeit, die unendlich mühselig und entmutigend, weil voller Misserfolge, ist, die aber nicht aufgegeben, sondern mit wachsender Zähigkeit fortgesetzt wird und trotz aller Rückschläge ihr Ziel erreichen wird, weil in ihr der gleiche sieghafte Elan lebt, wie in der Arbeit der Elektroingenieure in Mingrelien, im wildesten Kaukasus, und in den Bemühungen der Wanderlehrer in Buchara...
Er spricht lange, solange, bis die Nacht hereinbricht, die Nacht, die in dieser Steppengegend plötzlich, wie aus dem Hinterhalt, die Erde überfällt, die Gegend draußen verschluckt, dass nur der Zug, nur der eine breite, spärlich erleuchtete Waggon in der großen, schwarzen Leere übrigbleibt...
Am nächsten Tag sehen wir unseren Besprisorny erst gegen Mittag. Er geht mit langsamen Bewegungen quer über die Schienen und raucht einen Stummel. „Hallo ..."
Er versteht sofort und stellt sich in Positur: Paul knipst. Unser Besprisorny macht eine gravitätische Verbeugung und streckt gleichzeitig die Hand vor. Lachend gebe ich ihm ein Fünfkopekenstück. Er dreht die Münze zwischen den Fingern hin und her, verzieht das Gesicht. „Ech..."
In weitem Bogen fliegt das Kupfer in den Sand des Bahnsteigs.
„Fünf Kopeken geben Sie mir für mein Gesicht, Bürger ... wissen Sie, was das ist? ... Das ist schäbige Exploitierung, Ausbeutung eines arbeitenden Menschen, habgierige Bereicherung auf Kosten der werktätigen Masse, das ist ..." Und ohne mir Zeit zu einer Entgegnung zu lassen, schleudert er mir - ganz Volkstribun vor versammelter Menge -die Blitze seiner Beredsamkeit entgegen. „Sie, Bürger, der Sie offenbar einer jener wenig vertrauenswürdigen Ausländer sind, die ihre Nase in alle unsere Angelegenheiten stecken wollen; Sie, deren Freund einen höchst verdächtigen Fotoapparat mit sich führt, auf den man eigentlich den Genossen Agenten von der GPU - er ist doch nicht etwa in der Nähe? - aufmerksam machen müsste, weil er, nämlich Ihr Freund, der außerdem eine karierte bourgeoise Mütze und eine konterrevolutionäre Hornbrille trägt, wahrscheinlich einer dieser verdammten englischen Spione ist, die herüberkommen, um unseren herrlichen Sowjetverband, diesen stolzen Hort der Ausgebeuteten der ganzen Erde, an die blutgierigen Imperialisten Amerikas, Australiens und Englands zu verraten; Sie, der Sie selbst einen rot und gelb gestreiften Wollsweater tragen, von der Art, wie sie bei uns nicht erzeugt werden, sondern aus dem uns feindlich gesinnten Ausland eingeführt, oder mit großer Lebensgefahr von unseren wackeren Sowjetschmugglern über die Grenze geholt werden müssen; Sie, der Sie einen Apfel schälen, bevor Sie ihn essen, was ein Zeichen bürgerlicher Verweichlichung und eine Verhöhnung des arbeitenden Volkes ist; Sie, dessen Koffer mit einem Kettchen an das Gepäckbrett angemacht ist - leugnen Sie nicht, ich habe es mit eigenen Augen gesehen -, und dessen (nämlich des Koffers) ausländische Schlösser mit unseren gewöhnlichen Drahthaken nicht zu öffnen sind, woraus hervorgeht, dass der Inhalt dieses Koffers das Tageslicht zu scheuen hat ... Sie also, der Sie nur durch ein Wunder noch nicht hinter Schloss und Riegel sitzen, wagen es, mir mein Gesicht für fünf Kopeken abkaufen zu wollen, um es den tückischen englischen Lords und herzlosen amerikanischen Dollarkönigen zu bringen, die uns vernichten wollen ... Sie wollen mich, wollen einen Besprisorny kaufen, aber ... (und hier schlug er eine höhnische und triumphierende Lache an, in der seine ganze grenzenlose Verachtung und sein ganzer unbeugsamer Stolz brannten) ... aber Sie haben sich verrechnet: einen Besprisorny kann man nicht kaufen, einen Besprisorny kann man nicht für die englischen Geldsäcke und die amerikanischen Banken gewinnen, denn in seiner Seele wurzelt das Bewusstsein seiner Klasse, und in seinem Herzen loht die Fackel der Revolution..."
Das Abfahrtsignal unterbrach seine Rede. Alles hastete zu den Wagen. Nur der Besprisorny verließ die Stätte seines Sieges langsam und in gemessener Ruhe; nicht, ohne vorher das Fünfkopekenstück aufgelesen zu haben.
Wir saßen an Deck des „Ignati Sergejew", an der „Reling", wie es im Matrosenjargon unvergessener Seemannsgeschichten hieß (in der Botanikstunde unter dem Pult gelesen: - bis heute weiß ich den Unterschied zwischen Sporen- und Samenpflanzen nicht, wohl aber, was eine Ankerklüse, ein Oberbootsmannsmaat, ein Fallreep und eine Kombüse ist!) -, wir saßen also an der Reling, ließen uns von der Sonne bescheinen und von Garben feinster, durch die schnelle Bewegung des Bugs empor geschleuderter Tröpfchen übersprühen; wir blinzelten zu den Delphinen hinüber, die das Schiff schon seit Stunden begleiteten- immer in Zickzackbahnen unter dem Kiel durch und wieder zurück, dabei von Zeit zu Zeit über die Wasseroberfläche emporschnellend; wir knabberten an kleinen Stückchen unsagbar harten, unsagbar geschmacklosen Schiffszwiebacks; schätzten die Schnelligkeit des „Ignati Sergejew" an der Geschwindigkeit ab, mit der ein grüner, kaum kilometerweit von uns entfernter Uferstreifen sich vor uns abrollte; lasen eine Weile, ließen aber sehr bald das Buch sinken und blinzelten wieder zu den Delphinen hinüber, zu dem grünen Uferstreifen, zu den kaum merklichen Wellenstrichen auf der grünsilbernen Platte, die eigentlich Schwarzes Meer hieß und gestern Abend noch - in Batum — ein grollendes, unheimliches, dunkles Abenteuer gewesen war, das Seekrankheit und Schiffbruch verheißen hatte... Rundherum Stille.
Nur das Wasser zischt unter dem Messer des Bugs. Es ist noch früher Morgen - wenige Menschen an Deck. Nach und nach tauchen immer mehr Passagiere aus den Luken empor, räkeln sich, lehnen sich an die Reling, schauen den Fischen zu.
Vorn, unter dem Sonnensegel, baut ein Kolporteur seinen Stand auf. Passagiere schlendern hin, kommen wieder zurück, in den Händen Zeitungen, Bücher. Eine ganze Menge von Leuten sitzt schon lesend um mich herum. Ich stehe auf und gehe nach vorne. Da ist der „Buchladen". Auf zwei Tischen hat der Kolporteur seine Bücher und Zeitungen ausgelegt. „Wünschen Sie etwas Bestimmtes, Genosse?" Er trägt einen enganliegenden, kaukasischen Rock mit vielen kleinen Täschchen für Patronen. Am Gürtel hängt ein kleiner Dolch. „Die richtige Ausstaffierung für einen Buchhandlungsgehilfen!" fährt es mir durch den Kopf, während ich dankend ablehne.
„Nein, ich suche nichts Bestimmtes, möchte nur ein bisschen in den ausgelegten Büchern herumblättern. Darf ich...?"
Er macht eine einladende Handbewegung, die gleiche Handbewegung, die der Pariser Bouquiniste am Seineufer, gegenüber von Notre Dame, macht, wenn ein Fremder mit schüchterner Frage an ihn herantritt. Seltsam, was es da in dem „Buchladen" an Bord des „Ignati Sergejew" alles gibt. Neben Lenins „Imperialismus" und Marxens „Kapital" liegt ne alte Scharteke über die Schädlichkeit des Tabakgenusses und eine Jargonbroschüre über „Juden und Krimprojekt". Und mitten unter den russischen ein deutsches Buch - „Die Leiden des jungen Werther". Ich schlage das Buch auf, lese auf der ersten Seite eine halbverwischte Widmung: „Meinem lieben..." das Weitere ist unlesbar. Dann noch ein Datum... „Juni 1913". „Sie sind Deutscher?"
Ich blicke auf. Neben mir steht ein junger, hochgewachsener Mann mit orientalisch geschnittenem Gesicht. Er weist auf das Buch in meinen Händen und meint erklärend, entschuldigend:
„Ich sah, wie Sie nach dem deutschen Buch griffen... da habe ich etwas wie Heimweh nach Deutschland bekommen..." Er lacht. Ich lache.
Bald ist ein Gespräch im Gange.
Er ist Türke, aus der Gegend von Trapezunt, also nicht Sowjetbürger. Arbeitet hier als „Spez", als Bergingenieur, im kaukasischen Naphthagebiet. Nicht lange, ein Jahr erst. Vorher war er in Deutschland: Berlin, Frankfurt, Darmstadt. Hat dort studiert und wollte dort bleiben, aber... „Aber in Deutschland gibt es viel zu viele stellungslose Bergingenieure... und dann: mein Spezialfach ist Erdölbohrung, und damit ist in Deutschland nicht viel zu machen. Nach Amerika aber wollte ich nicht." Warum er dann nicht ins türkische Ölgebiet gegangen sei. Nach Mossul. Dort müsste es doch für einen türkischen Ingenieur Arbeit in Fülle geben...
Gäbe es auch, wenn nur die Engländer nicht die ergiebigsten Quellen an sich gebracht hätten und überhaupt „Alles gehört ihnen: Quellen, Bohranlagen, Röhrenleitungen, Kesselwagen, Eisenbahnen, Ölgesellschaften... Alles, und sie lassen keinen Türken hochkommen... in
Mossul nicht und in Südpersien, wo sie ebenfalls auf den weichsten Plätzen sitzen, auch nicht... offenbar fürchten sie sich vor uns..." Er lacht.
Aber in dem Lachen klingt ein fremder Unterton mit, und seine Augen haben einen drohenden, harten Glanz. Einen Glanz, der nicht misszuverstehen ist, der „Hass" heißt. Ich kenne diesen Glanz und diesen drohenden Unterton in der Stimme. Ich kenne ihn von dem chinesischen Studenten aus der Provinz Hobee her, den wir in der Sun-Yat-Sen-Universität getroffen haben, von den vielen anderen Chinesen, mit denen ich über ihre Heimat und England gesprochen habe, von den indischen Emigranten, denen ich in Berlin begegnet bin - sie hatten die Heimat verlassen, um in der fremden Kälte nordischer Städte Nationalökonomie zu studieren -, ich kannte ihn von den Arabern her, mit denen ich im Vorjahre einige Tage lang zusammen gereist war. „Ja, England..." Und dann fragt er plötzlich: „Glauben Sie an einen neuen Weltkrieg?" Antwortet selbst, bevor ich noch den Mund auftue: „Ich, ja..., ich und alle bei uns zu Hause..." Dann - nach einer Weile Schweigens - wechselt er das Thema. Fragt, ob ich vor kurzem in Deutschland war. Wie es dort aussehe, was es Neues gebe. Ich versuche, so gut ich kann, seine Wissbegier zu befriedigen.
Dann frage wieder ich:
Wo er denn arbeite. Ob hier etwa, in der Sowjetunion. Vielleicht in Baku selbst? Ja, in Baku.
„Die Bolschewiken brauchen immer noch ausländische Ingenieure, decken den Bedarf an Ingenieuren noch immer nicht aus eigenem, obwohl es jetzt mehr Hochschulen und Studenten gibt, als zur Zarenzeit, viel mehr..., aber der Bedarf ist zu groß, überall braucht man Ingenieure. Und dann - die Produktion wächst sehr schnell. Wir in Baku zum Beispiel, in der Naphthaindustrie..."
Und er sprudelt eine Zahlenkaskade hervor, die selbst mein während des Aufenthaltes in der Sowjetunion an Zahlen und Statistiken gewohntes Ohr überrumpelt.
Als er endlich - erschöpft - innehält, frage ich ihn, ob er Kommunist sei.
Er antwortet mit einer Gegenfrage: warum ich glaube, dass er einer sei.
Nur so..., weil er mit solcher Begeisterung von den Fortschritten der Sowjetindustrie gesprochen habe. Da lacht er:
„Habe ich das...? Aber das war keine kommunistische Begeisterung, das war lediglich Freude am technischen Fortschritt, an zielsicherer Leitung, an großangelegtem Aufbau, an Energie, Ausdauer, Tüchtigkeit und dass die Bolschewiki energisch, ausdauernd und tüchtig sind, wird selbst ihr Feind zugeben... aber Kommunist bin ich darum noch lange nicht..."
Dass er wirklich keiner war, merkte ich bald darauf selbst, als er - dem Gespräch eine neue Wendung gebend - darüber zu jammern begann, wie langweilig es hier sei: „Wissen Sie, wenn man lange in Europa war und lustig gelebt hat nicht einmal tanzen kann man hier, sie haben die modernen Tänze verboten..." Er macht ein so trübseliges Gesicht, dass ich lächeln muss. „Und wie unterhalten sich die Leute denn hier, wenn das Tanzen verboten ist?" kann ich mich nicht enthalten zu fragen.
Er aber merkt den Spott nicht und antwortet mit verbissenem Eifer:
„Wie sie sich unterhalten?... Sie debattieren oder lesen, trinken Tee und debattieren die Nächte durch; nirgendwo wird so viel debattiert und gelesen wie hier... Schauen Sie sich doch nur die Passagiere auf dem Hinterdeck an, zum Beispiel: jeder hat ein bedrucktes Papier vor der Nase..."
Und nach einer Weile:
„Es ist manchmal zum Verzweifeln..."
Ich kann das Lachen nicht mehr zurückhalten und platze los. Er bricht kurz ab, scheint verstimmt. Gleich darauf aber lacht er selbst mit.
„Kommen Sie, kommen Sie mit nach hinten. Wir wollen den Delphinen zuschauen, - die wenigstens dürfen noch tanzen..."
Zwischen Vorderdeck und Heck gibt es noch einen zweiten „Verkaufsstand". Auch hier: Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren, daneben aber auch Zigaretten, Ansichtskarten und Marken. Mein türkischer Freund bleibt vor dem Tischchen stehen.
„Hier, hier sehen Sie am besten, mit welcher Ehrfurcht man bedrucktes Papier behandelt... Zigaretten verkauft man zu höheren als den staatlich festgesetzten Preisen, und selbst für Briefmarken, wenn man sie beim Straßenhändler und nicht auf dem Postamt kauft, wird oft ein Agio gefordert. Aber Zeitungen... Zeitungen kosten nie mehr, als sie kosten sollen. Niemals. Ich habe in dieser Sache meine speziellen Forschungen getrieben, und das Ergebnis war in allen Fällen gleich: Marken musst du oft teuerer bezahlen, Zeitungen aber nie..."
Sprach's und zahlte für eine „Prawda" fünf Kopeken, wie sich's gehörte, und für eine Schachtel Zweikopekenzigaretten fünfundfünfzig statt fünfzig...
Die schmalkörperigen Zypressen auf den Hängen der Uferberge von Synope - schlanke Pfeiler, höher als unsere Pappeln - neigen ihre Spitzen unter dem Streicheln des landeinwärts wehenden Abendwindes. Die breitkronigen Fächerpalmen - gravitätische Fliegenwedel orientalischer Märchensultane - werden griesgrämig grau. Die glutroten, heißen Blüten der mannshohen Kakteen - wollüstige Augen missgestalteter Ungetüme -, schließen sich langsam. Die exotische Pracht des subtropischen Parks -früher streng bewachter, dem gewöhnlichen Sterblichen verschlossener Großfürstenbesitz, jetzt allen zugänglicher, von Kindern und erholungsbedürftigen Arbeitern bevölkerter Nationalpark der abchasischen Sowjetrepublik -verschleiert sich mit den Schatten der Dämmerung. Dunkel liegen die Hänge da, und du unterscheidest nicht mehr die ewig unruhigen, immer sich wiegenden Rohre des Bambuswäldchens, die metallisch schimmernden Eukalyptusstämme, die phantastische Vielfältigkeit der Farnwedel (bald breitlappig, bald gefiedert), die weißen, aus reifen Fruchtkapseln hervorquellenden Rübezahlbärte der Baumwollstauden, die weichhaarigen Büschel japanischer Sumpfgräser...
Unten am Strand ist es noch verhältnismäßig hell, wenn auch der milchige Smaragd des Wassers zu dunkelfarbenem Erz geworden ist. „Hallo!"
Pjotr Ossipowitsch, der den ganzen Tag mit uns hier draußen verbracht hat, der uns den Park zeigte und mit
uns badete, steht oben auf der Straße, die zwischen Strand und Uferbergen dahin läuft, und winkt uns.
„Hallo! Seid ihr fertig? Es wird regnen..."
Wir stehen auf. Die trunkene Müdigkeit eines in Sonne und Meerwasser verbrachten Tages liegt im Blut und macht die Glieder schwer. Die Sohle tritt erst auf die knirschende Härte unzähliger rundgewaschener Steine, dann auf die mehlige Weiche des spannhoch liegenden Straßenstaubs. „Es wird regnen..."
Pjotr Ossipowitsch weist auf die kleine Wolke im Osten, die allmählich wächst und näher kommt. Vom Strand her klingt der - schneller gewordene - Rhythmus des mit den runden Steinen spielenden Wellenschlages herüber. Die Straße mündet nach beiden Seiten in dunkle Unbegrenztheit. Irgendwo in der Ferne glimmen die Lichter von Suchum-Kaleh. „Vorwärts...!"
Die Wolke beschleunigt ihren Flug und frisst immer mehr von dem helleren Blau des Himmels.
„Ob wir trocken nach Hause kommen?"
Ein zweirädriger Karren überholt uns.
„Hallo...!"
Vorn sitzt ein Alter mit verfilztem Bart, eine junge Frau, ein kleiner Junge. „Ach...?"
Der Karren verlangsamt die Fahrt. „Fährst du nach Suchum, Onkelchen?" „Suchum... ja..."
„Und hast nichts aufgeladen... könntest uns mitnehmen... es wird regnen."
Der Alte brummt etwas, fährt noch ein Stückchen weiter, so dass wir schon glauben, er wolle uns nicht mitnehmen, hält dann. Wir kommen heran.
„Wie viele seid ihr denn?... Vier?... Na, auf einen mehr kommt es nicht mehr an... Klettert herauf...!" Der Raum ist klein, aber wir finden doch alle Platz. Ich sitze hinter dem Alten. Meine Beine baumeln über die Seitenwand des Karrens hinunter.
„Ohu..."
Die Pferde - zwei zottige, kleine Tiere - setzen sich in Trab. Der Karren rüttelt und schüttelt.
Schweigen. Nur von Zeit zu Zeit ein rauer, aufmunternder Laut, ein Klatschen der langen, gleichzeitig als Peitsche dienenden Zügel.
Die Kegel der Zypressen zu beiden Seiten der Straße rauschen im Wind.
„Das sind Bäumchen, was..." sagt der Alte, zum ersten mal das Schweigen brechend, „das sind Bäumchen... was?... Höher als Kirchtürme... ja..." Die Hänge der Uferberge rücken näher an die Straße heran. Aus dem Dunkel des Laubes leuchten die hellen Fenster der Erholungsheime hervor, der Bauernsanatorien, der Gewerkschaftssanatorien. „Hou... schneller...!"
Ein erster, schwerer Tropfen zerstiebt klatschend auf dem Holz des Karrens.
Der Alte wendet sich mir wieder zu:
„Das sind noch Bäume... aber wer pflanzt so was heute noch?... Wer gibt sich heute noch mit so was Mühe...?
Früher, ja... da hat man noch ehrlich gearbeitet... etwas zustande gebracht... aber jetzt...?"
Die Pfeife ist ausgegangen und muss neu gestopft werden.
Der Alte verstummt, klopft sie umständlich aus, säubert sie und stopft sie wieder. Dann erst setzt er das Gespräch fort.
Ja, das sei eine andere Art Arbeit gewesen, damals, als er noch jung war... da habe er selbst Bäume gepflanzt...
kaum mannshoch waren sie damals -, die jetzt so groß seien, wie die, an denen wir eben vorüberfuhren.
Damals - das ist sechzig Jahre her.
Und - meiner Frage zuvorkommend:
„Sechsundsiebzig bin ich heute..."
Damals war er sechzehn. Aber arbeiten konnte er schon wie ein Erwachsener. Es war auch notwendig. Der Vater war erst kurz zuvor aus dem Archangelsker Gouvernement hierher ausgewandert, aus dem kältesten Norden in den sonnigsten Süden... und es musste tüchtig geschuftet werden, um das Anwesen in die Höhe zu bringen. „Aber wir haben es geschafft... War das schönste Anwesen im Bezirk..."
Der Alte erwärmt sich, beginnt schneller zu sprechen. Da kommt wieder etwas dazwischen. Er muss die Pferde anhalten. Ein Weg kreuzt die Straße, und ein seltsamer Zug, der auf diesem Wege aus einer unbekannten, schwarzen Ferne gekommen ist, hat soeben die Straße erreicht und überquert sie. Zuerst kommen zwei kleine Jungen mit Holznäpfen in den Händen (Salz und Korn ist darin, wie ich später erfahre); dann ein paar alte Weiber in zerfetzten Kleidern, heulend und jammernd; dann eine kleine Musikbande, die unbekannten Instrumenten langgezogene, wimmernde Töne entlockt; dann - auf Menschenschultern schwankend - ein Sarg, und hinterher, im dichter werdenden Regen nur undeutlich sichtbar, weinende Kinder, Frauen, stumme, gravitätische Männer in enganliegenden Röcken und breiten Pelzmützen. Das ganze wie ein Spuk, wie ein Geisterzug aus Regen und Dämmerung auftauchend und in Dämmerung und Regen verschwindend. „Oho...! ... Hou...!"
Die Pferdchen ziehen an, der Karren rollt weiter. Auch das Gespräch kommt wieder in Fluss.
„Und schließlich... Fast war die ganze Plackerei, alle Arbeit für die Katz... die ganze Arbeit..."
„?"
Ja... die Soldaten seien gekommen, hätten geplündert und dann Feuer gelegt. „Im Bürgerkrieg?" „Ja..."
Ein Glück nur, dass sie so wenig Zeit hatten, nicht nach Vergrabenem suchen und auch gar nicht ordentlich Feuer legen konnten. „Weiße?"
„Ja... die Bolschewiken waren hinter ihnen her, wie die Teufel... wir konnten löschen, bevor es zu spät war."
„Also mit einem blauen Auge davongekommen?"
„Ja, so halbwegs..."
„Und jetzt... wie geht es jetzt...?"
„Es würde ja gehen..."
Er unterbricht sich, misstrauisch, vielleicht auch etwas abergläubisch (nur nicht sagen, dass es einem gut geht! Und überhaupt: warum will der Kerl wissen, wie es mir geht?), entscheidet sich dann aber für die Annahme, dass ich ein unschädlicher Fremder sei und er seine „Unvorsichtigkeit" ja noch gutmachen könne und legt los: „Es würde ja vielleicht ganz gut gehen, wenn nur nicht..." Kurzum: erstens seien die letzten Ernten nicht besonders gewesen, dann die Steuern, drittens die teueren Industrieartikel, viertens... fünftens... sechstens... „Und endlich die Bolschewiki..."
Das letzte Wort ist ihm sichtlich wider seinen Willen herausgerutscht. Er verstummt.
Da dreht sich die junge Frau, die bisher schweigend neben ihm gesessen hat, um und sagt mit leichtem Spott in der Stimme: „Vater ist mit den Bolschewiki unzufrieden, weil sie die armen Bauern im Dorf aufhetzen, wie er sagt." Der Alte macht eine erschrocken-ärgerliche Bewegung, als wolle er sie unterbrechen, protestieren, widersprechen. Sie aber lässt es nicht zu, duldet keinen Widerspruch, redet hastig weiter - jetzt ist schon kein Spott mehr in der Stimme, sondern Eifer, Erregung:
„Lass! - Ich weiß, was du sagen willst: dass du gar nicht gegen die Bolschewiki bist, sondern nur dagegen, dass sie so viele Versammlungen abhalten - die Leute von der Arbeit weglocken, pflegst du zu sagen -, dass sie ihre Agitatoren in die Dörfer schicken und die armen Bauern organisieren, dass sie im Dorfsowjet gegen die Kulaken auftreten und eine Kooperative gegründet haben, dass sie euch mehr Steuern abnehmen, als den Kleinbauern, und dass sie, dagegen bist du am meisten, eine Schule für Erwachsene aufgemacht haben und sie lesen lehren... ja, dagegen bist du am meisten, weil du Angst vor der Zeitung hast und fürchtest, dass die Kleinbauern und Knechte, wenn sie lesen gelernt haben und allein Zeitung lesen können, alle Bolschewiki werden..." Sie bricht ab, schweigt.
Der Alte hat sich gleichsam zusammengerollt wie ein Igel. Wieder kreuzt ein Weg die Straße. Wieder hält der Karren.
„Wir fahren rechts weiter... Wenn ihr nach Suchum wollt, müsst ihr hier absteigen..."
Wir klettern vom Wagen. Ich gehe um ihn herum, um das Gesicht der Frau zu sehen: ihre Worte haben mich neugierig gemacht. Sie ist jung, ein Mädchen, kaum achtzehn Jahre alt. Wie ich nähertrete, sehe ich das Komsomolabzeichen auf ihrer Bluse. „Auf Wiedersehn, Genossin...!" „Wie? Sie sind Kommunist...?" Der Alte schnalzt mit der Zunge.
„Auf Wiedersehn... und sehen Sie zu, dass die Leute bald das Zeitunglesen lernen..." „Unbesorgt... werden sie!"
Und dann, während der Wagen schon auf den Nebenweg einbiegt:
„Übrigens, wenn sie auch das Alphabet noch nicht alle können, das Einmaleins können sie alle... wissen, dass acht Stunden Arbeit weniger sind als zwölf, und dass die Sowjetsfeuern nur halb so hoch sind wie die früheren..." Der Wagen verschwindet in der Dunkelheit. Auch das Rasseln wird bald von ihr verschluckt. Unfern blinzeln verschlafen durch den Regen die Lichter von Suchum-Kaleh.
Grün und sandfarben wölbt sich die kleine Halbinsel vor. Das Meer - stahlblau mit silbernen Spiegeln — umschließt sie sichelförmig, schärft seine Schneide an den tausend und tausend kleinen runden Steinen, deren Klingeln und Klappern wie die Musik der Sensensteine vor der Mahd klingt. Wenn der Wind plötzlich aufspringt, verschwinden die Silberspiegel und der blaue Stahl wird nachtfarbener Onyx. Dafür versilbert er die Gräser, wie er sie vor sich zur Erde beugt.
Dann verschwindet der Wind irgendwo drinnen im Land. Das Gras wird wieder grün, das Wasser stahlblau und silbern. Sonne. Sonne.
Seegeruch in der Luft: Tang, Teer. Salzgeschmack auf den Lippen.
Eine Horde kleiner, nackter Jungen - eine Schule mit ihrem Lehrer; sie haben uns vorhin auf der Straße überholt - tollt im seichten Wasser. Spritzt. Kreischt. Ihre Sprache klingt fremd und doch wieder bekannt, als wollten die Worte im Vorbeifliegen den Vorhang eines Sich-nicht-erinnern-könnens lüpfen und etwas Altbekanntes, Längstvertrautes zeigen. „Wie sprechen sie nur?"
Da kommt einer von ihnen - braungebrannt wie eine Kaffeebohne - ganz nahe heran gerannt, hält dann plötzlich an und ruft, die Hand gegen die schimmernde Sichel ausgestreckt etwas aus. Das letzte Wort: „Thalassi..." „Griechisch!" sagt Paul und setzt sich auf. „Neugriechisch! Thalassi, das klassische Thalatta (Anm.: (griech.) = Das Meer.)..." Und: „Griechisch, ganz richtig!" sagt eine Stimme, und wie wir aufsehen, steht der junge Student da, der gestern mit uns von Batum gekommen ist und etwas Deutsch spricht. (Eliawa heißt er, oder so ähnlich - Elly aber nennt ihn Ali Baba, weil er „so räubermäßig" aussieht in seinem kaukasischen Rock mit den Patronentäschchen und der hohen Pelzmütze.) Er setzt sich zu uns. „Wussten Sie nicht, dass es hier einige zehntausend Griechen gibt?" „?"
„Ja, von den 50000, die in Georgien leben, haben wir hier in Abchasien mehr als die Hälfte. Tabakbauern zumeist. Vor dem Krieg wurden nämlich hier die besten „ägyptischen" Tabaksorten gezogen und nach Alexandria verschifft..."
„So, also Griechen habt ihr hier eine ganze Menge..." „Nicht nur Griechen." „Sondern auch...?"
„Nun, Abchasier natürlich, dann Georgier, Armenier, Juden, aserbaidshanische Türken, Laren, Ossetier, Perser, Lesghier, Russen, Ukrainer..., sogar Letten, ja ein paar lettische Dörfer... 26 Nationalitäten im Ganzen." „Sechsundzwanzig — und — und —?" Vielleicht errät er, was wir fragen wollen, vielleicht weiß er, dass wir aus der Tschechoslowakei, dem Lande der Straßentafel- und Stationsschilderkämpfe kommen: „Und sechzehn von ihnen haben ihre eigenen nationalen Schulen, die übrigen sind zu sehr zersplittert oder zu wenig zahlreich..."
Und nach einer Weile:
„Das war das erste, was wir machten, sowie wir nur ein wenig Luft hatten. Wir wussten nur zu gut, was es heißt, keine Schulen haben zu dürfen, als Nation nicht frei zu sein..."
Und dann erzählt er von den Zeiten der nationalen Unterdrückung der Abchasier durch den russischen Zarismus und von den Hoffnungen, die die Demokratie der georgischen Menschewiki erweckte.
„Bis wir dann merkten, dass die georgischen Menschewiki um nichts besser waren als die zaristischen Russen: jetzt wurde mit gleicher Brutalität georgisiert, wie vorher russifiziert worden war... Nein, frei, wirklich frei sind wir erst geworden, seit die Bolschewiki oben sind." Er gerät in Feuer. Erzählt - selbst einer der ihren - von der Arbeit und den Zielen jener ersten Generation einer abchasischen Intelligenz, einer Intelligenz, deren Hände hart und deren Haare oftmals schon angegraut sind; die aber jung ist, jung wie der Staat, den sie mit allen Fasern ihres Herzens liebt, und an dessen Entfaltung sie mit einem Elan arbeitet, der stärker ist als die Malaria in den Küstenstrichen und die weglose Unzugänglichkeit der Gebirgstäler...
Dann steht er auf. Eine Stimme hinten, jenseits der Düne, hat schon zum zweiten Mal nach ihm gerufen. Wir schütteln ihm die Hand. Die Hufeisen seiner schweren Stiefel läuten noch eine Weile zu uns herüber.
Der kleine, kaffeebraune Hellene hat sich dort, wo der nasse Landstreifen sich an den helleren, trockenen anschmiegt, niedergekauert. Langsam knabbert er an einem großen Maiskolben. (Sie werden in flachen Körben von den Verkäufern den Strand entlang getragen: das Stückin Salzwasser gekocht - kostet vier Kopeken, und du darfst alle abgreifen, um dir den weichsten auszusuchen.) Die schmale Silhouette des Knaben zeichnet eine ganz kleine Scharte in den Sichelbogen des Meers.
Seit Stunden schon saßen wir eng aneinandergedrängt unter dem Leinwanddach des primitiven Autobusses der „Transkaukasischen Autoverkehrsgesellschaft". Der Motor brüllte und donnerte und fraß gierig das endlose Band der weißen Uferstraße in sich hinein. Staub erhob sich in dicken Säulen zu beiden Seiten des Gefährts. Es ist Abend.
Mit plötzlichem Ruck hält der Wagen. „Psyrzcha...! Nowi Afon...!"
Der Kopf ist noch ganz benommen von dem Dröhnen und Rütteln der Fahrt. Die Glieder aber genießen schon die Wohltat des Reckens und Dehnens. „Also das ist Nowi Afon...?!"
Ein schneller Blick überfliegt den kleinen Platz, zu dem sich die Straße geweitet hat; die Holzkioske des Autotrusts und der Schifffahrtsgesellschaft; die Landungsbrücke, die auf hohen Stelzen vorwitzig weit ins Meer hinausläuft; die wenigen niedrigen Häuser, das Postamt, die Kooperative, das lange, niedrige Gebäude mit der Tafel: „Kurverwaltung von Psyrzcha, Strandgasthof", die paar Menschen, die sich um das Auto versammelt haben..., und sucht dann nach dem Aufstieg zur Höhe des grünbewipfelten Berges, von dem Kuppeln und ein Kirchturm herunter winken.
„Also dies ist Nowi Afon...!"
Du wiederholst dir früher Gehörtes: Nowi Afon: neues Athos... jetzt abchasisch Psyrzcha... Gründung griechischer Mönche... verdankt einer Zarenlaune seine Entstehung... nachgeschaffen der berühmten Mönchsrepublik auf dem Berge Athos... seit der Vertreibung seiner kuttentragenden Bewohner Aufenthaltsort für Sommergäste, Gasthof der staatlichen Kurverwaltung. Ein kleiner, abgerissener Bengel, das himbeerfarbige Käppchen mit den buntgestickten Ornamenten auf dem Hinterkopf, bemächtigt sich unseres Gepäcks und spielt den Führer.
Die Kanzlei des „Strandgasthofes" befindet sich im Zimmer des ehemaligen Pförtners der Klosterherberge. Ein alter Mann mit Patriarchenbart - lebendiger Überrest einer vergangenen Zeit - zeigt uns unsere Zimmer. Die Sandalen schlürfen über die Fliesen. Ein ungefüger Schlüssel knarrt. Die Zimmer sind kahle, weißgetünchte Zellen. Durch das Fenster, vor dem die Riesentannenzapfen der Zypressenkronen aufragen, kommt mit dem warmen Abendwind ein wenig Tangduft herein. Unweit liegt der Strand, der Holzkiosk der Schifffahrtsgesellschaft, die stelzende Landungsbrücke. Man hört deutlich den Wellenschlag. Irgendwo in weitester Ferne vereinigen sich Wasser und Luft, und das Meer pflückt gierig den reifen Granatapfel der sinkenden Sonne vom Himmel. Um die Ränder der schwanenweißen Wolken fließt die Feuerschlange des Sonnenuntergangs und haucht ihren glutfarbenen Atem über die blaue Wölbung. Allmählich wird ihr Blut dick und blau, sie stirbt. Wir gehen die mit „Katzenköpfen" gepflasterte Straße hinan, die zum eigentlichen Kloster, zum jetzigen „Berggasthof" hinaufführt. Dunkel stehen die Zypressen zu beiden Seiten Wache, schauen auf die kleinen Kapellen nieder, auf deren Wänden ein verwaschener Christus sein Kreuz von Leidensstation zu Leidensstation trägt.
Irgendwo zweigt ein Seitenweg ab, auch er von Zypressenreihen gesäumt. Führt an einem kleinen Wasserfall vorbei zum Perlmutterspiegel eines eirunden Teiches, in dessen Wasser die tief niederhängenden Zweige der Uferbäume tauchen. Mitten im Perlmutter schwimmt der sichelförmige Mond und gibt der ganzen Landschaft die falsche Süße einer Ansichtskarte „aus dem Süden". Die Luft ist schwer vom Duft faulenden Holzes und dem Atem des unbewegten Wassers.
Über Steintreppen, die ein Läufer aus Moos fast ganz bedeckt, kehren wir auf die Straße zurück, nehmen die letzte Steigung. Vor uns steht die gelbe Mauer des äußeren Klosterhofes. Das Band der Straße verschwindet hinter dem braunen Torflügel, über dem eine Bauernmadonna ihr herbes, dunkles Gesicht linkisch zur Seite neigt, als schäme sie sich vor denen, die das Tor durchschreiten. Massig wachsen die Klostergebäude in die Höhe, überragt von dem gedrungenen Turm. Die Fenster der Kirche sind hell erleuchtet. Die Fenster der Kirche von Nowi Afon sind allabendlich hell erleuchtet, - denn die Kirche ist jetzt eine Gastwirtschaft, ihr Schiff Speisesaal, ihre Sakristei Küche. Man hat den Altar fortgeschafft, die schöngerahmten Ikone aus den Seitenkapellen weggenommen, das Weihwasserbecken entfernt. Sie führen jetzt zusammen mit Monstranzen, Messgewändern und Weihrauchgefäßen ein stilles Dasein im Klostermuseum.
Geblieben sind nur die Wandmalereien und die Kanzel, die - ein gravitätischer Storch - auf einem einzigen hohen, dünnen Bein steht.
Von der Kanzel herab dirigiert ein langhaariger Kapellmeister sein kleines Orchester, das mittags und abends aufspielt.
Von den Wänden schauen verwunderte Heilige auf das ungewohnte Bild herunter, auf die elektrischen Glühbirnen, die weiß gedeckten Tische, auf die flinken Kellner in kaukasischen Röcken, auf die schwatzenden, essenden Gäste. Schauen und werden aus all dem nicht klug, diese wohlgenährten, gütig blickenden Greise mit rosigen Bäckchen und schütteren Silberhaarkränzen um elfenbeinfarbene Tonsuren; diese hageren Fanatiker mit blutenden Wundmalen; diese ernsten Matronen und verzückt leidenden Jungfrauen; diese schlanken Jünglinge mit gekräuselten Locken und diese vollsaftigen Männer mit wohlgepflegten Bärten, die - seltsame Laune des Malers - karminrot gefärbt sind, wie die Nägel schöner Orientalinnen... Goldene Krummstäbe funkeln zu uns herüber und frisch geputzte Heiligenscheine; die drei Könige aus dem Morgenland breiten ihre Kostbarkeiten vor uns aus, und die bunten Gewänder der Hochzeit von Kana wetteifern mit dem Glanz des Diadems der Großmärtyrerin Warwara und dem Panzer Sankt Georgs des Siegreichen; hungrige Hände greifen nach einem unerschöpflichen Vorrat von Fisch und Brot, und sanfte, frischgewaschene Osterlämmchen betrachten mit der ihnen zustehenden De- und Wehmut die zerstückelten und knusprig braungebratenen Leiber ihrer unglücklichen Brüder, die als „Schaschlyk" oder „Baraschek" (Anm.:Lamm.) aus der Küche auf die Tische und von da in die Mägen hungriger Gäste wandern. Wir sitzen mitten im Saal, mitten drin in dieser wunderlichen Welt voll Heiliger und Sünder. Vor uns auf dem Tisch leuchten aus den Bastkörben die Sammetwangen der herrlichen Früchte dieses gesegneten Landes, und glitzert der bernsteingelbe Napareuli in den hohen Gläsern. Die Musik spielt „Budjonnys Reitermarsch", „Wolga, Wolga, matj rodnaja..." und ein Potpourri aus dem „Rosenkavalier", und der Arzt aus Kiew, der an unserem Tisch sitzt, - er hat sich in „dieses elende Nest" verkrochen, weil es hier viel weniger Towarischtschi gibt, als in Kislowodsk oder Gagri - sagt unvermittelt:
„...und doch darf man sich nicht wünschen, dass dieses Regime zusammenbrechen möge, denn die Sowjets sind die einzige Macht, die Russland wieder groß machen und ihm seinen gebührenden Platz in der Welt zurückerobern kann..."
Er ist Antibolschewist: die Bolschewiki haben ihm sein schönes Privatsanatorium weggenommen und seine Häuser. Er hat gegen sie in der Armee Denikins gekämpft und lebte dann in der Emigration. Nein, er liebt die Bolschewiki nicht und macht aus seinen Gefühlen kein Hehl. Und doch ist er hierher zurückgekehrt, in das „Land, dem sie den Namen genommen haben, um es mit ein paar Buchstaben zu bezeichnen, das aber doch das Vaterland bleibt", weil -und hier glimmt seinen Augen der Fanatismus der Erben des berüchtigten Testaments Peters des Großen auf- „weil ihre Energie so wild und eisern ist, dass sie alle Schwierigkeiten überwinden und alle Feinde niederwerfen werden, weil unter ihrer Herrschaft Russland schon heute eine Macht ist und morgen unüberwindlich sein wird..." Dann bricht er — ebenso unvermittelt, wie er begonnen -wieder ab und versinkt in Nachdenklichkeit. Ein kleiner Junge - stolz, seine eben erst erworbenen Kenntnisse verwerten und zeigen zu können - stellt sich vor einem der Heiligenbilder auf und beginnt die verschnörkelte goldene Inschrift zu buchstabieren: „Za...a...r.."
Zuerst weiß er mit dem Worte nichts anzufangen, wendet und dreht es unbeholfen hin und her:
„Zar...? Zar... Zarzarzar...?"
Mit einem Male aber geht ihm ein Licht auf:
„Mamascha...! Mama...! Komm mal her! Schau, so hat der Zar ausgesehen, der einmal vor der Revolution da war..."
Sankt Georgi Pobjedonossez (der Siegreiche), die Lanze zum Angriff auf den Drachen gesenkt, will protestieren. Aber der Junge - ganz Eifer, ganz Entdeckerstolz - merkt es nicht...
Über den klaren Himmel reckten sich gierig die Wolkenzungen und leckten den ganzen strahlenden, blauen Glanz ab. Wie bei einem Schiff, dessen Anstrich man abkratzt, trat schmutziges Grau und rostiges Braun zutage. Die stumpfrosa Reflexe, die eben noch in den flachgewölbten, schmalen Fenstern der Moschee genistet hatten, erblindeten, und die Schatten sickerten eilig in die Erde. Über der Straße erhob sich eine dichte Staubwolke und flatterte wie der gelbe Beschmet eines galoppierenden Kosaken. Dahinter schimmerte das Meer, - Blei jetzt, nicht mehr Silber. Jählings prasselte der Platzregen los, zuerst einzelne ungeheure Tropfen, dann Strahlen, dann Sturzbäche. Eilig flüchteten wir in die nächste Hütte, eine schiefe, kleine Holzbude ohne Fenster.
Das Licht der rußenden Lampe geriet in zitternde Aufregung und verzerrte die Konturen von Mensch und Ding. „Können wir bleiben, Genosse, bis der Regen vorbei ist...?"
Inmitten eines Haufens alter Schuhe saß ein spitzbärtiger Mann. An den Wänden hingen Pantöffelchen aus Ziegenleder, himbeerfarbene und zitronengelbe, und Röhrenstiefel mit blanken Schäften. „Bleibt..., aber schließt die Tür gut zu..."
Er machte eine einladende Bewegung nach der primitiven Bank hin, die neben der Tür stand.
Das Licht hat sich beruhigt. Das Trommeln des Regens wird nur übertönt durch die Hammerschläge des Schusters, der eine frische Sohle auf einen alten Schuh nagelt. „Ihr seid Ausländer...?" „Ja... Tschechoslowaken..."
Der Spitzbart beugt sich tiefer über die Arbeit, hämmert, schweigt.
Der Rauch seiner kleinen Pfeife steigt kerzengrade in die Höhe, wie der weiße Stängel einer fremdartigen Blume, und duftet nach dem bunten Gewimmel östlicher Städte, nach Bazaren, winzigen Kaffeestuben, winzigen Gewürzläden...
Mit einem Male sagt er:
„Ein kleines Land, ja... aus einem kleinen Land seid ihr gekommen und unser Land ist groß... aber übrigens, was ist Größe und Kleinheit, was sind menschliche Maße überhaupt, angesichts der Grenzenlosigkeit des..." Er verstummt. Nimmt die Pfeife aus dem Munde und starrt auf den dünnen Rauchfaden, die fremdartige Blume, die nach östlichen Bazaren duftet. Woran denkt er?
Welche Mäanderwege nehmen seine Gedanken, die soeben von den zufällig in seine Hütte hereingeschneiten Fremden zu der Grenzenlosigkeit des... ja wessen nur?... vorgestoßen sind?
Schuster sind ein besonderes Volk. Man weiß eigentlich nie so recht, was überhaupt in ihnen steckt. Sie sitzen mit gekreuzten Beinen da, handhaben Hammer oder Ahle, und das Werk ihrer Hände ist im wahrsten Sinne des Wortes in den Staub der Erde gebannt; ...und zur selben Zeit schweifen ihre Gedanken über Himmel und Erde nach letzten Dingen...
Hans Sachs war Poet, und der Tscheche Thomas Bata, der Ford unter den Schustern, stellt tiefgründige Untersuchungen an über die Schädlichkeit des Klassenkampfes und mangelhafter Fußpflege und die Nützlichkeit des Fußballspieles und seriöser Lektüre... und verkündet die gefundenen Weisheiten in seiner eigenen Zeitung und in hundert Reden und Aussprüchen, die - säuberlich eingerahmt und unter Glas getan - in den Schaufenstern seiner Verkaufsstellen in Praskolesy und London, Karpatorussland und Siam hängen...
Schuster sind ein eigenartiges Volk. Wer vermöchte jenem Gedankengang zu folgen, der, von der Grenzenlosigkeit der letzten Dinge sich plötzlich abwendend, wieder zu uns und unserer kleinen Heimat zurückkehrte? „...Grenzenlosigkeit oder Begrenztheit... Da wir aber auf dieser Erde leben: warum will uns der Minister eures Staates nicht anerkennen, wo wir doch ein Sechstel der Erde sind und ihr nur ein kleiner Flicken auf einer großen Sohle?..."
Wir aber schwiegen, übermannt nicht so sehr durch die Vielgestaltigkeit seiner philosophischen Meditation, als durch ihr politisch-geographisches Beiwerk... denn wir befanden uns sechs Tagereisen von Moskau, und zwei von Tiflis entfernt in einem armseligen Dorfe der Autonomen Sowjetrepublik Adsharistan...
Es war in Kasbek.
In Kasbek im Kaukasus, an der großen grusinischen Heerstraße.
Rechts funkelte der Schneegipfel des gleichnamigen Berges in der warmen, gelben Sonne, wie ein in flüssiges Silber getauchter Wunderberg, links leuchteten die weniger hohen Berghänge in vielfachem Grün. In der Mitte schlängelte sich - an den braunen Hütten des Ortes vorbei - das weiße Band der grusinischen Heerstraße um vorspringende Waldnasen und Felskulissen herum, südwärts. Wir hatten in einem Duchan (kaukasische Schenke) gegessen und getrunken - Schaschlyk und roten, „Blut der Erde" genannten Wein - und schlenderten jetzt ein wenig durch die Dorfstraße, während der Chauffeur am Motor des Autos herumbesserte, das uns von Wladikawkas hierher gebracht hatte und mit dem wir weiter nach Tiflis hinunter wollten.
Unter den tief in die Stirn gezogenen Dächern schienen die kleinen Häuser und Hütten von Kasbek zu schlafen. Eine Kirche. Ein freistehender Glockenturm. Ein Friedhof. Von einer Hütte winkt eine blaue Tafel: „Veterinärstation Nr. 34, Kasbek." Von einer anderen: „Schule." Auf der Straße vor den Hütten Kinder und Hammel. Braune, helläugige Kinder und wollige, lustig herumspringende Hammel, mit schwabbrigen Bäckchen zu beiden Seiten des Schwanzes. Elegisch sagte Paul zu mir:
„Schreckliches Los das: Hammel zu sein. Denk dir nur, keiner von ihnen stirbt eines natürlichen Todes; im Bett sozusagen...; alle werden sie geschlachtet..." Offenbar erinnerte er sich daran, dass unser eben erst verspeister Schaschlyk vor kaum Dreiviertelstunden, als wir in den Ort einfuhren, noch lustig herumgesprungen war. Zuerst hatte der Duchanwirt uns selbst den Hammel aussuchen lassen wollen, den wir als Schaschlyk verzehren sollten, dann aber - unsere absolute Unkenntnis in solchen Dingen erkennend - es selber getan: „Da, greifen Sie!... Das ist ein Fleischchen...!"
Meine Erinnerungen wurden durch das Auftauchen dreier Kasbeker im jugendlichen Alter von sechs bis acht Jahren unterbrochen. Die Jungen trugen bunte Kappen und hatten an sonstiger Bekleidung zusammen drei Hemden und zwei Hosen.
Kaum wurden sie unser ansichtig, als sie sich auch schon breit vor uns hinpflanzten.
„Amerikaner..." sagte der Älteste sachverständig, „Amerikaner! Schaut sie euch nur an: sie haben einen Fotoapparat und Dollars... Imperialisten sind sie..." Ich bemühte mich, den Irrtum liebenswürdig aufzuklären. Wir hätten allerdings einen Fotoapparat, aber was die Dollars und den Imperialismus anginge... Der Junge lächelte zuvorkommend-ungläubig. Dann griff er in die Hosentasche (er war einer der beiden Hosenbesitzer) und holte eine Handvoll weißer Kerne hervor. Er steckte einen in den Mund, knabberte an ihm herum und spuckte die Schale kunstvoll in weitem Bogen vor sich hin. „So? Also keine Amerikaner?..."
Er steckte einen zweiten Kern in den Mund und bot an:
„Nimm...!"
Elly, die ihm zunächst stand, wandte sich fragend an mich:
„Was hat er da...?"
Der Junge erriet den Sinn der fremden Worte: „Semetschki..."
Auf seinem Gesicht malte sich unendlicher Triumph und tiefe Verachtung.
„Also, ihr wollt mir weismachen, dass ihr keine Amerikaner seid, und wisst nicht einmal, was Semetschki sind...?!"
Ich erriet seine Gedanken und kapitulierte. Verlegen sagte ich zu Elly:
„Aber weißt du, das sind doch Semetschki, Sonnenblumenkerne, von denen man in allen russischen Romanen liest..., wie konntest du nur...?"
Am Straßenende erschien unser Chauffeur und winkte: „Einsteigen!" Wir gingen. Unterwegs sagte Elly:
„Ja, also, natürlich habe ich gewusst, dass es Semetschki gibt und wie sie aussehen..., aber dann kam ich gar nicht auf den Gedanken, dass es welche sein könnten, weil wir ja in Moskau keinen einzigen Menschen gesehen haben, der Semetschki knabberte oder verkaufte... Ist das übrigens nicht sehr merkwürdig?" Es war in der Tat sehr merkwürdig: wir hatten wirklich während der ganzen Dauer unseres Moskauer Aufenthaltes keine Semetschki gesehen. Und dabei wusste ich doch ganz genau, dass auch nach der Revolution noch die Straßen mit Semetschkischalen besät gewesen waren und Hunderte von Verkäufern, namentlich an den Mauern von Kitajgorod (Anm.: so genannte „Chinesenstadt", ältester Stadtteil Moskaus.) weiße und dunkle Sonnenblumenkerne feilgehalten hatten.
Später, bei unserem zweiten Aufenthalt in Moskau, fand ich aber doch noch einen Semetschkiverkäufer. Allerdings nur einen einzigen. Er saß melancholisch vor einem Körbchen mit Kernen und einem zweiten mit Äpfeln, zwischen einem Chinesen, der buntes Papierspielzeug, und einem Ukrainer, der den „neuesten Hand- und Taschenatlas mit 80 Karten" verkaufte. Es war in der Nähe des Iberischen Tores, unweit der fünf ewigen Bettler, die vor der Kapelle der Iberischen Mutter Gottes stehen und die zu wenig freigebigen Spender beschimpfen; just an der Mauer des zweiten Sowjethauses, dessen Goldlettern verkünden: Religion ist Opium für das Volk!
Ich kaufte ein Maß Semetschki und interviewte ihn über die Ursachen des Verfalles seines Handelszweiges. Ob es eine grundlegende Geschmacksänderung der Konsumenten gewesen sei oder eine Verschlechterung der Ware...
Nein, das nicht: die Semetschki seien nie besser gewesen, als gerade jetzt, und die Moskauer knabberten auch jetzt noch gern Sonnenblumenkerne, wenn nicht... „...wenn nicht die Bolschewiki das Ausspucken auf der Straße verboten hätten..."
Seit Erlass jenes Verbotes sei es aus mit dem Geschäft. Denn - in die Hand spucken, oder in ein Papier.... das könne man den Kunden denn doch nicht zumuten. „Wie würde sich denn das ausmachen, Bürger, ich bitte Sie, in die Hand...?"
Ich erfuhr noch, dass der kommunistische Jugendverband seinen Mitgliedern das Knabbern von Semetschki verboten habe, und dass mein Freund jetzt statt der früheren 120 nur 20 Maß Kerne täglich verkaufe, weshalb er nebenbei mit Äpfeln handle.
Aber nur nebenbei denn eigentlich sei dies eine Deklassierung... Dann ging ich.
Einige Tage später - es war im Moskauer Sowjet und ein Genosse zeigte mir eine Statistik der Straßenhygiene -kam die Rede wieder auf die Semetschki, und da sagte der Genosse:
„Sehen Sie, lieber Genosse, ihnen mag das vielleicht lächerlich vorkommen, wenn ich aus dem Verbot des Ausspuckens von Semetschkischalen etwas Großes mache..., aber Sie mögen es mir glauben: es war vielleicht leichter, den Kreml zu stürmen, als das Ausspucken von Semetschkischalen zu verhindern... Und dann: diese Kleinigkeit ist symptomatisch..., symptomatisch für die Einstellung des Proletariats zu seiner Stadt, zur Hygiene, zum kulturellen Fortschritt überhaupt... Weniger schwulstig und gelehrt gesagt: diese Kleinigkeit ist symptomatisch für unser Sowjetsystem, für unsere Pläne... Verstehen Sie, was ich damit meine...?" Ich verstand.
Verstand, weil ich in diesem Augenblick all die tausend anderen ähnlichen Kleinigkeiten sah: die Papierkörbe an allen Straßenecken, die plombierten Wäschesäcke in den Zügen, die nach jedesmaligem Gebrauch desinfizierten und in frische Papierhüllen eingewickelten Rasierpinsel in den genossenschaftlichen Rasierstuben, die Fabrikskinderkrippen mit ihren hygienischen Stillzimmern, die Straßenpropaganda gegen Syphilis und Tuberkulose... Und darüber hinaus: die Nachtsanatorien, die Arbeitererholungsheime an der Meeresküste, die Veterinärstationen und Sanitätspunkte in verschollenen abchasischen Bergdörfern, die mit Petroleum übergossenen und so malariarein gemachten Sümpfe in Adsharistan... Alle die „Kleinigkeiten", die nur die ersten Sprossen einer Jakobsleiter sind, auf der wohl keine Engel in den Himmel klettern, die aber hinaufführt zu einem neuen und lebenswerteren Zeitalter, dessen Vorzeichen sich jetzt bereits kundgeben in den hunderttausend und Millionen elektrischer Glühlampen, die schon heute in vergessenen tungusischen, kalmückischen, daghestanischen Siedlungen leuchten; in den Radiostationen und Schulen, „Agropunkten" (landwirtschaftliche Beratungsstellen) und Lesehütten, Krankenhäusern und neuen Bahnstationen, deren Netz jenes Riesenreich immer engmaschiger überzieht und bis in den kleinsten Aul an der persischen Grenze, bis in die letzte Siedlung am arktischen Meer die stolze Losung des Kommunismus trägt: „Diese Welt wird unser sein!"
„Nein!" sagte der Mann in dem Abteil, in das wir einstiegen.
„Ich sage ja nichts gegen die Sowjetmacht- Gott bewahre -, aber..."
Da zog die Lokomotive mit einem Ruck an, und Rostow, die noch immer nicht ganz von den Wunden des Bürgerkriegs genesene Stadt, Rostow, der narbenbedeckte Kosak mit dem blanken Säbel des Donlaufes an der Seite und dem flatternden rauchbraunen Mantel, Rostow mit seinen breiten Straßen und Kaviar essenden Kutschern (roten grobkörnigen gibt es und ganz kleinen schwarzen, zähe und glänzend wie Stiefelwichse), Rostow ließen wir hinter uns, und unser Gegenüber setzte seine Betrachtungen fort, aus denen ihn das Anfahren des Zuges herausgerissen hatte. Er hatte eine pergamentgelbe Glatze, um die der Kranz grauer Haare wie eine Stachelhecke lief. Und unter den Augen, zu beiden Seiten der bläulichen Nase, dicke Wülste. „Ich sage ja nichts gegen den Sownarkom" (Rat der Volkskommissare) „oder die Rabkrin" (Arbeiter- und Bauerninspektion) „oder gegen die Partei - Gott und der Heilige Nikolaj Tschudotworez, der Wundertäter, sind meine Zeugen, dass ich einer solchen Herabsetzung dieser jedem guten Bürger teueren Institutionen und Organisationen gar nicht fähig bin..."
Und dann erfuhren wir (unsere dreiköpfige Reisegesellschaft und die schwerhörige Bäuerin, die im „Oberstock", auf dem Schlafplatz oberhalb des Blaunasigen, lag und aus ihrem beneidenswert festen Schlummer nur erwachte, um zu fragen, ob wir schon in Apolonskaja seien), dann erfuhren wir also noch, dass er schon deshalb keiner Auflehnung gegen Behörden und Obrigkeiten fähig sei, weil er eine „demütige Ader" habe („von der Mutter geerbt:
Valeria Leontjewna, aus dem Semipalatinsker Gebiet war sie und hatte Gesichte").
Also kurz und gut, es läge ihm ganz fern und er sei dazu auch gar nicht imstande, aber die Bolschewiki
trieben es denn doch etwas arg in ihrem Kampf gegen alte gute Eigenart und Sitte.
„Nichts bleibt übrig von unserem alten Mütterchen Russland, gar nichts mehr,-sie verscharren es mit Leib und Seele..." Folgte wieder ein längerer Sermon über seine Liebe zu den Sowjetbehörden und seine granitene Staatsbürgertreue -und dann rückte er mit dem heraus, was er eigentlich auf dem Herzen hafte. „Da erlebt man Dinge..."
Dinge, die einen trotz aller Liebe zu den Obrigkeiten und der geerbten „demütigen Ader" (von der Mutter; Valeria Leontjewna...) dazu bringen...
Ja, also - er war in Moskau gewesen. Bei einer der Zentralbehörden. Hatte sich seinen Bescheid geholt und war dann ein wenig durch die Straßen geschlendert.
„Geschlendert — so, ohne Ziel ---wie man es in einer Stadt eben tut, in der man noch bleiben muss, weil der Zug erst nachmittags abgeht. (Die Züge, die Städte verleiten einen ohnehin zum Nichtstun, auf dem Dorf ist das ganz anders und überhaupt: alles Böse kommt von der Stadt — aber ich will nichts gesagt haben, Bürger...)" Nun und da war es geschehen.
Vor dem Haus des „Export-Chleb" (Getreideausfuhrgesellschaft).
„Es standen schon hübsch viel Leute dort, als ich zufällig vorüberkam. Nun, ich stellte mich dazu. Hatte ja nichts zu tun. (Die Züge, die Städte verleiten einen... aber ich will nichts gesagt haben, Bürger!)
ich stelle mich also dazu und warte. Ich warte. Die andern warten. Alle warfen wir.
,Worauf warten wir, Bürger?' frage ich einen Mann neben mir, einen großen Mann in einer Ballonmütze und mit dem Abzeichen der Aviachim (Anm.:(eigentlich Ossoaviachim) = Gesellschaft zur Förderung der Verteidigung, des Flugwesens und der Chemie in der UdSSR.) an der Bluse. Er weiß es auch nicht. (Auf dem Dorf ist es ganz anders und überhaupt...) ,Also gut', sage ich, ,warten wir denn, bis wir erfahren, worauf wir warten!' Wir warten also. Ich warte. Die anderen warten. Alle warten wir. Endlich schreit einer vorn: ,Da bringt man sie!' Alles beginnt sich nach vorn zu drängen - und was glauben Sie, bringt man aus dem Haus und lädt es auf einen Wagen --- einen Stschot (Anm.: primitive Rechenmaschine - ein Holzrahmen mit auf Querdrähten aufgezogenen Kugeln -, die bei uns bisweilen als Kinderspielzeug Verwendung findet, in Russland aber in keiner Kanzlei, keinem Laden, keinem Schalterhäuschen fehlt und mit verblüffender Geschicklichkeit gehandhabt wird.). Und dann noch einen und noch einen, zehn, zwanzig, dreißig... alle, die sie oben in den Büros hatten.
,Wohin damit?' frage ich einen Bengel, der auf dem Wagen steht. ,Was soll das? Hat der Export-Chleb - Gott sei davor - Krach (Anm.: gemeint ist Bankrott.) gemacht, dass man das Zeug hier fortführt, oder hat man wieder einmal den Beamtenapparat vergrößert (trotz des Regimes der Ökonomie!) und übersiedelt in ein größeres Haus?'
,Keines von beiden, aber oben brauchen sie keinen Stschot mehr...'
,So? Und wie werden sie denn rechnen, Schlaukopf du?'
sage ich. - ,Mit Maschinen!'
,So, Maschinen? Was für Maschinen denn?!'
,Was für Maschinen? - Rechenmaschinen eben, elektrischen Dingern. Oben drückst du auf einen Knopf und unten fällt dir ein Papier heraus, auf dem schon alles fix und fertig ausgerechnet steht, was du brauchst...'
,Junge!' sage ich, willst du einen Narren aus mir machen...? und will ihm eine versetzen, aber da fällt mir einer in den Arm, ein Mann mit einem Hut (Sie wissen, was das bedeutet, Bürger, selbst in Moskau, wo Hüte immerhin nicht so selten sind und doch kaum einer auf hundert Mützen kommt!), und sagt, der Junge habe recht und er selbst habe schon solche Maschinen gesehen - aus Frankreich kämen sie oder Deutschland - und überhaupt habe die Stunde des Stschot geschlagen und in absehbarer Zeit werde er ganz verschwinden — und wir müssten eben aus dem Kopf zu rechnen lernen, wenn wir schon nicht überall die teueren Maschinen einführen können und in zehn Jahren..."
Er verstummt. Sitzt in dumpfes Brüten versunken da. Die Nacht reckt sich hoch und wirft mit jäher Bewegung ihren Mantel über die Erde. Dunkelheit. Der Zug rattert.
Sein Rattern klingt wie das letzte hohle Abschiedsgerassel der unzähligen auf den Aussterbeetat gesetzten Stschots. Rat-tat-tat... Rat-tat-tat...
Gudauti.
Das Fuhrwerk hält vor der niedrigen, unregelmäßigen Häuserzeile des Marktplatzes, der ein Stück flachen Brachlandes wäre, wenn nicht an einer seiner vier Seiten eben jene Häuserreihe stünde, jene Häuserreihe, die gleichzeitig Markt, Hauptstraße, Vorstadtgässchen und ganz Gudauti ist.
Die Reisenden verschwinden in den Garküchen, deren Türen offen stehen und aus deren Halbdunkel die Feuerchen der Samoware heraus leuchten. Du wendest dich von den Häusern ab, gehst auf den Marktplatz. Männer in pilzförmigen Filzhüten, in Turbanen, drängen sich durcheinander, kaufen, verkaufen. Man hält feil:
Jagdfalken, grau-braun gesprenkelte und dunkelbraune
mit bernsteingelben Augen.
Ledersättel mit Messingbeschlägen.
Buntes Riemenzeug, das durch Pferdemähnen geflochten wird.
Hausleinen.
Schaffellmäntel, roh zugeschnitten, die wollige Seite nach außen.
Fellmützen und Filzhüte. Töpferwaren.
Glasgeschirr: dickwandige, grünlich schillernde Becher und matt gewordene Spiegel, Glasperlen, Glasschmuck. Dann noch Brot, Fleisch, Früchte in großer Menge. Alles irgendwie grob und arm... oder ist es nur der seit Stunden unaufhörlich niedersprühende Regen, das fahle Zwielicht, was den Waren auf dem Markte von Gudauti diesen Schein von Dürftigkeit und Primitivität verleiht? Die durcheinander wimmelnde Menge der Käufer, Gaffer und Verkäufer lichtet sich. Einer nach dem andern beginnen die Händler ihre Waren einzupacken. Die Falken wandern unter die Mäntel ihrer Herren, die Sättel auf einen hochräderigen Karren. Der Markt ist zu Ende. Du siehst eine Weile dem Einpacken zu, dann kehrst du zu der Häuserreihe zurück. Aus den Garküchen strömt beißender Qualm und der Duft von Zwiebeln, Hammelfett und süßlichem, billigem Tabak. Du gehst die Häuserzeile entlang, zuerst nach links hin, bis zum Ende, dann nach der entgegengesetzten Seite. Der dickflüssige Schlamm, in dem einige magere, schwarze Schweine mit Behagen herumschnüffeln, schmatzt unter deiner Sohle und will sie nicht von der Stelle lassen.
Irgendwo, an einer roten Mauer, hängt ein glatt gehobeltes Brett.
WANDZEITUNG
„Die Wahrheit von Gudauti"
verkündet eine Überschrift in russischen Lettern und in unbekannten Schnörkelbuchstaben einer fremden Sprache. Darunter klebt ein Stück Zeitungspapier, ein Ausschnitt aus der „Prawda": der Aufruf des Gesamtrussischen Gewerkschaftsbundes mit der Aufforderung, die streikenden englischen Bergarbeiter zu unterstützen. Und unter dem Zeitungsausschnitt, in ungelenken Zügen, mit Kohle geschrieben und vom Regen halbverwischt, drei Zeilen in der unbekannten Schnörkelschrift und dann russisch: „Die Solidarität der arbeitenden Klasse reicht über Berge und Grenzen. Die werktätige Bevölkerung von Gudauti und die zu Markt fahrenden Kutscher sammelten bisher 32 Rubel 24 Kopeken für ihre englischen Brüder..."
In Sokolniki (Anm.: Moskauer Stadtbezirk.) draußen am Waldrand liegt eine Waldschule, ein weißes, freundliches Haus. Die Kinder - sie sind alle etwas schwächlich und zurückgeblieben - sind fast den
ganzen Tag über im Freien, lernen im wahren Sinne des Wortes „spielend".
Die Lehrerin führt uns durch die Schulräume, durch die Schlafsäle, zeigt uns die Küche, die Spielwiese, erzählt von den Kindern.
„Wir legen sehr interessante Statistiken an: über die Angstträume der Kinder, über ihre Wünsche, Zukunftspläne... wollen Sie ein paar sehen?" Natürlich wollen wir. „Hier..."!
An den Wänden hängen Zeichnungen, unbeholfene Kritzeleien von Kinderhand.
„Die Kinder fertigen sie nämlich selbst an..." Wir sehen: eine gelbe Blume, einen bärtigen Mann mit einer Waffe in der Hand, eine Fabrik, noch einen Mann -diesmal aber freundlich bebrillt, vor einem etwas unverständlichen Hintergrund von Kaffeemühlen, Schornsteinen und vogelähnlichen Ungetümen... Die Lehrerin muss über unser ratloses Erstaunen lachen: „Sie verstehen nichts, wie?... Ja, diese Bilder sind auch nicht so ohne weiteres verständlich. Zu ihnen braucht man eine Erklärung. Dieses hier zum Beispiel (sie zeigt auf den bärtigen Mann) stellt einen Räuber dar, die häufigste Figur in den Angstträumen unserer Kinder; das dort (jetzt ist die Fabrik an der Reihe) den Beruf der meisten Väter, die soziale Herkunft der Mehrheit unserer Kleinen; dieses ihre Lieblingsblume..., jedes Bild trägt, wie Sie sehen, eine Ziffer, die Ziffer gibt den Prozentsatz der Kinder an, deren Lieblingsblume eben diese hier, oder deren Herkunft die Arbeiterwohnung oder deren Traumfeind jener Räuber ist..."
„Und was stellt dies hier vor...?"
Der fragende Blick gilt dem bebrillten Mann vor dem rätselhaften Hintergrund.
„Was bedeutet dieser Mann, diese Kaffeemühle, dieser Vogel oder Drache und dieser Schornstein... es ist doch ein Schornstein, nicht wahr...?"
„Ja, es ist ein Schornstein, der Schornstein eines Kraftwerkes... und der Drache ist ein Flugzeug... und die Kaffeemühle eine Lokomotive... und der Mann ein Ingenieur... und das Ganze der Lieblingsberuf unserer Jungen... der Beruf, den sie am liebsten ergreifen möchten..."
„Also die Kaffeemühle ist eine Lokomotive..." Aber die Worte laufen leer, die Gedanken sind ganz woanders. Sind bei der schwarzen Zahl oben in der rechten Ecke des Bildes, bei dem dicken Achter und dem schmächtigen, etwas lahmen Siebener... Siebenundachtzig...!
Siebenundachtzig Prozent der Jungen aus der Waldschule in Sokolniki wollen Ingenieure werden, Elektrostationen bauen, Maschinen, Bahnlinien, Flugzeuge... Und denjenigen, die etwa glauben, dass nur die Jungen von Sokolniki Ingenieure werden wollen, rate ich: fahrt hinunter nach Georgien, nach einem Nest, das Mzchet heißt, und hört dort den Dorfjungen zu, wenn sie sich um das Auto drängen, das - die grusinische Heerstraße herunterkommend - vor dem Duchan des Sachar Sacharowitsch haltmacht.
„Schau, das Fordauto vom Sakavtopromtorg! (TranskaukasischeAutohandelsgesellschaft)... Eine feine Maschine... kommt aus Amerika..." Das sagt der eine Knirps. Und der andere antwortet:
„Was denn, Amerika... in zehn Jahren bauen wir selbst welche... und bessere... da sollst du mal sehn...!" Und zieht sich unternehmend die Hosen hoch. „Tja..."
„Sie wissen gar nicht, wie viel uns der Zar noch zu schaffen macht!" sagte Stanislaw Petrowitsch, der „rote Direktor", und schob einen Haufen schwarz- und rotbekritzelter Tabellen von sich. „Der Zar—?"
„Ja, - das heißt: nicht eigentlich der Zar, sondern sein Sturz..."
Und über mein nicht sehr geistreich aussehendes Gesicht in lautes Lachen ausbrechend, erklärt er: „Also die Sache ist so: die Arbeitsdisziplin..." Und er beginnt ein langes Klagelied über die Schwierigkeiten und Hindernisse, die sich dem „roten Direktor" in den Weg stellen, wenn er den vom Lande kommenden Arbeitern auch nur die primitivsten Anfangsbegriffe von Arbeitsdisziplin, Ordnung und Methode beibringen will. „Ich war manchmal am Verzweifeln! Ja, ganz im Ernst gesprochen: ich habe mehr als einmal das Gefühl gehabt, mit einem Sieb Wasser zu schöpfen. Wir haben hier eben nicht jenen Stock alter, erprobter, disziplinierter Industriearbeiter, wie man ihn in den Leningrader Putilowwerken zum Beispiel findet; was bei uns in den neuen Fabriken arbeitet, ist gestern noch auf dem Dorfe gewesen, auf dem Dorfe und inmitten eines betulichen, geruhsamen und ganz und gar nicht mit Dampf, Elektrizität und Maschinen vertrauten Daseins..."
Und Stanislaw Petrowitsch erzählt von den Dekreten und Aufrufen, Plakaten und Filmen, Versammlungsreden und Propagandaaktionen gegen den Schlendrian und für die Hebung der Arbeitsdisziplin, die Vorbedingung des Aufbaus und der „Amerikanisierung" (Anm.: in den zwanziger Jahren Bezeichnung für die technische Rekonstruktion der Betriebe und die Einführung moderner Arbeitsmethoden.).
„Und doch kommt es immer wieder vor, dass sie - kaum dass sie sich unbeobachtet fühlen — von der Maschine weglaufen, sich in einem Winkel schlafen legen, oder rauchend und schwatzend herumstehen. — Und der ,rote Direktor, und die Kommunisten überhaupt erscheinen in ihren Augen als schäbige Antreiber oder gar Ausbeuter, weil sie diesen Schlendrian nicht dulden wollen." „Ja, aber..." „Was aber?"
„Aber was hat das alles mit dem Sturz des Zaren zu tun; ich begreife..."
„Nur Geduld; ich bin schon dabei!
Kürzlich haben wir, um die Arbeitsdisziplin zu heben, ein neues Werkzeugbrett angeschafft. Ein schönes, schwarzes Brett mit Messinghaken - weiß der Teufel, wo unser Werkmeister die Dinger hernahm -, auf dem der Platz für jedes Werkzeug dadurch kenntlich gemacht war, dass man seine Umrisse mit gelber Farbe um die betreffenden Haken gemalt hatte.
Und drei Tage nach Anbringung dieses Breites, nach einem Propagandavortrag vor der Belegschaft und nach Vorführung des Films: ,Die Musterfabrik' starrten die Messinghaken arbeitslos in die Luft und die Werkzeuge waren alle verstreut und verlegt, genau wie vor der Anbringung der neuen Errungenschaft. Aber das Schönste kommt noch. Höre ich da zufällig, wie Wassili Kapitonowitsch, der Meister, einen Arbeiter zur Rede stellt, weil er sein Werkzeug nicht ordentlich aufgehängt hat, worauf der Gute in einem Ton schmerzlicher Entrüstung und nachsichtigen Besserwissens antwortet: So, Wassili Kapitonowitsch, und weshalb - glauben Sie wohl -haben wir die Bourgeoisie zertreten und den Zaren gestürzt?! He?!
Doch nicht etwa deshalb, um uns nachher von irgendwelchen dämlichen gelben Figuren auf schwarzen Brettern tyrannisieren zu lassen?—" Stanislaw Petrowitsch macht eine kleine Pause. „Sie lachen, lieber Genosse, aber wir..." Dann jedoch hellt sich sein Gesicht auf, er greift zu den Tabellen, die er vornhin beiseitegeschoben hat: „Immerhin, - einige Erfolge haben wir schon erzielt; nichts Überwältigendes zunächst, beileibe nicht, aber..." Das Telefon schrillt. Stanislaw Petrowitsch wird im Werk dringend verlangt. Ob ich mitkommen will? Nein, ich möchte lieber hier warten; darf mir wohl inzwischen die Tabellen näher ansehen? „Aber gewiss." Und schon ist er draußen. Rot und schwarz wimmeln die Zahlen durcheinander, springen über Linien und Doppellinien, drängen sich zwischen die Buchstaben.
„Produktionsziffern für die ersten sieben Monate des Wirtschaftsjahres 1925/26." „Statistik der Ausschussware." „Qualitätsindex".
„Ergebnisse der Maßnahmen zur Erhöhung der Intensität und Produktivität der Arbeit in Prozenten des Standes vom 1.10.1924."
Das regellose Gewimmel der Zahlen ordnet sich. Ich lese:
„Die Arbeitsintensität hat sich im ersten Quartal des Wirtschaftsjahres 1925/26 gegenüber dem Vorjahre um durchschnittlich 0,7% gehoben; im zweiten Quartal betrug die Steigerung 0,9%; im April erreichte sie 1,1%..." Kleine Erfolge, winzige. Aber immerhin ein Anfang. „Gleichzeitig war eine Abnahme der Ausschussware um etwa 1/2 % zu konstatieren..."
Rot und schwarz marschieren die Ziffern auf, jede Zahl trägt den schiefen Strich des Prozentzeichens wie eine
Flinte geschultert; Glieder, Reihen, Kolonnen, - eine ganze Armee.
Eine Armee, auf deren Panieren die Losung des sozialistischen Aufbaus steht und deren Feldgeschrei lautet: „Platz der Zukunft! Fort mit den Schatten einer verruchten Vergangenheit! Licht in alle Winkel, in denen sie noch haust! Sturz der Vergangenheit! Sturz dem Zaren...!"
Was heißt das, „Zwei kurze, zwei lange...?", fragte mich Paul verwundert, als er diese Worte in meinem Notizbuch fand. Es war auf der Heimreise und er blätterte in meinen Aufzeichnungen herum, um den Namen einer gurischen Ortschaft zu finden, den er für das Verzeichnis unserer Fotoaufnahmen brauchte. „Was heißt das ,Zwei kurze, zwei lange...?' Ist das ein..."
„...Häkel- oder Strickmuster?" fiel ihm Elly in die Rede. „Oder ein Notsignal aus dem internationalen Schifffahrtscode, das du dir vor Beginn unserer Seereise aufnotiert hast?"
„Nein. ,Zwei kurze, zwei lange...', das ist das Moskauer Wohnungselend in nuce sozusagen, das ist eines der Wundmale, die die Entbehrung dem russischen Proletariat noch heute ins Fleisch brennt. ,Zwei kurze, zwei lange...' ist das Sinnbild der kapitalistischen Blockade der Sowjetunion und der unterbliebenen oder missglückten Revolutionen in der übrigen Welt. Es ist..." Aber da wussten sie bereits, was „Zwei kurze, zwei lange..." bedeutete, weil sie sich der gelblichen Zettel neben den Schellen der Moskauer Wohnungstüren erinnerten, jener Zettel, die etwa so aussahen:
Man gebe, um die einzelnen Bürger-Wohnparteien dieser Wohnung zu verständigen, folgende Glockenzeichen:
Owtschinikow, W. P. ein kurzes
Iwanow, S. 0. zwei kurze
Lawrowskaja, T. J. drei kurze
Schurin, A. A. vier kurze
Pokidow, M. A. zwei lange
Gorski, P. S. ein kurzes, ein langes
Litwinowa, F. M. zwei kurze, zwei lange
Oder wie dieser, der aber nicht an einer Türe, sondern a der Anschlagtafel des Hauskomitees hing:
Dem Bürger Gorin, Alexander Valerlanowitsch, wird auf Grund des Dekrets über die Zuteilung von Wohnräumen und in Anbetracht seiner Qualifikation als verantwortlicher wissenschaftlicher Arbeiter ein zweites Zimmer in Wohnung Nr. 5 zugewiesen.
Das Komitee der Hauskommune
Oder wie jener dritte im Vorzimmer einer Wohnung:
Bürger, Genossen!
Werft keine Abfälle in den Abguss der Wasserleitung! Schont das öffentliche Eigentum! Übt proletarische Solidarität mit der Genossin Schentschewa, die den Abguss säubern muss!
Und in der Ecke dieses „Aufrufs" die bittere Frage eines satirisch veranlagten Wohnungsinsassen: „Wohin mit den Abfällen, wenn nächstens auch der Abort ,Wohnraum' geworden sein wird?"
„Zwei kurze, zwei lange...": trauriges Dokument einer noch in Lumpen gehüllten Gegenwart, die ihre Kinder zu zwanzig in eine Wohnung pferchen muss, weil sie zu arm ist, um neue Häuser zu bauen, wenn sie eine zweite sibirische Eisenbahn und Dutzende neuer Elektrizitätswerke, wenn sie Tausende von Lesestuben und Bauernheimen, Zehntausende von Traktoren und Lokomotiven bauen, eine ganz vernichtete Industrie wieder erwecken muss. Jawohl, einer in Lumpen gehüllten Gegenwart, die aber um nichts in der Welt mit der Vergangenheit tauschen möchte, einer Vergangenheit, an die sie sich (in diesem Fall mit Lachen) erinnert, wenn sie im Büro des Hauskomitees unter Glas und Rahmen folgendes liest:
Paris, den 15. VII. 1922 An das Hauskomitee des Hauses Poslednistr. 7.
Wie ich hiesigen Zeitungen entnehme, ist die Sowjetregierung im Begriffe, die Wohnhäuser an ihre früheren Besitzer zurückzugeben. Ich ergreife deshalb die Gelegenheit, mich Ihnen als den neuen Besitzer des von Ihnen verwalteten Hauses vorzustellen, das ich - wie Sie aus der beigeschlossenen Bestätigung ersehen - von seinem früheren Besitzer Wladimir Alexandrowitsch Bulkin gekauft habe. Ich ersuche, das Haus gut in Ordnung zu halten, bis ich selbst nach Moskau kommen und die Verwaltung übernehmen werde. Ich hoffe, dass das in Kürze der Fall sein wird.
Hochachtungsvoll I. S. Ochitowitsch
Er hofft, - und wenn er nicht gestorben ist, so hofft er heute noch...
Cheops und Ford
Es ist ein eigen Ding um Bücher, die man infolge eines tückischen Zufalls nicht zu Ende lesen konnte: sie sind vom Reiz geheimnisvoller Möglichkeiten umwittert, ihre Helden bestehen in unserer Phantasie viel buntere Abenteuer als in den ungelesenen Kapiteln, und ihre Handlung spinnt sich weit über den Schlusspunkt der letzten Seite in die Unbegrenztheit.
Sie bleiben unvergessen, diese nicht zu Ende gelesenen Bücher; unvergessen und der Erinnerung liebe Freunde. Mehrerer solcher Freunde entsinne ich mich („Old Shurehand" zum Beispiel, gegen Ende des zweiten Bandes vom Physikprofessor jählings „geschnappt"; „So... und jetzt wiederholen Sie mal, was ich eben über das Verhältnis von Kraftarm zu Lastarm gesagt habe!"), mehrerer solcher Bücher erinnere ich mich also, aber keines hat mich nachher so oft besucht, wie die „Zeitmaschine" von Wells, -vielleicht deshalb, well es mir im zarten Alter von 39 Seiten entrissen wurde, vielleicht auch, weil sein „Hinscheiden" mich vierzehn Tage Freiheit kostete (wir waren damals - siebzehnjährig - noch knapp vor Torschluss eingezogen worden und wurden eiligst für die Reserveoffizierslaufbahn und den Heldentod abgerichtet... und ich trug das Buch in meinem Brotbeutel mit mir, wo es von einem inspizierenden Feldwebel gefunden und beschlagnahmt wurde, während ich vierzehn Tage Kasernenarrest bekam: sieben Tage, weil „sowas" nicht in den Brotbeutel gehörte und sieben, weil das Buch von einem „feindlichen Ausländer" war).
Immerhin war mir aber die prächtige Maschine, mit deren Hilfe man nach Belieben durch die Jahrhunderte kutschieren konnte (eben noch warst du im trojanischen Krieg und schon bist du, schwupp, mitten in der französischen Revolution!), mit den Jahren etwas aus dem Gedächtnis gekommen, als ich plötzlich an sie erinnert wurde. Es war in Moskau, im Mali Snamenski pereulok - jetzt Marx-Engels-Straße umbenannt - und wir hatten große Eile. Unser Iswostschik wusste das und hatte sein Pferdchen bisher auch brav angetrieben, hielt aber plötzlich angesichts einer Menschenansammlung, die sich vor dem Holzgerüst des Neubaues beim Marx-Engels-Institut staute. „Was gibts? Weiter! weiter!"
Aber unser Iswostschik war schon vom Bock hinunter und in der Menge verschwunden.
Vorher hatte er allerdings „sejtschas!" gesagt (was „sofort" heißt und eine kleine Ewigkeit bedeutet), weshalb wir denn auch aus dem Wagen kletterten, ein wenig ärgerlich und ein wenig neugierig, und ebenfalls in der Menge untertauchten, die augenscheinlich etwas ganz besonders Sehenswertes bestaunte, denn von vorne, aus den ersten Reihen, drangen laute Rufe der Bewunderung und des Entzückens zu uns.
„Vorwärts! Drängt euch vor!", sagte Elly, „zu spät kommen wir jetzt ohnehin schon, sehen wir uns wenigstens an, was es da gibt!"
Was leicht gesagt, aber schwer auszuführen war, denn die Menge stand da, wie eine Mauer. Was konnte es eigentlich auf dem Bauplatz zu sehen geben? Wir waren erst gestern hier vorbeigekommen und hatten nichts Besonderes beobachtet, außer der äußerst primitiven Art der Beförderung von Ziegeln, Balken und Traversen vom Bauplatz hinauf in die oberen Stockwerke: vierzig Mann hatten da im Schneckentempo einen eisernen Tragbalken eine schiefe Rampe hinan geschleppt, der bei uns zu Hause mit Hilfe eines Krans in wenigen Minuten gehisst worden wäre. Außer uns Fremden hatte aber niemand sonst etwas Besonderes, Bemerkenswertes an dieser Beförderungsmethode gefunden, wir waren ganz allein vor dem Bauplatz gestanden. Und jetzt diese Menge! Endlich hatten wir uns bis in die erste Reihe durchgearbeitet und sahen die Sandhaufen, Ziegelstapel, Gerüste und Rampen vor uns.
Rundherum stand die gesamte Bauarbeiterbelegschaft, standen Hunderte von Passanten und starrten in freudiger Erregung einen Lastkraftwagen mit moderner Kippvorrichtung an, der in der Mitte des Bauplatzes hielt und unaufhörlich hinauf- und hinunterkippte. Was bedeutete das?
Einer unserer Nachbarn belehrte uns: der Lastwagen -eben erst aus dem Ausland gekommen - hatte seine erste Arbeitsfahrt hierher gemacht, die Ladung ausgeleert und eben wieder abfahren wollen, als das bisher unbekannte technische Wunder jemandem vom Bau aufgefallen war. Man hatte den Chauffeur und seinen Wagen zurückgehalten, die ganze Belegschaft alarmiert, die Arbeit unterbrochen...
„Nun, und jetzt steht der Wagen schon eine halbe Stunde da, und der Chauffeur muss ihn andauernd ,kippen'..." Der arme Kerl! Er war schon ganz rot im Gesicht und fuhr sich mit der freien Hand immer wieder über die Stirn,- mit der andern aber werkte er an den Hebeln der Kippvorrichtung herum. „Auf! Ab!--Auf! Ab!"
Und die Zuschauermenge begleitete die Bewegungen des Maschinenwundertiers mit immer neuen kindlichen Freudenausbrüchen.
Irgendwo unweit von uns erhob sich eine mildvollbärtige, eine Professorenstimme und sagte:
„...wobei zu beachten wäre, dass die Art, wie man hier beim Häuserbau in Ermanglung von Flaschenzügen oder Hebekränen noch die ganz primitiven schrägen Holzrampen benutzt, sich in nichts von den Methoden der alten Ägypter unterscheidet, die ihre Pyramiden auch mit Hilfe der einfachen angeschütteten oder konstruierten Rampe gebaut haben..." Und „Die Zeitmaschine!" sagte Elly und stieß mich an. „Deine
Zeitmaschine, Franz: vor einer halben Stunde war man hier noch bei Cheops und jetzt ist man mitten im Zeitalter der Autokippwagen von Ford..."
Ein Milizionär kam auf uns zu und sagte:
„Bürger, die Leute dort hinten wollen auch an die Reihe kommen, lasst jetzt die mal vor!..."
Und dann fuhren wir in die Ukraine und nach dem Kaukasus, und ich vergaß die Cheopspyramide und die Zeitmaschine und erinnerte mich ihrer erst wieder an einem der letzten Abende vor der Heimreise. „Kommt heute Abend zu mir, Kinder!" hatte Fanny Markowna zu uns gesagt. „Es wird ein Freund da sein, ein feiner Kerl, der eben erst aus einem Land an der Nordgrenze der Mongolischen Volksrepublik nach Moskau zurückgekommen ist und sehr gut zu erzählen versteht." „Wir sind aber im Meyerhold-Theater heute Abend..." „Macht nichts, kommt eben nach dem Theater, ihr wisst doch, in Moskau ist ein Besuch um elf Uhr nachts noch sozusagen eine Nachmittagsvisite."
Wir wussten es, waren ja schon lange genug hier, um zu wissen, dass man auch spät nachts noch die Haustore offen, die Stiegen beleuchtet und die Freunde in angeregter Debatte versammelt findet, wussten es und kamen. In dem kleinen Zimmerchen (ein Tisch, ein Stuhl, ein breiter Diwan und ein großer Koffer, an der Wand ein paar bunte kaukasische Tücher und eine Skizze des Leninmausoleums mit der Überschrift „Immerdar - überall -untrennbar von uns!") hockt eine ganze Menge rauchender, teetrinkender Menschen; auf dem Ehrenplatz, dem Diwanpolster: Fedja, der Freund aus dem Lande Tuwa. „Habt ihr Hunger?"
Auf dem Tisch steht die „Küche", der unvermeidliche „Primuskocher", der in keiner Moskauer Wohnung fehlt. (Wohnung: sechs Parteien in vier Zimmern, einer Küche, einem Kabinett! Aber Hunderte alter Häuser wurden im Bürgerkrieg zerstört, Hunderte sind während der schrecklichen Hunger- und Kältejahre verfallen, Hunderte mussten für die Zentralbehörden der plötzlich zum Regierungszentrum gewordenen Stadt beschlagnahmt werden und noch sind brennendere, wichtigere Aufbauarbeiten zu leisten, bevor man dem Moskauer Wohnungselend energisch an den Leib gehen kann - dem Moskauer, denn anderswo, in Baku zum Beispiel, hat man schon in größerem Maßstabe mit dem Bau von Wohnhäusern -reinen, schönen Arbeiterhäusern - begonnen.) „Habt ihr Hunger?"
Und schon ist Fanny Markowna bei der „Speisekammer" (das ist der Raum zwischen den Doppelfenstern: im Winter, wenn alle Ritzen zwischen den Fensterrahmen mit Papier verklebt worden sind und die Fenster nicht geöffnet werden können, lässt man die aufzubewahrenden Speisepakete und Büchsen an Bindfäden in die, nunmehr Eisschrank gewordene, Speisekammer durch die „Fortotschka", die kleine Ventilationsklappe, hinunter und hisst sie im Bedarfsfalle vorsichtig hoch), holt Gurken, Hering und Brot hervor. „Esst! Wollt ihr Tee?"
Und dann sitzen wir und erfahren von Fedja, dass das Land Tana Tuwa eine souveräne Volksrepublik ist, eine Verbündete der Sowjetunion, wie die Mongolei, an die Tana Tuwa auch grenzt. Ein Land, viermal so groß wie Frankreich, aber mit nur 200000 Einwohnern, dafür aber vielen Millionen wilder Tiere, deren wertvolle Pelze den Hauptausfuhrgegenstand bilden im Austausch gegen Textilwaren, Waffen, Zucker und - Papier. „Ach geh, Fedja, Papier - wozu brauchen denn die Tana Tuwassen (oder wie heißen sie eigentlich?) Papier?! Du hast ja selbst gesagt, dass sie noch nicht einmal ihr eigenes Alphabet haben... Oder aber geht es dem Papier dort so wie deinen Zeitungen in der Kirgisensteppe?!" Jemand sagt das, und alle beginnen zu lachen. Was es denn eigentlich für eine Bewandtnis mit jenen Zeitungen habe, frage ich.
„Ach, nichts besonderes, nur... die Kirgisen waren damals noch nicht reif genug..."
Und er erzählt mit lustigem Augenzwinkern von einer Reise - vor drei Jahren - durch die Kirgisensteppe. „Es war eine Expedition zur Erforschung der wirtschaftlichen Möglichkeiten des Kirgisengebietes (Fedja arbeitet in der Ostabteilung des Außenhandelskommissariats), und wir hatten eine ganze Menge bedruckten Papiers mit uns: Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, — nun und da fiel es uns auf, dass die Kirgisen ein solches Interesse für unsere Zeitungen zeigten, dass sie immer wieder zu uns kamen und um Zeitungen baten, besonders um ein illustriertes Blatt, ich weiß nicht mehr welches. Na, wir gaben sie ihnen mit Freuden, dachten uns: sieh mal an, wie unsere Sowjetpropaganda selbst hier unter den Nomaden vorwärts marschiert. Die Stämme dort stehen nämlich noch auf einer sehr niedrigen Kulturstufe, sind Jäger und Fischer, richtige Hunnen aus der Zeit Attilas— na also, wie gesagt, wir gaben ihnen die Zeitungen und waren sehr stolz auf unsere Erfolge, bis wir eines Tages dahinterkamen, dass unsere Kirgisen aus den Zeitungen Zigaretten drehten und unsere ganze schöne Sowjetpropaganda in die Luft bliesen..."
In das Lachen, das losbricht, fragt jemand: „Ja aber wenn sie die Zeitungen nur dazu brauchten --weshalb
verlangten sie denn besonders das illustrierte Blatt?" „Siehst du, mein Lieber, das fragten wir uns auch, konnten aber den Grund lange nicht erfahren, bis uns einmal ein alter Kirgise verriet, dass das Papier des illustrierten Blattes beim Verbrennen besser rieche - deshalb die erhöhte Nachfrage!"
Er wartet eine Weile, bis sich das Lachen gelegt hat und schließt dann, noch Immer zwinkernd, aber doch mit einem ernsten Unterton in der Stimme:
„Aber das war vor drei Jahren - jetzt sieht es dort unten schon ganz anders aus, das könnt ihr mir glauben!" Einer will lachen, aber ein anderer sagt ganz ernst: „Nein wirklich, ich habe vor einigen Tagen mit einem unserer ersten Wissenschaftler, einem Ethnologen, gesprochen, der gerade von einer mehrmonatigen Forschungsreise aus dem Nomadengebiet zurückgekehrt ist und erzählte, dass diese Nomadenstämme, die noch nicht einmal den Hackbau kennen, schon eine ganze Menge von Radioapparaten besitzen. Wenn sie ihr Lager aufschlagen, befestigen sie die Antenne an einem Speer und hören der Musik des Moskauer Senders zu..." Die Zeitmaschine! Die Zeitmaschine! Eben noch Hunnenspeer und schon Radioantenne!
UdSSR! Sowjetmacht! Wunderbare, abenteuerliche und doch so nüchtern wirkliche, zielbewusste Zeitmaschine, auf der 150 Millionen, geführt von einer jungen Klasse, sich den Weg zu bahnen versuchen aus dumpfer Vergangenheit in ein neues, lichteres Jahrhundert!
„Du wirst Moskau nicht wiedererkennen", schrieb mir Jula, mein tschechischer Freund, den die böhmischen Kolonisten, die jetzt in der mittelasiatischen Stadt Frunse leben, auf die „Moskauer Universität der Westvölker" geschickt haben, damit er später ihre Kinder erziehe, „wie es sich für zentralasiatische Sowjet-Tschechen gehört". Ich werde die Stadt nicht wiedererkennen, schrieb er, es habe sich alles verändert, und überhaupt sei das Leben dort in so stürmischer Vorwärtsentwicklung begriffen, dass die Ziffern und Dokumente, Beweise und Betrachtungen, die man heute als Neuestes vom Neuen niederschreibe, schon morgen, wenn man sie liest, veraltet und von der Wirklichkeit längst überholt seien. „Aber das wirst du ja selber sehen, sowie du ankommst." Jula hatte recht. In dieser Stadt ist alles im Fluss. Zwei Jahre sind seit meinem letzten Besuch vergangen, sie haben die Stadt völlig verwandelt.
Es ist wahr, sie ist noch immer, was sie früher war: halb ein ungeheures asiatisches Dorf und halb eine funkelnagelneue amerikanische Wolkenkratzerstadt, aber dieser Kontrast ist nicht mehr, wie früher, das auffälligste Merkmal der Stadt.
Gewiss, er übt noch immer seinen Reiz aus, dieser Gegensatz zwischen stillen, weltverlorenen Gassen voller ehemaliger Adelspaläste, in denen es nach einer versunkenen, verschollenen Vergangenheit riecht, und den von Lärm und Bewegung erfüllten Boulevards, auf denen die Zukunft fiebert; dieser Gegensatz zwischen zinnengeschmückten Burgmauern und Turmdächern, die, wie im Märchen, „von eitel Gold" sind, und den roten Fahnen, die über dem Märchengold flattern; dieser Gegensatz zwischen vergessenen Sackgassen und dunklen „Kaufmannshöfen", aus denen der Duft von Kohlsuppe und der Klang von Ziehharmonikas (kurz ein Hauch der russischen Romantik, wie sie deutsche Oberstudienräte meinen) heraus geweht kommt, und den großen Plätzen, auf denen zweihundertundfünfzigtausend junge Pioniere zu ihrem Festtag schmetternd aufmarschieren ... aber während dieser Gegensatz früher zu den stärksten Eindrücken gehörte, die der Fremde von Moskau empfing, ist er heute nur ein Eindruck unter vielen anderen. Man vermerkt ihn, wie man vermerkt, dass hier, wo noch bei deinem letzten Moskauer Aufenthalt eine kleine Kirche stand, jetzt ein großer Arbeiterklub in die Höhe wächst; dass in den winkligen, schmalen Straßen der Innenstadt plötzlich die bunten Signale der neuen Verkehrsampeln aufleuchten; dass der Autobus mit einem mal zu rütteln aufhört, weil das Katzenkopfpflaster, ohne das man sich eine Moskauer Straße nicht vorstellen konnte, durch Asphalt ersetzt worden ist; dass die Milizionäre, die doch immer in geflickten Mänteln herumliefen, jetzt schneeweiße Handschuhe und „Bobby-Uniformen" anhaben; dass über die Privatläden, die allerdings schon seit dem Ende der NÖP kränkelten, jetzt das große Sterben gekommen ist... All das vermerkt man als neu und interessant, aber der große entscheidende Eindruck kommt von anderswo: von dort, wo bis vor kurzem noch gar nichts von Moskau zu sehen war, von den neuen Vorstädten, den aus der Erde schießenden Arbeitervierteln, den im Bau befindlichen Siedlungen rund um die alte Stadt.
Wenn man über die frühere Stadtgrenze hinauskommt, dorthin, wo kürzlich noch freies Land war, merkt man, dass die Stadt, die große alt-neue Stadt innerhalb und außerhalb der „Tatarenmauer", nur der Kern einer neuen, gigantischen Metropole ist, die allerdings noch in den Baugerüsten steckt.
Bauplatz liegt neben Bauplatz. Man kommt sich vor wie in einer Ausstellung, die an Modellen in Originalgröße den Bau eines Hauses, einer Straße, einer Stadt in allen seinen Stadien zeigen will: Tiefbauten, Gerüste, Grundsteine, erste Stockwerke, zweite Stockwerke, Häuser noch ohne Dach, Häuser mit dem grünen Bäumchen auf eben fertiggestelltem Giebel, Rohbauten noch ohne Putz, fertige Gebäude mit kalkbeschmierten Fensterscheiben... Es wird gegraben, gezimmert, gemauert, genietet. Alle Menschen rundum sind vom Bautaumel ergriffen. Vor den großen Tafeln, auf denen der Stand des Sozialistischen Wettbewerbs zwischen den Betonmischern und Nietern der Postbaubelegschaft und der Vorsprung der Postbaubelegschaft vor den Straßenarbeitern vermerkt wird, stehen die Dreikäsehochs - deren Väter die Betonkanonen und Asphaltmaschinen bedienen und Kies karren und Ziegel legen und Balken zimmern und Nieten hämmern -und diskutieren darüber, welche von den dreiundzwanzig Belegschaften des Bezirks die rote Wettbewerbsfahne erhalten wird; der Stiefelputzer interessiert sich, während er deinen rechten Schuh mit zwei großen Bürsten bearbeitet, für die neuesten ausländischen Asphaltierungsmethoden; und der Milizionär, den man nach dem Weg fragt, verbreitet sich, im Anschluss an seine Auskunft, über das Projekt der Untergrundbahn, deren erste Schächte schon gegraben werden.
Hier wird eine Druckerei gebaut („Ebenso leistungsfähig wie die der ,New-York-Times'!" sagt der Friseur, der am Türpfosten seines in einer Baracke untergebrachten Ladens lehnt und der Arbeit der Krane zusieht). Unten stellt man schon Maschinen in einem großen Saal auf, oben arbeiten noch die Krane und Maurerkellen.
Dort kann man eine neue Schule bewundern. Vor dem Tor stehen Kisten, aus denen die Holzwolle hervorquillt wie der Mageninhalt aufgeschlitzter Puppen. Die Kisten tragen deutsche Aufschriften: „Achtung! Nicht stürzen! Optische Geräte!"; die Mikroskope, die in ihnen waren, werden eben - man sieht es durch die Fenster - in die Fächer eines Lehrmittelkabinetts eingeordnet, aber außen, vor den Fenstern, fahren noch rote Dachziegel in einem Paternosteraufzug in die Höhe.
Viele Straßen stehen schon da, funkelnagelneu, als habe man sie soeben aus einem Riesenbaukasten ausgepackt; andere Straßenzüge sind erst zu einem kleinen Teil aus der Erde hervorgekrochen; und noch andere - die meisten -haben ihre Geburt gewissermaßen erst angekündigt. Seltsam sieht solch ein Stadtteil aus, der nur aus bunten Pflöcken, aus weißen Kalkstrichen, aus kleinen Holztafeln mit künftigen Straßennamen, aus winzigen Buden mit großen Bauplänen besteht, und doch hat man - angesteckt von den Menschen, die hier das Gelände abstecken und die ersten Bretterzäune zusammennageln - das sichere Gefühl: es ist schon alles da, dort die Straßenkreuzung und hier die Passage und dort das Warenhaus und noch weiter drüben der Klub...
Es ist schon alles da, nur die Augen sind noch gestrig; sie sehen noch einen Zustand, wo bereits ein Prozess eingesetzt hat.
Und während ich den künftigen „Roten Prospekt" entlang stolpere, der „um zwei Meter breiter sein wird als die Fifth Avenue und nach der neuesten Methode makadamisiert" (heute allerdings ist er noch ein unordentliches Bündel tiefer Wagenspuren in lehmiger Erde), wollen mir die Worte nicht aus dem Kopf, die, am Abend des ersten Tages, als man bei Jula zusammensaß und die Rede auf seinen Brief kam, der deutsche Architekt aus der Moskauer Plankommission gesagt hat:
„Ja, Moskau... Moskau ist heute eine Stadt, in der eigentlich das Morgen immer schon ein Gestern ist."
1932
Es war auf der Sucharewka, auf diesem immer von Menschen wimmelnden Marktplatz, wo in den ersten Jahren nach der Revolution die Männer von der Schwarzen Börse einander die Kursdifferenzen zwischen Nikolairubeln, Kerenskigeld und Sowjetnoten zuflüsterten; wo später die „innere Emigration" — nur um nicht arbeiten zu müssen, und weil sie immer noch glaubte, das Sowjetregime sei nur ein Übergang, und es komme bloß darauf an, irgendwie zu „überwintern" - Stück für Stück ihren Hausrat verkaufte; wo zur Zeit der NÖP die kleinen Gauner ihre großen Geschäfte machten, und wo heute, neben Straßenhändlern mit und ohne Lizenz, Bauern, die zum Kolchosbasar in die Stadt gekommen sind, ihre Waren: dottergelbe Butter, hellgrünen Lauch, weißen und honigfarbenen Käse, bräunlich überkrustete Milch, Eier, Quark, Zwiebeln und Gurken feilbieten.
Wir schlängelten uns langsam durch die losen Gruppen feilschender, gaffender, gestikulierender Menschen durch, als wir plötzlich vom Wirbel eines eben erst in Bildung begriffenen Menschenknäuels erfasst wurden. „Was ist los?"
„Man hat zwei verhaftet!" „Wen denn? Was haben sie angestellt?" „Wahrscheinlich mit Tabak gehandelt, gestern hat man auch einen erwischt, der feuchten Tabak verkauft hat, schwarz noch dazu."
„Ach Unsinn, wegen zweier Tabakhändler gibt es doch nicht einen solchen Auflauf. Das muss was Ernsteres sein... Übrigens, warum hat der den Tabak denn feucht verkauft?"
„Weil er schwerer wiegt, selbstverständlich... Drängeln Sie doch nicht so, Bürgerin, Sie kommen ja noch rechtzeitig genug zum Schlachtfest! Also Sie glauben nicht, Genosse, dass es Tabakhändler... Hoppla!" In die Menschenmasse rundum kam Bewegung; wir wurden nach vorne geschoben und waren unversehens in der ersten Reihe.
Da standen, zu beiden Seiten eines schmächtigen, bebrillten Milizionärs, den sie um eine gute Kopflänge überragten, zwei hochaufgeschossene, halbwüchsige Burschen, offenbar die beiden Sünder, — aber sie machten durchaus nicht den Eindruck ertappter Verbrecher, und auch der Milizionär sah nicht nach inquirierender Obrigkeit aus, und überhaupt entbehrte die ganze Szene da vor uns jener feierlichen Gewitterschwüle, die bei uns in Europa über den Amtshandlungen der im Namen des Gesetzes einschreitenden Sicherheitsorgane schwebt. Die Frau, die vorhin so gedrängelt hatte, erfasste mit einem Blick die Situation und klagte; in ihrer Stimme lag die ganze herbe Enttäuschung des um „seinen" Knock-out betrogenen Sportkiebitzes:
„Da glaubt man, dass welche verhaftet werden, und dabei stehen sie da und diskutieren."
Sie diskutierten wirklich. Unser Nachbar zur Linken, ein kleiner Mann mit einem großen Kopf und einer noch größeren Kaukasiermütze, klärte uns auf: man diskutiere darüber, ob ein Sowjetbürger, der den Anspruch darauf erhebe, ein Kulturmensch zu sein, einen anderen Sowjetbürger so beschimpfen dürfe, wie es der Bürger zur Linken des Milizionärs in bezug auf den Bürger zu seiner Rechten getan habe.
Hinter uns, Irgendwo in der Menge, fragte eine tiefe Stimme auf Englisch:
„Können Sie sich eine solche Polizeiszene bei uns vorstellen, Dick?"
Eine andere Stimme erwiderte:
„Ich bin doch noch bei Trost, Mann. Genauso gut könnte ich mir vorstellen, dass unser Intelligence-Service öffentlich an einem Volksfest teilnimmt und beklatscht wird, wie hier die GPU am Ersten Mai, oder dass man sich bei uns den Leiter von Scotland-Yard als Öldruck an die Wand hängt wie hier den Dsershinski..." Ein dicker, roter Mann mit Uhubrauen und einem gesträubten Schnauzbart drängte sich neben uns vor und erkundigte sich dröhnend:
„Also was sind das wieder für neue Sitten, Bürger?" Ein paar Stimmen forderten Ruhe, aber der Schnauzbärtige ließ sich nicht einschüchtern: „Man wird sich doch noch für eine öffentliche Angelegenheit interessieren dürfen, Bürger. Ich meine, man wird sich doch noch dafür interessieren dürfen, seit wann es denn Sitte ist, dass einer die Miliz holt, wenn ihm ein anderer ein kräftiges Wörtchen sagt?" „Das hängt immer von dem betreffenden Wörtchen ab, Bürger", sagte streng und gewichtig unser Nachbar mit der Kaukasiermütze, „wenn er Sie zum Beispiel, wie das hier der Fall war, Analphabet schimpft...?" Mir stieg das Lachen in die Kehle, aber es blieb stecken, denn mich überfiel plötzlich der Gedanke:
„Wie war das doch damals vor sechs Jahren, als du zum ersten Mal herüberkamst? Wie schimpfte man damals! ,Burshuj'. Und ein Jahr später? ,Nepmann'. Und vor vier Jahren? ,Hooligan'. Und 1929? ,Kulak'." Ich muss denken:
Burshuj, Nepmann, Analphabet.....Du sollst dem Volk aufs Maul schauen", sagte sich Luther, als er die Bibel übersetzte, „dann wird es dich verstehen." Hier sagte ich mir: „Du musst dem Volk aufs Maul schauen, dann wirst du verstehen, was mit ihm in diesen wenigen Jahren vorgegangen ist."
Ich hätte sie nicht wieder erkannt, ja ich wäre - ohne auch nur einen Hauch jener unruhigen Neugier zu spüren, die uns manchmal beim Anblick eines fremden und doch bekannt erscheinenden, eines vertrauten und doch nicht einzuordnenden Gesichts überkommt - an ihr vorbeigegangen, hätte sie sich nicht mir in den Weg gestellt und gefragt:
„Kennen wir uns nicht, Genosse? Erinnern Sie sich nicht mehr? Damals, an der Ecke der Twerskaja und des Leontjewski pereulok? Ich hatte eine Auseinandersetzung..."
Mein Erstaunen verwandelte sich in Verwirrung. Ein versunkenes Erlebnis tauchte halb wieder auf; ein verklungener Name wollte gefunden werden; eine Erinnerung begann zu erwachen.
Sie merkte es; lachte; merkte auch, dass ich schon etwas sah, was ich noch nicht glauben wollte, und sagte, immer noch lachend:
„Oh, ich habe mich einigermaßen verändert, nicht wahr? Aber wenn man näher zusteht..." Sie war es! Ja, sie hatte sich verändert; die Schultern waren runder geworden, und die Wangen hatten sich gefüllt und gerötet, sie war gewachsen und sah kräftiger aus, gesund, reif und ruhig; statt der rissigen, hochstöckeligen Lackstiefelchen, in denen sie damals herumgestelzt war, trug sie jetzt derbe, aber neue Leinenschuhe, statt des verschlissenen Seidenhütchens eine Männermütze, statt des viel zu großen, räudigen Plüschmantels eine enganliegende, glänzende Lederjacke, von deren Revers - ich traute meinen Augen kaum - golden und rot das Abzeichen des Komsomol leuchtete... sie hatte sich verändert, aber da war noch die breite, gewölbte Stirn, da waren noch die dunklen, geschwungenen Brauen über den mandelförmig geschnittenen Augen, da war noch der zarte und zugleich herbe Mund mit der kindlichen Lippenlinie und den vom Wissen und Erleben nach unten gebogenen Winkeln.
„Mirjam", sagte ich, noch immer verwirrt, „Mirjam, Sie?" Sie lachte wieder.
So habe ich mir damals ein Wiedersehen wohl nicht vorgestellt, fragte sie. „So doch wohl sicher nicht?" Nein, so nicht!
Ich war ihr vor fünf Jahren begegnet; spät nachts, auf dem Heimweg von einem bei unzähligen Tassen Tee, unzähligen Zigaretten und unzähligen Disputen verbrachten Abend, nach dem ich den Kopf etwas auslüften wollte. Ich ging langsam die halbdunkle und beinahe menschenleere Twerskaja hinunter. An einer Ecke stritten sich ein Mann und ein Mädchen. Ich wäre nicht stehengeblieben, hätte nicht die Stimme des Mädchens einen so seltsamen Klang gehabt, tief und voll und dabei doch rau wie der Glockenton einer alten, etwas zu Schaden gekommenen Uhr. Der Mann krakeelte, er wolle jetzt Geld haben, sofort, oder es geschehe ein Unglück. Das Mädchen antwortete, er solle seiner Wege gehen, sie gehörten nicht mehr zueinander, und es falle ihr nicht ein, ihn weiter auszuhalten. Der Mann packte sie. Sie kreischte auf. Der Mann holte aus. Ich schrie, er möge sich nicht unterstehen, sie zu schlagen, aber er schlug zu. Ich versuchte, ihn am Arm zu fassen, doch er schüttelte mich ab und brüllte, ich solle mich nicht in fremde Angelegenheiten mischen, das sei sein Mädchen, und wenn ich nicht gleich verduftete... Da tauchte ein Milizionär auf, und wir mussten alle drei mit ihm zur Wache. Dort wurde, nach kurzem Verhör, der Mann verhaftet. „Wegen Zuhälterei." („Die Prostitution", sagte der Reviervorsteher damals zu mir, „ist ein Übel, das wir nur beseitigen können, wenn wir seine sozialen Wurzeln ausrotten; und das werden wir tun. Die Prostitution ist für die Mädchen ein Unglück, für die Männer eine Schande und eine Gefahr, für die Zuhälter, Kupplerinnen und Bordellwirte eine Quelle arbeitslosen Einkommens, ein Mittel abscheulichster Ausbeutung; deshalb gehen wir gegen die ,Ausübenden' selbst nicht vor, es sei denn, dass sie krank sind, - dann kommen sie in Behandlung, dagegen bestrafen wir die Nutznießer mit der äußersten Strenge.")
Das Mädchen wurde zugleich mit mir entlassen. Auf dem Weg von der Wache erzählte sie mir ihre Geschichte. Sie war siebzehn Jahre alt, hieß Mirjam und stammte aus Gomel. Ihren Vater, einen kleinen jüdischen Handwerker, ihre Mutter, ihre zwei Schwestern und ihren Bruder hatten im Bürgerkrieg die Weißen erschlagen; sie selbst war, eine Zehnjährige, dreimal vergewaltigt worden. Einige Jahre lang lebte sie mit einer Bande „Grüner", marodierender Deserteure und geflüchteter Bauern in den Wäldern. Zu Beginn der NÖP kam sie nach Moskau, wo zugleich mit dem Privathandel auch der „Strich" seine Auferstehung feierte.
Sie erzählte von ihrem Leben, von der Unterkunft in einem Kanaltunnel, von den erfolglosen Strichgängen, von der Rohheit des Mannes, mit dem sie zusammen gewesen war, vom Suff, vom Hunger; mit einer unbeteiligten Gleichgültigkeit erzählte sie, die fast den Anschein erweckte, dass sie von jemand anders, nicht von sich selbst, berichte. („Ich war eben wie ausgebrannt", sagt sie jetzt, da ich sie daran erinnere, „in der Seele war es ganz leer; ich war gar kein Mensch.")
Als ich sie fragte, ob ich ihr irgendwie helfen könne, sagte sie: nein, sie sei nun einmal für ein solches Leben geschaffen und dieses Leben für sie, und überdies habe sie sich schon viel zu sehr daran gewöhnt und wolle und könne nichts ändern. Aber wenn ich durchaus etwas für sie tun wolle, so möge ich doch zum Moskauer Stadtsowjet gehen, ich sei doch ein ausländischer Delegierter oder so etwas Ähnliches und würde es vielleicht durchsetzen -, also kurz und gut, es handle sich darum, dem Moskauer Stadtsowjet klarzumachen, dass seine Verfügung über die Erleuchtung der Taxis bei Nachtfahrten unsozial sei und den Prostituierten, die zwar der politischen Rechte entkleidet, aber immer noch etwas Besseres seien als Ausbeuter, Popen und frühere Gendarmen, schweren Schaden zufüge, weil auf diese Weise die Taxis, die in einer Zeit der Wohnungsnot und Hotelverstaatlichung die einzige Möglichkeit... Ein „Stammkunde", der schon eine Weile gewartet hatte und ungeduldig wurde und den Mirjam nicht verlieren wollte, bewirkte eine Unterbrechung unseres Gesprächs. Am nächsten Tage reiste ich ab; bei meinen späteren Besuchen in Moskau sah ich Mirjam von Gomel nie wieder. Jetzt sitzen wir in der Roten Ecke des „Moskauer Hell- und Arbeitsprophylakteriums". Ich habe Mirjam begleiten müssen, um mir anzusehen, wie sie jetzt lebt und wo sie
arbeitet.
Sie erzählt:
Wie es ihr schlechter und schlechter ging; wie sie begann, sinnlos zu trinken, nicht nur Schnaps und Bier, auch Baldriantinktur, auch Chansha, Sprit mit Wasser, auch Politur; wie dann eine große Müdigkeit und ein großer Ekel über sie kam.
„Meine Füße wollten nicht mehr gehen, und ich konnte nichts mehr essen; ich wusste nicht, was es war, ich wusste nicht einmal, dass ich krank war. Nachher, auf der Klinik, sagten sie mir dann, dass ich Syphilis habe. Früher hatte ich immer gedacht: das muss schrecklich sein - aber es war nicht schrecklich. Es war... wie soll ich sagen? Es war schön! Ich hatte zum ersten mal ein weißes Bett; ich hatte es für mich allein; es waren Menschen da, die sich um mich kümmerten, ohne etwas zu fordern; es war warm, und ich hatte genug zu essen." Als man sie aus dem Krankenhaus entließ, bat sie selbst um Überweisung an ein Arbeitsprophylakterium. Die Ordnung im Gemeinschaftsheim, die regelmäßige Arbeit an der Nähmaschine, der Verzicht auf den Alkohol waren zuerst nicht leicht zu ertragen. Es gab einige Rückfälle, einmal sogar einen ganz argen: Suff und Strich und sogar Diebstahlsversuch; aber die älteren Kameradinnen halfen.
„Sie organisierten eine ,Bugsierbrigade' und übernahmen die Patenschaft über mich. Seit der Zeit habe ich nicht mehr getrunken und keine Verwarnung mehr gekriegt." Dann habe sie zu lesen begonnen; dann sei sie in die ersten Versammlungen gegangen; dann habe sie sich in der Werkstatt am Sozialistischen Wettbewerb beteiligt, dann...
Sie unterbricht sich und schließt:
„Aber das ist nicht mehr mein individueller Fall; das ist schon die typische Geschichte aller Mädchen, die hierherkommen." Ich denke:
„Nicht mehr mein individueller Fall, sondern die typische Geschichte - wer spricht so? Ist das noch Mirjam? Ist das nicht..."
Sie errät meine Gedanken und sagt lächelnd: „Ja, man wird ein anderer Mensch hier. Man wird umgeschmolzen. Das geht allen so, die hier sind. Wie das geschieht, weiß man zuerst gar nicht, man merkt nur auf einmal, dass man neue Augen, neue Ohren, eine, neue Sprache bekommen hat." Und nach einer Pause:
„Man merkt es ganz plötzlich. Ich weiß noch, wie es bei mir war, und wann; ich kann den Tag nennen, es war mein Geburtstag, der erste hier im Prophylakterium, sieben Monate nach meinem Eintritt. Ich hatte mich schon eingewöhnt und fühlte mich wohl, aber an diesem Geburtstag spürte ich auf einmal, dass ich neu bin, dass das Leben neu ist, dass es einen Sinn hat, zu leben... und dass es schön ist!"
Auf dem Tisch des Direktionszimmers, in das der Leiter des Prophylakteriums mich führt, liegen Bücher und Mappen, Fotografien und Dokumente. „Material für eine Ausstellung zur Fünfzehnjahresfeier der Oktoberrevolution", erklärt der Direktor, „wir wollen zeigen, wie sich die Prostitution im alten Russland, wie sie sich in der Sowjetunion, wie sie sich in den kapitalistischen Staaten entwickelt hat und wie wir hier, in den fünf Jahren seit der Gründung unserer Anstalt, gegen sie gekämpft haben. Was Sie hier auf dem Tisch sehen, gehört in die Abteilung ,Zarenrußland'; wir sind gerade mit der Sichtung beschäftigt."
Neben einer Sammlung von „Hausordnungen für öffentliche Häuser" liegt ein Stapel dicker Folianten. Auf dem obersten steht in goldenen Lettern „Album des medizinisch polizeilichen Komitees für die Nishni Nowgoroder Messe 1910". Ich schlage den Folianten auf. Seine Seiten sind mit Fotografien bedeckt wie die Seiten eines Verbrecheralbums. Bild neben Bild: halbe Kinder, junge Mädchen, reife Frauen, Greisinnen; hohe Tüllkragen, aufgeplusterte Spitzenjabots, billige Rüschen und Bänder; breite Federhüte, mächtige Turbanfrisuren, schlichte Bauerntücher und Zöpfe. Unter jedem Bild ein Name, über jedem Bild eine Zahl. Über dem letzten: 813.
In einem langen, schmalen Buch, das man für ein hochachtbares Geschäftsbuch halten könnte - es ist auch eines, allerdings weder ein Saldenkonto noch ein Hauptbuch, sondern das „Inventar Nr. 5 der Einzelprostituierten, Messejahr 1910" -, steht von jedem Inventarstück verzeichnet, wie alt es ist, woher es kommt, welcher Religion und Nationalität es angehört und wie viel Messen es bereits mitgemacht hat. Der Direktor sagt:
„Neunzig Prozent von ihnen kamen aus Dorfkaten und Proletariervierteln; drei Viertel konnten weder lesen noch schreiben; über die Hälfte war krank, trotz Registrierung und gelbem Pass."
Ob man einen solchen Pass sehen könne? „Aber gewiss." Er zieht aus einem Haufen kleiner blauer Hefte eines hervor. „Hier haben sie einen! Er ist zwar blau und heißt auch nicht ,gelber Pass', sondern ,Austauschbare Ausweiskarte und Kontrollbuch', aber sonst ist alles da, was dazu sein hatte: da haben Sie den Vermerk, dass der richtige Pass vom Polizeimeister in Verwahrung genommen wurde; hier die Seite mit den Eintragungen des Kontrollarztes und hier die ,Vorschrift für das Verhalten der öffentlichen Weiber' mit dem berüchtigten Paragraphen 13: ,Der Wirt soll nicht mehr als 3/4 der Einnahmen des bei ihm wohnenden öffentlichen Weibes für sich beanspruchen'..."
Neben den blauen „gelben Pässen" liegen die gelben „schwarzen" Akten.
Jefrosina Danilowa Knyshe, Jungfrau, 40 Jahre alt, niemals vorbestraft, Besitzerin eines Kapitals von 5000 Rubeln, bittet seine Hochgeboren, den Herrn Stadthauptmann von Moskau, um die Erlaubnis, im Haus der Witwe Goldenstein, Arbatviertel, Bogoslowskigasse, eine „Wohnung für Zusammenkünfte von Männern und Frauen" einrichten zu dürfen. Das Gutachten des Polizeiarztes liegt bei. Dieses Gutachten schließt mit den Worten: „... und werden Einwände nicht erhoben, um so mehr als mit Hinblick auf die örtlichen Verhältnisse die Einrichtung eines solchen Hauses außerordentlich wünschenswert erscheint." Das Gesuch wurde binnen sechs Monaten erledigt. Ebenso viel Jahre erforderte dagegen die Erledigung des Ansuchens der Bäuerin A. D. Korolewa um „Streichung aus der Liste der öffentlichen Weiber und Rückgabe des Passes". Sechs Jahre, weil nämlich die um Auskunft angegangene „Abteilung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ruhe in der Stadt Moskau" vertraulich mitteilte, dass die Korolewa unter Beobachtung stehe, seit sie im Dezember 1908 dem aus der Verschickung geflüchteten W. I. Asepow Unterschlupf gewährt habe. „Sechs Jahre ohne Pass, wissen Sie, was das im alten Russland bedeutete?" fragte der Direktor. „Wissen Sie, dass es eine Redensart gab, der Russe bestehe aus Körper, Seele und Pass? - Aber lassen wir das." Er schiebt mit einer raschen Handbewegung die Papiere zur Seite. „Lassen wir die Vergangenheit, sie ist tot. Kommen Sie, ich will Ihnen die Gegenwart zeigen."
Er führt mich durch das Ambulatorium, den Speisesaal, die Schlafräume. Das letzte Zimmer macht einen unbewohnten Eindruck.
„Es steht leer. Wir haben, infolge des Rückgangs der Prostitution, immer weniger ,Nachschub'. Noch zu Beginn des Fünfjahrplans glaubten wir, der Bau ganzer neuer Städte, der Zustrom ausländischer Spezialisten, die Konzentrierung riesiger, eben erst vom Dorf gekommener Arbeitermassen in den neuen Industriezentren werde eher ein Anwachsen als eine Abnahme der Prostitution bewirken; wir stellten deshalb einen eigenen Fünfjahrplan auf, der eine Vermehrung der Betten bis auf 1200 vorsah. Die tatsächliche Entwicklung hat unsere Voranschläge über den Haufen geworfen; wir sind", sagt er und lächelt, „ein Betrieb, der seinen Fünfjahrplan nicht erfüllt." Wie viel Insassen das Prophylakterium beherberge? Dreihundertundfünfundneunzig. - Ja, sie seien alle freiwillig gekommen, nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, wo sie einen sogenannten ersten Behandlungskursus durchgemacht hatten; jetzt, während der Nachbehandlung, arbeite ein Teil in den Werkstätten des Prophylakteriums, gegen volle Entlohnung selbstverständlich, der andere in den Lehrlingsschulen einiger großer Betriebe. Auf der Tafel der Wandzeitung klebt ein Zettel, der zum Besuch des Festabends „zu Ehren unserer prämiierten Stoßbrigaden" auffordert. Ein zweiter Zettel kündigt an, dass, gemäß dem einstimmigen Beschluss der letzten Vollversammlung, die Zahl der politischen Lehrstunden ab nächster Woche verdoppelt wird.
„Ja, sie lernen mit großem Eifer, in der Werkstatt, in der Betriebsschule, in den Kursen. Wir haben in den fünf Jahren seit der Gründung unseres Prophylakteriums der Industrie nicht weniger als zwölfhundert hochqualifizierte Arbeiterinnen geliefert; vierhundert von ihnen besuchen
Fortbildungsschulen, Arbeiterfakultäten, Technika; zweiundsiebenzig sind in den Komsomol und in die Partei aufgenommen worden, eine ganze Anzahl arbeitet in der Gewerkschaftsbewegung, eine ist Vorsitzende des Betriebsrates einer großen Fabrik."
In der Trikotagewerkstatt hängt, mitten im Saal, ein Transparent mit den Kontrollzahlen des Sozialistischen Wettbewerbs zwischen Strickerinnen und Schneiderinnen. Vorläufig hat die Schneiderwerkstatt einen ziemlichen Vorsprung. „Aber wir holen sie ein", versichert uns das Mädchen an der ersten Strickmaschine, „die Trikotage bleibt nicht zurück, da können Sie unbesorgt sein!" Im Klub ist schon ein Teil der Ausstellung aufgebaut. Eine Wand des großen Zimmers ist von einer Landkarte bedeckt. Kleine Fahnen, die über den europäischen Hauptstädten schweben, tragen statt der Staatswappen Ziffern: Wien 32000, Berlin 50000, Paris 80000, London 100000, Moskau 400.
„Die Anzahl der Prostituierten!" erläutert der Direktor. „Und in Moskau gibt es wirklich nur vierhundert?" „Ja, ungefähr vierhundert. Selbstverständlich ist diese Zahl ein Resultat von Schätzungen, wie die anderen Zahlen auch, nur dass unsere Statistiker in diesem Fall viel genauer arbeiten können als ihre ausländischen Kollegen, weil in einer Stadt wie Moskau, wo es keine Stundenhotels, keine nachsichtigen Zimmervermieter und weitherzigen Hauswirte, keine privaten Schankunternehmungen und keine Nachtlokale gibt, die Zahl der Prostituierten viel leichter geschätzt werden kann als beispielsweise in Paris oder London."
„Vierhundert Prostituierte in einer Millionenstadt, das würde aber doch..."
„Jawohl, das bedeutet, dass wir die Prostitution bereits so gut wie liquidiert haben. In einem Land ohne Arbeitslose, in einer Gesellschaft, die keine Ausbeutung duldet, in einem Staat, der die volle wirtschaftliche, politische und soziale Gleichberechtigung der Frau nicht nur proklamiert, sondern auch Wirklichkeit werden lässt, muss die Prostitution zwangsläufig ihren Massencharakter verlieren. Die paar Hundert Prostituierten, die es bei uns noch gibt, sind entweder geistig defekte oder arbeitsscheue und gesellschaftlich schädliche Elemente. Wie richtig diese Annahme ist, mag Ihnen die Tatsache beweisen, dass wir in diesem Jahr zum ersten mal auch Psychiater zur Behandlung neuaufgenommener Mädchen heranziehen mussten; bisher kamen eben nur Frauen zu uns, die sich aus Not und Arbeitslosigkeit prostituiert hatten, diese Schicht - und das war die große Mehrheit aller Prostituierten wählte, als ihr die Möglichkeit dazu geboten wurde, eine andere Art des Lebensunterhalts; was jetzt noch zu uns kommt, ist schon mehr oder weniger geistig in Unordnung... Das ist eine neue Lage, der wir Rechnung tragen müssen. Wir werden, was wir bisher nicht getan haben, in Zukunft gegen die Reste der Prostitution mit Zwangsmaßnahmen vorgehen, werden die einen in Heilanstalten unterbringen, die andern in Erziehungsheimen und Arbeitskommunen, etwa von der Art, wie wir sie für die verwahrlosten Kinder eingerichtet haben. Von der endgültigen Vernichtung der Prostitution bis zur Beseitigung der Syphilis als Massenkrankheit ist dann nur noch ein Schritt. Diesen Schritt werden wir noch vor Ende des zweiten Fünfjahrplans hinter uns haben. Das ist keine Phrase. Noch im Jahr 1928 entfielen auf je 10000 Einwohner 57 Syphilitiker, heute sind es nur mehr 31; im Jahre 1928... Aber Sie haben wohl keine Zeit mehr?" Nein, ich habe keine Zeit mehr. Ich muss gehen. Nur von Mirjam möchte ich mich noch verabschieden. Aber Mirjam ist nicht da.
„Sie lässt Sie grüßen", sagt die diensthabende Ärztin, „sie hätte gern auf Sie gewartet, aber sie konnte nicht. Sie ist heute an der Reihe. Sie muss referieren. Im marxistischen Seminar der Abenduniversität..."
Der Wind setzt aus.
Tot, ohne Bewegung, als seien sie in der plötzlich geronnenen Luft erstarrt, stehen die Weizenfelder da, die noch vor einem Augenblick lebendig und unruhevoll waren wie das Meer. Jetzt gleichen sie Theaterkulissen. Die weiße Wolke, die schon seit einiger Zeit an der Grenze von Himmel und Ebene kauert wie ein kleiner, aufgeplusterter Vogel, reckt sich jählings hoch, läuft giftgelb an und blauschwarz, wächst und wächst. Es sieht aus, als fresse sie den Himmel, der - eben noch aus Silber und Glas - mit einem mal stumpf und bleifarben geworden ist wie eine erblindete Spiegelfläche.
Mit einem hohen, singenden Ton kommt der Wind wieder heran gefegt, reißt von der Straße eine Staubfahne hoch und wirbelt sie über das Getreide hin, das sich vor ihm tief neigt, als wolle es sich zu Boden legen. Dann bricht der Regen los, schwer und dicht, so dass man den Eindruck hat, der Ford fahre gegen eine gläserne Mauer an. Der Weg bis zum Dorf, das vorhin kaum zwei Kilometer vor uns gelegen hat, scheint endlos zu dauern wie die Angst eines Träumenden, wie das „Sejtschas!" (Sofort!) eines ländlichen Postbeamten. Aber dann tauchen doch, verschwommen und schattenhaft, die Umrisse der ersten Hütte auf.
Der Motor verstummt.
Mit ein paar Sprüngen sind wir unter dem weit überhängenden Dach. Noch bevor wir klopfen können, geht die Tür auf. Ein junges Mädchen steht auf der Schwelle. „Kommt herein! Seid ihr sehr nass? Ich will gleich den Samowar zurechtmachen." Wir treten ein.
Auf dem Tisch in der Mitte der großen Stube steht eine brennende Petroleumlampe, der größte Teil des Raumes und der „Oberstock" des mächtigen Ofens bleiben im Schatten.
In einer Ecke glimmt ein rotes „ewiges Licht", doch von dem Heiligen auf der Ikone darüber ist nur die Gloriole zu sehen.
An der Fensterwand hängt, von der Tischlampe noch halb beleuchtet, ein Bild Stalins.
Die Ellenbogen aufgestützt, das Kinn in den Händen, sitzen am Tisch zwei Bauern, ein schwarzbärtiger, ein graubärtiger.
Ein dritter, mit langem, schlohweißem Bart, hockt auf der Ofenbank.
Sie erwidern unseren Gruß, bleiben aber sonst stumm.
„Setzt euch", sagt das Mädchen und stellt den Samowar auf den Tisch. „Seid ihr von weither gekommen?"
„Ja, von Nowosibirsk."
„Aber ihr seid nicht Dortige?"
„Nein, wir sind Ausländer."
„Spezialisten?"
„Nein."
„Was tut ihr dann hier?" „Ansehen, was es bei euch Neues gibt." Das Mädchen will weiterfragen, aber der Samowar beginnt zu singen, und sie wendet sich ihm zu. Nun beginnt der Graubärtige zu sprechen:
„Ansehen, was es bei uns Neues gibt... Ja, es gibt viel Neues bei uns. Sehr viel. Zuviel vielleicht." Der Schwarz-bärtige, dessen Gesicht gleich bei den ersten Worten des Alten einen Ausdruck besorgten Misstrauens angenommen hat, macht ihm ein Zeichen, aufzuhören, aber der Alte achtet nicht darauf. „Zuviel Neues gibt es bei uns. Zu rasch geht bei uns alles vor sich. Zu rasch, sage ich. Du hast kaum noch Zeit, zu sehen und zu hören... Aber warum diese Eile? frage ich. Die Erde lässt sich auch Zeit, wenn sie die Frucht reifen macht. Der Vogel beeilt sich auch nicht, wenn er auf den Eiern sitzt. Die Kuh bringt ein totes Junges zur Welt, wenn sie vorzeitig kalbt. Warum hasten dann die Menschen so?"
„Weil wir nachholen müssen, was versäumt worden ist!" sagt das Mädchen laut und in dem Tonfall, in dem man zu Kindern spricht. „Und weil uns die andern vielleicht nicht mehr viel Zeit lassen!"
„Vor unseren Feinden wird uns der Herr beschützen, und wenn sie über uns kommen, so sind sie von ihm gesandt, und nur er wird sie wieder von dannen führen. Alles, was uns heimsucht, ist von ihm gesandt, und nur von ihm kommt dann auch die Rettung."
„Aber nach der Missernte im vorigen Jahr ist die Rettung nicht von ihm gekommen, sondern von den Bolschewiki! Die haben im Frühjahr das Saatgut geschickt, und nicht er."
„Ja, sie haben das Saatgut geschickt, und wir haben säen können, aber es war Gottes Fügung, dass es geschah, wie es Gottes Fügung ist, dass die Bolschewiki über uns..."
Der Schwarzbärtige unterbricht ihn: „Lass das, Vater! Wozu diese Reden? Es hat keinen Sinn. Immer diese alten Geschichten... Und auch die Fremden wollen sicher von anderen Dingen hören."
Wir widersprechen. Im Gegenteil, gerade von solchen Dingen wollen wir hören, der Alte möge doch weitersprechen.
Aber der Schwarze lässt es nicht zu:
„Nein. Es führt zu nichts. Es hat keinen Sinn, über etwas zu klagen, was man im Augenblick..."
Er verstummt, sichtlich mit sich selbst unzufrieden, weil er weitergegangen ist, als er wollte.
Dann sagt er schnell: „Warum auch klagen? Man lebt.
Man wird leben. Es ist schon schlechter gewesen, und es könnte viel schlechter sein. Man muss zufrieden
sein."
„Aber man ist es nicht", wendet das Mädchen ein. Und zu uns gewandt: „Sie sind nicht zufrieden, Großvater nicht, und Vater auch nicht. Das Kollektiv im Dorf passt ihnen nicht."
Der Schwarze macht eine heftige Bewegung, als wolle er losfahren, beherrscht sich aber und sagt nur:
„Das Kollektiv kümmert mich nicht, mag es da sein oder nicht."
Ich frage:
„Ihr gehört nicht dazu?"
„Nein", entgegnet der Schwarze, „ich gehe in kein Kollektiv!"
„Und warum?"
Er überlegt einen Augenblick lang, will dann antworten, aber sein Vater kommt ihm zuvor: „Weil er ein Eigentümer ist. Jeder Bauer ist ein Eigentümer. Ohne Eigentum ist er auch kein Bauer mehr." „Ja," pflichtet der Sohn bei, „so ist es. Der Bauer will auf seinem eigenen Grund arbeiten, mit seinem eigenen Vieh, für sein eigenes Haus." Er wird allmählich warm, verliert sein Misstrauen, spricht schneller und eindringlicher: „Ich will sehen, wie meine Arbeit gedeiht, meine eigene Arbeit, verstanden? Wo sehe ich aber, was meine Arbeit ist, wenn ich mit zwanzig andern auf einem Acker schaffe, der uns allen gemeinsam gehört? Wenn ich heute ein Feld pflüge und morgen ein anderes dünge?
Nein, es macht keine Freude, wenn man nicht für sich selbst schafft."
„Aber man kommt weiter, wenn man nicht allein arbeitet", wendet das Mädchen ein, „man bringt mehr zustande, wenn man nach einem großen Plan..." Er fällt ihr, schon ganz heiß geworden, in die Rede: „Ich will keinen großen Plan. Ich bin ein Bauer und habe meinen Bauernverstand. Der weiß von selber, wann gesät und wann geschnitten werden soll; der braucht kein Kommando. Das braucht vielleicht ihr, weil ihr noch zu jung seid."
„Ja", stimmt der Großvater mit ein, „zu jung seid ihr, das ist es, viel zu jung." „Und ihr seid zu alt."
Diese Worte hat nicht das Mädchen gesprochen. Sie sind von der Ofenbank hergekommen, wo der dritte Bauer, der mit dem schlohweißen Bart, sitzt. Wir haben ihn gar nicht mehr beachtet, haben beinahe vergessen, dass er da ist. Er steht jetzt auf und kommt langsam auf den Tisch zu. Sein Gesicht ist braun und rot, aber voller tiefer Falten und Runzeln. Er tippt mit der Krücke seines Knotenstocks die beiden andern leicht an und wiederholt leise und mit Nachdruck:
„Und ihr seid zu alt. Beide. Du und du." Eine Weile herrscht Stille.
Dann fährt er fort. Seine Stimme ist noch leiser geworden; fast scheint es, als spreche er nur zu sich selbst, nicht zu uns andern:
„Aber ihr seid nicht alt genug. Ich bin neunzig, und ihr seid kaum sechzig und eben erst vierzig. Vielleicht ist es gerade das. Ihr seid zu alt, um mit den Jungen zu gehen, und ihr seid noch nicht alt genug, um zu verstehen, dass sie ihren Weg gehen müssen und dass man ihnen Platz machen muss... Ja, das ist es: ihr habt nicht lange genug unter den Zaren gelebt! Ihr habt nicht lange genug die Birkenruten zu spüren bekommen und nur Sonntags chleb s pirogom (Schwarzbrot mit Weißbrot) gegessen! Ihr erinnert euch nicht gut genug daran. Ihr nicht. Aber ich! Oh, ich erinnere mich..."
Er versinkt in Schweigen. Sein Kopf neigt sich. Das Kinn mit dem langen weißen Bart ruht auf der Brust. Es sieht aus, als schlafe er im Stehen.
In die Stille hinein sagt der Vierzigjährige:
„Ja, ja, der Großvater hält's mit den Bolschewiki, aber wenn man ihn fragt, was sie mit diesem oder jenem wollen, weiß er es nicht."
Der Alte hebt den Kopf.
„Es ist wahr, ich verstehe vieles nicht, was sie machen; aber ich verstehe auch nicht, was eine Schrift zu mir sagt, und doch weiß sie anderen viel zu sagen. Ist es die Schuld der Schrift, dass ich nicht verstehe, was sie mir zu sagen hat! Was sie aber nicht wollen, die Bolschewiki - das weiß ich; und ich weiß auch, was ich nicht will. Es ist dasselbe. Das hier!"
Er hebt mit einer schnellen Bewegung die Tischlampe hoch und zeigt zu der Fensterwand hinüber. Neben dem Stalinbild ist jetzt ein Rahmen sichtbar, der eine alte Urkunde umschließt: große, grau gewordene Lettern auf vergilbtem Papier.
Die Glasscheibe darüber hat zwei Sprünge.
Der Alte geht, die Lampe in der Hand, auf die Wand zu.
Er winkt uns.
Wir folgen ihm und lesen:
UKAS SEINER
KAISERLICHEN MAJESTAET
des Selbstherrschers über alle Russen.
Aus der Gouvernementsverwaltung Wladimir:
Der Öffentlichkeit wird hiermit zu wissen gegeben, dass von der Gouvernementsverwaltung auf öffentlichem Markte verkauft werden:
1. Die Stallmagd Sofia Abakirowa, 28 Jahre alt, bewertet mit 80 Rubel, letzter Besitzer Grigori Christoforowitsch Barulin;
2. Die Stallmagd Nastassja Tschurikowa, 24 Jahre alt, bewertet mit 75 Rubel, letzter Besitzer Michail Solikowski;
3. aus dem Nachlass des Kollegienrates Ponomarow, Jewgeni Alexandrowitsch, der Bauer Pantelej Trofimow mit Frau Jelena Pawlowna und einem einjährigen Knaben, ohne Land, bewertet mit 60 Rubel, jährlicher Ertrag 5 Rubel.
So Käufer vorhanden sind, mögen sie sich wegen des Kaufs bis zum 1. Oktober d.J. an die obengenannte Gouvernementsverwaltung wenden, die von der Kaufabsicht vorher zu unterrichten ist. Gegeben in der Stadt Wladimir, den 20. Juli 1843
„Lies!" sagt der Alte zu dem Mädchen. Das Mädchen beginnt vorzulesen, laut und langsam. Wie sie an die Stelle kommt, wo von dem einjährigen Knaben des Bauern Pantelej Trofimow die Rede ist, unterbricht sie der Alte:
„Wo steht das? Der Name von dem Mann, von der Frau und das von dem Kind? Zeig es genau!"
Sie zeigt es ihm.
Er hebt seinen Stock, klopft dreimal sacht auf das Glas, auf die Stelle, auf die sie gewiesen hat, und sagt: „Das waren wir: mein Vater, meine Mutter und ich... aus dem Nachlass des Kollegienrats Ponomarow..."
Eine Motorpanne.
„Wir müssen zusehen, dass wir Pferde oder einen Traktor auftreiben, der den Ford zur nächsten Schmiede schleppt", sagt der Schofför. „Wir wollen einmal die Leute fragen, an denen wir vorhin vorbeigefahren sind, kommt!" Wir gehen zurück bis zu einem Feld mit Erntearbeitern. Sie machen gerade Rast, liegen im spärlichen Schatten der Traktoren, Wagen und Maschinen, essen und rauchen. Wir sehen bunte Russenhemden und Mushikbärte, aber wir hören deutsche Worte.
„Deutsche?" fragen wir die erste Gruppe, zu der wir kommen.
„Ja. Deutschsibirjaken. Und ihr? Ihr seid wohl Deutschländer?" „Wie?"
Ein Mann mit einem ausgefransten, breitkrempigen Strohhut belehrt uns:
„Er meint: ob Sie aus Deutschland sind. Wir nennen nämlich die Landsleute aus dem Reich ,Deutschländer' zum Unterschied von den Wolgadeutschen, den ukrainischen und kaukasischen Schwaben und von uns Deutschsibirjaken."
Die Lagernden haben sich erhoben und umdrängen uns. Sie lassen den Mann mit dem Strohhut nicht weiterreden.
Sie überschütten die „Deutschländer" mit einer Flut von Fragen:
Ob es den Bauern in Deutschland auch so schlecht gehe, wie dem Kolchosbauer hier?
Ob es den Bauern in Deutschland auch so gut gehe, wie dem Kolchosbauer hier?
Ob der Bauer in Deutschland auch so seine Sorgen habe, wie hier der Kolchosbauer? Der Mann mit dem Strohhut erläutert: „Sie haben hier Leute aus drei verschiedenen Kollektiven vor sich, deshalb die verschiedenen Meinungen. Die Zufriedenen sind von der Kommune ,Karl Liebknecht' bei Steelechutor. Dort die, die so schimpfen, kommen aus dem Kolchos ,Neuer Acker' in Ebenfeld. Und die anderen gehören zu dem Kollektiv ,Rote Front', auf dessen Feld wir hier stehen."
Der Schofför kommt auf uns zu und ruft: „Alles in Ordnung. Wir werden von einem Traktor nach Rownaja Poljana geschleppt, dort gibt es eine kleine Schmiede. Los, gehen wir!"
„Schon? Können wir nicht noch ein wenig bleiben?" „Nein, das geht nicht. Wir haben keine Zeit. Die Reparatur wird sicher eine ganze Weile dauern, und wir haben noch einen sehr weiten Weg vor uns. Und außerdem muss der Traktor gleich losfahren, damit er zurück ist, wenn die hier nach der Rast wieder zu arbeiten anfangen. Unsertwegen darf die Ernte nicht verzögert werden!" Dagegen gibt es keinen Widerspruch. Wir verabschieden uns.
Der Mann mit dem Strohhut merkt offenbar, wie ungern wir gehen, ohne mehr von den Menschen hier erfahren zu haben.
„Wenn es Ihnen recht ist", sagt er, „begleite ich Sie bis Ebenfeld, so heißt Rownaja Poljana auf Deutsch. Sie werden allerdings keinen sehr guten Eindruck von unseren deutschsibirischen Dörfern mit nach Hause nehmen; Ebenfeld ist nämlich unser ,schwarzes Schaf, das deutsche Dorf mit dem schlechtesten Ruf. Sie haben ja gehört, wie die Bauern vom ,Neuen Acker' jammern. Was? Gerade ein solches Dorf interessiert Sie? Na, dann los!" Unterwegs erzählt er.
Er ist Lehrer und leitet die Schule in Protopopowka beim Kolchos „Rote Front". Er war Bauer. Er stammt aus Wolhynien, aus einem der reichen deutschen Kolonistendörfer, deren Bewohner zu Kriegsbeginn in den Osten und Süden verschickt wurden. So kam er nach Sibirien. Er hatte gerade seinen neuen Hof einigermaßen in die Höhe gebracht, als die Revolution ausbrach.
„Ich war gegen die Sowjets, gegen die Bolschewiki. Fast alle sibirischen Bauern waren im Anfang gegen sie. In Sibirien herrschten nämlich ganz andere Verhältnisse als in Russland. Feudalen Großgrundbesitz gab es so gut wie gar nicht, es fehlte infolgedessen der Gegensatz zwischen einer kleinen Herrenschicht und einer Riesenmasse halb leibeigener Bjednjaki (Kätner), wie drüben. Gewiss, es gab auch hier reiche Bauern, sehr reiche sogar, aber sie waren doch nur Bauern und nicht Pomeschtschiki (Großgrundbesitzer), und dann gab es auch viel mehr Mittelbauern. Die Parole von der Aufteilung des Großgrundbesitzes zog hier nicht, auch nicht bei der Dorfarmut. Die war vor allem kriegsmüde; man sagte ihr, der Bolschewismus bringe neuen Krieg, Bürgerkrieg, man müsse die Sowjets beseitigen, dann gäbe es Frieden, - und diese Agitation hatte Erfolg: im Sommer achtzehn gab es in Sibirien keine Sowjets mehr!
Bis dann die Koltschakmobilisierung kam. Zwangsaushebung, Requisitionen, Krieg, alles war auf einmal wieder da! Nun setzte der Umschwung ein. Zuerst desertierten die Bauern nur; die männliche Bevölkerung ganzer Dörfer ging in die Wälder. Als die Koltschaktruppen und die tschechischen Legionen diese Dörfer durch Strafexpeditionen brandschatzen ließen, verwandelten sich die Deserteure in Partisanen.
Auch bei mir war das so. Die Tschechen steckten meinen Hof an und trieben das Vieh weg. Da ging ich zu den Partisanen. Später trat ich in die Rote Armee ein und machte den ganzen sibirischen Feldzug mit, von neunzehn bis zweiundzwanzig, bis zur Befreiung von Wladiwostok. Zuerst als Soldat, dann als ,Liquidator' (Anm.: Helfer zur Liquidierung des Analphabetentums.) und Lehrer. Nach der Demobilisierung wurde ich als Schulorganisator hierher in die deutschen Dörfer des Nowo-Omsker Bezirks geschickt. Jetzt leite ich schon seit sechs Jahren die Viergruppenschule in Protopopowka. Wir sollten diese Schule eigentlich schon längst in eine Siebengruppenschule umwandeln, wir haben auch schon das Geld dafür und die Lehrmittel, aber es fehlen die Lehrkräfte. Na, im Herbst bekommen wir einen Hilfslehrer, dann wollen wir sehen." Wir fragen ihn über das Leben in den deutschen Dörfern aus. Vor allem wollen wir wissen, warum die Bauern vorhin so verschieden über die Kolchose urteilten. „Weil die Kolchose verschieden gedeihen. Da sind zum Beispiel die zwei Kommunen ,Liebknecht' und ,Luxemburg', in denen klappt alles. Es gibt keine Unstimmigkeiten, die Arbeit geht gut voran, und die Kommunen kommen sichtlich hoch. Die ,Liebknechter' bauen jetzt schon den zweiten großen Stall, und die ,Luxemburger' schaffen den sechsten Traktor an! Beide Kommunen haben trotz Dürre und Misswuchs den Winter und Frühling gut überstanden, und den diesjährigen Anbauplan haben sie zu hundertzehn Prozent erfüllt. Nach der Ernte wollen sie sich neue Kinderkrippen und Klubs einrichten. Im Kolchos ,Rot Front' in Protopopowka sieht es nicht ganz so günstig aus. Dieses Kollektiv ist eben nicht so aus einem Guss. In den zwei Kommunen sind die Mitglieder alle Häusler gewesen. In unserem Kollektiv ,Rote Front' gibt es auch ehemalige Kleinbauern und Mittelbauern. Sogar Großbauern hatten wir eine Zeitlang dabei. Von denen ist das Kollektiv ja auch gründlich heruntergewirtschaftet worden, sie sabotierten, wo sie konnten. Vor zwei Jahren haben wir sie dann lischiert (der Bürgerrechte entkleidet), und sie wurden ausgesiedelt. Jetzt kommt das Kolchos langsam hoch, aber im vorigen Jahr haben wir noch immer nicht mehr als vierundzwanzig Kopeken für den ,Arbeitstag' herausschlagen können. Na, dafür kommen wir in diesem Jahr bestimmt über die fünfzig!"
Ja, es gibt auch noch Einzelbauern in Protopopowka: vier Wirtschaften mit etwa dreißig Köpfen. Warum die nicht mit im Kolchos sind? „Einen, den Tischler Lochmann, hatten wir drin, aber der war mit seinem Anteil nicht zufrieden, stellte ständig neue Forderungen und fing mit jedem Streit an; wir mussten ihn wieder ausschließen. Und die andren sind entweder Verwandte der ausgesiedelten Kulaken und wollen vom Kolchos nichts wissen, oder es sind solche, denen es einfach gegen den Strich geht... Nein, nein, keine Mennoniten! Es gibt zwar in der Gegend eine Menge Mennoniten, ganze Dörfer sogar, aber in Protopopowka selbst haben wir keine. Und übrigens haben sich die Mennoniten mit der Kollektivierung und dem Sowjetleben ausgesöhnt, seit ein paar von den im Jahre dreißig ausgewanderten Familien wieder zurückgekommen sind und andere ihren hier gebliebenen Verwandten lange Jammerbriefe schreiben, wie schlecht es ihnen in Deutschland und Kanada geht, und wie gern sie wieder hier wären. Aber unsere Einzelbauern in Protopopowka sind einfach Dickschädel, die auf ihrem eigenen Grund und Boden wirtschaften wollen, auch wenn es ihnen dabei schlechter geht als den Kolchosmitgliedern. Als sie dieses Frühjahr infolge der vorjährigen Missernte kein Saatkorn hatten, haben sie sich auf dem Staatsgut verdingt, aber ins Kolchos sind sie nicht. Dickschädel, richtige Dickschädel! In den Jüngeren dämmert es aber schon, die machen bestimmt nicht mehr lange mit, neulich sind sogar ein paar in unserer Versammlung gewesen."
Die Nachricht von unserer Ankunft hat sich in Ebenfeld rasch herumgesprochen. Wir sind von einem dichten Haufen umringt.
„Wie kommt es denn, dass so viele Männer zu Hause sind, wo doch die Ernte schon begonnen hat?" fragen wir einen Bauern, einen kleinen Kerl mit rundgebogenen Beinen. „Nur auf den Kolchosfeldern", gibt er zur Antwort, „nur auf den Kolchosfeldern, und auch nur auf denen vom Kolchos ,Rote Front', na, und eine Brigade vom hiesigen Kolchos arbeitet dort ja mit."
„Warum denn nur eine?"
Der Rothaarige zuckt mit den Achseln.
Das wisse er nicht.
Er sei Einzelbauer, gehöre nicht zum Kolchos, wahrscheinlich sei es so ausgemacht.
Ein anderer, mit einer Adlernase und feuerrotem Bart, sagt:
„Mach doch keine Krutschki, Schorsch, sag's wie es ist! Wegen einer Arbeit fürs Kolchos reißt sich eben niemand ein Bein aus. Hab ich recht, Bauern?" Die andern bleiben stumm.
„Na ja, sie sagen es nicht, aber es ist so!" behauptet der Rotbärtige.
Ob er im Kollektiv ist, erkundigt sich Alex. Nein. Aber er sehe doch, wie es im Kollektiv zugeht.
„Die paar, denen es im Kollektiv gefällt, kann man an den Fingern abzählen. Das sind frühere Hungerleider. Aber die andern? Ihr müsst wissen, was Ebenfeld früher einmal war! Das reichste Dorf im ganzen Bezirk! Ein Hof schöner als der andere! Fast jeder Bauer hatte ein paar Knechte. Aber jetzt ist man ja ein Kulak, wenn man Knechte beschäftigt und einen schönen Hof hat und so wirtschaften will, wie man früher gewirtschaftet hat. Und den Kulaken setzen sie in den letzten Jahren bös zu!" „Ja", meint ein anderer, „wenn man einmal aus dem Vollen gewirtschaftet hat, auf dem eigenen Hof und nach dem eigenen Kopf, und jetzt auf einmal soll man Kleinbauer werden oder nach irgendwelchen Richtlinien arbeiten, die sie auf einem sobranije (Versammlung) beschlossen haben... nein, nein..."
Langsam werden alle warm. Einer nach dem andern beginnt zu sprechen:
„Das ist kein Leben für einen deutschen Bauern. Der will allein wirtschaften, nicht mit anderen zusammen!" „Ganz recht, das mag etwas für Baschkiren oder Kirgisen sein, vielleicht auch für Russen, vielleicht auch für die Deutschen, die früher keinen eigenen Grund hatten, aber was ein richtiger Ebenfelder Bauer ist, passt nicht ins Kolchos!"
„Nichts klappt. Wie soll es auch klappen? Bauern, Häusler und Knechte, alle in einem Topf, und alle haben gleich viel zu sagen, - wie kann da richtig gewirtschaftet werden?!" „Das Kollektiv ist auch danach. Ich sage: wir gehen zugrunde. Dreißig Pud Mehl habe ich für das ganze Jahr bekommen, dreißig Pud für sieben Mäuler!" „Wieso nur dreißig Pud?" fragt der Lehrer, „drei Kilo für den ,Arbeitstag' machen doch über fünfzig Pud im Jahr aus. Oder habt ihr weniger als drei Kilo pro Tag bekommen?"
„Ach wo", sagt der mit dem Feuerbart und grinst, „sie haben drei Kilo für den Trudodjen bekommen, aber sie reißen sich eben für das Kolchos kein Bein aus; sie machen mehr blau als sie arbeiten!"
Der Kolchosvorsitzende hat uns in sein Haus eingeladen. Wir sitzen in der großen, niedrigen Bauernstube mit den frischgeweißten Wänden und den blankgescheuerten, sandbestreuten Dielen, in dieser Stube, deren mächtiger Ofen mit Schlafplatz an Sibirien und deren Schwarzwälder Uhr und bunte, schwäbische Teller an Deutschland erinnern.
„Wir werden den ,Neuen Acker' schon noch ins richtige Geleise bringen. Lasst nur erst einmal unsere Bauern helle werden", versichert der Vorsitzende. Er wird von seiner Frau unterbrochen. Die stellt den Samowar auf den Tisch und schenkt Erdbeertee ein. „,Lasst sie nur helle werden' - du meine Güte, das wird noch hübsch lange dauern!" Der Mann wiegt den Kopf und entgegnet: „Soll es noch eine Weile dauern! Einmal werden sie doch helle. Du bist es ja auch geworden." Und zu uns gewandt: „Vor einem Jahr noch wollte sie vom Kolchos nichts wissen. Da hieß es immer: ,Ach du mit deinem albernen Kolchos, alle Zeit und Arbeit steckst du hinein, und es kommt doch nichts dabei heraus, dich und die ganze Familie richtest du damit zugrunde!' Ja. Und heute? Heute ist sie mit drin in der Kolchosleitung und möchte die Bauern am liebsten mit der Forke zu Disziplin und Planerfüllung erziehen... Na ja, ich weiß, es sind Briefe gewesen, aber ich sage dir: wo es nicht ein Brief ist, ist es eben was anderes, und wenn das Kolchos erst einmal überm Berg ist, dann sollst du sehen, wie sie von selbst dahinterkommen, was vorteilhafter ist. Da braucht es keine Briefe mehr!" Wir fragen, was das für Briefe sind.
„Von meinen Brüdern aus Manitoba, in Amerika, und von einem Soldaten aus Köln!" antwortet die Frau. „Na, zeig sie schon her, Kathrin; ja, ja, geh nur und bring das Buch her, es sind ja keine Geheimnisse." Die Frau sperrt die große, geschnitzte Truhe, die neben der Ofenbank steht, auf und holt ein dickes Album mit dunkelgrünen Plüschdeckeln hervor. Wir schlagen es auf. In den blassrosa Kartonblättern stecken Ansichtskarten, Fotografien und Briefe. Hier der wolhynische Bauernhof, auf dem die Frau geboren wurde; hier sie selbst als junges Mädchen mit ihren Eltern und Geschwistern. Noch eine Familienaufnahme, noch eine, dann ein Einzelbild: ein Bursche in viel zu weitem Ölzeug, einen Südwester auf dem Kopf, lehnt an einer Boots-Atrappe und starrt auf die Kokospalmenpracht einer mit Liebe gepinselten Südseelandschaft. Darunter „Gruß aus Riga". Die Frau erklärt:
„Mein ältester Bruder. Er ging neunzehnhundertacht nach Amerika hinüber."
Karten, Briefe, Bilder von drüben. Die Schriftzüge ändern sich, sie werden sicherer, geschmeidiger, nachlässiger, und auch die Unterschrift ändert sich: zuerst grüßt: „Euer Sohn und Bruder Wilhelm", später: „Euer Will" und zuletzt nur noch: „Bill".
Das Bild eines anderen Bauernjungen in Südwester und Ölzeug, diesmal vor einem Hintergrund „stürmische See" mit Sturmvögeln über weißen Wellenkämmen. „Mein Bruder Heinrich. Er ist ein Jahr nach Wilhelm hinübergegangen."
Dann eine Hochzeitsgesellschaft. In der Mitte die Frau, jung, drall, in schwäbischer Tracht, neben ihr ein Bursche, in dem wir nur schwer den Kolchosvorsitzenden erkennen, ein geschniegelter Sohn der Steppe in hohen, glänzenden Röhrenstiefeln, enganliegenden Hosen, weißem Tscherkessenhemd und mächtiger Lammfellmütze. Ein paar Seiten weiter ist von der Hochzeitspracht nicht mehr viel übrig. Das Schwabenmädchen steckt in einem abgerissenen Pelz und hat ein dickes Tuch um die Ohren gebunden, und der verführerische Sohn der Steppe trägt Filzstiefel und einen viel zu weiten Schafsfellmantel. „So sind wir in Sibirien angekommen. Das war im ersten Kriegswinter. Alle deutschen Kolonisten in Wolhynien mussten binnen drei Tagen ihre Höfe verlassen; mitnehmen durfte man bloß, was auf die Karren ging. Aber im Herbst darauf hatten wir schon dieses Haus hier unter Dach. Da, sehen Sie, so hat es früher ausgesehen! Im Jahre sechzehn. Mein Mann war damals eingezogen, an der türkischen Front."
„Und wer sind die beiden Männer hier neben Ihnen vor dem Haustor?"
„Pastor Behrens und Herr Putz, zwei Kriegsgefangene, die uns als Knechte zugeteilt waren. Aber sie arbeiteten nicht viel; der Pastor überhaupt nichts und Herr Putz nur soviel, um nicht einzurosten, wie er immer sagte. Sie bekamen beide von daheim Geld geschickt, durch das Rote Kreuz, und lebten hier wie die Pensionäre. Der Pastor hat nach seiner Heimfahrt im Jahre achtzehn nichts mehr von sich hören lassen, aber Herr Putz schreibt hin und wieder. Er ist jetzt Warenhausangestellter in Köln." „Aha, der schreibt also die Briefe aus Köln!" „Ja, die müssen noch kommen." Sie überschlägt ein paar Seiten, es ist alles ein wenig durcheinander, Briefe und auch Bilder, sie sind eingeordnet, wie sie kamen. „Nein, das ist Wilhelm. Nicht wiederzuerkennen, was?" Wilhelm, vielmehr Bill, ist wirklich nicht wiederzuerkennen. Nichts erinnert mehr an den Burschen in Südwester und Ölzeug. Er trägt einen karierten Sportanzug mit breiten Knickerbockers, hat zwischen den Zähnen eine Shagpfeife stecken und betrachtet statt der falschen Kokospalmen ein echtes Auto. Unter der Fotografie steht:
„Das ist unser Wochentagsauto. Wir haben auch noch eins fürs Weekend. Es ist eine Studebaker und läuft ohne Mühe 110 km."
Und in dem Brief, der dazu gehört: „...bedauern wir sehr, dass Ihr unter so traurigen Verhältnissen leben müsst. Hier ist alles in großem Aufschwung. Wir können uns gar nicht mehr vorstellen, dass man ohne tractors und combines und die anderen Maschinen worken kann. Heinrich hat sogar einen eigenen Elevator, und wir wollen auch einen bauen. Wenn Ihr herüberkommen könntet..."
„Ja, das war damals," sagt die Frau, „achtundzwanzig! Da ging es ihnen allen gut, Wilhelm und Heinrich und dem Herrn Putz auch." Es ging ihnen wirklich gut.
Bruder Heinrich schickt die Bilder seiner beiden Töchter. „Doll und Neil, die sweet girls. Sie sitzen im Garten von unserem Landhaus. Der Hahn, den Nell auf dem Schoß hält, ist in California geboren, aber er kratzt Mutter trotzdem." Mutter, das ist Schwägerin Carmen Mildred aus Kalifornien. Auch sie ist im Garten ihres Landhauses fotografiert worden; am Ufer eines kleinen Sees mit einer Miniaturgrotte und einem winzigen Ritterschloss aus Zement. Sie hat einen Florentinerhut schief auf dem Kopf und trägt lange, schwarze Handschuhe, die ihr bis über die Ellenbogen reichen; in der Hand hält sie eine Peitsche und lässt auch sonst durchblicken, dass sie eine „Rassefrau" ist, wie ihr Mann schreibt.
„Der Fuchs, den Deine Schwägerin umhat, ist aus Sibirien, und wir denken deshalb oft an Euch Arme", schreibt Heinrich. „Wir möchten Euch eine Kiste Kleider schicken. Sie sind ein wenig getragen, aber noch sehr gut. Schreibt, ob es erlaubt ist."
Herr Putz hat keinen eigenen Elevator und kein Landhaus, auch kann er nicht mit den Bildern von zwei sweet girls und einer Rassefrau aufwarten; er sendet nur „lustige und herzliche Grüße vom Kölschen Karneval". Das deutsche Vaterland leide zwar immer noch an den Folgen von Versailles, aber trotzdem sei Deutschland eben nicht unterzukriegen. Hoffentlich komme auch für die Freunde in Sibirien bald eine bessere Zeit!
„Ja, das war damals!" sagt die Frau nochmals und fügt dann hinzu: „Aber nachher ist es anders geworden." Sie blättert ein paar Seiten um:
Bruder Wilhelms zweites Auto ist verschwunden. „Heinrich hat den Elevator abgestoßen, Doll und Nell sind noch gut dran, dass sie beide Arbeit haben, bei den boys ist es viel Ärger. Ihr könnt Euch keine Vorstellung machen, wie groß die crisis jetzt bei uns ist." Aber zu Weihnachten hofft er über das Schlimmste hinweggekommen zu sein, der Silberstreifen...
„Der Silberstreifen", wirft der Kolchosvorsitzende ein, der mitgelesen hat, „immer wieder schreiben sie, dass er schon da ist, und immer wieder ist es dann Essig damit. Von den zwei Mädels hat auch nur noch die eine Arbeit, und dem Wilhelm seine Farm geht überhaupt ganz kaputt, schreibt seine Frau im letzten Brief."
Bill ist ganz verzweifelt, schreibt sie, der Weizenpreis fällt ununterbrochen; der wheat-pool (die große Verkaufsorganisation der Weizenfarmer) hat Pleite gemacht, es lohnt nicht mehr, anzubauen, die Aussaat kostet mehr als die beste Ernte einbringen kann. „Man wäre besser daran, wenn man eine ganz kleine Farm hätte mit Kartoffeln und Geflügelzucht. So liegen die großen Felder brach und die
tractors und combines verkommen. Man wird neue anschaffen müssen, wenn man wieder anbaut, aber das kostet mindestens 20000 dollars und dann kriegt man den Weizen perhaps nicht los. Bill sagt immer, er versteht die Welt nicht mehr, er hat all das Leben lang ehrlich gearbeitet und jetzt kommt er sich vor wie ein Banker, der bancrupt ist."
„P. S.: Wie sehen eigentlich diese collective-farms aus, von denen man liest, dass sie bei Euch gegründet werden?" Und weiter:
Bruder Heinrich hat sein Landhaus verkauft, Bruder Bill seine Weizenfarm einfach im Stich gelassen. Herr Putz berichtet, dass er Abteilungsleiter geworden ist, aber leider nur noch 175 Mark im Monat verdient und einen neuen Gehaltsabbau schon kommen sieht. Wie er dann mit dem Gehalt auskommen solle, wisse er nicht; es reiche jetzt schon kaum:
„Heute kann ich mich leider nicht mehr so vollschlagen wie damals bei Ihnen, ich bin froh, wenn wir nicht hungern. Gerade jetzt sitzen wir nach dem Abendbrot da, aber ich könnte ruhig noch eins vertragen. Und wenn ich erst daran denke, wie gut ich mich bei Euch gefühlt habe! Euch geht es gewiss hart, aber Ihr habt doch nicht die furchtbare Angst, die auf uns allen liegt. Ihr sprecht doch immer von der Zukunft. Bei uns wären alle froh, wenn es wenigstens wieder so würde wie in der Vergangenheit. Unser armes Deutschland ist in einer entsetzlichen Lage, und ich wünsche mir manchmal, ich wäre wieder, wie damals, in Sibirien!"
Der Schofför erscheint.
„Der Motor läuft wieder, wir müssen weiter!" „Schreibt einmal!" sagt der Mann.
„Gut, wir werden schreiben. Kommen unsere Briefe dann auch in das Album?"
„Nein!" antwortet er lachend, „ihr kommt nicht mehr hinein. Erstens ist kein Platz mehr, und zweitens haben wir keine Zeit zum Einkleben, nicht wahr, Kathrin?" „Klar!" meint die, „wir haben doch auf der Kolchosenkonferenz versprochen, dass wir aus dem ,Neuen Acker' das beste Kolchos im Bezirk machen. Und da werden wir noch gehörig zu tun haben, bevor es soweit ist, das könnt ihr euch denken."
Kein zweites Klondike
„Gleich werden wir dort sein!" sagt der amerikanische Ingenieur, der schon seit Moskau mit uns im gleichen Abteil reist und fast die ganze Fahrt über von Magnitogorsk erzählt hat, der neuen großen Hochofenstadt am Fuß der Magnetberge, mitten in der Steppe des südlichen Ural. Er steht jetzt neben uns am Korridorfenster des Waggons und starrt, wie wir, in den milchigen Morgennebel hinaus, der die Weite der braunen, welligen Ebene nur ahnen, nicht messen lässt. Der Zug fährt ganz langsam; die Strecke ist noch im Bau; links neben uns wird der Bahndamm erst aufgeschüttet; die Schwellen, über die wir fahren, liegen unmittelbar auf dem Steppenboden. „Gleich sind wir dort! Schade nur, dass es so neblig ist. Und dass Sie mit dem Zug ankommen. Sie hätten eigentlich, wie man es noch vor drei Jahren musste, weil die Bahn damals nicht weiter ging, von Troizk aus einen Wagen nehmen sollen. Den Karrenweg von dort nach den Magnetbergen vergisst man nicht! Er ist wie aus einer Geschichte von Jack London. Man kann auch in der Nacht von ihm nicht abirren, obwohl nur ein Bündel flacher Wagenspuren durch die baumlose, einförmige Steppe führt, - es liegen nämlich zu beiden Seiten Pferdeskelette, eines neben dem andern; buchstäblich: eines neben dem andern, zwei Reihen weißer Gerippe von Troizk bis Magnitogorsk!... Ich glaube, es ist dieser Weg gewesen, der in mir, gleich bei meiner ersten Reise hierher, die Erinnerung an die Erzählungen meines Onkels wachgerufen hat, eines alten Goldsuchers, der die sagenhafte Entwicklung von Klondike miterlebt hatte... Ja, und seither muss ich jedesmal, wenn ich nach einer Dienstreise oder nach einem Urlaub hierher zurückkomme und sehe, um wie viel Magnitogorsk in der Zwischenzeit gewachsen ist, an die Goldsucherstadt in Kalifornien denken. Ein zweites Klondike! Das gleiche, rasend schnelle Wachstum; die gleiche fieberhafte Arbeit; das gleiche Gewirr von Sprachen, Rassen und Generationen! Nur dass es hier nicht um Gold geht..." Die Lokomotive stößt einen langgezogenen, schrillen Pfiff aus und beginnt schneller zu fahren. Als habe er nur auf ein Signal gewartet, springt der Wind auf und wirbelt den Nebel hoch.
Vor uns liegen gelbe und braune Blockhäuser; graue Wellblechschuppen, davor lange Reihen roter Lastwaggons; drahtumzäunte Stapelplätze mit wirren Haufen von Kisten, Ballen, Fässern und Säcken. Vor uns leuchten bunte Signallampen auf. Wimmelnde Menschen, Lokomotiven, Draisinen und Krane; vielfältiger Lärm. Der Zug hält.
„Magnitogorsk! Endstation! Alles aussteigen!" Der Iswostschik vor dem Bahnhof verlangt für die Fahrt zur Bau- und Betriebsleitung fünfzehn Rubel. „Goldsucherpreise!" bemerkt Alex sachverständig, „der Yankee hat recht gehabt. Wir sind in Klondike, und der Kerl hier glaubt, du trägst die Goldnuggets lose in der Hosentasche. Komm, wir fahren mit dem Autobus! Wenn wir uns gleich anstellen, kriegen wir vielleicht im dritten schon einen Platz!"
Aber ich möchte doch lieber mit dem Wagen fahren. Erstens, weil dann das Schlange stehen fortfällt, zweitens, weil wir eine ganze Menge Gepäck haben, und schließlich - aber das sage ich Alex nicht- weil ich eine sentimentale Schwäche für diese immer seltener werdende Sorte von Iswostschiks habe, deren Schläue ebenso gewaltig ist wie ihre Körperkraft, die sich bissig und harmlos, philosophisch überlegen und kindlich heiter geben können, und deren blumige Sermone nicht weniger lang und verschlungen sind als ihre Patriarchenbärte. Nach einigem Feilschen habe ich ihn denn auch so weit, dass er uns für sieben Rubel fährt. Dafür müssen wir ihm unterwegs Antwort auf hundert Fragen geben: warum Mister Ford nur noch an vier Tagen in der Woche Autos fabriziert und wie viel ein Pud Heu in Deutschland kostet; ob wir nicht bald Revolution machen und was ein Iswostschik bei uns im Tag verdient.
Dann erzählt er von seiner Frau und seinen vier Söhnen und den Frauen und Kindern seiner Söhne, und davon, was sein Vater immer gesagt hat, wenn ein Pferd neu beschlagen werden musste, und was seine Mutter immer getan hat, wenn eines ihrer Kinder krank wurde... und ganz zum Schluss, wie schon der rote Steinwürfel des Verwaltungsgebäudes und der ockerfarbene des „Zentralhotels" vor uns auftauchen, beginnt er schnell noch davon zu erzählen, wie es vor dreißig Jahren um die Magnetberge herum aussah. Er war damals schon hier und hat jeden Winter Erz nach Bjelorezk gefahren. „Achtzig Kopeken zahlten die Eisenhütten in Bjelorezk für das Pud. Ja. Du brauchtest das Erz gar nicht zu graben oder loszuhacken, es lag oben auf dem Atatschberg frei zutage. Du musstest nur das kleine Geröll in den Schlitten schaufeln, und fertig. Noch siebzehn haben wir es so gemacht. Wir waren unser ein ganzes Hundert, alles Bauern aus Magnitnaja; aber man fuhr nur im Winter; und auch da nur vier oder fünf Wochen lang. Ja. Das ganze übrige Jahr kümmerte sich niemand um den Atatsch, der lag da wie die Wildnis, ganz einsam und verlassen. Ein paar Kirgisen hatten im Sommer hier ihre Jurten. Noch vor vier Jahren waren wir kaum fünfhundert Menschen. Und heute sagen sie, es sind schon dreihunderttausend. Und in einem Jahr werden es vielleicht doppelt soviel sein. Es geht zu, sagen sie, wie drüben in Amerika!"
Von dem Fenster des Zimmers aus, in dem der frühere Metallarbeiter und jetzige Rote Direktor des Magnitogorsker Kombinats arbeitet, überblickt man einen großen Teil des werdenden Industriegeländes, einen Teil jener siebentausend Hektar, die man aus einem jahrhundertelangen Steppenschlaf gerissen, die man aufgewühlt, mit Holz, Stein, Eisen und Zement gespickt und in Baugruben, halbfertige, zu drei Viertel fertige, ganz fertige Werksabteilungen, Wohnhäuser und öffentliche Gebäude verwandelt hat. Man sieht das Gewimmel der Menschen, Pferde, Wagen, Autos, Lokomotiven, Loren, Draisinen, Raupentraktoren, Erdbagger, Betonmischmaschinen und Krane; man hört den verworrenen Lärm von Stimmen, Signalen und Arbeitsvorgängen, - aber man kann nicht unterscheiden: wo hört ein Bauplatz auf und wo fängt eine schon in Betrieb genommene Fabrikswerkstatt an, wo wird noch gebaut und wo wird schon produziert. „Ein zweites Klondike?" sagt der Direktor. „Nein, Sie können das im Deutschen viel besser sagen; es heißt dann dasselbe und bedeutet doch auch das Gegenteil: ein anderes Klondike!... Ein anderes, denn die Sache, um die es hier geht, ist grundverschieden von der, um die es dort ging. Ich meine natürlich nicht den Unterschied zwischen
Eisen und Gold, ich meine den Gegensatz zwischen Gemeinwohl und Profitinteresse, zwischen Planwirtschaft und Raubbau, zwischen Sozialistischem Wettbewerb und Konkurrenzkampf bis aufs Messer. Klondike, das war eine Art Spielhölle, man konnte gewinnen, aber die meisten kamen in der Hölle um; Magnitogorsk ist ein sozialistischer Betrieb, er erzeugt nicht nur Güter, er formt auch Menschen. Unter den Jungarbeitern, die siebzig Prozent unserer Belegschaft ausmachen, haben wir schon heute elftausend Komsomolzen. Diese Elftausend sind unsere besten Arbeiter: sie organisieren den Sozialistischen Wettbewerb, sie ,bugsieren' die säumigen Teile der Belegschaft, sie sorgen für Disziplin, sie machen sich mit einer unglaublichen Energie und Schnelligkeit die komplizierte Technik unserer neuen Bau- und Produktionsmethoden zu eigen; sie haben beispielsweise den ganzen zweiten Hochofen montiert, ohne Holzgerüste und in einem Bruchteil der Zeit, die wir zur Montage des ersten Ofens brauchten, sie haben die Hauptarbeit am Staudamm geleistet, sie haben die beste Koksbatterie gebaut, sie arbeiten auf dem am weitesten vorgeschrittenen Horizont der Erzgrube, sie sind überall dort, wo es schwer und gefährlich ist! Aber das sollen Sie sich nicht erzählen lassen, das müssen Sie selber sehen. Gehen Sie und machen Sie Augen und Ohren so weit wie möglich auf! Sie werden erkennen, es ist ein anderes Klondike!"
Sieben Bergkuppen umgrenzen in weitem Halbkreis die Steppe; eine davon, Ai-Darly, besteht aus taubem Stein, auf ihr stehen die Erzaufbereitungswerke: Erzmühle, Erzwäscherei, Agglomerationsfabrik und zwei Werkstätten für nasse und trockene magnetische Aufbereitung. Die sechs anderen Berge haben eiserne Sohlen, oder sind, wie der höchste, der Atatsch, Erzberge in des Wortes wahrster Bedeutung. Dreihundert Millionen Tonnen Erz ruhen hier in zwei riesigen Flözen - die „Skarny", die Gesteine mit nur zwanzig, dreißig und vierzig Prozent Eisengehalt, gar nicht mitgerechnet.
Am 15. Mai 1931 hat sich der Atatsch in die „Kabakow-Erzgrube" verwandelt.
„Sie wundern sich wohl, dass unsere Erzgrube so gar nicht dem Bild entspricht, das man sich gemeinhin von einem Erzbergwerk macht?" fragt uns der Grubendirektor, ein früherer Bergmann, den seine Kameraden zuerst auf die Steigerschule und dann auf die Bergakademie geschickt haben. Er wartet jedoch unsere Antwort gar nicht erst ab, sondern fährt gleich fort: „Ja, es sieht bei uns anders aus, als in den alten Erzgruben. Wir arbeiten eben unter ganz besonders günstigen Bedingungen. Wir müssen das Erz nicht erst aus der Tiefe holen, wir tragen einfach, Schicht um Schicht, den Berg ab; er besteht fast nur aus erzhaltigem Stein und Lehm. Aber Tagbau allein bedeutet noch nicht Veränderung des Produktionscharakters und Erleichterung für den Arbeiter. Wenn wir den Atatsch mit der Spitzhaue abfragen wollten, wie man das bisher machte, so müssten wir, um die vom Plan vorgeschriebene Menge zu fördern, zwanzigtausend Mann beschäftigen, und diese Zwanzigtausend hätten eine außerordentlich harte und schmutzige Arbeit zu verrichten. Wir nehmen nun an Stelle der Spitzhaue den Armstrong-Bohrer, die Ammonal-Sprengmaschine und den Bucyrus-Bagger, und brauchen statt der zwanzigtausend Arbeiter, die wir jetzt unmöglich auftreiben könnten, nur zweitausend, denen obendrein von den Maschinen alle schmutzige und schwere Arbeit abgenommen wird. Auf diese Weise verliert der Beruf des Erzhäuers seine Schrecken. Aus dem armen Kumpel, der bis zur völligen Erschöpfung gehauen, gegarben und gekarrt hat, wird ein Kontrolleur der Maschine, der mit einigen leichten Handbewegungn..." Er unterbricht sich; meint lächelnd, er sei wieder einmal zu sehr in Schuss geraten, wir müssten das verstehen: er habe selbst noch mit der Spitzhaue gearbeitet, und da gehe es einfach mit ihm durch.
Wir sind auf Horizont Nr. 1 angelangt, wo wir - wie der Direktor sich ausdrückt - den Produktionsprozess bei seinem Beginn erwischen.
Der Berg wird in Stufen von zehn Metern Höhe abgebaut. Auf der obersten arbeiten gerade die Armstrong-Bohrer. Mit hohem, scharfem Summton senkt sich der Stahlstachel in den Boden, durchsticht die Grasnarbe und die Lehmschicht und frisst sich in den Fels. Wenn er zu wirbeln aufhört und zurückgezogen wird, ist im Stein ein elf Meter tiefes, rundes, glattes Loch. Hinter den Bohrern kommt die Sprengkolonne. Pfeifen trillern, rote Wimpel werden geschwungen, ein Hornstoß gellt auf. „Achtung! Sprengung!"
Menschen und Maschinen ziehen sich weit zurück. Mit dumpfem Krachen birst die Erde: einmal, zweimal, dreimal, fünfmal. Dort, wo eben noch eine rötliche Felswand, ein Stück Hügelrücken, ein Streifen Grasnarbe war, liegt Geröll.
„Zwei Milliarden Hackenschläge erspart uns jede solche Sprengung. Jetzt sprengen wir noch mit Ammonal, später wollen wir flüssige Luft verwenden, sowie nur unser Chemiekombinat fertig ist."
Hinter einer Felsnase, die ihnen Deckung gewährt hat, kommen zwei Erdbagger hervor, stählerne Saurier mit weit vorgestreckten Hälsen. „Bucyrus. Erie. Pennsylvania" steht auf dem Mechanikerhäuschen des ersten. An dem komplizierten Hebelwerk sitzt ein junger Bursche mit bäuerlichen Gesichtszügen.
„Ja, ein Kolchosbauer. War noch vor zwei Jahren irgendwo in einem ganz verlorenen Winkel und wusste nicht einmal, wie eine Eisenbahn aussieht, geschweige denn ein Erdbagger. Überhaupt konnte im Anfang nur ein einziger Mann im ganzen Betrieb mit einem Bucyrus umgehen, aber jetzt haben wir schon eine ganze Menge Bucyrus-Führer, genug für alle acht Bagger, die bei uns arbeiten und die vier, die noch kommen sollen. Im Herbst wollen wir einige zu Mechanikern ausbilden lassen; diesen hier auch!" Auf dem Geleise, das den Rand der Stufe entlangläuft, kommt eine Lokomotive mit vier langen, flachen Lastwaggons gefahren und macht vor dem Geröllhaufen halt. „Sogenannte Dump-cars. Sie entleeren sich auf einen Hebeldruck. Wir schaffen damit das Erz von der Grube zur Aufbereitung. Sechzig Tonnen fasst jeder. Diese hier sind noch Auslandserzeugnisse, aber wir haben auch schon Dump-cars eigener Erzeugung und Konstruktion." Der Bursche im Bucyrus-Häuschen hat ein paar Hebel umgelegt. Rasselnd fällt der „Löffel" auf den Geröllhaufen nieder. Seine weit aufgerissenen Kiefer beißen sich kreischend in die Schuttmasse ein. Wenn sie sich geschlossen haben, ist der Löffel bis zum Rand mit großen Gesteinsbrocken gefüllt. Ein kurzes Fauchen. Die Ketten, mit denen der Löffel am Bucyrushals befestigt ist, straffen sich, ziehen den Löffel hoch. Wieder ein Fauchen. Der Hals dreht sich, schwenkt den Löffel über den letzten Dump-car. Ein drittes Fauchen. Die Kiefer öffnen sich: siebeneinhalb Tonnen Erz poltern in den Waggon.
Einige wenige Löffelladungen, und der Waggon ist voll. Die Lokomotive ruckt an und schiebt den Zug um eine Wagenlänge zurück. Die nächste Ladung poltert schon in den vorletzten Wagen.
„Alle zehn Minuten werden wir später einen solchen Zug vollbeladen zur Ai-Darly-Höhe hinüberschicken. Die großen Erzbrecher dort können jeder fünfhundert Tonnen Erz in der Stunde zerkleinern; die Erzwäscherei und die anderen Aufbereitungswerkstätten werden weitere Hunderte Tonnen stündlich verarbeiten; viertausend Tonnen wird jeder unserer acht Bucyrusse im Tag fördern müssen, damit Ai-Darly in vollem Gang bleibt. Jetzt allerdings halten wir erst bei einer Tagesleistung von dreitausendfünfhundert Tonnen im Ganzen, aber noch vor zwei Monaten waren es kaum achtzehnhundert!"
Was das hier für eine Maschine sei? Ein Versuchsbohrer. Mit dem hole man sich Gesteinsproben aus der Tiefe. Die mechanische Werkstätte habe ihn nach eigenen Plänen gebaut. „Hier, lesen Sie!"
Auf der blechernen Schutzhaube steht mit zinnoberroter Mennigfarbe:
„Drehbank ,Erster Mai'. Diese Maschine wurde von der Komsomolzenbrigade der Mechanischen Werkstätte auf Intiazive des Gen. Schabalow als Woskresnikarbeit (Anm.: Kommunistische Sonntage, Nachfolger der „Subbotniki.") hergestellt. Schach dem Import!"
Jemand hat das Wort „Intiazive" mit Kreide „verbessert" (es steht jetzt „Inziative" dort) und den letzten Satz ergänzt: „Dognatj i peregnatj, dajosch swoju technitscheskuju Ameriku! - Einholen und überholen, her mit unserm eigenen technischen Amerika!"
Vierzig Meter muss die Kohle in die Höhe klettern, um aus den Mischapparaten (dorthin ist sie aus den verschiedenen Bunkern gekommen) auf die Plattform des Kohlenturms zu gelangen, der alle Gerüste und Gebäude in seiner Umgebung um mehrere Stockwerkshöhen überragt. Aus den Mischapparaten kam sie in großen Brocken; auf der Plattform langt sie als „Drei-Millimeter-Staub" an; die Kohlenbrecher und Mühlen, durch deren Trommeln sie unterwegs hindurch musste, haben ihr Werk getan. „Hier beginnt der Verwandlungsprozess der Kohle", erklärt uns Beg Kushejew, ein Vorarbeiter von der siebenten, der Komsomolzen-Koksbatterie, unser Führer durch das Koks-Chemische-Kombinat, „es ist der interessanteste Prozess im ganzen Magnitogorsker Werk. Ich sage das nicht etwa, weil ich im ,Koksochim' arbeite und nur mit der Kohle zu tun habe; ich habe mir an meinen Ausgangstagen alle anderen Werksabteilungen angesehen und auch Bücher über den Hochofen und die Erzgrube und das Martinswerk gelesen, und ich habe gefunden..." Ein rußiger Bursche kommt hergelaufen und meldet, dass Batterie acht entladen wird; ob die Fremden sich das nicht ansehen möchten.
Wir gehen schnell zu den Koksbatterien hinüber, vielfächerigen riesigen Kassetten aus feuerfestem Ziegel und Stahl. Zwei Batterien arbeiten schon; zwei weitere sollen in den nächsten Tagen den Betrieb aufnehmen; an den vier letzten wird noch gebaut, sie werden zu Neujahr fertig. „Wir haben hier Öfen System Koppers, neunundsechzig Stück in jeder Batterie; sie sind sehr ergiebig und arbeiten schnell, jeder von ihnen liefert in sechzehn Stunden zwölf Tonnen Koks aus sechzehn Tonnen Kohlenstaub. Andere Öfen brauchen vierundzwanzig Stunden und liefern weniger. Die feuerfesten Ziegel mussten wir aus Deutschland kommen lassen, unsere Ziegeleien sind noch nicht so weit, aber gebaut wurden die Öfen von unseren Maurern. Nur die Ingenieure waren Ausländer, Franzosen. Die machten zwar Krakeel, als man ihnen fast nur junge Leute gab -bei ihnen zu Hause lässt man einen Mann erst dann Koksöfen bauen, wenn er mindestens fünfzehn Jahre mit der Kelle hantiert hat-, aber wo sollen wir bei uns soviel alte Maurer hernehmen, wenn an allen Ecken und Enden gebaut wird und nicht einmal mehr die Lehrlinge ausreichen?! Aber die Jungen schafften es doch; es waren ein paar Komsomolzenbrigaden darunter. Frühmorgens vor der Arbeit übten sie immer eine Stunde lang und gingen erst dann an die Arbeit; jetzt bauen sie beinahe schon so schnell wie in Amerika. Als die erste Batterie fertig da stand, es war diese hier, Nummer acht, sagte der Chefingenieur: ,In Frankreich wäre so etwas nicht möglich. Die Jungen haben das nur zustande gebracht, weil die Bolschewiken es mit dem Teufel halten und der Teufel es mit den Bolschewiken hält!'... Aber Achtung, es wird gleich entleert!" Eine Maschine: ein Riesenkran, nein, eine Art riesiger Galgen, kommt die Koksbatterie entlang gerollt, packt mit einem stählernen Arm die Tür des ersten Ofens und schiebt sie hoch. Ein zweiter Stahlarm stößt einen Puffer von der Größe der Tür in den Ofen hinein: tief, noch tiefer. Jenseits der Batterie wird dumpfer Donner laut; Rauch und Funken kommen über den Batteriebau herüber geweht. „Drüben hat der Ofen noch eine Tür. Durch die ist der Koks eben hinaus gestoßen worden; er fällt in Kippwagen, die ihn zum Kühlturm fahren."
Der Galgen ist schon beim zweiten Ofen; der Greifer fasst nach der Tür; der Puffer stößt vor; von jenseits kommt wieder der dumpfe Donner.
Wir gehen um die Batterie herum. Vor einem der Öfen steht ein grauer Kippwagen. Die Ofentür schiebt sich hoch; schwarzer und gelber Rauch kommt hervorgequollen; eine flammrote Masse stürzt funkenstiebend in den Wagen. Der Wagen setzt sich in Bewegung, fährt in einen dicken, kalkofenähnlichen Turm hinein, über dem gleich darauf eine dichte, weiße Dampfwolke emporsteigt. Dann kommt der Kippwagen wieder zum Vorschein und stürzt seine dampfende, aber nicht mehr rotglühende Last auf ein breites Fließband.
„Wohin das Fließband führt? In die Sortiermaschine. Dort wird der Koks je nach Größe in Brocken, kleine Stücke und Grieß geschieden; Stücke und Brocken kommen in die Hochöfen, der Grieß wandert zurück in die Batterie und wird zu Klumpen zusammengebacken. Aber damit ist der Weg der Kohle keineswegs zu Ende, mit der Verkokung beginnen eine ganze Menge anderer, wichtiger Prozesse. Im Koksofen verliert der Kohlenstaub ein Viertel seines Gewichts, er scheidet Schwefelgase, Stickstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und eine Menge anderer Gase aus; alle diese Gase saugt man ab und führt sie durch eine Kühl- und Waschanlage, wo sie Teer und Ammonium abscheiden, in die ,Skrubber', sechsunddreißig Meter hohe Badewannen mit Steinkohlenöl, in denen sich Benzol bildet. Der Teer aus den Kühlanlagen kommt in das Destillierwerk, - dort drüben das Baugerüst, man hat eben erst mit den Zimmerarbeiten begonnen, aber im Winter wird es schon fertig sein! Dort gewinnt man Naphthalin, Pech und Anthrazen daraus; das Benzol aus den Skrubbern wandert teils in die Garagen, teils in die Werkstätten zur Erzeugung von Xylol und Toluol. Das gewaschene und gebadete Gas gibt dann noch den Wasserstoff her, den man im Salpeterwerk zur Erzeugung von sogenanntem Leunasalpeter braucht. Das ist ein prächtiges Düngemittel. Wir werden davon einige zehntausend Tonnen im Jahr erzeugen und damit die Baumwollfarmen in Tadshikistan beliefern. Ist das nicht wunderbar?
Aber damit sind die Verwendungsmöglichkeiten der Kohlengase noch nicht erschöpft. Wir werden einen Teil der Gase aus den Koksöfen als Brennstoff verwenden; Koksgas ist zwar nicht ganz so ergiebig wie Kohle, aber wir brauchen es nicht erst von weither zu holen. Wir werden zudem das Koksofengas mit dem noch weniger ergiebigen und für die chemische Verwertung ungeeigneten Hochofengas mischen und mit diesem Gemisch alle Martinsöfen, Kesselhäuser und Erwärmungsschächte des Walzwerks, der Martinszeche, der Agglomerationsfabrik und des Gebläsewerks heizen. Kein Kubikmeter Gas wird verloren gehen. Mit achtzehnhundert Grad wird das Gas zu arbeiten beginnen und erst mit hundertundfünfzig darf es in die Luft entweichen. Neunhundertdreiundvierzigtausend Tonnen Kohle werden wir auf diese Weise ersparen und Magnitogorsk zu dem Werk mit der sparsamsten Brennstoffwirtschaft machen... Ist das nicht wunderbar?" Ja, es ist wunderbar. Aber noch wunderbarer ist: wer uns all das erzählt! Noch wunderbarer als der Prozess, den die Kohle durchläuft, scheint uns der, den der Junge da vor uns durchgemacht hat. Noch wunderbarer als die Verwandlungen der Kohle dünken uns die Verwandlungen des Kasachenjungen Beg Kushejew.
Er war Hirt im Kolchos „Parlikschyl", das in der Steppe des Bajaner Bezirks liegt, im nördlichen Kasachstan. Sein Vater konnte nur ganz leichte Arbeit tun, er war lahm; die Beys hatten ihn wenige Jahre nach der Revolution - sie glaubten damals noch, sie könnten mit den Sowjets und der Kollektivierung fertig werden, und überfielen alle Aktivisten und Agitatoren - halb totgeschlagen. Es fehlte an Saatkorn im Kolchos; der Vater und er wurden ausgeschickt, um welches zu beschaffen. Der Vater sollte auswählen und einkaufen; Beg sollte es heimschaffen. Sie nahmen zwei Wagen, drei Pferde und ein Kamel und fuhren nach Pawlodar. Beg Kushejew hatte noch nie eine so große Stadt mit so vielen Menschen gesehen. Sie suchten Saatkorn, aber sie fanden kaum eine Fuhre voll. Der Vater kaufte, was zu kaufen war und fuhr ins Kolchos zurück. Beg sollte sich noch in der nächsten Stadt umsehen und weiteres Saatgut besorgen. Die nächste Stadt war Slawgorod. Beg Kushejew brauchte eine Nacht, einen Tag und noch eine Nacht, um hinzukommen. Die Nächte waren sehr dunkel, aber Beg fürchtete sich nicht, er kannte die Steppe gut. Er dachte nur immer daran, ob in Slawgorod Saatkorn zu haben sein werde und dass die Leute vom Kolchos Parlikschyl auf ihn warteten. Slawgorod erschien ihm noch größer als Pawlodar. Es waren noch mehr Menschen auf den Straßen, man fühlte sich noch unbehaglicher, aber es gab Saatgut in Menge. Er kaufte eine Wagenladung Weizenkorn, ruhte nicht einmal aus, und fuhr gleich zurück. Er war müde, aber er sang. In der zweiten Nacht hielten ihn sechs Reiter an, Kasachen in abgerissenen Chalaten (Kaftanen) und alten Fuchsfellmützen, aber auf sehr schönen Pferden. Sie hatten einen leeren Wagen mit. „Wohin?" „Nach Hause." „Wo ist das?" „Parlikschyl!" „Das Kolchos?" „Ja."
Sie warfen sich auf ihn. Zwei hielten ihn fest, die andern luden seine Säcke auf ihren Wagen und fuhren davon. Die zwei hielten ihn noch eine ganze Weile, dann schnitten sie die Zugleinen an seinem Karren durch, jagten die Pferde in die Steppe hinaus und ritten den andern nach. „Wenn du nach Slawgorod zurückfährst und dort was sagst, zünden wir Parlikschyl an und schlagen dir den Schädel ein!"
Beg fing die Pferde ein, flickte die Zugleinen, fuhr nach Slawgorod zurück und erstattete Anzeige. Man borgte ihm ein paar Rubel, er machte Karren und Pferde zu Geld, kaufte nochmals Saatgut und schickte es bis Pawlodar. Den Leuten vom Kolchos schrieb er, sie sollten es sich dort abholen; er selbst werde erst zurückkommen, wenn er soviel verdient habe, wie Karren und Pferde wert seien. Er suchte Arbeit, fand aber keine passende; hörte von der Werbestelle des Kusnezker Kombinats, ging hin und ließ sich als Erdarbeiter anwerben. Er sollte mit drei anderen abreisen, aber die drei kamen nicht, - offenbar hatten sie es nur auf das Handgeld abgesehen gehabt; er selbst stieg in einen falschen Zug und landete nach langen Irrfahrten statt in Kusnezk in Magnitogorsk. Dort steckte man ihn zuerst in die Quarantänestation, dann, nach einer Woche, schickte man ihn in die mechanische Werkstätte. Zwei Tage lang suchte er die Abteilung, der er zugeteilt war; er traute sich nicht, zu fragen, es waren zu viele Menschen und Maschinen da, es gab zu viel Lärm und Bewegung. Endlich fand er die Werkstätte. Der Brigadeführer, zu dem er kam, sprach nur wenig kasachisch, aber er kannte alle kasachischen Schimpfworte. Außerdem war er ein Säufer. Er wurde „Chansha" genannt, weil ihm der gewöhnliche Schnaps nicht genügte und er sich seinen eigenen, sechzigprozentigen, aus Sprit oder Politur selbst mischte. Beg arbeitete als Handlanger. Die Arbeit gefiel ihm nicht, und „Chansha" gefiel ihm nicht; er war traurig und hatte Heimweh. Manchmal sah er den Leuten an den Drehbänken zu und wünschte sich, so geschickt zu sein wie sie, und so frech antworten zu dürfen, wenn „Chansha" zu krakeelen anfing. Als zwei Monate später „Chansha" auf Verlangen der Komsomolzelle entfernt wurde und die Brigade einen neuen Führer bekam, der nicht schimpfte und kein Säufer war, ging Beg zu ihm und fragte, ob ein
Kasache auch an der Drehbank arbeiten dürfe. Der Brigadeführer lachte und sagte: ja, gerade die Kasachen sollten an der Drehbank arbeiten lernen, und wenn er Lust habe, könne er gleich morgen beginnen. Er wurde neben einen Dreher gestellt und musste ihm zehn Tage lang bei der Arbeit zusehen, dann bekam er selbst ein Stück Stahl in die Hand und sollte versuchen, es anzubohren, aber er fürchtete sich vor den Funken, er dachte „Wenn du zu nahe herankommst, fängst du Feuer", und es verging fast eine Woche, bis er die Drehbank richtig anzufassen wagte. Den ersten Meißel, den er verfertigen sollte, verhaute er völlig, aber schon der zweite gelang, und von da ab bekam er seine eigene Drehbank; sie war schon alt, und man konnte nicht mehr viel an ihr verderben, aber es war eine richtige Drehbank, und Beg Kushejew fühlte sich stolz und glücklich, als man sie ihm zuwies.
„Sie war so etwas wie die Pferde oder Kamele zu Hause. Bisher war ich immer traurig geworden, wenn ich an Parlikschyl dachte. Ich dachte immer: ,Wie kann man hier auf die Dauer leben, so ganz allein, ohne Tiere, ohne Rad und Hof?' Und auf einmal hatte ich kein Heimweh mehr und sah: es lässt sich auch auf andere Weise leben; und eine Weile später wusste ich schon: auf die neue Weise lässt sich sogar besser leben, wenn man es nur versteht; und noch eine Zeit später wollte ich gar nicht mehr zurück. Ich ging zum Komsomol und ließ mich eintragen. Die Burschen dort gefielen mir: sie waren die besten Arbeiter, sie wussten so viel, und sie hielten zusammen; man war nicht verlassen, wenn man zu ihnen gehörte. Ich musste lesen und schreiben lernen, das ging nicht leicht, und ich erlernte es zuerst auch nur halb und halb; dafür ging mir das Rechnen sofort ein, das machte überhaupt Spaß. Weil ich gut rechnete und auch an der Drehbank nicht schlecht arbeitete, schickte man mich in die Werkschule. Vormittags saßen wir im Schulzimmer, nachmittags waren wir in der Werkstatt; abends besuchte ich den politischen Bildungskurs des Komsomol. Ich wollte wissen, wie alle Werkstätten, die man baute, arbeiten würden; man sagte mir, das stehe in den Büchern; ich lernte darum richtig und schnell lesen und las dann alle Bücher und Broschüren über Magnitogorsk, die ich auftreiben konnte. Später kam ich aber dahinter, dass die Bände von „Wissenschaft und Technik" viel besser sind, jetzt lese ich hauptsächlich die. Neulich habe ich erfahren, dass es Fernkurse gibt, die noch besser sind als die Bände von „Wissenschaft und Technik"; ich werde mir die Lektionen schicken lassen, sowie ich etwas mehr von Physik, Chemie und Geometrie verstehe; es ist nicht ganz leicht, die richtigen Bücher zu bekommen, aus denen man das lernen kann, aber ich werde sie schon auftreiben.
Meinen jüngeren Bruder Safa habe ich eingeladen, hierherzukommen; ich könnte ihn gut unterbringen, und er hätte es auch viel leichter mit dem Lernen, als ich es hatte; aber er will nicht von Parlikschyl weg. Ich werde ihn wohl selbst holen müssen. Vorläufig ist an Urlaub aber nicht zu denken, wir müssen doch die Mannschaft für die neuen Batterien anlernen, und im Herbst soll ich aufs Technikum. Sie wollen einen Meister aus mir machen. Später kann ich dann Ingenieur werden. Wenn ich Ingenieur bin, will ich Kohleverwertungsfabriken bauen, weil die Kohle mir so gut gefällt. Vielleicht finde ich auch etwas noch Interessanteres. Es gibt ja jetzt so viel Neues in der Welt, wir sind in der besten und glücklichsten Zeit geboren...
„Vier Grundstoffe gehören zur metallurgischen Produktion" erklärte uns, am Tag unserer Ankunft, als wir mit ihm am Fenster seines Arbeitszimmers standen und auf das Werk hinunterblickten, der Rote Direktor Gugel, „Erz, Koks, Kalk und Wasser. Die Erzbasis war von Anfang an gegeben; die Kalkbeschaffung konnte ohne besondere Schwierigkeiten organisiert werden; das Koksproblem lösten wir, indem wir Magnitogorsk und Kusnezk, das neue sibirische mit dem neuen Uralkombinat, die Kohle des Kusbass mit dem Erz der Magnetberge kombinierten; in den gleichen Waggons, in denen wir Erz nach Kusnezk schicken, kommt die Kusnezk-Kohle zu uns. Nur mit dem Wasser war das so eine Sache; ich glaube, es gibt kaum ein anderes Hüttenwerk, dessen Wasserversorgung soviel Kopfzerbrechen, soviel Mühe und soviel heroische Anstrengung gekostet hat (und zweifellos noch kosten wird). Die Schwierigkeiten schienen manchmal, besonders beim Bau des ersten Staudamms, unüberwindlich. Dass der Damm fertig wurde, vor dem festgesetzten Termin sogar, in hundertfünfundfünfzig statt hundertundachtzig Tagen, trotz Sandschlamm und Frost, kommt uns selbst heute noch, nach mehr als einem Jahr, nachdem wir Zeugen so vieler anderer glanzvoller Leistungen geworden sind, kaum glaublich vor.
Daran müssen Sie denken, wenn man Ihnen vielleicht etwas zu oft vom Bau des Staudamms bei Magnitnaja erzählen wird."
Ja, man erzählt uns oft davon. Jeder dritte oder vierte Mensch, mit dem wir zusammenkommen, erwähnt den Staudammbau zumindest; jeder fünfte oder sechste ist selbst mit dabei gewesen, als freiwilliger Helfer an den Ausgangstagen oder abends nach der eigenen Arbeit. Jetzt fahren wir hinaus nach Magnitnaja, um uns den Damm anzusehen.
Unser Begleiter, ein Ingenieur der Planabteilung - auch er war als Woskresnik-Arbeiter mit dabei - erzählt uns unterwegs, warum das Problem der Wasserversorgung so schwer zu lösen ist:
„Wir werden einen ungeheuren Wasserverbrauch haben. Achtzig Millionen Kubikmeter jährlich wird das Werk schlucken, und das auch nur im ersten Bauabschnitt, wenn nicht mehr als zweieinhalb Millionen Tonnen Roheisen im Jahr produziert werden; Eisenbahn und Stadt haben einen Jahresbedarf von zwei Dutzend Millionen Kubikmetern; weitere dreißig Millionen Kubikmeter müssen für die Gemüsegärten, Milchfarmen, Getreidesowchose, Schlachthöfe, Zuckerfabriken, Elevatoren, Mühlen, Kühlanlagen, Konservenwerke und Leichtindustriekombinate, mit denen sich die Steppe rund um Magnitogorsk bedecken wird, bereitgestellt werden. Alle diese Mengen - vier Kubikmeter in der Sekunde - muss der Uralfluss, unser wichtigstes natürliches Wasserreservoir, liefern. Aber der Ural ist ein Gebirgs- und Steppenfluss; die Frühjahrsfluten fließen sehr schnell ab, die Zuflüsse versiegen während eines großen Teils des Jahres völlig oder bis auf geringe Reste. Nur im April und Mai kann der Fluss die notwendige Wassermenge liefern, - da liefert er sogar viermal soviel - in den übrigen Monaten bestenfalls die Hälfte, manchmal nur ein Viertel, ja auch nur ein Achtel. Wir müssen deshalb ein ganzes System von Staubecken anlegen, um für die wasserarmen Monate Reserven zu schaffen. Aber selbst wenn wir, im zweiten Bauabschnitt, in unseren Staubecken und Seen zwei Milliarden Kubikmeter Wasser haben werden, müssen wir mit jedem Tropfen geizen. Wollten wir beispielsweise das Gebrauchswasser nur einmal verwenden und dann abfließen lassen, so würde die Hochofenabteilung allein hundertachtzig Millionen Kubikmeter im Jahr verbrauchen. Deshalb schaffen wir schon jetzt eine ganz große Pump-, Leitungs- und Klärungsanlage, und führen das bereits einmal verwandte Wasser erneut der Produktion zu. Auf diese Weise entnehmen wir die Hauptmasse des vom Werk benötigten Wassers der sogenannten Umsatzwassermenge und brauchen nur einen Bruchteil frischen Zustroms."
Dieser Fluss? Ja, das sei schon der Ural. Ob wir, um einmal über anderes als Kubikmeter zu sprechen, etwas von seiner Geschichte hören wollten? Er sei nämlich ein Fluss, der in allen Geschichtsbüchern des alten und auch des neuen Russland vorkomme. Das sagenhafte Volk der Tschuden habe an seinen Ufern gesessen und das erste Eisen in den ersten Schmelzöfen hergestellt; die wildesten Kosakenhorden des Zaren seien hier, am Jaik, wie der Ural früher hieß, „in Freiheit dressiert" worden: „für die Aufrechterhaltung der Unfreiheit"; in den Steppen, die der Ural durchfließt, habe Jemeljan Pugatschow die aufrührerischen Bauern gesammelt, mit denen er einen Augenblick lang den Thron der zweiten Katharina ins Wanken brachte; von hier aus sei nach der Oktoberrevolution der Bandenführer Dutow gegen die Sowjets marschiert; hier habe aber auch der verzweifelte Marsch des von der Roten Armee abgeschnittenen Korps Blücher begonnen: durch das von Koltschak besetzte Gebiet nach Kungura, wo die rote Hauptmacht stand. Große Kapitel einer großen Historie!
„Aber größer als die anderen ist das letzte, der Dammbau!" sagt der Dammwärter, der sich uns zugesellt hat; wir sind unterdessen am Wasser angelangt und vom Wagen gestiegen und gehen jetzt auf den Damm hinaus, dessen 101 sichelförmige Glieder den Fluss zurückstauen, so dass ein breiter See entstand. „Sie wissen, wie es beim Bau zuging? Nein, Sie können es nicht wissen! Sie waren ja nicht dabei.
Aber ich war dabei, vom ersten bis zum letzten Tag!"
Und dann müssen wir uns wieder einmal die Geschichte vom Bau des Magnitnaja-Staudamms erzählen lassen: Wie der Sandschlamm alle Anstrengungen der Erdarbeiter zunichte machte, alle Pumpen verstopfte, alle Pfeilerschächte, kaum dass sie ausgehoben waren, aufs neue füllte: „Man konnte ihm nicht beikommen, er floss von der Schaufel wie Suppe!" In Wasser und Schlamm versanken die Menschen, die Voranschläge, die Planziffern. Bis der Leiter des Erdarbeiterarteis Solowjow auf den Gedanken kam, das Flussbett durch Sandsackmauern in lauter Zellen zu teilen, jede dieser Zellen einzeln leerzupumpen, gleich auszuschachten und die Schächte mit Beton zu „plombieren".
Dann kam der Frost und machte das Betonmischen zur Qual und die Arbeit im Wasser zur Hölle, trotzdem wurde die verlorene Zeit eingeholt und das Fundament noch vor dem festgesetzten Termin fertig gemacht. „Wir arbeiteten bis zum Umfallen. Wir wussten nicht, ob es Tag oder Nacht war. Man steckte in einem Schmelzofen: entweder wurde man zu flüssigem Eisen, oder man verbrannte. Jeder Mann auf dem Bau wusste genau, wie viel Beton, wie viel Stein und wie viel Stahl schon verarbeitet war und noch verarbeitet werden musste. Es gab keine Bummler und Drückeberger; wir brannten sie aus. Ihre Namen standen in den Zeitungen und auf den Schwarzen Tafeln und auf den Zigarettenpäckchen und Streichholzschachteln. Die Ingenieure hatten ihre Feldbetten im Baubüro. Mein Sohn, er arbeitete als Meister an der Betonkanone, schlief sechs Tage hintereinander in Stiefeln und Kleidern im Materialschuppen. Man musste ihn durch Belegschaftsbeschluss zwingen, nach Hause zu gehen, zu baden und sich auszuschlafen. Jetzt arbeitet er in Angara, in der Taiga am Jenissej, wo das neue sibirische Riesenkombinat gebaut wird."
Rechts ab von der Straße, die Staudamm und Werk verbindet, liegt das Gebiet der „Sozialistischen Stadt". In einer Broschüre, die uns Beg Kushejew geborgt hat, ist beschrieben, wie sie aussehen wird: „Die Stadt Magnitogorsk wird im Schutz einer Hügelkette gebaut werden, südöstlich der Werke und um siebzig Meter höher als sie. Die vorherrschenden Südwestwinde werden Rauch und Gase nach der entgegengesetzten Richtung treiben; an windstillen Tagen wird der Qualm im Tal bleiben und die Stadt nicht erreichen. Magnitogorsk wird keine Wolkenkratzer kennen. Die Häuser werden höchstens vier Stockwerke haben, alle öffentlichen Gebäude und Kinderanstalten werden einstöckig sein.
In der Mitte der Stadt wird das Kulturzentrum liegen; die Theater, die Kinos, das Gewerkschaftshaus, das Sowjethaus, die Hauptpost, das Zentralwarenhaus, die Zentralgarage und ein Platz für Versammlungen. Die drei Haupttore des Werks werden durch Straßenbahnlinien mit der Stadt verbunden sein; für den Verkehr werden zwei Hauptstraßen freigegeben werden, die Querstraßen werden still und ruhig sein.
Jeder Stadtteil wird 9600 Menschen beherbergen, je 1200 in sieben Häusern mit Familienwohnungen und je 600 in vier Wohnkommunen mit Einzelzimmern. Jede Häusergruppe wird ihre Speisehalle, ihre Kinderkrippe, ihren Kindergarten haben; am Anfang jedes Stadtteils werden ein Postamt, die Klubs und die Warenhäuser liegen. In den Häusern wird es keine dunklen Korridore, keine gewundenen Treppen geben; die Fenster werden nach Osten und Westen gerichtet sein; zu jeder Wohnung wird ein Bad gehören.
Die Stadt wird sich in Grün kleiden. Hier, in der Steppe, wo das Gras abstirbt, bevor es noch zu reifen begonnen hat, soll eine Gartenstadt erstehen. Ein eigenes Kanal- und Berieselungssystem wird zu diesem Zwecke geschaffen werden müssen. Jeder Stadtteil wird eine Allee für Spaziergänge und Demonstrationen bekommen; alle großen Straßenkreuzungen werden in Grün getaucht sein; zwei Kulturparks mit einem Flächeninhalt von 25 Hektar sind projektiert. Breite Grünflächen werden Stadtteil von Stadtteil scheiden; rund um die Stadt soll sich ein Kranz von Erholungsheimen spannen; in Magnitogorsk soll das Leben des Arbeiters mit allen Bequemlichkeiten ausgestattet sein, die die heutige Technik schaffen kann." So wird die „Sozialistische Stadt" einmal aussehen. Das steht nicht nur in der Broschüre, das erklärt nicht nur die Werksleitung, das behauptet nicht nur der Ingenieur der Planabteilung, mit dem wir sie durchstreifen; das sagen auch die Bauarbeiter, die sie bauen, und das glauben auch die Menschen, die heute schon in ihr wohnen, - was erstaunlich und unglaublich und tröstlich und ermutigend ist, denn die „Sozialistische Stadt" von heute lässt noch nichts von ihrem morgigen Gesicht sehen. Die „Sozialistische Stadt" ist einstweilen kahl, unfertig, schmutzig; sie ist erst zum kleinsten Teil aus der Erde gewachsen, aber sie ist schon übervölkert.
„Wir haben eben keine Zeit, zu warten, bis alle Häuserfronten verputzt und alle Balkone mit Geländern versehen sind!" sagt der Ingenieur aus der Planabteilung, wie wir, nach einem langen und ermüdenden Streifzug durch die Stadt mit ihm und vier anderen, einem Arzt, einem Kooperativleiter, einem alten Bauarbeiter und dem Gehilfen eines Roten Direktors um einen Tisch der Zentralspeisehalle sitzen. „Jeden Tag treffen Hunderte neuer Arbeiter ein und müssen untergebracht werden; wir kommen mit dem Barackenbau kaum nach, wir haben Mangel an Zelten, da können wir nicht ganze Häuserblocks leerstehen lassen, nur weil das elektrische Licht in den Zimmern noch nicht funktioniert oder die Fensterflügel fehlen. Ein Dach und vier Wände, das ist die Hauptsache, alles andere hat Zeit bis später." Der Arzt wendet ein:
„Das mag ja richtig sein, aber dann hätte man sich auf den Bau von Baracken und Blockhäusern beschränken sollen; die sind schneller gebaut und kosten weniger. Auch entsprechen sie viel besser den Verhältnissen, unter denen wir vorläufig hier leben und arbeiten müssen. So aber hat man gleich eine richtige Stadt zu bauen angefangen, lauter Steinhäuser mit Badezimmern und Wasserklosetts und Fernheizung, und dann hat man nicht einmal so lange warten können, bis die Wände trocken waren und die Türen Klinken hatten! Jetzt sitzen die Leute in den feuchten Zimmern, die Heizung arbeitet noch nicht, sie stellen Kanonenöfen auf und durchbohren die funkelnagelneuen Mauern, damit der Rauch hinaus kann; in den Badewannen wird geschlafen und die Aborte sind abgesperrt, weil zwar Porzellanmuscheln da sind, aber die Wasserleitung nicht genug Druck hat!"
„Und zu all dem noch das Ungeziefer!" ergänzt der Kooperativleiter. „Die Wohnungen waren ja schon verwanzt, bevor die ersten Bewohner einzogen!" „Das kommt daher", erklärt der alte Bauarbeiter, „dass viele von den Erdarbeitern und Handlangern in den Neubauten übernachten, obwohl es verboten ist!" Der Ingenieur meint:
„Wo steht denn geschrieben, dass die Handlanger voller Ungeziefer sein müssen? Aber da sieht man wieder einmal, wie unsere Hygienefritzen arbeiten!" Der Arzt ereifert sich:
„Wie können wir alles Ungeziefer vernichten, wenn wir nicht genug Desinfektionsbaracken und Autos haben?! Sowie man irgendetwas braucht, heißt es immer: ,Zuerst die Hochöfen, zuerst das Werk, und dann erst alles andere!' Seit Wochen kämpfen wir um die Bauarbeiter, die uns die neue Quarantänestation auf dem Bahnhof bauen sollen; Holz haben wir schon ergattert, Ziegel, Kalk, Sand, Wellblech, alles haben wir erbettelt oder erpresst, nur die Arbeiter sind nicht da. Und dabei müssten wir nicht nur die Station bauen, sondern auch zwei neue Bäder!" „Was nützen Bäder", wirft der Gehilfe des Roten Direktors ein, „wenn ihr es mit Kirgisen zu tun habt?! Ich will euch eine Geschichte erzählen. Da haben wir für unsere Fabrik ein herrliches Bad gebaut mit Duschen und Wannen und einem kleinen Bassin; die Desinfektionskammer arbeitet tadellos, die Wäsche wird in ihr nicht gelb, und wenn doch einmal etwas beschädigt wird, haben wir Ersatzstücke da: zweihundert Hemden und Unterhosen und Fußlappen. Sogar Seife geben wir kostenlos ab. Aber glaubt ihr, dass die Kirgisen das Bad benutzen? Zuerst kamen sie überhaupt nicht, ,Baden macht krank!' sagten sie, ,das Pferd steigt auch nicht in heißes Wasser!', und als sie dann plötzlich das Bad zu besuchen anfingen, kamen wir dahinter, dass sie bloß die Seife einsteckten, um sie nach Hause zu schicken; selber benutzten sie sie nicht!" Der Ingenieur bemerkt:
„Man müsste eben die Kulturarbeit erhöhen!"
„Wie kann man das", fragt der Arzt, „wenn kaum genug kirgisisch sprechende Instruktoren für die Anlernkurse da sind? Die Liquidatoren und Lehrer, die unter den Kirgisen arbeiten, könnt ihr an den Fingern abzählen!"
Der Gehilfe des Direktors ergänzt:
„Und außerdem: wo sollen die Leute Zeit zum Lernen hernehmen? Gestern musste ich wieder einmal zwei Stunden lang anstehen, um Tabak zu bekommen, und meine Frau war neulich vier Stunden lang in der Schlange und hat zum Schluss die Schuhe, die sie haben wollte, doch nicht bekommen. Rechnet euch mal aus, was erst so ein Kirgise an Zeit verliert!"
„Das liegt am Transport, Genosse", beeilt sich der Kooperativleiter zu versichern, „wenn der Transport besser klappte, würden die Kooperativen besser arbeiten. Ich selbst habe zwei Waggons Waren in Tscheljabinsk liegen und kann sie nicht hierherbekommen, weil die Strecke überlastet ist. Der Transport hinkt nach, Genossen, das ist es!"
„Wie soll er nicht nachhinken?" gibt der Arzt zu bedenken. „Das Werk frisst von Tag zu Tag mehr Rohstoffe und Maschinen; von allen Ecken und Enden schicken sie Züge nach Magnitogorsk... und zehn Züge sind eben schneller abgeschickt, als zehn Meter neue Schienen gelegt werden. Und dann haben wir kaum dreißig Prozent geübter Eisenbahner, der Rest hat vor einem Jahr noch die Mistfuhre und nicht den Zug gefahren. Man müsste ein paar hundert Schlosser und Mechaniker aus den Werkstätten in den Transport hinüberwerfen!" Der Ingenieur meckert.
„Ein paar hundert Schlosser und Mechaniker! Wissen Sie, wie viel gelernte Arbeiter unter den zweihundertundfünfzigtausend Menschen sind, die hier arbeiten? Kaum siebzigtausend, die andern sind noch halbe Bauern oder Nomaden; die müssen erst zu Arbeitern erzogen werden, und das dauert manchmal länger als der Bau einer Werkstätte! Es fehlt an Kadern, da steckt der Urschaden!" Es tritt eine Pause ein. Dann sagt der alte Bauarbeiter:
„Ja, es fehlt an Kadern, Genossen. Aber warum? Wir wachsen so stürmisch, das ist es. Wir bauen ein Krankenhaus in einem Jahr, aber wir backen einen Arzt nicht in zwölf Monaten fertig. Wir richten eine Fabrik in zwei Jahren ein, aber wir müssen einen Studenten drei Jahre lang lernen lassen, bevor er in ihr als Ingenieur arbeiten kann. Was ist da zu tun? Keine Krankenhäuser und Fabriken bauen?
Das geht doch nicht. Da muss eben vorläufig ein Mann die Arbeit von zweien übernehmen... Ihr sagt: es fehlt hier an etwas und dort an etwas, und es fehlt tatsächlich sehr viel, aber man muss sehen, warum es fehlt. Das hängt mit dem Wachsen zusammen. Das Land ist wie ein Junge in den Flegeljahren, der wächst auch aus allen Kleidern heraus; eben hat er eine neue Hose bekommen und schon ist die Jacke wieder zu eng, heute setzt du die Ärmel an und morgen musst du die Hosenbeine verlängern. Gewiss, es gibt außerdem noch Unwissenheit und Schlamperei und Dummheit und Gleichgültigkeit; wir wirtschaften nicht immer so, wie wir sollten; wir reden oft lieber von Disziplin, als dass wir sie halten; wir vergessen oft über dem Tempo die Qualität, und über den Erfolgen die Mängel; kurz, es klappt noch vieles nicht, Genossen; aber ich glaube, man muss die Dinge richtig sehen. Es kommt auf die Proportionen an, wie die Techniker sagen. Auf die richtigen Proportionen, Genossen!... Das, was wir bauen, ist ein neues Jahrhundert; das, was uns drückt, ist eine Unzulänglichkeit, die einen Monat, ein Jahr, drei Jahre dauert.
Man muss die Mängel und Schwierigkeiten richtig sehen; im Verhältnis zu dem, was schon geschaffen wurde und was unter unseren Händen entsteht. Wenn du dir den Daumen vors Auge hältst, verdeckt er dir einen ganzen Berg.
Man soll sich den Daumen nicht vors Auge halten, Genossen; ich meine, das soll man nicht!"
Seit drei Tagen wartet Magnitogorsk auf das erste Roheisen der „Komsomolka", des von Komsomolzen erbauten und von Komsomolzen bedienten Hochofens Nummer II. Die Zeitungen, die Wandzeitungen, die Anschlagbretter, die Transparente, die Versammlungsreden haben alle nur ein Thema: „die Komsomolka".
Vorgestern hat man zum letzten Mal den ganzen Mechanismus geprüft; gestern wurde die erste Beschickung vorgenommen; heute wird der erste Anstich sein. Zehntausende, die Freischicht haben, sind gekommen, um dem Anstich beizuwohnen. Sie füllen das ganze Gelände des Hochofenwerks, warten auf den Augenblick, da der erste flammende Strahl in den Muldenwagen schießen wird, der unterhalb der Ofenplattform schon bereitsteht. Oben auf der Plattform wartet man auch. Dichtgedrängt stehen hier die Delegationen der Bau- und Betriebsbelegschaften, die Stoßbrigadler, die den Ofen gebaut haben, die Mitglieder des Komsomolkomitees, der Betriebsleitung, des Gewerkschaftsrats, Abgesandte aus Swerdlowsk und Moskau, Berichterstatter, Parteifunktionäre, Vertreter der Kolchosbauern aus der Steppe, Ingenieure, Techniker, ausländische Spezialisten.
Alex macht mich auf einen Mann aufmerksam, der von seiner Umgebung seltsam absticht. Er trägt einen schwarzen Anzug und - was man hier wohl kaum ein zweites Mal finden dürfte - einen steifen Kragen; auf seiner Nase sitzt ein goldgefaßter Kneifer, unterm Arm hat er eine große Aktenmappe. Ein Ausländer? Aber nein, eben spricht er mit seinem Nachbar russisch, weich und rein, wie nur ein Russe.
Unsere Aufmerksamkeit wird von ihm abgelenkt. Der diensthabende Ingenieur ist an den Hochofen herangetreten und blickt durch ein dunkles Glas in das Guckloch. Dann sieht er auf die Uhr. Der Ofenmeister macht eine fragende Geste zu ihm hinüber, aber der Ingenieur winkt ab: noch nicht!
Über den stählernen Ofenmantel fließt das Kühlwasser. Dort, wo es von einem „Stockwerk" auf das nächst tiefere hinunterspringt, bildet es winzige Wasserfälle; auf den untersten Platten gerät es ins Sieden, ein leichter, bläulich-weißer Dampf steigt hoch.
In den mächtigen Gebläserohren, die sich wie Riesenschlangen um den Ofenrumpf winden, pfeift die heiße Luft, die aus den Cowpers, den „Vorwärmern", in den Ofen gepresst wird: anderthalb Millionen Kubikmeter in der Stunde, verzwanzigfachter Samum, achthundert Grad heiß.
Über die schräge Förderbahn klettern die Kübel mit Erz, Kalk und Koks von den Bunkern zur „Ofengicht" hinauf, machen vor dem Fülltrichter halt, kippen ihren Inhalt in den Verteiler, der die „Beschickungsmasse" mischt und in den Ofenschlund hinunterbefördert. Das Wasser rauscht. Die Heißluft zischt und pfeift. Die Förderkübel rollen und poltern. Durch all diese Geräusche aber schwingt das tiefe, klingende Brummen des Ofens, in dessen Bauch das erste schmelzende Erz rumort. Die Arbeiter der Anstich-Schicht stehen um das verklebte Gussloch herum. Alles ist vorbereitet: die Sanddämme, zwischen denen der Eisenstrom zum Rand der Plattform fließen wird, sind geprüft; die langen Eisenstangen, mit denen man den ersten Anstich ausführen wird (später wird das die „Müllen-Bohr-Maschine" besorgen, die eben erst auf dem Bahnhof angekommen ist), liegen griffbereit da; in hohem Stapel sind die Asbestplatten aufgeschichtet, mit denen man den glühenden Bach überbrücken wird, um die Kübel mit feuerfestem Lehm zur „Brosiuskanone" tragen zu können, die nach dem Guss das Gussloch wieder schließt.
Neben uns erzählt jemand vom ersten Anstich des Hochofens Nummer I:
„Es war so kalt, dass man überall rundherum Holzstöße anzünden musste. Den Leuten, die die Berieselungsanlage kontrollierten, froren beinahe die Hände ab. Und auf einmal lief das Wasser nicht mehr. Rohrbruch beim Brunnenschacht einundvierzig. Wir alle hin, mit Hauen und Spaten; wir wussten, wenn das Wasser eine halbe Stunde lang nicht läuft, geht der Hochofen in die Luft. Der Boden war wie Stahl, die Spaten glitten einfach ab. Als wir endlich bis zum Rohr durch waren und das Eis aufgetaut hatten, mussten die Schlosser ins Wasser hinunter, bei vierzig Grad Kälte. Aber geflickt wurde das Rohr doch!" Und ein anderer darauf:
„Ja, und in der Werkskanzlei saß die ganzen drei Tage lang ein Mensch bei den Telefonen, der war zufällig dorthin gekommen, er hatte etwas ganz anderes in Magnitogorsk zu tun, aber die Telefone ließen ihn einfach nicht mehr los; er war unrasiert und ungewaschen, und sah aus wie das leibhaftige Jahr neunzehnhundertneunzehn..." Ein Komsomolze mit dem Stoßbrigadlerabzeichen zeigt seinem Mädchen den Ofenring, an dem er die Nieten geklopft hat; sein Nebenmann, ein Betonarbeiter, kann auf seine Arbeit nicht mit dem Finger weisen, aber dafür beschreibt er den Platz ganz genau: „Dort links unten, wo der zweite Cowper steht; hundertundelf Prozent des Tagespensums haben wir in der schlechtesten Zeit geschafft, nie weniger!"
Der diensthabende Ingenieur hebt den Arm. Durch die Menge der Wartenden geht eine Bewegung. Der erste Stoß donnert gegen den Tonpfropfen des Gussloches. Schon?
Nein, noch nicht. Größere Stangen werden herangeschleppt; lauter donnern die Stöße gegen den hartnäckigen Pfropfen.
„Eins-zwei: los! Eins-zwei: los!"
Die Männer an den Stangen schwitzen, man sieht deutlich, wie ihnen das Wasser über Stirn und Nacken rinnt. Der Menge bemächtigt sich eine leichte Unruhe. Sie rückt näher an den Ofen heran. „Geht es nicht?" „Was ist geschehen?" „Los, packt mit an!"
Zwei, vier, zehn, zwanzig Männer werfen ihre Jacken ab, laufen zu den Arbeitern an den Stangen, fassen mit an: „Eins-zwei: los!"
Fast die ganze Betriebsleitung ist unter den Helfern, auch Fadejew, der Sekretär des Komsomol. Alle haben sie schon rußige Hände, rote Gesichter; allen rinnt der Schweiß über Nacken und Stirn. „Achtung! Zurück!"
Rasselnd fliegen die Stangen zur Seite. Eilig ziehen sich die Menschen zurück. Ein kurzes, fauchendes Zischen wie von hundert Dampf ablassenden Lokomotiven, dann sprüht ein Stück flammender Sonne aus dem Gussloch; faustgroße Funken wirbeln durch die Luft; in feuriger Kaskade springt der erste Roheisenbach aus dem Ofen in die Gussrinne. „Urrah!"
Draußen, auf dem Werksgelände, wiederholt sich das „Urrah!" noch zweimal, auf der Plattform jedoch bricht schon das erste jäh ab. Der Feuerbach hat den rechten Sanddamm an zwei Stellen durchbrochen: zwei Hydren, jede mit zehn züngelnden Köpfen, kommen aus den Breschen hervorgekrochen.
Für einen Augenblick erstarren alle Menschen hier oben auf der Plattform. Dann gehen sie- von einer einheitlichen,
großen Bewegung wie von einer Woge getragen - auf den entfesselten Eisenstrom los. Hier hat einer eine Schaufel erwischt, dort einer eine Asbestplatte, dort ein dritter ein Stück Blech; alle werfen Sand auf die flüssige Glut: mit Werkzeugen, mit Latten, mit den bloßen Händen. Drei Minuten später sind die Breschen geschlossen. Sprudelnd und flammenüberzüngelt, aber gebändigt, fließt der eiserne Bach in den Muldenwagen. Um ihn, um das erste Metall aus „ihrem" Hochofen, tanzen die Komsomolzen und Komsomolzinnen der ersten Nieterstoßbrigade einen wilden Tanz. Der Diskant der Mädchenstimmen übertönt von Zeit zu Zeit das Getöse des Gusses:
„Nas pobit, pobit choteli,
No my ne sdawalis im..."
„Sie wollten uns schlagen, schlagen, Wir aber ergaben uns nicht..."
Die Menschen rund um uns drängen sich an das Geländer oberhalb des Muldenwagens. Nur der Mann im dunklen Anzug und steifen Kragen bleibt stehen und wischt mit langsamen Bewegungen einen Rest Sand von seiner Aktenmappe. Er hat vorhin - mir wird erst jetzt bewusst, dass ich ihn dabei gesehen habe - wie all die andern Sand geschaufelt: mit der großen, mattglänzenden Aktenmappe, deren Nickelschloss er eben anhaucht und poliert. Aus dem Ofen versuchen jetzt, hinter den letzten Güssen flüssigen Eisens her, die erhitzten Gase auszubrechen. Tausend weiße, gelbe und rote Flammenzungen schießen aus dem Gussloch, aber schon ist die Brosiuskanone da und speit eine erste Ladung feuerfesten Tons gegen die Öffnung. Wie ein Riesenpfauenrad breiten sich die Flammen aus, wollen wachsen, werden aber gedrosselt und sterben. Der Mann mit dem steifen Kragen ist mit dem Polieren fertig; er klemmt die Mappe unter den Arm und geht.
Zwei Tage darauf begegnen wir ihm wieder. In der Speisehalle des sogenannten Amerikanerdorfs, wo die Ausländer und einige russische Spezialisten wohnen. „Schau, er ist genau so angezogen wie das letzte Mal!" sagt Alex, „wir haben also falsch geraten; er hat sich nicht etwa zur Feier des Anstichs in Gala geworfen, er geht immer in Schwarz, und auch den Halspanzer trägt er anscheinend alle Tage! Ob er nicht doch ein Ausländer ist?" Nein, er ist kein Ausländer. Er ist Russe.
„Von mütterlicher Seite her sogar mit einer der vierunddreißig Familien verwandt, die ihre Abstammung von den Ruriks (Anm.: der Waräger, war der Gründer der ersten - Nowgoroder - russischen Dynastie (862 u. Z). Sein Geschlecht regierte, mit einigen Unterbrechungen, bis 1398, dann erlosch es, doch führten 34 adlige Familien ihren Ursprung auch weiterhin auf ihn zurück.) herleiten!" erklärt er uns lächelnd, wie wir mit ihm ins Gespräch kommen. Dann nennt er seinen Namen. „Das hätten wir vorgestern wissen sollen", sagt Alex, „da hätten wir Sie selbstverständlich geknipst, wie Sie gerade mit ihrer Aktentasche Sand schaufelten. Welche Sensation für eine europäische Boulevardzeitung: Nachkomme der Ruriks schippt begeistert..." Alex bricht ab.
Das Lächeln unseres Gegenüber ist so seltsam geworden, so herausfordernd ironisch und mitleidig. Er merkt, dass wir das merken, und sagt:
„Sie müssen entschuldigen, aber es kam mir so komisch vor, dass Sie glaubten, ich sei begeistert gewesen!..." Was er damit meine?
Oh, nichts Besonderes. Nur: ob Alex denn nicht richtig gehört habe, als er vorhin seinen Namen nannte. Und er wiederholt ihn.
„Nun?" Er sieht zuerst Alex, dann mich erwartungsvoll und lauernd an. „Haben Sie ihn wirklich noch nie gehört?" Er wendet sich zu mir: „Sie sagten doch vorhin, Sie seien im November und Dezember dreißig in Moskau gewesen; erinnern Sie sich nicht, damals den Namen gehört oder gelesen zu haben?"
„Nein... oder... warten Sie... aber das ist doch unmöglich!"
Doch, es sei möglich! Er gehöre zu den Verurteilten im Prozess gegen die Angehörigen der sogenannten Industriepartei des Professors Ramsin.
„Zum Tode verurteilt und nachher zu zehn Jahren strenger Einschließung begnadigt!... Ja ja, ich bin wirklich das, was man hierzulande einen Schädling nennt!" Pause.
Wie er hierherkomme, und was er in Magnitogorsk treibe? Man habe ihn schon vor längerer Zeit bedingt aus der Haft entlassen. Er arbeite hier als Ingenieur. „Ich bin übrigens nicht der einzige ,Ramsinmann' hier; wir sind unser dreizehn, alles hochqualifizierte technische Spezialisten. Wir arbeiten an leitenden Stellen. Einer beispielsweise ist der Chefingenieur!" Ob er denn... hm... wie denn das sei mit dem Leben hier... wo er denn wohne und...
„Ach, Sie meinen, ob ich etwa nachtsüber eingesperrt werde oder unter Bewachung stehe? Nein, ich bewege mich hier völlig frei. Ich muss mich nicht einmal bei der Miliz oder GPU melden, wenn ich mal auf ein paar Tage verreise (aber wahrscheinlich wissen sie schon, wo ich stecke). Ich bin hier Ingenieur wie irgendein anderer; ich bekomme ein Spezialistengehalt; man hat mich in einem der Amerikanerhäuser untergebracht; ich bin sogar der Ausländerküche zugeteilt worden. Natürlich bin ich meinem Roten Direktor verantwortlich, und mein Assistent ist ein Widwishenez (Anm.: Techniker, Ingenieur, Redakteur. Arzt, kurz Spezialist, der vorher Arbeiter oder Bauer gewesen ist, eine Art Gegenstück zum Selfmademan, ein „Collectivmademan", wenn man so sagen darf.), aber ich werde - wenigstens konnte ich bisher das Gegenteil niemals feststellen - nicht strenger kontrolliert als jeder verantwortliche Arbeiter. Im Betrieb befolgt man meine Anordnungen aufs genaueste; natürlich wissen die Stoßbrigadenführer, die Parteileute, die Komsomolzen im Betrieb, wer ich bin, und wahrscheinlich passen sie insgeheim sehr scharf auf mich auf, aber sie zeigen es nicht... Wie ich zu den Bolschewiken stehe? Ich bin nicht gerade ihr Freund, nein, das kann ich nicht behaupten, aber ich habe auch keine Konflikte mehr mit ihnen. Viele meiner früheren Kameraden haben kapituliert, nicht nur physisch, auch innerlich: sie sind, ich habe keinen Grund an ihrer Ehrlichkeit zu zweifeln, aufrichtig überzeugt, dass der Kommunismus der einzige positive Weg für unsereins sei; sie glauben an die Richtigkeit des ganzen Systems. Ich bin nur überzeugt, dass die Bolschewiken und ihr System stärker sind, als ihre Feinde annehmen; ich weiß nur, dass unsere Aktion gegen die Sowjets gescheitert ist. Unsere Pläne waren auf falschen Voraussetzungen aufgebaut; wir haben falsch gesetzt und verspielt; sie hätten uns mit gutem Recht liquidieren können, ganz so, wie wir sie liquidieren wollten. Sie haben es nicht getan, ob aus einem Gefühl der Sicherheit und Stärke oder aus politischen Gründen, sei dahingestellt. Sie haben uns am Leben gelassen. Sie haben uns schon im Gefängnis die Fortsetzung unserer wissenschaftlichen Arbeit erlaubt. Sie haben den meisten von uns die Möglichkeit gegeben, schon nach kurzer Zeit das Gefängnis mit der Fabrik zu vertauschen. Nicht aus Menschenfreundlichkeit. Sie brauchen qualifizierte wissenschaftliche Kräfte. In meinem Fach beispielsweise gibt es kaum ein Dutzend russische Spezialisten. Man braucht Leute wie mich in der Produktion, man holt sie heran, wenn das irgendwie möglich ist. Man hat mich herangeholt. Man hat mit mir gewissermaßen ein Geschäft gemacht: ich werde aus der Haft entlassen, ich bekomme eine Stelle als Spezialist, ich werde nicht anders als meine Kollegen behandelt, dafür habe ich gute und präzise Arbeit zu leisten. Ich bin auf das Geschäft eingegangen, ich bekomme, was mir zusteht, und ich leiste, was ich zu leisten habe, das ist alles. Dankbarkeit gehört nicht zu meinen Obliegenheiten, und ich empfinde sie auch nicht; ich habe nichts übrig für Gefühle, aber auch die Bolschewiki sind nicht sentimental. Ich weiß, sie würden mich ohne Zögern an die Wand stellen, wenn ich ein zweites Mal meine Finger in einer Ramsinsache hätte. Ich werde mich hüten. Nicht aus Angst, sondern weil es Wahnsinn wäre, zweckloses Opfer. Nur Dummköpfe opfern sich ohne Zweck. Ich bin kein Dummkopf!... Warum ich vorgestern mit geschaufelt habe? Oh, nicht etwa, um mich bei irgend jemand lieb Kind zu machen, ich bin kein Kriecher, es würde mir wahrscheinlich auch nicht gelingen, mir mit solchen Mätzchen eine gute ,Sittennote' zu holen; sehen Sie, ich war oft in England und habe eine Schwäche für gewisse englische Eigenschaften und Sitten. Sie mögen es vielleicht einen spieen nennen oder eine Schrulle, aber ich habe nun einmal sehr viel übrig für fairness im Kampf, und ich liebe die großzügige Geste des ,Eine-Chance-Gebens'. Die Bolschewiki haben mir eine Chance gegeben; sie konnten mich vor die Gewehrläufe stellen, oder im Loch sitzen lassen, aber sie haben mir die Möglichkeit geboten, in verhältnismäßiger, ja geradezu in unverhältnismäßiger Freiheit zu arbeiten und zu leben. Gut, da habe ich mir gesagt, ich gebe den Bolschewiki auch eine Chance. Sie sollen einmal ungestört, wenigstens von mir ungestört und ungestört auch durch alle Hindernisse, die ich bemerken und beseitigen kann, arbeiten; sie sind verteufelte Kerle, das muss ihnen auch der Gegner lassen, sie haben eine tolle Energie, jetzt sollen sie einmal zeigen, ob ihr System ebenso gut ist wie ihre Nerven. Ich gebe ihnen bis zum Ende des dritten Fünfjahrplans eine Chance. Ich bin heute fünfzig, aber in unserer Familie lebt man lange; ich rechne bestimmt damit, mindestens so alt zu werden wie mein Vater und Großvater, die wurden beide sechsundneunzig. Ich habe also noch genug Zeit.
Ich kann den Bolschewiken ruhig ein Jahrzehnt lang eine Chance geben."
„Und wenn Sie nach zehn Jahren einsehen, dass das System der Bolschewiki ebenso gut ist wie ihr Elan und ihre Widerstandskraft?"
„Dann streiche ich die Flagge. Dann gehe ich hin und melde mich bei der Partei als Kandidat. Sie werden für mich dann eine doppelte, eine dreifache, eine fünffache Probezeit ansetzen, das wäre nur in Ordnung. Aber ich bin ja, wie ich schon sagte, aus einer zähen Familie; ich würde auch als Achtzigjähriger noch meinen Mann als ,Jungkommunist' stellen, ich würde noch mindestens sechzehn Jahre und eine Menge nützlicher Leistungen vor mir haben. Ja. Manchmal stelle ich mir vor, wie das dann sein würde...
Aber was rede ich da zusammen? Mir scheint, ich werde sentimental, und Sentimentalitäten kann ich nicht leiden!"
Fast sechs Stunden lang haben wir das mit Gerüsten und Schuppen, provisorisch gelegten Schienensträngen und halbfertigen Eisenkonstruktionen bedeckte Gebiet des Walzwerks durchstreift. Ilja Alexejewitsch Panjenkow, Agitmass und Kultprop (Anm.: Agitmass = Leiter der Massenagitation; Kultprop = Leiter der Kulturpropaganda.) der zweiten Schlosserstoßbrigade ist uns ein sehr strenger Führer gewesen: alles mussten wir uns ansehen, nichts wurde uns „geschenkt", in jede Baugrube mussten wir hinuntersteigen, auf jedes Baugerüst mussten wir hinaufklettern, kein Kran, kein Montageplatz wurde ausgelassen.
Jetzt endlich dürfen wir ausruhen. Das heißt: nur die Füße dürfen ausruhen, Augen und Ohren bekommen auch weiter zu tun, denn Ilja Alexejewitsch fasst jetzt nochmals zusammen, was er uns auf dem Gang durch das werdende Werk erzählt hat: noch einmal prasseln die Zahlenkaskaden auf uns nieder, noch einmal müssen die Augen den ganzen Weg machen, noch einmal bekommen die Ohren alle Fachausdrücke und die dazu gehörigen Erläuterungen zu hören. Noch einmal muss sich unsere Einbildungskraft das Werk so vorstellen, wie es in einem halben Jahr dastehen und in drei viertel Jahren arbeiten wird:
.....und dort drüben, wo jetzt der Bretterstapel ist, wird ein kleines Glashaus auf Stelzen stehen, so etwas wie ein Bahnblockwerk. In dem Haus werden zwei Menschen sitzen, der Obermechaniker und der Mechaniker. Der Obermechaniker wird nach dem „Tiefenofen" hinüberschauen und ein Kommando geben, und der Mechaniker wird einen Hebel umlegen; im selben Augenblick wird sich einer der Schächte des „Tiefenofens" öffnen, in dem der aus dem Martinswerk gekommene Stahl auf die für seine Bearbeitung notwendige Walztemperatur gebracht wurde; ein Blockkran wird seinen riesigen Angelhaken in den Schacht hinunterlassen und einen glühenden Fünftonnen-Stahlblock emporziehen; wieder ein Kommando des Obermechanikers, wieder ein Hebeldruck des Mechanikers: ein Elektro-Kippkarren rollt unter den Kran und
nimmt den glühenden Block auf, dann führt er zum ,Blooming' hinüber und kippt seine Last auf den ,Rollweg'. Neben dem Blooming wird ein zweites Glashäuschen auf Stelzen stehen; auch in diesem Häuschen werden zwei Männer vor einem Schaltwerk sitzen; auch hier wird der eine ein Kommando geben und der andere an den Hebeln zu hantieren beginnen. Die Rollen werden sich in Bewegung setzen und den Stahlblock zum Maul des Bloomings, der gigantischen Blockwalzmaschine, tragen; der Block wird zwischen den ersten Walzen verschwinden, wird gleich wieder zum Vorschein kommen, kein Block mehr, sondern nur noch ein dicker, platter Riegel; wird wieder im Blooming verschwinden und wieder zum Vorschein kommen und wieder verschwinden und von neuem zurückkommen, fünfzehnmal in hundertundzehn Sekunden, und zum Schluss wird er nur noch eine dünne Schlange sein, zwanzig Meter lang statt der anderthalb, die er vor dem ersten Verschwinden gemessen hat, zwanzig Zentimeter hoch statt eines Meters. Neunhunderttausend Tonnen Walzgut werden im Jahr durch jeden unserer drei Bloomings laufen und sich in Schienen und Traversen und Winkeleisen und Draht und Quadrateisen und Grubenschienen und T-Träger und U-Eisen verwandeln. Im ersten Bauabschnitt! Im zweiten Bauabschnitt werden es um drei Fünftel mehr sein. Dann kann Gary einpacken!" Er macht eine Pause. Offenbar überlegt er, ob er nicht noch etwas ergänzen soll. Aber es scheint alles gesagt zu sein. Er fragt: „Habt ihr alles verstanden? Wollt ihr noch etwas wissen? Ist euch noch etwas unklar?" „Nein, es ist uns nichts mehr unklar. Oder doch: wer oder was ist Gary?"
Ilja Alexejewitsch reißt den Mund auf, macht ganz große Augen: „Ihr wisst nicht...?"
Nein, wir wissen nicht. Dieses Geständnis ist, wir fühlen es sehr gut, tief beschämend, denn obwohl Ilja Alexejewitsch uns sonst jeden Fachausdruck, jede Vorrichtung, jeden Arbeitsvorgang erklärt hat, ohne erst auf eine Frage zu warten, weil er von Anfang an davon überzeugt war, dass die ihm anvertrauten Fremden blutige Laien seien, die nicht einmal von der Form eines „T" oder „U", geschweige denn von Kokillen und Walzstraßen, Tiefenöfen und Cross-Sountry-Walzen eine Ahnung haben; obwohl uns also Ilja Alexejewitsch jede Kleinigkeit erklärt hat, ist ihm das Wissen darum, wer oder was Gary ist (ein Erfinder oder eine Aktiengesellschaft; ein lebendiger Mensch wie Ford oder ein bloßer Name wie Skoda; ein Professor aus Frankreich oder eine Fabrik in Sheffield), ist ihm die Bekanntschaft mit diesem geheimnisvollen Gary, der oder das in jedem dritten Satz vorkam (das hier werden wir machen, wie es Gary macht, dort das werden wir anders machen, als es Gary macht), offensichtlich als ein Teil jener primitiven Kenntnisse erschienen, deren Besitz man bei jedem halbwegs normal geratenen Erwachsenen einfach voraussetzen muss.
„Ihr wisst das also nicht...?"
Ilja Alexejewitsch schöpft tief Atem. Wir sind auf eine Flut von Ausrufen, einen Strom von Erklärungen gefasst, aber da besinnt er sich anders. Er winkt einen der Jungen heran, die unweit von uns mit Steinen nach einem Ziel werfen, einen zwölf- oder dreizehnjährigen Bengel, der seine viel zu weite Hose immer wieder hochziehen muss, damit er sich nicht in ihr verheddert. Er fragt ihn: „Hör mal, weißt du nicht, was Gary ist?" Der Junge zieht die Hose hoch, spuckt aus, fragt zurück: „Willst du mich vielleicht aufziehen? Natürlich weiß ich es. Das weiß doch jedes Kind!"
Ilja Alexejewitsch wirft uns einen Blick zu, halb Vernichtung, halb Mitleid. Dann sagt er:
„Na, die hier zum Beispiel wissen es nicht. Vielleicht sagst du es ihnen!"
Der Junge sieht uns mit unendlicher Geringschätzung an, lässt die Hosen auf Halbmast sinken und belehrt uns: „Gary, Gary ist ein Eisenwerk in Amerika, in einem Staat, der Indiana heißt; es ist das größte Eisenwerk der Welt, aber wenn bei uns hier erst einmal die zweite Hochofenreihe steht, dann erzeugen wir vier Millionen Tonnen im Jahr, und das ist um eine halbe Million mehr, als Gary produzieren kann!"
„Richtig!" lobt ihn Ilja Alexejewitsch. Er will noch etwas hinzufügen, aber da fällt sein Blick auf meine Armbanduhr, und er springt auf.
„Ich muss weg. Ich habe ganz vergessen, dass ich als Zeuge gebraucht werde. Bei einem Kollektivgericht. Über schmutzige Stiefel... kommt mit! Los, los, es ist höchste Zeit!"
Der große Saal des Klubs im Barackenlager II ist bis zum letzten Platz gefüllt.
Wie wir eintreten, setzen sich gerade drei Männer und zwei Frauen hinter den mit einem roten Tuch bedeckten Tisch, der oben auf der kleinen Saalbühne steht. „Wir sind gerade noch zurechtgekommen!" sagt Ilja Alexejewitsch. „Man hat eben erst die Richter gewählt!" Wir erfahren noch, dass die Kollektivgerichtsverhandlung auf Wunsch des Gesundheitsamtes einberufen wurde; dass man die Richter nach einem Vorschlag des Gewerkschaftskomitees aus der Mitte der Versammlung gewählt hat und dass Zeugen und Angeklagte durch die Miliz vorgeladen wurden: „Die Kollektivgerichte sind nämlich nicht bloße Agitationsveranstaltungen, sie haben auch regelrechte Justizbefugnisse!"
Da steht der Vorsitzende auf, und es wird ganz still im Saal; er brauchte nicht einmal zu läuten, aber er läutet doch, recht ausgiebig sogar, und erklärt dann: „Die Gerichtssitzung ist eröffnet. Genossen und Genossinnen, wir treten sofort in die Behandlung des ersten Falles ein. Angeklagt ist der Bürger Tschernyschewski, Pawel Porfirjewitsch, Erdarbeiter auf dem Hochofenbau, Inwohner der Baracke 47. Er wird beschuldigt, trotz wiederholter Verwarnungen durch die Barackensanitätskommission, durch das Barackenkomitee und die Lagersanitätskommission, den gemeinschaftlichen Schlafraum Nr. 2 mit schmutzigen Stiefeln betreten, den Fußboden bespuckt und das Trinkwasserfass verunreinigt zu haben. Als Zeugen sind geladen: die Bewohner der Baracke 47, die Mitglieder der Lagersanitätskommission und der Führer der Erdarbeiterbrigade, in der Tschernyschewski arbeitet. Weitere Zeugen sowie alle diejenigen, die zu diesem Fall zu sprechen wünschen, mögen sich schriftlich zu Worte melden. Ich erteile jetzt dem öffentlichen Ankläger das Wort!"
Der öffentliche Ankläger, der Sanitätsarzt des Barackenlagers, beginnt seine Rede mit einer Schilderung der vorjährigen Typhusepidemie: welche Opfer an Geld, Gesundheit, Energie und Leben sie gefordert habe, warum der Kampf gegen sie so schwer gewesen sei und wie man den ,Typhuskrieg' schließlich gewonnen habe. Die Gebote der Hygiene, gegen die der Angeklagte ständig verstoße, seien von einer allgemeinen Lagerversammlung aufgestellt worden, in der richtigen Erkenntnis, dass man sich nur durch vorbeugende sanitäre Maßnahmen vor neuen Epidemiewellen schützen könne. Der Angeklagte habe sich also nicht nur gegen den Willen der Allgemeinheit aufgelehnt, seine Handlungsweise gefährde auch die Gesundheit und das Leben seiner Kameraden und Mitbürger. Erschwerend falle ins Gewicht, dass er sein gemeinschädliches Verhalten trotz wiederholter Belehrungen und Warnungen nicht geändert habe; als Milderungsgrund könne der geringe Bildungsgrad und das „frische Erbe des Dorfes" (der Angeklagte sei noch vor vier Monaten Einzelbauer gewesen) gelten. In Ansehung dieser Umstände beantrage der öffentliche Ankläger: erstens, Erteilung einer strengen, öffentlichen Rüge mit Anschlag an den Schwarzen Tafeln der Baracke, des Lagers und der Baubelegschaft; zweitens, Verurteilung zu einer Geldstrafe von zehn Rubeln. Der Angeklagte, ein großer, breitschultriger Mann mit kleinem Kopf und den Bewegungen eines gefangenen Bären, antwortet auf die Frage des Vorsitzenden, was er zu seiner Verteidigung vorbringen könne, indem er den Kopf schüttelt. Er steht unbeholfen da, weiß nicht, wohin er schauen soll, scharrt mit dem rechten Fuß. Wie der Vorsitzende ihm bedeutet, dass er sich wieder setzen könne, macht er so schnell kehrt, dass er dabei fast hinfällt. Die Zeugen machen nicht nur ihre Aussage, sie äußern sich auch zu dem Strafantrag des öffentlichen Anklägers. Den Bewohnern der Baracke 47 ist er zu milde. Sie haben im Vorjahre zwei Kinder durch den Typhus verloren, sie sind sehr aufgebracht, sie verlangen, dass ein Exempel statuiert werde. Der Vorsitzende der Sanitätskommission ist der gleichen Ansicht. Auch zwei Frauen aus der Zuhörerschaft fordern eine härtere Strafe: zwanzig Rubel und zehn Tage Kittchen! Der einzige, der für den Angeklagten eintritt, ist sein Brigadeführer; er bittet in Betracht zu ziehen, dass der Mann seiner Frau, die noch auf dem Lande lebe, Geld schicken müsse, und er gibt zu bedenken, dass die Arbeitskräfte aus dem Dorf durch exemplarische Bestrafungen eher abgeschreckt als erzogen werden. Er plädiert dafür, von einer Geldstrafe abzusehen und es bei einer Rüge bewenden zu lassen; er selbst verpflichte sich, über den Angeklagten die Patenschaft zu übernehmen und ihn auf den rechten Weg zu bugsieren: „Auf mein Wort als Stoßarbeiter!"
Das Gericht entfernt sich nicht zur Beratung, es berät im Saal. Seine Entscheidung wird dann von der Versammlung bestätigt, abgelehnt oder ergänzt. Der Vorsitzende läutet.
„Das Gericht schlägt der Versammlung vor, auf Erteilung einer strengen öffentlichen Rüge mit Anschlag an den Schwarzen Tafeln und auf eine Geldstrafe von fünf Rubeln zu erkennen; die Versammlung möge ferner das Versprechen des Brigadeführers Semjon Semjonowitsch Michailow zur Kenntnis nehmen und ihn verpflichten, aus dem Angeklagten ein seiner Pflichten gegen die Allgemeinheit bewusstes Mitglied der Sowjetgesellschaft zu machen. Ich schreite zur Abstimmung. Wer ist dafür?... Danke! Ist jemand dagegen?... Niemand. Ich stelle fest, dass die Versammlung den Spruch des Gerichts einstimmig gutgeheißen hat. Wir kommen zum nächsten Fall..." Der nächste Fall betrifft die Nichtmeldung einer ansteckenden Krankheit. Die Bürgerin Ljubow Nikiforowna Anjenkowa hat die Erkrankung ihres zweijährigen Sohnes nicht nur nicht gemeldet, sondern ihn sogar vor dem Arzt zu verstecken versucht, als der, von Nachbarn verständigt, kam, um nachzusehen, was dem Kind fehle. Motiv: „Ich hatte Angst, man wird mir das Kind nehmen und es ins Krankenhaus stecken; im Krankenhaus, habe ich gehört, werden die Kinder vertauscht."
Auch die Angeklagte Anjenkowa ist noch vom „Erbe des alten Dorfes" belastet: in dem Dorf, aus dem sie kommt, gibt es noch einen Popen und drei Kulaken. Die Angeklagte erklärt, sie sehe ihr Unrecht ein und wolle, um künftighin nicht mehr durch Unwissenheit zu einem schädlichen „Element oder wie das Zeug heißt" zu werden, einen Kursus zur Liquidierung des Analphabetentums besuchen. Der öffentliche Ankläger beantragt, diese Erklärung zur Kenntnis zu nehmen, darüber hinaus aber der Bürgerin Anjenkowa die Pflicht aufzuerlegen, auch noch einen Hygiene- und Sanitätskursus zu besuchen. Einstimmige Annahme.
Der letzte Fall: Anklage gegen den Bürger Gerassim Maximowifsch Tschurin wegen Sabotage der Impfaktion des Gesundheitsamtes. Gerassim Maximowitsch hat weder seine Kinder zur Impfung geschickt noch sich selber impfen lassen. Da die allgemeine Impfung gegen Typhus auf Beschluss des Stadtsowjets durchgeführt wird, muss die Handlungsweise des Beschuldigten als Sabotage einer Sowjetanordnung angesehen werden. Er wird, weil er auch andere zum Boykott der Impfung angestiftet hat, zu drei Wochen Haft verurteilt. Da er Mitglied der Partei ist (was sein Vergehen doppelt schwer macht, weil er als Kommunist den andern mit gutem Beispiel voranzugehen hat), wird sein Fall außerdem noch der Partei-Kontroll-Kommission übergeben.
„...das Urteil des Kollektivgerichts soll in den Zeitungen veröffentlicht werden. Ferner hat die Versammlung beschlossen, die Zentralsanitätskommission, den Gewerkschaftsrat und das Gesundheitsamt aufzufordern, in allen Lagern öffentliche Diskussionen über das Vergehen und die Verurteilung des Bürgers Tschurin abzuhalten. Wünscht noch jemand das Wort zu einer Erklärung oder zu einem Antrag?... Nein? Dann schließe ich die Versammlung!"
Wie metallene Riesenzigarren, wie Luftschiffe, die zur Hälfte in die Erde gefahren sind, stehen die Cowpers da, vier neben jedem Hochofen. In den gigantischen Rohren,
mit denen sich der Hochofen wie mit Rüsseln an ihnen festsaugt, singt die erhitzte Luft.
Lange gehen wir um den dritten Cowper des ersten Ofens herum, suchen nach einer Inschrift, finden keine. Endlich entdecken wir hoch oben, knapp unter dem flach gewölbten Deckel, ein paar halbverwischte rote Buchstaben. Ist das die Inschrift, von der Professor Triodin gestern gesprochen hat? Ja, sie ist es. Ein Arbeiter „vorn Gas" weiß Bescheid; er gibt uns Auskunft: „Das war die Inschrift. Der Regen hat sie weggewaschen, aber dort oben war sie. Sie hat geheißen: ,Dem Andenken des Genossen Petrow, Pantelej Sawelitsch!'" Von einer Geschichte, die dazu gehören soll, weiß er nichts. Oder wollten wir am Ende gar keine Geschichte hören, sondern einfach wissen, warum man die Inschrift dort oben hingepinselt habe ... Ja? Also das könne er uns erzählen: Pantelej Sawelitsch Petrow war ein Nieter, einer von der Komsomolzenstoßbrigade. Er arbeitete außen am Cowper. Er saß auf einer Art Schaukel, die von Tag zu Tag höher gehisst wurde. Als man schon beim Montieren des letzten „Stockwerks" war, rissen - man weiß nicht, aus welcher Ursache — die Seile, und Pantelej Sawelitsch stürzte fünfunddreißig Meter tief hinunter. Er war nicht gleich tot, aber jeder konnte sehen, dass er nicht mehr lange zu leben hafte; er selbst wusste es auch. Als seine Kameraden heruntergelaufen kamen, um ihm zu helfen, sagte er: „Geht! Mir ist nicht zu helfen. Schaut, dass ihr wieder an die Arbeit kommt, wir wollten doch heute hundertunddreißig Prozent machen. Los! Ich werde schon allein mit mir fertig; die Arbeit kann nicht von selber fertig werden!" Zwischen den Blättern meines Notizbuches liegt ein kleines, viereckiges Stück bedruckten Papiers. Ich habe es aus einer englischen Zeitung geschnitten, die ich als Zuckertüte im Kooperativladen bekommen habe.
An diesen Zeitungsausschnitt muss ich jetzt, während ich die Geschichte von Pantelej Sawelitsch Petrow erzählt bekomme, denken. Es ist eine Meldung aus Hongkong: „Wie unser Tokioter Korrespondent berichtet, hat der Maler Ito Hikozo zum Andenken an die Kriegstaten der japanischen Truppen in Shanghai das Bild des Mikado mit Blut, das er dem eigenen Körper entnahm, gemalt. Da das Bild Lebensgröße hat, brauchte Ito Hikozo soviel Blut, dass er seine Arbeit mehrmals auf längere Zeit unterbrechen musste, um sich von dem großen Blutverlust zu erholen. Zuletzt war er so geschwächt, dass er nur mehr liegend arbeiten konnte, trotzdem führte er sein Werk zu Ende. Angeeifert durch dieses Beispiel von heroischer Vaterlandsliebe, haben die Schülerinnen eines Erziehungsheims in Osaka das Wappenbild Japans, die aufgehende Sonne, mit ihrem Blut auf eine seidene Fahne gemalt und schickten sie dem Kommandeur der siegreichen japanischen Vorhut in Tschapei."
Der Arbeiter „vom Gas" erzählt noch, wie lustig Petrow immer war.
„Ich erinnere mich noch, er war der beste Harmonikaspieler auf dem ganzen Hochofenbau und konnte sehr schön Tschastuschki (Anm.: Kurze, meistens improvisierte Bänkellieder) singen. Als sie ihn ins Rettungsauto schafften, sagte er: ,Es ist schade, dass es jetzt zu Ende geht, man lebt gerne, wenn man so leben kann, wie wir gelebt haben. Sagt den Jungens, sie sollen nicht nachlassen!' Im Krankenhaus lieferten sie ihn schon tot ein." Die Meldung aus Hongkong ist überschrieben: „Spartaner von heute! Antiker Heroismus in moderner Fassung!"
Pantelej Sawelitsch Petrow wusste nichts von Sparta. Das Heldentum der Petrows ist nicht antik. Die Petrows leben gern.
Die Brücke über den Ob
Vier Tage dauert die Fahrt von Magnitogorsk im Ural nach Stalinsk im Kusnezker Becken. Drei Tage lang fahren wir schon. Der Waggon schlingert leise wie ein sacht schaukelndes Schiff. Das Rauschen der Birkenwälder begleitet das Rollen der Räder. Weit und flach dehnt sich das Land.
Von Zeit zu Zeit ein Dorf oder eine Sowchossiedlung. Ganz selten eine Stadt: Tscheljabinsk, Swerdlowsk, Omsk, Nowosibirsk...
Man liegt, liest, blickt aus dem Fenster, isst, döst, schläft. Bisweilen schreckt man auf. Ein Gegenzug rattert vorbei, immer die gleiche lange Reihe roter Waggons mit schwarzer Ladung: Kusnezkkohle für Magnitogorsk. Bisweilen hält der Zug, um Wasser zu nehmen. Auf dem Nebengleise steht ein Güterzug, der in derselben Richtung fährt, und wartet, bis die Strecke frei wird - jedesmal die gleiche lange Reihe roter Lastwaggons mit bleifarbener Ladung: Magnitogorsker Erz für Stalinsk. „Fünfzehn Kohlenzüge fahren jetzt täglich von Ost nach West, ebenso viele Erzzüge von West nach Ost", sagt der junge Mensch in schwarzem Lederzeug, der auf einer kleinen Haltestelle hinter Nowosibirsk zugestiegen ist, „eine schöne Leistung, was?"
Morgen werden wir wieder, wie in Magnitogorsk, nur wenig Zeit zum Ausruhen finden, wir wollen uns im Zug ausruhen, auf Vorrat sozusagen. Der junge Mann muss sich mit einer kurzen Antwort begnügen: „Ja, eine schöne Leistung!"
Er begnügt sich nicht, er lässt sich nicht davon abhalten, uns zu unterrichten:
„Und in zwei, drei Wochen werden es nicht mehr dreißig, sondern fünfzig Züge im Tag sein! Das ist natürlich nur möglich, weil die neue Brücke schon fertig ist; und die neue Brücke wäre nicht fertig, wenn das neue Betonverfahren nicht wäre. Wir bähen nämlich den Beton auf eine neue Weise und mischen ihn auch anders, wissen Sie?"
„Nein!" brumme ich, doch da dämmert mir auch schon, dass ich einen Fehler gemacht habe. Jetzt wird der Mann mir noch das Verfahren zu erklären beginnen. Und wirklich: der neue Reisegefährte hat sich schon, wie ein alter Bekannter, auf den Rand meines Schlafplatzes gesetzt und spricht und spricht. Allmählich verfliegt meine Schläfrigkeit, ich fange an, auf das zu horchen, was er erzählt. Schließlich unterbreche ich ihn sogar und stelle Fragen. Er hat mit seinen Kameraden von der Stoßbrigade „GPU" ein neues Betonbähungsverfahren erfunden und fährt jetzt als frischgebackener Betonmeister nach Stalinsk, um sein Verfahren auch dort einzuführen. Er weiht mich beharrlich in alle Finessen der neuen Kiesbehandlung und die Geheimnisse seines besonderen Mischungsrezepts ein. Aber richtig zuzuhören und ihn auszufragen, beginne ich erst, wie er auf den Bau der Eisenbahnbrücke über den Ob zu sprechen kommt.
Zweihundert Komsomolzen aus Nowosibirsk und von den Kolchosen der Umgebung meldeten sich freiwillig, um der Bauleitung zu helfen, die mit Arbeitermangel, Bummelei, Frost und Morast zu kämpfen hatte; sie bildeten ein „Sturmbataillon", das überall dort eingesetzt wurde, wo die Arbeit ins Stocken kam.
In einer stürmischen Nacht, als die Fuhrleute sich nicht getrauten auszufahren, um Zementsäcke aus den Waggons in die frostsicheren Schuppen zu schaffen, schleppten sie die Säcke auf dem Rücken zwei Kilometer weit über das Eis des gefrorenen Flusses.
In zwölfstündigen Arbeitsschichten, ohne Ablösung, unter Verzicht auf die Ausgangstage stellten sie das Mauerwerk des zweiten Pfeilers in vier Wochen fertig, statt, wie im Plan vorgesehn, in sechs Wochen. Sie zwangen die Betonmischmaschinen, hundertundachtzig Mischungen zu liefern, statt der höchsten Norm von hundertundsechzig. Dann barst die Verschalung des dritten Pfeilers. Mehr als das, er war überhaupt „krank"; der Senkkasten, auf dem er ruhen sollte, bohrte sich zu langsam in den Flussgrund und stieß noch Immer nicht auf den Felsboden - in der Belegschaft hatte es Bummler und Trinker gegeben. Da sprangen die Komsomolzen ein. Sie schrieben an die Wand der Baukanzlei: „Wir Komsomolzen versprechen der Partei, der Bauleitung und dem Land, dass wir dem dritten Pfeiler auf die Beine helfen und ihn ganz allein zu Ende bauen werden!"
„Es war nur noch ganz wenig Zeit. Wenn der Eisgang kam, bevor der dritte Pfeiler den Wasserspiegel überragte, musste der ganze Bau für Wochen unterbrochen werden. Vom Oberlauf meldeten sie schon, dass das Eis in Bewegung geraten sei. Keiner von den Ingenieuren und Technikern, überhaupt kein Mann von der ganzen übrigen Belegschaft glaubte, dass wir es rechtzeitig schaffen würden, und wir schafften es. Die Zimmerleute brachten die neue Verschalung in einem Tag und einer Nacht fertig; die Betonmischer steigerten ihre Arbeitsleistung um siebenundsechzig Prozent; im Freien wurde vierzehn, im Senkkasten, wo ein Luftdruck von drei Atmosphären herrschte, zwölf Stunden gearbeitet. Wir arbeiteten dort nackt, wir hatten die Leitern entfernt und konnten dadurch zwei Mann mehr unterbringen, es war fürchterlich eng und heiß, aber der Caisson senkte sich täglich um zwei Meter, statt nur um einen wie bisher, und nach drei Tagen waren wir auf dem Felsgrund. Genau zwölf Stunden, bevor der Eisgang begann, war der dritte Pfeiler über Wasserspiegelhöhe; als das Hochwasser kam, arbeiteten wir schon am Oberbau. Aber das schönste ist doch, dass wir dabei ein neues Bähungsverfahren gefunden haben. Es ist um fast zehn Prozent billiger als das alte und erspart, und das ist noch wichtiger, sehr viel Zeit!" Ich frage ihn, ob er schon lange „in Beton" arbeitet. Nein, erst seit dem Brückenbau. Jetzt soll er in Stalinsk sein neues Verfahren weiter ausprobieren, und im Winter wird er auf die Bauschule geschickt. Vorher ist er zwei Jahre lang auf einem Kolchos gewesen, und davor hat er auf dem Dorf gelebt:
„In Michailowka, einem verlorenen Nest, fünfhundert Kilometer von hier. Nicht einmal ein Fahrweg ging hin. Wenn einer in die Stadt fuhr, das kam vielleicht einmal im Jahr vor, war es ein Ereignis. Die Bauern waren fast alle Baptisten, die wenigsten konnten lesen und schreiben. Mein Vater zum Beispiel hat mir nur einen einzigen Buchstaben beigebracht, er kannte nur den einen; es war das , und er kannte es nur, weil es ,dem Galgen so ähnlich sieht', wie er immer sagte!"
„Oh, ich glaube, wenn man es darauf abgesehen hätte, Stoff für romantisch klingende und doch wahre Geschichten zu sammeln, so könnte man das hier vielleicht noch besser tun als in Magnitogorsk!" sagt der Sekretär des Stalinsker Parteikomitees, wie wir ihm von der Klondike-Romantik unserer ersten Magnitogorsker Stunden erzählen. „Hier konnte man wirklich vor drei Jahren noch Pelzjägern aus Coopers Lederstrumpf begegnen, braunen Schorzen (Anm.: Turktatarischer Volksstamm in den Bergen des Kusnezker Ala-Tau.) und verwitterten ,Bleichgesichtern'; hier traf man noch richtige Waldläufer an, Kerle, die von der Jagd und vom Goldsuchen lebten und die Goldnuggets tatsächlich in der Tasche trugen (jetzt arbeiten in den Bergen schon genossenschaftlich organisierte Goldsucherarteis und Pelzjägergruppen); hier war ja Einöde, Steppe, Busch und Urwald; hier standen, im Frühling neunundzwanzig, ein Dutzend Wellblechbaracken und ein Dutzend in Hütten umgewandelte räderlose Waggons am Ende einer in die Taiga führenden Zweigbahnstrecke; hier sah es so aus wie früher wohl im amerikanischen Westen. Und es ging auch so ähnlich zu: da kamen wir eines Tages durch einen Zufall dahinter, dass wir zwar schon hundertundfünzigtausend Einwohner hatten, aber noch immer nicht mehr als drei berittene Milizionäre und eine einzige kleine Arrestzelle. Gewiss, die Zahl der Verbrechen ist bei uns im Sinken begriffen, die Sowjetunion ist jetzt sogar das einzige Land, wo die Kriminalität zurückgeht, aber selbstverständlich gibt es bei uns noch Kriminelle, und selbstverständlich suchen sich die Verbrecher, schon weil die ,Arbeit' dort leichter und die Gefahr, erwischt zu werden, geringer ist, mit Vorliebe die neuen großen Industriezentren aus; wir hatten also auch hier in Stalinsk unerwünschten Zuzug - na, und eines Tages stattet so ein Bursche der Wohnung unseres zweiten Sekretärs einen Besuch ab, hat aber Pech und wird gefasst; man übergibt ihn der Miliz, aber am nächsten Tag kommt er wieder in die Wohnung des Sekretärs: Er bitte um Entschuldigung, er wäre natürlich nicht wieder erschienen, aber er habe leider gestern sein Taschenmesser vergessen! Auf die Frage, wieso er denn frei herumlaufe, gibt er zur Antwort, die Miliz habe ihn nicht behalten können, weil die einzige Arrestzelle schon besetzt war. Über dem Bau von Fabriken und Baracken und Klubs und Schulen hatten wir das Arrestlokal, und bei der Vermehrung der Kader die Miliz vergessen!
Übrigens, beim Bau der Fabriken ging auch nicht alles so glatt. Da hatte man den Bau der Kokerei auf einem Terrain projektiert, das sich - als die Arbeiten schon in vollem Gange waren - als altes Sumpfgelände mit unterirdischen Morästen erwies. In der Plankommission saßen Schädlinge. Den Plan ändern und die Kokerei anderswo bauen, das ging nicht mehr; man hätte dadurch das ganze Produktionsprogramm über den Haufen geworfen, die Gesamtanlage des Werks wäre in Unordnung gekommen und der Transport für immer kompliziert und verfeuert worden. Es gab keinen anderen Ausweg, als den Sumpf mit Beton zu sättigen, das hieß: ein riesiger Betonquader, sieben Meter hoch und zweihundertfünfzig Meter lang, musste in den Morast versenkt werden. Der französische Ingenieur, der den Kokereibau leitete, rechnete aus, dass die Betonierungsarbeiten ein volles Jahr dauern mussten, weil man nicht mehr als fünf Betonklötze im Tag fertigstellen konnte. Unsere Stoßbrigaden und zwei unserer Ingenieure gaben jedoch der Gesamtbelegschaft ihr Wort, dass sie fünfundfünfzig Klötze im Tag fertigstellen und die ganze Arbeit in einem Monat beenden würden. Der Franzose wettete darauf um den Valutateil seines Gehalts, dass wir nicht mehr als zehn Betonklötze täglich herstellen und versenken könnten ... und verlor die Wette. Unsere Stoßbrigadler bauten aus alten Motoren, unbrauchbaren Maschinenteilen, Zahnrädern und Ketten vorsintflutlich aussehende, aber gut funktionierende Rammvorrichtungen; sie hatten eine Methode erfunden, den Kies in großen Mengen zu erwärmen und warmzuhalten, so dass man selbst bei den schärfsten Frösten guten Beton herstellen konnte; und unsere Betonierer schafften selbst bei fünfundvierzig Grad Kälte zweihundertzwanzig Prozent der vom Plan vorgesehenen Tagesleistung." „Wie beim Staudammbau von Magnitnaja!" sagt Alex.
„Und wie beim Bau der Brücke über den Ob", füge ich hinzu, „und wie bei der Montage des Hochofens II in Magnitogorsk und wie überall hier!" Ja, überall in diesem Lande auf diesem riesigen Bauplatz einer besseren Welt: unendliche Schwierigkeiten, scheinbar unüberwindliche Hindernisse, keine Erfahrungen, zu wenig Schulung, nicht genug Maschinen und Fachleute, aber dafür der unbesiegbare heroische Elan des neuen Menschen!
Einer dieser neuen Menschen heißt Jakow Slessarenko und arbeitet im Hochofenwerk bei den Bunkern. Als ungelernter Arbeiter. Eine schwere und schmutzige, wirklich keine unterhaltsame Arbeit. Hier eine Ladung Koks umschaufeln, dort einen Rest verstreuter Erzbrocken zusammentragen. Wir fragen ihn, warum er vom Dorf hierhergekommen ist.
„Shit chotelos!" gibt er zur Antwort. „Ich wollte leben!" Auf dem Dorf sei das kein Leben gewesen. Und das hier, die Arbeit im Bunker, sei denn das ein Leben, wie er es sich gewünscht habe?
Er blickt auf die Kokshalden, auf die Erzhügel rundum und dann zum Hochofen hinüber und sagt: „Ich gehe schon in den Likbespunkt (Anm.: Schule zur Liquidierung des Analphabetentums.). Und wenn ihr in einem Jahr wieder herkommt, bin ich schon ganz anderswo. Oder glaubt ihr vielleicht, die drüben beim Hochofen haben gleich dort zu arbeiten angefangen?" Nein, sie haben alle ähnlich angefangen wie Slessarenko. Katja Barjanowa beispielsweise, die in der Bude sitzt, von der aus man den Förderaufzug bedient, hat auf dem Kokereibau angefangen, als Erdarbeiterin.
Sie kam vom Dorf. Die Eltern waren in den Kolchos eingetreten, sie hatten die Einzelwirtschaft satt bekommen. „Man lebt ruhiger dort", hatte der Vater gesagt, „man hat weniger Sorgen. Wir werden hier unser Leben zu Ende leben. Aber du geh in die Stadt, Katjuscha, lern etwas, ein Handwerk oder sonst was!"
Sie fuhr in die Stadt Kamen. Dort war gerade Markttag. Sie fragte viele Menschen nach Arbeit, aber die hatten entweder keine Zeit, ihr zu antworten, oder rieten ihr, sich als Kindermädchen zu verdingen. Aber das wollte sie nicht, dann wäre sie besser im Kolchos geblieben. Sie fuhr weiter, nach Nowosibirsk. Dort hatten es die Menschen noch eiliger; auch machten ihr die hohen Häuser Angst. Ihr wurde ganz schwindlig, wenn sie an ihnen hochsah. Sie fürchtete sich in der Stadt, wie sie sich als Kind im Wald gefürchtet hatte. Durch Zufall erfuhr sie, dass man in Stalinsk Arbeitskräfte brauchte, fand eine ganze Gruppe von Mädchen, die auch hin wollten, und schloss sich ihnen an. In Stalinsk gefiel es ihr besser als in Nowosibirsk. Die meisten Menschen hier waren wie sie aus dem Dorf; sie bewegten sich so, wie Katja sich bewegte, und sie redeten so, wie sie zu reden gewohnt war. Man sagte ihr zwar, es werde hier eine Stadt entstehen, größer noch als Nowosibirsk, aber sie sah vorläufig nur Holzhäuser, Baracken und Erdhütten wie auf dem Land. Sie arbeitete als Erdarbeiterin. Dann wurden Handlangerinnen für den Ziegelaufzug gesucht, und sie meldete sich, weil die Arbeit dort nicht so schmutzig war, man hafte mit weißen, feuerfesten Ziegeln zu tun; es gab ihrer viele verschiedene Sorten, jede hatte einen besonderen Namen, aber den musste sich nur die Brigadeführerin merken. Einmal wurde die Brigadeführerin jedoch krank, und Katja sollte sie vertreten. Von oben schrie man herunter: „Hundert Stück IIb", sie wusste aber nicht, welche Sorte „IIb" war; man schrie herunter: „Schau nach, es sieht auf den Ziegeln!", aber sie konnte nicht lesen, und man musste eine andere an ihren Platz stellen. Am nächsten Tag ging sie zum Likbespunkt und meldete sich für einen Lese- und Schreibkursus an. Sie lernte sehr gut. Als sie mit dem Kursus fertig war, sagte man ihr, sie könne noch ganz andere Dinge lernen, Rechnen und wie man eine Lore mit elektrischem Antrieb lenke und wie man an der Drehbank arbeite. Sie fragte, ob man auch für den Aufzug ausgebildet werden könne, der hatte ihr gefallen. Man teilte sie jedoch nicht einem Ziegelpaternoster zu, sondern schickte sie zum Förderaufzug im Hochofenwerk. Der Obermechaniker erklärte ihr alle Hebel und Signale; dann sah sie ein paar Tage lang dem Mann zu, dessen Arbeit sie übernehmen sollte. Sie passte scharf auf, aber als sie dann zum ersten Mal die Hebel selbst in der Hand hatte, stoppte sie zu scharf, und ein „Hund" kippte um. Sie war sehr erschrocken, doch der Mechaniker tröstete sie; er sagte, das könne vorkommen, und sie solle doch einmal hinauf auf die Hochofengicht klettern und sich ansehen, wohin sie die „Hunde" fahren lasse und was mit der Ladung geschehe. Sie kletterte dann ein paar Tage lang nach der Arbeit hinauf auf die Gicht, sah sich den Fülltrichter und die Mischvorrichtung an und ließ sich genau erklären, wohin der Koks und das Erz und der Kalk fielen und was mit der Mischung geschah. Dann sah sie sich eine Woche lang beim Gussloch um, dann beim Gas, dann ging sie hinüber in die Kokerei, bis sie genau wusste, was für eine Arbeit alle Maschinen rundum zu leisten hatten und wie sie funktionierten. „Im Anfang war mir alles hier fremd und unheimlich, aber jetzt sehe ich in die Dinge hinein. Es ist gut zu wissen, wozu die Maschinen da sind und wie man mit ihnen umzugehen hat. Man wird so sicher und fürchtet sich nicht mehr. Im nächsten Monat will ich jeden Abend einen Mechanikerkursus besuchen. Ich möchte später gern im Elektrizitätswerk arbeiten, dort ist es so schön ruhig und sauber, und es ist alles so blank, ganz so wie in den großen Hotelküchen, die man im Film sieht. Vielleicht mache ich aber auch die Prüfung für Gasmechaniker. Fjodor Pogrebnikow, auch einer aus unserm Dorf, sagt, dass es beim Gas sehr gut ist; wenn ich hinkomme, sagt er, ist er schon Obermechaniker und hilft mir beim Einarbeiten." Fjodor Nikolajewitsch Pogrebnikow, der beim Gas arbeitet, hat die Mechanikerprüfung schon abgelegt. Er war früher Dorfschmied, aber auf die Dauer langweilte es ihn, immer die gleichen verbeulten Samoware und verbogenen Pflugschare zurechtzuklopfen, und als er im Sommer neunundzwanzig hörte, dass man bei Kusnezk ein großes Werk baue und dafür Arbeiter brauche, beschloss er, hinzufahren.
„Aber da kamen die Kulakenweiber zu meiner Frau und sagten: ,Hat dein Alter den Verstand verloren? Ihr werdet alle verhungern in dieser neuen Stadt!' Es war nicht möglich, die Alte umzustimmen; ich musste sie mit den Kindern zurücklassen; nur den ältesten Jungen nahm ich mit. Er besucht jetzt die Arbeiterfakultät in Nowosibirsk. Augenblicklich ist er hier, macht sein Praktikum; heute vertritt er den Ingenieur vom Dienst." Als sie in Nowokusnezk ankamen (so hieß das heutige Stalinsk damals), sahen sie sich erst einmal drei Tage lang auf allen Bauplätzen um. Keine einzige Werkabteilung war fertig, nur der Schlot des Kraftwerks war schon ohne Gerüst.
„Wir standen vielleicht eine Stunde vor dem Schlot und wunderten uns in einem fort, dass er nicht zusammenstürzte. Heute kommt er mir gar nicht mehr so hoch vor; man könnte glauben, er sei eingeschrumpft!" Sie fanden beide Arbeit in der Reparaturwerkstätte. Sie bauten eine Erdhütte und kauften zwei Betten und einen Schrank. Fjodor Nikolajewitsch schrieb seiner Frau, sie solle packen und mit den Kindern nachkommen, das Handwerkszeug möge sie den Leuten aus dem Kolchos schenken, er brauche es hier nicht. „Aber die Alte schrieb zurück:
,Kuma Awdotja sagt, es gibt bei euch viele Kirgisen, und die Kirgisen stehlen die Kinder; sie meint auch, es wird bald wieder Krieg geben, und dann wird in den Betrieben Hunger und Elend sein! Ich komme nicht!' Ich schrieb einen zweiten Brief:
,Komm oder bleib, wo du bist; ich gehe nicht mehr ins Dorf zurück!'
Nach einem Monat war die Antwort da: ,Kuma Awdotja ist verschickt worden; sie wollte die Kolchosscheune anzünden lassen. Mir ist jetzt alles gleich. Ich komme!'
Vierzehn Tage später war sie da. Gleich ging das Gejammer los:
,Eine Hütte habt ihr gebaut, aber den Hühnerstall und den Schweinekoben habt ihr vergessen! Und ein Backofen ist auch nicht da; wo werde ich Brot backen?' ,Du brauchst kein Brot zu backen, wir holen es uns!' ,Wie das: holen? Wer bäckt denn für dich? Hast du am Ende schon eine andere gefunden?'
Ich führte sie in den Kooperativladen und erklärte ihr, wie man dort einkauft. Zuerst brummte sie immer, wenn sie einholen ging, aber jetzt hat sie sich schon daran gewöhnt. Sie sagt: ,Selbst wenn man Schlange stehen muss, ist es noch bequemer, als selbst Brot zu backen!' Jetzt will sie auch nicht mehr ins Dorf zurück. Und in der Erdhütte will sie auch nicht länger bleiben. ,Man müsste in eines von den Arbeiterhäusern übersiedeln', meint sie, ,schau zu, Alter, dass wir eine Wohnung kriegen!' Na, im September kriegen wir eine. Dafür muss die Alte dann in den Likbeskursus gehen, das hat sich der älteste Junge von ihr versprechen lassen."
Wie er zum Gas gekommen sei? Der Junge habe sich beim Komsomol angemeldet und sei auf die Fortbildungsschule geschickt worden.
„Na, und da konnte ich doch nicht zurückstehen, da musste ich doch auch etwas lernen. Man brauchte damals gerade Mechaniker für die Gaswirtschaft der Hochöfen und richtete Abendkurse ein, da meldete ich mich eben an. Lesen, schreiben und rechnen konnte ich schon, die Dreherprüfung hatte ich auch abgelegt, so nahmen sie mich gleich in den Kursus auf. Manchmal war es nicht ganz leicht, mit den Jüngeren Schritt zu halten, aber ich sagte mir einfach, ich muss mitkommen, und wenn ich die halbe Nacht nachlernen müsste, und ich kam auch mit. Jetzt bin ich schon ein volles Jahr hier beim Gasregulator. Manchmal, wenn ich von der Arbeit nach Hause gehe und an dem neuen Kulturpark vorbeikomme, den sie jetzt anlegen, denke ich daran, was die im Dorf wohl gerade machen; aber zurück möchte ich nicht. Ich bin kein Dörfler mehr, ich gehöre hierher. Hier lebt es sich gut für unsereins. Es passt alles so schön zueinander, weil alles gleich neu ist: das Werk ist neu, und unsere Arbeit ist neu; ich bin ein neuer Mechaniker, und mein Sohn Pjotr wird ein neuer Ingenieur. Da kommt er gerade!"
Pjotr ist verschwitzt und rußig, er hat eben erst die Kühlanlage kontrolliert. Er hat große Pläne. Zwei Jahre noch, dann will er nach Ostsibirien gehen, auf den Bau des Angara-Jenissejsk-Kombinats, das anderthalbmal so groß werden soll wie Ural-Kusbass-oder nach Karaganda in Kasachstan, wo sie einen Buntmetallgiganten bauen werden.
„Und wenn Angara und Karaganda fertig sind, dann..."
„Halt!" unterbricht ihn der Vater. „Halt! Für die nächste Zeit genügen die zwei!"
Er will noch etwas sagen, aber der Junge ereifert sich: „,Genügen die zwei.' Was ist das für ein Opportunismus, Vater? Das klingt ja fast so, als wolltest du sagen, wir bauten zu viel Fabriken und würden einmal gar nicht wissen, wohin mit den Maschinen, die sie erzeugen! Aber wir sind doch nicht in Amerika! Dort, habe ich neulich gelesen, wissen sie tatsächlich nicht, was sie mit ihren Fabriken und Maschinen anfangen sollen; dort verwenden sie beim Kanalbau jetzt wieder Schippe und Haue wie früher einmal und lassen die Bagger und Sprengmaschinen verrosten; dort schreiben sie jetzt in Büchern und Zeitungen, dass die Maschinen wilde Tiere sind, die den Menschen umzingeln und vernichten!" Er ist in Hitze geraten; er steht da und spricht laut und mit lebhaften Gesten wie in einer großen Versammlung, obwohl nur wir drei ihm zuhören. „Aber wir sind hier eben nicht in Amerika! Bei uns kann die Maschine nie zum wilden Tier werden, bei uns wird sie immer nur ein Gehilfe des Menschen sein. Wenn wir erst einmal so weif sind, dass wir jedem lebendigen Arbeiter zehn oder zwanzig eiserne an die Seite stellen, dann können wir den Arbeitstag auf sechs, auf fünf Stunden hinunter setzen; dann können wir alle schwere und eintönige Arbeit von den eisernen Gehilfen verrichten lassen; aus jedem Arbeiter wird ein Organisator, ein Kontrolleur der Maschinen, gewissermaßen ein Ingenieur."
„Ja, wirklich, man kann sich hier an Europa erinnert fühlen!" sagt, auf eine Bemerkung von Alex hin, unser Tischnachbar, ein deutscher Ingenieur. „Nur das Bier taugt nicht viel, und der Hackbraten, den sie einem als Königsberger Klops vorsetzen, hat natürlich mit richtigem Klops nichts zu tun, und die neuesten deutschen Zeitungen sind reichlich zehn Tage alt!"
Er hat uns vorhin, als wir uns an die lange Tafel in der Mitte des Saales setzen wollten, angesprochen: Ob ich Monteur sei?... Nein? Also dann wolle er mich darauf aufmerksam machen, dass die lange Tafel nur für Monteure bestimmt sei und dass ich als Spezialist in höherer... Wie? Ich sei kein Spezialist? ...Ach so, in Geschäften? Nun, dann gehörten wir auch nicht an die Monteurtafel, sondern an einen der kleinen „Ingenieurtische" in den Fensternischen. „Denn Ordnung muss sein!" Auf diese Ordnung, und nicht auf die Zimmerpalmen, den Königsberger Klops, das Flaschenbier Marke „Ewropa" und die deutschen Zeitungen; auf diese uns so heimatlich anmutende Unterscheidung zwischen kleinen Tischen für bessere Leute und großen Tischen für Leute schlechthin bezog sich Alexens Bemerkung, dass man sich hier an Europa erinnert fühle.
Unser neuer Bekannter aber hat sie missverstanden. Und wie ich mich nicht enthalten kann, ihm das zu sagen, missversteht er auch mich und meint:
„Ja, diese Ordnung, die ist eben eine europäische Angelegenheit! Den Sowjetleuten fehlt dafür jeder Sinn! Die duzen sich als Ingenieure mit ihren Arbeitern und trinken als Rote Di
rektoren mit ihnen den Tee aus der gleichen Untertasse, — jawohl, aus der Untertasse, das habe ich erst neulich wieder gesehen! Und diese ,Sitten' wirken sogar ansteckend auf gewisse ausländische Spezialisten; natürlich nicht auf uns ,Firmenspezialisten' (Anm.: Ingenieure und Monteure, die von ausländischen Firmen auf kürzere oder längere Zeit zu Montagearbeiten in die Sowjetunion geschickt wurden und mit ihren Firmen, nicht mit den Sowjettrusts, im Vertragsverhältnis standen; sie wurden von ihren Firmen, und nicht von den Sowjetbehörden, ausgewählt.). Wir machen,
wie Sie sehen, diese Sowjetsitten nicht mit, und da wir hier in der Speisehalle unter uns sind, herrscht hier natürlich auch Ordnung. Sie hat sich übrigens spontan eingestellt. Wir haben nicht etwa einen formellen Beschluss gefasst: ,Monteure gehören dort hinüber, Ingenieure hierher!' Nein, das hat sich alles ganz von selbst so geregelt; man hat eben Tradition in sich, das ist es!" Wie es ihm hier gefalle? Mein Gott, man habe nun einmal diesen verdammten Beruf, der einen zwinge, immer wieder monatelang in irgendeiner Wildnis zu leben. Stalinsk sei keine Wildnis? Wieso? Nun ja, es gebe schon genug Menschen hier, und in jedem anderen Land würde man in einem werdenden Industriezentrum, in einer zukünftigen Großstadt, die heute schon dreihunderttausend Einwohner habe, mit seiner freien Zeit etwas anfangen können, aber hier?
„in der kleinsten südamerikanischen Stadt ist mehr los! Sie finden hier keine Bar, kein Tanzlokal, nichts! Und wenn die russischen Kollegen einmal einen gemütlichen Abend veranstalten, wie sie es nennen, dann geht es auch nicht ohne politische oder nationalökonomische Diskussionen ab, selbst bei Pfänderspielen wird von einem verlangt, dass man weiß, wie viel Bloomings es am Ende des Fünfjahrplans in der Sowjetunion geben wird! Es ist schauderhaft, und wenn nicht die Herrenabende wären... Was das ist? Ach, das sind so kleine Unterhaltungen, die wir ab und zu steigen lassen, mit Gesang und Besäufnis; wir haben uns da aus Moskau ein paar Kisten Schaumwein beschafft, der gibt eine ganz gute Bowle ab, und dann trinken wir auch Wodka mit Gin; das ist eine Erfindung der Amerikaner: man taucht ein Streichholz in Gin und hält es dann in ein kleines Glas Wodka... schmeckt ausgezeichnet und verursacht gar keinen Katzenjammer!" Ob die Arbeit nicht interessant sei? Was könne an einer Arbeit interessant sein, die man schon seit fünfzehn Jahren mache?
Immer wieder die gleiche Walzwerkmontage, immer wieder die gleiche Plackerei mit ungeübten, eingeborenen Arbeitern.
„Und wenn es wenigstens südamerikanische Indios oder malayische Kulis wären! Die haben noch Respekt in den Knochen; die kommen schon gelaufen, wenn der Ingenieur auch nur pfeift, aber hier... bitte, das soll keine Kritik an innerrussischen Verhältnissen sein; ich bin weder gegen noch für Sowjetrussland, ich kümmere mich überhaupt nicht um Politik; ich suche meine Arbeit So zu tun, dass meine Auftraggeber zufriedengestellt sind, das ist alles." Von den sozialistischen Arbeitsmethoden halte er nicht viel. Der Arbeiter werde zu selbständig, und das sei nicht gut. Der Arbeiter solle an seine Arbeit denken, und basta, jeder Gedanke mehr sei von Schaden... Wie? Die Initiative der Arbeiter? Der Heroismus der Stoßbrigaden? In Deutschland, England und Amerika sei es auch ohne das gegangen, sehr gut sogar. Die Leute hier sollten erst einmal lernen, mit den Instrumenten ordentlich umzugehen, das sei wichtiger, als über den Fünfjahrplan Bescheid zu wissen. Und was verstehe übrigens ein Bursche, der noch vor einem Jahr Kühe hütete, vom Fünfjahrplan?!... Was er selbst vom Fünfjahrplan halte? Offen gesagt, er kenne ihn zu wenig, er habe sich nie damit befasst; aber er glaube, es könne unmöglich klappen. Da habe man beispielsweise bei ihnen auf dem Walzwerkbau der. Hauptkran schon am ersten März in Betrieb nehmen wollen, er sei aber erst am zwanzigsten fertig geworden... Wie? Nein, einen anderen ähnlichen Fall kenne er nicht, aber man sage, dass auch der zweite Hochofen nicht rechtzeitig montiert sein werde...
„Aber der ist doch schon montiert!"
„Wirklich? Schon fertig? Pardon, das habe ich nicht gewusst. Ich lese nämlich keine Sowjetzeitungen. Nein, die deutschsprachigen auch nicht."
Aber dazu brauche er doch keine Zeitung. Die Hochöfen liegen kaum fünfzehn Minuten vom Walzwerkbau entfernt, ob er denn nicht ab und zu hinüberschaue, wie es dort stehe?
Wozu denn? Die anderen Bauplätze gehen ihn nichts an. Er hat mit dem Bau des Walzwerks zu tun, ihn geht nur an, was dort geschieht, alles andere ist ihm gleichgültig!... Nein, nein, er scherze nicht, er sei tatsächlich noch auf keinem anderen Bauplatz gewesen, ob ich es ihm nun glaube oder nicht!
Oh, ich glaube ihm, diesem Stückchen Europa, das von den Barbaren und ihrem Plan nichts wissen will. Wie sollte er auch Menschen verstehen, wie zum Beispiel jene zwei Männer, die irgendwo in Kasachstan auf einer verlorenen Haltestelle in unser Abteil zustiegen. Es war ein russischer Agronom mit einem jungen Usbeken; der Usbeke kannte nur zwei russische Worte, „charascho - gut" und „towarischtschi - Genossen", aber er begann doch ein Gespräch mit uns: er malte in den weißen Steppenstaub, der die Fensterscheibe bedeckte, zwei Zahlen „586" und „1040", dazu fragte er: „Charascho, towarischtschi?" Der Mann war, wie uns sein Begleiter erklärte, ein Bauer aus der Oase Chiwa. Er hatte vor kaum einem halben Jahr Schreiben gelernt und machte zum ersten mal eine Eisenbahnreise; er verstand bestimmt nichts von der Montage deutscher Walzmaschinen; er wusste bestimmt nicht um die Geheimnisse der amerikanischen Mischung von Wodka und Gin; ihm fehlte bestimmt jeder Sinn für europäische Ordnung; er hatte wahrscheinlich noch nie eine Fabrik gesehen, aber er wusste: „580", das bedeutete fünfhundertundachtzig neue Werke und „1040", das bedeutete eintausendundvierzig neue Maschinen-Traktoren-Stationen, errichtet und in Betrieb genommen gemäß den Forderungen des großen Plans.
Trofim Terentewitsch, der Iswostschik, mit dem wir immer fahren, wohnt im Dorf der Spezperesilenzi, das sind die von ihren Mitbürgern wegen aktiven Vorgehens gegen die Kollektivierung ihrer Bürgerrechte entkleideten und mit Konfiskation des Grundeigentums und Aussiedelung bestraften Kulaken, von denen mehr als 15000 in Stalinsk leben, wo sie als Erdarbeiter, Handlanger und Kutscher arbeiten.
Jeden Tag erzählt er uns, was man sich im Kulakendorf zuflüstert und zuraunt. Oh, er glaubt nicht etwa an die „von den Feinden unserer teuren Sowjetmacht böswillig in die Welt gesetzten" Gerüchte, nein, wenn er uns davon berichtet, so bloß darum, weil man doch mit seinen Fahrgästen über irgend etwas sprechen muss, - und worüber soll man mit diesen Leuten sprechen, die den ganzen Tag über die Menschen ausfragen oder sich Fabriken und Bauplätze ansehen, oder Berichte und Artikel lesen, worüber soll man mit ihnen sprechen, wenn nicht über etwas, das sie nicht kennen?!
Und so erfahren wir das eine Mal, dass die Kirgisen schon wieder ein paar Russenkinder gestohlen haben; und ein anderes Mal, dass die Hochöfen von Magnitogorsk gar nicht existieren; und das nächste Mal, dass die Hochöfen von Magnitogorsk wohl existieren, aber kein Eisen liefern; und dann wieder, dass die Bolschewiken das Stalinsker Werk auf zwanzig Jahre den Amerikanern verpachtet haben, weil sie es allein nicht zu Ende bauen können; und heute, heute erfahren wir sogar, dass eine japanische
Armee schon seit zwei Wochen Nowosibirsk besetzt hält und demnächst auf Kusnezk marschieren wird. „Man müsste es sich unbedingt einmal ansehen, dieses Dorf der Gerüchte", meint Alex. „Könnten wir eigentlich nicht jetzt hinfahren? Sprich doch mit Trofim Terentewitsch! Aber er soll uns nicht nur hinbringen, er soll uns auch bei seinen Leuten einführen!"
Trofim Terentewitsch ist gar nicht entzückt von unserem Vorhaben. Er bietet seine ganze Redekunst auf, um uns davon abzuhalten: erstens sei es bei den Spezperesilenzi nicht interessant; zweitens würde man uns dort nicht gerade herzlich empfangen; drittens bringe ein Fremder aus den Leuten dort nichts heraus; viertens solle man sich als guter Staatsbürger oder loyaler Ausländer nicht mit solchen, der Bürgerrechte entkleideten Elementen einlassen; fünftens...
Aber wir bleiben unbelehrbar, und so fährt er uns schließlich in das Kulakenlager, nicht ohne uns unterwegs nochmals - zum wievielten Male schon? - die Geschichte von dem grausamen und ihm völlig unverständlichen „Zufall" zu erzählen, der ihn, den ergebenen Freund des sozialistischen Aufbaus und der landwirtschaftlichen Kollektivierung, ihn, der „eigentlich niemals ein richtiger Kulak" gewesen ist, in einen Topf mit ein paar „echten Kulaken" geworfen hat, die an einer Brandlegung im Nachbarkolchos nicht ganz unbeteiligt waren. Das Lager des Spezperesilenzi, in dem Trofim Terentewitsch wohnt - es gibt übrigens, wie wir nachher erfahren, in Stalinsk außer diesem großen noch drei kleine - unterscheidet sich jetzt, bei Tag, nicht von den anderen Arbeitersiedlungen.
„Nachts freilich sieht es hier anders aus", belehrt uns Trofim Terentewitsch, „da sind die Gassen tot. Die Bewohner dürfen die Baracken nicht verlassen!"
„Und tagsüber dürfen sie sich frei bewegen?" „Ja, in Stalinsk. Das Stadt- und Werksgebiet dürfen sie jedoch nicht ohne Erlaubnis verlassen. In den Betrieben werden sie so behandelt wie alle anderen Arbeiter; sie werden nicht überwacht und bekommen vollen Lohn." Im Gemeinschaftsraum der Baracke, in der Trofim Terentewitsch haust, sitzen ein paar Männer, langbärtige Bauern, um den Tisch herum und rauchen.
Anfangs will kein richtiges Gespräch aufkommen; sie sind mürrisch und misstrauisch; aber nachdem Trofim Terentewitsch erklärt hat, er kenne uns gut, wir seien „goldene Menschen" und würden, zum Beweis dafür, gleich einmal eine Flasche Wodka auf dem Tisch erscheinen lassen (oh, er wisse sehr gut, dass wir keine Flasche bei uns haben, aber ein Dreirubelschein tue es auch; wenn der da sei, finde sich die Flasche schon); und nachdem sie sich wirklich gefunden hat, tauen sie auf.
Wie es ihnen gehe? Schlecht gehe es ihnen, natürlich, meint ein Alter mit einem Vogelgesicht.
„Muss es einem Bauern nicht schlecht gehen, wenn er nicht wirtschaften kann?!"
Warum er dann nicht um Ansiedlung in einem der Landbezirke angesucht habe, in denen ausgesiedelte Kulaken Land zugewiesen erhalten?
Statt einer Entgegnung zuckt er nur mit den Achseln. Sein Nachbar, ein dicker Mann mit einem Leberfleck unter dem rechten Auge, antwortet für ihn: „Man kriegt nicht mehr Land, als man allein bearbeiten kann. Soll er jetzt, auf seine alten Tage, den Kleinbauer spielen, wo er den schönsten Hof im ganzen Dorf gehabt hat? Sechs Pferde, acht Kühe, eine eigene Sämaschine!" Ein dritter, Rothaariger, fügt hinzu:
„Und dann: man will dort wirtschaften, wo man den Boden kennt, wo man aufgewachsen ist, wo der Vater und Großvater gewirtschaftet haben. Dort... oder eben gar nicht!" Der mit dem Leberfleck ist nicht einverstanden: „Ach was, hier oder dort, das ist mir gleich. Aber du kommst heutzutage als Einzelbauer nicht mehr gegen die Kollektive auf; die haben Maschinen und Kunstdünger und Silos und Traktoren. Wenn ein schlechtes Jahr kommt, bringen die immer noch etwas in die Scheuern ein, unsereiner aber liegt auf dem Bauch und muss sich von den Sowjets das Saatgut geben und den Anbauplan vorschreiben lassen. Nein, nein, dann schon lieber auf einem Werkbau arbeiten!"
„Ja", stimmt das Vogelgesicht zu, „lieber keine Felder mehr zu Gesicht bekommen! Lieber hier sitzen und..." Er verstummt.
„Und?" fragt Alex, „Was: und?"
Wieder zuckt der Alte nur mit den Achseln und wieder antwortet der mit dem Leberfleck für ihn: „Und warten!" „Warten? Worauf denn?"
„So... Die Erde ist rund... Es kann vieles kommen..." „Was kann schon kommen? Die Japaner vielleicht? Aber die sind ja gar nicht in Nowosibirsk. Wir waren vor ein paar Tagen dort und haben von ihnen nichts bemerkt!" Trofim Terentewitsch mischt sich ein. Zu dem Alfen gewandt:
„Sie sagen auch, die Magnitogorsker Hochöfen geben Eisen! Sie sagen, sie waren dabei, wie der zweite Ofen angestochen wurde!" Der Alte wiegt den Kopf:
„Sie sagen, sie haben das Eisen gesehen. Aber ich habe das Eisen nicht gesehen. Wo ist es? Gerassim Markowitsch hat mir erzählt, er wollte eine Rasierklinge kaufen, aber man hat ihm gesagt, dass es keine gibt. Wo ist also das Eisen, frage ich!"
Einer, der bisher noch nicht den Mund geöffnet hat, einer, der schon halb städtisch aussieht mit seinem gestutzten Bart, bemerkt:
„Also es gibt doch Traktoren, wohin man schaut, meine ich. Bei uns zu Hause haben sie im Kolchos doch mindestens dreißig neue Traktoren bekommen, das ist doch Eisen, meine ich!"
„Ach du!" sagt der mit dem Leberfleck verachtungsvoll. „Was redest du da mit? Es wird gar nicht lange dauern, und du findest noch, dass dir recht geschehen ist, wie sie dich ausgesiedelt haben. Du gehst ja schon zu ihnen!"´
Stille.
Das Gespräch kommt nicht wieder in Gang. Wir gehen.
Draußen fragen wir Trofim Terentewitsch:
„Was sollte das heißen: ,du gehst schon zu ihnen'? Wohin geht er?"
„In den Kurs. Er will Betonmischer werden, qualifizierter Arbeiter."
„Gehen viele in Kurse?"
„Nein, nur ein paar von den Jüngeren."
„Und die andern, die Älteren?"
„Die warten. Ihr habt es ja gehört!"
Ja, die Alten warten. Auf die Japaner, auf die Amerikaner, auf ein Wunder - darauf, dass das Heute wieder zum Gestern wird.
Aber während sie warten, üben draußen, auf dem freien Platz vor der Schule, ihre Kinder und Enkel, die halbwüchsigen Burschen und Mädchen einen seltsamen Tanz und ein seltsames Lied. Sie klatschen in die Hände, sie drehen sich zu zweit, zu viert, sie singen - wir trauen unseren Ohren nicht - aber es ist so: „Schmiert die Guillotine, Schmiert die Guillotine..."
Im Lager der Spezperesilenzi, in diesem Dorf der giftigen Gerüchte, des stumpfen Wartens und der verzweifelten Hoffnung, singen und tanzen die Kinder der ausgesiedelten Kulaken den Reigen der Komsomolzen — die Carmagnole!
Nur eine Stunde hat die Wagenfahrt von Stalinsk nach Kusnezk gedauert, aber wie wir jetzt durch die Gassen der verschlafenen alten Stadt gehen, scheint uns Stalinsk ein ganzes Jahrhundert weit entfernt.
Gewiss, über dem Tor eines Hauses auf dem Marktplatz hängt ein Schild mit der Inschrift „Kusnezker Sowjet der Arbeiter-, Bauern- und Kosakendeputierten"; und neben der Schnapsbrennerei, dem einzigen „Kulturerbe" aus der Zarenzeit, steht eine neue Sowjetschule - aber morgens, mittags und abends ertönen hier noch die heiseren Glocken dreier Kirchen, und der Beamte auf der Post lässt den lästigen Briefmarkenkäufer eine halbe Stunde lang vor dem Schalter warten, dieweil er mit tiefsinniger Miene Fliegen fängt.
Zöge nicht eine Gruppe von Jungen Pionieren über den Marktplatz; flatterte nicht vom Erholungsheim des Stalinsker Gewerkschaftsrats die rote Fahne; sänge nicht der kleine Motor der provisorischen Elektrostation sein aufgeregtes Lied in die dösige Stille, man könnte wirklich, wie Alex sagt, meinen, die Stadt wäre ein historischer Naturschutzpark.
„Ja, man kommt sich hier manchmal vor wie in einem Museum", sagt der Techniker vom Stalinsker Hochofenwerk, der hier einen kurzen Genesungsurlaub verbringt, „dort oben auf dem Berg sehen Sie noch die Mauern der Burg, in der bis zum Jahr siebzehn die Kosaken des
,Weißen Zaren' saßen, um die Altaistämme zu bewachen; hier um den Markt herum finden Sie die Häuser der Pelzhändler und Goldaufkäufer, die den schorzischen Jägern und russischen Goldsuchern für ein paar Pfund Pulver und ein paar Flaschen Schnaps die schönsten Zobelfelle und das feinste Gold abkauften; drüben in der Gasse, die zum Tomfluss hinunterführt, hat Dostojewski während seiner Verbannung gewohnt, und in dem letzten Haus der Dostojewskigasse wohnt noch ein alter Sonderling, ein Geologe, Goldsucher und Naturheilkundiger, Nikolai Alexejewitsch Popow, ein ,Semlewolez', ein Mann, der zusammen mit Kropotkin und Wera Figner in der Gesellschaft ,Semlja i Wolja - Land und Freiheit' gewesen ist. Wenn Sie wollen, können wir ihn besuchen. Ich war neulich bei ihm und habe mir von der großen Zeit der Semlewolzen erzählen lassen; er wird uns auch heute davon erzählen, und ich glaube, Sie werden beim Zuhören das gleiche seltsame Gefühl haben, das auch ich neulich hatte: man glaubt, ein Buch fange zu reden an, ein altes Buch, oder ein Bild aus dem Moskauer Revolutionsmuseum, oder eine Gedenktafel.
Es ist beinahe unheimlich!"
Ja, es ist beinahe unheimlich. Durch das Fenster sieht man, jenseits des grünen Tomflusses, die braungraue Wolke des Hochofenwerks über den niedrigen Hügeln lagern; auf dem Tisch am Fenster liegen die Moskauer und Nowosibirsker Zeitungen mit den neuesten Meldungen von der „Industriefront"; an der Wand hängt ein Kalender der „Zentralen Arbeiter-Genossenschaft" mit einem Bild des großen Staudamms von Dnjeprostroj... aber der hochgewachsene, vierschrötige Mann mit dem braunen Gesicht und dem schlohweißen Bart, der da vor uns sitzt, ist gar nicht hier, im Kusbass des vierten Planjahrs, sondern in St. Petersburg der beginnenden achtziger Jahre.
Er erzählt von der letzten Sitzung der Gesellschaft „Land und Freiheit". Sie sind noch einmal zusammengekommen: die Gemäßigten, die das alte Programm der „Semlja i Wolja" erhalten, die auf dem Land arbeiten, ins Volk gehen und auf sein Erwachen warfen wollen, und die Radikalen, die Neuerer, die für den „Schlag ins Zentrum", für den politischen Terror eintreten; sie sind noch einmal zusammengekommen, um zu untersuchen, ob der Bruch unvermeidlich ist oder ob ein letztes Kompromiss gefunden werden kann:
Da sitzen sie alle: Kropotkin, Drigo, Sheljabow, Kibaltschitsch, Wera Figner, Sofja Perowskaja und die anderen, Kropotkin hat den Vorsitz. Er redet den Terroristen zu. Er sagt:
„Das Volk ist noch zu dumpf. Das Volk schläft noch. Aber man kann es aus seinem Schlaf nicht durch die Explosionen von Bomben wecken. Es hört die Bombenschläge, aber es versteht nicht, was ihr wollt. Seht euch doch um! Wo haben eure Taten im Volk Widerhall gefunden? Wo hat sich das Volk zu eurer Unterstützung erhoben? Nein, nein, man muss die Erkenntnis des Volkes wecken, man muss es reifen lassen; es reift langsam, aber es reift; einmal wird es erwachen und aufstehen! Dann ist unsere Stunde gekommen. Bis dahin müssen wir warten, müssen ins Volk gehen, müssen mit ihm leben, müssen eins werden mit ihm. Darum sage ich: geht ins Volk, bereitet sein Erwachen vor, wartet auf die entscheidende Stunde!" Er redet so eindringlich, dass ich überzeugt bin, er werde sie alle auf seine Seife bringen. Aber da ist Sheljabow, der Bauer, der Mann mit den brennenden Augen und den wilden Bewegungen. Wie ein Bär ist er, wie ein gereizter Bär. „Man darf nicht auf eine große Stunde warten, die irgendeinmal kommen wird; man muss sie selbst herbeiführen! Das Volk ist dumpf? Das Land schläft? Dann müssen wir eben ein Signal geben, das auch den Dumpfesten aufrüttelt; dann müssen wir eben ein Feuer anfachen, bei dessen Schein das ganze Land wach wird! Wir sollen ins Volk gehen? Sind wir denn nicht ins Volk gegangen? Haben wir denn nicht friedliche Propaganda getrieben? Was war die Antwort? Zuchthaus, Zwangsarbeit, Verbannung, Folterung! Wir haben die Schergen der Regierung dafür gestraft; nicht streng genug, weil wir auf euch hörten. Was war die Antwort auf unsere Unentschlossenheit? Der Galgen. Achtzehnmal hat er in den letzten achtzehn Monaten ein Opfer aus unseren Reihen gefordert! Sollen wir unsere Kameraden, sollen wir uns selbst abschlachten lassen, ohne uns zu wehren? Nein, es ist genug! Wir erklären dem Despotismus den Krieg! Er muss vernichtet werden, damit wir, damit alle, die er unterdrückt, leben können. Der Zar muss sterben, damit die Freiheit geboren wird!' Wie berauscht ist Sheljabow, er behext sie alle, Kibaltschitsch, den Arbeiter, und Sofja Perowskaja, die Adlige. Sie hat ein ganz weiches Gesicht; wie ein Vögelchen sieht sie aus, wie ein zärtliches Kind... aber dann fängt sie zu sprechen an, mit einer weichen und leisen Stimme, doch hinter dieser Stimme steht der Wille zu töten. Sie sagt: ,Der Zar wird sterben!' und alle fühlen, dass ein Todesurteil gesprochen worden ist..."
Der Alte macht eine Pause. Wie er fortfährt zu sprechen, hat sich seine Stimme verändert, sie berichtet jetzt von Vergangenem, während sie vorher Gegenwärtiges zu schildern schien:
„Diese letzte Sitzung war im Februar achtzig. Im März einundachtzig wurde das Urteil vollstreckt. Die Perowskaja organisierte den Anschlag; sie gab das entscheidende Zeichen mit dem Taschentuch, auf das hin die Bomben geworfen wurden. Im April wurden sie hingerichtet: Sofja Perowskaja, Sheljabow, Kibaltschitsch, Michailow und Ryssakow; in Büßerhemden, auf der Brust eine Tafel mit dem Wort ,Zarenmörder'." Wieder machte er eine Pause. Dann sagt er:
„Ich habe davon erst später erfahren, von dem Attentat und von der Hinrichtung. Viel später erst. Ich war damals schon hier." „Als Verbannter?"
„Nein, freiwillig. Ich habe es mit Kropotkin gehalten und bin ins Volk gegangen."
„Und?"
Es dauert lange, bevor der Alte antwortet: „Und? - Oh, ich weiß, was ihr wissen wollt. Ich weiß. Ob nicht die ,große Stunde' gekommen ist, auf die wir warten sollten; ob sie nicht neunzehnhundertsiebzehn gekommen ist, nicht wahr?"
Er sieht uns an, aber sein Blick ist leer, und wie er wieder zu sprechen beginnt, spricht er nicht zu uns, sondern nur zu sich selbst:
„Da kommt mir jetzt manchmal ein Gedanke... seit sie dort drüben die Hochöfen bauen... da kommt mir der Gedanke... ob nicht damals... vor fünfzig Jahren als ich hierher ging... ob da nicht eine Tür ins Schloss gefallen ist?... Ja. Und jetzt will sie sich vielleicht wieder öffnen, aber jetzt ist es zu spät; jetzt kann ich nur noch durch den Türspalt sehen; jetzt kann ich nicht mehr über die Schwelle!... Und dann, sie sind so schnell; alles stülpen sie um; nichts bleibt, wie es war... alles machen sie viel zu schnell. Oder bin ich...?" Er steht auf.
Wie wir Anstalten machen, uns zu verabschieden, sagt er, dass er uns ein Stück begleiten wolle. Am Flussufer macht er halt.
„Gute Nacht!" sagt er, nachdem wir ihm alle drei die Hand geschüttelt haben; er sagt es auf Deutsch, langsam, beinahe feierlich: „Gute Nacht!"
Wie wir uns nach ein paar Schritten umdrehen, sehen wir ihn auf einem Baumstrunk stehen, starr, als sei er mit dem Strunk zusammengewachsen. Er schaut über den Fluss hinüber, zu der Hügelkette hin, auf deren Kamm die braungraue Wolke der Hochöfen von Stalinsk liegt.
Südlich von Stalinsk fangen die Berge an. Nördlich von Stalinsk dehnt sich die Steppe. In den Bergen, bei Temir-Tau und Telbes, liegt - von französischen Konzessionären und russischen Spekulanten schon vor dem Krieg entdeckt, aber nur auf der Börse ausgebeutet - die erste Erzbasis des Stalinsker Werks. Sechs Jahre lang wird sie den Stalinsker Hochöfen 30 Prozent, in den folgenden sechs Jahren 60 Prozent ihres Erzbedarfs liefern; das Fehlende wird aus dem Ural kommen, später auch aus der im Vorjahr gefundenen zweiten Erzbasis am Bergfluss Mrass.
In der Steppe ruhen die Kohlenvorräte, von denen die Werke des „Ural-Kusbass-Kombinats" Jahrzehnte und Jahrzehnte zehren werden: schätzungsweise tausend Milliarden Tonnen, fünfmal soviel wie in allen deutschen Revieren, siebenmal soviel wie in ganz England. Die Fördertürme eines Über-Ruhrgebietes wachsen aus dem Steppenboden: in Leninsk, Bjelowo, Ansherka, Sudshenka und Prokopjewsk.
„Unser Schacht wird der größte in der Union und der zweitgrößte in der ganzen Welt sein!" erklärt uns im Prokopjewsk Boris Stepanow. Er ist Sekretär des Parteikollektivs auf Grube I, „Perwaja Koksowaja". Man hat uns, oben in der Werkskanzlei, an ihn gewiesen, hat uns Lederzeug, Röhrenstiefel, Lederhüte und Lampen geliehen, uns einen Steiger mitgegeben und unter Tag geschickt: Boris Stepanow wird uns alles zeigen und erklären können, was wir sehen und wissen wollen, niemand kennt den Schacht und die Kumpels so gut wie er; wir werden ihn sicher auf Horizont 100 finden, dort ist gestern von der Belegschaft Alarm geschlagen worden wegen eines „Proryw", wegen einer Bresche in der Planerfüllung, und Boris organisiert zweifellos schon die „gesellschaftliche Hilfe" für die zurückgebliebene Belegschaftsgruppe. Wir haben ihn auch wirklich auf Horizont 100, in dem tiefsten der drei Hauptstollen, aufgestöbert, und jetzt führt er uns durch den Schacht. „Zweieinhalb Millionen Tonnen im Jahr, eine volle Waggonladung in jeder Minute werden wir fördern, sobald der Betrieb voll aufgenommen ist; nur die ,New-Orient-Mine' in den Vereinigten Staaten hat eine größere Jahresförderung, aber auch sie hat nicht so große Möglichkeiten wie wir: Flöze von vierundzwanzig Meter Mächtigkeit sind hier nicht selten! Unser Betrieb wird vollständig mechanisiert sein, ,Perwaja Koksowaja' soll nicht nur ein Grubengigant, sondern auch eine Hochschule der Bergbautechnik werden; hier wollen wir den gesamten Steiger- und Ingenieurnachwuchs für das Kusnezkbecken ausbilden. Einstweilen sind wir allerdings noch bei der Ausbildung unserer eigenen Belegschaft. Keine leichte Aufgabe, kann ich euch flüstern!" (Er spricht deutsch mit uns und ist offenbar in Berlin gewesen.) „Wir haben nur ganz wenige Häuer mit hoher Qualifikation: ein paar Dutzend Deutsche aus dem Ruhrgebiet und aus Oberschlesien, ein paar Dutzend Tschechen aus dem Ostrauer Revier und ein paar Dutzend Ukrainer aus dem Donezbecken; alles andere ist aus den sibirischen Dörfern gekommen und hat hier zum ersten mal im Leben eine Industrieanlage gesehen! Dass man unter diesen Umständen trotz Schrämmaschinen, elektrischen Grubenbahnen und pneumatischen Bohrern ab und zu hinter den Planforderungen zurückbleibt, ist kein Wunder. Im Ganzen aber werden wir nicht zurückbleiben, denn der Mangel an Erfahrung und Schulung wird wettgemacht durch die sozialistischen Arbeitsmethoden, durch die Leistungen der Stoßbrigaden, durch die Sozialistischen Wettbewerbe und die Bugsierarbeit. Gerade gestern haben die Kumpels hier unten auf Horizont 100 Alarm geschlagen und von der Gesamtbelegschaft ,gesellschaftliche Hilfe' verlangt, weil in Schlag II nur fünfzig Prozent der Planziffern geleistet wurden." „Ja, davon hat man uns schon oben erzählt. Und man hat uns gesagt, dass Sie gerade dabei seien, diese Hilfe zu organisieren."
„Das stimmt nicht ganz. Ich wollte sie organisieren, aber ich bin zu spät gekommen. Die Kumpels von Horizont 50, in dem Hauptstollen über uns, haben gleich gestern Abend beschlossen, ihren Kameraden von Horizont 100 zu helfen; heute früh war schon eine Bugsierbrigade da, drei Mann; sie haben die ganze Frühschicht durchgearbeitet und arbeiten jetzt noch. Als sie der Obersteiger hinaufschicken wollte, haben sie sich geweigert, auszufahren; sie müssten doch auch noch die Abendschicht ins Schlepptau nehmen, haben sie gesagt und sind geblieben." „Wir können sie also jetzt sehen?"
„Ja, aber ich glaube, sie werden nicht sehr entzückt sein, wenn wir sie stören. Da kommt übrigens gerade der Steiger von Schlag II, ein Deutscher... Hallo, Will, was machst du hier? ist etwas geschehen?"
„Nein, nichts; wir machen nur Pause, es wird gerade geschossen!" antwortet der Angerufene. Er kommt heran. Wir sehen ein schwarzes Gesicht, helle Augen, einen struppigen blonden Schnurrbart.
„Deutsche?.. Schön Willkommen bei uns!... Auf Schlag II wollt ihr? Das ist zwar mein Schlag, aber ich würde euch doch raten, einen andern anzusehen, wir haben nämlich einen ,Proryw' gehabt... Was? Gerade deswegen wollt ihr zu uns?... Wegen der Bugsierbrigade? Aber an der ist doch nicht viel zu sehen! Drei ganz gewöhnliche Kumpels, wir wissen nicht einmal, wie sie heißen; wir wissen nur, dass sie was leisten; jetzt arbeiten wir noch keine neun Stunden mit ihnen zusammen und haben schon den ganzen Tagesplan erfüllt, bis Abend sind wir sicher auf hundertfünfzig Prozent! Dabei haben wir, weil ja um drei Mann mehr da sind, die Sollziffern entsprechend erhöht!" Wie wir in Schlag II ankommen, ist die Pause schon vorüber. Die Sprengkolonne hat „abgeschossen" und ist weitergezogen; die Kumpels arbeiten bereits wieder. Die drei von der Bugsierbrigade lachen: Es ist doch nichts Besonderes an ihnen zu sehen! Sie haben sich gestern Abend in der Belegschaftsversammlung von Horizont 50 gemeldet, als man die Bitte der Belegschaft von Horizont 100 bekannt gab; da ist gar nichts dabei, und das wird immer so gemacht. Wenn nicht sie sich gemeldet hätten, wären es eben drei andere gewesen. Hier wollen sie solange mithelfen, bis der „Proryw" liquidiert und die Arbeit richtig in Schwung gekommen ist.
„Po udarnomu, ponjimajesch?- Auf Stoßbrigadlerart, verstehst du?"
Die andern auf Horizont 50 haben sich verpflichtet, während der Abwesenheit der drei ihre Arbeit „mitzunehmen". Auch daran sei nichts Besonderes, das sei selbstverständlich und notwendig. „Sonst würde ja wieder Horizont 50 nachhinken!" Aber Horizont 50 hinke niemals nach. Im Gegenteil. Und deshalb habe sich auch die Belegschaft gestern verpflichtet, nicht nur die Arbeit der drei zu übernehmen, sondern die Gesamtleistung um zehn Prozent zu erhöhen. Po udarnomu, ponjimajesch?
„Wie lange wird es wohl dauern, bis der ,Proryw' hier liquidiert ist?"
„Eine Woche höchstens. Dann wird auch die Stoßbrigade, die man auf Schlag II organisiert, auf den Beinen stehen und sich in die Arbeit einbeißen. Po udarnomu, ponjimajesch?"
So, und jetzt habe man genug Zeit mit Reden verloren. Die Genossen Ausländer mögen entschuldigen, aber man müsse heute noch bis auf hundertundsechzig Prozent der Planziffern kommen; das habe man sich vorgenommen, und was man sich vornehme, das führe man auch aus. Po udarnomu, ponjimajesch?!
Auf dem Rückweg zum Hauptstollen sagt Will, der deutsche Steiger:
„Ja, wenn man das hier sieht und dann daran denkt, wie es bei De Wendel im Ruhrgebiet gewesen ist! Dort hätten uns so drei Mann kommen und zwölfstündige Schichten mit hundertsechzigprozentigen Arbeitsleistungen vorexerzieren sollen, die hätten wir gejagt, Freundchen! Und hier bitten wir selbst darum, dass sie zu uns kommen!... Aber hier hat eben alles einen anderen Sinn: die Arbeit und dein Verhältnis zu ihr; hier ist es wirklich deine Arbeit, die du tust; hier schaffst du für dich und nicht für De Wendel oder wie die Herrschaften sonst heißen. Hier ist kameradschaftliche Hilfe, was drüben Antreiberei wäre, denn hier konkurriert der Stärkere den Schwächeren nicht nieder, hier hilft er ihm."
Oben, am Pfeiler des Zechtors, hängen die rote und die schwarze Tafel. Auf der roten stehen die Namen der drei von der Bugsierbrigade auf Schlag II. Hinter dem Namen des einen, er heißt Tscherkassow, steht: „Mitglied des ZEK". „Ist das möglich?" fragen wir Stepanow. „Heißt das wirklich ZEK? Oder gibt es neben dem Moskauer ZEK noch ein anderes?"
Stepanow lacht. Dann sagt er:
„Warum soll das unmöglich sein? Warum sollen wir unter unserer Belegschaft nicht ein Mitglied des ZEK haben können? Und warum soll ein ZEK-Mitglied nicht in seinem Betrieb arbeiten, wenn keine Session ist? Hier ist es doch nicht so wie bei euch, wo die Arbeit angeblich nicht schändet, bei uns ehrt die Arbeit."
Von Mister Green hörten wir zum ersten Mal durch Trofim Terentewitsch, den Iswostschik. Der zeigte uns einmal im Vorüberfahren ein Holzhaus und sagte: „Dort wohnt Mister Green!" „Mister Green? Wer ist Mister Green?" „Das wisst ihr nicht? Ja, hat euch denn noch niemand von ihm erzählt? Er ist doch hier bekannt wie eine falsche Kopeke!"
„Nein, man hat uns nie von ihm erzählt. Warum ist er denn so bekannt?"
„Na, zum Beispiel, weil er seine Kutscherin geheiratet hat."
„Seine Kutscherin...?"
„Ja. Er hat sie geheiratet. Marfa Nikolajewna heißt sie. Sie kam vom Land und wollte Arbeiterin werden, aber dann hielt sie es in der Werkstatt nicht aus vor lauter Heimweh nach dem Dorf, und so ging sie zum Fuhrpark. Dort hatte sie wenigstens Pferde. Die waren für sie so ein Stückchen Dorf. Ja. Und dann teilte man sie als Kutscherin dem Amerikaner zu, und sie fuhr ihn herum und da verliebte er sich in sie und sagte ihr, dass er sie heiraten wolle, aber, das verrückte Huhn, wochenlang ließ sie sich bitten und drängen! Na, schließlich heirateten sie dann doch. Jetzt geht sie in die Schule, und er hat einen anderen Kutscher, aber manchmal setzt sie sich noch auf den Bock und kutschiert wie früher, und..."
„Das ist ja wie im Film!" rief Alex lachend. „Der Dollarprinz und das arme Mädchen, nebst happy-end!" Und dann vergaßen wir Mister Green. Aber einige Tage später hörten wir schon wieder von ihm. Diesmal im Gewerkschaftsrat. Wir hatten dem Sekretär des Gewerkschaftsrats unser Erlebnis mit dem deutschen „Firmeningenieur" erzählt, der vom ganzen Stalinsker Werk nur die Walzmaschinenmontage kannte, und wollten wissen, ob das eine Einzelerscheinung sei oder ob es unter den Firmeningenieuren noch mehr solche Typen gebe.
Ja, genug, erhielten wir zur Antwort, aber natürlich finde man unter ihnen auch ganz andere Typen: „Da haben wir einen Amerikaner, Mister Green..." Mister Green? Ob das derselbe sei, der... Er sei es bestimmt, es gebe hier nur den einen Green! Also der habe erst neulich seinen Beitritt zur Technikergewerkschaft erklärt.
Seinen Beitritt zur Technikergewerkschaft? Alex und ich sahen einander an.
„Das passt eigentlich nicht zu einem happy-end-Helden aus Hollywood!"
Und dann vergaßen wir Mister Green abermals, doch bald darauf wurden wir neuerdings an ihn erinnert. Diesmal im Vorraum der Ausländerküche in der „Sozialistischen Stadt". Dort lasen wir in der Wandzeitung:
Zur Nachahmung empfohlen!
Der amerikanische Ingenieur-Konsultant B. C. Green erklärte auf der letzten allgemeinen Versammlung der ausländischen Ingenieure und Techniker, dass er auf die Valutaklausel seines Vertrages verzichte, weil er es für wichtiger halte, dass die Devisen zum Ankauf ausländischer Maschinen als zur Bezahlung ausländischer Spezialisten verwendet werden. Der Verzicht auf die Valutaklausel sei kein Opfer, wenn man sich vor Augen halte, welche Entbehrungen sich die russischen Arbeiter... Weiter kam ich nicht, denn Alex sagte: „Also der Mann ist doch das, wofür wir ihn von Anfang an gehalten haben, nur ist er keine Filmfigur, sondern ein Fibelheld, so ein richtiger Lesebuchheld, durch und durch edel und hochherzig; der reinste rote Heilsarmeesol..." Sie unterbrach sich plötzlich. Jemand hatte, dicht hinter uns, laut aufgelacht. Wir fuhren herum. Da stand ein Mann der uns schon eine ganze Zeit lang zugehört haben musste, denn er sagte:
„Ach, das tut mir aber leid! Zu dumm, dass ich Sie gestört habe. Ich hätte so gern noch mehr über mich erfahren, ich bin nämlich dieser Green, müssen Sie wissen." Wir stotterten etwas hervor. Unsere Verlegenheit machte ihm sichtlich Vergnügen. Er ließ eine ganze Weile verstreichen, bevor er fortfuhr:
„Ja, ich bin dieser Green. Leider muss ich Ihnen eine kleine Enttäuschung bereiten; ich bin nämlich weder ein Lesebuchheld noch ein roter Heilsarmeesoldat; ich gehöre nur zu den Ausländern, bei denen es geknackst hat." „Wie bitte?" fragte Alex. „Geknackst?" fragte ich.
„Ja", antwortete er, „geknackst. Ich nenne einen bestimmten Vorgang so: es gibt hier ausländische Spezialisten, die merken plötzlich, dass sie bisher alles nur unvollständig gesehen haben, dass sie gehört, aber nicht begriffen, dass sie nebenher gelebt, aber nicht miterlebt haben! Natürlich knackst es nicht bei jedem Ausländer, der hier lebt und arbeitet; sehr viele bleiben überhaupt unberührt von dem, was rund um sie geschieht, und selbst von denen, die in den riesigen Umwandlungsprozess, den die Menschen hier durchmachen, mit hineingezogen werden, könnten wahrscheinlich nur die wenigsten sagen, dass es bei ihnen geknackst hat - so allmählich ist die ,Ansteckung' und Umwandlung vor sich gegangen. Aber bei mir hat es richtig geknackst."
„Aha, also doch eine Bekehrungsgeschichte!" triumphierte Alex.
Der Amerikaner lachte.
„Wenn Sie es so nennen wollen, gut! Es ist wirklich eine erbauliche Geschichte, und wenn Sie Lust haben ..." So bekamen wir die Geschichte Mister Greens zu hören: Er kam als technischer Ratgeber herüber. Er kam teils aus Abenteuerlust, teils des hohen Gehalts wegen, das ihm angeboten wurde. Er wusste von den Bolschewiken wenig; er war nicht ihr Feind, aber er liebte sie auch nicht; er war ihr Vertragspartner, darüber hinaus fühlte er sich zu keinerlei Beziehungen verpflichtet.
Der erste Eindruck, den er von Moskau empfing, war nicht gerade günstig. Er musste zehn Tage lang in den Amtszimmern verschiedener Kommissariate und Trusts herumsitzen, bevor er erfuhr, wo und woran er arbeiten werde. Der erste Eindruck, den er vom Kusbass empfing, war nicht besser. Er wurde an der Bahn nicht, wie verabredet, erwartet; das Zimmer, das man ihm zuteilte, war schlecht; die Warmwasserleitung funktionierte nicht, das Klosett war kaputt, das Bett war verwanzt; das Brot war schwarz, das Essen ungewohnt; bei der Arbeit gab es Schwierigkeiten über Schwierigkeiten: zuerst waren die Pläne, die er überprüfen sollte, nicht da, dann mangelte es an Baumaterial, zuletzt, als alle Vorbereitungen getroffen waren, stellte es sich heraus, dass man nicht genug geübte Arbeitskräfte zur Verfügung hatte. Den Ingenieuren fehlte die Erfahrung, und trotz Dolmetscher klappte die Verständigung nicht. Jeden Tag gab es neue Missverständnisse. Mister Green erwog ernstlich, alles stehen und liegen zu lassen und abzureisen. Aber da war der Vertrag, und da war seine Zähigkeit und sein Trotz, die eine Kapitulation vor den Schwierigkeiten nicht zulassen wollten. Er blieb. Allmählich kam auch alles ins Geleise, aber das Land blieb ihm fremd, die Sprache schien ihm auch weiterhin eine Art Husten, das Menschenmaterial, mit dem er zu tun hatte, roh, die Anstrengung der Stoßbrigaden sinnlos. Dazu kam der Winter mit seinen Temperaturen von 40 bis 50 Grad; dazu kam der Anblick der eilig und schlecht zusammengezimmerten Baracken und der langen Schlangen vor den Kooperativläden. Alles erschien ihm unerfreulich und niederdrückend.
„Bis dann die Geschichte mit dem Pfund Butter passierte. Wir waren auf einer Inspektionsreise im Altai, in den Bergen bei Telbes und Temir-Tau, wo unsere erste Erzbasis projektiert ist. Die Arbeiter dort hatten es besonders schwer. Die Arbeit war hart. Am Tag litten sie unter großer Hitze, in der Nacht froren sie. Baracken gab es noch nicht, man übernachtete in Zelten, aber die Zelte waren schon sehr mitgenommen und boten bei Regen nur wenig Schutz. Der Nachschub stockte oft, Wege mussten erst gebaut werden, der Transport war schlecht organisiert, die vorgeschobenen Brigaden hatten manchmal zwei, drei Tage lang nur Zwieback und getrocknetes Fleisch oder Grütze zu essen. Zwei Tage vor unserer Rückreise besuchten wir die am weitesten vorgeschobene Gruppe. Es war eine Stoßbrigade von etwa fünfzehn Mann. Sie arbeiteten unter besonders schwierigen Verhältnissen, inmitten einer fast unzugänglichen Wildnis, und nährten sich schon seit Tagen nur noch von Schwarzbrot und geräuchertem Fisch. Wir schickten ihnen deshalb aus unseren Vorräten ein Pfund Butter. Aber sie schickten es uns zurück. Der Mann, der das Paket zurückbrachte, übergab uns einen Zettel. Auf dem Zettel stand: ,Nicht wir dienen bei euch, ihr dient bei uns!' Darunter die Namen der fünfzehn Stoßbrigadler. Sehen Sie, an diesem Tage hat es bei mir geknackst!" Er machte eine Pause, dann schloss er: „Ja, das ist also meine Geschichte. Wenn ich ein Schriftsteller wäre, so würde ich sie niederschreiben. Und wissen Sie, wie ich sie nennen würde? ,Das Land, wo der Hunger nicht weh tut'!"
Ein Pfiff. Ein Ruck.
Langsam setzt sich der Zug in Bewegung. Wir stehen am offenen Waggonfenster: Alex, ich und die junge Arbeiterin, mit der wir das Coupe feilen. Sie fährt nach Moskau. Die Stoßbrigade, in der sie zwei Jahre lang gearbeitet hat, schickt sie jetzt auf die „Kommunistische Universität". Wir haben uns auf dem Bahnsteig mit ihr unterhalten und sie gefragt, was ihre schönste Erinnerung an Stalinsk sei.
„Das Schönste? Ich glaube das Hinaufklettern auf den Arm des ,Derrik-Krans', zwanzig oder dreißig Meter hoch. Wenn etwas am Mechanismus oben in Unordnung kam, kletterte immer einer von uns hinauf; es ist zwar verboten, aber wenn man den Arm vorschriftsmäßig herunterholt, verliert die Brigade mindestens eine halbe Stunde, und da klettert man eben lieber hinauf und bringt die Sache in zehn Minuten zum Klappen. Wir losten immer darum, wer hinauf darf."
Während sie uns davon erzählte, bekam sie ganz feuchte Augen.
„Es ist schwer, von der Brigade wegzugehen", sagte sie, „man kommt sich verloren und pflichtvergessen vor. Es ist so, als ginge man von der Front in die Etappe." An diese Worte muss ich jetzt denken, während ich zum Fenster hinausblicke. Von den Barackensiedlungen, von den Verwaltungsgebäuden, von den fertigen und halbfertigen Werksanlagen ist nichts mehr zu sehen. Die Nacht hat sie verschluckt. Übrig geblieben ist nur der rötliche Feuerschein am Himmel, das unruhige Spiel aufblitzender und verlöschender Lichter, das harte, eintönige Rattern der unzähligen Niethämmer und der dumpfe Donner der Sprengungen. „Das ist doch nicht nur das nächtliche Panorama eines Hüttenwerks", muss ich denken, „das ist - die Front." Der erste Brief, der uns in Berlin erreichte, war von Stepanow, dem Sekretär des Parteikollektivs auf der Prokopjewsker Grube „Perwaja Koksowaja". Er schrieb: „Wir sind hier an der Front. Wir wissen es, und wir handeln danach. Wir dürfen auf uns und andere keine Rücksicht nehmen. Aber wir wissen auch, dass an dieser Front nicht gekämpft wird, um zu töten und zu vernichten, sondern um eine neue Welt und neue Menschen zu schaffen."
Söhne der Taiga
Auf den Vorbergen des Altai stirbt das Abendrot. Im braunvioletten Zwielicht der Dämmerung, die rasch zunimmt, scheint die Steppe noch weiter und kahler zu werden, als sie es tagsüber schon war. Alles verändert sich: die Büsche, das Gras, die Wolken, der Wind - nur das dröhnende Rattern des Motors bleibt, wie es gewesen ist. Aber auf einmal setzt es aus. Der Wagen hält.
„Was ist?"
„Kann es noch nicht sagen, muss erst mal nachsehen." Kurgali Koschkarbajew, der Chauffeur, ein kleiner, säbelbeiniger Kirgise (aber Kirgise - das hat er uns erst heute Mittag beim Schaschlykbraten erklärt - darf man jetzt nicht mehr sagen, das war der russische Spottname für jene türkischmongolischen Stämme, die sich seit der Oktoberrevolution Kasachen, „freie Menschen", nennen), also der Kasache Kurgali steigt aus, geht nach vorn, werkt eine Weile am Motor herum und verschwindet dann unter dem Wagen, einem jener hochrädrigen Fords, die - zwar schon in Nishni Nowgorod (Anm.: heute Gorki) und nicht mehr in Detroit hergestellt und mit allen Errungenschaften modernster Automobiltechnik ausgestattet - in den Steppen Sibiriens doch wieder zu dem werden, was ihre Vorfahren vor mehr als einem Menschenalter im damaligen Fernen Westen waren: richtige Prärievehikel, für die Bach und Tümpel ebenso wenig Hindernisse sind wie Sturzacker und Buschgelände. „Wird es lange dauern?"
„Weiß nicht, aber sicher so lange, dass ihr ein bisschen Wasser holen könnt. Der Eimer muss irgendwo vorn liegen, ihr werdet ihn schon finden." „Den Eimer schon, aber wo sollen wir das Wasser herkriegen?"
Kurgali kommt unter dem Wagen hervorgekrochen und pflanzt sich grinsend vor uns auf.
„Augen habt ihr, und Brillen, und seht doch nichts! Dort!" Er zeigt nach links hin, in die Steppe hinaus. Wir starren in die Richtung, die er weist. Ich kann nichts entdecken, aber Alex sagt:
„Wartet mal... ich glaube... ich sehe dort... etwas wie... Rauch?"
„Richtig", lobt sie Kurgali, „dort lagert jemand!"
„Ich sehe keinen Rauch", wende ich ein, „und selbst wenn dort jemand lagert, so heißt dass doch noch nicht, dass auch Wasser..."
Doch Alex unterbricht mich.
„Komm!" ruft sie und packt den Eimer. „Blamier dich nicht noch einmal! Hast du denn deinen Lederstrumpf und Winnetou schon so vergessen, dass du nicht mehr weißt, wie unsichtbar ein richtiges Lagerfeuer zu sein hat?... Los, du Greenhorn."
„Pshaw", will ich, wegwerfend, wie es sich gehört, sagen, aber da zieht sie mich schon mit sich fort. Jetzt sehe auch ich den feinen, bläulich-weißen Rauchfaden. Er scheint geradewegs aus der Erde emporzusteigen, aber dann stehen wir mit einem mal am Rande eines Abhangs und sehen, dass das Feuer unter uns, auf der Sohle einer kleinen Mulde brennt, die zur Hälfte von dem dunklen Spiegel eines eiförmigen Wasserlochs ausgefüllt ist.
Um das Feuer liegen sechs Männer herum, trinken Tee und rauchen. Weiter hinten, im Schatten, sieht man undeutlich die Umrisse von Karren und weidenden Pferden. Wir grüßen und werden wiedergegrüßt. Dann fragen sie uns nach dem Woher und Wohin, und wir richten an sie die gleichen Fragen.
Sie sind Bauern. Aus der Taiga. Sie fahren nach Stalinsk, bringen Lauch, Zwiebeln, Eier, Brot und Wurst zu Markt und wollen Tuch und Geschirr einkaufen. Zwei Tage sind sie schon unterwegs, morgen müssen sie noch einen halben Tag lang fahren, und übermorgen Nachmittag geht es dann wieder zurück.
„Es lohnt sich fast nicht", meint einer von ihnen, ein Langer, Dürrer mit einem Pferdegesicht, „sieben Tage verlierst du mit der Fahrt; eine ganze Woche bleibt alle Arbeit zu Hause liegen, und du kannst dich nachher krumm und lahm schinden. Nein, es lohnt nicht!" „Früher ist man ja auch nicht zu Markt gefahren", sagt ein anderer, ein verhutzelter Alter, von dessen Gesicht man vor lauter Bart nur die hellen Augen und die rote, spitze Nase sieht, „früher ist man schön zu Hause geblieben." Ein Dritter, Junger, mit einer Stupsnase, bemerkt: „Früher konnte man aber auch nirgendwohin fahren. Da gab's doch die Stadt noch gar nicht." Der Alte widerspricht.
Nein, das sei es nicht. Man habe doch früher nach Alt-Kusnezk fahren können, und sei doch nicht gefahren. Die Sache liege einfach so: seitdem jeder zweite Mann aus dem Dorf in einer Fabrik oder einem Sowchos arbeite und als richtiger Städter, in Stiefeln und mit Hut, auf Urlaub komme und „so Zeugs, Spiegel und Uhren und neulich sogar eine singende Maschine" mitbringe, wolle eben niemand mehr in Bastschuhen herumgehen und Selbstgewebtes tragen.
Der Bauer schiele nach der Stadt. Das sei es. Und das sei schlecht.
Ein Vierter, auch ein Alter, pflichtet ihm bei: „Ja, sie schielen nach der Stadt. Sie wollen nicht mehr auf dem Dorf bleiben. Vor drei Jahren waren wir noch hundertachtzig Seelen, heute werden wir nicht mehr als siebzig sein. Und in einem Jahr...?" Der Stupsnasige wirft ein: „Sie wollen eben verdienen."
„Verdienen", sagt der mit dem Pferdegesicht. „Aber ist das ein Leben für einen, der immer nur Brot gebaut hat? Jetzt auf einmal muss er Ziegel karren oder Eisen hämmern oder an der Maschine stehen. Ist das ein Leben für einen Bauern?... Eh?" Der Verhutzelte wendet ein:
„Gut, das sind die in der Fabrik. Die sind Städter geworden, die leben nicht mehr auf dem Land. Aber die andern? Die auf den Sowchosen? Die leben noch auf dem Land und sagen von sich, dass sie Bauern sind, und dabei säen sie, ohne dass sie das Saatkorn in der Hand spüren, und dreschen, ohne dass sie einen Flegel auch nur zu Gesicht bekommen. Und erst die Ernte! Was ist das für eine Ernte? Du sitzt den ganzen Tag auf einer Maschine und hast die Ohren voller Lärm und die Nase voller Gestank! Das Herz muss dir weh tun, wenn du dabei an die Taiga denkst." Er verstummt.
Da meint das Pferdegesicht:
„Was willst du? Sie sind eben doch keine Bauern mehr. Sie sagen es ja selbst, ihr Sowchos ist eine Getreidefabrik." Der Verhutzelte nickt. Dann sagt er, während er seine lange, dünne Messingpfeife ausklopft - und in seiner Stimme schwingt dabei etwas von der Trauer, die in der biblischen Legende vom geschorenen Simson wohnt: „Ja, sie sind keine Bauern mehr. Sie arbeiten in einer Getreidefabrik, und auch den Bart haben sie sich schon abnehmen lassen..."
Die Hupe ertönt laut und ungeduldig. Wir greifen hastig nach dem Eimer und laufen zurück.
Ein paar Wochen später ruft mir Alex dieses Gespräch wieder ins Gedächtnis zurück:
„Hör mal, erinnerst du dich noch an den alten Bauern, damals an dem Wasserloch in der Kusnezker Steppe? Du sagtest nachher, dass er um die Söhne der Taiga geklagt habe wie die Juden um den geschorenen Simson." „Ja, ich erinnere mich. Aber wie kommst du gerade jetzt darauf?"
„Na, wir fahren doch in eine Getreidefabrik. Da werden wir die geschorenen Simsone ja gleich leibhaftig zu Gesicht bekommen."
Einstweilen bekommen wir sie allerdings noch nicht zu Gesicht, denn wir müssen noch einen „Seitensprung" machen: Semjon Grigorjewitsch, der baschkirische Diplomagronom, mit dem wir uns angefreundet haben, und der uns heute das Sossnowsker Sowchos, eine der größten unter den 175 Getreidefabriken des „Sernotrest" (Korntrust) zeigen will, besteht darauf, dass wir uns vorher „seine" landwirtschaftliche Station ansehen. „Alle Maschinen, die die Mechanisierungsabteilung unserer Station konstruiert, werden auf dem Sossnowsker Getreidesowchos ausprobiert. In einem Jahr schon übersiedeln einige Abteilungen der Station auf das Sowchos. Station und Sowchos gehören gewissermaßen zusammen; übrigens nicht nur in diesem Fall, jedes einzelne Sowchos steht mit der Versuchsstation seiner Landwirtschaftszone in ständiger Verbindung. Man muss also, wenn man von der Arbeit eines Sowchos ein vollständiges Bild erhalten will, auch die Versuchsstation kennen, mit der es zusammenarbeitet. Im Übrigen lohnt sich ein Besuch bei uns, auf der Station, auch so. Sie kann sich wirklich sehen lassen!" Und wirklich, sie kann sich sehen lassen, die „Omsker Zonale Versuchs- und Forschungsstation für Getreidebau": dreitausend Hektar Land, zum größten Teil Versuchsfelder; ein Dutzend Wirtschaftsgebäude, Laboratorien und Institute; fast dreißig Wohnhäuser für die Arbeiter und den wissenschaftlichen Stab; zwei meteorologische Beobachtungsposten; zwei Riesenspeicher mit dem „Schatz" der Station, den Proben der 80000 verschiedenen Körnersorten von Hart- und Weichwelzen, mit denen hier experimentiert wird; die Mechanisierungsabteilung mit ihren Werkstätten und Schuppen; der Maschinen- und Fuhrpark mit seinen Hangars, Garagen und Ställen; die Kinderkrippe, der Kindergarten, der Klub. Semjon Grigorjewitschs breites, braunes Gesicht strahlt, während er uns auf der Fahrt zur Stationsbasis aufzählt, was alles zu der Station gehört, die er leitet; er, der einstige Hirtenjunge, der Agronom werden wollte und es nicht werden konnte, weil im alten Russland die höheren Lehranstalten fast keine baschkirischen und tschuwaschischen Schüler aufnahmen; er, der Rotarmist und Rote Kommandeur aus der Bürgerkriegszeit, der bei der Truppe Lesen, Schreiben und die Grundbegriffe der Agronomie gelernt hat; er, der Kolchosorganisator, den die Kolchosbauern und Landarbeiter seines Bezirks auf die Hochschule geschickt haben, wo er sich zwei Diplome holte.
„Ja, eine große Station! Achtzig hochqualifizierte wissenschaftliche Mitarbeiter, an dreihundert Hilfskräfte. Aber wir haben auch eine sehr ausgedehnte Zone zu betreuen: vom Ural bis zum Ob und von Südkasachstan bis zur Tundra ... Was wir zu leisten haben? Unsere Selektionsabteilung bemüht sich durch Kreuzung Getreidesorten zu erhalten, die den klimatischen und Bodenverhältnissen unserer Zone am besten entsprechen, die also bei größter Widerstandsfähigkeit gegen Trockenheit und Schädlinge den höchsten Ertrag bringen. Unser Planbüro stellt die Richtlinien für die Organisierung der Anbau- und Erntearbeiten auf. Unsere Mechanisierungsabteilung konstruiert neue Maschinen und Maschinenteile, wie wir sie in unserem Gebiet besonders brauchen, beispielsweise Mähdrescher für niedrige Kulturen oder Gemüse-Setz-Maschinen für Felder von ungewöhnlich großem Ausmaß. Unsere agronomische Beratungsstelle... Aber da sind wir schon. Los, steigt aus! Jetzt könnt ihr euch die Dinge selbst ansehen."
Da ist das Hauptgebäude der Station, ein großer, würfelförmiger Betonbau mit hohen, breiten Fenstern. „Kaum fertig und schon zu klein", sagt Semjon Grigorjewitsch, „im Herbst wird ein zweiter solcher Kasten gebaut; Geld haben wir schon, eine Million Rubel; Material auch; es fehlen nur noch die Bauarbeiter, aber die werden wir auch auftreiben."
Im Obergeschoß sind die Bibliotheks- und Studierzimmer, die Büros des Direktors und der Verwaltung; im Erdgeschoß die Laboratorien.
„Das hier ist die Mahlstation. Hier wird jede von uns gezüchtete Sorte vermahlen und auf ihre chemischen Eigenschaften geprüft. Fast hunderttausend Sorten sind zu untersuchen."
Die Backstation, in der die Backeigenschaften der verschiedenen Mehlsorten festgestellt werden sollen, ist noch nicht ganz eingerichtet, aber das Röntgenkabinett daneben arbeitet schon.
„Wir machen hier ganz neue Versuche", erklärt uns der Leiter des Kabinetts, „wir rufen durch Bestrahlung im Korn Veränderungen hervor und erzeugen so neue Sorten; einstweilen wissen wir noch nicht genau, wie die einzelnen Arten auf die Bestrahlung reagieren und nach welchen Gesetzen sich die Veränderungen vollziehen; aber das kriegen wir schon noch heraus."
Das Maislaboratorium ist eben erst umgezogen. Inmitten eines Wirrwarrs von Kisten, Regalen und Instrumenten sitzt, ein kleines Mikroskop auf den Knien, eine junge Frau und betrachtet verzückt ein „aufregend schönes" Exemplar der ukrainisch-italienischen Kreuzung. Wir müssen alle, der Reihe nach, durch die Linse schauen und werden eingeladen, auch die „furchtbar interessanten" Kreuzungen zwischen sibirischem, kurzstengeligem Mais und amerikanischem, hochstengeligen Brown-Conti in Augenschein
zu nehmen, aber wir haben keine Zeit, und nicht einmal die verlockende Möglichkeit, eine sibirische Abart von Ivory-King-Mais kennenzulernen, vermag uns zum Bleiben zu bewegen.
Aus einem gläsernen Haus laufen Schienen in ein Drahthaus. Auf den Schienen stehen viele Wägelchen mit Blumentöpfen; aus den Blumentöpfen sprießen Weizenhalme. „Unser Trockenheitslaboratorium", erläutert Semjon Grigorjewitsch, „tagsüber, wenn es nicht regnet, setzen wir die Versuchspflanzen der Sonne aus. Die einen bekommen etwas, die anderen ganz wenig, die dritten fast gar keine Feuchtigkeit zugeführt; ab und zu kommen sie auch unter die große Glasglocke dort, in der wir heißen Steppenwind erzeugen. Über jede Pflanze wird genau Buch geführt; einige zwanzig lassen wir sogar jede halbe Stunde wiegen, um festzustellen, wie viel Feuchtigkeit sie abgeben. Die am wenigsten Wasser verlieren, sind die widerstandsfähigsten Sorten; die verwenden wir dann bei Kreuzungen mit anderen Arten, deren Hauptmerkmal ein hoher Halm oder ein besonders großes Korn ist." Hinter dem gläsernen Haus beginnen die Versuchsfelder, weite grüne Äcker, auf denen jede Halmreihe von der anderen verschieden ist.
Kreuzungen, Kreuzungen; erste Generation, zweite Generation, dritte Generation; rechte Reihe: „väterliche Sorte", linke Reihe: „mütterliche Sorte", mittlere Reihe: „hybride Sorte" - zehntausend verwandte und doch ungleiche Weizenarten.
Auf einem Tisch, unter einem Glasdach, stehen, in Gazezylinder gesteckt, kranke Weizenpflanzen. Man hat sie künstlich infiziert und studiert nun den Krankheitsverlauf bei Pflanzen, die „behandelt" und solchen, die nicht mit Chemikalien bespritzt wurden.
Ein Mädchen in weißem Leinenkittel, eine Agronomie-Studentin, die hier während der Ferien wissenschaftlich arbeitet - vor vier Jahren war sie noch Milchmagd in einem sibirischen Kolchos - macht uns auf ein paar rostbraune, ganz verkrüppelte Ähren aufmerksam und sagt klagend:
„Sie müssten schon vor einer Woche eingegangen sein, aber sie leben noch. Unsere ganzen Berechnungen wirft das über den Haufen. Es ist zum Verzweifeln. Und ich hatte sie so gründlich infiziert!"
Semjon Grigorjewitsch lacht, und auch ich lache, Alex hingegen tut empört:
„Das ist ja eine wahre Folterkammer für die Pflanzen." „Nein, die Folterkammer kommt erst", entgegnet Semjon Grigorjewitsch. „Drüben die Wellblechhütte. Unser Kältelaboratorium. Dort lässt man Weizen langsam erfrieren, um die Grenze seiner Widerstandsfähigkeit gegen Kälte festzustellen."
„Und das?" fragt Alex und macht vor einem kleinen Feld halt, auf dem nur ein paar Dutzend Halme stehen: jeder Halm ist an einem Stock angebunden, und die Ähren stecken in Pergamenthüllen; es sieht aus, als seien das lauter Verwundete mit verbundenen Köpfen und hohen Krücken. „Was ist das?" „Ein Weizenverbandplatz", rate ich. Seinjon Grigorjewitsch nickt.
„Sie haben nicht ganz unrecht, man könnte wirklich von einer Art Klinik sprechen, allerdings von einer geburtshilflichen. Was ihr nämlich da seht, sind kastrierte und künstlich befruchtete Pflanzen." „Was?"
„Ja, hier auf diesem Feld wird die erste Generation neuer Kreuzungen produziert, und dazu braucht man teilkastrierte und künstlich befruchtete Pflanzen... Ihr wisst doch, dass Getreide zweigeschlechtlich ist. Nun sucht man sich einige besonders schöne Exemplare aus, zwackt der Ähre, sobald sie aus dem Halm hervorkommt, die Spitze und die unteren Blüten ab, so dass nur vier bis sechs gutentwickelte Blüten übrigbleiben, zupft dann mit einer ganz feinen Pinzette aus jeder Ähre die männlichen Organe heraus. So erhält man die ,Muttersorte'. Die Teil kastrierte Ähre wird in eine Pergamenthaube eingehüllt, damit sie isoliert bleibt. Drei Tage später sammelt man den Blütenstaub der ,Vatersorte' und führt mit Hilfe einer feinen Pinzette die künstliche Befruchtung durch. Die Frucht, die auf diese Weise zustande kommt, ergibt schon die neue, hybride Weizenform."
Dann zeigt er uns eine neue Roggenart, deren Körner doppelt so groß und dreimal so schwer sind wie die aller anderen Sorten. Dort wieder steht eine Sonnenblumenkultur, die sogar hier in Sibirien, wo bisher Sonnenblumen niemals zur Reife kamen, richtig ausgereifte „Semetschki" liefern wird, weil man ihre Vegetationsperiode mit Hilfe der „Jarowisierungsmethode" um vierzehn Tage verkürzt hat. Und in einem kleinen Treibhaus bekommen wir das große Geheimnis der Station zu sehen: den ersten mehrjährigen Weizen.
„Ja, ja, da staunt ihr, was? Es ist aber auch so etwas wie ein landwirtschaftliches Wunder. Wir haben da Weizen mit Unkraut gekreuzt, eine Sache, die von den meisten amerikanischen und europäischen Selektionisten für unmöglich erklärt wurde - aber wir sind Dialektiker und halten nichts von der Unveränderlichkeit der Dinge und Zustände. Wir haben also experimentiert und experimentiert, und es ist uns endlich, nach jahrelangen Versuchen gelungen, durch Kreuzung von Weizen mit einer besonderen Queckenart eine Mischform zu erhalten, die einerseits richtige, wenn auch einstweilen noch kleine Weizenkörner hervorbringt, andererseits aber strauchartig wächst und nicht, wie der Weizen, von der Wurzel aus, sondern von der Ähre her zu dorren beginnt, wobei die Wurzel lebendig bleibt und im nächsten Jahr frische Halme treibt. Vorläufig interessiert uns die Entdeckung hauptsächlich deshalb, weil diesem Queckenweizen auch sehr starke Fröste nicht viel anhaben können; wir werden also zunächst eine besonders widerstandsfähige Sorte von Winterweizen empor züchten — aber darüber hinaus eröffnen sich noch andere, viel weitere, ganz außergewöhnliche Perspektiven: wenn es uns gelingt, und es wird uns gelingen, einen mehrjährigen Weizen zu züchten, der nicht nur im ersten, sondern auch im zweiten und dritten, ja vielleicht sogar noch im vierten Jahr gutes und großes Korn gibt, dann haben wir ein Werkzeug in der Hand, mit dem wir den Weizenanbau von Grund auf neugestalten können. Dann setzt eine Revolution der Landwirtschaft ein, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat, ein würdiges Gegenstück zu der gesellschaftlichen Revolutionierung des flachen Landes und zu der technischen Umwälzung, die heute bei uns vor sich geht."
Vom Hauptgebäude her kommt ein Mann gerannt und ruft schon von weitem:
„Semjon Grigorjewitsch! Semjon Grigorjewitsch! Die Leute vom Sossnowsker Sowchos haben angerufen. Sie erwarten euch schon seit zwei Stunden und fragen, wo ihr bleibt."
Semjon Grigorjewitsch streicht sich die Haarsträhne zurück, die ihm ins Gesicht gefallen ist, und hebt die Mütze auf, die er im Eifer des Redens verloren hat. „Wir müssen fahren!" sagt er, und man merkt ihm deutlich an, dass ihn dieser Entschluss einige Überwindung kostet, dass er viel lieber bleiben und weiter von den Entwicklungsmöglichkeiten des mehrjährigen Weizens sprechen möchte. „Zu dumm, ich hätte euch gern noch ins Planbüro und in die Mechanisierungsabteilung geführt und euch gezeigt, wie wir die Kornverluste bei der Ernte bekämpfen. Um dreißig Prozent haben wir sie schon verringert. Eine große Sache, wenn man bedenkt, dass der sibirische Bauer bei jeder Ernte soviel Korn verloren hat, wie man brauchen würde, um in allen Dörfern Westsibiriens neue Schulhäuser zu bauen... Aber wir müssen fort, kommt."
Die neue dreiteilige Chaussee - rechts Traktorenbahn, links Karrenweg, in der Mitte Autostraße - läuft von der Irtysch-Fähre aus dreihundert Kilometer weit in die Steppe hinaus, in der die großen Sowchose des Omsker Gebiets liegen.
Semjon Grigorjewitsch erzählt, dass die Ernte in wenigen Tagen beginnen wird. Von den Mähdreschern auf den Feldern des Borrissower und Sossnowsker Staatsgutes nach den Elevatoren an der Bahnlinie und wieder zurück werde dann eine „endlose Kette" von fünfhundert Lastautos über diese Straße rollen.
„Eine Million Zentner Weizen! Vierhundert Traktoren und dreihundert Combines auf den Feldern! Wenn ich daran denke: siebenhundert Mähdrescher und Traktoren ... und vor sechzehn Jahren habe ich noch mit diesen Händen hier" - er betrachtet sie dabei mit einer ungläubigen Neugier, als sehe er sie jetzt zum ersten mal - „einen Pflug geführt, der hatte nicht einmal eine richtige Pflugschar, sondern nur einen breiten Nagel ... Es packt einen manchmal. Es packt einen... Ihr seid Ausländer, und ein Ausländer, auch wenn er unser Freund und Genosse ist, und schon oft hier war und das Land kennt, wird doch nicht ganz so stark das mitfühlen können, was uns packt, wenn wir wieder einmal, ganz plötzlich, merken, wie viel, wie unendlich viel schon zwischen dem Jahr siebzehn und heute liegt." Er schweigt eine Weile. Dann sagt er: „Man schreibt im Ausland immer wieder, wir berauschen uns an der Technik- aber das ist falsch. Seht ihr, was mich berauscht, wenn ich an die neuen Traktoren und Combines und Autos und Elektrizitätswerke denke, das ist etwas ganz anderes. Ich sehe dann immer die Bauern vor mir, die sich nicht mehr mit dem Nagelpflug schinden müssen, die nicht mehr diese unendlich langen, toten Stunden im Dunkeln durchdösen müssen, die nicht nur lesen und schreiben, sondern auch die Welt erkennen lernen, aufwachen, aus einem stumpfen Dasein in ein Leben, das sich zu leben lohnt!"
Er wird unterbrochen. Laut heulend gibt die Hupe unseres Autos Antwort auf den gellenden Sirenengruß, den uns die kleine Elektrostation des Sossnowsker Sowchos entgegenschickt.
„Ja, ein Getreidesowchos ist eben kein Bauernhof!" sagt, über unsere Erschöpfung lächelnd, der Chefagronom, der uns fast drei Stunden lang mit Zahlen und immer wieder neuen Zahlen bombardiert hat. „Und dabei gibt es jetzt gar nicht mehr die Übersowchose wie zur Zeit der Gigantomanie, als wir Staatsgüter von 300000 und mehr Hektar gründeten, wie zum Beispiel das Kijalinsker, auf dem dann die Geschichte mit den verlorenen fünfzig Traktoren ..."
Was das für eine Geschichte sei? Ein Stück Historie schon, aus dem Jahr neunundzwanzig. Wenn wir sie hören wollten... Wir würden dann sehen, dass es in den ersten Jahren der Sowchoseentwicklung nicht minder abenteuerliche Episoden gegeben hat als einstmals in den „Pionier-Tagen" des amerikanischen Fernen Westens.
Also: Das Kijalinsker Sowchos im Petropawlowsker Gebiet hatte 300000 Hektar jungfräulichen Bodens zugeteilt bekommen. Davon sollte im ersten Jahr ein Viertel bebaut werden. Man suchte sich die besten Landstücke aus, steckte hier zehn-, dort wieder acht-, dort wieder zwanzigtausend Hektar künftiges Ackerland ab und ließ dazwischen breite Streifen Steppe unabgesteckt liegen. Von der Sowchosbasis aus, wo vorläufig alle Traktoren und Maschinen konzentriert waren, weil es noch keine Vorwerke gab, waren bis zu den entfernten Feldstücken mehrere hundert Kilometer zurückzulegen. Die Sowchoslandkarte wurde erst gezeichnet, Wege waren noch unbekannt. Die Pflügerkolonnen fuhren einfach den Spuren der Agronomenautos nach, bis sie auf die roten und weißen Pflöcke, die Grenzen der künftigen Felder stießen. Es klappte im großen und ganzen alles sehr gut, und so dachte niemand daran, den fünfzig Traktoren, die man einige Tage später, mit Lebensmitteln und Brennstoff auf etwa eine Woche versehen, zur Saat ausschickte, einen Kompass mitzugeben. Die Traktorführer bekamen die ungefähre Richtung gezeigt; man sagte ihnen, dass sie zuerst an zwei Seen, dann an einem Birkenwald, dann wieder an einem See vorbeikommen und dann schon das gepflügte Feld Nr. 18 sehen würden, auf dem die Aussaat beginnen sollte. Im Übrigen seien die Spuren der Pflügerkolonnen noch deutlich sichtbar. Sie fuhren also los. Am nächsten Tag traf jedoch der Chefagronom auf Feld 18 niemand an. Die alarmierte Verwaltung schickte zuerst ein Auto, dann einige Motorradfahrer, zuletzt alle verfügbaren Autos und Reiter aus, um die Traktoren zu suchen. Man fand aber nicht einmal eine Spur, weil ein heftiger Regen alle Fährten verwischt hatte. Nach sieben Tagen voller Spannung und Aufregung traf endlich, gerade als man Flugzeuge zur Suche einsetzen wollte, aus einer tausend Kilometer weit entfernten Eisenbahnstation die Meldung ein, dass die Traktoren dort angekommen seien. Was war geschehen? Die Kolonne hatte sich im Sturm verirrt und war am nächsten Tag einer vermeintlichen Spur gefolgt, die plötzlich aufhörte. Man versuchte sich nach den Seen und Wäldern zu orientieren, aber alle Steppenseen gleichen einander, und ein Birkenwald sieht aus wie der andere.
Am Morgen des dritten Tages beschloss man in einer Richtung weiterzufahren, in der, nach der Meinung einiger Traktorführer, größere Kasachensiedlungen liegen mussten. Man traf auch im Laufe des Tages auf zahlreiche Jurten, sie waren aber alle verlassen: offenbar hatten ihre Bewohner vor der Kolonne, die mit großem Getöse einherfuhr und riesige Staubwolken aufwirbelte, die Flucht ergriffen. Das bestätigte auch ein am Abend „eingefangener" Kasache, der die Kolonne am nächsten Morgen endlich in eine bewohnte Siedlung führte. Es stellte sich heraus, dass man bereits viel weiter vom Sowchos als von der Turksibbahn entfernt war. Da außerdem die Brennstoffvorräte zur Neige gingen, entschied man sich für den kürzeren Weg. Man rastete einen Tag lang und gelangte nach zwei weiteren Tagen ohne weitere Abenteuer an die Bahn. Auf dem Sowchos traf man allerdings erst zehn Tage nach dem Ende der Saatkampagne ein, die unter großen Schwierigkeiten mit Hilfe eilig zusammengetrommelter fremder Traktoren durchgeführt worden war. „Ob etwas Ähnliches noch heute vorkommen kann? Nein. Bei uns hier wenigstens nicht. Erstens haben wir überallhin Wege und Straßen gebaut, und dann ist unser Sowchos auch nicht so riesig. Allerdings, mit europäischen Maßen gemessen, ist es immer noch so groß wie eine kleine Provinz!... Aber wenn es Ihnen recht ist, so gehen wir jetzt los!"
Die „kleine Provinz" umfasst 86000 Hektar Land. 55000 sind mit Weizen, 2000 mit Roggen und 500, der Arbeiterkooperative zugewiesene, mit Gemüse bepflanzt; der Rest ist unbebaut. Achtzehnhundert ständige und sechstausendachthundert Saisonarbeiter bevölkern die neun „Siedlungen", die auf dem Gebiet des Staatsgutes liegen: acht Zelt-und Barackenlager, jedes Mittelpunkt eines Sowchosabschnittes, und die Basis, Mittelpunkt des ganzen Gutes. Der Chefagronom erzählt:
„Wenn die Arbeiter aus den Abschnitten am Ausgangstag hierher in die Basis kommen, so sagen sie, ,wir sind auf Besuch in der Stadt'. Eine Stadt ist es ja nun allerdings noch nicht, wie Sie sehen, aber in zwei Jahren..." Und während er uns zeigt, was schon ist - den Klub, das Verwaltungsgebäude, die Reparaturwerkstätte, die Kraftstation, die Rettungsstelle, die Schule, das Kooperativ-Warenhaus, die Kinderkrippe, die Speisehalle und die drei Wohnblocks - spricht er davon, was sein wird: In zwei Jahren werde aus der Reparaturwerkstätte so etwas wie eine kleine Fabrik geworden sein. In zwei Jahren werde der Kindergarten dreihundert statt sechzig Kinder beherbergen. Aus der Baugrube hier werde schon längst eine Radiostation emporgewachsen sein. An Stelle der Kalkstriche und Pflöcke werde dort drüben der Betonbau des agronomischer. Instituts stehen. Und die Schmalspurbahn, die jetzt nur als rote Linie auf der Landkarte im Direktionszimmer existiere, werde sich in Schwellen und Schienen verwandelt haben, genau so, wie sich eben jetzt die schwarze Linie auf der Karte in Maste und Telefondrähte verwandle.
Er verstummt. Wir stehen oben, auf dem flachen Dach des Wasserturms. Mit einer weiten Bewegung weist er auf die Häuser, die Felder, auf das für die Ernte bereitgestellte Combinegeschwader und sagt:
„Ja, in zwei Jahren... wird man sich dann überhaupt noch daran erinnern können, was einem heute schon schwerfällt zu glauben: dass vor drei Jahren hier unten, soweit man sehen kann, nur Steppe war, Gras und Busch, ab und zu ein Birkenbaum oder ein Tümpel, aber sonst nichts?!... Eine tolle Verwandlung, was?"
Alex will zustimmen, aber der Chef-Agronom fährt fort: „Nein, warten Sie noch! Warten Sie noch, bis Sie mit unseren Leuten gesprochen haben! Bis Sie erfahren haben, was die Leute früher einmal waren und was sie heute sind, nicht nur als Arbeiter, auch als Menschen! Dann erst werden Sie eine Vorstellung davon haben, wie groß die Verwandlung ist!" Und nach einer Weile:
„Da ist nämlich nicht nur ein Sowchos entstanden, da sind auch die Menschen, die es braucht, entstanden, nicht wahr, Semjon Grigorjewitsch?"
Semjon Grigorjewitsch nickt: „Ja", sagt er, „ein Sowchos ist eben nicht nur eine Getreidefabrik, sondern zugleich auch eine Fabrik zur Erzeugung neuer Menschen." Eine Fabrik zur Erzeugung neuer Menschen: Im Speisesaal hängt die Wandzeitung. Neun von zehn Beiträgen sind so krakelig geschrieben, dass man nicht erst die Auskunft des Vorsitzenden der Redaktionskommission braucht, um zu wissen: hier schreiben „Korrespondenten", die vor zwei oder drei Jahren noch nicht einmal lesen konnten.
Im Klub wird eine Gruppe halbanalphabetischer Saisonarbeiter im Rechnen unterrichtet. „Kolchosbauern aus der Umgebung", erklärt uns die „Liquidatorin", das bedeutet: Lehrerin für erwachsene Analphabeten. „Wir leihen den Kolchosen unsere Maschinen, dafür stellen sie uns während der Erntezeit eine bestimmte Anzahl von Arbeitern. Die Analphabeten und Halbanalphabeten unter ihnen bekommen bei uns Unterricht, soweit das die Arbeit erlaubt. Im Winter werden auch Fachkurse abgehalten. Voriges Jahr haben wir beispielsweise für die Kolchose in der Gegend neue Traktorführer ausgebildet; in diesem Winter wollen wir für diese Traktorführer einen Mechanikerkursus einrichten."
In der Lesehütte werden fahrbare Bibliotheken für die acht Sowchosabschnitte zusammengestellt. Die Schwester der Rettungsstelle ist Kätnerin gewesen. Dem Filmvorführer der fliegenden Lichtspielkolonne, die jeden Abend in einem der acht Lager Lehr- und Spielfilme zeigt, sieht man es nicht an, dass er vor kurzem Mechaniker in der Reparaturwerkstatt und davor Traktorist und noch früher Besprisorny war; der Führer der ersten Combinebrigade, ein sibirischer Deutscher aus dem Nowo-Omsker Bezirk, trägt in der Brusttasche seiner schmierigen Lederjacke eine „Hochschulkommandierung": er wird im Herbst nach Moskau fahren und dort drei Jahre lang die „Universität der Westvölker" besuchen. An der Wand der Reparaturwerkstatt klebt ein Plakat: „125000 qualifizierte Arbeiter arbeiten schon auf den Sowchosen des ,Sernotrest', aber doppelt so viele werden noch gebraucht. Tretet in die Fachkurse ein! Lernt! Lernt!" Die Fabrik zur Erzeugung neuer Menschen arbeitet mit Hochdruck.
Eine Combine mit zwei Anhängern kommt vorbei. Von der „Kommandobrücke", auf der der Vorarbeiter steht, flattert ein kleiner, roter Wimpel. Auf den blaugrauen Brettern des „Kornkastens" steht:
„Fabrik ,Der Kommunarde', Charkow. Erste Übercombine. Versuchsmaschine!"
„Von unserer Mechanisierungsabteilung konstruiert!" sagt Semjon Grigorjewitsch. „Eine Art Universalmaschine, besorgt Ernte und Winteraussaat in einem. Seht euch einmal an, wie sie arbeitet!"
Semjon Grigorjewitsch winkt. Die Maschine hält für einen Augenblick. Wir klettern auf die Brücke. Die Maschine fährt wieder los.
An der Grenze des Versuchsfeldes warten schon die Menschen. Zurufe. Winken. Auf das Kommando des Vorarbeiters schaltet der Maschinist vorn auf dem Führersitz einen Hebel um, dann noch einen, dann einen dritten. In das Rattern des Motors mischt sich das Dröhnen und Zischen und Klappern der in Gang kommenden Maschinenteile. Rechts von uns streckt die Combine ihren drei Meter langen Schneidearm aus, die Halme neigen sich, werden gekappt, wandern auf dem laufenden Band von den Messern zum Dreschgehäuse und häufen sich als Stroh in der Schobervorrichtung, während das Korn mit leisem Zischen in den Kornkasten rinnt. Das hohe Getreidefeld verwandelt sich Streifen um Streifen in einen Stoppelacker. Aber nur für Minuten! Hinter uns verschwindet er schon wieder: er ist kein Stoppelacker mehr, er ist braunes, gepflügtes, von regelmäßigen Furchen durchzogenes und mit einer dünnen Strohschicht gedecktes Saatland. Semjon Grigorjewitsch, der Chefagronom und der Vorarbeiter lachen über unsere Verblüffung. „Wie sie arbeitet, was?! Schneidet, drischt, pflügt, düngt, sät und bedeckt das bestellte Land mit Stroh. Alles in einem Zug! Vorläufig erst ein Versuch, aber in zwei Jahren...!" Die Maschine wendet, fährt zurück zur Feldgrenze. Die Menschenansammlung ist größer geworden. Man umdrängt die Maschine, beäugt und betastet sie. Immer wieder werden Rufe des Erstaunens, der Bewunderung, der Freude lauf. Wir klettern hinunter.
Ein kleiner, gelbhäutiger Kasache in zinnoberfarbenem Hemd, blassblauen Hosen und hohen, hellbraunen Schaftstiefeln mit aufwärts gebogenen Spitzen, die an Vogelschnäbel erinnern, stößt mich leicht mit dem Ellenbogen an und sagt in fließendem, wenn auch hartem Russisch: „Ein Maschinchen, he? Und zu denken, dass unsereins (aber auf russisch klingt das besser, da heißt es nicht unsereins, sondern ,unser Bruder') vor ein paar Jahren nur den Holzpflug gehabt hat! Zu denken, was ,unser Bruder' vor ein paar Jahren überhaupt war!..."
Ja, zu denken, was „unser Bruder" vor einiger Zeit noch war!
Auf dem Katheder im großen Saal der Sowchos-Schule liegt ein Buch. Eine Stelle ist rot angestrichen: „Warum herrscht auf dem Lande überall so tiefe Unwissenheit? Warum hat der Bauer selten oder niemals Fleisch, Butter oder irgendeine animalische Nahrung zu essen? Wie kommt es, dass man selten einen Bauern findet, der weiß, was ein Bett ist? Warum bemerken wir in allen Bewegungen des russischen Mushik etwas Fatalistisches, etwas, das jedes Anzeichens von Bewusstsein so gänzlich bar ist? Warum, mit einem Wort, kommen unsere Bauern auf die Welt wie die Insekten, um wie die Sommerfliegen zu sterben?"
Das schrieb der russische Dichter Saltykow-Schtschedrin vor einem halben Jahrhundert in seinem Werk „Zeichen der Zeit".
Auf der Schultafel aber steht:
„Der Kapitalismus hat den Zusammenhang zwischen Industrie und Landwirtschaft zerrissen. Der Sozialismus stellt den Zusammenhang zwischen Stadt und Land auf neuer Grundlage wieder her. An die Stelle der individuellen Kleinwirtschaft tritt die vergesellschaftete Großwirtschaft, an die Stelle des Handwerks die wissenschaftliche Methode, die bewusste Anwendung und Kombination kollektiver Arbeit. Rund um die Sowchose und Kollektive, die neuen Getreide-, Fleisch- und Milchfabriken, entstehen neuartige Siedlungen. Das Dorf verschwindet und zugleich die Stadt mit ihrer widernatürlichen Zusammenballung riesiger Volksmassen.
Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Stadt und Dorf. Es gibt keine ,Bauern' und keine ,Arbeiter' mehr, es gibt nur noch Werktätige!"
Vor dem Herrn sind 1000 Jahre wie ein Tag, und die rund 18000 km, die wir im Lauf eines halben Jahres zurückgelegt hatten, offenbar kürzer als eine Fahrt mit dem Moskauer Autobus Nr. 2 oder 4. Die Religion hat ein zähes Leben.
Da lasen wir in den Zeitungen und Zeitschriften lange Berichte über die Abnahme des Analphabetentums und den Niedergang der Religion; an Bauzäunen und in Klubsälen hingen die bunten Plakate der „Gottlosen": Schnaps und Kirche sind Feinde des sozialistischen Aufbaus - Willst du den Sozialismus, meide beide! In einer altvertrauten Stadtgegend kannten wir uns mit einem mal nicht mehr aus: wo früher zwei schmutzige Gassen und eine weizengelbe Kirche mit türkisfarbener Zwiebelkuppel waren, sah man jetzt nur noch einen glatten, weiten, frisch asphaltierten Platz; auf einem kleinen Bauernfriedhof steckten auf frischen Gräbern statt der „rechtgläubigen" Doppelkreuze rote Pfähle mit dem fünfzackigen Stern; man zeigte uns Moscheen, die in Arbeiterklubs, und Kathedralen, die in Radiotheater umgewandelt waren, und Dorfkirchen, in denen dort, wo früher der Altar stand, Charlie Chaplin über die zitternde Leinwand stelzte... Einmal, als die Lokomotive aus dem Geleise gesprungen war und der Zug einen unfreiwilligen Halt von mehreren Stunden machen musste, schneiten wir in einen dörflichen Theatersaal hinein, irgendwo in Sibirien zwischen Irtysch und Ob, in einer Siedlung von kaum fünfzig Hütten; es war Ausgangstag, und die Jungen Pioniere spielten Theater für die Kinder: „Bojewoje Sweno - Der kämpferische Pionierzug" hieß das Stück, es handelte von einer Pioniergruppe, die auf einem Kollektivgut eine Hühnerfarm anlegen will, was jedoch leichter gewollt als getan ist, weil nämlich der Großbauer Sidor und der „zwar nicht schlechte, aber dumpfe" Mittelbauer Awrom, die Arbeit der Pioniere sabotieren; es gibt viel Ärger und Misserfolg, aber schließlich schaffen es die Jungen und Mädchen doch: die Hühnerfarm marschiert (wenn man so sagen darf - der Chor auf der Bühne zumindest sagte es so), und mit ihr marschieren in ein neues Leben zwei Menschen: der endlich erwachte Awrom und Maschum, ein kleiner Besprisorny, der sich das rote Pioniertuch erkämpft und erarbeitet hat. Es war kein Meisterwerk, und wahrscheinlich hatte das Stück auf dem Weg von der Stadt bis hierher auch etwas gelitten -aber die Schauspieler waren jung, voller Begeisterung, voller Liebe zur Sache, man merkte, sie sprachen und handelten auf der Bühne nur so, wie sie es auch außerhalb des Theatersaals taten.
Das Publikum, die barfüßigen, struwelköpfigen Jungen und die langzöpfigen Mädchen verloren allmählich ihre Befangenheit, begannen dazwischenzurufen, mitzusingen, mitzuspielen.
Der fromme Awrom kommt dahinter, dass ein Ikonenwunder gar kein Wunder, sondern Mache ist, und schmettert das entzauberte Heiligenbild zu Boden.
Da fingen ein paar Kinder zu klatschen an und lachten. „Weil es so in Ordnung ist!" sagte, auf meine Frage, warum er denn klatsche, ein Dreikäsehoch neben mir; und nach einer Pause, während der er mich misstrauisch gemustert hatte, fügte er hinzu: „Oder findest du es vielleicht nicht gut und in Ordnung, dass wieder einer helle geworden ist?!" Das war bei den Christen.
In Semipalatinsk erzählte uns ein deutscher Agronom, der auf den Turksib-Zug wartete, der ihn nach Usbekistan zu seiner Selektionsstation bringen sollte, die „Geschichte von den Heuschrecken, die Allah ganz Mittelasien gekostet haben": Alle paar Jahre kommt die afghanische Heuschrecke über die Grenzgebirge geflogen und legt in die Erde der usbekischen Ebene ihre Eier, aus denen, sechs Wochen später, die zweite Generation, die ungeflügelte, millionenfach zahlreichere, auskriecht und ihren Marsch beginnt, immer geradeaus, über alle Hindernisse hinweg-eine gigantische Mähmaschine, die hinter sich nicht einen Halm, nicht ein Blatt zurücklässt. Bei dem letzten Einfall der Heuschrecken, vor zwei Jahren, begannen die Mullahs zu predigen, dass die Heuschreckenplage eine Heimsuchung Allahs sei, der die Bolschewiki und ihre Anhänger bestrafen wolle; man verhaftete die Prediger zuerst, dann ließ man sie aber wieder frei, weil man sich sagte, dass man ihre Propaganda nur dann widerlegen könne, wenn man die Heuschrecke besiegte; ein Dutzend Agronomen und Ingenieure brachte man in Flugzeugen nach den bedrohten Gegenden und entwarf einen regelrechten Kriegsplan: zwölfhundert Jungkommunisten hatten sich freiwillig gemeldet, sie wurden an die „Heuschreckenfront" geschickt, und in den vier Wochen, die noch bis zum Ausschlüpfen der Heuschrecke blieben, zogen sie eine dreifache viele Kilometer lange Grabenlinie durch das Sumpf- und Steppengebiet am Syr-Darja; in einer zweitägigen Schlacht wurden die ersten Divisionen und Korps der anmarschierenden gelben Milliardenarmee unter Strömen von Naphtha und Lehm begraben, worauf, zum ersten mal seit Menschengedenken, die Heuschrecke kehrt machte -ein geschlagenes Heer Allahs, der zwar groß sein mag und einzig, der aber schwächer ist als die Bolschewiki. Das war bei den Mohammedanern. In der Kollektivwirtschaft „Kysyl Altai" an der Mongolischen Heerstraße sahen wir eine Schamanentrommel; der Kam hatte sie geschwungen, wenn im Frühling das weiße Pferd geopfert wurde, damit die bösen Geister dem Vieh nichts taten und die guten Geister das Wild zahlreich werden ließen; der Kam hatte auf ihr getrommelt, wenn er sich am Bett eines Kranken in Trance versetzte; starb der Kam, so wurde ihm die Trommel aufs Grab gelegt; sie war heilig und unantastbar. Jetzt lag sie in einem Winkel des Viehhofs, zerfetzt und beschmutzt; die jungen Hunde spielten mit dem Reifen, und die Pioniere hatten sich aus dem Griff mit der geschnitzten Dämonenfratze eine Schießfigur gemacht - aber noch vor vier Jahren, erzählten die Leute vom Kolchos, hatte man einen Wanderagitator zum Krüppel geschlagen, weil er es wagte, diese Trommel vom Grab eines Kam zu nehmen. Das war bei den Schamanisten.
Wo immer wir hinkamen, der gleiche Prozess: der Glaube an ein besseres Jenseits wurde abgelöst vom Kampf um ein besseres Diesseits.
Überall war die Religion in eine Sackgasse getrieben. Aber sie hat den Kampf nicht aufgegeben: An der Pforte einer kleinen Kirche unweit der Moskauer Chinesenmauer fanden wir eine Kundmachung, ein paar halbverwischte Schreibmaschinenzeilen auf einem gelblichgrauen Kanzleibogen:
BEKANNTMACHUNG
Der Heilige Synod bringt den Gläubigen zur Kenntnis, dass das heilige, wundertätige Bild der Iberischen Mutter Gottes sich in der Kapelle im Hofe der Nikolsker Kirche (Chlynowsker Sackgasse, beim Nikitsker Tor) befindet.
Gottesdienst: 8-10 Uhr.
Jeden Abend, acht Uhr, feierlicher Gottesdienst mit Wasserweihe. Vergebung der Sünden! Straßenbahnlinien Nr. 15, 16, 18, 22, 26. Autobus Nr. 2 und 4.
Fern ist der Altai. Seit Tagen leben wir im Zug. Bald werden wir in Stolpcy sein, an der polnischen Grenze, wo auf dem prächtigen Bahnhof - dem einzigen Steingebäude inmitten zerfallender Hütten - für die nach dem Westen Zurückkehrenden ein „Traum" (gegen Kasse) aufgebaut ist: französische Weine, polnisches Weißbrot, Parfüms, Pralinees, „La Vie Parislenne", die „Deutsche Allgemeine Zeitung" und auch einige Damen, die bereit sind (gleichfalls gegen Kasse) den Traum bis Warschau auszudehnen. Wir werden bald zu Hause sein. Mit einer Stundengeschwindigkeit von sechzig Kilometern eilt unser Zug der untergehenden Sonne entgegen. Aber unsere Gedanken fahren nicht mit, sie fahren zurück in den Morgen. Adijok sitzt neben uns, und der Kuckuck ruft. Beg Kushejew, der Kosakenjunge von der Koksbatterie Nummer 8, will nicht mehr zurück in sein Kolchos, er liebt zu sehr die Kohle. Direktor Semjon Grigorjewitsch, der baschkirische Hirt, schenkt uns Fotos des von seiner Versuchsstation gezüchteten mehrjährigen Weizens. Vater Pogrebnlkow, der ehemalige Dorfschmied, streitet mit seinem Sohn Pjotr, der noch nicht Ingenieur ist, aber Angara und Karaganda schon fertig sieht und nur noch nicht weiß, auf welchem Industriegiganten er im dritten Fünfjahrplan arbeiten wird.
Wir denken zurück an die telengitischen (Anm.: ein im Ajmak Kosch-Agatsch an der mongolischen Grenze lebender oirotischer Stamm, der sich von den Bewohnern der anderen Ajmaks durch seinen an das Mongolische anklingenden Dialekt und durch eine besondere Tracht unterscheidet.) Hirten in der ersten oirotischen Kraftfahrerschule, in Onguday an der Mongolischen Heerstraße. Sie hatten ihre Fahrerprüfung schon abgelegt und wollten Mechaniker werden; sie kamen aus einer Siedlung, in der man noch vor zwei Jahren dem ersten dort auftauchenden Auto die Reflektoren mit Lehm beschmiert hatte, damit das „Untier" die Ajile nicht sehe und über sie herfalle.
Wir denken an die ukrainischen Bauernjungen in der Kaserne eines Nachrichtenregiments. Man hafte alle Stiegen mit Sand bestreut, weil die Burschen nicht gewohnt waren, über Steinstufen zu gehen, und immer ausglitten; man hatte im Hof eine lange Reihe hölzerner Sitze gezimmert, eine ganze Kompagnie übte „Setzen!" und „Aufstehen!", und der Rote Kommandeur bestätigte uns: ja, die seltsamen Sitze seien wirklich „Klosettbrillen". Das war unten, bei den Rekruten. Im ersten Stock, bei den Mannschaften, die schon ein Jahr dienten, zeigte man uns in der Roten Ecke ein dickes Buch mit den Urteilen der Leser über die von ihnen entliehenen Bücher; die Schriftzüge der Kritiker verrieten, dass das Schreiben für sie eine noch sehr neue Kunst war. Im zweiten Stock, in der Telegraphenwerkstatt, saßen die „Alten" und bauten Hughes-Apparate und Feldtelefone. Sie hatten noch vor zwei Jahren im Hof unten „Setzen!" und „Aufstehen!" geübt. Wir denken an die tausend und tausend neuen Schulen, Likbeskurse, Fortbildungsanstalten, Arbeiterfakultäten, Kolchostechnika, an die neuen Betriebe, Maschinen-Traktoren-Stationen und Sowchose, an diese „Fabriken zur Erzeugung neuer Menschen" und an den jungen Arbeiteringenieur, den wir im Zuge zwischen Bijsk und Nowosibirsk trafen; er betrachtete lange und eingehend meine Schuhe und sagte dann:
„Ja, bis wir solche Schuhe erzeugen, wird wohl noch eine Weile vergehen, und überhaupt ist bei uns vieles noch unfertig und roh, was bei euch - ich habe mir das von meinem Bruder sagen lassen, der war drüben in Deutschland Maschinen einkaufen - schon längst vollendet ist. Aber dafür ist bei uns schon eine bessere Zukunft im Rohbau fertig, und bei euch wird, hat mir mein Bruder erzählt, nur noch eine bessere Vergangenheit abgebaut..."
gesammelt unter dem Titel „Verteidigung der Deutschen Sprache" erschienen sind, um die Reinheit und Unteilbarkeit der deutschen Sprache. Sprache und Stil wurden durch seine Hilfe wieder Gegenstand des Nachdenkens und der Auseinandersetzung.
Mit dem Formgefühl des Meisters pflegte er auch die Anekdote, die wie kein anderes literarisches Genre die künstlerische Behandlung von Tagesereignissen ermöglicht. In Berlin entwarf F. C. Weiskopf schließlich die Skizze für den dritten Band seiner geplanten Romantrilogie; zehn Kapitel waren bei seinem plötzlichen Tod in den Nachtstunden des 14. September 1955 vollendet. F. C. Weiskopfs große Liebe gehörte den arbeitenden Menschen in aller Welt. Für sie kämpfte, für sie schrieb er bis zur letzten Stunde seines Lebens. Neben seinem Schreibtisch, in der Handbibliothek des Fünfundfünfzigjährigen, befand sich, als sein allzufrüh verbrauchtes Herz zu schlagen aufhörte, das reiche Lebenswerk: dreißig Bücher, von ihm geschrieben und uns hinterlassen.
Grete Weiskopf (Alex Wedding)