Mary Heaton Vorse – Streik (1930)
http://nemesis.marxists.org

ERSTER TEIL

I. KAPITEL

In Stonerton war Streik. Die Belegschaft der Basil-Schenk-Manufaktur hatte die Arbeit niedergelegt.
Dieser Streik gehörte zu jenen Kampfausbrüchen in der Textilindustrie, die im Frühjahr 1929 den Süden so überrascht und den Norden erfreut hatten. Der Norden freute sich, denn Piedmont, das hochgelegene Roterdengebiet in Nord- und Südcarolina, hatte in letzter Zeit die Vorherrschaft des Nordens in der Textilindustrie stark gefährdet. Von Seiten der Unternehmer setzte ein ,Zug nach dem Süden' ein, weil es im Süden angeblich keine Arbeitskämpfe und ein nie versiegendes Angebot hundertprozentig loyaler, fügsamer amerikanischer Arbeitskräfte' geben sollte.
Und nun streikten unter dem Druck des Antreibersystems — ,Streckung' nannte man das im Süden — auch diese ,fügsamen' Arbeiter. Kaum war ein Streik abgewürgt oder beigelegt, brach schon an anderer Stelle der nächste aus.
Die Streikenden waren nahezu führerlos. Sie hatten auch keine Organisation. Dafür aber hatten sie allzu lange für allzu geringen Lohn allzu viel arbeiten müssen. Es war eben das, was man hier so selten sieht, eine spontane Erhebung des Volkes'.

Auf Abenteuer bedacht, verschaffte sich Roger Hewlett den Auftrag, eine Artikelserie über den Textilstreik
von Stonerton zu schreiben. Der Streik dauerte schon zwei Wochen und hatte von Anfang an die Zeitungen beschäftigt. Es gab dramatische Aufmärsche und viele Verhaftungen. Den Streikenden war Gewalt, der Streikleitung Lynchjustiz angedroht worden. Straßenmob rottete sich gegen die Streikenden zusammen, angeblich von prominenten Bürgern der Stadt aufgehetzt.
Schließlich wurde eines Tages der Streikleiter Ferdinand Deane gewaltsam entführt und über die Grenze des Staates verschleppt.
Er kehrte sofort wieder zurück.
Roger Hewlett, der auch früher schon über Arbeitskämpfe berichtet hatte, eilte nach Stonerton, um zur Demonstration zurechtzukommen, die die Streikenden aus Anlass der Rückkehr Deanes veranstalteten und bei der man Zusammenstöße erwartete.
Hewlett gab seine Reisetasche im Hotel ab und fuhr zur Werksiedlung, eine Entfernung von ungefähr einer Meile. Anfangs hatten alle Häuser kleine Vorgärten; aber als die Taxe beim Streiklokal angelangt war, standen an beiden Seiten der Straßen hölzerne Baracken und elende Rohziegelläden, die laut verkündeten, dass die Leute hier nur wenig kaufen konnten. Die riesige stumme Fabrik überragte die ganze Siedlung. Rund herum lagen die Werkwohnungen, unordentlich bergauf und bergab verstreut, kahle Holzbaracken, die auf gemauerten Stelzen im roten Lehm standen. Die kleinen Häuser sahen aus wie Küken neben einer riesigen Henne, als hätte sie die Fabrik aus viereckigen hölzernen Eiern ausgebrütet. Na, eigentlich hatte sie das ja auch, überlegte Roger.
Er fand den Sitz der Streikleitung in einem düsteren Laden. Die Fenster waren bei irgendeinem Zusammenstoß eingeschlagen worden, und jetzt hatte man sie mit
Brettern vernagelt. Im Lokal lasen hagere Männer in Zeitungen. Als Roger sagte, er sei Zeitungsberichterstatter, sahen sie ihn misstrauisch und ohne Wohlwollen an. Böse Erfahrungen lehrten sie diese Haltung. Die Zeitungen des Ortes hatten den Verband angegriffen. Als Roger nach Ferdinand Deane fragte, sagte einer von den Männern kurz:
„Fer spricht gerade." Das war ein junger Mann mit eingefallenen Wangen und tiefliegenden Augen. Er sah aus wie ein ernster Jagdhund. Man erwartete fast, lange Ohren an beiden Seiten seines Gesichts baumeln zu sehen. Er rief:
„Henry Tetherow!"
Ein rothaariger Bursche tauchte wie ein Springteufel hinter dem Ladentisch auf. „Hier, führ den da zur Versammlung", befahl der andere und zeigte mit dem Daumen zu Roger.
Sie gingen durch Hintergassen, über Eisenbahngeleise.
Eine große Menschenmenge war dort auf einem öden, mit Müll und leeren Konservenbüchsen übersäten Feld versammelt. Roger und sein Führer standen auf dem Eisenbahndamm. Der Bursche sah auf den Redner hinunter, dessen Stimme zu ihnen herüberdrang —, eine tragende Stimme.
„Das ist Fer!" sagte der Bursche, ohne sich zu Roger zu wenden, die Augen auf den Mann geheftet, der da unten sprach. Die drei Worte, die er hinwarf: ,Das ist Fer!' zeigten Roger das Maß seiner Verehrung. Er hätte die Worte ,Das ist Gott!' nicht mit einer ernsteren Schlichtheit der Anbetung aussprechen können. Die Menge war ganz still. An den Rändern der Masse gab es keine Bewegung, kein Kommen und Gehen. Die Streikenden standen regungslos da und tranken jedes Wort Fers. Roger überkam das seltsame Gefühl, Zeuge eines wichtigen Ereignisses zu sein.

Der junge Tetherow und Roger kletterten den Dammabhang hinunter. Die Stimme Fers schien ihnen beim Näher kommen kaum lauter zu werden. Er sprach ohne irgendwelche Rednertricks, in einfachem Gesprächston, Er war mittelgroß, breitschultrig, und über seine Stirn fiel eine schwarze Haarlocke, die er ständig durch eine Kopfbewegung hochwarf wie ein feuriges Tier, das die Mähne aus den Augen zurückwirft. Sein dunkles Haar blitzte in der Sonne mit rötlichen Lichtern und ein Gesprenkel von Sommersprossen lag über seinem Gesicht, obwohl es von der Sonne dunkelbraun gebrannt war. Seine Züge waren schmal, adlerförmig —, vom Typ der dunklen Irländer. Er erzählte gerade eine Geschichte vom Sheriff Dick Humphries.
„Und Mumphries sagte... " Die Art, wie er den Namen des Sheriffs ins Komische verdrehte, ergab ein Bild des ganzen Mannes, — so ein mummliger Kerl, mit Hängebacken. Die Zuhörer brüllten und schüttelten sich vor Lachen. Jetzt, da er sie in gute Laune versetzt hatte, sprach Fer mit hastigem Ernst zu ihnen; immer in dem gleichen Gesprächston, der nichts von Rednermätzchen enthielt und doch außerordentlich durchdringend war.
„Ich will jetzt meine Predigt schließen", sagte er. „Es ist immer dieselbe alte Predigt. Dass ich keine Gewalttätigkeiten haben will. Sollen die andern zuerst mit der Gewalt anfangen, nicht wir. Ihr sollt allemal die Ruhe behalten. Ich sag euch das privat und sag euch dasselbe von der Tribüne aus." Und er hielt ihnen einen Vortrag darüber, wie töricht es sei, von Schießeisen zu reden.
Ich weiß, dass es für euch, Leute aus den Bergen, ganz natürlich ist, nach dem Schießeisen zu langen, aber wir sind hier in keinem Krieg und keiner Blutfehde, wir sind in einem Streik." Er schilderte, wie es ihnen und ihm selbst ergehen würde, wenn es zu Schießereien käme, und schloss seine Rede auf eine so ernste und doch so gewinnende Art, dass sich Roger einer starken Sympathie für Fer gewahr wurde. Er war ein Menschenfänger, ein großer Könner.

Andere Redner folgten Fer. Die Menge wurde unruhig. Neben Roger stand eine kleine Frau mit lockigem Haar, ärmlich gekleidet, aber von aufgeweckter, fröhlicher, lebendiger Art. Sie sah so erwartungsvoll drein, als ob sie nur darauf brannte, dass etwas Interessantes geschehe. Sie erkannte in Roger den Fremden, blickte ihn ein-, zweimal an und sah dann verlegen wieder weg.
„Sind Sie auch im Verband?" fragte er. Sie schüttelte den Kopf mit einer schnellen, anmutigen Bewegung.
„Nein", sagte sie. „Nein, ich bin noch nicht eingetreten, aber es kommt noch. Wo ich wohne, drüben in Tesner, vielleicht acht Meilen von hier, da hat man ihn eben erst organisiert. Herr Woods hat ihn organisiert."
Der Mann, den Roger im Halbdunkel des Streiklokals gesehen hatte, sagte:
„Nanu, Mamie Lewes, bist du noch nicht drin?" Er war groß, mit tiefliegenden, fanatischen Augen. Sein Gesicht war rot und sein dunkles Haar starrte steif in die Höhe. Eine wilde, treibende Kraft war in ihm.
„Nein, ich bin immer nicht dazu gekommen, Wes", antwortete sie.
„Aber den Streik machst du mit, nicht? Drüben in Tesner ist Streik, im Werk Nummer zwei, wo du bist.
Du wirst doch nicht Streikbrecher werden, Mamie Lewes?"
Sie lachte.
„Nein, Streikbrecher werde ich nicht, natürlich nicht. Du brauchst nicht so über mich herzufallen. Aber wo nimmt man die Zeit her, um nach dem Verbandsbüro zu gehen? Daran hat’s bei mir gelegen. Ich musste doch den Kindern die Kleidung in Ordnung bringen. Wenn ich arbeiten gehe, komm ich überhaupt nicht dazu, da kann ich machen, was ich will."
„Wie viel Kinder haben Sie?" fragte Roger.
„Jetzt vier. Und es ist mächtig schwer, ganz allein für sie zu sorgen, wo ich nur acht Dollar vierzig die Woche kriege. Ich gebe mir alle Mühe, aber der Lohn wird nicht mehr."
„Ich verstehe nicht, wie Sie auskommen können", sagte Roger und seine Stimme klang schal und unzureichend.
„Kann ich ja auch nicht", sagte Mamie Lewes mit einem Zittern des Unmuts in der Stimme und warf den Kopf zurück. „Ich kann es mir nicht einmal leisten, in der Werksiedlung zu wohnen! Die Miete ist nicht hoch, aber auch die kann ich mir nicht leisten. Ich wohne ganz weit draußen, anderthalb Meilen hinter der Stadt, in einer Holzbude bei Verwandten. Sie haben eine Stube mit Kochnische und ich die andere Stube."
„Arbeiten Sie auch nachts?" fragte Roger Mamie Lewes. Ihr Gesicht, bis dahin lustig und erregt, wurde blass. Sie blickte ihn mit düstern Augen an.
„Ich hab’s nicht durchsetzen können, die Nachtarbeit. Dabei hatte ich acht Kinder und die kriegten noch Diphtherie obendrein. Ich habe den Inspektor gebeten und angefleht, er solle mich doch Nachtarbeit machen lassen, damit ich tagsüber zuhause bleiben und auf die
Kinder aufpassen kann; aber er hat mich nicht gehen lassen. Er ist, glaub ich, der erbärmlichste Kerl der Welt." Sie hielt ein und sah starr vor sich hin; auch der lange Bursche, den sie Wes genannt hatte, stierte in die Luft. Dann sagte sie ruhig: „Vier Kinder sind mir gestorben".
„Du bist jetzt ganz allein, nicht wahr, Mamie Lewes?" fragte Wes sanft.
„Ja, Willi, was mein Mann war, hat, wie man so sagt, den Mut verloren, als uns die Kinder gestorben sind. Es hat ihn richtig hingeschmissen. Er ist in eine andere Stadt gefahren, Arbeit suchen, hat dann nichts weiter von sich hören lassen."
„Ich begreife nicht, wie Sie auskommen können", sagte Roger stumpfsinnig ein zweites Mal.
„Mein kleines Mädel, ist elf Jahre alt, die hilft mir tüchtig. Von den Kindern geht keins in die Schule. Wie sollten sie auch? Ich hab ja niemanden, der bei den Kleinen bleiben könnte, und wenn ich wen hätte, wo sollte ich die Kleider und Schuhe hernehmen?"

Die Versammlung war zu Ende. Mamie Lewes und Wes verschwanden in der Menge. Roger Hewlett sah sich nach bekannten Gesichtern um und erblickte Dick Durgan, den Berichterstatter des ,Baltimore Planet', der ebenfalls des Streiks wegen hier war. Er sprach Roger an.
„Kommen Sie mit", sagte er, „ich werde Sie mit Fer bekannt machen!"
Fer schlenderte ihnen entgegen, mit einer ihm eigenen, sonderbar schiebenden Bewegung der Schulter, als bahne er sich ewig durch eine Menschenmenge den Weg.
„Verdammt", sagte er zu Dick, „wie gerne möchte ich mir eins antrinken!"
„Warum denn nicht?" fragte Dick. „Es gibt genug Korn3chnaps in dieser Gegend." Fer wurde dunkelrot.
„Ich kann mich nicht betrinken, weil ich nicht trinke." Er sah sie an mit einem Blick, so offen wie das unschuldige Gaffen eines Kindes. „Ich trinke nichts", erläuterte er, „weil ich nicht trinken kann. Ich kann nichts behalten!" Er sprach in aller Unschuld und wusste nicht, dass er damit einer Meute alter Zeitungsmänner einen lebenswichtigen Mangel eingestand.
Fer hatte keinen guten Magen.
Einem Mann, der keinen guten Magen hat, fehlt etwas. Ein Mann sollte trinken können, wenn er will. Trinkt ein Arbeiterführer nicht, so sollte der Grund dafür eben der Grund sein, aus dem Bill Haywood in seinen späteren Jahren nicht trank: weil er sich vornimmt, nicht zu trinken.
Ed Hoskins, der Berichterstatter der ,Affiliated Press', sagte:
„Warum ist dir so mies zumute, Fer? Der Streik ist doch knorke."
„So-o-o?" sagte Fer mit einer vielsagenden Dehnung des Lautes nach oben.
„Das hast du aber schön gesagt, dieses ,So-o'" —, protestierte Hoskins. „Was ist denn los? Hat man vielleicht wieder vor, dich zu verschleppen?"
„Diese verfluchten Schießeisen. Diese verfluchte Demonstration morgen", sagte Fer. Er schob die Hände tief in die Taschen und brach sich mit den Schultern Bahn durch eine unsichtbare Menschenmenge. „Das hier ist kein Streik, Ed, wie jeder andere Streik. Das ist eine Hölle von einem Ort hier. Eines schönen Tages lässt
einer seine Kanone knallen und dann kriegen sie sie — und kriegen auch mich."
„Wer, meinst du, soll dich kriegen?"
„Der Mob, wenn nicht der Sheriff", sagte Fer. „Ich wollt, ich wär im Norden. Ich wollt, ich hätt dort einen Streik zu führen, bei den Kerlen, an die ich gewöhnt bin."
Sie waren auf dem Wege zu einem Automaten-Restaurant, das der amerikanische Volksmund ,Firma Schnell und Schmutzig' nennt. Hinter ihnen kam eine kleine Gruppe Journalisten. Roger und Ed, als Arbeiterreporter gewissermaßen bevorrechtet, gingen mit den Streikführern voran. Irma Rankin, eine Funktionärin des Verbandes, kam herbei, um etwas mit Fer zu besprechen. Ed Hoskins blieb mit Hewlett zurück.
Hoskins war ein alter Reporter der Arbeiterkämpfe. Er hatte 1912 die Berichterstattung über den Textilstreik in Lawrence gemacht. 1916 war er oben im Mesaba Range gewesen. In der ganzen Arbeiterbewegung gab es keinen, den er nicht kannte. Er war ein Freund Smittys von den Eisenbetonarbeitern und ein Freund der Mac-Namaras gewesen. Er hatte Knockles und Fitzpatrick von der Illinois Federation of Labor in der alten Zeit gekannt, als sie noch Kämpfer waren. Er hatte über Streiks berichtet, die von Haywood, Tresca und Gurley Finn geführt wurden.
Er fand als Fachschriftsteller für volkstümliche Magazine ein gutes Auskommen und wäre wohlhabend gewesen, wenn er die Arbeiterbewegung hätte sein lassen können. Aber das konnte er nicht. Er musste in jedem radikalen Heerlager herumschnüffeln. Er schwor, es nicht wieder zu tun, aber es brauchte bloß ein solcher Streik auszubrechen wie der in Stonerton, und schon war er wieder da.
„Was halten Sie von Fer?" fragte er und fuhr, ohne auf Antwort zu warten, fort. „Machen Sie nicht denselben Fehler wie ich, und glauben Sie nicht, dass er Angst hat. Zuerst dachte ich von Fer: der Bursche hat ja Bange. Aber das stimmt nicht. Unter ähnlichen Umständen, pflegten die ,Wackler'(Anm.: ,Wackler', englisch ,Wobblies', einer der zahlreichen Spitznamen der syndikalistischen I. W. W. (Industrial Workers of the World).) die Hölle loszulassen. Wir haben anscheinend keine fluchenden Radaumacher mehr in der Arbeiterbewegung. Es gibt keinen einzigen hartgesottenen Hurensohn unter ihnen allen. Sie sind kleine Kerle, junge Kerle. Sie wissen ja, die Radikalen fallen in Amerika etwas schmächtig aus. Wahrscheinlich, weil sie meistens Städter sind, während die ,Wackler' aus den Wäldern, Prairies und Bergwerken kamen. Ich wette, dass Fer wieder einmal so einen Drohbrief bekommen hat, wie er sie fortwährend kriegt. Sie deprimieren ihn. Diese Leute stehen ganz allein hier unten. Und es gibt einen richtigen Terror hier... "
„Schlimmer als gegen die ,Wackler'?"
„Anders", antwortete Hoskins. „Ganz anders. Der Süden ist schwer zu verstehen. Keiner versteht ihn, nicht einmal die eigenen Bewohner. Fer versteht den Süden auch nicht, und er weiß, dass er ihn nicht versteht."
„He, Hoskins!" rief Fer. „Hör zu, was mir Irma gerade sagt." Sie tauschten die Plätze.
Roger Hewlett war ein alter Bekannter Irmas vom Patterson-Streik her.
„Na", sagte sie, „was halten Sie davon?" „Wovon?" fragte er.
„Davon, dass man Fer hierher geschickt hat, um diese Organisation im Süden zu übernehmen?"
„Na, in Patterson hat er sich ja ziemlich gut bewährt, nicht? Und in Lawrence?"
„Oh", sagte sie, „er ist nicht von der Sorte, die man schicken sollte! Er ist ein netter Kerl, ein lieber Kerl, aber er hat nicht das Kaliber, um den Süden zu organisieren! Man will einen großen Führer aus ihm machen. Man versucht, ihn zu formen. Aber man kann aus einem Stück Holz kein stählernes Schwert machen. Man muss doch die Fähigkeiten des Menschen in Erwägung ziehen."
„Ich dachte, Sie wären Fers Mädel!" sagte Roger unumwunden. Sie warf den Kopf mit dem hübschen dunklen Haarschopf zurück. Er konnte die saubere Linie ihres hochmütigen Profils sehen, mit der kurzen Oberlippe, unter der blendend weiße Zähne sichtbar waren. ,Eigenartig, ein solches Mädchen, mit ihrer zurückhaltenden, gleichgültigen Art, in einer Massenbewegung. Verächtlich, gelehrte Bücherweisheit, unhöflich. Spricht man zu ihr, wüsste man gar nicht, ob sie zuhört oder nicht, wär nicht ihr etwas ironischer Sinn für Humor. Macht man einen Witz, hört sie schon gut zu. Sagt man etwas Komisches, belohnt einen ohne Fehl ein plätscherndes Kichern', dachte Roger. Sie schritt aus, erhobenen Kopfes, mit einem schönen, leichten Schwung. Roger gefiel sie jetzt besser als je zuvor.
„Ich weiß, dass ich überall im Ruf stehe, Fers Mädel zu sein", sagte sie gereizt.
„Na, sind Sie es denn nicht?" Sie drehte sich um und lachte. Es war ein plötzlicher Laut des Frohsinns, jugendlich, ganz verschieden von ihrer sonstigen beherrschten Art und der gedämpften konventionellen Haltung.
„Ja und nein", sagte sie. „Was verstehen Sie unter ,sein Mädel'? Wir sind aneinander gewöhnt. Ich bin
zur Genüge sein Mädel, um zu wissen, dass ich recht habe, wenn ich sage, dass er eigensinnig und faul ist und keine Phantasie hat. Er hat keine Stoßkraft!"
„Was halten Sie davon, dass man ihn angeblich lynchen will?" fragte Roger. „Glauben Sie, dass irgendeine Gefahr besteht?"
Sie überlegte. „Ich glaube, dass jeder Organisator, der aus dem Norden kommt, sehr viel Aussicht darauf hat, hier entweder gelyncht oder erschossen oder zu einer langen Zuchthausstrafe verurteilt zu werden." In ihrer Stimme klang ein gewisser Unterton des Triumphs durch. Sie war von jenem Menschenschlag, der Märtyrertum erwartet und ein wenig enttäuscht ist, wenn nichts aus der Märtyrerkrone wird. Roger hatte sie nie für so romantisch gehalten. Sie war ihm so ziemlich als das kaltschnäuzigste Ding vorgekommen, das ihm je unter Mädeln begegnet war. Aber jetzt sah er eine verhaltene Kraft in ihr, eine verborgene, unausgesprochene Kraft.

Fer blieb zurück, um sich mit Hewlett zu unterhalten, und Irma schloss sich Hoskins an. Mit seinem schiebenden, tappenden Gang, mit dem gesenkten Kopf und dem gutmütigen, aber jetzt zu einer geraden Linie verkrampften Mund, machte Fer den Eindruck, als kämpfte er sich durch einen Sturm hindurch. In Wirklichkeit war es auch eine Art Sturm, durch den er sich seinen Weg bahnte. Männer warfen ihm zornige Blicke zu, Menschen brummten ihn an, als er auf der Straße an ihnen vorüberging. Ein Mann schrie laut: „Gott verdamm' dich, wir werden dir hier noch Beine machen!"
Hass lag auf den Gesichtern dieser Menschen. Die drei Streikenden, die Fer begleiteten, kamen etwas näher.
Ein kalter Schauer kroch Roger über den Rücken. Er hatte schon gespannte Situationen im Streik gesehen. Aber diesen Hass, diese unverhüllten Drohungen mit Lynchjustiz hatte er bisher noch nicht erlebt. Das war der Mob. Diese fluchenden, schimpfenden Leute waren wie die isolierten Tropfen einer Hochflut. Sie waren der Stoff, aus dem der Mob besteht. Man brauchte sie nur zusammenzutun und eine brüllende Meute würde auf Menschenjagd durch die Straßen rasen.
Man war beim Restaurant angelangt und suchte nach einem Platz, möglichst weit von dem grölenden Lautsprecher.
„Machen sie das immer so mit dir?" fragte Ed Hoskins Fer.
„Ja", sagte Fer. „Das tun sie immer." Er sah angeregt auf. „Es ist aber trotzdem ein eigenes Gefühl, dieses Gefühl des konzentrierten Hasses. Ich kriege jeden Tag anonyme Briefe, in denen steht, ich sollte sehen, dass ich fortkomme, sonst würde ich gelyncht!"
„Ja, es ist ein richtiger Terror!" bestätigte Irma mit finsterer Genugtuung.
„Na, mir gefällt es nicht", sagte Fer. „Man muss ewig auf der Hut sein."
„Tragen Sie eine Waffe bei sich?" fragte Roger.
„Nein", sagte er verächtlich. „Ich wüsste gar nicht, wie man mit einem Schießeisen umgeht. Aber drei von den Jungen laufen mit mir herum und schlafen mit mir im Zimmer."
Drei Streikende schlenderten hinter ihnen her. Zwei waren von der hochaufgeschossenen, schmalen Sorte, der dritte, Del Evans, war breitschultrig und tiefbrüstig. Das Haar auf seinem runden Kopf war rot und so kurz geschoren, dass es wie Plüsch aussah.
„Damals, als sie zu mir kamen, um mich zu entführen, hatte ich eigentlich gar keine Angst. Ich hatte das Gefühl, dass die Burschen mich nicht lynchen würden."
„Sie haben Sie nur zur Bahn gebracht und in den Zug gesetzt, nicht wahr?"
„Ja", sagte Fer nachdenklich. „Haben mich einfach in den Zug gesetzt. Komische Sache. Ich war in der Hotelhalle, weil ich einem von den Zeitungsfritzen versprochen hatte, dort zu sein. Dann waren auf einmal zwei Kerle da, die sagten, sie wollten mich sprechen."
Irma wandte den Kopf ganz seitwärts und sprach zu Roger. Er konnte sehen, wie sich ihre kleine Oberlippe verzog: „Man spürt es in der Luft. Es ist eine ganz seltsame Sache. Man würde nicht glauben, dass man eine Atmosphäre so fühlen kann."
„Ja!" sagte Fer. „Es ist, als ob man diesen Hass mit dem Messer schneiden könnte. In Lawrence und in Patterson wussten wir auch, dass sie uns fassen wollten. Wir wussten, sie würden uns schnappen, wenn sie nur irgend konnten, aber es war doch nicht so wie hier. Hier gehen sie nicht darauf aus, uns zu schnappen. Hier wollen sie uns töten!"

Der Kellner, ein Grieche, kam herüber und flüsterte im Verschwörerton: „Fräulein Rankin, Sie werden am Telefon verlangt." Die drei wachsamen Streikenden, die auf den pilzförmigen Sitzen vor der Theke saßen, wandten ihre Köpfe Fer zu. Ein eigenes Gefühl der Furcht lag in dieser Bewegung — als erwarteten sie irgendeine Explosion. Es war Rogers erster Vorgeschmack dieser bangen Erwartung, dieses Übels, das ihn in den nächsten Tagen und Monaten überall begleiten sollte. Er sah den Hass, der diese jungen
Menschen aus der Arbeiterbewegung umgab, wie ein greifbares Ding, als wäre der von der Gemeinschaft ausgehende Terror sichtbar, wie das Aufsteigen eines giftigen Dunstes.
Irma kam zurück. Ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen blitzten. „Diese schmutzigen Feiglinge!" sagte sie. „Diese schmutzigen Feiglinge!"
„Was ist denn los?" fragte Hoskins.
„Irgend jemand hat mich hier im Restaurant angerufen, telephonisch angerufen, verstehen Sie, um mir zu sagen, ich sollte schauen, dass ich aus der Stadt käme!"
„Dass Sie aus der Stadt kämen?" wiederholte Hoskins.
„Ja. Er beschimpfte mich durchs Telefon und sagte, ich sollte schauen, dass ich aus der Stadt käme."
„Und was haben Sie gesagt?"
„Ich hab ihm gesagt, er soll mal hierher kommen und es mir hier sagen."
„Was war das für einer, der Stimme nach?" fragte Fer.
„Ein gebildetes Subjekt, mit einer weichen, näselnden Stimme. Ich sagte: ,Kommen Sie mal her, damit ich Sie sehen kann'. Er sagte darauf: ,0h, Sie werden mich schon bald genug sehen und noch viele andere von meiner Sorte'."
„Siehst du, Hos", erläuterte Fer, „sie lassen uns keinen Augenblick vergessen, dass sie darauf aus sind, uns zu lynchen, dass es sie förmlich danach juckt, uns zu lynchen."
„Ja", sagte Irma, „das ist schon wahr. Sie schicken fortwährend Leute zu den Arbeitern ins Haus, die den Frauen die Köpfe vollreden und sie einschüchtern."
„Ja, und sie klopfen an die Fenster und schreien
,Huh' und spielen sonst noch allerhand dumme Streiche, um die Frauen zu schrecken und sie ewig nervös zu machen."
„Ich glaube, die Frauen haben mehr Courage als die Männer", sagte Irma. „Sie haben Kämpferzeug in sich, diese Frauen."
Es kam darüber zum Streit. Zwischen den beiden bestand eine alte Feindseligkeit. Irma versuchte ewig, eich Fer gegenüber durchzusetzen, ihm gegenüber recht zu behalten, ihn gewissermaßen unterzukriegen. Es lag etwas Hochmütiges und Provokatorisches in der Art, wie sie sich zu dieser Drohung verhielt, die ihr telephonisch zugekommen war. Sie gefiel Roger jetzt weniger, aber er bekam mehr Respekt vor ihr.

„Es gibt einem einen eigenartigen Ruck", unterbrach Hoskins den Streit zwischen Fer und Irma, „wenn man erfährt, dass es in dieser Stadt Männer gibt, die imstande sind, eine Frau durchs Telefon zu bedrohen." Es war, als wäre diese Gewaltandrohung leibhaftig in das Automaten-Restaurant hereingekommen und hätte sich neben sie niedergelassen. Sie waren alle ein wenig verlegen und beeilten sich, irgend etwas zu schwatzen, um diese haßerfüllte Drohung zu vergessen.
„Wie hat denn der Streik angefangen, Fer?" Fer antwortete: „Der Textilarbeiterverband hat mich nach dem Süden geschickt, um hier Ortsgruppen aufzuziehen. Was man weder hier noch im Norden versteht, ist, dass sich die Leute hier unten schon selbst organisiert haben. Es hat in vier oder fünf verschiedenen Staaten schon spontane Streiks gegeben. Diese Kerle hier hatten schon eine kleine Organisation, ganz für sich allein. Zwei Burschen, Wes Elliott und Dan Marks kamen zu mir
nach Rockhill, wo ich mich aufhielt, dann bin ich hierher gekommen. Wir haben uns in Privatwohnungen getroffen. Die Betriebsleitung ist sehr bald dahinter gekommen, dass wir uns versammelten und da hat man mit dem Rausschmiss der Organisierten angefangen. Die Arbeiter wählten einen Betriebsausschuss und schickten ihn zur Direktion, mit der Forderung auf Wiedereinstellung der Entlassenen. Na, ihr wisst ja, wie es gekommen ist, die Direktion hat die ganze Gesellschaft entlassen. Drauf haben alle für den Streik gestimmt und die Arbeit niedergelegt. Mensch, das war ein feiner Anblick. Wissen Sie, das ist eines der eigenartigsten Dinge in der Arbeiterbewegung."
Er beugte sich vor und sprach rasch und eifrig, mit einer Begeisterung, die begreiflich machte, warum die kleinen Tetherow-Jungen zu ihm aufblickten, als wäre er der liebe Herrgott selbst.
„Die Bewegung scheint tot zu sein, und man glaubt, da ist nichts zu machen. Dann wird sie plötzlich wieder lebendig. Sie ist nie tot. Wenn man bei den Arbeitern Kampfwillen findet, so ist das das Aufregendste in der Welt. Na, die Arbeiter im Süden sind ja jetzt aufgewacht."
„Haben Sie nicht auch beim Wecken mitgeholfen?"
Fer schüttelte den Kopf.
„Es war alles schon im Gange, als ich herkam. Die Arbeiter könnten viel mehr ausrichten, wenn sie einen Kerl aus dem Süden zum Führer hätten. Sie können mich gut leiden, aber ich gehöre doch nicht zu ihnen."
„Das ist wahr", sagte Irma. „Wir fühlen uns viel behaglicher unter den ausländischen Arbeitern im Norden. Wir verstehen sie. Wir verstehen sogar ihren religiösen Hintergrund besser."
„Ja", sagte Fer, „die Prediger hier in der Werksiedlung sind Fundamentalisten (Anm.: Anhänger einer amerikanischen Glaubensbewegung auf biblischer Grundlage.) und die Hälfte ihres Gehalts wird von den Fabrikanten bezahlt. Dafür glauben sie freilich, dass die Gewerkschaftsorganisation in jeder Form ein Blendwerk des Teufels ist."
Sie standen auf, um zu gehen. Irma und Fer gingen voraus, hinter ihnen die drei Streikenden, die Leibwache Fers, ein Symbol der Drohungen des Mobs.
Plötzlich sah Roger diese jungen Führer ganz isoliert und einsam dastehen, belastet mit einer ungeheuer schwierigen Arbeit und mit dem Hass der ehrbaren Bürger — und nicht weniger belastet mit der Liebe und der Anhänglichkeit der Spinnereiarbeiter —, einer Last von Liebe und Hass, die für ihre Schultern zu schwer war.

 

II. KAPITEL

Die beiden Reporter verließen zusammen das Restaurant. Roger sagte: „Kein Wunder, dass der Norden sich soviel mit diesem Streik beschäftigt."
„Der Norden braucht sich gar nicht so mausig zu machen und sich so tugendhaft zu geben", sagte Hoskins. „Wenn die Arbeiter streiken, ist der Unterschied zwischen der Behandlung der Textilarbeiter im Norden und Süden gar nicht so groß."
„Man bedroht aber die Streikführer im Norden doch nicht mit Lynchjustiz", sagte Roger.
„Man hat da oben auch genug gedroht. In Lawrence herrschte im Jahre 1912 genau derselbe Terror der ehrbaren Bürger'. Ich habe damals Leitartikel der konservativen Bostoner Zeitungen gesammelt, die eine glatte Aufreizung zu Gewalttätigkeiten, Aufreizung zur Lynchjustiz waren. Es gab eine ganze Serie davon und der Verband hat sie als Broschüre herausgebracht. Auch Truppen wurden eingesetzt. Die Stadt sah aus wie ein Heerlager. Jede Spur von Rede- und Versammlungsfreiheit war den Arbeitern genommen. Es gab damals dort eine Ärztin. Sie hatte eine Statistik über Kindersterblichkeit aufgestellt, die ja in den Textilstädten von jeher verheerend war. Sie stellte auch eine Tabelle über Tuberkulose-Erkrankungen von Jugendlichen, die zwischen dem vierzehnten und vierundzwanzigsten Lebensjahr in den Textilwerken gearbeitet hatten, zusammen und verglich diese Zahlen mit den allgemeinen Tuberkulose-Ziffern von Massachusetts.
Ich war damals noch jung und unschuldig. Ich dachte, ich könnte aus dem Material einen guten Artikel machen. Ich wollte diese Tatsachenangaben benutzen, und einige prominente Persönlichkeiten, Ärzte und Geistliche veranlassen, sich über die Zustände zu äußern. Aber alle, die ich darum anging, wüteten nur gegen die Textilarbeiterorganisation. Sie waren so außer sich, dass man sie nicht einmal dazu bringen konnte, die Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, dass in Lawrence Hunderte von Kindern überflüssigerweise starben.
,Wie haben sie es denn in der alten Heimat gehabt?' brüllte mich einer der Ärzte an. ,Wenn ihnen die Zustände hier nicht passen, sollen sie doch zurückfahren, woher sie gekommen sind'."
„Hat sich denn keiner gefunden, der wissen wollte, worum es beim Streik ging, warum achttausend Arbeiter die Arbeit niedergelegt hatten?"
„Keine Menschenseele. Die wussten schon alle, wo der Haken war. Der Haken, das waren die Führer. Die
Textilarbeiter lebten glücklich und zufrieden, bis ein halbes Dutzend I. W. W.s kam, Haywood, Ettor, Arturo Giovanitti, Gurley Flynn, Tresca. Diese Kerle hetzten dann in ein paar Tagen die glücklichen und zufriedenen Textilarbeiter auf, führten sie mit ihren ,roten' Reden irre und veranlassten sie, die Arbeit niederzulegen. Deshalb hätten es die ,ehrbaren Bürger' gerne gesehen, dass man diese ,fremden Hetzer' gehängt und gevierteilt hätte. Am liebsten hätten sie sie in Öl gesotten."
„Das war doch der Streik, nicht wahr, über den Professor Vida Scudder in Wellesley sagte, dass die Frauen von Amerika bestimmt keinen Meter Stoff mehr kaufen würden, wenn sie wüssten, wie die Gewebe in Lawrence hergestellt werden und wie viel Menschenleben sie kosten."
„Ja, das war dieser Streik. Und Frau Scudder war eine große Ausnahme. Auch heute gibt es Frauen hier in Nordcarolina, wahrscheinlich mehr als in Massachusetts im Jahre 1912, die begreifen, dass es bei einem Streik um das nackte Leben geht und dass Menschenleben wichtiger sind als Geschäfte. Es gibt heute in Nordcarolina auch wirklich liberal gesinnte Frauen und Männer, die über diese Probleme nachdenken und gerne Abhilfe schaffen möchten."
„Man würde meinen, dass das jeder möchte." „Das glaubt man, wenn man jung ist. Das habe ich auch geglaubt, als ich meinen Artikel über Lawrence schreiben wollte. Ich bin herumgelaufen und hab allen erzählt, in diesem Streik geht's um das nackte Leben. Hier sterben zwanzig Prozent der Kinder, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben. Und die Ursache ihres Todes ist, dass ihre Eltern nicht genug verdienen und ihre Mütter zu schwer arbeiten müssen. Ich kann beweisen, dass Hunderte von Jugendlichen Tuberkulose
haben, obwohl man das verhüten könnte. Man würde meinen, dass es in einer Stadt wenigstens einen einzigen Geistlichen gäbe, der solchen Erwägungen zugänglich war. Es hat aber keinen einzigen gegeben. Nein, der Norden braucht nicht so von oben herab darauf zu schauen, was hier unten vor sich geht. Sobald bessere Arbeitsbedingungen, kürzere Arbeitszeit, etwas höhere Löhne im Norden den Wettbewerb mit dem Süden erschwert hatten, verlegte das Kapital seine Werke einfach hierher nach dem Süden."
„Sind auch in nordischen Städten die Streikführer auf der Straße bedroht worden?"
„Das vielleicht nicht. Aber man hat einen systematischen Terror gegen sie organisiert. Haywood musste immer von einer Gruppe italienischer Arbeiter bewacht werden. Er musste zu seinem eigenen Schutz in Arbeiterwohnungen wohnen, genau so wie Fer hier. Ein anderer Führer, Muste, wurde verprügelt. Es hat keinen Zweck, über Dinge, die stets vorkommen, immer wieder empört und überrascht zu tun. Wenn sich die Arbeiter zum ersten Mal auflehnen, ist es stets die erste Regung der ,ehrbaren Bürger', die Rebellion mit Gewalt zu unterdrücken, mit aller Gewalt, mit jeder Gewalt. Man braucht nur ein wenig in der Geschichte zurückzublättern. Denken Sie nur daran, was im neunzehnten Jahrhundert in England im Zusammenhang mit dem Einhegungsgesetz, das die Enteignung der Landarbeiter bewirkte, vor sich ging. Nach der außerordentlich friedfertigen Auflehnung wurden Dutzende hingerichtet, weitere Dutzende deportiert."
„Aber letzten Endes nützt doch die Gewalt nie."
„Nein. Gewalt wird die Arbeiter nicht aufhalten. Sie sind schon sehr lange auf dem Vormarsch. Und sie werden noch einige Zeit auf dem Vormarsch sein."
Sie gingen in die Hotelhalle und setzten sich. Eine Gruppe von Journalisten schloss sich ihnen an.
„Was halten Sie von der Rede Fers?" fragte jemand Hoskins. „Ziemlich gewalttätiges Pack, diese Streikenden hier im Süden."
„Da irren Sie sich aber sehr", sagte Hoskins geduldig, mit der Miene eines Menschen, der ein und dieselbe Sache schon zum tausendsten Male erklärt. „Die Arbeiter sind meistens geduldig, fürchterlich geduldig, und die Arbeiter hier sind genau so geduldig wie alle andern Arbeiter. Die Führer, wie auch Fer heute Nachmittag, drillen sie zur Selbstbeherrschung. Denken Sie nur an den Stahlstreik. Dort jagten die Gendarmen Leichenbegängnisse auseinander, ritten Schulkinder nieder, verhafteten die Männer vor ihren eigenen Haustüren, brachen nachts ohne Haussuchungsbefehl in die Häuser ein. Die Arbeiter rächten sich nicht, taten nichts, nicht einmal, als die Organisatorin, Fanny Sellins, rücklings angeschossen wurde, als sie sich schützend vor zwei Kinder stellte."
„Na, Fer schien doch Angst davor zu haben, dass die Leute ihre Schießeisen gebrauchen würden."
„Jeder Mensch, der ein Schießeisen bei sich hat, kann natürlich bei Gelegenheit davon Gebrauch machen. Man trägt im Süden viel öfter Schießwaffen bei sich als im Norden. Das ist hier gesetzlich zulässig. Was die Leute bei einem Streik nicht verstehen, das ist, dass in neunundneunzig Fällen unter hundert die Polizei es ist, die Zusammenstöße provoziert. Besonders bei den Textilarbeitern. Die Textilarbeiter sind immer friedlich gewesen. Sie haben keine kämpferische Tradition. Man fühlte sich richtig erleichtert, als in New Bedford die portugiesischen Arbeiterfrauen ein paar Mal den Polizisten die Knüppel wegnahmen und sie ihnen um die
Ohren schlugen. Das war einer der seltenen Fälle, wo ich Textilarbeiter sich wehren sah. Die Bergarbeiter, die lassen sich nichts gefallen. Die Bergarbeiter sind wehrhaft, genau so wie die Bauarbeiter und Eisenbetonarbeiter. Die Nadelberufe haben auch kämpferische Traditionen, aber die Textilarbeiter nicht. Lassen Sie sich das gesagt sein, wenn Sie über Streiks berichten wollen, und lassen Sie sich obendrein gesagt sein, dass die Führer keine Unruhen haben wollen. Diese paar Leutchen aus dem Norden wollen selbstverständlich keine Gewalttätigkeiten."
„Wie viel Leute sind aus dem Norden hier, außer Fer und Fräulein Rankin und Doris Pond?"
„Es ist ein Mann namens Woods drüben in Tesner, das ist sechs Meilen von hier entfernt. Er macht die organisatorische Arbeit. Dann gibt es einen, der jetzt nicht hier ist, von der Roten Hilfe. Summers mit Namen. Dann ist noch eine dritte Organisatorin, Elisabeth Black, in einer andern Stadt. Dann waren noch ein oder zwei Männer und einige Frauen vorübergehend hier, für die IAH- und Rote-Hilfe-Arbeit, aber die waren in der Organisation nicht aktiv tätig."
„Wollen Sie damit sagen, dass die Zeitungen dieses ganze Geschrei über die ,Hetzer' und die ,Roten' aus dem Norden wegen dieser drei jungen Leute und der drei Mädels machen, und dass das eine Mädchen noch dazu nur in der Unterstützungsaktion arbeitet? Diese ganze Angst, diese langen Leitartikel, alles wegen dieser paar Kinder?"
„Jawohl, so ist es", sagte Hoskins. „Man hat ja nicht vor diesen Kindern Angst, sondern davor, was hinter ihnen steht. Dann hat es natürlich auch ungeheure Übertreibungen gegeben. Die Leute hier sind überzeugt, dass
der ganze Ort mit ,Hetzern' aus dem Norden durchsetzt ist."
„Was soll denn das für eine Demonstration werden, die Sie heute abend bei der Jellico-Versammlung veranstalten wollen?"
„Was ist das für eine Versammlung?" fragte Roger.
„Ach, das ist eine Versammlung, die die Handelskammer veranstaltet. Haben Sie nichts davon gehört? Man hat einen Redner aus Chicago kommen lassen, der über ,Amerikanismus' sprechen soll. Der Redner hat den Spitznamen ,Alter Herzerweicher'."
„Man erwartet, dass er den Verband angreifen wird, um die Arbeiter wieder zu Verstand zu bringen."
„Sind Sie noch zurecht gekommen, um zu hören, was Irma von der Rednertribüne aus den Streikenden über den Besuch dieser Versammlung sagte?" fragte Hoskins. „Man forderte auf, in Massen zu erscheinen."
„Die Streikenden werden versuchen, zu Wort zu kommen, nicht wahr?"
„Ja, sie wollen es versuchen, aber ich glaube nicht, dass es gelingen wird."

Hoskins begann wieder über die Arbeiterbewegung zu erzählen und davon, wie es den Führern der Arbeiter ergeht, wenn es irgendwo zu Schießereien kommt. Er erwähnte, wie Ettor und Giovanitti ein Jahr lang wegen Beihilfe zum Mord im Käfig gehalten wurden, weil beim Streik in Lawrence eine Frau durch eine abprallende Kugel getötet worden war. Im Jahr 1916 wurden Carlo Tresca und noch neun andere in Mesaba Range wegen Beihilfe zum Mord verhaftet, weil ein Polizist bei einer Wirtshauskeilerei in einem Streit, der mit dem Streik
nicht das geringste zu tun hatte, getötet worden war. Es sei unvermeidlich und historisch belegt, behauptete er, dass jede Gewalttätigkeit der Arbeiter gegen ihre Führer ausgenützt wird.
Hoskins war offenbar drauf und dran, ein Kolleg über die Geschichte der gesamten Arbeiterbewegung zu lesen. Roger war an dem Punkt angelangt, wo er nicht weiter zuhören konnte. Es fiel ihm ein, dass er Bekannte in der Stadt hatte; die Parkers, Freunde seiner Mutter, wohnten da. Sie verbrachten den Sommer in Maine, wo die Familie Rogers ihren Sommeraufenthalt hatte. Jean Parker war ihm als sehr hübsches Mädchen im Gedächtnis geblieben. Er wollte diesem Gerede über Streik und Arbeiterbewegung entgehen und das alles in Gesellschaft angenehmer Frauen vergessen, die ihn über seine Mutter befragen und über unwesentliche Dinge angenehm plaudern würden. Er empfand ein Bedürfnis nach Ruhe und nach gutgelaunten, alltäglichen Menschen in behaglichen Zimmern. Er war sich bewusst, dass er sich in jenem Zustand des Stumpfsinns befand, der von einer Überfülle gleichzeitiger Eindrücke herrührt.
Wie sollte er seinen Artikel schreiben? Wie sollte er andern Menschen den Eindruck vermitteln, den er selbst bekommen hatte? Wie kann man Menschen, die nie einen Streik gesehen haben, überhaupt begreiflich machen, was ein Streik für die Streikenden selbst bedeutet? Wie kann man auf wenigen Seiten auch nur andeuten, was Menschen zum Streiken veranlasst? Wie kann man Unbeteiligten den Terror fühlbar machen?
Am späten Nachmittag, als Roger an Rosengärten und Lauben vorbei die schattigen Straßen durchwanderte, stand er noch immer unter dem Eindruck seiner Begegnung mit Fer und der Drohungen der Straßenpassanten. Er empfand nichts von der philosophischen Ruhe Hoskins', der meinte, solche Dinge passierten doch immer. Er war ein Neuling im Spiel, und der Terror hatte ihn bestürzt und aufgewühlt.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er das Parkersche Haus fand. Er war daran bereits vorbeigegangen, als er merkte, dass er es gefunden hatte. Das Haus war weiß und stand weit ab von der Straßenfront; es war von Rasen umgeben und von hohen Bäumen beschattet. An beiden Seiten der Straße standen behagliche Häuser, die Wohlstand und Wohlleben ausstrahlten.
Der Salon, in dem Roger wartete, war schattig und kühl und voll von Blumen. Es schien ihm unmöglich, dass diese Welt und die Welt des Streiks in ein und derselben Stadt nebeneinander bestehen könnten. Im nächsten Augenblick rief schon Jean Parker:
„Mutter, Mutter, rate, wer hier ist? Roger Hewlett!"
Sie war hochgewachsen, hatte weiches, rötliches Haar und war von jener Anmut, die man gewöhnlich mit südlicher Herkunft gleichstellt. Frau Parker war noch immer schön, mit tiefen, dunklen Augen und schneeweißem Haar. Bald waren sie im Gespräch. Es war genau so, wie Roger es sich vorgestellt hatte, er war auf einmal in eine wohlbekannte, verständnisvolle Welt zurückversetzt. Dann fragte Jean:
„Was hat Sie hierhergeführt, Roger?"
„Ich bin gekommen, um über den Streik zu berichten."
„Das ist schön", sagte Frau Parker. „Sie können den Leuten da oben im Norden erzählen, was hier vor sich geht. Herr Schenk ist jetzt, wie ich höre, nicht hier, er ist nach Roanoke zurückgefahren, wo er wohnt. Aber wenn er wiederkommt, möchte ich Sie mit ihm bekannt
machen. Er kann Ihnen sagen, wie viel er für diese Leute getan hat, die sich jetzt gegen ihn wenden."
„An allem sind nur diese Agitatoren aus dem Norden schuld", sagte Jean. „Sie haben keine Ahnung, Roger, wie dumm diese Fabrikarbeiter sind. Eine Schulfreundin von mir, Marian Scott, ist Lehrerin an einer der Werkschulen. Sie erzählt, dass man diesen unwissenden Weibern gar nichts beibringen kann. Natürlich kann dann ein geschickter Agitator, wenn er so skrupellos ist wie dieser Deane und einmal an die Leute herankommt, mit ihnen machen, was er will."
„Sie haben keine Ahnung, wie viel besser es den Leuten geht, seitdem sie aus ihren Bergen heruntergekommen sind", sagte Frau Parker. „Mein Vater kann sich noch an die Zeit erinnern, da Fabrikarbeiter so unwissend waren, dass sie nicht einmal ihren eigenen Zunamen kannten. Sie sagten, sie hießen Johann, Sohn des David. Sie sind aus elenden Hütten mit festgestampftem Lehmboden gekommen und wohnen jetzt in netten Häusern, haben auch elektrisches Licht, und das kostenlos. Viele haben sogar Badewannen."
„Sie benutzen ja die Badewannen nie, auch wenn sie sie haben. Sie gebrauchen sie nur, um Sachen darin aufzubewahren", sagte Jean.
„Wo sie früher keinen roten Cent hatten, verdienen sie jetzt mehr als ein Akademiker. Nehmen Sie als Beispiel einen Vetter von Jean. Er ist ein junger Architekt, ist auf der Hochschule gewesen, hat Architektur studiert, war auch im Ausland; man hat Tausende von Dollars für seine Ausbildung verausgabt, und jetzt verdient er alles in allem nur vierzig Dollar die Woche. Nehmen Sie eine Familie von vier Fabrikarbeitern, die je achtzehn fünfzig die Woche verdienen, die haben ein Einkommen von vierundsiebzig Dollar die Woche."
„Verdienen die denn so viel?" fragte Roger. „Ich dachte, dass die Durchschnittslöhne viel niedriger wären."
„Oh, sehr viele verdienen sogar bedeutend mehr, mein lieber Junge. Früher kamen die Bauern mit Eiern und Gemüse und Hühnern fortwährend bei uns angefahren, um etwas zu verkaufen. Jetzt kommen sie nie über die Werksiedlung hinaus; die Leute in der Werksiedlung kaufen alles auf."
„Sie sind furchtbar verschwenderisch und leichtsinnig im Einkaufen", sagte Jean. „Man kann ihnen das richtige Einkaufen überhaupt nicht beibringen. Du weißt ja, Mutter, wie sehr sich Marian bemüht, um sie zu belehren, und wie es auch Fräulein Walters, die Fürsorgerin, versucht."
„Es scheint aber, dass sie sich jede Teufelei schnell genug beibringen lassen", sagte Frau Parker. „Sie würden kaum glauben, Roger, was für Dinge hier passiert sind. Dieser Bursche Deane hat ihre Leichtgläubigkeit missbraucht. Wie die Dämonen sind sie aus dem Werk herausgestürmt! Und als die Polizei vor dem Werk ein Seil quer über die Straße zog, packten die Streikenden das Seil und rissen es der Polizei so brutal aus den Händen, dass der Polizeichef selbst auf den Rücken fiel. Und dann bellten sie ihn an wie die Hunde."
„Ein Seil ist also quer über einen öffentlichen Verkehrsweg gezogen worden? Ist es nicht gesetzwidrig, Verkehrsstraßen abzusperren?"
„Was sollten sie denn sonst tun? Diese Teufel dort brüllten Streikbrecher! Streikbrecher!' und tobten und schrieen ,Pfui!' und wollten die Fabrik stürmen, da hat die Polizei natürlich ein Seil über den Weg gezogen, um den Betrieb zu schützen."
„Schreiben Sie das nur alles auf, Roger. Wir haben erfahren, dass einige Zeitungen im Norden die Entführung von Deane, diesem Kerl, abfällig kritisiert haben. Warum man ihn nicht teert und federt und auf einer Stange aus der Stadt reiten lässt, ist mir unbegreiflich. Die Männer haben heutzutage gar keinen Mut mehr. Man sollte für ihn eine Beschäftigung finden, die ihn von hier fernhält."
Frau Parker und Jean zitterten beide vor Zorn.
Die Journalistenneugierde Rogers hatte über seine Höflichkeit die Oberhand gewonnen.
„Aber Sie sind doch nicht für gewaltsame Entführungen, nicht wahr?" fragte er.
„Ich bin für Wahrung der Ruhe und Ordnung", sagte Frau Parker. „Wenn Polizei und Gesetz nicht rasch genug eingreifen, bin ich dafür, dass die Männer zeigen, dass sie Männer sind."
„Diese Leute", wiederholte Jean, „diese Fabrikarbeiter waren ganz ruhig, bis Deane hierher kam."
„Wir haben mit unsern Arbeitern nie Schwierigkeiten gehabt", warf Frau Parker dazwischen. „Es geht ihnen jetzt viel besser als damals, als sie aus ihren Bergen kamen. Das habe ich Ihnen schon gesagt. Jetzt spazieren diese Leute mit Schießwaffen herum und zünden Dynamit an! Kein Mensch ist seines Lebens sicher! Nur weil dieser Anarchist aus dem Norden hierher kommt und ihre Leichtgläubigkeit missbraucht! Er verdient dabei massenhaft Geld."
„Das ist doch selbstverständlich. Wozu wäre er denn sonst hier?" sagte Jean. Frau Parkers Stimme unterbrach eine kurze Pause wieder:
„Ich verstehe nicht, warum man ihn nicht aus der Stadt vertreibt. Warum sie sich mit solchen halben Maßnahmen begnügen, kann ich nicht begreifen."
Roger verabschiedete sich bald. Hier war also der Ursprung jenes Hasses, dem er auf der Straße begegnet
war, als er mit Fer ging. Hier war die Heimat des Mob. Die ,ehrbaren Bürger', die ,gutsituierten' Leute von Stonerton waren wütend und empört über die Revolte der Fabrikarbeiter.
Er dachte an den kleinen Haufen von Funktionären, an Woods dort drüben in Tesner, an Ferdinand Deane, an Doris Pond mit ihrer Hilfsarbeit, an Irma. Sie erschienen ihm unglaublich isoliert und fern.

 

III. KAPITEL

Ein Rudel von Journalisten wartete in der Hotelhalle.
„He, Hewlett", rief einer. „Ich hab Sie im Restaurant mit Fer sprechen sehen. Wird es Zusammenstöße geben?"
„Sieht ganz danach aus, meinen Sie nicht?" rief Durgan, der Berichterstatter vom ,Planet'. „Man wittert Lynchgefühle in der Luft."
Drei Journalisten, mager und dunkelhaarig, von eigenartiger Gleichmäßigkeit des Typs, sie standen neben Otis Bingham, einem blonden, unauffälligen kleinen Kerl mit Brille. Er war selbst Stonertoner und sympathisierte insgeheim mit den Streikenden. Ein grotesker Einfall ließ sie Roger plötzlich als eine Meute von Jagdhunden erscheinen. Sie waren so aufgeweckt und lustig, man konnte richtig sehen, wie ihre Nasenflügel vom Geruch der kommenden Zusammenstöße witterten: es drängte sie, unter Gekläff auf der Fährte des Unheils mit dem Wind dahinzujagen.
Er ging allein zu Tisch. Die Welt um ihn wirbelte und ballte sich zum Gleichnis. Da waren die Führer, beschwert von Hass und Liebe, die sie umgaben. Da waren die Werksiedlung und die Arbeiter, diese schwache
Brustwehr zwischen dem Häuflein Führer und dem Hass. Der Hass aber, das waren die wohlhabenden Bürger. Der Hass und der Mob waren nur eine Vervielfältigung der Familie Parker. Roger sann über den Grund ihrer Wut nach, die ebenso spontan war wie die Auflehnung der Arbeiter. Na ja, so kam es ja immer.
Er kam zu keinem Ergebnis, aber er hatte in diesem Augenblick ein klares, scharfes Bild vom Zwiespalt in der Gesellschaft, so scharf umrissen wie die Gefühle in einem Bürgerkrieg.

Ein dicker Berufsredner aus Chicago, Jellico, war von der Handelskammer mit großem Kostenaufwand verpflichtet worden, um über das Thema ,Was ist Amerikanismus?' zu sprechen.
Kein Saal war groß genug, um die erwarteten Massen zu fassen. Man hatte daher den Platz vor dem Gerichtsgebäude mit Seilen abgesperrt. Eine Tribüne war mit amerikanischen Fahnen ausgeschmückt. Es dunkelte schon, und der offene Platz war von Arbeitern, die harmlos und friedlich herumstanden, überfüllt. Es waren braune, hagere Gestalten, ärmlich gekleidet, dunkeläugig, mit langen, locker gefügten Gliedern. Gruppen von jungen Mädchen in kurzen Röcken, mit rotgeschminkten Lippen. Eine Menschenmenge, begierig auf alles, was die Eintönigkeit des Alltags unterbrechen konnte.
Das Volk des amerikanischen Südens kann mehr Reden vertragen als irgendein anderes Volk, obgleich auch anderswo Arbeiter Tag für Tag gerne herbeiströmen und stundenlang dastehen, um Reden anzuhören.
Es spielte die Kapelle der höheren Schule. In die
Menge kam Bewegung. Eine Delegation der Streikenden hatte höflich und schüchtern darum gebeten, im Laufe der Kundgebung das Wort ergreifen zu dürfen. Der Bürgermeister hatte geantwortet, dass nur der Gast sprechen sollte.
„Da hat man’s!" sagte Hoskins, der neben Roger Hewlett stand. „Jetzt wird es nichts mit der Demonstration. Die Arbeiter sind zu höflich und zu schüchtern. Aber diese Dinge kommen nie in die Zeitungen. Die Arbeiter lassen sich alles gefallen. Sie scheuen sich von Natur aus vor jeder Initiative. Sie handeln nicht eher, bis ihnen die Geduld reißt. Wenn wir dann in den Zeitungen über sie schreiben, schreiben wir immer nur von den Momenten, wo ihnen endlich die Geduld reißt. Das sieht dann so aus, als ob die Arbeiter ewig aktiv wären, ewig Unruhe stiften wollten."
„Ich weiß, dass es so ist, aber wie wollen wir das dem großen Publikum begreiflich machen?" fragte Roger.
„Nehmen Sie als Beispiel diesen Fer; das ist ein anständiger, ruhiger Kerl, der den Arbeitern sagt, sie sollten ihre Schießeisen zuhause lassen, und der sich große Sorgen darüber macht, dass es zu einer Schießerei kommen könnte. Der Bursche ist kein Dummkopf; er hat auch die Geschichte der großen Streiks gelesen. Er weiß, was passiert, wenn jemand in einem Streik erschossen wird. Die Arbeiter verlieren den Streik, und die Führer kommen ins Zuchthaus. Aber glauben Sie, dass er das Ihren Freunden, den Parkers, erzählen könnte? Die glauben ja, dass Fer Pferdehufe, einen Schwanz und Hörner hat."
„Sie glauben, dass Fer und nur Fer die Arbeiter zum Streik veranlasst hat, und sie glauben, dass ein Streik eine ansteckende Krankheit ist wie Pocken." Sie unterhielten sich, während die Kapelle spielte. Ein hoch-
gewachsener, bärtiger alter Mann bahnte sich an ihnen vorbei seinen Weg. Hoskins sagte zu Roger:
„Das ist Oskar Williams, der Prediger aus den Bergen."

Der Redner war ein ungeheuer dicker Mann. Jeder, auch die Handelskammer, erwartete, dass er die Gewerkschaften angreifen würde. Aber Jellico war von der Sorte von Menschen, die Tränen vergießen, wenn das Wort ,Mutter' fällt. Er sprach von seiner eigenen Mutter und vergoss Tränen. Dann sprach er von brüderlicher Liebe. Er sprach von diesem ,sonnigen, blühenden Lenz', und das brachte ihn auf die Besprechung der Blumenembleme der verschiedenen Staaten der Union, und das wieder erinnerte ihn an alle durch den Krieg bedrückten Länder, die er gesehen hatte und daran, wie viel besser es in Amerika wäre, besonders in diesem schönen, sonnigen, blühenden Staat Nordcarolina.
Man sah eine leise Bewegung die Menge ergreifen. Eine Gruppe streikender Kriegsteilnehmer, die vorhatten, zu demonstrieren und das Wort zu verlangen, rührte sich unruhig. Irma kam an Hoskins heran und flüsterte ihm zu:
„Was redet der da?"
Denn gerade in diesem Augenblick hatte der dicke Redner angefangen, mit kindischem und einnehmendem Behagen von den gekrönten Häuptern Europas und den Generälen zu erzählen, mit denen er Bekanntschaft gemacht hatte. Die Verbandsfunktionäre hatten einen wuchtigen Angriff, eine erbitterte Anklagerede gegen die Gewerkschaften erwartet. Anstatt dessen wurden sie aufgefordert, an die Blumenembleme und Wachstumsverhältnisse der einzelnen Staaten zu denken. Ein fetter,
sentimentaler, gutmütiger Mensch, vor sich eine amerikanische Fahne, neben sich auf der Tribüne die führenden Männer der Stadt, alle verbündet gegen Gewerkschaft, Sozialismus, Kommunismus, Anarchie, erzählte diesen Fabrikarbeitern Plattheiten. Denn in den Köpfen der dort neben Jellico versammelten maßgebenden Herren' waren alle diese Dinge gleichbedeutend. Jeder wartete auf den Angriff. Doch es kam keiner. Nur eine klebrig sickernde Süßigkeit kam. Alle waren enttäuscht.
Die Menschen schoben unruhig hin und her. Kleine Gruppen gingen vorbei und kamen wieder zurück. Die Menge schmolz zusammen.
„Na, Irma", sagte Hoskins, „hätten Sie doch lieber auf Fer gehört. Was ist denn aus den Kriegsteilnehmern und ihrer Demonstration geworden? Was Sie gebraucht hätten, wäre ein Haufen von Müttern und Kindern gewesen, und Mamie Lewes hätte dazu eins ihrer Lieder singen sollen."
„Die Arbeiter sollen nicht Mitleid erregen", sagte sie dogmatisch. „Sie müssen wehrhaft sein!"
„Wir aber sind überhaupt nichts gewesen", sagte Fer in seiner sachlichen Art. „Wir sind bloß ein Kuckucksei gewesen, Irma." Seine Vernunft, sein Mangel an Fanatismus waren mit die Gründe, weshalb ihn Irma nicht für eine Führernatur hielt.

„Wo sind Sie abgestiegen, Hewlett?" fragte Fer Roger.
„Im Hotel", sagte Roger.
„Erlauben Sie mal!" protestierte Fer. „Dort sollten Sie doch nicht wohnen. Das ist das Streikbrecherhotel." Er sagte das ohne jede Feindseligkeit. „Von dort wurde ich ja entführt."
„Wo wohnen Sie denn?" fragte Roger.
„Nirgends. Ich bin ein paar Nächte hier, ein paar Nächte dort. Manchmal wohne ich bei den Landors. Der ist Zimmermann. Sie haben ein großes Haus. Manchmal gehe ich nach Lafayette. Auch Irma wohnt bei den Streikenden, genau so wie ich. Man kann mich viel schwerer kriegen in so einem Streikerhaus", erläuterte er sachlich. „Irma wohnt bei den Streikenden, weil wir ja kein Geld für regelrechte Gehälter haben."
„Ich bekomme kein regelrechtes Gehalt", warf Irma beiläufig dazwischen. „Manchmal wohne ich bei Doris, sie hat ein Zimmer bei den Bisphams."
„Ja, das ist eine gute Idee", sagte Fer. „Auch Hewlett könnte bei den Bisphams wohnen. Nachts wird das Haus bewacht. Man ist dort gut aufgehoben."
„Bewacht?" fragte Roger.
„Ja, die Jungs bleiben die Nacht auf und lösen sich ab. Damit das Haus nicht mit Dynamit in die Luft gesprengt und niemand mehr entführt wird."
Der junge Hewlett, der in leichtfertiger Abenteuerlust nach Stonerton gekommen war, sah sich jetzt plötzlich gewaltsam aus der eigenen Bahn gedrängt und in das Lager der Arbeiter hinübergeschoben. Die Parkers glaubten, dass all der Unfrieden hier in Stonerton von Fer verursacht wurde und dass es ihre Pflicht wäre, ihn zu ,entfernen'. Roger erinnerte sich daran, wie Frau Parkers Kopf im Glorienschein ihrer weißen Haare gezittert hatte, als sie ihm feierlich versicherte:
„Gibt es kein Gesetz, um diesen Mann und seine Kumpane zu entfernen, so werden wir gezwungen sein, zur Selbsthilfe zu greifen. Wir haben das Recht, unser Leben und unser Eigentum zu schützen."
Und hier war dieser Fer, der jede Nacht wo anders
schlief, ohne Geld, ohne die Möglichkeit, einen Augenblick allein zu sein.
Als Gradmesser für die Unwissenheit der Außenstehenden stand der ,alte Herzerweicher' Jellico da mit seinem Geschwätz von den gekrönten Häuptern Europas, von der Überlegenheit Amerikas, von brüderlicher Liebe und den Blumenemblemen der Staaten.
Roger packte seine Koffer in eine Autodroschke und fuhr hinunter zu den Bisphams. Die Hauptstraße von Stonerton ist eine Straße, wie man sie hübscher nicht wünschen kann. Ein Fluss durchströmt die Stadt, eine schöne Brücke überspannt in sanftem Bogen den Fluss. Die schlichte Säule eines Denkmals zu Ehren der Veteranen des spanisch-amerikanischen Krieges steht am Ende der Straße. Diese Straße mündet in einen dunklen, schönen Berg. Dem Denkmal gegenüber steht das Gerichtshaus mit einem Säulengang im Kolonialstil und einer Treppenflucht aus weißem Stein.
An dieser Straße stehen weiter unten die Häuser, in denen die wohlhabenden Leute seit Generationen leben. Auf dem Platz vor dem Gerichtsgebäude verkündet eine Gedenktafel die Tatsache, dass hier die Stelle sei, an der die ersten Siedler auf der Suche nach Freiheit und Selbstbestimmung sich niedergelassen hatten. Die Stonertoner ehren fromm das Andenken ihrer revolutionären Ahnen. Sie erinnern sich der Pioniere, sie erinnern sich der Tage des Bürgerkriegs. Diese Leute, die immer von Vaterlandsliebe sprachen und am 4. Juli Reden über die Freiheit schwangen, waren dieselben Leute, die Fer mit Gewalt entführt hatten und die streikenden Arbeiter mit solchem Hass verfolgten, dass das Bisphamsche Haus bewacht werden musste.

Das Bisphamsche Haus, ein roter Ziegelbau, stand an einer Ecke des Platzes. Unten war ein kleines Restaurant, oben war die Herberge. Neben Bispham gab es noch einen Krämerladen und daneben eine Tankstelle mit Garage. An der Hinterfront des Hauses zog sich eine Galerie entlang. Diese Galerie führte auf ein leeres Grundstück, dem man es noch ansah, dass es vor Zeiten ein Garten gewesen war. Jetzt war es mit Kisten, Blechbüchsen und andern Abfällen des Krämerladens übersät.
Bispham war ein schwerfälliger, schweigsamer Mensch, breitschultrig und stoppelbärtig. Frau Bispham zeigte Roger ein Zimmer, das ein Bett, einen Waschtisch und einen Stuhl enthielt. Die weite Halle hatte Oberlicht, einen großen eisernen Ofen und mehrere Stühle.
Max Harris und seine Frau wohnten auch hier. Er war in der Spinnerei Maschinenmeister gewesen und hatte gut verdient. Mit den andern zusammen hatte auch er die Arbeit niedergelegt; dann wurde eines Abends das Haus, das er sich selbst gebaut hatte, mit Dynamit in die Luft gesprengt. Während Frau Bispham geschäftig frische Handtücher auslegte, teilte sie Roger mit: „Die Stücke, die übrig geblieben, waren nicht groß genug, um einen Zahnstocher daraus zu machen."
Auch Doris Pond von der Roten Hilfe, ein überarbeitetes, geplagt aussehendes Mädchen, wohnte hier, und Irma nahm von Zeit zu Zeit bei ihr Quartier. In den Zimmern war kein fließendes Wasser, aber am einen Ende der Halle gab es neben einem Fenster, das auf den Berg hinausging, einen Wasserhahn. Alle kamen morgens hierher, um sich zu waschen. Es war einfach und primitiv und sauber genug. Roger war froh, hier zu sein.
Nach kurzer Zeit kamen vier Burschen mit Schießeisen herein. Sie waren vom gleichen schlenkernden Gebirgstypus, den er schon kannte. Einer von diesen war
Del Cuthbert, ein auffallend schöner Junge. Alle waren sich ihrer Würde bewusst. Zwei saßen im Vorderzimmer, das mit einem Flügel, einer Salongarnitur von der Art, die man auf Abzahlung kauft, einem Erkervorsprung und zwei Bildern — billige Dutzendware — ausgestattet war. Die beiden andern Wächter gingen auf die hintere Galerie hinaus. Frau Bispham sagte laut zu Frau Harris: „Nee, Frau Harris, der Baugrund da hinten macht mir Sorge. Ist doch gar zu leicht, einen Klumpen Dynamit dort einzustecken."
„Das schon", pflichtete Frau Harris bei. Sie war eine hübsche, dunkelhaarige Frau mit rundem Gesicht. Sie erzählte gern die Geschichte, wie sie die Explosion gehört hatte und nach Hause gegangen war, „ohne sich träumen zu lassen, dass es ihr eigenes Haus gewesen war". Auch Hoskins wohnte hier, er saß im Gespräch mit Fer und Bispham, während Cuthbert, auf sein Gewehr gestützt, hinter ihm stand.
Man hörte rasche Schritte auf der Treppe. Frau Bispham rief: „Wie geht’s, Frau Trent?"
Frau Trent sah mit ihren kurzen Haaren und sehr weiten Augen wie eine ,höhere Tochter' aus.
„Ich bin hier grad die Straße heruntergekommen, und da meinte ich, ich komme mal herein und sag euch allen guten Tag. Wie steht’s?" Sie versuchte, unbefangen zu sein, zupfte fortwährend nervös an den Fingern. Ihre Augen verließen das Gesicht Rob Trents keinen Augenblick. Er war von der Galerie hereingekommen. „Wie steht’s?" wiederholte sie. „Ist alles ruhig? Erwartet ihr, dass etwas passiert?"
„Es ist alles recht ruhig", sagte Frau Bispham und schaukelte sich im Stuhl.
„Was ist denn los, Lucy?" sagte Max Harris. „Hast
du's wieder mit der Angst? Brauchst keine Bange zu haben."
„Sie hat keine Bange", sagte der junge Trent. Er stützte sich auf sein Gewehr.
„Nein, ich hab keine Bange", versicherte sie. Bald sagte sie gute Nacht. Die Burschen mit den Gewehren gingen wieder auf die Galerie hinaus.
„Armes kleines Ding", sagte Frau Bispham. „Diese kleine Lucy Trent ist kaum zwei Monate verheiratet, und sie weiß ganz genau, dass ihrem jungen Mann was passieren wird. Man sollte einen andern Jungen zur Wache nehmen."

Roger wachte am nächsten Morgen früh auf. Als er in die Halle kam, stieg eine Frau die Treppe herauf. Sie trug ein schweres, graues Tuch in der Hand. Die Wächter schliefen in unbequemen Stellungen, einer auf der kurzen Sitzbank, der andere auf dem harten Sofa des Vorderzimmers, wo sie Wache hielten.
„Ich komme, meinen Jungen zuzudecken. Der hat die ganze Nacht aufgepasst. Wenn's hell wird, können sie ein Schläfchen tun."
Sie ging geräuschlos zu dem schlafenden Cuthbert bin. Sie sah zu jung aus, um schon so einen erwachsenen Burschen zum Sohn zu haben.
Bald begann sich der Platz mit Menschen zu füllen. Lastwagen und Autos kamen von den Bergen. Das Gemurmel einer Menge wurde laut. Die Polizei war schon zur Stelle.
Lastautos kamen, mit roten und weißen Bändern geschmückt. In die Menge mischten sich weiß gekleidete Mädchen, mit blauen Schleifen und weißem Band über die Brust, auf dem in roten Lettern das Wort ,Verband'
stand. Hochgewachsene, grobschlächtige alte Männer schlürften durch die Menge. Auch Frauen waren da, von den Bauernhöfen des Hochlands, deren Gesichter so sonnengebräunt waren, als hätte man sie mit Butternusssaft gefärbt.
Da waren auch die Familien der Arbeiter der neuen Fabrik. Das waren Arbeiter, die für die Industrie neu angeworben worden waren zusammen mit Arbeitern aus der alten Werksiedlung. Sie waren von nah und fern gekommen, manche waren schon vor Tagesanbruch unterwegs. Ihre Kleidung verriet, wie wenig sie verdienten. Ihre zerfurchten Gesichter und mageren Leiber zeigten, wie schwer sie arbeiteten. Roger sah jetzt zum ersten Mal eine solche Arbeitermasse, und es überkam ihn eine unerwartete Ergriffenheit. Er schämte sich nicht, Hoskins das zu sagen.
„Ich kenn das", antwortete der, „mir geht’s genau so. Ich muss immer daran denken, dass das die ,fügsamen hundertprozentigen Amerikaner' sind. Sehen Sie sich die mal an." Roger sah sie an und der Anblick machte ihn wütend.
„Das bringt mich aus dem Häuschen", sagte er. „Sie sind schon zu lange fügsam und hundertprozentig gewesen."
„Ich bin schon vor siebzehn Jahren in Lawrence aus dem Häuschen geraten", bemerkte Hoskins ohne Nachdruck, „und hab mich seitdem noch nicht beruhigt".

Die Menschenmenge auf dem Platz war gewachsen. Die Polizei war unruhig und ängstlich. Harris, Wes Elliott, Irma, Doris Pond und andere Führer waren dabei, die Arbeiter in einer gewissen Ordnung aufzustellen. Roger hatte schon allerlei Aufzüge gesehen, und Hoskins
noch mehr. Er hatte den schönen Marsch von Passaic nach Lodi erlebt, wo eine ernste, imposante tausendköpfige Menschenmenge um die Farbstoffwerke zog, unbehelligt ihre Lieder singend. Tausende und aber Tausende Arbeiter schritten dort ruhig, voller Kraft und voller Zuversicht über die grauen, winterlichen Felder.
Aber der Zug dieser nordkarolinischen Gebirgsbewohner wird ihm immer im Gedächtnis bleiben als etwas Ergreifenderes, in einem gewissen Sinne Bedeutsameres als jede andere Demonstration, die er bisher gesehen hatte.
Die Arbeiter marschierten in guter Ordnung. Sie führten selbstverfertigte Transparente mit. Männer und Frauen gingen zusammen, die Mädchen in Gruppen, manche fuhren in Lastautos und alten Fordwagen. Sie strömten hin mit der Aufschrift: „Willkommen Fer!" auf ihren Fahnen und demonstrierten vor jedem, der es sehen wollte — vor den ,ehrbaren Bürgern', vor dem Staate Nordcarolina, vor ganz Amerika.
Hier gingen Menschen, Männer und Frauen und Kinder zusammen. Reihe auf Reihe jugendlicher Fabrikarbeiter marschierte mit Schildern, auf denen zu lesen war: „Wir wollen Schulen." Das war die Brigade der Spinnereikinder.
Es gab auch kleinere Kinder mit Schildern: „Müssen wir in die Fabrik gehen?"
Hier demonstrierten Männer, Frauen und Kinder, mit Fahnen und Musik durch die Straßen ziehend, um etwas mehr Lohn und einige Stunden weniger Arbeit.
Die Arbeiter von Tesner kamen auf zwei Lastautos, die benachbarte Farmer ihnen geliehen hatten. Mamie Lewes saß auf einem dieser Autos. Ihr Herz klopfte schnell. Sie war allein, vereinsamt gewesen. Seitdem ihr Mann fortgegangen war, verdiente sie so wenig, dass sie
nicht einmal in der Werksiedlung wohnen konnte. Sie kannte wenig Leute. Jetzt war sie hier mit dabei, sie war ein Teil des Zuges. Gestern war sie in den Verband eingetreten, gleich nachdem sie nach Tesner zurückgekommen war, und da hatte man sie gefragt, ob sie auch gern mit im Zug sein möchte. Eine Kapelle spielte. Fahnen flatterten. Mamie Lewes war, als müsste sie vor Aufregung vergehen. Jetzt kam Fers Auto vorbei und alle schrieen: „Fer! Fer! Fer!", so laut sie nur konnten. Auch Mamie Lewes schrie.
Sie fühlte sich als Teil der Menge. Alle marschierten im Takt für ein und dieselbe Sache. Sie waren alle in ein Ganzes aufgegangen, das größer war als sie selbst —, das sie alle zusammenführte und zusammenschweißte zu etwas, das außer ihnen stand. Das wird die Solidarität sein, von der sie immer sprechen, dachte Mamie Lewes und empfand das als eine neue, wertvolle Entdeckung.
Die Fenster waren von ,ehrbaren Bürgern' besetzt, von Leuten, die angstvoll auf die vorbeimarschierenden Arbeiter herunterglotzten. Polizeistreifen waren auf allen Straßen. Die Zeitungsberichterstatter flitzten in Erwartung von Zusammenstößen in ihren Autos hin und her.
Es gab zwei Parteien: Spinnereiarbeiter und Städter. Es war beinahe wie im Bürgerkrieg. Außenseits eine Menge zorniger Menschen, Menschen, die brummten wie die Hornissen um ihr aufgestöbertes Nest. Die Arbeiter hätten mit ihrer ,unzeitgemäßen' Revolte den Anmarsch der Prosperität aufgehalten. Die Grundstückspreise wären im Steigen, der Zuzug zur Stadt wäre groß, und gerade jetzt müssten diese Spinnereiarbeiter streiken und unerwünschtes Aufsehen erregen.
Der Strom der Arbeiter floss eindrucksvoll dahin. Eine Drohung lag in ihrer Zahl, eine Drohung auch in
ihrem Ernst. Sie glichen keiner Gruppe von Arbeitern an irgendeinem andern Ort. Nichts dergleichen war in diesen Bergen je geschehen. Diese Arbeiter hatten einander noch nie, von Angesicht zu Angesicht, in solchen Massen gesehen.
Es war ermutigend und begeisternd. Kleine Flaggen, rote, weiße und blaue billige Dekorationen. Es war seltsam zu bedenken, dass alle diese Menschen wegen Fer zusammengekommen waren, wegen diesem netten Burschen mit dem schwachen Magen. Durch welchen Zufall war gerade dieser Fer dazu ausersehen, diese Leute zu führen? Solche Gedanken fuhren Roger flüchtig durch den Kopf, während sein Herz im Rhythmus ,Etwas wird passieren! Etwas wird passieren!' rascher klopfte.
Hoskins sagte: „Gefährlich ist die Sache schon. Amerikaner verstehen den Sinn von Demonstrationen nicht. Die europäischen Länder verstehen es, denn es ist lange ihr einziges Recht gewesen."

In diesem Augenblick geschah es. Keiner wusste genau, was es eigentlich war.
Einer von den Zuschauern hatte höhnisch gekräht. Jemand hatte die Demonstranten mit etwas beworfen.
Die Demonstranten schrieen zurück: „Menschenräuber!"
Steine flogen aus der Menge, die die Bürgersteige besetzt hielt. Die Demonstranten lösten ihre Reihen.
Eine Schlägerei begann.
Einen Augenblick zögerte der Zug. Es sah aus, als würde gleich die Hölle losbrechen. Es sah aus, als würde der Aufmarsch in einem Tumult enden.
Mit knapper Not hielt Dan Marks die Arbeiter in Reih und Glied. Er stand gerade vor denen, die die Reihen lösten und rief laut:
„Weitermarschieren!"
Andere verantwortungsbewusste Arbeiter wiederholten den Ruf: „Weitermarschieren!"
Harris, der alte Trent und die Trentschen Frauen fuhren gerade rechtzeitig von hinten an die Kämpfenden heran und hielten die übrigen in der Reihe.
Der Zug bewegte sich weiter und ließ nur einige Leute inmitten einer Schlägerei zurück.
Einige Verhaftungen wurden vorgenommen. Aber die Masse der Demonstranten marschierte weiter.
Bald war sie unversehrt außerhalb der Stadt und nahm Richtung auf die Werksiedlung. Autos mit einigen der älteren Männer und Frauen bildeten die Nachhut.

Der abmarschierende Zug ließ eine zornig lärmende Menge auf den Straßen zurück.
„Alle hätten sie verhaftet werden sollen."
„Man hätte ihnen das Republikschutzgesetz vorlesen sollen."
„Jetzt wird man wohl die Miliz einsetzen."
„Das wird man auch wirklich tun", sagte Hoskins.
Die Zeitungsberichterstatter waren auf dem Wege zum Telegraphenamt, um dort ihre Berichte zu schreiben, jeder von seinem Standpunkt aus. Der Mann der ,Times' hatte gerade den Gouverneur angerufen. Dick Durgan hatte mit dem Polizeichef gesprochen. Ein anderer hatte Fer interviewt.
„Na", sagte Dick, „da hat man die Bescherung. Der Gouverneur schickt Miliztruppen — werden heute abend hier sein."
„Wer hat den Krach angefangen, habt ihr gesehen?"
„Einer hat von außen mit Klamotten geworfen, und darauf haben die Leute die Reihen verlassen."
Über die Drähte lief die Nachricht, dass es versucht worden war, den Aufmarsch zu stören. Diese Berichte, die ihrem Kern nach nicht sehr auseinander gingen, erhielten in den Schlagzeilen der verschiedenen Blätter sehr verschiedene Deutungen. Alles war da: Von der Schlagzeile ,Werkpolizisten überfallen Aufmarsch' in der einen Presse bis zur Schlagzeile ,Gouverneur fordert Truppen an, da Streikende Tumult herbeiführen' in den örtlichen Blättern, die am selben Abend den berühmten Leitartikel brachten: ,Wie lange soll noch dieser Kerl Deane unsere Geduld missbrauchen? Wie lange sollen wir noch müßig zusehen, wenn der Mob durch die Straßen unserer schönen Stadt rast'.
Als die Reporter fertig waren, war der Aufmarsch längst vorbei. Die Leute zerstreuten sich. Aber das Gefühl der Spannung ließ nicht nach. Man spürte noch immer, dass Gewaltausbrüche bevorstanden.
Bei Bisphams lehnte sich Fer im Polstersessel zurück und fächelte sich mit seiner Mütze.
„Das wär um ein Haar schief gegangen. Pfüh! Bin froh, dass das vorbei ist." Er schöpfte tief Atem. „Ich wollte diesen Aufmarsch nicht. Ich wollte ihn gar nicht, aber die Streikleitung wollte es haben und die Arbeiter auch. Ich möchte weg von hier, wenn auch nur für diese Nacht."
Einer von den langen, schmalgesichtigen Männern kam herein, ihm folgte ein großes Mädchen, das lachte. Das Mädchen blickte Fer in die Augen und lächelte ihn an.
„Na, Fer", sagte der Mann, „ich hab einen Moment gemeint, es gibt Krieg. Es wär gut, wenn du für heut
Nacht herauskämst, zu meinem Sohn in die Wohnung. Kommt alle heraus und esst einen Happen mit uns." Er bezog Hoskins und Roger in die Einladung mit ein. „Die Jungs haben ein Auto draußen."
„Wer soll denn die Verbandsversammlung abhalten?" fragte Fer im Zweifel. „Es muss jemand vor dem Gerichtsgebäude sprechen."
„Sie bereiten dort schon alles vor", sagte der große alte Mann, Trent. „Du sprichst zuerst, Fer, und wir warten dort auf dich."
„Schön", sagte Fer, „aber was ist mit der Verbandsversammlung?"
Harris und einige andere junge Leute waren hereingekommen. Harris sagte: „Es ist besser, du läufst heut abend nicht zu viel in der Stadt herum. Wir sind heut abend empfindlich und die andern auch. Du red man ganz kurz, Fer, und mach dann, dass du wegkommst. Wir und die andern Jungs werden die Versammlung schon ohne dich abhalten."

Sie fuhren fünf Meilen in die Berge hinauf. Fer und Roger und Trent und Hoskins und das Mädchen, alle in einem klapprigen, alten Auto. Eine Haarsträhne hing dem Mädchen ins Gesicht, ihre zart geröteten Wangen waren mit blassen Sommersprossen übersät. Ihre Nase war fein geschnitten, doch mit einer leisen Sinnlichkeit in den breit geöffneten Nüstern. Sie war gut gebaut und rundlich und hatte ein heiteres, spöttisches Lachen. Sie schien in die Strenge dieses Lebens in den Bergen nicht hineinzupassen und war doch ein wesenhafter Teil der ganzen Landschaft.
Ein Enkel des großen alten Mannes steuerte den Wagen. Das Mädchen war die Tochter der schwer-
fälligen Frau in mittleren Jahren, die die Gäste empfing. Das Haus war ein einfacher Fachwerkbau, ganz neu. Es war von dem Geld gekauft worden, das die Kinder in der Fabrik verdienten. Es machte, obwohl es in einer so alten Gemeinde stand, den Eindruck eines Grenzerhauses. Vielleicht lag dies an seiner Neuheit oder daran, dass Gewehre an den Wänden hingen.
Als sie hereinkamen, standen auf allen Seiten junge Männer auf. Es waren im ganzen sechs Burschen von fünfzehn bis fünfundzwanzig Jahren. Nur der älteste war verheiratet und wohnte hier mit seiner Frau.
An die Wand gelehnt saß ein älterer Mann mit einem freundlichen, lustigen Gesicht, launigen Falten um den Mund und einem wohlgeformten, kahlen Kopf. Neben ihm saß ein sehr kleines, 6ehr dünnes Mädel. Ihre Züge waren zart und scharf, aber abgeschlossen geformt wie die einer Frau. Ihre graugrünen Augen schienen zuerst ungeheuer groß. Später überlegte sich Roger, dass diese Augen nur darum so groß aussahen, weil das kleine Gesichtchen so schmal war. Sie und ihr Vater saßen Hand in Hand.
Frau Trent sagte: „Fer, du kennst Herrn Jolas und Binney."
„Aber gewiss", sagte Fer und schüttelte ihnen die Hände.
Die Frauen machten sich daran, Kaffee und Grütze, heißen Zwieback, selbsterzeugte Marmelade, saure Gurken und gebratenes Pökelfleisch aufzutragen. Die Männer unterhielten sich mit ernster Miene. Binney Jolas und ihr Vater saßen in vollkommener Zufriedenheit nebeneinander. Von Zeit zu Zeit sah sie mit einem raschen Blick, wie ein Vogel, zu ihm auf, von Zeit zu Zeit sah er auf sie herab. Sie waren sehr arm, aber sie hatten wenigstens einander. Sie hatten etwas, was
ihnen niemand nehmen konnte. Binney arbeitete schon über ein Jahr in der Fabrik. Es schien unmöglich, dass sie schon fünfzehn Jahre alt wäre.
Die Gäste und die Mannsleute setzten sich alle an den Tisch, und die Frauen bedienten sie. Roger spürte bald die Atmosphäre gegenseitiger Anhänglichkeit, die hier herrschte. Diese jungen Menschen hatten einander wirklich gern. Hier in den Bergen hatte Blutsverwandtschaft noch Bedeutung. Man sah es an dem Verhalten der jungen Leute zu ihren Eltern und zueinander, man sah es an Binney und ihrem Vater. Fer entspannte sich in dieser Atmosphäre der Wärme und Gutherzigkeit.
Als sie mit dem Essen fertig waren, brachte einer der Burschen eine Geige heraus. Sie begannen, geistliche Lieder zu singen. Sie sangen niemals Schlager, nur ihre eigenen Balladen und Hymnen der Berge. Als Hoskins und Roger wegfuhren, hatte Käte Trent ihren Stuhl dicht an Fer herangezogen. Ihr tiefes Lachen schien ein Teil der Wärme zu sein, die in diesem kleinen Fachwerkhaus herrschte. Als sie den Berg hinunterfuhren, hörten sie es noch, wie es sich mit dem Gesang vermischte.

 

IV. KAPITEL

Früh am Morgen traf die Miliz ein. Eine Kompanie uniformierter Burschen marschierte vom Bahnhof zum ,Streikbrecherhotel'. Dort schwärmten sie im kleinen Speisesaal aus und frühstückten. Meist waren es hochgewachsene Burschen mit ausgeprägten Zügen.
Diese Burschen waren auch aus den Bergen. Sie waren mit den Burschen und Mädchen verwandt, die sie bewachen sollten. In den Streiks, die Roger bisher im
Norden gesehen hatte, waren niemals Truppen eingesetzt worden. Im Norden nehmen die Leute die Streiks mit viel mehr Ruhe hin. Hier, wo es bisher so gut wie keine Arbeitskämpfe gegeben hatte, hatte jeder das Gefühl, das Ende der Welt müsse nahe sein.
Roger sah zu, wie die Miliz stramm die Straße entlangrückte, mit ihren jungen Offizieren, von denen der eine von sich sehr eingenommen war. Er stolzierte umher, eine Tränengasbombe auffällig am Koppel befestigt. Vor der Fabrik der Basil-Schenk-A.-G. schlugen sie ein Lager auf. Auf dem Dach brachten sie Maschinengewehre in Stellung. Es waren nur zwei Kompanien, aber doch schien alles voll von Uniformen.
Die Reporter unterhielten sich mit den jungen Leuten. Diese wussten nicht, wozu sie hergekommen waren. Sie hatten von einem gefährlichen jungen Mann gehört, der Fer hieß und der die Leute aufhetzte und zu Tumulten anstiftete. Roger dachte an den armen gehetzten Fer da hinten bei Trents, der sich nichts Besseres wünschte, als ein paar Tage dort bleiben und die Bäume ansehen zu dürfen.
Mutter Gilfillin und die alte Frau Whenck kamen an die Soldaten heran, während die Journalisten dort herumstanden.
„Junge", sagte Mutter Gilfillin, „was denkt ihr denn, was ihr hier machen sollt? Gegen mich wollt ihr die Fabrik schützen, Junge?"
Die Soldaten traten verlegen von einem Fuß auf den andern und einer von ihnen sagte: „Nee, Mutter, das glaube ich nun nicht, dass wir da etwas gegen euch beschützen sollen."
„Aber wir zwei sind Streikende, mein Junge, und wenn ihr da etwas schützt, dann schützt ihr es gegen
uns. Sieh zu, dass du kein Bajonett in so 'ne alte Dame piekst."
„Aber nein, Madamchen", sagte der Bursche, „da brauchen Sie keine Bange zu haben."
„Artiger Junge", sagte Frau Gilfillin, „ich denke, ihr wisst ja überhaupt nicht, warum wir streiken, nicht wahr?"
„Viel habe ich nicht davon gehört", sagte der Soldat.
Dann warf ein anderer ein: „Man hat uns bloß gestern Nacht gesagt, dass wir hierher müssen. Dass hier Tumulte sein sollen oder so was."
„Tumulte? Quatsch!" sagte Frau Gilfillin. „Wir haben einen Umzug gemacht, und dann haben ein paar Spitzel Klamotten geschmissen, und dann war ein kleiner Rummel, und wie der Sheriff gekommen ist, hat man Pfui geschrieen. Euch braucht man hier nicht, hier gibt es nur so 'ne guten, ruhigen Menschen wie ich."
Die Soldaten lachten betroffen. Ein paar Mädels kamen feixend die Straße entlang. Die Truppen sahen verlegen drein. Auf alte Damen und Mädchen waren sie nicht gefasst. Sie hatten Straßenmob und Tumulte erwartet. Alte Frauen, die mit ihren nussbutterfarbigen Gesichtern genau so aussahen wie die Frauen in ihren eigenen Gebirgsdörfern, riefen den Soldaten zu:
„So, nun seid man artige Jungs und seid vorsichtig mit euren Bajonetten."
Roger hatte in zu kurzer Zeit zuviel Eindrücke empfangen und war müde. Vom eigenartigen, nervenreizenden Gefühl der Furcht. Vom Versuch, den besonderen Geruch dieser Menschen, ihre von anderen Menschen abweichende Eigenart sich selbst zu erklären. Vom hartnäckig bohrenden Bewusstsein: in diesen Menschen steckt etwas anderes, etwas sehr Gutes, etwas zugleich Vollkommenes und Beschränktes. Vom Hass
auf die Parkers. Von der Demonstration, die schön, begeisternd und nervenzerrüttend zugleich war.
Dann war noch die Sache mit Fer. Roger sah einen bestimmten Fer und Irma einen ganz anderen. Den Parkers wiederum erschien Fer als der leibhaftige Antichrist und den Arbeitern als Messias. Und er war das eine wie das andere. Dieser überlastete, geplagte Jüngling war wirklich all dies zugleich.
Roger beschloss, sich zu erholen, indem er in der Stadt herumfuhr und sich damit zerstreute, die Dinge anzusehen und die Geschichten zu belauschen, die die Steine und Ziegel ihm erzählten. Die Steine lügen nicht und verraten einem, wenn man sie gewähren lässt, alle Bestrebungen eines Volkes. Sie nennen seine Herren und seine Götter und erzählen von seinen Siegen und Niederlagen. Die Geschichte, die die Steine Roger erzählten, war dies:
Die Altstadt von Stonerton war Kreisstadt gewesen und war es auch jetzt noch. Man konnte noch die Spuren des alten Südendorfs sehen, das schläfrig, aber doch mit einer eigenen, stolzen Würde dalag. Vor Jahren hatten dann die Taliaferros und die Cuthberts hier eine Hausse entfesselt. Um diese Zeit wurde auch der prächtige Boulevard angelegt und die ruhige Brücke gebaut, auf der jetzt der Name Taliaferros, der sie erbaute, in Stein gemeißelt steht.
Dann kam der Aufschwung der Baumwollspinnerei, und die Neustadt Stonerton wuchs aus der Erde. In Slonerton-Altstadt gab es nur eine einzige Werksiedlung, die Basil-Schenk-A.-G., die über tausend Arbeiter beschäftigte. Diese Werksiedlung umgab den Betrieb im Tal und schlängelte sich unregelmäßig den Hügel hinauf und hinunter. Es waren das verwahrloste Holzhäuser, die auf Ziegelstelzen im roten Lehm standen. Der
Bindestrich von Straße, der die Werksiedlung mit der Stadt Stonerton verband, zeigte ein paar erbärmliche, armselige Läden. Die Arbeiter verdienten bei den niedrigen Lohnsätzen so wenig, dass sie mehr Läden nicht gebrauchen konnten. In der Werksiedlung war alles schlapp und entmutigend.
Die zwei Meilen entfernt liegende Stadt Neu-Stonerton war wie von einer andern Welt. Es fehlten ihr das zeitgereifte Amtsgebäude im Kolonialstil und das schöne Flüsschen unter der sanft gewölbten Brücke, aber dafür hatte sie eine surrende, jugendliche Vitalität. Es gab da zwei parallel laufende Geschäftsstraßen, gekreuzt durch zwei andere ebensolche Straßen. Alle waren voll moderner Läden. Vor dreißig Jahren war hier bloß ein Kreuzweg gewesen; jetzt konnte die Stadt sich beinahe rühmen, der Mittelpunkt der Piedmonter Textilindustrie zu sein. Überall standen neue öffentliche Prachtbauten, nach den Plänen tüchtiger Architekten und guten Mustern, meist aus hellen Ziegelsteinen im Kolonialstil erbaut. Die Stadt besaß alles: Krankenhäuser, Schulen und — noch etwas, in einer Stadt des Südens ganz Ungewöhnliches —: ein schönes Bibliotheksgebäude mit Garten.
Würdevoll und angenehm war auch das Villenviertel mit gutgeschnittenen Grundstücken, Rasen, Rosengärten und schattigen Bäumen. Außerhalb der Stadt, wo das hübsche Flüsschen zu einem Schwimmbassin und einem künstlichen Teich geformt worden war, lag der Landklub. Junge Burschen im Flanellanzug, Mädchen in weißen Kleidern flitzten auf den Tennisplätzen hin und her. Das weite Gelände des Landklubs war ein angenehmes Gemisch von ungezähmter Natur und Landschaftsgärtnerei.
Um die Stadt herum lagen die Betriebe. Eine
Spinnerei neben der andern, jede umgeben von ihrer Werksiedlung. Einige der älteren Werksiedlungen zeigten schattige Bäume, Gärten und Pflanzenwuchs. Meist bestanden sie aus hässlichen, gleichförmigen Fachwerkhäusern, die aus rotem Lehm hervorwuchsen. Der ganze Anblick war für einen Nordstaatler ebenso verwunderlich wie etwa Amerika für einen Engländer. Innerhalb eines Menschenalters waren Hunderte von Spinnereien erbaut und Millionen über Millionen investiert worden. Eine ganz neue Lebensordnung war eingezogen. Die aus Glas und Ziegelsteinen erbauten Betriebe waren alle neu und sahen den abstoßenden grauen Ziegelbaracken Fall Rivers, New Bedfords, Passaics oder Pattersons nicht im entferntesten ähnlich. Die Leute, die diesen Wohlstand geschaffen, und die Arbeiter, die diesen Wohlstand ermöglicht hatten, waren alle Amerikaner. Hier gab es keine Ausländer. Zwar war aus dem Norden Kapital zugeströmt, aber die Initiative des Ganzen gehörte dem Süden. Eine Industrie war hier erstanden, ebenso neu und ebenso mächtig wie die Industrie des Westens in den neuen Automobilstädten — und nun boten die Arbeiter diesem Fortschritt mit ihren Forderungen Halt. Wut, Angst und Terror waren die Antwort darauf.

Als Roger zurückkam, fand er Dick Durgan und Hoskins im kleinen Restaurant bei Bisphams im Gespräch mit Fer.
„Hallo! Hören Sie sich das mal an!" rief ihm Dick zu.
„Wissen Sie, wie es hier mit dem Streikpostenstehen gemacht wird?" fragte Fer. „Die Burschen und Mädels fahren in Autos hinaus, manchmal zwanzig, dreißig
Meilen weit, und verstellen die Straßen, die nach Stonerton führen. Man bringt nämlich Streikbrecher aus Gaston und Carrabus und andern Orten."
„Wie viel sind draußen?"
„Über achtzig Prozent", sagte Fer, „ganz bestimmt soviel."
„Die Spinnereien behaupten, sie hätten genug Arbeiter."
„Das sagen sie immer. Das ist ihr ewiges Lied. Was sie damit sagen wollen, ist, dass sie genug Streikbrecher kriegen können —, wenn wir nämlich die Streikbrecher hereinließen. Aber es würde schon eine Weile dauern, bis sie mit Streikbrechern die Produktion in Gang halten könnten."
Er sah erfrischt und jugendlich aus, seine Haut und seine Augen waren klar. Der Schatten des Terrors war für einen Augenblick von ihm gewichen.
Wer ist im Streikposten-Ausschuß?" fragte Hoskins.
„Oh, es sind 'ne ganze Menge Jungens drin. Sie kommen bei den Verbandsversammlungen alle zusammen und machen ihre Pläne. Jetzt kommen viele zusammen."
Ein Rudel junger Männer kam herein. Sie schreien durcheinander. „He, Fer! Fer! Wir wollen mit dir reden!" Hinter ihnen kam eine Menge junger Mädchen. Sie waren alle voll Leben und jugendlicher Initiative. Sie zeigten nicht die geringste Unlust. Es waren alles stramme, junge Leute, erdnahe und ihrer eigenen, unverdorbenen Kraft bewusst.
„Diese Kinder", sagte Hoskins, „sind Individualisten. Dort oben in den Bergen wissen sie beinahe gar nicht, dass sie im Zeitalter der Maschinen leben. Sie glauben, sie haben genug politische Macht, um die Dinge so zu machen, wie sie wollen. Sie haben keine blasse Ahnung
davon, welchen Kräften sie gegenüberstehen, davon, dass hinter den hiesigen Fabrikanten der Textilunternehmerverband steht und hinter dem noch die organisierten Arbeitgeber de3 ganzen Südens."
„Du glaubst also, dass sie keinerlei Aussicht auf Erfolg haben?" fragte Dick Durgan.
„Nee, Jungs", sagte Hoskins, „über Erfolgschancen möchte ich lieber nichts sagen, wenn ich an Rom und die frühen Christen und die Katakomben denke und mir dann überlege, wie es Rom erging. Ich muss dann dran denken, dass letzten Endes das Römische Reich die Oberhand behielt und die christlichen Bildwerke genau so kostspielig wurden wie die Statuen Caesars!"

Roger wurde vor Morgengrauen durch Dan Trent, den Sohn des alten Trent, geweckt, der an seine Türe klopfte, vorsichtig den Kopf durch den Türspalt hereinsteckte und leise sagte:
„Wollen Sie raus zu den Streikposten?"
Er hatte eine angenehme, einschmeichelnde Stimme. Vor dem Hause stand ein alter Ausflugsomnibus, und Roger stieg mit einem ganzen Rudel Streikender mit ein. Der Morgen brach klar und rein über den herrlichen Bergen an. Sie bogen ab, ohne Neu-Stonerton zu passieren. Die Menschenleere ließ die Straßen Alt-Stonertons breit erscheinen. Sie bogen in eine ungepflasterte Landstraße ein, die einen schlängelnden Bach entlang in eine schmale Bergschlucht führte. Sie hörten vor sich die Hupen zweier anderer Wagen und sahen eine Menge junger Streikender draußen an der Streikpostenkette.
„Eine ganze Menge von den Jungens sind die ganze Nacht hier die Berge auf und ab gerast. Es gibt welche, die sagen, wenn sie nächtelang für den Unternehmer
haben arbeiten können, werden sie auch noch für'n Verband die Nacht durcharbeiten können", sagte Dan.
Er war ein großer Bursche mit rostbraunem Haar, braunen Augen, von der warmen rotbraunen Farbe, die allen Trents eigen war und mit einer stattlichen Anzahl Sommersprossen auf seiner dunklen Sonnenbräune.
Die Straße schlängelte sich immer weiter aufwärts. Von Zeit zu Zeit passierten sie ein sauberes Bauernhaus. In der ganzen Gegend hatte der wachsende Wohlstand mit den altmodischen Blockhäusern und den geschwärzten Fachwerkhütten aufgeräumt. Neue Bauernhäuser waren erbaut worden, klein, aber sauber und verputzt.
Bald hörten sie Rufe und Pfui-Geheul, die das Motorgeräusch übertönten. Es war dies ein Lärm, den Roger noch nirgends gehört hatte. Er hatte Nieder-Rufe gehört, und darin steckte Furcht, er hatte Katzengeheul gehört, und im Katzengeheul steckte Bosheit. Aber die Pfui-Rufe Stonertons hatten etwas Lustiges und Höhnisches und Gefährliches zugleich. Es war wie das Bellen von Hunden, und war doch nicht so. Der frische Morgenwind brachte das hohe Kläffen der Mädchen.
„Pfui! Pfui! Pfui!" kam es höhnisch und beharrlich und herausfordernd.
„Das sind sie", sagte Dan.
Sie bogen um eine Ecke und hielten mit einem plötzlichen Ruck an. Sie standen am Ende einer langen Reihe von Autos und Lastwagen.
Mamie Lewes und vier andere Streikende aus Tesner standen auf Streikposten. Sie waren in einem alten Ford gekommen. Woods, der Verbandssekretär von Tesner. hatte vorgeschlagen, dass Tesner als Zeichen der Solidarität der Arbeiter ein Auto mit Streikposten herüberschicke.
Williams hatte gesagt: „Ich möchte, dass du auch mitkommst, Schwester Mamie Lewes. Kannst du von den Kindern loskommen?"
„Ich hab doch immer von ihnen loskommen müssen, wo ich hab arbeiten müssen. Seitdem wir streiken, hab ich mehr mit ihnen sein können als je. Kann ich sie allein lassen wegen der Arbeit, kann ich sie auch allein lassen zum Streikpostenstehen."
Sie war erschrocken und trotzig zugleich. Wenn sie mich anrühren, schlag ich zu, dachte sie bei sich und dann erblickte sie die Streikbrecher und vergaß in ihrer Feindschaft alles andere. Sie stellte sich ihnen entgegen, als ob sie allein sie vom Betrieb fernhalten könnte. Erregung stieg in ihr auf. Sie sah einen jungen Soldaten, der aussah, als wäre er mit ihr blutsverwandt, und schrie ihm zu:
„Ihr solltet für uns kämpfen, nicht gegen uns." Der Soldat wurde rot und seine Verlegenheit machte ihr Mut. „Ihr solltet uns helfen, nicht uns hinderlich sein!" rief sie.
Irgend jemand neben Mamie Lewes begann „Pfui! Pfui! Pfui!" zu rufen, und sie fiel in den Ruf ein, ohne richtig zu wissen, was sie tat.
„Pfui! Pfui! Pfui!" schrie sie mit ihrer hohen, reinen Stimme.
Die Burschen und Mädchen waren ausgestiegen und hatten sich längs der Straße aufgestellt. Ihnen gegenüber standen die Soldaten, schrecklich verlegen, ein wenig aufsässig, ein wenig aggressiv. Ihre Haltung war frech und schuldbewusst zugleich.
Beide gegnerischen Parteien waren jung. Wenig ältere Leute kamen bis zu dieser fernen Streikpostenkette heraus. Sie waren alle nicht nur aus derselben Gegend, sondern auch desselben Blutes. Etwas Heraus-
forderndes, Glitzerndes, Gefährliches lag zwischen ihnen. Hier konnte alles passieren.
Alle schlichen herum wie Hunde, wenn sie im Begriff sind, ein Wild anzuspringen. Alle bewegten sich mit unheimlicher Behutsamkeit. Alte Männer sagten zueinander:
„Wir wollen keinen Krieg, aber wenn es sein muss, wenn sie uns den Krieg bringen, müssen wir eben kämpfen."

Aus beiden Richtungen ertönte Rädergeräusch. Ein Lastauto voller Streikbrecher fuhr um die Biegung der ungepflasterten Straße. Auf dem Kühler saßen Nationalgardisten. Hinterher fuhr ein Auto mit Zeitungsberichterstattern.
Die Streikposten stürzten vor. Das ,Pfui! Pfui! Pfui!' schwoll zu einem richtigen Geheul an, schrille Mädchenstimmen bellten Streikbrecher! Streikbrecher! Streikbrecher!' Der herausfordernde junge Leutnant schrie: „Zurück da, alle!"
Steine flogen durch die Luft.
Ein Mädel stand mitten auf der Straße mit ausgestreckten Armen, ein kleines, lachendes Mädel mit lockigen Haaren. Sie riss einem überraschten Hüter der öffentlichen Ordnung die Pistole aus der Hand und stand damit mitten auf der Straße, eine lächerliche und romantische, kleine Gestalt.
Wieder ertönte Rädergeräusch, und ein zweites Lastauto voller Streikbrecher fuhr heran. Die Arbeiter riefen etwas und traten vor. Die Mädchen waren heiter, die jüngeren benahmen sich, als spielten sie vor einem Kinoapparat.
„Immer gibt es solche Mädels, die sich hervortun wollen, in jedem Streik", brummte Hoskins. „Und sie richten viel Unheil an."
Die Streikposten schoben sich vor. Roger erlebte das weitere Geschehen wie eine Zeitlupenvorführung; beide Parteien erschienen ihm tastend, unsicher.

Das zweite Lastauto versuchte weiterzufahren. Streikende hatten ihm den Weg verstellt. Die Soldaten der Nationalgarde griffen in Erwartung eines Befehls zu ihren Gewehren. Roger hatte den Eindruck einer fürchterlichen Unsicherheit, die zugleich alle Elemente einer Posse wie einer schrecklichen Tragödie in sich hatte. Einen Augenblick schien alles Handeln aufzuhören, jede Aktion schien einen Augenblick stillzustehen wie Wasser, bevor es den Damm überflutet.
Während des Bruchteils einer Sekunde herrschte ein seltsamer Zwiespalt zwischen der Wahrscheinlichkeit dessen, was geschehen könnte, und der Aktion. Die Streikposten und die Streikbrecher beschimpften einander und schreien erregt. Der junge Leutnant, noch immer nervös und herausfordernd, gab einen Befehl. Jemand warf eine Tränengasbombe. Alle bemühten sich, ihre Augen zu schützen. Die Streikposten wichen zurück. Der neben dem Führer des Lastautos sitzende Soldat gab einen Befehl. Das Auto schob sich durch die Menge und zerstreute sie.
Man hörte Schreie. Das Lastauto fuhr davon. Streikende taumelten, die Augen mit den Händen schützend, vorwärts, um ein Mädchen aufzuheben. Ein anderes Mädchen richtete sich mitten auf der Straße von selbst auf, das Gesicht ein einziger Blutklumpen. Ein drittes schrie laut auf.
„Ich bin hin! Ich bin hin! Er ist mir über den Leib gefahren!"
Das kleine, rot gekleidete Mädchen, das mit der Pistole des Polizisten herumgefuchtelt hatte, gab kleine abgerissene Laute von sich. „Oh! Oh! Oh! Sie haben Anni überfahren! Oh! Oh! Oh!"
„He, hilf mir mit dieser da. Diese gottverdammten Bankerte haben das Mädel überfahren!"
„Habt ihr's gehört, wie der Befehl kam ,Gas geben! Räumt sie weg, Jungs!'?"
Jemand sagte: „Alle verhaften. Los!" Die Hilfspolizisten und Schutzleute sprangen vor.
Eine Mädchenstimme, laut: „Kommt nur! Spart ihnen die Mühe, Jungs! Sie verhaften ans."
Einige wischten sich noch die Augen, aber die meisten hatten ihren Mut wieder gefunden. Trotzig und heiter gingen sie auf die Lastautos los. Von der Menge von zweihundert Streikenden wurden so viele wie möglich zusammengetrieben. Fast hundert von ihnen wurden verhaftet oder begaben sich freiwillig in Haft. Sie kletterten selbst auf die Lastautos und sagten: „Ich habe dasselbe getan wie die andern. Wenn ihr die andern verhaftet, verhaftet mich auch."
„Verhaftet uns alle. Wir waren alle zusammen dabei."
Wie der Schatten einer Wolke war das Unheil im Nu vorübergegangen. Die Burschen in Uniform feixten wieder, ein wenig ärgerlich, ein wenig missmutig, aber unendlich erleichtert. Die Streikenden murrten leise.
„Hast du gesehen, wie sie auf uns losfuhren?" „Ja, wie die Hunde haben sie uns überfahren."
Rogers Auto führte den Zug aus dem Engpass der Straße in die Stadt zurück. Hinter ihnen fuhren in den
Lastautos die verhafteten Streikposten. Sie sangen Arbeiterlieder, schreien ,Pfui' und johlten.

Die verhafteten Streikposten sperrte man bis zur Verhandlung in den Gerichtssaal ein. Der lag in der ersten Etage, zu der eine schöne weiße Marmortreppe führte. Man sperrte die Verhafteten hier ein, weil das Gefängnis bereits mit andern verhafteten Streikenden überfüllt war. Der Ziegelbau des Gerichtshofes mit seinen zwei hohen Säulen sah aus wie eine Bühnendekoration. Die Miliz stand, mit Gewehr und Bajonett bewaffnet, am Fuße der Säulen herum. Sie hatte sich über die ganze Länge der Treppenflucht malerisch verteilt. Die streikenden Mädchen steckten die Köpfe aus dem Fenster und sangen:
„Hört, Ihr Streikbrecher, diese Mär,
Von einem grausamen Millionär,
Basil Schenk wird der Millionär genannt,
Mit seinem Geld kauft er das Gesetz im Land,
Doch er kann nicht kaufen unsern Verband!"
Vor dem Gerichtsgebäude standen noch Truppen bereit, andere wieder hatten die Spinnerei umzingelt. Die verhafteten Burschen und Mädchen weigerten sich, ihre Namen zu nennen, oder gaben phantastische Namen an. Einige Berichterstatter schickten Artikel ab: „Streikposten liefern Miliz eine Schlacht!" Hoskins schrieb für seine Presseagenten einen Artikel, der lautete:
„Ungefähr hundert Burschen und Mädchen, alles streikende Textilarbeiter, wurden im Gerichtssaal eingesperrt und warten nun da auf ihre Aburteilung. Sind die Krankenhäuser von Stonerton mit verwundeten Streikbrechern gefüllt? Läuft die Ortspolizei in Verbandmull und Heftpflaster vermummt herum?
Nichts dergleichen. Das einzige Blut, das geflossen ist, war das Blut der Streikenden. Warum also dieser verschwenderische Einsatz bewaffneter Kräfte? Wozu die Maschinengewehre und Posten an den Betrieben? Warum halten die Milizsoldaten das Gerichtsgebäude besetzt, als wären sie die ,Besatzungsarmee'? Na, weil doch die streikenden Arbeiter die ganze Grafschaft mit Streikposten belegen. Sie wünschen eben nicht, dass Streikbrecher aus andern Bezirken hergeführt werden. Sie sperren die Straßen ab, die in die Berge, nach Virginien und Tennessee führen."
Hoskins schrieb seinen Artikel mit großem Genuss. Die jungen Leute und Mädchen schwirrten in Massen in Bisphams Logierhaus aus und ein oder saßen unten und tranken Kaffee. Von weit und breit kamen die Leute zur Gerichtsverhandlung herbei. Der Platz vor dem Denkmal füllte sich wieder mit hochgewachsenen, sanftstimmigen Farmern; diesmal waren mehr alte Frauen mitgekommen; sie wollten bei der Aburteilung der Jungen dabei sein.

Gerichtsverhandlungen und Massengottesdienste unter freiem Himmel sind in den Bergen des Südens die natürlichen Formen der Volksbelustigung. Es bestand ein ungeheurer Kontrast zwischen den braunen Frauen mit ihren langen, grauen Kalikoröcken, manche noch mit altmodischen Schuten auf dem Kopf — und den Mädels der Streikpostenkette mit ihren kess wirbelnden Röcken und Lippenstiften.
„Sie haben vielleicht keine Zeit, sich die Haare zu bürsten, bevor sie auf Streikposten gehen, aber eine jede malt sich ihren Cupidobogen auf, bevor sie hinausgeht", bemerkte Hoskins.
Die Stunde der Gerichtsverhandlung kam heran. Roger stieg die Treppe hinauf und stieß auf sechs Soldaten, die ihn mit gekreuztem Bajonett nach seinem Ziel fragten. Die Verhandlung hatte bereits begonnen. Ty Burdette, der Anwalt der Streikenden, nahm gerade einen Polizisten ins Kreuzverhör. Im Gerichtssaal waren viele Leute, ungeachtet der vielen Fragerei, der sie sich unterwerfen mussten. Eine Reihe Milizsoldaten war an der Schranke aufgestellt, die das Gericht vom Zuhörerraum trennte.
Der junge Leutnant, der wie ein Kinoschauspieler aussah, schlenderte den Gang entlang, gefolgt von seinen riesigen Mannen. Es war der Leutnant mit der kleinen Tränengasbombe am Koppel. Das ganze: die Zuhörer, die Farmer, die Streikenden draußen und drinnen, mutete wie eine Bühnendekoration an. Die hundert Angeklagten waren erregt und von dem Gefühl der eigenen Wichtigkeit erfüllt. Die Szene hier war, genau wie vorher die Demonstration, genau wie die Streikpostenkette, voller Gefahren, aber jetzt in diesem Moment voller Gelächter. Burdette, grauhaarig, hakennasig, der Held von sechzig Mordprozessen, war gerade dabei, Thomas A. Dixon, einen Anwalt, der sich als Hilfspolizist betätigt hatte, anzubohren.
„Haben Sie nicht gewusst, dass sich nach dem Gesetz ein Anwalt nicht als Hilfspolizist betätigen darf?" knurrte Burdette. Dixons Antwort war nicht zu hören; dann erzählte er lauter die Geschichte eines Zusammenstoßes mit einer streikenden Frau.
„Hat diese Frau Sie verletzt, geschlagen oder verwundet?" bellte Burdette mit scharfem Spott.
„Sie hat mich angeflucht und alle Arten von Sohn geschimpft — Sie wissen schon, was für einen Sohn sie mich geschimpft hat!"
„Ich kann es mir vorstellen", sagte Burdette trocken. Der Zuhörerraum erdröhnte vor Lachen. Der Richter, ein Riese mit einem Gesicht blaurot wie eine Pflaume, klopfte mit einer leeren Brauseflasche auf den Tisch.
„Das ist hier kein Rummelplatz, sondern ein Gerichtssaal", erklärte er. Aber das da war einer Komödie weit ähnlicher als einem Gerichtshof. Alle waren allzu typische Gestalten, die langen, hageren Bauern, die Bauernweiber, der Richter mit dem roten Gesicht, der aussah, als ob er gerne einen höbe, der scharfe grauhaarige Anwalt mit seinem feinen pergamentfarbenen Gesicht und seiner schneidigen Art; alle waren sie allzu typisch, als ob sie ihres Typs wegen ausgesucht worden wären. Und doch geschah alles wirklich.
„Welches ist das kleine Mädchen, das Sie nach Ihrer Aussage eingeschüchtert hat?" fragte Burdette. Das kleine kraushaarige Mädchen mit der roten Jacke — genannt Kaktus-Käte — stand lächelnd auf. Wieder gab es schallendes Gelächter und Trampeln.
Der junge Leutnant gab dem Feldwebel einen Befehl, und dieser versuchte, einen Mann aus dem Saal zu entfernen. Der protestierte. Mit einem Schlag war der Gerichtssaal im Tumult.
Ein Stöhnen ging durch den Saal.
Der Richter hämmerte mit seiner Brauseflasche.
Hinten im Saal stand Fer auf. Seine Stimme klang sehr klar und beherrschte den drohenden Tumult.
„Jeder soll sich setzen, es ist alles in Ordnung." Sie setzten sich ruhig hin. Fer stand unter ihnen, die Schultern vornüber; er sah ein wenig schwer aus, als wollte er vorwärtsstoßen; dann ließ er sich wieder auf seinen Sitz zurückfallen.

 

V. KAPITEL

An diesem Abend saßen sie alle in der Oberlichthalle bei Bisphams, um den kalten, gusseisernen Ofen herum und unterhielten sich. Sie versammelten sich lieber hier als in dem schlecht gelüfteten und unbequemen Wohnzimmer. Frau Bispham, dick und anspruchslos, saß mit gefalteten Händen. Irma war sehr erregt. Sie stritt sich mit Hoskins wegen Kaktus-Käte. Irma sagte, sie sei ein aktiver Kämpfer. Hoskins sagte, sie sei eine Komödiantin, die gern im Scheinwerferlicht stünde, er hätte schon Hunderte von derselben Sorte gesehen — die verwickelten sich immer in Unannehmlichkeiten. Doris Pond saß auf der unbequemen Sitzbank und stützte den Kopf mit der Hand, über die eine Haarsträhne vornüber fiel.
„Müde, Doris?" fragte Irma.
„Ueh-hüm", bejahte sie. „Ich glaube, sämtliche Mütter der verhafteten Mädchen sind heute im Streiklokal gewesen, um nach ihren Töchtern zu fragen."
„Das sollte doch die Hilfsaktion fördern", sagte die praktische Irma.
„Etwas müsste sie fördern", sagte Doris.
„Bekommt ihr denn von den Bauern keine Unterstützung?" fragte Hoskins.
„Die Zeiten sind jetzt für die Bauern furchtbar schlecht", sagte Doris. Sie war in sehr schlechter Stimmung, und das ganze Leben mutete sie finster an. In jedem Streik sind alle für die Streikunterstützungsarbeit unmittelbar Verantwortlichen sehr schwer belastet. Diese Last fällt natürlich auch auf die Streikleitung, aber der Streikleiter hat mit den Problemen der Streikführung, mit der Stärkung der moralischen Widerstandskraft und mit den ewigen Versammlungen so viel zu tun, dass die
praktische Unterstützungsarbeit nicht auf ihm liegt. Die Sammlung von Geldmitteln am Ort und die Verwaltung der von der IAH in den Arbeiterorganisationen und bei Sympathisierenden gesammelten Summen bleibt dem Leiter der Unterstützungsaktion und einem Unterstützungskomitee überlassen.
Hier in Stonerton war Doris der verantwortliche Funktionär. Sie war auch sonst jeden Abend ausgepumpt, aber an Tagen wie der heutige ergoss sich eine wahre Sturmflut von Menschen über sie. Ausgehöhlt hockte sie da, während Irma auf der Armlehne ihres Sessels saß und ein wenig überschwänglich wurde. Roger hörte, wie sie sagte:
„Dieser Kampfwille! Diese Kampfbereitschaft!" „Ihr werdet nicht zufrieden sein, bevor ihr nicht bis
auf den letzten Mann im Gefängnis sitzt, was?" sagte
Hoskins.
Irma sagte im beleidigten Ton: „Ich will nicht im Gefängnis sitzen, aber gefasst bin ich drauf."
„Wenn Sie Leute wie diese Kaktus-Käte herumtobe»lassen, werden sich Ihre Erwartungen bestimmt erfüllen", sagte Hoskins. „Wo ist Fer heute?"
„Woher soll ich das wissen?" sagte Irma und wurde rot. Käte Trent hatte hier gewartet, um Fer zu Gesicht zu bekommen, aber Fer war mit den Verhaftungen an diesem Morgen zu beschäftigt gewesen, um irgend etwas anderes zu beachten. Roger schien es, als dachte Irma jetzt daran. Käte Trent war ihm schon aufgefallen, als er mit Irma auf der Straße ging. Sie war eine von jenen erdgebundenen Frauen, die ein Mädchen von Irmas intellektuellen Ansprüchen in helle Wut versetzen, wenn sie als mögliche Rivalinnen auftreten. Irma war nicht in Fer verliebt, aber sie hatte doch genügend Anteil
an ihm, um ein Mädchen von Kätes Art nicht dulden zu wollen.
Die Leute von der Streikleitung, vom Kampfapparat des Streiks, hatten sehr wenig Zeit für Romantik oder auch nur Sexualität; aber an den Rändern trieb sich immer ein Rudel hübscher kleiner Mädchen herum, die sich wegen der Streikführer aufregten und die erregte Stimmung des Streiks dazu ausnützten, die jungen Leute an sich heranzuziehen.
Die ersten Streiktage, die fast mit der Erregung erster Kriegstage ansetzen, mit Gefahr, mit verletzten Mädchen, mit Automobilen, die Menschenmengen durchbrechen, mit Verhaftungen, mit Gerichtsverhandlungen, diese Tage versanden gewöhnlich in einer Ermüdungsdepression. Man saß und starrte sich gegenseitig an. Doris war zu müde, um schlafen zu gehen. Die stämmigen Bisphams schienen an ihre Stühle angewachsen. Die Harris-Burschen und andere junge Leute standen herum. Bruchstücke der Ereignisse des Morgens trieben durch ihre Reden. Bald kamen die Posten herein. Sie klapperten mit ihren Gewehren, luden sie, während die andern nacheinander zu Bett gingen. Roger schlief nicht sofort ein. Er hätte gerne gewusst, wo Fer jetzt sein mochte. Das führte ihn zu Gedanken darüber, wie abwegig es sei, einen Arbeitskampf durch Herbeiführung eines kriegsähnlichen Zustands beilegen zu wollen.

Als Roger durch eine Explosion geweckt wurde, schien es ihm, als hätte er gar nicht geschlafen. Der Krach war so laut, dass er vom Hinterhof zu kommen schien. Er sprang aus dem Bett und dachte: „Man hat uns in die Luft sprengen wollen." Alle erschienen gleichzeitig an ihren Zimmertüren, wie die handelnden
Personen in einer Schlafzimmerposse —, die schwerfälligen Bisphams, die beiden Harris, Irma und Doris, Hoskins und noch einige andere jungen Leute.
„Was war das? Scheint in der Nähe gewesen zu sein!' „Wes, hast du jemand gesehen?" „Nein, hab gar nichts gesehen." „Ich glaub, ich hab ein paar Kerle vor einer Weile vorübergehen gesehen."
„Wo war es, was glaubt ihr?" Keiner zweifelte daran, dass irgendein Arbeiterhaus gesprengt worden sei.
Jeder ehrbare Bürger, der durch die Explosion geweckt worden war, wusste ebenso bestimmt, dass es die Streikenden gewesen waren.
Man saß über eine Stunde und wartete gespannt darauf, dass etwas geschehe. Zweimal kamen Schritte die verlassene Straße entlang. Ein paar Autos fuhren vorüber. Sonst war es still. Dann kam, etwas weiter entfernt, eine zweite Explosion. Wie Granatenfeuer fuhr es durch die Wartenden. Hier zu sitzen und so zu warten war fast noch nervenzerrüttender als eine Beschießung. Sie saßen und starrten einander an.
Dann kam der Feueralarm. Da gab es etwas zu tun. Sie zogen sich an und strömten auf die Straße. Schon sahen sie Flammen auf einem der Hügel hochschlagen. Erregte Gesichter hoben sich von dem Feuerschein ab. Sehr bald stellte sich heraus, dass es die Hühnerställe und Schuppen eines Mannes waren, der mit dem Streik nicht das geringste zu tun hatte. Der Brand war aufreizend und sinnlos.
„Was ist denn mit den Explosionen gewesen?" fragte Roger einige Zeitungsleute, die im Polizeiamt vorgesprochen hatten.
„Sie wissen nicht, wo es war, sie konnten es nicht feststellen. Man hat die alte Wassermühle unten im
Fließ gesprengt. Sie gehört dem Bruder von Trent." Der Brand und die Explosionen hatten etwas verwirrend Zweckloses an sich. Man hatte das Gefühl, dass Unheil im Anzug war, ein indirektes, unheimliches, unberechenbares Unheil.

Roger schlief lange. Er wurde von einem Klopfen an seiner Tür geweckt. Irmas Stimme, dringend, besorgt, weckte ihn vollends. Er schlüpfte in seinen Bademantel und sie kam herein.
„Ziehen Sie sich schnell an, bitte. Fer ist noch nicht nach Hause gekommen. Eine Frau ist verhaftet worden, Lisa Robertson, sie ist lahm. An der Streikpostenkette hat man heute morgen noch zwei Frauen verhaftet. Woods ist fort und Doris ist auf Unterstützungsarbeit unterwegs. "
Während er sich anzog, hörte er sie draußen im Flur auf- und abgehen.
„Woods ist fort?"
„Er ist nach New York gefahren", sagte Irma kurz. „Ich möchte, dass Sie mit mir zu Burdette nach Lafayette mitkommen. Ich konnte ihn telephonisch nicht erreichen."

Burdette hatte sein Anwaltsbüro in einer Nachbarstadt, zwanzig Meilen von Stonerton entfernt. Lafayette ist älter und größer als Stonerton und besteht schon recht lange als Stadt. Hier hatte Burdette sein Hauptquartier. Einer der Streikenden fuhr mit seinem alten Ford Irma und Roger hinüber; sie bezahlten das Benzin. Roger fuhr jetzt zum ersten Mal durch Piedmont. Es war eine aufregende Landschaft. Piedmont ist rot.
Manche Felder waren von zartrosa Farbe, anderswo wieder lag ein purpurner Reif auf der Erde. Sie rollten über eine an beiden Seiten von schönen Bergen eingefasste Hochebene.
Hier war Schönheit, die ausgereicht hätte, um ein europäisches Fürstentum reich zu machen. Die Straße schlängelte sich durch eine enge Schlucht schroff aufwärts. Der Hang war über und über mit Rhododendronbäumen bedeckt. Weißer und rosa Lorbeer streckte sein wunderbares Geäst durch die Wälder und überall blitzten orangefarbene Azaleen. Der Weg war herrlich. Die Häuser an der Straße waren neu, die Höfe sahen nach Wohlstand aus. Wo war der träge, schläfrige Süden geblieben, von dem wir so viel lesen? Vielleicht irgendwo versteckt, in Virginia und Südcarolina. Aber nicht hier in Piedmont. Sie fuhren an langen Reihen gartenumgebener, stattlicher Häuser vorbei. Dieser Stadt war der Reichtum nur so zugeströmt. Hier waren die Häuser noch besser als die guten, gediegenen Häuser Stonertons. Einige waren alt, die meisten verhältnismäßig neu, im Kolonialstil des achtzehnten Jahrhunderts erbaut.
Sie bogen in ein ärmliches Stadtviertel ab, das von staubigen Bäumen beschattet war. Die Höfe waren schäbig und ungepflegt. In einer Stadt Neu-Englands hätte man einen solchen Gegensatz kaum finden können. Die Häuser wären wenigstens gestrichen gewesen, die Höfe sauber, die Zäune instand gehalten.
In diesem vernachlässigten Teil der Stadt machten sie Halt. Eine Frau mit einem angenehmen Gesicht und sauber gestärktem Waschkleid kam an die Tür. Bevor sie noch den Mund auftun konnte, fragte Irma: „Ist Fer hier?"
„Fer schläft, Irma", antwortete sie. „Er ist furchtbar müde."
„Oh, er ist also hier!?"
„Wo sollte er denn sonst sein?"
„Ich wusste nicht... ", sagte Irma. Roger fiel es plötzlich ein, dass sie gedacht haben mag, Fer sei ausgerissen. Sie hatte während der ganzen Fahrt weder selbst ein Wort gesagt, noch Roger zugehört, wenn er zu ihr sprach. In Gedanken versunken hatte sie auf seine zeitweisen Bemerkungen nicht im geringsten reagiert. Dabei war sie sich ihrer Unhöflichkeit ebenso wenig bewusst wie der Anwesenheit Rogers.
Fer kam gähnend heraus. Er sah müde und blass aus.
„Hallo, Irma!" sagte er. „Hallo, Roger! Was ist los?" Er ließ sich schwer und träge auf einen Stuhl fallen.
„Was machst du hier?" fragte Irma. „Warum hast du dich nicht sehen lassen nach den gestrigen Verhaftungen und all dem? Was ist geschehen? Warum hältst du dich so im Hintergrund?"
„Aber Irma, ich musste gestern mit der Streikleitung lange aufbleiben. Es wurde drei Uhr, und dann musste ich noch hierher fahren. Burdette sagte, ich sollte nicht in Stonerton schlafen. Auf keinen Fall. Er sagte, man hätte es auf mich abgesehen."
„Na gut. Woods ist fort", rief ihm Irma zu. Er glotzte sie starr an.
„Woods fort! Wohin?"
„Nach New York. Jawohl! Oder jedenfalls nach dem Norden."
„Fort und hat diese streikreife Lage drüben in Tesner im Stich gelassen! Fort und seine Arbeiter im Stich gelassen!" sagte Fer.
„Ja, das hat er getan. Du weißt, sie haben gedroht, ihn mit Gewalt zu vertreiben. Er sagte, er hätte dir schon gesagt, dass er keine Lust habe, hier für dich den Märtyrer zu spielen, du könntest hier bleiben und zum
Märtyrer werden, wenn du wolltest, er aber nicht. Das hat man davon, wenn man solche Leute nimmt, die nur solange in der Arbeiterbewegung sind, solange es ihnen Vergnügen macht."
„Aber Irma", sagte Fer, „in Tesner ist die Lage doch
streikreif. Es war jetzt gerade soweit."
„Er sagte, er hätte dir gesagt, dass er fortfährt." „Und ich hab ihm gesagt, dass er nicht fort soll." „Ach, du hast ihm gesagt, dass er nicht fort soll",
sagte Irma herausfordernd, „und damit sollte die Sache
erledigt sein, ja?"
„Ich hab ihm gesagt, er soll nicht fort, solange ich keinen andern habe." Er sah Irma mit einer Härte an, die Roger bei ihm noch nicht gesehen hatte. „Großer Gott", sagte er, „ich möchte ihm den Kragen umdrehen."
„Du kannst nur dir selbst die Schuld geben, Fer. Bist du hingefahren und hast du etwas unternommen? Nein. Du wusstest, dass Woods drauf und dran war, davonzugehen. Was hast du gemacht? Bist zu Trents gegangen, Geige zu spielen und dich mit Käte Trent herumzutreiben."
„Halt die Klappe!" sagte Fer kurz. „Du hast kein Recht, herzukommen und so mit mir zu sprechen, Irma, und die Überlegene zu spielen, wie du das immer machst. Du läufst mir bei der Führung dieses Streiks immerfort in die Quere. Auf einmal wirst du plötzlich merken, dass auch du raus bist."
„Dass ich herkommen muss, um dir zu sagen, dass Woods auf und davon ist! Dich aus dem Bett holen, das Streikkomitee und das Unterstützungskomitee heute morgen zusammenhalten — aber von euch Männern zeigt sich keiner im kritischen Augenblick!"
Fer sah sie mit abweisender Verachtung an. „Wir
wissen alle, dass du vollkommen bist, Irma", sagte er. „Kommen Sie, Roger, ich will einen Kaffee herunterstürzen, dann muss ich zu Burdette hinauf."

Sie tranken Kaffee. Fer und Irma sprachen nicht mehr miteinander, außer wenn er ihr eine plötzliche Frage hinwarf und sie ihm ihre Antwort mit einer ebenso beleidigenden Kürze zurückgab. Die Reibung zwischen ihnen war aber doch kein Krieg. Unter der gegenseitigen Gereiztheit lag zwischen ihnen eine tiefere Eintracht. Sie glichen eher Eheleuten, die sich streiten, aber dabei wissen, dass der Stoff, auf den sich ihre Einigkeit gründet, dauerhaft ist — als jungen Leuten, die eine Liebschaft miteinander haben. Es herrschte beständig zwischen ihnen dieser Zug und Druck, der dem Kampf zwischen Mann und Frau um die Übermacht eigen ist.
Burdette erwartete sie in seinem Büro. Sein Gesicht war pergamentähnlicher denn je. Der kühne Haken seiner Nase und seine vorstehenden, prachtvollen weißen Brauen steigerten seine Ähnlichkeit mit einem Adler noch mehr. Er war in seinem Element. Er war eine echte Kämpfernatur. An Fers Stelle hätte er gewiss keine dunklen Augenblicke des Zweifels und der Angst gehabt. Er hatte schon um das Leben von über sechzig Menschen gekämpft und war einer der prominentesten Strafrechtsverteidiger im Bezirk, ja im ganzen Staat. In alten Zeiten war auf ihn oft geschossen worden. Er hatte nie gewusst, was Angst heißt, er kannte nur den Drang, seinem Gegner auf den Leib zu rücken, und er hatte mit seiner feinen, abgerundeten, südlichen Redekunst eine ganze Menge über die Leiden der Arbeiterschaft zu sagen.
„Zu keiner Zeit und in keinem Staat sind die Freiheiten und Rechte des souveränen Volkes derart mit Füßen getreten worden. Zu keiner Zeit und an keinem Ort hat es die mörderische Habsucht weniger Einzelner gewagt, die gerechte Forderung eines Volkes nach Besserung seiner Lebensverhältnisse mit Füßen zu treten. Haben diese Arbeiter etwas mehr Lohn verlangt? Was bekommen sie denn jetzt? Sie bekommen 6 Dollar 90 bis 14 Dollar die Woche, für elf Stunden Arbeit am Tag. Was ist ihr Verbrechen? Warum sind die Gefängnisse überfüllt? Haben die Arbeiter irgend jemanden gewaltsam entführt? Haben sie Häuser in die Luft gesprengt? Haben sie Feuersbrünste entfacht? Haben sie Menschen überfallen oder mit tödlichen Waffen bedroht? Das behauptet auch niemand. Nur ihre verfassungsmäßigen Rechte haben sie ausgeübt und dafür werden militärische Kräfte dieses Landes gesetzwidrig gegen sie eingesetzt. Maschinengewehre, Tränengas, Bajonette, Einschüchterung, Drohungen, Dynamitsprengungen. Terror, der nachts umgeht, und Terror, der bei helllichtem Tag in dreister Weise die Straßen unserer friedlichen Stadt unsicher macht."
Er hätte genau so gut vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten plädieren können. Seine Augen blitzten, und bei aller Rhetorik war er ganz aufrichtig, ein guter Demokrat Jeffersonscher Schule, der an die verfassungsmäßigen Rechte', an solche Dinge wie Freiheit und Demokratie' wirklich glaubte. Es gibt noch immer Menschen, die sich ohne Zynismus zu einem Glauben solcher Art bekennen.
Burdette ließ sich von Irma den Zusammenstoß mit der lahmen Frau schildern.
„Fer", sagte er, „wie wär's, wenn ihr mir eine eidesstattliche Erklärung von der Frau besorgen würdet?"
„Roger", sagte Fer, „hier ist die Gelegenheit, mit den Arbeitern Fühlung zu nehmen, wie Sie es gewünscht haben. Sie könnten diese eidesstattliche Erklärung besorgen, und noch ein paar andere dazu. Sie können sich im Streiklokal aufhalten und die Leute, wenn sie hereinkommen, um ihre Aussagen bitten."
Im Streiklokal war es finster. Der Raum lag immer im Dämmerlicht, weil die Fenster mit Brettern vernagelt waren. Früher einmal war es ein richtiger Laden gewesen, und seine leeren Regale schienen sich jetzt gewissermaßen in höhnischem Symbolismus breit zu machen. Der Laden war immer voll von Menschen, von Frauen mit Säuglingen im Arm, von Kindern, die auf der Erde spielten, von Männern, die sich in Gruppen in den Ecken unterhielten. Die Frauen warteten auf die Verteilung von Lebensmitteln.
„Warten Sie einen Tag lang in einem Streiklokal, da können Sie die ,amerikanische Prosperität' an Ihren Augen vorbeiziehen sehen", sagte Irma. Hier an den Schuhen, an den verschossenen, dürftigen Kleidern konnte man die Lage dieser amerikanischen Arbeiter erst erkennen. Sie besaßen nichts. Kirche und Staat mögen die Lage in der Textilindustrie im Norden und Süden untersuchen, soviel sie wollen —, was der Durchschnittsmensch darüber zu wissen braucht, ist nur, dass Mütter kleiner Kinder Nachtarbeit leisten müssen, um ihren Familien Brot und anderes Lebensnotwendige zu geben.
Hier sah man alte zahnlose Frauen mit zarten, feinen Gesichtszügen. In einer Ecke saß ein apathischer Mensch mit der eigenartigen gelben Gesichtsfarbe, an der man in Kriegszeiten die Kriegsgefangenen erkennt. Er saß da, zum Skelett abgemagert, und starrte mit trottelhaftem Ausdruck vor sich hin.
„Was fehlt ihm?" erkundigte sich Roger bei Doris, die neben ihm stand.
„Pellagra", antwortete sie kurz. „Kommt alles von der Arbeit hier. Liegt an der Ernährungsweise."
„Warum essen sie nicht mehr Kohl und grünes Zeug?" fragte er. „Können sie das nicht kriegen?"
„Erst müssten sie mehr Geld haben, dann könnten sie besser essen. Jetzt reicht es eben nur für Mehl und Grütze und Schweinespeck."
Die Menschenmenge schob ziellos hin und her. Sie hatte das geduldige Aussehen von Menschen, die in einem luftleeren Raum leben und nichts zu tun haben. Die älteren Männer und Frauen waren fast alle hager und dürr.
Nirgends sah man die blühenden Pfingstrosen gleichenden Frauen, die man in jeder Gruppe italienischer, portugiesischer oder ungarischer Arbeiter unvermeidlich findet. Doch gab es hier und da auch Männer und Frauen von auffallender Schönheit. Obwohl sie jetzt ruhiger hin- und hertrieben, war doch in ihnen eine leichte Erregung vorhanden. Selbst an diesem Ort, der einem Bahnhofswartesaal glich, von dem nie Züge abfuhren, gab es einen Schimmer von Hoffnung.

Eine dicke Frau von ungefähr dreißig Jahren hinkte herein. Wegen ihrer Beleibtheit fiel sie auf.
„Hallo, Galgenvogel", rief man ihr zu, „wann bist du herausgekommen? Wieso hat man dich verhaftet?" Das war also Lisa Robertson. „Wieso haben sie dich verhaftet?"
„Na, ich stand da drüben beim Fabrikkontor und schaute zu, wie sich das Militär aufstellt, gestern war
das. So ein Wachsoldat, der kommt ran und sagt zu mir: ,Machen Sie, dass Sie fortkommen, auf die andere Seite.'
Ich sag zu ihm: ,Sie brauchen mir nicht so frech zu kommen.'
,Machen Sie verdammt schnell, dass Sie auf die andere Seite kommen', sagte er.
,Sie haben nicht zu fluchen und nicht so frech zu sein.' Er flucht aber wieder, sagt mir, ich soll mich zum Teufel scheren, wenn ich nicht verhaftet werden will. Na, ich geh weiter, über den Damm. Aber das war ihm nicht schnell genug. Wie ich noch so einen Meter vom Bürgersteig bin, kommt so ein Bub in Uniform, und fängt der nicht auch wieder zu fluchen an.
,Gott verdamm dich', sagt er zu mir. ,Schau, dass du weiterkommst. Am liebsten tät ich dich verhaften. Kriechst hier so langsam weiter, bloß um einen zu
ärgern.'
Ich sag zu ihm: ,Fällt mir nicht ein, schneller zu gehen. Ich könnt ja gar nicht schneller gehen, du Dussel', sag ich zu ihm. ,Siehst du nicht, dass ich ein Krüppel bin?'
Seitdem ich fünf Jahre alt war, bin ich ein Krüppel. Ihr wisst ja alle, ich bin, als ich fünf Jahre alt war, gefallen und hab mir eine Hüfte verrenkt, und ich kann nicht schneller gehen. Daher kommt's, dass ich so dick bin, weil ich nicht herumgehen kann, wie andere Leute.
Na, der Kerl hebt nur sein Gewehr und Bajonett quer über die Brust, packt zu und gibt mir einen Stoß. Ich war in Wut, ich erhob meine zwei Arme und komm an ihn heran und geb ihm einen Stoß, und der nimmt sein Gewehr und stößt mich schier über den Bürgersteig, dass ich fast hinfalle, aber ich hab eine solche Wut, dass ich auf ihn losgehe, und dann geb ich ihm einen Stoß, und dann kommt die Polizei gerannt, und der gemeine
Kerl, der Murck, und noch der Zober, die packen mich, jeder an einem Arm, und drehen mir die Arme um, und ich fang an zu schreien.
,Halt die Schnauze', sagen sie, ,du gottverfluchte... .' Und schmeißen mich in das Polizeiauto. Ich meine, sie haben mich gepackt und richtig hingeworfen. Drei oder vier Mann haben zugepackt und mich aufs Auto geschmissen.
Dann, unterwegs zum Gefängnis, haben sie angefangen und mir alle Schimpfworte gesagt, die es nur gibt. Sie haben mich eine große dicke, ihr wisst schon, was, genannt, und ich sage: ,Lasst mich in Ruh', und da drehen sie mir wieder den Arm um, und ich sage: ,Ihr seid keine Männer, ihr gemeines Gesindel!' und der Murck rutscht vor und schlägt mir fünfmal hintereinander ins Gesicht und sagt: ,Gott verdamm dich zur Hölle, wir werden dir deine fetten Arme ausrenken.' Und das haben sie dann auch fast getan."
Die Leute standen im Kreis herum und hörten dieser Erzählung ernst zu. Dieser Streik hatte ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt. Der Sheriff, den sie selbst mitgewählt hatten, wandte sich jetzt gegen sie. Die Polizisten — das ,Gesetz' — drehten anständigen Frauen wie Lisa Robertson den Arm herum und schlugen ihnen ins Gesicht.

Die Fabrikarbeiter des Nordens, fast ausschließlich ausländischer Geburt, haben eine Streiktradition. Sie wissen, was sie zu erwarten haben. Sie wissen von vornherein, dass die Polizei gegen sie ist. Sie können Brutalitäten ertragen, ohne so von Wut erfasst zu werden wie diese Südländer.
Die folgenden Tage waren ruhig. Das Interesse war auf den Gerichtssaal gerichtet, wo Burdette dem Volk ein unentgeltliches Schauspiel bot. Spinnereiarbeiter und Bauern füllten knüppeldick Tag für Tag den Gerichtssaal. Die Miliz war nicht mehr da. Burdette hatte darauf hingewiesen, dass die Polizei bisher immer genügt hätte, die Ordnung im Bezirk aufrecht zu erhalten, und dass die Leute viel eher auf ihren eigenen Sheriff hören würden als auf einen achtzehnjährigen Grünschnabel. Burdette machte die Anklagevertretung lächerlich. Der riesige Richter mit dem roten Gesicht schüttelte sich lautlos vor Lachen, wenn der alte Anwalt mit seinem Sarkasmus lospeitschte, spottete, die Aussagen der Belastungszeugen ins Gegenteil verkehrte.
Inzwischen trat in der Stimmung der Arbeiter ein eigenartiger Umschwung ein. Am ersten Tag, als das Militär kam, waren sie voll Argwohn. Aber als Roger ein, zwei Tage später mit Irma und Fer die Straße entlang ging, sagte Irma schroff:
„Seh einer das mal an!"
Er folgte ihren Augen über die Straße. Da gingen Kaktus-Käte und noch zwei andere Mädchen, jede mit einem Milizsoldaten Arm in Arm. Die uniformierten Burschen waren halb verlegen, halb erfreut...
„Ich sollte meinen, dass du dem ein Ende zu machen hast", sagte Irma.
Fer grinste.
„Sie verbrüdern sich", sagte er. „Auf meine Anweisung hin."
„Auf deine Anweisung?"
„Aber sicher", sagte Fer. „Es sind doch alles dieselben Leute, dasselbe Blut. Warum sollten sie nicht begreifen, worum das alles geht? Sollen sich nur richtig schämen
lernen, dass sie sich zu so einem Dienst missbrauchen lassen."
„Du verwirrst nur die Arbeiter", sagte Irma. „Die Polizei und die Soldaten sind ihre natürlichen Feinde, und sie sollten es lernen, sie als solche zu betrachten." „Das hast du in einem Buch gelesen", sagte Fer. „Du solltest jetzt ein anderes Buch lesen, wo etwas von der Zersetzung des Militärs drin steht."
Sie stritten lange über diese Frage. Irma hatte eine besondere Art, Fer ducken zu wollen, sein Selbstgefühl zu untergraben und ihm sein Vertrauen zu sich selbst zu rauben. Er aber leistete ihr hartnäckig Widerstand. „Irma", sagte er endlich, „du bist ein tüchtiges Mädel, aber auch du weißt nicht alles. Diese Geschichte mit der Verbrüderung muss durchgeführt werden,"

 

VI. KAPITEL

Die Menge umflutete die Rednertribüne. Eine Reihe Männer saß auf der Eisenbahnböschung. Am Rand der Menschenmenge gab es kleine Familien — Mann, Frau und spielende Kinder. Sie saßen auf der Erde. Mutter Gilfillin und die alte Whenck kreuzten durch die Menge und fragten überall:
„Kommt Fer nicht? Habt ihr Fräulein Irma gesehen?"
Sie trugen beide lange graue Kalikokleider, geflickt und abgetragen, aber sauber. Sie hatten keine Zähne, kauten aber energisch und spuckten ebenso. Es war ihnen bisher noch nichts auch nur annähernd so Interessantes im Leben widerfahren.
Ein berauschendes Gefühl strömte durch die Menge,
ein erregtes Vibrieren. Alle waren voll Erwartung. Man unterhielt sich über aufregende Begebenheiten.
„... Der Meister ist zu mir ins Haus gekommen. ,Wann kommst du zurück zur Arbeit?' fragt er —"
„... ,Mach mal ein bisschen schneller oder ich verhafte dich', sagt er zu mir. Und ich ihm: ,Verhaft mich nur. Ist mir ganz egal.'"
„... Habt ihr gehört, dass Mamie Pratt wieder angefangen hat?"
„... Die Leute nebenan, das sind Streikbrecher —"
„... Was glaubt ihr, wo Fer steckt? Ob die ihn wieder entführt haben?"
Dan Marks sagte zu Max Harris:
„Ich denke, wir sollten mit der Versammlung anfangen. Fer wird wohl aufgehalten worden sein." Sie warfen einander einen verständnisvollen Blick zu. Sie waren beide Männer Ende Zwanzig oder Anfangs Dreißig, kräftig, gut gebaut, fähig. Sie zeigten nichts von der Unsicherheit, die Arbeitermassen zuweilen befällt, wenn sie führerlos sind. Diese beiden Männer, die die Arbeiter zuerst organisiert hatten, konnten gut Versammlungen leiten und Streikpostenketten halten.
Dan eröffnete die Versammlung.
„Unser Redner hat sich ein wenig verspätet, Freunde", sagte er, „so dass wir lieber anfangen wollen. Und wir können mit nichts Besserem anfangen, als Bruder Williams uns vorbeten zu lassen."
Bruder Williams hingen lange Haare unter seinem breitkrempigen Hut herab und vermischten sich mit seinem langen grauen Bart. Er schloss fest die Augen, hob das Gesicht zum Himmel, breitete die Arme in der Form eines Kreuzes aus und begann:
„Oh, wie hat dies Volk gelitten, Herr!
Oh, Herr, erhöre sie in ihrem Kampf!
Oh, Herr, oh, erweiche die Herzen der Arbeitgeber! Oh, ich hab sowas noch nie gehört, wie sie diese Leute behandeln!
Oh, ich komme aus den Bergen, wo die Geschöpfe Gottes freie Luft frei atmen dürfen!
Oh, ich hab Frauen und kleine Kinder in den Fabriken arbeiten sehen, und dazu sind sie nicht bestimmt!
Oh, der Herr hat die Kinder Israels aus der Knechtschaft befreit!
Oh, wird Basil Schenks Herz nicht erweicht werden?
Oh, der Herr hat Pharaos Herz erweicht!
Oh, ich alter Mann habe' so etwas wie diese Miliz mit ihren Tränengasbomben und ihren Bajonetten noch nie gesehen!
Oh, sie stolzieren in der ganzen Stadt herum! Oh, sie verhaften Mädchen und Frauen!" Er fuhr mit seinem Singsang fort, staccato, aufpeitschend, bis die Versammlung im Takt seiner Rufe mitschwankte, bis ein leises Seufzen durch die Zuhörerschaft ging. Die alten Frauen standen mit fest geschlossenen Augen. Die jungen Männer und jungen Frauen beobachteten gespannt den Prediger. Das Gebet hatte sie zusammengeschweißt und ihre Rührung, in einem Brennpunkt vereinigt, zu einer Flamme auflodern lassen.

Dan sagte: „Wir können unsere Versammlung weiter abhalten, bis Fer und die andern hier anlangen. Hier haben wir eine Schwester, die Balladen gedichtet hat. Sie hat sie selbst geschrieben. Vielleicht habt ihr sie oben im Unterstützungslokal schon singen hören. Jetzt hab ich Mamie Lewes dazu gebracht, hier vor euch allen laut zu singen, wenn sie auch sagt, dass sie sich schämt."
Mutter Gilfillin rief hinauf:
„Mamie Lewes, brauchst dich gar nicht zu schämen. Wir alle bewundern dich, dass du deine Balladen singst."
Mamie Lewes wurde auf die Tribüne gehoben. Sie hatte wieder ihre erwartungsvolle Miene aufgesetzt, als wünschte sie, dass etwas Angenehmes und Aufregendes passiere. Sie warf den Kopf zurück und sang leicht und ohne Anstrengung. Sie hatte eine natürliche Stimme, unausgebildet, aber sehr angenehm.

„Wir müssen frühmorgens zur Arbeit,
Die Kinder bleiben allein,
Wir schuften an der Maschine,
Die Kinder zuhause schrei'n.

Und wenn wir die Lohntüte holen,
Die Schulden beim Kaufmann bezahlen,
Bleibt kein Cent übrig für Kleidung,
Keinen Cent können wir sparen.

Wie das dem Mutterherz weh tut,
Weiß jede von euch schon allein,
Doch wir können den Kindern nichts kaufen,
Der Lohn ist viel zu klein.

Es ist für unsere Kinder,
Die uns über alles gehen,
Denn was kümmert die Arbeitgeber
Der Kinder Wohlergehen."

Sie hörten mit feuchten Augen zu. Es war ihre eigene Geschichte, in unglaublich einfache Worte gekleidet. Jeder hatte das erlebt. Es war nicht irgendeine Gefühlsduselei, es war die Geschichte eines jeden einzelnen dort, in der Form eines Liedes.

Die Polizei war auch da — das ,Gesetz' war erschienen. Gewöhnlich stand nur ein Polizist irgendwo am Rand der Menschenmenge. Heute waren es mehrere; sie schlichen durch die Masse der Streikenden, und als sie sahen, dass nichts Besonderes vorging, schickten sie sich an, wieder zu gehen.
Mutter Gilfillin kletterte auf die Tribüne. „Ich hab was zu sagen", erklärte sie. „Ich hab die Bullen sich hier herumtreiben gesehen. Wir haben sie nicht gerufen, in unsere Versammlung, mit ihren blutigen Händen, die uns geschlagen und verhaftet haben. Ihre Herzen sind zu hart, um erweicht zu werden, auch wenn sie Bruder Williams beten hören. Und ich will dem Herrn Polizisten Zober sagen, dass der einzige Teil von ihm, den ich gern sehe, sein Hinterteil ist, wenn er nämlich weggeht wie grade jetzt!"
Schallendes Gelächter setzte ein. Alle schüttelten sich vor Lachen. Etwas Lebendiges und Flinkes ging von ihnen aus. Sie hatten ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Macht. Die Menge atmete eine eigene mächtige Lebenskraft. Sie hatte ihre eigene Schönheit, die auch ein wenig gefährlich war. Diese Leute, einzeln so arm und schwach, waren hier stark. Die Augen der jungen Mädchen und jungen Männer blitzten. Sie waren zu allem bereit. Die Gefahr lockte sie an.
Während das Gelächter noch durch die Menge brauste und hallte und der puterrote Polizist sich seinen Weg zur Straße bahnte, kam Fer herangetappst. Zurufe begrüßten ihn von allen Seiten.
„Fer!" schrie man, „Fer! Fer!"
Fer betrat die Rednertribüne. Er fühlte das ganze Gewicht ihres Glaubens an ihn und fühlte sich selbst klein und unzulänglich.

Eine große, starke junge Frau, die Tochter Mutter Gilfillins, trat an Mamie Lewes heran.
„Du singst wirklich schön, Mamie Lewes", sagte sie.
„Du willst mich verkohlen?"
„Nein, ich verkohl dich nicht. Es ist wirklich wahr. Du wohnst ein ganzes Ende ab von hier?"
„Ja, ein ziemliches Ende."
„Mutter sagt, du sollst zu uns herüberkommen und ausruhen und einen Happen essen." Die junge Frau war größer und stärker als Mamie Lewes und sah älter aus. „Hat dich dein Mann auch verlassen, Mamie Lewes?" fragte sie.
„So, eigentlich hat er mich nicht verlassen. Er ist nur auf Arbeitssuche gegangen und dann nicht wiedergekommen. Ich hab’s nicht gedacht, dass er mich verlässt."
„Ja, so machen sie's. Mein Mann und ich — na, ich dachte schon, dass er mich sitzen lassen will. Er sagt zu mir: ,Daisy, du, bring das Kind hinüber zur Mutter, bis ich Arbeit finde und sieh zu, dass du in der Nurenschen Fabrik Arbeit bekommst, und ich werde mich nach einem guten Platz umsehen.' Dann hab ich nichts mehr von ihm gehört."
„Ja, mit meinem Willi wars genau so."
„Ich glaub, sie haben gar nicht immer die Absicht, uns zu verlassen. Es gibt viele in der Werksiedlung, da gehen die Männer weg und kommen dann nicht wieder." „Sie verlieren halt die Courage. Mein Mann hat die Nase vollgekriegt, als die Kinder an der Diphtherie gestorben sind."
„Na, man kann ihnen das gar nicht verdenken. Ist wahrscheinlich schön, wenn man seinen Lohn ganz allein verbrauchen kann. Joe West hat vierzehn Dollar und vierzig Cent die Woche verdient, manchmal auch acht-
zehn, und wenn ich dann auch Arbeit hatte, ging es uns eine Weile recht gut, aber so'n Glück dauert nie lang."
„Nein, so'n Glück dauert nie lang bei uns Fabrikarbeitern. Hast du nur ein Kind, Frau West?"
„Es waren vier, drei hab ich verloren. Wie lange arbeitest du in der Fabrik, Mamie Lewes?"
„Ich, erst seit ich verheiratet bin. Ich hab vor elf Jahren geheiratet, bin jetzt neunundzwanzig."
„So? Na, da warst du aber ziemlich alt, wie du angefangen hast. Wieso warst du so alt?"
„Wir haben oben in den Bergen gewohnt, und da ist ein Mann aus der Fabrik gekommen und hat erzählt, wie viel die Leute hier verdienen. Ich und Willi meinten. das Geld wächst hier unten auf den Bäumen, so schön hat er erzählt, und so sind wir, wie wir dann geheiratet haben, hierher gezogen. Aber seither haben wir fast immer nur Pech gehabt. Wie lange arbeitest du schon?" „Oh, ich? Ich hab mit zehn Jahren angefangen. Ich bin jetzt sechsundzwanzig, arbeite schon sechzehn Jahre. Wie ich angefangen hab, gab es 75 Cent die Woche für zwölf Stunden am Tag."
„Gottchen, das war ja sehr jung! Oben bei uns in den Bergen haben wir nicht viel, aber frische Luft ist genug da. Man kann wenigstens atmen. Ich hab furchtbar Heimweh nach den Bergen. Wir haben hinter Asheville gewohnt."
„Warum gehst du denn nicht zurück? Was hält dich hier, wenn du da oben Verwandte hast."
„Oh, Verwandte hab ich schon. Ich hab meine Mutter und meinen Vater, aber wo soll ich das Geld hernehmen, um wegzufahren? Für mich und die vier Kinder kostet das an die achtzehn Dollar." Daisy West schüttelte den Kopf. Sie sahen beide die Unmöglichkeit ein, achtzehn Dollar zu beschaffen.
„Übrigens will ich hier bleiben und mithelfen, dass wir diesen Streik gewinnen. Ich will sehen, wie der Verband wächst, damit unsere Kinder nicht so zu arbeiten brauchen wie wir. Etwas anderes kann ich ja meinen Kindern sowieso nicht geben, keine Schule, keine Kleider, keine Schuhe, aber vielleicht hinterlass ich ihnen einen Verband."
„Jedenfalls wird man sie besser behandeln als mich damals in der Fabrik. Wie die Hunde haben sie uns behandelt dort unten in Südcarolina. Wie oft hat man mich niedergeschlagen, weil ich nicht schnell genug sauber machte. Uns Kinder haben sie gehauen und geprügelt. Oft, sehr oft haben mich die Meister übers Knie gelegt und windelweich gehauen, und keiner hat sich getraut, etwas zu sagen. Sie haben uns Kinder genommen und mit Riemen feste geschlagen. Das macht man jetzt nicht mehr so viel. Sie kriegen auch die Kinder nicht mehr ganz so jung. Wegen der Schule ist das." „Du bist viel herumgekommen, was?" „O Gott, das möcht ich glauben, wir sind umgezogen und umgezogen. Mutter zog viel herum, und ich auch, seitdem ich verheiratet bin. Kann mich gar nicht mehr an alle Betriebe erinnern, wo ich überall gearbeitet hab. Immer wieder woanders. Man hoffte doch, was Besseres zu finden. Aber es war immer dasselbe. Bist du nicht auch herumgekommen?"
„Ja, mein Mann und ich, wir müssen in so an die zehn oder zwölf Betrieben gearbeitet haben, aber acht oder neun waren’s bestimmt." „Sie waren alle gleich, was?"
„Ja, es war immer und überall dasselbe, schimpfende Meister und stinkende Aborte und schlechter Lohn.
Alles so voll Staub, dass man keine Luft kriegt. Immer dasselbe, in all den vielen Betrieben, wo ich gearbeitet hab."

Sie waren beim Haus angelangt, das dicht an der Bergseite stand. Der rote Grund war rundherum festgestampft, aber hinten stand ein Baum und auf der einen Seite ein paar Blumen.
Sie gingen hinein. Das Haus hatte vier Zimmer. Mutter Gilfillin, Flora, ihre Jüngste, Daisy und ihr Kind schliefen in dem einen Zimmer, zwei andere waren vermietet, das eine an ein Ehepaar mit einem Kind; im Vorderzimmer wohnten vier junge Leute, Will Gilfillin, ein Bursche von achtzehn Jahren mit feinen, energischen Gesichtszügen, Dewey Brison und zwei andere, die erst vor kurzem gekommen waren. Die drei jungen Leute nahmen auch ihre Mahlzeiten im Hause ein und zahlten fünf Dollar die Woche für volle Verpflegung, einen Dollar weniger, als sie in einer richtigen Pension hätten zahlen müssen. Das Ehepaar mit Kind beköstigte sich selbst und beabsichtigte, eine eigene Wohnung zu mieten, sobald es die Raten für die Möbel aufbringen konnte. Sie waren sehr jung und sahen aus wie Schüler und Schülerin.
„Alle sind sie in den Verband eingetreten", sagte Mutter Gilfillin. „Jones wollte nicht recht, aber ich hab ihm nicht erlaubt, hier den Streikbrecher zu spielen. Ich sag zu ihm: ,Eintreten oder raus mit dir', so ist er dann eingetreten. Ich denke, er hat Angst gehabt, mein Junge oder Wes würden ihm sonst den Schädel einschlagen."
„Ich wollt, ich könnte in einem so schönen Haue wohnen, wie das hier ist. Ihr habt auch elektrisch Licht, nicht?"
„Ja, Licht haben wir."
„Und Wasser?"
„Nein, Wasser haben wir keins, wir müssen alle raus zur Leitung, um Wasser zu holen. Sie sagen, sie werden das Wasser hereinleiten, aber geschehen ist's noch nicht."
„Das muss aber schön sein, in einem Haus zu wohnen, wo fließendes Wasser ist, man geht nur zum Abwasch und dreht den Hahn auf. Das muss wunderbar sein, und dann eine eigene Küche."

„Wie machst du das, dass dir deine Lieder einfallen, Mamie Lewes?" fragte Mutter Gilfillin.
Mamie Lewes faltete die Hände übers Knie und sah mit ihrem klaren, aufgeweckten Blick drein. Sie wusste selber nicht darüber Bescheid.
„Ich kann’s dir nicht genau sagen. Ich hab bloß das alte Lied so für mich hergesummt und auf einmal merk ich, dass ich die ersten zwei Zeilen laut singe. Ich hab
gesungen:
,Wir müssen frühmorgens zur Arbeit, Die Kinder bleiben allein__'
und das hab ich dann immer wieder gesungen, und dann sind die letzten zwei Zeilen gekommen und ich hab die auch gesungen, und dann bin ich gegangen und hab’s niedergeschrieben. Ich war froh, dass ich schreiben kann."
„Du bist zur Schule gegangen, ja, Mamie Lewes?" „Ja. Wir waren nicht gar so weit von der Schule. Ich bin bis zur fünften Klasse durchgekommen und war noch weiter gegangen, wenn Mutter nicht die Plage mit dem Rücken gehabt hätte."
„Und wie hast du den Rest von dem Lied gemacht, Mamie Lewes? Ist's dir nur so eingefallen?"
„Ja, anscheinend fällst mir nur so ein. Es gibt auch noch andere Lieder, über die ich mir den Kopf zerbreche. Es scheint, als hätt ich die Zeile schon, und dann rutscht sie wieder weg, als wär’s ein lebendiges Ding, das davonlaufen will."
Wes Elliott kam herein.
„Nanu, Mamie Lewes, wie geht’s?" sagte er. „Wie kommst du denn her?"
„Frau West, sie hat mich eingeladen. Ich hab gar nicht gewusst, dass du hier wohnst. Das war er ja, der Wes, der mich für den Verband geworben hat."
„Ja, Wes versteht das Werben für den Verband sehr gut. Kriegt er sie mit guten Worten nicht heran, dann sieht er zu, ob sie mit einer Beule auf dem Kopf nicht zu kriegen sind." Mutter Gilfillin lachte, schrill und unheimlich. Sie saßen da zusammen, seltsam vereint durch ihren Glauben an den Verband. Alle gehörten sie zu dem wandernden Volk der Fabrikarbeiter, die unstet hin und her, auf und ab treiben, von einem Betrieb zum andern. Wie die Gilfillins, wechseln sie jedes Jahr, manchmal auch öfter, ihren Wohnort, wenn ihnen nur irgendeine eben in Betrieb gesetzte neue Fabrik Vergünstigungen bietet, wie etwa die unentgeltliche Überführung der Möbel, das heißt, der paar Kisten, die sie besitzen. Etwas anderes haben sie nicht.
Mutter Gilfillin hatte acht Kinder geboren. Drei lebten noch bei ihr. Eine Tochter war verheiratet und arbeitete in einer Strumpffabrik in Marion. Ein Sohn war verschollen und zwei waren gestorben. Sie besaß vier Doppelbetten, ein paar Stühle, einen Tisch, zwei Kommoden, einige eingerahmte Bilder, eine aus zweiter Hand gekaufte Nähmaschine, mehrere Linoleumteppiche und eine Stehuhr. Dazu einen Kohlenofen.
Die Diele ging mitten durchs Haus hindurch. An jeder
Seite waren zwei Zimmer. Drei dieser Zimmer hatten kleine, seichte Kamine. Wie alle andern Häuser in dieser Werksiedlung und in den meisten andern Werksiedlungen war auch dieses Haus ein Fachwerkbau, durch den der Wind frei durchfegte. Bei Sturm heulte der Wind unter dem Haus und blies durch Fugen und Astlöcher herein. Es gab da auch eine Veranda mit einer Schaukel.
Mutter Gilfillin wusste selbst nicht mehr, wie oft sie ihre Betten und ihre zwei Kommoden, ihren Tisch und ihre Schaukelstühle auf einen Karren geladen hatte und umgezogen war. Jeden Montag und Freitag kamen die Möbelwagen in die Werksiedlung und die Leute traten wieder ihre Pilgerfahrt an. Sie gewahrten kaum etwas von den verschiedenen Städten, in denen sie lebten. Trotzdem hatten die Gilfillins seit vielen Jahren immer in der Nähe irgendeiner ziemlich großen Stadt, wie Greenville oder Spartanburg oder Gastonia oder Stonerton sich niedergelassen.
Hier gefiel der Pastor Mutter Gilfillin gut, auch war sie gerne an Orten, wo man am Sonnabendnachmittag in die Einheitspreisläden gehen konnte.
Das Fabrikvolk wird nie zu einem Bestandteil der Stadt. Die Fabrikarbeiter bleiben ,Fabrikhände', die für immer getrennt sind von der städtischen Bevölkerung der ,ehrbaren Bürger'. Sie heiraten untereinander und leben und sterben unter sich. Seitdem der Erlass von Schulgesetzen in verschiedenen Staaten des Südens den Schulbesuch der Kinder bis zum vierzehnten Lebensjahr vorschreibt, sind schöne moderne Schulen im ganzen Land entstanden. Die Kinder besuchen die Werkschulen in Erwartung des Tages, da sie selbst in die Fabrik gehen und Geld verdienen dürfen. Das ist ihre natürliche Bestimmung, und sie stellen es nicht in Frage.
Dass dagegen etwas getan werden könnte, kam ihnen erst in den Sinn, als die ,Streckung' einsetzte. Die Löhne wurden gekürzt und die Arbeit gesteigert. Da begannen sich die Arbeiter zu organisieren. Damals wurden sie einander zum ersten Male gewahr. Bis zu dieser Zeit hatte jeder für sich gelebt. Die alten, abgedroschenen Parolen der Solidarität: ,Ein Unrecht des einzelnen ist ein Unrecht für alle', ,die Kraft der Arbeitermassen', die sie jetzt von der Rednertribüne hörten, trafen sie wie eine Offenbarung.
Der Streik war ein gefährliches Abenteuer, neu und aufregend wie ein Krieg. Sie saßen vor Mutter Gilfillins Ofen, während die Grütze gar wurde, und sprachen von der Zeit, die kommen würde, wenn der Streik einmal gewonnen ist.

„Was hast du denn für einen Kratzer am Hals?" fragte Mamie Lewes Elliott.
„Wes hat beim Streikpostenstehen Verdruss gehabt, damals, als das Militär kam."
„Haben viele Leute Verdruss gehabt, wie das Militär gekommen ist?"
„Ja, die Soldaten waren ziemlich wild. Wollten uns damals wohl gleich am ersten Tag einschüchtern." „Was ist denn passiert, Wes?"
„Ich war da am Fabriktor und sah zu, wie sie hineingingen. Sie kamen gelaufen, um die Menge wegzujagen, und die Menge wich zurück. Da sah ich zwei Mädchen, die ich kannte, und ich ging in die Menge hinein, um die Mädels zu schützen, damit ihnen nichts geschieht."
„Ja, ich hab dich in der Menge gesehen, und ich hab gesehen, wie du vorgegangen bist, und dann hab ich gesehen, wie dich die Polizei gepackt und in ein Polizeiauto geladen hat."
„Ja, sie haben mich aufs Auto geworfen und zwei Hilfspolizisten, die haben mich geschlagen, und dann haben sie mich im Gefängnis vorgenommen und mit Schlüsselbunden und Knüppeln geschlagen. Sie haben mich getreten und beschimpft."
„Haben sie dich nicht auch gewürgt?" soufflierte Mutter Gilfillin.
„Ja, sie haben mich gewürgt, bis ich bewusstlos wurde. Ich wusste nichts von mir, als sie mich in meine Zelle brachten."
„Hast du Widerstand geleistet?"
„Na, ich hab mit ihnen ein wenig gerauft, wie sie mich ins Auto schoben. Ich war richtig erstaunt, wie sie mich so packten und dann im Auto angefangen haben, dreinzuhauen. Da konnte man nicht viel machen, sie hatten mich gepackt und mir den Arm umgedreht, ich hab ihnen ein paar Fußtritte versetzt, und wie sie mich dann im Gefängnis hatten, ließen sie's mich spüren. Aber mich bis zur Bewusstlosigkeit zu würgen, hätten sie doch nicht brauchen."

 

VII. KAPITEL

Die ,Verbrüderung' ging weiter. Junge Leute in Uniform gingen, je ein Streikermädel rechts und links am Arm, die Straße entlang und grinsten verlegen. Mutter Gilfillin und die alte Frau Whenck trieben sich immer dort herum, wo drei oder vier Soldaten zusammenkamen.
„Jungs, was habt ihr hier zu suchen? Jungs, denkt ihr nicht, dass wir genug Lohn kriegen sollten, um davon leben zu können?"
„Aber gewiss, Muttchen."
„Was glaubt ihr denn, was ihr tut, wenn ihr mit
euren dicken Bajonetten vor dem Betrieb Wache steht? Wir sind keine schlechten Menschen, wir sind genau so wie ihr auch." Verlegenes Grinsen. Die jungen Soldaten unterhielten sich untereinander.
„Ich will ja meine Pflicht tun, aber ich hab nicht gewusst, dass ich gegen alte Frauen und Kinder Krieg führen soll. Sie haben das Recht zu streiken. Das steht in der Verfassung."
„Aber nicht Tumulte zu machen."
„Wer hat Tumulte gemacht? Und ihren Führer verschleppen, das darf man auch nicht,"
„Wie sie selbst gesprengt und Leute verschleppt haben, da hatte man uns noch nicht eingesetzt."
„Wer hat gesprengt?"
„Die Streikenden haben gesprengt."
„Woher weißt du, dass es die Streikenden waren? Ich weiß genau, dass sie es nicht gewesen sind. Wären sie es gewesen, hätte man die Streikenden verhaftet."
„Ich bin nicht in die Miliz eingetreten, um mit alten Frauen Krieg zu führen. Sie haben das Recht, friedlich Streikposten zu stehen."
So ging es die ganze Zeit.
Gerüchte gingen um, dass etwas geschehen würde. Alle spürten es. Die Luft in der Stadt war schwer, wie die Luft vor einem Sturm. Bei Bisphams gingen viele Leute aus und ein. Der alte Trent saß da und unterhielt sich mit Bispham und Jolas.
„Die führen was im Schilde, scheint es."
„Ja, es scheint, als ob sie irgendeine Gemeinheit vorhätten."
„Wahrscheinlich wieder Dynamitsprengungen." „Man kann nie wissen. Ich bin immer etwas besorgt wegen dem Hinterhof dort. Er ist ziemlich ungeschützt." „Hast du gestern Schießen gehört?"
„Ja, ich hab irgendwo Schüsse gehört. Aber es gehen doch immer Schüsse los. Jede Nacht scheint’s, als ob etwas los wäre."
„Ich hab gehört, dass noch mehr Leute von der Werkpolizei als Hilfspolizisten eingestellt werden."
„Man sagt, das Werk organisiert einen Hunderter-Ausschuss."
„He, Fer, hast du von diesem Hunderter-Ausschuss gehört?"
„Was soll denn das für ein Ding sein?"
„Sieht ganz so aus, als ob es ein Komitee sein sollte, um die Streikführer zu kaschen und den Verband zu zerschlagen."
„Wer ist denn alles drin, Fer?"
„Na, verschiedene Werkmeister und ein paar Spitzel und Lagerschreiber. Ihr wisst ja, was das für Leute sind." Er setzte sich, streckte die Beine aus und lächelte sie freundlich an. Harris kam aus seinem Zimmer und ein halbes Dutzend Streikende war die Treppe heraufgestiegen. „Ihr wisst, ich hatte früher mal einen Freund. Er war im Friseurverband und war sicher, dass der Bolschewismus vom Erdboden verschwinden würde, wenn nur der Friseurverband nach Russland könnte und dort seine Pflicht täte. So ist’s auch mit diesen Leuten hier. Sie glauben, dass der Verband verschwinden wird, wenn sie mich einsperren und alle Führer loswerden können." Schallendes Gelächter. Dann eine Pause. Alle sahen Fer an. Wes Elliott fragte:
„Glaubst du, Fer, dass sie etwas gegen dich vorbereiten? Dass sie etwas vorhaben?"

Junge Leute standen an den Straßenecken und unterhielten sich. Junge Leute, die der Hafer sticht. „Man sollte endlich etwas gegen diesen Verband unternehmen.
Wenn die Polizei und die Miliz nichts tun, sollte es jemand anders machen."
„Sag, warst du je hinter einem Neger her?"
„Nein, das ist nicht so einfach, es gibt nicht viel Neger in Stonerton."
„Das muss aber ein Hauptspaß sein, hinter einem Neger herzujagen."
„Ja, das wär sicher schön."
„Man sagt, dass man diesen Streikführer aus der Stadt jagen wird."
„Man sollte ihn teeren und federn und auf einer Stange reiten lassen."
„Man sollte ihn aus dem Staat jagen. Habt ihr gehört, dass man einen Hunderter-Ausschuss bildet?"
„Was soll denn der Hunderter-Ausschuss?"
„Das ist, um die Leute zu schützen. Um nicht zuzulassen, dass diese Verbandsführer unsere Stadt auf den Kopf stellen und die Leute zu Tumulten aufreizen."

Frau Parker saß in ihrem kühlen, geräumigen Wohnzimmer.
„Ich höre, man bereitet einen Hunderter-Ausschuss vor, um etwas gegen diesen Streikführer zu unternehmen."
„Es ist höchste Zeit", sagte Jean.
„Mein Herz blutet für diese armen irregeführten Menschen. Hast du heute die Zeitung gesehen, Jean?"
„Ja, es war ein schöner Leitartikel."
„Wenn die Bürger ihre Pflicht täten, wie der Artikel vorschlägt, hätte der ganze Spuk bald ein Ende."
„Ich höre, dass ein Berichterstatter vor der Streikpostenkette von einem Polizisten bewusstlos geschlagen wurde. Sie sollten besser aufpassen."
„Oh, meine Liebe, verschwende dein Mitleid nicht für diesen Kerl, man hat gesehen, dass er die Streikführer in seinem Auto nach Lafayette gefahren hat."
„Na, dann ist’s kein Wunder, wenn man ihn verhaftet. Ich glaube, es muss recht bald etwas geschehen."
„Oh, sicher, etwas muss geschehen."
Jeder empfand es, auf dem Werkhügel und in den bequemen Behausungen der ,ehrbaren Bürger', dass etwas geschehen müsse. Jeder, mit Ausnahme einiger ,ehrbarer Bürger', die es vorzogen, den ganzen Streik zu ignorieren. Sie pflegten zu sagen:
„Wir wissen nichts davon, dass Streik ist. Man sagt, dass Tag für Tag Arbeiter in die Betriebe zurückgehen. Der Streik ist praktisch zu Ende."

„Wo gehst du hin, Wes?"
„Ich hab Wachtdienst im Streiklokal, Mutter."
„Nimm dich nur gut in acht."
„Oh, uns passiert schon nichts. Von uns wird man keinen verschleppen wollen."
„Aber jemand könnte unsere Vorräte stehlen wollen, aus reiner Gemeinheit."
„Ja, es gibt schon welche, die so gemein sind, dass sie unsere Vorräte stehlen möchten."
Die sechs Burschen ließen sich im Streiklokal auf Stühlen und Ladenpulten nieder. Drei spielten eine Weile Karten und drei würfelten, aber keiner hatte Geld, und es war darum ziemlich öde.
„Sag, Wes, hast du dein Gewehr mitgebracht?"
„Nein, ich hab’s bei den Jungen drüben im Logierhaus gelassen. Die haben gehört, dass das Logierhaus überfallen werden soll. Glaubt ihr das?"
„Na, etwas werden sie wohl überfallen, wenn so viel
davon geredet wird. Wenn nichts passiert, wird’s nicht an den Zeitungen liegen. Die hetzen aber mächtig."
„Seit wir streiken, bin ich jede Nacht auf Posten gewesen."
„Na, hast du nicht auch im Betrieb jede Nacht gearbeitet?"
Alle legten sich schlafen außer Wes. Sie lösten einander auf Wache ab. Oft döste Wes, wenn er auf Wache saß; blieb gerade nur wach genug, um zu wissen, dass er wach sei. Heute aber war er ganz und gar wach. Seine kleinen Augen glänzten in ihren tiefen Höhlen. Sein blondes Haar umrahmte gerade seinen Kopf. Ein junger Fanatiker. Er wartete und wusste selbst nicht worauf.
Er wartete auf etwas, das aus dem Finstern kommt. Auf etwas Verborgenes, Sprungbereites.
Die andern Burschen schnarchten und lagen schlafend auf Stühlen und Ladenpulten. Wes hörte etwas. Weit entfernt. Etwas kam von hintenher, um den Laden herum. Er sprang auf, ging zur Tür und lauschte. Geräusche, gedämpft.
Sein Gewehr. Er sah sich danach um, es war nicht da. Keiner von ihnen hatte Waffen. Jemand kommt. Leute, viele Leute. Das trübe elektrische Licht warf seltsame Schatten. Wes hatte ein Gefühl, als stünden seine Haare am Hinterkopf zu Berge.
Jetzt wusste er, dass er richtig gehört hatte. Menschen schlichen um den Laden herum.
Er rief laut. Zwölf maskierte Männer brachen ein. Scheinwerfer und Schießeisen richteten sich auf die schlafenden Burschen.
„Raus! Raus von hier!" Die kleine Gruppe von Wächtern wurde über die Straße getrieben. Die Straße brodelte von maskierten Männern. Maskierte Männer
überall. Einige hatten sich Strümpfe über das Gesicht gezogen, mit Löchern darin, für die Augen. Ein Mann hatte eine grüne Maske.
Sie gingen daran, das kleine Gebäude einzureißen. Wütend hackten sie mit Äxten darauf los, rissen die Balken mit Hakeneisen auseinander. Dann begannen sie, das Mehl auf die Straße zu werfen.
Wes machte eine Bewegung. Ein Maskierter richtete sein Gewehr auf ihn. Wes wusste, wer das war. Es war Will Fallon, ein Werkpolizist. Diese Leute waren also der ,Hunderter-Ausschuss' des Werks.

Von maskierten Männern mit Gewehren bewacht, stand die kleine Gruppe der Streikenden auf der Straße. Sie sahen dem phantastischen Treiben zu und unterhielten sich leise:
„Sieh mal, die reißen ja das ganze Haus ein." „Ja, sie zerschlagen alles." „Jetzt sind die Fenster hin." „Sie werfen die Vorräte auf die Straße." „Sie bringen die Säcke mit Maismehl heraus." „Wes, schau! Siehst du, wie die Kerle unter dem Bogenlicht das Mehl herausholen und darauf herumtrampeln."
„Wo die Miliz wohl bleibt?" „Dass die Miliz den Krach nicht hört!" „Schau, Wes, schau! Da kommt Major Furness und welche von der Miliz."
Der Major der Staatsmiliz kam mit einer kleinen Gruppe Soldaten die Straße entlang. Auch Polizei war mit dabei. Der Mann mit der grünen Maske, der der Führer zu sein schien, rief jetzt: „Fünfzig hinten!"
Das war offenbar irgendein verabredetes Zeichen, denn die maskierten Männer liefen hinter das zerstörte Haus auf den leeren Baugrund zu. Einer von den Leuten, die die Streikenden bewacht hatten, lief die Gasse hinab und kam dann ohne Maske wieder zurück. Es war Olsen, auch einer von den Werkpolizisten. Alle Burschen hatten ihn erkannt. Ein Maskierter ging dicht am Major und seiner Miliz vorbei. Die Burschen staunten. Er war knapp an ihnen vorbeigegangen, die Milizsoldaten hätten nur die Hand auszustrecken brauchen, um ihn zu berühren. Und doch hatten sie ihn nicht verhaftet. Die Streikenden standen da und murmelten:
„Hast du das gesehen?" „Nanu, den haben sie nicht verhaftet." Der Major trat an den kleinen Haufen der Streikenden heran.
„Was habt ihr hier zu suchen?" fragte er. Er wandte sich zu den Polizisten. „Verhaftet diese Kerle." „Wir haben ja nichts getan." „Man hat uns überfallen, Herr Major." „Wir haben im Streiklokal geschlafen und es bewacht. Die da sind gekommen und haben es zerstört." „Man los!" sagte der Polizist. „Das könnt ihr morgen dem Richter erzählen."
Vom Lärm angelockte Streikende wurden jetzt die Straße hinuntergetrieben. Vom Lärm geweckte Streikende, die herauskamen, um zu sehen, was der Lärm bedeuten sollte, wurden auf Grund der Annahme verhaftet, dass die Streikenden ihr eigenes Streiklokal zerstört hätten. Irma und Doris wurden verhaftet. Die maskierten Männer waren verschwunden. Kein einziger war verhaftet worden.

 

ZWEITER TEIL

VIII. KAPITEL

Die Fenster des Streiklokals waren schon wieder mit Brettern vernagelt. Der zentrale Unterstützungsausschuss hatte die Trümmer weggeräumt. Die maskierten Banditen hatten alle Literatur, die sie vorfanden, zerrissen —, mit der sinnlosen Zerstörungswut eines unzurechnungsfähigen Kindes hatten sie alles zerhauen, zerhackt, zerbrochen.
Auf der Straße vor dem Streiklokal zeigten weiße Flecken die Stellen an, wo sie die Mehlsäcke in den Dreck ausgeleert, und gelbe Flecken die Stellen, wo sie das Maismehl verstreut hatten. Wie ein elektrischer Schlag fuhr dieser Anblick den Streikenden durch die Glieder.
Maskierte Männer zertrümmern das Streiklokal! Vorarbeiter und Meister ziehen sich Strümpfe übers Gesicht, mit Löchern für die Augen!
Die glauben wohl, man wüsste nicht Bescheid? Na, man weiß schon sehr gut, wer es gewesen war. Die Jungs haben genug unter ihnen erkannt. Das haben sie.
Das Schöffengericht trat sofort zusammen. Dutzende von Leuten wurden vernommen. Die Burschen, die die Werkangestellten erkannt hatten, machten ihre Aussagen. Doch Verhaftungen fanden nicht statt. Die Tage vergingen schleppend, und noch immer wurde niemand
verhaftet.
Die Zeitungen erhoben im ganzen Land großes Geschrei. Der ganze Süden forderte Verhaftungen, weil die
Tatsache, dass eine Schar von über hundert maskierten Männern straflos ein Haus verwüsten und für Frauen und Kinder bereitgestellte Lebensmittelvorräte zerstören konnte, den guten Ruf des Südens schädigte.
Reporter strömten in die Stadt. Stonerton wurde zum allgemeinen Streitobjekt. Die ,Stonerton Times' schrieb verschwommen von ,stadtfremden Elementen' die eigens gekommen wären, um Häuser zu zerstören, und ließ durchblicken, dass wahrscheinlich die Streikenden selbst das Attentat verübt hätten.

Inzwischen schritt die Verbrüderung mit den Truppen fort. Die Streikenden bildeten kleine Gruppen um die Milizsoldaten.
„Wieso habt ihr unsere Jungs verhaftet? Ist doch seltsam, dass ihr keinen von den maskierten Leuten habt fassen können."
„Wir sind nicht dran schuld. Wir können ohne Befehl keinen verhaften. Befehl ist Befehl."
„Ulkige Befehle habt ihr. Wes erzählt hier, dass die Kerle mit den Strümpfen überm Gesicht knapp am Herrn Major vorbeispaziert sind und der kommt ran und verhaftet unsere Jungs und führt sie ins Gefängnis ab."
Bald danach kam man zum Schluss, dass die Miliz nicht länger benötigt würde —, die Lage sei ruhiger geworden. Das war sie auch. Drohbriefe waren seltener geworden, und die Leute hörten auf, Fer auf der Straße zu bedrohen.
Es schien, als hätte diese Demonstration sinnlosen Hasses, diese Gewalttat des Mobs die Gemüter besänftigt. Der Wutausbruch wirkte wie das Aufschneiden eines Geschwürs. Die Gemeinde hatte vor der eigenen
Courage ein wenig Angst bekommen. Die gutsituierten Bürger neigten dazu, die Verantwortung für das Attentat von sich abzuwälzen —, vielleicht waren es wirklich die Streikenden gewesen, wie die Zeitungen durchblicken ließen. Die Zeitungen des Nordens machten viel Aufhebens von der Zerstörung der für Frauen und Kinder bestimmten Lebensmittel und Vorräte. Stonerton wollte die Verantwortung nicht auf sich sitzen lassen.
Jetzt sollten die Soldaten abrücken. Sie wurden angeblich nicht mehr benötigt — aber man munkelte, sie seien unbrauchbar geworden. Fer war dessen sicher — seine Verbrüderungspolitik hatte Erfolg gehabt. Bisher hatten Streikende bei der Miliz noch nie und nirgends Sympathien gefunden.
„Ist ja verständlich —, sind sie denn nicht unser eigenes Blut? Es ist Unsinn, dass man sie einsetzt, um Betriebe gegen Frauen und Kinder zu schützen, die streiken, weil sie nicht zwölf Stunden zwanzig Minuten am Tag arbeiten und dazu eine Lohnkürzung von fünf Prozent sich gefallen lassen wollen."
Die Truppen wurden abkommandiert, aber die Zahl der Zeitpolizisten vermehrt. Auch wurden sie mit Gewehren und Bajonetten bewaffnet. Die Streikenden murrten wegen der Auswahl der Hilfspolizisten.
„Skinflint —, der ist doch eben erst aus dem Zuchthaus entlassen."
„Tom Farris —, jeder weiß doch, dass der sauft und seine Frau prügelt und sich mit Weibern herumtreibt."
„Murck und Zober sind schon schlimm genug, aber diese neuen Hilfspolizisten, das ist doch ganz gemeines Gesindel."

Ein städtischer Erlass gegen ,Aufmärsche' kam heraus. Burdette, der Anwalt, erhob bei Gericht Einspruch gegen die Gültigkeit dieses Verbots. Streikpostenstehen, behauptete er, sei kein ,Aufmarsch'. Die Ortsbehörden dagegen behaupteten, Streikpostenstehen falle unter den Begriff ,Aufmarsch', ließen die Streikposten auseinanderjagen und Streikende verhaften. Die stärkste Streikpostenkette war die vom Nachmittag, beim Schichtwechsel. Die Zufahrtsstraßen wurden nicht mehr mit Streikposten belegt. Streikbrecher wurden nicht mehr in Lastautos herangebracht.
„Wir müssen noch stärkere Streikposten haben als früher, um es diesen Zeitpolizisten zu zeigen", hatten die Funktionäre beschlossen.
Die Miliz rückte am Sonnabend ab. Sonntag waren die Betriebe geschlossen, aber die neuen Zeitpolizisten stolzierten mit ihren langen Bajonetten vor den Toren auf und ab.
Die Streikpostenkette formierte sich nach der Versammlung auf dem Versammlungsplatz.
Zwei kleine Mädels in Overalls stellten sich an die Spitze, hinter ihnen kamen Mutter Gilfillin und die alte Frau Whenck. Die beiden Mädel kauten Gummi, denn sie waren sich ihrer Verantwortung bewusst, und die älteren Frauen kauten Priem.
„Was ist denn mit euch Männern los?" fragte Irma. „Warum lasst ihr die Frauen und Kinder so allein gehen?" Die Männer zögerten ein wenig. Es verletzte ihre Würde, dass den Mädels in Overalls, mit ihren geschminkten Lippen, die Ehre zufallen sollte, den Zug zu führen. Die jungen Organisatoren aus dem Norden hatten das nicht begriffen.
Hier im Süden waren noch immer die Männer die Herrscher. Mochte ein Mann noch so arm sein, er war
doch das Oberhaupt der Familie und wahrte seine Würde. Er sah es nicht gerne, wenn junge Mädels sich des von Natur aus ihm gebührenden Platzes bemächtigten.
Die Funktionäre liefen hin und her, und endlich ordneten sich Männer, Frauen, Burschen, Mädchen zu Reihen und marschierten geschlossen ab.
Irma führte den Zug. Aus taktischen Erwägungen hatte man beschlossen, Fer nicht mitgehen zu lassen, da er sonst zu leicht verhaftet und durch Forderung einer zu hohen Kaution für ein paar Tage aus dem Streikgebiet entfernt werden konnte. Irma ging nicht immer mit den Streikposten mit, aber heute fühlte sie, dass es wegen der neuen Hilfspolizisten erwünscht sei. Sie schritt aus, den Kopf ein wenig hochmütig zurückgeworfen, etwas erregt durch die Gefahr und den Gedanken, dass sie heute eine Verhaftung zu erwarten habe.

Daisy West rief zu Mamie Lewes hinüber.
„Kommst du mit, Mamie Lewes?"
„Aber sicher komm ich."
„Glaubst du, die Polizei wird grob werden?"
„Gemein wie die sind, würde es mich nicht wunder
nehmen."
Der Zug kroch wie eine Schlange vorwärts, wie eine tastende Raupe. Die Funktionäre liefen an den Seiten hin und her, schlossen die Lücken, lösten die Stauungen. Dewey Brison hatte sich an die Spitze des Zuges gestellt.
„Ihr kleinen Mädels geht nur nach hinten", sagte er zu den beiden jungen Führerinnen. „Das ist Männersache. Fräulein Irma, ich wollte, auch Sie gingen nach hinten. Es wäre besser, wenn Sie dafür sorgen würden, dass die Reihen in Ordnung bleiben."
Irma fügte sich vorerst, kam aber bald wieder nach vorne. Alle waren nervös. Sie wussten, was sie von den Soldaten zu erwarten hätten, aber das hier war etwas Neues.
Die lange Streikpostenkette schlängelte sich die Straße entlang und bog um eine Ecke, in der Richtung nach dem Betrieb. Es war dies keine direkte Zugangsstraße, sondern eine Nebenstraße; sie führte an einem kleinen Landvorsprung aus rotem Lehm vorbei, an dessen Hängen Häuser talwärts glitten. Frauen, Kinder, Neugierige hielten den Hügel besetzt, als der Zug vorbeimarschierte. Jemand stimmte das Lied an:
„Hört ihr Streikbrecher nun die Mär
Von einem grausamen Millionär.
Basil Schenk wird er genannt,
Er kauft das Gesetz im ganzen Land..."
Der Gesang, der erst nur als schrilles Piepen einiger kleiner Mädchen begonnen hatte, schwoll an und klang mit fröhlichem Spott: ,Er kauft das Gesetz im ganzen Land', und dann mit dem lauten Ruf aus: ,Doch nicht kann er kaufen unsern Verband!'
Sie waren jetzt am Ende der Straße angelangt. Eine Pfeife schrillte, und ein Überfallauto fuhr heran, dann ein zweites und noch eins. Ein kurzer Befehl ertönte. Plötzlich, ohne Warnung, stürmte die Polizei mit gefälltem Bajonett den Zug der Streikposten. Die Streikenden waren überrumpelt. Bisher hatte man die Züge immer mit dem Knüppel aufgelöst. Noch mehr Polizei kam an. Die Streikenden lösten ihre Reihen und flüchteten.
Roger saß mit einigen anderen Journalisten in einem Auto.
„Bei Gott, das ist ein Tumult", sagte Dick Durgan. „Sieh mal einer an. Sie jagen sie wie die Ratten."
Villa King, eine von den jungen Mädels, fiel hin. Sie wurde verhaftet und im Polizeiauto weggebracht. Viele von den andern wurden noch verhaftet.
Die Streikenden rannten schreiend wild umher. Polizisten schlugen fürchterlich auf Dewey los. Mit dem Gummiknüppel auf den Magen. Etwas Unzurechnungsfähiges, Wahnsinniges war in dieser Polizei.
Der Wagen der Berichterstatter fuhr langsam weiter. Roger wollte aussteigen.
„Machen Sie keine Dummheiten", sagte Hoskins. ,.Sie kämen gleich als nächster dran. Verlieren Sie nicht gleich den Kopf. Seien Sie vernünftig."
„Sehen Sie diese Frau dort", sagte Dick Durgan. „Sie blutet". Eine langhalsige Frau reckte den Kopf hoch und
brüllte.
„Er hat mich gestoßen! Er hat mich gestoßen!"
„Jetzt jagt man sie die Straße runter."
Eine Gruppe von Streikenden lief, von Hilfspolizisten verfolgt, zum Streiklokal und stürmte hinein.
Die Panik ergriff Mamie Lewes. Sie versuchte zu denken: ,Brauchst keine Angst zu haben, die können dir gar nichts tun.' Das Wort der Daisy West ,Sie können mich umbringen, aber fressen können sie mich nicht' fiel ihr immer wieder ein. Dann hörte sie sich selbst lachen und erschrak über das eigene Gelächter.

Frauen und Männer wehrten sich mit Händen und Füßen gegen die Polizisten. Ein Zeitpolizist drehte einem Knaben den Arm um. Der Junge schrie. Eine Welle der Wut überflutete Mamie Lewes. Sie wollte hinspringen und den Jungen dem Polizisten entreißen
—, aber sie vermochte es nicht. Sie war ein gejagtes Wild, sie lief. Sie sah Daisy West zwischen zwei Polizisten, die sie abführten. Die haben sie verhaftet, dachte Mamie Lewes —, wenn sie mich erwischen, verhaften sie auch mich.
Sie lief auf das Streiklokal zu. Ein Haufen Menschen wartete schon im Lokal auf die allabendliche Verteilung von Lebensmitteln. Diese Leute waren gar nicht beim Streikpostenaufmarsch dabei gewesen. Die Verfolgten, darunter Mamie Lewes, rannten ins Lokal, die beiden Polizisten Murck und Zober hinter ihnen her. Sie hatten noch sechs mit Bajonetten bewaffnete Zeitpolizisten bei sich. Sie verfolgten die Streikenden. Mit gefälltem Bajonett jagten sie alle Leute heraus.
Zwei junge Leute, Dan Marks und Wes Elliott, Mitglieder des Unterstützungsausschusses, saßen hinter dem Ladentisch. Wes saß lesend da, er wartete auf die Vorräte, die zur Verteilung kommen sollten. Murck lief auf ihn zu und stieß mit dem Bajonett nach ihm. Wes Elliott war vom Angriff überrascht. Er erwartete nichts dergleichen. Man hatte ihm gesagt, er dürfe einige Tage nicht Streikposten stehen, da er schon zweimal verhaftet worden und der Polizei bekannt war.
Als Murck mit dem Bajonett nach ihm stieß, wich er aus. Das Bajonett blieb in der Wand stecken. Murck zog es heraus und verfolgte Wes. Er stach ihn mit dem Bajonett in die Hüfte, aber Wes sah den Stich kommen und drehte den Schenkel, so dass die Wunde nur unbedeutend wurde. Aber wie er später sagte — ,eine gute Hose war kaputt'.
Draußen bat Dan Murck, er möchte ihn zurückgehen lassen, um seine Bücher zu holen.
„Ich muss die Bücher haben", sagte er. „Ich muss sie holen." Man ließ ihn gewähren.
Wie in einer komischen Kinoszene fanden sich die von der Polizei hinausgejagten Leute, die sich durch Hinterhöfe und Seitengassen verkrümelt hatten, nach und nach wieder im Streiklokal ein. Die Zeitpolizisten trieben sie wieder hinaus. Mamie Lewes lehnte gegen eine Wand. Man hatte sie nicht verhaftet. Man hatte sie nicht erwischt, aber andere Frauen aus der Menge hatten Bajonettverletzungen davongetragen.
Sie weinte vor Wut.
„Wir haben nichts getan", schluchzte sie. „Wir haben ja nichts getan."

Kein Streikender hatte einen Finger gerührt, kein Streikender hatte einen einzigen Stein geworfen, keiner war auch nur mit einem Stock bewaffnet gewesen.
„Ich wollte, sie hätten ihre Gewehre gehabt", dachte sie. „Ich wollte, Irma und Fer hätten sie ihre Gewehre mitbringen lassen." Ihre Knie zitterten. Die Straße wurde leerer —, die Polizei trieb die Leute weiter die Straße hinunter. Mamie Lewes sah die alte Frau Holly die Straße entlanggehen.
„Unerhört!" sagte sie zu Mamie Lewes. „Ich war grad unterwegs, um mein Abendbrot zu holen, und da stürzten sie hinter mir her. Schau her." Ihr Kleid flatterte, an der Seite mit Blut befleckt.
„Sie waren hinter mir her und haben mit dem Bajonett nach mir gestochen, und ich war doch nicht auf Streikposten. Nie bin ich auf Streikposten gewesen", schwatzte sie weiter mit hoher, erschreckter Stimme.
„Vorsehen!" schrie Mamie Lewes. Murck trieb die Leute die Straße entlang. Er war außer sich, in einer sadistischen Ekstase. Er hielt die alte Frau Holly an und
schlug auf sie ein. Mamie Lewes schrie auf. Frau Holly schwieg.
Mamie Lewes sah, wie der Polizist die alte Frau wieder und wieder schlug.
Frau Hollys Gesicht war dunkelrot, ihre Augen geschlossen. Mamie Lewes schrie noch einmal. Sie hörte Murcks Fäuste klatschend auf das Gesicht der alten Frau aufschlagen. Es war wie ein böser Traum, wie etwas, das in den Straßen einer amerikanischen Stadt doch unmöglich wirklich geschehen konnte. Endlich ließ Murck Frau Holly los. Er stieß sie beiseite und lief die Straße entlang, um fliehende Streikende einzuholen.
Mit einem Schlag war die Straße menschenleer. Die Polizeiautos mit den verhafteten Streikenden ratterten ab. Alle waren von der Straße verschwunden, nur Mamie Lewes stand da und hielt Frau Holly fest, von deren Gesicht das Blut in Strömen floss. Die alte Frau stöhnte, aber sie schlug keinen Lärm. Ein hochgewachsener Mann kam die Straße entlang, — es war Holly. Er war schon zu Hause gewesen. Es war Frau Hollys Sohn, der seine Mutter suchte.
Doris und Irma waren im Gefängnis. Die meisten Funktionäre waren verhaftet. Zehn Personen hatten Bajonettwunden abgekriegt; viel mehr waren grün und blau geschlagen — man hatte sie gejagt, getreten, mit dem Gummiknüppel verprügelt.
„Das Sonderbare dabei ist", sagte Roger, „dass sie anscheinend überhaupt keinen Widerstand geleistet haben."
„Ich hab’s ja gesagt", sagte Hoskins, „die Arbeiter sind unglaublich geduldig."
Die Straßen waren von Menschen gesäubert, nur kleine Gruppen standen vor den Läden und ließen in Worten ihre Wut aus. Die Leute, die in Ost-Stonerton
wohnten, waren kleine Kaufleute, und die wenigen, die hinter dem Eisenbahndamm ihre Häuser hatten, sympathisierten mit den Streikenden.
.,Mit diesen Grünen müsste etwas geschehen."
„Es ist eine Schmach und eine Schande, was diese armen Leute sich alles gefallen lassen müssen. Zwölf Stunden am Tag arbeiten für nichts und wieder nichts, um dann, wenn sie streiken, windelweich geschlagen und verhaftet zu werden."
„Und wie die auf diese Frau eingeschlagen haben — als wär’s eine Sau —, hat nur auf sie losgestochen mit dem langen Mordspieß."
„Das hätt ich nicht gedacht, dass ich das erlebe — weiße Frauen so durch die Straßen zu jagen."
„Ja, und ich bin im Kriege gewesen und dieser alte Drückeberger hat mich mit seinem Bajonett gejagt. Ich wollt, ich hätt mein Gewehr bei mir gehabt."
„Man sollte sie erschießen, diese Bullen!"

 

IX. KAPITEL

Die Handelskammer veranstaltete ein Frühstück zu Ehren der Journalisten, um ihnen die prominenten Männer der Wirtschaft vorzustellen und sie mit den Problemen, denen man gegenüberstand, vertraut zu machen.
Im großen Saal der Handelskammer waren lange Tische gedeckt. Alle Journalisten wurden gebeten, aufzustehen und ihre Zeitungen oder Zeitschriften zu nennen. Es waren ihrer sechzehn, Vertreter von großen New Yorker Tageszeitungen, von Telegraphenagenturen, von kleinen Provinzblättern, von liberalen Wochenschriften und sogar von Magazinen. Hierher gelockt hatte sie erst die Zerstörung des Streiklokals durch den Mob
— dann blieben sie wegen der sensationellen Verhaftungen und Bajonettattacken jenes Tages, den einer der Boulevardjournalisten den ,blutigen Montag' genannt hatte.
Die Art, wie die Presse des Nordens zur Lage Stellung nahm, missfiel dem Süden. Man hatte das Gefühl, dass eine Aufklärung erwünscht sei. Daniel Jameson, ein in der Textilindustrie wohlbekannter Mann, sollte das Wort führen. Die Geschäftsleute stellten sich den Journalisten vor. Alle waren da, sogar einige der großen Unternehmer aus Lafayette.

Nach dem kühlen, unfreundlichen Frühstück stand der berufsmäßige Lobredner der Stadt auf:
„Es ist jetzt nicht an der Zeit", begann er, „an die kleinen Zwischenfälle zu denken, die sich hier ereignet haben und die bloß einen kleinen Kieselstein auf einem großen, weiten, sonnigen Ozean darstellen.
Unsere kleine Stadt, die zur Zeit des Weltkrieges nur elftausend Einwohner zählte, hat im Laufe von zehn Jahren die Zwanzigtausend überschritten. Begehen Sie die Straßen unseres Bezirks, so werden Sie finden, dass wir einhundertzwölf Betriebe haben. Über vierzig Prozent dieser Betriebe sind in den letzten zehn Jahren erbaut worden. In der Umgebung der Städte Lafayette und Stonerton gibt es über fünfzig Betriebe. Überall stehen neue Bauten, die zeigen, dass hier Millionen verdient und verausgabt werden.
Der Krieg hat unserer Industrie einen Anstoß gegeben, den wir, ungeachtet der ungünstigen Verhältnisse der letzten zwei, drei Jahre, nicht haben abflauen lassen. Und sollten wir das jetzt tun? Nein, nicht, solange dieser Ort der Garten der Welt bleibt. Die natürlichen Vorzüge unserer Lage haben in keinem andern Gebiet oder Teil der großen Vereinigten Staaten ihresgleichen.
Was wir also jetzt zu tun haben, ist: der Mendleburg-Kunstseiden-A.-G., die für ihre Niederlassung einen Ort sucht, ein so verlockendes Angebot zu machen, dass wir diesen Betrieb kriegen —, wie wir auch die Bendberg und Glensdorf-A.-G. hätten kriegen sollen, die uns Tennessee weggeschnappt hat. Eine kleine Stadt in Tennessee hat Piedmont geschlagen, das Herz und Zentrum unseres herrlichen Bezirks. Tennessee hat Bendberg gekriegt und Asheville die Enka. Jetzt müssen wir Mendleburg-Kunstseide kriegen.
Ich will den Herren von der Presse hier gleich sagen, dass diese Stadt bald der hervorragendste Mittelpunkt der Textilindustrie sein wird. Mit unsern Kunstseidefabriken haben wir den Anfang gemacht. Wir haben die Stadt, wir haben das Wasser, wir haben die Transportmittel, wir haben die Arbeitshände, und zwar im Überfluss. Man darf sich nicht von unbedeutenden Zwischenfällen blenden lassen, man darf sie nicht überschätzen. Denken Sie immer an die Prosperität." Damit überschüttete er seine Zuhörer mit Tatsachen und Zahlen über Piedmont und Nordcarolina, ganz besonders aber über die unerreichte Prosperität Stonertons, das die andern Textilstädte bald von der Landkarte schieben würde.
Dann erhob sich das Liederquartett und sang alte Schmachtfetzen in fest gefügter Harmonie.

Nun war die Reihe an Mr. Jameson. Er war ein dicker, gutmütiger Mensch, ein nach einem großzügigen Modell gebauter Mann. Er sprach mit der Überzeugungskraft des Biedermannes, der weiß, dass er im Recht ist.
Im Leben war es ihm immer gut ergangen. Er war gütig, rücksichtsvoll, weitherzig, und er hatte die gewinnende Art der Menschen, die diese Welt als einen recht angenehmen Aufenthalt betrachten. Er sagte den Anwesenden die Dinge, die sie gern hören wollten und führte für alles gute Gründe an. Nach einer kurzen Einleitung schnitt er den Gegenstand an, der seinen Zuhörern am meisten am Herzen lag.
„Ich glaube nicht, dass der gewerkschaftliche Zusammenschluss der Baumwollspinnereiarbeiter zu den Maßnahmen gehört, die ein besseres soziales und wirtschaftliches Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu schaffen geeignet sind.
Unsere Gesellschaft wimmelt von Reformern, die ihre Allheilmittel anbieten, ohne eine Diagnose der Übel zu geben, an der unsere Industrie krankt. Eines dieser Allheilmittel ist die gewerkschaftliche Organisierung der Textilarbeiter. Ich bin mir vollständig damit im Klaren, dass sich in den gegenwärtigen ungünstigen und verworrenen Verhältnissen kaum etwas Verderblicheres für Arbeitgeber und Arbeitnehmer denken lässt als der Versuch, durch ausländischen Einfluss und die Einmischung landfremder, verständnisloser Organisationen die Arbeiter unserer Baumwollspinnereien zu organisieren. Kein rechtlich denkender Mensch wird einem Bürger das Recht strittig machen, in eine Gewerkschaft einzutreten.
Das Recht, einer Gewerkschaft beizutreten, steht nicht nur im Einklang mit den verfassungsmäßigen Garantien, sondern ist eines jener heiligen, unveräußerlichen, auf Gerechtigkeit und persönliche Freiheit gegründeten Rechte, die jedem Menschen zustehen, solange sie nicht mit den höheren Interessen der Gesellschaft in Widerspruch geraten. Die Frage aber, wie weit sich die
Rechte der organisierten Arbeit in unserem sozialen und industriellen Gebilde fortentwickeln dürfen, ist eine Streitfrage von sehr ernster Bedeutung, um deretwillen die meisten Meinungsverschiedenheiten und Unruhen der letzten Zeit entbrannt sind."
Der Redner legte Statistiken vor, die zeigten, dass während des letzten Jahrzehnts verschiedene Schlüsselindustrien große Gewinne erzielen konnten, die Baumwolltextilien dagegen in der ganzen Welt mit einer schweren Depression zu kämpfen hatten.
„Was die Ursachen der allgemeinen Unrentabilität der Industrie betrifft", sagte er, „lagen sie in der Hauptsache an der verfehlten Politik vieler Spinnereien, die es unterließen, ihren Betrieb der Nachfrage anzupassen. Betriebe dieser Art verlieren die Tatsache aus den Augen, dass das Kernproblem der Produktion heute die Anpassung an die Nachfrage der Verbraucher ist, während sich in früheren Jahren die Probleme der Produktion um die Notwendigkeit einer gesteigerten und rationelleren Erzeugung drehten. Es ist bedauerlich, dass so viele Unternehmer bei dieser Taktik der absoluten Missachtung der Gesetze von Angebot und Nachfrage verharren.
Die Lohnsätze mögen niedrig sein, aber die Leichtigkeit der Anlernung neuer Arbeitskräfte und die Lohnsätze der Landarbeiter im Süden müssen dabei doch auch in Erwägung gezogen werden. Da die Arbeitskräfte der Textilindustrie hauptsächlich aus den Bauernwirtschaften stammen, müssen wir unbedingt die niedrigen Einkommen berücksichtigen, denen diese Pächterschichten zu entfliehen trachten. Sie überfluten die Spinnereien unter dem Ansporn ihres wirtschaftlichen Egoismus. Die Löhne sind hier höher, die Arbeitszeit kürzer, die Wohnungen besser, die Annehmlichkeiten
des Lebens größer und die allgemeinen Verhältnisse unvergleichlich günstiger als auf den Farmen."
Er zitierte Berichte des Landwirtschaftsministeriums der Vereinigten Staaten, wonach es im Piedmonter Gebiet einhunderttausend weiße Bauernfamilien mit einem durchschnittlichen Bareinkommen von dreihundertsechsunddreißig Dollar im Jahr gäbe.
„Dieselben Familien", sagte er, „zwei Arbeitskräfte pro Familie vorausgesetzt, können in der Industrie gleich bei ihrer Einstellung jährlich eintausend Dollar in bar verdienen und haben Aussicht auf eine Steigerung bis zu zweitausend Dollar und mehr, je nach Geschick und Leistungsfähigkeit. In den Staaten von Maine bis Pennsylvania betragen die Landarbeiterlöhne durchschnittlich drei Dollar fünfundsiebzig für den Tag, in Nord-und Südcarolina, Georgia, Tennessee und Alabama einen Dollar fünfundvierzig.
Die Arbeiterfrage im Süden ist in der Hauptsache ein Problem der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte", fuhr er fort. „Der zweite Teil der Frage, der in den Betrieben zutage tritt, kann erst restlos gelöst werden, wenn auch für die Farmbevölkerung eine Lösung gefunden ist. Verfallen wir nicht in den Fehler, uns mit dem Überbau zu beschäftigen, wenn das Fundament am Zerbröckeln ist.
Die meisten Unternehmer sind für die Abschaffung der Nachtarbeit. Das würde jedoch ein ungeheures soziales und wirtschaftliches Problem auf die Tagesordnung stellen. Wollte man die Nachtarbeit einstellen, würden Tausende auf dem Pflaster liegen.
Eine Erhöhung der Löhne bei sinkenden Gewinnen ist wirtschaftlich ebenso undiskutierbar, wie es physisch unmöglich ist, zwei Gegenpole zusammenzubringen. Die Betriebe zahlen die beim gegenwärtigen Stand der Profite höchstmöglichen Löhne, die noch mit gesunden Geschäftsprinzipien in Einklang zu bringen sind. Der einzige Weg zur allgemeinen Erhöhung des Lohnniveaus ist die Entwicklung der Industrie zur Erzielung höherer
Gewinne."
Ein Gefühl der Zufriedenheit und des Trostes ging durch die Zuhörerschaft bei diesen anheimelnden Worten. Mr. Jameson war so beruhigend! Er hatte allen das gesagt, was sie hören wollten. Die ,Streckung' war eine gute Sache, nur bei der Einführung war man taktlos verfahren. Die Zeiten waren vorbei, da die Arbeitgeber den Arbeitern ihren Willen aufzwingen konnten — auf solche Weise könne man keine Arbeitsgemeinschaft zwischen Arbeitern und Direktion erzielen. Das waren die richtigen Reden für diese Journalisten aus dem Norden. Das war der richtige Kerl —, leutselig und gemäßigt in seinen Äußerungen.
„Na", sagte Hoskins, als sie fortgingen. „Ich hoffe, Sie sind jetzt aufgeklärt, Hewlett. Sie verstehen jetzt: die Tatsache, dass die Bauern nicht genug verdienen, ist der Grund dafür, warum die Spinnereiarbeiter auch nicht genug verdienen sollen. Was ja zu beweisen war."

Als Ergebnis der Veranstaltung der Handelskammer wurde Roger mit einigen andern Journalisten eingeladen, Hastings zu besuchen. Hastings war eine der Musterwerksiedlungen. Jedes Mal, wenn Roger Frau Parker auf der Straße traf, fragte sie ihn:
„Haben Sie Hastings schon besichtigt?"
Jedes Mal, wenn sich die gutsituierten Bürger über die Zustände in den Fabrikstädten unterhielten, schlossen sie immer mit den Worten:
„Aber sehen Sie sich mal Hastings an."
Hastings war die Rechtfertigung des ganzen Systems. Hastings demonstrierte, was eine Werksiedlung alles leisten konnte.
Die Familie Hastings hatte die ganze Industrie aufgebaut. Der ältere Hastings hatte mit einer kleinen Spinnerei den Anfang gemacht. Jetzt war Hastings eine Stadt mit achthundert Familien. Als man durch die kleine Stadt fuhr, lag sie sauber und fröhlich da. Reihen hübscher Häuschen, jedes mit Rasen- und Staudengarten, standen an der Hauptstraße. Es gab eine Kirche, eine Schule, einen Laden. In der Ferne lag ein reizender See. Die Stadt selbst zog sich am Abhang eines Hügels entlang, dem Wasser zu. Berge umringten das Ganze.
Sie hielten vor dem Kontor. Der jüngere Hastings begrüßte sie. Er war ein Mann in den dreißiger Jahren, angenehm und klug. Er hatte nichts von der bei Arbeitgebern alten Schlags so häufigen Auffassung: „Da ist mein Betrieb und ich tue darin, was mir gefällt."
„Es ist natürlich weit davon entfernt, ein ideales System zu sein", sagte Mr. Hastings. „Es hat Unzulänglichkeiten genug an sich. Aber ich weiß nicht, wie die Industrie anders überhaupt hätte zustande kommen können. Als wir die Fabrik bauten, kamen die Arbeiter, um zu arbeiten. Sie mussten untergebracht werden. Die Fabrikbesitzer konnten nicht umhin, ihnen Häuser zu bauen und einen Laden bereitzustellen, auch beim Kirchenbau und sogar bei den Schulen zu helfen. So viel Macht wird natürlich in bestimmten Fällen missbraucht. Es ist mit dem demokratischen Ideal nicht in Einklang zu bringen. Aber können Sie sagen, auf welche andere Art die Industrie unter den gegebenen Umständen entstanden wäre?"
„Was halten Sie von der Gewerkschaftsbewegung?" fragte jemand.
„Die Frage ist bislang noch nicht gestellt worden. Wir hätten nichts dagegen einzuwenden, wenn eine konservative Gewerkschaft die Textilarbeiter organisieren würde. Natürlich würden wir den ,Textilarbeiterverband' hier nicht gerne sehen."
Roger dachte daran, dass — wie er zufällig wusste — auch in diesem besten aller Betriebe schon ein gehöriges Stück Organisationsarbeit geleistet worden war.
„Wir würden uns freuen, wenn der Arbeitstag gekürzt werden könnte. Wir selbst können ihn über eine bestimmte Grenze hinaus ebenso wenig kürzen, wie wir die Löhne nicht über eine bestimmte Grenze hinaus erhöhen können, wenn wir nicht das Geschäft aufgeben wollen. Mit oder ohne Gewerkschaft könnten wir den Arbeitern nur sehr wenig über das schon Vorhandene hinaus geben. Die Firma Hastings hat nie eine Dividende gezahlt. Wir besitzen praktisch alle Aktien selbst und was wir verdienen, stecken wir wieder in die Stadt hinein. Wir haben tausende Dollars für Straßenbauten ausgegeben. Wir unterhalten eine Musterfarm. Wir versuchen nicht, diese Musterwirtschaft rentabel zu machen. Wir verkaufen Milch, Gemüse und alles andere zum Selbstkostenpreis an die Arbeiter. Manchmal auch mit Verlust."
„Ihre Leute leiden nicht an Pellagra, nehme ich an?"
„Nein, ich glaube, diese Krankheit ist in der Stadt so gut wie unbekannt. Hat einer Pellagra, muss er es schon mitgebracht haben." Er erzählte weiter, dass der Betrieb die Pflege der Rasen und Stauden an der Hauptstraße bezahle und Bäume und Sträucher unentgeltlich an die Arbeiter liefere. „Drüben am See haben sie auch einen Golfplatz."
„Spielen viele Arbeiter Golf?"
„An die dreißig. Wir bestreiten die Kosten des Golfplatzes und sorgen für die Instandhaltung."
„Könnte ein Arbeiter hier selbst ein Eigenheim besitzen?"
„Es ist immer eins der hauptsächlichsten Einwände gegen den Betrieb gewesen, dass die Arbeiter nicht selbst Eigentümer ihrer Häuser sein können. Wir hätten ja nichts dagegen, dass die Arbeiter selbst ihre Häuser besitzen, wenn wir dessen sicher wären, dass die Häuser dann Wohnheime blieben. Wir haben als Experiment versucht, außerhalb der Siedlung Parzellen an Arbeiter zu verkaufen, aber diese Parzellen sind sofort mit Gewinn an Leute weiterverkauft worden, die Wurststände mit Glücksspielen als Nebenbetrieb und dergleichen dort errichten wollten. Unser Dorf ist verhältnismäßig wohlhabend, und eine Menge solchen Ungeziefers würde an den Arbeitern schmarotzen, wenn wir es zuließen. Wir wollten auch nicht, dass der Autobus von Gastonia durch die Siedlung fährt, die Ruhe stört und es den jungen Leuten in den Kopf setzt, für nichts und wieder nichts in die Stadt zu fahren. Wenn sie wirklich einen Grund zum Hineinfahren haben, haben sie es bequem genug. Der Autobus kommt nahe genug heran."
Sie gingen durch Farm und Betrieb und fuhren in der hübschen Siedlung herum. Roger konnte sich leicht den Stolz dieser beiden Männer vorstellen, die tatsächlich eine Stadt geschaffen hatten, wo früher ein Nichts gewesen war. Welche Wut würden sie empfinden, wenn sie wüßten, dass der ,Textilarbeiterverband' sich dort, unter ihren glücklichen und zufriedenen' Arbeitern, schon eingenistet hatte.

 

X. KAPITEL

Mamie Lewes stand um fünf Uhr morgens auf. Sie zog einen Unterrock, ein Kleid und ein Paar Strümpfe an, alles aus Baumwolle. Es war etwas Tunke zum Aufwärmen da, und Brot und Grütze. Kaffee und Milch gab es nicht. Sie machte Bohnen mit einem Stück Speck zurecht und setzte sie aufs Feuer als Mittagessen für die Kinder. Sie summte vor sich hin, während sie in der Küche wirtschaftete. Das Kleinste, zweieinhalbjährig, setzte sich im Bett auf und rieb sich die Augen. Es schlief mit Mamie Lewes, die drei andern Kinder schliefen im zweiten Bett. Die beiden Betten nahmen fast den ganzen Raum ein. Rosie, das älteste Mädchen, schlüpfte aus dem Bett und begann sich anzukleiden.
„Rosie", sagte Mamie Lewes, „du gibst auf die Kinder acht und pass auf die Bohnen hier auf. Gieß immer Wasser zu, damit sie nicht anbrennen. Wenn ihr noch Brot haben wollt, müsst ihr es euch backen; Mehl und Fett ist da."
„Kommst du nicht nach Hause, Mutti?" „Ich komm bis Abend nicht nach Hause. Ich bin jetzt im Streikausschuss, Mausi."
„Oh, Mutti, wirklich?" Rosie wusste zwar nicht, was ein Streikausschuss war, aber es hörte sich so großartig an.
„Ja, und im Unterstützungsausschuss bin ich auch".
prahlte Mamie Lewes.
„Bist du wirklich?"
Die beiden kleinen Jungen wachten auf, kletterten aus dem Bett und schlüpften nicht ohne Mühe in Hemd und Hose. Mamie Lewes zog das Kleinste an, machte die Betten, wusch das Geschirr ab und fegte das Zimmer aus.
Die Streikleitung sollte sich um neun Uhr versammeln. Wenngleich die Sitzung gewöhnlich erst um halb zehn oder gar zehn richtig in Gang kam, aber der Weg dorthin war acht Kilometer lang. Vielleicht würde sie unterwegs ein Wagen mitnehmen, vielleicht auch nicht. Rechnen konnte man darauf nicht.
Sie machte sich auf den Weg zur Landstraße, die sich glatt und grau gegen Stonerton schlängelte. Kleine Wölkchen roten Staubes stiegen bei jedem Schritt von der Erde auf. Die Hütte von Mamie Lewes stand an einen Feldweg. Blutrot glühende, kahle Felder lagen an beiden Seiten. Ein Feld trug grünen Weizen — schreiendes Grün und blutiges Rot. Ein Berg ragte steil vor Mamie Lewes, dunkles Grünblau hob sich von dem blassen Morgenhimmel ab. Die Sonne strahlte herab. Die Welt roch nach Staub und nach wachsendem Grün. Mamie Lewes war voller Erwartung. Etwas Aufregendes würde passieren. So ein Gang zur Streikausschusssitzung war genau so, als ob man zu einem Vergnügen ginge. Jede Abteilung im Betrieb wählte einen Delegierten zu ihrer Vertretung in den Streikausschuss. Der Streikausschuss kam täglich zusammen, besprach alle Fragen des Streiks und fasste Beschlüsse. Betrieb Nummer Zwei in Tesner hatte die Arbeit niedergelegt. Von den Betrieben Tesners wurden fünf Leute nach Stonerton delegiert. Der Betrieb war klein, beschäftigte nur 300 Arbeiter. Davon hatten zweihundert die Arbeit niedergelegt; daraufhin wurde der Betrieb stillgelegt, so dass es jetzt in dieser Sache nicht viel zu tun gab, man musste nur den Mut der Streikenden nicht sinken lassen. Irma fuhr fast jeden Tag nach Tesner hinüber. Auf freiem Feld hielten sie dort Versammlungen ab.

Der Streikausschuss bestand aus ungefähr vierzig Mitgliedern. Sie waren meist junge Leute, nur wenig ältere Frauen und Männer waren dabei. Mutter Gilfillin war mit im Streikausschuss, ebenso Käte Trent und Victor Jolas.
Mamie Lewes sah sich um. In der Streikleitung saßen viele Leute, die sie kannte, obwohl es meist Stonertoner waren. Da war Dewey Brison, der vor langer Zeit einmal mit ihr im selben Betrieb gearbeitet hatte, nur dass er Weber war. Sie selbst hatte nie Zeit gehabt, das Weben zu erlernen oder überhaupt irgend etwas, das besser bezahlt wurde. Man musste zu lange lernen, und ,weil doch immer noch und noch Kinder unterwegs waren, hat sie gar keine Zeit zum Lernen gehabt'.
Da waren Wes Elliotts und Dan Marks, stark und leistungsfähig sahen sie aus, wie sie da hinten im Zimmer standen.
Fer kam nicht. Irma klopfte um Ruhe.
„Genosse Deane ist aufgehalten worden. Wir müssen also heute morgen unsere Sitzung ohne ihn abhalten. Wir werden die Gegenstände in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit vornehmen. Auf der Tagesordnung stehen: Streikbrecher, Hausagitation, Unterstützungsangelegenheiten, Funktionärberichte über Streikpostenstehen, Berichte der Vertreter der Ortsgruppen", zählte sie die verschiedenen Momente der Tätigkeit des Streikausschusses auf.
„Genossin Gilfillin wird über Streikbrecher sprechen."
Mutter Gilfillin stand auf, ihre dünne, gerade Nase bebte, das dunkelbraune zerfurchte Gesicht schien hundertjährig, aber sie sprühte Leben.
„Schwestern und Brüder", begann sie mit der Geläufigkeit eines geübten Vorbeters. „Leute schleichen in den Betrieb zurück, von denen man es nie erwartet
hätte. Ich hab bei Mary Ann im Fenster heut früh Licht gesehen, und da bin ich raus und hab aufgepasst. Kommt da nicht der Mary Ann ihre Tochter Nancy, um vom jungen Joe ganz zu schweigen, und tippelt schön stille aus dem Haus und geht hintenrum nach dem Betrieb hinunter. Und dann kommt Mary Ann am Abend zur Verbandsversammlung und ruft ,Hoch' und schreit, was das Zeug hält, und holt sich vom Streiklokal ihre Lebensmittel."
„Was ist da nach deiner Ansicht zu tun?" „Da gibt’s nur eins zu tun", rief Mutter Gilfillin, „holt ein paar Jungs und Mädels und verhaut Nancy und Joe, haut sie so, dass sie in keinen Betrieb mehr gehen."
„Ich möchte einen Bericht darüber haben, wie viele Leute im Betrieb noch arbeiten."
Dan Marks sagte: „Einer, den ich kenne, der arbeitet drin, und der hat nachgezählt; es werden wohl an die hundert Leutchen sein; in der Spinnerei sind so wenig da, dass man den Betrieb kaum weiterführen kann." Er gab diesen Bericht, an die Wand gelehnt, den Kopf zurückgeworfen, die Arme gekreuzt. Sein Kopf mit dem lockigen, hellbraunen Haar saß ausgeglichen auf seinem starken Hals •—, ein stolzer, ruhiger Mann. „Das Schlimme dabei ist, dass wir keine richtigen Angaben darüber haben, wie viel Leute wirklich im Betrieb drin sind. Wir haben nicht in jeder Abteilung Verbindungen. Mein Gewährsmann ist in der Spinnerei, aber er darf in die andern Abteilungen nicht hinein, der Meister passt gut auf. Ich glaube, wir sollten einen Ausschuss bilden und verlässliche Leute in den Betrieb hineinschicken." „Ich bitte um Anträge", sagte Irma. Jemand stellte den Antrag. Es wurde abgestimmt. Den Streikenden machte diese formale Beratungsweise Vergnügen —, sie gab ihrer Versammlung Gewicht und
Würde. Es war wie eine gesetzgebende Versammlung —, sie machten hier die Gesetze und Regeln, nach denen ihr Streik zu führen war.
Irma forderte den Streikpostenausschuss auf, seinen Bericht zu erstatten.
„Also es scheint ziemlich schwer zu sein, jetzt Leute zum Streikpostenstehen zu kriegen, seitdem diese Hilfspolizisten mit ihren Bajonetten aufgetaucht sind. Unsern Leuten geht das gegen den Strich, da draußen Streikposten zu stehen und sich aufspießen zu lassen und sich nicht verteidigen zu dürfen. Wenn sie ihre Gewehre mitnehmen könnten und Waffe gegen Waffe stände, dann wär’s ihnen schon recht." Ein beifälliges Murmeln lief durch das Zimmer.
„Ja, bringen wir unsere Gewehre."
„Und wenn es nur ungeladene sind." Ein leichter Hauch der Erregung blies durch das Zimmer.
Irma stand auf beiden Füßen fest hingewurzelt, ihr Kinn war eigensinnig hochgehoben und ihre Hände hinterm Rücken gefaltet.
„Genossen," sagte sie, „ihr könnt eure Gewehre auf Streikposten nicht mitnehmen. Wie oft müssen wir euch noch sagen, dass es keinen Zweck hat, mit Gewehrkugeln gegen Maschinengewehrkugeln anzugehen? Das ist ebenso dumm, wie mit Steinen gegen Kugeln anzugehen."
Ein Stimmengewirr unterbrach sie.
„Wenn die andern Gewehre haben, warum nicht auch wir? Sollen wir zusehen, wie besoffene Polizisten unsere Frauen herum jagen, und keinen Finger rühren?"
„Wenn wir uns einmal wehren, werden sie uns schon in Ruhe lassen. Sie wissen nicht, Irma, was für gemeine Kerle diese Polizisten sind. Wenn die uns Streikende einmal bewaffnet sehen... "
Irma klopft energisch um Ruhe.
„Es hat keinen Zweck, darüber zu reden. Es wäre einfach Selbstmord, Gewehre zum Streikpostenstehen mitzunehmen. Ihr könnt das nicht tun. In der Geschichte der Streiks hat es keinen einzigen Fall gegeben, wo man es nicht den Streikenden in die Schuhe geschoben hätte, wenn irgend jemand erschossen wurde."
„Na gut, Fräulein Irma," rief eine Stimme vom Ende der Halle, „aber das nimmt uns jede Lust, wenn wir alle diese Stinktiere und Iltisse mit ihren Gewehren und Bajonetten sehen und wir nur herumgehen sollen und sie bitten, sie möchten uns doch ihre langen niederträchtigen Bajonette in den Hintern stechen. Das ist ganz schlimm, sich so Bajonetten entgegenstellen zu müssen. Seitdem sie die Streikbrecher nicht mehr auf der Landstraße herbringen, sondern mit der Eisenbahn, ist das Streikpostenstehen eine schlimme Sache."
Irma klopfte ungeduldig.
„Der nächste Punkt der Tagesordnung ist der Bericht aus Tesner," sagte sie; „Genossin Mamie Lewes, gib bitte diesen Bericht."

Als Roger das Streiklokal erreichte, stand dort die übliche müßige Menge herum. Männer, Frauen und Kinder kauten fleißig und spuckten lange Strahlen von Tabaksaft aus. Alle kauten und priemten.
„Der Unterstützungsausschuss hat jetzt Sitzung —, werden wohl bald fertig sein."
Ein breitschultriger Bursche, Bunny Wright mit Namen, der infolge eines Betriebsunfalls ein wenig lahmte, kam atemlos angehinkt.
„Wo ist Fräulein Doris? Habt ihr Fräulein Doris gesehen? Drüben an der Schlucht exmittieren sie eine Frau!"
„Wen denn?"
„Frau Winstead. Sie hat vier kleine Kinder. Habt ihr Fräulein Doris gesehen?"
„Sie ist in der Sitzung des Unterstützungsausschusses," sagte Roger.
„Also Frau Winstead wird aus der Wohnung hinausgeworfen."
„Ist das nicht eine Gemeinheit, mit so viel kleinen Kindern?" brummten die Männer und spuckten Tabaksaft aus. Bunny drängte sich, der eigenen Wichtigkeit bewusst, bis zur Türe vor —, die Frauen umringten ihn eng.
„Ja, sie exmittieren Frau Winstead."
„Es war das die erste Räumung während des Streiks —, ein großes Ereignis. Zwar hatten einzelne Hauswirte außerhalb der Siedlung mit Räumung gedroht, und auch die Basil-Sehenk-A.-G. hatte Räumungsurteile erwirkt, aber geschehen war bisher noch nichts.
Roger fiel ein Mann von angenehmem Äußeren auf, der in Begleitung eines jungen Mädchens aus einem Auto stieg. Er ging höflich an den Mann heran.
„Suchen Sie jemanden?" fragte er. Er hatte das Gefühl, als trüge er irgendeine Verantwortung in diesem Streik und hätte gegenüber den Besuchern des Streiklokals gewisse Verpflichtungen.
Der Mann, Dr. Kingsley, war Geistlicher einer benachbarten Stadt. Er, seine Frau, die im Auto blieb, und das junge Mädchen, Eleanor Thurston, eine Studentin der Nationalökonomie an der Universität Nordcarolina, waren gekommen, um den Streik unmittelbar aus nächster Nähe zu studieren. Dr. Kingsley stellte sich und das Mädchen vor.
Fer schob sich durch die Menge. ,Wieder kommt er zu spät zur Streik- oder Unterstützungsausschusssitzung'
dachte Roger, ,Irma wird sich ärgern'. Roger machte ihn mit dem Geistlichen bekannt, der die üblichen Fragen stellte.
„Was ist die Ursache des Streiks?"
„Zu niedrige Löhne und zu lange Arbeitszeit. Man hat hier elf Stunden gearbeitet. Der unmittelbare Grund war die ,Streckung'."

Die Tür des Streiklokals ging auf, und der Unterstützungsausschuss kam heraus. Die wartende Menge flutete in den schäbigen Raum hinein. Schließlich konnte man sich hier wenigstens aufhalten, sich treffen. Trotz allem war es für sie doch anregend, hier zu sein. Hier trafen sich die Leute und lernten sich gegenseitig kennen, hier besprachen sie alle Einzelheiten des Streiks, die Lebensmittelrationen, die neuesten Gräueltaten. Hinten in der Halle saßen sie beisammen und sangen geistliche Lieder und die neuen ,Balladen' vom Streik.
Hier wurde Geschichte gemacht, und alle waren darauf stolz. Die langwierige Eintönigkeit der Arbeit im Betrieb war unterbrochen. In letzter Zeit liefen Gerüchte um, dass viele Arbeiter Streikbrucharbeit leisteten. Bei der Sitzung des Unterstützungsausschusses und der Streikleitung war es heute zur Sprache gekommen, dass auch Leute die Streikunterstützung in Anspruch nahmen, deren Angehörige im Betrieb Streikbrecherarbeit leisteten.
Irma unterbrach Fers Gespräch mit Dr. Kingsley, um ihm zu sagen:
„Da müssen wir aufräumen. Man sagt, dass Streikbrecher die Unterstützung in Anspruch nehmen. Wir müssen eine genauere Kontrolle einführen. Wann willst du eine Sitzung machen, Fer, um das zu besprechen?"
Bunny hatte sein Ziel erreicht. Er erzählte Doris in erregtem Ton:
„Sie exmittieren Frau Winstead und die Kinder!"
Doris schob mit einer fassungslosen Geste das Haar aus dem Gesicht zurück.
„Ich komme gleich hinüber."
„Sie will wissen, was sie mit den Möbeln anfangen soll."
Eine andere Streikende stürzte herein.
„Fräulein Doris, wegen dieser kranken Frau, Mitty Jones, ist der Arzt dagewesen und hat gesagt, sie muss gleich gehen und sich operieren lassen."
„Ich dachte, du pflegst Mitty Jones?"
„Jawohl, aber der Doktor hat mich hergeschickt, um zu sagen, dass er nichts ausrichten kann —, sie hat Blinddarmentzündung und muss sofort operiert werden."
Doris ging zum Telefonapparat und rief das nächste Krankenhaus an. Dort wurde die Aufnahme der Patientin, einer Streikenden, verweigert, wenn nicht sofort gezahlt würde. In Stonerton gab es noch drei andere Krankenhäuser, von verschiedenen Kirchengemeinden unterhalten. Aber keines der drei wollte die kranke Frau aufnehmen.
„Es bleibt nichts anderes übrig", sagte Doris zu Fer. „Ich werde einen Krankenwagen nehmen und sie nach Lafayette überführen müssen. Jemand anders wird sich um die Exmission zu kümmern haben. Ich muss die Sache mit Mitty Jones erledigen. Irgendwer wird heute für mich einspringen müssen und die Lebensmittel besorgen." Sie lief wie von Sinnen herum. Ein Streikender nach dem andern kam an sie heran.
„Fräulein Doris, kann ich Medizin für meinen Alten haben?"
„Fräulein Doris, sind die alten Kleider schon da, die uns ein anderer Verband schicken wollte? Mein Junge braucht unbedingt Schuhe, ganz gleich, was für welche."
Sie waren freundlich, aber schonungslos. Roger wusste, dass das den ganzen Tag so ging. Den ganzen Tag dauerte dieser Strom von Kranken, die um Medizin baten. Doris watete durch die wartende Menschenmenge und ihre unaufhörlichen Forderungen.
Bunny Wright wiederholte ununterbrochen:
„Sie exmittieren Frau Winstead drüben an der Schlucht, Fräulein Doris. Sie fragt, was sie mit ihren Möbeln machen soll."
„Oh, wir werden schon einen Platz dafür finden. Sei doch endlich ruhig," sagte Doris. „Roger, gehen Sie hinüber und erledigen Sie die Sache mit Frau Winstead. Fer muss den Streikpostenführer sprechen."
Die Menge zeigte Anzeichen von Unruhe. Keiner schien eigentlich zu wissen, was er tun sollte. Leute drängten sich vor, sie wollten von der Exmission, von der kranken Frau, von den zur Arbeit Zurückgekehrten, von den Streikposten und den Zeitpolizisten mit Bajonetten hören und reden. Ein Gefühl der Auflösung, ein Sinken der moralischen Widerstandskraft war zu spüren. Alle blickten auf Fer. Alle erwarteten Ermutigung von ihm, alle warteten darauf, dass er ihnen die erste edle Begeisterung wieder einflöße.
Als Roger mit den Kingsleys ins Auto stieg, hörte er eine Frau sagen: „... und meine Schwester meint, ich bin rein verrückt, dass ich im Verband bin."
Diese beiden Leute, Eleanor Thurston und Dr. Kingsley, waren die ersten Fremden, die das Streikgebiet besuchten, um sich aus erster Hand über die Lebensbedingungen der Arbeiter zu unterrichten. Dr. Kingsley
selbst war aus dem Norden, aber Eleanor Thurstons Familie lebte in Nord-Carolina, in der Stadt Charlotte.

Sie fuhren hinüber zur ,Schlucht'. Vor dem Hause lag unordentlich aufgehäuft das Zeug, das noch vor kurzem die Einrichtung eines Heims gewesen war. Regale, Matratzen, Betten, Stühle waren aufeinander getürmt; Kleidungsstücke quollen aus Schubfächern, andere Kleidungsstücke waren auf Küchengeräte und Schüsseln obenauf geworfen.
Zwei Kinder mit gelbem Haar und blauen Augen saßen, feierlich dreinschauend, wie Rotkehlchen, oben auf einem Haufen Bettzeug. Eine Frau bewachte das Ganze. Sie war eine breitschultrige Person mit einem frischen Gesicht und weitgestellten blauen Augen, die den Augen der Kinder ähnlich waren. Roger erinnerte sich, dass er sie schon im Streiklokal gesehen, nur nicht als Frau Winstead dem Namen nach gekannt hatte.
„Kommen Sie vom Verband?" begrüßte sie die Ankommenden und fuhr, ohne die Antwort abzuwarten, fort: „Wo soll ich meine Sachen einstellen? Ich muss doch meine Sachen unterstellen. Das ist alles, was ich habe. Ich kann doch meine Sachen nicht verlieren?"
„Man wird die Sachen schon irgendwo unterbringen," sagte Roger, „selbstverständlich wird man sie unterbringen."
„Ich kann meine Sachen nicht verlieren!" schrie sie. „Meinen Küchenherd bin ich schon los! Ich hab neunzehn Dollars für den Küchenherd angezahlt, und dann konnte ich die Raten nicht mehr bezahlen, und man hat mir den Herd weggenommen. Aber ich kann doch die Sachen, die ich bezahlt hab, nicht verlieren. Wie soll ich denn wieder zu Sachen kommen?"
„Man wird die Sachen schon unterstellen," sagte Roger und beschloss, sich selbst darum zu kümmern, dass für Frau Winsteads Einrichtung gut gesorgt werde. Ein älteres Kind mit demselben Flachshaar und denselben blauen Augen kam heran, ein Baby schleppend, das bei einem der Nachbarn geschlafen hatte.
„War es wegen Krankheit, dass Sie die Raten für den Herd nicht mehr bezahlen konnten?" fragte Dr. Kingsley.
„Ja, Herr, mein Mann war krank, und ich musste ihm Medizin kaufen, versteht sich, da konnte ich keine Raten bezahlen. Es ist sehr schwer, die Raten für irgend etwas aufzubringen, wenn man nur zwölf Dollar fünfzig verdient und sechs Mäuler damit stopfen muss, und die Miete auch noch bezahlen. Mein Mann, der hat schon zwei Jahre fast nichts mehr gearbeitet."
„Was fehlt ihm denn?" fragte der Geistliche.
„Pellagra. Dort sitzt er jetzt. Meist sitzt er so da. Sitzt nur und lässt die Hände hängen. Manchmal antwortet er gar nicht und ich denke, er verliert den Verstand, und sein Mund blutet schrecklich."
Sie folgten mit den Augen ihrer Handbewegung zum Mann, der gleichgültig dasaß; die beiden blassen Hände hingen ihm über die Knie herunter, die Augen starrten blöde vor sich hin, das Gesicht war gelblich-aschfarben. Er war ein großer, gut gebauter Mann und musste stark und schön gewesen sein, bevor er an Pellagra erkrankte.
„Heut morgen sind sie gekommen und haben mir nichts weiter gesagt, nur dass ich heraus muss. Der Sheriff und seine Leute waren da, und der Sheriff hat alles angeordnet. Sie haben einfach alles herausgeworfen, haben das Baby aufgeweckt und richtig herübergeschmissen zu mir. Mein Mann, der lag im Bett, und sie haben ihn gezwungen aufzustehen und sich anzuziehen. Jetzt sitzt
er schon die ganze Zeit so da, als ob er gar nicht wüsste, was passiert ist."
„Warum haben Sie nicht in der Werksiedlung gewohnt?" fragte Roger.
„Hier ist’s billiger. In der Werksiedlung verlangen sie fünfzig Cents für das Zimmer, und hier brauch ich für vier Zimmer nur einen Dollar fünfzig zu bezahlen. Meist sind ja die Häuser außerhalb der Werksiedlung teurer, aber einige gibt es doch, die billiger sind. Und dann nehmen sie mich ja in der Werksiedlung gar nicht. Es müssen zwei Paar Arbeitshände in der Familie sein, sonst vermietet die Gesellschaft einem kein Haus." „Zwei Paar Arbeitshände?" fragte Eleanor Thurston.
„Ja, Fräulein, und wir haben in der Familie nur eins, das arbeitet. Das bin ich, und es müssen zwei in der Familie sein, sonst vermietet die Gesellschaft kein Haus. Wenn eine Frau ein Kind bekommt und nachher nicht gleich wieder zur Arbeit zurück kann, wirft man sie einfach aus der Werksiedlung heraus."
„Das tun sie nicht immer", erläuterte Roger, „nicht alle Unternehmungen machen es so, aber sehr viele."
„Kommen Sie herein", lud sie Frau Winstead bitter ein, „kommen Sie nur herein und sehen Sie sich's mal an, wie wir wohnen!" Wie die meisten billigen Häuser im Süden, war auch dieses nicht unterkellert und stand auf den üblichen Ziegelpfeilern. Das Holzwerk war aus billigstem Material, an vielen Stellen hatte das Dach Astlöcher, durch die der Regen nur so hereinströmte. Es regnete herein, wie durch ein Sieb.
„Wenn es regnet, müssen wir unsere Betten herumschieben, damit sie trocken bleiben." Elektrisches Licht war zwar da, aber es war nie eingeschaltet worden.
„Wo sollte ich die fünf Dollar hernehmen für die Vorauszahlung?" fragte sie zornig. Sie war zornig —, zornig wegen des Hauses, wegen ihrer Lebensverhältnisse, wegen der Exmission.

 

XI. KAPITEL

Sie gingen schweigend weiter. Der Zorn der Frau war ansteckend. Alle waren sie zornig. Die Empörung, die bisher in Roger von Zeit zu Zeit aufflammte, wurde zum verzehrenden Feuer. Er konnte verstehen, dass Hoskins vor siebzehn Jahren ,aus dem Häuschen geraten' war und sich seither noch immer nicht beruhigt hatte. Roger fühlte, dass auch er sich nie beruhigen würde.
Eleanor Thurston platzte heraus: „Aber das wissen doch die Leute nicht. Es ist unmöglich, dass sie das alles wissen! Sie würden das nicht zulassen, wenn sie davon wüßten. Ich werde es ihnen sagen. Und wenn es mein Leben lang dauert, ich sag es ihnen. Und Sie auch, Sie können das besser als ich," wandte sie sich an den Geistlichen. „Sie müssen es den Studentinnen an der Universität sagen."
„Ja, ich werde erzählen", antwortete der, „wie die Arbeiter erst überarbeitet und dann unterbezahlt werden. Man zahlt ihnen so wenig, dass sich die Mütter von Familien zu Tode arbeiten müssen. Wenn sie sich dann organisieren wollen, verleumdet und misshandelt man sie. Zuletzt wirft man sie aus ihren Wohnungen heraus. Das ist der Kreislauf, den man schildern muss."
Sie waren beim Haus der Frau Holly angelangt. Ein Besuch bei Frau Holly gehörte zu den Sehenswürdigkeiten des Streiks. Der Geistliche wollte aus erster Hand eine Schilderung der Polizeibrutalitäten hören.
Frau Hollys Haus war dem Haus Frau Winsteads
sehr ähnlich, nur etwas besser gebaut. Einer ihrer Söhne öffnete die Türe. Sie selbst kam herein, schwer, eine große mütterliche Frau, bestimmt zu freundlichen Worten und freundlicher Art. Ihre Augen waren noch immer von blauschwarzen Flecken umrändert, auch das Gesicht war verfärbt. Sie erzählte den Vorfall:
„Ich ging bloß auf der Straße, wollte zum Abendbrot einholen. Dachte gar nicht an Streikposten und Streiks oder sonst was, und da kommen schon die Bullen und jagen mich mit ihren Bajonetten."
„Haben sie Sie verwundet?" fragte Eleanor. „Na, ich kann gerade nicht sagen, dass ich verwundet worden wäre, aber ein tüchtiger Kratzer wars schon, mein Bein hat genug geblutet. Burdette, der Anwalt, hat mir gesagt, ich hätte mein Kleid so aufheben sollen, wie es war. Aber ich hab nicht genug Kleider, konnte es nicht so beiseite legen."
„Und das war nicht alles", mischte sich der junge Holly ein. „Der Bulle, der Murck, ist auch dazugekommen und hat Mutter mit dem Gummiknüppel und mit der Faust ins Gesicht geschlagen!"
„Nicht einmal hat er mich geschlagen, wenigstens zwanzigmal", erklärte Frau Holly gelassen. „Der muss aber bestimmt besoffen gewesen sein."
„Freilich war er besoffen! Waren sie ja alle, die von der Polente! Die armen Leute so mit dem Bajonett herumzujagen, ihnen die Kleider und die Haut zu zerschinden!"
Als Holly zu Ende war, war es still. Keiner sagte etwas; denn was konnte man schon dazu sagen? Was kann man sagen, wenn eine alte Frau auf der Straße so lange geprügelt wird, bis ihr Gesicht angeschwollen war wie ein Kürbis', wie sie es selbst beschrieb.

Tränen der Wut standen in Eleanors Augen. Sie fühlte, dass sie nur eins zu tun hätte: ins Land hinauszugehen, um Schluss zu machen mit dieser Niedertracht. Roger sah sie mitleidsvoll an. Er sah sie alle drei, wie sie waren, winzige, ohnmächtige Leutchen, und ihnen gegenüber den gut durchorganisierten Apparat, dessen Aufgabe es unter anderem war, die Organisation der Arbeiterschaft zu zerstören, und der auf eine Politik der Gewerkschaftsfeindlichkeit festgelegt war. Hinter diesem Apparat stand die Masse der Indifferenten. Scheuchte man diese aus ihrem Gleichgewicht auf, wüteten sie nur gegen die Arbeiter und deren Führer. Diese gutsituierten Indifferenten lieferten, wenn sie aus ihrem Gleichgewicht aufgescheucht wurden, den Boden für das Entstehen eines Mobs.
Die andern mussten gehen. Roger verabschiedete sich.
„Es wird fast unmöglich sein, andere davon zu überzeugen, dass das, was wir heute gesehen haben, wirklich wahr ist. Man kann es nicht glauben, dass solche Sachen in Amerika wirklich passieren können", sagte Mr. Kingsley.
„Ich werde sie zwingen, es zu glauben!" sagte Eleanor Thurston.

Roger ging zum Versammlungsort hinüber. Fer sprach gerade. Er war ernst, wie immer, aber Roger fühlte, dass heute seiner Rede etwas fehlte. Er wartete darauf, dass Fer zum Streikpostenstehen auffordern würde, aber die Aufforderung blieb aus. Fer sprach von den Aufgaben der Gewerkschaften, von Solidarität, er hielt eine Stimmungsrede ohne einen belebenden Funken darin. Er kam von der Tribüne herunter und wischte sich mit dem Taschentuch das Gesicht.
„Pfüh!" sagte er zu Roger, „manchmal weiß man wirklich nicht, was man ihnen sagen soll."
„Werden denn heute keine Streikposten ausgeschickt?" fragte Roger.
„Hören Sie, Roger, ich habe nicht die Stirne, den Leuten zu sagen, dass sie raus sollen. Man kann sie einfach nicht gegen diese Bajonette ausschicken."
„Aber man kann doch das Streikpostenstehen nicht einfach bleiben lassen, Fer. Das kann man doch nicht."
„Ich hab’s einfach nicht geschafft", wiederholte Fer verbissen. Er stand mit gespreizten Beinen da, mit nach vorn fallenden Schultern, die ihm den Anschein gaben, als wolle er durch einen Menschenhaufen durchbrechen. „Sie reden fortwährend von ihren Gewehren, wenn ich unter vier Augen über Streikpostenstehen mit ihnen spreche. Sie wissen ja, Roger, wie diese Kerle über Schießgewehre denken. Sie fühlen sich entmannt ohne Schießeisen. Wissen Sie, was ein Bursche zu mir gesagt hat? ,Ich hab das Gefühl, dass ich kein Mann bin, wenn ich mein Gewehr nicht hab'."
Jetzt war Wes Elliott am Sprechen. Roger empfand einen Alpdruck. Er hatte Fer gerade bei tiefster Ebbe seines Mutes getroffen. In diesem Augenblick glaubte Fer nicht an die Arbeiter.
„Warum lassen Sie nicht die Funktionäre die Verantwortung für je zehn Mann übernehmen?"
Fer wandte sich ein wenig gereizt weg. „Verantwortlich kann man sie machen, so viel man will, aber man kann sie jetzt nicht hinauskriegen zum Streikpostenstehen. Da hilft alles Reden nichts, man kann hier mit den Arbeitern nicht so umspringen wie oben im Norden. Dort gehen sie auch dann hinaus, wenn sie wissen, dass die Polizei sie verprügeln wird. Aber diese Kerle hier, wenn sie verprügelt werden, die wollen wieder prügeln."
„Ich sag Ihnen, Sie müssen eine Streikpostenkette haben", sagte Roger.
Es schien lächerlich, als Außenseiter so mit dem Streikleiter zu rechten. Aber Roger hatte an der Stimmung der Leute ersehen, dass sie ein sichtbares Symbol ihrer eigenen Kraft nötig hätten. Er hatte gesehen, wie sich Fers Unglauben in der Menge widerspiegelte. Was er spürte, war unsichtbar und ungreifbar, aber doch genau so lebendig für ihn vorhanden, als sähe er mit Augen eine eingestürzte Brücke.
„Glauben Sie nicht, dass Streikposten ausgestellt werden müssten?" fragte er Dewey Brison. Er hatte ein Gefühl der Verzweiflung, als bemühe er sich, Leute von dem Kommen eines Hochwassers zu überzeugen, von dem er wusste, dass es kommen würde, an das aber die anderen nicht glaubten.
Oder glaubte Fer vielleicht doch daran? Vielleicht spürte Fer das Abflauen des Streiks. Vielleicht fühlte er, der Streik sei verloren und wollte schon das Ende sehen.
Der Streik durfte aber jetzt nicht zu Ende sein. Das wäre wie eine Kapitulation ohne Kampf. Roger hörte sich selbst mit Dewey und Fer diskutieren, während Wes sprach, hörte sich eintreten für Streikpostenstehen und Weiterkämpfen, für den Streik. In diesem Augenblick hatte er das Gefühl, als hätte Fer den Kampf wirklich schon aufgegeben.
„Sieh doch die Menge, die heute da ist. Ist doch ein feiner großer Haufen Menschen. Da könnte man eine herrliche Streikpostenkette daraus kriegen."
„Willst du als nächster sprechen, Dewey?" fragte Fer. „Du wirst der letzte sein. Ruf doch du zum Streikpostenstehen auf."
Dewey errötete unter seiner Sonnenbräune. Er hatte erst vor kurzem angefangen, öffentlich zu sprechen und war sehr stolz darauf. Eine ganze Anzahl dieser Arbeiter des Südens waren zu ziemlich guten Stegreifrednern geworden. Sie hatten ein natürliches Talent zur Rednerkunst. Noch immer mit demselben Gefühl der Unwirklichkeit der ganzen Szene sprach Roger aufgeregt auf Dewey ein, über Streikposten und ihre Funktion in einem Streik. Der ganze aufgespeicherte Zorn des mit der Besichtigung verbrachten Tages machte sich Luft.

Die Streikposten marschierten los. Die alte Frau Whenck und Mutter Gilfillin, unzertrennlich, braun wie Leder, mager wie Hexen, spuckten braune Ströme von Tabaksaft und liefen zwischen den Männern herum, um sie anzufeuern.
„Ihr habt alle gehört, was Dewey Brison gesagt hat."
„Bruder Gil, gehst du nicht auf Streikposten?"
„Komm nur, Robert Macdonald. Du wirst höchstens verhaftet. Auffressen können sie dich nicht."
„Frau Block, wo sind deine drei Söhne? Ich hab sie oben an der Eisenbahn herumlungern gesehen."
Der Zug setzte sich in Bewegung, mehr Frauen und Mädchen als Männer, aber immerhin ein nicht unerheblicher Teil Männer dabei. Dewey Brison und Mutter Gilfillins Junge nahmen die Spitze ein, dahinter klapperten die beiden alten Frauen, ihre ungestärkten Kalikoröcke flatterten ihnen um die Füße. Als letzte marschierten Binney Jolas und May Macdonald. Mamie Lewes und Daisy West gingen wieder zusammen.
Roger sah dem Ausmarsch mit einer fast unerträglichen Erregung zu. Das war seine Streikpostenkette. Ein Zwang, den er sich nicht erklären konnte, hatte ihn
veranlasst, aktiv einzugreifen, Fer zu überzeugen, Dewey Brison Worte in den Mund zu legen.
Seit zwei Tagen hatte keiner Streikposten gestanden. Bei der Nachmittagsversammlung war keine Polizei zugegen gewesen. Der Zug der Streikposten marschierte sehr diszipliniert, voll von unterdrückter Erregung, durch Nebenstraßen zum Betrieb. Die zwei alten Frauen riefen den Zuschauern Grüße und Scherze zu. Roger folgte dem Zug auf dem Bürgersteig.
Plötzlich ertönten Polizeipfeifen und der Lärm der Überfallautos. Der Zug bog in eine Nebenstraße ab. Drei Lastautoladungen Polizisten schwärmten aus. Roger konnte von einer Erhöhung sehen, wie sie die Streikenden zurückzutreiben versuchten und mit dem flachen Seitengewehr auf sie zuschlugen. Aber die Streikpostenkette hielt stand. Sie hatte sich nach außen umgedreht, so dass jetzt Binney Jolas und May Macdonald die Spitze hielten. Roger stand inmitten einer Gruppe West-Stonertoner Bürger. Jetzt kam Bewegung, Unruhe in die Reihen der Streikposten. „Seht, was sie machen!" „Seht, wie sie sie mit Bajonetten jagen!" „Es ist ein Skandal, wie sie die armen Kerle schlagen!"
„Diese Bullen sollte man aus der Stadt verjagen!" „Diese Bullen sind die gemeinsten Kerle in der ganzen Stadt!"
„Seht mal, sie verhaften die Leute!" „Schau, was sie mit der Frau machen!" Ein Polizeiauto war ganz in der Nähe Rogers stehen geblieben. Die Polizisten schleppten eine Frau von angenehmen Äußeren zum Auto.
„Das ist doch Mary Graham", sagte eine Frau, die neben Roger stand.
„Ich hab gesehen, wie sie ihren Jungen aus dem Zug geholt hat."
„Frau Graham steht doch nicht Streikposten!" „Nein, sie tut das nie. Sie kann’s gar nicht. Sie hat ein ganz kleines Kind."
„Schaut, schaut, schaut, was sie mit ihr machen!" Die Stimmen der Frauen schlugen in einen Schrei um.
Die verhaftete Frau widersetzte sich den Polizisten. Die zerrten ihr die Arme nach hinten, zwei Beamte hielten sie fest, und zwei versuchten, ihr den Kopf niederzudrücken und sie in den Wagen hineinzuzwängen. Die kleine Gruppe schwankte hin und her, die Frau wehrte sich verzweifelt. Sie gab keinen Laut von sich, während sie mit den vier Polizisten kämpfte.
Die Frau, die neben Roger stand und geschrieen hatte, krallte sich zitternd an seinen Arm fest. Eine Frau, die an der andern Seite neben ihm stand, weinte. Ein Gemurmel lief durch die Reihen der Zuschauer. „Man sollte sie erschießen."
„Wenn das so weitergeht, gibt’s Mord und Totschlag." „Oh, sie zerren sie an den Haaren!" „Ihr Mann ist da drüben in der Menge. Da steht er! Graham ist da drüben mit bei! Wie wird er noch das Gesicht zeigen können, wenn er jetzt seiner Frau nicht hilft?"
„Nützt ja alles nichts. Sie würden ihn bloß auch mitnehmen."
„Doch nützt es! Doch nützt es! Er soll es doch tun!"
Roger fühlte, dass sie recht hatte. Er fühlte, dass auch er selbst sich hineinmischen sollte. Dieses hin und her wogende Menschenknäuel schien sich lange Zeit zu halten, während die Zuschauer entsetzt dastanden.
Endlich war der Widerstand der Frau gebrochen. Endlich warfen sie die Polizisten ins Auto und fuhren mit ihr fort. Roger ging mit der Frau weiter, die neben ihm gestanden hatte und die noch immer zitterte. Sie erreichten die Hauptstraße. Ein Menschenhaufen stand da und besprach die Ereignisse. Neu Hinzukommende brachten Einzelheiten.
„Frau Graham war gar nicht auf Streikposten. Sie hat sich widersetzt, weil sie Angst hatte, ihr kleines Kind allein zu lassen."
„Jetzt haben sie sie eingesperrt, und sie hat einen Säugling zu Hause."
Die Ungerechtigkeit des Ganzen überwältigte alle. Die Frau, die sich an Roger angeklammert hatte, packte ihn am Arm und sagte ernst:
„Ich weiß nicht, was in Stonerton werden soll. Was soll aus den Leuten werden? Ich kann an gar nichts mehr denken. Ich kann nur zu den Versammlungen gehen."
„Streiken Sie auch?" fragte Roger.
„Nein. Ich vermiete Zimmer. Meist an Arbeiter aus dem Betrieb. Aber jetzt hab ich gar keine Lust zur Arbeit, wo doch solche Dinge passieren, wie wir sie eben gesehen haben." Und sie blieb stehen und erzählte einem neu Hinzugekommenen die Geschichte von Mary Grahams Verhaftung.
„Sind Sie im Verband?" fragte sie Roger. „Nein, ich bin nur Zeitungsberichterstatter." „Aber Sie sind für den Verband. Sie schreiben doch darüber, was diese armen Leute hier durchmachen müssen, damit die Leute es auch anderswo wissen, nicht wahr?" Sie legte impulsiv die Hand auf seinen Ärmel. „Ich möchte, Sie kämen zu mir wohnen. Sie hätten es
viel bequemer als in einem Hotel. Ich würde mich wirklich freuen, Sie da zu haben."

Noch bevor Roger antworten konnte, drängte sich Victor Jolas durch die Menge. „Haben Sie Fer gesehen?" fragte er. „Haben Sie Irma gesehen? Binney ist verhaftet, und ich kann niemanden finden!"
„Haben Sie Doris schon gesucht?" fragte Roger.
„Ja, die hab ich schon gesucht. Ich denke, sie ist wegen Frau Graham unterwegs. Ich glaube, sie holen Frau Grahams Kind und bringen es ihr ins Gefängnis."
„Wie haben sie denn Binney gekriegt? Sie ist doch so ein kleines Ding."
„Ja, wissen Sie, wie sie den Zug umgekehrt haben, da war Binney mit May Macdonald an der Spitze, und da haben sie sie eben mitgenommen. Ich weiß, es ist nicht recht von mir. Ich weiß, dass auch schon andere verhaftet sind, die genau so jung und zart sind wie meine Binney. Ja, und sind die ganze Nacht im Gefängnis geblieben. Ich weiß, dass ich, wenn ich meine Binney auf Streikposten gehen lasse, auch gefasst sein muss, dass sie ins Gefängnis kommt. Aber ich kann es einfach nicht aushalten. Ich kann es einfach nicht ertragen, dass meine Binney im Gefängnis sein soll. Ich spüre, dass etwas Verrücktes in mir aufsteigt, wenn ich dran denke, dass diese Bullen meine Binney anfassen. Andere Mädchen waren auch schon im Gefängnis, Della Barstow und Eva King. Die Bullen sind zu ihnen gekommen und haben ihnen gemeine, beleidigende Dinge gesagt. Wenn das einer mit meiner Binney machte, ich glaub, ich würd ihn mit bloßen Händen in Stücke reißen."
„Kommen Sie mit zum Gefängnis", riet Roger, „und sehen wir zu, was sich machen lässt. Wir wollen ver-
suchen, Binney noch heute herauszukriegen. Kaution ist genug da und Burdette, der Anwalt, kann darüber nach seinem Gutdünken verfügen."
Sie fanden Burdette im Hotel. Er war schon von Lafayette herübergekommen. Zusammen gingen sie zum Gefängnis. Jolas war leichenblass. Man sah ihm sein Alter an. Die Haut seiner dünnen, humorvollen Nase straffte sich. Er war sehr ruhig, als er seine Geschichte Burdette erzählte. Aber trotzdem kam er Roger vor wie ein hochwertiger Sprengstoff.
Sie erhielten ohne Schwierigkeit Zutritt zum Gefängnis. Es war eine moderne Anstalt und erträglich sauber. Die beiden kleinen Mädchen saßen hinter dem Gitter auf ihren Betten. In der nächsten Zelle saß der Tetherow-Junge und sein Freund, Bob Postwait.
„Binney", sagte Jolas ruhig, „ist alles in Ordnung? Du hast keine Angst?"
„Alles in Ordnung, Vater." Ihre Augen glänzten. Ihr winziges Elfengesichtchen war fröhlich. Es war ein großes Abenteuer.
„Hat keiner grob zu dir gesprochen, Binney?"
„Nein, Vater, keiner war grob zu mir. Hier im Gefängnis waren alle sehr freundlich. Wir haben gesungen, die Jungen und wir."
Von einer andern Zelle hörte man das Selbstgespräch eines Betrunkenen herüber. Die Jungen kicherten: „Sie hätten ihn vor einiger Zeit hören sollen", sagte der kleine Tetherow, „der hat was durcheinander erzählt!"
Die Kinder glänzten vor Aufregung.
„Na, diesen verzweifelten Bösewicht werde ich bestimmt gegen Kaution herausholen, wenn sie sie nicht zu hoch anschlagen. Aber die Jungen lass ich die Nacht über hier", sagte Burdette.
„Und was ist mit Frau Graham geschehen?" fragte Roger, der sie angesichts der Not von Jolas ganz vergessen hatte.
„Der Verband hat mich angerufen, und ich hab ihnen geraten, mit dem Säugling zum Gefängnis zu marschieren und zu verlangen, dass das Kind hereingelassen werde. Na, wie sie das kleine heulende Baby kommen sahen, da haben sie die Frau schnell herausgelassen."
„Wie lange kann es dauern, bis Binney herauskommt?" fragte Jolas.
„Oh, ich bin gleich zurück. Es dauert nicht lange, Herr Jolas."
„Ich warte hier im Gefängnis auf sie", sagte Jolas finster. Er konnte den Anblick Binneys hinter Gittern nicht ertragen. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Binney im Gefängnis sitzt. Im Weggehen empfand Roger wieder die Stärke des Bandes zwischen den beiden. Er konnte sich nicht vorstellen, was aus Jolas würde, wenn Binney etwas zustoßen sollte.

 

XII. KAPITEL

Den Hintergrund, vor dem sich der Streik abspielte, lieferten um diese Zeit die gesellschaftlichen Veranstaltungen der gutsituierten Bürger der Gemeinde. In vornehmen Schulen machten im ganzen Staat junge Mädchen ihr Abitur — ihre Bilder erschienen in den Zeitungen mit Bildern der prächtigen Schulgebäude und Schilderungen der Abgangsfeiern.
Kurz vorher hatte in Virginia ein Apfelblütenfest stattgefunden; die Sonntagszeitungen brachten reizende Geschichten von den Pfirsichgärten Georgiens. Die blühenden Obstgärten und die aus Schulen und Universitäten herausblühenden jungen Mädchen waren alle Teile einer Gesellschaftsordnung, die nicht ohne Würde und Reiz war.
In ganz Piedmont gingen rund um die Industriestädte herum solche Feste und Feiern vor sich. In ganz Piedmont gingen die Industriearbeiter ihre eigenen Wege, ohne sich an diesem andern Leben zu beteiligen, obgleich sie zu dessen Unterhalt beitrugen. Wo wäre ohne sie der ganze Wohlstand geblieben? Wo wären alle Feiern geblieben ohne die Industriearbeiter und ohne all die andern, die im ganzen Staat um geringen Lohn arbeiten mussten?
Roger hätte sich gerne an dem Anblick all dieser Feste erfreut. Er wünschte ungehalten, sie wären der Zweck seiner Reise nach dem Süden gewesen. Wenn er bloß einmal solche Ferien verleben könnte! Wenn man bloß sein Gedächtnis ausschalten und alle Streiks vergessen könnte! Wenn man Mutter Gilfillin und Mamie Lewes vergessen könnte; vergessen die Männer mit den Bajonetten und die verstreute Streikpostenkette, die Kinder im Gefängnis und die misshandelten Männer. Das alles für kurze Zeit aus dem Gedächtnis schieben und in eine Gesellschaft gehen, wo es junge Gesichter und hübsch gekleidete Mädchen vor einem Hintergrund von Blumen gibt. Irgendein Schriftsteller hat gesagt, dass die Pfirsichblüten Georgiens ebenso schön sind wie die Kirschblüten Japans.
Mit solchen Gedanken schlenderte Roger unweit des Streiklokals die Hauptstraße entlang. Mamie Lewes und eine Gruppe Streikender kamen ihm aus der entgegengesetzten Richtung entgegen. Dann kam das Geräusch eines Lastautos und schrill-vergnügtes Quietschen. Kleine Mädchen in weißen Kleidern und Jungs im Sonntagsanzug schwenkten Fahnen und riefen laut.
„Wohin gehen sie?" fragte Roger Mamie Lewes. „Das ist der Schulaufmarsch. Alle Kinder um Stonerton gehen zum Schulaufmarsch mit. Hier kommen die Lastautos der Basil-Schenk-A.-G."
Schüler der Schulen, die in der Nähe der Basil-Schenk-Betriebe lagen, fuhren in Lastautos singend vorbei. Sie fuhren zum Aufmarsch. Alle gingen hin, um mitzumarschieren oder dem Aufmarsch zuzusehen. „Gehen deine Kinder auch mit, Mamie Lewes?" „Die sind ja nie zur Schule gegangen. Ich hatte nie Schuhe für sie, und wir wohnen zu weit weg." „Ich dachte, die Kinder müssten zur Schule?" „Das schon, aber nur, wenn man in der Werksiedlung wohnt. Mir hat keiner etwas davon gesagt. Ich könnt ja gar nicht arbeiten gehen, wenn meine Älteste nicht da wäre und auf die Kleinen aufpasste."
Roger hörte, wie sie hinter ihm sprachen. Noch ein Lastauto hatte seine aufgeregte, lärmende Kinderlast zum Aufmarsch getragen —, blonde Köpfe und blaue Augen überstiegen an Zahl die dunkleren Köpfe. Der ,Reichtum des Vaterlands' — wie die Redner der Eröffnungsfeiern die Kinder nannten — war unterwegs zum Aufmarsch. Es war eine köstliche Zeit, man sah schöne Dinge und sang schöne Lieder. Alle Kinder aller Schulen würden sich heute treffen —, die Kinder der gutsituierten Bürger und die Kinder aus der Werksiedlung trafen sich nur bei solchen Gelegenheiten, sonst sahen sie einander nie.
„Wie viel Kinder aus der Werksiedlung gehen in höhere Schulen?" fragte Roger Dewey Brison.
„Von den Arbeiterkindern kommen kaum welche da hin. Die Kinder der Betriebsarbeiter müssen ja arbeiten gehen. Ein paar kommen dazu, zur Schule zu gehen, aber nur sehr, sehr wenige."
Diese lustigen, lärmenden Kinder, die soeben singend vorbeigefahren waren, würden bald im Betrieb arbeiten. Roger hatte Kinder gesehen, die schon im Betrieb arbeiteten, aber nicht älter aussahen als zehn bis zwölf Jahre, obwohl sie alle behaupteten, schon vierzehn Jahre alt zu sein, wie es das Gesetz vorschreibt.

Roger stand da und sah dem letzten der Autos nach, die die Kinder zum Schulaufmarsch brachten. Eine Frau zupfte ihn am Ärmel. Es war eine der Frauen, die tags zuvor bei der Streikpostengeschichte neben ihm gestanden hatten.
„Sie sind ja nicht meine Schwester besuchen gekommen", sagte sie. „Meine Schwester ist sehr enttäuscht. Kommen Sie doch jetzt mit mir. Sie wohnt gleich hier hinter der Eisenbahn."
„Gut", sagte Roger. „Ich komme mit."
„Sie hätten es bei meiner Schwester viel bequemer als bei den Bisphams. Sie hat jetzt nur einen Pensionär. Seit dem Streik ist sie so aufgeregt, dass sie es einfach nicht mehr fertig bringt, sich um Pensionäre zu kümmern. Die drei bis vier jungen Leute, die sie hatte, streikten mit und sind dann fort, um anderswo Arbeit zu suchen."
Jenseits der Eisenbahngeleise wohnten die Leute in Eigenheimen. Das waren kleine Kaufleute oder Arbeiter anderer Branchen als die im Betrieb beschäftigten. Drüben an der Schlucht standen einige Häuser, noch weniger stabil gebaut als die Häuser der Werksiedlung. Auch ein paar Familien, die im Betrieb arbeiteten, wohnten hier —, die wenigen, die in einer Gemeinde von Wanderarbeitern Eigenheime kauften und in ihnen verblieben. Die Häuser an der Eisenbahnstrecke waren
ebenso kahl und unfreundlich wie die Häuser in der Werksiedlung. Auch sie standen auf gemauerten Säulen.
Zwei Häuser hoben sich von allen andern dadurch ab, dass sie von Bäumen und Rosensträuchern umgeben waren.
„Das ist das Haus meiner Schwester", sagte Frau Soams zu Roger. „Sie hält große Stücke auf ihre Blumen. Sie sollten die Frau sehen, wie die an ihren Rosen arbeitet. Die Blumen und der Garten sind ihr ganzes Leben. Wo sie nur die Zeit hernimmt — ich weiß nicht, ich komme nie dazu, meinen Garten zu bepflanzen. Ich hab bloß ein paar Irisse. Ich weiß nicht, wie sie es schaffen würde, wenn ihr der alte Cuthbert, ihr Nachbar, nicht helfen würde."
Frau Thorn empfing sie an der Tür.
„Ich freue mich wirklich sehr, Sie hier zu sehen. Ich hatte schon Angst, Sie kämen nicht mehr."
„Ich hab ihn da oben getroffen, bei der Kinderparade und hab ihn hergebracht."
Das Haus war kühl. Es hatte in der Mitte eine Halle wie die meisten Häuser und eine L-förmige Galerie neben der Küche. Während Roger dastand, kam ein Nachbar auf die Veranda. Roger hatte das Gefühl, hier eine Lebensgemeinschaft zu finden. Plötzlich war er der Kahlheit seines Zimmers bei Bisphams überdrüssig. Das Zimmer, das ihm Frau Thorn zeigte, war bequem und anheimelnd. Die Wäsche war gepflegt, und auf dem Bett lag eine schöne Steppdecke. Die Wände waren mit Aquarellen geschmückt, die aussahen wie die farbigen Kinderbilder in einer modernen Schule. Wie es sich herausstellte, hatte Frau Thorn im vergangenen Jahr plötzlich angefangen, Aquarelle zu malen, und hatte sie einrahmen lassen. Ein plötzlicher Impuls ließ Roger sagen:
„Ich will gleich meine Sachen holen." Der Preis, den er zahlen sollte, war sechs Dollar die Woche für Wohnung und Verpflegung.
„Mehr kann ich nicht verlangen — Arbeiter zahlen nicht mehr."
Roger setzte sich zu einem Abendbrot, das aus gebratenem Schinken, kaltem Rindfleisch, heißem Brot, Kaffee, Marmelade und einem Becher Erdbeeren bestand. Am Tische saßen noch Frau Thorn und ihre Tochter Lissa, Harry, der im Betrieb Streikbrecherarbeit leistete, und noch ein älterer Mann, ein Stammgast, der als Zimmermann arbeitete.

Während des ganzen Abendessens starrte Lissa Roger ihn mit einem neugierigen, forschenden Blick an, als könnte sie ihn nicht genug sehen. Sie hatte Augen, die dunkel schienen, aber in Wirklichkeit grau waren; die Augenbrauen waren zu dicht; das Haar wuchs ihr tief in die Stirn herunter, sie trug es entgegen dem Brauch der meisten Frauen der Industriestädte kurz geschnitten. Ihr Hals war schlank und ihre Gelenke zart, aber sie sah trotzdem so kräftig aus, wie es unter den Frauen der Werksiedlungen selten war. Trotz dieser Eigenschaft schlummernder Kraft konnte man an ihren Farben, an der Art, wie sie sich bewegte, und an allem erkennen, dass sie noch sehr jung war, das heißt jung nach den Begriffen des Nordens, nicht nach den Maßstäben des Südens. Lissa war achtzehn Jahre alt.
„Wie ich so alt war wie Lissa, arbeitete ich schon fünf Jahre im Betrieb und war fünf Jahre verheiratet." Das war Frau Thorn. „Damals kam man zeitig in die Betriebe — ungefähr sobald man laufen konnte — als Reinemacher, für kleine Aufträge. Wir mußtens auch,
Vater und Mutter verdienten zu wenig, wir mussten eben. Lassen Sie sich von meiner Schwester, Frau Soams, über die Arbeit im Betrieb erzählen. Sie hat achtundzwanzig Jahre vor ihrer Ehe gearbeitet, hat erst mit fünfunddreißig Jahren geheiratet. Sie kann Ihnen was erzählen von der Arbeit in den alten Zeiten; jahraus, jahrein, zwölf Stunden am Tag, immer stehen, zwölf Stunden, die ganze Nacht. Es ist ein Wunder, rein ein Wunder, dass die Leute hier nicht schon früher gestreikt haben. Sie hättens auch, wenn sie hätten zusammenhalten können. Das fehlt ihnen auch jetzt, sie können nicht zusammenhalten. Sehen Sie sich den an!" Sie zeigte mit dem Kopf auf die sich entfernende Gestalt Harrys, des Streikbrechers, der sein Essen rasch heruntergewürgt hatte und seiner Wege ging.
„Zuerst hat er auch gestreikt und war mir fünfzehn Dollar schuldig. Jetzt verdient er sechzehn Dollar die Woche, aber er ist mir das Geld genau so weiter schuldig geblieben. Ich hätte ihn ja auch ohne Bezahlung behalten, wenn er ein anständiger Streiker wäre, aber ich wusste die ganze Zeit, dass er das nicht war. Hat sich immer mit den Weibern herumgetrieben, hat getrunken, ist nachts ausgeblieben. Seine Kommode ist voll von Haarwuchsmitteln und Schönheitscreme und Talkpuder, damit er sich schön machen kann. Ich gäbe keinen Eimer Spülwasser für ihn."
„Haben Sie je im Betrieb gearbeitet?" fragte Roger Lissa.
„Nein, nie." Ihre Augen lächelten, wenn sie sprach, und ihre Stimme war unerwartet tief und klangvoll, eine wunderbare reife Stimme.
„Lissa hat ein Jahr lang die höhere Schule besucht. Ich wollte, sie sollte auch weiter hin, aber sie mochte nicht —, sie hat gesagt, ich arbeite ihr zu schwer. Die
Arbeit ist ja schwer mit den Pensionären, und wenn das Haus nicht voll ist, macht sich die Sache nicht bezahlt. Ich muss acht Pensionäre haben, wenn ich fünfzehn Dollar die Woche herausschlagen soll." Trotz der leicht hingeworfenen Worte fühlte Roger, dass sie dies für eine recht ansehnliche Summe hielt und dass sie stolz war auf ihr Haus und auf ihren Garten mit den Obstbäumen und Rosen; und dass sie sehr stolz war auf Lissa, die auf der höheren Schule gewesen war. Frau Thorn hatte mit dreizehn Jahren einen um fünfzehn Jahre älteren Mann geheiratet. Später hatte er ihr, wie Roger erfuhr, dieses Haus und andere Immobilien hinterlassen.
In Ost-Stonerton galt sie als reich und vom Glück begünstigt, obwohl sie jeden Morgen um halb fünf mit der Arbeit anfangen musste und bis zum Abend damit nicht fertig wurde, und obwohl sie jede Woche im Freien große Wäsche machte, wobei sie die Wäsche in einem riesigen Eisentopf auskochte, wie es hierzulande Sitte war. Ihr Haus war vor ungefähr acht Jahren erbaut worden, ein neues, schönes Haus mit sieben Vorderzimmern und offenen Seitengängen an der Hinterfront. Im Hause selbst gab es keine Wasserleitung. Alle wuschen sich im Hinterhof unter dem Wasserhahn, und selbst das Spülwasser musste von draußen hereingebracht werden.
Sie besaß Geschirr und Wäsche in ungewöhnlichen Mengen, hübsche Möbel und hübschen Wandschmuck, doch hatte niemand daran gedacht, die Frau des Hauses zu schonen. Roger setzte sich mit ihnen auf die Veranda. Nachbarn kamen zu Besuch. Man sprach von nichts anderem als vom Verband und vom Streik. Alle Leute, die in der Nachbarschaft wohnten, waren früher einmal Betriebsarbeiter gewesen. Es gab eine ganze Anzahl besserer Logierhäuser in der Straße, meist für Ledige
und kinderlose Ehepaare bestimmt. Frau Thorn selbst war Fabrikarbeiterin der zweiten Generation. Ihr leidenschaftliches Interesse war ein Maßstab dafür, wie sich eine Gemeinde, die eine Werksiedlung umgibt, zu den Zuständen in den Betrieben stellt.

„Ich bin auch im Verband", erzählte Lissa Roger.
„Aber Sie haben ja nie im Betrieb gearbeitet."
„Viele Leute sind im Verband, die nie im Betrieb gearbeitet haben. Zimmerleute, Schneider, allerhand Leute sind in den Verband eingetreten."
„Aber sie bleiben nicht bei der Stange", sagte Frau Thorn. „Das ist das Schlimme bei diesen Leuten, sie halten nicht durch. Jetzt sind sie für den Verband und fürs Streiken, und im nächsten Augenblick lassen sie sich wieder einschüchtern. Ich hab ihnen das die ganze Zeit gesagt. Wenn sie aushalten würden, hätten sie längst schon alles erreicht."
„Ein paar von den Mädchen, die ich kenne", sagte Lissa, „die gehen nach ein, zwei Wochen wieder hinein, um ein paar Kröten zu verdienen, und dann kommen sie wieder raus."
„Ja, und inzwischen geht ihre Mutter jeden Tag und holt sich vom Streikunterstützungsausschuss Lebensmittel. So was macht kein anständiges Verbandsmitglied. Sprechen Sie nur mal mit diesem Harry, er wird Ihnen erzählen, was im Betrieb vorgeht. Er sagt, dass jetzt viele verärgert sind und die Arbeit niederlegen möchten."
„Wie viele arbeiten denn noch im Betrieb?"
„Er sagt, gemacht wird eigentlich gar nichts mehr. Man tut nur so, damit die Arbeiter wieder in den Betrieb hineingehen. Diesen Harry behalte ich nur solange, bis
er mir meine fünfzehn Dollar bezahlt hat. Ich hab kein Vertrauen zu ihm."
Nach dem Abendessen saßen sie draußen auf der Piazza. Mit einer Stimme, die Roger an die Stimme des jungen Tetherow am Tag seiner Ankunft erinnerte, sagte Lissa: „Dort kommt Fer."
„Ja", sagte Roger, „ich sagte ihm, er möchte mich nach dem Abendessen hier besuchen. Ich wollte auch, dass er hier diesen Streikbrecher trifft."
Lissa saß ganz unbeweglich da, als könnte sie es nicht glauben, dass Fer wirklich und wahrhaftig zu ihr ins Haus kommt, um auf ihrer Veranda zu sitzen. Als er jovial zu ihr sagte: „Oh, dich kenne ich ja, ich habe dich oft bei Versammlungen gesehen", konnte sie es kaum ertragen.
„Hören Sie mal Roger", sagte Fer nach einer Weile, ich muss irgendwie nach Brookington gelangen, wir haben einen von unseren Organisatoren dorthin geschickt, und der meldet, dass man mich von dort anfordert, um zu sprechen. Ich sollte überhaupt mehr auf dem Lande herumkommen."
„Soll das heißen, dass der Verband bis nach Brookington gekommen ist?" fragte Frau Thorn und beugte sich vor.
„Und auch noch anderswo hin, nicht nur nach Brookington", sagte Fer.
„Soll das heißen, dass wir wirklich im ganzen Süden überall einen Verband haben sollen? Du glaubst, dass du sie dazu kriegst?"
„Versuchen wollen wir's auf alle Fälle." „Mutter", sagte Lissa, „warum sollte er nicht morgen mit Onkel und mir hinüberfahren?"
„Aber sicher! Lissa fährt morgen über Sonntag nach Krookington, Verwandte besuchen! Sie nimmt dich mit,
sehr gerne und auch Herrn Hewlett, wenn er mitgehen will. Es ist eine schöne Spazierfahrt und eine gute Gelegenheit, sich auf dem Lande umzusehen."

Sie fuhren am nächsten Tag frühmorgens in Horners altem Ford los. Roger saß vorn mit dem Alten und Fer und Lissa hinten. Brookington lag oben hinter Asheville, gegen Tennessee zu. Die Fabrik war eine Neuanlage und stellte Überzugsstoffe für Automobile her. Die Arbeitskräfte rekrutierten sich aus den in der Nähe in den Bergen wohnenden Familien; wie in Elisabethton, waren auch hier die Arbeiter noch unabhängig, die Fabrik hatte ihren Trotz noch nicht gebrochen.
Roger hörte Fer eifrig auf Lissa einsprechen. Er erzählte ihr seine Pläne für den Verband. Er ließ sein müdes Hirn spielen, die Dinge so darstellend, wie sie sein sollten, nicht wie sie waren, ließ seine Träume wahr werden.
Lissa war die vollendete Zuhörerin. Sie war gläubig, sie war überzeugt, kein Zweifel überschattete ihr Denken. Was Fer sagte, war nichts anderes, als das Aufblühen, als die Verwirklichung des einfachen Verses von Mamie Lewes:
Wir bauen einen großen Verband
Im ganzen Süden aus,
Dann kriegen wir bessere Kleider
Und auch ein besseres Haus.

Die Landstraße schlängelte sich zwischen roten Feldern. Auf einem von der Sonne beschienenen Hügel rauschten die Farben wie Musik. Hier und dort bildeten junge Weizenfelder klare, durchscheinende, grüne Flecken im dunklen Rot der Äcker. Bäume bekleideten
die Hügel. Überall zierten rosa und weiße Lorbeerblüten die Wälder. Überall schossen die orangefarbenen Flammen der wild wachsenden Azaleen hervor. Nirgends gibt es solche Wälder wie die Wälder Carolinas, Virginiens und Tennessees.
„Ich fahre furchtbar gern hier durch die Wälder hinauf. Von Anfang April an gibt es immer Blumen", sagte Lissa. „Erst sind’s die Buchsbäume und Judasbäume, dann kommen Lorbeer und Azaleen, und im Juni der Rhododendron. Du solltest mal hier durchfahren, Fer, wenn der Rhododendron blüht. Dann ist es wirklich hübsch hier."
.,Ich möchte wirklich gerne, Lissa. Sagen Sie, Roger, wäre es nicht schön, so durchs Land zu fahren, bloß um den Rhododendron zu sehen? An nichts zu denken brauchen? Keine andern Sorgen haben als nur, wie schön die Wälder aussehen? Wär’s nicht schön, angeln zu gehen?"
„Ja, es wär schön", sagte Roger schal. Fer hatte gesprochen, wie einer, der Heimweh hat. Seine Stimme hatte gesagt: „Wär’s nicht schön, so zu sein wie andere junge Kerle in meinem Alter? Mit einem hübschen Mädchen an meiner Seite, ohne an Streiks denken zu müssen und daran, ob die andern Kerle was zu fressen haben. Keine Sorgen wegen der Organisation haben, keine Sorgen wegen der Leute, die im Gefängnis sitzen, keine Sorgen wegen des Mobs oder wegen der Leute, die mit Schießgewehren herumlaufen."
Auf alle Fälle war ihm jetzt ein kurzer Augenblick der Freiheit vergönnt, und er kostete ihn aus. Er lehnte sich zurück. Lissa fiel ihm jetzt zum ersten Male auf. Sie war jung und stark und doch zart, ein wenig den Lorbeerbäumen ähnlich. Sie aber wusste, dass er es bemerkt hatte. Es war fast wie eine Explosion in ihr.
Etwas Unbeschreibliches war passiert, Fer saß neben ihr, hatte bemerkt, dass sie ein hübsches Mädchen sei, war froh, mit ihr zusammen zu sein.
Fer sagte: „Ich bin aber wirklich froh, dass deine Mutter uns eingeladen hat, mitzukommen. Es ist so viel netter, wenn du mit dabei bist." Er hatte eine aufrichtige, ehrliche Art, so etwas zu sagen, die jede Schmeichelei ausschloss. „Weißt du, ich hatte ganz vergessen, wie es tut, so etwas zu fühlen, man wird in so eine Sache wie dieser Streik so vertieft, dass man ganz vergisst, dass man in der Welt lebt. Ach, ist das schön!" Er griff nach Lissas Hand. Sie lag schlank und fest auf seiner Handfläche. Tränen kamen in Lissas Augen.
Eine blitzartige Erkenntnis kam über sie, dass dies ihr einziger Augenblick sei. Bald würde die Fahrt vorbei sein. Bald würde Fer vom Streik wieder mitgerissen werden. Er würde keine Zeit mehr für sie haben, und auch wenn er sie sähe, würde er sie durch den Schleier des Streiks sehen. Auch hatte er Prinzipien, wie sie gehört hatte. Dewey Brison hatte gesagt: „Fer hält nicht viel davon, wenn man in einem Streik mit Mädels anbandelt." Manche Burschen und Mädchen hatten die vom Streik gebotene Gelegenheit dazu benutzt, Liebeleien anzufangen. Fer aber war geradlinig. Es würde nur diesen einen Augenblick der Gefühlsregung geben, eine Verheißung dessen, was hätte sein können — mehr könnte es nicht geben.

 

XIII. KAPITEL

Der Streik dauerte die sechste Woche. Die Betriebsleitung erklärte, der Streik wäre vorüber, sie hätte jetzt soviel Arbeiter, wie sie brauchte. Die Zeitungen druckten
diese Erklärung wiederholt ab. Sie hatten übrigens von Anfang an etwas sehr ähnliches behauptet. Der Streik trat in eine ruhige Phase. Jeden Nachmittag marschierte eine schwache Streikpostenkette zögernd aus. Jeden Nachmittag wurde sie aufgelöst, aber jetzt nicht mehr so brutal, mit weniger Verhaftungen.
Roger und Hoskins standen am Rand einer Menschenmenge. Der Platz fiel gegen die Rednertribüne ein wenig ab. Hinter der Rednertribüne war eine ebene Fläche und dahinter ein hoher Eisenbahndamm. Eingesäumt war der Platz von den Hinterfronten ärmlicher Kaufläden.
Die Menge war heute ausgesprochen kleiner. Sie war weniger geschlossen. Unten, am Eisenbahndamm, saßen Familien auf der Erde; Männer standen, Kinder spielten an den Rändern der Menschenmenge herum. Es war eine gewisse Bewegung im Menschenhaufen, die Leute waren unruhig, obwohl es Fer war, der sprach.
„Als ich vor einem Monat hierher kam", sagte Roger, „rührte sich keiner, wenn Fer sprach. Was meinen Sie, Hoskins, glauben Sie, der Streik ist verloren?"
„Ich war immer der Meinung, dass dieser Streik technisch verloren gehen wird, wenigstens in dem Sinn, dass es nicht gelingen wird, die Betriebsleitung zu Verhandlungen mit dem Verband zu zwingen."
„Wie denkt denn Fer darüber, weiß er das? Was wird er tun?"
„Ich glaube nicht, dass er das weiß. Der Führer eines Streiks begegnet den Kleinmütigen nicht. Er ist immer von den Leuten umgeben, die nicht glauben wollen, dass es mit dem Streik vorbei ist. Gerade an diesem Punkte, wenn es keinen tatsächlichen Zusammenbruch gegeben hat..."
„Hier hat es ja keinen gegeben."
„Nein. Es war eben nur ein langsames Versacken. Manche gingen fort in die Berge. Manche gingen zurück in den Betrieb. Viele der Besten gehen zurück in die Berge, und viele der Schlechtesten gehen zurück in den Betrieb. Dann gibt es noch etwas. Die Leute hier haben Fer so gern, es ist ihnen peinlich, ihm etwas Unangenehmes zu sagen. Es ist ihnen peinlich zu wissen, dass Leute in den Betrieb zurückgehen, und sie schweigen darüber. Dann gibt es noch etwas: diese Leute streiten nicht gerne mit jemandem, den sie achten. Man behauptet ihnen gegenüber etwas, und sie sagen dazu: ,Vielleicht hast du recht.' Das bedeutet aber nicht, dass sie einverstanden sind. Es bedeutet nur, dass sie den Betreffenden achten."

Roger schlenderte weiter durch die Menge. Er hatte das Gefühl, schwankenden Boden unter den Füßen zu haben. Es war schwer, den richtigen Ausdruck dafür zu finden, aber es war unleugbar da, drohender als die Bajonette der Zeitpolizisten. Die Streikpostenkette, schwächer denn je, machte sich auf den Weg. Roger stieß mit Irma zusammen.
„Sie sehen müde aus", sagte er.
„Ich hatte heute keine Zeit zu frühstücken. Ich musste früh aufstehen und nach Tesner hinüberfahren. Mamie Lewes war bei der Versammlung dabei. Ist diese Frau wunderbar! Sie hat gesungen."
„Kommen Sie mit, wir trinken einen Kaffee und essen ein Brötchen", schlug Roger vor.
Sie gingen die Straße entlang, in ein kleines und schmutziges Restaurant. Es war eine ungewohnte Stunde, und das Restaurant war bis auf die beiden leer.
„Was ist denn los?" fragte er.
„Ach, es sind furchtbare Zustände", sagte sie. „Es ist Fer, es ist, dass wir mehr Leute brauchen. Es ist, dass wir uns ausbreiten müssen. Es ist, dass wir noch und noch Anforderungen aus andern Städten bekommen und niemanden zum Hinschicken haben."
„Was denken Sie von den Leuten hier?" „Ich denke nichts. Ich weiß es. Sie gehen zur Arbeit zurück. — Wenn wir bloß etwas mehr Leute hier hätten, um zu ihnen zu reden! Die Leute aus dem Norden wissen nicht, was ein Streik für diese Leute hier bedeutet. Im Norden haben die Leute, wenn sie streiken, gewöhnlich ein bisschen Geld in der Bank oder Kredit. Hier haben die Leute die Arbeit niedergelegt und hatten nicht einmal 25 Cents in der Tasche. Sie kaufen in der Werkkantine ein und haben keinerlei Kredit. Im Norden gibt es in den Arbeiterfamilien gewöhnlich ein Familienmitglied, das in einer andern Industrie beschäftigt ist. Hier arbeitet die ganze Familie im selben Betrieb. Sie besitzen gar nichts. Ich muss jetzt gehen und Mutter Gilfillin besuchen. Sie will wegen Frau Whenck mit mir sprechen."

Roger begleitete Irma zu Mutter Gilfillin. Das ganze Haus war vom Streik erfüllt. Die Frauen, Daisy West und Mutter Gilfillin, waren zu aufgeregt, um es mit dem Saubermachen sehr genau zu nehmen. Wegen der jungen Leute, die dort wohnten, trieben sich, wie Mutter Gilfillin sagte, ewig Streikende im ganzen Haus herum. Man hatte den Eindruck eines ununterbrochenen Kommens und Gehens. Das Leben war desorganisiert, rastlos und unordentlich.
Mutter Gilfillin, mit Augen, scharf wie die Bohrer, kaute ernst an ihrem Priem und winkte sie in die Küche
herbei mit einem Finger, der so mager war wie die Kralle eines Vogels. Sie schloss hinter ihnen die Tür. ,.Fräulein Irma", sagte sie, „Sie kennen doch meine Bekannte, Frau Whenck. Wo ich immer mit zusammen herumgegangen bin?"
„Ich hab sie schon lange nicht mehr gesehen", sagte Irma.
„Nein, die haben sie schon lange nicht mehr gesehen. Und warum? Weil sie Pellagra hat. Sie spuckt Blut. Und wie ihr ein bisschen besser wurde, da hat ihre Tochter ein Kind bekommen."
„Wegen dem Kind sollten wir etwas unternehmen", sagte Roger — „ich dachte, es soll ein Fonds da sein für die Streikbabys. Das gibt es doch immer. Das macht sich gut in den Zeitungen."
„Dieses Kind ist kein Streikbaby", sagte Mutter Gilfillin.
„Wieso nicht?" fragte Irma.
„Weil die Jungs die Arbeit wieder aufgenommen haben. Jawohl, das haben sie, und darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Die Burschen wissen, dass sie Streikbrecherarbeit machen, aber in ihrem Herzen sind sie keine Streikbrecher. Es sind zwei oder drei Enkelkinder unter zehn Jahren da, und jetzt ist noch dieses neue dazugekommen. Wo er ist, nämlich der Vater von dem Kind, das weiß nur der liebe Gott. Seit sechs Monaten hat er nichts mehr von sich hören lassen. Ist einfach getürmt von hier wie so viele andere Männer. Noch vor dem Streik. Und wo jetzt Frau Whenck die Pellagra hat, sind eben die Jungs einfach in den Betrieb zurückgegangen. Mein Sohn, der Willy, sagt: ,Ich will mal eine Bande zusammenkriegen und diese Whenckjungens verprügeln.' Und ich sag zu ihm" — sie stieß den Kopf vor wie eine Schlange und stampfte mit dem Fuß —
„,das wirst du hübsch bleiben lassen, Willy Gilfillin!' Und er sagt: ,So, werd ich das, Mutter? Wer soll mich denn abhalten?' Und ich sage" — wieder stieß sie den Kopf vor und stampfte mit dem Fuß — „,ich werde dich schon abhalten, denn ich werde dafür sorgen, dass eure Prügelbande die Whenckjungen nicht belästigt. Ich werde mit dem Verband darüber reden.' Und das ist es gerade, was ich in diesem Augenblick tue, Fräulein Irma. Sie sollen es auch Fer sagen. Ein neues Baby, und der Vater auf und davon, und die Pellagra und die vielen kleinen Jöhren, wo der eine davon ein Krüppel ist."
„Wollen Sie das bitte Fer erzählen?" sagte Irma zu Roger. „Ich muss hinuntergehen und die Lebensmittelverteilung erledigen."

Roger fand Fer im kleinen Büro hinter dem Streiklokal. Jeden Abend wartete ein Haufen Menschen auf die Lebensmittelverteilung. Während Roger sich langsam einen Weg durch die Menge bahnte, hatte er wieder den Eindruck einer Eigenart in ihnen, die sie von jeder andern Menschengruppe deutlich unterschied. Der Unterschied bestand zum Teil in der außerordentlichen Dürftigkeit und Armut ihres äußeren Lebens, die sie zur Innerlichkeit trieben, zur Liebe zueinander und zur Religion. Diese Menschen lebten alle im achtzehnten Jahrhundert. Ihre Weltanschauung war eine Anschauung des achtzehnten Jahrhunderts. Der Platz des Menschen im Weltall war für sie durch das Zeitalter der Vernunft noch nicht getrübt worden. Darwin hatte seine sprengende Lehre nicht für sie geschrieben.
Williams, der alte Prediger, und einige junge Leute saßen zusammen auf einem Ladentisch, mit schlaffen
Schultern, mit gebeugten Köpfen und sangen ein geistliches Lied.
„Oh Herr, welch ein Morgen, oh Herr, welch ein Morgen, oh Herr, welch ein Morgen, wenn der Himmel herunterfällt."
Aus der Menge traten fortwährend Leute an Fer heran, der auf einem hohen Hocker vor dem Schreibtisch saß. Sie kamen mit Wünschen, die eigentlich Doris angingen. Könnten sie Medizin bekommen? Man hatte sie mit Exmission bedroht. Ein Werkmeister wäre dagewesen, um die Frauen einzuschüchtern. Eigentlich kamen diese Leute mit ihren Fragen, Mitteilungen und Wünschen, weil sie das Bedürfnis hatten, sich an der Gegenwart ihres Führers zu erwärmen. Sie liebten ihn.
Burdette hatte zu Roger gesagt: „Seien Sie gewiss, diese Leute gehen mit Fer durch dick und dünn und tun alles, was er sagt."
Sie waren eine einzige große Sippe, und er war ihr Häuptling. Sie gaben ihm die unkomplizierte, ungeteilte Anhänglichkeit einfacher Menschen. Er war ihr David, der dem Goliath des großen Betriebs die Stirn bot. Und diese Treue tröstete ihn manchmal, und manchmal erdrückte ihn fast das Gewicht von soviel Liebe und Vertrauen. Zuweilen konnte er die Anhänglichkeit, die aus ihren Augen sprach, kaum ertragen, denn er wusste, wie ohnmächtig er selbst war und wie gewaltig die Kräfte, die gegen sie aufgeboten waren.
Er wusste auch, dass sie ihn verantwortlich machen würden, wenn der Streik verloren ginge. Er wusste das, wusste auch, was die Werkmeister und die Zeitungen gegen ihn sagen würden. Heute war gerade ein Tag, wo ihm die Nähe der Leute unerträglich war. Er begrüßte
Roger mit Erleichterung und wurde die zudringlichen Leute um ihn herum auf sehr behutsame, sehr freundliche Weise los.

Roger erzählte ihm die Sache mit den Whenck-Jungen und der Bitte Mutter Gilfillins.
„Heut abend mache ich eine Versammlung mit einigen Streikbrechern", sagte Fer. „Ich gehe eben hin. Sie glauben, dass die Betriebe sich darauf vorbereiten, die Arbeit wieder niederzulegen."
„Glauben Sie, dass sie wirklich wieder herauskommen?"
„Ich weiß nicht", sagte Fer sachlich. „Das wäre aber das einzige, was den Streik retten könnte."
Roger fühlte, dass sein Herz einen Sprung tat. Fer hatte also mit einer Niederlage gerechnet. Fer war sich also ebenso wie Roger der langsamen, unmerklichen Zersetzung der Streikfront bewusst. Die Rückkehr der Whenck-Jungen zur Arbeit war nur ein Symptom mehr, nur eine Familie mehr, die durch den Hunger in den Betrieb zurückgetrieben wurde.
Der Verband tat sein möglichstes, tat alles, was man vor irgendeinem Verband erwarten konnte. Er hatte die Verpflichtung bezüglich der zu liefernden Lebensmittel eingehalten. Das reichte aber nicht aus, wenn eine Familie auch nur vom geringsten Missgeschick betroffen wurde. Fer sagte mit ruhig-sachlicher Betonung:
„Sie müssen wieder heraus aus dem Betrieb. Die Streikenden hier sind nicht so wie die Streikenden in jedem andern Streik. Ich hab Ihnen immer gesagt, dieser Streik ist nicht wie andere Streiks. Es ist ein verteufelt seltsamer Streik, wenn eine alte Frau wie Mutter Gilfillin die Whencks vor dem Verprügeltwerden schützt.
In den meisten Streiks würde sich diese alte Frau auf die andere alte Frau stürzen und ihre Söhne gegen die Streikbrecher hetzen. Hier gibt es sehr viele Streikende, die für einige Wochen die Arbeit wieder aufnehmen, um ein wenig Geld zu verdienen und sich über Wasser zu halten, dann aber wieder herauskommen."
„Wenn man das nur organisieren könnte", sagte Roger, „könnte man einen feinen Streik daraus machen. Den Streik gewissermaßen von den Betrieben unterstützen lassen."
„Dazu brauchte man eine bessere Organisation, als wir schaffen könnten. Wissen Sie, Roger, diese Leute haben noch keine Ahnung, was ein Verband eigentlich ist. Sie fühlen es nicht. Sie glauben, eine Gewerkschaft ist so was ähnliches wie eine Kirche. So was wie das Seligwerden. Man gehört zum Verband, und dann wird man auf irgendeine Art selig. Sie haben ein mystisches Gefühl für den Verband. Aber das Gefühl der Solidarität, den wirklichen Kern, das ,alle für einen, einer für alle' und das Gefühl, dass ein Streikbrecher das Niederträchtigste von der Welt ist —, das haben die Leute hier noch nicht."
„Manche doch", sagte Roger. „Wes Elliott, Max Harris, Dan Marks, die Tetherows und Dewey. Und unter den Frauen gibt es auch gute Gewerkschafter wie Mamie Lewes. Sie hat es bestimmt raus."
„Aber was mir den Rest gibt, das ist, dass die Streikbrecher, wenn wir Nachtversammlungen haben, zu mir kommen. Gestern abend sagte ein Streikbrecher zu mir: ,Fer, es tut mir schrecklich leid, dass ich die Arbeit wieder aufnehmen musste, aber ich hab einfach keinen andern Ausweg mehr gewusst.' Und dann erzählte er weiter die übliche Geschichte, Krankheit in der Familie und ein neues Baby. Sie kennen ja den üblichen Druck.
Aber dann kommen sie zu mir und sagen: ,Fer, wir legen die Arbeit wieder nieder, sobald es irgend geht'."
Sie verließen zusammen das schlecht beleuchtete Zimmer. Die Leute nahmen ihre Lebensmittelpakete entgegen. Die roten Helfer schwitzten hinter den Ladentischen. Roger verabschiedete sich von Fer an der Tür. Er ging zum guten Abendessen oben in Frau Thorns blumenbedecktem Häuschen, während Fers Worte: ,Wenn sie bloß herauskämen' als leise Hoffnung in seinem Herzen widerhallten. Seine Beklemmung wuchs. An tausend ungreifbaren Zeichen merkte er die Abschwächung des Streiks. Das feste Gewebe zusammengeschlossener Menschen war im Reißen. Der Streikgeist verblutete, verhungerte. Aber die Hoffnung, dass die Arbeiter herauskommen würden, lebte doch noch.

 

XIV. KAPITEL

Seit einem Monat erhielten verschiedene Bewohner der Werksiedlung nacheinander Räumungsbescheide von der Basil-Schenk-Manufaktur-A.-G. In diesen Bescheiden wurden sie aufgefordert, ihre Häuser zu räumen. In Nordcarolina können Arbeiter während der Nachtzeit nicht exmittiert werden, und Räumungsbescheide müssen eine bestimmte Räumungsfrist enthalten —, erst nach Ablauf dieser Frist dürfen nach dem Gesetz die Habseligkeiten des Exmittierten aus dem Haus entfernt werden. Bisher hatten über sechzig Familien solche Räumungsbescheide erhalten.
Im Streiklokal sagte Henry Tetherow zu Doris:
„Fräulein Doris, ich hab meinen Räumungsbescheid weg."
Sie sah das Papier in seiner Hand an.
„Das ist ja an dich gerichtet!" Henry war erst siebzehn Jahre alt, sah aber aus wie vierzehn.
„Jawohl. Ich bin das Familienoberhaupt. Mein Vater arbeitet nicht. Er ist schon lange krank, so bin ich also das Oberhaupt."
„Wie viele von euch arbeiten denn?"
„Ich und meine Schwestern. Sie sind älter als ich. Wir vermieten das halbe Haus an Truemans. Wenn man ans exmittiert, exmittiert man sie mit. Man sagt, wir werden so ziemlich die ersten sein, die raus müssen, weil man, wie der Streik anfing, die Verbandsversammlung bei uns abgehalten hat."
„Das Datum auf dem Räumungsbescheid ist alt", sagte Doris.
„Jawohl. Sie haben die Räumungen aufgeschoben, wahrscheinlich, weil sie dachten, der Streik wird bald aus sein. Aber jetzt werden sie sie wohl bestimmt durchführen."
Es hatte den Anschein, als ob die Direktion wirklich unweigerlich zur Durchführung schreiten wollte. Sechzig exmittierte Familien bedeuteten dreihundert Obdachlose, wenn man pro Familie nur fünf Köpfe annahm. Sehr oft wohnten mehrere Familien in einem Haus. Mit Ausnahme der großen Familien machten es die Leute wie Mutter Gilfillin oder die Tetherows und vermieteten Zimmer. Exmittierte man die alle, gäbe es mehr als dreihundert Obdachlose.
Wenn in einer so kleinen Stadt wie Stonerton dreihundert Menschen durch Hochwasser oder Feuer obdachlos würden, gälte das als große Katastrophe. Das Rote Kreuz griffe ein, Lebensmittel, Obdach und Kleider ergössen sich in Fülle über die Obdachlosen.
Um diese Exmittierten würde sich aber nur der Verband kümmern. Kein offizielles Wohltätigkeitswerk wurde helfend eingreifen.

Die Räumungen waren für den Dienstag angesetzt. Ein Auto mit Otis Bingham und zwei Kameraleuten stand vor dem Streiklokal. Ein großer Menschenhaufen verstopfte den Laden und füllte die Straße.
„Man sagt, sie exmittieren da drüben bei Truemans!" „Man sagt, Marks soll sofort exmittiert werden!" „Aus der Werksiedlung sollen dreißig Familien auf einmal raus!"
„Wo sollen denn die jetzt hin?"
„Wo werden sie ihre Sachen einstellen?"
„Ich hab meinen Räumungsbescheid hier. Hast du
deine Räumungspapiere schon gekriegt, Mutter Gilfillin?"
„Gott ja, die hab ich schon eine ganze Weile. Wir werden in ein bis zwei Tagen raus müssen, wenn sie uns nicht schon heute heraussetzen."
„Wo sollen wir denn alle bleiben?"
„Fer sagt, man wird ein Zeltlager errichten. Er hat schon Zelte besorgen lassen."
Roger drängte sich durch die Menge. Im Lokal fand er Mamie Lewes und einige andere Mitglieder des Unterstützungsausschusses.
„Wissen Sie, wo geräumt wird?" fragte er.
„Bei den Bellows wahrscheinlich und bei den Tetherows."
Roger stieg in das Auto mit Bingham und den andern Journalisten aus Lafayette. Der Führer des Wagens, der Vertreter einer Presseagentur, bog in die Straße ein, die
zum Betrieb führte. Werkpolizisten kamen heraus und hoben die Hand.
Es war eine öffentliche Landstraße.
„Wo wollen Sie hin? Was wollen Sie?"
„Wir sind Zeitungsberichterstatter. Wir wollen hinauf nach der Werksiedlung."
Ein Werkpolizist ging nach hinten durch das Fabriktor, der andere blieb da. Im nächsten Moment kam der erste wieder, gab ein Zeichen und blies in seine Signalpfeife.
„Geht in Ordnung", sagte der Werkpolizist.
„Dürfen die denn das tun? Dürfen sie einen auf öffentlicher Straße fahrenden Wagen anhalten?" fragte der Kameramann.
„Freilich dürfen sie das", sagte Bingham. Er war der Reporter, der von Polizisten niedergeschlagen worden war. „Sie können uns den Zutritt zur Werksiedlung verwehren, wenn es ihnen so passt. Es ist zwar gesetzwidrig, aber sie tun es doch. Kämen wir vom Verband aus, hätten sie uns gar nicht durchgelassen."

Zuerst kam Bellows dran. Hier war der ganze Krimskrams eines ausgeweideten Haushalts auf der Erde durcheinander geworfen. Eine Kommode neigte sich wie trunken auf die Seite. Man schleppte noch immer Sachen aus dem Haus. Bellows selbst war nicht da. Er war ein ernster Mann in mittleren Jahren, der sich immer aktiv an der Gewerkschaftsarbeit beteiligt hatte und Mitglied der Streikleitung war. Roger kannte ihn nur flüchtig, hatte ihn nur ein einziges Mal gesprochen, als er für Burdette ein Protokoll darüber aufnahm, wie Bellows nach seiner Verhaftung im Gefängnis verprügelt worden war.
Drei Kinder standen daneben und guckten erstaunt die Dinge an, die auf dem Gras ausgebreitet lagen. Ein Mann kam heraus mit einer großen Puppe, die in einem leeren Krug steckte und mit einem gehäuften Arm voll Wirtschaftsgegenstände.
Der Werkarzt, ein großer, dicker Mann mit Hängebacken von der Farbe roher Beefsteaks, stand schnaufend inmitten der im Hof verstreuten Einrichtung. Er war beleibt und kurz von Atem.
Frau Bellows saß auf der Veranda und hielt ein in eine Decke gewickeltes Kind auf dem Schoß. Das Kind hatte Flecken im Gesicht.
„Was fehlt dem Kind?" fragte jemand den Arzt, der erschienen war, um darüber zu wachen, dass keine wirklich kranken Leute exmittiert wurden, denn das war gesetzlich unzulässig. Außerdem hatte der Richter, der die Exmissionen, gegen die Burdette Einspruch erhoben hatte, für zulässig erklärt hatte, besondere Milde bei Krankheitsfällen empfohlen.
„Pocken", sagte der dicke Doktor.
„Warum sind die nicht isoliert?" fragte Bingham.
„Gibt keine Isolierung bei Pocken in diesem Staat Impfzwang und Schulzwang reichen auch ohne Isolierung aus."
„Haben Sie keine Angst, dass es jemanden anstecken kann?"
„Nein, es ist nicht mehr ansteckend! Es ist über die ansteckende Phase hinaus!" Die Augen des Kindes waren fiebertrübe. Sein Köpfchen legte sich schlaff auf die Schulter der Mutter.
„Wenn ich warten wollte, bis das Kind ganz gesund ist, könnte man sie noch zwei Wochen lang nicht exmittieren."
Die Photographen machten Aufnahmen. Die Journalisten sagten einander, dass das Kind ziemlich krank aussehe. Frau Bellows und die exmittierten Kinder sagten gar nichts.
„Die Betriebsleitung hat sehr viel Rücksicht auf diese Leute genommen, hat sehr viel Geduld mit ihnen gehabt. Sie hat noch und noch zugewartet, ob die Leute nicht doch zu Vernunft kommen, bevor sie sie exmittieren ließ. Sie hat Werkmeister in ihre Wohnungen geschickt, um sie zu überreden. Man hat die Exmissionen um mehr als einen Monat aufgeschoben. Was Basil Schenk für seine Arbeiter tun kann, das tut er. Aber alles hat seine Grenzen."
„Wie viele Leute wollen Sie heute exmittieren?"
„Na, vielleicht acht oder zehn Familien, denk ich. Zuerst die Rädelsführer im Verband. Die wollen wir an allen Enden der Werksiedlung auswählen, damit die übrigen sehen, was sie zu erwarten haben. Soll ihnen eine Lehre sein. Ja, Herr, auch die Geduld hat ein Ende."

Die Truemans und Tetherows waren als nächste dran. Eine alte Drehorgel, ein Wandspruch ,Gott segne unser Heim' in Wollstickerei, all der Krimskram des Lebens auf Stühlen und Bettzeug aufgehäuft, durcheinander geworfen. Männer gehen aus und ein, bringen Betten, Küchengeräte, Kleider, Koffer heraus. Trueman steht da und sieht den Männern zu. Henry irrt zwischen den Sachen unsicher herum. Frau Tetherow hat ein eingewickeltes Kind im Arm.
„Das Kind hat Halsschmerzen. Es hat im Bett gelegen. Bestimmt wird in jedem Haus, wo wir hinkommen, ein Kranker im Bett sein. Frische Luft wird ihnen
nichts schaden. Die Betriebsleitung hat eine sehr lange Geduld gehabt. Diese Bude war von allem Anfang an eine Brutstätte der Organisation. Man hätte sie längst hier herausputzen sollen."
,Der Verband sollte doch in dieser Sache etwas unternehmen', dachte Roger. Man hätte eine Demonstration parat halten sollen. Vielleicht war diese Untätigkeit ein Teil des moralischen Verfalls der letzten Tage. Man hätte einen Zug von Streikenden unter Absingung von Kampfliedern hinter der Polizei herziehen lassen sollen. Es war eine erbärmliche Sache, so zuzusehen, wie die Häuser einzeln ausgeweidet wurden, diese Leute inmitten ihrer armseligen kleinen Habe zu sehen, die Art, wie sie lebten und wie sie nicht lebten, vor aller Augen ausgebreitet. Es war unanständig, sie so zu entblößen. Es ging auch einsam dabei zu, keine Freunde waren zugegen, nur die Polizei, die Polizei, in deren Macht es stand, ein Heim in einen Müllhaufen zu verwandeln — und eine isolierte Familie. Nachbarn gucken durch Fenster, Nachbarn stehen auf Veranden, einige Streikbrecher und mehrere Leute vom Verband sind da, alle sehen sie der Lektion zu, die Basil Schenk über den Wert der Gewerkschaften erteilt.
Mrs. Parker würde das gefallen. Sie würde sich freuen, dass Basil Schenk sein weiches Herz und seine Geduld endlich überwunden hat. ,Werft sie hinaus! Jagt sie hinaus! Nur so kann man es ihnen beibringen.'

Als die Woche um war, sah die Werksiedlung der Basil-Schenk-Manufaktur-A.-G. wie ein Zigeunerlager aus. Dreißig Familien waren exmittiert worden. Im Verbandsbüro schätzte man die Zahl der Obdachlosen auf fast zweihundert Personen.
Die exmittierenden Beamten gingen in Begleitung des dicken Werkarztes herum und exmittierten regelmäßig täglich zehn Familien. Nach den ersten Räumungen hatten sie einen Tag gewartet. Anscheinend rechneten sie mit einem Zurückfluten der Arbeiter in die Betriebe.
Das geschah jedoch nicht. Die Arbeiter waren zornig. Die Räumungen stärkten die moralische Widerstandskraft der Führer und die Moral der Arbeiter. Der Streik, der begonnen hatte abzuflauen, ballte sich zu einer harten Faust zusammen.
„Es ist ein Skandal, was sie mit den armen Leuten machen", sagte Frau Thorn zu Roger. „Ganz Stonerton ist aufgebracht gegen die Basil-Schenk-A.-G."
„Ja, auch Leute, die nicht für den Verband sind, sind wütend."
„Leute, die nicht für den Verband sind, haben auch Mitleid mit den armen Leuten, die man so herausgeschmissen hat."
Harry, der Streikbrecher, wohnte noch immer bei Frau Thorn.
„Harry sagt, man murrt im Betrieb. Man ist keineswegs zufrieden im Betrieb", sagte Lissa.
„Harry meint, sie wollten die Arbeit niederlegen. Aber ich vertraue ihm nicht. Er hat keine Ehre im Leibe."
Roger wusste, dass Fer und Wes Elliott und Dan Marks und Jolas mit Streikbrechern aus dem Betrieb Versammlungen abhielten. Seit den Exmissionen war im Streik plötzlich eine scharfe Wendung eingetreten. Er war wie ein lebendiges Wesen, das ein eigenes Leben in sich trug. Er war stark und stramm, verblutete dann fast, wurde schwach und nachher wieder stärker.
Roger ging mit Lissa und Doris Pond mit. Sie machten in der Werksiedlung die Runde, besuchten die Leute dort, um zu sehen, wie es ihnen geht, was man tun könnte, um ihnen zu helfen. Die Familien mit kleinen Kindern sollten zuerst ein Obdach erhalten. Die Arbeit war ungeheuer. Alle Mitglieder des Unterstützungsausschusses waren bis zum äußersten überlastet, um auch nur die allernotwendigsten Räume aufzutreiben. Wo der Streik nach der Erregung der ersten Tage ein wenig abgeflaut war, war jetzt wieder alles voller Aufregung. Wieder gab es eine Fülle von Ereignissen, die eine Menge Einzelheiten mit sich brachten und jeden verantwortlichen Streikenden mit praktischen Problemen überfluteten, die sofort gelöst werden mussten.
Mamie Lewes gab dieser Lage Ausdruck, als sie mit Doris zusammen herumlief.
„Sie haben sicher genug zu tun, Fräulein Doris", sagte sie. „Sind Sie schon bei Robertsons gewesen?"
Doris stapfte weiter, den Kopf gebeugt, die Schultern ein wenig gerundet, als trüge sie einen Sack Mehl auf dem Rücken. Ihr Kleid war an der einen Seite länger als an der andern.
„Nein, ich hab einen von den Burschen hingeschickt." „Haben Sie die Sache mit Robertsons gehört?" fragte Mamie Lewes Roger. „Nein, noch nicht."
„Wie die Polizei gekommen ist, haben die Robertsons einfach die Tür verrammelt und Robertson, der hat sein Gewehr herausgeholt und gemeint, er würde jeden Bullen oder Zeitpolizisten zur Hölle schicken, wenn sie seine Haustür zu sprengen versuchten. Na, sie haben dann den Sheriff geholt, und der ist gekommen, und Robertson hat sich die ganze Bande länger als vierundzwanzig Stunden vom Leib gehalten."
„Und dann?"
„Dann haben die Kinder angefangen zu weinen, und die alte Frau Robertson, die bei ihnen wohnt, hat gebeten und gebettelt, er soll sich ergeben. Sie hatten alles vor die Türen geschoben und die Matratzen obenauf gelegt. Und Mary Robertson, die hat bloß immer geschrieen und gerufen, sie hat gesungen und noch gesungen und sie haben nicht nachgegeben, bis die alte Frau sie überredet hat, weil nichts mehr zu essen übrig war. Sie hat gesagt: ,Ihr müsst ja einmal doch nachgeben. Hat keinen Sinn, die Kinder leiden zu lassen. Ihr könnt ja doch nicht zusehen, wie sie verhungern.' Und der Sheriff, der sagt: ,Wenn ihr nicht bald aufmacht, lass ich Tränengasbomben holen'."
Oben in der Werksiedlung lag überall Hauskram ausgebreitet. In der ganzen Siedlung gab es eine lebhafte Bewegung. Die ganze Bevölkerung lief hin und her, um zu sehen, wer exmittiert worden war. Aus der Ferne hörte man Gesang. Gruppen von Streikenden zogen jetzt bei den Räumungen mit und sangen Hymnen und Kampflieder. Das war Irmas Werk. Sie billigte zwar das Singen von Hymnen nicht, aber sie musste es mit in den Kauf nehmen.
Zuerst gingen sie zu den Wrights. Im allgemeinen Wirbel der Erregung und des Durcheinanders war hier ein Pfuhl der Stille. Frau Wright, eine hübsche Frau, saß ruhig und schrieb einen Brief an ihren Mann. Ihr Baby schlief in einem Wäschekorb. Von allen Möbeln, die Roger gesehen hatte, waren das hier die einzigen, die neu aussahen. Er dachte, dass sie irgendwann ein wenig Geld gehabt haben mussten, nicht viel, aber die Möbel sahen gepflegt und frisch gestrichen aus. Das sorgfältig aufgeschichtete Geschirr war ein vollständiges Service
mit gemalten Blumen. Auf einem der abgetakelten Betten lag ein sauber zusammengelegter Haufen frisch gewaschener Gardinen.

Gegenüber, hügelabwärts hinter dem Feld, wurde Frau McClure gerade exmittiert.
„Schauen Sie, Fräulein Doris", sagte Mamie Lewes. „Sie setzen Frau McClure heraus. Haben sie denn nicht versprochen, dass sie sie nicht raussetzen werden?"
„Wir dachten, sie müssten sie in der Wohnung lassen, weil sie so bald niederkommen soll." „Ja, jeden Augenblick, wie ich höre." Im Wirrwarr der Räumung saß Frau McClure mit geschlossenen Augen da, Tränen strömten über ihre Wangen. Sie weinte lautlos, endlos. Ihre fünf Kinder, alle klein, waren um sie versammelt. Das kleinste war nur etwas über ein Jahr alt, und jetzt konnte jeden Augenblick das neue kommen.
„Wann erwarten Sie das Kind, Frau McClure?" fragte Doris.
„Jeden Moment, jetzt schon. Ich kann mir einfach nicht denken, was ich tun werde."
„Na, denk halt nicht", sagte Mamie Lewes und tätschelte sie. „Denk nicht. Der Verband wird dir gleich ein Zimmer finden. Wir kommen dann einfach und nehmen euch alle mit." Doris sagte:
„Wir haben auch einen Raum für Ihre Möbel, Frau McClure, so dass Sie sich deshalb nicht zu sorgen brauchen, während Sie krank sind."
„Ich kann einfach nicht denken, was ich tun soll. Ich konnte mir nicht denken, dass sie mich gleich drannehmen, wenn sie sehen, was mit mir los ist. Ich sag ihm: ,Doktor, ich kann doch nicht gehen und das Haus
dalassen mit den vielen Kindern, wo alle Augenblicke noch eins kommen kann.' Und der sagt: ,Sie haben genug Zeit für den Verband, dann sollen Sie auch genug Zeit haben, ein Zimmer zu finden, noch bevor Sie es so nötig brauchen.' Und seither bin ich ganz schwindlig und verwirrt."
„Ihr Mann ist nämlich fort, der kassiert Verbandsgelder in den Betrieben da unten bei Asheville und ist gerade verhaftet worden. Das ist ihr freilich auch nahe gegangen. Und jetzt kommt noch das hier dazu."
„Wir wollen gleich alles für Sie erledigen, Frau McClure", sagte Doris.
„Ich geh jetzt gleich hinunter zum Verband und such dir ein Zimmer, und dann hol ich dich und die Kinder und schick einen Möbelwagen um deine Sachen." Mamie Lewes eilte davon.
Doris und Roger setzten die Besuche in der Werksiedlung fort, um nach den alten Leuten und Kranken zu sehen, die exmittiert werden sollten. Viele hatten Rheumatismus, viele waren eben aus dem Bett aufgestanden. Auch kranke Kinder gab es. Aber keiner murrte. Der Verband war durch die Exmissionen fest zusammengeschweißt worden.
Es dämmerte schon, als sie zum Streiklokal zurückkehrten. Man hatte im Freien Herde aufgestellt und kochte Abendbrot, Den Kindern machte die Sache großen Spaß. Als sie bei Truemans vorübergingen, spielte unten jemand ,Home, Sweet Home' auf der Drehorgel.

In der Nacht regnete es. Als Roger frühmorgens zum Frühstück kam, sagte Frau Thorn:
„Ist das nicht fürchterlich? Hat mich die ganze
Nacht wach gehalten, dieser Regen auf dem Dach. Alle diese armen Leute, die draußen liegen müssen, wenn es so regnet. Habt ihr für Frau McClure ein Zimmer gefunden?"
„Ja, Mutter. Man hat sie alle gestern abend versorgt und zu Bett gebracht."
„Habt ihr auch die Möbel untergebracht?" „Ja, auch das."
In der Tür erschien Binney Jolas. „Mamie Lewes möchte wissen, ob Sie nicht herunterkommen können mit dem Frühstück, um bei den Leuten mitzuhelfen? Fräulein Doris war fast die ganze Nacht wegen des Regens auf."
„Mamie Lewes wohnt unten bei den Landers, und ihre Schwester passt auf ihre Kinder auf, seitdem diese Exmissionen angefangen haben und sie so viel aushelfen muss", sagte Lissa.
Sie gingen zum Streiklokal hinüber. „Wie halten sie unter dem Regen durch?" „Es geht alles gut", sagte Doris. „Sie sind gar nicht so nass geworden, wie ich befürchtete. Sie haben die Betten unter die Häuser gezogen. Einige sind eingebrochen. Ich hab jetzt fast alle kleinen Kinder unter Dach."
Alle Bewohner der Werksiedlung und auch viele, die nicht in der Siedlung wohnten, hatten den Exmittierten leerstehende Betten zur Verfügung gestellt. Sie beluden den Ford mit Paketen, Kaffee, Zucker, Milch, Bohnen, Mehl, Fett, Speck, Lebensmittel für den Tagesgebrauch. Zuerst hielten sie vor dem Haus eines Streikenden, den Roger nie gesehen hatte. Die Kinder hatten rote Haare, sie sahen aus wie Irländer. Jetzt, da die Sonne wieder schien, hatten sie die Betten ins Freie gezogen. Die Kinder guckten mit strahlenden Augen aus ihren Bettchen, die da im Freien standen. Die Frau war dabei, auf einem mitten im Hof aufgestellten Kochherd Frühstück zu kochen. Alle schienen sich sehr gut zu unterhalten.
„Mein Junge, der John, der ist auf die Bullen losgegangen. Zuerst wollte er sich vor ihnen verstecken. Dann aber ist er gerannt, wollte sie verhauen und hetzte seinen Hund auf sie. Ein Glück, dass sein Vater nicht da ist, der hätte die Bullen nie und nimmer hereingelassen."
Auf der Straße hielt Frau Robertson eine Brandrede. Sie stand auf einem Damm in der Nähe ihres Hauses. Der Hügel war an dieser Stelle steil. Weiter unten an der Straße war die Polizei an ihrer Räumungsarbeit. Frau Robertson warf den Kopf zurück und sagte, als stände sie auf der Rednertribüne, ihre Meinung über die Basil-Schenk-Manufaktur-A.-G.
„War das nicht Robertson, der sich verbarrikadierte?" fragte Roger.
Doris nickte. Sie hörten die tiefe, trotzige Stimme Frau Robertsons. Eine Menschenmenge sammelte sich allmählich an. Die Polizei bemühte sich, demonstrativ gleichgültig zu erscheinen.
Überall war dasselbe. Der Regen schien auf den Mut der Leute eingewirkt zu haben, als wären sie Pflanzen, die erfrischt worden waren.
In der Streikpostenkette, in einem Aufmarsch, überall, wo sich Arbeiter versammeln und sich gegenseitig unterstützen, ist es leicht, kampffreudig zu sein, aber wenn man im Dunkeln allein ist und alle Sachen draußen im Regen stehen, könnte man erwarten, dass auch der Kampfgeist etwas gedämpft wird. Aber bei diesen Leuten geschah das nicht. Alle hatten Mut. Als
ob sie sagten: ,Was immer ihr mit uns tut, ihr könnt uns nicht wankend machen.'
Als läse sie Rogers Gedanken, wandte sich Doris ihm zu und knurrte ihn mit ihrer vor Müdigkeit heiseren Stimme an:
„Diese Frauen sind aktive Kämpfer!"

 

DRITTER TEIL

XV. KAPITEL

Schon vor den Exmissionen hatte die Basil-Schenk-Manufaktur-A.-G. das Lokal der Streikleitung räumen lassen. Nach der Zerstörung des Streiklokals hatte das Unterstützungslokal auch als Büro herhalten müssen. Der kleine Alte, der Eigentümer des Ladens, schien freundlich genug gesinnt. Fast alle Einwohner des Dorfes Alt-Stonerton sympathisierten mit den Streikenden.
„Ist doch fürchterlich, wie diese Bullen mit den Leuten umspringen!"
„Ich begreife nicht, wie die Leute so viel Geduld
haben."
„Ich staune nur, dass von der Polizei noch keiner erschossen worden ist."
„Die Polizisten sollten wirklich hohe Löhne kriegen, bei den langen Arbeitsstunden!"
Die Leute an den Straßenecken sagten fortwährend solche Dinge. Auch Herr Duncan, der Eigentümer des Ladens, redete von dem ,armen, bedrückten Volk' — aber er suchte Doris auf und sagte ihr, dass der Verband zum Monatsende ausziehen müsse. Er schien sich zu schämen, als er das sagte, und sah weg, indem er leise
murmelte:
„Ich hab Angst, der Mob wird auch meinen Laden
zerstören."
„Haben Sie denn so etwas gehört?" fragte Doris.
„Nein, Fräulein. Ich hab noch nichts gehört, aber ich hab Angst. Man sagt, dass der Hunderter-Ausschuss
immer stärker wird, und man sagt auch, dass die Basil-Schenk-A.-G. genug davon hat, wie dieser Verband durchhält, und sie wird unbedingt bald irgendeinen Krawall anzetteln. Ich trau mich nicht, ihnen den Laden zu lassen." Obwohl Fer den Alten aufsuchte und Roger mit Frau Thorn und Lissa, die mit ihm sehr befreundet waren, ebenfalls hinging, blieb der Alte fest. Frau Thorn sagte zu Roger:
„Wird wohl von Basil Schenk den Befehl bekommen haben. Man hat ihm wahrscheinlich gesagt, man würde es ihm besorgen, wenn er den Verband nicht an die Luft setzt."
Sie übersiedelten zunächst in eine winzige Laube, ein paar Häuser vom alten Lokal entfernt. Das Haus hatte ein Wellblechdach, war nur halb so groß wie das frühere Lokal und hatte zugenagelte Fenster. Es herrschte eine fürchterliche Hitze. Aber auch dieses notdürftige Obdach wurde ihnen bald genommen. Und obwohl es genug schäbige Lokale mit der Tafel ,Zu vermieten' gab, war keines von ihnen für den Verband zu haben.
Die gehetzten Besitzer machten faule Ausreden. Sie sagten den Kommissionen, die der Verband mit der Beschaffung irgendeines Raumes beauftragt hatte, dass ihr Lokal ,nicht zu vermieten' oder ,eben vermietet worden sei' oder dass sie eben ,im Begriffe wären, Reparaturen vorzunehmen' oder klipp und klar ,an den Verband vermieteten sie nicht'. Irgendeine Weisung war vom Unternehmer ausgegangen. Drohung oder Warnung — es reichte aus, um den Verband für jeden Besitzer eines leeren Speichers oder Ladens tabu zu machen.
„Sie haben Angst, dass man ihnen den roten Hahn aufs Dach setzt", erklärte Frau Thorn.
Zuweilen musste Doris die Lebensmittelverteilung im
Freien vornehmen. Ein Lastauto wurde auf ein leeres Baugelände gefahren, und die Leute holten sich dort ihre Pakete.

Sie kämpften noch mit diesem Problem, als die Massenexmissionen kamen. Von Anfang an hatte Fer eine Zeltkolonie für den Fall in Aussicht gestellt, dass Räumungen vorgenommen werden würden.
„Wir kümmern uns nicht um Räumungen, wir gehen einfach und wohnen in Zelten und machen Ferien."
„Der Sommer kommt, wir werden einfach in unseren eigenen Zelten leben." Die Leute wiederholten es: „Wir werden einfach in unseren eigenen Zelten leben" — und man schickte um Zelte.
Aber die Unterbringung der Menschen war letzten Endes Sache des Unterstützungsausschusses, während die Unterbringung des Verbandsbüros Fers Sache war. In einer Verbandsversammlung beschloss man, eine Parzelle zu pachten und ein eigenes Verbandsbüro zu bauen. Ein elektrischer Schlag durchzuckte die Arbeiter, besonders die Männer und Burschen.
„Wir bauen ein eigenes Verbandslokal." „Ja, wir werden ein eigenes Grundstück haben, wo uns keiner rausschmeißen kann."
Eine Sammlung zum Ankauf von Bauholz wurde von der Zimmererorganisation veranstaltet, die mit den Streikenden sympathisierte; aber noch immer gelang es nicht, ein verfügbares Stück Land zum Pachten zu
finden.
Lissa Thorn war es, die endlich eins fand. Das Land gehörte Freunden ihrer Mutter. Es lag an der Hauptstraße nach Braddock zu, jenseits des Eisenbahndamms; ein breites Feld zwischen zwei neuen Häusern. Dieselben
Leute besaßen auch ein kleines, von hohen Bäumen umgebenes Waldtal jenseits einer Schlucht. Ein kleines Flüsschen durchströmte das Tal, hier konnte man Wasser holen. Die Lichtungen zwischen den Bäumen gäben einen idealen Platz für die Zelte ab — wenn die Zelte da wären. An der Straße selbst lag der Versammlungsplatz, wo auch das Verbandsbüro erbaut werden sollte.
Lissa führte Fer auf der Parzelle herum. Auch sie hatte jetzt etwas für den Verband getan. Fers Gesicht trug den hellen Ausdruck, den er hatte, wenn er glücklich war. Er sah alles, wie es sein würde —, hier sollte der Verbandssaal erbaut werden; hier würden die Versammlungen abgehalten werden. Hier sollte die Zeltkolonie stehen.
„Unser eigenes Land, und wir können den Bullen den Zutritt verbieten, wenn wir wollen." Hier könnten die Kinder spielen und hier die Zelte stehen.
„Lissa, das ist ein feiner Platz. Wie hast du ihn dazu gebracht, dass er ihn uns gibt?" Sie standen im Tal unter den Bäumen — er fasste ihre Hände und schwang sie hin und her.
„Mutter hat mit ihm gesprochen", sagte sie scheu. „Wir stehen auf eigenem Boden. Wir haben jetzt zum ersten Mal einen eigenen Platz. Es ist ein feiner Platz, und du bist auch fein, Lissa." Damit küsste er sie flüchtig, aus bloßem Gefallen an ihr.
Lissa errötete. Das Unglaubliche war geschehen. Fer Deane, der große Führer, hatte sie geküsst. Ihr Herz schlug so, dass sie kaum atmen konnte. Ihr gesunder Verstand sagte ihr, dass er sie in einem Augenblick der Freude flüchtig geküsst hatte und dass in diesem Kuss mehr Dankbarkeit als Zuneigung lag. Aber doch hatte er sie geküsst. Er liebelte nie mit den Mädchen. Er hatte nur für den Streik und für die Streikenden Interesse.
Sie war vor allen anderen auserwählt worden. Dieser Kuss war etwas, das ihr keiner wegnehmen konnte, auch nicht den Augenblick der Zusammengehörigkeit, als er ihren Arm durch den seinen gezogen hatte und sie beide allein durch den sonnenbeschienenen Wald gewandelt waren.

Violet Black hatte die Arbeit wieder aufgenommen. Es war eine große Erschütterung für alle. Violet Black war mit einer Gruppe von Streikenden nach dem Norden gefahren, um bei den Gewerkschaften Streikspenden zu sammeln. Ihr Mann, der Streikbrecher war, versuchte, den Verband wegen ,Entfremdung seiner Gattin' gerichtlich zu belangen. Es war eine fingierte Klage, deren Zweck es war, dem Verband Ungelegenheiten zu bereiten und der Öffentlichkeit vor Augen zu führen, dass die Roten im Verband an ,freie Liebe' glaubten, in ,freier Liebe' lebten und herumliefen, um Familien zu zerstören. Die Klage wurde abgewiesen, und Violet Black erklärte, dass sie auf eigenen Antrieb und aus eigenem Willen nach dem Norden gefahren war.
Jetzt war sie zur Arbeit zurückgekehrt —, ob bestochen oder eingeschüchtert, wusste keiner.
Keiner wusste genau, wie viel Leute zur Arbeit zurückkehrten. Ein Riss in den Reihen des Verbandes war nicht entstanden, auch hatte keine auffallende Anzahl von Arbeitern auf einen Hieb die Arbeit wieder aufgenommen.
Der alte Mason stand eines Tages in der Streikversammlung auf und sagte, der Streik sei verloren, er sei dafür, dass man ihn abblase.
Er wurde aus der Versammlung gejagt.
Man brachte jetzt keine Lastautos voll Streikbrecher aus andern Bezirken mehr herein, wie man es im An-
fang versucht hatte. Am Tage der größten Räumungsaktion, als über sechzig Familien obdachlos wurden, hatte die Werkdirektion erklärt, der Streik sei zu Ende —, sei schon seit langer Zeit zu Ende gewesen, und der Direktion stünden soviel Arbeiter zur Verfügung, wie viel sie nur gebrauchen konnte.
Gleichzeitig führten die Werkmeister eine organisierte Kampagne durch. Sie besuchten sämtliche im Verband organisierten Familien. Ganz besonders die Frauen. Man machte bei ihnen Staatsvisite. Man bat sie, die Arbeit wieder aufzunehmen. Auch Briefe wurden verschickt, in denen stand, dass man sich um Verbandstätigkeit nicht kümmern würde. Das Wort ,Gewerkschaft' wurde nicht ausgesprochen, man umschrieb den Sinn, da die Arbeitgeber und der Industriellenverband das Bestehen einer Gewerkschaft überhaupt nicht zugaben.
Das Ortsblatt hob den Großmut der Basil-Schenk-A.-G. hervor, die auch selbst auf einer ganzen Inseratenseite erklärte, 6ie würde jeden Arbeiter einzeln wieder einstellen und seine Beschwerden anhören.
Alle wussten, dass Violet Black in den Betrieb zurückgekehrt war. Auch andere Leute schlichen sang- und klanglos zurück. Sie kamen eben nicht mehr zu den Verbandsversammlungen —, wie die alte Whenck. Die Zeitungen beschäftigten sich mit dem Fall Violet Black. Sie brachten Aussprüche von ihr, die den Verband schädigten. Sie wäre zur Überzeugung gekommen, dass der Verband den Arbeitern nicht helfen könne und dass die Werkdirektion der beste Freund der Arbeiter sei.
Streiks sind in dieser Hinsicht eigenartig. Die Rückkehr zur Arbeit eines Einzigen, die Bestechung eines Einzigen kann mehr Wirkung haben als ein Dutzend andere Fälle. Violet Black hatte einen so ehrlichen Eindruck gemacht. Sie war im Unterstützungsausschuss
sehr aktiv gewesen. Und jetzt war sie wieder im Betrieb. Eine Regung der Unruhe ging durch die Arbeiter, die, in ihren engen Quartieren zusammengepfercht, ängstlich ihre wenigen Habseligkeiten bewachten.

Wes Elliott spürte dieses Beben in den Reihen der Streikenden. Fer war in den Alltag des Streiks vertieft, in die Einzelheiten der Pachtung des Geländes und der Besorgung des Materials, in die ewigen Probleme der exmittierten Streikenden.
Wes aber fühlte ein Gefahrenmoment. So konnte der Streik nicht enden. Dieses Wegsickern der Leute musste aufhören. Er stürzte sich in den Kampf um die Festigung der Moral. Er und Cuthbert, der junge Trent und ein aus weiteren Streikenden bestehender Ausschuss besuchten jeden einzelnen persönlich. Zuerst statteten sie solche Besuche bei einem halben Dutzend der treuesten exmittierten Frauen ab. Sie banden den exmittierten Kindern Armbinden um und schickten sie auffällig auf die Straße hinaus. Die Journalisten schnappten ein, und Bilder dieser Kinder liefen durch die gesamte Presse. Dann ließ man die Kinder in Gruppen zu zweien und dreien aufmarschieren und sich zuletzt, als sie sich dem Pachtgelände näherten, zu einem Zug formieren. Ein Stoßtrupp bildete sich aus von Leuten, die weder vor dem Terror, noch vor den Polizeibrutalitäten, noch vor der Exmission, noch vor dem Mob zurückschreckten. Männer und Frauen, die unerschütterlich blieben — ein Kern, von dem man ausgehen konnte.
Um diesen Kern herum gab es eingeschüchterte Leute, Leute, die man bestechen konnte, Leute, die den Pfaffen zugänglich waren, Leute, die einen Tag so und den nächsten Tag wieder anders dachten, Leute, die
immer dem Redner recht gaben, den sie zuletzt gehört hatten, die für den Verband waren, wenn sie ein Argument zu dessen Gunsten, und dagegen, wenn sie ein Argument zu dessen Ungunsten gehört hatten.

Dann aber traf, gerade im richtigen Augenblick, das Bauholz aus der Zentrale ein. Fer selbst war ein guter Arbeiter. Auf dem Gelände arbeitete man jetzt mit Volldampf. Man errichtete ein Holzgerüst für ein ziemlich geräumiges Gebäude, mit Fenstern und einer Tür, und all das gehörte dem Verband. Für das Volk war das eine Verheißung dessen, dass der Verband dauern würde. Für die Arbeitgeber war es eine Drohung: dieser Verband ist ein für allemal da. Ein eigenes Lokal, ein greifbares Zeichen der Solidarität der Gewerkschaften. Gespendet dem Verband der Textilarbeiter von anderen Verbänden.

Immer umringte eine Menschenmenge den kleinen Bau. Das Klopfen der Hämmer war Musik für ihre Ohren. Das Hämmern hörte von Morgen bis Abend nicht auf. Auch während der Lebensmittelverteilung ging das Hämmern weiter.
Der ganze Verband sah dem Einschlagen jedes einzelnen Nagels zu.
Das Gefühl der Unsicherheit war weg. Man machte sich über die Ortsblätter und ihre Leitartikel lustig.
„Wisst ihr noch, wie sie im Anfang schrieben, es würde keine Unterstützung geben?"
„Ja, sie haben geschrieben, es würde keine Unterstützung geben."
„Wisst ihr noch, wie sie schrieben, Fer käme nicht
zurück —, damals, als er zur Versammlung nach Johnson City war?"
„Ja, sie sagten, er wäre ausgerissen."
„Jetzt sagen sie wieder, es würde keine Zeltkolonie zu Stande kommen."
„Na ja. Diese alte ,Stonerton Times' sollte ,Stonerton Hard Times' (Anm.: „Stonerton Times" heißt wörtlich übersetzt: „Stonertons Zeiten", „Stonerton Hard Times" bedeutet: „Stonertons schwere Zeiten".) heißen."
Fer lief feixend herum; durch das wirkliche Erbauen eines eigenen Hauptquartiers hatte er ein Gefühl der Stabilität und Sicherheit wie nie zuvor. Seine eigenen Zweifel waren jetzt verschwunden. Er hatte neue Pläne und weitere Projekte. Auch hatte er das Gefühl, er könne sich auf Wes Elliott und seine Jungen verlassen und auf die Frauen, die mit ihnen zusammenhingen — auf diese Leute, die absolut zuverlässig waren und sich nicht verkrümeln würden.
Er hatte seine Leute nunmehr kennen gelernt und hatte keine Angst mehr. Der kleine Bau war für sie alle ein Symbol. Sie bauten nicht nur ein Dach und eine Wand, sie errichteten einen Bau, der für den Verband eine seine Größe und seine Kosten weit übersteigende Bedeutung annahm.
Es war das erste verbandseigene Verbandslokal im Süden, gespendet von organisierten Arbeitern, erbaut durch organisierte Arbeiter. Fer, die Funktionäre und alle redegewandten Streikenden übergossen das Haus mit einer Flut von Rhetorik.

Doris hatte es schwer. Der Geist der Rebellion und des Widerstandes, der das erste Ergebnis der Exmissionen gewesen war, hatte sich jetzt schon gelegt. Der feste Mut der ersten Räumungen war verflogen. Frau Robertson, die bei der Räumung den Polizisten ihre Herausforderung entgegengeschmettert hatte, jammerte jetzt ununterbrochen. Frau Wright, die ein so gutes Beispiel gegeben hatte, als sie ihrem Mann einen Brief schrieb, während das Baby im Wäschekorb schlief — eine Tatsache, die Ed Hoskins und Roger in ihren Artikeln groß aufgemacht hatten — war in aller Stille verschwunden und mit samt ihren hübschen Möbeln in die Werksiedlung zurückgekehrt.
Ihr Mann hatte die Arbeit wieder aufgenommen und dem Verband den Rücken gekehrt. Jetzt meinte jeder, er sei ein Spitzel. Frau Winstead klagte Tag und Nacht und sprach von nichts anderem als von den Bergen. Doris machte verbissen die Runde durch all die Räume, die der Verband zur Unterbringung der exmittierten Arbeiter gemietet hatte, und auch durch alle Orte, wo solche Arbeiter von Freunden beherbergt wurden. Sie war schon ebenso reizbar geworden wie die Leute, mit denen sie sprach.
„Wann kommen denn schon die Zelte, Fräulein Doris?"
„Um Himmelswillen! Ihr wisst genau so viel davon, wie ich."
„Was glauben Sie, was aus den Zelten geworden ist? Da hat einer gesagt, dass Basil-Schenk sie alle irgendwo auf ein totes Gleis hat schieben lassen. Ist das wahr. Fräulein Doris?"
„Um Himmelswillen! Ihr wisst genau so viel davon wie ich. Die Zelte werden hier sein, wenn sie da sind."
„Die Zeitung schreibt, dass die Zelte nie kommen werden, Fräulein Doris."
„Die Zeitungen schreiben ja immer nur die Wahrheit, nicht wahr? Die Zeitungen haben euch auch gesagt, dass es kein Verbandshauptquartier geben wird. Jetzt seht es euch an —, ist fast schon fertig."
„Was soll ich machen wegen der Einstellung meiner Möbel, Fräulein Doris?"
„Ich kann ja nicht für die Einstellung sämtlicher Möbel sorgen. Ihr müsst auch selbst etwas für euch tun." Die langen Jahre in der Werksiedlung, die Vormundschaft, unter der sie gelebt hatten, hatte ihnen die Initiative genommen. Es hatte den Anschein, als ob sie nicht imstande wären, ihrer Schwierigkeiten allein Herr zu werden. Einige Streiker verteilten ihre Möbel unter ihre Freunde oder fanden selbst Unterkunft für sie. Aber an vielen Stellen waren die rührenden Häuflein Möbel und Hausrat tagelang im Freien liegen geblieben. Die Matratzen schob man unter die Häuser, damit sie nicht durchnässt würden, aber feucht wurden sie doch. Die Möbel warfen sich. Aber es gab immer Leute, die sich darauf verließen, dass Doris für sie denken würde. Wenn sie dann nicht mehr aus noch ein wusste, sagten diese Leute:
„Die ist aber mächtig kurz angebunden." „Ja, sie ist reichlich hochnäsig."
„Sie hat ja leicht reden. Sind ja nicht ihre Möbel, die im Freien stehen."
„Na ja, sind ja nicht ihre Sachen, die leiden." Wie die Frauen so in ihren überfüllten Quartieren saßen und von den Räumungen sprachen, begannen sie schon, ihre Verluste zu übertreiben und vorzugeben, Dinge besessen zu haben, die nur in ihrer Einbildung existierten.

Endlich trafen die Zelte ein, und es gab einen großen Aufschwung der Aktivität. Dreißig Zelte wurden in zwei
Reihen die Schlucht entlang aufgestellt. Alle Mitglieder des Verbandes mussten mit Hand anlegen. Für alle Zelte mussten Fußböden gebaut, sanitäre Einrichtungen geschaffen werden. Fer war mit dem Bau des Hauptquartiers zu sehr beschäftigt gewesen, um auf das Murren der Frauen zu achten, und er lehnte es ab, Irma anzuhören. Endlich zogen die Familien in die Zeltkolonie ein. Die Überfüllung in der Stadt war behoben. Das Wetter war gut. Die Zeltkolonie machte den Leuten in dieser Frühzeit großen Spaß. Im kleinen Zeltdorf hörte man immer Singen.
Tagsüber kamen die ,Bullen' zu den Streikversammlungen herein, und mit dem Steigen der moralischen Kraft des Verbandes vermehrten sich auch die Gerüchte von der Tätigkeit des Hunderter-Ausschusses.
Roger Hewlett war während dieser Zeit abwesend, er machte eine Reise durch Südcarolina und Tennessee. Als er fortfuhr, war alles unsicher gewesen. Der Streik war wieder im Abflauen, nachdem er sich nach den Exmissionen wieder aufgerappelt hatte. Die Exmissionen hatten Widerstand erzeugt. Die von Wes Elliotts Mut angesteckten Arbeiter waren kampflustig.
Fer hatte sich Roger gegenüber gehen lassen wie mit keinem andern. In einem Augenblick der Mutlosigkeit hatte er sich und seine Handvoll Arbeiter neben dem ungeheuren Baumwollindustriellenverband gesehen, sein winziges Volk mit dem rührenden Mut und sich selbst, ebenso winzig, der sie führte, keiner wusste wohin.
Hundert kleine Ereignisse versicherten ihm, dass der Streik im Verbluten war.
Die Arbeiter, die in andere Betriebe arbeiten gingen, traten, wenngleich sie keine Streikbrecherarbeit leisteten, aus dem Verband aus. Die Arbeiter, die in ihre Berge zurückkehrten, traten aus dem Verband aus.
„Sie lassen nur die Krüppel, die alten Leute und die Schwächsten zurück. Sehr bald wird das hier kein Streik mehr sein, sondern eine Wohltätigkeitseinrichtung",
sagte er.
Die Zelte aber kamen und kamen nicht. Nach der großen Räumungsaktion waren die Journalisten nacheinander fortgefahren. Sie sagten:
„Na, der Streik ist so ziemlich vorbei." „Ich glaube, hier wird nicht mehr viel zu holen sein." «Ob die wohl die Zeltkolonie doch kriegen?" „Kommt auf eins heraus — der Streik ist ja doch erledigt."
Roger war also fortgefahren, mit dem Gefühl, dass aller Mut aus dem Streik herausgesickert sei. Es war eigenartig, wie rasch diese Niedergeschlagenheit kam, nach jenem frühen Morgen unglaublichen Heldenmuts der exmittierten Frauen.

Roger kehrte nun zurück. Er hatte diesen Tiefstand der Gefühle noch klar im Gedächtnis. Er fand den Weg zum neuen Streiklokal. Es war gerade Decoration Day (Anm.: Festtag.). Er begegnete einem Zug von Kindern, geführt von Irma und Lissa. Sie hatten amerikanische Flaggen in den Händen. Eine Demonstration von kleinen Kindern, die so nahe an den Betrieb herangingen, wie sie sich nur trauten. Zwei Pressephotographen fuhren nebenher. Um das neue Streiklokal, das in der Mitte eines freien Platzes stand, war eine feiertägliche Menschenmenge versammelt.
Fer eilte Roger entgegen. Er war wie verwandelt. Wenn er entmutigt war, schien er dicker zu werden, und sackte in sich zusammen; aber seine Stimmungen
verrieten sich auch in jedem Muskel, in den Falten seines Anzugs, ja in der Farbe seiner Haare und Augen. Er war geradezu beredt in der Mannigfaltigkeit seiner Stimmungen. Jetzt strömte Hoffnung von ihm aus. Wes Elliott folgte ihm mit glühenden Augen wie sein Schatten. Sein dunkles, schmales Gesicht schien asketischer denn je.
„Ist es nicht großartig?" fragte er. „Sie haben ja noch nicht die Hälfte gesehen. Kommen Sie, sehen Sie sich die Zeltkolonie an."
„Sie sehen ja ganz anders aus", sagte Roger. Fer nickte mit einer kurzen, ausdrucksvollen Bewegung.
„Ich bin jetzt erst richtig im Zug! Jetzt erst fangen wir eigentlich zu kämpfen an. Auch die Streikenden." Binney Jolas kam mit ihrem Vater vorbei. Sie hielt sich an seiner Hand fest, auf eine eigene Art, als wäre sie noch ein kleines Mädchen, und sah verzückt zu ihm hinauf. Die Liebe dieser beiden zueinander hatte etwas an sich, das Roger immer rührte.
„Binney!" rief Fer sie an. „Oh, Mr. Jolas, Roger ist wieder da. Komm und zeig ihm die Zeltkolonie. Die Familie Jolas hat ein feines Zelt, nicht?"
„Freilich haben wir das", zwitscherte Binney. Mr. Jolas lächelte und nickte mit dem Kopfe. Er brachte eine wohlwollende Zufriedenheit mit sich, die nichts erschüttern konnte. Er stützte sich ein wenig auf seinen Stock, denn sein Bein hatte sich nach einem Betriebsunfall nie richtig erholt.
Sie gingen durch die Schlucht. Die Zelte waren von Sonnenflecken gesprenkelt. Kinder spielten im freien Raum vor den Zelten. Mutter Gilfillin rührte etwas in einem Topf um. Die zahlreichen McLaughlins scharten sich um ein anderes Zelt. McLaughlins Holzbein ragte gerade heraus auf einem Hocker. Frau McLaughlins
dunkle Augen glühten. Sie sah jünger und unbefangener aus. Sogar Frau Winstead hatte ausnahmsweise das Jammern vergessen. Fer lächelte wohlwollend diese Szene an, als wäre er der Urheber von allem.
Die ungeheure Arbeit der Übersiedlung all dieser entmutigten, unzufriedenen Leute hatte nicht er leisten müssen. Die Verantwortung dafür war Doris, Irma und ihrem kleinen Komitee zugefallen. Jetzt zeigte Fer Roger die Kolonie, als ob er nur gesagt hätte: „Es werde eine Zeltkolonie", und dann sei sie geworden. Diese Einstellung war bei Fer durchaus unbewusst, aber sie versetzte die Mädchen in helle Wut. Sie, nicht Fer, hatten die Verantwortung für das Wohlergehen eines jeden einzelnen Säuglings und die schadlose Überführung eines jeden einzelnen Möbelstücks getragen. Sie und nicht Fer hatten tagelang Fragen anhören müssen: „Wo ist meine Kommode hingeraten?" „Ich kann eine von meinen Schüsseln nicht finden,
Fräulein Doris."
„Wenn ich nicht Geld für meine Möbel kriege, kommt man und holt sie ab!"
„Ich werde die Matratze brauchen, die ich Ihnen für Frau Wheelock geborgt habe."

Das Zustandekommen der Kolonie, das tatsächliche Vorhandensein der neuen Versammlungshalle hatten dem Verband eine neue Stellung verschafft. Eine veränderte Einstellung zur Organisation hatte sich durch die ganze Werksiedlung fortgepflanzt. Die Leute in Alt-Stonerton fingen an zu sagen:
„Na, der Verband wird bleiben."
„Ja, die werden mit Basil Schenk kämpfen bis ans Ende."
„Man sagt, dass sehr viel Arbeiter in dem Betrieb furchtbar unzufrieden sind."
„Ja, mich tat es nicht überraschen, wenn sie die Arbeit wieder niederlegten."
Frau Thorn machte in Frau Soams' Pension Propaganda für den Verband.
„Wärt ihr alle draußen geblieben, wie ich euch gesagt habe, hättet ihr den Streik jetzt schon gewonnen gehabt."
Die Arbeiter der Werksiedlung sahen sich nur Basil Schenk gegenüberstehen. Für sie war die Sache einfach. Sie wussten nichts von Märkten. Sie wussten nichts von der Macht des Bauniwollindustriellenverbandes. Sie brauchten nur gegen eine Sache zu kämpfen, gegen den Betrieb, den sie bestreikten. Es schien, als hätte diese Zuversicht auf Fer übergegriffen.
„Es kommt ein zweiter Streik, Roger, so sicher wie nur was."
„Glauben Sie, dass sie wieder herauskommen?" Fer blieb stehen. Er sah sich um. Binney Jolas und ihr Vater war in einiger Entfernung. Nur Wes, sein Schatten, war in der Nähe.
„Cuthbert und der junge Trent sind wieder im Betrieb. Sie bringen die Leute auf die Beine. Ich halte jeden Tag mit Streikbrechern aus verschiedenen Arbeitssälen Versammlungen ab. Die Frauen machen Hausagitation. Wenn es dunkel wird, kommen Streikbrecher zu Besuch in die Zeltkolonie. Wir kriegen sie bestimmt wieder aus dem Betrieb heraus."

 

XVI. KAPITEL

Die Feindseligkeit gegen den Verband flammte wieder auf. Der in den Herzen der gutsituierten Bürger gegen den Verband glimmende Hass schien von der Lebenskraft des Verbandes abhängig zu sein. Als der Streik abflaute, flaute auch der Hass ab. Jetzt, da die Bürger wussten, dass der Verband bleiben würde, jetzt, da sie den Kern des Widerstandes in den Arbeitern fühlten, loderte ihr Zorn auf, geschürt von den Leuten aus der Betriebsleitung.
Der Streik hatte wieder Leben. Neue Organisatoren waren aus dem Norden eingetroffen. Der Textilarbeiterverband schickte einen andern Sekretär an Stelle von Wood. Das war ein Betriebsarbeiter aus New Bedford, mit Namen Charley Clint, ein blonder, sommersprossiger Junge. Er kam von allem Anfang an gut mit den Textilarbeitern des Südens aus. Er war schon in vielen Streiks gewesen und erzählte gerne Geschichten davon, was sich die Arbeiter des Nordens gefallen lassen mussten. Diese Geschichten weckten in den Südstaaten ein Gefühl der Solidarität mit den nordischen Arbeitern.
Paul Graham und seine Frau waren zwei junge Radikale, die zu Fuß heruntergewandert waren, um beim Streik mitzuhelfen. Sie wohnten bei Thorns, und auch Irma hatte dort ein Zimmer. Die Ankunft all dieser neuen Leute munterte die Streikenden auf und gab dem Verband ein Gefühl der Stabilität. Die Industriellen und ihre Freunde versetzte es in Wut.
Es war der Basil-Schenk-A.-G. unangenehm, dass es eine Zeltkolonie mit täglichen Versammlungen gab, nachdem sie eine Verlautbarung herausgegeben hatte, dass der Streik vorüber sei. Der vom Werk organisierte Hunderter-Ausschuss erwachte zu neuem Leben. Er be-
stand aus Mitläufern der Industriellen — junge Leute von der Sorte, die gerne Negerjagden veranstalten — und einer kleinen Gruppe von Geschäftsleuten und deren Freunden.
„Etwas muss geschehen."
„Wir müssen unsere Pflicht tun und das Rattennest ausräumen."
„Man sollte sie aus der Stadt jagen." „Die städtischen Behörden sollten sich um diese Zeltkolonie kümmern und sie auflösen."
„Wenn sich die Stadt nicht drum kümmert, sollten es die Bürger tun. "
„Die Bürger haben das gute Recht, diese Vagabunden und Tippelbrüder auszuräuchern."
„Das schon, aber sie haben eine Schutzwache." Ein Schutz war wirklich vorhanden. Roger fragte Fer: „Habt ihr keine Angst, dass euer neues Hauptquartier ebenso zerstört wird wie das alte?"
„Der Verband hat beschlossen, das Grundstück bewachen zu lassen. Als wir die Zelte aufstellten, haben wir Leute gesehen, die sich nachts im Gebüsch herumtrieben. Wir können nicht erlauben, dass unsere Kinder geschreckt werden."
„Nein", sagte Wes, „wir können es uns auch nicht erlauben, für nichts und wieder nichts zu arbeiten und unser Hauptquartier zerstören oder anzünden zu lassen, da haben wir eben, wenn es dunkel wird, eine Patrouille, die die Runde macht."
„Warum habt ihr nicht Polizeischutz beantragt?" fragte einer der Journalisten.
„Einen schönen Polizeischutz würde man uns geben! Der einzige Schutz, den wir von denen je bekommen können, ist, dass sie uns verprügeln. Wissen Sie nicht mehr, wie in der Nacht, in der das Streiklokal zerstört
wurde, sie uns Burschen verhaftet haben? Wir haben genau so das Recht, einen Nachtwächter zu halten wie jeder andere auch."

In der ganzen Fabrik spitzten die Meister die Ohren. Die Disziplin war gelockert. Vorfälle, die sonst eine scharfe Rüge zur Folge gehabt hätten, ließ man unbemerkt durchgehen. Der Betrieb war höchstens zu zwei Fünfteln beschäftigt, und die Arbeiter waren dessen sicher, dass die Produktion nur ein Minimum der Sollmenge darstellte.
Es gab natürlich auch Spitzel. Sie berichteten von Erregung unter den Arbeitern, die die Arbeit wieder aufgenommen hatten. Auch die an Stelle der alten aufgenommenen neuen Arbeiter waren unruhig. Innerhalb der Fabrik gab es nur einen unentwegten Kern. Das waren die Werkmeister und die so genannten ,loyalen' Arbeiter, eine meist Hochbezahlte Minderheit, die den Streik nicht mitgemacht oder nur ungerne die Arbeit niedergelegt hatte.
Diese ,loyalen' Arbeiter waren gereizt wegen der geringen Produktion, der beunruhigenden Schlappheit, die in ihnen das Gefühl hervorrief, dass die Industrie nicht rentabel sei und dass jeden Augenblick etwas passieren könnte. Die Werkmeister pendelten in ihrem Verhalten zwischen dem Nachsehen der Schlappheiten und der unwesentlichen Verstöße gegen die Betriebsordnung und einer überheblichen Strenge hin und her. Diese Extreme belasteten die Nerven der Arbeiter. Die lange Arbeitszeit drückte schwer auf die nach den Streikferien Zurückgekehrten. Im ganzen Betrieb herrschte Unzufriedenheit.
Es war schwer, den Ursprung der Unzufriedenheit zu
finden. Woher kam sie? Die Betriebsleiter und Werkmeister, die Antreiber, versuchten, das zu erfahren. Es ging nicht. Ihre Quelle war überall und nirgends. Sie durchdrang die ganze Organisation. Jeder fühlte, dass etwas passieren würde.
„Wenn wir die Zeltkolonie ausräumen könnten, wäre alles besser."
Es war wohl bekannt, dass die im Betrieb arbeitenden Streikbrecher an Sonnabendnachmittagen die Streikvergammlungen besuchten, und dass sie nach Eintritt der Dunkelheit den Versammlungen auf dem Verbandsgelände beiwohnten.
„Wir schreiten da lieber nicht ein", beschloss die Direktion. „Wir können diese ganze Kolonie ausräumen. Wenn wir dort einen Zusammenstoß provozieren könnten — eine Schießerei, könnten wir die ganze Gesellschaft ausräuchern. Die Polizei würde eingreifen, und wir könnten dann mit dem Rest aufräumen."

In der Atmosphäre der Zeltkolonie trat eine Veränderung ein. Am ersten Tag nach Rogers Rückkehr war es ein friedlicher Ort gewesen. Er erweckte den Eindruck von Sonnenschein, von Kindern und Menschen, die glücklich waren, dass sie nach ihrer Exmission, nach ihrer Einpferchung in enge Behausungen, in Zelten leben durften. Aber schon nach einigen Tagen war ein Gefühl der Erregung da. Man konnte es sogar den Kindern ansehen —, auch Binney, mit den aus dem braunen Gesicht starrenden, überraschenden hellgrauen Augen, das Händchen in der Hand Jolas'.
Die älteren Leute kamen unter Schutz der Dunkelheit zu Jolas zu Besuch. Jolas und andere machten auch Besuche in der Werksiedlung. In der Werksiedlung
genoss Jolas große Achtung. Er war auch eine Art Laienprediger. Er konnte für den Verband predigen, nicht schlechter als ein anderer. Er hatte mit den ,Erlebnisversammlungen' angefangen: ,wie kam ich zum Verband', nach dem Muster der Sektenversammlungen, wo man angab: ,wie wurde ich gerettet'. Seine eigene Erzählung lautete:
„Brüder und Schwestern! Ich hörte eine Stimme, die da zu mir sagte: ,Tritt ein in den Verband! Tritt ein in den Verband!' Es war keine kleine, stille Stimme —, es war eine laute, heisere Stimme, die krächzte wie eine Krähe. Es war die Stimme von Bruder Wes Elliott. Sie ließ Tag und Nacht nicht von mir und sagte: ,Brüder Jolas, bist du noch immer nicht eingetreten? Bruder Jolas, warum bist du noch nicht bei uns eingetreten?' Und dann kam sie eines Tages zu mir, und ich konnte das Krächzen dieser Stimme nicht mehr mit anhören, und da zog ich los, und mit diesem meinem schlechten Bein rannte ich zwei Meilen und hörte nicht auf zu rennen, bis ich zum Verbandsbüro kam und eintrat. Und als ich da Bruder Wes Elliotts Kopf mit dem struppigen Haar auf mich zukommen sah, da schrie ich ihm zu, noch bevor er den Mund öffnen konnte, um irgendein Gekrächz loszulassen: ,Ich bin schon, Bruder Wes! Ich bin schon eingetreten'!"

Die Versammlung war zu Ende. Es dunkelte schon. Roger hatte versucht, die Ursachen zu ergründen, die ihn in diesen Versammlungen eine nur auf den Ausbruch wartende Erregung tief fühlen ließen. Diese Erregung hatte einen andern Inhalt als die gespannte Aufmerksamkeit bei den Streikenden in den ersten Wochen des Streiks. Die Versammlungen waren jetzt sehr ver-
schieden von den zusammengeschrumpften Versammlungen in jenen Tagen, als Fer niedergeschlagen war. Sie hatten andererseits auch nichts von der Entrüstung jener Versammlungen, die unmittelbar nach den Exmissionen stattgefunden hatten. Damals waren die Leute in großer Anzahl gekommen, um zu hören, was der Verband über die Exmittierung kranker Leute und Kinder zu sagen hatte.
Jetzt aber hatte man das Gefühl einer Spannung —, die Leute bereiteten sich auf etwas vor. Worauf sie sich aber vorbereiteten, war in den Komitees verborgen, denen nur wenige von ihnen angehörten, in den Komitees, die direkte Verbindung mit den Streikbrechern und mit Trent und Cuthbert hatten.
Roger ging mit Fer und Wes. Wes fragte:
„Warum bringst du ihn nicht mit?"
Fer sagte:
„Meinetwegen."
Roger begriff jetzt schon, dass sie auf einem wichtigen Gang unterwegs waren und vielleicht nicht gut gewusst hatten, wie sie ihn loswerden sollten.
„Ich möchte mich lieber hier verabschieden." Wes sah Fer an.
„Ach was, komm nur", sagte Fer. „Ist in Ordnung, Wes. Roger gehört doch zum Verband, oder nicht?"
„Er wird bald alles wissen", sagte Wes.
Sie gingen jetzt eine dunkle Straße entlang. Kein Mensch war zu sehen.
Auf Umwegen erreichten sie ein Haus an dem äußersten Rand der Werksiedlung. Kein Schimmer von Licht war sichtbar; es war still. In einigen Häusern war noch Licht. Die meisten gedämpft. Der einzige Laut war das Japsen eines Hundes. Sie gingen zu einer Seitentür. Wes kratzte an der Türe, anstatt zu klopfen. Eine Frau
öffnete einen millimeterbreiten Spalt. Durch den Spalt drang fast gar kein Licht durch. Wes sagte:
„Ich bin!"
Die Frau murmelte:
„Ich bin!" und ließ sie herein. Roger fühlte sich unbehaglich, als wäre er bloß da, weil er sich an Fer und Wes angehängt hatte und sie nicht genau gewusst hatten, was sie mit ihm anfangen sollten.
Zehn Männer waren in der Küche beim Licht einer gedämpften Petroleumlampe versammelt. Man hatte die Lampe auf den Boden gestellt, damit es durch die grünen Jalousien nicht durchschimmerte. Er erkannte Jolas, Trent und Cuthbert. Die übrigen waren die Verbindungsleute der verschiedenen Arbeitssäle. Sie waren da, um über die gebildeten Ausschüsse Bericht zu erstatten.
„Es ist beschlossen, dass sie herauskommen", berichtete jeder. „Nächsten Sonnabend legen sie nieder!"

In Arbeitskämpfen wird alles bekannt. Es gibt immer undichte Stellen, Unvorsichtigkeiten. Und ganz besonders immer Spitzel. Es gibt immer Leute, die zu bestechen sind —, Männer schwachen Mutes, schwache Männer, die dem, der zuletzt mit ihnen spricht, auf Gnade und Ungnade ausgeliefert sind. Notwendigerweise scheinen viele solcher Spitzel vertrauenswürdig. Erfahrene Führer hüten sich vor den Übereifrigen. Die Arbeiterbewegung Amerikas hat wenig unterirdische Traditionen. Die geringe unterirdische Arbeit, die geleistet wird, ist durchsichtig und dilettantisch.
Selbstverständlich wusste die Direktion, was los war. Es war durchgedrungen, durchgesickert, bis es jeder wusste. Jeder wusste ja sowieso alles. Es ist zweifelhaft,
ob solche Dinge je geheim zu halten sind. Auch die Journalisten wussten, dass etwas in Vorbereitung war.
„Sie legen wieder nieder, nicht wahr?"
„So?" fragte Roger.
„Jedenfalls versucht man, sie wieder herauszukriegen."
„Wann, glauben Sie, plant man, dass sie wieder niederlegen?"
„Ende dieser Woche, sagt man."
Auf die Unheilnachricht hin begannen sich wieder Journalisten in Stonerton zu sammeln. Die Berichterstatter der großen Tageszeitungen des Staates waren wieder da, und die Zeitungen von Washington hatten auch Leute geschickt.
Die Tage der Woche vergingen schleppend. Roger ging hinauf, um die Trents zu besuchen. Das junge Paar lebte bei einer viel älteren Schwester Frau Trents, einer Frau Wilcox. Wilcox war Klavierstimmer gewesen; jetzt verkaufte er Radioapparate, Grammophone und Platten. Sie hatten ein eigenes Haus, das nach demselben Plan gebaut war wie die übrigen Häuser in der Werksiedlung, nur mit etwas größeren Räumen und einem überschüssigen Schlafzimmer. Sie hatten ein Wohnzimmer, ohne Bett, mit einem Flügel darin. Sie sympathisierten mit dem Verband, sprachen aber nicht viel davon, wegen des Geschäfts von Wilcox, und sie waren froh genug, als der junge Trent die Arbeit wieder aufnahm. In sein Geheimnis waren sie nicht eingeweiht.
Die Tagschicht war zu Ende, als Roger ankam. Trent hätte schon da sein sollen. Lucy Trent, deren Kopf von der großen Masse langen Haares schwer und deren Gesicht blass war, begrüßte ihn mit den Worten:
„Dan ist noch nicht da." Dann schwiegen sie beide. Roger war sich sofort darüber klar, dass sie wusste, warum Trent in den Betrieb zurückgekehrt war. Er hatte es ihr selbstverständlich nicht verheimlichen können. Sie lehnte an die Wand, legte ihre Hände flach dagegen und beugte den Kopf lauschend vor.
„Jedes Mal, wenn er sich verspätet", flüsterte sie, „hab ich Angst. Ich hab Angst, sie tun ihm etwas an. Ich hab Angst." Ihre Augen waren starr, als sähe sie in die Zukunft. Als Trent ankam, legte er die Arme mit einer schützenden Gebärde um sie. Roger wandte sich ab. Diese beiden jungen Menschen liebten einander wirklich. Sie lebte in qualvollen Ängsten um seine Sicherheit.
„Liebling", sagte Dan, „wovor hast du Angst?" „Oh, ich weiß nicht. Ich hab bloß Angst. Ich hab vor allem Angst. Ich hab vor Sonnabend Angst."

Alles war auf den Gipfelpunkt des Sonnabends eingestellt. Jeder einzelne reagierte auf die Aufregung auf verschiedene Art. Fer wurde gesetzter. Sein Gesicht strahlte, und seine Füße schienen in der Erde verwurzelt, wenn er auf der Rednertribüne stand.
Irma war skeptisch. Vielleicht auch voller Hoffnung, aber auch skeptisch, wie sie es bei allen Unternehmungen Fers zu sein pflegte.
„Es ist nicht genug Organisationsarbeit im Betrieb selbst geleistet worden. Wir können uns nicht mit genügender Sicherheit auf die Streikbrecher verlassen. Ich habe das Gefühl, dass noch etwas mehr Not tut", sagte sie unter vier Augen zu Roger. Aber sie war gut zu Fer in dieser Zeit; außerdem fürchtete sie, als ,Defaitist' betrachtet zu werden.
Roger hatte Angst und war aufgeregt. Er wusste nicht, woher sein Vorgefühl eines Unglücks kam. Viel-
leicht von Mutter Gilfillin. Vielleicht von einem Gespräch, das er mit Frau Cuthbert gehabt hatte. Von den ortsansässigen Journalisten hatte er erfahren, dass der Hunderter-Ausschuss endgültig beschlossen hatte, eine Gegendemonstration zu veranstalten. Was sie eigentlich anfangen wollten, hatte er nicht erfahren können. Wahrscheinlich wussten sie gelber nichts Genaueres über das allgemeine Programm hinaus, dass ,das Rattennest ausgeräumt' werden müsse. Es lag etwas in der Luft, das Durgan, der Berichterstatter des ,Planet'' von Baltimore ein ,lynchiges Gefühl' nannte.
Sonnabend Nachmittag kamen die Leute früh zum Verbandslokal. Die träge Hauptstraße des kleinen Dorfs füllte sich mit Männern, die auf und ab schlenderten oder in Gruppen herumstanden. Der Hunderter-Ausschuss? fragte sich Roger. Er konnte es nicht feststellen. Die Versammlung begann später als sonst. Der Platz war überfüllt. Zuerst sprach Irma. Plötzlich hörte man einen Krach. Ein Ei war an der Tribüne zerplatzt — und dann noch ein Ei. Irma wurde rot im Gesicht und sprach weiter. In der Menge murrte man. „Raus mit ihnen." „Wo sind sie?"
„Hier." Aber aus der Menge warfen Leute weiter mit Eiern und Gemüse.
Eines von diesen Wurfgeschossen traf Irma. Ihre Augen funkelten.
„Keine Gewalttätigkeiten", warnte sie. „Wir wollen bloß die Unruhestifter hinausbefördern. Wenn Zusammenstöße vorkommen, wird sich die Polizei einmischen und unsere Versammlung auflösen."
„Werft nur immerzu!" rief sie. „Werft nur immerzu! Was ihr mitgebracht habt, wird doch bald alle! Ihr könnt mich nicht einschüchtern! Ihr könnt mich
nicht verletzen! Ihr könnt unsere Versammlung nicht sprengen! Ihr könnt keine Schlägerei provozieren!"
„Wir haben einen erwischt, Fräulein Irma! Wir haben gesehen, dass er geworfen hat."
„Schmeißt ihn hinaus", sagte Irma. „Ruhe da!"
Fer ging auf die Rednertribüne hinauf. Ein Pistolenschuss knallte. Die Menge schrie auf.
„Sie wollen Fer töten!" Die Versammlung brüllte. Man rief: „Hier ist er!"
„Er hat eine Pistole in der Hand!" Eine hysterische Frauenstimme schrie hoch und schrill am Rande der Menschenmenge:
„Oh! Oh! Oh! Sie schießen auf den Versammlungsplatz. Sie schießen auf den Versammlungsplatz!"
Fer stand ruhig und gelassen über der Menschenmenge.
„Nun macht mal einen Punkt!" rief er. „Jetzt ist's genug! Jetzt sind sie mit ihrer Weisheit zu Ende. Ruhe da! Ihr wisst alle, was dieser Krach hier heute bedeuten soll. Ihr wisst, warum sie herkommen mit Eiern und verfaultem Gemüse und uns beschmeißen. Sie glauben, damit können sie uns einschüchtern, sie glauben, dass sie diesen Verband einschüchtern können, wenn sie einen Knallfrosch loslassen. Aber sie haben noch einen Grund gehabt, um heute hierher zu kommen. Sie sind gekommen, weil sie genau wissen, dass es in diesem Betrieb wieder zu einem Streik kommt! Ihr wisst, und wir wissen, dass die Arbeitsbedingungen in diesem Betrieb miserabel sind, und wir wissen auch, dass die Arbeiter, die noch drin sind, unzufrieden sind. Wir wissen, dass nicht richtig produziert wird! Und was wir heute mit unserer Streikpostenkette zu tun haben, ist, zum Betrieb zu gehen und die Leute herauszuholen. Wenn die Leute, die noch drin sind, unsern Streikpostenzug sehen, einen
starken Streikpostenzug ihrer Arbeitsgenossen, die zum Betrieb marschieren, werden sie herauskommen und es ihnen zeigen."
Atemlose Stille herrschte unter den Zuhörern. Der frühere Wirrwarr hatte sich gelegt, war zu diesem Augenblick drohender Stille geworden.
„Ich möchte, dass jeder mit den Streikposten mitmarschiert", rief Fer. „Jeder einzelne in den Streikpostenzug! Jeder einzelne!"
„Jeder einzelne in den Streikpostenzug!" gab die Menge zurück.

Der Streikpostenzug formierte sich aus der Menge. Irma war an der Spitze. Wes Elliott machte ihr den Platz strittig.
Die Ordner, Burschen und Mädchen, junge Leute und ältere, liefen auf und ab, um die Reihenfolge der Marschierenden zu bestimmen.
„Zurück da, ihr kleinen Mädchen! Heute könnt ihr die Streikpostenkette nicht führen."
„Doch, lass uns führen, Wes!"
„Wir sind so lange nicht mehr verhaftet gewesen, Wes!"
„Zurück! Zurück, Mädels! Hier, Mutter Gilfillin, mach du den Ordner bei diesen kleinen Mädchen und bring sie nach hinten."
Der Streikpostenzug hatte eine stumpfe, harte Spitze. Dort marschierten ungefähr zwanzig Mann.
„Ist das der Schutztrupp?" fragte Roger Fer.
„Zum Teil. Fast alle Männer wechseln bei der Bewachung des Lokals ab."
Auch einige Frauen waren unter die Männer gemischt. Nicht zu alte und nicht zu junge. Die sichersten
und arbeitsamsten. Roger sah Mamie Lewes und noch eine Frau hinter Dewey Brison marschieren, und einer der Tetherow-Jungen ging hinter ihr, gleichsam, um sie zu beschützen. Die Augen Mamie Lewes funkelten vor Erregung. Aber im Innern hatte sie ein Gefühl der Ruhe. Sie hatte, ohne es in Worte zu kleiden, etwas in sich, das der Unerschütterlichkeit Fers ähnlich war — nur dass Fer, wie Roger wohl wusste, gar nicht unerschütterlich war. Plötzlich konnte es scheinen, als hätte sich die Erde geöffnet und alle Zuversicht Fers verschlungen.
Der Zug schlängelte sich langsam weiter. Die Dörfler, die Mitläufer der Versammlung, drängten sich zu beiden Seiten des Zuges und stellten sich hoch auf den Feldern über der Straße auf, als sich die Streikposten in der Richtung zum Betrieb in Bewegung setzten. Der Zug entrollte sich wie ein langes Band. Rogers Herz schlug schmerzhaft. Dieser Streikpostenaufmarsch bedeutete mehr als alle andern, die er bisher gesehen hatte.
Wenn sie bloß herauskämen!

Fer hatte auch früher schon erwartet, dass sie herauskommen würden, und dann war es doch nichts damit gewesen; nur einmal hatte sich ein Bäckerdutzend ihnen angeschlossen. Und doch brachten alle die Nachricht, dass die Arbeiter innerhalb des Betriebes nur auf irgendeine zwingende Gelegenheit warteten. Es war spät am Nachmittag. Es war Zahltag, und die Arbeiter würden heute spät aus dem Betrieb kommen. Auf diesen Augenblick hatte man gewartet.
Einige Journalisten hatten aus einem Auto Roger angerufen. Er stieg zu ihnen ein. Sie fuhren zum Werk hinunter. Auf halbem Wege, auf der Chaussee, wurden
sie von Werkpolizisten angehalten, ein Mann ging zurück, um jemanden im Betrieb zu befragen, und gab ihnen dann ein Zeichen, dass sie weiterfahren dürften. Sie fuhren um den Betrieb herum und dann zurück in Richtung der Streikposten. Der Streikpostenzug hatte den Eisenbahnkörper überschritten und marschierte ruhig in Zweierreihen weiter. An einer Stelle hatten sie sich beim Überschreiten einer Straße zu einem Haufen zusammengeballt, die andern, auf der entgegengesetzten Seite der Straße, bildeten eine dünne Linie.
Schrill heulten die Polizeipfeifen. Ein Polizeiauto voller Offiziere raste heran, dann kam ein zweites mit Offizieren und Polizisten und noch eins mit noch mehr Offizieren und Polizisten.
„Nanu!" sagte Dick Durgan. „Sieh dir die Kerle an. Das gibt ein Blutbad!"
„Sie lösen doch die Streikpostenkette jeden Tag auf, nicht wahr?" fragte jemand.
„In letzter Zeit hat es kaum richtige Streikpostenketten gegeben, bloß kleine Demonstrationen."
„Ich glaube nicht, dass die Offiziere heute auf viele Streikposten gefasst waren. Die Straßen waren nicht mit Patrouillen belegt."
Plötzlich schwärmte die Polizei aus und griff an.
Jemand schrie: „Los, Jungs!"
Murck, der Polizist, packte Irma und würgte sie. Roger sah, dass er sie wie einen Lappen hin und her schüttelte. Dann warf Murck sie auf die Erde. Mutter Gilfillin, ein winziger brauner Haufen Wut, kam Irma zu Hilfe.
„Lass sie! Lass sie los!" Murck streckte einen stämmigen Arm aus, und Mutter Gilfillin überschlug sich auf der Erde.
Ein anderer Polizist verfolgte einige kleine Mädchen. Überhaupt schien sich der Angriff in erster Linie gegen die Frauen zu richten, obwohl auch einige Männer misshandelt wurden. Polizisten sprangen plötzlich hervor, niemand wusste woher, schlugen mit ihren Gummiknüppeln zu und liefen den schreienden Frauen nach.
Die Streikpostenkette hatte zuerst tapfer standgehalten, jetzt aber zerschmolz der Zug unter dem gemeinsamen Angriff der Beamten und Hilfspolizisten. Rasch bildete sich ein Menschenauflauf. Durch die fliehenden Streikenden flog der Ruf:
„Achtung! Aufpassen! Der Hunderter-Ausschuss!"

 

XVII. KAPITEL

Nachdem die Streikposten fort waren, lag die Zeltkolonie fast völlig verlassen da — nur ein paar Frauen waren zurückgeblieben, die Abendbrot zurechtmachten und die kleinen Kinder zu Bett brachten.
Der alte McLaughlin mit dem Holzbein wartete auf dem Gelände der Streikenden auf Nachrichten. Er war zu müde, um auszugehen. Vor der Türe des Streiklokals saß Frau Winsteads Mann auf einer umgestülpten Kiste. Sein Gesicht war ein gelber Fleck im Grün der Wiese; seine großen erdfarbenen Hände hingen schlapp herunter, und er schaute ins Nichts. Pellagra ist eine üble Sache.
Ein kleiner Junge kam angerannt. Von seinem Platz konnte Holzfuß sehen, wie sich die Leute auf der Straße drängten. Er reckte den Hals. Vom Eisenbahndamm her hörte er Lärm: Geschrei, ein Brüllen; Polizeipfeifen; ein dunkler, drohender Haufen Menschen.
„Was ist passiert, Kleiner?" rief er dem Jungen zu.
„Sie würgen sie!" schrie Bunny. „Sie würgen sie!" schrie er noch einmal. „Sie würgen Großmutti! Großmutti liegt auf der Erde und flucht schrecklich! Die Bullen würgen sie alle! Sie haben auch Fräulein Irma gewürgt!" Er lief davon, als folge ihm eine Panik auf den Fersen, lief über die Wiese auf die Zelte zu.
Holzfuß stapfte hinunter zum Eingang. Die Nachzügler der Streikpostenkette waren umgekehrt und kamen in Gruppen von zwei drei Mann über die Eisenbahngleise. Von weit her konnte er Irma dahinschreiten sehen.
„Was ist passiert?" rief Holzfuß. „Sind sie herausgekommen?"
„Nein, keiner ist herausgekommen!"
„Wir sind gar nicht in die Nähe des Betriebs gekommen."
„Und wenn schon. Hätten die drin gesehen, was wir abkriegten, wären sie auch geblieben, wo sie waren!"
„Ist jemand verhaftet?" schrie Holzfuß. Stimmen antworteten aus der Menge:
„Ja, deine Frau ist verhaftet."
„Ist ja gar nicht wahr!"
„Nein, sie haben Frau McLaughlin bloß gewürgt!"
„Ja, heute haben sie uns gewürgt."
„Auch Fräulein Doris haben sie gewürgt!"
„Sie haben die Frauen mit den Fäusten geschlagen!"
„Ja, und mit dem Gummiknüppel."
„Sie haben die Männer mit dem Gummiknüppel auf die Köpfe geschlagen."
Fer kam mit zwei, drei Streikfunktionären, die sich auf Beschluss an der Streikpostenkette nicht beteiligt hatten, aus dem Streiklokal heraus. Er stand und wartete. Der junge Tetherow rannte keuchend zu ihm hin. Einen Augenblick herrschte Schweigen zwischen
der wartenden Gruppe und dem Burschen. Er war der erste unter den allmählich zurückfindenden Streikposten. Sie sahen im abendlichen Licht schwarz wie Ameisen aus, als sie die Straße herunterkamen. Fer konnte Irma kommen sehen, mit zurückgeworfenem Kopf, die Hand an der Kehle.
„Na also", sagte er mit veränderter Stimme. „Sie sind also nicht herausgekommen?" Tetherow schüttelte den Kopf.
„Wir konnten gar nicht in die Nähe des Betriebs!" Wes Elliott sagte: „Wir treffen ja Trent und Cuthbert heute abend."
„Ja", sagte Fer. „Jolas sagte, er wüsste bestimmt, dass sie die Arbeit niederlegen würden, wenn sie den Streikpostenzug zu sehen bekämen. Das sollte das Signal sein. Aber man kann nie wissen. Man kann diese Dinge nie wissen. Soweit wir feststellen konnten, waren sie ganz entschlossen, aus dem Betrieb herauszugehen." Sie sprachen rasch und leise.
„Dewey Brison hatte eine Zusammenkunft mit einem Haufen Streikbrecher?"
„Ja", nickte Fer. Er ging langsam den Bürgersteig
entlang, Irma entgegen. Der junge Trent steuerte bei:
„Sie haben Fräulein Irma gewürgt. Sie haben eine
Menge Frauen gewürgt. Sie haben Mutter Gilfillin auf
die Erde geworfen und gewürgt!"

Irma sagte trocken zu Fer: „Nein, sie sind nicht herausgekommen."
„Ich weiß schon", nickte Fer.
„Wenn wirs das nächste Mal versuchen, müssen wir besser organisiert sein."
Fer hasste sie für dieses Wort. Ihr Triumph über ihn war, als triumphiere sie über die Streikenden. In diesem Augenblick fühlte er sich eins mit den Streikenden, fühlte die ganze Enttäuschung der Leute mit, die so emsig gearbeitet und so große Hoffnungen gehegt hatten.
Er wusste, wie den Streikenden innerhalb des Betriebs zumute war. Er wusste, wie es tat, beinahe herauszukommen, aber es doch nicht ganz zu wagen, zitternd am Rande dessen zu stehen, was man ersehnte, und dann das Versagen, das nicht wagen zu erleben. Das Fehlen irgendeiner Kleinigkeit. Irgendeine Begeisterung, die nicht ganz hoch genug aufflammt. Irgendein mechanisches Stück Organisation, das schief geht. Ein Verräter an einem schwachen Punkt. Das Fehlen des ausschlaggebenden Mannes im entscheidenden Augenblick. Strohhalme, Streichhölzer, ein ungünstiger Wind, das genügt, um die am Rande des Überquellens bebenden Wasser zurückzudämmen.
Hätte man bloß ein Sickern erreichen können — es wäre zu einem rauschenden Wasserfall geworden —, der Betrieb hätte sich im Nu geleert. In diesem trostlosen Augenblick der Intuition konnte Fer jedes Zögern, jede Angst, jede Unsicherheit der Einzelnen fühlen, die in ihrer Summe das Ansinnen der Arbeiter innerhalb und außerhalb des Betriebs vereitelt hatten. Eine große Müdigkeit überkam ihn. Seine Gedanken irrten vom Gegenstand ab, drängten sich ziellos durcheinander. Nur das Gefühl der besiegten Arbeiter blieb mit ihm.
Er stand ganz still da mit der ruhigen Haltung der Leute, die viel öffentlich sprechen und dann wissen, wie man ruhig auf beiden Füßen zu stehen hat. Das Helle war aus seinem Gesicht verschwunden, aber die Sonne ging schon unter, und keiner würde es merken. Keiner würde es merken, dass er bloß die leere Hülle war, als
die er sich im Augenblick fühlte. Er würde dastehen müssen und warten, bis die Streikenden mit ihren Berichten kamen; bis die Streikpostenführer zurück waren. Er würde auch nachher noch warten müssen und im Streiklokal eine Sitzung abhalten und Irma anhören und Doris anhören, all ihren kaum verhüllten Hohn. Er stand allein, während sich die Leute um ihn drängten.

Lissa kam an ihn heran. Es war schön, zu fühlen, dass er in ihren Augen immer das Richtige tat und keine Fehler machte. Ihr Glaube war wie eine Säule und er lehnte sich an diese Säule an. Sie lächelte ihm zu, in ihren Augen lag Triumph, als sagte sie — ,Es ist alles in Ordnung. Ob sie heute oder morgen herauskommen, ist ja egal. Du weißt doch, dass sie bestimmt herauskommen!'
Er wollte nicht weich werden. Lieber bleiben wie er war. Lieber in dieser neutralen Zone bleiben, in der er nicht er selbst war, sondern ein Teil der Streikenden mit ihrer Unentschiedenheit —, ein Teil der Streikenden innerhalb des Betriebs, die nicht zu streiken wagten und auch der Streikenden außerhalb des Betriebs. Er wollte keine Gefühle haben. Und er empfand die Kraft ihres Gefühls und ihres Glaubens an ihn. Er verschanzte sich hinter die Barrikade der Rede:
„Du warst mit auf Streikposten?" fragte er.
„Ja", sagte Lissa.
„Erzähl mir, was passiert ist. "
„Die Polizei hat mit dem Gummiknüppel geprügelt, und die Leute sind davongelaufen."
„Das passiert mit den Streikposten hier immer."
„Haben sie irgend jemanden verhaftet?" fragte Wes. „Man sagt, Frau McLaughlin ist verhaftet worden."
„Nein, ich glaube, sie haben sie nicht gekriegt." Die Streikposten drängten sich um den Eingang zum Kontor, jeder mit seiner Erzählung, jeder mit seinem Wunsch, gehört zu werden, jeder mit andern Gerüchten über die Verhafteten.

Wes, die Hände tief in den Taschen und die Schultern hochgezogen, schlüpfte zu Fer durch.
„Komm herein ins Kontor", sagte er. „Machen wir, dass wir hier rauskommen." Jolas und Binney kamen herein und Dewey Brison. Sie gingen ins Kontor und stellten einen Burschen vor die Türe, damit die Streikenden nicht alle mit hereindrängten. Das Zimmer mit den kahlen Wänden hatte eine abgeteilte Ecke, die als Kontor diente. Hier konnten die Führer sich einigermaßen absondern. War die Tür nicht geschlossen, war das Streiklokal von früh bis abends überfüllt von Leuten, die einfach herumlungerten, und von solchen, die mit Beschwerden oder Anliegen kamen.
Sie setzten sich auf ihre Stühle, Fer kippte seinen Stuhl mit dem Rücken nach hinten an die Wand, Binney stand neben Jolas und legte den Arm um ihn, Doris stürzte ins Zimmer, schlug die Türe hinter sich zu und sagte: „Na also!", warf die Haare aus dem Gesicht zurück, ergriff einen Stuhl und setzte sich mit gespreizten Beinen nieder.
Sie alle sahen Fer an. Noch zwei Burschen kamen herein, die Leibwache Fers. Jolas nahm das Wort:
„Wir kriegen sie bestimmt noch heraus." Es war eine ruhige Feststellung, als verkünde der alte Mann einen Beschluss, als spräche er im Namen aller Anwesenden. Er war der Kern des Streiks. Unter diesem Dutzend
Männer und Frauen war er der Kern des hartnäckigen Widerstandes in diesem Streik.
Diesmal waren sie gescheitert. Tut nichts, das nächste Mal würden sie Erfolg haben. Diese Leute und noch ein paar ihresgleichen waren die Stoßtruppe des Streiks, die unerschrocken und unbeirrt immer weitermarschieren würde. Sie waren dem Verband verschrieben, der Verband war für sie eine Religion, der jedes Opfer gebracht werden musste.
Diese Wenigen würden die unsichere, furchtsame, leicht abzulenkende Masse der Arbeiter in Gärung bringen und führen müssen. Ihnen gegenüber standen die ungeheuren Kräfte des Baumwollindustriellenverbandes und hinter diesem all das investierte Kapital des Südens, das durch Mob, Polizei und Gerichte den Verband bekämpfte. Die Streikleitung hatte die Kraft des Feindes nie gemessen, würde sie nie kennen, aber was sie mit leidenschaftlicher Klarheit sah, das war ihre eigene unmittelbare Aufgabe. So saßen sie denn da und machten Pläne für ihre Arbeit, ließen den Gedanken an eine Niederlage nicht aufkommen. Es wurde dunkel.

Die Burschen, die an diesem Tag die Wache stellen sollten, kamen ins Kontor. Wes sollte heute auch Wache schieben.
„Kommst du heute Nacht auch mit?" fragte er Dewey
Brison.
„Nein, ich war gestern auf Wache. Irgendwann muss ich mich ausschlafen."
„Na, dann kommt mit, ihr Kerls", sagte Wes. Von draußen hörte man Lärm, und dann kamen zwei Mädchen zum Kontor gelaufen. Sie hörten sie rufen:
„Lasst mich herein! Lasst mich herein! Ich muss mit Fer sprechen!"
„Was ist denn los?" fragte Wes.
„Der Hunderter-Ausschuss versammelt sich unten beim Betrieb."
„Woher weißt du das?"
„Wir waren da unten und haben sie gehört." „Sie sagten: ,Los, kommt, wir räuchern sie aus'!" „Wer hat das gesagt?" „In der Menge hat’s einer gesagt!" „Die reden doch bloß. Wir können gar nicht auf die Straße gehen, ohne dass wir sagen hören ,räuchern wir sie aus!"'
„Na, die haben gesagt: ,Holen wir uns diesen Fer und hängen ihn an einen Baum und den Wes auch, den hängen wir auch auf!" schreien die Mädchen Wes zu.
„Wer hat das gesagt?"
„Ich weiß nicht, wer es gewesen ist. Ich hab’s gehört."
„Das sind dieselben, die Fer auf der Rednertribüne erschießen wollten."
Es wurde immer dunkler, aber das Lokal war noch immer voller Menschen. Einige junge Leute kamen jetzt hinzu.
„Fer, wir waren unten auf der Straße, und es scheint, dass sie einen Mob versammeln, um unser Streiklokal niederzureißen, ohne Zweifel."
„Ja, sie sagen, sie kommen her und reißen unser Hauptquartier nieder."
„Und sie wollen versuchen, dich zu kriegen, Fer!" Fer hatte in der Türöffnung gestanden, mit einer Hand gegen den Türstock gestützt, still und stumm, wie gewöhnlich. Sein Gesicht war ausdruckslos und leer, er sah beinahe blöde aus. Er sah Roger und Hoskins kommen und rief ihnen zu:

„Was ist's mit dem Gerede von einem Mob auf der Straße? Warst du dort, Roger? Glaubst du, sie wollen etwas unternehmen?"
„Schwer zu sagen", antwortete Roger. „Sie scheinen bloß herumzumurksen da unten. Es ist nicht viel anders als an andern Tagen. Sie könntens versuchen, vielleicht auch nicht! Ich dachte eben, ich wollte dich holen. Komm mit zu Lissa."
„Nein", sagte Fer. Er wäre gern mitgegangen, er sehnte sich nach der Stille bei Lissa, nach den Blumen und danach, frei zu sein von Verantwortung. „Nein, ich kann heute nicht. Ich hab viel Schreibereien und viel Arbeit zu erledigen." Seine Stimme war schmal und hörte sich müde an.
„Es wird ganz dunkel", sagte Wes. „Schicken wir die Leute raus, die nicht hergehören."
„Die Leute, die nicht zur Kolonie gehören, müssen jetzt raus. Ihr müsst alle weg von hier. Wir müssen jetzt das Grundstück bewachen." Ein Rinnsal von Menschen sickerte hinaus.
„Du brauchst nicht zu gehen", sagte Fer zu Roger. „Ich glaube, ich werde doch gehen", sagte Roger. „Ich hab auch zu tun. Ich muss über den heutigen Nachmittag einen Artikel schreiben."
Ein allgemeines Gefühl der Unlust vermischte sich mit einem bösen Vorgefühl. Noch mehr Zeltkoloniebewohner ebbten zurück. Alle brachten die Nachricht, dass ein Mob in Bildung begriffen war.
Die Wachen begannen ihren Patrouillengang um die
Zeltkolonie.
Wes machte die Runde. Am letzten Zelt angelangt,
hörte er eine Frauenstimme schreien:
„Wer ist das dort draußen?" Dann rief die Frauenstimme noch einmal:
„Bist du das, Wes? Ich hab jemanden hier im Gebüsch herumrumoren gehört. Jemand schleicht dort unten herum, ich hab’s gehört."
Die Ereignisse des Tages, die Eierschlacht, der Mob, der Pistolenschuss, die Polizeibrutalitäten, die Gerüchte von einem Mob, der die Kolonie überfallen wollte, hatten alle nervös gemacht. Fer, Doris und noch einige andere saßen im Hauptquartier. Fer machte irgendeine Arbeit fertig. Die jüngeren Burschen, Charlie Clint und Frank Gilfillin, bewachten den Haupteingang zum Gelände der Streikenden.

Ein Auto mit sechs Polizisten fuhr vor. Im Auto saßen Humphries, Murck, Zober, Philip Hunt und Grosman. Hatten die Nachbarn die Polizei angerufen? Das wurde später behauptet. Humphries stieg aus und sagte:
„Was soll denn hier los sein?" Hinter ihm kamen Murck, Zober und John Grosman. Philip Hunt blieb im Auto zurück. Er hatte eine abgesägte Schrotflinte in der Hand.
„Hier ist nichts los", sagte Clint, der Wache stand. „Ihr könnt jetzt nicht hereinkommen. Nach der gesetzlichen Zeit kann hier keiner herein."
„So siehst du aus", sagte Humphries.
„Ihr könnt nach der Zeit ohne Haussuchungsbefehl nicht hereinkommen."
„So, kann ich das nicht?" sagte Humphries noch einmal. „Leg das Gewehr hin. Nehmt ihm das Gewehr weg", sagte er zu Murck.
Ein Schuss kam aus der Richtung des Polizeiautos und pfiff an einem der Wachtposten knapp vorbei. Die Wache schoss.
Dann fielen mehr Schüsse, und aus dem Dunkel auf beiden Seiten ein Schnellfeuer.
Entsetzen ergriff die Kolonisten oben in den Zelten. Frauen stöhnten und schreien:
„Sie schießen! Sie schießen! Sie sind gekommen, um
uns zu kriegen!"
Die Burschen, — die Wachen, — wussten selbst nicht, was passiert war. Sie sahen nur die dunklen Gestalten da unten. Sie hörten nur die Schüsse. Leute kamen heraus und feuerten Schüsse ins Dunkel ab. Die Polizisten erwiderten das Feuer. Wie ein Alpdruck lag es auf der ganzen Kolonie.
Oben im Kontor war alles still. Fer sagte: „Mein Gott! Sie kommen uns holen!" Irma sagte: „Macht das Licht aus." Dann warteten sie. Irma ging zur Türe und sah hinaus. Die Schießerei schien ihnen stundenlang zu dauern, dauerte aber nur einige Minuten. Unten am Hintereingang war Humphries vornüber hingefallen. Sie hoben ihn auf und er sagte: „Jungs, ich hab mein Teil weg!" Die übrigen Polizisten waren verwundet. Verwundet war auch Clint, aber er konnte doch laufen und kam keuchend zum Kontor
gerannt —
„Fer! Fer! Humphries ist tot, und auch Murck und Zober! Komm, Fer, sie haben's auf dich abgesehen." Auch Wes kam angelaufen.
„Mein Gott! Das ist eine schreckliche Geschichte!" sagte er. „Der Hunderter-Ausschuss kommt!"
Schon herrschte Panik in der Kolonie. Eine gespenstische Stille einige Augenblicke, und dann — Panik!

Fer stand mit der gewohnten Ruhe da, er stand fest, als wäre er auf der Rednertribüne; sein Kopf stieß nach vorn. Er hörte Irma kaum, die ihn am Ärmel zupfte.
„Du musst fort, Fer", sagte sie. „Drei Polizisten sind tot. Der Mob kommt. Sie werden dich lynchen."
Er gab keine Antwort. Es ist da, dachte er, endlich ist es da. Er fühlte, dass er diesen Augenblick vom ersten Tag des Streiks an erwartet hatte. Er hatte immer gewusst, dass irgendwo ein Schuss losgehen würde. Jemandem würde etwas passieren. Dann würde man ihn dafür verantwortlich machen. Irma stand neben ihm und sagte mit leiser, erregter Stimme:
„Fer, Fer, du musst gehen! Du musst gehen! Sie werden dich lynchen!"
Er antwortete ruhig, wie im Schlaf: „Es hilft doch nichts, wenn ich davonlaufe." Es war, als sagte er: „Wozu noch davonlaufen, wo doch alles schon entschieden ist?"
„Mach rasch, Fer."
„Irgendeiner von unsern Jungs verwundet?"
„Nur Clint. Clint hat einen Armschuss. Nichts Schlimmes."
„Jetzt müssen sie jeden Augenblick hier sein. Die Polizei und der Mob."
Er stand da, in Gedanken versunken, rührte sich nicht. Jetzt war alles vorbei. Jetzt würden sie die Arbeit nicht mehr niederlegen. Alle Anstrengungen, alle Leiden waren umsonst gewesen. Ein Schuss hatte allem ein Ende gemacht. Darauf hatte der Feind gelauert. Aber er konnte ja die Zeltkolonie doch nicht ungeschützt lassen. Sie hatten das Recht, sich zu verteidigen.

Ein tolles Durcheinander beherrschte die Zeltkolonie. Frauen schreien, Kinder weinten. Plötzlich Stille. Dann wieder Geschrei.
„Sie haben unsere Jungs erschossen."
„Die Jungs liegen tot auf der Erde."
„Was ist passiert?"
„Sie haben Humphries erschossen."
„Humphries ist tot."
„Murck und Zober sind tot."
„Unsere Jungs liegen tot auf der Erde."
„Der Ausschuss kommt!"
„Sie wollen uns den Garaus machen."
„Mein Gott, mein Gott, mein Gott! Was tun wir bloß?"
„Sie werden Fer lynchen."
„Sie kriegen uns alle."
„Verstecken wir uns im Wald."
Frauen schreien und weinten. Frau Winstead hatte einen hysterischen Anfall, und ihre Schreie gellten aufwühlend und scheußlich durch das Dunkel.
Frau McLaughlin sagte ihr fortwährend: „Sei still, Liebling, sei still!"
Jolas sagte: „Hier ist es gefährlich. Du, Binney, kommst mit mir."
Binney steckte die Hand in seine Hand. Sie gingen an den erschrockenen, weinenden Frauen vorbei, ganz ruhig, hinaus in den Wald und fort, noch bevor die Polizei ankam, noch bevor der Mob ankam.
„Wir gehen zu Thorns und holen Roger", sagte Jolas leise. Binney hielt sich an seiner Hand fest. Sie gingen die Straße entlang, ein lahmer, alter Mann und ein kleines Mädchen.
„Die Polizei muss sofort da sein. Sie werden als erstes
ins Hauptquartier telefonieren. Um Christi willen, Fer, mach dass du wegkommst!" sagte Wes Elliott.
„Wozu soll ich weggehen?" sagte Fer. „Sie kriegen mich ja doch."
„Wenn sie dich nur verhaften! Aber der Mob, Fer, — es ist der Mob!"
Tumult und Geschrei aus der Zeltkolonie. Ein Augenblick des Wartens, der bangen Erwartung, einer Erwartung, beladen mit dem Wissen von der kommenden Katastrophe. Lissa kam herbeigerannt.
„Fer, mein Onkel ist hier mit einem Auto, und Roger. Geh. Geh hinüber zu Burdette. Der wird dir sagen, was du tun sollst."
„Richtig", sagte Wes, „geh zu Burdette."
Irma ballte die Fäuste, als wollte sie sich auf Fer stürzen, und sagte:
„Geh doch! Geh doch schon! Ist es nicht schon schlimm genug, sollen sie dich auch noch lynchen?"
Ihre Wut drang durch Fers Erstarrung durch. Es war ihm jetzt ziemlich egal, was mit ihm geschah. Sie waren nicht herausgekommen; und der Schuss, dem er vom Tage seiner Ankunft, eine lange Allee von Tagen entlang, entgegengesehen hatte, war abgefeuert worden. Die zwei Mädchen, Lissa und Irma, packten ihn von beiden Seiten am Arm und zerrten ihn fort.
Polizei pfeifen schrillten. Frauen schrieen. Ein dunkler Menschenhaufen. Hoskins und Roger warten mit dem Auto.
„Wirf eine Münze, bitte, Roger", sagte Hoskins. „Einer von uns geht mit Fer, und einer bleibt hier, um zu sehen, was hier passiert."
Fer sagte stumpf: „Ich glaube, dass ich eigentlich nicht gehen sollte."
Sei kein Narr!" schrie ihn Irma an. Lissa sagte kein Wort und zerrte ihn weiter. Jetzt konnte man schon von der Straße her das Gebrüll des sich nähernden Mobs hören. Wie für sich
sagte Fer:
„Ich möchte fast, es wäre alles vorbei.

 

XVIII. KAPITEL

Der Mob überquerte die Eisenbahnschienen und wälzte sich zur Rednertribüne hinunter. Ein Teil der Wache hatte sich zerstreut. Von den Zeltkolonisten liefen einige davon, um bei Freunden Obdach zu suchen. Die Polizei war vor dem Mob zur Stelle. Noch mehr Polizei folgte dem ersten Schub. Eine große Anzahl Leute war noch schnell als Zeitpolizist eingeschworen worden. Eine Menschenjagd begann.
„Hier ist einer! Einen hab ich erwischt!"
„Verhaftet die ganze Bande!"
Einige Zeltkolonisten hatten sich verkrümelt, aber die meisten waren dageblieben und standen in einem schwankenden Haufen erschrocken zusammengedrängt.
„Was sollen wir tun?"
„Sie stürmen uns!"
„Humphries ist tot!"
„Auch Murck und Zober —"
„Sie stürmen uns!"
„Oh, oh, oh! Sie werden Fer kriegen!" Das war Frau Winsteads laute, schrille Stimme.
„Pst, Liebling, pst! Brauchst keine Angst zu haben."
„Ich hör sie schon! Los, laufen wir!"
Kinder weinten; Frauen schrieen.
„Jetzt lynchen sie! Jetzt lynchen sie bestimmt."
Man hörte einen Aufschrei und das Klatschen von Schlägen.
„Sie schlagen jemanden!"
„Los, lauft!"
Die erschrockenen Zeltkolonisten rannten. Große Bäume und Unterholz umgaben die Zeltkolonie. Frauen nahmen ihre Kinder und verbargen sich mit ihnen in der Schlucht. Frauen und Männer liefen in den Wald.

Nur Holzfuß saß ruhig mitten in der fast verlassenen Zeltkolonie. Mutter Gilfillin war mit ihm dageblieben. Sie sagte:
„Mein Bill war auf Wache. Es wird wohl sein Gewehr gewesen sein, das losging."
„Du glaubst, er hat Humphries erschossen?" „Lieber wär’s mir schon, er hätte Murck und Zober erschossen. Wenn schon Bill irgend jemand erschießen musste, hoffe ich, dass es diese zwei Bullen waren." „Wir wissen nicht, wer wen erschossen hat." „Keiner weiß etwas."
„Jetzt kommen sie. Hörst du, wie sie heulen und brüllen?"
„Haben sie von unsern Jungs welche gekriegt?"
„Weiß ich nicht."
Das Gebrüll des von den Zeitpolizisten geführten Mob war schon in der Kolonie. Raue Hände. Laute Stimmen.
„Komm raus, du da."
„Wo sind die andern?"
„Die andern sind weg."
„Na los, ein bisschen dalli."
Mutter Gilfillins Stimme schreit: „Er kann doch
nicht schneller laufen! Siehst du nicht, dass er einen Holzfuß hat?"
„Halt die Schnauze, du!" „Wo sind die andern?" „Los, los!"
Ein Krachen. Ein Splittern. Zelte werden niedergerissen. Die zerstörende Wut des Mob warf Möbel und Küchengeräte durcheinander. Das Krachen der Zelte machte ihnen Spaß. „Räumt aus!" „Putzt sie aus!" „Ich hab jemanden gefunden!" Kindergeschrei. Eine Männerstimme: „Deane!" „Wo ist Deane! Wir wollen Deane!" Als sich Mutter Gilfillin zur Wehr setzte, ließen sie ihren Arm los, und sie verbarg sich hinter einem Baum. Elektrische Taschenlampen blitzten wie riesige Leuchtkäfer. Die Menge stürzte sich rasend auf die Zelte, fürchterlich in ihrer barbarischen Zerstörungswut. Sie rissen die Zelte nieder, wie sie Fer umgebracht hätten. Die Zelte waren für sie ein Sinnbild Fers.
„Mein Gott", dachte Mutter Gilfillin, „wenn sie den armen Fer erwischen, lynchen sie ihn bestimmt."
Die weiße Masse der Zelte fiel krachend, flatternd und wogend zur Erde. Küchengeräte klapperten. Männer brüllten und riefen einander. Aus der Ferne hörte man ein Schreien, wie von einem geängstigten Tier. Sie hatten einen Zeltkolonisten im Wald gefangen. Ein Scheinwerferstrahl fiel auf Mutter Gilfillin. „Hier ist eine! Hier ist eine!" „Du nimm sie mit, Joe, du bist Zeitpolizist." „Verhaftet sie!"
Mutter Gilfillin schwieg. Sie wusste, der Mob war auf Lynchen aus. Sie presste den Mund fest zusammen und
ging zwischen einem Hilfspolizisten und einem zweiten Mann mit. Hinter ihr blieb Unheil und Verwirrung zurück. Aus der Stadt war eine Menschenmenge hergekommen, die nicht zu dem Hunderter-Ausschuss gehörte. Eine Polizeisperrkette umzingelte das Hauptquartier der Streikenden.
Gerüchte schwirrten durch die Stadt. Fer hätte die Polizei an den Ort gelockt. Er hätte telephonisch angerufen und Polizei angefordert. Die Streikenden hätten der Polizei aufgelauert und sie aus dem Hinterhalt niedergeschossen. Es war ein Komplott, eine Verschwörung der Anarchisten und Bolschewisten, und Fer war der Oberkonspirator.
Übertriebene Berichte liefen ein. Drei oder vier Polizisten tot! Humphries erschossen! Die Erregung lief wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Die Nachricht flog von einem wohlhabenden Haus zum andern, sie eilte den Zeitungen voraus. Es gab keinen Menschen in Neu- oder Alt-Stonerton, in Ost- oder West-Stonerton, der nicht wusste, dass Humphries erschossen worden war.
Humphries war nicht nur erschossen, sondern erst in die Zeltkolonie gelockt und dort kaltblütig ermordet worden.
Davon waren die wohlhabenden Bürger in Stonerton fest überzeugt.
Die Unruhe des Streiks hatte sich hinaufentwickelt zur krönenden Tat, zum Mord. Der Anfang war Unruhe, das Ende Totschlag.
Ein Blutbad verdienten die Streikenden. Die Bürger von Stonerton forderten Blut als Vergeltung für das Leben ihrer Polizeibeamten.

Oben in der Zeltkolonie blieben nur Haufen von Zeltstoff und Hausrat übrig. Diesmal war es keine ordnungsmäßige Räumung gewesen. Es sah aus, als wäre ein Wirbelsturm durch die Kolonie gefahren, als hätten die Elemente selbst das Obdach der Streikenden zerstört. Dutzende von Hilfspolizisten waren mit dem Mob zurückgeblieben, um die Zelte niederzureißen. Die Streikenden flüchteten und verbargen sich in der Schlucht. Die wenigen, die Freunde in der Stadt hatten, suchten bei diesen Zuflucht. Viele verbargen sich in den Wäldern.
Die Menschenjagd war in vollem Gange.
Es war ein großer Spaß, Menschen durch den Wald zu jagen.
„Hier ist einer!"
„Hier hat sich einer versteckt!"
„Bringt ihn herein!"
Die Zeltkolonisten waren vollkommen demoralisiert. Sie waren ein fliehendes, gehetztes Rudel.
Es war ein großer Spaß, flach auf der Erde liegende Frauen aufzustöbern. Die Frauen, die kleine Kinder hatten, wehrten sich. Die ließ man größtenteils in Ruhe.
Frau Winstead wurde verhaftet, sie schrie nach ihrem Baby, nach ihren Kindern. Winstead hob das blöde Gesicht und sagte stumpf:
„Ich wer' schon aufpassen."
Es war ihm ganz gleich, ob man ihn durch die Wälder jagte, ob er in einem Haus oder einem Zelt wohnte, ob seine Frau verhaftet wurde oder nicht. Er passte immer wohl oder übel auf die Kinder auf, während seine Frau zur Arbeit ging. Er saß mitten unter den Ruhestörern, die Kinder um ihn her, das Baby auf dem Arm, gleichgültig gegenüber der Erregung krachen-
den Unterholzes, dem Blitzen der Scheinwerfer, dem Schreien der Frauen, dem uferlosen Aufruhr der Nacht. Ein kleines Kind lief laut schluchzend durch den Wald. Es hatte die Mutter verloren. Henry Tetherow kam aus seinem Versteck in der Schlucht hervor und fing es ab.
„Wo ist deine Mutti?" Das Kind heulte. „Wie heißt du?" Schluchzen. Lautes, schrilles Geheul.
„Hier ist einer! Hier ist einer!" Ein Mann packte Henry.
„Lasst mich in Ruh!"
„Den hab ich mit den Streikenden gesehen!" „Ich muss die Mutter von dem Kind da finden!" protestierte Henry.
Das Kind fing verängstigt zu weinen an. Man schleppte einen bewusstlos geschlagenen Mann durch das Gebüsch. Alpdruckgestalten. Alpdrucklaute. Nichts schien wirklich in dieser phantastischen Welt. Der Mob gab sich ganz der Menschenjagd hin. Jeden Augenblick kamen noch mehr Menschen im Gefängnis an. Man war dabei, die gesamte Zeltkolonie zu verhaften. Die Jagd wurde die ganze Nacht fortgesetzt. Die Gräuelnachrichten mehrten sich. In der Zeltkolonie wusste keiner, was mit den andern Zeltkolonisten geschehen war.
Frauen mussten zusehen, wie ihre jungen Söhne verhaftet und geprügelt wurden. Der Mob wollte etwas mehr als Verhaftungen. Leute wurden geschlagen und ihre Arme verdreht. Der Mob heulte nach Fer.

Das Gefängnis war zum Bersten voll. In die Zellen wurden noch und noch Leute hineingestopft, soviel nur drin stehen konnten. Sechs oder acht Personen in eine
Zelle. Bis zum Morgen betrug die Zahl der Verhafteten zweiundsiebzig Personen, darunter junge Mädchen und Burschen, Großmütter und kranke, alte Männer. Jeder wurde verhaftet, der erwischt werden konnte und von dem man wusste, dass er zur Zeltkolonie gehörte.
Fer war nicht verhaftet worden. Keiner wusste, wo er blieb. Keiner hatte ihn gesehen. Die Streikenden sprachen untereinander von ihm.
„Wo ist Fer?"
„Sie haben ihn wahrscheinlich gekriegt."
„Wenn ihn keiner gesehen hat, werden sie ihn bestimmt gelyncht haben."
„Ich wette, dass sie ihn gekriegt haben."
„Er ist tot."
„Sie haben ihn sehr gesucht."
„Sie waren ja nur darauf aus, Fer zu lynchen."
Man stöberte Dewey Brison in seiner Wohnung auf. Man fasste Del Evans. Sie wurden verhört. Sie wurden misshandelt. Sie wussten nichts von Fer. Die Überzeugung, dass Fer gelyncht worden war, wurde bei den Streikenden immer stärker.
Irma, Doris und Ruth Graham waren alle drei verhaftet. Die Grahams hatten bei den Thorns gewohnt. Als Jolas die Nachricht von der Schießerei brachte, gingen sie in die Zeltkolonie hinauf und wurden dort verhaftet. Irma und Doris blieben im Streiklokal und warteten die anstürmende Menge ab. Sie hielten mit Hilfe Wes Elliotts die jungen Leute bei der Stange.
„Mehr wie verhaften können sie uns nicht. Bleibt lieber hier."
Einige jüngere Burschen flüchteten trotzdem. Sie fuhren in einem alten Ford davon, den jemand dem Verband zur Verfügung gestellt hatte. Der eine Bursche
war der Chauffeur des Verbandes. Sie wurden im Bezirk Carabbas verhaftet und ins Gefängnis eingeliefert.
Die drei Mädchen, Irma, Doris und Ruth, saßen zusammen in derselben Zelle. Sie unterhielten sich leise über Fer. Sie bezweifelten nicht im geringsten, dass der Mob ihn lynchen würde, wenn er ihn erwischte.
Besuche waren im Gefängnis nicht gestattet. Hoskins versuchte es, wurde aber nicht zugelassen. Man hielt sie vollkommen von der Außenwelt abgeschlossen.
Die Polizisten gebärdeten sich wie toll. Sie bedrohten und beschimpften die Gefangenen. Sie hielten den Tod des Polizeichefs für einen vorsätzlichen Mord, und das gab ihnen allen ein Gefühl der Unsicherheit. Die Arbeiter, die sie gehetzt, gewürgt und verhaftet hatten, ließen sich das nicht mehr gefallen! Die Leute, die sie mit ihren Bajonetten stießen, schlugen zurück! Die Polizisten waren nicht darauf gefasst, dass sich die zahmen, fügsamen Streikenden auch einmal wehren könnten. Die gute Ordnung des Weltalls war gestört; das harmlose Kaninchen hatte sich als Menschenfresser entpuppt.
Im Gefängnis herrschte Schrecken. Es gab nicht genügend Essen für alle Gefangenen. Sie litten unter allen möglichen Entbehrungen, Hunger und Durst. Die drinnen waren, fürchteten für die Draußengebliebenen. In der Schreckensnacht schien es, als könnte man die Lynchwut des Mobs nicht länger eindämmen, als würde der Mob von einem Augenblick zum andern ein Blutbad anrichten.
Dann explodierte im Gefängnis eine Tränengasbombe. Die Streikenden brüllten. Eine Panik brach aus. Irma, die Hände vor den tränenströmenden Augen, versuchte, sie zu beruhigen, sagte ihnen, es sei bloß Tränengas.
Später erklärten die Behörden, die Gasbombe sei aus Versehen dort geplatzt.
Es gelang Hoskins, Burdette telephonisch zu erreichen. Dieser bat Hoskins, er möchte sofort nach Lafayette kommen.
„Ich wollte Roger nicht zurückfahren lassen", sagte er. „Kommen Sie auch herüber. Die Leidenschaften sind zu sehr aufgestachelt. Man identifiziert euch mit dem Verband. Ich kann es nicht zulassen, dass euch noch etwas zustößt. Es ist schon genug Unheil angerichtet." Durch Umschreibungen gab er Hoskins zu verstehen, dass Fer in Sicherheit sei. Er hatte sich geweigert, Fer nach Stonerton zurückkehren zu lassen, und hatte ihn in einen andern Bezirk geschickt, wo eine Verhaftung nicht mit Lynchjustiz gleichbedeutend wäre. Er hoffte, dass Fer irgendwo außerhalb des Bezirks Stonerton verhaftet und eingekerkert würde. Als Hoskins in Burdettes Büro eintrat, saß Roger bereits da.
„Jetzt wird nichts mehr passieren", sagte der alte Anwalt. „Man weiß aber, dass ihr verbandsfreundlich gesinnt seid. Es ist für euch gefährlich, zurückzugehen. Meine Freunde haben mir geraten, euch einen Tag oder zwei von Stonerton fernzuhalten, bis sich die Gemüter ein wenig beruhigt haben."
„Werden Sie sich denn auch von Stonerton fernhalten?"
„Das geht ja nicht. Ich muss ein paar von diesen Leutchen gegen Kaution auf freien Fuß setzen lassen. Dort platzen Tränengasbomben. Ich muss sie von dort herausholen. Aber ihr bleibt lieber weg. Ihr könnt sowieso nichts mehr tun. Eure Reportagen habt ihr ja schon. Bleibt hier in Lafayette. Hat keinen Zweck, nach Stonerton zurückzufahren, man würde euch sowieso wieder heraussetzen. Es handelt sich nicht darum, seinen Mut zu beweisen, es handelt sich darum, uns nicht noch mehr Ungelegenheiten zu bereiten."
Im Laufe des Tages wurde die Besorgnis um Fer im Gefängnis und in der Freiheit immer größer. Die Nachricht, dass Fer verschwunden sei, verbreitete sich im ganzen Bezirk. Keiner bezweifelte, dass er gelyncht worden sei.
Fer wurde mit Clint zusammen in Carabbas verhaftet. Er hatte gar nicht versucht, sich zu verbergen. Er hatte ein Zimmer gemietet und gewartet, während die Polizei die beiden Carolinas nach ihm durchsuchte. Zwei Tage waren vergangen.
Die Leidenschaften in Stonerton waren noch immer in Hochflut, aber der Mob hatte sich verlaufen. Alle Leute waren im Gefängnis, und der Mob, der die Zeltkolonie niedergerissen hatte, löste sich in einzelne menschliche Wesen auf. Die Leute waren wieder Väter und Brüder, gingen am Sonntag zur Kirche und an den übrigen Tagen ihren Geschäften nach.
Die Ausschreitungen des Mob schienen schon fern. Vielen Leuten war zumute, als hätten sie einen Traum erlebt; aber es war ein befriedigender Traum gewesen, und die vereinzelten Tropfen der Strömung waren bereit, im Nu wieder zu einer Flut zusammenzufließen.
Fer wurde von Carabbas ohne Zwischenfall nach Stonerton gebracht. Clint und er saßen stur da, ohne zu sprechen. Er war noch immer betäubt. Die Katastrophe, die so unerwartet und rasch über sie hereingebrochen war, ließ ihn ganz benommen zurück. Sie waren dem Sieg so nahe gewesen. Jetzt schien es ihm, als wäre alles vergeblich. Wie in der ersten Nacht wünschte er, der Mob möchte ihm den Garaus machen. Trotzdem litt sein Körper während der Fahrt Angst. Die Welt war für ihn plötzlich ein grauer, hoffnungsloser Ort geworden. Alle Anstrengungen dieser Leute, alle ihre Opfer schienen ihm jetzt zunichte geworden zu sein. Schritt für Schritt
waren sie standhaft vorwärts gekommen, bis diese fatale Schießerei passierte.
Er wusste auch, dass die Einwohner Stonertons die Vorfälle für einen wohldurchdachten Plan hielten, der Ansicht waren, dass er selbst, der Selbstschutz und die Örtlichen Verbandsfunktionäre den Mord mit Vorbedacht vorbereitet hatten.
Das ist eine fürchterliche Anklage, dachte er — Mord. Es scheint gar nicht möglich, dass irgend jemand glauben könnte, ich hätte die Ermordung eines Menschen geplant. Aber es war doch so. Als die Schießerei losging, wusste Fer gar nicht, wessen Gewehre abgefeuert wurden. Er hatte mit Sicherheit angenommen, es seien die Gewehre des Hunderter-Ausschusses, aber er wusste, dass keiner an seine Unschuld glauben würde. Der Streikführer wird unter solchen Umständen immer verhaftet.
Jede Faser seines Körpers sehnte sich nach Ruhe. Er wollte die ganze Sache los sein. Er wollte das so sehr, dass ihm der Tod als willkommene Befreiung erschien; aber sein Körper litt doch Angst. Irgendwo in seinem Innern wurde es ihm übel. Während sie auf den ruhigen Landstraßen Piedmonts dahinfuhren, hatte er das Gefühl, als wäre er leer, wie ein ausgenommener Fisch. Sah er zwei — drei Männer am Wegrand stehen, wurde es ihm physisch übel, und sein Herz klopfte schmerzhaft. Ein kaltes Gefühl entstand in seinem Mund. Er bemerkte das, ohne sich darüber zu erregen. Er betrachtete sein zurückschreckendes Fleisch, als gehörte es einem Anderen, mit leisem und erstauntem Ekel.

Stonerton aber raste weiter.
„Jeder einzelne von diesen Zweiundsiebzig gehört gehängt."
„Alle sollten an die Laternenpfähle."
„Ausbrennen, wie ein Hornissennest."
„Einfach umbringen ist zu gut für sie."
„Der elektrische Stuhl ist zu leicht."
„Man sagt, sie haben durch Astlöcher geschossen."
„Ja, sie haben Löcher gebohrt, um die Gewehrläufe durchzustecken."
„Sie haben nur Mord vor, von allem Anfang an." „Man hätte diese Hetzer aus dem Norden längst auf einer Stange aus der Stadt reiten lassen sollen." „Man hätte sie teeren und federn sollen." „Ich wollt, wir könntens jetzt noch tun." Als Humphries nach zwei Tagen starb, flammte ihre Wut noch einmal auf. Humphries war in der Stadt beliebt gewesen. Man nannte ihn einen guten Sheriff. Humphries selbst hatte den Kopf behalten, er hatte nie selbst Gewalttätigkeiten gegen die Streikenden begangen, diese schmutzige Arbeit überließ er den Hilfspolizisten und den sadistischen Polizeibeamten von der Art Murcks und Zobers.
Männer fuhren in Automobilen in der Stadt herum und musterten misstrauisch jeden Fremden. Ein Gerücht hatte sich verbreitet, dass der Textilarbeiterverband noch weitere Organisatoren nach dem Süden entsenden wollte. Ortsgruppen des Verbandes bestanden in vielen andern Städten. Die Steinigung und Zerstörung der Zeltkolonie hatte die Früchte der Arbeit des Verbandes nicht vernichtet.
Die Stadt Stonerton, schrieb ein Reporter, hatte aufgehört, ein Ort zu sein, sie ist zu einem Seelenzustand geworden. Sie wurde zu einem Seelenzustand, seitdem der Hass gegen die Gewerkschaftsführer zur Manie geworden war.
,Die wohlhabenden Bürger Stonertons glaubten', schrieb Hoskins, ,dass hinter jedem Busch Agitatoren und Rote saßen, mit wurfbereiten knallroten Bomben in der Hand.' In der Vorstellung der Bürger waren Kommunisten, Bolschewisten, Anarchisten und Sozialisten ein und dasselbe. In ihrer Vorstellung bestand ein ungeheures Komplott, dessen Kern und Wesen der Mord war. Das war das einzige, was alle diese Bolschewisten, Anarchisten und Sozialisten wollten —, sie wollten Menschen morden und so ganz nebenbei den Staat und die Wirtschaft vernichten. Alle organisierten Arbeiter waren niederträchtige, hinterlistige, mordgierige Radikale', die sich in das Vertrauen der einfältigen Arbeiter einschlichen, um sie für ihr verbrecherisches Vernichtungswerk als Werkzeuge zu benutzen. So lauteten die Leitartikel in den Zeitungen; so dachten die wohlhabenden Bürger. Die Hetze war, wie solche Raserei immer, aus Furcht geboren und von Furcht genährt. Man bildete sich ein, dass sich ein Netz von Komplotten über das ganze Land verbreite.
Fremde wurden von Selbstschutzstaffeln im Befehlston aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Eine Soziologin von einer Frauenhochschule, die den Ereignissen nachforschte, wurde ins Gefängnis geworfen und ausgewiesen.
„Wir brauchen keine Fremden mehr."
„Wir wollen keine Ungelegenheiten mehr in dieser Stadt."
„Wer hier Schwierigkeiten machen will, soll sich aus der Stadt scheren."
„Hier wird uns keiner mehr Scherereien machen."
„Wir brauchen in dieser Stadt keine Hetzer."
„Jetzt haben wir sie alle schön im Gefängnis beisammen, und die noch nicht im Gefängnis sind, sollen einen Bogen um Stonerton machen."
Selbsternannte Staffeln und Hilfspolizisten bewachten das Gelände des Verbandes. Ein eintreffender Reporter wurde beinahe gelyncht. Sie umringten ihn heulend:
„Her mit ihm! Her mit ihm!" „Raus mit ihm!"
„Wenn’s ein neuer Organisator ist, knüpft ihn an den nächsten Baum!"
„Der sollte kalt gemacht werden!" „Der sollte erschossen werden!"
Es war ein mulmiger Augenblick. Der Anführer der Rotte besah sich misstrauisch die Ausweise, die ihm der Reporter vorzeigte, und befahl ihm barsch, die Stadt zu verlassen.

Die Mehrzahl der zweiundsiebzig Verhafteten wurde auf freien Fuß gesetzt. Nach ihrer Enthaftung steigerte sich die hysterische Erregung in der Stadt noch mehr. Die Erregung äußerte sich nicht offen, und ein Fremder auf der Durchreise hätte die Stadt für einen friedlichen Ort gehalten. Gruppen von Männern standen an den Straßenkreuzungen und unterhielten sich; Ruhestörungen gab es keine. Aber die Menschen waren in Erwartung irgendeines neuen Ereignisses, des Auftauchens der Roten, der Hetzer, bis aufs äußerste angespannt. Hysterie.
Die drei Mädchen blieben länger in Haft als die meisten andern. Endlich wurden auch sie durch Burdettes Bemühungen freigelassen. Die meisten Mädchen aus der Zeltkolonie waren wieder frei, aber gegen neun Burschen wurde die Anklage wegen Mordes erhoben.
Auch Ferdinand Deane war des Mordes angeklagt.
Die Anklage gegen ihn lautete auf Bildung eines bewaffneten Haufens zwecks vorsätzlicher Tötung. Dieselbe Anklage wurde auch gegen Wes Elliott, Mutter Gilfillins Sohn Bill, Dan Marks, Will Tetherow, den Vetter Henry Tetherows, Lynn Cathcart und Sam Truitt erhoben. Auch gegen Paul Graham, der aus eigenem Antrieb nach Stonerton gekommen war, um den Streikenden behilflich zu sein, und gegen Charlie Clint, der vom Textilarbeiterverband aus dem Norden als Organisator geschickt worden war, wurde Anklage erhoben.

Die Wochen schleppten sich hin. Die Hysterie schlief ein, starb aber doch nicht ganz. Die Burschen wurden jetzt im Gefängnis besser behandelt, das Stadium der Gewalttätigkeiten war vorbei. Burdette hatte gegen die Einzelhaft, gegen die Misshandlung der Gefangenen mit Erfolg gekämpft. Er kämpfte gegen alles an. Das Ergebnis war zuletzt ein mehr oder weniger ruhiger Zustand.
Lissa ging an Besuchstagen regelmäßig ins Gefängnis. Sie und Fer unterhielten sich miteinander.
Fer sagte: „Ich kann mich an den Gedanken nicht gewöhnen, dass ich versucht hätte, irgend jemanden zu erschießen."
Lissa sagte: „Daran könnte sich wohl keiner gewöhnen."
Der Hass der Stadt gegen die Streikenden hörte an der Grenze des Stadtteils auf, wo Lissa wohnte. Die Arbeiter in diesem Stadtteil sagten:
„Die haben bestimmt in Notwehr geschossen." Lissa erzählte das Fer.
„Die Leute wissen alle, dass ihr bloß aus Notwehr geschossen habt, sagt Mutter Gilfillin. Sie hat's meiner Mutter erzählt."
„Es wird nicht möglich sein, in dieser Stadt ein unparteiisches Gericht zu finden. Ich dachte, sie würden dich kriegen."
„Mutter Gilfillin kommt ziemlich oft. Sie ist stolz drauf, dass ihr Bill im Gefängnis sitzt. Sie ist überzeugt, dass kein Schwurgericht einen jungen Burschen wie Bill, der nie jemandem was zu leide getan hat, verurteilen wird."
„Es gibt keine Geschworenen im ganzen Bezirk von Stonerton, die uns nicht verurteilen würden. Wenn es nicht gelingt, die Verhandlung in einen andern Gerichtsbezirk verlegen zu lassen, wird es uns schlecht ergehen."

Der Termin der Gerichtsverhandlung rückte heran. Es war Juli. Mit dem Herannahen des Termins flammte die Wut gegen den Verband wieder auf. Der Verband hatte im stillen weiter gearbeitet und organisiert. In Tesner wie in Stonerton bestanden Ortsgruppen, auch in Lafayette und High Hill und in vielen andern Städten.
Wenn sich Burdette auf der Straße zeigte, wurde er bedroht. Er erhielt anonyme Briefe. Leute traten im Restaurant an ihn heran und sagten ihm, er solle sich vorsehen, wenn er diese Mörder und Bankerte verteidigen wollte. Zeugen wurden eingeschüchtert. Der Tag der Hauptverhandlung war endlich da. Die Angeklagten nahmen Platz auf der Anklagebank.
Burdette ließ seine ganze südliche Rednerkunst spielen, um dem jungen, fein aussehenden Richter klar zu machen, dass ,ein Anwalt, Herr, in den Straßen dieser
Stadt bei der Ausübung seines Amtes bedroht und eingeschüchtert worden' sei. Zeugen waren eingeschüchtert worden.
Der Ort der Gerichtsverhandlung wurde von Stonerton nach Lafayette verlegt. Man brachte die Angeklagten ins Gefängnis zurück. Es stand ihnen noch eine langwierige Wartezeit bevor.

 

VIERTER TEIL

XIX. KAPITEL

Nach einigen Wochen war die Zeltkolonie endgültig wieder aufgebaut. Mit der Unterstützung der Zeitungen und der Öffentlichkeit war es gelungen, die Stonertoner Behörden zur Herausgabe der bei dem Überfall beschlagnahmten Zelte zu bewegen.
Der Verband veranstaltete ein Volksfest, um Geld für die Verteidigung der Verhafteten zu beschaffen. Die Zeltreihe als Hintergrund des Volksfestes sah lustig, zigeunerhaft aus. Schön sauber wie sie heute waren, glichen die Zelte einer Dekoration für ein Festgelände, als hätte sie gar nicht die harte Wirklichkeit der Exmissionen dorthin gestellt. Kein Uneingeweihter hätte sie je für die einzige Heimstätte der ehemaligen Arbeiter der Basil-Schenk-Manufaktur-A.-G. angesehen. Für die Arbeiter waren aber diese Zelte ein Sinnbild der Exmissionen, des Mobs und der Nacht der Schießerei.
Auch das Volksfest wäre genau so gewesen wie jedes andere Volksfest, wenn es diese Zelte und das, was diese Zelte bedeuteten, nicht gegeben hätte. Die Zelte bedeuteten aber den Streik, die Zelte bedeuteten, dass die Arbeiter aus ihren Heimen verjagt worden waren. Die tragische Schlacht mit der Polizei hatte sich bei der Verteidigung eben dieser Zelte ereignet.
Keiner, der beim Volksfest anwesend war, konnte die Schießerei vergessen und die fürchterliche Nacht, die darauf folgte. Sie sahen noch immer den Mob vor sich, wie er die Streikenden durch die Wälder jagte.
In den Augen der Arbeiter war dieses Volksfest, das Gelder für die Verteidigung der Eingekerkerten ergeben sollte, von allen andern Volksfesten unterschieden.
Dieses Volksfest war wichtig.
Alle Leute, die mit den Streikenden verbunden waren oder mit ihnen sympathisierten, waren hier auf einem Haufen beisammen. Im Brennpunkt ihrer Gefühle standen, wie unter einer unglaublich starken Linse, die verhafteten jungen Leute. Die Gefangenen waren hier gegenwärtiger als die wirklich Anwesenden. Der Gedanke an sie war überall. Es war kein einziger dabei, der nicht die ganze Zeit an sie gedacht hätte.
Kinder liefen herum. In einer Ecke spielten sie mit Emma ein Spiel. Emma war aus dem Norden gekommen, um die Unterstützungsarbeit nach der Verhaftung von Doris zu übernehmen. Sie war dunkelhaarig, hatte dichte Augenbrauen und ein schweres, dunkles Gesicht. Die Spiele, die die Kinder spielten, waren lauter neue Spiele. Sie hießen Streikposten und Bullen'. Die Kinder dachten sie sich selber aus. Unter einer Baumgruppe warfen Männer Hufeisen. Um den Wurstkessel stand eine Menschenmenge, und die Leute liefen herum, Brausepullen an den Mund gepresst.
Dann gab es noch die Rednertribüne.
Dewey Brison sah die Rednertribüne an und hatte in seiner Magengrube plötzlich das Gefühl, als wär dort drin ein Stern geplatzt. Er war im Begriff, von der Tribüne aus zu sprechen. Das war auch eins der Dinge, die dieses Volksfest von allen andern Volksfesten unterschied. Alle Äußerlichkeiten bis auf die Rednertribüne und die Zelte schienen dieselben zu sein wie bei andern Kundgebungen dieser Art, aber die innere Bedeutung, der Sinn des Ganzen war grundverschieden.
Das Volksfest war das Symbol der eingekerkerten Burschen. Die Mütter dieser Burschen gingen dort an einem vorbei —, Mutter Gilfillin mit ihrem scharfgeschnittenen, altlederfarbenen Gesicht und die Mutter von Dan Marks. Nein, bei diesem Volksfest konnte keiner auch nur einen Augenblick die Eingekerkerten vergessen. Verurteilte man sie, so würden sie im elektrischen Stuhl brennen. Dieser Gedanke überschattete alles andere. Das Unglück war vor zwei Monaten geschehen. Jetzt war die Verhandlung bereits im Gange. Die Geschworenen wurden ausgelost.

Gesprächsfetzen, deren Gegenstand die Schreckensnacht war, flatterten durch die Menge, wie treibende Stücke eines Wracks lange nach dem Sturm.
„Der Hunderter-Ausschuss ist gekommen und hat uns durch die Wälder gejagt ... "
„Wie die Schüsse kamen, hab ich mich auf die Erde gelegt... "
„Sie haben die Zelte kurz und klein geschlagen... "
„Warst du in der Nähe bei der Schießerei?"
„Ich war Augenzeuge. Ich hab gesehen, wie die
Schüsse aus dem Polizeiauto kamen. Ich bin Zeuge für
die Verteidigung."
„Die alte Frau Holbrook hat einen Kessel Wasser genommen. Seht zu, dass ihr hier rauskommt... "
„Bei Gott, ich wollte, ich wäre nie in den Verband eingetreten... "
Das Gerede zog Dewey Brison schlapp durch den Kopf. Er dachte an den Verband. Seit Wochen hatte er an nichts anderes mehr gedacht. Er hatte damit ,gegessen und geschlafen'. Nach den Verhaftungen war er zum Organisator bestimmt worden. Ein Gefühl des Stolzes
würgte ihn, dass er schlucken musste. Dieses Gefühl überkam ihn, bevor er wusste, was es bedeuten sollte, und dann fiel es ihm ein: ,ich bin ja Organisator!' Er wusste, dass das eine harte und gefährliche Arbeit war. Das war ihm aber gleich. Er hatte sanfte, braune Augen und eine Locke weichen, langen Haares auf der Stirne. Er konnte kaum lesen und schreiben. Er wusste nicht Bescheid darüber, wo Orte lagen. Er wusste nur, dass es Norden gäbe und Süden. New York sei Norden und New Orleans Süden. Die Begriffe Ost und West fehlten ihm. Er war bis zum zwölften Lebensjahr in die Schule gegangen und hatte dann in den Baumwollspinnereien angefangen. Er war jetzt vierundzwanzig Jahre alt. Er erwähnte das oft in seinen Reden.
„Ich bin vierundzwanzig, und ich arbeite schon die Hälfte meines Lebens, und wenn ich sage, diese Jungs sind unsertwegen im Gefängnis, so weiß ich, was ich rede."
Das war auch der Kern dessen, was er diesmal in seiner Rede sagen wollte. „Die Jungs sind für uns im Gefängnis, und wir wiederum wollen für sie den Verband aufbauen." Diese Gedanken schienen ihm neu und wertvoll. Sie ließen ihn jenen Schauer der Freude empfinden, der den Denker bei der Entdeckung einer neuen Idee von ungeheurer Tragweite erschüttert. Die Worte, die er von der Rednertribüne aus sagen wollte, fügten sich zu schimmernden Sätzen, die sich von dem dumpfen Rauschen der Gespräche um ihn abhoben.

Dann durchdrangen ihn plötzlich wie ein Messer ein paar Gesprächsfetzen:
„Sag, brennen die Leute denn wirklich im elektrischen Stuhl?"
„Freilich brennen sie. Und bevor man sie auf den Stuhl setzt, wird der Strom eingeschaltet. Da wird der Strom ausprobiert, und dann werden alle Lichter in der Armesünderzelle dunkel, weil der ganze Strom in den Stuhl geschaltet ist."
„Wissen die Kerle in der Armesünderzelle, dass der Strom auf den Stuhl umgeschaltet ist?"
„Freilich wissen sie's! Sie hören ja den Dynamo, wenn die Lichter dunkel werden."
Dewey war es, als wäre er plötzlich selbst bei seinen Freunden in der Armesünderzelle. Wie schmal war doch der Spalt des Zufalls, durch den er der Verhaftung entronnen war! Es war ihm, als höre er das hohe Heulen der Dynamomaschine und sähe die Lichter sich verdunkeln. Es war ihm, als läge auf dem Feld mit seinem Zeltsaum, mit seinen spielenden Kindern und seinem wogenden Menschenhaufen der Schatten des Totenhauses mit der großen heulenden Dynamomaschine, die den Tod durch Verbrennung bedeutete. Es war wie ein böser Traum. Er musste sich aufrütteln.
In seiner Nähe stand Mamie Lewes. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf zurückgeworfen und lachte. Er hatte sie oft gesehen, aber nie mit ihr gesprochen. Gewöhnlich war er Frauen gegenüber schüchtern, aber der Schatten des Totenhauses hatte seine Schüchternheit beseitigt. Er ging zu ihr bin, als könnte sie ihn befreien.
„Bist du nicht Mamie Lewes?" fragte er mit seiner weichen Stimme, „ich hab dich oft singen gehört."
„Aber sicher", antwortete sie. „Und ich hab wieder dich oft sprechen gehört. Du bist doch Dewey Briaon, der Organisator."
Keiner hatte ihn noch so genannt. Jetzt wurde seine Funktion zur Wirklichkeit und erfüllte ihn mit Stolz. „Ich hoffe, du wirst heute sprechen", fuhr sie fort. „Ich möchte dich so gerne wieder sprechen hören."
„Das ist sehr lieb von dir. Ich hab ja noch nicht viel gesprochen. Solange hier kein Verband war, hab ich nie gesprochen. Man sagt, du machst dir deine Liederballaden allein?"
Sie nickte zwei, dreimal mit dem Kopf in bereitwilliger Bejahung. Es war eine anmutige Bewegung
Er dachte, die ist ja gar nicht alt —, Mamie Lewes ist doch nicht alt. Bisher hatte er sie aus irgendeinem Grunde immer für ,alt' gehalten. Sie hatte eine Menge Kinder. Ihr Mann war ihr ,getürmt', sagten die Leute. Die Leute sagten, er hätte eine andere gemocht.
Sie stand vor ihm, klein von Wuchs, mit weit auseinander liegenden Augen, lockigem Haar, mit etwas Freiem, Befreitem an sich; etwas Junges, Glückliches, Spielerisches war an ihr. Sie sah aus, als sollte gleich die Musik zu spielen anfangen.
„Ja", sagte sie. „Ich mache mir meine Lieder selbst. Sie kommen mir nur so von selbst, seitdem wir den Verband haben."
„Genau so, wie bei mir mit dem Sprechen." „Alles kommt einem so anders vor, seitdem wir den Verband hier haben. Früher hab ich immer nur gearbeitet und gearbeitet, jahraus, jahrein, wie so ein Tier. Man hatte zu nichts anderem Zeit als zum Müdesein, nicht wahr?"
„Nein, wirklich nicht."
Sie hatten sich verstanden. Er fühlte, dass sie mit derselben Leidenschaft am Verband hing wie er selbst. Die Zeit, als es noch keinen Verband gab, für den man kämpfen konnte, schien weit zurückzuliegen, schatten-
haft und ereignislos. Seither waren ihm neue Gedanken gekommen, eine neue Ergebenheit. Es war, als sei er aus einem Schlaf erwacht. Auch sie fühlte dasselbe.

Die Leute sammelten sich um die Rednertribüne. Eine Gruppe Kinder marschierte vorbei. Jeder hatte die Hand auf der Schulter seines Vordermannes und schrie, so laut er konnte:
„Zober, der Bulle, immer mit der Pulle!" „Hoffentlich hörens die Bullen", sagte Mamie Lewee. „Hör zu."
Die Kinder sangen jetzt:
„Der alte Zober sitzt auf dem Zaun,
Will aus neunundneunzig Cents einen Dollar baun!"
„Diese Kinder werden sich noch würgen und mit dem Gummiknüppel verprügeln lassen", prophezeite Jolas seiner Binney.
„Diesen Zober können sie aber wirklich nicht ausstehen", sagte Dewey.
„Mamie Lewes!" rief jemand. „Sie wollen, du sollst singen!"
„Ich muss jetzt wohl gehen und singen." Sie nickte Dewey mit lächelnder Freundlichkeit zu und ging hinüber zur Rednertribüne. Sie sang aus dem Zwerchfell, mit tiefer, süßer, ungeschulter Stimme:

„Sie sperren unsere Führer ein,
Es geht auf Tod und Leben,
Die Arbeiter, sie müssen drauf
Die rechte Antwort geben.
Sie stehen einig fest zusamm',
Haun in dieselbe Kerbe,
Wir geben nie und nimmer zu,
Dass unser Führer sterbe.
Wir bauen einen großen Verband
Im ganzen Süden aus,
Damit wir bessere Kleider kriegen
Und auch ein besseres Haus.
Jetzt müssen wir zusammenstehen,
Haun in dieselbe Kerbe,
Wir geben nie und nimmer zu,
Dass unser Führer sterbe!"

Sie sang mit der größten Aufrichtigkeit und Überzeugung. Die Worte sanken tröstend Dewey ins Herz. Es war, als ob der lange Schatten des Totenhauses heller wäre, das Heulen der Dynamomaschine leiser.
„Wir geben nie und nimmer zu, Dass unsere Führer sterben!"
Er fühlte den Verband als Bollwerk gegen den Tod der Führer. Er empfand ihn als gegenwärtig und lebendig und mächtig, und er war ein Teil davon, und auch Mamie Lewes war ein Teil davon und die Kinder auch, die ihre Spottlieder sangen; und auch alle Menschen, die beim Volksfest anwesend waren. Es schien ihm fast, als könnten die Gefangenen es auch hören.
,Wir geben nie und nimmer zu... '
Jetzt sang sie eigens für ihn. Er stimmte in den Chor ein, und sie sangen den Refrain zusammen in einer Aufwallung der Empörung gegen den Betrieb und die Gerichte. Sie sang noch einmal, ihre Stimme kam tief aus dem Innern, sie schrie es froh und herausfordernd hinaus:
„Hört nun, Streikbrecher, meine Mär,
Von einem gemeinen Millionär,
Basil Schenk wird er genannt,
Er kauft das Gesetz im ganzen Land... "
... hier hob sich ihre Stimme laut und triumphierend wie eine Standarte mit Fanfaren:
„Doch er kann nicht kaufen unsern Verband!" Die Leute riefen:
„Doch er kann nicht kaufen unsern Verband!" Jetzt waren sie alle vereinigt. Die Lieder hatten sie zusammengebracht. Sie waren nicht mehr einzelne Menschen, sie waren eine große, zu einer großen Sache versammelte Zuhörerschaft.
Sie waren nicht länger Einzelne, gemein, verängstigt, bedrückt. Sie waren alle befreit, alle erfüllt von demselben großartigen Ziel. Ihre Herzen schlugen mit dem Verband. Sie waren ein Teil des Verbandes. Es war schön. Schönheit und Hoffnung war unter ihnen, Hoffnung auf einen besseren Tag, wie es Mamie Lewes gesungen hatte: ,Damit wir bessere Kleider kriegen und auch ein besseres Haus.'
Mamie Lewes zog Odell Corbett mit auf die Rednertribüne hinauf. Odell war ein mageres, kleines Mädchen, ihr Haar hing, nach deutscher Manier geschnitten, fast bis zu den Augen herunter.
„Auch Odell hat eine Ballade gemacht", sagte Mamie Lewes. „Sing uns vor, Odell." Das Kind piepste sofort los, mit einem Stimmchen, das spitz und scharf und winzig war wie eine Nadel:
„Dürfen wir zu dir ins Zelt, Fer Deane, Wenn sie uns aus unserm Haus vertreiben? Denn auf der Erde schläft sichs kalt Und wir haben keine andere Bleibe. "
Dewey fühlte sein Herz sich verkrampfen. Mamie Lewes sprang von der Rednertribüne und stand wieder neben ihm. Er drückte ihr impulsiv die Hand. Sie
schien gar nicht erstaunt, sondern drückte die seine warm wieder. Sie waren vereint in ihrer Treue zu ihrem Volk, zu ihrer Hoffnung, zu ihrem Verband.
Die Versammlung ging weiter ihren Gang. Jetzt sprach Dewey. Dann sang Mamie Lewes noch einmal. Wieder näherten sich die Menschen einander. Etwas Schönes war unter sie gekommen. Sie waren voller Hoffnung und Solidarität. Glück strömte von ihnen aus, einen Augenblick lang waren sie alle stark im Guten. Ein Wunder war geschehen. Das Streben des menschlichen Geistes war in dieser Versammlung einfacher Leute greifbar geworden. Das hatte der Verband getan.
Menschen in Masse zeigen das Beste oder das Schlechteste, das in ihnen steckt. Gemeinsam ersteigen sie gefährliche Höhen der Schönheit und der Opfer. Und gemeinsam sinken sie zur Jagdmeute herab, zur blutlechzenden Kreatur. Der einzelne Mensch geht zwischen den beiden Extremen seinen Weg.
Dewey fühlte das, wenn er es auch nicht hätte in Worten sagen können. Er wusste nur, dass er gewachsen war, dass er in diesem Augenblick lebendiger war, als er je gewesen, und dass überall um ihn her die Menschen ebenso lebendig waren wie er selbst. Er wusste, dass sie in diesem Augenblick zum Sieg ausmarschieren könnten, wie mit Bannern und Fanfaren.
Dann legte sich ein langer Schatten über ihn, wie von den Mauern der Fabrik geworfen. Hier war es schön, aber draußen war der Hass. Draußen war der Mob.
Jetzt war der Mob still, er wartete auf Blut, er leckte sich die Lefzen und dachte an die Musik der Dynamomaschinen im Totenhaus.
Wieder hatte Dewey das Gefühl der fast sichtbaren Gegenwart der Gefangenen —, als ginge die Schönheit dieses Nachmittags von ihnen aus. Sie waren überall
zugegen, in der Musik, in den Reden, und auch die furchtbare Gefahr, die sie bedrohte, und die Notwendigkeit ihrer Errettung aus dieser Gefahr waren überall mit dabei.
Draußen aber war der Mob__
Mamie Lewes trat an ihn heran. „Vielleicht werden bei dem nächsten Volksfest auch sie dabei sein."
„Mag sein", antwortete er. Er fühlte, dass er um etwas Scheußliches wusste, um etwas, das ihr nicht bekannt war. Er hatte die Lichter im Totenhaus sich verdunkeln gesehen, sie aber nicht.
Er hatte die Dynamomaschine gehört.
Plötzlich fühlten sie beide, dass sie sich bald wieder sehen müssten. Sie verabredeten, sich am folgenden Montag im Gerichtssaal zu treffen.

 

XX. KAPITEL

Der Nachmittag des Volksfestes bedeutete für Dewey das Ende eines Lebens in Unschuld. Er hätte es nicht in Worte kleiden können, aber das Leben vor jenem Sonnabend und das Leben, nachdem er dem Mob ins Gesicht gesehen hatte, spalteten sein Leben entzwei. Ein furchtbares Wissen um das Böse im Menschen war ihm enthüllt worden.
Der Verband hatte sein Hauptquartier nach Lafayette verlegt, da in Stonerton die verbandsfeindliche Stimmung zu stark gewesen war. Aber in den zwei Monaten, die seit der Schießerei vergangen waren, hatten die Verbandsfunktionäre in vielen Betrieben der Bezirke Stonerton und Gaston weiter agitiert. Sie wollten am Sonnabend vor einem der zahlreichen Betriebe der Umgebung Stonertons eine Versammlung abhalten.
Dewey Brison und Lee Henderson organisierten die Veranstaltung. Sie nahmen den alten Quinn mit sich, einen alten Prediger und sehr geschickten Redner, und noch zwei junge Kerle, Robert Duncan und Poddy Smithson, die sehr gut für den Verband zu sprechen verstanden und auch hier sprechen sollten. Poddy war ein großer, starker Kerl. Alle drei Burschen waren zu einer Schlägerei bereit, wenn es dazu kommen sollte.
„Ihr Jungen wisst, dass es zu Scherereien kommen kann", hatte Duncan zu ihnen gesagt. Robert Duncan war aus dem Norden gekommen, um Fer mehr oder weniger zu ersetzen. Er war ein Betriebsarbeiter aus dem Norden, ein kleiner, zäher Kerl, bescheiden, völlig furchtlos, ohne jede Großsprecherei.
Sie fuhren die wunderbare Bergstraße entlang.
„Glaubt ihr, dass es Scherereien geben wird?" fragte Dewey.
„Na, es heißt, die Betriebsleitung hält einen Mob für uns in Bereitschaft", sagte Duncan. „Können wir dort nicht sprechen, fahren wir gleich weiter nach High Hill."
„Habt ihr auch in High Hill eine Versammlung angesetzt?" fragte Smithson.
„Ja, freilich", sagte Dewey. „Warst du denn bei der Sitzung nicht dabei, wo wir alles festgelegt haben? Erst sprechen wir hier, und dann fahren wir weiter nach High Hill."
„Wir haben da eine ganz stramme Verbandszelle, in diesem Heatherstone-Betriebe, wo wir sprechen sollen. Darum will man uns die Sache auch versalzen. Sie wissen genau, dass die Zelle was taugt."
„Mir wär’s leichter ums Herz, wenn ich ein Schießeisen hätte", sagte Poddy.
„Na, keiner von uns hat Schießeisen und keiner von uns wird Schießeisen bei sich tragen", sagte Duncan, der die ganze Abneigung des Nordamerikaners gegen das Tragen von Schießwaffen hatte.
Der Gedanke an ,Scherereien' lag Dewey ganz fern. Er hatte vor zwei Monaten nur den Anfang der Zerstörung der Zeltkolonie miterlebt. Er hatte nicht in der Zeltkolonie gewohnt und war frühzeitig entkommen.
Er war damals nicht prominent genug gewesen, und der Hass des Mobs hatte sich nicht gegen ihn gerichtet. Er hatte diesen Hass nie so zu spüren bekommen wie Fer. Er war nie bedroht worden wie Wes Elliott und einige der bekanntesten Streikenden. Bisher war er bloß Leibwächter von Fer gewesen, aber kein Verbandsfunktionär, ja nicht einmal Mitglied des Streikausschusses, auch nicht in den heißesten Tagen des Streiks.
Sie fuhren in einem Mietauto durch die wunderbare Augustlandschaft. Es war heiß, aber es wehte ein angenehmes Lüftchen. Dewey fühlte sich glücklich. Er dachte an Mamies ,Singballaden' und daran, dass er sie morgen im Gerichtssaal treffen würde. Sie hatten den Plan schon festgelegt. Mamie sollte mit einem Lastauto aus Tesner kommen, um einen Tag bei der Gerichtsverhandlung zu verbringen.
Sie kamen zum Catawbafluss. „Dort ist die Stelle", zeigte Poddy Smithson den andern die Tankstelle des Griechen, wo Zober und Murck den Griechen am Tage der Schießerei in der Zeltkolonie in den Fluss gejagt hatten.
„Sie waren beide besoffen und sind zum Griechen gekommen, um ihn zu fragen, wo sie noch etwas zu trinken kriegen könnten. Der Grieche hat gesagt, er hat nichts zu trinken, und da haben sie ihn verflucht und
auf ihn geschossen, und er ist davongerannt, hinunter zum Fluss."
„Das hat ihnen so gute Laune gemacht, dass sie dann gekommen sind, die Zeltkolonie ausräumen", sagte der alte Quinn.

Vor den Betrieben, die sich bis zur Chaussee hinunter erstreckten, war eine Gruppe von Menschen vergammelt. Ungefähr hundert Menschen, auf der Chaussee, mit Gewehren in den Händen, zu allen Untaten bereit, nicht eine Menschenmenge, sondern ein Mob.
Eine Welle dumpfen Staunens durchschüttelte Dewey. Diese Männer hatten es auf ihn abgesehen. Ein Geheul stieg aus ihren Kehlen auf.
„Dort ist der Anstifter!"
„Holt ihn heraus und lyncht ihn!"
„Holt ihn raus! Holt ihn raus! Stopft ihnen das Maul!"
Solche Rufe konnten sie einzeln aus dem Gebrüll des Mobs heraushören. Aber dieses Gebrüll glich keinem andern Geräusch der Welt. Es war der Laut des Irrsinns.
Dewey schien es, als blicke er in einen roten Rachen. Diese Männer, die brüllend heranstürmten: ,Holt sie heraus, lyncht sie, erschießt sie', waren alle Teile des Mobs. Hier war das Gegenstück zum Volksfest, wo die Individualität der Menschen aufging in etwas, das ihrer aller Summe und größer als sie alle war. Hier fraß der Mob die einzelnen auf und spülte sie fort im gemeinsamen, besinnungslosen Hass.
Sie überrannten das Auto, ihren Hass laut herausbrüllend. Das Brüllen klang in Deweys Ohren wie das Rauschen des Meeres. Ein Mann schlug ihm mit einem Totschläger aufs Auge.
Ein anderer drosch mit einer Bierflasche auf Henderson los. Henderson versteckte das Gesicht in die Hände, Die Flasche zerbrach und von seinen Händen floss Blut. Männer schlugen mit Gummiknüppeln und Fäusten über die offene Seite des Wagens auf den alten Quinn, auf Poddy Smithson los. Der Mob riss den Wagenschlag auf und zerrte Dewey heraus.
„Los, wir lynchen ihn! Nehmen wir sie mit!" Dewey war nicht erschrocken. Ein blödes Staunen erfüllte ihn.
„Wir nehmen sie mit und peitschen sie aus!" „Wir werden ihnen geben, einen Verband aufzuziehen!"
Es schien ihm unglaublich, dass ihm so etwas zustoßen könnte. Jetzt versuchten seine Freunde, ihn zurückzureißen. Sie zerrten ihn herein, schlugen den Wagenschlag zu.
„Aufdrehen!" schrie Henderson.
Das Auto sprang vorwärts. Der Mob klammerte sich an den Wagen, wie ein Bienenschwarm, und schlug noch immer auf die Insassen ein. Der Wagen kam in Schwung. Die Verfolger blieben zurück, ein Klumpen Hass. Steine schlugen gegen die Karosserie des Autos, Schüsse knallten. Einzeln sprangen die Angreifer vom Auto ab. Jetzt waren sie durch. Nur ein schwarzer Fleck lag hinter ihnen, ein schwarzer Fleck mit rotem Rachen.

Dewey war es schwindlig. Beide Augen waren blau und sein Schädel blutig angeschlagen. Das Blut tropfte herunter. Alle hatten zerschundene Gesichter. Selbst der alte Quinn hatte ein blaues Auge und sein Unterkiefer war geschwollen.
Der Taxichauffeur sprach zuerst.
„Das war aber bald schief gegangen! Ich dachte, jetzt kriegen sie uns alle."
„Ich dachte, wir haben jetzt unsern Teil."
„Ich dachte das auch", sagte Henderson.
„Ich war richtig erschrocken, wie sie Dewey da herauslotsen wollten."
„Wenn sie ihn aus den Wagen herausgekriegt hätten, wär er jetzt schon um die Ecke."
„Glaubst du, die hätten ihn gelyncht?"
„Ja, die Bande war auf Lynchen aus. Die wussten gar nicht mehr, was sie tun."
„Was waren denn das für Leute?" fragte Duncan. Das alles war ihm neu. „Was wollten die von uns?"
„Es waren Werkspitzel und ein paar von den Kerls, die sie ,loyale Arbeiter' nennen und dann noch allerlei Gesindel. Denen haben sie erzählt, der Verband predigt freie Liebe und Atheismus."
„Wohin wollt ihr denn fahren?" fragte der Taxichauffeur.
„Erst zu einem Arzt, wenn wir durch Gastonia kommen, um unsere Wunden verbinden zu lassen, und dann gehen wir nach High Hill und sprechen dort. Wir wollen doch trotzdem irgendeine Versammlung abhalten, nicht wahr?"
„Aber selbstverständlich", sagte Poddy.
„Selbstverständlich. Wir wollten eine Versammlung abhalten und werden auch eine abhalten", sagte der Prediger Quinn.
Dewey sagte nichts. Er war froh, dass sie weitergehen wollten, froh über alles, was ihn verhinderte, an den haßbrüllenden Mob zu denken, an die packenden Hände, an das Geheul des Mobs.

 

XXI. KAPITEL

Der Gerichtssaal, wo die Verhandlung stattfand, war hoch und imposant. Die Wände waren mit dunklem poliertem Holz getäfelt. Riesige Fenster ließen das Licht herein. Der Raum machte eher einen würdevollen und stattlichen als strengen Eindruck.
Roger stieg die zum Gerichtssaal führende Marmortreppe hinauf. Das Gebäude war neu, und ganz Lafayette war stolz darauf. Zwei weit ausholende Treppenfluchten führten aus der Vorhalle nach oben. Junge Mädchen in hellen Kleidern schwärmten die Treppen hinauf. Eine Gruppe Neger in Overalls lachte gemeinsam über eine eben zum besten gegebene komische Geschichte. Ein kohlschwarzer Neger warf den Kopf zurück und platzte mit einem schallenden ,Wah-wah-wah' heraus, das durch die weite Halle rollte. Bauernfrauen in Kalikokleidern, kleinen altmodischen Strohhüten auf den Haarknoten und Knöpfelschuhen schlenderten die Treppen hinauf.
Die Leute von Lafayette machten von ihrem Gerichtsgebäude reichlich Gebrauch. Man fühlte sich drin wie an einem vom Volke besuchten Ort, etwa einer Kreuzung zwischen einem Theater und einer Bibliothek. Es war eben ihr Theater. Hier kamen sie her, um Mordprozessen beizuwohnen. Hier kamen sie her, um zuzusehen, wenn ihre Nachbarn vor Gericht standen. Die schlendernden jungen Mädchen, die Frauen, die Neger, die Männer in Arbeitskleidung und Overalls, die Leute, die kamen und gingen, das Gefühl der Muße nahmen dem Ort jede Strenge.
Der Presse wurden an einer Seite des Saals innerhalb der dunklen Holzschranke Plätze angewiesen. Zwei Reihen Bänke liefen an beiden Seiten des großen Zimmers entlang. Diese Bänke waren ursprünglich für
die Geschworenen bestimmt. Die zweite Bank, den Presseplätzen gegenüber, war noch leer, wartete auf die Geschworenen. Es war eine langwierige Prozedur, das Zusammenstellen des Geschworenengerichts.

Roger hatte viele alte Bekannte im Saal. Hoskins war hier, Dick Durgan und andere Journalisten, die schon einmal in der Frühzeit des Streiks dagewesen waren.
Der Gerichtssaal begann sich zu füllen. Die Zuhörerschaft bestand fast ausschließlich aus Arbeitern, meist aus Männern. Lastautos mit Streikenden waren aus Stonerton gekommen. Hier waren auch einige Frauen dabei. Die meisten waren mit den Angeklagten verwandt. Roger erkannte unter dem Publikum den alten Tetherow und Frau Tetherow und Mutter Gilfillin. Auch der Vater von Dan Marks, Binney und Victor Jolas, Frau Cuthbert waren da, die Bisphams und die Landors und Lissa.
Die Tribünen waren voll von Negern. Bald kam der Sheriff und schickte sie weg, um Weißen Platz zu machen, die das Schauspiel sehen wollten. Die Neger schlürften davon und dachten gar nicht daran, zu protestieren.
Der Richtertisch stand auf einer Plattform. Die Wand dahinter war mit schönem poliertem Holz getäfelt und mit einer prächtigen Bronzeuhr geschmückt. Das dunkle Holz hinter dem Richter, die Bronzeuhr, die hohen Fenster gaben seinem hohen Sitz eine fast theatralische Würde.
Der Richter war ein junger Mann mit schmalen, aristokratischen Gesichtszügen und mit einem schönen Kopf, beinahe dem Kopf eines Fanatikers. Tiefliegende Augen. Ein Mann, der mit sich selbst in Frieden lebte,
ausgeglichen und lebensbejahend. Er glaubte an sich, an die Gerechtigkeit in seiner Arbeit und an Gott. Vor dem hohen Tisch waren die Plätze für die Anwälte der Anklage und der Verteidigung. Das größte juristische Talent des Staates Nordcarolina war eingesetzt worden, um diese jungen Burschen auf dem elektrischen Stuhl verbrennen zu lassen. Auch der Verband und die Verteidigung hatten ausgezeichnete juristische Talente mobilisiert.
Die jungen Angeklagten kamen herein. Sie sahen alle sehr sauber und sehr jung aus. Ihre Freunde drängten sich vor, um sie zu begrüßen. Der Sheriff ließ sie gewähren. Es wurde ihnen gestattet, mit ihren Angehörigen zu sprechen.
Roger ging hinunter, um Fer zu sprechen. Seine Augen waren klar, er sah ausgeruht aus. Sie waren alle froh, dass die Verhandlung nach der langweiligen Haft von zweieinhalb Monaten endlich begann.
Da war Wes Elliott mit seinem rotbraunen Haar, seinen tiefliegenden fanatischen Augen und seinem groben, starken Gesicht.
Dan Marks, breitschultrig, sein schöner Kopf fest auf dem schweren Hals ruhend.
Bill Gilfillin, mit lockeren Gelenken, schlaksig, nur achtzehn Jahre alt.
Tetherow, mit goldenem Haar und blauen Augen, sehr adrett gekleidet, denn alle Tetherows waren adrett, sah aus wie ein höherer Schüler, was er wohl auch hätte sein sollen, wenn er nicht Fabrikarbeiter gewesen wäre. Tetherow und Gilfillin waren beide noch nicht neunzehn Jahre alt.
Da war Charlie Clint, der Betriebsarbeiter aus dem Norden, der gekommen war, um bei den organisatorischen Arbeiten mitzuhelfen. Paul Graham, ein junger
Intellektueller, der noch nicht zwei Wochen im Süden war, als die Schießerei passierte. Der Verband hatte ihn an die Stelle Woods heruntergeschickt und damit endlich den wiederholten Bitten Irmas und Fers entsprochen.
Die jungen Leute saßen alle unmittelbar an der Schranke. Irma und Doris und Grahams junge Frau, ein sehr hübsches Mädchen mit großen blauen Augen und dunklem Haar, saßen hinter ihnen.
Dort saß auch Len Cathcarts junge Frau mit ihrem kleinen Kind. Cathcart war einundzwanzig Jahre alt und der einzig verheiratete Mann unter den angeklagten Arbeitern. Auch Sam Truitt, ein anderer Betriebsarbeiter, war unter den Angeklagten.

Zwei kleine Kinder saßen neben dem Richterstuhl, Knirpse von drei bis vier Jahren, der Knabe in Blau, das Mädchen in Rosa gekleidet. Ihr Haar war blond, mit dem blonden, flaumigen Aussehen frisch ausgeschlüpfter Kücken. Der Sheriff und sein Gehilfe brachten einen großen eisernen Kasten herein. Die Kinder sollten daraus die Namen der Geschworenen ziehen.
Das hier war ein Mordprozess. Der uralte Brauch des Staates Nordcarolina schrieb vor, dass die Namen der Geschworenen von Kindern, die des Lesens und Schreibens unkundig sind, gezogen werden müssten. Die Kinder des Sheriffs zogen die Namen und schienen es nie satt zu werden. Nachdem die Geschworenen an Gerichtsstelle geladen waren, zogen sie dann die Namen aller Geschworenen nacheinander aus einem Hut.
Das kleine Mädchen war verlegen und selbstgefällig. Es machte den Männern, von denen eine so befriedigende Anzahl anwesend war, allerhand Augen. Der
kleine Junge war ernst und sah sich gar nicht um. Meist saß er auf dem Schoß des Richters, eine kleine blaue Gestalt mit einem goldenen Knopf obenauf. Der Richter hielt ihn zerstreut auf dem Knie. Das kleine Mädchen trieb sich bei den Journalisten herum, die ihm Bilder zeichneten.
Roger wurde den Anblick nicht los. Zwei helle Stückchen Farbe und Unschuld, die sich heimisch und zufrieden im Gerichtssaal tummelten.
Der Gerichtsschreiber rief einen Geschworenen mit Namen. Der Geschworene meldete sich; der Schreiber sagte:
'ssen Sie 's Buch!" und überreichte dem Geschworenen die Bibel.
„Schwören Sie feierlich —"; der Rest der Eidesformel verlor sich in einem undeutlichen Gemurmel. Leise und mit großer Höflichkeit redeten die Anwälte.
Es war gar nicht wie eine Gerichtsverhandlung, bei der neun Menschenleben auf dem Spiel standen. Es war eher ein feierlicher Ritus, ein Ding aus dem achtzehnten Jahrhundert, eine Menuette. Ein unblutiger Zweikampf mit Finten und Paraden. Ein komplizierter Bau aus Höflichkeit und Kultur, ein Mittelding zwischen einem Duell und einem Menuett.
Die ganze Szene, der junge unparteiische Richter, die alten Gebräuche, die komplizierten Zeremonien, die Höflichkeitsformeln der Anwälte, dies alles schien der Welt zu verkünden:
Das hier wird kein Prozess Sacco-Vanzetti. Hier gibt es keine Abschiebung junger Menschen auf den elektrischen Stuhl. Hier wird Gerechtigkeit geübt. Das hier ist ein Gericht von Nordcarolina. Diese jungen Missetäter sollen jede Chance haben.
Roger saß und sah zu, aber in seinem Herzen wusste
er, dass diese Blüte der Justiz auf demselben Boden wuchs wie der Mob. Er konnte das Gesicht nicht vergessen, das Stonerton vor zwei Monaten ihm gezeigt hatte.
Die Prozedur der Bestimmung der Geschworenen nahm kein Ende. Da es sich um einen Mordprozess handelte, hatte jeder Angeklagte das Recht, zwölf Geschworene abzulehnen. Die Anklagebehörde hatte im Vergleich zur Verteidigung ein stark beschränktes Beanstandungsrecht.
Roger saß durch den ganzen langen Nachmittag. Der Anklagevertreter schleuderte den angehenden Geschworenen Fragen entgegen.
„Sind Sie Fabrikarbeiter? Glauben Sie, dass die Angeklagten unschuldig sind, und haben Sie einem solchen Glauben Ausdruck gegeben? Haben Sie je eine kommunistische Zeitung gelesen? Haben Sie je Literatur gelesen, die von diesen Leuten verbreitet wurde? Gehören Sie einer Gewerkschaft an? Haben Mitglieder Ihrer Familie je in den Baumwollspinnereien gearbeitet? Sind Sie Anhänger der Todesstrafe?"
Eigenartigerweise kam eine unerwartet starke Voreingenommenheit gegen die Todesstrafe an den Tag. Sie war in allen möglichen Schichten vorhanden. Eine Anzahl Geschworener wurde vom Anklagevertreter aus diesem Grunde abgelehnt. Als dann die Anklagevertretung endlich die Geschworenen durchgehen ließ, nahm die Verteidigung sie vor. Manche wurden sofort abgelehnt. Andere wurden ausführlich ausgefragt. Man fragte nach Beziehungen zu Angehörigen der Polizei. Hatte er irgendwelche Polizeibeamten in der Familie? Ganze Familiengeschichten wurden aufgerollt. Endlich, wenn jede Frage zufriedenstellend beantwortet war, skandierte der Gerichtsschreiber:
„Ge-schwo-re-ner, sehen Sie den Gefangenen an." „Gefan-gener, sehen Sie den Geschworenen an! Gefällt er Ihnen?"
Dann, wenn aus irgendeinem Grunde auf Veranlassung des Anwalts oder infolge der gefühlsmäßigen Einstellung der Angeklagten der Betreffende nicht zum Geschworenen geeignet schien, würde der Anwalt mit „Nein!" antworten. Junge, an die Gepflogenheiten der Gerichte nicht gewöhnte Farmer machten erstaunte und beleidigte Gesichter, wenn sie daraufhin entlassen wurden.
Es war ein seltsamer Querschnitt durch die Gesellschaft, der auf diese Art durch den Gerichtssaal zog. Ein Millionär, sehr erpicht darauf, als Geschworener zu fungieren, der eigenen Unbefangenheit gewiss. Kleine Kaufleute, Farmer. Leute, die keine zehn Meilen weit vom Lafayetter Bezirksgericht wohnten, aber unwissend waren wie russische Muschiks. Leute, die von der berühmten Humphries-Schießerei nie gehört hatten, vom Streik nie gehört hatten, obwohl der ganze Bezirk deswegen Kopf stand. Diese Männer bestellten ihre Felder und bepflanzten ihre kleinen Baumwollparzellen, als lebten sie auf einem andern Planeten. Sonderbar!
Der lange Aufmarsch ging Tag für Tag weiter. Über sechshundert Personen wurden befragt, bevor endlich die Geschworenenbank vollzählig war. Roger hatte ein Gefühl, als redeten hier Menschen einer andern Generation, eines andern Jahrhunderts. Doch auch die prominenten Anwälte gehörten zu diesen Leuten, zu diesem Jahrhundert. Sie gehörten nicht in ein Zeitalter der wissenschaftlichen Forschung.

Der lange Nachmittag hatte überhaupt keinen Geschworenen ergeben. Als sie zusammen hinausgingen, fragte Roger Hoskins: „Was glaubst du, warum haben sie diesen letzten Farmer nicht genommen?"
„Ich weiß nicht. Ich hätte ihn genommen. Er schien mir ein anständiger Kerl zu sein."
„Wozu diese lange Verschleppung?" fragte Dick Durgan.
„Ihr könnt es ja selbst sehen", sagte Hoskins. „Dieser Bezirk ist auf einer Klassenfront gespalten. Es bestehen nicht mehr Zweifel darüber, welcher Prozesspartei die Sympathien zuneigen, als darüber, auf welcher Seite des Flusses ein bestimmtes Haus liegt."
„Alle wohlhabenden Leute", erläuterte Roger, „glauben, dass die Streikenden schuldig sind. Sie haben die Streikenden immer gehasst. Sie sind der Meinung, die Gewerkschaften propagieren Anarchie, freie Liebe und die Gleichberechtigung der Neger. Sie sind absolut sicher, dass ein Komplott zur Ermordung der Polizisten bestanden hat. Nichts kann so phantastisch sein, dass es von diesen Leuten nicht geglaubt würde.
Die werktätigen Elemente, die kleinen Farmer und die Fabrikarbeiter, glauben ihrerseits, dass die Streikenden in ihrem Rechte waren und dass die Polizei angefangen hatte. Sie glauben, dass die jungen Leute in Notwehr geschossen haben. Wenn also diese Burschen die geringste Aussicht auf Gerechtigkeit haben sollen, müssen sie Arbeitergeschworene haben, möglichst junge Geschworene ohne Vorurteile."
Sie begegneten einem jungen Mädchen, das Roger bekannt vorkam. Dann fiel ihm ein, wer es sei, es war Eleanor Thurston. Sie kam auf ihn zu, freute sich, ihn wieder zu sehen.
„Waren Sie bei der Verhandlung?" fragte er sie.
„Ja, und ich bin meiner Familie durchgebrannt, um hierher zu kommen. Ich brauche erst in zwei Wochen zur Schule zurück."
„Was wollen Sie damit sagen: durchgebrannt'?"
„Ich glaube, die würden sterben, wenn sie wüßten, dass ich hierher gekommen bin", sagte sie.
„Sie haben es also nicht gar so leicht gefunden, die Finsternis zu zerstreuen, was?" fragte Roger mitfühlend.
„Die wollen ja das alles nicht hören", erzählte sie. „Man kann keinen dazu kriegen, sich die Dinge anzuhören. Sie glauben nichts, was man ihnen sagt. Die älteren Leute glauben alle nicht, was man ihnen sagt. Sie wissen ja noch, wer es war —, Frau Professor Scudder —, die während des Streiks in Lawrence sagte, wenn die Frauen von Massachusetts wüßten, wie die Leute leben, die diese Stoffe weben, würden sie keinen Yard mehr kaufen, bis die Zustände nicht gebessert würden. Ich glaubte das früher auch. Ich dachte, ich brauchte ihnen nur zu sagen, was ich selbst gesehen habe. Aber das hat nicht gestimmt. Sie waren einfach wütend, dass es so etwas wie einen Verband hier gibt, und besonders, dass Leute aus dem Norden hier sind, um den Süden zu organisieren. Sie finden mich abscheulich, und ich finde sie abscheulich. Es ist fast, als ob ich überhaupt gar keine Familie mehr hätte."
Roger fühlte, dass sich ihre Augen mit Tränen füllen würden, wenn sie nicht so zornig wäre. „Wissen Sie", sagte er, „ich war einfach nicht imstande, Bekannte, die ich in dieser Gegend habe, zu besuchen. Ich habe das Gefühl, als gehörte ich in eine andere Welt. Ich weiß nicht, wo ich hingehöre. Ich bin ja kein Arbeiter. Ich könnte nicht organisieren."
Eleanor Thurston sagte: „Wissen Sie, als diese
Schießerei passierte, schrieb ich nach Hause wegen Zeitungen, weil ich erfahren wollte, was wirklich geschehen war. Und wissen Sie, meine Familie stand auf dem Standpunkt, alle zweiundsiebzig Verhafteten gehörten an den nächsten Baum aufgeknüpft. Mein Vater kriegt einen roten Kopf, wenn er davon spricht. Meine Mutter hat solche Angst, dass sie das Gespräch in andere Bahnen lenkt. Täte sie das nicht, glaube ich nicht, dass ich zu Hause bleiben könnte."
„Haben Sie es versucht, mit ihnen zu diskutieren?" Eleanor warf ihm einen Blick zu und schüttelte den Kopf. „Ich bin ein schrecklicher Feigling. Sie wissen ja, wie die Mädchen im Süden sind. Wir werden dazu erzogen, nett zu sein. Man ist es einfach nicht gewöhnt, älteren Leuten Dinge zu sagen, die sie nicht hören wollen. Es würde ja auch nichts nützen."
„Aber es muss doch unter den Frauen die allgemeine Meinung herrschen, dass es den Frauen und Kindern besser gehen sollte."
„Das schon!" sagte Eleanor. „Eine Gruppe von Frauen versuchte im vergangenen Jahr die Betriebe zu untersuchen, aber die Arbeitgeber und Fabrikanten wollten ihnen keinerlei Angaben machen und gestatteten es kaum, dass einige von ihnen die Fabriken besichtigten."
„Warum kann aber diese öffentliche Meinung der Frauen nicht organisiert werden? Warum haben Sie das nicht gemacht? Versuchen Sie es auf alle Fälle, wenigstens unter den Mädchen in Ihrer Schule."
„Wir haben das schon versucht. Viele Mädchen sind ganz meiner Meinung. Aber ihre Familien stehen zumeist auf demselben Standpunkt wie meine Familie."

Die langen Tage versanken einer nach dem andern hinter dem Horizont. Langsam, sehr langsam, kam die Geschworenenbank zustande. Lange, langwierige Vormittage, lange, langwierige Nachmittage. Die Angeklagten lasen Zeitungen oder schickten ihren Freunden im Zuhörerraum Briefchen. Vormittags und nachmittags gab es eine Pause von zehn Minuten. Nachdem das Gericht die Verhandlung vertagt hatte, blieb Fer zurück, um mit seinen Freunden zu sprechen und hielt einen kurzen Empfang ab.
Dann pflegte der Sheriff gutmütig zu sagen: „Na, Jungs, wir müssen uns auch auf die Socken machen." Sie kümmerten sich nicht um ihn und unterhielten sich weiter.
„Na, Jungs, jetzt müssen wir aber gehen". Das nicht allzu eindringlich.
Endlich gelang es dann dem Sheriff, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und sie zogen lachend und scherzend aus dem Gerichtssaal.
Es war schwer zu glauben, dass dies überhaupt eine Gerichtsstätte war. Neger faulenzten in Gruppen, und allerlei Leute trieben sich ohne Scheu in den hohen Marmorhallen herum. Alles war neu und blank und sauber und glich eher einer öffentlichen Bibliothek als einem Ort, wo über Leben oder Tod von Menschen zu Gericht gesessen wurde.

Roger schien es, als hätte er ewig schon schläfrige, warme Tage lange wartend hier gesessen und zugehört, wie die Männer von Lafayette für ein Geschworenengericht, das nicht und nicht Zustandekommen wollte, ausgefragt wurden.
Endlich waren die Geschworenen bestimmt. Ein gutes Arbeiterschwurgericht aus Fabrikarbeitern, Bauern, zwei sehr kleinen Kaufleuten — alles junge Leute.
Dann kam ein Augenblick höchster Dramatik. Ein seltsamer Augenblick, seltsam abstechend von der gekünstelten Korrektheit der Anwälte, deren zunehmende Gereiztheit selbst ein Teil des Zeremoniells zu sein schien. Die zwölf jungen Arbeiter, die Geschworenen, wurden aufgefordert, aufzustehen und die Angeklagten anzusehen. Auch die neun jungen Gefangenen standen auf, auch ihnen sagte man, sie sollten die Geschworenen ansehen. Da standen sie, Angeklagte und Geschworene, und sahen einander tief in die Augen. Es war, als sagten die angeklagten jungen Burschen stumm:
„Werdet ihr gerecht über uns urteilen? Werdet ihr uns einen gerechten Prozess machen? Werdet ihr unbefangen die Zeugenaussagen entgegennehmen, die ihr hören werdet? Ihr seid unsere Richter. Unser Leben hängt an eurem Wort."
Die andern jungen Arbeiter, die Geschworenen, sahen die Angeklagten an, jung wie sie selbst, noch jünger als sie. Sehr ernst, sehr gewichtig erwiderten sie ihren Blick, fast als wären sie überrascht, als wollten sie antworten :
„Müssen wir denn über euch zu Gericht sitzen — über junge Arbeiter, wie wir selbst es sind? Ist es möglich, dass wir euch zu Tode verurteilen müssen?"
Einen Augenblick herrschte absolute Stille im Gerichtssaal. Keiner rührte sich, keiner flüsterte oder sprach, während die Geschworenen und die Angeklagten einander tief in die Augen sahen.

Am Vormittag, an dem die Zeugenverhöre endlich begannen, lag erwartungsvolle Spannung über dem Gerichtssaal. Die örtlichen Journalisten ließen Andeutungen über irgendeine bereitgehaltene Überraschung fallen. Die Überraschung kam. Sie war unglaublich, grotesk, abwegig. Ein Gemisch von Gelächter und Grauen, lächerlich und schrecklich zugleich.
Erst wurde die Bühne für das Drama hergerichtet. Wach Eröffnung der Sitzung kamen zwei Frauen in den Gerichtssaal. Sie trugen tiefe Trauer. Das waren Frau und Tochter von Humphries. Ihre Gesichter waren von Tränen zerwühlt, ihre Augen von zügellosem Weinen gerötet, tragische Gestalten des Schmerzes, die ihrem Kummer freien Lauf ließen, gemäß dem Brauch einer Gemeinschaft, die keine Selbstbeherrschung erwartet oder auferlegt und in der man, wie bei diesen Bergbewohnern, den Tod mit einer Art rituellen Klage begleitet.
Vom Weinen erschöpft, hager und mitgenommen, von schwarzem Flor triefend, kamen die beiden Frauen langsam nach vorn. Der Anklagevertreter stand auf und führte die trauernden Frauen zu ihren Plätzen. Da saßen sie, Bildsäulen des Kummers.
Der Arzt, der Humphries behandelt hatte, sagte jetzt über Zahl und Stellen der Wunden aus. In der tiefen Stille des Gerichtssaals wiederholte er, nur von dem Schluchzen der Witwe und ihrer Tochter unterbrochen, die letzten Worte des erschossenen Polizeichefs: „Ich weiß nicht, warum sie das getan haben. Ich habe mich immer bemüht, nach den Gesetzen zu handeln."
Die Stille hielt dramatisch an. Dann kam Bewegung in die Zuhörerschaft. Wie gewöhnlich bestand diese Zuhörerschaft fast ausschließlich aus Arbeitern, die mit
Fer und den andern Angeklagten sympathisierten. Jetzt schwankten sie wie Getreide im Winde.
Eine große Puppe wurde in den Gerichtssaal geschoben. Sie war mit einem schwarzen Leichentuch zugedeckt. Der Staatsanwalt, ein gewandter Kerl, sprang vor und nahm das Tuch ab. Der Gerichtssaal hielt den Atem an. Die Journalisten hielten den Atem an. Vor ihnen stand eine lebensgroße Figur des toten Polizeichefs. Da stand er in voller Uniform, sein Wachsgesicht von täuschender Ähnlichkeit, totenbleich, seine Kleider blutbefleckt, Blut auf der Halsbinde, eine Gestalt des Todes und des Schreckens.
„Die haben sich nicht umsonst den ,Prozess Mary Dugan' angesehen", flüsterte Dick Durgan Hoskins zu —
Hoskins starrte auf die Figur, als traue er seinen Augen nicht. Die Journalisten aus New York flüsterten miteinander. Die ,Times', die ,World', die Zeitungen von Baltimore kritzelten alle wie toll.
„Entfernen Sie das da", sagte der Richter fest.
„Aber, Herr Richter", sagte der Staatsanwalt, „wir wollten nur... "
„Herr Sheriff", sagte der Richter, „entfernen Sie das."
Die Verteidiger sprangen auf und protestierten laut gegen die offenkundige Ungerechtigkeit dieser Spekulation auf die Tränendrüsen der Geschworenen. Die Witwe brach in lautes Schluchzen aus. Die Tochter sah aus, als wäre sie im Begriff, ohnmächtig zu werden. Roger überlegte, ob sie auf die Szene vorbereitet worden war, oder ob der Staatsanwalt auf den Eindruck gerechnet hatte, den das gespenstisch-schauerliche Bild auf die beiden Frauen machen würde, wenn es mit dem ungemilderten Schock der Überraschung auf sie wirkte.
„Herr Richter", sagte der Staatsanwalt, „wir wollen nur... "
„Herr Richter!" rief der Verteidiger, „wir müssen protestieren."
„Herr Sheriff, haben Sie verstanden, was ich gesagt habe? Entfernen Sie diesen ... Gegenstand!"
Der Sheriff wartete auf einen Wink des Staatsanwalts. Endlich führte er den Befehl aus. Langsam wackelte die schauerliche Figur auf ihren Rädern aus dem Gerichtssaal. Sie war lange genug dort gewesen, um ihren Zweck zu erfüllen. Die Geschworenen, die Angeklagten und die Zuhörer hatten alle dieses Phantom des Todes gut sehen können.

Der Rest des Tages verging mit der Vorlegung der blutbefleckten Kleider des Toten und mit dem Verhör der Polizeizeugen.
Die Verteidigung machte die Tatsachen geltend, dass zwei der beteiligten Polizeibeamten in betrunkenem Zustand die öffentliche Ruhe gestört hatten, bevor sie zur Zeltkolonie gingen, und dass die Angeklagten nach ihrer Einlieferung im Gefängnis bedroht und misshandelt worden waren.
Mamie Lewes und Dewey Brison saßen nah beisammen. Eine fürchterliche Angst durchzuckte Dewey, als die Humphries-Puppe in den Saal wackelte und er die Angeklagten ansah. Sollten Fer und die übrigen jungen Leute freigesprochen werden, würde der Mob versuchen, sie zu töten, wie man das mit ihm selbst versucht hatte. Er war froh, dass Mamie Lewes auch da war.
„Was ist denn mit deinem Auge passiert", flüsterte sie ihm zu, als er sich neben sie setzte. Er wollte es ihr nicht sagen, es schien ihm dasselbe, als sollte er in Gegenwart einer Frau etwas Zotiges sagen.
„Irgendein Kerl hat mich geschlagen", sagte er.
„Oh, ich weiß, fast hätte dich der Mob gekriegt."
Er nickte.
Jetzt wurden die Zeugen aufgerufen. Der Verteidiger machte Einwände, nahm die Zeugen ins Kreuzverhör. Das Gefühl, dass hier ein kompliziertes Zeremoniell durchgeführt wurde, war noch da. Aber Dewey begriff mit entsetzlicher Klarheit, dass diese höflichen Herren dazu da waren, um seine, Deweys Arbeitsgenossen zu verbrennen. Es war ihm, als höre er tief im Herzen, wie die Dynamos heulen, wenn die Lichter im Totenhaue dunkel flimmern.
Draußen wartete der Mob. Er glich einem wilden Tier, das mit heraushängender Zunge sitzt und wartet. Der Mob war ein Irrsinniger, der brüllt. Das war Deweys eigenstes, geheimes Wissen. Mamie Lewes wusste von diesen Dingen nichts. Es war auch besser so. Dewey empfand eine Regung der Liebe und des Mitleids mit ihrer Unschuld.
Die Verhöre und Kreuzverhöre gingen weiter. Die Beweise gegen die Angeklagten waren schwach. Man bekam ein Bild des Schreckens jener Nacht, der Verwirrung der Arbeiter in der Zeltkolonie —, ein klares Bild dessen, wie zufällig der Zusammenstoß gewesen war. Der aus Angst vor dem Mob geborene Schrecken war es, der die Schießerei verursacht hatte.

Dewey begleitete Mamie Lewes nach Hause. Sie wohnte in einer rauchgeschwärzten Holzhütte weit außerhalb der Stadt. Sie und ihre Kinder bewohnten eine Stube, ein Vetter mit seiner Frau die andere. Das ganze Haus war leer. Die Kinder waren fort, sie spielten in der Zeltkolonie. Mamie ging hinein und holte einen Topf kalter Grütze, um sie zu wärmen.
„Setz dich", lud sie ein. „Ich mach das gleich für dich zurecht. Ich hoffe, du wirst satt, es ist nichts da außer Grütze und Tunke." Sie sang während der Arbeit. „Ist das eine neue Ballade, die du da machst? Es ist furchtbar traurig." „Ja", sagte sie.
„Es ist sehr schön. Du machst sehr schöne Lieder. Sing es mir vor, bitte!"
Sein dunkles Wissen fiel von ihm ab. Sie schien ihm der Geist alles dessen, wofür er kämpfte. Sie stand mit gefalteten Händen vor ihm.
„Mamie Lewes!" rief er. „Mamie Lewes!" Er ging auf sie zu.
„Setz dich und iss deine Grütze. Du bist zu jung, um mir alten Frau nachzustellen."
„Aber Mamie, du bist doch nicht alt." „Heute fühl ich mich nicht alt, aber an manchen Tagen fühl ich mich mächtig alt." „Du bist doch bloß ein Mädel."
„Heut fühl ich mich bestimmt so. Ich weiß nicht, warum ich mich so wohl fühle, wenn ich dieses Lied singe: ,Wir geben nie und nimmer zu, dass unsere Führer sterben!' Ich hab das Gefühl, als hätte ich etwas für sie getan."
„Hast du ja auch. Lieder sind besser als Reden." „Na, geh, setz dich, du." Sie gab ihm einen Stoß, als er zu ihr kam, um sie zu umarmen.
„Warum willst du nicht, Liebe?" bettelte er. „Ich weiß nicht", sagte sie unsicher. „Ich weiß nicht. Wir haben zu viel zu tun, um uns in sowas zu verwickeln."

 

XXII. KAPITEL

Die Verhandlung zog sich in die Länge. Die Aussagen der Belastungszeugen waren unbestimmt und unschlüssig. Es schien keine Spur eines Beweises dafür vorhanden, dass die Schüsse von irgendeinem einzelnen unter den Angeklagten abgegeben worden wären.
„Was halten Sie davon?" fragte Roger Hoskins. „Glauben Sie, dass dieses Beweismaterial irgendein Schwurgericht überzeugen kann?"
„Das können wir sehr schwer beurteilen", sagte Hoskins. „Was ist Ihre Meinung?" fragte er Otis Bingham. „Glauben Sie, dass die Anklage gut steht?"
„Na, irgend jemand hat Humphries bestimmt erschossen, das ist sicher. Es ist auch anzunehmen, dass es einer von den Streikenden gewesen ist. Die Frage ist nur, unter welchen Umständen. Hat die Polizei zuerst geschossen, und kann die Verteidigung beweisen, dass die Polizei zuerst geschossen hat?"
„Ich sagte eben", sagte Hoskins, „dass es für Leute wie Roger und ich, die dem Verband so nahe stehen, sehr schwer ist, das zu beurteilen. Wir wissen —, wir raten nicht nur —-, wir wissen, genau so bestimmt wie Sie es wissen, dass Sie auf dem Boden stehen —, dass Fer als guter Gewerkschafter Gewaltakte für Unsinn hielt. Jedes Mal, wenn in einem Streik Schüsse fallen, werden die Führer eingekerkert. Darum tun die Führer ihr möglichstes, um die Arbeiter davon abzuhalten, die Schießeisen knallen zu lassen."
„Das erste, was ich Fer predigen hörte, als ich nach Stonerton kam", sagte Roger, „war gerade das. Als die Arbeiter Schusswaffen zum Streikpostenstehen mitnehmen wollten, sagte er ihnen, sie sollten die Finger von den Schießeisen lassen."
„Warum hat er aber das Wachestehen drüben bei der Zeltkolonie zugelassen?" fragte Dick Durgan.
„Er wird es für nötig gehalten haben, nachdem eine maskierte Horde das Streiklokal schon einmal demoliert hatte. Die Zeltkolonie ist ziemlich weit von der Stadt, und die Zelte stehen am Wald. Man fragt sich, was diese jungen Geschworenen sich daraus zusammenreimen werden. Hier sitzen sie, sind es nicht gewöhnt, Zeugenaussagen zu prüfen. Ich bin schon bei hundert Gerichtsverhandlungen dabei gewesen und bin an Gerichtsverfahren gewöhnt, und doch verwirrt auch mich das lange Zuhören, Tag für Tag", sagte Hoskins.
„Man bekommt jedenfalls ein Bild, nicht wahr", sagte Roger. „Man bekommt ein Bild des Terrors. Alles spitzt sich in der Richtung eines neuen Mobüberfalls zu. Unheil ist im Anzug. Der Mob kommt zum ersten Mal ins Streikquartier und bewirft die Redner mit Eiern und Gemüse."
„Vergesst nicht, dass man ihn erwischt', mit der Pistole in der Hand, als er auf Fer schoss, wie er auf der Rednertribüne stand", fügte Hoskins hinzu.
„Das auch und das Würgen der Frauen beim Streikpostenstehen. Die Streikenden waren alle im Glauben, dass der Hunderter-Ausschuss hinter Humphries' Auto auf der andern Seite des Eisenbahndamms stehe und dass nur der lange Güterzug aus Florida sie voneinander getrennt hätte. Der Angriff des Mobs auf die Zeltkolonie folgte mächtig rasch auf die Schießerei."
„Ihr seid ganz sicher, dass kein Komplott vorlag?" fragte Otis Bingham.
„Ich weiß es. Fer ist so unschuldig an der Sache wie ich selbst. Es war nur ein Zufall, dass ich an diesem
Abend nicht auf dem Gelände war, und wäre ich dagewesen, hätte ich auch im Streiklokal gesessen, aus dem angeblich die Schüsse abgegeben worden sind. In der ganzen Angelegenheit ist es eben nicht vernunftmäßig zugegangen. Eine bestimmte Gruppe von Arbeitern weiß genau, dass kein Mord geschehen ist, nur eine Schießerei, ein bedauerlicher Todesfall —, und die übrigen wissen mit derselben leidenschaftlichen Gewissheit, dass ein Komplott vorlag."
„Es scheint mir wie ein kompliziertes Spiel", sagte Roger.
„Auf alle Fälle", sagte Durgan, „wird es noch sehr lange dauern, bis es zu Ende ist."
Aber es dauerte gar nicht mehr lange.
Plötzlich hörte die Verhandlung auf. Es war, als wäre man mit Volldampf losgefahren und an eine Wand geraten. Es geschah wieder etwas Absurdes, Groteskes und Schreckliches zugleich. Das klappernde Gespenst auf Rädern hatte einen Geschworenen um den Verstand gebracht. Das war ein Mensch, den man nie und nimmer als Geschworenen hätte zulassen sollen. Er begann zu toben. Alles musste noch einmal wiederholt, ein neues Schwurgericht bestimmt, die Zeugenaussagen noch einmal angehört werden.
Die entlassenen Geschworenen gaben Interviews.
Nach ihrer Ansicht lagen keinerlei Beweise vor, auf Grund deren sie das Verdikt ,schuldig' hätten fällen können —, es sei denn, dass die Anklage noch mit irgendwelchen Dingen hinter dem Berg hielt.
Die Geschworenen kehrten in ihre Heime, die Angeklagten in das Gefängnis zurück. Der Draht trug die Nachricht ins ganze Land: das entlassene Schwurgericht
hätte Fer und die übrigen Angeklagten bestimmt freigesprochen.

Ein Gefühl der Unbeschwertheit erfüllte Dewey. Er eilte nach Hause. Mit noch einigen andern Verbandsmitgliedern wohnte er bei den Landors. Paul Landor war Zimmermann. Er und seine Frau sympathisierten mit dem Verband. In dem ungestrichenen großen Haus hinter den beiden dürftigen Kiefern hielten sie oft Verbandssitzungen ab.
Als er durch die Stadt ging, hatte er das unruhige Gefühl, dass etwas im Anzüge sei. An den Straßenecken standen Gruppen, die sich leise unterhielten. Es war, als seien die Leute auf die Nachricht von dem Verdikt der Geschworenen hin wie Hornissen ausgeschwärmt. Dewey hatte dasselbe unbehagliche Gefühl lauernder Gefahr, das ihn auch beim Volksfest ergriffen hatte —, als könnten diese Haufen brummender Männer sich plötzlich gegen ihn wenden und ihre Münder zum bellenden Lärm des Mob öffnen.
„Was ist los?" fragte er Paul Landor.
„Ich weiß nicht. Was soll denn los sein?" antwortete Paul.
„Es sind mächtig viel Leute auf der Straße."
„Ich hab sie gesehen", sagte Paul, „als ich von der Arbeit kam."
„Kate telefoniert jetzt wegen irgend etwas. Was dachtest du, dass los ist, Dewey?"
„Ich weiß nicht", sagte Dewey. „Ich hatte bloß ein Gefühl, dass etwas los ist. Ich glaube, es wird wohl zu Streitereien kommen wegen dem, was diese Geschworenen gesagt haben."
„Mag sein", stimmte Landor zu. „Ich denke, wenn auch die Jungs freigesprochen werden, wird man doch versuchen, sie zu kriegen." Kate rief jetzt zum Abendbrot. „Wer hat dich grad angerufen?" fragte er.
„Jolas hat angerufen. Er hat gesagt, es soll heut abend irgendeine Demonstration geben —, eine Demonstration gegen die Roten."
„Ich denke, es wird gut sein, wenn ich zum Verbandslokal hinuntergehe und ihnen das sage", sagte Dewey. Paul machte eine unruhige Bewegung und sah seine Frau an.
„Du bleib nur sitzen", sagte sie. „Ich werde schon hingehen. Ich will nicht, dass ihr Männer heut abend aus dem Haus geht; wenn aber einer doch gehen muss, so wird es Paul Landor sein, Dewey."
„Ich hab keine Angst vor ihnen", sagte Dewey.
„Du bleib hübsch sitzen und tu, was ich dir sage."

Victor Jolas und Binney kamen herein. Gerüchte flogen in der Stadt herum. Verschiedene Leute hatten von Werkangestellten gehört, man wollte heute den Verband ,kriegen'. Alle spürten die Nähe des Unheils.
Die Gespräche starben ab, wie eine Flamme ohne Luft. Plötzlich hörten sie Lärm. Alle saßen unbeweglich. Autos fuhren am Haus vorbei, hupten und bliesen Sirenen.
Jolas sagte: „Das sind sie".
Paul Landor antwortete: „Ja, das sind sie".
Das Geräusch der Autos hörte nicht auf. Kate ging auf Zehenspitzen zum Fenster. Sie drückte sich gegen die Wand, als hätte sie Angst vor Kugeln. Im Zimmer war kein anderes Geräusch zu hören, als sie sich so an der Wand weiterschob. Keiner rührte sich oder sprach.
Das Haus war wie verzaubert in einer scheußlichen Stille.
„Es sind furchtbar viele", berichtete Kate vom Fenster aus. Sie bewegte kaum die Lippen, aber die Worte klapperten laut in der unnatürlichen Stille. Immerzu fuhren weitere Autos vorbei, ein endloser hupender Zug.
„Ich denke, alle Unternehmerknechte aus der ganzen Stadt sind in diesen Autos", sagte Kate. Dann war wieder Stille. Nur der Lärm der Autos, das Geschrei ging weiter. Eine lange Prozession des Hasses. Die Leute waren auf Zerstörung aus. Ein Mob in Autos durchschweifte die Gegend. Der Mord durchschweifte die Gegend, unverhüllt, geräuschvoll, nach Beute suchend. Dewey saß, die Hände auf die Knie gestützt, sein Kopf hing auf die Brust, als hätte ihn etwas getroffen. Er fühlte sich von der Überraschung ganz benommen. Diesen Strom von Hass hatte er nicht erwartet.
Jetzt war es ganz still. Dann kam ein Geräusch von der Hinterfront des Hauses. Sie sahen einander an.
Binney sagte im Flüsterton: „Was ist das?" Sie saßen alle regungslos da. Es war nichts. Das Geräusch eines rasch am Hause vorüberfahrenden Autos. Dann wieder Stille. Sie saßen alle und warteten auf etwas, sie wussten selbst nicht worauf. Auf irgendeinen in die Sprache der Gewalt gekleideten Ausdruck jener Flut von sinnloser Wut, die mit den Autos an ihrer Türe vorbeigeströmt war. Die Stille hielt an. Ihre Ohren waren jetzt angespannt, um das geringste Geräusch aufzufangen.
„Was war das?" flüsterte Paul. „Ich glaub, ich hab was gehört. Hast du Schritte gehört, Binney?"
„Ich hab etwas gehört, als sähe einer zum Fenster herein."
„Steh auf und zieh die Jalousien herunter."
„Bleib lieber sitzen, Kate", warnte Paul.
„Sie würden doch hier nicht hereinschießen, nicht
auf uns."
„Es ist niemand da", sagte Dewey mit Überzeugung. Sie kommen nicht. Hätten sie hierher kommen wollen, wären sie mit den Autos gekommen." Die Zeit verging. Sie warteten.
In ihren Hirnen schlich eine dunkle, stumme Meute ans Haus heran und umzingelte es. Augen guckten zu den Fenstern herein. Die Spannung wuchs. Kate klammerte sich an den Rand ihres Stuhls. Dewey konnte gehen, wie ihre Fingerknöchel weiß glänzten. Er fühlte, dass sie jeden Augenblick anfangen könnte, vor lauter Entsetzen zu schreien, Schrei auf Schrei. Er wünschte fast, sie täte es. Das seltene Geräusch vorübergehender Menschen, die zufälligen kleinen Geräusche der Nacht waren ihnen allen eine Drohung. Einmal versuchten sie, sich zu unterhalten.
„Sie haben gar keinen Grund, hierher zu kommen", stellte Kate in vernünftigem Ton fest.
„Nein", sagte Landor, „hier wohnen ja bloß ein paar Jungs —, bloß Sid und Dewey."
Von weitem kam von der Straße her der Laut laufender Schritte.
„Horch", sagte Kate. „Horch! Jetzt kommt jemand —, jemand kommt gelaufen."

Obwohl sie keinen Anlass dazu hatten, wussten sie alle, dass die Schritte eilige, von panischem Schrecken getriebene Schritte waren. Die Schritte kamen näher, liefen die Treppe herauf, rasche und leichte Schritte.
„Mamie Lewes!" rief Kate. „Was ist denn los? Wie
kommst du hierher?" Denn Mamie Lewes wohnte viele Meilen weit am Rande der nächsten Stadt.
„Sie kommen hierher", ächzte Mamie Lewes. „Der Mob kommt! Sie haben das Verbandslokal in Tesner gestürmt. Ich ging hin zum Verband. Der Mob brach ein. Die ganze Literatur haben sie herausgeworfen. Da sagte einer: ,Zünden wir das Zeug an.' Dann sagten alle: ,Verbrennen wir den ganzen verfluchten Kram!' und ein anderer sagte: ,Nein, das ist Brandstiftung, lasst es liegen. Gehen wir und räumen wir mit dem ganzen gottverdammten Pack auf. Und noch ein anderer sagt: ,Ja, machen wir Schluss mit der Bande. Fangen wir mit dem Pack drüben bei Landors an'."
„Wie bist du hergekommen?" fragte Dewey. „Ein Lastauto fuhr vorbei, und ich hab mich mitnehmen lassen. Sie haben’s auf dich abgesehen, Dewey. Mach, dass du von hier rauskommst. Das Lastauto kroch furchtbar langsam. Ich glaub, ich hab sie hinter uns herfahren hören. Ihr Jungs seht zu, dass ihr von hier wegkommt."
„Ja", sagte Kate. „Ihr Jungs sollt mächtig schnell nach Lafayette hinübermachen."
Mamie Lewes lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, ihre Augen halb geschlossen, ihr Gesicht sehr blass, ganz erschöpft. „Seht zu, dass ihr fortkommt", wiederholte sie.
„Es ist zu spät! Hört! Hier kommen sie!"
„Geht durch die Hintertür raus, Jungs. Ihr habt noch Zeit."
„Nein." Mamie Lewes streckte die Hand aus. „Nein, keine Zeit mehr. Hört doch! Sie trampeln schon um das Haus herum! Sie trampeln um das Haus!"
Jemand bollerte an die verschlossene Tür. Die Tür ging auf. Männer kamen herein. Sie benahmen sich ruhig und feierlich. Ihre Gesichter waren streng und
gewichtig und trugen eine Miene höchster Erregung zur Schau. Sie hatten die Verbandslokale ,gesäubert' und fuhren jetzt mit ihrem heiligen Kreuzzug fort.
Die Diele und das Wohnzimmer waren jetzt voll von hochgewachsenen, schweigenden Männern. Dann sangen die Eindringlinge überraschenderweise die Hymne: „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre, Ihr Schall pflanzt seinen Namen fort; Ihn rühmt der Erdkreis, ihn preisen die Meere, Vernimm, o Mensch, ihr göttlich Wort." „Jetzt werden wir, verdammt noch mal", rief nun der Anführer, „diese verfluchte Stinktierhöhle hier ausräumen!"
„Hört mal!" sagte ein anderer. „Wer mit uns kommen und nichts mehr mit dem Verband zu tun haben will, dem wird nichts zuleide geschehen."
Sie hörten einen seltsamen Lärm, gespannt, anhaltend, zornig, das Lärmen eines Mob, der töten will. „Passt auf diese hier auf", sagte jemand. Einzelne Stimmen erhoben sich über das Gebrumm. Männer rannten hin und her und zerrissen die Propagandaliteratur des Verbands. Eine sinnlose Wut beherrschte alle. Im allgemeinen Tumult knallte eine Stimme los:
„Ihr passt auf die Leute hier auf, und wir holen Deane aus dem Gefängnis und lynchen ihn."
Kate glitt zum Telefonapparat hinüber. Ein Mann packte sie am Arm und riss sie zurück. Kate schlug zu. Der Mann schlug sie mit der Faust. Sie rutschte aus und fiel hin. Die Menge schob und wirbelte wütend und ziellos durcheinander. Dann erhoben sich der Schrei einer Frau und Binneys Stimme hoch über den Tumult, über das ununterbrochene Geheul des Mob: „Sie nehmen Dewey mit!"
„Kate! Kate! Kate! Sie nehmen Dewey mit. Sie nehmen die Jungs mit! Sie nehmen unsere Jungs mit!"
Der Mann, der neben ihr stand, schüttelte sie heftig. Sie fiel gegen die Wand. Er bückte sich und schnitt die Telefondrähte entzwei. Um sie herum wurden Rufe laut: „Kommt, wir wollen Lafayette ausmisten. Kommt nach Lafayette, wir holen den Anwalt heraus. Wir räumen dort das Verbandslokal aus!"

Mamie Lewes lehnte gegen die Wand. Sie sah einen Klumpen Menschen, schwarz wie ein Bienenschwarm, der sich draußen auf dem Rasen wälzte. Das Licht, das auf die Bäume fiel, ließ sie unwahr erscheinen, wie aus Papier geschnitten. Die Männer balgten sich und schwankten hin und her. Plötzlich war die Diele leer, als hätte die Flut ihres eigenen Hasses die Menschen hinausgespült. Mamie Lewes bückte sich und streckte die zerschnittenen Telefondrähte, um die Enden aneinander zu bringen. Sie musste an das Büro in Lafayette telefonieren. Sie hörte wie Kates Stimme Paul Landor rief:
„Paul, wo bist du?" und darauf die Stimme Pauls: „Hier bin ich, hier bin ich, Liebste!" „Oh, sie haben dich nicht gekriegt, Paul! Wen haben sie gekriegt, Paul?"
Mamie Lewes fühlte, als ob ihr Kopf zerspringen wollte. Sie griff sich an die Augen. Sie hatten Dewey mitgenommen. Mamie Lewes bückte sich noch einmal, zog an den Telefondrähten. „Kate, wir müssen mit dem Büro in Lafayette Verbindung kriegen, bevor sie dort ankommen!"
Der Mob fegte nach Lafayette hinüber. Hundert Autos, eine jagdlustige Meute, auf Böses bedacht, zum
Lynchen bereit. Der Anblick der zur Misshandlung mitgeführten Leute hatte ihr Blut in Wallung gebracht. Sie waren lächerlich und wild, grotesk und fürchterlich zugleich.
Sie stürmten ins Hotel, wo einige Gewerkschaftler aus New York abgestiegen waren. Henderson stieg manchmal dort ab und auch Dillon, der die ,Rote-Hilfe'-Arbeit unter sich hatte.
Sie wollten wissen, wo Irma und Doris wohnten, und Grahams Frau. Sie zerbrachen die elektrischen Armaturen und zerrissen die Gastregister des Hotels. Sie waren gefährlich und lächerlich zugleich. Dann stürmten sie hinunter zum Streiklokal, das zugleich auch ,Rote-Hilfe'-Lokal war. Dort fanden sie keinen Menschen. Die telephonische Verständigung war gerade noch rechtzeitig gekommen.
Duncan und Henderson, die andern Verbandsfunktionäre, waren im Streiklokal gewesen und erst vor zehn Minuten fortgegangen. Die drei Mädchen waren auch gewarnt worden und hatten bei Freunden Unterkunft gefunden.
Wütend, aber ohne Führung, raste der Mob in der Stadt umher. Vor dem Hause Burdettes, des Anwalts, sammelten sie sich und riefen ihm zu, er möge herauskommen. Sie wollten brennen und morden.
„Räumt den Verband aus!"
„Brechen wir ins Gefängnis ein!"
Aber die Masse hatte keinen Anführer. Sie verzettelte ihre Wut in Kleinigkeiten. Nicht einmal das Streiklokal zertrümmerte sie, wie in Tesner und Stonerton. Sie brach ein und schreckte dann zurück, als sie dort nur Leere vorfand. Allmählich höhlte die Ziellosigkeit den Mob aus. Er schmolz zusammen. Der ,rechtschaffene' Mob der Wohlhabenden hatte seine
Demonstration gegen die eingekerkerten jungen Leute durchgeführt. Er hatte seiner Absicht Ausdruck gegeben, die Burschen zu lynchen, sollte sie der Staat nicht im elektrischen Stuhl verbrennen.
In den Häusern der Wohlhabenden herrschte der Hass. In allen wohlhabenden Häusern war man davon überzeugt, dass die eingekerkerten jungen Leute verbrannt werden sollten. Der Mob war der Wahrspruch der Wohlhabenden. Sie schwärmten wütend heraus wie Bienen, wenn der Bienenkorb angegriffen wird. Instinktmäßig, wie die Bienen, und mit demselben wütenden Eifer. Dieser Mob war kein Pöbel gewesen, kein undisziplinierter Gefühlsausbruch —, sondern etwas weit Gefährlicheres.

Mamie Lewes konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Sie konnte das Gesicht des Mob, die wütenden, fluchenden Männer, ihr Gemisch von Gotteslästerung und Religion, nicht aus ihren Gedanken verbannen.
„Ein Mob ist ein rasendes, unvernünftiges Ding", sagte der Prediger Quinn.
Sie dachte an die Werkmeister im Betrieb, drohend, schreckend, einschüchternd. So kam ein Mob zustande.
Hass schuf den Mob, und Angst schuf den Mob.
Früh am Morgen ging sie hinaus, um die Chaussee zu beobachten, sie wusste selbst nicht warum. Es war ihr, als könnte der Anblick der auf der Chaussee fahrenden Autos und der vorübergehenden Menschen die furchtbare Besorgnis in ihr mildern. Sie gestattete sich nicht, daran zu denken, was mit Dewey geschehen sein mochte. Sie gestattete sich nicht zu glauben, dass man ihn vielleicht gelyncht haben konnte. Sie stand und beobachtete seit dem Morgengrauen die Chaussee. Es schien wie eine
längst erwartete Sache, als ein Lastauto herandröhnte, bremste und hielt. Das Auto war mit Negern besetzt.
„Wir haben einen fast zu Tode gelynchten Menschen hier", sagte der eine Neger. „Er hat gesagt, wir sollen bei euch halten. Er sagte, er kann nicht mehr weiter."
„Dewey!" rief sie, „Dewey Brison!"
„Ich bin’s, Mamie Lewes. Es ist alles in Ordnung."
Sie trugen ihn, unbeschreiblich zerschunden, in ihre Hütte und legten ihn auf ihr Bett.
„Sie haben mich nackt durch die Wälder laufen
lassen — Sie haben... mich — nackt durch... die
Wälder laufen lassen", stöhnte er. „Ein Farmer hat mir... diese Overalls gegeben."
Die beiden Neger standen und gafften den Verwundeten an. Sie halfen Mamie Lewes, seinen zerschlagenen, blutüberströmten Körper zu entkleiden.
„Es ist nicht so schlimm", murmelte Dewey. „Ich bin nicht so verletzt — wie ich dachte. Ich war froh — wie sie mich nur zu prügeln anfingen. Wie ich aus dem Wald war — da hab ich an dich gedacht — Mamie. Ich dachte — hier würden sie mich nicht suchen. Bis jemand — kommt und mich — von hier wegbringt." Die Worte sickerten langsam heraus. Er sprach gleichsam aus einer großen Entfernung. Er hielt an, seine Augen fielen zu. Später gelang es ihm mit Mühe, den von Mamie bereiteten Kaffee zu trinken. Sie wusch das Blut und den Schmutz von ihm ab.

Dewey Brison lag auf seinem Bett im Hotel, wohin sie ihn gebracht hatten. Das Zimmer war immer voll von Menschen. Das war ihm angenehm. Wenn er allein war und ihn das Fieber schläfrig machte, hatte er Alpdrücken. Dann fühlte er sich wieder durch die Finsternis gewirbelt, man drohte ihm wieder mit der Folter, mit der Verstümmelung, die sie zwar gewollt, aber nicht gewagt hatten.
Er fühlte ihren Hass wie etwas Greifbares, wie eine Ausstrahlung. Er versuchte, sich an ihr Aussehen zu erinnern. Sie sahen aus wie der Hass. Sie sahen aus wie der Mord. Wo kam der Ausbruch des Hasses eigentlich her, der jetzt durch diese Städte wirbelte?
Dewey lag zerrissen und fiebernd da. Wenn er in der Nacht einschlummerte, wurde alles, was er erlebt, in seinem Hirn durcheinander geworfen. Bald floh er nackt durch die Wälder, bald saß er auf dem Sitz eines Autos und bemühte sich, nicht erschrocken zu scheinen, denn er durfte nicht erschrocken scheinen. Bald schlugen sie ihn. Ein eigenartiges Gefühl der Erleichterung, dass sie ihn nur schlugen. Sie hielten an und trieben ihn in den Wald hinein. Einer sagte:
„Hier der Baum wäre gerade passend —" „Holt einen Strick. Hier hängen wir ihn auf." Einer ging zum Auto und kam wieder. „Kein Strick da", sagte er. „Jemand muss unsern Strick geklaut haben."
Einer sagte: „Nehmen wir den Schlauch aus dem Reserverad und hängen wir ihn damit auf."
Sie unterhielten sich über diesen Vorschlag eine ganze Weile und beschlossen dann, es doch nicht so zu machen. Sie schlugen ihn also weiter. Dann sagten sie ihm, er sollte sich trollen, und er stolperte durchs Gebüsch fort. Dann schossen sie ihm nach. Er wusste nicht, wo er war. Er erreichte eine Straße und fand ein Farmhaus. Sie ließen ihn nicht herein, aber sie schenkten ihm einen alten Overallanzug. Sie sagten ihm, wo er sich befand und zeigten, wie er zur Chaussee gelangen könnte. Wieder wartete er am Wegrand.
In solchen Erinnerungen vergingen die Nächte.
Am Tage schwebte alles, was sich außerdem noch ereignet hatte, in Redeschwaden durch das Zimmer.
Es war am Dienstag nach dem Mordüberfall. Dewey war sich noch über nichts klar geworden. Er wusste von nichts, er hatte nur die entsetzliche Erinnerung an die Angst, an den Mob, an das Gerede vom Mob.
Mittwoch erwachte Dewey leer und schwach, aber klar im Kopf. Freunde begannen zu kommen. Zwei junge Verbandsfunktionäre diskutierten über die Verbandsversammlung, die für den Sonnabend angesetzt war.
Der eine sagte: „Wir können die Versammlung nicht abhalten. Sie werden uns überfallen und erschießen."
Der andere sagte: „Die Versammlung muss stattfinden."
Klar wie das Zackenmuster eines Sterns zeichnete sich in Dewey der Entschluss ein:
„Die Versammlung muss stattfinden!" sagte er laut. „Wir müssen am Sonnabend unsere Versammlung stattfinden lassen."
Verwirrung brach los. „Es wäre besser, wir ließen die Gemüter sich beruhigen, bevor wir eine Versammlung abhalten."
„Wir müssen. Wir müssen weitermachen, wenn wir bestehen bleiben wollen. Setzen wir unsere Versammlung wieder ab, werden sie sagen, sie haben uns klein gekriegt."
„Sie werden euch niederschießen wie die Hunde!"
„Sieh dir mal an, was hier in der Zeitung steht. Hast du den Leitartikel gesehen? ,Der Verband wird darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht ungefährlich sein wird, eine Verbandsversammlung abzuhalten'."
Dewey setzte sich im Bette auf. Er sagte müde:
„Wir werden alles wieder von vorn anfangen müssen, wenn wir ihnen den Glauben lassen, dass sie uns durch Verprügelung und Überfälle abschrecken können."

 

XXIII. KAPITEL

Hoskins wohnte in Lafayette in einer Pension schräg gegenüber dem Gericht. Roger wohnte in dem Hotel, in dem die meisten Journalisten abgestiegen waren. Die Pension war ein angenehmes, von Ulmen beschattetes Haus; Geschäftsleute, Lehrer, Verkäufer wohnten dort mit ihren Frauen. Es war ein kleiner Querschnitt durch Lafayette. Sie neigten dazu, mit den eingekerkerten jungen Leuten zu sympathisieren. Jetzt schwirrten die wildesten Gerüchte unter ihnen herum.
„Der Verband hat Maschinengewehre und Banditen nach Lafayette gebracht. Ein Lastauto voll Waffen ist in die Stadt eingeschmuggelt worden." Nichts war zu phantastisch, um geglaubt zu werden.
Die Anhänger des Verbandes waren ebenso voller Gerüchte. Eine Mobarmee sollte gebildet worden sein und würde in den verschiedenen Betrieben gedrillt. Der Hunderter-Ausschuss von Stonerton hätte im ganzen Bezirk überall Nachahmung gefunden. Die tatsächlichen Vorfälle verliehen der Besorgnis des Verbandes einen gewissen Anschein der Berechtigung. Einzelne Verbandsmitglieder wurden des Nachts angerempelt. Ein Mann namens Leonard Good wurde in Hill Town erschossen. Bei den Truitts, den Vettern der Tetherows von Stonerton, klopfte es drei Nächte hintereinander ans Fenster. Der kleine Tetherow, der jüngere Bruder des verhafteten Tetherow-Jungen, wurde auf der Straße von Streikbrechern bedroht. Schwere Jungen hatten an den
Straßenecken einigen Frauen, die dem Verband nahe standen, ,Negerliebchen, Negerliebchen!' nachgerufen. In der ganzen Stadt herrschte eine fürchterliche Spannung. Keiner war davon ausgenommen. Sie durchdrang auch die wohlhabenden Leute. Kein einziger Fabrikarbeiter, ob er arbeitete oder streikte, war frei vom Vorgefühl einer herannahenden Katastrophe.

Roger und Ed Hoskins gingen Dewey besuchen. Sie hatten ihn bereits einmal besucht, unmittelbar nachdem er fast bewusstlos hereingebracht worden war, mit schwarz und blau geschlagenem, zerschundenem Körper. Jetzt ging es ihm schon besser, er konnte sich schon im Bette aufsetzen.
„Werdet ihr wirklich in Stonerton eine Verbandsversammlung abhalten?" wollte Hoskins wissen.
„Es sieht so aus, als ob wir es müssten. Ich weiß keinen andern Ausweg", antwortete er finster, und seine dunkle Haarlocke fiel schlapp über sein mageres Gesicht."
„Habt ihr es im Verband schon besprochen?" fragte Roger Henderson, der mit einigen andern Verbandsmitgliedern in dem ewig überfüllten Zimmer anwesend war.
„Ja, wir hatten gestern eine Sitzung", sagte Henderson. „Hier gleich nebenan, eine Sitzung der Verbandsfunktionäre."
„Könnt ihr die Sache nicht um eine Woche verschieben, bis sich die Erregung gelegt hat?"
„Natürlich sollten sie sie um eine Woche verschieben", rief Doris, die nach Lafayette zurückgeschickt worden war, um die Unterstützungsarbeit zu leiten. „Man führt sie nur auf die Schlachtbank, wenn man sie jetzt weitermachen lässt."
„Halt die Klappe und scher dich von hier! Du bist ja nicht Verbandsfunktionär."
„Was sagt Simonson dazu?" fragte Hoskins. Simoneon war ein Rechtsanwalt aus dem Norden, der bei der Gerichtsverhandlung den Verband vertrat.
„Simonson ist gegen die Abhaltung einer Versammlung", rief Doris.
„Halt die Klappe, Doris!" sagte Henderson noch einmal.
Großer Lärm entstand. Die einen waren für, die andern gegen eine Versammlung. Es war, als redeten sie sich selbst in ein Unglück hinein. Sie wussten, dass sie die Versammlung abhalten mussten.
„Was sagt Fer, und die übrigen Jungs im Gefängnis? Ich glaube, man sollte sie befragen. Gesetzt, es passiert wieder eine Schießerei. Wie wird sich das auf ihren Prozess auswirken, das ist die Frage?"
„Das ist schon gestern abend entschieden worden. Man wird den Verbandsbeschluss Fer vorlegen und sehen, wie er sich entscheidet."
„Er hat schon entschieden. Hat er es Simonson nicht gesagt? Hat er es Burdette nicht gesagt?"
„Das schon, aber wir konnten ihn erst heute sehen. Besuchstag ist Mittwoch, und die Anwälte können nicht öffentlich bekannt geben, was er ihnen privat sagt."
Einige Burschen aus dem Verband kamen herein.
„Habt ihr Fer gesehen?" fragte Dewey.
„Ja, wir kommen gerade von ihm. Er hat eine Erklärung für die Presse gegeben."
„Will er, dass wir die Versammlung abhalten?"
„Selbstverständlich will er das."
„Habt ihr die Erklärung hier?"
„Ja, das ist sie."
Es war eine kurze, glatt formulierte und bestimmte Erklärung, fast wie eine Stelle aus einer der deutlichen, geraden Reden Fers.

Roger und Hoskins gingen zusammen die Straße entlang, um die Verhafteten im Gefängnis zu besuchen. Das Gefängnis, wo man sie gefangen hielt, bildete eine Etage des Gerichtsgebäudes.
„Was halten Sie von der Sache?" fragte Roger. „Sind Sie der Meinung, dass die Versammlung abgehalten werden sollte? Würden Sie sie abhalten?"
„Nein", sagte Hoskins. „Ich würde es nicht tun. Ich hätte zu große Angst davor, was dann mit den angeklagten Jungs geschehen würde. Das ist das einzige, woran ich denke. Wenn sie so weitermachen, kann — wie jetzt die Stimmung ist — eine Art Blutbad daraus werden. Aber Sie haben ja gesehen, wie die Jungs vom Verband darüber denken. Sie fühlen, dass sie Misshandlungen und Mobüberfällen Vorschub leisten, wenn sie jetzt den Rückzug antreten. Soweit ich beurteilen kann, haben sich beide Teile festgelegt. Der Verband kann nicht nachgeben, er muss die Versammlung abhalten. Der Mob kann nicht nachgeben —, er muss die Versammlung verhindern."
Sie waren am Gericht angelangt und warteten auf den Aufzug, der sie zum Gefängnis befördern sollte. Mutter Gilfillin wartete schon dort mit den alten Tetherows, Mann und Frau. Da war auch noch eine Gruppe schwarzer Frauen, die für ihre Männer Sachen brachten. In diesem Gefängnis von Nordcarolina durften die Gefangenen nicht herauskommen, um mit ihren Familien zu sprechen. Sie unterhielten sich durch ein Gitter hindurch. Als Roger an das Gitter trat, um mit Fer zu
sprechen, drängten sich alle andern jungen Leute auch hin. Ihre hinter dem Gitter auf und nieder wippenden Köpfe machten den Eindruck, als wären sie seltsame Fische in einem Aquarium. Hinter dem Gitter war eine Glasscheibe und in der Glasscheibe ein Loch. Durch dieses Loch hindurch musste man dem Gefangenen direkt ins Ohr sprechen. Man konnte ihn nicht sehen, während man sprach. Es war fast, als unterhielte man sich telephonisch.
Die Leute drängten sich heran. An vier verschiedenen Stellen wurden laute Gespräche geführt. Die jungen Leute hatten ein vergeistigtes Aussehen, sahen fast wie junge Mönche aus. Sie waren niedergeschlagen, weil die ganze Gerichtsverhandlung wiederholt werden musste. Es war, als hätten sie die Freiheit schon in der Hand gehalten und als hätte ein Streich des Schicksals sie ihnen wieder entrissen.
„Ich wollte, du würdest die Versammlung aufschieben, Fer", sagte Roger.
„Aber der Verband hat doch beschlossen, die Versammlung abzuhalten", sagte Fer.
„Es scheint mir furchtbar gefährlich. Du kannst die Stimmung in der Stadt nicht so beurteilen, wo du doch hier eingesperrt bist."
„Wie ist denn die Stimmung?"
„Man kann sie nicht beschreiben. Es gleicht nichts, was ich bisher gesehen habe. Es ist ein Warten. Ein Warten, dass etwas Fürchterliches geschehe."
„Na, wir können aber die Tätigkeit des Verbandes nicht einstellen. Was nützt die Verhandlung, was hat das alles für einen Zweck, wenn der Verband nicht weiterarbeitet?" wollte Fer wissen.
Nun kam die Reihe an Hoskins, Fer ins Ohr zu schreien, und Roger trat zurück. Er beobachtete die verschiedenen Leute, die wie in einem grotesken Beichtstuhl, mit ihren Freunden schreiend Worte wechselten oder Gefangenen zuwinkten, die, hinten stehend, gierig auf ein Wort mit ihren Freunden oder Familien warteten.
Es war ein phantastischer, fürchterlicher und zugleich lächerlicher Anblick, Teil einer satirischen Bühnenszene. Ein Teil der ganzen Groteske. Es hing mit dem grotesken Vorfall des irrsinnigen Geschworenen, dem Gesang von Kirchenliedern durch einen auf Zerstörung bedachten Mob, dem wackelnden Wachsbild der Leiche des toten Polizeichefs zusammen. Es war ein Grauen, das lächerlich war.

Ruhelos ging Roger wieder zu Dewey zurück, um nachzusehen, ob er etwas für ihn tun könnte. Unterwegs sann er über die Angst nach, die alle befallen hatte. In diesen Tagen hatte jeder vor jedem Angst.
Dewey war diesmal allein, nur Irma war im Zimmer, und auch sie ging hinaus, als Roger kam.
„Ich liege hier und denke darüber nach, was einen Mob eigentlich ausmacht", sagte Dewey. Er schloss die Augen. Da war der Mob. Was war der Mob? Er war der Hass. Woher kam er? Was veranlasste alle diese Leute, einen solchen Hass zu empfinden? Der Mob hatte Arme und Beine und Füße. Der Mob hatte Waffen. Der Mob hasste den Verband. Der Mob glaubte, Fer und der Verband hätten ein Komplott zur Ermordung des Humphries geschmiedet. Es war, als wäre die Mobstimmung ansteckend, als befiele sie einen Menschen nach dem andern.
Laut sagte er: „Was glauben Sie, wer hat den Mob
gemacht? Der Prediger sagt, der Mob ist ein blindes, rasendes, unvernünftiges Ding."
„Der Mob hält sich selbst nicht für unvernünftig", sagte Roger. „Sie glauben, dass das, was sie tun, richtig ist... Gibt es keine Möglichkeit, die Versammlung nicht abzuhalten?" fragte er, wusste aber dabei, dass ein Ausweg nicht vorhanden war. Denn unter den Arbeitern herrschte ein Gefühl der Schicksalhaftigkeit. Sie mussten die Versammlung abhalten. Taten sie es nicht, würden sie dem Mob für immer auf Gnade und Ungnade ausgeliefert sein.
Donnerstag kamen wieder Warnungen in die Zeitung. Der Schatten des Mobs wurde lang und dunkel. Alle waren von banger Erwartung erfasst.
Etwas Mordbringendes musste daraus entstehen. Irgendein fürchterliches Unglück musste am Sonnabend geschehen. Es war, als wüsste man genau vorher die Stunde einer Elementarkatastrophe. Als könnte man ein Erdbeben voraussagen. Als hätte ein Zyklon einen Fahrplan. Nur dass das ein Zyklon des Bösen war, und unrein. Jede der Parteien betrachtete den Gegner mit Entsetzen. Die Wohlhabenden glaubten, die Arbeiter würden gegen die Betriebe marschieren. Sie hatten gehört, dass Freischärler und gedungene Mörder unter Schutz der Nacht in die Stadt gebracht worden waren.
Eine gerichtliche Untersuchung der Entführung und Auspeitschung Deweys war im Gange. Die Geschichte des nächtlichen Mordüberfalls wurde in schlichten Worten erzählt. Wieder und wieder wurde sie erzählt, Es war, als wäre das Gericht der Kern, um den sich der kommende Zyklon sammelte. Hass und Angst gingen in der Stadt um.
Dewey war wieder auf den Beinen. Seine Wunden schmerzten noch. Er hatte das Gefühl, als schleiche
der Hass ihm nach. Als fegten Leute in Autos an ihm vorbei, bereit, ihn zu packen. Es war, als wäre die ganze Welt überschattet von einer aus Panik geborenen, mit Angst gefüllten formlosen Wolke. Er wollte, er könnte fliehen.
Er wollte, er brauchte nicht mehr das fürchterliche Gesicht des Mob zu schauen. Er wollte fortgehen. Aber er hatte nicht wohin zu gehen. Er hatte ein Gefühl völliger Hoffnungslosigkeit. Er war in die Falle geraten. Das war keine saubere Kriegsführung. Das war kein fairer Kampf. Das war, als stünde man etwas Unmenschlichem und Hirnlosem gegenüber. Einem Etwas, das allen siebzig Verhafteten den Tod wünschte. Einem Etwas, das Hass und Tod wollte. Der Prediger hatte gesagt: „Der Mob ist reiner Hass. Der Mob ist Furcht."
Der Schatten, der über dem Volksfest gelegen hatte, war mehr und mehr gewachsen. Jetzt war er im Begriff, den Hass, den er barg, auf sie alle auszuschütten.

Roger stand am Sonnabendmorgen mit dem Gefühl auf, dass heute etwas Fürchterliches passieren würde. Über der Stadt lag eine Stille, wie vor dem Sturm. Roger hatte sich mit einigen Journalisten treffen wollen, um zusammen zur Versammlung zu gehen, aber er hatte sie irgendwie verfehlt.
Hoskins war der einzige, den er finden konnte. Der wusste auch nicht, wo die andern alle steckten. Nach einer Weile fuhr ein Auto vom Unterstützungslokal los. Roger wünschte, er wäre inmitten eines Haufens von zynischen, witzelnden Journalisten. Er wünschte, er
brauche nicht hinzugehen. Er wünschte, es wäre vorbei. Es war wie eine Schlacht. Man wusste nicht, wer noch an diesem Abend tot daliegen würde. Aber es hatte über alle Schrecken einer Schlacht hinaus Elemente eines andern Schreckens an sich.
Sie fuhren nach Stonerton über den Fluss durch die wunderbare Augustlandschaft. Im letzten Augenblick war der Ort der Versammlung geändert worden, um den auf die Versammlungsteilnehmer wartenden Mob zu überlisten. Man hatte vor, die Versammlung auf einem leeren Baugelände abzuhalten, das hinter dem jetzt in Truitts Haus verlegten Streiklokal lag. Truitts Haus stand in derselben Straße wie Landors, nicht weit von den Thorns, Rogers früherer Pension, entfernt. Das Haus war Truitts Eigentum. Er war kein Fabrikarbeiter, sondern besaß ein Autotaxi, aber sein Sohn arbeitete in den Spinnereien. Wie Paul Landor, hatte auch er wiederholt anonyme Drohbriefe erhalten, kümmerte sich aber nicht darum.
Als Roger und Hoskins dort ankamen, lungerten ein paar Leute vor dem Truittschen Haus herum. Keiner schien etwas zu wissen. Truitt war abwesend, ebenso wie der alte Truitt. Sie sagten, eine Menschenmenge wäre dagewesen und wieder fortgegangen. Waren die Redner vom Verband dagewesen? Das wüßten sie nicht. War die Menschenmenge groß gewesen? Die einen sagten ,ja', die andern ,nein'.
Roger ging einen Häuserblock weiter zu Frau Thorn. Sie rief ihm zu: „Eine große Menge ist hier gewesen. Die ganze Straße war verstopft. Es waren zweitausend Menschen."
Das war wiederum unmöglich, wie Roger wohl wusste. Das Gefühl des Versagens und der Leere wurde stärker und gesellte sich zu dem Gefühl des Entsetzens.
Sie fuhren zum alten Versammlungsplatz in Oststonerton, wo der Mob damals Dewey begegnet war.
Eine Feiertagsmenschenmenge strömte hinunter zum Schwimmteich und zum Vergnügungspark, aus dem Musik herausscholl. Um ein Baseballfeld hatte sich eine Menschenmenge angesammelt. Dann plötzlich war eine Staffel Autos da, in Sechserreihen, und Männer mit Gewehren. Sie sahen in jedes Auto hinein, das vorbeifuhr. Roger und Hoskins fuhren an einer Art Rednertribüne vorbei, auf der Dick Durgan und die übrigen Journalisten standen. Roger winkte ihnen zu. Sie fuhren etwas weiter und dem Fahrer gelang es, zu wenden.
Plötzlich schrie jemand: „Dort sind die Organisatoren!"
„Das sind die Redner!" „Holt sie herunter! Holt sie herunter!" Roger sah sich um. Erst als Hoskins mit etwas flachem Tonfall sagte: „Sie glauben, dass wir die Redner sind", begriff er, dass das Heulen der Menge ihnen galt.
Die Nachricht war in der Staffel weitergegeben worden. Männer hielten Gewehre hoch. Es schien Roger, als sähe er in einen roten, heulenden Schlund, der brüllte: „Holt die Redner heraus! Holt sie her!"
Der Fahrer trat auf den Gashebel. Der Wagen sprang vor, aber die Rufe eilten ihnen voraus, Überall war diese feindliche Masse heulender Männer. Jetzt stellte sich ihnen ein Auto quer in den Weg. Hasserfüllte Gesichter blickten aus dem Auto. Die Polizei kam auf Motorrädern herbei, stramme, gestriegelte junge Leute.
„Kommen Sie mit", sagten sie und auf den Protest Hoskins: „Oh, wir wissen schon, was Sie für Journalisten sind. Kommen Sie nur mit."
Die Polizei brachte sie ins Gefängnis, hinter ihnen folgte drohend der Mob. Bald war die Angelegenheit
geklärt. Hoskins und Roger zeigten ihre Ausweise und mischten sich unter die Menge, die in feindseliger Haltung vor dem Gefängnis auf die angeblichen Redner wartete.

Dewey stand am Sonnabend mit dem Gefühl auf, als ginge er zur Hinrichtung. Ein Gefühl des Totenhauses. Er ging, wie verabredet, nach Tesner zum Treffpunkt, wo sich Mamie Lewes und die andern Verbandsmitglieder versammeln sollten. Ein Lastauto wurde fertig gemacht. Alle waren heiter und ein wenig erregt, als lockte sie das Glitzern der Gefahr.
„Was ist das?" fragte der Fahrer des Lastautos. „Was habt ihr da?"
Zwei Burschen antworteten: „Wir haben Gewehre." „Ihr werdet doch keine Gewehre mitnehmen!" „Wir haben das Recht, uns zu wehren!" Der Fahrer lachte mit einem großen dröhnenden Lachen. Das beruhigte Dewey, dem seine Misshandlung noch in den Knochen lag.
„Wir können nicht genug Gewehre kriegen, um uns wirklich zu verteidigen. Dann ist es besser, überhaupt keine zu haben!"
„Sie werden uns nichts tun", sagte Mamie Lewes. „Lasst eure Schießeisen zu Hause, Jungs. Sie werden uns auf unserm Lastauto schon nichts tun."
„Nein, uns tun sie nichts." Sie waren alle heiter und glücklich. Sie waren unschuldig. Sie kannten die Niedertracht des Mob nicht. Dewey versuchte, sich in ihre Welt zu versetzen. Die Stimme Mamies kam klar und stark:
„Hört ihr Streikbrecher, meine Mär Von einem gemeinen Millionär. Basil Schenk wird er genannt —"
Das Auto blieb mit einem Ruck stehen, als sie in Stonerton einfuhren. Wieder Mobgesichter.
„Wo wollt ihr denn hin?"
„Wir gehen zur Versammlung."
„Heut gibt es keine Versammlung. Dreht nur verdammt schnell wieder um und fahrt zur Hölle, woher ihr kommt!"
Es war wie ein Alpdruck. Männer mit Gewehren versperrten den Weg auf sonniger Landstraße bei helllichtem Tag. Hinten irgendwo japste der Mob mit rotem Schlund. Hunderte von mordlustigen Menschen.
Dewey hatte das Gefühl einer völligen Katastrophe. Was war dort hinten geschehen? Was ging am Versammlungsplatz vor? Er hatte Teil an dem Entschluss, die Versammlung abzuhalten. Hatte er Menschen ausgeschickt, damit sie erschossen würden?
Das Lastauto hatte inzwischen gewendet. Autos verfolgten sie. Ein eigenartiges Gefühl der Erleichterung überkam ihn. Sie waren zur Versammlung gegangen. Jetzt brauchten sie nicht mehr hinzugehen.
Was war dort drüben geschehen? Was war hinten in der Menge geschehen? Mamie Lewes sah ihn an. „Wir haben jedenfalls versucht, die Versammlung abzuhalten, Dewey."
„Doch er kann nicht kaufen unsern Verband!"
Ein Auto überholte den Lastwagen. Man hörte ein Krachen, das Lastauto bog aus.
Dann kam das scharfe Knallen eines Schusses. Mamie Lewes schrie:
„Mein Gott, sie haben mich getroffen!"
Noch weitere Schüsse fielen. Mamie Lewes sackte in sich zusammen.
„Mamie Lewes!" schrie Dewey. „Mamie Lewes! Sie ist tot! Mamie Lewes ist tot!"
Die Leute waren vom Lastauto abgesprungen. Die andern verfolgten sie und schossen ihnen nach.
Dewey half Mamie in ein benachbartes Haus tragen. „Es ist vorbei!" dachte er. „Jetzt ist’s vorbei!"
Hier war das Opfer, das der Mob forderte. Er hatte die singende Frau erschossen, totgeschossen. Ein Blutfleck breitete sich über Mamies Brust und über ihr Kleid aus.
Eine einzige singende Frau war das Opfer all des vielen Hasses geworden.
Die Nachricht von Mamies Tod flog durch die Stadt. Sie erreichte den Mob, der den Zugang zum Versammlungsplatz versperrte. Sie löste die Knoten des Hasses, die den Autos der Arbeiter auflauerten. Wolken von Hass und Angst waren groß geworden. Männer waren zum Mob geworden.
Der Mob hatte die singende Frau getötet. Die Nachricht durcheilte die Wohnungen der Menschen. Die Nachricht, dass der Mob die Frau, die die Singballaden machte und sang, getötet hatte, lief über die Drähte. Die ganze Welt wusste nun vom Leben einer ganz gewöhnlichen Fabrikarbeiterin. Die ganze Welt wusste, wie sie geschuftet hatte, um ihre Kinder und ihr Heim zu erhalten.
Der Hof vor dem Farmhaus füllte sich rasch mit Menschen. Es entstand eine Menschenmenge, niemand wusste woher. Es schien kaum möglich, dass die Leute in Tesner so schnell erfahren konnten, dass Mamie Lewes erschossen lag.
Der Arzt kam. Die Behörde kam. Dewey saß da wie in einem bösen Traum. Er hatte von vornherein gewusst, dass sich am Sonnabend irgendeine unberechenbare Tragödie ereignen würde. Und doch hatte er darauf
bestanden, dass die Versammlung stattfinde. Er hatte es zugelassen, dass Mamie Lewes dem Mob zum Trotz hinausfahre, Mamie Lewes, die so unschuldig war, dass sie war nicht wusste, was das Böse war.
Dewey war hier und Mamie war tot. Es schien schier unglaublich. Er konnte nicht fortgehen. Er konnte sie jetzt nicht verlassen. Plötzlich wusste er, dass er sie geliebt hatte und sie ihn. Nie hatten sie es aussprechen können. Es war nur ein Augenblick gewesen, damals in Mamies Hütte. Sie und ihre ,Singballaden' waren für Dewey der Kern des Streiks gewesen. Jetzt war sie tot.
Wer machte einen Mob? Wer war der Mob? Wer hatte Mamie Lewes umgebracht?
Man trug sie jetzt fort; man tat sie in einen Sarg und brachte sie zur Leichenkammer des Bestattungsinstituts. Dewey stand endlich von seinem Platze auf. Er wusste kaum, was er tat. Er wusste nicht, wohin er ging; seine Beine trugen ihn in die Stadt zurück; zurück zu den Landors, zurück zu dem einzigen Ort, den er als Heim hatte. Kerle, die er kannte, hielten ihn auf der Straße vor der Drogerie auf. Die hellen Lichter der Drogerie beschienen ihre eifrigen Gesichter. Einer der Burschen arbeitete in einem Kaufhaus, der andere in einer Garage. Dewey wusste bestimmt, dass er sie im Mob gesehen hatte, als er in jener Nacht überfallen wurde. Sie sagten gespannt:
„Ich höre, eine Frau ist getötet worden! Ich hab gehört, sie haben die Balladensängerin erschossen!"
„Ja, ich war dabei, als sie starb", antwortete Dewey mechanisch.
„Wer hat sie erschossen, Dewey?" Es war, als hätte die Frage ein Licht in ihm zum Aufflammen gebracht.
Alle waren schuldig, alle, die an den Mob appellierten, alle, die hassten.
„Ihr alle habt sie getötet!" schrie er. „Diese Stadt hat sie getötet!"

Er ging die Straße entlang und dachte: Ich lebe und sie ist tot. Es war ihm unbegreiflich. Seine Absätze klopften den Takt zu diesem Gedanken, den er fortwährend wiederholen musste. Er dachte an die wenigen Augenblicke vor langer Zeit, als er einen Moment unfreundliche Gedanken über sie gehegt hatte, als er die Liebe, die in ihm wuchs, nicht wahr haben wollte und dem Klatsch der Werkspitzel Gehör schenkte, die behaupteten, Mamie Lewes ,nähme es nicht allzu genau'. Und dann hatte er sie geliebt. Seine Liebe zu ihr war für ihn in letzter Zeit ein Teil seiner Arbeit für den Verband. Sie waren aber beide zu beschäftigt gewesen. Und jetzt war sie tot.
In Deweys Hirn dämmerte unklar die Wirklichkeit dessen, was er gemeint hatte, als er vor der Drogerie ausrief: „Ihr alle habt sie getötet!"
Wer war der Mob? Alle waren Mob, die den Verband hassten: die Frau des Pastors, die in ihrer behaglichen, geschützten ,guten Stube' saß; die jungen Mädchen, die verächtlich von ,Spinnereihänden' sprachen; Mrs. Schenk in ihrem Palast in Richmond; die Herausgeber der Zeitungen; die Geistlichen, die ,das arme, irregeführte Volk zu Vernunft zu bringen' versuchten; der Gouverneur des Staates Nordcarolina, der so flink bei dem Einsatz von Truppen gegen die Streikenden gewesen und heute so träge bei der Sorge um Aufrechterhaltung der Ordnung war. Er hatte ja gewusst, dass Zusammenstöße bevorstanden. Aber seine Vertreter sagten, ,der
Herr Gouverneur wolle ungerne das Recht der freien Rede beschneiden'. Die ganze Gemeinde war für den Tod der Mamie Lewes verantwortlich. Die ganze Gemeinde.

In Tesner war Versammlung. Am Grab der Mamie Lewes wurde hier die Versammlung abgehalten, die der Mob am Sonnabend verhindert hatte. Roger und Hoskins und die Berichterstatter aller großen Tageszeitungen erschienen beim Leichenbegängnis Mamies. Es sollte um zehn Uhr stattfinden. Alle gingen zum Verbandslokal, wo eine kleine Schleife aus schwarzem Krepp aus dem Fenster hing. Ein kleiner, spärlicher Haufen Menschen sammelte sich an. Das Begräbnis war ärmlich, wie alles äußere Zubehör von Mamies Leben und von Mamie selbst, die nichts besessen hatte als ihr Lachen und ihr Singen, ihre Kinder und ihre Liebe. Ein paar Leute vom Verband trieben sich vor dem Verbandslokal herum. Mamie Lewes lag im Hause ihres Vetters aufgebahrt. All die großen Zeitungen der Hauptstädte hatten Vertreter geschickt. Man munkelte, dass der Mob das Leichenbegängnis sprengen wollte.
Roger stand am Rand des Bürgersteigs herum und wartete ziellos, als einige junge Burschen im Auto heranfuhren. Sie waren alle jung und ihre Augen blitzten fanatisch. Roger fragte sich, ob diese Burschen auch zum Mob gehörten. Da fragte ihn einer der Burschen erregt: „Ist es wahr, dass diese Leute Gott den Herrn verleugnen?"
Doch sie fuhren bald wieder fort. Gehörten sie zum Mob, so waren sie zu schwach gewesen, um etwas zu unternehmen.
Endlich pilgerte der kleine Leichenzug die schlammige rote Straße bergan zu dem öde anmutenden Friedhof am Abhang. Vorhin hatte es getröpfelt. Jetzt hörte der Regen auf. Der Tag war grau und neblig. Menschen kamen in Autos und rumpelten durch den aufspritzenden Schlamm. Arbeiter kamen in kleinen Gruppen über die Baumwollfelder, die den Friedhof umgaben. Ein rotes Loch klaffte in der Erde wie eine Wunde. Am Rand des Grabes standen Mamies Kinder. Nur das Älteste, das ,so brav mitgeholfen' hatte, wusste, was vor sich ging. Die drei Jüngeren waren zu klein, um es klar zu begreifen.
Dann sprachen Dewey und Jolas und der Vorsitzende des Verbandes in Tesner, Lee Thomas. Sie hielten alle Reden für den Verband.
Dazwischen hörte man das Einschnappen von Photoverschlüssen. Bilder dieser fernen kleinen Beerdigung einer unbekannten Fabrikarbeiterin sollten die Arbeiter im ganzen Lande, die Arbeiter aller Länder erreichen.
Dann sang ein junges Mädchen vom Verband in Tesner das Lied der Mamie Lewes: „Wie das dem Mutterherz weh tut!"
Ihre kleine Stimme bebte dünn und unsicher in die Stille hinein, die nur von dem zudringlichen Knacken der Photoapparate unterbrochen wurde.
Ein Geistlicher, der Mamie Lewes nicht gekannt hatte, sagte ein paar Worte, und alles war vorüber.

 

XXIV. KAPITEL

Der lange, hagere Staatsanwalt stand auf und sah sich im Gerichtssaal um. Die angeklagten Burschen lauschten aufmerksam. Roger fiel die Kopfhaltung Fers auf, sein feingeschnittenes Profil mit der dunklen Haarlocke auf
der braunen Wange, die die Monate der Haft nicht bleichen konnten.
Das allgemeine Interesse war abgeflaut. Nur die nächsten Anverwandten der Burschen waren da. Die Presse war nicht schlechter vertreten als früher, weil das öffentliche Interesse durch den Mob und durch den Terror doch noch wach gehalten wurde. Das große Publikum um Lafayette hatte das Beweismaterial der Anklagevertretung größtenteils gehört, und die Arbeiter hatten es nicht überzeugend gefunden, während die wohlhabenden Bürger die Burschen für Mörder hielten. Aber der Versuch, sie im elektrischen Stuhl zu verbrennen, war aussichtslos. Das lag auf der Hand. Ein legales Lynchgericht kam offenbar nicht in Frage. Der Staat war im Begriff, durch den Mund des hageren Staatsanwalts diese Schlappe einzugestehen.
„Herr Richter", sagte der Staatsanwalt und sah auf seine Füße hinunter, die lang, schmal und elegant beschuht waren, „der Staat fordert keine Todesstrafe für die Angeklagten. Der Staat wünscht die Anklage wegen Mordes fallen zu lassen und sie nur wegen Totschlags aufrechtzuerhalten."
Das war schon mehrere Tage vorher in den Zeitungen angedeutet worden. Seit der Unterbrechung der Gerichtsverhandlung drei Wochen vorher war es unzweifelhaft geworden, dass kein Schwurgericht dazu zu haben war, diese Burschen auf Grund des fadenscheinigen Beweismaterials der Anklage auf den elektrischen Stuhl zu schicken.
Dick Durgan vom ,Planet'-Baltimore kam gerade von einem Interview mit dem Gouverneur und prophezeite, dass das Verfahren gegen einige Angeklagte eingestellt werden würde. Hoskins machte Einwände:
„Das würde bedeuten, dass sie zugeben, sie hätten diese jungen Kerle wie Vieh zusammengetrieben und jeden verhaftet, der zur Zeit der Schießerei auf dem Gelände der Zeltkolonie anwesend war." Der Staatsanwalt stand noch einmal auf.
„Die Anklage gegen fünf Personen wird fallen gelassen." Er nannte Tetherow, Gilfillin, Cathcart, Truitt und Dan Marks. Nur ein einziger Spinnereiarbeiter vom Ort blieb noch dabei, Wes Elliott, der sich während der ganzen Dauer des Streiks durch seinen Eifer und seinen Fanatismus ausgezeichnet hatte. Außerdem blieben noch die drei jungen Leute aus dem Norden übrig, von denen zwei, Hunt und Graham, erst zwei Wochen im Süden waren, als sich die Schießerei ereignete.
Die Arbeitgeber gaben sich geschlagen, aber trotzdem war es kein Sieg für die Angeklagten.
Die entlassenen Angeklagten gingen stumm hinaus. Sie begriffen nur allzu gut den Sinn dieses scheinbaren Rückzugs. Sie sahen darin nur eine neue Taktik der Justiz, einen Versuch, den andern Angeklagten desto schwerere Strafen aufzubrummen. Bei einer Verhandlung, in der es um den Kopf geht, hat in Nordcarolina jeder Angeklagte das Recht, zwölf Geschworene abzulehnen. Bei der ersten Verhandlung gab es für die neun Angeklagten eine ungeheure Zahl von Ablehnungsmöglichkeiten.
War aber die Gefahr der Todesstrafe ausgeschaltet, konnte jeder Angeklagte nur vier Geschworene beanstanden, so dass jetzt, da die Anklage gegen fünf junge Leute fallen gelassen worden war, nur wenige Ablehnungen möglich waren. Es war allen Sympathisierenden sofort klar, dass das neue Schwurgericht nicht aus solchen jungen Arbeitergeschworenen bestehen würde wie das erste.
Die ganze Atmosphäre des Gerichtssaals war verändert. Die Angeklagten fühlten es alle. Roger trat an Fer heran, als die Sitzung unterbrochen wurde, um den Verteidigern Gelegenheit zur Beratung über den Antrag des Staatsanwalts zu geben.
Fer, der besonders blass und klar aussah, sagte ein
wenig schal:
„Na, mir scheint, jetzt haben sie uns. Das wird alle zufrieden stellen. Keiner wird groß Tränen vergießen, wenn ein paar Organisatoren aus dem Norden auf Lebzeiten ins Zuchthaus geschoben werden."
Und so war es auch. Das Gefühl ,jetzt kräht kein Hahn mehr danach' lag über der Verhandlung und vertiefte die allgemeine Depression. Es war ein kluger Schachzug der Staatsgewalt gewesen. Da der elektrische Stuhl doch nicht zu erreichen war, hatte man aus einer ,großen Affäre', aus einem zweiten Sacco-Vanzetti-Fall eine Angelegenheit gemacht, bei der ein paar ,Hetzer aus dem Norden' ihre wohlverdiente Strafe abkriegen
würden.
Überdies musste man für die Sicherheit der entlassenen jungen Leute fürchten. Der Mob hatte gedroht, er würde eingreifen, wenn der Staat die Angeklagten nicht verurteilte. Sie hatten die Losung geprägt: ,Wenn wir sie nicht fortjagen können, werden wir sie fortschießen.' Man erklärte offen, man wolle jeden Organisator des Verbandes aus dem Süden vertreiben.
Der Mob war schon in Schwung, bevor die erste Gerichtsverhandlung zu Ende war. Er war von Terrorakt zu Terrorakt geschritten. Drei Männer waren verschleppt und verprügelt, Mamie Lewes war erschossen worden. Aber auch seit ihrem Tode hatte es nicht an Attentaten gefehlt. In Rock Mountain, einer Stadt in der Nähe von Tesner, wurde ein junger Kerl mitten in
der Nacht von maskierten Männern aus dem Bett geholt, in die Wälder verschleppt und misshandelt. Ein Schrei' der Abscheu war die Antwort im ganzen Land. Das Schicksal Mamie Lewes' hatte überall Sympathien erweckt. Die liberalen Kreise des Staates protestierten laut und verlangten die Verfolgung der Mörder. Und jetzt, da noch kein Gras über die rote Erde auf ihrem Grab gewachsen war, ereignete sich eine neue Auspeitschung.
Der Terror beherrschte das Land, organisierte bandenmäßige, von oben geleitete Gewaltakte, entfesselte die Gewalttätigkeit des Mob. Jetzt kam noch der Schrecken dazu, der bei Nacht herumschlich.
Ein junger Verbandsfunktionär, der Organisator Norris, wurde durch den Arm geschossen und aufgefordert, die Klappe zu halten. Robert Duncan erfuhr diese Tatsache nur durch Zufall. Die Familie des jungen Mannes war mürrisch und wollte dem Arbeiter aus dem Norden nicht Rede und Antwort stehen. Sie hatten Angst.
An die Fenster der Verbandsmitglieder klopfte man des Nachts, an dunklen Ecken lauerten unbekannte Subjekte den Frauen auf und warnten sie, sie mögen ihren Männern raten, aus dem Verband auszutreten, wenn sie nicht wollten, dass ihnen ein Unglück passiere.
Der Terror kroch wie ein schleichender Stollenbrand durch die Werksiedlung. Der Terror schlich durch die Zeltkolonie. Es wurde beschlossen, die Überreste der Zeltkolonie nunmehr aufzulösen.

Während der letzten Tage der Gerichtsverhandlung waren Roger und Hoskins von einem Gefühl unabwendbaren Unglücks verfolgt. Die neuen Geschworenen waren ältere Leute, meist Fundamentalisten, viele unter ihnen
Bauern mit harter Kruste und harten Gesichtern. Dass die jungen Angeklagten ,Radikale' waren, dass sie aus dem Norden kamen, dass sie einen Verband gründen wollten, sogar dass sie ,keine Religion' hatten —, das alles sprach zu ihren Ungunsten. Die Geschworenen waren Menschen, die an die gefühlsmäßige Entspannung effektvoller ,Bekehrungen' gewöhnt waren. Südländer, die blumenreichen Rednerkünsten zugänglich waren. Der lange, schlaue Staatsanwalt kannte seine Leute.
Drei Bilder hoben sich klar in Rogers Gedanken ab. Eines war das Bild der Frau Grahams, der kleinen Ruth, wie sie mit ihrem glatten, sauberen, tapferen, kleinen Profil und dem knabenhaften Kopf unschuldig die Freiheit ihres Mannes wegschwor, indem sie zugab, dass sie an Gott nicht glaube. Sie war in dieser Nacht im Verbandshauptquartier gewesen und sagte aus, dass weder ihr Mann, noch Fer an der Schießerei irgendwie beteiligt gewesen waren.
Sie gab ein klares Bild dessen, was sich oben in der hölzernen Baracke des Streiklokals unter den Führern abgespielt hatte. Fer war mit irgendwelchen Abrechnungen beschäftigt, Irma und Doris unterhielten sich ungezwungen über die Ereignisse des Tages, über das Gemüsebombardement, über den Mann mit der Pistole, über das Sprengen der Streikpostenkette. Dann war ein Schuss gefallen, und noch einer, jemand sagte ,Was war das?', und ein anderer sagte ,Dreht das Licht aus', und dann kam ein Schnellfeuer und Fer sagte:
„Das ist der Hunderter-Ausschuss. Sie haben’s auf uns abgesehen."
Darauf legten sie sich im kleinen verfinsterten Zimmer auf den Boden, um den fliegenden Kugeln zu entgehen.
Sie beschwor die Verwirrung, die Überraschung, die Angst jener Nacht wieder herauf. Unvorhergesehen, unprovoziert, unerwartet war das Unheil auf die Zeltkolonie an dem Abend des Tages niedergefahren, von dem sie einen Sieg für sich erhofft hatten.

Aber weil Ruth nicht an Gott glaubte, wurde ihre Aussage vom Gericht nicht zugelassen, denn glaubte sie nicht an Gott, war ihr Zeugeneid wertlos. Anscheinend konnte das Gericht wahrheitsgetreue Aussagen nur von Zeugen erwarten, die des Glaubens waren, jede Lüge würde mit Höllenfeuer geahndet werden.
Selbst der unparteiische, junge, asketenhafte Richter war dieser Ansicht —, auch er war der Meinung, dass ein Mensch, der nicht an Gott glaubt, nicht die Wahrheit sagen könnte.
Die Berichterstatter aus dem Norden, die meisten ebenso wenig an orthodoxe Religion gebunden wie die Angeklagten —, ein unorthodoxer Jude, ein Katholik, der seit fünfzehn Jahren keine Messe mehr gehört hatte, ein junger Mann, der überhaupt ohne Religionsunterricht aufgewachsen war, hörten mit offenem Munde zu. „Das ganze ist ein einziger Anachronismus", flüsterte Hoskins Roger zu. „Dieser moderne Gerichtssaal und diese mittelalterliche Auffassung."
Das zweite Bild war das Bild Fers während des langen Tages seiner Vernehmung. Er war geduldig, offen, aufrichtig, klar und deutlich in allen seinen Antworten. Roger erinnerte sich später immer so an ihn, wie er ihn damals sah, sein Profil auf der Zeugenbank, seine feine Adlernase, sein Gesicht, ein wenig beschattet und verschwommen. Seine Haltung stolz und mutig. Er war rührend in seiner Aufrichtigkeit, als er da stand vor
diesem Schwurgericht, dem jeder Funke eines Mitgefühls abging, vor diesen Geschworenen, die alles hassten, was dieser junge Führer tat, die sein Kommen in ihr ,Südland' mit Hass quittierten und wirklich des Glaubens waren, dass er und seine Genossen der Antichrist selbst seien.
Während der langen Vernehmung sanken Rogers Hoffnungen immer mehr. Fers Aussage hätte ihm den Freispruch bringen müssen. Roger wusste, dass dieser Spruch nicht erfolgen würde.
Dieses Geschworenengericht hörte nichts anderes als die Stimme der eigenen Vorurteile.
Untrennbar vom Bild Fers blieb für Roger das Bild Lissas, mit ihren schönen, geraden Brauen, ihrer unberührten Jugend, ihrem Ernst. Stunde um Stunde hörte sie zu, ihre angespannte Erregung verlieh ihr eine besondere Schönheit. Sie hätte es nicht aussprechen können, dass sie allmählich eine lähmende Hoffnungslosigkeit befiel. Aber auch sie wusste, genau so wie Roger, wie jeder mit diesen unglücklichen Burschen Sympathisierende, dass ihre Sache bereits verloren war.
Die grotesken Szenen des letzten Tages waren kaum mehr nötig. Die Plaidoyers der Verteidiger waren pedantisch und sauber. Aber es fehlte ihnen das wesentliche Feuer. Etwa die Leidenschaft des alten Burdette, seine Wut, sein peitschender Sarkasmus, das rasch wirkende Gift seiner Zunge. Das hätte dieses Schwurgericht verstanden.
Es verstand auch die melodramatische Szene, die der Staatsanwalt vormachte. Er legte sich auf den Boden, in Darstellung des toten Polizeichefs. Er erzählte, wie das unschuldige Blut des Opfers über die Hände der Teufel geflossen war, die diesen Mord kaltblütig ausgeheckt hatten. Inzwischen schluchzte die Witwe laut. Der Staatsanwalt schloss seine Rede damit, dass er neben die Witwe hinkniete, ihre Hand ergriff und laut zu Gott betete, er möge die Herzen der Geschworenen richtig lenken, damit sie die Höllenhunde verurteilen, die den Ehemann dieser Frau abgeschlachtet hatten.
Es war ein sensationelles Ende eines Sensationsprozesses, eine saftige Geschichte für die Telegramme der Journalisten, ein Ende, genau so unvorstellbar wie der Anfang, jenes Hereinwackeln der Wachsfigur des Toten in den Gerichtssaal gewesen war. Der Staatsanwalt hatte gut gearbeitet. Er hatte eine Sprache geredet, die die Bauern mit den harten Gesichtern wohl verstanden.
Die Tage der Verteidigungsreden und der Zusammenfassung durch den Vorsitzenden des Gerichtshofs blieben Roger nur als schwarze Leere im Gedächtnis. Es war ja ohnehin alles vorbei, außer der bangen Erwartung. Sie hatten verloren. Jetzt brauchte man nur mehr auf den unausbleiblichen Wahrspruch, auf das unvermeidliche Urteil zu warten. Die Stunden schleppten sich hin. Die Tage schleppten sich hin. Dort war Fers klares, besorgtes Gesicht und hinter ihm das Gesicht Lissas. Eine Handvoll Beteiligter im Gerichtssaal. Es war wie die monotone Langeweile einer Totenwache. Die Zeit kann aber zugleich kriechen und fliegen.
Der Urteilsspruch lautete auf ,schuldig'. Sie wurden schuldig gesprochen, sich zur vorsätzlichen Tötung des Richard Humphries verschworen zu haben.
Wieder hatte man das spukende Gefühl des Grotesken bei dem Gedanken, dass diese jungen Menschen ein solches Komplott geschmiedet hätten. Für die beiden Journalisten, die Fers Ansichten so gut kannten, hatte dieser Gedanke das Verzerrte eines Alpdrucks. Er war ebenso grotesk wie der Mob, der die Lobpreisung Gottes
sang, und er wäre, ebenso wie der Mob, lächerlich gewesen, wenn er nicht Wirklichkeit gewesen wäre und nicht den Stachel eines zwanzigjährigen Zuchthausurteils in sich getragen hätte.
Und der freundliche, immer höfliche, geduldige Richter, der gerechte Richter sprach das niederschmetternde Urteil, eine zwanzigjährige Zuchthausstrafe für alle mit Ausnahme von Wes Elliott aus. Wes Elliott erhielt zehn Jahre.
Sie hatten gewusst, was kommen würde. Sie hatten jeden Tag gewusst, dass ihr Schicksal besiegelt war, aber sie hatten es doch nicht ganz geglaubt. Das Urteil sauste krachend auf die Verurteilten und ihre Freunde nieder.

 

XXV. KAPITEL

Fer sollte gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt werden. Die Kaution war so hoch, dass die übrigen jungen Leute weiter im Gefängnis verbleiben mussten, während eine Sammlung für die Aufbringung der Kaution veranstaltet wurde. Die Behörde forderte Bargeldkaution und lehnte die Annahme sonstiger Sicherheiten ab.
Frühmorgens schon begannen sich die Leute am Gerichtsgebäude zu sammeln. Arbeiter, Männer und Frauen kamen in Lastautos und allen möglichen Fuhrwerken. Alte Männer und junge kamen und auch die Kinder. Die Straßen waren schon in der Morgendämmerung zu beiden Seiten von schweigenden Menschen gesäumt.
Fers Freunde hatten befürchtet, dass sich bei seiner Entlassung aus dem Gefängnis ein lynchbereiter Mob einfinden würde. Es war, als hätten diese Befürchtungen in jedem Sympathisierenden einen Widerhall gefunden. Sie kamen alle, die Spinnereiarbeiter, die glaubten, dass
er für den Verband gekämpft hatte; die Prediger aus den Bergen, wie Quinn und Williams, Verbandsmitglieder und Unorganisierte, Streikende, und Arbeiter aus Betrieben, in denen noch nie ein Streik stattgefunden hatte; sie kamen, als wollten sie keinen Platz für einen Mob freilassen und warteten geduldig auf das Erscheinen Fers.
Es war eine seltsame Demonstration, dieser Zustrom von Arbeitern nach Lafayette, die alle Fer begrüßen wollten. Für sie war Fer ein Symbol ihres Freiheitskampfes. Er hatte gekämpft gegen den grausam langen Arbeitstag, er hatte gekämpft gegen ihren Bettellohn, gegen ihr Elend. Und jetzt war auch er versklavt, gefangen. Es war, als wäre diese ganze Masse herausgeströmt, um zu sagen:
„Fer, wir wissen, dass du den Humphries nicht erschossen hast und nie vorgehabt hast, ihn zu erschießen. Wir wissen, dass sie ein Justizkomplott gegen dich aufgezogen haben, weil du für uns gekämpft hast."
In der Nähe des Tores warteten Burdette, Hoskins und Roger auf Fer. Neben ihnen stand eine Gruppe von Journalisten des Orts. Die Reporter der großen hauptstädtischen Tageszeitungen waren sofort nach Verkündung des Wahrspruchs der Geschworenen abgereist.
„Wohin wird Fer zuerst gehen?" fragte Roger.
„Er soll nach dem Norden. Ich will ihn zu irgendeiner Bahnstation bringen, wo er, ohne erkannt zu werden, in den Zug einsteigen kann." Burdette sprach mit großer Entschiedenheit.
„Duncan sagte, der Verband möchte, dass er hier noch einmal spricht."
„Die sind wohl verrückt", sagte Burdette kurz. „Er kann in dieser Gegend nicht bleiben."
Dann kam Fer zum Vorschein und ein großer Lärm stieg von der Menge auf, auch in den Seitenstraßen, wo sie ihn gar nicht sehen konnten.
Die Arbeiter, die in der Nähe des Tores standen, Dewey Brison, Del Evans, der immer sein Leibwächter gewesen, und die jungen Trents hoben ihn über die Köpfe der Menge hinweg in ein wartendes Lastauto.
Der alte Anwalt plusterte sich auf wie ein zorniger Vogel. „Sie haben wohl 'ne weiche Birne", wiederholte er. „Fer darf hier nicht sprechen." Er bahnte sich einen Weg durch die Menge zum Lastauto.
Aber Fers klare Stimme, die so leicht so weit trug, erreichte sie alle.
„Ich bin sehr froh, draußen zu sein und euch alle zu sehen", sagte er. „Es war sehr schön von euch, dass ihr mich so empfangt." Er sagte nur noch wenige Worte. Burdette nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch.
„Sag ihnen, sie sollen nach Hause gehen", sagte er zu Fer. „Sag Dewey, er soll zu ihnen sprechen. Sonst wirst du Scherereien haben."
Dewey hielt also eine kurze Rede und die Menge begann, vom Anblick Fers befriedigt, langsam auseinander zugehen.

Es war nichts geschehen und sehr viel. Eine Gruppe Verbandsfunktionäre folgte Fer ins Zimmer, das für ihn gemietet worden war.
Del Evans sagte: „Diesmal haben wir sie aufgerüttelt, ganz bestimmt."
„Drüben in der Basil-Schenk sind sie jetzt fest entschlossen, herauszukommen."
„Wie Mamie Lewes erschossen wurde, haben wir alle
geschworen, nicht zu ruhen, bis wir die von Basil-Schenk wieder draußen haben."
„Jetzt, wo sie sicher wissen, dass man da ein Ding gegen dich aufgezogen hat, kommen sie noch mal so gerne heraus."
„In allen Betrieben war man mächtig erbittert, wie der Mob Mamie Lewes erschossen hatte. Überhaupt war man wegen der ganzen Mobgeschichte sehr erbittert. Wir haben Tag und Nacht gearbeitet, in den Betrieben und draußen."
„Wir haben kleine Versammlungen in Wohnungen bei zuverlässigen Leuten abgehalten. Seit fünf Wochen, seitdem Mamie Lewes tot ist, ist keine Nacht vergangen, in der nicht eine Versammlung in der Werksiedlung abgehalten worden wäre."
„Auch die Frauen haben sich beteiligt. Frau Cuthbert und einige von den Trentschen Frauen haben tüchtig unter den Frauen organisiert. Wir haben dir Nachrichten geschickt, soviel wir konnten, aber die Sachen sind erst in der letzten Woche zum Klappen gekommen."
Endlich sprach Fer.
„Wann glaubt ihr, dass sie aus dem Betrieb herauskommen?" fragte er.
„Wir haben es für Montag abend vorgesehen, beim Schichtwechsel. Wir wollen die Schicht herauskommen lassen und dann keinen mehr hineinlassen."
„Wenn du dabei wärst, Fer, würden sie sicher herauskommen. Wenn sie dich zu sehen bekommen, ist die Sache fertig."
„Wir lassen dich Tag und Nacht bewachen, Fer. Dich kriegen keine Rowdys oder Lyncher."
An die Türe klopfte Roger. „Fer", sagte er, „Burdettes Auto wartet. Er meint, du solltest jetzt losfahren."
„Ich fahre mit ihm nicht mit", sagte Fer.
„Wieso fährst du nicht mit?"
„Es geht nicht, Roger. Die Jungs hier wollen, dass ich hier noch etwas abwarte."
„Wohin gehst du?" fragte Roger schroff.
„Na, ich denke, so nach Dunkelheit werde ich nach Stonerton kommen, in die alte Werksiedlung."
„Aber Fer!" rief Roger. „Das kannst du doch nicht! Du bist verrückt, Fer!"
Die großen Burschen aus der Spinnerei saßen stumm und wartend da. Sie betrachteten Roger ohne Feindseligkeit, weil sie wussten, dass er keinen Einfluss auf Fer hatte.
„Weißt du, was du tust?" rief Roger.
„Ja", sagte Fer ruhig, als wäre er sehr müde. „Ja, ich weiß schon, was ich tue. Aber ich muss ja, Roger, das weißt du."

Die jungen Trents wohnten in einem Haus knapp an der Werksiedlung. Das Haus gehörte ihrem Schwager, war größer als die meisten Häuser dort und hatte zwei überflüssige Zimmer. Das Haus war nicht auffallend, es hatte vorn einen Staudengarten und stand etwas abgesondert. Deshalb hatten sie das Haus in letzter Zeit als Versammlungsort für Verbandskonferenzen benützt. Man schloss alle Jalousien, kein Lichtschimmer drang nach außen, und ein Bäckerdutzend Männer schlich vereinzelt zur Hintertür herein.
Hier blieb Fer über den Sonntag. Nur ganz wenige Leute durften kommen, die Fer sprechen musste, oder von denen er wusste, dass es besser sei, dass sie kämen. Es sollte nicht allgemein bekannt werden, dass er noch da war. Die Presse hatte mitgeteilt, dass er nach seiner
Enthaftung nach dem Norden zurückgefahren sei. Burdette hatte die Presse in dieser Richtung informiert und sich um die ganze Angelegenheit nicht weiter gekümmert.

Es war unmöglich, eine solche Neuigkeit geheim zu halten. Das Gerücht von Fers Anwesenheit schwirrte durch die Werksiedlung. Der eine flüsterte es dem andern ins Ohr:
„Fer ist hier!"
„Wo ist er?"
„Weiß nicht. Man sagt, er ist hier."
Es war, als wäre seine Gegenwart wie ein Licht, das durch die ganze Gemeinde flackerte und züngelte. Ein unbestimmtes Licht, denn keiner wusste etwas Gewisses —, mit Ausnahme der wenigen, die ihn gesehen hatten; die aber hielten dicht.
„Willst du noch irgend jemand sehen, Fer?" fragte ihn Del Evans.
„Ja, ich will Lissa Thorn sehen. Sie ist jeden Tag zur Verhandlung gekommen."
Lissa eilte durch die Stadt. Sie lief so rasch, dass ihr Bekannte, die sie unterwegs trafen, zuriefen:
„Wohin denn so eilig, Lissa?"
Sie hätte gerne zurückgerufen: „Zu den Wilcox! Zu Fer! Er hat um mich geschickt!" Es schien ihr einfach nicht glaubhaft, dass Fer um sie geschickt hatte.
Selbst Fer war es seltsam vorgekommen, dass er, nachdem er sich den ganzen Tag mit Plänen der Arbeitsniederlegung beschäftigt, Projekte gemacht, Ratschläge erteilt, Berichte angehört hatte, plötzlich um Lissa schickte, etwa wie ein Mensch aus einem überhitzten Konferenzzimmer hinausgeht, um ein wenig frische Luft zu schöpfen. Es war, als hätte Fer plötzlich gesagt:
„Hols der Henker, ich bin monatelang im Gefängnis gewesen. Ich habe diese ganze Zeit nur durch Gitter hindurch oder im Gerichtssaal mit einem Mädchen gesprochen. Ich hab kein Mädchen. Aber ich will doch einmal ein paar Minuten mit einem jungen und schönen Mädchen sprechen. Nur zehn Minuten, inmitten dieser großen Verantwortung, die auf mir ruht."
Auch die Burschen wunderten sich darüber, dass Fer
um Lissa schickte.
„Wusste gar nicht, dass Fer so große Stücke hält auf
Lissa Thorn."
„Ich auch nicht."
„Muss aber doch so sein, wenn er jetzt um sie
schickt."
Sie ließen demnach die beiden allein.
„Hallo, Fer", sagte Lissa. „Ich bin froh, dass du
wieder da bist."
„Ich bin auch froh. Es war nett von dir, dass du gekommen bist. Ich wollte dich so gerne sehen."
Sie wurde rot. „Ich bin auch sehr gerne gekommen. Ich bin froh, dass du mich sehen wolltest."
„Ich hab dich die ganze Zeit im Gerichtssaal gesehen."
„Ja, ich war jeden Tag dort. Ich wusste nicht, dass du
mich bemerkt hast."
Das war alles, was sie sich zu sagen hatten.
„Ich höre, du hast unter den Frauen gearbeitet."
„Ja, ich und Frau Trent und noch viele andere haben die ganzen Häuser in der Werksiedlung durchgearbeitet. Sie sind alle bereit, Fer."
„Ja, es scheint, dass diesmal wirklich was daraus
wird."

Die Arbeitsniederlegung war sorgfältig vorbereitet worden. Die Direktion hatte die Arbeiter einzeln in den Betrieb zurückgelockt, durch Versprechungen, die nachher nicht gehalten wurden. Die Werkmeister hatten erklärt, dass altbeschäftigte Arbeiter wegen ihrer Tätigkeit im Verband nicht gemaßregelt werden würden, da die Werksleitung die Existenz des Verbandes überhaupt nicht anerkenne. Diese inoffiziellen Versprechungen waren nicht gehalten worden. Mutter Gilfillin und Daisy West wurden nicht wieder eingestellt, ebenso wenig wie Jolas und Binney und die übrigen Jolas-Mädels.
Dem Plan gemäß sollte die abtretende Tagschicht die Arbeit niederlegen. Die Streikenden in der Nachtschicht sollten eine starke Streikpostenkette bilden und mit den herausströmenden Tagschichtstreikenden gemeinsam die Streikbrecher am Betreten des Betriebes verhindern. Der Plan war sorgfältig geheim gehalten worden, doch war es unmöglich, ein so ausgedehntes Unternehmen, das sich auf Hunderte von Menschen erstreckte, wirklich geheim zu halten.

Ike Cooney, der neue Sheriff, hatte zwei Dutzend Leute als Hilfspolizisten eingeschworen, Werkmeister, aus der Spinnerei, ,loyale' Arbeiter, die zur Direktion hielten, und andere. Noch vor Arbeitsschluss hatte sich diese Nachricht in den Arbeitssälen verbreitet. Die Werkmeister patrouillierten nervös. Es nützte alles nichts. Der Augenblick war da, der Tag war gekommen, der geplante und ersehnte Tag, der so sorgfältig vorbereitet worden war, für den so viele gebetet hatten.
Die Männer und Frauen warfen mit einem Ausruf die Arbeit hin, verließen ihre Webstühle, ihre Spindeln und schreien es durch den Betrieb:
„Streik! Streik! Streik!" Jemand gab die Parole aus:
„Fer ist draußen! Fer ist hier!" Und von den
Fenstern des Betriebs dröhnte der Ruf heraus: „Fer!
Fer! Fer!"
Die Menge, die sich draußen ansammelte, stimmte ein. Der ganze erblassende Himmel war erfüllt vom Namen Fers. War er wirklich in der Menge zu dieser Zeit? Es machte nichts aus. Er war doch zugegen, denn was er vertrat, war da.
„Verband!" kam der nächste Ruf.
„Für den Verband! Verband" kam es aus hundert Kehlen zurück.
Eine ungeheure Erregung ergriff die Arbeiter im Betrieb. Die Werkmeister liefen herum, versuchten, Beruhigung zu schaffen, redeten gut zu, wurden aber achtlos beiseite geschoben. Der Streik war jetzt in Hochflut. Die Männer und Frauen rannten aus dem Betrieb. Die Streikpostenkette marschierte heran. Sheriff Cooney
sagte:
„Das Tor hier freihalten! Ich kann das Tor hier nicht von euch versperren lassen."
Eine Stimme rief höhnisch: „Der Sheriff sagt, ihr sollt das Tor freigeben, damit die Streikbrecher hineinkönnen!"
„Pfui! Pfui! Pfui!" schallte es zurück, jener Ruf, der der Stimme eines Tieres glich, dessen spöttischer Laut aber menschlich war. Ein heiterer, fürchterlicher, erschreckender Laut: „Pfui! Pfui! Pfui!" und vom andern Ende der Straße gaben die andern den Ruf zurück.
Jetzt kam ein Lastauto mit Streikbrechern angefahren. Menschen setzten sich in der Richtung des Betriebs in Bewegung. Hier sollte die Entscheidung fallen. Wer war der Stärkere, der Streik oder der Sheriff?
Die Pfui-Rufe wurden zum Geheul. Ein Stein krachte gegen die Fenster des Betriebes.
„Ich will keine Unannehmlichkeiten! Lasst das Tor, hier frei!" schrie der Sheriff.
Ein zweiter Stein flog. Fers Stimme rief laut: „Lasst sie nicht in den Betrieb hinein!"
„Fer! Fer! Fer ist da!" Die Masse stimmte in den Ruf ein und wieder dröhnte Fers Name zum Himmel. Und plötzlich wälzte sich ein Knäuel Menschen im Kampf.

Ein Pistolenschuss knallte. Ein Mann warf die Arme hoch, drehte sich um und fiel aufs Gesicht.
Schüsse knallten. Dann rief jemand:
„Fer ist getroffen! Fer ist getroffen!"
Jolas ging mit erhobenem Blick auf den Sheriff zu. Zwei Hilfspolizisten verhafteten ihn. Ein hoher, scharfer Schrei durchschnitt die Luft wie mit einem Messer. Es war Binney.
„Sie haben ihn erschossen! Meinen Vater!" Eine Tränengasbombe platzte zwischen den Streikenden und der Polizei. Jetzt schienen die Schüsse von allen Seiten zu kommen. Die Streikenden flohen in alle Richtungen. Der junge Cuthbert rannte mit der Hand vor den Augen, fühlte, dass ihm etwas einen Schlag versetzte und fiel bewusstlos auf die Erde. Eine Stimme sagte:
„Um Gotteswillen, hört mit dem Schießen auf! Es ist schon genug, genug angerichtet!" Man sagte, es sei die Stimme des Sheriffs gewesen. „Es sind schon genug Leute tot!"
Die Streikenden rannten in alle Richtungen. Das
Tränengas hatte sich verflüchtigt. Der Platz glich einer Schlachtbank. Die Leichtverwundeten machten sich davon. Aber dreißig Verwundete lagen still auf der Erde. Wie viel tot waren, wusste niemand.
Fer lag tot, mit einer Kugel im Herzen, den Kopf auf Del Evans' Knie gebettet. Del Evans wiederholte fortwährend flüsternd, als könnte er den eigenen Worten nicht glauben, seinen eigenen Sinnen nicht vertrauen: „Fer ist tot. Sie haben ihn erschossen, und er ist tot."

Die Krankenwagen fuhren vor. Vor dem Krankenhaustor spielten sich Szenen ab wie nach einer Schlacht. Menschen strömten zum Tor, die meisten wurden abgewiesen. Sie standen herum, weinten und schrieen. Fürchterliche Einzelheiten des Blutbades begannen durch die Menge zu sickern.
Der alte Jolas, so sanft, so beliebt, war mit noch gefesselten Händen auf den Operationstisch geworfen "worden. Er erlangte das Bewusstsein nicht wieder. Er war mit den Spangen an den Handgelenken gestorben. Das Gerücht bestand hartnäckig darauf, dass er erst nach der Verhaftung und Fesselung erschossen worden sei. Dewey Brison sagte, er hätte ihn im Pulverrauch gesehen, sein alter Kopf hing blutig und schlapp auf die Brust und sie schlugen auf ihn zu, als er schon gefesselt
war.
Binney saß draußen, das kleine, dünne, spitze Gesicht in den schmalen Händchen; ein Schluchzen schüttelte unaufhörlich ihre Schultern. Sie war nicht zu bewegen, fortzugehen. Sie saß draußen, als wär sie auf Wachtposten und schluchzte, als wollte sie ihr Leben ausschluchzen.
Die junge Lucy Trent durfte ins Krankenhaus
hinein. Trent war tödlich verwundet. Es gab keinerlei Hoffnung mehr für ihn. In einem andern Saal verblutete Cuthbert an einem fürchterlichen Magenschuss. Seine Mutter saß neben ihm.
Auch Del Evans' Vater war getroffen. Die Ärzte meinten, er würde den Morgen nicht erleben.

Wieder strömten Journalisten in die Stadt. Zum Abend waren alle wieder beisammen. Das Gerücht, dass Fer nicht nach dem Norden gefahren war, dass er sich noch im Süden aufhielte, hatte sich zwar verbreitet, aber das Geheimnis der Arbeitsniederlegung war gewahrt worden. Nur einer der Zeitungsleute des Ortes, Otis Bingham, hatte die Schießerei gesehen. Er war unten bei der Streikpostenkette gewesen, als der Sheriff und seine Leute plötzlich Feuer gaben. Er hatte die berufsübliche zynische Gelassenheit des Reporters ganz verloren. Was er zu sagen hatte, war, dass den Feuerüberfall niemand provoziert hatte, keiner der Streikenden oder Streikposten hätte Schusswaffen gehabt, kein Schuss war von Seiten der Arbeiter gefallen.
Fer wurde ins Haus der Thorns gebracht. Das Gesetz bestimmt, dass eine Leiche von den Angehörigen reklamiert werden muss. Die Arbeiter befürchteten, dass die Werksleitung den Versuch machen würde, die gemeinsame Beerdigung Fers und der übrigen Opfer zu verhindern. So ging denn Lissa, in schwarz gekleidet und weinend, in Begleitung ihrer Mutter hin und verlangte die Auslieferung von Fers Leiche. Sie seien verlobt gewesen, sagte sie. Keiner erhob dagegen Einspruch, obwohl alle, die Fer näher kannten, wussten, dass das nicht wahr sei. Doch wussten auch alle, dass Lissa die einzige gewesen war, nach der er an diesem letzten Sonntag ver-
langt hatte, außer den Leuten vom Verband, mit denen er Sachliches zu erledigen hatte.
Am Nachmittag waren die Straßen der Stadt vollkommen still. Alle saßen zu Hause. Nur in der Werksiedlung standen kleine Häuflein Menschen zusammen und unterhielten sich. Der Gouverneur hatte die Miliz wieder mobilisiert, und die Truppen waren schon am Nachmittag eingetroffen. Im Krankenhaus warteten noch immer besorgte Angehörige der Opfer, um ihren Besuch zu machen oder Nachrichten einzuholen. Dick Durgan, Hoskins, Roger und die übrigen Reporter marschierten einfach hinein und wurden in einen Krankensaal geführt, wo Leichtverwundete lagen.
Drei ganz junge Burschen lagen da mit verbundenen Köpfen und Armen. Sie hatten nicht gestreikt, sie hatten bloß zugesehen, und das war der Grund, warum die Krankenhausdirektion es den Reportern gestattete, mit ihnen zu reden. Die Geschichte, die sie erzählten, war aber die allerschlimmste. Sie hatten keine Süppchen zu kochen, keinen Grund zu Übertreibungen. Sie waren einfach vorbeigekommen und blieben stehen, um zuzusehen.
„Der Sheriff hat das Kommando ,Feuer' gegeben." „Ich hab die rauchende Pistole in seiner Hand gesehen. Ich hab die Polizei knallen gesehen. Die Leute rannten in alle Richtungen."
„Leistete jemand Widerstand?"
„Nein, keiner hat sich gewehrt. Sie sind nur gerannt.'" „Sie haben einfach in die Menge hineingeschossen. Keiner hatte ihnen was getan." „Gab es irgendeinen Tumult?"
„Nein, nichts. Sie haben bloß ,Pfui' geschrieen, wie das die Streikposten immer machen."
„Und dann sind wir eben auch gerannt, und dann haben wir was abgekriegt."
„Es heißt, den Vater Del Evans' haben sie von so nahe angeschossen, dass sein Anzug ganz verbrannt war."
Seit Jahren war in einem Arbeitskampf kein solches Blutbad angerichtet worden.

 

XXVI. KAPITEL

In dieser Nacht starb Dan Trent. Roger ging früh am Morgen zu den Eltern Trents. Der alte Trent war nicht zu Hause. Er war lange Jahre Friedensrichter gewesen und kannte jeden einzelnen der jungen Arbeiter des Betriebs. Immer hatte er sie zu Mäßigung und legalen Methoden ermahnt, aber den Streik hatte er unterstützt. Frau Trent war allein im Hause, nur drei Enkelkinder spielten unbekümmert in einer Ecke der Küche. Im Herd brannte ein Feuer. Das Zimmer war ausgefegt und sauber gemacht. Frau Trent war früh aufgestanden, um das Haus für den Besuch des Todes vorzubereiten.
„Ich möchte, dass er hierher gebracht wird. Bei den Wilcox war er ja doch bloß Zimmermieter. Es ist richtig und passend, dass er nach Hause zurückgebracht wird. Er war ja erst ein Jahr fort. War noch nicht lange verheiratet. Er ist der Jüngste. Ich will, dass er zurückgebracht wird."
Frau Trent war klein von Wuchs, verhalten, eisern in ihrer Selbstbeherrschung. Sie sprach ruhig. Dann hob sich ihre Stimme, noch immer verhalten, aber fürchterlich in ihrer Intensität.
„Wenn Sie wissen wollen, wie mein Rob gestorben ist, gehen Sie nur zu seinem Bruder Jim. Jim war dabei, als sie Rob erschossen haben. Ich hab ihn sterben
gesehen. Ich war bis zum letzten bei ihm. Er hielt meine Hand bis ans Ende fest. Jim wird Ihnen erzählen, wie sie die andern umgebracht haben. Er hat auch gesehen, wie sie den alten Jolas mit dem Gummiknüppel geschlagen haben, als er schon gefesselt war."
Roger ging zum älteren Trent hinüber. Jim Trent war einer der wenigen Spinnereiarbeiter, die ein eigenes Haus besaßen. Die Trents waren als Familie etwas besser gestellt als die andern. Sie waren alle dunkle, energische Männer, klug und leidenschaftlich. Jim Trent hielt sich im Hinterhof seines Hauses auf. Sein jüngerer Bruder Joe und einige Nachbarn waren bei ihm. Über sein Gesicht rollten dicke Tränen, er aber wusste gar nicht, dass er weinte. Vom Hinterhof hatte man Aussicht auf die Berge. Die rote Straße, die am Haus vorbeiführte, war verlassen. Eine unnatürliche Stille in der Werksiedlung. Der kleine Klumpen Trauer in Jim Trents Hinterhof stach scharf ab von der Stille des Tages, von der schönen und friedlichen Landschaft.
„Erst haben sie ihn mit Gas geblendet. Er war da draußen mit den Streikposten. Der Sheriff sagte, wir sollten auseinander gehen, und dann warf er eine Gasbombe, und Robert griff mit der Hand an die Augen, und dann hörte ich einen Schuss, aber ich konnte nicht sehen, wer geschossen hat. Robert fiel hin, ich fing ihn in den Armen auf. ,Mit mir ist’s aus, ich bin erschossen', sagte er zu mir. Es war von Anfang an keine Rettung für ihn, er musste verbluten."
„Hat er sehr gelitten, Jim? Haben sie ihn gut gepflegt?"
„Ich denke schon, dass sie getan haben, was sie nur konnten. Das Blut ging durch alles durch. Sie konnten die Blutung nicht stillen."
„Die Lucy hat es von Anfang an gewusst. Sie war seit dem Streik immer in einer Angst. Als ob sie gewarnt worden wäre."
„Rob hat von Anfang an nicht viel Glück gehabt", antwortete Jim.

Lichter brannten in der Werksiedlung im Osten Altstonertons. Die Lebenden machten den Toten ihre Aufwartung. Die Lebenden fuhren in Autos und machten seltsame Besuche. Ein ständiger Strom von Besuchern machte ,Besuche', bei den Thorns, bei den Evans, bei Jolas, beim jungen Robert Trent. Drei Männer lagen tot, mit klaffenden Wunden im Rücken. Einige Schüsse waren aus so großer Nähe abgegeben worden, dass im ärztlichen Attest die Kleider als verbrannt und die Haut als geschwärzt angegeben waren.
Die ganze Werksiedlung ging die Männer besuchen, die vom Sheriff Isaac Cooney und seinen Leuten bei der, Auflösung der Streikpostenkette vor der Basil-Schenk-Manufaktur niedergeschossen worden waren. Außer den Toten gab es noch zwei tödlich Verwundete, fünfzehn hatten Verletzungen, die ihre Überführung in das Krankenhaus erforderlich machten, und noch etwa ein Dutzend hatten leichte Verletzungen erlitten. Die Leute in Ost-Stonerton sagten ruhig:
„Ich möchte nicht in den Schuhen des Sheriffs stecken."
Duncan hatte Roger aufgefordert, zum Totenbesuch mitzugehen. Dewey Brison lenkte den Wagen. Del Evans und Poddy Smithson waren mit dabei. Sie rasten im Dunkeln steile Abhänge hinunter. Roger wusste nicht, wohin sie fuhren, er erkannte die Straßen nicht, die Dewey hinuntersauste.
Sie fuhren zu den Trents. Das Zimmer war voll von stillen Besuchern und solchen, die Totenwache hielten. Leute kamen leise herein und gingen wieder hinaus. Frauen saßen am Herd, die Hände vor dem Gesicht, während der Strom der Besucher schweigend am Sarg vorbeidefilierte. Im Nebenzimmer unterhielt man sich leise. Das hier war kein gewöhnliches Leichenbegängnis. Das hier war keine gewöhnliche Trauer. Hier war ein Mord geschehen, ein kaltblütiger Massenmord an vielen Menschen, deren einziges Verbrechen darin bestand, dass sie für ihre Forderung nach etwas besseren Lebensbedingungen gestreikt hatten. Dafür lagen sie nun tot, und die ganze Werksiedlung kam zu Besuch.
„Das ist ein schlimmer Tag", sagte jemand leise. „Wir sind noch nicht am Ende", kam die Antwort. Keiner sprach von Rache, keiner drohte. Es herrschte eine Unheil verkündende Ruhe. Ein großer alter Mann, ein Freund des alten Trent, bemerkte vielsagend: „Rob hat noch drei Brüder am Leben." Die waren alle drei da, Jim, Joe und Luther. Roger und seine Gefährten verabschiedeten sich von den Trents. Das sonnenverbrannte, runzlige Gesicht der alten Frau Trent bewahrte die Ruhe. Sie hatte keine Tränen. Aber irgendwo außer Sicht weinte Lucy Trent. Lucy Trent wusste nichts von den Besuchern. Sie wusste nur, dass ihr blutjunger Mann tot war.
Der Wagen umrundete dunkle Ecken und erkletterte zerklüftete senkrechte Bergabhänge. Vor dem Evansschen Haus war die Straße so steil, dass sie die Räder des Autos blockieren mussten. Auf der Veranda lag ein Haufen selbstgewundener Dahlienkränze. In der Stube lag der ermordete Sam Evans. Man nannte ihn den alten Evans, obwohl er nur fünfundfünfzig Jahre alt war. Er hatte sein ganzes Leben in den Spinnereien gearbeitet,
davon achtzehn Jahre für die Basil-Schenk-Manufaktur. Jetzt hatte ihn der Sheriff getötet.
Männer kamen und gingen. Alle Mitglieder von; Sanis Loge kamen und gingen wieder. Sie sahen ihm in das ruhige, tote Gesicht und dachten daran, wie fest er an den Verband geglaubt hatte und auch daran, wie herzlich er lachen konnte. Auch jetzt noch lagen feine Linien des Humors um seinen gutgezeichneten Mund, der immer so gerne gelächelt hatte. Er hatte sein ganzes Leben lang gearbeitet und seine Söhne und Töchter zur Arbeit erzogen. Er war ein guter Freund und ein guter Nachbar gewesen. Die Leute hatten ihn gerne. Liebe, Anhänglichkeit und Kinder, das war alles, was der alte Evans in seinem Leben angesammelt hatte. Sonst besaß er nichts. Ein Leben voller Mühsal hatte ihm Tag für Tag einen spärlichen Lebensunterhalt verschafft. Jetzt aber hatten sie ihn ermordet.
Aus dem andern Zimmer, der ,Wärmestube', kam monoton und fürchterlich die Klage der Frau Evans. Während der Agonie ihres Mannes war sie ganz benommen gewesen, jetzt aber war sie zusammengebrochen. Roger ging mit noch einigen andern in die ,Wärmestube', wo ein Feuer im Herd brannte. Frau Evans saß zwischen zwei Freundinnen und sah erst starr vor sich hin. Dann zuckte plötzlich ihr Kopf in den Nacken, ihre langen, knochigen Hände krampften sich vor ihrem Gesicht zusammen, die Sehnen in ihrem Hals schwollen hervor und die hohen schrillen Töne der Trauer, die Klagelaute der Verwaisten der Berge durchschnitten die Stille. Die Besucher murmelten mitfühlend:
„Es ist gut, dass sie weint."
„Ja, es ist gut, dass sie weinen kann. Besser, dass sie weint, die Arme, als dass sie dasitzt und stiert, wie die ganze Zeit, seit Sam hinüber ist. Sie bat zwei Tage und
zwei Nächte bei ihm gesessen und sich nicht gerührt, sie hat nicht gesprochen, nichts gegessen."
„Sie hat so dagesessen, bis er hinüber war." Die Besucher kamen und gingen, ein steter Strom unterdrückter Wut. Keiner von ihnen konnte das Weinen der Frau Evans wieder vergessen, und ihre Augen versprachen, dass ihr Kummer nicht vergeblich sein sollte.

Um Jolas flossen keine Tränen. Dort schliefen die Leute in der ,Wärmestube'. Binney und ihre zwei Schwestern und das Kind ihrer verheirateten Schwester schliefen alle in einem Bett. Erst zwei Wochen vorher war Binneys verheiratete Schwester mit ihrem Kind nach Hause gekommen. Ihr Mann hatte sie verlassen. Dort lagen die Töchter Victor Jolas' von Kummer erschöpft. Die Besucher erzählten einander im Flüsterton vom Tod des Jolas.
„Sie haben ihn geschlagen, da er schon gefesselt war. Man hat ihn gefesselt auf den Operationstisch gelegt."
„Der Sheriff sagt, Jolas hat ihn mit seinem Stock bedroht."
Victor Jolas litt an Rheumatismus, hinkte und musste sich immer auf einen schweren Stock stützen.
Dann kam immer wieder, am Ende des Gesprächs: „Er war gefesselt, als sie ihn auf den Operationstisch legten."
„Ja, er ist in Fesseln gestorben."
Der Tod hatte in Victor Jolas' Haus alle Türen geöffnet. Heute brauchte er nicht mehr seine Armut stolz zu verbergen. Die Familie hatte nichts, denn Jolas war kränklich gewesen und hatte nur wenig verdient.
Die Mädchen waren noch zu jung. Die einzige erwachsene Tochter hatte ein Kind.
Jeder, der wollte, konnte sie hier zusammengepfercht sehen, für den Augenblick entrückt in die barmherzige Bewusstlosigkeit des Schlafs. Binneys spitzes Gesichtchen war schärfer denn je, nahm sich zerknüllt im Bett noch kleiner aus denn je.

Jetzt waren die Thorns an der Reihe.
Bei Thorns war eine große Menschenmenge. Ein großes Kommen und Gehen von Menschen. Leute kamen zu Fuß, um Fer noch einmal zu sehen. Sie kamen auch in Autos. Große Haufen selbstverfertigter Kränze aus Herbstblumen türmten sich auf. Berge von Kränzen lagen um Fers Sarg. Alle führenden Männer und Frauen des Verbands hielten bei Fer die Totenwache. Sie saßen still auf Stühlen im Kreis und wachten bei Fer. Sie würden die ganze Nacht da sein, einige würden nicht schlafen, sie würden warten. Um Mitternacht würden neue Wächter kommen, um die Ehre zu haben, bei dem Toten zu wachen.
Lissa saß neben Fer. Sie sah größer und älter aus in ihrem schwarzen Kleid. Ihre dunklen Augen widersprachen den kindlichen Umrissen ihres Gesichts, ihre tiefe, volle Stimme ihrer Jugend. Es war die Stimme einer reifen Frau, die mit den Lippen eines Kindes sprach.
Sie fand einen gewissen Trost in dieser Maskerade. Für sie war es fast Wirklichkeit, die einzige Wirklichkeit, die ihrer Liebe zu Fer beschieden war. Für den Augenblick gehörte sie in den Augen der Werksiedlung zu Fer, wie sie es sich gewünscht hätte, zu ihm zu gehören.
Es waren nicht die Thorns, die diese List vor-
geschlagen hatten. Evans und Dewey und andere Führer des Verbands waren darauf gekommen. Jetzt marschierte die ganze Werksiedlung durch die sauberen Zimmer der Thorns und setzte sich einen Augenblick in der ,Wärmestube' nieder, wo Frau Thorn, ebenfalls schwarz gekleidet, am Feuer saß.
Roger stand da und sah Fer lange an. Schon schien er fern und unwirklich. Er hatte jenes wächserne Aussehen des Todes, das die Menschen mit Frieden verwechseln. Lissa sagte leise:
„Fer wusste immer, dass es so kommen würde."
„Ja", sagte Roger, „ich glaube auch, dass er es gewusst hat."
„Dewey sagt, als ihm die Jungs von der Arbeitsniederlegung erzählten und sagten, dass sie ihn mithaben wollten, da hat er sie ganz komisch angesehen."
„Er hat nicht gezögert", sagte Roger.
„Fer hat es gewusst. So oder so, es musste kommen. Er hat es immer gewusst. Er war halt so, er wusste, dass er gehen muss."
Roger überkam eine eigenartige Gewissheit, dass dem wirklich so war. Schon damals, als er aus dem Norden kam, hatte es Fer gewusst. Schon in den ersten Tagen des Streiks hatte es Fer gewusst und hatte, die Augen von seinem Schicksal abwendend, sehnsüchtig nach dem Norden geschaut. „Ich wollt, ich war im Norden. Ich wollt, ich wär im Norden, wo ich die Leute kenne", hatte er gesagt.
Roger konnte sich an die Sehnsucht in seiner Stimme erinnern. Doch hatte er nie daran gedacht, wirklich nach dem Norden zurückzukehren. Er war geduldig den langen Weg gegangen, der ihn hierher führte. „Wo ist Irma jetzt?" fragte Lissa. „Irma und Doris sind im Norden, sie sammeln Geld",
antwortete Roger. Es war sonderbar, dass Irma nicht hier war. Irma wäre ohne Zögern ins Feuer gegangen. Sie hätte sogar eine finstere Genugtuung dabei empfunden. Fer hatte keine Genugtuung gefühlt, nichts von Märtyrerglorie gespürt. Für ihn war das Getötetwerden ein Teil der Tagesarbeit. Man ließ sich eben töten, wenn es sein musste.
Roger stand neben Lissa. Die Werksiedlung zog ernst am Sarg vorbei, einer nach dem andern nahm Abschied von dem toten Burschen. Räder knarrten, Bremsen quietschten, die endlose Reihe der Freunde hatte Zuwachs bekommen. Jeder einzelne Bewohner der Werksiedlung war in dieser Nacht auf Totenwache, auf Totenbesuch.

 

XXVII. KAPITEL

Am Tage der Beerdigung sagten Augenzeugen vor dem Untersuchungsrichter über die Vorfälle aus, die sich bei der Schießerei zugetragen hatten. Das Gericht in Ost-Stonerton mit den beiden hohen Säulen und der hohen Treppenflucht war von Spinnereiarbeitern dicht besetzt, ein Saal voll von amerikanischen Arbeitern, die fast alle mit den Toten oder den tödlich Verwundeten im Krankenhaus blutsverwandt oder wenigstens befreundet waren.
Als Roger hineinging, traf er Del Evans und Dewey.
„Wir kommen aus dem Krankenhaus", sagten sie. „Cuthbert ist heute morgen gestorben."
„Jetzt ist es zu spät, um ihn noch mit den andern zu begraben. Es ist schade."
Roger war auch im Krankenhaus gewesen und war mit den Angehörigen Cuthberts zusammen eingelassen
worden. Cuthbert war nicht bei Bewusstsein. Er war ungewöhnlich schön, sein dunkles Haar war aus der Stirne gestrichen, auf Hals und Wange hatte er je eine kleine Warze. Er hatte immer zwölf Stunden täglich gearbeitet und darum auch dem Verband zwölf Stunden
am Tag gewidmet.
Frau Cuthbert saß neben ihm. Sie sah viel zu jung aus, um seine Mutter sein zu können. Sie saß da, gefasst, und wartete darauf, ihm irgendeinen Dienst erweisen zu können. Sie hielt sich den Schmerz so lange fern, solange er am Leben war. Sie selbst schien in große Ferne vom Leben gerückt. Die Intensität ihrer Ruhe hatte etwas Religiöses an sich, als hielte sie irgendeine übernatürliche Kraft' aufrecht. Jetzt war auch sein Leben ausgelöscht, der einzige Mann, auf den sich Frau Cuthbert stützen konnte, lag tot, erschossen.
Fünf Männer waren tot, einer lag im Sterben. Sheldon, der Untersuchungsrichter, ein Mann in mittleren Jahren, ziemlich elegant, mit schweren Lidern, stellte nachlässig Fragen. Ein rothaariger, feuerköpfiger Anwalt von kleinem Wuchs platzte mit Fragen heraus wie eine Knallbüchse. Die Anwälte der Werkdirektion waren fähig und schneidig. Rappalye, einer der schärfsten Kreuzverhörspezialisten des Nordkaroliner Justizbetriebs, ein schlanker, vornehmer Herr mit Hängeschnurrbart und fanatischen, tiefliegenden Augen, setzte den Zeugen unbarmherzig zu. Seine Fragen stachen zu wie Klingen. Otis Bingham sagte aus, er habe gesehen, wie der Sheriff und seine Leute hinter den fliehenden Streikenden herschossen, die, vom Tränengas geblendet, zu entkommen trachteten.
„Ich sah den Sheriff Isaac Cooney den Jolas mit der linken Hand festhalten und ihm seine Pistole in den Leib abschießen", bezeugte ein Streikender, namens
Russell. Es war das ein untersetzter, rötlich-blonder Mann mit breiten Schultern und lang herunterhängenden Armen. Er stand fest auf beiden Füßen und sah den Juristen mit klaren, blauen Augen an.
Das böswillige Kreuzverhör erschütterte ihn nicht in seiner Aussage. Flink wie eine Schlange versuchte Rappalye ihn durch seine Stimme, durch Hinweis auf Gerüchte, durch Unterstellungen zu unterminieren.
Noch nie hatte Roger einen so glänzenden und so unmenschlichen Versuch gesehen, die Rechtschaffenheit eines Menschen zu untergraben. Auf die Feststellung der Wahrheit kam es dabei überhaupt nicht an. Es war ein Versuch, den Zeugen einzuschüchtern und zu verwirren. Ein erfahrener und geübter Menschenschinder führte hier seine Kunst an einem ungelernten Fabrikarbeiter vor.
Die Vernehmung Russells war der Triumph des einfachen, nur mit der Wahrheit gewappneten Mannes. Mit sicherem Fuß schritt er über alle Fußangeln und Fallen, die man ihm stellte. Immer wieder sprach er die Wahrheit aus, so wie er sie gesehen hatte.
„Hat nicht Minish den Jolas erschossen und haben nicht Sie den dabei benützten Revolver aufgehoben?"
„Nein, Herr! Cooney hat Jolas getötet! Ich stand vielleicht zwei Meter weg. Es war so."
Inmitten einer lautlosen Stille zeigte Russell mit dem Finger auf die Beamten, die auf die unbewaffnete Menge geschossen hatten. Die Leute im Gerichtssaal reckten die Hälse, um besser zu sehen.
„Cooney hat geschossen. Ich hab's gesehen. Die Streikenden haben keinen einzigen Schuss abgegeben. Wie Cooney den Jolas losließ, fiel er hin. Dann hat der Sheriff angefangen, auf die Streikenden zu schießen. Die rannten alle weg."
Die Arbeiter im Saal begannen zu flüstern. „Na ja, wir hatten ja keine Schießeisen! Wir haben von Anfang an niemals Schießeisen zum Streikpostenstehen mitgenommen."
Es wurde festgestellt, dass die Streikenden keinerlei Waffen bei sich geführt hatten, als die Schießerei ausbrach. Walter Minish bezeugte als nächster, dass der Sheriff Victor Jolas festgehalten und erschossen hatte. Minish war ein langer Kerl, mit grob behauenen Gesichtszügen. Er stand auf, zeigte mit dem Finger auf den Sheriff und rief mit tiefer Überzeugung:
„Das ist der Mann, der unsere Leute erschossen hat!" Während der Zeugenaussagen lehnte der Sheriff bequem in seinem Stuhl zurück. Er war ein großer, starker Mensch mit rotem Gesicht und schwerem Unterkiefer. Neben ihm saßen noch einige verhaftete Polizeibeamte, Wally Stoop und Abe Bland. Der Sheriff sprach von Zeit zu Zeit mit ihnen, lächelte und legte dabei seine große dicke Hand vor den dicklippigen Mund. Dann lehnte er sich wieder zurück, machte sichs unbekümmert bequem. Sein Betragen drückte aus, dass ja einem Hüter der Ordnung, der seine Pflicht so tapfer getan hatte, doch nichts passieren könne. Was er sich schon aus der ganzen Sache mache! Einem Sheriff geschehe ja doch nichts. Ihm auch nicht.
Bei der Gerichtsverhandlung wurde er freigesprochen, mit der richterlichen Begründung, als Hüter des Gesetzes habe er das Recht gehabt, zu jeder zur Aufrechterhaltung der Ordnung ihm nötig erscheinenden Gewaltanwendung zu schreiten.
Als Lonny Cones als Zeuge, allen giftigen Verwirrungsmanövern zum Trotz, bekundete, dass er den Sheriff rufen gehört hatte: ,Schießt sie nieder, Jungs!', da lächelte der Sheriff Isaac Cooney. War es ein Gefühl
der Sicherheit, fragte sich Roger, oder Stumpfsinn, oder Prahlerei?
Alle Führer der Streikenden waren wegen Aufruhr und Revolution gegen den Staat Nordcarolina' verhaftet worden, darunter Dewey Brison, Del Evans, alle Trents, alle Cuthberts, alle Cathcarts. Sie wurden dann gegen Sicherheitsleistung auf freien Fuß gesetzt.

Die Vernehmungen wurden pausenlos fortgesetzt. Sie wurden fortgesetzt während des Begräbnistages und darüber hinaus noch mehrere Tage. Das Beweismaterial häufte sich. Der Vormittag des Sonnabends war ganz ausgefüllt von der ruhigen selbstsicheren Aussage Ned Stolls. Die Verteidiger des Sheriffs und seiner Getreuen hellten ihn an, versuchten ihn einzuschüchtern, zu verwirren. Es gelang nicht. Ruhig, sicher, ohne Pose erzählte er, was er gesehen hatte. Er hatte Cooney und seine Leute am Fabriktor stehen gesehen. Er sah den Sheriff eine Tränengasbombe werfen. Das war das Zeichen zu den Zusammenstößen. Bis dahin war alles ruhig gewesen. Sam Evans hatte gesagt:
„Sheriff, wirf mir das Zeug nicht in die Augen!" Jolas hob den Arm mit dem Stock —, den er wegen seines Rheumatismus immer bei sich trug —, um seine Augen zu schützen. Der Sheriff nahm Jolas am Kragen, und einer seiner Leute, Wally Stoop, spritzte Jolas das Tränengas in die Augen.
An diesem Sonnabend waren schon von überall her Berichterstatter und Pressephotographen eingetroffen. Das lange Kreuzverhör war ermüdend, die Bedrängung der Zeugen durch die mit allen Hunden gehetzten Anwälte war kaum mehr zu ertragen.
Ed Hoskins und Roger gingen mit einem Journalisten in den Wandelgang hinaus. Hinter dem Gerichtssaal führte ein Hinterausgang ins Freie, so dass sie sich nicht durch die Menschenmenge zu drängen brauchten. „Glauben Sie, dass sie diese Kerle frei ausgehen lassen?" fragte Fallowes, der Journalist. „Nachdem sie doch die andern zu zwanzig Jahren verknallt haben?" „Selbstverständlich lässt man sie frei ausgehen. Kein Sheriff wird in dieser Sache verurteilt werden."
Seltsamerweise lagen für die Erschießung Fer Deanes keine Zeugenaussagen vor. Er hatte in einiger Entfernung vom Sheriff und seinen Leuten ein wenig abseits gestanden. Lissa war nicht weit ab. Das Tränengas war überall und Fer sagte:
„Mir scheint, ich bin getroffen." Dann fiel er ganz
still hin.
Dewey hielt ihm den Kopf und versuchte, ihn aufzuheben, aber er war schon tot. Ob der Schuss ein zufälliger gewesen wie die andern Schüsse, die so viele verwundet hatten, oder ob jemand absichtlich auf Fer gezielt hatte, konnte nicht festgestellt werden. Fer hatte außerhalb des Geplänkels gestanden, das Victor Jolas und Evans das Leben kostete.

Ein kleiner, geckenhaft gekleideter Mann stand da und wischte sich den Schweiß von der Glatze. Sein Gesicht war fast purpurfarben. Eine Uhrkette umspannte seinen runden Bauch. Er hatte winzige, wunderschön beschuhte Füße, verhältnismäßig breite Schultern und einen großen Kopf. Eine lächerliche, wichtigtuende kleine Gestalt. Er trat an den Journalisten heran.
„Sie sind Herr Fallowes", sagte er. „Sie sind aus dem Norden. Ich denke, Sie werden bestimmt beide Parteien
in dieser Sache anhören wollen. Ich bin Schenk. Ich kann Ihnen einwandfrei nachweisen, dass diese Leute sich alles selbst zuzuschreiben haben. Ich weiß, Sie wollen beide Parteien anhören. Ich weiß, Sie wollen fair sein. Sind Sie fair, so müssen Sie den Rädelsführern die Schuld geben. Dieser Duncan hat schon vor zwei Wochen den Zeitungen ein Interview gegeben und gesagt, es würde Zusammenstöße geben. Es ist sogar versucht worden, mein Herr, mich dazu zu zwingen, gewisse Leute wieder einzustellen, die den ganzen Betrieb zersetzten, die Hetzer und Unruhestifter waren." „Mit dem Verband haben Sie nicht verhandelt, Herr Schenk, nicht wahr?"
„Ein Verband existiert ja gar nicht!" rief der. „Es gibt überhaupt keinen Verband hier. Nur ein Haufen Anarchisten und Hetzer, die die Leute an der Nase herumführen. Die Basil-Schenk-Manufaktur hat überhaupt erst den Wohlstand dieser Stadt begründet! Wir haben vor zwölf Jahren den Betrieb vergrößert und umorganisiert, haben noch einmal soviel Arbeiter eingestellt als früher und haben die Herstellung von Autobezugstoffen aufgenommen. Nie hätten wir Schwierigkeiten zu haben brauchen. Und jetzt das! Sind Sie fair, dann werden Sie verstehen, dass die Leute nur selbst an allem Schuld tragen. Sie können gehen, wohin Sie wollen, Sie werden finden, dass sich die Basil-Schenk-A.-G. hinsichtlich der Arbeitslöhne und der Arbeitsbedingungen mit jedem andern Betrieb getrost messen kann. Die Arbeiter brauchten ja nicht hier zu arbeiten, wenn dem nicht so wäre. Das leuchtet ohne weiteres ein. Alles ging gut, bis dieser überführte und verurteilte Mörder Deane aus dem Zuchthaus herauskam." Die Purpurfarbe seines Gesichts wurde immer dunkler, und er wischte sich unaufhörlich den Schweiß ab. Seine Hände zitter-
ten, aber er stand auf seine kleinen Füße hingepflanzt da und baute um sich herum eine unwiderlegbare Verteidigung auf.
Es war ihm ganz klar, warum fünf Männer tot und einer im Sterben lagen, und warum es so viele Verwundete gab.
„Der Sheriff und seine Leute haben nur ihre Pflicht getan", wiederholte er fortwährend. „Wollen Sie fair sein, wollen Sie fair sein, werden Sie das begreifen. Ich möchte es mit Ihnen in aller Muße bereden. Ich möchte Ihnen von den Dingen erzählen, die skrupellose Außenseiter in dieser Stadt angestellt haben."
Er hatte kein Wort des Bedauerns über den Tod der Männer oder über das Schicksal ihrer Familien gesagt.
Er sah nur eins.
„Der da ist das Sprachrohr aller wohlhabenden Leute in Stonerton", sagte Hoskins. „Im Villenviertel glaubt jeder, was Basil Schenk sagt. Sie mögen sagen, dass sie den Tod dieser Ermordeten bedauern, aber sie stehen alle solidarisch hinter Schenk; alle Kaufleute, alle Geschäftsleute, alle Leute, die diesseits der Werksiedlung wohnen, und alle ihre Freunde. Die öffentliche Meinung, die etwas zu sagen hat, die öffentliche Meinung, die das Geld hat, die die Zeitungen, die Schulen, die Wirtschaft beherrscht, wird ganz genau das glauben, was Basil Schenk glaubt: ,Die Arbeiter haben alles nur sich selbst zuzuschreiben'."

 

XXVIII. KAPITEL

Die grauen Särge der Ermordeten standen aneinandergereiht, von Herbstblumen, weißen und roten Dahlien bedeckt. Die Kränze hatten die Spender selbst gemacht, die Blumen in ihren herbstlichen Gärten selbst
gepflückt. Wer keinen Garten hatte, machte einen Kranz aus Papierblumen.
Die Reihe des Todes war lang. Da lag Ferdinand Deane, der als Knabe in den Spinnereien gearbeitet hatte, früh in den Verband eingetreten war, an die Solidarität geglaubt und versucht hatte, die Arbeiter der Textilindustrien zu Gewerkschaftsverbänden zu organisieren. Er war neunundzwanzig Jahre alt geworden. Das war seine Lebensgeschichte.
Der nächste: Victor Jolas, siebenundsechzig Jahre alt. Er hatte sechzig Jahre in der Spinnerei gearbeitet. Er hatte das Kommen des großen Aufschwungs in Piedmont erlebt. Er hatte eine Familie großgezogen, sie teils sterben, teils sich in alle Winder zerstreuen gesehen. Sein Anteil an der Prosperität war der Tod gewesen.
Dann war Sam Evans da, mit sechsundfünfzig Jahren ein Greis. Seine Lebensgeschichte glich der von Jolas. Er war glücklicher gewesen, hatte starke Söhne um sich her.
Der junge Trent, dreiundzwanzig Jahre alt, jung verheiratet, schön, heiter, voller Hoffnung und Glück am Anfang seiner Laufbahn stehend. Er hatte vorerst alles; Jugend, Frohsinn, Liebe.
Vier offene Särge standen aneinandergereiht. Alle waren sie grau und alle mit Blumen und Kränzen bedeckt. Oben im Krankenhaus lag noch der tote Cuthbert; Cuthbert, der achtzehn Jahre alt war. Das war der Preis, der für die Organisation bezahlt werden musste, das Ende des langen Kampfes. Man wurde von der Hand des Gesetzes durch Erschießung vom Leben zum Tode gebracht.

Die offenen Särge standen vor der Rednertribüne auf dem Gelände der zweiten Zeltkolonie, wo die Arbeiter bei ihren Versammlungen und beim Volksfest ihren Rednern gelauscht hatten. Auch heute sollte eine Versammlung stattfinden. Auf der Rednertribüne stand ,Textilarbeiterverband von Amerika' mit hohen, roten Buchstaben angemalt. Dann waren noch Fahnen der Gewerkschaft da. Keine amerikanische Nationalflagge. Bei den früheren Versammlungen war immer eine amerikanische Flagge mit dabei gewesen.
Randolph Gaylord, der aus dem Norden zum Begräbnis gekommen war, hatte gesagt: „Wozu zum Teufel brauchen wir hier eine amerikanische Flagge?" Das war bei einer Zusammenkunft in Jim Trents Haus, wo ein halbes Dutzend Verbandsfunktionäre die Einzelheiten der Beerdigung besprachen.
„Nein", sagte Del Evans, „ich denke, wir kommen diesmal ohne amerikanische Flagge aus."
Die andern hatten stumm dazu genickt. Die amerikanische Flagge schien den Streikenden ein Hohn, wo doch alle zum Betrieb führenden Straßen von Militär besetzt waren. Wo doch ihre Freunde und Angehörigen tot dalagen, vom Sheriff in den Rücken geschossen, vom Sheriff, der das Gesetz repräsentierte und den sie selbst für sein Amt mit gewählt hatten.
Vor der Rednertribüne, hinter den Särgen, stieg der Hügel sanft bergan, von Kiefern beschattet. Eine natürliche Bühne, ein natürliches Amphitheater war hier geschaffen. Eine rote Straße führte unweit unter der Rednertribüne am Gelände vorbei. Sonst ein stiller, verlassener Ort, war die Straße jetzt verstopft von Autos und Lastwagen, die von nah und fern Leute zum Begräbnis gebracht hatten. Stand man am Abhang mit dem
Gesicht zur Rednertribüne, sah man die Berge in nicht: zu großer Ferne.
Hinter den blumenüberhäuften Särgen saß auf Stühlen eine Reihe von fünfzig Menschen: Männer, Frauen und Kinder. Sie waren alle in tiefes Schwarz gekleidet. Ein breiter, schwarzer Trauerrand hinter den Särgen. Das waren die Angehörigen der Ermordeten, ihre Schwestern, Mütter, Frauen und Verwandte. Sie saßen da, manche trockenen Auges, viele weinend. Am schattigen Abhang standen über tausend Menschen, ein Auditorium abgearbeiteter Gesichter. Sie kamen, mit ihrem ärmlichen Sonntagsstaat angetan. Ruhig standen sie da, als wollten sie sich photographieren lassen, diese ,fügsamen, hundertprozentig amerikanischen' Arbeiter. Sie büßten jetzt dafür, dass sie es gewagt hatten, gegen die ,Streckung' zu rebellieren, gegen den zwölfeindrittelstündigen Arbeitstag und den durchschnittlichen Wochenlohn von zwölf Dollar.

Da lagen ihre Toten in einer langen Reihe als Warnung für die andern, als ein Wahrzeichen dessen, was amerikanischen Arbeitern widerfährt, wenn sie aufhörten, ,loyal und fügsam' zu sein.
Die Blumenmädchen umringten die Särge, brachten Kränze. Sie hatten weiße Baumwollkleider mit breiten baumwollenen Armbinden an, auf denen in roten Lettern ,Ordner' stand. Sie sammelten eich vor der Tribüne, und ihre durchdringenden und doch unsicheren, dünnen Stimmen erhoben sich im Lied ,Näher, mein Gott, zu Dir!' Von der Reihe schwarzgekleideter, trauernder Frauen kam der leise, feine Laut verhaltenen Weinens und der schrille Klagelaut der Trauer. Sie waren lange still gewesen. Das stille Weinen wurde unbeherrschter, das hohe Klagen lauter. Die ganze Zuhörerschaft schaukelte im Takt. Ein fürchterlicher Protestlaut des Schmerzes hallte vom stillen Berghang wider. Einen Augenblick vermischte sich der dünne Faden des Gesangs mit dem Weinen der Männer und Frauen.
Duncan gab von der Rednertribüne aus ein Zeichen. Die Mädchen hörten mit dem Gesang auf. Kummer fegte wie ein Wind durch die Anwesenden. Dann wurden die Trauernden ruhiger. Die Mädchen stimmten eines der Lieder von Mamie Lewes an. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder in der Gewalt hatten. Aber die schwarze Reihe war nie ganz still. Man sah Frau Evans, von Tränen geblendet, vom Schluchzen geschüttelt, unbeherrscht. Binney saß da, ihr kleines, spitzes Gesicht war bleich, ihre Augen zeigten tiefe Schatten und schienen ganz groß. Der Schlaf hatte sie nicht erquickt. Ihre Augen blickten erschrocken, als sähen sie irgend etwas Grauenhaftes, das sie nicht glauben konnten. Auch die junge Lucy Trent weinte, es war der hohe Klagelaut, der rituelle Schmerzensruf der einfachen Leute vor dem Angesicht des Todes.
Es war ein seltsames Begräbnis, mehr eine Demonstration als eine Trauerfeier. Es sprachen mehrere Prediger und viele Leute vom Verband.
Trauerreden. Bruder Williams, der bärtige Wanderprediger der Berge, Verbandsfunktionäre aus dem Norden und aus Stonerton, mit den Arbeitern sympathisierende Geistliche aus dem Norden —, alle sprachen von derselben Plattform.
Nur ein einziger Prediger vom Ort war da. Seine winzige Kirche stand in Ost-Stonerton, aber nicht auf werkeigenem Grund und Boden. Auch wurde sie ohne finanzielle Hilfe der Unternehmer von den eigenen Pfarrkindern ärmlich erhalten. Das war der einzige
Geistliche des Südens, der auf der Rednertribüne stand. Er war gekommen, die Toten zu bestatten.
Es war ein seltsames Begräbnis. Die Worte der Redner waren für diese Zuhörerschaft keine leeren Worte mehr. Es war, als hätten Schmerz und Entsetzen das Bewusstsein dieser Zuhörerschaft bloßgelegt. Jedes ausgesprochene Wort fand Widerhall bei den Zuhörern, als antworteten sie stillschweigend mit dem Versprechen: ,Diese Männer sollen nicht vergeblich gestorben sein!' Das war das Leitmotiv aller Ansprachen. Was konnten sie denn sonst auch sagen? Diese Männer waren genau so für die Organisierung der Arbeiter gestorben, wie Männer auf dem Schlachtfeld ihr Leben für ihr Vaterland lassen. In diesem Augenblick war der Verband das Vaterland aller dieser hier versammelten Menschen. Ein anderes Vaterland hatten sie nicht.
Es war, als hätten die Pistolenkugeln ein Loch in das Bewusstsein dieser Menschen geschossen. Dieses Begräbnis auf einem entlegenen Berghang Nordcarolinas war nicht isoliert. Es war, als seien alle Textilarbeiter Piedmonts und des ganzen Südens mit dabei. Gab es denn an diesem Tag im ganzen Süden einen einzigen Textilarbeiter, der nicht von diesen Toten sprach? Wo waren die Leute, die heute nicht mittrauerten um ihre ermordeten Brüder?

Diese Menschen hörten nicht oberflächlich zu, sondern mit einer unheimlichen Intensität, als wären sie selbst, die Redner, die Toten und der Verband ein und dasselbe. Sie waren in einer Gemütsbewegung, die sie aus sich selbst hinausschwemmte, hinaus in die Welt aller Arbeiter, die, gleich ihnen, für ihre Befreiung kämpften. Roger schien es, als wäre neben dieser Zuhörerschaft,
die er sah, noch eine andere hier zugegen, ein unsichtbares Heer der Arbeiter Amerikas, die heute an diese Ermordeten dachten, und der Arbeiter anderer Länder, die auch gelitten und auch ihre Toten vor sich liegen gesehen hatten —, eine mächtige Armee.
Etwas Seltsames geschah hier auf diesem Berghang. Unausgesprochene Versprechen wurden an diesen offenen Särgen gegeben, für die Toten einen Verband aufzubauen, und unausgesprochene Gelöbnisse, sie nie zu vergessen — unausgesprochene Versprechen der Rache. Diese von den Schlotbaronen durch die Hand der Hüter des Gesetzes Ermordeten würden die Fabrikarbeiter des Südens nie vergessen. Nur eine siegreiche Organisation, ein Verband war das ihrer würdige Denkmal, das ihnen gesetzt werden sollte.
Bruder Williams betete. Er kniete auf der Rednertribüne nieder, streckte die Arme aus wie am Kreuz, schloss die Augen ganz fest und hob das Gesicht gegen den Himmel.
Die Spannung wuchs zusehends. Roger fasste den phantastischen Gedanken, dass hier ein Sakrament der Rache empfangen wurde, nicht jener Rache der Kugel für die Kugel, sondern des Rechts und der Menschenwürde gegen die erdrückende Macht des Geldes.
„Oh", sagte Prediger Williams, „unsere Toten liegen hier vor uns. Oh, Herr, sieh herab auf diese unsere ermordeten Brüder." Seine Stimme hob und senkte sich. Es war ganz gleich, was er sagte. Er redete jetzt die Sprache ihrer Gefühle, er entfesselte die Erregung, die sich in der Zuhörerschaft aufgespeichert hatte.
Sie antworteten ihm: „Ja, Bruder". „Wahr Bruder", und die Frauen und Männer beugten wieder ihre Köpfe
in Weinen. Kummer fuhr durch die Anwesenden, wie ein starker Wind.

Jetzt kam Bewegung in die Menge. Eine schmale Gasse öffnete sich, und eine Frau und noch eine Frau in Schwarz kamen langsam heran, auf den Arm einer Freundin gestützt. Die Frau bewegte sich wie ein Mensch, der kaum imstande ist, sich auf den Beinen zu halten, wie ein Nachtwandler, als wäre sie von Unwirklichem umgeben.
Es war die Mutter Cuthberts. Er war ganz früh am Morgen gestorben, und sie war jetzt hier, als begrüben sie auch ihn im Geiste gemeinsam mit seinen Genossen. Man brachte ihr einen Stuhl, sie sank langsam darauf nieder und sah starr vor sich hin wie Binney, als staune sie über den Anblick. Ihr Kommen verschärfte und konzentrierte den Schmerz der andern, die erschüttert neben ihren Toten standen.
Die Reden waren vorbei. Die Mädchen mit den Armbinden sammelten sich vor der Rednertribüne, um zu singen. Die Zuhörerschaft stimmte mit ein. Sie sangen lange. Dann war auch der Gesang vorüber. Die ganze Gesellschaft von tausend Personen zog langsam einzeln an den Toten vorbei. Jeder Mann und jede Frau und jedes Kind sah ihren vier ermordeten Arbeitsgenossen ins Gesicht. Aus der Mitte der Versammelten begann ein langsames Sickern. Die anderen warteten still, bis die Reihe an sie kam. Langsam, ohne Ende, defilierten sie an den Toten vorbei. Kein Laut war zu hören, als sie langsam, ganz langsam vorbeizogen und jeder jedem der vier Toten ins Gesicht sah.
Es war totenstill, als Binney an den Särgen vorüberging-
Sie hielt vor jedem Sarg an und berührte leicht die Stirn der Toten. Sie beugte sich zu ihrem Vater nieder und küsste ihn. Still, gesammelt, noch immer wie eine Nachtwandlerin ging sie weiter.
Aber Lucy Trent verlor völlig die Herrschaft über sich. Sie hatte zwei Tage lang neben ihrem sterbenden Mann gesessen, ohne eine Träne zu vergießen. Jetzt weinte sie vor der versammelten Arbeiterschaft der Werksiedlung ihren Schmerz laut hinaus, und alle weinten mit ihr. Endlich gingen die Leute in kleinen Gruppen langsam fort.
„Das ist noch nicht das Ende von dieser Sache", sagten Männer ernst zueinander.

Die roten Löcher in der Erde waren aufgefüllt. Hügel roter Erde wurden über die Toten aufgehäuft. Schwarzgekleidete Menschen standen um die Gräber herum. Sie weinten, als über jedem Toten einzeln nacheinander die Abschiedsworte gesprochen wurden. Der Friedhof in Ost-Stonerton war voll, fast die ganze Versammlung war da.
Dann war alles vorüber.
Fer war nicht mit den andern bestattet worden. Sein alter Vater war zur Trauerfeier aus dem Norden gekommen. Fer sollte auf einem Friedhof Neu-Englands bei den Leuten begraben sein, unter denen er aufgewachsen war. Fers Vater wohnte bei den Thorns und behandelte Lissa, als wär sie seine Tochter. Sie hatten einander gern.
Roger, Del Evans und Dewey Brison gingen schweigend zusammen fort. Dann sagte Dewey:
„Ich wollte, Fer wäre hier bei uns geblieben, anstatt dort im Norden begraben zu sein. Er war ein großer
Mann. Wir Textilarbeiter des Südens sollten ihm ein
großes Denkmal errichten."
Del Evans sagte: „Ja, er war ein großer Mann."
Sie waren Fers Leibwächter gewesen in der ersten
Zeit und hatten Nacht für Nacht mit ihm im selben
Zimmer geschlafen, um ihn zu beschützen.
Schon hatte der riesige Bogen der Ereignisse Ferdinand Deane auf das Piedestal eines großen Helden gehoben. Aber er war kein Held gewesen. Roger und Del Evans und Dewey Brison wussten, dass Fer, der für den Verband gelebt und gekämpft hatte und für den Verband getötet worden war, ein ihnen selbst sehr ähnlicher junger Bursche gewesen war. Jetzt, dachte Roger, war Fer schon eine Legende. Sein lebendes Andenken war schon im Erlöschen.
Er war noch nicht unter der Erde, und schon war der lebende, atmende Fer mit seinen Fehlern, seinen Unsicherheiten und seiner Güte vergessen. Er war schon ein großer Mann, ein Held. Nicht einmal in Irmas Gedanken würde er wirklich bleiben. Nicht einmal in Rogers Gedanken. Sie würden von ihm reden und ihn idealisieren und daher auslöschen und an seine Stelle einen unwirklichen Helden setzen, einen Inbegriff aller Tugenden, die Fer nicht besessen hatte.
Rogers Herz krampfte sich in plötzlichem Schmerz zusammen. Was hatte das alles für einen Sinn? Hatte es einen Zweck, dass Menschen kämpften, hatte es einen Zweck, gegen die ungeheure Maschine des Reichtums anzurennen?
Sieben Leben geopfert, vielleicht noch mehr. Frauen und Kinder aus ihren Heimen gejagt. Was hatte es genützt? Diese Leute, die gekämpft hatten, hatten sie etwas gewonnen?
Die Werkdirektion ließ anschlagen, dass der Arbeitstag ein wenig gekürzt, der Lohn um ein Weniges erhöht worden sei. Wog das all diesen Schmerz, all diesen Kummer, all diese Anstrengungen auf, an dessen Ende
der Tod stand?
Dewey sagte: „Also von jetzt ab bauen wir den
Textilarbeiterverband auf."
„Ja", sagte Del, „wir wollen Solidarität in den ganzen Süden bringen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir müssen den Verband machen."
„Ja, damit sie alle, und auch Mamie Lewes, nicht umsonst gestorben sind. Wir müssen weitermachen."
„Ja", dachte Roger. „Das ist die Antwort: wir müssen weitermachen. Wir können nicht umhin. Diese Burschen sind ein Tröpflein im fließenden Strom der Arbeiter, Sie haben keine Wahl. Sie müssen weitermachen."
Aber auch er, Roger, musste weitermachen. Er hatte die eigene Klasse verlassen — zu der Klasse der Arbeiter würde er niemals gehören. Er war jetzt ohne Vaterland, und doch wusste er, dass er mit den Arbeitern gehen musste, wohin sie auch gingen, welchem Ziel sie auch zustrebten.