Vorliegendes Buch ist nicht das Produkt eines Schriftstellers, sondern die Arbeit eines werktätigen Proleten. Von den wenigen Mußestunden und Energien, die das tägliche Schuften für den Unternehmer im Zeitalter der Rationalisierung dem Arbeiter noch übrigließ, wurde mühevoll Zeit und Kraft gestohlen, um das Vorhaben auszuführen. Über ein Jahr, auf Schritt und Tritt Bleistift und Briefblock in dauernder Bereitschaft, in der beklemmenden Enge einer Einzimmer-Untermieterwohnung, frühmorgens vor dem Weg in den Betrieb, nach Arbeitsschluss an allen unmöglichen Orten, in Kneipen und Speiseanstalten, in Wartesälen auf Bahnhöfen, bis spät in die Nacht hinein, die Nächte hindurch, zehn, zwölf und noch mehr Stunden ohne Unterbrechung, — so sind diese Seiten zustandegekommen.
Parteiarbeit, Sport, Spiel und sonstige Bedürfnisse haben vielfach zurückstehen müssen.
Ob der Wert des Buches die verwendete Arbeitskraft aufwiegt, muss der Leser entscheiden. Es wäre nicht schwierig gewesen, dem wirklichen Erleben mit etwas Phantasie nachzuhelfen. Biese Art zu schreiben will ich jedoch den wirklichen Künstlern oder den Schmierfinken der Schundliteratur überlassen, und deshalb habe ich mich wahrheitsgetreu an die Geschehnisse meines Lebens gehalten.
Warum habe ich geschrieben? Erinnerungen gibt es doch schon mehr als Pfennige in der Mark. Aber ihre Verfasser sind Generale, Könige, Kapitalgewaltige, Staatsmänner oder Abenteurer. Sie reden nicht von den Dingen, die den Arbeiter bewegen. Nicht von dem ungeheuren Druck der Sielen, worin der Prolet, verachtet von den Nutznießern seines Fleißes, sein Leben verbringt. Sie reden in dem Trugschluss, ihre Machtprivilegien seien das Fundament der Weltgeschichte. Komfort ist ihre Kultur, Heuchelei ihre Moral. Noch umspielt das sanfte Meer der Duldsamkeit das freche Schiff dieser
Piraten, aber es kommt die Stunde, wo ein brausender Sturm dieses Meer bewegt und gewaltige Wellen das Schiff verschlingen.
Um mitzuhelfen, die Duldsamkeit zu brechen, — darum habe ich geschrieben. Nicht für Literaten und Schwärmer, sondern für meine Klasse. Wenn ich auch vielfach abenteuerliche Begebenheiten schildere, so wird der Leser doch erkennen, dass die Ursache des Erlebens durchaus nicht Sensationslust war, sondern der leidenschaftliche Zusammenprall zwischen dem starren System so genannter Ordnung und der Tatauswirkung einer sozialistischen Ideenwelt.
Ist das Leben des Einzelnen in der großen Masse auch nur von geringer Bedeutung, so bringt es doch Erfahrungen, die ausgewertet werden können.
Wenn erst alle Proleten aus den Erfahrungen, die sie gemeinsam machen, die richtigen Folgerungen ziehen, so werden sie sich bald zum gemeinsamen Handeln entschließen. Und das bedeutet den Sieg des Sozialismus!
Am 28. August 1898, an einem Sonntagabend, erblickte ich zum ersten Mal das Licht. Es war das Licht einer alten Petroleumlampe. Ich glaube, meine Mutter hatte zu dieser Geburt an einem Werktage keine Zeit. Auch der Umstand, dass ich nicht, wie die meisten Menschen unserer Zone, in einem Bett, sondern auf kahlen Dielenbrettern neben einer uralten Kommode geboren wurde, spricht dafür, dass meine Mutter auf das Ereignis keinen großen Wert legte. Es ist auch nicht anzunehmen, sie habe mich aus Aberglauben an einem Sonntag auf diesen Planeten gesetzt, um mich den Glücksgöttern als Sonntagskind zu empfehlen; das wäre Gotteslästerung gewesen, ich hatte nämlich vor der Geburt schon riesiges Pech gehabt. Fünf Monate früher, am 31. März, war mein Vater gestorben, und das einzige, was er meiner Mutter hinterlassen hatte, war — ich. Herzlich wenig für die Tochter eines Bauarbeiters, der schon in seiner Jugend einen Hering mit sieben Geschwistern teilen musste. Lange wollte sich meine Mutter durch mich nicht von ihrer Arbeit abhalten lassen, und so strich sie am Ende meiner ersten Lebenswoche von der Frima „Bertram, Sämereien en gros" in Stendal doch noch den Lohn für einen Arbeitstag ein.
Mein Großvater soll damals zu meiner Mutter gesagt haben, seine Frau sei immer schon am dritten Tag nach einer Geburt wieder „ins Heu" gegangen. Das war natürlich geschwindelt, denn bei Bismarcks in Schönhausen, wo meine Urgroßeltern mütterlicherseits wohnten, ist der erste Schnitt im Juni und der zweite im August-September, und dann geht man bis zum nächsten Sommer nicht wieder ins Heu. Und ich weiß, dass ein Onkel von mir seinen Geburtstag mit furchtbarem Klamauk am 27. Januar feierte.
Ü berhaupt nahm es mein Großvater mit der Wahrheit nicht so genau. Das brachte ihm auch den Spitznamen: Pastor-Müller ein.
Er hatte aber noch einen anderen Namen bekommen: die letzten Jahre vor seinem Tode hieß er Rentier-Müller. 1916 ging es infolge der Kriegsschweinerei mit seiner Gesundheit schnell zu Ende. Er konnte wegen des ewigen Kohldampfs nicht mehr arbeiten. Die Leute fragten ihn, warum er nicht arbeite, und er schwindelte kräftig drauflos, „er habe es jetzt geschafft und wolle nun als Rentier leben". Und während ich in Magdeburg auf dem Anger mit einer 10,5 cm-Steilfeuerhaubitze durch den Sand ackerte und bei: „Kanoniere in die Räder!" den Schweiß literweise durch sämtliche achtzehn Flicken meiner Drillichhose schwitzte, verhungerte in Stendal, 60 km nördlicher, langsam aber sicher mein Großvater. Im Herbst wurde er begraben.
Von meinem Vater weiß ich sehr wenig zu sagen. Als Schlosser kam er aus dem Osten zugereist, arbeitete in Magdeburg bei „Gruson", lernte meine Mutter kennen, siedelte nach Stendal über und baute bei „L. C. Arnold" Eisenmöbel in Akkord. Er ist nach den Reden meiner Mutter ein fleißiger Mann gewesen. 10 Stunden und mehr Schufterei in dem Arnoldschen Sanatorium für Schwindsüchtige und solche, die es werden wollen; dann Gartenbau und Kleintierzucht; Schuhe besohlen für Kundschaft usw. Daraus musste todsicher etwas „herausspringen". Jawohl, es sprang etwas heraus; aber nicht der ersehnte Wohlstand, sondern eine Lungenschwindsucht.
Die Jahre bis zur Wiederverheiratung meiner Mutter müssen für mich sehr hart gewesen sein. Meine Mutter arbeitete; eine alte gichtkranke Frau war meine Wärterin. Unzählige Mal wurde ich der Polizei als vermisst gemeldet. Meinen neuen Vater lernte ich mit 3 Jahren kennen. Seiner ersten Versuche, mir verwildertem Lümmel einige Manieren beizubringen, kann ich mich noch dunkel entsinnen. Mein Stiefvater war Zigarrenmacher, und diese gehören zu den aufgeklärtesten Arbeitern. Der Kampf, den der Klassenbewusste Arbeiter damals gegen die verspießte Umwelt, gegen die fest verwurzelte Clique um Magistrat und Polizei führte, war unglaublich mühsam. Die Altmark gilt noch heute als schwarzer Winkel, und so mancher Tapfere hat hier für langwierige zähe Arbeit nur die geringsten Erfolge buchen können.
Wahrscheinlich verlangte es meinen Vater nach einer freieren Luft; er siedelte bald nach Hamburg über, wo er bei einer Zigarrenfabrik als Heimarbeiter eine Anstellung fand. Trotz meinen 7 Jahren hieß es hier fest zupacken. Das war für mich eine wahre Qual und lief meinem Plan, recht viel im Hafen herumzustrolchen, zuwider. Ein Grauen kroch mir den Rücken herauf, wenn mein Vater mit weitgespreizten Fingern in die Tabakkiste griff und gelassen sagte, als wolle er damit die Geringfügigkeit der Arbeit beweisen: „Wenn das fertig ist, hast du Feierabend." Aber aus Erfahrung wusste ich, erstens: dass dieser riesige Blätterhaufen, der zu „strippen" war („strippen" heißt die Mittelrippe aus jedem einzelnen Tabaksblatt herausziehen), bei sehr flotter Arbeit nur noch höchstens zwei Stunden Spielzeit bis zum Abendessen übrigließ, zweitens: dass mein neuer Vater in nichts unzuverlässiger war als im Halten seines Versprechens. Meist gab es, nach anfänglich erteiltem Pensum, noch etwas zu tun. Es war ein stetiger Kampf zwischen uns. War der Haufen zu groß und auch bei intensivster Arbeit keine Aussicht vorhanden, noch etwas freie Zeit herauszuschlagen, so brachte ich etliche Kniffe in Anwendung, um das ersehnte Ziel doch noch zu erreichen. Ging mein Vater für einen Moment aus dem Arbeitszimmer, so packte ich einen Teil wieder zurück in die Kiste, schüttelte den Haufen aber kräftig auf, damit er dieselbe Größe behielt. Eine Stunde oder mehr war für mich gewonnen. Oder ich pfuschte wild drauf los, wenn sich die Möglichkeit bot, die gestrippten Blätter unter die von meiner Mutter gestrippten zu mischen, um den Pfusch meiner Mutter anzuhängen.
Es scheint bei den schlechtbezahlten Heimarbeitern die Notwendigkeit vorzuliegen, von dem anvertrauten Material etwas zu verschieben. Je nachdem es gelang, bei der Abrechnung, das Gewichtsmanko zu decken, konnten in der Woche, bei 2500 bis 3000 Zigarren, 100 oder mehr verschoben werden. Eines Tages war der Krach da, der Fabrikant gab keinen neuen Tabak und meine Heimarbeit war vorläufig zu Ende.
Mein Vater und meine Mutter gingen nun beide außer Haus arbeiten. Das war für mich eine herrliche Zeit. An einem Bindfaden hing um meinen Hals der Wohnungsschlüssel, und nach der Schule stob ich ins Freie. Fast jeden Tag führte mein Weg zum Hafen. Unwiderstehlich zog es mich dorthin, das Schuhwerk ging dabei zum Teufel, denn von Wandsbek hin und zurück sind es etliche Kilometer, aber es lohnte sich doch, denn nicht selten gab es irgendwo irgendwas zu erwischen. Natürlich steckten es einem die guten Hamburger nicht selbst in die Taschen, man musste auch etwas dazu tun. Ich lernte von anderen ungeheuer viel hinzu. An den verbotenen Stellen war das meiste zu holen. Dieses Prinzip trug uns (wir arbeiteten selten allein in dieser Branche) den Neid aller möglichen Beamten zu.
Einmal saß unsere Kolonne oben am Bismarckdenkmal, wir verzehrten soeben gemeinsam eine Kiste „Ia prima Fettbücklinge" und ein Weißbrot. Durch den Geruch dieser Delikatessen angelockt, erschien bald ein Schutzmann. Trotzdem wir die Bücklingsschalen fein säuberlich in die Kiste zurücklegten, donnerte uns ein scharfes Kommando: „Mal sofort verduften mit der Schweinerei hier!" entgegen. Jeder Befehl ist heilig, wenigstens was das Verduften anbelangt. „Halt, die Kiste hierher", lautete der weitere Befehl. Dem Polizeimann war das Wasser im Munde zusammengelaufen beim Anblick unserer guten Fettbücklinge; er schluckte es deutlich hinunter und sagte kameradschaftlich: „Kinder, seid vernünftig und gebt die Bücklinge her." „Ne, de könnt Se nich äten, de sünt geklaut", war unsere Antwort, und ab ging es in Richtung Reeperbahn. Fast täglich stand ich Punkt 6 Uhr abends bei „Reichard, Schokoladenfabrik, Wandsbek". Der Weg bis zur Volksdorfer Straße reichte bequem aus, um die von meiner Mutter durch die Kontrolle geschmuggelte Schokolade zu verzehren.
In Hamburg war es nicht möglich, einen ausreichenden Verdienst zu erlangen, darum verzogen wir nach Geestemünde. Dort wohnte ein Bruder meiner Mutter. Arbeiter. Fünf Kinder: Karl, Heini, Sophie, Tilly, Hermann, in einer elenden, verräucherten Küche um einen Riesentopf mit Pellkartoffeln versammelt, in der Pfanne für 10 Pfennig Speck, nach dem lukullischen Mahle alle in 3 Betten verschwindend, damit das teuere Petroleum nicht unnütz verbrennt, — das ist die Familie Baake. Die ersten Tage wohnten wir dort, das war ein tolles Durcheinander. Kurz vor der Abreise von Hamburg war mein Bruder Hans geboren worden. Auch eins von den Baakes war noch sehr klein, also waren zwei Schreihälse da. Ich weiß noch heute, wie verhungert die ganze Familie war. Die Mahlzeiten bekamen oft einen dramatischen Anstrich. Unter den Kindern wachte eins streng aufs andere, dass jedes genau den gleichen Teil bekam. Um den Knochen, der selbstverständlich schon ohne Fleisch ins Haus gekommen war, kam es dann zu einer wütenden Schlägerei. Der Küchenschrank, fest verschlossen, war einmal gewaltsam erbrochen worden; da der Vater am Abend vergeblich nach dem Täter forschte, nahm er sich die drei ältesten über das Knie, mit dem Leibriemen gab es eine Tracht Prügel und als Zusatzstrafe kein Abendbrot.
In der Mainzer Straße hatte mein Vater eine 4-Zimmerwohnung gemietet, nicht zu groß zum Wohnen, wohl aber zum Bezahlen. Nach drei Monaten übersiedelten wir wegen Mietschulden in die Grüne Straße. Dort ging die Heimarbeit wieder los. Ich muss meinen Vater noch heute bewundern, wie er in diesen Verhältnissen die Energie aufbrachte zu solcher ausdauernden Arbeit. Nie ging er vor 12 Uhr nachts schlafen. Meine Mutter desgleichen, und für mich gab es keine Freizeit mehr. Der Arbeitsraum war entsetzlich eng. Mein kleiner Bruder Hans saß den ganzen Tag in dem dunstigen Raum. Es war wirklich kein Wunder, dass er kurze Zeit darauf diese schäbige Welt wieder verließ. Das war sehr schlau gehandelt, wie mein
Vater damals sagte.
Auch diese Stellung wurde bald wieder geräumt. Nun ging’s nach Leherheide, etwa 10 km nördlich von Geestemünde gelegen. Ein Dorf, längs einer Straße gebaut, mit vielen neuen Häusern. In einem von diesen hatten wir unser Quartier aufgeschlagen. Obgleich von hier bis zum Fischereihafen mindestens 3 Stunden zu laufen war, musste ich doch mit einem Korb dorthin, um für 10 Pfennig Abfallfische zu holen. Spät abends langte ich an solchen Tagen todmüde zu Hause an.
Eine Seltenheit ist mir von Leherheide noch in Erinnerung. Es gab dort einen riesenhaften Schuttabladeplatz. Als Spezialität lagen hier unzählige alte Stiefel umher, soviel, dass wir wochenlang jeden Tag einen großen Sack davon sammeln konnten. Die Stiefel gaben das Heizmaterial für die Küche ab. So ein Schutthaufen hat es in sich, darum muss man mit einer Hacke kräftig arbeiten, um die verborgenen Schätze zu heben. Wie beim Bergbau, so gibt es auch hier so etwas wie Flöze und Schichten, die mehr oder weniger wertvoll sind. Allmählich sammelt man Erfahrungen und weiß schon auf den ersten Blick, ob sich der Abbau lohnt oder nicht. Da gibt es zum Beispiel Haushaltungsschutt, aus dem sich günstigenfalls ein Knochen herausholen lässt. Besser ist schon der Schutt von Kleingewerbetreibenden. Je nach der Branche ist es hier möglich, Eisen, Zink, Messing, Kupferdraht (dieser ist meistens isoliert) oder Blei zu finden. Alles ist vielfach als solches kaum zu erkennen; es gehört ein scharfes, geübtes Auge dazu. Sogar der Geruch spielt eine Rolle. Schutt aus einer Schlosserei riecht anders als der aus einer Klempnerei. Hat man eine ergiebige Ader entdeckt, heißt es, sie gründlich ausbeuten; man muss darauf achten, dass beim Hacken und Kratzen der wertlose Schutt nicht mit dem wertvollen vermischt wird, — das erschwert die Arbeit wesentlich. Hinzu kommt noch bei starkbevölkerten Plätzen die Konkurrenz, der man standhalten muss. Ist eine günstige Stelle schon öfter durchwühlt, so ist es zwecklos, den Schutt, wenn er auch viel versprechend aussieht, nochmals vorzunehmen. Es gibt hier auch Spezialisten; manche lassen Lumpen und Knochen unbeachtet, viele wollen sich mit Eisen nicht beschweren; andere wieder nehmen alles, auch die wertlosesten Dinge, wie Fassreifen, Regenschirme, Konservenbüchsen, Draht, Sacklumpen, Restteile von Matratzen, verzinkte Eimer usw. mit. Zusammengenommen lässt sich trotz mühsamer Arbeit nicht viel herausschlagen.
Mein Vater hatte sein Handwerk einstweilen an den Nagel gehängt; er arbeitete beim Bau des neuen Kaiserhafens in Bremerhaven. Vielleicht war dies der Grund für einen abermaligen Umzug. Nach Lehe, Wursterstraße 4, einer uralten Baracke, ging diesmal die Reise. Der Umzug vollzog sich bei lausigem Schneewetter. Die wenigen „Möbel", die infolge des ewigen Umziehens ohnehin nicht mehr neu aussahen, bekamen hier den Rest.
An dem Hafen wurde mit Hochdruck gearbeitet, Tag- und Nachtschicht. Bei der Tagschicht musste ich meinem Vater das Essen bringen. Das bedeutete meine Einführung am Kaiserhafen in ähnliche Funktionen wie in Hamburg.
Inzwischen war ich 11 Jahre geworden. Zu meinen Obliegenheiten gehörte auch, den Haushalt mit Heizstoff zu versorgen. Dreimal in der Woche zog ich mit anderen Armeleutekindern los, um dem „Norddeutschen Lloyd" 1/4 Zentner Bunkerkohlen „abzukaufen". Zollbeamte und Hafenbeamte waren gegen diesen Handel. Die Kohlen wurden jedoch dringend benötigt, und so ging der Schmuggel los. Des Abends flitzten wir Knirpse unsichtbar über die Zollgrenze; den Sack sorgfältig um den Leib gewickelt, schlängelten wir uns vorsichtig vorwärts. Kam ein Feind in Sicht, galt es entschlossen zu handeln. Entweder wurde scheinbar der Rückzug angetreten, oder man brach — war das Gelände sonst sauber — einfach durch. Diese letzte Methode brachte den Ordnungshüter jedes Mal in große Wut. Er hopste nervös nach links und rechts, um einen von uns zu erwischen, aber das kam selten vor. Ich selber bin stets mit solcher Sicherheit an diese Situationen herangegangen, dass ich mir bald das größte Vertrauen bei meinen Kollegen erwarb. Überhaupt, unsere Kolonne war eine auserwählte: ausgeschwärmt, 6 bis 8 Mann, stürzten wir dem verblüfften „Putz" in scharfem Tempo entgegen. Die zwei Tüchtigsten und Verwegensten gerade auf den Kerl zu; im letzten Moment stoppten beide ab und jagten links und rechts an ihm vorbei. Hinterherlaufen war vergebens, wir waren die schnelleren. Nun wusste aber der „Putz" sehr wohl, um was es sich drehte, und hatte er noch Lust, folgte er langsam nach zu den Bunkern. Deren gab es an verschiedenen Orten mehrere. Wollte es der Zufall und entdeckte uns der Störenfried auf den großen Bunkern, so war ihm damit noch lange nicht geholfen, denn es wurden immer nur volle Bunker aufgesucht. Wir saßen dann oben auf den Kohlen. Heraufkrabbeln und den vergeblichen Versuch machen, jemand da oben zu erhaschen, ist niemals einem „Putz" eingefallen. Wir haben oftmals stundenlang oben auf den Kohlen gesessen, wenn wir die Genugtuung hatten, dass unten auch gewartet wurde.
Allerdings kann ich mich eines Falls entsinnen, wo uns von mehreren Schutzleuten unten am Bunker aufgelauert wurde. Wir rochen Lunte und berieten oben, was zu tun sei. Mit Kohlen abzukommen war ausgeschlossen, die schon gefüllten Säcke wurden ausgeschüttet. Ich rutschte Patrouille und stellte fest, dass mindestens 6 Schutzleute sich die Aufgabe gestellt hatten, uns endgültig zu erledigen. Nach der Hafenseite wegzukommen war sehr gewagt, denn die Beleuchtung ließ dies nicht zu. Unser Plan war fertig. Wir legten handfeste Brocken Kohle zurecht und eröffneten mit 5 Mann von oben ein mörderliches Feuer auf die dunkelste Seite, die Rückseite des Bunkers. Anfangs rührte sich nichts, aber sehr bald gab es Bewegung da unten. Uns war klar, die Seite war vorläufig frei. Wie verabredet, rutschten 2 Mann blitzschnell hinunter, während wir 5 an den Ecken des Bunkers die Kohlenstücke nur so prasseln ließen. Die zwei kamen durch, an der Zollgrenze leuchteten kurz hintereinander 2 Streichhölzer auf. Dasselbe Manöver wiederholte sich, diesmal kamen .3 Mann durch.
Jetzt erst merkten die Belagerer den Trick, und wir zwei Zurückgebliebenen hörten deutlich die Verfolger hinterhersetzen, laut fluchend über die Frechheit mit dem Schmeißen.
Zu unserem Erstaunen ging die Verfolgung lange Zeit fort. Unsere Kollegen mussten jedenfalls bald auf die Zollgrenze stoßen; dort hieß es, das Hindernis hemmungslos nehmen, oder man geriet, falls die Beamten nicht den genügenden Abstand hatten, in eine ganz verfängliche Lage. Die Zollgrenze bildete ein 3 Meter hoher Lattenzaun, der infolge seiner Dreieckslatten sehr schwer zu ersteigen war. Die drei aufflammenden Streichhölzer blieben aus.
Um den Bunker herum unheimliche Ruhe. Der „George Washington" lag gegenüber am Kai, von dort her jammerte ein Hund. Irgendwo pfiff ein Schlepper durch die Nacht. Wir zwei lagen platt auf den Kohlen, ohne ein Wort zu verlieren. Allmählich schlich sich ein Gefühl des Verlassenseins bei uns ein, wir stiegen hinunter von unserer schwarzen Burg. Auf halbem Wege machte mein Freund halt. „Wollt wi Kohle mit nahm?!" „Jeau Hein!" „Min Modder häd ken Stück mehr to Hus!" Geräuschlos füllten wir unsere Säcke. Links an der Straßenbahn hängend ging's aus dem Hafengebiet heraus. Der Führer musste uns entdeckt haben, er sah in unsere schwarzen Gesichter, wir sagten nichts und sagten doch viel. Vorsichtig fuhr er durch die Kurven. Zu Hause angekommen, konnten wir erfahren, dass alle entwischt waren. Das große Unternehmen der Polizei war also gründlich ins Wasser gefallen. Der Kampf ging noch lange weiter.
Vom Zementtragen kann man, wenn man die Arbeit nicht gewöhnt ist, wunde Schultern bekommen. Für meinen Vater war die Arbeit ungewohnt, daher bekam er sehr wunde Schultern. Nach dem Krankmelden folgte die Arbeitslosigkeit und in diese mitten hinein die Geburt meiner Schwester Lissi.
Unser „Ernährer" tippelte nach Bremen und fand dort als Zigarrenmacher Arbeit. Die Früchte dieser „Existenz" langten bei uns zu Hause in Gestalt von Postanweisungen auf 3, 4, höchstens 7 Mark an. Das langte nicht, die Betten von der Pfandleihe zurückzuholen, ohne gleichzeitig dafür den größten Kohldampf einzutauschen. Mit einer Handvoll Malzkaffee in der Tasche ist es eine Pein, zusehen zu müssen, wie andere Margarinebrote essen. In einer großen Tüte sammelte ich in der Schule während der Pause Brotrinden „für meine Karnickel". Jeder sein eigenes Karnickel. Trocken Brot macht Wangen rot (so stand's in unserem Lesebuch), gibt spitzen Arsch und frühen Tod (das stand bei mir).
In einer Turnstunde prügelte mich der Lehrer die Kletterstange hinauf, soweit er mit seinem langen Rohrstock reichte. Dies wurmte mich furchtbar. Er wusste übrigens, wie gut ich sonst turnte, und schalt mich niederträchtig, faul und widerspenstig. Ich hatte in der Nacht zuvor, in Ermangelung jeglicher Betten, schlecht geschlafen und gefroren und dazu kam ein entsetzlicher Heißhunger. Die paar erbettelten Brotkanten waren nicht dazu geschaffen, mich sonderlich zu stärken. Ich war aus diesen Gründen schlapp wie eine nasse Maus; die Prügel fraßen sich in mir fest. Meiner Mutter erzählte ich davon nichts, sie fragte mich ohnehin oft genug, ob ich Hunger hätte; das diente als Vorwand, mir ihren letzten Bissen abzutreten. Ich verzichtete energisch, obgleich ein Löwenhunger in meinem Magen alles zu zersägen schien.
Für einzelne Bettstücke lief in wenigen Tagen der Termin ab, Verlängerung war nicht mehr möglich; auf der Pfandleihe gab es nur Geschäftsregeln und keine menschlichen Erwägungen. Wann jemals durfte meine Mutter hoffen, die verlorenen Betten durch Neuanschaffungen ersetzen zu können? Für eine proletarische Hausfrau sind das Probleme, viel schwieriger und aufreibender als jene, über denen Generalstäbler oder Gelehrte zu brüten haben. Wer daran zweifelt, hätte meine Mutter sehen müssen, mit großen Tränen in den Augen. Ihr Kind konnte sich an der ausgesogenen Brust nicht mehr satt trinken. „Wenn Papa übermorgen Geld schickt, holen wir das große Oberbett, und zwei Mark bleiben ja bestimmt noch über, aber dann wollen wir uns mal was Schönes leisten!" 2 Mark Kostgeld für die ganze nächste Woche! Der Hauswirt bekommt noch für 2 Monate Miete, der Bäcker pumpt schon lange nicht mehr, der Kolonialkrämer desgleichen.
Bis übermorgen musste ich etwas unternehmen, ich , ich! Ich war dran — los! Meinen kleinsten Beutel rollte ich zusammen, den so genannten Kupfersack, und ohne Hacke zog ich ab. Meine Mutter schob mir nochmals den Teller mit Mehlsuppe hin, — „Junge iss doch!" „Öh, de olle Mehlsupp", erwiderte ich schroff; — wie gern hätte ich sie verschlungen. Straßenbahndepot, nach Speckenbuttel, hinaus aus der Stadt, ging mein Weg. Die Beine wenigstens schritten dorthin, meine Gedanken gingen nicht mit, sie gingen in entgegengesetzter Richtung, zur Hafenstraße, ins Stadtinnere, an den großen Läden vorbei. Beide, Gedanken und Beine, hatten noch kein bestimmtes Ziel. Die Entfernung wurde immer größer zwischen ihnen. Der Speckenbütteler Park war erreicht. Das Wetter war schlecht, fast kein Mensch ließ sich sehen.
Was wollte ich auf diesen aalglatten Wegen suchen? Diese gepflegten, mit rotem Kies bestreuten Wege ärgerten mich ungemein. Einmal drehte ich mich um, ging ein Stück zurück und erschrak über meine eigenen Fußtapfen. Die kleinen Absätze von den Schuhen meiner Mutter, die ich anhatte, zeichneten sich deutlich ab. Sofort schritt ich quer durch die Bäume, bis ich auf eine Wiese hinaustrat; es war die Pferderennbahn. Noch einmal zurückblickend ins Holz gewahrte ich an einem Baum eine Kette, an der ein großes Fangeisen befestigt war. Es steckte nichts darin, außer einem Heringsrest, welcher an beiden Seiten abgefressen war. Vorsichtig brachte ich das Eisen zum Schließen, um es von der Kette loszubekommen. Das war schwer, und erst nach halbstündiger Arbeit wanderte das Ding in meinen Sack und der mit mir zurück in die Stadt.
Aber, o Schreck, der Lumpenhändler wollte nur lausige 10 Pfennig dafür zahlen; meine Weigerung, es für diesen Preis herauszugeben, beantwortete der Gauner mit der Drohung, die Polizei zu rufen; er ahnte wohl die Herkunft der Falle und nutzte das aus. Was nun? Die Hoffnung, für die Beute 50 Pfennig zu bekommen, verschwand, ebenso verschwanden die schönen Dinge, die ich dafür kaufen wollte, wie Brot, Schmalz, Abfallkäse, 1/4 l Milch, die neue Kugelspitzfeder, und schließlich erinnerte mich der dreckige Kerl, dass ich selbst ebenfalls zu verschwinden hätte. Unverzüglich ging ich in den nächsten Bäckerladen, ergriff von einem Regal ein Brot und raste damit wie wild davon. Noch immer laufend stürzte ich in ein Delikatessengeschäft, fasste zwei Büchsen Ölsardinen, und wieder setzte ich durch das Menschengewühl auf der Straße die Flucht fort.
Diese kurzentschlossene Tat kam gerade noch zur rechten Zeit. Die Uhr zeigte 4 Uhr nachmittags; abgesehen von den wenigen Brotrinden, die ich am Morgen in der Schule gegessen, waren es seit der Mehlsuppe von gestern mittag 27 Stunden, dass mein Magen nichts mehr bekommen hatte. Bis zur Dionysiuskirche kam ich noch, dort sank mein Arm wie gelähmt am Körper hinunter, das Brot fiel auf die Erde. Mühsam hob ich es auf, torkelte hinüber an die Kirche, ließ mich dort auf die Türschwelle fallen und hieb auf das Brot ein, wie einer, der 27 Stunden nichts gegessen hat und vordem auf der Speisekarte an drei Tagen das trockene und doch so wässerige Wort „Mehlsuppe" lesen musste. Schon nach den ersten Bissen hob sich mein Befinden.
Den Rest Brot brachte ich heim. Meine Mutter schnitt mit einer wahren Andacht die Schnitten vom Brot, legte Ölsardinen darauf, und wir aßen.
Wir aßen das geklaute Brot. Herr Staatsanwalt, da hätten Sie mit festem Griff zupacken müssen, das war Ihre Pflicht. Jeder hat seine Pflichten! Die elementarste Pflicht eines jeden Menschen ist, seinem Körper Nahrung zu geben. Diese allerheiligste Pflicht bleibt ihm auch dann, wenn Gesetze und Paragraphen dies nicht gestatten.
Noch lange schuftete mein Vater in Bremen für ein paar lumpige Mark, und meine Mutter staunte noch oftmals über das Glück, das sich in den kritischsten Tagen gnädig zeigte und ihren Sohn einen großen „Fund" tun ließ. Meine Mutter nannte das Glück, sie hat nie den Glauben daran verloren. Sie hat wirklich viel für die Erziehung ihrer Kinder getan. Fast immer, wenn ich mit Sack und Hacke loszog, sagte sie: „Dass du dich aber nie an fremdem Eigentum vergreifst! Junge, Junge, mach mir keine Schande."
Unserem Hauswirt war endlich die Geduld gerissen. An eine Zahlung der Mietschulden war nicht zu denken. Ausziehen! Denselben Tanz noch einmal beginnen. Es fand sich für meinen Vater eine Arbeit in Geestemünde. Das bedeutete eine Besserung unserer wirtschaftlichen Lage.
Die Eisengießerei von Achilles, eine düstere, dreckige Bude, machte meinem Vater schwer zu schaffen. Auch ich kam gelegentlich dorthin, überall lag der Staub faustdick. Die Arbeiter schwarz wie die Neger. An den Gießtagen war jedes Mal der Deibel los. Überstunden bis zwei Uhr nachts waren keine Seltenheit. Trotzdem ging die Arbeit am anderen Tage pünktlich weiter. Jeder kann sich denken, wie brutal die Ausbeutung unter solchen Umständen ist. Ich habe später auch in ähnlichen Wühlbuden gearbeitet und weiß, dass das auf die Dauer für keine Natur auszuhalten ist. Mein Vater hielt lange Zeit tapfer durch, bis er infolge gewerkschaftlicher Tätigkeit das Missfallen eines Meisters erregte und dafür „den Sack einstecken" musste. („Sack einstecken" ist ein alter noch heute allgemein gebräuchlicher Zunftgesellenausdruck für Entlassenwerden.)
Nunmehr wurden die Bündel für eine größere Reise geschnürt, es ging zurück nach Stendal. Kurz vorher kam meine Mutter in die Wochen, — mein Bruder Artur gesellte sich zu uns.
In Stendal ging mein Traum, als Seemann die Erde zu umsegeln, in die Brüche. Aus der Schule entlassen, begann meine Laufbahn als Hütejunge (so hieß es wenigstens) bei dem elendesten Kaffer, den die Altmark aufweisen konnte. Das war eine erbärmliche Gesellschaft, so ausgekocht in der Behandlung ihrer Arbeiter, dass mich noch jetzt die Wut packt, wenn ich daran denke.
Am dritten Ostertag in aller Frühe, bei einem richtigen Hundewetter, sockten mein Großvater und meine Mutter mit mir los. Der Sturm fegte uns den Regen ins Gesicht. Bis Jarchau waren es zwei Stunden Weg. Schon nach einer halben Stunde trieften wir wie aus dem Wasser gezogen. Unheimlich heulte es in den Telegraphendrähten, die Chausseebäume bogen sich. Ein Hagelschauer ohrfeigte uns. Auf einem Handwagen zogen wir meinen Koffer mühsam hinter uns her. Das war also mein erster Schritt ins offizielle Erwerbsleben. Ach! beulte doch der Sturm in der Takelage eines Schiffes, anstatt in den langweiligen Drähten.
„ Wo wohnt denn hier Friedrich Möhring?" fragte meine Mutter im Dorfe einen langen Knecht, der unter einem Scheunentor eine Pfeife rauchte. „Der Junge soll woll anziehen da? Na, jute Nacht Marie, in't Fenster liejt't Jeld!" — „Is woll nischt los da?" fragte meine Mutter, nahm ihr Kopftuch ab und drehte einen dicken Strich Wasser heraus. — „Ach du lieber Jott, da is noch keener länger wie 14 Dage jewesen!" lachte der Lange und spuckte links an mir vorbei. — „Nanu, ick denk, se waren alle jahrelang da!" Diesmal spuckte er rechts an mir vorbei. Jawoll, die von de Fürsorje waren jahrelang da, aber frache nich, wie ofte se wechjeloffen sind. Und wenn se fressen, fressen se alleene, der Olle is dick wie'n Amtmann, aba nich von Lappenkohl und von Mehlstippe." Das war der Schluss seiner Rede, und er spuckte über mich hinweg, zeigte mit der Pfeife schräg gegenüber. „Da drüben wohnt die Bagasche" und ließ uns stehen. Ich sagte schrullig: „Wenn det so is, jeh ick nich hin." — „Ach wat." Mein Großvater zog den Handwagen alleine weiter. Im Gänsemarsch langten wir bei Möhring an.
„ Aach, is de man noch kleen", meckerte die Alte. Mein Großvater riss mich raus: „Kleen, aber oho." — „Ach jo, süss is et jo'n janz nett'n Jung'n. Wenner ok willich un' fromm is, mecht't jo joahn." Dann gab es Kaffee und Kuchen. „Immer ät'n Se man, wenner alle is, jiwt mehr. Schmeckt denn de Kaffi? Bi uns jiwt blos Gerst', richtigen kann unse Vata nich' vadragen."
Mein Großvater fragte ebenfalls auf platt: „Wieveel Lü' hem Se denn, Frau Möhring?"
„ Awiel is unse Albert da, dat is min Söen und denn noch Otto, unse Jroßknecht, int Ollendeel wohnt noch 'ne Dachlöhnerfamilje und uns'e Else, wat min Dochter is, helpt ok düchtig mit." „Und wieveel Morjen hem Se denn?" „N'bäten öeber hunnert mit Holt un' Wisch." — „So, so! — Un wieveel Pär?" — „Hans, Lotte, Marsch un Max." — „Un Köh?" — „Acht, un Jungveeh."
Nun wurde die Alte neugierig, sie fragte reichlich und gründlich. Danach verließ sie uns.
„ Ach is das'n Soff; der Kuchen is jut. — Also Junge", belehrte mich mein Großvater, „bei'n Bauern musste fressen, essen, immer essen, nich umkucken an'n Disch, immer rin." Meine Mutter ergänzte: „Wenn der Jroßknecht von'n Disch jeht, musste, jleich mit uffstehn — und immer dreiste zufassen, nich so dumm sind; wenn de irjentwo nich ran kannst, sachste: „Ach jeben Se mich doch mal de Wurscht rüber. Zum Kühhüten wirste woll hier nich viel kommen, denn bei hundert Morjen? — so'n ejener Sohn und so'ne Dochter, die woll'n doch jewöhnlich immer nich viel dun. Na, Junge, versuch mal dein Jlück und-------."
Die Alte kam zurück, hinterher humpelte an einem Krückstock ein kugelrunder, gestiefelter Bauer. „So ein verdammtes Sauwetter, da hätt'n Se doch och morjen komm'n könn'n, so jenau jehts bei uns nich'. Die 20 Daler verdient der Kleene bis Martini immer noch." Nachdem ich mich im Zeil (Pferdestall) häuslich niedergelassen hatte, wurde zu Mittag gegessen. Das erste und zugleich letzte anständige Essen, das mir bei diesem Mistbauer vorgesetzt wurde. „Adschö Junge, sei schön artig und mach' keene Dummheiten."
Nun saß ich da, allein im Pferdestall auf meinem Koffer. Ein Pferd schwenkte unaufhörlich mit dem Kopf von der einen Seite auf die andere, dabei zog es die Halfterkette über den steinernen Krippenrand; diesem Rasseln hörte ich fast eine Stunde zu. Ich kam zuletzt zu der Überzeugung, dass dieses Pferd verrückt sein müsse. Bisher waren mir Pferde ziemlich gleichgültig gewesen. Ein anderes, ein Brauner, stand auf drei Beinen; auch der Gaul kam mir nicht geheuer vor, er bewegte unablässig die Unterlippe, als flüstere er etwas vor sich hin. Kein Mensch kümmerte sich um mich.
Am Abend kam der Großknecht ins Zeil, nahm einen Pferdeeimer, holte Wasser, wusch sich, langte einen alten Kamm aus einer Büchse, kämmte sich mit ausgesuchter Sorgfalt und verbrachte mit dem Ausdrücken von Mitessern eine halbe Stunde. Wie ich später erfahren konnte, füllte er damit die Zeit zwischen Arbeitsschluss und Abendessen aus. Nicht eines Blickes würdigte er mich. Eine kreischende Stimme ließ sich vernehmen: „Otto und der neue Kuhjunge, essen kommen!" Otto spritzte los, ich folgte langsamer nach. Als ich meinen Platz auf einer Bank einnahm und nun getreu den Anweisungen meiner Mutter rasch zulangte, musste ich die erste Spitze einstecken. „Nu kiek't doch blos den kleen Kiekindiewelt, wie de all tolangt, as ha he den janzen Dach plöht!"
Der Großknecht schien überhaupt nicht zu kauen. An dem Kauen gemessen, aß er sehr langsam, scheinbar ohne jeden Appetit, gleichgültig. Er schlang alles hinunter, der Kehlkopf arbeitete angestrengter als die Kinnbacken. Die Brotschnitten verschwanden vom Teller, als wären es Schokoladenplätzchen. Auf einem anderen Teller hatten ursprünglich vielleicht 6—8 Stückchen Sülze und 3 Stückchen Speck gelegen. Kaum dass diese Tatsache mir zum Bewusstsein kam, hatte sich schon alles verändert. Alles schien zu fließen, unsichtbar, aber bestimmt. Die Sülze schmeckte mir gut; schmecken und essen ist aber nicht dasselbe. Auch den Speck hätte ich zu gern einmal geschmeckt, leider war er schon verflossen. Am Ofen auf einer Bank saß die Alte mit einem Strickstrumpf und überwachte uns. Kaum dass die letzte Schnitte Brot den Teller verlassen hatte, stand sie auf und verschwand und tauchte mit einem Teller mit Kuchenstreifen wieder auf. Eine Riesenkanne mit Kaffee, zwei Tassen gesellten sich dazu. Die letzte Brotschnitte erwischte ich, es war die zweite gewesen. Nun würgte ich verzweifelt an der trockenen Schnitte. Die Kuchenstreifen wanderten inzwischen einer nach dem anderen ohne Abstand, als handelte es sich um Fließbandarbeit, in den Rachen meines Kollegen. Als ich die Schnitte verzehrt hatte, stand der Kuchenteller leer da. Kuchen hab ich dann vor Pfingsten nicht mehr gesehen; jedenfalls nicht für mich greifbar. In dem Regal auf dem verschlossenen Kellerboden lagen noch 3 Wochen nach Ostern mehrere große Bleche mit Kuchen.
Das Essen an den Werktagen war skandalös,. Die einzige Nahrung waren Kartoffeln. Es hieß Bohnen, aber es waren Kartoffeln, es hieß Erbsen und schmeckte doch nur nach Kartoffeln, es hieß Linsen, aber nix wie Kartoffeln, nix wie Kartoffeln. Und des Abends gab's wieder Kartoffeln, Pellkartoffeln und Mehlstippe. — außer sonntags. Von Mitte April bis Mitte November jeden Abend Pellkartoffeln und Mehlstippe. Stipp nich to deep, Krischan, et is rein Fett", soll irgendeine alte geizige Bäuerin mal zu ihrem Großknecht gesagt haben. Diesen Ausspruch ersparte sich unsere Alte: in ihrer Stippe gab es keine Spur von Fett. Pellkartoffeln und Mehlkleister. Roggenmehlkleister, ganz vorzüglicher Mehlkleister, das gab's jeden Tag zu fressen. Die 15 oder 20 Schweine haben reichhaltiger und wahrhaftig nahrhafter gespeist. Da gab es neben den Kartoffeln noch Saatkuchen. Magermilch und gestampftes Grünzeug, Roggenschrot und Kleie. Ich muss noch erzählen, dass der Hofhund es überhaupt ablehnte, den Mittagstisch mit uns zu teilen. Bekam er nicht etliche Speckschwarten oder Wurstschalen, Knochen und dergleichen als Beigabe, kroch er in die Hütte und kam nicht mehr hervor.
Doppelt knickerig zeigte sich die Gesellschaft, indem sie für ein Minimum an Essen ein Maximum an Arbeit Verlangte. Mit dem Versprechen, nur als Hütejunge beschäftigt zu werden, wurde ich von diesen Kanaken gekapert, doch habe ich während der ganzen langen Zeit keine 8 Tage gehütet. Wenn die Saatzeit noch als erträglich anzusprechen war, so begann mit der Ernte für mich eine Zeit der Ausbeutung bis zum Verrecken. In der Heuernte dauerte die Arbeitszeit von 1/2 4 Uhr morgens bis 9 Uhr abends. Pausen: 10 Minuten Kaffeetrinken, 10 Minuten Frühstück, 15 Minuten Mittag, am Nachmittag wieder 10 Minuten. Und am Abend, nach dem kurzen Abendessen, standen noch 2—3 Fuhren Heu zum Abbringen bereit. War diese Arbeit auch die letzte, allerletzte, überhaupt mögliche Leistung, nach der man einfach wie ein ausgeblutetes Schwein umfiel, so war sie immerhin noch eine Kleinigkeit gegen dieselbe Arbeit, zur Mittagszeit verrichtet.
Zum Abladen eines Heufuders gehören in einer mittleren Scheune 3 Mann: die Arbeitsteilung dieser 3 Mann birgt in sich einen, leider unvermeidlichen, Fehler. Der Stärkste hat den leichtesten Posten. Aber der Schwächste kann diese Arbeit eben nicht verrichten. Der Stärkste muss vom Fuder abstecken; das ist deshalb leicht, weil er seiner Kraft gemäß das Tempo bestimmen kann und, was von allergrößter Wichtigkeit ist, Luft um sich herum hat. Bei distelhaltigem Heu kommt noch als Vorzug hinzu, dass er die Hände nicht ins Heu zu stecken braucht, sondern nur mit einer Gabel arbeitet. Der zweite Mann steht auf dem Balken und nimmt, ebenfalls mit einer Gabel, das Heu vom ersten Mann ab. Der unglückliche dritte Mann hat selbst von der wenigen Luft des zweiten nichts mehr. Er steckt sozusagen bis über die Ohren im Heu. Er muss alles, was sich ihm in heißen Haufen entgegenwälzt, verstopfen, verpacken, verschieben, verteilen, niedertreten, hochpacken: dabei hat er keinen Boden unter den Füßen, er schwankt einher fast blind vor Staub und Mangel an Licht. Tausend Distelstacheln stechen wie Nadeln auf ihn ein, in den Fingern, an den Armen zwickt's, sticht's, am schweißgebadeten Körper klebt's. Glühend scheint die Luft, nein, der Staub zu sein.
Wer schon weiß, dass Schiefer in der Junisonne so heiß wird, dass man sich bei der Berührung Verbrennungen zuziehen kann, der mag sich mal ausrechnen, welche Temperatur zustande kommt, wenn das Heu fast bis an den Dachfirst reicht und 20 cbm Luft von über 20 qm Heizfläche geheizt werden, an der jeder Punkt so heiß ist. dass er nicht ohne Schmerzempfindung berührt werden kann. Das gibt eine feine Formel für Sozialhygieniker, zumal wenn sie in irgendeinem Ausschuss für Jugendpflege sitzen.
Halb bewusstlos torkelte man da oben herum. Eine Folter sondergleichen. Verflucht sei der Kaffer heute noch. Sich selbst stopfte er den Wanst mit Würsten voll, stellte sich unten mit einer Flasche Bier in der Hand hin und brüllte hinauf: „Du fulet Oas, wist do glieks moaken, dat det hier 'n bäten sneller geit, pass upp, do Strick, wenn ick rupp koom un stäk di mit de Fork in'n Oarsch."
Für 60 Mark und 10 Zentner Kartoffeln Lohn 7 Monate Arbeit! Ich war unterernährt bei 15—20 Schweinen, 8 Milchkühen, Gänsen, Enten und zahlreichen Hühnern! Alle Vorratsbehälter waren fest verschlossen, wahrscheinlich, weil sich diese Bagage selbst nicht vorstellen konnte, wie man bei dieser elenden Kost solche Arbeit leisten konnte. Das verdammte Scheusal von Weib übertraf ihren Alten noch. Sie schüttelte sich selbst vor den Maden auf dem stinkenden Pökelfleisch, das ich sonntags bekam. Aber als ich einmal, von Ekel gepackt, den Löffel in die Ecke pfefferte und wütend brüllte: „Warum fressen Sie denn das Pökelfleisch nicht? Weil Sie wissen, dass Würmer drin sind!" würzte sie mir das Fressen 8 Tage lang mit ihren stichlichen Reden! Der sorgfältig gekämmte Großknecht war zu keinem Protest zu bewegen. Für ihn schien das Problem gelöst; was an Qualität fehlte, ersetzte er durch Quantität und fraß sich abends den Bauch dermaßen voll an Kartoffeln, dass nichts mehr hineinging. Als Fürsorgezögling konnte er mit seinem durch falsche Erziehung vergipsten Gehirn nicht begreifen, warum diese hundsgemeine Behandlung menschenunwürdig war. Bis vor etlichen Jahren setzte es bei den geringfügigsten Vergehen Prügel, nun mochte es ihm ein Fortschritt erscheinen, nicht mehr geprügelt zu werden. Er wurde genau so mit ,Oarschlok' betitelt wie ich und war doch 5 Jahre älter.
Eine Gemeinheit ersten Ranges leistete sich die Alte dadurch, dass sie es nicht für erforderlich hielt, bei meinem Zuzug ein zweites Bett herzurichten. Schmal und dünn, wie das Oberbett war, reichte es nur für den, der es sich gewaltsam aneignete. Dies geschah nun während der ganzen Nacht abwechselnd: wer gerade fest schlief, wurde von dem anderen bemaust, außer an heißen Tagen, da war es umgekehrt. Dieser Wechsel vollzog sich niemals ohne den unvermeidlichen Rippenstoß. Selbstverständlich wurde die Nachtruhe erheblich dadurch gestört. Die Arbeit am anderen Tage war dann doppelt schwer.
Bei dieser Drangsalierung war jede Zerstreuung ausgeschlossen. Otto konnte nicht zweimal in der Woche abends fortgehen, ohne am anderen Tage vom Alten Schimpfereien einstecken zu müssen. Wie viel Lohn er bekam, kann ich nicht mehr genau sagen, doch weiß ich, dass er 100 Taler jährlich nicht erreichte. Für mich gab's überhaupt keinen Vorschuss, in den langen Monaten habe ich nicht einen Pfennig in die Finger bekommen. Wollte aber mein Mitarbeiter Vorschuss, anlässlich einer Festlichkeit oder zum Zigarettenkauf, hatte er das Vergnügen, den Chef untertänigst darum bitten zu dürfen. Je nach dessen höchsteigener Erwägung wurde die Summe auf die Hälfte, ein Drittel oder gar ein Viertel reduziert, nicht selten gab es gar nichts. Dann zog sich mein Otto still in den Pferdestall zurück, nahm seinen Kamm aus der Büchse, kämmte sich sorgfältig und ging ins Bett. Der Alte dagegen lebte einen feinen Tag. Jeden zweiten Abend holte ich vom Schuster 12 Flaschen Bier, an besonders heißen Tagen auch 20. Den Kognak kaufte er sich selbst, wenn er in die Stadt fuhr. Die Tochter, ein hochnäsiges dummes Ding, gab sich alle Mühe, ihrer Mutter in nichts nachzustehen. Der Sohn Albert machte in vielen Dingen eine rühmliche Ausnahme. Wahrscheinlich, weil er auf seinen Vater schlecht zu sprechen war; der Alte ließ ihm keine Handlungsfreiheit. Jede, Arbeit, die er selbständig verrichtete, missfiel dem Alten. Er schimpfte tagelang über die geringsten Verfehlungen, aber auch über tadellos ausgeführte Arbeiten spektakelte er, wenn sie nicht auf seinen Vorschlag ausgeführt wurden.
Ein Ereignis wurde die Getreideernte: dicke Flaschen mit Kaffee, ein Korb mit Brot, Sülze, Speck, Eiern und richtigem Schinken. Schinken, Schinken!
Schinken is en feinet Essen, ick habe zwar noch keen jejessen, aber meines Freundes Bruder Freund, der hat mal neben en jesessen, der hat en sehn Schinken essen.
Warum plötzlich diese Wandlung in der Speisenfolge? Nun muss allerdings gesagt werden, dass es allgemein Sitte ist, bei der übermäßig schweren Erntearbeit einen guten Happen aufzutischen. Ferner machte sich zur Saison die Einstellung von Schnittern und Schnitterinnen notwendig. Nach außen Eindruck schinden, ist meistens die Manier derjenigen, die kein reines Gewissen haben. So auch hier. Übrigens würde sich eine schlechte Kost am besten dazu eignen, die Leute in den nächsten Jahren fernzuhalten. In der Getreideernte sind die Arbeiter den Bauern und Gutsbesitzern noch etwas wert, während sie sonst nur als lästige Mitesser betrachtet werden.
Ü berall in weiter Runde tönt das klingende Söngsöng, Söngsöng des Sensenstreichens. Eine Sense, die zu stumpf ist, kann dem Arbeiter genau so zur Last fallen wie eine, die immer scharf bliebe. Gleichzeitig wie die Sense stumpf, wird der Arbeiter schlapp, dann richtet er sich auf, streicht mit der Hand den Schweiß von der Stirn, hebt den Kopf, um den Wind aufzufangen, nimmt aus dem Stiefel oder dem Futteral an der Sense den Streicher und zieht im rhythmischen Takt erst kurz über die Spitze, dann lang bis an den Bart, und wieder taucht er unter, hinein in die heißen Halme. Die Beine weit gespreizt, in halb gebückter Haltung, zieht er mit jedem Hieb 25 cm ab von dem endlosen, kilometerlangen Weg. „In Schweiß gebadet" oder „schweißüberströmt" sind viel zu abgeleierte Begriffe, um damit noch sagen zu können, wie bei solcher Arbeit in der sommerlichen Hitze geschwitzt wird. Am Ende eines Schwart (d. h. jedes Mal, wenn ein Acker endet) steht ein großer Krug. Trinken muss man, sonst trocknet einem die Zunge am Gaumen fest.
Die Binder kleben am Sensenmann, raffen mit Forke oder Harke die Halme zusammen und drehen und knebeln die Gaben zurecht.
Warum überall solche Hast, so große Eile? Was ist denn los? Wird denn die Arbeit so teuer bezahlt oder gibt es hier ein Vermögen zu erwerben? Nein, nein, hier, so weit du sehen kannst und auch noch dort hinter dem flimmernden Horizont, hat sich der Mensch an etwas einen Rausch geholt. Die Fülle der Natur, die reifen Früchte stehen bereit, sich dem Menschen zu opfern, er nimmt sie hastig; glühenden Auges springt er von Garbe zu Garbe. Au« Urväterzeit steigt es in ihm auf, ein wilder heiliger Tanz. An der Fülle berauscht zu sein über die Ernte hinaus ist nur wenigen vergönnt. Die viele Liter Schweiß verloren, werden nur wenige Körner gewinnen, die aber wenige Tropfen Schweiß verloren, werden viele Liter Körner gewinnen.
Aber für dieses Unrecht war kaum irgendwo ein Verständnis zu finden. Wie ein Alpdruck lagerte der Unverstand auf dem Landarbeiter. Alle möglichen kleinlichen Streitigkeiten bei der Arbeit focht er tapfer durch, jedoch wüsste ich niemals von einer wirklichen Auseinandersetzung mit den Besitzern des Grund und Bodens zu berichten. Bei den so genannten Sachsengängern, den Polen, ließen sich Spuren von Klassenbewusstsein feststellen. Wurden sie einmal ganz besonders augenfällig bemogelt, so schlossen sie sich zusammen, stellten Forderungen an die Gutsverwaltung und nahmen die Arbeit nicht auf, bevor nicht die Forderungen erfüllt wurden. Überhaupt zeigte sich bei den Polen eine gewisse Erkenntnis, dass nur durch Zusammenschluss und Einigkeit bei den gewissenlosen Junkern etwas auszurichten sei. Bei den deutschen Landarbeitern war diese Weisheit in der Vorkriegszeit ein sehr seltener Artikel.
Die Landagitation 1912 zur Reichstagswahl war ein geradezu halsbrecherisches Unternehmen in der schwarzen Altmark. Das Freibier des Gutsherrn war wichtiger als die ganze Wahl. Elemente, die sich dazu hergaben, den Klassengenossen aus der Stadt mit Knüppeln zu verjagen, gab's gar nicht selten.
Mein Kollege, der Großknecht Otto, hatte eines Tages wieder einmal das Vertrauen des Alten vollständig verloren. Das Amt des Pferdefütterns war ihm entzogen worden, er wurde also degradiert und musste künftig die Kühe besorgen. Die Pferde besorgte nun ich, der ich vorher nur zu den Kühen gehört hatte. Für einen Menschen, der im Range eines Großknechtes steht, ist das eine unerhörte Beleidigung und wurde auch als solche von Otto gebührend empfunden. Er sann auf Rache. Ich beobachtete mit Spannung das Heranreifen seiner Pläne. Nach etlichen Tagen des vollkommensten Schweigens legte er los. Mit einem Schippenstiel schlug er auf die Tiere ein, als wolle er sie zusammenhauen. Als er bereits drei Schippenstiele aus Weidenholz zerschlagen hatte und nun seine Prügelpädagogik mit einem Axtstiel aus Esche fortsetzte, zeigten sich die ersten Erfolge.
„ Ick weet nich", meinte die Alte, „wat jetzt mit de Köh is, hüt morjen hät mi de Olsch een halben Emmer Melk in Dreck trampelt. Und de Olsch stunn doch süss immer so still. Dat is wie dull, dat stowt ut'n een wenn'n in Stall rin kümmt, as stäk de Dübel mit'emank. Ick glöw, Otto, du sleist mi dat Veeh awiel. Dat will ick di glieks säg'n: koam ick moal doa to, denn sast du bloß sehn, wat di passiert; ich hoal'n Schanndarm und lot di von de Stell' wech afführ'n, du häst de Köh genau so to behanneln as de Pär, wenn dien Herr dat volangt." Mit der verdächtigsten Grimasse der Welt quittierte Otto die Drohung und sagte kaum hörbar: „Ick häw de Köh nix doan." Um so wütender wamste er auf die Kühe ein, verschonte selbst das Jungvieh nicht. Mittlerweile gerieten die Tiere außer Rand und Band.
Ich hatte bei den Pferden etwas Ähnliches angestellt, wenn auch mit anderen Mitteln. Es war mir klar, dass diese Bevorzugung nicht lange dauern konnte, bald musste ich zurück in den Kuhstall, darum fütterte ich die Pferde mit solcher Freigebigkeit, wie sie ihnen nie zuvor begegnet sein mag. Das hatte zur Folge, dass sie üppig wurden, und Marsch, das jüngste, machte sich Luft, indem es die Nachbarn biss und schlug. Die Disziplin war erheblich gelockert.
Der Alte hatte sich zu einem Besuch nach Stendal den Max anspannen lassen, sonst ein faules Biest, das keinen Schritt ohne Peitsche ging. Seit Tagen nicht mehr aus dem Stall gekommen, stach ihn der Hafer, den ich allzu reichlich gefüttert hatte, gewaltig. Unser Alter war kein Kraftmensch; er liebte das Langsame, Gemächliche (natürlich nur bei sich selbst). Aber seine Gewohnheit, im Kutschwagen ebenso bequem und ruhig seine dicken Zigarren zu rauchen wie zu Hause im Lehnstuhl, musste ihm der Max auf der Fahrt gründlich versalzen haben. Vollständig erschöpft kam er am Abend in den Hof gefahren, ließ alles stehn und liegen, stürzte in das Haus und erzählte seiner Gattin, was ihm Schreckliches widerfahren war. Mir warf er vor, ich sei an allem schuld.
Was war eigentlich Entsetzliches vorgefallen? — Nichts! Nur seine geruhsame Spazierfahrt hatte dieser wohlgepflegte, gut gefütterte Max verdorben; er war mehrere Male gescheut, wobei der Bauer sich hatte etwas festhalten müssen.
Endlich kam der Kaffer zu der Einsicht, dass Kuhjungen nicht zu den Pferden und Großknechte nicht zu den Kühen passen. Auf diese oder ähnliche niederträchtige Art mussten letzten Endes alle verrückten Widerwärtigkeiten des Alten ausgeglichen werden. Ein vernünftiges Wort kam nie über seine Lippen, er war felsenfest überzeugt, dass das Gesinde überhaupt keinen Verstand besitze. Nicht einmal seinem eigenen erwachsenen Sohn gestattete er eine Kritik an seinen nur zu oft gänzlich falschen Anordnungen.
Obgleich wir des öfteren unter diesem sturen Despotismus schwer zu leiden hatten, gab es doch manchmal einen Heidenspaß. So bekam ich z. B. einmal den Auftrag, eine Fuhre Runkelrüben von der Straße aus gleich in den Keller zu schippen. Nach den ersten Forken merkte ich, dass die Rüben beim Anprall im Keller zerbrachen. Zerbrochene Rüben aber fangen bald an zu faulen. Ich schippte also vorsichtig die Rüben erst vom Wagen auf die Erde, um sie danach ebenso behutsam in den Keller zu transportieren. Aber der Alte kam mit einem Kreuzhimmeldonnerwetter dazwischen, schalt mich einen stinkendfaulen Lauselümmel, wie er noch keinen gesehen hätte, und gebot mir, die Rüben unmittelbar vom Wagen mit einem Wurf in den Keller zu befördern. Trotzdem wagte ich eine Einwendung, kam aber natürlich schön an damit. „Wüßst du Oarschlok glieks don, wat ick die angäw, oder sall ick di erst en mit'n Krückstock abert Mul kaun, di grootschnauzigen Dröekel." — „Klabunde (das war der Spitzname für die betreffenden 8 Tage, denn jede Woche bekam der Krauter von mir einen anderen), den Spaß kannste haben", dachte ich und batz, klatsch, bruch, knallte ich die Rüben vom hohen Wagen herunter in den tiefen Keller. Unten war alles zermatscht, kaum eine Rübe blieb heil. Der Alte stand von weitem und freute sich, dass seine Schnauzerei bei mir einen solchen Arbeitseifer auslöste.
Am Abend wollte mich die Alte fressen. Sie war über meinen Frevel so erbost, dass sie sich weigerte, mir Essen zu geben. Nun kam der Alte dazwischen, er war im Krug gewesen. Auf seine Anweisung bekam ich sofort Abendessen, er stritt seiner Frau die zermatschten Rüben einfach ab.
„ Is doch alles een Mulsch", krähte die Alte.
„ Is joa nich woahr", brüllte er.
„ Na nu moakt doch hallwäj, ick häw doch drin rumwöhlt, nich een is heel bleewen."
„ Holl din Mul, is nich woahr."
„ Nä, sowat verrücktet, Else hät'd doch oock sehn, keen een is heel." . „Dunnerlatterjoonochmoal, verdammtet Wiwervolk, wennn ick säg, is nich woahr, denn is't nich woahr."
An einem Sonntag war Feuerwehrball im Dorfe. Aus allen umliegenden Dörfern strömten die Menschen herbei. Ein Klassenunterschied wurde hierbei nicht gemacht. Bauern, große und kleine, Kossäten (Landwirte mit weniger als zwei Pferden), Kuhkossäten und Dienstleute, alles hatte sich vorgenommen, in Jarchau Feuerwehrball zu feiern. Bei der Feuerwehr ist das Löschen die wichtigste Tätigkeit. Der „Brand" ist bei solchen Gelegenheiten riesengroß. Es gibt Leute, die sich tagelang darauf vorbereiten, den Brand zu schüren, so dass am Festtage schon in der ersten Stunde 8 bis 10 Glas Bier notwendig sind, um ihn einigermaßen zu löschen. Diese Leute haben dann den angenehmen Vorteil, gleich am Anfang der Festlichkeit in den Zustand allerhöchster Seligkeit zu gelangen, den die weniger vorsorglichen Festteilnehmer erst in 2 bis 3 Stunden erreichen. Ihr Vorsprung ist kaum noch einzuholen. Wenn z. B. viele noch dabei sind, während der 45 Sekunden Tanzpause, inmitten des Saales sitzend, einen Stiefel auszutrinken, kann man sie bereits in den Nebenzimmern schnarchend auf den Stühlen und Bänken antreffen. Sind nun auch die Säumigen in dieses Stadium eingetreten, so durchlaufen die ersten das Programm zum zweiten Mal.
Auch mein Kollege Otto versalzte sich die Kartoffelgerichte entsprechend. Als er aber die erste Etappe glücklich hinter sich hatte, war für ihn die Sache eigentlich überhaupt erledigt, sein Betriebskapital reichte nicht weiter. Er legte sich eine Weile aufs Nassauern. Aber auch damit kam er auf die Dauer nicht weit. Herr Schütte, Herr Otto, Herr Nachtigall ließen sich wohl ganz gern noch einmal daran erinnern, dass sie auf dem „Roland" ganz vorzügliche Kartoffeln, auf der „Nachtweide" gutes Heu gehabt hätten und dass ihre Pferde beinahe so viel wie Ochsen zogen, aber mit Unkosten wollten sie diese Feststellungen doch nicht verbunden wissen. Das verdrießt natürlich eine Großknechtseele doppelt; erst erniedrigt sie sich soweit, mit diesen gottverdammten Kaffern ein Gespräch anzufangen, und dann legen diese Mistbauern für solches Wohlwollen nicht einmal das geringste Verständnis an den Tag.
Macht aber nichts; auch hierbei kommt eine Stimmung hoch, die durchaus als Feststimmung zu gelten hat.
Es gibt unzählige Gründe, eine kleine gemütliche Schlägerei zu eröffnen; wir wollen aber der Gründlichkeit halber nicht auf materielle Ursachen Bezug nehmen, sondern setzen den Fall, mein Kollege hätte bei der Gelegenheit des Tanzens jemanden angerempelt, woraus sehr oft gefährliche Situationen hervorgehen. Es muss gleich gesagt werden, dass die Möglichkeit zur Anrempelung, betreffs Kaumverhältnisse, in dem Maße abnimmt, wie der Umfang der Brieftasche der Beteiligten zunimmt. Da nun die Grenze bezüglich Brieftaschenumfang nach oben gerechnet sich in xyz verliert, nach unten dagegen sehr stabil ist, so haben wir wiederum die Tatsache zu verzeichnen, dass diese Art der Eröffnung eine proletarische genannt werden kann.
Jedenfalls waren alle günstigen und brauchbaren Vorbedingungen bei meinem lieben Kollegen vereint, und somit vollzog sich die Geschichte durchaus im Rahmen der natürlichen Entwicklung. Die Kapelle hat bei solchen Gelegenheiten die Aufgabe eines Blitzableiters zu erfüllen, getreu dieser alten Überlieferung intonierte sie das Lied, das hierzu am besten passt, vielleicht auch absichtlich dazu geschaffen wurde: „Üb' immer Treu und Redlichkeit." — Nach dieser Melodie schlugen sie sich wie die Kesselflicker, dass es nur so knackte. Alles sauste, raste, pfiff, Weiber kreischten, Kleidungsstücke schnerzten, Stühle krachten, Scheiben splitterten.
Und doch erstarrte diese bewegliche Szene auf ein Wort in 2 Sekunden. Gleichzeitig aus hundert Kehlen kam's: „Feuer". Mich schlug dieses Wort beinah zu Boden, ich fühlte, wie mein Blut aus dem Kopf wich und das Herz fast zu ersticken drohte. Ich sah deutlich, wie viel weniger die anderen erschrocken waren. Es schien für die meisten nur Sensationslust zu sein. Aber ich war der Brandstifter. Ein Freund hatte aus der Stadt mehrere große Raketen mitgebracht, wagte sich aber an die Biester nicht heran. Es handelte sich um so genannte Kanonenschüsse, klotzig dicke Dinger. Vor einer Viertelstunde hatte ich die drei hintereinander mitten auf der Dorfstraße abdonnern lassen.
Am anderen Ende des Dorfes, gerade dort, wo kurz vorher dreimal die Scheunengiebel gespensterhaft grell in die Nacht stachen, war der Spuk nun gelandet. Von einem herabfallenden Funken gezeugt, stand eine Riesenfackel hochaufgerichtet am Himmel, sie gebar Millionen Funken und knallte sie in die Nacht.
Mein Schreck war weg, ich stand abseits und staunte. Nun war doch aus dem Feuerwehrball ein Feuerwehrfall geworden. Der Bauer Schlamäus, gut versichert, machte mir nicht die geringsten Sorgen. Ich war begeistert von meiner Tat und rührte nicht eine Hand, obgleich der Gendarm schon das zweite Mal an mir vorbeigestürzt kam.
Eine Menge Leute aus den umliegenden Dörfern wanderte unaufhörlich hinzu. Die sich vorher als Todfeinde mörderlich gehauen hatten, schleppten jetzt gemeinsam Möbelstücke über die Straße. Auch die Geister des Alkohols schienen durch so viel Helligkeit verscheucht zu sein. Stunden währte das Schauspiel. Prasselnd schlug der Dachstuhl zusammen.
Langsam kroch die Nacht wieder herbei, stahl sich in die Augen der Menschen und legte schwarze Schleier um ihre Gedanken. Gerüchte huschten an mir vorüber, begleiteten mich bis ins Bett.
Ich Bösewicht schlief durchaus den Schlaf des Gerechten, als mich eine raue Hand furchtbar rüttelte. Hinter einer Stallaterne, die mir direkt vor dem Gesicht baumelte, schnarrte eine Stimme wie eine große Säge auf mich los, als hätte sie es wirklich darauf abgesehen, mich mitten durchzusägen. Der blitzende Helm mit der herabgelassenen Schuppenkette schien seinen Gebärden nach schon mein Todesurteil fertig in der Tasche zu haben. Aber ich muss sagen, die dreidoppelte Erklärung, dass mir der Kopf abgeschnitten werden sollte, hat mich nicht im mindesten dazu veranlasst, die Raketengeschichte zu erzählen. Lediglich die Absicht, in dem Gefühl der Schläfrigkeit dieses Scheusal wieder loszuwerden, machten der groß angelegten Untersuchung ein so schnelles Ende.
„ Dotschloan dat Oas." „Gliecks de Knoaken bräken." „De Footen affhaken." „Ne, sülwst in't Füer schmieten." „Upphangen." Der Stab um den Generalfeldmarschall herum konnte bei der großen Anzahl der Vorschläge die meistverdiente Todesart noch nicht endgültig feststellen. Unter der scharfen Bewachung meines einstmaligen lieben Mitarbeiters, des Großknechtes Otto Enderling, ließ man mir noch eine Frist.
Ein Meer mit großen Eisschollen war rings um mich herum, ganz fern wie ein dünner schwarzer Strich lag das Ufer, und ein kleiner Punkt auf dem Strich tanzte unaufhörlich hin und her, das war Otto. Die Eisscholle, auf der ich saß, trieb ab, der Punkt tanzte heftiger. Voraus kam etwas auf, das wuchs geradenwegs zu mir hin. Die Schornsteine sagten einen Lloyddampfer an. Steuerbords an der Reling stand mein Freund Willy Frewe aus Geestemünde mit einem Tau und hiewte mich auf, gerade als die Eisscholle mit großem Krach barst. Weit ging die Fahrt. Ufer mit Palmen und farbigen Menschen zogen vorbei. Wie erfreuten mich die Möwen. Aber es waren doch seltsame Möwen, weil sie wie Hähne krähten. „Kikiriki i i". Das kam mir wohl zu dumm vor. Möwen krähen nicht wie Hähne, Hähne fliegen nicht übers Meer. Hähne sitzen auf Misthaufen, und Misthaufen... Niemand war mehr anwesend. Der Hilfsgendarm Otto hatte seine Pflicht auf das gröbste verletzt. Die Pferde fraßen bereits Heu, die Kühe brüllten auch nicht, ein Zeichen, dass sie schon satt waren. Den sonstigen Umständen nach zu urteilen, waren alle Bewohner gerade beim Kaffeetrinken. Daraus merkte ich die Opposition, in die man gegen mich getreten war. Ich Armer! Anstatt unter lieben Menschen einen vorzüglichen Mokka schlürfen zu dürfen mit der Aussicht auf den baldigen Beginn einer segensreichen Beschäftigung, war ich dazu verurteilt, wie ein fetter Müßiggänger dazuliegen.
Der Hunger schien mein Verbündeter geworden zu sein. Er hielt sich diskret im Hintergrund, immer fühlbar, aber ohne aufdringlich zu werden. Die Strategie meiner Feinde war so erbärmlich, dass sie den Kampf verloren hatten, noch ehe der Hahn dreimal krähte. Die einzige Schläue bestand darin, dass alle Kleidungsstücke entführt worden waren, um einen Fluchtversuch abzuwenden. Das Wichtigste, z. B. den Pferden den Hafer wegzunehmen, oder die Kohlrüben aus der Miete auszubuddeln und in einen diebessicheren Tresor zu verschließen, oder alles auf dem Baum zurückgebliebene Obst sorgfältig abzulesen, hatte man verabsäumt.
In der Nacht wurde ich den festverschlossenen Augen meines Kollegen anvertraut. Ich muss sagen, in diesem Zustand übte er volle Solidarität, und wenn ich mit meiner Rohkost bei magischer Mondscheinbeleuchtung ins Zell zurückgeschlichen kam, lächelte er besinnlich, als sähe er in mir den Justizminister, der die Beförderung zum Gendarmen ihm persönlich aushändigte. Es bestand strenges Redeverbot. Als sich jedoch am dritten Tage noch nicht die Eskorte zeigte, die mich für immer hinter den Zuchthausmauern verschwinden machen sollte und ich nicht die geringsten Spuren von Kapitulation zeigte, ja sogar infolge dreitägiger Bettruhe und der sehr gesunden Rohkost (d. h. gesund, wenn man nicht schwer arbeitet) ein prächtiges Aussehen angenommen hatte, bröckelte die feindliche Front sichtlich ab. Der Alte erschien mit seinem Sohn. Sie betrachteten mich kopfschüttelnd eine Weile. Im Weggehen brummte der Alte: „Dat Oas werd dick un fett doabie." Am Nachmittag kam die Alte, fing an aufzuräumen, kobolzte mit den Kisten und Kasten umher, stieß den Stuhl um, richtete ihn wieder auf, knuffte die Eimer, es nutzte nichts, mein Schlaf war so fest, als wäre ich drei Tage und Nächte nicht aus den Stiebein gekommen. Doch siehe, dieser Diebesbraten hatte die geraubten zwei Anzüge und Schuhe wiedergebracht. Ich hielt es für eine Pflicht der Höflichkeit, die erstatteten Sachen auch zu benutzen. Mein Spaziergang dehnte sich etwas lange aus, um 10 Uhr etwa kehrte ich zurück; am noch erleuchteten Fenster des Wohnhauses hockte ich einige Minuten. Das Gespräch drehte sich um mich. Der Alte sagte in einem Ton, als geschähe es zum fünfzigsten Male: „Un ick säg, de kümmt nich mehr hier her, ick weet ok man joa nich, wie ji bloß so dumm sind könnt, un den Bengel dat Tüch int Zell to bring'n." Die Tochter: „Vadder, du weetst dat nich
mehr, oaber du hest et sülwst sägt." Der Alte tat, als wenn er es nicht hörte: „De is noa Hus loopen, ick wett drupp, wenn he um 11 noch nich doa is, denn joa ick sloapen."
Also, das war aber fein, die Herrschaften warteten auf mich, na, dann wartet nur erst bis 11, ich geh einstweilen noch spazieren. Punkt 11 schwand der Lichtschein aus dem Fenster, und eine halbe Stunde später schlich ich auf den Hof, von Waldi, dem Hofhund, teilnahmsvoll begrüßt. Oh, wie groß war die Freude am Morgen, als man mich im Bett fand, und wie herzlich die Aufnahme! War denn eigentlich etwas Unangenehmes vorgefallen? Jedenfalls sprach der Alte nur von Jugendstreichen, die wohl jeder ausgefressen hätte, und dann noch von dem Glück, welches dem ollen Dussel Schlamäus so unerwartet in den Schoß gefallen wäre. „De hätt nächst Joahr de beste Schün in't Dörpp to stoan, soveel Jeld hätt de joa noch joanich verdeent in sin Lewen, as awiel bi dat Füer." Und mich bei einem meiner Vornamen (Ludwig Andreas) nennend, was sonst niemals geschah: „Andrees, doa joah man henn un loat di glieks 100 Doaler jewen." Bei diesen Worten trank er einen Kognak nach dem anderen. Er feixte und kicherte und vergrub dabei seine runde Nase, die wie ein Sektpfropfen aussah, in das knallrote Halstuch: „Nee, son klein Schwienhund... nee, son klein Drewekiel, legt sick vergnögt drei Dag in't Bett un lett uns unse Zuckerröwen janz alleene uppkriejen. Mudder, jew den kleenen Andrees man noch een Stull' und dann jeit't de Arbeit los."
Endergebnis dieser Geschichte: 3 Mark Ordnungsstrafe plus 1,10 Mark Gerichtskosten.
Unendlich langsam schlich der 11. November, der Martinstag, herbei und damit das Ende meiner landwirtschaftlichen Tätigkeit. Von den Bauern hatte ich die Nase voll. Wie eine Fahrt in eine andere Welt erschien es mir, als ich endlich mit einem ebenfalls abziehenden Großknecht mit meinen 10 Zentnern Kartoffeln und den 20 Talern abdampfte.
In eine andere Welt? In eine bessere?
Nach den ersten Tagen der Wohlgefälligkeit in der elterlichen Wohnung bäumte sich wie ein gesporntes Pferd die Frage auf: Was beginnen? Womit den Zaster verdienen, der zum Leben so notwendig ist?! Einem Alpdruck gleich lag mein unergründlicher Magen auf unserem Haushaltplan.
Seltsame Gefühle beschleichen den, der lange Zeit vorher nur den Geruch von Schweinefutter in der Nase hatte und nun plötzlich diese Nase mit den raffiniertesten Düften einer Konditorei in Berührung bringt. Ich war zu einem Konditor in Arbeit gegangen. Dort hatte ich reichlich Gelegenheit, Schüsseln, Spachteln, Töpfe, Bleche, Kupferkessel, Kellen, Pfannen, Beutel, Einweckgläser usw. usw. auszulecken. Allerdings geschah es nur in der ersten Zeit, dass ich mit dem so genannten Rohmaterial meinen Gaumen kitzelte. Bald wurde ich verwöhnter und brachte nur noch Fertigfabrikate hinter die Binde. Das Cafe „Albert Sternberg" war seinerzeit eines der ersten Unternehmen in Stendal, daher kam auch nur das Beste vom Besten für die Besten der Besten auf den Tisch. Eine Schüssel mit Sahne, die den richtigen Glanz verloren oder, genauer gesagt, einen gewissen Glanz angenommen, sonst aber weiter nichts eingebüßt hatte, wurde wieder aus dem Laden heruntergereicht als nicht einwandfrei. Pasteten, die auf Bestellung verfertigt wurden, wanderten ebenfalls zurück, wenn sie dem Wunsch des Bestellers nicht ganz entsprachen. Bunte Schüsseln im raffiniertesten Stil, vom Chef wegen einer Kleinigkeit beanstandet, erlebten eine Neuauflage. 40 Eier im Kessel standen im Verdacht, dass unter sie ein Heuei geraten sei; obgleich der Verdacht nur in der Nase des ersten Gehilfen existierte, erhielt der Lehrling eine schallende Ohrfeige, und die Eier verschwanden im Ausguss. Eine Pfanne Pfannkuchen, etwa 20 Stück, um eine Nuance zu dunkel, wanderten in die Versenkung. Eis in Fruchtform garniert wollte ebenfalls nicht immer gelingen und wurde oft erneuert.
Oder, welche Arbeit und Mühe kostet es, bis dem Kunden ein einwandfreies Stück Baumkuchen vorgesetzt werden kann!? Ausgesuchtes Birkenholz muss geholt werden, Buchenholz geht zwar auch, aber es ist nicht so gut, niemals aber darf die Gesellschaft der Feinfresser Baumkuchen bekommen, der auf Feuer aus Tannenholz gebacken ist. Eine bestimmte Mischung von feinen Likören wird dem Teig beigesetzt, um ein gewünschtes Aroma zu erzielen. Ein Metallzylinder, der am Ende seinen Durchmesser verringert, wird mit Papier umwickelt und mit Teig begossen. Indem man ihn über flackerndem Feuer rotieren lässt und gleichmäßig mit Teig begießt, erzielt man die Ringe im Kuchen, die ihm den Namen Baumkuchen gegeben haben. Mit Glasur von Zucker oder Schokolade überzogen, lässt er nichts mehr von den Schweißtropfen ahnen, die unzweifelhaft an ihm kleben.
Man kann sich auch an Baumkuchen überessen. Die ausgeklügeltsten Sachen, die feinsten Kombinationen gereichen dem Schlemmer auf die Dauer nicht zur Befriedigung, und so wird immer Neues ersonnen. Auf Geld kommt es ja nicht an! Was hier zuviel gefressen wird, das wird unten zuwenig gegessen, damit ist der Ausgleich geschaffen.
Um die unverschämte Fresslust der Vollgefressenen befriedigen zu können, wurden in der Backstube 2 Gehilfen, 1 Lehrling, in der Küche 1 Köchin und 2 Mädchen beschäftigt. Und für alle, vom Chef nebst Familie bis zum Küchenmädel, gab es ein Faktotum, einen Alleskönner, Alleswisser, Sündenbock, einen gewissen „Friedrich", und den machte ich, — für 12 Mark im Monat. Diese Funktion war wirklich vielseitig, daher dauerte auch die Arbeitszeit von morgens V28 Uhr bis durchschnittlich abends 11 Uhr. Sonntags durfte ich schon um 6 Uhr abends gehen. In der Zeit vom 1. Dezember bis 31. März habe ich keinen einzigen freien Tag erlebt, jeden Sonntag musste ich arbeiten. In den Saisontagen um Weihnachten und Silvester ging die Schinderei die ganze Nacht durch bis zum nächsten Morgen.
Der erste Gehilfe war ein dünkelhafter Mensch, er hatte einen Buckel und konnte es auf den Tod nicht leiden, wenn mit den Mädeln Späße gemacht wurden, an denen er nicht beteiligt war. In solchen Fällen geriet er in große Wut und schikanierte das ganze Haus. Rührte er dagegen selber eins ein, so konnte es nicht toll genug werden. Seine Spezialität war, mit einem Besenstiel von der Backstube aus in den Abort zu stacheln, wenn er von den Küchenmädeln besetzt war. Oder er versprach mir fünfzig Pfennige, wenn ich einen extra gebackenen großen, mit Schlagsahne gefüllten Windbeutel einem Mädchen in den Busen steckte. Mäuse wurden gefangen und in der Küche in die Töpfe gesperrt. Nahm nun jemand den Topf in die Hand, so folgte ein Schrei und darauf großes Gelächter.
Konditorgehilfen sind Künstler, das ist nicht abzuleugnen. In der Plastik leisten sie allerhand. Nicht nur an Torten zeigen sie ihre Kunst: eines Tages suchten sie sich von Mann und Weib gewisse edelste Organe aus und modellierten sie naturgetreu mit Spachteln und Messern aus Hefeteig, Marzipan, Buttercreme und farbiger Glasur. Fein säuberlich auf einem Tortenteller mit Früchten umgrenzt, brachte ich auftragsgemäß erst das Stück vom zarten Geschlecht und danach das vom starken und stellte beides in der Küche mitten auf den Tisch. Die Kunstbegeisterung der Kollegen in der Küche ist einfach nicht zu schildern. Erst nach einer Stunde aufmerksamster Betrachtung entschloss man sich, die herrlichen Werke in Verbindung mit dem fälligen Kaffeetrinken zu verzehren. Worte der Teilnahme und des Bedauerns gab's dabei genug, für mich als Grünling zwar sehr interessant, jedoch noch vielfach recht unverständlich.
Solche oder ähnliche Dinge bildeten überhaupt im Verkehr der Gehilfen und des siebzehnjährigen Lehrlings mit den Mädchen den einzigen Unterhaltungsstoff. Die Leutchen wussten anscheinend nichts Besseres. Ein ewiger Widerspruch, ein immerwährendes Anspielen auf sexuelle Dinge bei jeder Redewendung, das war alles, was sie sich zu sagen hatten. Mochte es sich um einen Besen, einen Quirl, eine Flasche, ein Handtuch oder sonst etwas handeln, stets wussten sie einen anzüglichen Vers darauf zu machen. Einen besseren Beweis dafür, wie Menschen verblöden können, die keine einzige Anregung im Leben haben, als von 24 Stunden im Tag 17 in einem halbdunklen Keller und 7 in einer öden Bodenkammer zuzubringen, gibt es wohl kaum. Bei den Mädeln gab's nur eine Sehnsucht — tanzen, schwofen —, darum grölten sie auch andauernd die Gassenhauer der damaligen Zeit hintereinander herunter. Saß im Cafe ein wohlgepflegter Bürger am Klavier, öffneten unten die Tanzwütigen den Fahrstuhl, um die Musik zu hören und schwoften schnell „ein paar Züge".
Ich hatte viele Wege zu gehen und kam daher aus der Dunstbude heraus. Jeden Morgen schaffte ich einen Korb mit 200 Pfannkuchen zum Bahnhof; mit einem Handwagen flitzte ich auf dem Fußsteig durch die leere Bahnhofsstraße. Auf dem Wagen sitzend, mit einer Hand steuernd und mit dem rechten Bein abstoßend, erreichte ich eine Schnelligkeit, mit der die Pferdebahn nicht konkurrieren konnte. Das war für mich eine wahre Freude. Acht bis zehn Pfannkuchen nahm ich immer überzählig in den Korb, das Mädchen am Büfett tauschte sie aus gegen Würstchen, saure Gurken, belegte Brötchen usw.
Meine letzte Arbeit des Abends bestand im Herbeischaffen von Feuerungsmaterial für die Küche und den Backofen. Das war die scheußlichste Arbeit von allen. In einem stockfinsteren Keller, so niedrig, dass ich als kleiner Knirps nicht aufrecht stehen konnte, lagen Koks und Kohlen, von jedem wurden zwei große Fässer voll benötigt. Durch drei andere Keller ging der Weg über Stufen und Treppen, die einzige Möglichkeit des Transports war das Rollen der Fässer auf der Kante. Beleuchtung fehlte in den beiden Kellern vollständig. Oben am Cafe brannten die Birnen zum Überfluss, und genau darunter kroch ich im Finstern umher, um mir regelmäßig einige Hautabschürfungen oder eine Beule am Kopf zu holen. Seitdem mein Vorgänger durch eine offene Kerze einmal beinah ein Feuer verursacht hatte, war es streng untersagt, mit Licht die Keller zu betreten. An eine Beleuchtungsanlage dachte natürlich kein Mensch; denn kein Mensch außer mir kam in den Keller.
Es graulte mich förmlich, um 11 Uhr nachts oder manchmal gar nach Mitternacht da hinunterzusteigen. Die Ratten spritzten mit laut hörbarem Geräusch in ihre Löcher unter den Kisten und dem zahlreichen Gerümpel, das von den fetten Viechern als sicheres Versteck benutzt wurde. Aufgestellte Fallen blieben wochenlang leer, sehr selten verirrte sich ein Nager hinein. Wozu hatten sie auch nötig, verfaulte Heringsköpfe zu fressen, wenn ihnen Marzipan, Buttercreme, Vanillecreme und überhaupt alle schönen Dinge reichlich zur Verfügung standen. Die Ratten sind sehr eitel; an blankgescheuerten Kupferkesseln haben sie sehr großen Spaß, sie schmiegen sich förmlich an. In Messingkesseln, die sehr sauber geputzt werden mussten (es wurde streng auf sauberes Geschirr gesehen), spiegelten sie sich, sie setzten sich aufrecht davor und putzten mit den Pfoten minutenlang ihren Pelz. Auf die Mäuse waren sie nicht gut zu sprechen, die wurden von ihnen regelrecht unterdrückt. Auf dem Tisch, wo eine Ratte spazierte, durfte sich keine Maus blicken lassen, ohne dass sie sofort verjagt wurde. Ich habe beobachtet, wie sich eine Ratte an einem Tortenboden gütlich getan hatte und schon den Rückzug antreten wollte, als sich eine Maus näherte, um auch ihren Teil davon zu nehmen; sofort kam die Ratte schleunigst zurück, vertrieb die Maus, lief nochmals an den Tortenboden und zog dann langsam ab.
Unheimlich fette Biester gab's unter ihnen, — es schien, als hätten die anderen eine gewisse Hochachtung vor diesen besonders herausgefütterten Bonzen. Mit Vorliebe erkletterten sie einen Staubzuckersack, um sich im Staubzucker zu aalen wie die Hühner im Sand. Dick gepudert kamen sie daraus wieder hervor, das war für die anderen Ratten wahrscheinlich ein Spaß, denn einen solchen Kollegen umschwärmten sie förmlich, und aus seinem Benehmen ließ sich deutlich erkennen, wie gut ihm selbst sein weißer Pelz gefiel.
Die Ratten hatten jedoch eine Konkurrenz in der Backstube, und das waren die großen schwarzen Schwaben, alles wahre Prachtkerle ihres Geschlechts. Ihr hauptsächlichster Aufenthaltsort war der Gärschrank, in den der Hefeteig zum „Hochgehen" hineingesetzt wurde. Von hier aus zerstreuten sie sich über das ganze Haus. Öffnete man recht schnell die Tür zum Gärschrank, so sah man die ekligen Käfer in Scharen von den Blechen flüchten, um schnellstens die zahlreichen Ritzen und Löcher im Mauerwerk aufzusuchen. Mit Ratten und Mäusen umzugehen, die gleichen Gefäße wie sie zu benutzen oder mit ihnen von einem Tische zu essen, kann man sich gewöhnen, aber niemals habe ich mich mit diesem lichtscheuen Gesindel anfreunden können. Allemal schüttelte es mich, wenn ich in den Gärschrank hineingriff. Manchmal waren des Morgens noch nicht alle Pfannkuchen hochgegangen, dann musste ich aus dem Gärschrank ein Blech gegangener Pfannkuchen zureichen, dabei konnte ich es förmlich rauschen hören, in so großen Mengen huschten die Schwaben von den Blechen herunter. Ich habe diese Pfannkuchen nie länger als nötig zwischen Daumen und Zeigefinger gehalten.
Es gab für mich aber auch noch andere Gefühle bei der Firma Albert Sternberg, die über meinen Rücken krochen. Eines Abends sehr spät wühlte ich noch in der Backstube umher, da kam das jüngste Küchenmädel Frieda zu mir mit der Bitte, ob ich nicht für einige Minuten mit auf ihre Stube kommen möchte, sie wolle eine Kommode verstellen. Ich willigte ein. Die schöne Frieda war siebzehn Jahre, ich zählte erst das vierzehnte. Eine Kommode von der einen Wand an die andere zu setzen, ist an und für sich nichts Verführerisches. — „Ach, Friedrich, setzen Sie sich bitte einen Moment, — wollen Sie sich mal mein Photographiealbum ansehen?" Photographiealben sehe ich heute noch gern, sie sind eine Biographie des Besitzers. — „Setzen Sie sich doch aufs Bett, Friedrich, der Stuhl ist nämlich so wacklig." Das stimmte allerdings. „Hier mein verflossener Schwarm, der Maler aus Gardelegen, doof, nicht?" — „Ach es jeht", sagte ich tröstend. — „Das war meine Freundin, eine dufte Marke, die hat jetzt schon zwei Kinder und ist erst zwanzig." Frieda saß nun neben mir auf dem Bett. Als sie ihren Arm um meine Schultern legte, fragte ich, wohin denn die Kommode gestellt werden sollte? — „Und hier, Friedrich, hier bin ich als Haremsdame vom vorigen Jahr, — Maskenball im Odeum, gefällt Ihnen das Kostüm?" — „Ja, det jefällt mir!" — „Sieht man mir an, dass ich betrunken war?" — „Nee, det sieht man nich." Frieda nahm ihren Arm von der Schulter weg und fasste mich um die Hüften, sie beugte sich soweit über das Album vor, dass ich mit meinen Backen ihr Haar berührte. Es war das erste Mal, dass mir so etwas passierte. Ich glaube, käme ich heute unverhofft mit meinem Gesicht an eine Löwenmähne, mein Schreck könnte nicht größer sein. — „Das ist Hermann, hat er mir geschenkt, sieht doch gemein aus? Wie der Tod. Hermann kann ich nicht leiden, Friedrich, aber sagen Sie es nicht weiter, er hat mich mal geküsst, aber ich kann Ihnen sagen, Friedrich, lieber zehn von Ihnen, als von dem einen."
Ich saß wie gelähmt da, brachte kein Wort mehr hervor. Frieda legte ihren Kopf kameradschaftlich an meine Schulter, und ich war froh, dass sie in dieser Lage wenigstens mein Gesicht nicht sehen konnte. Mein Kopf musste rot sein wie eine Streichholzkuppe, ich glaubte, er müsse jeden Augenblick explodieren. — „Hermann ist doch schon siebzehn, aber Sie schmeißen ihn doch jedes Mal, Friedrich. Haben wir heute mittag gelacht, wie Sie ihn da unter die Treppe gedrückt hatten, und eine Wut hat immer der schlappe Kerl!" — Endlich fand ich die Worte wieder. — „Ha, die lange Latte pfeffere ich in die Ecke, ha, det Blaßjesichte!" — „Friedrich, wovon sehen Sie so gesund aus, Sie rauchen wohl nicht?" — Jetzt sah mich das Mädel an, und in der nächsten Sekunde sah ich noch dreimal so gesund aus wie vorher. — „Aber Sie haben heiße Backen, Friedrich!" — Ich stand auf, packte die Kommode mit einem furchtbaren Griff und stellte sie mitten in die Stube. „Hier rüber, Friedrich, so steht sie besser, ich danke schön. — Warten Sie doch, Friedrich, ich geh gleich mit raus, ich möchte gern noch ein bisschen frische Luft schnappen; wenn wir zusammen rausgehen, merkt's die Alte nicht. Ein Moment! Ich zieh mir nur schnell um, andere Hosen an.
Von da an wusste ich, dass es sehr lange dauern kann, wenn sich ein Mädel andere Hosen anzieht. Man kann in der Zeit an einer Wand, die mit einer blumenübersäten Tapete beklebt ist, sämtliche Blüten zählen, kann ein Photoalbum zehnmal durchsehen, eine alte Zeitung von vorn bis hinten durchlesen usw. usw.
Am anderen Tage kam es zu einem Zank zwischen der holden Frieda und mir; sie nannte mich einen Rotzbengel, und ich schlug ihr in Ermangelung eines passenden Ausdrucks eins mit dem Besen übers Kreuz. Die nächsten Tage schenkte sie ihre Gunst dem blassen Hermann. Der wurde immer blasser, — ja, es ist auch eine schwere Arbeit, sich nach Feierabend mit einer Kommode herumzubalgen. Der Lehrling war mit seinen siebzehn Jahren vollständig am Ende seiner Kraft. Er wurde gehetzt, geschlagen, alles Misslingen bei der Arbeit schob man ihm in die Schuhe. Freie Zeit gab es für ihn überhaupt nicht. Er schlief oftmals im Ofenloch, weil es sich nicht mehr lohnte, für die drei oder vier Stunden noch fünf Treppen hinauf zum Boden zu gehen. Kein Wunder, dass er die einzig mögliche Zerstreuung bei den Mädels suchte! Was ihn natürlich noch mehr auf den Hund brachte. Diesem Jungen hätte man ein Buch in die Hand geben können mit dem schönen Titel: Halte deine Jugend rein. — Ich garantiere, bei der zweiten Seite wäre er eingeschlafen. Jawohl, so sah der Lehrling Hermann aus. Der Frieda konnte man die Sorgen mit ihrer Kommode ebenfalls vom Gesicht ablesein, das soll nicht etwa heißen, dass ihr Aussehen einen schlechten Zug bekommen hätte, aber es war doch offensichtlich, dass ein vollständiger Mangel an sonstigen Interessen vorhanden war. So wie dieses Mädel sahen auch die meisten anderen im Haushalt tätigen aus. Es ist wohl ziemlich gleichgültig, ob die eine große Augen, die andere kleine, die dritte ein volles Gesicht und die vierte rote Haare hatte. Es ist das Gesicht, welches sich formt aus unendlicher Arbeit und mehr oder weniger ausgeprägtem Geschlechtsleben.
Der älteste Gehilfe legte sich einen Meistertitel zu. Er hatte zwei Gesichter, eins setzte er auf im Verkehr mit seinen Mitarbeitern, das andere im Verkehr mit dem Chef. Bei uns war er rechthaberisch, dem Lehrling gegenüber sogar brutal, bei dem Chef hatte er immer dessen Meinung, war höflich, liebedienerisch, machte immer Bücklinge. Diese Zwiespältigkeit hatte ihm im Laufe der Jahre seinen Gesichtsausdruck vermasselt. Könnte ich Porträts zeichnen, dann müsste sein linkes Auge einen dünnen Schlitz und eine zur Nasenspitze abfallende Linie bekommen, das rechte dagegen würde ich so konstruieren, dass es fähig wäre zum frömmsten Augenaufschlag der Welt, die Nase bekäme einen riesigen Haken, die Oberlippe müsste so dünn wie eine Messerschneide werden, die Unterlippe würde ich hängen lassen bis übers Kinn. Dann hätte ich ein Bild vom „Herrn Pleitner".
Vom Chef und seiner Familie wurde ich sehr von obenherab betrachtet. Ihr Verkehr mit mir beschränkte sich auf kurze Kommandotöne. Von derlei Autoritäten umweht, war es ein Glück, dass trotz meiner vierzehn Jahre von ihren falschen Zöpfen kein Haar an mir hängen blieb.
In der Zeitung entdeckte mein Vater ein Inserat, in dem ein Schriftsetzerlehrling gesucht wurde. Diese Stellung trat ich am 1. April 1912 an. Das war eine der wenigen bezahlten Lehrlingsstellen. Vielfach bestand noch die Sitte aus den Zeiten der Zünfte, dass der Lehrling dafür, dass er sich dem Meister auf Gedeih und Verderb für Jahre verschreiben durfte, eine ansehnliche Summe Geldes zu zahlen hatte. Der Buchdruckertarif für Lehrlingsentlohnung betrug damals im ersten Jahre 3 Mark wöchentlich, im zweiten 4 Mark, im dritten 5 Mark und im vierten 6 Mark.
Mit ungeheurem Interesse ging ich an die Arbeit, die anfänglich nur im Beobachten der einzelnen Schriften und Maschinen bestand. Die Pausen kamen mir jedes Mal sehr ungelegen. Diese Arbeitswut dauerte aber nur solange, wie ich noch keine direkte Arbeit zu leisten hatte. Als mir dann schon diese und jene Arbeit aufgetragen wurde, fand ich oftmals, dass ich keine rechte Lust hatte. Manchmal, meistens wenn es sich um eine kleine selbständig zu setzende Drucksache handelte, kehrte der alte Eifer zurück. Niemals aber habe ich, wie in den ersten Wochen, bedauert, dass es Feierabend war. Denn mit dieser Feierabendglocke schlug gleichzeitig ein Puls in mir, der im vorangegangenen Jahre nicht geschlagen hatte.
Ich war eingetreten in die „Sozialistische Arbeiterjugend". So wenig verlockend diese Bewegung, gemessen an der heutigen proletarischen Jugendbewegung, auch damals war, so zog es mich doch ungestüm in den Kreis dieses Dutzends Freunde, die sich jeden Sonntag und Mittwoch in einer Kneipe zusammenfanden und — jeder ein Glas abgestandenes Bier vor sich — den Erzählungen des Jugendleiters lauschten. Drei oder vier Lieder, ein Mühlespiel, ein Gesellschaftsspiel, das war damals der Abend bei der AJ.
Gleichzeitig turnten wir fast alle bei den „Freien Turnern" in einem Saal, wo der Bier- und Tabaksgestank einfach nicht rauszulüften war. Auch Wanderungen wurden gemacht, aber, obgleich der Geldbeutel mehr als klein war, saßen wir unvermeidlich allesamt nach wenigen Stunden in irgendeiner Dorfkneipe bei einem Glas Bier. Diese Wanderungen waren meistens Halbtagsfahrten, denn ohne das übliche Mittagessen hätten uns unsere Eltern wohl kaum laufen lassen. Dann hieß es natürlich, im „guten" Anzug erscheinen, Kragen, Chemisett, Schlips, sonst hätte man uns bestimmt als Strolche bezeichnet.
Unter uns befanden sich ein paar Rowdies, was weiter nicht verwunderlich war, da der Jugendleiter selber mit allen Hunden gehetzt war. Unsere Bierreisen, genannt Wanderungen, sollten allerdings doch bald ein Ende haben. Eines Sonntags trafen wir uns mit den Genossen aus Rathenow. Die sahen nun schon einen Schein heller aus, da sahen wir zum ersten Mal kurze Hosen, Kochgeschirre, Klampfen und, was uns am meisten begeisterte, riesenhaft gepackte Rucksäcke (Entfernung Stendal—Rathenow etwa 36 km).
Bei den nächsten Abenden gärte es gewaltig, aber unser Jugendleiter zeigte sich konservativ, und als ich am anderen Sonntag mit abgeschnittenen Hosen erschien, wurde ich von ihm zurückgewiesen mit der Begründung, die AJ sei doch kein Maskenball. Meine dicksten Freunde nahmen Partei für mich, und infolge der rasch an Zahl anwachsenden abgeschnittenen Hosen demissionierte der alte Genosse, wahrscheinlich in der Meinung, dass die Ortsgruppe nicht ohne ihn bestehen könne. Bald darauf zogen wir eines Sonntags nach Brandenburg, dort war ein großes Treffen angesetzt. Das war für uns im Hansjochenwinkel ungemein fruchtbar, wir lernten viel. Eine Feier in einem Saal brachte gute Rezitationen und anderes, kurz, uns entrollte sich ein Bild der proletarischen Jugendbewegung mit jenem starken Einschlag von Wandervogelromantik, in der die sozialistische Arbeiterjugend nach dem Kriege vielfach stecken geblieben ist. Immerhin: ein großer Fortschritt in der Jugendbewegung, und wir stürzten uns mit Feuereifer in die Arbeit.
Wollte sich unsere Mitgliederzahl lange Zeit nicht über zwanzig Mann erheben, gelang es nun, eine doppelt so starke Gruppe zu errichten. Dabei war deutlich zu merken, dass sich unter uns kein Jugendleiter mehr so recht wohl fühlte. Eine Musikgruppe erstand, ja sogar eine Mädchengruppe wurde ins Leben gerufen; das brachte zwar den unvermeidlichen Stank, aber mit der Parole „Liebe ist Privatsache", die wir energisch in alle Köpfe hämmerten, kamen wir sehr gut aus. Entgegen allen Anschuldigungen, die so oft von älteren Genossen erhoben wurden, muss ich doch sagen, dass sich bei uns in der Gruppe, in der nur Jugendliche bis zu achtzehn Jahren (bis zum Kriegsanfang) waren, obwohl wir oft in Nächten mit den Mädeln unterwegs waren, absolut keinerlei Verstöße gegen die Sittlichkeit zugetragen haben, — falls man es als eine Unsittlichkeit betrachten sollte, wenn ein gut entwickeltes siebzehnjähriges Mädchen sich mit einem achtzehnjährigen Burschen in blühender Heide oder im dichten Tann zu einem Geschlechtsakt findet.
Alles war in unserer Gruppe in schönster Ordnung, als sich plötzlich alle Schufte dieser Erde darin einig wurden, der Menschheit vorzumachen: das Allernotwendigste, was sie brauche, ohne das sie keine glückliche Stunde mehr zu erwarten habe, sei ein Krieg.
Am ersten Abend nach dem 4. August 1914 hielt unser Jugendleiter eine Ansprache, die von der gefährlichen Lage handelte, in die die AJ durch den Kriegszustand geraten sei. Nach Schluss blieben etliche, die älteren Genossen, beisammen, und es wurde beschlossen, beim Heimweg die Internationale zu singen. Der Jugendleiter musste etwas erlauscht haben, denn kaum war die erste Strophe verklungen, als er plötzlich an uns herantrat und uns so graulich machte, dass wir die schweren Ketten an unseren Gliedern schon fühlten. Er sagte, dass wir ihn und seine Familie damit unglücklich machen würden und entlockte uns das Versprechen, jetzt und auch später auf der Straße nicht wieder zu singen.
Nach der anfänglichen großen Enttäuschung, die uns Jugendliche, die wir Karl Marx gelesen hatten, ob der allgemeinen Kriegsbegeisterung der werktätigen Massen beschlich, tauchte im Sommer 1915 eine leise Hoffnung auf, als aus der Schweiz Flugblätter, mit der Schreibmaschine geschrieben, in unsere Hände gelangten. In diesen stand in flammenden Worten, dass jeder ehrliche Arbeiter ein Gegner des Krieges sein müsse! Das wirkte in uns Wunder, wir sagten nun jedem älteren Proleten, der es hören wollte, dass die Führer Verräter seien, die den Krieg unterstützten. Wir brachten das auch dem Parteisekretär Ernst Brandenburg gegenüber zum Ausdruck, der auf einer Feier der AJ, an der unsere Eltern teilnahmen, wörtlich sagte: „Wer
sein Bestes, was er hat, sein Leben, für das Vaterland nicht in die Schanze schlagen kann, der ist in meinen Augen ein Lump." — Mit dem Eisernen Kreuz auf der Brust brachte er das mit großem Pathos hervor. Aus einer Ecke des Saales donnerten wir Jugendlichen ihm ein mehrfaches Pfui, Pfui entgegen. Es war der Schluss seiner Rede gewesen. Die alten Genossen erstickten unsere sonstigen ablehnenden Bemerkungen durch prasselndes Händeklatschen und lautes Bravorufen. Die in unserer Nähe Stehenden drohten uns zu schlagen.
Später, 1923 im Herbst, als derselbe Brandenburg, nunmehr als sozialdemokratischer Abgeordneter, in den Tagen höchster Inflation, einmal in einer Massenversammlung den Arbeitern ein Klagelied über die Ursachen der Inflation vorsang, konnte er nicht weinerlich genug den Krieg und die Monarchie als Stammväter dieses Elends hinstellen.
Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei wurde gegründet, und nun bekamen auch wir von der Jugend organisatorischen Anschluss. Eine Konferenz der SAJ in Magdeburg brachte einige Klärung. Der Jugendgenosse Hüttenrauch hielt ein Referat, das uns wie aus der Seele gesprochen war. Wieder zu Hause, folgte ein erbitterter Kampf mit den Genossen der Partei, die in ihrem blinden Vertrauen auf ihre schurkenhaften Führer zu nichts zu bewegen waren.
Was sollten wir gegen den Krieg tun? Diese Frage beschäftigte uns dauernd. Wir verkannten unsere Schwäche nicht, unsere Tätigkeit beschränkte sich deshalb auf Diskussionen mit älteren Arbeitern, Soldaten, Urlaubern und Frauen.
Die Jugendwehr wurde gegründet. Das war eine Sache, wo es etwas zu tun gab. Es sollte eine Zwangsjugendwehr der Fortbildungsschule gebildet werden. Jetzt ging's los. Wir wühlten und hetzten in Betrieb und Schule gegen die Absicht des Schulleiters Sorgenfrei, diese Jugendwehr auch in Stendal einzuführen. An einem Mittwochabend: Antreten der Schüler auf dem Viehmarkt. Lange vor Beginn waren wir zur Stelle. Nicht nur die Jugend war bearbeitet, sondern in allen Betrieben hatten wir die Arbeiter von unserem Vorhaben, diesen Appell unbedingt zu verhindern, unterrichtet. Die Warnungen der Brandenburg und Genossen wiesen wir mit Verachtung zurück. Der Bruch mit diesen Elementen war bereits, wenn auch noch nicht offiziell, so doch in unserm Innern vollzogen. Eine geringe Anzahl Flugblätter war verteilt. Als die Uhr auf sieben ging, hatte sich eine große Menge versammelt, darunter, entsprechend unseren Weisungen, fast die gesamten Fortbildungsschüler, auch die jüngeren Jahrgänge.
Schulleiter Sorgenfrei, ein Leutnant und etliche Unteroffiziere schauten etwas unsicher auf die Menge. Endlich ließ Sorgenfrei sich vernehmen: „Die Fortbildungsschüler, die zur Jugendwehr kommandiert sind, hier sofort antreten!" Tausendstimmig, von allen Seiten, ein brüllendes Hohngelächter. In der Mitte des Platzes, bei den Militärs, sichtliche Verlegenheit. — „Einpacken, abbauen! — Ha ha ha!" Polizei erscheint und wird von allen Seiten veräppelt. Der Leutnant: „Wer nicht sofort-----------" Ein Mordsgebrüll verschlingt alles weitere. — „Abgesägt, nach Hause gehen, einpacken!" es schlägt wie Steinwürfe gegen die Mitte zu. Blass wie eine Kalkwand steht der Feldgraue mit den Achselstücken. Man sieht es ihm an, das passiert ihm zum ersten Mal.
Es lag auf der Hand, in den nächsten Minuten musste die Entscheidung fallen. Die Polizei suchte jemanden, aber wen von den Vielen herausgreifen? „Turek, wo ist der, hier hier, nee hier, nee da drüben! Gorajski? Wo ist Gorajski? Hoffmann? Verdammte Bande. Von wem haben Sie das Flugblatt? Mit, Sie gehen mit — Halt, Haaalt —" Ein Gedränge entsteht, wird künstlich gesteigert, der Schutzmann ist umringt, er denkt mehr an seine Sicherheit als an die zu Verhaftenden, er türmt, wie ein feiger Köter kläfft die Polizei umher, ohne einen ernsthaften Griff zu wagen. — „Auf! Sozialisten! schließt die Reihen -------—" Im eiligen Schritt ziehen sich die Kommandeure ohne
Truppe zurück. — „Mit uns das Volk, mit uns der Sieg------------"
Die Menge brüllt.
Wischt war's mit der Jugendwehr.
Drei Wochen Pause.
Gorajski, Hoffmann, Sanftleben, Turek erhalten die Mitteilung, sich am Mittwoch, den soundsovielten, mittags 1 Uhr, beim Polizeikommissar Treptow zu melden. Wir trafen uns jeden Abend, Franz, Tedsche, Rieke, Andreas (Andreas war ich, — meinen Freunden gefiel wohl mein Vorname Ludwig nicht, deshalb riefen und rufen sie mich bei meinem zweiten Vornamen). — „Mensch, det Ding muss schnaffte jedreht werden? — Ick zieh Holzpantoffeln an und alle die roten Schärpen von de Turner als Bauchbinde, richtig breit jewickelt wie die jefangenen Franzosen, keene Hosenträger un ooch keene Weste. Mensch, det jibt een Feez! Barfuss, in Holzpantoffeln klappern wir dem uff de Bude, der soll kieken. Wat wolln wa sagen? Det is wejen de Flugblätter — wir wissen nischt, wir wissen überhaupt nischt, keener weeß wat." —
„ Gorajski?" „Hier!" „Hoffmann?" „Hier!" „Sanftleben?" „Hier!" „Turek?" „Hier!"
„ Was sind Sie?" „Buchdrucker!" „Haben Sie denn schon ausgelernt?" „Nein." — „Na, — dann sind Sie doch erst Buchdruckerlehrling. — Und was sind Sie?" „Tapezierer und Dekorateur." „Lehrling, nicht wahr?" „Ja." „Sanftleben, was sind Sie?" „Schlosser." „Ausgelernt?" „Nein." „Warum sagen Sie denn das nicht gleich? Und Sie? Haben Sie ausgelernt?" „Nein." „Was sind Sie also?" „Lehriing." „Was Sie lernen, will ich wissen!? Stellen Sie sich nicht so dumm an, Sie sind hier bei der Polizei, merken Sie sich das gefälligst." „Jawohl." „Was haben Sie für einen Beruf?" „Buchdruckerlehrling."
„ Sie sind alle Mitglied der AJ?" „Jawohl." „Was machen Sie denn dort in der AJ? Hoff mann, ich frage Sie,-was dort in der Arbeiterjugend gemacht wird?" — „Ach weiter nischt besonderes. — „Weiter nichts besonderes, was heißt das? Sie müssen doch dort irgend etwas machen? Donnerwetter, reden Sie bitte, ja, etwas plötzlich, Sie scheinen noch nicht zu wissen, dass Sie bestraft werden! Was machen Sie also, z. B. des Sonntagsabends in der AJ?" — „Manchmal spielen wa Schach." — „So, was machen Sie noch da?"
— „Oder ooch Mühle.""— „Sie spielen doch nicht nur Schach und Mühle?" — „Nee, manchmal spielen wir ooch Dame." — „Quatsch,
— was singen Sie denn für Lieder? Sanftleben, ich frage Sie jetzt!"
— „Allerlei Wanderlieder." — „Was für welche singen Sie außer den Wanderliedern?" — „Freut euch det Lebens. — Und, es kann ja nicht immer so bleiben!" — „Und was noch?" „Der Mai ist gekommen... " „Sagen Sie mal, warum haben Sie sich denn solche unverschämten Binden um den Bauch gewickelt? Und warum kommen Sie ausgerechnet alle vier in Holzpantinen hierher?" — „In Berlin loofen doch die Studenten och so." — „Die tun das natürlich im Interesse des Vaterlandes, um für die Front Leder zu sparen. Aber Sie wollen damit hier etwas rausstecken. Und alle Binden müssen gerade rot sein? Wickeln Sie mal sofort die Dinger ab und stecken Sie sie in die Tasche. — Abwickeln die Binden, hab ich gesagt." — „Det jeht nich." — „Warum nicht?" — „Denn fallen die Hosen runter."
„Sagen Sie mal, was kümmern Sie sich denn so lebhaft um die Jugendwehrgeschichte? Bilden Sie sich etwa ein, Sie könnten etwas gegen die Gesetze des Staates unternehmen? Diese Unternehmungslust wird Ihnen teuer zu stehen kommen. Woher haben Sie die Flugblätter bezogen, die Sie damals verteilt haben? Gorajski, bei Ihnen, und auch für Turek trifft das zu, besteht der Verdacht, dass Sie sich dieselben verschafft haben. Also heraus mit der Sprache!" „Ick kenne keene Flugblätter." „Machen Sie nicht solche Flausen hier, ich sage das zum letzten Mal, Sie sind verpflichtet, unverzüglich Rede und Antwort zu stehen, wenn Sie gefragt werden. Sie sind von einem Beamten beim Verteilen von Flugblättern gesehen und notiert worden, alle böswilligen Ausreden sind doch ganz überflüssig. Sind Sie nicht so dumm und verschlimmern Sie Ihre Lage nicht durch zweckloses Ableugnen der schon feststehenden Tatsachen. Wir wollen nur noch erfahren, von wem die Flugblätter hergestellt sind. Es besteht absolut nicht der Verdacht, dass Sie als Buchdrucker selbst der Hersteller sind! Falls Sie aber uns unsere Arbeit unnötig erschweren und die Bezugsquelle nicht nennen wollen, müssen wir doch annehmen, dass Sie die Dinger in Ihrem Geschäft in einer unbewachten Stunde hergestellt haben. Die Herstellung und der Vertrieb zieht natürlich eine doppelte Strafe nach sich, das müsste doch auch Ihnen einleuchten!...
Also, meine Herren, wir haben hier ganz gewiss keinerlei Absichten, Ihnen große Scherereien zu machen, ich persönlich bedauere es sogar gerade für Sie, der Sie mir von Herrn Sorgenfrei als sehr tüchtige, aufmerksame Schüler geschildert wurden. Einer ist wohl, wenn ich mich recht entsinne, sogar mit einem ersten Diplom ausgezeichnet, nicht wahr? Wer ist denn das? Ach so, Gorajski, ja, wie gesagt, ich muss mich wirklich wundern, warum Sie sich mit so etwas befassen. Na, zurück zum Eigentlichen. Ich habe hier einige Exemplare vor mir. Der Druck ist ganz abscheulich, ich glaube keinesfalls, dass Sie so etwas zusammengepfuscht haben, sehen Sie, der ganze Rand hier rechts ist total verschmutzt. Sie arbeiten doch für den Magistrat auch, nicht wahr? Diese Arbeiten sind doch immer ganz sauber hergestellt; also könnte man annehmen, dass Sie diese Flugblätter auch besser herausgebracht hätten. Nun, meine Herren, will sich niemand zum Reden bequemen? Wo die Flugblätter herbezogen sind? Nicht? Wir müssten Sie dann allerdings mit für die Blätter verantwortlich machen. Sie haben also nicht den Mut, zu sprechen; ich sage Ihnen, dass das eine große Dummheit ist. Sie können gehen, bis ich Sie wieder verlange."
Klipp klapp, klipp klapp, die Holzpantoffeln sangen auf den Steinfliesen im Rathaus ihre eigene Melodie. Klipp klapp, klipp klapp, die roten Binden schwebten wie frische Blutstropfen durch die aktenverstaubte Luft, das Klappern und die Blutstropfen flossen hinaus in die heiße Luft des Augustmittags. Drüben beim Zigarrenhändler Gramm stehen viele Menschen um ein Extrablatt, Bürger, Proleten, Schüler. — „Tedsche, komm, — Franz, mal sehn, wat wieder los ist." Wir recken den Hals: 12 000 Russen gefangen, 5 schwere, 14 leichte Geschütze erbeutet. Riesenverluste der Russen, eigene Verluste gering. „Schwindel, elender, Schluss mit'n Krieg, det Volk wird vakohlt, und die anderen fressen sich den Wanst voll." — „Strolche, Skandal, was sich die Bengels erlauben, sollte man glatt einsperren, diese Lümmels!" — „Halt die Fresse, du Pomadenhengst." Wir müssen an die Arbeit und trennen uns mit dem Versprechen, nach Feierabend zusammenzukommen.
Im Betrieb immer wieder dasselbe Theater, die Gehilfen sind wie vernagelt, der Buchbinder ist beim Landsturm und in Garnison am Orte. Kommt er in die Bude, wird er allgemein bewundert. Als seine Vertretung arbeitet ein kriegsgefangener Russe. Dieser jedoch wird nicht als vollwertig angesehen. Ich mache eine Ausnahme und muss dafür von den Gehilfen gewisse Spitzen einstecken. Meine ewige, immer wiederkehrende Rede ist: „Schluss mit dem Krieg, ein Ende dem verbrecherischen Menschenmord, die Revolution ist unvermeidlich. — Alles ist Schwindel, alles ist Betrug."
Die Meinung der Gehilfen ist eine andere. Sie nennen mich einen Grünschnabel, vorlaut, Naseweis, manchmal drohen sie auch tätlich zu werden. Überall werde ich als unreif, phantastisch oder einfach für verrückt erklärt. Wer von Revolution spricht, ist ein Mensch ohne Verstand. Verstand haben nur die Menschen, die sich in tadellosen Uniformen, mit silbernen Achselstücken darauf, bewegen, deren Tritt in Ia lang- und engschäftigen Stiefeln, sporenbeschlagen eins-zwei-drei-vier, zack-zuck-knack-ruck-zuck, äh äh, erklirrt. Diese Menschen stellen doch etwas vor.
Ich armseliger Lump, in Holzpantoffeln, zerschlissenem Hemd und roter Binde, mit meinem Gefasel von der Revolution, man müsste sich schämen, dass man mit mir bekannt war. Wer sollte mich ernst nehmen?
Ein Vorfall ist mir noch deutlich in Erinnerung. Der Setzer Grantz, ein älterer Gehilfe, hatte einen Sohn an der Front, der war Unteroffizier bei den Pionieren, die Engländer hatten sich wieder mal 20 000 Gefangene abnehmen lassen, bei Ypern war der große Wurf gelungen, und Grantzens Sohn war auch dabei gewesen. Genau wusste das zwar der Heldenvater nicht, aber aus Ypern lauteten die letzten Briefe und daraus ließ sich ja vermuten, dass der Pionier diese große Schlacht mit geschlagen und gewonnen hatte. Nicht wenig stolz auf den Ruhm der deutschen Waffen, kaufte sich Vater Grantz eine schwarzweißrote Fahne und noch am selben Abend flatterte sie vor seinem Fenster. Das veranlasste mich, am nächsten Tage die bescheidene Bemerkung zu machen, ob Herr Grantz denn nicht mal daran gedacht habe, dass an Stelle der schwarzweißroten Fahne eventuell eine schwarze hängen müsste? — „Ach, Quakerei, mach deine Arbeit und halt's Maul!" war die Erwiderung. Etliche Tage später kam die Nachricht: Pionier-Unteroffizier Grantz beim Sturm auf----------gefallen!
Immer mehr Genossen aus unserer Mitte wurden eingezogen, wie durch einen großen gigantischen Sauger wurde alles herausgesogen, was um die Menschen und an den Menschen war. Lebensmittel gab es nur noch durch Anstehen in langen Schlangen. Diese Hungerschlangen waren zum typischen Straßenbild geworden. Melancholisch lagen sie da, in Stumpfheit verfallen, fast wie ohnmächtige Ungeheuer. Sie lagen in Krümmungen um Straßenecken herum oder auch an Wände gequetscht. Es gab Momente, wo sie lebendig wurden, zeitweilig wild, zusammengerollt zum unentwirrbaren Knäuel, fauchend, zornsprühend. Es waren aber Bändiger da, die darüber wachten, dass diese Schlangen nicht gemeingefährlich wurden. Die Autorität dieser Bändiger war damals diesen Schlangen gegenüber noch ziemlich groß, nur ganz selten gab er hier und da ernsthafte Zwischenfälle.
Einen solchen erlebte die kleine Eibstadt Tangermünde. Dort befindet sich eine der größten deutschen Zuckerraffinerien. Kein Wunder, dass die Proleten sich den Kunsthonig schon beizeiten übergegessen hatten. Aus diesem Grunde bekam eines Tages der Bürgermeister eine gehörige Tracht Prügel und einen Anstrich mit Kunsthonig, was wiederum Veranlassung war, Militär aus Stendal hinzuzuziehen. Hierbei konnte es Krause (Oberstkommandierender des Landsturmbataillons in Stendal) nicht unterlassen, die Tangermünder
Proleten zum Steineschmeißen zu verführen. Krause ging verbeult wieder nach Hause.
In Tangermünde war von uns seinerzeit eine Jugendgruppe gegründet worden. Die Erinnerung an den beispiellosen Erfolg dieser Gründung ist mir stets ein Ansporn gewesen bei ähnlichen Unternehmungen. Einmal wegen des ungeheuren zahlenmäßigen Anwachsens der Gruppe, die uns in Stendal in wenigen Wochen um ein Vielfaches überholt hatte, dann war es eine Lust, mit diesen Tangermünder Genossinnen und Genossen Umgang zu haben. Zwar waren sie nicht gerade sehr geschulte Leute, aber sie führten bei jeder Gelegenheit eine vernünftige, proletarische Manier ins Treffen, die sich stets zum Segen der Bewegung selbst auswuchs. Die Tangermünder haben einen besonderen Vorzug gegenüber den Proletariern anderer Kleinstädte. In der Altmark bin ich in vielen Städten herumgekommen, die an Einwohnerzahl ungefähr dasselbe waren wie Tangermünde, deren Proleten jedoch in keiner Weise an die Regsamkeit in der Arbeiterbewegung heranreichten, wie sie die Tangermünder an den Tag legten.
Wir hatten das Pech, dass gerade zur Zeit des größten Kohldampfs zugleich auch unser Appetit ein riesengroßer war. Ach, waren wir eine verhungerte Kolonne, aber Not bricht Eisen — und bald waren wir eine verfressene Kolonne. Auf Fahrt gingen wir natürlich immer noch, doch es waren eigenartige Fahrten. Unsere Lieder waren auserwählt; kam ein belebter Teich in Sicht, sangen wir (nicht immer sehr laut) das schöne Seeräuberlied:
Und der Kaufmann zittert vor Angst und vor Weh, Den Matrosen entsinket der Mut,
Wenn am schwankenden Mast unsre Flagge sich zeigt, so rot wie das Blut-----------
Es gab auch Lieder ohne Worte, d. h. die wurden in gegebener Situation weggelassen, z. B.:
Vom Staube, vom Staube da werd' ich nicht satt, wenn ich weiß, wo der Bauer die Wurst hängen hat.-----------
Es kommt vor, dass ein Buchdrucker manchmal recht klebrige Finger hat, denn er hat viel mit Kleister zu tun bei seiner Arbeit,
und da ist es schließlich verständlich, wenn er 50—60 000 Brotmarken durch seine Hände gehen lassen muss, dass da einmal ein paar hängen bleiben. Nun gab es Kriminalbeamte, die für ihre anstrengende Tätigkeit bedeutend mehr Betriebsstoff brauchten, als sich aus 3 Pfund Kriegsbrot herausquetschen ließ; da vermuteten sie natürlich auch bei anderen denselben Konsum.
Einmal war ich bei meinem Vetter Franz, um bescheiden anzufragen, was an seinen Fingern kleben geblieben sei. Franz aß gerade eine große Schüssel grünen Salat, als es plötzlich klopfte. Klopfen?
— das war ein verdächtiges Zeichen. Ein entschlossener Griff, und die Klebengebliebenen wanderten unter den Salat in die sacharingesüßte Soße. Zwei Sekunden später ließen wir ein freundliches „Herein" vernehmen. — Wir müssen leider — — Haussuchung!" — „Warum? — Na, wegen mir, meinetwejen, stört mir nich." — „Gestattet Ihnen denn Ihre Brotkarte, zu einer Schüssel Salat fast ein halbes Brot zu essen? Sie haben sich ja da, einen ganzen Teller Brotschnitten zurechtgelegt." — „Wenn Ihnen Ihre Brotkarte det nich jestattet, wat mir sehr leid täte, denn könn' Se hier ein bischen mit abblättern, jreif'n Se zu, falls det nich reicht, ick hab noch mehr." —
— „Ja, aber woher haben Sie denn das viele Brot?" — „Nu, wenn man bloß an een Dag in der Woche Brot isst, denn reicht' et janz jut."
— Emsiges Suchen folgt! Ohne Gruß rückt die Gesellschaft ab.
Nichts war's.
Manchmal wurden wir auch zu „Selbstversorgern". Einer unserer Streiche ist mir noch deutlich in Erinnerung: Es war zu der Zeit, als sich die Armen von den Reichen dadurch verschieden anließen, dass die ersteren aussahen, als hätten sie absolut keine Luft mehr drauf, und die anderen, als hätten sie eben erst frisch aufgepumpt. Also zu dieser Zeit wurde mit 4 Stunden Verspätung um 3 Uhr morgens in einer verschwiegenen Bodenkammer eine selbstgefertigte Kerze angezündet. Eine Axt, eine Leine, ein Sack mit Inhalt, das ist Inventar, welches in dieser Kammer und bei der Beleuchtung ungeahnte Möglichkeiten in sich birgt. Bald setzte sich Vorgenanntes in Marsch. Die Kerze blieb zurück, dafür ging eine Taschenlampe mit, denn die ist beweglicher. Bewegung tut not; was sich nicht bewegt (in einer solchen Zeit), ist erschossen.
Der Frost war hart, der Wind schneidend; schussartig kam er hinter den dicken Ghausseebäumen hervor. Keiner ließ sich etwas merken, so sehr auch die Ohren in der winterlichen Zange saßen. Der Weg war genau aufgezeichnet, es bedurfte keiner Orientierung. Die Beinarbeit war mechanisiert. Nur die Axt hüpfte von der einen auf die andere Schulter. Wald umfing und verschlang die nächtlichen Wanderer. Sie krochen hintereinander in eine etwa zwölfjährige Durchforstung. — „Hier, halt mal! Jck jloobe, der hier is' richtig."
— „Meinste? is' er nich' krumm?" — „Warte, erst horchen.-----------
Na? Also los!" — Der erste Schlag an den gefrorenen Stamm der jungen Tanne war in den Ohren wie ein großer Gong, ein alarmierender, ein Signal für alle umliegenden Ortschaften. Halt! Horchen -----------weiter. Halt, horchen-----------noch ein Schlag, dann brechen. „Sooo-----------aber halt mal, wir säbeln die Äste draußen ab.
Da können wir uns besser rühren. Der jeht, wat?"
„ Klar — na, det eene Ende is'n bischen dünn, oder meinste nich! Vorn die Scheune, da jeht's links ab, und dann immer hinter den Järten lang."
„ Ick bin im Bilde. Wo bleibt der Boom liegen?" „Mindestens 1000 m vom Dorf." —
Rauhreifiges dürres Gras und überfrorene Pfützen krachten leise unter den sohlenlosen Stiefeln, wie ein kräftiger Spieß stieß sich die Spitze der gehauenen Tanne in die fast zu helle Nacht. Es ist gewiss als kultureller Fortschritt zu betrachten, wenn Menschen in den Nächten auf ihren Spaziergängen schönbeleuchtete Pfade wandeln können. Aber die Zeit war eben eine andere geworden. Es war Krieg, und zwar nicht nur an den Fronten, auch in der Heimat wurde gekämpft. Wer nun mal an einer richtigen Kampffront war, muss wissen, dass alle nächtlichen Kampfhandlungen ohne Beleuchtung vor sich gehen. Und hierin waren sich der Kampf an der Front wie in der Heimat gleich. Noch in einem anderen Punkt ließ sich dieser Kampf identifizieren: an der kriegsmäßigen Front wurde der Gegner oft als Schwein bezeichnet. Der Franzose nannte uns bekanntlich Boche, was so etwas ähnliches wie Schwein heißt. Bei uns war es nicht selten zu hören: Die Schweine, die gottverdammten (Russen, Engländer, Franzosen, Amerikaner). Also, kurz zu sagen: dieser nächtliche Überfall war ebenfalls auf Borstentiere gerichtet.
Es handelte sich in diesem Falle um einen noch nicht erprobten Feind. Es lagen noch keine praktischen Erfahrungen zugrunde. Darum ahnte auch noch niemand, dass das größte Verhängnis bereits
vom Moment des Beginnens des Kampfes über ihnen schwebte: die vierstündige Verspätung! Der Feind war nicht mehr im ersten Schlaf zu überrumpeln. Er lag schon in traumhafter Vorahnung des Morgenkaffees, wobei jedes, auch das kleinste Geräusch ihn um etwas mehr in das Wachbewusstsein schob. Auch gibt es bekanntlich unter allen schlafenden Wesen leise schlafende und festschnarchende.
Die Stelle der entscheidenden Handlung war erreicht. Ein letztes Hindernis in Gestalt einer ziemlich hohen Holzplanke wurde sachgemäß überstiegen. Jetzt galt's. Augen und Ohren offener als offen. Jeder Tritt erforderte doppelte Elastizität. Schatten mit Scharfsinn und Muskeln. Feste Griffe an Holz und Eisen, so leicht wie ein gehauchter Kuss. Die Tür war noch zu und doch schon auf. Ein riesiges Schloss ging klanglos ab, ins Jenseits. Nur ein letztes Ächzen kündete seine jäh unterbrochene Lebensbahn. Das genügte jedoch, um den Hofhund pflichtgemäß seine entsprechende Bemerkung zu entlocken. Trocken, unbestimmt, zerstreut klang sein heiseres „Whau". Die Sprache der Hunde zu kennen, ist in solchen Zeiten unbedingt wichtig, sozusagen eine soziale Notwendigkeit. Hätte diese Hundeseele an Stelle des einmaligen „Whau" ein gedehntes Knurren vernehmen lassen, so hätten wir eine Frühstückspause einschieben können, um den Köter wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Aber solche Antwort auf unsere, durch das ächzende Schloss dargelegte Absicht war 80 Prozent ungefährlich. Etwa wie wenn ein Taschendieb ungeschickt ist und erhält von seinem Opfer die Antwort: ,.Sie sind sehr ulkig, mein Herr, aber ich bin durchaus nicht kitzlig."
Es kann dem Hunde auch nicht nachgesagt werden, er sei ein Stümper in seinem Beruf gewesen, sondern zu seiner Ehre sei gesagt, dass die Entfernung vom verendeten Schloss bis zu seinem Hause eine verhältnismäßig große war. Entfernungen schätzen ist eine Kriegskunst, die jeder Krieger beherrschen muss, ebenso wie er ein gewisses Orientierungsvermögen braucht.
Großbauern sind nicht nur groß im Besitz von Land, sie sind auch noch groß im Knausern, für nebensächliche Dinge geben sie kein Geld aus, so z. B. für Schmieröl zum Schmieren von Schweinestalltüren. Wie Maschinengewehrfeuer hämmerte die kaum berührte Tür
ihr Knarren in die Nacht. — Stopp, zum Deibel-----------Der Hund?
— Nichts. Die Schweine!! Wir beißen die Zähne zusammen. Solche Schweine, verdammte Schweine! Sie waren sämtlich aufgestanden, wie auf Kommando. Grunzten fröhlich und sagten sich guten Morgen. — Taschenlampe — Licht, die Axt, Licht-----------darauf hatten
diese elenden gottverdammten Schweine nur noch gewartet, denn Licht war für sie offensichtlich nur ein Signal, um sofort laut und vernehmlich ihre sämtlichen Wünsche für die nach ihrer Meinung beginnende Fütterung vorzutragen. Sie spornten sich gegenseitig an. — „Licht aus, — Mensch." Aber nun erst der Krach, ohwehohwehohweh, jetzt fühlten sie sich wahrscheinlich betrogen, geneppt, veräppelt. Raus, raus, weg-----------nix wie weg! Die Schweine, die
elenden Schweine. Aus war's mit Schweinen.
Wir erlebten einen fürchterlichen Sturz, wir fielen aus einer großen Höhe. — Schweine waren doch mächtige Tiere, zu stark und zu hoch für uns. Wir hatten kein Glück mit Schweinen. Wir hatten eben kein Schwein. Aber trotz alledem, mitten im Sturz besannen wir uns, mitten im Fallen hielten wir inne und fielen nicht auf die harte Erde, sondern landeten auf einem Huhn. Vom Schwein herunter auf ein Huhn. Was nun folgt, war nur noch mit der Stoppuhr chronometrisch zu erfassen. Deshalb muss es in Zeitlupe wiedergegeben werden. Also in Sekundenabstand: Ein von Wut und fieberiger Wucht geführter furchtbarer Schlag mit der Axt auf das Schloss des Hühnerstalls — entsetzlicher, mörderisch geheilter Protest des Hundes, der sich aber doch nicht ganz heranwagt — Todesschreien im Hühnerstall — aufflammendes Licht im Wohnhaus — katzenartige Flucht über die Planke — schöner erfrischender Lauf durch die kalte sternklare Nacht. Endlich geht's im Schritt, die Leine, Axt und Sack mit Inhalt gehen mit.
„— Det jibt aber ne fette Brühe — Manometer — Manometer, sind die Hühner aber fett! — Weeßte, wat ma machen?" „Wat'n?" „Wir nehmen den jroßen Petroleumkocher und setzen eens uff, haun uns in de Klappe, und wenn wa uffstehn, fressen wir't uff. Sind se alle drei so fett? Schütt mal aus die Viecher, — mal seh'n. Ei Backe, solche Bengels, pass uff, wat ick jetzt mache, ick binde de Beene zusammen, weßte wie wa det mit det Schwein machen wollten und du haust da aus'n Busch en Knüppel, den steck'n wa durch die Hühnerbeene un dann jeht's los."
Ein langer Knüppel, in der Mitte drei Hühner hängend, an den Enden zwei fest ausschreitende Burschen. Der vorderste hält in der Rechten eine scharfe Axt, der hintere trägt über der Schulter einen Sack, aus dem taktmäßig leise, fast lustig, Eisen gegen Eisen klingt. Große Straßen werden gemieden, durch Wald, über Felder, Wiesen, hartgefrorene Ackerschollen geht's bis an die Stadt. Vorsichtig geht nun der eine 150 m voran, aller verdächtigen Gegenstände entledigt, scharfer Husten ist für den Hintermann Signal zum Rückzug, leiser Husten bedeutet Vorsicht. Für alle Fälle retteten die Beine, da kam niemand hinterher. Denn längst war der Hunger gebannt. Alle standen durchaus fest auf den Beinen. Kohlrüben, Marmelade, Hindenburgsuppen, Rübensaft, 40 g Margarine usw. waren gänzlich wertlose Dinge, die nicht beachtet wurden.
Im Betrieb jeden Tag heilloser Schnellschuss, arbeiten, arbeiten, arbeiten. Überstunden und immer wieder endlose Überstunden, keineswegs reichte der Lohn bei uns Lehrlingen. Da hieß es, sich nach etwas umsehen, wenn man nicht dabei gänzlich auf den Hund kommen wollte. Furchtbar legte sich der Hunger in die Leiber. Für Bekleidung aus vollständig unbrauchbaren Rohstoffen musste der Prolet sein schwerverdientes Geld ausgeben. Hemden aus Papier, Schuhsohlen aus allem unmöglichen Material. Öle für Beleuchtungszwecke spotteten jeder Beschreibung, sie stanken, wie die Pest und räucherten die Wohnräume ein. Alles war eingestellt auf das unbedingt siegreiche Ende des Krieges.
Aber schon lange war die Entscheidung gefallen, das stand uns Jugendlichen deutlich vor Augen. Die Sieger und Besiegten waren für uns nicht außerhalb der Grenzen, sondern innerhalb. Wilhelm II. kannte keine Parteien mehr. Wir jedoch dachten damals durchaus richtig, dass ein halbverhungerter Jungproletarier, der 12 Stunden schwerste Arbeit am Tage zu leisten hat, und ein vollgefressener, fauler Großbauer zwei verschiedene Parteien sind und bleiben, trotz Wilhelm II., Krieg und Burgfrieden.
Wir pfiffen auf alle Verdächtigungen, die wir einzustecken hatten, wenn mal ein derbes Stück Wurst in unserer Faust den Neid derjenigen erregte, die sich in der Zeit der größten Unordnung, des gemeinsten Betrugs etwas darauf einbildeten, ehrliche, ordnungsliebende, gesittete Bürger zu sein.
Im Betrieb war es nicht mehr zum Aushalten. Der Krauter wollte eine von mir geforderte Lohnerhöhung nicht rausrücken. Darum beschlossen wir, ich und mein Freund Theodor, dem genau dasselbe mit seinem Krauter passiert war, einen Streik. An einem Montagmorgen zogen wir los. Wohin? Darüber war zwischen uns beiden noch kein Wort gefallen. Jedenfalls torkelten wir ab, uns genügte der Gedanke, dass der Krauter seinen Mist selber machen solle. Gerade zur Frühstückspause tauchte ein Dorf vor uns auf. Es war das zwischen Stendal und Tangermünde gelegene Bindfelde. Theodor wusste dort einen Bauer, der jedes Frühjahr zum Zuckerrübenverziehen Schuljungen und Mädchen mit seinem Fuhrwerk aus der Stadt holte. Das war ein elender Geizkragen, der zahlte für den Nachmittag bis tief in den Abend hinein nur 40 Pfennige, obwohl er bei der Anmusterung den Kindern 50 Pfennig versprach. Zum Kaffee gab's nur Schmalzstullen. „Der freut sich gewiss schon, dass wir kommen, damit er ein Frühstück auspacken kann!"
Als rechtschaffener Christ hatte dieser Bauer ein Schild an seiner Tür mit der Aufschrift „Vorsicht, bissiger Hund!", was uns nicht im mindesten schreckte. Wahrscheinlich hatte der Hund andere Begriffe von Gastfreundschaft; er sah uns freundlich an, gähnte laut, wobei man deutlich seine Zustimmung zu unserem Besuch bemerken konnte. Der Bauer saß mit seiner Familie beim Frühstück und war offenbar gleich fertig damit. Darum holte er weit aus mit seiner Rede, die er mir hielt, um mich davon zu überzeugen, dass ich bedeutend wohlhabender sei als er, dass in der Stadt jetzt ein Sündengeld verdient würde. Wer jetzt in die Munitionsfabriken geht, wird in kurzer Zeit ein schwerreicher Mann. Dagegen er, er sei schon alt und könne nicht mehr richtig weg. Ich sei noch jung und stark, da läuft man doch nicht in der Welt rum und bettelt, da müsse man doch Unternehmungsgeist haben und was sonst noch alles.
Ich hörte geduldig zu, denn den Unternehmungsgeist hatte einstweilen mein Freund Theodor. Als ich so ungefähr dachte, dass sich die Sache gemacht hätte, entschuldigte ich mich, gestört zu haben, wünschte guten Appetit, sagte höflich guten Morgen und ließ den Bauern in seiner Einbildung zurück, dass ich nun zwar noch nicht gefrühstückt habe, aber sonst doch ein besserer Mensch geworden sei durch die Kraft seiner Rede. Und kurz danach, als der Bauer bei sich dachte, na, den häste ober richtig en uppbunden, den häste ober richtig awwimmelt, ließ Theodor das Resultat seiner Unternehmungen in Form einer 1-Pfunddose Leberwurst durchmerken — durchmerken durch seinen Rucksack, denn wir waren noch auf der Dorfstraße. Der nächste Bauer war vernünftiger, er ließ zwei trockene Brotschnitten springen, die waren zwar sehr dünn, aber uns genügte es. Kurz hinter dem Dorfe erdolchten wir die Büchse, legten das Brot scheibchenweise auf die Leberwurst und fühlten uns sauwohl, so wie ein Großbauer, wenn er gefrühstückt hat. Weiter ging's. Tangermünde kam in Sicht, ein erhebender Anblick. In der Mauerstraße wohnten zwei Genossinnen mit Namen Nothse. Wir wurden wie immer von der alten Mutter Nothse freundlich empfangen und warteten dort, bis die beiden Schwestern von der Arbeit kamen.
Warum diese Freude bei Nothses? Das lässt sich nicht recht erklären. Man sitzt da, spricht und lacht und aus dem Gesicht strahlt jedem die helle Freude. Vater Nothse sagt fast nichts, aber er freut sich, er lacht, als er sieht, wie uns Mutter Nothse einen Teller mit Bücklingen und einen Topf Pellkartoffeln hinschiebt zum Abendessen. Wir essen mit großem Appetit, und die Mädels lachen dazu. Ist es das winzige kleine Häuschen an der Stadtmauer, unter dessen Dach wir alle sitzen, das diese aufrichtige gastfreundliche Stimmung macht? Ist es die alte ehrliche Haut von Vater Nothse? Sind es die guten, treuen Augen der Mutter Nothse? Oder sind's die beiden Mädels? Es ist eben proletarische Gastfreundschaft!
Am Morgen zogen wir mit einer Courage über die Elbe, dass uns der Fährmann fragte, wo wir zwei Deubels schon so früh hinwollten? — „Nach Berlin!" — „Zu Fuß?" — „Jawoll!" — „Na, da könnt ihr aber lange loofen!" — „Is nich so schlimm; über Brandenburg/Havel und Potsdam, ungefähr 120 km, knapp drei Tage." Der Fährmann lacht. — „Ihr wärd't euch umkieken, mit die Stiebein kommt ihr vielleicht überhaupt nicht hin! — Na, denn schießt man los. Juten Mojn." Und wir wetzten los. Ein Dorf hinter Jerichow sollte ausgefochten werden. Als das Dorf erreicht war, stellte sich heraus, dass der Gendarm drin war; ohne Aufenthalt ging's weiter. Im nächsten fochten wir ein paar Brotschnitten zusammen. Ehe wir daran dachten, rückte die Stadt Genthin heran.
Da war ein Laden von einem Polstergeschäft. Theodor war Polsterer. „Da jeh ick mal rin, mal sehn, wat der jibt?!" Nach einer unendlich langen Zeit kam er wieder heraus. „Mensch, wat denkste, ick sollte jleich arbeeten; ick hab' halb zujesagt, aber in den Saustall würd' ick nie arbeeten, ooch nich, wenn ick wirklich ausjelernt hätte." In Genthin befindet sich auch eine Druckerei; als wir dort
vorbeitrabten, meinte Theodor: „Hau rin, Mann!" — Ich lehnte ab. — „Kann nich, Theodor, bei uns is det anders, hab' keene Reiselegitimation und keen Verbandsbuch, aber ooch als Jehilfe, in solcher Quetsche, niemals!" —
Für die 50 Pfennige, die der Polsterer herausgelangt hatte, quälten wir einer Bäckersfrau ein Stück markenfreies Brot ab. Das war nun unser Proviant bis kurz vor Brandenburg, wo wir in einem Dorf einige Pellkartoffeln und ein bisschen Quark erwischten. Abends 1/2 10 Uhr erreichten wir Brandenburg. Da es Ende Oktober und die Kriegsbeleuchtung der Straßen miserabel war, brauchten wir eine geraume Zeit, bis wir uns ins Heim der Arbeiterjugend durchgefunden hatten.
Wie groß war die Überraschung der Genossen, so plötzlich und so spät zwei Stendaler Genossen zu -sehen. Sie staunten noch mehr, als sie hörten, dass unsere Fahrt illegal war. Auf ihre Veranlassung bekamen wir in der gewerkschaftlichen Herberge ein sauberes Bett. Jeder eine Portion Kartoffeln mit Hering und eine Flasche Selterwasser. Oben im Schlafraum angekommen, mussten wir ein Donnerwetter einstecken wegen der Störung zu so später Stunde. Wie wir ratzten, kann sich jeder denken, denn es mögen etwa 40 km gewesen sein, die wir an dem Tage zurückgelegt hatten.
Am nächsten Morgen besichtigten wir Brandenburg und erschraken nicht wenig, als uns eine Uhr bereits 1/2 10 ansagte. Unser Ziel war Potsdam, auch wieder rund 40 km. Also fegten wir los. Nachmittags in Werder angekommen, verloren wir uns auf dem Jahrmarkt. Theodor ging austreten, ich wartete lange, aber im Trubel des Marktes fand ich ihn nicht. In der Meinung, er könne gedacht haben, ich sei schon in Richtung Potsdam weiter, tippelte ich ab. Nach geraumer Zeit meldete mir ein Radfahrer, ich solle auf meinen Kollegen warten. Nach etwa zehn Minuten kam Theodor in Sicht.
Auf der Chaussee nach Caputh begegnete uns ein fragwürdiger Kollege. Wir hatten große Lust, ihn anzusprechen. Doch er war, trotzdem er offensichtlich auch auf der. Landstraße lag, so verschieden von uns, dass wir davon Abstand nahmen. In der einen Hand trug er ein Paar hochelegante Lackhalbschuhe an den Füßen dagegen rosaseidene Strümpfe, wovon allerdings sozusagen nur noch das Oberleder übrig geblieben war. Von den sorgsam gebügelten Hosen an über das streng moderne Jackett bis zum Stehkragen mit seidener Krawatte war er Kavalier auserlesenster Sorte. Sein Kopf aber passte nicht auf die Garderobe, denn er sah aus, als sei er dem Totengräber von der Schippe gerutscht. Für seine Augen fand Theo erst drei Tage später den richtigen Ausdruck. Als wir in Berlin in einem Museum vor einem Bild standen, das den gekreuzigten Jesus darstellte, sagte er: „Siehste, solche Oogen hatte der feingemachte Penner vorvorjestern ooch." —
So genau wir diesen seltenen Burschen ansahen, so wenig beachtete er uns. Er hielt es wahrscheinlich für unter seiner Würde, einen Blick an uns zu verschwenden. Wir sahen lange hinter ihm her. Er ging ganz langsam, unsicher schwankend, als müsse er Glasscherben und spitzigen Steinen ausweichen. — „Vielleicht hat'a jestern noch in Berlin in Sekt jeschwommen und vielleicht schwimmt a morjen schon in da Havel", meinte Theo.
In Caputh erbten wir zwei große Schweineschmalzstullen. Es war bereits dunkel, als wir nach Potsdam gelangten. Wo schlafen? Wir prüften gerade eine Baubude auf die Möglichkeit einer Übernachtung, als ein großer Hund ganz in der Nähe bellte. Wir glaubten uns entdeckt und rückten schleunigst ab. Nach langem vergeblichem Suchen fanden wir einen umzäunten Platz, wo eine Unmenge Wagen aller Sorten aufgefahren war. Ein Schild belehrte uns, dass es sich hier um einen königlichen Fuhrpark handelte. „Hier muss et klappen und wenn ma in eener kaiserlichen Equipage pofen müssen!" Ein Satz über den Zaun, und unbemerkt schlichen wir zwischen den Wagen einher. „Du, der Möbelwagen, wenn der uff is? Au ja, Mensch, der is uff und Stroh is drin!" Wir taten einen verhaltenen Jauchzer, als aus dem Stroh eine Stimme aufstieg, die gegen unseren Eintritt protestierte und seltsamerweise sofort mit der Polizei drohte, worauf wir ziemlich gelassen antworteten: „Na, denn lass dir man nich erwischen." Jetzt kamen wir an einen Schuppen, worin es stockfinster war. Nicht mal seine eigene Nasenspitze konnte man sehen. Wir stolperten drin herum und fühlten uns einen Wagen von vielen anderen heraus, der Polstersitze hatte und worin ein Läuferteppich lag. Die Polstersitze ließen sich abnehmen. Flachgelegt im Wagen bildeten sie eine annehmbare Matratze, mit dem Läuferteppich deckten wir uns zu und so schnarchten wir, bis — vor Kälte zitternd — an Schlaf nicht mehr zu denken war; also machten wir uns auf die Socken.
Da ertönte plötzlich von irgendwoher ein Choral. Wir waren noch im Schuppen und stritten uns, was das für ein Instrument sei und welcher Fatzke schon so früh solchen ruhestörenden Lärm mache. Von einem Glockenspiel hatten wir keine Ahnung. Dass es sich um ein solches handelte, haben wir erst erfahren, als der Spektakel noch einmal losging. Ach, wie klapperten uns vor Kälte die Zähne. Es war nicht möglich, die Zähne nicht klappern zu lassen. Nun standen wir da, hatten keine Ahnung, wo der Weg nach Berlin ging. Niemand war da, den man fragen konnte. Es war augenscheinlich noch mitten in der Nacht.
Wir froren entsetzlich und klagten über furchtbaren Hunger. Theo schlug vor, noch einmal in den Wagenschuppen zurückzukehren. Als ich den Bahnhof nannte, ging's ohne Besinnen ab. Keiner wusste, ob unsere überhastigen Schritte zum Bahnhof führten. Endlich kam uns ein Soldat entgegen, der bedeutete uns, dass der Bahnhof in entgegengesetzter Richtung läge, aber wir könnten uns Zeit lassen, es sei jetzt drei Uhr, und der Bahnhof würde erst um 1/2 5 Uhr geöffnet. Trotzdem trabten wir zum Bahnhof. Nachdem wir noch eine gute Stunde fluchend und zähneklappernd vor dem Bahnhof herumgelungert hatten, wobei Theo den Potsdamer Bahnhof als den elendesten Bahnhof hinstellte, der ihm jemals vor die Augen gekommen sei, schlüpften wir in den Wartesaal.
Zu meinem Erstaunen hatte Theodor ein paar Mohrrüben und kalte Pellkartoffeln. Wir verzehrten sie. Der Ober wünschte „Guten Appetit", um 7 Uhr schmiss er uns hinaus.
Als erstes beäugten wir die Bittschriftenlinde. Es gefiel uns rein gar nichts in Potsdam. Wir waren nicht einmal interessiert an dem sterblichen Zubehör Friedrichs des Großen. Wir krochen umher wie Bienen im März. Uns fehlte etwas, und gerade das fanden wir nicht: — Futter. Wo ein Ladenschild wissen ließ, dass ein Fleischer hier sein Quartier habe, fanden sich im Schaufenster nur Blumentöpfe. Beim Kolonialwarenhändler sah es aus wie bei einem Trödler, er besaß so allerhand, aber nichts Vernünftiges, — lauter Kartonagen, Attrappen, Blechbüchsen und einen Schwarm Tüten oder Päckchen, die allerdings schon alle entwertet waren durch den Stempel „Ersatz" oder „Surrogat".
Wir krochen die Straßen auf und ab, es war entsetzlich öde in Potsdam. Theo erfocht bei einem Meister etliche Groschen — aber
was kaufen? Wir besaßen keinerlei Lebensmittelkarten, nicht einmal Brotkarten. Zuletzt ärgerten uns all die großen Gebäude, Kirchen, Denkmäler, Kasernen. Viel Steine gab's und wenig Brot.
Ü ber eine Brücke führte die Straße nach Berlin. An dieser Straße liegt eine Stadt, die heißt Nowawes. Als wir durch Nowawes zogen, fühlten wir uns bedeutend wohler als in Potsdam. Hier gelang es uns, etliche Äpfel und ein Stück Brot zu kaufen. Mit diesem Vorrat, den wir sogleich sorglich verwahrten, da wo er am sichersten war und wo es vor Leere schon förmlich brannte, stiebelten wir die letzten Kilometer herunter und standen dann am Ziel. Berlin, das schö', Berlin, das fei', Berlin, das großartige Berlin, das verhungerte, hatte uns zu Gast. Das war ein Fest.
In der Danckelmannstraße 42 wohnte eine Tante von Theo, die suchten wir auf. Als wir nun etwa zwei Stunden bei dieser Tante gesessen hatten, und diese auf unsere lautbarsten Bedürfnisse immer noch nicht reagierte, verwandelte sich unsere anfängliche Freude darüber, einen Menschen unter diesen drei oder vier Millionen zu besitzen, der die Verpflichtung hatte, uns zu fragen, ob wir zu essen wünschten, in eine bittere, staunende Enttäuschung. Alsbald erschien ein Mädel, eine Kusine von Theo. Sie setzte sich an den Tisch: — nach kurzer Begrüßung brannte sie sich eine Zigarette an, mit den ersten tiefen Lungenzügen gab sie uns folgenden Rat: — „Tscha, wenn ihr nischt zu fressen habt, müßt'a roochen." — Dann fragte sie, wie es uns ginge, und ohne unsere Antwort abzuwarten: „Mir jeht's so lila, wenn ick bloß nich den Ärjer hätte mit meinem Kerl, aba ihr jloobt nich, wat det für'n schlechter Mensch is!" Sie erzählte uns sehr ausführlich die kompliziertesten Ehebruchsgeschichten; wir wälzten uns von einer Verlegenheit in die andere.
Plötzlich meinte die Tante, ob wir denn Elfriede nicht mal besuchen wollten? Elfriede war eine Schwester von Theo. Elfriede in Berlin? Nanu! Selbstverständlich, sofort. Neue Möglichkeiten tauchten auf. Elfriede ist bei sehr feinen Leuten in Stellung. — Sehr fein
— das war bei uns gleichbedeutend mit — sehr viel zu essen —. Wir beschlossen, so früh wie möglich morgens aufzustehen und Elfriede zu besuchen oder, besser gesagt, zu untersuchen, wie fein wohl die Leute wären, wo sie in Stellung war. Die Tante machte endlich Miene, Abendbrot zu essen. Ein Teller Haferschleim für jeden und
— aus. Die Kusine warf sich in Schale und verschwand. Die Tante zog sich aus und fragte uns, ob wir noch aufbleiben wollten? Wir wussten nicht, warum wir noch aufbleiben sollten; wir kamen uns vor, als hätten wir überhaupt keine Daseinsberechtigung. Warum waren wir denn eigentlich so schnell nach Berlin gerannt? Alles schien uns sinnlos. Wir schliefen in einem großen Bett.
Theos erste Worte am Morgen waren: „Woll'n wa nich uffstehn, det wa noch zum Kaffeetrinken nach Elfriede komm'n? De Olle jibt uns doch nischt." Anziehen, waschen ohne Seife, und schon setzten wir uns in Marschrichtung Fischerufer 22. Dort angelangt nach vielem Fragen und Suchen, hatten wir das für einen Portier anscheinend unverzeihliche Pech, ein an dem Haustor angebrachtes Schild mit der Aufschrift: „Aufgang nur für Herrschaften" zu übersehen. Er nagelte uns auf den ersten Stufen der Treppe fest. — „He, ihr mit eure Misttreter, wollt ihr mal gleich von de Treppe runter, könnt ihr nich lesen, ihr Bauern?" Lesen konnten wir zwar, aber begreifen noch nicht gleich, was der brüllende Löwe von uns verlangte.
„ Runter komm', sofort!" dröhnte es in unseren Ohren. Er stieß uns in einen Keller hinunter, knuffte uns eine ziemlich schmale Treppe wieder hinauf und zeigte mit geballter Faust auf ein Schild, indem er schrie: „Hier Aufgang für Dienstpersonal!"
Mich empörte das Verhalten des Grobians nicht wenig; ich ließ mir von Theodor bestätigen, dass wir doch hier kein Dienstpersonal wären, und Theodor wandte sich sogleich mit dieser Feststellung an den Portier, worauf dieser wieder erklärte, uns unverzüglich recht plötzlich rausschmeißen zu wollen. — Das könnte er ja mal versuchen, war unsere Antwort. — „Ihr Lauselümmels, rausrraus!" — Wir fühlten uns stark und waren aufrichtig wütend über die Beleidigung. Er stürzte auf uns zu, fragte, was wir hier zu suchen hätten, und zog sich auf. meine Antwort, dass wir Elfriede Hoff mann, meinem Kollegen seine Schwester, besuchen wollten, wieder zurück, wobei er etwas von vierter Etage knurrte.
Elfriede kippte beinahe vor Überraschung aus den Latschen. Nach zehn Minuten aßen wir bereits einen Teller Bratkartoffeln. Nach weiteren zehn Minuten tranken wir Fleischbrühe, wozu wir selbstgefertigtes Teegebäck aßen. Danach tunkten wir Brotstücke in Bratensoße. Nunmehr, meinte Elfriede, müssten wir wieder gehen, denn die Gnädige könnte unter Umständen früher aufstehen als sonst, und das gäbe einen unnötigen Spektakel. Am Abend würden wir uns bei der Tante wieder sehen. Sie gab uns noch zwei Mark mit der Erklärung: „nur vorläufig".
Nun sah Berlin schon etwas freundlicher aus. Wir gerieten in den Tiergarten und fragten uns, ob das noch Berlin sei? Als wir dann unseren Argwohn einen Spaziergänger merken ließen, staunten wir nicht wenig, dass wir nur in einem Park wären, der jedoch mitten in Berlin läge. „Gehen Sie nur immer weiter, dann kommen Sie an das Brandenburger Tor." — „Mensch, und dahinter die Bäume, det Schloss, wat? Mal'n Schutzmann fragen!" — „Morjen — Mahlzeit — Is det dat Schloss?" — „Ihr habt woll'n Piep, ihr wollt woll Leute vaäppeln? Wat?" — „Nee, det nich', wir sind hier fremd!" — „Ab, verschwinden! oder sonst jeht'a mit!" — „Mensch, hier sind de Spitze aba frech, bloß mal fragen und schon, sonst jeht'a mit." Wir fragen einen Schornsteinfeger, — keine Antwort. Ein Photograph erteilt Auskunft. Also, der Reichstag. Das interessierte uns besonders, wir gingen rund herum und stiefelten extra noch die Freitreppe hinauf. Unter den Linden! Alles entlockte uns staunende Bemerkungen. Jetzt war es der Lustgarten; wir rutschten in eine Bildergalerie, in ein Museum, selbst in die Kirche zu gehen scheuten wir nicht. Bei all der Verwunderung erinnerte Theodor rechtzeitig an die leiblichen Bedürfnisse. In der Brüderstraße, in einer stinkenden Kneipe, landeten wir und warteten laut Speisekarte auf — „Möhren in würziger Tunke." — Wir wurden enttäuscht bis in unser tiefstes Innere.
Auf einem Teller, der so flach war, dass er den Namen Teller nicht mehr verdiente, lagen erschrecklich wenig Rüben, und von der würzigen Tunke konnten wir trotz eingehender Forschung nichts entdecken, weder mit den Augen noch mit der Zunge. Zu der tiefreichenden Enttäuschung kam noch eine empörende Überraschung hinzu, als der Wirt sein „Kasse, meine Herren!?" auf uns herniederschmetterte. Der Zweimarkschein von Elfriede zerfloss in ein paar lausige eiserne Groschen. Wir fühlten uns maßlos bemogelt und zogen beleidigt ab, ohne zu grüßen.
Wir liefen durch öde graue Steinhaufen, vorbei an Menschen, Autos, geschundenen Pferden. Hass, Leid, Hunger in tausend Formen begegnete uns. Menschen, die alle irgendwo oder wie einen Knacks bekommen hatten.
Uns fror, wir hatten Hunger, Hunger eine Stunde nach dem Essen, wirklichen ehrlichen Hunger. Auf dem Lehrter Bahnhof wärmten wir uns im Wartesaal. Berlin war uns furchtbar piepe. Wir sehnten uns zurück in unsere heimatlichen Gefilde. Hier in diesem Gewühl mussten wir verloren gehen, das lag uns in den Knochen. Der Abend kroch aus allen Winkeln und Ecken, Kellern, Toren und Kanälen, nur noch der Himmel zeigte einen gelben Schein. Ein Tag schlich sich hinweg von dieser Erdenhälfte, gleichsam als hätte er die Schnauze voll. Wir schleppten unseren Kohldampf mühsam nach Charlottenburg zurück. Einer trabte hinter dem anderen her. Jede Lust zur Unterhaltung, unser sonst so reger Mitteilungstrieb war uns abhanden gekommen. Theodor ging etwas lahm, weil seine Schuhe drückten. Ich betrachtete ihn von hinten und dachte so beiläufig, es könne kaum noch der alte Theo sein, er schien kleiner geworden. Unser Weg ging wieder durch den Tiergarten; dann endlos geradeaus. Rechts ab geht die Danckelmannstraße, das wussten wir, also nur bei jeder Seitenstraße das Schild lesen. Rechts herum — endlich kommt Nr. 42. Da is' keener zu Hause, meinte Theodor und setzte sich auf das Fensterbrett im Treppenflur. Und wirklich, mit dieser Tante klappte es ganz und gar nicht. Sie ließ uns lange warten. Als wir gerade unseren Geduldsfaden abreißen lassen wollten, kam sie angetrottelt. Bald danach ließ sich auch Elfriede sehen, was uns sichtlich erheiterte. Denn das gute Mädchen hatte sich nicht lumpen lassen und brachte das so heiß ersehnte Abendbrot mit.
Wieder lagen wir in der Kapsel und wieder tippelten wir in Richtung Berlin. Wieder lungerten wir im Museum und in der Bildergalerie umher, jedoch alles war uns schnuppe. Die Stilleben mit herrlichen Früchten, Geflügel, Wein und Delikatessen ließen uns das Wasser im Munde zusammenlaufen. Wir hätten gern das ganze Berlin gegen ein einziges fettes altmärkisches Dorf ausgetauscht. Wir fassten den Entschluss zu flüchten, gleich morgen in aller Frühe. Vorgesehen hatten wir drei Tage Marsch über Rathenow nach Stendal zurück. Elfriede machte einen Strich durch diese Rechnung, indem sie ihre milde Hand noch einmal auftat und ein Almosen fallen ließ auf unser sündiges Haupt.
Damit gingen wir zum Lehrter Bahnhof und dampften ab. Wir hatten von unserem Empfang in Stendal eine üble Vorstellung. Kein Mensch wusste, wohin wir getürmt waren, darum vermuteten wir ein etwas stürmisches Wiedersehen von seiten unserer Eltern. Vor dem Meister und seiner Standpauke fürchteten wir uns absolut nicht. Mochte der seinen Seilerabi runterleiern, er leierte bei jedem Mist. Hunde, die viel bellen, beißen nicht. Aber alle, alle konnten hinter ihren kunstvoll zurechtgelegten Zornesäußerungen ihre aufrichtige Freude über unsere glückliche Rückkehr nicht verbergen.
Wir agitierten in der Jugend, bemühten uns redlich um das Organisatorische. Sahen weiter zu, wie wir auf unsere Art dem langsamen Hungertod, der damals von Staats wegen für jeden Deutschen minderen Einkommens obligatorisch war, entrinnen konnten.
Und ich muss sagen, durch alle Komplikationen dieser Zeit mogelten wir uns ehrlich durch. Nur ein Problem reifte heran, mit dem nicht alle sogleich fertig wurden; das war des Sexualproblem. Fast ohne jede ordentliche Aufklärung quälten wir uns damit herum. Ich entsinne mich noch deutlich des riesigen Schrecks, den ich bekam, als ich den ersten Samenerguss erlebte. Ich weiß sogar noch heute das Datum. Ich war siebzehnjährig, es war am 5. Januar. Wir waren bis spät abends Schlittschuh gelaufen und hatten uns dabei mit Mädels herumgebalgt. Ein Fräulein Butterwein, vielleicht zwei Jahre älter als ich, ließ mich allzu deutlich merken, dass sie eine stramme Brust, ein Paar schicke Waden und einen heißen Mund hatte. Sie küsste mich reichlich. Beim Holländern purzelten wir aufs Eis. Eine halbe Stunde wohl aalten wir uns da unten. Fräulein Butterwein hoffte vergebens; ich fand einfach nicht den Mut, obgleich ich ungeheuer erregt war. Ich war ein großes Kamel, ein Schlappschwanz, ein Rino, ein Feigling, ein Nachtwächter usw. Mit dieser Meinung von mir zog ich zerknirscht heimwärts.
Im Bett wälzte ich mich herum und träumte die ganze Nacht von Fräulein Butterwein, halb schlafend und halb wachend, immer maßlos erregt. Verwünschte und verfluchte alle Frauen, um sie in der nächsten Minute zu verhimmeln und dann wieder zu verdonnern. Fräulein Butterwein, die ich niemals in unsere Mädchengruppe aufgenommen hätte, weil sie mir nicht würdig erschien, die überhaupt nichts von dem hatte, was mein Idealbild eines Mädchens ausmachte, dieses halbfette, durchwachsene Weib mit dickem Busen wurde ich in dieser Nacht nicht wieder los. Den Rücken herauf und hinunter kroch ein Schauer nach dem anderen, mein Leib schien platzen zu wollen vor bisher nie gekannten und nie geahnten Gefühlen. Plötzlich gab es einen sausenden Sturz, alle Welt stürzte mit mir.
Aus dieser Seligkeit erwachte ich schnell, und nun kamen die Geister des Zweifels und fragten mich immer eindringlicher nach Ursache und Wirkung. Das Unvermögen, diese Fragen zu klären, ließ einen tiefen Riss in meinem Gewissen zurück. Der Ekel, den ich bisher empfand, wenn ich sah, wie beispielsweise in der Fortbildungsschule oder auch anderswo manche Jugendlichen onanierten, schlich sich nun in mich hinein, vor mir selbst. Ich legte mir meinen Plan zurecht, indem ich beschloss, kein Mädel mehr zu berühren. Das setzte ich dann auch durch und wurde wieder stark.
Den 5. Januar strich ich in jedem Kalender durch, ich wollte ihn nicht erlebt haben, bis ich den 9. März erlebte. Die Geschichte war fast dieselbe, nur handelte es sich um eine andere Schöne. Das brachte mich natürlich gänzlich aus der Fasson. Nunmehr kam ich im Verlaufe eindringlichen Forschens zu einem vernünftigen Entschluss. Ich las bei Rabindranath Tagore den für meine fernere Einstellung zur Weiblichkeit bedeutsamen Satz „Entsagung macht nicht selig".
Am 14. April schon machte ich die erste Eroberung. An Tapferkeit mangelte es mir absolut gar nicht, ich war dabei energisch und ausdauernd trotz denkbar ungünstigster Umstände. Stundenlang peinigte ich meine Auserwählte, bis endlich das erreicht war, was ich wollte. Die Onanie war eine erledigte Sache, nur für Schlappschwänze, Feiglinge, Rinos und dumme Jungs. Ich wurde zum Don Juan. Ich prahlte mächtig bei meinen Genossen mit meinen Erfolgen bei den Frauen. Sie waren auch wirklich nicht wenig neugierig, wollten alles genau wissen, aber auch alles wollten sie wissen. Auch das, was ich selbst noch nicht wusste. In demselben Sommer bis zum Winter hatte ich schon fünf Verhältnisse angefangen und beendigt. Erst sehr spät habe ich erkannt, dass diese Art, Frauen zu behandeln, keineswegs die richtige ist. Aber ich glaubte damals den richtigen Weg gefunden zu haben, und bei tieferem Nachdenken und Studium der Wege, die andere gegangen sind, muss ich doch wohl sagen, dass meine Art von damals noch nicht die schlechteste war, denn ich habe bei diesen Liebeshändeln sozusagen meine Pappenheimer gekannt und bin meistens dort gelandet, wo es nicht mehr viel zu verderben gab.
Die Fronten verlangten Menschen, Kanonenfutter. Bald besann man sich auch auf mich. Im Verkehr mit den Behörden habe ich immer einen fabelhaften Torkel, und so glückte es auch mit der ersten Musterung, wo man mich zweifellos gekapert hätte, wenn ich nicht vorher einen Stellungswechsel vorgenommen hätte. Drei Tage bevor ich auslernte, wollte mich der Militärarzt sehen, um festzustellen, ob meine Knochen zum Kaputtschießen taugten. Ich machte mich schleunigst dünn, übersiedelte vom IV. Armeekorpsbezirk in den III. Hier ließ man mich tatsächlich zwei Monate als Gehilfe arbeiten, um dann erneut den Wunsch zu äußern: „Sie haben sich am... usw." Ich probierte einen Trick, um als Halb- oder Scheintoter den Arzt zu täuschen und ihm an Stelle des kriegsverwendungsfähig ein kirchhofsverwendungsfähig abzuknöpfen.
Drei Tage und Nächte aß ich nichts, sondern trank nur Kaffee mit etwas Milch. Die Vorstellung hatte folgenden Inhalt: „Na, treten Sie doch näher, sind Sie nicht so bange, hier wird noch nicht geschossen. Der Kerl hat wenigstens 'n bisschen Hautfarbe. Am Schwanz alles normal? Sonst gesund? Kv, Feldartillerie, raus." Also für Feldartillerie kv. Ich hatte umsonst gehungert, und voll Grimm stürzte ich mich auf die Lebensmittelgeschäfte von Perleberg in der Prignitz und kaufte alles in beliebigen Mengen ein — Butter, Käse, Wurst und Brot. Was ist das doch für eine herrliche Sache, wenn man Stadtrat von Wittenberge ist, von jeder Karte reichlich einstecken hat und infolgedessen in der ganzen Westprignitz leben kann, so fett und so viel man will.
Ich war nun zwar nicht Stadtrat, aber ich hatte diese Methode einem Wittenberger Stadtrat abgelauscht. Und da ich bei der Firma Gotthardt in Wittenberge für die Westprignitz Lebensmittelkarten herzustellen hatte, unterschied ich mich von einem Stadtrat nur insofern, als ich nur in Lebensmittelkarten machte und nicht noch, wie besagter Herr, in feuerfestem Patriotismus. Der Stadtvater hatte solchen Umsatz in Lebensmittelkarten, dass ihm die beim Magistrat erschobenen unmöglich genügen konnten. Darum holte er sich die noch fehlenden gleich beim Drucker. Er kam zu uns in die Bude, rührte einen großen vaterländischen Käse ein mit Sieg und Tod, Heil Kaiser Dir und Deutschland, Deutschland über alles, packte für uns drei Gehilfen Geschenke aus, wie Ia Parfümseife, Ia Überseezigaretten und anderes mehr, und nahm sich dafür etliche Bogen
Ia—d Brotkarten mit. Leider ist mir der Name dieses Predigers vom Durchhalten bis zum siegreichen Ende entfallen, aber sollte von meinen damaligen Mitarbeitern noch einer in Wittenberge sein, so wird er sich vielleicht daran erinnern.
Ich wohnte bei einer Frau Schmidt in der Mühlenstraße, das war eine Frau, die ein großes Geheimnis bewahrte. Eines Tages fragte ich, ob sie etwa Mangel an Brot-, Butter- oder Fleisch karten habe; doch sie verneinte das zu meinem nicht geringen Erstaunen. Ich hätte gern gewusst, wo sie ihren Bedarf deckte, aber nichts kam über ihre Lippen. Ihre Tochter war etwas offener und sprach von Verbindungen beim Magistrat. Also das Geschäft war jedenfalls ein weitverzweigtes. Hatte aber einmal eine arme, durch den Kriegszauber nervös gewordene Hausfrau ihre sämtlichen Brotkarten für 4 Wochen irgendwie verbummelt oder verloren, so genügten selbst ehrlich geweinte Tränen vor dem hohen Rat der Stadt nicht, um einen Ersatz gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Da ließ man sich nicht erweichen: — denn man war doch mitten drin im Durchhalten und Stahlbaden! —
Bald holte ich aus meinem Briefkasten den verfluchten roten Wisch, wonach ich mich in Perleberg bei der Artillerie zu melden hatte. Wie wenig Respekt ich vor der ganzen Militärgeschichte hatte, lässt sich daraus ermessen, dass ich einfach nicht zur Artillerie nach Perleberg ging, sondern nach Magdeburg. Perleberg ist ein elendes Nest: mit der Arbeiterbewegung war dort seinerzeit gar nichts los. In Magdeburg würde es mir besser gefallen, so dachte ich, und mit zwei Tagen Verzögerung kam ich in der Kaserne des Feldartillerie-Regiments 4 an. Man war nicht wenig erstaunt über meine Frechheit, wollte mich sofort wieder nach Perleberg schicken, jedoch auf meine Aussage, dass ich bestimmt nicht hingehen würde, sondern dann überhaupt auf den ganzen Schwindel verzichte, ließ man mich warten auf der Schreibstube. Endlich kam so ein Kerl herein, der seiner Abzeichen und schnoddrigen Stimme nach ein Leutnant war. Mein Fall wurde ihm vorgetragen. „Kerl, hast du eine Ahnung, was das kostet?" — Ich gab keine Antwort, tat so, als ob ich nicht da sei. Er krähte weiter. „Die Koteletten verschwinden hier natürlich, verstanden? — Die kannst du dir wieder wachsen lassen, wenn du Leutnant geworden bist!" — Ich: „Ich habe nicht die Absicht, hier etwas zu werden!" — Worauf er brüllte: „Morgen beim Antreten sind die
Koteletten weg, verstanden? — verrrstanden? Morgen sind die Koteletten weg! Na, mein Lieber, wir werden dir schon die Hammelbeene lang zieh'n!" '
Ich wurde auf Stube 85 geschickt und fand dort einen Jugendgenossen Walter Schulz aus Stendal. Das war ein freudiges Wiedersehn. Walter hatte schon zwei Tage mitgemacht und erzählte eifrig von seiner neuen Lage. Das interessierte mich herzlich wenig. Einen kleinen Schreck bekam ich allerdings, als er sagte, dass in den ersten vier Wochen das außerdienstliche Verlassen der Kaserne verboten war. Im selben Moment beschloss ich bei mir, das Verbot recht oft zu übertreten. Am anderen Tag hatte ich auf die Kammer zu gehen und meine Lumpen zu holen. Das Wort „Lumpen" ist geschmeichelt für die Kluft, die man mir da vererbte. Der Kammerunteroffizier schien aus irgendeinem Grunde schlechte Laune zu haben. Er pfefferte mir das Gelumpe teils vor die Füße, teils schmiss er es mir an den Kopf und schob mich zur Tür hinaus, nachdem er meinen Namen notiert hatte.
Als ich mich auf der Bude umgezogen hatte, sah ich aus wie ein Schutzmann im Kasperletheater. Nichts passte; die Hose war viel zu kurz, der Waffenrock viel zu groß. Es sah aus, als hätte ich kurze Hosen und einen Überzieher an. Die blaue Feldmütze mit schwarzem Rand verdeckte meine Ohren, da sie bedeutend zu groß war. Die kurzschäftigen Stiefel waren offenbar noch aus der Zeit von 1870/71. Mindestens fünf Zentimeter zu groß. Ich habe kleine Füße und konnte die Stiefel mit einer Bewegung des Beines vom Fuß herunter in jede beliebige Ecke werfen. Der Genosse Schulz erzählte, dass Genosse Sanftleben aus Stendal wahrscheinlich als Pionier ebenfalls in Magdeburg sei. Sofort machte ich mich auf die Suche nach ihm, trotzdem das Verlassen der Kaserne verboten war. Mit List, indem ich neben einem Wagen herschlich, passierte ich den Posten und erreichte die Straße. Mein Kostüm verfehlte seine Wirkung nicht, alles feixte; Chargierte, denen ich begegnete, grüßte ich nicht, trotzdem gelangte ich unbehelligt in die Kaserne der Pioniere. Auf dem Treppenflur dort prangte ein großes Schild. „Kein schön'rer Tod ist in der Welt, als vor dem Feind erschlagen." Ich dachte, wenn dich der Feind so sieht, kann er vor Lachen nicht schießen.
Sanftleben fand ich nicht. Ich kam zurück und hatte den Empfang von Kommissbrot versäumt, als Nachzügler sollte ich nichts mehr bekommen. Weil ich kein Brot hatte, trat ich am anderen Morgen nicht mit an und blieb einfach in der Klappe liegen. In diesen Mußestunden bis Mittag machte ich eine recht unangenehme Entdeckung, nämlich, dass Stube 85 von Wanzen wimmelte. Reihenweise saßen die Viecher in den Nähten der Matratzen. Zum Mittag sagte mir Walter, dass er nicht bemerkt habe, ob ich beim Antreten aufgerufen worden sei. Am Nachmittag verkrümelte ich mich in die Stadt und kehrte erst kurz vor Zapfenstreich zurück. Beim nächsten Mittagessen wusste ich genau, dass ich nicht aufgerufen worden war.
Ei verflucht, das war ja blendend, die Hunde haben dich also noch nicht richtig registriert. Am Nachmittag rückte ich dem Kammerunteroffizier auf die Bude und verlangte im Auftrag des Wachtmeisters bessere Lumpen. Der erschrak über die von ihm selbst verursachte Karikatur und ließ sich freundlich herab, mir zu gestatten, selbst aussuchen zu dürfen, was ich brauchte. Er fragte ängstlich, ob der Wachtmeister etwas von ihm erwähnt hätte; als ich das verneinte, freute er sich. Ich bereute, dass ich nicht auch das Drillichzeug zum Umtausch mitgebracht hatte. Ich passte alles sorgfältig an und ging als ordentlich angezogener Kanonier eine Stunde später auf dem Breiten Weg, der Hauptstraße Magdeburgs, spazieren.
Mit einem Jugendgenossen, den ich auf der Straße traf, kam ich in ein Gespräch, er gehörte zur Opposition. Wir machten unserem Herzen Luft über alles, was uns bedrängte. Über die elende Schlappheit der Führer konnte er sich kaum mäßigen. — „Kein, auch nicht das leiseste Wort des Widerspruchs gegen diesen furchtbaren Mord
und Hunger-----------Hoch lebe Karl Liebknecht — ja, Karl Lieb-
kecht und sonst nichts-------Lumpen, Feiglinge, korrumpiertes Gesindel, die Russen in der Schweiz geben Flugblätter heraus-------Genosse, ich habe Vertrauen zu dir-------nimm etliche mit in die Kaserne -------aber nicht öffentlich verteilen-------irgendwo auf dem
Tisch oder so liegen lassen, und wenn man dich doch erwischt, nichts
verraten-------." Ich ging mit in seine Wohnung, es war ein Bursche,
wie er in dieser Zeit mit der Laterne gesucht werden musste. Er sah halb verhungert aus, blass bis in die Nasenlöcher. Sprach fortwährend von der bevorstehenden Revolution. — Wo mag er jetzt sein? Ich steckte etwa 30—40 Flugblätter ein und ging zurück in die Kaserne.
Der nächste Tag war ein Sonntag. Gleich morgens verduftete ich. Strolchte an der Elbe umher und sonnte mich in der heißen Mittagssonne im Sande. In einer kleinen Kneipe aß ich eine Portion Kartoffelsalat, neben mir saß ein Soldat und aß dasselbe. Er war bereits an der Front gewesen und schimpfte auf das elende Fressen in Magdeburg. Solchen Fraß gäbe es nirgends, alles sei Betrug, er hätte sich fest vorgenommen, nicht wieder an die Front zu gehen und koste es Festung.
Am Nachmittag passierte ein kleiner Zwischenfall. Ich saß auf einem der Dampfer, die von der Strombrücke zur Salzquelle (einem Gartenlokal an der Elbe) fahren, als ich von einem Offizier angesprochen wurde. „Seit wann sind Sie denn Soldat?" — „Seit 6 Wochen!" — So, und da wissen Sie noch nicht, wo das Koppelschloss zu sitzen hat und die Kokarde? Und machen Sie sich gefälligst den Kragen zu!" Alle Passagiere lachten. Der Fatzke fühlte sich geschmeichelt, ließ sich zu einem Witz herab, indem er sagte: „Wenn Sie so in der Salzquelle herumlaufen, guckt Sie kein Mädel an, dann müssen Sie heute abend ohne Braut nach Hause gehen!" Ich dachte: Lecke mich doch am Arsch, du Affe, — schlug unbeholfen die Hacken zusammen und machte mich hinunter in die Kajüte.
In der „Salzquelle" war Militärkonzert. Ein Mädel mit einem himmelblauen Hut saß einsam an einem Tisch. Dreimal ging ich vorbei. Diese Mädchenaugen schienen am besten dazu angetan, den militärischen Kotz für ein paar Stunden vergessen zu machen. Ich bat in guter Manier, Platz nehmen zu dürfen, bestellte zwei helle Bier, und wir plauderten von gleichgültigen Dingen. Sie war sehr lebhaft, erzählte von ihrer Arbeit in Premnitz in der Pulverfabrik und bat mich, den Ober aus ihrer Tasche bezahlen zu dürfen. Ich nahm dieses Anerbieten mit aufrichtiger Freude an. — „Ich würde glatt ablehnen, Fräulein, wenn mein Einkommen mehr als 33 Pfennig den Tag betrüge." — „Sehen Sie, ich verdiene das Dreifache in einer Stunde, und dann bin ich ja extra von Premnitz nach Magdeburg gekommen, um mich mal zu amüsieren. Was hat man denn dort in der Giftbude vom Leben?" — „Allerdings recht wenig." — „Gestatten Sie, können Sie rudern?" — „Aber durchaus, Fräulein, wenn Sie Lust haben, kann's sofort losgehen." —
Ich ruderte. Ihre dunklen schönen Augen glänzten in der herrlichen sommerlichen Sonne. Wir lachten und scherzten fortwährend. Sie saß am Ruder und fuhr sehr oft unter das dichte Uferlaub. Ich zog die Riemen ein, sprang aus dem Boot, machte es an einem Baum fest. Wir setzten uns, und ich legte meinen Arm um ihre Schulter. Dieser schlanke Hals, das braune lockige Haar, die kibitzigen Augen, der Geruch ihrer frischen Wäsche sowie ihrer Haut, das Sonnenspiel durch das Blätterwerk, alles das machte einen strahlenden Punkt hinter die Misere der letzten Tage.
Sie atmete tief und hob ihren Busen höher zu mir hinauf, dabei sah sie mich fast ernsthaft von unten herauf an. Ich küsste ihren blassen Mund. Mit ihren Zähnen hielt sie meine Zunge fest, — lange.
— Pulverfabrik und Kaserne gingen unter im Kusse zweier Menschen, deren Blut nach Liebe verlangte. Nach diesem Kuss erschrak ich fast über den Zug der Bitternis in ihrem blassen Antlitz. Ihre Augen hatten den schelmischen Ausdruck verloren. Frage, Sehnen und Zweifel zugleich spiegelten sich wider. Ich fragte behutsam, ob sie vielleicht einen Kummer habe?
Ihr Vater war im vorigen Sommer gefallen. Vier Wochen später starb die Mutter infolge Krankheit und Gram. — „Ich bin so einsam!" — Die Frage in ihren Augen wuchs und ward zur Barrikade gegen die Eroberungslust meines Fleisches. Sie legte ihren Kopf in meinen Schoß und weinte. Das Mitleid kroch mir den Kehlkopf hinauf und versperrte die Worte der Teilnahme. Vater und Mutter hat der Krieg gemordet und sie und ich im Dienst des Mörders. Wo ist hier die starke Kette, die uns in der Fron für dieses Scheusal, trotz Hass und Bedrängnis, festhielt? Warum geht ein Volk solchen Leidensweg? Jahre hindurch! Warum ging der Soldat immer wieder in Feuerstellung, wo er doch des Todes eisigen Atem so deutlich verspürte? Waren alle Menschen von der Notwendigkeit des Krieges überzeugt? Überzeugt bis zum Heldentod?! Niemals! Keiner war da, der nicht einen Hoffnungsschimmer hegte, hindurchzukommen, ohne allzu großen Schaden zu nehmen.
Ich fragte, ob sie sonst keine Angehörigen mehr habe, was sie verneinte. „Auch kein Verhältnis?" — „Nein!" — „Warum nicht?"
— „Ach die Männer sind heute ja so schlecht, man kann keinem mehr trauen. Ich bin schon so oft betrogen worden." Ich fand nicht die rechten Worte zur Erwiderung und versuchte zu erklären: „Aber doch nicht alle sind schlecht, es gibt noch anständige." — Mir wurde ganz unwohl in der Nähe dieses armen Geschöpfes. Verdammt, was war ich für ein schlechter Kerl, mit welchen Absichten kam ich zu ihr?
Plötzlich schlug sie mit der Hand aufs Wasser, dass es klatschte, und sagte wegwerfend: „Ach, ist ja alles großer Mist, — was nützt das Flennen, es muss gefressen werden wie's kommt. Fahren Sie nach der anderen Seite, da steigen wir aus und spielen im Sand, ich bezahle das Boot für zwei Stunden." Wir stiegen aus dem Boot, ich zog meinen Rock aus und das Mädel Schuhe und Strümpfe. Ich vergrub ihre Beine bis über die Knie in den Sand. Ich küsste sie, sie küsste mich, wir küssten uns. Ei verflucht, wie schien die Sonne so heiß und stand doch schon so tief. Unsere Körper erglühten in der Sehnsucht, ineinander zu verschmelzen. Ich ruderte das Boot zurück zum Verleiher. Drei Stunden musste mein Mädel blechen. Nun saßen wir wieder im Garten der „Salzquelle", aßen Schaumtorte, Sülze und Kartoffelsalat. Die Militärkapelle spielte einen zackigen Marsch.
„ So kaputt oder so kaputt", sagte mein Mädel, winkte dem Ober und bestellte eine Flasche Wein. Es wurde bereits dunkel unter den Bäumen im Garten. Sie kitzelte mich und lachte unbändig dabei. Johanna, Hanna, Hanne, Hannchen singt:
Wir geh'n kaputt putte putt, Wir geh'n kaputt putte putt, Wir geh'n kaputt putte putt,
Wir geh'n kaputt! Wir leben sowieso, Wir leben sowieso, Wir leben sowieso ' Nicht lange mehr!
„ Ich erzähl dir einen Witz, den hab ich von Premnitz; — was meinst du, was da für Witze erzählt werden? Na also pass auf: Eine Magd sollte beichten beim Pfaffen, wie viel mal sie's schon gemacht habe, aber sie schämte sich erst so'n bisschen und wollte nicht raus mit der Sprache. Na, der Pfaffe hilft nach und meint, das müsste sie doch wissen, so drei- oder viermal? oder so? Nein, sagt die Magd. Nun, dann sag's endlich, mein liebes Kind, meint der Pfaffe freundlich, wie viel mal? Nein, ich sag's nicht, spricht die Magd. Dann hör', was ich dir sage, spricht der Pfaffe: Morgen ist Sonntag, da kommst du eine Stunde vor Kirchgang und bringst mir für jedes Mal, wo du's schon gemacht hast, einen Apfel?! Na schön. Am Sonntag sitzt der Pfaffe in der Kirche und lauert auf das Mädchen. Plötzlich geht die Kirchtür auf und das Mädel kommt mit einer Schubkarre voll Äpfel in die Kirche gefahren. O weh, o weh, schreit der Pfaffe. Man nich' uffregen, ich komme noch enn paarmal, sagt sie. — Dufte, was??"
„ Es kommt ein Gewitter heute noch, es ist andauernd Wetterleuchten. — Das beste wird sein, wir verduften!" — „Ach, mit euch ist es Scheiße, ihr müsst ja immer um zehn in die Falle!" — „Aber nur, wenn wir wollen, so ängstlich bin ich darin nicht, meine gute Hanne. Falls du Lust hast, bleibe ich die ganze Nacht hier sitzen. — Übrigens sag mal, wann gedenkst denn du dein Premnitz wieder zu sehen?" — „Hach, wegen mir am liebsten überhaupt nicht, ich habe keine Sehnsucht." — „Doch, ich habe große Sehnsucht, rate mal was?" — „Nach was?" — „Ratste nich!" — Na, nach was hast du denn Sehnsucht, fangen wir mal so an." — „Ich? Sehnsucht? Nach einem Haufen Geld und auf den Bahnhof." — „Ach, Quatsch, nichts wünschen, was nicht in Erfüllung gehen kann. Keine Luftschlösser, mein Ludewig, immer hübsch mit den Füßen auf der Erde bleiben, nicht wahr? Und berichte deine Sehnsucht!" — „Nach dem Bettzipfel, aber ohne Wanzen!" — „Also nach der Flohkiste hast du Sehnsucht?! — Sag Schatzi, hast du gar keine Sehnsucht nach mir?" — „Na gut, auch noch nach dir!" — „Nach mir und — dem Bettzipfel. Du bist ein Schlaumeier, so hintenrum kommst du, du, du Schlingel! — Komm, wir gehen jetzt. — Oder wollen wir noch was essen, oder vielleicht noch was trinken?" —
Es blitzte stark. Infolge der Gewitterstimmung hatten sich fast alle Gäste auf den Heimweg gemacht. Der Ober brachte die bestellte Portion Torte. Ein elender Kleister, nicht ein Fünftel von dem wert, was Hanne dafür bezahlte. Es war eine Schande, das sauer verdiente Geld dafür auszuwerfen. Jedoch für solche Überlegungen war jetzt keine Zeit. Es drängte in uns beiden zu einer Entladung. Wir schluckten die Torte hinunter. Eine sündhafte Summe schluckte der Ober. Die Wege zur Dampferhaltestelle waren nicht menschenleer. Wir fieberten. In den kurzen Sekunden, wo wir uns unbeobachtet glaubten, hatte es den Anschein, als wollte der eine den anderen fressen, so hastig und hitzig folgten die Küsse.
Es fing an, in einzelnen großen Tropfen zu regnen. Lauter und lauter rollte der Donner. Am Dampfer warteten die Passagiere. Alles ging in die Kajüte. Nur drei oder vier Personen außer uns saßen auf dem Deck. Als es nun anfing, stärker zu regnen, blieben wir allein oben. Grelle Blitze rissen weiße Löcher in die pechschwarze Nacht. Laut brüllte der Donner.
Dem Boot entstiegen, führte uns der Weg direkt in ein Hotel, ich glaube, es war der „Weiße Bär". Als ich am andern Morgen in meine noch feuchte Uniform kroch, überlegte ich ernsthaft, ob ich überhaupt in die Kaserne zurückkehren oder den ganzen Mist an den Nagel hängen sollte. Nach einem langen Abschied und einer Verabredung auf Wiedersehen kroch ich hinein in den Misthaufen Kaserne.
Am Mittag eröffneten mir meine Kameraden, dass ich gesucht worden sei und dass man Flugblätter bei der Spindrevision gefunden hätte, wofür ich schwer bestraft würde. Man holte mich auf die Schreibstube, wo man umständlich nach Herkunft und Zweck der Flugblätter forschte. Ich sagte mit überzeugender Harmlosigkeit: „Was steht denn drin in den Dingern? Ich habe sie noch nicht gelesen, ich habe sie selbst erst am Freitag bekommen." — „Woher haben Sie die Flugblätter bezogen?" — „Die hat mir am Tor ein Mann gegeben; ich solle sie hier verteilen." — „Sie wollen doch nicht behaupten, dass man Ihnen zufällig, als Sie am Tor gestanden haben, die Blätter in die Hand gegeben hat?!" — „Nee, am Tor gestanden habe ich nicht. So beim Hineingehen, da hat er sie mir gegeben." „Beim Hineingehen? Dann sind Sie also draußen gewesen?" „Jawohl." „Wann war das?" „Am Freitag." „Wann sind Sie am Freitag in die Stadt gegangen?" „So gegen Mittag." „Sie wissen doch, dass das außerdienstliche Verlassen der Kaserne verboten ist?!" „Jawohl; aber was soll man denn den ganzen Tag vor Langeweile machen? Man kann doch nicht dauernd im Bett liegen." Der Silberbeschlagene wendet sich erstaunt an den Wachtmeister. „Ich bin perplex, der Kerl redet von Langeweile, haben denn Ihre Leute so wenig Dienst, dass sie vormittags nicht mehr wissen, was sie anfangen sollen?" — Verlegenheitspause bei der ganzen Schreibstubenbande.
Dem Engschäftigen steigt das Blut in den Kopf, er hebt beide Fäuste in Höhe der Ordenslatte und brüllt, indem er die Fäuste hinunterschmettert: — „Erklären Sie gefälligst diesen Zustand, ich bin perplex, reden Sie!" — Der Wachtmeister schmeißt sich in die Brust, wie eine Sau in den Dreck, aber dann ist Schluss mit seiner Courage. Er bringt zusammenhanglos seine Dienstausgabe der letzten Tage hervor, während ihn der Offizier, sich an mich wendend, unterbricht: „Wo waren Sie, wenn Ihre Batterie exerzierte?" — „Die ersten Tage bin ich immer in der Stube geblieben, aber dann wurde mir das..." — „Sie wussten doch, dass Dienst war?" — „Ja, das wusste ich, aber Dienst war überall, ich war auch schon öfter bei den Pferden im Stall, aber da wurde ich vorgestern rausgeschmissen und wo sollte ich denn Dienst machen?" Der mit den farbigen Bändern an der Brust nimmt ein Aktenbündel und schmeißt es auf den Tisch, dass der Staub hoch aufwirbelt, und mit wütendem Pathos schreit er: „Unerhörte Schweinerei, wozu sind Sie hier, wozu sind Sie eigentlich da?! — Erklären Sie mir, zu was Sie hier sitzen!" Er wendet sich an die Schreiberseelen, die ihn anstarren, als sollten sie im nächsten Moment gefressen werden. — „Ich bin einfach perplex, der Mann weiß nach tagelanger Anwesenheit noch nicht, wo er Dienst zu machen hat! Ich frage, wozu hat die Batterie eine Schreibstube? Wozu hat die Batterie fünfzehn oder zwanzig Unteroffiziere, wenn der Mann noch nicht weiß, wo er Dienst zu machen hat?! Kanonier Turek, lassen Sie sich sagen, was Sie am Nachmittag für einen Dienst haben." —
Der Wachtmeister schnüffelt in seinen Papieren herum und beginnt: „2—4 Geschützexerzieren, 4—5 Turnstunde, 5—6 Instruktionsstunde am Einheitsgeschoß der 10,5-Steilfeuerhaubitze 09 neuer Art, 6—7 Putz- und Flickstunde. Nachdem Dienstausgabe für morgen." „Kanonier Turek, Sie können gehen."
„ Pschakrew pironie, ollalla o jejuje, Jubit twoiju matj, nimi Salami di makaroni, damd, Cholera kurwei!" Das ist ein Grund zum Fluchen, das ist ein Fluch zum Grunzen! Solche Schmiere und solchen Torkel. Meine Fresse, dir werden se jetzt schnicken. Wir sind bei der Turnstunde, als plötzlich der Ordenbeladene erscheint. Er stellt sich hin und schaut sich die Stümperei unserer Gruppe an. Die Oberschlesier, krumm und lahm geschuftete Bergleute, sind am Gerät steif wie ein Bock, sie stolpern am Pferd herum, als hätten sie einen Pfahl im Hintern. — „Wer kann den Langsprung über das Pferd? — Passt auf, Kerls, ich mach's euch vor." Zwar nicht exakt, aber er wuppst drüberweg. — „Nachmachen!" — Kein Mensch rührt sich. — „Unteroffizier, nehmen Sie diese Übung durch, fangen Sie selbst gleich an." Der Arme nimmt einen furchtbaren Anlauf und trudelt in den Sand. Was nachfolgend geschah, wäre eine blendende Varietenummer gewesen. Der Hauptmann amüsiert sich. Jeder muss es versuchen. Die meisten rennen gegen das Gerät, als wäre es ein Kunststück, da nur hinaufzuspringen. Die Gruppe feixt, als Franz an die Reihe kommt. Franz war das Original. Jede Kompanie oder Formation hat ihr Original; unsere Batterie besaß in Franz Cef eine Größe, die in nichts zu überbieten war.
Franz ist dran, — tritt vor, sagt laut und deutlich in seinem wasserpolnischen Schuldeutsch: „Liebe Leite, hat doch nich Sweck, komm ja doch nich ripper —" und tritt wieder zurück. — „Halt"
— brüllt der Hauptmann — „will dir gleich bei doch nich ripper!"
— „Aber, Herr Leitnant, es geht nich, wenn nich so hart wär' der Bock." — „Das ist kein Bock, das ist ein Pferd! — Marsch, springen!"
— Franz nimmt einen Anlauf, hüpft umständlich wie eine alte Nebelkrähe und bleibt am Gerät stehen. „Ich bedaure serr, Herr Leitnant, is nix su machen." — „Schere dich zum Teufel, du Idiot." — Innerlich lachte sich der Kerl halbtot, um sich aber den Respekt nicht zu vergeben, befahl er: „Der Nächste weitermachen". Dasselbe Elend, keiner von diesen ehrlichen Kumpels vermochte über das lange Pferd den Grätschsprung auszuführen. Ich kam dran und setzte drüber. — „Von der ganzen Gesellschaft ein einziger, Kanonier Turek, mach das nochmal!" Sssst; er trabte ab.
Dieser Franz! Unsere Batterie besaß vier Kanonen, Franz war die fünfte. Er war 100prozentig,.ein Hunderthändiger. — Im Stubendienst, im Wacheschieben, im Putzen (von Unteroffizierstiebein), im Flicken, im Exerzieren, im Wegegehen. Er besaß für zirka hundert Mann Sidol, Schuhcreme, Fett, Streichhölzer, Tabak, Zigaretten usw. usw. Er war so bescheiden, seine eigenen leiblichen Bedürfnisse nur auf zehnprozentig zu veranschlagen, das heißt, er fraß für zehn Mann. Wenn er nur manchmal für 1, 2, 3, 4 oder 5 Mann speiste, so war das nicht seine Schuld.
Ich will etliche Proben von der Gefräßigkeit dieses armen Teufels wiedergeben und vorweg ausdrücklich noch einmal sagen, dass ich mich an meinen Grundsatz, nur die Wahrheit zu berichten, auch in diesem Falle strikte halten werde. Ich habe gesehen, als Franz mit mir auf Stube 85 lag, wie er an verschiedenen Tagen, wenn es Dörrgemüse oder getrockneten Salzfisch gab, acht bis zwölf volle Schüsseln von diesem Fraß, von dem man normalerweise überhaupt nichts gefressen hätte, in seinem Spind stehen hatte und sie im Verlaufe einer Nacht verzehrte.
An solchen Tagen schmunzelte Franz. An Sonntagen, wo es Gulasch mit Kartoffeln gab, war es beinahe ein dramatischer Anblick, dem Franz bei seiner Mahlzeit zuzusehen. Stundenlang vor der Essenausgabe sprach er von nichts weiter als von der Geringfügigkeit der Portionen. — „Na, wie viel werden sein? — Na, fünwe, hechstens sekse; oje oje, liebe Leite, werden wir gehen beschweren. Jessus, is doch zu wenig, kann man doch nich ganzen Tag rumlaufen mit fünwe oder sekse Kartoffli in Bauch, wir werden verhungern! Jessus Maria, was soll ich machen?" Beim Antreten tänzelte Franz wie ein Pferd. Die gröblichsten Anschnauzer vermochten ihn nur für Sekunden zu beruhigen. Obwohl man ihn schlug, drängelte er sich nach vorn. Am Ausgabeschalter ließ er die kläglichsten Melodien los, um einen zweiten bereitgehaltenen Napf gefüllt zu bekommen. Der Unteroffizier hatte große Mühe, ihn vom Schalter abzudrängen. Die Worte, welche er dem Küchenbullen gegenüber verschwendete, trieben ihm den Schweiß auf die Stirn. Er redete etwa 30 Sekunden in solcher Ekstase und mit solcher Anstrengung, dass er sich erschöpft auf den nächsten Platz fallen ließ. Dort saß er nun wie ein eingeschüchtertes Tier; die Gebärden waren die eines um sein Allerletztes Betrogenen.
Drei-, viermal langte er mit seinem großen Holzlöffel in die Schüssel und, nachdem er sie sorgfältig ausgeleckt hatte, ging er betteln von einem Kameraden zum andern.
Es nützte nichts, Franz blieb tieftraurig bis zum Abend. Selbst wenn er Geld bekam und dafür in der Kantine Lebensmittel einkaufte, wurde er nicht froh; er verschlang alles in Sekunden und blieb ewig hungrig, Franz war zwanzig Jahre alt und sah aus, als müsste er in den nächsten Tagen bestimmt an Kohldampf verrecken. Er sprach immer vom Verhungern, wahrscheinlich hatte er recht. Seine Mutter schickte unaufhörlich Pakete. Große runde Sechspfundbrote, halb verschimmelt, aß er an einem Abend.
Eines Tages holte Franz wieder ein Paket; er musste es selbst abholen von der Post, die Ordonnanz hatte sich geweigert, das Paket zu transportieren. Kaum war Franz mit dem Paket in der Bude gelandet, als sich ein Pesthauch im Raume verbreitete, der uns fast das Atmen unmöglich machte. Alle gleichzeitig stürmten wir auf Franz ein, er solle das Paket auf dem Flur auspacken. Er packte aus. Ein völlig mit langhaarigem Schimmel überzogenes Brot, ein Stück ebensolchen Kuchen und eine entsetzlich stinkende, von einer eitrigen Flüssigkeit triefende Beutelsülze. Wir hegten Verdacht und bedeuteten ihm, dass er krepieren müsse, wenn er diese Sülze fresse. Freudestrahlend und über die Verdorbenheit der Ware nicht im mindesten erbost, zog Franz ab mit seinen Delikatessen. Nach einer knappen Viertelstunde gehe ich zufällig auf den Lokus und sehe zu meinem Erstaunen, wie Franz den letzten Rest seiner Sülze dort selbst verzehrt. In den zwei Stunden Mittagspause brachte er auch noch das Brot und den Kuchen hinter die Binde. Er ist nicht daran krepiert. Wenn man Franz ein paar Groschen gab, führte er ein kleines Kunststück vor; er holte aus der Kantine ein Glas Senf und ein Pfund Zwiebeln und aß alles in ganz kurzer Zeit, zum Erstaunen seiner Zuschauer. Für ein halbes Kommissbrot fraß er eine Kerze, und das Tragische daran war, er fraß die Kerze mit wirklichem Appetit!
Seinen Dienst verrichtete er mit einer Ehrsamkeit, die verwunderlich schien. Was er nicht ausführen konnte, unterließ er mit einer entsprechenden Erklärung. Alle waren davon überzeugt, dass er ein Dummkopf war. Aber wer seine Handlungen tiefer, unbefangener untersuchte, musste finden, wie natürlich sein Denkapparat funktionierte. Oder ist es etwa eine Verrücktheit, wenn er beim Geschützexerzieren erklärte: „Ich werde fünwzehn machen, Herr Unteroffizier, es is serr warm heite" (Fünfzehnmachen ist ein geläufiger Ausdruck für Pause machen). — Oder wenn er ohne Erlaubnis austreten ging und auf den Anschnauzer des Vorgesetzten mit den gut gemeinten Worten antwortete: „Aber suwas denn fragen, Herr Unteroffizier, — wenn ich muss scheißen, is nix su machen!?"
Niemals rebellierte Franz, kein Wort des Zornes kam über seine breiten Lippen, nur Klagetöne. Ich habe versucht, ihn auszuforschen, wie er darüber dachte, wenn man einmal die Küche erstürmen würde und einfach alles herausholte, was drinnen war. Er antwortete: „Aber da wird der Leitnant schimpfen, und wir müssen nachexerzieren; es wird nich gehn." — Wo man ihn loswerden konnte, wurde er abgeschoben. Ich war mit ihm beim Granatwerferkursus in Altengrabow, beim Maschinengewehrkursus in Halle und beim Pionierkursus.
Sein Leben war eine endlose Kette unheilvoller Begebenheiten. Überall, wo er hinkam, war er der Sündenbock, Mädchen für alles, Objekt der Verulkung für jeden, der sich einen Schein heller dünkte. Das alles berührte ihn wenig, nur eins brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und das war, wenn ihm nicht das Vielfache dessen erreichbar war, was man aus den Gulaschkanonen der Kriegshungerjahre als Ration zugeteilt bekam.
Im Verlauf einiger Wochen hatte man durch den wahnsinnigen Dienst so unser körperliches Wohlbefinden heruntergewirtschaftet, dass es nicht möglich war, auf das Kommando — „Stillgestanden" — eine absolute Bewegungslosigkeit herzustellen. Die Leute schwankten vor Ermattung. Fast alle hatten ein Untergewicht von fünf bis zwanzig Pfund, und das war bei den vorwiegend jugendlichen Kameraden erschreckend. Bei irgendwelchen Vorträgen, wo keine Bewegung erforderlich war, schliefen die Leute im Stehen ein und torkelten hin und her. In einer Dienstzeit von drei Monaten sollten wir alles das eingepaukt bekommen, was der Kanonier sonst in drei Jahren erlernte. Und die Nahrung war nicht ein Drittel von dem, was in Friedenszeiten verabfolgt wurde. Geradezu heller Wahnsinn, solch eine Kalkulation.
Kurz vor dem Abschluss unserer vierzehntägigen Pionierausbildung waren alle Kursusteilnehmer in einem Zustand völliger Erschöpfung. In der brennenden Julisonne, ausgehungert und entsetzlich müde, wussten die Herren nichts Wichtigeres, als uns schwere Bohlen, Balken, Bretter usw. im Pionierschritt eins—zwei, eins— zwei, eins—zwei auf dem sandigen Übungsplatz umherschleppen zu lassen. Dass jeden Tag mehrere Kameraden umklappten, brachte keine Änderung des Dienstplanes. War man glücklich über den Tag hinaus, und wollte man sich vorzeitig auf die Matratze legen, so durfte man sich nicht erwischen lassen, denn vor 10 Uhr schlafen gehen war verboten. Dagegen musste fünf Minuten nach 10 Uhr das Licht bereits ausgelöscht sein.
Ein Kapitel für sich war der Umgang unserer Unteroffiziere mit den Mannschaften. Nur wenige machten eine rühmliche Ausnahme. Die meisten fühlten sich in den gemeinsten Umgangsformen am wohlsten. Eine große Anzahl Krankmeldungen war jeden Tag zu verzeichnen. Ein Unteroffizier, mit Namen Rustenbeck, hatte die Leute in die Revierstube zu führen. Was sich dieses Schwein an Glossen erdacht hatte, womit er die Kameraden traktierte, lässt sich kaum wiedergeben. Ohne weiteres dichtete er den Leuten alle möglichen Geschlechtskrankheiten an. Bei Halsentzündungen empfahl er, mit Briketts zu gurgeln, oder er brachte irgendeine Zote damit in Verbindimg.
Selbst unser Wachtmeister brüllte vor versammelter Mannschaft: „Ihr gottverdammten krummgefickten Hunde, könnt ihr nicht geradestehen?" — oder — Ihr Arschficker, ihr sollt noch lernen, was es heißt, Soldat zu sein!" usw. Kam jemand zum Antreten mit einem offenen Knopf am Waffenrock, schrie er: „Wie so eine nackte Hure kommt der Kerl hierher." — Ein Paar schlecht geputzte Stiefel reizten ihn folgendermaßen: „Das nennst du Schwein geputzt? Die Stiebel soll'n glänzen wie so'n Paar Judeneier in der Morgensonne." Klappte irgend etwas beim Exerzieren nicht, so gröhlte er: „Ich werde euch noch die Eier schleifen" — oder — „Das wird so lange gemacht, bis euch der Schwanz nach hinten steht, bis euch das Wasser im Arsche kocht, bis ihr in die Hosen scheißt." Man muss hierbei immer bedenken, dass unsere Batterie vorwiegend aus jungen Leuten im Alter von 18—20 Jahren bestand.
Jede Vernunft schien sich aus dieser elenden Kaserne davongemacht zu haben. Der Appell mit Kleidungsstücken und Wäsche wurde für jeden zur Quälerei. Ich habe in meiner Drillichhose 18 Flicken gezählt. Meine Hemden waren zerfetzt. Alle diese Lumpen mussten gewaschen und ausgebessert werden, und mancher von uns hatte niemals eine Nadel in den Fingern gehabt. Seife war ein Artikel, der uns nur dem Namen nach bekannt war; wir wuschen mit Sand und kaltem Wasser.
Meine Kameraden waren, wie schon erwähnt, größtenteils Oberschlesier. Außer wenigen alle streng katholisch. Es muss hier gesagt werden, dass diese Leute als Menschen und Kameraden immerhin angenehmer waren als unsere Vorgesetzten, die, ohne jede Anschauung und ohne den Willen, tiefgründig über Lebensfragen oder -lagen nachzudenken, nur in ihrer Verdorbenheit und großen Schnauze die einzig mögliche Art sahen, sich zu geben.
Meine katholischen Kameraden ließen sich durch nichts in ihrem Glauben beirren. Als ich eines Tages meinen Standpunkt über die Geschichte mit dem Jesus und seiner Mutter Maria klarzulegen versuchte und dabei meinen Zweifel über die Echtheit der Empfängnis der Maria durch den heiligen Geist äußerte, gerieten sie in Aufregung. Ich sagte, dass die Maria eine Freundin der Pharisäer und Schriftgelehrten gewesen sei und ihren Jesus dabei irgendwo aufgesackt hätte, und dass sich daraus auch das Interesse der Priester an dem Jesusknaben ableiten ließe, weil sie wussten, dass sie als die Erzeuger in Frage kamen. Auch die Befähigung als Prophet und Philosoph wird der Jesus durch seine dauernde Anwesenheit im Tempel und infolge Unterrichtung durch die Priester erworben haben. Alles das, ebenso wie, dass die ursprüngliche Lehre des Christus eine ganz andere gewesen sei; dass der Papst mit seinem Reichtum nur das größte Missfallen des Jesus erregen müsste, konnten oder wollten sie nicht begreifen. Dieser Glaube war nicht begründet auf Verstand oder Logik, sondern er steckte tief im Gefühl der Leute. Unsere Ausbildung an all den Mordwerkzeugen galt als abgeschlossen. Jeder Kamerad bekam noch einmal kurzen Urlaub, nur ich nicht, obgleich ich nur 60 km entfernt meine Heimat hatte. Man hatte mich schwer im Magen, doch niemals ist es den Banditen gelungen, mich ernsthaft zu kränken. Ich wusste meistens ihren Schlichen rechtzeitig zu entgehen. Als man mir höhnisch erklärte, ich bekäme keinen Urlaub, ließ mich das sehr kalt; denn ich war bereits zweimal des Sonnabends gefahren und jedes Mal Montags erst zurückgekehrt, ohne aufzufallen.
Mit dem ersten Transport rückte ich ab ins Feld. Es war gerade an meinem Geburtstag. Von meiner Liebsten in Premnitz hatte ich nichts mehr gesehen. Von einem Stendaler Mädel, Lucie, bekam ich ein Paket. Darin war Kuchen, Obst und Wurst. Beinahe wäre ick um alles betrogen worden. Erst auf mein wütendes Drängen rückte die Ordonnanz eine halbe Stunde vor dem Abmarsch nach dem Militärbahnhof mit dem Paket raus, nachdem dieser Gauner vorher mehrmals erklärt hatte, es sei für mich nichts da. Für diesen geplanten Streich habe ich ihm eins in die Visage gehauen, dass er mitten in seinen Paketen landete.
Die erste Wache auf dem Transport hatte ich. Oben auf dem großen Futterwagen trat ich die Reise an. Mein Plan lag fest. Bei der ersten Gelegenheit wollte ich überlaufen, darum war ich lustig und fidel, was man von den anderen Kameraden nicht sagen konnte. Eine allgemeine mikrige Stimmung lag auf dem ganzen Transport. Schuld daran waren unsere Unteroffiziere, deren Laune ganz unerträglich war. In ihrem Benehmen gegen mich, das in der Kaserne schweinemäßig gewesen war, machte sich ein Umschwung bemerkbar. Sie wurden plötzlich anständiger, ich möchte fast sagen, rücksichtsvoller.
Die Fahrt ging über Nordhausen, Kassel, durch das herrliche Lahntal bei Koblenz über den Rhein, längs der Mosel, durch Trier und Luxemburg. In Sedan gingen zwei Mann durch die Latten, ob absichtlich oder aus Versehen ließ sich nicht feststellen. Kurz hinter Charleville, auf einer Kriegsrampe, wurde ausgeladen.
Auf einer Ferme in nächster Nähe von Nougerin war unser Quartier. Dort hätte unsere Batterie den Krieg überdauern können. Obst war in Fülle vorhanden, es war in den ersten Tagen unsere Hauptnahrung. Äpfel, Birnen, wahre Prachtsorten. Zwetschen und Haselnüsse leider noch nicht ganz reif, und Brombeeren, große schwarze, wovon man ohne Anstrengung ein Kochgeschirr voll in einer Viertelstunde pflücken konnte. Als Bewohner dieser Ferme lebten dort nur noch zwei alte Leute. Es wäre besser gewesen, sie hätten sich auch aus dem Staube gemacht, denn die Armen wurden mit der Bedienung ihrer Quartiergäste nicht fertig. Immerwährend waren sie in eine umständliche Unterhaltung verstrickt, und mindestens tausendmal am Tage sagten sie „nix compri" (nichts verstanden), und ebenso oft drohten sie mit der „Kommandantur". Wald war ganz in der Nähe, das verhinderte aber nicht, dass ein Gebäudeflügel, der aus Holz bestand, allmählich nur noch als Skelett dastand.
Nachts leuchtete die Front, und leise, wie das Knurren eines furchtbaren Ungeheuers aus dem Erdinnern, brummelte es zu uns herüber. Ältere Kameraden wälzten sich des Nachts auf ihrem Lager und erklärten, dieses Brummein mache sie noch verrückt. Was ist eigentlich hier los, was wird mit uns? Über allen Häuptern schwebte unsichtbar ein Verhängnis —: der Tag, an dem der Marsch an die Front kommen musste! Ich kann mit gutem Gewissen behaupten, am meisten nervös war unser Batterieführer. Er war nicht mit uns von Magdeburg gekommen. Kein Mensch wusste, welcher böse Geist uns diesen Fatzken auf den Hals geschickt hatte. Keine sieben Worte brachte er verständlich hervor, ohne meschuggene Schnarrlaute daranzuhängen. Auch unsere Leutnants ließen deutlich merken, dass sie kein Vertrauen zu dieser Nudel hatten.
Er hielt Instruktionsstunde, die Batterie war wegen schlechten Wetters in einer Scheune versammelt. Auf einer Leiter, die schräg am Balken stand, hockte unser „Alter", die Hosentaschen knalldicke voll Äpfel, wovon er wie ein Pferd kaute. „Also Sie, hallo Sie, nee Sie, Sie, was passiert also, wenn Sie sich in Feuerstellung dünn machen, wenn's plautzt?" — Einer aus Kattowitz hatte kein Wort verstanden. — „Sagen Sie mal, äh Sie, nee, der Nebenmann, hört der Kerl schwer? Na, fragen Sie'n mal!" Das Maul voll gekauter Äpfel, war er mir nicht einmal recht verständlich, geschweige den Oberschle-siern. — „Komisch, komisch, Kerls, könnt ihr denn keen Deutsch? Oder was, was, na, na, also Sie, nun Sie mal. — Halt, Unteroffizier Stembowski, hierher, äh, hier mal her, fragen Sie doch mal auf polnisch!" — Stembowski fragt auf polnisch, alles feixt. Die ganze Instruktion war ein einziger Knoten von Verwicklungen, Missverständnissen und lächerlichen Faxen.
Die Front war verstummt. Wir hielten die Stellung mit viel Schneid. Unsere wichtigste Beschäftigung war — kochen. Jeder hatte einen besonderen Geschmack; das Essen aus der Küche war mies. Es wurde kaum noch beachtet. Auch Fleisch wurde gekocht, seitdem wir spitz bekommen hatten, dass es im Walde allerlei Getier gab, das zwar nicht weidgerecht war, aber immerhin schmeckte. Das meiste Fleisch in unsere Kochtöpfe lieferte das Eichhörnchen, aber auch Raben und Spechte mussten das lustige Leben im Walde aufgeben, um den Weg allen Fleisches durch unseren Darm zu gehen.
Mitten in unser Gebrate, Gebrietzel und Gesuppe erscholl plötzlich das Kommando: Die Batterie steht 1,30 Uhr morgens in Marschrichtung Lonoir! „Heiliger Schlavitikus!" sagten unsere guten Schlesier, „Jessus Maria!" Aber ein Trost blieb uns allen immer noch. Lonoir war nicht in Richtung Front. Aber ach, kaum ging die Sonne unter, da setzte jenes scheußliche Gebrummel wieder ein, in verstärktem Maßstabe. Naßkalt war die Nacht. Auf den alten Rumpelkisten war es nicht geheuer, man musste sich derb festhalten, um nicht hinunterzufallen. Mit Geschrei, Fluchen und Schlagen brachten unsere Fahrer ihre Gäule in Trab.
Nanu! Herrje! Wozu so eilig? — scemu spiescics Panie. — Verdammt, der Weg war kaum zu sehen. Ade, Ade, Mademoiselle, du schöne Ferme! Ade, ihr Eichhörnchen! Ade, Lonoir, wir lassen dich links liegen. Das Gebrummel der Front wurde lauter und lauter, einmal lag es uns links im Ohr, einmal rechts. Es ging steile Straßen hinauf und hinab. Das Geschrei der Fahrer war verstummt. Die Batterie kroch wie ein Wurm seinen Pfad. Zeitweilig schlief ich. Verdammt, wäre nicht die Front, es müsste Spaß machen, die Fahrerei in die Nacht. Ohne Ziel und scheinbar ohne Ende. Im Halbschlaf hatte man das Gefühl, als wäre es immer so und nicht anders. Fahren, fahren, fahren, wohin? Nur nicht fragen, denn dann trommelte die Front noch mal so stark.
Wir saßen zu dritt auf der Protze, der mittelste durfte schlafen, seine Kameraden hielten ihn untergeärmelt fest. Plazek (das heißt auf polnisch Kuchen) und Ehrenberger, so hießen meine Kameraden auf der Protze, zwei gute echte Wasserpolacken, konnten nicht schlafen, und deshalb durfte ich in der Mitte sitzen und ratzen. Und ich ratzte. Bis ich von den beiden geweckt wurde: „Mensch, bist du denn schon tot, wach doch auf, wir sind ganz nahe an Front!" — Rumnibummbumm rummrummrummbumm. „Himmelhund verdamm mich!" — „Mensch, fluch nich jetze!" —
Batterie haaaalt !— Huuuüüihihzzssschschpululpubscht. — Eigene schwere Artillerie! Gott sei gelobt, getrommelt und gepfiffen! — Ein Bahnhof? Nanu! — Verladen!? Weg — nicht an die Front? In etlichen Stunden rollten wir auf der Eisenbahn. Wohin? Nach dem Osten! — Nee, nach Italien! Nach dem Isonzo, nun war es raus. Also, in das Land, wo die Makkaroni blüh'n. Wo man die Esel mit Scbippenstielen verwamst. Und wo die Frauen Virginia mit Strohhalm rauchen. Wo die Männer nix machen wie Katzen aus Gips und die Kinder Apfelsinen direkt vom Baum fressen, wenn bei uns der Schnee haushoch liegt. Unteroffizier Stembowski wusste Bescheid. „Herr Unteroffizier, werden wir fahren durch Kattowitz?" — „Nee, bloß durch Wien!" —- Schade!
Die Sonne ließ sich nicht blicken, aber soviel hatte ich doch schon beobachtet, unsere Fahrtrichtung schwankte zwischen dem Kurs West—Nordwest und Nord. Wo blieb denn da Italien, wenn das so weiterging? Ich teilte meine Beobachtungen meinen Kameraden mit, etliche ließen sich überzeugen. Noch ehe der Streit entschieden war, bremste der Zug, und je mehr das Rasseln der Räder verstummte, machte sich ein anderes Geräusch breit. Rummbummbumm, bummrummbumm! Laon, alles raus! Eisenbahner sagten uns nichts Gutes. Nachts ist hier der Teufel los. Flieger! Wir biwakierten auf einer Wiese, nicht sehr weit vom Bahnhof. Am Morgen, als ich erwachte, war alles schon auf den Beinen. Es gab noch nichts zu tun. Nur weil sie gefroren hatten, waren die meisten Kameraden aufgestanden. Mich fror es nicht, und ich kroch noch einmal unter meinen Wagen und in Decke und Mantel. Kaum war ich entschlummert, als das Kommando zum Aufbruch erschallte. Ich war erstaunt, als man mir erzählte, wie entsetzlich die Flieger bombardiert hatten. Ich hatte diese Sache verpennt.
Der Tag brachte einen kurzen Marsch, worauf zwei Tage Ruhe folgten. Dann in aller Frühe, es war noch rabenschwarze Nacht, hieß es: „In Marschrichtung Laon!"; — nun wusste jeder, was es geschlagen hatte. Ein schöner, glutroter Sonnenball stieg im Osten über die Hügel und bald erstrahlte das Land im schönsten Sonnenschein. Fern am Horizont standen eine Menge Fesselballons, Franzosen! Wenn uns die erst weg haben, sind wir verloren. Diese Ansicht wurde von den Chargierten verbreitet, was allergrößte Unruhe unter den Kameraden hervorrief. An der Front donnerte die Artillerie, immer gewaltiger wuchs das unheimliche Getöse an. Die Wege waren übersät mit Granatlöchern, es war eine Fahrerei, dass kein Mensch auf der Karre sitzen konnte. Wir kamen nun direkt in den Bereich feindlicher Geschütze. Vorläufig waren es nur einzelne Geschosse, die sich verirrt hatten. Der Weg war kaum noch sichtbar, die Pferde schäumten vor Anstrengung. — Kanoniere an die Räder! — Wie wohl das tat, fest zupacken zu können! Trommelfeuer und Pfeifen der Splitter wurde aus den Ohren verdrängt, wenn die Muskeln sich spannten. Auf aalglatter Straße im Schritt, auf der Kanone sitzend, hätte ich nicht dieser Hölle entgegenfahren mögen.
Die ersten Verwundeten kamen uns entgegen. Wir Neulinge staunten. Was waren das für Menschen? Was war mit ihnen geschehen? Woher das Entsetzen in ihren Gesichtern?! Helden!!? Nein, in grausamer Folter bis zum Wahnsinn gequälte Wesen. Helden? — das war vielleicht einmal zu der Zeit, als man sich mit Schwertern zu Leibe ging, oder auch noch bis zum Krieg 1870/71. Aber hier, wo es nicht mehr glaubwürdig erschien, dass Menschen Urheber dieses Grausens waren, wo es den Anschein hatte, als berste die Erde, wo mit Gas und Säuren, Flammen und Motoren Menschen zu Tausenden täglich, Jahre hindurch, zerstückelt wurden, vergiftet, zerfressen, verbrannt und geschlachtet, hier war der Soldat so wenig Held, wie die zerquetschte Maus in der Falle.
Nun gab es auch schon bei unserer Batterie Verwundete. Endlich langten wir auf dem uns zugedachten Platze an. Die Fahrer gingen mit den Protzen nach hinten, sehnsüchtige Blicke schickte mancher von uns den Glücklichen nach. Kaum waren die Geschütze in den Ständen versenkt, als schon die Knallerei losging. Wir pfefferten aus der Knarre heraus, was das Zeug halten wollte. Kein Mensch dachte daran, wo das Eisen landete. Es war eine rein mechanische Arbeit Eine Verständigung war nicht möglich; das Trommeln von tausend Geschützen verursachte in den Ohren ein Gefühl der Taubheit, nur noch die Abschüsse aus der eigenen Kanone waren vernehmbar. Hinter der Knarre, in kurzer Entfernung, steckte ein Spaten, der nur nach jedem Abschuss kurz mit den Zielinstrumenten anvisiert wurde, und so ging das fort und fort. Die Granaten wurden auf entsprechende Entfernung gestellt; ob das gewissenhaft gemacht wurde, möchte ich bezweifeln. — Gewissenhaft!! — Ein Begriff, der für das Zünderstellen beim Trommelfeuer unpassend ist, vom Standpunkt der Menschlichkeit. Gewissenhaft wäre gewesen, — alle Kanoniere hüben wie drüben hätten die Geschütze verrosten lassen mitsamt den Granaten!!!
Gleich am anderen Morgen, unsere Munition war verschossen, erstieg ich einen kleinen Hügel in der Nähe, um zu erkunden, wie ich so schnell wie möglich nach drüben verduften könnte. Von dieser Anhöhe tat sich das Land weit auf. Heller Sonnenschein lag auf der schwer misshandelten Erde. In etwa 800 m Entfernung war eine Brücke über den Oise-Aisne-KanaL da hinüber musste ich. Aber kaum gedacht, sah ich, wie die Holzbalken und Bohlen, als wären sie Streichhölzer, in der Luft herumwirbelten.
Plötzlich brüllte mich von hinten jemand an: „Hallo! Sind Sie verrückt, dass Sie sich dahinstellen?! — Machen Sie sich da mal runter!" — Ich gewahrte hinter mir einen Granattrichter, in dem ein Leutnant unserer Batterie lag; es war »der Pastor, er galt als der tüchtigste Kerl. Im Zivilberuf war er evangelischer Pfarrer, alle hatten ihn gern. Er machte des öfteren dem „Alten" Vorschriften, oder wenigstens stand er mit dem Alten auf Kriegsfuß, was ihm neben seinen wirklichen artilleristischen Fähigkeiten die Sympathien der Kameraden eintrug. Mich kümmerte seine Brüllerei nicht, ich blieb stehen. Zumal er noch hinzufügte: „Sonst habt ihr die Hosen voll Scheiße, und hier baut ihr euch auf, als wenn nichts los wäre." — Das ärgerte mich. Er kannte mich übrigens von der Kaserne her und wusste, was ich für eine Gesinnung hatte. Ich blieb stehen und der Pastor sagte nichts mehr, sondern kroch noch tiefer in sein Loch.
Unten», hinter dem zerschossenen Bahndamm, standen etliche Trainkolonnen. Sie hatten offenbar den Befehl, ihr Krämchen über die Brücke zu fahren, aber die war dem Untergang geweiht. Regelmäßig klatschte Schuss auf Schuss herüber, nicht alle saßen, doch es genügte, um nach etwa einer halben Stunde jedes Überfahren der Brücke unmöglich zu machen. Ich hatte mich auf meine vier Buchstaben gesetzt. Bei mir drängte es furchtbar, rings um mich her knackten die verfluchten Eisensplitter und hackten den Rest des hier einstmals gestandenen Waldes in Fetzen. Unten bei der Batterie ging ein Kamerad nach dem anderen in die Brüche. Dieses ganze blutige Theater, wo man offenbar nicht lange auf sein Stichwort zu warten hatte, kotzte mich an. Dort drüben hinter der Hügelkette, höchstens 3000 m weg, stand die ganze blödsinnige Bande und schmiss mit allen Kalibern zu uns herüber.
Der Pastor ließ sich wieder vernehmen: „Wann wollen Sie sich denn da oben mal runter machen? Kerl, haben Sie denn einen Vogel?!" „Lecke mich fett, du —"Ich sprach das laut, aber ich wusste, dass er das nicht verstehen konnte. Ich ging hinunter. Ich hatte gesehen, was ich nicht sehen wollte, nämlich, dass es hier unheimlich schwer war durchzubrennen — wegen dem lausigen Kanal. Wenn man einfach durchschwimmt? Mal ansehen! Vielleicht haue ich gleich jetzt ab. Langsam, durch Sumpf und Löcher, gelangte ich an den Kanal. Das war ein einziger Schlammgraben mit wenig Wasser. Nun packte ich für heute ein; da ich keine Ahnung von den Infanteriestellungen hatte, erschien mir die Geschichte überhaupt noch reichlich unsicher. Ich ging zu der Trainkolonne und hörte dort, wie alles jammerte über die Scheiße, in die sie geraten seien. In der kommenden Nacht sollten die Pioniere eine neue Brücke an einer anderen Stelle bauen.
Erschreckend hoch war die Ziffer der Verluste, die die Kolonne hier beim Warten erlitten hatte, obgleich alle Leute in Löchern steckten. Der Franzmann plautzte ohne Sinn und Verstand mal hier und mal da einen hin, 7,5 cm, 15 cm, und die Brücke zermatschte er mit 21ern. Auf meine Frage, wo die neue Brücke hinkomme, gab man unbestimmte Antwort. Ich dachte, dass es höchstens während der Nacht gelingen könnte, über die neue Brücke zu huschen. Denn die Franzmänner würden auch die neue Brücke nicht lange heil lassen. Nun ging ich zurück in unseren Unterstand und fand eine miese Stimmung vor; etliche Kameraden von anderen Formationen lagen als Leichtverwundete bei uns. Sie wollten bei uns eine Gefechtspause abwarten und dann weitertippeln, nach Laon ins Feldlazarett. In der darauffolgenden Nacht brachten unsere Fahrer Munition, damit ging auch die Knallerei mit unseren vier Schießeisen wieder los.
Gottverdammich! Die Hunde da drüben, — dagegen waren wir doch reine Waisenknaben, die ballerten wie wahnsinnig. Die dritte Karre hatte einen Volltreffer bekommen und stand Kopf. Der Pastor brachte die Schreckensnachricht. Alles kaputt, zwei Tote, ein Schwerverwundeter. Er ordnete an, die Munition herauszubrummen und dann zurück in die Unterstände. Am besten machte sich's der Alte; der kam aus seinem Stollen überhaupt nicht mehr heraus. War das ein Leben da unten. Oben steht die Batterie im schwersten Gefecht, und der Briezel sitzt unten, frißt Keks und lässt sich nicht ein einziges Mal blicken. Es musste etwas geschehen mit mir, aber was?
Die blöde Trommelei war zu Ende gegangen. Ruhige Tage mit warmer Sonne und empfindlicher Kühle des Nachts ließen uns die erste schlimme Zeit vergessen. Ich habe diese Seiten über die ersten Tage an der Front geschrieben, um nicht ganz zu versäumen, Eindrücke wiederzugeben, die immerhin einen gewissen Antrieb bedeuteten zu den Erlebnissen, die ich nachfolgend schildern will. So manches arme Menschenkind mag in gefährlichen Momenten die kühnsten Pläne ausgeknobelt haben, um aus diesem Schlamassel herauszukommen, und hat sie dann doch niemals ausgeführt.
Ich weiß nicht, aus welchen dummen Gedanken ich die Einbildung nahm, dass mir so leicht nichts passieren könne. Jedenfalls existierte in mir eine solche Meinung, die nicht einmal wich, als mir ein großer Splitter die Waffenrockzipfel radikal abfegte. Diese Ansicht legte sich in mir mit solcher Hartnäckigkeit fest, dass ich allgemein als frech galt, bis ich kräftig eins gewischt bekam. Ei verflucht! Was ich bisher geglaubt hatte von meiner „Unsterblichkeit", verschwand mit dem furchbaren hammerähnlichen Schlag an mein linkes Schienbein und dem Salto mortale, wobei ein Waggon Dreck mein Partner war. Da lag ich nun und konnte vor Dreck nicht sehen, wie mir das Blut aus den Adern lief. Ich fühlte mit den Fingern, wie ein dünner, warmer Strahl aus einem tauben, gar nicht schmerzenden Loch am linken Unterschenkel herauslief. Nun blinzelte ich mit den Augen und sah die Bescherung. Wie ein Krebs kroch ich rückwärts, das linke Bein nachschleppend, davon. Durch Löcher, über Gestrüpp und abgeschossene Baumstümpfe, über Brombeerranken immer weiter, weiter. Langsam rann das Blut aus dem Loch; ich stopfte, ohne das Paket überhaupt zu öffnen, mein Verbandpäckchen in die Wunde, trotzdem sickerte das Blut heraus. Jetzt stellte sich ein dumpfer Schmerz ein, der von Minute zu Minute unerträglicher wurde.
Endlich war ich soweit gekrochen, dass ich den eigentlichen Feuerbereich hinter mir hatte. Nur noch ganz vereinzelt pfiff solch ein Luder in meine Nähe. Ich fühlte deutlich, wie es mit meiner Kraft zu Ende ging, darum machte ich noch einmal Endspurt, der mich ganz aus dem Schlamassel brachte. Meine Absicht, bis an eine Straße zu kriechen und ein Fuhrwerk abzuwarten, konnte ich nicht mehr durchführen, ich war fertig. Noch einmal nahm ich den Kampf mit meinen schwachen Kräften auf; bis an eine Wagenspur gelangte ich, dann wusste ich, das war das Ende. Mein Bein schmerzte mich jetzt so fürchterlich, dass mir die Tränen in die Augen traten. Ich legte es mit beiden Händen hoch auf einen Erdhügel, den ich zuvor zusammengekratzt hatte, und blieb ausgestreckt auf dem Rücken liegen.
Was wird nun? Das Blut sickerte immer noch, wenn auch ganz langsam. Verbluten kommt nicht in Frage, bald würde kein Blut mehr herauslaufen, denn sehr viel war nicht mehr drin, aber das bisschen musste genügen, um noch einige Zeit auszuhalten, Krampfhaft biss ich die Zähne zusammen, der Schmerz war nicht mehr zu ertragen. Wenn doch wenigstens jemand käme!
Aber erst nach Stunden kam jemand. Ein kleiner Wagen, so groß wie ein großer Handwagen, kein Militärwagen. Darauf saß ein alter Trainsoldat, der wie entgeistert in die Luft stierte. Ich wollte laut sagen: „Halt, Kamerad, nimm mich mit", — als er meine Armbewegung bemerkte und davon solchen Schreck in die Knochen bekam, dass er beinah von seinem Brett gefallen wär. Auf meine Andeutung, dass ich verwundet sei, antwortete er: „Kamerad, wo bin ich bloß? Wo bin ich bloß? Wo bin ich?" Ich fragte ihn: „Wo willst du denn hin?" — „Hier das Essen, das Essen muss in das Pionierlager. Seit heute nacht bin ich unterwegs und finde das Pionierlager nicht!" —
„ Hier gibt's kein Pionierlager, ich kenne die Gegend genau. Wenn du hier weitergondelst, steckst du bald in der Scheiße, Mensch, lenk um und nimm mich mit." — „Aber das Essen, was wird mit dem Essen?" — „Ach, das bisschen Fressen, mach kein langes Gefasel, lenk um, und ab, wenn die Hunde einen Vogel kriegen und funken hier noch ein Stück weiter her, sind wir die Dummen." — „Ach, solcher Mist, ich weiß überhaupt nicht mehr, wo ich bin! — Wenn ich nur wüsste, wo ich bin!" — „Ja, Mensch, wo kommst du denn her?" — „Aus Laon!" — „Und wo soll denn das Pionierlager sein?" — „Ich habe den Zettel verloren, wo es daraufgeschrieben steht. — Und den Namen von dem Dorf, wo das Lager sein soll, hab' ich vergessen." — „Na, Mensch, denn mache los, nimm mich mit auf deiner Gulaschkanone, sonst verrecke ich hier noch!"
Nach angestrengter Arbeit und unter entsetzlichen Schmerzen gelangte ich auf den Karren. Mein Bein liegt hoch auf dem Brett, und ich mit dem Körper hinter dem Essenkübel. Durch die Fahrt wird mein Bein erschüttert und schmerzt noch mehr. Auf einmal bleibt der Gaul stehen und will nicht mehr weiter. Der Kamerad erklärt, dass das arme Tier seit gestern nichts gefressen hat. — „Mensch, hast du denn kein Futter mitgenommen?" — „Nee, vergessen." Jetzt packt mich der Zorn: „Der Schinder wird gleich umfallen, steig ab und fass ihn am Kopf an." Mit viel Mühe gelangen wir nach Mons. Ich lasse mich verbinden von einem Sanitäter. Der Gaul bekommt zu fressen. In einem Heuhaufen in einem Keller verbringe ich die Nacht. Die Kameraden in dem Hause sind die Reste einer zusammengeschossenen 15er Batterie. Der Schmerz an meiner Wunde ist meine einzige Sorge. Sonst ist alles da: Milch, Brot, Marmelade, Käse.
Der Krempelkutscher hat größere Sorgen: sein Pionierlager, seinen Futterkübel. Die Kameraden flößen ihm Mut ein: „Mann, halt doch die Schnauze von dein' Pionierlager. Denkst du, du kannst mit deiner Kohlrübenbrühe noch den Krieg gewinnen? Leg dich doch ins Heu und penne." — Ein alter Kamerad kommt mit einer Kanne Wasser, einem Handtuch und einem Stück Seife. „Komm, Kamerad, ich will dich mal waschen, guck' bloß mal in'n Spiegel, siehst aus wie'n Schwein." —
Wie ein Schwein sah ich nicht aus, aber einen höllischen Schreck feekam ich. Auf der leichenblassen, papiernen Haut klebte Dreck und Blut. Mit den blutbeschmierten Händen hatte ich versucht, die Augen auszuwischen, und in den Höhlen tief drinnen, wie in einer blutigen Kulisse, lagen die vom Dreck wundgeriebenen Augen. — Wenn mich so meine Mutter sieht! Wieder kamen die Tränen; ich versuchte zu lächeln. „Wie alt bist du, Kamerad?" — „Neunzehn." Trotzdem die Wunde wie Feuer brannte, schlief ich nach etlichen Stunden ein.
Am Morgen war ich noch elender, ganz außerstande, auch nur ein paar Meter zu krabbeln. Ich hörte, wie man sich erzählte, dass Mons und die Anmarschstraßen zur Front jeden Tag mit schwerstem Geschütz bepflastert werden. Also weg, weg von hier, so schnell wie möglich. Ein Strom von Verwundeten flutete zurück nach Laon, es war einfach ausgeschlossen, ohne eigene Initiative von hier fortzukommen. Ich, der ich einer Bahre bedurfte, hatte keine Aussicht. Der Kutscher, mit seinen sauren Kohlrüben, spannte an, die Kameraden von der zerschossenen Batterie legten mich auf ein Bund Stroh im Wagen, und langsam, unendlich langsam, jeden Augenblick stockend, ging unsere Fahrt in Richtung Laon weiter.
Vorn an der Front tobte der Kampf. Unendliche Kolonnen Infanterie, Artillerie, Lastautos, alle möglichen Fuhrwerke schoben sich zur Front. Wir mit unserem verfluchten Karren blieben stecken. Wäre ich nicht drauf gewesen, man hätte die Schaukel mitsamt dem alten Schinder in den Graben oder in irgendein Loch geschubst, Der Gaul kam nicht voran, er war noch dämlicher als sein Kutscher. Mir war es klar, wenn das so fort ging, in dem Tempo, waren wir vor Abend noch nicht in Laon.
Durchfahrende Sanitätsautos schrie ich an, vergebens, sie fuhren vorbei. Andere Fuhrwerke, leere Munitionswagen ließen sich durch meinen Anruf nicht stören, die Fahrer und Chauffeure sahen mich an, als wüssten sie nicht, was ich von ihnen wolle, und wenn sie drei Meter vorbei waren, taten sie, als hörten sie mich nicht mehr. Der Schlamassel war zu groß. An einer Straßenkreuzung stand ein Gendarm, der sagte auf mein Befragen, ob dieses Gelände noch im Feuerbereich liege: „Die schießen bis Laon, wenn sie wollen, unheimlich schwere Brocken, Schiffsgeschütze, macht, dass ihr wegkommt, gestern um diese Zeit funkte es schon!" — „Verflucht, das fehlte gerade noch! — Na, vielleicht haben wir Schwein, dass sie heute gerade mal aussetzen." „Nee, Nee! Mein Lieber, die setzen nicht aus. Seht zu, dass ihr wenigstens noch bis zum Waldlager kommt, da gibt's leere Munitionsstollen."
„ Ach, so ein elender Schinder. Mensch, hol dir doch bloß mal einen besseren Knüppel und hau die Kricke, dass die Schwarte knackt!" Aber der Kerl kam nicht schneller vorwärts. Er war wie gelähmt, wie doof, und das übertrug sich auf das Pferd. Alles, jeder
Mistwagen überholte uns. Da----------üüühüühuhbujebujebujeff------
wummmrrrumm. Au Backe! Im Nu war die Straße leer. Alles, was Beine hatte, lag in den tiefen Gräben links und rechts. Mein, Kutscher zitterte am ganzen Körper wie ein Besessener; mit einem scheuen Blick auf mich sprang er vom Wagen. Sofort blieb der Schinder stehen. Mit dem gesunden Bein schob ich den Kübel mit dem Fraß vom Wagen runter, ebenso das Sitzbrett, die beiden Seitenbretter riss ich nach innen über mich. Nun hieß es Glück haben. Wenn nicht so ein Biest in unmittelbarer Nähe einschlug, war nichts zu fürchten.
Die Angst war größer gewesen als die Gefahr. Mit den ganz großen Brocken kann man nicht so schnell schießen, auch kann man nicht nur einen Punkt bepflastern, wenn man eine gestreckte Straße beschießt. Eine Straße ist kein Gebäude, man wird oben anfangen und gestaffelt vielleicht zehn bis fünfzehn solche Brummer herübersemmeln. Wenn nun der Straßenabschnitt, der beschossen wird, 8 bis 10 Kilometer lang ist, kommt auf etwa je achthundert Meter ein Schuss, wovon natürlich nicht jeder mitten auf der Straße sitzt. Also, wozu solche Bange?
Diese Gedanken durchblitzten mein Gehirn. Besser wäre es freilich im Graben, aber die Wagenbretter sind auch noch was wert. Wenn der Spuk vorbei ist und der Hund kommt wieder, trete ich ihm eins vor den Wanst. In Abständen von etwa vier bis fünf Minuten kam so ein Feger angesaust. Meine Kalkulation stimmte, die Schüsse folgten gestaffelt. Je näher die Viecher saßen, um so sicherer bildete ich mir ein, dass mir nichts passieren werde. Ich phantasierte. — Über die Straße geht krachend ein riesiger Dämon, wo er seinen donnernden Fuß hinsetzt, ist alles massakriert. Sitze ich, ausgerechnet ich, der ich doch immer solchen Torkel gehabt hatte an der Front, gerade dort, wo das Ungetüm seinen Fuß hinsetzt? Quatsch, ich sitze nicht da! — Wahrscheinlich dicht daneben, das ist interessant, aber nicht da, wo er hintrampelt. Jetzt — kommen lassen, ich werde bis zehn zählen, ganz langsam — 1 — 2 — 3 — 4
— 5------6------7---------8------------9-------------- 10. Der nächste
Gedanke zerstob vor dem kurzen fauchenden Hieb des Geschosses. Wie mit einer gigantischen Tatze schlug es neben der Straße einen riesenhaften Trichter und prasselnd, heulend zugleich, wurde die Straße mit Erde, Steinen und Schutt übersät. Auf meine Bretter klatschten Steine. Es war — so würden die Kriegsberichterstatter geschrieben haben — eine Hölle. Doch was heißt hier Hölle?
Was wollt ihr überhaupt noch, Fürsten der Hölle, mit euren fünfmalhunderttausend Teufeln?! Eure Tricks, die Menschen zu quälen, sind so alt wie die Haut eurer verrunzelten Großmutter! Was wollt ihr noch machen mit euren simplen Bratspießen!? Ihr könnt nicht mehr imponieren! Schon die Organisation bei euch, das kann nie klappen! Bei uns kommt auf je zehn arme Teufel ein Unteroberteufel. Auf je zehn Unteroberteufel wiederum ein Oberteufel und so fort. Und könntet ihr, Beelzebuben, unsere Generaloberteufel sehen, ihr würdet eure Großmutter in Stücke hacken, weil sie euch erbärmliche Schwächlinge geboren hat.
Man wird in Zukunft im Sprachgebrauch den Namen „Teufel" nicht mehr nennen, wenn man seinen Worten besonderen Nachdruck verleihen will. Unsere Hörer oder Leser könnten uns auspfeifen. „Wie, bitte? Nur wie ein Teufel?!" Wir haben jetzt ein anderes Wort, man sagt: Er brüllte, er stahl, er log, er betrog, er schob, er rollte die Augen, er fälschte die Nachrichten, er mordete, er massenmordete, er millionenmassenmordete wie ein — General! Damit wissen die Menschen Bescheid!
Wir waren glimpflich davongekommen. Aber erst nach einer Stunde ging die Fahrt weiter. Je näher unser elender Karren Laon kam, um so langsamer wurde das Tempo. Ewig und immer mussten wir anderen Fuhrwerken Platz machen. Es dunkelte, und nur mit letzter Anstrengung schleppte der arme Schinder den Wagen wenigstens noch bis zum Waldlager, dann machte er ganz einfach überhaupt nicht mehr mit. Ich hielt einen vorübergehenden Kameraden an und fragte nach der Protzenstellung der 9. Batterie, III. Abteilung des Feldartillerie-Regiments 266. Glücklicherweise befanden wir uns unmittelbar in ihrer Nähe. Der Kamerad erbot sich, den Schinder noch einmal auf die Beine zu bringen. Mit einem dicken Knüppel schlug er unbarmherzig drauflos, nicht ohne Erfolg. Die Kricke zog, als wäre sie eben erst angespannt. — „Da siehst du, du Nachtwächter, wie fein das Biest noch loofen kann!" —
Endlich angelangt bei meinen Kameraden. Die fragten neugierig: „Wie sieht es in Feuerstellung aus?" — „Ja, nicht so schön ruhig wie hier in der Protzenstellung!" — Aber da kam ich an die verkehrte Adresse: „Mensch, denkst du, hier ist nichts los? Bleib noch hier bis ungefähr um zwölf, da wirst du staunen! — Fünfzehn Pferde sind über Nacht kaputt, in der vorigen drei. Wenn die jede Nacht so weiterfunken, stecken wir die Munition in die Taschen und schleppen sie in Feuerstellung!" — Noch immer nicht aus der Scheiße!? — Hätte ich doch eins am Arm bekommen, sofort wäre ich abgerückt. Noch einmal eine Nacht? Na, meinetwegen, wirst schon Glück haben. „Ihr habt doch Stollen hier, was?" „Nix, niema nitz!" — „Unterstände?" -— „Dreck haben wir, Zelte!" — In eines von diesen legte man mich, ich schlief augenblicklich ein.
Aber bald wurde es lebendig. Granaten, schwere Brocken heulten durch die Nacht. Die Einschläge lagen nicht sehr entfernt. — „Komm, Kamerad, wir haben hier ein paar Löcher. — So, leg dich lang, scheint heute haarig zu werden!" — Der Franzmann harkte das Waldlager vollständig ab. Pferde, die an langen Leinen zwischen den Bäumen festgebunden waren, rissen sich los und flitzten umher. Die Löcher waren verdammt flach, aber tiefer konnten sie nicht sein, sonst hätte man im Wasser gelegen. Dieses entsetzliche Heulen, das angestrengte Horchen auf den Einschlag. Ohne jede ernsthafte Begründung klammerte ich mich wiederum an die Meinung: „Du hast Glück, dir passiert nichts!" — Es ist zwar unsinnig, aber trotz der Verwundung saß diese Einbildung so fest und war so stark, dass ich dabei einschlief. Mit meiner Verwundung glaubte ich jedenfalls einen Gewinner gemacht zu haben; es ging in die Heimat, und das ist der sehnlichste Wunsch des Frontsoldaten. Man vermutete, ich hätte noch einen Splitter abbekommen. — „Du liegst so still! Mensch, du kokst! Jessus Maria, schlafen, jetze?" Wieder schlief ich ein.
Aber nur Minuten mögen es gewesen sein. Schreien, unmittelbar neben mir, weckte mich: „Aaaauuu — aaauuu." — Ein Kamerad war durch einen Splitter an der Schulter verwundet, Knochenverletzung. Die Schießerei hörte auf. Durch die Nacht stach sich ein vielstimmiges Wimmern. Jemand brachte die Nachricht in die Zelte, dass die Baracke der Russen einen Volltreffer erhalten hatte. Ich horchte auf und bekam zu wissen, in der Nähe seien kriegsgefangene Russen untergebracht und dort sei jetzt ein großes Durcheinander. Die armen Bengels müssten hier im Feuerbereich der schweren Geschütze Wege und Straßen ausbessern. Nachdem schon einzelne verschütt gegangen seien, sei nun dieser Schweinerei endlich ein Ziel gesetzt, leider für die Russen ein sehr dramatisches.
Eine erstklassige Gemeinheit. Ein Hohn auf das Genfer oder Haager Übereinkommen betreffs Behandlung Kriegsgefangener.
Den Tag darauf fuhr ein Unteroffizier mit einem Dogcart nach Laon, mit dem gelangte ich nun endlich ins Feldlazarett. Es war höchste Zeit. In einem Keller, auf bluttriefenden Bahren lagen in Reih und Glied die Kameraden. Ich lag etliche Stunden dort, und meine Betrachtungen, die ich mit fieberglänzenden Augen anstellte, waren dazu geeignet, das Fieber noch höher zu treiben.
War das ein Keller! Auf Bahren schleppten unablässig Sanitäter Verwundete herein, in demselben Tempo schleppten andere wieder welche hinaus. Ein Arzt läuft nervös, schimpfend, fluchend und selbst vom inständigsten Flehen, vom ersterbenden Röcheln der Gequälten vollständig ungerührt, auf und ab. Neben mir wird jemand geholt. Kaum eine Minute ist er fort, kommt ein anderer an den Platz. Sein Mund steht weit offen, seine Augen sind unheimlich. Ich richte mich etwas auf. In einer Hand hält er einen zerknitterten Zettel: „Liebe Anna! Bin auf der Fahrt in die Heimat. Bald gibt's ein Wiedersehen! Mach dir keine Gedanken, meine Verwundung ist nicht so schlimm. Grüße alle! Nochmals auf Wiedersehen! Karl." Dieser Kamerad war bereits in seiner endgültigen Heimat angelangt. Einer von Millionen.
In einem Zimmer mit schneeweißen Betten lag ich dann mit sechs Beinverwundeten. Gegen Abend kam eine Schwester mit Thermometern. Bei mir über vierzig Grad Fieber! Die kurze Erklärung, dass ich noch heute nacht operiert würde, beunruhigte mich eigentümlich. Trotzdem ich große Schmerzen hatte und durch eine Entfernung des Splitters höchstens eine Linderung eintreten konnte, hatte ich Angst vor der Operation. Um Mitternacht erschienen zwei Sanitäter, packten mich auf eine Bahre und schleppten mich in einen Korridor, wo ich neben vielen anderen auf die Geschichte warten musste, die so einen bitteren Vorgeschmack hatte. Endlos die Minuten, ein leises Wimmern geht durch den Korridor. Weiter vorn spricht jemand im Fiebertraum, immerfort schreit er: „Ach ihr Hunde, ihr verdammten Hunde. Ach—ach—ach— diese elenden Hunde." Er weint laut, bis er wieder dasselbe schreit. Alles höre ich, als säße ich tief in einem Stollen unter der Erde am Telephon. Was hier vorgeht, geht nicht in meinem klaren Bewusstsein vor. Die Angst vor der Operation ist fast verschwunden, es ist, als wäre bereits alles vorüber. Ich bin wohl schon im Heimatlazarett, oder bin ich noch nicht dort? Ich befühle meine brennenden Backen; du hast Fieber, sehr hohes Fieber. Mache dir doch keinen Kohl vor, noch bist du hier, hörst du denn nicht den da hinten mit dem „Ach, ach, die elenden Hunde"? Es geht nicht mehr, ich kann meine Gedanken nicht mehr an die Wirklichkeit heften, sie schwimmen ab mit mir.
Erst als man mich in den hellerleuchteten Operationssaal trägt, kehren sie zurück. Mein erster Blick sieht eine große Messingschüssel, darauf einen Arm, ekelhaft zerschnitten. Ich bin vollständig munter. Sehe, höre, rieche, fühle. Offenbar interessiert mein Fall die zwei Ärzte und zwei Schwestern absolut gar nicht. Man scherzt, man lacht. Die eine Schwester nennt den Arzt im Scherz einen Strolch. Die zwei anderen schäkern an einem Waschbecken. Von Zeit zu Zeit steigt eine förmliche Lachsalve. Jetzt erscheint im Zimmer ein Sanitäter, reißt mir robust den Verband von der Wunde, gleichzeitig bekomme ich von der Schwester einen maskenartigen Wattebausch auf das Gesicht mit der Aufforderung, zu zählen.
Der Sanitäter verschwindet wieder. Ich zähle. Man erzählt. Eins — zwei — drei — vier; der Berger, der Knirps, so ein richtiger Liliputaner, stellt sich in die Ecke, wo unsere — zwölf — dreizehn — vierzehn — fünfzehn — sechzehn — stark kurzsichtige Oberin Punkt zwölf vorbei muss und heult wie ein kleiner Junge von sieben Jahren ganz steinerweichend, ich muss — einundzwanzig — zweiundzwanzig— dreiundzwanzig — mal pullen, ich muss mal pullen! Die Oberin fragt: „Nun, mein Kleiner, warum weinst du denn so sehr?" — „Ich muss so sehr pullen!" sagt der Berger — fünfunddreißig — sechsunddreißig — siebenunddreißig — achtunddreißig — „Aber warum machst du das nicht?" — „Es geht nicht", brüllt Berger mit Säuglingsstimme und fingert an seinem Hosenstall herum. Vierundvierzig — fünfundvierzig — sechsundvierzig — siebenundvierzig — achtundvierzig — „Na warte, ich helfe mit", sagt die hilfsbereite Oberin, „so mache mal die Beinchen breit — so—so—so — geht's schon? — Wie alt bist du denn, mein Kleiner?" Der Berger flötet: „Dreiunddreißig Jahre" — sechsundfünfzig — siebenundfünfzig — acht—undfünfzig
— neunundfünfzig------sech-----zig ------ einund------sechzig —
zwei-----------.
Aus nebelhafter Ferne klingt unbändiges Lachen. Dahinein mischt sich mein Schreien, glühender Stahl brennt und beißt in der Wunde. Immer tiefer bohrt sich der Stahl, er bohrt sich bis zum Herzen. Schreien und Lachen werden leiser. Wie mit einer eisernen Klammer legt sich ein Druck auf meine Ohren, ein ungeheurer Feuerball liegt vor den Augen, sein grelles Licht verwandelt sich in Blut. Das Blut färbt sich violett, blau, schwarz —.
Ich erwache mit einer Drahtschiene am Bein. Die Wunde schmerzt sehr. Das Essen, das herrliche saubere Bett, — ein richtiges Bett nach langer Zeit, — die Ruhe trösten über vieles hinweg. Des Nachts ertönt die Front. Irgendwo, nicht sehr weit, krachen Fliegerbomben. Nach etlichen Tagen erfolgt Transport zum Lazarettzug. In einem zweirädrigen Anhängekarren, hinter einem Sanitätsauto hopsen wir vier Glücklichen durch die Landschaft. 0 weh, eine wilde Fahrt. Sind es Freuden- oder Schmerzenstränen, die wir vergießen? Die Karre springt über Löcher und Steine, als seien wir alle Artisten, die einen neuen Trick probieren. Mit dem gesunden Bein und den Armen hänge ich in den Verdeckspangen, um so die gröbsten Stöße zu mildern. Mein Kamerad neben mir ist armverwundet, er kann sich nicht halten. Er fliegt wie ein Stück Holz hoch und wieder runter.
Das Auto hält. Der Chauffeur steigt ab und tröstet uns; — er hat Befehl, in diesem Tempo zu fahren. — Ein selten verrückter Befehl. Nach etlichen Stunden sind wir endlich im Zug. Nun rollt er ab, der Heimat entgegen. So ein Glück. Was gibt es wohl Besseres für uns arme Schlucker als diese Fahrt in die Heimat. Nicht alle Schätze der Welt, nicht Ruhm und Chargiertenknöpfe, nicht das verlogene Geschwätz vom Heldenkampf fürs Vaterland, nichts könnte uns dazu bewegen, freiwillig von dieser Fahrt zurückzutreten. Für alle die Klapsmänner, die es heute noch reut, dass es ihrem obersten Kriegsherrn nicht vergönnt war, inmitten seiner Truppen zu sterben, weil der Krieg so kurz war, sei gesagt, dass es in unserem Lazarettzug
niemand gab, der eine Träne vergossen hätte, weil er nun für seinen Kaiser nicht mehr kämpfen konnte. Ein Trost blieb uns allen. Wir hatten immerhin noch Gelegenheit, für unseren allerdurchlauchtigsten Kaiser und König im Lazarett zu sterben.
Bis Mainz ging die Fahrt. Im Rochushospital wurden mir die Knochen soweit wieder zusammengeleimt, dass ich in zwei Monaten mit Krücken die Rheinpromenade entlanghumpeln konnte. Die größte Sorge, die über uns Krüppeln im Rochus schwebte, wie ein feindlicher Fesselballon über der Front, waren unsere Schwestern. Sie waren von einem besonderen Orden. Ich habe den Heiligen, welcher sich als Stammvater legitimierte, vergessen. Nur diejenigen, an denen es deutlich war, dass sie schon sehr, sehr weit von den heiligen Gewohnheiten und Zeremonien abgerückt waren, erfüllten halbwegs ihren Dienst. Die anderen dagegen konnten vielmehr als Inquisitoren ihres Ordens angesprochen werden, als dass man sie hätte Pflegerinnen nennen können. Mit ihren unheimlich scharfen Augen wachten sie über uns, um uns wegen unserer heidnischen Gebräuche jederzeit einer vernichtenden Kritik zu unterziehen. Selbst der geduldigste Mensch, z. B. einer, der weder Hände noch Füße bewegen konnte, weil sie zentnerschwer in Gips lagerten, war beim besten Willen nicht imstande, es diesen alten Schrauben recht zu machen.
Wenn so ein Rattengewitter merkte, dass ein Kamerad seine letzte Energie daran verschwendete, sich die Anwesenheit dieser — „Wohltäter" — aus dem Gedächtnis zu reißen, sann es auf die gebenedeietesten Ränke, um den gottlosen Frevel alsbald zu vertilgen, bis es auf der Stirn des gequälten Kriegers deutlich lesbar wurde: „Oh, du Ausgeburt aller Frömmigkeit, du Stückchen Dörrgemüse, du dreimal unberührte Heilige, du alter Leierkasten, ich fühle es bis in alle (auch die abgesägten) Glieder, dass du immer noch nicht an deiner Gelbsucht verreckt bist."
Ich hatte das „Glück", bei diesen Jesusammen das h------Christfest mitfeiern zu dürfen. Nachdem es vierundzwanzig Stunden ununterbrochen von den Kirchen in Mainz geläutet hatte, wobei sich unsere Kapellenglocke besonders hervortat, war es uns allen, auch denen, die dreißig Meter Mullbinde um den Kopf gewickelt trugen, klar, dass vor eintausendneunhundertsiebzehn Jahren in einem Kuhstall in der Nähe von Bethlehem ein kleines Kind geboren worden war.
Die Freude der Kameraden über diesen Vorfall kannte keine Grenzen. Noch zumal sich selbst der Kronprinz (was der Vater von Domela ist (Anm.: Hochstapler, der durch seine Ähnlichkeit mit einem Kronprinzensohn einen Skandal heraufbeschwor, der zu einer Blamage für die deutsche Aristokratie wurde.) trotz seines aufreibenden „Dienstes" in Charleville... auf dem Tennisplatz und sonstwo...) auf die Begebenheit entsinnen konnte und jedem lebendigen, halb- oder dreivierteltoten Krieger seiner Armee (im Nebenberuf war er ja Armeeführer) eine Tabakspfeife und fünfzig Gramm Ia Wiesenheu zukommen ließ. Noch nie sah ich so „glückstrahlende" Gesichter, als die der Kameraden, welche durch die Güte unserer lieben barmherzigen Schwestern dazu bestimmt waren, gemäß ihren Anordnungen den Weihnachtsbaum anzuputzen: „Liebe Schwester Euphrosine, ich bin gern bereit, diesen versilberten Papierengel zum einunddreißigsten Male auf Ihren Wunsch an eine andere Stelle zu hängen." Oder — „meine allerbeste Schwester Anastasia, beliebt es Ihnen, die hundert vergoldeten (leeren) Nüsse je einen halben Millimeter tiefer zu hängen?"
Kurz nach Mitternacht wurden wir alle geweckt, damit niemand zu spät zum Gottesdienst kam. Alles, was keine Beine hatte, strömte in die Kapelle. Unsere guten Schwestern leisteten Erstaunliches, sie schleppten jeden, aber auch jeden in die Kapelle. Ich garantiere, wären von den vierhundertachtzig Verwundeten etliche dabei gewesen, denen der Kopf amputiert gewesen wäre, auch diese würden sie in die Kapelle geschleppt haben. An den Ausgängen der Kapelle standen sie Wache, auf dass niemand wieder entweichen konnte. Auch die Notdurft zu verrichten war kein Grund, die Kapelle zu verlassen. Nach den Regeln ihres Ordens war das streng untersagt.
Diese Ungebührlichkeit, wegen einmal pinkeln die Kirche zu verlassen, erkannten die Kameraden durchaus an, darum gingen sie in die Ecken. In die starren kreischenden Töne der Orgel brachte das Plätschern dieser Bächlein einigen Fluss. Der Geruch des Weihrauches vermischte sich allmählich mit dem einer brennenden Feldscheune, wofür allerdings der Kronprinz verantwortlich zu machen war. Einer der Kameraden bekam in der kalten Kirche einen Schüttelfrost, er klapperte laut mit den Zähnen, das klang wie Trommelwirbel und füllte die Pausen der Orgelmusik gut aus. Jedenfalls, die Andacht und Heiligkeit war nicht mehr zu überbieten. Nachdem alles überstanden war, wurde zu Mittag gespeist.
Nun erreichte die Stimmung ihren Höhepunkt. Die Kameraden fanden heraus, dass neben einer leeren vergoldeten Nuss am Weihnachtsbaum ein abgenagter Knochen ein gutes Dekorationsstück sein kann. Da es Schweinskoteletts gegeben hatte, bekam jede Nuss ihren Knochen. Andachtsvolle Tränen der Rührung wurden vergossen, als jemand seinen weißen Mäusen, die er in einer Kiste in Gefangenschaft hielt, anlässlich des Geburtstages des Herrn Jesus v. Nazareth die Freiheit schenkte und ihnen den schönen duftigen Weihnachtsbaum als dauernden Wohnsitz anbot. Der liebe Gott hatte nichts dagegen einzuwenden, und lebendig und lebensfroh, wie weiße Mäuse nun einmal sind, glitten sie den Baum herauf und herunter.
In Mainz gibt es ein Bier mit einem Rad im Wappen, davon waren ohne Schuld der Brauerei etwas mehr Flaschen in den Rochus gelangt, als im Programm stand. Jedoch dieser Fehler war kein Fehler. Unserer Hauskapelle löste dies je nach Instrument die Zunge oder Finger. Ein Fehler im Programm zieht meistens andere nach sich —, es ist ja auch ganz gleichgültig, ein Geburtstag muss gefeiert werden. Jemand erhebt sein Glas und schnarrt mit der Stimme eines Generals: „Kameraden — Stillstann — rührt euch — Kameraden — laut Armeebefehl feiern wir heute den Geburtstag — äh, seiner Maje
— äh, des Herrn v. Nazareth, Exzellenz v. Nazareth geriet in der Schlacht von Gethsemane in Gefangenschaft — äh, bei den verdammten Juden —. Pontius Pilatus war viel zu schlapp, und die Juden, die verdammten Schweine — äh, natürlich, Exzellenz v. Nazareth ans Kreuz geschlagen, — Schweinerei verfluchte, — v. Nazareth urra — urra — urraaa." Der Zorn und die Hingebung für unseren lieben Heiland kann bei den giftigsten Kreuzrittern nicht größer gewesen sein als bei uns. Das war in kurzen Worten der Verlauf der Weihnachtsfeier.
Diese ehrlichen Sympathiekundgebungen wurden von den frommen Schwestern total missverstanden. Von dem Tage an hegten wir Verdacht, dass ihre Frömmigkeit nur Heuchelei sei. Bis zum letzten Tag in Mainz war es uns nicht möglich, diesen Verdacht abzuschütteln. Grollend nahmen wir Abschied. — Gute Nacht, ihr Jungfern von St. Rochus, für euch gibt es keinen Frühling mehr!
Einer Jungfrau war mein Abschied aus Mainz doch nicht ganz gleichgültig. Ich vaterlandsloser Geselle muss es reuevoll eingestehen,
— war es in Laon eine schwarze kitzlige Französin gewesen, in Mainz hatte ich mein Herz an eine blonde reale „English Miss" ausgeliehen. „Ruth Fisher." — „My name is Fisher, I'm an English girl." — „Das ist nicht wichtig, du lieber Kerl." — „My heart goes to you, please, take this pudding." — „Wie gut bist du, mein einziger Liebling!" — „Oh, what is the love fine, well, now you are my man." — „Das muss wohl so sein, ich füge mich denn!" — „Fare well, Mister Toorik, when the war is finished, come back!" — „Leb wohl, Miss Fisher, ich komme zurück, wenn der Krieg zu Ende ist!' '
Gut, reichlich und schmackhaft, das sei den Schwestern von St. Rochus anerkennend gesagt, hatten wir in Mainz gegessen. Schweinemäßig wurde in Küstrin gekocht. Dieser erste Eindruck von Küstrin versetzte alle Kameraden, die den Transport nach dort mitmachten, in eine förmliche Migräne. In Baracken, unter denen die meisten mit Geschlechtskranken besetzt waren, hatte man uns gesteckt. Wir meuterten, — das Essen wurde etwas besser, Küstrin war uns nicht angenehm.
Als ich meinen Fahrschein zur Genesungsbatterie nach Posen erhielt, zog ich gern meine Straße, ohne zu ahnen, dass ich sehr bald in einer gänzlich veränderten Situation zurückkehren sollte. Auf diesem Rückweg hatte ich sogar meinen Namen mit einem anderen vertauscht, mein Beruf, meine sonstigen in zwei Jahrzehnten mühsam eingetrichterten Kulturerrungenschaften waren spurlos verschwunden. Ich konnte, als ich nach Küstrin zurückging, weder lesen noch schreiben und hatte meine Muttersprache total verlernt. Mein Zivilisationsniveau war so tief gesunken, dass humorvoll veranlagte Menschen vor meinen Augen anstatt mit Sardellenbutter mit Bartwichse meine Suppe würzen konnten, ohne an mir den geringsten Argwohn zu entdecken.
Einstweilen gehen wir nach „Posnan". Wer Posen mit anderen westlichen Städten vergleichen will, braucht nicht weit zu gehen, er geht, auf dem Bahnhof angekommen, in einen Abort und hat sofort den Unterschied heraus. Dortselbst merkt er auch bereits, dass Posen eine Stadt mit polnischer Bevölkerung ist. Alle Pornographien sind in polnischer Sprache verfasst. Auf der Straße fielen zweisprachige Ladenschilder in die Augen. Piwo i Wino (Bier und Wein) gab's im „Oberza". Maslo i Ghleba (Butter und Brot) und alle anderen Bedürfnisse des Lebens wurden in polnischer Sprache angeboten.
Für den, der als Volksschulbesucher von der Existenz eines polnischen Volkes in unseren Ostprovinzen nichts gewusst hatte, waren diese Dinge eine große Überraschung. Allüberall Polen! Auch bei den wenigen, von denen man deutsch angesprochen wurde, ließ sich ihr Polentum nicht ganz verleugnen. Seihet die „Panna" von der Straße zischelte: „Ja, jest twoja Kochanka, daj dwa Marek (ich bin deine Liebste, gib mir zwei Mark)." Nach kurzem Aufenthalt in der Kaserne des 20. Artillerieregiments in der Magazinstraße bekam ich ein Kommando nach Warthelager, achtzehn Kilometer von Posen. Ein Truppenübungsplatz, wie alle anderen Schleifsteine in Preußen auch. Was gibt es davon viel zu erzählen!? Baracken, Baracken, Baracken, Soldaten, Pferde, Friseur, Kantine, Kino, Prostituierte.
Das war die erste Zeit langweilig. Bald führte ich ein Leben, das bei jedem Wild-West-Cowboy Neid erregt hätte. Von den im Warthelager gesammelten, in der Provinz Posen ausgemusterten Pferden rissen regelmäßig etliche aus. Diese wilden Gäule, die oftmals vierzig bis fünfzig Kilometer zurücklegten, wieder einzufangen, war die Aufgabe, die mein Kamerad Schröter und ich hatten. Kam die Meldung, dass ein Gaul das Weite gesucht hatte, spritzten wir in die Schreibstube, um den Heimatsort der betreffenden Nummer zu erfahren, und auf dem besten Reitpferd, das in den Baracken zu haben war, nahmen wir die Verfolgung auf.
Im Galopp versuchten wir die Schinder, die meistens ein paar Kilometer Vorsprung hatten, einzuholen.
Das war ein Leben! Als ob es keinen Militarismus gäbe, so fegten wir in die frühlingsschwangere Natur, durch Flur und Wälder, längs Bächen, querfeldein, immer scharf ausschauend, um den Entronnenen wieder zurückzuholen. Meistens, da Wald- und Hügelland den Blick hemmten, dauerte es zwei, drei, auch vier Tage, bis wir zurück waren. Ich kann hier nicht immerwährend Liebesabenteuer schildern, jedoch ein Kavallerist auf hohem Ross hat auch bei schönen Polinnen Chancen, die wir zwei uns nicht entgehen ließen. Unzählige Bekanntschaften wurden gemacht und wieder vergessen.
In der Nähe von Obornik, einem kleinen Städtchen an der Warthe, liegt finster inmitten hoher Bäume der Wohnsitz eines alten polnischen Adelsgeschlechts. Die Sonne ging schlafen, als wir durch den Park zum Schloss ritten, um ein Unterkommen für uns und unsere Pferde zu besorgen. Kein Mensch von der zahlreichen Dienerschaft sprach ein Wort deutsch. Der Besitzer war ein polnischer Patriot und hasste alles Deutsche. Ich hatte trotz der kurzen Zeit, die ich in dieser Gegend war, etliche Brocken Polnisch aufgeschnappt und sagte radebrechend, was wir wünschten. Ein Junge besorgte unsere Pferde, ein Diener zauberte einen blendend gedeckten Abendtisch hervor.
Nach dem Essen wurde ich von einer Zofe gebeten, ihr zu folgen. In einem Salon nahm ich in einem Sessel Platz, als, nach einer etwas gezwungenen Vorstellung meinerseits, eine junge Polin in einem eleganten Kleid sich mir gegenüber niederließ. Sie rauchte eine Zigarette und bat mich, ebenfalls zu rauchen. Ich bedeutete ihr, dass ich ablehnen müsse, da ich nur Pfeife rauche, aber das würde der gnädigen Frau wahrscheinlich nicht angenehm sein, weil ich leider keinen guten Tabak hätte. Sie klingelte ihrer Zofe und sagte in wundervoll weichklingendem Polnisch etliche Worte. Alsbald bekam ich eine schöne, mit bunter Glasur verzierte Tabaksdose vorgesetzt. „Bitte, nehmen Sie!"
Ich bin von Natur her ein frecher Mensch und verderbe mir angenehme Stunden nicht mit Lampenfieber. Ich weiß nicht warum, trotz der vornehmen Aufmachung, trotz dieser äußerst gepflegten Hand, mit der mein Gegenüber die Zigarette an die Lippen führte, fühlte ich mich nicht beengt, stopfte meine Pfeife und ließ mich ausfragen. Nach einiger Zeit wurde ich neugierig. Sie war in Warschau erzogen, nur für ein paar Tage hier anwesend. Bald gehe sie nach Warschau zurück. Als einziger Gesellschafter fungierte ein alter Onkel. Hier sei alles sehr patriotisch, sie selber auch, und ein regerer Verkehr mit den deutschen Herrschaften der Umgebung finde nicht statt. Da ich ja meinem Namen nach Pole sei, hätte sie keine Bedenken, mit mir diese Plauderstunde begonnen zu haben.
Topp. — „Erzählen Sie bitte von Frankreich, es muss schrecklich sein, der Krieg dort. Ich war mit zwanzig Jahren einmal in Paris, es wäre schade, wenn die Deutschen diese Stadt zerstören würden." — Ich erzählte. „Oh, Sie sind verwundet? Ah, Sie tragen noch einen Verband?! Schmerzt das nicht beim Reiten? Nehmen Sie gleich morgen ein Bad. Wie alt sind Sie?" — „Zwanzig Jahre." Ich will auch wissen, wie alt die Schöne ist. — „Aber bitte, eine Dame fragt man nicht nach dem Alter!" — „Wenn sie noch nicht dreißig ist, kann man fragen", entgegnete ich, „ich schätze Sie auf acht—neunundzwanzig Jahre." — „Oh Gott, sehe ich schon so alt aus?!" — „Nein, Sie sehen bedeutend jünger aus, aber Sie sind so alt!" — „Ich glaube, Sie haben schon viel erfahren, trotz Ihrer zwanzig Jahre?!" — „Nein! Sie irren, ich habe fast noch gar nichts erfahren." —
„ Sagen Sie, wollen Sie mit mir heute abend ein wenig auf Jagd gehen?" — „Da bin ich dabei, aber was wollen wir jetzt schießen, es ist schon März. Löcher in die Luft?" — „Panje Turek, da treffen wir auch, wenn der Mond hinter den Wolken steht!" — „Gestatten Sie mir auch, etwas Tabak mitzunehmen?" — „Sie sind pünktlich in einer halben Stunde vorn am großen Tor. Sagen Sie niemand von dem Vorhaben, diese Dörfler hier sind klatschsüchtig wie alte Tanten! — Doswidzenia, Andrzej!"
„ Auf Wiedersehen, Panna Janina!"
Ich ging schnell zurück zu meinem Kameraden, der saß mit den Mädeln und einem alten Diener in einer Stube; er war halb betrunken, die ganze Meute feixte sich an. — „Mensch, Jong, wat büs do forne Kerl, läß mi hier solang alleen, ick vostah nich ne Woort hier! Hee, do ooler Kotlettenhengst, schenk för mine Früund in, ut de Bott'l!" Ich ging hinaus, nahm meinen Mantel, zog das Koppel straff ins Schloss, und mit brennender Pfeife wartete ich am Tor. In halblangen Stiefeln mit einem schmalen Riemen um die Hüften, ohne die Zurückhaltung von vorhin, empfing mich Janina. — „So, hier, nehmen Sie Ihr Schießeisen, es ist geladen!" — „Ich glaubte schon, Ihnen wäre der Mut abhanden gekommen! Das ist ein Bild mit uns beiden, was? Ha, wir schießen alles über den Haufen, was?" —
„ Andrzej, Sie verstehen hoffentlich nicht falsch, ich muss Sie wirklich darum bitten, über diesen nächtlichen Streifzug nicht zu reden. Sagen Sie, können Sie das?" — „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!" „Ha, ha, wie vornehm; — behalten Sie Ihr Ehrenwort; solche Sachen bekam ich schon dutzendweise, sie waren wertloser als eine abgestempelte Briefmarke! Übrigens mögen diese guten Bürger denken, was sie wollen! Wer will sich erdreisten, mir zu untersagen, beim Mondenschein jagen zu gehen? Allein zu gehen, ist nicht sittsam. Den Onkel mitzunehmen, als Beschützer, wäre geradezu paradox, er bekäme einen Nervenschock beim ersten Schuss. Und nun gehe ich mit Ihnen, Panje Turek, — was ist das?" — „Eine sehr gefährliche Sache!" — „Ach was, ich werde Ihnen beweisen, dass ich furchtloser bin als ein Räuber." — „Und ich werde zeigen, dass ich der größte Räuber bin, den jemals der Mond in Ihren Wäldern beschienen hat!"
In einem Wiesengrund, auf hohen Pappeln, saßen Krähen. „Da brenne ich jetzt eine Ladung hinauf," — sagt die schwarze Janina. „Halt, wir geben eine Salve. Hören Sie auf mein Kommando!" — „Nein!" Ihre schwarzen Augen funkeln zu mir auf: „Ich werde kommandieren!" — „Unsinn!" — Ich reiße die Knarre an die Backe; wie ein Schuss krachten beide Büchsen in die Mondnacht. Nur eine Krähe flattert auf die Erde. „Andrzej, Sie gefallen mir besser als • meine Barone in Warschau! — Nehmen wir den Raben mit? Er blutet, wir werden uns beschmutzen, lassen wir ihn liegen!" —
In einer Sandgrube setzt sich Janina auf einen großen Stein und himmelt den Mond an. Mit schöner gedämpfter Stimme singt sie ein polnisches Lied. Ich verstehe nur etliche Worte von Liebe, Wein und Tod. Nachdem das Lied verklungen, legt sich Janina ungeniert neben mich in den Sand, nimmt mir meine Pfeife aus dem Mund, macht drei, vier Züge daraus und gibt sie mir in den Mund zurück. Sie schmiegt sich an. — „Bitte, noch ein paar Züge!" — Ich gebe ihr die Pfeife zwischen ihre glänzenden Zähne.
Wir liegen lang auf weißem Sand, die Nacht flüstert geheimnisvolle Dinge. Im Mondlicht zeichnen die an einen großen Stein gelehnten Gewehre eine romantische Silhouette. — „Andrzej, noch nie habe ich so empfunden wie jetzt hier! Ach, wir mit unseren kristallenen Formen, wir haben uns die Erlaubnis, so frei lang gestreckt, im Mondschein badend, im Sande liegen zu können, verscherzt. — Wir sind einen jahrhundertelangen Kontrakt eingegangen, jede Bewegung unseres Körpers nach einer abscheulichen Schablone zu vollziehen! — Wir haben nicht mehr die Courage, kontraktbrüchig zu werden. Mein Papa sprach neulich mit einer förmlichen Besorgnis von den Geschehnissen in Russland. Dort, sagte er, würden uralte Privilegien, Gesetze, die die Würde von Jahrhunderten trügen, in der Zeitspanne, in der man ein paar Flinten abschießt, erledigt!" — „Niemand weiß, was noch kommt. Es könnte auch den Hohenzollern so ergehen wie den Romanows."
„ Keineswegs habe ich Angst, mein lieber Andrzej, wszistkojedno. Ob so oder so, nur eins ist gewiss, in fünfzig Jahren sind wir kaputt!
Noch sind wir jung und — sehr schön!" Plötzlich knallte ein — Kuss. „Hoppla! Ich wusste nicht, dass die Preußen so schnell schießen!" — Mit einem Satz war sie auf dem Stein. — „So, hier auf meiner Burg bin ich sicher! — Solange ich will!" Ich springe zu ihr auf den Stein, ein kurzer Kampf entscheidet sich schnell zu meinen Gunsten: Ich habe ihre Burg erobert. — „Ach, kommen Sie, hier im Sand rauchen wir die Friedenspfeife!" „Es gibt keinen Frieden, auch dort geht der Kampf weiter." — „Sie sind wirklich ein Räuber!" „Und Sie sind nicht furchtlos wie ein Räuber! Jetzt haben Sie Angst." „Ich schwöre, ich habe keine Angst, weder vor Ihren Küssen noch vor mehr. Aber unsägliche Angst habe ich vor einer Indiskretion Ihrerseits!" — „Ach, das alberne Geschwätz, wir werden uns nie wieder sehen. Wir haben uns ab morgen nach dem Frühstück nie gekannt!"
Wszistkojedno. Nur der Mond hat gesehen, wie heiß diese blaublütige Dame auf die Lust eines gewöhnlichen Sterblichen reagierte. Wenn sie gewusst hätte, dass mein Vater im Schatten ihrer Wälder spazieren gegangen ist, dass ich der Sprössling eines ihrer ehemaligen Untertanen bin!?
In dem Dorfe Gey, zwischen der Kreisstadt Samter und Obornik, wohnt noch heute ein Bruder meines Vaters und bewirtschaftet das kleine Landgut meiner Großeltern. Diesen Onkel habe ich einige Wochen später besucht, seine Frau ist, wie er selbst, polnischen Blutes. Er spricht geläufig deutsch, da er in der Armee gewesen ist, und auch seine drei Kinder sprechen gut deutsch. Dagegen kann seine Frau kein einziges Wort deutsch sprechen, noch verstehen. Von meinem Abenteuer mit der Schlossdame habe ich nichts erzählt.
Dieses behagliche Leben, das sich wohl niemand besser und romantischer wünschen kann, ging noch etliche Wochen so weiter, bis ich, ohne Urlaub zu haben, den Besuch bei dem Onkel machte. Nach vier Tagen nach Warthelager zurückkehrend, gab es einen mordsmäßigen Krach. Ich sollte nachexerzieren, wogegen ich mich sträubte. Die Strafe für unerlaubte Entfernung verwandelte sich in Stallwache. In der Nacht geriet ich mit dem diensthabenden Unteroffizier in einen Streit und schlug ihm dabei eins mit dem Mistbesen vor den Kopf.
Ich wusste, dass damit eine Ruhezeit zu Ende ging und ein Transport an die Front unmittelbar bevorstand. Wie ein Fels stand es bei' mir fest, nie wieder an die Front zu gehen. Zwei Mann brachten mich zur Arreststrafe nach Posen. Aber wie lachte ich, als dort nirgends ein Käfig für mich frei war. Nach Warthelager zurückgekommen und wieder in unsere Baracke einquartiert, legte ich mir kurzerhand einen Plan zurecht, mit dessen Ausführung sofort begonnen wurde. Noch in der darauf folgenden Nacht ging ich eigenmächtig für drei Wochen auf Urlaub. Die achtzehn Kilometer nach Posen trabte ich mit meinem Gaul, stellte ihn in der Magazinstraße in einen Stall, sagte dem Stallwachthabenden, dass ich vom Warthelager sei, er solle das Pferd ein paar Tage füttern, und schlich mich hintenherum auf den Bahnhof. Anderentags amüsierte ich mich in Berlin und in der Nacht gelangte ich noch unbehelligt nach Stendal.
Drei Wochen Urlaub, vergnüglich verlebt, waren verflossen. Im Warthelager guckten die Schreibstubenspinner recht dumm aus der Wäsche, als ich mich vom Urlaub zurückmeldete. „Solche Frechheit ist noch nicht dagewesen, Sie wissen doch, was Ihnen blüht?" — „Mir vollständig wurscht!" Mit zwei Mann mit Karabinern als Begleitung wieder ab nach Posen. Diesmal hielt man mein Verbrechen für groß genug, um mit mir ins Grolmann-Gefängnis zu gehen. Der Gerichtsoffizier tobt. — „Sind die denn verrückt im Warthelager oder denken sie, wir haben hier für jeden, der mal drei Tage nicht bei der Truppe war, ein Asyl, damit so ein Strolch seinen Rausch ausschlafen kann? Hinaus, marsch, marsch!" —
Der Mai war gekommen, die Bäume schlugen aus. In einer stockfinsteren Nacht packte es mich wieder. Gegenüber dem Übungsplatz liegt ein Dorf, Glinienko, darinnen wohnte eine Polin, Veronika
Jagodczinska, die ließ mich nicht schlafen. Ihre rosaroten Bänder in den blonden Haaren, die weiche klingende Stimme, wenn sie polnisch sprach, und vieles, vieles andere mehr war die Veranlassung, um in meine Reitstiefel zu steigen, meinen Fuchs aus dem Stall zu holen und über die Heide zu fliegen, bis mein braver Max mit schäumender Schnauze an dem Fenster der schönen Veronika schnupperte. Andrzej — Veronika! Drei Tage blieb ich bei ihr.
Nunmehr fasste ich den Entschluss, endgültig unterzutauchen. In Posen wohnte ein Onkel und ein Kusin meines Stiefvaters. Dorthin ging ich, um mein Militärzeug mit Zivilkleidern zu vertauschen. Die guten Leute waren über mein Ansinnen nicht wenig erstaunt; als sie dann hörten, dass es das allerschlechteste Zeug sein könnte, was sie in dem Lumpensack finden würden, machten sie sich mit vie| Lachen und Scherzen daran, mich als Gentleman der Landstraße auszustaffieren. Die Hose war noch entschieden zu gut, eine schlechtere nicht vorhanden, darum half ich nach, um das auszubessern, was mir an ihrer Vollkommenheit noch fehlte. Die Jacke passte ausgezeichnet, d. h. sie war für jemand gefertigt, dessen Kreuz die Ausmaße eines schmalen Handtuches hatte. Ich zwängte mich gewaltsam hinein, ein paar Freiübungen ließen deutlich die Stellen erscheinen, wo noch Stoff fehlte. Das Hemd, wie geschaffen für mich, reichte nicht weit über den Nabel und schien einmal längere Zeit einem Kavallerieregiment als Lanzenzielscheibe gedient zu haben. Übrigens waren die dazugehörigen Wanzenflecke gleich drin. Strümpfe lehnte ich überhaupt ab. Ein zerrissenes Taschentuch mit einem eingestickten polnischen Vornamen und einen gestrickten Topflappen nahm ich um die Füße, die ich zuvor mit Fett und Asche in Berührung brachte, damit sie einen an mir irgendwie interessierten Menschen nicht darüber zum Nachdenken bringen konnten, wann sie zum letzten Mal Seife verspürt hätten.
Eine alte Wichsbürste benutzte ich als Puderquaste und an meinen Haaren betätigte ich mich selbst als Friseur. Die Bartstoppeln von fünf Tagen genügten, um glaubhaft erscheinen zu lassen, dass ich kein großer Freund des Rasierens war. Stiefel hatte ich natürlich auch. Hier machte der ganze Kerl eine Kurve nach oben. Die Stiefel waren gut. Noch besser war die Pelzmütze, zwar alt, aber echt polnisch. Über die Ohren gezogen, konnte man das Gesicht nur sehen, wenn ich den Kopf auffällig hob.
Also ging die Reise los. Morgens, es war noch völlig Nacht, machte ich die erste Probe, ob ich echt wirkte, indem ich mich zum Bahnhof begab. Im Wartesaal durchwühlte ich den Papierkorb; ein schmutziges polnisches Bilderbuch, total zerrissen, steckte ich in die Tasche, das bildete neben einem dolchartigen Messer und einer alten, extra gegen meine neue umgetauschten, zerkauten Tabakspfeife mit etwas Tabak mein Gepäck. Als die ersten Sonnenstrahlen kamen, bestrahlten sie einen Menschen, der, einem Maikäfer ähnlich, soeben diese Welt betreten hatte und dem sein Vorleben als erdenbeschwerter Wurm aus der Finsternis nicht ins Bewusstsein zurückkehrte.
Auf der Landstraße nach Pinne, fünfzig Kilometer nördlich von Posen, schritt ich wacker aus. Alles, was mir begegnete oder mich überholte, versäumte nicht, ein mitleidiges Lächeln mit meinen scheinbar vollständig teilnahmslosen Blicken zu kreuzen. Das Wichtigste, Fundamentale für meinen Plan war gelungen; in mir vermutete kein Mensch einen Deserteur der deutschen Armee. Ja, als ich durch das kleine Städtchen Pinne tippelte und dort in einigen Schaufenstern mein Spiegelbild sah, musste ich unbedingt daran glauben, dass ich der aus dem dunkelsten Polen in ein noch nie geschautes Land gewanderte Antek Kaczmarek bin, ein Kerl, so dumm, so faul und gefräßig wie ein hinterpommerscher Landgendarm.
Der Hunger meldete sich. Ein Haus, vor dem sich Kinder auf polnisch herumbalgten, ermunterte mich, einmal nachzufragen. Mit der Pelzmütze über die Augen, den Kopf auf der Brust liegend, brummte ich, kaum für mich selbst hörbar, etwas von „Chleba i Woda". Bereitwilligst brachte eine Frau ein großes Stück Brot und Käse und in einem Glas frisches Wasser. Ich brummte ein unverständliches „Dzienkuje" und aß mit heimlichem Feixen das Brot. Im nächsten Dorf glückte es ebenso.
Achtzig Kilometer Marsch lagen hinter mir, als ich in einem schäbigen polnischen Gasthof nach Quartier fragte. Der Wirt war einer von den wenigen Wirten, die einen solchen Gast nicht blitzartig vor die Tür setzten. Wahrscheinlich wusste er, wie wenig das Ruhebedürfnis von dem Besitz einer wohlgefüllten Geldbörse abhängig ist. Er sagte viel zu mir, ich verstand fast nichts, aber ich hatte nicht das Gefühl, verduften zu müssen. Im Pferdestall auf einem Bund Stroh verbrachte ich die Nacht.
Mit frischen Kräften, in der Hand ein Stück Brot, trat ich wieder auf die Landstraße. Ein deutsches Dorf, das erste (ich überschritt also die Sprachgrenze), mit Namen Kupferhammer, zeigte mir den Vorzug der deutschen Bevölkerung gegenüber den Polen; sie äußerten sich kritisch zu mir. Ein Mann mit einem Kaiserbart schritt auf mich zu. Mit einem Spaten in der Hand, den er drohend erhob, versperrte er mir den Weg und fragte: „Wo kommst du her, mit dir machen wir gleich mal kurzen Prozess", mit diesen Worten wollte er mich greifen. Kurzerhand machte ich kehrt, und in der Richtung, aus der ich gekommen war, lief ich davon.
Meine Absicht, mich erst in Küstrin greifen zu lassen, zwecks Erlangung von irgendwelchen Papieren, wollte ich mir hier noch nicht durchkreuzen lassen. Bald merkte ich, dass ich verfolgt wurde, auf Fahrrädern sausten zwei Mann heran. Sofort nahm ich querfeldein Richtung auf einen Wald. Ich ließ sie ziemlich nahe an mich heran, etwa fünfzig Meter. Sie bildeten sich ein, als es zum Laufen nicht mehr langte, dass ich stehen bleiben würde, wenn sie mit Schießen drohten. Langsam legte ich ein immer schärferes Tempo vor, bis auch ihr dämliches Brüllen nicht mehr zu hören war. Als ich glaubte, diese eifrigen Stümper nie wieder zu sehen, änderte ich meine Richtung wieder nach Nordwest.
Das kleine Städtchen Meseritz kam in Sicht. Es wäre schade gewesen, herumgehen zu müssen. In einer Feldscheune fand ich eine Mistforke. Die nahm ich über die Schulter, meinen ausgezogenen Rock legte ich hinten über die Forke, die Pelzmütze steckte ich darunter, und siehe, von den fünf- oder zehntausend Meseritzern, die Polizei extra gerechnet, merkte niemand, dass es hier galt, ein entsetzliches Verbrechen aufzudecken: das spurlose Verschwinden einer Mistgabel aus einer auf gewaltsame Weise geöffneten Feldscheune.
Mit aufgekrempelten Hemdärmeln stand ich vor der Druckerei des Ortes und grinste über den Gedanken, was wohl die Kollegen am Setzkasten für Augen machen müssten, wenn ich meine Mistforke mit einem Winkelhaken vertauschte und etliche Zeilen mit schönen Grüßen vom Kollegen Kaczmarek aus Russisch-Polen in Korpus Fraktur zurückließe. Später habe ich mit einem Kollegen aus der betreffenden Druckerei im Ruhrgebiet gearbeitet. Ein paar Kinder interessierten sich auffällig für mein durchlöchertes Hemd.
Als sie anfingen, sich über die genaue Anzahl der Löcher zu streiten, verschwand ich.
Rosenthal nennt sich ein Gutshof in der Nähe von Meseritz, das ist ein Fleckchen Erde, in das sich ein Flüchtling verlieben könnte, wenn solche Sentimentalitäten nicht das ganze Unternehmen in Frage stellten. Etliche Polinnen kratzten auf* einem Feld herum. Ich ging ohne Argwohn auf sie los und bettelte auf polnisch um Brot und Wasser. Sie lieferten alles, was sie in ihrem Korbe hatten, an mich ab. Ich bettelte nun, sie möchten wenigstens etwas behalten, es war vergebens, sogar ein Tuch opferten sie, damit ich alles sauber fortbrachte. Eine kleine Blonde machte plötzlich den Vorschlag, ich könnte doch hier bleiben; alle stimmten sofort dafür, dass ich gleich zum Verwalter gehen solle und dort um Arbeit nachfragen. Beinahe hätte ich mich verleiten lassen, aber dann siegte die Vernunft; man konnte unmöglich dieser Lockung nachgeben, wollte man sich nicht den ganzen Plan vermasseln. Kurz entschlossen trabte ich ab.
In Poppe oder Zoppe, so ähnlich heißt ein Dorf bei Landsberg an der Warthe, kam ich den lieben Bauern wieder einmal so vor, als müsste man mit mir unbedingt eine Verbrecherjagd beginnen. Von den Liebesgaben der Polenmädel war schon fast die Hälfte verzehrt, diese Hälfte hätte für einen normal hungrigen Magen mindestens für drei Mahlzeiten reichen müssen; für mich war es jedoch nur eine Mahlzeit gewesen, kein Wunder, dass ich auch einen Durst für drei Mahlzeiten bekam. Also in diesem besagten Zoppe wollte ich diesen Durst löschen. An ein Haus mit frommer Inschrift hätte ich mich nicht wenden sollen; durch meinen Durst ließ ich mich verleiten, ging hinein und machte die Bewegung des Trinkens, was von einem etwa elfjährigen Mädchen den Eltern sofort übersetzt wurde. „He will Woter drinken", meinte die Kleine. Ohne darauf zu achten, sprang der Alte auf mich zu, packte mich derb am Arm und wollte alles mögliche wissen. Nachdem er so ein Weilchen gequasselt hatte, merkte er, dass ich kein Wort verstehe. — „Dat is en weggeloofener Kriegsgefangener, den müssen wa mal jleich zu'm Schandarin bringen." —
Nun fing der Mann zu schwindeln an, dass sich das Haus hätte verbiegen müssen mitsamt dem frommen Spruch. — „Du willst", hier machte er die Bewegung des Essens, „und sowat?" — er machte die Bewegung des Trinkens. — „Alles kriegst du, verstehste? Ja, alles, viel, haha, hier setz dich mal." Er drückt mich auf einen Stuhl und sagt zu seiner Frau: „Gib ihm mal'n paar Kartoffeln, ich fahre schnell mit'n Rad nach'n Schandarm, oder meinste, ich nehme ihn gleich mit?" — „Äh, lass doch den Kerl loofen! Du steckst deine Näse in jeden Quark." „Bist verrückt, — loofen lassen, geht doch nicht, dass sich solche Strolche hier herumtreiben!" — Plötzlich kommt ihm eine andere Idee. Er sucht mir begreiflich zu machen, dass er im Gasthof für mich einen Wudki spendieren will. — „Da werden ma den Burschen schon fassen." —
Seine Frau spektakelt: „Ich weeß nich, wat du für ne Marke bist, las dir man noch eens auswischen von dem Kerl, der sieht nämlich ganz so aus, als wenn er sich aus nischt wat macht!" — „Komm, Panje! Wudki, 1, 2, 3, komm, komm!" Ich tue, als würde ich begreifen und lache ein bisschen. — „Wudki — na siehste endlich, mein Freund, dir werd'n ma bald feste hamm." Wir sind noch auf dem Hof, als ich blitzschnell auf ihn losspringe und ihm mit der rechten Faust einen festen Hieb in den Magen, mit der linken einen unter das Kinn versetze. Wie ich das Hoftor schließe, sehe ich, wie der Kaffer sich auf seinem Misthaufen wälzt und gern schreien möchte, aber durch den Magenschlag keinen Ton herausbringt.
Mit unauffällig schnellen Schritten gehe ich bis an das Dorfende und dann im langsamen Laufschritt zum Bahnhof. Eine Kleinbahn fährt nach Landsberg, aber erst in einer Stunde. „Man wird den Attentäter bald suchen", denke ich. „Wenn sie dich erwischen, schlagen sie dich halb oder ganz tot." Einen Bahnbeamten, der mich schon misstrauisch beobachtet, frage ich: „Schwerin-Meseritz?" Er fragt gleich, was ich in Meseritz will. Ich deute mit dem Finger in Richtung Schwerin-Meseritz und wiederhole meine Frage. „Ja, ja, da, jetzt fährt aber kein Zug!" — „Nix jechacz?"
Mit Riesenschritten verschwinde ich auf der Chaussee in Richtung Schwerin-Meseritz. Als ich mich einigermaßen sicher fühle, drücke ich meine Pelzmütze mit den daruntersteckenden Brotstücken fest ins Gesicht und erklettere einen Chausseebaum. Der Baum ist ziemlich dick, nur mit großer Mühe gelange ich an die ersten Äste. Kaum habe ich ganz oben in der Spitze einen Sitzplatz eingenommen, als ich deutlich sehen kann, wie fünf Mann auf Rädern aus dem Dorfe herausjagen. Als sie in die Chaussee einbiegen, verschwinden sie. Wahrscheinlich sind sie von dem Beamten unterrichtet, dass ich mich in Richtung Schwerin entfernt habe. Von der Straße sehe ich absolut nichts, das beste Zeichen, dass man von der Straße auch von mir nichts sehen kann. Ich horche. — Drei Minuten sind noch nicht verflossen, als unten die fünf Räder vorbeizischen.
Hier oben, wo sich die Finkenhähne grüßen, wo die Maikäfer, die gefräßigen, Abendbrot essen, herrscht Frieden. Unten haben die Menschen eine Straße gebaut, eine Bahn, eine Ader, wo das Leben fließt, das Leben, das so grundverschieden ist, dass man glauben kann, es sei nicht das Leben einer einzigen Gattung. Ein Maikäfer lebt wie der andere, ein Fink so wie sein Nachbar. Doch der Mensch, die Krone aller Schöpfung, lebt unterschiedlich. Hat mein Leben auch nur den Schatten einer Ähnlichkeit mit dem Leben desjenigen, der unter mir im Auto dieselbe Straße zieht? Dieselbe Erde schuf nicht dieselben Menschen. Was ist schuldig, verantwortlich für diese Klassifizierung? Warum muss hier unten auf dieser Straße der, der den Staub aufwirbeln macht, ihn nicht selber schlucken? Warum schluckt ihn der andere, der ihn nicht aufwirbelt, so widerspruchslos?
Bimbimbimbim. Die Kleinbahn stolperte vorbei. Mir gefiel es ausgezeichnet auf meinem Ast, ich verspürte einen Graul, wieder auf die Erde hinabzusteigen, wo man mich totschlagen wollte, weil ich keinen guten Anzug besaß und nach einem Krug Wasser gefragt hatte. Erst als sich die Maiennacht über die Landschaft legte, rutschte ich hinunter, zog meine Jacke aus, wickelte meine Pelzmütze hinein, krempelte die Hemdärmel hoch, bis sämtliche Löcher der Ärmel unsichtbar wurden, und sobald ich hinter oder vor mir etwas gewahrte, fing ich deutlich hörbar im Berliner Jargon an zu trällern: „Der Mai is jekommen!" — „O wandern, o wandern, du freie Burschenlust, da weht Jottes Odem so frisch in die Brust." Ich sang die ganze Nacht.
In Landsberg an der Warthe stülpte ich meine Pelzmütze wieder über die Ohren und damit hörte jede Verbindung mit dieser Nation auf, an deren Wesen die Welt gerade im Begriff war zu genesen. Bis Küstrin waren es noch etwa vierzig Kilometer. In einem Weißdorngestrüpp stärkte ich mich durch Schlaf zu diesem letzten Marsch; bevor jedoch die Sonne unter den Horizont gesunken war, erwachte ich. Kleine rote Spinnen, goldige Käferlein, einige Zaunkönige und zarte Gräser waren meine Gespielen. Die Käfer gingen
schlafen unter den Blättern, während ich mein letztes Stück Brot verzehrte. Ein großer Durst, der nicht mehr zu bändigen war, trieb mich noch einmal nach Landsberg hinein. Ohne groß aufzufallen, bekam ich Wasser. Nun trollte ich, die Pelzmütze unter dem Arm, die vierzig Kilometer herunter. Eine solche Wanderung durch den Wonnemonat ist interessant. Ich wusste, dass man mich in Küstrin hinter Eisenstäbe setzen würde. Meine einzige Hoffnung war, dass es nicht allzu lange dauern würde. Deutschland brauchte doch dringend Arbeitskräfte, und es wäre großer Blödsinn, mich etwa vier Wochen einzukerkern; — wie gern wollte ich arbeiten, ganz gleich, was und wo. Das einzige, was ich nicht wollte und warum ich dieses Abenteuerleben führte, war, nie wieder dort hinzugehen, wo man täglich sein Leben oder seine gesunden Knochen riskieren musste für eine Gesellschaft, die es nicht wert war. •
Unbehelligt gelangte ich nach Küstrin. Aber es war bereits Mittag geworden und immer lief ich noch in Küstrin herum, ohne dass das Auge des Gesetzes von mir greifbare Notiz genommen hätte. An der Zorndorfer Straße, dort, wo die Pferdebahn nach der Altstadt hält, steht ein Schutzmann; der sieht mich zwar ziemlich beißlustig an, doch er beißt nicht an. Vielleicht will er sich mit mir an einem Sonntag keine Arbeit machen. Ganz in Weiß gekleidete junge Mädchen gehen spazieren. Eine mir von der Lazarettzeit her sehr gut bekannte Schwester geht mit einem deutlichen Blick voller Abscheu und Ekel an mir vorüber. Spießerfamilien amüsieren sich. Ich setze mich zwischen Küstrin-Altstadt und Küstrin-Neustadt auf das Geländer der Warthebrücke. Der Hunger nagt in mir. Bald sammelt sich eine Menge Sonntagsspaziergänger im Halbkreis um mich. Sonntagsnachmittagsvergnügen. —
— „Hallo! Du Dreckschwein, da unten is Wasser, wasch dich mal!" „Wasser kennt die Art nich, ja wenn's Schnaps wäre." — „Na, dem krabbeln die Läuse ooch schon aus sämtliche Knopplöcher." — „Mensch, setz dein' Helm ab, du kriegst Maden drunter." — „Jeh uff die Krankenkasse und las dir mal rasieren." Ich springe vom Geländer und alles macht fluchtartig Platz, als ich durch den Menschenhaufen gehe. Eine Schar Kinder hängt sich an. Mit diesem Kreis eifriger Verehrer lässt dich der Schutzmann bestimmt nicht ungeschoren, so kalkuliere ich, und gehe zurück zur Neustadt. In seiner Nähe trete ich an eine Ladentür und sehe durch das Schlüsselloch. Nun endlich kam der Ordnungshüter und fragte in einem Schnauzton, der jedem Feldwebel Ehre gemacht haben würde, nach meinen Papieren.
Verständnislos glotzte ich ihn an. — „Papiere!?" — Er fasst frech in meine Brusttasche und holt das polnische Bilderbuch hervor. — „Mit!" — Wie eine Zange packt er mich am Handgelenk und schiebt mit mir ab. Die Kinder johlend hinter mir her. In unmittelbarer Nähe ist die Wache. Hineinschubsen und einen Höllenlärm veranstalten, ist ein Werk: „Auf dich Polacke hab ich heute gerade noch gewartet, du gottverdammtes Vehikel. Hier, Hund verfluchter, stell dich mit der Nase an die Wand. Du Rabe elender. Wie heißt du, Lausekerl? Wie heißt du, Penner verlauster?" — Kein Wort kommt über meine Lippen. — „Ihr verdammtes Viehzeug kommt nach Deutschland und kennt kein Wort Deutsch! — Na, nach mir sollte es nicht gehen, euch Biester, euch Schweinebande würde ich rausleuchten! — Himmelkreuz, verdammtes Pack, wie heißt du, Kanaille? Sag Mensch, blöder Hund, wie du heißt?" Er pufft mich fortwährend mit der Faust vor die Brust, ich gehe etliche Schritte zurück, er reißt mich am Jackett, das in den letzten Nähten platzt, wieder nach vorn. — „Blöder Hammel, wie heißt du, aus welcher Hundetürkei kommst du her? — Gottachgottachgott, hat man schon jemals solche Menschen gesehen?! — Stanislaus, Nikolaus, Iwan?! Du! du, wie heißt du, Hundesohn? Dich steck ich in Ketten, du Aas?!
— Was soll man denn nun bloß niederlegen hier, möchte wirklich wissen, was ich da schreiben soll. So was Dummes ist mir doch wirklich noch nicht dagewesen." —
Er schreibt. Da kommt ihm ein Gedanke. — „Aha! Pass auf, du Blödhammel, hier hast du, kannst du schreiben?" — „Tak, tak." — „Du kannst schreiben hiermit? So, richtig schreiben?" — „Tak, tak."
— „Idiot, warum sagst du das nicht gleich! — So, schreibe deinen Namen." Ich fasse den Halter sehr krampfhaft und drücke so sehr, dass die Feder abbricht. — „Jetzt is es aus, du Lump, du infamer!"
— Er springt auf mich los und haut mit der Faust auf mich ein. Ich springe zurück. Er droht mit dem Revolver. — „Das wäre doch zum Kuckuck. — Lausebagage, verdammtes Gesindel." —
Mit Handeisen werde ich von Neustadt nach Altstadt geführt. — „Da, der Kerl schon wieder! — Was hat denn der Vagabund ausgefressen, Herr Wachtmeister?" — „Den suchen wir schon lange, na, jetzt is es aus, mein Lieber, du hast lange genug geräubert!" — In der Altstadt geht es in ein uraltes Gebäude. Ohne ein Verhör stößt mich dort der Beamte in ein stockfinsteres Loch und schlägt die Tür dröhnend hinter mir zu.
Gleich nach den ersten Schritten merke ich, dass der Bunker nicht nur für mich allein ist. Eine Stimme, die sich wie die letzten Worte eines Sterbenden anhört, trommelt aus der Tiefe zu mir heran. Kein Wort ist verständlich. Aus dem Tonfall jedoch höre ich, dass die Stimme Antwort haben will. Weiter trommelt die Stimme, wieder will sie Antwort. Ich antworte: „czego? (was ist los)". Die Stimme aus der stinkenden Tiefe: „Popolski?" Ich antworte: „tak". Schweigen. Eine Stunde nur das scharrende Geräusch einer Hand, die über die Haut kratzt. Nicht so, als wenn sich zufällig jemand einmal kratzt, sondern so, als kratze die Hand seit Jahren den Körper.
Ich weiß, dass es draußen noch eine Sonne gibt; hier drinnen glaubt man nicht mehr dran. Pestartig wie nach Leichen stinkt der Raum. Der Raum, welcher Raum? Ist es überhaupt ein Raum? Ich fühle an den eiskalten Wänden entlang, der Raum ist nicht abzutasten, ein Gegenstand verhindert das, er steht an der Stelle, wo die Wand eine Ecke macht. Ich fühle, auf diesem Gegenstand liegt ein Mensch. Er ist barfuss, eisigkalt sind seine Füße, aber ebenso eisig sein Gesicht. Es platzt heraus aus mir wie ein Geschoß: „Panje, stacs! (Mann, steh auf)". Eine Stimme, dieselbe wie vor einer Stunde, sie kommt aus einer anderen Ecke, sie kommt nicht aus dem Munde, den ich wie einen trockenen, eiskalten Gegenstand zwischen meinen Fingern fühle, sie rasselt, als säßen verrostete Nägel im Rachen: Sapalki (Streichhölzer)? Papyrosi (Zigaretten)?" — „Niemosz (keine)." Ich gehe an die Stelle, wo diese verrostete Stimme herkommt. Dasselbe. Barfuss, das Gesicht fieberheiß. Ich frage: „Germanski? — njet Poruski?" — „Da (ja)." Er spricht wieder lange Zeit, ich verstehe kein Russisch, nur etliche Worte fallen heraus aus der Trommel: „Towarisch, Woda! (Genosse, Wasser) — Matj, sawtra, doma (Mutter, morgen zu Hause)." —
Durch meinen Kopf geht plötzlich ein Gedanke, der eine ist schon tot und der hier wird es bald sein, und du? Mit Händen und Füßen schlage ich gegen die Tür. Zwei Stunden vergebens. Nun suche ich kriechend auf dem Boden einen passenden Gegenstand, ich finde einen dreibeinigen Schemel, damit schlage ich wuchtig auf die Tür
ein. Nachdem ich etwa zehn Minuten spektakelt habe, kommt ein Wärter wild fluchend und brüllt, was los ist. Ich antworte: „Scheißen." — „Äh, scheiß doch!" Er will sich entfernen; da kommt eine unbändige Wut über mich, ich schlage mit dem Schemel, der bereits sein drittes Bein eingebüßt hat, wie ein Tobsüchtiger auf die Tür ein. Der draußen droht mit totschlagen, ich brülle, so laut ich kann: „scheißen" — und schlage, dass von dem schweren Schemel die Splitter fliegen. Trotzdem entfernt er sich, kommt aber sofort zurück mit noch jemand.
Jetzt rasselt der Schlüssel, ein Riegel wird gezogen. Sowie der erste Lichtspalt sichtbar wird, werfe ich mich aus voller Gewalt gegen die Tür. Ich stehe draußen, mache keine Miene zum Spaßen und sage fortwährend, mit der Hand in die Zelle zeigend: „Kamerad tot, Kamerad tot!" — „Ah! So! Deshalb musst du scheißen." Die beiden wollen mich fassen, der eine hat mich erwischt, er bekommt einen Schlenker von mir. Jetzt stürzen beide auf mich, um mich in die Zelle zurückzubringen. Ich wehre mich aus Leibeskräften und schreie fortwährend: „Kamerad tot, Kamerad tot!" Der eine von beiden, ein etwas fetter Alter, macht schlapp. Sie schaffen es nicht mehr. Ich schreie immer noch: „Kamerad tot, Kamerad tot!" — Ich schreie so laut ich kann. Noch einmal packen sie an. Wieder tobt der Kampf. Der Alte ist kaputt, er sagt: „Wir bringen ihn rüber, oben bei die acht wird er sich wohl beruhigen." —
Ich werde über einen Platz geführt. Bürger mit ihren Frauen gehen nach Hause, es ist Zeit zum Abendbrotessen. Tauben picken emsig nach Essbarem. Kleine dünne Grashalme wachsen zwischen den Steinen. Ganz oben am Himmel segeln weiße Federwölkchen. An einer Hausecke sehe ich noch einmal die tiefstehende Sonne für Sekunden. Eine heiße Sehnsucht überkommt mich, ich möchte immer die Sonne sehen. Schon will ich losspringen, aber, verdammt, ich sehe, wie der Kerl neben mir den Revolver entsichert.
Die acht in der Zelle waren sehr erfreut, einen neuen Kollegen zu sehen. So ein Käfig hat wenig Verbindung mit der Außenwelt. Kommt nun jemand, so wird er nach den Geschehnissen, die draußen vor sich gehen, ausgefragt. Auf jeden Fall ist Zuwachs eine Unterbrechung in der Monotonie des Gefängnislebens. Schon die Person selbst interessiert lebhaft. Dann sein Fall. Warum ist er hinter Schloss und Riegel? Seine körperliche und geistige Verfassung, je nachdem sie respektabel oder minderwertig ist, verschafft dem Neuling schon am ersten Tage die entsprechende „gesellschaftliche Stellung". Alle Achtung vor meinen Leidensgefährten im Küstriner Gefängnis, sie fühlten sich als bessere Menschen, als ich einer war. Ein Alter führte dort das Wort und nach ihm richtete sich alles. Dieser Alte war es auch, der schon nach einer Stunde den Stab über mich gebrochen hatte. — „Es ist ein Skandal, dass man sich sowas gefallen lassen muss. — Ich lege Beschwerde ein. — Nee, das gibt's doch überhaupt nich, zweiundzwanzig Jahre Knast habe ich ehrlich abgesessen, aber mit solchen Bowken bin ich noch nicht in einer Zelle gewesen." — Sein Leib- und Magenfreund, ein halbverhungerter Lahmer, dem man die Schwindsucht ansah, stimmte bei, die übrigen, teils jüngere schwächliche Gesellen, ließen sich ebenfalls mitreißen, und so hatte ich die ganze Meute gegen mich in hellem Aufruhr.
Ein Glück, dass sich niemand mit mir verständigen konnte. Ich setzte mich auf ein Bett und wurde von dem Alten laut angebrüllt, dass das Sitzen auf dem Bett verboten sei. Natürlich nehme ich keine Notiz davon. Finster sitze ich da. — Ich denke an die beiden armen Schlucker drüben in der Pesthöhle. Vielleicht war er noch zu retten, der mit dem Fieber! Was kannst du tun? Nichts! Die Gesellschaft bemüht sich auf das heftigste, mich davon zu überzeugen, dass ich dort nicht sitzen dürfe, übrigens sei das ein belegtes Bett, eine Schweinerei sondergleichen. Der Alte entschließt sich, den Aufseher zu alarmieren. Der kommt in der ersten halben Stunde nicht. Das scheint ein ganz normaler Zustand zu sein, denn niemand verliert ein Wort des Unwillens über die schlechte Bedienung. Endlich erscheint er. — „Ihr seid wohl meschugge, legt euch doch in die Klappe, is doch dunkel!" — „Hier der Neue, Herr Aufseher, der scheint nich normal zu sind, der sitzt auf Karl'n seiner Falle und geht nich weg, der kann doch überhaupt keen Deutsch! — Das is nich schön hier, Herr Aufseher, mit den!" — „Ach, bescheißt euch man nich, ihr habt immer was zu mäkeln. Haltet jetzt Ruhe und schlaft, ich mache jetzt nich mehr uff!" — Nachdem er das gesprochen hatte, kobolzt er die Treppe hinunter.
Ich stehe nun auf und gehe ans Fenster. Meine Fresse! Dreimal Gitter, einmal Kreuzgitter, und was für dicke Mauern. Es dunkelt. Mit einem Satz springe ich ins Fenster, setze mich mit verkreuzten Beinen mit dem Rücken an die Eisenstäbe und blickte hinunter in die Zelle. Dadurch wird es da unten plötzlich dunkel. Der Alte und der Lahme gehen ins Bett. — „Das is doch unheimlich, sowas, — ich schlafe da keene Minute, da muss man doch immer gewärtig sin, der springt een' von da oben an de Gurgel!" — Alles liegt in der Klappe. Die Zelle ist finster. Von unten ist nur noch mein Schattenriss zu sehen. Mich plagt entsetzlich der Hunger und beinahe noch mehr der Durst.
Noch immer wird unten geraten, wer ich wohl sei. Der Alte beglaubigt oder verwirft diese oder jene Mutmaßung. Nach einiger Zeit bleibt seine eigene Meinung als feststehend zurück. — „Nee, wie ich den Kerl unten bei der Einlieferung mit der Fellmütze gesehen habe, muss es sowas wie'n Sibirier sin, und ich lasse mich nicht davon abbringen, das is schon so, nee, nee, Kinder, sowas is es, gloobt mir das. — Seine Lumpen, das waren welche von eener Vogelscheuche. Jetzt, wo die Erbsen und das Mengkorn rauskommt, gibt's doch draußen Vogelscheuchen in Hülle und Fülle." Der Lahme ergänzt: „Jawoll, Wilhelm, so stimmt et! — Diese Kosaken, det sin janz verwejene Banditen. — Jaja doch, die werden groß beim Rauben und Morden." — „Emil, nun sage du, haste schon eemal sowas in en anständjen Bau angetroffen? Ich wette, der geht die ganze Nacht nich runter von't Fenster." — „Nee, nee, schlafen tut'a ooch nich, er bewegt sich manchmal 'n bisken." — Ich hatte einen gesunden Schlaf da oben.
Als die ersten Lichtflecke in das Dunkel unter mir Gestaltung brachten, erhoben sich der Alte und der Lahme. Wieder drehte sich die Unterhaltung um meine Wenigkeit. — „Willem, det Dumme is hier, det der Bengel keen Wort Deutsch kann. — Junge (zu mir gerichtet), komm doch runter von dein Turm. — Mensch, du frierst doch fürchterlich da oben. — Lass doch mal 'n vernünftiges Wort mit dir reden." — Der Aufseher kommt und lässt den Alten raus. Nach etlichen Minuten erscheinen beide wieder mit Kaffee (Marke Kohlrübe) und Brot. Jeder bekommt einen Topf Kaffee und ein Stück Brot. Der Aufseher ruft: „Hat jeder Salz?" Der Alte erwidert: „Alles noch da!" Klapp rrr — zu ist der Laden. „Also nu, mein Junge, nimm dir dein Karo, einfach aus de Hand geschnitten (Bezeichnung für trockenes Brot)." Gierig fasse ich zu. Emil kommt mit seinem Salznapf und streut mir Salz auf das Brot. Ich danke ihm, indem ich militärisch die Hand hebe. Den Kaffee lasse ich stehen und trinke dafür einen halben Krug Wasser; das schmeckte entschieden besser als die Kohlrübenjauche.
Jetzt wird ausgefegt, ich sehe interessiert zu. Willem, der Alte, meint: „Solche feinen Besen gibt's bei euch nicht!" Emil, der Lahme. erklärt: „In Sibirien jibt's überhaupt keene Besen! Schade, dass der keen Deutsch kann, ick jloobe, der könnte janz so allerhand erzählen, wat?" Ein kleiner Blasser wirft dazwischen: „Mehr könnt er schon wissen wie du." — Emil sagt beleidigt: „Na, ihr Rotznäsen, habt doch überhaupt noch nischt jesehen als wie euer bisschen Schlesien, ihr Lärgen, ihr müsst erst mal dahin kommen, wo ick schon hinjeschissen habe, dann könnt ihr ooch mal 'n Wort mit mir reden."
Wieder kommt der Aufseher. Der Alte stellt die Müllschippe raus und trägt den Abortkübel weg. Als er zurückkommt, hat er eine Kiste, worin kurze Enden Schiffstaue liegen. Auf den Tisch schüttet er die Enden aus. Nun nimmt er den Wascheimer und den Wasserkrug mit hinaus, den Krug bringt er gefüllt wieder mit herein. Jetzt beginnt die Arbeit. Sie besteht darin, die Schiffstauenden mit den Fingern so zu zerteilen, dass sie sich in die einzelnen Hanffasern auflösen. Eine langweiligere Arbeit kann ich mir nicht denken, darum machte ich schon in der ersten halben Stunde Feierabend, legte mich aufs Bett und schlief ein. Im Einschlafen höre ich, wie Emil spricht: „Wenn'a pennt, woll'n ma'n doch mal jenauer bekieken, ob'a Bien' hat?" Willem sagt: „Natürlich, Mensch, hat der Läuse!" Emil darauf: „Na ja doch, Läuse, Läuse, aber wie viel? Läuse harn wa alle 'e paar!" — „Emil, bei mir gibt's keene, wenn ick dir sage!" — „Äh, Willem, mache keenen solchen Kohl, du hast ooch welche. Ick möchte nich kieken bei dir!" —
Ich werde geweckt vom Aufseher. Er feixt mich an: „Du nix arbeiten, du nix fressen!" — Bald merkte ich, dass man mir kein Essen geben will, weil ich nicht beteiligt war am Hanfzupfen. Da hieß es aufpassen. Zunächst markierte ich den Bemogelten, der nicht weiß, warum er nichts bekommt. Willem erscheint mit dem zweiten Tablett, worauf wie beim ersten nur vier Näpfe stehen. Noch als er es in den Händen hielt, nehme ich einen Napf, setze ihn hoch ins Fenster und springe selber nach. Ei verdammt, nun begann ein Gezeter, der eine Schlesier war der Geleimte. Alles wurde durch den tonangebenden Alten in eine humorvolle Situation umgedichtet. Die Schadenfreude blitzte allen aus den Augen. Vor allem wusste ich jetzt, dass niemand ernsthaft mit mir anbinden wollte. Dem Paul schlug man vor, zu klingeln und um eine Portion anzuhalten. Diese Memme brachte aber nicht den Mumm auf. Am Abend sagte der Alte alles dem Aufseher mit einer deutlichen Verdrehung der Tatsachen. Er schilderte die Sache so, als hätte sich der Paul den Napf widerspruchslos von mir vor der Nase wegnehmen lassen. Obgleich jeder wusste, wie der Vorgang war, machte keiner einen Einwand.
Nachmittags gab es keine Arbeit, darum bekam ich meine Schüssel Suppe. Ein Futter, wie es geschmackloser und wertloser nicht verabfolgt werden konnte. Am nächsten Vormittag zupfte ich mit, in der Quantität und Qualität blieb ich weit hinter dem Faulsten zurück. Doch der Alte stellte mir, vom Aufseher befragt, ein blendendes Zeugnis aus. Um zehn Uhr etwa mussten alle hinunter auf den Hof. Hierbei ließ sich feststellen, dass außer uns neun Mann nur noch wenige diese Gaststätte bevölkerten. Das Wetter war schlecht, nach einer halben Stunde ging's wieder hinauf. Ein Leben voller Eintönigkeit. Die Erzählungen ließen erkennen, wegen welcher Vergehen jeder einzelne seine Freiheit eingebüßt hatte. Die Schlesier brummten, weil sie eine missglückte Getreideschiebung auf einem Gute auf dem Gewissen hatten. Der Lahme war bei einer geschlachteten Ziege erwischt worden, die nicht aus seinem Stalle stammte. Und der Alte war das Opfer einer Liebesaffäre. Im Altersheim zu Königsberg in der Neumark wohnte seine Liebste, die hatte er des Nachts besucht. Auf dem Wege durchs Fenster ging eine Scheibe in die Brüche. Der Alte und der Lahme waren wegen unzähliger Vergehen vorbestraft.
Zoten bildeten fast immer den Gesprächsstoff, des öfteren wurde fürchterlich geschwindelt. Auch Witze erzählte man sich. Bei all diesen Debatten blieb ich vollständig teilnahmslos. Will man sich in diesem Sinne tagelang behaupten, muss man wirklich eine große Anstrengung auf sich nehmen. Auch Bücher gab es. Gesangbücher, Katechismen und die — Bibel. Mit den Büchern spielte ich viel. In unauffälliger Weise hielt ich sie beispielsweise verkehrt in der Hand. Im Innern konnte ich das Lachen kaum noch verbergen, wenn in solchen Momenten jemand mit den beleidigendsten Worten darauf hinwies, dass ich Ochse doch die Bücher liegen lassen solle: wer nicht lesen könne, brauche auch keine Bücher anzufassen. Alle Vorwürfe reichten immer nur bis zu einer gewissen Grenze.
Eines Tages wurde einer der Schlesier etwas zu aufdringlich, er bekam eins auf seine Nuss, dass er in sehr zweifelhafter Stellung unter dem Tische landete. Ich war auf eine Schlägerei mit seinen Landsleuten gefasst, niemand rührte sich, im Gegenteil: sie sagten noch, er wäre selber daran schuld. Der Lahme und der Alte beglückwünschten ihn ebenfalls zu seiner geschwollenen Schnauze. Nach einer kurzen Verlegenheitspause war ich bald wieder aller Freund.
Man unterließ es nie ganz, mich wegen meiner angeblich östlichen Heimat und der vermeintlichen Sprachunkenntnis durch den Kakao zu schleppen. Diese harmlosen Witze ließ ich anstandslos über mich ergehen. So habe ich Bartwichse, die der Lahme in meine Suppe drückte, mit einem dankbaren „Hand an die Mütze" quittiert. Er zeigte mir die Tube und ich las deutlich: Bartwichse, er aber sagte: „Sardellenbutter"; die Fettaugen auf der Suppe sollten seine Rechtschaffenheit beweisen. Du armseliger Schwindsuchtskandidat, dachte ich, ich werde mir nicht, um der Sehnsucht wegen, dir deine zwei letzten Zähne herauszuhauen, meine Pläne verpfuschen. Falls es zwischen uns an anderer Stelle ein Wiedersehen geben sollte, so wird es meinerseits ein besonders herzliches sein. Ich hatte eine bodenlose Wut auf diesen lebenden Leichnam. Den Schutzmann, der mich zur Wache genommen hatte, und diesen Krüppel trug ich lange mit mir herum.
Jahre danach wollte ich von Berlin nach Küstrin fahren, in der Hoffnung, einen dieser lieben Freunde anzutreffen, leider bin ich noch nicht dazu gekommen, aber was nicht ist, kann vielleicht noch werden.
Pfingsten musste ich im Bau verleben. An einem Vormittag wurde ich von einem Aufseher aus der Zelle geholt. In einem Zimmer stellte sich mir ein siebzehnjähriges Mädel als Dolmetscherin vor und fragte mich auf polnisch, ob ich Pole sei. Nachdem ich von ihr erfahren hatte, dass sie nicht russisch spreche, sagte ich auf polnisch, ich sei Russe, aber es wäre wohl eine Verständigung möglich, da ich ein wenig Polnisch könnte. Der Untersuchungsrichter kommt, macht dem Mädel einige tölpelhafte Komplimente und fragt, wie sie sich zu Pfingsten amüsiert habe, ob sie einen Bräutigam habe, ob sie abends öfter spazieren gehe, und noch andere Dinge, die einen Richter interessieren, nebenamtlich kam auch einmal das Gespräch auf mich. Das Mädel fragte nach meinem Namen und Geburtsort, meinen Absichten, mit denen ich nach Deutschland gekommen sei usw. Wo ich die Grenze überschritten habe? Ich lüge wie ein Offizier aus dem Großen Hauptquartier. Nach zehn Minuten hat sich alles erledigt. Der Bauer „Antek Kaczmarek" aus Schepankowitsch in Weißrussland kann gehen. Die Siebzehnjährige muss dem Richter noch einige wichtige Fragen beantworten.
Weitere Tage muss ich durch dreifaches Gitterwerk meine Gedanken schicken, will ich den Frühling ahnen. Das entsetzlich minderwertige Essen macht uns alle schlapp. Es ist eine Gemeinheit sondergleichen, wenn man die Verpflegung wehrloser und rechtloser Menschen in der Hand hat und daraus Vorteile zieht, indem man seinem Vieh das gibt, was die Menschen nur unter großer Schädigung ihrer Gesundheit entbehren können.
Endlich naht für mich der Erlöser in Gestalt eines Ackerbürgers aus Küstrin. Ich soll bei ihm arbeiten. Wie ein nützliches Zugtier werde ich verschachert. Der Bauer: „So, das is er. Na, 'n bisschen verhungert sieht er aus. Aber bei mir frisst er sich schon raus." Der Beamte: „Deutsch kann der Kerl kein Wort." Der Bauer: „Was er bei mir machen muss, sieht er alles an den Fingern ab. Wird schon gehen." Der Beamte: „Natürlich, der macht sei'n Kram, ist doch noch jung und ganz gut gebaut. Na und wenn nich, schicken Sie ihn wieder her." Über den Lohn reden sie nichts weiter, bloß: „Den Kerls nicht viel Geld in die Finger geben, denn sonst werden sie liederlich!" Der Bauer: N' paar Pfennig kriegt er, so für Zigaretten und mal 'n Schnaps. Wie heißt er denn überhaupt?" — „Kaczmarek, mit Vornamen Antek!" — „Antek, na ja, ein'n Iwan habe ich ja schon da, die werden sich schon verstehen! Morgen, Herr Wachtmeister!" „Morgen, morgen!"
Der Bauer hatte fünf Milchkühe, drei Pferde, einen großen Gemüsegarten, Rübenfelder und Wiesen. Um vier Uhr morgens aufstehen und arbeiten bis zehn Uhr abends. Das Essen war für die Hungerzeit des Krieges erstklassig zu nennen. Es gab Wurst und Speck, Milch, Käse und gutes Brot. Mein Äußeres hatte sich wesentlich verbessert. Den Bart, welcher wie ein zarter Pelz um meine Backen lag, hatte ich dazu benutzt, um riesige Kotelletten auszurasieren, sie reichten bis an die Kinnladen und waren nach dem Kinn zu spitz. Von der Frau erhielt ich auf Wunsch einen alten schwarzen Damenfilzhut mit sehr breiter Krempe. Um den Hut legte mir das Dienstmädchen ein breites Band aus braunem Samt, und je nachdem, wo der Wind herkam, saß er abwechselnd tief in der Stirn, im Genick oder auf einem Ohr. Eine Jacke erhielt ich auch von der Frau, jedoch zog ich sie nur sonntags an, bei der Arbeit trug ich nur Hose und Hemd. Das Hemd lieferte ebenfalls die Frau.
Von der Sonne gebräunt, sah ich nicht aus, als hätte meine Wiege im Sachsenwald gestanden. Viele Kameraden aus dem Lazarett traf ich, aber niemand erkannte mich. Einen ewigen Kampf führte ich mit der Dienstmagd. Sie schloss daraus, dass ich nicht deutsch sprach, ich müsse unbedingt dümmer sein als sie es war, und viel Arbeit, welche zu ihrem Ressort gehörte, sollte ich machen, wenn ich ihr Wohlwollen erringen wollte. Iwan dagegen, ein kriegsgefangener Russe, wurde mir ein lieber Freund. Er war der einzige, welcher vielleicht durchschaute, wer ich wohl sein könnte. Eines Tages sagte er mir frei ins Gesicht, ich sei von der deutschen Armee getürmt; ich erwiderte, den Finger auf den Mund legend: „Przsepraszam, Iwan, ty me opowjecsicz inazi (Entschuldige, Iwan, aber erzähle mir etwas anderes)." Nie wieder hat Iwan das Thema berührt.
Eine Mark packte der Bauer aus für eine Woche Arbeit. Als ich mich gehörig ausgegessen hatte, bürstete ich aus meinem Kalabreser den Staub und fuhr auf einer Bahnsteigkarte nach Berlin. Im Wartesaal vierter Klasse des Schlesischen Bahnhofes mischte ich mich unter die Sachsengänger, — das sind Polen, die Saisonarbeit in der Landwirtschaft verrichten. Dort bekam ich auch Brot. In Berlin wurde es mir bald klar, dass man arbeiten musste, um leben zu können. Bei einem Kohlenhändler schleppte ich Kohle für vornehme Leute; die Armen holten sich die Kohlen selbst. Dieser Unterschied ärgerte mich. Von den Reichen genügte ein Telefonruf und schon erschienen Kohlen in jeder gewünschten Menge. Die Armen erhielten nur auf Karte, und trotz Bitten und Betteln gab's kein Brikett mehr. Beim Bauern in Küstrin hielt ich die Stellung drei Wochen, hier nur drei Tage.
Ich meldete mich bei einem Malermeister in der Philippstraße, Charlottenburg. „Sind Sie Maler?" fragte er mich, ich sage mit stark polnischem Einschlag: „Ja, bin Maler." Als er aber merkt, wie wenig Deutsch ich kann, winkt er ab. In einer Brauerei in Spandau frage ich nach Arbeit. „Kommen Sie morgen früh wieder." Beim Portier der Geschoßfabrik wird mein Name notiert und man schickt mich, als man erfährt, dass ich Pole bin, auf das Rathaus, zwecks Erlangung einer Aufenthaltsgenehmigung, da Spandau für gewisse Ausländer gesperrt ist. Auf dem Rathaus will man mich in den Hintern treten, wenn ich nicht sofort das Lokal verlasse.
Ein Beamter erwischt mich auf dem Flur und erklärt: „Geh du nach Schönwalde, da viel Polen arbeiten mit Karr und Schipp!" Schönwalde liegt in Richtung Nauen, zehn bis fünfzehn Kilometer von Spandau entfernt. Abends spät komme ich dort an. Im hohen Kiefernforst stehen Baracken, das sind die Villen der Fremdenlegionäre. Diese Bezeichnung für das Völkchen, das da hauste, ist absolut treffend. Die verwegensten Burschen fanden dort Unterschlupf. Die Firma Neukranz-Posen baute in dieser echt brandenburgischen Streusandbüchse Rieselfelder, ob für Berlin oder Spandau, weiß ich heute noch nicht. Polen, aus der k. und k. Armee getürmte Tschechen, aus dem Internierungslager Ruhleben verduftete Engländer, deutsche Deserteure, entsprungene Zuchthäusler, abhanden gekommene Kriegsgefangene, Brennspiritus saufende alte Penner, blutjunge Burschen mit Kinderstimmen und alle dazwischenliegenden Variationen menschlicher Qualifikation bildeten die Kerntruppen dieser Legion. Eine Rasselbande, wie man sie sich wilder, zerrissener, undisziplinierter nicht denken kann.
Der Schachtmeister, genannt der „Psia Krewje" (Hundeblut), trug stets den Revolver in der Tasche. Bezahlt wurde nach geschätzter Leistung. Erst bis Mittag arbeiten, dann sagte dir der „Psia Krewje", ob du in der Stunde den Höchstlohn 1,20 Mark oder 1,10 Mark, 1,— Mark, 0,90 Mark, 0,80 Mark oder nur den Mindestlohn 0,70 Mark verdient hattest. Wer nicht den Mindestlohn verdiente, bekam eins mit dem Schippenstiel ins Kreuz und musste wandern, wenn er nicht freiwillig ging. Papiere waren Luxus, was hätte es auch genutzt, wenn im Baubüro ein Haufen von Fieppen gelegen hätte.
Zuständiger Amtsbezirk ist Pausin. Man stelle sich den Herrn Amtsvorsteher von Pausin vor; ein guter alter Herr; — bevor es dem Rat der Stadt Berlin eingefallen war, gerade in seinen Amtsbezirk hinein die verdauten Leckerbissen oder Stullen (ob arm, ob reich, im Kote alle gleich) der Berliner abzulagern, war seine hauptsächlichste Beschäftigung neben dem Essen, Trinken und Schlafen, Ackerbau und Viehzucht gewesen. Er besitzt scharfe Augen dafür, wie viel Fuder Mist ein Morgen Kartoffelacker gebrauchen kann, und er sieht auf den ersten Blick, was eine Kuh will, wenn sie „muh" sagt. Aber was so ein verfluchter Ratzimausifallikerli, so ein Dudelsackpfeifenmacher, so eine Zigeunergesellschaft für Ränke ausgeknobelt hat, wenn sie in das Allerheiligste seiner Amtsstube jeden Tag dutzendweise treten, das weiß der gute alte Herr aus Pausin nicht, darum lässt er die Fünf gerade sein und denkt: „Gott wird sie schon strafen".
Nur wenn „Hundeblut" einmal allzu viel Geld des Sonntags in Berlin versoffen oder verhurt hatte und deshalb eine außeretatmäßige Auffrischung seiner Finanzen für dringend erforderlich erachtet, schreibt der gute alte Herr aus Pausin einem der Legionäre einen eindeutigen Brief „zwecks Feststellung Ihrer Personalien... ", worauf sich der Empfänger sofort auf den Weg macht, — natürlich in entgegengesetzter Richtung von Pausin. Eine Lohnzahlung außer an den Lohntagen findet nicht statt. Der Rubel rollt, es schmunzeln die Banditen. Auch hier wieder dasselbe Spiel; die wirklichen Strolche sitzen in sauberer Wäsche und gutem Anzug mit den Bauern, Förstern, Verwaltern und anderen ordentlichen Männern am Tisch beim Bier und versaufen das Geld desjenigen, der wie ein gehetztes Tier, als Lump und Vagabund, die Welt abstreift nach einer Gelegenheit, endlich einmal Ruhe zu finden.
Mancher feste Kerl lässt nicht so leicht den Kopf hängen, er klopft sich auf die braune Brust, macht hier und da einen schnellen Griff, falls seinen leiblichen Bedürfnissen eine legale Befriedigung auf die so genannte „ehrliche Art" versagt bleibt. Alle mit bürgerlicher Moral schwer belasteten Untertanen, welche solch einem Menschen begegnen, sehen sich ängstlich um nach Polizei und Gesetz und — „Oh, Eduard, um Gottes willen, sieh doch mal den Mann, der dort kommt" — und wenn er dann vorbei ist: „O Gott, Eduard, diese entsetzlichen Augen, hast du bemerkt, wie er uns ansah?" — so oder ähnlich sind ihre Bemerkungen.
Entsetzliche Augen? Diese Augen dienen dazu, kilometerferne Punkte abzutasten, zu untersuchen, ob es lohnt, die Schritte dahin zu lenken. Um diese Augen pfeift der Wind der Landstraße. Sie zählen die Fabrikschlote einer Stadt. Sie durchdringen nachts Forst und Flur nach einer Lagerstätte. Madame! Ein Wolf auf freier Steppe hat andere Augen als ein parfümduftendes Schoßhündchen auf Seidenkissen! Wollen Sie entsetzliche Augen sehen, dann gehen Sie in die Privatkabinen der Trustgenerale, deren Augen sind das Spiegelbild einer Mischung aus Machtwillen, Profitgier, Skrupellosigkeit und Weltenraumkälte, die dazu ausreichen würde, wenn es im Interesse ihrer Geschäfte läge, die andere Erdenhälfte zu den Sternen zu schicken.
Auch ich bekam eines Tages eine Einladung zum Amtsvorsteher in Pausin. Auch ich verspürte keine Lust, meine Freiheit gegen eine Pension in Moabit einzutauschen, darum zog ich meiner Straße. Ich besaß etwas Geld, kaufte in Berlin am Lehrter Bahnhof von einem „fliegenden Händler" (wenn er erwischt wird, „fliegt" er ins Kittchen) eine gute Hose und ein Hemd, ließ meine Koteletten rasieren, meinen Kalabreser frisch ausbürsten, hing meine Jacke mit der besten Seite nach oben über die Schulter, nahm meine Tabakspfeife fest zwischen die Zähne und fuhr im D-Zug nach Stendal.
Durch die Knipsschalter gehen hat keinen Sinn, wenn man sämtliche Schutzleute am Orte persönlich kennt und darum eine extra freundliche Begrüßung vermeiden will.
Was will ich in Stendal? Allen Angehörigen nächtlicherweise die Hand drücken, drei- bis viermal in einem richtigen Bett schlafen. Ein Mädel besuchen. Meinen Freund Artur Seidenstücker die Brieftasche abmogeln mit sämtlichen Ausweisen, wie: Dienstbuch der Eisenbahn, Legitimationen, Lohntüten, Musterungspapieren, Briefen, Postkarten und vielen anderen Dingen, und im Gummistehkragen die Reise zur holländischen Grenze mit vorläufigem Bestimmungsort Leer/Ostfriesland antreten!
Mein Geld ist zwar nicht sehr knapp, aber ich spare. In Bremen schlafe ich in einem Bahnwaggon, der auf totem Gleise steht. Am nächsten Tag zwischen sieben und acht Uhr lande ich in Leer.
Schwere Gewitterwolken hingen über dem vielleicht 20 000 Seelen zählenden kleinen Städtchen. Es wetterleuchtete stark, als ich durch die sauberen Straßen ging. Heute abend noch musste ich über die Ems nach der Ortschaft Weener, und von da etwa ein bis zwei Stunden Fußmarsch zur Grenze. Hinein nach Holland! Die ganze Nacht Gewaltmarsch, so dass ich bei Tagesanbruch mindestens vierzig bis fünfzig Kilometer von der Grenze entfernt bin. Dann den Gummikragen wegschmeißen und in Hemdärmeln, wenn möglich mit Holzschuhen und einer requirierten Schippe oder Forke, wie seinerzeit zwischen Posen und Küstrin, mich durchschlagen bis Amsterdam. Das war mein Plan.
Durch Befragen von Kindern auf Plattdeutsch erfuhr ich, dass eine Fähre über die Ems gehe. Dorthin ging ich. Es war bereits dunkel, als ich dort ankam. Vorsicht ist die Mutter der Weisheit! Ein Mädel sucht mit der Laterne zwischen Sträuchern Regenwürmer zum Angeln. Ich spreche sie an, meiner Stimme möglichst undeutlichen Klang gebend, da ich wohl weiß, dass das Platt hier schon stark ans Holländische anlehnt. Ein sehr großer Unterschied zwischen dem in Hamburg und an der Unterweser in meinen Kinderjahren erlernten Platt besteht aber nicht. — „Ick häw min Pass vagäten, ob ick ooek moal ohne Pass äöbersetten kann?" — „Nä, ohne Pass is hier nix to maken, de hier ohne Pass koamt, dat sünd meist Deserteurs!" — „So, so, na denn mutt ick erst min Pass hoaln!" — Die Kleine hatte aber schon zuviel gesehen. Sie lief so schnell sie in ihren holländer Holzschuhen laufen konnte zum Fährhaus hinunter und rief schon von weitem: „En Deserteur is hier, en Deserteur is hier!" — Das wirkte auf mich wie ein Startschuss. Ich flitzte quer über die Wiesen und Gräben. An dem äußersten Ende einer Buhne (eine zwecks Regulierung des Flussbettes in den Fluss eingebaute, zehn bis zwanzig Meter lange Landzunge) lege ich mich trotz Dreck und Schlamm auf den Bauch, meine Brieftasche halte ich zwischen den Zähnen, denn für den Fall, dass man die Buhne absuchen sollte, habe ich vor, mich geräuschlos nach hinten ins Wasser zu schieben und bis zur nächsten Buhne zu schwimmen.
Es blitzt, schlagartig rollt der Donner. Da sehe ich im Leuchten der Blitze drei Gestalten auf dem Deiche patrouillieren. Das leise Knurren eines großen Hundes macht sich auf der Buhne, auf der ich liege, bemerkbar. Langsam wie eine Schlange gleite ich nach hinten ins Wasser ab. Aber ich kann der starken Strömung nicht widerstehen und muss, dem Wasserstrudel nachgebend, hinter die Buhne. Mit den Händen kralle ich mich in den Gräsern fest. Dieses kalte Bad war nicht notwendig gewesen, der Hund kam nicht bis an das Ende der Buhne, aber sicher ist sicher.
Als das Gewitter seinen Höhepunkt erreichte, platzte es in großen schweren Tropfen vom Himmel. Meine Verfolger zogen sich wahrscheinlich infolge dieses Brausebades etwas schneller zurück, als es sonst üblich war.
Mich störte der Regen nicht, bei mir gab es nur einen Wunsch: eine Gelegenheit ausfindig zu machen, um über die Ems zu kommen.
Nach einer Karte ging bei Irhove eine Eisenbahnbrücke über die Ems, doch wusste ich aus Erfahrung, dass Brücken besetzt waren. Trotz scharfem Auslugen, während es blitzte, entdeckte ich jenseits keinen Uferstreifen. Aber ein Ufer muss die Ems doch drüben haben, mit diesem Gedanken zog ich meine Schuhe aus, band sie zusammen und befestigte sie mit dem Schnürsenkel am Hosenträger. Meine Brieftasche steckte ich unter die Mütze, die ich fest über die Ohren zog, und langsam stieg ich ins nasse Element. Nach fünf bis sechs Metern verlor ich bereits den Grund. Ich sparte meine Kraft, es kam nicht auf einige hundert Meter Abdrift an. Durch das lange Verweilen bei der Verfolgung im Wasser hatte ich viel Wärme eingebüßt, das Wasser der Ems war hundekalt. Wahrscheinlich war es hier so wie an der Unterweser, dass Ebbe und Flut noch zu ihrer Auswirkung kamen.
An etlichen Punkten am Ufer konnte ich feststellen, mit welch großer Geschwindigkeit ich abwärts trieb. An Ebbe und Flut dachte ich nicht, als ich ins Wasser stieg. Nun wurde es mir doch etwas ungemütlich, denn mit der Ebbe etwa in den sehr nahen und kilometerbreiten Emsbusen abzutreiben bei der kalten Temperatur des Wassers, das hieße Schiffbruch leiden. Aus Leibeskräften schwamm ich zurück zum Ufer, meine Hände waren so steif, dass ich kaum noch die Finger richtig zusammenbrachte. Ziemlich kaputt stieg ich auf den Deich. Mich fror sehr. Ich überlegte, was zu tun sei. Das einzig mögliche war: ausschlafen bis morgen und dann weitersehen. Das Gewitter hatte sich verzogen, die Sterne flimmerten am Himmel, breit wie die See lag die Ems. Leise gurgelte der Strom, dem ich soeben entstiegen war. Verdammt! Drüben sein und lausige zwei Stunden Marsch, das bedeutete, das Ziel erreicht zu haben! Ich war nicht gewöhnt, mein gestecktes Ziel nicht zu erreichen. Ein stiller Zorn flackerte in mir.
Wo jetzt schlafen? Schnellen Schrittes ging ich nach Leer zurück. Auf dem Deich kam mir eine Gestalt entgegen. Ich bog aus. Ein frischer Wind blies mir meinen Anzug einigermaßen trocken. Natürlich war ich immer noch quatschenass, als ich in die Straßen von Leer trat. Von dem Turm schlug es ein Uhr. An einer Straßenecke standen zwei Schutzleute. Obgleich sie Dienst machten, gingen sie in Mützen. Einen Augenblick vermutete ich Eisenbahner, jedoch noch im selben Moment sah ich bei einem den Säbel unter dem Mantel
vorstehen. Da ich ohne aufzufallen nicht mehr umkehren konnte, ging ich an sie heran und fragte nach einem Hotel. In Ostfriesland gehen die Leute früh schlafen, und darum erschien es den beiden äußerst verdächtig mit mir. Auf Platt fragten sie nach meiner Herkunft. Ich verstand sie nicht und bat sie, Hochdeutsch zu sprechen, da ich kein Plattdeutsch verstehe. Sie machten kein langes Federlesen, kurz und bündig wollten sie, nach voraufgegangener plattdeutscher Entschließung, mir erklären, dass ich mit zur Wache müsse; ich kam ihnen aber zuvor und sagte, sie sollten mich doch mit auf die Wache nehmen. Ich sei vom Regen vollständig nass, und wenn doch kein Hotel mehr offen wäre, sei es das beste, ich bliebe auf der Wache sitzen.
Auf. einen solchen Fall der polizeilichen Festnahme in Leer war ich tadellos vorbereitet. Der Schwindel, den ich bei einem eventuellen Verhör vorzusetzen gedachte, war glaubwürdig genug, um mich zu retten. Eine Entlarvung an den Grenzen als Deserteur kostete fünf Jahre Festung. Auf der Wache ankommend, hatte ich Geld, Messer und Papiere auszupacken, alsdann ging es hinunter in den Keller. Schon wieder hinter eisernen Gardinen. Unverzüglich zog ich meine nasse Garderobe aus, hängte alles, so gut es ging, zum Trocknen auf und kroch unter die Decke. Ich schlief wiederum den Schlaf des Gerechten. Um acht Uhr weckte mich ein alter Herr mit eisgrauem Bart; er verlangte von mir auf Platt, ich solle den Abortkübel hinaustragen. In solchen Fällen verstehe ich keinen plattdeutschen Dialekt, zumal ich doch den Kübel selbst im kleinen Geschäft nicht benutzt hatte. — „Wenn Sie sich mit mir zanken wollen, mein Herr, dann bitte in deutscher Sprache." Er wurde hundsgemein frech. Ich verlangte mit allem Nachdruck, dem Kommissar vorgeführt zu werden.
Der Kommissar war ein leutseliger Mensch. — „Guten Morgen, Herr Seidenstücker!" — „Guten Morgen, Herr Kommissar! — Herr Kommissar, dort unten verlangte man von mir, ich solle den Abortkübel ausleeren, ich habe dagegen protestiert, da ich das Ding überhaupt nicht benutzt habe. Dann bin ich der Meinung, dass ich doch nicht etwa als Gefangener registriert werde?! Sondern, da ich nur Quartier benötigte und mir Ihre Beamten keins nachweisen konnten, bin ich hier auf der Wache verblieben." — „Herr Seidenstücker, seien Sie ganz imbesorgt. Sie sind natürlich nicht unser Gefangener, aber etwas interessiert uns doch an der Sache, und das wäre der Zweck
Ihres Hierseins. Wie ich aus Ihren Papieren ersehen habe, sind Sie in Stendal beheimatet, nun sind Sie vielleicht einmal so freundlich und erklären mir, was Sie zu uns führte?" „Ich kam mit der Absicht hierher, meinem Onkel einen Besuch abzustatten." „Wo wohnt denn Ihr Herr Onkel, wenn ich fragen darf?!" „Deppstedter Chaussee 36!" „Da sind Sie wahrscheinlich im Irrtum, eine Deppstedter Chaussee gibt's hier nicht." „Herr Kommissar müssen das ja schließlich besser wissen, aber das ist doch fast unmöglich, gestatten Herr Kommissar doch bitte meine Brieftasche, ich habe da eine genaue Anschrift; einen Moment, sehen Sie bitte hier." — „Aha! Herr Seidenstücker, nun wissen wir, wo der Hase im Pfeffer liegt; haha, das kommt hier von Zeit zu Zeit doch immer wieder vor. Lesen Sie doch die Adresse einmal deutlich vor!" — „Karl Baake, Lehe, Deppstedter Chaussee 36." — „Na, und? Ist Ihnen da nichts aufgefallen, Herr Seidenstücker?" „Ich wüsste nicht, Herr Kommissar." „Auch bezüglich des Ortes, wo Ihr Herr Onkel wohnen soll, nicht?" — „Ich bin ganz ahnungslos." — „Bitte lesen Sie mal den Kalender dort an der Wand und vergleichen Sie bitte doch die Orte." — „Allerdings muss ich sehen, dass auf Ihrem Kalender ,Leer' steht, und auf meinem Zettel ,Lehe\" — „Nun, ich denke, Herr Seidenstücker, das ist schon ein kleiner Unterschied, nicht wahr?" — „Bitte, Herr Kommissar, erklären Sie." — „Also, wie schon gesagt, diesen Irrtum haben wir hier des öfteren zu verzeichnen, bei Reisenden, die über Bremen kommen. Es ist meistens so, dass auf den Abfahrtsstationen, namentlich auf kleineren, keine direkte Fahrkarte bis Lehe zu haben ist und da löst man dann bis Bremen. An den Schaltern wird nun so wie auf den Bahnsteigen der speziell im Plattdeutschen ziemlich gleichklingende Name manchmal verwechselt. Wo Ihr Onkel wohnt, das ist ungefähr sechzig Kilometer nördlich von Bremen. Dagegen unser Leer liegt etwas entfernter, westlich Bremen. Lehe gehört zu den Unterweserorten, hat etwa 30 000 Einwohner, Leer liegt an der Ems und ist kleiner."
„ Aber das ist doch eine sehr fatale Geschichte, da konnte ich gestern lange eine Deppstedter Chaussee suchen. Das Dumme an der ganzen Sache ist, Herr Kommissar, dass ich hier keinen Menschen verstehen kann. Man fragt und fragt, die Leute antworten, und knapp die Hälfte davon versteht man." „Ja, Herr Seidenstücker, das müssen Sie entschuldigen, denn Sie sind hier an der holländischen Grenze." — „An der holländischen Grenze? Wo bin ich denn bloß hingeraten? Ich war schon mal mit fünf Jahren bei meinem Onkel, ich hatte von damals her leider kein Bild mehr von Lehe. So eine dumme Geschichte, ich verliere von meinen fünf Tagen Urlaub doch glattweg zwei Tage!"
„ Nun muss ich, um den vorgeschriebenen Weg zu gehen, Ihnen leider noch eine Stunde unfreiwilligen Aufenthalt in unseren Mauern vorschlagen. Durch die Nähe der Grenze haben wir hier fast täglich Festnahmen von Deserteuren zu verzeichnen, und Sie müssen, bevor ich Ihnen ,glückliche Reise' sagen kann, einen kurzen Anruf bei Ihrer Heimatbehörde gestatten; ich mache es dringend und hoffe in einer Stunde fertig zu sein. Wie war Ihr Vorname doch gleich, ich habe momentan Ihre Legitimationen ins Nebenzimmer gegeben." — „Artur." — „Und geboren sind Sie?" — „28. 12. 97." — „Ihr Vater heißt mit Vornamen?" — „August." — „Sie wohnen jetzt bei Ihren Eltern?" — „Jawohl." — „Und Ihre Eltern wohnen in Stendal, wo?" — „Bergstraße 67, III." — „So, ich danke sehr. Also einstweilen . .. Herr Seidenstücker, ich lasse Sie gleich rufen."
Noch zwei Stunden schlafe ich in der Zelle, in der ich übernachtete. Der Abortkübel war sauber, nun benutzte ich ihn. Nach etwa zweieinhalb Stunden, — meine Uhr hatte in der Nacht Wasser geschluckt, was ich jetzt erst bemerkte, da ich nach der Zeit sehen wollte, — rasselte es im Schloss. — „Herr Seidenstücker, nun haben wir Sie genug gepeinigt, Ihre Personalien haben sich laut telephonischem Bescheid Ihrer Heimatbehörde als richtig erwiesen. Sie können 7,22 Uhr nach Bremen abfahren. Hier sind Ihre Papiere, Ihr Geld, Ihre Brieftasche, Schlüssel, Taschenmesser. Hatten Sie nicht auch eine Uhr?" „Die hatte ich nicht abgegeben, Herr Kommissar." „So, also nun endgültig ,glückliche Reise' und entschuldigen Sie, aber wir haben nur unsere Pflicht erfüllt." „Keine Ursache, Herr Kommissar. Auf Wiedersehen!" „Guten Tag!" Händedruck. -------Hinaus.
Ich bin bis zum Platzen voller Lachen. Auf einer Wiese spielen Kinder Fußball. Wie wild stürze ich mich mit hinein. Schieße kurz hintereinander drei Tore und gehe langsam zum Deich. Da liegt die verdammte Ems, breit wie ein Meer. Auf dem Deich weiden große Milchschafe. Sie sind an langen Stricken festgebunden. Über eine bestimmte Grenze können sie nicht hinaus. Verfluchte Pest. Es geht den Menschen wie den Schafen. Neben einem Hause steht eine Windmühle. — „Verzeihung, wenn ich störe, darf ich mir mal den Betrieb ansehen?" „Jeau, dat lek sick maken." — Ganz vorsichtig gehe ich auf eine Unterhaltung über die Grenzverhältnisse über. Bald jedoch fragt er mich, — als handele es sich um den Ankauf von einem Pfund Mehl, — ob ich desertieren wolle? Erstaunt winke ich ab und bemerkte, dass ich im Gegenteil gern Soldat sein möchte, ich sei schon viermal gemustert und noch nicht für tauglich befunden. Ohne auf meine Worte zu antworten, sagte er, ich würde nicht über die Grenze kommen, sie sei zu sehr besetzt. Und käme ich trotzdem rüber, die Holländer sähen es mir an der Nasenspitze an, dass ich kein Holländer sei, dann flöge ich wieder raus. Das beste wäre, ich versuchte als Soldat von der Seeseite her nach Holland zu kommen, dann wäre der Krieg für mich vorbei, denn jeder Soldat wird interniert.
Sofort reifte in mir ein neuer Plan. Um sieben Uhr war ich auf dem Bahnhof. Hinter mir stand eine verdächtige Person, höchstwahrscheinlich ein Kriminaler. Als er auch hinter mir an den Schalter trat, um zu horchen, wohin ich fuhr, stand es bei mir fest, dass ich richtig vermutet hatte. Umständlich verstaute ich die Karte unmittelbar am Schalter, jetzt wollte ich wissen, wohin der Kerl fahren wollte. Er holte nur eine Auskunft ein, und zwar, wie lange der Zug in Oldenburg hält. An den Augen des Bahnbeamten sah ich genug, die beiden kannten sich aus in ihrem Geschäft.
Ich fuhr wirklich bis Bremen. Nahm mir einen Tag, um die Sehenswürdigkeiten zu studieren und, nebenbei gesagt, hatte dabei Glück, denn ich fand etwas ganz Wertvolles, wertvoller noch als der Roland von Bremen: ein kleines rothaariges Mädel, Hausangestellte bei einem Konsul. Ich weiß heute nicht mehr viel von ihr, als dass sie sehr lieb zu mir war und dass sie sagte, der Konsul sei ein großes Schwein. Er klatsche sie immer mit der Hand auf den Hintern und fasse sie an den Busen, aber mehr lasse sie sich von ihm nicht gefallen. Wenn ich erst bei den Kulis wäre in Wilhelmshaven und mal nach Bremen käme und wir dann schon eine Weile verkehrten miteinander, dann sollte ich dem Konsul richtig eine runterhauen, damit sie endlich wegkäme von da.
Am andern Tag fuhr ich nach Wilhelmshaven. Wo man die Fahrkarten abgibt, standen zwei Matrosen und verlangten von jedem einen Pass. Ich musste warten, bis alle durch waren. „Warum haben
Sie denn keinen Pass?" — „Ick weeß doch nich, det man hier so'n Pass braucht." — „Ja, was willst du denn hier in W-haven?" „Freiwillig zu de Marine." — „Ach, du! haha häh, hier Hein, hier is een, de will schnell noch, eh die Krieg all geiht, affsupen mit U-Boot! — Herr Kapitänleutnant, sehn Se da die Bude, da gehn Se man rein. . Au Mann! au Mann! dat dat auck noch sowat giwt, ha' ick mi nich dacht!" —
Ein Posten brachte mich in die Kaserne. W-haven-Rüstringen. In der Stube 76 wies man mir eine Koje an. Erst ratzte ich gehörig aus. Am andern Vormittag hieß es für mich antreten und einkleiden. Welch ein Unterschied, wenn ich an den Drill in der Kaserne in Magdeburg denke. Reinschiff machen dauert bis Mittag. Nachmittags gehe ich mit etlichen Kulis in W-haven spazieren. Ich spreche offen mit meinen Kameraden und sage, dass ich im Landheer gedient habe und auch an der Front war. Sie sollten nicht glauben, dass ich aus Patriotismus hierher gekommen sei, sondern, wenn's mal klappt, haue ich ab. Wohin? Mal seh'n! Holland vielleicht. „Ja, Junge du, das is nicht leicht. Neulich, vor 14 Tagen, haben se erst 6 Mann mit Boot erwischt, die wollten auch abhauen. Was meinste, wie viel Polizei- und Patrouillenboote draußen rumsausen? Wenn das so schön ginge, Junge, dann wäre kein Mensch mehr hier."
Schlechte Aussicht! Nach etlichen Tagen muss ich zum Kapitänleutnant Schmidt von der Sechsten kommen! Ich bin einigermaßen überrascht von dem kameradschaftlichen Ton, den er mir gegenüber anschlägt. Ebenfalls im preußischen Landheer noch nicht dagewesen. „Turek, was wollen wir nun machen? Sie sind doch schon ausgebildet, waren an der Front und sind verwundet. Ich kann Sie doch nicht zu den Rekruten stecken?!" Nachdem er sich ausgiebig den Kopf gekrault hatte, sagte er: „Gehen Sie einstweilen nochmal auf Stube 76 zurück, das sind ja alles solche Halbfertige oder auch schon Ganzfertige." Ich war, obwohl auf den Namen Turek gemeldet, nicht als Deserteur erkannt worden, worüber ich mich noch heute wundere; wahrscheinlich kam man infolge allzu zahlreicher Deserteure mit dem Listenschreiben für das Fahndungsblatt nicht nach. Eine wirklich einzige Gesellschaft war auf Stube 76 vertreten. Des Abends wurde laut und kräftig die Internationale gesungen. Viele gute Freunde, die hier auf der Stube ihre Koje hatten, saßen jetzt in Köln auf Festung. Man holte sich Essen, Brot und Fleischbüchsen, wann man Lust hatte. Kam wirklich mal ein Vorgesetzter auf die Bude, so wurde er höchstens veräppelt. „Reinlichkeit muss sein!" dieser Grundsatz blieb oben und darum machte die Kolonne jeden Tag, auch ohne Befehl und wo es ihnen beliebte, Reinschiff. Nachmittags flog alles aus. An die Zeiten hielt sich keiner, manche kamen erst morgens nach Hause, jedoch standen sie auf und halfen mit, wenn die Bude ordentlich gemacht wurde.
Der ganze Betrieb bei der Marine war ein wesentlich anderer als im Heer. Das schien mir daher zu kommen, dass sich die Kulis nicht alles gefallen ließen. Der Kameradschaftsgeist war viel besser. 1917 war eine größere Meuterei gewesen. Dabei hatten einige allzueifrige Chargen einen zünftigen Abreiber bekommen, das saß ihnen noch zu sehr in den Knochen. Die Verpflegung war zwar nicht gut, aber doch um vieles besser und reichlicher als in Magdeburg. Die Tage vertrödelte ich mit Umherstreifen nach Gelegenheiten zum Entwischen, aber leider war nichts zu machen. Allmählich wurde es mir langweilig in W-haven. Ziemlich trocken trug ich meinem Kapitänleutnant den Wunsch vor, nach Hause fahren zu wollen. Kurzerhand, indem er scherzhafte Bemerkungen machte, dass ich so schnell schon wieder die Nase voll hätte, schrieb er mir einen Fahrschein bis Stendal aus. Zweck der Reise: Meldung beim Bezirkskommando Stendal. Wer die Militärgeschichte damals persönlich miterlebt hat, muss zugeben, wie ungewöhnlich diese Handlung war.
Mit zwei Kommissbroten, zwei Fleischbüchsen und zwei Portionen Butter ging ich auf die Reise. Das war ein lustiges Leben. So schnell sollte mich Stendal noch nicht wieder sehen. Keine Polizei, kein Mensch konnte mich irgendwie nach Dingen fragen, die ich nicht hören wollte. Mein Fahrschein war mir eine treffliche Legitimation. In Bremen traf ich das Fräulein vom Konsul noch einmal. Diesmal dauerte die Liebe zwei Tage. „Soll ich dem Konsul mal eine klatschen?" — „Ach, lieber nich, er hat sich schon gebessert. Ich hab ihm gesagt, wenn mein Bräutigam aus Wilhelmshaven kommt, dann sag ich ihm alles, wenn er mich nochmal an die Brust fasst." In Stendal fühlte ich mich nicht recht sicher; es war klar, dass das Bezirkskommando von meiner Desertion unterrichtet sein musste. Eins stand fest bei mir: sehr lange würden die Fronten dem Druck der besser und reichhaltiger ausgestatteten Armeen der Feinde nicht mehr standhalten. Das Volk war ausgeblutet bis auf den letzten Tropfen, kein gutes Wort mehr wurde über den Krieg gesprochen. Niemand im unteren Volke glaubte noch an den Sieg. Der Gesundheitszustand der arbeitenden Schichten war auf einem Niveau angelangt, von dem man wusste: weiter geht's nicht mehr runter. Mit einem neuen Kriegswinter konnten selbst die kurzsichtigen Generalesel nicht mehr rechnen.
Ich begann bereits nachzudenken, wie sich der Zusammenbruch vollziehen werde. In diesen Erwägungen unterschied ich mich haarscharf von den älteren Genossen, die noch in Stendal zurückgeblieben waren. Diese Leute glaubten selbst jetzt noch nicht an eine Revolution. Es war aber auch wirklich hanebüchen, dass man von der Sozialdemokratischen Partei, d. h. ihrer Führerschaft, noch immer kein Sterbenswörtchen von Umsturz oder Revolution hörte. Bei dem bloßen Gedanken an solche Laumeierei überkam mich jedes Mal heller Zorn. Noch immer nannte man mich einen Phantasten. Ganz Gebildete, z. B. unser ehemaliger Jugendleiter, der Genosse Lohse, ein Buchbinder, gebrauchte für mich den Ausdruck „Revolutionsphraseur!"
In Stendal wurde mir der Boden zu heiß. Ich ging aufs Land zu einer Verwandten bei Arendsee in der Altmark. Es wurde mir auch dort zu heiß, nicht der Boden, aber das Bette. Der Gemahl dieser heißen Ottilie war nicht anwesend, er war auf Frankreichs blutigen Schlachtfeldern. Des Tags war das Leben angenehm, ich wurde mit Ei auf Schinkenschnitten, saurer Sahne, gebratenen Hühnern, hausbackenen Konditoreiwaren usw. traktiert. Aber, aber, des Nachts! Ich brauche keine Angst zu haben, sagte Ottilie, und solle mich ruhig neben sie in das Bett ihres Gemahls legen. Angst hatte ich keine, aber furchtbar kitzlig war ich. Nach acht Tagen hatte ich genug von der Kitzelei.
Ich sitze in der Kleinbahn Arendsee—Stendal, als ein Gendarm hereintritt, mich eine Sekunde von der Seite beillert, und da sich ein Theater lohnt, weil genügend Zuhörer anwesend sind, legt er los: „Zeigen Sie doch mal Ihre Papiere, sind Sie denn kein Soldat? So'n Kerl wie Sie müsste doch eigentlich Soldat sein?!"
Ich hielt gerade eine Kornblume zwischen den Zähnen und, anstatt einer Antwort, drehte ich die Kornblume in die andere Mundecke und sah zum Fenster hinaus. Diese Geste, unterstützt durch eine äußerst nervöse halbe Drehung auf meinem Sitz, blieb nicht ohne Wirkung auf den Schnauzbärtigen. Er besann sich auf seinen
Säbel, packte ihn fest mit der Linken und fragte halb schnauzend, ob ich nicht gehört hätte, dass er mit mir redete! Ich antwortete ganz schnauzend, mit einer ruckartigen Drehung zu ihm: „Gottverdammig, Gottverdammig, Gottverdammig, was wollen Sie denn, hä? Ist es nicht genug, dass man sich an der Front die Knochen kaputt schießen lässt?" — Laut brüllend, den Übernervösen markierend, meine Kornblume dem ziemlich verdutzt dreinschauenden Gendarm vor die Füße werfend: „Verdammig, verdammig, was ist denn schon wieder los, hä, hä?"
Meine Mutter, die mit im Abteil saß, wurde leichenblass. Etliche Passagiere nahmen bereits Partei für mich. Der Fatzke mit dem Säbel Wurde immer verlegener, er sagte nur noch halb so laut: — „Langsam, langsam, junger Mann, nich so aufgeregt, man wird doch mal fragen können. Das ist doch unsere Pflicht." — „Da sind wir gar nicht aufgeregt", sagte ich halblaut, „ich gehe gerne mit, gerne, desto eher wird der Krieg alle, man hat sowieso keine große Lust mehr." — Der Schnauzbärtige sucht Hilfe bei den Mitfahrenden. Er begründet seinen Standpunkt einem alten Herrn; der ist wahrscheinlich bedeutend älter, als er aussieht, er sagt nur immer: „Ja ja, hm hm, ja ja". Ich hatte mich wieder dem Fenster zugewendet und war fest entschlossen, auf die ersten drei Fragen überhaupt nicht zu antworten, auf alles übrige explosiv zu reagieren. Mein Entschluss war überflüssig, der Gendarm verkrümelte sich ohne besondere Empfehlung.
In Stendal sann ich auf neue Ränke. Ich meldete mich beim Bezirkskommando und mimte dort eine sehr konfuse Figur. Ein Leutnant: „Rätselhaft, verstehe ich nicht! Erst bei der Armee, dann bei der Marine!?" Sehr vorsichtig, etwa als hätte ich ein Drittel vom § 51 (Unzurechnungsfähigkeitsparagraph) gefrühstückt, gab ich meine Erklärungen. Das Männchen war hart. Endlich kam er mit der Frage, .auf die ich schon lange gewartet hatte: „Sind Sie verwundet?" „Ja, en bisschen, leicht." — „Wo denn?" — Ich zeigte die knallrote Narbe am Unterschenkel. „Sonst noch irgendwo?" — „Noch'n bisken am Kopp" — ich zeige ihm eine kleine haarlose Stelle am Hinterkopf, die ich schon als Säugling hatte. — „Ahso! Und was wollen Sie denn nun hier bei uns?" „Ja, ick weeß nich, ob ick nu wieder an die Front komme!" „Unsinn! Wir schicken doch von uns aus niemand an die Front!" — Nach längerer fruchtloser Debatte empfiehlt er mir, ins Garnisonkommando zu gehen und dort das Weitere abzuwarten.
Vergnügt wie ein junger Spatz ging ich, nachdem drei Tage verflossen waren, nach dem Garnisonkommando. Daselbst werde ich anfangs ziemlich grob empfangen. Bald merkte man, dass bei mir eine Schraube locker saß. Auf meinen Befehl mussten die Tippmädels ihre Arbeit einstellen, angeblich störte mich das Rasseln der Tasten. Mit Kommissbrot und einer halben Fleischbüchse beruhigte man mich. Aber bald schaffte man den unbequemen Gast mit 3 Mann Bewachung in eine Polizeizelle ins Rathaus. Da, wo ich bei allen Beamten bekannt bin, erkennt man meine unsauberen Absichten. Ich gebe es auf, den Klappsmann zu markieren. Es ist zu spät, jetzt sitze ich drin.
Der Käfig im Rathaus zu Stendal war mir der unangenehmste von allen, die ich vorher und nachher sah. Der Lärm der Straße dringt deutlich herein. Wenn man nun in einer solchen Kleinstadt alles genau kennt, dann weiß man beim scharfen Trapp zweier Pferde und einem bestimmten Wagenrasseln: das sind dem Hermann Günsche seine beiden Rappen. Kommt ein Lastauto mit einer bekannten Hupe, sofort sagt man sich: das ist das Brauereiauto, da sitzt dein Freund Hans Schlichting am Steuer. Alle Menschen, die man ins Rathaus gehen hört, glaubt man am Schritt zu kennen. Die Turmuhr schlägt zwölf. Deutlich sieht man, wie die Kollegen in der einstigen Lehrbude die Winkelhaken weglegen, um zum Essen zu gehen. Manchmal ruft jemand etwas laut, sofort geht's einem durch den Kopf: ist das nicht der und der? Nein, lieber sonstwo, aber bloß nicht da brummen, wo alles doppelt und dreifach an den Verlust der Freiheit erinnert.
Wer noch nicht bei Vater Philipp war, kann vom bloßen Ablesen der Erlebnisse anderer nicht mitfühlen, wie es Menschen zumute ist, die mit ihrer glühenden, verzehrenden Liebe zur Freiheit in Gefangenschaft sitzen. Gefangenschaft ist ein dehnbarer Begriff, eine Art der Gefangenschaft bedrückt den Menschen nicht den vierten Teil von dem, wie ihn eine andere zermürbt. Wenn jemand als Kriegsgefangener mit tausend und noch mehr Kameraden zusammen zwei oder drei Jahre gefangen gehalten wird, ist das bei anständiger Behandlung ein Paradies gegen die gemeinste Art der Gefangenschaft, gegen das Isoliertsitzen. Man stelle sich vor, in einer Zelle, kahl, öde und leer, halbdunkel, muffig und im Winter oft hundekalt, Wochen und Monate allein. Allein! Wer kann das ermessen, was es überhaupt bedeutet, als Mensch mit Sprache und Gehör, mit lebendigen Augen im Kopf, in solcher Wüste des Alleinseins!
Man geht in Form einer „8" drei bis vier Stunden in seinem Käfig spazieren. Spazieren ist ein unsinniger Begriff für dieses monotone Schreiten. Wer hat nicht schon einmal im Zoo vor einem Käfig gestanden, worin ein Tiger, Löwe oder Panther unaufhaltsam hin und her rennt?! Es ist die Unruhe, es ist eine besondere Erkrankung beim Menschen wie beim Tier. Man geht auf und ab, man zählt die Schritte oder die Runden, legt sich auf die Pritsche, betrachtet die Wände. Hat man einen Bleistift und Papier, so schreibt man irgend etwas, aber ich möchte behaupten, dass nur sehr wenige Menschen imstande sind, irgendeine ernste Arbeit in solcher Lage zu vollbringen. Hinzu kommt meist noch die völlige Unwissenheit über den Stand der Dinge, wie: Termin, Freilassung, Strafmaß usw. In den allermeisten Fällen fühlt sich der Gefangene unschuldig oder zum mindesten hält er seine Straftat nicht für so groß, dass er die Gefangenschaft mit ihren Qualen als eine angemessene Sühne betrachtet. Die Kriegsjahre verschlimmerten das alles noch um ein Wesentliches durch den entsetzlichen Hunger. Was gerade in den letzten Kriegsjahren in den deutschen Gefängnissen gehungert worden ist, steht einzig da in der Geschichte aller Zeiten. Hierüber werde ich später ein Musterbeispiel anführen, die Festung Spandau.
Nachdem man mich für drei Tage in das Garnisongefängnis abgeführt hatte, holten mich zwei Mann aus Posen. Die Kameraden waren vernünftig, ich versprach ihnen, nicht auszukratzen; sie glaubten das und ließen mir auf dem Transport große Freiheiten. Durch Berlin machten wir einen Spaziergang. Zwischen Berlin und Frankfurt a. O. begegneten wir auf einer kleinen Station einem meuternden bayrischen Bataillon. „Kamerad!" riefen sie mir zu, — „ruh di a weng aus, ball hats a End mit d5 Schweinerei!" — Ich rief laut hinüber: „Es lebe der Friede, es lebe die Revolution, sie leben hoch—hoch—hoch." Wie ein Feuer ging das donnernde Hoch der meuternden Kameraden durch den Körper. Hätte ich meiner Begleitung nicht versprochen, nicht zu türmen, ich wäre zu den Bayern übergelaufen.
In Posen angekommen, bezog ich eine Zelle im Grolmann, isoliert die erste Woche. Nunmehr saß ich mit einem Trost, einer großen Zuversicht, mit der Hoffnung auf eine baldige Revolution. Das erleichterte mein schweres Los. Meine Kameraden, mit denen ich dann später gemeinsam saß, wurden angesteckt von mir. Es kam tatsächlich zu einer Stimmung, die allen Handlungen eine bestimmte rebellische Note gab. Man wartete auf die Revolution.
Am 31. August stand ich vor dem Kriegsgericht. Diese Offiziere interessierte mein Fall erst von dem Moment ab, als ich ihnen laut und deutlich sagte, dass sie ihren schweren Kopf bald woanders ausschlafen könnten, dass sie schon vor Weihnachten ihre nächsten Ferien antreten könnten, die dann die letzten wären. „Eine Revolution wird in kurzer Zeit mit eisernem Besen dieses Theater zuhauf kehren." Meine Rede hatte ich mir lange vordem bis ins kleinste zurechtgelegt. Ein meckerndes Lachen des Vorsitzenden, der im militärischen Rang höher stand als die anderen, war das Signal, meine Ausführungen von der lächerlichen Seite zu nehmen. Es war so, als ob ein Souverän gnädiglich die Satire seines Hofnarren anhört. Ich sprach gerade den Satz: „Und Kronen werden über das Pflaster rollen" — da erst besann sich der Vorsitzende, dass meine Worte staatsfeindliche Tendenz besaßen. Er forderte mich in sehr barschem Tone auf, die „Faselei" einzustellen.
Ich hatte einen Verteidiger, er beantragte wegen jugendlich-romantischer Schwärmerei und Veranlagung zu phantastischer Lebensauffassung mildernde Umstände. Diese wurden auch zugebilligt. 1 Jahr 6 Tage Festung, lautete das Urteil.
Zu 24 Mann steckte man mich nun in einen tiefen Keller des Grolmannforts. Ich weigerte mich, diesen Keller zu betreten. Kaum atmen konnte ich die ersten Minuten, so furchtbar dick war die Luft von der Ausdünstung der 24 Mann. In einen Eimer ohne Deckel wurde des Nachts die Notdurft verrichtet. Natürlich war dieser Eimer für uns alle zu klein. Wer gegen Morgen austreten wollte, stand ratlos da. Desöfteren lief der Eimer über. Es war die helle Pest in diesem Bunker.
Eines Tages kam ein Pfaffe zu uns. Er stellte sich vor als der Pfarrer Schmalz. „Schmalz kann hier bleiben, aber der Pfaffe soll gehen." — „Ach, Quatsch, Himmelreich! Wir sind jetzt schon in der Hölle." Er wurde mordsmäßig veräppelt. Ich hakte ein auf den Satz: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" — wie sich das mit den Millionen Toten auf den Schlachtfeldern des Krieges vereinbaren ließe? Ob das nicht doch alles Schwindel sei, bei dem die Kirche k. v. geworden sei?! Schmalz wälzte sich aus einer Verlegenheit in die andere. Ich glaube, es fiel ihm beim Verlassen des Bunkers ein Kanonenrohr vom Herzen.
Ein Bild davon, welch großer Energie der Mensch fähig ist, habe ich bekommen bei der Beobachtung eines Simulanten. Der erste Anblick dieses Menschen war schreckenerregend. Ein wilder Kopf, Barthaare ohne jede Pflege, von Schmutz und Speiseresten starrend und stinkend. Wäsche wechselte er überhaupt nicht. Er schlief meist am Tage, und nachts ging er gespenstig leise unter fortwährendem Murmeln zwischen den Pritschen umher. Drei Tage hielt er einmal eine Maus lebend in seinem Hemd gefangen. Er band sie in einem Knoten fest, spielte unter dramatischem Getue mit ihr, um ihr endlich mit einem Löffel den Kopf abzuhacken. Nicht alle Speisen aß er. Mit Marmelade schrieb er geheimnisvolle Zeichen an die Wand. Selbst als einmal seine Angehörigen auf Besuch dort waren, ließ er sich durch nichts beirren. Man öffnete für ihn eine Büchse mit Blutwurst, er nahm mit den Fingern etwas heraus und malte damit ein Kreuz vor den Kopf. Auch auf die eindringlichsten, mit Tränen und lautem Schluchzen fast erstickten Worte seiner Mutter antwortete er nicht. Er sprach niemals ein Wort Zu den Kameraden benahm er sich, als seien sie einfach nicht da.
Einmal kam ein hoher Militär auf Inspektion; dabei wurde ihm der Mann vorgestellt. Er bekam förmlich Angst vor der Gestalt, die wie ein tierisches Wesen mit unsagbar schmutzigem Körper sich im Käfig bewegte. Fragen fanden nicht die geringste Beachtung. Ihm graulte es vor uns, vielleicht dachte er sich, es wäre ganz natürlich, wenn wir alle auf ihn einstürzten und ihn als unseren Peiniger totschlügen. Wie mag der Mann aufgeatmet haben, als die Tür wieder von draußen zugemacht wurde. In der Zeit, die ich im Grolmannfort
war, wurde der Simulant, der bestimmt schon einen geistigen Defekt in sich trug, nicht entlassen.
Ratten und Mäuse, Läuse und Flöhe gab es mehr als Brot im Bunker. Ließ man mitten im Raume eine Essschüssel mit Speiseabfällen stehen, so dauerte es nur Minuten, und die Schüssel wimmelte voller Mäuse und Ratten. Noch schlimmer war die Läuseplage. Es war so dunkel im Raume, dass man nicht zu jeder Tageszeit lausen konnte. In den Wolldecken und in der Holzwolle, die als Bettpolster diente, war es voll von Ungeziefer. Ein Kamerad hatte am ganzen Körper Ausschlag, und wo sich Schorf bildete, saßen die Läuse dutzendweise darunter. Der Mann konnte keinen Arm bewegen ohne große Schmerzen zu erleiden. Stellenweise war der Ausschlag feucht. Ein sauberes Hemd hatte er zum letzten Male vor sieben Wochen bekommen.
Er konnte weder liegen noch stehen, stöhnte immer leise vor sich hin. Es ist eine unglaubliche Grausamkeit der verantwortlichen Stellen, solche Menschen ohne Behandlung im Lazarett in einem stinkenden dunklen Keller zu belassen. Man schüttelte sich vor Ekel, wenn er sich mit nacktem Oberkörper, weil er das Hemd, das so starr wie Leder war von geronnenem Blut und Eiter, nicht tragen konnte, in der Nähe hinsetzte. Er fühlte das offenbar und kam tagelang aus den dunkelsten Ecken des Gewölbes nicht heraus. Des Nachts wurde er von Ratten belästigt, die, angelockt durch den Geruch des Eiters, ihren Hunger zu stillen gedachten. Ich kann hier seinen Namen nicht nennen, wer es genauer wissen will, wie diesem bedauernswerten Menschen die Fleischfetzen von Hunderten von Läusen zerfressen vom Körper hingen, der frage in Leipzig-Gohlis bei den Inhabern der dortigen Waschanstalten nach.
Einen Syphiliskranken mit dem entsprechenden Geschwür am Geschlechtsteil zählten wir auch zu unserem Bestand. Es war ein Berliner. Erst nachdem er ein fürchterliches Theater anstellte, kam er zwar in ärztliche Behandlung, aber nicht aus dem Bunker. Zwei Eimer Wasser mussten für uns alle als Waschwasser genügen. Der Hunger war furchtbar. Kartoffelschalen, Mohrrübenabfälle und andere zweifelhafte Dinge wurden verzehrt. Eine haarsträubende Gemeinheit leistete sich der Verwalter des Gefängnisses; er fütterte von der Verpflegung, die er den 200 bis 250 Gefangenen vorenthielt, sechs Schweine fett. Es war eine bekannte Tatsache, dass die Schweine dickeres und fetteres Essen bekamen als wir. Unsere Mahlzeiten bestanden aus dünnen fettlosen Wassersuppen, ein Fressen, bei dem ein Schwein verhungert wäre.
Einmal waren drei Mann zum Mohrrüben-Abladen bestellt. Sie brachten in ihren Taschen etliche Rüben mit; durch einen Zufall kam es heraus, und die zwei oder drei Pfund Rüben mussten abgeliefert werden. Wie viel Zentner Rüben und Kartoffeln die Schweine dagegen fraßen, darum kümmerte sich niemand. Auch unter uns gab es Kreaturen, die besser an den Galgen passten als unter solch schwer bedrängte Menschen wie die Gefangenen und die die Notlage ihrer Kameraden noch zum Geschäftemachen ausnutzten. Ein solcher Gauner zahlte für ein Taschentuch: eine Zigarette, für Hosenträger, gut erhalten: zwei Zigaretten, für ein Hemd: zehn Zigaretten, für gute Zivilschuhe: ein Brot und zehn Zigaretten usw. Allgemein tauschte man für einen Zigarettenstummel eine Brotschnitte ein. Da ich kein leidenschaftlicher Raucher bin und beim Bärentanz (das ist die Freistunde) auf dem Hof des Forts, wo auch manchmal Zivilpersonen rauchten, öfters einen Stummel fand, tauschte ich ihn gegen Brot um. Die Kameraden bedrängten einen förmlich, überboten sich trotz Brotmangel mit zwei sogar drei Brotschnitten. Niemals nahm ich mehr als eine.
Bis aufs letzte ausgekauter Kautabak wurde getrocknet und geraucht. Die Kameraden warteten, bis das halbe Gramm Tabak, sorgsam zerschnitten, zwischen Papier gelegt und unter dem Arm oder zwischen die Beine geklemmt, trocken wurde. Wenn Streichhölzer fehlten — und sie fehlten oft —, gebrauchte man zum Feuermachen ein primitives Feuerzeug, bestehend aus einem Nagel oder einer alten Messerklinge, einem Stein und einem Stückchen Schwamm, alles in einer leeren Schuhcremebüchse verwahrt. Als ich zum Transport nach Spandau fertig war, kam ich in eine Zelle mit nur noch einem Kameraden. Auf dem Weg aus dem Fort nach dem Gefängnis* fand ich auch einen Stummel. Mein Kamerad geriet vor Freude ganz aus dem Häuschen über das unerwartete Geschenk. Er bedauerte lebhaft, dass er mir nichts zurückgeben könnte, weil er selbst nichts habe.
Nun besaß er keine Streichhölzer, aber ein solches Feuerzeug. Mittags um zwei Uhr etwa fing er an Feuer zu machen, bis nachts zwei Uhr bemühte er sich vergebens. In heller Verzweiflung darüber schnitt er die Naht des Rockfutters auf, entnahm darauf die letzten
Reste Schnupftabak, schnupfte und legte sich schlafen. Kaum war es Tag, als er wieder begann Feuer zu machen. Es gelang bis zum Bärentanz (zehn Uhr) nicht. Als er wieder in die Zelle kam, hatte er zwei Streichhölzer und ein winziges Stückchen Reibfläche. Mit zitternden Händen rauchte er den Stummel, der auf einer Stecknadel steckte, weil er zum Anfassen zu klein war.
Noch einmal zurück zum Bunker. Mit fünf Mann, meist jüngeren Leuten, hatten wir beschlossen auszubrechen. Die Veranlassung zu diesem Plan war der Besitz eines vier Zentimeter langen Stückchens Feder aus einer Taschenuhr. Ich ahnte die Unmöglichkeit dieses Planes, im Beisein von 20 Mann ausbrechen zu wollen, ohne verraten zu werden, im voraus. Trotzdem machte ich mit, aber unter der Bedingung, dass nur des Nachts gefeilt werde. Um mit einer solchen primitiven Feile, wie es ein Stückchen Taschenuhrfeder ist, in das man mit einem anderen Stückchen Uhrfeder Zacken eingehauen hatte, einen dreiviertelzölligen Eisenstab durchzufeilen, braucht man bei intensivster Arbeit eine ganze Woche. Wenn jedoch ruhige Nächte ohne Wind und Regen dazwischenliegen, wo selbst das geringe Geräusch den Wächtern auffallen könnte, dauert es noch viel länger. Wer die letzte Tour zum Morgen hin feilte, musste den sehr dünnen Feilschlitz mit gekautem Brot und Staub unkenntlich machen. Es war allgemein im Bunker bekannt, dass gefeilt wurde, nur wusste man nicht genau, wer alles daran beteiligt war. Die Gestalten, welche des Nachts oben im Fenster saßen und mit Riesengeduld ihre Feilstriche machten, waren nicht zu erkennen. Ein paar ältere Kameraden wiesen bei einer Debatte energisch darauf hin, dass es verdammte Pflicht eines jeden sei, die Schnauze darüber zu halten, wenn man selbst zu feige sei mitzumachen.
Ist ein Stab durchgefeilt, dann nimmt man ein Handtuch oder ähnliches, legt es um den durchgefeilten und einen noch ganzen Stab, wie abzuwickelnde Wolle um eine Stuhllehne, bindet die Enden straff zusammen, macht das gespannte Tuch nass, um es noch mehr zu spannen, steckt ein Schemelbein hindurch und dreht damit (wie mit dem Spannholz bei einer Säge) das Tuch zusammen. Dadurch biegt sich der durchgefeilte Stab und es entsteht eine Lücke, durch die ein normalgebauter Mensch schlüpfen kann. Es gilt die Regel: Wo der Kopf durchpasst, kommt auch der Körper durch. Nur noch wenige Millimeter waren zu feilen, höchstens noch eine Nacht, in der nächsten sollte es dann losgehen, — als drei der beteiligten Kameraden durch Verrat 5 Tage Dunkelarrest mit Kostentziehung und Versetzung in eine andere Zelle bekamen.
Waren die Verhältnisse in Posen schon lange nicht mehr menschenwürdig, so muss von der Festung Spandau gesagt werden, dass es kein Gefängnis, sondern eine riesenhafte Folterkammer war. Nachts ein Uhr wurde ich eingeliefert. — „Nimm die Knochen zusammen, du Schwein!" — Wie ein unheilvolles Echo tönte die Stimme des Wärters durch den hohen Zuchthausbau. Ich wurde mit Füßen getreten, weil ich die Hacken nicht zusammenschlug. Bei der Durchsuchung bekam ich einen Faustschlag vor die Brust. Eine Zellentür wurde geöffnet, es war die Tür der Einlieferungszelle, ein derber Fußtritt beförderte mich hinein. Grässliches Fluchen und Schimpfen erfüllte die Zelle. Man fluchte nicht ohne Grund, denn ich stolperte auf Menschenleibern herum und fand erst nach einiger Zeit den Fußboden. Die völlige Finsternis gestattete nicht, den Störenfried zu erkennen, darum legte sich die Empörung bald. Am Morgen zählte ich in der kleinen Zelle, etwa viermal vier Meter groß, 26 Mann. Jemand sagte, gestern morgen wären es 32 gewesen.
In einer Ecke stand ein entsetzlich stinkender Abortkübel. Drei, manchmal sogar vier Tage musste jeder Eingelieferte in dieser furchtbaren Lage zubringen.
Völlig erschöpft stand ich nach drei Tagen mit einer Kolonne von etwa 20 Mann in Reih und Glied — „Achtung! Richt euch! Augen rechts — Augen ge—rade—aus! Links um! Im Gleichschritt — marsch!" Wir marschierten den Korridor entlang, hinunter in einen Kellergang. Dumpf, fast völlig finster nahm uns ein unheimliches Gewölbe auf. Erst nachdem sich das Auge etwas an die Dunkelheit gewöhnt hat, kann man die zahlreichen an den Wänden aufgehängten eisernen Geräte erkennen. Zwei auffallend große und breite Kerle, die blutrünstige Reden schwingen und erklären, wie die einzelnen Ketten, Schließ-, Hand- und Fußeisen, Kreuzstangen, Zwangsjacken, Gummiknüppel und sonstigen Geräte gehandhabt werden. — „Hier wird nich jefackelt; wer hier denkt, dat det eene Kleenkinderbewahranstalt is, den drehn wa zusamm, det ihm de Scheiße aus de Oogen kommt. Alles is jenau nach Vorschrift zu machen, nich einbilden, et is hier Etappe, sonst jibts Bimse, det ihr in keen Sarj mehr passt. Wer uff Anruf nich drei Schritte vom Leibe bleibt, wird ohne weiteres übern Haufen jeknallt. Wir haben uff die schmerzlose Art schon manchen Scheißer, der jedacht hat, wir schießen mit Zündhütchen, abjerufen."
Die rohen Kerle nahmen einen von uns heraus, brachten ihn durch einen schmerzhaften Griff zu Fall und fesselten ihn mit den Geräten, dass er rot und blau wurde im Gesicht. Als die Fesseln gelöst waren, konnte sich der Mann nicht erheben. .
Das Essen? — Das Futter? — Die Jauche, die dort als Nahrung gereicht wurde, ließ am besten die Absicht erkennen, uns alle dem Hungertode preiszugeben. Wir waren nicht zu Festung verurteilt, nein, wir waren verurteilt zum Tode durch Verhungern. Das ist schlimmer als zum Tode durchs Schafott oder Erschießen oder zum Tode durch den Strang. In der Zeit zwischen Urteilsverkündung und Urteilsvollstreckung mussten hier täglich zehn Stunden schwerste Arbeit geleistet werden. Kohlrüben, Weißkohl und Mohrrüben gab's hier immer abwechselnd. Damit soll aber nicht gesagt sein, dass es wirklich Kohlrüben, Weißkohl oder Mohrrüben waren, die man uns in die Näpfe füllte. Wer z. B. in ein Zimmer tritt, in dem jemand eine Havanna geraucht hat, kann nicht behaupten, dass er selbst die Havanna geraucht habe. Ein Weißkohlgericht bestand aus einem Napf schmutzigen warmen Wassers. Man hatte Glück, wenn man darin ein halbes Weißkohlblatt halbroh vorfand. Fettaugen dagegen niemals. Raupenhäute und Sand gab's darin oft.
Morgens um fünf Uhr wurde geweckt. Auf dem Hof, der mit einer verzweifelt hohen Mauer umgeben war, verteilte der Wärter aus Holzkisten das Brot. Wer sich auf das Kriegsbrot von 1917 und 1918 entsinnen kann, wird sich denken können, welchen Kitt man uns als Brot gab. Abbeißen vom Brot war streng untersagt. Erst um neun Uhr durfte es verzehrt werden. Jeden Abend, halbtot geschuftet, auf total verwanzter, steinharter Holzwollpritsche stundenlang vor dem Einschlafen mit dem brennendsten Hungergefühl im Leibe kämpfend, waren wir angesichts des sicheren Hungertodes dem Wahnsinn nahe. Nur niederträchtige Schurken, vertierte Sadisten, auserlesenste Schufte können einem verhungerten Menschen ein Stück Brot in die Hände geben und ihm verbieten, davon zu essen. Wie weit der furchtbare, langandauernde Hunger die Menschen herunterbringt, wie er den Geist zermürbt und auch den geringsten Widerstand gegen die Peiniger unmöglich macht, will ich an folgendem Beispiel zeigen:
Eines Morgens beliebte es einem inspizierenden Oberfolterer, eine Viertelstunde nach Brotausgabe nachzuforschen, wer trotz des strengen Verbots schon von seiner Brotration abgebissen hatte. Von etwa dreihundert Mann hatten vielleicht hundert abgebissen und zehn bis zwanzig die Tagesration bereits ganz verzehrt. Diesen schlug er mit der Faust ins Gesicht, den anderen nahm er den Rest des Brotes weg und zertrampelte es mit den Füßen im Dreck. — „Scheiße kriegt ihr morgen zu fressen, ihr Hunde! Ich mache euch unglücklich, ihr Gesindel!" — Nach solchen Worten konnte der Held in schönster Gesundheit seinen Schmerbauch vom Platze tragen, ohne dass jemand den Mut gehabt hätte, die kurzen Karabinerläufe der Wärter einen Augenblick zu vergessen und dem Lumpen an die Kehle zu springen. Vollständig apathisch sahen die Kameraden diesem Schurken zu, für den es in der Welt der Lebewesen kein Ebenbild gibt, das zu einer gleichen verruchten Tat fähig wäre. Und trotzdem, die Ordnung dieser Zeit besagte: „Ein solcher Mann muss ausgezeichnet werden", deshalb besaß er etliche Orden, auf die er nicht wenig stolz war. Hundert Menschen mit entsetzlich hohlen Augen, als liege nur noch die Haut auf dem Totenschädel, so gespenstig mager, so durchsichtig scharf zeichnet sich das Skelett ab, schlägt so ein feister „Ohnesorgen" das Stückchen Brot aus der Hand.
Der Hungertod holte sich seine Opfer überreichlich. Bei der Arbeit umfallen, zwei, höchstens drei Tage ins Lazarett (die Wärter nannten es bezeichnenderweise „Leichenschauhaus" und drohten bei Schwächeanfällen damit!), dann hinaus in die „ewige" Freiheit, — das war der Weg unzähliger Gefangener. — Aus den Ketten in den Sarg. — Festimgsgefangener in Spandau hieß Festungsverhungernder sein.
Ein Kamerad, im Zivilberuf Rechtsanwalt, beschritt wegen der schlechten Ernährung den Beschwerdeweg. Das ging folgendermaßen vonstatten: An einem Sonntagmorgen suchte er bei dem Korporalschaftsführer mündlich um Aushändigung von Schreibmaterial nach. Laut Satzung bekam er es am nächsten Sonntag und reichte die Beschwerde ein. Nach zwei Wochen kamen drei Wärter, erklärten, dass seine Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen sei, schlugen ihn zu Boden, fesselten ihm mit einer langen Kette Arme und Beine, schleppten ihn hinunter in den Keller und schlugen solange mit Knüppeln auf ihn ein, bis er bewusstlos liegen blieb. Nach fünf Tagen kam der Kamerad wieder in die Korporalschaft zurück; auf die leisen
Fragen unsererseits (das Sprechen war untersagt) gab er keine Antwort. Wir hatten den Eindruck, dass er geistesgestört sei. Erst nach etlichen Tagen erholte er sich soweit, dass er erzählen konnte, wie fürchterlich man ihn geschlagen hatte. Blutunterlaufene Stellen am ganzen Körper dokumentierten zur Genüge die Brutalität der Henkersknechte, die so gewissenlos waren, einen Menschen, der vollständig im Recht war, halbtot zu schlagen.
Ein besonderes Kapitel bildete die Behandlung, die uns durch unseren Kalfaktor zuteil wurde. Dieser Mensch, selbst Gefangener, selbst dazu verurteilt, in den Mauern der Festung seine Jahre zu verbringen, leistete sich Dinge, die ein Außenstehender nicht für möglich hält. Ich würde nachstehende Sätze Tür maßlos übertrieben halten, hätte ich nicht bitter alles am eigenen Leibe verspüren müssen. Wir waren 42 Mann in unserer Korporalschaft. Alle Aufsicht über Ordnung, Reinlichkeit, Essenausgabe usw. oblag dem Kalfaktor. Wenn wir des Abends aus der Geschoßfabrik in die Stube traten, teilte er das „Abendbrot" aus, eine völlig wertlose Wassersuppe, deren Nährwert bestimmt nicht dazu gereicht hätte, eine Maus zu ernähren. Hierbei ließ er sich von drei Mann bedienen. Der erste streifte ihm einen blendendweißen Armschützer auf den linken Arm, desgleichen der zweite auf den rechten Arm. Der dritte reichte ihm mit hündisch-untertäniger Gebärde die Schöpfkelle zu. Das Ganze eine widerliche Szene, die mir in der ersten Zeit einmal zu einer abfälligen Bemerkung Veranlassung gab, wofür mir der Kalfaktor mit der Schöpfkelle einen Schlag vor den Bauch versetzte und mir keine Suppe gab. Stand er nun so mit den weißen Armschützern und der Schöpfkelle in der Hand da — er trug sie mit der Geste eines Feldmarschalles —, dann kommandierte er brüllend: — „Korporalschaft formiert! — Richt' euch!" Klappte das nicht nach seinem Wunsche, ließ er alles noch einmal wiederholen. „Rührt euch! Stillgestanden! — Augen rechts! Augen gerade—aus! Die Augen links! Augen gerade—aus. Rührt euch! Stillgestanden! Rechts um!" — Die Spitze stand am Essenkübel. Der erste Mann trat einen Schritt links aus dem Glied, nahm den Essnapf mit beiden Händen vor die Brust, hatte auf Befehl die Augen geradeaus zu richten, eine langsame Kehrtwendung zu machen und im Gleichschritt auf seinen Platz zu gehen. Wer sich erlaubte, diesen Unsinn nicht ganz exakt auszuführen, wurde mit Kostentziehung bestraft.
Trotzdem 42 Mann in dem Raum waren, war vom Kalfaktor jede Unterhaltung untersagt. In der Zelle ging es um die Ecke. In dieser Ecke hauste der Kalfaktor. Das ermöglichte am anderen Ende eine kurze Unterhaltung im Flüsterton.
Noch auf eine andere Art lieferte Spandau den Beweis, dass es die Geburtsstätte allergemeinster Schikane war: das war die geradezu freche Durchsuchung der Gefangenen, wenn sie des Abends die Festung betraten. Nichts durfte in den Bau mitgenommen werden. Der kleinste Fetzen Papier, ob bedruckt oder nicht, und wenn er nur die Größe eines Straßenbahnbilletts hatte, rief Schimpfkanonaden hervor. Was in anderen Gefängnissen immer noch möglich war, z. B. von Zeit zu Zeit mal einen Zigarettenstummel und ein winziges Stückchen Reibfläche, Feuerzeuge, Streichhölzer, Priem, Schnupftabak usw. hineinzuschmuggeln (von Spielkarten, primitiven Dame -und Mühlespielen gar nicht zu reden), das war in Spandau einfach ausgeschlossen. Die Meute, die uns jeden Abend überfiel, um jeden Tuchzipfel einer raffinierten Untersuchung teilhaftig werden zu lassen, heulte zetermordio schon dann, wenn sie in dem Müll eines Jackenzipfels zwischen Futter und Tuch nur die Spuren von Schnupftabak entdeckte. Übertretungen auf diesem Gebiet wurden mit Kostentziehung und Dunkelarrest bestraft.
Auch das Spitzelwesen trieb besondere Blüten in Spandau. Ein Gefangener, dessen Arme und Beine infolge vieler schlecht geheilter Brüche fast gebrauchsunfähig waren, machte sich auf Krücken an die Kameraden heran, erzählte, wie er auf Arbeitskommando in Bitterfeld verunglückt sei, und schimpfte auf den Staat, auf die Offiziere, die Festungsverwaltung, den Kaiser und auf alles, was sonst noch ein Gefangener in sein Herz geschlossen hat. In der Tat hatte der Mann Grund genug zum Schimpfen, denn einen arbarmungswürdigeren Eindruck gibt es wohl kaum, als wenn ein Mensch in Sträflingskleidung mit Krücken, auf einem Auge fast erblindet, in dem unheimlich kalten Gemäuer eines Festungsgefängnisses zwischen Eisengittern, Schlössern und Riegeln einherkriecht. Aber dass dieses Individuum seinen elenden Zustand, den er doch der Gesellschaft, die ihn in diesem Käfig festhält, verdankt, noch dazu herleiht, als Spitzel seinem Kameraden einen Strick zu drehen, wenn er sich in voreiliger Entrüstung ein voreiliges Wort erlaubt, das legt jedenfalls ein tief betrübliches Zeugnis ab von der Geistesverfassung, in der sich solch ein trauriger Geselle befinden muss. Sobald eine Korporalschaft Zuwachs bekommen hatte, humpelte der Krüppel unauffällig herbei. Die Kalfaktoren ließen ihn und sein Opfer reden, trotz Sprechverbot. Alle Kameraden, die länger im Bau waren, wussten Bescheid. Nicht immer gelang es jedoch, die Neuen rechtzeitig zu warnen, und allzu oft ging dem Krüppel ein Ahnungsloser auf den Leim.
In der Geschoßfabrik, bei der Arbeit, wurden je vier Mann von einem Posten mit scharfgeladenem Gewehr bewacht. Schlacke karren, Transportarbeiten, Reinigung von großen Maschinenteilen und vieles andere war unsere Beschäftigung. Wie ein Geräderter schleppte man sich nach den 10 Stunden wieder zurück nach der Festung, wieder unter der Drohung des geladenen Gewehrs.
Hat sonst der Prolet bei der schweren Fron in Fabriken, Schächten und auf sonstigen Ausbeutungsstätten des Kapitalismus einen kleinen Trost: die Hoffnung auf die Feierabendstunde, so war uns Gefangenen auch hiervon nichts geblieben. Uns erwartete nach Feierabend eine Anzahl Menschen, die den Beruf hatten, keine Menschen zu sein, sondern wie böse Dämonen mit unzähligen Nichtigkeiten uns dieses elende Leben noch elender zu gestalten, uns bis an die Grenze zu bringen, wo der Tod dem Elend die Ablösung bietet. Die Verzweiflung packte manchen Gequälten so fest, dass er für Minuten sein bisschen Haut und Knochen in irgendeine Ecke warf und dort wie ein abgeschundenes, stumpfsinniges Pferd liegen blieb, bis — die Wärter kamen und mit Überführung in das Festungslazarett drohten. Diese Drohung genügte meist, um noch einmal, wenigstens dieses eine Mal noch sich mit der allerletzten Kraft aufzuraffen.
Mich hielt eine geheimnisvolle Kraft aufrecht. In diesen Tagen ist es mir klar geworden, dass der Mensch nicht von Brot allein lebt. Die Hoffnung auf die Revolution, die ich so nah wähnte, war mir eine gewaltige Stütze. Da ich nun schon seit Monaten den entsetzlichen Hunger in den Gefängnissen zu überdauern hatte, war auch mein Körper vollständig ausgesogen. Die kurze Zeit in Spandau hatte mir den Rest gegeben. Ich vermochte abends kaum noch die eiserne Treppe hinaufzuklettern. Der Geschlechtstrieb war ganz erloschen. Während ich in Posen von Zeit zu Zeit noch Pollutionen hatte, kam es hier überhaupt zu keinerlei Erregung mehr, obgleich ich mich manchmal an schön verlebte Stunden zurückerinnerte; — es waren Erinnerungen, wie sie vielleicht ein Sterbender haben mag. Und doch brach ich nicht zusammen.
Die Revolution, sie musste doch nun kommen. Ich rechnete, grübelte, erwog dieses und jenes. Oft ballte ich auf meiner Pritsche die Fäuste; bei mir paarte sich in solchen Momenten der Hunger noch mit dem Geist der Rebellion. Verflucht und verdammt, tausendmal Tod und Verderben über euch Kanaillen, wenn erst der Tag kommt...!!! Er kam. Schneller als ich zu glauben wagte. Am
7. November wurden wir, nachdem das Brot auf dem Festungshof verteilt war, nicht wie sonst zum Abmarsch in die Geschoßfabrik formiert, sondern in die Arbeitsräume des Festungsbereiches geführt, wo an Matten und Tüten gearbeitet wurde. Da nicht für alle Arbeit vorhanden war, saß ein Teil der Kameraden müßig da. Am
8. November dasselbe Spiel. Ich hatte nun Augen und Ohren weit offen. Ein überhitzter Kessel, der jeden Moment auseinander fliegen will! Den ganzen Tag hielt ich im Ärmel versteckt ein kurzes knöchernes Falzbein, bereit, es beim ersten Signal dem Wärter in den Hals zu jagen. Doch nichts ereignete sich. Am 9. November vormittags etwa um neun Uhr verschwanden die Wärter plötzlich. Fast niemand außer mir hatte es beobachtet. Die Schlüssel tauchten allmählich bei einigen Kalfaktoren auf, wie ich festzustellen vermochte. Gegen Mittag riss ich zum Erstaunen des ganzen Saales ein gedrucktes Schild herunter mit der Aufschrift: „Das Verzehren von Tütenkleister ist verboten. Zuwiderhandlungen werden bestraft!" — Mit den Worten: „Schluss jetzt mit der Schinderei hier", vermochte ich den Kameraden nur ein weiteres, größeres Erstaunen zu entlocken. Man wartete nun offensichtlich darauf, dass die Wärter kommen müssten, mich mit Gummiknüppeln zusammenzuhauen, und jeder war sich schon darüber klar, dass ich niemals wieder auftauchen würde, nachdem ich mir das erlaubt hatte. Die Kalfaktoren zogen mit uns ab in unsere Korporalschaftsräume. Anstatt uns Essen zu besorgen, machte sich unser Kalfaktor ebenfalls dünn.
Nun saßen wir 42 Mann in unserer Zelle fest verriegelt und verrammelt. Aber noch fester verriegelt und verrammelt als Fenster und Türen waren die Schädel meiner Kameraden, die nicht meinen Worten von der Revolution glauben wollten. Auch in ihnen gärte es gewaltig. Jeder sah doch einen Hoffnungsstrahl, aus diesem Elend herauszukommen. Nur an Revolution glaubte niemand.
Ein Bild, das ich nie vergessen werde, entrollte sich, als plötzlich gegen fünf Uhr nachmittags in unmittelbarer Nähe des Gefängnisses mehrere Gewehrsalven krachten und anschließend auf dem Gelände der Festung laute Schreie und Rufe: — „Freiheit — Brot — Revolution" sich vernehmen ließen. Wie durch elektrischen Strom getrieben, brachte mich das in die Höhe. Ich ergriff einen Schemel und schlug kurzerhand in den sechs bis acht Fenstern sämtliche Scheiben ein. Klirrend rasselten die Scherben zu Boden. „Hallo! Kameraden, lasst euch endlich erklären, her mit dem Tisch, angefasst!" Soviel Mann Platz hatten, den Tisch zu fassen, rammten ihn mit seiner bohlenartigen schweren Platte gegen die Tür. Allen brannte die helle Empörung aus den Augen. — „Hinaus, Kameraden! Oder man wird uns wie Hunde hier drinnen niederknallen!" — Immer wuchtiger prallte der Tisch gegen die Tür. Das Holz splitterte ab. Die Tür bog sich durch die Wucht des Rammens. Noch gab sie nicht nach. — „Hau ruck! Hau ruck! Hau — ruck — hau — rruck!" Ein einziger Strudel brüllender, schreiender, schlagender, tobender Menschen, die plötzlich innerhalb weniger Minuten aus dem tierischen Stumpfsinn, aus dumpfester Verzweiflung erweckt waren. Die Pritschen wirbelten im Raume herum, alles ging in Trümmer. Die Rebellion steigerte sich von Sekunde zu Sekunde. „Wo ist der Kalfaktor? Wo sind die anderen Schweinehunde? Her mit den Lumpen! Her mit ihnen, her mit den Schuften!" Immer wütender krachte der schwere Tisch gegen die ächzende Tür. Das Ganze war wie ein Vulkan, der in den nächsten Sekunden seinen Ausbruch machte. Wüstes, schrilles Geheul begleitete die rasenden Stöße des Tisches gegen die Tür. Meine Stimme ging unter in dem vierzigstimmigen Kommando. Alle, auch die keine Hand am Tische hatten, brüllten. Endlich lösten sich die Schlösser aus dem Mauerwerk. Als wäre ein Staudamm gebrochen, so stürzten mit vorgelegtem Oberkörper die heulenden Sträflinge über die herausgeplatzte Tür. Wer könnte die entsetzlich abgemagerten Gesichter wieder erkennen, wie sie noch vor einer halben Stunde, apathisch dem scheinbar unabänderlichen Schicksal ergeben, aussahen; und jetzt: mit weit offenem Rachen, mit den kalkigen, mageren, blutleeren Händen ein Holzscheit umkrallt, blutige, rachedurstige Schreie ausstoßend, stürmten sie hinaus in die Freiheit. Ich hing an der Glocke am Tor und läutete wie wahnsinnig solange, bis der Strick riss. Dann stürzte auch ich durch das letzte Tor in die Freiheit hinaus, warf die Arme hoch in die Luft und stieß einen Freudenschrei aus: „Re—vo—lu—tion!" an dem ich erstickt wäre, wenn ich ihn noch länger zurückgehalten hätte. Diese erste Stunde der Freiheit mit ihrem Gefühl überschwänglicher Freude zu schildern, bin ich nicht imstande. Immer wieder schreie ich das Wort hinaus: „Revolution — Re—vo—lution!"
Aller Hass, aller Hunger, vieltausend Stunden Unterdrückung, Wut und Verachtung, Erniedrigung, alle Schmähungen, das glühendste Sehnen nach Rache, meine Angst vor dem Hungertod, alles erduldete Unrecht machte sich nun Luft, explodierte. „Wo sind die Schurken, ich bin jetzt riesenstark. Kommt her, ihr Gesindel, ich will euch dutzendweise das Genick brechen. Kommt doch her, ihr Banditen, versucht es noch einmal, meine Hände zu fesseln, ich beiße euch die Gurgel durch." Arm in Arm mit anderen Kameraden und Spandauer Mädchen, die große Küchenmesser in den Händen hielten, marschierten wir zum Rathaus. Dort erwischte unser Trupp einen Offizier. Im Nu fielen die Mädels über ihn her. Ich nahm einem alten Landstürmer, der untätig dastand, das Seitengewehr weg und schwang mich auf ein vorbeisausendes Lastauto.
„ Nach Berlin!" Dort sollte es noch königstreue Truppen geben, die bereits Frauen und Kinder niedergeschossen hatten. „Wir werden euch Schleimscheißern schon zeigen, was wir aus euch machen!" Wir rasten durch die Straßen Berlins, überall stießen wir auf Gleichgesinnte. Ich verließ das Lastauto und sprang auf ein Panzerauto. Alle Wut vergebens, nirgends fanden sich Königstreue. Berlin war also in der Hand der Revolutionäre. „Wie sieht's bei dir in Stendal aus?" Diese Frage stellte ich mir laut. Ich beantwortete sie sogleich, indem ich den Führer des Panzerautos zu überreden versuchte, sofort sich auf die Chaussee nach Stendal zu machen. Der sagte, ich sei verrückt! Darauf verließ ich das Panzerauto, um vom Lehrter Bahnhof aus nach Stendal zu gelangen. Züge gingen nicht. Ich ging zu Fuß, bis ich nach Charlottenburg kam und dort ein Auto erwischte und mitfuhr.
Ich war wieder in Spandau. Nach etwa einstündigem Marsch in Richtung Wustermark begegnete mir eine marschierende Maschinengewehr-Kompanie mit mehreren schweren MG in Richtung auf Berlin. Sie kamen vom Truppenübungsplatz Döberitz. Ich schlich hinterher. Da rasselte ein Lastauto vollbesetzt mit Soldaten heran aus der Richtung Berlin. Es fuhr in einem bedenklichen Zickzackkurs ohne Licht. Mit einem Satz war ich hinauf und forderte vergebens, die Maschinengewehr-Kompanie zu überfallen. Die Kameraden waren betrunken und dachten trotz reichlicher Bewaffnung nicht daran, meinem Wunsche zu folgen. Sie wären auf der Fahrt nach Hamburg; dort hätten die Kulis alles schon kurz und klein gemacht. Noch einen ganzen Ballon Rum besaßen sie, der wurde in Trinkbechern verschenkt. Immer unsicherer steuerte der Fahrer den Wagen, denn er war ebenfalls stark betrunken. Man gab mir einen Becher voll Rum, ich schmiss ihn voller Wut über Bord. Zehn Sekunden später flog ich hinterher. Man hatte zu diesem Zweck das Auto nicht abgestoppt, in voller Fahrt landete ich zwischen zwei Chausseebäumen und musste es als ein Glück betrachten, dass ich mit heilen Knochen davonkam. Doch war mein rechter Fuß verstaucht. Humpelnd zog ich meine Straße.
Da kam mir plötzlich eine Idee: Ob nicht doch von Wustermark aus, dem großen Verschiebebahnhof, eine Möglichkeit zum Fortkommen zu erhaschen sei? An einer Straßenüberführung stand ein Bahnwärterhaus. Mit der Faust trommelte ich den schlafenden Bahnwärter wach. — „Fahren Güterzüge in Richtung Hannover?"
— „Nee! Is doch alles lahmjeleecht, et jeht ja alles drunter und drüber, ick weeß nich, wat dat noch werden soll hier!" — Ich frage, ob vielleicht Schienen aufgerissen sind oder Brücken kaputt. —
— „Nee, davon weeß ick nischt." — Laut schlage ich die Tür ins Schloss und höre im selben Moment, wie drinnen der Riegel vorgeschoben wird. Durch die Scheiben sieht mir ein besorgtes Gesicht noch lange nach.
Gewiss, ich war ein wunderlicher Geselle in meiner Sträflingskluft, Durch Nacht und Wind stolperte ich zwischen den Schienen entlang zum Verschiebebahnhof Wustermark. Die Verstauchung des Fußes ist bereits vergessen, nur wenn ich daran denke, schmerzt es. Ebenso spüre ich weder Hunger noch Müdigkeit. Der Weg wird mir furchtbar lang. Obgleich ich die Lichter des Bahnhofes am Horizont leuchten sehe, komme ich ewig nicht hin. Ich hetze nur so über die Schwellen, dann laufe ich ein Stück auf den Schienen, es geht nicht schnell genug. Unten am Bahndamm ist ein Fußsteig, nun geht's besser. Im Dauerlauf flitze ich vorwärts. Unerträglich! Während die Revolution in ganz Deutschland in hellen Flammen zum Himmel schlägt, hier auf dem öden Bahnkörper allein untätig spazierenzugehen! Die Zunge klebt im Halse fest. Mein Atem geht wie eine Maschine. Es ist unmöglich, ich kann nicht langsam gehen. Ich muss an der Grenze zwischen Umfallen und Aufrechterhalten weiterhetzen bis zum Bahnhof.
Ein Eisenbahner wird angehalten und gründlich ausgefragt, — kaum habe ich Luft zum Sprechen. — „Um fünf Uhr geht ein Eilgüterzug." — „Wann? Um fünf?" — „Na um fünf! In drei Stunden!" — „Wie spät ist es?" — „Zwei Uhr gleich!" So war ich schon neun Stunden in Freiheit. Ich ließ den Mann nicht eher laufen, als bis er mir genau den Schienenstrang gezeigt hatte, auf dem der Zug hielt, mit dem ich nach Stendal gelangen sollte. Jetzt, wo ich wusste, dass ich drei Stunden zu warten hatte, packte mich die Müdigkeit. Eine Bahnschwelle schleppte ich herbei, legte sie zwischen die Räder eines Wagens auf die Schienen und legte mich daneben mit dem Kopf auf die Schwelle. So musste ich unbedingt merken, wenn der Zug anrückte, denn die Schwelle wäre als Hemmschuh nicht so leicht überfahren worden. Sofort schlief ich ein. Mit klappernden Zähnen stand ich wieder auf, ging am Zug auf und ab, es war zu kalt zum Schlafen.
Dieser erste Morgen, dieses erstmalige Erwachen in der Freiheit, wie ich mit den Augen die fernsten Lichter aufsuchte, um mich an der ungehinderten Weite zu erfreuen, das war eine wirkliche Erhebung, eine wahre Freude, die im Herzen wohltat. Nach kurzer Zeit kamen Eisenbahner, das Fahrpersonal des Güterzuges. Man hielt es für selbstverständlich, dass man mich mitnehmen müsse. Der Zugführer opferte seinen Topf Kartoffelsalat. Ich verschlang ihn mit einer Geschwindigkeit, die ich heute selbst kaum noch für möglich halte. Es war noch jemand im Wagen, der hatte gerade Zeit, aus seinem Etui eine Zigarette zu entnehmen, sie anzuzünden und das Etui wegzustecken, es wieder aus der Tasche zu holen, um mir eine Zigarette anzubieten, denn ich hatte bereits gespeist.
Mehrmals hielt der Zug. Nach drei Stunden stand er vor dem Einfahrtssignal des Stendaler Bahnhofes. Es hielt mich nicht mehr im Zug, ich sprang ab und lief im Dauerlauf zum Bahnhofsgebäude. Arbeiter- und Soldatenrat! Also auch hier! — „Wo ist der Oberst Krause?!" — „Den haben Matrosen weggeschleppt und bei Hämerten von der Brücke herunter in die Elbe geschmissen!" „Bravo!" Später habe ich erfahren, dass er leider gerettet worden ist.
Etwas beruhigt ging ich nach Hause. Nur meine Schwester war anwesend. Sie sagte mir, dass mein Vater in Berlin und meine Mutter in Flessau, einem Dorf an der Kleinbahn Stendal—Arendsee, sei. Wann der Vater zurückkomme sei unbestimmt. Die Mutter käme bis Mittag zurück. — Ich ging zum Kleinbahnhof, um meine Mutter abzuholen. Sie stieg aus dem Zug, ich stellte mich gerade vor ihr auf. Sie sah mich groß an. — Trotzdem sie mich erst vor einem halben Jahr gesehen hatte, erkannte sie mich nicht. — „Mutter! Erkennst du mich nicht mehr!?" — „Junge, das bist du?!" — Einige Tränen tropften aus ihren Augen. — „Wie siehst du denn aus, mein Junge?!" — N' bisken verhungert bloß, Mutter." — Wie ein Wiesel lief sie mit mir nach Hause. Als hätte sie Angst, ich könnte auf dem Wege noch ganz verhungern, packte sie im Gehen eine Schnitte Brot und einen Wurstzipfel aus. Alles Eßbare verschwand in meinem Magen, als wäre er unergründlich.
Ich saß gerade bei einer großen Pfanne Bratkartoffeln, als es an der Tür klopfte. Auf ein leises „Herein" meiner Mutter stampfte mein Freund Theodor Hoffmann in die Stube. In großem Bogen warf er den Tornister in die Ecke, und schon umarmten wir uns. Er hatte gleich mir die Revolution schon lange vorweg gerochen und seine letzten Wochen als Soldat auf der Eisenbahn in Belgien und im Rheinland verbracht. Von einem Urlaub war er nicht zurück an die Front gekehrt, sondern hatte, ewig seine Truppe suchend, die Revolution im Bahnabteil abgewartet. Schnell wurde noch etwas gespeist, und dann schwirrten wir ab.
Die Umwälzung war in Stendal bereits beendet. Die einstigen Großschnauzen und Hurraschreier stellten sich schnell auf den berühmten Boden der gegebenen Tatsachen und blieben dort so lange als altes Inventar, bis sie von den Sozialdemokraten mit der Nationalversammlung wieder heruntergeholt wurden. Hoffmann und ich wurden vom Soldatenrat zum Kommando des Gefangenenlagers geschickt, um dortselbst die alten Leute abzulösen. Wir hatten uns aus rotem Tuch Kokarden gemacht und erregten bei dem diensthabenden Feldwebel, der bei seinen Landstürmern noch keine roten Kokarden gesehen hatte, das größte Aufsehen, und über unsere weggelassene Ehrenbezeugung konnte er sich etlicher schnauziger Worte nicht enthalten. Darauf warteten wir schon lange. Wie giftige Kröten spuckten wir die unflätigsten Worte über ihn aus. Das trotz der Revolution ehrerbietige Personal der Schreibstube sperrte die Mäuler auf. Zum Schluss erklärten wir dem verdatterten Feldwebel, er solle seinen Scheißdreck selber machen, schlugen die Tür zu und trabten gemächlichen Schrittes wieder ab. Bemerken muss ich noch, dass wir uns zuvor von der Lagerkammer neue Sachen geben ließen. Wir gingen zurück zum Arbeiter- und Soldatenrat und erzählten dort, wie wenig Lust wir verspürten, bei dem Fatzken da draußen Soldat zu spielen. Man bedeutete uns, ruhig wieder hinauszugehen, Dienst brauchten wir vorläufig nicht zu machen. Solange nicht eine genügende Anzahl jüngerer Leute zur Stelle wäre, könnte man ja doch die Alten nicht entlassen. Wir gingen aber erst auf einen Tanzsaal.
Nach Mitternacht torkelten wir langsam auf das etwas auswärts liegende Lager los. Ein Posten verlangte einen Ausweis. — „Du hast woll'n Vogel, du Bauer?!" — In irgendeine Baracke schlitterten wir hinein, legten uns in zwei gegenüberstehende Betten und schnarchten bald. Morgens, es war noch dunkel, kam ein Chargierter und krähte mit echt militärischer Stimme: „Aufstehen!" — Ziemlich korrekt krabbelten die Landser aus den Betten. Wir dachten nicht daran. Nach einer Stunde war in demselben Raum Antreten und Dienstausgabe. Ich will nicht das Rededuell schildern, das wir mit dem Sergeanten, dem Unteroffizier vom Dienst, führten. Mit den beleidigendsten Worten auf seine Sergeantenknöpfe und -litzen machten wir ihn nieder und verlangten zum Hohn dauernd den Feldwebel zu sprechen. Als der zur Diensteinteilung kam und erfuhr, dass Hoffmann und Turek die Langschläfer waren, sagte er nur: „Ach lasst die Brüder pennen, die machen doch keinen gescheiten Dienst!" — Nun begann ein Leben. Nur zum Essen, Geldabholen und Schlafen erschienen wir im Lager.
Das Vergnügen riss nicht ab. Es war die wildeste Zeit. Ein Volk, das Jahre hindurch dem Vergnügen entsagt hatte, machte nun aus ganz Deutschland einen großen Lunapark. Jeden Tag konnte man sich bis zum Morgen an mehreren Stellen amüsieren. Zu wilden Melodien wurde getanzt!
Licht aus, Messer raus,
Haut ihn, dass die Fetzen fliegen,
Straße frei, Fenster zu,
Runter vom Balkon.
Vierzehn Tage hab' ich schon kein Hemd mehr an,
Und alles wegen dir und alles wegen dir!
Wenn du denkst,
Ich bringe dich umsonst nach Haus',
Ja, so siehste grade aus,
Ja; so siehste grade aus.
Auch uns, die wir aus der Jugendbewegung ein anderes Milieu gewöhnt waren, riss es mit in den Taumel. Ich las in den Zeitungen: „Spartakuskämpfe in Berlin." — Spartakus!? Was und wer ist Spartakus? Ein Flugblatt flatterte zufällig in meine Hände. Alles, was dort geschrieben stand, war doch für mich geschrieben. Gleich am anderen Tage saß ich im Zuge nach Berlin. Es war kurz vor Weihnachten. Bald fand ich Anschluss. Irgendwohin und irgendwoher wurde geschossen. Ein paar finstere, bestahlhelmte Gestalten. Blut und Patronen. Ich hing wie in der Luft. Plötzlich stand ich allein, die finsteren Gestalten schossen nicht mehr. Ich war ohne jegliche Fühlung mit dem Spartakusbund, daher fuhr ich wieder nach Hause.
Noch einmal: „Spartakus kämpft in Berlin!" Freund Hoffmann und ich fuhren wieder hin. Das hole doch der Deibel! Wir fanden wieder keinen Anschluss. Aber schneller als andere merkten wir an den Kämpfen, dass Spartakus eine wichtige Funktion in der Revolution zu spielen hatte. Wir fühlten selbst in dem kleinen Nest Stendal, dass die Revolution am Versacken war. Ernst Brandenburg als Hauptmacher in Stendal ließ die 10. Husaren, die dort ihre Garnison hatten, mit Musik einziehen und alle ehrbaren Bürger steckten zu diesem Fest schwarz-weiß-rote Fahnen heraus. Wir stellten ihn zur Rede: — er gab verschwommene, unklare Antworten. Immer mehr ehemalige Jugendgenossen kehrten von der Front nach Stendal zurück. Wir versammelten uns und debattierten. Jedoch die Lügennachrichten, welche von der Presse — nicht zu vergessen: auch der sozialdemokratischen — über Spartakus verbreitet wurden, taten ihre Wirkung. Hoffmann und ich standen mit unseren Ansichten über Spartakus isoliert. Auch von allen älteren Arbeitern wurden wir infolge der wüsten Schwindeleien über Spartakus glatt abgelehnt. Man sah uns scheel von der Seite an. — Rosa Luxemburg von der wütenden Menge getötet, Karl Liebknecht auf der Flucht erschossen! — Das und Ähnliches waren die Schlagzeilen der Zeitungen am 16. Januar 1919. Uns ging ein Licht auf. Mitten in der Revolution, wenige Monate nach dem Sturz der Monarchie, konnte das passieren? Kaum ein Proletarier nahm davon besondere Notiz. Karl Liebknecht? Ach so! Das ist doch der Spartakist, na, nu hat ihn die wütende Menge totgeschlagen, so so.-------
Die Sozialdemokraten propagierten die Nationalversammlung.
Noske organisierte Zeitfreiwilligenformationen und ließ Freikorps vom Stapel. Mit den Freikorps ging's fix wie das Brezelbacken. Man nehme eine Zeitung, gleichgültig ob aus Berlin oder Hinterpommern, aus der noskitischen Glanzzeit und lese im Inseratenteil nach: jeder Generalesel wurde ermächtigt zur Bildung eines Freikorps und suchte auf dem Inseratenwege Freiwillige.
Die Nationalversammlung musste beschützt werden. Diesen Dienst versah das Freikorps Maerker. Auch ich fühlte mich verpflichtet, die Nationalversammlung zu „beschützen". Ich ließ mich bei Maerker anwerben. Eine ganze Anzahl anderer Genossen kam auf dieselbe gute Idee. In Erfurt hatte am 19. Februar die Unabhängige Sozialdemokratische Partei bei der Wahl zur Nationalversammlung etwa 15 000 Stimmen erhalten. Das schien den Leuten in Weimar gefährlich. Alle Dörfer um Weimar, wo man im Neuen Theater die Versammlung eröffnet hatte, wurden von den Maerkertruppen besetzt. Auf dem Bahnhof in Weimar herrschte strengste Kontrolle. Kein Mensch durfte den Bahnhof verlassen, ohne sich ausweisen zu können. Verhaftungen „verdächtiger" Elemente waren an der Tagesordnung. Noch mehr und noch vorsichtiger gesiebt wurde die Zuhörerschaft der Tribüne in der Nationalversammlung. Und da saßen nun wir, ein Dutzend Spartakisten, sechs Handgranaten am Koppel und noch mehr Eierhandgranaten in der Tasche, und warteten auf ein Signal. Das silberne Eichenblatt als Abzeichen des Freikorps Maerker und v. Lüttwitz am Kragen. Wir trugen es zu Recht, denn wir waren laut Militärpass Freiwillige des Korps.
Hättet ihr da unten auf der Bühne — Erzberger, Ebert, Scheidemann, Noske und ihr anderen alle —, hättet ihr gewusst, dass hoch über euch im dritten Rang einige Dutzend Handgranaten abzugsbereit warteten, wie wäre euch da zumute gewesen! Als Signal zum Losdonnern sollte, so war mit dem Verbindungsmann zu den USP-Leuten verabredet, gelten, dass die Unabhängigen bei einer Abstimmung den Saal verließen und dann hatte ein Elektriker den Hauptlichtschalter abzudrehen. Wir saßen wie auf Kohlen, aber die Unabhängigen gingen nicht raus und das Licht ging nicht aus. Nichts ereignete sich. Die Sache verlief im Sande; enttäuscht verließen wir das Theater. Ob die Unabhängigen nicht alle unterrichtet waren oder Angst vor ihrer eigenen Courage bekommen hatten, weiß ich nicht. Wo stände die Revolution heute, wenn damals das Licht ausgedreht worden wäre?
In Kleinkromsdorf, nahe bei Weimar, standen die 15-cm-Haubitzen der 2. schweren Batterie des Korps, dem ich angehörte. Durch einen Genossen aus Erfurt unterhielten wir Verbindung mit Erfurt. 4000 bewaffnete Arbeiter wurden an einem bestimmten Tage im Anmarsch nach Weimar gemeldet. Drei Nächte hintereinander stand ich Wache an den auf die Nationalversammlung in Weimar eingestellten Geschützen. Kein bewaffneter Arbeiter aus Erfurt kam. Wären doch die Genossen Unabhängigen nicht in der Nationalversammlung gewesen, vielleicht hätte ich in meiner Wut den Laden zusammengepfeffert.
Die politische Tätigkeit, welche wir bei der Truppe entfalteten, trug keineswegs den Charakter einer geheimnisvollen Verschwörung. Nur in den intimsten Beratungen blieben wir unter uns. Dass wir bei dem Belagerungs- und Ausnahmezustand nicht erwischt und an die Wand gestellt wurden, verdankten wir besonderen Umständen. Erstens, dass wir ganz junge Leute, alle wenig über zwanzig Jahre oder noch darunter, waren, die bei den Dingen nur einen ehrlichen Gedanken an die proletarische Revolution ohne jede selbstsüchtige Nebenabsicht verfolgten, die alle fest in echter Kameradschaft zusammenhielten, und zweitens, dass wir glücklicherweise keine Feiglinge waren. Nicht unwichtig war die gänzliche Sorglosigkeit unserer Offiziere, die in politischen Sachen indifferent wie Säuglinge waren und in ihrer Vergnügungssucht, die bei ihnen genau so zur Pest wurde wie bei der Mannschaft, in Weimar einen entsprechenden Tummelplatz fanden. Sie kümmerten sich um die Truppe sehr wenig. Dienst machte nur, wer Lust hatte oder es nicht verstand, sich zu drücken. Niemand dachte ernsthaft daran, dass er hier eine gewisse Aufgabe zu erfüllen hatte. Ich wette, Maerker und v. Lüttwitz, der Kapp-Putsch-Hochverräter selbst, haben nie Herzklopfen um das Wohl und Wehe der Nationalversammlung gehabt.
Eine taktfeste, militärisch organisierte Arbeitertruppe konnte Sack und Seele des Korps im ersten Anlauf nehmen.
Für schöne thüringische Mädchen, Kusswalzer, Schiebertänze, einen guten Happen und Tropfen, Ausschlafen und Löhnungsempfang war Interesse vorhanden, aber nicht für das Gelumpe, das zur Ausrüstung und zum Dienst für die Batterie gehörte.
Von Kleinkromsdorf rückten wir ab nach Blankenhain, ungefähr achtzehn Kilometer von Weimar, ein Städtchen mit ungefähr 2—3000 Einwohnern. Dort selbst gründeten wir mit einer Gruppe von Arbeitern eine Ortsgruppe der USPD. Einen Spartakusbund wollten die Proleten nicht haben. Aber, um überhaupt erst einmal Bresche zu schlagen in die Politik der Sozialdemokratie, billigten wir das Vorhaben und unterstützten die Genossen. Seltsamerweise war es in Blankenhain die Frau eines Hauptmannes, der dort ansässig war, die ebenfalls alle Versammlungen besuchte und auch eine gewisse Rolle spielte.
Ich hatte einen Landsmann bei der Batterie, den Unteroffizier Wilhelm Mathies aus Kläden bei Stendal. Mit dem wohnte ich privat bei Mutter Knote. Von der Nationalversammlung sahen wir in dem entfernten Blankenhain nicht viel, um so mehr gerieten wir in den Strudel der schier nicht endenwollenden Vergnügungen. Die Mädels, ach die armen Mädels! Alte Leute hielten uns auf der Straße an und machten uns die bittersten Vorwürfe, dass wir die ganzen „Menscher" verrückt machten. Ein Umstand war allerdings wenig erquicklich: Wir hinterließen bei den Mädchen von Blankenhain nicht nur schöne Erinnerungen, sondern auch lebendige kleine Tierchen, -für deren Vertilgung es so viel nichtsnutzende Pulver gibt. In kurzer Zeit waren nämlich alle Mädchen, die Berührung mit uns rauen Kriegern gehabt hatten, verlaust. Das tat uns furchtbar leid, auch den Mädels, aber eine Änderung in den Beziehungen zueinander herbeizuführen, dazu waren diese kleinen Tierchen nicht einflussreich genug.
Mutter Knote besaß einen Holzstall, der lehnte sich von außen an unser Schlafzimmerfenster in der ersten Etage und bot einen, wenn auch etwas unbequemen, illegalen Zugang zu unseren Räumlichkeiten. Mutter Knote wachte mit Argusaugen über unseren Umgang mit Frauen. Aber, dass die Menscher von Blankenhain bereits so gerissen waren und wie Katzen über die Hofplanke auf das hohe Dach des Holzstalles bis in unser Fenster gelangten und das bei Nacht und Nebel, hat die gute alte Frau nie herausbekommen. Sonst hatten wir keinerlei Veranlassung, unsere Schlummermutter und ihre Fähigkeiten zu bemängeln. Nur wenn wir gerade Besuch hatten und die Schritte Mutter Knotes wie die eines Wachtpostens hörbar wurden, empfanden wir ihre Nähe störend. Denn ein solcher Besuch ist, speziell wenn Möbelstücke mit musikalischen Talenten die Wohnung zieren, nicht ganz zu verheimlichen. Unsere Gastfreundschaft kannte keine Grenzen. Mein Kamerad Wilhelm verfügte über fette Beziehungen zur Gulaschkanone (er wurde später selbst Küchenunteroffizier), deshalb waren wir fähig, unsere schönen Gäste in allen gewünschten Dingen vollauf zufrieden zu stellen.
Die Thüringer sind ein lustiges Völkchen. Trari trara, tati tata, Kinder, Mutter, Vater tanzen Hyawatha. Wilhelm mit seinen roten Haaren und den Vollmondbacken schwitzte, dass die Tropfen nur so von der Stirn perlten. Seine roten Augenwimpern senkten sich glückselig, wenn er im Walzertakte die süße Last in den Armen wiegte. Er wählte die Dame seines Herzens nach Gewicht, was er vorher ziemlich sorgfältig abzuschätzen pflegte. Unter 150 Pfund zeigte er kein Interesse, um 180 warb er mit sichtlichem Vergnügen. Für 200 legte er sich ins Feuer mit einer verblüffenden Hartnäckigkeit. Als ich ihn später in Stendal, wo er jetzt verheiratet ist, besuchte, fiel ich aus den Wolken, denn seine Frau war eine schlanke Blondine weit unter 150.
Natürlich auch ich war ein Hund auf der Kommode, nur in entgegengesetzter Richtung. Wo Schlankheit nicht krankhaft erschien, war ich ihr begeisterter Verehrer. Neben der Freude am schönen Frauenkörper und starker Sinnlichkeit kannte ich allerdings keine Empfindung. Es war ein Leben wie mitten im Sommer, nur. die Hitze fehlte.
Wilhelm hatte als Unteroffizier einen Maschinengewehrposten im Dorfe Öttern zu besetzen. Der Kameradschaft halber ging ich mit.' Dort passierte eine amüsante Geschichte. Beim Bürgermeister von Öttern waren wir einquartiert. Eines Nachmittags gingen wir aus unserer Kammer in eine nach vorn gelegene Stube zum Kaffeetrinken. Wilhelm ging voran. Als er die Stubentür öffnete, brach er in ein schallendes Gelächter aus und schrie laut: „Mensch, Ludwig, kiek mal, hier sitzt en Neger an 'n Disch." Als ich, nicht wenig neugierig, die Nase durch die Tür schob, sprang dieser Neger, der sich als ein jugendlicher Vertreter des zarten Geschlechts erwies, ziemlich energisch von seinem Sitz, holte ein paar Mal Luft, wobei sich ein üppiger Busen hob und senkte, und sagte in fehlerlosem Deutsch mit einem sehr aristokratischen Zungenschlag: „Mein Herr, welche Ungehörigkeit erlauben Sie sich? Denken Sie etwa, dass alle Menschen rote Haare und einen solchen aufgedunsenen Kopf haben müssen wie Sie? Bitte, respektieren Sie gefälligst meine afrikanische Abstammung, ich wage zu behaupten, eine bessere Deutsche zu sein, als Sie es sind!" — Das hatte genügt, um Wilhelm in die Flucht zu schlagen; er verzichtete auf sein Butterbrot.
Mit einer höflichen Geste nahm ich am Kaffeetisch Platz und kam bald in eine anregende Unterhaltung mit der Schwarzen. Sie holte jeden Donnerstag Butter vom Bürgermeister, hieß Alfreda v. S. und wohnte in Weimar. Ich erbot mich, sie ein Stück des Weges zu begleiten, was sie sichtlich erfreut annahm. Ein schöner Märztag verschied langsam. Ich hing einen Feldstecher um und lustig wanderten wir los in Richtung Weimar.
Sehr bald wurden wir intimer. Ich war allzu neugierig, wie das Fräulein mit dem breiten Mund, den weißen Zähnen und kullernden Augen aussehe, wenn sie auf Liebespfaden wandelte. Ausgezeichnet verstand sie meinen einkreisenden Worten auszuweichen, ohne allerdings ganz auf das Thema zu verzichten. In einem dichten Busch, durch den unser Weg führte, warf sie plötzlich alle Etikette ab und fragte, ob denn wirklich alle Männer so seien. Ich schämte mich, mit meinen unlauteren Absichten entdeckt zu sein und bat um Entschuldigung.
Nun sprach sie sich in wehmütigen Worten ihren Kummer vom Herzen. — „Glauben Sie mir, dass ich des öfteren gar keine Lust habe, Herrenbekanntschaften zu machen, denn in sehr seltenen Fällen stoße ich auf ernsthafte Menschen, die nicht nur die Neugierde an meiner schwarzen Haut mit mir zusammenführt. Fast nie weiß ich, obwohl formale Höflichkeit mir gegenüber meistens ebenso gewahrt wird wie bei den hiesigen Damen, ob nicht doch im geheimen das Gefühl vorherrscht, ich sei nicht ganz vollwertig zu nehmen. Beinahe beleidigend ist das Benehmen derjenigen, die überhaupt kein Hehl daraus machen, wie unangenehm ihnen eine Berührung mit mir ist. Und ich bin doch gewiss nicht schlechter als andere. Wenn ich manchmal beobachte, mit wie viel Intrigen sich die weißen Damen gegenseitig ausstechen, so möchte ich wohl sagen, dass ich dagegen noch ein harmloser Wicht bin. Fast ebenso verletzend ist die Sorte Männer, die sich einbildet, mit mir ein interessantes Spielchen machen zu können, ohne zur letzten Konsequenz zu schreiten. Damit will ich nicht gesagt haben, dass ich jemals daran gedacht habe, man müsse mit mir zum Traualtar gehen. Was bleibt mir nun noch übrig?"
Diese Worte klangen wie ein freundlich einladender Gong. Ermunternd, mit ihrer eigenartig klangvollen Stimme, in Begleitung eines verheißungsvollen Lächelns, sprach sie weiter. „Da habe ich mich zwangsläufig zu einem etwas eigenartigen Standpunkt durchgerungen." Eine kurze Verlegenheitspause entstand, in deren Verlauf sie mit einem breiten Lächeln, wiegendem Kopf und allerliebst rollenden Augen ihren Spazierstock kühn durch die Luft schwenkte. Mit ernsthaften Worten ermunterte ich sie zum Weiterreden. Alsbald sprach sie ohne Hemmungen. „Ich halte solche Männer für die aufrichtigsten, die, nachdem sie mit mir einen Flirt begonnen haben, auch meinen Körper wirklich nehmen. Bitte, denken Sie nicht schlecht von mir, es ist gewiss kein alltägliches Bekenntnis, was ich Ihnen da beichte, aber bedenken Sie doch meine besondere Lage, die ich hier als Farbige einzunehmen gezwungen bin. Ich habe doch nicht zu erwarten, dass man mich heiratet. Soll ich also mein ganzes Leben vertrauern?"
Selten habe ich eine Frau so offen reden hören. — Wir schritten nun bedeutend langsamer, in die Betrachtung der dämmergrauen Fluren verloren, nebeneinander. Gegen meine bisherige Art fasste ich zartfühlend ihre Hand. Zu sentimentalen Anwandlungen ließ es Alfreda nicht kommen, ihr afrikanisches Temperament zerschlug blitzartig die letzten Schleier spröder Rücksichtnahme. Vielleicht war diese Frau verehrungswürdiger als manche ihrer weißen Schwestern. Zum mindesten hatte ihre absonderliche Stellung sehr zum Nachdenken angeregt und somit einen geläuterten philosophischen Charakter geschaffen. Ein Briefwechsel, der noch weit über meine Thüringer Tage hinausreichte, hat mir noch manchmal den Wert dieses Menschenkindes aus den heißen Gefilden Afrikas bestätigt.
Meine militärische Tätigkeit bei der Truppe war gleich Null. Über Halle ging die Fahrt nach Magdeburg. Niemals hätte ich geglaubt, noch einmal mit einer Kanone in derselben Kaserne herumkutschen zu müssen, in der ich als Rekrut schon eine gehörige Anzahl Schweißtropfen verloren hatte. Freilich, vieles war anders geworden, an Schwitzen war nicht mehr zu denken, und doch bekam ich Zweifel, ob meine Anwesenheit im Kreise dieser Söldner noch gerechtfertigt war. Übrigens erlebte ich auf einem Besuchsweg nach Magdeburg-Neustadt eine unliebsame, für mich beinahe verhängnisvolle Auseinandersetzung mit etlichen Arbeitern. Ein bekanntes Mädel aus der Tangermünder Jugendgruppe, Lotte N., wohnte in der Neustadt bei einer Verwandten in der Mittagstraße. Dort wollte ich einen Patronengurt und mehrere Handgranaten hinterlegen, um sie später, wenn ich nicht mehr Soldat des Freikorps sei, abzuholen. Aus Blankenhain hatte ich einen Karabiner nach Stendal geschickt, jedoch bot sich keine Gelegenheit, die nötigen Patronen dazu zu ergattern. Auf dem Transport nach Magdeburg war mir das geglückt. Alles war schön verpackt, und die alte Dame war bereit, ohne zu wissen, was sie in Verwahrung nahm, mir meinen Pappkarton aufzubewahren. Lotte war leider nicht anwesend und kehrte aller Wahrscheinlichkeit nach sehr spät zurück.
Nach kurzen Worten verabschiedete ich mich. Kaum war ich auf die Straße hinausgetreten, als ich sah, wie im Dunkel einer Hausecke, von den spärlichen Straßenlaternen nur wenig erhellt, mehrere Männer eine erregte Debatte plötzlich abbrachen und ihre Gesichter finster gegen mich wandten. Ich legte meine Hand auf die Revolvertasche und zog, unmerklich, indem ich mich langsam den Männern näherte, die Pistole heraus. Hinter dem Rücken nahm ich sie von der linken in die rechte Hand, entsicherte sie mit dem Daumen und ging etwas weiter von der Hauslinie ab dem Bordstein zu. Noch keine zwei Schritt weit war ich an dem Haufen vorüber, als ich gerade noch Zeit hatte, eine schnelle Kehrtwendung zu machen und zwei Schüsse über die Köpfe der Angreifer, die sofort zurückwichen, in die Luft zu jagen. Dann steckte ich den Revolver in die Tasche, ging auf die Leute zu und bat um eine Unterredung. Mein Mitgliedsbuch der USPD, Ortsgruppe Blankenhain, vorzeigend, erzählte ich den misstrauisch dreinschauenden Proleten, aus welchen Motiven ich bei der Truppe war. Nur meine genaue Kenntnis der gegenwärtigen politischen Lage, meine Personenkenntnis und die Bereitschaft, den Karton mit der geschmuggelten Munition in Begleitung etlicher Kollegen aus dem Hause vorzeigen zu wollen, brachte sie aus ihrem berechtigtem Misstrauen. Sie waren mir schon von der Straßenbahn aus gefolgt, um mir in dem Hause einen dauerhaften Denkzettel zu geben. Durch das frühzeitige Heraustreten seien sie in ihrem Vorhaben gestört worden. Infolge der zwei Schüsse sammelten sich schnell eine Menge Neugierige an und deshalb trennten wir uns mit kräftigem Händedruck.
Bei einem ähnlichen Vorfall, wo ich ein Mädel nach Buckau begleitete, entwickelte sich in einem Treppenhaus eine wüste Schießerei, aufs gleiche artete ein Tanzvergnügen aus. Mit Handgranaten am Koppel wurde getanzt. Vielfach wurden Kameraden mörderlich verhauen, oder, wenn sie sich zu weit in die Vorstädte wagten, verschwanden sie auf Nimmerwiedersehen. Die Kameraden waren an diesen Vergewaltigungen zumeist ganz schuldlos. Ihre politische Orientierung fehlte überhaupt, es waren eben Söldner, dabei sonst keine üblen Kerle. Trotz alledem ist die feindliche Haltung der proletarischen Bevölkerung gegenüber solchen Truppen durchaus richtig, wenn es zu ernsten Verlusten für die Truppe führt. Das zermürbt die Mannschaft, stellt sie schneller und deutlicher in Gegensatz zu ihren Offizieren, und nicht nebensächlich ist der Umstand, dass man einer Militärformation nur mit Gewaltmitteln beikommen kann.
Ich wollte in den nächsten Tagen meine Kündigung einreichen, als die Arbeiterschaft Braunschweigs aufstand und unser Korps zum Niederschlagen dieses Aufstandes nach dort abging. Es war eine eigentümliche, vom militärischen Standpunkt aus mir unverständliche Taktik Maerkers, die schwere Artillerie immer, wie in Weimar, so auch hier wieder, in geringer Entfernung von der Stadt auffahren zu lassen. In Geitelde, ganz nahe an Braunschweig, gingen wir in Stellung. Wieder hoffte ich vergebens auf einen Angriff der Arbeiter. Auch hier konnte man, nach nüchterner Einschätzung der Lage, den angreifenden Arbeitern einen Sieg voraussagen. Durch einen nächtlichen Handstreich unsere Geschütze zu erobern, gänzlich unblutig, während wir Vertrauten Wache standen, wäre wahrhaftig keine große Heldentat gewesen. Zwei Tage bemühte ich mich in Braunschweig, nirgends gelang es, Verbindung zu bekommen. Wieder nach Geitelde zurückgekehrt, erstickte ich meinen Gram mit Braunschweiger Honigkuchen, den meine Wirtin gebacken hatte.
Eines Tages wurde beim Antreten ein Unteroffizier gesucht, der mit mehreren Mann in einem verdächtigen Hause an der Chaussee nach Braunschweig, wo Arbeiter wohnten, eine Durchsuchung nach Waffen vorzunehmen hatte. Schon lange vorher war mein Freund Wilhelm von mir unterrichtet worden, bei solchen Gelegenheiten, die meistens immer den Unteroffizieren freigestellt wurden, gleich zuzusagen. Selbstverständlich gingen ich und noch zwei gute Kameraden mit. Ebenso selbstverständlich fanden wir keine Waffen dort.
Inzwischen hatte ich wieder eine Postsendung Munition an die Adresse meiner Eltern geschickt. Das bedeutete mein Ende bei Maerker. Die Umhüllung des schweren Paketes hatte sich auf einem Postamt gelöst und die Infanteriemunition war herausgefallen. Eine Rückfrage bei dem Empfänger seitens der Post führte dazu, dass die Geschichte meiner Batterie bekannt wurde. Ein kurzer Satz in meinem Müitärpaß: „Für freiwilligen Dienst nicht brauchbar." — Die restliche Löhnung und gute Worte meines Batterieführers, dass er mich als Soldat sehr geschätzt habe, aber dass sich meine in letzter Zeit an den Tag gelegte Gesinnung nicht mit dem Beruf eines deutschen Soldaten vertrüge und noch anderen Kohl dazu, waren das letzte, was mir Maerker zu geben hatte. Ein Paar neue Reithosen mit Ledersitz nahm ich mir noch selber, dann dampfte ich der Heimat zu.
Als ich kaum ein paar Tage in Stendal war, gab es wieder etwas zu tun. Das große Proviantlager sollte gestürmt werden. Kein Prolet in Stendal hatte etwas Vernünftiges zu beißen, im Proviantlager war alles zu haben, das gab zu denken. Seit der Mittagsstunde lungerten rebellische Haufen, vorwiegend jüngere Leute, in der Nähe des Lagers herum. „Noskes" (eine allgemein bekannte Bezeichnung für die Soldaten des Sozialdemokraten Noske) standen mit dem Gewehr im Arm recht zahlreich davor. Am Nachmittag rüttelte eine Meute von vielleicht 300 Mann sehr energisch an dem Tor zum Lager. Viel Volk, die so genannten Raben, denen es weniger auf den gefährlichen Sturm als auf eine Kiste Nudeln oder Fleischbüchsen ankommt, hielten sich weiter hinten in den Straßen für den „ergreifenden" Moment bereit. Lautes Gejohle leitete den Angriff ein.
Krachend gab das Tor dem Druck der Masse nach. Den „Noskes" wurde bange und sie türmten nach hinten durch die Gärten. Von dort schossen sie durch die Bretterwand des angebauten Schuppens zwischen die räubernde Menge. — Nur wer schon einmal etwas Ähnliches gesehen hat, kann sich ungefähr ein Bild machen. Es scheint, als ob jeder einzelne in dem Augenblick, wo er die Halle mit den begehrenswerten Dingen betritt, einen Klaps kriegt. Eine Kiste ergreifen, mit ihr an einem anderen Stapel Kisten vorübersausen, die erste Kiste mit den Nudeln fallen lassen und eine andere mit Fleischbüchsen ergreifen, — da, was ist denn das? Was hat denn der? Was? Zigaretten?! Weg mit den Fleischbüchsen, mit Zigaretten beladen, soviel Hände greifen können, Pakete mit 1000 Stück, dass kaum noch der Kerl zu sehen ist, Donnerwetter — Schnaps!! 25-Liter-Ballons, weg mit den Zigaretten, die vom rechten Arm gehalten werden. Einen Ballon Schnaps drangehängt. Über Scherben zertrümmerter Flaschen, mit jedem Schritt hunderte von Zigaretten zertretend, stolpernd, fallend, immer neue Räuber nachdrängend. Schreien der Verwundeten, die, alles fallen lassend, sich die Schussstelle haltend, hinausstürmen, oder wie ein halbzertretener Regenwurm sich am Boden wälzen. Oder noch komischer, mit der Grimasse eines verprügelten Affen, humpelnd den Ausgang suchen, — dass ist die Szene einer Plünderung!
Was soll ich nehmen? Zigaretten?! Ich rauche nur Pfeife. Rum? Fleischbüchsen? Das Fleisch ist nicht viel wert. Nudeln? Gut. Noch einmal werfe ich einen Blick auf die wühlende Menge. Ist das Hunger?! Vor dem Sturm war es Hunger, jetzt ist es Habgier. Eigentlich ein widerliches Bild und doch menschlich verständlich. Würden die „Noskes" nicht durch die Bretterwand ihre Kugeln schicken, sondern offen vor diesen Wühlratten stehen, würden sie sich in alle Winde zerstreuen wie eine Schar verjagter Sperlinge. Ich setze meine Kiste Nudeln auf die Schultern und gehe nach Hause. Nudeln mit Backobst ist noch heute mein Leibgericht.
Zwei Tote und viele Verwundete kostete das Unternehmen.
Eintönig schlichen die Tage dahin. Es war nichts mehr los in der Wüste der deutschen Revolution. Arbeit als Buchdrucker zu finden war schwieriger als dem lieben Gott im Mondschein zu begegnen. Disteln stechen für Mutters Ziege ist eine stachlige Arbeit, die wohl die Ziege, aber nicht den Mann ernährt. Ich ging unter die Bierkutscher, ein feuchter Beruf. Ein Buchdrucker kann Minister, Reichstagspräsident oder Bürgermeister werden, aber Bierkutscher kann er nicht werden, das kann er nur für eine kurze Zeitspanne markieren. Ich markierte auf der Hansabrauerei in Stendal etliche Wochen Bierkutscher. Morgens um fünf Uhr Pferdefüttern, dann putzen, dann am Ausstoß die Wagen beladen und dann — dann geht's los. Jeder hat seine bestimmte Tour. Ein Pfuscher wie ich war, kann nur Landtouren oder für größere Etablissements Aufträge erledigen. Stadtkutscher zu sein, erfordert eine Berufsroutine, die man nur durch jahrelange Tätigkeit erwerben kann. Bierkutscher sind tadellose Kerle. In den Dingen, wo ich versagte, wurde mir jederzeit kameradschaftliche Hilfe zuteil. Dass sie etwas mehr trinken als andere Menschen, ist eine Berufskrankheit.
Fritze Arndt war das Original des Betriebes. Vull wie 'ne Strandkanone, grau wie 'ne Haubitze, sterndudeldicke und so, kam er jeden Abend mit seinem Fuhrwerk nach Hause. Die Backen hatte er voller Zigarrenstummel. Fünf bis sieben Stück war normale Füllung. Kerzengerade, als hätte er einen Pfahl im Kreuze, saß er auf dem Kutscherbock, wenn er auf den Brauereihof fuhr. Mit der Linken dreht er seinen mächtigen Schnurrbart, mit der Rechten hält er die Leine. Seine Pferde kennen ihn, sie gehen ihren Weg. Bedenklich torkelt Fritze in die Kutscherstube, um den Kupferkrug noch einmal zu einem langen Zug an die Lippen zu setzen. Ruhig schaukelt er dann in seiner blauen Kutscherbluse heimwärts.
Wegen der geklauten Munition muss ich drei Tage ins Gefängnis, das bedeutete den Sack bei der Hansa, Im Gefängnis soll ich Holz hacken, und zwar große Wurzelstümpfe mit Axt und Keil zerspalten. Mit dem großen Holzhammer treibe ich den Keil fest in den Stamm, nehme die Axt und schlage absichtlich mit größter Wucht etwa zehn Zentimeter unterhalb des Eisens den Stiel auf den Keil, genau an derselben Stelle bricht der Stiel ab. Nach einer halben Stunde habe ich auf diese Weise eine zweite Axt erledigt. Ich werde euch euer Holz schon hacken, denke ich, ihr sollt eure Freude an mir haben in den drei Tagen. Aber die Gesellschaft verdirbt mir den Spaß, man schickt mich auf die Zelle. Ich schlafe mich gründlich aus und bald sehe ich das Kittchen von draußen.
Mit meinem Vetter, Franz Gorajski, einem Drucker, tippele ich eines Tages nach Osterburg, 22 Kilometer nördlich von Stendal, um einem fast allen älteren Buchdruckern — durch seine verwahrloste Bruchbude, seine Lehrlingssauwirtschaft — als Prinzipalkuriosum bekannte Krauter Theodor Schulz einen Besuch zu machen. In der Gewerkschaftszeitung der Buchdrucker, dem „Korrespondent", ist dieser Murkser schon oftmals zum Gaudium der deutschen Kollegenschaft beleuchtet worden. Wenn durchreisende Buchdrucker nach Osterburg kamen (und sollten sie vom Bodensee her bei allen Buden vergebens nach „Kunst" gefragt haben), bei Schulz, da gibt es Kunst. Bei Schulz gibt es noch mehr, bei Schulz in Osterburg gibt es auch noch Kost und Logis und einen „feinen" Lohn dazu. Wir treten ein in den heiligen Kunsttempel. Der Oberpriester ist nicht da, aber das kleine Ladenmädel kann uns das feste Versprechen geben, dass wir Arbeit bekommen werden. Theodor macht neben der edlen Schwarzkunst auch noch Geschäfte mit Siegellack, Bleistiften, Reißzwecken, Abziehbildern, Klosettpapier und anderen lebenswichtigen Dingen. Wir versprechen, nachdem uns ein Viatikum (Zehrpfennig) ausgehändigt worden ist, in einer Stunde wiederzukommen, wenn der Herr Schulz selbst anwesend sein wird.
Nach einer Stunde: „Guten Tag, meine Herren — ja ja, ich weiß schon alles; — das ist ja einfach fabelhaft. Den ganzen Tag zerbreche ich mir schon den Kopf, wie ich's anfangen soll; — ich stecke nämlich bis über die Ohren in der Arbeit. So ein Glück! Sie sind Setzer und Sie Drucker. Darf ich Sie bitten, meine Herren, den Betrieb und Ihre Zimmer zu besichtigen? Wir halten es der Einfachheit halber so, dass Kost und Logis gleich im Hause gegeben wird. Es ist von den Herren immer als sehr bequem empfunden worden. So, hier haben wir die Stätte Ihres künftigen Wirkens." Mit vornehmer Manier wurden wir den zwei vorhandenen Gehilfen vorgestellt. Obwohl wir die Verhältnisse kannten, bekamen wir doch keinen gelinden Schreck. Wie Fliegen auf dem Käse, so krochen in der kleinen Bude die Lehrlinge herum. Zwei halbe Gesellen und neun Lehrlinge! Nun ging's auf die Zimmer. „Hier schlafen meine Lehrlinge, und hier, Ihr Interieur." Im ersten Bunker, wie beim Militär, übereinander die Betten, viel zu klein das Zimmer für neun Personen. Im zweiten Stall vier Betten. Um unsere unangenehme Überraschung, die wir natürlich nicht ganz verbergen konnten, in eine günstige umzustimmen, machte er uns mit den lukullischen Genüssen, die aus seiner Küche kommen sollten, bekannt. Er sagte uns, wie viel Schweine er jährlich schlachte. — Wie viel Tonnen Heringe bei ihm konsumiert wurden, das sagte er uns aber nicht.
Nun war sein Gesprächsstoff einigermaßen erschöpft, aber über den Lohn war noch kein Wort gefallen. Ich hakte vorsichtig an. — „Sie kommen doch heute abend zum Essen? Wir essen pünktlich sieben Uhr und dann werden wir uns schon darüber einigen. Holen Sie einstweilen Ihren Rucksack von der Herberge." — Was der Krauter auspacken wollte, wenn wir tüchtige Gehilfen seien, spottete jeder Beschreibung. Niemals hatten wir daran gedacht, in der Quetsche Arbeit zu nehmen. Wir sagten ihm alles, was man einem solchen Ausputzer sagt, und zogen unsere Straße. (Bedauerlich ist, dass sich die Handwerkskammer um diese Lehrlingsausbeutung nicht besser kümmert! Was so ein armer Knirps in dem Saustall nach vier Jahren Lehrzeit für einen Begriff vom Buchdruckerhandwerk kriegt, reicht höchstens dazu, einen Pfuscher abzugeben, der so wenig Buchdrucker ist, wie ein Kistenmacher ein Holzbildhauer.) Als wir von Osterburg zurückkehrten, kamen wir gerade noch zur rechten Zeit in eine Versammlung, wo die Gründung der Ortsgruppe Stendal der Kommunistischen Partei vollzogen wurde.
Mein Vater machte gute Geschäfte, er war selbständig und beschäftigte ein oder zwei Gesellen. Da ich eine kleine Vorahnung der Zigarrenherstellung hatte, half ich meinem Vater. Lange dauerte diese Tätigkeit nicht, ich bekam Streit und verließ die elterliche Wohnung, um nunmehr in einem nahe gelegenen Dorfe, mit Namen Wahrburg, bei einem Bäckermeister als Brotkutscher eine Stellung anzunehmen. Zwei hübsche kleine Pferdchen und einen Brotwagen steuerte ich jeden Tag nach Stendal und besuchte die Kundschaft. Die Brotmarken, welche es damals noch gab, erschwerten die Arbeit wesentlich. Hervorzuheben wäre das gute Essen, wovon ich reichlich bekam. Viel Geld erhielt ich nicht gerade, doch der Bäcker und seine Gattin waren vernünftige Leute; an eine Ausbeutung meiner Arbeitskraft über die Grenzen des Anstandes hinaus dachten sie nicht. Ich zeigte mich dankbar und habe — entgegen den Gewohnheiten meiner Vorgänger — keinerlei Schiebungen gemacht. Die hatten einfach mehr Brote in den Wagen geladen als dem Meister bekannt war und das Geld dafür in die eigene Tasche gesteckt.
Bald hatte ich ein paar Pfennige erspart und ging an die Verwirklichung meines Planes, einen Handel anzufangen. Nachdem ich darin einige Erfolge zu verzeichnen hatte, konnte ich gar nicht mehr begreifen, wie es möglich ist, dass ein Proletarier für solch einen geringfügigen Lohn sich in die Sklavenketten spannen lässt. Immer wieder während meiner mehrmonatigen Tätigkeit kam mir dieser Gedanke. Ich kaufte Roggen, Gerste, Hafer und auch Weizen bei den Bauern und setzte sie in Stendal bei Privaten ab. Da das Getreide noch der Beschlagnahme unterlag, war ich also ein Schieber geworden. Die Gesetzwidrigkeit meiner Beschäftigung kümmerte mich wenig. Wohl aber plagte mich mein Gewissen, dass ich damit den Brotgetreidepreis höher hinaufschrauben half.
Ich beschloss, einen anderen Artikel zu handeln. Meinem ehemaligen Lehrmeister, dem Buchdruckereibesitzer Dannemann, kaufte ich mehrere Fuhren Altpapier und eine alte Maschine ab. Etliche Leute aus der Herberge, die ich gut bezahlte, pressten das Papier in Ballen, zerschlugen die alte Maschine und luden alles auf ein vom Grossisten geborgtes Fuhrwerk. Meine ganze Arbeit an dem Geschäft war ein kurzer Kaufabschluss mit dem Verkäufer, die Beaufsichtigung des Wiegens und das Einstreichen des Geldes.
Mühelos hatte ich einen Reingewinn von dem Achtfachen eines tariflichen Buchdruckerwochenlohnes. Acht Wochen musst du dafür schuften, Prolet, was ein Spekulant an den Abfällen deiner Produktion in wenigen Stunden verdient. Natürlich hatte ich meinen ehemaligen Chef dabei gehörig über das Ohr gehauen. Er hatte keine Ahnung von den Preisen und erkundigte sich telephonisch bei der Firma Mattischak, Rohprodukten en gros. Aber das war ein noch größerer Gauner als ich, der bot noch weniger.
Durch Inserate in den Berliner Zeitungen merkte ich, wie sich die Aufkäufer von Tuchresten, Neutuchabfällen usw. in ihren Preisen von Tag zu Tag überboten. Auf eine Probe hin machte ich die Entdeckung, dass damit heilloses Geld zu machen sei. Ich reiste in der Provinz herum und kaufte bei den Schneidermeistern solche Reste auf. Über den Preis, den ich zahlte, waren die Kleinbürger riesig erstaunt. Sie hielten es kaum für möglich, dass man soviel Geld dafür zahlen konnte. Dass ich trotzdem noch mit 100—150 Prozent Verdienst arbeitete, sagte ich natürlich nicht. Zwei- bis dreimal schloss ich mit einem Großhändler in Berlin in jeder Woche ab. Ein wöchentlicher Verdienst von 1000—1500 Mark, ungefähr das Zehn- bis Fünfzehnfache des Wochenlohnes eines Arbeiters, war das Ergebnis dieser Schiebereien.
Obgleich ich mehrfach in der Lokalpresse Inserate laufen ließ, besaß ich doch keinen Gewerbeschein, war also gesetzmäßig nicht zum Handeltreiben berechtigt. Steuern bezahlte ich überhaupt keine. Ich hatte immer viel Geld. Wenn sich nebenbei noch Geschäfte boten, fasste ich zu. Es bestand eine Hochkonjunktur im Handel mit Pianos. Da ließen sich bei guter Spekulation ganz mühelos Hunderte verdienen. Wenn ich sage „mühelos", so bezieht sich das natürlich nicht auf die Leute, die die Dinger zu transportieren hatten. Aber ich bezahlte sie gut, denn im Grunde meiner Seele war ich kein Geschäftsmann. Ich lebte in den Tag hinein wie ein richtiger Nichtsnutz. Hatte ich an manchen Tagen keine Lust, machte ich keinen Handschlag.
Wie wenig ernst ich mein Geschäft nahm, zeigte sich, als die Leipziger Frühjahrsmesse kam. Alles stehen und liegen lassend, nahm ich mein Geld und fuhr nach Leipzig zur Messe. In einem sehr feudal eingerichteten Zimmer in der Elsterstraße bei einem Musiklehrer stieg ich ab. In allen Ausstellungen, in allen Messhäusern schaukelte ich umher. Wahllos, wie ein Schmetterling von Blume zu Blume, flatterte ich von einem Speisehaus in das andere, veräppelte Prostituierte und stieg hübschen Mädchen nach. Besuchte Kinos, Theater und Tingeltangels, rutschte im Varieté bei einer Rummsti-Bummsti-Clown-Nummer vor Lachen vom Stuhl unter den Tisch, bekam bei einer Schlägerei in der Zeitzer Straße eine unverschämte Tracht Prügel und fuhr wieder nach Stendal zurück.
Ich lungerte am 13. März, es war noch sehr frühmorgens, auf der Breiten Straße herum, als im Fenster des Tageblattes plötzlich, mit Blauschrift geschrieben, ein Extrablatt erschien, das in meine luderhafte Sorglosigkeit wie eine Handgranate schlug. Kapp hatte sich in Berlin niedergelassen.
Im Laufschritt flitzte ich in die Brüderstraße, wo sich die Büros der Gewerkschaften befanden. Nach etlichen verwunderten Glossen kam der Apparat in Bewegung. Binnen wenigen Stunden standen in Stendal sämtliche Betriebe still. In einer bewegten, stark überfüllten Versammlung wurde ein Exekutivausschuss gewählt, der sich paritätisch aus je drei Kommunisten, drei Unabhängigen, drei Sozialdemokraten, drei Vertretern der Gewerkschaften und drei bürgerlichen Beamtenvertretern, die der demokratischen Partei nahe standen, zusammensetzte. Den Vorsitz dieses Fünfzehner-Ausschusses übernahm der Sozialdemokrat Ernst Brandenburg.
Die ausgerissene Regierung erließ durch ihre sozialdemokratischen Mitglieder einen Generalstreikerlass: „Proletarier streikt, rettet die Situation!" Das war der Extrakt des Erlasses. Dass man von derselben Seite kurze Zeit vorher durch die starke Linke des Herrn Noske bei einem Streik der Eisenbahner unter Zuhilfenahme des Ausnahmezustandes Streikenden mit Gefängnis bis zu einem Jahr gedroht hatte, war von den sozialdemokratischen Verwandlungskünstlern vollkommen vergessen worden.
In Stendal war eine Garnison. Die Haltung derselben war äußerst zweifelhaft. Um vor Überraschungen sicher zu sein, wurde in einer Sitzung, der ersten nach der Konstituierung, die Bewaffnung der Arbeiterschaft gefordert und durchgesetzt. Brandenburg, dem ich natürlich nichts Gutes zutraute, musste sich der Entschließung fügen. Er war übrigens schlau genug, sein Bremsen für eine günstigere Zeit zurückzuhalten. Man konnte diesem alten Fuchs anmerken, wie er die große Erregung der übrigen Mitglieder des Ausschusses, die nicht befähigt waren, die Situation bis in ihre letzte Auswirkung zu überschauen, nur künstlich teilte. Für ihn war die Lage klar und darum lag das Ziel seiner Tätigkeit, wenn auch noch siebenfach verschleiert, bereits in einer ganz anderen Richtung, als die Männer des Ausschusses ahnten. Auch für uns drei Kommunisten, es waren die Genossen Georg Burig, Robert Dittmann, der Bruder des bekannten Dittmann von der Sozialdemokratie, und ich, war es kein Geheimnis, dass durch den musterhaft geführten Generalstreik, der besonders in Berlin das gesamte Wirtschaftsleben stilllegte, Kapp würde bald die Koffer packen müssen. Also was blieb der Sozialdemokratie zu tun übrig als die Rolle, die sie seit 1914 spielte, weiterzuspielen und die revolutionäre Energie der Massen, die impulsiv nach der Niederwerfung Kapps weitergehen würde, abzutöten. Die Tätigkeit des Sozialdemokraten Severing im Ruhrgebiet als Reichs- und Staatskommissar beleuchtet diese Aufgabe der sozialdemokratischen Führer am besten und eindringlichsten.
Langsam vollzog sich die Trennung der Geister im Ausschuss. Um seine Intrigen durchsetzen zu können, musste Brandenburg immer offener die Karten zeigen. Ich will hierbei bemerken, dass anlässlich einer Sitzung mit dem Tangermünder Exekutivausschuss die sozialdemokratischen Genossen aus Tangermünde in größter Wut vor Brandenburg ausspuckend mit den Worten: „Pfui Deibel!" die Sitzung sprengten. In einer anderen Sitzung kam ein Unteroffizier der Garnison, mit glaubhaften Ausweisen versehen (er war Sozialdemokrat), und bot in seiner Eigenschaft als Waffenmagazinverwalter dem Exekutivausschuss die Hand, den Waffenbestand der Garnison in den Besitz der Arbeiter überzuleiten. Er hatte dazu einen besonderen Plan entworfen, der mit Sicherheit die Übernahme gestattete. Es konnte zum Zorn reizen, mit wie viel verschlagenen Worten Brandenburg den Mann mit seinem Antrag abwies. Wir sind dem Jongleur in stürmischen Debatten entgegengetreten. Durch die drei Sitze der Gewerkschaften und die der Beamtenvertreter bekam seine ganze Hinterlist eine Stimmenmehrheit, und wir Kommunisten mit den Unabhängigen waren machtlos.
Natürlich verschafften wir uns andere Chancen. Bezeichnend ist, dass wir im Suchen nach solchen außerparlamentarischen Mitteln die Unterstützung der Tangermünder Sozialdemokraten fanden, die uns achtzig Infanteriegewehre, ein schweres Maschinengewehr und entsprechende Munition von ihrem Bestand abtraten. Mit einem Fuhrwerk holten wir das Geschenk ab.
In einer Sitzung bekamen wir telephonischen Bescheid, dass sich in der Villa des I. Staatsanwaltes vom Landgericht Stendal, die in der Gardelegener Straße gelegen ist, neun von der Bevölkerung verfolgte, bewaffnete Gymnasiasten geflüchtet hatten, deren Auslieferung der Staatsanwalt verweigerte. Dem Staatsanwalt die Bude durchzuschnüffeln, das war ein Spaß für mich. Darum bestand ich darauf, die Angelegenheit zu klären. Mit drei bewaffneten Genossen zog ich in die Gardelegener Straße. Niemand öffnete. Ich rief laut vom Hof der Villa hinauf: „Wenn innerhalb von drei Minuten nicht geöffnet wird, zerschlagen wir die Tür!" — Sofort wurde aufgemacht, und zwar vom Staatsanwalt selbst. Ich zeigte meine Karte vom Aktionsausschuss und fragte nach den neun Bengels, die sich in seinem Hause versteckt hielten. Er sagte, das sei nur ein Gerücht, es sei niemand Fremdes in seinem Hause. Ich erklärte ihm, einem Staatsanwalt könne man nichts glauben und darum müssten wir eine Haussuchung vornehmen. Erregt meinte er, zur Haussuchung hätte ich kein Recht. Ich sagte ihm lachend, dass ich zu bestimmen hätte, was Recht und nicht Recht sei. Er solle sich gefälligst um sämtliche Schlüssel seiner gesamten Türen bemühen, ich würde jetzt mit der Haussuchung beginnen.
Mit mühsam verhaltener Wut kam er in Begleitung eines Dienstmädchens zurück. Bald hatten wir die Lauselümmels auf dem Boden entdeckt. Sie zitterten am ganzen Körper vor Angst. Widerstandslos brachten sie Dolche und Pistolen (ohne Munition) zum Vorschein. Mit einem gehörigen Anschnauzer und einer schrecklichen Drohung für den Fall, dass sie noch einmal erwischt würden, jagte ich die Gesellschaft hinaus. Der Staatsanwalt wird sich gewiss nicht gern an diesen Vorfall erinnern. Von mir muss ich das Gegenteil behaupten.
Unsere Aufgabe lag vor allen Dingen darin, die immer noch nicht Farbe bekennende Garnison mit Waffengewalt in Schach zu halten. Brandenburg drängte im Ausschuss auf Verhandlungen mit der Garnisonsleitung. Der Schlauberger kalkulierte: Kapp ist morgen, spätestens übermorgen erledigt, die Garnison stellt sich dann auf die Seite der „rechtmäßigen" Regierung, darum muss unbedingt verhindert werden, dass die bewaffneten Arbeiter etwas in dieser Sache unternehmen. — Als eine Abstimmung ergab, dass Verhandlungen mit der Garnison stattfinden sollten, spielte Brandenburg den tapferen Mann und erklärte sich (natürlich) bereit, mit in die Kaserne zu gehen, was er als etwas Gefährliches hinzustellen versuchte. Meine Genossen und auch die Unabhängigen wollten nicht hingehen, aber den Brandenburg allein zu lassen, war nach meinem Dafürhalten ein großer taktischer Fehler. Deshalb ging ich mit. Nach längerem Zureden gelang es uns auch, einen Unabhängigen umzustimmen. Brandenburg hatte bestimmt gehofft, mit seinen Absichten allein zu bleiben und war speziell von meiner Mitwirkung nicht besonders erbaut. Er faselte, dass ich mit meinen zweiundzwanzig Jahren zu jung sei und durch unüberlegte Worte nicht nur die Verhandlungen in einem für, die Arbeiter günstigen Stand stören, sondern die Delegation in eine recht verfängliche Situation hineinreiten würde. Es sei nicht das erste Mal, dass Arbeiter von der Reaktion bei solchen Gelegenheiten erledigt würden. Ich bestand trotzdem auf meiner Teilnahme.
Der Kaserne etwas näher gekommen, ließen sich deutlich die Vorkehrungen feststellen, die man gegen einen Sturm der bewaffneten Arbeiter getroffen hatte. In die Dächer waren Löcher gemacht, durch die die Läufe schwerer Maschinengewehre ragten, über die Mauer ragten ebenfalls Maschinengewehrläufe. An den Toren standen starke Wachen, alles machte den Eindruck einer Festung, die einer Belagerung entgegenging.
Am Tor, von wo aus man uns drei Mann schon lange erspäht hatte, wurden wir barsch nach unserem Begehr gefragt. — „Den Major sprechen", erklärten wir. Mehrere Mann begleiteten uns in die Wachtstube, wo man uns nochmals ausfragte. Darauf geleitete man uns in ein Zimmer, wo wir warten sollten. Wir warteten unverschämt lange. Endlich kam der Major in Begleitung mehrerer Offiziere angerasselt. Brandenburg stellte sich mit sämtlichen Titeln vor. Der Major hielt eine Vorstellung seinerseits für überflüssig. Er fragte kurz, was ich für ein junger Mann sei. Ich erwiderte beleidigt, dass ich als gewählter Vertreter der Stendaler Arbeiterschaft zu erfahren wünschte, welchen Standpunkt die Garnison bezüglich des Putsches der Kapp und Lüttwitz einzunehmen gedenke. Meine Worte waren laut und schroff gewesen, so dass sich Brandenburg veranlasst fühlte, mit ruhigen höflichen Worten die Aufmerksamkeit des Majors auf sich zu lenken. Der wich der Kernfrage des Problems geschickt aus und forderte plötzlich, die Arbeiter sollten die Waffen abliefern. Das empörte mich dermaßen, dass ich, bevor sich jemand äußern konnte, ein knallendes „Nein" dem Major ins Gesicht schrie und gleich laut die Antwort gab: „Nein, das werden die Arbeiter nicht tun." Verärgert über meine laute Antwort zog er sich in ein Vorzimmer zurück zwecks Beratung mit seinen Offizieren. Erst nach langer Zeit kehrte er zurück, und mit etlichen nichts sagenden Worten wurden wir entlassen.
In die Sitzung zurückgekehrt, saß Brandenburg so ziemlich auf dem Trocknen. Draußen herrschte Leben. Auf einen telephonischen Anruf bei den Tangermündern erklärten sie sich bereit, in zwei Stunden 500 Mann mit Waffen nach Stendal in Marsch zu setzen. Auf dem Ünglinger Tor, einem von der Kaserne etwa 700 Meter entfernten, 30 Meter hohen Turm, wurden Maschinengewehre in Stellung gebracht. Handgranaten wurden verteilt. Alles war zum Sturm bereit. 900 gut bewaffnete Arbeiter in glänzender Kampfstimmung standen 400—500 Söldnern, die alle vor dem Sturm die größte Angst hatten, gegenüber. Seit zwei Tagen die Wasserleitung abgesperrt, ohne Licht, und was wichtiger war, ohne Brot und Heizmaterial, war die Stimmung der Mannschaft keine gute.
Etliche Arbeiter holten mich mitten aus der Kolonne heraus; ich solle mal nachsehen, was das für ein Vogel sei, der vor einer halben Stunde im Hotel zum „Schwarzen Adler" abgestiegen sei, er trage die Uniform eines Offiziers und sei mit einem Auto gekommen. Ich gab meinen Karabiner einem Kameraden zur Aufbewahrung und ging, die Armeepistole umgeschnallt, zum „Schwarzen Adler". Der Ober zeigte sich hochmütig, er erklärte frech, er sei mir keine Antwort schuldig über die hier abgestiegenen Gäste. Ich zeigte ihm meine Karte, wodurch ich mich als Mitglied des Exekutivausschusses vorstellte und ihm eröffnete, dass er unverzüglich verhaftet wäre, falls er sich weiter weigere, die erwünschte Auskunft zu erteilen. Das verfehlte seine Wirkung nicht. Er wusste plötzlich genau, dass ein höherer Offizier abgestiegen sei, nur die Zimmernummer war ihm entfallen. Ich merkte deutlich, wie er mich betreffs der Auffindung des Zimmers in den Gängen des Hotels verklapsen wollte, um Zeit zu gewinnen. Er tat immer noch hochmütig und stolzierte in seinem Frack von Zimmer zu Zimmer, ohne das richtige zu finden; — dabei warf er ziemlich herablassende Blicke auf meine einfache abgetragene Militärjacke. Mit einem plötzlichen kräftigen Tritt in seinen befrackten Hintern bekundete ich ihm eindeutig, dass ich endlich den fraglichen Offizier zu sprechen wünsche. Schnurstracks ging's jetzt auf die Bude los. Ich fand den Kerl ziemlich erschrocken über mein Eindringen vor. Ich fragte nach Herkunft und Zweck seiner Reise. Er gab bereitwilligst Auskunft, und auf eine junge Frauensperson zeigend, erklärte er, lediglich auf einer Vergnügungsreise mit seiner Frau begriffen zu sein. Ohne Umstände sagte ich ihm, dass das nicht seine Frau sei, er solle solchen Kohl jemand erzählen, der seine Hose mit der Kneifzange anzieht, aber nicht mir. Die Vergnügungsreise erschien mir in den bewegten Tagen ebenfalls eine allzu dumme Ausrede, kurzerhand nahm ich meinen Revolver aus der Tasche und hieß die beiden vorausgehen; ich hatte die Absicht, sie dem Ausschuss vorzuführen. Denn die Möglichkeit, dass es ein Kappist sei, der Verbindung mit der hiesigen Garnison suche, schien mir gegeben. Da erschien auf einmal wie vom Himmel gefallen Brandenburg; wahrscheinlich hatte man ihn von der Hoteldirektion telephonisch um Hilfe gebeten. Nach einer kurzen scharfen Auseinandersetzung überließ ich dem Retter das Feld, in der richtigen Meinung, dass es jetzt wichtigere Dinge zu tun gäbe als zu streiten.
Durch diesen kleinen Zwischenfall war ich um einen interessanten Akt gekommen: Die unblutige Eroberung der Kaserne und Inhaftierung der Offiziere durch die teilweise Mithilfe der Soldaten selbst. Eine kleine Gruppe Arbeiter unter Führung des Kommunisten Georg Burig war zur Kaserne gegangen und von der Wache eingelassen worden in der Meinung, dass es sich um eine Delegation handele. Genosse Burig hatte dann kurz entschlossen einen Wagen erstiegen und eine zündende Rede an die Soldaten gehalten, die von allen Seiten herbeiströmten. Ein Bravourstückchen sondergleichen, dessen Ergebnis bei den ohnehin unzufriedenen Soldaten eine offene Meuterei gegen die Offiziere war, die bald darauf im Kittchen saßen.
Jetzt trat Brandenburg offen in Funktion. Er bewirkte: erstens, dass die Offiziere, um deren Wohlergehen er sich sehr besorgte, von Stendal nach Magdeburg transportiert wurden (wo man sie dann in Freiheit setzte); zweitens: dass am anderen Tag das Rathaus, der Marktplatz und die Marienkirche, die „City" von Stendal, von den Soldaten (auf jeden zweiten Meter ein Mann) unter dem Kommando Brandenburgs besetzt wurde. Mit entsichertem Karabiner stand das Militär gegen die gesamte proletarische Bevölkerung, die zusammengelaufen war. Eine ungeheure Verwirrung entstand. Die bewaffneten Arbeiter, die durch diese Schurkerei Brandenburgs verärgert waren, kamen teilweise zu uns, um ihre Waffen bei den Kommunisten abzuliefern; sie erklärten, dass sie sich von Brandenburg nicht wieder verkackeiern ließen. Die Soldaten, gegen die Brandenburg gestern noch das Proletariat in den Kampf geschickt hätte, für den Fall, dass der Major seine Leute für einen Kampf gegen die Arbeiter gebrauchen wollte, standen nun unter Führung Brandenburgs gegen die Arbeiter. Die Empörung war grenzenlos.
Im Ruhrgebiet kämpfte das Proletariat gegen den General Watter. Wir Kommunisten beschlossen, gleich am anderen Morgen mit dem Zug 6,03 Uhr nach Dortmund zu fahren. Leider stand ich zur festgesetzten Zeit allein auf dem Bahnhof. In Dortmund angekommen, hatte ich zuerst für einen dort anwesenden Stendaler mit Namen Barfeld ein Paket abzugeben, das seine Mutter mitschickte. Ich traf ihn zu Hause an. Er war begeistert von meiner Absicht, in die Rote Armee eintreten zu wollen und ging mit mir zur Werbestelle. Leider wurde er nicht angeworben, weil er kein Kriegsfrontsoldat gewesen war.
Gerade ging ein Bataillon an die Front ab, ich meldete mich freiwillig dazu und mein Landsmann begleitete mich bis zum Bahnhof. Revolutionäre Lieder singend fuhren wir im Transportzug bis Mülheim. Dort wurde in einer Kaserne eine bessere Bewaffnung durchgeführt; andere Formationen kamen hinzu, und am Morgen bewegte sich ein großer roter Heerwurm in Richtung Hamborn, wo Watter Widerstand leistete. Ein erhebender Anblick. Rau und wuchtig klingt der Gesang der roten Bataillone durch das Gebiet der Arbeit. Wie Feuer grüßen von den Fördertürmen die roten Fahnen. Jubelnd schwenken Frauen und Kinder aus Fenstern ihre Tücher. Obwohl die Not an den eigenen Vorräten zehrt, bringen sie uns Butterbrote, Kaffee, Tee und anderes mehr. 50 000 Proletarier in Waffen! Alles kriegsgeübte Männer, die darauf brennen, dem Freiherrn von Watter den entscheidenden Schlag zu versetzen. Eine endlose Kolonne Artillerie schließt sich bei Sterkrade an. Maschinengewehrwagen und schwere Minenwerfer kommen hinzu. Immer wieder steigt brausend die Internationale über die Schlote, über Hochöfen, Fördertürme, durch die kalte Starre der Eisen- und Stahlwerke, über die der große Verbündete, der Generalstreik, seinen riesenstarken Arm legt.
In Dinslaken, einem Städtchen in der Nähe von Hamborn, wird übernachtet. Noch einen Tag Ruhe und am Abend geht unsere Formation in Stellung. Die Chaussee von Dinslaken nach Wesel zeigt deutlich die Spuren erbitterter Kämpfe. Auf einem Bahndamm steht vor uns ein Panzerzug; seine Maschinengewehre hämmern in die Nacht. Aufheulend zeigen Raketen die Stellung der Sipo. Dort steht der Feind. Um zehn Uhr wird gestürmt. Noch vor 10 Uhr wälzt sich eine dunkle Linie gegen die feuernde Sipo. Unregelmäßig aufspringend und niederwerfend, aber zähe trotz größter Verluste kommen die Rotarmisten näher und näher. Wir liegen 25 bis 30 Meter in einer Bodensenkung vor dem feindlichen Graben. Durch das wilde Knattern der Sipo klingt hundertstimmig der Ruf: „Handgranaten, Hand—gra—na—ten." Donnernd, als berste die Erde, fallen sie in die Reihen der Sipo. Sturm, Sturm. Die Sipo verlässt den Graben. Unsere Kugeln folgen nach. Sanitäter lesen Tote und Verwundete auf. Milchkannen mit Essen werden durch den Graben gereicht. Fern, irgendwo rechts, erklingt durch die Nacht Minenfeuer. Dazwischen auf der Chaussee singen anmarschierende Rotgardisten: „Auf, auf, zum Kampf, zum Kampf sind wir geboren"; Stroh wird verteilt, jeder Mann bekommt ein Bund. Wachtposten lugen scharf aus. Nein, die Sipo kommt nicht wieder. Bald schnarcht es unter den Decken im Stroh. Einzeln fallen noch Schüsse, doch sonst bleibt es still.
Sonnig steigt der Morgen aus den Nebeln. Wieder gehen Milchkannen durch den Graben, diesmal ist Kakao drin. Brot und Speck wird verteilt, ebenso Zigaretten und Zigarren und echter holländischer Rauchtabak. Unsere Truppe ist international. Von den Belgiern jenseits des Rheins, die dort als Besatzung sitzen, kommen Soldaten zu uns herüber, bleiben einen Tag und kehren dann zurück. Einer dieser Belgier ist verwundet. Russen sind viele bei der Armee, es sind ehemalige Kriegsgefangene. Die Belgier, d. h. die drüben unter dem Kommando ihrer Offiziere, leisten sich ein Extravergnügen, sie schießen mit Artillerie über den Rhein, einfach wahllos in die Gegend. Amerikanische Filmleute kommen mit Rote-Kreuz-Binden in die Stellung und filmen. Befragen in schlechtem Deutsch unsere Leute, für wen sie kämpfen. „Warlike airs have your soldiers!" (Kriegerische Gesichter haben Ihre Soldaten); das stimmte allerdings. Der bloße Anblick dieser Jungens mit den verwegenen Mienen konnte den Bourgeois schon einen Schreck einjagen. An die Front wurden vorwiegend nur jüngere Leute geschickt, die älteren Arbeiter der Armee fanden Verwendung zum Ordnungsdienst in den Städten u. a. Noch eine Nacht im Graben und wir werden abgelöst.
In der Märzsonne liegen, Pfeife rauchend, wenn man weiß, diese Nacht geht's wieder los (ein Gehöft muss gestürmt werden), das ist ein Vergnügen. Das Essen ist sehr gut und reichlich, mittags und abends in Ruhe gibt's warmes Essen. Schokolade und Keks, alles aus Holland, ist ebenfalls reichlich vorhanden. Unser Küchenbulle verschiebt eine halbe Seite Speck, er wird von der Mannschaft krumm und lahm gehauen und weggejagt. In Hemdärmeln muss er sich humpelnd und blutend auf die Chaussee machen. Wieder geht es in Stellung, es ist ein Waldrand, an dem wir liegen. Das Gehöft, das gestürmt werden soll, ist noch ein Stück entfernt. Da man auf diesem Fleck nicht ein ganzes Bataillon einsetzen kann, heißt es „Freiwillige vor". Die Hälfte und noch mehr der sich Meldenden müssen zurückgewiesen werden. Erst sollte in der Nacht gestürmt werden. Aus praktischen Gründen aber wird die erste Morgendämmerung gewählt.
Frühzeitig lege ich mich schlafen. Es ist noch stockfinster, als ich geweckt werde. Eine Kolonne von vielleicht fünfzig Mann zieht im Gänsemarsch los. Fast geräuschlos geht's über Äcker und Wiesen. Nichts ahnend passieren wir einen kleinen Busch, fast 100 Meter sind wir bereits vorüber, als plötzlich ein Maschinengewehr aus dem Busch herausfunkt. Da wir ja alle ehemalige Frontkämpfer sind und sich sofort jeder platt auf den Bauch wirft, kommen wir ohne Verluste davon. Langsam krochen wir auf den Busch wieder zu, das Maschinengewehr fanden wir, aber die Bedienung war getürmt. Da sich die Geschichte in ziemlicher Nähe des Gehöftes zugetragen hatte, waren wir also bereits gemeldet. Das zeigte sich auch bald, denn die Sipo schoss sozusagen aus sämtlichen Knopplöchern. Das Gelände ist dort flach, nach der Knallerei zu urteilen steckten allerlei Grüne in dem Hause, also es war bestimmt keine leichte Aufgabe, die wir uns da gestellt hatten. Ein Glück, dass wir schon so früh aufgebrochen waren, denn noch zeigte sich keine Spur vom neuen Tage. Wir umzingelten das Haus, und um eine größere Anzahl Angreifer vorzutäuschen, wurde verabredet, nach jedem Schuss einige Meter abwechselnd nach rechts und links zu laufen, um dort wieder zu feuern. Etwa zehn Minuten knallten wir in diesem Sinne fort. Das Feuer der Sipo lässt nach. Nun wird in Richtung Wesel ein Drittel der Umzingelung scheinbar geöffnet, die verbleibenden zwei Drittel feuern weiter. Wir hatten uns nicht verrechnet. Die Sipo, die den Angriffsgeist der Rotgardisten zur Genüge schon kennen gelernt hatte, traute sich offenbar nicht zu, die Festung bei einem Sturm halten zu können und benutzte richtig die vermeintliche Lücke, um zu entkommen. In dem Moment, als die ersten der türmenden Sipo auf die auf der Lauer liegenden Rotgardisten stießen, stürmte die entgegengesetzte Seite von uns. Alles, was noch drinnen war, stürzte schnellstens den ersten nach. Der Tag zeigte sein erstes Licht. Wie beim Spießrutenlaufen musste die Sipo an den Gewehren unserer Leute vorbei. Drei Tote und wenige Verwundete kostete uns der Handstreich; die Sipo dagegen musste schwer bezahlen.
Bei der Artillerie mangelte es an Richtkanonieren; — es wurde danach gefragt. Ich war Richtkanonier und meldete mich. Die Stimmung bei Noskes und der Sipo war mehr als mies, darum brauchte man künstliche Mittel, sie wieder aufzufrischen. An einem warmen Nachmittag, an der Front war es verhältnismäßig ruhig, vernahmen wir ganz in der Ferne Blasmusik. Durch das Scherenfernrohr gewahrte ich vom Beobachtungsstand aus, wie ein Trupp von etwa 200 Mann, voran eine Kapelle, aus Wesel herausmarschiert. Der Weg ging in Richtung auf die Front. Man geleitete also die Kolonne ein Stück des Weges mit Musik. Bald musste ein Kreuzweg kommen, den ich auf der Karte schnell gefunden hatte. Unsere Batterie stand hinter einem Bahndamm in der Nähe einer Unterführung. Die Entfernung bis zum Kreuzweg war genau an Hand der Karte festzustellen. Mit dem Richtkreis waren schnell alle drei Geschütze gerichtet. Nur noch eine kurze Strecke und die Kapelle sollte durch uns eine kleine Verstärkung erfahren. — „Die ganze Batterie, erste Salve — Feuer!" — Obgleich die Salve nicht richtig gesessen hatte, vielleicht dreißig bis vierzig Meter zu weit nach links ging, stob die Gesellschaft auseinander, als ob ein Riese mit seinem Knüppel dazwischen gehauen hätte. Gegen Abend wurden wir mit Maschinengewehrfeuer beharkt. Eine telephonische Meldung nach vorn zur Infanterie, und nach einer Stunde kam die Meldung zurück: „Feindliches MG in unserer Hand". — Eine Minenwerferabteilung wurde zugedeckt. Schwere Geschütze, vermutlich 21er Kaliber, wurden in Stellung gebracht. Der endgültige Sieg der Roten Armee war auf der ganzen fünfzig Kilometer langen Front so gut wie sicher, als sich ein neuer Feind zeigte. Es war ein gefährlicher Feind: der Sozialdemokrat Severing, der mit einem Aufruf in den Zeitungen, worin es hieß: „Liefert den Behörden die Waffen ab! — Nur Polizei und Wehren haben das Recht, Waffen zu tragen!" eine Ära des Verrates, der Unterminierung der bisher einig und ohne Parteistreit geschlossen kämpfenden Roten Armee einleitete und so gerade jetzt der in allerhöchster Not befindlichen Armee des Freiherrn v. Watter die allerbeste Stütze bot. Als Reichs- und Staatskommissar von der ausgerissenen Reichsregierung in das Ruhrgebiet entsandt, stand er an der Seite des Generals v. Watter und damit im schärfsten Widerspruch zu den Arbeitern. Watter fand sich, wie alle diese Reaktionäre, erst sehr spät auf den Boden der alten Regierung zurück, nachdem nämlich der Generalstreik Kapp in Berlin endgültig das Genick gebrochen hatte und etliche Unterführer, wie in Wetter a. d. Ruhr der Hauptmann Hasenklever, der zum Freikorps Lichtschlag gehörte, in Herdecke der Hauptmann Lange, in Remscheid der Major Lützow, in Mülheim der Major Schulz und andere mehr, sich bei offenem Einsetzen ihrer Truppe für Kapp von den Arbeitern gehörige Schlappen geholt hatten, die teilweise zur völligen Vernichtung ihrer Formationen führten.
Selbst Sozialdemokraten forderten, wie eine Besprechung der Funktionäre in Duisburg am Niederrhein ergab, die Erringung der politischen Macht mit dem Endziel der Sozialisierung des Grund und Bodens, des Bergbaues und der Schwerindustrie. Den sozialdemokratischen Arbeitern schien die Zeit, angesichts der starken Roten Armee, die zum allergrößten Teil aus Sozialdemokraten bestand, äußerst günstig für die Erreichung dieser alten sozialdemokratischen Forderungen. Und in der Tat, nie vorher und auch nicht später hat die Arbeiterschaft solche hervorragenden Positionen innegehabt wie damals, jedoch dem Reichskommissar Severing lag nichts am Sozialismus, sondern er war bei der Geburt der Nationalversammlung, die ja allen „ehemaligen" Feinden der Arbeiterschaft die Mitwirkung in Parlament und Regierung der Republik gebracht hatte, beteiligt. Ein Sieg der Roten Armee in ganz Deutschland hätte einen Sieg der Arbeiterschaft über das gesamte Bürgertum bedeutet, über alle Generäle, Freiherren von, Hauptleute, Deutschnationale, Volksparteiler, kurz: über alle die, die noch vor zwei Jahren, 1918, den Krieg bis aufs Messer forderten und denen der Krieg wie ein „Stahlbad" bekam, die unter diesen Parolen Millionen von Proleten abgeschlachtet hatten. Man lasse alle theoretischen Überlegungen fort und bedenke ganz einfach, dass diese Rote Armee mit ihren 50 000 Mann Frontsoldaten, mit ihrer schweren und zahlreichen leichten Artillerie, mit ihren Minenwerferabteilungen, mit den Tausenden von Maschinengewehren, mit dem ungeheuren Kraftwagenpark, der es ermöglichte, die ganze Armee in wenigen Tagen durch ganz Deutschland zu transportieren, mit allem Kriegszeug einer modernen Armee überhaupt ausgerüstet und von der begeisterten Kampfstimmung, der Sympathie der gesamten deutschen Arbeiterschaft unterstützt, für die Gegner der sozialistischen Weltanschauung eine ungeheuer riesenhafte Gefahr darstellte, vor der man zitterte. Das Kabinett Ebert-Bauer (derselbe Bauer, den man sieben Jahre später aus der sozialdemokratischen Partei wegen umfangreicher Schiebungen, begangen gerade in den Jahren 1919—20, mit den allergrößten Schiebern unserer Zeit, den Gebrüdern Barmat, als der Korruption überführt entfernen wollte) hatte selbst die Hosen voll vor dieser Roten Armee. Um nicht von der Arbeiterschaft fortgejagt zu werden, war er um seiner selbst willen gezwungen, den „Dolchstoß von hinten" bei der Roten Armee praktisch zu erproben. Ich glaube, heute, wo diese Begebenheiten bereits historischen Charakter tragen, wird es auch unter den sozialdemokratischen Arbeitern keinen ehrlichen Genossen geben, der die schweren Fehler seiner Führer von damals ableugnen wollte.
Die Sozialdemokratische Partei, Ortsgruppe Münster, war ebenfalls von der unehrlichen Arbeit Severings überzeugt. Man hielt es für zwecklos, eine Anklageschrift gegen den General Watter erst an den Reichskommissar Severing zu richten; man schickte sie gleich nach Stuttgart zur Regierung. In der Anklageschrift wurde die Entfernung Watters gefordert; daraus kann man ersehen, wie vertrauensselig die sozialdemokratischen Arbeiter noch an Ebert-Bauer glaubten. Auch auf einer Konferenz in Bielefeld wurde die Abberufung "Watters gefordert. Nichts wurde daraus. Severing pfiff auf alle Anträge und Beschwerden, und Watter erklärte, Severing nicht entbehren zu können. (Hört! Hört! Wer's nicht glaubt, lese Severings eigene Worte nach in „1919—20 im Wetter- und Watterwinkel", Aufzeichnungen und Erinnerungen des Staatsministers a. D. Karl Severing, ehemaliger Staatskommissar im Befehlsreiche des VI. Armeekorps. Buchhandlung Volkswacht, Bielefeld 1927, auf Seite 139.) Generalleutnant Freiherr v. Watter kann den Sozialdemokraten Severing im Kampfe gegen das Ruhrproletariat nicht entbehren.
General Watter sind die überall gebildeten Arbeiterräte oder Aktionsausschüsse ein Dorn im Auge, aber seine Macht reicht nicht aus, die weitere Bildung solcher Räte zu verhindern oder die Tätigkeit der schon gebildeten zu unterbinden. Die Arbeiter ohne Unterschied der Partei kümmern sich in ihren Ausschüssen nicht um den General v. Watter. Aber der Freiherr hat einen Helfer, er haut eine Verordnung raus und lässt sie von seinem Helfer unterschreiben. Sie lautet:
„ Im Einverständnis mit dem Herrn Regierungskommissar Severing verordne ich auf Grund der Verfügung des Reichspräsidenten vom 13. I. 1920 wie folgt: Arbeiterräte oder Vollzugsausschüsse, die eine Mitwirkung bei den Behörden bezwecken, bedürfen der Bestätigung des Wehrkreiskommandos und des Regierungskommissars. Wo sich schon Arbeiterräte und Vollzugsausschüsse gebildet haben, ist das durch die Räte selbst unter Angabe der Namen und der politischen Parteizugehörigkeit der Mitglieder dem Wehrkreiskommando, dem Regierungskommissar und dem Oberpräsidenten zu melden.(Anm.: Es folgen noch drei saftige Abschnitte; einer ist kurz, er lautet: „Die Tätigkeit der Räte ist ehrenamtlich.")
Der Reichskommissar: gez. Severing.
Der Befehlshaber des Wehrkreises VI: gez. Freiherr v. Watter, Generalleutnant."
Also, meine Herren Arbeiter, falls Ihnen eine politische Situation, wie zum Beispiel die von Kapp und Lüttwitz geschaffene (Behüt euch Gott, es war so schön gewesen, behüt euch Gott, es hat nicht sollen sein), nicht ganz nach Ihrem Geschmack geht, so wenden Sie sich bei der Bildung von Arbeiterräten vertrauensvoll an mich. Ich, Generalleutnant v. Watter, werde Ihnen in Ihren Wünschen entgegenkommen. Ehrenamtlich, von Watters Gnaden, genehmigt durch den Reichs- und Staatskommissar Severing, mit solchen hohen Protektoren können die deutschen Arbeiterräte bei der Erfüllung ihrer schwierigen Aufgaben, die sie als Träger einer revolutionären Epoche zu erfüllen haben, nicht versagen.
Nachdem man nun mit vereinten Kräften dermaßen Verwirrung unter die Arbeiter getragen hatte und viele örtliche Institutionen bereits den Parolen ihres „Genossen" Severing gefolgt waren, wurde fieberhaft daran gearbeitet, der nunmehr geschwächten, aber immer noch gefürchteten Roten Armee durch Heranziehung großer Truppenkörper aus allen Teilen des Reiches, speziell aus dem reaktionären Bayern, ein militärisches Übergewicht entgegenzusetzen. Darüber sagt Severing in seinem Buche auf Seite 168: „Derweil waren der Befehlshaber und ich ständig bemüht, Truppen heranzuziehen und sie für den Fall bereit zu machen, dass die Wiederherstellung der Ordnung nur durch den Einmarsch überlegener militärischer Kräfte möglich sein würde."
Bald fühlte man sich infolge dieser Vorarbeit stark genug, um durch die Reichsregierung einen Aufruf loszulassen, worin in Absatz 4 die Durchführung gewisser Bedingungen verlangt wurde: „Völlige Entwaffnung der gesamten Bevölkerung einschließlich der Einwohnerwehren unter Aufsicht der rechtmäßigen staatlichen Organe. — Die Art und Zeit der Durchführung der Entwaffnung wird durch den Inhaber der vollziehenden Gewalt näher bestimmt werden." Watter bestimmte näher folgendes:
„ Zusätze des Befehlshabers. 1. Waffen und Munition sind an die Polizeiverwaltungen abzugeben und von diesen per Bahn dem Wehrkreiskommando in Münster zuzuführen; die Polizeiverwaltungen haben bis 30. III. elf Uhr vormittags dem Wehrkreiskommando die Zahl und Art der zur Abgabe gelangten Waffen und Munition zu melden. Sind bis 31. III. zwölf Uhr nachmittags nicht schon vier schwere Geschütze, 10 leichte Geschütze, 200 Maschinengewehre, 16 Minenwerfer, 20 000 Gewehre, 400 Schuss Artilleriemunition, 300 Schuss Minenwerfermunition abgeliefert worden, so gilt die Bedingung der Waffenabgabe nicht als erfüllt. Werden die geforderten Mengen abgeliefert, so wird weitere Bestimmung über die restliche Waffenabgabe erfolgen... (Anm.: Es folgen noch drei Abschnitte.)
Freiherr v. Watter, Generalleutnant."
Immer noch wagte man nicht gegen die Rote Armee im offenen Kampfe vorzugehen. -Die leeren Reden des Generals Watter von der „Verhinderung eines weiteren Blutvergießens" wird niemand ernst nehmen. Schlotternde Angst vor der noch starken Roten Armee hielt ihn zurück, den Kampf zu wagen; — erst sollten noch andere Einflüsse die Kampfkraft der Arbeiter schwächen. Die Waffenabgabe war nur dort, wo die Reichswehr das Gebiet besetzt hielt, von ihr mit Gewalt durchgeführt worden. Das Ruhrproletariat antwortete auf die Frechheiten Watters mit erneutem Generalstreik. Der Termin für die Waffenabgabe wurde verlängert.
Große Teile der Roten Armee waren durch die Zersplitterung und Unterwühlungsarbeit der Severing und Genossen verärgert, der Spaltpilz wucherte fort und fort, weniger organisationsfähige, politisch nicht taktfeste Männer bemühten sich um die Kommandostellen mit dem Erfolg weiterer Desorganisation der Armee. Endlich glaubten der tapfere Watter und der noch tapferere Severing den Tag gekommen, um mit der ganzen zusammengezogenen Truppenmacht losschlagen zu können. Das Übergewicht der Reichswehr war ungeheuer. So wurde zum Beispiel, nachdem im Frontabschnitt Dinslaken alle Formationen der Roten Armee abgerückt waren, der Bahndamm, der links vom Bahnhof nach Wesel führt, auf einer Strecke von 300 Meter von unserer Gruppe von 16 Mann gegen eine zehn -bis zwanzigfache Übermacht eine volle Stunde gehalten. Die Feiglinge vermuteten größere Kräfte hinter dem Bahndamm und wagten erst den Sturm, als von uns 16 Genossen nur noch fünf unverwundet oder leicht verwundet, die anderen tot oder schwerverwundet übrig geblieben waren. Zwei der fünf Kameraden, mit denen ich durch Dinslaken zurückging, wurden durch das Sperrfeuer, das die Ausgänge von Dinslaken in Richtung Hamborn abriegelte, getötet. Wir drei Mann schritten über Wiesen und Felder müde und abgekämpft dahin. Von Dinslaken her trommelte die Reichswehr herüber, mörderischer als manchmal an der Front in Frankreich. Wütend, wie wir waren, mussten wir doch lachen bei dem Blick auf Dinslaken zurück und bei dem Gedanken: „Jetzt stürmt die ganze Meute Dinslaken und kein einziger Rotgardist ist mehr drin." Was werden sie mit den schwerverwundeten Kameraden machen? Schweigend, allmählich in eine melancholische Stimmung verfallend, ziehen wir auf einem Feldwege weiter. Mehrere Schüsse gleichzeitig reißen uns wach, acht oder zehn Kavalleristen, eine Erkundungspatrouille jedenfalls, stehen auf demselben Feldweg 500—600 Meter entfernt. Ohne Kommando, aber fast gleichzeitig liegen wir im Dreck, und schon funken wir hinüber. Lumpenpack verfluchtes! Pferde gehen hoch, werden wild herumgerissen und stürzen davon; zwei bis vier Mann haben ihren Denkzettel, die Feiglinge sind verschwunden. Doch in zehn Minuten kommen zwanzig oder mehr im Exerziergalopp angejagt. Verdammt. Ein Wäldchen liegt halblinks 300 Meter vor uns; mit langen Sätzen geht's hinüber. Die Lumpen knallen und einer von uns, ein zweiundzwanzigjähriger Bergmann, bekommt einen Schuss in die Wirbelsäule. Er fällt wie ein Baum mit lautem Schrei, erhebt sich noch zweimal und bricht zusammen. Die Feiglinge getrauen sich nicht, in den Wald zu reiten. Schnell sind wir hindurch; — da steht wie bestellt eine Straßenbahn vor uns; die Straßenbahner lassen sich nicht lange bitten und fahren, was das Zeug hält, durch alle Haltestellen. Wir sind in Sicherheit. Wir steigen aus und beschießen einen Noskeflieger. In einer Kneipe trinken wir ein Glas Bier.
Ich schlafe in der weichen Sofaecke ein; zu groß war die Anstrengung der letzten Tage. Mein Kamerad weckt mich, der Wirt hätte gesagt: Noske sei im Anmarsch, wir sollten uns dünne machen, das fällt aber schwer; wie mit einem Zentnergewicht auf dem Herzen erhebe ich mich. Eine Knallerei an einer nicht sehr entfernten Stelle, wahrscheinlich wieder gegen nichtanwesende Rotgardisten, besagt uns, dass wir verduften müssen. Mein Kamerad rät zum Dauerlauf. Es geht nicht. Ohne die Halunken direkt auf den Fersen zu haben, kann ich nicht laufen; ginge es in der entgegengesetzten Richtung nach Wesel, ich könnte laufen bis dahin. Mein Kamerad verlässt mich nicht, wir gehen, die Knarre im Arm, langsam die Straßen hinunter.
Ich glaube, wir waren nun schon in Oberhausen, aber ich kann es nicht behaupten. Begebenheiten, die an den Rückzug erinnern, sind mir infolge des deprimierenden Eindruckes dieser Tage vielfach entfallen. An einem Restaurant hielten mehrere Lastautos, schon besetzt mit Rotgardisten. — „Wohin?" — „Nach Essen." Wir zwei krabbelten hinauf. In Essen wurde uns ein begeisterter Empfang zuteil. Flugblätter in Massen, die zum Weiterkämpfen aufforderten, wurden verteilt. Ich wusste besser, wie es aussah. Warum jubelten die Kameraden in Essen auf den Lastautos so laut, warum waren sie schon vor dem Angriff der „Noskes" getürmt? Warum waren die Herausgeber dieser Flugblätter nicht mit der Armee an der Front geblieben? Es war ein Strohfeuer der Begeisterung ohne untere feste Nahrung. Durch alle Städte, besonders in Bochum, begleitete uns der nicht endenwollende Jubel der Bevölkerung. — „Haut de Noskejungs." — „Hoch de Rote Armee."
In Dortmund waren wir nur noch wenige. Wo jeder einzelne wohnte, war er zwischen Oberhausen und Dortmund abgestiegen, um seine Angehörigen mit seiner gesunden Heimkehr zu überraschen. — Noch ahnte niemand die Schreckenstage, die beim Einmarsch der Wattertruppen, der Württemberger und Bayern, in die Städte des Ruhrgebietes kamen. Mit schwarzweißroten Fahnen, nicht mit schwarzrotgoldenen, mit der Fahne der Kapp und Lüttwitz, nicht mit der Fahne der Republik, zogen die Henker ein. Severing, — das war der dankbare Faustschlag deiner Freunde von gestern! „Deutschland, Deutschland über alles", stieg immer wieder. Erschossen wurde, was gerade vor die Flinte kam. Die Standgerichte wüteten an allen Orten. Jeder Offizier fühlte sich wohl in der Tätigkeit eines Standrichters; es begann der weiße Terror mit allen seinen Scheußlichkeiten. Gefangene Arbeiter, ohne Parteiunterschied, wurden gezwungen, patriotische Lieder zu singen, sie mussten dann ihr Grab schaufeln und wurden erschossen. Arbeiter, die im offenen Kampfe gegen Noske vor Tagen oder sogar Wochen verwundet wurden, holte man von ihrer Familie fort; da sie infolge ihrer Verwundung sehr geschwächt waren, setzte man sie auf einen Stuhl und schoss sie kaltblütig über den Haufen. Fünfzig Mann oder noch mehr stellte man an eine Mauer und knallte sie weg. In einem einzigen Grab in Pelkum bei Hamm liegen neunzig Mann. Misshandlungen, die schwere körperliche Schädigungen hinterließen, waren in Dutzenden von Fällen eine tägliche Erscheinung. Die Bayern taten sich selbstverständlich besonders hervor. Der weiße Terror ging bluttriefend und mordend durch das Land, über Berge von wehrlos hingeschlachteten Arbeitern. In den Hirnen aller Proleten flammte nur ein Gedanke, in allen Herzen brannte nur eine Sehnsucht: „Oh, wäre noch die Rote Armee da, hätten wir nicht auf die Lügen gehört von der verfassungstreuen Truppe, die nur die Herstellung von Ruhe und Ordnung will."
In Unna wurde ich verhaftet. Vierzehn Mann saßen wir in einem Zimmer, das streng bewacht wurde. Man beliebte, uns alle Stunden zu erzählen, dass wir erschossen werden sollten. Am Abend gegen neun Uhr kommt ein Offizier und erklärt nochmals ausdrücklich: „Morgen früh fünf Uhr wird geweckt und um sechs Uhr erfolgt die standrechtliche Erschießung." Unter den Leuten waren etliche, die mit der Roten Armee absolut nichts zu tun hatten. Sie brachen in lautes Weinen aus und beteuerten ihre Unschuld. In eine Ecke legte ich mich schlafen; ich war nicht davon überzeugt, dass man uns alle vierzehn erschießen wollte.
Um vier Uhr morgens, es war noch finster, erwachte ich. In einem Flaschenhals brannte eine Kerze. Leises Wimmern und Stöhnen bezeugte den Kummer der Leute, die da vermeinten, unschuldig sterben zu müssen. Beim Licht der Kerze sah ich meine Brieftasche durch. Darin war noch der Ausweis des Aktionsausschusses Stendal. Ein Entwurf zum Sturm auf die Stendaler Kaserne. Mein Mitgliedsausweis der Kommunistischen Partei, ein Schriftstück von der Roten Armee u. a. Die verdächtigen Papiere steckte ich gesondert ein. Dann schrieb ich eine Ansichtspostkarte mit dem Dortmunder Bahnhof an meine Eltern: „Liebe Eltern, ich bin schon wieder auf dem Wege zu euch. Hier bin ich gerade in einer sehr schlimmen Zeit eingetroffen; wenn ich das vorher gewusst hätte, wäre ich nicht hergefahren. Arbeit gibt es hier nicht. Es grüßt... Ludwig." Jetzt trommelte ich an die Tür. Der Posten meldete sich, erklärte aber auf meine Bitte, austreten zu dürfen, das sei nicht mehr notwendig, es ginge gleich los. Ich trommelte weiter. Er öffnete, mit vorgehaltenem Revolver führte er mich zum Abort. Die Tür des Abortes blieb offen. Der Posten stand seitlich davor. Es gelang mir trotzdem, die verdächtigen Papiere in den Abort zu drücken.
Noch keine halbe Stunde war ich wieder in der Zelle, als die Tür sich öffnete und wir alle vierzehn Mann auf einem Flur antreten mussten. Ein Offizier nahm eine gründliche Durchsuchung der Papiere aller Gefangenen vor. Ich stand am linken Flügel, drei Mann hatten verdächtige Papiere, der eine einen Mitgliedsschein der Roten Armee. Sie mussten rechts heraustreten. Drei andere hatten überhaupt keine Papiere. Bei mir angelangt, fragte er, zu welchem Zweck ich von Stendal nach Westfalen gekommen sei. — „Um Arbeit zu finden." — „Sie mussten doch wissen, was hier los ist." — „Ich hatte keine blasse Ahnung." — „Machen Sie doch keinen Kohl, Sie sind extra nach Westfalen gekommen, um der Roten Armee beizutreten." Laut lachte ich aus mir heraus, es musste ziemlich natürlich geklungen haben. Der Leutnant sah mich scharf an, er erprobte seine Menschenkenntnis an mir und erklärte: „Sie sind doch mit der Waffe in der Hand getroffen worden." Das war nicht der Fall gewesen, denn ich hatte mein Gewehr an der Post in Dortmund beim Einmarsch der Truppen auf einer Steintreppe zerschlagen. Nochmals lachte ich laut und sagte: „Seit meiner Verwundung am Chemin des Dames im Oktober 1918 habe ich kein Gewehr mehr in der Hand gehalten." — „Wo sind Sie denn verwundet worden?" — „Am linken Schienbein." — „Zeigen!" Jetzt hielt er die Karte an meine Eltern in der Hand, er las sie durch. Ich durfte links herausgehen. Die drei, welche rechts herausgetreten waren, blieben zurück. Zu uns links gewandt: „Machen Sie, dass Sie schleunigst hier aus Unna verschwinden; wen wir hier nochmals erwischen, der wird ohne weiteres an die Wand gestellt." Sind die drei Mann erschossen worden? Ich habe es nicht erfahren.
Mit dem Triebwagen fuhr ich nach Soest. Dort war Ruhe, aber sicher war ich dort auch noch nicht, denn es liefen auch in Soest genügend Häscher umher. Abends fuhr ich nach Hamm, da waren die „Noskes" noch mit der Massakrierung der Arbeiter beschäftigt. Trotzdem man im Wartesaal des Bahnhofes die Arbeiter nicht wenig belästigte, habe ich bei dreifacher Kontrolle wirklich gut abgeschnitten.
Um zwei Uhr nachts fuhr ich im D-Zug nach Stendal. Eine interessante Unterhaltung hatte ich im Zuge. Gleich kurz hinter Hamm konnte sich ein Fatzke mit seinen kritischen Bemerkungen nicht zurückhalten, die auf meine Person als einen ehemaligen Rotgardisten anspielten. Er verstieg sich soweit, den Mitfahrenden des besetzten Abteils zu erklären, dass man mir den Spartakisten doch an der Nasenspitze ablesen könne. Das war für mich allerdings nur eine Ehre, aber ich wollte mich dem Pinsel gegenüber nicht äußern, zumal der Zug noch in der Reichswehrzone fuhr. Seine Sticheleien nahmen kein Ende. Fast alle Insassen nahmen in Worten Partei gegen mich. Nun verspürte ich zwar nicht die geringste Angst vor der wildgewordenen Meute, aber es war meine einzige Waffe, zu schweigen, das tat ich so ausgiebig, als wüsste ich überhaupt nicht, dass man über mich spektakelte. Der Fatzke rauchte eine Zigarette nach der anderen, er wurde immer nervöser. Ich zündete meine Pfeife an und dampfte in dicken Wolken. Ein Mann, der sich als einziger auffallend neutral verhalten hatte, nahm ebenfalls seine Pfeife zur Hand, um sie zu stopfen. Laut und deutlich sagte ich in holländischer Sprache folgende Worte, die ich mir vorher mühsam zurechtlegte: Wilt U mischien en betje Tabak van myn, Mynheer, het is heel goede hollandsche Tabak (mein Herr, darf ich Ihnen von meinem guten holländischen Tabak anbieten?). Damit reichte ich ihm eine Tabakpackung mit holländischer Aufschrift, die noch von der Roten Armee stammte. Höflich dankend reichte er mir, nachdem er seine Pfeife gestopft hatte, das Paket zurück. Der Tabak war wirklich gut, behaglich zog er an seiner Pfeife. Er wollte sich gern mit mir unterhalten, es ging aber nicht, ich war Holländer und er sprach nur deutsch. Die Gesellschaft geriet über die Verwandlung des Spartakisten in einen Holländer in ziemliche Verlegenheit.
Der Zug rollte immer weiter heraus aus den Fangarmen der Henker. Ich schlief ein. Als ich erwachte, stand der Zug bereits in Hannover. Dort ging ich auf dem Bahnsteig spazieren, bis das „Einsteigen" des Schaffners ertönte. Noch am Fenster im Gang stehend, wurde ich von einem Mann angesprochen. Der reinste Typ des Kriminalen stand vor mir. Die Mitreisenden, die mich als Holländer kennen gelernt hatten, waren nicht vom Bahnsteig fortgewesen, hatten auch mit niemand gesprochen, also war dieser Greifer von meiner neuen Nationalflagge noch nicht unterrichtet. Es bestand immerhin die Gefahr, dass er mir, wenn ich mich als Holländer vorstellte, meine Papiere abverlangte. Diese Gedanken durchzuckten in Sekunden mein Gehirn.
Mit harmlosen Dingen, so als spräche er mehr für sich selbst, versucht er, mich in ein Gespräch zu ziehen. — „Ist eigentlich für die Jahreszeit noch recht frisch so am Fenster, wenn der Zug fährt.
Ich glaube, wir kriegen überhaupt noch Regen heute, der wird wohl dann so ein paar Tage dauern." Ich erwidere mit demselben Phlegma: „Na, et kann ooch ruhig mal wieder rejnen, war doch janz jut det Wetter die letzten Dage." „Hier in Hannover war's nicht so hervorragend; aber Sie kommen wohl schon weit her? Das Wetter ist ja nicht überall gleich." Ihm zuvorkommend sage ich: „Aus 'n Ruhrjebiet, da is jetz wat los, det müssen Se doch schon jehört ham." — „Na eben! Da geht's wohl drunter und drüber?" Ich fürchtete, dass jemand aus meinem Abteil mich beobachten und uns in der deutschen Unterhaltung überraschen könnte, darum sagte ich: „Na und frachen Se nich wie, mir brummt der Schädel jetz noch; ick habe schon in Hannover een Kognak jetrunken; aber ick muss noch mal 'ne Flasche Selterwasser trinken." Langsam trolle ich zum Speisewagen, den Greifer in der Unterhaltung mitziehend. „Wat meinen Sie, wie da det Blut über die Straßen fließt." „Na nu, so schlimm?" „Ick weeß nich, wie Sie politisch stehn, aber ick sache Ihn', dagegen war die Spartakuswoche vorijet Jahr in'n Januar bei uns janischt." „Ach, Sie sind wohl Berliner? Ich höre es schon an der Sprache." „Wat mein'n Sie woll, wie viel Mann da mit Waffen rumjeloofen sind? Sind, — jetz is et natürlich aus. Schade, ick war extra von Berlin hinjefahren, um mitzukloppen." Ein leises zufriedenes Aufatmen bezeugte mir sehr deutlich, dass ihm mein Geständnis sehr wohl tat. — „Es ist aber manchmal wirklich auch zu stark, wie man mit den Arbeitern umspringt; — verdenken kann man es den Leuten nicht, wenn sie sich mal aufraffen." Im Speisewagen bei einer Flasche Seiter erzählte ich die ganze Geschichte der Roten Armee, man merkte, wie er interessiert staunte. Dass die Greifer sich in den Zügen aus dem Ruhrgebiet betätigen würden, war mir klar. Zwischen Gardelegen und Stendal bestellte ich zwei delikate Frühstücke, indem ich mit der letzten Löhnung von der Armee, ganz neuen Fünfmarkscheinen, fürchterlich prahlte.
Wie feixte der Klapsmann innerlich, dass ich mein Inkognito so ausgiebig lüftete. Er mag sich schon in Berlin auf dem Lehrter Bahnhof gesehen haben, wie er mich dort hinter Schloss und Riegel setzen würde. Das Frühstück war noch nicht halb verzehrt, als der Zug bremste. Stendal, Stendal. „Hier hält a doch en Ojenblick, wat?" Ich springe ans Fenster und rufe einen Vorübergehenden an: „Hallo, hält der Zug hier en Monement? Kann man mal raus, wat?" Zum Greifer: „Ick hole mal schnell ene Pulle Kognak, die werd'n wa nachher int Abteil valöten." Ihm ganz dicht ins Ohr flüsternd: „Hier drin is er viel zu deuer, in'n Wartesaal is er ville billjer." Damit verlasse ich den Speisewagen, gehe in mein Abteil, hole mein Gepäck und meine Mütze und laufe dicht unter den Fenstern des Zuges nach vorn etwa 300 Meter vor die Lokomotive, in den Schienen entlang, so dass man mich auch jetzt vom Zug aus nicht sehen kann. Mit meinem Jackett unter dem Arm, in Hemdsärmeln, vermutet man einen Bahnarbeiter. Der D-Zug rattert vorbei. Mein Gönner guckt mit langem Hals nach dem Bahnhof zurück. — „Hallo, hä, hier", rufe ich aus vollem Halse, „bezahl einstweilen das Frühstück und dann grüß den Polizeipräsidenten von mir, du Greifer, dämlicher, ick komm mit dem nächsten Zug nach." Vorbei saust der Zug. Ob er das Frühstück bezahlt hat?
Während ich in der Nacht im D-Zug saß, war auch mein lieber Freund, der Sozialdemokrat Brandenburg, auf Reisen gegangen. Allerdings etwas unfreiwillig. Das ist wohl anzunehmen, wenn jemand eine Autofahrt in eine andere Stadt macht und dabei nur mit Unterhose und Hemd bekleidet ist. Die Tangermünder Genossen wollten ihn dringend sprechen und hatten ihn in der Nacht um drei Uhr im Auto aus seiner Wohnung in Stendal abgeholt. Böse Zungen behaupten, sie wollten ihn in die Elbe schmeißen. Die zehn Kilometer Autofahrt dauerte keine Viertelstunde, das genügte dem Gast der Tangermünder Genossen nicht, um über sämtliche Sünden nachzudenken. Um ihm aber eine Gelegenheit zum Nachdenken zu geben, setzte man ihn noch ein paar Tage in einen Keller; ein Keller ist für alte hartgesottene Sünder der beste Platz, um über vollbrachte Großtaten kritisch nachzudenken. Um die Haut des geliebten Führers möglichst teuer zu verkaufen, verhaftete man in Stendal mehrere Kommunisten. Wenn ich nicht irre, verspürte man große Lust, auch mich für die Sicherheit Brandenburgs in Fesseln zu legen, aber ich glaube, diese Absicht wäre bei mir total ins Wasser gefallen. Ich hätte sie vielleicht mit dem Karabiner verjagt, das wird die Gesellschaft wohl herausgefühlt haben.
Ein Herr konnte sich die nächtliche Reise Brandenburgs ohne meine Mitwirkung nicht vorstellen, und das war der Polizeikommissar Treptow. Er bestellte mich aufs Büro. Es gibt keinen größeren Spaß, als einem neugierigen Polizeimann gegenüberzusitzen.
— „Guten Tag, Herr Turek!" — „Guten Tag, Herr Treptow!" — „Herr Turek, Sie wissen doch, was bei uns in Stendal heute nacht passiert ist? Die dumme Geschichte mit Herrn Brandenburg!" — „Ich habe davon erfahren." — „Was halten Sie von dieser Sache, Herr Turek? Das entspricht doch hoffentlich nicht Ihrer ehrlichen politischen Gesinnung." — „Ich habe mich ehrlich darüber gefreut."
— „Das ist mir immerhin etwas unverständlich; ich denke, eine derartige Methode einem politischen Gegner gegenüber ist nicht gerade als eine taktvolle zu bezeichnen." — „Eine Taktlosigkeit zieht die andere nach sich, Herr Kommissar." — „Es wird natürlich allgemein angenommen, Herr Turek, dass Sie bei der Geschichte die Hand mit im Spiele haben, ohne dass ich damit etwas Bestimmtes gesagt haben will." — „Leider nein, Herr Kommissar, ich bin gänzlich unbeteiligt, ich bin erst heute vormittag von Westfalen gekommen. Sie werden sich denken können, in welcher Mission ich dort tätig war; aber ich muss gleich bei der Gelegenheit einen Eid ablegen, dass mein Verhalten dort bereits durch die Regierungserklärung, wonach Straffreiheit dem zugesichert wird, der die Waffe bis zu dem in der Erklärung festgesetzten Datum niedergelegt hat, amnestiert ist." — „In dieser Angelegenheit habe ich Sie nicht rufen lassen, ich will nun fragen, ob Sie gewillt sind, Ihren Einfluss geltend zu machen, diesen bedauerlichen Zwischenfall abstellen zu helfen, damit Herr Brandenburg unversehrt nach Stendal zurückkehrt." — „Bedaure sehr, Herr Kommissar, ich habe bezüglich Herrn Brandenburg gar keine Hand frei." — „So, — dann ist unsere Besprechung erledigt."
Die bösen Zungen, die Brandenburg schon in der Elbe schwimmen ließen, sollten unrecht behalten. Wie so mancher Vater sein Kind nicht mehr schlagen kann, wenn es alle Untaten bereut und heilig und teuer verspricht, es nicht wieder zu tun, so waren auch die Tangermünder Genossen nachsichtig geworden und hatten Milde walten lassen. Brandenburg kehrte zurück, heil und unbeschädigt. Unkraut vergeht nicht.
Ich wollte meinen Handel nicht wieder beginnen; das Schachern lag mir nicht. Eintönig flossen die Tage dahin. Meinen Unterhalt verdiente ich bei meinem Vater in der Zigarrenfabrikation. Er war auf einen grünen Zweig gekommen, wie man zu sagen pflegt, hatte aus der Zeit vor dem Kriege einen Fabrikationsschein und daher die
Berechtigung zur Fabrikation während des Krieges. Rohtabak war damals knapp; wer den Fabrikationsschein nicht hatte, ging pleite, die anderen machten gute Geschäfte. Er hatte ein Grundstück gekauft, dazu gehörten zwei Morgen Ackerland. Auch sein Werkzeug hatte er vermehrt, so dass er Gesellen beschäftigen konnte. (Um dem Proleten die Illusion zu rauben, ein gewöhnlicher Sterblicher könnte von seiner Hände Arbeit reich werden, will ich an dieser Stelle anfügen, dass mein Vater heute arm ist wie eine Kirchenmaus, alles hat die Steuer gefressen. Die Inflation hat ihm sein Grundstück geraubt. Und weil er dem Staate 140,75 Mark Banderolensteuer nicht bezahlen konnte, musste er vom 20. Juli bis 3. August 1929 eine Haftstrafe abbüßen. Die namhaften großen Zigarettenfabriken schulden dem Staate Hunderte Millionen Steuern. Noch kein Direktor dieser Firmen hat brummen müssen. Ein 61jähriger ehrsamer Handwerker, der nur mühsam sein Gewerbe aufrechterhält, muss, so erfordert es in diesem Falle das Staatsinteresse, vierzehn Tage eingesperrt werden wegen 140,75 Mark. Das nennt man Gerechtigkeit.) Als nun etliche Wochen verflossen waren, hielt ich es in der Enge der Werkstube nicht mehr aus. Es zog mich sehr nach dem Ruhrgebiet; die gewaltigen Industrieanlagen, das wogende Heer der Proletarier, das ist Leben, Bewegung. Mit einem Jugend- und Parteigenossen, namens Otto Basel, fuhr ich Anfang Juni nach Dortmund. Wir hatten so wenig Geld, dass wir ohne Arbeit keine drei Tage leben konnten. Wie fleißige Bienen summten und brummten wir in der Stadt umher nach Arbeit. Überall vergebens. Einen ganzen Tag, von morgens bis abends, immer abgewiesen, an manchen Stellen wegen „Unbefugten Betretens der Werksanlagen" barsch hinausgeworfen, angeschnauzt, vertröstet auf morgen, übermorgen, nächste Woche. Alles, jede nur denkbare Möglichkeit zur Arbeit wird untersucht, nachgefragt, vergebens. Todmüde wird noch ein Weg gemacht, zum Eisen- und Stahlwerk Hösch. Der Portier verspricht uns, wenn wir morgen sehr früh zur Stelle wären, könnten wir Glück haben, die Abteilung Steinfabrik hat Leute angefordert, sehr schwere Arbeit, Quarz abladen. Wir fragten, wann wir denn morgen erscheinen müssten. „So früh wie möglich, sehr lange vor Arbeitsanfang." Wir sind wirklich lange vor Arbeitsanfang dort und man stellt uns ein. Am anderen Tag können wir anfangen. Halbtot infolge der durchwachten Nacht auf dem Bahnhof, beginnt nun ein zweites Rennen, nicht leichter als das erste. Wenn auch ein Misserfolg nicht so deprimierend wirkt, so kann er doch zum Verhängnis werden, denn eine richtige Nachtruhe ist unbedingt erforderlich, um auf die Dauer schwere Arbeit zu leisten. Straßenweise, ohne einen sonstigen Anhalt, klopfen wir die Häuser ab. Unsere immer wiederkehrende Frage lautet: „Wissen Sie vielleicht zufällig, ob hier im Hause jemand vermietet?" Viele Hinweise bekommt man, doch letzten Endes verläuft alles ins Nichts. Fünf bis sechs Stunden dauert das Rennen, mein Genosse will den Kampf aufgeben. „Noch eine Stunde, Otto, es hilft doch nichts, wir sind geplatzt ohne Bleibe." Da stehen wir in der Enscheder Straße Nr. 5, aus einem anderen Hause hat man uns hingewiesen: „Wischnowski", so lautet das Türschild, wo wir unser Glück probieren wollen. Frau Wischnowski ist eine alte Polin mit sehr schlechten deutschen Sprachkenntnissen.
Wer das Ruhrgebiet nicht aus eigener Anschauung kennt, wird vielleicht noch nicht wissen, dass dort sehr viel Polen wohnen. Und zwar soviel, dass mehrere polnische Zeitungen existieren können. Es gibt in allen großen Städten des Ruhrgebietes ganze Straßen, wo vorwiegend Polen wohnen.
Bei Tante Wischnowski zogen wir ein. Wie atmeten wir auf: Arbeit und Wohnung! Gleich ging's zum Bahnhof, um die wenigen Habseligkeiten zu holen. Aus zwei Räumen besteht die Wohnung der Frau Wischnowski, der Küche mit einem Bett und einer Schlafstube mit drei Betten. Ein Enkel von siebzehn Jahren, Stanislaus, schläft im dritten Bett. Den Wandschmuck der Wohnung bilden achtzehn Heiligenbilder. Auf welche Wand man auch blickt, überall hängt der gekreuzigte Jesus. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die alte Frau täglich von morgens bis abends in der Kirche saß. Ein ewiger gehässiger Streit wurde zwischen ihr und Stanislaus geführt. Die Alte versuchte, ihre katholische Lebensweise auch dem Stach (Abkürzung für Stanislaus) aufzuzwingen, dieser jedoch kämpfte mit Lug und Trug und Frechheit dagegen an. Die Formen, die dieser Kampf manchmal annahm, steigerten sich bis zum Drama; mit dem Beil drohte man sich gegenseitig. Jede, auch die kleinste Handlung des Stach bedachte die Alte mit einer äußerst stachligen Kritik. Frühmorgens lief sie schon in die Kirche, dann wieder nach dem Frühstück bis kurz vor Mittag. Richtiges Essen zu kochen, hatte sie keine Zeit. Mehlsuppe, Pellkartoffeln, Kartoffelsalat, oder vielfach überhaupt nur grüner Salat bildeten die Hauptmahlzeiten. Des Nachmittags ging sie wieder in die Kirche und abends noch mal. Ich habe sie einmal gefragt, was sie dort mache? Da wurde sie hundsgemein. Sie schickte uns einen Pfaffen auf den Hals, der sich einen gehörigen Schnupfen bei uns holte, worüber sich der Stach unbändig freute, die Alte sich aber grün und blau ärgerte. Sie hatte Stunden, wo sie sich über uns gottlose Kerle fast selber verzehrte, vor Ärger. Nie habe ich die Frau lachen sehen, nicht einmal lächeln, stets lief sie mit einer griesgrämigen Miene einher. Die Pfaffen hatten ihr den Auftrag erteilt, auf uns und insbesondere auf Stach im Sinne eines frommen Katholiken einzuwirken, darum ihr fürchterlicher Zorn, dass sie auf diesem Gebiete überhaupt keine Erfolge hatte. Es war nicht möglich, auch nur zehn Worte an sie zu richten, ohne dabei als gottloser Mensch, Teufel oder sonst irgendein unkatholisches Wesen hingestellt zu werden. Die Alte gab Spaß.
Die Arbeit auf dem Stahlwerk war ungemein schwer. Aus Waggons wurde Quarz auf große Halden geladen. Von den Waggons bis zum Stapelplatz wurde eine schwere Bohle gelegt und darauf die Quarzblöcke transportiert. Quarz kommt aus den Steinbrüchen in Stücken von zwei Zentnern abwärts bis zur Pflastersteingröße. Als Rest eines leeren Waggons bleibt noch kleiner Schutt übrig. Die Steine sind scharf und eckig. Wenn man den ganzen Tag mit den schweren, kantigen Steinen auf der Bohle herumgeturnt hat, weiß man am Abend, was man tagsüber gemacht hat.
Das Eisen- und Stahlwerk Hösch ist eine gewaltige Industrieanlage. Etwa dreißig große Schornsteine atmen ihren Rauch aus. Aus der Abteilung „Martinswerk" speien Spezialschmelzöfen ihren Funkenregen zum Himmel. In mehreren modernst eingerichteten Hochöfen, ich glaube, es sind sieben, kocht das Eisen, mischt sich ein dicker Strom glühendflüssiger Schlacke mit Wasser und dort brodelt's, zischt's, gurgelt's, dort sprühen Dämpfe mit donnerartigem Getöse, dass der ängstliche Neuling, dem es meistens zum Ausreißen zumute ist, nicht begreift, Woher die Männer mit den schwarzen Augen, die nicht mehr von dieser Welt zu sein scheinen, mit den klobigen, mit Sackleinen umwickelten Beinen, die Kraft nehmen, in diesem dauernden Vulkanausbruch auszuhalten. Giftige Dämpfe durchziehen das gigantische Werk. Vom Portier bis zu meiner Arbeitsstelle habe ich fünfzehn Minuten über Schienen hinweg und unter Drahtseilbahnen hindurch zu gehen, und das ist noch nicht die ganze Länge des Werkes. Eine Kokerei mit Hunderten von Retorten liegt meinem Arbeitsplatze gegenüber. Kommt der Wind von dort, müssen wir im Qualm fast ersticken. Berge weißglühenden Kokses werden von halbnackten Männern mit Wasser bespritzt. Du gehst in respektabler Entfernung vorbei und wendest dein Gesicht ab, weil du das Gefühl hast, als verschmore deine Haut. Wie ist es möglich, dass diese Menschen dort unten nicht bei lebendigem Leibe verbrennen?
Drüben tanzt auf hohem eisernen Gerüst ein großes Rad, darauf führt ein dünner Faden, der geht in einen schwarzen Schlund viele hundert Meter tief in die Erde. Es ist die Förderanlage „Kaiserstuhl", zum Werk gehörig. Kaiserstuhl, — schlechter Name. Zu jedem Schichtwechsel hängt dort an diesem Faden das Leben der Kumpel. Einige Zeit später, 1921, riss dieser Zwirnsfaden, zwanzig Mann sausten in die Tiefe, um unten mit zerschmetterten Knochen zu landen. Tot! — „Seilbruch!" berichtet die Direktion.
Dort am Schacht sah ich an einem Morgen eine Frau sitzen, ich weiß heute noch nicht, in welcher Absicht sie dort saß. Als wollte sie hinunter, dort, wo kalte Grabesluft herausströmte. Ihr Gesicht war der Gram und Schmerz selber. Ich stand höchstens drei Meter von ihr entfernt, sie musste mich bemerkt haben; unverwandt senkten sich ihre Augen in den Schacht. Diese Frau, sitzend auf einem Holzklotz, strahlte einen Heiligenschein von sich, denn niemand wagte sie anzusprechen.
Unsere Arbeit auf dem Platz war zu Ende, und wir wurden bei der Röhrenfabrikation aller Kaliber beschäftigt. Wenn der Quarz gebrannt ist, wird er gemahlen und mit Ton vermischt. Das gibt eine klebrige, zähe Masse, die es gestattet, alle Steine, Röhren, Halbröhren usw. daraus zu formen. An unserer Röhrenpresse hieß es arbeiten, dass der Schweiß in Strömen floss. Wir wechselten ab, einmal legte der eine die Masse in die Maschine, während ein anderer die Röhren abhob, die wie bei einer Wurstmaschine herausgepresst wurden. Der dritte hatte den schwersten Posten. Er legte die Röhre in die Form und hatte, ähnlich einem Rammer bei den Straßenpflasterern, mit mehreren wuchtigen Schlägen die halbfertige Röhre in die endgültige Form zu rammen. Mit einer Mischung von Benzol und Öl schmierte man die Form aus, was sehr häufig geschehen musste, da der Rammer sonst die Röhre aus der Form wieder herauszog. Den beizenden Geruch von Benzol und Öl, das bei der Temperatur, die im Ofenhaus meist über dreißig Grad betrug, sehr schnell verdunstete, in Augen und Nase aushalten und mit dem schweren Rammklotz in gebückter Haltung eine Stunde arbeiten, bis der Röhrenabnehmer ablöst, das will etwas heißen. Hose und Hemd sind nass wie ein Waschlappen, das Herz und die Lunge gehen wie ein Zweitaktmotor. Ton- und Steinstaub machen die Luft fast undurchsichtig, dabei ist der Steinstaub für die Lunge sehr gefährlich.
Die Abteilung „Steinfabrik" beschäftigte 350 Arbeiter. Über hundert Arten Steine und Röhren wurden hergestellt. Wir arbeiteten nur für den Bedarf des Werkes selbst. In den Ofenkammern setzte man die Steine oder Röhren, nachdem sie vorher einige Zeit an der Luft getrocknet waren, hoch geschichtet auf. Dann wurde Heizmaterial hineingeschafft, entzündet und der Eingang zur Kammer zugemauert. Durch eine Röhre von nur wenigen Zentimetern Durchmesser blickt man in den Ofen hinein, gerade auf einen Porzellanstab. Erst wenn dieser Stab, der mit dem Feuer nicht unmittelbar in Berührung kommt, abgeschmolzen ist, sind die Steine oder Röhren richtig durchgebrannt. Der vermauerte Eingang wird geöffnet und die Kammer glüht langsam aus. Dieser Vorgang dauert mehrere Tage. Bei vierzig bis fünfzig Grad wird der Ofen geleert. Man kommt sich dabei vor wie in einer Bratpfanne. Natürlich sind die gebrannten Stücke noch so heiß, dass man sie nur mit Handschutz anfassen kann. Heraus kommt man mit triefendnassem Körper, hämmernden Schläfen, voller Verwünschungen und mordsmäßiger Flüche. Warum immer wieder in diesen Backofen hineinkriechen? Mein Freund Bäsel ist in den zwei Monaten schon fast fertig. Ich selber habe verdammt wenig Lust, das Eisen- und Stahlwerk Hösch noch länger mit meinem Schweiß zu tränken.
Wie sie sich hierin alle gleichen! Fragt alle Höschproleten, die den wirklichen Produktionsprozess besorgen, ob sie Lust haben zur Arbeit, ob sie nicht einen Wunsch verborgen tragen, der Erlösung ist, Erlösung aus der unendlich schweren Fron!? — „Gottverdammte Scheiße" — jeden Tag zwölfdutzendmal sagt Jupp diese zwei ehrlichgemeinten Worte zu seiner Drehscheibe, die nicht funktioniert, wo der Steintransport die Kraft eines Ochsen erfordert, um über diesen toten Punkt hinwegzukommen. — „Hundemist, verfluchter!" — wettert Hannes, wenn sich beim Heben eines großen Quarzblockes seine Sehnen bis zum Zerreißen spannen. Sie alle fühlen das Unerträgliche ihres Proletendaseins, aber es ist unabwendbar, solange sie sich nicht neben dem Schimpfen und Fluchen eine wirksamere Art Kritik zulegen, eine revolutionäre Weltanschauung, mit dem festen Willen zur Tat! In der höchsten Not und Bedrängnis, wenn ihn der Senf packt und kein Ausweg mehr zu finden ist, haut der Prolet „in den Sack". Das nützt nichts!
Tünnes und Jupp, de arbeiten beide bi Krupp. Bi Krupp, da war es beschissen, Da gingen sie beide nach Thyssen. Bi Thyssen, da hörten se upp Und gingen wieder nach Krupp!
Es gibt Schlaue, die versuchen es, mit Nebenbeschäftigung eine bestimmte Summe Geld zusammenzukratzen, damit sie „etwas anfangen können." Wo es gelingt, dient es Hunderten zum Ansporn, um Bekanntschaft mit dem Pleitegeier zu machen. (In Gelsenkirchen kannte ich einen Bergmann, der hatte durch Nebenbeschäftigung soviel erschuftet, dass er sich ein Grundstück mit etwas Acker kaufen konnte. Als er diesen Segen ein Jahr genossen hatte, starb er an Schwindsucht als Folge von Überarbeitung. Seine Frau und Kinder gerieten in Not und Schulden.) — Viele spielen Lotterie und „leben" von der Hoffnung. Mir kommt das vor, als wenn ihnen der Wind das Geld vom Fenster geblasen hat und sie warten, bis er es wiederbringt. Andere wetten auf Pferderennen und gewinnen auch manchmal, d. h. nachdem sie genügend verspielt haben. Andere wieder züchten Kanarienvögel, Brieftauben oder Karnickel. Manche wieder vermieten an Kostgänger und lassen die Kinder in der Küche schlafen. Geschäftstüchtige handeln nach Feierabend in Kneipen und Bahnhöfen mit Heftpflaster, Schnürsenkeln, Kragenknöpfen und wer weiß was noch. Talentierte, die sich berufen fühlen, den Unterschied zwischen arm und reich auf ihre Art auszugleichen, trainieren sich im Langefingermachen, doch meistens langt's nur für die schwedische Gardinenspannerei. Ganz Verwegene trinken Helles und, wenn „das" immer noch nicht hilft, Kognak oder Nordhäuser.
Pilsudski begann einen Krieg gegen Sowjetrussland. Frankreich, sein Auftraggeber, erhoffte bei einem siegreichen Ausgang, an Stelle der verdrängten Sowjets eine Regierung zu sehen, die alte Zarenschulden an Frankreich begleichen würde. Sowjetrussland in Gefahr! Wir kündigten bei Hösch die Arbeit, packten unsere Kisten, bezahlten unser Logis und verabschiedeten uns von unserer Schlummermutter mit dem frommen Wunsch, dass sie bald der Teufel holen möge.
Genosse Bäsel hatte gleich bei der Abfahrt des Zuges aus dem Dortmunder Bahnhof Pech. Der Zug rückte etwas stark an und Otto fiel eine Kiste aus dem Gepäcknetz auf den Kopf, dabei ging seine Brille in die Brüche. Langsam bummelte der Zug durch die Landschaft. Die vierte Klasse des Fernzuges ist voller Menschen. Frauen mit Kindern, die, auf Reisekörben liegend, durch das monotone Rasseln der Räder eingeschlafen sind. Jedes Schienenende gibt dem schlechtgefederten Wagen einen Stoß. Alle Passagiere werden auf diese Weise in jeder Minute gegen dreißig- bis vierzigmal zusammengestaucht. Die Wirkung einer solchen stundenlangen Stauchung ist an den Reisenden deutlich zu sehen. Wer zehn Stunden vierter Klasse fährt und etwa 20000 Stöße bekommen hat, ist in einer anderen Verfassung als der, an dem dieser Kelch vorüberging.
In Stendal angelangt, gingen wir mit unserem Plan, zur russischen Roten Armee zu gehen, um im Kampfe gegen Polen mitzuhelfen, bei allen Freunden agitieren. Obwohl viele von ihnen arbeitslos waren, konnte sich doch keiner entschließen, mitzukommen.
Nach zwei Tagen fuhren wir über Berlin nach Swinemünde. Nachts drei Uhr ging der Dampfer nach Pillau ab. Bald ging die Sonne auf. Doch nur wenige Strahlen tauchte sie in die grüngrauen Wellen. Eine Steife Brise brachte Wolken herauf. Nach etlichen Stunden stürmte es. Das teure Frühstück flog halbverdaut wieder über Bord. Wer sich aus Unachtsamkeit am Bug hinbaut, bekommt plötzlich einen Guss von drei Eimern Ostsee über die Visage. Ich habe neben dem Schornstein meine Decke hingelegt und dort hocke ich, von der Seekrankheit verschont, den ganzen Tag. Dieser Mittelpunkt des Schiffes schwankt am wenigsten. Mein Freund Bäsel hat nicht die Ruhe dazu, er wandert umher, bis er mit zweifelhaften Gefühlen im Magen wieder neben mir auf der Decke landet. Die pommersche Küste zieht langsam, oftmals in kurzer, oft in sehr weiter Entfernung vorüber. Wie ein Kap kommt die Halbinsel Hela in Sicht. Lange jedoch warten wir, bis sie ganz herauf ist. Ist Hela passiert, geht das Land außer Sicht. Trotzdem spürt man die Nähe Danzigs. Kleine Segler — nach den Begriffen meines Genossen, der noch nie zuvor offene See gesehen hat, alle in höchster Seenot befindlich — und auch Dampfer beleben die Danziger Bucht. Danzig ist Freistaat und wird nicht angelaufen. Eine Seereise, auch wenn sie nur zwanzig Stunden dauert, ist ein Genuss ersten Ranges, vorausgesetzt, dass die Seekrankheit nicht ihr „Rumpf vorwärts beugt" kommandiert.
Spät in der Nacht legen wir in Pillau an. Ein Zug bringt uns nach Königsberg. Im Wartesaal in einer Ecke machen wir uns aus unseren Decken ein Lager, und der späte Morgen mit seinem Andrang zu den Frühzügen weckt uns. Unsere Rucksäcke geben wir zur Gepäckaufbewahrung. Auf der Kneiphöfschen Langgasse ist etwas los. Passanten, mit dem Gesicht in eine Seitengasse gewandt, stehen gespannt — wie in Erwartung eines interessanten aber gefährlichen Schauspiels — auf der Straße. Weiterhin steht Polizei. Damit ist die Sache für uns klar. Wo Polizei steht, dazu über drei Mann stark, und kein Reichspräsident die Stadt besucht oder bürgerliche Sportler Sensation machen, geht's gegen Arbeiter, das ist feste Norm in der freiesten aller Republiken. Mit einem Rollwagen vorweg kommt ein wilder Haufe plötzlich die Straße herauf. Der Rollwagen wird zur Barrikade umgekippt, als die Polizei heranrückt. Noch ist keine Sekunde verflossen, als die tapferen Gummiknüppelträger kehrtmachen, um auf der entgegengesetzten Seite der Szene harmlose Straßenpassanten vor sich herzutreiben. Doch nicht allzu lange dauert diese Schwäche. Während uns die Grünen von der Demonstration abdrängen, bekommen sie Verstärkung. Leider müssen wir per Schub in einer Seitengasse verschwinden und können nichts mehr von der Weiterentwicklung der Dinge sehen.
In einer Versammlung streikender Hafenarbeiter werden von Kommunisten Forderungen aufgestellt, die dem schon Wochen dauernden Streik eine günstige Wendung geben sollen. Die Erregung steigt ins Ungeheure, als ein Reformist seine Samtpfoten in den Dienst der Bewegung stellen will. Die Unternehmer haben es sich längst verscherzt, so weich angefasst zu werden. In großen geschlossenen Gruppen marschiert die Versammlung nach Hause.
In einem schäbigen Gasthaus in einer engen Straße übernachten wir. Mein Freund Otto entdeckt in einer gegenüberliegenden Wohnung, wo man deutlich durch die fadenscheinigen Gardinen in das erleuchtete Zimmer blicken kann, eine Frau von vielleicht dreißig Jahren, die sich auf der Kleintierjagd befindet. Im Hemd vor ihrem Bett stehend, huschen ihre Hände dem davonhüpfendeu Wild nach. Einmal links, dann rechts, einmal vorn, dann wieder hinten. Rachedurst spielt in ihrem Gesicht, wenn sich ihre Daumen zu einer tödlichen Zange vereinigen.
Ü ber Insterburg ging die Reise nach Goldap. Von dort bis zur Grenze ist es nur noch eine kräftige Fußtour. Der Sozialdemokrat Winnig muss große Angst vor einer Invasion der Bolschewiken gehabt haben. Er ließ hier sehr viel Sipo aufmarschieren, um seinen Posten als Oberpräsident der Provinz Ostpreußen zu schützen.
Durch einen Maurer, den wir in unsere Pläne einweihten, erfuhren wir, wie die Besetzung der Grenze durch Sipo den Übertritt erschwert. In einem Walde machten wir Rast. Nach unserer Karte ist die Grenze nur noch drei Kilometer entfernt. Genau ließ sich allerdings die Richtung nicht feststellen, wir wussten nur so viel, dass die Grenze südlich lag.
Mit einer gewissen Spannung brechen wir in der Dunkelheit auf. Nebel liegen über feuchten Wiesen, durch Gebüsch und Holz schleicht Wild. Ein ferner Schuss erinnert uns daran, dass wir auf Kriegspfaden wandeln. Die Grenze soll ein 2 bis 3 Meter breiter wasserloser Graben sein. Ich gehe voraus. Wir haben einen kleinen Kompass; nach ihm nehmen wir unseren Kurs quer durch Wald und Feld immer südlich. Vorsichtig, unter der Decke schalten wir die Taschenlampe ein, um einen Blick auf die Karte zu werfen. Zwei Stunden wandern wir schon, — eigentlich müsste die Grenze längst passiert sein.
Wir werden unsicher. Der Kompass ist ein wertloses Uhranhängsel; ob er uns nicht irreführt? — Mehrere Schüsse aus sehr weiter Ferne rechts von uns machen unsere Zweifel stärker. Sind die Schüsse an der Grenze abgegeben, haben wir eine falsche Richtung eingeschlagen. Jetzt sind wir in einem Dickicht. Wir beschließen, die Morgendämmerung abzuwarten, um an der im Osten aufsteigenden Morgenröte festzustellen, ob unsere Richtung noch eine südliche ist. Eine Zeltbahn mit Decke ist als Unterbett ausgebreitet, und bald nimmt uns ein tiefer Schlaf in seine Arme. Von Ameisen zerbissen, fröstelnd und hungrig gehen wir aus dem Wald. Stahlblau steigt der neue Tag herauf. Dort also ist Osten, der Kompass zeigt präzise nach Norden. Aber warum sind wir noch nicht über die Grenze gekommen?
Wie herrlich ist doch die Erde. Auf einer sandigen Stelle liege ich lang gestreckt, meine Augen schwimmen hoch oben mit den rosigrot gefärbten Schäfchenwolken durch die bläulichen grenzenlosen Fluren.
Nach Süden zu muss die Grenze kommen! Wir storchen weiter durch Sumpf und Moos über Stock und Stein. Da! Das muss die Grenze sein! Ein wasserloser zwei bis drei Meter breiter Graben. Meine Freude setzt mit mir hinüber. Ein Satz und du bist der Gesetzeskraft deines Vaterlandes entsprungen. Wenn du Glück hast, spürst du beim Aufsetzen deiner Füße im Gebiet des neuen Staates die neue Gesetzlichkeit noch nicht. Das letzte deutsche Dorf an der Grenze grüßt mit seinen massiven Gebäuden herüber. Nach vorn blicken wir auf elende zerfallene Hütten. Mit ihren Strohdächern und den niedrigen, blechbeschlagenen Fenstern sehen sie dem alten grauen Filzhut meines Großvaters ähnlich. Wir müssen wissen, in welcher Richtung Suwalki liegt. Das lässt sich nur von einem Bewohner dieser Hütten erfahren. Als wir im Begriff sind, eine dieser baufälligen Buden zu betreten, kommt ein älterer Mann heraus. Ich frage: „Gde jest droga do Suwalki" (Wo ist der Weg nach Suwalki?) Er antwortet: „Dai mi tabak, Panje." (Geben Sie mir Tabak, Herr.) Nachdem ich für etwa fünf Pfeifen Tabak ausgebeutelt habe, meint er, es sei zu wenig. Ich gebe ihm noch für zwei Pfeifen, dann erfahren wir den Weg nach Suwalki: „Immer gerade aus."
Für etliche Stunden nimmt' uns ein Wald auf. Beeren finden sich dort. Die Unterhaltung dreht sich um die Rote Armee, auf die wir zwischen Suwalki und Augustowo stoßen müssen, wenn die letzten Nachrichten der deutschen Zeitungen noch zutreffen. Als wir den Wald verlassen, blinkt ein See rechter Hand herüber. In hundert Meter Entfernung baden nackte Mädels. Sie sehen uns und türmen. Die Sonne ist warm, das Wasser des Sees klar. Jetzt ist ein Dorf in Sicht; als wir nach Suwalki fragen, warnt man uns vor den Litauern, wahrscheinlich weil die Befragten als Polen einen Hass auf die Litauer haben. Auf einer baumlosen geraden Straße schreiten wir weiter. Vom Durst und Hunger verspüren wir nichts. Wir sind brennender als die Sonne selbst, unser Innerstes fiebert nach dem Ziel, das nun endlich nach dem sehnsüchtigen Streben einer ganzen Woche so nahe gekommen ist. Wir werden uns sofort zur Artillerie melden, denn wir sind alle beide artilleristisch ausgebildet. Und dann Tod und Verderben allen Feinden Sowjetrusslands! Aus der Jugendorganisation kenne ich meinen Freund Bäsel als einen tüchtigen, eifrigen Genossen, der schon manchen Strauß ausgefochten hat. In seiner Begeisterung tut er alles. Unaufhörlich suchen unsere Augen den Horizont ab nach den Türmen von Suwalki. Als wir die letzten Hütten eines Dorfes hinter uns lassen, kommen sie in Sicht. Eine Kirche sieht aus grünen Baumkronen heraus. Mit eiligem Tempo rücken wir näher.
Eine Familie, die mit einem Ziegenbock daher kommt, fragen wir, ob Russen in Suwalki sind. — „Ja, Russen sind in Suwalki."
— „Ist auch russisches Militär dort?" — „Ja, russisches Militär ist dort." — „Sind auch Litauer dort?" — „Ja, Litauer sind auch dort!"
— „Ist auch polnisches Militär dort?" — „Ja, polnisches Militär ist auch dort." Das kann unmöglich stimmen. Wo Russen sind, können keine Polen sein. Bei den ersten Häusern von Suwalki steht gleich links eine Schmiede. Den Schmied, einen Juden, fragen wir, ob Bolschewisten in Suwalki sind. — „Ja, gehen Sie bis zu dem Platz, von dort die Straße rechts und fragen Sie nach (er nannte einen Namen, den ich vergessen habe), das ist ein Bolschewik, der bringt Sie, wohin Sie wollen."
In den widersprechendsten Farben entrollt sich vor unseren Augen das Straßenleben Suwalkis. Total zerlumpte Kinder an der Hand verwahrloster Frauen betteln uns an. Junge Mädchen in den neuesten Modehüten und farbigen Seidenstrümpfen, blinkend und sauber, spazieren mit neugierigen Augen an uns vorbei. Wieder huschen Menschen in Lumpen über den Weg.
Männer, die wir nach dem Namen des Gesuchten fragen, weisen uns weiter die Straße hinauf. Wir sehen wiederholt bewaffnete junge Leute, aber sie erscheinen uns wenig vertrauenswürdig. Plötzlich kommen uns Zweifel. „Vielleicht sind es doch Polen oder Litauer?" Bei der Roten Armee vermuteten wir zunächst ein rotes Abzeichen.
Als wir merken, dass es hier nur eins gibt, so schnell wie möglich zu verduften, ist es bereits zu spät. Wir sind schon beobachtet oder verraten. Aus der Seitenstraße tritt plötzlich eine Gruppe bewaffneter Leute heraus und bittet uns in deutscher Sprache, zu folgen. Hätten uns die Strolche gleich wahrheitsgemäß erzählt, was sie für Absichten mit uns hatten, ich wüsste nicht, ob wir nicht doch den Versuch gemacht hätten, zwei Gewehre zu entreißen und durch eine Haustür in den Höfen zu entkommen. Die Höflichkeit, mit der wir nach unserem Reiseziel gefragt wurden, und ebenso die Erklärung, es handele sich nur um eine kurze Sistierung auf ihrer Kommandantur, die man leider nicht umgehen könne, machten uns in der Beurteilung unserer Lage irre. Den vier Mann mit einem Kolben in vier Sekunden den Schädel einzuschlagen und zu entwischen, wäre kein Heldenstück gewesen. Denn alle vier sahen aus, als könnten sie höchstens einen alten Mann in den Graben schubsen oder einem kleinen Kind das Brot wegnehmen.
Auf der Kommandantur erst wurde uns klar, in wessen Hände wir gefallen waren. — „Litauer!" — Wir erklärten dem Häuptling unverzüglich unseren Wunsch, Weiterreisen zu dürfen. Der Mensch hörte nicht auf uns. Wir hätten nur zu sprechen, wenn wir gefragt würden, ließ er uns verdolmetschen. Diese schnauzigen Worte sind gewiss bei den Militärs der ganzen Welt in allen Sprachen verbreitet. Wahrscheinlich geht es ohne sie gar nicht. Ein Jude übersetzte das Verhör. Noch drei Deutsche und ein Russe wurden vernommen. Es waren: ein Stettiner, etwa 40 Jahre alt, ein riesenhafter Maurer aus Ostpreußen in demselben Alter, und ein zwanzigjähriger Erfurter; dieser hatte einen leisen Hieb. (Ich habe ihn zwei Jahre später in Erfurt auf dem Arbeitsnachweis getroffen. Da ich auf Tippelei durch Erfurt kam, erbot er sich selbst, mir ein paar Butterbrote zu besorgen. In einer Viertelstunde käme er zum Nachweis zurück.
Leider hatte er mich verkohlt, er ließ sich nicht wieder blicken. Angesichts dessen, was wir gemeinsam in den Klauen der Weißen in Litauen erlebt haben, war diese Art, ein Wiedersehen zu feiern, meschugge genug.)
Der Häuptling lässt den Maurer fragen, was er hier in Litauen wolle? „Arbeiten", wird von dem Juden übersetzt. „Du bist verrückt! Du Schwein lügst! Stehlen willst du hier!" Mit einem Fußtritt fliegt der Maurer durch die Stelle, wo seine Berufskollegen das Loch gelassen haben. Ich hatte den Eindruck, als wolle der Häuptling- durch diese brutale Handlungsweise den starken Maurer zu einer Tätlichkeit provozieren, um ihn dann mit dem Revolver, den er in der Hand hielt, niederzuschießen. Der Russe wurde auf russisch verhört und, wie man merken konnte, anständig behandelt. Man bedeutete ihm, hinauszugehen. Bei dieser Gelegenheit sah ich, dass im Nebenzimmer eine ganze Horde schwerbewaffneter Weißgardisten saß. Der Erfurter kann überhaupt keinen Grund angeben, weshalb er nach Suwalki gekommen ist. Er bekommt einen Schlenker und landet in den Armen der Meute draußen, die ihn mit Geheul empfangen. Der Stettiner erklärt auf Befragen, zurückkehrender deutscher Soldat aus russischer Gefangenschaft zu sein. Dabei verleumdet er fortwährend die russische Rote Armee, von der er gestern übergelaufen sei. Mit einem Anschnauzer geleitet man ihn hinaus.
Nun will ich bemerken, dass das Äußere meines Freundes und das meinige (Anzug, Stiefel, Haarschnitt usw.) von dem der soeben beschriebenen Personen bedeutend abstach. Ich hatte neue feste Stiefel, eine fast neue feldblaue französische Militärjacke und die beim Freikorps Maerker geerbte Reithose an. Otto Bäsel war in nagelneue feldgraue deutsche Militäruniform gekleidet, dazu hatten wir beide einen deutschen Tornister mit Brotbeutel und Feldflasche. Im Tornister befanden sich Bücher: das kommunistische Manifest, wenn ich mich recht besinne, eine Abhandlung über Materialismus von Plechanow und etliche Schriften von Rosa Luxemburg.
Wir waren gut angezogen, besser als alle Soldaten der ganzen Bande. Ob nun dieser Umstand, der bei der Einstellung der Gesellschaft einen gewissen Respekt auslöste, allein maßgebend war für die im Verhältnis zur Behandlung unserer Leidensgenossen sehr höflichen Umgangsformen, die uns zuteil wurden, lässt sich nicht sagen. Vielmehr schien es, als legte man sich allen Leuten gegenüber, die irgendwie mit dem Bolschewismus in Beziehung standen, eine besondere Reserve auf. Eine seltsame Erscheinung, die ich mir mit der unmittelbaren Nähe der siegreichen Roten Armee erklären konnte. Litauen befand sich mit Russland nicht im Kriege. Litauen hoffte sogar, bei einer ernsten Niederlage Polens seine Gebiete auf Kosten des Besiegten zu erweitern. Eine militärische Besetzung Suwalkis durch die Litauer war erst durch den Sieg der Roten Armee über die Polen möglich geworden.
Dass es keine ehrliche Sympathie für Kommunisten war, die uns als Pfleglinge der Litauer eine solche annehmbare Behandlung schuf, merkten wir zur Genüge später, als wir dem russischen Einfluss weiter entrückt waren. Wenn unser offenes Bekenntnis zum Kommunismus und die dargelegte Absicht, zur Roten Armee zu gehen, den Litauern Veranlassung gab, uns in Suwalki reichlich mit Zigaretten zu beschenken, so war ihnen unsere politische Gesinnung Grund genug, uns an anderer Stelle anstatt mit Geschenken mit einem standrechtlichen Todesurteil zu überraschen, wobei die Gewehre bereits auf uns angelegt waren und der Degen des Häuptlings zum letzten Kommando: „Feuer!" schon hochgehoben in der Sonne blitzte.
Genosse Bäsel wurde ausgefragt: „Warum, Herr Bäsel, sind Sie eigentlich gekommen nach Litauen?" — „Mein Kollege hier und ich wollten zur Roten Armee bei den Bolschewiken." — „Ahso, ja wir haben schon an den Büchern gesehen, dann wollten Sie kämpfen gegen die Polen, nicht wahr?" — „Jawohl." Der Jude ist sichtlich von unserer Gesinnung erfreut. — „Bittä, nähmen." Der Häuptling gibt uns eine Handvoll Zigaretten. Er lächelt interessiert, doch gelingt es ihm nicht ganz, den Unbefangenen zu markieren. Der Jude muss weiter fragen. — „Wie viel Bolschewiken haben Sie in Deutschland unter den Arbeitern prozentual?" — „Sehr viele, fünfundzwanzig Prozent." — „Wie viel Juden sind dort, prozentual?" — „Sehr wenige, weniger als ein Prozent." — „Wie heißt der Mann in Deutschland, der von Bedeutung ist wie Lenin?" — „Wir haben keinen von solcher Bedeutung." — „Ebert, ist der nicht großer Mann in Deutschland?" — „Ebert ist Reichspräsident, aber kein Revolutionär." — „Er hat doch gemacht die Revolution in Deutschland?" — „Nein, Ebert hat nicht die Revolution gemacht." — „Wer hat gemacht?" — „Der Hunger hat sie gemacht."
Endlich werden wir entlassen, d. h. man führt uns in ein provisorisches Gefängnis. Hier packt uns der Senf; wütend fordern wir unsere Freilassung, niemand kann uns verstehen, alle machen die Handbewegung des Bedauerns, kein Häuptling lässt sich sehen. In einem großen Zimmer, in dem bettähnliche Gestelle und Tisch und Stühle vorhanden sind, langweilen wir uns oder rennen fluchend umher. Die Bewachung ist sehr höflich gegen uns, frech und gewalttätig gegen die anderen Gefangenen. Ob sich hier aus diesem Stall nicht auskneifen lässt? Dieser Gedanke wühlt uns auf, bis wir ihn ernsthaft diskutieren. So ein Mist, elender; schon beinah am Ziel und diese Kerle schnappen uns hier weg. Genosse Bäsel kann seinen Mut kaum noch zügeln. „Wenn jetzt eener die Dür uffmacht, hau ick ihm eens uff de Fresse und türme." — „Denn schießt dich der nächste Posten übern Haufen!", sagt sein Leidensgenosse aus seiner Flohkapsel heraus. „Leg dich man ganz ruhig mit'n Arsch in de Klappe, weiter kannst du vorläufig gar nichts machen."
„ Vielleicht kommen die Bolschewiken nach Suwalki und machen uns frei." Nach dieser Richtung hin strecken wir einen Fühler aus. Ein dreckiger Kerl, der etwas polnisch kann, verspricht uns, am Ort die Kommunisten mit unserer Lage bekannt zu machen. Vergebens warten wir auf die Stunde, die uns aus diesem Bau wieder herausbringen soll. Die Heuchelei der Banditen ist nicht zu übertreffen. Wir dürfen auf den Hof und sogar auf die Straße gehen, natürlich nur soweit das Gebäude reicht. Der Kommandant hat es uns ausnahmsweise gestattet. Türmen!? Ausgeschlossen! Nicht einen Moment sind wir unbeobachtet, denn gleichzeitig mit den Augen des Postens sehen andere Augen auf uns: die Augen der Gewehrläufe.
Diese Soldaten fühlen sich wichtig; auch wenn sie keinen Dienst haben, legen sie die Knarre nicht aus der Hand. Allerdings: ohne Gewehr würde man in ihnen keinen Soldaten erkennen. Die Kleidung ist miserabel, mehr Zivil als Uniform. Die Uniformen, die sie tragen, sind anscheinend aus allen Armeen der Welt zusammengeschleppt. Nur die Chargierten sind einigermaßen soldatisch gekleidet. Das wäre auch alles nur halb so schlimm, wenn sie nicht gerade das Bestreben zeigten, möglichst viel militärischen Bluff zu veranstalten. Eine Truppe kann auch ohne glatte Uniformierung gut sein. Soldaten der Roten Armee waren auch nicht besser gekleidet als die hier, wie wir später im Gefangenenlager sehen konnten. Rotarmisten ohne Schuhe gab es dort. Napoleon hat mit Soldaten in Lumpen Italien erobert.
Selten hat mich die Sehnsucht nach Freiheit so geplagt, wie in dem Gefängnis zu Suwalki. Soldat spielen war nicht mein Fall, aber der Gedanke, als Soldat der Roten Armee, inmitten von Millionen Proletariern den Aufbau des Sozialismus zu erkämpfen, allen Feinden zu trotzen, zupfte Tag und Nacht an den klangvollsten Saiten meines Innern. Nur wenige Kilometer, ein paar Stunden Marsch entfernt: die Brüder.
Nach etwa einer Woche, an einem Morgen kam eine Wendung. Auf dem Flur vor unserer Bude sammelten sich mehrere Posten. Vor dem Haustor hielten drei kleine Panjewagen. Bauern, als Besitzer und Kutscher, fluchten wild durcheinander. Wir werden herausgeführt. Auf meine Frage, was los sei, antwortet der Dolmetsch, es erfolge eine Versetzung, das Wohin könne er noch nicht sagen. „Warum schimpfen denn die Bauern so wütend?" — „Sie haben schon vier- oder sechsmal gefahren und noch immer keine Bezahlung erhalten." — Auf zwei Wagen sitzen zehn Soldaten, auf dem dritten sitzen wir sechs Gefangenen. Vor und hinter uns ein Wagen mit fünf Posten. Alle halten das Gewehr schussbereit im Arm. Wahrscheinlich macht ihnen die Fahrt Spaß. Sie sind alle guter Laune, rauchen fortwährend selbstgedrehte Zigaretten, singen und versuchen mit uns zu sprechen. Suwalki ist kaum außer Sicht, als sie anfangen, nach allem, was nur einigermaßen ein Ziel für ein Gewehr abgibt, zu schießen. Hundsmiserabel schießen sie. Wenn es angängig wäre, würde ich mich in zweihundert Meter Entfernung im Laufschritt aus dem Staube machen. Da könnte so ein Scheißkerl dreimal fünf Patronen nach mir verschießen, ich wüsste, dass sie nicht treffen würden.
Durch einen großen Wald kraucht langsam die Karawane vorwärts. Ein Bild, abenteuerlich und romantisch zugleich. Ein Panjewagen ist, auch ohne dass sich eine solche wilde Bande auf ihm herumräkelt, schon ein seltenes Fuhrwerk. Die kleinen Räder mahlen sich mühsam durch den Sand. Wir liegen im Stroh und können trotz unserer misslichen Lage kein böses Gesicht machen. Zudem ahnen wir ja nichts von den Schikanen, die uns erwarten. Zwar nicht alle sind mit solch schnuppiger Gleichgültigkeit geladen. Die Sonne lacht, der Wald singt sein uraltes Lied. Wenn die Litauer Witze machen, muss man lachen oder weinen. Sehr derb war der Witz, den sich ein junger Frechdachs mit dem alten Bauern auf dem ersten Wagen erlaubte. Der Kutscher saß auf einem schmalen Brett, worauf er sich der Bequemlichkeit halber einen kleinen Strohsack gelegt hatte. Dieser Strohsack hatte viele Löcher, daher mochte er dem übermütigen Strolch im Wagen so wertlos erscheinen, dass er sich vornahm, ihn aus der Welt zu schaffen ohne Rücksicht darauf, ob der Be- und Draufsitzer damit einverstanden war. Vielleicht hätte diesen das Ausderweltschaffen weniger gekränkt, aber die Methode, mit der es bewerkstelligt wurde, musste wirklich einen flammenden Protest hervorrufen.
Jeder wird verstehen, mit welcher Wut der gute alte Erdensohn ohnehin schon auf seinem Strohsack saß. Es gab daheim zu tun, alle Hände voll zu tun, dieser barfüßige, in Lumpen gehüllte Bauer war nicht gut zu sprechen auf die neugegründete Armee seines Vaterlandes, mit deren Söldlingen er hier in der Welt herumkutschen musste, während er schon im voraus wusste, dass zu den anderen glorreichen Taten dieses Militärs nun noch eine neue sich gesellte, und das war, ihn abermals um seinen Fuhrlohn zu beschummeln. Die ganze Bande schrie wie eine Schar wilder Affen, als der Bauer, wie aus der Kanone geschossen, plötzlich vom Wagen sprang, während dort, wo er eben gesessen hatte, sein Strohsack in hellen Flammen stand.
Der Frechdachs hatte ihm unter seinem Hintern den Strohsack in Brand gesteckt. Krebsrot vor Wut vollführte der Bauer, während er neben seinem Wagen einherschritt, einen wahren Indianertanz. Er hatte sich sicherlich nicht unerheblich verbrannt. Den Militärs war dabei sehr wohl zumute. Es war ja nur eine kleine Zerstreuung in ihrem langweiligen Leben!
Ein Dorf kam in Sicht. Sie requirierten für uns und gleichzeitig für sich Lebensmittel. Der Dolmetsch sagte uns, der Schwarze, der mit dem Studentenschmiss über der Backe, hätte vor etlichen Tagen in diesem Dorf einen guten schwarzen Anzug requiriert, wobei er dem Besitzer des Anzuges einen Zettel als vorzulegende Quittung auf der Kommandantur in Suwalki aushändigte; auf den hatte er geschrieben: „Wenn der alte Geizhals kommt, haut ihm den Buckel voll." — Der alte Mann war drei Stunden nach Suwalki gepilgert mit dem Zettel. Unter Lachen und Johlen sei er von den Schreibstubengehilfen abgeblitzt worden. Der Dolmetsch sah als Jude alle Dinge, die sich bei der Bande ereigneten, mit anderen Augen als die übrigen Banditen. Diese waren gewissenlos gegen ihre eigenen Landsleute, gerade wie im Mittelalter die Landsknechte. Einem Bauern, dem sie die wenigen Äpfel vor seinen Augen vom Baum stahlen, drohten sie ernsthaft mit Erschießen, weil er sich in wütenden Redensarten gegen den Diebstahl verwahrte. Die Äpfel waren noch nicht einmal reif, denn eine halbe Stunde später lagen alle angebissen über die Landstraße verstreut.
In einem Ort mit Namen Syni oder Sayni wurden wir dem Ortskommandanten übergeben. Hier merkten wir, wie scheinheilig die Gesellschaft in Suwalki gewesen war. Über den Genossen Bäsel und mich hatten sie ausdrücklich in einem Protokoll unsere politische Gesinnung, verbunden mit allerlei Verleumdungen, niedergelegt. Frech, mit gehässigen, beleidigenden Worten wurden wir auf der Kommandantur traktiert. Die Unwahrheiten, welche im Protokoll verzeichnet waren, wiesen wir strikte zurück. Jedoch bald ließ sich feststellen, dass es nur der Hass gegen uns als Kommunisten war, welcher der Bande die Gemeinheiten in den Mund legte. Man sperrte uns in ein entsetzlich stinkendes Gefängnis ein. Wie selbst die Feinde der Litauer, Polen, besser behandelt wurden als wir, konnten wir des öfteren erleben. Eine große Überraschung wurde uns dort zuteil, so einschlagend in ihrer Größe, dass sie uns geradezu zu Boden schlug. Nach drei Tagen wurde an uns kein Krümel Nahrung verteilt, dafür bekamen wir aber sehr reichlich Grobheiten und Prügel angeboten. Auf unsere dringenden Vorstellungen zuckte der Wärter mit der Achsel und machte eine Gebärde, die besagen sollte, er verstehe uns nicht. Solche Naivität ging über alles Dagewesene. Satte Menschen können nicht verstehen, dass die anderen auch essen müssen, um 220
leben zu können! Das Gefängnis steht am Markt. Es ist ein einfaches Gebäude, die Zellen liegen zu ebener Erde. Durch die Gitter sahen wir mit brennenden Augen auf die Verkaufsstände des Marktplatzes. Mit Mühe gelang es, etliche Vorübergehende von unserer üblen Lage in Kenntnis zu setzen. Nach einer Weile wurden uns von einer jungen Frau, die Fische verkaufte, etwas Brot und zwei Fische zugesteckt. Über eine Woche dauerte der Aufenthalt in diesem Ort. Sehr selten haben wir von Beamten des Gefängnisses zu essen bekommen. Immer waren es Mitleidige, die eine kleine Gabe für uns bereit hielten. Aasgeier umkreisten das Gefängnis. Vom Hosenknopf bis zur Taschenuhr, alles kauften Juden für einen lächerlich geringen Preis.
Eines Abends wurden Zigeuner eingeliefert. Mit Kind und Kegel, mit Sack und Pack zogen sie ein. Es waren sehr arme Zigeuner. Die kleinen Kinder, die noch nicht laufen konnten, transportierten sie in einem altersschwachen Kinderwagen. Der hatte trotz seiner vielfachen Mängel doch einen Vorzug, nämlich eine enorme Größe. Obgleich die Räder die eines normalen Kinderwagens waren, hatten ihn die Zigeuner nach ihrem Bedarf vergrößert. Sechs Kinder hatten bequem Platz darin. Die sechs Insassen, Sprösslinge mehrerer Familien, vollführten des Nachts einen Höllenlärm. Nach zwei Tagen hatten es die Wärter satt. Unter vielem Spektakel ließ man die braune Gesellschaft laufen.
Auch einzelne Frauen waren eingesperrt. Diese machten den schlechtesten Eindruck. Ungewaschen liefen sie im Gefängnis herum, obgleich ein großes Wassergefäß zu gemeinsamer Benutzung auf dem Hofe stand. Einzelnen Wärtern waren die Frauen immer noch gut genug, um einen Liebesladen mit ihnen aufzumachen.
Endlich holte man uns sechs Mann heraus, um mit uns abermals eine Reise ins dunkelste Litauen anzutreten. Beinahe unerträglich waren die Bewachungsleute. Mit dem Revolver in der Hand setzten sie sich neben uns auf die Wagen. Ihre Redensarten, die wir zwar nicht verstanden, waren uns dem Tonfall nach sehr geläufig. Jede, auch die geringste Bewegung unsererseits war ihnen Veranlassung, den Revolver auf uns anzulegen. Wer weiß, was man den Strolchen für eine Ansicht über uns eingeimpft hatte! Vielleicht meinten sie, die gefährlichsten Raubmörder oder gar menschenfressende Bolschewiki vor sich zu haben, die imstande sind, auch ohne Waffe, nur mit den Zähnen, einen Menschen umzubringen. An Verpflegung während der Fahrt dachte kein Mensch. Wir lebten von der schönen sonnigen Luft, vom Anblick unserer lieben Mitmenschen und so nebenbei von etlichen unreifen Äpfeln, die wir von Syni her noch in der Tasche hatten. Ebenso brutal wie uns behandelte man auch den Kutscher. Gebieterisch wurde ihm befohlen, im Schritt, im Trab, im Galopp zu fahren. Es war ein alter schüchterner Kerl, der vor den Waffen der Soldaten zitterte, sobald sie versehentlich damit in seine Nähe kamen.
Durch ein Dorf ging die Fahrt. An der Straße stehende Bewohner staunten uns an, als seien wir nicht von dieser Welt. Mit ungemein interessierten Blicken musterten sie uns. Als handle es sich bei dem Wort „Bolschewik" um die gefährlichste Sorte Verbrecher, so geheimnisvoll, so mit Grauen durchsetzt, sagte es einer dem anderen. „Bolschewik, schreckliches, grauenvolles, giftiges Reptil, du Bolschewik, du Menschenfresser!" — Wie muss hier die Hetze gegen die Kommunisten die Hirne der harmlosen unpolitischen Bauern erfasst haben!
Die Fahrt dauerte bis spät in die Wacht. In einer verfallenen Scheune mussten wir übernachten. Vom Hunger fast tot, konnten wir uns am Morgen kaum erheben. Aber unsere neue Bewachung war großmütig, denn sie gestattete uns, aus einem Garten Äpfel zu pflücken. Die Leute, die uns nun transportierten, waren das Gegenteil von denen des vorigen Tages. Warum? Entweder hatten die Schinder in der Eile vergessen, ihren Nachfolgern von unseren kannibalischen Eigenschaften zu berichten, oder es war ein Mann unter den Posten, der schon wusste, dass Kommunisten auch Menschen sind. Die letztere Annahme wurde durch einen Vorfall bestärkt, von dem ich jetzt erzählen will.
Wir klagten den ganzen Vormittag während der Fahrt über Hunger. Eine Verständigung war ganz ausgeschlossen. Trotzdem wussten die Leute sehr gut, wie es um uns stand. Mit Gesten und Gebärden bedeuteten sie uns, dass wir noch etwas warten sollten, bald würden sie Essen schaffen. An einem größeren Gut hielt die Kolonne an. Mit lachenden Gesichtern machte man uns klar, dass jetzt die Mahlzeit beginne. Drei Mann gingen auf den Gutshof. Nach wenigen Minuten kehrten sie zurück, mit leeren Händen. Nun geschah aber etwas, was am Vortage niemand für möglich gehalten hätte: man gab uns zu verstehen, wir sollten uns selbst das Nötige auf dem Gutshof holen. In einem großen Zimmer saßen an einem gedeckten Tisch etwa zehn Personen, denen es geschmeckt haben mag bis zu dem Augenblick, wo wir unsere Hungergesichter im Türrahmen zur Schau stellten. Für einen unverdorbenen Menschen ist es unmöglich, angesichts eines solchen Bildes ungestört seine Mahlzeit fortzusetzen. Ebenso unmöglich war es uns, noch länger im Türrahmen zu verweilen. Ohne viel Gezeter räumten die Leute ihre Plätze und ohne einen Versuch der sprachlichen Verständigung nahmen wir Platz. Kartoffeln mit Käsequark, Brot, Milch und Eier waren da. Hei, wie die Holzlöffel schnatterten. Wie schwere Baggerschaufeln segelten sie durch die Luft, immer voll und fest in den Mund und leicht und schnell in die Schüsseln. Immer noch und noch, und gleich noch einmal. Aus den dunklen Ecken des Zimmers trafen uns ängstliche, neugierige Blicke, man schien auf den Moment zu spitzen, wo wir alles verzehrt und mehr verlangen würden. Ihre Augen waren voll Spannung, als sähen sie eine Flamme, die an einer Zündschnur frisst. Man wollte sich den Knall ersparen, deshalb gab man noch im letzten Augenblick einen großen Krug Milch und ein Brot heraus. Dann ging die Fahrt weiter, an Massengräbern des Weltkrieges vorbei. Ihre einfachen Holzkreuze, einst als Schmuck gedacht, standen nun als Symbole des Grauens auf der sonnenversengten Flur. Wessen Knochen liegen dort?! Wer kümmert sich um diese verwahrlosten Erdenflecke?! Nachdem die Phrase vom Heldentum längst vor die Hunde gegangen ist, geht nur noch dann und wann leises Mitleid scheu vorüber.
Mariampol kommt in Sicht. Ehemals Garnisonstadt, bietet sie dem Wüstenwanderer in Litauen eine angenehme Abwechslung. Eine solche Abwechslung brachte Mariampol auch uns, aber die war dermaßen gepfeffert, dass wir beinahe das Leben eingebüßt hätten. Die Letzten von uns hatten die Kommandantur noch nicht betreten, da flogen ihnen die Ersten schon wieder entgegen. Was das nur die schlechte Laune des Räuberhauptmannes? Nein! Es war das durchaus würdige Vorspiel zu dem, was nun folgte. Bei uns begann ein stummes Rätselraten. Man stieß uns zum Hause hinaus auf einen Platz, wo wir an einem Holzzaun Aufstellung nehmen mussten. Viel Soldaten waren anwesend, warum musterte man uns so gründlich? Mit welch seltsamen Gebärden führten die Leute ringsherum ihre Gespräche? Weshalb betet die alte Frau mit Tränen in den Augen, die sie flehend auf uns gerichtet hat? Was sagte der Jude, der eben vorüberging, dessen Deutsch ich nicht recht verstand?— „Gott der Gerechte, lass sie leben, diese ehrliche Leit'!" In Mariampol schien es nur sechs Mann zu geben, die noch nicht wussten, dass sechs Menschen standrechtlich erschossen werden sollten. Und diese sechs Ahnungslosen waren wir. Unendlich langsam zuerst, dann gewaltig wachsend, wie eine donnernde Lawine kam das Gefühl über uns: Erschießen!? — Mich — Dich — Uns— Uns alle! Gleich? Heute? Noch in dieser Stunde sterben?! Das kam alles zu schnell. Gelähmt, mit bleichen Gesichtern sahen wir uns an. Ich machte an mir die Entdeckung, dass sich, noch ehe ich die Dinge verstandesmäßig begriffen hatte, alles Blut zum Herzen drängte. Das Gefühl« der Schwäche in den Beinen und der Blutleere im Kopf machte mich erschrecken. Sekunden war es mir, als müsse ich umfallen und dann kam erst das Bewusstsein: „Du wirst erschossen!" — Der Körper reagierte vor dem Geist auf diese Gefahr, eine Tatsache, die ich schon öfter an mir festgestellt habe, jedoch nie so deutlich. Wahrscheinlich spielte hierbei eine Rolle, dass wir die uns drohende Gefahr nicht durch direkte sprachliche Mitteilung, sondern rein mit dem Gefühl erfasst hatten. Mit dem klaren Bewusstsein — „Du wirst jetzt erschossen!" — wich die Schwäche aus den Beinen und das Blut kehrte in den Kopf zurück. Ganz fest biss ich die Zähne aufeinander, absichtlich fest. Ich wollte nicht wimmern und jammern. Sechs Soldaten standen Gewehr bei Fuß in sechs Meter Abstand vor uns. Der Häuptling der Bande kam hinzu, ein finsterer, noch junger Geselle. Ein Dolmetscher übersetzte uns, dass wir wegen Pferdediebstahl, Brandstiftung, Vergewaltigung von Frauen und anderen Räubereien zum Tode verurteilt seien und dass das Urteil jetzt sofort vollstreckt würde. Ich stand am linken Flügel von uns sechs Mann, mein Freund Bäsel stand neben mir. Das Bild, das wir der versammelten Menge boten, war ein jämmerliches. Einer saß auf den Knien und schrie laut um Gnade. Der lange Maurer, der vorher nur in wegwerfender Weise von Frau und Kind gesprochen hatte, flehte jetzt um Frau und Kindes willen um sein Leben. Der Stettiner hatte nicht die Fassung verloren, sprach jedoch auch von seiner Unschuld. Dabei konnte außer dem Dolmetsch und einigen Juden kein Mensch aus der Menge seine Worte verstehen. Die Masse hinter den Soldaten geriet in Bewegung. Judenfrauen kamen herbeigekrochen, auf Händen und Füßen, und bettelten bei dem Häuptling um unser Leben. Er stieß sie mit dem Fuß beiseite. In meinen Kinnbacken schmerzte es. Meine ganze Kraft verwandte ich darauf, die Zähne zusammenzubeißen. Nur keinen Laut, nur kein Wort herauslassen. Nur nicht den weißen Schurken anbetteln. Als wollte ich die Kraft von den vierzig oder fünfzig Lebensjahren, die jetzt verlorengingen, die ich vielleicht noch leben konnte, auf diese eine Anstrengung konzentrieren, so fest presste ich die Zähne aufeinander. Das Ende war da; warum noch solches Theater machen. Aber es ist entsetzlich schwer, nicht solches Theater zu machen. Man braucht dazu den glühenden Hass gegen seine Peiniger, Hass dem Gegner, Liebe zur eigenen Sache, beide zu groß für die Versuchung der Untreue. Ich fühle, wie die mit winselnden Angstgesichtern um Gnade Bettelnden sich selber morden. Indem sie für ihren Körper das Leben erflehen, führen sie mit jedem Wort, mit jeder Gebärde einen tödlichen Streich gegen ihre Seele, gegen ihr Selbstbewusstsein, ohne das der Mensch weniger ist als ein verprügelter Hund. Der Häuptling steht da, in seinem Gesicht spielt ein höhnisches Lächeln. Ich verstehe seine litauische Sprache nicht, und doch weiß ich genau, was er redet. Die Achse seiner Rede ist: „Kriechendes Gesindel, wo ich Oberhaupt von Mariampol vor euch hintrete, wird euch die blasse Angst packen, aber euer Jammern und Heulen ist nur Belustigung für mich!" Der Russe, der am rechten Flügel von uns sechs steht, schweigt. Seine Augen sind starr auf den Häuptling gerichtet. Erst jetzt, wo die anderen mit ihrem Geflenn um etwa einen Meter aus dem Glied nach vorn gerutscht sind, sehe ich ihn. Jetzt richtet der Henker seine Worte in Russisch an den Russen. Er fragt erregt mit erhobenem Säbel mehrmals. Vergebens wartet er auf Antwort. Der Bolschewik steht unbeweglich. Diese eiserne Starre ist eine scharfe Waffe. Jede Drohung des Weißen prallt ab an der Unerschütterlichkeit des Roten und fällt verletzend auf den Häuptling zurück. Die Menge ist begeistert über die Standhaftigkeit des Bolschewiken. Rufe werden laut. Die Soldaten werden aufmerksam. Eine ungeheure Spannung liegt über der Szene. Der Häuptling gibt kurze Kommandos. Die sechs Gewehre gehen hoch. Die Jammernden heulen auf. In meine Kinnbacken bohrt sich ein stechender Schmerz. Der Häuptling hebt zum Feuerkommando den Degen. Ein schwerer Stein saust durch die Luft; beinah den Häuptling treffend, klatscht er zu Boden. Fauchend, wie ein wildes Tier, stürzt sich der Häuptling auf die Menge. Frauen flüchten schreiend beiseite. Doch die Männer stehen schweigend wie vorher der Bolschewik. Maßlos wütend, immer noch mit gezogener Plempe, kehrt er zu uns zurück, lässt uns abführen. Auf dem Dachboden des Kommandanturgebäudes sitzt verstört ein Häuflein Menschen. Die Todesangst, die eben ihren Körper durchbebte, zittert noch leise in ihnen nach. In einer Ecke des Dachbodens liegen Äpfel. Ich suche mir die größten und besten heraus und esse. Die vier Posten mit Gewehr im Arm sehen mit fragenden Blicken zu. Nochmals suche ich vier gute Äpfel heraus und gebe jedem Posten einen. Sie danken mit der Hand an der Mütze. Der Russe fragt nach Zigaretten. Bereitwilligst wird ihm vom Posten eine gedreht. Noch ist unser Leben nicht gesichert. Nach fast einer Stunde holt man uns vom Boden herunter. Auf drei Wagen sitzen viele Soldaten. Ein Jude übersetzt uns, dass wir nach dem zwanzig Kilometer entfernten Wilkawiski transportiert werden, dass wir jedoch laufen müssten. „Was wird dort?" Er weiß es nicht. Diese Frage beschäftigt uns alle. An jedem Baum hängt diese Frage. Die kleinen weißen Wolken hoch oben am Himmel segeln mit dieser Frage. Was wird heute abend, wenn die Sonne ihre goldenen Strahlen hinter dem Horizont versenkt? Noch einmal die Zähne zusammenbeißen? Schön liegt dort in der Ferne ein Wald. Unter den vielen tausend Wipfeln möchte ich einsam wandern, fern von allen Menschen, weit bis hinter die fernste Bläue. Die Soldaten machen sich einen Spaß. Wir müssen vor dem Wagen mit den Pferden einen Dauerlauf aufnehmen. Durch den Hunger entkräftet, ist es eine Quälerei. Unter den Soldaten entsteht ein Streit. Die Vernunft siegt, wir können wieder langsam gehen. Als wir in Wilkawiski eintreffen, ist es fast dunkel. Zu unserem Erstaunen werden nur die Posten gewechselt, und ohne Verpflegung geht's durch den Ort. Die" neue Bewachung ist von der schlimmsten Sorte. Mit unzweideutigen Gebärden lassen sie uns immer wieder merken, dass es uns noch schlimmer ergehen wird. Nun ist völlige Dunkelheit eingetreten. Das macht die ganze Sache nur um so schauerlicher. Unendlich ist der Weg. Ferne Lichter lassen eine Hoffnung aufkommen. Wir sechs Mann marschieren ungefähr sechs Meter vor der zahlreichen Bewachung. Eine Salve von hinten würde uns alle ins angeblich „bessere Jenseits" befördern. Jedes Knacken an den Gewehren löst bei uns einen leisen Schrecken aus. Die Lichter rücken langsam näher, wie eine rettende Insel, der ein Boot Schiffbrüchiger zutreibt. Auf der Insel aber sind wilde Menschen und Tiere. Wir haben die Lichter erreicht. Es sind zwei Petroleumlampen auf dem Tisch des Kommandanten in einem ehemaligen deutschen Barackenlager, bestehend aus drei Baracken. Draußen vor den Fenstern müssen wir warten. Drei Soldaten treten in das Zimmer und machen Meldung von dem Transport. Die ersten paar Sätze des Meldenden quittiert der Gewaltige zu meiner allergrößten Verwunderung mit den laut geschimpften Worten: „Klai mi ann Mors, du ole Pärkopp!" Alsdann gibt er auf litauisch etliche Anordnungen, dann steht er auf und tritt zu uns heraus. Mit litauischen Kraftausdrücken bepflastert er uns. Als er eine kleine Kunstpause macht, rufe ich laut: „Ick vostoa keen Wort, Mann, in Hamborch hest du nich son Mulsoloat moakt!" - Er darauf, erstaunt, aber anlehnend: „Hol din Mul und tell din Geld." - Nachdem man uns in einen kahlen Barackenraum gesperrt hatte und wir nun wieder der Dinge harrten, die da kommen sollten, verlangte man zwei Mann zum Stroh holen.
Dabei spricht mich der Häuptling an und fragt mich auf Plattdeutsch, was ich für ein Landsmann wäre? „Hamborger!" — „Hamborger?" — „Jau!" — „Wat moakst du hier bi uns?" — „Dat kannst du mi woll beter sägn! Wenn dat na mi geit, bin ick hüt nacht all upp de Schossee na Hus." — „So schnell geit dat nich! — Erst givt dat noch ene Portion blaue Bohnen, soveel, dat ji vor immer satt ward!" — „Sa—u, denn wist du din Landsmann, son oln ehrlichen Hamborcher Jung, asick bin, öbern Huben scheeten?" — „Tscha! Befehl is Befehl!" — „Na wegen mi, — doch een Gefalln kannst du mi noch daun, schriev an min Vatting in Barmbeck een Breef, dat du mi hier avmurkst hest, süss weet de arme Kerl nich, dat he na sin Söhn nich mehr utkieken brück! — Dat is min Ernst! Giw mi een Stück Papier un een Bleistift, ick schriw di de Adreß upp." — „Verdammi, verdammi, kumm mit mi —" In seinem Zimmer erzählte er mir, wie er bei den Litauern zu Amt und Würden gelangt war. Er machte mir den Vorschlag, dass er mich bei der Erschießung verschonen will, während er leider die anderen nicht retten kann. Es gelingt mir jedoch, ihn umzustimmen. Nachdem er uns mit großen Portionen Fleischkonserven und Brot gefüttert hat, bekommen wir einen Militärfahrschein nach Kowno, der Hauptstadt Litauens. Noch'in der Nacht geht's ab zur entfernten Bahnstation. — „Wat een richtiger Hamborger Jung is, mutt Glück hem, — frohe Fahrt in die Heimat!" „Dat Glück, wat de en noch nich het, mutt em die anner verschaffen, loat di dat gaut gon hier!" Dieser in litauischen Diensten stehende Deutsche war ein Offizier der ehemals im Baltikum operierenden Roßbachtruppe.
Hoffnungsfroh stiefelte unsere Kolonne durch die nächtliche Landschaft, dem Morgen entgegen. Wie herrlich steigt die blutigrote Sonne aus ihren goldenen Kissen. Dieser Sonnenaufgang ist unvergesslich, da wir gestern abend beim Scheiden der Sonne nicht glaubten, sie wieder zu sehen. Ein elender Bahnhof taucht vor uns aus der Öde auf. Nach einstündigem Warten schleicht der holzgeheizte Zug heran. In dieser Stunde habe ich keine Langeweile verspürt, denn gleichzeitig mit uns wartete noch eine seltene Uniform. Ein ehemaliger hoher Zarengeneral mit Orden, Schnüren, Silber und Gold beladen bis zum Umfallen. Seine schnapsseligen Augen waren wegen der riesigen noch schnapsseligeren Nase, die feurigrot erglänzte, kaum sichtbar. Seine Forschheit gab sich nach außen hin in einem ungeheuren Schnauzbart kund. So ging er nun, als wolle er von hier aus den Siegeszug über die Welt des Bolschewismus antreten. Die wenigen Menschen, die den Bahnhof bevölkerten, erstarben fast vor Ehrerbietung vor dieser Panoptikumfigur. „Wehe dir, Sowjetrussland, wenn sich dieser Heldenschnauzbart deiner Grenze nähert!"
Die Eisenbahn fuhr unter der Regie der Litauer fabelhaft. Trotz der kurzen Entfernung langten wir erst gegen Abend in Kowno an. Beim Großen Generalstab mussten wir uns ein scharfes Kreuzverhör gefallen lassen. Das begann, um die Schärfe darzustellen, so: „Was sagen Sie zu unseren Damen (Tippmädels) hier? DiesÄFigurr, derr Busen, diesÄ.Gesicht, diese Eiglein! Haben Sie auch bei Ihnen in Deitschland solche Schene?" Mit der Hand die besungenen Stellen streichelnd, verdrehte der Mann mit der Ia amerikanischen Uniform die Augen in so liebenswürdiger Weise, dass es uns ganz wohl dabei wurde. Sehr viel sehr schöne Mädels wurden dort beschäftigt. Jedes einzelne ein Sonnenstrahl für sich. Nach einem weniger dringlichen kurzen Interview führte man uns ins Zentralgefängnis.
Das ist wohl das einzige richtige Gefängnis in ganz Litauen. Es stammt noch aus der Zarenzeit. Durch dunkele Gänge, die gespenstig durch Petroleumfunzeln beleuchtet waren, gelangten wir in eine entsetzlich stinkende Zelle. Noch ehe die Tür geöffnet war, ließ sich ein leises Wehklagen vernehmen. Kaum war der Wärter in die Zelle getreten, als sich ein etwa fünfzehn- bis sechzehnjähriger Jude über ihn stürzte und in kurzen Stichworten seine Leidensgeschichte hervorstieß. Jedes vierte Wort war der Name Sara. Er sprach zum Wärter litauisch, doch dieser war noch nicht fertig mit dem Schließen, als der Jude die ganze Geschichte in Deutsch vortrug. Der Refrain hieß: „Oh, mein Weib, die Sara! Oh, mein Pferdche, die Reni! Oh, oh, oh, mein Geschäft, mein Geschäft!" Sein Geschäft war Droschkenkutscher. Das Verbrechen, das ihn in dieses Haus gebracht hatte, war die Beteiligung an einer Zuckerschiebung. Seine Droschke war unter der süßen Last zusammengebrochen und hatte dabei die Aufmerksamkeit der Gesetzeshüter auf sich gelenkt. Seine Sara saß nun als Strohwitwe mit ihren fünfzehn Lenzen auf dem trocknen Sein Pferdchen, die Reni, fraß nun jeden Tag, ohne etwas zu verdienen. Seine Sara, sein Pferdche, sein Geschäft, diesen Satz sang er fast die ganze Nacht. Der Leidenskelch dieser Zelle bot sich uns dar in Gestalt einer großen Tonne, fast bis an den Rand gefüllt mit Kot. Die Luft der sonst geräumigen Zelle war dick von den Ausdünstungen der Tonne. Obgleich sich einige von uns erboten, diese riesenhafte Stinkbombe zu entleeren und zu säubern, blieb es beim alten, weil, wie die Wärter uns vom Juden übersetzen ließen, das Fass noch nicht voll war. Der Gefängnisverwaltung kann man gegenüber anderen ähnlichen Institutionen nicht die Anerkennung versagen, dass sie sich wenigstens halbwegs um eine annehmbare Verpflegung verdient machte. Es gab genügend Brot und zu Mittag eine gute Portion warmes Essen. Interessant ist die Tatsache, dass die deutsche Polizei deutsche Spitzel in dem Kownoer Gefängnis hatte, um deutsche Gefangene zu bespitzeln. Einem solchen Individuum ist der Stettiner, der angeblich als Kriegsgefangener nach Deutschland zurückkehrte, zum Opfer gefallen. Mit Zigarettenstummeln und Kautabak umgarnte der Kerl seine Opfer, erzählte von sich selbst die schwierigsten Dinge, und die Dummen, die ja nie alle werden, drängten sich ihm förmlich auf mit ihren großen und kleinen Geheimnissen. Hatte er erfahren, was er wissen wollte, dann erstattete er Bericht an die Polizeistelle des deutsch-litauischen Grenzüberganges Eydtkuhnen. Bei einem Verhör im Quarantänelager Eydtkuhnen wurde mir vom Polizeimann eine Photographie gezeigt mit der Frage, ob ich den Mann kenne. Ich erkannte den Kerl aus Kowno wieder. Man wollte sicher prüfen, ob die Maske des Spitzels echt wirke. Die Tage gingen dahin. Zwischen Essen und Schlafen gab es keine besonderen Dinge, die einen Gefangenen beschäftigen konnten, als das immerwährende Abwägen der unvorhergesehenen Möglichkeiten. Abwarten! Die große Kunst, die einzig brauchbare im Leben eines Gefangenen. Ruhig abwarten, auf diese beiden Worte legt der Gefangene die größte Betonung, wenn er noch die Nerven dazu hat. Nicht sehr lange fütterte man uns gratis in Kowno. Nach einer Woche kam urplötzlich die Transportanmeldung nach Wirballen. Wirballen ist ein Ort in Litauen, gegenüber dem deutschen Eydtkuhnen. Die drei, der Erfurter, der Stettiner und der Ostpreuße, freuten sich kindisch auf die Rückkehr nach Deutschland. Bäsel und mir kam diese Entscheidung keineswegs recht. Was sollten wir in Deutschland? Unser Ziel war Sowjetrussland! Einen Gaunerstreich leisteten sich die Beamten des Zentralgefängnisses noch, ehe sie uns schwimmen ließen. Sie erklärten, dass unsere abgegebenen Sachen, wie Zigarettenetui, Bürsten, Geld usw., leider nicht zur Stunde zurückerstattet werden könnten, da der Herr, der das verwalte, gerade in die Ferien gegangen sei. Obwohl sie überzeugt waren, wie wenig dieser Schwindel von uns geglaubt wurde, spielten sie die Bedauernden, stellten einen Zettel aus, der so groß war wie vier Briefmarken zusammen, und ließen sagen, auf Grund dieses Papieres könnten wir jederzeit die zurückbehaltenen Dinge anfordern.
Seltsamerweise wurden wir bei unserer Ankunft an der Grenzstation Wirballen nicht, wie wir angenommen hatten, sogleich nach Eydtkuhnen abgeschoben. Wir sollten noch einen Käfig litauischer Nationalität kennen lernen. In Kowno war uns gesagt worden, wir würden über die Grenze nach Deutschland gehen. Warum in diesem elenden Kaff nochmals brummen?! Nicht lange blieb uns der Zweck dieser Einkerkerung verborgen. Einer von uns, ich weiß nicht, ob der Maurer oder der Stettiner, hatte in der Vorfreude des Wiedersehens mit seiner Familie seinen Trauring, den er bisher sorgsam versteckt hatte, schon im Bahnwagen aufgesteckt. Den kaufmännisch geschulten Augen des Beamten in Wirballen war dieses Wertstück natürlich nicht entgangen, und damit er sich in Ruhe überlegen könne, wie er in den Besitz dieses Ringes kommen konnte, ließ er uns eben noch nicht über die Grenze. Als wir bereits eine Nacht und einen Tag ohne jede Verpflegung die Gastfreundschaft dieses edlen Menschen genossen hatten, fragte er uns, indem er seinen Kopf durch die Türklappe sehen ließ, ob wir denn überhaupt keinen Hunger verspürten? Als ich ihm darauf antwortete, dass wir mit solchen nebensächlichen Dingen nicht gestört zu werden wünschten, sagte er uns mit derselben trockenen Selbstverständlichkeit, mit der ein Aasgeier einen dreiviertel toten Wüstenwanderer anhackt, der eine Herr dort hätte, wie er gehört habe, einen Ring zu verkaufen und er wäre gern bereit, ihn gegen Brot und Wurst in Zahlung zu nehmen. Ein Wirbel der Entrüstung trommelte ihm entgegen. Er schloss die Klappe und entfernte sich mit langsamen Schritten. Der Besitzer des Ringes war nicht befähigt, dem kaufmännisch Gebildeten genügend Charakter entgegenzusetzen. Am Morgen wurde das Geschäft gemacht. Ein halbes Brot und ein knappes halbes Pfund minderwertiger Wurst, gegen den gestempelten Ring. Sobald das Eingetauschte verzehrt war, wurden wir unter starker Bewachung über die Grenze gebracht.
Gauner sind wie Unkraut, es wächst diesseits wie jenseits der Grenze. Grenzen, von denen man sagen könnte, auf dieser oder jener Seite gibt es keine Gauner, existieren nicht. Der sich auf so raffinierte Art den Ring ergaunert hatte, war gewiss ein großer Gauner, ein litauischer. Einen deutschen Gauner werde ich dem Leser vorführen, wenn ich am Schluss der Beschreibung des Quarantänelagers Eydtkuhnen, in das wir nun gesteckt wurden, angelangt bin.
Nach kurzem Polizeiverhör, wobei der Stettiner „hoch ging", das heißt, wo er infolge des Kownoer Spitzels überführt wurde, dass er nicht als Kriegsgefangener zurückkehrte und daher auch nicht die Heimkehrunterstützung ausgezahlt bekomme, wies man uns in einer großen Baracke ein Bett an. Es ist in dieser Baracke wie im Familienbad. Familien sind weniger dabei, aber jung und alt, männlich und weiblich, schnarchen im Takt über- und nebeneinander. In der Nacht hört man es einmal vorn, dann hinten, rechts und bald links knistern und knacken, kichern und küssen, krabbeln und knallen. Ich habe die Feststellung machen können, dass es in einer riesigen Baracke, was das Knallen anbetrifft, überhaupt nicht abreißt. Kaum ist der eine Furz verklungen, schon lässt sich der nächste vernehmen in allen Tonlagen vom höchsten G bis zum tiefsten Bass, in ganzen und halben, auch Achteltönen, eine nächtliche Symphonie. In der Baracke waren viele Deutschrussen, die vor der Inflation aus Russland geflüchtet waren, wahrscheinlich um die deutsche nicht zu verpassen. Das Leben im Lager war nicht uninteressant. Dort war eine ehemalige Gouvernante und Sprachlehrerin aus Leningrad. Ich wollte gern wissen, wie die Revolution auf solche Stiefelputzer der Großbourgeoisie gewirkt hatte und konnte bei dem Fräulein Hottow ein recht befriedigendes Resultat herausbringen. Fräulein Hottow, die noch jung war, fand an der Revolution besonders erfreulich, dass sie dem anmaßenden Hochmut der „Herrschaften" einen so großartigen Schlag auf den Kopf versetzte. Wir hatten sehr viel Zeit. Die Hottow war sehr gesprächig, und so konnte ich erfahren, wie vielseitig eine Gouvernante beschäftigt wird. Sie ist nicht nur Gesellschafterin für Kinder und gnä' Frauen, sondern je nach der Auffassung des Hausherrn und manchmal auch der Herren entfernterer Häuser, zeitweilig auch deren Gesellschafterin. Mit Geld glaubt man in dieser hochnoblen Gesellschaft Tränen trocknen zu können, wie Fräulein Hottow sich ausdrückte. - „Und jetzt, wie ist es jetzt? Ist die Liebe in Petrograd ausgestorben?" -„O nein, alles regelt sich mit verblüffender Einfachheit. Verblüffend war es nur in der ersten Zeit. Das Leben und, was Sie speziell wissen wollten, die Liebe ist jetzt ungeheuer einfach und daher natürlicher. Man muss zugeben, wie Nietzsche sagt, dass das Christentum und damit die auf diesem basierende so genannte Gesellschaft den Eros vergiftet hat. Zwar ist er daran nicht gestorben, aber entartet zum Laster." Auf die Frage, ob sie mit den Ehegesetzen Sowjetrusslands einverstanden sei, die eine Heirat gestatten, zu der man nicht mehr Zeit benötigt als in Westeuropa zu einer polizeilichen Anmeldung, antwortete sie begeistert mit „Ja". - „Und die mögliche, ebenso plötzliche Scheidung schreckt Sie auch nicht?!"
- „Nicht im geringsten, das ist gewiss das beste am ganzen Gesetz." Ich war jedenfalls mächtig erstaunt über die vernünftige Stellungnahme zu den Problemen. „Warum haben Sie Russland verlassen?"
- „Mein Beruf passt nicht mehr in dieses Land! Ich kann rein gar nichts, was man drüben gebrauchen könnte. Ein Proletarier mit dem Hammer oder ein Muschik mit der Sichel zählt dort mehr als zehn Gouvernanten!" - Sie spielte leidenschaftlich Schach. Obgleich ich hierin kein Gegner für sie war, erlahmte ihre Ausdauer nicht. Bei einer Wachskerze spielten wir bis in die Nacht hinein. Von einem Russen bekam ich Tabak, und so lebte es sich ganz gut im Lager. Bis nach etlichen Tagen in das Idyll eine Bombe platzte! Wir wurden abtransportiert und kamen erst wieder zur Besinnung, als wir bereits im Strafgefängnis zu Stallupönen saßen. Stallupönen ist ein Ort nicht sehr weit von der Grenze. Zehn Tage mussten dort abgesessen werden, bevor wir nach dem Quarantänelager zurückgingen. Wir - Bäsel und ich - wurden in eine Gemeinschaftszelle gesteckt. Die zwei anderen saßen ebenfalls in einer Gemeinschaftszelle auf demselben Flur, unserer Tür gegenüber. Auf peinlichste Sauberkeit wurde gesehen, kein Haar und kein Halm durfte auf dem Fußboden liegen. Es gab Bettücher und gute Matratzen, Waschgefäße und Handtücher. Sah man aus dem Fenster, so hatte man eine herrliche Aussicht auf zweierlei Dinge: Ganz nahe am Fenster stand ein Birnbaum voll der saftigsten Birnen, und als Fernsicht in zweihundert bis dreihundert Meter Distanz vom Fenster thronte groß und schwarz auf der Kirchturmspitze von Stallupönen, wie auf anderen Kirchen der Hahn oder das Kreuz, ein echter deutscher Reichsadler, so breit und graulich, wie er auf den alten Münzen „längst verklungener Zeiten" zu sehen ist. Solche bedeutende Vorzüge hat nicht jedes Kittchen, darum erholten wir uns von dem Bombenattentat in wenigen Stunden. Wahrscheinlich hätten wir uns auch weiterhin wohl gefühlt, wenn nicht ein Ereignis passiert wäre, wie es wohl einen Menschen niederträchtiger kaum berühren kann.
Es war um die dreizehnte Stunde. Die Spannung stieg ins unerträgliche. Schon lange lag etwas in der Luft. Das war ein intensiver Geruch von Petersilie, und soviel wir auch schnüffelten, sosehr wir unsere Nase auch anstrengten, die damals gerade in großer Form war - nur nach Petersilie roch es, nach nichts anderem, nicht einmal ein Körnlein anderen Gewürzes mischte sich hinein. Wir ahnten Schreckliches. Ich glaube, unser vorzügliches Riechorgan hat uns vor einem schweren Schlaganfall bewahrt, denn als wir jeder wenige Minuten später eine Schüssel Petersiliensuppe in ihrer ganzen grausigen Wirklichkeit vor uns stehen hatten, hätten wir diese schwere Prüfung ohne die vorbereitende Tätigkeit unserer Nase wohl kaum überstanden. Geknickt saßen wir da. Ja, wenn es Petersilie und Hackepeter gewesen wäre, aber auf Wasser! - „Entsetzlich!" würde Fräulein Hottow gesagt haben. „Abscheulich!" sagte ein polnischer Student, der mit in unserer Zelle saß. „Gemeene", meinte Bäsel. Ich dachte nach und fand, dass diese drei Wörter zusammen genommen noch nicht das Richtige trafen. Ist die Grassuppe ein Essen für Menschen? Seit wann füttert man Löwen mit Entengrütze? Was nützt da die schöne Aussicht auf den beschützen den Reichsadler, was nützt die komfortable Einrichtung der Zelle? Was nützt die große Sauberkeit? Ein sauber gescheuerter Tisch, auf dem nie etwas Essbares steht, ist wie ein Diplomatenzylinder auf einem Strohkopf, das heißt: Raum ohne Inhalt! - Von diesem Schreck erholten wir uns nicht wieder, solange wir in Stallupönen waren. Der Speisezettel aller nachfolgenden Tage sah dem ersten verzweifelt ähnlich. Neunzig Prozent Wasser, und die restlichen zehn Prozent nicht viel anders. Wasser! Nichts als - Wasser. Wie schon erwähnt, saß in unserer Zelle noch ein polnischer Student. Der war geisteskrank. Alle paar Stunden heckte er einen Streich aus, wobei er sich nach Belieben einen Partner wählte. Menschenleben schonte er dabei nicht, nur der Zufall wollte es, dass bisher kein größeres Unglück geschehen war. Alle Mann mussten ihre ganze Kraft aufbieten, um den Wärter zu veranlassen, den gemeingefährlichen Kerl in eine andere Zelle zu bringen. In unserer Zelle waren zwei Epileptiker, die die Anwesenheit des Studenten ohne schwere Schädigung ihrer Gesundheit nicht länger ertragen konnten. Bei der Versetzung des Studenten wurde jedoch ein schwerer Fehler begangen. Man hatte ihn in eine Einzelzelle, die direkt neben unserer lag, gesteckt, und nun versuchte der Mann, sich durch Klopfzeichen verständlich zu machen und das mit einer solchen Intensität, dass wir glaubten, die Mauer würde dabei in die Brüche gehen. Selbstverständlich reagierten wir nicht auf den Spektakel. Auch die Wärter reagierten nicht darauf, und das wurde ihnen zum Verhängnis. Als der Student bis Mitternacht immer noch keinen Anschluss gefunden hatte, wurde er ungeduldig. In der Einzelzelle stand ein großer Kachelofen. Den baute er ab, mit den Kacheln warf er Diskus. Nach einer halben Stunde unerhörter Raserei trat plötzlich Totenstille ein. Vom Reichsadlerturm schlug es zwei Uhr. Wir zermarterten uns das Gehirn, was den Polen veranlasst haben könnte, so urplötzlich in der Ekstase abzubrechen. Ein Herzschlag? Aus der tiefen Finsternis der Zelle kroch schleichend ein Röcheln herauf. — Schnell klingeln wir um den Wärter, der Blasse kriegt wieder einen Anfall. Ruckartig, wie das Schlagen eines Pferdefußes schlugen die Glieder des Epileptikers gegen Wand und Bettgestell. Der wachthabende Beamte kümmerte sich um nichts. Er hatte keine Lust, sich mit dem Kranken herumzubalgen. Als die Krämpfe ihren Höhepunkt erreicht hatten, sprang plötzlich der zweite aus der Reserve, nahm alles Greifbare und schlug wie wahnsinnig um sich. Fensterscheiben, Wasserkrug, Schemel, alles ging dabei in die Brüche. Der mit dem epileptischen Anfall war infolge der explosiven Zuckungen aus dem Bett gefallen und lag auf dem Fußboden. Deutlich konnte man hören, wie seine schlagenden Glieder in die herabgefallenen Scherben schlugen. Als der Tobende anfing, alles zu demolieren, war ich aus dem Bett gesprungen, hatte schnell meine Matratze herausgerissen, das übrige Bettzeug auf die Drahtmatratze gelegt und mich mit der Polstermatratze zugedeckt. Nur so konnte ich mich, der ich in einem unteren Bett lag, vor Verletzungen schützen. Die in den oberen Betten lagen an die Wand gequetscht. Kein Mensch wagte sich zu rühren. Stundenlang dauerte dieses grausige Schauspiel. Der Tobende verfiel ebenfalls in einen Krampf. Als das erste Morgengrauen durch die herausgeschlagenen Fenster blickte, lagen zwei todkranke blutende Menschenleiber zwischen den Trümmern, dicken Schaum vor dem Munde, Glassplitter in den verkrampften Händen. Und der Pole? Man fand ihn nackt, mit stark blutenden Wunden, mit Armen und Beinen in das Eisengitter geklemmt, vor. Die übermenschliche Anstrengung, das Eisen zu verbiegen, hatte ihm das Bewusstsein geraubt. Die Zelle war mit den zerschmetterten Kacheln übersät. Alles in allem, ein Bild, das eine schwere Anklage erhob gegen die Verwaltung des Gefängnisses und gegen das gesamte System der kapitalistischen „Ordnung".
Mir wurde am frühen Morgen des 28. August vom Genossen Bäsel zum Geburtstag gratuliert. Auf Geburtstagsfeiern habe ich noch nie etwas gegeben, großartige Geschenke konnte ich noch nie einheimsen. Bäsel opferte seine halbe Schnitte trockenes Brot und bestand energisch darauf, dass ich sie als Geburtstagsgeschenk annehme. Die Birnen am Fenster leuchteten mir in die Augen und ließen mich ihren Wohlgeschmack ahnen.
In der nächsten Nacht gab's wieder eine kleine Störung. Zwei Litauer saßen wegen einer Edelmetallschiebung. Den ganzen Tag füllten die beiden mit geheimnisvollen Gesprächen aus. Und des Nachts tuschelten sie ebenfalls auf eine Art, die nicht für andere Ohren bestimmt war. Um die nächtliche Unterhaltung durchführen zu können, stieg der im oberen Bett zu seinem Freund ins untere. Die Geräusche, die in der nächtlichen Stille der Zelle aus dem Bett der Litauer kamen, waren für mich lange Zeit undefinierbar. Erst als die unwilligen Proteste des einen gegen eine hartnäckige Forderung des anderen immer dringender wurden und ihre Debatte in eine laute zänkische Auseinandersetzung ausartete, wurde mir klar, dass es sich um Homosexuelle handelte. Die ganze Nacht dauerte der Krach. Die Unterhaltung führten sie in Litauisch. Wir verlangten Aufklärung, warum sie unbedingt ihre störenden Auseinandersetzungen in der Nacht austragen mussten. Immer härter gerieten die Litauer aneinander. Der boshaften Beleidigung des einen folgte die boshaftere des anderen. Das Gezeter, nunmehr in schlechtem Deutsch, um die Schärfe ihrer gegenseitigen Auseinandersetzung auch uns verständlich zu machen, nahm kein Ende. Ihre homosexuellen Intimitäten warfen sie sich an den Kopf mit demselben Eifer, wie sich Kinder mit Schneebällen werfen. Man musste nach der Heftigkeit des Streites annehmen, sie hätten sich für alle Zeiten getrennt; um so verwundeter waren wir, als sie am nächsten Morgen engumschlungen, im tiefsten Schlaf befindlich, wiedervereint in einem Bett lagen.
Der Termin wurde für den nächsten Tag angesagt. Wegen unerlaubten Grenzübertrittes sollte die Bestrafung erfolgen. Kurz nach Mittag ging's los. Wie ein Grammophon, welches auf zuviel Tempo eingestellt ist, plapperte der Richter die Formalitäten herunter. In zehn Minuten war alles erledigt. Zehn Tage Gefängnis, durch die Untersuchungshaft verbüßt, war das Urteil. Noch eine Nacht und dann - hinaus in den sonnigen Morgen! Es ist ein unbeschreibliches Glücksgefühl im Menschen, wenn ihm die Freiheit zurückgegeben wird. Aber die Freude an der Freiheit verwandelte sich bald in die Frage: Was nun? Ohne Pass kam damals niemand durch den Polnischen Korridor. Mit Ausnahme derjenigen, die eine Seereise bezahlen konnten. Die einzige Möglichkeit: Zurück nach Eydtkuhnen ins Quarantänelager, um gültige Papiere zu erlangen! Aber so schnell schießen bekanntlich die Preußen nicht. Mehrere Tage dauerte die Geschichte. Während dieser Zeit mussten wir uns mehrmals impfen lassen, Entlausungen usw. mitmachen, obgleich wir keine Läuse hatten.
Inzwischen war es im Lager interessant geworden. Internierte polnische Truppen, die von den Bolschewiki über die Grenze gedrückt worden waren, hatten sich's hier bequem gemacht. Das „bequem" trifft natürlich nur auf die Offiziere zu. Ein seltsamer Anblick, wenn die Truppen Appell machten und die Offiziere mit ihren Peitschen dazwischenschlugen, wo etwas nach ihrer Meinung nicht stimmte. Die Wut der Chargen über den verlorenen Krieg kannte keine Grenzen, die Unterwürfigkeit der Mannschaften unter den Despotismus der Vorgesetzten ebenfalls nicht. Es war, mit einem Wort gesagt, eine erbärmliche Geistesverfassung, in der diese Truppen steckten. Auch eine kleine Gruppe Bolschewiki war interniert. Leider konnten wir uns mit den Leuten fast gar nicht verständigen. Ihre Ausrüstung war sehr schlecht. Etliche unter ihnen hatten ohne jegliche Fußbekleidung den ganzen Krieg gegen die Polen mitgekämpft. Aber ein wichtiges Moment war augenscheinlich ihre große Kameradschaftlichkeit. Krach untereinander gab es nicht, auch nicht mit den anderen Insassen des Lagers. Auch Vorgesetzte waren nicht da. Aus einer Kiste nahmen alle gemeinsam ihren Tabak. An anderen Orten Ostpreußens waren größere bolschewistische Streitkräfte interniert. So in Arys. Später befanden sich Internierungslager in Salzwedel, Provinz Sachsen, und in Zerbst. Die Tage im Lager vergingen. Als sich endlich die gewünschten Papiere, eine Art Pass, Fahrschein usw. einstellten, wurde uns bekannt gegeben, dass wir jeder zwanzig Mark vom Roten Kreuz bekommen sollten. In der Baracke des Roten Kreuzes empfing uns mit viel Freundlichkeit ein älterer Mann. Wir hatten ihn bei einer Wohltätigkeitsfeier des Roten Kreuzes schon einmal gesehen, dort tat er sich in Worten und Zeichen besonders hervor. Er zahlte uns das Geld aus und ließ uns ein vorgedrucktes, aber unausgefülltes Quittungsformular unterschreiben. Wir malten unsere Unterschrift an die Stelle, wo der Unterstützungsempfänger zu quittieren hat. Was der Rote-Kreuz-Mann an die Stelle hinschrieb, wo unter normalen Verhältnissen beim Quittieren schon die Höhe der Summe ausgefüllt steht, haben wir nie erfahren können. In Königsberg war kurzer Aufenthalt, der Polnische Korridor kam nun näher. Beim Verlassen des deutschen Gebietes wurde eine Revision vorgenommen. Beim Eintritt in polnisches Gebiet gab es wieder eine Revision. Diesen zwei Revisionssätzen schlössen sich noch sechs andere an. Doch muss ich vorher noch eine Episode erzählen, die uns vor der Bekanntschaft mit dem polnischen Gefängniswesen rettete, auf eine Art, die sehr romanhaft klingt und die ich, ohne dafür einen Zeugen zu haben, kaum erzählen könnte. Auf der Brücke, wo der Zug hielt, wurden Bäsel und ich von polnischen Soldaten aus dem Abteil herausgeholt, mit der Erklärung, auf unserem Pass sei etwas nicht in Ordnung, wir könnten diesen Zug zur Weiterfahrt nicht benutzen. „Verdammter Mist!" Ein Offizier, der die Papiere des Genossen Bäsel prüfte, sagte barsch: „Sie werden sich ein paar Wochen in Cef (ehemals Dirschau) amüsieren - das hier sind doch keine Durchreisepapiere!" Da ich mich für das bevorstehende Amüsement meines Freundes auch interessierte, machte ich den Einwurf, dass wir doch diese Papiere als einwandfrei vom Einwanderungsbüro in Eydtkuhnen erhalten hätten. Darauf nahm mir der Kerl mit seiner quadratischen Mütze meine Papiere aus der Hand und überprüfte sie. Ein erstauntes Lächeln spielte auf seiner narbigen Gesichtshaut. — „Sie heißen Turek?" „Jawohl!" „Mann, wie kommen Sie zu meinem Namen? Ich heiße Turek! Wie können Sie sich erlauben, auch Turek zu heißen!?" „Das ist nicht meine Schuld. Beschweren Sie sich bitte bei meinem Großvater, Herr Leutnant, vielleicht kann der Ihnen den Schuldigen nachweisen!" „Sie sind der erste, den ich in meinem Leben treffe, der auch Turek heißt. Tureks sind seltene Kerle. Wo sind Sie geboren?" „In Stendal in der Altmark." „Aha! Das kenne ich, das war im Kriege die Strecke über Berlin nach Hannover zur Westfront, nicht wahr?" „Jawohl, Herr Leutnant!" Ohne lange zu zögern, schrieb er einen Zettel aus und ließ uns sausen: „Sie haben Schwein gehabt, bei uns in Cef ist nicht viel los." Jetzt erfolgten zwei weitere Revisionen, beim Verlassen des polnischen und beim Eintritt in Danziger Gebiet.
Im Wartesaal des Danziger Bahnhofes saß ich gleich nach der Ankunft beim Mittagstisch, als sich zwei Dinge in meinen Gesichtskreis drängten, die immer in der Erinnerung lebendig werden, sobald ich an Danzig denke. Das ist — eine Tripperspritze und eine Literflasche mit Protargol! — Während ich mein dürftiges Mahl verzehrte, setzte sich eine Gestalt neben mich an den Tisch, eine Gestalt, wie ich sie unverfrorener noch nicht gesehen hatte. Ohne Aufforderung erzählte mir der Kerl, dass er zu einem Tripper gekommen sei und dass er die alte Sau, bei der er sich die Schweinerei geholt habe, totschlagen wolle, wenn er sie erwische. Mitten in der Erzählung zog er eine Tripperspritze aus der linken Seitentasche, legte sie neben meinen Teller, holte aus der rechten Seitentasche die Literflasche, nahm seinen Penis aus der Hose und spritzte. Obwohl der Tisch, an dem wir saßen, in einer Ecke stand und der Wartesaal nicht sehr besetzt war, gehört doch immerhin eine große Portion Frechheit dazu, so etwas hier zu erledigen.
Wohin wollten wir eigentlich!? Ob es wohl in Danzig eine Gelegenheit gibt, sein Leben zu fristen? Vielleicht! Tage rastlosen Suchens nach derlei Gelegenheiten gingen dahin. Auf der Reede von Danzig liegt der amerikanische Panzerkreuzer „Pittsbury". Im Gespräch mit englischen Seeleuten erfahren wir, dass der „Pittsbury" noch Leute braucht. Fünfzig Dollar pro Monat, damals ein fürstliches Gehalt. „Wer bei der deutschen Marine war, wird bevorzeugt." Nein, nein! und nochmals nein! Mit der Absicht, zur Roten Armee Russlands zu gehen, waren wir aufgebrochen und mit einer Heuer auf der imperialistischen „Pittsbury" sollte die Fahrt ihr Ende finden? Nein!
Am anderen Tage sehen wir, wie aus einem französischen Dampfer schwere Geschütze und Tanks ausgeladen werden. Kriegsmaterial für Polen gegen Sowjet-Russland. Arbeit ist nirgends zu finden. Mit wenigen Pfennigen in der Tasche schlenderten wir durch die Straßen Danzigs. Danzig trägt internationalen Charakter, das heißt die internationale Bourgeoisie hat Danzig zum Schlachtfeld ihrer Profitgier gemacht. Du gehst harmlos daher und auf einmal kommt ein Mann angestampft, als wolle er das Pflaster zertrampeln. Indem du denkst: wo will denn der Kerl hin mit der Knarre auf der Schulter? — macht er plötzlich nach Kommando, was er sich selbst gibt, halt, kehrt, und stampft denselben Weg zurück. Von der anderen Seite kommt noch so ein Pflastertreter dazu und wieder geht's nach einem lautlosen Kommando... „Halt, links und rechts um, Gewehr bei Fuß, rührt euch." Das ist ein englischer Doppelposten. Der alte Fritz müsste sich die Potsdamer Garnisonkirche vom Leibe wälzen vor Neid, wenn er diese späten Früchte seiner Pflanzung sehen könnte. Englische Soldaten außer Dienst gehen in erstklassiger Uniform mit dem Spazierstock oder der Silberknaufreitpeitsche zwischen den Fingern, breitspurig auf den Straßen Danzigs spazieren. Daneben, hinterher oder vorweg schleicht ehrerbietig der polnische Berufskollege.
Der Soldat mit seiner guten oder schlechten Uniform, mit dem wohlgenährten oder dem verhungerten Aussehen, mit seiner kaufkräftigen oder Inflationsgeldbörse, ist das Spiegelbild der Wirtschaftskraft seines Staates. Am Rhein bei den Besatzungsarmeen trat dieser Umstand noch krasser in die Erscheinung. In Mainz der wenig noble Franzose, in Köln der noble Engländer und in Koblenz der hochnoble Amerikaner. Heute, nach dem Wirtschaftsaufbau Sowjet-Russlands, gibt es auch dort keine barfüßigen Rotarmisten mehr. Der Hunger brachte uns auf die Idee, beim Roten Kreuz in Danzig um Moneten zu schnorren. Sehr höflich wurden wir dort empfangen. Man beglückwünschte uns, aus der bolschewistischen Hölle entronnen zu sein und bot uns einen Stuhl an mit der Bitte, einen Moment zu warten, der Herr, der uns bedienen werde, werde gleich erscheinen. In einem geräumigen Zimmer saßen drei Personen, die, wie es den Anschein hatte, alle nur einer Beschäftigung oblagen, nämlich auf den Feierabend zu warten. Endlich kam der Herr. Eine liebe Erscheinung. Jedenfalls eine Vertrauensperson durch und durch. Er stellte die Anwesenden höflichst vor: „Herr Bäsel, Herr Turek, bitte sehr, Herr Karl Stülpner, Herr Hiesel aus Bayern. Hier der Stern unserer schaffensfrohen Tage, Frl. Rosa, und hier meine Wenigkeit: Rinaldini." Zwar habe ich die Namen nicht mehr so haarscharf im Gedächtnis, jedoch die edlen Züge dieses Wohltätigkeits-Professionals sind für immer haften geblieben. Äußerst rücksichtsvoll vermied er, von unserer finanziellen Lage zu sprechen. Als seien wir alte Bekannte, die er für eine halbe Stunde mit Beschlag belegt habe und die selbstverständlich die Gastfreundschaft des Hauses genießen, so liebenswürdig wurden wir behandelt. Fast unmerklich flocht er in den Kranz seiner Fragen und Reden den Wunsch ein, wir möchten doch ein auf vierzig Mark lautendes Quittungsformular unterschreiben. — „Lassen Sie sich das nicht nehmen, meine Herren, besuchen Sie unser herrliches Zoppot, fabelhaft, der Strand und gerade jetzt das Wetter, einfach prachtvoll! Swinemünde oder Norderney, gar kein Vergleich, nein, nein! Ganz speziell für Herrschaften, die wirklich baden, ist doch Zoppot mit dem ruhigen Wasser der Danziger Bucht, wundervoll. Ich finde die Ostsee überhaupt besser als die Nordsee, vielleicht dass der Salzgehalt dort stärker ist... usw. So, darf ich bitten, Herr Turek, Ihre Unterschrift? Ich danke vielmals. Gestatten, Herr Turek, wollen Sie die Güte haben, noch einmal in deutscher Schrift, unser Chef ist so peinlich... So, streichen Sie das obere bitte durch und... Es sieht nicht ganz exakt aus, unterschreiben Sie doch bitte auf diesem (leeren) Formular. Ich trage das dann gleich nach."
Vierzig Mark! Ei ei ei! O weh, o weh! Wenn der Rinaldo in seiner Schwärmerei für Zoppot die Summe auf dem zerrissenen, ausgefüllten Formular nun vergisst und auf dem leeren unterschriebenen dann vielleicht rein aus „Versehen" hundert Mark notiert und bei der Abrechnung sich in der Kasse ein Plus von sechzig Mark ergibt? Was macht er mit den sechzig Mark, der Ärmste!? Ja,
Wenn's ein Minus wäre, dann könnte man ratenweise vom eigenen Gehalt drauflegen. Aber ein Plus?! Doch warum denn immer das Schlimmste denken. Warum immer so schwarz sehen? Ich werde mir diese Begebenheit als Vorwand nehmen, um meinen leichtfertigen Pessimismus endgültig ad acta zu legen.
Auf einer Penne übernachteten wir, billig und hundsmiserabel zugleich. Aber in der Not frisst der Deibel Fliegen. Uns fraßen die Wanzen. Nach der Abfahrt von Danzig beginnen wieder die Revisionen. Bei Austritt aus dem Danziger Gebiet, bei Eintritt in das polnische, bei Austritt aus dem polnischen und bei Eintritt ins deutsche Gebiet. Damit waren wir auf einer Strecke von nicht hundert Kilometern achtmal kontrolliert worden. In Berlin angekommen, gingen wir wieder zum Roten Kreuz. Mit einer klotzartigen Grobheit flogen wir wieder hinaus. Anscheinend waren wir auf gewissenhafte Beamte gestoßen, die es mit ihrem Beruf ernst nahmen. In Stendal war alles hocherfreut dass wir mit heiler Haut wieder in der Heimat gelandet waren.
Gewiss, auch ich freue mich, aber gar zu bald stellt sich heraus, dass ich von dieser Freude nicht leben kann.
Darum nahm ich einen Pappkoffer, packte ihn voll Zigarren (Fasson 1—9) und trug sie aufs Land. Zigarren sind nicht schwer. Es macht Spaß, an herrlichen Herbsttagen von Dorf zu Dorf zu laufen. Aber in den Dörfern sieht die Sache wesentlich anders aus. Entdeckt so ein Reisender die bekannte Uniform des Kramladens auf dem Dorfe oder in der kleinen Stadt: Persil-, Maggi- und sonstige Reklameschilder „führender Firmen", so steuert er hinein, gleichgültig, ob er in Tabakwaren, Parfümerien, Bürstenwaren, Bijouterie oder in vaterländischer Literatur macht. Reisende müssen fleißig sein wie Bienen und dürfen keine Blume verschmähen, wenn sie nicht verhungern wollen. Leider kann man es den Blumen nicht ansehen, ob sie einträglich sind oder nicht, darum stößt man oftmals auf allerlei taube Blüten. Einmal: „Guten Tag. Ich komme als Vertreter der Firma Johann Gorajski, Stendal, darf ich Ihnen eine Offerte machen in Tabakwaren?" — Während dieser wenigen Worte steht bereits der ganze Inhalt des Koffers auf dem Ladentisch aufgebaut, denn die junge Frau sieht sehr viel versprechend aus, es dürfte nicht allzu schwer sein, etwas abzuhängen. „Unsere Referenzen sind eigenes Fabrikat aus garantiert reinen Überseetabaken. Hier ist Fasson Nr. 5, eine sehr solide Ware, die Sie bei uns für — (ich weiß nicht mehr, wie viel Inflationsmark) — kaufen und gut mit —,— M. absetzen können." So redete ich weiter, damit die liebe Frau nicht gleich zu Worte kam. Die Erfahrung lehrt, dass der Kunde eine ablehnende Antwort um so schwerer hervorbringt, je länger man sie hinausschieben kann. Natürlich muss ihm nach einer gewissen Zeit ein Loch offen gelassen werden, herauszukommen.
Die junge Frau erklärte, es täte ihr sehr leid, ich brauchte mich nicht weiter zu bemühen, Tabakwaren führe sie gar nicht.
Das ist nun für den Reisenden gleichbedeutend mit — „erschossen". Kaum hat die junge Frau geendet, erscheint im Türrahmen eine Alte. Die brüllt mitten in meine Vorstellung hinein: „Um Jottes willen, Zigarr'n, packen Se man schnell in und verduft'n Se, von den Mist hab'n ma noch allens voll, da könn' Se von uns noch wat koofen." Ein andermal: Ich sitze auf dem Bahnhof unter Kollegen. Es ist noch eine halbe Stunde bis zur Zugabfahrt. „So ein miserables Geschäft heute, kaum die Spesen springen heraus!" — „Ich muss mir einen anderen Artikel zulegen. Textil ist nichts mehr, die Kaffern kaufen alles in der Stadt. Mit Tabak muss doch noch was zu machen sein!" — „I wo denn!" — „Na, das ist doch Männerkundschaft, ich habe immer mit den verdammt geizigen Weibern zu tun! Männerkundschaft ist besser, soviel steht fest! Waren Sie schon drüben im Rittergut beim Verwalter?" — „Nein." — „Springen Sie doch schnell mal rüber, der raucht sehr viel, ich kenne ihn, der lässt die Zigarre den Tag über nicht ausgehen. Wenn nicht alles täuscht, lässt sich da was abhängen." — Ich bin beim Verwalter. Der ist sehr zugänglich und interessiert. Wirklich, nicht Markierung. Kaut auf einem kalten Stummel. Ich kalkuliere — todsichere Sache! — Beinahe habe ich ihn fest, bei Fasson Nr. 7. Ein Fehler von mir, dass er eine« andere Fasson unschlüssig beschnüffelt. Er will wählen. „Scheint alles frische Ware zu sein!?" — „Nur in der Decke, Herr Direktor. Einlage und Umblatt sind knochentrocken!" Ich ziehe alle Register. „Rauchen Sie doch bitte an, ganz unverbindlich." Wehe, wenn die Nudel nicht brennt! Und sie brannte nicht! Nun heißt es reden, reden. Man wird lebendig wie ein Sonntagsruderer, dessen Kahn einem Wehr entgegentreibt. Man dringt darauf, noch eine anzurauchen und spricht dabei von der Ehre der Firma, um die es ginge, dass dem Kunden ganz rührselig zumute wird. Der gute Mann will kaufen, dem Brand der zweiten schaut er zu wie einer gefährlichen Zirkusattraktion, es würde ihm sehr nahe gehen, wenn etwas schief ginge. Und es ging sehr schief mit dem Brand. Da man beim Verkauf von hundert Zigarren dem Kunden nicht siebenundneunzig zum Anrauchen geben kann, ist man in solchen Fällen ein geschlagener Mann. Es ist manchmal wirklich wie ein Zirkus. Der Clown muss die Situation retten! Wird man dabei mit einem wehleidigen Lächeln entlassen, kann man noch froh sein. Ich hatte dann noch bis zur Abfahrt des nächsten Zuges vier Stunden Zeit, über die Sachen nachzudenken, wobei ich aus der angebrochenen Kiste zwei Zigarren rauchte. Ein kleiner Trost, sie brannten ausgezeichnet.
Wieder einmal! Warum immer den wohlhabenden Leuten die Zigarren ins Haus tragen? So dachte ich beim Anblick einer Polenkaserne, wie sie in der Altmark jeder deutschnationale Krautjunker besitzt. Es ist Feierabend auf dem Gut. Das Privatleben der Polen hat begonnen. Eine Garmoschka schreit herüber. Was, ihr wisst nicht, wass iss daas, — ach so, ihr versteht nicht russisch. Ich werde übersetzen. Ein Zerrwanst... versteht ihr auch nicht. Eine Faustorgel... immer noch nicht ganz klar!? Aha! Ihr seid Lateiner! Eine — Harmonika schmettert einen Krakowiak. Es riecht stark nach Zwiebeln und Hering. Kaum habe ich ausgepackt, werde ich schon förmlich belagert. Im Handumdrehen sind meine Zigarren vergriffen, das heißt, zum Ansehen vorläufig nur. Bald hagelt es Bestellungen. Ein Stück. Zwei Stück. Sechs Stück. Ich erkläre, dass ich nur kistenweise verkaufe. „Nehmen Sie doch gemeinsam eine Kiste!" Es war ihnen zu teuer. Aber eine Kiste haben sie doch genommen, das habe ich aber erst gemerkt, als ich schon auf der Heimfahrt war.
Die Tage werden kürzer. In dieser Zeit hat ein Reisender, wie ich einer war, keinen genügend großen Aktionsradius. Bei Eintritt der Dämmerung lässt sich kein Geschäft mehr machen. Das bedingte eine Änderung meiner geschäftlichen Obliegenheiten. Ich ging mit meinem Tabakladen auf den „Schock". Das heißt in der Fachwelt auf Märkte. Das ist sehr interessant. Man reist von Stadt zu Stadt. Meist sind es Kleinstädte, seltener Mittelstädte. Bis mittags oder nachmittags sitzt das muntere Volk der Schockmacher in Kneipen oder Cafes umher und erzählt sich Geschichten. Der Mann, der jeden Tag achtmal lebendig begraben wird, bezahlt der Lieblingsfrau des Maharadscha ein Bier. Selbst könnte sie sich keins kaufen, ihr Alter wäre ein Geizkragen, sagte sie. Emil, vom Leidensweg unseres Herrn und Heilands in Wachs, verdrückt eine Riesenportion Eisbein. Er kann sich das leisten, denn für sein Unternehmen machen die Pfaffen Reklame. Gummi-Else steht heute nicht, sie ist schon wieder halb besoffen. Es ist fast immer dieselbe Gesellschaft, nur
auf größeren Schocks sieht man mehrfach neue Gesichter. Gibt es irgendwo Krach, so sind es meistens Ortsansässige, falsche Schockmacher, die sich einbilden, besondere Vorzüge genießen zu können. In Wittenberg traf es sich, dass ich am zweiten Tage schon fast ausverkauft hatte. Auf meinem Tisch verloren sich die paar Kisten. Mir kam der Gedanke, einen „Bauchladen" (Hausierer-Kasten) aufzumachen. Schneller ging das Geschäft. Diese Feststellung wurde auch von den einheimischen Tabakhändlern gemacht, noch zumal ich nicht immer vermeiden konnte, in der Nähe ihrer Stände zu verkaufen. — „Herr Kommerzienrat, was kosten denn Ihre teuersten Sorten?" — Dieser Spaßmacher hinter mir war ein Schutzmann. „Ich soll Sie mal aufs Büro holen, is nischt weiter, Sie können sich's schon denken." — „Wegen dem Bauchladen wohl?" Konkurrenzneid! Der Beamte auf dem Büro war sehr unparteiisch. Er könne mir den Bauchladen nicht verbieten. Die Neidhammels aus Wittenberg erhielten von ihm den Rat, sich auch einen Bauchladen anzuschaffen. Auf den kleinsten Märkten machte ich die größten Geschäfte. Mein kleinster Markt war Clenze. Dort machte ich das größte Geschäft. Salzwedel—Ülzen sind zwei öde Nester südöstlich der Lüneburger Heide. Dazwischen liegt ein Dorfbahnhof, der heißt Bergen. Dort stieg ich in einen Reichspostomnibus, zwei PS. Das linke Pferd hieß Lotte, das rechte Max. Der Kutscher sah malerisch aus. Er steckte in einem Kostüm, wie es von Künstlern auf Kleinkunstbühnen beim Vortrag des Postillion von Longjumeau benutzt wird. Und, denkt euch, die Bereifung: aus Eisen. Die Karosserie nur Holz. Vier Fenster, davon die Hälfte Blech statt Glas. Die Geschwindigkeit liegt 363 km unterm Weltrekord. Immerhin eine sehr beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass Major Seagrave mit tausend PS nur 372 km gefahren ist. In einem übertraf die Post von Clenze die Wagen der ganzen Welt, das war die Federung. Die Anordnung der sechs Sitzplätze gestattete, dass die drei linkssitzenden Passagiere den drei rechtssitzenden immer gerade aus einem Meter Entfernung in die. Augen sehen konnten. Als ich fuhr, saßen links drei dicke Schockweiber. Die eine kennt ihr schon, es war die Gummi-Else. Sie war schon wieder halb besoffen. Rechts saß nur ich. Eben aus dieser Sachlage erinnere ich mich der glänzenden Federung der Clenzer Post. Während die drei Damen sehr bequem, fast wie im Liegestuhl die Fahrt machten, musste ich, beinahe stehend, dauernd acht geben, damit ich nicht einer der drei an den Hals flog. Das ewige Gefühl, umzufallen, im Verein mit dem oft bedrohlichen Schwanken des Gefährtes, sowie die anbrechende Dämmerung, ließen bei mir so etwas wie Seekrankheit aufkommen. Vielleicht war es auch nur Müdigkeit. Gummi-Else war eine von den Menschenkindern, die, wenn sie betrunken sind, keinen bösartigen Charakter zeigen. Und als ich halb schlafend wieder einmal auf der Wippe stand, zog sie mich sanft auf ihren Schoß. Von den dreien war sie die jüngste. Ob ich deshalb sitzen blieb, weiß ich nicht. Jedenfalls war es sehr bequem. Die Post segelte nun wie ein alter Schoner, der stark krängt, ihren Kurs nach Clenze. Als dort der Kutscher den Verschlag öffnete, schliefen wir alle vier. Er weckte uns: „He, Madam, dat mün Se umgekehrt moaken, Se mün den jungen Mann uppn Schoß nehm." Gummi-Else sagte, etwas traurig: „Erst war das auch so." Ich kam mir plötzlich so vor, als müsste auch ich dazu eine Erklärung abgeben. Indem ich meine eingeschlafenen Glieder streckte, knurrte ich: „Wir lieben eben die Veränderung. Is dat schon Clenze hier!?" — „Jawoll, schon seit fünf Minuten." — Dann hatte ich eine seltsame Vision. Ich sah irgendwo im Dunkeln des Wagens eine Schrift, wie sie öfters in Bedürfnisanstalten anzutreffen ist, die lautete: „Vor dem Austritt sind die Kleider zu ordnen!" — Die Märkte solcher kleinen Orte sind meistens mit Viehmarkt verbunden. Schon früh beginnt dann der Betrieb. Gummi-Else und ich standen nebeneinander, kaum Zeit, ein Wort zu wechseln, blieb uns. Das Geschäft war glänzend. Es gelang mir, für den Tag Gummi-Else trockenzulegen. — „Ich verspreche dir, heute bestimmt nüchtern ins Bett zu kommen." — „Wir werden ja sehen, ick gläuw di dat noch nich!" — „Ach, wieso nich? Wenn ick 'n Mann häw, bruck ick doch nich supen!"
Endlich bekam ich das Leben auf den Schocks satt. Was eines Morgens noch kein fester Gedanke war, sollte abends schon Wirklichkeit sein: ich siedelte ins Ruhrgebiet über. Bis Bochum fuhr ich diesmal. In der katholischen „Westfälischen Volkszeitung" nahm ich Arbeit. Eine schwarze Bude war das, von den etwas über fünfzig Kollegen gehörten nur vier bis fünf der SPD an. Ich war der einzige KPD-Mann. Zwar gelang es mir, nach monatelanger Arbeit eine kleine Betriebszelle von drei Genossen zuwege zu bringen, jedoch zeigten diese bei den scharfmacherischen Methoden der Firma nicht genügend Rückgrat. Ein wahrer Jammer ist es, feststellen zu müssen, wie schlapp die Kollegenschaft den brutalen Machenschaften der Betriebsleitung begegnete. Anstatt Geschlossenheit zu zeigen, lagen sie sich gegenseitig in den Haaren. Verklatschten einander bei den Faktoren und Saalmeistern!
Die Arbeit in der „Westfälischen Volkszeitung" war geisttötend. Neben etlichen Akzidenzdrucksachen wurden viel kirchliche Zeitschriften angefertigt. Der Setzerfaktor leistete von Tag zu Tag Erstaunlicheres in der Kommunistenfresserei. Die beiden Chefs Schürmann und Klagges mieden mich absichtlich, versäumten jedoch nicht, bei Gelegenheiten, die sich boten, hinter meinem Rücken in Kommunistenhetze zu machen. So hatten sie mich im Verdacht, die Wasserleitungshähne kaputt zu drehen, die Seife zu stehlen usw. Der Faktor war infolge rigoroser Ausbeutung durch die Firma längst ein erledigter Mann. Dürre wie ein Gespenst, zapplig wie ein kötelnder Pinscher. Zwar war er übel und unausstehlich auch im Verkehr mit den anderen Kollegen, das hinderte aber die meisten nicht, sich immer wieder bei ihm anzuschmieren. Das Ende meiner Tätigkeit in diesem Kunsttempel gestaltete sich folgendermaßen. Ich zeichnete in einem vier Seiten langen Brief die erbärmliche Rolle des Faktors als Lakai der Ausbeuter recht drastisch auf. Stellte ihn darin seinen beiden wohlgenährten faulenzenden Chefs gegenüber und empfahl ihn am Schluß dem Schinder. Diesen Brief legte ich am andern Morgen um 9 Uhr, als er eine Gardinenpredigt seiner Chefs anzuhören hatte, in deren Beisein auf sein Pult. Um 10 Uhr hatte ich den Restlohn und meine Papiere in der Tasche. Fristlos entlassen.
Zwei Tage später, nachdem ich mich überzeugt hatte, dass Kunst knapp sei, ging ich auf den Pütt, das heißt in die Zeche „Friedlicher Nachbar" bei Hattingen an der Ruhr. Man fragte mich dort, ob ich unter Tag arbeiten oder zum Lokomotiv-Brikettmachen gehen wolle. Ich erhoffte beim Brikettmachen bessere Arbeitsbedingungen und wählte darum das. Aber wie war ich erschrocken, als dort ein alter Arbeiter, pechschwarz im Gesicht, mit einem Eimer Lehmbrei an mich herantrat mit den Worten: „Hol still, min Jong, ich wüll de was bemalen." Erst sträubte ich mich, es half nichts. Wollte ich nicht in wenigen Wochen so waschecht schwarz aussehen wie der Alte, so musste ich jeden Tag vor Anfang der Schicht mein Gesicht mit Lehmbrei bestreichen lassen. Nach etwa einer Stunde trocknete die Breischicht und zurück blieb eine ziemlich starre Lehmmaske, die den Gesichtern der Kolonne etwas gleichförmiges Totes verlieh. Der eine sah genau aus wie der andere. Man tat gut, während der Periode des Trocknens die Gesichtszüge auf ein hestimmtes Gleis zu schieben, denn trocknete die Maske hei herabfallendem finsterem Ausdruck, so platzte der Lehm bei aufgeheiterten Zügen im Laufe des Tages ab. In die Bruchstellen setzte der Pechstaub seine Striche, was bei wiederholtem Vorkommen nach Abwaschen der Lehmmaske eine deutliche Markierung zurückließ. Diese Bemalung sah dann schlechter aus als eine gleichmäßig schwarze Einwirkung des Pechs auf das ganze Gesicht. Ich hatte während der Zeit auf der Zeche „Friedlicher Nachbar" ein jeden Tag gleiches lächelndes Gesicht. Der Mund etwas breit, die Augen ein wenig verkniffen, so sah ich aus, auch wenn die schweren heißen Briketts manchmal meine Finger in die Klemme nahmen. Lerne leiden ohne zu klagen. Lerne leben ohne zu arbeiten, wenigstens nicht in einer Lokomotiv-Brikettfabrik.
Energisch suchte ich nach Kunst, das heißt Berufsarbeit. Diese fand ich auch bald. Die „Neuesten Nachrichten" in Buer nahmen mich auf. Um nach Buer zu gelangen, verzog ich nach Herne. Ich will nun erzählen, welchen Weg zur Arbeit ich jeden Tag machen mußte. Dabei ist zu bemerken, dass ein solcher Zustand für Ruhrgebietsverhältnisse noch keine Abnormität darstellt. Weil ich in Buer keine Wohnung fand, stand ich jeden Tag um vier Uhr auf, ging eine Viertelstunde zum Bahnhof Herne, fuhr bis Station Wanne, stieg dort in einen Zug, der mich bis Buer brachte. Der Bahnhof Buer liegt so weit vom Stadtinnern, dass man, um dorthin zu gelangen, die Straßenbahn benutzen muss. Benutzte also die Straßenbahn und war dann nach kurzem Fußweg um sieben Uhr im Geschäft. Nach Acht-Stunden-Hetze im Zeitungsbetrieb kletterte ich diese Verkehrsskala wieder herunter und landete spät abends in Herne. In Buer bei den „Neuesten Nachrichten" wurde unheimlich gesoffen. Der Faktor gestattete das, weil für ihn dabei etwas abfiel. Er wohnte ebenfalls nicht in Buer, sondern in Recklinghausen. (Ein Jahr später wurde er verhaftet, weil man bei ihm eine kleine Druckerei vorfand, deren Schriften allzu große Ähnlichkeit mit denen der „Neuesten Nachrichten" hatten.)
Nach vielen Kreuzfahrten durch die zahlreichen Arbeitsstätten des Ruhrreviers ging ich auf Walze. In der Offizin Ruhfuß, Dortmund, war die Debatte über die Feier des ersten Mai etwas haarig ausgefallen. Einem Jesuiten, der die Kommunistenfresserei auch ohne den winkenden Blick seines Herrn und Gebieters betrieb, war dabei die Brille ein wenig in die fettigen Backen gerutscht, so dass er durch eine neue Brille für drei Wochen die Welt durchs Krankenhausfenster betrachten mußte. Obgleich dieser Kampf auf der Straße stattfand und Landauer, der Jesuit, sich mit einem schweren Bleisteg bewaffnet hatte, wurde ich deswegen entlassen. Für die Geschäftsleitung der Firma Ruhfuß ist es ein Verbrechen, wenn sich ein Kommunist von einem Jesuiten nicht widerstandslos den Schädel einschlagen lässt. Jetzt läuft der Kerl mit dem Kainszeichen herum. Eine Narbe mit Nähten.
Im Betrieb Ruhfuß stand ein junger Kollege mit Namen Urthel, der sich kurz entschlossen die Papiere geben ließ, um an der Walze teilzunehmen. In Richtung Köln zogen wir los. Den Rhein hinauf, Bonn, Koblenz, Wiesbaden, Mainz. An den Stellen, wo der Rhein am schönsten ist, war unser Hunger am größten. In Lorch am Rhein hängen laut Reiseführer silberne Glocken im Kirchturm. Wir haben dort verzweifelt nach ein paar Kartoffeln geforscht. Nichts zu machen, Lorch ist uns durch seine herrlich klingenden Glocken im Gedächtnis haften geblieben. Feine Glocken, aber keine Kartoffeln, eine schmerzliche Erinnerung. In Eltville wurde Arbeit angeboten. Krauterbude erster Klasse. Lehrlinge, die trotz dreijähriger Lehrzeit noch nichts setzen konnten als ein Etikett für Weinflaschen. Ihre Zahl war jedoch noch nicht so hoch wie bei Theodor Schulz in Osterburg.
In Mainz trafen wir nach etlicher Forschung auf farbige französische Kolonialtruppen-Angehörige, die eine gute Ladung Hass und Groll gegen den französischen Militarismus unter ihrer schwarzbraunen Haut aufgespeichert trugen. Einmal muss die Rache kommen. So lautete der Refrain ihrer heiseren, wütenden Reden. Ein Chargierter nahm uns aus dem Kreis schimpfender Marokkaner heraus mit den Worten: „Ist verboten zu sprechen mit swarze Francesoldat." Etwa fünfzig Meter weiter machte er uns klar, dass in dem Kreis der Kameraden ein Spitzel sei. Er beobachte den Burschen schon länger, leider sei es schwer, ihn hier abzukanzeln. Als früherer Seemann war er viel in der Welt herumgekommen. Es sei eine Schande, dass seine Landsleute sich in dem ungewohnten Klima Rheumatismus und Katarrhe holen müssten, während in der Heimat die Familie auf den Vater oder Bruder warte. Überraschend war uns, wie eingehend dieser Mann, der doch weder Deutsch noch Französisch lesen konnte, über die Geschehnisse in der Sowjetunion unterrichtet war. Die Russen waren für ihn alle Gentlemen, wie er englisch sagte. Weil sie zuerst mit der Revolution begonnen hätten. Auf unsere Frage, wer wird wohl nun Revolution machen, gab er prompt die Antwort: „Afrika, swarze Kamerad." Mit aufrichtigem Händedruck schieden wir voneinander. In einem Dorf bei Wiesbaden war Tanz. Von Genossen aus Wiesbaden wurde uns gesagt, dass man dort mit Besatzungstruppen gut Fühlung nehmen könne. Wir Buchdrucker haben in unseren Verbandsbüchern eine deutsche und eine französische Beschriftung. Durch diese Tatsache bekamen wir bald Anschluss. Die jungen Jahrgänge der dort stationierten Truppe, die den Krieg noch nicht gesehen hatten, erwiesen sich leider als sehr vaterlandstreu, es kam kein Gespräch in Fluss. Man antwortete auf unsere Fragen zurückhaltend und scheu, obgleich mein Kollege mit einigen Sprachkenntnissen sich ausreichend verständigen konnte. Der Deutschenhass wird durch die Militärbehörde künstlich geschürt. Das zeigt folgende kleine Geschichte, die uns ein Arbeiter in Mainz erzählte. Die Indochinesen sind gute Mechaniker, darum werden sie hauptsächlich als technische Truppe verwendet. Ein Chinamann war mit seinem Kraftwagen infolge Unkenntnis der Wege aus der Besatzungszone heraus ins unbesetzte Gebiet geraten. In der Meinung nun, einer ungeheuren Gefahr ausgesetzt zu sein, ließ er den Wagen stehen und verschanzte sich in ihm. Drei Tage lag er so auf einem verlorenen Feldweg und argwöhnte hinter den neugierigen Blicken der harmlosen Landbevölkerung die grausamsten Mordpläne gegen sich und seine Maschine. Der Hunger machte ihn gelehrig. Denn schließlich mußte er einsehen, dass man einen Menschen nicht mit Weißbrot und Äpfelwein um die Ecke bringt.
Ü ber Frankfurt am Main zogen wir durch den Spessart nach Würzburg. Auch Rothenburg ob der Tauber streiften wir. Müde und hungrig stierten wir die Altertümer Rothenburgs herauf und herunter. Serade als ein hoher Mauerturm betrachtet werden sollte, tat sich eine sehr alte Frau durch eine freundliche Einladung zum Nachtquartier in ihrem Turmzimmer hervor. Über halb zerbrochene Treppen, an Leitern hoch ging's, wo an einer Stelle zwei, drei Sprossen fehlten. Kaum konnten wir der Alten in den halbdunklen Turm folgen. In einem großen geräumigen Zimmer endigte die Kletterei. Die Alte vermietete an Sommerfrischler mit voller Pension, wie sie uns erzählte. Um zu verhindern, dass sich unsere fragwürdigen Mienen zu einem entschiedenen Dementi entluden, stellte die Alte in schmutzstrotzenden Tellern eine Suppe auf einen Tisch, den man nicht berühren konnte, ohne festzukleben. Selbst Fliegen kamen nicht ohne Mühe von ihm los. Nach der Suppe gab's Honigbrot. So nannte es die Alte. Zuckersirup war's. Die Hälfte lief durch das Brot auf den Tisch. Als die Alte das Brotmesser nahm, damit das Moos an ihren drei Zahnstummeln ein wenig lockerte, und uns fragte, ob sie für uns noch ein Honigbrot fertig machen solle, ergriffen wir die Flucht. Zuviel Mittelalter in Rothenburg für uns. Auf der Chaussee nach Ansbach kam ein Kunde, der ein Hemd verkaufen wollte. Ich hätte ein Hemd gebrauchen können, aber ein alter Speckjäger hat im Handel mit Textilwaren ein schlechtes Renommee. Für ein Spottgeld zog er aus seiner Brusttasche ein gewrungenes nasses Hemd hervor: „Dös brauchst di net glei hier in derer Gegend z' trocknen, morgen, wennst auf Nürnberg gehst, do lasst sich's scho mache." Aus einem Waschfass gemaust.
In Nürnberg auf der Post lag ein Brief von meinen Eltern, worin ich gebeten wurde, sofort nach Hause zu kommen. Über Bamberg, Erfurt, Halle, Magdeburg zog ich nordwärts. Mein Vater trug sich mit Auswanderungsplänen. Nachdem die Mitglieder der ins Leben gerufenen Kolonie um etliche Monatsbeiträge leichter gemacht waren, wanderten die Manager aus, auf Nimmerwiedersehen. Damit war meine Anwesenheit in Stendal wieder überflüssig geworden. Im Herbst geht man nicht gern auf Walze, aber der Prolet ist schon zu sehr daran gewöhnt, das tun zu müssen, was er nicht gern tut. Ich tippelte los. Diesmal hatte ich einen interessanten Kameraden. Einen Rohkostler. Er aß nur Früchte. Am Tage vor unserer Abreise besorgte er sich einen Rucksack Birnen. Bis Berlin aß er Birnen. In Berlin kaufte er Rosinen. Bis Magdeburg aß er Rosinen. Es war ein Hundewetter auf der ganzen Reise. Kalter Regen floss reichlich hernieder. Der Rohkostler besaß kein Hemd, keinen Mantel, nur eine Jacke und eine kurze Hose. Mit blauen bloßen Füßen trabte er durch Regenpfützen und Schlammlöcher. Der Kapitalismus war für ihn überwunden: „Ich lasse mich nicht ausbeuten. Mich ärgern nicht die fetten Bäuche der Großen." — „Aber du frierst." — „Nein." — „Du musst elenden Kohldampf haben." — „Nein." — „Wir werden sehen, in vierzehn Tagen bist du erledigt." — „Nein, ich will nicht erledigt sein, ich will nicht hungern, ich will nicht frieren. Auf den Willen kommt es an. Ihr seid nicht besser wie die Kapitalisten, der Unterschied besteht darin, dass die einen schon fressen und saufen können, was ihnen beliebt, während euch in den Kaidaunen vorläufig nur erst die Gier brennt. Eure Eitelkeit ist schlimmer als die der Besitzenden; denn ihr müsst schuften für den Firlefanz, die anderen aber erwerben es mühelos. Ihr seid Affen, weil ihr alles nachahmt, was man euch vormacht." In Hadmersleben, unweit Halberstadt, auf Schacht I und II der „Konsolidierten Alkaliwerke Westeregeln", bot sich Arbeit. „Ich lasse mich nicht ausbeuten", sagte mein Kumpel und stieg nicht mit in die Grube. Aber ich hatte die Schnauze voll. Der ewige Regen und draußen in Feldscheunen schlafen müssen, ist nicht angenehm, wenn der Reif des Morgens die Gräser versilbert. „Ich friere nicht", rief der Rohköstler und schaute verächtlich auf die Frostbeulen an seinen Füßen.
Die Inflation vernichtete mehr und mehr den Kaufwert der Mark. Die Reiseunterstützung unserer Gewerkschaft war auch bei billigsten Bezugsquellen nicht mehr geeignet, das Loch im Magen zu stopfen. Ich habe keinen Hunger, warf der Reformmensch lächelnd in die Debatte, nahm eine Handvoll Roggenkörner und zerkaute sie. Wir trennten uns. (Er hieß Wolf und war in Mannheim zu Hause. Sobald ich nach Mannheim komme, ziehe ich Erkundigungen ein, ich will wissen, wann er beerdigt worden ist.)
Als die Sache mit den Papieren erledigt war, bezog ich Quartier im Schlafhaus der Zeche. Ein neues Gebäude, fast wie eine Villa, doch die Inneneinrichtung war wie in einer Baracke. Fünf Militärbettstellen in einem sehr kleinen Raum. Bettzeug schien für die Zechenverwaltung ein Luxusartikel. In schmutzige, zerrissene Decken rollt sich der Prolet. Dass er schläft, dafür sorgt die Verwaltung durch genügende Bewegung unter Tag. Als ich noch nicht ganz fertig war mit dem Nachdenken, was wohl für Neuigkeiten in den Schichten der Erde 600 Meter unter ihrer Oberfläche zu erwarten seien, wurde ich jäh daran erinnert, dass es bei den Alkaliwerken immer was zu erleben gibt, gleichgültig ob über oder unter Tag. Es trat eine Person ins Zimmer, die es sich nicht nehmen ließ, sofort mit mir Fremden in eine „angeregte" Unterhaltung zu steigen. — „Du in die Luft geschissenes Fragezeichen, dir soll ich wohl eine anhauen, dass dir die Backzähne in den Arsch runter rutschen. Verschwinde, sonst gehste durchs Fenster." Da dieser Weg durchs Fenster zehn Meter Steilgefälle hatte, zog ich es vor, dem lieben Kollegen zuvorzukommen und den normalen Weg durch die Tür zu nehmen.
In Hadmersleben kennt der Bürger den Grubenarbeiter schon, bevor er ihn zum ersten Mal gesehen hat. Wahrscheinlich zählt er alle Menschen, die nicht genau denselben Anstrich haben, wie er, zu Geschöpfen zweiter Klasse. Darum wurde mir schon beim Eintritt in dieses niedliche Kleinstadtidyll klar, dass ich nicht als vollwertiger Mensch gerechnet wurde. Wenn die Bürgerstöchter einem Grubenarbeiter begegnen, zeigen sie für irgendeine graue Wand, für das Knüppelpflaster oder den Himmel plötzlich so lebhaftes Interesse, dass ihnen keine Zeit bleibt, der Anwesenheit eines zweiten Menschen auch nur eine Sekunde Aufmerksamkeit zu schenken. Trotzdem gibt es in Hadmersleben Leute, die am Grubenarbeiter nicht mit Missachtung vorübergehen, das sind die Kaufleute. Ein Hering, eine saure Gurke, ein Brot macht keine große Rechnung, und doch wurde ich mit Höflichkeit bedient. Es war die Art Höflichkeit, von der man deutlich spürt, dass sie vor allem der Brieftasche gilt. Mit dem Einkauf in einer großen Tüte ging ich zurück zu dem Schlafhaus. Wieder fing der Mensch von vorhin mit mir ein Gespräch an: „Du dreimal um den Kirchturm gewickeltes Hammelgeschlinge, bist du schon wieder da, soll ich dir eine tachteln, dass dir sämtliche Gesichtszüge abfahren?" Der Kerl war unheimlich lang und breit, dazu total besoffen. Ich hatte die große Tüte mit dem Einkauf bereits in einen Schrank gelegt, nun nahm ich sie wieder heraus und verließ das Zimmer, um mein Abendbrot auf der Treppe einzunehmen. Den Hering ließ ich unberührt, mein Leben kam mir ohnehin schon so versalzen vor. Da ich ihn auf meiner Wanderung durch das Schlafhaus nicht in der Hand halten wollte, legte ich ihn in ein Treppenhausfensterbrett. Leider muss er in einem unbewachten Augenblick von dort entflohen sein, ich sah ihn niemals wieder.
Ja, das Haus war gut gebaut, neu, jedenfalls ohne Ungeziefer. An etliche Türen klopfte ich, fast alle waren zu, die Besatzung ausgeflogen, durch eine drang das Wimmern einer Geige. Ich klopfte rücksichtsvoll dort an, die Geige ließ sich nicht stören. Als ich eintrat, fand ich das Zimmer unbeleuchtet, in einer stockfinsteren Ecke war die Geige. Ich blieb an der Tür stehen, um zu lauschen. Eine Stunde stand ich dort. Die Geige sang fort und fort, leise und leiser, bis sie ganz schwieg. Darauf ging ich hinunter zum Wirt, auf mein Klopfen antwortete nur ein wütend bellender Hund. Leise schlich ich mich nun in mein Zimmer. Der Lange lag unbekleidet auf einem Bett und schlief. Schnell verlöschte ich wieder das Licht und ging ebenfalls zu Bett. Wahrscheinlich hatte ich schon lange geschlafen, als ein fürchterlicher Krach begann. Von der Zunge des Langen, dessen Stimme ich schon kannte, lösten sich verheißungsvolle Worte. Ich hatte schon vorher ein Geräusch vernommen, als wenn jemand das Zimmer betreten hätte. Die Bestätigung, dass wir wirklich zu dreien waren, gab der Lange, indem er laut brüllte: „Sag noch ein Wort, du Arschloch papiernes, und ich schlag dir eins auf die Brotfotze, dass die Backzähne in der Nachbarschaft herumfliegen." Ich hatte keine Lust, mich in die Angelegenheit der beiden einzumengen, überdies lag ich gerade rechts mit dem Kopf zur Wand, so dass ich den Vorgang nicht von allem Anfang beobachtet hatte, um ein unparteiisches Wort sprechen zu können. Der Lange sprach ein unsympathisches oberschlesisches Schuldeutsch, und Leute mit solcher Aussprache sind mir von jeher gleichgültig gewesen. Wahrscheinlich wollte der dritte auch schlafen, doch kaum verlöschte das Licht, als der Breite-Lange mörderlich schrie: „Ist dir lange kein blutiges Auge über das Chemisett gerollt? Wer hat dir gesagt, das Licht abzuknipsen." Befehlsgemäß drehte die dritte Person das Licht wieder an. Wohl eine Stunde mochten wir drei geschlafen haben, als eine vierte Person das Zimmer betrat. Weil sie in Holzpantoffeln kam und der Lange-Breite wieder ein Gespräch begann, wurde ich munter: „Ich schlage dir eins auf den Schädel, dass dir die Strümpfe platzen und du Plattfüße kriegst, wenn du nicht gleich die Holzschuhe ablegst." Zur selben Sekunde löschte die vierte Person aus. Nach zwei bis drei Stunden war Wecken. Ein Klingelzeichen rasselte ohrenbetäubend. Der Lange-Breite ließ sich vernehmen: „Dieses verpfuschte Kriegerdenkmal weckt wieder eine halbe Stunde zu früh, wir werden noch nicht aufstehen." Ich war anderer Meinung und stand mit einem Satz vor meinem Bette. Der Breite: „Wessen Vater bist du? Woher kommst du über die Mauer geklettert?" Man kann nicht unhöflich sein, ich war ihm nun endlich eine Antwort schuldig: „Halt die Fresse, du bist besoffen..." — „Leute, wir werden aufstehen müssen, es geht nicht, dass die Stube sieben immer zu spät zur Grube kommt", meinte er. Befehlsmäßig erhoben sich alle. Durch den dicksten Schlamm der Magdeburger Börde zogen die Insassen des Schlafhauses zur Zeche, schweigend mit gebeugtem Rücken, das dürftige Frühstückspaket in der Tasche. Heute ist Sonnabend, wohl jeder hat noch einen Bissen. Nein, nicht jeder. In dem Schlafhaus sammelt die Zechenverwaltung alles, was sie an Arbeitskräften für eine gute Konjunktur braucht. Ausgestoßene der Gesellschaft, Lumpenproletariat ist der Sammelbegriff und die Rinnsale zu diesem — verkrachte Akademiker, hungernde Künstler, überwinternde Landstreicher, geschundene Opfer von Krieg und Inflation, Leidenschaftszerfressene sowie Stumpfsinnige — verbringen hier ihre Tage. Tage? Besser gesagt Nächte. Wir gehen bei Dunkelheit zum Schacht, sind nachmittags drei Uhr wieder „zu Hause", also lässt uns der Spätherbst eine einzige Stunde Licht, und das ist unser Tag.
In der Grube schwerste Arbeit. Nehmt als Probe folgendes: In schlechter Grubenluft bei oftmals hoher Temperatur müssen drei Mann in einer Schicht vierundvierzig Wagen füllen, wovon jeder fünfundzwanzig Zentner Steinsalz fasst, oder zweiundfünfzig Wagen mit je zwanzig Zentner Kali. Wer den unergründlichen Schlund des Ausbeuters Kapitalismus in seiner ganzen Brutalität sehen will, muss auf die Fördersohle eines Schachtes hinuntersteigen. Hier, wo es darauf ankommt, die mit Schweiß und Flüchen der Erde abgerungenen Schätze zutage zu fördern, reißt er sein bluttriefendes Maul am weitesten auf. Knochenbrüche, zerquetschte Glieder, abgerissene Finger sind keine Argumente, seine Gier nach Profit auch nur für eine Minute in ein anderes Gefühl zu verwandeln. Weiter, weiter, alle fünfundvierzig Sekunden saust der Förderkorb den Schacht herauf und herunter. Hier gibt es keine Unterbrechung. Los, los, alle fünfundvierzig Sekunden muss der Förderkorb mit vier Wagen die Erdoberfläche erreicht haben. Fauchen und Sausen im dunklen Schacht. Alle fünfundvierzig Sekunden, muss, muss. — Heran die Wagen. Die leeren oder Versatzwagen heraus, hinein die vollen, fünfundvierzig Sekunden herauf, sechshundertsechzig Meter hinunter. Tempo. Irgendwo in einem glänzenden Hotel haben gutgekleidete, beleibte Männer, Besitzer goldener Uhren, eleganter Autos, mondäner Frauen, dieses Tempo bestimmt: das Syndikat legt die Förderung für das zweite Halbjahr 1922 fest auf — Millionen Tonnen. Prolet, leih deine Knochen! Irgendwo am Verhandlungstisch haben deine Vertreter die Notwendigkeit der Überschichten sowie die Unmöglichkeit der Sechsstundenschicht den Gutgekleideten von den Augen abgelesen, darum Kumpel: feste ran, gegen mit de Brost, dafür kannst du am nächsten Lohntag einen Hering mehr essen.
Der Lump aus dem Schlafhaus watet in Holzschuhen, bis an die Waden im Schlamm, Tag für Tag zur Grube. Er hat nur eine Hose, darin gräbt er das Kali, darin feiert er seine Feste. Er hat nur ein Hemd, daran klebt salziger Schweiß als Ausfluss unmenschlicher Arbeit, es trägt gleichzeitig die Flecken seiner kargen Liebesstunden. Der Alkohol ist meistens sein einziger Freund. Ein ehemaliger Schriftsteller, welcher als Beweis dieser Tätigkeit überall ein paar vergilbte Manuskripte mit sich herumschleppte, war lange Zeit das Rätsel seiner Stubenkollegen, zu denen auch ich zählte. Er war einer der Ärmsten der Stube und doch ließ sich nicht feststellen, wo er sein Geld vertat. Wohl war es uns geläufig, dass sich niemand etwas Wertvolles an Kleidungsstücken anschaffen konnte, aber dieser Kollege mit seinen Holzpantoffeln und dem total zerrissenen Jackett hatte bestimmt ein Loch in seiner Brieftasche, wo hinaus die Inflationstausender krabbelten. Keiner lebte solider wie der Schriftsteller. Niemals ging's bei ihm in Kneipen. Niemals fuhr er nach Oschersleben oder Magdeburg zu den Prostituierten. Sein Essen war dürftiger als das unsere. Er aß fast nichts als trockenes Brot. Wurst und Fisch sah man bei ihm nur am Lohntag. Jeden Abend um sieben oder acht Uhr zog er seine schmierigen Decken über den Kopf, und dann lag er still in seiner Ecke bis zum Morgen. Dass er oftmals im Schlaf leise Selbstgespräche führte, nahm ihm niemand übel. Fast täglich wurde er von jemand gefragt, wo er sein Geld ließ und warum er sich beim Trödler nicht wenigstens ein Paar alte Schuhe holte. Ungefragt sprach er überhaupt kein Wort, und auf solche Anwürfe sagte er knapp: „Wo bleibt denn euer Geld? Ihr habt doch auch nicht mehr wie ich." — „Wir versaufen's doch oder verfressen es, Mensch, aber du liegst doch dauernd auf de Klappe. Ich gloobe, du bist so dusselig und sparst die Inflationspupen noch, damit de dir mit se zu Weihnachten den Arsch wischen kannst." Nun war jemand auf der Stube, dem dieser Gedanke mit dem Sparen keine Ruhe ließ. Er durchwühlte das Bett des Schriftstellers in dessen Abwesenheit und fand zwischen die Matratzen geklemmt fünf oder sechs leere Schnapsflaschen. Auf einen Generalangriff hin mußte sich der Arme bequemen, einzugestehen, dass er ein heimlich-unheimlicher Säufer war. Teure Liköre, Kognak, Alten Getreidekümmel, Steinhäger kaufte er sich und nuppelte die Flasche des Nachts still unter der Decke aus. Wo nun die Bude davon wusste, wurde er noch verschlossener. Nach einigen Tagen zog er aus.
Noch eine seltene Marke beherbergte das Schnarchhaus: einen vermasselten Zahnarzt aus Dortmund (sein Vater war in Dortmund als tüchtiger Zahnarzt mit großer Praxis bekannt). Ein fideler Bursche, einigermaßen in Schale. Kaum war er ein paar Tage dort, hatte er zur einzigen Tochter eines Kaufmannes in Hadmersleben Beziehungen angeknüpft. Ein bestehendes Verlöbnis mit einem Lehrer wurde schnell gelöst und der neugebackene einzige Zahnarzt am Orte war schon in Sicht, als Braut und Schwiegereltern mit Talenten ihres neuen Familienmitgliedes bekannt wurden, von deren Existenz sie bisher noch nichts gewusst hatten. Aus dem Hause eines polnischen Gutsarbeiters schlich sich über Knüppelpflaster, Gartenzäune, Biberschwanzdächer, an Mansardenerkern und cremefarbigen dreifachen Gardinen vorbei ein Gerücht: der Zahnarzt hat — bei der Tochter des polnischen Gutsarbeiters geschlafen — und morgens beim Nachhausegehen — hat er ihren mit Kuhscheiße bekleckerten Unterrock mitgenommen. Die Kaufmannsfamilie horchte auf. Es wurde ihr Angst, als ein Gastwirt im Ort eines Tages zu jedem Bier folgende Beilage verabfolgte: „Der Zahnarzt aus dem Schlafhaus, ihr wisst doch, der die Emmi vom Kaufmann kriegen soll, hat mir gestern abend eine Tischdecke geklaut. Jawoll." Der Zahnarzt konnte das Klauen nicht lassen. Er mopste Dinge, die für ihn ganz zwecklos waren. Wir im Schnarchhaus wussten schon seit geraumer Zeit, wie furchtbar lang seine Finger waren. Abhanden gekommene Sachen fand man mit verblüffender Sicherheit in seinem Schrank. Da er alles gutwillig wieder abtrat, bekam er nicht allzu oft den Wanst voll. Rettungslos der Kleptomanie verfallen. Im Schacht, wo es dunkler wie die Nacht ist, hat er dann über sein zerflossenes Glück als Zahnarzt nachdenken können.
Im Schacht wurde ich nicht heimisch, obgleich ich mich bewusst von der schweren Arbeit des Förderns drückte. Einmal war ich in einem Revier als Schlepper. Ich mußte die leeren Wagen oder auch Versatzwagen (das sind Wagen, die mit Dreck, Asche, Gestein, Abfällen oder Schlacken gefüllt sind) durch einen langen, völlig finsteren Stollen schleppen. Jede Fahrt hin und zurück dauerte zehn Minuten.' Die Karbid-Lampe blieb am Ort und so verrichtete ich die Arbeit im Finstern, tappend wie ein blindes Ross. Totenstille, Grabesruhe, mein eigener Schritt und das Rollen der Wagenräder waren die Laute, welche mich daran erinnerten, dass ich selbst noch da war. Oftmals legte ich die Stirn auf den Wagenkastenrand und trabte halb schlafend hinter dem Wagen her. Ein größerer Stein, der irgendwo zwischen den Schienen lag, mußte als Spielgefährte dienen. Ich wettete mit mir selbst, ob ich ihn bei der nächsten Fahrt mit dem Fuß anstoßen würde. Manchmal gab ich dem Wagen einen Schub, so dass er fünfzig Meter weiter rollte, dann balancierte ich auf einer Schiene hinterher, fühlend und horchend, ob der Wagen noch nicht bald erreicht ist. Die Nähe irgendwelcher größeren Gegenstände lässt sich bei etlicher Übung mit dem Gehör wahrnehmen. Aus den Schienen durfte ich mich nicht entfernen, sonst bekam ich bald die harten Felswände zu spüren, der Stollen war sehr eng. Wer die Sonne liebt wie ich, hält es nicht lange aus an solcher Stelle. Eine elektrische Birne ist ein schlechter Sonnenersatz, aber immerhin ist es doch besser als gar nichts, darum meldete ich mich in ein anderes Revier.
An einem Bremsschacht mußte ich Steinsalzwagen herausziehen und leere raufschieben. Ein Bremsschacht ist im Bergwerk ein hundert, zweihundert, auch dreihundert Meter tiefer, senkrechter Schacht, der jedoch nicht die Erdoberfläche wie der Förderschacht erreicht. Die Betriebskraft nimmt man aus der Schwerkraft. Oben sitzt ein Kumpel an einer Trommel, auf der das Seil aufliegt. Wenn der Kollege auf der Abbausohle das Klingelzeichen zieht, und das tut er, wenn er den vollen Wagen in den Korb geschoben hat, löst der Bremser mittels Hebel die festgelegte Seiltrommel und lässt gefühlsmäßig, nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam, den vollen Korb herabgleiten. Kommt der zu sehr in Fahrt, drückt er den Hebel herunter, lockert ihn jedoch sofort wieder auf, bevor die Bremswirkung zu stark wird. Der Korb mit dem vollen Wagen zieht infolge seiner Schwere den Gegenkorb mit dem leeren Wagen herauf. Bremser sein erfordert Übung, ein Ungeübter würde keinen Wagen heil herunterbringen. Bei Schichtwechsel sollen die Kumpels, um von oder auf die Sohle zu gelangen, die Fahrten (Leitern) der Bremsschächte benutzen, da es infolge starker Unfallgefahr verboten ist, die Körbe zur Personenfahrt zu nehmen. Hundert, zweihundert oder dreihundert Meter auf Leitern herauf- oder herunterzusteigen, ist eine Kraftleistung für sich, bei der jeder Aktionär der „Alkali Westerepreln" sich den Rest holen würde, für den Bergmann ist das Vorschrift. Darum riskieren die Kumpels auf dem Bremsschachtkorb ihr Leben jeden Tag einmal extra. Mit vier Mann halten sie sich auf dem wandlosen Korb fest und sausen in die Tiefe. Ihr Leben hängt an einem dünnen, schlecht kontrollierten Seil. Schon mancher hat dabei Blut gespuckt.
Wer Neuling im Schacht ist und am ersten Tag noch nicht weiß, dass zur Lockerung der Salzfelsen Sprengstoff verwendet wird, glaubt für eine Weile sein Ende nahe herbeigekommen. In eine Felswand von etwa viermal zwei Quadratmeter Fläche werden fünfzehn bis zwanzig Löcher gebohrt, in jedes Loch schiebt der Schießhauer sechs bis neun Sprengstoffpatronen, wovon eine so dick, aber etwas länger wie ein Handgriff der Fahrradlenkstange ist. Sind die Löcher gefüllt, bekommt jedes eine Zündschnur. Ist die Zündschnur des ersten Loches hundertfünfzig Zentimeter lang, so ist die des zweiten ein paar Zentimeter kürzer, die des dritten, vierten, fünften und so fort ebenfalls. Das bezweckt reihenweises Heraussprengen der Felsen. Sind die Zündschnüre fertig zum Anbrennen, ruft der Schießhauer laut zur Warnung: „Schuss, Achtung!" Alles Lebendige muss aus der Nähe verduften. Nun nimmt es der Bergmann aber nicht allzu tragisch mit dem Verduften, er ist ein starkes Pulver gewöhnt, darum kann es vorkommen, dass man als Neuling einen mordsmäßigen Schreck in die Glieder gejagt bekommt, wenn man, ohne eine Ahnung zu haben, eine solche Salve von hundert Sprengpatronen vor die Nase gesetzt bekommt. Wer vorher noch nie in den dunklen Felsgängen tief unter der Erde gewesen ist, wittert überall Gefahr, jeder herunterfallende Stein erschreckt ihn. Er rechnet sofort aus, wieviel Meter er noch hätte gehen müssen, um von dem Stein erschlagen zu werden. In jeder Bruchstelle sieht er sein Grab, denn es ist ja klar, dass die Geschichte in den nächsten Tagen herunterkommt, und da er mehrmals im Tag unter dem Hangenden hindurch muss, wird es ihn schon treffen.
Ich war zwei Tage auf der Grube beschäftigt, als ich einen Kumpel nach dem Abort fragte: „Du gehst hier die Schiene nach und sobald rechts eine Ecke kommt, riechst du schon den Kübel." Meine Funzel reichte nicht aus, weit über den entdeckten Kübel hinaus zu leuchten. Der Neuling im Schacht sieht mit seiner Lampe nicht viel, weil sie eigentlich nur eine Andeutung von den Dingen gibt, die sie beleuchten soll. Der Kübel, in den ich mein Ei legte, stand in einem Raum ohne Begrenzung. Ich wusste nicht, ob das Schwarze vor, hinter und neben mir die Nacht des Weltenraumes oder ob da im tiefen grabesstillen Schwarz doch noch etwas Wesenhaftes vorhanden sei. Plötzlich gab es einen Donnerschlag, der mich so erschreckte, dass ich bestimmt in den Kübel hineingefallen wäre, wenn er größer gewesen und eine entsprechende Öffnung gehabt hätte. Dieser Donner war aber nicht auf eine Sprengwirkung zurückzuführen, sondern er war das Echo von einem Furz, den ich selbst gelassen hatte. Ich bin kein Pferd und auch kein Mensch, der mit Pferden handelt, — wenn es bei mir aftersaust, ist noch immer der Nebenmann ohne einen Nervenschock dabei weggekommen. Jedoch die Akustik des Riesenraumes (Abraum, wo man durchschnittlich fünfzig mal fünfzig mal fünfzehn Meter Steinsalz herausgeholt hat und der noch nicht mit Versatz [Schutt usw.] wieder gefüllt ist) mit den dicken Felswänden, wovon die obere dünnste zirka sechshundert Meter, und die dickste untere Erddurchmesser minus sechshundert Meter betrug, hatte einen Furz zu einem Kanonenschuss werden lassen.
Außer uns Proleten bevölkerten die dunklen salzigen Gänge noch eine lebendige Gattung. Es waren Grillen. Die Vorfahren dieser dort unten zu Tausenden hausenden Käfer waren Grillen gewesen, wie man sie in den Sommermonaten auf den Feldern zirpen hört. Infolge äußerst ungünstiger Lebensbedingungen, z. B. dem vollständigen Mangel an Sonnenlicht, tragen die armen Tiere augenfällige Zeichen von Degeneration., Sie sind durchschnittlich halb so groß wie ihre Verwandten an der Erdoberfläche und sehen nicht schwarz-grün wie diese, sondern durchsichtig gelb aus. Ihre Bewegungen sind schlapp, im Gegensatz zu denen der sehr lebendigen Vettern vom Platz an der Sonne. Da im Salzbergwerk kein Halm wächst, selbst das zäheste Unkraut nicht, nähren sie sich recht kümmerlich von den Krümeln, die sich der Bergmann nach dem Frühstück aus dem Bart wischt. Dafür lassen sie zuweilen ein leises, müdes Zirpen hören, das erfreut den Kumpel. Auf Revier vierzehn aber war ein alter Bergmann, der konnte die Grillen nicht leiden. Wenn sie beim Frühstück zu sehr in seine Nähe kamen, spuckte er blutig-eitrige Klumpen danach und schimpfte mit heiserer Stimme: „Macht eich fürt, ihr schwindsüchtiges Gelumpe, ihr habt hier nüscht zu beessen hier unten, ihr müßt hier alle verrecken."
Mit den Salzbrocken kann man sich das Leben im Schacht nicht kurzweilig machen, darum suchte sich Lügenfranz seine Objekte zum Spaßmachen unter seinen Kollegen. Lügenfranz ist der Till Eulenspiegel der Grube. Der Bergmann Rudolf war ein Mann, von dem jeder wusste, dass seine Stiefel außer in dem Dreck der Westeregeier Feldmark noch nirgends ihre schiefen Absätze abgedrückt hatten. Aber so wie alle unbedeutenden Männer, besaß auch Rudolf eine große Leidenschaft: Lotteriespielen. Dem Lügenfranz tat es in der Seele weh, dass Rudolf nun schon 25 Jahre vergebens aufs große Los hoffte, darum schickte er eines Tages in einem leeren Wagen dem Rudolf einen dicken Brief in den Schacht. Dieser Brief war mit vielen alten Lotterieprospekten gefüllt. Obenauf lag ein wichtiges Schreiben mit geheimnisvollem Stempel. Kumpel Rudolf wurde blass bis in die Nasenlöcher, zog sich mit Brief und Lampe auf einen Abortkübel zurück, und als er nach langer Zeit wiederkam, stellte er dem Anschläger (Mann, der dem Maschinisten über Tag die Förderung signalisiert) das unerhörte Verlangen, sofort die Materialförderung einzustellen und „Personen auf" zu schlagen, er müsse sofort nach Magdeburg auf die Bank. „Äh, du bist verrückt." — „Ich haue di mit de Hacke vor de Schäddel, ich muss jleich raus, ich muss rrraus." — „I wieso denn." — „Ich hawwe nu jewonn, ich bin nu Aktionär, laß mich raus." — „Verrückt biste, aber keen Aktionär." Rudolf packt die Wut, er geht dem Anschläger zu Leibe, will selber „Personen auf" anschlagen. Der Anschläger hat ein Kreuz wie 'ne Bahnwärterbude, leicht wehrt er den schlappen Rudolf ab. Voll Verzweiflung, immer brüllend um sein Geld, stürzt sich dieser auf die Förderschacht-Fahrten und beginnt mit unheimlicher Hast die zweitausendsprossige Leiter im stockdunklen, feucht fauchenden Schacht emporzusteigen. Weil die Fahrten fast nie benutzt werden, sind sie dick mit Tropfsalz belegt, der Aufstieg dauert Stunden, ist gefährlich und erfordert einen widerstandsfähigen, kräftigen Körper, da der Steigende bald durchnässt ist und dadurch den scharfen Zugwind (Wetter) doppelt unangenehm empfindet, zumal er infolge der Anstrengung stark in Schweiß kommt. Den erstaunten Kollegen am Förderturm über Tag kann Rudolf keine Erklärung geben, er hat keinen Atem mehr zum Reden. Wie ein schlotterndes Gespenst wankt er vom Zechenplatz. Zu Hause hat er von seiner Frau eine kräftige Abreibung bekommen, erst mit dem Besenstiel und dann mit dem Waschlappen. Vierzehn Tage lag er krank im Bett.
Noch einmal lag Rudolf krank im Bett. Das kam so: Lügenfranz brachte einen Kaktus mit in die Grube. Der Kaktus trug eine herrliche seltene Blüte. In der Mittagspause, wo die Kolonne in einer Felshöhle beisammen war, stellte man den Kaktus auf den Tisch. Rudolf war verwundert, er hatte noch nie solche große schöne Blume mit Stacheln gesehen. „Amerikanische Edeldistel", erklärte Lügenfranz. Rudolf senkte sein Riechorgan auf die Blüte. Das war das verabredete Zeichen. Ein Riesenlärm erhob sich. Lügenfranz wurden grobe Vorwürfe gemacht. — „Wir hawwen di das jesagt, du sollst nich das jiftije Zeug hier mit rungerschleppen, nu is es Unjlück da. Un du Kamel (zu Rudolf) mußt natürlich iwerall gleich die Näse rinstecken. Wenn de nich so dumm wärst, müßtest de wissen, wie jefährlich der Geruch von de Amerikanischen Edeldisteln is. Leje dich lang, steck de Finger in de Hals, damit de kotzen kannst, so lange bis de Sanitäter kommt." Bald kam der Sanitäter. Geduldig nahm Rudolf die dargereichte Medizin. Mit bitterer, aber zufriedener Miene förderte er sein Mittagessen wieder zutage, sichtlich erleichtert, dass nun das eingeatmete Gift wieder heraus war. Noch viel solche Späße gab's im Schacht. Die Arbeit ist hart, derb ist der Witz!
In Hadmersleben wurde die KPD wieder lebendig. Lange war sie stumm gewesen. Dem Obersteiger blieb das nicht verborgen. Mein letzter Tag auf Schacht I und II rückte heran. Die letzten Stunden habe ich dazu verwendet, mit der rußenden Grubenlampe Sowjetsterne auf die Förderwagen zu malen. Weihnachten saß ich arbeitslos zu Hause bei Muttern.
Die verschiedenartigste Arbeit ist noch durch meine Hände geflossen. Eisenhochbauer war ich einmal, ein andermal Erdarbeiter, Postaushelfer, Bauhilfsarbeiter usw., schließlich wieder Buchdrucker. Aber das brauche ich nicht mehr zu schildern. Es ist doch immer dieselbe Geschichte! Immer dasselbe Grausen, das verzweifelte Zerren an der stählernen Kette, wobei euch die Knochen im Leibe knacken. Doch einmal muss die Kette zerspringen! Einmal werden wir eine Abrechnung fordern: wollt ihr vergelten? Könnt ihr bezahlen? Fünf Jahre, zehn Jahre, fünfzehn Jahre, zwanzig Jahre, fünfundzwanzig Jahre, jeden Tag auf Klingelzeichen, sekundengenau den Sprung in die Fron. Wie der Hund vor dem Peitschenschlag, wie das Reitpferd vor dem Sporn! Was? Du fühlst dich nicht wohl? Wie? Du bist nicht in Stimmung? Du möchtest in der Sonne bleiben? Auf grünen Wiesen schlafen? Kanaille, das ist Rebellion. Ersticke im Rauch der Schlote! Verfaule im Dreck der Straße! Vertrockne im Staub der Werkstatt! Verblöde am fließenden Band! Lass deinen Körper von Maschinen zerreißen! Hundsfott, das ist deine Pflicht!
Es ist immer dieselbe Geschichte.
Seit sechs Jahren arbeite ich nun in Leipzig als Setzer. Seit vier Jahren in der Spamerschen Buchdruckerei, von der da stehet geschrieben: und als der Herr Jesus die Spamersche Buchdruckerei zum ersten Mal sah, drehte er sich um und weinte bitterlich. Bei Spamer stinkt's — wie in den meisten Druckereien, vielleicht noch etwas mehr. Mangelhafter Sanitätsraum, zu wenig Aborte, dagegen viel Wanzen in den Garderoben, Schwaben im Kaffeekessel und Mäuse in allen Ecken. Wahrscheinlich sind aber die Direktoren in ihren Büros ungezieferfrei. Keinen Speiseraum gibt's, Spamer-Proleten futtern an bleistaubhaltigen Setzkästen, neben schmierestinkenden Maschinen, auf Treppen und Papierballen, an Leimtöpfen und Farbkübeln. Also kurz und schlicht: bei Spamer ist dicke Luft!
Aber wer sollte sich bei Spamer auch um frische Luft kümmern? Die Faktoren haben die Fähigkeit, die Augen höher zu heben als wie bei den Gehilfen die Finger sitzen, längst eingebüßt, also bis zu den Fenstern und anderen höherliegenden Dingen reicht's nicht mehr. Der Betriebsrat besteht aus lauter ollen ehrlichen Seemännern von Bord des SPD-Panzerkreuzers A. Reinschiff-machen steht ihnen nicht mehr.
Wie ich sonst jetzt lebe? Ich bin seit zwei Jahren verheiratet und es gibt noch genügend Alltagssorgen, die das Datum des Poststempels tragen. Vor einiger Zeit hat ein Hauptmieter seine Untermieter rausgeschmissen. Und nachdem diese tausend Kilometer durch den Sumpf der Wohnungsnot gewatet waren, fanden sie zwei prachtvolle leere Zimmer: der Salon: 2,90 m mal 1,75 m, die Diele: 2,35 mal 1,60 m. Letztere nur für Nachtbetrieb eingerichtet, aus diesem Grunde sind Fenster natürlich überflüssig. Ich habe keine Talente, Möbel an die Wand zu malen, in solchem Falle wendet man sich an bequeme Teilzahlungsgeschäfte, und wer für vierstellige Rechnungszahlen kein Gedächtnis hat, kann dann ganz gut leben. Meine Frau, die sonst ein geschworener Feind meines Bleistifts ist, hat durch diese Möbelgeschichte ganz plötzlich Interesse für meine Lebensgeschichte bekommen. Ich habe sie im Verdacht, dass sie die Honorarsumme der Lebensgeschichte und die Rechnungssumme der Möbelgeschichte zu bilanzieren versucht. Ich lebe mit ihr in größter Gemütlichkeit; denn sie kann fast kein Wort Deutsch, — ein Glück, dass ich Sächsisch verstehe, sonst könnten wir uns kaum verständigen. Wir sind in vielen Organisationen gemeinschaftlich organisiert, so in der Kommunistischen Partei, in der Roten Hilfe, im Verband Volksgesundheit, Freikörperkultursparte, in den graphischen Verbänden (Verband der Deutschen Buchdrucker und Verband der Graphischen Hilfsarbeiter), in der Konsumgenossenschaft und im Arbeiter-Turn- und Sportbund. Meine Frau nimmt aktiv am politischen Leben teil, — was, entgegen der Meinung vieler, die Harmonie unserer Ehe absolut nicht stört, weil sie streng auf den Prinzipien unserer sozialistischen Weltanschauung basiert: Unbedingte Gleichberechtigung in allen Fragen, weitestgehende persönliche Freiheiten. Darum: — Ihr Mühseligen und Beladenen, die Parole heißt: Durch Kampf zum Sieg! Der Urwald ist noch groß, tüchtige Kolonisten werden dringend gebraucht, und wenn ihr nun das Buch aus der Hand legt, beginnt gleich mit dem ersten Spatenstich!