Robert Tressell – Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen(1914)
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1. Kapitel Ein fürstliches Bankett Eine philosophische Auseinandersetzung. Der geheimnisvolle Fremde. „Nie sollen Briten Sklaven sein".

Das Haus wurde „Die Höhle" genannt. Es war ein großes, altmodisches, dreistöckiges Gebäude und stand auf einem etwa anderthalb Morgen großen Grundstück ungefähr eine Meile außerhalb der Stadt Mugsborough. Es befand sich fast zweihundert Meter abseits von der Hauptstraße, und man gelangte über eine Nebenstraße dorthin, einem auf beiden Seiten von einer Hecke aus Weißdornbäumen und Brombeerbüschen eingefassten Weg. Das Haus war viele Jahre lang unbewohnt gewesen, und jetzt wurde es von der Firma Rushton & Co., Bau- und Malerarbeiten, für den neuen Besitzer umgebaut und renoviert.
Etwa fünfundzwanzig Mann waren dort beschäftigt -Zimmerleute, Klempner, Stuckateure, Maurer, Maler und ein paar ungelernte Arbeiter. Sie erneuerten die Fußböden, wo die alten verfault waren, und im Obergeschoß machten säe aus zwei Zimmern eins, indem sie die Zwischenwand abtrugen und einen Eisenträger einzogen. Einige Fenstereinfassungen und Schiebefenster waren derartig verwittert, dass sie ersetzt werden mussten. Etliche Decken und Wände waren so rissig und abgebröckelt, dass man sie neu verputzen musste. Öffnungen wurden durch die Wände gebrochen und Türen eingesetzt, wo vorher keine gewesen waren. Alte, zersprungene Schornsteine wurden abgenommen, neue aufgesetzt und an ihrem Platz befestigt. Die ganze alte Schlämmkreide musste von den
Decken gewaschen und alle alten Tapeten von den Wänden gekratzt werden, ehe das Haus neu gestrichen und tapeziert werden konnte. Die Luft war erfüllt vom Klang des Hämmerns und Sägens, vom Klirren der Maurerkellen, vom Gerassel der Eimer, vom Klatschen der Wasserbürsten und vom Kratzen der Spachtel, die zum Entfernen der alten Tapeten benutzt wurden. Außer mit diesen Geräuschen war die Luft auch dicht mit Staub und Krankheitskeimen durchsetzt, mit pulvrigem Mörtel, mit Kalk, Gips und all dem Schmutz, der sich jahrelang in dem alten Haus angesammelt hatte. Kurz, von den Leuten, die dort beschäftigt waren, hätte man sagen können, sie lebten in einem Paradies der Schutzzollpolitik - sie hatten „reichlich Arbeit".
Um zwölf Uhr ließ Bob Crass - der Vorarbeiter der Maler - einen langen Pfiff auf einer Trillerpfeife ertönen, und alle Arbeiter versammelten sich in der Küche, wo Bert, der Lehrling, schon den Tee gekocht und in dem großen, verzinkten Eisenblecheimer mitten auf dem Boden bereitgestellt hatte. Neben dem Eimer stand eine Anzahl alter Marmeladengläser, Becher, abgestoßene Teetassen und ein oder zwei leere Kondensmilchbüchsen. Jeder Arbeiter auf dem Bau zahlte Bert drei Pence die Woche für Tee und Zucker - Milch hatten sie nicht -, und obwohl sie zum Frühstück und zum Mittagessen Tee tranken, waren sie allgemein der Ansicht, der Junge verdiene ein Vermögen bei dem Geschäft.
Ein Brett auf zwei Trittleitern, die in etwa eindreiviertel Meter Entfernung parallel zueinander vor dem Feuer auf die Seite gelegt waren, sowie einige umgestülpte Eimer und Schubladen aus dem Küchenschrank bildeten die Sitzgelegenheiten. Der Fußboden des Raumes war mit allem möglichen Abfall, Staub, Schmutz, alten Mörtel- und Gipsbrocken bedeckt. Ein Sack Zement lehnte gegen eine Wand, und in einer Ecke stand ein Eimer mit abgestandener Schlämmkreide.
In der Reihenfolge, wie die Männer hereinkamen, füllte jeder von ihnen seine Tasse, sein Marmeladenglas oder seine Kondensmilchbüchse mit Tee aus dem dampfenden Eimer, ehe er sich hinsetzte. Die meisten hatten ihr Essen
in einem kleinen Weidenkörbchen mitgebracht, das sie auf dem Schoß hielten oder neben sich auf den Boden stellten.
Zuerst versuchte niemand, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, und nichts war zu hören als die Geräusche des Essens und Trinkens und das Brutzeln des Bücklings, den Easton, einer der Maler, am Ende eines spitzen Stockes über dem Feuer briet.
„Ich halt nicht viel von diesem Dreckstee", bemerkte plötzlich Sawkins, einer der ungelernten Arbeiter.
„Na, eigentlich müsst er in Ordnung sein", gab Bert zurück, „kocht ja schon seit halber zwölf."
Bert White war ein schwächlich aussehender, linkischer, blasser Junge, fünfzehn Jahre alt und etwa ein Meter fünfundvierzig groß. Seine Hosen gehörten zu einem Anzug, den er früher einmal sonntags getragen hatte; aber das war schon so lange her, dass sie ihm zu klein geworden waren, ziemlich eng saßen und kaum bis zu den Rändern seiner geflickten, rissigen, genagelten Stiefel reichten. Auf den Knien und dem unteren Teil der Hosenbeine saßen viereckige Flicken, die um mehrere Schattierungen dunkler als der ursprüngliche Stoff der Hose und jetzt völlig zerfetzt waren. Sein Rock war ihm etliche Nummern zu groß und hing um seinen Körper wie ein schmutziger, zerlumpter Sack. Bert bot einen kläglichen Anblick der Vernachlässigung und des Elends, wie er dort auf dem umgestülpten Eimer saß und sein Käsebrot mit Fingern aß, die, ganz wie seine Kleidung, mit Farbe und Schmutz beschmiert waren.
„Na, dann haste eben nicht genug Tee reingetan, oder du hast den von gestern noch mal benutzt", fuhr Sawkins fort.
„Warum, zum Teufel, lässt du denn den Jungen nicht in Ruh?" fragte Harlow, ein anderer Maler. „Wenn dir der Tee nicht passt, brauchst du 'n ja nicht zu trinken. Ich hab die Nase voll, jeden Tag dein Gemecker darüber zu hören."
„Du hast gut reden, ich brauch 'n nicht zu trinken", erwiderte Sawkins. „Aber ich hab doch meinen Teil bezahlt und hab ein Recht, meine Meinung zu äußern. Meiner Ansicht nach nimmt er die Hälfte von dem Geld, was wir ihm
geben, für Schmökerhefte: immer hat er eins in der Hand, und damit das bisschen Tee, was er kauft, lange vorhält, hebt er die ausgelaugten Blätter auf und kocht sie Tag für Tag immer wieder auf."
„Nö, mach ich nicht!" sagte Bert, der den Tränen nahe war. „Ich kauf die Sachen überhaupt nicht. Ich geb alles Geld, was ich kriege, Crass, und der kauft sie. So!"
Bei dieser Enthüllung wechselten die Leute verstohlen vielsagende Blicke, und Crass, der Vorarbeiter, wurde sehr rot.
„Behalt lieber deine lausigen drei Pence und mach dir ab nächste Woche deinen Tee selber", sagte er, zu Sawkins gewandt, „dann wer'n wir vielleicht bei den Mahlzeiten 'n bisschen Ruhe haben."
„Und mich brauchste auch nicht mehr bitten, für dich Bücklinge oder Speckscheiben zu braten", setzte Bert weinerlich hinzu, „ich mach's nicht."
Sawkins war bei keinem beliebt. Als er vor etwa zwölf Monaten bei Rushton 8c Co. zu arbeiten begann, war er ein einfacher, ungelernter Arbeiter; aber seitdem hatte er ein paar Kenntnisse des Gewerbes aufgeschnappt und betrachtete sich, nachdem er sich mit einem Spachtel bewaffnet und eine weiße Jacke angezogen hatte, als ausgelernter Maler. Die anderen hatten vielleicht nichts dagegen, dass er versuchte, seine Lage zu bessern, aber sein Lohn - fünf Pence die Stunde - war um zwei Pence die Stunde niedriger als der übliche Satz, und die Folge war, dass in flauen Zeiten oft ein besserer Arbeiter „feiern" musste, während Sawkins gehalten wurde. Außerdem sah man ihn allgemein als einen Schnüffler an, der dem Vorarbeiter und dem „Alten" allerlei Dinge zutrug. Gewöhnlich wurde jeder neueingestellte Arbeiter von seinen neuen Kollegen gewarnt, „den Sch...kerl Sawkins irgendwas sehen zu lassen".
Das unangenehme Schweigen, das jetzt folgte, wurde endlich von einem der Männer mit einer unanständigen Geschichte unterbrochen, und bei dem Gelächter und dem Applaus, die darauf folgten, geriet der Zwischenfall mit dem Tee in Vergessenheit.
„Wie haste'n gestern abgeschnitten?" fragte Crass Bundy,
den Stuckateur, der eingehend die Sportrubrik des „Täglichen Verdunklers" studierte.
„Kein Glück", antwortete Bundy trübe. „Ich hatte im ersten Rennen einen Schilling Sieg und Platz auf Stockwell stehen, aber er ist vorm Start zurückgezogen worden."
Das gab Anlass zu einer Unterhaltung zwischen Crass, Bundy und ein, zwei anderen über die Aussichten verschiedener Pferde bei den Rennen des morgigen Tages. Es war Freitag, und niemand hatte viel Geld; daher wurde auf Bundys Vorschlag ein Syndikat gebildet, dem jedes Mitglied drei Pence beisteuerte, um auf einen vom bekannten Hauptmann Trüger im „Verdunkler" gegebenen „todsicheren" Tipp zu setzen. Einer von denen, die dem Syndikat nicht beitraten, war Frank Owen, der wie gewöhnlich in eine Zeitung vertieft war. Er wurde allgemein als ein wenig verdreht betrachtet, denn man war der Ansicht, etwas müsse nicht in Ordnung sein bei einem Menschen, der sich nicht für Rennen und Fußball interessierte und immer eine Menge dummes Zeug über Religion und Politik redete. Wäre er nicht allgemein als außergewöhnlich guter Arbeiter anerkannt worden, so hätten sie wohl nicht gezögert, ihn für verrückt zu halten. Dieser Mann war etwa zweiunddreißig Jahre alt und von mittlerer Größe, aber so schlank gebaut, dass er größer schien. Sein glattrasiertes Gesicht hatte feine Züge, aber es war bedenklich bleich, und eine unnatürliche Röte färbte die schmalen Wangen.
Die Haltung seiner Kollegen war bis zu einem gewissen Grade berechtigt, denn Owen hatte höchst ungewöhnliche und unorthodoxe Ansichten über die erwähnten Themen.
Die Angelegenheiten der Welt werden entsprechend den herkömmlichen Ansichten geregelt. [Stimmten die Gedanken eines Menschen mit diesen nicht überein, so entdeckte er das bald selbst. Owen sah, dass in der Welt eine kleine Klasse von Leuten] einen großen Überfluss, ein Übermaß dessen besaß, was durch Arbeit geschaffen wird. Er sah auch, dass eine sehr große Anzahl - tatsächlich die Mehrzahl der Menschen - am Rande der Not vegetierte und dass ein kleinerer, aber immer noch sehr großer Teil von der Wiege bis zum Grabe ein Leben des halben Verhungerns lebte, während eine noch kleinere, aber noch immer große Anzahl tatsächlich Hungers starb oder, von der Not zur Verzweiflung getrieben, sich und ihren Kindern das Leben nahm, um ihrem Elend ein Ende zu machen. Und das Merkwürdigste von allem war - seiner Meinung nach -, dass die Leute, die sich eines Überflusses der durch die Arbeit geschaffenen Dinge erfreuten, diejenigen waren, die nichts taten, und dass die anderen, die in Not lebten oder Hungers starben, die Menschen waren, die arbeiteten. Und da er all dies sah, dachte er, es sei unrecht; das System, das solche Ergebnisse hervorbrachte, tauge nichts und müsse geändert werden. Und er hatte die Schriften der Menschen, die meinten, sie wüssten, wie das zu geschehen habe, ausfindig gemacht und eifrig gelesen.
Weil er die Gewohnheit hatte, von diesen Dingen zu sprechen, waren seine Kollegen zu dem Schluss gekommen, wahrscheinlich sei etwas in seinem Oberstübchen nicht in Ordnung.
Als alle Mitglieder [des Tipsyndikats] Bundy ihren Beitrag übergeben hatten, ging der hinaus, um die Angelegenheit mit dem Buchmacher ins reine zu bringen, und als er fort war, eignete sich Easton die von Bundy weggeworfene Nummer des „Verdunklers" an und arbeitete sich mühsam durch eine sorgfältig frisierte Statistik über Freihandel und Schutzzölle hindurch. Mit aufgerissenen Augen und weit geöffnetem Mund verschlang Bert den Inhalt eines Lesehefts namens „Chronik des Verbrechens". Ned Dawson, ein armer Teufel, der vier Pence die Stunde erhielt, um Bundy, den Maurern oder wer sonst immer ihn brauchte als ungelernter Arbeiter zur Hand zu gehen, legte sich in eine Ecke des Raumes auf den schmutzigen Boden und schlief ein, nachdem er seinen Rock als Kissen zusammengerollt hatte. Sawkins streckte sich in der gleichen Absicht in ganzer Länge auf der Anrichte aus. Einer, der dem Tipsyndikat ebenfalls nicht angehörte, war Barrington, ein ungelernter Arbeiter, der, als er mit dem Essen fertig war, die Tasse, die er für seinen Tee mitgebracht hatte, in seinen Frühstückskorb zurücklegte und diesen, nachdem er ihn wieder verschlossen hatte, auf den Kaminsims stellte. Dann holte er eine alte Bruyèrepfeife hervor, füllte sie langsam und rauchte schweigend.
Einige Zeit zuvor hatte die Firma Arbeiten für einen reichen Herrn ausgeführt, der in einiger Entfernung von Mugsborough auf dem Lande lebte. Er hatte auch Grundbesitz in der Stadt, und es wurde allgemein berichtet, er habe seinen Einfluss bei Rushton geltend gemacht, dass dieser Barrington einstellte. Unter den Arbeitern wurde gemunkelt, der junge Mann sei ein entfernter Verwandter dieses Herrn; er habe sich auf irgendeine Weise mit Schande bedeckt, und seine Familie habe sich von ihm losgesagt. Man nahm an, dass Rushton ihn eingestellt hatte, um sich bei seinem reichen Kunden beliebt zu machen, von dem er weitere Aufträge zu erhalten hoffte. Was auch immer die Erklärung für das Geheimnis sein mochte, Tatsache blieb, dass Barrington, der von der Arbeit nur so viel verstand, wie er seit seiner Einstellung gelernt hatte, als ungelernter Maler zum üblichen Lohn - fünf Pence die Stunde - beschäftigt wurde.
Er war etwa fünfundzwanzig Jahre alt und ein gutes Stück größer als die Mehrzahl der übrigen, ungefähr ein Meter achtundsiebzig groß und schlank, aber gut und kräftig gebaut. Er schien sehr begierig zu sein, alles, was es nur gab, über den Beruf zu lernen, und obwohl von ziemlich zurückhaltender Art, war es ihm doch gelungen, sich bei seinen Arbeitskollegen recht beliebt zu machen. Er sprach selten, außer um eine an ihn gerichtete Frage zu beantworten, und es war schwer, ihn in eine Unterhaltung zu ziehen. Wie gerade eben, rauchte er gewöhnlich zur Essenszeit, scheinbar in Gedanken versunken und ohne sich seiner Umgebung bewusst zu sein.
Die meisten der anderen zündeten ebenfalls ihre Pfeife an, und eine flüchtige Unterhaltung entspann sich.
„Ist der Herr, der das Haus hier gekauft hat, 'n Verwandter von Sweater, dem Tuchhändler?" fragte Payne, der Vorarbeiter der Tischler.
„Das ist derselbige", antwortete Crass. „War der nicht Mitglied vom Stadtrat oder so was Ähnliches?"
„Ist schon seit Jahren im Stadtrat", antwortete Crass, »und ist es immer noch. Dies Jahr ist er Bürgermeister. Ist schon 'n paar Mal Bürgermeister gewesen."
„Warte mal", sagte Payne nachdenklich, „er hat dem ollen Schinder seine Schwester geheiratet, nicht? Weißt doch, wen ich meine, den Gemüsehändler Schinder."
„Ja, ich glaube", meinte Crass.
„Nicht Schinder seine Schwester", fiel der alte Jack Linden ein, „seine Nichte. Ich weiß es, weil ich mich noch erinnere, dass ich in ihrem Haus gearbeitet hab, wie sie grad geheiratet hatten, vor ungefähr zehn Jahren."
„Ach, richtig, jetzt fällt's mir ein", sagte Payne, „sie hat doch früher eine von Schinders Filialen geleitet, nicht?"
„Jawoll", erwiderte Linden, „ich kann mich noch gut drauf besinnen, weil's damals viel Gerede darüber gab. Nach allem, was man hörte, war der gute Sweater 'n ziemlicher Draufgänger - niemand hätte je geglaubt, er würde sich überhaupt verheiraten, 's liefen 'n paar ulkige Geschichten um über verschiedene junge Frauen, die bei ihm arbeiteten."
Nachdem diese wichtige Angelegenheit geklärt war, folgte ein kurzes Schweigen, das bald von Harlow unterbrochen wurde.
„Komischer Name für 'n Haus, was?" sagte er. „,Die Höhle'. Möcht wissen, wie sie auf so 'nen Namen gekommen sind."
„Heutzutage nehmen sie alle möglichen sonderbaren Namen", meinte der alte Jack Linden.
„Meistens hat's aber irgend'nen Sinn", bemerkte Payne. „Zum Beispiel, wenn einer auf 'nen Gewinner gesetzt hat und 'nen Haufen Geld eingestrichen hat, nennt er sein Haus vielleicht ,Haus Epsom' oder ,Villa Newmarket'."
„Oder manchmal steht 'ne Eiche oder 'n Kirschbaum im Garten", sagte ein anderer, „und dann nennen sie's ,Eichenhorst' oder ,Haus Kirschblüte'."
„Nu, 'ne Höhle ist da, oben am Ende des Gartens", erklärte Harlow grinsend. „Ihr wisst doch, die Senkgrube, wo die Abflussrohre vom Haus reinlaufen; vielleicht haben sie's danach genannt."
„Da wir grade von den Abflussröhren sprechen", meinte der alte Jack Linden, nachdem das durch diesen eleganten Scherz hervorgerufene Gelächter verebbt war, „die Abflussrohren - möcht wissen, was sie damit machen werden; so wie sie jetzt sind, kann man gar nicht in dem Haus leben, und die verdammte Senkgrube sollte überhaupt beseitigt werden."
„So wird's auch gemacht", antwortete Crass. „'s werden ganz neue Rohre bis raus zur Straße gelegt und mit dem städtischen Entwässerungsrohr verbunden."
Crass wusste in Wirklichkeit nicht besser Bescheid als Linden, was in dieser Angelegenheit geschehen sollte; aber er war sicher, man werde es so machen. Er ließ niemals eine Gelegenheit vorübergehen, sein eigenes Prestige bei den Arbeitern zu heben, indem er durchblicken ließ, die Firma ziehe ihn ins Vertrauen.
„Das wird 'ne schöne Stange Geld kosten", meinte Linden.
„Na allemal", erwiderte Crass. „Aber Geld spielt beim ollen Sweater keine Rolle, der hat's wie Heu; du weißt doch, dass er 'n gut gehendes Großhandelsgeschäft in London hat und 'zig Läden im ganzen Land, noch außer dem, den er hier hat."
Easton las noch immer im „Verdunkler"; er konnte nicht verstehen, wohin der Zusammensteller der Zahlen eigentlich wollte - wahrscheinlich hatte der nie beabsichtigt, dass es irgend jemand verstehen sollte -, aber Easton wurde sich eines wachsenden Gefühls der Empörung und des Hasses gegen Ausländer jeder Art bewusst, die das Land ruinierten, und er dachte, es sei höchste Zeit, dass wir etwas täten, um uns zu schützen. Immerhin war es eine ziemlich schwierige Frage; um die Wahrheit zu sagen, konnte er selbst nicht klug daraus werden. Schließlich sagte er laut, zu Crass gewandt:
„Was hälste'n von der Schutzzollpolitik, Bob?"
„Hab noch nicht viel drüber nachgedacht", antwortete Crass. „Zerbrech mir nicht 'n Kopf über Polletik."
„Lässt man auch besser sein", fiel der alte Jack Linden weise ein, „wenn man über Polletik polemifiziert, endet's gewöhnlich mit 'nem Mordskrach, und man tut niemand nischt Gutes damit."
Bei diesen Worten ließen mehrere der anderen ein zustimmendes Gemurmel hören. Den meisten von ihnen war
es zuwider, über Politik zu diskutieren. Waren zufällig zwei, drei Mann beieinander, welche die gleichen Ansichten hatten, so unterhielten sie sich vielleicht in freundschaftlicher und oberflächlicher Weise über diese Dinge; aber in gemischter Gesellschaft ließ man das Thema lieber ruhen. Die „Schutzzollpolitik" wurde von der Tory-Partei vertreten. Nur das war der Grund, weshalb einige der Leute sie sehr befürworteten, und aus dem gleichen Grunde wurde sie von den anderen abgelehnt. Einige der Arbeiter gaben sich der Illusion hin, sie seien Konservative, und ebenso bildeten sich andere ein, sie seien Liberale. Tatsächlich waren die meisten überhaupt nichts. Sie wussten über die öffentlichen Angelegenheiten ihres eigenen Landes so viel wie über die Zustände auf dem Planeten Jupiter.
Easton begann zu bedauern, dass er ein so unangenehmes Thema angeschnitten hatte, als Owen von seiner Zeitung aufsah und sagte:
„Hindert euch die Tatsache, dass ihr euch ,den Kopf niemals mit Politik beschwert', daran, bei den Wahlen eure Stimme abzugeben?"
Niemand antwortete, und ein kurzes Schweigen folgte. Trotz der Zurechtweisung, die Easton erhalten hatte, konnte er jedoch nicht still sein.
„Na, ich mach mir auch nicht viel aus Polletik, aber wenn das stimmt, was hier in der Zeitung steht, scheint mir, wir sollten uns 'n bisschen dafür intressieren, wenn das Land von Ausländern auf 'n Hund gebracht wird."
„Wenn du alles glaubst, was in dem Drecksblatt steht, bist du gelackmeiert", sagte Harlow.
Der „Verdunkler" war eine konservative Zeitung, und Harlow war Mitglied des örtlichen „Liberalen Clubs". Harlows Bemerkung brachte Crass auf.
„Was soll das?" fragte er. „Du weißt doch genau, dass das Land von Ausländern auf 'n Hund gebracht wird. Geh doch bloß mal in 'nen Laden, was zu kaufen; guck dich da um, und du wirst sehen, dass die Hälfte von dem Zeugs aus 'm Ausland kommt. Die können ihre Ware hier verkaufen, weil sie keinen Zoll zahlen brauchen, aber die passen schon auf und legen hohe Zölle auf unsre Waren,
um sie aus ihren Ländern rauszuhalten, und ich sag, 's ist höchste Zeit, dass damit Schluss gemacht wird."
„Bravo", meinte Linden, der stets mit Crass übereinstimmte, weil es in dessen Macht als Vorarbeiter stand, ein gutes - oder auch ein böses - Wort für einen beim Chef einzulegen. „Bravo! Das nenn ich gesunden Menschenverstand."
Einige der anderen Leute machten sich aus dem gleichen Grunde wie Linden zum Echo der Gefühle Crass'; Owen aber lachte verächtlich.
„Freilich, es stimmt, dass wir 'ne Menge Zeugs aus fremden Ländern kriegen", sagte Harlow, „aber sie kaufen mehr von uns als wir von ihnen."
„Du bildest dir doch ein, du weißt so viel", sagte Crass. „Wie viel mehr haben sie denn letztes Jahr von uns gekauft als wir von ihnen?"
Harlow machte ein dummes Gesicht; tatsächlich war seine Sachkenntnis in der Angelegenheit nicht viel größer als die von Crass. Er murmelte so etwas wie: er habe „keinen Kopf für Zahlen" und bot an, am nächsten Tag alle Einzelheiten zu bringen.
„So einen wie dich nenn ich 'nen Aufschneider", fuhr Crass fort. „Hast 'nen großen Rand, aber wenn man zur Sache kommt, dann weißte nischt."
„Na, sogar hier in Mugsborough wimmelt's von Ausländern!" fiel Sawkins ein - der, obwohl er noch immer auf der Kommode lag, durch den lauten Wortwechsel aufgewacht war. „Fast alle Kellner und der Koch im Grand Hotel, wo wir letzten Monat gearbeitet haben, sind Ausländer."
„Ja", sagte der alte Joe Philpot mit tragisch klingender Stimme, „und dazu kommen noch die ganzen italienischen Leierkastenmänner und die Leute, die heiße Kastanien verkaufen, und als ich gestern Abend nach Hause ging, hab ich 'ne Menge Franzmänner gesehen, die Zwiebeln verkauften, und kurz danach traf ich noch zwei, die mit 'nem Bären die Straße raufkamen."
Trotz der beunruhigenden Natur dieser Mitteilung lachte Owen wieder, sehr zur Entrüstung der übrigen, die der Meinung waren, die Lage sei sehr ernst. Es war unerhört,
dass es diesen Leuten gestattet wurde, dem englischen Volk den Bissen Brot vom Munde wegzunehmen - ins Meer sollte man sie jagen!
Und so lief die Unterhaltung weiter, vorwiegend von Crass und denen geführt, die mit ihm übereinstimmten. Keiner von ihnen verstand wirklich etwas von der Sache; keiner von ihnen hatte jemals fünfzehn Minuten darauf verwendet, sie ernsthaft zu untersuchen. Die Zeitungen, die sie lasen, waren voller unbestimmter und beunruhigender Berichte über die Menge der ausländischen Waren, die importiert wurden, über die enorme Anzahl von Ausländern, die ständig ins Land kamen, über ihren armseligen Zustand, die Art, wie sie lebten, die Verbrechen, die sie begingen, und den Schaden, den sie dem englischen Handel brachten. Das waren die Samen, die, geschickt in ihre Köpfe gesät, einen erbitterten und unterschiedslosen Hass gegen die Ausländer in ihnen wachsen ließen. Für sie war die geheimnisvolle Sache, die sie abwechselnd die „Schutzzollpolletik", die „Zollschutzpolletik" und die „Zollfrage" nannten, ein großer Kreuzzug gegen die Ausländer. Das Land war in einem furchtbaren Zustand; Armut, Hunger und Elend in hunderterlei Form waren bereits in Tausende Heime gedrungen und standen an der Schwelle von weiteren Tausenden. Wie kam das? Die verfluchten Ausländer waren schuld daran. Deshalb, nieder mit den Ausländern und allem, was sie taten. Hinaus mit ihnen. Jagt die Hunde ins Meer! Das Land ginge zugrunde, wenn man es nicht auf irgendeine Weise schützte. Die Schutzzoll-, Zollschutz-, Zollpolletik, oder wie, Teufel auch, das Ding hieß, war ein Schutz: deshalb konnte nur ein Dummkopf zögern, sie zu unterstützen. Es war ganz offensichtlich -ganz einfach. Man brauchte nicht zweimal darüber nachzudenken. Es war kaum nötig, überhaupt darüber nachzudenken.
Der Schluss, zu dem Crass und diejenigen unter seinen Kollegen kamen, die sich für Konservative hielten - die Mehrzahl von ihnen hätte nicht ein Dutzend Sätze laut lesen können, ohne ins Stottern zu geraten -, war, es sei nicht nötig, nachzudenken, zu studieren oder irgend etwas zu untersuchen. Alles war sonnenklar. Der Ausländer war der Feind und war die Ursache der Armut und der schlechten Lage des Handels.
Als sich der Sturm ein wenig gelegt hatte, sagte Owen höhnisch:
,Einige von euch scheinen zu denken, dass es ein großer Fehler Gottes war, so viele Ausländer zu schaffen. Ihr solltet eine Massenversammlung darüber abhalten; nehmt doch eine Entschließung etwa folgenden Inhalts an: ,Die hier versammelten britischen Christen protestieren energisch gegen die Handlungsweise des Höchsten Wesens, so viele Ausländer geschaffen zu haben, und fordern es auf, umgehend Feuer, Schwefel und mächtige Felsbrocken auf die Köpfe all dieser Philister herabregnen zu lassen, damit sie völlig vom Antlitz der Erde vertilgt werden, die rechtmäßig dem britischen Volk gehört.'"
Crass sah sehr entrüstet aus, aber es fiel ihm nichts ein, womit er Owen antworten konnte, und der fuhr fort:
„Vor einer Weile hast du die Bemerkung gemacht, du zerbrächest dir niemals den Kopf über das, was du Politik nennst, und einige der anderen stimmten mit dir überein, es lohne sich nicht. Nun, da du dir niemals Gedanken darüber machst, folgt daraus, dass du nichts darüber weißt, und doch zögerst du nicht, sehr entschiedene Meinungen über Dinge zu äußern, von denen du zugegebenermaßen nichts weißt. Nächstens, wenn eine Wahl stattfindet, gehst du hin und stimmst für eine Politik, von der du nichts weißt. Ich sage: da du dir niemals die Mühe machst, herauszufinden, welche Seite im Recht oder im Unrecht ist, hast du kein Recht, irgendeine Meinung zu äußern. Du bist nicht reif, zu wählen. Man sollte dir nicht gestatten, zu wählen." Crass war jetzt sehr ärgerlich.
„Ich zahl meine Abgaben und Steuern", schrie er, „und hab ebensoviel Recht wie du, meine Ansicht zu äußern! Verflucht noch mal, ich stimme, für wen ich Lust hab! Werd nicht um deine noch um sonst jemandes Erlaubnis bitten! Was zum Teufel geht's dich an, für wen ich stimme?"
„Das geht mich eine ganze Menge an. Wenn du für Schutzzölle stimmst, hilfst du, sie einzuführen. Gelingt dir das, und die Schutzzölle sind tatsächlich ein solches Übel, wie einige Leute behaupten, so werde ich einer von denen
sein, die darunter zu leiden haben. Ich sage, du hast kein Recht, für eine Politik zu stimmen, die Leiden über andere Menschen bringen kann, ohne dass du dir die Mühe machst zu ergründen, ob du hilfst, die Dinge zu verbessern oder zu verschlimmern."
Owen hatte sich von seinem Sitz erhoben und ging in der Küche auf und ab, wobei er seine Worte mit aufgeregten Gebärden unterstrich.
„Von wegen, ich finde nicht raus, welche Seite im Recht ist", sagte Crass, ein wenig eingeschüchtert von Owens Art und von dem, was er für den Ausdruck des Wahnsinns in seinen Augen hielt, „ich les doch jede Woche den ,Ananias' und kaufe gewöhnlich das ,Tägliche Chloroform' oder den .Verdunkler'; da muss ich also was drüber wissen."
„Hört euch bloß das mal an", unterbrach Easton in dem Wunsch abzulenken und begann, aus dem „Verdunkler", den er noch in der Hand hielt, vorzulesen:

„GROSSE NOT IN MUGSBOROUGH
HUNDERTE ARBEITSLOS
WOHLTÄTIGKEITSVEREIN AKTIV
789 FÄLLE BETREUT

So groß die Not unter der Arbeiterbevölkerung auch letztes Jahr war, deutet doch leider alles darauf hin, dass sie bis zum Ende des soeben beginnenden Winters noch fühlbarer werden wird.
Der Wohltätigkeitsverein und ähnliche Organisationen betreuen heute bereits mehr Fälle als zur gleichen Zeit des Vorjahres. Anträge an das Wohlfahrtsamt gehen ebenfalls zahlreicher ein als im vergangenen Jahr, und die Suppenküche musste ihre Pforten um 14 Tage früher als gewöhnlich am 7. November öffnen. Die Anzahl der Männer, Frauen und Kinder, die mit einer Mahlzeit versorgt wurden, ist drei- bis viermal größer als letztes Jahr."
Easton hielt inne; das Lesen war eine schwere Arbeit für ihn.
„Es steht noch viel mehr drin", sagte er, „dass sie Hilfsaktionen starten wollen: zwei Schilling pro Tag für verheiratete Männer und einen Schilling für unverheiratete, und dann noch was über 1572 Liter Suppe, die sie an Familien ausgegeben haben, die nicht mal 'nen Penny zahlen können, und noch viel mehr. Und hier ist noch was, 'ne Annongse:

DIE NOT DER ARMEN
Sehr geehrter Herr! Die Not unter den Armen ist derartig groß, dass ich Sie ernstlich bitte, das große Hilfswerk, das die Heilsarmee zugunsten der Armen durchführt, zu unterstützen. Jede Nacht gewähren wir etwa 6000 Menschen Obdach. Täglich finden wir Arbeit für Hunderte. In London werden um Mitternacht Suppe und Brot an heimatlose Wanderer verteilt. Wir haben zusätzliche Werkstätten für Arbeitslose eröffnet. Unsere Sozialfürsorge für Männer, Frauen und Kinder, für die Haltlosen und Ausgestoßenen, ist das größte und älteste Unternehmen seiner Art in unserem Lande und braucht dringend Unterstützung. Bis Weihnachten müssen 10000 Pfund aufgebracht werden. Auf Wunsch können für jede beliebige Bevölkerungsschicht oder für jede beliebige Familie Geschenke gemacht werden. Wir bitten Sie deshalb, uns Ihren Beitrag zu übersenden, um die Fortführung unserer Arbeit zu ermöglichen. Bitte senden Sie Verrechnungsschecks, zahlbar bei der Bank von England (Law Courts-Filiale), an meine Adresse, Königin-Viktoria-Str. 101, E. C. Bilanz- und Tätigkeitsberichte werden auf Wunsch versandt. Bramwell Booth"

„Och, das gehört zur großen Glückseligkeit und zum Wohlstand, die laut Owen der Freihandel mit sich bringt", sagte Crass mit einem höhnischen Lachen.
„Ich habe nie gesagt, der Freihandel bringe Glückseligkeit oder Wohlstand", erklärte Owen.
„Nu, vielleicht haste nicht genau die Worte gebraucht, aber darauf läuft's doch hinaus."
„Ich habe niemals etwas Derartiges gesagt. Freihandel haben wir während der letzten fünfzig Jahre gehabt, und heute leben die meisten Menschen in einem Zustand mehr oder weniger bitterer Armut, und Tausende sind buchstäblich am Verhungern. Als wir Schutzzölle hatten, war die Lage noch schlimmer. Andere Länder haben Schutzzölle, und trotzdem sind viele ihrer Bewohner froh, dass sie hierher kommen und für einen Hungerlohn arbeiten können. Der einzige Unterschied zwischen Freihandel und Schutzzöllen ist, dass das eine unter gewissen Umständen noch ein wenig schlimmer sein kann als das andere; aber als Heilmittel gegen die Armut hat keins von beiden auch nur den geringsten wirklichen Wert, aus dem einfachen Grunde, weil sie sich nicht mit den wahren Ursachen der Armut befassen."
„Die größte Ursache der Armut ist die Übervölkerung", bemerkte Harlow.
„Freilich", meinte der alte Joe Philpot. „Wenn 'n Meister zwei Leute braucht, drängen sich zwanzig nach der Stellung: 's gibt zuviel Menschen und nicht genug Arbeit."
„Übervölkerung!" rief Owen, „wenn es Tausende Morgen unbebautes Land in England gibt, wo nicht ein Haus oder ein Mensch zu sehen ist. Ist Übervölkerung vielleicht die Ursache der Armut in Frankreich? Ist Übervölkerung vielleicht die Ursache der Armut in Irland? Während der letzten fünfzig Jahre ist die Bevölkerung Irlands um mehr als die Hälfte vermindert worden. Vier Millionen Menschen sind durch Hungersnot ausgerottet worden, oder man ist sie durch Auswanderung losgeworden, aber die Armut ist man dort nicht losgeworden. Vielleicht meinst du, hier in England sollte ebenfalls die Hälfte der Bevölkerung ausgerottet werden."
Jetzt wurde Owen von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt und musste sich wieder setzen. Als der Husten vorüber war, saß er da, wischte sich den Mund mit dem Taschentuch ab und hörte dem nun folgenden Gespräch der anderen zu.
„Trunksucht ist meistens die Ursache der Armut", sagte Slyme.
Dieser junge Mann hatte einen merkwürdigen Prozess durchgemacht, den er „Bekehrung" nannte. Er hatte eine „Sinneswandlung" erlebt und sah mit frommem Mitleid auf jene hinab, die er „weltliche" Menschen nannte. Er war nicht „weltlich", er rauchte nicht und trank nicht und ging niemals ins Theater. Er hatte die eigenartige Vorstellung, völlige Abstinenz sei eines der Grundprinzipien der christlichen Religion.
Es kam ihm niemals in den Sinn - oder was er so nannte -, dass seine Doktrin eine Beleidigung des Gründers des Christentums war.
„Jawohl, sagte Crass und pflichtete Slyme bei, „und 's gibt genug Leute, die zu faul sind zu arbeiten, wenn sie Arbeit bekommen können. Manche von den Sch...kerlen, die rumlaufen und auf ihre Armut pochen, haben in ihrem ganzen Leben noch nicht 'nen Finger krumm gemacht. Und dann sind da noch all die neumodschen Maschinen", fuhr Crass fort, „die ruinieren alles. Selbst in unserm Fach gibt's Maschinen, die Tapeten zurechtmachen, und jetzt haben sie schon 'ne Malmaschine rausgebracht. Das ist 'ne Pumpe mit 'nem Schlauch, und sie rechnen damit, dass zwei Mann soviel mit der Maschine schaffen können wie zwanzig Mann ohne die."
„Und dann die Frauen", sagte Harlow. „'s gibt heutzutage Tausende, die Arbeiten verrichten, die eigentlich den Männern zukommen."
„Meiner Meinung nach lernen die heutzutage viel zuviel", bemerkte der alte Linden. „Zum Deibel, wozu ist soviel Lernen für unsereinen gut?"
„Zu überhaupt nischt", sagte Crass; „setzt den Leuten bloß Flausen in 'n Kopf und macht sie zu faul zum Arbeiten."
Barrington, der sich an der Unterhaltung nicht beteiligte, saß noch immer da und rauchte schweigend. Owen hörte diesem jämmerlichen Gewäsch mit einem Gefühl der Verachtung und der Verwunderung zu. Waren sie alle hoffnungslos dumm? Hatte sich ihr Verstand niemals über das Kindheitsstadium hinaus entwickelt? Oder war er selbst verrückt?
„Frühes Heiraten spielt auch noch 'ne Rolle", meinte Slyme. „Keinem Mann dürfte's Heiraten erlaubt sein, wenn er nicht in der Lage ist, 'ne Familie zu ernähren."
„Wie kann denn die Ehe eine Ursache der Armut sein?" fragte Owen verächtlich. „Ein Mann, der nicht verheiratet
ist, führt ein unnatürliches Leben. Warum gehst du mit deinem Argument nicht ein bisschen weiter und sagst, die Gewohnheit des Essens und des Trinkens sei die Ursache der Armut, oder wenn die Leute barfuss und nackt gingen, gäbe es keine Armut? Der Mann, der so arm ist, dass er nicht heiraten kann, befindet sich ja bereits im Zustand der Armut."
„Was ich meine", erwiderte Slyme, „ist, dass kein Mann heiraten sollte, solange er nicht genug gespart hat, dass er 'n bisschen Geld auf der Bank hat, und außerdem denke ich, kein Mann sollte heiraten, bis er nicht 'n eigenes Haus hat. Ist gar nicht schwer, eins durch 'ne Bausparvereinigung zu kaufen, wenn man regelmäßig Arbeit hat."
Diese Worte riefen allgemeines Gelächter hervor.
„Du verdammter Idiot", sagte Harlow spöttisch, „die meisten von uns gehen die halbe Zeit spazieren. Du kannst gut reden; du hast fast 'ne Lebensstellung hier bei der Firma. Wenn sie überhaupt was zu tun hat, bist du einer von den paar, die dabei sind. Und außerdem", setzte er höhnisch grinsend hinzu, „gehn wir nicht alle in dieselbe Kirche wie das olle Elend."
„Das olle Elend" war Meister oder Polier bei Rushton & Co. „Elend" war nur einer der Spitznamen, welche die Arbeiter ihm verliehen hatten; er war ebenfalls als „Nimrod" und „Pontius Pilatus" bekannt.
„Und selbst, wenn's möglich wäre", fuhr Harlow fort und blinzelte den anderen zu, „was soll denn 'n Mann während der Jahre machen, wo er spart?"
„Nu, er muss sich eben besiegen", antwortete Slyme und wurde rot.
„,Sich selbst besiegen' ist genau richtig", sagte Harlow, und die anderen lachten von neuem.
„Natürlich, wenn man versucht, sich nur durch eigene Kraft zu bezwingen", erwiderte Slyme, „muss man Schiffbruch erleiden; aber wenn man Gottes Gnade in sich fühlt, ist's was andres."
„Halt doch um Gottes willen die Klappe!" sagte Harlow angeekelt, „wir haben grade gegessen!"
„Na, und wie steht's mit dem Trinken?" fragte plötzlich Joe Philpot.
„Hört, hört!" rief Harlow aus. „Das ist 'n Wort, 'n viertel Literchen käm mir gar nicht so ungelegen, wenn jemand anders zahlt."
Joe Philpot - oder „der alte Joe", wie er gewöhnlich genannt wurde - hatte die Gewohnheit, sich gern mal ein Gläschen zu Gemüte zu führen. Er war noch nicht sehr alt, vielleicht etwas über Fünfzig, sah aber viel älter aus. Er hatte vor ungefähr fünf Jahren seine Frau verloren und stand jetzt allein in der Welt; denn seine drei Kinder waren bereits im Säuglingsalter gestorben. Slymes Bemerkung über das Trinken hatte bei Philpot Entrüstung hervorgerufen; er fühlte sich getroffen. Der wirre Zustand seines Gehirns gestattete ihm nicht, in seiner eigenen Sache den Fehdehandschuh aufzunehmen, aber er wusste, dass Owen, obgleich er selbst nicht trank, Slyme nicht leiden konnte.
„Über Trunksucht oder Faulheit brauchen wir uns nicht zu unterhalten", gab Owen ungeduldig zur Antwort, „weil sie nichts mit der Sache zu tun haben. Die Frage lautet: Was ist die Ursache für die lebenslängliche Armut der Mehrzahl von denen, die keine Trunkenbolde sind und tatsächlich arbeiten? Wenn alle Trunkenbolde und Arbeitsscheuen, alle unqualifizierten oder untüchtigen Arbeiter morgen durch irgendein Wunder in nüchterne, fleißige und tüchtige Arbeiter verwandelt werden könnten, so wäre das, unter den gegenwärtigen Umständen, doch nur schlimmer für uns, weil es schon jetzt nicht genug Arbeit für alle gibt, und diese Leute würden, indem sie den Wettlauf um die vorhandene Arbeit verschärfen, zwangsläufig eine Herabsetzung der Löhne und einen noch größeren Mangel an Arbeitsplätzen verursachen. Die Theorien, dass Trunksucht, Faulheit oder Untüchtigkeit die Ursache der Armut sei, sind nur Ausreden, von Leuten erfunden und propagiert, die aus Eigennutz daran interessiert sind, den bestehenden Zustand aufrechtzuerhalten, und die uns hindern wollen, die wahren Ursachen unserer gegenwärtigen Lage zu entdecken."
„Nu, wenn wir alle unrecht haben", sagte Crass höhnisch, „kannste uns vielleicht verraten, was wirklich die Ursache ist?"
„Und vielleicht weißt du auch, wie man's ändern kann", bemerkte Harlow und blinzelte den anderen zu.
„Jawohl, ich glaube tatsächlich die Ursache zu kennen", erklärte Owen, „und ich glaube tatsächlich zu wissen, wie man es ändern könnte... "
„Das kann nie nicht verändert werden", unterbrach ihn der alte Linden. „Ich seh nicht ein, wozu all dies Gerede gut sein soll. Arme und Reiche hat's immer auf der Welt gegeben und wird's immer geben."
„Was ich immer sage", bemerkte Philpot, dessen Hauptmerkmal - abgesehen von seinem Durst - der Wunsch war, alle Leute zufrieden zu sehen, und der Streitigkeiten jeder Art hasste, „'s hat gar keinen Zweck nicht, dass sich unsereiner den Kopf über Polletik zerbricht oder sich deshalb rumzankt. Ist ja schietegal, für wen ihr stimmt und wer gewählt wird. Sind ja doch alle gleich; geben weise Ratschläge und sehen dabei selbst zu, wo sie bleiben. Ihr könnt reden, bis ihr schwarz werdt, aber ändern werdt ihr's nie. Hat keinen Zweck nicht, sich Gedanken drüber zu machen. Das einzig Vernünftige ist, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, und zu versuchen, das Beste draus zu machen - uns amüsieren und gegenseitig helfen, so gut wir können. Das Leben ist zu kurz, um sich rumzuzanken, und sowieso sind wir alle bald tot!"
Nach dieser langen Rede ergriff der Philosoph Philpot geistesabwesend ein Marmeladenglas und führte es an die Lippen; da ihm aber plötzlich einfiel, dass es aufgekochten Tee und kein Bier enthielt, setzte er es, ohne zu trinken,
wieder ab.
„Fangen wir doch von vorne an", fuhr Owen fort, ohne sich um die Unterbrechungen zu kümmern. „Zuerst einmal: Was versteht ihr unter Armut?"
„Na, wenn du kein Geld hast, natürlich", sagte Crass
ungeduldig.
Die anderen lachten verächtlich. Die Frage schien ihnen
sehr töricht.
„Nun, das stimmt freilich in einem gewissen Maße", gab Owen zurück, „das heißt, so wie die Dinge in der Welt augenblicklich stehen. Aber Geld an sich ist kein Reichtum - es ist zu gar nichts nütze."
Bei diesen Worten brach von neuem höhnisches Gelächter aus.
„Nehmen wir zum Beispiel mal an, du und Harlow, ihr wäret als Schiffbrüchige auf einer einsamen Insel; du hättest nichts als einen Sack mit tausend Sovereigns gerettet und er eine Dose Zwieback und eine Flasche Wasser."
„Sag lieber Bier!" rief Harlow beschwörend.
„Wer wäre dann der Reichere: du oder Harlow?"
„Wir sind doch aber nicht als Schiffbrüchige auf 'ner vereinsamten Insel", höhnte Crass. „Das ist das Dumme bei deinen Argumenten. Nie kannste weiterkommen, ohne dass du irgend'nen albernen Blödsinn annimmst. Hör doch auf damit, dir Sachen vorzustellen, die gar nicht wahr sind; wir wolln lieber Tatsachen hören und gesunden Menschenverstand."
„Richtig", sagte der alte Linden, „genau das wolln wir -'n bisschen gesunden Menschenverstand."
„Was verstehst 'n du unter Armut?" fragte Harlow.
„Ich verstehe unter Armut, wenn sich die Menschen nicht alle Wohltaten der Zivilisation verschaffen können: die lebensnotwendigen Dinge, die Bildung, das Vergnügen, den Komfort des Lebens - Muße, Bücher, Theater, Bilder, Musik, Urlaub, Reisen, gesunde und schöne Wohnungen, anständige Kleidung, gute und reichliche Nahrung."
Alle lachten. Es war zu lächerlich. Die Idee, dass ihresgleichen derartige Dinge wünschten oder besäßen! Jeder Zweifel über Owens Geisteszustand, den einige von ihnen etwa noch gehegt hatten, verschwand. Der Mensch war völlig verrückt.
„Wenn ein Mann sich und seiner Familie nur gerade das Existenzminimum beschaffen kann, so lebt diese Familie in Armut. Da er nicht in den Genuss der Annehmlichkeiten der Zivilisation kommt, könnte er ebenso gut ein Wilder sein; dann wäre er sogar noch besser dran, denn ein Wilder weiß nicht, was man ihm vorenthält. Was wir Zivilisation nennen - das gesamte uns von unseren Vorfahren überkommene Wissen -, ist die Frucht Tausender Jahre menschlichen Denkens und menschlicher Arbeit. Sie ist nicht das Ergebnis der Arbeit, die von den Ahnen irgendeiner bestimmten Klasse heute lebender
Menschen geleistet wurde, und deshalb ist sie rechtmäßig das Erbteil aller. Jedes kleine Kind, das in die Welt geboren wird, sei es klug oder beschränkt, ohne körperliche Fehler, lahm oder blind, mag es seine Mitmenschen in anderer Beziehung übertreffen oder ihnen unterlegen sein - in einer Hinsicht zumindest ist es ihnen ebenbürtig: es ist einer der Erben aller vergangenen Zeitalter."
Einige begannen sich zu fragen, ob Owen nicht doch vielleicht bei gesundem Verstand sei. Bestimmt musste er ein kluger Bursche sein, um so reden zu können. Es klang beinahe wie aus einem Buch, und die meisten von ihnen konnten nicht die Hälfte davon verstehen.
„Wie kommt es", fuhr Owen fort, „dass wir nicht nur unseres Erbes beraubt sind - denn wir sind doch beinahe sämtlicher Errungenschaften der Zivilisation beraubt -, sondern dass wir auch häufig nicht in der Lage sind, uns und unseren Kindern das für unsere Existenz Allernotwendigste zu beschaffen?" Niemand antwortete.
„Alle diese Dinge", setzte Owen seine Rede fort, „werden von den arbeitenden Menschen hergestellt. Wir leisten doch unseren vollen Anteil an der Arbeit; deshalb sollten wir auch unseren vollen Anteil an dem, was durch die Arbeit produziert wird, erhalten."
Die anderen schwiegen weiter. Harlow dachte an die Übervölkerungstheorie, beschloss aber, sie nicht zu erwähnen. Crass, der um nichts in der Welt fähig gewesen wäre, eine intelligente Antwort zu geben, hatte ausnahmsweise einmal genügend Verstand, zu schweigen. Zwar dachte er daran, die Patent-Farbenpumpmaschine anzuführen und sich auf den Schlauch zu beziehen, gab aber dann diesen Gedanken wieder auf; schließlich, dachte er, was nütze es, mit einem Narren wie Owen zu diskutieren? Sawkins tat, als schliefe er. Philpot aber war plötzlich sehr ernst geworden. „So, wie die Dinge jetzt stehen", sprach Owen weiter, „sind wir, anstatt die Errungenschaften der Zivilisation zu genießen, schlimmer dran als Sklaven; denn wären wir Sklaven, so würden unsere Herren zu ihrem eigenen Vorteil dafür sorgen, dass wir stets Nahrung hätten und... "
„Oh, da bin ich andrer Meinung", unterbrach ihn rau der alte Linden, der ihm sichtlich mit Ärger und Ungeduld zugehört hatte. „Für dich selber kannste sprechen, aber ich kann dir sagen, ich betrachte mich nicht als Sklaven."
„Ich auch nicht", sagte Crass störrisch. „Soll sich Sklave nennen, wer Lust hat."
In diesem Augenblick waren Schritte auf dem Gang zu hören, der zur Küche führte. Das olle Elend! Oder vielleicht der Alte selbst! Crass zog hastig die Uhr heraus.
„Verdammt noch mal!" schnaufte er. „Vier Minuten nach eins!"
Linden packte in höchster Eile eine Trittleiter und begann, damit in der Küche umherzuwandern.
Sawkins sprang schnell auf die Füße, riss ein Stück Sandpapier aus der Schürzentasche und fing an, mit wildem Eifer die Spülkammertür damit abzureiben.
Easton warf den „Verdunkler" hin und stand hastig auf.
Der Junge stopfte die „Chronik des Verbrechens" in seine Hosentasche.
Crass stürzte zum Eimer und begann, die abgestandene Schlämmkreide darin umzurühren, und der sich ausbreitende Gestank war einfach entsetzlich.
Es herrschte Bestürzung.
Sie sahen aus wie eine Bande von Übeltätern, die bei der Ausübung eines Verbrechens jäh unterbrochen wurden.
Die Tür ging auf. Es war nur Bundy, der von seinem Gang zum Buchmacher zurückkehrte.

 

2. Kapitel Nimrod: Ein großer Jäger vor dem Herrn

Mr. Hunter, wie man ihn ins Gesicht nannte und unter welchem Namen ihn seine Brüder von der Gemeinde der Kapelle „Das strahlende Licht" kannten, wo er Vorsteher der Sonntagsschule war, oder „Elend" und „Nimrod", wie er hinter seinem Rücken von den Arbeitern genannt wurde, über die er seine Tyrannenfuchtel schwang, war der Meister oder Polier der Firma, deren Visitenkarte wir hiermit dem Leser überreichen:

RUSHTON & CO.
MUGSBOROUGH
Bau- und Malerarbeiten aller Art * Beerdigungen
Kostenanschläge für sämtliche Hausreparaturen
Nur erstklassige Arbeit zu mäßigen Preisen

Es gab auch eine Anzahl von Vizemeistern oder Vorarbeitern; aber Hunter war der Meister.
Er war ein hochgewachsener, dürrer Mensch, dem die Kleider lose von den knochigen, abfallenden Schultern hingen. Seine langen, dünnen Beine, um die in unschönen Falten sackartige, von den Knien ausgebeulte Hosen schlotterten, waren leicht x-förmig und endeten in großen Plattfüßen. Seine Arme waren selbst für einen so hochgewachsenen Menschen sehr lang, und die riesigen, knochigen Hände waren knotig und knorrig. Nahm er seine Melone ab, wie er es häufig tat, um sich mit einem roten Taschentuch den vom schnellen Radfahren verursachten Schweiß abzuwischen, so sah man, dass seine Stirn lang, flach und eng war. Seine Nase war ein großer, fleischiger Habichtsschnabel; von jedem der beiden Nasenflügel lief eine tiefe Furche abwärts und verschwand im Hängeschnurrbart, der den Mund verdeckte, weshalb dessen riesiges Ausmaß nur sichtbar wurde, wenn Hunter ihn öffnete, um den Arbeitern seine Kommandos zuzuheilen, sich mehr anzustrengen. Das Kinn war breit und außergewöhnlich lang. Über den wässrigblauen, kleinen und eng beieinander stehenden Augen wuchsen schüttere, helle, fast unsichtbare Augenbrauen, die von einer tiefen, senkrechten Falte über der Nasenwurzel getrennt wurden. Sein mit dichtem, sprödem braunem Haar bedeckter Schädel zeichnete sich durch einen sehr breiten Hinterkopf aus; die Ohren waren klein und eng anliegend. Hätte jemand ein en-face-Porträt von Hunters leichenähnlichem Gesicht zeichnen wollen, so hätte er festgestellt, dass dessen Umrisse denen eines Sargdeckels glichen.
Dieser Mensch war seit fünfzehn Jahren bei Rushton -niemand hatte jemals die „Co." gesehen -, fast seit dem Tage der Geschäftseröffnung. Damals hatte Rushton erkannt, dass es notwendig war, einen Vertreter zu haben, den er benutzen konnte, alle Plackereien und Laufereien zu übernehmen, damit er selbst frei war, sich mit den angenehmeren und einträglicheren Dingen zu befassen. Damals war Hunter Geselle und stand gerade im Begriff, sich selbständig zu machen, als Rushton ihm eine Dauerstellung als Vorarbeiter anbot, mit einem Wochenlohn von zwei Pfund plus zweieinhalb Prozent vom Gesamtprofit der Firma. Dem Schein nach war das ein großzügiges Angebot. Hunter nahm es an, gab den Gedanken auf, sich selbständig zu machen, und setzte sich mit Herz und Seele für das Geschäft ein. War ein Kostenanschlag vorzubereiten, so war es Hunter, der die Flächen ausmaß und emsig die Kosten berechnete. Wurde das Angebot der Firma angenommen, so war er es, der die Arbeit überwachte und austüftelte, wo man dabei schludern konnte: wo man Lehm benutzen konnte, wenn Mörtel vorgesehen war; Mörtel, wenn man hätte Zement nehmen müssen; Zinkblech, wo' eigentlich Blei gelegt werden sollte; gekochtes Öl anstelle von Firnis und drei Anstriche, wo fünf bezahlt wurden. Das Pfuschen war bei diesem Mann tatsächlich zu einer Art Manie geworden. Es bereitete ihm Kummer, irgend etwas ordentlich machen zu lassen. Selbst wenn es sparsamer war, etwas gut auszuführen, bestand er aus Gewohnheit darauf, dass geschludert wurde. Dann war er fast glücklich, weil er das Gefühl hatte, jemand übers Ohr zu hauen. Überwachte ein Architekt die Arbeit, so bestach ihn Elend, oder er bluffte ihn. War beides nicht möglich, so versuchte er es zumindest; und wenn er nicht gerade die Arbeiter beobachtete, sie antrieb oder mit ihnen polterte, waren seine scharfen Geieraugen ständig auf Aus-
schau nach neuen Aufträgen. Er steckte seine lange, rote Nase in jedes Maklerbüro der Stadt, um herauszuschnüffeln, welche Häuser in der letzten Zeit den Besitzer gewechselt hatten oder vermietet worden waren, damit er bei den neuen Besitzern vorsprechen und sich den Auftrag für jede etwa nötige Veränderung oder Reparatur sichern konnte. Er war es, der schändliche Verträge mit zahlreichen Aufwartefrauen und Krankenpflegerinnen einging, damit sie ihn gegen ein kleines Entgelt wissen ließen, wann ein armer Leidender im Sterben lag, und den trauernden, nur zerstreut zuhörenden Hinterbliebenen die Firma Rushton 8c Co. empfahlen. Auf diese Weise bewerkstelligte es Elend häufig - nachdem er zuerst Erkundigungen über die finanzielle Lage der betroffenen Familie eingezogen hatte -, seine unschöne Gestalt in das Trauerhaus zu drängen, um selbst in den Räumen des Todes die Interessen der Firma Rushton 8c Co. zu fördern und seine jämmerlichen zweieinhalb Prozent zu verdienen.
Um dieses Ziel zu erreichen, schuftete Elend, trieb die Arbeiter an, tüftelte und betrog er. Deshalb wurden die Löhne der Arbeiter bis an die Grenze des Möglichen gedrückt, waren ihre Kinder schlecht gekleidet, schlecht beschuht, schlecht genährt und wurden schon im Kindesalter zur Arbeit getrieben, weil ihre Väter nicht in der Lage waren, ihre Familien zu erhalten. Fünfzehn Jahre lang!
Hunter begriff jetzt, dass Rushton dabei das weitaus bessere Geschäft gemacht hatte. Einmal hatte er, wie man sehen wird, einen Menschen gekauft, der sich hätte zum gefährlichen Konkurrenten entwickeln können, und zum anderen gehörte jetzt, nach fünfzehn Jahren, das Geschäft, das so mühsam, vorwiegend durch Hunters Energie, durch seinen Fleiß und seine skrupellose Schlauheit aufgebaut worden war, Rushton 8c Co. Hunter war nur ein Angestellter, der wie jeder andere Arbeiter entlassen werden konnte; der einzige Unterschied war, dass er Anspruch auf eine Kündigungsfrist von einer Woche hatte anstatt von einer Stunde, und er war finanziell nur wenig besser gestellt als zu der Zeit, da er für die Firma zu arbeiten begonnen hatte.
Fünfzehn Jahre!
Hunter wusste jetzt, dass man ihn ausgenutzt hatte, aber er wusste auch, dass es zur Umkehr zu spät war. Er hatte nicht genügend gespart, um mit Erfolg ein eigenes Geschäft aufmachen zu können - selbst wenn er sich geistig und körperlich in der Lage gefühlt hätte, noch einmal von vorn anzufangen; und wenn Rushton Sc Co. ihn jetzt entließe, wäre er zu alt, um als Geselle anderswo unterzukommen. In seinem Eifer für Rushton & Co. und in dem Bestreben, seine Provision zu verdienen, hatte er auch häufig Dinge getan, die ihm die Feindschaft der Konkurrenzfirmen in einem solchen Maße zuzogen, dass es höchst unwahrscheinlich war, eine von ihnen werde ihn einstellen, und selbst wenn sie es täten, stockte Elend das Herz bei dem Gedanken, den Arbeitern, die er tyrannisiert und unterdrückt hatte, auf gleicher Stufe gegenüberstehen zu müssen. Aus all diesen Gründen hatte Hunter eine ebensolche panische Angst vor Rushton wie die Arbeiter vor ihm.
Über den Leuten stand Elend, ständig drohend, sie zu entlassen und ihre Frauen und Kinder dem Hunger preiszugeben. Hinter Elend aber stand Rushton, polterte und stachelte ihn an zu immer größeren Anstrengungen und Leistungen zum Nutzen der guten Sache - die darin bestand, dem Chef der Firma die Möglichkeit zu geben, Geld anzuhäufen.
In dem Augenblick, da der Leser Mr. Hunters Bekanntschaft macht, an dem Nachmittag, an dem sich die im ersten Kapitel aufgezeichneten Ereignisse abspielten, führte Mr. Hunter eine Art strategische Bewegung in Richtung des Hauses aus, wo Crass und seine Gefährten arbeiteten. Er hielt sich auf der einen Straßenseite, weil ihn auf diese Weise die Leute im Hause bis zum Augenblick seiner Ankunft nicht bemerken konnten. Als er noch etwa hundert Meter vom Tor entfernt war, stieg er vom Rad, denn die Straße führte hier steil bergan, und während er sich hinaufarbeitete, das Rad vor sich herschob und sein Atem in der kalten Luft in weißen Wolken zu sehen war, beobachtete er einige dort herumstehende Männer. Ein paar von ihnen kannte er; sie hatten schon verschiedentlich für ihn gearbeitet, jetzt aber waren sie arbeitslos. Im ganzen waren es fünf Mann; drei standen in einer Gruppe beieinander, und die übrigen beiden hielten sich jeder für sich, denn anscheinend kannten sie weder einander noch die anderen drei. Die Gruppe stand Hunter am nächsten, und als er herankam, trat einer daraus auf ihn zu.
„'n Morgen, Mr. Hunter."
Hunter antwortete mit einem unbestimmten Grunzen, ohne stehenzubleiben; der Mann folgte ihm.
„Irgend'ne Aussicht auf Arbeit, Mr. Hunter?"
„Alles besetzt", antwortete der, noch immer ohne stehenzubleiben. Der Mann folgte ihm weiter, wie ein Bettler, der um ein Almosen bittet.
„Wird's Zweck haben, in ein, zwei Tagen noch mal nachzufragen, Mr. Hunter?"
„Glaube nicht", antwortete dieser. „Können's ja tun, wenn Sie wollen, aber wir sind voll besetzt."
„Schönen Dank, Mr. Hunter", sagte der Mann und kehrte zu seinen Freunden zurück.
Inzwischen war Hunter bis auf einige Meter zu einem der abseits stehenden beiden Leute herangekommen, der ebenfalls herbeikam, um ihn anzusprechen. Dieser Mann wusste, es bestand wenig Hoffnung auf Arbeit; aber es kostete ja immerhin nichts, zu fragen. Außerdem war er der Verzweiflung nahe. Es war jetzt über einen Monat her, seit die Arbeit bei seiner letzten Stelle fertig geworden war. Den ganzen Sommer über war wenig zu tun gewesen. Manchmal hatte er vierzehn Tage lang für eine Firma gearbeitet, dann vielleicht eine Woche lang gefeiert, dann wieder drei Wochen oder einen Monat lang bei einer anderen Firma Arbeit gehabt, dann von neuem auf der Straße gelegen und so weiter. Und jetzt war es November.
Während des letzten Winters waren sie zu Hause in Schulden geraten; das war nichts Ungewöhnliches, aber infolge des schlechten Sommers hatten sie nicht, wie in anderen Jahren, die während des Winters aufgelaufenen Schulden abzahlen können. Es war auch zweifelhaft, ob sie diesen Winter wieder Kredit erhielten. Als seine Frau heute morgen ihr kleines Mädchen zum Einholen schickte,
lehnte es der Kaufmann bereits ab, dem Kind ohne Bezahlung Butter zu geben. Daher sprach der Mann jetzt Hunter an, obwohl er es für zwecklos hielt.
Diesmal blieb Hunter stehen: die Luft war ihm durch das Steigen knapp geworden.
'n Morgen, Mr. Hunter."
Hunter erwiderte den Gruß nicht, er hatte keine Luft dazu; aber der Mann war nicht beleidigt, er war es gewohnt, so behandelt zu werden.
„Besteht irgend'ne Aussicht auf Arbeit, Mr. Hunter?"
Der antwortete nicht sogleich. Er rang nach Luft, und er dachte über einen Plan nach, der ihm immer wieder in den Sinn kam, und den auszuführen er sich in der letzten Zeit ungeduldig wünschte. Jetzt schien ihm die langersehnte Gelegenheit gekommen zu sein. Im Augenblick war Rushton & Co. fast die einzige Firma in Mugsborough, die Beschäftigung hatte. Dutzende guter Arbeiter lagen auf der Straße. Jawohl, dies war der richtige Zeitpunkt. Wenn der Mann einwilligte, wollte er ihn anfangen lassen. Hunter wusste, dass der Mensch ein guter Arbeiter war; er hatte schon früher für Rushton & Co. gearbeitet. Um für ihn Platz zu schaffen, konnte man den alten Linden und irgendeinen anderen vollbezahlten Arbeiter abschieben; es konnte nicht schwer fallen, einen Vorwand zu finden.
„Nun", sagte Hunter schließlich zweifelnd und zögernd, „ich fürchte, nein, Newman. Wir sind so ziemlich voll besetzt."
Er hörte auf zu sprechen und wartete darauf, dass der andere noch etwas hinzufügte. Er sah den Mann nicht an. sondern beugte sich nieder und beschäftigte sich mit seinem Rad. als wolle er etwas in Ordnung bringen.
„Der Sommer ist so schlecht gewesen", fuhr Newman fort, „'s ist mir ziemlich dreckig ergangen. Ich würde über eine Arbeit sehr froh sein, selbst wenn's nur für eine Woche oder so wäre."
Eine Pause entstand. Nach einer Weile hob Hunter den Blick zum Gesicht des anderen, ließ ihn aber gleich wieder sinken.
„Nun", sagte er, „ein oder zwei Tage lässt sich's - vielleicht - machen. Sie können hier auf diese Arbeitsstelle
kommen", und er nickte zu dem Haus hinüber, wo seine
Leute arbeiteten.
„Morgen früh um sieben. Den Lohn kennen Sie doch natürlich?" setzte er hinzu, als Newman sich anschickte, ihm zu danken. „Sechseinhalb."
Hunter sprach, als sei die Lohnsenkung bereits eine vollendete Tatsache. Der Mann würde eher zustimmen, wenn er dachte, andere arbeiteten bereits zu dem herabgesetzten Satz.
Newman war überrascht und zögerte. Er hatte noch niemals unter Tarif gearbeitet; er hatte sogar manches Mal lieber gehungert als das getan, jetzt aber schien es, dass andere es taten. Und dann war er so schrecklich in Geldnot. Wenn er diese Arbeit ablehnte, erhielt er wohl nicht so bald eine andere. Er dachte an sein Heim und seine Familie. Schon seit fünf Wochen schuldeten sie die Miete, und am letzten Montag hatte der Verwalter ziemlich klar angedeutet, der Hauswirt werde nicht mehr viel länger warten. Nicht nur das, aber wie sollten sie leben, wenn er keine Arbeit erhielt? Heute morgen hatte er kaum ein Frühstück gehabt, nur eine Tasse Tee und ein Stück trocken Brot. Diese Gedanken überstürzten sich in seinem Kopf; dennoch zögerte er. Hunter machte Anstalten, sich zu entfernen.
„Nun", sagte er, „wenn Sie also anfangen wollen, können Sie um sieben Uhr früh herkommen." Und dann, als Newman noch immer zögerte, setzte er ungeduldig hinzu: „Kommen Sie nun oder nicht?"
„Jawohl, Mr. Hunter", sagte Newman.
„Na gut", meinte Hunter leutselig. „Ich werd Crass Bescheid geben, dass er Handwerkszeug für Sie bereithält."
Er nickte dem Arbeiter freundlich zu, der fortging und sich wie ein Verbrecher vorkam.
Als Hunter, sehr zufrieden mit sich selbst, seinen Weg fortsetzen wollte, kam ihm der fünfte Mann entgegen, der während der ganzen Zeit auf ihn gewartet hatte. Als er sich näherte, erkannte ihn Hunter als einen Arbeiter, der zu Anfang des Sommers bei Rushton & Co. Beschäftigung genommen, aber aus eigenem Willen die Arbeit plötzlich niedergelegt hatte, weil er durch irgendeine grobe Bemerkung Hunters aufgebracht war. Hunter freute sich, diesen Menschen zu sehen. Er erriet, dass der Mann in einer ziemlich bedrängten Lage sein musste, um nach dem, was geschehen war, wiederzukommen und um Arbeit zu bitten.
„Besteht irgend'ne Aussicht auf Arbeit, Mr. Hunter?"
Dieser schien nachzudenken.
„Einen kann ich, glaub ich, noch unterbringen", sagte er schließlich. „Aber Sie sind doch so 'n unsicherer Kantonist. 's scheint Ihnen ziemlich gleichgültig zu sein, ob Sie Arbeit haben oder nicht. Sie sind zu unabhängig, verstehn Sie; man braucht nur mal zwei Worte zu Ihnen zu sagen, und schon sind Sie auf und davon."
Der Mann gab keine Antwort.
„So was können wir nicht dulden, verstehn Sie", fügte Hunter hinzu. „Wenn wir Leute Ihrer Art unterstützen würden, wüssten wir nie, woran wir sind."
Mit diesen Worten schritt Hunter weiter und setzte seinen Weg fort.
Als er etwa noch drei Meter vom Tor entfernt war, lehnte er das Rad geräuschlos gegen den Gartenzaun. Die hohen Buchsbaumbüsche, die auf der Innenseite wuchsen, verbargen ihn noch vor den Blicken eines jeden, der etwa aus den Fenstern des Hauses sah. Dann schlich er behutsam weiter, bis er zum Torpfeiler kam, bückte sich und spähte vorsichtig umher, ob er nicht irgend jemand beim Herumlungern, Schwatzen oder Rauchen erwischen konnte. Niemand war zu sehen außer dem alten Jack Linden, der die Vestibültüren mit Bimsstein und Wasser abrieb. Hunter öffnete geräuschlos das Tor und schlich leise den Rasensaum des Gartenwegs entlang. Seine Absicht war, die Haustür ungesehen zu erreichen, damit Linden sein Kommen den Leuten drinnen nicht melden konnte. Das gelang ihm, und er schlüpfte lautlos ins Haus. Er sprach Linden nicht an, da er sonst den übrigen seine Anwesenheit angekündigt hätte. Verstohlen schlich er durchs Haus; er wurde jedoch in seinem Suchen enttäuscht, denn jeder, den er sah, war emsig bei der Arbeit. Oben fiel ihm auf, dass eine der Zimmertüren geschlossen war.
In diesem Raum hatte der alte Joe Philpot den ganzen Tag über gearbeitet, hatte die alte Schlämmkreide von der Decke abgewaschen und die Tapete mit einem breiten Messer mit eckigem Vorderteil, Spachtel genannt, von den Wänden geschabt. Obgleich das Zimmer nur klein war, hatte sich Joe doch die ganze Zeit über tüchtig ins Zeug legen müssen; denn die Decke schien zwei- oder dreimal geweißt worden zu sein, ohne dass man sie jemals abgewaschen hatte, und an der Wand klebten mehrere Lagen Tapeten übereinander. Sie zu entfernen, war um so schwieriger, weil ein gefirnisstes Paneel da war. Um es abkratzen zu können, hatte er es mehrmals mit scharfem Sodawasser durchtränken müssen, und obwohl Joe so vorsichtig wie möglich vorging, hatte er nicht vermeiden können, dass er etwas davon an die Finger bekam. Infolgedessen waren seine Nägel völlig zerfressen und entfärbt, und die Haut ringsum war gesprungen und blutig. Endlich aber hatte er doch alles von der Wand herunterbekommen, und er war darum nicht böse, denn sein rechter Arm und seine Schulter schmerzten von der langen Anstrengung, und in seiner rechten Handfläche hatte er vom Griff des Spachtels eine Blase, so groß wie ein Schilling.
Als die ganze alte Tapete herunter war, wusch Philpot die Wände mit Wasser ab, und nachdem er das Papier auf einen Haufen in der Mitte des Zimmers zusammengefegt hatte, mischte er mit einer kleinen Kelle etwas Zement auf einem Brett und ging daran, die Sprünge und Löcher in Decke und Wänden zu verschmieren. Nach einer Weile fand er, da er sehr müde war, er habe jetzt eine Ruhepause von fünf Minuten und ein Pfeifchen verdient. Er schloss die Tür und stellte eine Trittleiter dagegen. Das Zimmer hatte zwei einander fast gegenüberliegende Fenster; die öffnete er weit, damit der Rauch seiner Pfeife und der Tabaksgeruch hinauszögen. Nachdem er diese Vorsichtsmaßregeln gegen eine Überraschung getroffen hatte, stieg er zur obersten Stufe der Trittleiter hinauf, die er gegen die Tür gelehnt hatte, und setzte sich beruhigt nieder. In Reichweite stand, auf einem Schrank verborgen, eine Flasche mit einem halben Liter Bier. Der widmete er sich nun. Nachdem er einen langen Zug daraus getan hatte, stellte er sie zärtlich wieder auf den Schrank
zurück und machte sich daran, ruhig sein Pfeifchen zu genießen, wobei er zu sich bemerkte:
„Auf diese Weise kommt unsereins wenigsten 'n bisschen auf seine Kosten!"
Er behielt jedoch die Kelle in der Hand, um im Falle einer Störung sofort aktionsbereit zu sein.
Philpot war etwa fünfundfünfzig Jahre alt. Er trug keine weiße Jacke, sondern nur eine abgetragene, geflickte Schürze; seine Hose war alt, sehr mit Farbe beschmiert und an den Rändern ausgefranst, die über seine vielgeflickten, rissigen Stiefel mit den schiefen Absätzen fielen. Der nicht von der Schürze geschützte Teil seiner Weste war mit Flecken von getrockneter Farbe bedeckt. Er trug ein buntes Hemd und ein „Chemisette" - sehr schmutzig und voller Farbspritzer -, dessen eine Seite aus der Westenöffnung hervorstand. Auf seinem Kopf saß eine alte, von Farbe schwere und glänzende Mütze. Er war sehr mager und leicht gebeugt. Obwohl er wirklich erst fünfundfünfzig war, sah er bedeutend älter aus, denn er war vorzeitig gealtert.
Er war noch nicht fünf Minuten lang „auf seine Kosten gekommen", als Hunter leise den Türgriff drehte. Philpot löschte sofort die Pfeife, stieg von dem erhöhten Sitz hinunter und öffnete die Tür. Als Hunter drinnen war, schloss Philpot sie wieder, stieg auf die Leiter und fuhr fort, direkt über der Tür die Wand zu verschmieren. Nimrod sah ihn misstrauisch an und fragte sich, weshalb die Tür wohl verschlossen gewesen war. Er blickte sich rings im Zimmer um, sah aber nichts, was er rügen konnte. Er schnüffelte in der Luft umher und versuchte, Tabaksgeruch zu entdecken, und hätte er nicht an einem Schnupfen gelitten, wäre ihm der Geruch auch gewiss nicht entgangen. So konnte er jedoch nichts riechen; aber trotzdem war er noch immer nicht ganz beruhigt, obwohl er daran dachte, dass Crass Philpot stets ein gutes Zeugnis ausgestellt hatte.
„Ich hab's nicht gern, wenn die Leute bei einer solchen Arbeit die Tür zumachen", sagte er schließlich, „'s bringt mich immer auf den Gedanken, dass der Mann raucht. Sie können das, was Sie da tun, ebenso gut bei offener Tür machen."
Philpot murmelte etwas darüber, dass ihm alles eins sei - offen oder geschlossen -, kletterte von seiner Leiter wieder hinab und öffnete die Tür. Hunter ging hinaus, ohne noch eine weitere Bemerkung zu machen, und begann wieder, im Hause umherzuschleichen.
Owen arbeitete allein in einem Zimmer desselben Stockwerks. Er stand am Fenster und brannte mit einer Paraffinlampe die Teile des alten Anstrichs herunter, die Blasen geworfen hatten oder Sprünge aufwiesen.
Bei dieser Arbeit wird die Flamme der Lötlampe gegen die alte Farbe gerichtet, diese wird weich, und man kratzt sie mit einem Schaber oder Spachtel ab. Die Tür war angelehnt, und Owen hatte den oberen Schieberahmen des Fensters geöffnet, um etwas frische Luft hereinzulassen, denn im Zimmer roch es unangenehm nach der verbrannten Farbe, und dazu war die Luft mit Feuchtigkeit gesättigt. Die Decke war gerade erst abgewaschen und die Tapete von den Wänden entfernt worden. Die alte Tapete lag wasserdurchtränkt auf einem Haufen in der Mitte des Zimmers.
Jetzt begann Owen, während er arbeitete, zu fühlen, dass sich noch jemand im Zimmer befand; er sah sich um. Die Tür stand ungefähr fünfzehn Zentimeter weit offen, und im Spalt erschien ein langes, bleiches Gesicht mit einem riesigen Kinn und darüber ein Melonenhut; es war mit einer großen roten Nase, einem Hängeschnurrbart und zwei kleinen, stechenden, sehr eng beieinander stehenden Augen geziert. Einige Sekunden lang blickte die Erscheinung Owen durchdringend an, dann verschwand sie lautlos, und er war wieder allein. Er war so überrascht und erschrocken gewesen, dass er beinahe die Lampe hatte fallen lassen, und jetzt, wo das grässliche Gesicht verschwunden war, fühlte Owen, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Er zitterte vor unterdrücktem Zorn und wünschte, er könnte auf den Flur hinausgehen und Hunter die Lampe ins Gesicht schleudern.
Der stand derweilen auf dem Treppenabsatz vor Owens Tür und dachte nach. Irgendeinen musste er loswerden, damit er morgen Platz hatte für die billige Arbeitskraft.
Er hatte gehofft, jemand bei irgend etwas zu überraschen, das ihm als Vorwand zu einer fristlosen Entlassung dienen konnte, aber es bestand gar keine Aussicht darauf. Was war also zu machen? Er wäre gern Linden losgeworden, der jetzt wirklich schon zu alt war, um noch viel von Nutzen zu sein; da aber der alte Mann viele Jahre lang ständig bei Rushton gearbeitet hatte, meinte Hunter, er könne ihn kaum aus heiterem Himmel ohne irgendeinen vernünftigen Vorwand entlassen. Der Kerl war aber wirklich nicht das Geld wert, das er erhielt. Sieben Pence die Stunde war ein lächerlich hoher Lohn für so einen alten Mann. Es war absurd - er musste gehen. Vorwand hin, Vorwand her.
Hunter schlich wieder nach unten.
Jack Linden war ungefähr siebenundsechzig Jahre alt, aber wie Philpot und wie es gewöhnlich bei Arbeitern ist, schien er älter, da er sein ganzes Leben lang hatte hart arbeiten müssen, häufig ohne richtige Nahrung und Kleidung. Er hatte sein Leben inmitten einer Zivilisation verbracht, deren Wohltaten er nie genießen durfte. Aber natürlich wusste er nichts von all dem. Er hatte niemals erwartet oder auch nur gewünscht, solche Dinge zu genießen: stets war er der Meinung gewesen, sie seien niemals für seinesgleichen gedacht worden. Er nannte sich einen Konservativen und war sehr patriotisch gesinnt.
Damals, als der Burenkrieg begann, war Linden ein enthusiastischer Chauvinist; sein Enthusiasmus wurde aber etwas gedämpft, als sein jüngster Sohn, ein Reservist, an die Front musste, wo er am Fieber, schutzlos der Witterungsunbill ausgesetzt, starb. Als dieser Sohn, der Soldat, fortging, ließ er seine Frau und zwei Kinder, die damals vier und fünf Jahre alt waren, in der Obhut seines Vaters zurück. Nachdem er gestorben war, blieben sie bei den alten Leuten wohnen. Die junge Frau verdiente sich wohl gelegentlich mit Näharbeiten etwas Geld, hing aber tatsächlich von ihrem Schwiegervater ab. Trotz seiner Armut freute er sich, sie im Hause zu haben, denn seine Frau war in den letzten Jahren sehr kränklich geworden und brauchte seit dem Schock, den die Nachricht vom Tode ihres Sohnes ihr versetzt hatte, ständig jemand um sich.
Linden arbeitete noch immer an den Vestibültüren, als der Meister herunterkam. Elend stand einige Minuten neben ihm und beobachtete ihn stumm. Endlich sagte er laut:
„Wie lange wollen Sie 'n noch mit den Türen rummurksen? Warum fangen Sie 'n nicht an, sie zu streichen? Sie haben schon daran rumgefummelt, als ich heut morgen hier war. Glauben Sie vielleicht, 's macht sich bezahlt, Sie hier stundenlang mit 'nem Stück Bimsstein rumspielen zu lassen? Machen Sie doch die Arbeit fertig! Oder, wenn Sie nicht wollen, werd ich sehr schnell jemand finden, der's macht! Ich hab Ihre Arbeitsweise schon 'ne ganze Weile beobachtet; denken Sie bloß nicht, dass Sie mich zum Narren halten können, 's gibt genügend bessere Arbeiter als Sie, die jetzt rumlaufen. Wenn Sie nicht mehr schaffen können, wie Sie in letzter Zeit geschafft haben, können Sie gehen; wir kommen ohne Sie aus, auch wenn wir viel zu tun haben."
Der alte Jack zitterte. Er versuchte zu antworten, konnte aber nicht sprechen. Wäre er ein Sklave und hätte er seinen Herrn nicht zufrieden gestellt, so hätte der ihn wohl irgendwo anbinden und peitschen können. Das konnte Hunter nicht tun; er konnte ihm nur die Nahrung wegnehmen. Der alte Jack hatte Angst - es war nicht nur seine Nahrung, die ihm weggenommen werden konnte. Schließlich sagte er mit großer Anstrengung, denn die Worte schienen ihm in der Kehle steckenzubleiben.
„Ich muss doch die Türen glattreiben, Mr. Hunter, bevor ich sie streichen kann."
„Ich spreche nicht von dem, was Sie machen, sondern von der Zeit, die Sie dazu brauchen!" schrie Hunter, „und ich wünsche keine Widerrede und keine Diskussion darüber! Entweder Sie bewegen sich 'n bisschen schneller, oder Sie lassen's ganz sein."
Linden antwortete nicht. Er setzte seine Arbeit fort, und die Hand zitterte ihm derartig, dass er kaum fähig war, den Bimsstein zu halten.
Hunter hatte so laut geschrieen, dass seine Stimme durch das ganze Haus drang. Alle hatten es gehört und empfanden Furcht. ,Wer würde der nächste sein?' dachten sie.
Da Hunter feststellte, dass Linden keine weitere Antwort gab, begann er, wieder im Haus umherzugehen. Während er die Leute beobachtete, machten sie ihre Arbeit auf eine nervöse, ungeschickte und hastige Weise. Sie begingen alle möglichen Fehler und richteten allerlei Schaden an. Payne, der Vorarbeiter der Tischler, legte neue Dielen in einen Teil des Wohnzimmerfußbodens; er befand sich in einem solchen Zustand der Angst, dass er sich beim Einschlagen eines Nagels mit dem Hammer kräftig auf den linken Daumen schlug. Bundy arbeitete ebenfalls im Wohnzimmer und verlegte einige weißglasierte Kacheln im Kamin. Während er eine davon durchschnitt, um sie passend zu machen, schnitt er sich tief in den Finger. Er hatte Angst, die Arbeit zu unterbrechen, um den Finger zu verbinden, während Hunter dort war, und infolgedessen wurden die weißen Kacheln, während er arbeitete, völlig mit Blut besudelt. Easton, der mit Harlow auf einem Gerüst arbeitete und in der Diele die alte Wasserfarbe von der Decke wusch, war kaum fähig, auf dem Brett zu stehen, und bald fiel ihm der Pinsel polternd aus der zitternden Hand auf den Boden.
Alle hatten Angst. Sie wussten, dass es fast unmöglich war, bei einer anderen Firma Arbeit zu finden. Sie wussten, dass dieser Mann die Macht hatte, ihnen die Möglichkeit zu nehmen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen - dass er die Macht hatte, ihren Kindern das Brot zu nehmen.
Owen, der, droben über das Geländer gebeugt, Hunter zuhörte, hätte ihn am liebsten mit der einen Hand an der Kehle gepackt und ihm mit der anderen das Gesicht zerschmettert.
Und dann?
Ja, dann würde man ihn ins Gefängnis sperren, oder im besten Fall verlöre er seine Arbeit: seine Nahrung und die seiner Familie würden ihm genommen. Deshalb knirschte er nur mit den Zähnen, fluchte und bearbeitete die Wand mit der geballten Faust. Da! und Da! und Da!
Wäre es nicht um ihretwillen!
Owens Phantasie ging mit ihm durch.
Zuerst wollte er ihn mit der Linken beim Kragen packen, ihm die Knöchel in die Kehle drücken, ihn gegen die Wand zwingen, und dann mit der rechten Faust - peng!
und peng! und peng!, bis Hunters Gesicht völlig zerschlagen und blutbedeckt wäre.
Was aber geschähe dann mit denen zu Hause? War es nicht tapferer und männlicher, schweigend zu dulden?
Mit bleichem Gesicht, schweratmend und erschöpft lehnte sich Owen gegen die Wand.
Unten ging Elend noch immer im Hause hin und her, auf und ab. Jetzt blieb er stehen, um Sawkins bei der Arbeit zuzusehen. Der malte gerade das Holzwerk der Hintertreppe an. Obwohl die alte Farbe dort sehr schmutzig und fettig war, hatte Elend befohlen, sie dürfe [[vor dem Streichen nicht entfernt werden]].
[[„Staubt's nur einfach ab und pinselt drüber!"]] hatte er gesagt. Deshalb hatte Crass, als er die Farbe anrührte, eine besonders große Menge Firnis hineingetan. Bis zu einem gewissen Grade zerstörte das die „Substanz" der Farbe: sie deckte nicht gut; ein zweiter Anstrich musste gemacht werden. Als Hunter das bemerkte, wurde er wütend. Es war klar - mit etwas Sorgfalt konnte man es mit einem Anstrich schaffen; er glaubte, Sawkins machte es absichtlich so. Wirklich, diese Leute schienen kein Gewissen zu haben.
Zwei Anstriche! Und er hatte im Voranschlag nur drei
berechnet!
„Crass!"
„Ja, Mr. Hunter!"
„Kommen Sie her!"
„Ja, Mr. Hunter!"
Crass eilte herbei.
„Was soll das heißen? Hab ich Ihnen nicht gesagt, das hier mit einem Anstrich zu machen? Sehen Sie sich das mal an!"
„Die Sache ist die, Mr. Hunter", sagte Crass, „hätten wir's abgewaschen..."
„Zum Teufel mit Ihrem Abwaschen!" schrie Hunter. „'s kommt daher, dass die Farbe nicht dick genug eingerührt ist. Nehmen Sie die Büchse und tun Sie 'n bisschen mehr Farbe rein, dann werden wir schon sehen, ob's geht oder nicht. Ich kann jedenfalls dafür sorgen, dass es deckt, wenn Sie's nicht können."
Crass nahm die Farbe, und, von Hunter überwacht, rührte er sie dicker ein. Dann ergriff Elend den Pinsel und wollte beweisen, dass die Arbeit mit einem Anstrich getan werden konnte. Crass und Sawkins sahen schweigend zu.
Gerade aber, als Elend beginnen wollte, bildete er sich ein, irgendwo jemand flüstern zu hören. Er legte den Pinsel nieder und schlich verstohlen nach oben, um nachzusehen, wer es war. Sowie er den Rücken gekehrt hatte, ergriff Crass eine Flasche Öl, die in der Nähe stand, und nachdem er etwa einen Viertelliter davon in die Farbe gegossen hatte, rührte er schnell um. Unmittelbar danach kehrte Elend zurück: er hatte niemand erwischt; es musste Einbildung gewesen sein. Er nahm den Pinsel und begann zu streichen. Das Ergebnis war schlimmer als bei Sawkins!
Er schmierte und kleckste einige Zeit herum, konnte es aber nicht zustande bringen. Schließlich gab er es auf.
„'s wird wohl doch zweimal gestrichen werden müssen", sagte er betrübt. „Aber 's ist mächtig schade drum."
Er weinte fast.
Die Firma war ruiniert, wenn das so weiterging.
„Machen Sie lieber weiter", sagte er, als er den Pinsel niederlegte.
Er begann, wieder im Haus umherzuwandern. Er wollte jetzt gehen, ohne aber die Leute wissen zu lassen, dass er fort war; deshalb schlich er sich aus der Hintertür, kroch um das Haus und zum Tor hinaus, stieg auf sein Rad und fuhr davon.
Niemand sah ihn gehen.
Eine Zeitlang waren die einzigen Laute, von denen die Stille unterbrochen wurde, die Geräusche, welche die Leute hei der Arbeit machten: das melodische Klingen von Bundys Kelle, das Geräusch der Hämmer und Sägen der Tischler und das gelegentliche Rücken einer Leiter.
Niemand wagte zu sprechen.
Schließlich konnte es Philpot nicht länger aushalten. Er hatte großen Durst.
Die Tür seines Zimmers hatte er offengelassen, seit Hunter gekommen war.
Er lauschte gespannt. Er war sicher - Hunter musste fort sein; er blickte über den Treppenabsatz und konnte Owen sehen, der im Vorderzimmer arbeitete. Philpot drehte eine kleine Papierkugel und warf sie nach Owen, um dessen Aufmerksamkeit zu erregen. Der sah sich um, und Philpot begann, Zeichen zu machen; mit der einen Hand deutete er nach unten, und den Daumen der anderen stieß er in Richtung der Stadt über seine Schulter, wobei er grotesk mit den Augen zwinkerte. Owen legte es als eine Anfrage aus, ob Hunter gegangen sei. Er schüttelte den Kopf und zuckte mit den Achseln, um anzudeuten, er wisse es nicht.
Philpot überquerte vorsichtig den Treppenflur, spähte verstohlen über das Geländer und lauschte mit angehaltenem Atem. ,Ist er weg oder nicht?' fragte er sich.
Auf Zehenspitzen schlich er zu Owens Zimmer, blickte sich, die Kelle in der Hand, nach rechts und links um und sah aus wie ein Schauspieler, der einen Mörder darstellt. „Glaubste, er ist weg?" fragte er in heiserem Flüsterton, als er an Owens Tür gelangt war.
„Ich weiß nicht", erwiderte Owen leise.
Philpot dachte nach. Er musste einen Schluck trinken, aber Hunter durfte ihn auf keinen Fall mit der Flasche sehen -irgendwie musste er ausfindig machen, ob Nimrod fort war oder nicht.
Endlich kam ihm eine Idee. Er wollte nach unten gehen, um noch etwas Zement heraufzuholen. Nachdem er Owen diesen Plan anvertraut hatte, schlich er leise in das Zimmer zurück, in dem er gearbeitet hatte, und ging dann geräuschvoll noch einmal über den Flur.
„Haste 'n bisschen was zum Verschmieren übrig, Frank?" fragte er mit lauter Stimme.
„Nein", antwortete Owen, „ich gebrauche nichts."
„Dann werd ich wohl runter müssen und welches holen. Soll ich dir irgendwas mit raufbringen?"
„Danke, nein", erwiderte Owen.
Philpot marschierte kühn zur Spülkammer hinunter, die Crass als Malerwerkstatt benutzte. Der war dort und mischte Farbe.
„Ich möchte 'n bisschen Zement haben", sagte Philpot und nahm sich welchen.
„Ist der Sch... kerl fort?" flüsterte Crass.
„Weiß nicht", antwortete Philpot. „Wo ist 'n sein Rad?"
„Lässt er immer draußen vor dem Tor, damit wir's nicht sehen", erwiderte Crass.
„Ich will dir was sagen", flüsterte Philpot nach einer Pause. „Gib dem Jungen 'ne leere Flasche und schick 'n zum Tor nachsehen, ob das Rad da ist. Wenn 'n Elend sieht, kann er so tun, als ob er zum Laden geht und Öl holt."
So geschah es. Bert ging zum Tor und kehrte sogleich zurück: das Rad war fort. Während sich die gute Nachricht durch das Haus verbreitete, ertönte ein Chor der Danksagung.
„Gott sei Dank", sagte einer.
„Ich hoffe, der Hund fällt hin und bricht sich sein verdammtes Genick", meinte ein anderer.
„Diese Bibelfritzen sind alle gleich; 'nen anständigen hat noch keiner nicht kennen gelernt!" rief ein dritter aus.
Kaum waren sie gewiss, dass Hunter fort war, so ließen fast alle für einige Minuten die Arbeit liegen, um ihn zu verwünschen. Dann machten sie sich wieder ans Werk, und nun, da sie von der Unruhe befreit waren, in die sie Elends Anwesenheit versetzt hatte, kamen sie besser voran. Einige zündeten ihre Pfeife an und rauchten bei der Arbeit.
Einer von diesen war der alte Jack Linden. Er war durch den Anranzer, den er erhalten hatte, aus dem Gleichgewicht geraten, und als er bemerkte, dass einige der anderen rauchten, dachte er, er wolle sich auch ein Pfeifchen genehmigen - das werde seine Nerven beruhigen. Gewöhnlich rauchte er bei der Arbeit nicht; es war gegen die Vorschrift.
Als Philpot wieder an die Arbeit ging, blieb er einen Augenblick lang bei Linden stehen, um ihm etwas zuzuflüstern, worauf dieser ihn nach oben begleitete.
Als sie in Philpots Zimmer gelangt waren, stellte der die Leiter neben den Schrank, nahm die Bierflasche herunter und reichte sie Linden mit der Bemerkung: „Nimm mal 'nen Schluck, Kumpel, dann fühlste dich gleich wieder richtig."
Während Linden hastig trank, hielt Joe draußen auf dem Treppenabsatz Wache, falls Hunter plötzlich und unerwartet von neuem auftauchte.
Als Linden wieder hinuntergegangen war, nahm Philpot, nachdem er den Rest des Biers ausgetrunken und die Flasche oben im Kamin versteckt hatte, die Arbeit wieder auf und verschmierte die Löcher und Risse in Decke und Wänden. Er musste heute Abend etwas aufzuweisen haben, sonst würde es am nächsten Morgen, wenn Elend käme, einen mächtigen Krach geben.
Owen arbeitete niedergeschlagen und mürrisch weiter. Er kam sich vor wie ein geprügelter Hund.
Er war mehr entrüstet um des alten Linden als um seiner selbst willen, und ein Gefühl der Ohnmacht und der schändlichen Erniedrigung bedrückte ihn.
Sein ganzes Leben lang war es das gleiche gewesen: pausenlose Arbeit unter ähnlichen mehr oder weniger demütigenden Bedingungen, mit keinem anderen Erfolg, als dass er gerade in der Lage war, dem Verhungern zu entgehen.
Und die Zukunft war, soweit er sehen konnte, ebenso hoffnungslos wie die Vergangenheit; dunkler noch, denn bestimmt kam, wenn er lange genug lebte, einmal die Zeit, wo er nicht mehr arbeitsfähig sein werde.
Er dachte an sein Kind. Musste es ebenfalls ein Sklave werden und sein ganzes Leben lang schuften?
Es wäre besser für den Jungen, wenn er jetzt stürbe.
Als Owen an die Zukunft seines Sohnes dachte, erhob sich in ihm ein Gefühl des Hasses und der Wut gegen die Mehrzahl seiner Arbeitskollegen.
Sie waren der Feind. Sie, die sich nicht nur ruhig, wie Schlachtvieh, in die bestehenden Verhältnisse ergaben, sondern diese auch noch verteidigten und jeden Vorschlag, sie zu verändern, ablehnten und lächerlich machten.
Sie waren die eigentlichen Unterdrücker - diese Leute, die von sich als „Unsresgleichen" sprachen und, nachdem sie ihr ganzes Leben in Armut und Erniedrigung verbracht hatten, der Meinung waren, was gut genug für sie gewesen, sei auch gut genug für die Kinder, die sie in die Welt gesetzt hatten.
Er hasste und verachtete sie, weil sie ruhig zusahen, wie ihre Kinder zu lebenslänglicher Zwangsarbeit und Armut verurteilt wurden, und weil sie sich bewusst weigerten,
irgendeine Anstrengung zu unternehmen, um ihnen bessere Lebensbedingungen zu schaffen, als sie selbst hatten.
Weil sie dem Schicksal ihrer Kinder gleichgültig gegenüberstanden, war er nicht in der Lage, ein natürliches und menschliches Leben für sein Kind zu sichern. Ihre Apathie oder aktive Gegnerschaft war es, die es unmöglich machte, eine bessere Gesellschaftsordnung einzuführen, unter der diejenigen, die ihren vollen Anteil an der in der Welt vollbrachten Arbeit leisteten, geehrt und belohnt wurden. Anstatt zu helfen, das zu erreichen, erniedrigten sie sich, krochen vor ihren Unterdrückern, zwangen und lehrten sie ihre Kinder, das gleiche zu tun. Sie waren die Leute, die in Wirklichkeit für den Fortbestand des gegenwärtigen Systems verantwortlich waren.
Owen lachte bitter in sich hinein. Was war es doch für ein komisches System!
Diejenigen, die arbeiteten, wurden mit Verachtung angesehen und jedem nur erdenklichen Schimpf unterworfen. Fast alles, was sie produzierten, wurde ihnen genommen und von den Leuten genossen, die nichts taten. Und dann verneigten sich die Arbeiter und krochen vor denen, die ihnen die Früchte ihrer Arbeit geraubt hatten, und waren ihnen kindisch dankbar, weil sie ihnen überhaupt etwas gelassen hatten.
Kein Wunder, dass die Reichen sie verachteten und als Dreck ansahen. Sie waren verächtlich. Sie waren Dreck. Sie gaben es zu und waren stolz auf diese Rolle.
Während diese Gedanken in Owens Hirn tobten, arbeiteten seine Kollegen unten geduldig weiter. Die meisten hatten den Gedanken an Hunter schon längst verscheucht. Sie nahmen die Dinge nicht so ernst wie Owen. Sie schmeichelten sich, sie seien zu vernünftig dazu. Man konnte es ja nicht ändern. Man musste die Sache mit Humor tragen. Schließlich war es ja nur lebenslänglich! Man musste die Dinge eben von ihrer besten Seite ansehen und versuchen, auf seine Kosten zu kommen, wo sich nur eine Möglichkeit bot.
Nun begann Harlow zu singen. Er hatte eine schöne Stimme, und er sang ein schönes Lied; aber seine Kollegen hatten gerade jetzt weder Sinn für das eine noch für das
andere. Sein Gesang gab das Signal zu einem Sturm entrüsteter Proteste und zu einem Pfeifkonzert.
„Halt um Himmels willen die Klappe!"
„Hör auf mit dem verdammten Gebrüll!"
Und so weiter. Harlow schwieg.
„Was macht 'n der Feind?" fragte Easton nach einer Weile, ohne sich an irgend jemand im besonderen zu wenden.
„Weiß nicht", erwiderte Bundy, „'s muss ungefähr halb fünf sein. Frag Slyme; der hat 'ne Uhr."
Es war Viertel nach vier.
„'s wird jetzt schon früh dunkel", sagte Easton.
„Ja", antwortete Bundy, „'s ist den ganzen Tag über sehr trübe gewesen. Ich glaub, 's wird regnen. Hör nur den Wind."
„Hoffentlich nicht", meinte Easton. „Das würde 'n nasses Hemd auf dem Nachhauseweg bedeuten."
Er rief dem alten Jack Linden zu, der noch immer an der Eingangstür arbeitete: „Regnet's, Jack?"
Der alte Jack, die Pfeife noch im Mund, drehte sich, um nach dem Wetter zu sehen. Es regnete, aber Linden sah nicht die großen Tropfen, die schwer auf den Boden klatschten. Er sah nur Hunter, der am Tor stand und ihn beobachtete. Einige Sekunden lang sahen die beiden Männer einander schweigend an. Linden war vor Furcht wie gelähmt. Er riss sich zusammen und nahm hastig die Pfeife aus dem Mund - aber es war bereits zu spät.
Elend stolzierte herbei.
„Ich bezahl Sie nicht fürs Rauchen", sagte er laut. „Füllen Sie Ihren Lohnzettel aus, bringen Sie ihn zum Büro und holen Sie sich Ihr Geld ab. Ich hab genug von Ihnen!"
Jack unternahm keinen Versuch, sich zu verteidigen. Er wusste, es hatte keinen Zweck. Schweigend legte er die Geräte beiseite, mit denen er gearbeitet hatte, ging in den Raum, wo er seine Werkzeugtasche und sein Jackett gelassen hatte, zog sich die Schürze und die weiße Jacke aus, faltete sie zusammen und legte sie mit dem Werkzeug, das er benutzt hatte - einen Spachtel und einen Schaber - in die Werkzeugtasche, zog sich den Rock an und ging, die Tasche über die Schulter gehängt, aus dem Haus.
Ohne noch mit sonst jemand zu sprechen, ging Hunter nun eilig durch das Gebäude und stellte fest, welche Fortschritte jeder der Leute während der Abwesenheit des Meisters gemacht hatte. Dann fuhr er davon, denn er wollte rechtzeitig genug im Büro sein, um Linden sein Geld auszuzahlen.
Es war jetzt sehr kalt und finster im Haus, und da die Gasleitung noch nicht gelegt worden war, verteilte Crass eine Anzahl Kerzen an die Leute, die schweigend arbeiteten, jeder mit seinen eigenen trüben Gedanken beschäftigt. Wer war wohl der nächste?
Draußen türmten sich dunkle, bleifarbene Wolkenmassen drohend am winddurchbrausten Himmel. Laut heulte der Sturm um das altmodische Haus, und die Fenster klapperten ungleichmäßig. Es regnete in Strömen.
Sie sagten, das bedeute für sie, auf dem Heimweg bis auf die Haut durchnässt zu werden, aber trotzdem, Gott sei Dank: es war beinahe fünf Uhr!

 

3. Kapitel Die Finanzleute

Als Easton an diesem Abend durch den Regen nach Hause ging, fühlte er sich sehr bedrückt. Für die meisten Arbeiter war der Sommer sehr schlecht gewesen, und ihm war es nicht besser ergangen als den übrigen. Einige Wochen Arbeit bei einer Firma, einige Tage bei einer anderen - dann war er arbeitslos, hatte danach wieder vielleicht einen Monat lang Beschäftigung und so weiter.
William Easton war ein mittelgroßer Mann, ungefähr dreiundzwanzig Jahre alt, mit hellem Haar, ebensolchem Schnurrbart und blauen Augen. Er trug einen Stehkragen mit einer farbigen Krawatte, und seine Kleidung war wohl abgetragen, aber doch sauber und ordentlich.
Er war verheiratet: seine junge Frau hatte er kennen gelernt, als er zufällig mit anderen Malern den Auftrag hatte, die Außenseite eines Hauses anzustreichen, in dem sie als Dienstmädchen beschäftigt war. Etwa fünfzehn Monate lang waren sie miteinander „gegangen". Easton hatte keine Eile gehabt zu heiraten, denn er wusste, dass sein Lohn, gute und schlechte Zeiten zusammengenommen, durchschnittlich noch nicht einmal ein Pfund die Woche betrug. Schließlich fand er jedoch, es wäre nicht ehrenhaft für ihn, noch länger zu zögern, und so heirateten sie. Das war vor zwölf Monaten gewesen. Als Junggeselle hatte er sich nie viele Gedanken gemacht, wenn er einmal arbeitslos war; stets hatte er genug, um zu leben, und daneben noch Taschengeld, jetzt aber, da er sich verheiratet hatte, war das anders. Die Angst, „feiern" zu müssen, verfolgte ihn ständig.
Er hatte am vergangenen Montag für Rushton & Co. zu arbeiten begonnen, nachdem er drei Wochen lang nichts zu tun gehabt hatte, und da das Haus, in dem er arbeitete, von Grund auf hergerichtet werden musste, hatte er sich dazu beglückwünscht, eine Arbeit gefunden zu haben, die bis Weihnachten dauern würde; jetzt aber begann er zu fürchten, was Jack Linden passiert war, könne auch ihm jeden Augenblick geschehen. Er musste sich sehr in acht nehmen, Crass nicht in irgendeiner Weise zu beleidigen. Er fürchtete, der möge ihn sowieso nicht sehr gern. Easton wusste, Crass konnte jederzeit dafür sorgen, dass er entlassen wurde, und würde sich auch kein Gewissen daraus machen, es zu tun, wenn es galt, für irgendeinen seiner eigenen Freunde Platz zu schaffen. Crass war ja der Vorarbeiter auf diesem Bau. Als Arbeiter hatte er keine sehr außergewöhnlichen Fähigkeiten; eher war er der Mehrzahl seiner Kollegen unterlegen. Obwohl er aber keine wirklichen Kenntnisse besaß, gab er vor, alles zu wissen, und die unbestimmten Anspielungen auf „Töne", „Schattierungen" und „Harmonie", die er zu machen pflegte, hatten Hunter so beeindruckt, dass er eine hohe Meinung von Crass als Arbeiter hatte. Indem dieser sich auf solche Weise vorwärtsdrängte und geschickt vor Hunter liebedienerte, brachte er I es so weit, dass er mit dem Aufsichtsposten betraut wurde.
Crass selbst verrichtete so wenig Arbeit wie möglich; doch er sorgte dafür, dass die anderen hart arbeiteten. Jeden Mann, der ihn in dieser Hinsicht nicht befriedigte, meldete er Hunter als „schlecht" oder „sogar für 'n Begräbnis zu langsam". Die Folge war, dass der Mann am Wochenende entlassen wurde. Die Leute wussten das, und die meisten von ihnen fürchteten den verschlagenen Crass entsprechend; einige aber gab es, von denen bekannt war, dass sie etwas konnten, und diese standen bis zu einem gewissen Grade außerhalb der Reichweite seiner Bosheit. Einer davon war Frank Owen.
Andere wieder brachten es durch kluge Verteilung von einigen Pfeifen voll Tabak und einigen Maß Bier fertig, vor Crass Gnade zu finden, und oft behielten sie ihre Arbeit, wenn tüchtigere Leute „abgebaut" wurden.
Während Easton durch den Regen nach Hause ging und an all dies dachte, wurde ihm klar, dass er nicht voraussehen konnte, was der nächste Tag oder selbst die nächste Stunde bringen werde.
Mittlerweile war er bei seinem Heim angelangt; es war ein kleines, vierzimmriges Haus in einer langen Reihe gleichartiger Häuser.
Die Eingangstür führte auf einen ungefähr fünfundsiebzig Zentimeter breiten und drei Meter langen Flur, der mit Linoleum ausgelegt war. Am Ende des Flures befand sich eine Treppe zum oberen Teil des Hauses. Die erste Tür links führte in die gute Stube, einen etwa siebeneinhalb Quadratmeter großen Raum mit einem Erkerfenster. Dieses Zimmer wurde nur selten benutzt und war immer sehr ordentlich und sauber. Der Kaminsims aus schwarzgestrichenem Holz war mit zackenförmigen roten und gelben Streifen verziert, die ihm das Aussehen von Marmor geben sollten. An den Wänden klebte eine Tapete mit blaßziegelrotem Hintergrund und einem Muster aus großen weißen Rosen mit schokoladefarbenen Blättern und Stengeln.
Vor dem Kamin stand ein kleines Eisengitter mit dazu passenden Schürhaken, und auf dem Sims waren eine Uhr in einem Gehäuse aus poliertem Holz, ein paar blaue Glasvasen und einige gerahmte Photographien aufgestellt. Der Boden war mit Linoleum bedeckt, dessen Muster rote und gelbe Fliesen nachahmten. An den Wänden hingen zwei oder drei gerahmte Buntdrucke, wie sie den Weihnachtsnummern der illustrierten Zeitschriften beiliegen. Es hing dort auch die Photographie einer Gruppe von Schülerinnen
und Lehrern einer Sonntagsschule mit der Kirche als Hintergrund. Die Mitte des Zimmers nahm ein runder Tisch aus Tannenholz ein, mit einem Durchmesser von etwas über einem Meter, dessen Beine rot gebeizt waren, damit sie wie Mahagoni aussahen. An der einen Wand befand sich eine alte, mit ausgeblichenem Kretonne bezogene Couch, und vier dazu passende Stühle standen an verschiedenen Stellen des Raumes mit dem Rücken gegen die Wand. Auf dem Tisch lag ein rotes Tuch, in der Mitte und an allen vier Ecken mit einem gelben Stickereimuster verziert und an den Kanten mit dem gleichen Stoff eingefasst. Darauf eine Lampe und etliche grellfarben gebundene Bücher.
Einige dieser Sachen, wie die Couch und die Stühle, hatte Easton alt gekauft und selbst aufgearbeitet. Der Tisch, das Linoleum, das Gitter, der Kaminvorleger und so weiter waren auf Abzahlung gekauft worden und noch nicht bezahlt. Vor den Fenstern hingen weiße Spitzengardinen, und im Erker stand ein kleiner Bambustisch, auf dem, billig, aber protzig eingebunden, eine große Bibel lag.
Hätte jemals ein Mensch dieses Buch geöffnet, so hätte er festgestellt, dass die Seiten darin so sauber waren wie alles übrige im Zimmer, und auf dem ersten Blatt hätte er folgende Inschrift gelesen: „Der teuren Ruth, von ihrer sie liebenden Freundin Mrs. Hungerlass, mit dem frommen Wunsch, dass Gottes Wort sie geleiten und Jesus ihr Retter sein möge. 12. Okt. 19 .."
Mrs. Hungerlass war Ruths frühere Herrin, und dies war ihr Abschiedsgeschenk, als Ruth sie verließ, um zu heiraten. Es hatte ein Andenken sein sollen; da Ruth das Buch aber nie öffnete und ihre Gedanken freiwillig niemals bei den Szenen verweilen ließ, an die sie von ihm erinnert worden wäre, so hatte sie die Existenz der Mrs. Hungerlass beinahe ebenso gründlich vergessen wie diese wohlhabende und fromme Dame die ihre.
Für Ruth war die Erinnerung an die Zeit, die sie im Haus ihrer „sie liebenden Freundin" verbracht hatte, alles andere als angenehm. Sie umfasste eine Reihe von kleinlichen Willkürakten, Beleidigungen und Beschimpfungen. Sechs Jahre grausamer Überarbeitung, die jeden Morgen zwei oder drei Stunden, ehe die übrigen Hausbewohner auf-
wachten, begann und erst endete, wenn sie spät in der Nacht todmüde zu Bett ging.
Sie war, was man einen „Haussklaven" nennt; aber wäre sie wirklich eine Sklavin gewesen, so hätte ihr Besitzer einige Rücksicht auf ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen genommen - ihre „sie liebende Freundin" hatte das nicht getan. Mrs. Hungerlass' einziger Gedanke war gewesen, soviel Arbeit wie möglich aus Ruth herauszuholen und ihr so wenig wie möglich dafür zu geben.
Dachte Ruth an diese furchtbare Zeit zurück, so erschien sie ihr, wie man sagen möchte, von einem Heiligenschein der Religion umgeben. Nie ging sie an einer Kirche vorbei, nie hörte sie den Namen Gottes aussprechen oder einen Choral singen, ohne an ihre frühere Herrin zu denken. Hätte sie in ihre Bibel geblickt, so wäre sie dadurch an Mrs. Hungerlass erinnert worden; das war einer der Gründe, weshalb das Buch ungeöffnet und ungelesen dort ruhte und nur ein Ornament auf dem Erkertisch war.
Die zweite Tür im Flur, neben der Treppe, führte in die Wohnküche; von hier aus ging eine andere Tür in die Spülkammer. Oben waren zwei Schlafzimmer.
Als Easton ins Haus trat, kam ihm seine Frau im Flur entgegen und mahnte ihn, keinen Lärm zu machen, denn das Kind sei gerade eingeschlafen. Sie küssten einander, und Ruth half ihm aus dem nassen Überzieher. Dann gingen beide leise in die Küche.
Dieser Raum war ungefähr ebenso groß wie die gute Stube. An einem Ende befanden sich ein kleiner Herd mit Backofen und Wasserspeicher [und] ein hoher, schwarzgestrichener Kaminsims. Auf dem Sims standen eine kleine, runde Weckuhr und einige blankpolierte Zinnbüchsen. Am anderen Ende des Raumes, dem Kamin gegenüber, war ein kleiner Küchenschrank, in dessen Fächern wohlgeordnet eine Anzahl Teller und Schüsseln stand. Die Wände waren mit einer Tapete beklebt, die Eichenholz vortäuschte. An einer Wand, zwischen zwei bunten Kalendern, hing eine Blechlampe mit einem Reflektor hinter der Flamme. Auf einem mit einem weißen Tischtuch gedeckten länglichen Tisch aus Tannenholz in der Mitte der Küche stand das Teegeschirr angerichtet. Von den vier Küchenstühlen waren zwei nahe an den Tisch gerückt. Quer über den Raum, etwa fünfundvierzig Zentimeter unter der Decke, waren mehrere Leinen gespannt, auf denen eine Anzahl Leinen- und Kalikowäschestücke, ein buntes Hemd sowie Eastons weiße Schürze und Jacke trockneten. Auf einer Stuhllehne, zu einer Seite des Feuers, trockneten noch weitere Kleidungsstücke. An der anderen Seite stand eine Korbwiege auf dem Boden, in der ein Säugling schlief. Daneben ein Stuhl, über dessen Lehne ein Handtuch hing, so dass es das Gesicht des Säuglings vor dem Lampenlicht schützte. Es herrschte eine anheimelnde Atmosphäre in dem Raum; die Luft war warm, und das Feuer flackerte fröhlich auf dem weißgescheuerten Herd.
Easton und seine Frau gingen leise hinüber, standen neben der Wiege und betrachteten das Kind, und während sie ihm zusahen, zuckte der Säugling ohne Unterlass unruhig im Schlaf. Sein Gesicht war stark gerötet, und seine Augen bewegten sich unter den halbgeschlossenen Lidern. Hin und wieder zog er die Lippen leicht zurück, so dass ein Teil des Zahnfleischs zu sehen war; dann begann er zu wimmern und zog die Knie an, als habe er Schmerzen.
„Er scheint nicht in Ordnung zu sein", sagte Easton. „Ich glaub, es sind die Zähne", erwiderte die Mutter. „Er ist schon den ganzen Tag sehr unruhig gewesen und war beinah die ganze vergangene Nacht über wach." „Vielleicht hat er Hunger?"
„Nein, das kann's nicht sein. Heut morgen hat er fast ein ganzes Ei gegessen, und ich hab ihn während des Tages mehrmals gestillt. Und zum Abendbrot hat er 'ne ganze Untertasse voll Bratkartoffeln mit Speckstückchen gegessen."
Wieder wimmerte das Kind und zuckte im Schlaf; es zog die Lippen zurück und ließ das Zahnfleisch sehen, die Knie hatte es eng an den Leib gepresst, die kleinen Fäuste waren geballt, und das Gesicht war gerötet. Dann, nach einigen Augenblicken, wurde der Säugling ruhig: sein Mund nahm die gewöhnliche Form wieder an, seine Gliedmaßen lösten sich, und der Kleine schlummerte friedlich.
„Meinst du nicht, er wird mager?" fragte Easton. „Vielleicht bilde ich's mir ein, aber er kommt mir jetzt nicht so groß vor wie vor drei Monaten."
„Nein, er ist nicht ganz so dick", gab Ruth zu. „Es sind die Zähne, die ihm zusetzen; sie lassen ihm fast überhaupt keine Ruh mehr."
Sie betrachteten ihn noch eine Weile. Ruth dachte, es sei ein sehr schönes Kind - am Sonntag wurde er acht Monate alt. Es tat ihnen leid, dass sie nichts tun konnten, um ihm die Schmerzen zu erleichtern; aber sie trösteten sich mit dem Gedanken, er werde schon wieder in Ordnung kommen, wenn die Zähne erst einmal da seien.
„Na komm, wir wollen Tee trinken", sagte schließlich Easton.
Während er sich die feuchten Schuhe und Socken auszog, sie zum Trocknen vor das Feuer legte, statt ihrer trockene Socken und ein Paar Hausschuhe anzog, füllte Ruth eine Blechschüssel zur Hälfte mit heißem Wasser aus dem Boiler und reichte sie ihm; er ging in die Spülkammer, goss noch etwas kaltes Wasser hinzu und begann, sich die Farbe von den Händen zu waschen. Als er damit fertig war, kehrte er in die Küche zurück und setzte sich an den Tisch.
„Ich wusste wirklich nicht, was ich dir heute Abend zu essen geben sollte", sagte Ruth, während sie den Tee einschenkte. „Geld hatte ich keins mehr, und im Haus war nichts als Brot und Butter und das Stück Käse; da hab ich Brot geschnitten, Butter und 'n paar dünne Käsescheiben draufgetan und sie dann auf einem Teller vor dem Feuer geröstet. Hoffentlich schmeckt's dir: ich hab's gemacht, so gut ich konnte."
„Ist in Ordnung: 's riecht auf jeden Fall sehr gut, und ich hab großen Hunger."
Während sie aßen, erzählte Easton seiner Frau von der Sache mit Linden und von seinen Befürchtungen, was ihm selbst geschehen könne. Beide waren sehr entrüstet, und der arme alte Linden tat ihnen leid; aber ihr Mitleid mit ihm war bald fast ganz vergessen über der Furcht um ihre eigene unmittelbare Zukunft.
Schweigend saßen sie eine Weile am Tisch, dann fragte Easton: „Wie viel Miete sind wir 'n jetzt schuldig?"
„Vier Wochen, und ich hab dem Verwalter letztes Mal, als er hier war, versprochen, dass wir nächsten Montag zwei Wochen bezahlen. Er ist ziemlich unangenehm geworden."
„Nun, ich denke, dann wirst du's eben bezahlen müssen".
sagte Easton.
„Wie viel Geld kriegst du denn morgen raus?" fragte Ruth.
Er begann, seine Stunden zusammenzurechnen: Montag hatte er angefangen, und heute war Freitag; fünf Tage, von sieben bis fünf Uhr, weniger eine halbe Stunde Frühstücks- und eine Stunde Mittagspause, achteinhalb Stunden pro Tag - zweiundvierzig und eine halbe Stunde. Das machte bei sieben Pence die Stunde ein Pfund vier Schilling und neuneinhalb Pence.
„Du weißt doch, ich hab erst Montag angefangen, deshalb kommt von der vorigen Woche kein Tag dazu. Morgen gehört zur nächsten Woche." „Ja, ich weiß", antwortete Ruth.
„Wenn wir die zwei Wochen Miete zahlen, bleiben uns zwölf Schilling zum Leben."
„Aber die können wir nicht alle behalten", sagte Ruth, „weil noch andere Sachen bezahlt werden müssen." „Was für andere Sachen?"
„Wir sind dem Bäcker acht Schilling für Brot schuldig, das er uns auf Kredit gegeben hat, als du arbeitslos warst, und etwa zwölf Schilling schulden wir dem Kaufmann. Wir werden ihnen was abzahlen müssen. Und dann brauchen wir wieder Kohle - 's ist nur noch ungefähr 'ne Schippe voll da, und..."
„Warte mal", sagte Easton, „das beste ist, 'ne Liste von allem, was wir schuldig sind, zu machen; dann wissen wir genau, woran wir sind. Hol mir mal 'n Stück Papier und sag mir, was ich aufschreiben soll. Dann sehen wir, wie viel
alles macht."
„Meinst du, alles, was wir schulden, oder alles, was wir
morgen bezahlen müssen?"
„Ich denke, zuerst machen wir lieber 'ne Liste von allem, was wir schulden."
Während sie sprachen, schlief das Kind unruhig und gab ab und zu kurze Klagelaute von sich. Die Mutter ging jetzt zur Wiege und kniete neben ihr nieder, schaukelte sie leise mit einer Hand und klopfte mit der anderen sanft das Kleine.
„Abgesehen von den Möbeln ist die größte Summe, die wir schulden, die Miete", sagte sie, als Easton bereit war.
„Mir scheint", meinte er, nachdem er auf dem Tisch einen Platz freigemacht, das Papier zurechtgelegt und nun begonnen hatte, seinen Bleistift mit einem Frühstücksmesser anzuspitzen, „dass du nicht so gut wirtschaftest, wie du könntest. Wenn du 'ne Liste machen würdest, ehe du sonnabends einkaufen gehst, wo nur die Dinge drauf stehen, die du haben musst, würdeste sehen, das Geld reicht viel weiter. Statt das zu tun, nimmste einfach Geld in die Hand, ohne genau zu wissen, was du damit machen willst, und wenn du zurückkommst, ist alles weg, und du hast kaum was dafür."
Seine Frau gab keine Antwort; ihr Kopf war über das Kind gebeugt.
„Laß mal sehen", fuhr Easton fort. „Erst mal ist da die Miete. Wie viel haste gesagt, sind wir schuldig?"
„Vier Wochen. Das sind die drei Wochen, wo du arbeitslos warst, und diese Woche."
„Vier mal sechs sind vierundzwanzig, macht ein Pfund vier Schilling", sagte ihr Mann, während er es niederschrieb. „Und weiter?"
„Beim Kaufmann zwölf Schilling."
Easton blickte erstaunt auf.
„Zwölf Schilling! Haste mir nicht erst vor kurzem gesagt, dass du alles abbezahlt hast, was wir für Lebensmittel schuldig waren?"
„Weißt du denn nicht mehr, dass wir letztes Frühjahr fünfunddreißig Schilling schuldig waren? Ich hab sie den ganzen Sommer über nach und nach abgezahlt. Das letzte davon hab ich die Woche bezahlt, als deine vorige Arbeit zu Ende ging. Dann warst du drei Wochen arbeitslos - bis letzten Sonnabend -, und weil wir nichts zurückgelegt hatten, hab ich eben auf Kredit holen müssen, was wir brauchten."
„Du meinst also, wir brauchen für drei Schilling Tee und Zucker und Brot die Woche?"
„'s war ja nicht nur das. Wir haben ja auch Speck, Eier und Käse und andere Sachen geholt."
Der Mann begann ungeduldig zu werden.
„Na gut", sagte er, „und was noch?"
„Wir schulden dem Bäcker acht Schilling. Wir haben ihm beinah ein Pfund geschuldet, aber ich hab immer 'n bisschen abgezahlt."
Das wurde mit auf die Aufstellung gesetzt.
„Und dann ist da noch der Milchmann. Ich hab ihn seit vier Wochen nicht bezahlt. Er hat noch keine Rechnung geschickt, aber du kannst 's dir ausrechnen: wir nehmen jeden Tag für zwei Pence Milch."
„Macht vier Schilling acht Pence", sagte Easton, während er die Summe niederschrieb. „Noch was?
„Ein Schilling sieben Pence für den Gemüsehändler, für Kartoffeln, Kohl und Paraffinöl."
„Noch was?"
„Dem Fleischer schulden wir zwei Schilling sieben Pence."
„Wieso, wir haben doch schon lange kein Fleisch gegessen", sagte Easton. „Wann war denn das?"
„Vor drei Wochen, weißt du nicht mehr? 'ne kleine Hammelkeule."
„Ach, richtig", und er fügte diese Summe der Liste hinzu.
„Dann ist da noch die Ratenzahlung für die Möbel und das Linoleum - zwölf Schilling. Von der Firma ist heut ein Brief gekommen. Und dann noch was."
Sie zog drei Briefe aus der Kleidertasche und reichte sie ihm.
„Die sind alle heut gekommen. Ich hab sie dir nicht vorher gezeigt, weil ich dich nicht aufregen wollte, bevor du gegessen hattest."
Easton zog den ersten Brief aus dem Umschlag.

GEMEINDE MUGSBOROUGH Allgemeine Bezirks- und Sondersteuern
Letztmalige Mahnung
Herrn W. Easton Hiermit erinnere ich Sie daran, dass nachstehender, von Ihnen für obige Steuern geschuldeter Betrag noch nicht bezahlt worden ist und ersuche Sie, genannte Summe innerhalb von VIERZEHN TAGEN ab heutigen Datums zu übersenden. Hiermit werden Sie davon in Kenntnis
gesetzt, dass nach vorliegender Aufforderung kein weiterer Besuch und keine Benachrichtigung mehr erfolgt, bevor gerichtliche Schritte zur zwangsweisen Eintreibung der obigen Summe unternommen werden.
Auf Anordnung des Stadtrats
James Leah
Steuereinnehmer, 2. Bezirk
Bezirkssteuer......£ 0/13/11
Sondersteuer.......£0/10/2
£1/4/1

Die zweite Mitteilung kam vom Büro des stellvertretenden Armenaufsehers. Sie war ebenfalls eine „letztmalige Mahnung" und lautete fast genau wie die erste; der Hauptunterschied bestand darin, dass sie „Auf Anordnung des Aufsehers" unterschrieben war anstatt „des Stadtrats". Es wurde darin innerhalb von vierzehn Tagen die Summe von einem Pfund, einem Schilling und fünfeinhalb Pence für Armensteuer verlangt und im Falle der Nichtzahlung mit gerichtlichen Schritten gedroht.
Easton legte die Mitteilung nieder und begann, den dritten Brief zu lesen.

J. DIDLUM & Co., G.M.B.H.
Komplette Möbeleinrichtungen Qualitätsstraße, Mugsborough
Sehr geehrter Herr Easton! Wir erinnern Sie daran, dass am 1. dieses Monats drei Monatsraten von je vier Schilling (zusammen zwölf Schilling) fällig waren, und fordern Sie hiermit auf, uns den genannten Betrag postwendend zuzustellen.
In dem von Ihnen abgeschlossenen Vertrag haben Sie die Verpflichtung übernommen, das Geld am Sonnabend jeder vierten Woche zu zahlen. Um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, müssen wir Sie ersuchen, in Zukunft den vollen Betrag pünktlich an dem erwähnten Tage einzusenden.
Hochachtungsvoll J. Didlum & Co., G. m. b. H.

Er las diese Mitteilung mehrere Male schweigend durch und warf sie schließlich mit einem Fluch auf den Tisch.
„Wie viel schulden wir noch für das Linoleum und die Möbel?" fragte er.
„Ich weiß nicht genau. Es waren sieben Pfund und etliches, und wir haben die Sachen ungefähr sechs Monate. Wir haben ein Pfund angezahlt und drei oder vier Raten eingeschickt. Wenn du willst, such ich dir die Karte raus."
„Nein, lass nur sein. Sagen wir mal, wir haben ein Pfund zwölf Schilling bezahlt, dann sind wir noch ungefähr sechs Pfund schuldig."
Er setzte diesen Betrag zu den übrigen.
„Meiner Ansicht nach ist's jammerschade, dass wir die Sachen überhaupt genommen haben", sagte er verdrießlich. „Es wäre viel besser gewesen, wenn wir uns ohne sie beholfen hätten, bis wir bar für sie bezahlen konnten; aber du musstest natürlich deinen Kopf durchsetzen. Jetzt werden wir jahrelang diese verfluchte Schuld auf dem Hals haben, und bevor der Dreck bezahlt ist, wird er schon abgenutzt sein."
Die Frau antwortete nicht sogleich. Sie beugte sich über die Wiege und zog die Decken zurecht, die durch die unruhigen Bewegungen des Kindes in Unordnung geraten' waren. Sie weinte still, unbemerkt von ihrem Mann.
Seit Monaten - tatsächlich seit der Geburt des Kindes hatte sie nicht genügend zu essen gehabt. War Easton arbeitslos, so mussten sie sich einschränken, um nicht tiefer als' unbedingt nötig in Schulden zu geraten. Arbeitete er, so' mussten sie sich einschränken, um ihre Schulden zu bezahlen; aber von dem, was da war, erhielt Easton, ohne es zu wissen, stets den größeren Teil. Hatte er Arbeit, so packte sie immer abends das Beste, das sie im Hause hatte, in den Frühstückskorb. War er arbeitslos, so behauptete sie oft wenn sie ihm die Mahlzeiten auftrug, sie habe bereits gegessen, als er fort war. Und während der ganzen Zeit sog ihr das Kind alle Kraft aus, und mit der Arbeit wurde sie nie fertig.
Sie fühlte sich sehr schwach und müde, als sie dort so kauerte, heimlich weinte und sich bemühte, es ihn nicht sehen zu lassen.
Schließlich sagte sie, ohne sich umzublicken:
„Du weißt genau, dass du ebenso dafür warst, die Sachen zu nehmen, wie ich. Wenn wir das Linoleum nicht geholt hätten, wären wir krank geworden, weil der Wind immer so zwischen den Dielen durchkam. Selbst jetzt bewegt sich das Linoleum an windigen Tagen auf und ab."
„Na, ich weiß nicht", sagte Easton, als er abwechselnd die Liste der Schulden und die drei Briefe ansah. „Ich geb dir beinah jeden Penny, den ich verdiene, und mische mich nie in was hinein, weil ich der Ansicht bin, 's ist deine Sache, dich ums Haus zu kümmern; aber mir scheint, du wirtschaftest nicht richtig."
Ruth brach plötzlich in heftige Tränen aus und legte den Kopf auf den Sitz des Stuhles, der neben der Wiege stand-
Easton fuhr überrascht auf.
„Nanu, was ist 'n los?" fragte er.
Und dann, als er auf die zuckende Gestalt der Frau sah, schämte er sich. Er kniete neben ihr nieder, umarmte sie, bat um Verzeihung und versicherte, er habe sie nicht so verletzen wollen.
„Ich mach's immer so gut ich kann mit dem Geld", schluchzte Ruth. „Ich geb niemals einen Penny für mich selbst aus, aber du scheinst nicht zu verstehen, wie schwer's ist. 's ist mir egal, dass ich selbst nichts hab, aber ich kann's nicht ertragen, wenn du so mit mir sprichst, wie du's in der letzten Zeit tust. Du gibst mir an allem die Schuld. Du hast
nie so mit mir gesprochen, ehe ich - ehe----. Ach, ich bin so
müde - ich bin so müde, ich wollte, ich könnte mich irgendwo hinlegen und schlafen und nie wieder aufwachen."
Sie wandte sich, halb kniend, halb auf dem Boden sitzend, von ihm ab, die Arme auf den Sitz des Stuhles gelegt und den Kopf darauf. Sie weinte hilflos, verzweifelt.
„'s tut mir leid, dass ich so mit dir gesprochen hab", sagte Easton verlegen. „Ich meine ja gar nicht, was ich gesagt hab. Ich bin schuld. Ich überlas dir alles viel zuviel, und man kann nicht erwarten, dass du mit all dem fertig wirst. In Zukunft werd ich dir helfen zu überlegen; vergib mir nur, es tut mir sehr leid. Ich weiß, dass du versuchst, dein Bestes zu tun."
Sie ließ es geschehen, dass er sie an sich zog, und legte
den Kopf an seine Schulter, als er sie küsste, streichelte und ihr versicherte, er wolle lieber mit ihr zusammen arm sein und hungern als mit irgend jemand anders Reichtümer teilen.
Das Kind in der Wiege, das sich die ganze Zeit über unruhig bewegt und gewunden hatte, begann jetzt, laut zu schreien. Die Mutter nahm es hoch, begab sich daran, es zu beschwichtigen, ging mit ihm im Zimmer auf und ab und wiegte es in den Armen. Das Kind fuhr jedoch fort zu schreien; deshalb setzte sie sich nieder, um es zu stillen. Ein Weilchen weigerte es sich zu trinken, strampelte und wehrte sich in den Armen seiner Mutter, dann war es einige Minuten lang ruhig und nahm die Milch unlustig und widerwillig. Danach begann es wieder zu schreien, sich zu winden und zu wehren.
Sie sahen ihm hilflos zu. Was konnte es nur haben? Es mussten die Zähne sein.
Dann, plötzlich, als sie es besänftigten und klopften, erbrach das Kind über seine und der Mutter Kleidung einen Schwall unverdauter Nahrung. Unter die geronnene Milch waren Reste von Ei, Speckbröckchen, Brot und Kartoffelstücke gemischt.
Nachdem der unglückliche Säugling seinen Magen von dieser unnatürlichen Last befreit hatte, begann er von neuem zu weinen, mit sehr blassem Gesicht, farblosen Lippen und rotgeränderten Augen, aus denen die Tränen strömten.
Easton ging mit ihm im Zimmer umher, während Ruth die Bescherung aufwischte und frische Sachen zurechtlegte. Sie kamen beide überein, dass es die durchbrechenden Zähne seien, die den Magen des armen Kindes durcheinander brachten. Wenn sie nur erst durchkämen!
Nachdem diese Arbeit getan war, sagte Easton, der im stillen noch immer dachte, mit Hilfe von etwas gesundem Menschenverstand und kluger Einteilung könnte ihre Lag befriedigender gestaltet werden:
„Machen wir lieber auch gleich 'ne Liste von den Sachen die wir morgen bezahlen und kaufen müssen. Das Entscheidende ist, dass du genau überlegst, was du machst bevor du irgendwas ausgibst; das erspart dir, Sachen zu kaufen, die du nicht wirklich brauchst, und hindert dich daran, Sachen zu vergessen, die du haben musst. Also, zuerst mal die Miete: zwei Wochen, macht zwölf Schilling."
Er nahm ein neues Stück Papier und schrieb diesen Posten nieder.
„Was müssen wir morgen noch bezahlen oder kaufen?"
„Nun, du weißt, dass ich dem Bäcker und dem Kaufmann versprochen hab, ich würd anfangen, sie zu bezahlen, sowie du wieder Arbeit hast; und wenn ich mein Wort nicht halte, geben sie uns ein andermal nichts, schreib deshalb lieber zwei Schilling auf für jeden."
„Hab ich", sagte Easton.
„Zwei Schilling und sieben Pence für den Fleischer. Das müssen wir bezahlen. Ich schäm mich, an dem Laden vorbeizugehen, denn als ich das Fleisch holte, hab ich versprochen, es in der nächsten Woche zu bezahlen, und das ist jetzt beinah drei Wochen her."
„Ich hab's aufgeschrieben. Was noch?"
„Ein Zentner Kohle, ein Schilling sechs Pence."
„Weiter!"
„Die Rate für die Möbel und das Linoleum, zwölf Schilling."
„Weiter?"
„Dem Milchmann schulden wir vier Wochen; geben wir ihm lieber das Geld für eine Woche als Abzahlung, das macht einen Schilling zwei Pence."
„Weiter?"
„Der Gemüsehändler. Ein Schilling Abzahlung."
„Noch was?"
„Wir müssen wenigstens etwas Fleisch essen, wir haben schon beinahe drei Wochen keins gehabt. Schreib lieber einen Schilling sechs Pence dafür."
„Hab ich."
„Ein Schilling neun Pence für Brot; das ist ein Laib pro Tag."
„Aber ich hab doch schon zwei Schilling für Brot aufgeschrieben", sagte Easton.
„Ja, ich weiß, Lieber, aber das ist, um unsere Schulden zu bezahlen, und was du für den Kaufmann und den Milchmann aufgeschrieben hast, auch."
„Na, mach weiter, um Himmels willen, damit wir fertig werden!" sagte Easton gereizt.
„Nicht weniger als drei Schilling beim Kaufmann."
Easton besah sich sorgsam seine Liste. Diesmal war er sicher, den Posten schon aufgeschrieben zu haben; da er aber fand, dass er sich geirrt hatte, sagte er nichts und setzte den Betrag hinzu.
„So, das hab ich. Was noch?"
„Milch, ein Schilling zwei Pence "
„Weiter?"
„Gemüse, acht Pence."
„Jawohl."
„Paraffinöl, und Holz zum Feuern, sechs Pence."
Wieder ging der Finanzmann die Liste durch. Er war sicher, dass es bereits dort stand. Er konnte es jedoch nicht finden, und so wurden die sechs Pence der Zahlenreihe hinzugefügt.
„Und dann sind da noch deine Stiefel; mit den alten Dingern kannst du bei dem Wetter nicht mehr lange rumlaufen, und nochmals flicken halten sie nicht aus. Du weißt doch, der Mann sagte, sie sind's nicht mehr wert, als du vor 'n paar Wochen den Flicken drauf setzen ließest."
„Ja, ich hatte gedacht, mir morgen 'n Paar neue zu kaufen. Meine Socken waren heut Abend ganz durchnässt. Regnet's mal, wenn ich morgens rausgeh, und ich muss den ganzen Tag über mit nassen Füßen arbeiten, dann werd ich krank."
„In dem Trödlerladen unten in der Highstreet hab ich heute Nachmittag, als ich draußen war, 'n sehr gutes Paar für zwei Schilling gesehen, genau in deiner Größe."
Easton antwortete nicht sogleich. Es reizte ihn nicht sehr, die abgelegten Stiefel irgendeines Fremden zu tragen, der vielleicht an Gott weiß welcher Krankheit litt; als er aber daran dachte, dass ihm seine alten Stiefel buchstäblich von den Füßen fielen, wurde ihm bewusst, dass er praktisch keine Wahl hatte.
„Wenn du ganz sicher bist, dass sie passen, hol sie lieber. ' 's ist immer noch besser, 's so zu machen, als dass ich mich erkälte und wer weiß wie lange im Bett liegen muss."
Die zwei Schilling wurden also mit auf die Liste gesetzt.
„Gibt's noch was?" Wie viel macht 'n das jetzt?" fragte Ruth.
Easton rechnete alles zusammen. Nachdem er damit fertig war, starrte er die Zahlen lange voller Bestürzung an, ohne zu sprechen.
„Herr des Himmels!" stieß er endlich hervor.
„Wie viel macht's denn?" fragte Ruth.
„Vierundvierzig Schilling und zehn Pence."
„Ich wusste ja, wir würden nicht reichen", sagte Ruth müde. „Wenn du denkst, ich wirtschafte so schlecht, kannst du mir vielleicht sagen, was wir weglassen sollen."
„Es würde schon in Ordnung gehen, wenn wir nicht die Schulden hätten", sagte Easton eigensinnig.
„Wenn du nicht arbeitest, müssen wir entweder Schulden machen oder verhungern."
Easton antwortete nicht.
„Was machen wir denn mit den Steuern?" fragte Ruth.
„Weiß ich auch nicht; zu versetzen haben wir nichts mehr außer meinem schwarzen Rock und meiner Weste. Vielleicht kriegste was darauf."
„Irgendwie müssen die Steuern bezahlt werden", sagte Ruth, „sonst wirst du einen Monat lang ins Gefängnis gesperrt, wie Mrs. Newmans Mann letzten Winter."
„Na, nimm lieber den Rock und die Weste und sieh zu, was du morgen dafür kriegst."
„Ja", sagte Ruth, „und dann noch mein braunes Seidenkleid - du weißt doch, das ich getragen hab, als wir getraut worden sind -, vielleicht kriege ich dafür was, denn auf den Rock und die Weste werden wir nicht genug bekommen. Ich trenn mich nicht gern von dem Kleid, wenn ich's auch nie trage; aber wir sind ja sicher, dass wir's wieder auslösen können, nicht?"
„Natürlich", sagte Easton.
Sie schwiegen eine Weile, während der Easton die Schuldenliste und die Briefe anstarrte. Ruth fragte sich, ob er wohl noch immer der Meinung sei, sie wirtschafte schlecht, und was er nun tun werde. Sie wusste, sie hatte stets getan, was sie konnte. Endlich sagte sie gedankenvoll, Wobei sie sich große Mühe gab, deutlich zu sprechen, denn der Hals war ihr wie zugeschnürt:
„Und was ist mit morgen? Willst du das Geld selbst ausgeben, soll ich wirtschaften wie bisher, oder wirst du mir sagen, was ich machen soll?"
„Ich weiß nicht, Schatz", sagte Easton mit einfältiger Miene. „Ich denke, das beste ist, du machst's, wie du's für richtig hältst."
„Ach, ich werd schon gut wirtschaften, Lieber, du wirst sehen", antwortete Ruth, die es für eine Art Ehre zu halten schien, dass ihr gestattet wurde, zu hungern und schäbige Kleidung zu tragen.
Der Säugling, der eine Zeitlang ruhig auf dem Schoß seiner Mutter gesessen und neugierig das Feuer betrachtet hatte - seine Zähne schienen ihn weniger zu quälen, seit er das Ei, den Speck und die Kartoffeln losgeworden war -, begann jetzt zu nicken und einzuschlummern, und Easton; der es bemerkte, meinte, man solle das Kind nicht mit leerem Magen einschlafen lassen, weil es sonst wahrscheinlich mitten in der Nacht vor Hunger aufwachen werde. Deshalb weckte er es, so gut es ging, und zerquetschte ein wenig von dem Brot und gerösteten Käse in einem bisschen warmer Milch. Dann nahm er Ruth das Kind ab und versuchte, es zum Essen zu bewegen. Sobald es jedoch seine Absicht verstand, begann es wie am Spieß zu schreien, presste die Lippen fest aufeinander und bewegte jedes Mal, wenn der Löffel sich seinem Mund näherte, schnell den Kopf von einer Seite zur anderen. Es machte einen so furchtbaren Lärm, dass Easton schließlich nachgab. Er begann, mit ihm im Zimmer auf und ab zu gehen, und bald hatte sich das Kind in Schlaf geschluchzt. Nachdem Ruth es in die Wiege gelegt hatte, machte sie sich daran, Eastons Frühstück zu bereiten und es in seinen Korb zu packen. Das nahm nicht viel Zeit in Anspruch, da nur Brot und Butter vorhanden war - oder vielmehr, um genau zu sein, Margarine.
Dann goss sie den übrig gebliebenen Tee aus der Kanne in einen kleinen Topf und stellte ihn auf den Herd, aber vom Feuer entfernt, schnitt noch zwei Scheiben Brot ab und schmierte den ganzen Rest der Margarine darauf, legte sodann die Schnitten auf einen Teller, stellte ihn auf den Tisch und deckte eine Untertasse darüber, damit das Brot während der Nacht nicht austrocknete und hart wurde.
Neben den Teller stellte sie eine saubere Tasse mit Untertasse, dazu Milch und Zucker.
Am Morgen zündete Easton stets dann das Feuer an und wärmte sich den Tee im Topf auf, um eine Tasse voll zu trinken, ehe er zur Arbeit ging. War Ruth wach, und hatte er es nicht allzu eilig, so brachte er ihr gewöhnlich eine Tasse Tee ans Bett.
Jetzt war nichts mehr zu tun, als nur noch etwas Kohle und Holz vor das Kamingitter zu legen, damit es am Morgen keinen unnötigen Zeitverlust gab.
Der Säugling schlief noch immer, und Ruth wollte ihn jetzt nicht wecken, um ihn für die Nacht zurechtzumachen. Easton saß vor dem Feuer und rauchte, und da nun alles getan war, setzte sich Ruth an den Tisch und begann zu nähen. Nach einer Weile bemerkte sie:
„Lass mich doch das Hinterzimmer oben vermieten; die Frau nebenan hat ihr's unmöbliert für zwei Schilling die Woche an eine ältere Frau und ihren Mann vermietet. Wenn wir so jemand bekommen könnten, wär's besser, als 'n leeres Zimmer im Haus haben."
„Dann hätten wir sie ewig hier unten rumhantieren -kochen und waschen und dies und jenes", widersprach Easton. „Sie würden uns mehr Schererei machen, als die Sache wert ist."
„Nun, wir könnten versuchen, es zu möblieren. Mrs.Crass drüben auf der anderen Straßenseite hat zwei Mieter in einem Zimmer. Sie zahlen ihr jeder zwölf Schilling die Woche für Miete, Verpflegung und Wäsche. Das macht ein Pfund vier Schilling, die sie regelmäßig jede Woche einnimmt. Wenn wir dasselbe tun könnten, wären wir bald unsre Schulden los."
„Was hat's für 'nen Zweck, darüber zu reden? Du würdest die Arbeit nie schaffen, selbst wenn wir die Möbel hätten."
„Ach, die Arbeit ist nicht schlimm", antwortete Ruth, „und was die Möbel betrifft, wir haben genug Bettwäsche in Reserve, und 'ne Zeitlang könnten wir gut ohne Waschtisch in unserm Schlafzimmer auskommen; das einzige, was Wir wirklich brauchen, ist 'ne schmale Bettstelle und 'ne Matratze, die könnten wir sehr billig alt kaufen."
„Es müsste doch auch 'ne Kommode drin stehen", meinte Easton zweifelnd.
„Ich denke, nein", erwiderte Ruth. „Im Zimmer ist 'n Schrank, und derjenige, der's nimmt, hat bestimmt 'ne Kiste."
„Na, wenn du meinst, du kannst die Arbeit schaffen, hab ich nichts dagegen", sagte Easton. „'s wird zwar lästig sein, immer 'nen Fremden im Weg zu haben, aber ich denke, so was Ähnliches müssen wir machen, sonst sind wir gezwungen, das Haus aufzugeben und irgendwo 'n paar Zimmer zu mieten. Das wär noch schlimmer, als selbst Mieter haben. Gehn wir doch mal rauf, und sehn wir uns das Zimmer an", setzte er hinzu, stand auf und nahm die Lampe von der Wand.
Sie mussten zwei Treppen steigen, ehe sie auf dem obersten Absatz anlangten, wo zwei Türen waren, von denen die eine in den vorderen Raum - ihr Schlafzimmer - und die andere in das leere Hinterzimmer führte. Die beiden Türen standen im rechten Winkel zueinander. Die Tapete im Hinterzimmer war an mehreren Stellen beschädigt und beschmutzt.
„Von der Tapete liegt noch fast 'ne ganze Rolle oben auf dem Schrank", sagte Ruth. „Du könntest all die Stellen leicht ausbessern. Wir könnten 'n paar Kalender an die Wand hängen; unser Waschtisch würde hier am Fenster stehen, hier ein Stuhl und das Bett an der Wand dort hinter der Tür. Das Fenster ist nur klein; ich kann ohne weiteres aus irgendwas 'ne Gardine machen. Ich bin sicher, ich könnt das Zimmer nett herrichten und kaum was dafür ausgeben."
Easton nahm die Rolle Tapete herunter. Das Muster war das gleiche wie das an der Wand. Freilich war dieses recht ausgeblasst, aber es machte nichts aus, wenn die Flicken zu sehen waren. Sie kehrten in die Küche zurück.
„Meinst du, du kennst irgend jemand, der's nehmen würde?" fragte Ruth. Easton rauchte nachdenklich.
„Nein", sagte er schließlich. „Aber ich werd's ein oder zwei Kollegen auf der Arbeit sagen; vielleicht wissen sie jemand."
„Und ich werd Mrs. Crass bitten, ihre Mieter zu fragen; vielleicht, dass sie 'nen Freund haben, der gern in ihrer Nähe wohnen möchte."
Das war also beschlossene Sache, und da das Feuer fast niedergebrannt und es spät geworden war, schickten sie sich an, zu Bett zu gehen. Das Kind schlief noch immer; deshalb nahm es Easton mitsamt der Wiege und trug es die enge Treppe hinauf in das vordere Schlafzimmer, während Ruth voranging und die Lampe nebst einigen Sachen für das Kind hielt. Damit die Mutter den Säugling während der Nacht leicht erreichen konnte, wurden zwei Stühle neben ihre Seite des Bettes gerückt und die Wiege daraufgestellt.
„Jetzt haben wir den Wecker vergessen", sagte Easton und hielt inne. Er war halb ausgekleidet und hatte bereits die Pantoffeln abgelegt.
„Ich lauf schnell runter und hol ihn", meinte Ruth.
„Ach, lass nur, ich gehe", sagte Easton und begann, sich die Pantoffeln wieder anzuziehen.
„Nein, geh du ins Bett. Ich hab noch nicht angefangen, mich auszuziehen. Ich hol ihn", erwiderte Ruth und war schon auf dem Wege nach unten.
„Ich weiß nicht, ob es die Mühe wert war, noch mal runterzugehen", meinte Ruth, als sie mit dem Wecker zurückkehrte. „Er ist heute drei-, viermal stehen geblieben."
„Na, ich hoffe, er bleibt nicht während der Nacht stehen", sagte Easton. „Wär 'ne schöne Bescherung, wenn ich morgen früh nicht wüsste, wie viel Uhr es ist. Vermutlich werden wir uns als nächstes 'nen neuen Wecker anschaffen müssen."
Mehrmals während der Nacht wachte er auf und zündete ein Streichholz an, um nachzusehen, ob es schon Zeit war aufzustehen. Um halb drei ging die Uhr noch immer, und er schlief wieder ein. Als er das nächste Mal erwachte, hatte das Ticken aufgehört. Wie spät mochte es wohl sein? Es war noch sehr dunkel; aber danach konnte er sich nicht richten, denn um sechs Uhr war es jetzt immer noch finster. Er war völlig munter: es musste fast Zeit sein aufzustehen. Er konnte es sich nicht erlauben, zu spät zu kommen; vielleicht wurde er dann entlassen.
Er stand auf und zog sich an. Ruth schlief, deshalb schlich er leise nach unten, zündete das Feuer an und wärmte den Tee auf. Als er fertig war, ging er leise wieder nach oben. Ruth schlief noch immer, und so beschloss er, sie nicht zu stören. Als er in die Küche zurückgekehrt war, goss er eine Tasse voll Tee und trank ihn, zog sich die Stiefel und den Mantel an, setzte den Hut auf, nahm seinen Korb und verließ das Haus.
Der Regen fiel noch immer hernieder; es war sehr kalt und dunkel. Niemand sonst war auf der Straße. Easton fröstelte, als er so dahinging und sich fragte, wie spät es wohl sein mochte. Es fiel ihm ein, dass etwas weiter unten in der Hauptstraße eine Uhr über einem Juwelierlade: hing. Als er dort ankam, stellte er fest, dass er die Ziffer: auf dem Blatt nicht deutlich erkennen konnte; denn die Uhr hing recht hoch, und es war noch sehr dunkel. Er stand dort, starrte ein paar Minuten lang hinauf und versucht vergeblich zu sehen, wie viel Uhr es war, als plötzlich das Licht einer Blendlaterne auf seine Augen gerichtet wurde.
„Sie sind ja ziemlich früh unterwegs", sagte eine Stimme, deren Eigentümer Easton nicht sehen konnte. Das Licht blendete ihn.
„Wie viel Uhr ist's denn?" fragte Easton. „Ich muss um sieben bei der Arbeit sein, und unser Wecker ist in der Nacht stehen geblieben."
„Wo arbeiten Sie denn?"
„In der ,Höhle' in der Elmore Road: Sie wissen doch bei der alten Zollschranke."
„Was machen Sie dort, und für wen arbeiten Sie?" fragte der Polizist. Easton erklärte es.
„Na", meinte der Wachtmeister, „es ist recht seltsam, dass Sie sich um diese Stunde schon herumtreiben. Es ist; nur ungefähr eine dreiviertel Stunde von hier bis zur Elmore Road zu gehen. Sie sagen, Sie müssen um sieben dort sein, und jetzt ist's erst drei Viertel vier. Wo wohnen Sie denn? Wie heißen Sie?" Easton gab Namen und Adresse an und begann, die Geschichte von der Uhr, die stehen geblieben war, zu wiederholen.
„Was Sie sagen, kann stimmen oder auch nicht", unterbrach ihn der Polizist. „Sicher sollte ich Sie zur Wache mit nehmen. Alles, was ich weiß, ist, dass ich Sie vor diesem Laden herumlungern sah. Was haben Sie in dem Korb da?"
„Nur mein Frühstück", sagte Easton, öffnete den Korb und zeigte seinen Inhalt.
„Ich möchte Ihnen glauben", meinte der Polizist nach einer Pause. „Aber, um ganz sicher zu sein, werde ich mit Ihnen nach Hause gehen. Es liegt auf meiner Streife, und ich will Sie nicht festnehmen, wenn Sie der sind, der Sie sagen; aber ich würde Ihnen raten, eine anständige Uhr zu kaufen, sonst werden Sie sich noch Unannehmlichkeiten zuziehen."
Als sie beim Hause angelangt waren, öffnete Easton die Tür, und nachdem der Beamte einen Vermerk in sein Notizbuch gemacht hatte, ging er davon, sehr zu Eastons Erleichterung. Der stieg nach oben, stellte die Uhr und brachte sie wieder zum Gehen. Dann zog er sich den Mantel aus, legte sich in den Kleidern aufs Bett und deckte sich mit der Steppdecke zu. Nach einem Weilchen schlief er ein, und als er aufwachte, tickte der Wecker noch immer.
Es war genau sieben Uhr.

 

4. Kapitel Das Plakat

Frank Owen war der Sohn eines Tischlergesellen, der an der Schwindsucht starb, als der Junge erst fünf Jahre alt war. Danach verdiente sich die Mutter spärlich ihren Lebensunterhalt als Näherin. Als Frank dreizehn war, begann er bei einem Malermeister zu arbeiten, einem Mann von einer Art, die jetzt fast verschwunden ist, denn er war nicht nur Unternehmer, sondern auch ein hochqualifizierter Fachmann.. Er war bereits alt, als Frank Owen bei ihm zu arbeiten begann. Einst hatte er ein gut gehendes Geschäft in der Stadt gehabt, und er rühmte sich immer, er habe stets Qualitätsarbeit geleistet, Freude daran gehabt und sei immer gut dafür bezahlt worden. Aber in späteren Jahren war die Anzahl seiner Kunden stark gesunken; denn eine neue Generation war herangewachsen, die nichts auf
Können oder Kunst gab, sondern nur auf billige Preise und Profit. Von diesem Mann sowie durch fleißiges Studium und durch Übung während seiner Freizeit, unterstützt von einer gewissen natürlichen Begabung, erlernte der Junge die Dekorationsmalerei und das Zeichnen, das Marmorieren und Schriftmalen.
Franks Mutter starb, als er vierundzwanzig Jahre alt war, und ein Jahr darauf heiratete er die Tochter eines Arbeitskollegen. Damals gingen die Geschäfte ziemlich gut, und obwohl für die mehr künstlerischen Arbeiten wenig Nachfrage Bestand, machte es ihm doch seine Fähigkeit, sie im Bedarfsfalle ausführen zu können, verhältnismäßig leicht, Beschäftigung zu finden. Owen und seine Frau waren sehr glücklich. Sie hatten ein Kind - einen Jungen -, und einige Jahre lang ging alles gut. Aber nach und nach änderte sich die Lage: im großen und ganzen fand der Wechsel langsam und unmerklich statt, obwohl es gelegentlich plötzliche Schwankungen gab.
Selbst im Sommer konnte Owen nicht mehr immer Arbeit finden, und im Winter war es fast unmöglich, überhaupt eine Anstellung zu erhalten. Schließlich, etwa zwölf Monate vor Beginn der Zeit, von der dieses Buch handelt, entschloss er sich, seine Frau und sein Kind zu Hause zu lassen, nach London zu fahren und zu versuchen, dort sein Glück zu machen. Sobald er Arbeit fände, wollte er sie nachkommen lassen.
Es war eine vergebliche Hoffnung. Er fand es in London eher noch schlimmer als in seiner Heimatstadt. Wo immer er auch hinging, überall sah er sich dem Schild gegenüber „Arbeiter werden nicht eingestellt". Tag für Tag lief er durch die Straßen, versetzte oder verkaufte sämtliche Kleidungsstücke bis auf die, welche er am Leibe trug, und blieb sechs Monate lang in London, war zuweilen am Verhungern und erhielt nur gelegentlich für einige Tage oder Wochen Arbeit.
Am Ende dieser Zeit war er gezwungen nachzugeben. Die erlittenen Entbehrungen, die nervöse Spannung und die schlechte Stadtluft vereint besiegten ihn. Symptome der Krankheit, die seinen Vater getötet hatte, begannen sich bemerkbar zu machen; er gab den wiederholten Bitten
seiner Frau nach und kehrte in seine Heimatstadt zurück -ein Schatten seines früheren Ichs.
Das war vor sechs Monaten gewesen, und seither hatte er für Rushton & Co. gearbeitet. Gelegentlich, wenn keine Aufträge da waren, musste er „aussetzen", bis wieder etwas hereinkam.
Seit seiner Rückkehr aus London war Owen nach und nach von Hoffnungslosigkeit übermannt worden. Er fühlte, wie die Krankheit, an der er litt, von Tag zu Tag mehr Gewalt über ihn gewann. Der Arzt empfahl ihm, „viel nahrhaftes Essen" zu sich zu nehmen, und verschrieb ihm kostspielige Medizinen, die zu kaufen Owen nicht das Geld hatte.
Und dann war da seine Frau. Von Natur zart, brauchte sie vieles, was er nicht in der Lage war ihr zu verschaffen. Und der Junge - welche Hoffnung gab es für ihn? Oft, wenn Owen trübe über ihre Lage und ihre Zukunftsaussichten nachgrübelte, sagte er sich, es wäre viel besser, sie könnten jetzt alle drei zusammen sterben.
Er war es müde, selbst zu leiden, müde, hilflos dem Leiden seiner Frau zuzusehen, und niedergeschmettert bei dem Gedanken an das, was dem Kinde bevorstand.
Solcherart waren seine Überlegungen, als er am Abend des Tages, an dem der alte Linden entlassen worden war, nach Hause ging. Es gab keinen Grund zu glauben oder zu hoffen, der bestehende Zustand werde in absehbarer Zeit geändert werden.
Tausende schleppten wie er ihr elendes Dasein am Rande des Hungertodes dahin, und für die Mehrzahl der Menschen war das Leben ein einziger langer Kampf gegen die Armut. Und doch wusste kaum einer von diesen Leuten, ja, sie machten sich nicht einmal Gedanken darüber, weshalb sie in dieser Lage waren, und jeder Versuch eines anderen Menschen, es ihnen zu erklären, war eine lächerliche Zeitverschwendung, denn sie wollten es gar nicht wissen.
Das Heilmittel war so einfach, das Übel so groß und so schreiend offensichtlich, dass es für dessen Fortbestehen nur eine Erklärung geben konnte: die meisten von Owens Arbeitskollegen besaßen keine Fähigkeit, logisch zu denken. Wären diese Menschen nicht geistig unzulänglich, so hätten
sie aus eigenem Antrieb schon längst dieses törichte System fortgefegt. Es wäre überhaupt nicht nötig, dass irgend jemand sie lehrte, es sei falsch.
Ja, selbst die Leute, die Erfolg hatten oder gar reich waren, konnten nicht sicher sein, dass sie nicht schließlich vor Elend umkamen. In jedem Armenhaus konnte man Menschen finden, die einst gute Stellungen innegehabt hatten, und es war nicht immer ihre eigene Schuld, dass sie Schiffbruch erlitten hatten.
Wie wohlhabend ein Mann auch sein mochte, er konnte nicht gewiss sein, dass es seinen Kindern niemals an Brot mangeln werde. Es gab Tausende, die von Hungerlöhnen im Elend lebten, deren Eltern aber begüterte Leute gewesen waren.
Als Owen, mit diesen Gedanken beschäftigt, rasch dahinschritt, kam ihm kaum zum Bewusstsein, dass er bis auf die Haut durchnässt war. Er hatte keinen Überzieher: der war in London verpfändet, und er hatte ihn noch nicht einlösen können. Seine Schuhe waren undicht und vom Schlamm und Regen durchweicht.
Er war jetzt fast zu Hause. An der Ecke der Straße, in der er wohnte, hatte ein Zeitungshändler seinen Laden, und vor der Tür war auf einem Brett ein Plakat ausgehängt:

FURCHTBARE HÄUSLICHE TRAGÖDIE
Doppelmord und Selbstmord

Er ging hinein, um die Zeitung zu kaufen. Er war hier häufig Kunde, und als er eintrat, grüßte ihn der Ladeninhaber mit seinem Namen.
„Scheußliches Wetter", bemerkte der Mann, als er Owen die Zeitung reichte. „Macht wohl das Geschäft ziemlich schlecht in Ihrem Beruf, was?"
„Ja", erwiderte Owen, „viele Leute sind arbeitslos, aber; glücklicherweise habe ich gerade Innenarbeit."
„Dann sind Sie einer von denen, die Glück haben" sagte der andere. „Wissen Sie, für einige wird es hier Arbeit geben, sowie das Wetter sich ein bisschen bessert. Die Außenfassade von diesem ganzen Häuserblock soll neu
gemacht werden. Das ist ne ziemlich umfangreiche Arbeit, nicht?"
„Ja", gab Owen zurück. „Wer führt sie denn aus?"
„Makehaste & Sloggit. Sie wissen doch, die Firma hat ihr Geschäft drüben in Windley."
„Ja, ich kenne sie", sagte Owen grimmig. Er hatte selbst ein- oder zweimal für sie gearbeitet.
„Der Meister war heute hier bei mir", fuhr der Zeitungshändler fort. „Er sagte, am Montag morgen wollen sie anfangen, wenn das Wetter gut ist."
„Nun, hoffentlich wird's schön", meinte Owen, „denn augenblicklich ist's ziemlich ruhig überall."
Mit einem „Guten Abend" setzte Owen seinen Heimweg fort.
Als er die Straße schon halb hinuntergegangen war, blieb er unschlüssig stehen - er dachte an die soeben gehörte Nachricht und an Jack Linden.
Sobald es erst allgemein bekannt wurde, dass diese Arbeit unternommen werden sollte, setzte ganz gewiss ein Wettlauf danach ein, und: wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Wenn er Jack heute Abend noch aufsuchte, war der alte Mann vielleicht rechtzeitig genug dort, um Arbeit zu erhalten.
Owen zögerte - er war völlig durchnässt, und es war ein langer Weg zu Lindens Haus, fast zwanzig Minuten zu gehen. Doch er hätte ihn gern benachrichtigt, denn wenn Linden nicht einer der ersten war, die sich bewarben, hätte er nicht soviel Aussicht wie ein jüngerer Mann. Owen sagte sich, wenn er sehr schnell ginge, wäre die Gefahr, sich zu erkälten, nicht groß. In feuchter Kleidung umherzustehen mochte gefährlich sein, aber solange man sich bewegte, war alles in Ordnung.
Er kehrte um und machte sich auf den Weg zu Linden. Obwohl er nur wenige Meter von seiner eigenen Wohnung entfernt war, beschloss er, nicht hineinzugehen, denn sicher hätte seine Frau versucht, ihn nicht wieder hinauszulassen.
Als er so dahineilte, bemerkte er bald einen kleinen dunklen Gegenstand vor der Türschwelle eines unbewohnten Hauses. Er blieb stehen, um ihn näher zu betrachten, und stellte fest, dass es ein kleines schwarzes Kätzchen war.
Das winzige Wesen kam auf ihn zu und begann, um seine Füße zu streichen, wobei es zu Owens Gesicht aufsah und erbärmlich schrie. Er beugte sich nieder, streichelte es und schauderte, als seine Hand den ausgezehrten Körper des Tieres berührte. Das Fell war vom Regen durchnässt, und jeder Wirbel des Rückgrats war deutlich zu spüren. Während er das ausgehungerte Tier streichelte, miaute es jämmerlich. Owen beschloss, es dem Jungen nach Hause mitzunehmen, und als er das kleine ausgestoßene Ding aufhob und in seine Tasche steckte, begann es zu schnurren.
Der Vorfall lenkte Owens Gedanken auf eine andere Bahn. Wenn es - wie so viele Menschen vorgaben zu glauben - einen unendlich gütigen Gott gab, wie kam es dann, dass dieses hilflose Wesen, dass Er geschaffen hatte, zum Leiden verurteilt war? Es hatte niemals irgend etwas Böses getan und war in keiner Weise verantwortlich dafür, dass es existierte. War Gott sich des Elends Seiner Kreaturen nicht bewusst? War dem so, dann war Er nicht allwissend. Oder war Gott sich ihrer Leiden bewusst, jedoch unfähig, ihnen zu helfen? Dann war Er nicht allmächtig. Hatte Er die Macht, aber nicht den Willen, Seine Kreaturen glücklich zu machen? Dann war Er nicht gütig. Nein -es war unmöglich, an die Existenz eines persönlichen, unendlichen Gottes zu glauben. Tatsächlich glaubte niemand daran, und am wenigsten diejenigen, die aus den verschiedensten Gründen vorgaben, Anhänger Christi zu sein: die Antichristen, die umhergingen und Hymnen sangen, lange Gebete aufsagten und „Herr, Herr" riefen, jedoch niemals taten, was Er gesagt hatte; die durch ihre Werke kundtaten, dass sie Ungläubige und dem Meister, dem sie zu dienen vorgaben, untreu waren, denn sie verbrachten ihr Leben in vorsätzlicher und systematischer Missachtung Seiner Lehren und Gebote. Es war gar nicht nötig, die Beweise der Wissenschaft zu Hilfe zu nehmen, oder sich auf das, was man für Inkonsequenzen, Unmöglichkeiten, Widersprüche und Ungereimtheiten in der Bibel hielt, zu beziehen, um zu beweisen, dass in der christlichen Religion keine Wahrheit lag. Nichts weiter war nötig, als sich das Verhalten der Menschen anzusehen, die sich zu ihr bekannten.

 

5. Kapitel Das Uhrgehäuse

Jack Linden bewohnte ein kleines Häuschen in Windley. Darin lebte er schon seit seiner Heirat vor über dreißig Jahren.
Das Haus und der Garten waren sein Steckenpferd: immer tat er irgend etwas - malte, tapezierte, weißte die Decken und dergleichen. Das Ergebnis war, dass er es schließlich fertig gebracht hatte, das Haus, obwohl es an sich nicht viel wert war, in einen recht guten Zustand zu versetzen, und es war deshalb sehr sauber und gemütlich.
Ein weiterer Erfolg seines Fleißes war, dass der Hauswirt, als er das verbesserte Aussehen des Besitzes sah, zweimal die Miete erhöht hatte. Als Linden das Haus übernahm, betrug der Mietpreis sechs Schilling die Woche. Fünf Jahre später wurde er auf sieben Schilling gesteigert und nach Ablauf weiterer fünf Jahre auf acht Schilling.
Während der dreißig Jahre, die Linden dort wohnte, hatte er im ganzen fast sechshundert Pfund Miete bezahlt, mehr als doppelt soviel, wie der gegenwärtige Wert des Hauses betrug. Jack beklagte sich nicht darüber - er war sogar sehr zufrieden. Oft sagte er, Mr. Sweater sei ein sehr guter Hauswirt, denn mehrmals hatte der Verwalter, der den wohlwollenden Sweater vertrat, es Linden gestattet, wenn der arbeitslos und mit der Miete einige Wochen im Rückstand war, seine Schulden in Raten abzubezahlen. Wie der alte Jack Linden zu bemerken pflegte, hätte so mancher Wirt die Möbel der Familie verkauft und diese auf die Straße gesetzt.
Wie dem Leser bereits bekannt ist, bestand Lindens Haushalt aus ihm selbst, seiner Frau, seinen zwei Enkelkindern und seiner Schwiegertochter, der Witwe und den Kindern seines jüngsten Sohnes, eines Reservisten, der während seines Militärdienstes im südafrikanischen Krieg gestorben war. Der junge Mann war Stuckateur gewesen und hatte unmittelbar vor dem Krieg bei Rushton & Co. gearbeitet.
Die Familie hatte gerade ihren Tee eingenommen, als
Owen an die Haustür klopfte. Die junge Frau ging nachsehen, wer dort war.
„Ist Mr. Linden zu Haus?"
„Ja. Wer sind Sie denn?"
„Mein Name ist Owen."
Der alte Jack hatte jedoch Owens Stimme bereits erkannt und kam an die Tür, neugierig, was der wohl wünschte.
„Als ich nach Hause ging, hörte ich, dass Makehaste & Sloggit am Montag eine große Arbeit beginnen; deshalb bin ich vorbeigekommen, um's dir zu sagen."
„Wirklich?" fragte Linden. „Ich werd morgen früh hingehen und mal anfragen. Ich fürchte zwar, ich hab nicht viel Aussicht, weil 'ne Menge von ihren eigenen Leuten auf Arbeit warten; ich werd aber trotzdem hingehen und mal nachfragen."
„Weißt du, es ist eine große Arbeit. Die ganze Außenfront des Häuserblocks da unten an der Ecke Kerk Street und Lord Street soll gemacht werden. Sie brauchen bestimmt ein paar Leute mehr."
„Ja, da ist was dran", sagte Linden. „Auf jeden Fall 1 bin ich dir sehr dankbar, dass du mir's gesagt hast; aber komm doch rein aus dem Regen. Du musst ja völlig durchnässt sein."
„Nein, ich halte mich nicht erst auf", antwortete Owen. „Ich möchte nicht länger als nötig in diesen nassen Sachen herumstehen."
„Aber du brauchst doch nicht mal 'ne Minute, um 'ne Tasse Tee zu trinken", bestand Linden auf seiner Einladung. „Ich werd dich nicht bitten, länger zu bleiben."
Owen trat ein; der alte Mann schloss die Tür und ging voran zur Küche. An der einen Seite des Feuers saß Lindens Frau, eine gebrechlich aussehende alte Dame mit weißem Haar, in einem großen Lehnstuhl und strickte. Linden setzte sich in einen ebensolchen Sessel auf der anderen Seite. Die beiden Enkelkinder, ein Junge und ei. Mädchen von sieben und acht Jahren, saßen noch am Tisch.
Neben der Kommode an der einen Seite des Zimmer stand eine Nähmaschine mit Tretantrieb, und auf de
einen Ende der Kommode lag ein Haufen Näharbeiten: Damenblusen, die gerade angefertigt wurden. Dies war ebenfalls ein Beispiel der Güte des Mr. Sweater, von dem Lindens Schwiegertochter die Sachen erhielt. Viel war es nicht, denn sie konnte die Arbeit nur in ihrer freien Zeit besorgen, aber, wie sie oft bemerkte, jedes bisschen half.
Der Boden war mit Linoleum belegt; an den Wänden hing eine Anzahl eingerahmter Bilder, und auf dem hohen Kaminsims stand etwas blankpoliertes Zinn- und Kupfergeschirr. Im Zimmer herrschte jene nicht zu beschreibende gemütliche und warme Atmosphäre, die nur in Häusern zu finden ist, deren Bewohner schon sehr lange Zeit darin leben.
Die junge Frau goss bereits eine Tasse Tee ein.
Die alte Mrs. Linden, die zwar Owen noch niemals gesehen, wohl aber von ihm gehört hatte, war tief religiös. Sie gehörte der Englischen Staatskirche an. Neugierig blickte sie auf den Atheisten, als er ins Zimmer trat. Er hatte den Hut abgenommen, und sie war überrascht, dass er nicht abstoßend aussah - eher das Gegenteil. Doch dann erinnerte sie sich, dass Satan häufig als Engel des Lichts erscheint. Erscheinungen täuschen. Sie wünschte, John hätte ihn nicht ins Haus gebeten, und hoffte nur, es werden sich keine bösen Folgen daraus ergeben. Als sie ihn betrachtete, war sie entsetzt, einen kleinen schwarzen Kopf mit einem Paar funkelnder, grüner Augen aus seiner Brusttasche hervorlugen zu sehen, und unmittelbar darauf begann das Kätzchen, das die Tassen und Teller auf dem Tisch entdeckt hatte, wie rasend zu miauen; plötzlich kletterte es aus seinem Zufluchtsort hervor und versetzte Owens Hand, die es zurückhalten wollte, einen tiefen Kratzer, als es auf den Boden sprang.
Das Tier kletterte am Tischtuch empor und begann, über den ganzen Tisch zu laufen; es huschte hastig von einem Teller zum anderen und suchte etwas zu essen.
Die Kinder jubelten laut auf. Ihre Großmutter war von einem Gefühl abergläubischer Unruhe erfüllt. Linden und die junge Frau standen da und starrten den unerwarteten Besucher erstaunt an.
Ehe das Kätzchen Zeit gehabt hatte, irgendwelchen Schaden anzurichten, fing Owen es ein und hob es, trotz seines heftigen Sträubens, vom Tisch.
„Ich hab's auf der Straße gefunden, als ich herkam", sagte er. „Es scheint am Verhungern zu sein."
„Armes kleines Ding. Ich geb ihm was", sagte die junge Frau.
Sie tat ihm etwas Milch und Brot auf eine Untertasse, und das Kätzchen fraß gierig; fast warf es dabei in seinem Eifer die Untertasse um - sehr zur Belustigung der Kinder, die danebenstanden und ihm bewundernd zusahen.
Ihre Mutter reichte Owen jetzt eine Tasse Tee. Linden bestand darauf, dass er sich setzte, und begann dann über Hunter zu sprechen.
„Weißte, ich musste doch einige Zeit auf die Türen verwenden, damit sie überhaupt nach was aussahen; aber 's war gar nicht die Zeit, die ich gebraucht hab, oder dass ich rauchte, was ihn so auf die Palme gebracht hat. Er weiß ganz genau, wie viel Zeit dazu nötig ist. Der wahre Grund ist, dass er denkt, ich hab zuviel Geld gekriegt. Heutzutage wird die Arbeit so flüchtig gemacht, dass Kerle wie Sawkins für die meisten Sachen genügen. Hunter hat mich rausgesetzt, bloß weil ich den höchsten Satz bekommen hab, und du wirst sehen, ich bin nicht der einzige."
„Ich fürchte, du hast recht", erwiderte Owen. „Hast du mit Rushton gesprochen, als du dein Geld abholtest?"
„Ja", erwiderte Linden. „Ich lief hin, so schnell ich konnte, aber Hunter war zuerst da. Er hat mich auf seinem Rad überholt, als ich den Weg noch nicht mal zur Hälfte hinter mir hatte; deshalb nehme ich an, er hat seine Geschichte erzählt, bevor ich kam. Auf jeden Fall - als ich anfing, mit Mr. Rushton zu sprechen, wollte der nicht zuhören. Sagte, er könnte bei Mr. Hunter und den Leuten nicht dazwischentreten."
„Ach, das ist eine elende Sippschaft, die beiden", meinte die alte Frau und schüttelte weise den Kopf. „Aber die werden's noch alles heimgezahlt kriegen, das werdt ihr schon sehen. Die werden's zu nichts bringen. Der Herr wird sie bestrafen."
Owen hatte hierzu nicht viel Vertrauen. Die meisten Leute, die er kannte und die es zu etwas gebracht hatten, waren vom gleichen Charakter wie die beiden Biedermänner, von denen die Rede war. Er wollte jedoch mit der armen alten Frau nicht streiten.
Als Tom zum Krieg einberufen wurde", sagte die junge Frau bitter, „schüttelte ihm Mr. Rushton die Hand und versprach, ihm Arbeit zu geben, wenn er zurück wär; aber jetzt, wo der arme Tom nicht mehr ist und sie wissen, dass ich und die Kinder außer Vater niemand haben, auf den wir uns stützen können, machen sie das!"
Obwohl die alte Mrs. Linden sichtlich bekümmert war, als der Name ihres toten Sohnes erwähnt wurde, war sie sich doch noch immer der Anwesenheit des Atheisten bewusst, und sie beeilte sich, ihre Schwiegertochter zu tadeln.
„Du solltest nicht sagen, wir haben niemand, auf den wir uns stützen können, Mary", sagte sie. „Wir sind ja nicht wie die Leute, die gottlos sind und ohne Hoffnung in der Welt. Der Herr ist unser Hirte. Er sorget für die Witwe und die Waise."
Owen zweifelte auch hieran stark. Er hatte in letzter Zeit so viele schlecht betreute Kinder auf den Straßen gesehen, und auch die Dinge, an die er sich aus seiner eigenen kummervollen Kindheit erinnerte, bewiesen ganz das Gegenteil.
Es folgte ein verlegenes Schweigen, Owen wünschte diese Unterhaltung nicht fortzusetzen - er fürchtete, etwas zu sagen, was die alte Frau verletzen könnte. Außerdem war er bestrebt fortzukommen; er begann in seiner nassen Kleidung zu frieren.
Als er die leere Tasse auf den Tisch stellte, sagte er:
„Nun, ich muss gehen. Zu Hause werden sie denken, ich sei verlorengegangen."
Das Kätzchen hatte das Brot und die Milch aufgefressen und wusch sich mit einer seiner Vorderpfoten geschäftig das Gesicht, zur großen Bewunderung der beiden Kinder, die neben ihm auf dem Boden saßen. Es war ein schlau aussehendes Kätzchen, ganz schwarz, mit sehr großem Kopf und sehr kleinem Körper. Es erinnerte Owen an eine Kaulquappe.
„Habt ihr Katzen gern?" fragte er die Kinder.
„Ja", sagte der Junge. „Geben Sie sie uns, ja, Onkel?"
„Oh, lassen Sie sie hier, Onkel!" rief das kleine Mädchen aus. „Ich sorge für sie."
„Ich auch", sagte der Junge.
„Habt ihr denn nicht schon selbst eine?" fragte Owen.
„Ja, wir haben 'ne große."
„Na, wenn ihr schon eine habt und ich euch diese hier gebe, habt ihr zwei Katzen, und ich hab gar keine. Das wäre doch ungerecht, nicht?"
„Sie können ja unsere Katze 'ne Weile geliehen bekommen, wenn Sie uns das Kätzchen geben", meinte der Junge, nachdem er einen Augenblick lang nachgedacht hatte.
„Weshalb möchtet ihr denn lieber das Kätzchen haben?"
„Weil es spielt; unsere Katze will nicht spielen, sie ist zu alt."
„Vielleicht seid ihr zu grob mit ihr", erwiderte Owen.
„Nö, deshalb nicht. Es ist einfach bloß, weil sie zu alt ist."
„Wissen Sie, mit den Katzen ist's genauso wie mit den Menschen", erklärte das kleine Mädchen altklug. „Wenn sie erwachsen sind, haben sie wohl ihren Kopf voll Sorgen."
Owen fragte sich, wie lange es wohl noch dauern werde, bis für das Kind die Sorgen begännen. Als er diese beiden kleinen Waisen anblickte, dachte er an seinen eigenen Jungen und an den rauen, dornigen Pfad, den sie alle drei gehen mussten, falls sie das Unglück hatten, ihre Kindheit zu überleben.
„Können wir's haben?" wiederholte der Junge.
Owen hätte den Kindern gern den Wunsch erfüllt, aber er selbst wollte das Kätzchen haben. Deshalb war er erleichtert, als die Großmutter ausrief:
„Wir wollen nicht noch eine Katze hier; wir haben schon eine, das langt!"
Sie war im stillen noch nicht sicher, ob das Geschöpf' nicht doch eine Inkarnation des Teufels sei - aber mochte dem so sein oder nicht, sie wollte es nicht im Hause haben noch sonst etwas von Owen. Sie wünschte, er ginge und nähme sein Kätzchen, seinen Kobold, oder was immer es' war, mit sich. Nichts Gutes konnte aus seiner Anwesenheit kommen. Stand nicht in der Heiligen Schrift geschrieben: „So jemand den Herrn Jesus Christus nicht lieb hat, der sei anathema. Maran atha!" Sie wusste nicht genau, was anathema, maran atha bedeutete; aber es konnte keinen Zweifel darüber geben, dass es etwas sehr Unangenehmes war. furchtbar, dass dieser Lästerer, der - wie sie gehört hatte -nicht daran glaubte, dass es eine Hölle gab, und der sagte, die Bibel sei nicht das Wort Gottes, hier im Hause auf einem ihrer Stühle saß, aus einer ihrer Tassen trank und zu ihren Kindern sprach.
Die Kinder standen verlangend neben ihm, während er das Kätzchen unter seine Jacke steckte und sich erhob, um zu gehen.
Als Linden sich bereit machte, ihn an die Haustür zu begleiten, bemerkte Owen zufällig eine Uhr, die auf einem kleinen Tisch in der Nische an einer Seite des Kamins stand, und rief aus:
„Das ist eine schöne Uhr!"
„Ja, sieht gut aus, was?" sagte der alte Jack mit leisem Stolz. „Die hat unser armer Tom gemacht - nicht die Uhr selbst, nur das Gehäuse."
Eben das Gehäuse hatte Owens Aufmerksamkeit erregt. Es war etwa sechzig Zentimeter hoch und in der Form einer indischen Moschee geschnitzt, mit einer spitzen Kuppel und Türmchen. Dieses sehr schöne Werk musste sehr viele Stunden geduldiger Arbeit gekostet haben.
„Ja", sagte die alte Frau mit zittriger, gebrochener Stimme und blickte Owen mit tragischem Ausdruck an „Viele Monate lang arbeitete er dran, und niemand hat je erraten, für wen es war. Und dann, als mein Geburtstag herankam, war das erste, was ich sah, als ich morgens aufwachte, die Uhr, die auf einem Stuhl neben meinem Bett stand, und daneben eine Karte:
,Der guten Mutter, von ihrem sie liebenden Sohn Tom. Herzliche Glückwünsche zum Geburtstag.'
Aber er selbst hat keinen Geburtstag mehr erlebt, denn genau fünf Monate später ist er nach Afrika geschickt worden, und nachdem er erst fünf Wochen dort war, ist er gestorben. Nächsten Monat am Fünfzehnten werden's fünf Jahre."
Owen, der im stillen bedauerte, unbeabsichtigt ein so schmerzliches Thema berührt zu haben, suchte nach einer passenden Antwort, musste sich aber damit begnügen, einige Worte der Bewunderung für die Arbeit zu murmeln.
Als er ihr „Guten Abend" wünschte, konnte die alte Frau, während sie ihn ansah, nicht umhin zu bemerken, dass er sehr gebrechlich und krank aussah - sein Gesicht war sehr hager und blass, und seine Augen hatten einen unnatürlichen Glanz.
Möglicherweise züchtigte der Herr in seiner unendlichen Liebe und Barmherzigkeit diesen unglücklichen Gestrandeten, um ihn zu sich zu führen. Schließlich war dieser Mensch nicht gänzlich schlecht: er war gewiss sehr hilfsbereit, wenn er sich den ganzen weiten Weg machte, um Jack von der Arbeit in Kenntnis zu setzen. Sie bemerkte, dass er keinen Mantel hatte, und draußen raste noch immer wild der Sturm; häufig trafen heftige Windstöße das Haus und erschütterten es bis in die Grundmauern.
Die natürliche Güte des Charakters der alten Frau setzte sich durch; ihre besseren Gefühle waren geweckt worden und triumphierten für den Augenblick über die Bigotterie ihrer religiösen Überzeugungen.
„Was! Sie haben ja keinen Mantel!" rief sie aus. „Sie werden ja völlig durchweichen, wenn Sie in diesem Regen nach Haus gehen!" Dann fuhr sie fort, zu ihrem Mann gewandt: „Da ist doch noch dein alter, den kannste ihm leihen, der ist noch besser als gar keiner!"
Aber Owen wollte davon nichts wissen; er dachte, als ihm das feuchtkalte Gefühl, das seine durchnässten Sachen hervorriefen, zum Bewusstsein kam, er könne nicht mehr viel nasser werden, als er bereits war. Linden begleitete ihn bis zur Haustür, und durch den Sturm, der wie ein beutelüsternes wildes Tier heulte, machte sich Owen wieder auf den Heimweg.

 

6. Kapitel Es ist nicht mein Verbrechen

Owen und seine Familie bewohnten das oberste Stockwerk eines Hauses, welches ein großes Einfamilienhaus gewesen war, das man dann aber in eine Anzahl von Mietswohnungen unterteilt hatte. Es lag in der Lord Street, fast im Zentrum der Stadt.
Einst war diese Gegend eine sehr aristokratische gewesen, doch die meisten der früheren Bewohner waren in die neueren Vorstädte im Westen der Stadt übergesiedelt. Dessen ungeachtet war die Lord Street noch immer eine sehr angesehene Gegend, deren Einwohner im allgemeinen zur Gattung der „besseren Leute" zählten: Warenhausabteilungsleiter, Verkäufer, Barbiergehilfen, Pensionsinhaber, ein Kohlenhändler und sogar zwei im Ruhestand lebende Schwindelbau-Unternehmer wohnten hier.
In dem Haus, in dem Owen lebte, befanden sich außer der seinen noch vier weitere Wohnungen. Nr. 1, das Kellergeschoß, hatte ein Angestellter eines Maklerbüros inne. Nr. 2, im Erdgeschoß, war die Behausung des Mr. Trefaim, eines leichenblass aussehenden Herrn, der einen Zylinder trug, sich seiner französischen Abstammung rühmte und Abteilungsleiter in Sweaters Warenhaus war. Nr. 3 hatte ein Versicherungsagent gemietet, und in Nr. 4 wohnte ein Handelsvertreter für Abzahlungsgeschäfte.
Die Lord Street - wie die meisten derartigen Wohngegenden - gab jenen Vertretern nichtiger Theorien, die da von der Gleichheit der Menschen faseln, eine schlagende Antwort, denn die Bewohner schlossen sich instinktiv zu Gruppen zusammen. Die „besseren Leute" strebten zueinander, sonderten sich von den niedrigeren ab und bildeten auf natürliche Weise die Oberschicht, während die übrigen sich zu bestimmten, nach unten abgestuften Schichten zusammenfanden oder sich gänzlich isolierten, da ihnen zu den Kreisen, denen sie sich anzuschließen wünschten, der Zutritt versagt wurde und sie es ihrerseits ablehnten, mit Geringeren, als sie selbst waren, Umgang zu pflegen.
Die exklusivste Gesellschaft bestand aus der Familie des Kohlenhändlers, den Familien der beiden Bauunternehmer im Ruhestand sowie der des Mr. Trefaim, dessen Überlegenheit sich auch darin äußerte - ganz abgesehen von seiner französischen Abstammung -, dass er außer dem bereits erwähnten Zylinderhut täglich einen Gehrock und eine lavendelfarbene Hose trug. Der Kohlenhändler und die Baumeister trugen ebenfalls Zylinder, lavendelfarbene
Hose und Gehrock, aber nur sonntags und zu besonderen Gelegenheiten. Der Maklergehilfe und der Versicherungsagent gehörten, obwohl sie aus dem oberen Kreis ausgeschlossen waren, einer anderen auserwählten Clique an, aus der sie ihrerseits alle Personen niedrigeren Ranges, wie Ladengehilfen oder Barbiere, ausschlossen.
Der einzige Mensch, der von allen Kreisen mit der gleichen Herzlichkeit empfangen wurde, war der Handelsreisende. Welche Meinungsverschiedenheiten sie aber auch in Bezug auf die gesellschaftliche Stellung hatten, die einer dem anderen gegenüber einnahm - in einem Punkt zumindest herrschte Einmütigkeit unter ihnen: sie waren empört über Owens Anmaßung, in solch eine feine Wohngegend zu ziehen.
Dieser gewöhnliche Kerl, dieser einfache Arbeiter, mit seiner farbbeklecksten Kleidung, seinen rissigen Stiefeln und seiner ganzen schäbigen Erscheinung war eine Schande für die Straße; und was seine Frau betraf, so war sie nicht viel besser; denn obwohl sie stets, wenn sie herauskam, 1 sauber angezogen war, wussten doch die meisten Nachbarn, dass sie die ganze Zeit über, die sie hier war, denselben weißen Strohhut getragen hatte Der einzig Annehmbare der Familie war tatsächlich der Junge, und sie mussten zugeben, er war immer sehr gut angezogen - so gut, dass es einige Verwunderung erregte, bis sie herausfanden, dass alle seine Sachen zu Hause geschneidert wurden. Nun ging ihr Erstaunen in eine etwas widerwillige Bewunderung für die Geschicklichkeit der Mutter über, gemischt mit Verachtung wegen der Armut, welche die Frau zwang, diese Geschicklichkeit anzuwenden.
Die Empörung der Nachbarn steigerte sich noch, als bekannt wurde, dass Owen und seine Frau keine Christen waren; da stimmten wirklich alle miteinander überein, der Hauswirt müsse sich schämen, das oberste Stockwerk an solche Leute zu vermieten.
Aber obwohl Unbarmherzigkeit die Herzen dieser Schüler des demütigen und bescheidenen jüdischen Zimmermanns erfüllte, hatten diese nicht die Macht, viel zu schaden. Dem Hauswirt war ihre Meinung gleichgültig. Alles, worauf es ihm ankam, war das Geld; obwohl er selbst ein
aufrichtiger Christ war, hätte er nicht gezögert, die Wohnung im Obergeschoß sogar an Satan zu vermieten - vorausgesetzt, dass er, der Wirt, sicher war, regelmäßig seine Miete zu erhalten.
Der einzige, dem die Christen Leid zufügen konnten, war das Kind. Zuerst weigerten sich die anderen Kinder auf Weisung ihrer Eltern, sich mit ihm abzugeben, wenn es zum Spielen auf die Straße kam, oder sie hänselten es mit der Armut seiner Eltern. Gelegentlich kehrte der Junge zu Tode betrübt und in Tränen aufgelöst nach Hause zurück, weil er von einem Spiel ausgeschlossen worden war.
In der ersten Zeit kamen manchmal die Mütter einiger der Kinder aus den „besseren Familien" mit einer komischen Anmaßung von Überlegenheit und Würde auf die Straße heraus und zwangen ihre Kinder, nicht weiter mit Frankie oder einigen anderen ärmlich gekleideten Kleinen zu spielen, die sich in ihrer Straße zu tummeln pflegten. Diese Frauen waren gewöhnlich sehr auffallend gekleidet und trugen viel Schmuck. Die meisten von ihnen bildeten sich ein, sie seien feine Damen, und hätten sie nur genügend Verstand gehabt, den Mund zu halten, so wären andere Leute möglicherweise derselben Täuschung erlegen.
Jetzt kam eine solche Einmischung aber nur noch selten vor, denn die Eltern der übrigen Kinder mussten feststellen, lass es ziemlich schwer war, ihre Sprösslinge am Spiel mit denen geringeren Standes zu hindern, denn wenn die Kinder sich selbst überlassen waren, ließen sie alle derartigen Unterscheidungen außer acht. Häufig war in dieser Straße das erschreckende Schauspiel zu sehen, wie der zehnjährige Sohn des feinen und eleganten Mr. Trefaim einen aus einer Zuckerkiste und einen paar alten, reifenlosen Kinderwagenrädern gebauten Wagen zog, in dem, mit einer Peitsche bewaffnet, der plebejische Frankie Owen und die schlampige Tochter des Barbiergehilfen ruhten - während der neunjährige Erbe des Kohlenhändlers hinterdreinlief. [[Seine Frau und sein kleiner Sohn erwarteten Owen im Wohnzimmer.]] Es war etwa dreizehn Quadratmeter groß, und die niedrige, unregelmäßige Decke, an einigen Stellen gieblig wie das Dach, war von Owen mit Ornamenten bemalt worden.
Im Zimmer standen drei oder vier Stühle und ein rechteckiger, jetzt mit einem weißen Tuch gedeckter Tisch, der zum Essen gerichtet war. In der Nische zur Rechten des Kamins - einer gewöhnlichen offenen Feuerstelle - waren einige Bücherbretter angebracht, die eine Sammlung verschiedenartiger Bände enthielten, der größte Teil davon antiquarisch gekauft. Es gab auch eine Anzahl neuer Bücher darunter, zumeist billige Ausgaben in Pappeinbänden.
Über einer Stuhllehne zur Rechten des Feuers hing ein alter Anzug Owens und etwas Unterwäsche, die seine Frau zum Lüften dorthin gehängt hatte, denn sie wusste, dass er durchnässt nach Hause kommen werde...
Die Frau lehnte halb sitzend, halb liegend auf einer Couch an der anderen Seite des Feuers. Sie war sehr mager, und ihr blasses Gesicht trug die Spuren vielen körperlichen und seelischen Leidens. Sie nähte - eine Aufgabe, die ihre zurückgelehnte Haltung etwas schwierig machte. Sie war erst achtundzwanzig Jahre alt, schien aber älter.
Der Junge, der auf dem Kaminvorleger saß und sich mit einigen Spielsachen vergnügte, war seiner Mutter sehr ähnlich. Auch er schien sehr zart, und in seinem kindlichen Gesicht lag viel von der feinen Anmut, die sie einst besessen hatte. Sein mädchenhaftes Aussehen wurde dadurch verstärkt, dass ihm das gelbe Haar in langen Locken auf die Schultern hing. Der Stolz, mit dem seine Mutter dieses lange Haar betrachtete, wurde von Frankie selbst in keiner Weise geteilt; er flehte sie ständig an, es abzuschneiden.
Nun stand der Junge auf, ging mit ernster Miene zum Fenster, sah auf die Straße hinab und suchte mit den Blicken den Bürgersteig ab, so weit er nur sehen konnte; das hatte er während der letzten Stunde immer von neuem getan.
„Ich möcht wissen, wo er hingeraten ist", sagte er, als er zum Feuer zurückkehrte.
„Das weiß ich wirklich nicht", antwortete die Mutter. „Vielleicht hat er Überstunden machen müssen."
„Weißt du", bemerkte Frankie, „ich hab mir in der letzten Zeit überlegt: es ist ein großer Fehler, dass Vati überhaupt arbeiten geht. Ich glaube, grad das ist der Grund, weshalb wir so arm sind."
„Fast jeder, der arbeitet, ist mehr oder weniger arm, Schatz, aber wenn Vati nicht arbeiten ginge, wären wir noch ärmer, als wir es schon jetzt sind. Dann hätten wir ja nichts zu essen!"
„Aber Vati sagt, die Leute, die nicht arbeiten, kriegen sehr viel von allen Dingen."
„Freilich, und es stimmt auch, dass die meisten Menschen, die niemals irgendeine Arbeit leisten, sehr viel von allen Dingen erhalten, aber woher erhalten sie es? Und wie erhalten sie es?"
„Das weiß ich wirklich nicht", erwiderte Frankie und schüttelte verwirrt den Kopf.
„Nehmen wir an, Vati geht nicht arbeiten oder er hat keine Arbeitsstelle, zu der er gehen kann, oder er ist krank und kann nicht arbeiten, dann haben wir doch kein Geld, um irgend etwas zu kaufen. Wie sollte es dann bei uns weitergehen?"
„Das weiß ich wirklich nicht", wiederholte Frankie und sah sich im Zimmer um. „Die Stühle, die wir noch haben, sind nicht gut genug zum Verkaufen, und die Betten können wir nicht verkaufen und dein Sofa auch nicht; aber du könntest meinen Samtanzug versetzen."
„Selbst wenn alle Sachen gut genug wären, um sie zu verkaufen, reichte das Geld, das wir dafür erhielten, nicht sehr weit, und was sollten wir dann tun?"
„Nun, ich nehme an, dann würden wir uns eben ohne behelfen müssen, so wie wir's gemacht haben, als Vati in London war. Wie machen's aber dann die Leute, die nie arbeiten, dass sie eine Menge Geld bekommen?" setzte Frankie hinzu.
„Oh, da gibt es viele verschiedene Wege. Zum Beispiel, du erinnerst dich doch, als Vati in London war und wir kein Essen im Haus hatten, musste ich den Lehnsessel verkaufen."
Frankie nickte. „Jawohl", sagte er, „ich weiß noch, dass du einen Zettel geschrieben hast, und ich hab ihn zum Laden gebracht, und nachher ist der alte Didlum zu uns raufgekommen und hat den Lehnstuhl gekauft, und dann ist sein Wagen gekommen, und ein Mann hat den Sessel fortgetragen."
„Und erinnerst du dich noch, wie viel er uns dafür gegeben hat?"
„Fünf Schilling", erwiderte Frankie prompt. Ihm waren, die Einzelheiten des Geschäfts wohlbekannt, denn er hatte oft gehört, wie sein Vater und seine Mutter darüber sprachen.
„Und als wir ihn ein Weilchen später im Schaufenster sahen, stand welcher Preis daran?"
„Fünfzehn Schilling."
„Nun, das ist eine Art, wie man Geld bekommen kann, ohne zu arbeiten."
Frankie spielte einige Minuten lang schweigend mit seinem Spielzeug. Endlich sagte er:
„Wie noch?"
„Einige Leute, die schon Geld haben, erwerben noch mehr auf folgende Weise: Sie suchen sich Leute, die kein Geld haben, und sagen zu ihnen: ,Kommt und arbeitet für uns.' Dann zahlen die Leute, die das Geld haben, den Arbeitern nur gerade genügend Lohn, um sie am Leben zu erhalten, während sie arbeiten. Dann, wenn die Sachen, welche die arbeitenden Menschen hergestellt haben, fertig sind, werden die Arbeiter fortgeschickt, und da sie noch immer kein Geld haben, sind sie bald am Verhungern. Inzwischen nehmen die Leute, die das Geld hatten, alle Sachen, welche die Arbeiter gemacht haben, und verkaufen sie für ein gut Teil mehr Geld, als sie den Arbeitern für das Herstellen gegeben haben. Das ist noch eine Art, eine Menge Geld zu erhalten, ohne nützliche Arbeit zu leisten."
„Aber gibt es denn keinen Weg, reich zu werden, ohne solche Sachen zu machen?"
„Es ist für keinen möglich, reich zu werden, ohne ander Menschen zu betrügen."
„Und unser Lehrer? Er arbeitet nicht."
„Meinst du nicht, dass es eine nützliche, notwendige und auch sehr schwere Arbeit ist, die Jungen jeden Tag zu unterrichten? Ich möchte es nicht tun."
„Ja, ich denke schon, was er macht, ist wohl einigermaßen nützlich", sagte Frankie nachdenklich, „und es stimmt, muss auch ziemlich schwer sein. Ich hab schon bemerkt, manchmal sieht er recht sorgenvoll aus, und manchmal
gerät er schön aus dem Häuschen, wenn die Jungen nicht richtig aufpassen."
Das Kind ging wieder zum Fenster hinüber, schob den Rand des Rollos zur Seite und blickte auf die menschenleere, regennasse Straße hinab.
Und der Pfarrer?" bemerkte der Junge, als er zurückkehrte.
Zwar ging Frankie nicht zur Kirche oder zur Sonntagsschule, aber die Schule, die er besuchte, gehörte zur Gemeindekirche, und der Pfarrer hatte die Gewohnheit, gelegentlich einen Blick hineinzuwerfen.
„Ach, der ist wirklich einer von denen, die leben, ohne eine notwendige Arbeit zu leisten; und von allen Leuten, die nichts tun, ist der Pfarrer einer der allerschlimmsten."
Frankie sah etwas überrascht zu seiner Mutter auf -nicht, weil er soviel von Geistlichen im allgemeinen hielt, denn als aufmerksamer Zuhörer bei vielen Gesprächen seiner Eltern hatte er sich natürlich, soweit sein kindlicher Verstand das erlaubte, ihre Ansichten zu eigen gemacht, sondern weil die Schüler in der Schule gelehrt wurden, den erwähnten Herrn mit höchster Ehrerbietung und Achtung zu betrachten.
„Warum, Mutti?" fragte er.
„Aus folgendem Grunde, mein Herz. Du weißt doch, dass all die schönen Dinge, welche die Leute haben, die nichts tun, von den Menschen gemacht werden, die arbeiten, nicht?"
„Ja."
„Und du weißt doch, dass diejenigen, die arbeiten, die schlechteste Nahrung essen, die schlechteste Kleidung tragen und in den schlechtesten Wohnungen leben müssen."
„Ja", sagte Frankie.
„Und manchmal haben sie überhaupt nichts zu essen und außer Lumpen keine Kleidung anzuziehen, und sogar nicht mal eine Wohnung, in der sie leben können."
„Ja", wiederholte das Kind.
„Nun, der Pfarrer geht umher und erzählt den Faulenzern, es sei ganz richtig, dass sie nichts tun, und Gott habe es gewollt, dass sie fast alles besitzen, was von den arbeitenden Menschen hergestellt worden ist. Er erzählt ihnen tatsächlich, Gott habe die Armen zum Nutzen der Reichen geschaffen. Dann geht er zu den Arbeitern und sagt ihnen, Gott wünsche, dass sie sehr hart arbeiten und alle guten! Dinge, die sie herstellen, denen geben, die nichts tun, und sie müssten Gott und den Faulenzern sehr dankbar sein, dass ihnen überhaupt gestattet wird, auch nur die schlechteste Nahrung zum Essen und die Lumpen und zerrissenen Schuhe zum Anziehen zu haben. Er sagt ihnen auch, sie dürften nicht murren oder unzufrieden sein, weil sie in dieser Welt arm sind, sondern sie müssten warten, bis sie tot sind, und dann werde Gott sie damit belohnen, dass er sie an einen Ort gehen ließe, der Himmel genannt wird."
Frankie lachte.
„Und was wird aus den Faulenzern?" fragte er.
„Der Pfarrer sagt, wenn sie alles glauben, was er ihnen erzählt, und ihm etwas von dem Geld abgeben, das sie aus den Arbeitern herausholen, wird Gott auch sie in den Himmel lassen."
„Das ist doch nicht gerecht, nicht wahr, Mutti?" sagte Frankie mit einiger Empörung.
„Das wäre nicht gerecht, wenn es wahr wäre; aber siehst du, es ist nicht wahr, es kann nicht wahr sein."
„Warum kann es nicht wahr sein, Mutti?"
„Oh, aus vielen Gründen: Zuerst einmal, der Pfarrer glaubt es selbst nicht, er tut nur so. Zum Beispiel tut er, als glaube er an die Bibel; aber wenn wir sie lesen, finden wir darin, dass Jesus gesagt hat, Gott ist unser Vater, und alle Menschen auf der Welt sind seine Kinder - alle sind Brüder und Schwestern. Aber der Pfarrer meint, obgleich Jesu: gesagt hat ,Brüder und Schwestern', hätte er eigentlich sagen müssen ,Herren und Knechte'. Und Jesus hat gesagt seine Schüler sollen nicht an den morgigen Tag denken und eine Menge Geld für sich selbst zusammensparen, sondern sie sollen selbstlos sein und denen helfen, die in Not sind. Jesus hat gesagt, seine Jünger sollen überhaupt nicht an ihre eigenen zukünftigen Bedürfnisse denken, weil Gott für sie sorgen werde, wenn sie tun, was Er befiehlt. Aber der Pfarrer sagt, das sei alles Unsinn.
Jesus hat auch gesagt, wenn irgend jemand versucht, seinen Jüngern etwas Böses anzutun, so dürfen sie niemals Widerstand leisten, sondern müssen denen, die ihnen weh getan haben, vergeben und zu Gott beten, damit auch er ihnen vergebe. Aber der Pfarrer sagt, das sei ebenfalls alles Unsinn. Er sagt, die Welt könne niemals weiter bestehen, wenn wir tun, was Jesus gelehrt hat. Der Pfarrer lehrt, der richtige Weg, mit denen, die uns Böses tun, zu verfahren, sei, sie ins Gefängnis sperren zu lassen oder - wenn sie zu einem anderen Land gehören - Gewehre und Dolche zu nehmen, diese Menschen zu ermorden und ihre Häuser niederzubrennen. Du siehst also, der Pfarrer glaubt in Wirklichkeit keins von den Dingen, die Jesus gesagt hat, und handelt auch nicht danach - er tut nur so."
„Aber warum tut er denn so und läuft rum und erzählt solche Sachen, Mutti, wozu macht er denn das?"
„Weil er selbst gern leben möchte, ohne zu arbeiten, mein Herz."
„Und wissen die Leute denn nicht, dass er nur so tut?"
„Manche ja. Die meisten Faulenzer wissen, dass das, was der Pfarrer sagt, nicht wahr ist, aber sie tun so, als glaubten sie es, und geben ihm Geld dafür, dass er es sagt, weil sie gerne wollen, dass er es weiter den Arbeitern erzählt, damit sie fortfahren zu arbeiten und damit sie ruhig sind und Angst haben, selbst zu denken."
„Und die Arbeiter? Glauben sie's?"
„Die meisten, ja, denn als sie kleine Kinder waren, wie du eins bist, brachte ihnen die Mutter bei, ohne nachzudenken alles zu glauben, was der Pfarrer sagt, und sie lehrte sie, Gott habe sie zum Nutzen der Faulenzer geschaffen. Als sie zur Schule gingen, brachte man ihnen dort das gleiche bei, und jetzt, wo sie erwachsen sind, glauben sie es wirklich; sie gehen arbeiten, geben fast alles, was sie herstellen, den Faulenzern und behalten fast nichts für sich selbst und ihre Kinder übrig. Das ist der Grund, weshalb die Arbeiterkinder sehr schlechte Kleidung und manchmal nichts zu essen haben, und daher kommt es, dass die Faulenzer und ihre Kinder mehr Kleidung und mehr Nahrung haben, als sie brauchen. Manche von ihnen haben so viel anzuziehen, dass sie es nicht tragen, und so viel zu essen, dass sie es gar nicht verzehren können. Sie verschwenden es einfach oder werfen es fort."
„Wenn ich mal erwachsen und ein Mann bin", sagte Frankie mit heißem Gesicht, „bin ich einer von den Arbeitern, und wenn wir 'ne Menge gemacht haben, stehe ich; auf und sage den anderen, was sie machen sollen. Wenn dann einer von den Faulenzern kommt und uns unsre Sachen wegnehmen will, dann kriegt er aber was, das sich gewaschen hat!"
Mit unterdrückter Erregung und sich kaum dessen, was er tat, bewusst, begann der Junge, das Spielzeug aufzusammeln und ein Stück nach dem anderen heftig in die Kiste zu schleudern.
„Ich werd's ihnen schon beibringen, unsre Sachen klauen zu kommen", rief er aus und fiel für den Augenblick in seinen Straßenjargon.
„Erst stehn wir alle ganz still auf einer Seite. Wenn dann die Faulenzer reinkommen und anfangen, unsre Sachen anzufassen, gehn wir auf sie los und sagen: ,He, was machen Sie da? Legen Sie das mal hin, aber dalli!' Und wenn sie's nicht sofort hinlegen, dann haben sie nichts zu lachen, das kann ich dir sagen!"
Nachdem Frankie alle Spielsachen eingesammelt hatte, nahm er die Kiste auf und stellte sie geräuschvoll in ihre gewohnte Zimmerecke.
„Ich denke, die Arbeiter werden sich mächtig freuen, wenn sie mich kommen sehen, um ihnen zu sagen, was sie machen sollen, was, Mutti?"
„Ich weiß nicht, Schatz, siehst du, es haben schon so viele Leute versucht, ihnen das zu sagen, aber sie hören nicht zu, sie wollen es nicht hören. Sie denken, es ist ganz richtig dass sie ihr ganzes Leben lang schwer arbeiten, und auch richtig, dass ihnen die meisten der Dinge, die sie herstellen helfen, von den Leuten fortgenommen werden, die nicht tun. Die Arbeiter glauben, ihre Kinder seien nicht so gut wie die der Faulenzer, und sie lehren ihre Kinder, sobald sie alt genug seien, müssten sie sich damit zufriedengeben, sehr schwer zu arbeiten und nur sehr schlechtes Essen, schlechte Kleidung und schlechte Wohnungen zu haben."
„Dann sollten sich die Arbeiter aber mächtig schämen, denke ich, Mutti, du nicht?"
„Nun, in gewissem Sinne sollten sie das, aber du darfst;
nicht vergessen, dass man sie diese Ansichten ja immer gelehrt hat. Zuerst haben es ihnen ihre Mütter und Väter «sagt; dann haben es ihnen ihre Lehrer gesagt, und dann hat ihnen, wenn sie in die Kirche gingen, der Pfarrer und der Sonntagsschullehrer das gleiche gesagt. Deshalb musst du dich nicht wundern, dass sie jetzt wirklich glauben, Gott habe sie und ihre Kinder geschaffen, um Dinge für die Leute zu machen, die nichts tun."
„Aber man denkt doch, ihr eigener Verstand müsste es ihnen sagen! Wie kann es denn recht sein, dass die Leute, die nichts tun, das Beste und das meiste von den Dingen haben, die gemacht werden, und grad die, die alles machen, haben kaum was. Das weiß ja sogar schon ich, und ich bin doch erst sechseinhalb Jahre alt!"
„Aber du bist ja anders, mein Herz - du bist gelehrt worden, darüber nachzudenken, und Vati und ich haben es dir oft erklärt."
„Ja, ich weiß", erwiderte Frankie zuversichtlich. „Aber auch, wenn ihr es mich nicht gelehrt hättet, wäre ich bestimmt von selbst drauf gekommen; ich bin nicht so 'n Dummkopf, wie du meinst."
„Vielleicht würdest du darauf kommen, aber gewiss nicht, wenn du so erzogen wärst wie die meisten Arbeiter. Man hat sie gelehrt, es sei sehr verworfen, nachzudenken und nach eigenem Gutdünken zu urteilen. Und ihren Kindern bringt man jetzt das gleiche bei. Weißt du noch, was du mir neulich, als du aus der Schule nach Hause kamst, von der Bibelstunde erzählt hast?"
„Über den heiligen Thomas?"
„Ja. Wie nannte die Lehrerin den heiligen Thomas?"
„Sie sagte, er wär ein schlechtes Beispiel, und sie sagte, ich wär noch schlimmer als er, weil ich so viele törichte Fragen stellte. Sie gerät immer aus dem Häuschen, wenn ich zuviel sage."
„Warum hat sie denn den heiligen Thomas ein schlechtes Beispiel genannt?"
„Weil er nicht glauben wollte, was man ihm sagte."
„Eben - nun, und was hat Vati geantwortet, als du es ihm erzähltest?"
„Vati hat mir erklärt, der heilige Thomas sei in Wirklichkeit der einzig vernünftige Mann von den ganzen Aposteln gewesen. Das heißt", verbesserte sich Frankie, „wenn es überhaupt jemals so einen Mann gegeben hat."
„Hat Vati denn gesagt, es habe niemals solch einen Mann gegeben?"
„Nein, er hat gesagt, er glaubt nicht, dass es den heiligen Thomas je gegeben hat, aber ich soll einfach nur zuhören, was die Lehrerin über solche Dinge erzählt, und dann selbst darüber nachdenken und warten, bis ich groß bin, dann kann ich mir mein eigenes Urteil bilden."
„Nun, das ist's, was du gelehrt worden bist, aber die Mütter und Väter aller anderen Kinder sagen ihnen, sie sollen, ohne darüber nachzudenken, glauben, was auch immer die Lehrerin sagt. Deshalb ist es kein Wunder, wenn diese Kinder, sind sie einmal groß, nicht selbständig denken können, nicht?"
„Meinst du, dann wird es gar keinen Zweck haben, wenn ich ihnen sage, was sie mit den Faulenzern machen sollen?" fragte Frankie niedergeschlagen.
„Horch!" sagte die Mutter und hob den Finger.
„Vati!" rief Frankie, stürzte zur Tür und riss sie auf. Er lief den Flur entlang und öffnete die Wohnungstür, noch ehe Owen den letzten Treppenabsatz erreicht hatte.
„Weshalb kommst du denn nur in diesem Tempo herauf", rief Owens Frau vorwurfsvoll aus, als er vom Treppensteigen erschöpft ins Zimmer trat und schwer atmend in den nächsten Stuhl sank.
„Ich - vergesse - das - immer", erwiderte Owen, als er sich etwas erholt hatte. Wie er dort im Stuhl lehnte, mit hagerem und erschreckend bleichem Gesicht, während ihm das Wasser von der durchnässten Kleidung tropfte, bot er einen furchtbaren Anblick.
Mit kindlichem Schrecken bemerkte Frankie, wie seine Mutter den Vater mit höchster Beunruhigung ansah.
„Immer tust du's", sagte er klagend. „Wie oft muss Mutti es dir noch sagen, bis du dich darum kümmerst?"
„Schon recht, alter Bursche", sagte Owen, zog das Kind an sich und küsste seinen Lockenkopf. „Horch mal, und versuch, ob du raten kannst, was ich für dich unter meiner Jacke habe."
In der Stille war das Schnurren des Kätzchens deutlich zu hören.
„Ein Kätzchen!" rief der Junge und holte es aus seinem Versteck. „Ganz schwarz, und ich glaube, es ist halb ein Persianerkätzchen. Genau, was ich mir gewünscht hab!"
Während sich Frankie damit vergnügte, mit dem Kätzchen zu spielen, das noch eine Tasse Milch und Brot erhalten hatte, ging Owen ins Schlafzimmer, um trockene Kleidung anzuziehen, und nachdem er die von ihm abgelegten Sachen zusammen mit seinen Stiefeln zum Trocknen vor das Feuer getan hatte, erklärte er, während sie Tee tranken, den Grund seiner späten Heimkehr.
„Ich fürchte, er wird es nicht leicht haben, eine andere Arbeit zu finden", bemerkte er in Bezug auf Linden. „Selbst im Sommer wird ihn niemand nehmen wollen. Er ist zu alt."
„Das ist doch eine furchtbare Aussicht für die beiden Kinder", antwortete die Frau.
„Ja", erwiderte Owen bitter. „Die Kinder sind's, die am meisten darunter leiden werden. Was Linden und seine Frau betrifft - zwar kann man nicht umhin, Mitleid mit ihnen zu empfinden, aber gleichzeitig lässt sich doch nicht leugnen, dass sie es verdienen, zu leiden. Ihr ganzes Leben lang haben sie wie das Vieh geschuftet und in Armut gelebt. Obwohl sie mehr als ihr Teil Arbeit leisteten, haben sie niemals auch nur annähernd den ihnen zustehenden Anteil an den Dingen genossen, die sie mit produziert haben. Und doch haben sie ihr ganzes Leben lang das System, das sie ausgeraubt hat, unterstützt und verteidigt, jeden Vorschlag, es zu verändern, bekämpft und ihn obendrein lächerlich gemacht. Es ist falsch, Mitleid mit solchen Leuten zu haben; sie verdienen es, zu leiden."
Als Owen nach dem Tee zusah, wie seine Frau das Geschirr abräumte und die Sachen umordnete, die vor dem Feuer trockneten, bemerkte er zum ersten Mal, dass sie ungewöhnlich krank aussah.
„Du siehst heute Abend nicht gut aus, Nora", sagte er zu ihr und legte den Arm um sie.
»Ich fühl mich nicht wohl", erwiderte sie und lehnte den Kopf müde an seine Schulter. „Es ist mir während des
ganzen Tages sehr schlecht gegangen, und ich musste mich fast den ganzen Nachmittag über hinlegen. Ich weiß nicht wie ich es geschafft hätte, den Tee zu machen, wenn Frankie nicht wäre."
„Ich hab dir den Tisch gedeckt, nicht, Mutti?" sagte Frankie stolz, „und das Zimmer hab ich auch aufgeräumt."
„Ja, mein Herz, du hast mir sehr geholfen", antwortete sie, und Frankie kam zu ihr und küsste ihr die Hand.
„Nun, leg dich lieber sofort hin", sagte Owen. „Ich kann Frankie dann zu Bett bringen und alles Nötige erledigen."
„Aber es ist noch so viel zu tun. Ich möchte dafür sorgen, dass deine Sachen richtig trocknen, und dir etwas zu essen machen für morgen früh, eh du fortgehst, und dann muss dein Frühstück eingepackt werden... "
„Das kann ich alles besorgen."
„Ich wollte mich nicht so gehen lassen", sagte die Frau. „Ich weiß ja, du musst selbst todmüde sein - aber ich fühle mich jetzt vollkommen erschöpft."
„Oh, bei mir ist alles in Ordnung", erwiderte Owen,« obwohl er sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnte. „Ich geh die Rollos herunterziehen und die andere Lampe anzünden; sag also Frankie gute Nacht und komme sofort."
„Ich sag jetzt noch nicht richtig gute Nacht, Mutti", bemerkte der Junge. „Vati kann mich zu dir ins Zimmer tragen, ehe er mich zu Bett bringt."
Als Owen ein wenig später Frankie auszog, fragte der Junge, während er zärtlich das Kätzchen betrachtete, das auf dem Kaminvorleger saß und jede Bewegung des Kindes in der Annahme beobachtete, sie gehöre zu einem Spiel:
„Welchen Namen, meinst du, sollen wir ihm geben, Vati?"
„Du kannst ihm irgendeinen Namen geben, der dir gefällt", sagte Owen zerstreut.
„Ich kenne einen Hund, der unten an der Straße wohnt", meinte der Junge. „Er heißt Major. Wie war denn das? Oder wir können es Sergeant nennen."
Das Kätzchen, das bemerkte, dass es der Gegenstand ihrer Unterhaltung war, schnurrte laut und blinzelte, als wolle es andeuten, es mache ihm nichts aus, welcher Rank ihm verliehen werde, vorausgesetzt, dass in der Fourageabteilung alles klappte.
,Aber ich weiß doch nicht", fuhr Frankie nachdenklich fort. „Als Hundenamen sind sie ja gut, aber ich glaube, für ein Kätzchen sind sie zu großspurig - meinst du nicht, Vati?"
„Ja, vielleicht", sagte Owen.
„Die meisten Katzen heißen Tom oder Kitty, aber ich will ihm keinen gewöhnlichen Namen geben."
„Nun, kannst du's nicht nach jemand nennen, den du kennst?"
„Ich weiß - ich nenne es nach einem kleinen Mädchen, das zu uns in die Schule geht; ein schöner Name: Maud! Das passt fein, nicht wahr, Vati?"
„Ja", meinte Owen.
„Hör mal, Vati", sagte Frankie, dem plötzlich die furchtbare Tatsache zum Bewusstsein kam, dass er zu Bett gebracht wurde, „du vergisst ja meine Geschichte ganz, und du hast mir doch versprochen, heute Abend Eisenbahn mit mir zu spielen!"
„Ich hab's nicht vergessen, aber ich hoffte, du hättest es vergessen, denn ich bin sehr müde, und 's ist sehr spät; deine Zeit, schlafen zu gehen, ist längst vorüber, weißt du. Du kannst heute Nacht das Kätzchen mit ins Bett nehmen, und morgen erzähl ich dir zwei Geschichten, und spielen werden wir auch. Morgen habe ich viel Zeit, weil Sonnabend ist."
„Na gut", sagte der Junge zufrieden gestellt, „und ich werd den Bahnhof bauen und werd die Schienen mit Kreide auf den Fußboden zeichnen und die Signale aufstellen, eh du nach Hause kommst, damit wir keine Zeit verlieren. Und auf eine Seite des Zimmers stell ich einen Stuhl und auf die andere Seite noch einen, und dann bind ich Schnur daran, als Telegrafendrähte. Das ist 'ne gute Idee, nicht, Vati?" Owen bestätigte das.
„Aber natürlich komm ich dir, genau wie sonst am Sonnabend, entgegen, weil ich dem Kätzchen von meinem Penny für 'nen halben Penny Milch kaufen werde."
Als das Kind im Bett war, saß Owen im zugigen Wohnzimmer allein am Tisch und grübelte. Obgleich das Feuer
hell brannte, war das Zimmer sehr kalt, da es so nahe unter dem Dach lag. Der Wind heulte laut um die Giebel und rüttelte das Haus so heftig, dass er es jeden Augenblick zu Boden zu reißen drohte. Die Lampe auf dem Tisch hatte einen grünen, halb mit Petroleum gefüllten Glasbehälter. Unbewusst fasziniert, beobachtete ihn Owen. Jedes Mal, wenn ein Windstoß das Haus erschütterte, geriet das Petroleum der Lampe in Bewegung und schlug, wie ein Miniatursee, kleine Wellen gegen das Glas. Während er geistesabwesend auf die Lampe starrte, dachte Owen an die Zukunft.
Noch vor wenigen Jahren schien ihm die Zukunft ein Land voller wunderbarer, geheimnisvoller Möglichkeiten zu sein; heute Abend aber hatte er bei dem Gedanken an sie keine solchen Illusionen, denn er wusste, die Geschichte der Zukunft werde der der Vergangenheit recht ähnlich sein.
Die Geschichte der Vergangenheit werde sich noch einige Jahre lang wiederholen. Er werde weiterarbeiten, und alle drei müssten sie auch weiterhin ohne die meisten lebensnotwendigen Dinge auskommen. Wenn es keine Arbeit gab, würden sie Hunger leiden.
Für sich selbst machte es ihm nicht viel aus, denn er wusste, im besten - oder schlimmsten - Falle handelte es sich nur um sehr wenige Jahre. Selbst wenn er richtige Nahrung und Kleidung hätte und sich einigermaßen pflegen könnte, hätte er nicht mehr lange zu leben; was aber wurde aus ihnen, wenn diese Zeit gekommen war?
Es gäbe wohl einige Hoffnung für den Jungen, wenn er robuster wäre und einen weniger sanften, einen selbstsüchtigeren Charakter hätte. Unter dem gegenwärtigen System war es unmöglich, dass jemand im Leben vorankam, ohne anderen Menschen zu schaden und sie so zu behandeln und auszunutzen, wie man nicht gern selbst behandelt und ausgenutzt werden will.
Um in der Welt voranzukommen, musste man brutal, selbstsüchtig und gefühllos sein; man musste andere beiseite stoßen und Vorteil aus ihrem Unglück ziehen, seine Konkurrenten mit redlichen oder unredlichen Mitteln unterbieten und vernichten, in jedem Fall zuerst an seinen
eigenen Vorteil denken und das Wohl anderer gänzlich außer acht lassen.
Das war der ideale Charakter. Owen wusste, dass Frankies Charakter dieses hehre Ideal nicht erreichte. Und dann Nora. Wie würde es ihr ergehen?
Owen erhob sich und begann, von einer Art panischer Angst bedrückt, im Zimmer umherzuwandern. Dann kehrte er zum Feuer zurück und begann, die dort trocknenden Sachen umzuordnen. Er entdeckte, dass die Stiefel, da sie zu nahe beim Feuer gestanden hatten, zu schnell getrocknet waren und die Sohle des einen infolgedessen begonnen hatte, sich vom Oberteil zu lösen. Er flickte das, so gut er konnte, und wendete dann die feuchteren Stellen des Anzugs dem Feuer zu. Dabei bemerkte er in seiner Rocktasche die Zeitung, die er vergessen hatte. Mit einem Ausruf der Befriedigung zog er sie heraus. Hier war doch etwas, was seine Gedanken ablenken konnte; wenn es auch nicht lehrreich oder tröstlich war, so war es doch zumindest interessant und sogar amüsant, die Berichte über das selbstzufriedene, nutzlose Gerede der tiefgründigen Staatsmänner zu lesen, die mit komischer Feierlichkeit dem Wirken des Großen Systems vorstanden, das sie in einmütiger Weisheit als das beste nur erdenkliche bezeichneten. Heute Abend las Owen jedoch nicht darüber, denn sobald er die Zeitung auseinandergefaltet hatte, wurde seine Aufmerksamkeit gefesselt von den schreienden Überschriften einer der Hauptspalten:

FURCHTBARE HÄUSLICHE TRAGÖDIE
Die Frau und zwei Kinder getötet
Selbstmord des Mörders

Es war eines der üblichen Verbrechen aus Armut. Der Mann war viele Wochen hindurch arbeitslos gewesen, und sie hatten vom Verkauf oder der Verpfändung ihrer Möbel und anderer Habseligkeiten gelebt. Aber selbst diese Einkommensquelle musste schließlich versiegt sein, und als die Nachbarn eines Tages bemerkten, dass die Rollvorhänge geschlossen blieben, dass ein merkwürdiges Schweigen über dem Hause lag und dass niemand hineinging oder herauskam, entstand schnell der Verdacht, irgend etwas sei nicht in Ordnung. Als die Polizei in das Haus drang, fand sie in einem der oberen Zimmer die Leichen der Frau und der beiden Kinder, die mit durchschnittener Kehle Seite an Seite auf dem mit ihrem Blut durchtränkten Bett lagen.
Das Zimmer enthielt keine Bettstelle und auch sonst keine Einrichtung, mit Ausnahme des Strohsacks und der zerlumpten Kleider und Decken, die auf dem Boden das Bett bildeten.
Die Leiche des Mannes fand man in der Küche, mit ausgestreckten Armen auf dem Boden liegend, das Gesicht der Erde zugekehrt und von Blut umgeben, das aus der Kehlwunde geströmt war; offensichtlich rührte sie von dem Rasiermesser her, das seine rechte Hand umklammert hielt.
Kein Krümchen Nahrung wurde im Haus gefunden, und an einem Nagel in der Küchenwand hing ein Stück blutbesudeltes Papier, auf dem mit Bleistift geschrieben stand:
„Dies ist nicht mein Verbrechen, sondern das der Gesellschaft."
Der Bericht erklärte noch, die Tat müsse in einem Anfall zeitweiligen Wahnsinns begangen worden sein, verursacht durch die Leiden, die der Mann durchgemacht hatte.
„Wahnsinn!" murmelte Owen, während er diese glatte, leicht eingehende Theorie las. „Wahnsinn! Mir scheint, er wäre wahnsinnig gewesen, hätte er sie nicht getötet!"
Sicher war es weiser, besser und gütiger, sie alle zum Einschlafen zu bringen, als sie weiter leiden zu lassen.
Gleichzeitig dachte er, es sei sehr merkwürdig, dass der Mann diesen Weg der Ausführung gewählt hatte, da es doch so viele saubere, leichtere und schmerzlosere Wege gab, um das gleiche Ziel zu erreichen. Er fragte sich, weshalb wohl die meisten dieser Taten auf die gleiche rohe, grausame und unschöne Art durchgeführt wurden. Nein, er ginge dabei auf ganz andere Weise ans Werk. Er würde Holzkohle besorgen, dann Papierstreifen über die Ritzen der Türen und Fenster des Zimmers kleben und die Schornsteinklappe schließen. Danach würde er die Holzkohle auf einem Blech oder etwas Ähnlichem in der Mitte des Zimmers anzünden, und dann würden sie sich alle drei
einfach zusammen niederlegen und einschlafen - und das wäre das Ende von allem. Dabei gäbe es keinen Schmerz, kein Blut und keinen Schmutz.
Oder man konnte Gift einnehmen. Die Beschaffung machte natürlich gewisse Schwierigkeiten, aber es wäre nicht unmöglich, einen Vorwand zu finden, um Laudanum zu kaufen - man konnte mehrere kleine Quantitäten in verschiedenen Läden holen, bis man genügend hatte. Dann erinnerte er sich, irgendwo gelesen zu haben, dass Zinnober, eine der Farben, die er häufig bei seiner Arbeit verwenden musste, eines der allertödlichsten Gifte sei, und dann gab es noch ein Zeug, das die Photographen benutzten und das man sich sehr leicht beschaffen konnte. Natürlich müsste man mit Gift sehr vorsichtig sein, um nicht eines zu wählen, das große Schmerzen verursachte. Man müsste genau herausfinden, wie das Zeug wirkte, ehe man es benutzte. Es könnte nicht schwer sein, das zu tun. Dann erinnerte er sich, dass es unter seinen Büchern eines gab, das vermutlich irgendeine Auskunft über dieses Thema enthielt. Er ging zum Bücherregal und fand bald den Band; er hieß „Handbuch der praktischen Medizin", ein ziemlich altes Buch und vielleicht ein wenig überholt, aber es mochte doch die Auskunft enthalten, die er suchte. Er öffnete es und blätterte zum Inhaltsverzeichnis um. Dort waren viele verschiedene Sachgebiete erwähnt, und bald fand er das gesuchte:

Gifte: chemisch, physiologisch und pathologisch betrachtet
Ätzende Gifte
Narkotische Gifte
Langsam wirkende Gifte
Nacheinander wirkende Gifte
Gifte mit akkumulativer Wirkung.

Er blätterte zum angegebenen Kapitel um und war erstaunt, als er darin las, wie viele Gifte es gab, die für jeden, der sie zu benutzen wünschte, leicht erhältlich waren - Gifte, bei denen man sich darauf verlassen konnte, dass sie ihr Werk unfehlbar, schnell und schmerzlos täten. Es war ja nicht einmal nötig, sie zu kaufen: man konnte sie von den Hecken am Straßenrand und auf den Feldern sammeln.
Je mehr er darüber nachdachte, desto merkwürdiger schien es ihm, dass eine so ungeschickte Methode wie die Benutzung eines Rasiermessers derartig gebräuchlich war. Fast jede andere Art war schneller und leichter; Erdrosseln und selbst Erhängen, obwohl man diese Methode hier im Haus kaum anwenden konnte, weil es weder Balken, Sparren noch sonst etwas gab, woran man einen Strick hängen konnte. Freilich, es wäre möglich, ein paar große Nägel oder Haken in die Wand zu schlagen. An einigen der Türen gab es sogar bereits Kleiderhaken. Er begann zu denken, das wäre sogar noch eine bessere Methode als Gift oder Holzkohle; er könnte Frankie gegenüber leicht so tun, als wolle er ihm ein neues Spiel zeigen.
Er könnte den Strick an einem der Türhaken festmachen, und unter dem Vorwand des Spielens geschähe es dann. Der Junge werde sich nicht wehren, und in wenigen Minuten wäre alles vorüber.
Er warf das Buch hin und presste die Hände an die Ohren. Er bildete sich ein, er könne hören, wie Hände und Füße des Jungen gegen die Türfüllung schlugen, während er sich im Todeskampf wand.
Und als Owen die Arme kraftlos wieder hinabfallen ließ, war ihm, als höre er Frankies Stimme rufen: „Vati! Vati!"
Hastig öffnete er die Tür.
„Hast du gerufen, Frankie?"
„Ja, ich rufe schon seit einer ganzen Weile."
„Was möchtest du denn?"
„Du sollst herkommen, ich will dir was sagen."
„Nun, was gibt's, mein Kind? Ich dachte, du schläfst schon längst", sagte Owen, als er ins Zimmer trat.
„Das will ich dir ja grade sagen: das Kätzchen ist eingeschlafen, aber ich kann nicht. Ich hab alles mögliche versucht, zählen und alles, aber es hilft nicht; darum dachte ich, ich werd dich fragen, ob du nicht reinkommen und bei mir bleiben und mich deine Hand ein bisschen halten lassen willst, dann kann ich vielleicht einschlafen."
Der Junge schlang seine Arme um Owens Hals und drückte ihn fest an sich.
„Oh, Vati, ich hab dich so lieb!" sagte er. „Ich hab dich so lieb, ich könnt dich totdrücken!"
„Ich fürchte, das wirst du tun, wenn du mich so fest drückst."
Der Junge lachte leise und lockerte seine Umklammerung.
„Das wär 'ne komische Art, dir zu zeigen, wie sehr ich dich liebhab, was Vati? Dich totdrücken?"
„Ja, das wäre es wohl", erwiderte Owen heiser, während er ihm die Bettdecke unter die Schultern stopfte. „Aber sprich jetzt nicht mehr, mein Junge; halt nur meine Hand und versuch zu schlafen."
„Na gut", sagte Frankie.
Als das Kind nun ganz still lag, seines Vaters Hand hielt und sie ab und zu küsste, schlief es bald ein. Owen stand vorsichtig auf, und nachdem er das Kätzchen aus dem Bett genommen und die Decken geordnet hatte, küsste er leise die Stirn des Jungen und kehrte ins andere Zimmer zurück.
Auf der Suche nach einem geeigneten Schlafplatz für das Kätzchen bemerkte er Frankies Spielzeugkiste, und nachdem er sie in einer Ecke des Zimmers auf den Boden geleert hatte, bereitete er aus einigen Flicken ein Bett in der Kiste, kippte sie auf die Seite und stellte sie, dem Feuer zugewandt, auf den Kaminvorleger. Mit einigen Schwierigkeiten brachte er das Kätzchen dazu, sich darin niederzulegen. Nachdem er die Stühle, auf denen seine Kleidung trocknete, in sichere Entfernung vom Feuer gerückt hatte, ging er ins Schlafzimmer. Nora war noch wach.
„Fühlst du dich besser, Liebling?" fragte er.
„Ja, ich fühle mich viel wohler, seit ich im Bett bin, aber ich mache mir Sorgen wegen deiner Sachen. Ich fürchte, sie werden nie trocken genug werden, dass du sie morgen früh gleich wieder anziehen kannst. Könntest du nicht ausnahmsweise einmal bis nach dem Frühstück zu Hause bleiben?"
„Nein, das darf ich nicht. Wenn ich es täte, würde Hunter mir wahrscheinlich sagen, ich brauche überhaupt nicht mehr zu kommen. Ich glaube, er wäre froh, einen Vorwand zu haben, gerade jetzt noch einen vollbezahlten Mann loszuwerden."
„Aber wenn es früh immer noch so regnet, wirst du völlig durchnässt sein, ehe du überhaupt dort bist."
„Es hat keinen Zweck, sich deshalb den Kopf zu zerbrechen, Liebling; außerdem kann ich den alten Rock, den ich augenblicklich anhabe, über dem anderen tragen."
„Und wenn du deine alten Schuhe in Papier wickelst und sie mitnimmst, kannst du deine nassen Stiefel ausziehen, sobald du dort bist."
„Ja, gut", erwiderte Owen. „Im übrigen", setzte er beruhigend hinzu, „selbst wenn ich ein bisschen nass werde - wir haben dort immer ein Feuer, weißt du."
„Nun, hoffentlich ist das Wetter morgen früh etwas besser als jetzt", sagte Nora. „Ist das nicht eine furchtbare Nacht? Ich habe andauernd Angst, das Haus wird umgeblasen."
Noch lange, nachdem Nora eingeschlafen war, lag Owen wach und horchte auf das Heulen des Windes und das Trommeln des Regens, der schwer auf das Dach herniederprasselte.

 

7. Kapitel Die ausrottenden Maschinen

„Na, komm heran, Sonnabend!" rief Philpot am Montagmorgen gleich nach sieben Uhr, während sie sich zur Arbeit fertigmachten.
Draußen war es noch dunkel, doch die Spülkammer war schwach erhellt vom flackernden Licht zweier Kerzen, die Crass angezündet und auf das Brett über dem Kamin geklebt hatte, um sehen zu können, während er die verschiedenen Farbmengen und Pinsel an die Leute ausgab.
„Ja, die Woche kommt einem verflucht lang vor, was?" bemerkte Harlow, während er den Überzieher an einen Nagel hängte, den Kittel überzog und die Schürze vorband. „Hab die Nase schon verdammt voll davon."
„Wenn's doch, zum Teufel, erst mal Frühstückszeit wär!" brummte der leichter befriedigte Easton.
So erstaunlich es auch scheinen mag - keiner von ihnen setzte irgendwelchen Stolz in seine Arbeit: sie „liebten" sie nicht. Sie hatten keinerlei Vorstellung von jenem erhabenen Ideal „Arbeit um der Arbeit willen", für das die
Nichtstuer so viel übrig haben. Im Gegenteil: kamen die Arbeiter des Morgens an, so wünschten sie, es wäre Frühstückszeit. Nahmen sie nach dem Frühstück die Arbeit wieder auf, so wünschten sie, es wäre Mittagszeit. Nach dem Mittagessen wünschten sie, es wäre Sonnabend Mittag ein Uhr.
Tag für Tag, Jahr für Jahr fuhren sie damit fort; sie wünschten, ihre Arbeitszeit wäre vorüber, und wünschten in Wirklichkeit, ohne sich darüber klar zu sein, sie wären tot.
Wie erstaunlich muss das jenen Idealisten scheinen, die an die „Arbeit um der Arbeit willen" glauben, selbst aber nichts tun, als zu verschlingen, zu benutzen oder zu genießen, was durch die Arbeit jener anderen geschaffen wird, denen man nicht erlaubt, einen angemessenen Anteil an den mit ihrer Hilfe produzierten guten Dingen zu genießen!
Crass goss die verschiedenen Farben in die Töpfe.
„Harlow", sagte er, „du und Sawkins, wenn er kommt, ihr könnt raufgehn und die obersten Schlafzimmer mit dieser Farbe hier streichen. Ihr werdt da oben 'n paar Kerzen finden. Soll nur einen Anstrich haben - seht also zu, dass es richtig deckt, und pass 'n bisschen auf Sawkins auf, dass er keinen Mist fabriziert. Streich du die Türen und Fenster, und lass ihn die Schränke und Leisten machen."
„Das find ich ja großartig - das muss ich ja sagen", erklärte Harlow, zu allen gewandt. „Wir müssen 'nem Kerl wie dem was beibringen, damit er uns nachher aus der Arbeit verdrängen kann, weil er unter Tarif arbeitet."
„Na, ich kann's nicht ändern", brummte Crass. „Ihr wisst ja, wie's ist: Hunter schickt 'n zum Anstreichen her, und ich muss 'n eben anstreichen lassen. Was andres ist ja nicht für ihn zu tun da."
Eine weitere Diskussion dieses Themas wurde durch die Ankunft Sawkins verhindert, der beinahe eine Viertelstunde zu spät kam.
„Ach, du bist ja doch erschienen", höhnte Crass, „dachte schon, du wärst vielleicht in Urlaub gefahren."
Sawkins murmelte etwas von „Zeit verschlafen", und
nachdem er sich hastig die Schürze umgebunden hatte, ging er mit Harlow nach oben.
„Wolln mal sehen", sagte Crass zu Philpot, »du und Newman, ihr geht am besten in den zweiten Stock und fangt da an: hier ist die Farbe, und hier sind 'n paar Kerzen. Geht lieber nicht beide in ein Zimmer, sonst meckert Hunter. Nimm du eins von den Vorderzimmern, und lass Newman eins von den Hinterzimmern machen. Nimm 'n bisschen Kitt mit: sie werden zweimal gestrichen, aber verschmier diesmal lieber die Löcher, so gut du kannst."
„Bloß zweimal streichen!" sagte Philpot. „Die Zimmer werden nie nach was aussehen mit zwei Anstrichen, bei so 'ner hellen Farbe!"
„Sie kriegen aber auf alle Fälle bloß zwei", erwiderte Crass verdrießlich. „Hunter hat's so bestimmt, und da musste eben zusehen, dass du sie so gut machst, wie du kannst, und zwar 'n bisschen dalli, Mann, mach und pinsel sie über!"
Crass hielt es für überflüssig zu erwähnen, dass die betreffenden Zimmer der Abschrift des Auftrags zufolge, die er in der Tasche hatte, vier Anstriche erhalten sollten.
Crass wandte sich jetzt an Owen.
„Und dann ist da noch der Salon", sagte er. „Was damit werden soll, weiß ich noch nicht. Ich glaube, sie haben sich's noch nicht überlegt. Aber was auch damit gemacht werden soll, wird zusätzlich sein - im Kontrakt steht bloß, die Löcher verkitten und einmal weißen. Du und Easton, ihr macht euch also am besten ran."
Slyme war damit beschäftigt, etwas Kitt weich zu machen, indem er ihn zwischen den Händen rieb und knetete.
„Ich denke, ich streich erst mal das Zimmer fertig, das ich Sonnabend angefangen hab?" fragte er.
„Na schön", erwiderte Crass. „Haste genug Farbe?"
„Ja", sagte Slyme.
Als er auf dem Wege zu seiner Arbeit durch die Küche ging, sprach er Bert, den Jungen, an, der damit beschäftigt war, mit einigen Holzstückchen ein Feuer anzuzünden, um das Wasser für den Tee zum Kochen zu bringen, den sie um acht Uhr zum Frühstück trinken wollten.
„Ich hab 'nen Bückling, den ich gebraten haben will"-sagte Slyme.
.,Schön", antwortete Bert. „Leg ihn da drüben auf die Kommode neben Philpot seinen und meinen."
Slyme holte den Bückling aus seinem Frühstückskorb; als er ihn aber auf den angegebenen Platz legen wollte, bemerkte er, dass sein Fisch ein wenig größer war als die beiden anderen. Das war eine wichtige Sache. Wenn sie einmal gebraten waren, wären sie nicht mehr so leicht zu unterscheiden: vielleicht erhielt er einen der anderen statt seines eigenen. Er zog sein Taschenmesser heraus und schnitt dem großen Bückling den Schwanz ab.
„Hier ist er", sagte er zu Bert. „Ich hab meinem den Schwanz abgeschnitten, damit du weißt, welcher's ist."
Es war jetzt etwa zwanzig Minuten nach sieben, und da Crass nun allen die Arbeit zugeteilt hatte, wusch er sich die Hände unter dem Wasserhahn. Dann ging er in die Küche, und nachdem er sich einen Sitz zurechtgemacht hatte, indem er zwei Schubladen aus der Kommode zog, sie in etwa zwei Meter Entfernung voneinander auf den Boden stellte und ein Brett darüber legte, setzte er sich vor dem Feuer nieder, das jetzt hell unter dem Eimer brannte, zündete sich die Pfeife an und begann zu rauchen. Der Junge ging in die Spülkammer und fing an, die Tassen und Gläser abzuwaschen, damit die Männer daraus trinken konnten.
Bert war ein schmächtiger, im Wachstum zurückgebliebener Junge im Alter von fünfzehn Jahren, etwa ein Meter fünfundvierzig groß. Er hatte hellbraunes Haar und haselnussgraue Augen, und seine Kleidung war äußerst farbenprächtig: sie war mit einer dicken Farbkruste bedeckt - ein Ergebnis der Ungeschicklichkeit, mit der er seine Arbeit verrichtete, denn er war erst seit etwa einem Jahr im Fach. Einige der Männer hatten ihm den Spitznamen „der wandelnde Farbenladen" verliehen, ein Titel, den Bert mit gutmütigem Humor aufnahm.
Der Junge war Halbwaise. Sein Vater hatte als Gepäckträger bei der Eisenbahn viele Jahre hindurch täglich zwölf bis vierzehn Stunden lang fleißig gearbeitet, mit dem üblichen Ergebnis, nämlich, dass er und seine Familie in ständiger Armut lebten. Bert, das einzige Kind und nicht sehr kräftig, hatte schon früh ein Zeichentalent gezeigt, und so gab seine Mutter bereitwillig ihre Zustimmung, als der Junge nach dem Tode des Vaters vor etwas über einem Jahr sagte, er wolle Dekorationsmaler werden. Das war ein schöner, leichter Beruf, und sie dachte, ein wirklich guter Maler, wie er es gewiss einmal sein werde, habe zumindest immer die Möglichkeit, sich seinen Lebensunterhalt ausreichend zu verdienen. Sie beschloss, dem Jungen die bestmögliche Chance zu geben, und entschied, ihn, wenn es ging, bei Rushton unterzubringen, denn das war eine der führenden Firmen der Stadt. Zuerst verlangte Mr. Rushton zehn Pfund Lehrgeld, und der Junge müsse sich für fünf Jahre bei ihm verpflichten. Während des ersten Jahres werde er keinen Lohn erhalten, während des zweiten Jahres zwei Schilling die Woche und dann während der restlichen Lehrzeit jedes Jahr einen Schilling die Woche mehr. Danach erklärte sich Mr. Rushton bereit, als besonderes Zugeständnis - tatsächlich als Akt der Barmherzigkeit, da sie eine sehr arme Frau war -, sich mit fünf Pfund zu begnügen.
Diese Summe entsprach den mühsam zurückgelegten Ersparnissen von Jahren; aber die arme Frau trennte sich gern davon, damit der Junge ein qualifizierter Arbeiter werden konnte. So wurde Bert in die Lehre gegeben - und verpflichtet, fünf Jahre lang bei Rushton & Co. zu arbeiten.
Während der ersten Monate verbrachte er sein Leben in der Malerwerkstatt auf dem Gerätehof, einem Mittelding zwischen Keller und Stall. Dort arbeitete der junge Handwerker meistens allein, umgeben von giftigen Farbstoffen und anderen im Fach benötigten Materialien, reinigte schmutzige Farbentöpfe, welche die Männer von fertigen Arbeiten zurückbrachten, und mischte gelegentlich Farbe nach den Anweisungen Mr. Hunters oder eines der Vorarbeiter.
Manchmal wurde er fortgeschickt, um Material dorthin zu bringen, wo die Leute arbeiteten - schwere Lasten von Farbe oder Bleiweiß, zuweilen Eimer voll weißer Tünche, die seine dünnen Arme zu schwach waren weiter als nur jeweils einige Meter zu tragen.
Oft konnte man seine schwächliche, kindliche Gestalt sehen, wie sie sich mannhaft einherschleppte, gebeugt unter dem Gewicht einer Leiter oder eines schweren Bretts.
Er konnte viele Bündel auf einmal bewältigen: ein paar in jeder Hand und ein paar mit Schnur zusammengebunden über die Schulter gehängt. Manchmal waren jedoch mehr da, als er tragen konnte; dann wurden sie in einen Schubkarren gelegt, den er zu den entfernt liegenden Arbeitsplätzen schob oder hinter sich herzog.
Während jenes ersten Winters verbrachte der Junge seine Tage zum größten Teil in der feuchten, übel riechenden, mit Steinplatten ausgelegten Malerwerkstatt, in der nicht einmal ein Feuer brannte, um die feuchte Luft zu erwärmen.
Doch in all dem sah er keinerlei Beschwernis. Mit der Unbekümmertheit der Jugend arbeitete er hart und freudig. Nach einiger Zeit erreichte er das Ziel seines kindlichen Ehrgeizes - er wurde mit den Männern zur Arbeit hinausgeschickt! Dort fuhr er im gleichen Geiste fort und tat stets sein Bestes, um den Leuten, mit denen er zusammen arbeitete, gefällig zu sein.
Er strengte sich an, zu lernen und sich richtig zu verhalten, und es gelang ihm recht gut.
Bald wurde er der erklärte Liebling Owens, für den er große Achtung und Zuneigung empfand, denn er hatte bemerkt, wenn irgendeine besondere Arbeit zu tun war, so wurde sie stets von Owen ausgeführt. Bei solchen Gelegenheiten richtete es Bert in seiner listigen, jungenhaften Art ein, dass er Owen zur Unterstützung beigegeben wurde, und der verlangte so oft wie möglich, dass der Junge die Erlaubnis erhielt, mit ihm zu arbeiten.
Berts Hochachtung vor Owen wurde an Heftigkeit nur erreicht von seiner Abneigung gegen Crass, der sich über den Ehrgeiz des Jungen lustig zu machen pflegte. „Wirst schon noch genug Zeit haben, an Schnörkelarbeit zu denken, wenn du erst mal einfaches Anstreichen gelernt hast!" sagte er immer.
Nachdem Bert an diesem Morgen mit dem Abwaschen der Tassen und Becher fertig war, kehrte er mit ihnen in die Küche zurück.
„Wie ist das", sagte Crass nachdenklich. „Den Tee haste in den Eimer getan, nehme ich an."
„Ja."
„Und jetzt willste 'ne Arbeit, was?"
„Ja", erwiderte der Junge.
„Nu, nimm 'nen Eimer Wasser, die alte Bürste da und 'nen Wischlappen, und wasch die alte Schlämmkreide von der Speisekammerdecke und die alte Farbe von den Wänden ab."
„Schön", sagte Bert. Als er an der Tür zur Spülkammer war, wandte er sich um und sagte:
„Ich muss die drei Bücklinge da bis zum Frühstück braten."
„Mach dir keine Sorgen", antwortete Crass. „Ich werd sie fertigmachen."
Bert nahm Bürste und Eimer, ließ Wasser ein, holte sich eine Leiter und ein kurzes Brett, legte dessen eines Ende auf das unterste Fach in der Speisekammer und das andere auf die Leiter und machte sich daran, Crass' Anweisung zu befolgen.
In der Speisekammer war es kalt, feucht und sehr ungemütlich, und die Kerze verstärkte noch diesen Eindruck. Bert zitterte; er hätte gern seine Jacke angezogen, aber bei einer solchen Arbeit kam das nicht in Frage. Er hob den Wassereimer auf eines der Fächer, kletterte auf das Brett, nahm die Bürste aus dem Wasser und weichte etwa einen Quadratmeter der Decke ein; dann begann er, diese mit der Bürste zu schrubben.
Er war noch nicht sehr geschickt, und während er schrubbte, lief ihm das Wasser über den Bürstenstiel die Hand entlang und durchnässte den aufgekrempelten Hemdsärmel. Als er genügend geschrubbt hatte, wusch er die Decke, so gut er konnte, mit der Bürste ab, und zum Schluss steckte er die Hand in den Wassereimer, nahm den Scheuerlappen heraus, wrang ihn aus und wischte die Teile der Decke ab, die er gewaschen hatte. Dann ließ er den Lappen in den Eimer zurückfallen und schüttelte die erstarrten Finger, um das Blut darin wieder zum Zirkulieren zu bringen. Danach spähte er in die Küche, wo Crass noch immer rauchend vor dem Feuer saß und einen der Bücklinge am Ende eines spitzen Stockes briet. Bert wünschte, Crass ginge nach oben oder sonst wohin, damit er selbst zum Feuer gehen und sich erwärmen konnte.
„Hätte auch mich die Bücklinge machen lassen können",
murmelte er vor sich hin, während er Crass feindselig durch die Türritze betrachtete, „'ne schöne Arbeit, sie einem an so 'nem kalten Morgen aufzuhalsen!"
Er rückte den Wassereimer auf dem Regal ein wenig weiter und fuhr mit der Arbeit fort.
Etwas später hörte Crass, der noch immer vor dem Feuer saß, Schritte, die sich auf dem Flur näherten. Schuldbewusst sprang er auf, steckte die Hand mit der Pfeife in die Schürzentasche und zog sich in die Spülkammer zurück. Er dachte, es könnte Hunter sein, der zu den unwahrscheinlichsten Zeiten aufzutauchen pflegte; aber es war nur Easton.
„Ich hab 'n Stück Speck, das ich mir vom Jungen rösten lassen will", sagte er, als Crass zurückkam.
„Kannste selber machen, wenn du willst", antwortete Crass leutselig und sah auf seine Uhr. „'s ist ungefähr zehn vor acht."
Easton arbeitete seit vierzehn Tagen bei Rushton & Co. und war weise genug gewesen, Crass mehrmals ein Bier zu spendieren; daher war er für den Augenblick bei diesem Herrn wohlangesehen.
„Wie geht's bei euch drin?" fragte Crass nach der Arbeit, die Easton und Owen im Salon ausführten. „Hast dich woll noch nicht mit deinem Kollegen verkracht, nehme ich an?"
„Nö, heut morgen quatscht er nicht viel. Sein Husten ist ziemlich schlimm. Im allgemeinen, weißte, komm ich mit jedem einigermaßen zurecht", fügte Easton hinzu.
„Nu, ich auch in der Regel, aber 's hängt mir reichlich zum Halse raus, dem verdammten Dummkopf zuzuhören. Seiner Meinung nach ist alles schlecht. Einen Tag ist's die Rel'ion, einen Tag die Polletik und am nächsten wieder was andres."
„Ja, 's ist 'n bisschen stark und 'n bisschen reichlich viel", stimmte ihm Easton bei, „aber ich kümmre mich nicht viel um den verdammten Dummkopf - das ist das beste."
„Natürlich wissen wir, dass die Lage augenblicklich grad nicht ganz rosig ist", fuhr Crass fort, „aber wenn's nach ihm und seinesgleichen ginge, würden sie alles noch verdammt viel schlimmer machen."
„Genau, was ich sage", erwiderte Easton.
„Ich hab aber 'ne Pille für ihn bereit, wenn er das, nächste Mal zu kläffen anfängt", fuhr Crass fort und zog ein Stückchen bedrucktes Papier aus der Westentasche. „Lies das bloß mal, stammt aus dem ,Verdunkler'."
Easton nahm den Zeitungsausschnitt und las ihn. „Sehr gut", bemerkte er, als er ihn zurückgab.
„Ja, ich denke, das wird ihm woll das Maul stopfen. Haste bemerkt, neulich, als wir von Armut sprachen und darüber, dass Leute arbeitslos sind, wie er sich vor der Antwort drückte, als ich sagte, dass die Maschinen die Ursachen dafür sind? Hat mir überhaupt nicht drauf geantwortet! Fing an, von was andrem zu reden."
„Ja, ich besinne mich, er hat überhaupt nicht drauf geantwortet", sagte Easton, der sich aber gar nicht mehr an den Zwischenfall erinnerte.
„Ich wollte 'n schon beim Frühstück anrempeln. Ich seh gar nicht ein, warum er so davonkommen soll. Neulich Abend war einer drüben in den ,Cricketers', der über dieselbe Sache sprach, 'n Kerl, der sich für Polletik und so intressiert, und der sagte dasselbe wie ich. Ist ja furchtbar, wie viele Leute schon durch diese neumodschen Maschinen aus der Arbeit rausgeschmissen worden sind!"
„Natürlich", pflichtete ihm Easton bei, „das weiß ja jeder."
„Solltest dich mal gelegentlich abends in den ,Cricketers' sehen lassen. Kommen sehr anständige Burschen hin."
„Ja, ich denke, ich komm mal."
„In welche Kneipe gehste 'n sonst?" fragte Crass nach einer Pause.
Easton lachte. „Na, um dir die Wahrheit zu sagen, in der letzten Zeit bin ich in überhaupt keine gegangen. Hab zuviel Urlaub gehabt."
„Das macht 'ne Menge aus, was?" sagte Crass. „Aber hier biste gut untergebracht, bis die Arbeit fertig ist. Pass nur 'n bisschen auf und komm morgens nicht zu spät. Da hat der olle Nimrod 'n Kieker drauf."
„Ich werd schon dafür sorgen", gab Easton zurück. „Ich halt nicht viel davon, Zeit zu verlieren, wenn's Arbeit gibt. Schlimm genug, wenn man keine kriegen kann."
„Weißte", fuhr Crass vertraulich fort, „unter uns Brüdern, wie man so sagt, ich glaub nicht, dass der verdammte Owen noch lange hier ist. Nimrod kann 'n nicht riechen."
Easton dachte im stillen, Nimrod schien sie alle nicht riechen zu können; aber er sagte nichts, und Crass fuhr fort:
„Er hat gehört, was Owen über Polletik und Rel'ion loslässt und über dies und jenes, und darüber, dass die Firma bei der Arbeit schludert. Du weißt ja, so 'n Gerede ist unmöglich."
„Freilich."
„Hunter hätte 'n schon längst rausbugsiert, aber nicht er hat 'n eingestellt. Rushton selbst hat 'n engaschiert. Owen soll 'ne Menge Proben von seiner Arbeit mitgebracht und sie dem Alten gezeigt haben."
„Sind das die Sachen, die oben im Schaufenster hängen?"
„Ja", sagte Crass verächtlich. „Aber für gewöhnliche Arbeit taugt er nichts. Natürlich macht er so 'n bisschen Marmorieren und Schriftmalen - so einigermaßen -, wenn's so was zu tun gibt, und das ist nicht oft; aber für gewöhnliche Arbeit, na, da ist Sawkins für das meiste allemal so gut wie er!"
„Ja, das ist er woll", erwiderte Easton und schämte sich ziemlich über seine Rolle bei dieser Unterhaltung.
Obwohl Crass im Augenblick nicht an Berts Existenz dachte, hatte er instinktiv die Stimme gesenkt, aber der Junge - der die Arbeit unterbrochen hatte, um sich die Hände zu wärmen, indem er sie in die Hosentaschen steckte - hörte eifrig zu, und es gelang ihm, jedes Wort zu verstehen.
„Weißte, 'ne Menge Leute würden der Firma überhaupt keine Arbeit mehr geben, wenn sie's wüssten", fuhr Crass fort. „Stell dir bloß vor, so 'nen Sch... kerl zu 'ner Dame oder 'nem Herrn zur Arbeit ins Haus zu schicken - 'nen verfluchten Atheisten!"
„Ja, 'n bisschen doll, wenn du's so ansiehst."
„Ich weiß, meine Frau zum Beispiel würde so 'nen Kerl bestimmt nicht in unsrer Wohnung dulden. Wir hatten mal nen Untermieter, und sie bekam raus, dass er Freidenker oder so was Ähnliches war, da hat sie 'n aber verdammt schnell rausbugsiert, das kann ich dir sagen!"
„Oh, dabei fällt mir ein", sagte Easton, froh über die Gelegenheit, das Thema zu wechseln, „du kennst wohl nicht zufällig jemand, der 'n Zimmer möchte, was? Wir haben eins mehr, als wir haben wollen, da dachte meine Frau, wir könnten's ebenso gut vermieten."
Crass überlegte einen Augenblick lang. „Glaub nicht", sagte er zweifelnd, „Slyme hat letzte Woche darüber geredet, dass er da, wo er in Untermiete wohnt, wegziehen will, aber ich weiß nicht, ob er schon 'n andres Zimmer hat. Kannst 'n ja fragen, 'nen andren weiß ich nicht."
„Ich rede mal mit ihm", antwortete Easton. „Wie spät ist's denn? 's muss bald voll sein."
„Jawoll, Punkt acht", rief Crass, zog, um den anderen diese Tatsache mitzuteilen, seine Trillerpfeife hervor und ließ einen schrillen Pfiff darauf ertönen.
„Hat einer den alten Jack Linden gesehen, seit er rausgesetzt worden ist?" erkundigte sich Harlow während des Frühstücks.
„Ich hab 'n Sonnabend gesehen", sagte Slyme.
„Macht er irgendwas?"
„Weiß nicht, hatte keine Zeit, mit ihm zu reden."
„Nein, er hat nichts", bemerkte Philpot. „Ich hab 'n Sonnabend Abend gesehen, und er hat mir erzählt, er rennt seitdem ohne Arbeit rum."
Philpot verschwieg, dass er Linden einen Schilling „geliehen" hatte, den jemals wieder zu sehen er nicht erwartete.
„Sobald wird er woll keine Arbeit mehr finden", bemerkte Easton. „Ist zu alt."
„Wisst ihr, schließlich kann man's dem ollen Elend kaum übel nehmen, dass er 'n rausgeschmissen hat", sagte Crass nach einer Pause. „War ja selbst für 'n Begräbnis zu langsam."
„Ich möchte wissen, wie viel du mal leisten kannst, wenn du so alt bist wie er?" meinte Owen.
„Vielleicht will ich dann gar nischt mehr tun", antwortete Crass mit einem unsicheren Lachen. „Ich leb dann von meinem Vermögen."
„Ich denke, das Beste, was der alte Jack tun kann, ist wohl, ins Armenhaus zu gehen", sagte Harlow.
„Ja, dahin wird's wohl kommen", bemerkte Easton sachlich.
„Schönes Ende, was?" meinte Owen. „Nachdem man sein ganzes Leben lang schwer gearbeitet hat, zum Schluss wie ein Verbrecher behandelt zu werden."
„Ich weiß nicht, was du ,wie Verbrecher behandelt werden' nennst", rief Crass aus. „Ich denke, sie haben da 'n verflucht angenehmes Leben, und wir müssen das Geld dafür aufbringen!"
„Fangt doch um Gottes willen nicht schon wieder Streit an", rief Harlow, zu Owen gewandt. „Uns hat schon der von letzte Woche genügt. Kannst doch nicht von 'nem Arbeitgeber verlangen, dass er 'nen Mann beschäftigt, wenn er zu alt zum Arbeiten ist."
„Natürlich nicht", sagte Crass.
Philpot sagte - nichts.
„Ich seh nicht ein, wozu man ewig meckern muss", fuhr Crass fort. „Diese Dinge kann man nicht ändern. Kannst doch nicht erwarten, dass bei all den arbeitsparenden Maschinen, die sie erfinden, für jeden genug Arbeit da ist."
„Natürlich", sagte Harlow, „die Leute, die bei der Arbeit beschäftigt wurden, die jetzt von Maschinen gemacht wird, müssen doch was andres zu tun finden. Manche gehen zum Beispiel in unsren Beruf; das Resultat ist: es gibt zu viele Leute und nicht genug Arbeit, sie alle zu beschäftigen."
„Jawoll", rief Crass eifrig. „Genau, was ich sage. Die Maschinen sind die eigentliche Ursache von der ganzen Armut. Das hab ich ja neulich gesagt."
„Maschinen sind zweifellos die Ursache der Arbeitslosigkeit", antwortete Owen, „aber sie sind nicht die Ursache der Armut - das ist ganz was anderes."
Die anderen lachten verächtlich.
„Nun, scheint mir so ziemlich dasselbe zu sein", sagte Harlow, und fast alle stimmten ihm zu.
„Mir scheint es nicht dasselbe zu sein", erwiderte Owen. „Meiner Meinung nach befinden wir uns alle im Zustand der Armut, selbst wenn wir Arbeit haben - die Lage, in die wir geraten, wenn wir arbeitslos sind, kann man zutreffender als Not bezeichnen.
Armut", fuhr er nach kurzem Schweigen fort, „besteht
in einer Knappheit an den lebensnotwendigen Dingen. Wenn diese Dinge so rar oder so teuer sind, dass man nicht genügend davon erwerben kann, um alle Bedürfnisse zu befriedigen, so lebt man im Zustand der Armut. Wenn ihr glaubt, die Maschinen, die es ermöglichen, alles Lebensnotwendige im Überfluss zu produzieren, seien die Ursache der Knappheit, so scheint mir, in eurem Kopf muss etwas nicht in Ordnung sein."
„Oh, natürlich, wir sind alle verdammte Idioten außer dir!" knurrte Crass. „Als sie den Verstand austeilten, haben sie dir so lausig viel gegeben, dass für sonst niemand was übrig geblieben ist."
„Wenn in eurem Kopf alles in Ordnung wäre", fuhr Owen fort, „so wäret ihr imstande zu erkennen, dass wir ,reichlich Arbeit' haben könnten und trotzdem im Zustand der Not lebten. Die armen Teufel, die sechzehn bis achtzehn Stunden täglich schuften - Vater, Mutter und sogar die kleinen Kinder - und Streichholzschachteln oder Hemden oder Blusen herstellen, haben ,reichlich Arbeit', aber ich zum Beispiel beneide sie nicht. Vielleicht glaubt ihr, wenn es keine Maschinen gäbe und wir alle für das nackte Leben dreizehn, vierzehn Stunden täglich arbeiten müssten, befänden wir uns nicht im Zustand der Armut? Deshalb sage ich, in eurem Kopf muss etwas nicht in Ordnung sein! Wenn dem anders wäre, sprächet ihr nicht an einem Tag von der Zollreform als Mittel gegen die Arbeitslosigkeit, um dann am nächsten Tag zugeben zu müssen, dass die Maschinen deren Ursache sind. Die Zollreform wird doch wohl die Maschinen nicht beseitigen, oder?"
„Die Zollreform ist das Mittel gegen die schlechte Lage des Handels", gab Crass zurück.
„In dem Fall ist die Zollreform das Mittel gegen eine Krankheit, die nicht existiert. Wenn ihr euch nur die Mühe geben wolltet, selbst nachzuforschen, so würdet ihr entdecken, dass die Lage des Handels nie so gut war wie jetzt: die Produktion - die Menge der hergestellten Waren aller Art - dieses Landes und die Anzahl der exportierten Güter sind größer als jemals zuvor. Die in der Geschäftswelt erworbenen Vermögen sind umfangreicher als je zuvor, aber zur gleichen Zeit, infolge - wie ihr eben zugegeben
habt - der fortgesetzten Einführung und immer verbreiterteren Benutzung lohneinsparender Maschinen, ist die Anzahl der beschäftigten Menschen ständig im Sinken begriffen. Hier habe ich", fuhr Owen fort und zog seine Brieftasche heraus, „einige Zahlen, abgeschrieben aus dem von der Zeitung ,Daily Mail' herausgegebenen Jahrbuch für 1907, Seite 33:
,Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass im Vereinigten Königreich die Anzahl der Fabriken und ihr Wert stark gestiegen ist, obwohl sich die Anzahl der in ihnen beschäftigten Männer und Frauen von 1895 bis 1901 absolut vermindert hat. Das ist zweifellos die Folge der Verdrängung der Handarbeit durch die Maschinenarbeit.'
Wird die Zollreform daran etwas ändern? Werden die guten, menschenfreundlichen Kapitalisten die Benutzung von lohneinsparenden Maschinen aufgeben, wenn wir Zoll für alle im Ausland hergestellten Waren erheben? Hilft uns hier, was ihr ,Freihandel' nennt? Oder meint ihr, die Abschaffung des Oberhauses oder die Auflösung der Kirche werde es den von ihrem Arbeitsplatz verdrängten Arbeitern ermöglichen, Arbeit zu erhalten? Da es wahr ist - wie ihr zugebt -, dass die Maschinen die Hauptursache der Arbeitslosigkeit sind, was wollt ihr also dagegen tun? Welches ist euer Heilmittel?"
Niemand antwortete, denn keiner von ihnen kannte ein Heilmittel, und Crass begann zu bereuen, dass er das Thema überhaupt wieder berührt hatte.
„Wahrscheinlich", fuhr Owen fort, „werden Autos und elektrische Bahnen in naher Zukunft die Pferde fast völlig ersetzen. Da man die Dienste dieser Tiere dann nicht mehr braucht, wird man alle, bis auf wenige, aussterben lassen: man wird nicht mehr so viele züchten wie bisher. Wir können es den Pferden nicht zum Vorwurf machen, dass sie sich ausrotten lassen. Sie haben nicht genügend Verstand, um zu begreifen, was vorgeht. Deshalb werden sie sich zahm dem Aussterben der meisten ihrer Art fügen.
Wie wir gesehen haben, wird jetzt ein großer Teil der Arbeit, die früher von Menschen verrichtet wurde, von Maschinen ausgeführt. Diese Maschinen gehören einigen wenigen; sie werden zum Wohle dieser wenigen benutzt,
ebenso wie früher die Menschen, die von diesen Maschinen verdrängt wurden. Diese wenigen brauchen die Dienste so vieler menschlicher Arbeitskräfte nicht länger, deshalb schlagen sie vor, sie auszurotten! Die überflüssigen menschlichen Wesen soll man verhungern lassen! Man soll ihnen auch beibringen, es sei falsch, zu heiraten und Kinder zu zeugen, weil die Heiligen Wenigen nicht so viele Menschen wie vorher brauchen, die für sie arbeiten!"
„Ja, und das wirste nie verhindern können, Mann!" rief Crass.
„Weshalb nicht?"
„Weil's nicht geändert werden kann!" schrie Crass wütend. „'s ist unmöglich!"
„Immer sagste, alles ist ganz verkehrt", beklagte sich Harlow. „Aber warum, zum Teufel, sagste uns nicht, wie's richtig gemacht werden soll?"
„Ich hab nicht den Eindruck, als möchte einer von euch das wirklich wissen. Ich glaube, selbst wenn man bewiese, dass es möglich ist, täte euch das leid, und ihr würdet alles tun, es zu verhindern."
„Er weiß es ja selber nicht", höhnte Crass. „Seiner Meinung nach taugt die Zollreform 'nen Dreck - taugt Freihandel auch 'nen Dreck - und alle andren Leute haben unrecht! Fragste 'n aber, was zu tun ist, dann bleibt 'm die Spucke weg!"
Crass war nicht sehr zufrieden mit dem Ergebnis dieser Diskussion über die Maschinen; doch er tröstete sich mit der Überlegung, er werde seinen Gegner bei einer anderen Gelegenheit schon mundtot machen. Der Ausschnitt aus dem ,Verdunkler', den er in der Tasche hatte, war nicht so einfach zu beantworten! Hast du etwas gedruckt - schwarz auf weiß -, so ist es da, und du kannst nicht drüber hinweggehen! Und wenn die Sache nicht stimmte, hätte eine solche Zeitung sie doch niemals gedruckt! Da es aber schon beinahe halb neun war, beschloss er, seinen Triumph auf eine andere Gelegenheit zu verschieben. Die Sache war zu gut, um in Eile abgetan zu werden.

 

8. Kapitel Die Mütze auf der Treppe

Als sie nach dem Frühstück zusammen im Wohnzimmer arbeiteten, wollte Easton, der Owen einen Dienst zu erweisen wünschte, ihn warnen, und flüsternd wiederholte er ihm den Inhalt der Unterhaltung, die er mit Crass über ihn geführt hatte.
„Natürlich brauchst du nichts zu sagen, dass ich's dir erzählt hab, Frank", meinte er, „aber ich dachte, ich müßte's dir mitteilen: du kannst mir's glauben, dein Freund ist Crass nicht."
„Das weiß ich schon lange, Mann", antwortete Owen. „Aber hab trotzdem Dank, dass du's mir gesagt hast."
„Der verdammte Dreckskerl ist mein Freund auch nicht; er ist niemands Freund, was das angeht", fuhr Easton fort, „aber natürlich ist's besser, es sich nicht mit ihm zu verderben, weil man nie weiß, was er dem ollen Hunter erzählt."
„Ja, daran muss man denken."
„Natürlich wissen wir alle, wo bei ihm, was dich betrifft, der Hase im Pfeffer liegt: 's passt ihm nicht, jemand bei der Firma zu haben, der mehr von der Arbeit versteht als er selbst - er glaubt, er könnte von seinem Posten verdrängt werden."
Owen lachte bitter.
„Deswegen braucht er bei mir keine Angst zu haben. Ich würde seinen Posten nicht geschenkt annehmen!"
„Aber er denkt nicht so, und deshalb kann er dich nicht riechen."
„Ich glaube, was er über Hunter sagte, ist nur allzu wahr", meinte Owen. „Jedes Mal, wenn der herkommt, versucht er, mich zu irgendeiner Handlung oder Äußerung zu verleiten, die ihm einen Vorwand gäbe, mich davonzujagen. Vielleicht wäre es schon so gekommen, hätte ich nicht erraten, worauf er hinauswill, und mich nicht in acht genommen."
Inzwischen hatte Crass in der Küche seinen Sitz beim Feuer wieder eingenommen, mit der Absicht, seine Pfeife
zu Ende zu rauchen. Nun zog er sein Notizbuch hervor und begann, darin mit einem Bleistiftstummel zu schreiben. Als die Pfeife ausgeraucht war, klopfte er, um die Asche zu entfernen, ihren Kopf am Kamingitter aus und steckte sie in die Westentasche. Dann riss er das Blatt, das er beschrieben hatte, heraus, stand auf und ging in die Speisekammer, wo Bert sich noch immer mit der alten Schlämmkreide abmühte.
„Biste noch nicht bald fertig? Den ganzen Tag sollste hier nicht hocken, hörste!"
„Ich hab nicht mehr viel zu tun", sagte der Junge, „bloß noch das Stückchen da unter dem untersten Fach, und dann bin ich fertig."
„Ja, und 'ne schöne Sauerei haste angerichtet, wie ich sehe!" brummte Crass. „Guck dir bloß mal das ganze Wasser auf dem Boden an!"
Bert blickte schuldbewusst auf den Boden und wurde sehr rot.
„Ich werd's aufwischen", stammelte er, „sobald ich dies Stückchen Wand fertig hab, wisch ich die ganze Schweinerei mit dem Scheuerlappen auf."
Jetzt nahm Crass einen Topf Farbe und einige Pinsel, und nachdem er das Feuer mit mehr Brennstoff versorgt hatte, begann er, in aller Ruhe einige der Holzteile in der Küche zu streichen. Kurz darauf kam Bert herein.
„Ich bin da draußen fertig", sagte er.
„Na, 's wird auch langsam Zeit. Du wirst 'n bisschen fixer werden müssen, sonst wer'n wir zwei zusammengeraten."
Bert antwortete nicht.
„Jetzt hab ich 'ne andre Arbeit für dich. Du bist doch fürs Stricheziehn, nicht?" fuhr Crass in höhnischem Ton fort.
„Ja, ein wenig", antwortete der Junge und sah verlegen aus.
„Nu", sagte Crass und gab ihm das Blatt, das er aus seinem Notizbuch gerissen hatte, „da kannst du zur Werkstatt gehen und die Sachen hier holen und kannst sie auf 'n Wagen laden und hierher ziehn, und mach, dass du so schnell wie möglich wieder hier bist. Sieh dir den Zettel
an, eh du gehst, und guck nach, ob du alles verstehst. Ich möchte nicht erleben, dass du es falsch machst."
Bert nahm den Zettel und las mit einiger Schwierigkeit folgendes:

1 pahr Leitern 8 Fuß
2 Lieter Gibsmörtel
1 Eimer Schlemmkreihde
12 Fund blei Weiß
2 Lieter Leinhöhl
do. do. Teerpentinhöhl

„Ich find mich schon drauf zurecht."
„Und bring lieber den großen Karren", sagte Crass, „ich will, dass du die Schalusien drauf mitnimmst, wenn du 'n heut Abend zurückbringst. Sie müssen in der Werkstatt gestrichen werden."
„Gut."
Als der Junge fort war, machte Crass einen Rundgang durch das Haus, um zu sehen, wie die anderen vorankamen. Dann kehrte er in die Küche zurück und fuhr mit seiner Arbeit fort.
Crass war etwa achtunddreißig Jahre alt, viel größer als der Durchschnitt und ziemlich korpulent. Er hatte recht dichtes, krauses schwarzes Haar und trug einen kurzen Bart von der gleichen Farbe. Sein Kopf war ziemlich groß, die Stirn aber niedrig und flach. Wenn er unter seinen Kumpanen war, pflegte er seine Leibesfülle als Ergebnis eines gutmütigen Charakters und eines zufriedenen Gemüts zu bezeichnen. Hinter seinem Rücken schrieben andere Leute sie dem Bier zu, und manche gingen sogar so weit, ihm den Spitznamen „Tank" zu verleihen.
Heute morgen gab es keine lärmende Arbeit, denn sowohl die Tischler als auch die Maurer waren vorübergehend zu einer anderen Arbeitsstelle abberufen worden. Trotzdem herrschte keine absolute Stille: gelegentlich konnte Crass die Stimmen der übrigen Arbeiter hören, die sich unterhielten und hin und wieder von einem Zimmer ins andere etwas hinüberriefen. Ab und zu tönte Harlows Stimme durch das Haus, wenn er Bruchstücke von Varietechansons oder einen Vers aus dem Kirchenliederbuch von Moody und Sankey sang, und gelegentlich fielen einige der
anderen in den Refrain ein, oder sie unterbrachen den Sanger mit einem Pfeifkonzert. Ein- oder zweimal war Crass drauf und dran, sie zu ermahnen, weniger Lärm zu machen - einen schönen Krach gäbe es, wenn Nimrod käme und sie hörte. Gerade als er sich entschlossen hatte, ihnen zu sagen, sie sollten mit dem Radau Schluss machen, hörte dieser von selbst auf, und Crass vernahm ein lautes Flüstern:
„Achtung! Es kommt jemand!"
Im Haus wurde es mäuschenstill.
Crass machte seine Pfeife aus und riss das Fenster und die Hintertür auf, um den Geruch des Tabakrauchs zu vertreiben. Dann rückte er geräuschvoll die Leiter weiter und beschleunigte sein Arbeitstempo. Wahrscheinlich war es das alte Elend.
Eine Zeitlang arbeitete er weiter, und Schweigen herrschte, aber niemand kam in die Küche: wer es auch immer war, musste nach oben gegangen sein. Crass horchte gespannt. Wer konnte es sein? Er wäre gern hinausgegangen, um nachzusehen, aber gleichzeitig wünschte er, wenn es Nimrod war, dass der ihn bei der Arbeit antraf. Deshalb wartete er noch ein Weilchen, und bald darauf hörte er oben den Klang von Stimmen; aber er konnte sie nicht erkennen. Gerade wollte er in den Flur hinausgehen, um zu horchen, als, wer immer es war, die Treppe herabzusteigen begann. Crass begab sich sofort wieder an die Arbeit. Die Schritte kamen den Flur entlang, der zur Küche führte - langsame, schwere, gewichtige Schritte, und doch klangen sie nicht wie die eines Menschen, der schweres Schuhwerk trug. Offensichtlich war es nicht Elend.
Als die Schritte in die Küche gelangt waren, sah sich Crass um und erblickte eine sehr große, korpulente Gestalt mit einem großen, fleischigen, glattrasierten Gesicht, groben Zügen, einem breiten Doppelkinn und einem Teint von der Farbe und dem Aussehen rohen Specks. Die Nase war groß und fleischig, und die kurzsichtig aussehenden blassblauen Augen hatten leicht entzündete, fast wimpernlose Lider. Die mächtigen dicken Füße steckten in weichen, kalbsledernen Stiefeln und grauen Gamaschen. Der mit Sealskin üppig besetzte Überzieher reichte dem Mann gerade bis unter die Knie, und obwohl die Hosen sehr weit
waren, wurden sie durch die dicken Beine ausgefüllt und ließen die Form der Waden deutlich erkennen. Ebenso wie die Füße das Oberteil der Stiefel sprengen zu wollen schienen, drohten die Beine die Hosen zum Platzen zu bringen. per Mensch war so groß, dass seine Gestalt den Türrahmen gänzlich ausfüllte, und beim Eintreten bückte er sich leicht, um den glänzenden Seidenhut auf seinem Kopf nicht zu beschädigen. Die eine behandschuhte Hand steckte in der Tasche des Überziehers, in der anderen trug er eine kleine Reisetasche.
Als Crass dieses Individuum erblickte, tippte er respektvoll an seine Mütze.
„Guten Morgen, mein Herr!"
„Guten Morgen. Oben hat man mir gesagt, ich würde den Vorarbeiter hier finden. Sind Sie der Vorarbeiter?"
„Jawohl, mein Herr."
„Wie ich sehe, kommen Sie mit der Arbeit hier voran?"
„O ja, mein Herr, wir fangen jetzt an, tüchtig was aufzuweisen", erwiderte Crass und sprach so geziert, als habe er eine heiße Kartoffel im Mund.
„Mr. Rushton ist wohl noch nicht hier?"
„Nein, mein Herr, morgens kommt er selten auf die Arbeitsstelle, mein Herr, gewöhnlich kommt er nachmittags, aber was Mr. Hunter ist, der muss sicher bald kommen."
„Ich wollte Mr. Rushton sprechen - ich habe mich hier um zehn Uhr mit ihm verabredet; aber", er sah auf seine Uhr, „ich bin wohl ziemlich früh gekommen. Er wird bald hier sein, denke ich", fügte Mr. Sweater hinzu. „Ich seh mich ein wenig im Haus um, bis er kommt."
„Jawohl, mein Herr", antwortete Crass und ging diensteifrig hinter Sweater her, als der hinausging.
In der Hoffnung, der Herr werde ihm einen Schilling Trinkgeld geben, folgte ihm Crass in die Eingangshalle und begann zu erklären, welche Fortschritte die Arbeit bisher gemacht hatte; da Mr. Sweater aber nur einsilbig und durch Grunzen antwortete, schloss Crass alsbald, seine Unterhaltung sei nicht erwünscht, und kehrte in die Küche zurück.
Oben war Philpot inzwischen zu Newman ins Zimmer gegangen und besprach mit ihm die Möglichkeit, aus Mr. Sweater das Geld für eine kleine, leichte Erfrischung herauszuholen.
„Ich denke", bemerkte er, „wir sollten die Gelegenheit beim Schopf nehmen und 'n wegen 'ner milden Gabe anzapfen."
„Aus dem wer'n wir nichts rausholen, Mann", erwiderte Newman. „Der ist 'n wütender Abstinenzler."
„Macht doch nichts nicht. Wie soll er 'n wissen, dass wir Bier damit kaufen. Könnten ja auch Tee oder Ingwerbier oder Zitronensaft und Glyzerin trinken - was weiß er!"
Mr. Sweater begann jetzt, gewichtig die Treppe wieder heraufzusteigen, und kam kurz danach in das Zimmer, in dem sich Philpot befand. Dieser begrüßte ihn mit respektvoller Herzlichkeit: 'n Morgen, mein Herr."
„Guten Morgen. Sie haben also begonnen, hier oben zu streichen?"
„Jawoll, wir haben den Anfang damit gemacht", erwiderte Philpot leutselig.
„Ist die Tür etwa nass?" fragte Sweater und sah besorgt auf den Ärmel seines Überziehers.
„Jawoll, mein Herr", antwortete Philpot und setzte hinzu, indem er den großen Mann bedeutungsvoll ansah: „Die Farbe ist nass, aber die Maler sind trocken!"
„Verflixt noch mal!" rief Sweater aus und ignorierte oder überhörte den letzten Teil der Antwort Philpots, „ich habe etwas von dem ekelhaften Zeug auf meinen Mantelärmel bekommen."
„Oh, das ist 'ne Kleinigkeit", rief Philpot, insgeheim entzückt. „Das wer'n wir gleich wieder runterhaben. Warten Sie mal 'n Momang!"
In seiner Werkzeugtasche hatte er einen sauberen Lappen, und im Zimmer war ein Kanister mit Terpentin. Nachdem er den Fetzen etwas mit Terpentin befeuchtet hatte, entfernte er sorgfältig die Farbe von Sweaters Ärmel.
„Nun ist alles weg", bemerkte er, während er die Stelle mit einem trockenen Teil des Lappens rieb. „Der Terpentingeruch wird in etwa 'ner Stunde fort sein."
„Danke", sagte Sweater. Philpot sah ihn gespannt an, aber Sweater verstand offensichtlich nicht und begann, sich im Zimmer umzublicken.
„Wie ich sehe, ist hier ein neues Stück Scheuerleiste eingesetzt worden", bemerkte er.
„Jawohl", sagte Newman, der in diesem Augenblick ins Zimmer kam, um das Terpentin zu holen. „Das alte Stück war vom Schwamm ganz zerfressen."
„Ich hab so 'n trocknes Gefühl, als wenn ich selber den Schwamm hätte - du nicht?" meinte Philpot zu Newman, der leise lächelte und einen Seitenblick auf Sweater warf; aber dieser schien den Sinn der Bemerkung nicht zu verstehen, sondern ging im Zimmer umher und begann, zum nächsten Stock hinaufzusteigen, wo Harlow und Sawkins arbeiteten.
„Na, das ist ja vielleicht 'n Filz!" sagte Philpot empört. „Wo ich mir solche Mühe gegeben hab, seinen Mantel sauberzukriegen! Nicht mal 'n lausigen Sechser! Das ist doch die Höhe, was?"
„Hab ich dir nicht gesagt, was rauskommen würde?" antwortete Newman.
„Vielleicht bin ich nicht deutlich genug gewesen?" meinte Philpot nachdenklich. „Versuchen müssen wir irgendwie, auf unsre Kosten zu kommen, weißte."
Er ging hinaus auf den Treppenflur und rief leise nach oben: „Hör mal, Harlow."
„Hallo", sagte dieser und blickte über das Geländer.
„Wie kommste 'n da oben voran?"
„Och, geht schon, weißt du."
„'ne ziemlich trockne Arbeit, was?" fuhr Philpot fort, wobei er die Stimme ein wenig hob und Harlow zublinzelte.
„Ja, ziemlich", erwiderte Harlow grinsend.
„Ich meine, jetzt wär der richtige Zeitpunkt, mit der Sammlung anzufangen, nicht?"
„Freilich, keine schlechte Idee."
„Schön, ich leg meine Mütze auf die Treppe", sagte Philpot und kam seinen Worten mit der Tat nach. „Kannste nie wissen, was du für Glück hast. Die Lage wird verflucht ernst hier im Stock, weißte; einmal ist mein Kumpel schon ohnmächtig geworden!"
Damit ging er in sein Zimmer zurück, um die Entwicklung der Dinge abzuwarten; da aber Sweater kein Zeichen
von sich gab, kehrte Philpot wieder auf den Treppenabsatz zurück und rief Harlow von neuem an:
„Ich meine immer, man kann besser arbeiten, wenn man was getrunken hat: es schafft besser."
„Da hast du bestimmt recht", antwortete Harlow, „hab ich auch schon oft festgestellt."
Sweater kam aus dem vorderen Schlafzimmer und ging in einen der hinteren Räume, ohne einen der Leute zu beachten.
„Ich fürchte, der reagiert sauer, Mann", flüsterte Harlow, und Philpot schüttelte traurig den Kopf und kehrte an die Arbeit zurück. Kurze Zeit danach kam er indessen wieder heraus und sprach Harlow noch einmal an.
„Ich hab mal 'nen Fall erlebt", sagte er in melancholischem Ton, „wo 'n Kumpel bei so 'ner Arbeit hier - vor Durst - gestorben ist, und bei der Leichenschau hat der Doktor gesagt, 'n viertel Liter würde den gerettet haben!"
„Muss 'n fürchterlicher Tod gewesen sein", bemerkte Harlow.
„Fürchterlich ist gar kein Ausdruck nicht dafür, Mann", antwortete Philpot klagend, „'s war gradezu furchtbar!"
Nach diesem letzten herzzerreißenden Appell an Sweaters Menschlichkeit kehrten sie mit dem Gefühl zur Arbeit zurück: was auch immer das Ergebnis ihrer Bemühungen sein mochte, sie hatten ihr Bestes getan. Sie hatten ihm die Angelegenheit offen und ehrlich unterbreitet, mehr konnte nicht gesagt werden; nun lag die Sache bei ihm.
Aber alles war umsonst. Entweder verstand Sweater nicht, oder er wollte nicht verstehen, und als er die Treppe herunterkam, nahm er keinerlei Notiz von der Mütze, die Philpot so auffällig mitten auf den Treppenabsatz gelegt hatte.

 

9. Kapitel Wer soll zahlen?

Sweater erreichte die Eingangshalle beinahe im gleichen Augenblick, als Rushton durch die Haustür trat. Freundschaftlich begrüßten sie einander, und nachdem sie ein paar
Bemerkungen über den Stand der Arbeit gewechselt hatten, gingen sie in den Salon, wo sich Owen und Easton befanden, und Rushton sagte:
„Und dieses Zimmer? Haben Sie sich schon entschlossen, was Sie damit machen lassen wollen?"
„Ja", erwiderte Sweater, „aber das werde ich Ihnen nachher sagen. Worüber ich mir Gedanken mache, sind die Abflussrohre. Haben Sie die Pläne mitgebracht?"
„Ja."
„Was soll es kosten?"
„Warten Sie einen Augenblick", sagte Rushton mit einer leisen Bewegung, die Sweaters Aufmerksamkeit auf die Anwesenheit der beiden Arbeiter lenkte. Sweater verstand.
„Sie können das 'n paar Minuten lassen, ja?" fuhr Rushton fort, zu Owen und Easton gewandt. „Gehen Sie und machen Sie 'n Weilchen was andres."
Als sie allein waren, schloss Rushton die Tür und bemerkte: „'s ist immer ganz gut, diese Burschen nicht mehr als nötig wissen zu lassen."
Sweater pflichtete ihm bei.
„Nun, das Anlegen dieser Abwässerungsleitung besteht eigentlich aus zwei verschiedenen Arbeiten", sagte Rushton. „Einmal sind da die Abflussrohre vorm Haus, das heißt der Teil der Arbeit, der tatsächlich auf Ihrem Grundstück zu machen ist. Wenn der fertig ist, muss 'n Rohr unter dieser Privatstraße bis zur Hauptstraße gelegt werden, um die Abflussrohre vom Haus mit der städtischen Entwässerung zu verbinden. Können Sie mir folgen?"
„Ausgezeichnet. Was kostet denn das Ganze?"
„Die Abflussanlage vom Haus fünfundzwanzig Pfund und das Verbindungsrohr dreißig Pfund. Fünfundfünfzig Pfund im ganzen."
„Hm. Das ist der niedrigste Preis, für den Sie's machen können, wie?"
„Das ist der niedrigste. Ich hab sehr sorgfältig kalkuliert; die Zeit und das Material, und das ist praktisch das einzige, was ich Ihnen berechne."
In Wahrheit hatte Rushton nicht das geringste mit dem Kostenanschlag zu tun gehabt: hierzu besaß er nicht die nötigen Kenntnisse. Hunter hatte die Pläne gezeichnet, die Kosten berechnet und den Voranschlag fertig gestellt.
„Ich habe in der letzten Zeit über diese Sache nachgedacht", sagte Sweater und sah Rushton mit schlauem Seitenblick an. „Ich sehe nicht ein, weshalb ich das Verbindungsrohr bezahlen muss. Die Stadt sollte das bezahlen. Was sagen Sie dazu?"
Rushton lachte. „Ich wüsste nicht, warum eigentlich nicht", antwortete er.
„Ich denke, wir könnten es so einrichten, meinen Sie nicht?" fuhr Sweater fort. „Auf jeden Fall, die Arbeit muss getan werden, lassen Sie die Leute also weitermachen. Fünfundfünfzig Pfund für beide Teile der Anlage, sagten Sie?"
„Ja."
„Na, gut, legen Sie nur los, und was sich mit der Stadt
machen lässt, werden wir später sehn."
„Ich glaub nicht, dass es sehr schwierig sein wird, mit ihr zu verhandeln", sagte Rushton grinsend, und Sweater lächelte zustimmend.
Als sie durch das Vestibül gingen, trafen sie Hunter, der gerade gekommen war. Er war ziemlich überrascht, sie anzutreffen, denn er wusste nichts von ihrer Verabredung. Er 1 wünschte ihnen „Guten Morgen" in so verlegen zögerndem Ton, als zweifle er, wie man seinen Gruß aufnehmen werde. Sweater nickte kurz, aber Rushton ignorierte ihn gänzlich, und Nimrod ging weiter; er sah aus und er fühlte sich wie ein Straßenköter, der gerade einen Fußtritt erhalten hat.
Während Sweater und Rushton einen Rundgang durch das Haus machten, schwänzelte Hunter in respektvoller Entfernung um sie herum, in der Hoffnung, man werde schließlich einige Notiz von ihm nehmen. Sein trübseliges Gesicht wurde noch länger als gewöhnlich, als er bemerkte, dass sie sich anschickten, das Haus zu verlassen, scheinbar ohne auch nur zur Kenntnis zu nehmen, dass er da war. Im Hinausgehen endlich hielt Rushton auf der Schwelle inne und rief ihn:
„Mr. Hunter!" „Jawohl, Mr. Rushton."
Nimrod rannte zu ihm hin wie ein Hund, von dem sein Herr endlich Notiz nimmt: hätte er einen Schwanz besessen, so hätte er wahrscheinlich damit gewedelt. Rushton gab ihm die Pläne und die Anweisung, die Arbeit solle weitergeführt werden.
Nachdem sie gegangen waren, schlich Hunter eine Zeitlang schweigend im Hause umher, in die Zimmer hinein und wieder heraus, auf und ab, durch Flure und über die Treppen. Nach einer Weile ging er in das Zimmer, in dem Newman war, stand schweigend dort und beobachtete ihn etwa zehn Minuten lang bei der Arbeit. Der Mann strich die Scheuerleiste an, und gerade kam er zu einem Teil, der an mehreren Stellen rissig war; daher nahm er sein Messer und begann die Spalten mit Kitt zu verschmieren. Unter Hunters Blicken war er derartig nervös, dass seine Hand stark zitterte und er doppelt soviel Zeit dazu brauchte, wie er eigentlich sollte; Hunter sagte ihm dies mit brutaler Offenheit.
„Halten Sie sich nicht damit auf, solche kleinen Risse zu verkitten", schrie er. „Fülln Sie sie mit Farbe aus. Wir könnend uns nicht leisten, Sie dafür zu bezahlen, dass Sie so rumfummeln!"
Newman gab keine Antwort.
Elend fand keinen Vorwand, noch jemand anzubrüllen, da sich alle ins Zeug legten, so sehr sie nur konnten. Während er wie ein böser Geist im Hause hin und her wanderte, folgten ihm verstohlen unfreundliche Blicke der Leute, die ihn im Innern verfluchten, während er vorbeiging.
Er schlich sich in den Salon, und nachdem er mit boshaftem Gesichtsausdruck dagestanden und Owen und Easton schweigend beobachtet hatte, kam er wieder heraus, ohne ein Wort geäußert zu haben.
Er machte es oft so, doch heute beunruhigte sein Verhalten Owen ziemlich stark. Unsicher fragte er sich, was das wohl zu bedeuten habe, und er begann, irgendwie besorgt zu werden. Hunters Schweigen schien bedrohlicher als sein Reden.

 

10. Kapitel Der lange Hügelweg

Bert gelangte zur Werkstatt und belud so schnell wie möglich den Handkarren mit den Sachen, nach denen man ihn ausgesandt hatte; dann machte er sich auf den Rückweg. In der Stadt kam er recht gut voran, weil die mit Holzklötzen gepflasterten Straßen glatt und eben waren. Wäre nur der ganze Weg so gewesen, dann wäre er ihm nicht allzu schwer gefallen, wenn er auch ein recht kleiner Junge war für einen so großen Karren und eine so schwere Last. Solange er sich auf der holzgepflasterten Straße befand, war die Hauptschwierigkeit die, zu übersehen, wohin er fuhr, denn der Karren war so hoch beladen, und er war so klein. Natürlich machte es die Leiter auf dem Wagen nur noch schlimmer. Unter Anwendung großer Vorsicht gelang es ihm jedoch, gut durch die Stadt zu kommen, obschon er gerade nur eben vermied, mit einigen Fahrzeugen zusammenzustoßen, darunter zwei, drei Autos und eine Straßenbahn, und beinahe hätte er eine alte Frau umgefahren, die ein großes Wäschebündel trug. Von Zeit zu Zeit traf er andere kleine Jungen seiner Bekanntschaft, einige davon frühere Schulkameraden. Manche von ihnen schleppten schwere Lebensmittelkörbe, andere hölzerne Bretter mit Fleischkeulen darauf.
Leider hörte das Holzpflaster gerade da auf, wo der Weg zu steigen begann. Bert befand sich jetzt am Anfang einer längeren Schotterstraße, die bis zu ihrem Ende langsam und hartnäckig bergan führte. Schon viele Male hatte Bert einen Karren diese Straße hinaufgeschoben und kannte daher die beste Methode, um mit ihr fertig zu werden. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass ein Frontalangriff auf diese Straße misslingen musste, und so wandte er auch diesmal seine gewohnte Taktik an, diagonale Bewegungen auszuführen und die Straße wiederholt von; rechts nach links und von links nach rechts zu überqueren, wie ein Segelschiff gegen den Wind kreuzt, und etwa alle zwanzig Meter zu halten, um sich auszuruhen und Atem zu schöpfen. Die Entfernung, die er jeweils zurücklegte, war;
nicht so sehr davon bestimmt, wie weit seine Kraft reichte, als vielmehr durch verschiedene Gegenstände am Rande der Straße - die Laternen zum Beispiel. Während einer Ruhepause blickte er schon immer nach vorn und bestimmte einen Laternenpfahl oder eine Straßenecke als nächste Haltestelle, und wenn er dann weiterfuhr, machte er verzweifelt die heftigsten Anstrengungen, diesen Punkt zu erreichen.
Meistens war das Ziel, das er sich ausgesucht hatte, zu weit entfernt, denn gewöhnlich überschätzte er seine Kraft, und jedes Mal, wenn er gezwungen war nachzugeben, schob er den Karren gegen den Bordstein und stand dort, nach Atem ringend und schwer enttäuscht über sein Versagen.
Bei einer dieser Pausen wurde er sich plötzlich bewusst, dass er schon sehr lange unterwegs war; er musste sich beeilen, oder es würde Krach geben: noch nicht einmal die Hälfte der Straße hatte er zurückgelegt!
Er wählte einen entfernt stehenden Laternenpfahl aus und beschloss, erst wieder zu rasten, wenn er dort angelangt war.
Der Karren hatte eine einzige Deichsel mit einem Querholz vorn, das als Handgriff diente; diesen umklammerte Bert grimmig mit beiden Händen, stemmte die Brust dagegen, und mit heftiger Anstrengung schob er den Wagen vor sich her.
Der schien mit jedem Fußbreit Wegs schwerer zu werden. Berts ganzer Körper schmerzte entsetzlich, besonders seine Schenkel und Waden; trotzdem aber mühte er sich ab, kämpfte und sagte sich, er werde nicht nachgeben, bis er den Laternenpfahl erreicht hätte.
Da der Griff auf den Brustkasten drückte, schob er ihn zum Magen hinab; das war aber noch schmerzhafter, und so setzte er ihn wieder gegen die Brust und kämpfte sich wildentschlossen vorwärts; er rang nach Atem, und sein Herz klopfte zum Zerspringen.
Schwerer und schwerer wurde der Wagen. Nach einer Weile schien es dem Jungen, als versuchte vorn jemand, ihn den Berg wieder hinunterzustoßen. Diese Vorstellung war so komisch, dass sie ihn einen Augenblick lang zum Lachen reizte, aber das Bedürfnis verschwand fast sogleich,
nachdem es gekommen war, und wurde von der Furcht abgelöst, er werde doch nicht lange genug aushalten, um den Laternenpfahl zu erreichen. Mit zusammengebissenen Zähnen machte er noch einmal eine furchtbare Anstrengung, stolperte zwei bis drei Schritte vorwärts, und dann - hielt der Wagen. Verzweifelt kämpfte Bert einige Sekunden lang mit ihm, aber plötzlich hatte ihn alle Kraft verlassen, seine Beine waren so schwach, dass er fast zu Boden sank, und der Karren begann bergab zurückzufahren. Bert war gerade noch fähig, sich daran festzuhalten und ihn zu lenken, so dass der Wagen gegen den Bordstein stieß und dort zur Ruhe kam. Halb betäubt, sehr blass, schweißüberströmt und zitternd stand der Junge und hielt den Karren. Besonders seine Beine bebten so heftig, dass er dachte, wenn er sich nicht ein wenig hinsetzen könne, werde er hinfallen.
Vorsichtig ließ er den Griff hinunter, um nicht die Schlämmkreide aus dem Eimer zu vergießen, der an einem Haken unter dem Karren hing; dann setzte er sich auf die Bordschwelle und lehnte sich müde gegen das Rad.
Etwas weiter unten an der Straße stand eine Kirche mit einer Turmuhr. Sie zeigte fünf Minuten vor zehn. Bert nahm sich vor, wenn es zehn Uhr sei, werde er wieder aufbrechen.
Während er ruhte, kam ihm mancherlei in den Sinn. Gerade hinter der Kirche lag ein Feld mit mehreren Teichen, zu denen er mit den anderen Jungen immer Stichlinge fangen ging. Hätte er nicht den Karren gehabt, so wäre er jetzt einmal hinübergegangen, um nachzusehen, ob es dort noch immer welche gab. Er erinnerte sich, er war sehr begierig gewesen, die Schule zu verlassen und arbeiten zu gehen, aber eigentlich war es doch eine schöne Zeit gewesen.
Dann dachte er an den Tag, an dem ihn seine Mutter in Mr. Rushtons Büro brachte, um ihn zu „verpflichten". Er erinnerte sich dieses Tages sehr lebhaft: fast ein Jahr war es her. Wie aufgeregt er gewesen war! Seine Hand hatte so gezittert, dass er kaum die Feder halten konnte. Und nachdem bereits alles vorüber war, hatten sie sich beide noch immer irgendwie sehr elend gefühlt. Seine Mutter war im Büro gleichfalls sehr aufgeregt gewesen, und als
sie nach Hause kamen, weinte sie heftig, presste ihn an sich, küsste ihn, nannte ihn ihren armen kleinen vaterlosen Jungen und sagte, sie hoffe, er werde sich gut aufführen und sich bemühen, gut zu lernen. Dann weinte er ebenfalls und versprach ihr, sein Bestes zu tun. Mit Stolz überlegte er, dass er sein Versprechen, er werde sich gut betragen und zu lernen versuchen, gehalten hatte: tatsächlich verstand er bereits eine ganze Menge von seinem Handwerk - Hintertüren konnte er so gut anstreichen wie nur irgendeiner, und Geländer ebenfalls! Owen hatte ihn viele Dinge gelehrt und versprochen, einige Marmoriermuster für ihn anzufertigen, damit er sich abends zu Hause darin üben konnte, sie zu kopieren. Owen war ein feiner Kerl. Bert beschloss, ihm mitzuteilen, was Crass zu Easton gesagt hatte. Man stelle sich vor, was für eine Frechheit von einem nichtsnützigen Kerl wie Crass, zu versuchen, Owen hinauszudrängen! Eher mochte Crass selbst hinausgesetzt werden, damit Owen Vorarbeiter werden konnte.
Eine Minute vor zehn.
Schweren Herzens beobachtete Bert die Uhr. Seine Beine schmerzten noch arg. Er konnte nicht sehen, wie sich die Uhrzeiger bewegten, aber sie krochen trotzdem weiter. Jetzt war der Minutenzeiger über den Rand der Zahl hinausgelangt, und Bert begann zu überlegen, ob er nicht noch fünf Minuten ausruhen konnte? Aber er war schon so lange unterwegs, dass er den Gedanken fallenließ. Der Minutenzeiger stand jetzt senkrecht, und es war höchste Zeit weiterzugehen.
Gerade als er sich erheben wollte, sagte eine raue Stimme hinter ihm:
„Wie lange willste denn da noch sitzen?"
Schuldbewusst fuhr Bert auf und sah sich Mr. Rushton gegenüber, der ihn mit ärgerlichem Stirnrunzeln betrachtete, während dicht daneben die riesige Gestalt des feisten Sweater aufragte, dessen fettes Gesicht den Kummer widerspiegelte, den er angesichts eines so furchtbaren Beispiels jugendlicher Verworfenheit empfand.
„Was denkste dir denn bloß mit so 'nem Benehmen?" fragte Rushton entrüstet. „So was, hier zu sitzen, wo doch die Leute wahrscheinlich auf die Sachen warten!"
Puterrot vor Scham und Verwirrung schwieg der Junge.
„Du sitzt da schon lange", fuhr Rushton fort. „Ich hab dich die ganze Zeit beobachtet, wo ich die Straße runterkam!"
Bert versuchte zu sprechen, zu erklären, weshalb er sich ausgeruht hatte, aber sein Mund und seine Zunge waren vor Entsetzen wie ausgedörrt, und er konnte kein einziges Wort hervorbringen.
„Auf die Weise kommt man im Leben nicht voran, hörst du, mein Junge!" bemerkte Sweater, hob den Zeigefinger und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.
„Mach sofort, dass du weiterkommst!" sagte Rushton grob. „Ich wundre mich über dich! Was für 'ne Idee! Dich einfach während der Zeit, wo ich dich bezahle, hinzusetzen!"
Dies stimmte. Rushton war nicht nur ärgerlich, sondern über die Kühnheit des Jungen verblüfft. Unglaublich, dass einer seiner Angestellten die Frechheit hatte und es wagte, sich während der von ihm bezahlten Zeit zu setzen!
Der Junge hob die Deichsel des Karrens auf und begann wieder, diesen den Berg hinaufzuschieben. Er schien ihm jetzt schwerer als je, aber doch kam er irgendwie vorwärts. Er blickte sich immer von neuem nach Rushton und Sweater um, die bald um die Ecke bogen und außer Sicht waren; dann schob er den Karren wieder gegen den Bordstein, um Atem zu schöpfen. Viel weiter hätte er es ohne eine Ruhepause auch nicht geschafft, selbst wenn sie ihn noch immer beobachtet hätten. Diesmal rastete er jedoch nicht länger als eine halbe Minute, weil er befürchtete, sie könnten um die Ecke nach ihm spähen.
Jetzt gab er das Laternenpfahlsystem auf und hielt in regelmäßigen, kurzen Abständen für etwa eine Minute an. So erreichte er endlich die Spitze des Berges und beglückwünschte sich mit einem Seufzer, weil die Fahrt nun so gut wie beendet war.
Kurz bevor er am Tor des Hauses anlangte, sah er, wie sich Hunter herausschlich, sein Rad bestieg und davonfuhr. Bert schob seinen Karren zum Vordereingang und begann, die Sachen ins Haus zu tragen. Während er damit beschäftigt war, bemerkte er Philpot, der vorsichtig über das Geländer lugte, und rief ihn an:
„Hilf mir mal mit dem Schlämmkreideeimer, ja, Joe?" „Aber gern, mein Sohn, mit dem größten Verdruss!" antwortete Philpot und eilte die Treppe herunter.
Während sie den Eimer hineintrugen, blinzelte Philpot Bert zu und flüsterte:
„Haste Pontius Pilatus irgendwo draußen gesehn?"
„Der ist grad auf seinem Rad fort, wie ich zum Tor reinkam."
„So? Na, Gott sei Dank! Ich wünsch ihm nichts Schlechtes", sagte Philpot mit Inbrunst, „aber hoffentlich überfahrt 'n ein Auto!"
Diesem Wunsch stimmte Bert von Herzen zu, und auch alle übrigen drückten ähnlich barmherzige Gefühle aus, sobald sie hörten, dass Elend gegangen war.
Kurz vor vier Uhr nachmittags begann Bert, die Jalousien auf den Karren zu laden, die einige Tage zuvor abgenommen worden waren.
„Möcht wissen, wer den Auftrag kriegt, die zu streichen?" bemerkte Philpot zu Newman.
„Vielleicht nehmen sie 'n paar von uns hier weg."
„Glaub ich nicht. Wir sind hier schon knapp an Leuten. Wahrscheinlich stellen sie 'n paar Neue ein. 'ne Sauarbeit, diese Schalusien, weißte: bestimmt brauchen die drei oder vier Anstriche bei dem Zustand, in dem sie sind!"
„Ja. So wird's sicher gemacht", erwiderte Newman und fügte mit unfrohem Lachen hinzu:
„Ich glaub nicht, dass sie große Schwierigkeiten haben, 'n paar Leute zu kriegen."
„Nö, da haste recht, Mann, 's laufen genug rum, für die 'ne Woche Arbeit 'n Geschenk des Himmels wär." „Wenn ich's mir recht überlege", fuhr Newman nach einer Pause fort, „ich glaub, früher hat die Firma alle Schalusien dem alten Latham in Arbeit gegeben, dem Schalusienmacher. Vielleicht geben sie ihm die hier auch."
„Wahrscheinlich", antwortete Philpot. „Ich glaub, der macht sie sogar noch billiger als wir, und das ist alles, was die Firma interessiert."
Wie weit sich ihre Vermutungen bestätigten, wird man später sehen.
Kurz nachdem Bert gegangen war, wurde es so dunkel, dass die Kerzen angezündet werden mussten, und Philpot bemerkte, obwohl er es hasse, unter solchen Bedingungen zu arbeiten, sei er doch jedes Mal froh, wenn es Zeit sei Licht zu machen, denn dann dauerte es nicht mehr lange bis zum Feierabend.
Ungefähr fünf Minuten vor fünf, als alle gerade ihre Sachen für die Nacht aufhoben, erschien plötzlich Nimrod wieder im Haus. Er war in der Hoffnung gekommen einige von ihnen schon vorzeitig für den Nachhauseweg fix und fertig angezogen zu finden. Da dieses löbliche Unternehmen misslungen war, stand er einige Sekunden schweigend allein im Salon. Das war ein geräumiges, hohes Zimmer mit einem großen, halbkreisförmigen Erker. Rings um die Decke lief ein tiefes Karnies. Im Halbdunkel schien der Raum noch größer zu sein, als er tatsächlich war. Nachdem Hunter ein Weilchen dort gestanden und nachgedacht hatte, wandte er sich um und schritt zur Küche, wo die Leute sich für den Nachhauseweg umzogen. Owen nahm gerade seinen Kittel und seine Schürze ab, als der andere eintrat. Hunter sprach ihn mit einem bösartigen Knurren an:
„Sie können sich heut Abend, wenn Sie nach Hause gehen, im Büro melden."
Owens Herz schien auszusetzen. All die kleinlichen Belästigungen, die er von Hunter erlitten hatte, fielen ihm ein, zusammen mit dem, was Easton ihm am Morgen mitgeteilt hatte. Sprachlos hielt er die Schürze in der Hand und starrte den Meister an.
„Wozu?" brachte er endlich heraus. „Was ist los?" „Sie werden schon sehen, wozu Sie gewünscht werden, wenn Sie dort sind", erwiderte Hunter, ging aus dem Zimmer und verließ das Haus.
Als er gegangen war, herrschte tiefes Schweigen. Die Leute hörten auf, sich für den Heimweg vorzubereiten, und blickten einander und Owen bestürzt an. Einen Mann auf diese Weise zu entlassen, wo die Arbeit noch nicht einmal halb fertig war - und ohne sichtbaren Grund -, noch dazu an einem Montag! Es war unerhört. Sie brachen in einen Chor allgemeiner Empörung aus. Besonders Harlow und Philpot waren sehr erzürnt.
„Wenn's schon soweit ist", schrie Harlow, „verflucht noch mal. sie haben gar kein Recht dazu! Uns steht eine einstündige Kündigungsfrist zu!"
„Klar!" rief Philpot, und seine hervorquellenden Augen rollten vor Zorn. „Ich würd auch drauf bestehen, wenn ich's war. Mach, was ich dir rate, Frank: Schreib auf deinem Lohnzettel einfach bis sechs Uhr auf, dann kommste wenigstens etwas auf deine Kosten!"
Alle beteiligten sich an dem Ausbruch empörten Protestes. Das heißt alle außer Crass und Slyme. Die aber befanden sich eigentlich gar nicht in der Küche: sie standen draußen in der Spülkammer und packten ihre Sachen fort, und so kam es, dass sie nichts sagten, wohl aber bedeutsame Blicke wechselten.
Owen hatte jetzt seine Selbstbeherrschung zurückgewonnen. Er suchte alle seine Werkzeuge zusammen und packte sie mit seiner Schürze und seinem Kittel in die Werkzeugtasche, um sie heute Abend mit heimzunehmen; nach kurzer Überlegung beschloss er jedoch, dies nicht zu tun. Schließlich war es ja gar nicht absolut sicher, dass er entlassen wurde: vielleicht sandten sie ihn auch zu einer anderen Arbeitsstelle.
Die Leute gingen miteinander - einige auf dem Bürgersteig und einige auf dem Fahrweg -, bis sie in den unteren Teil der Stadt gelangten; dann trennten sie sich. Crass, Sawkins, Bundy und Philpot begaben sich zu einem Glas in die „Cricketers", Newman ging allein weiter, Slyme begleitete Easton, der mit ihm verabredet hatte, er solle heute Abend mitkommen und das Zimmer besichtigen, und Owen ging in Richtung des Büros.

 

11. Kapitel Hände und Hirne

Das Geschäft der Firma Rushton & Co. lag in einer der Hauptstraßen von Mugsborough und bestand aus einem zweifenstrigen, mit Spiegelglasscheiben versehenen Laden. Er erstreckte sich bis zur dahinter liegenden engen Nebenstraße. Im vorderen Teil lagerten Tapeten, Schablonen, Ständer mit Reliefmustern für Wand- und Deckendekorationen, Kästen mit Pinseln, Firnis- und Lacktöpfe sowie ähnliche Dinge.
Hinten befand sich das Büro; es war vom übrigen Teil des Ladens durch eine Trennwand mit dunklen Glasscheiben abgeschlossen. Dieses Büro hatte zwei Türen: die in der Trennwand führte zum vorderen Teil des Ladens und die andere neben dem Fenster zur Nebenstraße hinaus. Die untere Hälfte des hinteren Schiebefensters war mit einer einzigen großen Scheibe verglast, und darauf war mit schwarzen Lettern auf weißem Grund „Rushton 8c Co." gemalt.
Zwei oder drei Sekunden lang blieb Owen draußen vor diesem Fenster stehen, ohne zu klopfen. Im Büro brannte helles Licht. Dann klopfte er an die Tür, die Hunter sogleich von innen öffnete, und Owen trat ein.
Rushton saß in einem Sessel an seinem Pult, rauchte eine Zigarre und las gerade einen der vor ihm liegenden Briefe. Dahinter stand eine dreizehn mal achtzehn Zentimeter große Photographie vom Innern irgendeines Gebäudes. Vor einem zweiten Pult oder vielmehr Tisch am anderen Ende des Raumes saß eine junge Frau und schrieb in einem großen Hauptbuch. Neben ihr auf dem Tisch stand eine Schreibmaschine.
Rushton blickte zerstreut auf, als Owen eintrat, nahm aber weiter keine Notiz von ihm.
„Warten Sie nur 'nen Augenblick", sagte Hunter zu Owen, und dann setzte der Meister, nachdem er sich einige Minuten lang in leisem Ton mit Rushton unterhalten hatte, seinen Hut auf und ging durch die Tür in der Trennungswand zum vorderen Laden hinaus.
Owen stand und wartete, bis Rushton sprach. Er fragte sich, weshalb sich Hunter wohl davongemacht hatte, und verspürte Lust, die Tür zu öffnen und ihn zurückzurufen. Zu einem war er fest entschlossen: er wollte eine Erklärung verlangen; er würde es sich nicht einfach gefallen lassen, ohne triftigen Grund entlassen zu werden.
Als Rushton den Brief zu Ende gelesen hatte, sah er auf, lehnte sich bequem in seinen Stuhl zurück, blies eine Rauchwolke in die Luft und sagte in leutseligem, nachsichtigem Ton, wie man ihn etwa einem Kinde gegenüber anwendet:
„Sie sind doch so 'ne Art Künstler, wie?"
Owen war von diesem Empfang derart überrascht, dass er einen Augenblick lang die Antwort schuldig blieb.
„Sie wissen, was ich meine", fuhr Rushton fort, „Dekorationsarbeit, so was wie Ihre Muster, die da oben hängen."
Er bemerkte Owens Verlegenheit und war erfreut. Er dachte, der Mann sei verwirrt, weil er von einer so hohen Persönlichkeit wie ihm angesprochen wurde.
Mr. Rushton war etwa fünfunddreißig Jahre alt, hatte hellgraue Augen, blondes Haar, einen blonden Schnurrbart und einen weißlichgrauen Teint. Er war hoch gewachsen, ungefähr einen Meter achtundsiebzig groß, und machte eine unbeholfene Figur; nicht beleibt, sondern fett - in gutem Zustand. Er sah sehr wohlgenährt und überhaupt gut gepflegt aus. Seine Kleidung besaß einen guten Schnitt, war von ausgezeichneter Qualität und passte ihm vorzüglich. Er hatte einen grauen Norfolk-Anzug an, dunkelbraune Stiefel und gestrickte Wollstrümpfe, die bis zum Knie reichten.
Er war ein Mann, der sich selbst sehr ernst nahm. Er hatte etwas Pompöses und arrogant Wichtigtuerisches an sich, das - im Hinblick darauf, wer und was er war -jeden mit Sinn für Humor begabten Beobachter belustigt hätte.
„Jawohl", antwortete Owen endlich. „Ich verstehe mich etwas auf diese Art Arbeit, doch behaupte ich nicht, sie so gut oder so schnell auszuführen wie jemand, der nichts anderes tut."
„O nein, natürlich nicht, aber ich denke, das hier würden Sie ganz gut machen. Es handelt sich um den Salon in der ,Höhle'... Mr. Sweater hat mit mir drüber gesprochen. Als er vor einiger Zeit in Paris war, hat er anscheinend 'n Zimmer gesehn, das ihm gefallen hat. Die Wände und die Decke waren nicht tapeziert, sondern bemalt: Sie wissen doch, was ich meine - in 'ne Art Paneele aufgeteilt und mit Schablonen- und Handmalerei dekoriert. Hier ist 'ne Photographie davon - 's ist in so 'ner Art japanischem Stil gehalten."
Während er sprach, reichte er Owen die Photographie. Sie zeigte einen Raum, dessen Wände und Decke in maurischem Stil dekoriert waren.
„Zuerst dachte Mr. Sweater dran, 'ne Londoner Firma dafür zu holen, die Idee hat er dann aber wegen der Kosten aufgegeben; aber wenn Sie's machen können, ohne dass es zuviel kostet, kann ich ihn, glaube ich, dazu bringen, dass er's machen lässt. Aber wenn's 'ne Stange Geld kostet, wird gar nichts draus werden. Dann lässt er einfach nur 'nen Fries machen und das Zimmer wie gewöhnlich tapezieren."
Das stimmte nicht: Rushton sagte es nur für den Fall, dass Owen etwa während dieser Arbeit Extralohn verlangte. In Wahrheit wollte Sweater den Raum auf jeden Fall dekorieren lassen und beabsichtigte, hierzu eine Londoner Firma kommen zu lassen. Nur ziemlich widerstrebend hatte er sich bereit erklärt, sich von Rushton & Co. einen Kostenvoranschlag machen zu lassen, denn er glaubte, die Firma sei nicht fähig, die Arbeit zufrieden stellend auszuführen.
Owen betrachtete eingehend die Photographie.
„Können Sie in dem Zimmer was Ähnliches machen?"
„Ja, ich denke schon", erwiderte Owen.
„Nun, wissen Sie, ich möchte nicht, dass Sie mit der Arbeit anfangen und dann nicht damit fertig werden. Können Sie's, oder können Sie's nicht?"
Rushton war sicher, dass Owen es ausführen konnte, und es war ihm sehr viel daran gelegen, dass er die Arbeit unternahm, aber er wollte nicht, dass Owen dies wusste. Er wünschte den Eindruck zu erwecken, es sei ihm völlig gleichgültig, ob Owen die Arbeit ausführte oder nicht. Ja, er wünschte, es solle so scheinen, als tue er ihm einen Gefallen, ihm eine so schöne Arbeit zu verschaffen.
„Ich will Ihnen sagen, was ich tun kann", erwiderte Owen. „Ich kann Ihnen eine Aquarellskizze machen, einen Entwurf, und dann kann ich ihn, natürlich nur, wenn er Ihren Anforderungen entspricht, auf die Decke und die Wände übertragen, und ich werde Sie bald wissen lassen, wie lange ich dazu brauche."
Rushton schien nachzudenken.
Owen stand da, betrachtete die Photographie und begann, ein heftiges Verlangen zu empfinden, die Arbeit ausführen.
Rushton schüttelte zweifelnd den Kopf. Wenn ich Sie 'ne Menge Zeit mit den Skizzen verbringen lasse und Mr. Sweater Ihre Zeichnung nachher nicht gefällt - wie komme ich 'n dann auf meine Kosten?"
„Nun, wenn wir es nun so machten: ich zeichne den Entwurf des Abends zu Hause - in meiner Freizeit. Wird er angenommen, so berechne ich Ihnen die Zeit, die ich darauf verwendet habe. Wenn es nicht das Geeignete ist, rechne ich die Zeit überhaupt nicht an."
Rushtons Gesicht erhellte sich beträchtlich. „Na, schön. So können Sie's machen", sagte er und tat gutmütig. „Aber auf jeden Fall dürfen Sie's nicht zu üppig auftragen, denn, wie gesagt, er will nicht zuviel dafür ausgeben. Tatsache ist, wenn's 'ne Menge kostet, lässt er's einfach überhaupt nicht machen."
Rushton kannte Owen gut genug, um sicher zu sein, dass ihn keine Rücksicht auf Zeit oder Mühe davon abhalten würde, sein bestes Können an diese Arbeit zu wenden. Er wusste: übernahm der Mann das Zimmer überhaupt, so werde er die Arbeit gewiss nicht schludern, um schnell damit fertig zu werden; und Rushton wünschte auch gar nicht, dass er sich beeilte. Er wollte weiter nichts, als Owen von Anfang an einprägen, er dürfe nicht zuviel Zeit berechnen. Jeden Profit, der aus der Arbeit zu holen war, wollte er für sich selbst sichern. Ein schlauer Mensch war dieser Rushton; er hatte den idealen Charakter: wie ihn ein Mann braucht, der im Geschäft Erfolg haben und im Leben vorankommen will. Mit anderen Worten, seine Veranlagung glich sehr der eines Schweines - er war äußerst selbstsüchtig.
Niemand hat ein Recht, ihn deswegen zu verurteilen, denn alle, die unter dem gegenwärtigen System leben, frönen mehr oder weniger der Selbstsucht. Wir müssen selbstsüchtig sein: das System verlangt es. Wir müssen selbstsüchtig sein, sonst werden wir hungern, uns in Lumpen kleiden und schließlich in der Gosse sterben. Je selbstsüchtiger wir sind, desto besser geht es uns. Im „Kampf
ums Dasein" sind nur die Selbstsüchtigen und Schlauen in der Lage, sich zu behaupten; alle übrigen werden zu Boden geschlagen und zertreten. Niemandem kann gerechterweise ein Vorwurf daraus gemacht werden, dass er selbstsüchtig handelt - es ist eine Frage der Selbsterhaltung -, entweder müssen wir verletzen oder verletzt werden. Das System ist es, das den Vorwurf verdient. Was die Leute, die das System zu verewigen wünschen, verdienen, ist eine andere Frage.
„Wann, glauben Sie, werden Sie 'n den Entwurf fertig haben?" fragte Rushton. „Können Sie 'n heut Abend machen?"
„Ich fürchte, nein", antwortete Owen und war versucht, über diese absurde Frage zu lachen. „Das verlangt ein wenig Nachdenken."
„Wann können Sie 'n damit fertig sein? Heut ist Montag. Mittwoch früh?"
Owen zögerte.
„Wir wolln ihn nicht zu lange warten lassen, wissen Sie, sonst gibt er vielleicht die Idee ganz auf."
„Nun, sagen wir also Freitag morgen", sagte Owen und beschloss, wenn nötig, die ganze Nacht über aufzubleiben, um mit der Arbeit fertig zu werden.
Rushton schüttelte den Kopf.
„Können Sie's nicht früher erledigen? Ich fürchte, wenn wir 'n so lange warten lassen, verlieren wir den Auftrag vielleicht ganz."
„Schneller kann ich die Skizzen in der Freizeit nicht anfertigen", antwortete Owen errötend. „Wenn Sie mich morgen daheim bleiben lassen und ich die Zeit ebenso anrechnen kann, wie wenn ich in der ,Höhle' arbeite, könnte ich am Mittwoch wieder meine übliche Arbeit machen und Ihnen die Zeichnungen am Donnerstag morgen geben."
„Oh, in Ordnung", sagte Rushton hastig. „Aber immerhin - machen Sie's nicht zu üppig, sonst müssen wir so viel für die Arbeit berechnen, dass er sie schließlich doch nicht machen lässt. Guten Abend."
„Die Photographie kann ich wohl mitnehmen?"
„Ja, gewiss", sagte Rushton und begab sich wieder an die Durchsicht seiner Briefe.
Noch lange, nachdem Owens Frau und Frankie eingeschlafen waren, arbeitete Owen an diesem Abend im Wohnzimmer, durchstöberte alte Nummern der „Dekorateurzeitung", blätterte in anderen Zeichenbuchillustrationen nach Beispielen maurischer Kunst und machte Bleistiftskizze11-
Er versuchte noch nicht, irgend etwas fertig zu stellen;
zuerst musste er nachdenken, aber er skizzierte den allgemeinen Plan, und als er schließlich zu Bett ging, konnte er lange nicht schlafen. Er glaubte fast, im Salon in der „Höhle" zu sein. Zuerst müsste die hässliche Gipsblume in der Mitte heruntergenommen werden, deren sämtliche Vertiefungen mit alter Schlämmkreide ausgefüllt waren. Das Karnies ginge; glücklicherweise war es sehr einfach, mit tiefer Einbuchtung und ohne viel Verzierungen. Nachdem dann Decke und Wände ordentlich vorbereitet wären, ginge man an die Dekoration. Die Wände müssten in Felder und Bogen eingeteilt werden, mit Malerei und Gitterwerk darin; die Türfüllungen wären auf ähnliche Weise auszuschmücken. Die Gesimse der Tür- und Fensterrahmen wollte er mit Farben und Gold hervorheben, damit sie im Stil mit der anderen Arbeit übereinstimmten, und die Einbuchtung des Karnieses mattgelb mit einer kühnen farbigen Verzierung streichen - Gold war in der Vertiefung nicht ratsam wegen der ungleichmäßigen Verteilung des Lichts, aber einige der Gesimse des Karnieses sollten golden sein. Auf der Decke wollte er ein großes Feld mit einer entsprechenden Zeichnung in Gold und bunten Farben ausmalen und es mit einem breiten Rand oder einer Einfassung umgeben. Um diesen Rand vom Mittelfeld zu trennen, sollte eine schmale Einfassung da sein und eine zweite, aber breitere, rings um die äußere Kante des Randes, wo Decke und Karnies zusammentrafen. Sowohl die Einfassungen als auch der Rand müssten mit bunten und goldenen Ornamenten bedeckt sein. Sehr sorgfältig war zu überlegen, welche Teile vergoldet werden sollten - denn während große vergoldete Flächen leicht protzig und geschmacklos aussahen, waren viele feine Goldlinien unwirksam, besonders auf einer ebenen Oberfläche, wo sie nicht immer das Licht einfingen. Er überdachte ein Stadium der Arbeit nach
dem andern und sah sie von Stufe zu Stufe voranschreiten, bis der große Raum endlich verwandelt und prächtig anzusehen war. Und dann, mitten in der Freude, die er beim Planen der Arbeit empfand, stellte sich die Furcht ein, dass man sie vielleicht überhaupt nicht ausführen ließe.
Die Frage, welche persönlichen Vorteile er dabei haben werde, kam Owen nicht ein einziges Mal. Er wünschte einfach, die Arbeit zu tun, und er war derartig beschäftigt, darüber nachzudenken und zu planen, wie sie ausgeführt werden sollte, dass die Frage des Gewinns ganz verdrängt wurde.
Obwohl aber der Gedanke, welcher Profit aus der Arbeit zu schlagen sei, Owen gar nicht in den Sinn kam, würde diese Frage Mr. Rushton zur rechten Zeit gründlich erwägen. Ja, sie war das einzige, was Mr. Rushton an der Arbeit überhaupt interessierte: nämlich, wie viel Geld daraus zu machen sei. Eben dies ist mit dem oft zitierten Sprichwort gemeint: „Der Arbeiter schafft mit den Händen - der Herr mit dem Gehirn."

 

12. Kapitel Das Zimmer wird vermietet

Der Leser wird sich erinnern: als sich die Leute trennten und Owen ins Büro ging, um mit Rushton zu sprechen, und die übrigen ihre verschiedenen Wege einschlugen, gingen Easton und Slyme miteinander.
Während des Tages hatte Easton Gelegenheit gefunden, wegen des Zimmers mit Slyme zu sprechen. Dieser wollte das Zimmer, das er augenblicklich in Untermiete bewohnte, gerade aufgeben und meinte zu Easton, zwar habe er sich fast schon für ein anderes entschlossen, doch wolle er sich das von Easton einmal ansehen. Auf dessen Vorschlag verabredeten sie, dass Slyme ihn an diesem Abend nach Haus begleiten werde. Easton hatte gesagt, Slyme könne sich den Raum ja mal ansehn; gefiele er ihm nicht so gut wie der andere, so schadete das nichts.
Ruth hatte es fertig gebracht, das Zimmer zu möblieren. Einiges hatte sie auf Kredit von einem Möbelalthändler
erhalten. Genau wusste Easton nicht, wie sie es angestellt hatte, aber es war geschafft.
„Dies ist das Haus", sagte Easton. Während sie durch die Gartentür eintraten, knarrte sie laut in den Angeln und schloss sich dann ziemlich geräuschvoll von selbst.
Ruth hatte gerade das Kind schlafen gelegt, und als sie hereinkamen, stand sie auf und schloss dabei hastig das Mieder ihres Kleides.
„Ich hab dir 'nen Herrn zu Besuch mitgebracht", sagte Easton.
Obwohl sie wusste, dass er sich nach einem Mieter für das Zimmer umsah, hatte Ruth nicht erwartet, er werde so plötzlich jemand mitbringen, und sie wünschte, er hätte ihr vorher seine Absicht mitgeteilt. Da Montag war, hatte sie den ganzen Tag über herumgewirtschaftet, und sie wusste, dass sie ziemlich unordentlich aussah. Ihr langes braunes Haar war auf dem Hinterkopf lose zu einem Knoten gewunden. Verlegen errötete sie, als der junge Mann sie anstarrte.
Easton nannte ihr Slymes Namen, und sie gaben einander die Hand; dann folgte Easton Ruths Vorschlag und nahm ein Licht, um das Zimmer zu zeigen, und während sie fort waren, brachte Ruth ihr Haar und ihr Kleid eiligst in Ordnung.
Als sie wieder unten waren, sagte Slyme, das Zimmer gefalle ihm gut. Wie viel solle es kosten?
Wünschte er nur das Zimmer zu nehmen, erkundigte sich Ruth, oder zog er vor, auch beköstigt zu werden?
Slyme meinte, dies wäre ihm lieber.
In dem Fall, sagte sie, werden zwölf Schilling die Woche wohl angemessen sein. Sie glaube, das sei etwa der übliche Preis. Natürlich sei darin die Wäsche einbegriffen, und wenn seine Sachen ein wenig geflickt werden müssten, so werde sie das für ihn tun.
Slyme erklärte sich mit diesen Bedingungen einverstanden, die - wie Ruth gesagt hatte - die üblichen waren. Er wollte das Zimmer nehmen, seine augenblickliche Wohnung aber nicht vor Sonnabend verlassen. Daher verabredeten sie, dass er seine Kiste am Sonnabendabend bringen werde.
Als er fort war, standen Easton und Ruth da und sahen einander schweigend an. Seit ihnen der Plan, das Zimmer zu vermieten, in den Sinn gekommen war, hatten sie sehr gewünscht, ihn zu verwirklichen; und doch fühlten sie sich nun, da es geschehen war, unzufrieden und unglücklich, als habe sie plötzlich ein nicht wiedergutzumachendes Unheil betroffen. In diesem Augenblick erinnerten sie sich an keine der dunkleren Seiten ihres Zusammenlebens. Die Notzeit und die Entbehrungen schienen weit zurückzuliegen und kamen ihnen unbedeutend vor neben der Tatsache, dass dieser Fremde in Zukunft ihr Heim mit ihnen teilen werde. Besonders Ruth dünkte es, das Glück der vergangenen zwölf Monate habe plötzlich ein Ende gefunden. Mit unwillkürlicher Abneigung und Furcht bebte sie vor dem Bild der Zukunft zurück, das vor ihr auftauchte und in dem dieser Eindringling als bedeutendste Gestalt erschien, die alles beherrschte und jede Einzelheit ihres häuslichen Lebens beeinträchtigte. Freilich hatten sie all das vorher gewusst, aber irgendwie war es ihnen niemals so unerträglich vorgekommen wie jetzt, und als Easton daran dachte, erfüllte ihn eine ungerechtfertigte Abneigung gegen Slyme, als dränge der sich ihnen gegen ihren Willen auf.
,Der Teufel soll ihn holen!' dachte er. ,Ich wollte, ich hätte ihn niemals hergebracht!'
Ruth schien die Aussicht auch nicht sehr glücklich zu machen.
„Na", sagte er schließlich, „was hälste von ihm?"
„Ach, er wird schon in Ordnung sein, denke ich."
„Was mich betrifft, ich wünschte, er käme nicht", fuhr Easton fort.
„Genau das dachte ich auch grad", erwiderte Ruth niedergeschlagen. „Ich mag ihn gar nicht. Ich war gegen ihn, sowie er zur Tür reinkam."
„Ich hab nicht übel Lust, morgen irgendwie 'nen Rückzieher zu machen", rief Easton nach einem weiteren Augenblick des Schweigens aus. „Ich könnt ihm sagen, wir hätten unerwartet Freunde zu Besuch."
„Ja", sagte Ruth eifrig. „Es dürfte nicht schwer sein, die eine oder die andere Ausrede zu finden."
Als sich dieser Ausweg bot, hatte sie das Empfinden, eine Last werde von ihr genommen, aber fast im gleichen Augenblick fielen ihr die Gründe ein, die sie zuerst auf den Gedanken gebracht hatten, das Zimmer zu vermieten, und mit trostloser Miene setzte sie hinzu:
„Es ist albern von uns, Liebster, uns so zu benehmen. Wir müssen das Zimmer vermieten, und da kann's genauso gut er sein wie irgend'n anderer. Wir müssen eben das Beste draus machen, das ist alles."
Easton stand mit dem Rücken zum Feuer und starrte sie düster an.
„Ja, vermutlich muss man's so ansehen", gab er schließlich zurück. „Wenn wir's nicht aushalten, geben wir das Haus auf und nehmen uns zwei Zimmer oder 'ne kleine Wohnung - wenn wir eine kriegen."
Ruth stimmte ihm zu, obgleich keine der beiden Aussichten sehr verlockend war. Die unwillkommene Veränderung in ihrer Lebensweise blieb schließlich nicht ganz ohne Entschädigung, denn von dem Augenblick an, als sie den Entschluss gefasst hatten, schien ihre Liebe zueinander sich zu erneuern und stärker zu werden. Mit heftigem Bedauern wurden sie sich bewusst, dass sie bisher das Glück dieses ausschließlichen Zusammenlebens, von dem ihnen nur noch eine Woche blieb, nicht immer richtig gewürdigt hatten. Dieses eine Mal wenigstens wurde die Gegenwart in ihrem vollen Werte geschätzt und mit dem Zauber umkleidet, der sonst fast immer die Vergangenheit umgibt.

 

13. Kapitel Zwangsarbeit und Tod

Am Dienstag, dem Tage nach seiner Unterhaltung mit Rushton, blieb Owen zu Hause und arbeitete an seinen Entwürfen. Sie wurden nicht fertig, waren jedoch so weit fortgeschritten, dass er glaubte, am Mittwoch Abend nach dem Tee werde er sie beenden können. Am Mittwoch ging er erst nach dem Frühstück zur Arbeit, und seine Abwesenheit schien die unter den übrigen Arbeitern herrschende
Meinung, er sei entlassen worden, zu bestätigen. Dieser Glaube wurde noch weiter bestärkt, denn Hunter hatte einen neuen Mann ins Haus gesandt und kam selbst gleichfalls ungefähr um Viertel nach sieben; fast hätte er Philpot beim Rauchen ertappt.
Während des Frühstücks fragte Philpot besorgt Crass in Bezug auf Hunter:
„Wie ist er 'n heut morgen gelaunt, Bob?" „Weich wie Butter", erwiderte der. „Du würd'st annehmen, er könnte keiner Fliege was tun."
„Scheint, er ist recht zufrieden mit sich, was?" sagte Harlow.
„Ja", bemerkte Newman. „Er hat ,guten Morgen!' zu mir gesagt."
„Zu mir auch", meinte Easton. „Kommt er doch in 'n Salon und sagt: ,Oh, Sie sind hier, Easton!' - einfach so, ganz freundlich. Ich sage: Jawoll, Mr. Hunter.' - ,Nun', sagt er, ,pinseln Sie das über, so schnell Sie können, für die Arbeit kriegen wir nicht viel; verschwenden Sie nicht erst viel Zeit damit, die Löcher zu verschmieren. Pinseln Sie einfach drüber, und fertig!'"
„Er scheint sich wirklich über irgendwas sehr zu freuen", sagte Harlow. „Ich dachte, vielleicht ist'n Auftrag für'n Begräbnis gekommen; da ist er gewöhnlich guter Laune."
„Ich glaube, nichts würde ihm soviel Freude machen wie 'ne Epidemie", äußerte Philpot. „Pocken, Influentsia, Cholera oder irgend so was."
„Jawohl, wisst ihr nicht mehr, wie gut er letzten Sommer gelaunt war, als es soviel Scharlachfälle gab?" bemerkte Harlow.
„Freilich", schmunzelte Crass. „Ich weiß noch - wir hatten sechs Kinderbegräbnisse in einer Woche. Das olle Elend hat gegrient wie 'n Primeltopf, denn gewöhnlich gibt's im Sommer nicht viel Leichen in 'n Kasten zu packen. Beerdigungsinstitute bringen ihre Ernte im Winter ein.
„Diesen Winter haben wir aber bisher noch nicht viel Leichen gehabt", sagte Harlow.
„Nicht soviel wie sonst", gab Crass zu. „Trotzdem - wir können uns nicht beklagen: seit Anfang Oktober haben wir fast jede Woche eine gehabt. Immerhin, nicht schlecht.
Crass war lebhaft interessiert an der Beerdigungsabteilung von Rushton & Co. Er erhielt stets den Auftrag, den Sarg zu polieren oder zu lackieren, ihn ins Haus tragen und die Leiche „reinlegen" zu helfen, und außerdem gab er bei der Beerdigung einen der Sargträger ab. Diese Arbeit wurde höher bezahlt als die Malerarbeit.
„Aber ich glaub nicht, dass 'n Begräbnis eingelaufen ist", fügte Crass nach einer Pause hinzu. „Ich glaub, es ist, weil er sich freut, dass er Owen endlich los ist, wenn ihr mich fragt."
„Vielleicht hat das was damit zu tun", meinte Harlow. „Aber trotzdem - ich nenn das nicht den richtigen Weg, jemand zu behandeln - 'nen Mann rauszuschmeißen, bloß weil er 'n nicht leiden kann."
„Ich nenn's 'ne gottverfluchte Schande!" rief Philpot. „Owen ist 'n Kerl, der immer bereit ist, jemand 'n Gefallen zu tun, und seine Arbeit versteht er; wenn er einem auch manchmal 'n bisschen auf den Wecker fällt, muss ich zugeben, wenn er über den Sozialismus loslegt."
„Elend hat woll heut morgen nichts über ihn gesagt, was?" fragte Easton.
„Nö", antwortete Crass und fügte hinzu: „Ich hoffe nur, Owen denkt nicht, ich hätt was gegen ihn gesagt. Er hat mich an dem Abend sehr komisch angesehn, nachdem Nimrod fort war. Von nur braucht Owen so was nicht zu denken; ich bin so 'n Mensch - wenn ich schon jemand nichts Gutes tun kann, würde ich ihm doch niemals was Böses antun!"
Bei diesen Worten warfen sich einige der anderen verstohlen bedeutsame Blicke zu, und Harlow begann zu lächeln, aber niemand sagte etwas.
Da Philpot bemerkte, dass der Neue sich keinen Tee genommen hatte, machte er Bert darauf aufmerksam; der Junge füllte Owens Tasse und reichte sie dem neuen Arbeiter.
Keine ihrer Vermutungen über die Ursachen von Hunters guter Laune traf zu. Wie der Leser weiß, war Owen gar nicht entlassen worden, und einen Todesfall gab es auch nicht. Der wirkliche Grund war der: Nachdem Hunter sich entschlossen hatte, noch einen Arbeiter anzustellen,
hatte er ohne Schwierigkeit einen Mann zu dem gleichen gekürzten Lohn gefunden, zu dem Newman arbeitete, denn es gab ja so viele Arbeitslose. Bisher hatte der übliche Tarif in Mugsborough für gelernte Maler sieben Pence die Stunde betragen. Der Leser wird sich erinnern, dass Newman sich bereit erklärt hatte, Arbeit zu sechseinhalb Pence anzunehmen. Bis jetzt hatte keiner seiner Kollegen erfahren, dass Newman unter Tarif arbeitete; er hatte es niemand erzählt, denn er wusste nicht genau, ob er der einzige war oder nicht. Der heute morgen von Hunter eingestellte Mann beschloss gleichfalls, seinen Lohn zu verschweigen, bis er herausgefunden hatte, was die anderen erhielten.
Kurz vor halb neun traf Owen ein und wurde sogleich mit Fragen bestürmt, was im Büro geschehen sei. Crass hörte Owens Bericht mit schlecht verhehltem Kummer an; fast alle übrigen waren jedoch ehrlich erfreut.
„Aber was für 'ne Art und Weise, mit jemand zu sprechen!" bemerkte Harlow zu Hunters Betragen am vorigen Montagabend.
„Wisst ihr, ich meine, wenn das olle Elend vier Beine hätte, würd er 'n recht gutes Schwein abgeben", sagte Philpot ernsthaft, „und von 'nem Schwein könnt ihr nichts erwarten, als dass es grunzt."
Als Easton und Owen während des Vormittags zusammen im Salon arbeiteten, bemerkte jener:
„Hab ich dir erzählt, dass ich 'n Zimmer hab, das ich vermieten wollte, Frank?"
„Ja, ich glaube, du hast's mir erzählt."
„Nun, ich hab's dem Slyme vermietet. Mir scheint, er ist 'n sehr anständiger Kerl, meinste nicht?"
„Ja, vermutlich", erwiderte Owen zögernd. „Ich weiß nichts Nachteiliges über ihn."
„Natürlich hätten wir das Haus lieber allein, wenn wir's uns leisten könnten, aber in letzter Zeit ist die Arbeit so knapp. Ich hab mir genau ausgerechnet, wie viel Geld ich durchschnittlich während der letzten zwölf Monate verdient hab - wie viel, glaubste, macht es die Woche?"
„Weiß der Himmel", sagte Owen. „Wie viel denn?"
„Ungefähr achtzehn Schilling. Du siehst also, irgendwas mussten wir machen", fuhr Easton fort, „und ich denke, wir haben Glück, einen ehrbaren Menschen wie Slyme zu kriegen, religiös, Abstinenzler und all das, weißte. Meinste nicht auch?"
„Ja, ich glaube", sagte Owen, der, obwohl er eine starke Abneigung gegen Slyme empfand, nichts Bestimmtes wusste, das gegen ihn sprach.
Eine Zeitlang arbeiteten sie schweigend, dann sagte Owen:
„Es gibt gegenwärtig viele Tausende Menschen, denen es so schlecht geht, dass wir im Vergleich zu ihnen reich sind. Sie haben so zu leiden, dass man sagen kann, mit ihnen verglichen, leben wir im Luxus. Das weißt du doch, nicht?"
„Ja, das ist tatsächlich wahr, Mann. Wir sollten wirklich sehr dankbar sein; wir sollten uns glücklich schätzen, 'ne Innenarbeit wie die hier zu haben, wo so viele rumlaufen und nichts zu tun finden."
„Ja", sagte Owen, „wir haben Glück! Obgleich wir im Zustand scheußlicher, elender Armut leben, müssen wir uns glücklich schätzen, dass wir nicht buchstäblich am Verhungern sind."
Owen strich die Tür und Easton die Scheuerleiste. Das war eine geräuschlose Arbeit; daher konnten sie sich ohne Schwierigkeit unterhalten.
„Glaubst du, es sei recht, dass wir uns friedlich damit abfinden, den Rest unseres Lebens unter solchen Umständen zuzubringen?"
„Nein, gewiss nicht", antwortete Easton, „aber bestimmt wird sich die Lage bald bessern. Das Geschäft ist nicht immer so flau gewesen wie jetzt. Du kannst dich doch genauso gut wie ich dran erinnern, dass es vor 'n paar Jahren so viel zu tun gegeben hat, dass wir vierzehn und sechzehn Stunden am Tag gearbeitet haben. Ende der Woche bin ich immer so fertig gewesen, dass ich fast den ganzen Sonntag über im Bett geblieben bin."
„Aber meinst du nicht, es lohnt den Versuch, ausfindig zu machen, ob es nicht möglich ist, die Dinge so einzurichten, dass wir wie zivilisierte menschliche Wesen leben können, ohne uns abwechselnd totzuarbeiten und zu verhungern?"
„Ich weiß nicht, wie wir's ändern sollten", antwortete Easton. „Nach allem, was ich höre, gibt's augenblicklich überall wenig Arbeit. Wir können doch keine Arbeit schaffen, oder?"
„Glaubst du denn, die Zustände in der Welt sind etwas wie der Wind oder das Wetter - gänzlich außerhalb unserer Gewalt? Und wir könnten, falls sie schlecht sind, nichts tun als nur dasitzen und warten, bis sie besser werden?"
„Na, ich weiß nicht, wie wir's ändern könnten. Wenn die Leute, die's Geld haben, es nicht ausgeben wollen, kann unsereiner sie doch nicht dazu bringen, oder?"
Owen sah Easton forschend an.
„Ich schätze dich auf etwa sechsundzwanzig Jahre", sagte er. „Das bedeutet, du hast noch ungefähr dreißig Jahre zu leben. Freilich, hättest du anständig zu essen und richtig was anzuziehn und müsstest täglich nicht mehr als eine vernünftige Anzahl Stunden arbeiten, gäbe es keinen natürlichen Grund, weshalb du nicht noch fünfzig oder sechzig Jahre leben solltest - aber sagen wir dreißig. Willst du behaupten, du kannst die Aussicht, noch dreißig Jahre unter solchen Umständen zu leben, wie wir sie jetzt ertragen, mit Gleichgültigkeit betrachten?"
Easton gab keine Antwort.
„Wenn du eine ernsthafte Gesetzesverletzung begingest und nächste Woche zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt würdest, hieltest du dein Schicksal vermutlich für sehr bemitleidenswert - und doch scheinst du dich ganz frohgemut diesem anderen Urteil zu beugen, nämlich, dass du eines vorzeitigen Todes sterben sollst, nachdem du noch dreißig Jahre Zwangsarbeit verrichtet hast."
Easton fuhr fort, die Scheuerleiste zu streichen.
„Wenn es keine Arbeit gibt", fuhr Owen fort, tauchte dabei den Pinsel in die Farbe und begann, eines der unteren Felder der Türfüllung zu streichen, „wenn es keine Arbeit gibt, wirst du entweder verhungern oder in Schulden geraten. Wenn es - wie jetzt - ein bisschen Arbeit gibt, wirst du halb verhungern. Sind die Zeiten das, was du gut nennst, so wirst du zwölf bis vierzehn Stunden am Tag schuften und, wenn du sehr viel Glück hast, gelegentlich die ganze Nacht hindurch. Das zusätzliche Geld, das
du dann verdienst, wird draufgehen, um deine Schulden zu bezahlen, damit du wieder Kredit bekommst, wenn es keine Arbeit gibt."
Easton schmierte ein wenig Kitt in einen Riss der Scheuerleiste.
„Infolge einer solchen Lebensweise wirst du mindestens zwanzig Jahre früher sterben, als natürlich wäre, oder falls du eine ungewöhnlich kräftige Natur hast und noch weiterlebst, nachdem du nicht mehr arbeitsfähig bist, wird man dich in eine Art Gefängnis stecken und für den Rest deines Lebens wie einen Verbrecher behandeln."
Nachdem Easton die Risse verschmiert hatte, strich er die Scheuerleiste weiter.
„Machte jemand den Vorschlag, ein Gesetz zu erlassen. dass alle Arbeiter und Arbeiterinnen getötet werden sollen - erstickt, erhängt, vergiftet oder in eine Todeskammer gesperrt -, sobald sie das Alter von fünfzig Jahren erreichen, so gibt es nicht den geringsten Zweifel, dass du dich am Sturm der Entrüstung beteiligtest, der daraufhin ausbrechen würde. Und doch lässt du es dir einfach gefallen, dass dein Leben verkürzt wird - durch langsames Verhungern und Überarbeitung, durch Mangel an richtigem Schuhwerk und ordentlicher Kleidung und weil du häufig hinaus zur Arbeit musst, wenn du so krank bist, dass du eigentlich zu Bett liegen und ärztlich betreut werden solltest."
Easton antwortete nicht; er wusste, all das stimmte, aber er hatte ein gutes Maß jener falschen Scham, die uns veranlasst, unsere Armut zu verbergen und vorzutäuschen, es ginge uns viel besser, als es uns in Wirklichkeit geht. Er trug gerade die altgekauften Stiefel, die Ruth ihm besorgt hatte; aber zu Harlows Bemerkung darüber hatte er gesagt, er besitze sie seit Jahren und habe sie nur sonntags getragen. Er war sehr verärgert, während er den Reden des anderen zuhörte; Owen bemerkte es, fuhr aber trotzdem fort:
„Wenn das gegenwärtige System nicht verändert wird, ist dies alles, was wir zu erwarten haben; und doch bist du einer der Verteidiger dieses Systems - du hilfst, es zu verewigen."
„Wieso helf ich, es zu verewigen?" fragte Easton. „Indem du nicht versuchst, einen Weg zu finden, wie man es ablösen kann - indem du denen nicht hilfst, die versuchen, bessere Zustände herbeizuführen. Selbst wenn du deinem eigenen Schicksal gegenüber gleichgültig bist, wie du es zu sein scheinst, hast du kein Recht, gleichgültig gegenüber dem Schicksal des Kindes zu sein, für dessen Dasein auf dieser Welt du verantwortlich bist. Jeder Mensch, der nicht mithilft, für die Zukunft bessere Zustände herbeizuführen, hilft, das augenblickliche Elend zu verewigen, und ist daher der Feind seiner eigenen Kinder. So etwas wie neutral sein gibt es nicht: wir müssen entweder helfen oder hindern."
Als Owen die Tür öffnete, um deren Kante zu streichen, kam Bert den Flur entlang.
„Passt auf!" rief er, „Elend kommt die Straße rauf. In 'ner Minute ist er hier!"
Nicht oft war Easton froh, von Nimrods Kommen zu hören, aber diesmal vernahm er Berts Botschaft mit einem Seufzer der Erleichterung.
„Hör mal", fügte der Junge, zu Owen gewandt, flüsternd hinzu, wenn's was wird - ich meine, wenn du den Auftrag kriegst, das Zimmer hier zu machen -, wirste dann verlangen, dass ich zu dir komm?"
„Jawohl, abgemacht, mein Sohn", antwortete Owen, und Bert ging fort, um die anderen zu warnen.
Ohne zu wissen, dass er beobachtet worden war, stahl sich Nimrod heimlich ins Haus und schlich leise von Zimmer zu Zimmer, spähte um die Ecken, schielte durch die Türspalten und lugte durch die Schlüssellöcher. Beinahe freute er sich, als er sah, dass alle sehr eifrig bei der Arbeit waren; als er aber in Newmans Zimmer kam, war er mit dem Fortschritt, den die Arbeit seit seinem letzten Besuch gemacht hatte, nicht zufrieden. Tatsächlich hatte sich Newman heute morgen wieder vergessen. Er hatte sich mit der Arbeit ein wenig Mühe gegeben und sie einigermaßen ordentlich ausgeführt, anstatt zu schludern und in der üblichen Weise zu hetzen. Das Ergebnis war, dass er nicht genügend geleistet hatte.
„Wissen Sie, Newman, so geht das nicht!"brüllte Nimrod.
„Entweder Sie schaffen 'n bisschen mehr, oder Sie genügen mir nicht. Wenn Sie sich nicht 'n bisschen fixer bewegen können, muss ich jemand anders nehmen. Seit heute früh treiben Sie sich in diesem Zimmer rum, und 's wird, verdammt noch mal, Zeit, dass Sie endlich rauskommen!"
Newman murmelte undeutlich, er sei jetzt beinahe fertig, und Hunter stieg zum nächsten Stockwerk hinauf, zum Boden, wo der billige Mann - der ungelernte Sawkins -am Werk war. Harlow war vom Boden fortgeholt worden, damit er einige der feineren Arbeiten ausführte, und so arbeitete Sawkins jetzt allein. Er hatte sich in die Arbeit wie ein Trojaner in die Schlacht gestürzt und ziemlich viel geschafft. Nicht nur die Fensterrahmen hatte er gestrichen, sondern auch ein großes Stück der Scheiben, und beim Streichen der Scheuerleiste hatte er einen Streifen des Fußbodens mit übermalt - zuweilen einen Zoll, zuweilen einen halben Zoll breit.
Der Anstrich war dunkelgrau; die Oberfläche der frischgestrichenen Türen erinnerte sehr an Kord, und von den unteren Ecken fast jedes Feldes der Füllung tropfte eine große Träne hinab, als weinten die Türen über den heruntergekommenen Zustand der Dekorationsmalerei. Diese Tränen verursachten indessen keinerlei mitleidiges Pochen in Elends Busen - auch die kordähnliche Oberfläche der Türen beleidigte seine Gefühle nicht. Er bemerkte sie gar nicht. Er sah nur, dass eine Menge Arbeit getan worden war, und seine Seele füllte sich mit Entzücken, als er überlegte, dass der Mann, der all dies vollbracht hatte, nur eine Bezahlung von fünf Pence die Stunde erhielt. Er durfte Sawkins indessen nicht wissen lassen, dass er mit dem von ihm gemachten Fortschritt zufrieden war; deshalb sagte er:
„Ich will nicht, dass Sie sich hiermit zu lange aufhalten, wissen Sie, Sawkins. Pinseln Sie nur irgendwie drüber und machen Sie damit Schluss, so rasch Sie können."
»Gut, Mr. Hunter", erwiderte Sawkins und wischte sich den Schweiß von der Stirn, während Elend wieder nach unten schlich.
„Wo ist 'n Harlow hingekommen?" fragte er Philpot. »Der ist doch eben nicht hier gewesen, wie ich raufkam."
„Ist nach unten gegangen, Mr. Hunter, nach hinten raus" antwortete Joe, stieß mit dem Daumen über die Schultet und blinzelte Hunter zu. „Wird gleich wieder zurück sein.' Und tatsächlich kam Harlow in diesem Augenblick gerade wieder die Treppe herauf.
„Hören Sie mal, so was können wir während der Arbeitszeit nicht dulden, wissen Sie!" brüllte Hunter, „dazu ist in der Mittagsstunde Zeit genug!"
Nun ging Nimrod zum Salon hinunter, den Easton und Owen gestrichen hatten. Dort stand er ein Weilchen tief in Gedanken versunken und verglich bei sich den Umfang der von den beiden Männern in diesem Zimmer geleisteten Arbeit mit dem, was Sawkins auf dem Boden geschafft hatte. Elend selbst war kein Maler; er war Zimmermann und hielt wenig von Qualitätsunterschied der Arbeit -für ihn war alles ungefähr gleich: nichts als einfaches Pinseln.
,Ich glaube, wir würden viel besser dabei wegkommen', dachte er bei sich, ,wenn wir noch 'n paar Fliegengewichtler wie Sawkins kriegen könnten.' Und von diesen Gedanken erfüllt, schlich er sich kurz danach verstohlen aus dem Haus.

 

14. Kapitel Drei Kinder. Der Lohn der Intelligenz

Owen verbrachte den größten Teil der Mittagsstunde allein im Salon, machte Bleistiftskizzen in sein Notizbuch und nahm Maß. Nach Feierabend ging er, anstatt wie gewöhnlich gleich heimzukehren, zur öffentlichen Bibliothek, um zu sehen, ob er in einem der dort vorhandenen Bücher irgend etwas über maurische Dekorationskunst finden konnte. Obwohl es nur eine kleine und mangelhaft ausgestattete Bücherei war, wurde er belohnt, denn er fand mehrere Abbildungen von Mustern und fertigte Skizzen davon an. Nachdem er damit etwa eine Stunde zugebracht hatte und sich auf dem Heimweg befand, bemerkte er zwei Kinder - einen Jungen und ein Mädchen - die ihm bekannt vorkamen. Sie standen vor dem Schaufenster eines Schokoladengeschäfts und betrachteten die Waren in der Auslage. Als Owen näher kam, wandten sich die Kinder um, und sie erkannten einander gleichzeitig. Es waren Charley und Elsie Linden. Als Owen bei ihnen war, sprach er sie an, und der Junge fragte, was Owen wohl zu dem Streit meinte, den sie gerade miteinander austrugen.
„Hören Sie mal, Onkel. Was ist besser: für einen Farthing Dauerlutscher oder 'n Überraschungsbeutel?"
„Ich würde lieber einen Überraschungsbeutel nehmen", erwiderte Owen, ohne zu zögern.
„Siehste! Hab ich dir doch gesagt!" rief Elsie triumphierend aus.
„Na, ist mir egal. Ich möcht am liebsten die Dauerlutscher haben", sagte Charley eigensinnig.
„Nanu, könnt ihr euch denn nicht einigen, welches von beiden ihr kaufen wollt?"
„0 nein, das nicht", antwortete Elsie. „Wir haben bloß überlegt, was wir kaufen würden, wenn wir 'n Farthing hätten; aber in Wirklichkeit kaufen wir gar nichts, weil wir kein Geld haben."
„Aha", sagte Owen. „Aber ich glaube, ich habe Geld." Er steckte die Hand in die Tasche, holte zwei Halfpennymünzen hervor und gab jedem Kind eine; sie gingen sofort in den Laden, um die Lutscher und den Überraschungsbeutel zu kaufen, und als sie wieder herauskamen, begleitete er sie, denn sie gingen in derselben Richtung wie er; ihr Weg führte ja an seinem Haus vorbei.
„Hat euer Großvater schon etwas zu tun?" fragte er, während sie nebeneinanderher schritten.
„Nein, er läuft immer noch rum, Onkel", antwortete Charley.
Als sie Owens Haustür erreichten, lud er sie ein, mit hinaufzukommen und das Kätzchen anzusehen, nach dem sie sich unterwegs erkundigt hatten. Frankie freute sich sehr über die beiden Besucher, und während sie einige selbstgebackene Kekse aßen, die Nora ihnen gegeben hatte, unterhielt er sie, indem er ihnen den Inhalt seiner Spielzeugkiste zeigte, und durch die Possen des Kätzchens, welches das beste Spielzeug von allen war, denn es erfand
immerzu neue Spiele: akrobatische Vorführungen auf den Stuhllehnen. Kletterpartien an den Vorhängen, Rutschbahn das Wachstuch hinauf und hinunter, Verstecken und Hervorlugen hinter Ecken und unter dem Sofa. Das Kätzchen vollführte so viele possierliche Luftsprünge, und nach einer Weile begannen die Kinder einen solchen Lärm zu machen, dass Nora sich einmischen musste, damit die Leute in der Wohnung unter ihnen nicht verärgert wurden.
Elsie und Charley konnten jedoch nicht sehr lange bleiben, sonst hätte sich ihre Mutter um sie geängstigt; aber sie versprachen, an einem anderen Tag einmal wiederzukommen und mit Frankie zu spielen.
„Nächsten Sonntag krieg ich in unsrer Sonntagsschule 'nen Preis", sagte Elsie, als sie fortgingen.
„Wofür bekommst du ihn denn?" fragte Nora.
„Weil ich meinen Text richtig gelernt hab. Ich musste das ganze erste Kapitel Matthäus auswendig lernen und hab nicht ein einziges Mal 'nen Fehler gemacht! Darum hat die Lehrerin gesagt, sie gibt mir nächsten Sonntag 'n schönes Buch."
„Ich hab neulich auch mal eins gekriegt, vor 'n paar Monaten, nicht Elsie?" sagte Charley.
„Ja", antwortete Elsie und setzte hinzu: „Geben sie euch in deiner Sonntagsschule auch Preise, Frankie?"
„Ich geh nicht zur Sonntagsschule."
„Biste denn noch nie gegangen?" fragte Charley erstaunt.
„Nein", erwiderte Frankie. „Vati sagt, ich hab die Woche über genug Schule."
„Du musst mit in unsre kommen, Mann!" drängte Charley. „Die ist überhaupt nicht wie Schule! Und im Sommer haben wir 'n Fest und Preise und manchmal Laterna magica. Das ist vielleicht prima, sag ich dir!"
Frankie sah seine Mutter fragend an.
„Kann ich hingehen, Mutti?"
„Ja, wenn du möchtest, Liebling."
„Aber ich weiß den Weg nicht."
„Oh, sie ist gar nicht weit von hier", rief Charley. „Wir müssen bei eurem Haus vorbei, wenn wir hingehen; wenn du willst, hol ich dich Sonntag ab."
„'s ist nur grad eben um die Ecke in der Duke Street wissen Sie, in der Kapelle ,Das strahlende Licht'", sagte Elsie. „Um drei Uhr fängt's an."
„Nun gut", sagte Nora. „Ich werde Frankie um drei Viertel drei fertigmachen. Aber jetzt müsst ihr nach Hause laufen, so schnell ihr könnt. Haben euch die Kekse geschmeckt?"
„Ja, recht schönen Dank", erwiderte Elsie.
„Na, und ob!" sagte Charley.
„Backt eure Mutter auch manchmal Kuchen für euch?"
„Früher, aber jetzt hat sie zuviel zu tun, Blusen nähen und so", antwortete Elsie.
„Ich nehme an, sie hat nicht viel Zeit zum Kochen", meinte Nora, „darum habe ich euch ein paar Kekse hier in dieses Päckchen getan, das nehmt für morgen mit nach Hause. Du wirst's doch wohl tragen können, Charley, nicht wahr?"
„Ich glaube, ich trag's lieber selber", sagte Elsie. „Charley passt so wenig auf, bestimmt wird er was draus verlieren."
„Ich pass nicht weniger auf als du!" rief Charley empört. „Und das Viertelpfund Butter, das du holen solltest und in den Dreck geschmissen hast?"
„Das war ja nicht, weil ich nicht aufgepasst hab, das war 'n Unfall, und 's war überhaupt keine Butter - 's war Margarine, siehste!"
Schließlich einigten sie sich darauf, das Päckchen abwechselnd zu tragen, und Elsie war zuerst an der Reihe. Frankie begleitete sie die Treppe hinab bis zur Haustür, und als sie die Straße hinuntergingen, rief er ihnen nach:
„Denkt bestimmt dran - nächsten Sonntag!"
„Ist gut", rief Charley zurück, „wird nicht vergessen!"
Am Donnerstag blieb Owen bis nach dem Frühstück zu Hause, um die Entwürfe fertig zu stellen, die er für diesen Morgen versprochen hatte.
Als er sie um neun Uhr ins Büro brachte, wie er es mit Rushton verabredet hatte, war der noch nicht eingetroffen, sondern er erschien erst eine halbe Stunde später. Wie die meisten Leute, die mit dem Gehirn arbeiten, brauchte er
bedeutend mehr Ruhe als die Menschen, die nur körperliche Arbeit verrichten.
„Oh, Sie haben wohl die Skizzen gebracht", bemerkte er mürrisch beim Eintreten. „Sie hätten nicht zu warten brauchen, wissen Sie: Sie hätten sie einfach hier lassen und zur Arbeit gehen können."
Er setzte sich an sein Pult und betrachtete flüchtig den Entwurf, den Owen ihm übergeben hatte. Er war auf einen etwa 60 x 45 cm großen Bogen gezeichnet. Es war eine Bleistiftskizze, zur Hälfte bunt ausgemalt.
„Das ist für die Decke", sagte Owen. „Ich hatte keine Zeit, das Ganze fertig auszumalen."
Mit gespielter Gleichgültigkeit legte Rushton die Zeichnung nieder und nahm die zweite, die Owen ihm reichte.
„Das ist für die große Wand. Die gleiche Zeichnung wird auf die anderen Wände übertragen, und die hier ist für die Türen und die Paneele unter dem Fenster."
Rushton äußerte keinerlei Meinung über den Wert der Entwürfe. Flüchtig betrachtete er einen nach dem andern, legte sie nieder und fragte dann:
„Wie lange würden Sie 'n für die Arbeit brauchen -vorausgesetzt, dass wir den Auftrag kriegen?"
„Ungefähr drei Wochen: sagen wir hundertfünfzig Stunden. Das heißt - allein die Dekorationsarbeit. Natürlich müssten die Wände und die Decke zuerst gestrichen werden; sie müssen dreimal geweißt werden."
Rushton kritzelte eine Notiz auf ein Stück Papier.
„Na gut", sagte er nach einer Pause, „Sie können sie hier lassen, und ich werde mit Mr. Sweater drüber reden und ihm sagen, was es kostet; wenn er sich dazu entschließt, lasse ich's Sie wissen."
Mit der Miene eines Mannes, der andere Dinge zu erledigen hat, legte er die Zeichnungen beiseite und begann, einen der auf seinem Pult liegenden Briefe zu öffnen. Damit wollte er andeuten, die Audienz sei beendet, und er wünsche, der Mann möge sich aus seiner Gegenwart entfernen. Owen verstand, entfernte sich jedoch nicht, da noch ein oder zwei Dinge zu erwähnen waren, die Rushton berücksichtigen musste, wenn er den Kostenanschlag ausarbeitete.
Natürlich würde ich einige Hilfe brauchen", sagte er. gelegentlich müsste mir einer der Leute zur Hand gehen, und der Junge die meiste Zeit über. Und dann wäre noch Blattgold nötig - sagen wir fünfzehn Hefte."
„Meinen Sie nicht, man könnte Goldfarbe nehmen?"
„Leider nicht."
„Noch was?" fragte Rushton, nachdem er diese Posten niedergeschrieben hatte.
„Ich glaube, das ist alles, bis auf ein paar Bogen festes Papier für Schablonen und Zeichenmuster. Viel Farbe für die Dekorationen werden wir nicht brauchen."
Sobald Owen gegangen war, nahm Rushton die Zeichnungen in die Hand und betrachtete sie aufmerksam.
„Die sind in Ordnung", murmelte er. „Jeder Anforderung gewachsen. Wenn er die Wände und die Decke nur annähernd so gut malen kann, wird's jedem Blick standhalten, den hier in der Stadt je einer draufwerfen wird!
Mal sehen", fuhr er fort. „Drei Wochen, hat er gesagt. Aber er ist auf die Arbeit so erpicht, dass er die Zeit wahrscheinlich unterschätzt hat; setzen wir lieber vier Wochen an: das sind etwa zweihundert Stunden; zweihundert Stunden zu acht Pence, wie viel macht das? Und sagen wir, er hat die halbe Zeit über noch 'nen Maler als Helfer, macht hundert Stunden zu sechseinhalb Pence."
Er sah in einer Tabelle nach, die auf dem Tisch lag.
„Arbeitszeit: neun Pfund sieben Schilling sechs Pence. Material: fünfzehn Hefte Blattgold, sagen wir 'n Pfund. Dazu kommen das Schablonenpapier und die Farben, sagen wir noch 'n Pfund, höchstens. Arbeitslohn für den Jungen? Der kriegt noch keinen, das brauche ich also nicht aufzuführen. Dazu kommen noch die Vorbereitungsarbeiten für das Zimmer. Dreimal weißen. Wenn nur Hunter da wäre, um mir 'ne Vorstellung zu geben, was das kostet."
Wie als Antwort auf diesen Wunsch trat Hunter eben ins Büro, und auf Rushtons Frage erklärte er, die Wände und Decke dreimal zu weißen koste etwa drei Pfund fünf Schilling an Arbeitszeit und Material. Gemeinsam rechneten die beiden Kopfarbeiter aus, dass fünfzehn Pfund die gesamten Kosten der Arbeit decken würden - das Streichen und die Dekorationsmalerei.
„Nun, ich denke, wir können Sweater fünfundvierzig Pfund dafür anrechnen", meinte Rushton. „Ist ja keine gewöhnliche Arbeit, wissen Sie. Wenn er sich 'ne Londoner Firma dazu holt, kostet's ihn doppelt soviel, wenn nicht mehr."
Nachdem Rushton zu dieser Entscheidung gekommen war, telefonierte er Sweaters Warenhaus an, und als er hörte, Mr. Sweater sei anwesend, rollte er die Zeichnungen zusammen und machte sich auf den Weg zum Büro dieses Herrn.
Die Arbeiter schaffen mit den Händen und die Herren mit dem Gehirn. Was für ein fürchterliches Unglück wäre es doch für die Welt und für die Menschheit, wenn alle diese Kopfarbeiter streikten!

 

15. Kapitel Die Leute, denen nichts zusteht, und die beiden Mühlsteine

Hunter hatte an diesem Morgen drei weitere Maler eingestellt. Bundy und zwei Hilfsarbeiter hatten begonnen, die neuen Abflussrohre zu legen; die Zimmerleute waren wieder da und verrichteten Sonderarbeiten, und auch ein Klempner arbeitete im Haus. Zur Mittagszeit fand sich daher eine stattliche Anzahl Menschen in der Küche zusammen. Crass hatte auf eine passende Gelegenheit gewartet, um den Zeitungsausschnitt hervorzuziehen, den er, wie der Leser sich erinnern wird, Easton am Montagmorgen gezeigt hatte; aber er hatte vergebens gewartet, denn während der ganzen Woche waren bei den Mahlzeiten kaum „politische" Gespräche geführt worden, und heute war bereits Donnerstag. Was Owen betraf, so beschäftigten die Zeichnungen für den Salon seine Gedanken derartig, dass er für nichts anderes Zeit hatte, und die meisten der übrigen vermieden nur allzu gern ein Thema, das häufig zu Unliebsamkeiten führte. Gewöhnlich mochte auch Crass solche Diskussionen nicht, aber er meinte so zuversichtlich, Owen mit dem Ausschnitt aus dem „Verdunkler aufs Kreuz legen" zu können, dass er mehrmals versucht hatte, das Gespräch in die gewünschte Bahn zu lenken, bisher jedoch ohne Erfolg.
Während des Mittagessens - wie sie es nannten - wurden verschiedene Dinge besprochen. Harlow erwähnte, dass er Wanzenspuren in einem der oberen Schlafzimmer gefunden hatte, und das gab Anlass zum Erzählen einer Reihe von Anekdoten über dieses Ungeziefer und über Häuser, die von ihm befallen waren. Philpot erinnerte sich, einmal in einem Haus drüben in Windley gearbeitet zu haben; die Leute, die darin wohnten, waren sehr schmutzig, sie besaßen sehr wenig Möbel und auch keine Bettstellen: die Betten bestanden aus zerfetzten Matratzen und Lumpen auf dem Boden. Philpot erklärte, diese zerlumpten Matratzen pflegten allein in den Zimmern umherzuwandern. Das Haus war so voller Flöhe, dass man, sobald ein Bogen Zeitungspapier auf den Fußboden gelegt wurde, hören und sehen konnte, wie sie darauf hüpften. Sobald irgend jemand ins Haus trat, war er tatsächlich von Kopf bis Fuß mit Flöhen bedeckt! Während der wenigen Tage, die Philpot dort arbeitete, verlor er mehrere Pfund an Gewicht, und wenn er abends nach Hause ging, dachten die Kinder und die Leute auf der Straße, die bemerkten, wie elend er aussah, er litte an einer Krankheit, und gingen ihm aus dem Weg, wenn sie ihn kommen sahen.
Es wurden noch mehrere solche Erlebnisse erzählt; vier oder fünf Männer redeten gleichzeitig mit höchster Lautstärke, und jeder berichtete eine andere Geschichte. Zuerst wandte sich jeder der Erzähler an die Anwesenden allgemein; da er es aber nach einer Weile unmöglich fand, sich Gehör zu verschaffen, wählte er eine bestimmte Person aus, die bereit schien, ihm zuzuhören, und der erzählte er seine Geschichte. Manchmal geschah es, dass der Mann, dem die Sache berichtet wurde, sich mitten in der Erzählung eines ähnlichen Abenteuers entsann, das er selbst erlebt hatte, und er begann, es zu erzählen, ohne zu warten, bis der andere geendet hatte, und gewöhnlich war jeder von ihnen viel zu vertieft in die grausigen Einzelheiten seiner eigenen Geschichte, um zu bemerken, dass der andere auch eine erzählte. Bei einem Wettbewerb dieser Art gehörte der Sieg gewöhnlich dem, der die lauteste Stimme hatte; manchmal jedoch gewann auch ein Mann mit einer schwachen Stimme, indem er dieselbe Geschichte mehrmals erzählte, bis sie jemand hörte.
Barrington, der selten sprach und ein idealer Zuhörer war, wurde nacheinander von mehreren in Beschlag genommen, von denen ihm jeder ein anderes Garn Vorspann. Ein Mann saß auf einem umgestülpten Eimer in der äußersten Ecke des Raumes, und aus den Bewegungen seiner Lippen war zu entnehmen, dass er gleichfalls eine Geschichte erzählte; doch keiner wusste, wovon sie handelte, oder hörte auch nur ein einziges Wort davon, denn niemand nahm die geringste Notiz von ihm...
[Als sich der Lärm gelegt hatte, besann sich Harlow auf den Fall einer Familie, deren Haus in einen solchen Zustand geraten war, dass der Wirt ihr gekündigt hatte, und der Vater beging] Selbstmord, weil die Maler gekommen waren, um sie aus ihrem Heim zu vertreiben. In dem Haus lebten ein Mann, seine Frau und seine Tochter - ein etwa siebzehnjähriges Mädchen -, und alle drei tranken wie die Bürstenbinder. Und die Frau, die konnte was vertragen! Mehrmals am Tag schickte sie das Mädchen mit einer Kanne zum Wirtshaus an der Ecke. Wenn der Alte fort war, konnte man für ein halbes Glas Bier von jeder der beiden haben, was man wollte; aber was ihn betraf, sagte Harlow, so konnte er sich das nicht vorstellen. Sie waren beide zu hässlich.
Der Schluss dieser Erzählung wurde von denen, die sie gehört hatten, mit einem Ausbruch ungläubigen Gelächters aufgenommen.
„Hörste, was Harlow sagt, Bob?" rief Easton Crass zu.
„Nö. Was'n?"
„Er sagt, er hätte mal 'ne Gelegenheit gehabt, was zu bekommen, aber er wollte nicht, weil sie zu hässlich war!"
„Wenn ich's gewesen wär, hätt ich meine Augen zugemacht, verdammt noch mal!" schrie Sawkins. „Wegen so 'ner Kleinigkeit würd ich's mir nicht entgehen lassen!"
„Nö", sagte Crass unter Gelächter, „und ihr könnt sonst was wetten, er hat sich's auch nicht entgehen lassen, wenn er auch jetzt versucht, die Unschuld zu spielen."
„Ich hab schon immer gedacht, Harlow wär 'n verdammter Lügner", bemerkte Bundy, „aber jetzt weiß ich, dass er wirklich einer ist."
Obgleich alle taten, als glaubten sie ihm nicht, blieb Harlow auf seiner Version der Geschichte bestehen.
„'s ist doch nicht das Gesicht, was du haben willst, das weißte doch", fügte Bundy hinzu, während er sich noch einmal Tee eingoss.
„Ich weiß, das Gesicht meiner Ollen war's nicht, was ich gestern Nacht wollte", bemerkte Crass, und dann gab er unter brüllendem Gelächter eine genaue Beschreibung von dem, was zwischen ihm und seiner Frau geschehen war, nachdem sie zu Bett gegangen waren.
Diese Geschichte erinnerte den Mann auf dem Eimer an einen merkwürdigen Traum, den er vor einigen Wochen gehabt hatte: „Ich träumte, ich ging oben auf 'ner hohen Klippe oder so was ähnlichem lang, und plötzlich gab der Boden unter meinen Füßen nach, und ich fing an zu rutschen und zu rutschen, und um mich vor dem Runtersausen zu retten, packte ich 'n Grasbüschel, das grad in Reichweite von meiner Hand wuchs. Und dann dacht ich, irgend'n Kerl haut mich mit 'nem großen Knüppel über 'n Schädel und versucht, mich dazu zu bringen, dass ich das Grasbüschel loslass. Und dann wachte ich auf und merkte, dass meine Olle schrie und mich mit den Fäusten bearbeitete. Sie sagte, ich hätt sie an den Haaren gezogen!"
Während des brüllenden Gelächters, das diese Erzählung bei allen Anwesenden hervorrief, stand Crass von seinem Sitz auf, ging zu seinem Überzieher, der an einem Nagel an der Wand hing, und nahm ein etwa zwanzig mal zehn Zentimeter großes Stück Pappe aus der Tasche. Auf einer Seite stand etwas gedruckt, und als Crass auf seinen Sitz zurückkehrte, forderte er die anderen auf, zuzuhören, er werde es vorlesen. Er meinte, das sei eine der besten Sachen, die er je gesehen habe - ein Kerl in den „Cricketers" habe es ihm neulich Abend gegeben.
Mit Crass' Vorlesekunst war es nicht weit her, dies aber konnte er vorlesen, weil er es so oft durchgelesen hatte, dass er es fast auswendig wusste. Es hieß „Die Kunst des Blähens" und bestand aus einer Anzahl von Regeln und
Definitionen. Nach jedem von ihm vorgelesenen Abschnitt erhob sich stürmisches Gelächter, und als er geendet hatte, wurde die schmutzige Karte für die, welche sie selbst lesen wollten, herumgereicht. Einige der Leute weigerten sich indessen, sie zu nehmen, als sie ihnen angeboten wurde, und schlugen mit sichtlichem Ekel vor, die Karte ins Feuer zu werfen. Dieser Vorschlag gefiel Crass jedoch nicht, und nachdem die anderen die Karte gelesen hatten, steckte er sie wieder in seine Manteltasche.
Inzwischen stand Bundy auf, um sich noch etwas Tee zu nehmen. An einer Seite der Tasse, aus der er trank, war ein großes Stück herausgebrochen, und sie fasste nicht viel; daher musste er sie gewöhnlich drei- bis viermal nachfüllen.
„Will noch jemand was?" fragte er.
Mehrere Tassen und Konservengläser wurden ihm gereicht. Sie hatten auf dem Fußboden gestanden, und der war sehr schmutzig und staubbedeckt; so wischte Bundy, der den ganzen Morgen über bei den Abflussröhren gearbeitet hatte, die Behälter, bevor er sie in den Eimer tauchte, an seiner Hose ab - an der gleichen Stelle, wo er seine Hände abzuwischen gewohnt war, wenn sie schmutzig waren. Er füllte die Trinkgefäße so voll, dass ein Teil des Inhalts, während er sie am oberen Rand hielt und den Eigentümern reichte, überschwappte und ihm durch die Finger rann. Bis er fertig war, hatte er den Fußboden mit kleinen Teepfützen bedeckt.
„Man sagt, Gott hätt alles zu irgend'nem nützlichen Zweck gemacht", bemerkte Harlow und kehrte damit zum ursprünglichen Thema zurück, „aber ich möcht wissen, wozu, zum Teufel, Wanzen, Flöhe und so was nützlich sind."
„Um den Leuten beizubringen, sich sauber zu halten, natürlich", meinte Slyme.
„'ne komische Sache, was?" fuhr Harlow fort, ohne Slymes Antwort zu beachten. „Man sagt, alle Krankheiten würden durch kleine Insekten verursacht. Wenn Gott keine Krebsbazillen oder Schwindsuchtmikroben gemacht hätte, gäb's keinen Krebs und keine Schwindsucht."
„Das ist ein Beweis mehr, dass es keinen individuellen
Gott gibt", sagte Owen. „Wenn wir glauben sollen, dass das Weltall und alles, was darin lebt, von Gott planmäßig entworfen und geschaffen wurde, müssen wir auch glauben, dass Er die Krankheitskeime, von denen du sprichst, geschaffen hat, um Seine übrigen Geschöpfe zu quälen."
„So 'nen lausigen Quatsch kannste mir nicht erzählen", warf Crass grob ein. „'s gibt 'nen Herrscher über uns, Mann, und du wirst's schon noch erfahren."
„Wenn Gott die Welt nicht geschaffen hat, wo kommt sie 'n dann her?" fragte Slyme.
„Darüber weiß ich nicht mehr als du", erwiderte Owen. „Das heißt - ich weiß nichts. Der einzige Unterschied zwischen uns ist, du denkst, du weißt es. Du denkst, du weißt, dass Gott das Universum geschaffen hat, wie lange Er dazu gebraucht hat, weshalb Er es gemacht hat, wie lange es schon besteht und wie es schließlich vergehen wird. Du bildest dir auch ein, du wüsstest, dass wir weiterleben werden, nachdem wir tot sind, wohin wir kommen und was für ein Leben wir führen werden. Im Übermaß deiner ,Demut' glaubst du tatsächlich, du wüsstest alles darüber. In Wirklichkeit weißt du aber nicht mehr über diese Dinge als irgendein anderes menschliches Wesen: das heißt, du weißt nichts."
„Das ist nur deine Meinung", sagte Slyme.
„Wenn wir uns die Mühe machen wollen zu lernen", fuhr Owen fort, „können wir ein wenig darüber wissen, wie das Universum gewachsen ist und sich verändert hat; aber über den Anfang wissen wir nichts."
„Genau meine Meinung, Kumpel", bemerkte Philpot. „'s ist eben 'n verdammtes Geheimnis, und damit fertig."
„Ich behaupte nicht, ich hätte kein Wissen im Kopf", sagte Slyme, „aber Wissen im Kopf rettet einem nicht die Seele, dazu braucht man Wissen im Herzen. Im Herzen weiß ich, dass alle meine Sünden durch Christi Blut gesühnt sind, und dieses Wissen ist's, was mir, seit ich Christ geworden bin, Glück und Frieden gegeben hat, über alles hinaus, was mit dem Verstand fassbar ist."
„Lobet den Herrn! Halleluja!" schrie Bundy, und fast alle lachten.
„,Christ' ist gut", höhnte Owen. „Du hast gewiss ein
Recht, dich Christ zu nennen, nicht wahr? Was das Glück betrifft, das alles übertrifft, was mit dem Verstand fassbar ist, so ist es für meinen Verstand bestimmt unfassbar, wie du glücklich sein kannst bei dem Glauben, dass Millionen Menschen in der Hölle gefoltert werden, und für meinen Verstand ist auch unfassbar, wieso du dich nicht schämst unter solchen Umständen glücklich zu sein."
„Nu, du wirst's schon noch sehen, wenn's ans Sterben geht, Mann", erwiderte Slyme in drohendem Ton. „Dann wirste schon anders denken und reden!"
„Grade das ist's, wo ick nicht mitkomme", bemerkte Harlow. „'s scheint mir nicht recht, Gott verdammich, nachdem wir unser ganzes verfluchtes Leben lang in Elend und Armut gelebt und jede Stunde, die Gott der Allmächtige schickt, geschuftet haben, dass wir einfach angezündet werden und für alle Ewigkeit in der Hölle braten sollen. Das scheint mir nicht möglich, weißte."
„Ich glaube", sagte Philpot tiefsinnig, „wenn du tot bist, biste erledigt. Dann ist Schluss mit dir."
„Genau, was ich sage", bemerkte Easton. „All dieser religiöse Kram ist einfach bloß 'n Kniff zum Geldverdienen. Er ist eben dem Pfarrer sein Handwerk, genau wie Anstreichen unsers ist, nur hängt keine Arbeit dran, und 's bringt verdammt viel mehr ein als unsers."
„Das ist eben ihr Lebensunterhalt, und 'n verflucht guter Lebensunterhalt, wenn ihr mich fragt", sagte Bundy.
„Jawohl", meinte Harlow, „sie machen Fettlebe und ziehen die besten Sachen an, und sie tun nichts dafür, als nur zwei-, dreimal die Woche 'nen Haufen Geschwätz von sich geben. Den Rest der Zeit verbringen sie damit, Geld von dummen alten Weibern zusammenzubetteln, die glauben, es wär so 'ne Art Feuerversicherung."
„'s ist 'n altes und 'n wahres Sprichwort", fiel der Mann auf dem umgestülpten Eimer ein. „Prediger und Gastwirte sind die schlimmsten Feinde, die der Arbeiter je hatte. Vielleicht sind 'n paar gute drunter, aber die sind verdammt dünn gesät."
„Wenn ich bloß 'ne Arbeit wie der Erzbischof von Canterbury kriegen könnte", sagte Philpot feierlich, „würd ich bei der Firma hier aufhören."
Ich auch", meinte Harlow, „wenn ich der Erzbischof von Canterbury wär, würd ich meinen Farbtopf und meine Pinsel zum Büro bringen, würd sie durch das lausige Fenster pfeffern und dem ollen Elend sagen, er soll sich zum Teufel scheren."
„Reli'on ist 'ne Sache, die mir nicht viel Sorgen macht", bemerkte Newman, „und was mit einem passiert, nachdem man tot ist, so ist das 'ne Sache, wo ich der Meinung bin, man wartet ab, bis es soweit ist - 's hat keinen Zweck, sich mit unangenehmem Kram auch noch vorher abzugeben. Alles, was sie einem erzählen, mag wahr sein oder auch nicht, aber ich brauch meine ganze Zeit, mich um diese Welt zu kümmern. Ich glaub nicht, dass ich mehr als 'n halb Dutzend Mal in der Kirche war, seit ich geheiratet hab - das ist jetzt über fünfzehn Jahre her -, und dann nur, wie die Kinder getauft wurden. Meine Alte geht manchmal hin, und natürlich gehn die Gören; irgendwas muss man ihnen ja sagen, und da können sie ebenso gut lernen, was man ihnen in der Sonntagsschule beibringt, als sonst was."
Hierauf folgte ein allgemeines Gemurmel der Zustimmung. Sie schienen fast einstimmig der Meinung zu sein, „Reli'on" sei, gleichgültig ob wahr oder unwahr, etwas Hübsches, Kinder zu lehren.
„Ich bin seit meiner Hochzeit nicht da gewesen", sagte Harlow, „und manchmal wär ich verflucht froh, wenn ich auch da nicht hingegangen war."
„Ich denke, 's ist schietegal, was 'n Mensch glaubt", sagte Philpot, „solang er niemand nicht was tut. Wenn du so 'nen armen Hund siehst, der Pech gehabt hat, hilfste 'm wieder auf die Beine. Selbst wenn du kein Geld nicht hast, kannste ihm 'n freundliches Wort sagen. Wenn 'n Mann seine Arbeit macht und für sein Heim und seine Kinder sorgt und wenn er 'nem Mitmenschen Gutes tut, wenn er kann, so meine ich, hat er ebensoviel Aussicht, in n Himmel zu kommen - wenn's einen gibt -, wie manche von diesen Bibelfritzen, ob er zum Gottesdienst oder in die Kirche geht oder nicht."
Dieser Meinung stimmten alle zu, mit Ausnahme von Slyme, der sagte, Philpot werde seinen Irrtum schon noch
einsehen, wenn er erst mal tot sei und vor dem großen weißen Richterthron stehe.
„Und am Jüngsten Tag, wenn du siehst, wie der Mond sich in Blut verwandelt, wirste jammern, die Berge und die Felsen sollen auf dich fallen und dich vor dem Zorn des Lamms verbergen!"
Die andern lachten spöttisch.
„Ich selbst bin 'n Bush-Wiedertäufer", bemerkte der Mann auf dem umgestülpten Eimer. Dieses Individuum, Dick Wantley genannt, hatte, was man gewöhnlich ein „rauhbeiniges" Aussehen nennt. Er erinnerte sehr an einen altertümlichen Wasserspeier oder an einen Drachen.
Die meisten der Leute hatten jetzt ihre Pfeife angezündet, einige aber zogen vor, ihren Tabak zu kauen. Während sie rauchten oder kauten, spieen sie auf den Boden oder ins Feuer. Wantley war einer der Kautabakliebhaber, und er hatte so ausgiebig auf den Boden gespuckt, dass er nun von einer Art halbkreisförmigem Burggraben aus braunem Speichel fast umgeben war.
„Ich bin 'n Bush-Wiedertäufer!" schrie er über den Burggraben hinweg. „Und ihr wisst ja alle, was das ist."
Dieses Glaubensbekenntnis löste einen neuen Heiterkeitsausbruch aus, denn natürlich wusste jeder, was ein Bush-Wiedertäufer war.
„Wenn der Himmel voll ist von lauter solchen Strolchen wie Hunter", bemerkte Easton, „geh ich, glaube ich, lieber an die entgegengesetzte Stelle."
„Wenn das olle Elend wirklich je in 'n Himmel kommt", sagte Philpot, „bleibt er nicht sehr lange da. Eh 'ne Woche rum ist, schmeißen sie 'n da raus, weil er bestimmt anfangen wird, die Juwelen aus den anderen Heiligen ihre Kronen rauszuklauen."
„Na, wenn sie 'n im Himmel nicht haben wollen, weiß ich wirklich nicht, was aus ihm werden soll", sagte Harlow mit gespielter Sorge, „denn ich glaub nicht, dass sie 'n jetzt in die Hölle reinlassen würden."
„Warum nicht?" fragte Bundy. „Ich dächte, der Platz ist verflucht richtig für solche Lumpen wie er."
„So war's mal früher, aber das haben sie jetzt alles umgemodelt. Da unten haben sie 'ne Revolution gemacht: sie haben den Teufel abgesetzt, 'nen Pfarrer zum Präsidenten gewählt und angefangen, das Feuer auszulöschen." Als sich das Gelächter gelegt hatte, fuhr Harlow fort: Soweit ich gehört hab, ist die Hölle jetzt 'n verdammt angenehmer Ort zum Leben. Da gibt's Untergrundbahnen und elektrische Straßenbahnen, und fast an jeder Ecke ist 'ne Art Kneipe, wo man Eis, Zitronenlimonade, Bier und amerikanische eisgekühlte Getränke kriegen kann, und für 'nen Sechser darf man zwei Stunden im Kühlschrank sitzen." Obwohl sie über diese Dinge lachten und sich lustig machten, darf der Leser nicht glauben, sie zweifelten wirklich an der Wahrheit der christlichen Religion, denn - obgleich sie alle bei „christlichen" Eltern aufgewachsen und in „christlichen" Schulen erzogen worden waren - keiner von ihnen wusste genügend vom Christentum, um wirklich daran zu glauben oder nicht daran zu glauben. Die Betrüger, die sich ihren Lebensunterhalt auf bequeme Weise verdienen, indem sie behaupten, die Verkünder und Schüler des Arbeiters aus Nazareth zu sein, sind zu gewitzt, um die von ihnen Betrogenen in dem Bestreben zu ermutigen, die Sache auch nur ungefähr zu begreifen. Sie wollen nicht, dass die Leute irgend etwas wissen oder verstehen; sie wollen, dass sie glauben - glauben ohne Wissen, ohne Verständnis und ohne Beweis. Jahrelang hatte man Harlow und seine Kollegen in ihrer Kindheit das „Christentum" „gelehrt", in der Schule, in der Sonntagsschule, in der Kirche oder in der Kapelle, und jetzt wussten sie praktisch nichts darüber! Trotzdem aber waren sie „Christen". Sie glaubten, die Bibel sei das Wort Gottes, aber sie wussten nicht, woher sie stammte, wie lange sie existierte, noch wer sie geschrieben, wer sie übersetzt hatte und wie viel verschiedene Versionen es von ihr gab. Den meisten unter ihnen war der Inhalt des Buches selbst fast völlig unbekannt. Trotzdem glaubten sie daran - in gewisser Hinsicht.
„Aber, Spaß beiseite", sagte Philpot, „ich kann nicht glauben, dass es so 'nen Ort wie die Hölle gibt. Vielleicht gibt's irgend'ne Strafe, aber ich glaub nicht, dass es 'n richtiges Feuer ist."
„Das glaubt keiner, der 'n bisschen Grips hat", antworte Harlow verächtlich.
„Ich glaube, diese Welt ist die Hölle", sagte Crass und blickte mit Philosophenmiene umher. Fast alle stimmten ihm zu, nur Slyme schwieg, und Owen lachte.
„Worüber, zum Teufel, lachst 'n du?" fragte Crass auf. gebracht.
„Ich habe gelacht, weil du sagtest, du glaubst, diese Welt sei die Hölle."
„Na, dabei gibt's doch nischt zum Lachen", sagte Crass.
„Sie ist auch 'ne Hölle", meinte Easton. „Viel was Schlimmeres kann's nirgends geben."
„Hört, hört!" sagte der Mann hinter dem Burggraben.
„Gelacht habe ich deshalb", sagte Owen, „weil das gegenwärtige System, nach dem die Dinge in der Welt eingerichtet sind, so schlecht ist und so furchtbare Ergebnisse hervorgebracht hat, dass du der Meinung bist, die Erde sei eine Hölle, und weil du dennoch Konservativer bist! Du möchtest das gegenwärtige System erhalten - das System, das die Welt zur Hölle gemacht hat!"
„Dacht ich's mir doch, dass wir nicht ohne Polletik durch die Mittagsstunde kommen, wenn Owen hier ist!" knurrte Bundy. „Zum Kotzen finde ich das."
„Sei nicht so hart zu ihm", sagte Philpot. „Die letzten Tage ist er mächtig ruhig gewesen."
„Heute müssen wir's aber über uns ergehen lassen", bemerkte Harlow verzweifelt. „Ich seh's schon kommen."
„Ich lasse's nicht über mich ergehen", sagte Bundy, „ich
hau ab!" Demgemäß trank er den Rest seines Tees, schloss seinen leeren Frühstückskorb, stellte ihn auf den Kaminsims und eilte zur Tür.
„Ich überlasse's euch!" sagte er im Hinausgehen. Die anderen lachten.
Crass, der an den Ausschnitt aus dem „Verdunkler" in seiner Tasche dachte, war insgeheim sehr zufrieden mit der Wendung, welche die Unterhaltung nahm. Grob meinte er zu Owen:
„Neulich, als wir uns über die Ursache der Armut unterhalten haben, haste allen widersprochen. Alle hatten sie unrecht! Aber du selbst könntest uns nicht sagen, was die Ursache der Armut ist, was?"
„Ich denke, das kann ich."
„Oh, natürlich, du glaubst, du weißt es!" höhnte Crass, „und natürlich denkste, deine Meinung ist richtig und die von allen anderen ist falsch!"
„Ja", erwiderte Owen.
Einige der Männer drückten ihren Abscheu vor der intoleranten Haltung Owens aus, er aber antwortete:
„Natürlich denke ich, dass meine Meinung richtig ist und dass alle, die anderer Ansicht sind, sich irren. Wenn ich nicht dächte, ihre Ansicht sei falsch, wäre ich ja nicht andrer Meinung als sie. Wenn ich dächte, meine eigene Meinung sei nicht richtig, hätte ich sie ja nicht."
„Aber 's ist nicht nötig, Tag für Tag drüber zu streiten", sagte Crass. „Du hast eben deine Meinung, und ich hab meine. Soll doch jeder mit seiner Meinung glücklich werden, sag ich."
Ein Beifallsgemurmel aus der Menge begrüßte diese Worte. Owen jedoch antwortete:
„Wir können doch aber nicht beide recht haben; wenn deine Meinung richtig ist und meine nicht, wie soll ich dann die Wahrheit herausfinden, wenn wir niemals darüber sprechen?"
„Na, was hälste denn für die Ursache der Armut?" fragte Easton.
„Das gegenwärtige System - die Konkurrenz - den Kapitalismus."
„Leicht gesagt", brummte Crass, für den diese Erklärung keinerlei Sinn hatte. „Aber was verstehste denn darunter?"
„Nun, um es kurz zu machen, will ich es so sagen", antwortete Owen. „Nimm an, in einem Haus wohnten Leute..."
„Schon wieder 'ne Annahme!" höhnte Crass.
„Und nimm an, sie seien ständig krank, und nimm an, das Haus sei schlecht gebaut und die Wände so konstruiert, dass sie die Feuchtigkeit anziehen und festhalten, das Dach sei kaputt und leckte, die Abflussrohre seien schadhaft, die Türen und Fenster sperrten, und die Zimmer seien unzweckmäßig gebaut und zugig. Forderte man dich auf, mit einem Wort die Ursache des schlechten Gesundheitszustandes der Leute zu nennen, die darin wohnen, so würdest du sagen: das Haus. Alle Flickerei der Welt machte
dieses Haus nicht bewohnbar; das einzig Richtige, das damit geschehen müsste, wäre, es niederreißen und ein anderes bauen. Nun, wir alle leben in einem Haus, das ,Geldsystem' genannt wird, und infolgedessen leiden die meisten von uns an einer Krankheit, die Armut genannt wird. Mit dem gegenwärtigen System ist so vieles nicht in Ordnung, dass es keinen Zweck hat, an ihm herumzuflicken. Alles daran ist falsch, und nichts ist richtig. Es gibt nur eins, was damit getan werden kann, nämlich, es zu zerschlagen und ein völlig anderes System zu errichten. Wir müssen von ihm loskommen."
„Mir scheint, genau das versuchst du", bemerkte Harlow ironisch. „Du scheinst zu versuchen, von der Antwort auf die Frage loszukommen, die Easton dir gestellt hat."
„Ja", schrie Crass heftig, „warum beantworteste denn die Frage nicht, verdammt noch mal! Was ist 'n die Ursache für die Armut?"
„Was, zum Teufel, ist 'n falsch am gegenwärtigen System?" fragte Sawkins.
„Wie soll's denn verändert werden?" wollte Newman wissen.
„Was für 'n lausiges System glaubst 'n du müssen wir haben?" rief der Mann hinter dem Burggraben.
„'s kann niemals verändert werden", sagte Philpot. „Die menschliche Natur ist eben die menschliche Natur, und davon kommste nicht los."
„Lass nur die menschliche Natur!" schrie Crass, „bleib bei der Sache. Was ist die Ursache der Armut?"
„Ach, pfeif auf die Ursache der Armut!" sagte einer der neuen Arbeiter. „Ich hab genug von diesem verdammten Gezänk." Er stand auf und machte Anstalten, den Raum zu verlassen.
Dieser Mann hatte zwei Flicken auf dem Sitz seiner Hose, und unten war sie ausgefranst und zerrissen. Bevor er von Rushton & Co. eingestellt wurde, war er etwa sechs Wochen lang arbeitslos gewesen. Den größten Teil dieser Zeit hatten er und seine Familie in halbverhungertem Zustand ihr Leben von dem gefristet, was seine Frau als Aufwärterin verdiente, sowie von den Speiseresten, die sie von ihren Arbeitsstellen mit heimbrachte. Trotzdem hatte die Frage nach der Ursache der Armut keinerlei Interesse für ihn. „Es gibt viele Ursachen", antwortete Owen, „alle sind sie aber ein Bestandteil des Systems und untrennbar damit verbunden. Wenn wir die Armut abschaffen wollen, müssen wir ihre Ursachen beseitigen: um die Ursachen zu beseitigen, müssen wir das ganze System abschaffen."
„Und was sind 'n die Ursachen?"
„Nun - einmal das Geld."
Diese erstaunliche Behauptung wurde mit einem Gebrüll der Erheiterung quittiert, aus dem Philpots Stimme ertönte, der meinte, Owen zuzuhören sei ebenso lustig, wie in den Zirkus zu gehen. Geld sollte die Ursache der Armut sein!
„Ich hab immer geglaubt, 's ist der Mangel daran!" sagte der Mann mit dem geflickten Hosenboden, während er zur Tür hinausging.
„Andere Ursachen", fuhr Owen fort, „sind der Privatbesitz an Grund und Boden, der Privatbesitz an Eisenbahnen, Straßenbahnen, Gaswerken, Wasserwerken, der Privatbesitz an Fabriken und allen anderen Produktionsmitteln für die Herstellung der lebensnotwendigen und der angenehmen Dinge. Die Konkurrenz im Geschäftsleben..."
„Aber wie erklärste 'n das?" fragte Crass ungeduldig.
Owen zögerte. Ihm schien die Sache sehr klar und einfach. Die Ursachen der Armut waren so schreiend offensichtlich, dass er sich wunderte, wie irgendein vernunftbegabtes Wesen sie nicht bemerken konnte; gleichzeitig fiel es ihm jedoch sehr schwer, sie zu definieren. Er konnte keine Worte finden, um seine Gedanken diesen anderen deutlich zu machen, die so feindselig zu sein schienen und so unwillig zu verstehen und die anscheinend beschlossen hatten, alles, was er auch sagen mochte, zu bestreiten und abzulehnen. Sie wussten nicht, was die Ursachen der Armut waren, und offensichtlich wollten sie es auch gar nicht wissen.
„Nun, ich werde versuchen, euch eine der Ursachen zu zeigen", sagte er endlich nervös.
Er hob ein Stück verkohltes Holz auf, das aus dem Feuer gefallen war, kniete nieder und begann auf den Boden zu zeichnen. Die meisten sahen ihn mit Blicken an, in denen
sich ein nachsichtiges, verächtliches Interesse mit dem Bewusstsein der Überlegenheit und herablassendem Gönnertum mischte. Zweifellos, dachten sie, war Owen ein kluger Bursche: seine Arbeit bewies das, aber auf jeden Fall war er ein wenig verrückt.
Inzwischen hatte Owen einen Kreis von etwa sechzig Zentimeter Durchmesser gezogen. Darin hatte er zwei Quadrate gezeichnet, von denen eines viel größer war als das andere. Diese beiden Quadrate füllte er mit Hilfe der Holzkohle gänzlich schwarz aus.

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„Was soll 'n das sein?" fragte Crass höhnisch.
„Na, siehste denn das nicht?" meinte Philpot augenzwinkernd. „Er will 'ne Beschwörung vornehmen! Gleich lässt er was aus einem Quadrat ins andere verschwinden, und keiner wird nicht sehen, wie er's macht."
Als Owen die Zeichnung beendet hatte, schwieg er einige Minuten lang verlegen, bedrückt von dem Vorgefühl, er werde sich lächerlich machen, und von dem Bewusstsein der Unfähigkeit, seine Gedanken klar auszudrücken. Er wünschte, er hätte diese Aufgabe nicht übernommen. Endlich gab er sich einen Ruck und begann zögernd und befangen zu sprechen:
„Dieser Kreis - oder vielmehr der Raum innerhalb des Kreises - soll England vorstellen."
„Ach, ich hab gar nicht gewusst, dass England rund ist", höhnte Crass. „Ich hab zwar gehört, dass die Erde rund ist..."
„Ich habe ja nicht gesagt, dies sei Englands Umriss - ich habe gesagt, nehmen wir an, es stelle England vor."
„Aha. Dachte ich mir doch, dass wir bald anfangen würden, was anzunehmen!"
„Die beiden schwarzen Quadrate", fuhr Owen fort, „stellen die Menschen dar, die in England leben. Das kleine Quadrat stellt ein paar tausend Menschen dar. Das große steht für die übrigen - etwa vierzig Millionen Menschen, das heißt die Mehrheit."
„Wir sind doch nicht solche verdammten Idioten, zu glauben, die größere Zahl ist die Minderheit", unterbrach ihn Crass.
„Die Mehrzahl der Menschen, die das große Quadrat darstellt, arbeitet für ihren Lebensunterhalt, und als Entgelt für ihre Arbeit erhalten sie Geld, einige mehr, einige weniger."
„Du glaubst doch nicht, sie würden solche albernen Schafsköpfe sein und umsonst arbeiten, was?" sagte Newman.
„Ich nehme an, du denkst, sie sollten alle gleichen Lohn bekommen!" rief Harlow. „Hältste's vielleicht für richtig, dass 'n Straßenfeger genauso viel kriegt wie 'n Maler?"
„Darüber spreche ich überhaupt nicht", erwiderte Owen. „Ich versuche, euch zu zeigen, was meiner Meinung nach eine der Ursachen der Armut ist."
„Halt doch die Klappe, Harlow", protestierte Philpot, dessen Interesse wach wurde. „Wir können doch nicht alle auf einmal quatschen."
„Weiß ich, dass wir das nicht können", antwortete Harlow in bekümmertem Ton, „aber er braucht so verflucht lange, um zu sagen, was er zu sagen hat. Niemand sonst kann 'n Wörtchen dazwischenschieben."
„Damit diese Leute leben können", fuhr Owen fort und zeigte auf das große Quadrat, „ist zuerst einmal nötig, dass sie einen Ort haben, wo sie leben ... "
„Ach, das hätte ich nie gedacht!" rief der Mann auf dem Eimer aus und tat, als sei er sehr beeindruckt. Die anderen lachten, und zwei oder drei gingen hinaus und flüsterten einander dabei vernehmlich zu:
„Verdammter Blödsinn!"
„Für was zum Teufel hält er sich 'n eigentlich - für 'ne Art Schulmeister?"
Owens Nervosität wuchs, während er fortfuhr:
„Sie können ja nicht in der Luft oder im Meer leben. Diese Leute sind landbewohnende Tiere, deshalb müssen sie auf dem festen Lande leben."
„Was meinste 'n mit Tieren?" fragte Slyme.
„'n menschliches Wesen ist kein Tier!" sagte Crass empört.
„Doch, sind wir", rief Harlow. „Geh in irgend'ne beliebige Apotheke und frag den Fritzen da, und er wird dir sagen..."
„Ach, zum Deibel damit!" unterbrach ihn Philpot. „Lass uns mal hören, was Owen sagt."
„Sie müssen auf dem festen Lande leben, und hier fängt der Kummer an; denn - unter dem gegenwärtigen System haben die Leute eigentlich kein Recht, überhaupt im Lande zu sein! Unter dem gegenwärtigen System gehört das Land einigen wenigen - denen, die hier mit diesem kleinen schwarzen Quadrat dargestellt sind. Wenn sich's für sie bezahlt machte und wenn sie Lust dazu hätten, wären diese paar Menschen durchaus berechtigt - unter dem gegenwärtigen System - allen übrigen zu befehlen, sich hinauszuscheren!
Das tun sie aber nicht; sie gestatten der Mehrheit, im Lande zu bleiben - unter einer Bedingung: nämlich, sie müssen den Wenigen Miete zahlen für das Recht, in ihrem Geburtsland zu leben. Der Mietsbetrag, der von denen, die das Land besitzen, gefordert wird, ist so groß, dass, um ihn aufzubringen, die meisten Menschen aus der Mehrheit sich und ihren Kindern häufig nicht nur die Annehmlichkeiten des Lebens versagen müssen, sondern auch die notwendigsten Dinge. Bei der Arbeiterklasse verschlingt die Miete, so niedrig wie nur irgend möglich geschätzt, mindestens ein Drittel ihrer Gesamteinkünfte, denn man muss bedenken, dass die Miete weiterläuft, ob die Menschen Arbeit haben oder nicht. Geraten sie in Rückstand, wenn sie arbeitslos sind, so müssen sie doppelt soviel bezahlen, sobald sie wieder beschäftigt sind.
Die Mehrzahl der Menschen arbeitet schwer und lebt in Armut, damit die Minderheit im Luxus leben kann, ohne überhaupt zu arbeiten, und da die Mehrzahl zum größten Teil aus Narren besteht, sind sie nicht nur damit einverstanden, ihr Leben in endloser Sklaverei und Not zu verbringen, um denen die Miete zahlen zu können, die das Land besitzen, sondern sie sagen auch, es sei ganz richtig so, und sind der kleinen Minderheit noch dankbar für die Erlaubnis, überhaupt im Lande bleiben zu dürfen."
Owen hielt inne, und sogleich erhob sich großer Lärm unter seinen Zuhörern.
„Es ist ja auch richtig, oder?" schrie Crass. „Wenn du 'n Haus hättest und würdest's an jemand vermieten, würdeste auch deine Miete verlangen, oder etwa nicht?"
„Ich nehme an", sagte Slyme unwillig, denn er besaß einige Aktien einer örtlichen Baugesellschaft, „wenn 'n Mann umsichtig gewesen ist und sein ganzes Leben lang alles zusammengekratzt und gespart und sich die Dinge versagt hat, die er eigentlich haben müsste, und 's fertig gebracht hat, 'n paar Häuser zu kaufen, damit er im Alter davon leben kann - dann sollten sie ihm alle weggenommen werden? Manche Leute", setzte er hinzu, „haben keinen Sinn für ganz gewöhnliche Ehrlichkeit."
Fast jeder hatte etwas zu sagen, um die von Owen geäußerten Ansichten zu verdammen. In einer kurzen, aber wirkungsvollen Rede, die von zahlreichen blutdürstigen Anspielungen auf den „bodenlosen Abgrund" starrte, verwahrte sich Harlow gegen jede Einmischung in die geheiligten Eigentumsrechte. Easton hörte mit verwirrter Miene zu, und Philpots Kulleraugen rollten fürchterlich, während er schweigend den Kreis und die beiden Quadrate betrachtete.
„Der weitaus größere Teil des Bodens", sagte Owen, als sich der Lärm gelegt hatte, „ist im Besitz von Leuten, die absolut keinen moralischen Anspruch darauf haben. Vielfach eigneten sich ihn die Ahnen des gegenwärtigen Eigentümers mit Hilfe von Mord und Diebstahl an. In anderen Fällen schenkte irgendein König oder Prinz, wenn er eine Mätresse loswerden wollte, deren er müde geworden war, einem ,Edelmann' ein Stück unseres Landes unter der Bedingung, dass der die Person heiratete. Große Ländereien Wurden den entfernten Vorfahren der gegenwärtigen Besitzer auch als Belohnung für wirkliche oder angebliche Verdienste geschenkt. Hört euch mal das hier an", fuhr er fort und zog einen kleinen Zeitungsausschnitt aus seinem Notizbuch.
Crass sah das Stückchen Papier bekümmert an. Es erinnerte ihn an das, welches er in der eigenen Tasche hatte, und er befürchtete, er werde an diesem Tage gar keine Gelegenheit finden, es hervorzuziehen.

„,Ballcartridge, am Pachttag.
Gestern war der Tag der hundertsten Wiederkehr der Schlacht von Ballcartridge, und wie gebräuchlich übergab der Herzog von Ballcartridge der Behörde die kleine Fahne, die er alljährlich dem Staat überreicht, kraft seines Lehenstitels auf das große Gebiet unseres Landes, das einem seiner Ahnen - dem ersten Herzog - für seine Verdienste bei der Schlacht von Ballcartridge neben seiner Besoldung verliehen wurde.
Die Fahne - die einzige Pachtzahlung, die der Herzog für den großen Besitz zu leisten hat, der ihm mehrere hunderttausend Pfund jährlich einbringt - ist ein kleines dreifarbiges Banner mit adlergekröntem Schaft.
Auch der Herzog von Blankmind überreicht dem Staat jedes Jahr eine kleine Seidenfahne als Entgelt für die Erlaubnis, den Teil Englands in Besitz zu behalten, der einem sehr entfernten Vorfahren Seiner Gnaden für seine Verdienste in der Schlacht von Comissariat in den Niederlanden - neben seiner Besoldung - verliehen wurde.'

Der Herzog von Southward ist ein weiteres Beispiel", fuhr Owen fort. „Viele Meilen des Landes, von dem wir als ,unseres' sprechen, ist sein ,Eigentum'. Ein großer Teil davon besteht aus beschlagnahmten Klosterländereien, die von Heinrich VIII. ihren Besitzern gestohlen und den Ahnen des gegenwärtigen Herzogs übergeben wurden.
Mit der Frage, ob es recht oder unrecht war, jenen Leuten jemals dieses Land zu schenken, mit der Frage, ob diese Vorfahren wirklich verdiente Leute waren oder nicht, brauchen wir uns jetzt nicht abzugeben. Die gegenwärtigen Eigentümer aber sind gewiss keine verdienstvollen Leute. Nicht mal die Mühe, es vorzutäuschen, machen sie sich. Sie haben nicht das geringste getan und tun nicht das geringste,
das ihren Besitz dieser ,Güter', wie sie sie nennen, rechtfertigt. Und meiner Meinung nach kann niemand, der richtig im Kopf ist, es wirklich für gerecht halten, dass diesen Leuten gestattet wird, ihre Mitmenschen auszusaugen, wie sie es jetzt tun. Oder dass ihren Kindern gestattet wird, für ewig fortzufahren, unsere Kinder auszusaugen. Die Tausende von Menschen auf diesen Gütern schuften und leben in Armut, damit die drei Menschen und ihre Familien müßiggehen und in Luxus schwelgen können. Denkt nur mal darüber nach, wie widersinnig das ist!" fuhr Owen fort und deutete auf die Zeichnungen. „Alle diese Leute dort lassen zu, dass diese paar Leute hier sie schinden, sie herumkommandieren, sie aushungern und ausrauben!"
Da er Anzeichen eines neuen Proteststurines bemerkte, schloss Owen hastig:
„Ob es recht oder unrecht ist, eins könnt ihr nicht bestreiten: die Tatsache, dass diese kleine Minderheit fast den gesamten Grund und Boden in unserem Lande besitzt, ist eine der Hauptursachen für die Armut der Mehrheit."
„Nun, das scheint wirklich wahr zu sein", sagte Easton langsam. „Die Miete ist der größte Posten, den 'n Arbeiter zu bezahlen hat. Wenn ihr arbeitslos seid und euch andre Dinge nicht leisten könnt, behelft ihr euch eben ohne; aber die Miete muss bezahlt werden, ob ihr arbeitet oder nicht."
„Ja, das stimmt schon", sagte Harlow ungeduldig, „aber man kriegt doch was für sein Geld; man kann doch nicht erwarten, 'n Haus für umsonst zu kriegen."
„Angenommen, wir geben zu, dass es falsch ist, bloß so, der Diskussion wegen", sagte Crass in spöttischem Ton, „und wennschon? Was weiter? Wie willste's denn ändern?"
„Jawohl!" rief Harlow triumphierend. „Das ist die verfluchte Frage: wie willste's denn ändern? Kann man ja gar nicht!"
Ein allgemeines Gemurmel der Zufriedenheit erhob sich. Fast alle schienen erfreut bei dem Gedanken, der bestehende Zustand der Dinge könne keineswegs verändert werden.
„Ob das geändert werden kann oder nicht, ob es recht ist oder unrecht - das Grundeigentum ist eine der Ursachen der Armut", wiederholte Owen. „Die Armut entsteht nicht dadurch, dass Männer und Frauen einander heiraten, nicht durch die Maschine, nicht durch .Überproduktion', nicht durch Trunksucht oder Faulheit und nicht durch Übervölkerung'. Sie wird durch die private Monopolisierung verursacht. Darin eben besteht das gegenwärtige System. Sie haben monopolisiert, was sich überhaupt nur monopolisieren lässt; sie haben die ganze Erde und die Flüsse, die die Erde bewässern, in Besitz. Der einzige Grund, weshalb sie nicht das Tageslicht und die Luft monopolisiert haben, ist, dass sich das nicht machen lässt. Wäre es möglich, riesige Gasometer zu bauen, die ganze Atmosphäre einzusaugen und darin zu komprimieren, so wäre das schon längst geschehen, und wir wären gezwungen, für sie zu arbeiten, um uns das Geld zu verdienen, Luft zum Atmen zu kaufen. Und wenn dieses anscheinend Unmögliche morgen vollbracht würde, sähet ihr Tausende von Menschen aus Luftmangel sterben - oder aus Mangel an Geld, um Luft zu kaufen -, so, wie jetzt Tausende aus Mangel an den anderen lebensnotwendigen Dingen sterben. Ihr würdet sehen, wie die Leute umhergingen, nach Luft schnappten und zueinander sagten, ihresgleichen könnten nicht erwarten, Luft zum Atmen zu bekommen, wenn sie nicht das Geld dazu hätten. Die meisten von euch hier, zum Beispiel, würden so denken und so sprechen. Genau, wie ihr augenblicklich denkt, es sei recht, dass ein paar Menschen die Erde, die Bodenschätze und das Wasser besitzen, die alle ebenso notwendig sind wie die Luft. Im gleichen Geist, wie ihr jetzt sagt: ,Es ist ihr Land' - ,Es ist ihr Wasser' - ,Es ist ihre Kohle' - ,Es ist ihr Eisen', würdet ihr dann sagen: ,Es ist ihre Luft' - ,Das sind ihre Gasometer, und welches Recht hat unsresgleichen, von ihnen zu erwarten, dass sie uns umsonst atmen lassen?'
Und während der Luftmonopolist so handelt, wird er Predigten über die Brüderlichkeit der Menschen halten, wird er in den Sonntagszeitschriften Ratschläge über die ,Pflichten der Christen' erteilen, wird er zahlreiche mehr oder weniger moralische Grundsätze zur Erziehung der Jugend äußern. Und inzwischen werden ringsum die Menschen aus Mangel an ein bisschen Luft sterben, die er in seinen Gasometern eingeschlossen hat. Und wenn ihr euch alle elend durchs Leben schleppt, nach Luft schnappt oder aus Mangel daran sterbt, und wenn dann einer von euch den Vorschlag macht, ein Loch in die Seite eines der Gasometer zu schlagen, werdet ihr alle im Namen des Gesetzes und der Ordnung über ihn herfallen, und nachdem ihr euer Bestes getan habt, ihn in Stücke zu reißen, werdet ihr ihn im Triumph blutüberströmt zum nächsten Polizeirevier schleifen und ihn der ,Gerechtigkeit' ausliefern, in der Hoffnung, man werde eure Mühe mit einigen halben Pfunden Luft belohnen."
„Vermutlich biste der Meinung, die Hausbesitzer sollten die Leute umsonst in ihren Häusern wohnen lassen, was?" brach Crass das Schweigen, das Owens Worten folgte.
„Na gewiss", bemerkte Harlow und tat, als sei er plötzlich zu Owens Ansichten bekehrt. „Meiner Ansicht nach müsste der Hauswirt dem Mieter Miete zahlen!"
„Natürlich ist das Privateigentum an Grund und Boden nicht die einzige Ursache", sagte Owen und ignorierte ihre Bemerkungen. „Unser wundervolles System bringt noch viele andere hervor. Unternehmer, die Arbeiter beschäftigen, zum Beispiel, sind ebenso sehr eine Ursache der Armut wie Grundbesitzer."
Diese ungewöhnliche Erklärung wurde mit erstauntem Schweigen aufgenommen.
„Willste damit sagen, wenn ich arbeitslos bin, und 'n Meister bietet mir Arbeit an, tut er mir damit Schaden?" sagte Crass schließlich.
„Nein, natürlich nicht", erwiderte Owen.
„Was, zum Teufel, meinste denn da?"
„Ich meine das: Angenommen, der Eigentümer eines Hauses will es streichen lassen. Was tut er gewöhnlich?"
„Nu, gewöhnlich geht er zu drei oder vier Malermeistern und fordert sie auf, ihm 'nen Kostenanschlag für die Arbeit zu machen."
„Ja, und diese Malermeister sind so auf den Auftrag erpicht, dass sie den Preis so weit herunterschrauben, wie ihnen nur irgend möglich scheint", antwortete Owen, „und der mit dem niedrigsten Preis erhält gewöhnlich den Auftrag. Der Meister, der Erfolg hatte mit seiner Offerte, hat den Preis im allgemeinen so tief angesetzt, dass er, um da-
bei zu verdienen, die Arbeit schludern, die Löhne drücken und die Leute, die er beschäftigt, antreiben und auspressen muss. Er möchte gern, dass sie die Arbeit von zwei Tagen für einen Tageslohn leisten. Das Ergebnis ist, dass eine Arbeit, die bei guter Ausführung sagen wir zwanzig Mann zwei Monate lang beschäftigen würde, in der halben Zeit mit der Hälfte der Arbeitskräfte überstürzt und gepfuscht wird.
Das heißt in so einem Fall, zehn Mann wird die Arbeitsmöglichkeit für einen Monat entzogen und zehn weiteren die für zwei Monate, und all das nur, weil die Unternehmer sich gegenseitig die Kehle abschneiden, um den Auftrag zu bekommen."
„Und wir können uns nicht helfen, du nicht und ich auch nicht", sagte Harlow. „Nimm mal an, einer von uns hier auf der Arbeitsstelle würde sich vornehmen, nicht so zu hetzen, wie wir's machen, sondern nur einfach in 'nem ruhigen Tempo 'ne anständige Tagesarbeit zu leisten -was würde denn passieren?"
Niemand antwortete; aber alle hatten den gleichen Gedanken. Solch ein Arbeiter würde schnell von Hunter bemerkt, und selbst wenn es dem nicht auffiele, dauerte es nicht lange, bis Crass sein Verhalten meldete.
„Wir können uns nicht helfen", sagte Easton düster. „Will's einer nicht tun, so gibt's zwanzig andere, die bereit sind, an seine Stelle zu treten."
„In gewissem Maße könnten wir uns schon helfen, wenn wir hier zusammenhielten. Wenn wir zum Beispiel alle der Gewerkschaft angehörten", sagte Owen.
„Ich halte nichts von der Gewerkschaft", bemerkte Crass. „Ich seh nicht ein, weshalb 'n schlechterer Arbeiter den gleichen Lohn kriegen soll wie ich."
„Die sind 'n Haufen von besoffenen Bierpichlern", bemerkte Slyme. „Drum halten sie ihre Versammlungen auch immer in Kneipen ab."
Harlow äußerte sich nicht zu dieser Frage. Er war einmal Mitglied der Gewerkschaft gewesen und schämte sich eigentlich, ihr nicht mehr anzugehören.
„Was hat 'n die Gewerkschaft hier schon mal geholfen? sagte Easton. „Ich hab nie von was gehört."
„Sie könnte helfen, wenn die Mehrzahl von uns Mitglied war, aber das ist schließlich eine andere Sache. Ob wir uns helfen könnten oder nicht - Tatsache ist, dass wir es nicht tun. Ihr müsst aber zugeben, dass der Konkurrenzkampf unter den Unternehmern eine der Ursachen der Arbeitslosigkeit und der Armut ist, denn nicht nur in unserm Fach sieht es so aus - genau das gleiche geschieht in jedem anderen Handwerk und Industriezweig. Konkurrierende Unternehmer sind die beiden Mühlsteine, der obere und der untere, zwischen denen die Arbeiter zermahlen werden."
„Vermutlich denkste, es dürfte überhaupt keine Unternehmer geben?" höhnte Crass. „Oder vielleicht denkste, die Meister müssten die ganze gottverdammte Arbeit selber machen und uns das Geld geben?"
„Ich weiß nicht, wie man's ändern könnte", bemerkte Harlow. „Es muss ja Meister geben, und irgend jemand muss doch die Arbeit beaufsichtigen und das Denken besorgen."
„Ob man es ändern kann oder nicht", sagte Owen, „Privateigentum an Grund und Boden und der Konkurrenzkampf der Unternehmer sind zwei von den Ursachen der Armut. Aber natürlich sind sie nur ein kleiner Teil des Systems, das Luxus, Verfeinerung und Kultur für einige wenige hervorbringt, die Mehrheit zu einem lebenslänglichen Kampf mit der Not und viele Tausende zu Entwürdigung, Hunger und zerlumpter Kleidung verurteilt. Es ist das System, das ihr alle befürwortet und verteidigt, obgleich es euch nicht stört zuzugeben, dass es die Welt zur Hölle gemacht hat."
Langsam zog Crass die Notiz aus dem „Verdunkler" aus seiner Westentasche; nachdem er jedoch einen Augenblick lang nachgedacht hatte, steckte er sie wieder ein und beschloss, sie für eine passendere Gelegenheit aufzuheben.
„Aber wie du darauf kommst, dass Geld Armut verursacht, hast du uns noch nicht erklärt!" rief Harlow und blinzelte den anderen zu. „Das möchte ich gerne hören!"
„Ich auch", bemerkte der Mann hinter dem Burggraben. „Ich hab grade überlegt, ob ich dem ollen Elend nicht lieber sagen soll, ich will die Woche keinen Lohn."
„Ich denke, am Sonnabend werd ich ihm sagen, mein Geld soll er behalten und sich damit 'n paar Gläschen zu trinken kaufen", sagte Philpot. „Vielleicht heitert's ihn 'n bisschen auf und macht ihn 'n bisschen umgänglicher und freundlicher."
„Das Geld ist die Hauptursache der Armut", sagte Owen.
„Wie willste denn das erklären?" rief Sawkins.
Für dieses Mal jedoch musste ihre Neugier unbefriedigt bleiben, denn Crass verkündete, es sei „genau voll".

 

16. Kapitel Wahre Freiheit

Gegen drei Uhr nachmittags erschien plötzlich Rushton; er begann schweigend durch das Haus zu gehen und an den Türen der Zimmer zu lauschen, in denen die Leute arbeiteten. Es gelang ihm nicht, irgend jemand beim Faulenzen, Rauchen oder Sprechen zu ertappen. Am nächsten kam einem „Fang", wie die Leute es nannten, dass er Philpot und Harlow ein Kirchenlied von Sankey singen hörte, als er vor der Tür des Zimmers stand, in dem sie arbeiteten: „Schaffet, denn es wird Nacht." Er hörte sich zwei Verse und mehrere Wiederholungen des Refrains an. Da er ein „Christ" war, konnte er dagegen schlecht etwas einwenden, besonders da er durch die halbgeöffnete Tür sah, dass sie ihren Worten gemäß handelten. Als er ins Zimmer trat, blickten sie sich um, um festzustellen, wer es war, und brachen ihren Gesang ab. Rushton sagte nichts, sondern stand in der Mitte des Zimmers und beobachtete sie schweigend etwa eine Viertelstunde lang bei der Arbeit. Dann, ohne eine Silbe geäußert zu haben, wandte er sich um und ging hinaus.
Sie hörten, wie er leise die Treppe hinunterstieg, und flüsternd meinte Harlow zu Philpot:
„Was hälste 'n von dem Kerl, dazustehen und auf uns aufzupassen, als wenn wir 'n paar lausige Sträflinge wären? Wenn ich nicht noch jemand hätte, an den ich außer
mir denken müsste, hätt ich dem verdammten Ochsen eins mit dieser Pfundbürste hier in die Fresse gehauen."
„Ja, dazu kriegt man Lust, Mann", erwiderte Philpot, aber machen dürfen wir's nicht."
„'n paar Mal", fuhr Harlow fort, der vor Wut schäumte, „war ich drauf und dran, mich umzudrehen und zu ihm zu sagen: ,Was, zum Teufel, soll 'n das heißen, dass Sie dastehen und auf mich aufpassen, Sie verdammtes, psalmengrölendes Schwein?' 's hat mich all meine Kraft gekostet, Jas für mich zu behalten, kann ich dir sagen."
Inzwischen ging Rushton noch immer im Hause umher und blieb gelegentlich stehen, um die anderen Leute in der gleichen Weise zu beobachten, wie er es mit Philpot und Harlow getan hatte.
Keiner der Arbeiter blickte von seiner Arbeit auf, und niemand sprach, weder zu Rushton noch zu einem der anderen. Die einzigen Laute, die man hörte, war das Sägen und Hämmern der Tischler, welche die Gesimsstreifen und Fußleisten anbrachten oder in einigen Zimmern Holzteile ausbesserten.
In der Hoffnung, angesprochen zu werden, machte sich Crass mehrmals auf Rushtons Weg zu schaffen, aber außer einem kurzen Nicken auf das servile „Guten Tag, Mr. Rushton" des Vorarbeiters nahm der Chef keine Notiz von ihm.
Nachdem Rushton etwa eine Stunde auf diese Weise verbracht hatte, entfernte er sich wieder; da ihn aber niemand gehen sah, bemerkten sie erst eine geraume Zeit später, dass er fort war.
Owen war insgeheim sehr enttäuscht. ,Ich dachte, er sei gekommen, um mir wegen des Salons Bescheid zu geben', sagte er sich, ,aber es ist wohl noch nicht entschieden.'
Als die Arbeiter gerade wieder frei zu atmen begannen, kam Elend und trug einige zusammengerollte Bogen Papier in der Hand. Auch er schlüpfte schweigend von Zimmer zu Zimmer, spähte um die Ecken und horchte an den Türen, in der Hoffnung, etwas zu sehen oder zu hören, was ihm einen Vorwand gäbe, an irgend jemand ein Exempel zu statuieren. Nachdem er hierin enttäuscht worden war, kroch er hinauf in das Zimmer, in dem Owen arbeitete, übergab ihm die Rolle Papier, die er getragen hatte und sagte:
„Mr. Sweater hat sich entschlossen, die Arbeit machen zu lassen. Sie können also damit anfangen, sobald Sie wollen."
Es lässt sich, ohne den Anschein der Übertreibung zu erwecken, unmöglich beschreiben, was Owen empfand, als er diese Mitteilung hörte. Einmal bedeutete es, dass die Arbeit in diesem Hause länger dauern werde als sonstferner bedeutete es, dass ihm die zusätzliche Arbeitszeit für die Zeichnungen bezahlt würde, ganz abgesehen davon, dass er eine Lohnerhöhung erhielte - denn sein Lohn betrug stets einen Penny die Stunde mehr, wenn er besondere Arbeiten ausführte, wie Marmorieren, Schriftmalen oder eine Aufgabe wie diese hier. Aber diese Überlegungen kamen ihm im Augenblick gar nicht, denn für ihn bedeutete die Sache viel mehr. Seit seiner ersten Unterhaltung darüber mit Rushton hatte er kaum an etwas anderes gedacht als an diese Arbeit.
In gewissem Sinne hatte er sie seitdem ständig ausgeführt. Er hatte darüber nachgedacht, sie geplant und wiederholt die Einzelheiten verändert. Immer wieder hatte er die Farben für die verschiedenen Teile ausgesucht, verworfen und von neuem ausgesucht. Ein heftiger Wunsch, die Arbeit auch auszuführen, war in ihm entstanden, doch er hatte sich kaum gestattet zu hoffen, sie werde überhaupt ausgeführt werden. Er errötete leicht, als er Hunter die Zeichnungen abnahm.
„Sie können morgen früh damit anfangen", fuhr dieser
Herr fort. „Ich werd Crass sagen, er soll jemand raufschicken, um das Zimmer hier fertig zu machen."
„Morgen kann ich noch nicht anfangen; zuerst müssen die Decke und die Wände gestrichen werden."
„Ja, ich weiß. Sie und Easton können das machen. Ein Anstrich morgen, einer am Freitag und einer am Sonnabend - das heißt, wenn Sie's nicht mit zwei Anstrichen schaffen. Selbst wenn alle drei nötig sind, können Sie am Montag mit Ihrer Dekoriererei anfangen."
„Am Montag kann ich damit noch nicht anfangen; zuerst muss ich Arbeitszeichnungen anfertigen."
„Arbeitszeichnungen!" rief Elend erstaunt. „Was 'n für Arbeitszeichnungen? Sie haben doch die hier, nicht?" Er zeigte auf die Papierrolle. „Ja, aber da die gleichen Ornamente sich wiederholen, muss ich mehrere durchlochte Zeichnungen in natürlicher Größe anfertigen, um sie auf die Wände zu übertragen", sagte Owen und begann, den Prozess ausführlich zu erklären.
Nimrod sah ihn argwöhnisch an. „Ist 'n all das wirklich nötig?" fragte er. „Können Sie's nicht einfach aus freier Hand auf die Wände kopieren?"
„Nein, das geht nicht. Das würde viel länger dauern."
Diese Überlegung fand Anklang bei Elend.
„Na gut", seufzte er, „dann werden Sie's wohl so machen müssen, wie Sie gesagt haben, aber wenden Sie um Himmels willen nicht zuviel Zeit darauf, wir haben's nämlich sehr billig übernommen. Wir haben's überhaupt nur angenommen, damit Sie 'ne Arbeit haben, und nicht, weil wir erwarten, irgend'nen Profit draus zu machen."
„Und einige Schablonen muss ich mir machen; ich brauche also einige Bogen Schablonenpapier."
Als er von dieser zusätzlichen Ausgabe hörte, wurde Elends langes Gesicht noch um einige Zoll länger; nachdem er aber einige Augenblicke lang nachgedacht hatte, hellte sich seine Miene auf.
„Ich werd Ihnen was sagen!" rief er schlau blinzelnd, „unten im Laden sind 'ne Menge überzählige alte Tapetenrollen. Können Sie's nicht damit machen?"
„Ich fürchte, das geht nicht", erwiderte Owen zweifelnd, „aber ich werd sie mir ansehen, und wenn es möglich ist, benutze ich sie."
„Ja, tun Sie das", sagte Elend, erfreut bei dem Gedanken, etwas zu sparen. „Kommen Sie heute Abend auf dem Nachhauseweg im Laden vorbei, dann wer'n wir sehn, was wir finden. Wie lang, glauben Sie 'n, werden Sie brauchen, um die Zeichnungen und die Schablonen zu machen?"
„Nun, heute ist Donnerstag. Wenn Sie Easton bei den Vorbereitungsarbeiten einen anderen Helfer geben, kann ich wohl rechtzeitig damit fertig werden, um sie am Montagmorgen mitzubringen.
„Was soll "n das heißen, mitbringen?" fragte Nimrod. „Ich werde sie zu Hause machen müssen, wissen Sie." „Zu Hause machen? Warum können Sie's nicht hier
machen?"
„Nun, einmal steht hier kein Tisch."
„Oh, wir können Ihnen doch 'nen Tisch zurechtmachen. Sie können ja 'n paar Tapezierböcke und Bretter nehmen."
„Ich habe eine Menge Skizzen und anderes zu Hause, was ich nicht gut mitbringen könnte", sagte Owen.
Elend stritt lange darüber und bestand darauf, die Zeichnungen sollten entweder an der „Arbeitsstelle" oder in der Werkstatt unten auf dem Gerätehof angefertigt werden. Wie, so fragte er, sollte er denn wissen, wann Owen mit der Arbeit begann und wann er damit aufhörte, wenn er sie zu Hause machte?
„Ich werde nicht mehr Zeit anrechnen, als ich wirklich zur Arbeit brauche", antwortete Owen. „Ich kann sie auf gar keinen Fall hier oder in der Werkstatt machen. Ich weiß, unter solchen Bedingungen würde nichts Gescheites
daraus werden."
„Hm, dann werden Sie's wohl oder übel auf Ihre Weise machen müssen!" sagte Elend betrübt. „Harlow werd ich für den Voranstrich Easton als Helfer geben, damit Sie Ihre Schablonen und Sachen fertigmachen können. Aber machen Sie's um Himmels willen so schnell wie möglich. Wenn Sie's bis Freitag schaffen und am Sonnabend herkommen und Easton helfen, wär's besser. Und wenn Sie dann mit der Dekoriererei anfangen, geben Sie sich nicht zuviel Mühe damit, wissen Sie, weil wir den Auftrag beinah für umsonst übernehmen mussten, sonst hätt's Mr.
Sweater eben nicht machen lassen!"
Nun begann Nimrod im Hause umherzuschleichen und
jeden anzubrummen und anzuknurren.
„Los, ihr Kerle, reißt euch mal 'n bisschen zusammen!"
bellte er. „Ihr scheint zu glauben, hier war 'n Krankenhaus.
Wenn 'n paar von euch nicht 'n bisschen mehr Arbeit liefern, muss ich 'ne Änderung vornehmen! 's gibt genug Leute, die rumlaufen und nichts zu tun haben und froh
wären, wenn sie Arbeit kriegten!"
Er ging in die Spülkammer, wo Crass Farben mischte. „Hör'n Sie mal zu, Crass", sagte er. „Ich bin ganz und gar nicht zufrieden damit, wie sie mit der Arbeit hier vorankommen. Sie müssen den Leuten 'n bisschen mehr Dampf machen als bisher. 's wird nicht genug geschafft, nicht im entferntesten. Wir setzen schließlich noch Geld bei der Arbeit zu!"
Crass, dessen fettes Gesicht vor Angst ganz grün geworden war, murmelte etwas über „so schnell wie nur irgend möglich".
„Nun, sorgen Sie dafür, dass sie 'n bisschen mehr Tempo annehmen als bisher!" brüllte Elend, „sonst wird 'ne Änderung vorgenommen!"
Unter einer „Änderung" verstand Crass, er könne entlassen oder jemand anders Vorarbeiter werden, und dann wäre er natürlich zum gewöhnlichen Arbeiter degradiert und hätte keinerlei Aussicht mehr, länger behalten zu werden als die anderen. Er beschloss, sich bei Hunter lieb Kind zu machen und dessen Zorn zu beschwichtigen, indem er jemand anders opferte. Vorsichtig blickte er in die Küche hinein und den Flur entlang und sagte dann, die Stimme senkend:
„Sie machen sich alle ganz gut bis auf Newman. Ich hätt schon vorher mit Ihnen über ihn gesprochen, aber ich dachte, ich gebe ihm erst mal 'ne Chance. Ich hab schon 'n paar Mal selbst mit ihm drüber gesprochen, dass er nicht genug macht, aber 's scheint nichts zu nützen."
„Ich hab schon selber 'ne ganze Weile 'n Auge auf ihn", erwiderte Nimrod im gleichen Ton. „Man sollte meinen, die Arbeit würde auf 'ne Ausstellung geschickt, wie er damit rummurkst, das Zeugs mit Sandpapier abreibt und jeden kleinen Riss verschmiert! Ich versteh gar nicht, woher er das ganze Sandpapier kriegt!"
„Das bringt er selbst mit!" sagte Crass heiser. „Ich weiß bestimmt, dass er sich letzte Woche zwei Bogen zu 'nem halben Penny von seinem eigenen Geld gekauft hat!"
„So, hat er das?" knurrte Elend. „Ich werd 'm Sand-Papier geben! Ich werd 'ne Änderung vornehmen!"
Er ging in das Vestibül, wo er geraume Zeit brütend allein blieb. In der Haltung eines Mannes, der seinen Plan
gefasst hat, wandte er sich schließlich um und trat in das Zimmer, in dem Philpot und Harlow arbeiteten.
„Ihr kriegt beide sieben Pence die Stunde, was?" sagte er.
Beide bejahten.
„Ich hab noch nie unter Tarif gearbeitet", fügte Harlow hinzu.
„Ich auch nicht", bemerkte Philpot. „Nun, Sie können's natürlich halten, wie Sie wollen", fuhr Hunter fort, „aber wir haben uns entschlossen, ab nächste Woche nicht mehr als sechseinhalb zu zahlen. Die Unkosten sind heutzutage so knapp kalkuliert, dass wir's uns nicht mehr leisten können, sieben Pence zu zahlen. Bis morgen Abend können Sie zu den alten Bedingungen arbeiten; aber wenn Sie sechseinhalb nicht annehmen wollen, brauchen Sie Sonnabend morgen nicht zu kommen. Machen Sie's, wie Sie wollen. Nehmen Sie's an, oder lassen Sie's bleiben."
Harlow und Philpot waren beide viel zu erstaunt, um auf diese erfreuliche Mitteilung irgend etwas zu antworten, und mit der abschließenden Bemerkung: „Sie können's sich überlegen", verließ sie Hunter und ging hinaus, um allen übrigen vollbezahlten Arbeitern dasselbe Ultimatum zu stellen, die es ebenso entgegennahmen wie Philpot und Harlow. Crass und Owen waren die einzigen, deren Löhne nicht herabgesetzt wurden.
Der Leser wird sich erinnern, dass Newman einer von denen war, die bereits zum herabgesetzten Lohn arbeiteten. Elend fand ihn allein in einem der oberen Zimmer, dem er den letzten Anstrich gab. Er war mit seinen alten Mätzchen beschäftigt. Das Holz des Schrankes, an dem er gerade arbeitete, war ziemlich beschädigt, und er füllte die Risse mit Bleiweißkitt aus, bevor er sie überstrich. Er wusste recht gut, dass Hunter nicht wollte, dass andere als nur ganz große Löcher und Risse verschmiert wurden, aber irgendwie konnte er einfach die Arbeit nicht in dem Maße pfuschen, wie ihm befohlen wurde, und so pflegte er sie fast heimlich auszuführen - nicht gerade richtig, aber so gut er es nur irgend wagte. Er ging so weit, gelegentlich von seinem eigenen Geld einige Bogen Sandpapier zu kaufen, wie Crass Hunter mitgeteilt hatte. Nach-
dem dieser ins Zimmer getreten war, blieb er dort mit höhnischer Miene stehen und sah Newman etwa fünf Minuten lang zu, ehe er sprach. Unter diesen prüfenden Blicken wurde der Arbeiter nervös und ungeschickt.
Sie können Ihren Lohnzettel ausfüllen und um fünf Uhr Ihr Geld im Büro abholen kommen", sagte Nimrod schließlich. „Ab heute Abend brauchen wir Ihre wertvollen Dienste nicht mehr."
Newman erblasste.
„Warum? Woran hapert's denn?" fragte er. „Was hab ich denn gemacht?"
„Oh, 's ist nicht wegen dem, was Sie gemacht haben", antwortete Elend. „'s ist wegen dem, was Sie nicht gemacht haben. Daran hapert's! Sie haben nicht genug gemacht, das ist alles!" Und ohne sich auf weitere Unterhaltungen einzulassen, wandte er sich um und ging hinaus.
Newman stand in dem dämmrigen Zimmer, und ihm war, als sei sein Herz zu Blei geworden. Vor ihm tauchte das Bild seines Heims und seiner Familie auf. Er glaubte seine Lieben zu sehen, wie sie wohl eben in diesem Augenblick beschäftigt waren - seine Frau begann wahrscheinlich gerade, das Abendbrot vorzubereiten, und die Kinder stellten Tassen und Untertassen und alles übrige auf den Küchentisch - eine recht geräuschvolle Arbeit, die mit allerlei Scherzen und kindlichem Streit belebt wurde. Selbst das zweijährige Baby wollte unbedingt helfen, obgleich es immer alles an den verkehrten Platz stellte und allerlei komische Verwechslungen beging. Die letzte Zeit über waren sie alle so glücklich gewesen; sie wussten ja, dass er bis Weihnachten - wenn nicht noch länger - Arbeit hatte. Und nun geschah dies und schleuderte sie alle in den Abgrund des Elends zurück, dem sie erst vor so kurzer Zeit entronnen waren. Sie hatten noch Mietsschulden für mehrere Wochen und standen beim Bäcker und beim Kaufmann noch so tief in der Kreide, dass keine Hoffnung auf einen weiteren Kredit bestand.
„Mein Gott", sagte Newman, als ihm die ganze Aussichtslosigkeit, wieder Arbeit zu finden, bewusst wurde, und unwillkürlich klagte er laut: „Mein Gott! Wie kann ich's ihnen nur sagen? Was soll nur aus uns werden?"
Nachdem Hunter den Zweck seines Besuches erreicht hatte, ging er kurz darauf von dannen, und wahrscheinlich gratulierte er sich, sein Licht nicht unter den Scheffel gestellt, sondern es in einen Kerzenhalter gesteckt und allen Anwesenden heimgeleuchtet zu haben.
Sobald die Leute sicher waren, dass er fort war, begannen sie sich in kleinen Gruppen zu versammeln; doch kurz darauf fanden sich fast alle in der Küche ein und diskutierten über die Lohnkürzung. Sawkins und die übrigen „Fliegengewichtler" blieben bei ihrer Arbeit. Einige davon erhielten nur viereinhalb Pence - Sawkins' Lohn betrug fünf Pence -, daher war keiner unter ihnen von der Veränderung betroffen. Die anderen beiden neuen Arbeiter, die Gesellen, hatten sich den Leuten in der Küche angeschlossen, denn ihnen lag daran zu verbergen, dass sie sich bei ihrer Einstellung bereit erklärt hatten, den gekürzten Lohn anzunehmen. Auch Owen war dort; er hatte von Philpot die Nachricht gehört.
Es gab eine Menge aufgebrachtes Gerede. Zuerst sprachen einige davon, sofort „in den Sack zu hauen", andere aber waren vorsichtiger; denn sie wussten, wenn sie gingen, drängten sich Dutzende danach, ihren Platz einzunehmen. „Wisst ihr", sagte Slyme, der insgeheim mit dem Gedanken spielte, bald selbst ein Geschäft anzufangen; er wartete nur, bis er genügend Geld verdient hatte, „schließlich ist was dran an dem, was Hunter sagt, 's ist heutzutage ziemlich schwer, 'nen anständigen Preis für die Arbeit zu kriegen. 's ist wirklich alles sehr knapp berechnet." „Ja, das wissen wir ja", schrie Harlow. „Und wer, Kreuzdonnerwetter noch mal, berechnet's denn so knapp? Doch solche Lumpen wie Hunter und Rushton! Hätte die Firma den Preis bei der Arbeit hier nicht so knapp berechnet, dann hätte eben 'ne andere Firma sie für mehr Geld gekriegt! Damit, dass Rushton die Arbeit hier knapp berechnet hat, hat er sie doch nicht etwa geschaffen! Sie würde genauso gemacht werden, wenn er sich überhaupt nicht drum beworben hätte. Der einzige Unterschied ist, dass wir dann eben für irgend'nen anderen Meister arbeiten würden. „Ich glaub gar nicht, dass die verdammte Arbeit überhaupt knapp berechnet ist!" sagte Philpot. „Rushton ist gut Freund mit Sweater, und beide sind sie Mitglied des Stadtrats.
Das mag schon sein", erwiderte Slyme, „aber trotzdem glaub ich, Sweater hat neben Rushtons noch verschiedene andere Voranschläge bekommen; Freund oder nicht, und ihr könnt's ihm nicht verdenken: Geschäft ist schließlich Geschäft. Aber vielleicht hat Sweater Rushton den Vorzug gegeben - mag sein, dass er ihm die Preise der anderen genannt hat."
„Ja, und 'n schöner Haufen Preise war's, wenn die Wahrheit rauskommen würde!" sagte Bundy. „Soweit ich weiß, waren noch sechs andre Firmen hinter dem Auftrag hier her - Stosse & Knuffse, Täuscher & Hauübersor, Kniff & Schluderjahn, Packzu & Raff, Schmiersdrauf & Lasses, Schneller & Pfusch und weiß Gott wie viel andre noch."
In diesem Augenblick trat Newman in die Küche. Er sah so bleich und bestürzt aus, dass die anderen unwillkürlich ihr Gespräch unterbrachen.
„Nun, was denkste 'n du darüber?" fragte Harlow.
„Worüber?" antwortete Newman.
„Was, hat Hunter dir's denn nicht gesagt?" riefen mehrere Stimmen aus, deren Besitzer Newman argwöhnisch anblickten. Sie dachten: wenn Hunter nicht mit Newman gesprochen hatte, dann gewiss aus dem Grunde, dass er bereits unter Tarif arbeitete. Während der letzten Tage war ein derartiges Gerücht umgegangen. „Hat Elend dir's denn nicht gesagt? Ab nächste Woche zahlen sie nicht mehr als sechseinhalb."
„Zu mir hat er das nicht gesagt. Zu mir hat er bloß gesagt, ich soll mich davonscheren. Sagte, ich hab nicht genug für sie geschafft."
„Du lieber Himmel!" rief Crass aus und tat, als sei er starr vor Überraschung.
Newmans Bericht über das Geschehene wurde mit düsterem Schweigen aufgenommen. Diejenigen, die vor wenigen Minuten laut davon gesprochen hatten, die Arbeit hinzuwerfen, bekamen Furcht, ebenso behandelt zu werden wie Newman. Crass war einer von denen, die am lautesten Erstaunen und Empörung äußerten; er tat aber ein wenig zuviel des Guten, und es gelang ihm nur, den
geheimen Verdacht der anderen zu bestätigen, dass er an Hunters Verhalten nicht ganz unschuldig war.
Im Ergebnis ihrer Diskussion beschlossen sie, sich vorübergehend Elends Bedingungen zu beugen, bis sie eine Möglichkeit sahen, woanders Arbeit zu finden.
Da Owen zum Büro musste, um sich die von Hunter erwähnten Tapeten anzusehen, begleitete er Newman, der seinen Lohn abholen ging. Nimrod wartete schon auf sie und hielt das Geld in einem Umschlag bereit, den er Newman aushändigte; der nahm ihn, ohne etwas zu sagen, und ging davon.
Elend hatte in den alten Tapeten herumgewühlt und einen großen Haufen überzählige Rollen herausgesucht, die er jetzt Owen vorlegte; der sagte jedoch, nachdem er sie sich angesehen hatte, sie seien für den Zweck ungeeignet. Daher musste Elend nach einigem Hin und Her eine Bestellung für richtiges Schablonenpapier unterschreiben, und auf dem Heimweg besorgte Owen es sich in einem Papierwarenladen.
Als Elend am nächsten Morgen zur „Höhle" kam, war er in fürchterlicher Wut und machte einen heillosen Krach mit Crass. Er sagte, Mr. Rushton habe sich über den Mangel an Disziplin auf der Arbeitsstelle beschwert, und er befahl Crass, den Arbeitern mitzuteilen, in Zukunft sei das Singen während der Arbeitszeit streng verboten, und jeder Zuwiderhandelnde werde sofort entlassen.
Während der folgenden Tage besuchte Nimrod Owen mehrmals in seiner Wohnung, um zu sehen, wie er mit der Arbeit vorankam, und um ihm einzuprägen, wie notwendig es sei, sich nicht zuviel Mühe damit zu geben.

 

17. Kapitel Pastor John Starr

„Wie spät ist's denn jetzt, Mutti?" fragte Frankie am nächsten Sonntag, sobald er mit dem Mittagessen fertig war.
„Zwei Uhr."
„Hurra! Nur noch eine Stunde, und dann kommt Charley! Ach, ich wünschte, es wär schon jetzt drei - du auch, Mutti?"
„Nein, Liebling, ich wünsche das nicht. Du weißt doch, du bist noch nicht angezogen."
Frankie schnitt eine Grimasse.
„Ich soll doch nicht etwa die Samtsachen anziehen, Mutti! Kann ich nicht so gehen, wie ich bin - in meinen alten Sachen?"
Die „Samtsachen" waren ein brauner Anzug, den Nora aus den am wenigsten abgetragenen Teilen ihres alten Samtkostüms genäht hatte.
„Aber nein; wenn du so gehst, wie du jetzt bist, starren dich alle an."
„Na, dann muss ich sie eben anziehen", sagte Frankie resigniert. „Und ich denke, du fängst lieber jetzt schon an, mich umzuziehen, meinst du nicht?"
„Oh, dafür ist noch genügend Zeit - du machst dich nur wieder unordentlich, und dann hab ich die Mühe noch einmal. Beschäftige dich ein Weilchen mit deinem Spielzeug, und sobald ich abgewaschen habe, mach ich dich fertig."
Frankie gehorchte, und etwa zehn Minuten lang hörte ihn seine Mutter im Nebenzimmer in dem Kasten herumkramen, in dem er seine Sammlung von „Sachen" aufbewahrte.
Als diese Zeit verstrichen war, kehrte er jedoch in die Küche zurück.
„Ist es noch nicht Zeit, mich anzuziehen, Mutti?"
„Nein, mein Liebling, noch nicht. Du brauchst keine Angst zu haben, du wirst rechtzeitig fertig sein."
„Aber ich kann nichts dafür; ich habe Angst, du vergisst es."
„Oh, ich vergesse es nicht. Wir haben noch viel Zeit."
„Nun, weißt du, ich wäre viel beruhigter, wenn du mich jetzt anziehen würdest - vielleicht geht unsere Uhr falsch, oder vielleicht stellst du fest, wenn du anfängst, mich anzuziehen, dass ein paar Knöpfe fehlen, oder so was, und dann wird 'ne Menge Zeit damit verloren gehen, wenn du
sie annähst; oder vielleicht kannst du meine sauberen Strümpfe oder sonst etwas nicht finden, und dann kommt Charley womöglich grade, wenn du danach suchst, und wenn er sieht, dass ich nicht fertig bin, wartet er vielleicht nicht auf mich."
„O du liebe Güte!" sagte Nora und tat, als beunruhigte sie diese erschreckende Liste von Möglichkeiten. „Ich denke, es ist doch wohl sicherer, dich gleich anzuziehen. Anscheinend wirst du mich nicht eher in Frieden lassen, aber merke dir, wenn du angezogen bist, musst du still sitzen und warten, bis er kommt, denn ich möchte nicht die Mühe haben, dich zweimal anzuziehen."
„Oh, still sitzen macht mir nichts aus", antwortete Frankie erhaben. „Das ist sehr leicht."
Nachdem ihn die Mutter gewaschen und angekleidet hatte, gab sie seinem Haar den letzten Glanz, indem sie es bürstete, kämmte und die langen gelben Locken um ihre Finger zu Ringeln wand. „Auf meine Sachen aufpassen macht mir nichts aus", sagte Frankie, „das einzige, was ich nicht mag, ist, mir die Haare kämmen zu lassen. Weißt du, diese Locken sind ganz überflüssig. Bestimmt würdest du viel weniger Arbeit haben, wenn du sie nur abschneiden wolltest."
Nora antwortete nicht; irgendwie mochte sie diese häufig wiederholte Bitte nicht erfüllen. Ihr schien, wenn das Haar einmal abgeschnitten sei, werde das Kind ganz anders geworden sein - entfernter von ihr und unabhängiger.
„Wenn du sie schon nicht deinetwegen abschneiden willst, kannst du es wenigstens meinetwegen tun; ich glaube, das ist der Grund, weshalb manche von den großen Jungen nicht mit mir spielen wollen, und einige rufen mir nach und sagen, ich bin ein Mädchen, und manchmal schleichen sie sich hinter mich und ziehen mich an den Haaren. Gestern erst habe ich mich mit einem Jungen prügeln müssen, weil er das getan hat, und sogar Charley Linden lacht mich aus, und dabei ist er doch mein bester Freund -außer dir und Vati, natürlich. Weshalb schneidest du sie nicht ab, Mutti?"
„Ich werde sie abschneiden, wie ich es dir versprochen habe - nach deinem nächsten Geburtstag."
„Da bin ich aber froh, wenn der kommt. Du nicht? Aber was ist los, Mutti? Weshalb weinst du denn?" Frankie war derartig betroffen, dass er gleichfalls zu weinen begann und sich fragte, ob er wohl etwas Unrechtes getan oder gesagt hätte. Er küsste sie immer wieder und streichelte ihr Gesicht. „Was ist denn los, Mutti?"
„Ich dachte nur daran, wenn du über sieben Jahre alt bist und dein Haar kurz geschnitten ist, bist du kein kleines Kind."
„Aber ich bin doch jetzt schon kein kleines Kind mehr! Hier, sieh doch mal!"
Er ging zur Wand hinüber, zog dabei zwei Stühle fort, stellte sie in etwa vierzig Zentimeter Entfernung mit den Rücken zueinander in der Mitte des Zimmers auf, und ehe seine Mutter begriffen hatte, was er tun wollte, war er hinaufgeklettert und stand nun mit den Beinen auf der Lehne je eines Stuhles.
„Ich möchte mal ein kleines Kind sehen, das dies kann", rief er mit tränenüberströmtem Gesicht. „Du brauchst mich nicht runterzuheben. Ich kann allein runter. Kleine Kinder können solche Kunststücke nicht machen und können auch noch nicht mal die Löffel und Gabeln abtrocknen oder den Flur fegen. Aber du brauchst sie nicht abzuschneiden, wenn du nicht willst. Ich trag sie, solang du willst. Nur weine nicht mehr, das macht mich traurig. Wenn ich weine, weil ich hinfalle oder weil du mich beim Kämmen ziepst, sagst du immer zu mir, ich soll ein Mann und kein kleines Kind sein, und jetzt weinst du selbst, bloß weil ich kein kleines Kind mehr bin. Du solltest froh sein, dass ich beinahe schon ein Mann bin, du weißt doch, ich hab dir versprochen, mit dem Geld, das ich verdiene, bau ich dir ein Haus, und dann brauchst du nicht mehr zu arbeiten. Wir nehmen dann ein Hausmädchen, wie die Leute unten, und Vati kann zu Hause bleiben, kann am Feuer sitzen und die Zeitung lesen oder mit mir und Maud spielen und eine Kissenschlacht veranstalten, Geschichten erzählen oder..."
»Schon gut, Liebling", sagte Nora und küsste ihn. „Ich Weine jetzt nicht mehr, und du darfst auch nicht weinen, sonst werden deine Augen ganz rot, und du kannst überhaupt nicht mit Charley gehen."
Als sie ihn angezogen hatte, saß Frankie eine Zeitlang schweigend da, anscheinend in Gedanken verloren. Endlich sagte er:
„Weshalb schaffst du uns eigentlich kein Baby an, Mutti? Du könntest es versorgen, und ich hätte es zum Spielen, anstatt auf die Straße zu gehen."
„Wir können uns kein Baby leisten, Liebling. Du weißt doch, selbst jetzt müssen wir uns manchmal Dinge, die wir uns wünschen, versagen, weil wir kein Geld haben, sie zu kaufen. Babies brauchen vieles, was eine Menge Geld kostet."
„Wenn ich erst ein Mann bin und unser Haus baue, werde ich mich hüten, einen Gasherd einzubauen. Das ist's, was uns das ganze Geld wegnimmt; immer stecken wir Pennies in den Schlitz. Da fällt mir ein: Charley hat gesagt, ich muss einen halben Penny in die Missionsbüchse stecken. Ach Gott, ich hab's Stillsitzen satt. Wenn er nur käme. Wie spät ist's jetzt, Mutti?"
Ehe sie antworten konnte, wurde Frankies Ungeduld sowie auch die qualvolle Prüfung, die das Stillsitzen für ihn bedeutete, durch ein lautes Läuten der Glocke beendet, das Charleys Ankunft verkündete, und ohne zuerst der Gewohnheit entsprechend aus dem Fenster zu sehen, um festzustellen, ob es sich nicht um einen „Klingelzug" handelte, war Frankie bereits die Hälfte der Treppe hinuntergepoltert, ehe er hörte, wie seine Mutter ihm nachrief, er solle zurückkommen und den halben Penny mitnehmen; dann polterte er die Treppe wieder hinauf und noch einmal hinunter, in einem solchen Tempo und mit so viel Lärm, dass er den Unwillen aller wohlanständigen Leute im Hause hervorrief.
Als er am Fuße der Treppe angelangt war, fiel ihm ein, dass er versäumt hatte, auf Wiedersehen zu sagen, und da es ihm zu weit war, wieder hinaufzugehen, läutete er die Glocke, trat dann in die Mitte der Straße hinaus und sah zum Fenster hinauf, das Nora öffnete.
„Auf Wiedersehen, Mutti", schrie er. „Sag Vati, ich hab vergessen, es zu sagen, eh ich runterging."
Die Sonntagsschule wurde nicht in der Kapelle selbst abgehalten, sondern in einem darunterliegenden große"
Vortragssaal. An einem Ende befand sich ein kleines, etwa fünfzehn Zentimeter hohes Podium; darauf standen ein Stuhl und ein kleiner Tisch. Ringsum an den Seiten und in der Mitte des Raumes waren mehrere Gruppen von Stühlen und Bänken getrennt voneinander aufgestellt, jede für eine gesonderte Klasse bestimmt. An den hellgrün gestrichenen Wänden hing eine Reihe farbiger Bilder: Moses, der auf den Felsen schlägt, die Israeliten, die um das Goldene Kalb tanzen, und dergleichen mehr. Wie der Leser weiß, war Frankie noch niemals zuvor in einer Sonntagsschule gewesen; einen Augenblick lang blieb er an der Tür stehen und fürchtete sich fast ein wenig, hineinzugehen. Die Stunde hatte bereits begonnen, aber die Schüler waren noch nicht bei der Arbeit.
Es herrschte einige Unordnung: manche Kinder schwatzten, lachten oder spielten, und die Lehrer drohten und schmeichelten ihnen abwechselnd. Der Unterricht der Mädchen und der ganz Kleinen wurde von Damen abgehalten; für die Jungen waren männliche Lehrkräfte da.
Einige dieser Leute sind dem Leser bereits ein wenig bekannt. Da waren Mr. Didlum, Mr. Sweater, Mr. Rushton, Mr. Hunter und Mrs. Hungerlass (Ruth Eastons ehemalige Herrin). Heute waren außer den Lehrern und anderen zur Sonntagsschule gehörenden Personen auch eine beträchtliche Anzahl feingekleideter Damen und einige Herren anwesend, die in der Hoffnung gekommen waren, Pastor John Starr kennen zu lernen, den jungen Geistlichen, der während der Abwesenheit ihres ständigen Hirten, Mr. Rülpser, der aus Gesundheitsgründen in Urlaub fuhr, für die nächsten Wochen ihr Pfarrer sein sollte. Mr. Rülpser litt nicht an irgendeiner besonderen Krankheit, sondern war nur „abgearbeitet", und dem Gerücht nach war dieser Zustand die Folge seiner streng asketischen Lebensweise und seiner intensiven Hingabe an die mit seiner heiligen Berufung verbundenen anstrengenden Arbeiten.
Am Morgen hatte Mr. Starr den Gottesdienst in der Kapelle „Das strahlende Licht" abgehalten, und die ernste und beredte Predigt des jungen Geistlichen, deren Stil sich von dem ihres ständigen Predigers sehr unterschied, war eine Sensation gewesen. Zwar hatten seine Hörer den vollen Sinn seiner Worte vielleicht nicht ganz begriffen; die Erscheinung und Art des jungen Pfarrers hatte jedoch am Morgen auf die meisten einen angenehmen Eindruck gemacht. Freilich mochten die Gründe hierfür Vorurteil und die Macht der Gewohnheit sein, denn sie waren gewohnt, von vornherein Gutes über jeden Prediger zu denken. Es gab indessen ein oder zwei Mitglieder der Gemeinde, die sich einiger Bedenken und Zweifel über die Gediegenheit seiner Lehre nicht enthalten konnten.
Mr. Starr hatte versprochen, am Nachmittag ein Weilchen vorbeizukommen, um den Sonntagsschulkindern einige Worte zu sagen, und infolgedessen warteten nun alle Erwachsenen so gespannt darauf, ihn wieder zu hören, dass nicht viel Unterricht abgehalten wurde. Jedes Mal, wenn ein Spätkömmling eintrat, wandten sich aller Augen zur Tür, in der Hoffnung und der Erwartung, er sei es.
Als Frankie im Eingang stand und sah, wie alle diese Leute ihn anblickten, zog er sich schüchtern zurück.
„Los, Mann", sagte Charley, „du brauchst keine Angst zu haben, 's ist nicht wie 'ne Alltagsschule; sie können uns nichts tun, selbst wenn wir uns schlecht benehmen. Das ist unsre Klasse, da drüben in der Ecke, und das da ist unser Lehrer, Mr. Hunter. Du kannst neben mir sitzen. Komm!"
So ermutigt, folgte Frankie Charley zur Klasse hinüber, und beide setzten sich. Der Lehrer war so freundlich und sprach so mild mit den Kindern, dass sich Frankie nach wenigen Minuten ganz heimisch fühlte.
Als Hunter bemerkte, wie gepflegt und gut angezogen das Kind war, dachte er, es müsse wohlhabenden, angesehenen Eltern gehören.
Frankie achtete nicht sehr auf den Unterricht, denn ihn interessierte es viel zu sehr, die Bilder an der Wand und die anderen Kinder zu betrachten. Er bemerkte auch einen sehr fetten Mann, der überhaupt keinen Unterricht abhielt, sondern ziellos von einer Klasse zur anderen im Raum umherwanderte. Nach einiger Zeit kam der Mann und stand neben der Klasse, in der sich Frankie befand, und nachdem er Hunter zugenickt hatte, blieb er dort in der Nähe stehen, hörte zu und lächelte die Kinder herablassend an. Er war in ein langes Gewand aus teurem
schwarzem Tuch gekleidet, eine Art Gehrock, und der Rundung seiner Figur nach zu urteilen, schien er zu den Leuten zu gehören, die gewöhnt sind, bei Festmählern den Ehrenplatz einzunehmen. Dies war Pfarrer Rülpser, Pastor der Kapelle „Das strahlende Licht". Sein kurzer, dicker Hals war von einem scheinbar knopflosen Kragen umgeben, der auf eine geheimnisvolle, nur ihm bekannte Weise befestigt war, und seine Hemdbrust war verdeckt.
Das schon erwähnte lange Gewand war aufgeknöpft, und durch die Öffnung wölbte sich ein mächtiges Stück Weste und Hose, durch die darin enthaltene Fleischkugel fast zum Platzen gespannt. Eine goldene Uhrkette mit einer Berlocke daran zog sich eine Strecke weit über den sichtbaren Teil der Kugelhülle. Pfarrer Rülpser hatte sehr große Füße, die von weichen Boxkalfschuhen sorgsam umschlossen waren. Hätte er sein langes Gewand abgelegt, so wäre dieses Individuum einem Ballon ähnlich gewesen: die Füße stellten den Korb dar und der die Kugel überragende kleine Kopf das Sicherheitsventil, und als Sicherheitsventil diente er auch tatsächlich, denn sein Besitzer litt infolge starker Überfütterung und mangels natürlicher Bewegung an chronischer Gasentwicklung, was häufiges Aufstoßen der übel riechenden Gase durch den Mund bewirkte, die von der Zersetzung der Lebensmittel im Magen herrührten, mit denen er gewöhnlich vollgeladen war. Da man Pfarrer Rülpser aber niemals ohne seinen Rock gesehen hatte, bemerkte keiner diese Ähnlichkeit. Er hatte es nicht nötig, seinen Rock auszuziehen: seine Rolle im Leben bestand nicht darin, bei der Produktion zu helfen, sondern darin, das Produkt der Arbeit anderer verzehren zu helfen.
Nachdem er einige Worte mit Hunter gewechselt und die beiden einander zugegrinst hatten, ging er zu einer anderen Klasse hinüber, und kurz danach bemerkte Frankie mit einem Gefühl der Ehrfurcht, dass das undeutliche Gemurmel aufhörte, das bisher den Klassenraum erfüllt hatte. Die Zeit für den Unterricht war vorüber, und leise verteilten die Lehrer nun Gesangbücher an die Kinder.
Inzwischen war der Ballon zum Ende des Saals hinübergetrieben und die Plattform hinaufgeschwebt, wo er neben dem Tisch anhielt und gelegentlich durch das Sicherheitsventil eine Gaswolke ausströmte.
Auf dem Tisch lagen mehrere Bücher, daneben ein Stoß gefalteter Karten. Diese waren etwa 15X17 1/2 cm groß; auf der Außenseite trugen sie eine gedruckte Aufschrift. Eine der Karten lag offen auf dem Tisch und ließ ihre Innenseite sehen, die mit Linien und Spalten für Geldbeträge versehen war.
Nun streckte Mr. Rülpser seine schwammige, weiße Hand aus, nahm eine der gefalteten Karten und sah nun mit breitem, sanftem, wohlwollendem, väterlichem Lächeln auf die unterernährten, schlechtgekleideten Kinder herab; dann sagte er mit näselnder Stimme, hin und wieder von Gasexplosionen unterbrochen:
„Meine lieben Kinder. Heute Nachmittag, als ich neben Bruder Hunters Klasse stand, hörte ich, wie er von den Wanderungen der Kinder Israels in der Wüste und von all den wunderbaren Dingen erzählte, die dort für sie getan wurden, und ich dachte, wie traurig es doch ist, dass sie so undankbar waren.
Diese undankbaren Israeliten hatten viele Dinge erhalten; wir aber haben noch größere Ursache als sie, dankbar zu sein, denn wir haben noch reichlicher empfangen als sie." (Hier wurde die Stimme des guten Mannes durch eine Kette von Explosionen erstickt.) „Und ich bin gewiss", fuhr er fort, „keiner von euch möchte sein wie jene Israeliten - undankbar für alle die guten Dinge, die ihr erhalten habt. Oh, wie dankbar ihr sein solltet, als glückliche englische Kinder geboren zu sein! Nun, ich bin gewiss, ihr seid dankbar und freut euch alle über eine Gelegenheit, eure Dankbarkeit durch eine Gegenleistung zu beweisen.
Zweifellos haben einige von euch den unwürdigen Zustand unserer Kapelle bemerkt. Der Fußboden ist an zahlreichen Stellen gebrochen, die Wände müssen dringend gesäubert und getüncht, darüber hinaus auch von außen zementiert werden, um der Zugluft zu wehren. Die Sitze, die Bänke und Stühle befinden sich gleichfalls in äußerst unwürdigem Zustand und müssen lackiert werden.
Nach ernster Versenkung und langem Gebet haben wir daher beschlossen, eine Spendenliste aufzulegen, und obgleich die Zeiten gerade jetzt sehr schwer sind, glauben wir, dass wir Erfolg haben und genügend erhalten werden, um die Arbeiten ausführen zu lassen; deshalb möchte ich, dass jeder von euch eine dieser Karten nimmt, zu allen seinen Freunden geht und zusieht, wie viel er sammeln kann. Es schadet nicht, wie gering die Beträge auch sein mögen; denn selbst die kleinste Gabe wird dankbar angenommen.
Ich hoffe nun, dass ihr alle euer Bestes tun werdet; zögert nicht, Menschen anzusprechen, von denen ihr meint, sie seien zu arm, um einen Beitrag zu leisten, sondern erinnert sie daran, dass sie wenn auch nicht Tausende, so doch das Scherflein der Witwe beitragen können. Fragt alle! Fragt zuerst jene, von denen ihr gewiss seid, sie werden geben; fragt auch alle, von denen ihr denkt, sie werden möglicherweise etwas geben, und fragt zuletzt jene, von denen ihr gewiss glaubt, sie werden nicht geben - und ihr werdet erstaunt sein, dass viele davon reichlich spenden werden.
Wenn eure Freunde sehr arm und nicht in der Lage sind, eine große Summe auf einmal zu geben, so ist es ein guter Plan, mit ihnen zu verabreden, dass ihr sie jeden Sonnabend mit eurer Karte aufsucht, um ihre Spenden einzusammeln. Und vergesst nicht, während ihr andere bittet, auch selbst zu geben, was ihr könnt. Nur ein wenig Enthaltsamkeit, und die Pennies und halben Pennies, die ihr so häufig für Süßigkeiten und andere unnötige Dinge ausgebt, können als Spende für die gute Sache dargebracht werden."
Hier hielt der heilige Mann von neuem inne, und im Innern des Ballons war ein rumpelndes, gurgelndes Geräusch zu hören, dem mehrere Gasausbrüche durch das Sicherheitsventil folgten. Nachdem der Anfall vorüber war, fuhr der Apostel der Enthaltsamkeit fort:
„Alle jene, die Spenden sammeln möchten, werden noch einige Minuten nach dem Unterricht hier bleiben, und Bruder Hunter, der sich freundlicherweise bereit erklärt hat, als Kassierer für den Fonds zu dienen, wird die Karten verteilen.
Ich möchte hier einige Worte des Dankes an Bruder Hunter richten, für das große Interesse, das er in dieser Sache gezeigt hat, und für alle die Mühe, die er auf sich nimmt, um uns bei der Spendensammlung zu helfen."
Dieses Kompliment war wohlverdient; tatsächlich war Hunter der Urheber des ganzen Planes gewesen, in der Hoffnung, den Auftrag für Rushton & Co. - und sich selbst zweieinhalb Prozent des Profits - zu sichern.
Nun legte Mr. Rülpser die Spendenkarte auf den Tisch zurück, nahm eines der Gesangbücher auf, sagte den Text an und dirigierte dann den Gesang, indem er die eine fette, schwabbelige Hand durch die Luft schwenkte und in der andern das Buch hielt.
Als die letzten Töne der Musik verklungen waren, schloss er die Augen und verzog den Mund zu einem sanften Lächeln, während er die geöffnete rechte Hand mit der Handfläche nach unten und aneinander gelegten Fingern ausstreckte und sagte:
„Lasset uns beten."
Mit heftigem Fußscharren knieten alle nieder. Hunters magere Gestalt war über einen großen Raum gebreitet: sein Rumpf lag neben einer der Bänke, Beine und Füße hatte er über den Boden gespreizt, und seine riesigen Hände umklammerten die Seiten des Sitzes. Die Augen hielt er fest geschlossen, und ein Ausdruck äußersten Elends überzog sein langes Gesicht.
Mrs. Hungerlass, die so fett war, dass sie wusste, sie werde sich niemals mehr erheben können, wenn sie einmal niederkniete, schloss einen Kompromiss, indem sie auf der äußersten Kante ihres Stuhles saß, die Ellbogen auf die Lehne des Sitzes vor ihr stützte und das Gesicht in den Händen verbarg. Es war ein sehr breites Gesicht, doch ihre Hände waren groß genug, um es zu bedecken.
An einem Platz im Hintergrund des Saales kniete eine blasse, müde aussehende kleine Frau, etwa sechsunddreißig Jahre alt und sehr schäbig gekleidet, die den Raum während des Gesanges betreten hatte. Es war Mrs. White, die Aufwartefrau - Bert Whites Mutter. Als ihr Mann gestorben war, gab ihr der Rat der Kapelle aus Mitleid diese Arbeit, für die er ihr sechs Schilling die Woche bezahlte.
Freilich konnte er ihr keine Vollbeschäftigung anbieten; das bedeutete, dass sie daneben noch andere Arbeit wie Reinemachen und dergleichen annehmen und die Arbeit in der Kapelle zwischendurch ausführen könnte. Viel zu tun war dort nicht: nur der Ofen, wenn nötig, zu heizen, die Kapelle, Sitzungszimmer, Klassenräume und die Sonntagsschule zu fegen und gelegentlich zu scheuern, die Gesangbücher einzusammeln und so weiter. Sobald eine Teegesellschaft stattfand - was durchschnittlich etwa zweimal die Woche geschah -, mussten die Klapptische auf- und die Stühle beiseite gestellt, der Tisch gedeckt und dann unter der Aufsicht Miss Didlums oder einer anderen Dame der Tee zubereitet werden. An den Tagen, die auf diese Zeremonien folgten, gab es ziemlich viel zu tun: es musste abgewaschen, die Stühle und Tische beiseite geräumt, der Boden gefegt werden und dergleichen mehr; man war aber der Meinung, die zusätzliche Arbeit sei durch die Kuchen und Speisereste vergütet, die gewöhnlich vom Schmaus übrig blieben und als sehr willkommene Abwechslung vom Brot, dem Bratenfett und der Margarine begrüßt wurden, aus denen im allgemeinen Mrs. Whites und Berts Nahrung bestand.
Mit der Stellung waren verschiedene Vorteile verbunden: Die Aufwartefrau lernte die führenden Gemeindemitglieder und ihre Ehefrauen kennen, und einige von diesen gaben ihr aus Mitleid gelegentlich für einen Tag Arbeit als Putzfrau, wobei der Lohn etwa ebenso großzügig war wie der, den sie in der Kapelle erhielt, und manchmal durch ein Paket mit Speiseresten oder einigen abgelegten Kleidungsstücken ergänzt wurde.
Ein niedrig gesinnter, weltlicher oder gottloser Mensch hätte die Lage vielleicht folgendermaßen beschrieben: Diese Leute verlangten, dass die Arbeit getan wurde; zu ihrer Verrichtung stellten sie die Frau an und nutzten deren Armut aus, um ihr Lohn- und Arbeitsbedingungen aufzuzwingen, die sie selbst nicht gern ertragen hätten. Obwohl Mrs. White von früh bis spät schwer arbeitete, reichte das Geld, das ihr als Lohn bezahlt wurde, nicht aus, um sie mit dem zum Leben Allernotwendigsten zu versorgen. Da nun die Leute, die sie beschäftigten, gütige, freundliche,
großzügige und christlich gesinnte Menschen waren, kamen sie ihr zu Hilfe und ließen in Form von abgelegten Kleidungsstücken und Speiseresten ihre Wohltätigkeit walten. Sollte jemals solch ein niedrig gesinnter, weltlicher oder gottloser Mensch diese Zeilen lesen, genügt es, auf seine ruchlose und bösartige Kritik zu erwidern, dass der einfältigen Mrs. White selbst niemals derartige Gedanken in den Sinn kamen; im Gegenteil - an eben diesem Nachmittag, während sie in der Kapelle kniete und einen alten Mantel trug, der einige Jahre zuvor die üppige Gestalt der frommen Mrs. Hungerlass geziert hatte, war ihr Herz ihren großherzigen Wohltätern gegenüber mit Dankbarkeit erfüllt.
Während des Gebets wurde geräuschlos die Tür geöffnet; ein Herr in geistlicher Kleidung trat auf Zehenspitzen ein und kniete neben Mr. Didlum nieder. Er war sehr leise hereingekommen, trotzdem hörten ihn die meisten der Anwesenden und hoben den Kopf oder spähten durch die Finger, um zu sehen, wer es war, und als sie ihn erkannten, ging ein Laut, der einem Seufzer glich, durch den Saal.
Als das Gebet beendet war, schwebte der Ballon unter Ächzen und „Amen"-Rufen langsam vom Podium hernieder und fiel in einen der Sitze, während alle vom Boden aufstanden. Als sich ein jeder gesetzt und das Füßescharren, Husten und Naseputzen aufgehört hatte, erhob sich Mr. Didlum und sagte:
„Bevor wir die Schlußhymne singen, wird der Herr zu meiner Linken, Herr Pastor John Starr, 'n paar Worte sagen."
Ein erwartungsvolles Murmeln lief durch den Saal. Die Damen hoben die Augenbrauen und nickten, lächelten und flüsterten miteinander. Die Herren nahmen unterschiedliche Haltung und Miene an. Die Kinder waren sehr still. Jedermann befand sich im Zustand unterdrückter Erregung, als John Starr sich von seinem Sitz erhob, auf das Podium trat, neben dem Tisch stehen blieb und sie anblickte.
Er war ungefähr sechsundzwanzig Jahre alt, groß und schlank gebaut. Sein scharfgeschnittenes, intellektuelles Gesicht mit der hohen Stirn und sein verfeinertes, kultiviertes Aussehen standen in auffallendem Gegensatz zu der groben Erscheinung der übrigen Erwachsenen im Raum: der vulgären, unwissenden, ungebildeten Menge von Profitjägern und Geschäftemachern, die vor dem Prediger saßen. Es war indessen nicht nur seine wohlerzogene Art und sein allgemein angenehmes Äußere, das einen anzog und in Bann hielt. Ein gewisses, nicht zu beschreibendes Etwas umgab ihn - eine Atmosphäre der Sanftheit und Liebe, die sein ganzes Wesen auszustrahlen schien und fast alle, die mit ihm in Berührung kamen, zwang, ihm Vertrauen und Zuneigung entgegenzubringen.
Als er dort stand und die anderen mit einem unaussprechlich gewinnenden Lächeln auf seinem anziehenden Gesicht anblickte, schien es unmöglich, dass zwischen ihm und jenen irgendeine Gemeinschaft bestehe.
Nichts in seiner Erscheinung deutete auch nur im geringsten auf die Wahrheit hin, nämlich, dass er zu dem Zweck dort war, um dem Ruf der verächtlichen Bande von Ausbeutern und Sklavenhaltern, die sein Gehalt bezahlten, als Stütze zu dienen.
Er hielt an diesem Nachmittag keine sehr lange Rede -es waren nur ein paar Worte, aber sie waren sehr köstlich, originell und erleuchtend. Er teilte ihnen gewisse Gedanken mit, die ihm heute auf dem Wege gekommen waren; und während ihm Sweater, Rushton, Didlum, Hunter und die übrigen Jünger zuhörten, tauschten sie bedeutsame Blicke und Zeichen miteinander. War es nicht großartig! Welche Kraft! Welche Beweisführung! Es war, wie sie einander nachher bescheiden zugaben, so tief, dass es selbst ihnen sehr schwer fiel zu ergründen, was der Sprecher gemeint hatte.
Was die Damen anbetraf, so waren sie vor Bewunderung reglos und stumm. Mit gerötetem Gesicht, mit glänzenden Augen und klopfendem Herzen saßen sie da und blickten den teuren Mann verlangend an, während er fortfuhr:
„Leider gestattet es unsere Zeit heute Nachmittag nicht, lange bei diesen Gedanken zu verweilen. Vielleicht werden wir später einmal den segensreichen Vorzug haben, das zu tun; heute Nachmittag bin ich jedoch gebeten worden, ein paar Worte zu einem anderen Thema zu sagen. Die schwache Gesundheit ihres teuren Predigers hat der Gemeinde bereits seit geraumer Zeit Anlass zur Sorge gegeben."
Mitleidige Blicke wurden auf den interessanten Kranken gerichtet; die Damen murmelten: „Der Arme, Gute!" und andere Worte ängstlicher Fürsorge.
„Obgleich er von Natur aus robust ist", fuhr Starr fort, „haben lang anhaltende Überarbeitung, die liebende Sorge um den Nächsten, die ihn oft daran hinderte, der nötigen Ruhe zu pflegen, und eine allzu strenge Hingabe an die Übung der Enthaltsamkeit schließlich den unvermeidlichen Zusammenbruch herbeigeführt und eine Zeitspanne der Ruhe unumgänglich erforderlich gemacht."
Der Redner hielt inne, um Atem zu schöpfen, und das nun folgende Schweigen wurde nur durch ein leises Rumpeln im Innern des asketischen Opfers der Überarbeitung
gestört.
„Zu diesem lobenswerten Zweck", fuhr Starr fort, „wurde in aller Stille vor etwa einem Monat eine Spendenliste aufgelegt, und die lieben Kinder, die Karten hatten und sich am guten Werk des Spendensammelns beteiligten, werden sich freuen zu hören, dass eine recht beträchtliche Summe eingekommen ist; da diese jedoch nicht ganz ausreicht, hat der Rat der Kapelle für die Bewilligung eines weiteren Betrages aus dem allgemeinen Fonds gestimmt, und auf einer am vergangenen Freitag abgehaltenen Sondersitzung wurde eurem teuren Hirten eine schöngemalte Widmungsschrift und eine Goldbörse zum Präsent gemacht, die ausreicht, die Kosten eines einmonatigen Ferienaufenthalts im Süden Frankreichs zu bestreiten.
Obwohl er natürlich bedauert, auch nur für so kurze Zeit von euch getrennt zu sein, denkt er doch, das kleinere von zwei Übeln zu wählen, wenn er fortgeht. Es ist besser, für einen Monat nach Südfrankreich zu reisen, als trotz der Warnungen der erschöpften Natur mit der Arbeit fortzufahren und vielleicht gänzlich von euch genommen zu werden - in den Himmel."
„Gott behüte!" riefen einige Jünger inbrünstig aus, und eine fürchterliche Blässe breitete sich über das Antlitz des Gegenstandes ihres Gebets.
„Selbst so besteht eine gewisse Gefahr. Lasset uns das
Beste hoffen und dafür beten; sollte jedoch das Schlimmste geschehen und er in den Himmel berufen werden, so wird es euch einige Befriedigung gewähren zu wissen, dass ihr tatet, was ihr konntet, um das schreckliche Unglück abzuwenden."
Bei diesen Worten wurde, wahrscheinlich als Vorsichtsmaßregel gegen einen unfreiwilligen Aufstieg, eine große Menge Gas aus dem Sicherheitsventil des Ballons gelassen.
„Morgen begibt er sich auf seine Pilgerfahrt", schloss Starr, „und ich bin gewiss, die guten Wünsche und die Gebete aller, die zu seiner Herde gehören, werden ihn begleiten."
Der ehrwürdige Herr nahm seinen Sitz wieder ein, und fast unmittelbar darauf wurde durch die Schwingungen des Ballons offenbar, dass Mr. Rülpser sich zu erheben wünschte, um ein paar Worte des Dankes auszusprechen; er wurde jedoch durch die Bitten der in seiner Nähe Sitzenden zurückgehalten, die ihn anflehten, sich nicht zu überanstrengen. Später meinte er, selbst wenn man ihm gestattet hätte zu sprechen, wäre er nicht in der Lage gewesen, viel zu sagen, weil er zu erfüllt war.
„Während der Abwesenheit unseres geliebten Pastors", sagte Bruder Didlum, der sich jetzt erhob, um die Abschlusshymne bekannt zu geben, „wird seine Herde nicht ganz ohne einen Hirten bleiben, denn wir haben mit Mr. Starr das Übereinkommen getroffen, dass er jeden Sonntag hierher kommt und 'n paar Worte zu uns spricht."
Aus der Art, in welcher sie ständig auf sich selbst Bezug nahmen, hätte man denken können, sie seien eine Herde Schafe und nicht, was sie in Wirklichkeit waren - ein Rudel Wölfe.
Als die Damen Bruder Didlums Verkündigung hörten, erhob sich unter ihnen ein Gemurmel höchsten Entzückens, während Mr. Starr mit den Augen rollte und lieblich lächelte. Die Einzelheiten des Übereinkommens erwähnte Bruder Didlum nicht - denn das wäre gerade dann höchst unpassend gewesen; aber folgender Auszug aus den Büchern der Kapelle wird hier nicht fehl am Platze sein: „Durch den Kassierer ausgezahlt an Pastor John Starr für Sonntag, den 14. November - 4 Pfund 4 Schilling 0 Pence."
Dies war in Anbetracht der von Mr. Starr geleisteten großen Dienste keine erhebliche Summe; aber so klein sie auch war, muss befürchtet werden, dass viele weltliche, gottlose Leute meinen werden, sie sei viel zu groß als Bezahlung für ein paar Worte, und selbst für so weise Worte, wie die Mr. John Starrs zugegebenermaßen stets waren. Denn ein Arbeiter ist seines Lohnes wert.
Nachdem der „Gottesdienst" vorüber war, blieben die meisten Kinder, darunter Charley und Frankie, noch dort, um sich Spendenkarten geben zu lassen. Mr. Starr war von einem Kreis seiner Bewunderer umringt, und als er ein wenig später mit Mr. Rülpser und Mr. Sweater in dessen Auto davonfuhr, sahen die Damen diesem Vehikel verlangend nach, horchten auf das melancholische „Tüt tüt" seiner Hupe und versuchten, sich mit dem Gedanken zu trösten, sie werden ihn ja in wenigen Stunden beim Abendgottesdienst wieder sehen.

 

18. Kapitel Der Untermieter

Seinem Übereinkommen mit Hunter gemäß begann Owen am Montag morgen die Arbeit im Salon. Harlow und Easton waren damit beschäftigt, einige der Decken zu weißen, und ungefähr um zehn Uhr gingen sie in die Spülkammer hinunter, um noch etwas Schlämmkreide nachzuholen. Dort befand sich, wie gewöhnlich, Crass und tat, als sei er sehr emsig damit beschäftigt, Farben zu mischen.
„Nu, was haltet ihr 'n davon?" sagte er, während er sie mit dem Gewünschten versah.
„Von was 'n?" fragte Easton.
„Nu, von unserm Spezialkünstler", erwiderte Crass höhnisch. „Glaubt ihr, der schafft's?"
„Kann ich nicht sagen", antwortete Easton vorsichtig.
„Wisst ihr, 's ist was andres, auf 'n Stück Papier zu zeichnen und das mit Farbe aus 'nem Pennytuschkasten anzumalen, als wenn man's auf 'ner Wand oder 'ner Decke macht", fuhr Crass fort, „etwa nicht?"
„Ja, das stimmt", sagte Harlow.
„Glaubt ihr, 's sind seine eignen Zeichnungen?" fragte Crass.
„Schwer zu sagen", bemerkte Easton verlegen.
Weder Harlow noch Easton teilten Crass' Gefühle in dieser Angelegenheit; sie konnten es sich jedoch nicht leisten, ihn zu beleidigen, indem sie für Owen eintraten.
„Unter uns gesagt, wenn ihr mich fragt", fügte Crass hinzu, „würde ich eher sagen, er hat sie alle aus irgend'nem Buch kopiert."
„Die Größe haben sie ungefähr, Mann", pflichtete ihm Harlow bei.
„Das wär vielleicht 'n Ding, wenn er alles versauen würde, was?" fuhr Crass mit boshaftem Blinzeln fort.
„Na, und ob!" sagte Harlow.
Als die beiden Männer wieder im oberen Stockwerk angelangt waren, wo sie arbeiteten, tauschten sie bedeutsame Blicke und lachten leise vor sich hin. Als Philpot, der allein in einem Zimmer nebenan arbeitete, diese halbunterdrückten Freudenbezeigungen hörte, steckte er seinen Kopf zur Tür heraus.
„Was ist 'n los?" fragte er mit leiser Stimme.
„Na, der olle Crass ist vielleicht wild, weil Owen das Zimmer da macht!" antwortete Harlow und berichtete kurz über Crass' Bemerkungen.
„Ist ja 'ne ganz schöne Demütigung für den Schuft, dass er die zweite Geige spielen muss, was?" sagte Philpot mit erfreutem Grinsen.
„Er hofft, Owen versaut's", flüsterte Easton.
„Na, da hat er sich aber geschnitten, Mann", antwortete Philpot. „Ich hab vor ungefähr zwei Jahren mit Owen zusammen bei Stosse & Knuffse gearbeitet und hab gesehen, wie er unten im Hotel Royal 'ne Sache gemacht hat - die Decke vom Rauchsalon war's -, und ich kann euch sagen: verdammt noch mal, prima hat's ausgesehen!"
„Ich hab davon gehört", sagte Harlow.
„Kein Zweifel, was die Arbeit anbelangt, hat Owen was auf 'm Kasten", bemerkte Easton, „wenn auch wegen dem Sozialismus 'ne Schraube bei ihm locker ist."
„Ich weiß nicht mal, Mann", sagte Philpot. „Mit vielem
von dem, was er sagt, bin ich einverstanden. Hab schon oft dasselbe gedacht, aber ich kann nicht so reden wie er, hab keinen Kopf nicht dafür."
„Mit einigem bin ich auch einverstanden", sagte Harlow und lachte, „aber trotzdem redet er 'nen Haufen Stuss, das musste zugeben. Der Quatsch zum Beispiel, Geld wär die Ursache der Armut!"
„Ja, das kann ich auch nicht ganz einsehen", stimmte Philpot zu.
„Deswegen müssen wir 'n in der Mittagspause noch mal ankriegen", sagte Harlow. „Würde ganz gerne hören, wie er das erklärt."
„Um Himmels willen, fang nicht in der Mittagspause irgendwelche Diskussionen an", sagte Easton. „Lass 'n in Ruh, wenn er schon mal die Klappe hält."
„Ja, wir wolln, wenn's geht, unser Mittagessen in Frieden futtern", sagte Philpot. „Pst!!" zischte er plötzlich und hob warnend die Hand.
Sie lauschten angestrengt. Das Knarren der Stufen verriet, dass jemand heraufschlich. Philpot verschwand sofort. Harlow hob den Schlämmkreideeimer auf und setzte ihn geräuschvoll wieder nieder.
„Wir wollen die Leitern und die Bretter lieber auf der Seite hier aufstellen, Easton", sagte er laut.
„Ja, das ist woll das beste", antwortete Easton.
Während sie ihr Gerüst aufstellten, um die Decke zu streichen, erschien Crass auf dem Treppenabsatz. Zuerst machte er weiter keine Bemerkung, sondern ging in die Zimmer, um nachzusehen, wie viele Decken sie geweißt hatten.
„Dreht mal lieber 'n bisschen Dampf auf, ihr beiden", sagte er, als er wieder hinunterging. „Wenn wir mit den Decken hier nicht bis Mittag fertig sind, wird Nimrod bestimmt schön toben."
„Schon gut", sagte Harlow brummend. „Wir werden den Dreck schon bald drüberschmieren."
„Schmieren" war ein sehr treffendes Wort, um die Art, in der die Arbeit ausgeführt wurde, zu beschreiben. Die Karniese der Treppenhausdecken waren mit Stuckornamenten verziert. Diese Decken waren angeblich abgewaschen worden; da aber die Leute, die mit dieser Arbeit beauftragt waren, nicht genügend Zeit gehabt hatten, sie richtig auszuführen, steckten die Höhlungen der Ornamente noch immer voller alter Schlämmkreide und waren, nachdem Harlow und Easton nun recht viel Schlämmkreide darüber„geschmiert" hatten, zu bloßen formlosen, unansehnlichen Gipsklumpen geworden. Den Arbeitern, welche die Decken gewaschen hatten, war kein Vorwurf zu machen. Man hatte sie von der Arbeit fortgejagt, noch ehe diese halb getan war.
Während Harlow und Easton die Decken weißten, fuhren Philpot und die anderen mit dem Anstreichen in verschiedenen Teilen des Hauses fort, und Owen führte, unterstützt von Bert, die Arbeit im Salon weiter, zog Kreidestriche, nahm Maß und teilte die Felder ein.
Ein „politisches" Streitgespräch gab es an diesem Tage während der Essenszeit nicht, zur Enttäuschung von Crass, der noch immer auf eine Gelegenheit wartete, den Ausschnitt aus dem „Verdunkler" hervorzuholen. Als alle anderen nach dem Mittagessen wieder an ihre Arbeit gegangen waren, kehrte Philpot unauffällig in die Küche zurück und hob die beiseite geworfenen Papierhüllen auf, in denen einzelne Leute ihr Essen gebracht hatten. Eine davon breitete er aus und schüttelte die Krümel aus den übrigen darauf. So und indem er Brotstückchen vom Boden auflas, brachte er einen kleinen Haufen Krumen und Rinden zusammen. Dem fügte er noch einige Stückchen hinzu, die er von seiner eigenen Mahlzeit übriggelassen hatte. Dann nahm er das Päckchen nach oben, öffnete eines der Fenster und warf die Krumen auf das Vordach. Kaum hatte er das Fenster geschlossen, als zwei Stare herbeiflatterten und zu fressen begannen. Hinter dem Fensterladen sah Philpot ihnen verstohlen zu.
Der Nachmittag ging ereignislos vorüber. Die Zeit von ein bis fünf Uhr kam den meisten der Leute sehr lang vor; für Owen und seinen Gehilfen aber, die etwas taten, woran sie Interesse und Freude finden konnten, gingen die Stunden so schnell vorüber, dass beide bedauerten, als es Abend wurde.
„An andren Tagen", meinte Bert, „wünsch ich mir
immerzu, 's war Zeit, nach Haus zu gehn, aber heut ist der Tag wie der Blitz vergangen!"
An diesem Abend blieben auf dem Heimweg alle beieinander, bis sie in den unteren Teil der Stadt gelangten; dann trennten sie sich. Owen ging allein weiter; Easton, Philpot, Crass und Bundy begaben sich in die „Cricketers Arms", um noch zusammen ein Gläschen zu trinken, bevor sie heimgingen, und Slyme, der Abstinenzler war, ging allein nach Haus, obgleich er jetzt bei Easton in Untermiete wohnte.
„Wart nicht auf mich", sagte Easton, als Slyme mit Crass und den übrigen davonging. „Wahrscheinlich hol ich dich noch ein, eh du da bist."
„Ist gut", antwortete Slyme.
Heute ging Slyme nicht auf dem kürzesten Weg nach Hause. Er bog in die Hauptstraße ein, blieb vor dem Schaufenster eines Spielwarengeschäfts stehen und betrachtete aufmerksam die darin ausgestellten Sachen. Nach einigen Minuten schien er zu einer Entscheidung gekommen zu sein trat in den Laden und kaufte eine Säuglingsklapper für viereinhalb Pence. Es war ein hübsches Spielzeug aus weißem Bein und bunter Wolle, mit einigen Glöckchen daran und einem weißen, beinernen Ring am Ende des Griffs.
Als Slyme aus dem Laden trat, machte er sich auf den Heimweg und schritt nun schnell aus. Als er in das Haus trat, saß Ruth mit dem Säugling auf dem Schoß neben dem Feuer. Sie sah mit einem Ausdruck der Enttäuschung auf, als sie bemerkte, dass er allein war.
„Wo ist 'n Will wieder hingekommen?" fragte sie.
Ist mit einigen von den Jungens noch einen trinken gegangen. Sagte, er würde nicht lange bleiben", antwortete Slyme, während er seinen Frühstückskorb auf die Anrichte stellte und dann nach oben in sein Zimmer ging, um sich zu waschen und umzuziehn.
Als er wieder herunterkam, war Easton noch nicht da.
„Alles ist fertig, bloß der Tee ist noch zu machen", sagte Ruth, die das Ausbleiben Eastons offensichtlich verdross, „da können Sie Ihres auch ebenso gut jetzt gleich essen.
„Hab's nicht eilig. Ich wart noch ein bisschen, ob er kommt. Er muss ja bald da sein."
„Wenn's Ihnen bestimmt nichts ausmacht, ist's mir lieb. wenn Sie warten wollen", sagte Ruth, „dann brauch ich nicht zweimal Tee zu machen."
Sie warteten wohl eine halbe Stunde und sprachen hin und wieder auf eine gezwungene, verlegene Weise über gleichgültige Dinge. Da Easton nicht kam, entschied Ruth nun, nicht mehr länger zu warten und Slyme seinen Tee vorzusetzen. Mit dieser Absicht legte sie das Baby in die Wiege; dem Kind gefiel das jedoch nicht, und es begann zu schreien; sie musste es daher auf dem linken Arm halten, während sie den Tee bereitete.
Angesichts dieser schwierigen Lage streckte Slyme die Hände aus und rief:
„Hier, ich kann ihn doch halten, während Sie das da machen."
„Wollen Sie?" sagte Ruth, die trotz ihrer instinktiven Abneigung gegen den Mann unwillkürlich für seine Aufmerksamkeit Dankbarkeit empfand. „Aber passen Sie auf dass Sie 'n nicht fallen lassen."
In dem gleichen Augenblick jedoch, in dem Slyme das Kind nahm, begann es noch lauter zu schreien, als da es in die Wiege gelegt wurde.
„Mit Fremden ist er immer so", entschuldigte sich Ruth, während sie das Kind zurücknahm.
„Warten Sie mal 'nen Augenblick", sagte Slyme. „Ich hab was oben in meiner Tasche, das ihn ruhighalten wird. Ich hatte es ganz vergessen,"
Er ging in sein Zimmer hinauf und kehrte sogleich mit der Klapper zurück. Als der Säugling die bunten Farben sah und die Glöckchen klingeln hörte, schrie er vor Vergnügen, streckte eifrig die Händchen danach aus und erlaubte Slyme ohne einen Laut des Protestes, ihn zu nehmen. Ehe noch Ruth den Tee fertiggekocht und serviert hatte, waren der Mann und das Kind bereits gut Freund miteinander, ja, so sehr, dass das Baby, als Ruth fertig war und es wieder nehmen wollte, sich nicht gern von Slyme zu trennen schien, der es in der Luft hatte tanzen lassen und es auf höchst ergötzliche Weise gekitzelt hatte.
Ruth begann gleichfalls eine bessere Meinung über Slyme anzunehmen und machte sich schon Vorwürfe, zuerst eine
so unvernünftige Abneigung gegen ihn gefasst zu habe Offensichtlich war er doch ein sehr guter Kerl.
Inzwischen hatte das Kind den Zweck des beinerne Ringes am Ende des Spielzeuggriffes entdeckt und biss energisch darauf herum.
„Das ist 'ne sehr schöne Klapper", sagte Ruth. „Ich danke Ihnen auch vielmals dafür. Genau, was er braucht."
„Ich hab neulich gehört, wie Sie sagten, er braucht so was, um draufzubeißen, damit die Zähne besser durchkommen", antwortete Slyme, „und als ich dies hier zufällig im Laden sah, fiel mir ein, was Sie gesagt hatten, und ich dachte, ich bring's mit nach Haus."
Der Säugling nahm den Ring aus dem Mund, schüttelte die Klapper heftig in der Luft, lachte, schrie vor Freude und sah Slyme an.
„Pap! Pap! Pap!" rief er und streckte die Ärmchen aus.
Slyme und Ruth brachen in Lachen aus.
„Das ist doch nicht dein Papa, du Dummerchen", sagte sie und küsste das Kind, während sie sprach. „Dein Papa sollte sich schämen, einfach so fortzubleiben. Wir werden ihm Pap, Pap, Pap geben, wenn er endlich heimkommt, nicht wahr?"
Aber das Baby schüttelte nur die Klapper und ließ die Glöckchen klingeln; es lachte, schrie und lachte wieder, noch lauter als zuvor.

 

19. Kapitel Der Tank wird gefüllt

Von außen boten die „Cricketers Arms" den Anblick eines pompösen Gebäudes mit Spiegelglasscheiben und einem verschwenderischen Übermaß an Vergoldung. Die Strebepfeiler waren in Imitation verschiedener Marmorsorten gestrichen, und das Muster des Türanstrichs ahmte die Maserung kostbarer Hölzer nach. Daneben hingen, mit Goldschrift versehen und in schreienden Farben verziert, Schilder, die Spirituosen und Bier anpriesen. Auf dem Querbalken über dem Haupteingang stand in kleinen weißen Buchstaben die Aufschrift:
„A. Harpy. Zugelassen zum Verkauf von Weinen, Spirituosen und Malzerzeugnissen en detail, auch außer Haus."
Die Bar war auf die übliche Weise in mehrere Abteilungen getrennt. Zuerst kam die „Salon-Bar". Auf der dort hineinführenden Glastür war ein gedrucktes Schild angebracht: „In diesem Raum wird kein Starkbier ausgeschenkt." Neben der Salon-Bar befand sich die „Likörbar", sehr geschätzt von Damen, die gern in aller Stille einen Tropfen Gin genießen wollten. Ferner gab es auch zwei kleine Privatabteile, in denen nur zwei bis drei Personen Platz hatten und nichts Geringeres als Spirituosen zu vier Pence oder Bier zu drei Pence das Glas serviert wurde. Endlich war da noch der öffentliche Schankraum, die größte Abteilung. Je eine gestrichene und gefirnisste hölzerne Trennwand an beiden Enden dieses Raumes grenzte ihn von den anderen Abteilungen ab.
Holzbänke, entlang dieser Trennwände und an den Mauern unter den Fenstern befestigt, boten den Kunden Sitzgelegenheit. Ein großer, mit einem Einwurfsschlitz für Pennies versehener Musikautomat, dessen Form einer Großvateruhr glich, stand an einer der Trennwände nahe beim Schanktisch, so dass die Leute hinter der Theke das Instrument bequem erreichen und aufziehen konnten. In der Nähe des Automaten hing an der Trennwand ein Brett, etwa vierzig Zentimeter im Quadrat, über dessen Oberfläche eine Anzahl kleiner numerierter Haken verteilt war. An seinem unteren Ende war um einen halbkreisförmigen Draht ein Netz aus dünnem Garn aufgespannt. Darin lagen mehrere Gummiringe von etwa siebeneinhalb Zentimeter Durchmesser. Es gab in diesem Raum keinen Tisch; von der anderen Trennwand aber ragte ein mit Scharnieren befestigtes, etwa ein Meter langes und sechzig Zentimeter breites Klappbrett hervor, das heruntergelassen werden konnte, wenn es nicht benutzt wurde. Dies war das Beilkespielbrett. Die zu diesem Spiel benutzten Münzen, alte französische Pfennige, wurden hinter dem Schanktisch aufbewahrt und auf Wunsch ausgeliehen. An der Trennwand hing gerade über dem Spielbrett eine sauber gedruckte, eingerahmte und verglaste Notiz:

ZUR BEACHTUNG
Die Herren werden gebeten, sich in diesem Hause obszöner Reden zu enthalten.

Neben dieser Notiz hing eine Anzahl grellfarbiger Werbeplakate für das Theater und das Tingeltangel des Ortes sowie eines, das einen Reisezirkus mit Tierschau anpries, der gerade in der Stadt war und sein Zelt auf einem unbebauten Feld neben der Landstraße etwa auf halbem Wege nach Windley aufgeschlagen hatte.
Das Büfett hinter der Theke wie der Schanktisch selbst war aus poliertem Mahagoni und hatte Spiegel an der Hinterwand der Fächer. In diesen standen eine Reihe Flaschen und Kristallkaraffen, Gin, Whisky, Branntwein sowie Weine und Liköre verschiedener Sorten.
Als Crass, Philpot, Easton und Bundy eintraten, unterhielt sich der Wirt - ein gutgenährter, wohlhabend aussehender Mensch in weißen Hemdsärmeln und leuchtend kastanienbrauner Weste, mit massiv goldener Uhrkette und einem Brillantring - gerade zuvorkommend und freundschaftlich mit einem seiner Stammkunden, der auf dem Ende der Bank nahe beim Schanktisch saß, ein schäbig gekleideter, triefäugiger, heruntergekommener, vom Bier aufgedunsener und zittriger Tropf, der alltäglich den größten Teil seiner Zeit und all sein Geld hier im Wirtshaus verbrachte. Es war ein elend aussehendes Wrack von einem Mann, etwa fünfunddreißig Jahre alt und angeblich Zimmermann, obgleich er jetzt dieses Handwerk nicht mehr ausübte. Es hieß allgemein, er habe vor einigen Jahren eine beträchtlich ältere Frau geheiratet, die Inhaberin einer drittklassigen Pension. Diese war augenscheinlich einträglich genug, dass er ohne Arbeit leben und sich ständig im Zustand halber Betrunkenheit halten konnte. Dieser benebelte Tropf lebte praktisch in den „Cricketers". Er kam regelmäßig jeden Morgen und verdiente sich zuweilen einen halben Liter Bier, indem er dem Kellner half, die Sägespäne aufzufegen oder die Fenster zu putzen. Gewöhnlich blieb er in dem Wirtshaus, bis es nachts geschlossen wurde. Er war ein sehr guter Kunde; er gab nicht nur alles Geld aus, das er selbst nur irgend in die Hand bekommen
konnte, sondern veranlasste auch andere, Geld auszugeben, denn er kannte die meisten der übrigen Stammkunden, die von seiner schlechten Finanzlage wussten und ihm häufig ein Glas „zum Wohle des Hauses" spendierten.
Außer ihm war im öffentlichen Schankraum, bevor Crass und seine Kollegen eintraten, nur noch ein halbbetrunkener Mann anwesend, der Stubenmaler zu sein schien und auf der Bank neben dem Spielbrett saß. Er trug einen zerbeulten Melonenhut und die übliche schäbige Kleidung. Dieses Wesen hatte ein sehr mageres, blasses Gesicht mit großer Adlernase und glich auf erstaunliche Weise den Bildern des ersten Herzogs von Wellington. Er war hier nicht Stammkunde, sondern gegen zwei Uhr zufällig hereingeschneit und seitdem geblieben. Die Wirkung der Getränke, die er während dieser Zeit zu sich genommen hatte, begann sich jetzt bemerkbar zu machen.
Als Crass und die anderen eintraten, wurden sie vom Wirt und dem benebelten Tropf mit Begeisterung begrüßt, während der halbbetrunkene Arbeiter sie aus glotzenden Fischaugen mit stumpfsinniger Neugier betrachtete.
„Na, wie geht's, Bob?" sagte der Wirt liebenswürdig zu Crass gewandt und nickte den anderen vertraulich zu. „Wie steht's?"
„Gut, gut, oller Knabe!" antwortete Crass leutselig. „Wie geht's 'n selbst?"
„Erstklassig", antwortete der „olle Knabe" und stand von seinem Stuhl auf, bereit, ihre Wünsche entgegenzunehmen.
„Nun, was soll's 'n sein?" fragte Philpot alle übrigen.
„Ich nehme 'n großes Helles", sagte Crass.
„'n kleines für mich", meinte Bundy.
„Für mich auch 'n kleines Helles", erwiderte Easton.
„Macht einen Halben, zwei Viertel und für mich selber 'nen halben Liter Porter", sagte Philpot zu dem „ollen Knaben".
Während der Wirt diese Getränke servierte, trank der benebelte Tropf sein Bier aus und stellte sein leeres Glas auf den Schanktisch. Philpot, der es bemerkt hatte, fragte ihn:
„Trinkste eins mit?"
„Hab nichts dagegen", meinte der andere.
Als die Getränke serviert waren, blinzelte Philpot, anstatt sie zu bezahlen, dem Wirt bedeutungsvoll zu; der nickte schweigend und trug unauffällig etwas in ein Buch ein, das in einem der Fächer lag. Obwohl erst Montag war und Philpot die ganze vergangene Woche über gearbeitet hatte, herrschte bereits völlige Ebbe in dessen Kasse. Dies kam daher, dass er seiner Wirtin am Sonnabend einen Teil der während seiner Arbeitslosigkeit aufgelaufenen Schulden für Miete und Verpflegung abbezahlt hatte, und auch dem „ollen Knaben" hatte er vier Schilling für Getränke bezahlt, die er während der vergangenen Woche auf Pump erhalten hatte.
„Also, dass du eins auf die Nase kriegst!" sagte Crass, nickte Philpot zu und nahm einen langen Zug aus dem Halbliterglas, das dieser ihm gereicht hatte.
Ähnliche passende, freundliche Wünsche wurden auch von den anderen ausgesprochen und von Philpot, dem Urheber des Gelages, gebührend entgegengenommen.
Jetzt steckte der „olle Knabe" einen Penny in den Schlitz des Musikautomaten, zog ihn auf und ließ ihn spielen. Es war ein unbekanntes Lied, als aber der halbbetrunkene Maler es hörte, erhob er sich schwankend auf die Füße, begann umherzuschlurfen und zu tanzen und sang dabei:

„Oh, wir laden euch zur Hochzeit ein,
und herrlich wird's da sein!
Die Burschen und die Mädchen tanzen,
und wir besaufen uns am Wein."

„He! Das reicht!" rief der Wirt grob. „Radau wolln wir hier nicht!"
Der Halbbetrunkene hielt inne, sah den „ollen Knaben" blöde an und sank beschämt wieder auf seinen Sitz.
„Nu, für 'n paar Minuten können wir uns auch hinsetzen", bemerkte Crass und handelte seinen Worten gemäß. Die anderen folgten seinem Beispiel.
In kurzen Abständen traten neue Kunden in den Schankraum, zumeist Arbeiter auf dem Heimweg, die ihr kleines oder großes Helles oder Porter tranken und gleich wieder fortgingen. Bundy begann, das Reklameplakat des
Zirkus und der Tierschau zu lesen, und daraus entspann sich eine Unterhaltung über die großartigen Darbietungen der dressierten Tiere. Der „olle Knabe" erklärte, manche von diesen hätten ebensoviel Verstand wie menschliche Wesen, und das sagte er auf eine Weise, aus der hervorging, er meinte damit, den Tieren für ihre Weisheit ein Kompliment zu machen. Er sagte auch, er habe zu Beginn des Abends das Gerücht gehört, eines der wilden Tiere, ein Bär oder so etwas, sei ausgebrochen und treibe sich augenblicklich frei umher. Dies habe er gehört - ob es wahr sei oder nicht, wisse er nicht. Er selbst glaube nicht daran, und seine Hörer stimmten ihm zu, höchst unwahrscheinlich sei es. Niemand erfuhr je, wie diese dummen Gerüchte in Umlauf kamen.
Nun stand der benebelte Tropf auf, nahm mit zitternder Hand die Gummiringe aus dem Netz und begann, sie hintereinander nach den Haken am Brett zu werfen. Der Rest der Gesellschaft sah ihm voller Interesse zu, lachte, wenn er einen sehr schlechten Wurf machte, und klatschte, wenn er traf.
„Hat 'n bisschen Schlagseite heut Abend", bemerkte Philpot leise zu Easton, „aber für gewöhnlich ist er ganz doll darin. Kann großartig werfen."
Der Halbbetrunkene folgte dem Unternehmen des benebelten Tropfes mit dem Ausdruck tiefster Verachtung.
„Kannst ja überhaupt nicht spielen", sagte er spöttisch.
„So? Na, gegen dich noch allemal!"
„Gemacht! Ich spiel um eine Lage gegen dich!" rief der Halbbetrunkene. Einen Augenblick lang zögerte der benebelte Tropf. Er hatte nicht genügend Geld, um für eine Lage zu zahlen. Doch da er sicher war, er werde gewinnen, antwortete er:
„Also los. Wie hoch soll's gehen? Bis fünfzig?"
„Soviel du willst! Fünfzig oder hundert oder 'ne Million!"
„Fangen wir lieber erst mal mit fünfzig an."
„Na schön!"
„Spiel du zuerst, wenn du willst."
„Na schön", stimmte der Halbbetrunkene zu, begierig, sich auszuzeichnen.
Die sechs Ringe in der linken Hand, den rechten Fuß vorgesetzt, stand der Mann, etwa drei Meter vom Brett entfernt, mitten im Raum. Er nahm mit der rechten Hand einen der Ringe zwischen Zeigefinger und Daumen, schloss das linke Auge und „zielte" sorgfältig auf den Mittelhaken, Nummer dreizehn; dann streckte er langsam den Arm zu seiner vollen Länge in Richtung des Brettes aus beugte den Ellbogen wieder, nahm die Hand zurück, bis sie beinahe sein Kinn berührte, und streckte dann langsam von neuem den Arm aus. Diese Bewegungen wiederholte er mehrmals, während ihm die anderen mit angehaltenem Atem zuschauten. Nachdem endlich alles richtig war, schleuderte er plötzlich den Ring nach dem Brett, der flog jedoch nicht auf Nummer dreizehn; er flog über die Trennwand hinweg in die Privatbar.
Diese Leistung wurde mit brüllendem Gelächter aufgenommen. Der Spieler starrte verblüfft auf das Brett, verwundert, wo denn sein Ring geblieben war. Als er von jemand aus dem Nebenraum wieder über die Trennwand zurückgeworfen wurde, begriff der Halbbetrunkene, was geschehen war, und bemerkte mit einem schwachen Lächeln, zu der Gesellschaft gewandt:
„Bin noch nicht richtig an das Brett hier gewöhnt, daran liegt's."
Jetzt begann er die übrigen Ringe ziemlich wahllos nach dem Brett zu werfen, ohne sich weiter mit Zielen abzuplagen. Ein Ring traf die Trennwand rechts vom Brett, einer links, einer darunter; einer ging über den Schanktisch, einer auf den Boden, der andere - der letzte - traf das Brett, und unter Beifallsrufen blieb er auf dem Mittelhaken Nummer dreizehn hängen, der höchsten Zahl, die mit einem Wurf zu erreichen war.
„Jetzt wird's gehen, wo ich in Übung gekommen bin", bemerkte der Halbbetrunkene, während er seinem Gegner Platz machte.
„Jetzt wirste was sehen!" flüsterte Philpot Easton zu. „Der Kerl ist großartig!"
Der benebelte Tropf stellte sich in Positur und begann mit gespielter Sorglosigkeit die Ringe zu werfen. Es war wirklich ein bemerkenswertes Schauspiel, denn obwohl
seine Hand wie das sprichwörtliche Espenlaub zitterte, gelang es ihm fast jedes Mal, das Brett in der Mitte zu treffen; aus irgendeinem Grunde aber blieben die Ringe nicht auf Jen Haken hängen und fielen ins Netz.
Als seine Reihe um war, hatte er nur vier Punkte erzielt, denn zwei der Ringe waren auf dem Haken Nummer zwei hängen geblieben.
„Pech", bemerkte Bundy, nachdem er sein Bier ausgetrunken hatte, und setzte sein Glas auf den Schanktisch ab.
„Trinkt aus und lasst uns noch einen nehmen", sagte Easton und leerte sein Glas.
„Hab nichts dagegen", antwortete Crass und goss den Rest seines halben Liters die Kehle hinunter.
Philpots Glas war bereits seit einiger Zeit leer.
„Noch mal dasselbe", sagte Easton zum „ollen Knaben" gewandt und legte sechs Pence auf den Schanktisch.
Inzwischen hatte der Halbbetrunkene das Feuer auf das Brett von neuem eröffnet; er schien aber schon wieder aus der Übung gekommen zu sein, denn keiner der Ringe traf. Sie flogen im ganzen Raum umher, und seine Runde ging zu Ende, ohne dass er seine Punktzahl erhöht hatte.
Jetzt zog der benebelte Tropf ins Feld und brachte es schnell auf siebenunddreißig. Danach unternahm der Halbbetrunkene einen neuen Versuch, und es gelang ihm, acht Punkte zu erreichen. Sein Fall schien hoffnungslos, aber bei der nächsten Runde verlor sein Gegner anscheinend völlig die Beherrschung über sich. Zweimal verfehlte er das Brett gänzlich, und als er es schließlich traf, blieb kein Ring hängen außer beim allerletzten Wurf, wo er einen Punkt erzielte. Dann war der Halbbetrunkene wieder an der Reihe und warf zehn Punkte.
Das Spiel stand jetzt:
der benebelte Tropf.....42
der Halbbetrunkene......31.
Bisher war es unmöglich, das Ende vorauszusagen. Die Chancen waren unberechenbar. Crass wurde so aufgeregt, dass er geistesabwesend den Mund öffnete und sich den zweiten halben Liter mit einem einzigen Zug in den Schlund goss; auch Bundy leerte sein Glas und forderte
Philpot und Easton auf, auszutrinken und noch eins zu nehmen, was sie auch taten.
Während der Halbbetrunkene das nächste Mal an der Reihe war, legte der benebelte Tropf einen Penny auf den Schanktisch und rief nach einem Viertelliter, in der Hoffnung, seine Nerven für eine besondere Anstrengung zu beruhigen. Inzwischen warf sein Gegner die Ringe nach dem Brett und verfehlte es jedes Mal; trotzdem machte er einen Treffer, denn ein Ring fiel nieder, nachdem er ungefähr einen Fuß über dem Brett gegen die Trennwand geprallt war, und blieb an einem Haken hängen.
Jetzt begann der andere seine Runde; er spielte sehr sorgfältig, und beinahe jeder Ring traf. Während er spielte, ließen die übrigen Rufe der Bewunderung hören und gaben das Ergebnis jedes Wurfes laut bekannt.
„Eins!"
„Wieder eins!"
„Daneben! Nein! Hat ihn! Zwei!"
„Daneben!"
„Daneben!"
„Vier!"
Der Halbbetrunkene nahm seine Niederlage in guter Haltung hin, und nachdem er erklärt hatte, er sei etwas aus der Übung, legte er einen Schilling auf den Schanktisch und lud die ganze Gesellschaft ein, etwas zu bestellen. Alle verlangten „noch mal das gleiche"; aber der Wirt schenkte Easton, Bundy und dem benebelten Tropf Halblitergläser voll anstatt wie zuvor Viertellitergläser. So brauchte er auf den Schilling nichts herauszugeben.
„Weißte, 's macht viel aus, wenn man ans Brett nicht gewöhnt ist", sagte der Halbbetrunkene.
„'s ist keine Schande nicht, von so einem geschlagen zu werden, Mann", sagte Philpot. „Der ist 'n Meister!"
„Freilich, kein Zweifel dran. Er wirft großartig!" sagte Bundy.
Dies war das allgemeine Urteil. Obwohl der Halbbetrunkene geschlagen war, bedeutete das doch keine Schande für ihn, und die von der Kumpanei geäußerten freundschaftlichen Empfindungen rührten ihn so, dass er sogleich ein Sechspencestück herauszog und darauf bestand,
noch einmal einen Viertelliter für die ganze Gesellschaft zu spendieren.
Während der Unterhaltung hierüber war Crass hinausgegangen, kehrte aber nach wenigen Minuten zurück. „Fühl mich jetzt 'n bisschen leichter", bemerkte er lachend, während er das Viertelliterglas nahm, das ihm der Halbbetrunkene mit zitternder Hand reichte. Innerhalb weniger Minuten folgten die übrigen einer nach dem anderen Crass' Beispiel, gingen hinaus und kamen fast unmittelbar darauf wieder herein, und Bundy, der als letzter zurückkehrte, rief bei seinem Eintritt aus:
„Machen wir doch 'ne Partie Beilke."
„Na gut", sagte Easton, der von Unternehmungslust gepackt wurde. „Aber trinkt erst mal aus und lasst uns noch einen heben."
Er hatte nur noch sieben Pence übrig, gerade genügend, um für Crass einen halben und für alle übrigen einen Viertelliter zu bezahlen.
Der Beilkespieltisch war ein glattgehobeltes Mahagonibrett mit einer Anzahl quer darüber eingekerbter paralleler Linien. Das Spiel wird gespielt, indem man die Münze auf das Ende des Bretts legt, wobei ihr Rand ein wenig über die Kante hinausragt, und mit dem unteren Teil der Handfläche dagegenschlägt, wobei die Stärke des Schlages von der Entfernung abhängt, die man die Münze zu treiben wünscht.
„Was ist 'n heute Abend mit Alf?" fragte Philpot den Wirt, während Easton und Bundy spielten. Alf war der Kellner.
„Er erledigt 'ne Arbeit unten im Keller; 's sind 'n paar Hähne nicht ganz in Ordnung. Aber die Frau kommt gleich runter, mich 'n bisschen unterstützen. Da ist sie schon."
Die Wirtin, die in diesem Augenblick durch die hintere Tür der Bar eintrat, war eine stramme Frau mit hochrotem Gesicht und riesiger Büste, umspannt von einem schwarzen Kleid mit Seidenmoirebluse. Auf jeder ihrer fetten weißen Hände trug sie mehrere juwelenbesetzte Goldringe, und um ihren speckigen Nacken hing eine lange goldene Uhrkette. Herablassend begrüßte sie Crass und Philpot, indem sie die beiden leutselig anlächelte.
Inzwischen ging das Beilkespiel munter fort; der Halbbetrunkene hatte großes Interesse daran und gab unparteiisch beiden Spielern Ratschläge. Bundy wurde haushoch geschlagen, und dann meinte Easton, es sei Zeit, an den Heimweg zu denken. Dieser Vorschlag fand mit einer kleinen Abänderung allgemeine Billigung. Die Abänderung wurde von Philpot beantragt, der darauf bestand noch eine letzte Runde zu spendieren, ehe sie gingen.
Während sie diesen Trunk hinuntergossen, nahm Crass einen Penny aus seiner Westentasche und steckte ihn in den Schlitz des Musikautomaten. Der Wirt legte eine neue Platte ein, drehte den Apparat auf, und dieser begann „Die Burschen von der Bulldoggart" zu spielen. Der Halbbetrunkene kannte zufällig den Text des Refrains, und als er die Musik hörte, erhob er sich unsicher auf die Füße und begann mit feurigen Blicken und zahlreichen Gesten zu grölen, so laut er konnte:

„Wohl mögen sie ihre Schiffe baun, Jungs,
um mitzuhalten beim Spiel,
doch Burschen von Bulldoggart könn'n sie nicht baun,
die Alt-Englands Ruhm..."
„He! Hör auf damit, hörste?" rief der „olle Knabe" wütend. „Ich hab dir doch schon mal gesagt, dass ich so was in meinem Haus nicht dulde!"
Verwirrt hielt der Halbbetrunkene inne.
„Hab ja nichts Böses gemeint", sagte er unsicher, sich an die Gesellschaft wendend.
„Ich wünsche keine Widerrede von dir!" sagte der „olle Knabe" mit bösem Knurren. „Wenn du Radau machen willst, kannste woandershin gehen, und je eher je lieber. Bist schon lang genug hier gewesen."
Das stimmte. Der Mann war lang genug da gewesen, um auch den letzten Penny auszugeben, den er bei seiner Ankunft in der Tasche gehabt hatte; er besaß nun kein Geld mehr, und diese Tatsache hatte der aufmerksame und erfahrene Wirt bereits vor einiger Zeit erraten. Deshalb wünschte er den Kerl loszuwerden, ehe der Alkohol noch weiter seine Wirkung tat und ihn besinnungslos betrunken machte.
Der Halbbetrunkene hörte mit Empörung und Zorn die beleidigenden Worte des Wirts an.
„Zum Donnerwetter, ich gehe, wenn's mir passt!" schrie er. „Ich werd dich nicht fragen noch sonst jemand! Wer zum Teufel biste denn? Ein Niemand! Hörste? Ein Niemand! Von meinesgleichen Verdienste deinen Lebensunterhalt! Ich bleib hier, so lange mir's gefällt, verdammt noch mal, und wenn's dir nicht passt, kannste dich zum Teufel scheren!"
„So, so, wirklich?" sagte der „olle Knabe". „Das wer'n wir ja gleich mal sehn." Er öffnete die Tür hinter der Theke und brüllte: „Alf!"
„Jawoll", antwortete eine Stimme, offenbar aus dem Keller.
„Komm doch mal rauf."
„Ist gut", erwiderte die Stimme, und dann waren Schritte zu hören, die einige Stufen heraufkamen.
„Gleich wirste 'nen Spaß erleben", bemerkte Crass fröhlich zu Easton.
Der Musikautomat fuhr fort, „Die Burschen von der Bulldoggart" zu spielen.
Philpot ging zu dem Halbbetrunkenen hinüber. „Hör mal, altes Haus", flüsterte er, „folg meinem Rat und geh ruhig heim. Du ziehst doch den kürzeren, weißte."
„Nicht ich, Mann", antwortete der andere und schüttelte eigensinnig den Kopf. „Hier bin ich, und hier werd ich, Teufel noch mal, auch bleiben."
„Nein, das wirste nicht", erwiderte Philpot besänftigend. „Hör mal zu. Ich will dir sagen, was wir machen. Du trinkst noch 'n kleines Glas mit mir, und dann gehn wir beide zusammen nach Haus. Ich seh schon zu, dass du sicher heimkommst."
„Dass ich sicher heimkomme! Was meinste denn damit?" fragte der andere entrüstet. „Denkste vielleicht, ich bin besoffen oder was?"
„I wo, keine Spur nicht", antwortete Philpot hastig. „Du bist ganz in Ordnung, ebenso in Ordnung wie ich selbst. Aber du weißt doch, was ich meine. Lass uns nach Haus gehen. Du willst doch hier nicht etwa die ganze Nacht hocken, oder?"
Inzwischen war Alf zur Tür hinter der Theke gelangt. Er war ein stämmiger junger Mann von zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahren.
„Schmeiß das raus", knurrte der Wirt und bezeichnete den Übeltäter.
Sofort schwang sich der Kellner über den Schanktisch öffnete weit die Eingangstür zur Straße, wandte sich zu dem halbbetrunkenen Mann um, wies mit dem Daumen zur Tür und sagte:
„Gehn Sie?"
„Erst trinke ich noch 'nen Viertel mit dem Herrn da..."
„Ja, geht in Ordnung", sagte Philpot zum Wirt. „Geben Sie uns noch zwei Kleine, und lassen Sie's gut sein."
„Kümmern Sie sich gefälligst um Ihren eigenen Dreck", brüllte der Wirt und wandte sich ihm wütend zu. „Hier kriegt er nichts mehr! Ich will keinen Besoffenen in meinem Haus! Wer hat 'n Sie gebeten, sich einzumischen?"
„Also los!" rief der Kellner dem Urheber der Aufregung zu. „Raus!"
„Nicht ich!" sagte der Halbbetrunkene fest. „Nicht ehe ich meinen Viertel..."
Aber noch bevor er den Satz beenden konnte, hatte ihn der Kellner beim Kragen gepackt, schleifte ihn gewaltsam zur Tür und stieß ihn auf die Mitte der Straße, wo er zusammensackte, fast unter den Rädern eines gerade vorbeifahrenden Bierwagens. Nachdem Alf das vollbracht hatte, schloss er die Tür und zog sich wieder hinter den Schanktisch zurück.
„Geschieht ihm verdammt recht", sagte Crass.
„Ich musste lachen, wie ich 'n da so durch die Tür sausen sah", sagte Bundy.
„Du solltest auch Verstand genug haben, dich da nicht einzumischen", sagte Crass zu Philpot. „Ging dich doch 'nen Dreck an."
Philpot antwortete nicht. Er kehrte den anderen den Rücken und spähte über den Rand der Fensterverkleidung auf die Straße. Dann öffnete er die Tür und trat hinaus. Crass und die übrigen beobachteten durch das Fenster, wie er dem Halbbetrunkenen auf die Beine half, ihm den Schmutz etwas von den Sachen klopfte, und schließlich
sahen sie die beiden nach einigem Hinundherreden Arm in Arm davonziehen.
Crass und die anderen lachten und kehrten zu ihren halbgeleerten Gläsern zurück.
„Nanu, der olle Joe hat ja noch nicht mal die Hälfte von seinem ausgetrunken!" rief Easton, als er Philpots Dunkles auf dem Schanktisch stehen sah. „Stellt euch vor, einfach so fortzugehen!"
„Ist eben 'n Narr", knurrte Crass. „War ja überhaupt nicht nötig, mit dem Mann war doch weiter gar nichts."
Der benebelte Tropf goss sein Bier hinunter, so schnell er nur konnte, die Äugen gierig auf Philpots Glas gerichtet. Gerade hatte er ausgetrunken und wollte soeben bemerken, dass es doch schade sei, den Porter umkommen zu lassen, als Philpot unerwartet wiedererschien.
„Holla! Was haste denn mit ihm gemacht?" erkundigte sich Crass.
„Ich glaub, er wird schon zurechtkommen; weiter wollte er mich nicht mitgehen lassen, sagte, wenn ich nicht abhaue, wird er's mir geben! Aber ich denke, er kommt schon zurecht. Der Fall hat 'n woll 'n bisschen ernüchtert."
„Ach, der kommt schon zurecht", sagte Crass leichthin, „'s ist doch weiter gar nichts mit ihm."
Nun trank Philpot seinen Porter aus, und nachdem sie dem „ollen Knaben", der Wirtin und dem benebelten Tropf „gute Nacht" gewünscht hatten, machten sich alle auf den Heimweg.
Während sie die dunkle, einsame Landstraße entlanggingen, die über den Hügel nach Windley führte, hörten sie von Zeit zu Zeit das unheimliche Gebrüll der wilden Tiere in der Menagerie, die auf dem benachbarten Feld ihr Lager aufgeschlagen hatte. Gerade als sie eine sehr dunkle und verlassene Stelle erreicht hatten, bemerkten sie plötzlich mitten auf der Straße in einiger Entfernung vor sich einen dunklen Gegenstand. Es schien irgendein großes Tier zu sein und kam langsam und verstohlen auf sie zu.
Sie blieben stehen und spähten etwas erschrocken durch die Dunkelheit. Das Tier fuhr fort, sich ihnen zu nähern, Bundy bückte sich zum Boden nieder und tastete in der
Dunkelheit nach einem Stein; die übrigen folgten seinem Beispiel - mit Ausnahme von Crass, der zu verängstigt war, um sich zu bewegen. Sie fanden mehrere große Steine blieben stehen und warteten, bis das Geschöpf - was es auch sein mochte - ein wenig näher kam, damit sie es treffen konnten. Gerade wollten sie ihre Steine schleudern, als das Tier zur Seite fiel und stöhnte, als habe es Schmerzen. Als die vier Männer dies bemerkten, näherten sie sich ihm vorsichtig. Bundy zündete ein Streichholz an und hielt es über die auf dem Boden liegende Gestalt. Es war der Halbbetrunkene.
Nachdem sich der arme Wicht von Philpot getrennt hatte, war es ihm ein Stück weit gelungen, richtig zu gehen. Wie Philpot bemerkt hatte, hatte der Fall den Mann bis zu einem gewissen Grade ernüchtert; aber ehe er sehr weit gelangt war, hatte der Alkohol ihn von neuem übermannt, und er war gestürzt. Da es ihm nicht gelungen war, sich wieder zu erheben, war er auf Händen und Knien weitergekrochen, ohne zu bemerken, dass er in der verkehrten Richtung kroch. Endlich war er nicht mehr fähig, sich auch nur auf diese Weise fortzubewegen, und wahrscheinlich wäre er überfahren worden, hätten sie ihn nicht gefunden. Sie zogen ihn empor; Philpot ermahnte ihn, sich doch „zusammenzureißen", und fragte ihn nach seiner Adresse. Der Mann war noch genügend bei Sinnen, um ihnen seine Wohnung anzugeben, die glücklicherweise in Windley lag, wo sie alle zu Hause waren.
Bundy und Philpot brachten ihn heim, und an der Ecke der Straße, in der Crass und Easton wohnten, trennten sie sich von diesen beiden.
Crass fühlte sich angenehm voll und war sehr zufrieden mit sich. Er hatte sechs halbe und einen Viertelliter Bier getrunken und zwei Musikstücke angehört, für den Preis von insgesamt einem Penny.
Nachdem Easton Crass verlassen hatte, brauchte er nur noch wenige Meter bis zu seinem eigenen Haus zu gehen; sobald er aber hörte, dass sich die Tür hinter Crass geschlossen hatte, blieb er stehen, lehnte sich gegen eine Straßenlaterne und ließ dem Schwindel und der Übelkeit, gegen die er während des ganzen Heimweges angekämpft
hatte, freien Lauf. Alle leblosen Gegenstände rings um ihn schienen in Bewegung geraten zu sein. Die Lichter der Straßenlaternen in der Ferne schienen umherzuschweben; Fahrweg und Bürgersteig hoben und senkten sich wie die Oberfläche eines bewegten Meeres. Er durchsuchte seine Taschen nach dem Taschentuch, und nachdem er es gefunden hatte, wischte er sich den Mund ab, wobei er sich im stillen beglückwünschte, dass Crass nicht mehr da war und ihn nicht sah. Dann ging er weiter, und nach einigen Minuten erreichte er sein Haus. Als er durch das Gartentor getreten war, schloss es sich hinter ihm mit lautem Knall von selbst. Ziemlich schwankend ging er den schmalen Weg entlang, der zur Haustür führte, und trat ein.
Der Säugling schlief in der Wiege. Slyme war in sein Zimmer hinaufgegangen, und Ruth saß mit einer Näharbeit am Feuer. Der Tisch war noch immer für zwei Personen gedeckt, denn sie hatte ihren Tee noch nicht getrunken.
Polternd taumelte Easton herein. „Hallo, altes Mädchen!" rief er, warf seinen Frühstückskorb mit erkünstelter Heiterkeit achtlos auf den Boden und stützte die Hände auf den Tisch, um sich aufrecht zu halten. „Siehste, ich bin endlich da."
Ruth hörte auf zu nähen, ließ die Hände in den Schoß fallen und blickte ihn an. So hatte sie ihn noch niemals gesehen. Sein Gesicht war leichenblass, die Augen blutunterlaufen und rot umrändert; die Lippen bebten und glänzten nass, und die Enden seines blonden Schnurrbarts waren mit Speichel zusammengeklebt, mit Bier beschmutzt und hingen ihm in feuchten Zotteln unordentlich um den Mund.
Als Easton bemerkte, dass sie weder sprach noch lächelte, schloss er, sie sei ärgerlich, und wurde gleichfalls ernst.
„Siehste, meine Liebe, ich bin endlich da; besser spät als überhaupt nicht."
Es fiel ihm sehr schwer, deutlich zu sprechen, denn seine Lippen zitterten und weigerten sich, die Worte zu bilden.
„Da bin ich nicht so sicher!" sagte Ruth, den Tränen nahe, und versuchte, ihn das Mitleid nicht sehen zu lassen, das sie doch unwillkürlich für ihn empfand. „In 'nem schönen Zustand bist du ja. Solltest dich was schämen!"
Easton schüttelte den Kopf und lachte töricht. „Sei nicht böse, Ruth. 's nützt nichts, weißte."
Tappend kam er auf sie zu, wobei er sich noch immer auf den Tisch stützte, um sich Halt zu geben.
„Sei nicht böse", lallte er und beugte sich über sie, legte den Arm um ihren Nacken und sein Gesicht an ihres. „'s nützt nichts, böse zu sein, weißte, Liebling."
Sie zuckte zurück und schauderte vor unwillkürlichem Widerwillen, als er seine feuchten Lippen und seinen schmutzigen Schnurrbart auf ihren Mund presste. Sein übel riechender Atem, der nach Tabak und Bier stank, und der Geruch nach abgestandenem Tabakrauch, den sein Anzug ausströmte, erfüllten sie mit Ekel. Er küsste sie wiederholt, und als er sie endlich freigab, wischte sie hastig ihr Gesicht mit einem Taschentuch ab und schüttelte sich.
Easton sagte, er wolle keinen Tee, und ging fast sogleich hinauf ins Bett. Jetzt mochte Ruth ebenfalls nichts mehr zu sich nehmen, obgleich sie vor seiner Rückkehr sehr hungrig gewesen war. Bis spätabends saß sie und nähte. Als sie endlich nach oben ging, fand sie ihn auf dem unaufgedeckten Bett halb ausgezogen auf dem Rücken liegend, mit weit geöffnetem Munde laut schnarchend.

 

20. Kapitel Die vierzig Räuber Die Schlacht: Briganten contra Banditen

Dieses Kapitel ist mehr als außergewöhnlich langweilig und uninteressant und berichtet von Dingen, die vielleicht scheinbar mit dem Fall nichts zu tun haben. Trotzdem ersuchen wir den Leser, es durchzulesen, da es gewisse Informationen enthält, die zum Verständnis dieser Geschichte notwendig sind.
Regiert wurde die Stadt Mugsborough von einer Gruppe von Leuten, der Stadtrat genannt. Die meisten dieser „Volksvertreter" waren wohlhabende oder im Ruhestand lebende Geschäftsleute. Der Meinung der Einwohner von Mugsborough nach war die Tatsache, dass es einem Mann
gelungen war, im Geschäftsleben Geld anzuhäufen, ein deutlicher Beweis für seine Eignung, mit den Geschäften der Stadt betraut zu werden.
Als daher der äußerst fähige und erfolgreiche Mr. George Rushton für den Stadtrat kandidierte, wurde er von den Arbeitern mit großer Stimmenmehrheit gewählt, denn sie hielten ihn für einen idealen Menschen...
Diese Stadtverordneten waren Briganten, taten ganz, was sie wollten. Keiner störte sie. Nie befragten sie die Steuerzahler irgendwie um deren Meinung. Selbst während der Wahlen machten sie sich nicht die Mühe, Versammlungen abzuhalten: jeder von ihnen gab einfach eine Art Manifest heraus, das seine vielen edlen Eigenschaften anpries und die Leute aufrief, ihm ihre Stimme zu geben, und die Angesprochenen versäumten niemals, das zu tun. Immer wieder wählten sie dieselbe Mannschaft...
Fast ungehindert führten die Briganten ihre Raubzüge durch, denn ihre Wähler waren in den „Kampf ums Dasein" verstrickt. Nehmen wir zum Beispiel den öffentlichen Park. Ebenso wie... Schweine um einen Trog, waren sie mit dieser Schlacht derartig beschäftigt, dass die meisten keine Zeit hatten, in den Park zu gehen; sonst hätten sie vielleicht bemerkt, dass da nicht so viele kostbare Pflanzen vorhanden waren, wie eigentlich dort sein sollten. Und hätten sie weiter nachgefragt, so hätten sie entdeckt, dass fast alle Mitglieder des Stadtrats wunderschöne Gärten besaßen. Es hatte seinen Grund, weshalb diese Gärten so prächtig waren, denn damit sie es wurden, beraubte man den öffentlichen Park systematisch seiner besten Pflanzen.
In dem Park gab es einen See. Auf Kosten der Steuerzahler wurden dort eine große Anzahl Enten und Gänse unterhalten. Neben dem Futter, das für dieses Geflügel aus öffentlichen Geldern bezahlt wurde, brachten auch noch die Besucher des Parks Tüten mit Keksen und Brotkrumen mit. Waren die Enten und Gänse schön fett geworden, so schleppten die Briganten sie fort, um sie daheim zu verspeisen. Wurden die Stadtverordneten müde, Entenoder Gänsefleisch zu essen, so trafen einige von ihnen ein Abkommen mit gewissen Schlächtern und tauschten das Geflügel gegen anderes Fleisch um.
Zu den energischsten Mitgliedern der Bande zählte Mr. Jeremias Didlum, der Möbelhändler, der ein großes Abzahlungsgeschäft betrieb. Er hatte ein ausgedehntes Lager gebrauchter Möbel; von denen er wieder Besitz ergriffen hatte, nachdem die unglückseligen verhinderten Käufer verabsäumt hatten, die Raten regelmäßig zu bezahlen. Andere gebrauchte Möbel hatte er zu einem Bruchteil ihres wirklichen Wertes bei Zwangsversteigerungen erworben oder Leuten abgekauft, die das Unglück oder die Arbeitslosigkeit gezwungen hatte, ihren Hausrat zu veräußern.
Ein anderes prominentes Mitglied der Bande war Mr. Arnos Schinder, der praktisch das Monopol im Gemüsehandel innehatte und jetzt fast sämtliche Obstläden der Stadt besaß. Was die übrigen Obst- und Gemüsegeschäfte betraf: falls sie ihre Ware nicht von ihm kauften oder vielmehr von der Gesellschaft, deren Generaldirektor und Hauptaktionär er war, falls sie ihre Ware nicht von seiner Gesellschaft kauften, so versuchte er, sie zum Bankrott zu bringen, indem er in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft Filialen eröffnete und dort unter Selbstkosten verkaufte. Er war ein Selfmademan, ein Mann, der sich selbst zu dem gemacht hatte, was er war: ein Beispiel dafür, was mit Raffiniertheit und Eigennutz zu erreichen ist.
Ferner war da noch das Haupt der Bande, Mr. Adam Sweater, der Bürgermeister. Er war stets das Haupt, obgleich er nicht immer Bürgermeister war, denn die Regel sah vor, dass alle Mitglieder der Bande abwechselnd in den Genuss dieser „Ehre" kamen. Wahrlich eine schöne „Ehre", der erste Bürger in einer Gemeinde zu sein, die zum größten Teil aus unwissenden Halbidioten, aus Sklaven, Sklavenaufsehern und Psalmen singenden Heuchlern bestand.
Mr. Sweater war der leitende Direktor und Hauptaktionär eines großen Modehauses, durch das er ein beträchtliches Vermögen zusammengerafft hatte. Das war nicht sehr erstaunlich, denn er bezahlte keinem seiner Arbeiter einen anständigen Lohn und vielen von ihnen überhaupt keinen. Er beschäftigte eine große Anzahl Mädchen
und junge Frauen, die vorgeblich das Schneidern von Kleidern und Mänteln oder die Putzmacherei erlernten. Alle waren vertraglich gebundene Lehrlinge, von denen manche ein Lehrgeld von fünf bis zehn Pfund bezahlt hatten. Sie waren für drei Jahre „gebunden". Während der ersten beiden Jahre erhielten sie überhaupt keinen Lohn und während des dritten Jahres einen oder anderthalb Schilling die Woche. Am Ende des dritten Jahres wurden sie gewöhnlich entlassen, wenn sie nicht bereit waren, zur weiteren Qualifizierung für drei bis viereinhalb Schilling die Woche zu bleiben.
Sie arbeiteten von halb neun Uhr morgens bis acht Uhr abends, machten eine Stunde Tischzeit und unterbrachen um halb fünf Uhr für fünfzehn Minuten die Arbeit, um ihren Tee einzunehmen. Der wurde von der Firma geliefert - ein Viertelliter für jedes Mädchen -, sie mussten jedoch ihre eigene Milch, ihren Zucker und ihr eigenes Butterbrot mitbringen.
Wenige dieser Mädchen erlernten jemals ihr Handwerk gründlich. Einige lehrte man, Ärmel zu nähen, andere, Manschetten oder Knopflöcher anzufertigen und so weiter. Das Ergebnis war, dass jede schon nach kurzer Zeit viel Erfahrung und Geschicklichkeit in der Teilfertigung erwarb; zwar befähigte ihre Meisterschaft in der Herstellung dieses einen Teiles sie niemals, sich ihren Lebensunterhalt ausreichend zu verdienen, wohl aber befähigte sie Mr. Sweater, während ihrer Lehrzeit Geld zu verdienen, und das war alles, was ihn kümmerte.
Gelegentlich bestand ein intelligentes und forsches Mädchen auf der Einhaltung ihres Lehrvertrages, und zuweilen protestierten die Eltern. Blieben sie bei ihrer Forderung, so kamen diese Mädchen besser voran; doch selbst aus ihnen zog der schlaue Sweater seinen Nutzen, denn er bot den besten Arbeiterinnen nach Ablauf ihrer Lehrzeit einen Anreiz, bei ihm zu bleiben, indem er ihnen einen Lohn zahlte, der im Vergleich zu den Löhnen der übrigen Mädchen gut schien - manchmal sogar bis zu sieben oder acht Schilling die Woche! - sowie durch großzügige Versprechungen auf künftige Beförderung. Diese Mädchen wurden dann zu einer Art Reserve, die er heranziehen konnte,
um jeden Ausbruch der Unzufriedenheit von Seiten der führenden Arbeiterinnen zu ersticken.
Die Mehrzahl der Mädchen unterwarf sich indessen gefügig den ihnen aufgezwungenen Arbeitsbedingungen. Sie waren zu jung, um zu begreifen, welches Unrecht ihnen geschah. Und was ihre Eltern betraf, so kam es diesen niemals in den Sinn, an der Ehrlichkeit eines so gütigen Menschen wie Mr. Sweater zu zweifeln, der sich stets in allen guten und wohltätigen Werken hervortat.
Beklagten sich die Eltern eines Mädchens nach Beendigung seiner Lehrzeit über sein mangelhaftes Können, so führte der fromme Sweater dieses auf Faulheit und Unfähigkeit zurück, und da die Leute gewöhnlich arm waren, hatte er selten oder nie irgendwelche Scherereien mit ihnen. Auf diese Weise erfüllte er sein salbungsvolles Versprechen, das er den vertrauensseligen Eltern gegeben hatte, als das Mädchen seiner Gnade ausgeliefert wurde -nämlich es zu einer „tüchtigen Frau" zu machen.
Diese Methode, durch Vorspiegelung falscher Tatsachen unentgeltliche Arbeitskräfte zu erhalten, die ihm ermöglichte, kostspielige Waren zu einem geringen Bruchteil des Verkaufspreises herzustellen, wurde ebenfalls in andere Abteilungen seines Geschäfts übernommen. Zu den gleichen Bedingungen verschaffte er sich auch Verkäufer und Verkäuferinnen. Mit einem jungen Mann wurde gewöhnlich ein Lehrvertrag auf fünf Jahre abgeschlossen, um „einen Mann aus ihm zu machen" und ihn zu „befähigen, in jederlei Haus eine Stellung zu übernehmen". Wenn möglich, wurde den Eltern ein Lehrgeld von fünf, zehn oder zwanzig Pfund - je nach ihren Verhältnissen - abgenommen. Während der ersten drei Jahre gab es keinen Lohn, danach vielleicht zwei oder drei Schilling die Woche.
Am Ende der fünf Jahre war das Werk, „einen Mann aus ihm zu machen", vollbracht. Dann gratulierte ihm Mr. Sweater und versicherte ihm, er sei jetzt befähigt, in jederlei Haus eine „Stellung" zu übernehmen; er bedaure indessen, dass in seinem, Mr. Sweaters, kein Platz mehr für den jungen Mann sei. Das Geschäft ging so schlecht. Falls der Mann es aber wünschte, mochte er bleiben, bis er eine bessere „Stellung" fand, und aus lauter Großzügigkeit würde ihm Mr. Sweater, obgleich der seine Dienste eigentlich nicht benötigte, zehn Schilling die Woche bezahlen!
Vorausgesetzt, dass der junge Mann weder dem Trunk ergeben war noch rauchte, noch an der Börse spekulierte oder ins Theater ging, war auf diese Weise seine Zukunft gesichert. Selbst wenn es ihm nicht gelang, eine andere Stellung zu finden, konnte er einen Teil seines Gehaltes sparen und schließlich ein eigenes Geschäft eröffnen.
per Zweig des Geschäfts von Mr. Sweater jedoch, auf den wir die Aufmerksamkeit des Lesers besonders lenken möchten, war die Abteilung für Heimarbeit. Sweater beschäftigte eine große Anzahl Frauen, die Damenblusen, Zierschürzen und Kinderschürzen herstellten. Die meisten dieser Artikel wurden en gros in London oder in anderen Orten abgesetzt; einige aber wurden en detail in „Sweaters Warenhaus" in Mugsborough oder in den anderen Einzelhandelsgeschäften der Firma überall verkauft. Viele der Arbeiterinnen waren Witwen, welche Kinder hatten und froh waren, irgendeine Beschäftigung zu erhalten, die sie nicht zwang, von zu Hause und ihren Kindern fortzugehen.
Die Blusen wurden nach dem Tarif von zwei bis fünf Schilling das Dutzend bezahlt, und die Frau musste ihre eigene Nähmaschine sowie das Garn liefern, dazu noch die Arbeit abholen und zurückbringen. Diese armen Frauen konnten sechs bis acht Schilling die Woche verdienen, und selbst dazu mussten sie fast pausenlos vierzehn bis sechzehn Stunden am Tag arbeiten. Zeit für die Küche hatten sie keine, und sie besaßen nur sehr wenig, das sie hätten kochen können; sie lebten vorwiegend von Brot, Margarine und Tee. Ihr Heim war schmutzig, ihre Kinder halb verhungert und zerlumpt; sie waren in groteske Gewänder gekleidet, die aus den abgelegten Sachen mildtätiger Nachbarn hastig zusammengeschustert waren.
Jedoch nicht umsonst arbeiteten diese Frauen den lieben langen Tag, bis die Erschöpfung sie zwang, innezuhalten. Nicht umsonst verbrachten sie ihr freudloses Leben mit schmerzenden Schultern über eine undankbare Arbeit gebeugt, die ihnen kaum das Brot einbrachte. Nicht umsonst gingen sie und ihre Kinder verhungert und in Lumpen gekleidet einher, denn schließlich wurde ja der Hauptzweck ihrer Arbeit erfüllt: die gute Sache wurde gefördert Mr. Sweater wurde reich, seine Güter mehrten sich, und er stieg in der Achtung seiner Mitmenschen.
Natürlich war keine der Frauen gezwungen, sich dieser glorreichen Sache zu widmen. Niemand ist gezwungen, in einem so freien Lande wie dem unseren irgendwelche bestimmten Lebensbedingungen hinzunehmen. Mr. Trefaim der Leiter von Sweaters Abteilung für Heimarbeit, legte ihnen die Sache stets in der einfachsten und anständigsten Weise dar. Hier war die Arbeit - und so viel betrug die Bezahlung! Wem es nicht gefiel, der konnte es sein lassen. Zwang gab es dabei nicht.
Zuweilen ließ es eine störrische Person tatsächlich sein, eine, die zu der zahlreichen Schicht derer gehörte, die zum Arbeiten zu faul sind. Aber, wie der Abteilungsleiter sagte, es gab genügend andere, die nur allzu froh waren, die Arbeit anzunehmen. Ja, unter diesen Frauen herrschte soviel Begeisterung - besonders unter denen, die kleine Kinder zu versorgen hatten -, und ihr Eifer für die gute Sache war so groß, dass einige buchstäblich um die Erlaubnis zur Arbeit flehten!
Durch diese und andere Mittel war es Adam Sweater gelungen, einen großen Schatz irdischer Güter für sich anzuhäufen und dazu noch den Ruf unangezweifelter Achtbarkeit zu erwerben, denn dass er achtbar war, bestritt niemand. Zweimal ging er jeden Sonntag zur Kapelle, die feiste Gestalt in teure Kleidung gehüllt, unter anderem bestehend aus einer grauen Hose, einem langen Gewand, Gehrock genannt, einem hohen Zylinderhut und einer Anzahl Juwelen, und dazu eine in Maroquinleder gebundene Bibel mit Goldecken. Er hatte irgendein Amt bei der Kapelle „Das strahlende Licht" inne. Sein Name erschien auf fast allen veröffentlichten Wohlfahrtsspendenlisten. Noch nie hatte ihn ein ausgehungerter armer Teufel vergebens um einen Schein für eine Armensuppe zu einem Penny gebeten.
Kein Wunder, dass die intelligenten Arbeiter von Mugsborough, als dieser gütige und auf das Allgemeinwohl bedachte Mann der Stadt unentgeltlich seine Dienste anbot, dieses Anerbieten mit begeistertem Beifall aufnahmen. Die Tatsache, dass er im Geschäftsleben Geld verdient hatte, war ein Beweis seiner geistigen Fähigkeiten. Seine vielgepriesene Güte war eine Garantie, dass er seine Gaben nicht zur Förderung seiner Privatinteressen, sondern zum Wohl aller Schichten der Gemeinde, insbesondere dem der Arbeiterklasse, benutzen werde, zu der die Mehrzahl seiner Wähler gehörte.
Was die kleineren Ladenbesitzer betraf, so waren sie alle derartig von ihrem eigenen Geschäft in Anspruch genommen und dermaßen beschäftigt, ihre Angestellten umherzujagen, ihre Einnahmen zusammenzuzählen und sich in matter Nachahmung der Aristokratie aufzuputzen, dass sie nicht in der Lage waren, ein wirklich ernsthaftes Interesse für irgend etwas anderes zu empfinden. Sie hielten den Stadtrat für eine Art Paradies, das ausschließlich für Schwindelbauunternehmer und erfolgreiche Geschäftsleute reserviert war. Möglicherweise wurden sie eines Tages, falls es ihnen gelang, genügend Geld zusammenzubringen, selbst Stadträte! - aber in der Zwischenzeit kümmerten die öffentlichen Angelegenheiten sie nicht besonders. Daher stimmten manche dieser Leute für Adam Sweater, weil er Liberaler war, und aus eben diesem „Grunde" stimmten manche wiederum gegen ihn.
Ab und zu, wenn Einzelheiten einer ungewöhnlich skandalösen Machenschaft des Stadtrats an die Öffentlichkeit drangen, sprachen die Einwohner der Stadt, für eine kurze Zeitspanne aus ihrer gewohnten Gleichgültigkeit aufgescheucht, auf eine lässige, halb entrüstete, halb belustigte und hilflose Weise über die Angelegenheit, doch stets so, als handele es sich dabei um etwas, was sie nicht unmittelbar betraf. Während eines derartigen kurzlebigen Wunders wurde den Mitgliedern des Rats von ihren halb unzurechnungsfähigen Wählern der Titel „Die vierzig Räuber" verliehen. Da sie nicht genügend Intelligenz besaßen, um die geeigneten Mittel zur Bestrafung der Schuldigen zu finden, gaben sie sich den Anschein, als betrachteten sie die Manöver der Briganten als riesigen Spaß.
Es gab nur ein einziges Ratsmitglied, das nicht zu der Bande gehörte - Rat Schwächling, ein Arzt im Ruhestand, leider aber gleichfalls ein achtbarer Mann. Sah er etwas vor sich gehen, was er nicht für recht hielt, so protestierte er, stimmte dagegen und dann - fiel er zusammen. Er hatte nichts, was an einen ordinären Agitator erinnerte. Was die Briganten betraf, so lachten sie über seine Proteste, und seine Stimme zählte nicht.
Mit dieser einen Ausnahme waren die übrigen Mitglieder des Stadtrats charakterlich Sweater, Rushton, Didlum und Schinder sehr ähnlich. Alle hatten sie den Beitritt zur Bande mit dem gleichen Ziel vollzogen - dem der Selbstverherrlichung und der Förderung ihrer Privatinteressen. Das waren die wahren Gründe, weshalb sie den Steuerzahler ersuchten, sie in den Stadtrat zu wählen; aber natürlich gab das keiner von ihnen jemals zu. Nein! Wenn diese edlen Altruisten der Stadt ihre Dienste anboten, so verlangten sie vom Volk, dass es glaube, sie seien von dem Wunsch beseelt, ihre Zeit und ihre Fähigkeiten zur Wahrung der Interessen anderer zur Verfügung zu stellen, was etwa das gleiche war, als verlange man von den Wählern zu glauben, es sei möglich, dass der Leopard seine Flecken ändere.

Infolge der außerordentlichen Apathie der übrigen Einwohner waren die Briganten in der Lage, ihre Raubzüge ungehindert durchzuführen. Räubereien bei helllichtem Tage waren etwas ganz Alltägliches.
Während vieler Jahre hatten diese Briganten die riesigen Profite der Gasgesellschaft mit gierigen Augen betrachtet. Sie dachten, es sei jammerschade, dass jene anderen Banditen ständig die Stadt ausplünderten und mit einer so reichen Beute einfach davonkamen.
Endlich, vor etwa zwei Jahren, wurde nach langem Studium und vielen privaten Beratungen ein Feldzugsplan ausgearbeitet; ein geheimer Kriegsrat wurde abgehalten, bei dem Mr. Sweater den Vorsitz führte. Danach schlossen sich die Briganten zu einer „Elektrizitäts- und Installations-Gesellschaft m.b.H. von Mugsborough" genannten Körperschaft zusammen und verpflichteten sich mit feierlichem Eid, ihr Bestes zu tun, um die Gaswerkbanditen aus der Stadt zu vertreiben und die Beute, deren diese sich gegenwärtig erfreuten, für sich selbst zu erobern.
Es gab ein großes Grundstück, das Eigentum der Stadt und für das Elektrizitätswerk geeignet war; daher machten sie in ihrer Eigenschaft als Direktoren der Elektrizitätsgesellschaft der Stadt - oder in anderen Worten sich selbst -das Angebot, ihr dieses Land zu ungefähr der Hälfte seines Wertes abzukaufen.
Bei der Stadtratssitzung, auf der dieses Angebot zur Beratung stand, waren mit der alleinigen Ausnahme von Dr. Schwächling alle anwesenden Stadtverordneten Aktionäre der neu gebildeten Gesellschaft, und Stadtverordneter Rushton beantragte die Annahme des Angebots. Er sagte, man solle den Gründern der Elektrizitätsgesellschaft jede Unterstützung zukommen lassen - jenen auf das öffentliche Wohl bedachten Bürgern, die sich vorgewagt hätten und gewillt seien, ihr Kapital bei einem Unternehmen aufs Spiel zu setzen, das allen Klassen der Einwohnerschaft dieser von ihnen so geliebten Stadt zum Vorteil gereichen werde. (Applaus!) Ohne jeden Zweifel werde die Einführung des elektrischen Lichts die Reize Mugsboroughs vermehren; aber es gebe noch einen anderen und zwingenderen Grund, weshalb er geneigt sei, sein möglichstes zu tun, um die Gesellschaft bei der Durchführung dieser Arbeit zu unterstützen. Leider sei die Stadt, wie gewöhnlich zu dieser Jahreszeit (Mr. Rushtons Stimme zitterte vor innerer Bewegung), voller Arbeitsloser. (Der Bürgermeister, Ratsherr Sweater und alle übrigen Stadtverordneten schüttelten traurig den Kopf; sie waren sichtlich bewegt.) Kein Zweifel, dass der Beginn der Arbeit zu dieser Zeit eine unschätzbare Wohltat für die Arbeiterklasse sei. Als Vertreter eines Arbeiterbezirks sei er dafür, das Angebot der Gesellschaft anzunehmen. (Hört, hört!)
Stadtverordneter Didlum unterstützte diesen Antrag. Seiner Ansicht nach wäre es nichts weniger als ein Verbrechen, sich gegen etwas zu wenden, was Arbeit für die Arbeitslosen beschaffe.
Stadtverordneter Schwächling beantragte, das Angebot abzulehnen. (Pfuirufe!) Er gab zu, das elektrische Licht bedeute eine Verbesserung für die Stadt, und angesichts der herrschenden Not wäre er froh, wenn die Arbeit in Angriff genommen würde, aber der genannte Preis sei viel zu niedrig. Er entspreche nur der Hälfte des Grundstückswerts (Verächtliches Lachen.)
Stadtverordneter Schinder sagte, er sei erstaunt über die vom Stadtverordneten Schwächling eingenommene Haltung. Seiner (Schinders) Meinung nach sei es eine Schande dass ein Mitglied des Stadtrats bewusst versuche, ein Projekt zu Fall zu bringen, das so viel dazu beitrüge, den Arbeitslosen Hilfe zu gewähren.
Der Bürgermeister, Ratsherr Sweater, sagte, er könne den Zusatz nicht zur Diskussion stellen, wenn der nicht von einem zweiten Antragsteller unterstützt werde; geschehe das nicht, so werde er über den ursprünglichen Antrag abstimmen lassen.
Niemand unterstützte Schwächling, denn außer ihm waren alle für den ursprünglichen Antrag, der unter lauten Beifallsrufen angenommen wurde; sodann gingen die Vertreter der Steuerzahler zur Beratung des nächsten Punktes der Tagesordnung über.
Stadtverordneter Didlum schlug vor, die Abgaben für die gesamte in die Stadt eingeführte Kohle von zwei auf drei Schilling pro Tonne zu erhöhen.
Stadtverordneter Rushton unterstützte den Antrag. Der größte Kohlenkonsument sei die Gasgesellschaft, und in Anbetracht der großen von dieser Gesellschaft erzielten Profite seien sie völlig im Recht, den Einfuhrzoll auf das höchste vom Gesetz zugelassene Maß heraufzusetzen.
Nach einem matten Protest von Seiten Schwächlings, der sagte, das werde nur die Preise für Gas und Kohle hochtreiben, ohne die Profite der Gasgesellschaft zu beeinträchtigen, wurde auch dieser Antrag angenommen, und nachdem noch einige weitere Geschäfte abgewickelt waren, zerstreute sich die Bande.
Diese Sitzung hatte vor zwei Jahren stattgefunden, und inzwischen war das Elektrizitätswerk gebaut und der Krieg gegen die Gasgesellschaft munter fortgesetzt worden. Nach mehreren Gefechten, bei denen die Gaswerksbanditen ein paar Kunden und einen Teil der Straßenbeleuchtung verloren, zogen sie sich aus der Stadt zurück und verschanzten sich in einer Festung jenseits der Stadtgrenze, wo sie eine Anzahl Gasometer errichten ließen. Auf diese Weise waren
sie in der Lage, von weitem das Gas in die Stadt zu schleusen, ohne den Kohlenzoll entrichten zu müssen.
Dieses strategische Meisterstück verursachte so etwas wie eine Panik in den Reihen der „Vierzig Räuber". Am Ende der zwei Jahre waren sie infolge des sich hinziehenden Feldzuges erschöpft, ihre Bewegungen waren durch eine abgenutzte Einrichtung und einen veralteten Maschinenpark behindert und sie von allen Seiten durch die niedrigen Preise der Gasgesellschaft geplagt. Wider Willen waren sie gezwungen zuzugeben, dass der Versuch, die Gasgesellschaft zu unterminieren, ein trauriger Fehlschlag war, und dass die „Elektrizitäts- und Installationsgesellschaft m.b.H. von Mugsborough" sich für ihre Besitzer als eine schwere Belastung erwies. Sie begannen sich zu fragen, was sie damit tun sollten, und einige von ihnen drangen sogar auf bedingungslose Übergabe oder auf einen Antrag auf gerichtliche Bankrotterklärung.
Inmitten all dieser Verwirrung und Demoralisation gab es jedoch einen Mann, der seine Geistesgegenwart nicht verlor, sondern in dieser düsteren Stunde der Katastrophe ruhig und gelassen blieb, der wie ein großer Fleischberg den Kopf über den Sturm erhob, und dessen gewaltiger Intellekt einen Weg sah, diese scheinbar hoffnungslose Niederlage in einen glorreichen Sieg zu verwandeln. Dieser Mann war Adam Sweater, das Haupt der Bande.

 

21. Kapitel Die Schreckensherrschaft. Der große Geldtrick

Während der nächsten vier Wochen dauerte in der „Höhle" die übliche Schreckensherrschaft an. Unter der aufmerksamen Bewachung von Crass, Elend und Rushton schufteten die Männer, als seien sie Sträflinge. Keiner fühlte sich auch nur einen einzigen Augenblick lang unbeobachtet. Oft geschah es, dass ein Mann, der - wie er glaubte - allein arbeitete, sich umwandte und Hunter oder Rushton hinter sich stehen sah; oder wenn einer von der Arbeit aufblickte, gewahrte er ein Gesicht, das ihn durch
eine Tür, ein Fenster oder über das Geländer hinweg beobachtete. Arbeiteten sie in einem Zimmer im Erdgeschoß oder, gleichgültig in welchem Stockwerk, an einem Fenster so waren sie sich bewusst, dass sowohl Rushton wie Hunter die Gewohnheit hatte, sich zwischen den Bäumen, die das Haus umgaben, zu verstecken und sie auf diese Art zu bespitzeln.
Draußen arbeitete ein Klempner, der die rings um die untere Dachkante laufende Regenrinne reparierte. Das Leben dieses armen Teufels war eine wahre Qual: er lebte in dem Wahn, Hunter oder Rushton in jedem Busch versteckt zu sehen. Er arbeitete von zwei Leitern aus, und seit diese in Gebrauch waren, hatte sich Elend etwas Neues ausgedacht, um die Leute zu bespitzeln. Da er feststellte, dass es ihm niemals gelang, irgend jemand bei etwas Verbotenem zu erwischen, solange er das Haus durch eine der Türen betrat, wandte er nun die Taktik an, eine der Leitern hinaufzuklettern, durch eines der oberen Fenster einzusteigen, sich leise die Treppen hinabzustehlen und in die Zimmer hinein- und wieder herauszuschleichen. Selbst so erwischte er niemals jemand, aber das schadete nichts, denn sein Hauptziel erreichte er doch - jedermann schien sich zu fürchten, auch nur einen Augenblick lang die Arbeit zu unterbrechen.
Das Ergebnis all dessen war natürlich, dass diese sich schnell ihrem Ende näherte. Die Arbeiter brummten und fluchten; trotzdem aber legte sich jeder von ihnen ins Zeug, sosehr er nur konnte. Crass selbst leistete zwar fast nichts, überwachte jedoch die anderen und trieb sie an. Er war mit der Aufsicht über die Arbeit betraut, und er wusste: gelang es ihm nicht, dafür zu sorgen, dass sich die Arbeit bezahlt machte, so würde man ihn nie mehr mit einer Aufsicht betrauen. Sorgte er aber dafür, dass sie sich bezahlt machte, so wurde er den anderen vorgezogen und von der Firma gehalten, solange sie Arbeit hatte. Nur so lange aber zog ihn die Firma den anderen vor, wie es sich für sie bezahlt machte.
Was die Arbeiter betraf, so wusste ein jeder von ihnen, dass keine Aussicht bestand, gegenwärtig irgendwo anders Arbeit zu finden; Dutzende waren bereits arbeitslos. Und selbst wenn es irgendwo anders Aussicht auf Beschäftigung für sie gegeben hätte, wussten sie doch, dass die Arbeitsbedingungen bei allen Firmen mehr oder weniger die gleichen waren. Bei manchen war es sogar noch schlimmer als frier. Jeder Arbeiter war sich darüber klar, dass Crass ihn als Bummler melden würde, falls er nicht sein Äußerstes hergab. Sie wussten auch, dass die Anzahl der beschäftigten Leute eingeschränkt wurde, sobald sich die Arbeit ihrem Ende näherte, und wenn es so weit war, wurden diejenigen Arbeiter behalten, die am meisten schafften, und wer langsamer war, wurde entlassen. Jeder von ihnen hoffte, einer der Bevorzugten zu sein, und während er im stillen die übrigen verwünschte, weil sie sich so ins Zeug legten, legte er sich aus Gründen der Selbsterhaltung seinerseits ins Zeug.
Alle verfluchten Crass, dabei wären die meisten von ihnen froh gewesen, mit ihm zu tauschen, und hätte einer von ihnen tatsächlich dessen Platz eingenommen, so wäre er gezwungen gewesen, entweder ebenso zu handeln wie Crass - oder aber seine Stellung zu verlieren.
Alle schimpften auf Hunter, aber die meisten hätten auch mit ihm getauscht, und hätte wirklich einer dessen Stelle eingenommen, so wäre er gezwungen gewesen, entweder das gleiche zu tun wie Hunter oder aber seine Stellung zu verlieren.
Alle hassten und beschuldigten Rushton. Doch hätten sie dessen Stelle eingenommen, so wären sie gezwungen gewesen, die gleichen Methoden anzuwenden wie er oder aber Bankrott zu machen; denn es ist offensichtlich, dass der einzige Weg, gegen andere Unternehmer, die Blutsauger sind, erfolgreich zu konkurrieren, der ist, selbst ein Blutsauger zu werden. Deshalb kann kein Anhänger des gegenwärtigen Systems, wenn er konsequent ist, irgendeinem dieser Männer die Schuld geben. Gebt dem System die Schuld!
Wärest du, lieber Leser, einer der Arbeiter gewesen -hättest du dann langsamer gearbeitet? Hättest du vielleicht vorgezogen, zu verhungern und zuzusehen, wie deine Familie verhungert? Und hättest du an Crass' Stelle etwa lieber gekündigt, als eine so schmutzige Arbeit verrichtet? Und hättest du auf Hunters Stellung vielleicht verzichtet, und wärest du freiwillig auf die Stufe der einfachen Arbeiter hinabgestiegen? Und hättest du in Rushtons Haut lieber Bankrott gemacht, als deine Arbeiter und deine Kunden in der gleichen Weise behandelt, wie deine Konkurrenten die ihren behandelten? Vielleicht hättest du - als edles Vorbild, das du bist - in einem solchen Falle selbstlos gehandelt. Niemand aber hat ein Recht, von dir zu erwarten, du sollest dich zum Wohle anderer Leute opfern, die dich doch für alle deine Mühe nur einen Narren nennen.
Es mag wahr sein, dass jeder der Arbeiter - Owen zum Beispiel -, wäre er Unternehmer gewesen, das gleiche getan hätte wie andere Unternehmer. Manche Leute scheinen zu glauben, das beweise die Richtigkeit des gegenwärtigen Systems! In Wirklichkeit beweist das jedoch nur, dass das gegenwärtige System zur Eigensucht zwingt. Man muss entweder auf anderen herumtreten, oder es wird auf einem selbst herumgetreten. Zwar besteht eine Möglichkeit des Glücks, wenn alle selbstlos wären, wenn ein jeder an das Wohl des Nachbarn dächte, ehe er an seines denkt. Da es jedoch auf der Welt nur eine geringe Anzahl derartig selbstloser Menschen gibt, hat das gegenwärtige System die Erde zu einer Art Hölle gemacht. Unter dem gegenwärtigen System gibt es von allem nicht genügend, damit ein jeder alles ausreichend bekommt. Infolgedessen findet ein Kampf statt - die Christen nennen ihn den „Kampf ums Dasein". In diesem Kampf erhalten einige mehr, als sie brauchen, einige kaum genügend, einige sehr wenig und einige überhaupt nichts. Je aggressiver, listiger, hartgesottener und selbstsüchtiger man ist, um so besser wird es einem gehen. Solange dieses System des „Kampfes ums Dasein" anhält, haben wir kein Recht, anderen Menschen den Vorwurf zu machen, dass sie die gleichen Dinge tun, zu denen wir selbst gezwungen sind. Gebt dem System die Schuld!
Aber genau das war es, was die Arbeiter nicht taten. Sie gaben einander die Schuld, sie gaben Crass, sie gaben Hunter und Rushton die Schuld, aber mit dem großartigen System, zu dessen Opfern sie mehr oder minder alle zählten, waren sie ganz zufrieden, da sie überzeugt waren, es sei die einzig mögliche und die beste Ordnung, welche menschliche Weisheit ersinnen konnte. Der Grund, weshalb alle das glaubten, war, dass sich kein einziger von ihnen jemals die Mühe gemacht hatte zu fragen, ob es nicht möglich wäre, die Dinge anders einzurichten. Sie waren mit dem gegenwärtigen System zufrieden. Wären sie nicht zufrieden gewesen, so hätten sie den Wunsch gehabt, einen Weg zu seiner Veränderung zu finden. Sie hatten sich aber niemals darum bemüht, ernsthaft zu untersuchen, ob es möglich war, einen besseren Weg zu finden, und obgleich alle auf eine nebelhafte Weise wussten, dass bereits Vorschläge gemacht worden waren, wie man die Ordnung auf der Welt nach anderen Methoden einrichten konnte, unterließen sie es doch, danach zu forschen, ob diese anderen Methoden durchführbar waren und etwas taugten, und stets waren sie bereit und willens, sich mit unwissendem Spott oder brutaler Gewalt gegen einen jeden zu stellen, der töricht oder donquichottisch genug war, zu versuchen, ihnen die Einzelheiten von dem, was er für einen besseren Weg hielt, zu erklären. Sie nahmen das gegenwärtige System auf die gleiche Weise hin, auf die sie den Wechsel der Jahreszeiten hinnahmen. Sie wussten, dass es Frühling und Sommer, Herbst und Winter gab. Davon, wie diese verschiedenen Jahreszeiten zustande kamen oder was sie verursachte, hatten sie nicht die geringste Ahnung, und es ist sehr zweifelhaft, ob eine solche Frage auch nur einem von ihnen jemals in den Sinn gekommen war; gewiss aber ist, dass nicht einer von ihnen die Antwort wusste. Von Kindheit an waren sie dazu erzogen worden, ihrem eigenen Verstand zu misstrauen und die Verwaltung aller Angelegenheiten dieser Welt - und was das betraf, auch die der anderen Welt - den „besseren Leuten" zu überlassen; daher waren nun die meisten unter ihnen völlig unfähig, über irgendeine abstrakte Sache nachzudenken. Fast alle „besseren Leute" - das heißt, die Leute, die nichts ton - stimmten darin überein, das gegenwärtige System sei ein sehr gutes, und es sei unmöglich, es abzuändern oder zu verbessern. Daher nahmen es Crass und seine Kollegen, obgleich sie selbst nicht das geringste darüber wussten, als eine erwiesene, unumstößliche Tatsache hin, dass der bestehende Zustand der Dinge unveränderlich sei. Sie glaub-
ten das, weil es ihnen jemand anders gesagt hatte. Alles hätten sie geglaubt - unter einer Bedingung: nämlich dass einer der „besseren Leute" sie aufgefordert hatte, es zu glauben. Sie meinten, für ihresgleichen schickte es sich gewiss nicht zu glauben, sie wüssten es besser als Leute, die gebildeter waren als sie und genügend Zeit hatten zum Studieren.
Als die Arbeit im Salon voranging, gab Crass die Hoffnung auf, Owen werde sie versauen. Da einige der Zimmer im Obergeschoß zum Tapezieren fertig waren, musste Slyme jetzt mit dieser Arbeit beginnen, und Bert wurde Owen weggenommen, um Slyme beim Leimaufstreichen zu assistieren; dabei wurde abgemacht, Crass solle Owen helfen, sooft dieser jemand brauchte, ihm zur Hand zu gehen.
Häufig kam Sweater während dieser vier Wochen, denn er interessierte sich für den Fortgang der Arbeit. Bei seinen Besuchen richtete es Crass stets so ein, dass er gleichfalls im Salon war, und das Reden besorgte zum größten Teil er. Owen war mit dieser Lösung sehr zufrieden, denn er fühlte sich niemals wohl, wenn er sich mit einem Menschen wie Sweater unterhielt, der in einer beleidigend herablassenden Weise sprach und von gewöhnlichen Menschen verlangte, sich vor ihm zu verneigen und ihn bei jedem zweiten Wort mit „Sir" anzureden. Crass dagegen schien das gern zu tun. Er kroch nicht direkt auf dem Boden vor Sweater, aber es gelang ihm, den Eindruck zu vermitteln, dass er das, wenn gewünscht, gern tun werde.
Draußen hatten Bundy und seine Kameraden tiefe Gräben in dem feuchten Boden ausgehoben und legten Abflussrohre hinein. Wie die Malerarbeiten drinnen im Hause, neigte sich auch diese Arbeit ihrem Ende zu. Es war eine elende Arbeit. Während der letzten Zeit war das Wetter schlecht gewesen, und der Boden hatte sich vom Regen voll gesogen, überall stand Schlamm; Kleidung und Stiefel der Leute waren mit einer dicken Kruste bedeckt. Das Schlimmste aber an der Arbeit war der Geruch. Jahrelang waren die alten Abflussrohre schadhaft und leck gewesen. Einige Fuß tief unter der Oberfläche war der Boden mit fauliger Flüssigkeit gesättigt, und der geöffneten Erde entströmte ein Gestank wie von tausend verwesenden Leichen. Dieser furchtbare Geruch haftete an der Kleidung der Leute, die in den Gräben arbeiteten, und sogar an ihnen selbst.
Sie sagten, sie könnten ihn fortgesetzt riechen und schmecken, sogar fern der Arbeitsstelle, zu Hause und selbst bei den Mahlzeiten. Obgleich sie während der Arbeit ununterbrochen Pfeife rauchten, wozu ihnen Elend widerwillig die Erlaubnis gegeben hatte, erlitten Bundy und ein oder zwei seiner Kameraden mehrmals Brechanfälle.
Als den Leuten bewusst wurde, dass bereits das Ende der Arbeit in Sicht war, wurden sie von einer Art Panik ergriffen, besonders die zuletzt Eingestellten, die ja als erste „aussetzen" mussten. Easton freilich erwartete recht zuversichtlich, Crass werde sich nach Kräften bemühen, ihn zu halten, bis die Arbeit beendet war, denn in letzter Zeit waren sie ganz gute Freunde geworden und verbrachten gewöhnlich jede Woche ein paar Abende gemeinsam in den „Cricketers".
„Jetzt gibt's hier bald 'n lausiges Gemetzel", bemerkte Harlow eines Tages zu Philpot, als sie das Treppengeländer strichen. „Ich nehme an, nächste Woche werden die Innenarbeiten so ziemlich erledigt sein."
„Und draußen wird's nicht sehr lange dauern, weißte", antwortete Philpot.
'ne andre Arbeit haben sie nicht reinbekommen, was?"
„Nicht, dass ich wüsste", erwiderte Philpot düster, „und 'ne andere Firma wird woll auch keine nicht haben."
„Kennste die kleine Bude, die sie ,Kiosk' nennen, unten auf der Großen Paradeallee in der Nähe von der Musikbühne?" fragte Harlow nach einer Pause.
„Wo sie immer Erfrischungen verkauft haben?"
„Ja; die gehört der Gesellschaft, weißte."
„Vor kurzem ist sie zugemacht worden, nicht?"
„Ja. Die Leute, die sie gehabt haben, sind nicht auf ihre Kosten gekommen; aber gestern Abend hab ich gehört, dass der Obsthändler Schinder sie wieder aufmachen will. Wenn das stimmt, wird's dort für jemand 'n bisschen Arbeit geben; sie muss nämlich in Ordnung gebracht werden."
„Na, hoffentlich wird's was", antwortete Philpot. „Das würde für 'n paar arme Hunde Arbeit geben."
„Ob sie wohl schon jemand an die Jalousien von diesem Haus hier gesetzt haben?" bemerkte Harlow nach einer Weile.
„Weiß nicht", antwortete Philpot. Eine Zeitlang schwiegen sie wieder. „Wie spät mag's 'n sein?" sagte Philpot schließlich. „Ich weiß nicht, wie's dir geht, aber ich fange an, Kohldampf zu schieben."
„Dachte grade dasselbe; 's kann nicht mehr lange dauern. 's ist schon fast 'ne halbe Stunde her, dass Bert runtergegangen ist, den Tee machen. Der Morgen kommt mir heut furchtbar lang vor."
„Mir auch", sagte Philpot. „Geh mal leise rauf und frag Slyme, wie spät's ist."
Harlow legte seinen Pinsel quer über den Farbtopf und ging nach oben. Er trug Stoffschuhe und trat leise auf, damit Crass nicht hörte, dass er die Arbeit verließ, und so geschah es, dass Harlow, ohne die Absicht, Slyme zu bespitzeln, ungehört die Tür des Zimmers erreichte, in dem dieser arbeitete, und als er unerwartet eintrat, überraschte er Slyme, der beim Kamin stand und eine ganze Rolle Tapete über dem Knie durchbrach, so, wie man etwa einen Stock zerbricht. Neben ihm, auf dem Fußboden, lag, was eine zweite Rolle gewesen war - in zwei Hälften zerbrochen. Bei Harlows Eintritt fuhr Slyme zusammen, und sein Gesicht wurde puterrot vor Verlegenheit. Hastig sammelte er die durchgebrochenen Tapetenrollen auf, bückte sich, stieß die Stücken in den Rauchfang hinauf und schloss die Klappe wieder.
„Was soll 'n das bedeuten?" fragte Harlow. Slyme lachte mit gespielter Sorglosigkeit, doch seine Hände zitterten, und sein Gesicht war jetzt ganz blass.
„Wir müssen doch irgendwie auf unsre Kosten kommen, weißte, Fred", sagte er.
Harlow erwiderte nichts. Er verstand nicht. Nachdem er sich einige Minuten lang den Kopf zerbrochen hatte, gab er es auf.
„Wie spät ist es denn?" fragte er. „Drei Viertel zwölf", antwortete Slyme und fügte, als Harlow fortging, hinzu: „Sag aber wegen dem Papier da nichts zu Crass oder einem von den andren."
Ich sag nichts", erwiderte Harlow.
Als Harlow über die Sache nachgrübelte, begriff er nach und nach, was für einen Sinn die Zerstörung der beiden Rollen Tapete hatte. Slyme tapezierte im Akkord - er erhielt soundso viel für jede geklebte Rolle. Vier Zimmer im Obergeschoß hatten die gleiche Tapete erhalten, und offenbar hatte Hunter, der in solchen Dingen nicht allzu bewandert war, mehr Rollen als nötig geschickt. Wenn Slyme diese beiden Rollen beiseite brachte, konnte er den Anschein erwecken, er habe zwei Rollen mehr geklebt, als tatsächlich der Fall war. Zerbrochen hatte er die Rollen, damit er sie aus dem Haus schaffen konnte, ohne abgefasst zu werden, und im Rauchfang hatte er sie versteckt, um eine günstige Gelegenheit dazu abzuwarten. Gerade war Harlow zu dieser Lösung des Rätsels gekommen, als er unten Treppenstufen knarren hörte; er spähte über das Geländer und sah Elend heraufschleichen. Der kam, um nachzusehen, ob irgend jemand vorzeitig aufgehört hatte zu arbeiten. Schweigend ging er an den beiden Arbeitern vorbei, stieg zur nächsten Etage hinauf und betrat das Zimmer, in dem Slyme arbeitete.
„Machen Sie dies Zimmer lieber noch nicht", sagte Hunter, „'s sollen 'n neuer Rost und 'n neuer Kaminsims gesetzt werden."
Er ging zum Kamin, blieb einige Minuten lang davor stehen und betrachtete ihn nachdenklich.
„Eigentlich gar nicht so übel, der Rost, was?" bemerkte er. „Irgendwo wer'n wir 'n noch mal benutzen können."
„Ja, schlecht ist er nicht", sagte Slyme, dessen Herz wie ein Dampfhammer schlug.
„Für 'n Vorderzimmer in 'nem kleinen Häuschen würd's langen", fuhr Elend fort und bückte sich, um den Rost näher zu betrachten. „Kaputt ist nichts, soweit ich sehe." Er legte die Hand auf die Verschlussklappe und versuchte vergeblich, sie aufzustoßen.
„Hm, hier ist irgendwas nicht in Ordnung", bemerkte er und drückte fester dagegen.
„Ist wahrscheinlich 'n Ziegelstein oder 'n bisschen Putz, der runtergefallen ist", schluckte Slyme und kam herbei, um Elend zu helfen. „Soll ich mal versuchen, sie aufzumachen?"
„Lassen Sie man", antwortete Nimrod und erhob sich. „'s wird schon so sein, wie Sie sagen. Ich werd dafür sorgen, dass der neue Rost nach dem Essen rauf geschickt wird. Bundy kann ihn heut Nachmittag anbringen, und dann können Sie weitertapezieren, sobald Sie wollen."
Damit ging Elend aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und zum Hause hinaus. Slyme wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Dann kniete er nieder, öffnete die Verschlussklappe, holte die zerbrochenen Tapetenrollen heraus und versteckte sie im Rauchfang des Nebenzimmers. Währenddessen schrillte Crass' Pfeife durchs Haus.
„Gott sei's gepfiffen und getrommelt!" rief Philpot inbrünstig aus, während er seine Pinsel über den Farbtopf legte und sich dem allgemeinen Sturm auf die Küche anschloss. Das Bild, das diese bot, ist dem Leser bereits vertraut: als Sitzgelegenheiten die beiden Leitern, im rechten Winkel zum Feuer in etwa zweieinhalb Meter Entfernung und parallel zueinander auf die Seite gelegt, mit dem langen Brett darüber; die umgestülpten Eimer und die Schubladen des Büfetts; der Fußboden ungefegt und voller Schmutz, Papierfetzen, Gipsbrocken, Bleirohrenden und getrocknetem Lehm; in der Mitte der dampfende Eimer mit dem gekochten Tee neben der Sammlung angestoßener Tassen, Marmeladengläser und Kondensmilchbüchsen; und auf den Sitzen die Männer in ihrer schäbigen - ja, in einigen Fällen zerlumpten - Kleidung, die dasaßen, ihr ärmliches Essen verzehrten und Witze rissen.
Ein mitleiderregendes, erstaunliches und gleichzeitig auch ein verächtliches Schauspiel. Mitleiderregend, weil menschliche Wesen gezwungen waren, den größeren Teil ihres Lebens in einer solchen Umgebung zu verbringen, denn man darf nicht vergessen, dass sie den größten Teil ihrer Zeit auf dieser oder jener Arbeitsstelle zubrachten. War „die Höhle" fertig, so gingen sie an eine ähnliche Stelle auf Arbeit, falls sie das Glück hatten, eine solche zu finden. Erstaunlich, da sie zwar wussten, dass sie mehr als ihr Teil bei der Herstellung der lebensnotwendigen und zum Leben angenehmen Dinge leisteten, aber nicht der Ansicht waren, sie hätten ein Recht auf einen angemessenen Anteil der
guten Dinge, die sie schaffen halfen! Und verächtlich, weil sie sich weigerten - obwohl sie ihre Kinder zu dem gleichen Leben der Würdelosigkeit, der Zwangsarbeit und der Entbehrungen verurteilt sahen -, bei der Herbeiführung besserer Zustände zu helfen. Die meisten von ihnen meinten, was gut genug für sie gewesen, sei auch gut genug für ihre Kinder.
Es schien, als betrachteten sie ihre eigenen Kinder mit einer Art Verachtung als Wesen, die nur dazu taugten heranzuwachsen, um Dienstboten für die Kinder von Leuten wie Rushton und Sweater abzugeben. Man darf jedoch nicht vergessen, dass den Arbeitern schon als Kinder Selbstverachtung beigebracht worden war. In den so genannten „christlichen" Schulen, die sie besucht hatten, waren sie gelehrt worden, sich „Leuten, die höhergestellt waren als sie, demütig und ehrfürchtig zu beugen", und jetzt schickten sie tatsächlich ihre Kinder, nun ihrerseits die gleiche entwürdigende Lektion zu lernen. Sie hatten große Hochachtung vor Leuten, die höher standen als sie, und vor deren Kindern, sehr wenig aber vor ihren eigenen Kindern, voreinander und vor sich selbst.
Deshalb saßen sie dort in ihren Lumpen, nahmen ihr ärmliches Essen zu sich, rissen dabei ihre groben Witze, tranken ihren scheußlichen Tee und waren zufrieden! Solange sie reichlich Arbeit und reichlich zu essen - irgend etwas - und die von jemand anders abgelegten Kleidungsstücke anzuziehen hatten, waren sie zufrieden! Stolz waren sie darauf. Sie prahlten damit. Sie waren der festen Überzeugung, dass die guten Dinge des Lebens nicht für „ihresgleichen" oder ihre Kinder bestimmt seien, und versicherten dies einander immer wieder.
„Was ist 'n aus dem Professor geworden?" fragte der Herr auf dem umgestülpten Eimer in der Ecke und meinte damit Owen, der noch nicht von seiner Arbeit heruntergekommen war.
„Vielleicht bereitet er seine Predigt vor", bemerkte Harlow und lachte.
„In der letzten Zeit haben wir überhaupt keinen Vortrag von ihm gehört, seit er in dem Zimmer da arbeitet", bemerkte Easton. „Stimmt's nicht?"
„Na, ein Segen, Mann!" rief Sawkins. „Mir wird übel, wenn ich ihm zuhöre - immer wieder derselbe Kohl!"
„Armer Frank", sagte Harlow. „Regt sich mächtig über alles auf, was?"
„Wenn er so dumm ist!" sagte Bundy. „Ich werd mich verflucht hüten, mich über so 'nen verdammten Schiet zu Tode zu sorgen, wie der's macht."
„Darum sieht er wohl auch so schlecht aus", bemerkte Harlow. „Heut früh ist mir's 'n paar Mal aufgefallen, wie er immerzu gehustet hat."
„Ich dachte, in der letzten Zeit ging's ihm 'n bisschen besser", sagte Philpot, „er kam mir 'n bisschen fröhlicher und glücklicher vor und mehr dazu aufgelegt, mal 'nen Spaß zu machen."
„'n komischer Kauz ist das, was?" meinte Bundy. „An einem Tag ist er ganz vergnügt, singt, macht Witze und erzählt allerhand Geschichten, und am nächsten kannste kaum 'n Wort aus ihm rausbringen."
„Alberner Quatsch ist das", fiel der Mann auf dem Eimer ein. „Wozu soll 'n das gut sein, wenn sich unsereiner den Kopf über Polletik zerbricht?"
„Oh, der Meinung bin ich nicht", antwortete Harlow. „Wir haben ja 's Wahlrecht, und schließlich sind ja wir die Leute, die über alles, was das Land angeht, zu bestimmen haben, da müssen wir also doch wohl 'n bisschen Interesse dafür aufbringen; aber in all diesem sozialistischen Blödsinn, von dem Owen immer redet, kann ich keinen Sinn finden."
„Kann doch keiner", sagte Crass mit höhnischem Gelächter.
„Selbst wenn sie tatsächlich das ganze lausige Geld auf der Welt gleichmäßig an alle austeilen würden", sagte tiefsinnig der Mann auf dem Eimer, „würde's auch nichts helfen! In sechs Monaten wär alles wieder in denselben Händen wie vorher!"
„Natürlich", meinten alle.
„Aber neulich hatte er doch so 'ne Glanzidee, das Geld wär zu überhaupt nichts gut!" bemerkte Easton. „Wisst ihr nicht mehr, dass er sagte, Geld wär die Hauptursache für die Armut?"
„Es ist auch die Hauptursache der Armut", sagte Owen, der in diesem Augenblick eintrat.
„Hurra!" schrie Philpot und gab den Ton an für ein Beifallsgebrüll, in das die übrigen einstimmten. „Der Professor ist angekommen und wird jetzt 'n paar Bemerkungen reden!"
Ein Sturm der Heiterkeit begrüßte diesen Witz.
„Lasst uns doch, in drei Teufels Namen, erst mal unser Mittag essen", flehte Harlow in gespielter Verzweiflung.
Als Owen sich an seinem gewohnten Platz niederließ, nachdem er seine Tasse mit Tee gefüllt hatte, erhob sich Philpot feierlich, blickte in die Runde und sagte:
„Meine sehr verehrten Herren, sowie der Professor fertig ist mit seinem Mittagbrot, wird er mit Ihrer gütigen Erlaubnis seinen berühmten Vortrag halten, betitelt ,Das Geld als Hauptursache für die Pleite', in dem er beweist, dass Geld niemand nichts nützt. Am Schluss des Vortrags wird 'ne Sammlung durchgeführt, um dem Vortragenden 'ne kleine Unterstützung zukommen zu lassen."
Unter lautem Beifall nahm Philpot seinen Platz wieder ein.
Sobald sie gegessen hatten, begannen einige der Leute Anspielungen auf den Vortrag zu machen; Owen aber lachte nur und las weiter in dem Stück Zeitung, aus dem er sein Mittagbrot gewickelt hatte.
Gewöhnlich gingen die meisten der Leute nach dem Mittagessen spazieren; da es aber heute regnete, waren sie entschlossen, wenn möglich, Owen dahin zu bringen, das von Philpot in seinem Namen gegebene Versprechen einzulösen.
„Pfeifen wir'n doch mal aus", sagte Harlow, und sogleich wurde der Vorschlag in die Tat umgesetzt: Johlen und Pfeifen und Miauen erfüllte den Raum, untermischt mit Rufen wie „Pfui" - „Schummel!" - „Betrüger!" - „Unser Geld zurück!" - „Wir haun alles kurz und klein!" und dergleichen mehr.
„Na los!" rief Philpot und legte Owen die Hand auf die Schulter. „Beweis mal, dass Geld die Ursache für die Armut ist.
„Sagen und Beweisen ist eben zweierlei!" höhnte Crass, der ungeduldig auf eine Gelegenheit wartete, den lange zurückgehaltenen Ausschnitt aus dem „Verdunkler" hervorzuziehen.
„Das Geld ist tatsächlich die wahre Ursache der Armut",
sagte Owen.
„Beweis es doch", wiederholte Crass. „Das Geld ist deshalb die Ursache der Armut, weil es das Mittel ist, mit dessen Hilfe diejenigen, die zur Arbeit zu faul, die Arbeiter der Früchte ihres Fleißes berauben."
„Beweis es", sagte Crass.
Langsam faltete Owen das Stück Zeitung zusammen, in dem er gelesen hatte, und steckte es in die Tasche.
„Na, schön", antwortete er, „ich will euch zeigen, wie der große Geldtrick angewandt wird."
Owen öffnete seinen Essenkorb und nahm zwei Scheiben Brot; da sie aber nicht ausreichten, verlangte er, alle, die noch Brot übrig hatten, möchten es ihm geben. Sie reichten ihm mehrere Schnitten, die er zu einem Haufen auf ein sauberes Stück Papier legte, und nachdem er noch von Easton, Harlow und Philpot die Taschenmesser ausgeborgt hatte, mit denen sie ihr Mittagbrot zu schneiden und zu essen pflegten, hielt er folgende Rede:
„Diese Brotscheiben sind die Rohstoffe, die sich zum Gebrauch der Menschheit von Natur aus auf und in der Erde vorfinden; kein menschliches Wesen hat sie gemacht, sondern sie sind vom Großen Geist zum Wohle und zum Unterhalt aller geschaffen worden ebenso wie die Luft und das Sonnenlicht."
„So 'nen guten Redner hab ich schon lange nicht mehr gehört", sagte Harlow und blinzelte den anderen zu.
„Jawoll, Mann", sagte Philpot. „Damit ist doch jeder einverstanden! Das ist so klar wie Kloßbrühe."
„Jetzt bin ich ein Kapitalist", fuhr Owen fort, „oder vielmehr: ich stelle die Grundbesitzer- und Kapitalistenklasse dar. Das heißt, alle diese Rohstoffe gehören mir. Für unsere gegenwärtige Diskussion spielt es keine Rolle, wie sie in meinen Besitz gelangt sind oder ob ich wirklich ein Anrecht darauf habe; wichtig ist jetzt einzig die zu-
gegebene Tatsache, dass alle Rohstoffe, die zur Produktion der lebensnotwendigen Dinge nötig sind, heute der Grundbesitzer- und Kapitalistenklasse gehören. Ich bin diese Klasse: alle die Rohstoffe hier sind mein Eigentum."
„Lässt sich hören", stimmte Philpot zu.
„Ihr drei stellt nun die Arbeiterklasse vor: ihr habt nichts - und was mich betrifft, obgleich ich alle diese Rohstoffe hier habe, sind sie mir zu nichts nütze; was ich brauche, sind die Dinge, die aus diesen Rohstoffen durch Arbeit hergestellt werden können; da ich aber zu faul bin, selbst zu arbeiten, habe ich den Geldtrick erfunden, um euch für mich arbeiten zu lassen. Zuerst muss ich aber erklären, dass ich außer den Rohstoffen noch etwas anderes besitze. Diese drei Messer hier stellen sämtliche Produktionsinstrumente vor: die Fabriken, Werkzeuge, Eisenbahnen und so weiter, ohne die man die lebensnotwendigen Dinge nicht in großen Mengen herstellen kann. Und diese drei Münzen" - damit nahm er drei halbe Pence aus der Tasche - „stellen mein Barkapital vor.
Doch bevor wir weitergehen", unterbrach sich Owen, „ist es äußerst wichtig, dass ihr euch erinnert: ich bin nicht einfach nur ,ein' Kapitalist. Ich stelle die ganze Kapitalistenklasse vor. Ihr seid nicht einfach nur drei Arbeiter -ihr stellt die ganze Arbeiterklasse vor."
„Schon gut, schon gut", sagte Crass ungeduldig, „das haben wir alle kapiert. Mach schon weiter."
Owen zerschnitt nun eine der Brotscheiben in eine Anzahl kleiner Würfel.
„Dies stellt die Gegenstände vor, die mit Hilfe der Maschinen durch die Arbeit aus den Rohstoffen geschaffen werden. Nehmen wir an, drei von diesen Würfeln stellen das Ergebnis einer Arbeitswoche vor. Und nehmen wir mal an, dass für die Arbeit einer Woche ein Pfund bezahlt wird; nehmen wir weiter an, jeder dieser halben Pence ist ein Goldsovereign. Besser könnten wir den Trick ja ausführen, wenn wir richtige Sovereigns hätten, aber ich habe vergessen, welche mitzubringen."
„Ich würd dir ja 'n paar leihen", sagte Philpot bedauernd, „aber ich hab mein Portjuchhe zu Haus auf dem Flügel liegenlassen."
Da durch einen merkwürdigen Zufall gerade niemand Goldstücke bei sich hatte, wurde beschlossen, mit den Halbpennystücken vorliebzunehmen.
„Der Trick wird also auf folgende Weise angewandt..." „Eh du weitermachst", unterbrach Philpot besorgt „glaubste nicht, wir stellen lieber jemand als Wache ans Tor, falls 'n Bulle kommt? Wir wolln schließlich nicht eingelocht werden, weißte."
„Ich glaube nicht, dass es nötig ist", antwortete Owen „es gibt nur einen Polizisten, der uns dabei stören würde dieses Spiel zu spielen, und das ist Wachtmeister Sozialismus."
„Lass man 'n Sozialismus beiseite", sagte Crass gereizt. „Mach weiter mit dem verdammten Trick."
Owen wandte sich nun an die Arbeiterklasse, dargestellt von Philpot, Harlow und Easton.
„Ihr sagt, ihr alle braucht Beschäftigung, und da ich die gutherzige Kapitalistenklasse bin, werde ich mein gesamtes Geld in verschiedene Industrien investieren, damit ihr reichlich Arbeit habt. Jedem von euch zahle ich ein Pfund die Woche, und die Arbeit für eine Woche ist: ihr müsst jeder drei von diesen Würfeln produzieren. Dafür, dass ihr diese Arbeit macht, bekommt ihr euren Lohn; das Geld gehört euch, und ihr könnt damit tun, was ihr wollt; die Dinge, die ihr produziert, gehören natürlich mir, und ich kann damit tun, was ich will. Jeder von euch nimmt nun eine dieser Maschinen, und sobald ihr die Arbeit einer Woche geleistet habt, bekommt ihr euer Geld."
Die Arbeiterklasse machte sich also ans Werk, und die Kapitalistenklasse setzte sich hin und sah zu. Sobald die drei fertig waren, reichten sie Owen die neun kleinen Würfel; er legte diese auf ein Stück Papier neben sich und zahlte den Arbeitern ihren Lohn aus.
„Diese Würfel hier stellen die lebensnotwendigen Dinge vor. Ohne einige davon zu haben, könnt ihr nicht leben, aber da sie mir gehören, müsst ihr sie mir abkaufen; der Preis, den ich für diese Würfel verlange, ist ein Pfund das Stück."
Da die Arbeiterklasse die lebensnotwendigen Dinge brauchte und das nutzlose Geld weder essen, trinken noch sich darin kleiden konnte, war sie gezwungen, auf die Bedingungen der freundlichen Kapitalistenklasse einzugehen. Jeder der Arbeiter kaufte ein Drittel seines Arbeitsproduktes zurück und verzehrte es sogleich. Die Kapitalistenklasse verschlang ebenfalls zwei Würfel, und das Nettoergebnis der Arbeitswoche war also, dass der gutherzige Kapitalist einen zwei Pfund werten Teil der Waren verzehrt hatte, welche die Arbeit der anderen geschaffen hatte, und berechnete man die Würfel zu ihrem Marktpreis von einem Pfund das Stück, so hatte er sein Kapital mehr als verdoppelt, denn er besaß noch immer seine drei Pfund in Bargeld und dazu noch Waren im Werte von vier Pfund. Was die Arbeiterklasse betraf, Philpot, Harlow und Easton, so war sie, nachdem die lebensnotwendigen Dinge im Werte von einem Pfund, die sie mit ihrem Lohn gekauft hatte, verzehrt waren, wieder in genau der gleichen Lage wie zu Beginn ihrer Arbeit - sie hatte nichts.
Dieser Prozess wurde mehrmals wiederholt: für die Arbeit jeder Woche erhielten die Produzenten ihren Lohn ausgezahlt. Sie fuhren fort zu arbeiten und ihren gesamten Verdienst auszugeben. Der gutherzige Kapitalist verzehrte doppelt soviel wie jeder von ihnen, und der Berg seiner Reichtümer wuchs ständig. Nach einem kleinen Weilchen besaß er - die kleinen Würfel zu ihrem Marktpreis von einem Pfund das Stück gerechnet - ein Vermögen von etwa hundert Pfund, und die Arbeiterklasse befand sich noch in der gleichen Lage wie zu Beginn und legte sich noch immer ins Zeug, als hinge ihr Leben davon ab.
Nach einer Weile begannen die übrigen zu lachen, und ihre Belustigung steigerte sich noch, als der gutherzige Kapitalist, gerade nachdem er jedem seiner drei Arbeiter für ein Pfund lebensnotwendige Dinge verkauft hatte, ihnen plötzlich ihr Werkzeug wegnahm - die Produktionsinstrumente: die Messer - und ihnen mitteilte, infolge der Überproduktion seien alle seine Warenhäuser mit lebensnotwendigen Dingen voll gestopft, und er habe beschlossen, das Werk stillzulegen.
»Ja, was zum Teufel soll'n wir 'n jetzt machen?" fragte Philpot.
„Das geht mich nichts an", antwortete der gutherzige Kapitalist. „Ich hab euch euren Lohn gezahlt und euch lange Zeit hindurch reichlich mit Arbeit versorgt. Gegenwärtig habe ich keine mehr für euch. Kommt in ein paar Monaten wieder mal vorbei, dann werde ich sehen, was sich machen lässt."
„Aber wie steht's mit den lebensnotwendigen Dingen?" fragte Harlow. „Wir müssen doch was zu essen haben."
„Natürlich müsst ihr das", antwortete liebenswürdig der Kapitalist, „und ich will euch sehr gern etwas verkaufen."
„Aber, verflucht noch mal, wir haben doch kein Geld!"
„Nun, ihr könnt doch nicht von mir verlangen, dass ich euch meine Waren umsonst gebe! Ihr habt doch auch nicht umsonst für mich gearbeitet. Ich habe euch für eure Arbeit bezahlt, und ihr hättet etwas sparen sollen, ihr hättet haushalten sollen wie ich. Seht nur, wie ich vorangekommen bin, weil ich sparsam war!"
Verdutzt sahen die Arbeitslosen einander an, aber die übrigen lachten nur, und nun begannen die drei Arbeitslosen den gutherzigen Kapitalisten zu beschimpfen und verlangten, er solle ihnen einige von den lebensnotwendigen Dingen geben, die er in seinem Warenhaus aufgestapelt hatte, oder aber sie arbeiten und für ihre eigenen Bedürfnisse weiterproduzieren lassen; sie drohten sogar, sich mit Gewalt etwas zu nehmen, wenn er ihre Forderungen nicht erfülle. Doch der gutherzige Kapitalist meinte, sie sollten nicht unverschämt werden, und redete über Ehrlichkeit; er sagte, wenn sie sich nicht in acht nähmen, werde er ihnen durch die Polizei die Köpfe einschlagen lassen oder, wenn nötig, das Militär rufen und sie wie Hunde niederschießen lassen, genau wie er es bereits in Featherstone und Belfast getan habe.
„Freilich", fuhr der gutherzige Kapitalist fort, „wenn die ausländische Konkurrenz nicht wäre, könnte ich all die Dinge verkaufen, die ihr hergestellt habt, und dann wäre ich in der Lage, euch wieder reichlich Arbeit zu geben - aber bis ich sie an irgend jemand verkauft oder selbst aufgebraucht habe, werdet ihr feiern müssen."
„Ja, das ist doch wirklich die Höhe, Himmeldonnerwetter noch mal", sagte Harlow.
„Soweit ich sehe", sagte Philpot trauernd, „ist das einzige, was da zu tun ist, 'ne Arbeitslosendemonstration abhalten."
„Das ist 'ne Idee", meinte Harlow, und die drei begannen im Gänsemarsch rings um die Küche zu stapfen und zu singen:

„Wir haben nichts zu tu-u-un!
Wir haben nichts zu tu-u-un!
Nur weil wir zuviel geschuftet haben,
haben wir jetzt nichts zu tu-u-un!"

Während sie im Kreis herummarschierten, verhöhnte sie die Zuschauermenge und machte beleidigende Bemerkungen. Crass sagte, jeder könne sehen, dass sie ein Haufen fauler, versoffener Nichtstuer seien, die in ihrem Leben noch nicht richtig gearbeitet und auch gar keine Absicht hätten, das jemals zu tun.
„Auf die Weise wer'n wir nie was bekommen, wisst ihr", sagte Philpot. „Versuchen wir's mal auf die religiöse Masche."
„Na, gut", stimmte Harlow zu, „was woll'n wir ihnen denn vorsetzen?"
„Ich weiß!" rief Philpot, nachdem er einen Augenblick lang überlegt hatte. „,Lass mein Lichtlein brennen.' Das bringt sie immer dazu, was rauszurücken."
Die drei Arbeitslosen nahmen also ihren Marsch um die Küche wieder auf und sangen wehleidig, das übliche Jammern der Straßensänger nachahmend:

„O Brüder, euer Lichtlein putzet,
denn draußen in des Sturmes To-o-sen
vielleicht in schlimmer Seenot nu-u-tzet
es einem einsamen Matrosen,
der nach dem Hafen strebt verzwei-ei-felt.
Darum, ach, lasst mein Lichtlein brennen
und senden übers Meer den Schein,
denn einem schiffbrüchigen Seemann
es Trost und Rettung wohl mag sein."

„Werte Freunde", sagte Philpot, nahm die Mütze ab und wandte sich an die Anwesenden, „wir sind lauter ehrliche britische Arbeiter, aber von wegen der ausländischen Konkurrenz und der Überproduktion haben wir die letzten zwanzig Jahre keine Arbeit nicht gehabt. Wir kommen nicht deswegen hier raus, weil wir etwa zu faul zum Arbeiten sind, sondern weil wir keine Arbeit nicht kriegen können. Wenn die ausländische Konkurrenz nicht wär, könnten die gutherzigen englischen Kapitalisten ihre Waren verkaufen und uns reichlich Arbeit geben, und wenn sie das könnten, so versichere ich euch, würden wir alle froh und glücklich sein und uns für das Wohl unsrer Herren bis ans Ende unsrer Tage die Finger blutig schuften. Wir sind durchaus bereit zu arbeiten, weiter wolln wir ja nichts - bloß reichlich Arbeit; aber weil wir sie nicht kriegen können, sind wir gezwungen, hier rauszukommen und euch zu bitten, für 'nen Kanten Brot und 'n Nachtquartier 'n paar Kupfermünzen zu spenden."
Als Philpot seine Mütze nach milden Gaben ausstreckte, versuchten einige hineinzuspucken, aber die mitleidigeren unter den Zuschauern legten nur Schlackestückchen oder Schmutz vom Fußboden hinein, und der gutherzige Kapitalist war vom Anblick ihres Elends so ergriffen, dass er ihnen einen der Goldsovereigns aus seiner Tasche schenkte; da der ihnen aber nichts nützte, tauschten sie die Münze gegen einen kleinen Würfel der lebensnotwendigen Dinge sogleich wieder bei ihm ein, teilten den Würfel unter sich und verschlangen ihn gierig. Und als sie fertig gegessen hatten, versammelten sie sich um ihren Wohltäter und sangen „Hoch soll er leben", und danach schlug Harlow vor, ihn zu fragen, ob sie ihn nicht ins Parlament wählen dürften.

 

22. Kapitel Der Phrenologe

Am nächsten Morgen - einem Sonnabend - gingen die Leute in finsterem Schweigen ihrer Arbeit nach; sie machten kaum einen Versuch, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, und weder Scherze noch Lieder waren zu hören. Die Angst vor dem bevorstehenden „Gemetzel" lastete
auf dem Haus. Selbst diejenigen, die darauf vertrauten, man werde sie verschonen und bis zum Ende der Arbeit dort behalten, teilten die allgemeine Niedergeschlagenheit, nicht nur aus Mitgefühl für die Verurteilten, sondern auch, weil sie wussten, dass ihnen ein wenig später ein ähnliches Schicksal bevorstand.
Ängstlich warteten alle auf Nimrods Erscheinen, doch schleppend verging Stunde um Stunde, ohne dass er kam. Um halb zwölf begannen einige von denen, die überzeugt waren, sie werden „aussetzen" müssen, zu hoffen, die „Metzelei" sei um einige Tage verschoben worden -schließlich gab es ja noch immer eine Menge zu tun; selbst wenn alle blieben, war die Arbeit kaum in einer Woche zu schaffen. Auf jeden Fall konnte es jetzt nicht mehr lange dauern, bis sie Klarheit erhielten - so oder so. Kam er bis zwölf Uhr nicht, so war alles in Ordnung, denn sämtliche Arbeiter erhielten Stundenlohn und hatten Anspruch auf einstündige Kündigung.
Easton und Harlow arbeiteten zusammen im Treppenhaus und lackierten die Türen und übrigen Holzteile mit weißer Emaillefarbe über. Die Leute hatten nicht genügend Zeit erhalten, diese Arbeit richtig vorzubereiten; weder war die Farbe glattgerieben, noch waren die Löcher richtig ausgefüllt worden, sie hatten auch nicht oft genug streichen können, damit eine glatte, weiße Fläche entstand. Als jetzt die glänzende Lackfarbe aufgetragen wurde, sah die Arbeit recht rau und fleckig aus.
„Großartig ist's geworden, was, Mann?" bemerkte Harlow ironisch und deutete auf die Tür, die er gerade fertiggestrichen hatte.
Easton lachte. „Ich kann nicht verstehen, wie Leute so 'ne Arbeit abnehmen", sagte er.
„Der olle Sweater hat neulich tatsächlich 'ne Bemerkung drüber gemacht", antwortete Harlow, „und ich hab gehört, wie Elend ihm erzählte, 's wär unmöglich, aus solch alten Türen was Vernünftiges zu machen."
„Ich glaub, der Mann ist der größte Lügner, den Gott je geschaffen hat!" sagte Easton, und dieser Meinung stimmte Harlow von Herzen zu.
„Wie spät mag's wohl sein?" fragte er nach einer Pause.
„Ich weiß nicht genau", antwortete Easton, „aber 's muss bald zwölf sein."
„Er scheint noch nicht zu kommen, was?" fuhr Harlow fort.
„Nein, und mich würd's nicht wundern, wenn er jetzt überhaupt nicht käme. Vielleicht will er heute doch keinen entlassen."
Sie sprachen flüsternd und blickten sich vorsichtig um, denn sie fürchteten, gehört oder gesehen zu werden.
„'n elendes Leben, was?" sagte Harlow bitter. „Da schuften wir uns für andre Leute kaputt, und sobald sie mit dir fertig sind, schmeißen sie dich weg wie 'nen dreckigen Lappen."
„Ja, und ich glaube langsam, 'ne Menge von dem, was Owen sagt, ist wahr. Aber ich, für meinen Teil, weiß nicht, wie man's jemals ändern könnte; du etwa?"
„Weiß der Kuckuck, Mann. Aber ob man's ändern kann oder nicht - eins ist mal sicher: zu unseren Lebzeiten wird's nicht geändert."
Keiner von ihnen schien zu glauben, sie müssten selbst etwas dazu beitragen, damit die „Veränderung", von der sie sprachen, stattfinde, wenn sie überhaupt jemals durchgeführt werden sollte.
„Ich frag mich, was sie woll mit den Jalousien machen?" sagte Easton. „Ist schon irgend jemand dabei?"
„Weiß nicht; hab nichts mehr davon gehört, seit der Junge sie in 'n Laden gebracht hat."
Diese Jalousien waren geradezu geheimnisumwoben. Wohl vor einem Monat waren sie in den Farbenschuppen unten auf dem Gerätehof gebracht worden, um neuangestrichen und -aufgezogen zu werden, und seitdem hatten die Leute, die in der „Höhle" arbeiteten, nichts mehr darüber gehört.
„Vielleicht schicken sie nächste Woche 'n paar von uns runter, um sie zu machen", bemerkte Harlow.
„Vielleicht. Vermutlich müssen die verdammten Dinger dann im letzten Moment in 'ner lausigen Hetze gemacht wer’n.
Bald darauf ging Harlow - der unbedingt wissen
wollte, wie spät es war - hinauf, um Slyme danach zu fragen. Es war zwanzig Minuten vor zwölf.
Vom Fenster des Zimmers, in dem Slyme tapezierte, konnte man in den Vorgarten blicken. Harlow blieb einen Augenblick dort stehen, um Bundy und die Hilfsarbeiter zu beobachten, die noch immer in den Gräben an den Rohren arbeiteten, und während er hinausblickte, sah er Hunter zum Haus kommen. Hastig zog sich Harlow zurück, ging wieder an die Arbeit und gab dabei die Warnung von Elends Ankunft an die anderen weiter.
Elend betrat das Haus auf seine gewohnte Weise, und nachdem er zehn Minuten lang darin umhergeschlichen war, trat er in den Salon.
„Sie sind ja endlich dabei, die letzte Hand anzulegen, wie ich sehe", sagte er.
„Ja", erwiderte Owen. „Ich brauche jetzt nur noch ein paar Umrandungen zu machen."
„Na, 's sieht natürlich sehr hübsch aus", sagte Elend in betrübtem Ton, „aber wir haben Geld dabei verloren. Sie haben 'ne Woche länger gebraucht, als wir veranschlagt hatten. Sie sagten, drei Wochen, aber 'nen Monat haben Sie gebraucht, und fünfzehn Hefte Blattgold haben wir bloß gerechnet, und Sie haben einfach dreiundzwanzig genommen."
„Daraus können Sie mir wohl kaum einen Vorwurf machen, wissen Sie", antwortete Owen. „Ich hätte es ja in den drei Wochen schaffen können, aber Mr. Rushton sagte, ich solle mich wegen ein, zwei Tagen nicht hetzen, weil er eine gute Arbeit haben wollte. Er sagte, lieber wolle er ein bisschen dabei verlieren als es verderben, und was das Extragold betrifft, so hat er auch das angeordnet."
„Nun, 's wird wohl nicht zu ändern sein", jammerte Elend. „Auf jeden Fall, ich bin sehr froh, dass es fertig ist, denn bezahlt macht sich die Sorte Arbeit nicht. Am Montagmorgen nehmen Sie wieder die Bürste zur Hand; wenn's Wetter schön bleibt, wolln wir nächste Woche mit der Außenseite fertig wer'n."
Die von Nimrod erwähnte „Bürste" war die große Anstreicherbürste, die für gewöhnliche Malerarbeit benutzt wurde.
Jetzt begann Elend im Hause umherzuwandern, hinein in die Zimmer und wieder heraus; zuweilen stand er mehrere Minuten schweigend da und sah den Arbeitern bei ihrer Tätigkeit zu. Unter seiner Beobachtung wurden die Leute nervös und ungeschickt, denn jeder befürchtete einer von denen zu sein, die um ein Uhr entlassen werden sollten.
Gegen fünf Minuten vor zwölf ging Hunter in die Malerwerkstatt - die Spülkammer - hinunter, wo Crass Farben mischte und Farbtöpfe zurechtstellte, die zur Werkstatt gebracht werden sollten.
„Ich nehme an, der Kerl ist runtergegangen, weil er Crass fragen will, wer von uns ihnen am wenigsten nützt", flüsterte Harlow Easton zu.
„Würde mich nicht wundern, wenn wir zwei 's wären", antwortete dieser in der gleichen Tonlage. „Crass kannste nicht trauen, weißte, wenn er auch ins Gesicht noch so freundlich tut. Du kannst nie wissen, was er hinter unserm Rücken sagt."
„Kannste Gift drauf nehmen, dass es nicht Sawkins oder einer von den anderen ,Fliegengewichtlern' sein wird, denn Nimrod wird uns nicht sechseinhalb Pence für das Anstreichen von Dachrinnen und Regenrohren zahlen wollen, wenn dies auch einigermaßen für viereinhalb oder fünf Pence machen können. Aber die Schieberahmen von den Fenstern können sie nicht machen, was?"
„Da bin ich nicht so sicher", antwortete Easton; beide schwiegen wieder und beschäftigten sich mit ihrer Arbeit. Elend stand eine Weile da und beobachtete sie, ohne etwas zu sagen; dann verließ er das Haus. Vorsichtig schlichen sie in ein Zimmer, von dem man in den Garten blicken konnte, und als sie heimlich zum Fenster hinausspähten, sahen sie ihn am Rande eines der Gräben stehen und verdrießlich Bundy mit seinen Gehilfen beobachten, die sich mit den Rohren abquälten. Zu ihrer Überraschung und Erleichterung machte er dann kehrt und ging zum Tor hinaus! Sie sahen gerade noch sein Hinterrad, während er davonfuhr.
Das „Gemetzel" sollte offenbar bis zur nächsten Woche verschoben werden! Es schien zu gut, um wahr zu sein.
„Vielleicht hat er für jemand von uns 'ne Botschaft bei Crass hinterlassen?" gab Easton zu bedenken. „Wahrscheinlich ist's ja woll nicht, aber möglich ist's immerhin."
„Also, ich geh runter und frag ihn", sagte Harlow kurz entschlossen. „Besser, man erfährt das Schlimmste gleich." Einige Minuten später kehrte er mit der Nachricht zurück, Hunter habe beschlossen, heute niemand zu entlassen, weil die Fassade des Hauses möglichst im Laufe der nächsten Woche fertig werden sollte.
Diese Botschaft nahmen die Arbeiter mit gemischten Gefühlen auf; zwar verhieß sie ihnen für den Augenblick Sicherheit, doch das bedeutete, dass fast alle am nächsten Sonnabend - wenn nicht schon vorher - bestimmt entlassen würden. Hätten dagegen heute einige ihre Kündigung erhalten, so wäre das für die übrigen um so besser gewesen. Doch diese Seite der Angelegenheit beeinträchtigte nur wenig die große Erleichterung, die jeder von ihnen in dem Bewusstsein empfand, dass die unmittelbare Gefahr vorüber war, und die Tatsache, dass heute Sonnabend - Zahltag -war, trug gleichfalls dazu bei, ihren gesunkenen Lebensmut wieder aufzurichten. Alle waren ganz sicher, dass Elend an diesem Tage nicht mehr wiederkehren werde; nun stimmte Harlow ihr altes Lieblingslied an:
„Schaffet, denn es kommt die Nacht!", und bald nahmen fast alle im Hause den Refrain auf:

„Schaffet! Denn es kommt die Nacht,
Schaffet in den Morgenstunden.
Schaffet, denn es kommt die Nacht,
Schaffet, da noch Blumen blühn!
Schaffet, da noch Tau erglänzt,
Schaffet in der Mittagssonne!
Schaffet! Denn es kommt die Nacht,
Dann ist des Menschen Werk getan!"

Als dieser Choral beendet war, stimmte jemand das Lied an: „Wo irret wohl heute mein Junge umher?" und ahmte dabei den plärrenden Ton eines Straßensängers nach, worauf Harlow - der durch einen merkwürdigen Zufall einen Penny in der Tasche hatte - diesen herauszog und ihn auf den Boden fallen ließ. Das Geklimper der Münze wurde
von mehreren der Sänger mit einem „Danke schön, gute Frau" quittiert. Diese kleine Geste Harlows brachte eine höchst erstaunliche Tatsache ans Licht. Obwohl es Sonnabend morgen war, besaßen mehrere der übrigen noch Pennies und halbe Pence! Nach dem Ende jedes Verses folgten alle Harlows Beispiel, und das Haus erschallte vom Klingen der aufprallenden Münzen und von den Rufen „Danke schön, gute Frau", „Danke sehr, mein Herr" und „Gott segne Sie", untermischt mit Lachsalven.
Auf den „irrenden Jungen" folgte eine Sonderauswahl von Refrains bekannter Tingeltangelschlager, einschließlich „Leb wohl, mein Glockenblümchen", „Das Geißblatt und die Biene", „Ich hab sie" und „Der Kirchenfestzug", das Ganze abwechslungsreich gestaltet und geschmackvoll untermischt mit Geheul, Gejohle, Gefluche, Gepfeife und ganz ungeniertem Gefurze.
Inmitten dieses Lärms kam Crass nach oben. „He!" schrie er. „Um Himmels willen, macht doch nicht so 'nen Radau! Wenn Nimrod nu zurückkommt!"
„Ach, der kommt heut nicht mehr", sagte Harlow unbekümmert.
„Und wenn er schon kommt!" rief Easton. „Wen schert 'n das?"
„Nu, das kann man nie wissen, und schließlich können Rushton oder Sweater auch jede Minute aufkreuzen."
Mit diesen Worten ging Crass brummend in die Spülkammer zurück, und die Leute verfielen wieder in ihr gewohntes Schweigen.
Zehn Minuten vor eins hörten alle auf zu arbeiten, stellten ihre Farben weg und schlossen das Haus ab. Eine Reihe leere Farbtöpfe musste auf dem Weg zum Büro in die Werkstatt mitgenommen werden; Crass verteilte sie unter die anderen - er selbst trug nichts -, und dann machten sich alle unter Spaßen zum Büro auf, um ihr Geld abzuholen. Harlow und Easton belebten die Reise, indem sie vielsagend husteten, sobald sie einer jungen Frau begegneten, und laut irgendeine schmeichelhafte Bemerkung über ihr Aussehen machten. Lächelte das Mädchen, so behauptete jeder von ihnen voller Eifer, er habe es zuerst gesehen, schien es aber beleidigt oder hochnäsig zu sein, so meinten sie, es sei bestimmt mit dem verkehrten Bein zuerst aufgestanden oder es habe Essigwasser getrunken. Ab und zu warfen sie den Hausmädchen, die sie aus den Fenstern blicken sahen, zärtliche Kusshände zu. Einige der Mädchen lachten, andere sahen entrüstet aus; aber wie sie es auch aufnahmen, immer war es gleichermaßen belustigend für Crass und die übrigen, die einer Horde Jungen nach Schulschluss glichen.
Der Leser wird sich erinnern, dass eine Hintertür zu Rushtons Büro führte; in dieser war ein Schiebefenster mit einem kleinen Querbrett darunter angebracht. Die Arbeiter standen auf der Straße vor der geschlossenen Tür, und durch das Schiebefenster wurde ihnen das Geld herausgereicht. Da es dort kein Schutzdach gab, wurden sie zuweilen, wenn es regnete, völlig durchnässt, während sie auf ihre Bezahlung warteten. Bei manchen Firmen ist es Sitte, die Leute aufzurufen und ihnen in der Reihenfolge der Beschäftigungsdauer oder der Qualifikation ihren Lohn auszuzahlen. Hier gab es indessen kein solches System; der Mann, der zuerst an die Türöffnung gelangte, erhielt als erster sein Geld, und so weiter. Das Ergebnis war, dass es hier stets einen „Kampf ums Dasein" in Miniaturausgabe gab; denn die Leute stießen und drängten einander, als hinge ihr Leben davon ab, dass sie bis zu einer bestimmten Zeit ihr Geld erhielten.
Auf dem Brett unter dem kleinen Schiebefenster, durch das ihnen ihr Geld gereicht wurde, stand stets eine Sammelbüchse für das Hospital. In diese steckte jeder der Leute einen oder zwei Pennies. Natürlich bestand hierzu kein Zwang, doch alle taten es, denn sie meinten, jeder, der verabsäumte, einen Beitrag zu geben, komme „auf die schwarze Liste". Aus verschiedenen Gründen waren nicht alle mit der Spendenzahlung für das Hospital einverstanden. Sie wussten, dass die Ärzte dort die Patienten, die umsonst behandelt wurden, als Versuchsobjekte zu benutzen pflegten, und sie wussten auch, dass die Patienten, die angeblich „umsonst" behandelt wurden und in so großem Maße direkt zum Unterhalt derartiger Institutionen beitragen, wenig Aufmerksamkeit genießen, wenn sie „Gratisbehandlung" beantragen, und dass man ihnen sehr deutlich zu verstehen gibt, sie erhielten ein „Almosen". Einige der Leute waren der Ansicht, da sie in beträchtlichem Maße Beiträge zusteuerten, hätten sie auch ein Recht auf aufmerksame Behandlung.
Nachdem sie ihren Lohn erhalten hatten, begaben sich Crass, Easton, Bundy, Philpot, Harlow und einige andere in die „Cricketers", um ein Glas Bier zu trinken. Owen ging allein weiter, ebenso auch Slyme. Es hatte keinen Zweck zu warten, bis Easton wieder aus dem Wirtshaus kam denn wann das sein werde, war nicht abzusehen; er mochte eine halbe Stunde dort bleiben oder auch zwei Stunden.
Auf dem Heimweg ging Slyme, wie er das gewöhnlich tat, beim Postbüro vorbei, um einen Teil seines Lohnes bei der Sparkasse einzuzahlen. Wie die meisten anderen „Christen" auch, hielt er viel davon, an den morgigen Tag zu denken: was er essen und trinken und womit er sich bekleiden sollte. Er hielt es für weise, so viele irdische Schätze wie nur irgend möglich zusammenzutragen. Dass Jesus gesagt hatte, seine Anhänger sollten dies nicht tun, änderte nicht mehr an Slymes Verhalten als an dem aller übrigen „Christen". Sie alle sind der Meinung, Jesus habe mit diesem Ausspruch etwas anderes gemeint, und mit sämtlichen übrigen unbequemen Dingen, die Er gesagt hat, verfahren sie ebenso. Zum Beispiel versichern uns diese „Jünger" mit Seinen Worten: „Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern, so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar", habe Jesus in Wirklichkeit gemeint: „Richte ein Maschinengewehr auf ihn; stoß ihm das Bajonett in die Gedärme, oder schlag ihm mit dem Gewehrkolben den Schädel ein!" Als Er sagte: „Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel", so ist, nach Ansicht der „Christen", was Er in Wirklichkeit meinte: „Und so jemand deinen Rock nimmt, gib ihm sechs Monate Zwangsarbeit." Einige der Anhänger Jesu geben zu, Er habe wirklich eben das gemeint, was Er gesagt hat; aber sie erklären, die Welt könne niemals fortbestehen, wenn sie Seine Lehre befolgten! Das stimmt. Wahrscheinlich ist gerade dies die Wirkung, die Jesus durch seine Lehren hervorrufen wollte. Es ist völlig unwahrscheinlich, dass er wünschte, die Welt solle auf die gegenwärtige Weise fortbestehen. Wenn diese angeblichen Anhänger aber wirklich glauben - wie sie es behaupten -, die Lehre Jesu sei lächerlich und undurchführbar, weshalb setzen sie dann die scheinheilige Farce fort, sich „Christen" zu nennen, wo sie doch in Wirklichkeit überhaupt nicht an Ihn glauben und Ihm nicht folgen?
Wie Jesus selbst erklärte, hat es keinen Sinn, Ihn „Herr, Herr" zu nennen, wenn man nicht tut, was Er gesagt hat.
Nachdem Slyme die Angelegenheit auf der Kasse erledigt hatte, setzte er den Heimweg fort und unterbrach ihn nur, um bei einem Süßwarenhändler einige Bonbons zu kaufen. In diesem Laden gab er sechs Pence auf einmal für ein Glas Bonbons aus, um sie dem Baby mitzubringen.
Ruth war nicht überrascht, als sie ihn allein kommen sah; das war üblich, seit Easton mit Crass so befreundet war. Sie sagte nichts über Eastons Ausbleiben; doch mit geheimem Verdruss bemerkte Slyme, dass es sie ärgerte und enttäuschte. Sie war eben dabei, den Küchenfußboden fertigzuscheuern, und der kleine Freddie saß auf einem hohen Kinderstuhl mit einem kleinen Tablett oder Tisch davor. Um ihn zu beschäftigen, während sie arbeitete, hatte Ruth ihm eine Scheibe Brot mit Himbeermarmelade gegeben, die sich das Kind über das ganze Gesicht und auf die Kopfhaut geschmiert hatte; offenbar hielt es sie für ein Mittel zur Verbesserung des Teints oder gegen Kahlköpfigkeit. Es sah jetzt aus, als käme es aus einer Schlacht oder von einem Eisenbahnunglück. Der Kleine begrüßte Slymes Ankunft mit Begeisterung und war so aufgeregt, dass er Tränen vergoss; er beruhigte sich erst, als ihm der Mann das Glas mit den Süßigkeiten gab und ihn aus dem Stuhl hob.
Slymes Anwesenheit im Hause hatte sich als nicht so lästig erwiesen, wie Easton und Ruth befürchtet hatten. Anfangs hatte er sogar sehr darauf geachtet, jeden Abend nach dem Tee in sein Zimmer hinaufzugehen, bis sie ihn einluden, unten in der Küche zu bleiben. Fast jeden Mittwoch und Sonnabend besuchte er eine Versammlung oder, wenn das Wetter es erlaubte, einen Gottesdienst im Freien;
denn er gehörte zu einer kleinen Gruppe eifriger Menschen, die mit der Kapelle „Das strahlende Licht" verbunden waren und das ganze Jahr über ihre Andachten unter freiem Himmel abhielten. Nach einiger Zeit söhnten sich die Eastons mit Slymes Anwesenheit im Haus nicht nur aus, sondern sie waren sogar froh darüber. Ruth besonders hätte sich ohne ihn häufig sehr einsam gefühlt, denn in letzter Zeit hatte sich Easton angewöhnt, jede Woche einige Abende mit Crass in den „Cricketers" zu verbringen.
War Slyme zu Hause, so vertrieb er sich die Zeit, indem er Mandoline spielte oder mit der Laubsäge Photorahmen anfertigte. Einige Wochen, nachdem Slyme gekommen war, hatte Ruth das Baby photographieren lassen, und der Rahmen, den er für das Bild gemacht hatte, war jetzt eine Zierde der „guten Stube". Die instinktive, gedankenlose Abneigung, die Ruth anfänglich gegen ihn empfunden hatte, war vergangen. Auf eine ruhige, unauffällige Weise erwies er ihr so viele kleine Dienste, dass es ihr unmöglich war, ihn länger unsympathisch zu finden. Zuerst redete sie ihn mit „Herr" an; nach einer Weile aber nahm auch sie Eastons Gewohnheit an, ihn beim Vornamen zu nennen.
Was den Kleinen betraf, so machte er schon gar kein Geheimnis aus seiner Liebe zu dem Mieter, der ihn verhätschelte und stundenlang mit ihm spielte.
„Ich werd dir jetzt dein Mittagbrot auftragen, Alf", sagte Ruth, als sie den Fußboden fertiggescheuert hatte. „Aber mit meinem wart ich noch 'n bisschen. Vielleicht kommt Will."
„Ich hab's nicht eilig", antwortete Slyme. „Ich geh und wasch mich; vielleicht ist er bis dahin hier."
Während Slyme sprach - er hatte am Feuer gesessen und das Kind auf dem Arm gehalten, welches versuchte, das Glas mit den Süßigkeiten zu verschlucken -, setzte er den Kleinen in sein Stühlchen zurück und gab ihm eine Lutschstange aus dem Glas, damit er ruhig war; dann ging er in sein Zimmer hinauf. Nach ungefähr einer Viertelstunde kam er wieder herunter, und Ruth setzte ihm sein Essen vor, denn Easton war noch immer nicht gekommen.
„Ich an deiner Stelle würde nicht auf Will warten ! sagte Slyme, „vielleicht dauert's noch ein bis zwei Stunden,
bis er kommt. Jetzt ist's schon zwei Uhr durch, und bestimmt hast du Hunger."
„Nun, eigentlich könnt ich vielleicht auch jetzt essen", antwortete Ruth zögernd. „Wahrscheinlich isst er 'n Käsebrot in den .Cricketers', so wie letzten Sonnabend."
„Bestimmt", antwortete Slyme.
Während er oben war, wusch sie dem Kind das Gesicht. Sobald es seine Mutter essen sah, warf es die Lutschstange fort, begann zu schreien und streckte die Ärmchen nach ihr aus. Sie musste es auf den Schoß nehmen und mit Bröckchen von ihrem Teller füttern.
Slyme redete die ganze Zeit, hauptsächlich über das Kind. Er habe Kinder gern, sagte er, und käme immer gut mit ihnen aus, aber ein so intelligentes Kind wie Freddie habe er wirklich in dem Alter noch nicht kennen gelernt. Seine Arbeitskollegen hätten sich sehr gewundert, wären sie dort gewesen und hätten sie ihn über die Kopfform des Kindes sprechen hören. Die umfangreichen Kenntnisse, die er auf dem Gebiete der Phrenologie zu besitzen schien, hätten sie in Erstaunen versetzt. Jedenfalls dachte Ruth, er sei mächtig klug.
Nach einer Weile wurde das Kind unruhig und wollte nicht mehr essen; als seine Mutter ihm ein neues Stück Zuckerstange aus dem Glas gab, warf es diese verdrießlich auf den Boden und begann zu jammern, das Gesicht gegen die Brust der Mutter zu reiben und mit den Händen an ihrem Kleid zu zerren. Anfänglich zog sich Ruth immer aus dem Zimmer zurück, war Slyme gerade zugegen, wenn sie dem Kind die Brust geben wollte; in letzter Zeit war sie jedoch weniger empfindlich. Sie saß mit dem Rücken zum Fenster und bedeckte das Gesicht des Säuglings teilweise mit einem leichten Tuch, das sie trug. Als sie ihre Mahlzeit beendet hatten, war das Kind eingeschlummert. Slyme stand von seinem Stuhl auf, stellte sich mit dem Rücken gegen das Feuer und blickte auf sie nieder, dann sagte er, natürlich in Bezug auf das Baby:
„Er sieht dir mächtig ähnlich, nicht?"
„Ja", erwiderte Ruth. „Alle sagen, er kommt nach mir."
Slyme trat ein wenig näher und beugte sich hinab, um das schlummernde Kind zu betrachten.
„Weißt du, zuerst hab ich geglaubt, es ist 'n Mädchen", fuhr er nach einer Pause fort. „Für 'nen Jungen ist er beinah zu hübsch, nicht?"
Ruth lächelte. „Zuerst halten ihn die Leute immer für 'n Mädchen. Gestern hab ich ihn in den Monopol-Laden mitgenommen, weil ich da was zu kaufen hatte, und der Geschäftsleiter wollte gar nicht glauben, dass es kein Mädchen ist."
Der Mann streckte die Hand aus und streichelte das Gesicht des Kindes.
Obgleich Slymes Betragen bisher stets sehr korrekt gewesen war, lag doch gelegentlich, wenn sie allein waren, ein unbestimmbares Etwas in seinem Benehmen, das Ruth linkisch und verlegen machte. Als sie jetzt aufblickte und seinen Gesichtsausdruck sah, wurde sie vor Verwirrung glutrot und senkte hastig den Blick, ohne auf seine letzte Bemerkung zu antworten. Er sagte gleichfalls nichts mehr, und einige Minuten lang verharrten sie schweigend, wie gebannt - Ruth von instinktiver Furcht bedrückt und Slyme kaum weniger erregt, mit rotem Gesicht und wild klopfendem Herzen. Er zitterte, als er dort über sie gebeugt stand, zögernd und erschrocken.
Und dann wurde das Schweigen plötzlich durch das Quietschen und Zuklappen der Gartentür unterbrochen, das Eastons verspätete Heimkunft ankündigte. Slyme ging in die Spülkammer hinaus, nahm die Wichsbürste vom Brett und begann, seine Schuhe zu putzen.
An Eastons Aussehen und Benehmen war deutlich zu merken, dass er getrunken hatte. Ruth machte ihm aber keinerlei Vorwürfe; im Gegenteil, sie schien fast fieberhaft bemüht, es ihm bequem zu machen.
Als Slyme seine Schuhe fertiggeputzt hatte, ging er in sein Zimmer hinauf, und auf seinem Weg durch die Küche erhielt er einen achtlosen Gruß von Easton. Slyme war nervös und fürchtete, Ruth möchte Easton etwas sagen, und es gelang ihm nicht ganz, sich mit der Überlegung zu beruhigen, schließlich gebe es ja gar nichts zu berichten. Ruth freilich musste die Verwirklichung ihres eilig gefassten Beschlusses verschieben, ihrem Mann von Slymes merkwürdigem Benehmen zu erzählen, denn noch ehe Easton mit dem Essen fertig war, schlief er in seinem Stuhl ein, und es gelang ihr nur unter Schwierigkeiten, ihn soweit zu wecken, dass sie ihn überreden konnte, nach oben ins Bett zu gehen, wo er bis zur Teezeit blieb. Wahrscheinlich wäre er auch dann nicht heruntergekommen, wäre er nicht mit Crass in den „Cricketers" verabredet gewesen.
Während Easton schlief, hielt sich Slyme unten in der Küche auf und sägte mit der Laubsäge einen Rahmen aus. Er spielte mit Freddie, während Ruth den Tee zubereitete, und ihr schien, er sei sich so wenig bewusst, irgend etwas Ungewöhnliches getan zu haben, dass sie zu glauben begann, sie müsse sich geirrt haben, als sie ihm irgendwelche schlechten Absichten zutraute.
Nach dem Essen zog Slyme seine besten Sachen an und ging wie sonst auch zu seiner „Versammlung im Freien". Für gewöhnlich gingen Easton und Ruth sonnabends immer gemeinsam einkaufen; heute aber konnte er nicht auf sie warten, denn er hatte Crass versprochen, sich um sieben mit ihm zu treffen. So verabredete er sich für acht Uhr in der Stadt mit ihr.

 

23. Kapitel Die Straßenversammlung

Während der letzten Wochen, seit Owen mit dem Ausmalen des Salons beschäftigt war, hatte ihn seine Arbeit so gefesselt, dass ihm für anderes keine Zeit blieb. Natürlich wurde er nur für die tatsächlich damit verbrachten Stunden bezahlt; in Wirklichkeit aber hatte er jede Minute des Tages dieser Aufgabe gewidmet. Nun, da sie beendet war, fühlte er sich ähnlich einem Menschen, der aus einem Traum zu den harten Tatsachen und zu den Schrecken der Wirklichkeit erwacht. Bis Ende der nächsten Woche würden die Innenarbeiten im Haus und ein Teil der Außenarbeiten beendet sein, und soweit er wusste, hatte die Firma augenblicklich nichts weiter zu tun. Die meisten anderen Unternehmer der Stadt befanden sich in der gleichen Bedrängnis; zwecklos, sich bei den wenigen zu bewerben, die etwas zu tun hatten, denn es war unwahrscheinlich, dass sie einen neuen Mann einstellten, während einige ihrer regulären Arbeiter aussetzen mussten.
Im letzten Monat hatte er vergessen, dass er krank war vergessen auch, dass er nach Beendigung der Arbeit in der „Höhle" zusammen mit den übrigen aussetzen musste. Kurz für den Augenblick hatte er vergessen, dass er sich gleich der Mehrzahl seiner Kollegen am Rande des Elends befand und dass ein paar Wochen der Arbeitslosigkeit oder des Aussetzens Hunger bedeuteten. Was seine Krankheit betraf, so war er sogar noch schlimmer dran als die meisten anderen, denn die Mehrzahl unter ihnen war Mitglied einer freiwilligen Krankenversicherung; Owens schlechter Gesundheitszustand jedoch schloss seine Mitgliedschaft in einer dieser Kassen aus.
Als er nach der Lohnauszahlung heimging und sich unaussprechlich deprimiert und müde fühlte, begann er wieder an die Zukunft zu denken, und je mehr er darüber nachdachte, desto schrecklicher schien sie ihm. Selbst wenn man sie im besten Licht betrachtete - und annahm, er werde nicht der Krankheit wegen oder aus einem anderen Grunde seine Arbeit verlieren -, wofür sollte er leben? Er hatte die ganze vergangene Woche gearbeitet. Die paar Münzen, die er in der Hand hielt, waren das Ergebnis, und bitter lachte er bei dem Gedanken, wie viel auszurichten sie mit diesem Geld versuchen mussten und wie viel ungetan bleiben müsste.
Als er um die Ecke der Kerk Street bog, sah er Frankie, der ihm entgegenkam; der Junge bemerkte ihn im gleichen Augenblick und begann zu rennen; mit einem Jubelruf sprang er seinem Vater in die Arme.
„Mutti hat gesagt, ich soll dir bestellen, du möchtest etwas zum Mittagbrot einkaufen, eh du heimkommst, denn 's ist nichts mehr im Haus."
„Hat sie dir gesagt, was ich holen soll?"
„Ja, sie hat's mir gesagt, bloß ich hab vergessen, was es war. Aber ich weiß noch, dass sie gesagt hat, du möchtest holen, was du willst, wenn du das, was ich dir sagen soll, nicht bekommen kannst."
„Also gut, dann gehen wir und sehen mal zu, was wir finden", sagte Owen.
Ich an deiner Stelle würde 'ne Büchse Lachs holen oder 'n paar Eier mit Speck", schlug Frankie vor, der neben seinem Vater einherhüpfte und dessen Hand hielt. „Wir wollen doch nichts, was 'ne Menge Arbeit macht zu kochen, weißt du, weil's Mutti heut nicht sehr gut geht."
„Ist sie auf?"
„Den ganzen Morgen über ist sie aufgewesen, bloß jetzt hat sie sich hingelegt. Wir haben aber alle Arbeit erledigt. Während sie die Betten gemacht hat, hab ich angefangen, die Tassen und Untertassen abzuwaschen, ohne es ihr zu sagen, aber wie sie reinkam und gesehen hat, was ich für 'ne Schweinerei auf dem Boden gemacht hab, musste ich aufhören, und meine Sachen hat sie mir auch fast alle umziehen müssen, weil ich beinah ganz durchgeweicht gewesen bin; aber mit dem Abtrocknen bin ich ganz gut fertig geworden, als sie abgewaschen hat, und ich hab den Flur gefegt und alle meine Spielsachen aufgeräumt und das Bett für das Kätzchen gemacht. Und dabei fällt mir ein: gibst du mir jetzt bitte meinen Penny? Ich hab dem Kätzchen versprochen, dass ich ihm etwas Fleisch mitbringe."
Owen erfüllte die Bitte des Jungen, und während der sich zum Schlächter begab, um das Fleisch zu besorgen, ging Owen zum Kaufmann, um etwas zum Mittagessen einzuholen, und sie verabredeten, sich an der Straßenecke wiederzutreffen. Owen war zuerst an der vereinbarten Stelle, und nachdem er einige Zeit gewartet hatte und von Frankie nichts zu sehen war, beschloss er, ihm zum Fleischer entgegenzugehen. In der Nähe des Ladens angekommen, sah er davor den Jungen in ernsthaftem Gespräch mit dem Fleischer stehen - einem fröhlich aussehenden, korpulenten Mann mit sehr rotem Gesicht. Owen bemerkte sofort, dass das Kind versuchte, etwas zu erklären, weil Frankie die Gewohnheit hatte, seinen Kopf auf die Seite zu legen und seine Worte zu ergänzen, indem er die Finger spreizte und drollige Gebärden machte, sobald es ihm schwer fiel zu erklären, was er meinte. Das tat der Junge jetzt; er gestikulierte mit einer Hand und weit auseinander gespreizten Fingern, während er in der anderen ein Päckchen schwang, das offensichtlich die Fleischstückchen enthielt. Nun lachte der Mann herzlich, und nachdem er Frankie die Hand geschüttelt hatte, ging er in den Laden, um einen Kunden zu bedienen, und Frankie kehrte zu seinem Vater zurück.
„Der Fleischer da ist 'n sehr anständiger Kerl, weißt du Vati", sagte er. „Er wollte den Penny für das Fleisch nicht
nehmen."
„Hast du darüber mit ihm gesprochen?" „Nein, wir haben über den Sozialismus gesprochen. Siehst du, dies ist schon das zweite Mal, dass er das Geld nicht nehmen wollte, und als er es zum ersten Mal tat, dachte ich, er müsste ein Sozialist sein; aber damals habe ich ihn nicht gefragt. Aber als er es jetzt wieder so gemacht hat, habe ich ihn gefragt, ob er einer ist. Da hat er nein gesagt. Er hat gemeint, er wär doch noch nicht ganz und gar verrückt. Da hab ich gesagt: ,Wenn Sie glauben, dass Sozialisten alle verrückt sind, irren Sie sich mächtig, denn ich bin selbst 'n Sozialist und bin ganz sicher, dass ich nicht verrückt bin.' Da hat er gesagt, ja, das weiß er, dass ich ganz normal bin, aber er selbst versteht nicht viel vom Sozialismus - nur dass der bedeutet, alles Geld wird ausgeteilt, damit alle Leute das gleiche haben. Da hab ich ihm also gesagt, das ist ja überhaupt nicht Sozialismus! Und als ich es ihm richtig erklärt und ihm geraten hab, auch einer zu werden, hat er gesagt, er würd darüber nachdenken. Da hab ich ihm geantwortet, wenn er das nur tun will, wird er bestimmt auf unsere Seite übergehen, und da hat er gelacht und mir versprochen, 's mir zu erzählen, wenn er mich nächstes Mal sieht, und ich hab versprochen, ihm Literatur zu leihen. Du hast doch nichts dagegen, Vati?"
„Natürlich nicht; wenn wir nach Hause kommen, werden wir mal durchsehen, was wir haben, und du kannst ihm etwas davon bringen."
„Ich weiß", rief Frankie eifrig. „Die beiden allerbesten: ,Glückliches Britannien' und ,England den Engländern'."
Er wusste, dass dies ,zwei von den besten' waren, weil er oft gehört hatte, wie sein Vater und seine Mutter das sagten, und er hatte bemerkt, wenn sie ein sozialistischer Freund besuchte, so war dieser ebenfalls der Meinung.
In der Regel gingen sie Sonnabend Abend alle drei zusammen einkaufen; da sich Nora aber nicht wohl fühlte, gingen Owen und Frankie heute allein. Die häufigen Krankheitsrückfälle seiner Frau steigerten noch den Pessimismus, mit dem Owen in die Zukunft blickte, und auch das Bewusstsein, dass er ihr nicht die nötige Pflege zukommen lassen konnte, war nicht geeignet, die niedergedrückte Stimmung zu vertreiben, die ihn bei dem Gedanken überkam, dass keine Hoffnung auf bessere Zeiten bestehe.
In den meisten Fällen gibt es für einen Arbeiter keine Aussicht voranzukommen. Hat er einmal sein Handwerk erlernt und ist Geselle geworden, so hört jeder Fortschritt auf. Er hat das Ziel erreicht. Nach zehn oder zwanzig Jahren Arbeit steht ihm nicht mehr zur Verfügung als zu Beginn: ein kaum zum Leben ausreichender Lohn, gerade genügend Geld, um Brennstoff zum Inganghalten der menschlichen Maschine zu kaufen. Ist er dann älter geworden, so muss er sich sogar mit noch weniger begnügen, und ob er seinen Arbeitsplatz behält, hängt ständig von der Laune und Gnade seiner Herren ab, die ihn nur als ein Stück Mechanismus betrachten, das sie in die Lage versetzt, Geld anzuhäufen - ein Ding, das sie beiseitewerfen dürfen, sobald es keinen Profit mehr einbringt. Und der Arbeiter soll nicht nur eine wirksame Maschine zum Produzieren von Geld sein, sondern auch der unterwürfige Untertan seines Herrn. Ist er nicht auf eine verächtliche Weise höflich und demütig, unterwirft er sich nicht friedlich der Beleidigung, dem Schimpf und jeder Art hochmütiger Behandlung, zu der sich Gelegenheit bietet, so kann er entlassen und im nächsten Augenblick durch einen aus der Menge der Arbeitslosen ersetzt werden, die ständig auf seinen Arbeitsplatz warten. So ist unter dem gegenwärtigen System die Lage für die Mehrheit der „Erben aller Zeitalter".
Während Owen durch das Gedränge der Straßen ging und Frankie an der Hand hielt, dachte er, um freiwillig ein solches Leben weiterzuleben, müsse man eine entartete Gesinnung haben. Sein Kind aufwachsen zu lassen, damit es dann gleichfalls litt, war ein Akt hartherziger, verbrecherischer Grausamkeit.
Hierin unterschieden sich seine Ansichten von denen der meisten seiner Arbeitskollegen. Die Mehrheit unter ihnen
war gänzlich willens und bereit, zum Vorteil anderer Leute aus ihren Kindern Lasttiere machen zu lassen. Als Owen auf die kleine, zerbrechliche Gestalt hinabblickte, die an seiner Seite dahintrabte, dachte er zum tausendsten Male für das Kind wäre es viel besser, jetzt zu sterben: niemals werde es tauglich sein, einen Soldaten im harten christlichen „Kampf ums Dasein" abzugeben.
Dann dachte er an Nora. Obwohl sie stets tapfer war und nie klagte, wusste er doch, dass ihr Leben fast unaufhörliche physische Pein war, und was ihn selbst betraf, so war er all dessen gründlich müde und satt. Wie ein Sklave hatte er sein ganzes Leben lang gearbeitet, und nichts war dabei herausgekommen - nie würde etwas dabei herauskommen. Er dachte an den Mann, der seine Frau und seine Kinder getötet hatte. Vom Gericht war das übliche Urteil gefällt worden: „Zeitweilige Geistesverwirrung". Diesen Leuten schien niemals der Gedanke zu kommen, dass es in Wahrheit ein Beweis ständiger Geistesverwirrung war, so ohne alle Hoffnung weiterzuleiden.
Aber angenommen, der körperliche Tod sei nicht das Ende. Angenommen, es gäbe irgendeine Gottheit? Wenn es eine gab, so war es wohl nicht vernunftwidrig, anzunehmen, das Wesen, das zur Erschaffung einer solchen Welt fähig war und das dem Unglück Seiner Kreaturen gegenüber von so herzloser Gleichgültigkeit zu sein schien, wäre auch fähig, jene andere Hölle zu erdenken und zu schaffen, an welche die meisten Leute glaubten.
Obwohl sie Dezember hatten, war der Abend mild und klar. Der Vollmond übergoss die Stadt mit silbrigem Licht, und der wolkenlose Himmel war mit Myriaden funkelnder Sterne wie mit Edelsteinen besetzt.
Während Owen in die unermessliche Unendlichkeit des Raumes blickte, fragte er sich, was für ein Wesen oder eine Kraft es wohl sei, die all dies verursacht hatte und die es erhielt? Als Erklärung für das Bestehen des Universums betrachtet, war die orthodoxe christliche Religion zu widersinnig, als dass sie weitere Betrachtung verdiente. Aber freilich, jede andere Hypothese war letzten Endes ebenfalls unbefriedigend und sogar lächerlich. Zu glauben, das Universum in seiner jetzigen Weise habe ohne jede Ursache seit Anbeginn bestanden, ist gewiss lächerlich. Aber zu sagen, es sei von einem Wesen geschaffen worden, das ohne jede Ursache seit Anbeginn existierte, ist ebenso lächerlich. Tatsächlich hieß dies nur, die Schwierigkeit um eine Stufe zu verschieben. Die These der Evolution war keine zufriedenstellendere Erklärung; zwar beruhte sie, soweit sie reichte, unzweifelhaft auf Wahrheit, aber sie reichte eben nur über einen Teil des Weges und ließ die große Frage noch immer unbeantwortet, indem sie die ursachlose Existenz - zu Anfang - von Materieteilchen annahm. Diese Frage blieb unbeantwortet, weil sie nicht zu beantworten war. In Bezug auf dieses Problem war der Mensch nichts als

„Ein Kindlein, weinend in der Nacht,
Ein Kindlein, weinend nach dem Licht,
Das keine Sprache hat als nur den Schrei."

Trotz alledem folgte hieraus nicht, es sei richtig, nur weil man selbst das Geheimnis nicht erklären konnte, zu versuchen, die vernunftwidrige Erklärung eines anderen zu glauben.
Obwohl Owen so dachte, konnte er freilich nicht umhin, sich nach etwas zu sehnen, an das er glauben könnte, nach einer Hoffnung für die Zukunft, etwas, was ihn für das Leid der Gegenwart entschädigte. Wie schön wäre es doch in gewisser Hinsicht, so meinte er, wenn das Christentum auf Wahrheit beruhte, und wenn es nach all dem Kummer ein solches ewig währendes Glück gäbe, wie es sich das Menschenherz niemals erträumt hätte. Wäre doch das nur wahr, dann hätte alles übrige keine Bedeutung. Wie verächtlich und unwichtig wäre auch das Schlimmste, was hienieden geschehen konnte, wenn man nur wüsste, dass dieses Leben nichts als eine sehr kurze Reise sei, die mit dem Beginn einer ewig währenden Freude endete! Niemand aber glaubte das wirklich, und was diejenigen betraf, die so taten, als glaubten sie es - so zeigte ja ihr Leben, dass sie es ganz und gar nicht glaubten. Ihre Gier und ihre Unmenschlichkeit, ihre wilde Entschlossenheit, sich die guten Dinge dieser Welt zu sichern, waren doch überzeugende Beweise ihrer Heuchelei und ihres Unglaubens.
„Vati", sagte Frankie plötzlich, „lass uns mal rübergehen und hören, was der Mann da sagt." Er deutete über den Fahrweg, wo sich in kurzer Entfernung von der Hauptstraße, gerade um die Ecke einer Nebenstraße, eine Gruppe von Menschen um eine große Laterne versammelt hatte die, von einem der Leute getragen, an einer über zwei Meter langen Stange hing. Ein helles Licht brannte in der Laterne, und auf ihren weißen Milchglasscheiben waren von dort, wo Owen und Frankie standen, in großen, schlichten, selbst in dieser Entfernung leserlichen Buchstaben die Worte zu erkennen:
„Täuschet euch nicht: Gott lässt seiner nicht spotten!"
Der Mann, dessen Stimme Frankies Aufmerksamkeit erregt hatte, las den Vers eines Kirchenliedes vor:

„Ich hörte, wie Herr Jesus sprach:
O siehe, Durstender,
Das Lebenswasser biet ich dir,
So beuge dich und trink.
Ich kam zu Jesus und ich trank
Vom lebenspendenden Quell,
Und all mein Durst ward nun gelöscht,
Und meine Seele ward gestärkt,
Jetzo leb ich in Ihm."

Der Mensch, der diese Hymne von sich gab, war ein großer, magerer Mann, dem die Kleidung lose von den abfallenden Schultern um den knochigen Körper hing. Die langen, dünnen Beine, um die seine weiten Hosen in unschönen Falten schlotterten, waren leicht x-förmig und endeten in großen Plattfüßen. Seine Arme waren sogar für einen so hochgewachsenen Menschen sehr lang, und die riesigen, knochigen Hände waren knotig und krumm. Trotz der Jahreszeit hatte er seinen Melonenhut abgenommen und seine Stirn entblößt, die hoch, flach und schmal war. Seine Nase glich einem großen, fleischigen Habichtsschnabel, und von jedem der beiden Nasenflügel lief eine tiefe Furche abwärts und verschwand in dem Hängeschnurrbart, der, wenn er nicht sprach, seinen Mund verdeckte, dessen riesiges Ausmaß jetzt aber sichtbar war, da er ihn öffnete, um den Text des Liedes herauszuschmettern. Sein Kinn war breit und außergewöhnlich lang, die Augen waren wässrig blau, sehr klein und standen eng beieinander; darüber wuchsen schüttere, helle, fast unsichtbare Augenbrauen, und zwischen ihnen stand über der Nase eine tiefe, senkrechte Falte. Sein Kopf, mit dichtem, sprödem braunem Haar bedeckt, war sehr breit - besonders hinten; die Ohren waren klein und lagen eng am Kopf. Hätte man ein en-face-Porträt von seinem leichenähnlichen Gesicht zeichnen wollen, so hätte man festgestellt, dass dessen Umrisse denen eines Sargdeckels glichen.
Als Owen und Frankie näher kamen, zerrte der Junge seinen Vater an der Hand und flüsterte: „Vati! Das ist doch der Lehrer aus der Sonntagsschule, wo ich neulich mit Charley und Elsie war."
Owen blickte schnell hinüber und sah, dass es Hunter war.
Sobald der den Vers verlesen hatte, begann die kleine Gesellschaft der Evangelisten zu singen, begleitet von den Klängen eines kleinen, aber merkwürdig wohltönenden Harmoniums. Einige Leute aus der Menge sangen mit, da sie den Text kannten. Während des Gesangs waren ihre Gesichter sehenswert; alle blickten so feierlich und trübselig drein, als seien sie eine Bande armer Sünder, die darauf warteten, zur Hinrichtung geführt zu werden. Die Mehrzahl der Zuhörer schien eher aus müßiger Neugier als aus irgendeinem anderen Grunde dazustehen, und zwei gutgekleidete junge Leute, offenbar Fremde und zu Besuch in der Stadt, vergnügten sich damit, laute Späße über den Text auf der Laterne zu machen. Am inneren Rande des Zuhörerkreises, fast schon im Ring, stand auch mit verschränkten Armen und höhnischer Miene ein schäbig gekleideter halbbetrunkener Mann, der einen zerbeulten Melonenhut trug. Er hatte ein mageres, bleiches Gesicht mit einer großen Adlernase und zeigte eine auffallende Ähnlichkeit mit dem ersten Herzog von Wellington.
Während des Gesangs wich der höhnische Ausdruck vom Gesicht des Halbbetrunkenen, und er fiel nicht nur in den Chor ein, sondern löste auch die verschränkten Arme und begann, sie herumzuschwenken, als dirigiere er die Musik.
Als der Gesang zu Ende war, hatte sich eine beträchtliche Menschenmenge angesammelt, und nun trat einer der Evangelisten - der gleiche, der den Choral verlesen hatte in die Mitte des Kreises. Offenbar hat ihn das unziemliche Benehmen der beiden gutangezogenen jungen Männer beleidigt; denn nachdem er zuerst seinen Blick rings über die Menge gleiten ließ, richtete er ihn auf das Paar und begann sogleich eine lange Tirade gegen etwas, was er „Ungläubigkeit" nannte. Nachdem er alle, die es, wie er sich ausdrückte, „ablehnten" zu glauben, aus tiefstem Herzensgrunde angeprangert hatte, ging er dazu über, die Halbgläubigen lächerlich zu machen, die zwar behaupteten, an die Bibel zu glauben, dabei aber das Dogma von der Hölle ablehnten. Danach versuchte er mit Hilfe einer langen Zitatfolge zu beweisen, dass die Existenz eines solchen Ortes der ewigen Qual in der Bibel gelehrt wird. Je länger er sprach, desto aufgeregter wurde er, und das verächtliche Lachen der beiden Ungläubigen schien ihn nur noch mehr zu reizen. Er schrie und tobte buchstäblich mit schäumendem Munde und starrte wilden Blicks in die Gesichter der Menschen ringsum.
„Es gibt 'ne Hölle!" schrie er. „Und merkt euch: ,Die Bösewichter werden in die Hölle kommen.' - ,Wer nicht glaubt, wird verdammt werden.'"
„Nun, dann haben Sie ziemlich viel Aussicht, ebenfalls verdammt zu werden", rief einer der beiden jungen Leute.
„Wieso denn das?" fragte der Prediger und wischte sich mit dem Taschentuch den Schaum von den Lippen und den Schweiß von der Stirn.
„Na, weil Sie selbst nicht an die Bibel glauben."
Nimrod und die übrigen Evangelisten lachten; mitleidsvoll blickten sie den jungen Mann an.
„Ach, mein lieber Bruder", sagte Elend. „Sie täuschen sich. Ich danke Gott dafür, dass ich daran glaube - an jedes Wort!"
„Amen!" riefen Slyme und einige der übrigen Jünger inbrünstig aus.
„O nein, Sie glauben nicht daran", erwiderte der andere. „Und ich kann beweisen, dass Sie nicht daran glauben."
„Na, so beweisen Sie's", sagte Nimrod.
„Lesen Sie den siebzehnten und den achtzehnten Vers des sechzehnten Kapitels Markus vor", sagte der Störenfried. Die Menge begann, sich zur Mitte zu drängen, um den Disput besser hören zu können. Elend, der nahe bei der Laterne stand, fand den Vers und begann laut vorzulesen:
„Die Zeichen aber, die da folgen werden denen, die da glauben, sind die: in meinem Namen werden sie Teufel austreiben, mit neuen Zungen reden, Schlangen vertreiben; und so sie etwas Tödliches trinken, wird's ihnen nicht schaden; auf die Kranken werden sie die Hände legen, und so wird's besser mit ihnen werden."
„Nun, Sie können keine Kranken heilen, noch können Sie neue Sprachen sprechen oder Teufel austreiben; aber vielleicht können Sie tödliche Gifte trinken, ohne Schaden zu erleiden." Mit diesen Worten zog der Sprecher plötzlich ein Glasfläschchen aus der Westentasche und hielt es Elend hin, der entsetzt davor zurückwich, als der Mann fortfuhr: „Ich habe hier ein tödliches Gift. In dieser Flasche befindet sich genügend Strychnin, um ein Dutzend Ungläubige zu töten. Trinken Sie es! Und wenn es Ihnen nicht schadet, werden wir wissen, dass Sie wirklich ein Gläubiger sind und dass das, was Sie glauben, die Wahrheit ist!"
„Hört! Hört!" sagte der Halbbetrunkene, welcher der Diskussion mit großem Interesse gefolgt war. „Hört! Hört! Das ist nur recht und billig. Schluck's!"
Einige der Zuhörer begannen zu lachen, und an mehreren Punkten der Menge wurden Stimmen laut, die Elend aufforderten, das Strychnin zu trinken.
„Nun, wenn Sie gestatten, werd ich Ihnen erklären, was der Vers da bedeutet", sagte Hunter. „Wenn Sie 'n sorgfältig lesen... im Zusammenhang... "
„Ich will keine Erklärung von Ihnen darüber, was er bedeutet", unterbrach ihn der andere. „Ich kann selber lesen. Sie können mir sagen, soviel Sie wollen, oder behaupten zu glauben, was er bedeute - ich weiß, was dort steht."
„Hört! Hört!" riefen mehrere Stimmen, und ein ärgerliches „Weshalb trinken Sie denn das Gift nicht?" ertönte vom äußeren Rand des Zuhörerkreises.
„Trinken Sie's nun oder nicht?" fragte der Mann mit der Flasche.
„Nein! So 'n Narr bin ich nicht!" erwiderte Elend wütend, und die Menge brach in lautes Gelächter aus.
„Vielleicht möchte es einer der anderen ,Gläubigen' tun?" sagte der junge Mann spöttisch und blickte der Reihe nach die Jünger an. Da keiner geneigt zu sein schien, von dem Angebot Gebrauch zu machen, steckte der junge Mensch mit Bedauern die Flasche wieder ein.
„Ich vermute", sagte Elend und sah den Eigentümer des Strychnins höhnisch an, „ich vermute, Sie sind einer von diesen gedungenen Kritikern, die im Land rumgehn und das Werk des Teufels tun?"
„Was ich wissen will, ist das", sagte der Halbbetrunkene plötzlich mit lauter Stimme und trat in die Mitte des Kreises: „Wo hat 'n Kain seine Frau hergekriegt?"
„Geben Sie 'm keine Antwort, Bruder Hunter", sagte Mr. Didlum, einer der Jünger. Der Rat war recht überflüssig, denn Elend wusste ohnedies keine Antwort.
Eine Gestalt in langem schwarzem Gewand, der „Prediger", flüsterte jetzt Mrs. Didlum etwas zu, die am Harmonium saß, worauf sie zu spielen begann, und die „Gläubigen" begannen zu singen, so laut sie nur konnten, um die Stimmen der Störenfriede zu übertönen - ein Lied mit dem Titel „Ach, das wird Seligkeit für mich sein".
Nach dieser Hymne forderte der „Prediger" einen schäbig gekleideten „Bruder" auf, ein paar Worte zu sagen, einen Arbeiter, der Mitglied der Psalmensängervereinigung war, und dieser trat in die Mitte des Kreises und gab folgende Rede von sich:
„Meine lieben Freunde, ich danke Gott heut Abend, dass ich heut Abend hier unter freiem Himmel stehn kann und euch lieben Leuten heut Abend allen sagen kann, was für mich getan worden ist. Ach, meine lieben Freunde, ich bin heut Abend so glücklich, dass ich heut Abend hier stehn kann und sagen kann, dass all meine Sünden heut Abend vom Blut des Herrn getilgt sind, und was Er für mich getan hat, kann Er heut Abend auch für euch tun. Wenn ihrs bloß machen wollt, wie ich's gemacht hab, und euch einfach nur als verlorene Sünder bekennen..."
„Ja, das's der einzige Weg!" schrie Nimrod.
„Amen", riefen alle übrigen Gläubigen.
„- wenn ihr nur heut Abend zu Ihm kommen wollt, genau, wie ich's gemacht hab, werd't ihr sehn, was Er für mich getan hat, kann er auch für euch tun. Ach, liebe freunde, verschiebt's nicht von einem Tag auf 'n andern, wie 'ne Tür, die in ihren Angeln hin und her schwingt, verschiebt's nicht auf 'ne gelegenere Zeit, denn vielleicht habt ihr nie mehr Gelegenheit dazu. Wer häufig ermahnt wird und halsstarrig ist, wird plötzlich verlassen sein, und das unwiderruflich. Ach, kommt heut Abend zu Ihm, in Seinem Namen, und Ihm werden wir alle Ehre erweisen. Amen."
„Amen", sagten die Gläubigen inbrünstig, und dann beschwor der Mann in dem langen schwarzen Gewand alle, die noch nicht zum wahren Glauben gefunden hatten und noch nicht danach handelten, ernsthaft und aufrichtig das; Schlusslied mitzusingen, das er ihnen jetzt vorlesen werde.
Bereitwillig dirigierte der Halbbetrunkene wie zuvor, und mit den letzten Klängen des Liedes verlief sich die Menge.

 

24. Kapitel Ruth

Wie bereits erwähnt, hatte Slyme bisher die meisten Abende zu Hause verbracht; während der nächsten drei Wochen aber änderten sich hierin seine Gewohnheiten. Nun ging er fast jeden Abend aus und kehrte erst nach zehn Uhr heim. An den Abenden, an denen er Versammlungen besuchte, wechselte er stets den Anzug und kleidete sich wie sonntags; sonst aber verließ er das Haus in seiner Alltagskleidung. Ruth fragte sich oft, wohin er wohl an diesen Abenden ging; von selbst aber gab er niemals Auskunft darüber, und Fragen stellte sie nicht.
Easton hatte sich mit einer ganzen Menge der regelmäßigen Kunden in den „Cricketers" angefreundet, wo er jetzt den größten Teil seiner Freizeit verbrachte, Bier trank, sein Garn spann und Beilke oder „Haken und
Ringe" spielte. Hatte er kein Bargeld, so gab ihm der „olle Knabe" bis Sonnabend Kredit. Zuerst hatte der Ort nicht viel Anziehendes für ihn gehabt, und er ging eigentlich nur hin, um sich mit Crass gutzustellen; nach einiger Zeit aber fand er, es sei eigentlich recht gemütlich, seine Abende so zu verbringen.
Eines Abends sah Ruth, wie Slyme sich mit Crass traf, als hätten sie sich miteinander verabredet, und während die beiden Männer zusammen fortgingen, machte sie sich wieder an ihre Hausarbeit und fragte sich, was das wohl bedeuten mochte.
Inzwischen setzten Crass und Slyme ihren Weg in die Stadt fort. Es war ungefähr halb sieben Uhr; Läden und Straßen waren hell erleuchtet, und während sie dort vorbeigingen, sahen sie zahlreiche Gruppen von Männern, die niedergeschlagen miteinander sprachen. Die meisten waren arbeitslose Handwerker und Hilfsarbeiter und hatten offensichtlich keine große Eile heimzukommen. Einige von ihnen fänden dort weder Tee noch ein Feuer vor, und sie blieben so lange wie möglich von zu Hause fort, um nicht gezwungen zu sein, das Elend derer anzusehen, die daheim auf sie warteten. Andere drückten sich herum, und entgegen jeder Wahrscheinlichkeit hofften sie, obgleich es so spät war, doch noch von irgendeiner Arbeit zu hören, die hier oder dort begonnen werden sollte.
Während Crass und Slyme an einer dieser Gruppen vorbeigingen, erkannten sie Newman sowie den alten Jack Linden und nickten ihnen zu; Newman verließ die anderen und kam auf die beiden zu. Sie blieben nicht stehen, deshalb ging er neben ihnen her.
„Was Neues reingekommen, Bob?" fragte er. „Nö, wir haben kaum was", antwortete Crass. „Ich denke, nächste Woche wer'n wir in der ,Höhle' fertig, dann wer'n wir woll alle feiern müssen. Wir haben 'n paar Installateure an der Arbeit, und ich glaube, 's sind 'n paar Gasrohre zu verlegen, aber in unsrer Branche ist fast nichts los."
„Du weißt wohl auch nichts von irgend'ner anderen
Firma, die was hat?"
„Nein, weiß ich nicht, Mann. Unter uns gesagt, ich glaube,
keine hat was; sie stecken so ziemlich alle in der gleichen Bredullje."
„Ich hab nichts bekommen, seit ich weg bin, weißte", sagte Newman, „und zu Haus sind wir so ziemlich am Ende."
Slyme und Crass gaben keine Antwort. Sie wünschten, Newman möge sich entfernen, weil er nicht wissen sollte, wohin sie gingen.
Newman aber begleitete sie weiter, und ein verlegenes Schweigen folgte. Er schien noch etwas sagen zu wollen, und beide errieten, was es war. Daher gingen sie so schnell wie möglich, um ihn nicht zu ermutigen. Endlich platzte Newman heraus:
„Ich nehme an - ihr habt wohl nicht zufällig - einer von euch beiden - 'nen Sechser, den ihr mir borgen könnt? Ich geb 'n euch zurück - wenn ich Arbeit hab."
„Hab ich nicht, Mann", antwortete Crass. „Tut mir leid; wenn ich einen hätte, würdste 'n kriegen, mit Vergnügen!"
Slyme drückte ebenfalls sein Bedauern aus, kein Geld bei sich zu haben, und an der nächsten Straßenecke wünschte ihnen Newman, beschämt, dass er sie gefragt hatte, „gute Nacht" und ging davon.
Slyme und Crass eilten weiter und gelangten bald darauf zum Laden der Firma Rushton & Co. Die Fenster waren mit elektrischem Licht beleuchtet, und eine Auswahl von Tapetenmustern, Gas- und elektrischen Lampen, gläsernen Lampenschirmen sowie Büchsen mit Lacken, Farben und Firnis war darin ausgestellt, dazu einige eingerahmte Auslageschilder mit der Aufschrift „Kostenanschläge unentgeltlich", „Nur erstklassige Arbeit zu niedrigen Preisen", „Wir beschäftigen nur erstklassige Arbeiter" und mehrere andere gleicher Art. An einer der Seitenwände des Schaufensters hing ein großes wappenförmiges und mit schwarzem Samt bezogenes Brett, auf dem eine Anzahl Sargbeschläge aus Messing angebracht waren. Das Schild stand auf einem eichenen Fuß, der die Inschrift trug „Beerdigungen, moderne Ausführung".
Slyme wartete draußen, während Crass hineinging. Mr. Budd, der Verkäufer, stand hinten am anderen Ende des Ladens in der Nähe der gläsernen Trennwand, die Mr. Rushtons Büro vom Verkaufsraum abteilte. Als Crass eintrat, blickte sich Budd um - ein blasser, ungesund aussehender, klein gewachsener junger Mensch von etwa zwanzig Jahren - und machte Crass mit einer Grimasse ein Zeichen, leise aufzutreten. Der blieb stehen und fragte sich, was der andere wohl meinte; der Verkäufer aber winkte ihm, näher zu kommen, und dabei grinste er, blinzelte und stieß den Daumen über die Schulter in Richtung des Büros. Crass zögerte, da er fürchtete, der arme Budd sei vielleicht verrückt geworden - oder verrückt gemacht worden; da dieser aber fortfuhr, zu winken und zu grinsen und auf das Büro zu deuten, nahm Crass seinen Mut zusammen und folgte ihm hinter einen der Auslagekästen, und als er sein Auge an einen Ritz in der Holzwand hielt, den ihm Budd gezeigt hatte, konnte er Mr. Rushton sehen, der gerade damit beschäftigt war, Miss Wade, die junge Sekretärin, zu küssen und zu umarmen. Crass beobachtete sie eine Zeitlang und flüsterte dann Budd zu, er solle Slyme rufen, und als dieser herbeigekommen war, spähten sie abwechselnd alle drei durch die Ritze in der Trennwand. Als sie sich satt gesehen hatten, kamen sie hinter dem Auslagekasten hervor und platzten beinahe vor unterdrückter Fröhlichkeit. Budd nahm einen Schlüssel von einem Haken an der Wand und gab ihn Crass; dann setzten der und sein Begleiter ihren unterbrochenen Weg fort. Kaum aber hatten sie sich ein Dutzend Meter vom Laden entfernt, als sie von einem kleinen, ältlichen Mann mit grauem Haar und einem Bart angesprochen wurden. Dieser Mensch schien, seinem Aussehen nach, etwa fünfundsechzig Jahre alt zu sein und war sehr schäbig gekleidet. Die Ränder seiner Mantelärmel waren ausgefranst und zerschlissen, die Ellbogen abgetragen und fadenscheinig. Seine Stiefel waren geflickt, zerrissen und an den Hacken schiefgetreten, und die Knie und die Hosenränder waren im gleichen Zustand wie seine Mantelärmel. Der Mann hieß Latham; er war der Jalousienmacher und -flicker. Angeblich hatte er mit seinem Sohn ein „eigenes Geschäft"; da sie jedoch den größten Teil ihrer Arbeit für das „Gewerbe" ausführten, das heißt, für solche Firmen wie Rushton & Co., wäre es richtiger, sie als Leute zu bezeichnen, die Stückarbeit bei sich zu Hause verrichteten.
Er hatte seit etwa vierzig Jahren „sein Geschäft betrieben", wie er es nannte, und hatte gearbeitet, gearbeitet und immer wieder gearbeitet, und seit sein Sohn ins arbeitsfähige Alter gekommen war, hatte der seinem Vater bei der menschenfreundlichen Aufgabe geholfen, für die Ausbeuter, die sie anstellten, Profite zu schaffen. Da sie so emsig damit beschäftigt gewesen waren, der Arbeit nachzujagen und für den Vorteil anderer zu schuften, war ihnen entgangen, dass sie kaum ihren Lebensunterhalt verdienten, und jetzt, nach vierzig Jahren, ging der alte Mann in Lumpen gekleidet und stand am Rande des Elends. „Ist Rushton da?" fragte er.
„Ja, ich glaube", antwortete Crass und machte Anstalten, weiterzugehen; doch der alte Mann hielt ihn zurück.
„Er hat versprochen, uns wegen der Jalousien für ,Die Höhle' Bescheid zu sagen. Wir haben ihm vor ungefähr einem Monat 'nen Kostenanschlag gemacht. Wir haben ihm sogar zwei Preise genannt, weil er sagte, der erste wär zu hoch. Fünf Schilling und sechs Pence das Stück hatte ich verlangt! Durchweg im ganzen Haus. Allesamt - die großen wie die kleinen! Zwei Anstriche, neue Bänder und Schnüre. Das war doch nicht zuviel, was?"
„Nein", sagte Crass und ging weiter; „das war ziemlich billig!"
„Er sagte, 's wär zuviel", fuhr Latham fort. „Sagte, er könnt sie billiger gemacht kriegen! Aber ich sag, niemand kann sie billiger machen und davon leben."
Während er zwischen Crass und Slyme daherging und sprach, packte den alten Mann Erregung.
„Aber wir haben kaum was zu tun gehabt, darum hat mein Sohn ihm gesagt, wir werden sie für sechs Schilling das Stück machen, und er hat gesagt, er würde uns Bescheid geben; bisher haben wir aber noch nichts von ihm gehört; da hab ich gedacht, ich werd's mal versuchen, ob ich ihn heut Abend sprechen kann."
„Nun, Sie finden ihn jetzt da drin", sagte Slyme; sein Gesicht zeigte einen seltsamen Ausdruck, und er schritt schneller aus. „Gute Nacht."
„Für weniger nehm ich sie nicht!" rief der alte Mann, als er sich umwandte. „Schließlich muss ich ja davon leben,
und mein Sohn muss seine Frau und seine Kleinen ernähren. Wir können doch nicht umsonst arbeiten!"
„Natürlich nicht!" sagte Crass, froh, endlich davonzukommen. „Gute Nacht, und viel Glück!"
Sobald sie außer Hörweite waren, brachen beide über die Hitzigkeit des alten Mannes in Gelächter aus.
„Der scheint ja deswegen ordentlich aufgebracht zu sein", sagte Slyme, und wieder lachten sie.
Jetzt verließen sie die Hauptstraße und setzten ihren Weg durch eine Anzahl schlecht beleuchteter, schäbig aussehender Straßen fort, und nachdem sie schließlich in eine Art Gang eingebogen waren, hatten sie ihren Bestimmungsort erreicht. Auf der einen Seite der Straße stand eine Reihe kleiner Häuser; gegenüber befanden sich mehrere Gebäude unterschiedlicher Art - Schuppen und Ställe, dahinter ein unbebautes Grundstück, auf dem eine Anzahl leerer Wagen und Karren zu sehen war, die mit auf dem Boden ruhenden oder in die Luft erhobenen Deichseln gespenstisch in die Dämmerung ragten. Nachdem Crass und Slyme sich vorsichtig zwischen den Fahrzeugen hindurchgewunden und dabei soweit wie möglich dem Schlamm, den Pfützen und dem Abfall ausgewichen waren, die den Boden bedeckten, gelangten sie zu einem hohen, mit einem Vorhängeschloß versehenen Tor. Crass benutzte den Schlüssel und stieß das Tor auf; nun befanden sie sich in einem großen Hof voller Baumaterialien und -ausrüstungsteile - Leitern, riesige Gerüste, Holzplanken und Balken, zweirädrige Laufkarren, Schubkarren, Sand- und Mörtelhaufen sowie zahllose andere Dinge, welche im Halbdunkel seltsame und phantastische Formen angenommen hatten - Packverschalungen, Kisten, Stücke von eisernen Abflussrohren und Dachrinnen, alte Türrahmen und andere Holzteile, die aus Gebäuden entfernt worden waren, an denen Änderungen vorgenommen wurden. Und über all diesen Dingen erhob sich eine düstere, unbestimmte, formlose Masse - die Gebäude und Schuppen, in denen die Werkstätten der Firma Rushton & Co. untergebracht waren.
Crass zündete ein Streichholz an; Slyme bückte sich und zog einen Schlüssel aus einem Mauerspalt neben einer der Türen; er schloss sie auf, und sie traten ein. Crass zündete ein zweites Streichholz an und danach einen an der Wand befestigten beweglichen Gasleuchter. Hier war die Malerwerkstatt. An einem Ende befand sich ein Kamin ohne Feuerrost mit einer quer durch den geschwärzten Schornstein gezogenen Eisenstange zum Aufhängen von Eimern oder Töpfen über dem Feuer, das gewöhnlich auf dem Herdstein mit Holz unterhalten wurde. Rings um die Wände der Werkstatt - die einstmals weiß getüncht gewesen, jetzt aber mit Farbflecken aller Schattierungen bedeckt waren, wo die Leute ihre Pinsel „ausgestrichen" hatten - standen Reihen von Regalen mit Farbfässern darauf. Vor dem Fenster befand sich eine lange Bank mit einer unordentlichen Sammlung schmutziger Farbtöpfe, darunter mehrere tönerne Mischgefäße oder Mörser, deren Wände dick mit getrockneter Farbe verkrustet waren. Überall auf dem Steinfußboden standen schmutzige Eimer umher, leer oder mit abgestandener Schlämmkreide gefüllt, und auf einer Art niedriger Plattform oder einem Fach an einem Ende der Werkstatt waren vier große, runde, mit Hähnen versehene Tanks untergebracht, die mit der Aufschrift „Gekochtes Öl", „Terpentin", „Leinöl" und „Terpentinersatz" versehen waren. Den unteren Teil der Wände hatte die Feuchtigkeit entfärbt. Die Luft war kalt, klamm und von den üblen Gerüchen der giftigen Materialien verdorben.
Das war der Ort, an dem Bert, der Lehrling, den größten Teil seiner Stunden verbrachte und in der stillen Zeit, wenn es draußen keine Arbeit gab, Töpfe und Eimer säuberte.
In der Mitte der Werkstatt stand unter einer zweiarmigen Gashängelampe noch ein Tisch oder eine Werkbank, die gleichfalls dick mit einer Schicht alter, getrockneter Farbe bedeckt war, und daneben befanden sich zwei große Ständer, an denen einige der zur „Höhle" gehörenden Jalousielatten, die Crass und Slyme in ihrer Freizeit im Stücklohn strichen, zum Trocknen hingen. Die übrigen Latten standen gegen die Wand gelehnt oder lagen aufgestapelt auf dem Tisch. Crass zitterte vor Kälte, während er die beiden Gasarme anzündete. „Mach mal 'n bisschen Feuer, Alf, sagte er, „während ich die Farbe anrühre."
Slyme ging nach draußen, und kurz darauf kam er wieder herein, die Arme mit altem Holz beladen, das er zerhackte und in den Kamin warf; dann nahm er einen leeren Farbtopf, füllte ihn mit Terpentin aus dem großen Tank und goss es über das Holz. Unter den Töpfen auf der Werkbank fand er einen, der mit alter Farbe gefüllt war; diesen leerte er gleichfalls über das Holz, und in wenigen Minuten hatte er ein loderndes Feuer entfacht.
Inzwischen hatte Crass Farbe und Pinsel bereitgemacht und die Jalousielatten aus dem Trockenrahmen genommen. Nun begaben sich die beiden Männer daran, die Jalousien zu streichen; sie arbeiteten schnell und hängten jede Latte, nachdem sie gestrichen war, an den Drähten des Trockenrahmens auf. Während sie arbeiteten, unterhielten sie sich ungeniert, denn sie fürchteten ja nicht, von Rushton oder Nimrod gehört zu werden. Diese Arbeit wurde in Stücklohn bezahlt; daher machte es nichts aus, ob sie miteinander sprachen oder nicht. Sie amüsierten sich köstlich über die Aufgebrachtheit des alten Latham und fragten sich, was er wohl sagen würde, wenn er sie jetzt sähe. Dann ging das Gespräch zu den persönlichen Merkmalen der übrigen bei Rushton Sc Co. beschäftigten Leute über, und ein unvoreingenommener Zuhörer - wäre ein solcher dort gewesen - hätte zu dem gleichen Schluss kommen müssen wie Crass und Slyme, nämlich, dass sie selbst die beiden einzigen anständigen Kerle bei der Firma seien. Mit jedem anderen war irgend etwas nicht in Ordnung, oder es war etwas verdächtig. Dieser Barrington zum Beispiel -'ne komische Sache, weißte, wenn 'n Kerl wie er als Ungelernter arbeitet - sieht sehr verdächtig aus. Niemand wusste richtig, wer er war oder wo er herkam, aber jeder konnte gleich sehen, dass er was Besonderes gewesen war. Ganz offensichtlich war er nicht dazu erzogen worden, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Am wahrscheinlichsten war die Erklärung, dass er „irgend'n Verbrechen" begangen hatte und von seiner Familie verstoßen worden war - Geld geklaut, 'nen Scheck gefälscht oder was Ähnliches. Und dann dieser Sawkins. War überhaupt
nichts wert. Es war ja bekannt, dass er fast jeden Abend zu Elends Haus hinüberging und ihm jede Kleinigkeit zutrug, die am Tag bei der Arbeit vorgekommen war. Und was Payne, den Vorarbeiter der Tischler, betraf, der Mann war 'n kompletter Idiot; er würde den Unterschied schon merken, wenn er je bei Rushton & Co. fliegen und bei 'ner anderen Firma arbeiten würde! Er verstand nichts von seinem Handwerk und konnte um nichts in der Welt 'nen anständigen Sarg machen! Und dann diese Pflaume, der Owen; der war dir vielleicht 'n Prachtexemplar! 'n Atheist! Glaubte weder an Gott noch an 'n Teufel, noch an sonst was. Wenn's nach diesen Sozialisten ginge, wären die Dinge in 'nem schönen Zustand; so wär's zum Beispiel niemand mehr erlaubt, Überstunden zu machen!
Auf diese Weise arbeiteten und redeten Crass und Slyme bis zehn Uhr; dann löschten sie das Feuer, indem sie Wasser darüber gossen, machten das Gaslicht aus, schlossen Werkstatt und Hof ab und warfen den Schlüssel dazu auf ihrem Heimweg in den Briefkasten von Rushtons Büro.
Auf solche Art arbeiteten sie drei Wochen lang fast jeden Abend an den Jalousien.

Als der Sonnabend kam, waren die Leute, die in der „Höhle" arbeiteten, wieder überrascht, als niemand entlassen wurde, und sie waren über die Ursache geteilter Meinung; einige dachten, Nimrod habe beschlossen, sie bis zum Schluss der Arbeit alle zu behalten, damit sie so schnell wie möglich fertig werde. Andere behaupteten kühn, ein seit mehreren Tagen umlaufendes Gerücht beruhe auf Wahrheit, wonach die Firma einen anderen großen Auftrag hätte. Mr. Sweater habe noch ein Haus gekauft, Rushton solle es renovieren, und die Firma werde alle Leute behalten, um gleich nach Fertigstellung der „Höhle" die andere Arbeit zu beginnen. Crass wusste nicht mehr als alle übrigen und schwieg diskret; dass er aber dem Gerücht nicht entgegentrat, verstärkte es. Die einzige Grundlage des Gerüchts war, dass man Rushton und Elend einmal gesehen hatte, wie sie über das Gartentor eines großen leeren Hauses in der Nähe der „Höhle" blickten. Obgleich aber der Ursprung des Gerüchts so unbedeutend war, hatte es von Tag zu Tag an Umfang und Einzelheiten zugenommen. Noch an diesem Morgen hatte der Mann auf dem Eimer in der Frühstückspause verkündet, er habe aus bestinformierter Quelle gehört, Mr. Sweater habe alle seine Anteile an dem großen Geschäft, das seinen Namen trug verkauft und werde sich ins Privatleben zurückziehen; er habe vor, sämtliche Häuser in der Nähe der „Höhle" aufzukaufen. Ein anderer - einer der neuen Arbeiter - teilte mit, er habe in einem Wirtshaus von jemand gehört, Rushton werde eine der Töchter Sweaters heiraten; Sweater wolle dem Paar als Hochzeitsgeschenk ein Haus zur Wohnung geben, aber die Tatsache, dass Rushton bereits verheiratet und Vater von vier Kindern war, entzog dieser Geschichte die Grundlage. Daher wurde sie mit Bedauern fallengelassen. Was aber auch immer die Ursache sein mochte - Tatsache blieb, dass niemand entlassen worden war, und als die Stunde der Lohnauszahlung herankam, machten sie sich in bester Stimmung auf den Weg zum Büro.
Da das Wetter an diesem Abend gut war, ging Slyme wie gewöhnlich zu seiner Versammlung im Freien; Easton hingegen wich von seiner Gewohnheit ab, in die „Cricketers" zu eilen, sobald er seinen Tee getrunken hatte, denn heute hatte er Ruth versprochen, auf sie zu warten und mit ihr einkaufen zu gehen. Den Säugling ließen sie in der Wiege schlafend allein zu Haus.
Als alle Einkäufe erledigt waren, hatten sie eine recht große Last beisammen. Easton trug das Netz mit den Kartoffeln, dem Gemüse und dem Fleisch und Ruth die übrigen Lebensmittel. Auf dem Heimweg mussten sie an den „Cricketers" vorbeigehen, und gerade vor diesem Punkt ihres Weges trafen sie Mr. und Mrs. Crass, die gleichfalls Einkäufe gemacht hatten. Beide bestanden darauf, dass Easton und Ruth hineinkämen, um mit ihnen ein Gläschen zu trinken. Ruth wollte nicht mitgehen, aber sie ließ sich überreden, da sie merkte, dass Easton über ihre Weigerung ärgerlich zu werden begann. Crass trug einen neuen Überzieher und einen heuen Hut, dazu eine dunkelgraue Hose, gelbe Stiefel und einen Stehkragen mit leuchtendblauer Krawatte. Seine Frau, eine dicke, ordinär aussehende, gut erhaltene Vierzigerin, prangte in einem dunkelroten „Automobilkostüm" und einem gleichfarbigen Hut. Sowohl Easton wie Ruth, die ihre besten Kleidungsstücke alle verpfändet hatten, um das Geld für die Armensteuer aufzubringen, kamen sich neben den beiden sehr ärmlich und schäbig vor.
Als sie drinnen waren, zahlte Crass für die erste Lage, einen halben Liter Old-Six-Porter für sich selbst, das gleiche für Easton, einen Viertelliter für Mrs. Easton und ein Gläschen zu drei Pence für Mrs. Crass.
Der benebelte Tropf war auch da und beendete grade ein Spiel „Haken und Ringe" mit dem Halbbetrunkenen, der am Tage nach seinem Hinauswurf vorbeigekommen war, um sich beim „ollen Knaben" für sein Benehmen zu entschuldigen; seitdem war er ein ständiger Kunde geworden. Philpot fehlte. Am Nachmittag war er dagewesen, berichtete der „olle Knabe"; aber gegen fünf Uhr war er nach Hause gegangen und seither nicht zurückgekommen. Es war aber mit Sicherheit anzunehmen, dass er im Laufe des Abends noch einmal hereinsehen werde.
Zwar war das Wirtshaus lange nicht so voll, wie es in besseren Zeiten gewesen wäre; doch es befand sich eine beträchtliche Anzahl Leute dort, denn die „Cricketers" war eins der beliebtesten Wirtshäuser der Stadt. Dass zwei andere Schenken der Nachbarschaft kürzlich geschlossen worden waren, trug auch dazu bei, das Geschäft hier zu beleben. In allen Abteilungen saßen Leute. Einige der Sitze im Schankraum waren von Frauen besetzt - darunter junge in Begleitung ihrer Ehemänner und alte, sichtlich vom Trunk aufgedunsene. In einer Ecke tranken drei junge Mädchen, die in einer Dampfwäscherei der Nachbarschaft arbeiteten, mit einer Schar junger Burschen Bier und Gin. Es saßen dort auch zwei große, fette, zigeunerhaft aussehende Frauen, offenbar Hökerinnen, denn neben ihnen standen auf dem Fußboden zwei Körbe mit Blumensträußen - Chrysanthemen und Herbstastern. Außerdem waren noch zwei sehr einfach und schäbig angezogene, etwa fünfunddreißigjährige Frauen da, die stets am Samstagabend hier zu finden waren und mit jedem Mann tranken, der bereit war, für sie zu zahlen. Das Betragen dieser beiden Frauen war sehr ruhig und unauffällig. Sie schienen zu wissen, dass sie nur geduldet waren, und verhielten sich daher demütig und bescheiden.
Die meisten Gäste standen. Der Fußboden war mit Sägespänen bestreut, die das übergeschwappte Bier der Leute aufsaugen sollten, deren schon unsichere Hände die Gläser nicht mehr gradehalten konnten. Die Luft roch übel nach Bier und Schnaps und war erfüllt von Tabakqualm; der Lärm war betäubend, denn fast alle sprachen gleichzeitig, und disharmonisch versuchten ihre Stimmen, die Anstrengungen des Musikautomaten zu übertönen, der gerade „Der Garten deines Herzens" spielte. In einer Ecke krümmten sich einige Männer vor Lachen über die Einzelheiten einer schmutzigen Geschichte, die einer von ihnen zum besten gab. Ein paar ungeduldige Kunden hämmerten mit den Böden ihrer leeren Gläser und Zinnkrüge auf den Schanktisch und brüllten nach mehr Bier. Von allen Seiten erklangen Flüche und obszöne Redensarten, und zwar fast ebenso häufig von den Frauen wie von den Männern. Und über all das hinweg war das Scheppern der Münzen zu hören, das Klingeln der Registrierkasse, das Klirren und Klappern der Gläser und Zinnkrüge beim Abwaschen, das gurgelnde Geräusch des Bieres, während es in die Trinkgefäße aus den Hähnen floss, deren Griffe fast pausenlos vom Kellner, vom „ollen Knaben" und von der glitzernden Wirtin bedient wurden, deren Seidenbluse und deren Juwelen im Haar, in den Ohren, am Hals und an den Fingern im Schein des Gaslichts prächtig blitzten.
Für Ruth war diese Szene so neuartig und seltsam, dass sie ganz betäubt und verwirrt war. Vor ihrer Heirat hatte sie niemals einen Tropfen Alkohol angerührt; seitdem aber hatte sie gelegentlich Easton zur Gesellschaft sonntags zu Hause ein Glas Bier mit ihm zum Mittagessen getrunken. Gewöhnlich war es jedoch Easton, der das Bier in einer Kanne holen ging. Ein- oder zweimal hatte sie es auch selbst in einer Bierhandlung nicht weit von ihrer Wohnung gekauft; noch niemals aber war sie in einem Wirtshaus gewesen, um zu trinken. Sie war so verlegen und fühlte sich so wenig wohl in ihrer Haut, dass sie Mrs. Crass kaum hörte noch verstand, was die unaufhörlich redete - hauptsächlich über die anderen Bewohner der North Street, in der sie beide wohnten, und über Mr. Crass. Sie versprach Ruth auch, ihr gleich Mr. Teilnehmer vorzustellen, einen ihrer beiden Mieter - wenn er herkomme, was fast sicher sei -, einen sehr distinguierten jungen Mann, der nun bereits seit über drei Jahren bei ihnen wohnte und um keinen Preis weggehen wollte. Schon in ihrem alten Haus war er Untermieter bei ihnen gewesen, und als sie in die North Street umzogen, zog er mit ihnen, obgleich er es von da aus weiter zu seinem Geschäft hatte als von ihrer früheren Wohnung. Mrs. Crass schwatzte noch viel ähnliches Zeug, dem Ruth wie im Traum zuhörte und auf das sie gelegentlich mit einem Ja oder Nein antwortete.
Währenddessen verabredeten Crass und Easton, der das Netz auf den Sitz neben Ruth gelegt hatte, mit dem Halbbetrunkenen und dem benebelten Tropf, eine Partie „Haken und Ringe" zu spielen; die Verlierer sollten für die ganze Gesellschaft, die beiden Frauen einbegriffen, eine Runde spendieren. Crass und der Halbbetrunkene losten um die Wahl der Partner. Crass gewann; er wählte den benebelten Tropf, und das Spiel begann. Von Anfang an war es eine einseitige Angelegenheit; denn Easton und der Halbbetrunkene waren den beiden anderen nicht gewachsen. Das Ergebnis war, dass Easton und sein Partner für die Getränke bezahlen mussten. Jeder der vier Männer bestellte einen halben Liter Starkbier, und Mrs. Crass nahm noch einmal für drei Pence Gin. Ruth versicherte, sie wünsche nichts mehr zu trinken, aber die anderen machten sich darüber lustig, und sowohl der benebelte Tropf wie der Halbbetrunkene schienen Ruths Mangel an Bereitschaft als persönliche Beleidigung aufzufassen, und so gestattete sie ihnen, noch ein kleines Bier für sie zu bestellen, das sie gezwungen war zu trinken, denn sie bemerkte, dass die anderen aufpassten, ob sie es auch tat.
Nun schlug der Halbbetrunkene ein Gegenspiel vor. Er wollte seine Revanche haben. Er war ein bisschen aus der Übung, sagte er, und gerade, als sie die andere Partie beendeten, war er dabei gewesen, sich einzuspielen. Crass und sein Partner stimmten bereitwillig zu, und obwohl Ruth flüsternd inständig bat, Easton möchte sofort mit ihr nach Hause gehen, bestand der darauf, am Spiel teilzunehmen.
Obgleich er und der Halbbetrunkene nun sorgfältiger spielten, und obwohl der benebelte Tropf sehr betrunken war, wurden sie wieder geschlagen und mussten noch einmal für eine Runde zahlen. Die Männer nahmen jeder einen Halben wie vorhin. Mrs. Crass, auf die der Likör bisher keinerlei Wirkung zu haben schien, bestellte wieder für drei Pence Gin, und Ruth erklärte sich bereit, noch ein Glas Bier zu nehmen, unter der Bedingung, dass Easton, sobald sie ausgetrunken hatten, mit ihr komme. Easton versprach das, aber anstatt Wort zu halten, begann er eine Partie Beilke mit den anderen dreien zu spielen, wobei Partner und Chancen wie zuvor verteilt waren.
Der Alkohol begann nun seine Wirkung auf Ruth auszuüben: sie fühlte sich schwindlig und verwirrt. Wenn sie auf Mrs. Crass' Unterhaltung etwas erwidern musste, fiel es ihr ziemlich schwer, die Worte auszusprechen, und sie wusste, dass ihre Antworten nicht sehr gescheit waren. Selbst als Mrs. Crass sie dem interessanten Mr. Teilnehmer vorstellte, der zu dieser Zeit eintraf, war sie kaum fähig, sich genügend zusammenzunehmen, um die Einladung dieses faszinierenden Herrn abzulehnen, noch ein Gläschen mit ihm und Mrs. Crass zu trinken.
Nach einiger Zeit wurde sie von einer heftigen Angst ergriffen, und sie beschloss, ohne Easton nach Hause zu gehen, wenn er nach Beendigung der Partie, die er gerade spielte, nicht käme.
Inzwischen nahm das Beilkespiel munter seinen Fortgang, während sich die Mehrzahl der männlichen Gäste um das Brett drängten und die Spieler, je nachdem die Gelegenheit es erforderte, mit Beifall oder Kritik bedachte. Der Halbbetrunkene war äußerst fröhlich, denn bei diesem Spiel war Crass nicht gerade ein Meister, und obgleich der benebelte Tropf gut spielte, konnte er den Mangel an Geschicklichkeit seines Partners nicht wettmachten. Als sich das Spiel seinem Ende näherte und es immer gewisser wurde, dass die Gegner des Halbbetrunkenen geschlagen würden, kannte dessen Freude keine Grenzen mehr, und er forderte sie heraus zu doppeln - ein großzügiges Angebot, das sie so weise waren abzulehnen, und da sie sahen, dass ihr Spiel hoffnungslos stand, kapitulierten sie bald darauf und machten sich bereit, den Tribut der Besiegten zu zahlen.
Crass bestellte die Getränke, und der benebelte Tropf kam für die Hälfte des Schadens auf - einen halben Liter Starkbier für jeden der Männer und das gleiche wie zuvor für die beiden Damen. Der „olle Knabe" führte die Bestellung aus; da er aber sehr beschäftigt war, schenkte er aus Versehen zwei dreistöckige Gin ein anstatt nur eines einzigen. Ruth wollte gar nichts mehr trinken; sie fürchtete sich aber, es zu sagen, und wollte auch kein Aufhebens davon machen, dass es das falsche Getränk war, besonders da ihr alle erklärten, der Likör werde ihr besser bekommen als Bier. Sie wollte keins von beiden haben; sie wollte fort und hätte am liebsten das Zeug aus dem Glas auf den Boden gegossen, sie fürchtete aber, Mrs. Crass oder einer der anderen könnten es sehen, und dann hätte sie vielleicht Unannehmlichkeiten. Auf jeden Fall schien es ihr leichter, diese kleine Menge Likör und Wasser zu trinken als ein großes Glas Bier, denn schon bei dem Gedanken hieran wurde ihr übel. Sie trank das Zeug, das Easton ihr gereicht hatte, in einem Zuge aus, stellte das leere Glas mit Schaudern zurück und stand entschlossen auf.
„Kommst du jetzt mit nach Haus? Du hast's versprochen", sagte sie.
„Ja, gleich", antwortete Easton, „wir haben noch so viel Zeit, 's ist noch nicht mal neun."
„Das macht nichts, 's ist schon spät genug. Du weißt doch, wir haben das Kind allein im Haus gelassen. Du hast versprochen, du kommst, sobald du mit dem andren Spiel fertig bist."
„Schon gut, schon gut", antwortete Easton ungeduldig. „Wart noch 'ne Minute, ich will bloß das hier noch sehen, dann komme ich."
„Das hier" war eine höchst interessante, von Crass gestellte Aufgabe, der dreizehn Streichhölzer nebeneinander auf das Beilkebrett gelegt hatte. Die Aufgabe bestand darin, keines fortzunehmen und doch nur NEUN dort zu lassen. Fast alle Männer im Schankraum drängten sich um das Spielbrett; einige versuchten mit gerunzelten Brauen und trunkenem Ernst, das Rätsel zu lösen, während andere neugierig auf das Ergebnis warteten. Easton ging hinüber, um zu sehen, wie es gemacht wurde, und da keiner in der Menge den Trick herausbekam, zeigte Crass, dass er darin bestand, einfach nur diese besagten dreizehn Streichhölzer zu legen, dass sie das Wort NEUN ergaben. Jeder sagte, das sei wirklich gut - sehr klug und interessant. Sowohl dem Halbbetrunkenen wie dem benebelten Tropf fielen bei diesem Kunststück einige andere ebenso gute Tricks ein, und sie führten sie vor; danach tranken die Männer jeder noch einen halben Liter zur Belebung nach der geistigen Anstrengung der letzten Minuten.
Easton kannte selbst keine Kunststücke; er war aber ein interessierter Zuschauer, während einige andere solche ausführten, bis Ruth herüberkam und seinen Arm berührte.
„Kommst du nicht?"
„Kannste nicht 'nen Augenblick warten?" schrie Easton grob. „Was haste denn für 'ne Eile?"
„Ich will hier nicht mehr bleiben", sagte Ruth aufgeregt. „Du hast gesagt, du kommst, sowie du den Trick gesehen hast. Wenn du nicht kommst, geh ich allein nach Haus. Ich will hier nicht mehr länger bleiben."
„Na, geh doch allein, wenn du willst", schrie Easton wütend und stieß sie von sich. „Ich bleib hier, solange's mir passt, und wenn's dir nicht gefällt, kannste ja verschwinden."
Ruth taumelte und wäre fast durch die Gewalt des Stoßes, den er ihr versetzt hatte, gefallen; der Mann wandte sich wieder dem Tisch zu, um dem Halbbetrunkenen zuzusehen; der hatte sechs Streichhölzer so gelegt, dass sie die Zahl XII bildeten, und behauptete, beweisen zu können, dies sei soviel wie tausend.
Ruth wartete noch ein paar Minuten; da Easton aber keine Notiz mehr von ihr nahm, hob sie das Netz und die übrigen Pakete auf, und ohne auch nur zu warten, um Mrs. Crass - die sich eifrig mit dem interessanten Mr. Teilnehmer unterhielt - „gute Nacht" zu wünschen, öffnete sie mit einiger Mühe die Tür und ging hinaus auf die Straße. Die kalte Nachtluft war erfrischend und angenehm nach der verdorbenen Luft des Wirtshauses; nach einem Weilchen aber begann sich Ruth schwach und schwindlig zu fühlen; sie bemerkte auch, dass sie unsicher ging, und bildete sich ein, die Leute starrten sie im Vorübergehen so merkwürdig an. Die Pakete waren schwer und mühsam zu tragen, und das Netz schien mit Blei gefüllt zu sein.
Zwar hätte sie normalerweise nur etwa zehn Minuten von hier zu gehen gehabt; sie beschloss jedoch, eine der Straßenbahnen zu nehmen, die am Ende der North Street vorbeifuhren. Sie setzte deshalb an der Haltestelle ihre Tasche auf das Pflaster und wartete, die Hand gegen den Eisenpfosten an der Straßenecke gestützt, wo eine kleine Menschenmenge stand, offenbar in der gleichen Absicht wie sie. Zwei Straßenbahnen fuhren vorbei, ohne zu halten, denn sie waren schon mit Fahrgästen vollbesetzt, was an Samstagabenden häufig vorkam. Die nächste hielt an; einige Leute stiegen aus, und dann entbrannte unter der wartenden Menge ein heftiger Kampf um die frei gewordenen Plätze. Männer und Frauen pufften, zerrten, fast schlugen sie einander; sie stießen sich gegenseitig Fäuste und Ellbogen in die Seite, in die Brust und ins Gesicht. Ruth wurde rasch beiseite geschleudert und beinahe zu Boden geworfen, und da die Straßenbahn bereits so viele Fahrgäste aufgenommen hatte, wie Platz da war, fuhr sie weiter. Ruth wartete auf die nächste, und wieder spielte sich die gleiche Szene ab wie zuvor, mit dem gleichen Ergebnis für Ruth; danach überlegte sie sich, dass sie jetzt schon zu Hause sein könnte, wenn sie nicht auf eine Bahn gewartet hätte, und sie beschloss, zu Fuß zu gehen. Die Pakete kamen ihr schwerer vor als je, und sie war noch nicht sehr weit gelangt, als sie gezwungen war, das Netz vor einem unbewohnten Haus wieder auf das Pflaster zu setzen.
Sie lehnte sich gegen den Zaun und fühlte sich sehr müde und krank... Alles um sie her, die Straße, die Häuser, die Fahrzeuge, schien verschwommen, schattenhaft und unwirklich. Einige Leute sahen sie im Vorbeigehen neugierig an; diesmal aber war sie sich der prüfenden Blicke kaum bewusst.
Slyme war an diesem Abend zur üblichen, von der Gemeinde des „Strahlenden Lichts" im Freien abgehaltenen Versammlung gegangen. Infolge des guten Wetters war die Veranstaltung sehr erfolgreich gewesen, und die Jünger, darunter Hunter, Rushton, Sweater, Didlum und Mrs. Hungerlass, Ruths ehemalige Herrin, hatten sich in voller Stärke versammelt, um besser mit irgendwelchen Ungläubigen, gedungenen Kritikern oder betrunkenen Lästerern fertig zu werden, die etwa versuchen mochten, den Verlauf des Unternehmens zu stören, und gleichzeitig hatten sie -vielleicht zum Beweis, wie viel wahrer Glauben sie erfüllte - dafür gesorgt, dass ein Polizist dort Dienst tat, um sie vor dem, was sie die „Mächte der Finsternis" nannten, zu schützen. Es mag verzeihlich sein, wenn wir meinen: wären sie wirklich gläubig gewesen, so hätten sie sich zu ihrem Schutz lieber auf jene Mächte des Lichts verlassen, die sie ja ihrer Behauptung nach auf diesem Planeten vertraten, anstatt sich die Mühe zu machen, eine so „weltliche" Macht wie die Polizei zu Hilfe zu rufen. Es ergab sich jedoch, dass heute die einzigen Ungläubigen dort diejenigen waren, welche die Versammlung abhielten, und da an dieser größtenteils Mitglieder der Gemeinde der Kapelle teilnahmen, wird dem Leser ohne weiteres einleuchten, dass die ungläubige Bruderschaft stark vertreten war.
Nach der Versammlung musste Slyme auf dem Heimweg an den „Cricketers" vorbei, und als er in die Nähe des Lokals kam, fragte er sich, ob Easton wohl dort sei; er wollte jedoch nicht hingehen und hineinblicken, denn er befürchtete, jemand könnte ihn vielleicht von dort kommen sehen und etwa denken, er sei drinnen gewesen, um zu trinken. In dem Augenblick, als er gegenüber dem Hause angekommen war, öffnete jemand die Tür des Schankraums und trat ein, so dass Slyme einen flüchtigen Blick hineinwerfen konnte, wo er Easton und Crass mit einer Anzahl anderer, ihm Unbekannter, lachen und miteinander trinken sah.
Slyme eilte weiter; es war sehr kalt geworden, und er wollte gern heim gelangen. Als er an die Straßenbahnhaltestelle kam, stellte er fest, dass eine Bahn in Sicht war; er beschloss, auf sie zu warten und nach Hause zu fahren, als sie jedoch ankam, waren nur ein oder zwei Plätze frei, und obwohl er sein Bestes tat, sich einen von diesen zu erobern, hatte er keinen Erfolg. Nach einem Augenblick des Zögern entschied er, er werde schneller zu Fuß heimkommen, als
wenn er auf die nächste Bahn wartete. So ging er also weiter, war jedoch noch nicht weit gelangt, als er auf der anderen Straßenseite vor einem unbewohnten Haus eine Menschenansammlung sah, und obwohl es ihm eilte, nach Hause zu kommen, ging er hinüber, um festzustellen, was da vorging. Etwa zwanzig Menschen standen dort herum, und in der Mitte, dicht am Zaun, waren drei oder vier Frauen, deren Stimmen Slyme hörte, die er aber nicht sehen konnte.
„Was ist 'n los?" fragte er einen Mann am Rande der Menge.
„Ach, nichts Besonderes", gab der andere zurück. „'ne junge Frau; entweder ist sie krank, ohnmächtig geworden oder so was Ähnliches - oder sie hat 'nen Tropfen zuviel getrunken."
„Sieht noch dazu ganz anständig aus", sagte ein anderer Mann.
Ein paar junge Burschen in der Menge belustigten sich damit, anzügliche Scherze über die junge Frau zu machen, und riefen durch gespieltes Mitleid einiges Gelächter hervor.
„Weiß denn niemand, wer sie ist?" fragte der zweite Mann, der Slyme geantwortet hatte.
„Nein", sagte eine Frau, die ein wenig näher zur Mitte der Menge stand. „Und sie sagt auch nicht, wo sie wohnt."
„Jetzt, nach dem Glas Selterswasser, wird's ihr schon besser gehen", sagte ein anderer Mann und bahnte sich mit dem Ellbogen einen Weg aus der Menge. Als er herauskam, gelang es Slyme, sich ein wenig weiter in die Gruppe hineinzudrängen, und unwillkürlich stieß er einen Schrei der Überraschung aus, als er Ruth erblickte, die sehr bleich und krank aussah und sich mit der linken Hand an eine der Gitterstangen klammerte, während sie in der andern die Pakete mit den Lebensmitteln hielt. Sie hatte sich inzwischen genügend erholt, um sich vor Scham und Verlegenheit überwältigt zu fühlen vor dieser Menge von Fremden, die sie von allen Seiten bedrängten und von denen sie einige über sie lachen und spotten hörte. Sie empfand daher unendliche Erleichterung und Dankbarkeit, als sie Slymes vertrautes Gesicht erblickte und seine freundliche Stimme vernahm, während er sich den Weg zu ihr bahnte.
„Ich kann jetzt schon gut nach Hause gehen", stammelte sie auf seine besorgte Frage, „wenn's dir nichts ausmacht, einige der Sachen hier für mich zu tragen."
Er bestand darauf, alle Pakete zu nehmen, und da die Menge zu dem Schluss gekommen war, er sei der Ehemann der jungen Frau, begann sie sich zu zerstreuen; einer der Spaßvögel bemerkte laut: „Alles vorüber!", als er sich davonmachte.
Sie hatten von dort nach Hause nur etwa sieben Minuten zu gehen, und da die Straßen, durch die ihr Weg führte, nicht sehr hell erleuchtet waren, konnte Ruth sich fast die ganze Zeit über auf Slymes Arm stützen. Als sie zu Hause angelangt waren und sie ihren Hut abgenommen hatte, hieß er sie, sich im Lehnstuhl neben dem Feuer niedersetzen, das hell brannte, und daneben auf dem Kaminvorsprung summte der Kessel, denn ehe sie fortgegangen war, hatte sie das Feuer mit glühender Asche und Kohlenstückchen umgeben.
Der Säugling schlief noch immer in der Wiege, aber offenbar war sein Schlummer nicht sehr ruhig gewesen, denn er hatte alle Decken von sich gestrampelt und lag nun ganz unbedeckt da. Ruth gehorchte willenlos, als Slyme sie aufforderte, sich zu setzen, und in den Sessel zurückgelehnt, sah sie mit halbgeschlossenen Augen und einer leichten Röte im Gesicht zu, wie er geschickt das schlafende Kind zudeckte und es bequemer in der Wiege zurechtlegte.
Nun wandte Slyme seine Aufmerksamkeit dem Feuer zu, und während er den Kessel darauf stellte, bemerkte er: „Sowie das Wasser kocht, mache ich dir 'n bisschen starken Tee."
Auf dem Heimweg hatte sie Slyme die Ursache mitgeteilt, weshalb sie in dem Zustand war, in dem er sie auf der Straße gefunden hatte, und während sie sich in den Lehnstuhl schmiegte und ihm schläfrig zusah, fragte sie sich, was wohl mit ihr geschehen wäre, wenn ihn sein Weg nicht vorbeigeführt hätte.
„Fühlst du dich jetzt besser?" fragte er und blickte auf sie nieder.
„Ja, danke schön. Ich fühl mich jetzt ganz wohl, aber ich fürchte, ich hab dir 'ne Menge Mühe gemacht."
„Nein, keineswegs. Nichts, was ich für dich tun kann, ist mir eine Mühe. Aber meinst du nicht, es ist besser, du ziehst die Jacke aus? Komm, lass mich dir helfen."
Es dauerte sehr lange, bis die Jacke ausgezogen war, denn während Slyme ihr half, küsste er sie leidenschaftlich immer wieder, wobei sie schlaff und ohne Widerstand zu leisten in seinen Armen lag.

 

25. Kapitel Das Rechteck

Im Laufe der nächsten Woche näherte sich die Arbeit in der „Höhle" rasch ihrem Abschluss, obwohl die Leute, da die Stunden des Tageslichts knapp waren, nur von acht bis sechzehn Uhr arbeiteten und bereits gefrühstückt hatten, wenn sie ihr Tagewerk begannen. Das machte vierzig Stunden Arbeitszeit in der Woche, so dass diejenigen, die einen Stundenlohn von sieben Pence hatten, ein Pfund drei Schilling und vier Pence verdienten. Wer sechseinhalb Pence erhielt, bekam ein Pfund, einen Schilling und acht Pence ausgezahlt. Wessen Lohn fünf Pence die Stunde betrug, ging mit der fürstlichen Summe von sechzehn Schilling acht Pence für eine Woche Schwerarbeit nach Hause, und wessen Satz bei viereinhalb Pence lag, bezog fünfzehn Schilling.
Und doch gibt es Leute, welche die Unverschämtheit haben zu behaupten, Trunksucht sei die Ursache der Armut!
Dabei geben viele von denen, die das behaupten, selber größere Summen als diese für Alkohol aus - an jedem einzelnen Tag ihres nutzlosen Lebens.
Am Dienstagabend waren die Innenarbeiten beendet bis auf die in Küche und Spülkammer. Die Küche war noch nicht gestrichen worden, weil der neue Herd nicht gekommen war, und die Spülkammer wurde noch als Malerwerkstatt benutzt. Die Außenarbeiten waren ebenfalls beinahe zu Ende geführt: der erste Anstrich war überall gemacht, und man war jetzt beim zweiten. Nach dem Kostenanschlag sollten alle Holzteile an der Außenwand dreimal und die Dachrinnen, Abflussrohre und anderen Eisenteile zweimal gestrichen werden; aber Crass und Hunter hatten bestimmt, zwei Anstriche müssten für die meisten der Fensterrahmen und der übrigen Holzteile genügen und nur einer für alle Eisenteile. Die Fenster wurden zweifarbig gestrichen: die Schieberahmen dunkelgrün und die Einfassungen weiß. Alles übrige - Giebel, Türen, Geländer, Regenrinnen und so weiter - war dunkelgrün, und die gesamte dunkelgrüne Farbe wurde mit gekochtem Leinöl und Firnis angerührt; Terpentin durfte für diese Arbeiten nicht verwendet werden.
„Herrlicher Dreck, den wir da nehmen müssen, was?" bemerkte Harlow am Mittwochmorgen zu Philpot. „Ist eher Sirup als sonst was."
„Na, und nächsten Sommer wird das Zeugs schön Blasen werfen, wenn 'n bisschen Sonne drauf scheint!" antwortete Philpot grinsend.
„Vermutlich haben sie Angst, dass es nicht deckt, wenn sie 'nen Schuss Terpentin zugeben, und dann müssten sie einen Anstrich mehr bewilligen."
„Da kannste Gift drauf nehmen, dass das der Grund ist!" erwiderte Philpot. „Nichtsdestotrotz hab ich die Absicht, mir 'nen Tropfen für meinen Pott zu organisieren, sowie Crass abhaut."
„Wohin denn abhaut?"
„Na, wußteste denn nicht? 's findet doch heute wieder 'ne Beerdigung statt. Haste nicht das Sargschild gesehen, das Owen am Sonnabendmorgen im Salon geschrieben hat?"
„Nö, ich war nicht da. Hast du vergessen, Mann, dass sie mich nach Windley rübergeschickt haben, um 'ne Decke zu weißen und 'n paar Anstricharbeiten zu erledigen?"
„Ach ja, richtig, daran hab ich nicht gedacht!" rief Philpot.
„Bestimmt machen sich Crass und Slyme 'n kleines Vermögen mit all den Beerdigungen", sagte Harlow. „Das ist die vierte in den letzten vierzehn Tagen. Was kriegen sie denn dafür?"
„Einen Schilling, den Sarg ins Haus bringen und die
Leiche reinlegen, und vier Schilling für das Begräbnis. Macht zusammen fünf."
„Ganz nett, was?" meinte Harlow. „Zweimal die Woche, neben deinem Lohn. Fünf Schilling für zwei, drei Stunden Arbeit!"
„Schon, das Geld ist nicht schlecht, Mann, aber von mir aus können sie's haben. Ich hab keine Lust nicht, mit Leichen rumzufummeln!" erwiderte Philpot schaudernd.
„Wer ist denn der Verstorbene?" fragte Harlow nach einer Pause.
'n Pastor, der zur Kapelle ,Das strahlende Licht' gehört hat. War im Ausland, in Monte Carlo, verbrachte da seinen Urlaub. Soll krank gewesen sein, eh er wegfuhr, aber der Luftwechsel hat ihm gut getan. Ist wieder ganz in Ordnung und schon auf der Rückreise gewesen. Aber wie er auf dem Bahnhof in Monte Carlo auf den Zug wartet, da rennt ihn doch 'n Gepäckträger mit 'nem Karren voll Gepäck an, und da ist er explodiert."
„Explodiert?"
„Jawoll", wiederholte Philpot, „explodiert! Geplatzt! Auseinandergeknallt! In lauter Stücke. Die haben sie alle wieder zusammengefegt und in 'nen Sarg gelegt, und der soll heut Nachmittag eingebuddelt werden."
Harlow schwieg sehr beeindruckt, und Philpot fuhr fort:
„Neulich Abend hab ich einen gehoben mit 'nem Fleischergesellen, der diesem Pastor immer das Fleisch gebracht hat. Wir sprachen darüber, was für 'n merkwürdiger Tod das war; aber er sagte, ihn wunderte das keineswegs nicht, er wunderte sich nur darüber, weshalb der Mensch nicht schon längst geplatzt ist, bei all dem Futter, was der immer verdrückt hat. Er sagte, 's war doll, welche Mengen er dorthin gebracht hat und was er andere Firmen dorthin liefern sah. Tonnenweise brachten sie dem Mann das Zeug ins Haus!"
„Wie hieß denn der Pastor?" fragte Harlow.
„Rülpser. Du musst 'n in der Stadt schon gesehen haben. 'n ganz feister Bursche", antwortete Philpot. „Schade, dass du am Sonnabend nicht hier warst, um das Sargschild zu sehen. Frank rief mich, als er fertig war, um mir den Text zu zeigen. Er hieß: Jonydab Rülpser. Geboren am 1. Januar 1849. Gen Himmel gestiegen am 8. Dezember 19..".
„Ach, jetzt weiß ich, welcher Kerl das war!" fiel Harlow ein. „Ich erinnere mich, meine Gören brachten mal 'ne Sammelliste mit. Die hatten sie in der Sonntagsschule bekommen, um Geld zu sammeln, damit er in Urlaub geschickt werden konnte, weil er krank war. Ich hab jedem einen Penny auf die Liste gegeben, weil ich nicht wollte, dass sie vor den andern Kindern als Geizkragen dastehen."
„Ja, der ist's. Zwei oder drei Knirpse haben mich damals auch angebettelt. Jetzt ist wieder 'ne Sammelliste in Umlauf. Gestern hab ich eins von Newmans Kindern getroffen, das hat sie mir gezeigt. Diesmal soll das Geld für 'ne Feier und 'nen Weihnachtsbaum für alle Kinder sein, die zur Sonntagsschule gehen. 's hat mich nicht gewurmt, für so was 'ne Kleinigkeit zu spendieren."
„Scheint kälter zu werden, was?"
„Kalt genug, einem das Mark in den Knochen gefrieren zu lassen!" bemerkte Easton, der eine in der Nähe stehende Leiter herunterstieg. Er setzte seinen Farbtopf auf die Erde und versuchte, sich die Hände zu wärmen, indem er sie rieb und aneinander schlug.
Er zitterte, und seine Zähne klapperten vor Kälte.
„Jetzt könnte ich 'n Bier ganz gut vertragen", sagte er und stampfte mit den Füßen auf den Boden.
„Das dacht ich eben auch grad", antwortete Philpot nachdenklich, „und ich werd mir auch zu Mittag 'nen Halben holen. Ich flitze schnell rüber in die ,Cricketers'. Selbst wenn ich erst 'n paar Minuten nach eins zurückkommen sollte, macht's nichts, weil Crass und Nimrod zur Beerdigung sehr werden."
„Bringste mir 'ne Halbliterflasche mit?" fragte Easton.
„Na, gewiss", erwiderte Philpot.
Harlow sagte nichts. Er hätte auch gern ein Bier gehabt, aber wie gewöhnlich hatte er nicht das notwendige „Kleingeld". Nachdem sie ihr Blut wieder einigermaßen zum Zirkulieren gebracht hatten, gingen sie von neuem an die Arbeit, und das gerade zur rechten Zeit, denn einige Minuten später bemerkten sie, wie Elend um die Ecke des Hauses zu ihnen hinüberspähte. Sie fragten sich, wie lange er wohl schon dort stand und ob er ihr Gespräch gehört hatte.
Um zwölf Uhr machten sich Crass und Slyme in größter
Eile aus dem Staub, und kurz darauf nahm Philpot seine Schürze ab und zog seinen Rock an, um in die „Cricketers" zu gehen. Als die anderen herausbekommen hatten, wohin er gehen wollte, baten ihn einige, ihnen etwas zu trinken mitzubringen, und jemand schlug vor, jeder, der Bier haben wollte, sollte zwei Pence geben. Gesagt, getan: ein Schilling und vier Pence wurden gesammelt und Philpot übergeben, damit er eine Vierliterkanne Bier mitbringe. Er versprach, so bald wie nur irgend möglich zurück zu sein, und einige der Aktienbesitzer des Unternehmens beschlossen, keinen Tee zu ihrem Essen zu trinken, sondern auf das Bier zu warten, obwohl sie wussten, dass er erst kurz bevor sie die Arbeit wieder aufzunehmen hatten, zurück sein konnte. Er würde frühestens um Viertel vor eins kommen.
Langsam schlichen die Minuten dahin, und nach einer Weile riss dem einzigen Mann auf der Arbeitsstelle, der eine Uhr hatte, die Geduld, und er weigerte sich, noch weiterhin Fragen nach der Zeit zu beantworten. Deshalb wurde Bert bald darauf nach oben unters Dach geschickt, um nach der Kirchturmuhr zu sehen, die man von dort erkennen konnte. Als er wieder herunterkam, berichtete er, es sei zehn Minuten vor eins.
Jetzt begannen sich Anzeichen der Nervosität bei den Aktienbesitzern bemerkbar zu machen, und einige von ihnen gingen auf die Hauptstraße hinunter, um nach Philpot Ausschau zu halten; alle kehrten aber mit dem gleichen Bericht zurück - von ihm war nichts zu sehen.
Während Crass' Abwesenheit war offiziell niemand mit der Aufsicht betraut, doch alle begaben sich pünktlich um ein Uhr wieder an die Arbeit, weil sie fürchteten, Sawkins oder irgendein anderer Kriecher könnte Crass oder Elend einen Verstoß melden.
Um Viertel nach eins war Philpot noch immer nicht zurück, und die Unruhe unter den Aktienbesitzern begann, sich zur Panik zu steigern. Einige sprachen ganz offen die Meinung aus, Philpot sei mit dem Geld bummeln gegangen. Als die Zeit verging, wurde das zur allgemeinen Ansicht. Da man um zwei Uhr jede Hoffnung auf seine Rückkehr aufgegeben hatte, gingen zwei oder drei der Aktienbesitzer etwas kalten Tee trinken.
Ihre Befürchtungen erwiesen sich als völlig begründet denn bis zum nächsten Morgen sahen sie Philpot nicht wieder. Mit ziemlich einfältigem und reuigem Gesicht kam er an und versprach, das ganze Geld am Sonnabend zurückzuerstatten. Er gab auch eine ziemlich lange, verworrene Erklärung ab, wonach er auf dem Weg in die „Cricketers" einige Bekannte getroffen hatte, die gerade arbeitslos waren und die er zu einem Glas Bier einlud. Als sie in die Kneipe kamen, fanden sie dort den Halbbetrunkenen und den benebelten Tropf vor. Ein Trunk kam zum anderen, sie begannen zu streiten, und schließlich vergaß er die vier Liter Bier ganz und gar, bis er heute morgen aufwachte.
Während Philpot diese Erklärung abgab, banden sie ihre Kittel und Schürzen um, und Crass teilte die Farbe aus. Slyme beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, sondern machte sich so schnell wie möglich fertig und ging hinaus, um anzufangen. Der Grund für diese Eile wurde einigen der anderen sehr bald offenbar, denn sie bemerkten, dass er sich ein großes, vor dem heftigen Wind geschütztes Fenster ausgesucht und es zu streichen begonnen hatte.
Das Kellergeschoß des Hauses lag etwas tiefer als der Erdboden, und vor dem Kellerfenster befand sich eine drei Fuß tiefe Einbuchtung, eine Art Graben. Die Wälle dieses Grabens waren mit Rosensträuchern und Immergrün bepflanzt, und sein Boden bestand aus glitschigem, übel riechendem, regendurchtränktem Schlamm und starrte von den Exkrementen der Tiere, die dort des Nachts umherstreiften. Um den Rahmen der Kellerfenster den zweiten Anstrich zu geben, mussten Philpot und Harlow in diesen Schmutz, der durch ihre abgetragenen und zerrissenen Schuhsohlen drang, hinabsteigen und darin stehen. Während sie arbeiteten, blieben die Dornen der Rosenbüsche an ihrer Kleidung hängen, zerrissen sie und zerkratzten die Haut ihrer halberfrorenen Hände.
Owen und Easton arbeiteten auf Leitern an den Fenstern unmittelbar über Philpot und Harlow. Sawkins, auf einer anderen Leiter, strich einen Giebel an, und die übrigen Leute waren an verschiedenen Stellen der Außenfront des Hauses beschäftigt. Bert, der Lehrling, strich die eisernen Gartenzaunstäbe. Es war bitter kalt; die Sonne verbarg sich hinter einer trübgrauen Wolkenschicht, die den Winterhimmel bedeckte.
Während sie dort arbeiteten, standen sie fast die ganze Zeit über beinahe völlig reglos; der einzige Körperteil, den sie bewegten, war der rechte Arm. Die Arbeit, mit der sie jetzt beschäftigt waren, musste sehr sorgfältig und überlegt ausgeführt werden - sonst würden die Scheiben „verschmiert", oder die weiße Farbe der Einfassung könnte in die grüne der Schieberahmen laufen, weil beide Farben noch nass waren. Jeder von den Leuten hatte zwei Farbtöpfe und zwei Sätze Pinsel. Der Wind blies nicht in plötzlichen Stößen, sondern wehte stark und anhaltend, durchdrang ihre Kleidung und ließ sie vor Kälte zittern und erstarren. Er pfiff von rechts und war deshalb um so beißender; denn der erhobene rechte Arm ließ den Körper von dieser Seite völlig ungeschützt. Die linke Hand konnten sie in die Hosentasche stecken und den linken Arm gegen die Seite pressen. Das machte viel aus.
Noch aus einem anderen Grunde ist es schlimmer, wenn einen der Wind von rechts trifft. Die Knöpfe der Männerjacketts sitzen stets auf der rechten Seite, und dadurch kann der Wind in die Jacke hineinblasen. Philpot fühlte das um so mehr, als an seinem Jackett und seiner Weste einige Knöpfe fehlten.
Während sie vor Kälte zitternd und zähneklappernd mit der Arbeit fortfuhren, nahmen ihr Gesicht und ihre Hände allmählich die hellila Farbe an, die man gewöhnlich auf den Lippen von Leichen sieht. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ihre Lider röteten und entzündeten sich. Bald waren Philpots und Harlows Stiefel völlig durchnässt vom Wasser, das sie aus dem feuchten Boden aufgesogen hatten, und ihre Füße waren wund und schmerzten stark vor Kälte.
Am meisten litten natürlich ihre Hände, die so starr wurden, dass sie die Pinsel, die sie hielten, nicht mehr fühlen konnten, und als Philpot den Pinsel in die Farbe eintauchte, fiel der ihm tatsächlich aus der Hand und in den Topf, und da er feststellte, dass er die Finger nicht mehr bewegen konnte, steckte er die Hand in die Hosentasche, um sie zu wärmen, und begann umherzulaufen, wobei er
mit den Füßen fest auf den Boden stampfte. Owen, Easton und Harlow folgten bald seinem Beispiel, und alle schlüpften um die Ecke zur geschützten Seite des Hauses, wo Slyme arbeitete. Dort gingen sie auf und ab, rieben sich die Hände, stampften mit den Füßen auf und schlenkerten mit den Armen, um sich zu wärmen.
„Wenn ich wüsste, dass Nimrod nicht käme, würd ich mir den Mantel zur Arbeit anziehen", bemerkte Philpot, „aber man weiß ja nie, wann dieser Kerl kommt, und wenn er mich im Mantel sieht, jagt er mich zum Teufel."
„Dabei würde's uns bei der Arbeit überhaupt nicht hindern, wenn wir die Überzieher anzögen", sagte Easton, „wir würden sogar schneller arbeiten, wenn uns nicht so lausig kalt wär."
„Selbst wenn Elend nicht käme, würde Crass vermutlich allerhand zu sagen haben, wenn wir sie anziehen", fuhr Philpot fort.
„Na, könntet ihr ihm ja woll auch nicht verdenken, wenn er was sagte, oder?" bemerkte Slyme aggressiv. „Crass würde schön was auf den Deckel kriegen, wenn Hunter kam und uns in Mänteln arbeiten sähe. Das würde vielleicht lächerlich aussehen!"
Slyme litt weniger unter der Kälte als alle übrigen, nicht nur, weil er sich das am meisten geschützte Fenster gesichert hatte, sondern auch, weil er besser angezogen war als fast alle übrigen.
„Was murkst denn der Crass eigentlich drinnen?" fragte Easton, während er auf und ab stapfte, die Schultern nach vorn gezogen und die Hände tief in den Hosentaschen vergraben.
„Weiß der Kuckuck", antwortete Philpot. „Er fummelt rum und bessert aus oder rührt Farben ein. Bei so 'ner Arbeit wie der hier macht er nie seinen Teil; der sieht schon zu, wie er zurechtkommt."
„Na und? Wir würden's ebenso halten, wenn wir an seiner Stelle wären, und jeder andre auch", sagte Slyme und fügte sarkastisch hinzu: „Oder vielleicht würdet ihr alle angenehmen Arbeiten andren geben und selbst die Schufterei übernehmen."
Slyme wusste, dass sie auch auf ihn anspielten, obwohl
sie von Crass sprachen, und während er Philpot antwortete, sah er listig zu Owen hinüber, der sich bisher nicht an der Unterhaltung beteiligt hatte.
„Handelt sich ja gar nicht darum, was wir machen würden", fiel Harlow ein. „Handelt sich ja darum, was anständig ist. 's ist nicht anständig von Crass, alle leichten Arbeiten für sich selbst rauszusuchen und alle schweren den andern zu überlassen; und nur, weil wir's ebenso machen würden, wenn wir Gelegenheit hätten, ist's noch lange nicht richtig."
„Man kann es niemand verübeln, wenn er unter den bestehenden Umständen das Bestmögliche für sich selbst herausholt", sagte Owen auf Slymes fragenden Blick. „Das ist ja das Prinzip des gegenwärtigen Systems: jeder für sich, und den letzten beißen die Hunde. Was mich betrifft, ich behaupte nicht, meine Handlungen von den Regeln bestimmen zu lassen, die in der Bergpredigt niedergelegt sind. Aber es mutet ziemlich seltsam an, wenn du, der du doch vorgibst, ein Anhänger Christi zu sein, der Selbstsucht das Wort redest. Oder vielmehr, es würde einen seltsam anmuten, wenn die Bezeichnung ,Christ' nicht aufgehört hätte, einer, der Christus folgt, zu bedeuten, und nicht nur noch Lügner und Heuchler hieße."
Slyme gab keine Antwort. Vielleicht befähigte ihn die Tatsache, dass er wirklich ein echter Gläubiger war, diese Beleidigung mit Demut und Sanftmut zu ertragen.
„Wie spät mag's woll sein?" warf Philpot ein.
Slyme sah nach der Uhr. Es war beinahe zehn.
„Verdammter Mist! Erst?" knurrte Easton, als sie sich wieder an die Arbeit begaben. „Noch zwei Stunden bis zum Essen!"
Nur noch zwei Stunden - aber diesen elenden, halbverhungerten, schlecht gekleideten Geschöpfen, die dort im bitterkalten Wind standen, der ihre Kleidung durchdrang und ihnen mit eisigen Fingern an Herz und Lungen zu zerren schien, kam die Zeit wie eine Ewigkeit vor. Urteilte man nach dem Eifer, mit dem sie ihre Mittagsstunde herbeisehnten, so hätte man meinen sollen, ein großartiges Bankett erwarte sie anstatt nur Brot, Käse und Zwiebeln oder Bücklinge - und dazu aufgekochten Tee.
Noch zwei Stunden der Qual bis zum Essen und danach drei weitere Stunden. Und dann wäre es, Gott sei Dank, zu dunkel, um noch etwas zu sehen und weiterarbeiten zu können.
Es wäre viel besser für sie gewesen, wären sie, anstatt „Freie" zu sein, Sklaven und Mr. Rushtons Eigentum gewesen und nicht seine Angestellten. So, wie die Dinge jetzt standen, hätte es ihn nicht bekümmert, wäre einer von ihnen oder wären sie alle durch Erkältung krank gegeworden oder gar gestorben. Ihm hätte es nichts ausgemacht. Es gab ja genügend andere, die arbeitslos und am Verhungern waren, die mit Freuden den Platz der Erkrankten eingenommen hätten. Wären sie jedoch Rushtons Eigentum gewesen, so wäre eine Arbeit wie diese hier aufgeschoben worden, bis sie ohne Gefahr für Gesundheit und Leben der Sklaven ausgeführt werden konnte, oder, falls sie bei diesem Wetter fortgesetzt wurde, hätte der Besitzer der Leute zumindest dafür gesorgt, dass sie genügend bekleidet und ernährt waren; er hätte sich um sie ebenso gesorgt wie etwa um sein Pferd.
Die Menschen sorgen sich immer sehr um ihre Pferde. Falls sie ein Pferd überanstrengten und damit verursachten, dass es krank würde, so hätten sie Unkosten für Medizin und den Tierarzt, vom Futter und von der Unterbringung des Tieres ganz zu schweigen. Falls sie ihre Pferde zu Tode schindeten, so müssten sie neue kaufen. Aber keine dieser Rücksichten gilt für Lohnarbeiter. Schinden sie einen Arbeiter zu Tode, so können sie an der nächsten Straßenecke unentgeltlich einen anderen bekommen. Sie brauchen ihn nicht zu kaufen; alles, was sie zu tun haben, ist, ihm genügend Geld zu geben, damit er sich irgendwie mit Lebensmitteln und Kleidung versorgen kann, solange er für sie arbeitet. Verschulden sie, dass er krank wird, so brauchen sie ihn nicht zu ernähren noch für seine medizinische Betreuung zu sorgen, solange er daniederliegt. Er wird sich dieser Dinge enthalten oder aber selbst für sie zahlen. Trotzdem müssen wir zugeben, dass der Lohnarbeiter sowohl dem Pferd als auch dem Sklaven überlegen ist insofern, als er den unschätzbaren Segen der Freiheit genießt. Gefallen ihm die Bedingungen des Mannes, der ihn mietet nicht, so braucht er sie nicht anzunehmen. Er kann sich weigern zu arbeiten, und er kann gehen und kann verhungern. Er wird von keinen Stricken gehalten. Er ist ein freier Mann. Er ist der Erbe aller Zeitalter. Er genießt vollkommene Freiheit. Er hat das Recht, frei zu wählen, was er tun will - sich zu unterwerfen oder zu verhungern, Dreck zu essen oder nichts zu essen.
Kälter und kälter blies der Wind. Der Himmel, der anfangs durch Risse in den Wolkenmassen kleine Flecke von Blau sehen ließ, war jetzt einförmig grau geworden. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass es schneien werde.
Die Leute nahmen das mit gemischten Gefühlen wahr. Begann es zu schneien, so konnten sie diese Arbeit hier nicht fortsetzen, und deshalb ertappten sie sich unwillkürlich bei dem Wunsch, es möge schneien, regnen, hageln oder sonst etwas geschehen, was der Arbeit Einhalt geböte. Andererseits aber müssten einige von ihnen „feiern", wenn das Wetter sie daran hinderte, mit den Außenarbeiten fortzufahren, denn die Innenarbeiten waren praktisch beendet. Keiner von ihnen wünschte, Arbeitszeit zu verlieren, wenn er das irgend vermeiden konnte, denn bis Weihnachten waren es nur noch zehn Tage.
Der Morgen schlich langsam dahin, und es fiel kein Schnee. Schweigend fuhren die Leute mit der Arbeit fort, denn sie waren nicht in der Stimmung zu reden, und nicht nur das: sie befürchteten auch, dass Hunter, Rushton oder Crass sie vielleicht hinter einem Busch, einem Baum hervor oder durch eines der Fenster beobachtete. Die Furcht hiervor beherrschte sie derartig, dass die meisten kaum wagten, sich umzublicken, und stetig mit der Arbeit fortfuhren. Keiner von ihnen wollte seine Aussicht verderben, von der Firma behalten zu werden und bei der Arbeit an dem zweiten Hause mithelfen zu können, das Rushton & Co., wie berichtet wurde, für Mr. Sweater „überholen" sollte.
Endlich war es doch zwölf Uhr, und kaum hatte Crass' Trillerpfeife aufgehört zu schrillen, als bereits alle in der Küche vor dem hellodernden Feuer versammelt waren. Sweater hatte zwei Tonnen Kohle gesandt und angeordnet, dass jeden Tag in fast allen Räumen Feuer unterhalten
werden sollte, um das Haus bis Weihnachten bewohnbar zu machen.
„Möcht wissen, ob's wohl wahr ist, dass die Firma noch 'nen Auftrag vom ollen Sweater hat?" fragte Harlow, während er sich am Ende eines spitzen Stockes einen Bückling röstete.
„Wahr? Nö!" sagte der Mann auf dem Eimer verächtlich. „Ist nichts als Kohl. Du kennst doch das leere Haus, von dem sie sagten, Sweater hätt's gekauft - das, was Rushton und Nimrod beäugten?"
„Ja", erwiderte Harlow. Die anderen hörten mit sichtlichem Interesse zu.
„Nu, sie haben's gar nicht abgeschätzt. Der Besitzer von dem Haus ist im Ausland, und im Garten standen 'n paar Pflanzen, die Rushton gern für sich haben wollte, und er hat Elend bloß erklärt, welche es waren. Und nachher ist der olle Pontius Pilatus mit Ned Dawson und 'nem Wagen angerückt gekommen. 'n paar Fahrten haben sie gemacht und so ziemlich alles, was lohnte, aus dem Garten rausgeholt. Was nicht zu Rushton gegangen ist, ist zu Hunter gekommen."
Über dem Interesse an dieser Geschichte geriet die Enttäuschung ihrer Hoffnung beinahe in Vergessenheit.
„Wer hat dir 'n das erzählt?" fragte Harlow.
„Ned Dawson selber. 's stimmt schon, was ich dir sage. Frag 'n doch."
Ned Dawson, der gewöhnlich „Bundys Kumpel" genannt wurde, war ein paar Tage lang nicht im Hause, sondern unten in der Werkstatt gewesen, wo er allerlei Kleinarbeiten verrichtet hatte, und erst an diesem Morgen war er in die „Höhle" zurückgekehrt. Als Dick Wantley sich auf ihn berief, bestätigte er dessen Erklärung.
„Sie wer'n sich schon noch in die Nesseln setzen, wenn sie nicht aufpassen", bemerkte Easton.
„Ach wo, die nicht. Rushton ist viel zu gerissen dazu. Der Verwalter ist anscheinend 'n Busenfreund von ihm, und sie stecken beide unter einer Decke."
„Immerhin, 'ne dolle Unverschämtheit, verdammt noch mal!" rief Harlow aus.
„Ach, das ist doch noch gar nichts gegen manche von den
Dingern, die ich sie schon habe drehen sehen", sagte der Mann auf dem Eimer. „Na, weißte denn nicht mehr, letzten Sommer der geschnitzte Eichenholz-Flurtisch, den Rushton sich aus dem Haus an der Großen Paradeallee geklaut hat?"
„Ja, das war auch nicht grade von Pappe, was?" rief Philpot, und mehrere der anderen lachten.
„Du weißt doch, das große Haus, das wir letzten Sommer renoviert haben - Nr. 596", fuhr Wantley für die „Nichteingeweihten" fort. „Nu, 's hatte schon ziemlich lange leer gestanden, und wir hatten den Tisch in 'nem Wandschrank unter der Treppe gefunden. 'n verflucht anständiger Tisch war's. Einer von diesen Konsoltischen, die man an der Wand festmacht, ohne Beine. Hatte 'ne halbrunde Marmorplatte, und drunter war 'ne geschnitzte Eichenholzfigur, 'ne Nixe, die mit den Armen überm Kopf die Tischplatte hielt - 'n feines Ding!" Der Mann auf dem Eimer begeisterte sich bei dem Gedanken daran. „Muss mindestens seine fünf Pfund wert gewesen sein. Nu, grade wie wir den Tisch rausziehen, kommt mein Rushton an, und kaum hat er 'n beäugt, da sagt er zu Crass, er soll 'n mit 'nem Sack zudecken und niemand sehen lassen. Und dann haut er zum Laden ab, schickt den Jungen mit dem Wagen runter und lässt das Ding zu sich ins Haus bringen, und da ist's jetzt vorne in der Diele angemacht. Ich bin vor 'n paar Monaten hingeschickt worden, um die Vestibültüren neu zu streichen und zu lackieren, und da hab ich's selbst gesehen. Genau drüber hängt 'n Bild an der Wand, ,Das Jüngste Gericht' heißt's - Donner, Blitze, Erdbeben und Leichen, die aus ihren Gräbern aufstehen: 'ne ziemlich gruselige Sache! Und unter dem Bild hängt 'ne Karte mit 'nem Zitat aus der Bibel ,Christ ist der Herr dieses Hauses, der unsichtbare Gast bei jeder Mahlzeit, der stumme Zuhörer bei jedem Gespräch'. Ich hab dort drei, vier Tage gearbeitet und 's schließlich auswendig gekonnt."
„Na, das ist doch woll die Höhe, was?" meinte Philpot.
„Ja, aber das beste dran war, dass das olle Elend, als er von dem Tisch hörte, so 'ne Wut kriegte, weil er 'n nicht selbst bekommen hatte, dass er raufging, 'ne Jalousie klaute und sie sich durch den Jungen ins Haus bringen ließ, und n paar Tage später musste einer der Tischler kommen und sie in Hunters Schlafzimmer anmachen."
„Und das ist nie rausgekommen?" fragte Easton.
„Nu, 's hat 'n bisschen Gerede drüber gegeben. Der Verwalter hat wissen wollen, wo die Jalousie geblieben war, aber Pontius Pilatus hat Stein und Bein geschworen, 's hätt nie eine in dem Zimmer gegeben, und das Ende vom Lied war, dass die Firma 'n Auftrag bekommen hat, 'ne neue zu liefern."
„Was ich nicht verstehe, ist, wem hat 'n der Tisch eigentlich gehört?" meinte Harlow.
„Der hat zum Haus gehört", antwortete Wantley. „Aber ich nehme an, die letzten Mieter haben 'n eigenes Möbelstück gehabt, das sie in die Diele stellen wollten, da, wo der Tisch festgemacht gewesen ist, und so haben sie 'n runtergenommen und in dem Schrank aufbewahrt, und wie sie ausgezogen sind, haben sie sich woll nicht die Mühe gemacht, den wieder da anzubringen. Auf jeden Fall ist die Stelle an der Wand noch zu sehen gewesen, wo er mal gehangen hat; aber wie wir die Treppe gemacht haben, ist die Stelle übertapeziert worden, und ich nehme an, der Hauswirt oder der Verwalter hat überhaupt nicht mehr an den Tisch gedacht. Auf jeden Fall ist Rushton damit durchgekommen."
Nun erzählten auch einige der anderen ein paar ähnliche Geschichten über die Machenschaften verschiedener Unternehmer, für die sie gearbeitet hatten; nach einiger Zeit aber kehrte die Unterhaltung zu dem Thema zurück, das ihnen allen am nächsten lag - die bevorstehende „Metzelei" und wie unwahrscheinlich es sei, dass sie angesichts der vielen Arbeitslosen, die es bereits gab, eine neue Arbeitsmöglichkeit fänden.
„Ich kann's mir selbst nicht erklären", bemerkte Easton. „Die Lage scheint jedes Jahr schlimmer zu werden. Anscheinend gibt's nicht mehr halb soviel Arbeit wie früher, und die, die's gibt, wird sowieso gepfuscht, als ob die Leute, die sie machen lassen, 's sich nicht leisten könnten, dafür zu bezahlen."
„Ja", sagte Harlow, „das stimmt. Guckt euch doch bloß mal die Arbeit in einem von den Häusern an der Großen Paradeallee an. Damals müssen die Leute bestimmt mehr Geld zum Ausgeben gehabt haben; denkt mal, die ganzen massiven Vorhangprofile über den Salon- und Speisezimmerfenstern - gediegen vergoldet! Heutzutage würden die Besitzer verlangen, dass das ganze verdammte Haus -innen und außen - für das Geld gemacht wird, das es gekostet hat, eins von den Profilen zu vergolden."
„'s scheint, dass heutzutage fast jeder mehr oder weniger knapp bei Kasse ist", sagte Philpot. „Ich freß 'n Besen, wenn ich das kapiere, aber 's ist so."
„Du solltest Owen bitten, es dir zu erklären", bemerkte Crass höhnisch lachend. „Er weiß ja ganz genau, was die Ursache der Armut ist, er will's bloß niemand sagen. Er wollte's ja schon lange bald mal erklären, aber 's scheint nichts draus zu werden."
Crass hatte noch keine Gelegenheit gefunden, den Ausschnitt aus dem „Verdunkler" vorzuzeigen, und er machte diese Bemerkung in der Hoffnung, damit die Unterhaltung in eine solche Bahn zu lenken, in der er das nachholen konnte. Owen antwortete jedoch nicht, sondern las weiter in seiner Zeitung.
„Wir haben schon lange keinen Vortrag mehr gehört, was?" sagte Harlow in gekränktem Ton. „Ich denke, 's wird Zeit, dass Owen mal erklärt, was denn nun eigentlich die wahre Ursache der Armut ist. Ich fange an, ganz scharf drauf zu werden."
Die anderen lachten.

 

26. Kapitel Das Rechteck (Schluss)

Als Philpot sein Mittagessen beendet hatte, verließ er die Küche und kehrte bald darauf mit einer neuen Leiter zurück, die er in einer Ecke des Raumes aufstellte, die Rückseite der Stufen dem Publikum zugewendet.
„Da, mein Sohn", rief er Owen zu. „Hier haste 'n Rednerpult!"
„Jawoll! Los!" rief Crass und fühlte in seiner Westentasche nach dem Zeitungsausschnitt. „Sag uns mal, was die wahre Ursache der Armut ist."
„Hört, hört!" rief der Mann auf dem Eimer. „Stell dich auf das verdammte Pult und halt uns 'ne Predigt."
Da Owen auf diese Einladungen nicht reagierte, begann die Menge zu johlen und zu pfeifen.
„Los, Mann", flüsterte Philpot und blinzelte Owen mit seinen hervorquellenden Augen aufmunternd an. „Los, bloß zum Spaß, zum Zeitvertreib."
Owen stieg also auf die Leiter - zur heimlichen Freude von Crass - und wurde sogleich mit begeistertem Applaus empfangen.
„Na also, seht ihr?" sagte Philpot, zur Versammlung gewendet. „'s hat gar keinen Zweck nicht, zu pfeifen und zu drohen, er ist nämlich einer von den Rednern, die man bloß mit Güte kriegen kann. Wenn ich nicht gewesen wär, hätt er sich überhaupt nicht bereit erklärt zu sprechen."
Nachdem Philpot einstimmig zum Versammlungsleiter gewählt worden war - auf Antrag Harlows, unterstützt von dem Mann auf dem Eimer -, begann Owen:
„Herr Vorsitzender, meine Herren,
da ich nicht gewohnt bin, in der Öffentlichkeit zu reden, wage ich nur zögernd, mich an eine so große, erlesene, elegante und intelligent aussehende Zuhörerschaft zu wenden, wie ich die Ehre habe, sie hier vor mir versammelt zu sehen." (Beifall.)
„Einer von den besten Rednern, die ich je gehört hab!" bemerkte der Mann auf dem Eimer, laut zum Versammlungsleiter flüsternd, der ihm zu schweigen winkte.
Owen fuhr fort:
„In einigen meiner vorhergehenden Vorträge habe ich versucht, Sie zu überzeugen, dass Geld an sich wertlos ist und keinerlei wirklichen Nutzen hat. Ich fürchte, dass ich dabei wenig Erfolg gehabt habe."
„Aber keineswegs, Mann, keineswegs!" rief Crass ironisch. „Wir sind alle damit einverstanden."
„Hört, hört!" rief Easton. „Wenn jetzt 'n Kerl hier reinkäm und mir 'n Pfund anbieten wollte - ich würd mich weigern, 's anzunehmen!"
„Ich ebenfalls", sagte Philpot.
„Nun, ob ihr einverstanden seid oder nicht - die Tatsache bleibt bestehen. Ein Mensch könnte so viel Geld besitzen, dass er in England verhältnismäßig reich wär; aber wenn er in ein Land ginge, wo die Kosten der Lebenshaltung sehr hoch sind, so befände er sich dort im Zustand der Armut. Oder er könnte auch wohl an einem Ort sein, wo die zum Leben notwendigen Dinge für Geld überhaupt nicht zu kaufen sind. Deshalb führt es zu einem besseren Verständnis des Gegenstandes, wenn wir sagen, dass reich zu sein nicht unbedingt bedeutet, viel Geld zu haben, sondern vielmehr die Möglichkeit, im Überfluss die Dinge zu genießen, die durch die Arbeit geschaffen werden, und dass Armut nicht einfach nur bedeutet, kein Geld zu haben, sondern Knappheit an den zum Leben notwendigen und angenehmen Dingen zu leiden - oder mit anderen Worten: Knappheit an den Wohltaten der Zivilisation, an den Dingen, die alle ausnahmslos durch die Arbeit erzeugt werden. Und ob ihr nun mit sonst irgend etwas von dem, was ich sage, übereinstimmt oder nicht - das werdet ihr doch alle zugeben: dies ist der Zustand, in dem wir uns gegenwärtig befinden. Wir genießen keinen vollen Anteil an den Wohltaten der Zivilisation - wir befinden uns alle im Zustand mehr oder wenig bitterer Armut."
„Zur Sache!' rief Crass, und von mehreren Seiten ertönte ein lautes Gemurmel empörten Widerspruchs, während Owen fortfuhr:
„Wie kommt es, dass wir nicht genügend von den Dingen haben, die durch die Arbeit geschaffen werden?"
„Der Grund, weshalb wir so wenig von den Dingen haben, die durch die Arbeit gemacht werden", unterbrach ihn Crass, Owens Art nachäffend, „ist, dass uns der nötige Zaster fehlt, das verdammte Zeugs zu kaufen."
„Jawoll", sagte der Mann auf dem Eimer, „und wie ich schon gesagt hab, wenn alles Geld im Land heute Owens Ideen entsprechend gleichmäßig aufgeteilt würde - in sechs Monaten wär's wieder in denselben Händen wie jetzt, und was machste 'n dann?"
„Natürlich wieder aufteilen!"
Diese Antwort erklang höhnisch von mehreren Seiten gleichzeitig, und dann begannen alle auf einmal zu sprechen und überboten einander darin, sich über die Torheit „dieser Sozialisten" lustig zu machen, die sie die „Austeiler" nannten.
Fast der einzige, der sich an der Unterhaltung nicht beteiligte, war Barrington. Er saß an seinem gewohnten Platz und rauchte wie üblich schweigend, seine Umgebung scheinbar vergessend.
„Ich habe nie etwas davon gesagt, dass ,alles Geld verteilt werden' sollte", sagte Owen, als eine Stille während des Sturms eintrat, „und ich weiß auch von keinem Sozialisten, der für irgend etwas Ähnliches eintritt. Kann mir einer von euch den Namen von jemand nennen, der vorschlägt, so etwas zu tun?"
Niemand antwortete, daher wiederholte Owen seine Frage und wandte sich diesmal direkt an Crass, der einer der lautesten gewesen war, die „Austeiler" anzuklagen und lächerlich zu machen. Als Crass - der über den Gegenstand absolut nichts wusste - auf diese Weise in die Enge getrieben wurde, sah er einige Augenblicke lang sehr töricht drein. Dann begann er, mit lauter Stimme zu sprechen:
„Na, das ist doch 'ne bekannte Tatsache. Das weiß doch jeder, dass es das ist, was sie wollen. Aber sie passen verdammt gut auf, dass sie sich selbst nicht danach richten. Guck dir doch die Labourabgeordneten im Unterhaus an -'n Haufen Strolche, die zu faul sind, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten! Was zum Teufel waren sie denn, ehe sie dahin gekommen sind? Bloß Arbeiter, genau wie du und ich! Aber sie können quasseln und..."
„Ja, das wissen wir alles", sagte Owen, „aber was ich dich gefragt habe, war: sag uns, wer empfiehlt, alles Geld im Lande zu nehmen und gleichmäßig zu verteilen?"
„Und ich sag, jedes Kind weiß, dass sie darauf aus sind!" schrie Crass. „Und du weißt's genauso gut wie ich. 'ne feine Sache!" setzte er entrüstet hinzu. „Nach der Idee soll irgend so 'n Straßenkehrer oder 'n Landarbeiter denselben Lohn kriegen wie du oder ich!""
„Darüber können wir ein andermal sprechen. Was ich jetzt wissen will, ist: worauf stützt du deine Behauptung, die Sozialisten seien dafür, alles Geld zu gleichen Teilen an alle Menschen auszugeben?"
„Na, ich hab immer verstanden, das wär's, was sie wollen", sagte Crass ziemlich kleinlaut.
„Ist doch 'ne bekannte Tatsache", meinten einige der anderen.
„Dabei fällt mir ein", fuhr Crass fort und zog den Ausschnitt aus dem „Verdunkler" aus der Westentasche. „Hab hier 'ne kleine Sache, die ich dir vorlesen wollte. Stammt aus 'm ,Verdunkler'. Hatte's ganz vergessen."
Mit der Bemerkung, der Druck sei zu klein für seine Augen, reichte er das Blättchen Harlow hinüber, der folgendes laut vorlas:

„BEWEIST EURE GRUNDSÄTZE;
ODER: SEHT EUCH BEIDE SEITEN AN

,Ich wollte, ich könnte dir die Augen für das wirkliche Elend unserer Lage öffnen: nichts als Ungerechtigkeit, Tyrannei und Unterdrückung!' sagte eine unzufriedene Mähre zu einem müde aussehenden Gaul, während sie mit ihren leeren Droschken Seite an Seite standen.
,Ich möchte sie mir lieber für etwas Angenehmes öffnen lassen, besten Dank', erwiderte der Gaul.
,Du tust mir leid. Könntest du dich mit den edlen Bestrebungen vertraut machen...', begann die Mähre.
,Sprich deutlich. Was möchtest du erreichen?' unterbrach sie der Gaul.
,Was ich erreichen möchte? Nun, Gleichheit, und dass geteilt wird - in der ganzen Welt gleichmäßig geteilt wird', sagte die Mähre.
,Ist's dir Ernst damit?' fragte der Gaul.
,Natürlich. Welches Recht haben diese glatten, verhätschelten Jagd- und Rennpferde auf ihre warmen Ställe und ihr nahrhaftes Futter, ihre Pferdeknechte und Jockeis? Das Herz dreht sich einem im Leibe um, wenn man daran denkt', erwiderte die Mähre.
,Ich weiß nicht, aber vielleicht hast du recht', erwiderte der Gaul, ,und um zu beweisen, dass es mir Ernst damit ist, wie zweifellos auch dir: gib mir die Hälfte der guten Bohnen, die du in deinem Futtersack hast, und du sollst die Hälfte des muffigen Hafers und der Spreu erhalten, die ich in meinem habe. Nichts ist so gut, wie seine Grundsätze zu beweisen.'
Originelle Fabeln von Mrs. Schmarotzer..."

„Da haste's!" riefen mehrere Stimmen.
„Was heißt'n das?" rief Crass triumphierend. „Warum gehste 'n nicht hin und teilst deinen Lohn mit den Jungens, die keine Arbeit haben?"
„Was es heißt?" antwortete Owen verächtlich. „Es heißt, dass der Redakteur des ,Verdunklers', wenn er das als ein Argument gegen den Sozialismus in seine Zeitung gesetzt hat, entweder selbst geistig minderbemittelt ist oder die Mehrzahl seiner Leser dafür hält. Das ist kein Argument gegen den Sozialismus, es ist ein Argument gegen die Heuchler, die vorgeben, Christen zu sein, gegen die Leute, die behaupten, ,ihren Nächsten zu lieben wie sich selbst', die so tun, als glaubten sie an die ,allgemeine Brüderlichkeit' und als liebten sie die Welt und die Dinge dieser Welt nicht, und die versichern, sie seien nur ,Pilger auf dem Wege in ein besseres Land'. Und weshalb ich es nicht tue, was das betrifft - weshalb sollte ich denn? Ich behaupte ja nicht, ein Christ zu sein. Aber ihr seid doch alle ,Christen' - weshalb tut ihr's denn nicht?"
„Wir sprechen doch nicht über Rel'ion", rief Crass ungeduldig aus.
„Worüber sprecht ihr denn dann? Ich habe nie etwas darüber gesagt, dass man ,austeilen' solle, oder einer müsse ,die Bürde des anderen tragen'. Ich behaupte nicht, ,dem zu geben, der mich bittet' oder ,dem nicht auch den Rock zu wehren, der mir den Mantel nimmt'. Ich habe gelesen, dass Christus gelehrt hat, Seine Anhänger müssten all das tun; da ich aber nicht behaupte, einer Seiner Anhänger zu sein, tue ich es nicht. Ihr aber glaubt doch an das Christentum: weshalb tut ihr denn nicht, was Er gesagt hat?"
Da niemand eine Antwort auf diese Frage zu wissen schien, fuhr der Vortragende fort:
„In diesem Punkt ist der Unterschied zwischen den so genannten Christen und den Sozialisten folgender: Christus lehrte, Gott sei der Vater, und alle Menschen seien Brüder. Diejenigen, die heute vorgeben, Christi Anhänger zu sein,
behaupten heuchlerischerweise, sie setzten diese Lehren jetzt in die Tat um. Aber sie tun es nicht. Statt dessen haben sie das System des ,Kampfes ums Dasein' eingeführt!
Der Sozialist sieht sich sehr gegen seinen Willen inmitten dieses schrecklichen Kampfes, und er beschwört die übrigen Teilnehmer der Schlacht, das Gefecht einzustellen und ein System brüderlicher Nächstenliebe und gegenseitiger Hilfsbereitschaft zu errichten; aber er gibt nicht heuchlerisch vor, brüderliche Nächstenliebe denen gegenüber walten zu lassen, die seinem Aufruf nicht zustimmen wollen und ihn zwingen, gegen sie um sein nacktes Leben zu kämpfen. Er weiß, dass er in dieser Schlacht entweder kämpfen oder untergehen muss. Deshalb kämpft er, aus Notwehr; aber währenddessen erhebt er ständig weiter seinen Ruf für den Abbruch des Gemetzels. Er fordert die Änderung des Systems. Er will die Zusammenarbeit anstelle der Konkurrenz. Wie kann er aber mit Menschen zusammen arbeiten, die darauf bestehen, gegen ihn zu konkurrieren? Keine Einzelperson kann allein eine Zusammenarbeit durchführen! Der Sozialismus kann nur durch die Gemeinschaft verwirklicht werden - das ist es, was das Wort bedeutet. Gegenwärtig verhöhnen die übrigen Mitglieder der Gesellschaft - die ,Christen' - den Aufruf der Sozialisten und stellen sich gegen ihn.
Diese angeblichen Christen sind's, die nicht ausführen, was sie predigen; denn während sie ihre Lieder von der Brüderlichkeit und von der Liebe singen, bekämpfen sie einander fortwährend, erwürgen sie einander und zertreten sie einander in ihrem furchtbaren ,Kampf ums Dasein'!
Kein Sozialist schlägt eine ,Verteilung' des Geldes oder irgendwelcher sonstigen Dinge vor, wie ihr behauptet. Und noch etwas: hättet ihr nur ein wenig mehr Verstand, so würdet ihr vielleicht bemerken, dass dieses euer Lieblingsargument in Wahrheit nur ein Argument gegen das gegenwärtige System ist, weil es nämlich nachweist, dass das Geld an sich von keinerlei Nutzen ist. Nehmt einmal an, man verteilte tatsächlich alles Geld gleichmäßig, und nehmt an, es sei genügend vorhanden, damit jeder zehntausend Pfund erhielte, und nehmt an, alle dächten dann, sie seien reich, und keiner arbeitete mehr. Wovon wollten sie leben? Von ihrem Geld? Könnten sie's essen, trinken oder sich damit kleiden? Es dauerte nicht lange, bis sie herausfänden, dass dieses wunderbare Geld - das unter dem gegenwärtigen System das Machtvollste ist, was es gibt -in Wirklichkeit nicht mehr nützt als Dreck. Sie würden sehr bald umkommen, nicht aus Mangel an Geld, sondern aus Mangel an Reichtum - das heißt, aus Mangel an den Dingen, die durch die Arbeit erzeugt werden. Und außerdem ist es völlig wahr, dass das Geld, wenn es morgen gleichmäßig unter alle Leute verteilt würde, in sehr kurzer Zeit wieder in großen Haufen zusammen wäre. Aber das beweist nur, dass es, solange das gegenwärtige Geldsystem bestehen bleibt, unmöglich ist, die Armut abzuschaffen, denn Anhäufungen an einigen Stellen bedeuten wenig oder gar nichts an anderen. Deshalb werden wir, solange das Geldsystem andauert, zwangsläufig Armut und alle die Übel haben, die sie mit sich bringt."
„Oh, natürlich, alle sind Idioten, außer dir!" höhnte Crass, der begann, sich einigermaßen benommen zu fühlen.
„Ich melde mich zur Geschäftsordnung", sagte Easton.
„Und ich melde mich zu 'nem Glas Bier", rief Philpot.
„Meldet euch in drei Teufels Namen, zu was ihr wollt", bemerkte Harlow, „solange ich nicht dafür bezahlen muss."
„Ich bin für 'n Glas Porter", bemerkte der Mann auf dem Eimer.
„Zur Geschäftsordnung", fuhr Easton fort. „Wann beabsichtigt der Redner, uns zu erklären, was die wahre Ursache der Armut ist?"
„Hört, hört!" rief Harlow, „das möchte ich auch wissen."
„Und was ich wissen möchte, ist, wer soll'n eigentlich den Vortrag hier halten?" erkundigte sich der Mann auf dem Eimer.
„Na, Owen natürlich", antwortete Harlow.
„Nu, weshalb versucht ihr 'n dann nicht, 'n paar Minuten die Klappe zu halten und ihn weitermachen zu lassen?"
„Der nächste, der ihn unterbricht", rief Philpot, rollte die Hemdsärmel auf und sah sich drohend im Kreise um, „der nächste, der'n unterbricht, fliegt durchs Fenster. Gottverdammich !"
Hierauf taten alle, als seien sie sehr erschreckt, und rückten so weit wie möglich von Philpot fort. Easton, der neben ihm saß, stand auf und ging zu Owens leerem Sitzplatz hinüber. Der Mann auf dem Eimer war der einzige, der nicht nervös schien; vielleicht fühlte er sich sicherer, da er, wie gewöhnlich, von einem Burggraben umgeben war.
„Armut", begann der Vortragende wieder, „besteht in einer Knappheit an den zum Leben notwendigen Dingen oder vielmehr: an den Wohltaten der Zivilisation."
„Das haste so ungefähr schon hundertmal gesagt", knurrte Crass.
„Das weiß ich, aber ich zweifle nicht daran, dass ich es noch ungefähr fünfhundertmal sagen muss, bis ihr begreift, was es bedeutet."
„Nu mach schon weiter mit dem verdammten Vortrag!" schrie der Mann auf dem Eimer. „Hört doch auf, darüber zu streiten!"
„Könnt ihr nicht Ordnung halten!" brüllte Philpot, „lasst doch den Mann zu Wort kommen!"
„Alle diese Dinge werden auf die gleiche Weise produziert", fuhr Owen fort. „Sie werden von denen, die arbeiten, aus den Rohstoffen hergestellt - mit Hilfe der Maschinen. Untersuchen wir die Ursache der gegenwärtigen Knappheit an diesen Dingen, so ist die erste Frage, die wir stellen müssen, die: Gibt es nicht genügend Rohstoffe, die es uns ermöglichen, ausreichend zu produzieren, um die Bedürfnisse aller zu befriedigen?
Die Antwort auf diese Frage lautet: Zweifellos gibt es mehr als genug von sämtlichen Rohstoffen.
Mangel an Rohstoffen ist daher nicht die Ursache. Wir müssen uns in einer anderen Richtung umsehen.
Die nächste Frage ist: Fehlt es uns an Arbeitskräften? Gibt es nicht genug Menschen, die fähig und willens sind zu arbeiten? Oder gibt es nicht genügend Maschinen?
Die Antworten auf diese Fragen lauten: Es gibt reichlich genügend Leute, die fähig und willens sind zu arbeiten, und es gibt reichlich genügend Maschinen!
Da es so ist, wie kommt dann dieses seltsame Ergebnis zustande? Wie kommt es, dass die Wohltaten der Zivilisation nicht in genügendem Umfang geschaffen werden, um
die Bedürfnisse aller zu befriedigen? Wie kommt es, dass die Mehrzahl der Menschen ständig die meisten Verfeinerungen, Bequemlichkeiten und Freuden des Lebens entbehren müssen und sehr häufig sogar die zum Leben alier-notwendigsten Dinge?
Reichlich Rohstoffe - reichlich Arbeitskräfte - reichlich Maschinen - und fast jedem fehlt es an fast allem!
Die Ursache dieses seltsamen Zustandes ist die: zwar haben wir die Mittel, für alle alles in Hülle und Fülle und mehr noch zu produzieren; doch wir haben ein blödsinniges System, unsere Angelegenheiten zu ordnen.
Das gegenwärtige Geldsystem hindert uns an der Durchführung der notwendigen Arbeit und bewirkt daher, dass es der Mehrzahl der Bevölkerung an den durch die Arbeit herstellbaren Dingen fehlt. Die Menschen leiden Mangel angesichts der Mittel, einen Überfluss zu schaffen. Sie bleiben arbeitslos, weil sie mit einer Goldkette gebunden und gefesselt sind.
Untersuchen wir einmal die Einzelheiten dieses wahnsinnigen, idiotischen, blödsinnigen Systems."
Owen forderte nun Philpot auf, ihm ein Stück verkohltes Holz, das unter dem Rost lag, zu reichen, und nachdem er das Gewünschte erhalten hatte, zeichnete er ein viereckiges Gebilde von etwa einem Meter zwanzig Zentimeter Länge und dreißig Zentimeter Höhe an die Wand. Die Küchenwände waren noch nicht abgewaschen worden; daher machte es nichts, wenn sie verunziert wurden.

Dies stellt die gesamte erwachsene Bevölkerung des Landes vor

„Um festzustellen, weshalb in unserem Lande Knappheit an den durch die Arbeit herstellbaren Dingen herrscht, müssen wir zuerst einmal herausfinden, womit die Menschen ihre Zeit verbringen. Dieses Rechteck hier stellt die gesamte erwachsene Bevölkerung unseres Landes vor. Es gibt darunter viele verschiedene Schichten von Leuten, die einer großen Anzahl von Beschäftigungen nachgehen. Einige von ihnen helfen, die Wohltaten der Zivilisation zu schaffen, andere tun das nicht. Alle diese Menschen helfen beim Verbrauch dieser Dinge; sehen wir uns jedoch ihre Beschäftigung an, so werden wir finden, dass, obwohl die meisten Werktätige sind, nur eine verhältnismäßig kleine Anzahl unter ihnen tatsächlich damit beschäftigt ist, entweder die zu den Wohltaten der Zivilisation zählenden oder die zum Leben notwendigen Güter zu produzieren..."
Nachdem die Ordnung wiederhergestellt worden war, wandte sich der Vortragende von neuem der Zeichnung an der Wand zu und streckte die Hand danach aus - offenbar in der Absicht, sie zu ergänzen; statt dessen hielt er jedoch unentschlossen inne und ließ den Arm zögernd wieder sinken.
Es herrschte ein absolutes, verwirrendes Schweigen. Owens Verlegenheit und Nervosität wuchsen. Er wusste, dass sie gar nicht willens waren, überhaupt etwas über ein solches Thema wie die Ursache der Armut zu hören, darüber zu sprechen oder darüber nachzudenken. Sie zogen es vor, sich darüber lustig zu machen und es als etwas Lächerliches darzustellen. Er wusste, dass sie ablehnten, auch nur einen Versuch zu machen, das, was er sagen wollte, zu begreifen, falls es nur im geringsten schwierig war oder unklar blieb. Wie sollte er es ihnen nur erklären, damit sie verstehen mussten, ob sie wollten oder nicht? Es war beinahe unmöglich.
Leicht genug wäre es, sie zu überzeugen, wenn sie sich nur ein wenig Mühe geben und versuchen wollten zu begreifen; doch er wusste, dass sie sich über ein solches Thema gewiss nicht „den Kopf zerbrächen". Dies war ja keine wirklich wichtige Angelegenheit, wie es etwa eine schmutzige Geschichte war, eine Partie „Haken und Ringe" oder Beilke, etwas, was Fußball oder Kricket betraf, ein Pferderennen oder sogar das Treiben irgendeiner Person von königlichem Stand oder eines Aristokraten.
Die Frage nach der Ursache der Armut war ja nur etwas, was ihr eigenes zukünftiges Wohlergehen und das ihrer
Kinder betraf. Eine so unwichtige Angelegenheit, die keinerlei ernste Aufmerksamkeit verdiente, musste ihnen so klar und selbstverständlich dargelegt werden, dass sie gezwungen waren, sie mit einem Blick zu erfassen - und das zu tun, war beinahe unmöglich.
Als sie sein Zögern bemerkten, begannen einige zu kichern.
„Scheint sich 'n bisschen verheddert zu haben!" bemerkte Crass, laut zu Slyme flüsternd, und der lachte.
Dieser Laut rüttelte Owen auf, und er fuhr fort:
„All diese Menschen sind am Verbrauch der durch die Arbeit geschaffenen Güter beteiligt. Wir wollen sie jetzt in verschiedene Schichten einteilen: solche, die bei der Produktion helfen, solche, die nichts tun, solche, die schaden, und solche, die mit unnötigen Arbeiten beschäftigt sind."
„Und solche", höhnte Crass, „die mit unnötigem Gequassel beschäftigt sind."
„Zuerst wollen wir die abtrennen, die nicht nur nichts tun, sondern auch nicht einmal vorgeben, irgendwie nützlich zu sein; Leute, die sich entehrt vorkämen, wenn sie zufällig irgendeine nützliche Arbeit verrichteten. Diese Schicht umfasst: Landstreicher, Bettler, die Aristokratie, die Leute der ,Gesellschaft', die Großgrundbesitzer und ganz allgemein alle die, welche ererbten Reichtum besitzen."
Während er sprach, zog er eine senkrechte Linie durch ein Ende des Rechtecks.

1

 

1 Landstreicher, Bettler, Leute der ,Gesellschaft", die Aristokratie, Großgrundbesitzer; alle, die ererbten Reichtum besitzen

„Diese Leute tun absolut nichts, als die Dinge zu verschlingen oder zu genießen, die durch die Arbeit anderer hergestellt worden sind.
Unsere nächste Abteilung stellt die Leute dar, die eine Art Arbeit verrichten - ,geistige' Arbeit, wenn ihr es so nennen wollt -, Arbeit, die ihnen selbst Nutzen und anderen Leuten Schaden bringt. Arbeitgeber - oder vielmehr Arbeiterausbeuter, Diebe, Schwindler, Taschendiebe, profitsüchtige Aktionäre, Einbrecher, Bischöfe, Finanzleute, Kapitalisten und die Leute, die man humorvollerweise ,Diener Gottes' nennt."

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1 Landstreicher, Bettler, Leute der „Gesellschaft", die Aristokratie, Großgrundbesitzer; alle, die ererbten Reichtum besitzen
2 Arbeiterausbeuter, Diebe, Schwindler, Taschendiebe, Einbrecher, Bischöfe, Finanzleute, Kapitalisten, Aktionäre, „Diener Gottes"

„Keiner dieser Leute produziert irgend etwas selbst, aber durch List und Tücke bringen sie es gemeinsam fertig, sich einen sehr großen Teil der durch die Arbeit anderer hergestellten Güter anzueignen.
Nummer 3 umfasst alle, die gegen Lohn oder Gehalt tätig sind und unnötige Arbeit verrichten. Das heißt, sie produzieren oder tun Dinge, die - obgleich sie für das idiotische System nützlich und notwendig sind - nicht als zum Leben notwendige oder zu den Wohltaten der Zivilisation gehörende Dinge bezeichnet werden können. Das ist die größte Abteilung von allen. Sie umfasst: Handelsreisende, hausierende Firmenvertreter, Versicherungsagenten, Kommissionäre, der größte Teil der Verkäufer, die Mehrzahl der Büroangestellten, Arbeiter, die beim Bau und bei der Ausschmückung von Bürohäusern beschäftigt sind, Leute, die sich mit dem befassen, was sie ,Geschäfte' nennen, das heißt, die sehr geschäftig sind, ohne irgend etwas zu produzieren. Ferner gibt es noch eine große Armee von Leuten, die damit beschäftigt sind, Reklameanzeigen zu zeichnen,
zu entwerfen, zu malen oder zu drucken - Dinge, die zum überwiegenden Teil von keinerlei Nutzen sind, denn der Zweck der meisten Anzeigen ist einfach nur der, die Leute zu bewegen, lieber von einer Firma als von einer anderen zu kaufen. Wenn ihr Butter haben wollt, so macht es nichts aus, ob ihr sie nun von Brown, Jones oder von Robinson kauft."

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1 Landstreicher, Bettler, Leute der „Gesellschaft", die Aristokratie, Großgrundbesitzer; alle, die ererbten Reichtum besitzen
2 Arbeiterausbeuter, Diebe, Schwindler, Taschendiebe, Einbrecher, Bischöfe, Finanzleute, Kapitalisten, Aktionäre, „Diener Gottes"
3 Alle mit unnützer Arbeit Beschäftigten

Während dieses Teils des Vortrags begann das Publikum Anzeichen der Ungeduld und des Widerspruchs zu zeigen. Da Owen das bemerkte, fuhr er, sehr rasch sprechend, fort:
„Wenn ihr in die Stadt hinuntergeht, seht ihr ein halbes Dutzend Tuchhandlungen kaum einen Katzensprung voneinander entfernt, manchmal sogar Tür an Tür, die alle die gleiche Ware verkaufen. Ihr könnt doch unmöglich alle diese Läden für wirklich notwendig halten? Ihr wisst doch, dass einer von ihnen den Zweck völlig erfüllte, für den sie alle bestimmt sind - als Lager und Verteilungszentrum der durch die Arbeit geschaffenen Dinge zu dienen. Wenn ihr aber zugebt, dass fünf von sechs Läden nicht wirklich notwendig sind, müsst ihr auch zugeben, dass die Leute, die sie gebaut haben, die Verkäufer und Verkäuferinnen oder die anderen Angestellten, die darin tätig sind, sowie die Leute, die Anzeigen für sie zeichnen, schreiben und drucken, sämtlich mit unnötiger Arbeit beschäftigt sind; alle verschwenden in Wirklichkeit ihre Zeit und ihre Arbeitskraft - Zeit und Arbeitskraft, die besser dazu verwendet werden könnten, die Dinge produzieren zu helfen, an denen
augenblicklich Knappheit bei uns herrscht. Ihr müsst zugeben, dass keiner dieser Leute damit beschäftigt ist, entweder die lebensnotwendigen oder die zu den Wohltaten der Zivilisation gehörenden Güter zu produzieren. Zwar kaufen und verkaufen sie diese Dinge, sie handeln damit und feilschen um sie, sie stellen sie in den Schaufenstern der Läden und Kaufhäuser aus, schlagen Profite daraus und benutzen sie; selbst aber produzieren diese Leute nichts, was zum Leben oder zum Glück notwendig wäre, und die Dinge, die einige von ihnen tatsächlich produzieren, sind nur für das gegenwärtige unsinnige System notwendig."
„Zum Teufel, was für 'n elendes System sollten wir 'n deiner Meinung nach eigentlich haben?" unterbrach ihn der Mann auf dem Eimer.
„Ja, Fehler finden kannste wunderschön", höhnte Slyme, „aber warum sagste uns 'n nicht, wie's alles richtig gemacht werden soll?"
„Nun, darüber sprechen wir doch augenblicklich nicht, oder?" erwiderte Owen. „Augenblicklich versuchen wir nur ausfindig zu machen, wie es kommt, dass nicht genügend produziert wird, um alle ausreichend mit den durch die Arbeit geschaffenen Gütern zu versorgen. Obgleich die meisten Leute der Abteilung 3 sehr hart arbeiten, produzieren sie nichts."
„Das ist 'n blödsinniger Quatsch!" rief Crass ungeduldig aus.
„Selbst wenn's mehr Läden gibt, als wirklich nötig sind", rief Harlow, „hilft doch das alles den Leuten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen! Wenn die Hälfte zugemacht würde, hieße das doch einfach bloß, dass alle, die da arbeiten, ihre Stelle verlieren. Leben und leben lassen, sag ich: alles dies schafft Arbeit."
„Hört, hört!" rief der Mann hinter dem Burggraben.
„Ja, ich weiß, dass es Arbeit' schafft", antwortete Owen, „aber wir können nicht nur von bloßer Arbeit' leben, weißt du. Um angenehm zu leben, brauchen wir genügend von den durch die Arbeit geschaffenen Dingen. Ein Mann mag sehr hart arbeiten und trotzdem seine Zeit verschwenden, wenn er nicht etwas Notwendiges oder Nützliches produziert.
Weshalb gibt es so viele Läden, Geschäfte und Kaufhäuser? Bildet ihr euch etwa ein, sie existierten, um denen die sie gebaut haben oder die in ihnen arbeiten, eine Möglichkeit zu geben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen? Keine Spur! Sie werden nur geführt und viel zu hohe Preise für die dort verkauften Artikel werden nur deshalb gefordert, damit ihre Besitzer große Vermögen ansammeln und die Grundbesitzer wucherische Mieten einnehmen können. Deshalb werden auch die Löhne und Gehälter fast aller Leute, die die von diesen Geschäften geschaffene Arbeit verrichten, bis zum tiefstmöglichen Punkt herabgedrückt."
„Das wissen wir ja alles", sagte Crass, „aber du kommst doch nicht drum rum, dass all das Arbeit beschafft, und das ist's, was wir wollen - reichlich Arbeit."
Rufe wie „Hört, hört!" und Äußerungen des Widerspruchs gegen die vom Vortragenden geäußerten Ansichten schwirrten durch den Raum, und fast alle redeten gleichzeitig. Nach einer Weile, als sich der Lärm einigermaßen gelegt hatte, fuhr Owen fort:
„Die Natur hat nicht alle für Leben und Glück der Menschheit notwendigen Dinge fix und fertig hervorgebracht. Um sie zu erhalten, müssen wir arbeiten. Rationell ist einzig nur die Arbeit, die auf die Erzeugung dieser Dinge gerichtet ist. Jede Art Arbeit, die uns nicht hilft, dieses Ziel zu erreichen, ist eine lächerliche, idiotische, verbrecherische, blödsinnige Zeitverschwendung.
Und was die große Armee von Leuten, die durch die Abteilung Nr. 3 dargestellt ist, gegenwärtig tut, ist dies: sie sind alle sehr beschäftigt - sie arbeiten sehr hart -, aber für irgendein nützliches Ziel und Ergebnis tun sie nichts."
„Na schön", sagte Harlow, „du sollst recht haben, aber 's ist nicht nötig, immer wieder und wieder dasselbe herunterzuleiern."
„Die nächste Abteilung", setzte Owen seinen Vortrag fort, „stellt diejenigen dar, die mit wirklich nützlicher Arbeit beschäftigt sind - nämlich mit der Herstellung der zu den Wohltaten der Zivilisation gehörenden Güter, der zum Leben notwendigen und zu seinen Verfeinerungen und Annehmlichkeiten gehörenden Dinge."

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1 Landstreicher, Bettler, Leute der „Gesellschaft", die Aristokratie, Großgrundbesitzer; alle, die ererbten Reichtum besitzen
2 Arbeiterausbeuter, Diebe, Schwindler, Taschendiebe, Einbrecher, Bischöfe, Finanzleute, Kapitalisten, Aktionäre, „Diener Gottes"
3 Alle mit unnützer Arbeit Beschäftigten
4 Alle mit notwendiger Arbeit — der Produktion der zu den Wohltaten der Zivilisation gehörenden Dinge — Beschäftigten
5 Arbeitslose

„Hurra!" rief Philpot und stimmte ein Freudengeschrei an, in das die Menge begeistert einfiel. „Hurra! Jetzt sind wir dran!" fügte er hinzu, nickte zum Publikum hinüber und blinzelte es mit seinen Kulleraugen an.
„Ich möchte den Versammlungsleiter zur Ordnung rufen!" sagte der Mann auf dem Eimer.
Als Owen die Liste der Beschäftigungen eingeschrieben hatte, erhoben sich einige der Hörer, um darauf hinzuweisen, dass er die mit der Produktion von Bier Beschäftigten ausgelassen habe. Owen holte dieses ernste Versäumnis nach und fuhr dann fort:
„Da die meisten Leute der Abteilung 4 wenigstens während eines Viertels ihrer Zeit arbeitslos sind, müssen wir diese Spalte um ein Viertel verkleinern - so. Dieser Teil stellt die Arbeitslosen dar."
„Aber auch manche von denen in Nummer 3 sind oft arbeitslos", sagte Harlow.
„Freilich, aber da sie ja nichts produzieren, selbst wenn sie Arbeit haben, können wir uns die Mühe ersparen, sie als arbeitslos einzuzeichnen, denn unser augenblickliches Ziel ist, zu entdecken, weshalb nicht genügend produziert wird, damit alle einen Überfluss genießen, und dies - das gegenwärtige System, unsere Angelegenheiten zu lenken -ist der Grund für die Knappheit, ist die Ursache der Armut. Wenn ihr euch überlegt, dass alle jenen anderen Leute, die von denen in Nummer 4 hergestellten Dingen verschlingen -, wundert´s euch, dass es nicht reichlich genug für alle gibt?“
“,Verschlingen’ ist gut gesagt“ , meinte Philpot, und die übrigen lachten.
Jetzt malte der Vorsitzende unter die andere Zeichnung ein kleines Quadrat an die Wand. Dieses füllte er gänzlich schwarz aus.

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1 Landstreicher, Bettler, Leute der „Gesellschaft", die Aristokratie, Großgrundbesitzer; alle, die ererbten Reichtum besitzen
2 Arbeiterausbeuter, Diebe, Schwindler, Taschendiebe, Einbrecher, Bischöfe,
Finanzleute, Kapitalisten, Aktionäre, „Diener Gottes"
3 Alle mit unnützer Arbeit Beschäftigten
4 Alle mit notwendiger Arbeit — der Produktion der zu den Wohltaten der
Zivilisation gehörenden Dinge — Beschäftigten
5 Arbeitslose

Dies stellt die Summe der durch die Leute in Nr. 4 hergestellten Dinge dar:

Bild 2

 

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2

3

 

5

Land-

Arbeiterausbeuter,

Alle

Alle

 

streiche,

Diebe,

mit unnützer

mit notwendiger

 

Bettler,

Schwindler,

Arbeit

Arbeit -

 

Leute der

Taschendiebe,

Besch äftigten

der Produktion

 

„Gesell-

Einbrecher,

 

der zu

Arbeitslose

schaft",

Bisch öfe,

 

den Wohltaten

 

die

Finanzleute,

 

der Zivilisation

 

Aristokratie,

Kapitalisten,

 

geh örenden

 

Großgrund-

Aktionäre,

 

Dinge -

 

besitzer;

„Diener Gottes"

 

Besch äftigten

 

alle, die

 

 

 

 

ererbten

 

 

 

 

Reichtum

 

 

 

 

besitzen

 

 

 

 

Wie die von den Leuten in Abteilung 4 hergestellten Dinge
unter die verschiedenen Klassen der Bevölkerung „ausgeteilt" werden

Bild 3
Bild 4

Jetzt müsst ihr aber nicht mit der Vorstellung fortgehen dass die Leute in Abteilung 3 und 4 ihren Anteil ruhig nehmen und ihn gleichmäßig unter sich verteilen. Keineswegs. Manche erhalten sehr wenig, manche gar nichts manche eine recht große Portion. In diesen beiden Abteilungen wütet der „Kampf ums Dasein" am heftigsten und natürlich geht es in diesem Kampf den Schwachen und den Tugendhaften am schlechtesten. Selbst solche, deren außergewöhnliche Fähigkeiten oder deren besondere Möglichkeiten ihnen zum Erfolg verhelfen, sind zur Selbstsucht gezwungen; denn ein Mann von außergewöhnlichen Fähigkeiten, der nicht selbstsüchtig wäre, benützte ja seine Gaben, um das offensichtliche Leid anderer zu lindern anstatt zu seinem eigenen Vorteil - und wenn er so handelte, wäre er nicht erfolgreich in dem Sinne, in dem die Welt dieses Wort versteht. Alle, die wirklich versuchen, ,ihren Nächsten wie sich selbst zu lieben' oder Böses mit Gutem zu vergelten - die Sanftmütigen, die Freundlichen und alle, die es vermeiden, anderen anzutun, was sie selbst nicht gern erleiden würden -, alle diese befinden sich zwangsläufig unter den Besiegten: denn nur die Schlimmsten, nur jene, die aggressiv, verschlagen, selbstsüchtig und gemein sind, sind zum Überleben gerüstet. Und alle Leute in den Abteilungen 3 und 4 sind in diesem furchtbaren Kampf so völlig damit beschäftigt, sich zumindest etwas zu sichern, dass nur wenige innehalten, um sich zu fragen, weshalb es nicht mehr von den Dingen gibt, um die sie kämpfen, oder weshalb es überhaupt nötig ist, auf diese Weise zu kämpfen!"
Einige Minuten lang herrschte Schweigen, denn jedermann war in Gedanken damit beschäftigt, nach irgendeinem Vorwand gegen die Argumente des Redners zu suchen.
„Wie könn'n denn die paar Leute in Nummer 1 und 2 so viel verbrauchen, wie du ihnen in deiner Zeichnung hingepackt hast?" fragte Crass.
„Sie verbrauchen das nicht alles wirklich", erwiderte Owen. „Viel davon wird mutwillig vergeudet. Sie verdienen sich auch Vermögen, indem sie einen Teil in anderen Ländern verkaufen; aber einen erheblichen Teil verbrauchen sie auch selbst, denn die Arbeitsmenge, die zur Produktion der Dinge aufgebracht wird, deren sich diese Leute erfreuen, ist größer als die zur Produktion derjenigen Güter, die von den Arbeitern benutzt werden. Die meisten Müßiggänger erhalten von allem das Beste. Mehr als drei Viertel der Zeit der Arbeiterklasse wird zur Produktion der von den Reichen benutzten Güter verwendet. Vergleicht doch einmal, sowohl nach Quantität wie nach Qualität, die Kleidung der Frau oder Tochter eines reichen Mannes mit der der Frau oder Tochter eines Arbeiters! Die zur Produktion dieser Sachen aufgewendete Zeit und Arbeitskraft ist im einen Falle zwanzigmal größer als im anderen, und genauso ist es mit allem übrigen - mit ihren Häusern, ihren Anzügen, Stiefeln, Hüten, Juwelen und ihrer Nahrung. Alles muss vom Besten sein, was Kunst oder lange, mühevolle Arbeit herstellen kann. Für die meisten Menschen aber, deren Arbeit alle diese guten Dinge hervorbringt -wird alles und jedes als gut genug angesehen. Für sich selbst fabrizieren die menschenfreundlichen Arbeiter schäbigen Stoff - das heißt billigen, aus alten Lumpen und Dreck hergestellten Stoff sowie schäbige, unbequeme, eisenbeschlagene Stiefel. Seht ihr einen Arbeiter, der einen wirklich guten Anzug trägt, so könnt ihr getrost schließen, dass er entweder ein naturwidriges Leben führt, nämlich, dass er unverheiratet ist, oder dass er ihn auf Abzahlung gekauft und noch nicht bezahlt hat, oder aber, dass es der abgelegte Anzug eines anderen ist, den der Arbeiter alt gekauft hat beziehungsweise der ihm von einer mildtätigen Person geschenkt wurde. Ebenso steht es mit der Nahrung. Alle Enten und Gänse, Fasane, Rebhühner und alle saftigsten Teile des erlesensten Fleisches - alle Seezungen, die feinsten Flundern und Lachs und Forellen... "
„He, hör auf!" rief Harlow heftig. „Davon wolln wir nichts mehr hören!" - und auch einige der anderen protestierten dagegen, dass der Vortragende seine Zeit mit so nebensächlichen Einzelheiten vergeudete.
„- das Beste von allem wird dem ausschließlichen Genuss der Leute in den Abteilungen 1 und 2 vorbehalten, während die Arbeiter von Fleischabfällen, Margarine, verfälschtem Tee, fragwürdigem Bier existieren und damit zufrieden sind - sie murren nur, wenn sie nicht einmal diese Nahrung erhalten können."
Owen hielt inne, und ein düsteres Schweigen folgte; plötzlich aber erhellte sich Crass' Gesicht. Er hatte eine wichtige Lücke in der Beweisführung des Redners entdeckt.
„Du sagst, die Leute in Nummer 1 und 2 kriegen das Beste von allem, aber was ist 'n mit den Landstreichern und Bettlern? Die haste auch in Abteilung 1."
„Ja, ich weiß. Seht ihr, es ist der richtige Platz für sie. Sie gehören zu den Müßiggängern. Geistig und moralisch sind sie nicht besser als irgendwelche anderen Nichtstuer in dieser Abteilung, und nützlicher sind sie auch nicht. Natürlich, ziehen wir die Menge der von den anderen produzierten Güter, die sie konsumieren, in Betracht, so sind sie nicht so schädlich wie die übrigen Müßiggänger, denn sie verbrauchen verhältnismäßig wenig. Trotzdem sind sie in dieser Abteilung am richtigen Platz. Die Leute darin erhalten nicht alle den gleichen Anteil. Diese Rubrik stellt ja keine Einzelpersonen dar - sondern eben die Gesamtheit der Müßiggänger."
„Aber ich dachte, du wolltest beweisen, dass Geld die Ursache der Armut ist", meinte Easton.
„Die ist es auch", sagte Owen. „Siehst du denn nicht, dass es Geld ist, was alle diese Leute den wahren Zweck der Arbeit aus dem Auge verlieren lässt - die Produktion der Dinge, die wir brauchen? Alle diese Leute kranken an der falschen Vorstellung, es sei gleichgültig, was für eine Arbeit sie leisten, oder ob sie auch gar nichts tun - solange sie nur Geld dafür erhalten. Unter dem gegenwärtigen merkwürdigen System ist das ihr einziges Ziel - Geld zu erhalten. Ihre Ansichten sind derartig verdreht, dass sie diejenigen, die mit nützlicher Arbeit beschäftigt sind, mit Verachtung ansehen! Abgesehen von den Verbrechern und den Ärmeren der Müßiggänger gilt die Arbeiterklasse als die niedrigste und am wenigsten verdienstvolle in der Gemeinschaft. Die Leute, die es verstehen, Geld für etwas anderes als produktive Arbeit einzunehmen, gelten deshalb schon als achtungswürdiger. Die, welche selbst nichts tun, sondern aus der Arbeit anderer Geld herausschlagen, werden als noch achtungswürdiger angesehen! Am geachtetsten aber und vor allen übrigen geehrt sind jene, die Geld dafür erhalten, dass sie absolut nichts tun!"
„Aber ich sehe nicht ein, wieso das beweist, dass Geld die Ursache der Armut ist!" sagte Easton
„Sieh mal her", sagte Owen, „die Leute in Abteilung 4 produzieren alles, nicht?"
„Ja, das wissen wir ja alle", unterbrach ihn Harlow. „Aber sie werden doch dafür bezahlt, oder? Sie kriegen doch ihren Lohn."
„Ja, und woraus besteht denn ihr Lohn?" fragte Owen.
„Na, aus Geld natürlich", antwortete Harlow ungeduldig.
„Und was tun sie mit ihrem Geld, wenn sie es bekommen haben? Essen sie es, trinken sie es, oder ziehen sie es an?"
Bei dieser scheinbar sinnlosen Frage lachten einige von denen, die bisher zugehört hatten, spöttisch; es war wirklich sehr schwer, solchem Unsinn geduldig zuzuhören.
„Natürlich nicht", antwortete Harlow verächtlich. „Damit kaufen sie die Sachen, die sie haben wollen."
„Glaubst du wohl, dass es den meisten von ihnen gelingt, einen Teil ihres Lohnes zu sparen, ihn auf die Bank zu bringen?"
„Na, ich kann über mich selbst reden", erwiderte Harlow unter Gelächter. „'s fällt mir verflucht schwer, meine Miete und den anderen laufenden Krempel zu bezahlen und meine Kinder dauernd mit Schuhwerk zu versorgen, und für Bier gebe ich verdammt wenig aus - vielleicht 'nen Sechser oder höchstens 'nen Schilling die Woche."
„'n unverheirateter Mann kann Geld sparen, wenn er will", meinte Slyme.
„Von Unverheirateten spreche ich nicht", antwortete Owen. „Ich meine solche, die ein natürliches Leben führen."
„Und was ist mit all dem Geld, das auf der Postsparkasse und bei Baugenossenschaften und gegenseitigen Hilfsvereinen steckt?" fragte Crass.
„Ein sehr großer Teil davon gehört Geschäftsleuten oder solchen, die eine andere Einkommenquelle haben als nur ihren Lohn. Einige ausnahmsweise glückliche Arbeiter gibt es wohl, die zufällig gute Stellungen und höhere Löhne haben als die Arbeiter im allgemeinen. Dann gibt es noch
einige, die - zum Beispiel durch das Vermieten von Zimmern - mietfrei wohnen können. Andere gibt es, deren Frauen arbeiten gehen, und wieder andere, die besondere Arbeiten ausführen und eine Menge Überstunden machen -aber all das sind Ausnahmefälle."
„Ich behaupte, dass kein verheirateter Arbeiter überhaupt Geld sparen kann!" rief Harlow. „Höchstens, wenn er sich von den paar Sachen, die wir uns wirklich leisten können welche abknapst und ebenfalls seine Frau und seine Kinder dazu zwingt."
„Hört, hört!" sagten alle außer Crass und Slyme, die beide sparsame Leute waren und jeder etwas bei der einen oder der anderen der erwähnten Institutionen etwas zurückgelegt hatte.
„Dann bedeutet das", sagte Owen, „dann bedeutet es, dass die von den Leuten in Abteilung 4 erhaltenen Löhne kein Äquivalent für die von ihnen geleistete Arbeit sind."
„Was meinste'n damit, Quiverlent", rief Crass. „Warum, zum Teufel, kannste 'n nicht richtig englisch sprechen, ohne 'n Haufen lange Wörter in 'n Mund zu nehmen, die keiner kapiert?"
„Ich meine dies", erwiderte Owen, sehr langsam sprechend. „Alles wird durch die Leute in Abteilung 4 hergestellt. Für ihre Arbeit erhalten sie - Geld, und die Dinge, die sie gemacht haben, werden zum Eigentum der Leute, die nichts tun. Da das Geld keinen Nutzen hat, gehen die Arbeiter nun in die Läden und geben es im Austausch gegen einige der Waren fort, die sie selbst hergestellt haben. Sie geben ihren gesamten Lohn aus - oder geben ihn zurück; da aber das Geld, das sie als Lohn erhalten haben, im Wert den Dingen, die sie produziert haben, nicht gleichkommt, stellen sie fest, dass sie nur einen sehr kleinen Teil zurückkaufen können. Ihr seht also, dass diese kleinen Metallscheiben - dieses Geld - ein Mittel ist, das Nichtstuer befähigt, die Arbeiter um den größten Teil der Früchte ihrer Arbeit zu bringen."
Das hierauf folgende Schweigen wurde von Crass gebrochen.
„Klingt recht hübsch", höhnte er, „aber klug werde ich nicht draus!"
„Pass auf!" rief Owen. „Die produzierende Klasse - diese Leute in Nummer 4, werden angeblich für ihre Arbeit bezahlt. Ihre Löhne entsprechen angeblich dem Wert ihrer Arbeit. Aber 's ist nicht so. Wäre es so, dann könnte die produzierende Klasse, wenn sie ihren gesamten Lohn gibt, alles zurückkaufen, was sie produziert hat."
Owen verstummte, und wieder herrschte Schweigen. Keiner ließ erkennen, ob er verstanden hatte, was Owen gesagt hatte, und ob er damit einverstanden war oder nicht. Sie verhielten sich streng neutral. Während des Wortwechsels war Barrington die Pfeife ausgegangen. Mit Hilfe eines zusammengedrehten Stückes Papier zündete er sie am Feuer wieder an.
„Käme ihr Lohn tatsächlich an Wert dem Produkt ihrer Arbeit gleich", wiederholte Owen, „so wären sie in der Lage, nicht nur einen kleinen Teil, sondern das Ganze zurückzukaufen."...
[Bei diesen Worten verursachte eine Bemerkung Bundys schallendes Gelächter, und als Wantley den Scherz] unterstrich, indem er einen Laut von sich gab, der einem Pistolenschuss glich, steigerte sich die Heiterkeit auf das Zehnfache.
„Na, das war 'n Ding", bemerkte Easton, während er aufstand und das Fenster öffnete.
„'s wird höchste Zeit, dass du begraben wirst, nach dem Geruch zu urteilen", sagte Harlow zu Wantley, der lachte und zu glauben schien, er habe sich hervorgetan...
„Aber selbst wenn wir die gesamte arbeitende Klasse nehmen", fuhr Owen fort, „das heißt die Leute in Abteilung 3 ebenso wie die in Abteilung 4, stellen wir fest, dass ihre vereinten Löhne nicht ausreichen, um die von den Produzenten hergestellten Dinge zu kaufen. Der Gesamtwert des in unserem Lande im letzten Jahr erzeugten Reichtums betrug 1800 000 000 Pfund, und die Gesamtsumme der während der gleichen Zeit ausgezahlten Löhne betrug nur 600 000 000 Pfund. Mit anderen Worten: mit Hilfe des Geldtricks sind den Arbeitern zwei Drittel ihres Arbeitsergebnisses geraubt worden. Alle diese Menschen in den Abteilungen 3 und 4 arbeiten und leiden, hungern und kämpfen, damit die reichen Leute in den Abteilungen 1 und 2 in Luxus dahinleben können und nichts zu tun brauchen. Dies sind die Schurken, welche die Armut verursachen: nicht nur verschlingen, verschwenden oder hamstern sie die von den Arbeitern erzeugten Dinge, sondern sobald ihre eigenen Bedürfnisse befriedigt sind, zwingen sie auch noch die Arbeiter, die Arbeit einzustellen, und hindern sie daran, die Dinge zu produzieren, die diese brauchen. Die meisten dieser Leute", rief Owen, und sein sonst so blasses Gesicht rötete sich, während seine Augen vor plötzlichem Zorn blitzten, „die meisten dieser Leute verdienen überhaupt nicht, Menschen genannt zu werden! Teufel sind sie! Denn sie wissen, dass, während sie sich allen erdenklichen Vergnügungen hingeben, rings um sie her Männer, Frauen und Kinder in Not leben oder sogar Hungers sterben."
Das Schweigen, das hierauf folgte, wurde schließlich von Harlow gebrochen:
„Du sagst, die Arbeiter haben ein Recht auf alles, was sie produzieren; aber du vergisst, dass die Rohstoffe ja bezahlt werden müssen. Die machen sie doch nicht."
„Natürlich erschaffen die Arbeiter nicht die Rohstoffe", erwiderte Owen. „Aber mir ist nicht bekannt, dass die Kapitalisten oder die Grundbesitzer das täten. Die Rohstoffe sind im Überfluss in und auf der Erde vorhanden; doch sie sind gänzlich nutzlos, solange sie nicht bearbeitet worden sind."
„Ja, aber siehste, die Erde gehört doch den Grundherren!" rief Crass unbedacht.
„Das weiß ich, und natürlich denkst du, es sei richtig, dass das ganze Land ein paar Leuten gehört..."
„Ich muss den Redner zur Ordnung rufen", unterbrach Philpot. „Auf der Tagesordnung steht augenblick keine Landfrage nicht."
„Du sprichst davon, dass den Produzenten der größte Teil des Werts von dem, was sie herstellen, geraubt wird", sagte Harlow, „aber du musst doch dran denken, dass nicht alles durch Handarbeit produziert wird. Was ist 'n mit den Sachen, die von Maschinen gemacht werden?"
„Die Maschinen selbst sind von den Arbeitern hergestellt worden", antwortete Owen, „aber natürlich gehören sie nicht den Arbeitern, sondern sind ihnen mit Hilfe des Geldtricks geraubt worden."
„Wer hat 'n aber die ganzen Maschinen erfunden?" rief Crass.
„Das ist mehr, als du, ich oder sonst jemand sagen kann", entgegnete Owen, „bestimmt war es aber nicht die reiche Faulenzerklasse, die Grundbesitzer, noch die Unternehmer. Die meisten Menschen, welche die Maschinen erfunden haben, lebten und starben unbekannt in Armut und häufig sogar in wirklicher Not.
[Auch die Erfinder sind von der] Klasse der Arbeiterausbeuter beraubt worden.
Keiner der gegenwärtig Lebenden kann berechtigterweise behaupten, er habe die heute existierenden Maschinen erfunden. Wahrheitsgemäß können sie höchstens sagen, sie haben etwas zu den Ideen derer, die vor ihnen gelebt und gearbeitet haben, hinzugefügt oder sie vervollkommnet. Selbst Watt und Stevenson verbesserten nur bereits bestehende Dampfmaschinen und Lokomotiven. Deine Frage hat wirklich nichts mit dem Thema zu tun, über das wir uns unterhalten; wir versuchen lediglich zu ergründen, weshalb die Mehrzahl der Menschen ungenügend von den Dingen hat, die zu den Wohltaten der Zivilisation gehören. Eine der Ursachen ist, dass die Mehrzahl der Bevölkerung mit Arbeiten beschäftigt ist, durch die diese Dinge nicht produziert werden, und das meiste von dem, was produziert wird, eignen sich diejenigen an, die kein Anrecht darauf haben, und verschwenden es.
Die Arbeiter produzieren alles! Geht ihr durch die Straßen einer Ortschaft oder einer Stadt und blickt ihr euch um, so ist alles, was ihr sehen könnt - Fabriken, Maschinen, Häuser, Eisenbahnen, Straßenbahnen, Kanäle, Möbel, Kleidung, Lebensmittel und selbst der Weg oder das Pflaster, auf dem ihr steht, von den Angehörigen der Arbeiterklasse geschaffen worden, die ihren gesamten Lohn ausgeben, um nur einen sehr kleinen Teil der von ihnen produzierten Güter zurückzukaufen. Daher verkörpert das, was im Besitz ihrer Herren zurückbleibt, den Unterschied zwischen dem Wert der geleisteten Arbeit und dem dafür gezahlten Lohn. Dieser systematische Raub wird bereits seit Generationen betrieben; der Wert der angehäuften Beute ist ungeheuer, und all das, der gesamte Reichtum, der sich
gegenwärtig im Besitz der Reichen befindet, ist rechtmäßig Eigentum der Arbeiterklasse - er ist ihr mit Hilfe des Geldtricks gestohlen worden."
Owen stieg vom Rednerpult herab. Einige Augenblicke lang herrschte ein bedrückendes Schweigen. Verwirrt und verlegen starrten die Männer abwechselnd aufeinander und auf die Zeichnungen an der Wand. Sie waren gezwungen, ein wenig selbständig zu denken, und das war eine ungewohnte Tätigkeit. Während ihrer Kindheit hatte man sie gelehrt, ihrer eigenen Intelligenz zu misstrauen und das „Denken" ihren „Hirten" und ihren Herren zu überlassen und ganz allgemein den „besseren" Leuten. Ihr ganzes Leben lang waren sie dieser Unterweisung treu geblieben; stets hatten sie blind und gedankenlos an die Weisheit und Menschlichkeit ihrer Hirten und Herren geglaubt. Eben das war der Grund, weshalb sie und ihre Kinder sich ihr ganzes Leben lang fast am Verhungern befanden und beinahe nackt und bloß waren, während die „besseren" Leute, die nichts taten, als nur das Denken zu besorgen, in Purpur und feines Linnen gekleidet gingen und alle Tage üppig speisten.
Einige hatten sich von ihren Plätzen erhoben; aufmerksam studierten sie die von Owen an die Wand gezeichneten Diagramme, und auch fast alle übrigen strengten ihren Geist auf die gleiche Weise an; sie versuchten krampfhaft, etwas zu finden, was sie zur Verteidigung derer sagen konnten, die sie der Früchte ihrer Arbeit beraubten.
„Ich kann, verdammt noch mal, keinen Sinn drin finden, immer auf den Reichen rumzuhacken", sagte Harlow schließlich. „Reiche und Arme hat's schon immer in der Welt gegeben und wird's immer geben."
„Freilich", meinte Slyme, „in der Bibel heißt's: ,Ihr habt allezeit Arme bei euch.'"
„Was für 'n verdammtes System meinste denn sollten wir haben?" fragte Crass. „Wenn alles falsch ist, wie soll's 'n geändert wer'n?"
Bei diesen Worten hellten sich aller Mienen auf, und sie sahen einander befriedigt und erleichtert an. Natürlich! Es war ganz überflüssig, überhaupt über diese Dinge nachzudenken! Nie konnte das alles verändert werden; so oder ähnlich war es schon immer gewesen, und so bliebe es auch.
„Mir scheint, ihr hofft alle, es sei unmöglich, die Dinge zu verändern", sagte Owen. „Ohne auch nur den geringsten Versuch, ausfindig zu machen, ob es möglich ist, redet ihr euch ein, es sei unmöglich, und dann seid ihr, anstatt betrübt zu sein, auch noch froh!"
Einige lachten töricht und halbbeschämt.
„Wie, glaubst 'n du, könnte's verändert werden?" fragte Harlow.
„Der Weg, es zu verändern, besteht zuerst einmal darin, die Menschen über die wahre Ursache ihrer Leiden aufzuklären, und dann..."
„Na", unterbrach ihn Crass mit selbstgefälligem Kichern, „da muss, verdammt noch mal, 'n Bess'rer kommen als du, um mich aufzuklären!"
„Ich will nicht zur Finsternis aufgeklärt werden!" meinte Slyme fromm.
„Aber was für 'n System schlägst du 'n dann vor?" wiederholte Harlow. „Nachdem du sie alle aufgeklärt hast -wenn du nicht daran glaubst, das ganze Geld müsste gleichmäßig verteilt werden, wie willst du's dann ändern?"
„Wie er's ändern will, weiß ich nicht", höhnte Crass, während er auf seine Uhr sah und sich erhob, „aber wie spät 's ist, das weiß ich - zwei Minuten nach eins!"
„Der nächste Vortrag", sagte Philpot zu den Versammelten, während sich alle anschickten, wieder an die Arbeit zu gehen, „der nächste Vortrag wird bis morgen um die übliche Zeit verschoben, wo's meine schmerzliche Pflicht sein wird, Mr. Owen aufzufordern, seine wohlbekannte und höchst anstößige [[Vorlesung mit dem Titel ,Die Arbeit, und wie man sie vermeiden kann' zu halten. Alle, die sich gern aufklären lassen wollen, werd'n gebeten zu erscheinen."
„Oder alle, die heute Abend nicht auf die Straße gesetzt werden", bemerkte Easton bissig.]

 

27. Kapitel Das Gemetzel

Während des Nachmittags besuchten Rushton und Sweater das Haus. Letzterer hatte sich dort mit einem Gärtner verabredet, dem er Anweisung für die Anlage des Gartens geben wollte, der aufgerissen worden war, um die neue Abflussleitung zu legen. Sweater war bereits mit dem Chefgärtner des öffentlichen Parks übereingekommen, dass einige der besten Pflanzen von dort gestohlen und zur „Höhle" hinübergesandt werden sollten. Diese Pflanzen waren im Laufe von etwa einer Woche in kleinen Mengen eingetroffen. Sie mussten wohl entweder abends dorthin gebracht worden sein, nachdem die Leute die Arbeit verlassen hatten, oder aber sehr früh morgens, noch vor Arbeitsbeginn. Die beiden Herren hielten sich ungefähr eine halbe Stunde lang im Hause auf, und als sie fortgingen, war in der Ferne das klagende Gebimmel der Rathausglocke zu hören, die stets zur Einberufung der Ratssitzungen geläutet wurde, und die Arbeiter meinten zueinander. jetzt werde ein neuer Raubzug eingeläutet.
Hunter kam an diesem Tage nicht mehr zur Arbeitsstelle: Rushton hatte ihn zur Abschätzung einer Arbeit fortgeschickt, für welche die Firma einen Kostenanschlag einreichen wollte. Nur eine einzige Person empfand Bedauern über seine Abwesenheit, und das war Mrs. White, Berts Mutter, die seit mehreren Tagen in der „Höhle" gearbeitet und die Fußböden gescheuert hatte. Für gewöhnlich zahlte ihr Hunter jeden Abend ihren Lohn aus, und gerade heute brauchte sie das Geld noch dringender als sonst. Gegen Ende der Arbeitszeit sprach sie darüber mit Crass, und der riet ihr, auf dem Heimweg ins Büro zu gehen und die junge Sekretärin um das Geld zu bitten. Da Hunter nicht kam, folgte sie dem Rat des Vorarbeiters.
Als sie den Laden erreichte, kam gerade Rushton heraus. Sie erklärte ihm ihr Anliegen, und er beauftragte Mr. Budd, zu veranlassen, dass Miss Wade der Frau ihren Lohn auszahlte. Der Verkäufer führte sie also in das Büro hinter dem Laden, und nachdem sich die junge Sekretärin im
Hauptbuch vergewissert hatte, wie viel die Frau heute zu bekommen hatte, händigte sie ihr die Summe aus, die Hunter ihr als deren Lohn angegeben hatte - den gleichen Betrag, den Miss Wade ihm auch sonst zur Entlohnung der Aufwartefrau ausgezahlt hatte. Als Mrs. White ins Freie trat, bemerkte sie, dass sie eine Krone in der Hand hielt anstatt der zwei Schilling, die sie gewöhnlich von Mr. Hunter erhielt. Zuerst wollte sie das Geld zurückbringen; nach einigem Zögern aber beschloss sie, lieber zu warten, bis sie Hunter traf und mit ihm darüber sprechen konnte. Als sie jedoch am nächsten Morgen diesem „Schüler des Herrn" in der „Höhle" begegnete, erwähnte er die Sache als erster und teilte ihr mit, Miss Wade habe sich geirrt. Und am Abend bei der Auszahlung ihres Lohnes zog er die sechs Pence von ihren üblichen zwei Schilling ab...
[Der von Philpot angekündigte Vortrag wurde nicht gehalten. In banger Erwartung des bevorstehenden „Gemetzels" legten sich die Leute wie üblich ins Zeug, so sehr sie nur konnten; denn] im allgemeinen fahren sie in solchem Fall fort, in der gewohnten Weise zu arbeiten, und jeder versucht, die anderen auszustechen, damit er seine Chance nicht einbüßt, einer der Glücklichen zu sein.
[Am Nachmittag ging Elend herum und teilte] außer Crass, Owen, Slyme und Sawkins allen Arbeitern mit, sie müssten ab heute Abend aussetzen. Er erklärte ihnen, die Firma habe mehrere Arbeiten in Aussicht, um die sie sich beworben habe und die sie zu bekommen hoffe; er meinte, nach Weihnachten könnten sie einmal vorbeikommen, dann werde er wohl unter Umständen in der Lage sein, einige von ihnen wieder zu beschäftigen. Morgen, am Sonnabend, werden sie, wie gewöhnlich, um ein Uhr im Büro ihr Geld erhalten; wer es aber etwa wünsche, könne auch heute Abend schon entlohnt werden. Die Leute dankten ihm, und die meisten meinten, sie werden um die übliche Kassenstunde ihren Lohn abholen und, seinem Vorschlag entsprechend, nach den Feiertagen einmal vorbeikommen und sehen, ob es irgend etwas zu tun gebe.
Im ganzen sollten ab heute Abend fünfzehn Leute aussetzen - darunter Philpot, Harlow, Easton und Ned Dawson. Sie nahmen ihre Entlassung unbewegt hin, ohne irgendeine Bemerkung zu machen, und manche sogar mit gespielter Gleichgültigkeit; aber nachher unternahm kaum einer den Versuch, eine Unterhaltung in Gang zu bringen Das bisschen Arbeit, das noch zu tun übrig blieb, verrichteten sie schweigend, und auf jedem lastete die gleiche quälende Angst - die Furcht vor der bevorstehenden Not den Entbehrungen und all dem Unglück, das sie und ihre Familien, wie sie wussten, während der nächsten Monate zu erleiden hätten.
Bundy und sein Kumpel Dawson arbeiteten in der Küche und setzten den neuen Herd an die Stelle des alten, den sie entfernt hatten. Sie waren den ganzen Tag über mit dieser Arbeit beschäftigt gewesen; ihre Hände, ihre Gesichter und ihre Kleidung waren voll von Ruß, und sie hatten es auch fertig gebracht, ihn überall auf die Türen und die anderen Holzteile des Raumes zu schmieren und zu tupfen - sehr zur Empörung von Crass und Slyme, die alles wieder abwaschen mussten, ehe sie den letzten Anstrich vornehmen konnten.
„Bei so 'ner Arbeit hier kommste eben um 'n bisschen Dreck nicht drum rum, weißte", bemerkte Bundy, als er die letzte Hand anlegte und die beschädigten Stellen an der Wand mit Zement ausfüllte, während sein Kumpel die Trümmer forträumte.
„Ja, aber 's ist doch nicht nötig, jedes Mal, wenn ihr rein und raus geht, die Türen zu begratschen, verflucht noch mal", knurrte Crass, „und euer Werkzeug hättet ihr auch auf 'n Fußboden legen können, anstatt 'ne Werkbank aus der Anrichte zu machen."
„In fünf Minuten kannste das verdammte Haus ganz für dich allein haben", antwortete Bundy, während er Dawson half, einen etwa zwei Zentner schweren Sack auf den Rücken zu heben. „Wir sind jetzt fertig."
Als sie allen Schmutz, alle Ziegel- und Mörtelbrocken hinausgeräumt hatten, während Crass und Slyme fortfuhren zu streichen, luden Bundy und Dawson den alten Herd sowie die Säcke mit dem unbenutzten Zement und dem Gips auf ihren Handkarren und fuhren sie in den Gerätehof zurück. Inzwischen wanderte Elend im Hause und auf dem Grundstück umher wie ein böser Geist, der
Ruhe sucht und keine findet. Eine Zeitlang stand er da und beobachtete finster die vier Gärtner, die eifrig damit beschäftigt waren, Rasenstücke auszulegen, das Gras zu mähen, die Kieswege zu walzen sowie Bäume und Büsche zu beschneiden. Bert, der Junge, Philpot, Harlow, Easton und Sawkins beluden einen Handwagen mit Leitern und leeren Farbtöpfen, um sie in den Gerätehof zurückzubringen. Als sie sich eben in Bewegung setzten, hielt Elend sie an und bemerkte, der Karren sei noch nicht halbvoll geladen - er erklärte, es werde einen Monat dauern, das ganze Zeug fortzubringen, wenn sie so weitermachten; deshalb legten sie auf seine Anweisung noch eine lange Leiter oben auf den Haufen und fuhren dann wieder an. Bevor sie jedoch zwei Dutzend Meter zurückgelegt hatten, brach eines der beiden Karrenräder, und die Ladung wurde über den Weg gestreut. Bert befand sich auf der gleichen Seite des Karrens wie das zerbrochene Rad und wurde heftig zu Boden geschleudert, wo er unter Leitern und Planken halbbetäubt liegen blieb. Nachdem sie ihn herausgezogen hatten, stellten sie erstaunt fest, dass er dank der besonderen Vorsehung, die über alle kleinen Jungen wacht, fast unverletzt war - nur ein wenig betäubt hatte es ihn, das war alles, und als Sawkins mit einem anderen Karren zurückkehrte, war Bert bereits fähig, beim Aufsammeln der hinabgefallenen Farbtöpfe zu helfen und die Männer mit der Last zum Gerätehof zu begleiten. An der Straßenbiegung hielten sie an, um einen letzten Blick auf „die Arbeit" zu werfen.
„Da steht's nun!" sagte Harlow mit tragischer Stimme und wies mit der Hand nach dem Haus. „Da steht's! 'ne Arbeit, die, hätte man sie uns nur ordentlich machen lassen, mit derselben Anzahl von Leuten nicht weniger als vier Monate gebraucht hätte, und da steht's nun - fertig, versaut, überschmiert und gepfuscht - in neun Wochen!"
„Ja, und wir können uns jetzt zum Teufel scheren", meinte Philpot düster.
Auf dem Gerätehof fanden sie Bundy mit seinem Kumpel Ned Dawson vor, und diese halfen ihnen, die Leitern an ihren gewöhnlichen Platz zu hängen. Philpot war froh, infolgedessen hierbei nicht helfen zu müssen, denn er hatte sich bei den Außenarbeiten an der „Höhle" einen ziemlich schweren Rheumatismus zugezogen. Während die anderen die Leitern fortbrachten, half er Bert, die Farbtöpfe und Eimer in die Malerwerkstatt zu tragen, und dort füllte er eine kleine Medizinflasche, die er zu diesem Zweck mitgebracht hatte, mit Terpentin aus dem Tank. Er wollte sich Schultern und Beine damit einreiben, und während er die Flasche heimlich in die Innentasche seines Mantels steckte murmelte er: „Auf die Weise kommen wir doch wenigstens 'n bisschen auf unsre Kosten."
Sie brachten den Hofschlüssel zum Büro, und als sie sich trennten, um nach Hause zu gehen, bemerkte Bundy, das Beste, was sie tun könnten, sei, 'n paar Monate lang ihre verdammten Schnäbel zuzunähen, weil keine große Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie vor März wieder Arbeit erhielten.
Während Crass und Slyme am nächsten Morgen die Innenarbeiten zu Ende führten, beschriftete Owen die beiden Tore. Auf das vordere schrieb er in Goldbuchstaben „Die Höhle" und auf das hintere „Eingang für Lieferanten". Inzwischen fuhren Sawkins und Bert mehrmals mit dem Karren zum Gerätehof und zurück.
Crass, der mit Slyme in der Küche arbeitete, war sehr schweigsam und nachdenklich. Seit Beginn der Arbeit war er bei jedem Besuch, den Mr. Sweater dem Haus abgestattet hatte, um nachzusehen, welche Fortschritte gemacht worden waren, vor ihm gekrochen, in der Hoffnung, nach Beendigung der Arbeit ein Trinkgeld zu erhalten. Sorgfältig war er darauf bedacht gewesen, jeden Vorschlag, den Mr. Sweater von Zeit zu Zeit gemacht hatte, zu beachten, und er hatte sich in mehreren Fällen viel Mühe gegeben, genau die richtige Tönung gewisser Farben herauszubekommen, hatte verschiedene Schattierungen und Kombinationen zusammengestellt und zuerst Teile der Fußleisten oder der Gesimse in den Zimmern gestrichen, damit Mr. Sweater, ehe sie mit der Arbeit fortfuhren, sich ein genaues Bild machen konnte, wie es nachher aussehen würde. Mit großem Getue gab Crass vor, sich in allem nach Sweaters Meinung zu richten, und er versicherte diesem, dass ihm keine Mühe zuviel sei, wenn er - Sweater - nur zufrieden sei. Es sei überhaupt keine Mühe, es sei ein Vergnügen. Als sich die Arbeit dem Ende näherte, begann Crass, Berechnungen über die vermutliche Höhe der Gabe anzustellen, die er als Belohnung für neun Wochen des Katzbuckeins, Kriechens und der verächtlichen Unterwürfigkeit erhalten werde. Er glaubte, es sei durchaus möglich, dass er ein Pfund bekomme; zuviel wäre das nicht, in Anbetracht all der Mühe, die er sich gegeben hatte. Soviel war sie wert. Auf jeden Fall war er sicher, mit zehn „Eiern" rechnen zu können; ein Gentleman wie Mr. Sweater besitze nicht die Frechheit, weniger anzubieten. Je mehr Crass darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher schien es ihm, der Betrag werde geringer sein als ein Pfund, und er beschloss, was er auch immer erhielte - er werde gut darauf achten, dass keiner der anderen davon erfuhr. Er war derjenige, der sich den Kopf über die Arbeit hatte zerbrechen müssen, und er war der einzige, dem zustand, was nur zu haben war. Außerdem lohnte es überhaupt nicht - selbst wenn er ein Pfund erhielte -, wenn man es noch unter ein Dutzend verteilte, ja selbst unter zwei oder drei Leute.
Gegen elf Uhr kam Mr. Sweater und begann, durch das Haus zu gehen, gefolgt von Crass, der einen Farbtopf nebst einem kleinen Pinsel trug und tat, als „retouchiere" und vollende er Teile der Arbeit. Während Mr. Sweater von einem Zimmer ins andere ging, stellte sich ihm Crass mehrmals in den Weg, in der Hoffnung, Sweater werde ihn ansprechen; der nahm jedoch keinerlei Notiz von ihm. Ein- oder zweimal begann Crass schon das Herz zu klopfen, als er, den großen Mann insgeheim beobachtend, sah, wie der Daumen und Zeigefinger in die Westentasche versenkte; jedes Mal aber zog Sweater seine Hand leer wieder heraus. Als Crass nach einer Weile bemerkte, dass der Herr Anstalten machte, sich zu entfernen, ohne etwas gesagt zu haben, beschloss er, selbst das Eis zu brechen. „Jetzt haben wir 'n bisschen bessres Wetter, Mr. Sweater!" „Ja", erwiderte der.
„Ich fing schon an, Angst zu kriegen, ich würde's nicht schaffen, alles rechtzeitig fertig zu bekommen, damit Sie Weihnachten einziehen können, Mr. Sweater", fuhr Crass fort, „aber jetzt ist alles soweit, Mr. Sweater."
Der gab keine Antwort.
„Ich hab in allen Zimmern Feuer unterhalten, wie Sie's mir gesagt haben, Mr. Sweater", begann Crass nach einer Pause von neuem. „Ich denke, Sie werden das Haus schön trocken finden, Mr. Sweater; der einzige Ort, wo's 'n bisschen feucht ist, ist die Küche und die Spülkammer und die anderen Räume im Kellergeschoß, Mr. Sweater, aber das ist ja natürlich fast immer so, Mr. Sweater, wenn die Räume teilweise unter der Erde liegen. Aber natürlich macht's im Kellergeschoß nicht viel aus, Mr. Sweater, da halten sich ja doch bloß die Dienstboten auf, und im Sommer wird's auch da unten ganz in Ordnung sein, Mr. Sweater."
Nach der verächtlichen Weise, in der Crass von den „Dienstboten" sprach, hätte man kaum annehmen können, dass seine eigene Tochter sich „in Stellung" befand; dies war indessen der Fall.
„0 ja, ohne Zweifel", erwiderte Sweater, während er sich zur vorderen Haustür begab, „ohne Zweifel wird es im Sommer trocken genug sein. Guten Morgen."
„Wünsche Ihnen einen guten Morgen, Mr. Sweater", sagte Crass und folgte ihm; „ich hoffe, Sie sind zufrieden mit der Arbeit, Mr. Sweater - alles nach Wunsch, Mr. Sweater?"
„O ja. Ich denke, es sieht recht nett aus, wirklich recht nett; ich bin sehr damit zufrieden", sagte Sweater herablassend. „Guten Morgen."
„Guten Morgen, Mr. Sweater", antwortete der Vorarbeiter mit gezwungenem Lächeln, während Sweater davonging.
Als der andere fort war, setzte sich Crass niedergeschlagen auf die unterste Treppenstufe, überwältigt vom Zusammenbruch seiner Hoffnungen und Erwartungen. Er versuchte, sich mit der Überlegung zu trösten, dass noch nicht alle Hoffnung verloren sei, denn am Montag und Dienstag musste er noch einmal ins Haus kommen, um die Rolläden anzubringen; doch er konnte den Gedanken nicht loswerden, das sei nur eine sehr schwache Hoffnung, denn, so überlegte er, wenn Sweater wirklich beabsichtigte, ihm etwas zu geben, so hätte er das heute getan, und es war auch sehr unwahrscheinlich, dass er Sweater am Montag oder Dienstag überhaupt zu Gesicht bekommen werde, denn gewöhnlich besuchte der die Arbeitsstelle nicht am Anfang' der Woche. Crass beschloss indessen, das Beste zu hoffen; er riss sich zusammen und kehrte kurz darauf in die Küche zurück, wo Slyme und Sawkins auf ihn warteten. Er hatte seine Hoffnung auf ein Trinkgeld keinem von ihnen gegenüber erwähnt, aber das war auch gar nicht nötig - beide waren fest entschlossen, ihren Anteil von dem, was er erhalten hatte, abzubekommen. Aufmerksam musterten sie ihn, als er eintrat.
„Was hat er 'n dir gegeben?" steuerte Sawkins direkt aufs Ziel los.
„Mir gegeben?" erwiderte Crass. „Nichts."
Slyme lachte spöttisch und ungläubig; Sawkins aber zeigte Neigung, beleidigend zu werden. Er erwähnte, er habe Crass und Sweater beobachtet und gesehen, wie der Daumen und Zeigefinger in die Westentasche steckte, als er, gefolgt von Crass, ins Speisezimmer ging. Es kostete diesen ziemlich viel Zeit, bis er seine beiden Arbeitskameraden von der Wahrheit seines Berichtes überzeugt hatte; endlich jedoch gelang ihm das, und alle drei stimmten überein, Sweater sei ein blutgieriger alter Lump, und sie jammerten über den Verfall der guten alten Sitten.
„'s gab mal 'ne Zeit", sagte Crass, „und 'n paar Jahre ist's bloß her, da konnteste, wenn du zu 'nem Gentleman ins Haus kamst, immer mit ein, zwei ,Eiern' rechnen, wenn du fertig warst."
Um halb eins war alles aufgeräumt, und nachdem sie den Handkarren mit dem, was von den Materialien, den schmutzigen Farbtöpfen und der Ausrüstung noch dort war, beladen hatten, machten sie sich gemeinsam auf den Weg zum Gerätehof, um alles fortzuschaffen, ehe sie sich ins Büro begaben und ihr Geld abholten. Sawkins nahm den Handgriff des Karrens, Slyme und Crass gingen auf einer Seite und Owen mit Bert auf der anderen. Sie brauchten nicht zu schieben, denn die Straße führte fast während des ganzen Weges bergab, und zwar derartig, dass alle helfen mussten, den Karren aufzuhalten, denn der fuhr so schnell, dass es Bert schwer wurde, mit den anderen Schritt zu halten, so dass er sich häufig in Trab setzen musste, um sie wieder einzuholen; und Crass - der feist und vom Bier aufgeschwemmt und außerdem Anstrengungen nicht gewohnt war - begann zu schwitzen und bat bald die anderen, den Karren nicht so schnell rollen zu lassen; vor ein Uhr brauchten sie ja nicht fertig zu werden.

 

28. Kapitel Der Marsch der Imperialisten

Für die Jahreszeit war der Tag ungewöhnlich schön, und während sie durch die Große Paradeallee gingen -die nach Süden führte -, war ihnen ganz warm. Die Paradeallee war mit reichgekleideten und juwelengeschmückten Müßiggängern bevölkert, von denen viele unverkennbar Zeichen der Trunksucht und Völlerei auf dem Antlitz trugen. Einige Frauenspersonen hatten versucht, die verheerenden Spuren des Lasters und der Ausschweifung durch eine Puder- und Schminkschicht auf dem Gesicht zu verbergen. Unter diese Menge gemischt und Teil von ihr war eine Anzahl wohlgenährt aussehender Individuen, die in lange Gewänder aus feinstem schwarzem Tuch gekleidet waren und breitrandige weiche Filzhüte trugen. Die meisten dieser Leute hatten goldene Ringe an ihren weichen, weißen Fingern und Wild- oder Kalbslederschuhe, so weich wie Handschuhe, an den Füßen. Sie gehörten zu der großen Armee von Betrügern, die sich ein leichtes Leben verschaffen, indem sie die Unwissenheit und Leichtgläubigkeit ihrer Mitmenschen ausnutzen und behaupten, die „Anhänger" und „Diener" des bescheidenen Zimmermanns aus Nazareth zu sein - des Mannes der Leiden, der keinen Ort hatte, wohin er Sein Haupt niederlegen konnte.
Keiner dieser schwarzberockten „Jünger" ließ sich mit den Gruppen von arbeitslosen Tischlern, Maurern, Stuckateuren und Stubenmalern ein, die hier und dort auf dem Fahrweg herumstanden, hässliche, schäbige Kleidung trugen und vor Entbehrungen bleiche Gesichter hatten. Viele dieser Menschen waren unseren Freunden mit dem Karren bekannt, und während diese vorbeifuhren, nickten sie ihnen zu. Ab und zu kam einer der Leute herbei und ging ein Stück neben ihnen her, um sich zu erkundigen, ob es nicht irgendwelche Nachrichten über eine neue Arbeit bei Rushton gebe.
Als Crass und seine Kameraden etwa die Hälfte der Paradeallee hinter sich gebracht hatten, trafen sie gerade in der Nähe des Springbrunnens auf eine Anzahl Männer mit weißen Armbinden, worauf in schwarzen Lettern das Wort „Sammler" geschrieben stand. Diese Leute hielten Sammelbüchsen, sprachen die Menschen auf der Straße an und bettelten um Geld für die Arbeitslosen. Sie waren eine Art Vorreiter für die Hauptstreitkräfte, die in einiger Entfernung hinter ihnen zu sehen waren.
Als sich die Prozession näherte, steuerte Sawkins den Karren zum Bordstein und machte halt, während sie vorüberzog. Sie bestand aus etwa dreihundert Männern, die in Viererreihen marschierten. Sie trugen drei große weiße Transparente mit den Worten „Den Spendern unseren Dank", „Zur Unterstützung der WIRKLICH ARBEITSlOSEN", „Die Kinder müssen ERNÄHRT werden". Obgleich sich auch eine Anzahl Facharbeiter in dem Zug befanden, gehörte doch die Mehrzahl der Leute zu den so genannten ungelernten Arbeitern. Der qualifizierte Facharbeiter beteiligt sich für gewöhnlich nicht an derartigen Umzügen, es sei denn als allerletztem Ausweg... Ständig versucht er, den Schein des Wohlstandes aufrechtzuerhalten, und er wäre sehr entrüstet, wenn jemand andeuten wollte, er, der Facharbeiter, befinde sich in Wirklichkeit im Zustand bitterster, äußerster Armut. Obwohl er weiß, dass seine Kinder häufig nicht so gut ernährt werden wie die Schoßhunde und -katzen der „besseren" Leute, versucht er, seine Nachbarn zu täuschen, damit sie glauben, er verfüge über geheimnisvolle, ihnen unbekannte private Mittel, und er verbirgt seine Armut, als sei sie ein Verbrechen. Die meisten in dieser Schicht von Menschen verhungerten lieber, als dass sie bettelten. Infolgedessen waren nicht mehr als ein Viertel der Leute in der Prozession qualifizierte Facharbeiter; die Mehrzahl waren ungelernte Arbeiter.
Eine kleine Anzahl gehörte auch zu jenen unglückseligen Ausgestoßenen der Gesellschaft - den Vagabunden und Verkommenen, den trunksüchtigen Stromern. Wären die selbstzufriedenen Heuchler, von denen diese armen Wichte verachtet werden, den gleichen Bedingungen unterworfen, so würde die Mehrzahl unter ihnen unweigerlich wie diese Menschen.
Hager und bleich, schäbig oder sogar zerlumpt gekleidet mit zerrissenen Stiefeln und schiefgetretenen Absätzen schlotterten sie vorbei. Einige stierten mit betäubtem oder halbwildem Ausdruck um sich; die meisten sahen auf den Boden oder starrten mit leeren Blicken gerade vor sich hin. Sie sahen völlig gebrochen, hoffnungslos und beschämt aus.
[[„Jeder kann sehen, was das für welche sind", höhnte Crass, „unter der ganzen Bande sind nicht fünfzig richtige Facharbeiter,]] und die meisten würden keine Arbeit annehmen, selbst wenn man sie ihnen anbieten würde."
„Das hab ich auch grade gedacht", stimmte ihm Sawkins zu und lachte.
„Es wird noch immer Zeit sein, das zu sagen, wenn man ihnen Arbeit angeboten hat und sie sie abgelehnt haben", sagte Owen.
„So 'ne Sache schadet der Stadt mächtig", bemerkte Slyme, „'s sollte nicht erlaubt sein; die Polizei müsste einschreiten. 's langt, um alle Herrschaften aus der Stadt zu vergraulen!"
„'ne gottverdammte Schande nenn ich's", sagte Crass, „an so 'nem schönen Tag wie heute hier die Große Paradeallee runter zu marschieren, grade wenn die meisten Herrschaften draußen sind, um die frische Luft zu genießen!"
„Ich nehme an, du meinst, sie sollten zu Hause bleiben und in aller Stille verhungern", sagte Owen. „Ich sehe nicht ein, weshalb sich diese Menschen darum sorgen sollten, welchen Schaden sie der Stadt verursachen; die Stadt scheint sich nicht viel darum zu sorgen, was aus ihnen wird."
„Du hältst also was davon, wie?" fragte Slyme.
„Nein, gewiss nicht. Ich halte nichts davon, als Gnade um etwas zu betteln, was man [[von den Dieben, die diese Menschen beraubt haben und jetzt die Früchte ihrer Arbeit genießen, als Recht zu fordern befugt ist. Nach dem beschämten Ausdruck der Gesichter dieser Leute zu urteilen, sollte man denken, sie seien die Verbrecher anstatt die Opfer."]]
„Na, du musst doch zugeben, dass die meisten davon sehr tiefstehende Kerle sind", sagte Crass mit selbstzufriedener Miene. „'s sind nur sehr wenig Facharbeiter drunter."
„Nun, und wenn schon? Welchen Unterschied macht denn das?" fragte Owen. „Es sind Menschen, und sie haben das gleiche Recht zu leben wie alle übrigen. Die Arbeit der so genannten ,Ungelernten' ist ebenso notwendig und nützlich wie deine oder meine. Ich bin ebenso wenig in der Lage, die ,ungelernte' Arbeit der meisten dieser Leute zu verrichten, wie die meisten unter ihnen meine Arbeit ausführen könnten."
„Na, wenn sie qualifizierte Facharbeiter wären, würden sie vielleicht eher Arbeit finden", sagte Crass.
Owen lachte herausfordernd.
„Willst du damit sagen, du glaubst, wenn alle diese Leute in gelernte Tischler, Stuckateure, Maurer und Stubenmaler verwandelt werden könnten, wäre es für all die anderen Kollegen, an denen wir vorhin vorbeigekommen sind, leichter, Arbeit zu erhalten? Ist das möglich, dass du so etwas Dummes glaubst oder dass es sonst ein Mensch mit gesundem Verstand glaubt!"
Crass antwortete nicht.
„Wenn es nicht genügend Arbeit gibt, um alle Facharbeiter zu beschäftigen, die wir arbeitslos in den Straßen herumstehen sehen, wie könnte es dann den Ungelernten in dem Zug hier helfen, wenn sie alle zu qualifizierten Facharbeitern würden?"
Crass antwortete noch immer nicht, und weder Slyme noch Sawkins kamen ihm zu Hilfe.
„Könnte man sie zu Facharbeitern machen", fuhr Owen fort, „so würden die Dinge einfach nur noch schlimmer für diejenigen, die bereits gelernte Handwerker sind. Eine größere Anzahl qualifizierter Facharbeiter heißt schärfere Konkurrenz um die Arbeitsplätze für qualifizierte Facharbeiter, eine größere Anzahl von arbeitslosen Handwerkern und infolgedessen bessere Möglichkeiten zu Lohnsenkungen für die Unternehmer. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb die Liberale Partei, die zum größten Teil aus Arbeiterausbeutern besteht, den großen Jim Scalds veranlasst hat, uns zu erzählen, eine bessere technische Ausbildung sei das große Allheilmittel gegen die Arbeitslosigkeit und die Armut."
„Vermutlich denkste, Jim Scalds wär 'n verdammter Idiot, genau wie jeder andere, der die Sachen anders ansieht als du?" meinte Sawkins.
„Ich würde ihn tatsächlich für einen Idioten halten, wenn ich der Ansicht wäre, er glaube, was er sagt. Aber ich bin nicht der Ansicht, dass er es glaubt. Er sagt es nur, weil er denkt, die Mehrheit der Arbeiterklasse besteht aus solchen Narren, dass sie ihm glauben werden. Wenn er nicht dächte, die meisten von uns seien Narren, würde er uns nicht ein solches Ammenmärchen erzählen."
„Und ich nehme an, du denkst, seine Meinung ist gar nicht mal unberechtigt", knurrte Crass.
„Das werden wir nach den nächsten allgemeinen Wahlen besser beurteilen können", erwiderte Owen. „Wenn die Arbeiterklasse wieder eine Majorität von liberalen oder konservativen Grundbesitzern wählt, um sich von ihr beherrschen zu lassen, so beweist dies, dass Jim Scalds Einschätzung ihrer Intelligenz ungefähr richtig ist."
„Na, trotzdem", beharrte Slyme, „ich halte's nicht für richtig, dass den Leuten hier erlaubt wird, so rumzumarschieren und die Besucher aus der Stadt zu vergraulen."
„Was sollten sie denn deiner Meinung nach tun?" fragte Owen.
„Lass doch die Sch...kerle ins Armenhaus gehen, verdammt noch mal!" brüllte Crass.
„Aber ehe sie dort aufgenommen würden, müssten sie ohne jede Bleibe und völlig in Not geraten sein, und dann müssten die Steuerzahler sie erhalten. Jeder Insasse kostet etwa zwölf Schilling die Woche; es scheint mir daher vernünftiger und sparsamer zu sein, wenn die Gesellschaft sie mit einer produktiven Arbeit beschäftigte."
Jetzt waren sie beim Gerätehof angekommen. Tritt- und Stehleitern wurden auf ihren Platz geschafft, die schmutzigen Farbtöpfe und Eimer in der Malerwerkstatt auf die Werkbank oder den Fußboden gestellt. Zusammen mit denen, die schon vorher dorthin zurückgebracht worden waren, standen jetzt sehr viele von diesen Behältern da, die alle gesäubert werden mussten; so lief zumindest Bert keine Gefahr, in der nächsten Zeit arbeitslos zu werden.
Als sie im Büro ausgezahlt wurden, fand Owen beim Öffnen seiner Lohntüte, dass sie wie gewöhnlich einen Lohnzettel für die nächste Woche enthielt, was bedeutete, dass er nicht aussetzen musste, obgleich er nicht wusste, welche Arbeit es zu tun gab. Crass und Slyme sollten beide zur „Höhle" gehen, um die Rolläden anzubringen, und Sawkins sollte gleichfalls wie üblich zur Arbeit kommen.

 

29. Kapitel Die Woche vor Weihnachten

Während der nächsten Woche malte Owen ein Firmenzeichen an die Außenwand einer der Werkstätten des Gerätehofs und beschriftete auch drei der Handkarren mit dem Namen der Firma.
Diese und andere kleinere Arbeiten beschäftigten ihn täglich während mehrerer Stunden, so dass er nicht gänzlich arbeitslos war.
Eines Nachmittags ging er um drei Uhr heim, da es nichts zu tun gab; kaum aber war er zu Hause angelangt, als Bert White mit einem Sargschild kam, das sofort geschrieben werden sollte. Der Junge sagte, er habe Auftrag, gleich darauf zu warten.
Nora schenkte Bert etwas Tee ein und gab ihm ein Butterbrot zu essen, während Owen das Sargschild fertig stellte, und bald darauf erschien auch Frankie, der draußen auf der Straße gespielt hatte. Die beiden Jungen kannten einander bereits, denn Bert war schon mehrmals dort gewesen - bei ähnlichen Gängen oder um bei Owen Unterricht im Marmorieren und Schriftmalen zu nehmen.
„Am nächsten Montag - nach Weihnachten - hab ich eine Feier", bemerkte Frankie. „Mutti hat mir gesagt, ich darf dich einladen, wenn du kommen willst?"
„Ist gut", sagte Bert, „ich bring mein Pandoramer mit."
„Was ist denn das? Ist es lebendig?" fragte Frankie verwirrt.
„Lebendig? Ach i wo!" antwortete Bert mit überlegener Miene. „'s ist ein Schauspiel, wie sie's im Hippodrom oder im Zirkus vorspielen."
„Wie groß ist es denn?"
„Nicht sehr groß. 's ist aus 'ner Zuckerkiste gemacht. Ich hab's selbst gebastelt. Ist noch nicht ganz fertig; aber die Woche mach ich's zu Ende. 'ne Kapelle ist auch dabei, weißte. Dafür nehme ich das hier."
„Das hier war eine große Mundharmonika, die er aus der Innentasche seines Mantels zog.
„Spiel mal was."
Wunschgemäß spielte Bert, und Frankie sang aus voller Kehle ein Potpourri beliebter Schlager, darunter „Der alte Bulle und der Busch", „Hat denn jemand 'ne deutsche Kapelle gesehen?", „Warten vor der Kirche" und zu guter Letzt - vielleicht als Grabgesang für die Person, deren Sargschild Owen eben gerade schrieb - „Leb wohl, Mignonette" und „Ich verlass doch deinetwegen nicht mein Holzhüttchen".
„Was da drin ist, weißt du nicht!" sagte Frankie und meinte eine große Tonschüssel; Nora hatte gerade Owen gebeten, ihr diese vom Boden auf einen Stuhl heben zu helfen. Das erwähnte Gefäß war mit einem sauberen weißen Tuch bedeckt.
„Weihnachtspudding", erwiderte Bert prompt.
„Einmal richtig geraten!" rief Frankie. „Wir haben die Sachen am Sonnabend vom Weihnachtssparklub bekommen. Seit letztes Jahr Weihnachten haben wir da eingezahlt Jetzt werden wir den Pudding anrühren, und du kannst auch mal rühren, wenn du Lust hast - das bringt Glück."
Während sie den Pudding rührten, forderte Frankie die anderen mehrmals auf, seine Muskeln zu fühlen: er meinte, er sei sicher, bald werde er stark genug sein, um arbeiten zu gehen, und er erklärte Bert, seine außerordentliche Kraft sei darauf zurückzuführen, dass er fast ausschließlich von Haferbrei und Milch lebte.
Während des letzten Teils der Woche fuhr Owen fort, mit Sawkins, Crass und Slyme unten im Gerätehof zu arbeiten und einige Stehleitern, Trittleitern und andere der Firma gehörende Ausrüstungsteile zu streichen. Diese Gegenstände sollten zwei Anstriche erhalten, und der Name Rushton & Co. musste daraufgeschrieben werden. Sobald sie einige der Sachen zum zweiten Mal gestrichen hatten, begann Owen mit der Beschriftung und überließ das Anstreichen den anderen, um die Arbeit so gerecht wie nur irgend möglich mit ihnen zu teilen.
Mehrmals während der Woche wurde der oder jener fortgeholt, um andere Arbeiten zu verrichten; einmal mussten Crass und Slyme irgendwohin gehen, um eine Decke abzuwaschen und zu weißen, und Sawkins wurde wiederholt fortgesandt, um den Installateuren zur Hand zu gehen.
Jeden Tag sprachen einige der Leute, die „feiern" mussten, beim Gerätehof vor, um zu fragen, ob irgendwelche Aufträge „hereingekommen" seien. Von diesen Besuchern hörten sie alle Neuigkeiten. Dem alten Jack Linden war es nicht gelungen, eine Arbeit in seinem Beruf zu finden, seit er von Rushton & Co. entlassen worden war, und es wurde berichtet, er versuche, durch das Hausieren mit Räucherheringen ein wenig Geld zu verdienen. Was Philpot betraf, so sagte der, er habe die Runde bei fast allen Firmen der Stadt gemacht, und keine habe irgendwelche nennenswerte Beschäftigung. Newman - der Mann, der, wie sich der Leser erinnern wird, entlassen worden war, weil er sich zuviel Mühe mit seiner Arbeit gegeben hatte - war verhaftet und zu einem Monat Gefängnis verurteilt worden, weil er seine Armensteuer nicht bezahlen konnte, und das Fürsorgeamt hatte seiner Frau drei Schilling die Woche zu ihrem und der drei Kinder Unterhalt bewilligt. Philpot war sie besuchen gegangen, und sie hatte ihm erzählt, der Hauswirt drohe, sie auf die Straße zu setzen; er hätte gewiss ihre Möbel beschlagnahmt und verkauft, wenn es die Unkosten gelohnt hätte.
„Ich schäme mich über mich selbst", fügte Philpot vertraulich zu Owen hinzu, „wenn ich an all das Geld denke, das ich für Bier rausschmeiße. Wenn das nicht wär, ging's
mir selbst jetzt nicht so dreckig, und dann könnt ich ihnen vielleicht 'n bisschen unter die Arme greifen.
's ist gar nicht mal deshalb, weil ich das Bier so gern trinke, weißte", fuhr er fort, „'s ist wegen der Gesellschaft Wenn du gewissermaßen kein Heim nicht hast wie ich, dann ist die Kneipe so ungefähr der einzige Ort, wo du dich 'n bisschen unterhalten kannst. Aber du bist nicht sehr willkommen da, wenn du nicht dein Geld ausgibst."
„Sind die drei Schilling alles, was sie zum Leben haben?"
„Ich glaub, sie geht aufwarten, wenn sie was bekommen kann", erwiderte Philpot, „aber ich glaube, dass sie das gar nicht oft machen kann, mit den drei Kindern, die sie versorgen muss, und wie ich gehört hab, hat sie grad erst 'ne Krankheit überstanden und ist noch nicht so weit, dass sie viel machen kann."
„Mein Gott!" sagte Owen.
„Ich werd dir was sagen", meinte Philpot. „Ich hab mir überlegt, vielleicht können wir so was wie 'ne Sammlung für sie machen. 's gibt verschiedene Jungens, die in Arbeit stehen und Newman kennen, und wenn jeder davon 'ne Kleinigkeit gibt, kriegen wir genug zusammen, um wenigstens 'n Weihnachtsessen für die Familie zu bezahlen. Ich hab 'n Blatt Schreibpapier mitgebracht, und ich wollt dich bitten, die Überschrift für mich drüber zu setzen."
Da es in der Werkstatt keine Feder gab, wartete Philpot bis vier Uhr und begleitete Owen dann nach Hause, wo die Überschrift über die Sammelliste gesetzt wurde. Owen zeichnete einen Schilling und Philpot den gleichen Betrag.
Philpot blieb zum Tee und nahm eine Einladung an, den Weihnachtstag bei Owens zu verbringen und am darauf folgenden Montag zu Frankies Feier zu kommen.
Am nächsten Morgen brachte Philpot die Liste zum Gerätehof; Crass sowie Slyme zeichneten je einen Schilling und Sawkins drei Pence, und sie machten aus, Philpot das Geld am Zahltag - am Heiligabend - auszuhändigen. Inzwischen solle dieser so viele der Kollegen aufsuchen, die bei anderen Firmen beschäftigt waren, wie er nur konnte, um so viele Unterschriften wie möglich zu sammeln.
Am Weihnachtsabend erschien Philpot mit der Liste zur Lohnauszahlung, und Owen wie auch die anderen gaben ihm den Betrag, den sie gezeichnet hatten. Es war ihm gelungen, von weiteren Kollegen neun Schilling sechs Pence zu erhalten, größtenteils in Beträgen von sechs und drei Pence. Einen Teil dieses Geldes hatte er bereits bekommen; aber mit den meisten der Spender hatte er verabredet, sie heute Abend zu Hause aufzusuchen. Es wurde beschlossen, dass Owen ihn begleiten und mit ihm gehen solle, um das Geld Mrs. Newman zu übergeben.
Es kostete sie beinahe drei Stunden, bis alles Geld beisammen war, denn die Wohnungen, in die sie zu gehen hatten, lagen in verschiedenen Stadtteilen, und ein- oder zweimal mussten sie warten, da der Mann noch nicht heimgekommen war; zuweilen kamen sie auch nicht davon, ohne erst ein wenig Zeit mit Schwatzen zu verlieren. In drei Fällen steigerten Leute, die sich mit drei Pence in die Liste eingetragen hatten, den Betrag auf sechs Pence, und einer, der sechs Pence versprochen hatte, gab einen Schilling. Zwei Beträge von je drei Pence erhielten sie überhaupt nicht, da die Leute, die diese gezeichnet hatten, trinken gegangen waren. Ferner wurden sie auch dadurch aufgehalten, dass sie ein paar Bekannte trafen oder aufsuchten, die sie noch nicht um eine Spende gebeten hatten, und dazu kamen noch einige andere - inbegriffen mehrere Mitglieder der Malergewerkschaft, mit denen Owen während der Woche gesprochen hatte und die zugesagt hatten, eine Spende zu geben. Am Ende war es Philpot und Owen gelungen, den Gesamtbetrag auf neunzehn Schilling neun Pence zu erhöhen, und nun legte jeder der beiden noch anderthalb Pence hinzu, um die Summe auf ein Pfund abzurunden.
Die Newmans wohnten in einem kleinen Haus, das pro Woche sechs Schilling Miete zuzüglich Steuern kostete. Um in das Haus zu gelangen, musste man einen engen, dunklen Gang zwischen zwei Läden hinabgehen, denn es stand in einer Art Brunnen, der von den hohen Rückwänden größerer Gebäude eingeschlossen war - hauptsächlich Geschäfts- und Bürohäuser. Einen besonders freien Zugang zu diesem Haus hatte die frische Luft nicht, und die Sonnenstrahlen erreichten es niemals. Im Sommer war es stickig dort, und es herrschte ein übler, aus den Hinterhöfen der angrenzenden Gebäude kommender Geruch; im Winter war es dunkel, feucht und trübselig - eine Brutstätte für Bakterien und Mikroben. Die Mehrzahl der Leute, die angeblich die Lungentuberkulose genannte Krankheit verhüten und heilen wollen, müssen entweder Heuchler oder Dummköpfe sein; denn sie verspotten jeden Hinweis darauf, dass es zuerst einmal nötig ist, die Armut zu heilen und zu verhüten, die schlechtgekleidete und halbverhungerte Menschen zwingt, in derartigen Löchern zu schlafen.
Die Eingangstür führte ins Wohnzimmer oder vielmehr in die Küche, die trübe beleuchtet war von einer kleinen Paraffinlampe auf dem Tisch, auf dem gleichfalls einige Teetassen und Untertassen, jede von einem anderen Muster, sowie die Reste eines Brotlaibs standen. Die Tapete war alt und verschossen, einige Kalender und ungerahmte Drucke waren an die Wand geheftet, und auf dem Kaminsims standen ein paar zersprungene, wertlose Vasen und Nippes. Einst hatten die Newmans eine Uhr mit einer Glasglocke und einige gerahmte Bilder besessen, aber alles war verkauft worden, um Geld für Nahrungsmittel zu beschaffen. Aus demselben Grunde hatten sie sich von fast allen Dingen getrennt, die irgendeinen Wert hatten, von den Möbeln, den Bildern, dem Bettzeug, dem Teppich und dem Linoleum; Stück für Stück war alles, was einmal zu ihrem Heim gehört hatte, entweder verpfändet oder verkauft worden, damit während der Zeiten, in denen Newman arbeitslos war, Nahrungsmittel gekauft und die Mietschulden beglichen werden konnten - Zeiten, die während der letzten Jahre immer häufiger wiedergekehrt waren und immer länger gedauert hatten. Jetzt war nichts mehr übrig geblieben als nur diese paar alten zerbrochenen Stühle und der Tannenholztisch, den niemand kaufen wollte, und oben die jämmerlichen Bettstellen und Matratzen, auf denen sie des Nachts schliefen und sich mit den abgetragenen Resten von Decken und mit Kleidungsstücken zudeckten, die sie am Tage trugen.
Auf Philpots Klopfen wurde die Tür von einem kleinen, etwa siebenjährigen Mädchen geöffnet, das Philpot sogleich erkannte und seinen Namen der Mutter zurief. Diese kam gleichfalls zur Tür, gefolgt von noch zwei Kindern - einem kleinen, zart aussehenden, etwa dreijährigen Mädchen und
einem wohl fünfjährigen Jungen, die sich am Rock ihrer Mutter hielten und neugierig nach den Besuchern lugten. Mrs. Newman war ungefähr dreißig Jahre alt, und ihr Aussehen bestätigte Philpots Aussage, sie habe soeben erst eine Krankheit überstanden; sie war sehr blass, sehr hager und sah recht elend aus. Als Philpot den Zweck ihres Besuchs erklärt und ihr das Geld übergeben hatte, brach die arme Frau in Tränen aus, und die beiden kleineren Kinder begannen gleichfalls zu weinen, denn sie dachten, das Stück Papier bedeute ein neues Unglück. Sie erinnerten sich, dass all ihr Kummer mit dem Besuch von Männern begonnen hatte, die Papiere brachten, und es war ziemlich schwer, die Kinder zu beruhigen.
An diesem Abend gingen Nora und Owen, nachdem Frankie eingeschlafen war, ihre Weihnachtseinkäufe machen. Viel Geld konnten sie nicht ausgeben, denn Owen hatte nur siebzehn Schilling nach Hause gebracht. Er hatte dreiunddreißig Stunden gearbeitet - das machte neunzehn Schilling drei Pence; ein Schilling und anderthalb Pence waren auf die Spendenliste gegangen, und den Rest der Kupfermünzen hatte er einem zerlumpt und jämmerlich aussehenden Mann gegeben, der ein Kirchenlied auf der Straße sang. Der andere Schilling war ihm als Rückzahlung eines während der Woche genommenen Vorschusses vom Lohn abgezogen worden.
Mit diesen siebzehn Schilling musste sehr viel getan werden. Zuerst einmal musste die Miete bezahlt werden - sieben Schilling; danach blieben zehn Schilling. Dann musste die Brotrechnung der Woche beglichen werden - ein Schilling drei Pence. Sie nahmen jeden Tag einen halben Liter Milch, hauptsächlich des Jungen wegen, das machte einen Schilling zwei Pence. Ein Schilling acht Pence war noch für einen Zentner Kohle zu bezahlen, den sie auf Kredit gekauft hatten. Glücklicherweise brauchten sie keine Lebensmittel zu holen, denn die Sachen, die sie für ihr Geld im Weihnachtssparklub erhalten hatten, waren mehr als ausreichend für die kommende Woche.
Frankies Strümpfe waren völlig zerrissen und lohnten das Stopfen nicht mehr; deshalb war es unbedingt notwendig, ihm für fünf Pence und drei Farthing ein neues Paar zu kaufen. Diese Strümpfe taugten nicht viel; ein Paar zum doppelten Preis wäre bedeutend billiger gewesen, denn sie hätten drei- oder viermal länger gehalten; aber sie konnten es sich nicht leisten, die teureren zu kaufen. Ebenso war es mit der Kohle: hätten sie es sich leisten können, so hätten sie für sechsundzwanzig Schilling eine Tonne kaufen können; zentnerweise jedoch, wie sie die Kohle kauften, mussten sie dreiunddreißig Schilling vier Pence pro Tonne gleicher Qualität bezahlen. So ging es mit fast allem. Auf diese Weise werden die Menschen der Arbeiterklasse bestohlen. Obgleich sie das niedrigste Einkommen haben, sind sie gezwungen, die kostspieligsten Waren zu kaufen - nämlich die billigsten. Jeder weiß, dass gute Kleider, Stiefel und Möbel am Ende die preiswertesten sind, obgleich sie zuerst mehr Geld kosten; aber die Menschen der Arbeiterklasse können selten oder nie gute Dinge kaufen. Sie müssen billigen Schund erwerben, der auf jeden Fall teuer ist.
Vor drei Wochen hatte Owen für drei Schilling ein Paar Stiefel alt gekauft, und jetzt waren sie buchstäblich am Zerfallen. Noras Schuhe befanden sich so ziemlich im gleichen Zustand; aber, wie sie sagte, machte es bei den ihren nicht soviel aus, denn sie brauchte ja nicht auszugehen, wenn das Wetter schlecht war.
Außer den bereits erwähnten Ausgaben mussten sie noch vier Pence für zwei Liter Paraffinöl bezahlen und sechs Pence in den Geldschlitz des Gasherdes werfen. Das verminderte ihre Barschaft auf fünf Schilling sieben Pence und einen Farthing; ein Schilling davon musste für Kartoffeln und anderes Gemüse ausgegeben werden.
Beide brauchten sie etwas neue Unterwäsche, denn die sie besaßen, war so alt und abgetragen, dass sie für den Zweck, dem sie dienen sollte, gänzlich unbrauchbar war; es nützte aber nichts, daran zu denken, denn sie hatten nur noch vier Schilling sieben Pence und einen Farthing übrig, und all das wurde für Spielsachen benötigt. Sie mussten für Frankie etwas Besonderes zu Weihnachten kaufen und gleichfalls etwas für jedes der Kinder, die am folgenden Montag zu der Feier kommen würden. Glücklicherweise brauchten sie kein Fleisch zu besorgen, denn Nora hatte nicht nur beim Kaufmann, sondern auch beim Fleischer Beiträge zum Weihnachtssparklub gezahlt. Diese notwendige Ausgabe war also schon bestritten.
Sie blieben stehen, um sich die in Sweaters Warenhaus ausgestellten Spielsachen anzusehen. Seit mehreren Tagen sprach Frankie von den Wundern, die diese Schaufenster enthielten; deshalb wollten sie ihm wenn möglich hier etwas kaufen. Viele Dinge erkannten sie nach der Beschreibung des Jungen; fast alles aber war so teuer, dass sie lange Zeit vergeblich nach etwas Ausschau hielten, was sie kaufen konnten.
„Da ist die Lokomotive, von der er so viel spricht", sagte Nora und deutete auf eine Modellokomotive, „die dort mit dem Preisschild über fünf Schilling."
„Was uns betrifft, so könnte sie ebenso gut ein Preisschild über fünf Pfund haben", erwiderte Owen.
Während sie sprachen, erschien einer der Verkäufer hinter dem Schaufenster, langte hinein und nahm die Lokomotive heraus. Wahrscheinlich war sie die letzte dieser Art, und offenbar war sie soeben verkauft worden. Owen und Nora empfanden es als einen gewissen Trost, dass sie die Lokomotive auch dann nicht hätten kaufen können, wenn sie das Geld dazu gehabt hätten.
Nach längerer Beratung entschieden sie sich für eine Aufziehlokomotive zu einem Schilling, beschlossen jedoch, die anderen Spielsachen in einem billigeren Laden zu besorgen. Nora ging in das Warenhaus, um die Lokomotive zu kaufen, und während Owen auf sie wartete, kamen Mr. und Mrs. Rushton heraus. Sie schienen Owen nicht zu sehen, und der bemerkte, dass die Form eines der Pakete, die sie trugen, vermuten ließ, dass die vor einem Weilchen aus dem Fenster genommene Lokomotive darin war.
Als Nora mit ihrem Kauf zurückkehrte, gingen sie auf die Suche nach einem billigeren Laden, und nach einiger Zeit fanden sie, was sie brauchten. Für sechs Pence kauften sie eine Pappschachtel, die den weiten Weg aus Japan gemacht hatte und eine ganze Puppenfamilie enthielt -Vater, Mutter und vier Kinder in verschiedenen Größen, ferner einen Tuschkasten zu drei Pence, ein Teeservice zu sechs Pence, eine Schiefertafel zu drei Pence und eine Stoffpuppe zu sechs Pence.
Auf dem Heimweg gingen sie in den Gemüseladen, in dem Owen vor drei Wochen einen kleinen Weihnachtsbaum bestellt und bezahlt hatte, und als sie um die Ecke der Straße bogen, in der sie wohnten, trafen sie Crass, der halb betrunken war und über seine Schulter geworfen eine prächtige Gans beim Hals hielt. Er begrüßte die Owens leutselig und hielt den Vogel zu ihrer Begutachtung hoch.
„Nicht schlecht für 'n Sechser, was?" sagte er unter Schlucken. „Mit der hier haben wir zwei. Ich hab sie, zusammen mit 'ner Kiste Zigarren - fünfzig Stück sind drin -für 'nen Sechser gewonnen, und die andre hab ich durch den Klub von unsrer Missionsgemeinde - drei Pence die Woche, achtundzwanzig Wochen lang, macht sieben ,Eier'. Aber", fügte er vertraulich hinzu, „für den Preis könnteste sie im Laden nicht kaufen, weißte. Sie kosten das Komitee 'n gutes Stück mehr als das, en gros, aber wir haben 'n paar reiche Onkels drin, und die kommen für die Differenz auf." Und mit einem Kopfnicken und listigem Blinzeln schwankte er davon.
Als sie nach Hause kamen, schlief Frankie fest und ebenso das Kätzchen, das zusammengerollt auf dem Federbett am Fußende des Bettes lag. Nachdem sie etwas zu Abend gegessen hatten, stellte Owen, obwohl es bereits nach elf Uhr war, den Baum in einen großen Blumentopf, der schon öfter dem gleichen Zweck gedient hatte, und Nora holte eine Schachtel mit glitzerndem Baumschmuck von dem Platz, an dem er seit dem letzten Weihnachtsfest verstaut lag - Kugeln aus versilbertem, vergoldetem oder bemaltem Glas, Vögel. Schmetterlinge und Sterne. Einige dieser Dinge hatten bereits bei drei Weihnachtsfesten gedient, und obgleich manche ihren Glanz ein wenig eingebüßt hatten, waren doch die meisten so gut wie neu. Neben diesen Sachen und dem heute Abend gekauften Spielzeug war noch eine Schachtel mit Knallbonbons da und eine mit kleinen farbigen Wachskerzen, die beide zu den Dingen gehörten, die sie vom Kaufmann für das Weihnachtsspargeld erhalten hatten, dazu noch viele bunte Tüten mit Süßigkeiten sowie eine Anzahl Spielsachen und Tiere aus Zuckerwerk und Schokolade, von denen sie seit mehreren Wochen jeweils zwei oder drei auf einmal gekauft und für diesen Tag
zurückgelegt hatten. Für jedes Kind, das kommen sollte, war etwas Passendes da, außer für Bert White. Sie hatten beabsichtigt, mit ihren Einkäufen heute Abend ein Taschenmesser zu sechs Pence für ihn zu erwerben; da sie sich das jedoch nicht leisten konnten, beschloss Owen, ihm einen Satz alter Marmorierkämme aus Stahl zu schenken, die sich der Junge, wie Owen wusste, häufig gewünscht hatte. Die dieses Werkzeug enthaltende Blechschachtel wurde also in rotes Seidenpapier gehüllt und mit den übrigen Sachen an den Baum gehängt.
Sie gingen so leise wie möglich umher, um die Leute nicht zu stören, die in den Zimmern unter ihnen schliefen; denn schon lange, ehe sie fertig waren, hatten sich die übrigen Hausbewohner zur Ruhe begeben, und in den verlassenen Straßen draußen herrschte Schweigen. Während sie die letzte Hand an ihr Werk legten, wurde die tiefe Stille der Nacht plötzlich durch die Stimmen eines Chors unterbrochen, der Weihnachtslieder sang.
Bei diesen Klängen wurden die beiden von Erinnerungen an andere, glücklichere Zeiten überwältigt, und impulsiv streckte Nora Owen ihre Hand entgegen, der sie eng an sich zog.
Sie waren seit etwas über acht Jahren verheiratet, und obwohl sie während der ganzen Zeit niemals frei von Sorgen um die Zukunft gewesen waren, hatten sie doch an keinem vorhergehenden Weihnachtsfest solche Armut gelitten wie diesmal. Während der letzten Jahre waren die Perioden der Arbeitslosigkeit nach und nach immer häufiger und länger geworden, und der von Owen zu Beginn des Jahres unternommene Versuch, in einer anderen Stadt Arbeit zu finden, hatte nur dazu geführt, sie in noch größere Armut zu stürzen als zuvor. Trotzdem aber gab es viel, wofür sie dankbar sein mussten; arm, wie sie waren, ging es ihnen doch bedeutend besser als vielen Tausenden anderer Menschen; sie hatten noch immer Nahrung und Unterkunft, sie hatten einander und den Jungen.
Ehe sie zu Bett gingen, trug Owen den Baum in Frankies Schlafzimmer und stellte ihn so, dass der Junge ihn in all seiner glitzernden Pracht erblicken konnte, sobald er am Weihnachtsmorgen erwachte.

 

30. Kapitel Das „Pandorama"

Obwohl die Feier erst um sechs Uhr beginnen sollte, erschien Bert bereits um halb fünf Uhr und brachte das „Pandorama" mit.
Gegen halb sechs Uhr fingen die übrigen Gäste an einzutreffen.
Zuerst kamen Elsie und Charley Linden - das Mädchen in einem hübschen blauen, mit weißer Spitze besetzten Kleid und Charley in einem neuen Anzug prangend, der, wie das Kleid seiner Schwester, aus jemandes abgelegten Sachen angefertigt worden war, die eine Wohlfahrtsdame bei einem Hausbesuch ihrer Mutter gegeben hatte. Es hatte Mrs. Linden viele Stunden mühseliger Arbeit gekostet, diese Kleidungsstücke zurechtzuschneidern - mehr Zeit tatsächlich, als die Sachen wert waren, denn obwohl sie gut aussahen, besonders Elsies Kleid, war doch der Stoff so alt, dass er nicht sehr lange halten würde; doch nur auf diese Weise gelang es ihr überhaupt, Kleidungsstücke für die Kinder zu beschaffen; denn auf keinen Fall konnte sie sich erlauben, ihnen neue zu kaufen. Daher verbrachte sie viele Stunden mit dem Nähen von Sachen, die, wie sie im voraus wusste, fast sogleich, nachdem sie fertig waren, wieder zerfielen.
Danach kamen Nellie, Rosie und Tommy Newman. Sie sahen bedeutend ärmlicher aus als die anderen beiden Kinder. Ihre Mutter konnte nicht so geschickt aus alten Kleidern neue nähen. Nellie hatte die Bluse einer erwachsenen Frau an, und statt eines Mantels trug sie eine altmodische Jacke aus dickem Tuch mit großen Perlknöpfen. Diese war gleichfalls das Kleidungsstück einer Erwachsenen. Sie war für eine hochgewachsene Frau mit breiten Schultern und schmaler Taille zugeschnitten worden; daher passte sie Nellie nicht gerade hervorragend. Die Taille reichte dem armen Kind bis über die Hüften.
Tommy war in die geflickten Überreste von etwas, was einst ein guter Anzug gewesen war, gekleidet. Der war letzten Sommer bei einem Althändler gekauft worden und mehrere Monate lang Tommys „bester" gewesen; jetzt aber war er ihm viel zu klein geworden.
Der kleinen Rosie, die gerade erst wenig über drei Jahre alt war, erging es besser als den beiden anderen, denn sie hatte ein rotes Tuchkleid an, das ihr ausgezeichnet passte, und wie die Wohlfahrtspflegerin bemerkt hatte, die es ihrer Mutter gebracht hatte, sah es tatsächlich aus, als sei es für sie gemacht worden.
„Sie sieht nicht sehr gut aus", bemerkte Nellie über ihre große Jacke, „aber trotzdem waren wir sehr froh, dass wir sie hatten, als der Regen kam."
Das Kleidungsstück war so groß, dass sie es fertig gebracht hatte, es über alle drei zu breiten, indem sie die Arme aus den Ärmeln gezogen und die Jacke als Umhang benutzt hatte.
Tommys Stiefel waren derart zerrissen, dass die Nässe eingedrungen war und seine Strümpfe ganz durchweicht waren; deshalb hieß Nora ihn, sie auszuziehen und ein paar alte von Frankie zu tragen, während seine eigenen am Feuer trockneten.
Philpot kam mit zwei großen Papiertüten voller Orangen und Nüsse, als sie gerade im Begriff waren, sich zum Tee niederzusetzen - oder vielmehr zum Kakao, für den sich außer Bert alle Kinder entschieden hatten. Bert hätte auch gern Kakao getrunken; da er aber hörte, dass die Erwachsenen Tee tranken, dachte er, es sei männlicher, wenn er das gleiche täte. Die Frage, ob sie Tee oder Kakao zum Tee haben wollten, verursachte ausgelassene Heiterkeit bei den Kindern, und sie fragten einander wiederholt, was sie lieber tränken, „Tee-Tee" oder „Kakao-Tee"? Es kam ihnen so komisch vor, dass sie es immer wieder hersagten und andauernd vor Lachen schrieen, bis Tommy ein Stückchen Kuchen im Halse stecken blieb und er fast blau im Gesicht wurde; dann musste Philpot ihn auf den Kopf stellen und auf den Rücken klopfen, um ihn vor dem Ersticken zu retten. Das ernüchterte die übrigen etwas, aber noch für eine ganze Weile mussten sie von neuem lachen, sobald sie einander ansahen, denn sie hielten es für einen großartigen Witz.
Als sie sich mit „Kakao-Tee", Kuchen und Marmeladebroten voll gestopft hatten, halfen Elsie Linden und Nellie Newman beim Abräumen der Tassen und Teller; dann zündete Owen die Kerzen auf dem Weihnachtsbaum an und verteilte die Spielsachen unter die Kinder, und kurz danach begann Philpot, der eine komisch aussehende Maske aus einem der Knallbonbons gezogen hatte, ein schönes Spiel. er tat, als sei er ein furchtbar wildes Tier, das er einen „Pandrolukus" nannte, kroch auf allen vieren umher, rollte seine Kulleraugen und brummte, er müsse zum Abendbrot einen Jungen oder ein kleines Mädchen zu fressen haben.
Er sah so furchtbar aus, dass sie sich fast vor ihm fürchteten, obgleich sie wussten, es war nur ein Scherz; lachend und kreischend liefen sie davon, um sich hinter Nora und Owen zu verstecken. Trotzdem aber baten sie Philpot, sobald er mit dem Spiel aufhörte, „es doch wieder zu sein", und so musste er fortfahren, ein Pandrolukus zu sein, bis ihn die Erschöpfung zwang, seine natürliche Gestalt wieder anzunehmen.
Danach setzten sich alle um den Tisch und spielten ein Kartenspiel, das sie „Schnapp" nannten, niemand nahm es jedoch mit den Spielregeln sehr genau; alle schienen zu glauben, die Hauptsache sei, soviel Lärm wie nur möglich zu machen. Nach einiger Zeit schlug Philpot vor, zu einem „Bettler, mein Nachbar" genannten Spiel überzugehen,
und er gewann eine Menge Karten, bis sie gewahr wurden, dass er sämtliche Joker in seiner Rocktasche verborgen hatte; da fielen sie alle über ihn her, weil er geschummelt habe. Vielleicht wäre er ernstlich verletzt worden, wäre Bert nicht gewesen, der Ablenkung schuf, indem er sich auf einen Stuhl stellte und ankündigte, er sei im Begriff, ihnen „Bert Whites weltberühmtes Pandorama" zu zeigen, das bereits dem gesamten Adel und den gekrönten Häuptern Europas, Englands, Irlands und Schottlands einschließlich Nordamerikas und Wales' vorgeführt worden sei.
Laute Beifallsrufe begrüßten das Ende seiner Rede. Die Kiste wurde auf den Tisch gestellt und dieser an das Zimmerende geschoben, während die Stühle in zwei Reihen davor aufgestellt wurden.
Das „Pandorama" war eine hölzerne, ungefähr ein Meter lange, fünfundsiebzig Zentimeter hohe und von der Vorder- zur Rückwand etwa dreißig Zentimeter tiefe Kiste, an der vorn eine aus bemalter Pappe hergestellte Bühneneinfassung befestigt war. Das „Schauspiel" bestand aus einer großen Anzahl Bilder, die aus illustrierten Wochenzeitschriften ausgeschnitten und aneinandergeklebt waren, so dass sie einen langen Streifen oder ein Band bildeten. Bert hatte alle Bilder mit Wasserfarben ausgemalt.
Direkt hinter der Bühneneinfassung befand sich an jedem Ende der Kiste eine senkrecht stehende Rolle, und auf diese wurde der lange Bildstreifen aufgerollt. Das obere Ende der Rollen ging durch die Deckenwand der Kiste und war mit je einem Handgriff versehen. Wurden diese Kurbeln gedreht, so zogen die Bilder über die Bühne, wobei sie von einer Walze auf die andere rollten; beleuchtet wurden sie durch das Licht dreier dahinter stehender Kerzen.
Der Gedanke, diese Maschine zu bauen, war Bert bei einer Panoramaschau gekommen, die er vor einiger Zeit gesehen hatte.
„Der Stil der Dekorationen", bemerkte er im Hinblick auf die gemalte Bühneneinfassung, „ist maurisch."
Er zündete die Kerzen hinter der Bühne an, und nachdem er sich noch von Nora ein Tablett ausgeborgt hatte, bat er das Publikum, Platz zu nehmen. Als sich alle gesetzt hatten, forderte er Owen auf, die Lampe und auch die Kerzen am Baum auszulöschen; dann hielt er wieder eine Ansprache und ahmte dabei die Redeweise des Ansagers bei der oben erwähnten Panoramaschau nach.
„Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit Ihrer gütigen Erlaubnis möchte ich Ihnen hiermit 'n paar Bilder von Ereignissen in den verschiedensten Teilen der Welt vorführen. Während jedes Bild auf der Bühne erscheint, geb ich Ihnen 'ne kurze Erklärung dazu, und danach wird die Kapelle 'ne passende Auswahl von Musikstücken spielen, bestehend aus Kirchenliedern und den neuesten und beliebtesten Schlagern, und das Publikum wird gebeten, den Refrain mitzusingen.
Unsere erste Szene", fuhr Bert fort, während er die Kurbeln drehte und das Bild erscheinen ließ, „stellt die Docks von Southampton dar; der prächtige Dampfer, den Sie am Ufer liegen sehen, ist das Schiff, das auf uns wartet um uns in fremde Länder zu bringen. Da wir unsre Reise bereits bezahlt haben, begeben wir uns jetzt an Bord und hissen die Segel."
Als Begleitmusik zu diesem Bild spielte Bert das Lied „Leb wohl, Dolly, ich muss dich jetzt verlassen", und während das Publikum den Refrain zu Ende sang, rollte er eine andere Szene auf die Bühne, die einen schrecklichen Sturm auf der See und ein Schiff darstellte, das offenbar gerade im Begriff war zu kentern. Haushoch bäumten sich die Wogen, und die tintenschwarzen Wolken wurden von sich gabelnden Blitzen zerrissen. Um die furchterregende Wirkung des Bildes zu steigern, trommelte Bert auf das Tablett und spielte „Der Golf von Biskaya", und die Kinder sangen den Refrain, während er das nächste Bild hervorrollte. Das zeigte die Straßen einer großen Stadt; mit gezogenem Schwert zerstreute berittene Polizei eine Menschenmenge. Einige Männer waren niedergeritten und unter die Pferdehufe getrampelt worden, und eine Anzahl andere bluteten heftig aus Kopf- und Gesichtswunden.
„Nach 'ner ziemlich stürmischen Überfahrt kommen wir wohlbehalten in der schönen Stadt Berlin in Deutschland an, grade zur rechten Zeit, um zu sehen, wie 'n Demonstrationszug von arbeitslosen Arbeitern durch die Militärpolizei auseinander getrieben wird. Der Titel dieses Bildes heißt ,Die Zollreform bedeutet Arbeit für alle'."
Als passende Begleitmusik spielte Bert die Melodie eines bekannten Liedes, und die Kinder sangen dazu den Text:
„Ach, dabeizusein! Dabeizusein! Ich wusste, was es heißt, dabeizusein! Und als sie mir die Kleider vom Leibe gerissen, ein blaues Auge gehauen und die Nase zerschmissen, da wusste ich, was es heißt, dabeizusein!"
Während des Gesangs drehte Bert die Kurbeln zurück und brachte das Bild von dem Sturm auf See wieder zum Vorschein.
„Da wir keins auf den Kopf kriegen wollen, machen wir uns so schnell wie möglich von Berlin auf die Socken, solange wir noch heil sind, und schiffen uns wieder auf unserm stolzen Schiff ein, und nachdem wir die Kurbel noch 'n paar Mal gedreht haben, befinden wir uns wieder im Fröhlichen England', wo wir das Innere einer Schmiede sehen, in der 'ne Menge halbverhungerte Frauen Eisenketten machen. Sie arbeiten siebzig Stunden die Woche für sieben Schilling. Unsere nächste Szene heißt ,Die Haken-und-ösen-Kartennäher'. Hier sehen wir das Innere eines Zimmers in Elendstadt, mit 'ner Mutter und drei Kindern und der alten Großmutter; sie nähen Haken und Ösen auf Karten, die dann in Kurzwarenläden verkauft werden. Unter dem Bild steht, dass 384 Haken und 384 Ösen ineinander gehakt und dann auf die Karten genäht werden müssen für einen Penny."
Während dieses Bild fortgerollt wurde, spielte die Kapelle und sangen die Kinder mit großer Begeisterung:

„Herrsche, Britannia, Britannia beherrscht die Wogen!
Niemals, niemals, niemals sollen Briten Sklaven sein!"

„Unser nächstes Bild heißt ,Das Heim eines Engländers'. Hier sehen wir in ein anderes Zimmer in Elendstadt, wo sich der Vater, die Mutter und vier Kinder gerade zum Essen setzen - Brot mit Bratenschmalz und Tee. Unter dem Bild steht, in England gibt's dreizehn Millionen Leute, die immer knapp am Verhungern sind. Die Leute, die ihr hier auf dem Bild seht, könnten vielleicht 'n besseres Essen kriegen, wenn nicht das meiste Geld, was der Mann da verdient, für die Miete draufgehen würde. Wieder drehen wir die Kurbel, und da kommen wir an noch 'ne sehr schöne Szene: ,Frühmorgens auf dem Trafalgar Square'. Hier sehen wir 'nen Haufen Engländer, die die ganze Nacht draußen geschlafen haben, weil sie kein Zuhause haben."
Als angemessene Musikbeigabe zu diesem Bild spielte Bert einen Varietéschlager, dessen Text alle Kinder kannten, und aus vollem Halse sangen sie:

„Ich wohn auf dem Trafalgar Square
mit Bildern und Statuen rings umher,
vier Löwen dort, die behüten mich,
und Lord Nelson starrt mir direkt ins Gesicht.
Natürlich zieht's da gar nicht schlecht,
doch denke ich, ihr gebt mir recht:
Ist's gut genug für Lord Nelson,
ist's auch gut genug für mich."

„Danach werfen wir einen Blick auf den Speisesaal im Elitehotel in London, wo wir die Tische sehen, die grad für 'n Millionärsbankett gedeckt sind. Gabeln und Löffel sind aus massivem Gold, und die Teller sind aus Silber. Die Blumen, die Sie auf den Tischen, von der Decke herunterhängen und an den Wänden sehen, sind zweitausend Pfund wert, und den Kerl, der das Essen gibt, kostet's dreißigtausend Pfund, bloß für dies eine Fest. Noch 'n paar Umdrehungen der Kurbel zeigen uns wieder 'n glänzendes Bankett - der König von Rheinland wird vom englischen Volk bewirtet. Als nächstes sehen wir uns als Zuschauer beim Abendbrot des Oberbürgermeisters im Mansion House. All die dicken Männer, die Sie an den Tischen sitzen sehen, sind liberale und konservative Parlemünzmitglieder. Danach gucken wir uns ein wunderschönes Bild an mit dem Titel: ,Vierbeinige Aristokraten'. Hier sehen Sie die Schoßhunde der Lady Elendswirt beim Essen an ihrem Tisch und auf Stühlen sitzen, weiße Leinenservietten um den Hals gebunden, und sie essen wie Menschen von silbernen Tellern und werden bedient von richtigen lebendigen Dienern im Frack. Lady Elendswirt hat ihre hübschen Lieblinge sehr gern und lässt nicht zu, dass sie irgendwas andres als nur das allerbeste Futter kriegen; sie essen Hühnchen, Rumpsteak, Hammelkoteletts, Reispudding und Götterspeise mit Familiensoße."
„Ich wollte, ich wär 'n Schoßhund - du auch?" bemerkte Tommy Newman zu Charley Linden.
„Na, und ob!" erwiderte Charley.
„Hier sehen wir noch eine Arbeitslosendemonstration", fuhr Bert fort, während er ein anderes Bild hervorrollte. „Zweitausend kräftige Männer, denen nicht erlaubt wird
zu arbeiten. Als nächstes sehen wir das Innere eines Gewerbeheims - blinde Kinder und Krüppel arbeiten für ihren Lebensunterhalt. Unsere nächste Szene heißt ,Billige Arbeitskräfte'. Hier sehen wir 'ne Schar zwölf- und dreizehnjährige kleine Jungens, die ihr Arbeitsblizenz bekommen, was ihnen das Recht gibt, arbeiten zu gehen und Geld zu verdienen, damit sie ihren arbeitslosen Vätern helfen können, dem Wirt die Miete für die Wohnung in Elendsstadt zu zahlen.
Wieder drehen wir die Kurbel und bringen eine unsrer schönsten Szenen auf die Bühne. Dies liebliche Bild heißt ,Der Engel der Barmherzigkeit' und zeigt uns die schöne Lady Elendswirt, wie sie in einer trauten Ecke ihres reizenden Budowars am Tisch sitzt und 'nen kleinen Scheck für die Armen von Elendsstadt ausschreibt.
Unsre nächste Szene heißt ,Die rivalisierenden Kandidaten oder 'ne Szene während der allgemeinen Parlemünzwahlen'. Links sehen Sie 'nen feinen Pinkel mit 'nem Monokel im Auge und 'nem Mantel mit großem Pelzkragen und Pelzmanschetten im Auto stehen und 'ne Ansprache an die Menschenmenge halten; das ist der Ehrenwerte Augustus Elendswirt, der Kandidat der Konservativen. Auf der anderen Seite der Straße sehen wir noch 'n Auto und noch 'nen feinen Pinkel mit 'ner runden Glasscheibe in einem Auge und 'nem Mantel mit 'nem großen Pelzkragen und Pelzmanschetten im Wagen stehen und 'ne Ansprache an die Menge halten. Das ist Mr. Manntreiber, Kandidat der Liberalen. Die Menge von schäbig aussehenden Kerlen, die um die Autos stehen und die Hüte schwenken und ,Hurra' schreien, sind Arbeiter. Beide Kandidaten erzählen ihnen dieselbe Leier, und jeder von ihnen fordert die Arbeiter auf, ihn als Parlemünzabgeordneten zu wählen, und verspricht ihnen das Blaue vom Himmel runter, was er alles tun will, um die Lage für die unteren Stände zu verbessern."
Als passende Begleitmusik zu diesem Bild spielte Bert die Melodie eines beliebten Schlagers, dessen Text den Kindern wohlbekannt war, und begeistert sangen sie, klatschten sie die Hände im Takt und stampften mit den Füßen auf den Boden:

„Wir waren beide schon früher da,
so manches Mal, so manches Mal!
Wir waren beide schon früher da,
so manches liebe Mal!
Wo so mancher Liter Bier geflossen
und seine rote Nase wie meine begossen,
waren wir beide schon früher da,
so manches Mal, so manches Mal!"

Am Schluss des Gesangs drehte Bert ein neues Bild auf die Bühne.
„Hier haben wir wieder 'ne Wahlszene. Auf jeder Seite sehen wir die beiden Kandidaten stehen, genau wie im vorigen Bild. In der Mitte der Straße sehen wir 'nen Mann, der mit Blut bedeckt ist, auf dem Boden liegen, und 'nen Haufen liberale und konservative Arbeiter treten ihn, springen auf ihm rum und stoßen ihm ihre genagelten Stiefel ins Gesicht. Der Kerl auf dem Boden ist 'n Sozialist, und der Grund, weshalb sie ihm das Gesicht zertreten, ist, dass er gesagt hat, der einzige Unterschied zwischen Elendswirt und Manntreiber wär, dass sie beide gleich sind."
Während das Publikum dieses Bild bewunderte, spielte Bert wieder einen bekannten Schlager, und die Kinder sangen den Text:

„Zwei schöne blaue Augen -
Wie kommt denn das?
Ich hab nur einem Mann gesagt,
er irre sich etwas."

Bert fuhr fort, die Kurbeln der Rollen zu drehen, und eine Folge von Bildern lief über die Bühne, zum Entzücken der Kinder, die Beifall schrieen und sangen, wie es die Gelegenheit erforderte; mit dem größten Begeisterungsausbruch aber wurde das Erscheinen des letzten Bildes begrüßt - eines Porträts des Königs. Sobald die Kinder es erblickten, brachen sie in ein dreifaches Hoch aus, ohne auf die Kapelle zu warten, und stimmten den Refrain der Nationalhymne an.
Stürmischer Applaus für Bert beschloss die ,Pandorama'-Vorstellung; dann wurden die Lampe und die Weihnachtsbaumkerzen wieder angezündet, denn obgleich alle Spielsachen herunter waren, sah der Baum mit seinem glitzernden Glaszierat noch immer prächtig aus. Nun spielten sie noch einige Spiele: Blindekuh, Tauziehen - wobei Philpot ganz mörderisch geschlagen wurde - und viele andere Spiele. Und als sie deren müde waren, sagte jedes Kind ein Gedicht auf oder sang ein Lied, das es eigens für diese Gelegenheit gelernt hatte. Einzig die kleine Rosie war nicht darauf vorbereitet; doch auch sie bestand darauf -um es den anderen gleichzutun -, den einzigen Vers aufzusagen, den sie kannte. Sie kniete auf dem Kaminvorleger nieder, legte die Händchen mit den Handflächen aneinander, schloss fest die Augen und wiederholte den Vers, den sie jeden Abend vor dem Schlafengehen aufsagte:

„Lieber Jesus, sanft und lind,
siehe auf mich kleines Kind.
Hab Mitleid mit der Einfalt mein
und lass mich in den Himmel ein."

Dann stand sie auf und gab allen der Reihe nach einen Kuss. Philpot ging zum Fenster hinüber und begann hinauszublicken; er hustete, schnaubte und putzte sich die Nase, weil ihm eine Nuss, die er gerade gegessen hatte, in die falsche Kehle geraten war.
Die Mehrzahl der Kinder war jetzt ziemlich müde geworden, und nach einem kleinen Imbiss brach die Gesellschaft auf. Obgleich alle recht schläfrig waren, wollte eigentlich niemand gern fortgehen; aber der Gedanke an ein zweites Vergnügen, das sie am Ende dieser Woche besuchen wollten, tröstete sie - nämlich die „Teegesellschaft und Preisverteilung" der Kapelle des Strahlenden Lichts.
Bert übernahm es, Elsie und Charley sicher nach Hause zu bringen, während Philpot sich erbot, Nellie und Tommy zu begleiten und Rosie zu tragen, die so müde war, dass sie auf seiner Schulter einschlief, bevor sie noch aus dem Hause waren.
Während sie die Treppe hinuntergingen, hielt Frankie mit seiner Mutter eine eilige Beratung ab, mit dem Ergebnis, dass er ihnen eine Einladung nachrufen konnte, zum nächsten Weihnachtsfest wiederzukommen.

 

31. Kapitel Die Briganten halten Kriegsrat ab

Da man sich augenblicklich in der Jahreszeit befand welche „die festliche" genannt wird - vielleicht, weil während dieser Zeit mehr Menschen unter Hunger und Kälte leiden als während irgendeiner anderen -, wird es den Leser wohl nicht überraschen, wenn wir ihn noch einmal zu einer kleinen festlichen Zusammenkunft einladen, die am Tage nach der soeben von uns verlassenen stattfand. Ihr Schauplatz war das Büro Mr. Sweaters. Mr. Sweater saß an seinem Schreibtisch, hatte aber seinen Drehstuhl herumgeschwungen, damit er seinen Gästen gegenübersaß - den Herren Rushton, Didlum und Schinder, die gleichfalls Platz genommen hatten.
„Irgendwas muss geschehen, und zwar sehr bald", sagte Schinder gerade; „lange können wir so wie bisher nicht weitermachen. Was mich betrifft - ich glaube, das beste ist, den ganzen Krempel über Bord gehen zu lassen; die Gesellschaft ist praktisch jetzt schon pleite, und je länger wir warten, desto schlimmer wird's."
„Genau meine Meinung", sagte Didlum niedergeschlagen. „Wenn wir die Elektrizität zum selben Preis wie Gas liefern könnten oder noch 'n bisschen billiger, hätten wir vielleicht 'ne Chance; aber das können wir nicht. Tatsache ist, dass unsere maschinelle Ausrüstung nicht 'nen Pfifferling wert ist, sie ist zu schwach und abgenutzt; darum ist die Elektrizität, die wir liefern, minderwertiger als Gas und kostet mehr."
„Ja, ich glaube, diesmal sind wir geschlagen", meinte Rushton. „Selbst wenn die Gasgesellschaft ihr Werk nicht hinter die Stadtgrenze verlegt hätte, wären wir trotzdem nicht in der Lage gewesen, mit ihr zu konkurrieren."
„Natürlich nicht", antwortete Schinder. „Die Sache verhält sich genauso, wie Didlum 's sagt. Unsre Ausrüstung ist zu schwach, ist abgenutzt und taugt zu nichts als nur dazu, auf den Schrotthaufen geschmissen zu werden. 's bleibt uns also nur eins übrig - den Bankrott zu erklären.
„Das seh ich nicht ein", bemerkte Sweater.
„Na, was schlagen Sie 'n vor?" fragte Schinder. „Die Gesellschaft wieder auf die Beine stellen? Von den Aktionären neues Geld verlangen? Das Werk niederreißen und neu aufbauen? Neue Maschinen kaufen? Und dann höchstwahrscheinlich trotzdem nicht auf 'nen grünen Zweig kommen? Ohne mich, alter Junge! Mir reicht's! Das werden Sie nicht erleben, dass ich auf die Weise gutes Geld für 'ne schlechte Sache herausschmeiße!"
„Ich auch nicht!" sagte Rushton.
„Kommt nicht in Frage!" bemerkte Didlum sehr entschieden.
Sweater lachte leise. „Ich bin doch kein solcher Dummkopf, etwas Derartiges vorzuschlagen!" sagte er. „Sie scheinen zu vergessen, dass ich selbst einer der größten Aktionäre bin. Nein. Was ich vorschlage, ist, wir verkaufen unsre Anteile."
„Verkaufen!" erwiderte Schinder mit verächtlichem Lachen, in das die anderen einstimmten. „Wer soll 'n die Aktien von 'ner Gesellschaft kaufen, die praktisch pleite ist und noch nie 'ne Dividende gezahlt hat?"
„Ich hab schon 'n paar Mal versucht, mein Anteilchen abzustoßen", sagte Didlum sauer lachend, „aber keiner will's."
„Wer sie kaufen soll?" sagte Sweater als Antwort auf Schinders Frage. „Natürlich die Stadt! Die Steuerzahler. Weshalb soll sich denn Mugsborough nicht mit dem Sozialismus einlassen, genau wie's andre Städte machen?"
Rushton, Didlum und Schinder schnappten geradezu nach Luft; die Kühnheit des Vorschlags ihres Anführers lähmte sie fast.
„Ich fürchte, das würden sie uns nicht abkaufen!" stieß Didlum hervor, sobald er wieder sprechen konnte. „Wenn die Leute dahinter kommen, gibt's 'nen Mordskrach."
„Leute! Krach!" erwiderte Sweater verächtlich. „Die Mehrzahl der Leute wird nie etwas darüber erfahren! Hören Sie mal zu... "
„Sind Sie sicher, dass wir nicht gehört werden können?" unterbrach ihn Rushton und blickte nervös zur Tür hinüber und im Raum umher.
„Ist alles in Ordnung", antwortete Sweater, senkte jedoch trotzdem seine Stimme fast bis zum Flüstern, während die
übrigen ihre Stühle näher zu ihm heranzogen und sich vorlehnten, um ihm zuzuhören.
„Sie wissen ja, dass wir immer noch ein bisschen Geld bei der Hand haben; was ich vorschlage, ist also dies: Nächste Woche findet, wie Sie ja wissen, die Jahresversammlung statt, und wir werden dafür sorgen, dass der Sekretär dort einen äußerst befriedigenden Bericht verliest und werden eine Dividende von fünfzehn Prozent ausschütten - das können wir unter uns irgendwie in Ordnung bringen. Selbstverständlich müssen wir die Bilanz ein bisschen frisieren, aber ich sorge dafür, dass es richtig gemacht wird. Die anderen Aktionäre werden keine unbequemen Fragen stellen, und wir verstehen uns ja."
Sweater hielt inne und blickte die übrigen drei Briganten eindringlich an. „Können Sie mir folgen?" fragte er.
„Freilich, freilich", sagte Didlum eifrig. „Sprechen Sie weiter." Und Rushton sowie Schinder nickten zustimmend.
„Danach sorge ich dafür", fuhr Sweater fort, „dass im ,Wöchentlichen Ananias' ein günstiger Bericht über die Jahresversammlung erscheint. Ich werde den Chefredakteur beauftragen, ihn selbst zu schreiben, und werde ihm genau sagen, was darin stehen soll. Ich werde auch veranlassen, dass er einen Leitartikel dazu schreibt, in dem er sagt, es sei sicher, dass die Elektrizität in sehr naher Zukunft für Beleuchtungszwecke das Gas ablösen werde. Dann wird der Artikel die riesigen Profite erwähnen, die die Gasgesellschaft einheimst, und erklären, es wäre bedeutend besser gewesen, wenn die Stadt das Gaswerk bereits vor Jahren angekauft hätte, und dass diese Profite zur Senkung der Abgaben hätten benutzt werden können, ebenso wie es in anderen Städten geschehen ist. Schließlich wird der Artikel erklären, es sei sehr schade, dass das Elektrizitätswerk in privaten Händen ist, und vorschlagen, man solle den Versuch machen, es für die Stadt zu erwerben.
Inzwischen können wir alle herumgehen - natürlich sehr ruhig und vorsichtig - und prahlen, was für eine gute Sache wir da haben, und sagen, wir beabsichtigen nicht zu verkaufen. Wir sagen, dass wir alle bei der Einrichtung des Werks entstandenen Anfangsunkosten und Schwierigkeiten überwunden haben - dass wir erst beginnen, den Lohn für unseren Fleiß und unseren Unternehmungsgeist zu ernten und so weiter.
Danach", fuhr der Chef fort, „können wir dafür sorgen, dass auf der Ratssitzung vorgeschlagen wird, die Stadt möge das Elektrizitätswerk aufkaufen."
„Aber nicht durch einen von uns vieren, wissen Sie", sagte Schinder mit schlauem Blinzeln.
„Selbstverständlich nicht; das würde die Katze sofort aus dem Sack lassen. Mehrere Mitglieder der Bande sind, wie Sie wissen, keine Aktionäre der Gesellschaft; einige von ihnen werden wir veranlassen, den größten Teil des Redens zu besorgen. Wir als Direktoren dieser Gesellschaft müssen so tun, als wären wir gegen den Verkauf und müssen auf unserem eigenen Preis bestehen, und wenn wir endlich einwilligen, betonen wir, dass wir unser Privatinteresse dem Wohle der Stadt opfern. Wir lassen ein Komitee ernennen, einen Ingenieur als Sachverständigen aus London kommen - ich kenne einen Mann, der sich ausgezeichnet für unsern Zweck eignen würde; wir zahlen ihm eine Kleinigkeit, und dann sagt er, was wir ihm auftragen -, und danach peitschen wir die ganze Sache durch, ehe man es sich versieht und ehe die Steuerzahler Zeit haben, gewahr zu werden, was geschieht. Nicht, als müssten wir uns ihretwegen viel Sorgen machen. Die meisten von ihnen interessieren sich nicht für öffentliche Angelegenheiten; aber selbst wenn etwas gesagt wird, schert uns das nicht viel, wenn wir das Geld einmal haben. Die Sache wird vorübergehend ein bisschen Staub aufwirbeln, und dann werden wir nichts mehr davon hören."
Als der Chef geendet hatte, schwiegen die übrigen Briganten gleichfalls, sprachlos vor Bewunderung über seine Klugheit.
„Nun, was halten Sie davon?" fragte er.
„Was ich davon halte!" rief Schinder begeistert. „Ich halte's für großartig! Nichts könnte besser sein. Wenn wir nur mit der Sache durchkommen, glaube ich, ist das eins von den pfiffigsten Dingern, die wir je gedreht haben!"
„Pfiffig ist gar kein Ausdruck", bemerkte Rushton.
„Kein Zweifel - 's ist 'ne fabelhafte Idee!" rief Didlum
aus, „und grad ist mir noch was eingefallen, was uns dabei helfen würde. Wir könnten dafür sorgen, dass 'ne Menge Briefe zugunsten des Projekts an den ,Verdunkler' und an den ,Ananias' und an das ,Chloroform der Woche' geschickt werden."
„Ja, 'ne gute Idee", sagte Schinder. „Die Redakteure könnten die Briefe schließlich selbst an sich schreiben und ,Ein Freund des Fortschritts', ,Ein Steuerzahler' und ,Ein Befürworter der Entwicklung Mugsboroughs' und so ähnlich unterzeichnen."
„Ja, das wäre ganz gut", meinte der Chef nachdenklich, „aber wir müssen aufpassen, dass wir es nicht übertreiben; natürlich muss eine gewisse Reklame gemacht werden, aber wir wollen nicht zuviel Interesse dafür wecken."
„Wenn ich's mir recht überlege", sagte Rushton hochmütig, „weshalb sollten wir uns denn überhaupt um die Meinung der Steuerzahler kümmern? Weshalb sollen wir uns die Mühe machen, die Bücher zu fälschen, 'ne Dividende auszuschütten, die Artikel in den Zeitungen erscheinen zu lassen oder sonst was tun? Wir halten das Spiel in den Händen, wir haben die Mehrheit im Stadtrat, und wie Mr. Sweater sagt, machen sich nur 'n paar Menschen die Mühe, die Sitzungsberichte zu lesen."
„Ja, das stimmt schon", meinte Schinder. „Aber 's sind grade die paar, die 'ne Menge Wind machen und reden; eben die sind die Leute, an die wir denken müssen. Wenn wir's nur fertig bringen, denen 'nen blauen Dunst vorzumachen, ist alles in Ordnung, und das geht nur so, wie Mr. Sweater vorschlägt."
„Ja, ich glaube", sagte der Chef. „Wir müssen aber sehr vorsichtig vorgehen. Ich kann's beim ,Ananias' und beim ,Chloroform' in Ordnung bringen, und Sie müssen natürlich zusehen, dass uns der ,Verdunkler' unterstützt."
„Das lassen Sie nur meine Sorge sein", sagte Schinder grimmig.
Die drei Ortszeitungen wurden von Gesellschaften m.b.H. herausgegeben. Sweater besaß fast alle Aktien des „Ananias" sowie des „Chloroforms der Woche" und kontrollierte Politik und Inhalt dieser Zeitungen. Schinder nahm die gleiche Stellung beim „Verdunkler" ein. Die
Chefredakteure waren eine Art Marionetten, die tanzten, wie Sweater und Schinder die Fäden zogen.
„Wie Dr. Schwächling es wohl aufnehmen wird?" bemerkte Rushton.
„Daran habe ich auch eben grade gedacht!" rief Didlum aus. „Meinen Sie nicht, 's wär gut, dafür zu sorgen, dass jemand schlecht wird - Sie wissen doch, dass er auf der Straße genau vor dem Rathaus mit 'nem Anfall oder so was Ähnlichem hinfällt, grad eh die Sache im Stadtrat vorgebracht wird, und dann müsste jemand kommen und Schwächling rausrufen, um den Kranken zu behandeln, und ihn draußen festhalten, bis die Sache erledigt ist."
„Ja, das ist 'ne großartige Idee", meinte Schinder nachdenklich. „Aber wer soll 'n den Anfall haben? 's muss jemand sein, dem wir trauen können, wissen Sie."
„Wie ist's denn mit Rushton? Sie würden doch nichts dagegen haben, was?" fragte Didlum.
„Ich verwahre mich schärfstem dagegen", erwiderte Rushton hochmütig. Er betrachtete den Vorschlag, er solle eine so würdelose Rolle spielen, als eine Art Lästerung.
„Dann werde ich's, wenn nötig, selbst machen", sagte Didlum. „Ich bin nicht stolz, wenn's drum geht, Geld zu verdienen; für 'nen ehrlichen Broterwerb mache ich alles."
„Nun, ich denke, soweit sind wir uns alle einig", bemerkte Sweater. Die übrigen nickten zustimmend.
„Und ich denke, wir haben einen Schluck verdient", fuhr der Chef fort, wobei er eine Karaffe und eine Kiste Zigarren aus dem Schrank neben seinem Schreibtisch nahm. „Geben Sie mal die Wasserflasche her, die hinter Ihnen steht, Didlum."
„Ich nehme doch an, dass niemand reinkommt?" fragte der besorgt. „Sie wissen doch, ich bin Abstinenzler."
„Ach, geht in Ordnung", erwiderte Sweater, nahm vier Gläser aus dem Schrank und schenkte den Whisky ein. „Ich habe angeordnet, dass wir auf keinen Fall gestört werden. Sagen Sie halt."
-Also, ich trinke auf den Erfolg des Sozialismus!" rief Schinder, hob sein Glas und nahm einen großen Schluck.
„Amen - Bravo! meine ich", sagte Didlum, sich hastig verbessernd.
„Was mir an dem Geschäft gefällt", fuhr Schinder fort und lachte, „ist, dass wir nicht nur für uns was Gutes damit tun, sondern gleichzeitig den Sozialisten 'ne Menge Schaden machen. Wenn die Steuerzahler das Werk gekauft haben und anfangen, Radau zu schlagen, weil sie Geld dran verlieren, können wir ihnen sagen, das wär eben der Sozialismus! Und dann werden sie sagen: wenn das der Sozialismus ist, wollen wir nichts mehr davon wissen!"
Die anderen Briganten lachten fröhlich, und Didlum verschluckte sich an seinem Whisky und bekam beinahe einen Erstickungsanfall.
„Sie könnten 'nen Mann auch gleich umbringen", versicherte er, während er sich die Tränen aus den Augen wischte. „Sie könnten 'nen Mann auch gleich umbringen, anstatt dass Sie 'n zum Ersticken bringen!"
„Und jetzt habe ich eine gute Nachricht für Sie", sagte der Chef, als er sein leeres Glas niedersetzte.
Sogleich wurden die anderen ernst.
„Obwohl es für unseren Wettbewerb mit den Leuten von der Gasgesellschaft bei uns hart auf hart gegangen ist, und obwohl wir die Unterlegenen sind, ist's für sie auch nicht gerade rosig gewesen, wissen Sie. Die haben sich auch nicht gerade amüsiert; wir haben ihnen tüchtig eins versetzt, als wir den Kohlenzoll erhöht haben."
„Und das war gut", sagte Schinder gehässig.
„Nun", fuhr Sweater fort, „sie haben den Kampf gründlich satt, denn selbstverständlich wissen sie nicht genau, wie schwer es uns getroffen hat. Soweit sie informiert sind, hätten wir den Kampf unbegrenzt fortsetzen können, und -um es kurz zu sagen, ich habe mit dem Direktor und ein, zwei anderen Herren eine Unterredung gehabt, und sie sind bereit, uns mit hereinzunehmen. Wir können also das Geld, das wir für das Elektrizitätswerk bekommen, in Gasaktien anlegen!"
Dies war eine so prächtige Nachricht, dass sie noch ein Glas darauf tranken, und Didlum meinte, eines der ersten Dinge, die sie zu tun hätten, wäre, den Kohlenzoll völlig abzuschaffen, da er so hart auf den Armen laste.

 

32. Kapitel Der Deserteur

Gegen Ende Januar verließ Slyme Eastons Haus. Diesem war es nicht gelungen, irgendeine Beschäftigung zu finden, seit die Arbeit in der „Höhle" beendet war, und in letzter Zeit hatte die Qualität des Essens nachgelassen. Die zwölf Schilling, die Slyme für Kost und Logis zahlte, war alles, worüber Ruth für den Haushalt verfügte. Sie hatte versucht, selbst Arbeit zu finden, im großen ganzen jedoch ohne Erfolg; ein oder zwei Stellen hätte sie wohl haben können, wenn sie ihnen ihre gesamte Zeit hätte widmen können; aber natürlich war das nicht möglich -das Kind und der Haushalt mussten versorgt und Slymes Mahlzeiten zubereitet werden. Trotzdem richtete sie es einige Male ein, fortzukommen, wenn sich ihr die Möglichkeit bot, ein paar Schilling zu verdienen, indem sie der einen oder anderen Dame einen Tag lang aufwartete; dann ließ sie zu Hause alles so zurück, dass Easton während ihrer Abwesenheit allein fertig werden konnte. An solchen Tagen brachte sie gewöhnlich den Säugling bei Owens Frau unter, die ihre ehemalige Schulkameradin war. Nora tat ihr den Gefallen um so lieber, als Frankie jedes Mal ganz begeistert war. Er wurde nie müde, mit dem Kind zu spielen, und danach pflegte er seine Mutter tagelang zu bestürmen, sie möge ihm doch ein eigenes Baby kaufen.
Easton verdiente gelegentlich einige Schilling; ab und zu erhielt er Arbeit als Fensterputzer, und ein- oder zweimal arbeitete er einige Tage oder Stunden mit einem anderen Maler zusammen, der das Glück gehabt hatte, einen kleinen Auftrag „auf eigene Rechnung" zu bekommen -wie etwa eine Decke abzuwaschen und zu weißen oder ein, zwei Zimmer zu streichen; aber solche Arbeiten gab es selten.
Manchmal, wenn sie in großer Geldnot waren, verkauften sie etwas; die Bibel, die früher auf dem Tischchen im Erker lag, war eines der ersten Dinge, von denen sie sich getrennt hatten. Ruth hatte die Inschrift auf dem ersten Blatt ausradiert und danach das Buch für zwei Schilling in einem Antiquariat veräußert. Im Laufe der Zeit verkauften sie fast alles, was sich verkaufen ließ, außer natürlich den Dingen, die sie auf Ratenzahlung erworben hatten.
Slyme konnte sehen, dass sie tief in Schulden gerieten und mit der Miete im Rückstand waren, und zweimal hatte sich Easton bereits fünf Schilling von ihm geborgt, die er ihm vielleicht niemals zurückzahlen konnte. Dazu kam noch, dass Slyme ständig befürchtete, Ruth - die sich niemals völlig dem Unrechttun ergeben hatte - möchte Easton von dem Geschehenen berichten; mehr als einmal sprach sie davon, es tun zu wollen. Wenn sie es unterließ, so vor allem deshalb, weil sie wusste, selbst wenn ihr Easton vergab, werde er doch nie mehr so über sie denken können wie zuvor. Slyme legte ihr diese Überlegung mehrmals eindringlich nahe und erklärte, ein solches Geständnis könnte zu nichts Gutem führen.
In letzter Zeit war das Haus sehr ungemütlich geworden. Nicht nur, weil das Essen schlecht war und es zuweilen kein Feuer gab, sondern Ruth und Easton zankten sich auch beständig über dies oder jenes. Mit Slyme sprach sie fast überhaupt nicht und vermied, wann immer sie konnte, mit ihm am Tisch zu sitzen. Er lebte in beständiger Furcht, Easton könnte ihr Verhalten ihm gegenüber bemerken und eine Erklärung fordern. Die ganze Situation war derartig unerfreulich, dass Slyme beschloss, sich aus dem Staub zu machen. Er benutzte die Ausrede, ihm sei für einige Wochen Arbeit in einem Haus angeboten worden, das in einiger Entfernung außerhalb der Stadt liege.
Nachdem er die Eastons verlassen hatte, waren sie während mehrerer Wochen halb am Verhungern und lebten von Kredit, soweit sie welchen erhielten, sowie vom Verkauf ihrer Möbel und der übrigen Besitztümer, die zu Geld gemacht werden konnten. Die Sachen aus Slymes Zimmer wurden fast unmittelbar, nachdem er fortgezogen war, verkauft.

 

33. Kapitel Der Veteran

Der alte Jack Linden hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, durch den Handel mit Räucherheringen ein wenig Geld zu verdienen; aber häufig wurden sie schlecht, und selbst wenn es ihm gelang, alle zu verkaufen, war der Verdienst so gering, dass es sich nicht verlohnte.
Ehe die Arbeit in der „Höhle" beendet war, hatte sich Philpot der Familie Linden als guter Freund erwiesen; häufig gab er dem alten Jack sechs Pence oder einen Schilling, und oft brachte er eine Tüte mit Kuchen oder Zuckerbrötchen für die Kinder. Manchmal kam er sonntags zum Tee zu ihnen, um so einen Vorwand zu haben, eine Büchse Lachs mitzubringen.
Elsie und Charlie gingen häufig zu Owens, um mit Frankie Tee zu trinken; tatsächlich lebten sie praktisch dort, solange Owen irgend etwas zu tun hatte, denn Owen und Nora ermunterten die Kinder, oft zu kommen; sie wussten ja, dass die Lindens außer dem, was die junge Frau verdiente, nichts hatten, um zu leben.
Der alte Jack unternahm einige hoffnungslose Versuche, Arbeit zu finden - irgendeine Arbeit -, aber niemand wollte ihn haben, und um die Lage noch schlimmer zu machen, wurden seine Augen, die schon seit langem immer schlechter geworden waren, nun äußerst schwach. Einmal erhielt er von einer großen Lebensmittelhandlung den Auftrag, in den Straßen eine Reklametafel umherzutragen. Der bisherige Träger, ein ehemaliger Soldat, war am Tage zuvor entlassen worden, weil er sich während des Dienstes betrunken hatte. Das Reklameschild war nicht das übliche Doppelplakat, sondern eine Art Kasten ohne Boden und Deckel, ein Holzrahmen, auf den vier Seiten mit Stoff bespannt, und darauf klebten gedruckte Reklameplakate für Margarine. Jede Seite dieses Kastens oder Rahmens war beträchtlich größer als ein gewöhnliches Plakat.
In dieses Ding musste der alte Linden hineinkriechen und es durch die Straßen tragen, mit Hilfe zweier am oberen Rahmenrand befestigten Gurte, die ihm über je eine Schulter gingen. Es schwankte ziemlich heftig, während er lief, besonders wenn sich der Wind darin verfing; innen befanden sich jedoch zwei Griffe, an denen er es festhalten konnte. Die Bezahlung betrug acht Pence pro Tag, und er musste auf einem bestimmten Weg gehen, immer die belebtesten Straßen auf und ab.
Zuerst kam ihm der Rahmen nicht sehr schwer vor; aber mit der Zeit schien dessen Gewicht zu wachsen, und die Gurte schnitten schmerzhaft in die Schultern ein. Er schämte sich auch sehr, wenn er einen seiner alten Kollegen traf von denen einige über ihn lachten.
Da er soviel Aufmerksamkeit darauf verwenden musste, den Rahmen ruhig zu halten, und da er diese Arbeit nicht gewohnt war, wie auch infolge seiner schlechten Augen, wäre er mehrmals beinahe überfahren worden. Und seine Verlegenheit wurde immer noch größer durch den Spott der übrigen Plakatträger, der Müßiggänger vor den Schenken und der Jungen, die ihm „Altes Schachtelmännchen" nachschrieb. Zuweilen bewarfen die Jungen den Rahmen mit Schmutz, und einmal schlug ihm eine verfaulte Apfelsine, die einer von ihnen geschleudert hatte, den Hut vom Kopf.
Als der Abend kam, konnte er vor Müdigkeit kaum noch stehen. Schultern, Beine und Füße schmerzten ihn entsetzlich, und als er das Ding in den Laden zurückbrachte, hielt ihn ein zerlumpter, schmutzig aussehender, vom Bier aufgedunsener alter Mann an, dessen Gesicht von Trunkenheit und Zorn gerötet war. Es war der alte Soldat, der am Tage zuvor entlassen worden war. Er fluchte und schimpfte entsetzlich und beschuldigte Linden, ihm „das Brot vom Munde gestohlen" zu haben, drohte wütend mit der Faust und schrie, er habe nicht übel Lust, ihm das Gesicht durch den Kopf und hinten zum Halse wieder herauszuschlagen. Vielleicht hätte er versucht, seine Drohung wahrzumachen, wenn nicht zur rechten Zeit ein Polizist erschienen wäre; da beruhigte er sich sogleich und trollte sich.
Am nächsten Tag ging Jack nicht wieder dorthin; er dachte, lieber wolle er Hungers sterben, als noch einmal etwas mit dem Reklamerahmen zu tun zu haben, und danach schien er alle Hoffnung, Geld zu verdienen, aufgegeben zu haben: wohin er auch ging, überall das gleiche -niemand wollte ihn haben. Ziellos wanderte er durch die Straßen und traf dort zuweilen einen alten Arbeitskameraden, der ihn zu einem Glas Bier einlud; das geschah jedoch nicht häufig, denn fast alle waren arbeitslos und besaßen keinen Penny.

 

34. Kapitel Die Kinder des Soldaten

Während dieser Zeit hatte Jack Lindens Schwiegertochter fast ständig reichlich Arbeit mit dem Nähen von Blusen und Schürzen für Sweater & Co. Sie hatte so viel zu tun, dass man hätte meinen können, das goldene Zeitalter der Konservativen sei angebrochen, und die Zollreform sei bereits eine vollendete Tatsache.
Sie hatte reichlich Arbeit.
Zuerst hatte man ihr nur die billigste Sorte Blusen gegeben - die, welche mit zwei Schilling das Dutzend bezahlt wurden; jetzt erhielt sie jedoch nicht mehr viele dieser Art. Sie führte die Arbeit so sauber aus, dass man ihr laufend die besseren Qualitäten anvertraute, an denen sie nicht so viel verdiente; denn obgleich sie für das Dutzend Blusen mehr Geld bekam, war bedeutend mehr Arbeit damit verbunden als mit den billigeren. Einmal hatte sie ein ganz besonderes Stück zu machen, für das sie sechs Schilling erhielt; aber sie brauchte dazu vier und einen halben Tag - vom frühen Morgen bis spät in die Nacht. Der Dame, welche die Bluse kaufte, wurde gesagt, diese käme aus Paris, und sie bezahlte drei Guineen dafür. Hiervon wusste Mrs. Linden natürlich nichts, und hätte sie es gewusst, so hätte das auch nichts geändert.
Der größte Teil ihres Verdienstes ging für Miete drauf; manchmal blieben nur zwei oder drei Schilling übrig, um Nahrungsmittel für alle zu kaufen, und manchmal nicht einmal so viel, denn obgleich sie reichlich Arbeit hatte, konnte sie diese doch nicht immer ausführen. Zuweilen wurde ihr die Anstrengung des Maschinenähens unerträglich; ihre Schultern schmerzten, sie bekam Krämpfe in den Armen, und ihre Augen brannten derartig, dass sie unmöglich weiterarbeiten konnte. Dann unterbrach sie die Näherei und widmete sich zur Abwechslung dem Haushalt.
Einmal, als Lindens die Miete für vier Wochen schuldig waren, zeigte der Hausverwalter ein so drohendes Verhalten, dass sie in panische Angst gerieten bei dem Gedanken, man werde ihre Sachen zwangsversteigern und sie selbst aus dem Hause jagen; daher beschloss die junge Frau, den runden Mahagonitisch und einige andere Dinge aus dem Wohnzimmer zu verkaufen. Fast alle Möbel, die noch im Haus geblieben waren, gehörten ihr und hatten in ihrem Heim gestanden, bevor ihr Mann starb. Die alten Leute hatten nach und nach die meisten ihrer Sachen ihren anderen Söhnen geschenkt, seit die Schwiegertochter zu ihnen gezogen war. Diese Söhne waren sämtlich verheiratet, und alle hatten sie Arbeit. Einer war Reparaturarbeiter beim Gaswerk, der zweite Gepäckträger bei der Eisenbahn, und der letzte war Fleischer; jetzt aber, wo der alte Mann arbeitslos war, kamen sie selten ins Haus. Das letzte Mal waren sie am Weihnachtsabend dort gewesen, und da hatte es einen so furchtbaren Krach zwischen ihnen gegeben, dass die Kinder davon aufgewacht und zu Tode erschreckt waren. Die Ursache des Streits war ein vor einiger Zeit von ihnen getroffenes Übereinkommen gewesen, nach dem jeder den alten Leuten einen Schilling in der Woche geben sollte. Sie hatten das drei Wochen lang getan, und dann hatte der Fleischer seinen Beitrag nicht weitergezahlt; ihm war eingefallen, man könne nicht von ihm erwarten, seines Bruders Witwe und ihre Kinder zu ernähren. Wenn die alten Leute das Haus aufgäben und irgendwo allein in einem Zimmer wohnten, so wolle er seinen Schilling wöchentlich auch weiterhin zahlen, sonst aber nicht. Hierauf stellten der Gepäckträger und der Gasarbeiter ihre Zahlungen gleichfalls ein. Sie erklärten, es sei nicht gerecht, dass jeder von ihnen wöchentlich einen Schilling zahlte, während der Fleischer, welcher der Älteste war und den höchsten Lohn erhielt, nichts gebe. Zahlte er weiter, so zahlten auch sie; zahlte er jedoch nicht, so täten sie es gleichfalls nicht. Am Weihnachtsabend kamen sie zufällig alle zur selben Zeit ins Haus; jeder machte den anderen Vorwürfe, und nachdem sie sich fast geschlagen hatten, gingen sie wutentbrannt und fluchend davon, und seither waren sie nicht mehr erschienen.
Sobald sich Mary entschlossen hatte, die Sachen zu verkaufen, ging sie in Didlums Altwarenhandlung, und der Geschäftsführer meinte, er werde Mr. Didlum bitten, bei ihr vorbeizukommen, um sich den Tisch und die übrigen Gegenstände anzusehen. Den ganzen Morgen über wartete sie ungeduldig, er erschien aber nicht; deshalb ging sie noch einmal in den Laden, um ihn zu erinnern. Als er endlich kam, äußerte er sich sehr verächtlich über den Tisch und alles übrige, was sie zum Kauf anbot. Fünf Schilling sei das höchste, woran er als Kaufpreis für den Tisch auch nur denken könne, und selbst da bezweifle er, dass er sein Geld jemals zurückerhalten werde. Schließlich gab er ihr dreißig Schilling für den Tisch, den Kaminaufsatz, den Lehnsessel, drei andere Stühle und die beiden besten Bilder - einen großen Stahlstich „Der barmherzige Samariter" und ein anderes: „Christus segnet die kleinen Kinder".
Er bezahlte das Geld sogleich; eine halbe Stunde später kam der Möbelträger, um die Sachen abzuholen, und als sie fort waren, sank Mary in dem verödeten Zimmer auf den Kaminvorleger nieder und schluchzte, als wolle ihr das Herz brechen.
Das war der Anfang verschiedener ähnlicher Geschäfte. Langsam, Stück für Stück, verkaufte sie die Möbel, damit sie Nahrungsmittel kaufen und die Miete bezahlen konnte. Jedes Mal, wenn Didlum kam, stellte er sich, als erweise er der Familie eine große Gnade, die Sachen überhaupt zu nehmen. Fast sei es ein wohltätiges Werk. Er wolle sie gar nicht haben. Das Geschäft ginge so schlecht, vielleicht dauerte es Jahre, bis er die Sachen loswerde, und so fort. Ein- oder zweimal fragte er Mary, ob sie die Uhr nicht verkaufen wolle - die Uhr, die ihr verstorbener Mann für seine Mutter angefertigt hatte; Mary schreckte jedoch vor dem Gedanken zurück, dieses Stück zu veräußern, bis schließlich nichts anderes mehr übrig war, was Didlum kaufen wollte, und während einer Woche, in der Mary zu krank war für jede Näharbeit, kam die Reihe an die Uhr. Er gab dafür zehn Schilling.
Mary hatte erwartet, der alten Frau werde das Herz brechen, wenn sie sich von dieser Uhr trennen müsse; zu ihrer Überraschung sah sie aber, dass ihre Schwiegermutter es fast gleichgültig aufnahm. Tatsächlich waren die beiden alten Leute in der letzten Zeit wie betäubt und schienen nicht fähig zu sein aufzunehmen, was rings um sie geschah. Mary musste sich um alles kümmern.
Nach und nach trug sie fast alle übrigen Teile ihres Besitzes hinaus, minderwertige Sachen, die Didlum nicht eines Blickes würdigte, und verkaufte sie in kleinen Trödlerläden in den Seitenstraßen oder versetzte sie beim Pfandleiher. So geschah es mit den Federkissen, den Bettlaken und Decken, den Vorlegern, den Linoleumstücken und mit allem, was von ihrer Kleidung irgend verkäuflich oder versetzbar war.
Den Verlust ihres Bettzeugs empfanden die Lindens am härtesten; denn obwohl sie nachts alle Kleidungsstücke, die sie während des Tages trugen, alle alten Anzüge und Kleider, die es im Haus gab, und selbst ein altes buntes Tischtuch auf die Betten legten, wog dies die Wolldecken nicht auf, und oft konnten sie vor Kälte nicht einschlafen.
Eine Wohlfahrtspflegerin, die zuweilen zu ihnen kam, gab Mary hin und wieder eine Anweisung auf einen Zentner Kohlen oder auf Lebensmittel im Werte von einem Schilling, oder sie gab ihr einen Gutschein auf einen Liter Armensuppe, die Elsie am Abend aus der Suppenküche holte. Das kam jedoch nicht häufig vor, denn es gab, wie die Dame sagte, so viele ähnliche Fälle, dass es unmöglich war, mehr als nur ein klein wenig für jeden zu tun.
Zuweilen war Mary so schwach und erschöpft vor Überarbeitung, vor Sorgen und aus Mangel an ausreichender Kost, dass sie vorübergehend gänzlich zusammenbrach und einfach nicht mehr arbeiten konnte. Dann legte sie sich in ihrem Zimmer aufs Bett und weinte.
Erging es ihr so, dann verrichteten Elsie und Charley die Hausarbeit, wenn sie aus der Schule kamen; sie bereiteten Tee und Toast für die Mutter und brachten es ihr auf einem Stuhl ans Bett, so dass sie im Liegen essen konnte.
Den Kindern gefiel das jeweils recht gut; die Ruhe und Muße waren ganz anders, als es sonst herging, wenn ihre Mutter so beschäftigt war. dass sie keine Zeit hatte, mit ihnen zu sprechen.
Dann saßen sie auf dem Bettrand, die alte Großmutter ihnen gegenüber in ihrem Stuhl und neben ihr die Katze, die der Unterhaltung zuhörte und jedes Mal schnurrte oder miaute, wenn sie sie streichelten oder mit ihr sprachen. Sie redeten vor allem über die Zukunft. Elsie sagte, sie wolle Lehrerin werden und eine Menge Geld verdienen, das sie ihrer Mutter mit nach Hause bringen werde, damit sie davon einkaufen konnte. Charley dachte daran, einen Kaufladen zu eröffnen und Pferd und Wagen anzuschaffen. Hat man einen Kaufladen, so ist immer reichlich zu essen da; selbst wenn kein Geld vorhanden ist, kann man nach Wunsch aus seinem Laden nehmen - und noch dazu gute Sachen wie Lachs in Büchsen, Marmelade, Sardinen, Eier, Gebäck, Zwieback und was es sonst noch gibt -, und man war fast gewiss, jeden Tag etwas Geld zu haben; denn es war unwahrscheinlich, dass ein ganzer Tag verginge, ohne dass der eine oder der andere in den Laden käme und etwas kaufte. Wenn Charley die Waren mit dem Pferd und dem Wagen lieferte, wollte er alle Jungen, die er kannte, mitfahren lassen, und im Sommer, wenn die Arbeit getan und der Laden geschlossen sei, könnte er auch Mutter, Elsie und Oma zu langen Fahrten aufs Land mitnehmen.
Die alte Großmutter, die in letzter Zeit ganz kindisch geworden war, pflegte dazusitzen und diesen Gesprächen mit recht überlegener Miene zu lauschen. Bisweilen stritt sie mit den Kindern über deren Pläne und machte sich über sie lustig. Kichernd sagte sie dann immer, sie habe schon öfter Leute so reden hören - schon so manches liebe Mal -, aber am Ende sei nie etwas dabei herausgekommen.
Eines Tages gegen Mitte Februar, als es ihnen wirklich sehr schlecht ging, stellte der alte Jack beim Sekretär des Wohltätigkeitsvereins einen Unterstützungsantrag. Es war elf Uhr morgens, als er um die Ecke der Straße bog, in der sich das Büro des Vereins befand, und er sah eine Gruppe von etwa dreißig Männern, die bereits darauf warteten dass die Tür geöffnet wurde, damit sie um Gutscheine für eine Armensuppe bitten konnten. Einige dieser Leute gehörten zur Gattung der Landstreicher und Trunkenbolde; einige waren alte, verelendete Arbeiter wie er, und andere waren Hilfsarbeiter, die Kordsamt- oder Moltonhosen trugen, mit Schnüren um die Beine unterhalb der Knie.
Linden wartete in einiger Entfernung, bis alle diese Leute fort waren, ehe er hineinging. Der Sekretär empfing ihn verständnisvoll und gab ihm ein großes Formular auszufüllen; da Lindens Augen jedoch so schlecht waren und seine Hand so zitterte, schrieb der Sekretär freundlicherweise die Antworten selber hin und teilte Linden mit, er werde den Fall überprüfen und den Antrag dem Komitee bei der nächsten Sitzung vorlegen, die am kommenden Donnerstag stattfinden sollte - das war am Montag.
Linden erklärte ihm, dass die Familie buchstäblich am Verhungern sei. Seit sechzehn Wochen war er arbeitslos, und während dieser ganzen Zeit hatten sie alle fast ausschließlich vom Verdienst seiner Schwiegertochter gelebt; jetzt aber hatte die seit beinahe vierzehn Tagen nicht gearbeitet, weil die Firma, für die sie arbeitete, nichts für sie zu tun hatte. Es waren keine Lebensmittel im Haus, und die Kinder weinten nach etwas zu essen. Die ganze letzte Woche über waren sie hungrig zur Schule gegangen, denn außer täglich trocken Brot und Tee hatten sie nichts bekommen; in dieser Woche aber bekämen sie nicht einmal das, soweit Linden voraussehen konnte. Nachdem er noch eine Weile gesprochen hatte, gab ihm der Sekretär zwei Suppengutscheine sowie eine Anweisung auf einen Laib Brot und wiederholte sein Versprechen, den Fall zu untersuchen und vor das Komitee zu bringen.
Auf dem Heimweg kam Jack an der Suppenküche vorbei, wo er dieselbe Gruppe von Männern stehen sah, die im Büro des Wohltätigkeitsvereins gewesen waren, um die Suppengutscheine zu holen. In einer langen Schlange warteten sie darauf, eingelassen zu werden. Da die Räumlichkeiten sehr klein waren, fertigte der Eigentümer sie in Gruppen zu zehn Mann ab.
Am Mittwoch kam der Sekretär zu den Lindens ins Haus,
und am Freitag erhielt Jack einen Brief von ihm mit der Mitteilung, das Komitee habe den Fall gebührend erwogen und sei zu dem Schluss gekommen, da es sich um einen chronischen Fall" handle, könne es sich nicht damit befassen, und er rate Linden, sich an die Armenfürsorge zu wenden. Gerade davor war Linden bisher noch immer zurückgeschreckt; ihre Lage war jedoch verzweifelt. Sie schuldeten die Miete für fünf Wochen, und um ihr Unglück voll zu machen, war sein Augenlicht so schwach geworden, dass es sehr zweifelhaft war, selbst wenn er irgendeine Aussicht auf Arbeit gehabt hätte, ob er imstande gewesen wäre, diese auszuführen. Da Linden sich völlig besiegt und entwürdigt fühlte, schluckte er also den Rest seines Stolzes hinunter, und wie ein geprügelter Hund suchte er die Fürsorgebeamten auf, die ihn dem Rat vorstellten. Der entschied, der Fall sei für Außenhilfe nicht geeignet, und nach einigen Vorverhandlungen wurde schließlich festgelegt, dass Linden und seine Frau ins Armenhaus zu gehen hätten und dass Mary drei Schilling die Woche Unterstützungsbeitrag zum Lebensunterhalt für sich und die beiden Kinder erhalten solle. Was die Söhne der Lindens betraf, so deuteten die Mitglieder des Armenfürsorgerats ihre Absicht an, sie zu zwingen, zu den Unterhaltskosten ihrer Eltern beizutragen.
Mary begleitete die alten Leute bis zu den Toren ihrer künftigen Bleibe, und als sie heimkehrte, fand sie dort einen an J. Linden adressierten Briefumschlag vor. Er kam vom Hausverwalter und enthielt die Aufforderung, das Haus vor Ablauf der kommenden Woche zu räumen. Über die Mietsschulden stand nichts darin. Vielleicht dachte Mr. Sweater, da er ja bereits beinahe sechshundert Pfund Mietsgelder von Linden erhalten hatte, könne er es sich leisten, wegen der fünf Wochen, die der noch schuldig war, großzügig zu sein - oder vielleicht dachte er, es gäbe keine Möglichkeit, das Geld einzutreiben. Wie dem auch sein mochte, in dem Brief war nichts davon erwähnt; es war eine einfache Aufforderung, das Haus zu räumen, die an Linden gerichtet, jedoch für Mary gemeint war.
Es war etwa halb vier Uhr nachmittags, als sie nach Hause zurückkehrte und diesen Brief auf dem Fußboden vorn im Flur vorfand. Ihr war vor Hunger und Müdigkeit schlecht denn sie hatte an dem Tage nichts als nur eine Tasse Tee und eine Scheibe Brot zu sich genommen, und viel besser war ihre Kost schon seit vielen Wochen nicht gewesen. Die Kinder waren in der Schule, und das Haus, das jetzt fast unmöbliert war und weder einen Teppich noch Linoleum auf dem Fußboden hatte, war so öde, kalt und still wie ein Grab. Auf dem Küchentisch befanden sich ein paar zersprungene Tassen und Untertassen, ein zerbrochenes Messer, einige Blechteelöffel, ein Stück von einem Brotlaib, eine kleine Schüssel mit Bratenfett und eine braune Steingutteekanne mit angestoßener Tülle. Neben dem Tisch standen zwei zerbrochene Küchenstühle - einer ohne das oberste Querstück der Lehne und der andere gänzlich ohne Lehne. Die Kahlheit der Wände war nur durch einen bunten Kalender und ein paar Zeitungsbilder gemildert, welche die Kinder dort angeheftet hatten, und neben dem Kamin stand der leere Korbstuhl, auf dem die alte Frau zu sitzen pflegte. Es brannte kein Feuer im Kamin, und auf dem kalten Herdstein lag unordentlich ein Aschehaufen; denn während der Aufregungen der letzten Tage hatte Mary weder Zeit noch Mut gehabt, irgendwelche Arbeiten im Haushalt zu verrichten. Der Fußboden, ungefegt, war mit Papierschnitzeln und Staub bedeckt; in einer Ecke lag ein Haufen Zweige und kleine Äste, die Charley irgendwo gefunden und zum Feuern mit nach Hause gebracht hatte.
Die gleiche Unordnung herrschte überall im Haus; alle Türen standen offen, und von dem Platz in der Küche, auf dem sie sich befand, konnte Mary das Bett sehen, das sie mit Elsie teilte, und darauf das zusammengewürfelte Bettzeug. Das Wohnzimmer enthielt nichts als eine Sammlung von allem möglichen Charley gehörenden Krimskrams -seine „Sachen", wie er es nannte -, Holzstückchen, Schnurknäuel und kurze Stricke, ein Kinderwagenrad, ein Kreisel. ein Eisenreifen und dergleichen mehr. Durch die andere Tür war die baufällige Bettstelle zu sehen, die von den alten Leuten benutzt worden war, und darauf ein Haufen ähnlichen Bettzeugs wie auf dem ihren, nebst dem zerrissenen, zerlumpten Matratzenbezug, durch den an der Seite das Werg herausquoll und in Flocken auf den Boden fiel.
Wie sie so mit dem Brief in der Hand dastand - schwach und müde inmitten dieser ganzen Verlassenheit -, schien ihr, die ganze Welt gehe in Stücke und zerbröckele rings um sie her.

 

35. Kapitel Der Anfang des Endes

Im Laufe der Monate Januar und Februar arbeiteten Owen, Crass, Slyme und Sawkins weiterhin in unregelmäßigen Zeitabständen für Rushton & Co.; jedoch selbst wenn es etwas zu tun gab, waren sie jetzt nur sechs Stunden am Tag beschäftigt. Sie begannen des Morgens, machten von zwölf bis eins eine Stunde Mittagspause und hatten um vier Uhr Feierabend. Nachdem sie mit der „Ausrüstung" fertig waren, strichen sie die Vorderfront von Rushtons Laden. Als das beendet war und keine andere Arbeit hereinkam, mussten sie alle aussetzen, mit Ausnahme von Sawkins, der gehalten wurde, weil er billig war und alle möglichen Kleinarbeiten verrichten konnte: verstopfte Abflussrohre säubern, regendurchlässige Dächer flicken, grobe Malerarbeiten ausführen oder kalken, und auch als Hilfsarbeiter für die Installateure war er nützlich, von denen jetzt drei bei Rushton angestellt waren; denn infolge des strengen Frostes, der im Januar eingesetzt hatte, gab es in diesem Beruf viel zu tun. Mit Ausnahme dieses einen Zweiges war praktisch alle Arbeit zum Stillstand gekommen.
Während dieser Zeit hatte die Firma Rushton & Co. mehrmals „Einsargungen" vorzunehmen, und bei solchen Aufträgen polierte Crass stets die Särge; dazu half er, „die Kiste" ins Haus zu bringen, wenn sie fertig gestellt war, und die Leiche hineinzulegen. Danach fungierte er jedes Mal als einer der Leichenträger bei der Beerdigung. Für das Begräbnis gewöhnlicher Klasse verbrachte er im allgemeinen drei Stunden mit dem Polieren des Sarges; das waren ein Schilling neun Pence. Den Sarg ins Haus bringen und die Leiche hineinlegen machte einen Schilling - gewöhnlich waren zwei Mann damit beschäftigt, neben Hunter, der sie stets begleitete und die Arbeit beaufsichtigte -, dem Begräbnis beiwohnen und das Amt eines Leichenträgers verrichten machte vier Schilling, so dass Crass bei jedem Begräbnis sechs Schilling neun Pence verdiente und zuweilen noch ein wenig mehr. Hatten sie zum Beispiel eine Leiche von außergewöhnlich gutem Stand, so wurde ein Doppelsarg verwendet, und dann hatten sie natürlich zwei „Einsargungen" vorzunehmen; denn zuerst wurde der innere Sarg ins Haus gebracht und vielleicht einen oder zwei Tage später der äußere: das machte noch einen Schilling. Wie teuer die Beerdigung auch sein mochte, die Leichenträger erhielten niemals einen höheren Betrag. Bei einem guten Auftrag konnten der Tischler und Crass für das Bauen und das Polieren des Sarges zuweilen eine Stunde oder zwei mehr anrechnen, das war jedoch alles. Manchmal, wenn es sich um einen sehr billigen Auftrag handelte, erhielten sie nur drei Schilling für ihre Arbeit als Leichenträger, das kam indessen nicht oft vor; in der Regel bekamen sie den gleichen Betrag, ob es sich nun um eine billige oder um eine teure Beerdigung handelte. Slyme verdiente nur fünf Schilling an jedem Begräbnis und Owen nur einen Schilling sechs Pence - für das Schreiben des Sargschilds.
Zuweilen gab es in der Woche drei oder vier Beerdigungen, und dann verdiente Crass wirklich ausgezeichnet. Er hatte noch immer die beiden jungen Leute als Untermieter im Haus, und obwohl einer von ihnen arbeitslos war, konnte der doch noch immer bezahlen, da er etwas Geld auf der Bank hatte.
Einer der Beerdigungsaufträge führte zu einem furchtbaren Streit zwischen Crass und Sawkins. Die Leiche war die einer wohlhabenden Frau, die lange Zeit an Magenkrebs gelitten hatte, und nach dem Begräbnis musste die Firma Rushton & Co. das Zimmer, in dem sie während ihrer Krankheit gelegen hatte, säubern, anstreichen und neu tapezieren. Obwohl Krebs nicht für eine ansteckende Krankheit gehalten wird, hatte die Firma den Auftrag, das gesamte Bettzeug fortzuschaffen und verbrennen zu lassen. Sawkins war angewiesen worden, einen Handwagen zu dem Haus zu fahren, das Bettzeug abzuholen und zur städtischen Abfallvernichtungsstelle zu bringen, um es beseitigen zu lassen. Es bestand aus zwei Federbetten, einem Polster und zwei Kopfkissen, und es waren so gute Sachen, dass Sawkins insgeheim beschloss, sie zu einem Altwarenhändler anstatt zur Abfallvernichtungsstelle zu bringen und dort zu verkaufen.
Als er mit dem Bettzeug von dem Haus fortfuhr, traf er Hunter, der ihm erklärte, er brauche ihn für eine andere Arbeit; er solle also den Wagen auf den Gerätehof fahren und für den Augenblick dort stehen lassen; das Bettzeug könne er dann im Laufe des Tages zur Abfallvernichtungsstelle schaffen. Sawkins tat, was Hunter ihm aufgetragen hatte, und inzwischen sah Crass, der zufällig auf dem Gerätehof mit dem Anstreichen einiger Jalousien beschäftigt war, die Sachen auf dem Wagen, und als er hörte, was damit geschehen sollte, dachte er gleichfalls, es sei doch schade, so gute Sachen verbrennen zu lassen; als Sawkins am Nachmittag kam, um sie fortzuschaffen, sagte ihm Crass daher, er könne sich die Mühe sparen. „Den Krempel nehme ich", sagte er, „der ist viel zu gut, um 'n wegzuschmeißen; der ist doch ganz in Ordnung."
Das passte nun Sawkins in keiner Weise. Er erklärte, er habe Auftrag, die Sachen zur Abfallvernichtungsstelle zu bringen, also werde er das tun. Als er den Karren aus dem Hof zog, stürzte sich Crass darauf, hob das Bündel herab und trug es in die Malerwerkstatt. Sawkins rannte ihm nach, und sie begannen, einander anzuschreien und zu beschimpfen, wobei Crass Sawkins beschuldigte, er beabsichtige, die Sachen in einen Altwarenladen zu bringen und dort zu verkaufen. Sawkins packte das Bündel, in der Absicht, es wieder auf den Handwagen zu legen; Crass ergriff es jedoch ebenfalls, und so fand ein Kampf darum zwischen ihnen statt, eine Art Tauziehen - wobei sie in der ganzen Werkstatt herumtaumelten, miteinander rangen und entsetzlich schimpften und fluchten. Schließlich gelang es Sawkins als dem stärkeren der beiden, das Bündel an sich zu reißen, und er legte es auf den Karren zurück; nun zog Crass schleunigst seinen Mantel an und erklärte, er ginge zum Büro, um Mr. Rushton zu fragen, ob er die Sachen haben könne. Als Sawkins das hörte, geriet er dermaßen in Wut, dass er das Bündel vom Karren herunterhob, es mitten in eine Pfütze schmutzigen Wassers auf die Erde schleuderte und darauf herumtrampelte; danach zog er sein Taschenmesser heraus und begann, wie wild das Inlett zu zerhacken und zu zerschneiden, so dass alle Federn herausflogen. In wenigen Minuten hatte er das Zeug so zerfetzt, dass es nicht mehr zu flicken war, während Crass bleich und zitternd danebenstand und zusah, ohne dass er den Mut hatte einzuschreiten.
„Nu geh doch ins Büro und frag Rushton drum, wenn du willst!" schrie Sawkins. „Jetzt kannste's haben, wenn du Lust hast."
Crass antwortete nicht, und nachdem er einen Augenblick lang gezögert hatte, ging er wieder an seine Arbeit, während Sawkins die Sachen von neuem auf den Karren lud und zur Abfallvernichtungsstelle fuhr. Jetzt konnte er sie nicht mehr verkaufen; aber zumindest hatte er verhindert, dass das dreckige Schwein Crass sie bekam.
Als Crass in die Malerwerkstatt zurückkehrte, fand er dort eines der Kopfkissen, das während des Kampfes aus dem Bündel gefallen war. Am Abend nahm er es mit nach Hause und schlief darauf. Es war ein wunderschönes Kissen, viel voller, weicher und behaglicher als das, welches er gewohnt war.
Einige Tage danach, als er in dem Zimmer arbeitete, in dem die Frau gestorben war, gab man ihm noch einige Dinge zum Vernichten, die ihr gehört hatten, darunter auch einen grauen gestrickten Wollschal. Crass behielt ihn für sich; das war genau das Richtige für einen kalten Morgen, wenn man zur Arbeit ging, und während des ganzen Winters benutzte Crass den Schal zu diesem Zweck. Außer den Beerdigungen gab es noch ein wenig andere Arbeit; zuweilen waren ein oder zwei Zimmer zu streichen und zu tapezieren oder Decken zu weißen, und einmal hatten sie zwei Außenanstriche bei zwei kleinen Häuschen vorzunehmen - das heißt, die Türen und die Fenster von außen zu streichen. Sie arbeiteten alle vier an diesem Auftrag, und in zwei Tagen war er erledigt. Und so ging es weiter.
Während einiger Wochen verdiente Crass ein Pfund oder achtzehn Schilling; manchmal hatte er ein wenig mehr, im allgemeinen weniger und gelegentlich gar nichts.
Es gab wegen der Arbeit viel Neid und böses Blut zwischen den Arbeitern. Slyme und Crass ärgerten sich beide über Sawkins, sobald sie „feiern" mussten, besonders wenn er einen Anstrich vornahm oder eine Decke weißte, und ihre Empörung wurde von allen übrigen geteilt, die aussetzen mussten. Harlow fluchte fürchterlich darüber, und alle waren der gleichen Meinung: es sei doch eine Schande, dass so ein verdammter Ungelernter für fünf Pence die Stunde mit Arbeiten beschäftigt wurde, die eigentlich ein gelernter Handwerker verrichten sollte, und währenddessen gingen qualifizierte Leute „spazieren". Die anderen waren auch gegen Slyme und Crass aufgebracht, weil die stets den Vorzug erhielten, wenn es ein wenig zu tun gab, und es wurde gemunkelt, die beiden arbeiteten für sechs Pence die Stunde, um sich diese Bevorzugung zu sichern. Zwischen Crass und Slyme herrschte gleichfalls keinerlei Liebe: Crass war wütend, wenn es vorkam, dass Slyme für einige Stunden Arbeit hatte, während er selbst beschäftigungslos war, und sobald Crass arbeitete, während Slyme „feierte", ging dieser unter den übrigen arbeitslosen Kollegen umher und sagte hässliche Dinge über Crass, den er beschuldigte, ein „Kriecher" zu sein. Owen erntete gleichfalls seinen Teil Tadel und Beschimpfung; die meisten sagten, ein Mann wie er sollte unbedingt auf höheren Lohn bestehen, gleichgültig, ob er gerade besondere Arbeiten ausführte oder nicht, dann gäbe man ihm jedenfalls nicht den Vorzug. Was einer jedoch auch über den anderen hinter dessen Rücken sagen mochte - sobald sie einander von Angesicht zu Angesicht trafen, waren alle äußerst freundlich zueinander.
Ein-, zweimal führte Owen für diesen oder jenen seiner Arbeitskollegen, dem es gelungen war, sich auf eigene Faust einen kleinen Auftrag zu beschaffen, eine Arbeit aus, etwa eine Tür marmorieren oder ein Schild schreiben; alles in allem jedoch, einbegriffen die Sargschilder und anderen Arbeiten bei Rushton, hatte sein Verdienst während der letzten sechs Wochen durchschnittlich nicht einmal zehn Schilling betragen. Häufig hatten sie daheim keine Kohle und zuweilen nicht einmal einen Penny, um ihn in den Schlitz der Gasuhr zu stecken, und da er nichts mehr besaß, was
gut genug zum Versetzen war, beschaffte er sich manchmal durch den Verkauf einiger seiner Bücher an einen Antiquar ein paar Pennies. So schlimm indessen ihre Lage war, wusste Owen doch, dass es ihnen besser ging als den meisten seiner Kollegen; denn jedes Mal, wenn er ausging, traf er sicher zahlreiche Leute, mit denen er dann und wann zusammen gearbeitet hatte und die ihm sagten - einige von ihnen -sie seien bereits seit zehn, zwölf, fünfzehn und manche sogar seit zwanzig Wochen ohne einen Schilling Verdienst. Owen pflegte sich zu fragen, wie sie es wohl fertig brachten, weiter zu existieren. Die meisten trugen anderer Leute abgelegte Anzüge, Hüte und Stiefel, die ihre Frauen in einigen Fällen von Wohltätigkeitsdamen erhalten hatten oder aber von den „Herrschaften", bei denen sie als Aufwärterinnen arbeiteten. Was ihre Nahrung betraf, so lebten die meisten von Kredit, soweit sie welchen erhielten, und von den übrig gebliebenen Lebensmitteln und Fleischresten, die ihre Frauen von ihren Aufwartestellen mit heimbrachten. Manche hatten erwachsene Söhne und Töchter, die noch bei ihnen wohnten und durch ihren Verdienst die Familie erhielten, und die Frauen etlicher Arbeiter ergänzten ihre jämmerlichen Einkünfte durch das Vermieten von Zimmern.
Während der Woche, ehe der alte Linden ins Armenhaus ging, verdiente Owen nichts, und zu allem Unglück weigerte sich plötzlich der Kaufmann, bei dem sie gewöhnlich ihre Lebensmittel einholten, ihnen noch weiter Kredit zu geben. Owen suchte ihn auf, und der Mann sagte, es tue ihm sehr leid, aber ohne Bezahlung könne er ihnen nichts mehr geben; er sei wohl bereit, einige Wochen auf das Geld zu warten, das sie ihm bis jetzt schuldeten, aber den Betrag noch höher werden lassen könne er nicht, seine Bücher seien bereits voll von zweifelhaften Schulden. Zum Abschluss sagte er noch, er hoffe, Owen werde nicht das gleiche tun wie so viele andere und, wenn er wieder Geld habe, es woandershin tragen. Zu ihm kämen die Leute und kauften auf Kredit, wenn sie knapp bei Kasse seien, und hätten sie dann wieder Geld, so kauften sie im Laden der „Monopolgesellschaft" gegenüber auf der anderen Straßenseite, weil die Ware dort um eine Kleinigkeit weniger kostete - und das sei doch nicht anständig. Owen gab zu, dass es nicht anständig war, erinnerte aber den Mann, dass sie ihre Ware stets in seinem Laden holten. Der Kaufmann war jedoch unerbittlich; er wiederholte mehrmals, seine Bücher seien voll von zweifelhaften Schulden, und seine eigenen Gläubiger drängten ihn. Während dieser Unterhaltung wanderten die Blicke des Mannes ständig zum großen Laden auf der anderen Straßenseite hinüber; die riesigen vergoldeten Lettern des Namens „Monopol-Lebensmittelhandlung" schienen eine unwiderstehliche Anziehung auf ihn auszuüben. Einmal unterbrach er sich mitten im Satz und zeigte Owen ein kleines Mädchen, das eben mit einem Päckchen in der Hand aus dem Laden kam.
„Ihr Vater schuldet mir fast dreißig Schilling", sagte er; „aber wenn sie Geld haben, geben sie es dort aus."
Die Vorderfront des Kolonialwarenladens hatte einen Anstrich dringend nötig, und der Name auf dem Firmenschild „A. Kleinmann" war derartig verblasst, dass er kaum noch zu entziffern war. Owen hatte beabsichtigt, dem Mann anzubieten, er wolle die Arbeit ausführen und die Kosten gegen seine Schulden verrechnen - aber der schien so große Sorgen zu haben, dass Owen den Vorschlag unterließ.
Sie hatten noch immer Kredit beim Bäcker, aber sie nahmen nicht viel Brot: hat einer einen Monat lang kaum etwas anderes zu essen als Brot, so fällt es ihm schwer, überhaupt zu essen. Als Owen an diesem Tage nach seinem Gespräch mit dem Kaufmann heimkehrte, hatten sie einen Laib herrliches frisches Brot; aber keiner von ihnen konnte es essen, obwohl sie hungrig waren: es schien ihnen im Halse steckenzubleiben, und selbst mit einem Schluck Tee konnten sie es nicht herunterbringen. Aber den Tee tranken sie; er war das einzige, das sie am Leben erhielt.
Während der nächsten Woche verdiente Owen im ganzen acht Schilling; ein paar Stunden Arbeit hatte er damit, Crass beim Abwaschen und Weißen einer Decke und beim Anstreichen eines Zimmers zu helfen, und außerdem war ein Sargschild zu schreiben. Dies tat er zu Hause, und während er damit beschäftigt war, hörte er, wie Frankie, der sich mit Nora draußen in der Spülkammer aufhielt, zu seiner Mutter sagte:
„Mutti, wie viel Tage, glaubst du, werden wir wohl noch nichts weiter als trocken Brot und Tee haben?"
Owen schien das Herz stillstehen zu wollen, als er die Frage des Kindes hörte und auf Noras Antwort lauschte. Die Frage wurde jedoch vorläufig überhaupt nicht beantwortet, denn im gleichen Augenblick hörten sie, wie jemand die Treppe hinauflief; kurz darauf wurde ohne jede Zeremonie die Tür aufgestoßen, und Charley Linden stürzte herein, atemlos, ohne Hut und bitterlich weinend. Seine Kleidung war alt und zerlumpt; sie war an den Knien und Ellbogen geflickt worden, aber die Flicken rissen aus dem mürben Stoff heraus, auf den sie genäht waren. Er trug ein Paar schwarze Strümpfe voller Löcher, durch welche die Haut schien. Die Sohlen seiner Stiefel waren auf einer Seite bis zum Oberleder abgetragen, und während er ging, kamen die Seiten seiner nackten Fersen mit dem Boden in Berührung; an einem Schuh hatte sich die Sohle vorn vom Oberleder gelöst, und seine nackten, kältegeröteten und schlammbedeckten Zehen zwängten sich durch den klaffenden Spalt. Irgend etwas Scharfes - ein Nagel, ein Stück Glas oder ein spitzer Stein - hatte offenbar seinen rechten Fuß verletzt, denn Blut lief vom zerrissenen Hacken seines Stiefels auf den Fußboden.
Viel konnten sie aus der verworrenen Geschichte nicht entnehmen, die er ihnen unter Schluchzen erzählte, sobald er sprechen konnte. Das einzige, was klar daraus hervorging, war, dass zu Hause etwas sehr Ernstes geschehen war; er glaubte, seine Mutter müsse entweder im Sterben liegen oder tot sein, denn sie spreche nicht, bewege sich nicht, noch öffne sie die Augen, und „Bitte, bitte, kommen Sie mit mir nach Hause und sehen Sie nach ihr!"

Während Nora sich fertigmachte, um mit dem Jungen zu gehen, hieß ihn Owen, sich auf einen Stuhl zu setzen, und nachdem er den Stiefel von dem blutenden Fuß gezogen hatte, wusch er die Wunde mit warmem Wasser aus und verband sie mit einem sauberen Lappen; danach versuchten sie, Charley zu bewegen, hier bei Frankie zu bleiben, während Nora nach seiner Mutter sehen ging; davon wollte der Junge jedoch nichts hören. So begleitete sie Frankie statt Jessen. Owen konnte nicht mitgehen, da er das Sargschild fertigschreiben musste, das er soeben erst begonnen hatte.
Der Leser wird sich erinnern, dass wir Mary Linden, nachdem sie die alten Leute fortbegleitet hatte und zurückgekehrt war, allein im Haus gelassen hatten. Als die Kinder etwa eine halbe Stunde später heimkamen, fanden sie ihre Mutter bewusstlos auf einem der Stühle sitzen, den Kopf auf die Arme und diese auf den Tisch gelegt. Sie ängstigten sich furchtbar, als es ihnen nicht gelang, Mary zu wecken, und sie begannen zu weinen; dann aber dachte Charley an Frankies Mutter, und nachdem er seiner Schwester erklärt hatte, sie solle dort bleiben, während er fort war, rannte er zu Owens Haus und ließ hinter sich die Eingangstür sperrangelweit offen.
Als Nora und die beiden Jungen das Haus erreichten, fanden sie dort zwei Nachbarinnen vor, die gehört hatten, dass Elsie weinte, und nachsehen gekommen waren, was es gab. Mary war aus ihrer Ohnmacht erwacht und lag auf dem Bett. Nora blieb noch einige Zeit bei ihr, als die anderen Frauen gegangen waren. Sie machte Feuer und gab den Kindern ihren Tee - es waren noch etwas Kohle und einige Lebensmittel von den Vorräten übrig, die Mary mit den von der Armenfürsorge erhaltenen drei Schilling gekauft hatte -, und danach räumte Nora das Haus auf.
Mary sagte, sie wisse noch gar nicht, was sie künftig tun solle. Wenn sie irgendwo ein Zimmer zu zwei oder drei Schilling die Woche fände, so reichte das Geld vom Armenverweserrat für die Miete aus, und für ihren und der Kinder Unterhalt könnte sie genug verdienen.
Das war in großen Zügen die Geschichte, die Nora bei ihrer Heimkehr Owen berichtete. Er hatte das Sargschild fertiggeschrieben, und da es fast trocken war, zog er den [[Mantel an und brachte es zur Tischlerwerkstatt unten auf dem Gerätehof.
Auf dem Rückweg traf er Easton, der sich in der vergeblichen Hoffnung, Hunter zu treffen und zu erfahren, ob irgendeine Aussicht auf Arbeit bestehe, dort herumgedrückt hatte. Während sie miteinander gingen, gestand Easton Owen, dass er kaum etwas verdient hatte, seit er bei Rushton aussetzen musste. Und was er verdient hatte, war, wie
gewöhnlich, für die Miete draufgegangen. Slyme war vor einiger Zeit von ihnen fortgezogen. Ruth schien sich mit ihm nicht vertragen zu können; sie war überhaupt merkwürdig gereizt, aber seit Slyme fort war, hatte sie ein wenig Arbeit in einer Pension auf der Großen Paradeallee gefunden. Ihre Lage hatte sich jedoch ständig verschlimmert Sie konnten die Raten für ihre Möbel nicht aufbringen, und so wurden diese beschlagnahmt und fortgeschafft. Selbst das Linoleum war herausgerissen worden. Easton bemerkte, es tue ihm leid, den verdammten Dreck nicht so fest angenagelt zu haben, dass er nicht vom Fußboden abgenommen werden konnte, ohne zerfetzt zu werden. Er hatte Didlum aufgesucht, und der hatte erklärt, er wolle nicht hart gegen sie sein und werde die Sachen drei Monate lang zu ihrer Verfügung halten; wenn Easton bis dahin die fälligen Raten nachzahle, könne er alles zurück haben, aber Easton meinte, hierfür bestehe sehr wenig Aussicht.
Owen hörte ihm voller Verachtung und Zorn zu. Hier war ein Mann, der wohl über den gegenwärtigen Zustand der Dinge murrte, sich aber doch nicht die Mühe gab, selbst nachzudenken und zu versuchen, ihn zu ändern, und bei der nächsten Gelegenheit werde er für die Beibehaltung des Systems stimmen, das sein Elend bewirkte.
„Hast du gehört, dass der alte Jack Linden und seine Frau heute ins Armenhaus gegangen sind?" fragte er.
„Nein", antwortete Easton gleichgültig. „Aber ich hab nichts andres erwartet."
Nun meinte Owen, es wäre kein schlechter Gedanke, wenn Easton sein Vorderzimmer jetzt, wo es leer stand, an Mrs. Linden vermietete, die ihre Miete zuverlässig bezahlen werde, und das helfe Easton, die seine aufzubringen. Easton stimmte ihm zu und sagte, er werde mit Ruth darüber sprechen, und einige Minuten darauf trennten sie sich. Am nächsten Morgen traf Nora Ruth bei Mary Linden im Gespräch über das Zimmer]], und da Eastons nur etwa fünf Minuten entfernt wohnten, gingen sie alle drei dorthin, damit Mary das Zimmer betrachten konnte. Von außen sah das Haus unverändert aus; die weißen Spitzengardinen schmückten noch das Fenster des Vorderzimmers, und mitten im Erker stand, was ein kleiner runder Tisch zu sein schien, mit einem roten Tuch bedeckt und darauf in einer Untertasse ein mit bunter Papiermanschette umwickelter Blumentopf mit einer Geranie. Diese Dinge und die Gardinen, die dicht zusammenfielen, ließen niemand sehen, dass das Zimmer sonst leer war. Der „Tisch" bestand aus einer aufrecht gestellten leeren Holzkiste - sie stammte vom Kaufmann -, und darauf, mit der Oberseite nach unten als Tischplatte gelegt und mit einem alten Stück roten Stoff bedeckt, der Deckel des Kupferkessels aus der Spülkammer. per Zweck des Ganzen war, zu verhindern, dass die Nachbarn glaubten, den Eastons ginge es schlecht, obgleich die wussten, dass sich eben diese Nachbarn fast alle mehr oder weniger in der gleichen Bedrängnis befanden.
Das Zimmer war nicht sehr groß, wenn man bedachte, dass es Mrs. Linden und den beiden Kindern für alle Zwecke dienen musste; aber sie wusste, dass sie wahrscheinlich nirgends ein so gutes Zimmer für den gleichen Preis bekommen werde. Deshalb erklärte sie sich bereit, es ab nächsten Montag für zwei Schilling die Woche zu beziehen.
Da die Entfernung nur so gering war, konnten Mary und die Kinder während der folgenden Tage den größten Teil ihrer kleineren Habseligkeiten in die neue Wohnung hinübertragen, und am Montagabend, als es dunkel war, brachten Owen und Easton den Rest auf einem Handwagen, den sie sich zu diesem Zweck von Hunter ausgeliehen hatten.
Während der letzten Februarwochen wurde die Kälte noch strenger. Am Zwanzigsten schneite es heftig, und darauf folgte strenger Frost, der mehrere Tage anhielt.
Ein Polizist fand eines Abends gegen zehn Uhr einen Mann, der bewusstlos mitten auf einer einsamen Straße lag. Zuerst dachte er, der Mann sei betrunken, und nachdem er ihn von der belebten Fahrbahn auf den Bürgersteig geschafft hatte, ging er eine Bahre holen. Der Mann wurde aufs Revier gebracht und in eine Zelle gelegt, in der bereits ein anderer saß, der dabei erwischt worden war, wie er eine Kohlrübe aus einer Scheune stahl. Als der Polizeiarzt kam, erklärte er, der angeblich Betrunkene liege infolge von Bronchitis und Unterernährung im Sterben; er sagte auch, es gebe kein Anzeichen dafür, dass der Mann trunksüchtig
sei. Als wenige Tage danach die amtliche Totenschau abgehalten wurde, bemerkte der Leichenbeschauer, das sei der dritte durch Entbehrung verursachte Todesfall, den es während der letzten sechs Wochen in der Stadt gegeben habe Es ergab sich, dass der Mann, ein Stuckateur, in der Hoffnung, irgendwo im Lande Arbeit zu finden, aus London fortgewandert war. Er besaß kein Geld, als er von dem Polizisten gefunden wurde; das einzige, was seine Taschen enthielten, waren mehrere Pfandzettel und ein Brief von seiner Frau, der in einer Innentasche der Weste steckte und deshalb erst entdeckt wurde, nachdem der Mann bereits gestorben war. Einige Tage vor der Leichenschau war der Mann, der wegen des Diebstahls von Kohlrüben verhaftet worden war, vor die Obrigkeit geführt worden. Der arme Schlucker erklärte, er habe es getan, weil er am Verhungern war; aber nachdem ihm die Ratsherren Sweater und Schinder erklärt hatten, Verhungern sei kein Grund zur Unehrlichkeit, verurteilten sie ihn zu einer Strafe von sieben Schilling und Verfahrenskosten oder zu sieben Tagen Gefängnis mit Zwangsarbeit. Da der Sträfling weder Geld noch Freunde hatte, musste er ins Gefängnis gehen, wo er schließlich besser aufgehoben war als die Mehrzahl derer, die nur deshalb noch draußen waren, weil es ihnen entweder an Mut oder an Gelegenheit fehlte, etwas zu stehlen, um ihre Leiden zu mildern.
Mit der Zeit begannen sich die Folgen der langwährenden Entbehrungen bei Owen und seiner Familie zu zeigen. Er hatte einen starken Husten, seine Augen lagen tief in ihren Höhlen und nahmen einen auffallenden Glanz an, und stets war sein mageres Gesicht entweder totenbleich oder fieberhaft gerötet.
Auch bei Frankie machte sich bemerkbar, dass er so häufig genötigt war, auf seinen Haferbrei und seine Milch zu verzichten; er wurde sehr blass und magerte ab, und wenn die Mutter sein langes Haar kämmte und bürstete, fielen ganze Händevoll davon aus. Das beunruhigte den Jungen sehr, der, seit ihm in der Schule die Geschichte von Simson aus der Bibel vorgelesen worden war, aufgehört hatte zu fordern, sein Haar solle kurz geschnitten werden, aus Furcht, er könne dann seine Stärke einbüßen. Er pflegte sich zu prüfen, indem er eine gewisse, selbst erfundene Übung mit einem Plätteisen vornahm, und er war stets erleichtert, wenn er feststellte, dass er trotz des Verlusts seines Haferbreis noch imstande war, das Plätteisen so oft wie erforderlich zu stemmen. Als er jedoch nach einiger Zeit bemerkte, dass es ihm immer schwerer wurde, die Übung durchzuführen, gab er sie gänzlich auf und beschloss insgeheim zu warten, bis Vati mehr Arbeit hätte, so dass er wieder seinen Haferbrei und seine Milch bekommen könnte. Es tat ihm leid, die Übung aufgeben zu müssen; er sagte darüber jedoch nichts zu seinem Vater und seiner Mutter, weil er ihnen keine „Sorgen" bereiten wollte.
Zuweilen gelang es Nora, sich eine kleine Näharbeit zu beschaffen. Einmal brachte eine Frau, die einen kleinen Jungen hatte, ein Paket Kleidungsstücke, die ihr oder ihrem Mann gehörten: einen alten Überzieher, mehrere Jacken und dergleichen - Sachen, die schon zu altmodisch oder zu schäbig waren, um getragen zu werden, die jedoch noch gut aussehen mochten, wenn sie gewendet und für den Jungen zurechtgemacht wurden.
Nora übernahm die Arbeit, und nachdem sie eine Woche lang täglich mehrere Stunden daran gesessen hatte, betrug ihr Verdienst vier Schilling - und selbst dabei dachte die Frau noch immer, es sei zu teuer, so dass sie nichts mehr brachte.
Ein andermal besorgte ihr Mrs. Easton Arbeit in einer Pension, in der sie selbst beschäftigt war. Das Hausmädchen war erkrankt, und die Wirtsleute brauchten für einige Tage eine Aushilfe. Die Bezahlung sollte zwei Schilling täglich betragen und dazu das Mittagessen. Owen wollte nicht, dass Nora die Arbeit annahm, denn er befürchtete, sie sei dafür nicht stark genug; schließlich gab er jedoch nach, und sie ging dorthin. Sie hatte die Schlafzimmer zu machen, und infolge des ständigen Treppaufs, Treppabs mit den schweren Wasserkannen und -eimern, die sie schleppen musste, hatte sie am Abend des zweiten Tages so heftige Schmerzen, dass sie kaum imstande war, nach Haus zu gehen, und sie musste danach mehrere Tage lang mit einem Rückfall ihrer alten Krankheit das Bett hüten, die ihr, sobald sie zu stehen versuchte, unsagbare Schmerzen verursachte.
Owen war abwechselnd mutlos und ergrimmt im Bewusstsein seiner Ohnmacht; wenn er gerade nichts für Rushton zu tun hatte, ging er in der Stadt umher und versuchte andere Arbeit zu finden, gewöhnlich jedoch mit wenig Erfolg. Er fertigte einige Muster von Geschäftskarten und Schaufensterreklameschildern an und versuchte, sich einige Aufträge zu beschaffen, indem er die Läden der Stadt einen nach dem andern aufsuchte; aber auch das war ein Fehlschlag, denn die Besitzer hatten schon einen Schriftmaler dem sie ihre Arbeit gewöhnlich gaben. Einige kleine Aufträge erhielt er; bei dem Preis, der ihm dafür bezahlt wurde, lohnte es jedoch kaum, sie auszuführen. Jedes Mal, wenn er in einen Laden ging, um nach Arbeit zu fragen, kam er sich wie ein Verbrecher vor; denn er wusste ja, dass er zu dem Inhaber praktisch sagte: „Nehmen Sie Ihre Arbeit dem andern Mann weg und beschäftigen Sie mich." So lebhaft war er sich dessen bewusst, dass es ihn schamhaft machte, und das, in Verbindung mit seiner schäbigen Kleidung, hinterließ keinen sehr günstigen Eindruck bei den Angesprochenen, die ihn gewöhnlich mit etwa ebensoviel Höflichkeit behandelten, wie sie die auch jeder anderen Art Bettler erwiesen hätten. Nachdem er den ganzen Tag über von Laden zu Laden gegangen war, kehrte er gewöhnlich erfolglos und schwach vor Hunger und Müdigkeit heim.
Einmal, als ein schneidend kalter Ostwind blies, befand er sich auf einem seiner Rundgänge und zog sich eine schwere Erkältung zu; seine Brust wurde so schlimm, dass er kaum sprechen konnte, denn fast jeder Versuch endete mit einem heftigen Hustenanfall. Während dieser Zeit sandte ihm eine Tuchhandlung, für die er einige Reklamekarten geschrieben hatte, den Auftrag, sofort noch eine weitere davon anzufertigen; sie musste am nächsten Morgen geliefert werden, daher blieb er fast bis Mitternacht allein auf, um sie fertigzuschreiben. Bei der Arbeit hatte er ein seltsames Gefühl in der Brust: es war nicht gerade ein Schmerz, und es in Worten zu beschreiben, wäre ihm schwer gefallen - es war eben nur so ein Gefühl. Er maß ihm nicht viel Gewicht bei und hielt es für eine Folge der Erkältung, die er sich zugezogen hatte; doch was es auch immer sein mochte, es kam ihm die ganze Zeit über nicht aus dem Bewusstsein.
Frankie war an diesem Abend zur gewohnten Stunde zu Bett gebracht worden; er schien jedoch nicht so gut zu schlafen wie sonst. Owen konnte hören, wie er sich unruhig hin und her warf und im Schlaf stöhnte.
Owen verließ mehrmals seine Arbeit, um zu dem Jungen ins Zimmer zu gehen und die Decken über ihn zu breiten, die durch die unruhigen Bewegungen des Kindes verschoben waren. Nach und nach wurde Frankie ruhiger, und als Owen gegen elf Uhr nach ihm sah, fand er ihn in tiefem Schlaf; er lag auf der Seite, den Kopf auf dem Kissen zurückgeworfen, und atmete so leicht durch die ein wenig geöffneten Lippen, dass der Laut fast unhörbar war. Das blonde, um die Stirn gebauschte Haar war feucht von Schweiß, und der Junge lag so reglos, blass und still da, dass man hätte meinen können, er schliefe den Schlaf, aus dem es kein Erwachen mehr gibt.
Als Owen ungefähr eine Stunde später das Reklameschild fertiggeschrieben hatte, ging er in die Spülkammer hinaus, um sich vor dem Schlafengehen die Hände zu waschen, und während er sie am Handtuch abtrocknete, wurde das merkwürdige Gefühl stärker, dessen er sich den ganzen Abend über bewusst gewesen war, und einige Sekunden darauf stellte er voller Schrecken fest, dass sein Mund plötzlich mit Blut gefüllt war.
Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, während der er gegen den erstickenden Schwall ankämpfte, und als der endlich zum Stillstand gekommen war, sank Owen zitternd auf den Stuhl neben dem Tisch, presste das Handtuch gegen den Mund und wagte kaum zu atmen, während ihm kalter Schweiß aus den Poren brach und sich in großen Tropfen auf der Stirn sammelte.
Durch die Totenstille der Nacht erklangen von Zeit zu Zeit die Schläge einer fernen Kirchturmuhr; er aber blieb unbeweglich sitzen, der vorübergehenden Stunden nicht achtend und von einer furchtbaren Angst ergriffen.
Das also war der Anfang des Endes! Und danach blieben die anderen beiden allein übrig, der Gnade der Welt ausgeliefert. In wenigen Jahren werde dann der Junge, ebenso
wie Bert White, in die Klauen eines Psalmen singenden Teufels wie Hunter oder Rushton geraten, der ihn ausnutzen werde, als sei er ein Lasttier. Owen bildete sich ein er könne ihn schon jetzt sehen: abgearbeitet, gehetzt und eingeschüchtert werde er Lasten schleppen, Karren ziehen hierhin und dorthin rennen, werde er versuchen, sein Bestes zu geben, um die brutalen Tyrannen zufrieden zu stellen, deren einziger Gedanke sein werde, zu ihrem eigenen Nutzen Profit aus ihm zu schlagen. Überlebte er, so nur, um aufzuwachsen mit einem durch unnatürlich schwere Arbeit deformierten, zwergenhaften Körper und einen durch Unwissenheit und Armut verkümmerten, entwürdigten und verrohten Geist. Als diese Vision der Zukunft des Kindes vor Owen auftauchte, beschloss er bei sich, dass es nie so kommen solle! Er werde sie nicht allein und hilflos inmitten der „christlichen" Wölfe lassen, die nur darauf warteten, sie zu zerreißen, sobald er dahin war. Konnte er ihnen kein Glück geben, so konnte er sie zumindest aus dem Bereich weiteren Leids bringen. Konnte er nicht bei ihnen bleiben, so mussten sie mit ihm kommen. Das war milder und barmherziger.

 

36. Kapitel Das Problem wird angepackt

Fast alle Firmen der Stadt waren in einer ähnlichen Bedrängnis wie Rushton & Co.; keine von ihnen hatte etwas Nennenswertes zu tun, und die Arbeiter machten sich nicht mal mehr die Mühe, in die verschiedenen Betriebe zu gehen und nach Arbeit zu fragen. Sie wussten ja, dass es zwecklos war. Die meisten von ihnen schlenderten einfach ziellos umher oder standen in Gruppen auf den Straßen und schwatzten, vorwiegend in der Nachbarschaft des Lohnsklavenmarkts am Springbrunnen auf der Großen Paradeallee. Hier versammelten sie sich in solcher Anzahl, dass ein oder zwei der Anwohner an die örtlichen Zeitungen schrieben, sich über das „öffentliche Ärgernis" beschwerten und darauf hinwiesen, dass es dazu angetan sei, die „besseren" Besucher aus der Stadt zu vertreiben. Hiernach wurden zwei oder drei Polizisten mehr in der Nähe des Brunnens postiert, und sie hatten Befehl, jede sich bildende Gruppe von Arbeitslosen zum Weitergehen aufzufordern. Sie konnten sie zwar nicht daran hindern, dorthin zu gehen, aber sie hinderten sie daran, dort herumzustehen.
Die Umzüge der Arbeitslosen fanden auch weiterhin jeden Tag statt, und das hierbei vom Publikum erbettelte Geld wurde gleichmäßig unter die Teilnehmer verteilt. Zuweilen kam auf jeden ein Schilling sechs Pence, manchmal etwas mehr und gelegentlich etwas weniger. Die Leute boten einen furchtbaren Anblick, wie sie dort im Regen oder Schnee durch die öden Straßen schlurften, während der Matsch ihre zerrissenen Stiefel durchnässte und, was noch schlimmer war, der bitterkalte Ostwind in ihre zerschlissene Kleidung drang und ihre ausgemergelten Körper erstarren ließ.
Die Mehrzahl der qualifizierten Handwerker hielt sich noch immer von diesen Umzügen fern, wenn ihre hageren Gesichter auch unfreiwillig von ihren Leiden zeugten. Obwohl in ihren trostlosen Wohnungen die Not das Zepter führte und es häufig weder Nahrung, Licht noch ein Feuer gab, waren sie doch zu stolz, ihr Elend voreinander und vor der Welt zur Schau zu stellen. Insgeheim verkauften oder verpfändeten sie ihre Kleidungsstücke und ihre Möbel; von dem Erlös oder auf Kredit lebten sie am Rande des Verhungerns; aber betteln wollten sie nicht. Viele machten sich sogar zum Echo derer, die an die Zeitungen geschrieben hatten, und verurteilten mit einem seltsamen Mangel an Klassenverbundenheit diejenigen, die an den Umzügen teilnahmen. Sie sagten, gerade diese Dinge seien es, welche die „besseren" Leute vertrieben, der Stadt Schaden brachten und all das Elend und die Arbeitslosigkeit verursachten. Manche der arbeitslosen Handwerker nahmen jedoch in anderer Form milde Gaben an: Distriktsbesucherinnen verteilten Gutscheine für Kohle und Lebensmittel. Nicht, als hätten die viel geholfen; gewöhnlich wurde viel Wesens darum gemacht, dabei eine Menge gute Ratschläge erteilt und viele Bibelsprüche zitiert, jedoch sehr wenig Lebensmittel ausgegeben. Und die es gab, gingen gewöhnlich an solche Leute, die es am wenigsten verdienten, denn der einzige Weg, an dieser Art „Barmherzigkeit" teilzuhaben, ist der, heuchlerisch zu tun, als sei man fromm; und je mehr man heuchelt, um so mehr Kohlen und Lebensmittel erhält man. Diese „barmherzigen" Leute gingen in die elenden Häuser der Armen und sagten in Wirklichkeit: „Gebt jedes Tüpfelchen Selbstachtung auf kriecht und schmeichelt, kommt zur Kirche, duckt euch und liegt auf dem Bauch vor uns, und als Entgelt dafür werden wir euch einen Gutschein geben, den ihr in einen gewissen Laden bringen und gegen Lebensmittel im Wert von einem Schilling eintauschen könnt. Und wenn ihr sehr unterwürfig und bescheiden seid, geben wir euch vielleicht nächste Woche wieder einen."
Niemals händigen sie „dem Fall" Geld aus. Das Gutscheinsystem dient drei Zwecken. Es hindert „den Fall" daran, die Wohltat zu missbrauchen und das Geld für Alkohol auszugeben. Es macht Reklame für die Wohltätigkeit des Spenders, und es gibt dem Lebensmittelhändler, der gewöhnlich ein Mitglied der Kirche ist, die Möglichkeit, alte oder schadhafte Ware loszuwerden, die er vielleicht auf Lager hat.
Kamen die „Wohlfahrtsdamen" in das Haus eines Arbeiters und fanden sie es sauber und anständig eingerichtet, waren die Kinder sauber und ordentlich gekleidet, so kamen sie zu dem Schluss, diese Leute seien keine unterstützungswürdigen „Fälle". Vielleicht hatten die Kinder fast nichts zu essen und wären in Lumpen gekleidet, hätte ihre Mutter nicht wie eine Sklavin geschuftet, um ihre Sachen zu waschen und zu flicken. Dies waren indessen nicht die Art „Fälle", denen die Wohlfahrtsdamen Unterstützung gewährten; sie gaben nur denen, die sich im Zustand äußersten Schmutzes und absoluten Elends befanden, und nur unter der Bedingung, dass sie winselten und vor ihnen krochen.
Neben dieser Sache mit den Distriktsbesucherinnen versuchten die wohlhabenden Einwohner und die örtlichen Behörden noch auf vielerlei andere Weise, mit dem „Problem" der Armut fertig zu werden - oder vielmehr, sie gaben das vor -, und die Spalten der Ortszeitungen waren
mit Briefen von allerlei Sonderlingen angefüllt, die die verschiedensten Heilmittel vorschlugen. Ein Individuum, Jessen Einkommen von Brauereiaktien herrührte, schob die Schuld an der herrschenden Not auf die Trunksucht und die Sorglosigkeit der niederen Klassen. Ein anderer meinte, diese Not sei ein göttlicher Protest gegen das Wachstum des Anglokatholizismus und das, was er „fleischliche Religion" nannte, und er schlug vor, einen Tag der Demut und des Gebets einzuhalten. Eine große Anzahl wohlgenährter Leute hielt dies für einen so ausgezeichneten Vorschlag, dass sie sogleich darangingen, ihn in die Tat umzusetzen. Sie beteten, während die Arbeitslosen und die kleinen Kinder fasteten.
Wäre man durch die Tragödie der Not und des Elends nicht so niedergedrückt gewesen, so hätte man über die possenhaften, blödsinnigen Maßnahmen lachen können, die zu ihrer Bekämpfung ergriffen wurden. Mehrere Kirchen veranstalteten einen „Gerümpel-" oder „Ramschverkauf", wie sie es nannten. Sie sandten Zirkulare aus, die etwa folgendermaßen lauteten:

GERÜMPEL-VERKAUF
zur Unterstützung der Arbeitslosen

Besitzen Sie irgendwelche Gegenstände, die Ihnen nicht mehr von Nutzen sind? Wir nehmen sie Ihnen dankend ab; bitte füllen Sie beigefügtes Formular aus, und wir werden die Sachen abholen lassen.

Am Tag der Verkaufsveranstaltung wurde der Gemeindesaal in eine Art Altwarenhandlung verwandelt, die mit allerlei Krimskrams angefüllt war. und mitten darin standen grinsend der Pfarrer und die Wohlfahrtsdamen. Die Sachen wurden für einen Pappenstiel an Leute verkauft, die sie erwerben wollten, und der Lumpenhändler des Ortes heimste eine reiche Ernte ein. Die Einkünfte aus diesem Verkauf wurden für „Wohltätigkeitszwecke" verwendet, und gewöhnlich wurde mehr Geschrei gemacht, als alles wert war.
Es gab eine kirchliche Organisation, die „Mugsborougher Totenkopfjungen", die zu dem Zweck bestand, das große religiöse Fest zum Andenken an Guy Fawkes in Ehren zu halten. Dieser Verband kam gleichfalls den Arbeitslosen zu Hilfe und veranstaltete einen „Großen Karnevals- und Fackelzug". Obgleich es auch hier und da einige Personen unter den Teilnehmern gab, die als „Kavaliere", als Königsanhänger aus der Zeit Karls I., in flitterhafte Kostüme gekleidet waren, sowie einige andere, die sich als Räuber und Wegelagerer kostümiert hatten, waren doch die Mehrzahl Jungen, die Frauenkleidung trugen, oder solche, die Säcke anhatten, in die sie für Kopf und Arme Löcher geschnitten hatten, während ihre Gesichter mit Ruß beschmiert waren. Es befand sich auch eine Anzahl Männer dabei, die Bratpfannen trugen, in denen rotes und blaues Feuer brannte. Der Festzug - oder vielmehr der Mob -wurde von einer Kapelle angeführt - und diese wiederum von zwei Leuten, die Arm in Arm einhermarschierten: ein sehr großer Mann, der als Satan verkleidet war und eine enganliegende rote Hose anhatte, Hörner auf dem Kopf trug und eine große Zigarre rauchte, während der andere in das nicht weniger pittoreske Kostüm eines Bischofs der englischen Staatskirche gekleidet war.
Diese Schar zog johlend und tanzend durch die Stadt, trug lodernde Fackeln, verbrannte rotes und blaues Feuer, und einige von ihnen sangen dumme oder unanständige Lieder, während die Sammler mit den Büchsen umherrannten und Leute um Geld anbettelten, die in den meisten Fällen fast ebenso arm waren wie die Arbeitslosen, denen sie helfen sollten. Das auf diese Weise aufgebrachte Geld wurde später Mr. Sawney Schinder, dem Sekretär des Wohltätigkeitsvereins, übergeben.
Ferner gab es noch die Suppenküche, die in Wirklichkeit ein minderwertiges Lokal in einer schäbigen Straße war. Der Inhaber war ein Verwandter des Sekretärs des Wohltätigkeitsvereins. Alle Zutaten zur Suppe erbettelte er von verschiedenen Geschäftsleuten: von Fleischern Knochen und Fleischreste, von Lebensmittelhändlern Erbsmehl und getrocknete Erbsen, von Gemüsehändlern Gemüse, altes Brot von Bäckern und so fort. Wohlmeinende, mildtätige alte Frauen, die mehr Geld als Verstand hatten, sandten ihm Geldbeträge, und er verkaufte die Suppe zu einem Penny
die Schale oder zu einem Penny den Liter für diejenigen, die Gefäße mitbrachten.
Er ließ eine große Anzahl von Heften drucken, die zu einem Schilling das Stück vertrieben wurden und von denen jedes dreizehn Scheine zu einem Penny enthielt. Der Wohltätigkeitsverein kaufte eine Menge dieser Hefte, verkaufte sie an wohltätige Menschen weiter oder verschenkte sie an „unterstützungswürdige Fälle". Diese Verbindung zum Wohltätigkeitsverein war es, die der Suppenküche in der Meinung des Publikums einen halboffiziellen Charakter verlieh und dem Inhaber den Vorwand lieferte, die Lebensmittel und Geldspenden zu erbetteln.
Ebenso wie bei den Arbeitslosenumzügen waren es zumeist ungelernte Arbeiter oder Gestrandete, die von der Suppenküche Gebrauch machten; mit wenigen Ausnahmen mieden die arbeitslosen Facharbeiter den Ort wie die Pest, obgleich ihre Not ebenso groß war wie die der anderen. Sie scheuten sich sogar, auch nur durch die Straße zu gehen, in der das Lokal lag, damit nicht etwa jemand, der sie aus dieser Richtung kommen sah, dächte, sie seien dort gewesen. Trotzdem gestatteten einige von ihnen ihren Kindern, heimlich abends die Küche aufzusuchen, um ein wenig von dieser mit dem Makel der Wohltätigkeit behafteten Nahrung zu kaufen.
Ein anderes großartiges Projekt - praktisch und staatsmännisch, so ganz anders als die wilden Pläne der wahnsinnigen Sozialisten - wurde von Pfarrer Schwätzer ins Leben gerufen, einem beliebten Prediger, dem Pfarrer der sehr exklusiven Kirche des Übertünchten Grabes. Er sammelte Spenden unter einer Anzahl halb schwachsinniger alter Frauen, die seine Kirche besuchten. Mit einem Teil dieses Geldes kaufte er Holz ein und eröffnete, was er einen Arbeitshof nannte, wo er eine Anzahl von Leuten damit beschäftigte, das Holz zum Feuern zu zersägen. Als Pfarrer, und da er sagte, er brauche das Holz für einen wohltätigen Zweck, erhielt er es selbstverständlich sehr billig - etwa für die Hälfte des Preises, den jeder andere dafür hätte zahlen müssen.
Das Holz wurde im Stücklohn zerteilt. Ein Balken von der Länge etwa einer Eisenbahnschwelle musste in zwölf
Teile zersägt und jeder von diesen in vier Stücke zerhackt werden. Für das Zersägen und Zerhacken eines Balkens auf solche Weise erhielt der Arbeiter neun Pence. Ein Balken ergab zwei Säcke Feuerungsholz, die zu einem Schilling das Stück verkauft wurden - was ein wenig unter dem üblichen Preis lag. Die Leute, welche die Säcke austrugen, erhielten drei halbe Pence für je zwei Säcke.
Da sich so viele nach dieser Arbeit drängten, durfte niemand mehr als drei Balken am Tag zersägen - das machte zwei Schilling neun Pence -, und niemand durfte öfter als an zwei Tagen in der Woche dort arbeiten.
Der Pfarrer ließ eine Anzahl Plakate drucken und in Schaufenstern aushängen; auf ihnen gab er sein Vorhaben bekannt und teilte dem Publikum mit, Bestellungen könnten per Post zum Pfarramt gesandt werden und würden dann prompt erledigt; das Brennmaterial könne an jede Adresse geliefert werden, denn freundlicherweise habe die Firma Rushton & Co. zur Benutzung durch die im Holzhof beschäftigten Leute einen Handwagen geliehen.
Infolge des Erscheinens dieser Plakate sowie der lobenden Notizen in den Spalten des „Ananias", des „Verdunklers" und des „Chloroforms" - diese Zeitungen waren bereit, unentgeltlich für die Sache zu werben, weil es sich ja um ein Wohltätigkeitsunternehmen handelte - entzogen viele Leute den Lieferanten, von denen sie gewöhnlich ihr Feuerungsholz kauften, ihre Kundschaft und gaben ihre Bestellungen im „Hof" auf, und sie hatten die Genugtuung, ihr Holz billiger als zuvor zu erhalten, während sie gleichzeitig eine wohltätige Handlung vollbrachten.
Als Mittel gegen die Arbeitslosigkeit hatte dieser Plan den gleichen Wert wie die Methode des Schneiders in der Fabel, der sein Tuch zu verlängern glaubte, indem er an einem Ende ein Stück abschnitt und es am anderen wieder annähte; aber das Unternehmen hatte etwas für sich, womit es den Pfarrer für sich einnahm: es bezahlte sich selbst. Er stellte fest, dass es nicht nötig sei, den ganzen Betrag, den er den halb schwachsinnigen alten Damen entlockt hatte, für Holz auszugeben; daher kaufte er sich mit dem Rest des Geldes einen Neufundländer, ein antikes elfenbeingeschnitztes Schachspiel und ein Dutzend Flaschen Whisky.
per ehrwürdige Herr verfiel auch noch auf ein anderes Mittel, den Armen zu helfen. Er schrieb an das „Chloroform der Woche" einen Brief mit dem Aufruf, abgelegte Stiefel für arme Kinder zu spenden. Dies wurde als eine so glänzende Idee angesehen, dass die Chefredakteure sämtlicher Zeitungen des Ortes in ihren Leitartikeln darauf Bezug nahmen, und von prominenten Bürgern wurden noch weitere Briefe eingesandt, in denen sie die Weisheit und Barmherzigkeit des tiefgründigen Schwätzers priesen. Die meisten Stiefel, die auf diesen Appell hin gespendet wurden, waren so abgetragen, dass sie einer Reparatur bedurften, und in vielen Fällen lohnte eine solche nicht einmal. Die armen Leute, die mit ihnen bedacht wurden, konnten es sich nicht leisten, sie vor dem Gebrauch flicken zu lassen, und infolgedessen begannen die Stiefel für gewöhnlich zu zerfallen, nachdem die neuen Besitzer sie erst einige Tage lang getragen hatten.
Bei diesem Vorhaben kam nicht viel heraus. Es vergrößerte nicht die Anzahl der abgelegten Stiefel, und die meisten Leute, die solche „ablegten", pflegten sie im allgemeinen sowieso irgend jemand zu schenken. Der einzige Unterschied, den das Unternehmen vielleicht gemacht hat, war der, dass es möglicherweise einige Leute, die gewöhnlich ihre Stiefel wegwarfen oder an Althändler verkauften, veranlasst haben mag, diese an Mr. Schwätzer zu senden. Nichtsdestoweniger sagte fast jedermann, der Gedanke sei großartig; sein Urheber wurde als Wohltäter der Allgemeinheit gefeiert, und die geschäftigen Kleinkrämer, die sich mit dem, was sie gern „Wohltätigkeitswerk"' nannten, die Zeit vertrieben, gerieten seinetwegen in blöde Verzückung.

 

37. Kapitel Der Wohltätigkeitsverein

Eines der wichtigsten Unternehmen zur Linderung der Not war der Wohltätigkeitsverein. Diese Organisation erhielt Gelder aus vielen Quellen: den Ertrag des Karnevalszuges; die Sammelgelder von mehreren Kirchen
und Kapellen, in denen besondere Gottesdienste zugunsten der Arbeitslosen abgehalten wurden; die von den Angestellten verschiedener Firmen und Geschäftshäuser des Ortes veranstalteten wöchentlichen Sammlungen sowie die Überschüsse aus Konzerten, Verkaufsbasaren und Vergnügungen, ferner Spenden von wohltätigen Personen und schließlich die Beitragszahlungen der Mitglieder des Vereins. Er erhielt gleichfalls große Mengen von abgelegten Kleidungsstücken und Stiefeln sowie Gutscheine für die Aufnahme in Krankenhäuser oder Genesungsheime und für die Armenapotheken, entweder von Geldgebern dieser Einrichtungen oder von Leuten wie Rushton & Co., die Sammelbüchsen in ihren Werkstätten und Büros stehen hatten.
Im ganzen hatte der Verein während des letzten Jahres aus den verschiedensten Quellen etwa dreihundert Pfund in bar erhalten. Dieses Geld war zur Unterstützung von Bedürftigen bestimmt.
Der größte Posten im Haushalt des Vereins war das Gehalt des Sekretärs Mr. Sawney Schinder - ein höchst „unterstützungswürdiger Fall" -, der hundert Pfund jährlich erhielt.
Nach dem Tode des vorhergehenden Sekretärs gab es so viele Bewerber für den frei gewordenen Posten, dass die Wahl des neuen Sekretärs eine recht aufregende Angelegenheit war. Die Aufregung war um so intensiver, als sie im Zaume gehalten wurde. Eine Sondersitzung des Vereins fand statt; den Vorsitz führte der Bürgermeister, Ratsherr Sweater, und unter den Anwesenden befanden
sich die Ratsherren Rushton, Didlum und Schinder, ferner
Mrs, Hungerlaß, Pfarrer Schwätzer, eine Anzahl der reichen, halb schwachsinnigen alten Frauen, die bei der Eröffnung des Arbeitshofs geholfen hatten, sowie verschiedene andere „Damen". Einige von diesen waren die bereits erwähnten Bezirksbesucherinnen, zumeist Ehefrauen wohlhabender Bürger und im Ruhestand lebender Geschäftsleute - prunkend gekleidete, unwissende, freche, hochmütige alte Schrauben, die, nachdem sie sich in ihren luxuriösen Wohnungen mit guten Dingen voll gestopft hatten, in die elenden Behausungen ihrer armen „Schwestern
hineintänzelten und zu diesen über die „Religion" sprachen, ihnen Vorträge über Enthaltsamkeit und Sparsamkeit hielten und ihnen zuweilen Gutscheine im Werte von einem Schilling für Suppe, für Lebensmittel oder für Kohle gaben. ginige dieser überfütterten Weiber - zum Beispiel die Gattinnen von Ladenbesitzern - gehörten deshalb dem Wohltätigkeitsverein an und beschäftigten sich zu dem Zweck mit dieser „Arbeit", weil sie die Bekanntschaft von Leuten aus höheren Gesellschaftsschichten machen wollten; ein Vereinsmitglied war Hauptmann, und Sir Raffall von Einfriedland, das Parlamentsmitglied für den Wahlkreis, gehörte gleichfalls dem Verein an und besuchte gelegentlich dessen Versammlungen. Andere Frauen betrachteten die Wohlfahrtsbesuche als ihr Steckenpferd; sie hatten nichts zu tun, und da sie äußerst unwissend und in ihrer Denkweise beschränkt waren, hatten sie weder den Wunsch noch die Fähigkeit zu irgendeiner geistigen Beschäftigung. Daher unternahmen sie diese Arbeit des Vergnügens halber, um sehr billig die große Dame und überlegene Persönlichkeit spielen zu können. Wieder andere „Wohlfahrtsdamen" waren unverheiratete Frauen mittleren Alters, die ein kleines Privateinkommen hatten und von denen einige wohlmeinend, mitleidig und sanft waren und diese Arbeit verrichteten, weil sie den ehrlichen Wunsch hatten, anderen zu helfen, und keinen besseren Weg kannten. Sie beteiligten sich nicht häufig an den Versammlungen; sie zahlten ihre Beiträge und halfen, die abgelegten Kleider und Stiefel an Leute zu verteilen, die diese benötigten, und zuweilen erlangten sie vom Sekretär einen Gutschein über Lebensmittel, Kohlen oder Brot für irgendeine im Elend lebende Familie. Die armen, abgearbeiteten Frauen, die sie besuchten, hießen sie jedoch mehr um ihres schwesterlichen Mitleids willen als wegen der Gaben willkommen, die sie brachten. Manche Wohlfahrtsdamen waren von dieser Art - jedoch nicht viele. Sie glichen einigen wenigen duftenden Blumen inmitten einer dichten Menge schädlichen Unkrauts. Sie waren edle Beispiele der Bescheidenheit und der Güte, die aus einer hässlichen und verächtlichen Masse von Scheinheiligkeit, Überheblichkeit und Heuchelei hervorglänzten.
Als der Vorsitzende die Versammlung eröffnet hatte beantragte Mr. Rushton, die Versammlung möge den Verwandten des verstorbenen Sekretärs, den er in den höchsten Tönen pries, ihr Beileid aussprechen.
„Die Armen Mugsboroughs haben einen gütigen' und mitleidigen Freund verloren ... einen, der sein Leben der Hilfe für die Bedürftigen gewidmet hat" und so weiter und so fort. (Tatsächlich hatte der Verstorbene den größten Teil seiner Zeit der Selbsthilfe gewidmet; hiervon erwähnte Rushton indessen nichts.)
Mr. Didlum unterstützte in ähnlichen Worten den Kondolenzantrag, und dieser wurde einstimmig angenommen. Dann erklärte der Vorsitzende, ihre nächste Aufgabe sei es nun, für den verblichenen Helden einen Nachfolger zu wählen, und sogleich erhoben sich nicht weniger als neun Mitglieder, um eine geeignete Person vorzuschlagen; jeder von ihnen hatte einen edelmütigen Freund oder Verwandten, der willens war, sich zum Wohle der Armen zu opfern.
Die neun Wohltätigen standen da und sahen einander und den Vorsitzenden an mit einem gezwungenen Lächeln auf dem scheinheiligen Gesicht. Es war ein dramatischer Augenblick. Niemand sprach. Man musste vorsichtig sein. Ein Wettbewerb wäre unzweckmäßig. Der Sekretär des Wohltätigkeitsvereins wurde gewöhnlich vom uneingeweihten Publikum als eine Art Menschenfreund betrachtet, und es war notwendig, diese Fiktion aufrechtzuerhalten.
Ein oder zwei Minuten lang herrschte betretenes Schweigen. Dann nahm einer nach dem andern zögernd wieder seinen Platz ein, mit Ausnahme von Mr. Arnos Schinder, der sagte, er schlage seinen Neffen vor, Mr. Sawney Schinder, einen jungen Mann von äußerst wohltätiger Veranlagung, der den Wunsch hegte, sich auf dem Altar der Barmherzigkeit zum Wohle der Armen zu opfern - oder Worte ähnlichen Inhalts.
Mr. Didlum unterstützte den Antrag, und da kein anderer Vorschlag kam - denn alle wussten, dass sie das Spiel verrieten, falls ein Wettbewerb um die Stellung entbrannte -. ließ der Vorsitzende über den Antrag abstimmen, und die Versammlung nahm diesen einstimmig an.
Ein anderer beachtlicher Posten im Ausgabenetat des Vereins war die Miete für die Büroräume, die ein Haus in, einer Seitengasse einnahmen. Der Hauswirt dieses Gebäudes war gleichfalls ein sehr unterstützungswürdiger „Fall". Es gab noch viele andere Ausgaben: für Briefpapier und
-marken, für Druckkosten und dergleichen mehr, und der Rest des Geldes wurde zu dem Zweck verwendet, zu dem er gespendet worden war - wobei ein angemessener Betrag für künftige Unkosten als Kassenbestand zurückgehalten wurde. Alle Einzelheiten waren selbstverständlich in dem auf der Jahresversammlung abgegebenen Rechenschaftsund Kassenbericht ordnungsgemäß vermerkt. Niemals wurde den Reportern eine Durchschrift dieses Dokuments zur Veröffentlichung ausgehändigt; es wurde auf der Versammlung durch den Sekretär verlesen, die Pressevertreter machten sich Notizen, und in den Berichten über die Versammlung, die danach in den Zeitungen des Ortes erschienen, war die Sache derartig verworren und durcheinander gebracht, dass die wenigen Leute, die sie lasen, nicht daraus klug werden konnten. Das einzige, was klar hervorging, war, dass der Verein irgend jemand viel Gutes getan hatte und dass dringend mehr Geld gebraucht wurde, damit die Arbeit fortgesetzt werden konnte. Gewöhnlich sah das etwa folgendermaßen aus:

„HILFE FÜR DIE BEDÜRFTIGEN
Wohltätigkeitsverein von Mugsborough
hält Jahresversammlung im Rathaus ab.
Glänzendes Zeugnis einer vielseitigen
und wertvollen Arbeit.

Im Rathaus fand gestern die Jahresversammlung des oben genannten Vereins statt. Den Vorsitz führte Bürgermeister Ratsherr Sweater, und unter den Anwesenden befanden sich Sir Raffall von Einfriedland, Lady Einfriedland, Lady Elendswirt, Pfarrer Schwätzer, Mr. Käsemann, Mrs. Baumann, Mrs. Krämer, Mrs. Milchhaus, Mrs. Fleischmann, Mrs. Schneider, Mrs. Bäcker, Mrs. Hungerlaß, Mrs. Zimmerwirt, Mrs. D. Umkopf, Mrs. Keinhirn, Mrs. L. Eerhaupt, Mr. Rushton. Mr. Didlum, Mr. Schinder und...
(Hier folgte etwa eine Viertelspalte von Namen der übrigen wohltätigen Persönlichkeiten, die sämtlich zahlende Mitglieder des Vereins waren.)
Der Sekretär verlas den Jahresbericht, der unter anderem folgende interessanten Ziffern enthielt:
Im Laufe des Jahres liefen 1972 Unterstützungsanträge ein, und von diesen wurde 1302 in folgender Weise stattgegeben: Brot- oder Lebensmittelgutscheine: 273; Kohleoder Koksgutscheine: 57; Ernährung (Anm.: Dies war die Bezeichnung des Sekretärs für die ausgegebenen Suppengutscheine.): 579 (Applaus); Stiefelpaare ausgegeben: 29; Kleidung: 105; Krücke für armen Mann bewilligt: 1; Pflegerinnen gestellt: 2; Krankenhausscheine: 26; ins Lungensanatorium verschickt: 1; 29 Personen wurden, da es sich um chronische Fälle handelte, an den Armenverweserrat verwiesen; Arbeit für 19 Personen gefunden (Beifall); Hausierergenehmigungen: 4; Armenapothekengutscheine: 24; Bettzeug eingelöst: 1; Anleihen für Mietzahlungen bewilligt: 8 (lebhafter Beifall); Gutscheine für Zahnbehandlung: 2; Eisenbahnfahrscheine für Leute, welche die Stadt verließen, um anderswo Beschäftigung zu suchen: 12 (stürmischer Beifall); Anleihen bewilligt: 5; Anzeigen für Stellensuchende: 4-und so fort."

Etwa noch eine weitere Viertelspalte war mit ähnlichen Einzelheiten gefüllt, deren Verlesung von Beifall unterbrochen worden war, und die Liste schloss mit den Worten: „Übrig blieben 670 Fälle, denen zu helfen der Verein aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage war." Der Bericht stellte dann weiter fest, dass die Überprüfung der Bedürftigkeit von Antragstellern von Seiten des Sekretärs viel Arbeit erfordert hatte; einige Fälle beanspruchten sogar mehrere Tage. Nicht weniger als 649 Briefe wurden vom Büro des Vereins versandt sowie 97 Postkarten. (Beifall.) Bargeldunterstützung wurde nur in wenigen Fällen ausgezahlt, denn es war äußerst notwendig, sich gegen einen Missbrauch der Barmherzigkeit zu schützen. (Hört, hört!)
Nun folgte ein sehr bemerkenswerter Abschnitt mit der Überschrift „Der Kassenbericht", der, so hieß es, „folgendes enthielt": „folgendes" war eine verworrene Liste von Ausgaben, Beitragssummen, Spenden, Vermächtnissen und Sarnmelergebnissen, die mit den Worten schloss: „Der Endbetrag ergab einen Kassenbestand von 178 Pfund 4 Schilling 6 Pence." (Der Verein hielt stets einen hohen Kassenbestand zu seiner Verfügung zurück, wegen des Gehalts des Sekretärs und wegen der Büromiete.)
Nach diesem sehr aufschlussreichen Finanzbericht kam der wichtigste Teil der Rechenschaftslegung: „Der Verein spricht folgenden Personen seinen Dank aus: Mr. Raffall von Einfriedland für eine Spende von 2 Guineen, Mrs. Krämer für 1 Guinee, Mrs. Hungerlaß für Krankenhausscheine, Lady Elendswirt für einen Einlassbrief an das Genesungsheim, Mrs. Keinhirn für 1 Guinee, Mrs. D. Umkopf für 1 Guinee, Mrs. L. Eerhaupt für 1 Guinee, Mrs. Zimmerwirt für Spenden von Kleidungsstücken" - und noch eine Viertelspalte lang so fort; das Ganze schloss mit einer Danksagung an den Sekretär und mit dem dringenden Aufruf an die wohltätige Bevölkerung, weitere Summen zu spenden, um es dem Verein zu ermöglichen, sein edles Werk fortzusetzen.
Inzwischen blieb trotz dieser und verwandter Organisationen die Lage der unterbezahlten, verelendeten und beschäftigungslosen Arbeiter die gleiche. Obwohl die Leute, welche die Lebensmittel- und die Kohlengutscheine, die „Ernährung", die abgelegten Kleidungsstücke und die alten Stiefel erhalten hatten, darüber sehr froh waren, brachten diese Dinge doch mehr Schaden als Nutzen. Sie demütigten und erniedrigten diejenigen, welche sie erhielten, und stempelten diese zu Almosenempfängern; dazu verhinderte das Bestehen der Vereine, dass das Problem auf vernünftige und praktische Weise angepackt wurde. Den Menschen fehlten die lebensnotwendigen Dinge: die lebensnotwendigen Dinge werden durch die Arbeit hergestellt; diese Menschen waren gewillt zu arbeiten, wurden jedoch von dem idiotischen Gesellschaftssystem daran gehindert, das zu verewigen diese „barmherzigen" Leute entschlossen sind, ihr Bestes zu tun.
Wenn die Leute, die erwarten, dass man sie wegen ihrer Wohltätigkeit preist und in den Himmel hebt, keinen roten Heller mehr spendeten, so wäre das für die fleißigen Armen
bedeutend besser, denn dann wäre die Gesellschaft als Ganzes gezwungen, sich mit den heute herrschenden widersinnigen und unnötigen Verhältnissen zu befassen, unter denen Millionen von Menschen in Elend und Armut leben und sterben, in einem Zeitalter, in dem Wissenschaft und Technik es möglich gemacht haben, so reichlich von allem zu produzieren, dass ein jeder einen behaglichen Überfluss genießen könnte. Wäre diese so genannte Wohltätigkeit nicht, so würden die hungernden Arbeitslosen im ganzen Land verlangen, dass man sie arbeiten und die Dinge produzieren ließe, mangels derer sie umkommen, und sie wären nicht - wie sie es gegenwärtig sind - damit zufrieden, die abgelegten Kleidungsstücke ihrer Herren zu tragen und die Krumen zu essen, die von deren Tisch fallen.

 

38. Kapitel Ein geistreicher Ausspruch

Die weisen, praktischen, menschenfreundlichen, wohlgenährten Leute, welche die Mugsborougher gewählt hatten, damit sie deren Angelegenheiten verwalteten - oder denen sie dies gestatteten, ohne dass sie gewählt worden waren, fuhren während des ganzen Winters fort, mit dem „Problem" der Arbeitslosigkeit und der Not zu ringen oder vielmehr so zu tun, als rängen sie damit. Sie hielten weiterhin Versammlungen ab, Gerümpelbasare, Vergnügungen und Sondergottesdienste. Sie fuhren fort, die schäbigen, abgelegten Kleidungsstücke und Stiefel sowie die Ernährungsscheine zu verteilen. Die Armen taten ihnen allen so leid, besonders die „lieben kleinen Kinder". Sie unternahmen vielerlei Dinge, um den Kindern zu helfen. Ja, es gab nichts, was sie für die Kinder täten, außer eine Steuer von einem halben Penny pro Pfund einzuführen. Das wäre gänzlich unangebracht. Es könnte die Eltern von der Wohltätigkeit völlig abhängig machen und das elterliche Verantwortungsgefühl zerstören. Offensichtlich glaubten sie, es sei besser, die Gesundheit und sogar das Leben der „lieben kleinen Kinder" zu zerstören, als die Eltern
von der Wohltätigkeit abhängig zu machen oder das elterliche Verantwortungsgefühl zu untergraben. Diese Leute schienen zu glauben, die Kinder seien das Eigentum ihrer Eltern. Sie hatten nicht genügend Verstand, um zu sehen, dass Kinder in keiner Weise das Eigentum ihrer Eltern sind, sondern das der Gesellschaft. Wenn sie erst mal zu Männern und Frauen herangewachsen sind, so fallen sie der Gesellschaft zur Last, falls sie geistig oder körperlich behindert sind; werden sie Verbrecher, so berauben sie die Gesellschaft; sind sie dagegen gesund, gut erzogen und in guter Umgebung aufgewachsen, so werden sie zu nützlichen Bürgern, die in der Lage sind, nicht nur ihren Eltern, sondern auch der Gesellschaft wertvolle Dienste zu leisten. Deshalb sind Kinder das Eigentum der Gesellschaft, und es ist Aufgabe der Gesellschaft und liegt in deren Interesse, dafür zu sorgen, dass die Gesundheit dieser Kinder nicht durch Hunger untergraben wird. Der Sekretär des örtlichen Gewerkschaftsrats - einer Körperschaft, die aus Delegierten aller Gewerkschaften der Stadt gebildet worden war - schrieb einen Brief, in dem diese Ansicht vertreten wurde, an den „Verdunkler". Er wies nach, dass in ihrer Stadt eine Steuer von einem halben Penny pro Pfund eine Summe von achthundert Pfund ergäbe, was mehr als genügte, um für alle hungernden Schulkinder Nahrung zu beschaffen. In der nächsten Nummer der Zeitung erschienen mehrere Briefe hervorragender Bürger der Stadt, darunter selbstverständlich auch von Sweater, Rushton, Didlum und Schinder, die sich über den Vorschlag des Gewerkschaftsrats lustig machten und diesen mit den beleidigenden Bezeichnungen „Biertischpolitiker", „trunksüchtige Agitatoren" und dergleichen mehr bedachten. Sie sprachen ihm das Recht ab, als Vertreter der Arbeiter aufzutreten, und Schinder, der mit den Tatsachen vertraut war, da er sich bei Arbeitern erkundigt hatte, erklärte, es gäbe im Ort kaum eine Gewerkschaft, die mehr als ein Dutzend Mitglieder habe, und da Schinders Behauptung den Tatsachen entsprach, konnte der Sekretär nichts darauf entgegnen. Die Arbeiter waren in ihrer Mehrzahl gleichfalls sehr entrüstet, als sie von dem Brief des Gewerkschaftssekretärs hörten; sie sagten, die Steuern seien so schon
hoch genug, und sie verhöhnten ihn, weil er sich erkühnt hatte, überhaupt an die Zeitung zu schreiben.
„Wer, zum Teufel, ist das schon?" sagten sie. „Das ist doch kein Herr! Ist doch man bloß 'n einfacher Arbeiter genau wie wir - 'n ganz gewöhnlicher Tischler! Was zum Kuckuck versteht 'n der davon? Nichts. Will sich bloß aufspielen, das ist alles. Was für 'ne Idee - unsereins und an die Zeitungen schreiben!"
Eines Tages, als Owen nichts Besseres zu tun hatte, betrachtete er einige Bücher, die vor einem Altwarenladen auf einem Tisch zum Verkauf ausgelegt waren. Besonders ein Buch erregte seine Aufmerksamkeit. Mit großem Interesse las er mehrere Seiten darin und bedauerte, dass er die nötigen sechs Pence nicht hatte, um es zu kaufen. Der Titel des Buches hieß: „Die Tuberkulose. Ihre Ursachen und ihre Heilung." Der Autor war ein bekannter Arzt, der dem Studium dieser Krankheit seine ganze Aufmerksamkeit widmete. Unter anderem enthielt das Buch Regeln für die Ernährung schwächlicher Kinder, und es standen auch mehrere Beispiele einer Diät darin, die einzuhalten den an dieser Krankheit leidenden Erwachsenen empfohlen wurde. Einer dieser Speisezettel belustigte Owen sehr, denn was die meisten der an Tuberkulose leidenden Menschen betraf, so hätte der brave Doktor ebenso gut auch eine Fahrt auf den Mond verschreiben können:
„Des Morgens gleich nach dem Erwachen ein Viertelliter Milch - heiß, wenn möglich - mit einem Scheibchen Butterbrot.
Zum Frühstück: Ein Viertelliter Milch mit Kaffee, Kakao oder Hafermehl; Eier mit Speck, Butterbrot oder trockenem Toast.
Um 11 Uhr: Ein Viertelliter Milch mit einem darin verquirlten Ei oder Fleischbrühe und Butterbrot.
Um 13 Uhr: Ein Viertelliter warme Milch mit Zwieback oder einem belegten Brot.
Um 14 Uhr: Fisch und Hammelbraten oder ein Hammelkotelett mit möglichst viel Fett, Geflügel, Wildbret usw.; hierzu evtl. Gemüse und Milchpudding.
Um 17 Uhr: Heiße Milch mit Kaffee oder Kakao, Butterbrot, Brunnenkresse usw.
Um 18 Uhr: Ein Viertelliter Milch mit Hafermehl oder Kakao, Kleberbrot oder zwei weich gekochte Eier mit Butterbrot.
Vor dem Zubettgehen: Ein Glas warme Milch.
Während der Nacht empfiehlt es sich, für den Patienten ein Glas Milch mit einem Zwieback oder einer Scheibe Butterbrot neben das Bett zu stellen und es im Falle des Erwachens zu essen."

Während Owen in diesem Buch las, unterhielten sich Crass, Harlow, Philpot und Easton auf der anderen Straßenseite miteinander, und nach einer Weile bemerkte Crass Owen. Sie hatten über den Brief des Sekretärs wegen der Steuer von einem halben Penny gesprochen, und da Owen Mitglied des Gewerkschaftsrats war, schlug Crass vor, hinüberzugehen und ihn deshalb anzusprechen.
„Wie hoch ist dein Haus besteuert?" fragte Owen, nachdem er Crass' Einwänden etwa eine Viertelstunde lang zugehört hatte.
„Vierzehn Pfund", erwiderte Crass.
„Das bedeutet, du hättest sieben Pence im Jahr zu zahlen, wenn wir die Steuer von einem halben Penny pro Pfund einführten. Wäre es dir nicht sieben Pence im Jahr wert, zu wissen, dass es in der Stadt keine hungernden Kinder gibt?"
„Warum soll ich 'n dabei helfen müssen, die Kinder von 'nem Mann zu ernähren, der zu faul zum Arbeiten ist oder sein ganzes Geld für den Suff ausgibt?" schrie Crass. „Was willste 'n mit so einem machen?"
„Wenn die Kinder eines solchen Mannes hungern, sollten wir ihnen zuerst zu essen geben und ihn dann hinterher bestrafen."
„Die Steuern sind so schon hoch genug", brummte Harlow, der selbst vier Kinder hatte.
„Das ist richtig, aber du darfst nicht vergessen, dass die von den Arbeitern gezahlten Steuern augenblicklich vorwiegend zum Nutzen anderer verwendet werden. Gute Straßen werden für Leute instand gehalten, die in Autos und Wagen fahren; der Park und die städtische Musikkapelle werden für die unterhalten, welche Muße haben, sich ihrer zu erfreuen, die Polizei, um das Eigentum von denen zu schützen, die etwas zu verlieren haben, und so weiter. Zahlen wir aber diese Steuer, so werden wir für unser Geld auch etwas erhalten."
„Wir haben auch was von 'ner guten Straße, wenn wir 'nen Karren mit 'ner Ladung Farbe und Leitern schieben müssen", sagte Easton.
„Natürlich", meinte Crass, „und außerdem kommt alles andre den Arbeitern auch zugute, weil das alles Arbeit schafft."
„Na, was mich betrifft", meinte Philpot, „würd's mir nischt ausmachen, meinen Teil zu 'ner Steuer von 'nem halben Penny das Pfund beizutragen, wenn ich auch selber keine Kinder nicht hab."
Die Feindseligkeit, mit der die meisten Arbeiter die vorgeschlagene Steuer ansahen, war fast ebenso groß wie die der „besseren" Leute - der edelgesinnten Menschenfreunde, die stets vor Mitleid mit den „lieben Kleinen" zerflossen, der ekelhaften Heuchler, die vorgaben, es bestehe keine Notwendigkeit, eine Steuer zu erheben, da sie bereit seien. . in Form von Wohltätigkeitsspenden soviel Geld wie erforderlich beizusteuern; die Kinder aber hungerten trotzdem weiter.
„Ekelhafte Heuchler" mag ein hartes Wort scheinen; es war jedoch allgemein bekannt, dass die Mehrzahl der Kinder, welche die Grundschulen der Stadt besuchten, unterernährt waren. Zugestandenermaßen wäre das Geld, das eine Steuer von einem halben Penny pro Pfund ergeben hätte, mehr als ausreichend gewesen, um allen diesen Kindern täglich eine gute Mahlzeit zu geben. Die Wohltätigkeitskrämer, die angeblich so außerordentliches Mitleid mit den „lieben kleinen Kindern" hatten, widersetzten sich dieser Steuer, „weil sie für die ärmeren Steuerzahler eine Härte bedeutet hätte", und erklärten, sie seien bereit, mehr Geld in freiwilligen Wohltätigkeitsspenden zu geben, als die Steuer erbracht hätte; die „lieben kleinen Kinder" aber, wie sie diese so gern nannten, gingen trotzdem weiterhin hungrig zur Schule.
Urteilte man nach den Versicherungen und nach den Taten dieser Leute, so ergab sich, dass diese gütigen,
freundlichen Menschen bereit waren, alles unter der Sonne für die „lieben kleinen Kinder" zu tun, außer zu erlauben, dass man ihnen zu essen gab.
Hätten diese Leute wirklich tun wollen, was sie behaupteten, so wäre es ihnen gleichgültig gewesen, ob sie das Geld dem Steuereinnehmer oder dem Sekretär eines Wohltätigkeitsvereins zahlten, und sie hätten vorgezogen, ihr Ziel auf eine möglichst wirksame und billige Art zu erreichen.
Doch obgleich sie nicht gestatten wollten, dass die Kinder zu essen erhielten, gingen sie juwelenglitzernd zur Kirche und zur Kapelle, den fetten Leib in reiche Gewänder gehüllt, saßen dort mit selbstzufriedenem Lächeln auf dem Gesicht und hörten den dicken Predigern zu, die aus einem Buch vorlasen, das keiner von diesen verstehen zu können schien, denn sie lasen folgendes:
„Jesus rief ein Kind zu sich und stellete es mitten unter sie und sprach: ... Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf. Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, da es am tiefsten ist.
Sehet zu, dass ihr nicht jemand von diesen Kleinen verachtet. Denn ich sage euch: ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel."
Und ferner: „Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränkt. Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet...
Da werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich gesehen hungrig oder durstig oder als einen Gast oder nackt oder krank oder gefangen und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan."
Das waren die Worte, welche die ungläubigen Prediger in den Tempeln der Ungläubigen ihren reich gekleideten
ungläubigen Gemeinden vorplapperten, die hörten, aber nicht verstanden, denn ihre Herzen waren hart geworden und ihre Ohren taub. Und inzwischen wurden rings um sie her in den Gassen und Elendsvierteln und - schlimmer noch, da es verborgener war - in den besseren Straßen, wo die ehrbaren, qualifizierten Facharbeiter wohnten, aus Mangel an ausreichender Kost die kleinen Kinder täglich magerer und blasser, und sie gingen früh zu Bett, da kein Feuer brannte.
Sir Raffall von Einfriedland, der Parlamentsabgeordnete für den Wahlkreis, war einer der erbittertsten Gegner der Steuer von einem halben Penny pro Pfund; da er aber der Meinung war, wahrscheinlich werde bald wieder eine Allgemeine Parlamentswahl stattfinden, und da er wollte, dass die Väter der Kinder auch diesmal für ihn stimmten, war er bereit, auf andere Weise etwas für diese zu tun. Er hatte eine kleine, zehnjährige Tochter, die in dem Monat Geburtstag hatte; daher ließ der gutherzige Baron alle Schulkinder der Stadt zu Ehren dieses Tages mit Tee bewirten. Der wurde in den Klassenräumen serviert, und jedes Kind erhielt eine goldumrandete Karte, auf der ein Bild der kleinen Gastgeberin gedruckt war und in Goldbuchstaben die Worte standen: „Von Deiner kleinen Freundin Honoria von Einfriedland." Am Nachmittag fuhr das kleine Mädchen in Begleitung Sir Raffalls und Lady Einfriedlands mit dem Auto in alle Schulen, in denen der Tee getrunken wurde; der Baron sprach einige Worte, und Honoria hielt jedes Mal eine hübsche kleine Ansprache, die sie für die Gelegenheit eigens einstudiert hatte; sie wurden mit lebhaftem Beifall begrüßt und sehr bewundert. Die Begeisterung beschränkte sich nicht auf die Jungen und Mädchen, denn während drinnen die Reden gehalten wurden, versammelten sich draußen vor dem Eingang geradezu kleine Menschenmengen von erwachsenen Kindern, die das Auto anhimmelten, und wenn die Gesellschaft herauskam, himmelte die Menge auch diese an und konnte die Wohltätigkeit der Herrschaften und ihre schöne Kleidung gar nicht genug bewundern und loben.
Mehrere Wochen lang war jedermann in der Stadt in heller Begeisterimg über diesen Tee - das heißt, jedermann außer einer kläglichen kleinen Minderheit von Sozialisten, die sagten, das sei nichts als ein Bestechungsmanöver und ein Wahltrick gewesen und bringe keinerlei wirklichen Nutzen, und sie fuhren fort, lärmend eine Steuer von einem halben Penny pro Pfund zu fordern.
Ein gleichfalls nach außen hin einnehmend aussehender Betrug war das „Notstandskomitee". Diese Körperschaft -oder vielmehr diese Leiche, denn es war nicht viel Lebenskraft darin - existierte angeblich zu dem Zweck, für „würdige Fälle" Arbeit zu beschaffen. Es mag verzeihlich erscheinen, wenn jemand der Ansicht ist, ein Mann - gleichgültig, wie auch immer sein Vorleben war -, der willens ist, für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten, sei ein „würdiger Fall" - das war indessen offensichtlich nicht die Meinung der Leute, welche die Regeln aufgestellt hatten, nach denen dieses Komitee verfuhr. Jedem, der Arbeit beantragte, wurde sofort eine zeitraubende Beschäftigung gegeben, zu deren Ausübung ihm ein großer Doppelbogen Papier überreicht wurde. Hätte nun das Komitee beabsichtigt, den Antragsteller mit Material zu versorgen, um sich daraus eine angemessene Kopfbedeckung zu fabrizieren, so hätte niemand dem Komitee einen Vorwurf machen können. Auf diese Weise sollte der Doppelbogen jedoch nicht verwendet werden. Er wurde Karteibogen genannt, und drei Seiten waren mit beleidigenden, neugierigen Fragen bedruckt, die nichts mit der Sache zu tun hatten und die Privatangelegenheiten sowie die Vergangenheit des „Falles" betrafen, der Erlaubnis zu erhalten wünschte, für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten; und alle diese Fragen mussten sowohl zur Zufriedenheit der Herren von Einfriedland, Schwätzer, Sweater, Rushton, Didlum und Schinder als auch der übrigen Mitglieder des Komitees beantwortet werden, ehe der „Fall" auch nur die geringste Aussicht hatte, eine Arbeit zu bekommen.
Trotz der beleidigenden Natur der Fragen auf dem Antragsbogen hatten im Laufe der fünf Monate, während der das Komitee amtierte, nicht weniger als 1237 geduckte und gedemütigte „Löwenjungen" die Formulare ausgefüllt und so sanftmütig, als seien sie Schafe, die Fragen beantwortet. Die Geldmittel des Komitees bestanden aus fünfhundert Pfund, die es von der Schatzkammer des Königreichs erhalten hatte, und etwa zweihundertfünfzig Pfund aus Wohltätigkeitsspenden. Dieses Geld wurde benutzt, um Löhne für gewisse Arbeiten zu zahlen, von denen einige auch dann hätten ausgeführt werden müssen, wenn das Komitee nie bestanden hätte; und wäre jedem der 1237 Antragsteller der gleiche Anteil Arbeit zugeteilt worden, so hätte der von einem jeden erhaltene Lohn ungefähr zwölf Schilling betragen. Dies war, was die „praktischen", die „Geschäftsleute" „das Problem der Arbeitslosigkeit anpacken" nannten. Man stelle sich vor, seine Familie fünf Monate lang mit zwölf Schilling erhalten zu müssen!
Oder, wenn man will, nehme man einmal an, der von der Regierung bewilligte Betrag sei viermal größer gewesen und die Wohltätigkeitsspenden hätten viermal mehr betragen, als es der Fall war, und dann stelle man sich vor, seine Familie fünf Monate lang mit zwei Pfund acht Schilling erhalten zu müssen!
Es ist wohl richtig, dass einige der Mitglieder des Komitees sehr froh gewesen wären, hätten sie jedem Mann, der zu arbeiten gewillt war, die Gelegenheit vermitteln können, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen; sie wussten jedoch einfach nicht, was sie tun sollten oder wie sie es tun sollten. Die Realität des Übels, das sie angeblich „anpackten", war ihnen nicht unbekannt - furchtbare Beweise standen ihnen ja ringsum gegenüber, und da die Leute dieses Komitees schließlich menschliche Wesen und keine Teufel waren, wären sie sehr froh gewesen, das Übels zu mildern, hätten sie es tun können, ohne sich selbst zu schaden; aber die Wahrheit war, dass sie nicht wussten, was sie machen sollten!
Das sind nun die „praktischen" Leute, die ein Monopol auf die Intelligenz besitzen, die weisen Persönlichkeiten, welche die Angelegenheiten der Welt kontrollieren; gemäß den Ideen solcher Leute werden die Lebensbedingungen der Menschen geregelt. Die Lage ist folgende:
Zugegebenermaßen war es noch niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit möglich, die lebensnotwendigen Dinge in einem solchen Überfluss zu produzieren wie jetzt.
Die Regelung der Angelegenheiten der Welt - die Aufgabe, die Bedingungen zu ordnen, unter denen wir leben -liegt gegenwärtig in den Händen der praktischen, besonnenen, vernünftigen Geschäftsleute.
Das Ergebnis ihrer Verwaltung ist, dass die Mehrzahl der Menschen einen harten Kampf führen muss, um existieren zu können. Eine große Anzahl von diesen lebt in beständiger Armut; eine noch größere Anzahl befindet sich periodisch am Verhungern; viele sterben tatsächlich vor Not, Hunderte begehen lieber Selbstmord, als noch weiter zu leben und zu leiden.
Fragt man die praktischen, besonnenen, vernünftigen Geschäftsleute, weshalb sie diesen Zustand der Dinge nicht verändern, so antworten sie, sie wüssten nicht, was sie tun sollten - oder, es sei unmöglich, ihn zu verändern!
Und doch gibt man zu, dass es jetzt möglich ist, die lebensnotwendigen Dinge in größerer Fülle herzustellen als jemals zuvor.!
Mit verschwenderischer Güte hat das Höchste Wesen alles bereitgestellt, was für die Existenz und das Glück seiner Geschöpfe notwendig ist. Zu behaupten, dem sei nicht so, hieße, eine lästerliche Lüge aussprechen, es hieße behaupten, das Höchste Wesen sei nicht gütig noch auch nur gerecht. Ringsum gibt es ein überquellendes Zuviel an den für die Herstellung der lebensnotwendigen Dinge notwendigen Rohstoffen, und aus diesen Rohmaterialien kann alles, dessen wir bedürfen, im Überfluss hergestellt werden -durch die Arbeit. Hier nun war eine Armee von Menschen unbeschäftigt, denen es an den Dingen mangelte, die durch die Arbeit hergestellt werden. Sie waren willig zu arbeiten, fähig zu arbeiten, drängten danach, dass man ihnen gestattete zu arbeiten, und die praktischen, besonnenen, vernünftigen Geschäftsleute wussten nicht, was zu tun sei!
Freilich war die wirkliche Ursache der Schwierigkeiten die, dass die Rohstoffe, die zur Benutzung und zum Wohle aller geschaffen wurden, von einer kleinen Anzahl Menschen gestohlen worden sind, die sich dagegen wehren, dass diese Rohstoffe für die Zwecke verwendet werden, für die sie bestimmt sind. Diese zahlenmäßig unbedeutende Minderheit lehnt es ab, der Mehrheit zu erlauben, dass diese arbeitet und die Dinge produziert, die sie braucht - und das bisschen Arbeit, das auszuführen diese Minderheit gnädigst gestattet, wird nicht mit dem Ziel geleistet, für die Arbeitenden die lebensnotwendigen Dinge zu produzieren, sondern zu dem Zweck, für deren Herren Profite zu schaffen.
Und, was das Merkwürdigste ist: anstatt zu versuchen, die Ursachen ihres Elends zu ergründen und selbst ein Heilmittel dagegen ausfindig zu machen, verbringen die Leute, die so schwer kämpfen müssen, um überhaupt existieren zu können, oder die in schrecklicher Armut leben und zuweilen sogar am Verhungern sind, ihre gesamte Zeit damit, den praktischen, vernünftigen, besonnenen Geschäftsleuten, die ihre Angelegenheiten verpfuschen und schlecht verwalten, Beifall zu spenden, und sie bezahlen den Herren dafür noch große Gehälter. Sir Raffall von Einfriedland zum Beispiel war „Staatssekretär" und erhielt fünftausend Pfund im Jahr. Zuerst, als er diesen Posten erhielt, betrug seine Bezahlung nur den Bettellohn von zweitausend Pfund; da er es jedoch unmöglich fand, mit weniger als hundert Pfund in der Woche auszukommen, beschloss er, sein Gehalt auf jenen Betrag zu erhöhen; die törichten Leute, die so hart kämpfen müssen, um überhaupt existieren zu können, bezahlten das bereitwillig, und als sie das prachtvolle Auto, die wundervollen Kleider und die herrlichen Juwelen sahen, die er seiner Frau mit diesem Geld gekauft hatte, und als sie die „großartige Rede" hörten, die er hielt - worin er ihnen erzählte, die Knappheit an allen Dingen werde durch die Überproduktion und die ausländische Konkurrenz verursacht -, klatschten sie in die Hände und rasten vor Bewunderung!
Das einzige, was sie bedauerten, war, dass keine Pferde vor das Auto gespannt waren; denn wäre das der Fall gewesen, so hätten sie die losmachen und sich selbst davorspannen können.
Nichts entzückte die kindlichen Gemüter dieser armen Menschen mehr, als einer Rede so eines Mannes zu lauschen oder Auszüge daraus zu lesen; zu ihrer Unterhaltung hielt deshalb hin und wieder einer der großen Staatsmänner inmitten all des Jammers eine „prachtvolle Rede" voller trügerischer Phrasen, die dazu bestimmt waren, die Narren, die ihn gewählt hatten, an der Nase herumzuführen. In derselben Woche, in der Sir Raffalls Gehalt auf fünftausend Pfund jährlich erhöht wurde, waren alle Zeitungen voll von einer glänzenden Rede, die er gehalten hatte. Sie erschienen mit großen Schlagzeilen wie der folgenden:

PRACHTVOLLE REDE
SIR RAFFALLS VON EINFRIEDLAND
SEHR GEISTREICHER AUSSPRUCH!
Keiner sollte mehr haben, als er braucht, solange
noch irgend jemand weniger hat, als er braucht!

Niemandem schien die Heuchelei eines solchen Ausspruchs im Munde eines Mannes aufzufallen, der fünftausend Pfund im Jahr bezog. Im Gegenteil, die gedungenen Schreiberlinge der kapitalistischen Presse füllten ganze Spalten mit Worten der Bewunderung für dieses elende Gewäsch, und die Arbeiter, die den Mann gewählt hatten, waren hingerissen von diesem „geistreichen Ausspruch", als sei er etwas Gutes zu essen. Sie schnitten ihn aus der Zeitung und trugen ihn mit sich herum; sie zeigten ihn einander und wiederholten ihn sich gegenseitig, sie bewunderten ihn und waren entzückt darüber, sie grinsten einander an und schnatterten einer mit dem anderen im Überschwang ihrer schwachsinnigen Begeisterung.
Das Notstandskomitee war nicht die einzige Körperschaft, die so tat, als „packe" sie das „Problem" der Armut an; es wurde in seinen Bemühungen von allen übrigen bereits erwähnten Unternehmungen ergänzt - dem Arbeitshof, den Gerümpelverkäufen, dem Wohltätigkeitsverein und dergleichen mehr, von einem äußerst menschenfreundlichen Plan ganz zu schweigen, den die Direktion des Warenhauses Sweater ersonnen hatte: durch einen in der Presse des Ortes veröffentlichten Brief gab sie bekannt, sie sei bereit, eine Woche lang fünfzig Mann gegen eine Bezahlung von einem Schilling und einem halben Laib Brot pro Tag damit zu beschäftigen, Plakatschilder umherzutragen.
Sie erhielt die Leute: einige ungelernte Arbeiter, ein paar alte, verbrauchte Arbeiter, die das Elend des letzten Restes an Stolz oder Scham beraubt hatte, eine Anzahl von Trunkenbolden und gewohnheitsmäßigen Herumtreibern sowie eine nicht näher zu beschreibende Menge armer, zerlumpter alter Männer - ehemalige Soldaten und Leute, von denen man unmöglich hätte sagen können, was sie einstmals gewesen waren.
Die Prozession der Plakatträger wurde von dem Halbbetrunkenen und dem benebelten Tropf angeführt, und jedes der Schilder, das sie trugen, war mit einem großen gedruckten Plakat beklebt, auf dem es hieß: „Im Kaufhaus Adam Sweater augenblicklich großer Ausverkauf von Damenblusen."
Neben diesem scharfsinnigen Plan Sweaters, billig zu einer guten Reklame zu kommen, wurden noch zahlreiche andere Projekte zur Arbeitsbeschaffung oder zur Linderung des herrschenden Elends in den Spalten der Zeitungen des Ortes und in den verschiedenen Versammlungen erwogen, die abgehalten wurden. Mit Sicherheit fand jeder törichte, dumme, nutzlose Vorschlag achtungsvolle Aufmerksamkeit; jeder schlaue, von diesem oder jenem aus der Bande von Ausbeutern und Grundherren, welche die Stadt beherrschten, zu dessen eigenem Nutzen und Profit erdachte Plan wurde mit Gewissheit von den übrigen Einwohnern Mugsboroughs gutgeheißen, die in der Mehrzahl Menschen von schwachem Verstand waren und nicht nur zuließen, dass sie von einigen gerissenen Gaunern ausgeplündert und ausgebeutet wurden, sondern diese dafür auch noch verehrten und mit Beifall bedachten.

 

39. Kapitel In der Brigantenhöhle

Eines Abends fand im Salon der „Höhle" die Zusammenkunft einer Anzahl „Strahlender Lichter" statt, zur Festlegung der Einzelheiten eines Gerümpelbasars, der zur Unterstützung der Arbeitslosen veranstaltet werden sollte. Es war eine inoffizielle Zusammenkunft, und während die Zuersteingetroffenen - die Herren Rushton, Didlum und Schinder, Mr. Oyley Sweater, der städtische Gutachter, Mr. Drahtmann, der Elektroingenieur, der als „Sachverständiger" eingestellt worden war, um ein Gutachten über das Elektrizitätswerk abzugeben, und zwei oder drei andere Herren, sämtlich Mitglieder der Bande - auf die übrigen Leuchten warteten, nahmen sie die Gelegenheit wahr, um sich über eine Anzahl Dinge zu unterhalten, an denen ein gemeinsames Interesse bestand und die bei der am nächsten Tag stattfindenden Sitzung des Stadtrats auf der Tagesordnung stehen sollten. Zuerst einmal war da die Angelegenheit mit dem vermieteten Kiosk auf der Großen Paradeallee. Das Gebäude gehörte der Stadt, und die Gesellschaft „Trautes Eck, Erfrischungen", deren Direktor Mr. Schinder war, hatte die Absicht, es zu mieten, [[um es als erstklassigen Erfrischungsraum zu eröffnen, vorausgesetzt, dass die Stadt gewisse Änderungen daran vornahm und es zu einem annehmbaren Preis abließ. Ein anderes Thema, das auf der Ratssitzung besprochen werden sollte, war das großzügige Angebot Mr. Sweaters an die Stadt, die neue Abflussleitung betreffend, welche die „Höhle" mit der städtischen Abwässerung verband.
Auch das Gutachten Mr. Drahtmanns, des Elektrosachverständigen, stand auf der Tagesordnung, und danach sollte ein Antrag gestellt werden zugunsten des Ankaufs der Elektrizitäts- und Installationsgesellschaft m.b.H. durch die Stadt.
Neben diesen Angelegenheiten bildeten noch verschiedene andere Punkte das Thema der angeregten Unterhaltung zwischen den Briganten und ihrem Gastgeber, darunter auch ein Vorschlag Mr. Didlums, eine wichtige Reform bei der Durchführung von Ratssitzungen vorzunehmen.]]
[Während der Diskussion trafen weitere Leuchten ein, unter ihnen mehrere Damen und Pfarrer Schwätzer von der Kirche des Übertünchten Grabes.]
[[Der Salon der „Höhle" war jetzt sorgfältig möbliert. Ein großer Spiegel in prunkend vergoldetem Rahmen reichte von dem verzierten Marmorkaminsims bis zum Karnies.]] Mitten auf dem Kaminsims stand eine prachtvolle Uhr in einem Alabastergehäuse, flankiert von zwei mit erlesener Kunst bemalten und vergoldeten Vasen aus Dresdener Porzellan. Die Fenster waren mit teuren Vorhängen drapiert und den Fußboden bedeckten ein luxuriöser Teppich und kostspielige Brücken. Üppig gepolsterte Diwans und Sessel trugen zur Gemütlichkeit des Raumes bei, der von einem riesigen, mit Kohlen und Eichenscheiten gespeisten Feuer erwärmt wurde, das im Kamin flackerte und prasselte.
Die Unterhaltung nahm nun allgemeinen Charakter anzuweilen wurde sie äußerst philosophisch, obgleich sich Mr. Schwätzer nicht viel daran beteiligte, denn er war zu beschäftigt, sich das Gebäck und den Tee einzuverleiben und sprudelte nur gelegentlich eine Antwort hervor, wenn eine Bemerkung oder eine Frage direkt an ihn gerichtet wurde. Das war Mr. Schinders erster Besuch hier im Haus, und er drückte seine Bewunderung für die Dekoration der Wände und der Decke aus und bemerkte, er habe „diesen japanischen Stil hier" schon immer gern gemocht.
Mr. Schwätzer murmelte, den Mund voller Gebäck, es sei reizend - bezaubernd - wunderbar ausgeführt - müsse viel Geld gekostet haben.
„Kann man aber woll kaum japanisch nennen, was?" bemerkte Didlum und sah sich mit Kennermiene um. „Ich würd's eher - äÄ- chinesisch oder ägyptisch nennen."
„Maurisch", erklärte Mr. Sweater lächelnd. „Die Idee habe ich durch die Pariser Weltausstellung bekommen. Es ist ähnlich wie die Dekoration in der ,Halambara', dem Palast des Sultans von Marokko. Die Uhr da ist im selben Stil."
Das Gehäuse der erwähnten Uhr, die auf einem Tisch in einer Ecke des Zimmers stand, war eine Laubsägearbeit und hatte die Form einer indischen Moschee, mit spitzer Kuppel und Türmchen. Es war das Gehäuse, das Mary Linden an Didlum verkauft hatte; der hatte es dunkel gebeizt, poliert und noch weiter verbessert, indem er die ursprünglich darin enthaltene Uhr durch eine passendere ersetzt hatte. Mr. Sweater hatte sie in Didlums Schaufenster erblickt, und da er bemerkte, dass die Zeichnung im Stil den gemalten Dekorationen auf Wänden und Decke seines Salons ähnlich waren, hatte er sie gekauft.
„Ich bin auch auf der Pariser Weltausstellung gewesen", sagte Schinder, nachdem alle die kunstvolle Arbeit des Gehäuses bewundert hatten. „Ich erinnre mich dran, wie ich durch das große Teleskop den Mond gesehen hab. In meinem Leben war ich noch nicht so überrascht: man kann 'n da ganz deutlich sehen, und er ist rund!"
„Rund?" meinte Didlum mit erstauntem Blick. „Rund? Natürlich ist er rund! Sie haben doch woll etwa nicht gedacht, der ist viereckig?"
„Nö, natürlich nicht, aber ich hab immer gedacht, er ist flach - wie 'n Teller, aber er ist rund wie 'n Fußball."
„Na, gewiss doch: der Mond ist so 'n ähnlicher Körper wie die Erde", erklärte Didlum und beschrieb mit der Hand einen Kreis in der Luft. „Sie bewegen sich immer zusammen durch die Luft, aber die Erde ist immer am nächsten bei der Sonne, und darum fällt alle vierzehn Tage der Schatten von der Erde auf den Mond und macht 'n so dunkel, dass er fürs bloße Auge unsichtbar ist. Der Neumond entsteht, weil der Mond sich 'n bißen aus dem Schatten von der Erde wegbewegt, und er kommt immer mehr und mehr daraus vor, bis wir Vollmond haben; dann geht er wieder in den Schatten zurück, und so macht er 's immer weiter."
Etwa eine Minute lang blickten alle sehr feierlich drein, und die tiefe Stille wurde nur durch das Knuspern des Gebäckes zwischen den Kiefern Mr. Schwätzers und von gewissen gurgelnden Lauten im Innern dieses Herrn gestört.
„Die Wissenschaft ist doch eine wunderbare Sache", sagte schließlich Mr. Sweater und wiegte bedächtig den Kopf, „wunderbar!"
„Ja, aber 'ne Menge dabei ist doch bloß Theorie, wissen Sie", bemerkte Rushton. „Nehmen Sie zum Beispiel diese Idee, dass die Welt rund ist; ich kann's mir nicht vorstellen! Und dann sagt man, dass Australien auf der anderen Seite von der Kugel ist, unter unsren Füßen. Meiner Meinung nach ist das lächerlich, denn wenn's wahr wäre, was hält 'n die Leute dann, dass sie nicht runterfallen?"
„Ja, freilich, 's ist natürlich sehr seltsam", gab Sweater zu. „Daran hab ich auch schon oft gedacht. Wenn's wahr wäre, müssten wir zum Beispiel in diesem Zimmer an der Decke entlang spazieren können; aber natürlich wissen wir, dass das unmöglich ist, und mir scheint's wirklich nicht so als wäre das andere vernünftiger."
„Ich hab schon oft gesehen, dass Fliegen an der Decke laufen", bemerkte Didlum, der sich berufen fühlte, die Theorie von der Kugel zu verteidigen.
„Ja, aber die sind anders", erwiderte Rushton. „Fliegen sind von der Natur mit 'ner klebrigen Masse versehen, die ihnen aus den Füßen fließt, damit sie verkehrt rum laufen können."
„Eine Sache gibt's, die diese Theorie meiner Ansicht nach ein für allemal erledigt", sagte Schinder, „und das ist -Wasser findet immer wieder seine eigne Richtung. Da kommen Sie nicht drum rum, und wenn die Welt rund war, wie man uns weismachen will, würde das ganze Wasser runterfließen, außer 'nem bisschen obenauf. Meiner Meinung nach entscheidet das den ganzen Streit."
„Und noch was andres, wo ich nicht mitkomme, ist das", fuhr Rushton fort, „der Wissenschaft nach dreht sich die Erde mit 'ner Geschwindigkeit von zwanzig Meilen in der Minute um ihre Achse. Und was ist, wenn 'ne Lerche in den Himmel steigt und ungefähr 'ne Viertelstunde da oben bleibt? Wenn's wahr wär, dass die Erde sich die ganze Zeit so schnell dreht, würde der Vogel doch, wenn er wieder runterkommt, Hunderte von Meilen von der Stelle entfernt sein, wo er raufgestiegen ist! Aber das ist überhaupt nicht der Fall; der Vogel kommt immer wieder an derselben Stelle runter."
„Ja, und dasselbe gilt auch für Ballons und Flugzeuge", sagte Schinder. „Wenn's wahr wär, dass die Welt sich so schnell um ihre Achse dreht, würde sich 'n Mann, der von Calais nach Dover fliegen will, zu der Zeit, wo er in England sein müsste, in Nordamerika wieder finden oder vielleicht noch weiter weg."
„Und wenn's wahr wär, dass die Erde sich so schnell, wie sie berechnet haben, um die Sonne dreht, würde sie doch von 'nem Ballon, wenn er aufgestiegen ist, wegrennen Dann würde der doch nie wieder zurückkommen können!' bemerkte Rushton.
Das war so augenscheinlich, dass fast alle sagten, vermutlich sei etwas daran, und Didlum konnte keine Antwort darauf finden. Nachdem man Mr. Schwätzer um seine Meinung befragt hatte, erklärte der, die Wissenschaft sei ja in ihrer Art ganz schön und gut, aber nicht zuverlässig; was die Wissenschaftler gestern erklärt hätten, widerriefen sie heute, und was sie heute erklärten, erkannten sie wahrscheinlich morgen nicht mehr an. Man müsse sehr vorsichtig sein, ehe man irgendeine ihrer Behauptungen akzeptiere.
„Da wir grade von der Wissenschaft sprechen", sagte Schinder, als der heilige Mann wieder in Schweigen fiel und ein neues Stück Gebäck und noch eine Tasse Tee in Angriff nahm, „da wir grade von der Wissenschaft sprechen - dabei fällt mir 'ne Unterhaltung ein, die ich neulich mit Dr. Schwächling hatte. Sie wissen doch, er glaubt, wir stammen sämtlich von Affen ab."
Alle lachten; die Sache war derartig widersinnig, was für eine Idee, intelligente Wesen auf eine Ebene mit Tieren zu stellen!
„Aber hören Sie sich bloß mal an, wie schön ich den fertiggemacht hab", fuhr Schinder fort. „Nachdem wir lange über das, was er Everlution oder so ähnlich nennt, und über 'nen Haufen Stuss gestritten haben, aus dem ich nicht schlau geworden bin - und ehrlich gesagt, ich glaub auch nicht, dass er selbst die Hälfte davon verstanden hat -, sage ich zu ihm: ,Nun', sage ich, ,muss Ihre Familie woll da aufgehört haben, wo meine angefangen hat.'"
Inmitten des Gelächters, das den Schluss der Erzählung Schinders feierte, bemerkte man, dass Mr. Schwätzer blau im Gesicht wurde. Er ruderte mit den Armen und wand sich, als werde er von einem Anfall geschüttelt; seine Augen quollen aus den Höhlen, während sein riesiger Bauch krampfhaft zitterte und sich abwechselnd zusammenzog und ausdehnte, als wolle er platzen.
Im Überschwang seiner Heiterkeit hatte der unglückliche Prediger zwei Gebäckstücke auf einmal verschluckt. Alle eilten ihm zu Hilfe; Schinder und Didlum ergriffen jeder einen Arm und eine Schulter und zwangen ihm den Kopf hinunter, Rushton stieß ihn in den Rücken, und die Damen kreischten vor Besorgnis. Sie flößten ihm einen großen Schluck Tee ein, um ihm zu helfen, die Gebäckstücke hinunterzubringen, und als es ihm endlich gelungen war, sie zu
verschlucken, saß er im Lehnstuhl - die Augen rot gerändert und voller Tränen, die ihm über das weiße, schwammige Gesicht liefen.
Die Ankunft der übrigen Mitglieder des Komitees machten der interessanten Diskussion ein Ende, und kurz darauf gingen sie an die Erledigung des Geschäfts, dessentwegen die Zusammenkunft einberufen worden war - die Vorbereitungen zu dem kommenden Gerümpelbasar.

 

40. Kapitel Die Briganten bei der Arbeit

Am nächsten Tag wurde auf der Sitzung des Stadtrats das Gutachten Mr. Drahtmanns über das Elektrizitätswerk vorgelesen. Die Meinung des Experten war so günstig -und sie wurde vom städtischen Gutachter Mr. Oyley Sweater bekräftigt -, dass einstimmig ein Beschluss zugunsten des Ankaufs der Werke durch die Stadt gefasst und sogleich ein Geheimkomitee ernannt wurde, das die Vorbereitungen hierzu treffen sollte. Danach schlug Ratsherr Sweater vor, Mr. Drahtmann ein angemessenes Honorar für seine Dienste zu bewilligen. Das wurde von den meisten der Mitglieder mit zustimmendem Gemurmel aufgenommen, und Mr. Didlum erhob sich in der Absicht, einen dementsprechenden Antrag zu stellen, als er von Ratsherrn Schinder unterbrochen wurde, der erklärte, seiner Meinung nach habe es keinen Sinn, einem Mann etwas Derartiges zu geben. „Warum geben wir ihm nicht 'ne Geldsumme?"
Hierauf sagten mehrere Mitglieder des Rats: „Hört, hört!", einige lachten jedoch.»
„Ich kann nichts Lächerliches daran finden", rief Schinder ärgerlich, „ich für meinen Teil würde Ihnen nicht zwei Pence für alle Honorars des Landes geben. Ich beantrage, dass wir ihm 'ne Geldsumme geben."
„Ich befürworte den Antrag", sagte ein anderes Mitglied der Bande - einer von denen, die „Hört, hört!" gerufen hatten.
Ratsherr Sweater sagte, es schiene ein kleines Missverständnis vorzuliegen, und erklärte, ein Honorar sei ja eine Geldsumme.
„Oh, na, in dem Fall ziehe ich meinen Antrag zurück", sagte Schinder. „Ich dachte, Sie wollten ihm 'ne glanzvolle Rede halten oder so was Ähnliches."
Nun brachte Didlum den Antrag ein, für Mr. Drahtmann einen Dankesbrief sowie eine Bezahlung von fünfzig Guineen zu bewilligen, und das wurde einstimmig beschlossen. Dr. Schwächling meinte, ihm schiene die Summe reichlich hoch, aber er ging nicht so weit, dagegen zu stimmen.
Der nächste Punkt war der Vorschlag, die Gemeinde solle die Abflussleitung übernehmen, die Mr. Sweaters Haus mit der städtischen Entwässerung verband. Mr. Sweater, als ein auf das Allgemeinwohl bedachter Mann, schlug vor, dieses Verbindungsrohr, das unter einer Privatstraße hindurchführte, an die Gemeinde als ihr und ihrer Nachfolger ewiges Eigentum zu übergeben, unter der Bedingung, dass sie ihm die Anlagekosten von fünfundfünfzig Pfund erstattete und sich bereit erklärte, das Abflussrohr in gutem Zustand zu erhalten. Nach kurzer Diskussion wurde entschieden, die Abflussleitung zu den vorgeschlagenen Bedingungen zu übernehmen, und danach beantragte Ratsherr Didlum, der Stadtrat möge dem Ratsherrn Sweater für sein großzügiges Verhalten in dieser Angelegenheit ihren Dank aussprechen; der Antrag wurde sogleich von Ratsherrn Rushton befürwortet und wäre nemino contradicade angenommen worden, hätte nicht Dr. Schwächling ein so schändliches Benehmen gezeigt; er war geschmacklos genug, darauf hinzuweisen, dass die Summe etwa doppelt so hoch war, wie die Anlagekosten der Abflussleitung betragen haben konnten, ferner, dass diese der Gemeinde überhaupt nichts nutze und dass sie sich nur die Verpflichtung auflud, die Leitung instand zu halten.
Niemand machte sich indessen die Mühe, Schwächling zu antworten, und die Bande ging zum nächsten Tagesordnungspunkt über: Mr. Schinders Angebot - im Namen der Gesellschaft „Trautes Eck, Erfrischungen" -, den Kiosk auff der Großen Paradeallee zu übernehmen. Mr. Schinder legte einen Plan für gewisse Änderungen vor, die er die Gemeinde ersuchen müsse an dem Kiosk vorzunehmen, und falls der Stadtrat sich bereit erklärte, diese Arbeiten ausführen zu lassen, sei er, Schinder, bereit, das Gebäude für fünf Jahre zum Betrag von zwanzig Pfund jährlich zu pachten.
Ratsherr Didlum beantragte, das Angebot der Gesellschaft „Trautes Eck, Erfrischungen, G.m.b.H." anzunehmen und die geforderten Änderungen unverzüglich vorzunehmen. Der Kiosk habe fast zwei Jahre lang keine Pacht eingebracht; aber ganz abgesehen von diesem Gesichtspunkt wären sie, falls sie das Angebot annähmen, in der Lage, einige der Arbeitslosen zu beschäftigen. (Beifall.)
Ratsherr Rushton unterstützte den Antrag.
Dr. Schwächling wies darauf hin, dass die vorgeschlagenen Änderungen nach Ansicht des städtischen Gutachters etwa hundertfünfundsiebzig Pfund kosten würden, und da die Pacht nur zwanzig Pfund jährlich betrage, so bedeute dies, dass der Stadtrat am Ende der fünf Jahre fünfundsiebzig Pfund aus eigener Tasche zugelegt haben werde; von den Kosten für die Instandhaltung des Gebäudes während dieser Zeit ganz zu schweigen. (Lärm.) Er brachte den Zusatzantrag ein, die Veränderungen vornehmen zu lassen, das Gebäude dann auszuschreiben und dem Meistbietenden zu verpachten. (Tumult.)
Ratsherr Rushton sagte, die Haltung dieses Mannes Schwächling widere ihn an. (Beifall.) Vielleicht treffe es kaum zu, ihn einen Mann zu nennen. (Hört, hört!) Was die Veränderungen an dem Kiosk betreffe, so sei ihnen Ratsherr Schinders Verstand zugute gekommen; er sei es gewesen, der zuerst daran gedacht habe, diese Verbesserungen am Kiosk vorzunehmen, und daher habe er - oder vielmehr die Gesellschaft, die er vertrete - ein moralisches Recht auf den Pachtabschluss. (Lauter Beifall!)
Dr. Schwächling erklärte, er hielte es für selbstverständlich, dass ein Mann in den Stadtrat gewählt worden sei, weil man annahm, er sei bereit, seinen Verstand zum Wohle seiner Wähler anzuwenden. (Höhnisches Gelächter!)
Der Bürgermeister stellte die Frage, ob irgend jemand Schwächlings Zusatzantrag unterstütze, und da das nicht der Fall war, wurde der ursprüngliche Antrag zur Abstimmung gestellt und angenommen.
Ratsherr Rushton schlug vor, ein großes Schutzdach und Sitzgelegenheiten für etwa zweihundert Personen auf der Großen Paradeallee in der Nähe des Kiosks errichten zu lassen. Das Schutzdach werde als Schirm gegen den Regen und im Sommer gegen die Sonnenstrahlen dienen. Es werde zur Bequemlichkeit der Besucher beitragen und einen zusätzlichen Anziehungspunkt der Stadt bilden.
Ratsherr Didlum erklärte, das sei eine ausgezeichnete Idee, und schlug vor, der Gutachter solle beauftragt werden, die Pläne zu beschaffen.
Dr. Schwächling protestierte gegen den Antrag. (Gelächter.) Ihm schiene, die Sache diene nicht dem Vorteil der Stadt, sondern dem Vorteil Mr. Schinders. (Lärm.) Werde dieses Schutzdach errichtet, so steigere es den Wert des Kiosks als Erfrischungshalle um das Doppelte. Wenn Mr. Schinder für seine Kunden ein Schutzdach wünsche, so möge er selbst dafür bezahlen. (Tumult.) Er (Dr. Schwächling) bedaure, es sagen zu müssen, aber er könne nicht umhin zu denken, dies sei eine abgekartete Sache. (Laute Zwischenrufe: „Nehmen Sie das zurück!" - „Bitten Sie dafür um Entschuldigung!" - „Schmeißt ihn raus!" Heftiger Tumult!)
Schwächling entschuldigte sich nicht und nahm seine Worte auch nicht zurück; er sagte jedoch weiter nichts. Didlums Antrag wurde angenommen, und die „Bande" ging zum nächsten Tagesordnungspunkt über, der ein Vorschlag des Ratsherrn Didlum war, das Gehalt des städtischen Gutachters Mr. Oyley Sweater von fünfzehn auf siebzehn Pfund pro Woche zu erhöhen.
Ratsherr Didlum meinte, wenn sie einen guten Mann hätten, so müssten sie ihn auch zu schätzen wissen. (Beifall.) Im Vergleich zu anderen Angestellten erhielte der städtische Gutachter keine angemessene Bezahlung. (Hört, hört!) Der Sekretär des Rats erhielte siebzehn Pfund, der Stadtschreiber erhielte siebzehn Pfund pro Woche. Es sei nicht seine Absicht anzudeuten, diese Herren seien zu hoch be-
zahlt, das liege ihm fern. (Hört, hört!) Nicht sie erhielten zuviel, sondern der Gutachter erhielte zuwenig. Wie könnten sie erwarten, dass ein solcher Mann von lumpigen fünfzehn Pfund in der Woche lebe? Das sei die reine Ausbeutung! (Hört, hört!) Er stellte mit großem Vergnügen den Antrag, das Gehalt des städtischen Gutachters auf siebzehn Pfund die Woche zu erhöhen und seinen Jahresurlaub von vierzehn Tagen auf einen Kalendermonat mit Zwangsarb... er bitte um Verzeihung - mit vollem Gehalt zu verlängern. (Lauter Beifall!)
Ratsherr Rushton sagte, er beabsichtige nicht, eine lange Rede zu halten - das sei nicht nötig. Er begnüge sich damit, Ratsherrn Didlums ausgezeichneten Vorschlag zu unterstützen. (Beifall.)
Ratsherr Schwächling, der mit höhnischem Gelächter begrüßt wurde, als er sich erhob, sagte, er müsse sich gegen den Antrag stellen. Er möchte betonen, dass ihn keinerlei Gefühl einer persönlichen Feindschaft gegen den städtischen Gutachter bewege; gleichzeitig halte er es jedoch für seine Pflicht zu erklären, dass dieser Beamte seiner (Dr. Schwächlings) Meinung nach auch zur Hälfte des Gehalts, das ihm jetzt ausgezahlt werde, noch teuer sei. Er scheine sein Geschäft nicht zu verstehen; fast sämtliche in Angriff genommenen Arbeiten kosteten am Ende fast das Doppelte des Preises, für den sie nach Schätzung des städtischen Gutachters hätten ausgeführt werden können. (Zwischenruf: „Lügner!") Er hielte ihn für einen höchst unfähigen Menschen (Tumult) und sei der Meinung, wenn man das Amt ausschriebe, könnte man Dutzende besserer Leute finden, die froh wären, die Arbeit für fünf Pfund in der Woche zu leisten. Er beantrage, Mr. Oyley Sweater aufzufordern, er möge seine Kündigung einreichen, und durch Ausschreibung einen Mann zu fünf Pfund in der Woche zu suchen. (Heftiger Tumult!)
Ratsherr Schinder meldete sich zur Tagesordnung. Er forderte den Vorsitzenden auf, den Änderungsantrag niederzudrücken. (Beifall.)
Ratsherr Didlum bemerkte, er nehme an, Ratsherr Schinder meine „niederzuschlagen"; in diesem Fall befürworte er dessen Vorschlag.
Ratsherr Schinder erklärte, es sei Zeit, diesem Schwächling das Handwerk zu legen. Ihm (Schinder) sei es gleich, ob man es drücken oder schlagen nenne, es bliebe dasselbe, solange man ihn im Keime ersticke. (Beifall.) Der Mann sei eine Schande für den Stadtrat: ewig mische er sich in alles und hindere den Fortgang der Geschäfte.
Der Bürgermeister - Ratsherr Sweater - meinte, er halte es nicht mit der Würde des Rats vereinbar, noch weitere Zeit mit diesem pöbelhaften Änderungsantrag zu verschwenden. (Beifall.) Er sei stolz zu sagen, dieser sei von keinem einzigen Ratsmitglied unterstützt worden, und deshalb stelle er Mr. Didlums Antrag zur Abstimmung -einen Antrag, von dem er ohne Zögern erkläre, er gereiche diesem Herrn sowie allen, die für ihn stimmten, zur Ehre. (Tosender Beifall!)
Alle, die für den Antrag waren, bekundeten das in der üblichen Weise, und da Schwächling die einzige Gegenstimme abgab, war der Antrag angenommen, und die Versammlung ging zum nächsten Tagesordnungspunkt über.
Ratsherr Rushton sagte, mehrere einflussreiche Steuerzahler und Arbeitgeber hätten sich bei ihm wegen der hohen Löhne der von der Gemeinde beschäftigten Arbeiter beklagt, von denen einige siebeneinhalb Pence pro Stunde erhielten. Sieben Pence die Stunde sei der Maximallohn, der von privaten Unternehmern in dieser Stadt Facharbeitern ausgezahlt werde, und er sehe nicht ein, weshalb die Gemeinde mehr zahlen solle. (Hört, hört!) Es habe eine sehr schlechte Wirkung auf die von Privatfirmen beschäftigten Leute und trage dazu bei, diese mit ihren Löhnen unzufrieden zu machen. Das gleiche treffe auf die vom Stadtrat beschäftigten ungelernten Arbeiter zu. Privatunternehmer könnten diese Art Arbeiter zu viereinhalb oder fünf Pence die Stunde bekommen, und trotzdem bezahle die Gemeinde fünfeinhalb und selbst sechs Pence die Stunde für die gleiche Art Arbeit. (Pfuirufe!) Das sei nicht anständig den Steuerzahlern gegenüber. (Hört, hört!) Ziehe man in Betracht, dass die von der Gemeinde beschäftigten Leute fast ständig Arbeit hätten, so müssten sie. wenn überhaupt ein Unterschied bestehen solle, nicht mehr, sondern weniger erhalten als die von Privatfirmen
beschäftigten Arbeiter. (Beifall.) Er beantragte, die Löhne der von der Gemeinde beschäftigten Arbeiter in allen Fällen auf die Stufe der von privaten Firmen gezahlten zu senken.
Ratsherr Schinder unterstützte diesen Antrag. Er sagte, es sei ein wahrer Skandal. Im Sommer bezögen einige dieser Leute bis zu fünfunddreißig Schilling in einer einzigen Woche (Pfuirufe!), und es sei durchaus üblich, dass ungelernte Arbeiter - Kerle, die nichts als die härteste und beschwerlichste Arbeit verrichteten wie Zementsäcke schleppen oder Straßen aufreißen, damit man an die Abflussrohre gelangte, und ähnliche leichte Arbeiten - mit fünfundzwanzig Schilling die Woche nach Hause gingen! (Aufruhr.) Er habe häufig beobachtet, wie einige dieser Leute des Sonntags in der Stadt umherstolzierten, angezogen wie Millionäre und mit der Zigarre im Mund! Sie machten den Eindruck, als seien sie eine ganz andere Klasse von Leuten als die, welche für Privatfirmen arbeiteten, und nach der Kleidung der Kinder von einigen zu urteilen, sollte man meinen, ihre Väter seien Kabinettminister! Kein Wunder, dass sich die Steuerzahler über die hohen Abgaben beschwerten. Ein anderes Übel sei, dass allen von der Gemeinde beschäftigten Arbeitern zwei Tage Urlaub im Jahr gewährt werde, zusätzlich zu den im Lande üblichen Bankfeiertagen, und dass sie auch noch dafür bezahlt würden! (Pfuirufe, Zwischenrufe: „Skandalös! Schändlich!" und so weiter.) Kein Privatunternehmer bezahlte seine Leute an Bankfeiertagen, und weshalb wollte es denn die Gemeinde tun? Er unterstützte den Antrag Ratsherr Rushtons mit Vergnügen.
Ratsherr Schwächling wandte sich gegen den Antrag. Er meinte, fünfunddreißig Schilling die Woche seien wenig genug für einen Mann, der Frau und Kinder erhalten müsse (Zwischenruf: „Faules Geschwätz!"), selbst wenn alle Arbeiter diese Summe regelmäßig erhielten, was nicht der Fall sei. Die Mitglieder des Rats sollten doch in Betracht ziehen, was die durchschnittliche Lohnsumme pro Woche während des ganzen Jahres sei und nicht nur während der Saison, und täten sie das, so fänden sie, dass selbst die Facharbeiter nicht mehr als durchschnittlich fünfundzwanzig Schilling in der Woche erhielten, und in vielen fallen nicht einmal soviel. Auch wenn Ratsherr Rushton dieses Thema nicht angeschnitten hätte, sei es seine (Schwächlings) Absicht gewesen zu beantragen, die Löhne der von der Gemeinde beschäftigten Arbeiter auf den von den Gewerkschaften anerkannten Satz zu erhöhen. (Lautes Gelächter.) Es sei bewiesen, dass die bekanntermaßen kurze Lebensdauer der Arbeiter - sie betrage durchschnittlich ungefähr zwanzig Jahre weniger als die Lebensdauer von Angehörigen der besitzenden Klassen - sowie ihr sich ständig verschlechternder physischer Zustand und die hohe Sterblichkeit unter ihren Kindern auf die elende Entlohnung zurückzuführen seien, die sie für eine schwere und ermüdende Arbeit erhielten, auf die übermäßig hohe Anzahl von Stunden, die sie arbeiten müssten, sofern sie Beschäftigung hätten, auf die mangelhafte Qualität ihrer Nahrung, auf die schlecht gebauten und unhygienischen Häuser, die zu bewohnen sie durch ihre Armut gezwungen seien, und auf die Sorgen, die Aufregungen und den Kummer, die sie erleiden müssten, wenn sie arbeitslos waren. (Zwischenrufe: „Faules Geschwätz!"-„Blödsinn!" und lautes Gelächter.) Ratsherr Didlum habe „Faules Geschwätz!" gesagt. Fäulnis sei das richtige Wort, um die Krankheit zu beschreiben, welche die Grundpfeiler der Gesellschaft zerfresse und Gesundheit, Glück, ja sogar das Leben so vieler ihrer Mitbürger und -bürgerinnen zerstöre. (Erneute Heiterkeit und Zwischenrufe: „Gehen Sie sich doch einen roten Schlips kaufen!") Er beschwöre die Mitglieder des Rates, den Antrag abzulehnen. Er freue sich, sagen zu können, dass er glaube, es stimme, dass die von der Gemeinde beschäftigten Arbeiter ein wenig besser gestellt seien als die von Privatunternehmen beschäftigten, und wenn dem so sei, dann sei es, wie es sein solle. Sie hätten es nötig, dass es ihnen besser gehe als den verelendeten, halbverhungerten armen Teufeln, die für private Firmen arbeiteten.
Ratsherr Didlum sagte, es sei ganz offensichtlich, dass Dr. Schwächling seinen Sitz im Rat durch Vorspiegelung falscher Tatsachen erschlichen habe. Hätte er den Steuerzahlern mitgeteilt, dass er Sozialist sei, so hätten sie ihn niemals gewählt. (Hört, hört!) Praktisch jeder christliche
Prediger im Lande werde ihm (Didlum) beistimmen, wenn er erkläre, die Armut der Leute aus der Arbeiterklasse werde nicht durch „die elende Entlohnung, die sie erhalten", verursacht, sondern durch die Trunksucht. (Lauter Beifall!) Und er sei sicher, das Zeugnis sämtlicher Prediger aller Konfessionen sei zuverlässiger als die Meinung eines Mannes wie Dr. Schwächling. (Hört, hört!)
Dr. Schwächling erklärte, wenn einige der ebengenannten Prediger oder einige Mitglieder des Stadtrats in der gleichen schmutzigen Umgebung, der gleichen Enge und Unwissenheit leben und arbeiten müssten wie manche Menschen der Arbeiterklasse, so suchten sie wahrscheinlich selbst, ein wenig Vergnügen und Vergessen im Alkohol zu finden! (Heftiger Tumult und Zwischenrufe: „Zur Geschäftsordnung!" - „Nehmen Sie das zurück!" - „Entschuldigen Sie sich!")
Ratsherr Schinder sagte, selbst wenn es wahr sei, dass die durchschnittliche Lebensdauer der Leute aus der Arbeiterklasse um zwanzig Jahre kürzer sei als die der Menschen aus den besseren Ständen, könne er nicht einsehen, was das mit Dr. Schwächling zu schaffen habe. (Hört, hört!) Solange sich die Menschen aus der Arbeiterklasse damit zufrieden gäben, zwanzig Jahre vor ihrer Zeit zu sterben, sehe er nicht ein, was das andere Leute anginge. 's gäbe doch keinen Mangel an Arbeitern, was? 's seien immer noch genug davon übrig! (Gelächter.) Solange die Leute aus der Arbeiterklasse gern absterben wollten, solle man sie doch absterben lassen! Man lebe doch in einem freien Land! (Beifall.) Die Arbeiterklasse habe doch wohl Dr. Schwächling nicht beauftragt, für sie einzutreten, wie? Wenn sie nicht zufrieden sei, solle sie doch für sich selbst eintreten! Die Arbeiter liebten es nicht, wenn Leute wie Dr. Schwächling für sie einträten, und das werden sie ihn schon wissen lassen, wenn die Zeit für die nächste Wahl gekommen sei. Wenn er (Schinder) ein weltlich gesinnter Mann wäre, ginge er eine Wette ein, dass die Arbeiter aus Dr. Schwächlings Wahlkreis ihm im nächsten November einen Tritt in den Hintern gäben. (Beifall.)
Ratsherr Schwächling, der wusste, dass dies wahrscheinlich der Wahrheit entsprach, erhob keinen weiteren Einspruch. Rushtons Antrag wurde angenommen, und danach teilte der Schreiber mit, der nächste Punkt auf der Tagesordnung sei der Antrag, den Mr. Didlum bei der letzten Ratstagung angemeldet habe, und daher erteilte der Bürgermeister diesem Herrn das Wort.
Ratsherr Didlum, der mit lautem Beifall begrüßt wurde, sagte, leider scheine ein gewisses Mitglied des Rats zu denken, es habe das Recht, gegen fast alles Einspruch zu erheben, was vorgebracht werde.
(Die Mehrheit der „Bande" starrte bösartig Schwächling an.)
Er hoffe, ausnahmsweise werde die von ihm gemeinte Person einmal den Anstand haben, sich im Zaum zu halten, da der Antrag, den zu stellen er (Didlum) die Ehre habe, ein Entschließungsentwurf sei, den seiner Meinung nach kein rechtdenkender Mann ablehnen könne, was auch immer seine politischen und religiösen Überzeugungen sein mochten, und er hoffe um der Ehre des Stadtrats willen, der Antrag werde im Sitzungsprotokoll als „einstimmig angenommen" vermerkt werden. Der Entschließungsentwurf lautete folgendermaßen:
„Vom heutigen Tage an werden alle Tagungen dieses Rates mit einem Gebet eröffnet und mit einem Choral beschlossen." (Lauter Beifall!)
Ratsherr Rushton unterstützte den Antrag, und dieser wurde auch von Mr. Schinder befürwortet, der meinte, in einer Zeit wie der gegenwärtigen, wo so viele Ungläubige herumliefen, die sagten, wir stammten alle von Affen ab, gebe der Stadtrat den Menschen aus der Arbeiterklasse ein gutes Beispiel, wenn er den Antrag annehme.
Ratsherr Schwächling sagte nichts; daher wurde die neue Regel nemine conlradicente angenommen, und da weiter nichts zu erledigen war, wurde sie unverzüglich zum ersten Mal angewendet, wobei Mr. Sweater den Gesang mit einer Papierrolle - der Zeichnung für die Abflussleitung der „Höhle" - dirigierte und jedes Ratsmitglied eine andere Melodie sang.
Schwächling entfernte sich während des Gesangs, und bevor sich die Mitglieder der Bande dann trennten, kam eine gewisse Anzahl von ihnen überein, sich am folgenden
Abend beim Chef in der „Höhle" zu treffen, um die Einzelheiten des im Zusammenhang mit dem Verkauf des Elektrizitätswerks beabsichtigten Raubzuges gegen den Stadtsäckel festzulegen.

 

41. Kapitel Vive le Systeme!

Die Änderungen im Kiosk auf der Großen Paradeallee, zu denen sich die Gemeinde verpflichtet hatte, verschafften etwa drei Wochen lang einer Anzahl von Tischlern und Stuckateuren Arbeit, und danach fanden dort noch einige Maler Beschäftigung. Diese Tatsache genügte, um dem Stadtrat bei der Verpachtung des Gebäudes an Schinder die bedingungslose Zustimmung der Arbeiter zu sichern, und diese lehnten ebenso von ganzem Herzen auch den Einspruch des Ratsherrn Schwächling ab, ohne sich zu bemühen, dessen Gründe kennen zu lernen und sie zu begreifen. Alles, was sie wussten und was sie kümmerte, war, dass er versucht hatte, die Arbeit zu verhindern, und dass er in beleidigenden Worten von den Arbeitern der Stadt gesprochen hatte. Welches Recht hatte er, sie halbverhungerte, verelendete arme Teufel zu nennen? Was die Armut betraf, so ging es ihm allen Berichten nach selbst nicht gerade rosig. Bei manchen von diesen Kerlen, die in Gehrock und Zylinderhüten umherstolzierten, würde es sich herausstellen, dass sie genauso knapp bei Kasse waren wie nur sonst jemand.
Und was die von der Gemeinde beschäftigten Arbeiter betraf, so war's ganz richtig, dass ihre Löhne herabgesetzt werden mussten. Warum sollten die mehr Geld bekommen als andere?
„Wir sind doch diejenigen, die das Geld aufbringen müssen", sagten sie. „Wir sind die Steuerzahler, und warum solln wir denen denn höhere Löhne zahlen, als wir selbst kriegen? Und warum sollen denn die, im Gegensatz zu uns, für Feiertage bezahlt werden?"
Während der nächsten Wochen hielt der Beschäftigungsmangel an, denn natürlich änderten die Arbeiten am Kiosk
und die wenigen anderen, die ausgeführt wurden, nicht viel an der allgemeinen Lage. Gruppen von Arbeitern standen an den Ecken oder schlenderten ziellos in den Straßen umher. Die meisten von ihnen machten sich gar nicht mehr die Mühe, zu den verschiedenen Firmen zu gehen und nach Arbeit zu fragen, denn für gewöhnlich wurde ihnen dort gesagt, man werde sie holen, sobald sie gebraucht würden.
Während dieser Zeit tat Owen sein Bestes, um die arideren Arbeiter zu seinen Ansichten zu bekehren. Er hatte eine kleine Bibliothek sozialistischer Bücher und Broschüren zusammengetragen und lieh davon denen, die er zu beeinflussen hoffte. Einige nahmen die Bücher und versprachen - mit einer Miene, als täten sie ihm einen großen Gefallen -, sie zu lesen. Wenn sie sie ihm dann zurückgaben, so geschah es in der Regel mit allgemein zustimmenden Bemerkungen; gewöhnlich aber wichen sie einer näheren Erörterung der Schriften aus, weil sie in neun von zehn Fällen nicht versucht hatten, sie zu lesen. Und bei denen, die sich tatsächlich mit halbem Herzen die Mühe machten, war meistens der Verstand durch die langen Jahre, in denen sie ihn nicht gebraucht hatten, dermaßen eingerostet und verkümmert, dass die Argumente - obwohl die Broschüren im allgemeinen in so einfachen Worten geschrieben waren, dass ein Kind sie hätte verstehen können - gewöhnlich nicht von den Leuten verstanden wurden, deren Hirne durch die ihnen von ihren liberalen oder konservativen Herren erzählten Märchen verblödet waren. Einige weigerten sich, Bücher und Broschüren überhaupt anzunehmen, wenn Owen anbot, sie ihnen zu leihen, und andere, die ihm den großen Gefallen taten, sie anzunehmen, prahlten danach, sie hätten sie als Klosettpapier benutzt.
Häufig ließ sich Owen in lange Diskussionen mit den anderen Arbeitern ein und sagte, es sei Pflicht des Staates, produktive Arbeit für alle zu beschaffen, die willens seien, sie zu leisten. Einige wenige hörten ihm zu, als verständen sie ihn zwar nur ungefähr, als seien sie jedoch bereit, sich überzeugen zu lassen.
„Freilich, Mann, 's stimmt schon, was du sagst", pflegten sie zu bemerken. „Irgendwas müsste getan werden."
Andere machten sich lustig über diese Lehre von der Beschäftigung durch den Staat: das war ja alles ganz schön und gut, aber woher sollte denn das Geld kommen? Hierauf fielen diejenigen, die geneigt gewesen waren Owen zuzustimmen, in ihre alte Apathie zurück.
Andere wiederum gab es, die ihm nicht so ruhig zuhörten, sondern heftig fluchten und brüllten, solche Kerle wie Owen seien es, die an der Wirtschaftskrise die Schuld trügen. Dieses ganze Gerede über den Sozialismus und die Beschäftigung durch den Staat scheuche das Kapital aus dem Land. Wer Geld besitze, habe Angst, es in der Industrie zu investieren oder irgendwelche Arbeiten ausführen zu lassen, aus Furcht, es werde ihnen geraubt werden. Als Owen Statistiken anführte, um zu beweisen, dass das letzte Jahr, was den Handel und die Produktion von Waren aller Art betraf, ein Rekordjahr gewesen war, wurden sie nur um so wütender und sprachen drohend von dem, was sie gerne mit den verfluchten Sozialisten täten, die alles durcheinander brächten.
Crass, einer der Verteidiger des herrschenden Systems, fuhr Owen eines Tages tüchtig über den Mund. Sie standen mit einer kleinen Gruppe von Leuten am Lohnsklavenmarkt in der Nähe des Springbrunnens und unterhielten sich. Im Laufe der Diskussion bemerkte Owen, unter den gegenwärtigen Umständen lohne es sich nicht zu leben, und Crass sagte, wenn er das wirklich meine, so liege kein Zwang dazu vor; wenn's ihm nicht gefalle -wenn er nicht zu leben wünsche -, könne er ja sterben. Warum zum Teufel ginge er denn nicht hin und schlage ein Loch ins Wasser oder schnitte sich die verdammte Kehle durch?
Diesmal war das Streitobjekt - zuerst - die kürzlich vorgenommene Gehaltserhöhung für den städtischen Gutachter auf siebzehn Pfund pro Woche. Owen erklärte, das sei Diebstahl, aber die Mehrheit der übrigen drückte ihre Zustimmung zu der Gehaltserhöhung aus. Sie fragten Owen, ob er von einem solchen Mann erwarte, dass der umsonst arbeite! Es sei doch nicht, als wäre er ihresgleichen! Und was den Diebstahl betreffe, meinten sie, so wäre Owen bestimmt froh, wenn er Gelegenheit hätte, das Geld selbst zu bekommen. Die meisten von ihnen schienen zu glauben, wenn jemand gern siebzehn Pfund in der Woche erhielte,
so beweise das, wie richtig es sei, dass sie dem städtischen Gutachter diese Summe bezahlten!
Gewöhnlich, wenn Owen über die grobe Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit der herrschenden gesellschaftlichen Unordnung nachdachte, gewann er die Überzeugung, dass sie auf keinen Fall von Dauer sein könne; infolge ihrer eigenen Fäulnis musste sie auseinander fallen. Sie war nicht gerecht, sie widersprach dem gesunden Menschenverstand, und daher konnte sie nicht überdauern. Jedes Mal aber nach einem solchen Gespräch oder vielmehr Streit mit seinen Arbeitskollegen fiel er beinahe wieder in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zurück; denn dann kam ihm zum Bewusstsein, wie weitläufig und wie stark die Festungswälle sind, die das gegenwärtige System umgeben - die großen Schanzen und Bollwerke der unbezwinglichen Unwissenheit, Apathie und Selbstverachtung, die niedergerissen werden müssen, ehe das Gesellschaftssystem, das sie schützen, fortgespült werden kann.
Zu anderen Zeiten wiederum kam ihm dieses großartige System, wenn er daran dachte, so absurd vor, dass es fast komisch wirkte, so dass er lachen musste und sich fragte, ob es tatsächlich existiere oder etwa nur ein Gespinst seines eigenen wirren Hirns sei.
Eines der Dinge, die Menschen benötigten, um existieren zu können, war eine Unterkunft; daher hatten sie in viel mühseliger Arbeit eine große Anzahl von Häusern gebaut. Tausende von diesen standen jetzt leer, während Millionen von Menschen, die beim Bau der Häuser geholfen hatten, entweder obdachlos waren oder in engen Hütten zusammengepfercht wohnten.
Diese menschlichen Wesen hatten ein so seltsames System, ihre Angelegenheiten zu regeln, dass jemand, der sich daranmachen wollte, eine große Anzahl von Häusern niederzubrennen, denen, die sie gebaut hatten, einen großen Gefallen täte, weil durch eine solche Handlung „'ne Menge Arbeit beschafft würde!"
Eine andere sehr komische Sache war, dass Tausende von Menschen zerrissene Stiefel und zerlumpte Kleidung trugen, während Millionen Paar Stiefel und eine Unmenge von Kleidungsstücken, bei deren Herstellung sie geholfen hatten, in Warenlagern eingeschlossen waren, und das System hatte die Schlüssel.
Tausenden von Menschen fehlte es an den lebensnotwendigen Dingen. Alle lebensnotwendigen Dinge werden durch die Arbeit hergestellt. Die Menschen, denen sie fehlten, bettelten um die Erlaubnis, arbeiten und die Dinge, deren sie bedurften, herstellen zu dürfen. Das System hinderte sie jedoch daran, es zu tun.
Fragte jemand das System, weshalb es diese Leute daran hinderte, die Dinge zu produzieren, an denen es ihnen mangelte, so antwortete es: „Weil sie schon zuviel produziert haben. Die Märkte sind übersättigt. Die Lagerhäuser sind zum Bersten gefüllt, und es gibt für diese Leute nichts mehr zu tun."
Es existierte eine riesige Anhäufung aller notwendigen Dinge. Eine große Anzahl der Menschen, deren Arbeit diesen großen Vorrat produziert hatte, lebten jetzt in Not; das System aber sagte, man könne ihnen nicht gestatten, an den Dingen teilzuhaben, die sie geschaffen hatten. Und dann, nach einiger Zeit, wenn diese Menschen auf die letzte Stufe des Elends hinabgedrückt worden waren und sich laut darüber beschwerten, dass sie und ihre Kinder am Verhungern waren, schloss das System widerwillig die Tore der großen Lagerhäuser auf, nahm einen kleinen Teil der dort aufbewahrten Dinge heraus und verteilte sie unter die hungernden Arbeiter, wobei es sie daran erinnerte, dies sei nichts als Barmherzigkeit, denn alle Dinge in den Lägern seien jetzt das Eigentum der Nichtstuer, obgleich sie von den Arbeitern hergestellt worden waren.
Und dann fielen die hungernden, stiefellosen, zerlumpten und dummen armen Teufel nieder und beteten das System an; sie boten für seine Altäre ihre Kinder als lebende Opfer dar und sagten dazu:
„Dieses wunderschöne System ist das einzig mögliche und das beste, das menschliche Weisheit ersinnen kann. Das System möge ewig leben! Verflucht seien jene, die das System zu zerstören suchen!"
Als sich die Widersinnigkeit der Sache Owens Bewusstsein aufdrängte, musste er laut lachen, trotz des Kummers, den er beim Anblick all des ihn umgebenden Elends empfand, und er sagte sich, wenn er bei Verstand sei, müssten alle diese Leute wahnsinnig sein.
Angesichts so riesenhafter Dummheit war es absurd, auf eine unmittelbar bevorstehende Besserung zu hoffen. Das wenige bereits Erreichte war das Werk einiger sich aufopfernder Enthusiasten, die gegen den Widerstand derer ankämpften, denen sie zu nützen suchten, und das Ergebnis ihrer Arbeit war in vielen Fällen gleich Perlen, die vor die Säue geworfen wurden, während diese bereitstanden und nur auf eine Gelegenheit warteten, sich auf ihre Wohltäter zu stürzen und sie zu verschlingen.
Es gab nur eine Hoffnung. Es war möglich, dass die Monopolisten, durch die außerordentliche Dummheit und Apathie der Menschen ermutigt, ihnen eine noch größere Last aufbürdeten, bis sich diese armen Teufel schließlich, angestachelt durch ihre Leiden und da ihr unbeholfener Verstand keinen anderen Ausweg sah, gegen ihre Unterdrücker wendeten und diese samt deren System in einem Meer von Blut ertränkten.
Neben der Arbeit am Kiosk begannen sich die Dinge gegen Ende März nach und nach auch anderswo zu bessern. Mehrere Firmen gingen dazu über, ein paar Arbeiter einzustellen. Einige große Häuser, die vermietet worden waren, mussten für neue Mieter hergerichtet werden, und in anderen ergaben sich aus dem jährlichen Frühjahrs-Großreinemachen eine ansehnliche Menge von Innenarbeiten. Es war zwar nicht genügend Arbeit vorhanden, um alle zu beschäftigen, und die meisten von denen, die eingestellt wurden, brachten es in der Regel nur auf einige Stunden Arbeitszeit in der Woche; das war jedoch besser als völlige Arbeitslosigkeit, und man begann auch von mehreren großen Außenarbeiten zu sprechen, die in Angriff genommen werden sollten, sobald das Wetter beständig würde.
Das schlechte Wetter war, nebenbei gesagt, eine Art Geschenk für die Verteidiger des gegenwärtigen Systems, denen es an vernünftigen Argumenten fehlte, um die Ursache der Armut erklären zu können. Eine der Hauptursachen war natürlich das Wetter, das alles aufhielt. Es bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass es stets reichlich Arbeit gäbe und die Armut abgeschafft würde, wenn das Wetter es nur zuließe.
Rushton & Co. erhielten einen beträchtlichen Anteil an den vorhandenen Aufträgen, und Crass, Sawkins, Slyme und Owen wurden ziemlich regelmäßig beschäftigt, obgleich sie erst um halb neun mit der Arbeit begannen und bereits um vier Uhr Feierabend machten. In mehreren Häusern in den verschiedensten Stadtteilen mussten sie Decken abwaschen und tünchen, alte Tapeten von den Wänden reißen und die Zimmer neu anstreichen und tapezieren, und zuweilen mussten Rolläden repariert und gestrichen werden. Gelegentlich wurden für einige Tage ein paar Arbeiter zusätzlich beschäftigt und wieder entlassen, sobald die Arbeit beendet war, für die man sie eingestellt hatte.
Die Verteidiger des herrschenden Systems mögen vielleicht glauben, das Bewusstsein, dass sie entlassen würden, sobald die Arbeit getan war, sei ein sehr guter Anreiz zum Fleiß, und natürlich täten sie unter diesen Umständen ihr Bestes, um mit der Arbeit so schnell wie nur möglich fertig zu werden. Aber man darf nicht vergessen, dass die meisten unter den Verteidigern des herrschenden Systems so veranlagt sind, dass sie alles glauben können, vorausgesetzt, es ist nicht wahr und ist genügend dumm.
Trotzdem war es so, dass die Arbeiter ihr Bestes taten, die Arbeit so schnell wie möglich zu schaffen, denn sie wussten zwar, dass es ihrem eigenen Interesse widersprach, das zu tun, doch sie wussten auch, dass es ihrem Interesse sehr widersprochen hätte, es nicht zu tun. Ihre einzige Aussicht darauf, weiterbeschäftigt zu werden, wenn neue Aufträge kamen, war, sich ins Zeug zu legen, so sehr sie nur konnten. Infolgedessen wurde der größte Teil der Arbeit überstürzt, gepfuscht, geschludert und in der Hälfte der Zeit überschmiert, die nötig gewesen wäre, um sie ordentlich auszuführen. Zimmer, für die der Kunde drei Anstriche bezahlte, wurden ein- oder zweimal überpinselt. Was Elend über das Pfuschen und Betrügen bei der Arbeit noch nicht wusste, schlugen ihm die Arbeiter vor und zeigten sie ihm
in der Hoffnung, Gnade in seinen Augen zu finden, damit sie den anderen vorgezogen und geholt würden, wenn der nächste Auftrag kam. Das Hauptanreizmittel, welches das gegenwärtige System bietet, ist der Betrug. Diese Leute betrogen die Kunden um ihr Geld. Sie betrogen sich selbst und ihre Arbeitskollegen um die Arbeit und ihre Kinder um das Brot; aber all das geschah zu einem guten Zweck -nämlich, um für ihren Herrn Profite zu schaffen.
Harlow und Slyme führten eine Arbeit aus - sie richteten ein Zimmer her, das dreimal zu streichen Rushton & Co. sich verpflichtet hatten. Nach zwei Anstrichen war es fertig, und die Arbeiter räumten ihre Farbtöpfe fort. Als Slyme am nächsten Tag dorthin ging, um das Zimmer zu tapezieren, sagte die Hausfrau, die Malerarbeiten seien noch nicht beendet - ein Anstrich fehle noch. Slyme versicherte ihr, es seien bereits drei gemacht worden; da die Frau aber auf ihrer Meinung bestand, ging Slyme in den Laden und holte Elend. Harlow hatte aussetzen müssen, da gerade kein anderer Auftrag „hereingekommen" war, glücklicherweise aber stand er zufällig auf der Straße vor der Werkstatt; sie riefen ihn also, und alle drei gingen zu der Arbeitsstelle hinüber und schworen, das Holzwerk des Zimmers habe drei Anstriche erhalten. Die Dame widersprach, dem sei nicht so. Sie habe den Verlauf der Arbeit beobachtet. Außerdem sei es unmöglich; sie seien ja nur drei Tage dort gewesen. Am ersten Tag hätten sie überhaupt nichts gestrichen; sie hätten die Decke hergerichtet und die Tapete von den Wänden gerissen; erst am zweiten Tag hätten sie mit dem Streichen begonnen. Wie könnten also drei Anstriche gemacht worden sein? Elend erklärte das Geheimnis: er sagte, für den ersten Anstrich hätten sie eine ganz besondere, sehr schnell trocknende Farbe genommen -eine Farbe, die so schnell trocknete, dass sie zwei Anstriche an einem Tag vornehmen konnten. Ein Mann striche zum Beispiel das Fenster, der zweite die Tür; seien sie damit fertig, so begäben sich beide an die Scheuerleisten; hätten sie diese gestrichen, so seien inzwischen die Tür und das Fenster genügend getrocknet, um den zweiten Anstrich zu erhalten, und am folgenden Tag würde der letzte vorgenommen.
Natürlich sei diese besondere schnelltrocknende Farbe sehr teuer, aber der Firma mache das nichts aus. Sie wisse, dass die meisten Kunden die Arbeit so schnell wie möglich zu Ende geführt haben wollten, und sie bemühe sich, ihre Kunden zufrieden zu stellen. Diese Erklärung genügte der Dame - einer armen Witwe, die sich notdürftig durch Zimmervermieten ihren Lebensunterhalt verdiente -, und sie ließ sich um so leichter betrügen, als sie Elend für einen sehr frommen Mann hielt, da sie ihn häufig auf der Straße beim Predigen gesehen hatte.
Eine andere Arbeit, gleichfalls in einem Fremdenheim, wurde von Owen und Easton ausgeführt; zwei Zimmer sollten dreimal mit Farbe gestrichen und einmal lackiert werden, das machte im ganzen vier Anstriche. So lautete die Verpflichtung, welche die Firma übernommen hatte. Da die alte Farbe in diesen Zimmern von ziemlich dunklem Ton gewesen war, ließ es sich absolut nicht umgehen, drei Farbanstriche vorzunehmen, ehe lackiert werden konnte. Elend wünschte, es bei zwei Anstrichen zu belassen; Owen machte ihn jedoch darauf aufmerksam, wenn sie das täten, werde es so scheußlich aussehen, dass ihnen die Arbeit niemals abgenommen würde. Nachdem Elend einige Minuten lang über die Sache nachgedacht hatte, wies er sie an, den dritten Anstrich vorzunehmen. Dann ging er nach unten und verlangte die Hausherrin zu sprechen. Er erklärte ihr, da die alte Farbe so dunkel gewesen sei, habe es sich als notwendig erwiesen, vor dem Lackieren viermal zu streichen, damit die Arbeit gut werde. Freilich sei verabredet worden, nur dreimal zu streichen; da der Firma aber stets daran liege, eine Arbeit erstklassig auszuführen und nicht eine schlechte Arbeit zu liefern, werde sie den letzten Anstrich auch unentgeltlich ausführen; er sei jedoch sicher, das wünsche die Dame nicht. Diese sagte, sie wolle nicht, dass sie umsonst arbeiteten, und sie wünsche, dass die Arbeit richtig ausgeführt werde. Sei es nötig, noch einen Anstrich vorzunehmen, so müssten sie es eben tun, sie werde dafür zahlen. Wie viel sollte es kosten? Elend teilte ihr den Preis mit. Die Dame war einverstanden, und Elend befand sich im siebenten Himmel. Dann ging er wieder nach oben und schärfte Owen und Easton ein, wenn sie gefragt würden, sollten sie auch bestimmt sagen, es seien vier Anstriche vorgenommen worden.
Es wäre unvernünftig, wollte man Elend oder Rushton Vorwürfe machen, weil sie keine gute, ehrliche Arbeit ausführen wollten - hierzu gab es ja gar keinen Anreiz. Wenn sie einen Kontrakt abschlossen und zuerst daran gedacht hätten, die Arbeit so gut wie möglich zu leisten, so hätten sie nicht soviel Profit gemacht. Es bestand kein Anreiz dafür, die Arbeit möglichst gut auszuführen, sondern nur dafür, so wenig wie nur irgend möglich zu tun. Es war kein Anreiz vorhanden, gute Arbeit zu leisten, sondern nur der, sich einen guten Profit zu sichern.
Dieselbe Regel galt auch für die Arbeiter. Man konnte sie gerechterweise nicht dafür tadeln, dass sie keine gute Arbeit leisteten - es gab keinen Anreiz hierzu. Eine gute Arbeit zu leisten erfordert Zeit und Mühe. Die meisten unter ihnen hätten gern Zeit und Mühe angewandt, denn jeder, der fähig ist, eine gute Arbeit zu leisten, findet Freude und Glück in ihrer Ausführung und ist stolz auf sie, wenn sie getan ist; aber es bestand kein Anreiz dazu, wenn man nicht die Gewissheit, entlassen zu werden, einen Anreiz nennen will; denn es war von vornherein gewiss, dass ein Mann, der dabei erwischt wurde, Zeit und Mühe auf seine Arbeit zu verwenden, unverzüglich an die Luft gesetzt wurde. Es gab jedoch reichlich Anreiz zu hetzen, zu schludern und zu pfuschen.
Ein andermal hatte die Firma den Auftrag, in einem Fremdenheim zwei Zimmer zu streichen und zu tapezieren. Der Wirt zahlte für die Arbeit; die Mieterin hatte jedoch das Recht, sich die Tapete auszuwählen. Sie konnte jedes Muster haben, solange es nicht teurer war als ein Schilling die Rolle, denn Rushtons Kostenanschlag bezog sich auf eine Tapete in dieser Preislage. Elend sandte der Mieterin zur Auswahl mehrere Tapetenmuster zu sechs Pence die Rolle, die mit einem Preis von einem Schilling ausgezeichnet waren; da ihr aber keine davon gefiel, sagte sie, sie werde zum Laden gehen und dort ihre Wahl treffen. Deshalb raste Hunter in großer Eile dahin, um vor ihr dort zu sein. In seiner Hast, vom Fahrrad abzusteigen, fiel er hinunter und auf die schmutzige Straße, und fast hätte er die Schaufensterscheibe mit seiner Lenkstange eingeschlagen, als er das Rad vor den Laden stellte, um hineinzugehen.
Ohne erst seinen Anzug vom Straßenschmutz zu säubern, befahl er Budd, dem pickligen Verkäufer, sämtliche Rollen aller Tapeten zu sechs Pence, die sie besaßen, hervorzuholen; dann begaben sich beide an die Arbeit und änderten den darauf vermerkten Preis von sechs Pence in einen Schilling um. Danach holten sie eine Anzahl von Tapetenrollen zu einem Schilling heraus und änderten den darauf stehenden Preis, indem sie aus einem Schilling anderthalb machten.
Als die unglückliche Frau ankam, erwartete Elend sie bereits mit wohlwollendem Lächeln auf seinem langen Gesicht. Er zeigte ihr alle Muster zu sechs Pence, aber ihr gefiel keins darunter; daher bemerkte Nimrod nach einer Weile, vielleicht ziehe sie eine Tapete von etwas besserer Qualität vor, sie könne die kleine Differenz ja aus ihrer eigenen Tasche bezahlen. Danach zeigte er der Dame die Tapeten zu einem Schilling, die er mit einem Schilling sechs Pence ausgezeichnet hatte, und schließlich wählte sie eine von diesen und zahlte selbst, wie Nimrod vorgeschlagen hatte, sechs Pence pro Rolle dazu. Im ganzen waren es fünfzehn Rollen Tapete - sieben für ein Zimmer und acht für das andere, so dass die Firma außer dem üblichen Profit am Verkauf der Tapete, der etwa zweihundertfünfundsiebzig Prozent betrug, aus diesem Geschäft noch sieben Schilling sechs Pence zusätzlich herausschlug. Die Arbeit selbst hätte ihr noch mehr eingebracht, wäre Slyme nicht für das Tapezieren im Akkordlohn bezahlt worden; denn da in beiden Zimmern das gleiche Muster geklebt wurde, hätte er gut mit vierzehn Rollen auskommen können; das war es auch, was er wirklich verbrauchte. Die übrig gebliebene Rolle zerschnitt er jedoch und vernichtete sie teilweise, damit er das Kleben für sie anrechnen konnte.
Owen arbeitete dort gleichzeitig mit Slyme, denn das Holzwerk wurde nicht vor dem Tapezieren der Zimmer gestrichen; der letzte Anstrich wurde erst vorgenommen, nachdem die Tapete schon geklebt war. Er bemerkte, wie Slyme die Rolle zerstörte, und da er den Grund dafür erriet, fragte er Slyme, wie der ein solches Verhalten mit seinem religiösen Bekenntnis vereinen könne.
Slyme erwiderte, dass er Christ sei, bedeute ja nicht, er tue nie etwas Unrechtes; beginge er aber eine Sünde, so sei er noch immer Christ, und um Christi Blut willen werde sie ihm vergeben werden. Und was die Sache mit der Tapete betreffe, so sei das eine Angelegenheit zwischen ihm und Gott, und Owen habe kein Recht, sich als Richter aufzuspielen.
Neben diesen Arbeiten gab es auch eine Anzahl von Beerdigungen. Crass und Slyme verdienten recht gut an all dem; den ganzen Tag über waren sie mit Weißen oder Malen beschäftigt, und während eines Teils der Nacht strichen sie zuweilen noch Rolläden an, oder sie polierten und lieferten Särge, ganz zu schweigen davon, dass sie die Leichen in den Sarg betteten und danach das Amt des Leichenträgers verrichteten.
Im Laufe der Zeit nahm die Anzahl der kleinen Aufträge zu, und als die Tage länger wurden, durften die Arbeiter ihre Arbeitszeit verlängern. Die meisten Firmen hatten ein wenig Arbeit; diese reichte jedoch niemals aus, um alle Männer der Stadt gleichzeitig zu beschäftigen. Die Sache wurde folgendermaßen gehandhabt: Jede Firma hatte eine gewisse Anzahl von Leuten, die als ihre ständigen Arbeiter galten. War Arbeit vorhanden, so wurden sie Fremden oder Außenseitern vorgezogen. War viel zu tun, so wurden vorübergehend auch Außenseiter eingestellt. Ließ das Geschäft nach, so waren die Aushilfsarbeiter die ersten, die „feiern" mussten. Ließ das Geschäft weiter nach, so mussten die alten Arbeiter gleichfalls in der Reihenfolge ihrer Beschäftigungsdauer aussetzen; die älteren Arbeiter wurden fremden vorgezogen - vorausgesetzt freilich, dass sie nicht alt im Sinne von bejahrt oder untüchtig waren.
So ging es gewöhnlich während des ganzen Frühlings und des Sommers weiter. In guten Jahren gelang es den Arbeitern sämtlicher Berufszweige, den Tischlern, den Maurern, den Stuckateuren, den Malern und den übrigen, fast regelmäßig Arbeit zu haben, ausgenommen, wenn nasses Wetter herrschte.
Der Unterschied zwischen einem guten Frühling oder Sommer und einem schlechten ist, dass in guten Jahren zuweilen einige Überstunden gemacht werden können und die Perioden der Arbeitslosigkeit kürzer und seltener sind als in schlechten. Selbst in guten Jahren geschieht es nicht oft, dass ein Aushilfsarbeiter länger als ein, zwei oder drei Monate ohne Unterbrechung von einer Firma beschäftigt wird. Gewöhnlich arbeiten sie einen Monat lang bei einer Firma, danach vierzehn Tage bei einer anderen, dann vielleicht sechs Wochen lang an einer dritten Stelle, und oft liegen dazwischen zwei, drei Tage oder selbst Wochen erzwungener Untätigkeit. So geht es während des ganzen Frühlings, Sommers und Herbstes.

 

42. Kapitel Die Ostergabe. Der Betriebsausflug

Anfang April wurde bei der Firma Rushton & Co. wieder neun Stunden am Tag gearbeitet - von sieben Uhr morgens bis fünf Uhr dreißig nachmittags, und nach Ostern begann man den vollen Arbeitstag von sechs Uhr morgens bis fünf Uhr dreißig nachmittags auszunutzen; das waren elf Stunden täglich oder vielmehr zehn Stunden, denn eine halbe Stunde ging für das Frühstück und eine Stunde für das Mittagessen verloren.
Kurz vor Ostern fragten einige der Arbeiter Hunter, ob sie am Karfreitag und Ostermontag arbeiten dürften, denn, so meinten sie, während des Winters hätten sie genügend Feiertage gehabt; sie hätten kein Geld übrig, um Urlaub zu machen und wollten nicht den Lohn von zwei Tagen verlieren, wenn es Arbeit gebe. Hunter erklärte ihnen, es seien nicht genügend Aufträge vorhanden, damit er es verantworten könne, ihre Bitte zu erfüllen - das Geschäft sei wieder sehr am Abflauen, und Mr. Rushton habe beschlossen, die Arbeit von Donnerstag Abend bis Dienstag morgen einzustellen. Auf diese Weise wurden sie daran gehindert, am Karfreitag zu arbeiten; zum Gottesdienst ging jedoch nicht mehr als ein Arbeiter von fünfzig an diesem oder einem anderen Tag während des Osterfestes. Im Gegenteil, das Fest war ein Anlass zum Fluchen und zum Lästern für die, deren Geldnot und Armut es verschlimmern half, indem es sie zu nutzlosem Müßiggang zwang, den zu genießen sie ja nicht die Mittel hatten.
Während der Feiertage führten einige der Arbeiter auf eigene Rechnung kleine Aufträge aus, und andere brachten ihre gesamte Zeit, einschließlich des Karfreitags und des Ostersonntags, damit zu, in ihren Gärtchen zu arbeiten, zu graben und zu pflanzen.
Als Owen eines Abends während der Woche vor Ostern nach Hause kam, gab Frankie ihm einen Briefumschlag, den er in der Schule erhalten hatte. Darin war ein gedrucktes Flugblatt enthalten:

KIRCHE DES ÜBERTÜNCHTEN GRABES MUGSBOROUGH
Ostern 19 .. Sehr geehrter Herr, sehr verehrte Dame!
Getreu unserer Sitte laden wir Sie herzlichst ein, sich uns bei der Überreichung einer Ostergabe an den Vikar Herrn Pfarrer Habakuk Schwätzer als Beweis unserer Zuneigung und Hochachtung anschließen zu wollen.
Hochachtungsvoll
W. Schneider A. Käsemann
Mitglieder des Kirchenrats.

Das Einkommen Mr. Schwätzers aus verschiedenen mit der Kirche verbundenen Quellen betrug über sechshundert Pfund jährlich oder etwa zwölf Pfund die Woche; da diese Summe jedoch offensichtlich nicht ausreichte, bedienten sich seine Bewunderer dieses Kunstgriffs, um sie zu erhöhen. Frankie erzählte, alle Jungen hätten einen solchen Brief erhalten und wollten ihre Väter um etwas Geld für die Ostergabe bitten. Die meisten erwarteten zwei Pence.
Da der Junge offenbar sein Herz daran gehängt hatte, das gleiche zu tun wie die übrigen Kinder, gab ihm Owen die zwei Pence, und später hörten sie, die Ostergabe betrage in diesem Jahr hundertsiebenundzwanzig Pfund; sie stammte aus den Summen, welche die Kinder, die Distriktbesucherinnen und der Kirchendiener von den Gemeindemitgliedern gesammelt hatten, sowie aus einer bei einem Sondergottesdienst veranstalteten Sammlung und aus Spenden der bereits erwähnten halb schwachsinnigen alten Frauen.
Bis Ende April waren fast alle Stammarbeiter wieder beschäftigt, und dazu waren noch mehrere Gelegenheitsarbeiter eingestellt worden, darunter auch der Halbbetrunkene. Außerdem hatte Elend noch einige Fliegengewichtler - wie er sie nannte - eingestellt, Leute, die keine wirklichen Facharbeiter waren, sich aber in den einfacheren Dingen des Handwerks genügend Kenntnisse angeeignet hatten, um einigermaßen zurechtzukommen. Sie erhielten einen Lohn von fünf Pence oder fünfeinhalb Pence und wurden Leuten vorgezogen, die eine Lehre durchgemacht hatten; denn diese verlangten höhere Löhne und wurden deshalb nur dann beschäftigt, wenn es unumgänglich notwendig war. Neben den Fliegengewichtlern arbeiteten noch ein paar junge Burschen dort, so genannte Jung-Gesellen, die gleichfalls beschäftigt wurden, weil es billige Arbeitskräfte waren.
Crass betätigte sich jetzt als Farbenmischer; dazu war er vermutlich deshalb ernannt worden, weil er absolut nichts von den Gesetzen der Farbenzusammenstellung verstand. Da es sich bei den meisten Aufträgen um kleinere Arbeiten handelte, wurden die Farben und Tünchen in der Werkstatt gemischt und gebrauchsfertig an die verschiedenen Arbeitsstellen geschickt.
Gewöhnlich trug Sawkins oder ein anderer Fliegengewichtler die schwereren Mengen Farbe oder die Gerüstteile; die kleineren Mengen aber und Dinge wie eine Stehleiter oder ein Brett wurden meistens vom Jungen gebracht, dessen schlanke Beine bereits ganz krumm geworden waren, seit er damit beschäftigt war, den anderen Menschenfreunden beim Geldverdienen für Mr. Rushton zu helfen.
Crass' Aufgabe als Farbenmischer wurde bis zu einem gewissen Grade durch die große Anzahl Spezialfarben und -tünchen aller Schattierungen vereinfacht, die von den Herstellerfirmen gebrauchsfertig geliefert wurden. Die meisten dieser neumodischen Gemengsei wurden von den Arbeitern mit Misstrauen und Abneigung betrachtet, und Philpot brachte eines Tages während des Mittagessens die allgemein herrschende Meinung zum Ausdruck, als er sagte, 'ne Zeitlang sähen sie vielleicht ganz gut aus, halten würden sie jedoch wahrscheinlich nicht, denn sie beständen ja zumeist aus „Kimikalien".
Eine dieser neumodischen Farben hieß „Versteinerungsflüssigkeit" und wurde als erster Anstrich auf zerbröckelndem Stein oder Gips benutzt; sie sollte eigentlich ebenfalls zur Verdünnung einer gewissen Sorte Patenttünche gebraucht werden; als Elend jedoch entdeckte, dass diese sich auch mit Wasser verdünnen ließ, wurde keine „Versteinerungsflüssigkeit" mehr zu diesem Zweck benutzt. Diese „Versteinerungsflüssigkeit" gab Anlass zu vielen unschuldigen Scherzen unter den Arbeitern. Der Name wurde auf den Tee angewandt, den sie an einigen Arbeitsstellen in Eimern bereiteten, und ebenfalls auf das in gewissen Wirtshäusern ausgeschenkte Starkbier.
Eine der neuen Erfindungen wurde von den Arbeitern mit einer gewissen Empörung aufgenommen; es war ein weißer Emaillelack, und sie waren aus zwei Gründen dagegen eingenommen: einmal, weil er, wie Philpot bemerkte, so schnell trocknete, dass man „wie ein geölter Blitz" arbeiten musste; gleich nachdem man angefangen hatte, musste die ganze Tür gestrichen sein.
Zum anderen war es notwendig, da der Lack so schnell trocknete, Türen und Fenster des Zimmers, in dem er verwendet wurde, geschlossen zu halten, und der Geruch war so furchtbar, dass er Schwindel- und zuweilen Brechanfälle verursachte. Wie wohl kaum erwähnt zu werden braucht, sah Elend es als eine Empfehlung an, dass das Zeug die Arbeiter, die es benutzten, zur Eile zwang.
Was den Geruch betraf, so kümmerte ihn der nicht; er selbst brauchte die Gase ja nicht einzuatmen.
Gerade um diese Zeit beschloss Crass nach gebührender Beratung mit einigen der anderen, darunter Philpot, Harlow, Bundy, Slyme, Easton und der Halbbetrunkene, eine Versammlung der Arbeiter einzuberufen, um zu besprechen ob sie später, im Sommer, den üblichen Betriebsausflug unternehmen wollten. Die Versammlung wurde eines Abends um sechs Uhr unten im Gerätehof in der Tischlerwerkstatt abgehalten, so dass alle daran Interessierten nach der Arbeit Zeit dazu hatten.
Die Leute saßen auf den Bänken, auf den Tischlerschemeln oder lehnten auf Hobelspanhaufen. Mitten in der Werkstatt stand auf ein paar Böcken ein großer Eichenholzsarg, den Crass gerade fertigpoliert hatte.
Als alle, auf die man so wartete, erschienen waren, wurde Payne, der Vorarbeiter der Tischler - der Mann, der die Särge herstellte -, auf Vorschlag von Crass, unterstützt von Philpot, zum Versammlungsleiter gewählt; danach herrschte feierliches Schweigen, das schließlich vom Versammlungsleiter unterbrochen wurde, der in einer längeren Ansprache den Zweck der Zusammenkunft erklärte. Vielleicht in dem lobenswerten Wunsch, keinerlei Missverständnis aufkommen zu lassen, nahm er sich die Mühe, die Sache mehrmals zu erklären, wobei er immer wieder auf das bereits Gesagte zurückkam und die gleichen Worte ständig von neuem wiederholte, während seine Zuhörer in tödlichem, verlegenem Schweigen darauf warteten, dass er endlich aufhören möge. Payne schien jedoch keineswegs schweigen zu wollen, denn wie ein Mann im Trancezustand fuhr er fort zu wiederholen, was er bereits gesagt hatte, anscheinend in der Meinung, er müsse die Sache jedem einzelnen der Versammelten gesondert erklären. Endlich konnten es die Zuhörer nicht länger aushalten; sie begannen „Hört, hört!" zu rufen und mit Holzstücken und Hämmern auf den Fußboden und die Bänke zu klopfen; da ließ sich der Versammlungsleiter - nach einer letzten Wiederholung der Feststellung, die Zusammenkunft sei einberufen worden, um darüber zu sprechen, ob es ratsam sei, einen Ausflug oder ein „Betriebsfest" zu veranstalten - auf einen Tischlerschemel fallen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Nun erinnerte Crass die Versammelten daran, dass der Betriebsausflug im letzten Jahr ein glänzender Erfolg gewesen sei, und was ihn betreffe, so täte es ihm sehr leid, wenn dieses Jahr keiner stattfände. Letztes Jahr hatte sie vier Kutschen gehabt und seien nach Tubberton Village gefahren.
Freilich gebe es in Tubberton nicht viel zu sehen, aber eins könnten sie auf jeden Fall dort erhalten, was sie nirgends mit Gewissheit für das gleiche Geld erhielten, nämlich ein gutes Essen. (Beifall.) Damit sie schnell vorankämen, schlage er vor, sie sollten beschließen, nach Tubberton zu fahren und auch ein Komitee zu ernennen, um wegen des Essens mit dem Wirt des Gasthauses zur Königin Elisabeth in dem genannten Ort zu verhandeln.
Philpot unterstützte den Antrag, und Payne schickte sich gerade an, darüber durch Handzeichen abstimmen zu lassen, als sich Harlow zur Geschäftsordnung meldete. Ihm schien, sie gingen ein wenig zu schnell vor. Die richtige Weise, die Sache anzupacken, sei, zuerst einmal festzustellen, ob die Versammelten überhaupt einen Betriebsausflug zu unternehmen wünschten, und wenn sie sich dafür entschieden, könnten sie danach festlegen, wohin sie fahren wollten und ob es ein ganztägiger oder nur ein halbtägiger Ausflug werden solle.
Der Halbbetrunkene meinte, es schere ihn nicht einen furchtbaren Ausdruck, wohin sie gingen; er sei stets bereit, sich der Entscheidung der Mehrheit zu fügen. (Beifall.) Ihm sei es gleich, ob sie einen Ganztags- oder Halbtags oder einen Zweitageausflug machten; ihm sei alles recht.
Easton schlug vor, ein Eisenbahnsonderabteil zu mieten und nach London in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett zu fahren. Er sei noch nie dort gewesen und habe sich häufig gewünscht, es einmal zu sehen. Philpot erhob jedoch den Einwand, wenn sie dorthin gingen, könnte Madame Tussaud sie vielleicht nicht wieder herauslassen.
Bundy unterstützte Crass' Worte über Tubberton. Gleichgültig, wohin sie auch gingen - nirgends erhielten sie soviel für ihr Geld wie letztes Jahr in der „Königin Elisabeth". (Beifallsrufe!)
Der Versammlungsleiter sagte, er erinnere sich sehr gut an den letzten Betriebsausflug. Sie hätten den halben Tag genommen und am Sonnabend um zwölf Uhr anstatt um eins mit der Arbeit aufgehört, so dass sie nur einen Stundenlohn verloren; dann seien sie nach Hause gegangen,
hätten sich gewaschen und umgezogen und seien um ein Uhr bei den „Cricketers" gewesen, wo die Kutschen auf sie warteten. Dann hätten sie die zweistündige Fahrt nach Tubberton gemacht und seien unterwegs im „Blauen Löwen", im „Kriegerhaupt", im „Spatz in der Hand", in der „Tautropfenschenke" und der „Umgekehrten Welt" eingekehrt, um einige Glas Bier zu trinken. (Beifall.) Sie seien um drei Uhr dreißig in der „Königin Elisabeth" angelangt; das Essen habe schon bereitgestanden und sei eine der „pfundigsten Angelegenheiten" gewesen, die er je erlebt habe. (Hört, hört!) Es habe Suppe, Gemüse, Roastbeef Hammelbraten, Lämmerbraten mit Pfefferminzsauce Pflaumenpudding, Yorkshirepudding und noch vieles andere gegeben. Der Wirt der „Königin Elisabeth" hielte einen solchen Tropfen Bier, wie man ihn sich nur wünschen könne, und was die Abstinenzler betreffe, so haben sie Tee, Kaffee oder Ingwerbier trinken können.
Nachdem Payne auf diese Weise von neuem den Anfang gemacht hatte, fand er es sehr schwer innezuhalten und wollte fortfahren, weitere Einzelheiten des letzten Betriebsausflugs aufzuzählen, als Harlow sich wieder von seinem Hobelspanhaufen erhob und erklärte, er möchte den Versammlungsleiter zur Ordnung rufen. (Hört, hört!) Was zum Teufel nütze denn die ganze Diskussion, ehe sie nicht entschieden hätten, ob sie überhaupt einen Betriebsausflug unternehmen wollten! War die Versammlung für einen Betriebsausflug oder nicht, das sei die Frage.
Nun folgte langes, unbehagliches Schweigen. Alle fühlten sich sehr verlegen und blickten unbeweglich zu Boden oder starrten gerade vor sich hin.
Endlich brach Easton das Schweigen und meinte, es wäre kein schlechter Gedanke, wenn jemand den Antrag stellte, es solle beschlossen werden, einen Betriebsausflug zu veranstalten. Das wurde mit allgemeinem Gemurmel: „Hört, hört!" aufgenommen, und darauf folgte wieder eine verlegene Pause; nun fragte der Versammlungsleiter Easton, ob er den Antrag stellen wolle. Nach einigem Zögern erklärte sich Easton bereit und stellte formell den Antrag, dass „die hier Versammelten sich für einen Betriebsausflug entscheiden".
Der Halbbetrunkene erklärte, damit sie vorankämen, wolle er den Antrag unterstützen. Inzwischen war jedoch ein Streit zwischen den Befürwortern verschiedener Lokale entbrannt, und mehrere Leute begannen, Anekdoten über frühere Betriebsausflüge zu erzählen. Fast alle sprachen gleichzeitig, und es verging eine geraume Weile, bis der Versammlungsleiter den Antrag zur Abstimmung stellen konnte. Da er es unmöglich fand, sich inmitten des Lärms Gehör zu verschaffen, begann er, mit einem Holzhammer auf die Bank zu schlagen und mit lauter Stimme „Ordnung!" zu rufen; das diente jedoch nur dazu, das Getöse noch zu steigern. Einige blickten ihn neugierig an und fragten sich, was wohl mit ihm los sei, die meisten aber waren so vertieft in ihre eigene Unterhaltung, dass sie überhaupt nicht auf ihn Acht gaben.
Während der Versammlungsleiter versuchte, die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zu lenken, um abstimmen zu lassen, hatte sich Bundy in einen Streit mit einigen der neuen Arbeiter verwickelt, die behaupteten, sie wüssten ein noch besseres Lokal als die „Königin Elisabeth", eine Kneipe namens „Die Neugefundene" in Mirkfield. einige Meilen hinter Tubberton, und ein anderer mischte sich mit der Behauptung in die Diskussion, für einen Betriebsausflug sei ein „Die drei Tölpel" genanntes Haus in Slushton-cum-Dryditch das beste Ziel innerhalb eines Umkreises von hundert Meilen von Mugsborough. Er sei letztes Jahr mit den Leuten von Stößer und Treiber dort gewesen, und es habe Roastbeef, Gänsebraten, Marmeladentorte. Fasteten, Sardinen. Milchpudding. Sülze und für jeden Mann einen halben Liter Bier gegeben, der im Preis für das Essen einbegriffen gewesen sei. Mitten in ihrer Unterhaltung bemerkten sie, dass die meisten der übrigen die Hand hochhielten, und um ihren guten Willen zu zeigen, erhoben sie die ihre gleichfalls, und darauf erklärte der Versammlungsleiter, der Antrag sei einstimmig angenommen worden.
Bundy sagte, er bitte den Versammlungsleiter, den soeben gefassten Beschluss vorzulesen; er habe den Wortlaut nicht verstanden.
Der Versammlungsleiter erwiderte, es gebe keinen schriftlichen Beschluss. Die Abstimmung sei nur erfolgt, um der Ansicht der hier Versammelten Ausdruck zu verleihen ob ein Betriebsausflug stattfinden solle oder nicht.
Bundy sagte, er habe nur eine höfliche Frage gestellt um sich zu informieren; alles, was er wissen wolle, sei: wie lautete der Beschluss? Waren sie für einen Betriebsausflug oder nicht?
Der Versammlungsleiter antwortete, die Anwesenden seien einstimmig dafür. (Applaus.)
Harlow meinte, das nächste, was nun zu tun wäre, sei den Tag festzulegen. Crass schlug den letzten Sonnabend im August vor. Das ließe ihnen genügend Zeit, ihren Anteil einzuzahlen.
Sawkins fragte, ob es ein Tages- oder ein Halbtagsausflug werden solle. Er selbst sei für den ganzen Tag. Sie hätten dabei nur den Lohnausfall von einem Morgen. Es lohne sich kaum, überhaupt zu fahren, wenn sie nur den halben Tag hätten.
Der Halbbetrunkene bemerkte, ihm sei gerade ein ausgezeichnetes Lokal eingefallen, wohin sie gehen könnten, falls sie sich für einen Wechsel entschieden. Vor drei Jahren habe er bei Sudler Sc Schluder gearbeitet, und sie seien im „Als Erster hinein und als Letzter heraus" in Bashford gewesen. Das sei ein sehr kleines Haus, aber es gebe dort ein Feld, wo man Kricket oder Fußball spielen könne, und das Essen sei erstklassig. Zum Wirtshaus gehöre auch eine Kegelbahn, die man unentgeltlich benutzen könne. Ein Flüsschen gebe es ebenfalls dort, und einer der Burschen habe sich dermaßen betrunken, dass er nicht mehr gewusst habe, was er tat, und ins Wasser gesprungen sei, und wie sie ihn herausgeholt hätten, habe ihn der Dorfpolizist eingesperrt, und am nächsten Tag sei er vor den Richter geführt und zu einer Strafe von zwei Pfund oder einem Monat Zwangsarbeit wegen versuchten Selbstmords verurteilt
worden.
Easton machte darauf aufmerksam, dass man auch noch anderes beachten müsse: angenommen, sie entschieden sich für den Betriebsausflug, so werde der seiner Schätzung nach etwa sechs Schilling pro Kopf kosten. Finde er Ende August statt und begännen sie bereits jetzt mit den Einzahlungen
- vielleicht einen Sechser die Woche -, so hätten sie genügend Zeit, den Betrag zusammenzubringen; aber angenommen, die Arbeit flaute ab, und einige von ihnen würden entlassen?
Crass sagte, in diesem Falle könne der betreffende Mann entweder sein Geld zurückerhalten oder es in der Kasse belassen und seine Zahlungen weiter leisten, selbst wenn er bei einer anderen Firma arbeitete; dass er dann nicht mehr bei Rushton sei, bedeute kein Hindernis, am Betriebsausflug teilzunehmen.
Harlow schlug vor zu beschließen, ebenso wie letztes Jahr zur „Königin Elisabeth" zu fahren und einen halben Tag dafür zu nehmen.
Philpot erklärte, damit sie vorankämen, unterstütze er den Antrag.
Bundy stellte den Zusatzantrag, einen ganzen Tag zu nehmen und um neun Uhr morgens von den „Cricketers" abzufahren, und Sawkins meinte, damit sie vorankämen, unterstütze er ihn.
Einer der neuen Arbeiter sagte, er möchte einen zweiten Zusatzantrag stellen. Er schlug vor, die „Königin Elisabeth" auszustreichen und die „Drei Tölpel" dafür einzusetzen.
Nach einer Pause fragte der Versammlungsleiter, ob jemand diesen Zusatzantrag befürworte, und der Halbbetrunkene erklärte, obwohl es ihm ziemlich gleich sei, wohin sie gingen, wolle er den Zusatzantrag unterstützen, damit sie vorankämen, obgleich er persönlich vorziehe, zum Wirtshaus „Als Erster hinein und als Letzter heraus" nach Bashford zu fahren.
Der neue Arbeiter bot an, seinen Vorschlag bezüglich der „Drei Tölpel" zugunsten der Anregung des Halbbetrunkenen zurückzuziehen; der sagte jedoch, es sei gleichgültig, der Antrag könne so bleiben, wie er sei.
Da es bereits ziemlich spät wurde, gingen mehrere der Leute nach Hause, und von allen Seiten begann der Ruf „Lass abstimmen!" zu ertönen; daher wollte der Versammlungsleiter gerade über Harlows Antrag abstimmen lassen, als ihn der neue Arbeiter unterbrach und darauf hinwies, dass es seine Pflicht als Versammlungsleiter sei, zuerst über die Zusatzanträge abstimmen zu lassen. Das hatte wieder
eine lange Diskussion zur Folge, in deren Verlauf ein sehr großer, magerer Mensch mit einer metallisch scharf klingenden Stimme einen langen, weitschweifigen Vortrag über Verfahrensregeln und über die Leitung öffentlicher Versammlungen hielt. Er sprach sehr langsam und bedächtig benutzte sehr lange Wörter und behandelte das Thema erschöpfend. Ein Antrag sei ein Antrag, und ein Zusatzantrag sei ein Zusatzantrag, es gebe auch, was man einen Zusatz zu einem Zusatzantrag nenne; das Verfahren im Unterhaus weiche erheblich von dem im Oberhaus ab - und so fort.
Dieser Mann sprach etwa zehn Minuten lang und hätte vielleicht noch zehn Stunden lang gesprochen, wäre er nicht rau von Harlow unterbrochen worden, der sagte, ihm scheine, sie blieben vermutlich die ganze Nacht da, wenn sie weiter so machten wie bisher. Er wolle seinen Tee trinken und auch noch einige Stunden schlafen, ehe er am Morgen wieder zur Arbeit gehen müsse. Ihm hinge all das Gerede zum Halse heraus. (Hört, hört!) Damit sie vorankämen, wolle er seinen Antrag zurückziehen, sofern die anderen ihre Zusatzanträge zurückzögen. Seien sie bereit, das zu tun, so wolle er einen neuen Antrag stellen, der, falls er angenommen werde, allen Erfordernissen entspreche.
Der Mann mit der metallischen Stimme bemerkte, es sei nicht nötig, nach dem Einverständnis der Zusatzantragsteller zu fragen; werde der ursprüngliche Antrag zurückgezogen, so seien auch alle Zusatzanträge hinfällig.
„Letztes Jahr", sagte Crass, „als wir in der ,Königin Elisabeth' nach dem Essen aus dem Zimmer gegangen sind, da hat der "Wirt auf 'n Tisch gezeigt und gesagt: ,'s ist genug übrig geblieben, dass jeder von euch noch mal 'ne Portion haben kann.'" (Beifallsrufe.)
Harlow erklärte, er beantrage, den Ausflug am letzten Sonnabend im August zu machen, ihn auf einen halben Tag anzusetzen, beginnend um ein Uhr, so dass sie bis zwölf Uhr arbeiten konnten, was bedeute, dass sie nur einen Stundenlohn verlören, ferner, zum selben Lokal zu fahren wie letztes Jahr - zur „Königin Elisabeth". (Hört, hört!) Ferner das gleiche Komitee zu ernennen wie letztes Jahr -bestehend aus Crass und Bundy -, damit es alle Vorbereitungen treffe und die Beiträge einsammle. (Beifall.)
Der hochgewachsene Mann bemerkte, das sei, was man einen Komplexantrag nenne, und er machte Anstalten,