Am 14. August 1945 erklärte der japanische Kaiser Hirohito in einer Rundfunkansprache, dass Japan die Kapitulationsbedingungen annehme, die von den Alliierten in Potsdam ausgearbeitet wurden.
August 1945... Wie auf ein Kommando hören im Bezirk Nagano die Schornsteine der zahlreichen Werke und Fabriken rund um den Suwasee zu rauchen auf. Der Krieg ist aus - Japan hat kapituliert.
Die Fabriken, die in Kasernen umgewandelten Schulen und Verwaltungsgebäude, an deren Fenstern noch die Verdunkelungsrollos hängen, die Bahnhöfe, die Luftschutzeinrichtungen auf den Straßen, die Flakstellungen an den Berghängen - all das hebt sich trübe und hässlich wie Schutt, den die Flut an Land gespült hat, gegen die hell schimmernde Wasserfläche ab.
Verstreut liegende Siedlungen schmiegen sich dicht an das Ufer, überragt von steilen Bergen. Die Suwaebene oder Suwaniederung, wie diese Gegend genannt wird, erstreckt sich zwischen den Ausläufern der Akaischikette und dem vulkanischen Fudschigebirge.
Im Südosten erhebt sich der auch im Sommer schneebedeckte Gipfel des Jagatake, im Nordosten reckt sich der Kirigatake wie ein Wahrzeichen gen Himmel.
Der Suwasee hat nahezu zwanzig Kilometer Umfang und liegt siebenhundertfünfzig Meter über dem Meeresspiegel. Er ist der höchstgelegene Bergsee Japans. In sommerlichen Mondnächten sieht er aus wie gleißendes Silber, und im Winter funkelt seine glatte Eisfläche wie ein riesiger Spiegel. Als die amerikanischen „fliegenden Festungen" noch donnernd und tosend in Richtung des Fudschijama über ihn hinwegbrausten, war es der größte Kummer der Anwohner, dass sie ihren See nicht tarnen konnten.
Eine der wenigen Provinzen Japans, die nicht an das Meer grenzen, ist Nagano. Als der Krieg eine für Japan ungünstige Wendung nahm und die amerikanischen Flugzeuge anfingen, Tokio zu bombardieren, gingen im Volk, das man stets in Unkenntnis zu halten suchte, Gerüchte um, der Kaiser wolle in den Bezirk Jamanaschi übersiedeln, und die japanische Armee werde sich in die Berge zurückziehen, um einen Partisanenkrieg zu führen. Zur gleichen Zeit leitete man in den großen Rüstungsbetrieben „Maßnahmen zur Dezentralisierung und Evakuierung" ein: Aus Tokio und Kanagawa wurden sie in die Gegend am Suwasee verlegt, wo sich die Seidenspinnereien und -Webereien der Firmen „Silk Okaja" und „Silk Suwa" befanden, die für den Export, vor allem nach den USA, produziert hatten; seit Kriegsbeginn aber bekamen sie keine Aufträge mehr und wurden deshalb geschlossen. Die Maschinen, mit denen man fast hundert Jahre gearbeitet hatte und die dann modernisiert worden waren jetzt standen sie still. Tausende von Arbeiterinnen wurden frei, und die Herren der Rüstungswerke brauchten nur noch ihre Maschinen und eine Anzahl Fachkräfte herzubringen. So tauchten am Ufer des Suwasees Unternehmen auf, die ausschließlich für den
Krieg arbeiteten: Fabriken einer Radiogesellschaft, einer Rohrwalzwerk-Company, einer Aktiengesellschaft für Stromerzeugung, einer Aktiengesellschaft für Turbinenproduktion, der Gesellschaft „Tokio-Electro", die elektrische Anlagen herstellte, und viele andere. Die Gegend am Suwasee wurde über Nacht aus einem Zentrum der Textilproduktion zu einem Mittelpunkt der metallverarbeitenden Industrie.
Jetzt aber, nach der Kapitulation, standen alle Fabriken still. Nur der Rauch der Lokomotiven stieg zum Himmel auf; Eisenbahnzüge fuhren in beiden Richtungen am Seeufer entlang. Die Berge, die sich dicht an den See drängten, behinderten die Sicht, und es war schwer festzustellen, welche Züge nach Tokio fuhren und welche aus Tokio kamen. Wie Wasser, das nach einem Regenguss von den Bergen herabläuft, sammelten sich die Soldaten entlang der Bahnlinie. Ihre verschmutzten, schweißbedeckten Gesichter schauten aus den Fenstern der vorüberrollenden Züge, die fauchend und prustend ab und zu hinter den Bergnasen verschwanden und wieder hervorkrochen.
Die Züge aus Tokio tauchten hinter den östlichen Berghängen auf, strebten nach Norden, bogen dann nach Westen ab ins Tal des Tenrju, der im Suwasee entspringt, und verschwanden wieder zwischen den Felsen. Die Eisenbahnstrecke führte fast um den ganzen See herum und verband drei Städtchen miteinander: Kami-Suwa, Schimo-Suwa und Okaja.
Wie überall an dieser Linie, drängten sich auch auf dem Bahnhof von Okaja Soldaten, dienstverpflichtete Arbeiter, die jetzt in Massen entlassen wurden, und Arbeiterinnen aus den sogenannten Freiwilligenabteilungen (Anm.: Frauen, die sich während des Krieges verpflichten mussten, in der Industrie zu arbeiten.).
Junge Mädchen in langen Hosen, mit Körben und Bündeln auf dem Rücken, und Arbeiter, die in ihren uniformähnlichen, khakifarbenen Arbeitsanzügen und Mützen wie Soldaten aussahen, standen in dichten Reihen auf dem Bahnhofsvorplatz und warteten auf die Züge. Von Minute zu Minute wurden die Schlangen länger. Die Soldaten drängten sich in Gruppen auf dem Platz oder hockten nebeneinander auf dem Erdboden. Andere zogen in Trupps von fünfzehn bis zwanzig Mann vorüber und gingen zu Fuß weiter, den Bahndamm entlang. Sie waren erschöpft und schmutzig, wahrscheinlich kamen sie vom Stellungsbau irgendwo im Gebirge. Die meisten hatten außer dem Seitengewehr, das in einer Bambusscheide am Gürtel baumelte, keine Waffen. Viele trugen Spaten über den Schultern, wie Bauern ihre Hacken.
Von Zeit zu Zeit rollten Militärlastwagen am Bahnhof vorbei. Sie waren mit Körben voll Dokumenten und mit Holzkisten beladen, an denen der Stern, das Emblem des Kriegsministeriums, prangte, und obenauf saßen Offiziere und Unteroffiziere. Manche Soldaten traten mit scheuen Blicken beiseite, drückten sich an den Holzzaun und sahen den Lastwagen lange mit unruhigen Augen nach.
Jeder einzelne der vielen Menschen hier auf dem Bahnhofsplatz kam sich einsam und verlassen vor. Keiner dachte an den verlorenen Krieg, jeder nur an sein eigenes Schicksal. Im Augenblick waren sie alle darauf aus, so schnell wie möglich einen Platz im Zug zu bekommen.
Okaja, das Zentrum dieses Industriegebietes, lag geborgen in einem kleinen Tal dicht am Ufer des Suwasees. Wie ein Wald ragten seine Fabrikschornsteine über dem Städtchen empor.
Die fünf Ansiedlungen, die den gemeinsamen Namen Kawasoi trugen, zogen sich über eine Strecke von fünf Kilometern am Berghang hin. Eine ausgezeichnete Asphaltchaussee — die Einheimischen nannten sie Sumikurastraße - verband die Dörfer untereinander und mit der Stadt Okaja.
Hier in den Bergen saßen einst die japanischen Seidenkönige Sumikura. Hier schufen die Herren der „Sumikura-Kojo"-Gesellschaft die Grundlagen für ihre Machtstellung.
In ihrer Blütezeit wollten die Sumikura der Wiege ihres Wohlstandes ein ihrer würdiges Aussehen geben; deshalb ließen sie die Landstraße anlegen, die zweistöckige Gemeindeverwaltung und die moderne Grundschule errichten, zwei Gebäude, die eigentlich gar nicht in das Gesamtbild dieser einsamen Gebirgsflecken passten. Nun aber lebten in dieser Gegend nur noch Angehörige von Nebenlinien der Familie, während ihr Oberhaupt längst in die Großstadt verzogen war.
Vor dem Kriege sah man das Wappen der Sumikura überall in den umliegenden Dörfern. Alle Honoratioren trugen es am Haori (Anm.: Kurzer Kittel). Es prangte an den Joppen der Wächter und Boten der Dorfverwaltung und der Schule, ja, sogar an den Papierlaternen, mit denen die Leute auf dem Lande auch heute noch in dunklen Nächten ihren Weg erleuchten.
Am Stadtrand von Okaja ragten die beiden gigantischen Betonschornsteine der „Tokio-Electro-Company" empor. Auch in diesem Werk herrschte jetzt Bestürzung, wie überall seit der Rede des Kaisers.
Die Anlagen der „Tokio-Electro-Company" befanden sich auf dem Gelände einer der zahlreichen Fabriken, die den Sumikuras gehörten.
Rings um einen geräumigen Platz lagen die Arbeiterheime und Werkhallen; ihre Dächer fielen stufenweise bis dicht ans Ufer des Tenrju ab.
Endlose Menschenschlangen krochen aus der Galerie (Anm.: Die japanischen Fabrikgebäude sind gewöhnlich durch gedeckte Galerien miteinander verbunden.) vor dem Werkkontor über den Fabrikhof, auf dem die heiße Mittagssonne brütete.
Am Ende einer solchen Schlange stand eine Gruppe junger Mädchen in der „Freiwilligen"-Uniform gleiche Kleider mit weißen Armbinden. Sie tuschelten ununterbrochen miteinander. „Ist das wirklich wahr?"
„Ich weiß es von einem aus der Verwaltung", rief ein großes, sommersprossiges Mädchen. Sie bemühte sich eifrig, die andern davon zu überzeugen, dass ihre Befürchtungen zu Recht bestünden.
Es ging nämlich das Gerücht, amerikanische Luftlandetruppen würden anderntags eintreffen, alle Männer totschlagen und die Frauen als Sklavinnen verschleppen. Jeder tat zwar, als glaubte er es nicht, doch den Leuten auf dem Hof war deutlich eine gewisse Unruhe anzumerken.
Die Werkleitung war nicht imstande gewesen, rechtzeitig Geld zu beschaffen, und darum konnten viele Arbeiter nicht heimfahren. Am Kontoreingang hing ein Anschlag, in dem es hieß, sämtliche Arbeiter, der Stamm und die Dienstverpflichteten - darunter auch die Mitglieder der „Freiwilligen"-Abteilungen -, seien mit sofortiger Wirkung entlassen. Der Lohn und alle sonstigen Zahlungen würden den Arbeitern durch die Post zugesandt. Da die Gelder aus der Hauptverwaltung der Gesellschaft bis jetzt nicht eingetroffen seien, könnten die Arbeiter im Augenblick nur eine bestimmte Summe für die Bahnfahrt erhalten.
Dazu kam, dass der Direktor und die leitenden Angestellten, deren Unterschriften der Erlass über die Stilllegung der Fabrik trug, offenbar den Kopf verloren hatten. Einige von ihnen packten ihre Sachen in Dienstwagen und machten sich aus dem Staube.
„Was würdest du tun, wenn jetzt amerikanische Soldaten auftauchten?" fragte das große, sommersprossige Mädchen eindringlich eine Freundin und packte sie am Halstuch. Die kleine Dicke mit der Stupsnase blickte bestürzt zu Boden.
Keines der Mädchen hatte bisher amerikanische Soldaten zu Gesicht bekommen, aber jede hielt sie für das Schrecklichste, was es nur geben konnte. Sie sahen sich schweigend an. Die kleine Stupsnäsige wurde ganz rot vor Aufregung, Schweißtropfen traten ihr auf die Stirn.
„Ich..., ich würde mir das Leben nehmen. Die Kehle würde ich mir durchschneiden!" stammelte sie.
Als der Krieg mit Amerika begann, stieg die Zahl der Arbeiter in der Fabrik rasch an. Bei Kriegsende arbeiteten hier nicht weniger als anderthalbtausend Menschen.
Zwei Drittel davon waren Frauen.
Im Laufe des Krieges hatte sich die Zusammensetzung der Belegschaft stark verändert. Das merkte man schon, wenn man sich die Menschen anschaute, die auf dem Fabrikhof standen.
Da waren die Dienstverpflichteten - Studenten und Mitglieder der Jugendorganisationen - und Bauern, für die dieses Arbeitsverhältnis doch nur vorübergehend bestand. Sie alle machten sich weiter keine Sorgen um das Schicksal der Fabrik. Aber man traf auch solche, denen es schwerfiel, die Fabrik zu verlassen: Arbeiter aus Tokio, die den Stamm bildeten, und Frauen, die schon in der früheren Seidenspinnerei beschäftigt gewesen waren.
In den Rundfunkkommentaren zur Rede des Kaisers wurde unterstrichen, dass die staatliche Ordnung Japans unverändert bleiben werde. Das Potsdamer Abkommen wurde erwähnt, aber nicht erläutert und dem Volke verständlich gemacht. Die Menschen prägten sich nur das schwere ausländische Wort „Potsdam" ein, das sie kaum aussprechen konnten.
„Seht mal, da ist ja Torisawasan!" rief eine aus der Gruppe der jüngeren Mädchen, die noch Zöpfe trugen, mit einer Miene, als wäre das etwas ganz Besonderes, und alle winkten mit den Händen und schrien: „Torisawasan! Torisawasaaan!"
Ein Mädchen mit der Armbinde der „Freiwilligen"-Abteilung drängte sich zu ihren Freundinnen durch.
„Hast du schon dein Geld bekommen? Warum fährst du nicht nach Hause?" fragten alle durcheinander.
„Ich fahre nachher." Torisawa Ren (Anm.: Im Japanischen steht der Familienname vor dem Vornamen.) sah die Mädchen lächelnd an.
„Habt ihr Jamanaka Hatsue aus der Montageabteilung nicht gesehen?" fragte sie.
Die Mädchen schüttelten die Köpfe. Jamanaka Hatsue wohnte im Fabrikheim, und sie kamen nur selten mit ihr zusammen.
„Sag mal, Torisawasan, ist es wirklich wahr, was alle erzählen?" wollte die Sommersprossige wissen und trat näher an Ren heran.
Alle waren gespannt, was Ren antworten würde. Durch ihre weite Jacke und die karierten Hosen stach sie gegen die anderen Mädchen ab. „Eine von uns hat schon gesagt, sie will sich das Leben nehmen."
Ren blickte über die Köpfe der andern hinweg. In ihren schönen, dunklen Augen tanzten winzige goldgelbe Funken. „Ich glaube diesen Gerüchten nicht!"
Die Mädchen atmeten erleichtert auf. Aus Rens Zügen sprach so viel feste Überzeugung, dass keine fragte, warum sie auf das Geschwätz nichts gab.
„Ich möchte mit Hatsue zusammen nach Hause fahren. Wenn ihr sie trefft, dann sagt ihr doch, dass ich sie suche", bat Torisawa Ren.
Die Mädchen wunderten sich nicht über diese Bitte, obgleich Torisawa Ren und Jamanaka Hatsue nur wenig miteinander gemein hatten.
Ren war die Tochter eines Gutsbesitzers. Sie hatte das College besucht und arbeitete erst seit einem Jahr als Angehörige der „Freiwilligen"-Abteilung in der Fabrik. Jamanaka Hatsue dagegen war nur bis zur sechsten Klasse der Dorfschule gekommen und hatte bereits in Kawasoi gearbeitet, als hier noch Seide gesponnen wurde. Beide Mädchen stammten aus demselben Dorf Torisawa und wohnten im Gemeinschaftsheim - Hatsue in der Unterkunft für einfache Arbeiterinnen und Ren in den besonderen Räumen für Mädchen aus „besseren Kreisen". Ren hätte nicht unbedingt hier wohnen müssen, sie tat es nur, weil der Weg nach Torisawa weiter war als nach den anderen Dörfern.
Rens Behauptung, sie suche Jamanaka Hatsue, um mit ihr nach Hause zu fahren, war eine Ausrede gewesen. Sie musterte die Leute, die in der Schlange standen, ging ins Kontor, kam wieder auf den Hof und blickte verstohlen zu dem kleinen, blauen Ambulatoriumsgebäude hinüber, wo der Wind ab und zu den Verdunkelungsvorhang am Fenster hoch wehte.
Ich darf ihn jetzt nicht verpassen, sonst sehen wir uns vielleicht niemals wieder, dachte sie.
In der Krankenstube gewahrte sie die schlanke, zarte Gestalt eines Mannes von etwa fünfunddreißig Jahren, der an einem Tische saß und Papiere ordnete, die darauf lagen. Es war Nakatani Sussumu, der Obermeister der Versuchsabteilung. Ren lief die leere Galerie entlang, wo die verwaiste Kontrolluhr stand, und holte tief Atem. Ihre Wangen glühten, der Brief an ihrer Brust brannte wie Feuer.
Ehe ich mich entschlossen habe, reist er ab und erfährt nie, was ich auf dem Herzen habe...
Sie tat, als betrachtete sie den Kasten mit den Kontrollkärtchen, biss sich auf die Lippen und starrte die vom Regen feuchte Bretterverschalung der Wand an.
Was wird er zu dem Brief sagen? Vielleicht nimmt er ihn sogar übel? Nein, das kann nicht sein! Bisher war er doch immer sehr nett zu mir... Als sie sich schon wieder bei diesem Gedanken ertappte, wurde sie wütend über sich selbst. Warum bin ich bloß so schüchtern? Er ist doch schließlich nur ein einfacher Arbeiter! Leute mit abgeschlossenem Studium haben um mich geworben. Ich brauche wahrhaftig keine Hemmungen zu haben. Außerdem - was ist dabei, dass
Nakatani jetzt in seinem Zimmer sitzt? Ich gehe trotzdem hin!
Nakatani war nicht mehr zu sehen. Hinter dem Vorhang, den der Wind blähte, lugte nur ein Stück der Bettstelle hervor.
Ren verließ eilig die Galerie und huschte die Treppe zur Krankenstation hinauf. Die Tür stand weit offen, und im Vorzimmer lagen Sori (Anm.: Geflochtene Sandalen aus Stroh oder Bambusrohr.) mit roten Schnüren umher.
„Darf ich eintreten?"
Sie merkte, wie ihre. Stimme zitterte, und ärgerte sich darüber. Obgleich niemand sie sehen konnte, versuchte sie zu lächeln.
„Darf ich eintreten, Ikenobesan?" wiederholte sie. Ihre Stimme klang auf einmal weich und voll, ganz anders als vorher.
Japan hat den Krieg verloren... Was heißt das? Ikenobe Schinitschi streckte sich auf seiner alten Holzpritsche aus und bemühte sich vergeblich, diesen Satz in seiner ganzen Tragweite zu erfassen. Was wird aus dem Kaiser, wenn die Alliierten in Japan landen? Was wird aus all den hohen Herren, aus dem Premierminister Tojo, dem General Araki und dem Baron Hiranuma? Erwartet sie vielleicht das Schicksal Hitlers? Hitlers Untergang - nun ja, das hat sich irgendwo in weiter Ferne abgespielt. Aber wenn es keinen Kaiser mehr gäbe und keinen Premierminister, keinen General... Ikenobes Gedanken gerieten durcheinander.
Er kannte diese Leute nicht, sie waren ihm gleichgültig. Er konnte sich nur nicht vorstellen, wer an ihre Stelle treten sollte.
Gleichzeitig fühlte er, dass er sich hierüber klarwerden musste, sonst würde er keine Antwort finden auf die anderen Fragen, die ihn persönlich betrafen: das Schicksal der Fabrik und seine eigene Zukunft.
Man hatte den Arbeitern erklärt, das Werk werde „vorübergehend" stillgelegt, aber niemand, auch nicht der Direktor, konnte dafür bürgen, dass es sich wirklich nur um eine zeitweilige Maßnahme handelte.
Abgerissene Sätze, eilige Schritte auf den Galerien, das Durcheinander draußen und der Lärm, der vom Fabrikhof hereindrang, - all das störte Schinitschi, und seine Gedanken verwirrten sich.
Er lag allein in seinem Raum mit den feuchten Tapeten. Die Schwestern waren längst fort, der Arzt kam nur frühmorgens für einen Augenblick aus seiner Dienstwohnung herüber.
Vor fast zwei Wochen hatte Schinitschi eine Blinddarmoperation durchgemacht, die Fäden waren gezogen, er konnte jetzt im Bett sitzen, war aber noch recht schwach. Kurz vor der Kapitulation war er krank geworden, und weil das städtische Krankenhaus in Okaja überfüllt war, hatte man ihn hier in dem kleinen Fabrikambulatorium gerade bei einem Luftangriff operiert.
„Ob ich nach Tokio zurückkehre?" murmelte er vor sich hin und reckte die Arme über den Kopf. Ja, ihm blieb wohl nichts anderes übrig. Vor mehr als einem Jahr war er zusammen mit den verlagerten Maschinen in diese Gegend gekommen. Seitdem hatte er Tokio nicht mehr gesehen. Aus Briefen wusste er, dass Omori, das Wohnviertel seiner Eltern, bei einem Bombenangriff zerstört wurde und dass sie jetzt im Stadtteil Itabaschi lebten. Schinitschi hob die Hand vor die Augen. Ein Finger war breitgequetscht - eine Verletzung aus der Lehrlingszeit -, von einem anderen Finger hatte er sich einmal beim Anziehen eines Treibriemens den Nagel abgerissen. Die Gesichter seiner Arbeitskameraden tauchten vor ihm auf, besonders klar trat das Antlitz von Torisawa Ren hervor.
„Esel!" flüsterte er und wurde rot, als hätte jemand in seinen Gedanken lesen können. Sie war nett zu ihm, aber nur, weil sie zufällig zusammen arbeiteten. Ren stammte aus einer reichen bürgerlichen Familie, er war ihr also gar nicht ebenbürtig. Wenn sie nicht mehr in der Fabrik arbeitete, dann würde sie ihn nicht länger kennen. Er haderte mit sich selbst und runzelte die Stirn. Nicht ebenbürtig..., das empfand er als besonders hart, denn er war in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und deshalb in diesem Punkt sehr empfindlich.
Trotzdem beschäftigte er sich in Gedanken immer wieder mit Ren, erinnerte sich ihres wohlklingenden Lachens und dachte an die vielen heimlichen Beweise ihrer Zuneigung. In diesem Augenblick hörte er ihre Stimme: „Darf ich eintreten, Ikenobesan?"
Schinitschi fuhr zusammen und richtete sich unwillkürlich auf.
„Na, wie geht's?" Ren kam vorsichtig näher, und Schinitschi schien es, als füllte sich das Zimmer plötzlich mit blendendem Licht. Ihre zarte, schwingende Stimme, ihre rosigen Wangen und der kaum merkliche Duft, der nur ihr eigen war - all das verwirrte ihn, und er wurde wider Willen rot. Sein Gesicht nahm einen gespannten Ausdruck an, seine Brauen zuckten. „Ich habe keine Schmerzen mehr..."
Er war wohl sehr unsicher, da er sich so förmlich äußerte. In der Fabrik sprachen sie viel ungezwungener und einfacher miteinander. In der Versuchsabteilung, wo nur fünf oder sechs Fachleute arbeiteten, musste er häufig ein Wort mit Ren wechseln, die am Kontrolltisch saß. Da kam es vor, dass sie zu ihm sagte: „Na, erlauben Sie mal, woher soll ich denn das wissen?", und dass er antwortete: „Reden Sie keinen Unsinn!"
Doch jetzt waren sie beide befangen. Ren ließ mechanisch ein kleines rotes Bündel von einer Hand in die andere gleiten. Schinitschi schwieg. Sein sonst so blasses Gesicht glühte vor Verlegenheit. Ren fand ihn in dieser Minute schön. Jedesmal, wenn draußen am Fenster ein Schatten vorbeihuschte oder dumpfe Schritte über den Bretterboden der Galerie tappten, wandte sie sich um. Schinitschi hörte ihre beschleunigten Atemzüge. „Seit heute früh habe ich vor, mich zu verabschieden. Aber der ,Täuberich' hat so lange gemacht." Sie lachte glucksend, als wollte sie die Verlegenheit vertreiben, die durch das Schweigen Schinitschis noch verstärkt wurde. „Täuberich" war der Spitzname ihres Meisters Nakatani. Als Schinitschi das vertraute Lachen hörte, fühlte er, dass er ihrem Zauber nicht widerstehen konnte.
„Sie fahren doch auch nach Tokio, Ikenobesan, nicht wahr?"
„Ja, ich denke." Schinitschi ließ den Kopf sinken und legte seine Arme um die Knie.
Ren setzte sich auf den Bettrand. Sie erschien jetzt ruhiger als er. „Wo wohnen Sie in Tokio?"
„In Itabaschi."
„Ich habe auch Verwandte in Tokio, im Bezirk Koischigawa...", Ren schlug die Augen nieder, dann streifte sie Schinitschi mit einem flüchtigen Blick und lachte. „Ich möchte auch nach Tokio fahren."
Schinitschi war überrascht. „Warum?"
Ren zog die schmalen Schultern hoch und schnitt eine Grimasse. „Nur so...", sagte sie betont und lachte wieder.
Schinitschi verlor unter dem Blick ihrer strahlenden Augen immer mehr die Fassung. Plötzlich wandte sie sich ab, zog ein Päckchen und einen rosafarbenen Briefumschlag aus ihrem Bündel und legte beides vor Schinitschi hin.
„Da..., das ist..., das habe ich geschrieben, zwei Abende habe ich dazu gebraucht. Bitte, lesen Sie es" flammende Röte überzog ihr Antlitz -, „und schreiben Sie mir eine Antwort", bat sie. Schinitschi streckte verwirrt die Hand aus. Rens Augen verrieten ihm, was sie sagen wollte.
Vor der Tür wurden Stimmen laut. Schinitschi verbarg hastig Päckchen und Brief.
Nakatani Sussumu und Araki Toschio traten ein. „Nanu, Ren ist noch hier?" Araki war Obermeister der Dreherei, ein langer Kerl, der fast mit dem Kopf gegen die Decke stieß.
„Warum sind Sie nicht nach Hause gefahren? Passen Sie auf, am Ende werden Sie noch entführt." Araki grinste, als freute er sich diebisch über seinen Spaß.
„Meinen Sie?" Ren neigte den Kopf zur Seite und lachte laut auf.
„Natürlich! Eine solche Schönheit wie unsere Ren werden sie als erste verschleppen."
Die beiden Obermeister setzten sich an den Tisch. Nakatani musterte Ren und auch Schinitschi eindringlich.
„Torisawakun (Anm.: Freundschaftliche Anrede)", wandte er sich an Ren, „haben Sie schon Ihre Abrechnung bekommen?"
„Ja." Unbemerkt steckte sie das rote Tüchlein in den Ausschnitt ihres Kimonos. „Ich wollte mich gerade von Ikenobesan verabschieden", fügte sie rasch hinzu, um einer neugierigen Frage zuvorzukommen.
„Soso, natürlich!" meinte Araki gedehnt und wühlte in den Papieren auf dem Tisch. Ren wurde dunkelrot, doch da erklang Nakatanis ruhige Stimme: „Das ist nett von Ihnen. Wir wünschen Ihnen jedenfalls alles Gute. Wir wissen noch nicht, was aus uns werden soll."
Ren wurde ernst. „Ich danke Ihnen für alles", sagte sie und verneigte sich vor Nakatani. „Nakatanisensej (Anm.: Ehrerbietige Anrede), Arakisensej, leben Sie wohl!"
Dann wandte sie sich betont förmlich, als handelte es sich um einen Fremden, an Ikenobe: „Erlauben Sie mir, auch Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Hilfe zu danken. Ich wünsche Ihnen baldige Genesung." „Ich danke Ihnen."
Schinitschi hatte seine Verlegenheit noch immer nicht überwunden. Er sah sie nicht an. Rens Herz krampfte sich zusammen, in ihre Augen traten Tränen. Nun würde er bald aus ihrem Leben verschwinden. Auf ihren Brief würde er wohl kaum antworten, dazu war er viel zu schüchtern und verschlossen. „Das Abschied nehmen dauert aber lange", meinte Araki.
„Ach Sie!" rief Ren, stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf, schlug die Hände vors Gesicht und lief zur Tür. Gleich darauf hörte man ihre raschen Schritte draußen auf der Galerie.
„Na, Sie Herzensbrecher, wie fühlen Sie sich?" wandte sich Araki an Ikenobe.
„Dem geht's gut", rief Nakatani, bevor Schinitschi antworten konnte. „Er darf ja schon aufstehen und im Zimmer umherlaufen."
Nakatani sortierte die Papiere auf dem Tisch, den er selbst hergebracht hatte, da Schinitschi in einem
Einzelzimmer lag. Die Zeichnungen der in Arbeit genommenen Projekte waren bereits geordnet, und auch die Materialübergabe war erledigt. Es handelte sich nur noch um einige Dinge, die für Nakatani besonders wichtig waren.
„Ich möchte mal wissen, was unser ,Frosch' jetzt zu tun gedenkt", sagte Araki. „Frosch" war der Spitzname des Direktors Sagara.
Nakatani zuckte mit den Schultern und ließ sich in seiner Beschäftigung nicht stören.
Araki überlegte weiter: Die Fabrik ist offenbar auf Anweisung der Gesellschaft stillgelegt worden. Der „Frosch" hat das gewiss nicht von sich aus getan. Ob man wohl damit rechnen kann, dass hier wieder gearbeitet wird?
Plötzlich ging die Tür auf. Ein Mann in der Uniform der Fabrikwache trat ein und wandte sich an Nakatani: „Der Herr Direktor möchte Sie sprechen. Er lässt Ihnen sagen, Sie möchten alle Zeichnungen und Entwürfe mitbringen!"
„Die Zeichnungen? Wozu?" Der Meister sah verständnislos auf, doch der Wachmann war schon wieder draußen. Nakatani raffte die Papiere zusammen und eilte ihm nach.
Direktor Sagara war nicht in seinem Büro. Nakatani stieg die Steinstufen der Galerie hinunter und blickte sich suchend um. Zu beiden Seiten lagen die niedrigen Gebäude der ehemaligen Seidenspinnerei. In der Montage- und der Versuchsabteilung, wo vorwiegend
Frauen beschäftigt wurden, war kein Mensch mehr; aber in der Dreherei und in der Maschinenabteilung, wo die Arbeiter aus Tokio den größten Teil der Belegschaft bildeten, wurde noch gearbeitet. Einige ölten die Maschinen, andere verschnürten Ballen von abmontierten Treibriemen, manche standen in kleinen Gruppen am Halleneingang oder in den Ecken der dunklen Galerie, die zum Speisesaal führte, und flüsterten miteinander.
Unweit des Flusses, über einem freien Platz vor dem Speicher, stiegen dichte Rauchschwaden auf. Dort war auch Direktor Sagara. „Kommen Sie her!" rief er Nakatani zu und wandte sein Gesicht von dem beißenden Qualm ab.
Vor seinen Füßen schwelte und brannte es, verschnürte Aktenbündel, Packen von Zahlungsanweisungen und illustrierte Kataloge gingen in Flammen auf. Der Buchhalter Takenoutschi Tadaitschi stocherte mit einem Stock in den Papieren herum. In der Nähe stand ein junger Hauptmann, ein Kontrolloffizier, der sich häufig in der Fabrik aufhielt.
Der Direktor nahm Nakatani die Rolle ab, die er unter dem Arm trug.
Jetzt wurde dem Meister alles klar. Er erschrak. „Was wollen Sie tun?" „Verbrennen, was sonst?"
Sagara zerriss die Papiere und warf sie ins Feuer. Auf seinem Gesicht mit den hervorstehenden Backenknochen, dem gestutzten, graumelierten Schnurrbart und dem kantigen Kinn brach der Schweiß aus. Sagara war ein großer Mann, herrisch und anmaßend, man konnte sich kaum vorstellen, dass er aus Arbeiterkreisen stammte. Jetzt war von seiner gewohnten Sicherheit und Ruhe nichts mehr zu spüren, immer hastiger fuhren seine Hände hin und her, um die Zeichnungen und Dokumente zu zerreißen und in die Flammen zu schleudern.
Der junge Offizier sah bleich und übermüdet aus. Mürrisch hob er zwei Finger an den Mützenschirm. „Ich kann wohl gehen." „Jaja, natürlich..." Der Direktor richtete sich auf. Er wollte offenbar noch etwas sagen, aber der Hauptmann war schon fort.
Nakatani hatte bisher schweigend zugesehen. Nun fragte er: „Haben Sie Befehl, die Papiere zu vernichten?" Seine Stimme war heiser vor Aufregung.
Takenoutschi schielte ihn von unten her an und grinste. „Da gibt es keinen Befehl!" schrie der Direktor wütend. „Auf der Reede von Jokohama liegt ein amerikanisches Geschwader, verstehst du?" Plötzlich schien ihm etwas sehr Wichtiges eingefallen zu sein. Er wandte sich an Takenoutschi: „Lauf und hol den Hauptmann zurück!" stieß er hastig hervor und warf die Schriftstücke ins Feuer, die er gerade in den Händen hielt. „Oder nein, lass, ich gehe selbst. Pass du hier auf!"
Der Direktor zog seine Hosen fest, die von seinem runden, trommelförmigen Bauch herunterrutschten, und lief zur Galerie.
„Hier geht's toll her, was?" rief Takenoutschi. Auf seinem Gesicht mit dem schütteren Bärtchen erschien ein pfiffiges Lächeln. „Der Alte hat anscheinend ganz und gar den Kopf verloren."
Der Meister antwortete nicht. Takenoutschi, der „Handlanger des Direktors", war ihm von jeher unsympathisch. Als sich die Belegschaft nach der Rundfunkrede des Kaisers im Verwaltungsgebäude des Werkes versammelt hatte, war dieser Kerl energischer als alle anderen gegen die Kapitulation aufgetreten. Takenoutschi stammte aus der Gegend, hatte früher als Kontorist in der Seidenspinnerei der Sumikuras gearbeitet. Die „Tokio-Electro-Company" hatte ihn dann zusammen mit der Fabrik als „Verwaltungsangestellten" übernommen.
„Bei der Generaldirektion herrscht offenbar auch Panik. Der ,Frosch' ist gestern mit dem letzten Zug aus Tokio zurückgekommen..." Takenoutschi wusste stets genau über alle Angelegenheiten der Gesellschaft Bescheid.
Mit unerschütterlicher Ruhe lockerte er schwelende Papierbündel und warf sie in die Höhe. Nakatani betrachtete, die fette, kurzfingrige Hand, die den Stock umklammert hielt, und dachte: Wozu vernichten wir das alles, wenn das amerikanische Geschwader schon in Jokohama ist? Warum werden die Unterlagen verbrannt, wenn Japan ohnehin kapituliert hat? „Man müsste wissen, Nakatanisan, wie weit die Amerikaner mit der Nylonproduktion sind. Ob wohl in Japan jemals wieder Rohseide produziert wird? Was meinen Sie?" Takenoutschi hob die geschwollenen Lider und blinzelte Nakatani mit seinen listigen Schweinsäuglein fragend an.
Nakatani starrte ins Feuer und antwortete nicht. Eine gelbe Flamme schoss aus den Zeichnungen hoch; sie krümmten sich zusammen und wurden schwarz. Dann traten die Schriftzeichen noch einmal weiß hervor, ehe die Blätter zerfielen. Die Berechnungen, die Detailzeichnungen der Messgeräte für Flugzeuge und Unterseeboote, die Ergebnisse jahrelanger Mühe wurden zu einem Häufchen grauer Asche.
„War denn meine ganze Arbeit ein Verbrechen?" Nakatani wandte sich brüsk um und ging davon.
In diesen Projekten steckten doch all sein Können und Wissen. Zahlreiche Anerkennungsschreiben hatte er von der Gesellschaft für diese Zeichnungen erhalten.
„War meine Arbeit wirklich ein Verbrechen?" wiederholte er, aber er fand keine Antwort. „Meister Nakatani!" rief jemand, aber er hörte es nicht. Wie ein schwerkranker Mann ging er gebeugt zur Galerie. Plötzlich erblickte er Araki, der auf eine junge Arbeiterin aus der Montageabteilung einredete. „Nun mal ruhig, Mädchen, heraus mit der Sprache! Wer hat das gesagt? Sagara? Das ist ja Unsinn! Halt, hiergeblieben!" Die Arbeiterin wollte weglaufen, doch Araki hielt sie an der Schulter fest. Vor Angst brachte sie kein Wort heraus, die Augen in dem jungen, braunen Gesicht waren weit aufgerissen, ihre Lippen zuckten. Mit einem Ruck riss sie sich von Araki los und rannte davon.
„Im Heim drei sind die Arbeiterinnen ganz aus dem Häuschen. Mal sehen, was da los ist", rief Araki Nakatani zu und lief hinter dem Mädchen her.
Das Heim drei, in dem die ehemaligen Arbeiterinnen der Seidenspinnerei wohnten, war von einem hohen Holzzaun umgeben, dessen oberer Rand mit Nägeln gespickt war.
In jedem Raum hausten zehn Mädchen. Früher hatten sie darauf geachtet, dass nach Möglichkeit immer Bekannte aus demselben Dorf zusammen waren. Aber als die Dienstverpflichteten einzogen, wurde diese Tradition wie alle anderen Regeln in der Fabrik durchbrochen.
Im Augenblick dachten die Arbeiterinnen nur daran, wenigstens einen Teil ihres Lohnes von der Gesellschaft zu erhalten und so schnell wie möglich in den Zug zu steigen, um nach Hause zu fahren. Sie waren fest überzeugt, dass anderntags amerikanische Soldaten kommen und sie alle miteinander totschlagen würden.
Sogar die Zimmerältesten wurden von der Panikstimmung erfasst.
Im Korridor des oberen Stockwerks türmten sich Körbe, Säcke und Bündel. Überall lagen Beutel mit Reis, zerschlagene Cremedosen und Getan (Anm.: Schuhe mit Holzsohlen) umher. Die Schoji (Anm.: Papierschiebetüren) standen nicht mehr fest und drohten, jeden Augenblick umzustürzen.
Es herrschte eine solche Unordnung, dass man nirgends hintreten konnte.
Unter Drängen, Stoßen und Schimpfen schleppten die jungen Mädchen Körbe, rafften Hanagami (Anm.: Papiertaschentücher), Kämme, zerbrochene Taschenspiegel, Haarnetze, Nadelkissen und anderen Krimskrams zusammen und stopften alles hastig in Bündel und Säcke.
„Kimitjan! Kimitjaaan!" schrie Jamamoto Fumi, eine der Zimmerältesten. Sie war nur mit einer dunkelblauen Jacke bekleidet, die bis zu den Knien reichte und die nackten Beine sehen ließ.
Kimi, ein junges Mädchen mit einem Kopftuch, presste das Knie gegen einen Korb und zog die Verschnürung fest. Auf ihrer Nase blinkten Schweißtröpfchen, ihre Unterlippe bebte - Kimi machte ein Gesicht, als wollte sie gleich losheulen.
„Geh sofort in den Hof und stell dich an!" befahl Jamamoto Fumi. „Nimm meine Fahrkarte und halte einen Platz für mich frei. Ich bringe deine Sachen mit. Kram nicht hier herum, mach, dass du fortkommst!"
Plötzlich drang aus dem Raum Nummer elf lautes Geschrei. Die Zimmerälteste Kobajaschi Schige hielt sich an den schwankenden Schoji fest und kreischte: „Es gibt keine Fahrkarten mehr! Vor morgen Abend können wir nicht weg."
Da verloren die Mädchen, die noch in den Zimmern waren oder bereits auf dem Flur ihr Bündel schnürten, vollends den Verstand. Die Arbeiterinnen aus Inatani erklärten, sie wollten zu Fuß gehen, die Mädchen aus der Siedlung Kohata beschlossen, sich geradenwegs
über die Berge durchzuschlagen. Kobajaschi Schige lief schluchzend den Korridor entlang. Ihr leichter Sommerkimono stand über der Brust offen, ihr Haar war zerzaust. „Was soll ich bloß machen?" schrie sie gellend. „Ich muss mit dem Zug fahren, neun Stunden brauche ich bis nach Hause!"
Und wie auf Kommando begann ein allgemeines hysterisches Jammern und Wehklagen. Plötzlich hob ein Mädchen sein Bündel hoch und schleuderte es über den Zaun auf die Straße. „Weg mit dem ganzen Kram!"
Andere Bündel flogen hinterdrein. Ohne zu überlegen, warfen die Arbeiterinnen Pakete, Körbe und Kästen über den Zaun, als wäre das die Rettung vor der drohenden Gefahr.
Araki stieg die Treppe zum Obergeschoß hinauf, doch niemand beachtete ihn. „Was soll das, du Närrin?" Araki fing eines der Bündel auf. Die Arbeiterin, der es gehörte, klammerte sich an seinen Arm. Araki wollte erklären, dass Sagara gelogen hätte, aber die Mädchen waren so erregt, dass sie überhaupt nicht auf ihn hörten. Sie hatten längst vergessen, warum sie tobten. Araki beruhigte ein völlig außer Rand und Band geratenes Wesen und brachte die heulende Kobajaschi Schige wieder zur Besinnung. Allmählich wurde es etwas ruhiger im Hause.
„Die Zimmerältesten hierher!" rief Araki. „Die Zimmerältesten!"
Die aber versteckten sich in ihrer Angst hinter ihren Arbeitskameradinnen und starrten Araki erschrocken an. Er stampfte mit dem Fuß auf. „Na, wird's bald?"
In Zimmer fünfzehn war es während des ganzen Tumultes ruhig geblieben. Jamanaka Hatsue, die Zimmerälteste - ein hübsches, stattliches Mädchen mit großen, klugen Augen, weißen, gleichmäßigen Zähnen, vollen Wangen und schönem schwarzem Haar -, und einige Arbeiterinnen hockten neben ihren gepackten Körben und lauschten gespannt dem Lärm auf dem Flur. Die ohnehin stets wortkarge Hatsue schwieg auch jetzt, nur ihre schreckgeweiteten Augen und ihre fest zusammengepressten Lippen zeigten, wie sehr sie sich anstrengte, ihre Angst zu überwinden. Natürlich konnte sie ebenso wenig wie ihre Kameradinnen die Lage überblicken, doch eines war ihr klar: Heulen und Jammern half gar nichts.
Hatsue meldete sich nicht auf Arakis Ruf. Die Mädchen bemühten sich, Ruhe zu bewahren, und blickten die Zimmerälteste hilfesuchend an. Aber Hatsue verzog keine Miene, ihr Gesicht schien zu Stein erstarrt.
„Man ruft dich", flüsterte eine. Hatsue erhob sich und ging hinaus. Die anderen folgten ihr.
Endlich hatten sich einige der Zimmerältesten entschlossen, Arakis Aufforderung nachzukommen; doch die verstörten Mädchen redeten so verworrenes Zeug, dass der Meister die Geduld verlor.
„Also schön. Sagara hat es gesagt. Das weiß ich nun. Aber zu wem hat er es gesagt?" forschte er.
„Schigetjan wollte fragen, wie es mit der Lohnzahlung wird... Und da...", begann Jamamoto Fumi und schob die Lippen vor.
Schige, die älteste der Arbeiterinnen, ein aufrichtiges, aber wenig gewitztes Mädchen, unterbrach sie: „Wer hat gefragt? Ich? Komisch, dass du als Zimmerälteste so etwas behauptest! Was hast du gesagt, als ich von dir wissen wollte, wie wir uns verhalten sollen? Das hast du wohl vergessen? Schieb jetzt bloß nicht alles auf mich!"
Araki fuhr sie wütend an: „Nun aber Schluss! Was war mit der Lohnzahlung? Wer hat nach dem Geld gefragt und bei wem?"
Jamamoto Fumi starrte Araki mit offenem Munde an. Da sagte Hatsue: „Ich habe mich erkundigt, im Kontor."
Araki wandte sich zu ihr um: „Warum bist du ins Kontor gegangen?"
„Wir waren in Sorge, ob wir auch alles bekommen würden, was uns zusteht. Da haben wir eine Abordnung hingeschickt. Fünf von uns..."
„Fünf? Wer war denn noch dabei?" Wieder brach ein Tumult aus. Eine Arbeiterin nannte die Namen, eine andere rief, es habe sich nicht nur um das Geld gehandelt, sondern auch darum, ob man sie wiedereinstellen würde, wenn die Fabrik von neuem zu arbeiten anfinge - kurz, alle redeten durcheinander, nur Hatsue schwieg und überließ es ihren Freundinnen, alles zu erzählen. Mit hängenden Armen und halboffenem Munde stand sie da, blickte ernst von einer zur anderen und hörte gespannt zu. Ein paarmal runzelte sie die Stirn, bewegte die Lippen oder nickte zustimmend. Endlich gelang es Araki, einigermaßen Klarheit zu schaffen.
In dem Gemeinschaftsheim wohnten Mädchen, die bereits in der Seidenspinnerei gearbeitet hatten. Als sie erfuhren, dass die Fabrik stillgelegt werden sollte, nahmen sie es widerspruchslos hin. Sie sahen keinen anderen Weg, Japan hatte nun einmal den Krieg verloren. Aber einige von ihnen waren hier schon mehr als zehn Jahre beschäftigt. Die Entlassungsvergütung und die Ersparnisse dieser Zeit bedeuteten ihnen mehr als nur einen Teil ihres Aussteuergeldes, denn fast die Hälfte ihres Lebens hatten sie dafür arbeiten müssen. Wenn ihnen die Gesellschaft auch den zustehenden Lohn zuschicken wollte, so bezweifelten sie doch, dass sie den Betrag in voller Höhe erhalten würden. Sie berieten sich also, wählten fünf aus ihrer Mitte - Kobajaschi Schige, Jamamoto Fumi, Jamanaka Hatsue und zwei andere — und schickten sie ins Kontor, um sich genau zu erkundigen. Dort erklärte ihnen Direktor Sagara, die Beträge müssten seiner Meinung nach in voller Höhe überwiesen werden, er könnte jedoch nicht dafür bürgen. Der Krieg sei verloren, und niemand, auch nicht die Gesellschaft, wisse, was weiter geschehen werde. Vor allem aber riet er den Arbeiterinnen, so schnell wie möglich nach Hause zu fahren, solange sie noch heil und gesund wären.
Bis dahin hatte die eine oder andere noch an der Zuverlässigkeit der umlaufenden Gerüchte gezweifelt, aber diese Äußerung des Direktors musste ja alle in panische Angst versetzen.
„Wie könnt ihr nur auf einen solchen Blödsinn hereinfallen?" fragte Araki ruhig. „Ihr habt doch selbst im Radio vom Potsdamer Abkommen gehört, nicht wahr?"
Ja, das hatten sie wohl, aber keine erinnerte sich, um was es sich dabei handelte. Sie begriffen kaum, was Araki ihnen klarzumachen versuchte. Heftig gestikulierend, erläuterte er den Punkt des Abkommens, in dem es hieß, die Alliierten seien nicht gewillt, das japanische Volk zu vernichten oder in die Sklaverei zu stürzen. Schließlich hörte ihm nur noch Jamanaka Hatsue zu. Auch ihr fiel es schwer, Araki zu verstehen, denn er gebrauchte viele ausländische Wörter. Aufmerksam schaute sie ihn an und bemühte sich nach Kräften, den Sinn seiner Rede zu erfassen. Die anderen blickten nicht mehr auf Araki, sondern auf Hatsue. Und als ihre Augen zu leuchten begannen, als sie lächelnd nickte, da atmeten alle erleichtert auf. Die Spannung schwand, die Aufregung legte sich, und bald herrschte im Arbeiterinnenheim wieder Ruhe und Ordnung.
Der Lärm auf dem Hof flaute ab. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, aber der Menschenstrom war bereits versiegt. Ab und zu nur eilte ein Arbeiter aus Tokio oder ein Mann aus einem der Fabrikheime über die langen Galerien. Die Scharen junger Mädchen und die Werkleute aus den umliegenden Ortschaften hatten sich längst davongemacht.
Als Ikenobe sich allein wusste, wickelte er vorsichtig das Päckchen auf. Ein paar grünliche Augustäpfel rollten heraus. Dann kam eine kleine Puppe aus gelber Seide zum Vorschein, und darunter lag ein rosafarbenes Briefchen. „An meinen lieben Schinitschi", stand in schöner Handschrift auf dem Umschlag, und auf der Rückseite: „Von Ren, dem Mädchen aus den Bergen."
Erschrocken schob Schinitschi die Puppe und den Brief in den Hals ausschnitt seines Hemdes und blickte unwillkürlich zur Tür.
Er presste seine Hand auf den Brief und blieb eine Zeitlang still liegen. Deutlich fühlte er sein Herz klopfen. Eine unerklärliche Unruhe befiel ihn. Habe ich sie denn überhaupt gern? fragte er sich, als müsste er sich noch einmal vergewissern.
Die Antwort kam wie von selbst: Ja, ich habe sie gern.
Dann zog er den Umschlag wieder hervor, sah ihn an und suchte den Inhalt des Briefes zu erraten. Gleich würde er ihn öffnen. Was schrieb sie? Wusste er, um was es ging?
Ja, er wusste es. Trotzdem zögerte er.
Ren war ein Rätsel für ihn. Dieses zarte Mädchen erschien ihm seltsam und unbegreiflich. Da war etwas, gegen das er sich wehren musste, aber er vermochte es nicht. Er fühlte, wie er ihrem mächtigen Zauber erlag, und er empfand dunkel, dass seine Unruhe eben daher rührte. Widerspruchsvolle Gedanken bestürmten ihn, als er schließlich den Umschlag aufriss. „Mein geliebter Schinitschi! Verzeihen Sie, dass ich so kühn bin, Ihnen zu schreiben. Schuld daran sind die Gefühle, die meine Seele und mein unerfahrenes Mädchenherz bewegen..." So begann der Brief.
Die Schriftzeichen waren nicht mit dem Pinsel, sondern mit der Feder gezogen, wie es die Collegeschülerinnen gern tun. Manche waren sogar nur flüchtig hingeworfen; Rens hitziger Charakter machte sich auch hier bemerkbar. „Ich weiß nicht, was ich von unserer Begegnung denken soll. Vielleicht soll ich sie als ein seltsames Spiel des Schicksals betrachten? Vor einem Jahr habe ich Sie zum ersten Mal in der Fabrik getroffen. Schnell wie ein Traum ist dieses Jahr für das sehnsuchtsvolle Mädchen aus den Bergen verflogen..."
Schinitschi spürte, dass jemand ins Zimmer getreten war, und schob den Brief hastig in seinen Kimono. In der Tür stand Nakatani und sah Schinitschi an. Seine Arme hingen kraftlos herab, mit müden Schritten ging er zum Tisch und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. Schinitschi presste die Hand auf Rens Brief und holte tief Atem. Sekundenlang schien es ihm, als hörte er ganz dicht neben sich ihr tiefes, melodisches Lachen.
Nakatani schwieg eine Weile, dann sagte er: „Techniker - es ist schon ein Elend mit diesem Beruf, Ikenobe!"
Schinitschi hob den Kopf und sah den Obermeister erstaunt an. Es überraschte ihn, dass sich sein Vorgesetzter so merkwürdig und unbestimmt ausdrückte, denn Nakatani schwatzte niemals sinnloses Zeug und ließ sich nie zu Gefühlsausbrüchen hinreißen. Die Kollegen in der Abteilung machten oft spöttische Bemerkungen über Schinitschis Beziehungen zu Ren, nur Nakatani hatte sich nicht den geringsten Scherz darüber erlaubt. Dabei war es Schinitschi klar, dass Nakatani besser Bescheid wusste als die andern.
„Wozu haben wir uns nur so angestrengt?" begann Nakatani von neuem.
Er sagte kein Wort darüber, dass soeben alle seine Zeichnungen verbrannt worden waren, und Schinitschi konnte den Sinn dieser Frage nicht begreifen. Gewiss, dachte er, wir haben gearbeitet, immerzu gearbeitet, für den „Sieg", wie man uns weisgemacht hat. Nun aber war es nicht der Sieg, sondern die Niederlage. Da war nichts zu machen. Ihm ging es nur um Arbeit und Lohn, alles andere kümmerte ihn nicht.
„Wenn Japan gesiegt hätte, dann hätten Sie zweifellos eine Auszeichnung erhalten, Nakatanisan."
„Ja, wenn..." Nakatani schlug die Hände vors Gesicht.
Die Niederlage war keine Überraschung für ihn. Als Techniker hatte er sich schon vor Jahren auf Grund seiner Untersuchungen der Stärke des Gegners eine eigene Meinung über den weiteren Verlauf der Kampfhandlungen gebildet. Allerdings hatte er bis jetzt noch nie ernsthaft darüber nachgedacht, wie viele Menschen mit den Waffen umgebracht wurden, die er schuf, wer diese Menschen waren und warum sie sterben mussten. Er glaubte, für die Entwicklung der Wissenschaft und für den technischen Fortschritt zu arbeiten, und bemühte sich, sein Gewissen durch die verworrene Anschauung zu beschwichtigen, dass die Wissenschaft die höchste Berufung des Menschen sei. Jetzt aber, da all das vernichtet war, was ihn so stolz gemacht hatte, erinnerte sich Nakatani an viele seiner Freunde und Bekannten, die dem Krieg zum Opfer gefallen waren. Japan hat den Krieg verloren - also sind sie vergebens gestorben? Nakatani erkannte das, wollte es aber nicht einsehen. Krieg? Was ist das eigentlich -Krieg? Sind wir Menschen denn allesamt nur Marionetten, über die der Krieg willkürlich verfügt?
„Wissen Sie, Nakatanisan", begann Schinitschi leise, „ehrlich gesagt, ich bin gar nicht so traurig über die Niederlage..." Er redete das nicht nur so daher, um den Meister zu trösten. Nein, dieser Gedanke lag schon lange, seit Beginn des Krieges, irgendwo in der Tiefe seines Bewusstseins verborgen. Obgleich man Schinitschi bisher gezwungen hatte, Waffen herzustellen, hielt er den Krieg doch für ein Verbrechen.
In diesem Augenblick trat jemand ins Zimmer. Schinitschi sah sich vorsichtig um, doch als er Araki erkannte, beruhigte er sich. „Ich bin gegen den Krieg", fuhr er fort. Araki hatte offensichtlich schlechte Laune. Er griff nach einem der grünen Äpfel, die auf dem Bett lagen, und sagte schroff: „Jetzt ist es zu spät, darüber zu reden - nachdem Millionen Chinesen dran glauben mussten..."
Schinitschi und Nakatani blickten ihn verblüfft an. Araki wandte ihnen den Rücken zu und nagte an dem Apfel. Seine Heftigkeit setzte Schinitschi in Erstaunen. Er erinnerte sich, dass ihm Nakatani eines Tages von dem älteren Bruder Arakis erzählt hatte, der als Kommunist lange im Gefängnis gesessen habe und dort während des Krieges gestorben sei.
„Ich konnte sie kaum beruhigen." Araki berichtete aufgebracht von dem Tumult im Arbeiterinnenheim. Nakatani nickte von Zeit zu Zeit teilnahmsvoll, doch man sah, dass ihn seine eigenen Angelegenheiten mehr beschäftigten. „Der Direktor leistet sich ja schöne Sachen! Verbreitet provokatorische Gerüchte! Was soll man dazu sagen?" schloss Araki.
Das Wort „provokatorisch" war Schinitschi neu; doch er dachte jetzt nicht weiter darüber nach, seine Gedanken waren bei Rens Brief. Trotzdem bemerkte er, dass Araki zwar äußerlich wütend, im Grunde aber in gehobener Stimmung war. Der verlorene Krieg schien ihm nicht sonderlich nahezugehen.
Araki trommelte mit den Fingern auf den Tisch, wandte sich dann zum Fenster um und schob den Vorhang zur Seite. „Nakatani, wie hieß es im Potsdamer Abkommen?" fragte er nach einer kleinen Pause. „Was haben sie im Radio gesagt? Ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Weißt du es noch, Ikenobe?"
Schinitschi entsann sich auch nicht. Nakatani betrachtete Araki schweigend, zog den Tischkasten auf, nahm einen Notizblock heraus, in dem mehrere Zeitungsausschnitte lagen, und reichte einen davon Araki. Nakatani hatte die Angewohnheit, alles Mögliche aufzubewahren, was er vielleicht „noch einmal gebrauchen" könnte. „Da ist es schon."
Araki vertiefte sich in den Text. Einige Sätze las er laut vor: „Die Alliierten sind nicht gewillt, das japanische Volk zu vernichten oder in die Sklaverei zu stürzen..."
„Ja, so ist es..." Er warf das Papier auf den Tisch. „Man muss dem ,Frosch' mal tüchtig Bescheid sagen."
Er lächelte. Nakatani schwieg wie bisher, Schinitschi griff nach dem Zeitungsausschnitt. „Die japanische Regierung muss alle Hindernisse bei der Wiederbelebung und Festigung der demokratischen Tendenzen im japanischen Volk beseitigen. Die Freiheit des Wortes, der Religion und des Denkens wird wiederhergestellt ebenso wie die Achtung gegenüber den Grundrechten des Menschen..."
Er las diese Stelle noch einmal, doch die Worte „Freiheit des Denkens" waren ihm unfassbar. Er hatte sich über seine Denkweise bisher nie den Kopf zerbrochen und darum auch nicht empfunden, ob man ihm diese Freiheit streitig machte oder nicht. „Grundrechte des Menschen" - Menschenrechte, Grundrechte -, was bedeutete das? Schinitschi hatte solche Worte noch nicht auf Japanisch gelesen. Darin lag etwas, das grenzenlos und unermesslich war wie das weite Meer. Er schüttelte den Kopf und legte den Zeitungsausschnitt wieder aus der Hand. „Die Gesellschaft hat offenbar noch keine bestimmten Pläne", brachte er endlich heraus.
Die beiden Meister begannen, das weitere Schicksal der Fabrik zu erörtern.
„Sie wird wieder arbeiten! Kann denn Japan aufhören zu bestehen? Solche Maschinen, wie sie die ,Tokio-Electro' herstellt, liefert kein anderes Unternehmen bei uns. Die Frage ist nur, wer jetzt Eigentümer der Fabrik wird. Vielleicht die Alliierten?" meinte Araki.
Worte wie „Europa" und „Stalin" kamen in seiner Rede vor, und Schinitschi lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit auf diese neuen Ausdrücke. Vieles blieb ihm trotzdem unverständlich. Anscheinend war Araki selbst nicht genau im Bilde.
Auf dem Hof erschienen einige junge Mädchen aus dem Arbeiterinnenheim drei. Sie trugen Körbe und Säcke auf dem Rücken. Offenbar hatten sie den Zug verpasst.
Was soll aus uns werden, dachte Schinitschi, wenn das Werk die Arbeit nicht wiederaufnimmt? Wie wird es überhaupt jetzt auf der ganzen Welt?
Schinitschi fühlte Rens Brief an seiner Brust. Er sah aus dem Fenster. Hoch oben über den Berggipfeln schwebten schon weiße Herbstwolken. Ab und zu glaubte Schinitschi, Rens Lachen zu vernehmen, von weither, wie im Traum. Er fühlte eine furchtbare Schwäche, wie sie oft nach schweren Krankheiten auftritt.
Der Morgen graute. Schwach zeichnete sich die Gebirgskette gegen den Himmel ab. Die Windungen und Falten der Berghänge verschwammen hinter wallenden Nebelschwaden. Über einem tiefen, engen Tal erhob sich ein breites Felsplateau. Hier oben, etwa einen Kilometer von dem Dorf Torisawa entfernt, inmitten des üppig wuchernden Waldes, hielt ein Ochsengespann.
Zwischen den Felsblöcken kam ein Mann hervor. Er sah aus wie ein Bauer. Er schleppte Kisten herbei und verlud sie auf das Fuhrwerk. Der braune Ochse war nass von der Feuchtigkeit ringsum. Er peitschte seine Flanken mit dem Schwanz und brummte, aber die schwere, dumpfige Luft verschluckte jeden Laut.
Dichter Nebel hüllte auch die fünf Dörfer ein, die sich am Flussufer erstreckten. Sie schienen noch zu schlafen.
Fern im Osten hinter dem Suwasee tauchte der Jagatake aus dunstigen Wolken auf. Die Gipfel der Berge rings um die Siedlung am Fluss waren noch in Dunkel gehüllt. Hier schien sich der Tag verspätet zu haben. Torisawa lag zudem als einziges der fünf Dörfer in einer Schlucht.
Jede dieser Ortschaften bot ein anderes Bild, das von der Eigenart der Gegend geprägt wurde. Kami-Gawasoi und Schimo-Gawasoi, die beiden größten, grenzten an die Chaussee. Es waren alte, eingewohnte Siedlungen. An der Hauptstraße drängten sich kleine Läden, in denen man alle möglichen Waren kaufen konnte vom Tabak und von Gebrauchsgegenständen bis zum Salz und zu Medikamenten. Es gab auch Fischhändler, die vor allem Salzfische feilboten, Fleischer, die mit Pferdefleisch handelten, einen Schuhmacher und einen Haarschneider. Schimo-Gawasoi hatte sogar eine Grundschule, und seine Gemeindeverwaltung befand sich in einem zweistöckigen Gebäude europäischen Stils. Auf einem schmalen Uferstreifen zwischen Bergwand und Fluss lagen eine kleine Kokonverarbeitungsfabrik und ein unbedeutendes Sägewerk, das seine Produktion nicht einmal während des Krieges gesteigert hatte, da es in diesem Bezirk fast kein Holz gab, das sich für den Schiffsbau eignete.
Wollte man das Dorf Torisawa erreichen, so musste man hinter Schimo-Gawasoi von der Straße rechts abbiegen, immer höher hinaufsteigen und etwa zwei Kilometer weit ins Gebirge eindringen. Der Weg wand sich zwischen Feldern, die stufenförmig auf Felsvorsprüngen klebten, und kahlen, rötlichen Lehmflächen dahin, auf denen nicht einmal wildes Gras wuchs, schnitt sich in enge, sumpfige Täler ein, führte an manchen Stellen jäh aufwärts und fiel dann wieder ab in Schluchten voller riesiger Felsblöcke, wo das ganze Jahr hindurch Finsternis und Feuchtigkeit herrschten. Im Winter versank der ganze Pfad unter meterhohem Schnee oder in abgrundtiefem Schlamm.
An der Stelle, wo man den fernen Gipfel des „Bonzen" erblickte, öffnete sich die Schlucht und gab die Aussicht frei auf das Dorf mit seinen Stroh- und Holzdächern und den geweißten Mauern der Speicher. Die etwa hundertdreißig Häuschen der Siedlung zogen sich dicht aneinandergedrängt die Berghänge hinab bis ins Tal.
Zu dieser frühen Morgenstunde war das Dörfchen ganz in dicken Nebel eingebettet. Aber dort oben, wo der Wagen stand, wurde gearbeitet. Kisten mit Konserven, Säcke, Ballen von Bastmatten, Blechkanister, anscheinend voll Öl, und andere für diesen abgelegenen Ort ungewöhnliche Dinge wurden auf das Fuhrwerk gepackt. „So, das genügt. Zieh jetzt das Seil fest!" ertönte eine Stimme, und Takenoutschi trat aus dem grauen Dunst hervor. „Du lädst dort alles ab und kommst so schnell wie möglich wieder. Dann holst du den Rest, verstanden?"
Takenoutschis khakifarbenes Hemd war völlig durchnässt. Sein glattrasierter Kopf dampfte, der Schweiß rann ihm in Strömen von der Stirn. Er war gerade dabei, dem Arbeiter beim Verschnüren der Ladung zu helfen. Plötzlich reckte er den Hals, blickte in den Nebel und lauschte. Dann lief er eilig bergab, als hätte er einen Ruf vernommen. Die Zweige schlugen ihm ins Gesicht.
Unten im dichtbewaldeten Talgrund herrschte noch Halbdunkel. Takenoutschi stieg immer tiefer hinunter. Bald tauchten in dem milchigen Nebel vor ihm dunkle Schatten auf. Es waren zwei langgestreckte, miteinander verbundene Baracken. Sie sahen aus wie Fabrikhallen - ein ungewöhnlicher Anblick in dieser Einöde.
Am Eingang zu den Baracken stand Direktor Sagara. Er trug eine weiße Sportmütze, feldgraue Hosen und hohe Stiefel mit Ledergamaschen. Ungeduldig sah er auf seine Armbanduhr und fragte gereizt: „Wie lange fährt er?"
„Na ja doch, er kommt gleich zurück." Der Buchhalter machte eine beruhigende Handbewegung und schritt den neuangelegten Pfad entlang, der zu den Baracken führte. Seine Füße versanken in dem roten Lehm. „Wir haben die Ladung geteilt, um den Wagen nicht zu sehr zu belasten. So wird's schneller gehen." Seine Schweinsäuglein blitzten auf, als wollten sie zum Ausdruck bringen, er als Einheimischer wisse am besten, wie man das machen müsse. Ihm brauchte man nichts zu erklären. Zugleich aber drückte sein Gesicht eine anzügliche Vertraulichkeit aus, die zu sagen schien: Wir sind ja jetzt Komplicen...
„Ach, wie das hier alles verkommt!" rief Takenoutschi und warf einen Blick auf die Kisten und Säcke, die ringsum verstreut lagen. Dann betrat er eilig die Baracke. Der Direktor folgte ihm.
In dem fahlen Morgenlicht, das durch die Fenster in den Raum drang, konnte man gerade die Umrisse der verschiedenen Gegenstände erkennen, die sich auf dem Fußboden türmten: Stöße von Kupferplatten, in Bastmatten eingewickelt, Stapel von Stangen aus einem merkwürdigen Metall, das wie Silber glänzte.
Takenoutschi blickte suchend hierhin und dorthin und schob einige Platten beiseite. Unter Strohmatten schauten die dick eingeölten Rümpfe von Schleifmaschinen hervor; Teile von Drehbänken lagen umher, mit Lappen zugedeckt; in einer Ecke standen halbfertige Werkbänke mit hohen Rahmen. Diese ganze Anlage auf dem Grunde eines Tales mitten im dichten Wald war offenbar erst kurz vor Kriegsende entstanden, weil diese Gegend besseren Schutz gegen Luftangriffe bot.
„Das hier ist wohl das Richtige, nicht wahr?" Takenoutschi sah den Direktor an und stieß mit dem Fuß gegen einen Haufen Blechkisten. Sagara antwortete nicht. Takenoutschi trat näher ans Fenster, zog ein Schreibheft aus der Tasche und blätterte darin. „Ich glaube, hiervon könnten wir drei Kisten nehmen."
Er umfasste die oberste Kiste mit beiden Armen und stellte sie auf den Boden. Zu zweit trugen sie die Last durch das lange Gebäude zum Ausgang. Beim Transport der zweiten Kiste ging Sagara schon der Atem aus.
„Genug!" sagte er zu Takenoutschi, der sich anschickte, die dritte zu holen. „Der Krieg ist aus, das ganze Zeug ist keinen Pfifferling wert."
Das Fuhrwerk kam zurück, Takenoutschi und der Kutscher luden die Blechkisten auf, Sagara stand mit mürrischer Miene dabei und sah zu. Seine feuchte Zigarette erlosch immer wieder, schließlich zerdrückte er sie und warf sie weg. Der Wagen ruckte an, und Sagara stapfte hinter ihm her den Berg hinauf.
„Ich muss schon sagen, ich habe mächtigen Hunger!" bemerkte Takenoutschi.
Der Direktor schwieg. Der zweirädrige Karren schwankte bedenklich von einer Seite zur anderen. Die nasse Erde und das Gras dämpften das Rattern und Knarren der Räder. Endlich tauchten die mit großen Steinen beschwerten Holzdächer der Siedlung auf. Meckernde Ziegen sprangen im hohen Gras umher. Der Nebel hatte sich noch nicht verzogen, aber im Dorf herrschte bereits reges Leben. Hinter einer schwarzen steinernen Einfriedung ragten die weißen Mauern der zahlreichen Gutsgebäude der Familie Torisawa auf.
Direktor Sagara Eiki hatte schlechte Laune. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, schritt er hinter der Fuhre einher durch den feuchten, schweren Sand. Im Stillen warf er sich vor, leichtsinnig zu handeln, und er bereute, dass er sich in einer so wichtigen Angelegenheit diesem Dorftölpel Takenoutschi anvertraut und sich dadurch in eine gewisse Abhängigkeit von ihm gebracht hatte. Aber die Zukunft war unsicher, man konnte nie wissen... Jedenfalls musste man in einer solchen Zeit möglichst viele Lebensmittel beiseite schaffen.
Von seinem Standpunkt aus war er im Recht. Er bedauerte, dass der Krieg verloren war, nicht anders, als er ein „missglücktes Geschäft" bedauert hätte. Es ging ihm durchaus nicht so nahe wie einigen Angestellten der Fabrik, die bei der Nachricht von der Kapitulation geweint hatten. Zwar fürchtete er, als Direktor einer Waffenfabrik von den Alliierten bestraft zu werden, aber es kam ihm nicht in den Sinn, sich als Kriegsverbrecher zu betrachten.
Er hatte schon vergessen, dass er bis zuletzt von seinen Untergebenen verlangt hatte, seine Befehle als „Kriegsbefehle" anzusehen.
Sagara hatte die Technische Hochschule in Tokio besucht und besaß eine ziemlich klare Vorstellung vom Staatsaufbau der USA. Das verlieh ihm eine gewisse Ruhe. Doch da war noch die Sowjetunion. Was würde aus der „Tokio-Electro", wenn die wahre Demokratie käme? Das Kapital der Gesellschaft gehörte dem Mitsui-Konzern, folglich waren einschneidende Maßnahmen zu erwarten. Damit rechneten alle, die für die Verwaltung des Konzerns verantwortlich waren. Aber zu denen gehörte er ja nicht: Er war schließlich nur einer der technischen Leiter, und wer weiß, vielleicht eröffneten sich für ihn sogar in allernächster Zukunft neue Perspektiven... „Tametsugi, he, Tametsugi!" Takenoutschi überholte das Fuhrwerk und eilte auf einen hageren Mann von etwa dreißig Jahren zu, der neben dem hohen, mit einem Schutzdach aus Schilfrohr gedeckten Einfahrtstor stand. Der Mann trug ein altes, grobgewebtes Militärhemd. Er sah aus wie eine Feldmaus - ein kleines, dunkles Gesicht, dünne Lippen, ein spitzes Kinn. Das war Takenoutschi Tametsugi, der ältere Bruder des Buchhalters. Er wohnte im Hause der Torisawas und war zugleich Pächter und Verwalter.
Der Karren rollte durch das Tor, und Tametsugi führte das Gespann über den geräumigen Hof, am Wohnhaus vorbei, zu den Speichern.
„Warten Sie einen Augenblick, ich bin gleich wieder da!" Tadaitschi winkte dem Direktor zu und folgte dem Fuhrwerk.
Das Wohnhaus machte einen imposanten Eindruck. "Vom Dach leuchtete in weißen auf schwarzen Schindeln das Familienwappen der Torisawa. Eine breite Veranda zog sich rings um das ganze Gebäude. Am Eingang in die geräumige, altertümliche Diele hing eine kleine Tafel, die bekundete, dass der Hausherr auf Lebenszeit Mitglied des Japanischen Roten Kreuzes sei. Ein Schildchen daneben nannte die Telefonnummer. Der nächste Raum hinter der Diele war ein europäisch eingerichteter Salon. Das Anwesen lag an einem Berghang, von dem ein kleines Bächlein herabfloss und als Wasserfall in einen Teich strömte. Das Haus war von uralten Buchsbäumen und einigen schönen chinesischen Kiefern umgeben, denen man ansah, dass sie sorgsam gepflegt wurden. Beiderseits des Fußpfades, der zu den Speichern führte, schimmerten wie überall in dieser Gebirgsgegend bunte Zinnien und Tausendschönchen.
Acht Tscho (Anm.: Flächenmaß, etwa 1 Hektar) Ackerland und fünfzehn Tscho Wald... Natürlich konnte sich Torisawa nicht als übermäßig reichen Gutsbesitzer betrachten. Hier aber, wo man an den Abhängen Steinwälle errichten und Erddämme bauen muss, um das Wasser aufzuhalten, und wo auf einem Tan (Anm.: Flächenmaß, etwa 0,1 Hektar) mitunter neun oder sogar zehn winzige Parzellen liegen, war das schon ein bemerkenswerter Landbesitz. In allen fünf umliegenden Dörfern konnte man Gutsherren wie Torisawa an den Fingern abzählen.
Direktor Sagara stand tief in Gedanken versunken mitten auf dem großen Hof.
Plötzlich vernahm er eine Stimme: „Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle - ich bin der ältere Bruder von Torisawa Ren. Bitte, erweisen Sie uns die Ehre, eine Tasse Tee bei uns zu trinken."
In der Haustür stand der Gutsherr Torisawa Kintaro, ein Mann von etwa vierzig Jahren. Er trug einen Anzug von halbmilitärischem Schnitt, seine Füße steckten in Getan. Ein Lächeln erschien auf seinem bleichen, etwas länglichen Gesicht mit der „hohen" Nase (Anm.: Eine „hohe" Nase ist eine - wie beim Europäer - hoch ansetzende Nase, selten bei Japanern, deshalb in Japan auffallend.), als er jetzt dem Direktor entgegenkam.
Sagara erinnerte sich nicht, wer Torisawa Ren war. Da es aber oft vorkam, dass ihn Dorfbewohner einluden, murmelte er nur irgendetwas vor sich hin und folgte dem Hausherrn in das Besuchszimmer.
Auf dem Tisch stand ein Frühstück für zwei Personen. Die Hausherrin, eine Frau mit rötlichem, gedunsenem Gesicht und verarbeiteten Händen, bediente selbst. Sie achtete auf jede Bewegung ihres Mannes, er brauchte sich nur zu räuspern, gleich warf sie ihm einen demütigen, schüchternen Blick zu. Sie wirkte viel älter als er und erschien gegenüber der eleganten Einrichtung besonders unansehnlich. „Ich bitte um Verzeihung, dass wir Sie belästigen mussten", sagte Sagara und zündete an dem Feuerzeug, das ihm der Hausherr entgegenhielt, eine Zigarette an.
„Aber das macht doch gar nichts!" erwiderte Kintaro lächelnd, löschte die Flamme und legte das Feuerzeug auf ein Tablett mit Rauchutensilien. Er selbst rauchte nicht. Er hustete oft, und. wenn er lachte, dann hielt er die Hand vor den Mund. Nach einem kurzen Schweigen fügte Torisawa unvermittelt hinzu: „Ich habe ja überhaupt nichts damit zu tun, das haben alles die Brüder Takenoutschi organisiert." Sie berührten dieses Thema nicht mehr. Takenoutschi wohnte ständig im Dorf Torisawa und fuhr mit dem Rad zur Arbeit. Auch nachdem Kintaro, der ein Aktienpaket der Sumikurawerke besaß, ihm die Kontoristenstelle verschafft hatte, hielt er seine „Vasallen"-Beziehung zu dem Gutsherrn aufrecht, obgleich er sich nicht mit Landwirtschaft beschäftigte.
„In letzter Zeit sind viele Soldaten heimgekommen, he... he..."Jedesmal, wenn Kintaro hüstelte, nahm sein Gesicht einen hochmütigen Ausdruck an, als wäre es eine besondere Herablassung von ihm, sich mit seinem Gegenüber zu unterhalten. Aber offenbar machte ihm irgendetwas Sorgen, und er bemühte sich krampfhaft, ein passendes Thema zu finden, um ein Gespräch in Gang zu bringen. „Hm... Gestern soll Komatsu Nobujoschi eingetroffen sein, wie ich hörte. War er nicht Leiter der Abteilung für allgemeine Angelegenheiten in Ihrem Betrieb? Hat er sich noch nicht bei Ihnen sehen lassen?"
Sagara schüttelte den Kopf. Seine Miene drückte Befremden aus. Was hatte Komatsu mit dem Herrn dieses Hauses zu tun? „Er ist ein Verwandter von uns. Mein Großvater war ein Komatsu", erklärte Kintaro, als er das Erstaunen seines Gastes bemerkte.
Sagara hatte die Absicht, aufzubrechen, sobald Takenoutschi zurückkäme. Er wollte noch am selben Tage nach Tokio fahren, um an einer Vorstandssitzung der Gesellschaft teilzunehmen. Er merkte, dass ihn sein Gastgeber in eine Unterhaltung zu verwickeln suchte, aber er hatte keine Lust dazu.
Uber dem Schreibtisch hing eine Kopie des Gemäldes „Die heilige Familie" von El Greco, im eingebauten Bücherschrank standen Werke berühmter Autoren, philosophische Schriften, belletristische Bücher und sogar die mehrbändige „Geschichte der Entwicklung des Kapitalismus in Japan".
Aus alledem machte sich der Direktor gar nichts, er hielt es für überflüssig. Die Einrichtung des Salons war in dieser Gegend keine Ausnahme. Der Hausherr, der stolz darauf war, Mitglied der Gemeindeverwaltung von Torisawa und des Landwirtschaftlichen Komitees für den gesamten Bezirk Kawasoi zu sein, gehörte zu den typischen Vertretern der einheimischen Intelligenz.
In seiner Jugend hatte er an einer Tokioter Privatuniversität Rechtswissenschaft studiert, aber er beabsichtigte keineswegs, Anwalt oder Beamter zu werden. Er war Mitarbeiter einer literarischen Zeitschrift und begann ein Verhältnis mit einem Malermodell, als er sich einmal vorübergehend für Malerei begeisterte. Bald aber fand sich eine standesgemäße Partie für den Gutsbesitzer. Er kehrte auf sein Gut zurück, heiratete und wurde sesshaft.
Unter den Gebildeten waren viele, die tönende Phrasen im Munde führten und sich selbst für fortschrittlich hielten. Es gab aber auch wirklich revolutionär gesinnte Leute. Doch in den meisten Fällen verwirklichten sie ihre Ideen im praktischen Leben nicht und verfielen so in den Fehler jener Angehörigen der Intelligenz, die der Ansicht sind, Wissen allein genüge. Auch Torisawa Kintaro gehörte zu ihnen. Er verehrte Kunst und Wissenschaften und war fest überzeugt, dass er ein fortschrittlicher Mensch sei.
Ungewöhnlich schien es, dass es bei den ländlichen Verhältnissen dieser Gegend unter den Gutsbesitzern und Seidenfabrikanten ziemlich viele gebildete Menschen gab. Aber so verwunderlich war das gar nicht, denn es war, wie überall in der Seidenproduktion, eine Begleiterscheinung der Entwicklung des Kapitalismus, die vor ungefähr hundert Jahren begonnen hatte.
Die Grundbesitzer und Textilunternehmer wussten es so einzurichten, dass die Bauern, die die Seidenraupen züchteten, und die Arbeiter in den Spinnereien in einem halbfeudalistischen Abhängigkeitsverhältnis zu ihnen standen. Die Zahl solcher Bauern und Textilarbeiter war in diesem Teil Japans besonders groß.
Wenn die Grundbesitzer und Unternehmer nun morgens und abends ihre Radioapparate einschalteten, um die Börsenberichte aus Tokio, Jokohama und sogar aus New York zu hören, dann bekamen sie, ohne es zu wollen, auch die modernen kulturellen Sendungen mit. Dabei musste ihnen zumute sein, als sollten sie den Ast absägen, auf dem sie saßen, als sollten sie ihre eigene Existenz verneinen. Angesichts der Not und des Elends derer, die Opfer dieser Verhältnisse waren, verlieh das dem modernen Liberalismus und Philanthropentum gerade dieser besonders armen Gegend eigenen, verlogenen Charakter.
Man kann also verstehen, dass das pompöse Empfangszimmer des Doktors der Rechte Torisawa Kintaro hier nichts Außergewöhnliches war.
Im Augenblick aber lag Kintaro nichts an humanitären Theorien. Japan hatte den Krieg verloren, und so hatte er ganz andere Sorgen. „Was soll man bloß machen? Ich besitze auch eine Anzahl Aktien. Was wird jetzt damit Ihrer Meinung nach?" Er steuerte geradenwegs auf den Kern der Sache zu. „Ich glaube natürlich nicht, dass da noch etwas herausspringt, aber trotzdem..."
Er stützte den Ellenbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die Hand.
Das gezwungene Lächeln, hinter dem er seine quälende Unruhe zu verbergen suchte, wich nicht von seinem Gesicht.
„Was für Aktien haben Sie?" fragte Sagara unverfroren und zog verächtlich die Mundwinkel nach unten. Jetzt von Aktien zu reden, konnte auch nur so einem „Bauern" einfallen.
„Alle möglichen. Zum Beispiel ,Taiwaner Zucker'..."
„Ach", meinte Takenoutschi, der eben ins Zimmer trat und die letzten Worte noch gehört hatte, „die kauft ja nicht mal mehr die Regierung!"
Sagara schwieg. Er machte ein Gesicht, als wollte er sagen: Lasst mich bloß damit in Ruhe! Takenoutschi trat an den Tisch, nahm aber nicht auf einem Stuhl Platz, sondern zeigte, dass er wusste, wo er hingehörte, und hockte sich auf den Fußboden nieder. Dann zog er eine Pfeife aus der Tasche, schüttete etwas zerkrümelten Tabak hinein, rauchte ihn an und wandte sich mit leiser Stimme und mitleidigverständnisvoller Miene an den Direktor: „Herr Torisawa besitzt eine ganze Menge solcher Aktien..., für siebzig- oder achtzigtausend Jen, nicht wahr, Herr?"
Draußen vor der Tür ertönten Schritte, doch keiner der Männer am Tisch achtete darauf.
„He, he...", machte Kintaro und nickte. Er fuhr fort zu lächeln, aber seine hagere Hand, die das Kinn stützte, zitterte merklich.
Plötzlich stürmte Ren in den Salon. Mit Mühe nur unterdrückte sie ein Lachen, sie sah aus, als würde sie jeden Augenblick losprusten.
„Willkommen!" Sie verneigte sich vor dem Direktor, wandte sich aber sofort wieder ab und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Ihr heller Kimono mit dem schmalen violetten Gürtel, der hinten zu einer Schleife gebunden war, und das glattgekämmte Haar mit dem Knoten im Nacken ließen sie viel jünger wirken als in der Fabrik.
Das ist doch... Sagara ging ein Licht auf, er nickte ihr zu.
Gleich darauf trat ein schlanker junger Mann ein. Er trug eine neue Offiziersuniform, allerdings ohne Schulterstücke, und an der Mütze fehlte die Kokarde. Im Übrigen war er wie aus dem Ei gepellt, die Uniform saß tadellos, die braunen Ledergamaschen und die Kartentasche glänzten frisch gewichst. Er war ein hübscher junger Mann mit regelmäßigen Zügen und lebhaftem Blick.
„Oh, Herr Komatsu!" Sogar der Direktor erhob sich ein wenig von seinem Sessel. Mit militärisch kurzen Schritten ging der Offizier auf den Direktor zu, hob die Hand an den Mützenschirm und meldete laut: „Oberleutnant Komatsu Nobujoschi. Soeben angekommen. Schäme mich, dass ich am Leben geblieben bin, ungeachtet der Niederlage der Kaiserlichen Armee!"
Er trat zurück, machte eine exakte Kehrtwendung, wandte sich erst dem Hausherrn und dann Takenoutschi zu und wiederholte jedesmal die gleichen Worte im gleichen Tonfall.
Nach dieser Zeremonie setzte er sich auf einen Stuhl zwischen Kintaro und den Direktor. Nun konnte Ren nicht länger an sich halten, sie verbarg das Gesicht hinter der Lehne des Sessels, in dem ihr Bruder saß, und schüttelte sich vor Lachen. Denn fünf Minuten zuvor, als Komatsu sie und ihre Schwägerin in der Diele traf, hatte er sich genauso benommen.
„Na, na..." Kintaro blickte sie missbilligend an. Ren hob den puterroten Kopf.
„Nobujoschi ist so komisch! Der hört ja gar nicht mehr damit auf", meinte sie, nicht im Geringsten verlegen.
Kintaro rüttelte seine Schwester leicht an der Schulter, doch sie fing wieder an zu lachen. Dann schielte sie noch einmal zu Komatsu hinüber, der düster und unbeweglich vor sich hinstarrte, presste die Hand vor den Mund und lief hinaus.
„Ein ausgelassenes Mädchen, man wird nicht fertig mit ihr. Als Jüngste wird sie eben verwöhnt", entschuldigte sich der Hausherr immer mit dem gleichen wehleidigen Lächeln. Der Direktor lächelte ebenfalls. Takenoutschi lachte laut und ungeniert.
„Sie haben viel erlebt. Ich freue mich, Sie heil und gesund wiederzusehen", sagte Sagara schließlich herablassend zu Komatsu.
,Ich danke Ihnen." Komatsu neigte ruckartig den Kopf. Dann schien sein Gesicht wieder zu erstarren.
Die Hausfrau trat mit einem Tablett in der Hand ein und servierte Tee. Torisawa flüsterte ihr etwas zu, anscheinend erteilte er ihr einen Verweis. Dann lächelte er wieder seine Gäste an. Die gestörte Unterhaltung wurde erneut aufgenommen.
„Unter den heutigen Umständen kann man nicht mal garantieren, dass Bargeld vor Zufällen geschützt ist", bemerkte Takenoutschi. „Wir müssen mit einer Inflation rechnen", setzte er gleichgültig hinzu, als sich Kintaro brüsk umdrehte. „Habe ich recht, Herr Direktor?"
Sagara nickte zustimmend, lehnte sich in den tiefen Sessel zurück und stützte den Kopf in die Hand. Komatsu saß noch immer unbeweglich und stumm auf seinem Stuhl. Er gehörte einem vornehmen einheimischen Adelsgeschlecht an und war ein entfernter Verwandter der Sumikura. Die Familie Komatsu, die in dem Dorf Sanbonmatsu wohnte, besaß ein kleines Gut, Nobujoschi selbst aber beschäftigte sich nicht mit Landwirtschaft. Nachdem er die Mittelschule absolviert hatte, nahm er eine Stellung in den Sumikurawerken an und wurde bald darauf als Offiziersschüler in die Armee übernommen. Als die „Tokio-Electro-Company" in die Fabrik einzog, blieb Komatsu sein Abteilungsleiterposten erhalten, und er bekam sein festes Gehalt ausgezahlt. Auf diese Weise hatte er als Offizier, im Gegensatz zu den einfachen Soldaten, ein doppeltes Einkommen.
In drei Jahren brachte er es glücklich zum Oberleutnant. Während der ganzen Zeit gehörte er zur Präfektur Tschiba und wurde von einem Küstenort zum andern versetzt.
I Seine „Arbeit" bestand in der Vorbereitung von Bauplätzen für Verteidigungsanlagen in den Städten und Dörfern. Zu diesem Zweck zerstörte er die Häuser friedlicher Bewohner, indem er Panzer über sie hinweg rollen ließ. Er befahl die Boote der einheimischen Fischer zu zerschlagen, wenn er Bauholz brauchte, schaltete und waltete eigenmächtig auf den privaten Eisenbahnlinien, requirierte überall Lebensmittel für die Truppenverpflegung, stellte weibliche „Freiwilligenabteilungen" für Erdarbeiten zusammen, und wenn er ein hübsches Mädchen fand, das ihm gefiel, dann nahm er es „unter seine besondere Obhut". Als er den Bau von Wohnungen für die Truppenkommandeure leitete, unterstand ihm das Lager der Intendantur. Dort veranstaltete er mitunter tagelange Zechgelage. Mit einem Wort, Oberleutnant Komatsu war einer jener berüchtigten jungen Offiziere, die alle militärischen und zivilen Vollmachten in der Hand hatten. Nach der Kapitulation fuhr er nach Tokio, und da er sich, zum Unterschied von den meisten anderen Heeresangehörigen, ziemlich genau über alle Vorgänge in der Politik und beim Militär orientierte, gelang es ihm verhältnismäßig rasch, demobilisiert zu werden und nach Hause zurückzukehren.
„Sachwerte sind jetzt das vorteilhafteste", flüsterte Takenoutschi heiser und blinzelte Kintaro listig zu.
„Der Krieg ist aus, und mit der Warenkontrolle ist Schluss, so kann man wohl sagen. Darum muss man sich jetzt Sachwerte zulegen, ganz gleich, was für welche - Holz, Häuser, Stoffe, Militärhemden und hosen... Und nicht nur das. Auch Wald ist gut, denn die Preise für Holz steigen. Und natürlich Grund und Boden, umso mehr, wenn die Kriegsabgaben wegfallen."
Da mischte sich Komatsu unvermutet ein. „Das Land wird konfisziert", erklärte er militärisch kurz, ohne seine Haltung zu verändern. „Habe es gestern gehört, in Tokio. Einer der Alliierten ist die Sowjetunion. Sie wird darauf bestehen, dass man so eine ,demokratische Revolution' macht und das gesamte Land der Gutsbesitzer beschlagnahmt."
Er brach jäh ab, sein Gesicht war undurchdringlich wie vordem. Er überließ es seinen Zuhörern, ob sie seinen Worten glauben wollten oder nicht.
„Das ist doch wohl nicht möglich!" Takenoutschis Äuglein blitzten auf, aber Komatsu würdigte ihn keiner Antwort. Auch dem Direktor schien diese Nachricht neu zu sein, und das Lächeln des Hausherrn verschwand mit einem Schlag.
„Unmöglich!" rief Takenoutschi wieder. „Ich habe ja auch schon gehört, dass die Pflichtablieferung an die Gutsbesitzer aufgehoben werden soll, aber dass man das ganze Land..." Komatsus Worte gingen Takenoutschi nicht in den Kopf. „In Amerika gibt es doch auch privaten Grundbesitz. Nicht wahr, Herr. Direktor?"
Sagara brummte etwas Unverständliches und schüttelte den Kopf.
Er wusste nicht, was er von der ganzen Angelegenheit halten sollte.
Komatsu Nobujoschi erhob sich und verließ leise und unauffällig das Zimmer. Die drei anderen waren so in Gedanken versunken, dass sie es gar nicht bemerkten.
Als Ren aus dem Salon lief, brachte der Briefträger gerade die Post. Auf den ersten Blick bemerkte sie zwischen Zeitungen und Briefen den viereckigen Umschlag - ein Schreiben von Ikenobe Schinitschi. Sie ging in ihr Zimmer, einen Eckraum, der auf die Terrasse hinausführte, schob die Schoji fest zusammen, ließ, sich auf die Bastmatten nieder und begann zu lesen. Ringsum lagen Stricknadeln, Knäuel orangefarbener und weißer Wolle, Strickmuster und ein halbfertiger Pullover verstreut. Aber Ren schien die Unordnung nicht wahrzunehmen.
Eine Zeitlang saß sie unbeweglich, wie versteinert. Dann hob sie den Kopf und richtete ihren Blick auf die zitternden, wirren Schatten der Baumzweige, die auf den grell von der Sonne beschienenen Schoji tanzten. Wie immer, wenn sie angestrengt nachdachte, faltete sie ihre Hände über den Knien und starrte finster vor sich hin, ohne dass ihre weitaufgerissenen Augen etwas sahen.
Zwei weiße Briefbogen waren dicht mit deutlichen Schriftzeichen bedeckt. Sie reihten sich so exakt und gleichmäßig aneinander, dass sie wie gedruckt wirkten. Ren legte den Brief sorgfältig in den Kniffstellen zusammen, faltete ihn aber gleich darauf mit einer ruckartigen Bewegung wieder auseinander. Nein, ich muss doch wissen, was er schreibt!
„Ich war sehr überrascht, als ich Ihren Brief las. Zugleich aber sagte mir eine innere Stimme, dass ich mich nicht zu wundern brauchte. Ich spürte, dass etwas geschah, was geschehen musste. Ich war sehr froh und ganz verwirrt von diesem unerwarteten Glück. Zuerst wusste ich einfach nicht, was ich tun sollte - so habe ich mich gefreut! Aber merkwürdig, mit dem Gefühl der Freude zog Trauer in mein Herz. Ende August kehrte ich nach Hause zurück, nach Tokio. Fast eine Woche lang trug ich Ihren Brief bei mir und überlegte, überlegte...
Ich sage es ganz offen: Wenn Sie mich lieben, so seien Sie gewiss, dass ich Sie darum noch viel mehr liebe. Damals im Krankenzimmer konnte ich die ganze Nacht kein Auge zutun. Und je mehr ich darüber nachdachte, desto eindringlicher bestürmte mich die Frage, ob ich Ihrer Liebe würdig sei. Und ich konnte Ihnen nicht sofort auf Ihren Brief antworten.
Kennen Sie mich denn überhaupt? Natürlich weniger als ich Sie kenne. Zumindest kommt mir das so vor.
Ich bin im Grunde ein schüchterner, unsicherer Mensch. Deshalb bemühte ich mich stets, energisch und fest zu erscheinen. Und sobald ich bedenke, dass Sie, die ich liebe, am Ende selbst dahinterkommen werden, dann verlässt mich aller Mut..." Ren ließ den Blick von dem Brief auf die Bastmatte gleiten. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, in der verblichenen Matte Schinitschis eigenartiges, nervöses Gesicht mit den dichten, geraden Brauen zu erkennen.
Sie nahm den Brief wieder auf und war etwas enttäuscht, als sie weiterlas: „Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Sie stammen aus einer reichen Familie und haben eine gute Schulbildung erhalten, ich hingegen bin der Sohn eines einfachen, armen Zimmermanns und habe nur die Dorfschule besucht. Doch darum handelt es sich nicht, denn ich glaube, ich habe mich selbst genügend weitergebildet und stehe Ihnen in dieser Hinsicht nicht nach. Vor allem, so meine ich, muss man ein guter, anständiger Mensch sein. Ich finde, dass das Vermögen dort, wo es um die Liebe geht, keine Rolle spielt. Glauben Sie mir also, dass ich den Standesunterschied nicht fürchte..."
Das ist nicht wahr, dachte Ren. Der ganze Ton des Briefes zeugte vom Gegenteil und berührte sie wie etwas Kaltes. Bitterkeit stieg in ihr auf, sie fühlte sich gekränkt.
Ren las Schinitschis Worte immer wieder und begriff nicht, was er eigentlich wollte. Jede Zeile wirkte gleichmäßig korrekt und klar, so wie auch das Wesen dieses Mannes war, doch sie konnte die feste Entschlossenheit, die sich in allem ausdrückte, nicht erkennen.
Er berichtete über die schrecklichen Zerstörungen in Tokio, über seine Erschütterung, als er das bei seiner Rückkehr zu sehen bekam. Über die amerikanischen Soldaten schrieb er und über die Jeeps, in denen sie umherfuhren... Dass die Fabrik in Kawasoi vielleicht wieder in Betrieb genommen und er dann gern wieder dort arbeiten würde... Dass er in der letzten Zeit eine Menge Broschüren gelesen habe, den „Wochenboten", „Die wahren Gründe für die Niederlage Japans", „Amerika und die Demokratie" und viele andere. „Ich möchte mir darüber klarwerden, was Demokratie ist, und mich ernsthaft damit beschäftigen. Ich habe den Krieg schon immer verurteilt, lange vor der Kapitulation, und jetzt ist mir die Militärclique ganz besonders verhasst."
All das interessierte Ren nicht. Es kränkte sie, dass Schinitschi jetzt nicht an sie dachte, sondern an solche Dinge. Und ich war bereit, auf seinen ersten Brief hin nach Tokio zu fahren, um ihn wiederzusehen!
Auf der Terrasse wurden Schritte laut. Komatsu Nobujoschi kehrte von einem kurzen Besuch bei seiner Großmutter zurück, die vor sechs Jahren einen Schlaganfall erlitten hatte und seitdem gelähmt in einem Zimmer des Hauses lag. Ren faltete den Brief ruhig zusammen, schob ihn in den Ausschnitt ihres Kimonos und griff mit einem Seufzer nach ihrer Strickarbeit.
Nein, sie durfte diesen Brief nicht wichtig nehmen. Schinitschi war nun mal ein bisschen schwierig. Dabei litt er wahrscheinlich selbst. Gewiss hatte er hundertmal überlegt, was er ihr schreiben sollte. Ja, natürlich, so war es!
Plötzlich wurden die Schoji neben ihr auseinandergeschoben. Blendendes Sonnenlicht fiel herein. Ren blinzelte und hob den Kopf, ließ aber sofort die Augen wieder auf ihre Strickerei sinken. „Schön bist du geworden, Ren!" Nobujoschi ließ sich ihr gegenüber nieder und streckte ungeniert seine Beine aus. „Ich war ganz erstaunt, als ich dich vorhin auf dem Korridor sah."
„So? Danke." Ren blickte ihn nicht einmal an, sondern ließ die Stricknadeln eifrig weiterklappern. Komatsu betrachtete sie aufmerksam. Das nenne ich einen freundlichen Empfang! stand in seinem Gesicht zu lesen. Kartentasche und Ledergamaschen hatte er in eine Zimmerecke geworfen, nun glich er gar nicht mehr jenem Offizier, der kurz zuvor die feierliche Begrüßungszeremonie veranstaltet hatte. Ren schenkte ihm keine Beachtung - einmal, weil sie seit ihrer Kindheit an ihn gewöhnt war, und zum anderen, weil sie noch immer über Schinitschis Brief nachdachte. Was sollte sie antworten? Sie überlegte. Wenn man Zeile für Zeile las, dann erschien der Brief nüchtern, im Ganzen aber sprach ein starkes, verhaltenes Gefühl aus ihm.
„Au!" Eine schwere Hand legte sich plötzlich auf ihren Nacken. Die kleine Spange, die ein blaues Band in ihrem Haar hielt, sprang beinahe heraus. „Was fällt dir ein? Frechheit!" Sie schlug Nobujoschi mit voller Wucht auf die Hand.
„Vorsichtig, du - das tut weh!"
„Sei du doch nicht so unverschämt!" Nobujoschi war zurückgeschreckt und hatte sich auf die Bastmatten fallen lassen. Pfeifend musterte er jetzt von der Seite her verstohlen das Gesicht und die Figur des Mädchens.
„Du hast dich aber auch nicht im Geringsten verändert, Nobujoschi", sagte Ren ruhig. Sie fürchtete ihren vier Jahre älteren Vetter durchaus nicht. Er war von klein auf etwas schwerfällig. Ren nutzte das geschickt aus und ärgerte und neckte ihn häufig. Hatte sie jedoch früher ein Gefühl der Zusammengehörigkeit mit ihm gehabt, so empfand sie heute, nach der langen Trennung, dass der Krieg einen anderen aus ihm gemacht hatte. Aber immerhin kannte sie ihn seit ihrer Kindheit, war an ihn gewöhnt und geriet darum nicht besonders in Verlegenheit.
„Sag mal, Nobujoschi, wie hast du das bloß gemacht, dass du im Krieg warst und ohne eine einzige Schramme nach Hause kommst?"
Nobujoschi antwortete nicht. Er stand auf, summte irgendein Liedchen vor sich hin und ging im Zimmer auf und ab. Ungeniert beklopfte er eine kleine antike, mit Metallvignetten geschmückte Kommode, die Ren von ihrer Urgroßmutter geerbt hatte. Der leuchtende rote Lack des Möbelstücks hatte noch nichts von seinem Glanz eingebüßt. Dann blätterte er in den Büchern, die auf einem Regal standen, das innen mit feiner Seide bespannt war, betrachtete die Reproduktionen der Bilder von Fukigaja Koji an den Wänden, einem
Maler, den die Collegeschülerinnen besonders schätzten, berührte einen Stickrahmen mit der angefangenen Stickerei eines Herbststraußes und strich über die Saiten einer Koto (Anm.: Japanisches Musikinstrument), die mit einem roten Stück Tuch bedeckt in einer Ecke stand. Er war offensichtlich oh, dass er sich wieder in diesem Raum befand, den er seit seiner Kindheit kannte. Aber immer, wenn er von der Seite her einen Blick auf den Nacken des jungen Mädchens warf, zeigten seine Augen einen Ausdruck, der vor drei Jahren nicht darin gewesen war.
Doch Ren bemerkte das nicht, denn sie sah ihn gar nicht an.
„Was singst du da?"
„Ich weiß es selbst nicht."
„Das ist doch etwas ganz Modernes!" Ren hob den Kopf. Komatsu hielt mit unwahrscheinlich ernster, gespannter Miene die Arme ausgebreitet, als wollte er jemanden umarmen, stellte einen Fuß vor und drehte sich dann auf den Absätzen um. Ren musste lachen, denn er hatte jetzt den gleichen Gesichtsausdruck wie vorhin im Salon, als er in strammer Haltung, die Hand am Mützenschirm, herunterschnarrte, er schäme sich, dass er ungeachtet der Niederlage der Kaiserlichen Armee am Leben geblieben sei.
„Hast du amerikanische Soldaten gesehen?"
„Ja."
„Und? Wie sehen sie aus?"
„Schick... Amerikanische Tänze habe ich auch kennengelernt", fügte er hinzu und machte wieder die komischen Bewegungen.
„Jaa? Wo denn?"
„In einer Bar, in Funabaschi."
„Jaa?" fragte Ren gedehnt. Dann wurde ihr klar, was Nobujoschis Verrenkungen bedeuteten. Sie legte ihre Handarbeit beiseite und beobachtete ihn neugierig.
„Bring mir das auch bei!"
„Ich kann es ja selbst nicht richtig. Ich mache es nur nach, wie ich's gesehen habe."
„Macht nichts. Zeig es mir, so gut du kannst." Und gleich darauf hielten Ren und Nobujoschi sich bei den Händen, stießen einander hin und her, schwankten von einer Seite zur anderen, hüpften und drehten sich - sie „tanzten". Vielleicht dachte Ren dabei an ihre gemeinsame Kindheit, an die Zeit, da Nobujoschi ihr auch jedes neue Spielzeug sofort zeigen musste, oder sie spürte gleichsam die Nachkriegsatmosphäre, die von seiner Uniform auszugehen schien - sie war jedenfalls wie verzaubert.
Jamanaka Tosaku schnitt mit seiner Schwiegertochter Fudschi das Gras auf den schmalen Rainen zwischen den Reisfeldern, von denen das Wasser schon abgeflossen war.
Man konnte nur abwarten und hoffen, die Ernte hing nun vom Wetter ab. „Na, fleißig?" rief ein Bauer, der mit seinem Ochsenpann den Weg am Ende des Ackers heraufkam. „Man sieht jetzt nur noch Soldaten!" „Ach ja -!" Tosaku lachte bitter, ohne den Kopf zu heben. „Das bringt der Krieg so mit sich. Selbst die Reispflanzen kommen einem wie Soldaten vor!" Wohin man blickte, auf allen Feldern war es das gleiche: niedrige Halme, viel taube Ähren. Am Ufer eines kleinen Baches, der an dem Feldrain entlangfloss, schärfte Tosaku die Sense, brannte sich traurig lächelnd eine Pfeife an.
Gegen Mittag wallte in den Tälern und sumpfigen Schluchten noch leichter Nebel, doch die Umrisse der Berge am Horizont traten scharf hervor und stachen zackig in das tiefe Blau des Himmels. In der Ferne Stiegen langsam zwei Rauchsäulen auf: dort wurde Kohle gebrannt. Der Makikusajama krümmte sich unter den Strahlen der Sonne wie ein Katzenbuckel.
Hier oben auf dem Gipfel lagen Tosakus Pachtfelder dichter beieinander als anderswo. Seine vier Landstücke klebten eines über dem andern am Hang. Seit dem frühen Morgen, da alles ringsum noch mit Tau bedeckt war, hatten Tosaku und seine Schwiegertochter fast vier Kilometer zurückgelegt; sie waren in die Niederung hinabgestiegen und wieder bergauf geklettert, hatten Sümpfe und ausgetrocknete Flussläufe durchquert, um ihre verstreut liegenden Äcker zu erreichen.
„Hehehe, da reden die Leute: ,Kommt der Herbst gegangen, lässt den Kopf du hangen.' Unsinn ist das!" murmelte Tosaku vor sich hin.
Der beißende Tabaksrauch stieg ihm in die Augen, und er musste blinzeln. Aber auch mit geschlossenen Lidern sah er ganz deutlich jedes seiner neunzehn kleinen Grundstücke vor sich. Dieses Jahr hatte es im August schon zweimal Nachtfrost gegeben. Sosehr die Bauern sich auch abrackerten, der Reis war immer wieder verkrautet. Zu allem Unglück gab es auf jedem Feld viele „blanke Stellen", wo die Reispflanzen wegen der niedrigen Wassertemperatur nicht ausreiften, sondern grün blieben.
Tosaku bewegte mehrmals die Lippen, als wollte er etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Er hatte ein faltiges, sonnengebräuntes Gesicht; die verblichenen Haare auf seinem Kopf, den er im Sommer wie im Winter mit einem Tuch umwand, sahen aus wie verdorrte Grasbüschel. Seine trüben, gelblichen Augen blickten schläfrig. „Äh, Fudschi...", sagte er endlich und reckte seinen Rücken, „hm - ich glaube, bis Mittag werden wir hier fertig..."
Eigentlich hatte er darüber sprechen wollen, dass Hatschiro, der Sohn seines Nachbarn, vor kurzem heimgekehrt sei, und er hatte dabei auch an seinen Ältesten gedacht, der in China gefallen war und nie mehr nach Hause kommen würde. Doch er hatte sich noch rechtzeitig besonnen - es war nicht gut, daran zu erinnern. Wozu die Schwiegertochter unnütz betrüben? So fuhr er fort: „Wenn wir das hier geschafft haben, dann gehen wir an den Westabhang, Rettich häufeln."
Gut, Vater!" rief die Schwiegertochter. Sie war klein und zierlich, stand aber in der Arbeit hinter keinem zurück. Sausend fuhr die matt blinkende Schneide ihrer Sichel durch das Gras, und die Grillen sprangen vor ihren Füßen davon. „Guten Tag!" grüßte der Nachbar Jamanaka Sengoro und blieb auf dem Weg am Rande des Ackers stehen. „Ihr seid aber fleißig!" „Guten Tag!" Fudschi hob den Kopf und lächelte. Sengoro trug ein Beil, eine Säge und eine Sichel, die mit einer Schnur zusammengebunden waren.
„Du gehst wohl in den Wald?" fragte Tosaku, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.
Der Holzfäller, ein Mann von etwa vierzig Jahren, der auf einem Auge blind war, blickte eine Weile missmutig vor sich hin. Sein borstiges Haar stand wirr nach allen Seiten vom Kopfe ab.
„Die Bezahlung ist verdammt schlecht!" stieß er plötzlich mit finsterem Gesicht hervor.
Aber so einem wie dem Kintaro konnte er doch „die Arbeit nicht einfach hinschmeißen..." „Jedenfalls bist du jetzt zu Hause und nicht mehr dienstverpflichtet!"
Sengoro brummte zustimmend. Wie früher brannte er wieder Kohle für den Gutsherrn und erhielt als Lohn ein wenig Reis und ein bisschen Geld. Außerdem hatte er, wie fast alle Bauern im Dorf, von Kintaro Land gepachtet, er war also von ihm abhängig.
„Ist Kikutjan mit ihrem Bruder auf dem Feld?" fragte Fudschi und richtete sich auf.
Sengoro nickte stumm. Seine Kinder, Kiku und der siebzehnjährige Kisuke, die während des Krieges im Werk Kawasoi gearbeitet hatten, waren jetzt auch nach Hause gekommen.
„Gestern war Toschios Frau wieder bei uns", sagte Sengoro plötzlich so laut, dass seine Stimme im Tal widerhallte. „Tschijo grämt sich sehr, es ist ein Jammer, das mit anzusehen!"
Tosaku hob fragend den Kopf. „Warum denn?" Endo Tschijo war die Witwe von Sengoros jüngerem Bruder, der vor dem Krieg als Arbeiter mit seiner Familie in Tokio gelebt hatte. Er war vor drei Jahren zur Marine einberufen worden und bald darauf gefallen. Tschijo hatte sonst keine Verwandten, deshalb siedelte sie mit ihren beiden Kindern nach Torisawa über und bezog dort eine strohgedeckte Hütte, die ihrem Schwager gehörte. Seit zwei Jahren bearbeitete sie das kleine Stück Pachtland des Nachbarn Fudschimori Toschio, denn Toschios beide Söhne waren beim Militär, und er selbst war leidend. Vor einer Woche aber waren die beiden Jungen heimgekehrt, und sogleich erschien Toschios Frau bei Tschijo und verlangte die Rückgabe des Landes. Tschijo erwiderte, sie habe das Feld bereits bestellt, und sie sollten ihr doch erlauben, wenigstens noch eine Weizenernte einzubringen. Aber da auch Toschio kaum das Nötige zum Leben hatte, konnte schließlich selbst Sengoro nichts dagegen einwenden, wenn es ihm auch nicht recht war.
„Und heute Morgen war Tschijo wieder bei uns und hat mir was vorgejammert", erzählte Sengoro, kreuzte die Arme über der Brust und wandte Tosaku sein blindes Auge zu. „Ich weiß selbst nicht, was man da machen soll."
Tosaku hörte schweigend zu. Fudschi war inzwischen mit ihrer Arbeit fertig geworden, packte die Sichel und eine blaue Kanne in ihren Korb, faltete ihren strohgeflochtenen Regenumhang zusammen und legte ihn obenauf.
„Die Soldaten und die Leute aus den Fabriken kommen heim", meinte Sengoro. „Bald wird in Torisawa kein Apfel mehr zu Boden fallen können." „Da hast du recht."
„Auf dem eigenen Scheitel kann man ja schließlich
kein Korn säen. Jetzt werden sich alle in die Haare geraten."
„Ja, ja."
Sengoro stapfte langsam davon. Seine kräftigen Füße steckten in Strohsandalen, die Hosenbeine waren mit Bindfäden zusammengebunden. Schritt für Schritt entfernte er sich in Richtung des Makikusajama.
Auch Tosaku und seine Schwiegertochter machten sich auf den Weg. Aber sie gingen nach der anderen Seite bergab. Der Alte verschränkte die Hände auf dem Rücken und trottete hinter seiner Schwiegertochter her. Ab und zu murmelte er vor sich hin. Wie der Krieg geendet hatte, ob mit einem Sieg oder mit einer Niederlage - für Menschen wie ihn bedeutete das nicht viel. Seine Gedanken waren nur darauf gerichtet, alles zu überstehen und mit den Sorgen, die die Zukunft bringen würde, fertig zu werden. Nur darum konnte er sich kümmern und um nichts sonst.
„Die Soldaten und die Leute aus den Fabriken kommen heim", wiederholte er flüsternd Sengoros Worte, während er den Weg entlang schritt. Eine quälende Unruhe überkam ihn, und in einem plötzlichen Entschluss sagte er zu seiner Schwiegertochter: „Geh geradeaus weiter. Ich komme bald nach."
Er bog vom Wege ab, stieg mit unsicheren Schritten über Geröll und Steine abwärts und durchquerte das ausgetrocknete Bett eines Gebirgsbächleins.
Tosaku klammerte sich an Sträucher und an Felsvorsprünge, als er den Berghang auf der anderen Seite wieder hinaufkletterte. Dabei dachte er an seine Reisfelder und Äcker, die er mit eigener Hand gepflügt hatte. Alle zusammen waren kaum größer als fünfeinhalb Tan. Aber um die eine Hälfte, um jene Reisfelder, die er schon seit mehr als zwanzig Jahren bearbeitete, machte er sich Sorgen. Musste man das nicht, wenn einem Gerüchte zu Ohren kamen, dass die Eigentümer dieser Grundstücke aus Tokio zurückgekehrt seien? Konnte man denn wissen, ob sie nicht morgen schon ihr Land zurückverlangen würden? Besonders beunruhigt war er wegen der vier Felder, auf denen er soeben Gras gemäht hatte. Er hatte sie zu Anfang des Krieges von Torisawa Kintaro gepachtet. Die erwachsenen Kinder des früheren Pächters Torisawa Kiju waren jetzt ebenfalls aus einer Fabrik in Nagoja zurückgekehrt. Die Namen Torisawa,
Jamanaka, Fudschimori und Takenoutschi waren sehr verbreitet im Dorf, was allerdings nicht bedeutete, dass zwischen allen Trägern des gleichen Namens eine Verwandtschaft bestand. Kiju aber war wirklich ein entfernter Verwandter von Kintaro, und wenn er ihn darum bat, dann nahm der Gutsbesitzer möglicherweise Tosaku das Pachtland weg und gab es Kiju wieder.
Wer weiß, was die mit uns vorhaben... Die Soldaten und die Leute aus den Fabriken kommen heim...
Als Tosaku oben angelangt war, stützte er sich auf einen Stock, den er unterwegs aufgelesen hatte, und schöpfte Atem.
Von der Stelle aus, wo er stand, konnte er die Bergmassen gut übersehen. Ihre Falten, Schluchten und Windungen ähnelten einem Geflecht von Muskeln und Sehnen. Der Wald an den Hängen war vollständig abgeholzt, und die kahlen, roten Buckel erinnerten an geschorene Schafe.
„Wer weiß, was die mit uns vorhaben", murmelte Tosaku vor sich hin, während er sich wieder abwärts wandte. Er war sich selbst nicht klar darüber, wen er meinte. Die Regierung oder die Behörden? Tosaku hatte nur eine undeutliche Vorstellung von dieser „Regierung". Er wusste, dass es einen Kaiser gab, den Tenno, und den Premierminister Tojo. Er hatte auch die Worte „Amerika" und „Deutschland" und sogar das Wort „Sowjetunion" gehört. Aber all das war für ihn so ungreifbar fern wie die Wolken, die über den Gipfel des Jagatake dahinzogen. Ein fester Begriff hingegen war ihm der Gutsherr, waren die sieben Gutsherren, große und mittlere, die Eigentümer der umliegenden Ländereien - sieben Gutsherren mit Kintaro an der Spitze, dem auch die paar armseligen Fleckchen Tosakus gehörten. Auch für Tosakus Ahnen hatte es schon einen Gutsherrn gegeben, und solange dieser Gutsherr existierte, waren Regierung und Kaiser für Tosaku nicht mehr als die Geister, die in den Bergen hausten. Man konnte sie verehren, aber man durfte sich nicht auf sie verlassen - das wäre ganz sinnlos gewesen.
Es war Tosaku gar nicht bewusst, dass er sich in letzter Zeit angewöhnt hatte, unterwegs einen Stock oder ein Stück Bambusrohr aufzuheben, das er beim Gehen als Stütze benutzen konnte. Er war in diesen Bergen geboren und aufgewachsen, wohl vierzigmal hatte er im Frühjahr Reis gepflanzt und vierzigmal die Ernte eingebracht, und nun mit einem Mal war er sechzig geworden... Mitunter schien es ihm, als wäre sein Leben im Handumdrehen verronnen. Dann wieder hatte er das Gefühl, als lebte er schon lange auf dieser Welt, tausend Jahre, ja, viele tausend Jahre.
Sein ältester Sohn war im Kriege gefallen und der jüngste noch nicht aus der Armee zurückgekehrt. Von ihm fehlte jede Nachricht. Da blieben also die unverheirateten Töchter und die verwitwete Schwiegertochter. Tosaku erwartete nichts mehr vom Leben, und der Gedanke an den Tod war ihm nicht schrecklich.
Am Rande eines Kiefernhaines, den die Soldaten zur Hälfte abgeholzt hatten, um Kienholz zu gewinnen, blieb Tosaku stehen. Vor ihm, unten im Tal, lag das Dorf. Dicht neben dem Feuerwachtturm bemerkte er das Wohnhaus der Torisawas. Das Dorf teilte sich in eine westliche und eine östliche Hälfte, und die Felder, die von den Bauern bestellt wurden, waren über die umliegenden Hänge verstreut.
Auf einem höher gelegenen Acker, ganz in der Nähe, bearbeiteten zwei Soldaten den Boden mit Hacken. Der eine trug Militärhosen und war bis zum Gürtel nackt, der andere steckte in einem schwarzgestreiften Marinehemd. Sie standen Rücken an Rücken und wühlten die Erde auf wie Maulwürfe. Es war das Grundstück, das Endo Tschijo früher bearbeitet hatte; darum vermutete Tosaku, dass die beiden die Söhne von Fudschimori Toschio wären.
„He - seid ihr nicht Toschios Jungen?" Der Soldat in der Militärhose drehte sich um und grüßte, indem er den Mützenschirm mit den Fingerspitzen berührte.
„Ja, wenn Heer und Marine gemeinsam zupacken, dann geht die Arbeit flott voran!" rief Tosaku lachend.
Wie schnell die Kinder groß werden! dachte er verwundert. Man kann überhaupt nicht unterscheiden, wer der ältere von den beiden ist.
„Wollt ihr Weizen reinbringen?"
„Jawohl", antworteten sie militärisch kurz und arbeiteten wie wild drauflos. In ihren hastigen Bewegungen lag eine gewisse Unruhe, als würde wer weiß was geschehen, wenn sie nicht das ganze Stück so schnell wie möglich umgruben. Der kräftig gebaute junge Mann im Matrosenhemd wendete von Zeit zu Zeit seinen runden, kahlgeschorenen Kopf und warf rasche, feindselige Blicke nach allen Seiten. Tosaku wollte schon gehen, da er keinen Grund sah, länger hier zu verweilen, als plötzlich ein durchdringender Schrei über den Acker gellte: „Was macht ihr denn da?"
Atemlos von dem steilen Aufstieg, erschien Endo Tschijo auf dem Feld. Sie war bleich und zerzaust und hatte offensichtlich in aller Eile übergezogene Sori an den Füßen. Weit hinter ihr lief weinend ein kleines Mädchen von etwa sechs Jahren, und auf Tschijos Rücken baumelte das Köpfchen eines schlafenden vielleicht dreijährigen Jungen hin und her.
„Das ist doch die Höhe - anderer Leute Feld umzugraben! Habt ihr keine Augen im Kopf? Seht ihr denn nicht, dass da was draufsteht?" Noch immer atemlos, kam sie näher.
Der ältere der beiden Brüder, Schigeru, schaute sich verlegen um und presste den Stiel der Hacke zwischen den Händen. Tatsächlich, an einer Ecke des Feldes stand noch Gemüse und etwas Buchweizen.
„Mutter hat doch gesagt, es sei alles besprochen." Der große Bursche, in dessen Erscheinung noch etwas Jungenhaftes lag, stockte und verstummte. Er war erschrocken über den Gesichtsausdruck der Frau, die schon soviel durchgemacht hatte. „Ja, ich weiß, ich weiß. Habe ich denn gesagt, dass ich Ihnen das Land nicht zurückgeben will? Es gehört
Ihnen ja, ich habe es nur vorübergehend genutzt. Aber ein Feld umgraben, wenn die Ernte noch nicht eingebracht ist, das ist..., das ist..."
Die zierliche Frau hob die Hand vor die Augen und stieß mit versagender Stimme hervor: „Natürlich, ich bin nur eine hilflose Witwe..., aber so etwas..."
Tosaku lief aufgeregt am Feldrain hin und her. „Ist ja gut! Es wird schon nicht so schlimm sein...", rief er und trat auf Tschijo zu, um sie zu trösten. Er legte ihr die Hand auf die Schulter, doch seine Worte hatten sie nur noch mehr erbost: „Nicht schlimm? Ich bin eine Witwe, und deshalb denkt jeder, er kann mit mir machen, was er will!" Sie schob das Kind auf ihrem Rücken zu Recht, hob den Kopf und schrie mit Tränen in den Augen: „Mein Mann ist auch nicht zu seinem Vergnügen im Krieg gefallen! Nicht zu seinem Vergnügen, wahrhaftig nicht!"
Das Haar fiel ihr über die Augen, sie warf es mit einem Ruck wieder hoch. „Seid ihr denn keine kaiserlichen Soldaten? Ihr seid doch auch Soldaten!"
Der Matrose, der die Frau bis dahin hasserfüllt angestarrt hatte, versetzte ihr plötzlich einen heftigen Schlag, so dass sie rücklings zu Boden stürzte.
Tosaku war fassungslos. Er eilte auf Tschijo zu, um ihr aufzuhelfen.
Schigeru hielt seinen Bruder fest.
Tschijo richtete sich mühsam auf, die Kinder klammerten sich an sie. Sie konnte sich nicht länger beherrschen und brach in lautes Weinen aus.
Tosaku klopfte ihr auf die Schulter.
„Na, schon gut, schon gut. Das wird sich alles regeln lassen. Man muss es besprechen..."
„Ach danke, lassen Sie nur", murmelte Tschijo und presste die Hände vors Gesicht. Tosaku fühlte, dass nicht nur der Verlust des Ackers ihre Tränen verursachte. Er verstand, wie bitter es für die Witwe sein musste, die beiden Soldaten zu sehen, die heil und gesund aus dem Krieg heimgekehrt waren.
Auch Tosaku war es schwer ums Herz, als er die Frau so schluchzen hörte. Er starrte zum Gipfel des Makikusajama hinüber, und vor seinen Augen erschien die Gestalt seines gefallenen Sohnes. Er hatte die Nachricht erhalten, dass sein Sohn „an einer epidemischen Erkrankung gestorben" sei, und vor ungefähr einem Jahr war dann in einem Kästchen seine Asche von der Insel Taiwan „heimgekehrt". Seit dieser Zeit war Tosaku sichtlich gealtert, seine Zähne begannen auszufallen, und er litt ständig an Kreuzschmerzen.
Er blickte auf die Berghänge, und im Geiste sah er dieses Kästchen vor sich. Es war in ein Stück weißes Tuch eingewickelt, und ein kleiner Zettel lag dabei, einer Gepäckadresse ähnlich... Da ist nichts zu machen, sann der Alte, Krieg ist Krieg, ihm und dem Schicksal kann man nicht entrinnen. Man kann trauern und sich grämen, soviel man will, ändern kann man nichts. Frühe Fröste töten die Saaten, Lawinen stürzen von den Bergen herab, ziehen Felsblöcke nach sich und verschütten die Felder, dem Menschen aber bleibt nichts anderes übrig, als den Acker immer wieder geduldig zu säubern und zu bebauen.
Langsam kam ein Mann den Weg vom Bosujama herab und näherte sich dem Feld. Er trug eine schäbige Jacke und Strohsandalen. Unter den Arm hatte er eine alte, unansehnliche Aktentasche geklemmt.
„Guten Tag, alle zusammen!" rief er und blieb stehen. Dann wandte er sich lächelnd an Tosaku: „Es ist noch ein ganz schöner Tag geworden, nicht wahr, Tosakusan?"
Natürlich bemerkte er, dass hier etwas Ungewöhnliches vorging, aber das Lächeln wich nicht von seinem breiten, bärtigen Gesicht. „Hoppla!" Er setzte sich auf den Rain.
Er war ein Mann von etwa fünfzig Jahren mit sanften, ruhigen Bewegungen. Die Brauen ragten wie kleine Bürsten aus seinem Gesicht hervor und hingen weit über die Augen. Auf der Stirn und um den Mund lagen tiefe Falten. Wenn er lachte, dann ähnelte er dem Gott Daikoku (Anm.: Der Gott des Reichtums und des Glücks, der gewöhnlich als gutmütiger, lachender alter Mann dargestellt wird.). Brach sein Lachen jedoch unvermittelt ab, dann pressten sich seine Lippen fest zusammen, und sein Gesicht wurde plötzlich unsagbar traurig, beinahe finster, wie bei einem Menschen, der viel Leid im Leben erfahren hat. Torisawa Fumija war es, der Gemeindeschreiber des Dorfes Kawasoi.
„Ach, sieh mal an, die Brüder Fudschimori! Was für prächtige Burschen. Ihr seid ja schon ganz erwachsen!"
Bei Fumijas Erscheinen hatten Schigeru und Tadassu militärisch stramme Haltung angenommen
und sich dann tief vor ihm verneigt. Beide waren seine Schüler gewesen, als Fumija noch die untersten Klassen der Dorfschule in Torisawa unterrichtete.
„Hör mal, Tosaku, da wird ein guter Ochse aus einer koreanischen Zucht angeboten. Was meinst du, willst du ihn nicht kaufen? Er kostet nur 350 Jen. Das ist spottbillig", plauderte der Gemeindeschreiber vergnügt, nahm den zerdrückten Strohhut ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Anscheinend war er gut gelaunt. „Geradezu geschenkt ist das! Ein prächtiges Tier, soviel wert wie dein Gaul!"
Fumija kam von einer Versteigerung aus dem Dorf Sanbonmatsu, wo er dienstlich zu tun hatte. Er trank jederzeit gern ein Schälchen Sake (Anm.: Reisschnaps.); doch heute schien er in besonders angeregter Stimmung zu sein. Tosaku musterte ihn erstaunt. Fumija schwatzte lebhaft, sprang von einem Gesprächsthema auf das andere über und legte eine merkwürdige jugendliche Begeisterung an den Tag.
„Ein feiner Krieg ist das! Wohin man blickt, nichts als Kummer und Leid. Aber so ist es nun mal in der Welt." Fumija klopfte das verstopfte Mundstück seiner Pfeife an der Strohsandale aus und pustete kräftig hinein. „Jaja, so geht's zu im Leben! Auch die beiden Jungen da werden noch viel dazulernen. Nicht wahr? Aber es gibt ja nicht immer nur Kummer und Unglück."
Tosaku stand reglos am Feldrain und blickte gespannt zum Himmel auf, als hätte er irgendetwas
Ungewöhnliches entdeckt. Er beobachtete seit geraumer Weile den Flug eines Geiers, der dort oben seine Kreise zog. Das Geschwätz Fumijas interessierte ihn nicht. Er verstand nicht, weshalb er das alles sagte und was er eigentlich damit bezweckte. Da schlug die heisere Stimme schon wieder an sein Ohr:
„Aha, Tschijo will nach Hause gehen? Dann gehe ich mit ihr."
Die Frau hob das Kleine auf den Rücken, drückte das größere Mädchen an sich und verließ still das Feld. Als Fumija sie anrief, blieb sie stehen und senkte den Kopf. Man sah noch die Tränenspuren auf ihrem Gesicht.
„Nur - ich bin doch auch verwitwet, und wenn ich zusammen mit Tschijosan gesehen werde, dann gibt es vielleicht noch Gerede im Dorf", scherzte Fumija und klemmte die Aktentasche unter den Arm. Die andern lächelten unwillkürlich. „Na, macht nichts. So ein alter Kerl wie ich zählt ja wohl als Mann nicht mehr mit."
Tosaku schlenderte hinter ihnen her. Fumija blieb einmal hinter Tschijo zurück, dann lief er wieder voraus. Ab und zu summte er ein Liedchen vor sich hin. Während Tosaku den Weg entlang schritt, dachte er, dass Fumija, der drei Jahre zuvor seine Frau verloren hatte, eigentlich recht alt geworden sei.
Plötzlich ließ Fumija die Frau ein Stück vorausgehen und flüsterte Tosaku zu: „Die Pflichtablieferung an die Gutsbesitzer wird wahrscheinlich aufgehoben.
Hast du schon davon gehört? So erzählt man jedenfalls; ich weiß allerdings auch noch nichts Genaues." Tosaku war überrascht. „Wirklich?" „Ich bin überzeugt, dass es Veränderungen geben wird", meinte Fumija stirnrunzelnd. Er senkte die Stimme immer mehr und sah Tosaku gerade ins Gesicht. „Pass nur auf und lass dir jetzt nicht das Land aus den Händen nehmen!"
Tosaku nickte. Was sollte er aber tun, wenn man ihn eines schönen Tages aufforderte, die Felder zurückzugeben? Er hätte Fumija gern noch mehr gefragt, doch der Gemeindeschreiber sprach nicht weiter über diese Sache.
Sie näherten sich dem Dorf; Fumija und Tschijo mit den Kindern verschwanden über die Brücke, die den östlichen und den westlichen Teil der Siedlung verband; Tosaku aber blieb eine Weile nachdenklich stehen. Sollte er Torisawa aufsuchen? Sollte er in die Höhle des Löwen gehen? Selbst wenn die Gerüchte von der Aufhebung der Lieferungen an den Gutsherrn auf Wahrheit beruhten, war es ganz ausgeschlossen, sich Kintaro als Bauern vorzustellen. Dass ein Gutsherr selbst Reis schnitt - so etwas hatte es noch nicht gegeben, seit die Welt bestand! Es konnte wohl nicht so schlimm werden, wenn er im Herrenhaus vorspräche.
Tosaku zögerte, trat von einem Fuß auf den andern; doch dann verließ er kurz entschlossen die Straße und ging, auf seinen Stock gestützt, zum Gutshaus hinüber.
Das Herrenhaus von Torisawa lag an einem sanft abfallenden Hang, höher als alle anderen Häuser der westlichen Dorfhälfte. Vor dem großen, mit Schilfrohr gedeckten Tor bog Tosaku in einen kleinen Seitenweg ab, der an der Einfriedung entlangführte. „Ich muss ins Herrenhaus", sagten die Bauern, meinten aber damit meistens, dass sie zum Verwalter gehen wollten.
Tosaku näherte sich dem geräumigen Hof, blieb an der Pforte stehen und verneigte sich schon von weitem vor dem Verwalter. Tametsugi hatte gerade den Stall gereinigt und harkte jetzt den Mist zu einem Haufen zusammen.
„Ah, Tosaku!" brummte er mürrisch, als dieser das Tuch vom Kopf wickelte und schüchtern herankam.
„Schönes Wetter hatten wir in den letzten Tagen", begann Tosaku und blickte in die Runde. Auf dem Hof ragten bereits zwei Misthaufen empor, die sorgfältig mit Stroh zugedeckt waren. „Das ist gut für den Acker. Der Krieg ist ja nun vorbei, aber das Korn reicht bei mir nicht hin und nicht her."
Tosaku wählte seine Worte sorgfältig und versuchte so, Tametsugi auszufragen. Aber der ließ plötzlich die Mistgabel los und drehte sich zu Tosaku um. „Ich wollte heute Abend zu dir kommen", sagte er überraschend. Sein kleines, spitzes Gesicht zeigte eine missmutige Grimasse.
Tosaku erstarrte. Seine Hand, mit der er gerade die Tabakspfeife aus der Tasche ziehen wollte, blieb unbeweglich in der Luft hängen. Mit offenem Mund stand er wie versteinert da, während der Verwalter schon wieder nach der Mistgabel griff. Tametsugi hatte eine gute Wirtschaft. Mit seiner Frau bestellte er fast ein ganzes Tscho Land, und einen Ochsen hielt er auch.
Tosaku starrte den Verwalter an und wartete, was er ihm noch zu sagen hätte; aber der kleine, dunkelhäutige Mann häufte eine Gabel voll Mist nach der andern auf und stampfte ihn eifrig mit den Füßen fest. In aller Seelenruhe beendete er seine Arbeit, brachte die Gabel in den Schuppen und trat erst dann wieder zu Tosaku. „Die vier Felder da am Abhang..." Seine kleinen Äuglein streiften Tosaku mit einem finsteren, raschen Blick, und als Tosaku mit heiserer Stimme fragte: „Wie bitte?" fügte er hinzu: „...die erntest du ab, und dann bestellst du sie nicht mehr." „Was... Ki... Kijusan nimmt sie wieder?" stammelte Tosaku und schluckte mühsam einen Klumpen herunter, der ihm in der Kehle stack.
„Nein." Tametsugi schüttelte den Kopf, stemmte seine schmutzigen Hände in die Seiten und wandte sich um. „Das ist ein Befehl von Herrn Kintaro. Ehrlich gesagt, ich verstehe selbst nicht, wozu er das nötig hat."
Die letzten Worte klangen zwar aufrichtig, doch Tosaku kannte die Angewohnheit des Verwalters, sich immer dann auf die Befehle seines Herrn zu berufen, wenn er etwas zu seinem eigenen Vorteil drehen wollte.
Mit angehaltenem Atem starrte er Tametsugi an. „Es wird schwer für mich werden ohne diese Felder sehr schwer", flüsterte er und bemühte sich vergeblich, Tametsugis Gedanken aus dessen Zügen abzulesen. Tosaku senkte den Kopf. „In diesem Frühjahr habe ich Steine hinauf geschleppt und die Stufen ausgebessert..."
Tametsugi blickte gleichgültig an ihm vorbei. Tosaku murmelte, sein Vorgänger habe die Felder schlimm verwahrlosen lassen, und im letzten Jahr habe er für diese Äcker doppelt soviel Mist gebraucht wie für die anderen.
Als er den Kopf hob, sah er, dass Tametsugi vom Hof verschwunden war.
„Pfui, da soll doch...!" rief Tosaku wütend. Es war eine alte, allbekannte Eigenart Tametsugis, seinen Gesprächspartner plötzlich stehenzulassen und sich davonzuschleichen.
Tosaku machte sich daran, ihn zu suchen. Er ging um die Ställe herum, kroch in den niedrigen Schuppen und schaute auch in den Speicher. Doch Tametsugi war nirgends zu sehen. Tosaku ging an seinen früheren Platz zurück. Dort stand jetzt Tametsugis Frau und schüttete Buchweizen um, der an der Sonne trocknen sollte. Sie war eine alte Kratzbürste, von der man niemals auch nur einen „Guten Tag!" hörte.
„Der bildet sich ja allerhand ein, dieser Halunke!" brummte Tosaku aufgebracht, während er sich von dem Herrenhaus entfernte. Er stieg den Hang hinunter und ging über die Brücke in den östlichen Teil des Dorfes. Seinen Stock hatte er irgendwo verloren. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und überlegte: Wenn es stimmt, dass Kiju die Felder nicht wiederbekommt, dann kann vielleicht noch alles geregelt werden. Reisfelder sind nun mal keine Trockenfelder. Man kann sie nicht einfach dem ersten besten anvertrauen. Wenn sie ein Jahr nicht ordentlich bewässert werden, so hat man es noch drei Jahre danach zu bereuen. Das wäre auch für den Gutsherrn ein Verlust. Aber der Verwalter sagte doch, er wüsste nicht, warum mir der Herr diese Felder wegnehmen will. Was mag da los sein? Es heißt, die Lieferungen an die Gutsherren würden aufgehoben. Na ja, wenn es wirklich so kommen sollte, dann könnte man immer noch heimlich mit dem Herrn verhandeln. Vielleicht aber ist das alles ganz anders, vielleicht droht überhaupt nur wieder mal eine Erhöhung des Pachtzinses? Eine lange Erfahrung hatte Tosaku vieles gelehrt. In seinem Leben waren schon manche neue Gesetze herausgekommen, aber kein Gutsbesitzer hatte sich je durch sie gebunden gefühlt.
Der östliche Ortsteil lag tiefer als der westliche, in einer sumpfigen Niederung. Auf einer kleinen Anhöhe inmitten des Dorfes, in einem Hain von Maulbeerbäumen, standen das Gemeindehaus, die Schule und ein Tempel der Göttin Kwannon (Anm.: Die Göttin der Barmherzigkeit.). Die Bauernkaten mit ihren Dächern aus Stroh, Holz oder Blech zogen sich zu beiden Seiten eines morastigen Hohlweges zwischen Felsen und Wäldchen hin. Tosaku schritt
einen kiesbestreuten Pfad abwärts und rückte unterwegs noch einen Stein zurecht, der aus einer kleinen Mauer herauszufallen drohte. Hatte doch da neulich so ein Dorfbursche mit seinem Ochsenkarren den Stein angestoßen und sich nicht weiter darum gekümmert...
„Hm... hm... Wie die Menschen durch den Krieg verwildert sind!" brummte Tosaku und ging an der Steinmauer entlang, die einen Hain mit uralten, ehrwürdigen Maulbeerbäumen umgab. Nachdem er schließlich noch ein Wäldchen durchquert hatte, erreichte er sein Heim, ein niedriges Häuschen mit einem tiefherabhängenden Strohdach. Er schüttelte den Staub von den Sandalen und trat ein.
„Da kommt ja der Vater!" rief die Schwiegertochter. Der Alte vernahm die fröhlichen jungen Stimmen seiner Töchter. Draußen war heller Sonnenschein, deshalb musste er in dem finsteren Flur erst ein paarmal blinzeln.
„Guten Tag, Vater!" begrüßte ihn Tomoko, seine Zweitälteste, die in der Seidenweberei Schimo-Suwa arbeitete. Sie trug noch ihr Stadtkleid, und im Zimmer stand ein Korb mit eingepackten Sachen. Offenbar war sie eben erst nach Hause gekommen.
Als sich Tosakus Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah er sich um. Im Flur lagen Körbe für Maulbeerblätter, Behälter für Fischköder und Siebe für Kokons umher. Man konnte nicht treten vor Säcken, Basttüten, strohgeflochtenen Regenumhängen, Hacken und Seilen.
Es war Mittagszeit, und unter dem eisernen Kessel auf dem Herd brannte ein helles Reisigfeuer. Dicht daneben hockten die Mädchen - Hatsue, die schon seit einem Monat daheim war, Tomoko und die Jüngste, Fumiko, die noch zur Schule ging. Ihnen gegenüber, an der anderen Herdseite, hatten sich Tosakus Frau, Schimo, und seine Schwiegertochter Fudschi niedergelassen. Schimo hielt die Essschale in der Hand, Fudschi hatte einen Fuß gegen den Herd gestemmt und stillte ihr Kind.
Tosaku reckte mühsam den Rücken gerade und ließ seinen Blick von einem Gesicht zum anderen gleiten. „Lauter Frauenzimmer... Man könnte mit euch geradezu ein Teehaus aufmachen!" murmelte er verdrießlich.
Jamanaka Hatsue saß auf der Terrasse und zwirnte Garnfäden auf einem Handspinnrad. Mit den Feldarbeiten wurden der Vater und die Schwägerin gut fertig. Hatsue konnte spinnen wie alle Frauen und Töchter der armen Leute auf dem Lande. Auch Fudschi war früher in einer Spinnerei beschäftigt gewesen, und Mutter Schimo arbeitete bereits zu einer Zeit, da der Betrieb noch zum größten Teil auf Heimindustrie beruhte, als Spinnerin. Natürlich verdiente man auf diese Weise nur ein paar armselige Groschen, aber da in dieser kahlen, felsigen Gegend nichts anderes gedieh als Maulbeerbäume, wurde das Spinnen für die Frauen die wichtigste Beschäftigung.
Das Strohdach hing so tief herab, dass es Hatsues Kopf fast berührte. Hinter der Hecke, die das Haus umgab, lag ein steiniger Berghang, und zu beiden Seiten der Straße breiteten sich im Schein der Herbstsonne Reisfelder und Maulbeerhaine.
Leute kamen vorüber. Nur ihre Köpfe und Schultern waren über der Hecke zu sehen. „Guten Tag!" riefen Sie, und Hatsue hob jedesmal den Kopf und antwortete: „Guten Tag!"
Hinten im Haus wartete Tomoko ihren kleinen Neffen Tschijoitschi und trällerte ein Kriegslied, das sie in der Fabrik gelernt hatte. Der Junge plapperte vergnügt vor sich hin, kroch sabbernd auf allen vieren über den Lehmboden und versuchte, den Kessel zu fassen, in dem Kokons kochten. Aber es gelang ihm nicht; er wurde am Hemdzipfel festgehalten und wieder an seinen Platz gesetzt. Tomoko lag auf dem Bauch, die weißen Beine lang ausgestreckt, den Rocksaum etwas zurückgeschlagen, und sang aus voller Kehle:
„Fahnen flattern hoch empor..."
Hatsue war, seit sie die Fabrik Kawasoi verlassen hatte, ständig in einer unerklärlichen Unruhe. Es schien ihr, als hätte ein reißender Strom sie ergriffen und trüge sie irgendwohin. Im Dorf gab es weder Radio noch Zeitungen; doch die Veränderungen, die ringsum vor sich gingen, waren deutlich zu spüren. Hatsue kam sich vor wie ein Mensch, der sicher und geschützt in seinem Hause sitzt und doch dem schrecklichen Heulen des Sturmes in den Bergen draußen lauschen muss, der die Läden aufreißt und an den Türen rüttelt.
Tomoko stimmte jetzt ein Liebeslied an. Während des Krieges, als Hatsue und ihre Freundinnen im Sumikurawerk Seide spannen, war dieses Lied verboten.
„Wann hast du das denn gelernt?"
„Als der Krieg aus war, gleich am nächsten Tag!"
„Das ging aber schnell!"
Die muntere, eigenwillige Tomoko drehte sich auf den Rücken und sang weiter. Die Fabrik, in der sie Fallschirmseide gesponnen hatte, wurde zurzeit umgestellt, da die Regierungskontrolle und die Heeresaufträge weggefallen waren.
Uber der Hecke tauchte der Kopf eines Radfahrers mit einer Militärmütze auf. „Guten Tag!"
Tomoko erwiderte seinen Gruß.
„Weißt du, wer das ist? Fudschimori Kijo... Er hat sich einen Schnurrbart stehenlassen beim Militär." Tomoko kicherte. Dann setzte sie eine wichtige Miene auf und flüsterte: „Alle kommen zurück. Jetzt wird es auch bei uns in Torisawa lustig!"
Wieder ging jemand vorbei. Obwohl man sich hier am Ende des Dorfes befand, spürte man doch, dass in den hundertdreißig Häusern ein lebhaftes Kommen und Gehen herrschte.
Da zogen Heimkehrer die Straße entlang. Tief gebückt, schleppten sie ihre Habseligkeiten, und der
Schweiß rann ihnen über die Gesichter. Dann wieder radelten von der anderen Seite her junge Burschen in hübschen neuen Militärhemden vorüber. Im Vorbeifahren riefen sie Hatsue Scherzworte zu. Junge Arbeiterinnen, die aus den Fabriken zurückkehrten und ihre Sachen auf Handkarren vor sich herschoben, kamen den Weg herauf.
Ein Mann trat hinter den Bäumen hervor. Langsam, als koste es ihm Mühe, stapfte er dahin. Als er das Haus erreicht hatte, sah er die jungen Mädchen mit einem merkwürdigen, verstörten Blick an. Hatsue sprang auf, das Grußwort blieb ihr in der Kehle stecken. Die Backenknochen in dem hageren, dunklen Gesicht des Mannes traten scharf hervor, und das spitze Kinn glänzte vom Schweiß. Aus tiefeingesunkenen, gequälten Augen starrte er Hatsue an, als müsse er sich erst besinnen, wer sie sei. Dann aber huschte der Schatten eines schwachen Lächelns über seine Züge. Er berührte den Schirm seiner Militärmütze mit den Fingerspitzen und ging langsam weiter.
„Oh, das war doch Torisawa Motoja", flüsterte Tomoko.
Hatsue griff schweigend nach dem Spinnrad. Jener Tag auf dem Bahnhof Okaja fiel ihr ein, als sie das weiße Fähnchen mit der grellroten Sonnenkugel geschwenkt und die neu Einberufenen, unter ihnen Motoja, begleitet hatte. Hatsue war Mitglied der Jugendorganisation in Torisawa, und wenn einer aus ihrem Dorf an die Front musste, ging sie oft zum Verabschieden mit.
„Wenn doch auch unser Bruder bald käme!" Toradschiro, der zweite Sohn des alten Tosaku, diente bei der Kwantung-Armee in der Mandschurei. Wie die Leute erzählten, waren alle Soldaten dieser Armee in sowjetische Gefangenschaft geraten.
Hatsue schöpfte die Kokons, die in dem kochenden Wasser auf und nieder hüpften, aus dem Kessel und knüpfte einen gerissenen Faden zusammen. Sie schämte sich. Sie konnte nicht behaupten, dass sie damals nicht gewusst hatte, was sie tat, als sie die Fahne schwenkte und sang: „Kehrt siegreich zurück, ihr tapferen Helden!"
Ihr war unsagbar schwer ums Herz. Sie hätte nicht sagen können, ob dieser Krieg gerecht oder ungerecht war, wer ihn begonnen hatte und für wen er geführt wurde, aber nun schien es ihr, als würden ihr deshalb grausame Vorwürfe gemacht. Vor wem bin ich schuldig? Wer könnte mir helfen, über all das Klarheit zu erlangen, was ich auf dem Herzen habe? dachte sie verzweifelt. „Hatsutjan, Hatsutjan, bist du zu Hause?" Ein weißer Strohhut huschte an der Hecke vorbei, und Jamanaka Kiku flatterte stürmisch in den Hof.
Hatsue erwachte aus ihrer Versunkenheit erst, als Kiku dicht vor ihr stand. „Hast du schon gehört, dass unsere Fabrik wieder arbeiten soll?" rief Kiku atemlos.
Sie trug Handschuhe und Tabi (Anm.: Japanische Socken mit Leder- oder Gummisohle.), offenbar kam sie gerade vom Feld.
„Ich habe Takenoutschisensei am Wall getroffen", sie gebrauchte das ehrerbietige Wort „Sensei" wie früher in der Fabrik, wo er gewöhnlich so angeredet wurde, „und da hat er gesagt, die Herren hätten beschlossen, die Arbeit wiederaufzunehmen. Wir sollen uns bereit halten, damit wir sofort abreisen können, sobald das Telegramm kommt." Kiku setzte sich endlich hin und klatschte vor Freude in die Hände. „Denk doch nur, wie schön das ist! Mir ist das Mistschleppen schon so zuwider, dass ich es einfach nicht mehr aushalte!"
Kiku war wie Hatsue 23 Jahre alt, aber sie hatte eine so kleine Figur und ein so lustiges, rundes Gesichtchen, dass sie viel jünger wirkte. Sie nahm Tschijoitschi auf den Arm und machte Späße mit ihm, warf ihn hoch und rief: „Hopp - hopp!" Dann summte sie eine Melodie vor sich hin.
Tomoko hörte neugierig zu. „Was singst du da?"
fragte sie.
„Ich weiß es selbst nicht. Ich habe es erst gestern gelernt."
Kikus fröhliches Gesicht wurde plötzlich ernst, und sie stimmte ein leichtsinniges Liebesliedchen aus dem „Bootsmann von Tonegawa" an. Dabei wiegte sie ihren Körper im Takt, und als sie geendet hatte, steckte sie unvermutet die Zunge heraus. Die Mädchen lachten laut auf.
„Davon wird einem ja ganz übel", bemerkte Hatsue und schüttelte den Kopf. Kiku schürzte die Lippen und antwortete: „Es ist der modernste Schlager. Nicht wahr, Tschijobo?" Sie warf das Kind wieder in die Höhe. „Hopp - hopp! Jetzt herrscht Freiheit! Sing, was du willst, tu, was du willst! Hopp - hopp!" Es wurde lustig unter dem Vordach. Da trat ein rotwangiges junges Mädchen in buntem Kimono mit einem Tuch um den Kopf in den Hof. „Ich komme wegen der Beiträge für das Herbstfest", sagte sie. Auf ihrem frischen Gesicht lag eine dicke Schicht Puder. „Wir bitten auch euch, die Jugend aus der Gruppe ,Wald', eure Meinung zu äußern", fügte sie hinzu und übergab Hatsue zwei Schreibhefte, während sie sich auf ländliche Art zeremoniell verbeugte. Sie leitete die Jugendorganisation „Oberdorf", und Hatsue war Vorsitzende der Gruppe „Wald". Die siebzig Höfe des Ortsteils von Torisawa waren in drei Sektionen aufgegliedert. „Wald", „Unterdorf" und „Oberdorf".
Über das Herbstfest waren die Meinungen geteilt.
Die jungen Männer, besonders die „Reservisten" (Anm.: Der Bund der Reservisten, eine Organisation der entlassenen japanischen Heeres- und Marineangehörigen, war von der Regierung und der Militärclique des imperialistischen Japans zur Propagierung von Chauvinismus und Militarismus besonders auf dem Lande geschaffen worden.), protestierten dagegen, dass in einer so schweren Zeit solche Vergnügungen stattfinden sollten. Schließlich aber behielten jene die Oberhand, die den Standpunkt vertraten: Kapitulation ist Kapitulation, ein Fest ist ein Fest.
„Was denn? Sind nicht alle einverstanden?" rief Kiku, hob das Kind von ihrem Schoß und übergab es der Vorsitzenden der Jugendgruppe „Oberdorf". „Ei, ei, seht nur, sogar Fudschimori Kijo ist dafür", sagte sie, während sie in dem zweiten Heft blätterte.
Mit diesem Heft hatte es eine besondere Bewandtnis. Gleich nach Kriegsende war die Jugendsektion Torisawa der „Hilfsassoziation für den Thron", deren Vorsitzender Torisawa Kintaro war, aufgelöst worden. Auf derselben Versammlung aber, auf der dieser Beschluss verkündet wurde, bildete man eine neue Organisation, die den Namen „Jugendgruppe der Gemeinde Torisawa" erhielt. Ihr Leiter wurde ein Gutsherr, der dienstälteste Unteroffizier Torisawa Mosuke. Takenoutschi Tadaitschi wurde einer der beiden Sekretäre. Seit einiger Zeit sprach man jedoch im Dorf davon, dass im Grunde alles beim alten geblieben sei, nur der Name habe sich geändert. Deshalb müsse eine Generalversammlung einberufen, die Organisation aufgelöst und neu gegründet werden, und zwar auf demokratischer Grundlage. Diese Forderungen wurden von einer kleinen Gruppe junger Arbeiter erhoben, die aus Tokio und aus Nagoja heimgekehrt waren. Man konnte sie nicht gerade als einflussreiche Mitglieder der Gruppe bezeichnen, aber immerhin erwiesen sich ihre Stimmen als gewichtig genug, eine Verfügung zur Einberufung der Generalversammlung durchzusetzen. Dazu hatte nicht zuletzt die erstaunliche Haltung der Vorsitzenden der Westsektion, Torisawa Ren, beigetragen. Ren hatte sich nämlich den Mitgliedern angeschlossen, die eine Reorganisierung im neuen Geist forderten. Und da sie offenbar Einfluss auf ihren Bruder hatte, war er der gleichen Ansicht. Folglich musste auch Takenoutschi Tadaitschi diese Forderung unterstützen - nicht umsonst nannte man ihn „Kintaros Schatten".
In den Heften, die im Dorf herumgereicht wurden, befürworteten viele die Neubildung. Einige wenige waren dagegen, die meisten Eintragungen aber lauteten: „Mir ist es gleich" oder „Ich habe keine Meinung in dieser Sache". Das war erklärlich, denn in Torisawa gab es zahlreiche heimgekehrte Soldaten, die in Ruhe gelassen werden wollten. Vor allem aber war vielen die namentliche Befragung peinlich, und sie zogen es vor, eine eindeutige Antwort zu vermeiden.
„Und du, Itschitjan, bist du dafür oder dagegen?" „Ehrlich gesagt, mir ist es einerlei", meinte die Vorsitzende der Sektion „Oberdorf" und schaukelte das Kind auf den Knien.
Hatsue verhielt sich ebenfalls ziemlich gleichgültig. Natürlich konnte man sich der Meinung von Torisawa Ren und der anderen anschließen, die auf einer Umgestaltung bestanden. Aber was für eine „Umgestaltung" würde das sein? Hatsue konnte sich unter „Demokratie" nichts vorstellen. Sie dachte nur: Wenn es etwas so Modernes ist wie Ren selbst, dann habe ich wahrscheinlich wenig Nutzen davon... Ja, ich bin schuldig geworden, als ich damals auf dem Bahnhof die Fahne geschwenkt habe... Nehmen wir einmal an, sie machen mit allem Alten Schluss - wie wird das Neue aussehen?
Kiku hingegen war sogleich entschlossen. Sie liebte jede Art von „Freiheit" und tat überhaupt gern etwas aus reiner Freude am Widerspruch - diesen Wesenszug hatte sie mit ihrem Vater Sengoro gemein. „Ich bin dagegen!" erklärte sie und kaute an ihrem Bleistift „Hatsutjan ist auch dagegen. Nicht wahr, Hatsutjan? Und so schreibe ich ein!"
Hatsue schwieg und sah beunruhigt zu, wie Kiku ihre Schriftzeichen malte. Da meckerte hinter der Hecke eine Ziege. Kiku drehte sich, ohne den Bleistift loszulassen, um und rief: „He, Kisuke! Bring die Ziege weg und fahr sofort mit dem Wagen aufs Feld, hörst du?"
Ein stämmiger, dunkelhäutiger junger Mann mit roter Sportmütze - Kikus jüngerer Bruder Kisuke blieb hinter der Einfriedung stehen. Er war Dreherlehrling im Werk Kawasoi, hielt sich aber jetzt ebenfalls zu Hause auf.
„Keine Zeit." Er hieb mit einer Gerte auf die Ziege ein, die sich nicht von der Stelle rühren wollte. „Ich muss nach Schimo-Gawasoi, eine Trommel für das Fest holen."
„Ach?" Die Mädchen wurden hellhörig und vergaßen ihr Gesprächsthema.
„Wir müssen eine Trommel beschaffen und einen Samisenspieler (Anm.: Dreisaitige Gitarre.) engagieren", erklärte Kisuke, stützte einen Fuß auf den Steinwall und machte ein so wichtiges Gesicht, als ob die ganze Verantwortung für die Organisation des Festes auf ihm allein ruhte.
„Tomojoschisan vom ,Oberdorf 'wird das ,Wellenlied' singen, und Hanatjan tanzt den ,Abend'."
„Was du nicht sagst!" Tomoko schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Ist das wirklich wahr?" Die Mädchen redeten alle gleichzeitig.
„Weißt du was, ich glaube, Fudschimori Kijo wird das ,Wiegenlied' tanzen und singen", flüsterte die Besucherin von der Gruppe „Oberdorf". „Ich habe ihn schon mal singen hören. Einfach wundervoll, alle sagen es, wie ein richtiger Schauspieler..."
Kiku stemmte die Fäuste in die Hüften und presste die Lippen fest zusammen, wie immer, wenn etwas sie erregte.
Da kamen zwei junge Burschen die Straße entlang geradelt - Toschios jüngerer Sohn Tadassu und Fudschimori Kijodschi, der gerade erst vom Militär heimgekehrt war. Sie saßen beide auf einem Fahrrad.
„Kijotjan, steig mal einen Augenblick ab!" rief Kiku gebieterisch, als die Jungen am Hause anlangten. Tadassu wendete gehorsam die Lenkstange und fuhr gegen die Leine, mit der die Ziege festgebunden war. Sie sprang meckernd in die Höhe, das Rad fiel um, und die beiden wälzten sich unter dem lauten Gelächter der Mädchen am Boden.
„Stimmt es, dass du das ,Wiegenlied' singen wirst?" Der junge Bursche, der ein Militärhemd trug und seine Mütze flott auf ein Ohr geschoben hatte, stand auf. „Jawohl, ich will es versuchen, wenn ich auch kein Künstler bin", antwortete er, rieb sich die Hände und schnitt eine lustige Grimasse. An seinem Hemd steckte ein Verwundetenabzeichen. Er hinkte leicht auf einem Bein.
„Na, fang mal an; wir hören zu!" verlangte Kiku. „Ich singe dann auch das Kisso-Lied."
Das rotwangige Mädchen schrie auf, als hätte sie jemand gezwickt. Tomoko klatschte in die Hände. Die Jungen und Mädchen kamen in Stimmung.
Hatsue hielt das Spinnrad an. Sie ergriff den kleinen Tschijoitschi, der, durch den Schrei des Mädchens erschreckt, nicht wusste, wie ihm geschah. Hatsue mit dem Kind im Arm - so hatten die Mädchen sie die ganze Kriegszeit hindurch nicht gesehen.
„Im Walde schreit das Krähelein..." Nun tanzte der Soldat mitten auf der Straße und sang dazu. Seine Füße glitten im Takt hin und her, sein Körper wiegte sich. Die Jungen mit dem Fahrrad, Leute, die, kleine Karren hinter sich herziehend, zufällig des Weges kamen, alte Weiblein, die zahnlosen Münder weit aufgerissen, bildeten bald einen Kreis um ihn.
„Weine nicht, weine nicht, wir wiegen dich ein..." Zu den Stimmen der Mädchen gesellten sich nun die Stimmen der Männer. Ihre Arme ahmten schwingend die Bewegungen der „Männer von Akaschiro, wie sie den Berg von Akaschiro herunterkommen", nach. Ihre Gesichter mit den gestutzten Bärtchen begannen zu zucken. Das rührende kleine Lied riss alle mit; den Burschen und den Mädchen war ihre Ergriffenheit anzusehen.
„Wenn du weinst, wird's Krähelein wieder schrein..."
Hatsue merkte beim Tanzen gar nicht, wie ihr Schweißtropfen auf die Stirn traten, die Wangen herunterliefen und sich mit Tränen aus ihren Augen mischten. Ihr war, als schmelze ihr Körper dahin.
„Die Stunde der Revolution ist gekommen, die Stunde der Revolution ist gekommen!"
sang Fumija voller Begeisterung und wiegte das Kind im Takt der Melodie auf den Knien. Durch das kahle Geäst des alten Dattelpflaumenbaumes fiel das Licht der Herbstsonne auf den Vorplatz. Vor der geöffneten Stalltür tummelten sich die Hühner. Daneben waren Buchweizengarben, die man soeben vom Feld hereingebracht hatte, und Säcke mit Dünger und Asche aufgestapelt. Zwischen Stalldach und Zaun lag eine Stange, auf der Windeln trockneten. In der Nähe des Leiterwagens, vor den gewöhnlich Ochsen gespannt wurden, wenn man aufs Feld hinausfahren wollte, standen einige Eimer voll Mist. Überall waren die Spuren unvollendeter Arbeit zu bemerken.
„Ach, wie schwer der Weg zur Wahrheit ist! Wer will sich da ängstlich zeigen? Brüder, Mut! Nie wird das Joch der Willkürherrschaft Unsre stolzen Nacken beugen!"
Furnija sang, während er mit einer Hand sein Enkelkind stützte und ihm mit der anderen leicht auf das Hinterteil klopfte, das in schmuddligen Höschen steckte. Bei den beiden letzten Zeilen dröhnte seine Stimme, rote Flecke traten ihm auf die Wangen, und seine hellbraunen Augen unter den greisenhaft herabhängenden Brauen wurden feucht.
„Großväterchen, bitte, halt sie noch ein bisschen; ich nehme sie gleich!" bat seine Schwiegertochter Tschisu und lief eilig mit einer Schüssel in der Hand aus der Küche ins Zimmer. Dort lag Fumijas Sohn Motoja. Vor ein paar Tagen war er vollkommen erschöpft von den Südsee-Inseln heimgekehrt und hatte sich sofort übermüdet zu Bett legen müssen.
„Schon gut, schon gut, mach nur deine Arbeit!" Fumija beugte sich über seine kleine Enkeltochter. Sie strampelte ungeduldig mit Händchen und Beinchen, und dicke Tränen liefen ihr über das Gesicht. Als sein unrasiertes, stachliges Kinn ihre Wangen berührte, fing sie wieder laut zu weinen an.
„Ei, ei, ei! Na, na! Du bist doch ein liebes Mädchen, ein kluges Mädchen. Du darfst nicht weinen! Nicht weinen!" redete Fumija auf sie ein und schaukelte sie. In den drei Tagen seit der Rückkehr seines Sohnes hatte er diese Worte oft wiederholt. Der Sohn war heimgekehrt, wenn auch erschöpft und krank. Aber welch großes Glück, dass er überhaupt wieder da war! Es gab ja so viele, die gefallen oder zugrunde gegangen waren! Und Fumija stimmte wieder das alte Revolutionslied an, das man in den Tagen seiner Jugend gesungen hatte.
Torisawa Furnija war seinerzeit Mitglied der „Sozialistischen Liga", die 1921 gegründet wurde. Zehn Personen aus der Provinz Nagano gehörten ihr an - mehr als aus jedem anderen Bezirk. Einer dieser zehn war der 28jährige Fumija. Damals überwarf er sich mit seinem Vater, verließ das Haus und ging nach Tokio. Da er aber der älteste Sohn der Familie war, kehrte er nach dem Tode seines Vaters in sein Heimatdorf zurück und übernahm die Wirtschaft. Bald darauf wurde in Torisawa eine Grundschule eröffnet, und Fumija leitete sie lange Zeit, bis er 1934 mit vielen anderen aus der Provinz Nagano wegen „Verbreitung der roten Ideologie unter den Pädagogen" festgenommen, nach Nagano gebracht und ins Gefängnis geworfen wurde. Uber ein Jahr saß er in Untersuchungshaft und wurde schließlich freigelassen, weil sich der Gemeindevorsteher Saito Judschiro für ihn eingesetzt hatte. Man hielt ihn für einen „reuigen Sünder". Während des Krieges gelang es ihm, wieder mit Hilfe Saitos, Gemeindeschreiber zu werden. Er stand in Torisawa wie in allen umliegenden Dörfern seit langem in dem Ruf eines gefährlichen Schlaukopfs und Querulanten.
Eben war er mit einem Armvoll Gras für den Ochsen nach Hause gekommen, hatte seine Arbeitskleidung ausgezogen und ein Gläschen Sake getrunken. Nun hing er seinen Gedanken nach. Das imperialistische Japan, dieses letzte Bollwerk des faschistischen Lagers im zweiten Weltkrieg, war nun zerschlagen. Aber demokratische Organisationen hatte es in Japan allzu lange nicht mehr gegeben. Deshalb würde jetzt wohl einige Zeit vergehen, bis sie in diesem entlegenen Bergland wiederauflebten.
„Man kann den Leib in Fesseln legen, Uns aufs Schafott und ins Gefängnis jagen, Es führt uns der Gerechtigkeit entgegen Der Geist in uns, den niemand kann in Fesseln
schlagen!"
Fumija sagte Verse von Sussui Kotoku (Anm.: Japanischer Dichter und Revolutionär, der 1911 hingerichtet wurde.) vor sich hin. Greisenhaft empfindlich, wie er war, nahm er sich alles sehr zu Herzen. Er dachte an seine Frau, die ein trübseliges, mühevolles Leben an seiner Seite verbracht hatte, an die Menschen, die er in seiner Jugend gekannt hatte und deren Dasein ein ständiger schwerer Kampf gewesen war - Ossugi Sakae, Sakai Toschihiko, Itschikawa Sejitschi... Er sprach die Verse vor sich hin, wiegte bedächtig den Kopf, und Tränen rollten ihm in den grauen Bart:
„Sturmnacht in Russlands Hauptstadt, Die rote Fahne über dem Winterpalais..."
Das dunkle Blau der welligen Silhouette der Berge ging allmählich in Violett über. Fumija murmelte die Verse, und Bilder aus seiner Jugendzeit stiegen vor ihm auf. Er wollte sich nicht in seine Erinnerungen verlieren, aber in diesem Augenblick beschäftigten sie ihn gegen seinen Willen. Mechanisch schaukelte er sein Enkelkind und sah zu, wie die Dunkelheit hereinbrach und wie der Nebel, der aus Tälern und Sümpfen aufstieg, nach und nach die Berge einhüllte.
Hinter der Hecke kam ein Mann vorüber, der ein Fahrrad neben sich herschob. Er trug ein Käppi und ein schwarzes, bis zum Hals zugeknöpftes Jackett, das über und über mit weißem Staub bedeckt war. Es schien, als suche er jemanden. Jetzt blieb er stehen, ging aber gleich wieder weiter, unschlüssig, ob er den Alten ansprechen sollte oder nicht. „Vater!" drang die Stimme Motojas aus dem Zimmer an sein Ohr.
„Ja, was willst du?" Ohne aufzustehen streckte Fumija die Hand aus, schob die Schoji ein wenig auseinander und schaute in den Raum. Motoja richtete sich auf. Als Fumija sah, dass sein Sohn ihn anblickte, wandte er sich ab und fragte, obwohl er wusste, dass Motoja ihn sprechen wollte: „Soll Tschisu kommen?"
Motoja saß auf der Matratze, die dürren, knochigen Arme und Beine von sich gestreckt. Sein geschwollenes Gesicht war gelblichbleich.
„Vater, hat Mutter vor ihrem Tode noch etwas gesagt?" fragte er.
„Was... was meinst du denn? Wovon sprichst du?" Fumija war verwirrt, gewann aber gleich darauf mühsam die Fassung wieder und sagte mit ruhiger Stimme: „Wo denkst du hin! Deine Mutter ist ganz plötzlich gestorben. Sie hatte nicht einmal mehr Zeit, einen Seufzer auszustoßen."
Vater und Sohn schwiegen eine Weile. Fumija tat, als wäre er vollauf mit dem plärrenden Kind beschäftigt, und redete ihm zu: „Still, still, nicht weinen, nicht..."
Der Alte hatte seinem Sohn nicht die Wahrheit gesagt. Länger als zwei Jahre hatte er ihm den Tod seiner Mutter verschwiegen und ihm auch jetzt, nach seiner Rückkehr, noch nichts Näheres erzählt. Motoja hatte offenbar Verständnis für die Gefühle seines Vaters, und beide waren bisher einem Gespräch über diesen Punkt ausgewichen. Die Mutter war wohl schon lange krank gewesen, als Motoja in den Krieg zog. Später, nach ihrem Tode, erkannte Fumija das selbst; aber damals steckte er bis zum Hals in der Arbeit für die Gemeindeverwaltung und seine Wirtschaft und hatte keine Zeit, auf die Gesundheit seiner Frau zu achten.
Fumija galt früher im Dorf als mittlerer Bauer; doch während seiner Gefängniszeit hatten seine Angehörigen sein Waldgrundstück völlig vernachlässigt und nur ein kleines Stück Land von vier Tan Größe bebaut. Aus diesem Grunde war die Seidenraupenzucht eine der wichtigsten Einnahmequellen für die Familie. Sie brachte ihnen gerade so viel ein, dass sie von der Hand in den Mund leben konnten.
Die Frühjahrsbrut der Seidenraupen war besonders wichtig; deshalb gab es in den Tagen vor Motojas Abreise im zweiten Stockwerk des Hauses, wo die Raupen gezüchtet wurden, viel zu tun, und Mutter Tatsu schloss nächtelang kein Auge.
„Mir ist so schwindlig...", klagte sie oft, wenn Fumija mit einem Korb voll Maulbeerblättern heraufkam. Mit gebeugtem Rücken hockte sie in dem schmalen Gang zwischen den Regalen, auf denen die kleinen Brutkästen standen. Es war ihr anzusehen, dass sie mehr als eine Nacht schlaflos verbracht hatte.
„Mir ist... nicht gut...", sagte Tatsu eines Abends kurz nach Motojas Abreise plötzlich mit ganz fremder, seltsamer Stimme. Sie stand auf einer Leiter, nahm ein Kästchen mit Raupen und wollte es gerade ihrer Schwiegertochter Tschisu hinunterreichen. „Mir ist... schlecht..."
Erschrocken lief Fumija hinzu, Tatsu warf den Kopf hintenüber und stürzte ihm mit weitaufgerissenen Augen wie eine Getreidegarbe in die Arme.
Schlaganfall... Tatsu war einst eine kräftige, lebhafte und fleißige Frau gewesen. Als ihr Mann für einige Jahre nach Tokio übersiedelte, als er im Gefängnis saß und das ganze Dorf ihn verurteilte, als sie ohne ihn den jüngsten Sohn begraben musste, bewältigte sie allein die ganze Arbeit, und niemals hörte man die leiseste Klage von ihr.
„Tatsu, möchtest du etwas sagen?" fragte Fumija immer wieder während der zehn Tage, die sie noch lebte. Sie schien bei Bewusstsein, denn ihre Lippen bewegten sich von Zeit zu Zeit krampfhaft. Fumija holte einen Schreibpinsel, schob ihn ihr mit Mühe in die Hand, die sie noch ein wenig bewegen konnte, und sie schrieb auf ein Stück Papier: „Motoja". Dann, nach einer Weile, fügte sie hinzu: „Nichts sa..." - und verschied. Der Satz blieb unvollendet, doch Fumija begriff, und er hatte seinem Sohn nichts über ihren Tod mitgeteilt.
Als Motoja vom Militär heimkehrte, ging er geradenwegs zum Hausaltar und zündete eine Kerze an. Wahrscheinlich hatte er schon an der Front alles geahnt. Jetzt, nach der Antwort seines Vaters, fühlte er, dass die Zeit noch nicht gekommen sei, darüber zu sprechen, und er fragte nicht weiter.
„Weißt du was, Vater, wir wollen uns eine Kuh anschaffen", sagte er unvermittelt und wandte sich dem Alten zu. Mit seinem etwas groben Bauerngesicht, der breiten Nase und dem großen Mund war er seiner Mutter sehr ähnlich. Im offenen Ausschnitt seines dunklen Kimonos war seine Brust mit den deutlich hervortretenden Rippen zu sehen, unter seinen spitzen Wangenknochen lagen tiefe Schatten; doch seine Augen leuchteten jugendlich.
„Ich habe es bei den Bauern dort gesehen. Es ist sehr schön..."
Seine Stimme hatte einen schwärmerischen Klang. „Was sagst du?"
„Ich finde, wir sollten auch hier in Nagano endlich aufhören, uns ausschließlich mit der Seidenraupenzucht zu beschäftigen. So wertvoll ist diese Rohseide ja nicht! Was meinst du?"
„Da hast du schon recht", murmelte Fumija zustimmend und fuhr fort, das Kind zu schaukeln. Er wunderte sich, auf was für Gedanken sein Sohn kam, seit er heimgekehrt war.
„Vater, hast du schon einmal etwas von Roggen gehört? Ich hatte in der Armee einen Kameraden ein Agronom, der mir oft von der Landwirtschaft in der Sowjetunion erzählte. Von ihm habe ich viel erfahren... Ich glaube, bei uns würde der Roggen gut gedeihen." Motoja sprach lebhaft und strich dabei mit der Hand über sein langes, mageres Bein.
Er erzählte von Milchfarmen in fremden Gegenden, auf den Südseeinseln, und von seinem Freund, dem Agronomen, der aus Tokio stammte und von dem er soviel über die Landwirtschaft in der Sowjetunion gehört hatte. Fumija betrachtete seinen Sohn von der Seite. Wie konnte er das bei allem, was er durchgemacht hatte, nur aufnehmen und sich einprägen? Er lauschte und dachte verwundert: Was für ein Volk wir Bauern doch sind!
Die Schwiegertochter kam aus der Küche. „Sieh nur, Großvater", sagte sie, trocknete ihre nassen Hände und nahm Fumija das Kind ab. „Da ist dieser Mensch wieder. Ein sonderbarer Kerl..."
Tatsächlich, hinter der Einfriedung tauchte von neuem der Mann in dem schwarzen Jackett auf. Er hielt das Fahrrad fest und blickte unentschlossen zu dem Haus auf. „Verzeihen Sie, bitte", begann er schließlich und hob die Hand an den Mützenschirm. „Wohnt hier Torisawa Fumijasan?"
„Was gibt's?" Fumija reckte den Hals vor, tastete nach den Sori, die vor dem Hause standen, schob die Füße hinein und machte in gebückter Haltung ein paar Schritte auf den Fremden zu. „Ich bin Fumija. Was wünschen Sie?"
Und plötzlich glätteten sich die Falten auf seiner Stirn: „Oh, Kobajaschi! Das ist doch Kobajaschi Masaru!"
Der Mann im schwarzen Jackett stellte sein Fahrrad unter das Vordach, ging ins Wohnzimmer und ließ sich neben dem Ofen nieder.
Seinem Aussehen nach konnte man ihn auf zweiundvierzig oder dreiundvierzig Jahre schätzen, rund zehn Jahre jünger als Fumija. Als er aber die Mütze abnahm, zeigte es sich, dass sein Kopf von der Stirn bis zum Wirbel kahl war. Ein schweres Leben hatte Spuren in seinem hageren Gesicht hinterlassen. Fumija redete wie aufgezogen; der Gast aber lächelte nur und strich sich übers Kinn, auf dem ein struppiger, graumelierter Bart wucherte. Seine Augen hinter den Brillengläsern leuchteten in freudiger Erregung über das Zusammensein mit dem alten Freund, den er zehn Jahre lang nicht gesehen hatte.
„Ich freue mich, dass du gesund und munter bist", rief Fumija einmal über das andere und blickte sein Gegenüber liebevoll an. „Bin auch alt geworden, aber ich halte mich noch... Ja, ich halte mich - ein bisschen Kraft habe ich noch."
Der Gast hatte die Beine übereinandergeschlagen und die Arme um die Knie geschlungen und lauschte unter beifälligem Nicken. Anscheinend verglich er in Gedanken Fumija mit dem Mann, den er einst gekannt hatte, und die Erinnerungen an jene fernen Zeiten stiegen aus der Tiefe seiner Seele auf.
Kobajaschi Masaru stammte aus Kami-Suwa. Er war seinerzeit mit Fumija im Zusammenhang mit dem Prozess verhaftet worden, der, wie die Zeitung „Schojo Schimbun" schrieb, gegen die „roten Lehrer" geführt wurde. In Wirklichkeit hatte man dieses aufsehenerregende Verfahren nur eingeleitet, um mit einem Schlage die demokratische Organisation der Pädagogen in der Provinz Nagano zu erledigen, die gegen den drohenden Krieg auftrat, die Faschisierung des Volksbildungswesens zu verhindern suchte und bessere Arbeitsbedingungen für die Lehrer forderte. Gegen diese fortschrittliche Gruppe, die organisatorisch zum Alljapanischen Gewerkschaftsrat („Senkjo") gehörte oder - genauer gesagt - unter seinem Einfluss stand, richtete sich jener berüchtigte „Prozess".
Die Ermittlungen in der Angelegenheit Kobajaschis, Fumijas und der anderen Lehrer zogen sich endlos hin. Nach dreijähriger Untersuchungshaft wurde Kobajaschi, obwohl kein Beweis für seine „Schuld" erbracht werden konnte, zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Damals war er noch nicht Mitglied der Kommunistischen Partei, dennoch zählte man ihn zu den „Verstockten". Als er seine Strafe verbüßt hatte, wollte er nicht in seinem Heimatdorf bleiben und ging gleich zu Beginn des Krieges im Stillen Ozean nach Tokio. Als Versicherungsagent, als Gelegenheitsarbeiter in
Fabriken, als Tagelöhner fristete er dort sein Leben. Wiederholt wurde er verhaftet und für Monate eingesperrt, ohne dass man bestimmte Beschuldigungen gegen ihn vorbringen konnte. Nach Kriegsende kehrte er in seine Heimat zurück. Er war nicht dazu gekommen, zu heiraten.
Gerührt stellte Fumija ein Gläschen Reisschnaps auf den Ofen und hob es dann selbst an den Mund. Der Gast trank seinen Sake. Fumija war von den Erzählungen und den Fragen nach alten Freunden - nach Toten oder Verschollenen - so in Anspruch genommen, dass er gar nicht bemerkte, wie der Wind ab und zu einen Trommelwirbel von den Bergen herüber wehte, die allmählich im Abenddunkel versanken. „Habt ihr heute ein Fest hier?" erkundigte sich Kobajaschi.
„Tjaa, siehst du, Kapitulation hin, Kapitulation her, die Feste muss man feiern, wie sie fallen... Jawohl. Die Jugend will sich amüsieren."
Kobajaschi, aus dessen Zügen das Lächeln nicht verschwand, wandte sich wieder an Fumija: „Auf dem Wege zu dir bin ich übrigens Nogami Tsutomu begegnet. Ein paar Leute waren bei ihm. Was macht der eigentlich?" „Nogami Tsutomu? Aus Hirajama? Ich weiß nicht."
Fumija stellte das Glas auf den Ofen zurück und schüttelte den Kopf.
In Wirklichkeit hatte er vor kurzem ein Rundschreiben mit der Unterschrift Nogamis erhalten. Im Nachbardorf Hirajama und im Bezirk Ine waren Bestrebungen im Gange, eine neue politische Partei zu gründen. Wie man erzählte, war auch Saito Judschiro, der frühere Gemeindevorsteher von Kami-Gawasoi, daran beteiligt. Nogami war ein alter Funktionär der Bauernbewegung des Bezirkes. In seinem Brief hatte er Fumija aufgefordert, der neuen Partei beizutreten. „Siehst du, das ist so", begann Kobajaschi, und seine Stimme hatte auf einmal einen ganz anderen Klang. „Die Kommunisten kommen doch jetzt allmählich aus der Illegalität hervor..."
Fumija riss vor Erstaunen die Augen auf. „Die Kommunisten?"
„Ja, die Kommunisten", bestätigte Kobajaschi. „Du kennst doch Schiroischi aus Matsumoto? Er war dieser Tage in Tokio. Vorgestern ist er zurückgekommen. Also", er rückte näher an Fumija heran, „das Potsdamer Abkommen gibt doch auch der Kommunistischen Partei das Recht, legal zu arbeiten."
„Donnerwetter!" rief Fumija. Er war ganz aufgeregt und schlug sich von Zeit zu Zeit aufs Knie, während er Kobajaschi zuhörte.
„Ich meine", fuhr Kobajaschi fort, „es wäre gut, wenn wir eine Versammlung einberiefen, um zu hören, was Schiroischi zu berichten hat. Bei der Gelegenheit träfen wir auch die Genossen wieder, die wir seit zehn Jahren nicht gesehen haben. Den Ort der Zusammenkunft und die Tagesordnung teile ich dir noch mit. Was hältst du davon?"
„Natürlich, das ist großartig! Allein um die alten Freunde wiederzusehen, hat es sich gelohnt, solange zu leben!" erwiderte Fumija sofort. Er schwieg eine Weile und fügte dann hinzu: „Ja, das wird wirklich eine prächtige Sache! Ich komme bestimmt, wenn es nicht zu viel Fahrgeld kostet."
Doch darum handelte es sich gar nicht. Fumija hatte Hemmungen, denn er dachte an den Brief mit der Aufforderung, in die „Sozialistische Partei" einzutreten. Er hatte Schiroischi nie gesehen, aber er wusste vom Hörensagen, dass er Kommunist sei, lange Zeit im Gefängnis gesessen habe und nur wegen einer schweren Krankheit während des Krieges entlassen worden sei. Schiroischi stand an der Spitze der kommunistischen Bezirksorganisation, und man konnte sich leicht vorstellen, dass diese „Zusammenkunft alter Freunde" sich in eine Versammlung verwandeln würde, auf der die kommunistische Bezirksorganisation neu gegründet werden sollte.
Hatte er Bedenken, an einer kommunistischen Versammlung teilzunehmen? Nein, das nicht. Nur der Gedanke an den alten Saito verwirrte ihn. Er hatte den Brief zwar noch nicht beantwortet, doch das war auf eine gewisse Antipathie zurückzuführen, die er gegen Nogami, den Gutsbesitzer aus Hirajama, hegte. Nogami hatte sich während des Krieges nicht als aktiver Anhänger der militaristischen Regierung gezeigt; nein, er war so geschickt, seine Frau vorzuschieben. Sie leitete die örtliche Organisation „Patriotische Mädchen", die Jugendsektion der „Hilfsassoziation für den Thron". So blieb Nogami vor jeder Verfolgung verschont - im Gegensatz zu Fumija und konnte sich die ganze Zeit als Mitglied der Bezirksverwaltung halten. All das empörte Fumija, der ein Altersgenosse Nogamis war und ihn gut kannte. Anders lagen die Dinge beim alten Saito. Er hatte Fumija mehr als einmal geholfen, wenn er in Schwierigkeiten war. Saito erfreute sich allgemeiner Beliebtheit im Dorf, und wenn er Fumija zuredete, dann würde es ihm schwerfallen abzulehnen.
Aber Fumija war nicht umsonst schon als Neunzehnjähriger zur revolutionären Bewegung gestoßen, nicht umsonst hatte er in all den Jahren über vieles nachgedacht, verschiedenartige Ideen kennengelernt und manche soziale Erschütterung miterlebt. Er urteilte so: Ob alte oder neue Partei - wenn sie dem Volke helfen konnte, wenn sie wirklich eine revolutionäre Partei war, dann spielte es keine Rolle, wie sie hieß.
„Wie ich höre, soll die Fabrik in Kawasoi bald wieder in Gang kommen. Gibt es hier im Dorf Arbeiter von dort?" fragte Kobajaschi und machte es sich bequem. Er hatte sich endlich einverstanden erklärt, über Nacht zu bleiben. „Der jüngere Bruder meines verstorbenen Freundes Araki Fumio ist angeblich dort beschäftigt. Wenn ich nicht irre, heißt er Toschio. Ich möchte ihn gern zu unserer Versammlung einladen, weiß aber nicht, wo er wohnt."
„Das machen wir schon", erwiderte Fumija und dachte an seine Schülerinnen Jamanaka Hatsue und Kiku. „Wir haben einige Arbeiter vom Werk Kawasoi im Dorf. Außerdem bin ich hier Gemeindeschreiber und komme jeden Tag dienstlich nach Schimo-Gawasoi. Ich kann mich in der Fabrik nach ihm erkundigen."
Fumija war jetzt in glänzender Laune. Er holte selbst einen Armvoll Reisig aus dem Vorraum, da die Schwiegertochter Tschisu mit ihrem Kind zu dem Fest gegangen war. „Die Jugend amüsiert sich! Kein Wunder, ganze zehn Jahre hat es kein Fest gegeben", flüsterte er mit freudigem Lächeln und legte das Holz neben den Ofen.
„Oh, ihr blüht noch immer, Kirschen am Kudanhügel..." schluchzte eine schon ziemlich abgespielte Grammophonplatte. Die Melodie stieg zum Himmel auf, der sich über den nebelverhüllten Bergen verfinsterte, und versetzte die Dorfbewohner, die sich vor dem Kwannontempel versammelt hatten, in eine freudigerregte Stimmung.
Gelangweilt hörten die jungen Burschen zu, wie die Festordner die Spenden für das Fest und die Namen der Geber verlasen. Die Tanzmusik berauschte die jungen Leute - sie hatten ja bisher immer nur Soldatenlieder und Märsche gehört. Sie standen dichtgedrängt, hatten einander untergefasst und schrien aus vollem Halse: „Schon gut! Ist klar! Noch schneller!" - „Hoo, hoho..."
Die Burschen schnitten Fratzen und vollführten komische Verrenkungen und versuchten, mit den
Bauernmädchen anzubandeln, die vor der Bühne standen. Die Mädchen stoben kreischend auseinander, und die ausgelassene Stimmung erreichte ihren Höhepunkt.
In dem hellen Licht einer Hundert-Watt-Lampe, die an einem Ast einer alten Zeder angebracht war, boten die vergnügten Menschen ein heiteres Bild. Der ganze Platz von der Bühne bis zur Mitte des Maulbeerhains war überfüllt. Vorn saßen auf Bastmatten die Alten und die Kinder, hinter ihnen standen die andern Dorfbewohner. Viele hockten sogar auf der steinernen Einfriedung. Die Blätter der Bäume waren feucht vom Nebel und glänzten im Schein des elektrischen Lichts wie junges Frühjahrsgrün. Auch die Gesichter und die Augen der Leute schienen verjüngt.
Ein Bursche im Soldatenhemd, einer von den Demobilisierten, stand auf der Bühne und sang, mit vor Anstrengung krebsrotem Gesicht, das „Wellenlied". „Schluss mit dem Unsinn! Herunter von der Bühne!" rief einer.
„Ruhe! Lass ihn doch singen!" ertönte eine andere Stimme.
Völlig verwirrt durch das Lachen, Schreien und Applaudieren, stützte der Sänger eine Hand auf den Notenständer, schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Aber er hörte nicht auf. Es klang wahrhaftig nicht wie Gesang, sondern eher wie das klagende Rufen eines blinden Amma (Anm.: Masseur, ein Beruf, den in Japan von alters her Blinde ausüben. Sie streifen durch die Straßen und bieten ihre Dienste an mit dem monotonen, langgezogenen Ruf „Amma-Amma".).
Zu beiden Seiten der Bühne hingen weißrote Vorhänge, die gewöhnlich bei sportlichen Veranstaltungen der Schule verwendet wurden, und die Papierbogen, auf denen die beigesteuerten Geldbeträge verzeichnet waren. Die Namen aller Honoratioren der Gemeinde waren in geziemender Reihenfolge aufgeführt, beginnend mit Torisawa Kintaro, der 300 Jen „geopfert" hatte, bis zu Takenoutschi Tadaitschi mit einem Beitrag von 30 Jen.
Diese Rangordnung kam sogar in der Reihenfolge zum Ausdruck, in der die Zuschauer vor der Bühne ihre Plätze eingenommen hatten. Ganz vorn, etwas erhöht, saßen die angesehensten Leute mit ihren Familien, an der Spitze Torisawa Mosuke, der Vorsitzende der Jugendorganisation.
Torisawa Ren und Komatsu Nobujoschi aber, die etwas abseits auf einem hohen Steinwall standen, ragten über alle andern hinaus.
Auf einer schmalen Mauer ihnen gegenüber hockten Hatsue und Kiku mit ihren Freundinnen und hielten sich nur mit Mühe im Gleichgewicht. „Sieh mal, wie schön sie gekleidet ist!" Kiku stieß Hatsue an und zeigte auf Torisawa Ren, die einen grellroten Rock und eine weiße Flauschjacke trug. Der Schein der Glühbirne drang kaum bis dorthin, aber die elegante europäische Kleidung des Mädchens fiel in diesem Halbdunkel besonders auf.
Komatsu hatte seine Offiziersuniform an, und darum wagten sich die dreisten Dorfburschen nicht näher heran.
Das Lied war zu Ende, und die Zuhörer applaudierten. Jamanaka Kisuke, mit seiner unvermeidlichen roten Sportmütze auf dem Kopf, zog den Vorhang zu. Das war sein Amt. Einer der Festordner trat vor; er hielt ein Blatt Papier in der Hand, auf dem die Tusche noch nicht getrocknet war, und verkündete laut: „Bitte einen Augenblick um Aufmerksamkeit. Es wurden 200 Jen gezeichnet von Herrn Nogami Tsutomu aus Hirajama."
Wieder klatschte die Menge, der Vorhang öffnete sich, und unter dem Beifall des Vorsitzenden und der andern Mitglieder der Gemeindeverwaltung stieg Takenoutschi Tadaitschi, geschniegelt und gebügelt, in seiner Milizuniform die Stufen zur Bühne hinauf.
Als „ihr" Takenoutschisensei auf dem Podium erschien, klatschten Hatsue und ihre Freundinnen ebenfalls Beifall. So hatten sie es auch gehalten, als sie in der Seidenspinnerei arbeiteten. Übrigens fühlte Hatsue eine gewisse Unruhe, wie stets, wenn Takenoutschi so süßlich lächelte.
„Verehrte Anwesende, verzeihen Sie, dass ich es wage, Sie mitten im schönsten Vergnügen zu stören", begann Takenoutschi, machte ein liebenswürdiges Gesicht und verneigte sich lächelnd nach rechts und links. „Unser hochverehrter, in ganz Japan berühmter Leiter der Bauernbewegung, Herr Nogami Tsutomu, hat es möglich gemacht, heute nach Schimo-Gawasoi zu kommen, um eine neue politische Partei zu gründen und auf einer Versammlung zu sprechen. Ich Unwürdiger habe nun in dem innigen Wunsch, dass Herr Nogami auch zu Ihnen sprechen möge, ihn, den Vielbeschäftigten, gebeten, uns einige Minuten zu widmen und uns mit seiner Anwesenheit zu beehren..."
Wieder ertönte Applaus, und Takenoutschi trat einen Schritt zurück. Allen war klar, dass er sich entschlossen hatte, sein Schicksal mit dem der neuen Partei zu verbinden. Aber was er dann weiter sagte, das hatte bisher noch keiner aus seinem Munde gehört: „Jetzt, da in Japan die Ära der Demokratie angebrochen ist, müssen wir den Massen voranschreiten, die alten feudalen Überreste vernichten und ein neues, demokratisches Japan aufbauen..."
Plötzlich rief jemand: „Hört auf mit den politischen Vorträgen!"
Takenoutschi stockte mitten im Wort und drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. Dort saßen neben einer Steinmauer heimgekehrte Soldaten, meist ehemalige Reservisten. Unvermittelt ertönte aus dem Grammophon wieder Musik. Einige lachten. Takenoutschi streckte die Hände aus, als wollte er zur Ordnung rufen, und die Festordner stürzten auf das Grammophon zu, um es abzustellen.
Takenoutschi fuhr fort: „Erlauben Sie also, dass ich Ihnen unseren alten Freund und Lehrer vorstelle, der zehn Jahre schwerer, andauernder Kämpfe hinter sich hat - Herrn Nogami Tsutomu." Takenoutschi verließ das Podium.
Auf dem Platz vor dem Kwannontempel war es sehr laut; die feuchte, schwüle Luft strich in Wellen über die Menge hin. Als Nogami Tsutomu auf der Bühne erschien, wurde es still. Nogami Tsutomu, ein kleiner Mensch mit flachem Gesicht und Spitzbart, trug eine Joppe, Gamaschen und Strohsandalen. Er trat an das Pult, neben dem der Soldat das Lied gesungen hatte, und sagte mit ruhiger Stimme: „Unser leidgeprüftes japanisches Volk, das durch einen räuberischen Krieg, den die herrschenden Klassen entfesselt haben, in einen unabsehbaren Strudel von Katastrophen hineingezogen wurde..."
Die heisere, vom täglichen Reden angestrengte Stimme klang eindringlich. Hatsue klammerte sich an Kikus Schulter und lauschte vorerst angestrengt, um die ungewohnte, eigenartige Betonung und die schwierigen Fremdwörter zu verstehen, die der Sprecher in seine Ansprache einflocht. Schließlich gab sie dieses Bemühen auf; denn sie gewann bald den Eindruck, dass es sich nicht lohnte, dem Redner zu folgen. Seine Worte waren neu und unverständlich, im Ganzen aber flossen die Sätze ebenso leicht dahin und klangen ebenso feierlich wie bei all den anderen Rednern, die sie und ihre Freunde oft genug gehört hatten. Das ist wohl auch so einer von den hohen Herren, dachte Hatsue. Sie war dabei gewesen, wenn der Oberst, der Kontrolloffizier in der Fabrik, wenn die Vertreterin der Ortsgruppe der „Frauenvereinigung von Großjapan" und wenn die Vorstandsmitglieder der Company sprachen. Eine lange Reihe aller möglichen Redner, vom Direktor bis zu den Abteilungsleitern, stand vor ihrem geistigen Auge auf. Im Grunde hatten sie alle nichts anderes gewollt, als ihr immer wieder einzuhämmern: Tu, was ich dir befehle!
„Pst, hinter Rentjan - ist das Komatsusan? Er ist wohl ihr Bräutigam?" flüsterte Kiku, der es auch langweilig wurde, Nogami Tsutomu zuzuhören.
„Sicher", antwortete Hatsue, blickte zu Ren und Komatsu Nobujoschi hinüber und zupfte zerstreut an den Schnüren ihres Haori. Plötzlich schrak sie zusammen; denn unmittelbar neben ihr ertönte ein lauter Ruf: „Was heißt zehn Jahre Kampf? Gib doch nicht so an!"
Die Versammelten waren schon seit einer Weile unruhig.
„Zehn Jahre Kampf? Schwindle nur noch mehr!"
Hatsue hatte bemerkt, dass dieser Ausruf von Torisawa Itschiro kam, dem Sohn des Bauern Kiju. Der glattrasierte Kopf des jungen Mannes glänzte unmittelbar vor ihren Füßen.
Torisawa Itschiro war vor fünf oder sechs Jahren, als er die Mittelschule in Okaja besuchte, als „Roter" verhaftet worden. Da das Gerede über ihn im Dorf nicht aufhörte, fuhr er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis nach Nagoja, wo er bis jetzt in einer Fabrik gearbeitet hatte.
Die Menge begann zu lärmen; das Durcheinander wurde immer größer. Die alten Leute vorn auf ihren Bastmatten applaudierten von Zeit zu Zeit diesem „alten Bauernführer". Die jungen Burschen, die bei dem Grammophon in der Nähe der Mädchen saßen, schrien: „Genug geredet!" Sie wollten möglichst bald anfangen zu tanzen und zu singen. Die Atmosphäre wurde immer gespannter. Diese bedrückende Spannung ging von einer Gruppe heimgekehrter Frontsoldaten aus, die im Halbdunkel neben der steinernen Einfriedung standen.
„Und jetzt, nach diesen schweren zehn Jahren, ist dank der Tätigkeit der Vorkämpfer der proletarischen Klasse heute ein neues Japan im Entstehen, ein neuer Heute des demokratischen Japans..."
Spärlicher Beifall klang auf, und Nogami Tsutomu verbeugte sich.
Plötzlich schrie einer der Reservisten: „Weg mit dem Roten!"
„Wir müssen an der Spitze der hart arbeitenden Bauern vorwärtsschreiten!" Der Redner versuchte, den Zwischenruf zu ignorieren, wurde jedoch immer wieder unterbrochen. Jemand stellte das Grammophon an. Eine Lachsalve ertönte.
„Nach dem Sturz der Militärclique, die Japan an den Rand des Abgrunds gebracht hat...", fuhr Nogami Tsutomu unbeirrt fort.
In diesem Augenblick hörte man einen scharfen Knall, und alles ringsum versank in Finsternis. Ein Stein, der auf die Bühne geworfen worden war, hatte die Glühbirne zerschmettert.
Takenoutschi Tadaitschi und die Festordner stürzten auf die Bühne.
Ein unvorstellbarer Tumult brach aus. Mädchen kreischten auf, die Burschen lachten, Kinder weinten. Hatsue wurde von allen Seiten gedrängt. Vor Schreck stockte ihr der Atem. Da fiel ihr Blick zufällig auf die steinerne Einfriedung. Hinter Rens Rücken erhob sich unversehens eine Hand im Ärmelaufschlag einer Offiziersuniform und schleuderte so blitzschnell einen Stein, dass selbst Ren, die daneben stand, nichts bemerkte. In der nächsten Sekunde hatte Komatsus Gesicht wieder seinen gewohnten, unerschütterlichen Ausdruck angenommen.
„Oh, ihr blüht noch immer..."
dröhnte der Lautsprecher. „Schlagt die Roten!" schrien die Reservisten.
„Oh, ihr blüht noch immer, Kirschen am Kudanhügel... lalala..."
„Dreht die Musik ab!"
Hatsue wurde von der Mauer hinuntergestoßen; sie fiel auf eine Frau, diese wankte, verlor in dem Wirrwarr einen Getan und stürzte zusammen mit ihrem Kind, das sie sich auf den Rücken gebunden hatte, zu Boden.
„Mitten in der Stadt der Blüten, In der blühenden Stadt..."
„Nogami! Weitersprechen!" - „Versuch es nur! Untersteh dich!"
„Ihr blüht noch immer... lalala..." Ein paar junge Burschen hatten sich Tücher um die Köpfe gebunden und tanzten. Kreischend liefen die Mädchen nach allen Seiten auseinander. Hatsue nahm alle Kraft zusammen und versuchte, aus der Menge herauszukommen. Man riss ihr fast den Haori von den Schultern. Der Menschenstrudel um sie herum wurde immer dichter. Von irgendwoher drang die Stimme Kikus an ihr Ohr. Sie rief um Hilfe, wurde aber sofort von der „Tokioter Weise" übertönt. „Hatsutjan, Hatsutjan!"
„Ihr blüht noch immer..."
Es war Ende November. Ungefähr sechs Wochen zuvor hatte die Fabrik in Kawasoi die Arbeit wiederaufgenommen. Eines Nachmittags, als es schon zu dämmern begann, trat Takenoutschi Tadaitschi aus dem Zimmer des Direktors. Die Hände über der Brust verschränkt, lief er vornübergebeugt den Korridor entlang zum Ausgang, der auf den Fabrikhof führte. Hier blieb er einen Augenblick stehen und sah sich misstrauisch nach allen Seiten um. Offenbar überlegte er, wohin er sich wenden sollte. Schließlich lenkte er seine Schritte eilig zur Versuchshalle, die unmittelbar neben dem Verwaltungsgebäude lag. Dort hielt er sich etwa zehn Minuten auf und stieg dann zur Schleiferei im zweiten Stock empor. Gleich darauf kam er wieder herunter, begab sich in die Polierabteilung und anschließend in die Montagehalle. Mit ernster Miene ging er von Abteilung zu Abteilung. „Ich habe den Direktor mit Gewalt überredet... Wir rechnen mit Ihrem Einverständnis", teilte er den Meistern mit. Er wollte wohl zeigen, wie sehr es auf ihn ankam; deshalb hob er die Worte „mit Gewalt überredet" besonders hervor. Es handelte sich um die Bildung eines „Freundschaftskomitees" im Werk Kawasoi, dem Vertreter der Arbeiterschaft und der Betriebsleitung angehören sollten.
„Jaja, wir werden alles in beiderseitigem Einverständnis und in Freundschaft regeln. Heutzutage muss man rückhaltlos alle sein Wünsche und Gedanken äußern... sozusagen auf demokratischer Grundlage... in so einem Plan..." Aber als er sich in der Dreherei dem Platz Arakis näherte, wurde er etwas verlegen.
Araki stützte die Ellbogen auf den Tisch und blickte ihn misstrauisch an. „Wodurch unterscheidet sich dieses Komitee von der Gewerkschaft?" fragte er. Doch Takenoutschi wusste das selbst nicht.
„Sie sagen also - rückhaltlos?" meinte Araki nachdenklich und legte das Kinn in die Hand. „Die Arbeiter in unserer Abteilung zum Beispiel haben viele Wünsche. Darf man sie vorbringen?"
„Die Wünsche der Arbeiter? Na ja, gewiss... natürlich..." Takenoutschis Antwort klang sehr unbestimmt, und er zog es vor, rasch in eine andere Abteilung zu verschwinden.
Als Mitglied der Sozialistischen Partei, die kurz zuvor in Tokio gegründet worden war, bemühte sich Takenoutschi, in der Fabrik eine Organisation zu schaffen, auf die sich diese Partei stützen konnte. Ob die Arbeiter einen Nutzen von dieser Organisation haben würden oder nicht, war ihm völlig gleichgültig.
Im Übrigen hatte er den Direktor gar nicht zu „überreden" brauchen; denn es waren überhaupt keine Hindernisse zu überwinden. Sagara wusste nämlich bereits, dass die Kommunistische Partei ihre Tätigkeit im Tokioter Hauptwerk der Company aufgenommen hatte, und er setzte alles daran, den Kommunisten im Werk Kawasoi von vornherein jeden Einfluss zu nehmen. Und dazu benutzte er Takenoutschi.
Ende November, an einem kalten, nebligen Morgen stieg ein demobilisierter Soldat mit einigen anderen Fahrgästen in Okaja aus dem Zug. Er mochte etwa fünfundzwanzig Jahre alt sein und hatte ein hageres, sonnenverbranntes Gesicht. Anscheinend kam er zum ersten Mal in diese Gegend; denn als er auf den Bahnhofsvorplatz hinaustrat, entfaltete er ein zerknittertes Stück Papier, eine Art Geländeplan oder Landkarte. Sinnend betrachtete er die Skizze, als müsste er überlegen, wohin er seine Schritte lenken sollte. Schließlich nahm er seinen Rucksack auf und stieg schwankend vor Müdigkeit die Böschung zur Landstraße nach Sumikura empor.
Weiß leuchteten die Gipfel des Jagatake und des Kirigatake im ersten Schnee, und vom Suwasee wehte ein kalter, winterlicher Wind herüber. Da und dort schlängelten sich Rauchfahnen aus hohen Schornsteinen gen Himmel. Jetzt, drei Monate nach der Kapitulation, arbeiteten die meisten Fabriken wieder, die aus anderen Teilen Japans in diese Gegend evakuiert worden waren. Sie glichen verirrten Wanderern, die nicht wussten, ob sie jemals heimkehren würden. Sie stellten Kasserollen, Teekessel und Bratpfannen aus Rohstoffresten her, einige produzierten Seide wie früher. Wie würde man auf den Märkten Amerikas, wo die Nylonproduktion so weit entwickelt war, diese Seide aufnehmen? Das wusste niemand; doch die Regierung, die jede Orientierung verloren hatte, verbreitete das Gerücht, die Seide sei ein bedeutender Exportartikel und man könne die aus dem Ausland eingeführten Lebensmittel damit bezahlen. Die Seidenfabrikanten verließen sich wie immer auf Regierungsdarlehen.
„Ist es noch weit bis zur ,Tokio-Electro'?" fragte der Soldat und blieb an einer Straßenkreuzung vor dem Eingang einer kleinen Schreibwarenhandlung stehen. „Ungefähr einen halben Kilometer. Gehen Sie immer geradeaus, dann sehen Sie links hohe Schornsteine", antwortete die Ladeninhaberin und fuhr in ihrer Strickarbeit fort, ohne den Mann anzublicken. Heimkehrer waren ja eine alltägliche Erscheinung.
Der Soldat tippte mit den Fingerspitzen an den Schirm seiner Militärmütze und trottete weiter. Er ging so gebückt, dass sein Uniformmantel fast auf dem Boden schleifte. Der Wind blies ihm den Staub ins Gesicht und auf die Kleider; Lastwagen ratterten dröhnend an ihm vorbei. Mit gesenktem Kopf schritt er dahin. Seine großen Augen schienen leblos, die Wangen waren eingefallen, die Mundwinkel herabgezogen. Der Mützenriemen baumelte locker unter dem Kinn.
Endlich tauchten die Schornsteine auf, die hoch über eine lange, schwarze Mauer hinausragten. Als sich der Soldat der Fabrik näherte, trat Torisawa Fumija, seine unvermeidliche alte Aktentasche unter dem Arm, gerade aus dem Kontrollhäuschen. Er ging an dem müden, schmutzigen Soldaten vorbei, verbeugte sich höflich und grüßte.
Es blieb ungewiss, ob der Fremde den Gruß gehört hatte; denn er erwiderte ihn nicht, sondern starrte vor sich hin und stapfte mit gleichmäßig schleppenden Schritten geradenwegs in den Fabrikhof. Er besann sich erst, als der Wachtposten den Kopf aus dem Fenster des Kontrollhäuschens steckte und ihn anrief: „Wohin willst du? In die Personalabteilung?"
Der Soldat kramte lange in seiner Manteltasche herum und reichte schließlich dem Wachmann einen Briefumschlag mit dem Stempel der Personalabteilung bei der Hauptverwaltung von „Tokio-Electro".
„Ich möchte zu Meister Araki ... zu Araki in der Dreherei..."
Der Pförtner stierte auf den Umschlag, drehte ihn in der Hand und nahm den Telefonhörer von der Gabel. „Furukawa? Bist du Furukawa Schiro?"
Der gab keine Antwort. Er ließ sich langsam auf seinen Rucksack nieder, den er unter das Fensterchen im Durchgang gelegt hatte, barg den Kopf in den Armen und schloss seufzend die Augen.
Ab und zu hob er die Lider ein wenig, doch seine vor Übermüdung geröteten Augen schienen noch immer Traumbilder zu sehen.
Die meisten der in Kawasoi beschäftigten Arbeiter stammten aus dem Werk Oi in Tokio, das ebenfalls der „Tokio-Electro-Company" gehörte. Furukawa hatte in der Fabrik Oi als Lehrling begonnen. Im Laufe der Jahre hatte er es bis zum qualifizierten Dreher gebracht.
Im November 1943 aber, einen Tag vor der Evakuierung der Fabrik, wurde er zum Militär einberufen und Anfang 1944 auf die Insel Luzon (Anm.: Hauptinsel der Philippinen.) geschickt. Unterwegs wurde das Transportschiff von einem Torpedo getroffen. Es flog in die Luft, und Furukawa wurde ins Meer geschleudert. Ein Küstenschutzboot fischte ihn am zweiten Tage auf und brachte ihn nach Manila.
Anderthalb Jahre lang verrichtete der Soldat Furukawa die Arbeit eines Lastträgers. Aus Japan kamen kleine Dampfer mit Kriegsmaterial. Sie gingen an dem felsigen Gestade vor Anker, und die Ladung musste unter Lebensgefahr gelöscht werden. Tag und Nacht warfen amerikanische Flugzeuge ihre Bomben, und die Soldaten pressten sich platt wie Tintenfische auf den Ufersand. Es gab keine Splittergräben und keine Schutzwälle, und so blieb nichts anderes übrig, als auf die Gnade des Schicksals zu hoffen. Furukawa schleppte Lebensmittel und Munition für die Truppen, die in den Philippinenbergen von Partisanen umzingelt waren, über die Gebirgspässe. Sechs Wochen lang schüttelte ihn die grausame Malaria. Während dieser Zeit kampierte er in einem Krankenzelt. Anschließend transportierte er, oft bis zum Hals im Wasser, Kriegsausrüstungen durch eine Gegend mit unwahrscheinlich vielen Seen.
Als der Krieg zu Ende war, kehrte Furukawa auf einem amerikanischen Schiff nach Japan zurück. Die Fabrik Oi war zerstört; ein verbogenes Eisengerüst lag an der Stelle, wo sich einst die Werkhallen erhoben.
Aber ein anderer, größerer Kummer machte Furukawa das Herz schwer. Die Bombenangriffe der amerikanischen Luftwaffe im April hatten den Tokioter Stadtteil Fukagawa, wo sein Haus stand, in einen einzigen Trümmerhaufen verwandelt. Und seitdem war Furukawas Mutter verschollen.
Er suchte sie, er erkundigte sich in der Bezirksverwaltung und bei der Polizei, er fragte bei ihren Verwandten im Bezirk Tschiba nach und in Nagoja, der Heimat seines verstorbenen Vaters. Die Karteikarte Furukawas war nach der Evakuierung der Fabrik in die Personalabteilung der Hauptverwaltung der Tokio-Electro-Company geleitet worden. Dort erfuhr er, dass seit April niemand die Unterstützung abgeholt hatte, die den Familien der Eingezogenen gezahlt wurde. Nun zweifelte er nicht mehr an dem Tod seiner Mutter.
Der Soldat hob den Kopf, ließ ihn aber gleich wieder sinken. Offenbar konnte er sich nicht klarwerden, wo er sich befand, auf den Philippinen oder in Japan, ob der Krieg zu Ende war oder nicht...
Er bemerkte Araki gar nicht, der quer über den Fabrikhof auf ihn zueilte. „Furukawa? Bist du's denn wirklich?" Araki klopfte dem Soldaten auf die Schulter und blickte ihn an. Furukawa schlug die Hände vor sein schmutziges, mageres Gesicht.
Dann hob er langsam den Kopf. Seine trüben, übermüdeten Augen öffneten sich weit, immer weiter, und es schien, als ob ganz tief im Innern dieser Augen mühsam das Leben erwachte. Ein schwaches Lächeln huschte über seine Züge, und er klammerte sich mit beiden Händen an Araki. „Arakisan!" rief er und presste die Stirn an die Brust des Mannes. „Ich bin wieder da! Ja, ich bin wieder da!"
Araki umarmte ihn, und Furukawa wiederholte unaufhörlich, fast schluchzend: „Ich bin wieder da! Ich bin wieder da!" „Komm mit in die Fabrik, dort sind sie alle!" Araki nahm den Rucksack auf, legte dem Soldaten den Arm um die Schultern und schritt mit ihm über den Hof zu den Werkhallen. Furukawa hielt Arakis Hand fest, als fürchtete er, ihn zu verlieren, wenn er ihn eine
Sekunde losließe.
Allmählich kam er zu sich, eine heftige Erregung befiel ihn. Sie überquerten eine schmale Galerie, die zu der Dreherei führte, in der Araki arbeitete, und gelangten in einen hohen Raum, auf dessen kaltem Betonfußboden das vertropfte Maschinenöl große, schmierige Flecke gebildet hatte. Als Furukawa den süßlichen Geruch des bearbeiteten Eisens einatmete, das rhythmische Dröhnen der Automaten (Anm.: Werkzeugmaschinen mit selbsttätigem Arbeitsablauf mehrerer aufeinanderfolgender Arbeitsvorgänge.) und das Klatschen der Treibriemen hörte, steigerte sich seine Erregung.
„Warte ein bisschen, wir sind gerade bei einer Abstimmung", sagte Araki und setzte den Soldaten auf einen Schemel neben seinem Tisch, der am Fenster in einer Ecke der Halle stand. Dann zog er einen Schubkasten auf, nahm sein Frühstück heraus und legte es vor Furukawa hin. „Iss inzwischen. Wenn wir fertig sind, dann gehe ich mit dir ins Kontor."
Der Soldat nickte gehorsam wie ein Kind zu allem, was Araki sagte. Der Meister erzählte ihm noch rasch, dass in der Fabrik ein „Beratungskomitee" gegründet werde und dass man gerade in allen Abteilungen dabei sei, durch geheime Abstimmung eine Satzung für dieses Komitee anzunehmen. In der Mittagspause solle eine Versammlung stattfinden, auf der die Mitglieder des Komitees gewählt würden.
Furukawa nickte wiederum; doch es war ihm anzusehen, dass er den Sinn der Worte Arakis kaum erfasste. Bevor Araki geendet hatte, stand er zerstreut auf, blickte zu den gleitenden Treibriemen hinüber und schritt den schmalen Gang zwischen den Maschinen entlang.
Ein verkrampftes Lächeln lag auf seinen zuckenden Lippen, als er an den Drehbänken vorbeiging und sie wie ein Kind mit den Händen streichelte.
Die vier Meter langen Rohre an den Revolverdrehbänken sahen aus wie Elefantenrüssel. In kleinen Rinnsalen floss das Maschinenöl an ihnen herunter. Die Revolverköpfe mit den verschieden geformten Drehstählen ruckten in genau bemessenen Zeitabständen weiter.
Da, an der Spitze eines Stabes, der in der Mitte herausgesprungen ist, macht ein Stahl eine Vertiefung, und drei Sekunden später zieht er sich zurück. An seine Stelle schiebt sich ein Bohrer und bohrt ein Loch. Fünf Sekunden, und er geht zurück und überlässt seinen Platz einem anderen Stahl, der eine neue Vertiefung schält. Drei Sekunden, und der Stahl verschwindet. Jetzt rücken zwei Stähle von beiden Seiten heran. Der eine formt die Spitze, der andere schneidet das fertige Werkstück ab. Dieser Arbeitsgang dauert drei Sekunden, und beide Stähle schnellen an ihren früheren Platz zurück. Jetzt springt ein anderer Stab hervor, und wieder bewegt sich der erste Stahl darauf zu.
In wenigen Sekunden ist die Schraube für einen elektrischen Zähler fertig und gleitet lautlos in eine Ölwanne.
„Ich bin wieder da! Ich bin wieder da! Haha!" Erst hier in der vertrauten Werkhalle, wo die Maschinen dröhnten und ratterten, schien Furukawa endgültig überzeugt zu sein, dass er in die Heimat zurückgekehrt war. Das Lächeln wich nicht aus seinem Gesicht - so groß war die Freude, die ihn erfüllte. „Guten Tag, mein Freund! Ich bin wieder da! Guten Tag!" Er klopfte allen Arbeitern der Reihe nach auf die Schultern. Sie sahen den fremden Burschen erstaunt an und erwiderten nachsichtig lächelnd seinen Gruß. Doch das störte Furukawa nicht. Schließlich ging er auf eine der Werkbänke zu, die er so gut kannte, und tätschelte ihren Rumpf mit beiden Händen. „Guten Tag, guten Tag, meine Liebe!"
Mit dieser Werkbank war er von Kind auf befreundet. Er beklopfte und streichelte sie wie einen Menschen, und die Tränen traten ihm in die Augen. „Guten Tag, guten Tag, altes Haus. Ich bin wieder da, hörst du?"
Die Arbeiter in der Werkhalle waren offenbar durch das Sammeln der Vorschläge ganz in Anspruch genommen. Araki hielt jedem ein kleines Kästchen hin; der Arbeiter streckte die Hand aus und ließ einen zusammengerollten Zettel hineinfallen, ohne sich von der Maschine zu entfernen. Einige kauten nachdenklich am Bleistift, andere machten mehr Aufhebens und Lärm, als notwendig war. Es gab so viele „offenherzige Vorschläge", dass die Leute verwirrt wurden und nicht wussten, was sie zuerst aufschreiben sollten.
„Nanu, was ist denn das?" rief plötzlich Onoki Kumao, der Araki beim Einsammeln half, als er am Tisch des Meisters den Soldaten bemerkte. Onoki Kumao, ein kleiner junger Bursche mit Brille, von dem man in der Dreherei sagte, er sei nicht auf den Mund gefallen, hatte schon in seiner Lehrlingszeit mit Furukawa zusammen gearbeitet. „Sieh mal einer an, du lebst ja noch! So ein Wunder!" schrie er begeistert. „He, Jungs! Furukawa, der Teufelskerl, ist wieder da! Seht mal, da sitzt er und verschlingt sein Frühstück!" rief er so laut, dass es alle hörten.
Die Arbeiter kamen herbei, umringten den Soldaten und starrten ihn an wie ein Fabelwesen. Furukawa stopfte sich beide Wangen voll Brot, und wenn ihm einer der alten Kollegen auf die Schulter klopfte oder ihm freundschaftlich gegen den Kopf schnippte, dann lachte er nur, denn sprechen konnte er nicht.
Da trat Inoue auf ihn zu. Er hatte bei den Truppen in Japan gedient und war früher heimgekehrt als Furukawa.
„Ach, J-Junge, wwas hahast du dudurchgemacht..." begann er stotternd und umarmte Furukawa. Der lachte nur.
Inoue hatte runde Augen, und seine Nasenspitze war rot wie eine Pfefferschote. Jetzt, da er aufgeregt war, sprach er mit schriller Stimme, und das wirkte besonders komisch. „Schnell, Kollegen, lasst mich durch!"
Araki erschien mit dem Kästchen unter dem Arm. „Los, Zählkommission, beeilt euch!" wandte er sich an seine Helfer. „Lasst uns durch, Kollegen, lasst uns durch!"
Verwirrt beobachtete Furukawa das Getümmel. In seinem Kopf drehte sich alles wie bei einem Betrunkenen. Offenbar suchte er sich krampfhaft an irgendetwas zu erinnern. „Schon fertig!" Eine Gruppe Arbeiter und Arbeiterinnen aus der Montagehalle im oberen Stockwerk, mit dem Obermeister Kassawara an der Spitze, umringte den Tisch Arakis. Sie redeten alle durcheinander, und wieder begann es in Furukawas Kopf zu kreisen. „Wir müssen uns beeilen, es ist bald Mittagszeit!" Kassawara war viel jünger als Araki. Er war vor kurzem erst Obermeister geworden. Er nahm regen Anteil an der Organisation des „Beratungskomitees" und hatte sich bereitwillig gemeldet, beim Einsammeln der Vorschläge zu helfen. Hinter ihm stand Jamanaka Hatsue mit einem Kästchen in den Händen. Mit ihr waren Kobajaschi Schige und andere Arbeiterinnen aus der oberen Montagehalle gekommen. „Es müssen Maßnahmen getroffen werden, damit in diesem Jahr nicht wieder die Wasserrohre einfrieren...", las jemand von einem Zettel ab. „Die Lebensmittelpreise sind zu hoch!" Araki notierte alles gewissenhaft.
„Wir müssen für den Wiederaufbau Japans arbeiten..."
„Ach, ich glaube, das geht über meine Kräfte!" sagte einer, und alle lachten. In diesem Augenblick klappte der Soldat den Deckel der Frühstücksbüchse zu. „Ach richtig, jetzt weiß ich's wieder!" rief er.
Endlich war ihm eingefallen, was ihn die ganze Zeit beunruhigt hatte. Die anderen sahen ihn erstaunt an.
„Ja, natürlich - ich muss doch Ikenobe begrüßen!"
Ikenobe und Furukawa waren beide als Lehrlinge in die Fabrik gekommen, und Ikenobe hatte seinem Freund mehrmals über das Befinden seiner Mutter berichtet.
Furukawa Schiro wurde im Kreise seiner alten Arbeitskollegen beschwingt und heiter. Vergnügt und lebensfroh, wie er von Natur aus war, vergaß er in diesen Minuten seinen Kummer und alle erlittenen Qualen.
„Also, du warst beim Militär und bist jetzt entlassen. Dann zählen wir dich zu den anderen vom Werk Oi, die hierher versetzt wurden", sagte der Angestellte der Personalabteilung mit wichtiger Miene und blickte auf den Umschlag mit dem Stempel der Hauptverwaltung.
Araki regelte alles für Furukawa; die Höhe des Lohnes - die Preise waren ja jetzt ganz anders als zu der Zeit, da Furukawa einberufen wurde -, die Wohnung im Arbeiterheim, die Verpflegung. Furukawa stand nur dabei und lächelte glücklich.
Als es zur Mittagspause läutete, waren sie noch immer im Kontor. Furukawa aber wollte vor allem Ikenobe wiedersehen.
„Unser Direktor ist ja gut - tut, als ob er dich nicht kennt", brummte Araki, während sie den Flur hinuntergingen. Direktor Sagara war zu der Zeit, als Furukawa lernte, Abteilungsleiter gewesen. Er musste also wissen, wen er vor sich hatte.
Die Versammlungsteilnehmer liefen eilig durch den Korridor in den Saal.
Als Araki und Furukawa an der Versuchsabteilung vorbeikamen, trat Nakatani aus der Tür. Die Hände in den Hosentaschen, blieb er stehen und lächelte freundlich. „Ach, Furukawakun! Willst du zu Ikenobe? Er ist schon im Saal. Er ist Mitglied des Organisationskomitees."
„Im Saal? Wo ist der Saal?" Furukawa wäre am liebsten gleich losgelaufen, aber Araki sagte: „Warte doch, warte, wir gehen alle zusammen hin."
Furukawa rannte voraus, dann blieb er ein Stück zurück, und wieder packte ihn die Ungeduld, Ikenobe so schnell wie möglich zu finden. Er war so sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, dass er gar nicht bemerkte, wie Araki dem Meister Nakatani heimlich einen weißen Umschlag zusteckte, den er von Torisawa Fumija bekommen hatte - von demselben Manne, dem Furukawa am Fabriktor begegnet war. Der Umschlag enthielt ein kleines Flugblatt „Aufruf an das japanische Volk!" und die erste Nummer der kommunistischen Zeitung „Akahata" (Anm.: Rote Fahne.).
Das Gebäude, in dem sich der Versammlungssaal befand, stand unmittelbar am Flussufer. Der Raum war voller Menschen. Auf den Bastmatten, die den Bretterfußboden bedeckten, hockten die Leute in der gewohnten Rangordnung, wie sie im Kriege üblich gewesen war. In der Mitte des Saales war ein Gang freigelassen. Links von ihm hatten die Arbeiterinnen Platz genommen, rechts die Arbeiter. Im Ganzen waren es sieben- oder achthundert Menschen. Ein paar Dutzend Angestellte hatten die Stühle an den Wänden besetzt. Über dem Podium hing noch ein Spruchband mit der Aufschrift: „Heiliges Land Japan."
Furukawa blickte sich verwirrt nach allen Seiten um. Auf dem Podium stand Takenoutschi und eröffnete die Versammlung. Davor auf dem Fußboden saßen Schulter an Schulter die Mitglieder des Organisationskomitees.
„Und nun hören wir, der Tagesordnung entsprechend, die Begrüßung durch den Vorsitzenden des Beratungskomitees", schloss Takenoutschi seine Ausführungen. Man applaudierte, und Direktor Sagara betrat die Bühne. Da entdeckte Furukawa endlich Ikenobe Schinitschi. Er hatte sich auf einer Matte niedergelassen, die spitzen Knie vorgestreckt; jetzt wandte er den Kopf zur Seite und flüsterte seinem Nachbarn Kassawara etwas ins Ohr. Furukawa stieg über Köpfe und Schultern der andern hinweg und drängte sich zu Schinitschi durch.
Die Freunde verließen den Saal und gingen auf die Galerie hinaus. Unter ihnen plätscherte der Tenrju. Eine Weile blickten die jungen Leute einander schweigend an. „Ich werde jetzt auch hier arbeiten."
„Ja?"
„Und mit dir zusammen wohnen, in Kami-Suwa", erklärte Furukawa in freudiger Erregung. Schinitschi aber ließ den Kopf immer tiefer sinken. Er war blass geworden. „Hast du meinen Brief bekommen, den ich dir im Mai geschrieben habe?" fragte er und stocherte mit der Spitze seiner Sandale im Boden.
„Im Mai? Nein, den habe ich nicht bekommen", antwortete Furukawa. „Im Mai haben wir überhaupt nichts..." Seine eingefallenen Wangen begannen plötzlich zu zittern. Er packte Schinitschi an den Schultern und schüttelte ihn heftig. Ikenobes Gesicht sagte ihm alles. „Du! Weißt du etwas von meiner Mutter?"
Er hörte nicht auf, ihn zu rütteln, doch Ikenobe brachte kein Wort heraus.
Als Furukawa Soldat geworden war, hatte Ikenobe seiner Mutter mehrmals geschrieben, um die alte Frau zu trösten. Nach dem furchtbaren Luftangriff der Amerikaner auf den Stadtteil Fukagawa bat Ikenobe seine Eltern, sich nach Furukawas Mutter zu erkundigen. Sie teilten ihm mit, es sei zwar nicht gelungen, ihren Leichnam zu finden, man könne aber mit Sicherheit annehmen, dass sie im Feuer umgekommen sei.
„Wir sprechen später über alles... wenn wir im Heim sind..."
In diesem Augenblick erschien Komatsu Nobujoschi und schlurfte watschelnd an den beiden jungen Leuten vorüber.
Ikenobe fühlte, dass er Furukawa nicht in die Augen sehen konnte, und machte eine Bewegung, um in den Saal zurückzukehren; doch Furukawa hielt ihn fest. „Nein, sag es mir gleich, hörst du? Sie ist tot, nicht wahr?"
Ikenobe antwortete nicht; er machte ein finsteres Gesicht und biss die Zähne zusammen. Da ließ Furukawa den Kopf an seine Schulter sinken und schluchzte.
Komatsu Nobujoschi, der wie immer seine Offiziersuniform trug, auf die er so stolz war, ging gemächlich die Galerie entlang und rauchte eine amerikanische Zigarette. Seine ganze Haltung brachte zum Ausdruck, dass er es für unter seiner Würde hielt, Reden oder Vorträge anzuhören.
Als er Furukawas Schluchzen hörte, wandte er sich um. Aber so etwas vermochte ihn nicht zu rühren. Beim Anblick des schmutzigen Soldaten, der sein Gesicht an Ikenobes Schulter barg, dachte er nur: Ach, wieder so ein dreckiger kleiner Soldat, und spie über das Geländer.
Fünfzig Meter weiter sah er den Obermeister Nakatani von der Versuchsabteilung, der sich gegen das Geländer lehnte und las.
„...Wir fordern die Entthronung des Kaisers und die Beseitigung der Monarchie. Unser Ziel ist eine republikanische Volksregierung, die auf dem Willen des ganzen Volkes beruht..."
Nakatani las den „Aufruf an das japanische Volk!". Der eisige Wind wehte Schaumspritzer vom Fluss bis zu ihm herüber. Nakatani zitterte vor Kälte. Er hatte sich in diesen entlegenen Winkel zurückgezogen und studierte heimlich die Broschüre. In seiner Vorstellung war die Kommunistische Partei noch immer etwas Verbotenes, Illegales.
„...unser Volk ist obdachlos geworden, es leidet unter Hunger und Kälte und ist vom Tode bedroht. Die derzeitige Regierung, die alle ihre Kräfte für die Erhaltung des monarchistischen Regimes und für das Wiedererstehen des Militarismus einsetzt, ergreift nicht nur keine Maßnahmen, um das Volk aus seiner Not zu befreien, sondern sie verschärft und vergrößert diese Not durch ihre Politik."
Nakatanis Blick verweilte bei den Worten, mit denen der Aufruf unterzeichnet war: „Eine Gruppe Genossen, die aus dem Gefängnis gekommen ist".
Zusammengekauert saß er eine lange Zeit unbeweglich da und spürte nicht den kalten Wind, der vom Fluss herüber wehte.
Araki hörte der Rede zu und fühlte, wie der Ärger in ihm hochstieg. Er wurde wütend.
Die Mittagspause, die sonst fünfundvierzig Minuten dauerte, war heute auf eine Stunde verlängert worden. Aber die schwülstige Begrüßung Takenoutschis und die Auslassungen des Direktors hatten schon mehr als die Hälfte der Zeit in Anspruch genommen. Außerdem hatten es die Leiter aus Mangel an Erfahrung nicht verstanden, den Ablauf der Versammlung straff zu organisieren. Wahrscheinlich würde die Verlesung der Arbeiterforderungen wegfallen.
Sagara sprach über den „Geist", der den Arbeitern der „Tokio-Electro-Company" eigen sei, darüber, dass alle Mitarbeiter der Gesellschaft, vom Lehrling bis zum verantwortlichen Vorstandsmitglied, der Company aufrichtig ergeben seien und dass eben dieser „Geist" die wahre demokratische Gesinnung sei. Er sagte, es sei nicht erwünscht, dass Organisationen wie die Gewerkschaften in der Fabrik auftauchten; denn sie wären nur geeignet, die Klassengegensätze zu verschärfen. Das „Beratungskomitee" des Werkes Kawasoi, das auf den gleichen Prinzipien der Übereinstimmung und des gegenseitigen Vertrauens beruhe wie die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, müsse alle seine Kräfte für den Wiederaufstieg Japans einsetzen und im Geiste gegenseitigen Vertrauens und gegenseitiger Aufrichtigkeit wirken.
Alle, ob sie nun verstanden hatten, worüber Sagara sprach, oder ob ihnen seine Rede unklar geblieben war, klatschten Beifall, und der Direktor begab sich wieder in sein Büro.
Endlich erschien Kassawara auf dem Podium. „Also, im Sinne der Worte unseres Direktors haben wir unsere Wünsche aufgeschrieben und gesammelt..."
Die Zuhörer wurden unruhig. Hoffnung und Sorge zugleich erfassten die Arbeiter. Sie fühlten, dass diese Fragen in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrem alltäglichen Leben standen. Die Angestellten begriffen gar nicht, um was es sich handelte, und äußerten ihre Verwunderung und ihre Unzufriedenheit so offen, dass sich Araki beinahe wie ein Verschwörer vorkam.
„Ich bitte einen der Arbeiter, ein Mitglied des Organisationskomitees, vorzutreten und das Wesentliche der Sache zu erklären..." sagte Kassawara und verließ das Podium.
Zwei, drei Minuten vergingen.
„Na, schneller!"
Die Mitglieder des Komitees, die vor der Bühne saßen, stießen einander an. Im Saal ertönten bereits Pfiffe. Die Arbeiterinnen, die dem Komitee angehörten, versteckten sich hintereinander. Selbst die Gruppenältesten wagten sich nicht vor - es war ja das erste Mal, dass die Frauen mit den Männern eine Organisation bildeten. „Na, nun kommt schon!"
Gleich darauf lärmte der ganze Saal: „Los, auf das Podium!"
Nach einem kleinen Wortwechsel zwischen Onoki und Ikenobe stieg Schinitschi endlich auf die Bretter.
„Insgesamt wurden 721 Stimmen abgegeben, Enthaltungen 163...", las Ikenobe laut und hastig von einem Zettel ab. Er stand in seinem blauen, verschossenen Arbeitsanzug dort oben und hatte wider Erwarten keinerlei Hemmungen.
Nach jeder Forderung der Arbeiter, die er bekanntgab, ging es wie ein Seufzen durch den Saal.
„Erstens: Öfen im Arbeiterinnenheim setzen, Hibatschi (Anm.: Kleines Holzkohlenbecken zur Raumerwärmung.) in den Zimmern aufstellen - 258 Stimmen.
Zweitens: Die Wasserleitung in Ordnung bringen, damit die Rohre nicht einfrieren - 208 Stimmen."
Applaus ertönte. Alle, selbst die verlegenen Arbeiterinnen, gerieten in freudige Erregung, als sie hörten, wie ihre Vorschläge verlesen wurden. „Drittens: Eine Trockenanlage schaffen - 137 Stimmen", fuhr Ikenobe rasch fort. „Viertens: Es soll erlaubt sein, die Dienstfahrräder auch außerhalb der Arbeitszeit zu benutzen - 91 Stimmen."
Dieser Vorschlag stammte offenbar von den Arbeitern aus den umliegenden Dörfern. Eine Stimme im Saal rief: „Richtig!"
Es folgten noch drei Punkte, die ebenfalls die alltäglichen Nöte und die dringlichsten Anliegen der Arbeiter betrafen.
In Wirklichkeit waren weit mehr Vorschläge gemacht worden. Es gab viele Zettel mit Bemerkungen wie „Die Preise sind zu hoch!" oder auch ganz persönliche Äußerungen wie „Ich habe jetzt alles satt!"
Die Vorschläge waren nicht unterzeichnet.
Da Araki und Kassawara nicht wussten, wie sie solche Sätze formulieren und verallgemeinern sollten, hatten sie die meisten gar nicht verlesen. Aber schon diese sieben Punkte, die Ikenobe bekanntgab, verursachten einen unvorhergesehenen Zwischenfall. Er wurde durch den überraschenden Schlusssatz von Ikenobes Rede ausgelöst: „Diese sieben Punkte sind also unsere Forderungen." Er wollte das Podium verlassen, als plötzlich der Applaus abbrach.
„Ich habe eine Frage, ich habe eine Frage!" schrie einer aus der Gruppe der Angestellten und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum.
Ikenobe blieb verdutzt stehen und wusste nicht, was er sagen sollte. Da stieg der Obermeister Tschidschiwa aus der Schleiferei, von mehreren Stimmen angefeuert, auf das Podium. Er trug eine Joppe aus hausgewebtem Stoff; sein Haar war korrekt gescheitelt.
„Ich habe keineswegs die Absicht, gegen die Wünsche unserer Arbeiter zu sprechen." Tschidschiwa war sogar bei den Mitarbeitern der Werkleitung wegen seiner Redegewandtheit berühmt. Er gestikulierte und lächelte; sein Gesicht aber war bleich vor verhaltener Erregung. „Ich möchte jedoch bemerken, dass ein Wort wie ,Forderungen' nicht gerade sehr friedfertig klingt. Nein, es klingt feindselig und provokatorisch..."
Araki sprang auf und rief, wenn das Wort „Forderungen" nicht angebracht sei, so könne man es ja durch „Vorschläge" ersetzen. Aber es war zu spät. Tschidschiwas Redekunst hatte ihre Wirkung getan. Zwischenrufe wurden laut: „Japan hat schmachvoll kapituliert! Was gibt's da zu fordern?"
Die Frauen, die mehr als die Hälfte der Belegschaft ausmachten, schwiegen. Aus den Reihen der Arbeiter, unter denen die Demobilisierten saßen, wurde gerufen: „Ausdauer und Geduld!"
„Bleib fest, Ikenobe!" überschrie auf einmal eine Stimme den Lärm.
Alle drehten sich um. Der Schrei kam aus den hinteren Reihen. Furukawa hatte ihn ausgestoßen.
Die ganze Zeit über schien er nicht gesehen und gehört zu haben, was rings um ihn vorging. Zusammengekauert, die Arme um die Knie geschlungen und das Gesicht darin verborgen, hatte er in der äußersten Ecke des Saales gehockt und sich nach Kräften bemüht, nicht laut loszuheulen.
Jetzt aber reckte er sich zu seiner ganzen Größe empor. Seine Augen waren noch rot von Tränen. „Wir haben ja nichts zu verlieren - bleib fest!"
Ein gutmütiges Gelächter lief durch den Saal. Zu komisch wirkten dieser überraschende Zwischenruf und die ganze Gestalt Furukawas, wie er sich drohend nach Tschidschiwa umwandte, als wollte er fragen: Wie kommst du eigentlich hierher? Mitten in dem allgemeinen Lärm und Wirrwarr heulte die Sirene, die zum Arbeitsbeginn rief.
Am Morgen des nächsten Tages machte Direktor Sagara einen Rundgang durch die Fabrik. Dann kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück, zündete sich eine Zigarette an und sah die Papiere durch, die auf dem Tisch lagen.
Furukawa? Furukawa Schiro?
Tags zuvor hatte er seine Einstellung genehmigt, und jetzt, als er den Bericht des Leiters der Personalabteilung erblickte, fiel er ihm wieder ein, dieser Arbeiter - ein energischer, gescheiter Bursche - hatte die Abendschule besucht und sehr eifrig gelernt...
Die Sonnenstrahlen fielen auf den kahlen Kopf Sagaras. Er erhob sich, Heß den Vorhang herunter und nahm wieder in seinem Sessel Platz, nun bereits mit anderen Gedanken beschäftigt. Seit die Fabrik die Arbeit wiederaufgenommen hatte, war Sagara kaum wiederzuerkennen. Sein Gesicht mit der kurzen, breiten Nase und der dicken Oberlippe, die ein graumelierter Schnurrbart zierte, hatte einen entschlossenen Ausdruck angenommen.
Selbst die verantwortlichen Vorstandsmitglieder wussten zu der Zeit, da die Umstellung der Industrie auf Friedensproduktion begonnen hatte, nicht, was die Zukunft bringen würde. Mit Mühe und Not hatte die Fabrik die Produktion von elektrischen Uhren, Tourenreglern und kleinen elektrischen Zählern in Gang gebracht. Seit dem 15. August war das Finanzwesen zerrüttet. Auch die Rohstoffe reichten nicht aus, und man musste sich den Kopf zerbrechen, wie und woher man welche beschaffen sollte. Sagara aber sah der Zukunft mit einer gewissen Zuversicht entgegen, und man muss sagen, dass er Grund dazu hatte.
Ein Trost war es vor allem, dass sich der Kaiser in Sicherheit befand. Wie Sagara von den Vorstandsmitgliedern wusste, konnte man dies mit Bestimmtheit behaupten. Der zweite günstige Umstand war, dass man Schigehara mit der Regierungsbildung beauftragt hatte. Schigehara - das war so gut wie ein Geschäftsführer des Mitsuikonzerns. In einer Erklärung Trumans hieß es zwar, die japanische Regierung habe nur die Politik der Besatzungsmächte durchzuführen;
doch allein die Tatsache, dass man Schigehara an die Spitze des Kabinetts stellte, war eine Beruhigung. Und schließlich der letzte erfreuliche Umstand: Ein Drittel des Grundkapitals der „Tokio-Electro-Company" gehörte amerikanischen Kapitalisten.
Direktor Sagara hatte unter großen Entbehrungen die technische Mittelschule absolviert; ein Stipendium des Mitsuikonzerns ermöglichte ihm das Studium an einer Hochschule. Es war seine feste Überzeugung, dass jeder Mensch Karriere machen könne. Als zweiter Sekretär hatte er zwar das Recht, an den Vorstandssitzungen teilzunehmen; er durfte aber nur dann mitreden, wenn er gefragt wurde. Die kindliche Hilflosigkeit und Ungewandtheit der verantwortlichen Vorstandsmitglieder, die nicht imstande waren, etwas gegen Streiks zu unternehmen, ärgerten ihn. Er hatte seine eigenen Ansichten über die Gewerkschaftsbewegung, die sich seit Kriegsende wieder „breitmachte".
Hier, im Werk Kawasoi, würde er jedenfalls beweisen, was es hieß, nach der Methode Sagara zu handeln!
Es klopfte, und er hob den Kopf, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. „Herein!"
„Ich komme wegen der fälligen Sitzung der ,Trauergesellschaft', die heute Abend stattfinden soll." In strammer Haltung stand Komatsu, der Leiter der Abteilung für allgemeine Angelegenheiten, vor dem Direktor. „Ich wollte mit Ihnen über die Ausgaben für diese Veranstaltung beraten."
Die „Trauergesellschaft" war Anfang Oktober, bald nach der Wiederaufnahme der Arbeit, gegründet worden, um künftig den Jahrestag der Kapitulation Japans „würdig" zu begehen. Den Kern dieser Vereinigung bildeten die Angestellten der Werkleitung, vor allem die Demobilisierten unter ihnen. Auf ihr Betreiben war sie auch ins Leben gerufen worden. An diesem Abend sollte die zweite Sitzung stattfinden.
„Was die alkoholischen Getränke betrifft - die übernehme ich", sagte der Direktor mit leichtem Grinsen. „Nur, sehen Sie... wie soll ich sagen... die Ära der Demokratie ist ja nun angebrochen... Ich glaube, man müsste den Namen der Gesellschaft ändern, sonst kommen wir möglicherweise in eine peinliche Lage. Meinen Sie nicht auch?"
Der Direktor rekelte sich in seinem Sessel und wies mit der Hand auf einen Stuhl. „Setzen Sie sich doch."
Komatsu gab keine Antwort. Sagara schob die Papiere auf dem Tisch beiseite, schwieg eine Zeitlang, strich über seinen Schnurrbart und fragte unvermittelt: „Übrigens, das Fräulein da, die Schwester dieses Herrn Torisawa, ist doch Ihre Braut, nicht wahr?"
„Keineswegs", erwiderte Komatsu, ohne eine Miene zu verziehen.
„Sie ist... hübsch. Eine Schönheit, sozusagen, nicht wahr?" „Jawohl."
Der Direktor konnte den Gesichtsausdruck seines Gegenübers nicht genau erkennen. Er lächelte. Dann sprach er über etwas anderes.
„Ja, was ich noch sagen wollte - ich hörte von Takenoutschi, dass Torisawakun etwas vorhabe. Er will eine Fabrik aufmachen. Stimmt das?"
„Ganz recht, eine Fabrik für Holzgeräte."
„Hm, hm..." Sagara legte den Kopf auf die Seite. „Ich weiß ja nicht, aber man muss wohl Erfahrung auf diesem Gebiet haben, sonst ist das doch ein Risiko." Offensichtlich begriff er nicht, wozu dieser unerfahrene Gutsbesitzer so etwas anfangen wollte. Die Antwort Komatsus aber ließ ihn erstaunt aufblicken.
„Wenn ein Gutsbesitzer heutzutage nicht selbst Bauer werden will, dann bleibt ihm nichts anderes übrig."
„Na so was!" Sagara erinnerte sich an einen Zeitungsartikel, den er wenige Tage zuvor gelesen hatte. Darin hieß es, das alliierte Oberkommando werde bei der nächsten Tagung des Parlaments auf die Durchführung der Bodenreform dringen. Dem Direktor lag zwar nichts so fern wie Anteilnahme an einem fremden Schicksal oder Mitgefühl für andere, aber wenn er an diese Pressemeldung dachte, dann wurde ihm unbehaglich zumute.
„Ich habe eine Bitte an den Herrn Direktor", begann Komatsu. „Wäre es nicht möglich, Torisawa Ren bei uns in der Verwaltung zu beschäftigen?" Der Direktor war überrascht.
„Wie bitte? Warum denn? Selbst wenn man ihnen das Ackerland wegnimmt, so behalten sie immer noch die Waldgrundstücke... Es ist doch ausgeschlossen, dass sie in eine schwierige Lage geraten."
„Darum handelt es sich auch gar nicht." Komatsu starrte den Direktor finster an. „Es ist ihr eigener Wunsch."
„Ihr eigener Wunsch? Nun, da sie die Schwester Torisawas ist..." Der Direktor überlegte einen Augenblick. Er hatte sich neuerdings angewöhnt, nur solche Leute einzustellen, die ihm selbst genehm waren. „Das ist natürlich eine Laune. Na schön, meinetwegen kann sie anfangen," Er warf Komatsu einen Blick zu und lachte. „Es ist wahrscheinlich auch Ihr Wunsch, was?" Komatsu stand auf und verbeugte sich. „Ich danke Ihnen."
Der Direktor sah ihm nach. Komatsu blieb stets unerschütterlich, selbst dann, wenn man Spaß mit ihm machte. Eine gescheite Jugend ist das heutzutage, dachte Sagara.
Komatsu hatte das Zimmer noch nicht verlassen, als Takenoutschi den Kopf zur Tür hereinsteckte und meldete: „Herr Direktor, da draußen sind ein paar Arbeiter und bitten, empfangen zu werden. Sie sagen, sie möchten den Herrn Direktor sprechen."
Takenoutschi hielt die Tür halb offen und machte eine ängstliche Miene. Seine kleinen Augen huschten zwischen Korridor und Zimmer hin und her. „Was ist los?" Hinter Takenoutschis Rücken tauchte der verlegen lächelnde Obermeister Kassawara auf, neben ihm der kleine Onoki, der ihm kaum bis zur Schulter reichte, dann das ernste, aufmerksame Gesicht Ikenobes und einige junge Arbeiterinnen.
„Während der Arbeitszeit? Was soll das heißen?" Sagaras Stimme klang drohend.
„Nein, es ist schon Mittagspause. Wir wollten den Herrn Direktor noch treffen, bevor er weggeht." Kassawara verbeugte sich, und in diesem Augenblick heulte tatsächlich die Sirene auf.
Takenoutschi hielt noch immer die Tür. Sein Gesichtsausdruck ließ nicht erkennen, ob er die Arbeiter empfahl oder ob er vor ihnen warnte. Der Direktor sah stirnrunzelnd zu, wie sich die Leute auf der Schwelle drängten.
„Was gibt's? Was ist das für eine Verschwörung?"
„Aber nein, keine Verschwörung..." Über Kassawaras Züge huschte ein gutmütiges Lächeln. „Gestern haben die Arbeiter ein paar Vorschläge eingebracht... Wie der Herr Komiteevorsitzende in seiner Rede sagte: Alles ohne Heimlichkeit, in voller Offenheit... Und nun wollten wir uns erkundigen..."
„Na und?"
Natürlich hatte Takenoutschi den Direktor längst informiert, was tags zuvor auf der Versammlung geschehen war. Während Kassawara die Vorschläge nannte - Öfen in den Arbeiterinnenheimen aufstellen, Maßnahmen gegen das Einfrieren der Wasserleitungsrohre treffen und so weiter -, schüttelte Sagara mürrisch den Kopf; plötzlich brüllte er die Arbeiter an, die noch immer auf der Schwelle standen: „Kommt herein! Herein, sage ich!"
Als sie schüchtern nähertraten, musterte er jeden eindringlich.
„Du bist aus der Versuchsabteilung, was? Name?"
„Ikenobe Schinitschi." Ikenobe wurde bleich und verbeugte sich.
„Und du? Jamanaka, nicht wahr?" Hatsue, die hinter den anderen an der Wand stand, verneigte sich ebenfalls und errötete bis zum Hals.
„Und du bist aus der Dreherei?"
„Jawohl, Kumao Onoki", antwortete der kleine Mann mit Brille.
„Soso." Der Direktor schnaufte und ließ noch einmal einen aufmerksamen Blick über die verwirrten Arbeiter gleiten, die sich zu einem Häuflein zusammendrängten. „Araki hat euch wohl aufgehetzt, nicht wahr?"
„Was?" Kassawara schoss das Blut zu Kopf. „Durchaus nicht. Es ist durch Abstimmung beschlossen worden."
„Sie haben doch selbst gesagt, Herr Direktor, dass man offenherzig handeln und einander vertrauen müsse", bemerkte Ikenobe und biss sich vor Erregung in die Lippen.
Der Direktor sah ihn wütend an.
Da sagte der kleine Mann mit der Brille überraschend laut: „Ein so kaltes Haus, wie es die Arbeiterinnen haben, und das ganze Jahr hindurch keine Heizung... Das ist zu viel, da können Sie reden, was Sie wollen."
Onokis Stimme klang schlicht und ungezwungen, aber man hörte seine Entschlossenheit heraus, und das machte den anderen Mut. Der Direktor aber hob den Kopf und erklärte laut: „Das ist mir bekannt." Er machte eine Pause und streifte nochmals alle mit einem Blick. „Ich weiß das alles sehr gut, auch ohne dass ihr mich daran erinnert. Solche Maßnahmen werden nur nach dem Ermessen der Gesellschaft getroffen. In den Arbeiterinnenheimen gab es schon zu Sumikuras Zeiten keine Heizung, das ist nichts Neues. Natürlich denkt auch die Gesellschaft daran; doch im Augenblick, da das Land kapituliert hat und das Schicksal der Firma selbst noch nicht entschieden ist, gibt es wichtigere Dinge."
Unter dem grimmigen Blick Sagaras schlugen sogar die Männer die Augen nieder. Sie hatten nicht erwartet, dass der Direktor eine so unerbittliche Haltung einnehmen würde.
Takenoutschi, der sich neben den Tisch gestellt hatte, schien sich einmischen zu wollen; doch als er sah, welche Wendung die Sache nahm, huschte er unbemerkt aus dem Zimmer.
„Macht, dass ihr rauskommt! Wenn ihr eine Bitte habt, dann kommt gefälligst einzeln zu mir, aber nicht als ganze Bande!"
Sagara beobachtete mit finsterer Miene, wie die Arbeiter den Raum verließen. Zuerst gingen die Frauen, die an der Tür stehengeblieben waren, und als letzter verschwand Onoki mit trübselig gekrümmtem Rücken.
Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, schleuderte Sagara wütend den Zigarettenstummel in den Aschenbecher.
Nachdem er die Delegation hinausgeworfen hatte, beschäftigte sich der Direktor bis zum Abend eifrig mit dienstlichen Angelegenheiten. Er ging von Werkhalle zu Werkhalle und durch die Räume der Verwaltung, bis die Sirene das Ende des Arbeitstages verkündete und der Leiter der „Trauergesellschaft" ihn abholte.
Sagara bedauerte nicht im Geringsten, dass er die Arbeiter so grob behandelt hatte. Von seinem Standpunkt aus waren alle diese Vorschläge ein bloßes Missverständnis. Natürlich hatte er gesagt, das „Beratungskomitee" müsse im Geiste gegenseitigen Vertrauens arbeiten, auf der gleichen Grundlage, auf der die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern beruhen.
Dabei mussten aber die Kinder Kinder bleiben und die Führung den Eltern überlassen.
Solche Vorfälle jedoch, wie das Erscheinen dieser Delegation, waren etwas Unerhörtes, Empörendes. Immer wieder musste er an Araki denken: Das hat alles dieser Kerl angestiftet!
Aus Polizeiberichten wusste Sagara schon von der Kriegszeit her, dass Araki mit Leuten Umgang hatte, die als „politische Verbrecher" galten. Früher hatte sich Araki ruhig verhalten; außerdem arbeitete er seit einem Jahrzehnt ununterbrochen in den Betrieben der „Tokio-Electro". In letzter Zeit aber hatte sich das Benehmen des Meisters geändert. Takenoutschi hatte
Sagara mitgeteilt, dass die berüchtigte Sammlung von Vorschlägen auf Initiative der Dreherei, in der Araki arbeitete, unternommen worden sei. Sagara wusste auch, dass der Gemeindeschreiber Fumija, der als „Roter" galt, Araki oft besuchte.
Die Sitzung der „Trauergesellschaft" fand im Unterrichtsraum statt. Eine Nische war mit Blumen ausgeschmückt; dafür hatten einige Arbeiterinnen gesorgt, die darin recht geschickt waren. Obgleich der Kern der Gesellschaft aus Büroangestellten der Fabrik bestand, waren auch die ortsansässigen Arbeiter da, und so war die Zahl der Anwesenden beträchtlich. Die meisten von ihnen waren entlassene Soldaten. Der alte Oberbuchhalter, ein Major der Reserve, fehlte, und so erfüllte, wie auch schon bei der ersten Zusammenkunft der Gesellschaft, der Nächstfolgende im Rang, Oberleutnant Komatsu Nobujoschi, die Pflichten des Versammlungsleiters. „Meine Herren, bevor ich die Versammlung eröffne, möchte ich Ihnen einen Antrag bezüglich der Umbenennung unserer Gesellschaft unterbreiten", begann Komatsu und ließ den Blick über die Zuhörer schweifen, die inzwischen Platz genommen hatten. Jedem wurde ein Gläschen mit Reisschnaps vorgesetzt. Komatsu berichtete über die Empfehlung des Direktors, die „Trauergesellschaft" in „Tenrjugesellschaft" umzubenennen. „Dieser Name ist natürlich von unserem Fluss Tenrju (Anm.: Himmelsdrache.) entlehnt. So lautet der Vorschlag unseres Vorsitzenden, und ich hoffe, alle werden damit einverstanden sein..."
Nun erteilte Komatsu dem Vorsitzenden der Gesellschaft das Wort. Direktor Sagara begann:
„Ah - äh... Ich freue mich außerordentlich, meine Herren, dass Sie meinen Vorschlag zur Umbenennung unserer Gesellschaft angenommen haben. Der neue Name bedeutet natürlich durchaus nicht, dass sich der Geist unserer Gesellschaft auch nur im Geringsten geändert habe. Unser Ziel ist nach wie vor das Wiederaufblühen Japans. Geduld und Ausdauer - das ist nach wie vor unsere Devise. Aber jetzt ist das Zeitalter der Demokratie angebrochen... Wie müssen wir diesen neuen Geist der Demokratie auffassen? In welchem Sinne sollen wir ihn verstehen?" Sagara zog sein Taschentuch hervor und schnäuzte sich die Nase. Dann hob er den Blick zur Decke und runzelte die Stirn. „Selbstverständlich begrüßen wir die Demokratie. Man muss das Alte hinwegfegen und das Neue festigen. Jedoch zwischen Japan und Amerika gibt es einen Unterschied, ja einen großen Unterschied, obwohl es sich um ein und dieselbe Art Demokratie handelt. Und worin besteht er?"
Als Sagara das sagte, merkte er gar nicht, wie sehr seine Worte im Widerspruch standen zu der Tatsache, dass ihn gerade die Anwesenheit der Amerikaner unter den Alliierten beruhigt hatte. „Dieser Unterschied besteht darin, dass unser Land eine ganz besondere Staatsform hat. Ja, eben das ist es! Wir haben Seine Majestät den Kaiser..."
Von nun an ging ihm alles leicht und glatt über die Zunge. Er schob die Finger in die Ärmelausschnitte seiner Weste und fuhr fort: „Mit diesem Umstand
müssen sogar die ausländischen Mächte rechnen."
Einmütiger Beifall ertönte, und jemand rief: „Es lebe Seine Majestät der Kaiser!" Sagara war sehr zufrieden. Sein Blick umfasste die Versammelten. Er beobachtete, wie die Sakeflaschen von Hand zu Hand gingen, wie der Alkohol bereits seine Wirkung auszuüben begann, und er war fest überzeugt, dass seine Worte in das Bewusstsein der Anwesenden eingedrungen waren und sie begeisterten. Die älteren Angestellten der Verwaltung, der Leiter der Produktionsabteilung und der Kanzleichef, waren zwar nicht da, doch Sagara empfand Genugtuung darüber, dass er sich auf die mittleren Angestellten, die hier vor ihm saßen, verlassen konnte.
„Arakikun? He, Arakikun!" rief Sagara und hob jedesmal das Schnapsglas, wenn Araki, der in der entferntesten Ecke des Saales Platz genommen hatte, in sein Blickfeld geriet.
Aber die Stimme des Direktors drang nicht durch. Die berauschten Menschen lärmten. Obermeister Schima aus der Werkzeugabteilung, ein Mann von etwa 35 Jahren, versuchte fortwährend, eine Rede über die Staatsform Japans zu halten. Lautes Stimmengewirr erfüllte den Raum. Araki bemerkte trotzdem, dass Sagara ihn rief.
„He, Arakikun! Komm mal einen Augenblick her!" schrie der Direktor wieder.
Araki wechselte einen Blick mit Nakatani, der den Schnaps nicht anrührte und ruhig eine Zigarette, rauchte. Es war Unsinn, an dieser Versammlung teilzunehmen. Aber es wäre unklug gewesen, nicht zu erscheinen. Sie warteten beide nur auf eine günstige Gelegenheit, sich zu verdrücken. Doch der Direktor ließ nicht locker.
„Na schön, geh schon hin", flüsterte Nakatani lächelnd. Sie machten sich nichts daraus, dass Sagara ihnen feindlich gesinnt war. Betrunkene sind streitsüchtig, das wussten sie. Und sie hatten ja auch ihre Erfahrungen mit ihm.
Araki drängte sich zwischen schwatzenden, lachenden und trinkenden Menschen bis zum Tisch des Direktors durch. Sagara drückte ihn auf einen Stuhl nieder und goss ihm eigenhändig Schnaps ein. Die fleischige Hand, die den Flaschenhals umklammert hielt, zitterte, und seine gelblichen Äuglein funkelten hinter den Brillengläsern, als ob er den Meister mit seinem Blick durchbohren wollte. „Trink! Was ist, willst du etwa zu meinen Feinden überlaufen?" Araki schwieg. „Hast du mir heute diese Bande Halsabschneider geschickt, he?" fuhr Sagara fort und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Stützpfeiler. „Sie irren sich. Ich habe damit nichts zu tun", entgegnete Araki entrüstet. Der Direktor unterbrach ihn: „Nein, lass uns ganz offen reden... Gib doch zu, dass du Kommunist bist!" Sagara sprach ziemlich laut.
Araki war nicht Mitglied der Kommunistischen Partei. Er wollte es erklären, er wollte sagen, dass er kein Kommunist sei, aber er brachte kein Wort heraus. Beim Klang der Stimme des Direktors drehten sich Obermeister Tschidschiwa aus der Schleiferei und Obermeister Schima gleichzeitig um.
„Was? Ein Kommunist?" Der glattrasierte Kopf Schimas mit der kahlen, fliehenden Stirn bewegte sich auf Araki zu, eine Alkoholdunstwolke schlug ihm entgegen. Dann taumelte Schima zur Seite, und Tschidschiwa trat an seine Stelle. „Das ist ja interessant! Arakikun ist also Kommunist? Interessant! Na, ich habe keine Angst vor Kommunisten. Hör mal zu, Araki! Lass uns mal diskutieren! Also, Araki... euer ,Herr' Tokuda Kjuitschi lehnt das monarchistische System ab... Ausgezeichnet. Er lehnt also die Monarchie ab? In diesem Falle..."
Tschidschiwa stieß seinen Kopf gegen Arakis Brust. Araki geriet in eine schwierige Lage. Jede Entgegnung, jeder Widerspruch war zwecklos. Nakatani und einige andere Freunde des Meisters erhoben sich von ihren Plätzen, vermochten aber nicht, nahe heranzukommen. Araki saß eingekeilt auf seinem Stuhl und blickte wütend um sich. Der Direktor lachte hämisch.
„Herr Direktor, Herr Direktor!" Takenoutschi Tadaitschi klopfte Sagara auf die Schulter. Offenbar wollte er die Rolle des Vermittlers spielen. Aber Sagara schien ihn nicht zu bemerken.
Von allen Seiten ertönten Zurufe. Tschidschiwa schrie ununterbrochen und wollte auf Araki losgehen.
Hinter Tschidschiwas Rücken gebärdete sich Schima wie toll und brüllte: „Schlagt den Staatsverräter!" Jemand hielt ihn zurück.
Die meisten der Anwesenden waren leidenschaftliche Verteidiger der monarchistischen Staatsform Japans. Unter den Demobilisierten, die noch ihre Uniformen trugen, gab es natürlich auch solche, die der Kommunistischen Partei nicht feindlich gegenüberstanden; doch sie durften den Mund nicht aufmachen, da die „Tokio-Electro-Company" in ihrer Struktur seit jeher einer militärischen Organisation glich. Die Angestellten der Gesellschaft, die aus den Reihen der Arbeiter hervorgegangen waren, bildeten gleichsam die untersten Rangstufen. Dann folgten die Leute mit Schulbildung: die Obermeister, die Abteilungsleiter, die Werkhallenleiter, die Beiräte und die Direktoren. In jeder Gruppe ging es streng nach Rang; man brauchte nur einmal zu straucheln, und ein weiterer beruflicher Aufstieg war unmöglich. „Weg da!" ertönte plötzlich eine Stimme über Arakis Kopf, und Oberleutnant Komatsu stand vor ihm. Seine Mundwinkel waren herabgezogen, und seine Augen richteten sich auf einen Punkt. Sein ganzer Körper bebte. Mit einem Fußtritt stieß er den tobenden Schima zur Seite, packte den schreienden Tschidschiwa am Kragen und schleuderte ihn weit von sich. „Du!" Er rüttelte Araki an der Schulter, zerrte ihn hoch und starrte ihm ins Gesicht: „Nimm dich in acht, du!..."
Bedrückende Stille trat ein.
„Na, wenn ich mich geirrt habe, umso besser, umso besser", sagte der Direktor in sanftem Ton. Er wollte vermeiden, dass man ihn als Urheber dieses Skandals ansah. „Aber ich möchte betonen: Ich bin in den Betrieben der Company großgeworden und liebe die Kommunisten nicht. Ich lasse es nicht zu, dass sich im Werk Kawasoi Kommunisten einnisten. Das werde ich mit allen Mitteln zu verhindern wissen!"
Alle blickten auf Araki, der inzwischen an seinen Platz zurückgekehrt war und mit gesenktem Kopf dasaß, die Arme über der Brust verschränkt. Komatsu Nobujoschi stützte die Ellbogen auf die hochgezogenen Knie und schwankte von einer Seite zur anderen.
Araki und Nakatani traten auf den dunklen Fabrikhof hinaus und blieben eine Weile schweigend stehen. Sie fühlten beide, dass die „Vorschlägesammlung" endgültig gescheitert sei. „Ich will noch mal kurz in den Betrieb schauen." Nakatani verabschiedete sich von Araki und ging auf die Galerie zu, die in die Werkhallen führte.
Araki war noch immer aufgeregt. Er schritt allein durch das Dunkel. Eine verwirrende Fülle von Gedanken bestürmte ihn. Schon mehrmals hatte er wegen der Arbeit Zusammenstöße mit dem Direktor gehabt; aber der heutige Vorfall war von ganz anderer Art. Man hatte ihn offen herausgefordert. Araki stellte sich die Gesichter seiner alten Mutter, seiner Frau und seiner Kinder vor, erinnerte sich an die lächelnden Gesichter der Arbeiter, die mit dem Einsammeln der „Vorschläge" beschäftigt waren, und an die Gesichter der Abgesandten, die in den Betrieb zurückgekehrt waren, nachdem der Direktor sie aus seinem Arbeitszimmer hinausgeworfen hatte. „Bleib fest, Araki!" sagte er spöttisch zu sich selbst. In diesem Augenblick - er wollte gerade auf das Licht zugehen, das durch das Fenster des Pförtnerhäuschens schimmerte - vernahm er eilige Schritte hinter sich. Ein plötzlicher Schlag riss ihn fast zu Boden. Ihm wurde schwarz vor den Augen, und er schwankte.
Als er wieder fest auf den Beinen stand, war niemand mehr zu sehen, nur der Wind pfiff in der Finsternis. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, und etwas Warmes, Klebriges lief ihm zwischen die Finger.
Ikenobe Schinitschi zog einen winzigen Metallstab aus dem Futter, strich mit dem Finger darüber hin und schüttelte den Kopf. Dann richtete er das Licht der Lampe, die an einem langen Hebelarm befestigt war, auf die Drehbank, legte eine Mikrometerschraube an den kleinen Stab, ergriff eine Lupe und betrachtete ihn eingehend.
Alles schien in Ordnung; an dem kleinen Stück trüb blinkenden Stahls von zwölf Millimetern Länge und einem Drittelmillimeter Durchmesser war kein Fehler zu entdecken. Aber als Ikenobe die Lupe weglegte, die Augen schloss und nochmals mit der Spitze des kleinen Fingers über das Stäbchen fuhr, schüttelte er wieder den Kopf: Die Spur des Stahls war, wenn auch kaum merklich, fühlbar. Schinitschi seufzte und legte den Stab hin. Dann nahm er den blauen Zelluloidschirm ab, der seine Augen gegen das Licht schützte, setzte sich an den Tisch und ließ den Kopf auf die Arme sinken. Ich bin müde, dachte er. In seinen Ohren begann es zu klingen. Er schloss die Lider, aber schlafen wollte er nicht.
Auf dem Bretterbelag, der den kalten Betonfußboden bedeckte, standen sechs kleinere Drehbänke in einer Reihe. Schinitschi war ganz allein in der Halle, und das Rauschen des Treibriemens erschien ihm ungewöhnlich laut.
Seit mehreren Tagen arbeitete er nun schon an dem Probestück eines Drehzahlmessers, System „Tokio-Electro". Vor dem Kriege war dieser Zähler, eine Konstruktion nach dem Entwurf von Nakatani, als eines der patentierten Erzeugnisse der Company verkauft worden, während des Krieges aber hatte man ihn für die Verwendung beim Flugzeugbau umgearbeitet. Jetzt, nach der Kapitulation, hatte Nakatani wiederum einige Änderungen vorgenommen, um das Gerät von neuem auf den Markt bringen zu können. Der Direktor drängte darauf, dass die Muster innerhalb kürzester Frist angefertigt würden.
Die Miniaturzähler der „Tokio-Electro" zeichneten sich durch ihre hohe Qualität aus, und das Werk Kawasoi galt als eines der besten unter den vierzig Unternehmen der Company. In ganz Japan gab es nur eine oder zwei Fabriken dieser Art. Die „Tokio-Electro-Company" besaß ein Patent zur Herstellung von Spezialmotoren und elektrischen Uhren eines besonderen Systems. Diese Produktion war ausschließlich Aufgabe des Werkes Kawasoi. Der gesamte Fertigungsprozess lag in den Händen einer Spezialistengruppe unter Nakatanis Leitung, die Vorarbeit aber leisteten einige Techniker, unter ihnen Ikenobe Schinitschi.
Neben der beleuchteten Drehbank hatte Ikenobe eine ölbeschmierte Zeichnung des Drehzahlmessers System „Tokio-Electro" ausgebreitet, eines zierlichen Mechanismus, nicht größer als eine gewöhnliche Taschenuhr. An den anderen fünf Drehbänken stellten die Arbeiter nach wie vor Einzelteile für elektrische Uhren her, und allein Ikenobe, der Begabteste von ihnen, arbeitete an dem neuen Modell. Seit einiger Zeit blieb er jeden Tag bis spät in die Nacht in der Fabrik.
Auf einmal hob er den Kopf. An der Außengalerie, die im Bogen um die Werkhalle herumführte, vernahm er ein Geräusch, als habe jemand eine Tür zugeschlagen. Nakatani, dachte Schinitschi. Aber es war nur ein Windstoß, der durch die Galerie und die Innengänge fuhr. Gleich darauf war es wieder still. Nakatani musste nach der Sitzung der „Trauergesellschaft" noch in die Dreherei kommen, denn er hatte seine Tasche über seinem Arbeitstisch hängenlassen. Schinitschi gähnte, zog eine Zigarette aus der Tasche und brannte sie an.
Er war sicher, dass er die Aufgabe meistern würde, hatte er doch schon im Werk Oi Teile mit einem Zehntelmillimeter Durchmesser gedreht. Auch dieses Stäbchen, das er eben für den Probezähler hergestellt hatte, konnte als brauchbar angesehen werden. Aber es entsprach nicht Schinitschis Charakter, ein Stück aus den Händen zu lassen, bevor er sich nicht überzeugt hatte, dass es einwandfrei war.
Er hatte schlechte Laune, doch keineswegs wegen der Arbeit. Sosehr er sich auch bemühte, diesen Zustand zu überwinden - die Unruhe blieb. Schinitschi war stets unsicher. Das wusste er genau, und es bedrückte ihn. In letzter Zeit aber war diese Unsicherheit immer stärker geworden.
Mit einer mechanischen Handbewegung griff er in die Innentasche seines Arbeitsanzuges, zog einen blauen Umschlag hervor, entnahm ihm ein kleines Foto und betrachtete es lange. Offenbar tat er das häufig, denn Umschlag und Bild wiesen Ölflecke auf.
Es war eine Aufnahme von Torisawa Ren. Sie trug eine weiße Flauschjacke, ihr Haar war vorn gelockt neuerdings war die Dauerwellenfrisur in Mode gekommen. Ein Lächeln umspielte ihre schöngeschwungenen Lippen. Sie stand am Ufer eines Teiches; im Hintergrund sah man die Berge. Die Umgebung und die Haltung des Mädchens wirkten natürlich. In der kurzen Zeit, da sie einander nicht gesehen hatten, war Ren reifer geworden. Schinitschi seufzte, schob das Bild wieder in den Umschlag und steckte ihn in die Tasche. Im Augenblick bedrückte ihn der Anblick des Mädchens auf der Photographie.
Er dachte an die Ereignisse auf der Versammlung und im Zimmer des Direktors und wusste nicht, was er tun sollte.
Er hatte das Wort „Forderungen" ohne jede Absicht ausgesprochen. Araki gebrauchte es häufig, und Schinitschi hatte es einfach wiederholt, ohne sich etwas dabei zu denken. Er konnte sich noch immer nicht von seinem Erstaunen erholen. War dieser Ausdruck wirklich imstande, einen solchen Aufruhr zu verursachen? Und dann das Verhalten des Direktors, sein grobes, unwürdiges Benehmen!
Welch klägliche Figur hatten Schinitschi und seine Kameraden dort im Büro gemacht! Wie arme Teufel und gedemütigte Bettler - das hatte man ihnen in zynischer Offenheit zu verstehen gegeben.
Seit Kriegsende hatte Schinitschi viele Artikel und Broschüren gelesen, aus denen er den neuen Begriff „Humanismus" kennenlernte. Schon als Junge fühlte er sich besonders von der Dichtkunst angezogen, und so war ihm das Wort „Humanismus" nah und verständlich. Er glaubte, es könnte alle Menschen vereinen, die den Frieden und das Glück liebten. Und wenn seine Liebe zu Ren ebenfalls auf einer solchen Grundlage beruhte, dann würde sie zum Guten sein.
Im Augenblick aber musste Schinitschi die bittere Erfahrung machen, dass es Menschen gab, denen der Begriff Humanismus fremd war. Die Company und der Direktor, der sie verkörperte, diese Leute, die nicht das Recht besaßen, sich Menschen zu nennen, hatten ihm mit unverhüllter Grobheit klargemacht, dass er für sie kein Mensch sei, sondern nur „ein Arbeiter". Diese Erkenntnis erschütterte ihn tief. Er stand auf, verscheuchte die finsteren Gedanken und blickte auf die Uhr. Schon halb zehn. Wenigstens ein Stäbchen musste er noch fertigmachen.
Er trat an die Drehbank, warf die Haare mit einem Ruck aus der Stirn und setzte den Zelluloidschirm auf. Dann griff er nach einer neuen Walze und befestigte sie im Futter.
Würde Ren wirklich in der Fabrik arbeiten? Sie hatte ihm geschrieben, sie bemühe sich mit Hilfe von Bekannten, in der Fabrikverwaltung angestellt zu werden. Sie finde, heutzutage sei es für einen gesunden Menschen nicht gut, tatenlos zu Hause zu sitzen. Sie habe sich auch den „Wochenboten" beschafft und gelesen, über den Schinitschisan ihr geschrieben habe. Doch sie wisse mit all den Problemen nicht fertig zu werden und müsse noch viel von ihm lernen...
Wie war das möglich? Es erschien ihm ungewöhnlich und erstaunlich. Aber das war echt Ren! Wer weiß, vielleicht kam sie tatsächlich.
Er drückte das Pedal hinunter. Der Treibriemen begann sich rauschend zu drehen. Mit einem Hebelgriff setzte er den Support (Anm.: Schlitten, in dem an Werkzeugmaschinen das Werkzeug oder das Arbeitsstück festgespannt ist.) mit dem daran befestigten Stahl in Bewegung. Dann schüttelte er den Kopf. Nein, so ging es nicht. Er war nicht bei der Sache. Er zwang
sich, nur an die Arbeit zu denken, konzentrierte den Blick auf das Werkstück und legte den Stahl an. Ein dünner Metallspan begann, mit kaum vernehmbarem Zischen wie ein Rauchfähnchen an der Spitze des Stahls zu tanzen.
Der winzige, fadendünne Stab war die Zentralachse des Gerätes. Seine Stärke brauchte nur um ein Hundertstelmillimeter von dem vorgeschriebenen Maß abzuweichen, und schon gab es Auswirkungen auf die Funktion des gesamten Mechanismus. Schinitschi wusste das. Doch seine Gedanken gingen andere Wege...
„Ich schicke Dir Dein altes Winterhemd. Je mehr ich es geflickt habe, desto weiter ist es zerrissen. Du musst schon entschuldigen...", schrieb seine Mutter in dem Brief, der in dem Paket lag. „Vater hat vorläufig noch jeden Tag Arbeit, aber es ist trotzdem schwer mit der Ernährung; wir sind ja eine große Familie..."
Schinitschi schob den Stahl zur Seite, nahm den Fuß vom Pedal, stoppte mit der Hand die Stufenscheibe, rieb das Stäbchen ab und legte die Mikrometerschraube an. Fast fertig. Noch ein wenig musste er wegnehmen, ganz, ganz wenig. Mit einem kleinen Pinsel trug er Öl auf und brachte die Maschine wieder in Gang.
Diesen Monat würde er den Eltern hundert Jen schicken. Sie hatten es schwer... In Tokio konnte man, wie es hieß, für hundert Jen kaum drei Kilo Reis kaufen.
„Na, noch immer fleißig?" Schinitschi hatte nicht bemerkt, dass Nakatani hereingekommen war. „Pass nur auf, dass du den letzten Zug nicht versäumst. Es ist bald soweit", sagte der Meister freundlich, nahm das kleine Tablett mit den fertigen Teilen vom Tisch und zählte die großen und kleinen Scheiben, die winzigen Schrauben und Stäbe. „Genug für heute. Morgen ist auch noch ein Tag." Ikenobe hatte ein Zimmer im Arbeiterheim der Fabrik in Kami-Suwa, zwei Bahnstationen von Okaja entfernt. Er musste mit dem Zug zur Arbeit fahren. Nakatani wohnte auch dort, obgleich er Familie hatte und das Haus für Junggesellen bestimmt war; er versah das Amt des Heimleiters.
Schinitschi streifte den Riemen von der Stufenscheibe. Er war überzeugt, dass es ihm heute Abend ohnehin nicht mehr gelingen würde, richtig zu arbeiten. Als er die Schutzhülle über die Drehbank zog, rief ihn Nakatani an seinen Tisch. „Schau mal, Ikenobe, ich möchte dir etwas zeigen."
Das gutmütige Gesicht Nakatanis, dem die Arbeiter den Spitznamen „Täuberich" gegeben hatten, sah plötzlich ganz anders aus als sonst. Er nestelte die Schnur an seiner Tasche auf und zog einen dicken Briefumschlag hervor.
„Das sind natürlich legale Schriften, aber trotzdem..."
Nakatani überreichte Schinitschi den „Aufruf an das japanische Volk!" und die als Broschüre herausgegebene erste Nummer der Zeitung „Akahata".
Schinitschi nahm den Aufruf, und sein Blick fiel auf die erste Zeile. „Für die Befreiung der gesamten Menschheit von Faschismus und Militarismus..." begann er laut zu lesen, doch Nakatani bedeckte das Blatt mit der Hand.
„Hör mal, Ikenobe!" Er senkte die Stimme, als fürchtete er, man könnte ihn belauschen, obwohl er selbst eben erst gesagt hatte, die Broschüren wären nicht illegal. „Das haben bisher nur Araki und Kassawara aus der Montageabteilung und Onoki aus der Dreherei gelesen. Sag also niemandem etwas davon. Wenn du es gelesen hast, dann gib es mir, bitte, zurück."
Er legte die Schriften zusammen, steckte sie in den Umschlag und übergab ihn Schinitschi, der ihn in die Brusttasche schob. Bei den letzten Worten Nakatanis war er ernst geworden, und sein Gesicht zeigte einen gespannten Ausdruck.
„Du kannst mir hinterher erzählen, was du von alledem hältst. Ich denke auch viel darüber nach, doch das besprechen wir später, zuerst lies es einmal." Nakatani brach ab und blickte zur Tür. Auch Schinitschi wandte sich um. Araki war in die Halle getreten. Er hielt den Kopf nach hinten gebeugt und bedeckte sein Gesicht mit der Hand. Zwischen seinen Fingern sickerte Blut hervor. „Was ist los?"
„Ach, nichts weiter. Ich habe Nasenbluten. Hast du ein Hanagami?" Araki ließ sich auf einen Stuhl sinken und wischte sich das Gesicht mit dem Taschentuch ab.
„Hat dich jemand überfallen?"
„Überfallen?" Araki schloss die Augen und lächelte verächtlich. Seine Wange war blutverschmiert, die Oberlippe geschwollen.
Schinitschi blickte von einem zum anderen. Nakatani hatte offenbar einen bestimmten Verdacht. „Schima?" fragte er, doch Araki schüttelte nur den Kopf. „Komatsu?"
Araki hob die Schultern, als wollte er sagen „Ich weiß nicht". Nach einer Weile meinte er: „Es ist schließlich gleich, wer es gewesen ist."
Ein Taut wie ein tiefer Seufzer entrang sich Nakatanis Brust. Er steckte die Hände in die Hosentaschen, zog die schmalen Schultern hoch und starrte auf den Fußboden.
„Na, weißt du, das ist doch... das ist..." Aufgeregt lief er hin und her und murmelte vor sich hin. „Das ist eine Gemeinheit!"
Schinitschi hatte den „Täuberich" noch nie so wütend gesehen.
„Wir müssen jetzt eben auf alles gefasst sein", meinte Araki, wischte sich das geronnene Blut ab und stand auf. „Wir können unterwegs weiterreden. Ihr kommt sonst zu spät zum Zug."
Am Kontrollhäuschen steckten sie die Zeit ihres Weggangs.
Nakatani wollte ans Fenster des Pförtners treten, doch Araki hielt ihn zurück. „Schon gut, lass nur. Es hat keinen Sinn, jetzt darüber zu sprechen."
Sie gingen auf die finstere Straße hinaus. Es war kalt. Araki bewohnte eine Dienstwohnung in der Nähe des Bahnhofs Okaja.
„Das ,Beratungskomitee' hat offenbar aufgehört zu bestehen..." „Ja, so ist es wohl."
„Wir brauchen eine stärkere Organisation", bemerkte Araki leise.
Ein Lastwagen fuhr vorbei und wirbelte Staubwolken auf, die im Dunkel der Nacht weiß erschienen.
„Ich möchte nach Tokio fahren und mich im Hauptwerk umsehen", fuhr Araki fort. „Ich glaube, dort beginnt man jetzt aktiv zu werden."
Schinitschi folgte den beiden, ohne ein Wort zu sagen, und tastete immer wieder nach dem dicken Päckchen an seiner Brust. Diese Berührung brachte ihn den Dingen näher, über die seine Kollegen sich unterhielten, und das flößte ihm neuen Mut ein.
Am Abend des nächsten Tages fuhr Schinitschi mit dem letzten Zug nach Hause. Er stieg in Kami-Suwa aus und überquerte den Bahndamm.
Der See schimmerte trüb in der Finsternis. Es sah aus, als wäre das Wasser über die Ufer getreten. Der Wind blies Schinitschi ins Gesicht. In gebückter Haltung schritt er dahin und lauschte auf das Knistern des Eises, das sich bereits am Rande des Sees bildete.
Heute war der Drehzahlmesser geprüft worden, Morgen würde die Fabrik nicht arbeiten; der Strom war knapp.
Schinitschi hatte die beiden Broschüren dreimal gelesen, aber vieles nicht begriffen. „...Der Sturz des monarchistischen Regimes... Die Errichtung eines republikanischen Systems." Wie Kieselsteine purzelten einzelne Sätze, die er nie zuvor gehört hatte, in seinem Kopf durcheinander. Einem Mann wie ihm, der nicht an eine solche Lektüre gewöhnt war, kamen manche Ausdrücke wie verschlüsselte Formulierungen vor.
Was bedeutete zum Beispiel „kaiserliche Ordnung"? Kaiser - das verstand er. Aber „kaiserliche Ordnung"? Oder das Wort „Volk"? Das war ihm unverständlich. Gewiss war es etwas ganz anderes als „Untertanen" oder „Bevölkerung". „Volk" - das klang stark und gehaltvoll. Er selbst gehörte offenbar auch zum „Volk"; doch ihm blieb unklar, wer denn nun eigentlich über diesem „Volk" stand.
Oder war es wirklich so, dass es nichts Höheres gab als das „Volk"?
Als Schinitschi mit seinen Überlegungen so weit gekommen war, geriet er völlig in Verwirrung.
Er schritt an reif bedeckten Feldern vorbei, die längst abgeerntet waren. Die Gebäude der Hotels und Mineralbäder am Ufer des Sees hoben sich dunkel gegen die mattschimmernde Wasserfläche ab.
Wie ein heißer, sengender Atem wehte es Schinitschi aus den Seiten dieser Broschüren an. Einzelne Stellen berührten ihn so unmittelbar, dass er fast erschrak. Wenn man bedachte, dass der Krieg, den er im Stillens immer verabscheut hatte, weil er unvereinbar war mit dem Begriff Humanität, zu einem so niedrigen Zweck geführt worden war. Wer hatte Vorteile von diesem Krieg? Nach welchen Gesetzen wurde diese Welt denn regiert? - Nur die Kommunistische Partei hatte dieses Geheimnis entschleiert!
Vor Schinitschi tauchte das Gesicht des Direktors mit dem borstigen grauen Schnurrbart über der dicken Oberlippe auf - das Gesicht des Menschen, der ihn und seine Kollegen angeschrien hatte: „Macht, dass ihr rauskommt!" und der Schinitschis Illusion zerstörte, dass es einen „Humanismus" für alle gebe.
„Guten Abend!" grüßte er, als er im Arbeiterheim an Nakatanis offener Tür vorüberkam.
Nakatani fühlte sich nicht wohl und war heute früher als sonst nach Hause gefahren. Schinitschi hörte ihn husten.
„Guten Abend!" antwortete Nakatanis Frau. Schinitschi nahm seine Schuhe in die Hand und stieg zum ersten Stockwerk hinauf. Aus Inoues Wohnraum drang noch Licht durch die Schoji. Dort hatte sich offenbar eine größere Gesellschaft versammelt Man hörte das Klappern der Majong-Steine (Anm.: Ein chinesisches Spiel, das auch in Japan weit verbreitet ist.) und eine Stimme, die die Punkte zählte.
„Die spielen wieder", murmelte Schinitschi und betrat die Treppe zum zweiten Stockwerk. Er konnte solche Vergnügungen nicht leiden.
„Tsutschisan!" rief er, während er seine Schuhe in den Stiefelkasten stellte. Er hatte die Schuhe seines Nachbarn auf dem Gang stehen sehen und nahm daher an, er sei zu Hause. Tsutschii arbeitete mit Ikenobe zusammen in der Versuchsabteilung. Aber er war wieder einmal nicht da, sondern zog durch die Dörfer und „hamsterte", Schinitschi bekam keine Antwort; in Tsutschiis Zimmer blieb es dunkel und still. Schinitschi schob die Schoji seines Wohnraumes auseinander und trat ein. „Guten Abend! Bist du noch munter?" Furukawa Schiro hatte sich in dem kalten, ungeheizten Raum auf dem Fußboden ausgestreckt und schlief. Im Schlaf hatte er die Decke abgeworfen.
Schinitschi hängte seine Tasche an den Haken, hockte sich an Furukawas Lager nieder und betrachtete ihn. Furukawas Mund stand halb offen, die Augenbrauen waren zusammengezogen, und sein Gesichtsausdruck wirkte im Schein der Lampe seltsam traurig und verlassen.
Schinitschi wärmte sich die Hände an der Glühbirne, ließ den Blick umherschweifen und ärgerte sich wie immer über die Unordnung im Zimmer. Neben Furukawas Kopf lagen verschiedene Mathematiklehrbücher und ein aufgeschlagenes englisches Lesebuch, nach dem Schinitschi im Selbstunterricht Englisch lernte. Der Rand einer Seite im Algebrabuch war kreuz und quer mit Zahlen und Formeln bekritzelt. Furukawa hatte offenbar aus Langerweile eine Aufgabe gelöst.
Seit drei Tagen erst wohnte Furukawa bei Schinitschi, aber er hatte schon alles durcheinandergebracht. Die belletristischen Bücher Schinitschis waren ihm gleichgültig, dafür nahm er sich ein Werk nach! dem andern über Mathematik und Maschinenbau. Furukawa war früher der beste Schüler in der Abendschule der „Tokio-Electro-Company" gewesen.
Die Absolventen dieser Schule erhielten später den Titel „Niederer Angestellter der Gesellschaft". Siel bildeten eine Zwischenschicht, abgesondert von der Masse der andern Arbeiter. So war es wenigstens bis zur Kapitulation. Furukawa war außergewöhnlich begabt für Mathematik, so dass Onoki und Schinitschi, die mit ihm zusammen studierten, nicht mit ihm Schritt halten konnten. Die „Tokio-Electro-Company" hatte zwar wie alle anderen Unternehmen seit Kriegsbeginn die Stipendien für Studierende gestrichen, bei Furukawa jedoch wurde eine Ausnahme gemacht: Er sollte seine Kenntnisse auf Kosten der Company an der Technischen Hochschule vervollständigen. „He du, Tokio-Electro-Mann, steh auf!" Schinitschi zog zwei Äpfel aus der Tasche und stupste sie dem Freund auf den runden, glattrasierten Kopf. Furukawa aber drehte sich nur auf die andere Seite und zog die Decke höher. Den Spitznamen „Tokio-Electro-Mann" hatten ihm seine ehemaligen Mitschüler eines Tages gegeben, als er in einer Rede unter anderem einen Satz aussprach, der aus dem Munde eines jungen Burschen sehr komisch klang: „Wir, die Männer der Tokio-Electro..."
Schinitschi fröstelte. Er nahm einen Apfel und begann, daran zu knabbern.
Die Dinge, die ihm früher so fern und unerreichbar schienen, rückten jetzt, nachdem er die beiden Broschüren gelesen hatte, viel näher und wurden viel verständlicher.
Die Kommunisten waren jedenfalls prächtige Kerle!
Die Reden, die während des Krieges von den leitenden Angestellten der Company und den Kontrolloffizieren gehalten wurden, die Artikel in den Zeitungen - all das zielte darauf ab, Schinitschi Angst und Schrecken vor der Kommunistischen Partei einzujagen. Einige Reste dieser Erziehung steckten auch jetzt noch in seinem Bewusstsein, obwohl er den Verleumdungen, die über die Kommunisten verbreitet wurden, niemals so recht geglaubt hatte. Außerdem übte der Umgang mit Araki einen gewissen Einfluss auf ihn aus.
Die Lektüre der Broschüren bereitete ihm zwar einige Schwierigkeiten, doch eines stand für ihn fest: Sie waren von Menschen geschrieben, die trotz langer Gefängnisjahre ihrer Überzeugung treu geblieben waren.
Die echte Menschlichkeit der Kommunisten erregte ihn tief. Wenn Nakatani nicht verlangt hätte, dass er die Broschüren niemandem zeigen sollte, so hätte er diesen schlafenden, kahlgeschorenen Burschen jetzt wachgerüttelt und sich mit ihm über all das ausgesprochen, was ihn bewegte.
Er legte einen Apfel und zwei Zigaretten neben Furukawas Kopfkissen. „Das schenke ich dir!" sagte er absichtlich laut. Es kostete ihn einige Überwindung; denn er war selbst sehr hungrig und hätte gern geraucht. Der Monat ging zu Ende, und Geld für Lebensmittel war nicht mehr vorhanden. Das Abendessen in der Fabrikkantine aber bestand nur aus einer dünnen Nudelbrühe.
Schinitschi bereitete sein kaltes Lager an der Seite des schlummernden Furukawa, legte sich nieder und schlug sein Tagebuch auf. Seine erstarrten Finger vermochten den Füllfederhalter kaum zu fassen, als er das Gedicht noch einmal überlas, das er drei Tage zuvor abgeschrieben hatte: „Dein schönes Bild steht immer mir vor Augen..."
Er wollte die Wirkung, die die Broschüren auf ihn ausgeübt hatten, in dem Tagebuch festhalten. Aber während er nach den passenden Ausdrücken suchte, irrten seine Gedanken immer wieder ab. Die Überlegung, sein Gefühl für Ren könnte nicht tief genug sein, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. In ihren Briefen fand er Wendungen wie „mein Lieber", „mein geliebter Schinitschi", niemals aber etwas Geistiges, Erhabenes.
Da stand zum Beispiel in dem Brief mit dem blauen Umschlag, den er jetzt in seinen Händen hielt: „Tag für Tag verbringe ich in den Bergen. Ich bin traurig und langweile mich. Die Wälder sind schon ganz kahl. Bald werden die Berge sich mit Schnee bedecken... Und wenn ich daran denke, dass ich hier den ganzen langen, langen Winter allein in der Einsamkeit verbringen soll, dann finde ich keine Ruhe... Ich kann keinen Tag mehr leben, ohne Dich zu sehen..."
Die Liebe muss eine gehobene, geistige Grundlage haben. Dieser Gedanke war ihm bei der Lektüre der Broschüren gekommen, aber er war auch Ausdruck seines unbewussten Aufbegehrens gegen den Standesunterschied zwischen ihm und Ren. Und obgleich Schinitschi sich keine Rechenschaft darüber gab, suchte er die Erregung zu unterdrücken, die der Zauber der Weiblichkeit, der von Ren ausstrahlte, in ihm erweckte, ein Zauber, dem zu widerstehen über seine Kräfte ging.
Er legte eine Photographie Rens auf sein Kopfkissen und betrachtete sie. Merkwürdig - ihr Gesicht auf dem Bild schien sich mit seinen wechselnden Empfindungen zu verändern. Jetzt sah sie ihn mit leicht zurückgelegtem Kopf streng und fremd an, und in ihren herabgezogenen Mundwinkeln saß ein spöttisches Lächeln.
„Herr Oberleutnant!" schrie Furukawa plötzlich. Schinitschi fuhr zusammen. Furukawa träumte wahrscheinlich vom Krieg; er murmelte vor sich hin, während er eines seiner nackten behaarten Beine unter der Decke hervorstreckte.
„Still! Wie kannst du einen so erschrecken!" Schinitschi stand auf und zog Furukawa die Decke zu Recht, dann löschte er das Licht aus und lag eine Weile mit offenen Augen im Dunkeln. Ach, ich bin ein richtiger Duckmäuser geworden! dachte er. Er wurde unruhig. Würde sie denn überhaupt kommen?
Das schrille Pfeifen der Lokomotiven, das Krachen und Knirschen der Puffer beim Anhängen der Wagen, eine Stimme, die durch Lautsprecher den Namen der Station ausrief - all das war deutlich zu hören; denn in Kami-Suwa gab es einen Rangierbahnhof, auf dem selbst bei Nacht reger Betrieb herrschte.
Auf einmal wurden die Schoji des Nebenzimmers mit Gepolter auseinandergeschoben. Tsutschii warf sich ein Bündel über die Schulter und eilte zum ersten Zug nach Tokio. Dort lebten seine Frau und seine Kinder. Er verdiente ungefähr ebenso viel wie Schinitschi; doch selbst mit dem Geld, das er für Überstunden bekam, waren es nur dreihundert Jen.
Schinitschi presste Rens Photographie fest in der Hand und starrte in die Finsternis. Schleichende Schritte gingen hinter der Wand dicht an seinem Kopf vorbei und entfernten sich in Richtung der Treppe.
Als Schinitschi erwachte, galt sein erster Gedanke den Broschüren unter seinem Kopfkissen. Ja, am Vormittag musste er sie Nakatani zurückgeben... Die Sonnenstrahlen, die durch die Schoji fielen, huschten über sein Gesicht, und er zögerte, die Augen zu öffnen.
Heute arbeitete die Fabrik wegen Strommangels nicht. Der gewohnte Tagesablauf fehlte; man hing sozusagen in der Luft. Besonders unangenehm war das am Monatsende, wenn kein Mensch mehr Geld hatte.
„Wie spät ist es?" Schinitschi schlug endlich die Augen auf und blickte zu der anderen Lagerstatt hinüber.
Furukawa hielt seinen nackten Rücken den Sonnenstrahlen entgegen und zupfte eifrig an seinem Hemd. „Was machst du denn da?" fragte Schinitschi. Furukawa wandte ihm sein vergnügtes Gesicht mit der frechen Stupsnase zu und grinste. „Ich fange Läuse!"
„Lass das, hörst du!" Schinitschi fuhr wie von der Tarantel gestochen in die Höhe; doch ihn erwartete eine noch größere Überraschung. Ein Apfelgriebs und zwei Zigarettenstummel zierten die aufgeschlagenen Seiten eines dünnen Büchleins, das am Kopfende von Furukawas Bett lag. Ohne Zweifel, es war die erste Nummer der „Akahata"!
„Hör mal!" Schinitschis Stimme klang ungewöhnlich scharf, und Furukawa sah ihn erstaunt an. „Wo hast du das her?"
Furukawa senkte die Brauen, seine Züge nahmen einen unglücklichen Ausdruck an. „Verzeih, bitte", sagte er mit schuldbewusster Miene wie ein gescholtenes Kind.
„Na, weißt du..." Schinitschi fand keine Worte. Das war doch ein Geheimnis! Nakatani hatte die Druckschriften nur wenigen Auserwählten gegeben.
„Hast du darin gelesen?"
„Hmm... ja", murmelte Furukawa. Er hielt noch immer sein Hemd in den Händen und wunderte sich, dass Schinitschi der Sache eine so große Bedeutung beimaß.
Schinitschi war verblüfft. Wie konnte Furukawa wenn er die Broschüren gelesen hatte, so ruhig sein?
„Na und, was hältst du davon?"
„Manches ist ganz unverständlich", antwortete Furukawa gleichgültig und betrachtete angelegentlich sein Hemd.
Als Schinitschi diese nichtssagende Antwort hörte, seufzte er erleichtert auf, fühlte sich aber gleichzeitig gekränkt. „Ich habe ja auch nicht alles verstanden, aber...", begann er nach einer kurzen Pause.
Doch Furukawa hatte die Sache offenbar schon wieder vergessen. Fr trat an das Fenster und schüttete seelenruhig pfeifend die Apfelreste und die Zigarettenstummel hinaus. „Ich kann diese Kommunisten und ähnliche Leute überhaupt nicht leiden, verstehst du?"
Er warf die Broschüre ins Zimmer, beugte sich aus dem Fenster und rief: „He, Mädchen, halt! Bleib mal einen Augenblick stehen!"
Weibliche Stimmen drangen von unten herauf. „Komm mal schnell her!" Furukawa wandte sich zu Schinitschi um und winkte ihn heran. Dann legte er die Finger an den Mund und pfiff, während er die Mädchen beobachtete.
Als Schinitschi sah, wie Furukawa mit den Frauen anzubändeln suchte, wurde er unwillkürlich rot. Furukawa Schiro war immer ein Draufgänger gewesen; doch seit seiner Soldatenzeit war er derart dreist und sprunghaft, dass Schinitschi sich mitunter Sorgen um ihn machte.
Jetzt aber überließ er es Furukawa, seine Zeit nach seinem Gutdünken zu verbringen, und ging in den Speisesaal hinunter, der im ersten Stock des Gemeinschaftsheims lag. Fast alle Plätze waren besetzt. Früher, als das Haus noch ein Hotel war, hatte dieser halbdunkle Raum, in dem sogar tagsüber Licht brannte, als Küche gedient. An Stelle eines Tisches war ein langes Brettergerüst auf dem Zementfußboden errichtet.
Die beiden Bedienerinnen hatten alle Hände voll zu tun; denn an den Tagen, an denen nicht gearbeitet wurde, empfingen die Arbeiter ihre ganze Tagesration, Frühstück und Mittagessen, auf einmal.
„Guten Morgen!" grüßte Schinitschi und setzte sich Onoki gegenüber, der eifrig mit seinem Frühstück beschäftigt war. Die Essstäbchen klapperten gegen den Rand seiner Schüssel.
„Wenn man so spät aufsteht, dann hat man nicht mehr viel Glück beim Angeln!" bemerkte Honda, der gern Zoten riss. Er war ein Mann von dreißig Jahren. Seine Familie wohnte in Tokio. Er trug einen Uniformmantel und saß mit aufgestützten Ellbogen am Tisch. Seine Augen waren gerötet, wahrscheinlich von der schlaflos verbrachten Nacht. Anscheinend hatten sie alle bis zum Morgen Majong gespielt.
„Unsinn! 'ne halbe Stunde abends, das reicht vollkommen hin..."
Onoki und zwei oder drei andere Arbeiter hatten sich Tücher um die Köpfe geschlungen und ihre Mützen darübergestülpt. Sie wollten Fische fangen gehen. Das nannten sie „Maßnahme für zusätzliche Ernährung".
Bei dem jungen Schleifer Utsumi aber, der seine ganze Tagesration in ein Holzkistchen packte und dieses am Gürtel festband, konnte man sich kaum vorstellen, dass er sich „zusätzlich ernährte". Er war ein blasser, dürrer Kerl und hüstelte fortwährend. In die Fabrik ging er jeden dritten Tag - einen Tag arbeitete er, und die beiden nächsten beschäftigte er sich mit Fischfang. Wenn es ihm gelang, wenigstens zweihundert Momme (Anm.: 750 Gramm.) Karauschen oder Weißfische zu angeln, so brachte ihm das drei- oder vielleicht auch fünfmal soviel ein, wie er im Werk verdiente.
„Ssisiehst du, dadas hahaben wir alles ddem Kaiser zu verdanken. Und was Konoe betrifft..." stotterte Inoue.
Eine Weile stritten die Majongspieler missmutig über dieses Problem.
Schinitschi schaufelte hastig den dunklen, mit Rettichkraut vermischten Reis aus der Schale und hörte dem Wortwechsel zu, als sich plötzlich Furukawa in das Gespräch einmischte: „Was redet ihr da für dummes Zeug? Wie der Kaiser auch gehandelt hat..."
Er entriss der Köchin den Schöpflöffel, goss sich Suppe ein und trat mit der Schale in der Hand an den Tisch.
Bei Furukawas Worten hob Honda den Kopf. „Ich spucke auf deinen Kaiser!" rief er verächtlich. „Seine
Schuld ist es, dass dieser verfluchte Krieg überhaupt angefangen hat!"
Furukawa setzte sich rittlings auf eine Bank. „Ach, sieh mal einer an! Habt ihr gehört, was er gesagt hat? Na gut, dafür wirst du dich verantworten müssen!"
Ob das nun noch Scherz war oder nicht, war unklar. Furukawa entsann sich seiner Soldatenzeit, und in seinen Augen glomm ein böser Funke auf. „Du bist wohl übergeschnappt, was?" Hondas gerötete Augen blitzten. Er war selbst demobilisierter Soldat und maß den Grünschnabel Furukawa, der auch im Rang weit unter ihm stand, mit wütenden Blicken. „Halt's Maul, verstanden?"
Furukawas eingefallene Wangen zuckten, und gleich darauf flog seine mit Suppe gefüllte Schale dem anderen an den Kopf. In der nächsten Sekunde aber stürzte Furukawa mitsamt der Bank, auf der er saß, rücklings zu Boden.
„Hört auf! Hört sofort auf, sonst gibt's 'ne kalte Dusche!"
Der Heimälteste Onoki lief aufgeregt mit einem Eimer Wasser um die Raufenden herum. Schinitschi und Inoue versuchten, die Gegner auseinanderzubringen.
Honda hielt Furukawas Kehle umkrampft, während ihm Furukawa aus Leibeskräften mit den Fäusten ins Gesicht schlug.
„Ihr wollt nicht aufhören? Na schön, ihr Teufel, dann sollt ihr euren Willen haben!"
Der kleine Onoki sprang auf den Tisch und schüttete den ganzen Eimer Wasser über die beiden Kampfhähne aus.
Als Schinitschi in Nakatanis Zimmer trat, sah er den Obermeister in einen warmen Kimono gehüllt mit einer Kompresse um den Hals am Herd sitzen. Der große Raum war schlecht gelüftet.
„Guten Tag, guten Tag!" Nakatani drehte am Knopf des Radioapparates, der auf einem niedrigen Schränkchen stand.
„Ich höre Wladiwostok!" sagte er erfreut und blickte auf seine Armbanduhr. „Eine Frau hat die Ansage eine Japanerin..."
Er hatte sich den Rundfunkempfänger, mit dem er Sender aller Wellenbereiche hören konnte, selbst gebastelt.
Die grippekranke fünfjährige Tochter Nakatanis lag im Bett. Auf einem Tisch an der Wand türmten sich Teile von Apparaturen, Kataloge und Zeichenrollen.
„Hast du sie mitgebracht?"
Schinitschi zog die Broschüren aus der Tasche und legte sie neben den Herd. Nakatani warf einen Blick in den Nebenraum, dessen Schiebewand etwas offenstand, und schob die Hefte mit einer lässigen Bewegung in den Ausschnitt seines Kimonos. Nebenan warteten einige Arbeiterinnen aus Okaja, die zum Baden nach Kami-Suwa herübergekommen waren.
„Es ist etwas sehr Unangenehmes passiert..." Schinitschi senkte die Stimme, damit ihn die Mädchen nicht hören konnten, und berichtete Nakatani von dem Vorfall am Morgen. „Dieser Teufel Furukawa hat die Broschüren gelesen!" „Was, der?" Nakatani war bestürzt. Furukawa arbeitete in einer anderen Werkhalle, und Nakatani kannte ihn nur flüchtig. Ob er das Geheimnis für sich behalten würde? Nakatani blickte zu Boden und dachte nach.
Da erklang die Stimme seiner Frau hinter der Wand: „Bitte, kommt doch an die Heizung", lud sie die Arbeiterinnen freundlich ein und trat ins Zimmer. Auf ihrem Rücken war ein Kind festgebunden. „Takenoutschisan hat eben angerufen und gebeten, ein Abendessen vorzubereiten. Es kommen acht Personen von der Fabrikverwaltung", teilte sie ihrem Mann mit, setzte sich hin und nahm das Kind auf den Schoß.
„So? Na, meinetwegen. Auf jeden Fall muss angeordnet werden, dass das Zimmer im zweiten Stock aufgeräumt wird", antwortete Nakatani. „Ich habe mich in einen richtigen Hotelwirt verwandelt", sagte er lächelnd zu Schinitschi.
Hinter der Wand war eine lebhafte Unterhaltung im Gange, und man hörte Furukawas Stimme: „Was, die Kommunistische Partei? Nun, siehst du, die Kommunistische Partei, das ist...", dann kam er herein. Sein Soldatenhemd war an den Schultern noch ganz nass.
„Es widert einen an, wenn man hört, wie sie auf den Kaiser schimpfen und alle möglichen Gemeinheiten gegen ihn vorbringen", redete er weiter und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum.
„Schon gut, schon gut", suchte Inoue ihn zu beruhigen und klopfte ihm auf die Schulter.
Furukawa verbeugte sich vor Nakatani und seiner Frau und grinste verlegen. Gleich darauf fuhr er mit lauter Stimme fort: „Ich sage nichts, die Kommunistische Partei ist vielleicht auch eine gute Sache..."
Dann wandte er sich an die Arbeiterinnen, die durch die offenstehende Fusuma (Anm.: Schiebewand, Tapetenschiebetür.) hereinschauten: „Kein Dach über dem Kopf, hungernd und frierend - ist das ein Leid!"
Er stockte und rieb sich die Stirn mit der Hand. Dann drehte er sich zu Schinitschi um. „He, Ikenobe, wie geht es weiter? Wie hieß es doch da in diesem Brief?" Er sah ihn fragend an; doch da Schinitschi schwieg, wandte er sich wieder den Frauen zu.
„Hungernd und frierend... Oh, ihr Armen. Oh, ihr armen Mädchen!"
Hinter der Wand wurde gelacht. Nakatani senkte nervös die Lider. Schinitschi geriet langsam in Wut. So ein verflixter Bursche! Was würde er wohl noch alles schwatzen?
Die Arbeiterinnen aber fühlten sich seit Furukawas Eintritt angeregt. Die meisten von ihnen waren im Geist der alten Traditionen erzogen, die es den jungen Mädchen streng verboten, mit ihren männlichen Kollegen zu sprechen und zu scherzen. Darum saßen sie gesittet im Nebenzimmer auf ihren Plätzen und blickten nur verstohlen zu Furukawa hin. „Ihr habt die ganze Zeit hier in den Bergen gehockt und wisst überhaupt nicht, was für eine Sache das ist, der Krieg...", meinte Furukawa, ging vom Herd weg und ließ sich auf den Fußboden nieder. „Deshalb habe ich ja gesagt, das haben wir alles dem Kaiser zu verdanken", warf Inoue ein und riss seine runden Augen auf. Diskussionen begann er stets damit, dass er scheinbar mit seinem Gesprächspartner übereinstimmte; doch kaum war es ihm gelungen, ein Wort einzuflechten, so verteidigte er hartnäckig seinen eigenen Standpunkt. „Konoe hat Selbstmord begangen, und Tojo auch..."
„Wieder redest du so!" unterbrach ihn Furukawa. „Begreif doch: Tojo und Konoe, das sind gewöhnliche Menschen. Aber der Kaiser..., der Kaiser..." Furukawa reckte den Hals vor, stockte und suchte nach einem passenden Ausdruck. Was war der Kaiser? Ein Begriff, der schon immer, seit Furukawa denken konnte, in seinem Bewusstsein lebte. Aber als er jetzt versuchte, ihn in Worte zu fassen, begannen sich seine Gedanken zu verwirren. Sollte er sagen, der Kaiser sei ein Gott? Nein, das hätte übertrieben, pathetisch geklungen. Und „Oberkommandierender"? Das wäre auch unsinnig, denn es gab ja keine Armee mehr.
Plötzlich stieß Inoue einen Schrei aus. Auf dem Hemdkragen Furukawas wimmelte es von Läusen. Kobajaschi Schige, die dicht bei der Tür saß, schrie leise auf: „Um Himmels willen - Läuse!" Alle lachten und riefen durcheinander. Furukawa machte sich daran, die Läuse zu fangen - sein Gesicht war hochrot geworden. Vor den Mädchen konnte er es doch nicht mehr verbergen, und so hockte er mit zusammengezogenen Brauen da - ein Anblick zum Gotterbarmen. Er streckte die Hand mit den Läusen nach der Tür aus.
„Wie sie krabbeln, seht doch, wie sie krabbeln!"
Im Nebenzimmer brach ein Tumult los. Kobajaschi Schige war ganz aus dem Häuschen. Jamanaka Hatsue fuhr sich mit der Hand ins Haar. Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und war in äußerster Verlegenheit. Ihr Gesicht war feuerrot. Sie versuchte, Haltung zu wahren. Ein Kälteschauer lief ihr über den Rücken. Auch Jamanaka Kiku, die neben ihr saß, fuhr sich mit den Händen durch die Haare, dann lief sie mit dem Ruf: „Seht doch, wie sie wimmeln!" auf den Korridor hinaus. Furukawa rannte hinterher. „Unmöglicher Kerl!" sagte Schinitschi kopfschüttelnd und verließ mit Inoue das Zimmer. Kikus Schreien hörte man durch den ganzen Korridor.
Nakatanis Frau kam aus der Telefonzelle, die im Vorraum stand. „Sie werden am Telefon verlangt!" sagte sie lächelnd zu Schinitschi.
Er betrat die Zelle, hob ahnungslos den Hörer ans Ohr und zuckte im nächsten Augenblick überrascht zusammen.
„Wer ist am Apparat? Sind Sie es, Ikenobesan? Hier spricht... Ja, ich bin es..."
Kein Zweifel, es war Rens Stimme. „Ich bin in der Allee... Jaja, schnell bitte... Es ist sehr kalt hier..." Sie sprach hastig und aufgeregt.
Schinitschi eilte in sein Zimmer, zog seinen guten Anzug an und band eine Krawatte um. Dann überlegte er einen Augenblick und starrte zerstreut die Wand an. Plötzlich riss er die Krawatte wieder vom Hals und zog den Anzug aus. Ruhig, nur ruhig, befahl er sich selbst.
Er schlüpfte in eine verschossene blaue Joppe, warf einen alten schwarzen Mantel über die Schultern und stülpte eine gelbe Sportmütze auf den Kopf. Eine Zeitlang blieb er mit gespreizten Beinen stehen, ohne sich zu rühren, die Hände in den Taschen, und betrachtete aufmerksam die Bastmatten, die den Fußboden bedeckten.
Wenn sie von dem Wiedersehen mit ihm enttäuscht war, dann konnte man eben nichts machen...
Ohne in den kleinen Spiegel zu blicken, der auf dem Tisch stand, stieg Schinitschi in die Diele hinunter, zog die am meisten abgetragenen Getan an, die dort herumlagen, und trat in einem Gefühl trotziger Verzweiflung auf die Straße hinaus.
Raschen Schrittes ging er durch eine belebte Straße, an einem Kino vorüber; doch er bemerkte nichts von seiner Umgebung. Der eisige Wind rötete sein Gesicht Die Allee, in der Ren ihn erwartete, lag hinter dem Bahnhofsgebäude von Kami-Suwa. Früher war hier ein Vergnügungspark mit einer Reitbahn gewesen. Da war sie!
Kaum dass er Ren erblickte, schien alles ringsum in hellem Licht zu erstrahlen. Sie trug ein rundes Hütchen auf dem Kopf, Überschuhe an den Füßen und hatte die Hände tief in den Taschen ihres blauen Mantels vergraben. So stand sie neben einem jener uralten Bäume, die als Sehenswürdigkeit galten, und wandte ihm den Rücken zu.
Als er näherkam, drehte sich das runde Hütchen jäh um, und Ren neigte lächelnd die Stirn. Sie hatte Schinitschi schon von weitem erkannt, bevor er sie bemerken konnte. Gleich nach dem kurzen Gruß versteckte sie sich hinter dem dicken Baumstamm. Sie fürchtete wohl, dass jemand sie beobachten könnte.
Schinitschi hob hastig die Hand an die Mütze. Ohne ein Wort zu sagen, ging er um den Baum herum. Aber Ren war nicht mehr da. Sie war weitergegangen und schritt jetzt durch eine kleine Gasse, die hinter einem Badehaus entlangführte.
Die Sonne schien hell, und ganz nah schimmerte der See. Ein kalter Wind wehte. Auf den Zäunen trockneten Netze, welke gelbe Chrysanthemen hingen über eine Gartenmauer. Schinitschi hatte Ren fast eingeholt, als sie ebenfalls den Schritt beschleunigte, als wollte sie ihm zu verstehen geben, dass er nicht näher herankommen dürfe.
Schinitschis Verlegenheit wurde immer größer. In diesem Augenblick glich Ren dem jungen Mädchen auf der Fotographie überhaupt nicht. Der alte Mantel den sie schon im College getragen hatte, und der dunkelblaue Wollrock, der darunter hervorschaute, sahen sehr einfach aus. Die Wangen des Mädchens waren blau vor Kälte.
Als sie an den kleinen Fluss kamen, der in den See mündet, blieb Ren unvermittelt stehen und wandte sich zu Schinitschi um. „Ich... Nun bin ich gekommen...", stammelte sie.
Er blickte schweigend in ihr bleiches Gesicht. Die Erregung des Mädchens übertrug sich auf ihn und ließ sein Herz schneller schlagen. Ihre weitaufgerissenen, strahlenden Augen schienen zu sagen: Siehst du, hier bin ich, und gleichzeitig lag ein stiller Vorwurf darin: Und das alles deinetwegen.
Schinitschi litt innerlich Qualen. Er wusste, dass er sie eigentlich in die Arme nehmen und fest an sich drücken müsste. Nie gekannte Empfindungen durchströmten ihn. Jenes Gefühl, ihre Beziehungen zueinander wären zu wenig „erhaben", war auf einmal verschwunden.
Trotzdem war er außerstande, sich von der Stelle zu rühren.
„Weiß man denn bei Ihnen zu Hause davon?" fragte er und war sich bewusst, dass diese Worte weder seine eigenen noch ihre Gefühle ausdrückten.
Das Leuchten in ihren Augen wurde sofort schwächer und erlosch gleich darauf ganz. Sie senkte den Kopf.
„Natürlich, das kann ja gar nicht anders sein", verbesserte Schinitschi sich erschrocken. „Jeder Mensch muss schließlich arbeiten."
Langsam kam Farbe in ihr Gesicht. Als sie die Augen niederschlug, fiel Schinitschi zum ersten Mal auf, was für schöne Wimpern sie hatte. Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu, zog die Winkel ihres eigenwilligen Mundes herab, machte auf den Absätzen kehrt und lief mit raschen Schritten davon.
Schinitschi war außer sich. Er hatte dieses Wiedersehen herbeigesehnt und fast den Kopf verloren, als er ihre Augen erblickte, die ihm so deutlich sagten: Da bin ich, siehst du ... - doch er fand die Worte nicht, um seine Gefühle auszudrücken.
Sie gingen am Seeufer entlang. Um die Pfähle, die aus dem Wasser herausragten, und um die Schilfrohrstengel hatte sich Eis gebildet; weiter draußen aber wogten langsam schwere, bleigraue Wellen. Ab und zu flogen weiße Schaumspritzer auf. Der Wind zauste die kahlen Zweige der alten Trauerweiden, die wie zerrauftes Haar aussahen."
„Ich... Natürlich, ich kann ja nicht dagegen sein."
Aber was so leicht aus der Feder floss, das ließ sich nicht ohne weiteres laut aussprechen. Schinitschi wusste nicht mehr, wo sie sich befanden und ob es heiß oder kalt war. Er bemerkte nicht, dass Ren den Schritt verlangsamte, an seiner Seite blieb und ihm den Kopf zuwandte. Er spürte nicht, dass sich ihre Stimmung verändert hatte.
„Ich glaube nur... Ich finde, dass die Liebe... Die Liebe muss unbedingt die Seele des Menschen erheben . . .", sagte er und errötete vor lauter Verlegenheit bei jedem Wort mehr.
„Jaja", rief Ren plötzlich und packte Schinitschi am Arm. „Wir wollen dort hingehen, ja?" Sie zeigte auf die hohe Betonmauer des Rohrwalzwerks „Tojo", die einen langen Schatten auf die Wasserfläche warf. „Ich weiß. . ."
Schinitschi wunderte sich über den neuen Klang in ihrer Stimme. Ein zärtliches Lächeln erhellte ihre Züge.
„Ich habe alles verstanden. Sie sind wirklich ein guter, anständiger Mensch", sagte sie demütig. Sie ließen sich an einer windgeschützten Stelle unter der Mauer im welken Gras nieder.
„Sie werden in der Fabrikverwaltung arbeiten?" erkundigte sich Schinitschi.
„Ja."
„Und wann fangen Sie an?"
„Morgen. Morgen beginnt gerade ein neuer Monat."
Ihre Stimme war sanft. Sie drehte ihr Taschentuch zwischen den Händen, und ihr Gesicht im Schatten des Hutrandes sah kindlich aus.
Schinitschi vermied es immer noch, sie anzuschauen; aber diese Ren, die da neben ihm saß, war ihm verständlich und nahe. Langsam stieg ein Glücksgefühl in ihm auf.
In der Ferne, am gegenüberliegenden Ufer, sah man das Dorf Kogutschi in einem leichten, nebligen Dunst verschwimmen, den die Sonnenstrahlen bald blau bald violett färbten. Die kleinen und großen Häusel zogen sich bis dicht ans Wasser hinab.
„Wo werden Sie wohnen? Im Fabrikheim?"
„Nein, bei den Komatsu, in der Siedlung Sanbonmatsu." Das runde Hütchen schwankte, und sie verbesserte sich: „Ich meine, bei Verwandten in Sanbonmatsu. Von dort gehe ich zur Arbeit."
Das alles war Schinitschi ganz gleichgültig. Ren lachte, und ihr Kopf sank unvermutet an seine Schulter. Er staunte.
„Ich freue mich so!" Wie eine kleine, zarte Blüte tauchte ihr Gesichtchen plötzlich dicht vor seinem Kinn auf. „Ich werde jeden Tag in die Versuchshalle gehen, zum ,Täuberich' ... Ich werde schon einen Grund finden..."
Schinitschi sah Ren nicht an, und doch verstand er sie jetzt. Das runde Hütchen schaukelte vor seinen Augen, und die zärtliche, weiche Stimme umschmeichelte seine Ohren.
„Ja, Sie sind wirklich ein guter Mensch ... Ich will auch anfangen zu lernen. Dort in den Bergen ist es so langweilig ... Wissen Sie, ich habe großen Respekt vor Ihnen!"
Schinitschi saß stocksteif. Was würde sie in ihrer Leidenschaftlichkeit nur noch alles sagen? In diesem Augenblick fiel ihm ein, wie der Direktor ihn angeschrien hatte: „Macht, dass ihr rauskommt!" Die Beleidigung hatte sein Selbstbewusstsein empfindlich getroffen, und die Erinnerung an diese Szene war
so bedrückend lebendig, dass er es nicht fertigbrachte, Ren anzuschauen. „Ich werde arbeiten, und meine Angehörigen werden wohl auch bald keine Gutsbesitzer mehr sein", fügte sie leise hinzu.
„Was sagen Sie da? Warum denn?"
„Wie, Schinitschisan, das wissen Sie nicht?" Sie rückte ein wenig von ihm ab. „Ich habe gehört, es soll ein Gesetz herauskommen, eine Reform oder wie das heißt ... Mein Bruder ist schon ganz außer sich. Er will den Wald und das Land verkaufen und eine Fabrik aufmachen."
Schinitschi war verblüfft. Er wunderte sich, dass sie über die Bodenreform in einem so gleichgültigen, unbeteiligten Ton sprach und dass sie so sorglos dabei lächelte.
Nun blickte er sie doch an und fühlte, dass sie ihm noch näher gekommen war.
„Was Sie nicht sagen! Das ist doch sehr schlimm für Ihre Familie."
„Na ja, natürlich ist es schlimm."
Ren lächelte spöttisch. Dann erhob sie sich plötzlich und machte ein paar Schritte.
Schinitschi sprang auf und ging hinter ihr her. Sie tat ihm auf einmal leid, und er hätte ihr das gern gesagt.
„Aber ich kann doch auch nichts dagegen tun!" flüsterte sie mit abgewandtem Gesicht und zuckte mit den Schultern, als wollte sie eine drückende Last abwerfen.
Ja, das stimmt, dachte Schinitschi. Für sie muss das viel schwerer sein als für unsereinen, der gar keinen Überfluss kennt. Wird dieses kleine Mädchen, das da gesenkten Hauptes vor mir geht, die rauen Stürme des Lebens ertragen können, die ihm drohen? „Hören Sie..." Fast unbewusst legte er ihr die Hand auf die Schulter. Das war seine erste kühne Geste „Eine neue Zeit wird kommen, auch wenn Sie kein Land mehr haben. Die Hauptsache ist, dass man arbeiten kann. Alle werden gleich sein..." Er suchte nach den passenden Worten und blickte ihr in die Augen. Doch sie schienen undurchdringlich. „Sie... haben gewiss von dem Potsdamer Abkommen gehört?"
Mit einem Ruck befreite Ren ihre Schulter und lief rasch weiter. „Nein, davon habe ich nichts gehört", sagte sie abweisend.
Nun verstand Schinitschi sie wieder nicht mehr. Er senkte den Kopf und folgte ihr. Ohne dass sie es merkten, entfernten sie sich vom See und gingen wieder durch die Gasse hinter dem Badehaus. „Halt!"
Ren drehte sich jäh um, so dass Schinitschi beinahe mit ihr zusammengeprallt wäre, und drängte ihn durch eine Zaunlücke auf einen schmalen Pfad.
Sie presste sich an ihn und verbarg ihr Antlitz an seiner Brust.
Takenoutschi Tadaitschi und Komatsu Nobujoschi in braunen Ledergamaschen marschierten dicht an ihnen vorbei und unterhielten sich laut.
„Ob sie uns gesehen haben?" Ren griff nach Schinitschis Händen und drückte sie heftig. Ihr aufgeregtes Gesicht näherte sich dem seinen. Ein ängstlicher Schatten huschte darüber hin und verschwand gleich wieder. „Und wenn, mir ist es gleich." Und dann geschah es - ihre schwarzen Augen blitzten, sie hob sich auf die Zehenspitzen, und ihre Lippen berührten die seinen. Schinitschi wusste selbst nicht, wie es kam, aber auf einmal durchströmte eine ungeahnte Kraft seine Arme. Mit einem kurzen Aufschluchzen schmiegte sich das Mädchen an seine Brust.
Mitte Dezember 1945 fuhr Araki mit dem Nachtzug nach Tokio.
In Kofu wurde es so eng im Abteil, dass man sich kaum bewegen konnte. Im Gang und zwischen den Bänken standen die Fahrgäste dicht gedrängt. Manche saßen auf ihren Bündeln und Rucksäcken mit Lebensmitteln, die sie auf dem Lande eingehandelt hatten, und schliefen. Einige hatten es sich in den Gepäcknetzen bequem gemacht und ließen ihre Beine in Soldatenstiefeln herunterbaumeln. Andere unterhielten sich, wieder andere schimpften laut. Kinder weinten. Durch die zerbrochenen Fensterscheiben wehte der Wind den Rauch der Lokomotive herein. Die unbeleuchteten Wagen holperten klappernd und kreischend durch das nächtliche Dunkel und schwankten so stark von einer Seite auf die andere, dass sie jeden Augenblick umzustürzen drohten. Ab und zu verschwand der Zug in einem Tunnel.
Was tun? - Araki hockte in unbequemer Stellung, die langen Beine hochgezogen, am äußersten Ende einer Bank und wiederholte in Gedanken immerzu diese beiden Worte. Er hatte das Buch von Lenin, „Was tun?", mitgenommen in der Absicht, es unterwegs zu lesen. Doch bisher war er über die ersten Seiten nicht hinausgekommen.
Fortwährend wurde er angestoßen, und manchmal schlug ein Stiefel an seinen Kopf. Was tun? Was tun?
Das „Beratungskomitee" war aufgeflogen, die gesammelten „Vorschläge" waren abgelehnt worden, und die Arbeiter schienen nicht geneigt, sich zum Kampf zu erheben, obgleich das alles sie empörte.
Man war auf sich allein angewiesen. Die achthundert Arbeiter der Fabrik glichen einer blinden Herde.
Araki stellte den Kragen seines Mantels hoch, um sich gegen die Zugluft zu schützen, die durch das Abteil strich, schloss die Augen und ließ im Geist die Gestalten seiner alten Mutter, seiner Frau und seiner Kinder vorüberziehen, die er in der Dienstwohnung zurückgelassen hatte. Der Gedanke war wie eine Versuchung - sich seine eigene kleine Welt zu schaffen, seine Lieblingsbücher zu lesen, zu arbeiten. Seine eigene Welt, die ihm allein gehörte und in die niemand eindringen könnte! Dort würde er frei und unabhängig sein. Wenn er sich ruhig verhielt, dann war ihm die Stellung eines Abteilungsleiters, zumindest eines Werkhallenleiters, sicher.
Er verzog das Gesicht, als wäre ihm etwas Bitteres auf die Zunge geraten, biss die Zähne fest zusammen und öffnete die Augen weit. Auf seinem Schoß lag das Buch „Was tun?" Die Rückseite des Umschlages trug den Stempel „Araki", und darunter stand, mit der Hand geschrieben, der Name Araki Fumio. Es war die Unterschrift seines verstorbenen Bruders. Was tun?
Araki benutzte ein paar Urlaubstage, um nach Tokio zu fahren. Die Erkenntnis, dass er als einziger von achthundert Menschen, die in der Fabrik arbeiteten, die Dinge einigermaßen begriff, ließ ihm keine Ruhe. Man musste etwas tun. Der Zug erreichte Sarubaschi. Draußen wurde es allmählich hell.
Auf jeder Station stiegen neue Fahrgäste ein. Mit Säcken auf den Rücken kletterten sie durchs Fenster. Überall gab es Wortwechsel und Streitereien. Einmal wollte eine ältere Frau, die einen Sack über der Schulter trug, einsteigen. Sie hatte schon ein Bein durch den Fensterrahmen geschoben, als sie zurückgestoßen wurde und auf den Bahnsteig stürzte. So war es, wenn die Leute nicht verstanden, einmütig und geordnet zu handeln! Sie dachten ja nicht einmal darüber nach, warum sie das alles durchmachen mussten!
„Selbstbewusstsein! Klassenbewusstsein!"
Araki hatte den Eindruck, dass er allein in dem ganzen Eisenbahnwagen ein solches Bewusstsein besaß. Er glaubte, die Bedeutung dieses Bewusstseins noch nie so klar empfunden zu haben.
Ungewöhnlich lebendig waren in seinem Herzen die Erinnerungen an seinen verstorbenen Bruder.
Sein Vater hatte in Tokio bei der Eisenbahn gearbeitet. Er starb, als Toschio neun Jahre alt war. Die Familie - die Mutter und die beiden Söhne - lebte von einer einmaligen Unterstützung, die nach dem Tode des Vaters ausgezahlt wurde, und von einer kleinen Pension. Fumio, der ältere Bruder, wollte dem Jüngeren die Möglichkeit geben, etwas zu lernen; deshalb ging er arbeiten. So konnte Toschio die Schule und anschließend die ingenieurtechnische Fakultät der Universität Waseda besuchen. Dann bekam er eine Stellung im Werk Oi, das der „Tokio-Electro-Company" gehörte.
Fumio arbeitete als Setzer. Während der Massenverhaftungen im April 1929 wurde er festgenommen, nach etwa sechs Monaten wieder freigelassen und ein Jahr später erneut verhaftet. Diesmal zog sich die Untersuchung lange hin. Dreieinhalb Jahre saß er im Zuchthaus Tschiba. Als er herauskam, war seine Gesundheit zerstört. Einige Monate lag er im Krankenhaus; er starb, erst neunundzwanzig Jahre alt. Nach seinem Tode las Toschio manchmal heimlich die Bücher, die er hinterlassen hatte.
Er erinnerte sich nicht, mit Fumio jemals über den Kommunismus gesprochen zu haben. Er war selten
zu Hause, und wenn sie sich trafen, dann erkundigte sich Fumio, was das Studium mache, und bat seinen Bruder, sich um die Mutter zu kümmern. Er war ein eigensinniger Mensch. Toschio erinnerte sich noch ganz genau, wie er ihn mit der Mutter aus dem Zuchthaus Tschiba abgeholt hatte.
Tief gebeugt, scheinbar kleiner geworden, schlurfte er ihnen mit einem winzigen Bündel in der Hand zwischen den grauen Mauern entgegen. Dann gingen sie zu dritt durch einen langen Korridor in ein Zimmer mit weißgestrichenen Wänden und blieben vor einem hohen, kathederähnlichen Tisch stehen - in der Mitte die Mutter, zu beiden Seiten die Söhne.
Ihnen gegenüber saß der Anstaltsgeistliche, ein kahlköpfiger Mann mit scharf blitzenden Augen, der ein erstaunlich demütiges Wesen zur Schau trug. Aus seiner Westentasche baumelte eine mattglänzende Platinkette.
Er sprach lange und eintönig über die Reue und sagte, Fumio solle sich bessern.
Die Mutter stieß ihren Ältesten unauffällig in den Rücken. Sie hatte Angst, dass er versäumen könnte, eine Verbeugung zu machen.
Der Priester lächelte herablassend - er zeigte sein Verständnis für die mütterliche Besorgnis - und fuhr in seiner Rede fort. Da presste Fumio voller Zorn die Zähne aufeinander, drehte sich zur Wand und sagte leise, doch so, dass man jedes Wort verstehen konnte: „Was quatscht er bloß noch! Er soll machen, dass er fertig wird!"
Wie Araki Toschio jetzt so vor sich hin murmelte, glich er, ohne es zu wissen, seinem verstorbenen Bruder.
Er steckte das Buch in die Tasche, stand auf und drängte sich, mit seinen langen Beinen über die Bänke und die Köpfe der Menschen hinweg steigend, zur Toilette durch. Bei einer Schwankung des Wagens stieß er versehentlich einen grauhaarigen Mann an. Der hob den Kopf und rief überrascht: „Nanu, Arakisan!"
Das lächelnde Gesicht mit dem üppig wuchernden grauen Bart und den Runzeln in den Augenwinkeln sah aus wie das Bild des Gottes Daikoku. Ja, es war Torisawa Fumija. „Na, so was! Fahren Sie auch nach Tokio? Ich habe beim Bauernbund zu tun... beim Organisationkomitee im Bezirk Tschiba", begann Fumija wie immer mit lauter Stimme zu erzählen, obgleich niemand ihn gefragt hatte. „Auch bei uns in Kawasoi haben sich die Leute zusammengeschlossen - lauter ehemalige Mitglieder des Alljapanischen Bauernverbandes. Sie wollen die Sache energisch anpacken... Nun ja, und da hat man zu mir gesagt: ,Fahr nach Tokio und erkundige dich, wie dort die Dinge im Organisationskomitee stehen und wie es mit der Gründung des neuen Bauernbundes aussieht."'
Er holte eine Feldflasche unter dem Sitz hervor, zog einen in Zeitungspapier eingewickelten Zinkbecher aus der Brusttasche, goss etwas Reisschnaps hinein und reichte ihn Araki.
„Probieren Sie mal. Den hat meine selige Frau noch gebraut." Er leckte sich die Lippen. „Und wohin reisen Sie?"
Er hatte alles über sich berichtet und fragte nun Araki aus.
„Ich will nach Tokio, ins Hauptwerk", antwortete Toschio unbestimmt. Er wusste ja selbst nicht genau, warum er eigentlich nach Tokio fuhr. „Soso... in dienstlichen Angelegenheiten also." Fumija, der bedingungslos alles glaubte, was man ihm erzählte, sprach jetzt noch lauter, um das Rattern des Zuges zu übertönen. „Soso... Ähhm, gestatten Sie, dass ich Sie vorstelle... Dieser Herr ist ein Anwalt aus Okaja." Fumija schlug einem Mann in kurzer Joppe auf die Schulter, der vor seinen Füßen saß.
Die Arme um die Knie geschlungen, hockte der Anwalt auf einer ausgebreiteten Zeitung zwischen den Sitzbänken auf dem Fußboden. Er warf Araki einen Blick zu, wobei er leicht errötete und verlegen lächelte. Als er seine Mütze abnahm, sah man, dass sein Kopf schon fast kahl war.
„Doktor der Jurisprudenz Obajaschi Sentarosan. Und das ist Arakisan, Obermeister im Werk Kawasoi. Araki... Araki... Verzeihung, ich habe Ihren Vornamen vergessen."
„Araki Toschio."
„Ich bin gespannt, was nun aus Ihrem ,Beratungskomitee' wird", sagte der Anwalt unvermittelt.
Nanu? Woher weiß er etwas darüber? dachte Araki erstaunt.
Fumija schlug dem Anwalt wieder auf die Schulter. „Dieser Mann, jaja, dieser Mann hier, der wie ein junger Stutzer aussieht, hat schon in seiner Studentenzeit allerlei geleistet. Jaja...", rief Fumija und blickte von einem zum andern.
Obajaschi zog verlegen seinen Kopf ein. Fumija stieß jetzt mit dem Knie einen Mann an, der in einer Fensterecke lehnte und schlief. Er trug einen Mantel mit Pelzkragen. „Kintarosan, Kintarosan!" Der hagere Mann hob sein bleiches Gesicht, öffnete widerstrebend die Augen und begrüßte Araki kaum merklich durch einen kurzen Blick. „Das ist der Bruder von Torisawa Ren. Das Fräulein hat dieser Tage eine Stellung in Ihrem Büro angenommen." Während Fumija das erzählte, ließ sich Kintaro wieder gegen die Rückwand der Bank sinken und schloss die Augen. „Er fährt nach Tokio, um ein bisschen Geld zu machen, hehehe! Da haben Sie sich ja beide was Schönes vorgenommen", schwatzte der Alte. Offenbar hatte der Reisschnaps bereits gewirkt.
Torisawa Kintaro verzog den Mund zu einem säuerlichen Lächeln, ohne dabei seine Augen zu öffnen.
Eine Bewegung ging durch den Wagen. Der Zug fuhr langsamer. „Sind wir schon in Assagawa?" fragte Obajaschi und richtete sich auf. Araki beeilte sich, an seinen Platz zurückzugelangen. Der Lärm und die Unruhe hörten nicht auf. Vor dem Fenster huschte ein reifbedeckter
Bahndamm vorüber, der Holzzaun der Station Assagawa tauchte auf. Man hörte das Klirren eingeschlagener Fensterscheiben, und laut rufend stürzten Polizisten in den Wagen. „Alles aussteigen! Einzeln aussteigen! Einer nach dem andern!" Die Polizisten waren mit Gummiknüppeln bewaffnet und hielten die Fahrgäste zurück, die zu den Türen drängten. Einige versuchten, der Razzia zu entgehen, warfen die Säcke über die Schultern und sprangen auf die Gleise. Aber dort standen auch Polizisten und hielten sie fest.
Über den ganzen Bahnsteig verstreut, lagen aufgerissene Taschen, Bündel und Rucksäcke. Die Polizisten stampften mit ihren amerikanischen Stiefeln auf verschütteten weißen Reiskörnern herum. Araki stellte sich in die Reihe und wartete. In dem allgemeinen Durcheinander hatte er Torisawa Fumija und den Anwalt aus den Augen verloren. Erschrockene Kinder begannen zu weinen, die Frauen jammerten und flehten, die Männer murrten dumpf, und die Polizisten brüllten und fluchten. „Wehe, rote Fahne, hoch empor..."
Ein Windstoß trug plötzlich die Töne eines Liedes herüber, das von hohen, jungen Stimmen gesungen wurde. Araki blickte sich nach allen Seiten um, konnte aber außer der reifbedeckten weißen Erde nichts sehen. Dieses Lied hatte er schon einmal gehört... „Lieber Herr, bitte, lassen Sie mir doch wenigstens das!" Die Polizisten zerrten eine ältere Frau mit wirrem Haar und geflickten Überhosen aus dem Wagen. Sie heulte und schrie, stürzte zu Boden, ließ aber das Bündel nicht aus den Händen. „Ich habe fünf Kinder! Sie hungern schon seit Tagen... und warten auf mich... Ich bitte Sie... Bitte, bitte, lassen Sie mir das doch! Aah!" Der Schrei brach plötzlich ab; die Frau hatte sich aufgerichtet und biss dem Polizisten in die Hand. Im gleichen Augenblick aber entfiel ihr das Bündel und rollte über den Bahnsteig. „Was tun Sie! Was... tun... Sie... aah!" „Wehe, rote Fahne, hoch empor..." Wieder drang der Kehrreim an Arakis Ohr. Und jetzt sah er die Sänger - eine Gruppe Jugendlicher auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig, die offenbar auf den elektrischen Zug warteten. Es war eine kleine Gruppe - fünf, sechs junge Burschen in Soldatenhemden oder in Arbeitsanzügen und ein Mädchen in rotem Sweater.
Einer der Jungen schwenkte eine Bambusstange mit einem roten Tuch daran im Takt der Melodie hin und her. Sie sangen einträchtig, ihre Wangen waren gerötet, und mit jedem Wort drang eine kleine Dampfwolke aus ihren Mündern. Araki sah sie zum ersten Mal, diese stolze, rote Fahne! Wohin wollten die jungen Leute? Es waren wenige, aber ihre Einigkeit machte sie stark; sie strebten vorwärts. Und sie hatten so reine Stimmen und so offene Gesichter! „He du! Hierher!" Eine Hand senkte sich auf Arakis Schulter. Er schnürte seinen Rucksack auf, und sie nahmen ihm
die zwei oder drei Scho Reis und eine Portion Misobohnen weg, die er darin hatte. Nur ein paar kleine Reisplätzchen dürfte er behalten. „Fertig. Der nächste!"
Araki war fassungslos - es war das erste mal, dass er nach dem Kriege wieder in die Hauptstadt kam.
Er hing sich den leeren Rucksack auf den Rücken, stieg in die Straßenbahn und fuhr nach Schinagawa. Schließlich erreichte er den Stadtteil Sakuraki. Was er durch die Fenster der Bahnen von Tokio sah, war ein riesiger Schutthaufen. Von den großen Werken, die an der Eisenbahnlinie Tokio-Jokohama lagen, waren nur verbogene Stahlgerüste, Berge von Ziegelsteinen und rostigem Eisen und hohe Schornsteine übriggeblieben, die wie Grabmäler wirkten. Hunger und Zerfall ringsum...
Wer wird das alles wieder zum Leben erwecken? Das Hauptwerk der Gesellschaft mit seinen zahlreichen Abteilungen nahm ein ausgedehntes Gelände längs des Bahndammes ein und hatte eine besondere Zufahrt zum Bahnhof Kawasaki. „Ich möchte Tschibakun von der Lampenabteilung sprechen." „Und wer bist du?"
Als Araki vor dem Kontrollhäuschen am Eingang stand, kamen einige Männer auf ihn zu, befühlten ihn und drehten seinen Angestelltenausweis der „Tokio-Electro-Company" in den Händen hin und her. Schließlich sagte einer von ihnen: „Na schön, kann passieren."
Das alles erschien Araki merkwürdig. Er ging durch das Tor und blieb stehen, um den Fabrikhof zu betrachten. Er fühlte, dass hier etwas nicht stimmte, konnte sich aber nicht erklären, was es war.
Die Fabrik steht still, vermutete Araki beim Anblick der zerstörten Bauten im Hintergrund des Hofes. Die unter dem Druck der Luftminen geborstenen Betonmauern waren schwarz, und von einigen Gebäuden waren nur noch die Außenmauern da, alles andere hatten die Brandbomben zerstört.
Araki schritt durch das Innentor zu den Werkhallen. In der Vakuumhalle und in der Abteilung für Radioapparate war es merkwürdig still. Einige Männer mit schwarzen Ärmelschonern, offenbar die Meister oder Abteilungsleiter, flüsterten miteinander und hielten die Arme über der Brust verschränkt, als wüssten sie nicht, was sie tun sollten.
Araki kannte die Lage der Hallen in diesem Hauptwerk der Gesellschaft, in dem fünftausend Menschen beschäftigt waren, sehr gut.
Er lief durch die dunkle Lampenabteilung, die wie eine Höhle wirkte, und stieg die Treppe hinauf. Ein scharfer Geruch, der in der Kehle kratzte, schlug ihm entgegen. Er betrat einen Raum mit einer riesigen Maschine, die automatisch Glaskolben für Glühlampen herstellte.
„Tschibakun!"
„Kuuun", hallte das Echo von dem hohen Glasdach wider.
Arakis Freund arbeitete hier als Abteilungsleiter, doch hinter der Scheidewand, die sein Büro abtrennte, standen nur zwei oder drei leere Tische. Araki wandte sich brüsk ab und ging zur Treppe. Am Ausgang sah er sich noch einmal um und zuckte unwillkürlich zusammen. Eine Fabrik ohne Arbeiter! Unmittelbar vor ihm, in der Feuerung eines gewaltigen Schmelzofens, züngelten hohe purpurrote Flammen empor. Jahrzehntelang war das Feuer in diesem Ofen, in dem das Glas für gut die Hälfte aller Glühlampen Japans geschmolzen wurde, Tag und Nacht nicht erloschen.
Von der Decke senkte sich die riesige Tatze eines Krans mit ihren langen Krallen herab und tauchte mit rhythmischer Bewegung in die Feuerung. Wenn Arbeiter den Ofen bedienten, dann hob die Tatze mit einem Griff ein paar Dutzend Glaskolben heraus, die zuerst grellrot waren und dann, je mehr sie abkühlten, durchsichtig wurden und zu funkeln begannen. Jetzt aber streckte die Maschine in streng bemessenen Abständen von einer Zehntelsekunde mit dumpfem Gerassel einen leeren Greifer aus und senkte ihn über das Fließband. Unablässig wiederholte sie diese Bewegung.
Einige Fließbänder, die mit zahlreichen Vorrichtungen ausgestattet waren, um die Wolframfäden automatisch in die Kolben einzusetzen, die Luft auszupumpen, die Metallfassungen anzubringen, schließlich den Stempel „Matsuda" auf die fertigen Birnen aufzudrücken und sie zu je einem Dutzend in Kartons zu verpacken, glitten rasselnd durch die Betonvertiefungen. Aber sie liefen leer.
Eine überflüssige, sinnlose Bewegung im Halbdunkel in kalter, scharf riechender Luft...
Eine Fabrik ohne Arbeiter! Das war so unheimlich, dass Araki ein Schauer über den Rücken rann. Nie hatte er etwas Ähnliches gesehen. Erschüttert trat er auf den Hof hinaus. Wieder blickte er um sich. Da hörte er dumpfes Stimmengemurmel. Ein Windstoß trug Beifallklatschen an sein Ohr - es klang wie der Applaus von vielen Menschen. Araki lief zum Tor.
Als er draußen um die Ecke bog, fand er sich plötzlich auf einer großen, reif bedeckten freien Fläche, die mit Trümmern und umgestürzten Zäunen übersät war. Die Wolken hingen tief am Himmel; der Wind heulte. Eine unabsehbare dunkle Menschenmenge, wie vom Sturm zusammengeweht, strebte offensichtlich einem bestimmten Punkt zu, den Araki noch nicht wahrnehmen konnte.
Er lief an den dichtgeschlossenen Reihen entlang. Über einem schwankenden Meer von Köpfen leuchtete ein Plakat: „Wir gründen einen Gewerkschaftsverband der Arbeiter des Bezirks Horikawa!" Und nun erblickte Araki einen Mann in Arbeiterjoppe, der auf einer behelfsmäßigen Tribüne stand und in ein Mikrophon sprach. Aber der Wind trug seine Stimme fort; man sah nur, wie er die Lippen bewegte und den Kopf hoch emporreckte.
Plötzlich geriet das Menschenmeer in Bewegung. Beifall prasselte. Araki drängte sich nach vorn. „Tokuda... Tokuda Kjuitschi!" „Wer ist denn das? Ein Kommunist?" „Tokuda! Tokuda spricht!"
Ein kahlköpfiger Mann von kräftigem Körperbau trat vor das Mikrophon. „Kollegen!" begann er laut und deutlich; der Beifall verstummte, aber die Bewegung in der Menge ließ nicht nach. Die Menschen drängten näher an die Tribüne heran, um diesen Mann, der nach achtzehn Jahren Haft aus dem Gefängnis gekommen war, mit eigenen Augen zu sehen. „Ein großer Kerl!" „Pst!"
„Oho! Das ist er also?" flüsterten die Arbeiter. Ein geheimnisvoller, legendenumwobener Mensch war unvermutet vor ihnen aufgetaucht. Ungeachtet der Verleumdungen, die man über ihn in Umlauf setzte und durch eine lügenhafte Propaganda schürte, hatte er immer in den Herzen der japanischen Proletarier gelebt, die fühlten, dass ihnen dieser kraftvolle Mann nahestand.
„Seid doch still! Haltet den Mund!" „Ruhe!"
Aber ein jeder schien die Gestalt, die er sich in der Phantasie ausgemalt hatte, mit diesem Menschen vergleichen zu wollen, der etwas schielende Augen und ein rötlichbraunes Gesicht hatte und ganz einfach gekleidet war - er trug einen grauen Pullover und darüber eine schwarze Joppe. Die Arbeiter, die in dem kalten Wind fröstelten, wurden still und bemühten sich, die etwas heisere Stimme zu verstehen, die aus dem Lautsprecher drang. Einige lauschten mit niedergeschlagenen Augen, andere hielten die Hände hinter die Ohren, um nur ja keine Silbe zu verlieren. Ein junges Mädchen lehnte den Kopf an die Schulter einer Freundin.
Der Lautsprecher war schlecht; der Wind verwehte die Worte des Redners. Trotzdem konnte man ihn gut hören.
Tokuda sprach über den Krieg, seine Folgen für das japanische Volk und die Bedeutung des Potsdamer Abkommens. Er legte dar, was die japanischen Arbeiter unter „Demokratie" verstehen müssten und wie die demokratische Revolution zu verwirklichen sei. Schließlich behandelte er die Gründung von Arbeitergewerkschaften und ihre Aufgaben.
Araki wandte kein Auge von dem Redner. Tokudas Gesicht rötete sich; er geriet in immer größere Begeisterung. Jetzt kam er zu einer besonderen Frage, und Araki beugte sich weit vor: Dieser Mann - das war einer vom Schlage seines Bruders! „Natürlich verpflichtet das Potsdamer Abkommen die japanische Regierung, die Gewerkschaften zu unterstützen, ebenso wie die Bauernverbände und andere demokratische Organisationen. Dennoch, Kollegen, ist es unmöglich, ohne Kampf Arbeitergewerkschaften zu schaffen. Warum ist es unmöglich? Das wisst ihr genau! Die kapitalistische Regierung Japans hasst die Gewerkschaften ingrimmig. Ich spreche nicht von den Lakaien-Gewerkschaften, die auf Weisung von oben gegründet werden. Das ist etwas anderes. Die echten, unabhängigen Arbeitergewerkschaften sind es, die die Regierung hasst. Weil diese Gewerkschaften, die eine Waffe im ökonomischen Kampf der Arbeiter sind, gleichzeitig eine Waffe im Klassenkampf darstellen..."
Die eindringliche, hervorragend gegliederte Rede wurde durch einen Beifallssturm jäh unterbrochen. Araki stand mit niedergeschlagenen Augen da und biss sich auf die Lippen. Ohne Kampf ist es unmöglich... Man muss kämpfen...
Tokuda Kjuitschi verließ die Tribüne; die Menge geriet in Bewegung; die Menschen begannen, sich in verschiedene Richtungen über den weiten Platz zu zerstreuen. Jeder ging in seine Abteilung zurück. Araki aber rührte sich nicht vom Fleck, sondern starrte vor sich hin.
Da hatte er nun erwartet, dass sich die Arbeiter in Kawasoi von selbst in bewusste Kämpfer verwandelten. Mehr noch - er war unzufrieden gewesen, weil sie es nicht mit einem Schlag geworden waren.
„Oh, Arakisan!" rief plötzlich ein großer, schlanker Jüngling in zerrissenem blauem Pullover und stürzte auf Araki zu. „Wann sind Sie denn gekommen?"
Araki musterte das kindliche Gesicht des jungen Mannes, konnte sich aber nicht auf seinen Namen besinnen. Er nickte ihm zu und vermutete, dass es sich um einen der Lehrlinge handelte, die unter seiner Leitung im Werk Oi gearbeitet hatten. Wie hieß doch nur?
„Haben Sie die Rede von Tokuda Kjuitschi gehört? „Ja."
„Unsere ganze Zelle ist zur Versammlung gekommen", sagte der junge Mann mit einem Anflug von Stolz. Seine Augen unter der gewölbten Stirn strahlten. „Die Zelle?"
Araki war verblüfft. Er wusste, was das Wort „Zelle" bedeutet. Sollte dieser junge Bursche Kommunist sein? Und er sprach ganz offen darüber, als wäre es das Natürlichste von der Welt! „Ja wir haben eine Zelle. Und auch eine Gewerkschaft. So weit sind wir schon. Zuerst hatten die Fabrikherren und die Werkleitung miteinander ausgemacht, selbst eine Gewerkschaftsorganisation zu gründen", berichtete er eifrig und warf eine Haarsträhne aus der Stirn zurück.
Nach der Bildung dieser sogenannten Gewerkschaft begann in der Fabrik eine kommunistische Zelle zu arbeiten, die anfangs keine zehn Mann zählte. Auf ihre Initiative hin wurde eine Konferenz von Arbeitervertretern aller Abteilungen einberufen. Es ging um die Erhöhung der Löhne. Die Konferenz endete damit, dass eine unabhängige Gewerkschaftsorganisation geschaffen wurde, die sofort in Aktion trat. „Ihr seid tüchtig." „Ja, es ist kein schlechter Anfang."
Araki betrachtete das kühne, lebhafte Gesicht mit dem spitzen Kinn, und da erinnerte er sich plötzlich: Ja, natürlich, diesen Jungen hatte er doch einmal besucht, im Bezirk Meguro war es wohl, als er an Bronchitis litt und nicht zur Arbeit kommen konnte. „Sag mal, wie geht's dir denn jetzt gesundheitlich?" „Danke, gut", antwortete der junge Mann verlegen und schlug die Augen nieder. Gleich darauf blickte er Araki wieder an. „Entschuldigen Sie, ich muss mich verabschieden. Wir haben eine Sitzung des Gewerkschaftskomitees." Er verbeugte sich und fügte hinzu: „Man muss ununterbrochen beobachten und helfen. Das Klassenbewusstsein ist erst sehr schwach entwickelt."
Araki sah ihm lange verblüfft nach, wie er in Richtung der Fabrik davonlief und der Schmutz unter seinen Getan nach allen Seiten spritzte.
Der Name des Jungen fiel ihm noch immer nicht ein, aber das hatte jetzt keine Bedeutung mehr. Das wichtigste war für Araki der letzte Satz, den er ausgesprochen hatte: Das Klassenbewusstsein ist erst sehr schwach entwickelt...
Einige Stunden später verließ Araki staubbedeckt in Jojogi die elektrische Vorortbahn. Unter einer Brücke gegenüber dem Bahnhof blieb er stehen, faltete einen Stadtplan auseinander, betrachtete ihn eine Zeitlang und schritt dann die Straße hinunter.
Ohne zu wissen warum, beeilte er sich sehr. Vom Hauptwerk der „Tokio-Electro" war er geradenwegs
in den Bezirk Kanda gefahren und hatte einige Bücher gekauft, einfache, schmucklose Ausgaben, darunter „Lohnarbeit und Kapital", „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", „Über die Grundlagen des Leninismus"... Als er zum Schluss auf die Broschüre „Was muss man von den Gewerkschaften wissen?" gestoßen war, hatte er auf dem Umschlag die Adresse des Herausgebers - Zentralkomitee der Kommunistischen Partei - gelesen und sich gleich auf den Weg dorthin gemacht.
Jetzt darf ich mich nirgends mehr aufhalten, dachte er, sondern muss so schnell wie möglich nach Hause und anfangen, das Klassenbewusstsein zu entwickeln...
Von der Seite musterte er das neue Schild „Zentralkomitee der Kommunistischen Partei". Das niedrige Gebäude sah aus wie ein Kino. Unentschlossen ging er ein paarmal auf und ab, schließlich fasste er sich ein Herz und trat ein.
„Ich möchte ins Zimmer 30", wandte er sich an den Pförtner.
Der Vorraum war voller Menschen. Die meisten waren Arbeiter; sie hatten Soldatenhemden an oder abgetragene Mäntel. Dazwischen standen Eisenbahner in Uniformjacken, offenbar Angestellte der Staatsbahn. Und dann gab es noch einige Leute mit schiefaufgesetzten Baskenmützen - wahrscheinlich Künstler. Im Hintergrund sah man ein halbdunkles Zimmer mit einem Steinfußboden. Auch dort hielten sich zahlreiche Leute auf.
Araki wollte wieder gehen und zog die Riemen seines Rucksacks fest. Da trat jemand rasch auf ihn zu und tippte ihm an die Schulter. „Hier treffen wir uns also wieder!" Es war der Anwalt Obajaschi, den Araki im Zuge kennengelernt hatte. Er lächelte sein verlegenes Lächeln und hob die Hand an den Mützenschirm. Merkwürdig, er benahm sich völlig ungezwungen und schien sich hier ganz zu Hause zu fühlen. „Haben Sie Literatur bekommen?" Während Araki noch nach einer Antwort suchte, stellte Obajaschi ihn seinen beiden Begleitern vor. Einer von ihnen ergriff plötzlich Arakis Arm. „Sind Sie das - Araki Toschio? Und ich... ich heiße Kobajaschi Masaru. Ich habe mit Ihrem Bruder zusammen im Gefängnis gesessen." Kobajaschi trug keinen Mantel; seine schwarze Joppe stand ihm vom Körper ab. Das dunkle Gesicht mit dem spärlichen Bärtchen ließ keinen Schluss auf sein Alter zu. Seine Wangen zuckten nervös, und seine Augen hinter den Brillengläsern blitzten. „Kommen Sie, wir unterhalten uns draußen", sagte er.
Obajaschi ging voran und schlug die Richtung zu den Bänken in der Allee vor dem Haus ein. Der zweite Begleiter des Anwalts, ein Mann von etwa dreißig Jahren, war offenbar ein Arbeiter. Er trug eine Soldatenuniform. Er wurde Araki als Ogutschi vom Rohrwalzwerk „Tojo" vorgestellt. Alle vier nahmen auf einer Bank Platz. In seiner Verwirrung fiel Araki gar nicht ein, dass die Fabrik „Tojo" das große Unternehmen am Ufer des Suwasees war, gleich neben dem Werk Kawasoi.
Obajaschi fragte Araki und Kobajaschi über die Lage in Kawasoi aus.
„Bei ihm hat man zuerst mit dem Kampf um die Erhöhung der Löhne begonnen", sagte Obajaschi lächelnd und zeigte auf Ogutschi.
„Ja, wenn wir morgen eine negative Antwort von der Gesellschaft bekommen, dann treten wir in den Streik."
Kobajaschi, der den Kampf der Arbeiter im Rohrwalzwerk „Tojo" leitete, und Ogutschi waren als Vertreter der Arbeiter in die Hauptverwaltung gekommen. Kobajaschi hätte mit Araki sehr gern über vieles gesprochen und ihm von seinem verstorbenen Bruder erzählt, doch dazu war keine Zeit. Er sagte daher nur: „In Schimo-Suwa, also auch in Ihrer Nachbarschaft, rühren sich die Werktätigen ebenfalls und verlangen Lohnerhöhungen. Unter diesen Umständen kommt es zwangsläufig zur Schaffung einer Gewerkschaftsorganisation."
Araki blickte in die Ferne, in ein Tal hinab, das durch die Bäume der Allee zu sehen war. Auch hier bemerkte man überall Spuren der Zerstörung. Über den Erdhütten, in denen die Menschen hausten, stieg Rauch auf.
Araki fühlte, wie sich sein Gesichtskreis erweiterte. Die ganze Zeit hatte er nur an seine Fabrik gedacht, und nun stellte es sich heraus, dass dort, zwischen den Wäldern von Schornsteinen, die den Suwasee umgaben, bereits eine Flamme zu lodern begann. Hier, im Zentrum des Parteilebens, eröffnete sich ihm auf einmal ein unerwartet weiter Horizont. Er konnte sich kaum vorstellen, dass er Obajaschi, der da neben ihm saß und eben hell auflachte, erst vor kurzem im Abteil des Nachtzuges kennengelernt hatte. Das war ein paar Stunden her; doch Araki kam es vor, als wäre seitdem mindestens ein Jahr vergangen.
Liebes Äpfelchen, du schönes Äpfelchen...
Furukawa Schiro lag lang ausgestreckt auf den Bastmatten und sang. Dabei trommelte er mit den Füßen den Takt gegen die Wand.
Ihm war schwer ums Herz. In seiner Kehle schien eine Saite zu fehlen: Wenn er zu den höchsten Tönen kam, dann kippte seine Stimme um und wurde zu einem kläglichen Piepsen. Ab und zu hob er den Kopf, warf einen raschen, finsteren Blick auf Ikenobe und klopfte weiter mit den Füßen gegen die Wand.
Ich lege die Lippen an das rosige Ä-Ähähäpfelchen...
Schinitschi saß in der anderen Ecke des Zimmers am Tisch und tat nichts dergleichen. Er hatte die Finger in die Ohren gestopft und las in einem Buch.
Schiro war eben erst nach Hause gekommen. Er hatte unterwegs in einer Gasse nahe dem Bahnhof von
Kami-Suwa Sake getrunken. Und jetzt rekelte er sich auf den Bastmatten. Wie immer hatte er seine Uniform an; denn andere Kleider besaß er nicht. Das zerschlissene Hemd war verrutscht und ließ seinen Bauch frei. Als ihm das Singen über wurde, begann er, angelegentlich zur Decke emporzustarren. Seine dunklen Augen waren auf einen Punkt gerichtet, und er verhielt sich einen Augenblick ganz still, als lausche er auf irgendetwas. Im nächsten Moment aber senkten sich seine Brauen, seine Lippen zitterten, Tränen traten ihm in die Augen und rollten über seine Wangen auf die Hände, die er hinter dem Kopf verschränkt hatte.
Die Fenster bebten unter den heftigen Windstößen. Es war der vierte Tag im neuen Jahr, und die Fabrik arbeitete nicht. Die Wolken hingen tief, und Tag für Tag brausten eisige Winterstürme vom Gipfel des Jagatake über den fest zugefrorenen Suwasee.
Schiro verstand sehr gut, warum Ikenobe, dieser Kerl, nicht zu seinen Eltern nach Tokio gefahren war, obgleich er eine ganze Woche frei hatte. Ja, Schiro verstand alles sehr gut, und eben daher rührte seine schlechte Laune.
Immer war er so, dieser Ikenobe. Ständig hockte er über Versen oder Romanen. Konnte ein solcher Mensch denn begreifen, was in Schiro vorging?
Na ja, er hatte eben den Krieg nicht mitgemacht...
Ikenobe war auch einberufen, aber wegen seines Gesundheitszustandes - er hatte eine Lungenentzündung bekommen - noch während der dreimonatigen Ausbildung entlassen worden.
Schiro fühlte sich allein - er hatte alle Schrecken am eigenen Leibe spüren müssen. Der Wunsch, irgendwohin zu laufen, etwas Tollkühnes, Wagehalsiges zu unternehmen, ergriff ihn mit einer solchen Gewalt, dass er beinahe vor sich selbst Angst bekam. Die Augen traten ihm aus den Höhlen, als wollte er sich mit aller Kraft einem wahnsinnigen Verlangen widersetzen, und er fing wieder an, die Wände mit den Füßen zu bearbeiten.
Ich lege die Lippen an das rosige Ä-Ähähäpfelchen... Ruhig strahlt der Himmel...
Schinitschi bohrte die Finger noch tiefer in die Ohren und beugte sich so weit über das Buch, dass er es fast mit der Nase berührte.
Er las „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft". In der letzten Woche hatte er in seinem Innern eine Revolution durchgemacht. Bis dahin hatte er keine Ahnung gehabt, wie die Welt wirklich aussah. „Während in Frankreich der Orkan der Revolution das Land ausfegte, ging in England eine stillere, aber darum nicht minder gewaltige Umwälzung vor sich."
Es war ein schwieriger Text; aber die Stellen, die er zu erfassen vermochte, verblüfften Schinitschi. Zum ersten Mal in seinem Leben stieß er auf solche umwälzende Gedanken. Sie waren ebenso klar und einfach wie seine Drehbank - ohne ein einziges überflüssiges Schräubchen. Eine unbestreitbare, große Wahrheit strahlte ihn aus den Seiten dieses Buches an, eine so allumfassende, eine so tiefe Wahrheit, dass es schwer war, sie mit einem mal zu begreifen.
„Der Dampf und die neue Werkzeugmaschinerie verwandelten die Manufaktur in die moderne große Industrie..."
Die Manufaktur? Was war das - Manufaktur?
Das Äpfelchen erwiderte kein Wooort...
„Halt den Mund!" schrie Schinitschi. Er konnte es nicht mehr aushalten.
Doch der schrille Gesang riss nicht ab.
...Ruhig strahlt der blaue Himmel...
„Hör mal!" Schinitschi stand auf und hockte sich neben dem Hibatschi nieder, in dem kein Stückchen Kohle glühte. „So geht das doch nicht. Du kennst nichts anderes als Saufen."
Statt einer Antwort lächelte Schiro nur ironisch und trommelte noch heftiger mit den Füßen gegen die Wand. Seit sich Schinitschi mit den neuen Ideen befasste, erschien ihm sein Freund so klein, so kläglich und töricht, dass er wütend wurde, wenn er ihn nur zu Gesicht bekam. Er bildete sich ein, es wäre nicht Furukawa, der sich hier auf dem Fußboden wälzte, sondern er selbst, wie er noch vor wenigen Tagen gewesen war, und sein Zorn wurde noch größer.
Wenn wir Arbeiter alle so sind wie der, dachte er, dann nützen uns die besten Wahrheiten nichts, und das Leben wird wie früher voll Betrug und Sorgen sein. „Du solltest lieber etwas arbeiten, was meinst du?"
Schinitschi warf einen Blick in die Zimmerecke. Auf der zusammengerollten Matratze lagen ein paar alte Zeitungen, eine Sporthose, ein Frühstückskästchen und dazwischen einige der Bücher, die Araki in Tokio gekauft hatte. Offenbar war nicht eines davon auch nur aufgeschlagen worden. „Wir müssen entschlossener werden. Ein fürchterlicher Feind steht vor uns - der Kapitalismus. Dadurch, dass du säufst, änderst du nichts."
Schiro hörte plötzlich auf zu trampeln. „Wir haben gar nicht begriffen, wie das Leben in Wirklichkeit ist", sagte Schinitschi. „Deshalb mussten wir uns im Krieg totschlagen und unsere Häuser niederbrennen lassen. Aber es geht uns immer noch nicht ein, was und wofür alles..." „Was quatschst du da?"Schiro sprang mit einem Ruck auf. Er wurde rot vor Wut und zog ein Gesicht, als hätte Schinitschi ihn schwer beleidigt. „Du warst nicht im Kriege", brüllte er, „und darum weißt du auch nicht, was Krieg ist. Was redest du für einen Unsinn? Krieg - das ist Heldentum, das ist etwas viel Ernsteres, als du glaubst!"
Furukawa hatte bisher nicht alles, was er hatte durchmachen müssen, verarbeitet und begriffen. Nur eines fühlte er ganz deutlich: die zahllosen Wundnarben, die seinen Körper und seine Seele verunstalteten, und den Schmerz von diesen Wunden, den nichts milderte. Wofür war das alles?
Manchmal glaubte er, es wäre für den Kaiser oder für das Vaterland oder auch nur, damit er am Leben bleiben durfte. Doch alle diese Gründe waren nicht stichhaltig; man brauchte nur ernsthaft darüber nachzudenken, und schon verloren sie jeden Sinn. Das Leben aber wurde dann ganz unerträglich.
Wenn Schiro allein war und seinen Gedanken nachhing, dann verschwanden diese unklaren Überlegungen völlig, ihm glitt endgültig der Boden unter den Füßen weg, und er fühlte sich verlassen und hilflos wie ein Papierdrachen, dessen Schnur gerissen ist. „Was quatschst du da? Ich trinke für mein eigenes Geld! Du brauchst mir keine guten Lehren zu geben!"
Er warf Schinitschi einen finsteren Blick zu, riss seinen Mantel vom Haken und stampfte aus dem Zimmer. Schinitschi blieb schweigend sitzen. Ein Schatten legte sich über seine Züge.
Schiro stürzte zwei Glas Sake auf einmal hinunter. Ein heftiger Schauder durchrann seinen Körper.
Er saß in einer winzigen Imbissstube. Auf dem Fußboden stand ein Hibatschi aus Ziegelsteinen. Die Plätze am Nebentisch waren leer. Das Bahnhofsviertel war eines der belebtesten von Kami-Suwa. In den Nebengassen, die vom Bahnhofsvorplatz abzweigten, drängten sich zwischen den Hotels zahllose Bars, kleine Gaststätten und ärmliche, schmutzige Imbissstuben. Hier waren die Preise sehr
niedrig; deshalb war Schiro in eine dieser Spelunken eingekehrt. „Noch ein Glas!" Hinter einer Schoji, die den Raum in zwei Hälften teilte, tauchte ein mürrischer alter Mann mit einer Flasche in der Hand auf. Schweigend schenkte er den Sake ein.
Schiro war jetzt nicht zum Singen aufgelegt. Hin und wieder nahm er einen Schluck aus seinem Glas und blickte durch die Scheiben der Schoji. In einer Ecke des halbdunklen Raumes kauerte eine grauhaarige Frau mit dem Rücken zu Schiro am Herd. Sie schien krank zu sein; denn offensichtlich fiel ihr selbst das Sitzen schwer.
Diese alte Frau im dunklen wattierten Kimono erinnerte Schiro schmerzlich an seine Mutter. Er wandte sich ab, stützte die Ellbogen auf den Tisch und ließ den Blick über die Zimmerdecke gleiten. Das Trinken hatte er sich an der Front angewöhnt. Er trank hastig, in großen Zügen, als wäre es ihm anders nicht möglich, seinen Durst zu stillen. Zwischen den feuchten Flecken an der Decke glaubte er das Gesicht seiner Mutter zu sehen; doch sobald er genauer hinschaute, verschwand es wieder. Schiro war ihr Sohn aus zweiter Ehe. Bei seiner Geburt war sie vierzig Jahre alt gewesen, und als er an die Front zog, ging sie schon ganz krumm vor Alter. Wie mochte sich das alles abgespielt haben dort in Tokio, als die amerikanischen „Fliegenden Festungen" den Stadtteil Fukagawa mit Feuer übergossen? Wie mochte seine Mutter in den Flammen umhergeirrt sein, und was hatte sie geschrien, als sie zu Boden stürzte? Wen hatte sie gerufen, als sie starb?
Schiro glaubte, das Krachen der Bomben ganz dicht neben sich zu hören, und seine Phantasie trug ihn an die Front zurück...
Da liegt er im glühenden Ufersand. Jetzt öffnet er die Augen und erblickt vor seinem Gesicht eine abgerissene Hand, deren Finger noch zucken. Das Transportschiff, auf dem man die Soldaten beförderte, wurde torpediert und flog in die Luft. Schiro erinnert sich, dass er auf Deck stand und mit einem beklemmenden Gefühl zusah, wie sich der Torpedo, der ein langes, weißes Kielwasser hinter sich ließ, langsam aber unausweichlich näherte. Dann verlor er das Bewusstsein und erwachte erst wieder im Meer. Ringsum schwammen Holzstücke und Ölflecke.
Rot, gelb, schwarz... ein Krachen, dieser spezifische Geruch... Zahllose Erinnerungen, zusammenhanglos und wirr, durchtobten sein aufgepeitschtes Gehirn, und er glaubte, wieder an der Front zu sein. Ein Bild folgte dem andern...
Ein dunkler Winkel in einer Scheune. Der Fußboden ist mit Sägespänen bedeckt, die einen starken, beißenden Geruch ausströmen. Durch die Ritzen in der Bretterwand dringen Streifen blendenden Sonnenlichts. Draußen huschen die Gestalten der Soldaten vorbei, die auf ihre Abfertigung warten. Man hört, wie sie schimpfen und lachen. Dicht vor seinen Augen, den Kopf gegen die Wand gepresst, liegt eine Frau. Ihr schmales Gesichtchen, umrahmt von Haaren, die auf koreanische Art hochgekämmt sind - ein Antlitz, das stumm aufschreit vor Erniedrigung und Schmerz... qualvoll weitaufgerissene Augen... Das war der erste Fall in seinem Leben, der sich wie ein glühendes Eisen in sein Hirn gebohrt hat. Diese Erinnerung allein versetzte ihn in einen halbwahnsinnigen Zustand. „Zahlen!" rief er.
In einem Zug trank er das Glas leer. Dann nahm er Geld aus der Tasche, warf es auf den Tisch, stand auf, stieß gegen die Glastür und torkelte hinaus. „Was hat der Halunke da gefaselt?" Wütend spuckte er aus. „Was hat er von Kapitalismus gequatscht?" murmelte er vor sich hin, während er weiterstolperte. In Gedanken stritt er immer noch mit Ikenobe.
In Wirklichkeit hätte Schiro, selbst wenn er betrunken war, niemals die Hand gegen Ikenobe erhoben. Warum er es nicht konnte - das wusste er selbst nicht. Aber er spürte dunkel, dass ein Schlag gegen Ikenobe dasselbe gewesen wäre wie ein Hieb auf den eigenen Kopf.
„Und was die Kommunistische Partei anbelangt, so ist das..." Jemand zupfte ihn am Ärmel, und er taumelte. Der Geruch von billigem Puder umhüllte ihn. „Einen Augenblick, junger Mann..." „Was hat er da gefaselt?" Er stieß einige Frauen beiseite und gelangte auf einen beleuchteten Platz. Ein paarmal versanken seine Füße im Schmutz.
Aus unerklärlichen Gründen versuchte er, ein Reklameplakat am Eingang eines kleinen Restaurants herunterzureißen. Er schwankte bald nach rechts, bald nach links. Nur weiter, weiter...
Natürlich wusste er selbst nicht, wohin er wollte und weshalb er es so eilig hatte.
Der Wind heulte. Schiro kam auf eine breite Straße. Das Pfeifen einer Lokomotive ertönte. Nun ja, das ist eine Lokomotive, dachte er und fühlte, wie ihm übel wurde. Menschen drängten sich an ihm vorbei. Fahrräder rollten auf ihn zu, als wollten sie ihn umwerfen. Laternen huschten vorbei, und der Wind stieß ihm in den Rücken.
Was hat er da gefaselt?
Am Bahnhofsvorplatz tauchte ein Jeep auf und sauste mit großer Geschwindigkeit auf ihn zu. Seitdem er erklärt hatte, er „trinke für sein eigenes Geld", wusste er, dass er immer derselbe bleiben würde. Darum jagte er die ganze Zeit so beharrlich vorwärts. Und als jetzt dieser große Körper in seinem Gesichtskreis erschien, der rasend schnell durch Streifen von Licht und Finsternis flog, war es Schiro, als müsste er ihn unbedingt packen, und er stürzte ihm entgegen.
Der Jeep wurde jäh zur Seite gerissen; man hörte Fluchworte in einer fremden Sprache.
Im nächsten Augenblick war der Jeep verschwunden. Benzingestank hing in der Luft. Überschüttet vom Geschimpfe der Leute, lag Schiro im Dunkeln am Straßenrand, wohin man ihn getragen hatte. Verständnislos blickte er sich um.
„Hast ganz hübsch tief ins Glas geguckt, mein Lieber", schlug eine Frauenstimme an sein Ohr. Er wälzte sich auf die Seite; sein Kopf dröhnte, und sein ganzer Körper schien wegzuschwimmen. Über ihm strahlte der kalte, dunkle Sternenhimmel.
Allein, ganz allein war er, und es kam ihm vor, als versänke er immer tiefer. „Mutter!"
Und wieder ertönte die Frauenstimme in der Finsternis:
„Na, na! Komm, steh auf!" Die Frau hatte eine dicke Puderschicht auf dem Gesicht. Sie hockte sich neben ihn und betastete seinen Mantel. Er warf die Arme um ihren Hals. „Oho, ist der Mann aber schwer!"
An die Schulter der gepuderten Frau geklammert, folgte Schiro ihr gehorsam in eine Seitengasse und wischte sich im Gehen mit der schmutzigen Hand sein tränennasses, verschmiertes Gesicht ab.
Alles um ihn schwankt sonderbar.
Da, jetzt bremst der Jeep und schleudert zur Seite. Das Kreischen der Bremsen klingt Schiro noch in den Ohren. Er öffnet die Augen und erblickt die Zimmerdecke dicht über seinem Kopf. Fenster sieht er nicht; doch von irgendwoher dringt Licht herein, in den schrägen Sonnenstrahlen tanzen Staubkörnchen. Das Kreischen kommt von unten. Es ist eine elektrische Säge: Im Erdgeschoß wird Holz gesägt.
Langsam wurde Schiro bewusst, dass er sich im Dachgeschoß einer Tischlerei befand.
Er blinzelte, kniff die Augen aber sofort wieder zu. Neben seinem Lager hantierte eine Frau geräuschvoll mit Geschirr. Sie trug ein Kind auf dem Rücken; dem Aussehen nach war sie wenigstens vierzig Jahre alt. Ihre Wangenknochen traten scharf hervor, die Vorderzähne fehlten; es war dieselbe Frau, die ihn in der Nacht hierhergebracht hatte.
Jetzt war sie nicht gepudert wie am Abend zuvor; aber woher kam das Kind? Bruchstückhaft erwachte in seinem Gedächtnis die Erinnerung an das, was sich ereignet hatte. Anscheinend hatte er tüchtig herum krakeelt... Dunkel entsann er sich, dass die Frau ihm den Mund zuhalten wollte und er ihr in die Hand biss... Eine Nacht... Halt, was war das? Eine Nacht... Jetzt fiel ihm ein, dass die Frau in seinen Taschen gewühlt und ein paar Zehn-Jen-Scheine gefunden hatte. Nun ja, es kostete hundert Jen. Hatte er ihr nicht etwas versprochen? Aber was? „Bist du aufgewacht, mein Lieber?" fragte die Frau, als sie merkte, dass Schiro nicht mehr schlief. Sie sprach einen ländlichen Dialekt.
Schiro stand auf und zog sich an. Sein Kopf war noch immer wie mit Blei gefüllt. „Du siehst nur so mager aus, sonst bist du stark." Eine grobe Hand mit rissiger Haut stellte eine Tasse Tee vor ihm hin. Es war ihm nicht möglich, den Kopf zu heben. Aus dem Augenwinkel betrachtete er die ärmliche Mansarde. Sie war leer, ohne Möbel, nur auf dem Fußboden lagen Bastmatten.
Die Frau setzte einen Kupferkessel auf das Kohlenbecken und schob das Kind auf ihrem Rücken zu Recht. „Also, ich gehe mit dir."
Was bedeutete das? Was hatte er ihr versprochen? Noch immer außerstande, etwas zu begreifen, sah er die Frau misstrauisch an. Ihre kleinen Augen blitzten auf.
„Na, nun stell dich bloß nicht dumm! Ich habe dich nicht zum Vergnügen eingeladen!"
Sie stieg ihm voraus die Treppe hinunter, die so steil r, dass man sich auf ihr den Hals hätte brechen können. Als sie auf der Straße standen, erinnerte sich Schiro endlich an alles. Am Abend zuvor hatte er nicht genug Geld gehabt, und er hatte der Frau versprochen, ihr heute den Rest zu geben.
Sie ging in einigem Abstand hinter ihm und hielt das Kind auf dem Rücken fest. An einer Kreuzung aber holte sie ihn ein. Es war unmöglich, ihr zu entwischen.
Im Fabrikheim herrschte Ruhe - heute war der erste Arbeitstag nach Neujahr. Schiro ging in sein Zimmer und blieb einige Sekunden nachdenklich stehen. Sein letztes Geld hatte er vertrunken. Da bemerkte er Schinitschis Armbanduhr auf dem Tisch. Er griff danach und lief die Treppe hinunter. „Was bekommt man dafür?"
Die Frau führte ihn zum Laden eines Wucherers in einer Seitengasse hinter dem Bahnhof, nahm ihm die Uhr aus der Hand und sagte: „Lieber keinen Skandal..."
Sie betrat den Laden. Als sie wieder herauskam, hielt sie statt Ikenobes Uhr einen Hundert-Jen-Schein in der Hand.
Sie kramte in ihrem Korb und zog die fünfzig Jen hervor, die sie Schiro am Abend aus den Taschen genommen hatte, gab sie ihm und lächelte plötzlich liebenswürdig mit ihrem schwarzen, zahnlosen Mund.
„Komm wieder, mein Lieber!" Er wandte sich ab. Sein Gesicht zuckte, als hätte er einen Schlag erhalten, seine Brauen sanken herab. Eine Weile blieb er unbeweglich stehen und starrte auf den Boden.
Schiro konnte keine Ruhe finden...
Wieder schleppte er sich in die kleine Imbissstuben mit dem Lehmfußboden wie am Tage vorher, trank mehrere Glas Schnaps, wurde berauscht und legte sich mit dem Oberkörper auf den schmierigen Tisch.
Wohin sollte er gehen?
Seit dem gestrigen Abend wurde er von dem Wunsch getrieben, irgendwohin zu laufen. Aber wohin - das wusste er nicht. Jetzt war ihm alles gleich - Dieb oder Räuber, ganz egal... Schwarzhandel und Glücksspiel waren ihm zu läppisch. Er brauchte etwas anderes, etwas, für das er sich ganz einsetzen musste, das ihm helfen würde, ein neues Leben anzufangen, zu seinem wahren „Ich" zurückzufinden, das schon seit seiner Einberufung zur Armee verschüttet war.
Kraftlos sank sein Kopf auf den Tisch. Ab und zu blickte er zur Tür. Draußen heulte der Wind; die Sonnenstrahlen zitterten in den Fensterscheiben. Von Zeit zu Zeit erschienen Gäste am Nebentisch, gingen aber sofort wieder, als hätte sie der Anblick Schiros erschreckt.
Für ihn war alles aus. Er hatte sich sogar das Vertrauen Ikenobes verscherzt, des einzigen Menschen, der ihm nahestand, des einzigen, den er noch hatte. Sein Körper und seine Seele waren beschmutzt. Entzücken, Erbeben vor den Frauen - nichts war geblieben... Jenes qualverzerrte Antlitz der Koreanerin an der Scheunenwand! Diese Frau mit der schwarzen Mundhöhle, die ihn anschrie: „Na, nun stell dich bloß nicht so dumm!" „Schenk noch einen ein, Alter!" Die Schoji wurden auseinandergeschoben; der alte Mann mit der Flasche trat langsam ein und goss das Glas voll Reisschnaps. Schiro leerte es in einem Zuge und ließ den Kopf wieder auf die Tischplatte sinken. Er war benebelt, aber betrunken, richtig betrunken wurde er merkwürdigerweise nicht.
Der alte Mann mit der Flasche verschwand und schloss die Schoji hinter sich.
Schiro warf einen Blick durch die Scheibe ins Nebenzimmer; doch die Alte hockte nicht neben dem Herd.
Vielleicht lag sie zu Bett... Das Wetter war schlecht heute...
Wohin ist alles entschwunden?
Er betrachtete die feuchten Flecke, die sich auf der Tapete gebildet hatten. Ihre Form erinnerte an geöffnete kleine Schirme - und wieder stürmten die Erinnerungen auf ihn ein.
Der neue dunkelblaue Kimono mit den weiten Ärmeln! Das war im Januar desselben Jahres, als der Krieg im Stillen Ozean begann... Schiro saß an dem kleinen Esstisch und trug zum ersten Mal den Kimono mit den weiten, unbequemen Ärmeln.
„Was ist daran lächerlich? Du bist doch jetzt erwachsen, ein selbständiger Mensch! Schließlich kannst du nicht dein Leben lang in der kurzen Joppe umherlaufen", sagte die Mutter, die beobachtet hatte, dass er bei jeder Bewegung unruhig auf seine Ärmel sah. Sie hatte ihm gegenüber Platz genommen, ebenfalls festlich gekleidet, mit einem weißen Schal um den Hals. „Kann man sie nicht abschneiden, Mutter?" „Wo denkst du hin? Natürlich nicht. Wie viele Jahre habe ich auf den Tag gewartet, an dem du diesen Kimono anziehen würdest!"
Weite, dunkelblaue Ärmel. Der Mutter Hoffnung und Schiros Träume... Der Kimono war verbrannt... Die Mutter war verbrannt...
Krieg! Was ist das eigentlich - Krieg? Plötzlich erwachten Zweifel in ihm. Dann bedrängten ihn von neuem verworrene, vielfältige Erinnerungen und Gestalten. In seinen Ohren rauschte es. Die Flecke auf der Tapete ähnelten nun nicht mehr kleinen Schirmen, und alles verschwand. Eine Wange in die Hand gestützt, stierte er lange mit leeren Augen die verglaste Tür an, auf der die Strahlen der Abendsonne tanzten. Dann schrak er zusammen und hob den Kopf. Die Tür öffnete sich mit leisem Klirren einen Spalt weit, und Ikenobe Schinitschi steckte den Kopf herein. Er kommt sicher wegen der Uhr, dachte Schiro. Er starrte Ikenobe böse an und beugte den ganzen Körper so heftig zurück, dass er beinahe von dem runden Schemel heruntergefallen wäre.
„Ich habe sie nicht... Hier!" Er kramte in der Tasche, zog den Pfandschein heraus und warf ihn Schinitschi vor die Füße. Dann versuchte er aufzustehen, torkelte und plumpste zu Boden.
„Wo warst du gestern Abend?" fragte Ikenobe.
Schiro machte verzweifelte Anstrengungen, wieder hochzukommen; er wollte nicht, dass sein Freund ihn anfasste. Endlich schob er sich mit Mühe, über und über beschmutzt, auf den Schemel und ließ den Kopf auf den Tisch sinken.
„Geht dich gar nichts an", murmelte er. Eine Weile blieb Ikenobe mit über der Brust verschränkten Armen schweigend hinter ihm stehen. Schiro hatte keine Mütze bei sich, wahrscheinlich hatte er sie verloren. Der Schmutz auf seinem Rücken begann einzutrocknen.
„Komm mit nach Hause. Du musst mal ordentlich ausschlafen. Es ist nicht gut, wenn du so viel trinkst."
Da fegte Schiro Gläser und Teller vom Tisch und fing an zu toben. Ein heftiger Stoß mit dem Ellbogen schleuderte Ikenobe gegen die Bretterwand.
„Furukawa!" Mit einem Ruck stand Schiro auf. Er schwankte zur Tür und blieb wie erstarrt stehen: Vor ihm stand Araki, in warmer Jacke, ein Handtuch über dem Arm.
Wie immer nach Neujahr, hatte der Arbeitstag Mittag geendet, und Araki war nach Kami-Suwa gefahren, um zu baden. „Na, du, nicht so hitzig! Schluss mit dem Unfug!" Sekundenlang starrte Schiro, die Unterlippe vorgeschoben, Araki an, dann drehte er sich brüsk zur Wand um.
„Du bist nicht der einzige, der im Kriege war", sagte Araki scharf und setzte sich auf den Schemel. „Das heißt natürlich nicht, dass du alles schweigend ertragen sollst, aber solche blödsinnigen Ausfälle..."
Schiro stand leicht schwankend da, das Gesicht der Wand zugekehrt.
„Wer einen Kopf auf den Schultern hat, der versucht, sich über das klarzuwerden, was geschehen ist; der versucht zu verstehen, warum es überhaupt Kriege gibt. Weißt du noch, was der Kaiser in seinem Manifest zur Kriegserklärung verkündet hat und was er gesagt hat, als der Krieg aus war? Das eine lässt sich nicht mit dem andern vereinbaren. Darüber denken die Menschen jetzt nach. Aber sie besaufen sich nicht und benehmen sich nicht wie Rowdys."
Furukawa Schiro stierte wütend die Wand an; doch jedesmal, wenn Arakis Worte ihn trafen, zuckte sein Gesicht krampfhaft.
„Wie kannst du nur solche Dummheiten machen", fuhr Araki fort. „Der Krieg hat nicht dir allein Kummer gebracht." Schiro lehnte sich gegen die Wand, als fürchtete er zu fallen. Plötzlich schien etwas in ihm aufzubrechen, und bittere Tränen stürzten ihm aus den Augen. „Mutter, Mutter", schluchzte er, am ganzen Körper zitternd.
So hatte er damals, in der fernen Zeit seiner Kindheit, an der Schwelle des Häuschens in Fukagawa, geweint und nach seiner Mutter gerufen...
Aufheulend verkündete die Sirene den Beginn der Mittagspause. Ikenobe Schinitschi aß stehend an seinem Arbeitsplatz. Dabei las er in dem Buch „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft". Ab und zu legte er die Essstäbchen beiseite und griff nach einem Rotstift, um eine Zeile anzustreichen. Nach dem Essen schob er das Buch in die Tasche und verließ die Werkhalle, in Gedanken noch immer mit dem Gelesenen beschäftigt. Er überquerte die Brücke über den Tenrju und stieg auf einem Fußpfad bergan.
„In der Warenproduktion, wie sie sich im Mittelalter entwickelt hatte, konnte die Frage gar nicht entstehen, wem das Erzeugnis der Arbeit gehören solle. Der einzelne Produzent hatte es in der Regel
aus ihm gehörendem, oft selbsterzeugtem Rohstoff mit eigenen Arbeitsmitteln und mit eigener Handarbeit oder der seiner Familie hergestellt. Es brauchte gar nicht erst von ihm angeeignet zu werden, es gehörte ihm ganz von selbst. Das Eigentum am Produkt beruhte also auf eigener Arbeit... Da kam die Konzentration der Produktionsmittel in großen Werkstatten und in Manufakturen, ihre Verwandlung in tatsächlich gesellschaftliche Produktionsmittel."
Alles ringsum - die Brücke, der Pfad, die Felder an den Berghängen - schien völlig menschenleer. Am Ufer des Flusses hatte sich Eis gebildet, und unten im Tal, zwischen den Fabrikschornsteinen, pfiff der Wind.
„Sei auf der Hut, auch wenn niemand zu sehen ist", hatte Araki ihn gewarnt, doch Schinitschi hatte die Mahnung vergessen. Er kannte die Gegend gut; an sonnigen Tagen kam die Fabrikjugend oft hierher, an diese kleine Brücke, um sich zu erholen.
In den letzten vier Wochen war Schinitschi ernst und nachdenklich geworden. Er fühlte, dass sein Gesichtskreis mit jedem Tag weiter wurde. Er kam sich sogar morgens anders vor als am Abend zuvor.
Es war ein schwerverständliches Buch. Saint-Simon, Thomas More, Fourier, Owen und die anderen ausländischen Namen klangen ungewohnt. Vieles begriff Schinitschi nicht. Was bedeutet zum Beispiel das Wort „Metaphysik"? Oder was für ein Ereignis in der Geschichte der europäischen Länder war die „Reformation"? Manche Seiten waren vollständig mit fremden, komplizierten Ausdrücken bedeckt.
Dafür übten die Stellen, die er gut verstand, einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn aus. „...So fuhr jetzt der Besitzer der Arbeitsmittel fort, sich das Produkt anzueignen, obwohl es nicht mehr sein Produkt war, sondern ausschließlich Produkt fremder Arbeit."
Was für eine große Wahrheit! Schinitschi wusste zwar mit Worten wie „Produktionsweise" oder „Produktionsmittel" noch nichts anzufangen, aber die klaren und einfachen Formulierungen drangen in sein Bewusstsein und erhellten alles ringsum mit strahlendem Licht. Sie zogen ihn an wie ein Magnet. Die letzten Zeilen hatte er verstanden. Sein ganzes Leben bestätigte sie. Seit seiner Lehrzeit hatte er nichts anderes getan, als verschiedene „Produkte" herzustellen - elektrische Zähler, Drehzahlmesser, alle möglichen Apparate -, und nicht ein einziges Zahnrädchen gehörte ihm, nein, alles gehörte der Company. Er selbst war nur ein Arbeitssklave, der für einen kärglichen Lohn neue Werte schuf.
Plötzlich trat Kisuke hinter einem Hügel hervor. „Die Versammlung hat schon angefangen", erklärte er. „Seit Ikesan eine Liebste hat, kommt er ständig zu spät. Hab ich recht?" „Was ist los?" Schinitschi war noch immer mit seinen Gedanken beschäftigt und hatte gar nicht begriffen, was dieser Bursche mit dem roten Käppi von ihm wollte.
„Onokisan meint auch..." Der junge Mann steckte die Hände in die Taschen und stampfte frierend mit den Füßen. „Seit Rentjan wieder in der Fabrik ist, sagt er, hat Ikenobe ganz und gar den Kopf verloren."
„Rede keinen Unsinn." Schinitschi schnippte ihm mit den Fingern in den Nacken.
Die Felder waren zu Ende, und Schinitschi kam in den Wald.
Noch vor kurzem hatte er alle seine Anstrengungen darauf gerichtet, so gut wie möglich zu arbeiten und recht viel Geld zu verdienen. Mit etwas Glück konnte er es zum „niederen Angestellten der Gesellschaft" bringen. Jetzt sanken alle diese Pläne in sich zusammen.
Es gab viele, die genauso waren, wie er selbst noch vor wenigen Tagen gewesen war. Jeder - der Kaiser und die Kapitalisten, die Grundherren und die Staatsbeamten, die Lehrer und die Polizisten - bemühte sich, die Wahrheit zu verbergen. Tausenden, aber Tausenden hatte man Scheuklappen aufgesetzt.
„Alle wissen das, alle...", scholl die vertraute, durchdringende Stimme Onokis an sein Ohr. Schinitschi trat auf eine kleine Lichtung hinaus.
„Alle wissen es schon; man spricht ja ganz offen darüber. Nur - wie soll ich sagen...", Onoki stockte und suchte nach dem passenden Ausdruck. „Kann man denn offen darüber reden? Man braucht nur davon anzufangen, gleich sieht einen der Meister so an, dass..."
Sie hatten sich hier in den Bergen versammelt, um die Möglichkeiten für die Gründung einer Gewerkschaft zu besprechen. Onoki berichtete, dass im Hauptwerk der Company bereits eine Gewerkschaft bestehe. Im Werk Kawasoi ging das Gerücht, man habe eine Lohnerhöhung um das Fünffache gefordert; aber die Leute waren durch den Ausgang der „Vorschlägesammlung" eingeschüchtert und wagten nicht, ihre Unzufriedenheit kundzutun.
„Mit anderen Worten, du willst sagen, dass es schön wäre, wenn sich eine Maus finden würde, die der Katze ein Glöckchen um den Hals hängt", bemerkte Nakatani, der im Grase saß, den Rücken gegen einen Baumstamm gelehnt. Alle lachten.
„Wie wär's, wenn wir einen Aufruf in den Werkhallen aushängen würden?" schlug Araki vor, als wieder Ruhe eingetreten war, und ließ den Blick über die Versammelten schweifen. „Wenn wir eine ,Initiativgruppe des Werkes Kawasoi' bilden und für Lohnerhöhung und für Gründung einer Gewerkschaft agitieren würden? Mag es zuerst nur eine ,Initiativgruppe' sein, sobald ein Aktiv auftaucht, werden auch andere anfangen, offen zu sprechen." „Richtig!" stimmte Kassawara zu und meinte, jeder solle in der Abteilung, in der er arbeite, einen Aufruf aushängen. „Und wer macht es im Kontrollraum, in der Schleiferei und in der Montagehalle eins, wo niemand von uns beschäftigt ist? Solange wir keine Organisation haben, geht keiner in eine fremde Werkabteilung, selbst wenn er seit zehn Jahren in der Fabrik arbeitet."
Ich mache es, dachte Schinitschi. Er war in gehobener Stimmung. Jetzt, da sich die Wahrheit vor ihm auftat, fühlte er sich fähig, alles zu tun, was man von ihm erwartete. Doch da kam ihm einer zuvor. „Ich gehe hin." Alle schauten Furukawa an und lächelten unwillkürlich, weil er so niedergeschlagen und hoffnungslos aussah.
Er saß auf der Erde, hatte die Arme um die Knie geschlagen und den Blick abgewandt. Aus seiner Hosentasche ragte die Broschüre „Was muss man von den Gewerkschaften wissen?" heraus. Wohl oder übel hatte man ihn zu dieser Versammlung einladen müssen, kannte er doch ohnehin den Inhalt der ersten Nummer der „Akahata". Seine trübselige Miene schien zu sagen: Ich bin zu nichts nütze, aber das kann ich machen.
Selbst Schinitschi wusste nicht, ob Schiro die Broschüre über die Gewerkschaften gelesen hatte oder nicht, und wenn ja, ob er etwas davon begriffen hatte. Schinitschi hatte nur bemerkt, dass Furukawa seit den Vorhaltungen Arakis still und gedrückt war wie ein krankes Tier.
Während alle diskutierten, hockte Furukawa da und starrte zwischen den Felsen hindurch auf den Suwasee, dessen Eisdecke wie eine silberne Schale glitzerte. Aber er schien nichts zu sehen und zu hören.
„Montagehalle eins - Toki Hana - ,Lohnarbeit und Kapital' und ,Die Entwicklung des Sozialismus
von der Utopie zur Wissenschaft', je ein Exemplar; in derselben Abteilung - Jamanaka Hatsue und Jamanaka Kiku - die Broschüre ,Was muss man von den Gewerkschaften wissen?', je ein Exemplar; Montagehalle zwei - Kaischima Nobuko - ,Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft', ein Exemplar..." Kassawara las die Namen derer, die Bücher bekommen hatten, von einem Notizblock.
„Kaischima Nobuko? Ist das die Kontoristin aus der Montagehalle zwei?" fragte Araki. Er ließ im Geiste die Menschen vorüberziehen, die die Bücher lesen würden. Wenige, sehr wenige gab es unter ihnen, die den Inhalt verstehen konnten!
„Tschidschiwasan aus der Schleiferei hat zu mir geschickt und um die Broschüre ,Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft' gebeten, aber ich habe es abgelehnt", erklärte Schinitschi energisch. Er erwähnte das nur nebenbei. Nakatani aber widersprach ihm: „Falsch. Du hättest es ihm geben sollen. Nicht wahr, Araki? Tschidschiwa ist doch anscheinend ein zuverlässiger Mensch..." Dann setzte er misstrauisch hinzu: „Woher weiß er es überhaupt? Ist er selbst bei dir gewesen?" „Nein", begann Schinitschi verlegen, doch Onoki unterbrach ihn mit lauter Stimme: „Wahrscheinlich war Rentjan die Vermittlerin."
Alle lachten, und Schinitschi wurde dunkelrot, obgleich er fühlte, dass er gar keinen Grund hatte, sich zu schämen. Ren las dieses Buch ebenfalls, und Schinitschi glaubte, dass sie es ebenso gut verstand wie er selbst.
Araki entwarf einen Text für den Aufruf. Nachdem er ein paar Zeilen geschrieben hatte, hielt er inne, presste die Lippen fest zusammen und blickte auf das Papier. „An alle!
Wir gründen eine Gewerkschaft. Unser Ziel ist die Erhöhung der Löhne. Für unseren Lohn kann man gerade ein Kilogramm Reis kaufen. Im Hauptwerk der Company haben die Arbeiter bereits..."
Araki schob das Kinn in den Kragen seiner blauen Arbeitsjoppe. Er war bleich, und in seine Stirn gruben sich zwei tiefe Falten. Schinitschi kannte dieses Gesicht seit langem, jetzt aber erschien es ihm fremd.
Früher wirkten die Falten auf Arakis Stirn wie ein Zeichen ständigen, kummervollen Grübelns, als ließe ihn die Erinnerung an seinen verstorbenen Bruder nicht los. Jetzt aber sprach aus diesem Antlitz eine unbeugsame Kraft und das Bestreben, etwas Großes, Bedeutendes zu leisten.
„Das wirbelt gewiss viel Staub auf", bemerkte Kassawara und hockte sich neben Nakatani nieder. „Da hilft auch die Unterschrift ,Initiativgruppe' nichts. Der ,Frosch' sieht uns ohnehin schon lange scheel an." Nakatani nickte.
„Und zu allererst wird er über Araki herfallen: ,He, Araki, du bist entlassen!'" fiel Onoki ein.
Araki vollendete den Text für den Aufruf und blickte eine Weile nachdenklich mit zusammengekniffenen Augen über den See.
„Der Aufruf muss noch heute vor Feierabend geklebt werden", sagte er und überreichte Nakatani den Schreibblock. Dann setzte er sich bequemer zurecht und umfasste die Knie mit den Händen. „Noch eins sollten wir nicht die Mitglieder des ,Beratungskomitees' hinzuziehen? Man kann mit ihnen sofort ein Vorbereitungskomitee zur Organisierung der Gewerkschaft zusammenstellen." „Hm..."
„Auf diese Weise können wir die Initiative ergreifen und dem ,Frosch' zuvorkommen." Nakatani nickte bedächtig.
Schinitschi wurde ungeduldig. Das Gesicht des Direktors fiel ihm ein und sein Gebrüll: Macht, dass ihr rauskommt! Jetzt weckte dieses Gesicht keine Furcht mehr in ihm, sondern nur noch Hass.
Zwischen den Bäumen tauchte ein rotes Käppi auf, und Jamanaka Kisuke erschien. Man sah ihm an, dass er eine wichtige Meldung brachte. Er lief auf Araki zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. „Was? Takenoutschi?" schrie Onoki, der einige Worte aufgefangen hatte. „Verfluchter Spion! Dem werden wir einen Denkzettel verabreichen!"
Kassawara und Nakatani standen auf. Habe ich vielleicht nicht aufgepasst und ihn auf die Spur geführt? überlegte Schinitschi. Aber nun war es zu spät, etwas zu unternehmen. „Was sollen wir tun?
Takenoutschi ist immerhin Mitglied der Sozialistischen Partei. Er hat gewiss seine Pläne und wird nicht gegen die Gewerkschaft protestieren", meinte Araki.
Auf der Lichtung erschien Takenoutschi in seinem schwarzen Jackett, das er gewöhnlich bei der Arbeit trug. Die Hände hielt er auf dem Rücken verschränkt.
„Ach, da sind ja alle beieinander", rief er und tat, als wunderte er sich darüber. Ein süßliches Lächeln umspielte seine schlaffen Lippen. Die Äuglein unter den struppigen Brauen huschten von einer Seite zur andern.
Araki streifte ihn mit einem flüchtigen Blick. „Ich bringe ihn so weit, dass er sich einverstanden erklärt, in der Gewerkschaft mitzuarbeiten. Dadurch entwaffne ich ihn", sagte er leise zu Nakatani.
Als am Nachmittag in der Montagehalle zwei der Aufruf an den Stützpfeilern klebte, stellte sich die kleine Jamanaka Kiku immer wieder auf die Zehenspitzen und reckte den Hals, um von ihrem Platz an der Maschine aus den Text zu lesen. Aber da sie kurzsichtig war und die Schriftzeichen vor ihren Augen verschwammen, konnte sie nichts entziffern. Außerdem war sie böse auf Oikawa Mitsu, die an der Maschine neben ihr arbeitete.
Oikawa Mitsu, ein großes, schlankes Mädchen mit blassem Gesicht, las laut, ohne sich von ihrem Platz zu rühren: „,An alle! Wir gründen eine Gewerkschaft. Unser Ziel ist die Erhöhung der Löhne.' Ist das denn möglich? Was meinst du?" Jamanaka Kiku vermied hartnäckig, Mitsu anzusehen, und antwortete nicht. Sie kochte innerlich. Wie konnte Mitsu es wagen, sich auch noch anzubiedern?
Die Gespräche über den Anschlag versetzten die ganze Abteilung in Aufruhr. Dieser Anschlag ähnelte in keiner Weise den Bekanntmachungen, die gewöhnlich hinter dem Tisch des Abteilungsleiters hingen. Das Plakat klebte an einer Säule, mitten in der Werkhalle. Obermeister Kassawara saß an seinem Arbeitstisch und tat, als ginge ihn die ganze Geschichte nichts an; aber die Arbeiterinnen wussten, dass er zu der „Initiativgruppe" gehörte, die den Aufruf unterzeichnet hatte. „Ist das denn möglich?"
„Was ist eigentlich eine ,Gewerkschaft'?" hörte man flüstern.
Die jungen Mädchen waren es noch nicht gewohnt, ihre Meinung zu äußern, selbst dann nicht, wenn es sich um die Erhöhung ihrer Löhne handelte.
Doch sie spürten, dass sich hinter der Sache etwas Ernsthaftes verbarg. Obermeister Kassawara tat nicht dergleichen, aber die Kontoristin Toki Hana ging durch die Abteilung und erklärte den Arbeiterinnen leise, was eine Gewerkschaft ist. Alles geschah heimlich, also gegen den Willen der Company.
Das war sehr aufregend.
in der Abteilung, in der fast nur Frauen beschäftigt waren, wurde es unruhig. Wäre nicht das unablässig weiterrollende Fließband gewesen, dann hätte es wahrscheinlich in einigen Ecken der Halle geheime Zusammenkünfte gegeben.
Die Frauen und die Mädchen saßen an den Längsseiten des Fließbandes in Abständen, die durch die Zeit für die Montage der einzelnen Teile bestimmt waren. Spulen wurden gewickelt, Gehäuse montiert, Skalen und Achsen geprüft. Am Ende der Halle wurde alles auf ein anderes Fließband übergeleitet, das in entgegengesetzter Richtung lief. Hier verwandelten sich die Einzelteile in Zähler, wie man sie überall in Japan in jedem Haushalt sehen kann. „Na schön, ich sehe es mir mal an." Die mutige Jamanaka Kiku stoppte die Maschine, trat vor den Pfeiler, stützte die Hände in die Hüften und las. Sie begriff selbst nicht, wie sie die Kühnheit aufbrachte, etwas so Unerhörtes zu tun.
„Na und? Stimmt's?" erkundigte sich Oikawa Mitsu, als Kiku an ihren Platz zurückkehrte; aber sie bekam keine Antwort. Kiku umwickelte geschickt einen vierkantigen Metallstab mit Isolierband, trat auf das Pedal und zog den Hebel heran. Dünne, mit bloßem Auge kaum wahrnehmbare Drahtfaden ringelten sich aus der Spulmaschine.
„Was meinst du, werden wir mehr Lohn bekommen, wenn es eine Gewerkschaft gibt?" fragte Oikawa Mitsu.
Sie war erst siebzehn Jahre alt, aber größer als Kiku. Ständig kaute sie irgendetwas. In dem schwarzen Arbeitsanzug mit den engen Ärmeln wirkte sie sehr mager. Die großen Augen in dem bleichen, vor Kälte blauangelaufenen Gesicht fielen besonders auf. „Aber ob es ohne Streik gehen wird? Ich glaube
kaum...", meinte sie. „Streik? Was meinst du denn damit?" Kiku war nach wie vor böse auf Mitsu. Natürlich wusste sie, was ein Streik war, aber ihre Gedanken waren mit anderen Dingen beschäftigt. Sie dachte auch nicht mehr daran, dass man sie vor ein paar Tagen überredet hatte, die Broschüre „Was muss man von den Gewerkschaften wissen?" zu kaufen. In dieser Broschüre gab es eine unglaubliche Menge chinesischer Schriftzeichen. Kiku hatte versucht, die Stellen zu lesen, die in japanischen Silbenzeichen (Anm.: Die moderne japanische Schrift ist eine Mischung von chinesischen Schriftzeichen und japanischen Silbenzeichen.) gedruckt waren; doch all das erschien ihr so uninteressant, dass sie die Broschüre sofort in ihren Kleidersack steckte und nicht wieder anrührte.
Kiku hielt Oikawa Mitsu für eine Diebin. So eine freche Person! Von zehn Fladen, die Jamanaka Hatsue in eine Zeitung gewickelt und in ihren Wandschrank gelegt hatte, war nur noch die Hälfte übrig. Außer den Zimmergenossinnen kam niemand als Dieb in Frage; natürlich war es Mitsu, die schon früher mitunter heimlich fremde Brotrationen aufgegessen hatte, dachte Kiku.
Mitsu stammte nicht aus einer Bauemfamilie. Ihr Vater, ein Schuhmacher in Schimo-Suwa, war seit langem schwer krank. „Ach, wie schön wäre es, wenn wir mehr Lohn bekämen", sagte sie kindlich naiv. Mit gewohnter Bewegung streckte sie die Hand nach dem Hebel aus, nahm die fertige Spule von den Eisenstangen ab, legte sie aufs Fließband, griff von neuem nach dem Hebel und steckte eine Hand in die Tasche. „Ich bin mit allem einverstanden, auch mit einem Streik", sagte sie mit ihrer monotonen, singenden Stimme. Die sechs Spulmaschinen zu beiden Seiten des Fließbandes führten die gleichen Arbeitsgänge aus; Mitsu schaffte ebenso viel wie die andern; doch ihr Lohn betrug nur zwei Drittel von dem, was Kiku. verdiente - drei Jen fünfzig Sen täglich.
„Ah, Mitsutjan isst etwas Schönes!" rief Kiku hitzig. Sie konnte sich nicht länger beherrschen und blickte das Mädchen, das gerade etwas in den Mund schob, wütend an.
Mitsu aber beobachtete aufmerksam die Drehungen der Spule und schwieg.
Kiku leckte einen Bleistift an und kritzelte auf einen Zettel: „Ich weiß, wer die Fladen gestohlen hat." Auf die Rückseite schrieb sie: „An Jamanaka Hatsue." Dann legte sie den Zettel heimlich, damit Mitsu es nicht sähe, auf das Fließband. Mitsu hatte nichts bemerkt. Ihr Gesicht war noch bleicher geworden als sonst, und sie riss die Augen weit auf; ihr war schwindlig...
Die Spulen kommen von der Maschine auf das Fließband, werden mit Isolierband umwickelt und weitergeschickt bis zum Arbeitsplatz von Jamanaka Hatsue. Sie sitzt vor einem Widerstandsmesser, greift flink nach den Spulen, die das Fließband heranträgt, und drückt die Enden der Drähte in eine Steckdose. Der Zeiger schlägt aus, und wenn er einen bestimmten Strich auf der Skala erreicht hat, dann legt Hatsue die Spule rasch wieder auf das Band und greift nach der nächsten. Erreicht der Zeiger nicht den gewünschten Teilstrich, so drückt Hatsue einen Stempel „Ausschuss" auf und wirft die Spule in einen Korb. Es ist eine monotone, ermüdende Arbeit. Hatsues Bewegungen sind gleichmäßig wie die eines Uhrwerks. „Hör mal, Hatsutjan, diese Gewerkschaft gefällt mir nicht. Es sind also nur die Arbeiter, die das anzetteln?" fragte Tojoda Schige, die mit dem Rücken zu Hatsue in einer Gruppe von Arbeiterinnen saß. Sie schraubte die Zählergehäuse fest. „Da wir Arbeiter sind, ist es auch unsere Sache. Es wäre doch schön, wenn man uns den Lohn erhöhen würde."
„Natürlich! Richtig!" riefen Stimmen von allen Seiten. Hatsue aber sagte nichts mehr; sie war noch schweigsamer als gewöhnlich.
Woher kam überhaupt mit einem mal dieses Potsdamer Abkommen? Wer war stärker, das Potsdamer Abkommen oder die Company? Und die japanische Regierung - war sie mit dem Abkommen einverstanden oder nicht?
Hatsue hatte die Broschüre über die Gewerkschaften viel aufmerksamer und mit viel größerem Interesse gelesen als Kiku; trotzdem verstand sie nicht ganz, was dieses Abkommen bedeutete. Auch für sie war es etwas ganz Neues. So etwas hatte es noch nie gegeben. Zweifellos stand alles, was hier vorging, in irgendeinem Zusammenhang mit diesem Potsdamer Abkommen.
Die zurückhaltende, verschlossene Hatsue nickte nur als Antwort auf alles, was die Freundinnen zu ihr sagten, oder sie lächelte schweigend, wobei sich in ihren Wangen kleine Grübchen bildeten. In Wirklichkeit war sie erregt. Als sie zusammen mit einer Spule den Zettel Kikus erhielt, ihn umdrehte und las, dachte sie nur: Ach, diese Kikutjan! Immer weiß sie alles früher als die andern. Sie sollte lieber nicht so voreilig sein! Sie schob den Zettel in die Tasche und vergaß ihn sofort. „Jamanakasan, einen Augenblick..." Toki Hana beugte sich zu Hatsue hinunter und flüsterte ihr ins Ohr, dass sich alle Angehörigen des „Beratungskomitees" nach der Arbeit im Speisesaal versammeln würden.
„Hörst du? Hast du verstanden?" fragte Toki Hana noch einmal. Hatsue errötete und nickte. Hana wollte weitergehen, da stieß sie plötzlich einen Schrei aus und stürzte auf die gegenüberliegende Seite des Raumes. Hatsue sah, wie sie zu den Spulmaschinen rannte, begriff im ersten Augenblick aber nicht, was los war.
„Jamanakasan! Hatsutjan!" vernahm sie Kikus Stimme. Hatsue sprang auf; Meister Kassawara lief an ihr vorbei. Einige Arbeiterinnen hatten sich neben den Spulmaschinen versammelt, und eine rief: „Sie ist ohnmächtig geworden!"
„Rasch, bringt sie ins Ambulatorium", ordnete Kassawara an. „Hatsutjan!" rief Kiku mit kläglicher Stimme. Sie hatte Oikawa Mitsu die Hände unter die Achseln geschoben und versuchte, sie aufzurichten. Mitsu war bleich wie der Tod, ihre Augen waren geschlossen, und ihre Arme hingen kraftlos herab. Neben ihr auf dem Fußboden lag ein Stückchen Rettich.
In Begleitung von Jamanaka Kisuke, der eine Konservenbüchse voll Kleister trug, stieg Furukawa Schiro, einen Packen Aufrufe unter dem Arm, von Stockwerk zu Stockwerk, ging von Werkhalle zu Werkhalle, von der Schleiferei in die Werkzeugabteilung, von der Montagehalle in die Kontrollabteilung. Wenigstens das will ich tun, wenn ich schon zu nichts anderem tauge, schien sein Gesicht zu sagen.
Allmählich begann ihm seine Beschäftigung Freude zu machen. Allerdings hätte er den Grund nicht zu nennen gewusst. Er geriet in eine übermütige Stimmung wie in seiner Knabenzeit, wenn er mit den andern Herbstfeuer am Flussufer anzündete.
Die Aufregung der älteren Meister belustigte ihn.
Er stieg ins erste Stockwerk hinauf und betrat die Montagehalle eins, wo die elektrischen Uhren und Drehzahlmesser zusammengesetzt wurden; hier arbeiteten viele Frauen.
Schiro näherte sich dem Tisch des Obermeisters und neigte den Kopf.
„Guten Tag. Ich möchte gern einen von diesen Zetteln ankleben."
Der Meister, ein Mann von etwa vierzig Jahren, betrachtete Schiro, der inzwischen an ihm vorbeigegangen war und die Wand hinter dem Arbeitstisch musterte, erstaunt durch seine Brillengläser.
„Was ist das für eine Bekanntmachung?" fragte der Meister.
„Einen Augenblick... so, ja..." Schiro kletterte ohne weiteres auf den Stuhl, von dem sich der Meister soeben erhoben hatte, warf einen Blick über die ganze Werkhalle, und gerade, als alle zu ihm hinsahen, klebte er den Aufruf sorgfältig und fest an. Der Meister las ihn, erschrak, lief aufgeregt hin und her; doch die Augen der Arbeiter hingen wie gebannt an dem Plakat; es wäre dumm, wenn man es wieder abreißen würde.
„He, he, warte mal..."
Schiro war schon an der Tür, als der Meister ihn einholte. An den Ölflecken auf Schiros schmutziger Uniform konnte man sofort erkennen, dass er in der Dreherei arbeitete.
„Wer hat befohlen, das Plakat anzukleben?"
Doch dann überlegte der Meister, es wäre am besten, wenn der Kleber das Plakat selbst entfernte. „Hör mal", sagte er, „das geht aber nicht! Nimm es wieder ab." „Nein, das lassen wir hängen..." Schiro machte eine abweisende Handbewegung. Der Meister wurde wütend. „Runter damit, hörst du? Was ist das für eine ,Initiativgruppe'? Ein Meister aus eurer Dreherei, ja?"
Schiro verlor für einen Augenblick die Fassung. Er ließ den Kopf hängen und schob die Unterlippe vor. Jamanaka Kisuke beobachtete unruhig sein verlegenes Gesicht. Doch dann blickte Schiro auf, und um seine Augen bildeten sich zahllose Fältchen. „Was das ist? Das ist... äh... wie soll ich sagen... Das ist unser Recht als Arbeiter, ja, das ist es!" stieß er hervor. „Das Recht der Arbeiter?" „Jawohl!"
Schiro ließ den verdutzten Meister einfach stehen und ging in die Kontrollabteilung.
Er wunderte sich, dass die Worte, die er ohne langes Nachdenken ausgesprochen hatte, solch eine unerwartete Wirkung erzielten. Die Sache begann ihn immer mehr zu reizen.
Der Obermeister der Kontrollabteilung erwies sich als ziemlich hartnäckig. Er stierte Furukawa böse an.
„Das geht nicht, sage ich dir!" brüllte er und zog den Stuhl zurück, auf den Schiro steigen wollte. „Das darf hier nicht angeklebt werden!"
„Wo befehlen Sie es denn sonst anzukleben?" schrie Schiro noch lauter als der Meister. Sein Gesicht nahm einen drohenden Ausdruck an.
Als er die Kontrollabteilung verlassen hatte, blieb er auf dem Korridor stehen. „Das Recht der Arbeiter... Das Recht der Arbeiter..." Er zog die Broschüre über die Gewerkschaften, die er neuerdings stets bei sich hatte, aus der Hosentasche und begann, hastig darin zu blättern.
Gewiss stand da ein Satz über die Rechte des Arbeiters.
Schiro hatte, seit er diese Broschüre besaß, schon ein paarmal angefangen, sie zu lesen; aber er war stets darüber eingeschlafen. All das war ihm abseitig vorgekommen, ohne jede Beziehung zu seinem täglichen Leben. Er hatte das Gefühl gehabt, dass niemand seinen Kummer verstehen könne.
Und nun klebte er Aufrufe an, da er glaubte, Araki moralisch verpflichtet zu sein. Gegen eine Erhöhung der Löhne hatte er gar nichts; aber er wusste, dass sich für ihn nichts ändern, dass seine tote Mutter nicht wiederkommen würde, selbst wenn man ihm einen vielfachen Lohn zahlte. Schiro wollte etwas Großes vollbringen, etwas, das sein ganzes Leben bis auf den Grund verändern würde... Seit Araki ihn beschimpft und beschämt hatte, war er überzeugt, ein verlorener Mensch zu sein, der zu nichts mehr taugte. Aber worin lag seine Schuld? Warum war er in diesen Zustand geraten? Solange er keine Antwort auf diese Frage fand, kümmerte ihn nichts anderes.
Aha, hier ist es: „Die selbständige Gründung von Gewerkschaften ist das Recht der Arbeiter, entsprechend dem Geist des Potsdamer Abkommens..."
Das ist gut, sehr gut! Befriedigt steckte Schiro die Broschüre in die Tasche und ging weiter. Jamanaka Kisuke folgte ihm. Als Schiro zum ersten Male einen Blick in die Broschüre geworfen hatte, waren ihm die Worte „Recht der Arbeiter" aufgefallen. Sie hatten sich ihm eingeprägt, und bei der Unterhaltung mit dem Meister der Montagehalle eins waren sie ihm ganz von selbst über die Lippen gekommen.
Plötzlich tauchte ein Gegner vor Schiro auf, den man nicht durch die Berufung auf das „Recht der Arbeiter" aus dem Felde schlagen konnte. Als er und Kisuke die belebteste Stelle der Fabrik — die Galerie mit der Kontrolluhr - erreichten und Schiro auf Kisukes Schultern stieg, um den Aufruf ans Geländer zu kleben, traten unvermutet zwei Wachmänner auf sie zu. „Habt ihr die Erlaubnis des Direktors?" fragten sie. — Schiro ließ sich nicht einschüchtern. „Was hat das mit dem Direktor zu tun?" Aber ihm war nicht ganz wohl dabei zumute. Die Wachleute standen schon lange im Dienst der Fabrik; das Argument „Rechte der Arbeiter" machte nicht den geringsten Eindruck auf sie. Sie wiederholten nur immerzu: „Habt ihr die Erlaubnis des Direktors oder nicht?" Schiro war verwirrt; er wusste nicht, was er antworten sollte; da streckte einer der Wachleute, ein langer Kerl, die Hand nach dem Plakat aus.
„Halt, warte!"
Schiro stellte sich mit dem Rücken vor das Plakat, zog seine Broschüre aus der Tasche, breitete sie auf dem Brett unter der Kontrolluhr aus und begann zu lesen. Er hätte es nicht erklären können, aber er fühlte, dass die Wachmänner kein Recht hatten, den Aufruf herunterzureißen. Fieberhaft blätterte er in der Broschüre und suchte nach Sätzen, die auf diese Tölpel wirken könnten.
Da knackte das Telefon. Sie riefen gewiss den Direktor an...
„Na schön", schrie Schiro durch das kleine Fenster des Pförtnerhäuschens. „Wenn ihr den Direktor anruft, dann ruft nur auch gleich die an, die das Potsdamer Abkommen gemacht haben, und fragt sie, ob man diesen Aufruf abreißen darf oder nicht!"
Am Nachmittag des nächsten Tages fand im Arbeitszimmer des Direktors eine außerordentliche Sitzung der Werkleitung statt. Ungefähr zehn Personen hatten sich versammelt; unter ihnen der Chef der Produktionsabteilung, der Verwaltungschef und der Leiter der Personalabteilung. Keiner wollte so recht mit der Sprache heraus. „Nun, jedenfalls muss man sie herrufen..." Der Verwaltungschef sah den Direktor an und drückte auf den Klingelknopf. Die Tür wurde geöffnet, und auf der Schwelle erschien Torisawa Ren in roter Bluse und dunkelblauem Rock. Ihre Lippen glänzten, als ob sie Rot aufgelegt hätte.
„Rufen Sie Arakikun aus der Dreherei, Kassawarakun aus der Montagehalle zwei und Nakatani von der Versuchsabteilung, verstanden? Sie sollen unverzüglich zum Direktor kommen."
Ren wandte sich um und wollte gehen, aber die erregte Stimme des Direktors hielt sie zurück: „Takenoutschi Tadaitschi soll auch herkommen."
Sagara stand auf, trat ans Fenster und zog die Vorhänge zu.
Der Arbeitstag war zu Ende. Der Fabrikhof lag im Schein der untergehenden Sonne.
Der Direktor konnte nicht verstehen, warum die Abteilungsleiter so zurückhaltend waren; es sah fast aus, als fürchteten sie sich vor irgendetwas. Natürlich hatte sich die Lage verändert, und man musste schon ein paar Zugeständnisse machen. Aber das ging zu weit! In einigen Werkhallen hatten diese Aufrufe unangetastet bis heute Vormittag gehangen. Mehr noch, unter den Meistern hatten sich einige bereitgefunden, an der Versammlung im Speisesaal teilzunehmen. Dreißig Leute waren dort gewesen, wie man sagte. Und jetzt benahmen sich die Abteilungsleiter, die für Ruhe und Ordnung in der Fabrik verantwortlich waren, als ginge sie das alles gar nichts an. Meinten das der Verwaltungschef und die anderen vielleicht auch? Sagara war wütend über die Gleichgültigkeit seiner Untergebenen.
„Aber, Herr Direktor... äh..., wie soll ich sagen... äh... wenn die Arbeiter erklären, sie hätten die Absicht, eine Gewerkschaft zu gründen, so hat die Company kein Recht, das zu verhindern", bemerkte Tschidschiwa von neuem. Er hatte das schon mehrmals gesagt. Die andern schwiegen.
Der Direktor ging nicht auf Tschidschiwas Worte ein. Dieser Schwätzer! Es war doch so: Bisher lag kein Befehl der Besatzungsmächte vor, Gewerkschaften zu bilden, folglich musste man verhindern, dass sich die Arbeiter zusammenschlossen.
Direktor Sagara wusste, dass es im Hauptwerk der Company seit Ende des vergangenen Jahres eine Gewerkschaft gab. Die Arbeiter forderten höhere Löhne, und vor einigen Tagen war dort ein Streik ausgebrochen, den die Company mit allen Kräften zu unterdrücken suchte. Er wusste auch durch Takenoutschi, dass Araki in Tokio gewesen war und wahrscheinlich Verbindung mit den „Rädelsführern" aufgenommen hatte. Er bemühte sich bereits, einen Vorwand zu finden, um Araki hinauszuwerfen. Andererseits war er der Ansicht, dass der abgelegene Bezirk am Suwasee nicht mit Tokio oder Jokohama zu vergleichen sei; deshalb war es schwierig, den Eindruck richtig zu beurteilen, den die Proklamation auf die Arbeiter ausübte.
„...weil Japan das Potsdamer Abkommen als eine der Kapitulationsbedingungen angenommen hat...", redete Tschidschiwa mit wachsendem Eifer drauflos, verstummte aber plötzlich erschrocken, als er den kalten, undurchdringlichen Blick Komatsus auf sich gerichtet sah.
„Sie erklären sich also mit der Kommunistischen Partei solidarisch?" fragte Komatsu. „Nein, nein, wo denken Sie hin... Die Kommunistische Partei - das ist etwas ganz anderes..." Tschidschiwa fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. „Sie haben mich falsch verstanden... wie kann man nur! Das ist etwas ganz anderes! Die Gewerkschaft - das ist Demokratie..." Der Verwaltungschef lachte laut auf. Er war ein Mann von dreiunddreißig Jahren, der an der Universität Kejo Finanzwirtschaft studiert hatte. Nach dem Kriege war er einer der ersten, die wieder Zivil anzogen und sich die Haare lang wachsen ließen. Er veröffentlichte in der Lokalpresse häufig Artikel über Finanzfragen und erfreute sich dadurch einer größeren Popularität im Bezirk als der Direktor selbst. „Komatsusan drückt sich recht undemokratisch aus..." Das Lachen des Verwaltungschefs flößte Tschidschiwa neuen Mut ein; er wurde ruhiger. „Sie scheinen zu glauben, Gewerkschaft und Kommunistische Partei seien ein und dasselbe." „Jawohl. Die Gewerkschaft - das ist nichts anderes als Kommunismus. Ich bin überzeugt, dass all das schließlich gegen den Kaiser gerichtet ist und den Untergang unseres Landes zum Ziel hat", zischte Komatsu und richtete sich auf.
Nun lächelte sogar der Chef der Produktionsabteilung. Dieser Mann, ein ehemaliger technischer Zeichner, war älter als Sagara und stand länger im Dienst der Company als der Direktor. Die Anwesenden missbilligten Komatsus Standpunkt; aber sie wussten, dass die Ereignisse im Hauptwerk und die Erregung, die seit dem letzten Abend in den eigenen Werkhallen herrschte, einen gewissen Einfluss auf die Angestellten ausübten.
„Demokratie heißt: jedem, dem Arbeiter wie dem Kapitalisten, volle Freiheit zubilligen und die Grundrechte des Menschen anerkennen", fuhr Tschidschiwa fort und strich sich die Haare aus der Stirn.
Komatsu Nobujoschi beachtete das Lachen der andern nicht; er verzog keine Miene und musterte Tschidschiwa nach wie vor mit seinem kalten, feindseligen Blick.
Tschidschiwa hatte einige Bücher gelesen, die ihm Ren besorgt hatte. Er entsann sich einiger Sätze aus der Schrift von Engels, „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", und bildete sich ein, damit alles erfasst zu haben. Auch jetzt war er überzeugt, die fortschrittlichsten Gedanken zu vertreten.
„Sie sind da." Hinter Ren, die sich verbeugte und die Tür aufhielt, traten Araki, Kassawara und Nakatani ein. In einigem Abstand folgte mit betretener Miene Takenoutschi. Er verneigte sich. Der Direktor sah ihn finster und misstrauisch an.
Takenoutschi hatte sich seit dem vergangenen Abend nicht bei Sagara sehen lassen und, wie ein Mitglied der „Tenrju-Gesellschaft" dem Direktor berichtet hatte, an der Versammlung im Speisesaal teilgenommen.
„Ich bitte, Platz zu nehmen", sagte der Direktor und bemühte sich, gelassen zu sprechen. Er wies auf die Stühle, die Torisawa Ren aus dem Nebenzimmer hereingebracht hatte.
„Sie haben es natürlich sehr eilig. Nun, ich werde Sie nicht lange aufhalten." Sagara lächelte ironisch. Er wusste, dass nach Feierabend wieder eine Versammlung im Speisesaal stattfinden sollte.
Er wurde jedoch enttäuscht: Keiner griff seine gehässigen Bemerkungen auf, mit denen er seine Gegner in Verlegenheit bringen wollte. Die Gesichter seiner Untergebenen zeigten keine Spur von Schüchternheit. Sagara erkannte, dass sich die Lage in der Fabrik innerhalb kurzer Zeit tatsächlich verändert hatte.
Er vermied es, Takenoutschi anzusehen, der hinter Arakis Stuhl stand, da er keinen Platz mehr gefunden hatte. Im Übrigen schien auch Takenoutschi heute anders zu sein als sonst. „Ich wollte einiges mit Ihnen besprechen. Schließlich sind wir ja alle leitende Mitarbeiter der Fabrik, Mitarbeiter der ,Tokio-Electro'", begann Sagara. Er war bestrebt, den ruhigen Ton beizubehalten; aber seine Hand, die das Feuerzeug an die Zigarette führte, zitterte. Er dachte, es würde ihm jetzt kaum gelingen, diesen Kommunisten Araki ohne weiteres aus der Fabrik zu werfen. Und dass er Kommunist war, bezweifelte Sagara nicht.
„Wir wollen einmal versuchen, die Dinge vom Standpunkt der Betriebsdisziplin aus zu sehen, vom Standpunkt der bestehenden Hausordnung... Wie
wollen Sie es motivieren, dass Sie, meine Herren -Sie, leitende Mitarbeiter, verantwortliche Angestellte der Company - die Arbeiter aufwiegeln und eine Bewegung zur Bildung einer Gewerkschaft im Betrieb organisieren?"
Araki wollte etwas erwidern, doch der Direktor ließ ihn nicht zu Worte kommen.
„Nein, warte! Ich kann mir schon denken, was du sagen willst. Nakatanikun, Kassawarakun, was ist Ihre Meinung?"
Der kleine Nakatani, der fast in dem tiefen Sessel verschwand, presste die Lippen aufeinander und schluckte krampfhaft. Wenn schwierige Fragen vor ihm auftauchten, dann musste er sich immer erst sammeln, bevor er sprechen konnte.
Die Überheblichkeit des Direktors und sein ironischer Ton ließen keinen Zweifel. Der Verwaltungschef wandte sich zum Fenster um, und in diesem Augenblick mischte sich Tschidschiwa in das Gespräch, als wollte er sich beeilen, die Pause zu füllen. „Aber... äh... ich meine... man sagt doch, dass sogar in Amerika die Techniker das Recht beanspruchen, Gewerkschaftsverbände zu gründen..."
Der Direktor warf ihm einen wütenden Blick zu, und Tschidschiwa verstummte. Aber seine Bemerkung nahm dem Direktor nicht nur alle Sicherheit, sondern sie machte ihm klar, dass die allgemeine Stimmung keineswegs ungünstig für Araki war. „Habe ich denn etwas gegen die Gewerkschaft gesagt?" rief Sagara so laut, dass er selbst zusammenzuckte.
Im selben Augenblick bereute er, unwillkürlich ein so großes Zugeständnis gemacht zu haben, und fuhr noch lauter fort: „Ich bin nur gegen die Kommunistische Partei."
Araki blieb ruhig. „Es handelt sich ja gar nicht um die Kommunistische Partei. Wir sprechen über die Gewerkschaft."
Er fühlte sich sicher. Sogar die Leiter der Werkabteilungen waren auf seiner Seite. Da mischte sich Tschidschiwa wieder ein: „Selbstverständlich, Herr Direktor! Arakikun ist ja auch gar kein Kommunist !"
Araki nickte; er war verblüfft über diese unvermutete Unterstützung. „Na schön, wenn er es selbst abstreitet, so wollen wir es glauben", sagte Sagara lächelnd und lehnte sich im Sessel zurück - die Situation war fast die gleiche wie damals in der Versammlung der „Trauergesellschaft". „Ich weiß nicht, wie das bei euch vor sich geht", fuhr er fort, „ob demokratisch oder sonstwie... Und wann soll sie gegründet werden, eure Gewerkschaft?"
Die prompte Antwort auf diese ironische Frage überraschte den Direktor. „In einigen Tagen berichten wir offiziell darüber im Namen der Gewerkschaft an die Hauptverwaltung der Company." Solche Reden hörte Sagara zum ersten Mal. Alle standen auf und verließen den Raum. Sagara bemerkte, wie Tschidschiwa, schon an der Tür, Araki etwas ins Ohr flüsterte. Der Direktor hielt sich an der Tischkante fest und blickte ihnen wütend nach.
Im Speiseraum, der sich seit der Sumikura-Zeit in einem kalten, dunklen Gebäude am Flussufer befand, herrschten Lärm und Gedränge. Auf dem Zementfußboden standen lange Tische in Reihen nebeneinander. Der schwache Geruch der Seidenkokons schien noch in der Luft zu liegen.
Das Abendessen begann, sobald die Sirene das Ende des Arbeitstages verkündet hatte. Die Arbeiter, die in den Fabrikheimen wohnten, drängten zum Speisehaus, nahmen an der Theke ihre Portion Reis mit Rettichkraut und eine Aluminiumschüssel voll Suppe in Empfang, suchten sich einen Platz an einem der Tische, aßen im Stehen oder im Sitzen und liefen gewöhnlich gleich wieder fort, um sich mit ihren privaten Angelegenheiten zu beschäftigen. Heute aber hatte sich in einem Teil des Raumes eine Gruppe von Arbeitern versammelt. Sie verstopfte die Durchgänge, und so war das Gedränge noch größer als sonst.
In der Mitte der Gruppe stand Araki. Er hatte gerade über die Lage in der Gewerkschaftsorganisation des Hauptwerks der Company berichtet und hielt nun ein Flugblatt in den Händen, auf dem zu lesen war, dass vier Fabriken der Tokio-Electro-Company im Bezirk Tokio-Jokohama, darunter auch das Hauptwerk, eine fünffache Lohnerhöhung gefordert hätten. Diese Forderung sei abgelehnt worden; deshalb seien die Arbeiter in den Streik getreten.
Arbeitervertreter aus allen Betrieben des Bezirkes Tokio-Jokohama hätten auf einer Konferenz zum Ausdruck gebracht, dass sie diesen Streik begrüßten und unterstützten. Als Araki geendet hatte, verteilte ein älterer Mann mit Brille und schwarzer Joppe die Flugblätter an alle, die auf den Bänken saßen. Ikenobe und Onoki halfen ihm dabei. Außer den ehemaligen Mitgliedern des „Beratungskomitees" waren Vertreter aller Abteilungen, einige Obermeister und Büroangestellte erschienen. Sogar Tschidschiwa war gekommen. Zuerst blickte er schüchtern hinter den Rücken der anderen hervor, dann aber setzte er sich auf eine Bank und begann, das große Wort zu führen.
„Äh... ich bin nicht würdig... äh... wie soll ich sagen... ich betrachte das natürlich als eine hohe Ehre... Nun bin ich ja sozusagen Werkhallenleiter. Deshalb bitte ich, mir bis morgen Zeit zum Überlegen zu lassen..."
Eine halbe Stunde später sah Tschidschiwa zu seinem größten Erstaunen, dass man ihn auf die Liste der Delegierten für das Vorbereitungskomitee gesetzt hatte, die nach Tokio fahren sollten, um Verbindung mit der Gewerkschaftsorganisation des Hauptwerks der Company aufzunehmen.
Selbst Takenoutschi Tadaitschi, der Versammlungsleiter, schien heute revolutionär gesinnt. Ikenobe und der schweigsame Nakatani waren in den Hintergrund gedrängt.
Die Versammlungsteilnehmer waren in kämpferischer, gehobener Stimmung. Wenn jetzt der Direktor aufgetaucht wäre, so hätten sie sich kaum stören lassen.
In der allgemeinen Erregung bemerkte niemand, wie der Mann in der schwarzen Joppe Araki etwas zuflüsterte. Araki rief Furukawa zu sich und übergab ihm einen Stoß Flugblätter.
Keiner wusste, dass der Mann in der schwarzen Joppe der Kommunist Kobajaschi Masaru war. Er hatte die Flugblätter, die im Auftrage der Arbeitervertreter des Bezirks Kanagawa gedruckt worden waren, in die Fabrik gebracht.
Nur Jamanaka Kiku verhielt sich den Ereignissen gegenüber gleichgültig. „Lasst mich durch! Lasst mich durch!" schrie sie mit gellender Stimme und blieb vor der lebenden Mauer stehen, die ihr den Weg versperrte. In einer Hand hielt sie eine Schale mit Reis, in der anderen eine Aluminiumschüssel mit Suppe. „Da, jetzt habe ich etwas verschüttet! Lasst mich doch endlich durch!"
Sie drängte sich durch die Menge zum Ausgang. Ihr Gesichtsausdruck ließ deutlich erkennen, dass sie sich für Gewerkschaften und ähnliche Dinge nicht interessierte. Sie lief über die kalte, düstere Innengalerie ins Zimmer elf des Fabrikheims drei. Die beiden Schüsseln, die sie trug, enthielten die Ration für Oikawa Mitsu.
Vielleicht hat Schinobu die Fladen gestohlen? dachte sie.
Sie bereute tief, dass sie Oikawa Mitsu des Diebstahls verdächtigt hatte. Wie ein Schlag war es gewesen, als sie sah, dass sich Oikawa Mitsu, die sich vor Schwäche kaum auf den Beinen halten konnte, neben der Spulmaschine auf den Fußboden setzte und einen Rettich aß. Kiku war empört über die Handlungsweise des Unbekannten, der die Fladen gestohlen hatte.
An der Tür des Fabrikheims hing noch immer das Schildchen mit der Aufschrift „Männern ist der Eintritt verboten". Im Korridor, der von einer trüben Lampe erhellt wurde, hörte man einige Mädchen laut miteinander sprechen. Sie wollten gerade das Haus verlassen.
„Wohin?" Zwei in Wolltücher gehüllte Mädchen drückten sich mit abgewandtem Gesicht an Kiku vorbei, die die Treppe hinaufstieg. „Ins Kino?"
„Ja..." Die Stimmen der jungen Mädchen klangen gedämpft unter den Tüchern, die das Gesicht verdeckten.
„Wenn ihr wieder erst nach Torschluss zurückkommt, dann lehne ich jede Verantwortung ab."
In Abwesenheit Hatsues fühlte sich Kiku, eine der ältesten Bewohnerinnen, für die Ordnung im Heim verantwortlich.
Kiku schob die Schoji ihres Zimmers auseinander und erblickte Kassuga Schinobu, die mit ausgestreckten Beinen, den Rücken gegen die Wand gelehnt, auf einer Bastmatte saß und sich in einem zerbrochenen Spiegel betrachtete, während sie hingebungsvoll ihre geschminkten Lippen leckte. Unter der einzigen Lampe hockte tief gebückt Tojoda Schige und nähte einen Kragen an ihren Kimono. Sie war die Tochter eines Pachtbauern in Kami-Ina, ein rundliches, rotwangiges Mädchen mit kleinen Augen. „Ich wärme dir gleich dein Essen auf, Mitsutjan", sagte Kiku.
In der gegenüberliegenden Wand unter dem Fenster war eine Nische, in der ein Kohlenbecken, ein Kessel und ein Eimer standen. Das Essen im Speisehaus war nicht ausreichend, und wenn die Mädchen sich Mehl und andere Lebensmittel beschaffen konnten, so bereiteten sie sich zusätzlich Mahlzeiten im Zimmer.
„Verzeih mir bitte, dass ich dich verdächtigt habe", murmelte Kiku, stocherte energisch in dem Kohlenbecken und drehte sich zu Oikawa Mitsu um, die in einer Ecke lag. Offenbar war sie noch immer sehr schwach. Ihr Kopf ruhte auf dem Kissen, und sie blickte schweigend mit weitaufgerissenen Augen zur Decke empor.
„Als ob sich das lohnte - vier oder fünf Fladen. Aber einer muss sie doch gestohlen haben!" brummte Kiku, holte ihr Mehl und begann, Klößchen zu formen.
Hatsue gegenüber wäre Kiku in der Wahl ihrer Worte vorsichtiger gewesen. Doch jetzt fiel es ihr bei ihrem hitzigen Charakter schwer, sich zu beherrschen.
„Süßes Äpfelchen, schönes Äpfelchen..."
sang Kassuga Schinobu und fuhr fort, sich im Spiegel zu betrachten. Sie trug ein hellgrünes Jackett
und eine grellrote Baskenmütze. Unter ihren Zimmergenossinnen galt sie als Putzliese und als „Großstadtpflanze."
„Ruhig strahlt der blaue Himmel..."
Schinobu brach mitten im Vers ab, stand auf, schob die Schoji auseinander und wollte das Zimmer verlassen, als plötzlich Kiku, deren Geduld durch Schinobus Gesang erschöpft war, heftig hervorstieß: „Das kann einen ja rasend machen! Ich komme dahinter, pass nur auf, ich komme dahinter!" Kassuga Schinobu lehnte sich gegen die Wand und sah Jamanaka Kiku wütend an. Die Mädchen waren gleichaltrig, Schinobu aber war größer und schlanker als Kiku. Sie lächelte ironisch, zog ihre hübsche Oberlippe kraus und zupfte an den gewellten Haaren, die unter der Mütze hervorschauten.
Bei einem Bombenangriff auf Tokio war ihr Haus zerstört worden; die Familie hatte sich über ganz Japan verstreut. Nach Kriegsende, als die Fabrik vorübergehend stillgelegt wurde, fuhr Schinobu bis nach Kiuschiu, um ihre Eltern zu suchen, die mit unbekanntem Ziel evakuiert worden waren. In Tokio hatte sie eine Zeitlang in einem Teehaus gewohnt und war erst vor kurzem zurückgekehrt.
Unter den Mädchen von Zimmer elf hatte sie als einzige nicht in der Seidenfabrik gearbeitet, und vielleicht wurde dieses „Mädchen aus dem Teehaus" deshalb von Kiku und den andern über die Schulter angesehen.
„Jetzt habe ich es aber satt! Gestohlen, gestohlen... Es wird einem ja übel, wenn man das immer wieder hört!" rief Tojoda Schige auf einmal böse. „So ein Lärm wegen der paar Fladen! Du kannst meine haben, bitte!"
Sie stieß die Nähnadel in den Kragen, sprang auf und ging zu ihrem Korb, der in einer Ecke des Zimmers stand. „Aber nein! Ich habe das doch nicht zu dir gesagt." Kiku schob den Kessel über dem Kohlenbecken zu Recht, lief zu Tojoda Schige und packte sie erschrocken an der Hand. Doch Schige war nicht zu beruhigen, wenn sie einmal in Zorn geraten war. „Nicht zu mir? Zu wem denn sonst?" Kiku wurde verlegen. „Zu niemandem." Sie sah sich bestürzt im Zimmer um und begegnete plötzlich dem Blick Schinobus, die die Augen abwandte und zur Decke empor starrte. „Was habe ich denn gesagt? Ich habe nur festgestellt, dass bei uns etwas gestohlen worden ist."
Kiku verzog das Gesicht, als wollte sie sogleich anfangen zu weinen. Durch ihre unüberlegten Redereien geriet sie ständig in Konflikte; aber sie hätte lieber alles andere getan, als ihren Fehler zuzugeben.
Tojoda Schige blähte ihre rosigen Wangen und zog ein gelbes Säckchen aus dem Korb. Darin lagen ein paar Fladen und etwas Reis, den sie von zu Hause mitgebracht hatte.
Schige wollte die Hand in das Säckchen schieben, aber Kiku hielt sie am Ellbogen fest.
„Ach, ihr Kleinkrämer!" rief Kassuga Schinobu laut, riss den streitenden Mädchen das Säckchen aus der Hand, öffnete die Schoji und warf es auf den Korridor hinaus. „Pah, was für ein Reichtum! Lächerlich!"
Sie lehnte sich gegen die Wand und brach in ein hysterisches Gelächter aus. „Du hast es erraten. Ich habe die Fladen gegessen." Schinobu näherte ihr Gesicht dem Antlitz Kikus. „Ja, ich bin die Diebin. Hast du verstanden?" „Unverschämtheit!" war alles, was Kiku hervorbringen konnte.
Für einen Augenblick verschlug ihr das grässliche Lachen Schinobus die Sprache.
Tojoda Schige hob das Säckchen im Korridor auf, trat wieder ins Zimmer und zupfte Kiku am Ärmel.
„Genug, lass sie. Du hast die Sache geklärt, nun ist es gut."
Kiku aber konnte nicht mehr schweigen, obgleich sie wusste, dass es unmöglich sein würde, Kassuga Schinobu zu beruhigen, wenn sie einen hysterischen Anfall bekam. „Und wegen so einer habe ich schlecht von Mitsutjan gedacht. Nein, jetzt muss es heraus." Kiku stieß Schige zurück und sprach immer schneller: „Am meisten auf der Welt hasse ich die, die lange Finger machen. Das ist eine Schande für unser ganzes Zimmer. Ich wohne hier seit neun Jahren, aber so etwas..."
Kassuga Schinobu lächelte und warf den Kopf in den Nacken.
„Pah!" unterbrach sie Kiku herausfordernd. „Was willst du eigentlich?" Sie stieß Kiku und Schige beiseite, ging in die Ecke, wo ihr alter Segeltuchkoffer lag, und ließ sich auf die Bastmatte fallen.
„Wenn du willst, dann sage ich es der Zimmerältesten oder meinetwegen auch dem Heimleiter. Was ist denn dabei, in dieser elenden Fabrik, bei diesem Hungerlohn..." Ohne zu Ende zu sprechen, begann sie, mit betont gleichgültiger Miene ein Lied zu summen.
Es wäre am besten gewesen, sie in Ruhe zu lassen; doch Kiku musste sich Luft machen und schleuderte ihr zwar leise, aber deutlich genug entgegen: „Du Dirne!"
Kassuga Schinobu fuhr auf. „Was hast du gesagt? Wie hast du mich genannt?"
Ihre großen Augen irrten sekundenlang zwischen Kiku und Schige hin und her, dann brach sie in grobes Schimpfen aus. „Und ihr - ihr seid stinkende Bauernweiber! Habt spekuliert, am Krieg profitiert, und prahlt noch: Wir haben Reis und Fladen."
Kiku wollte etwas erwidern, aber Schinobu ließ sie nicht zu Wort kommen. „Als die hungrige Mitsutjan einmal ein Stückchen von eurem Brot gegessen hat, habt ihr sie behandelt wie eine Diebin. Und da behauptet ihr..."
Auf einmal vernahmen alle, dass Oikawa Mitsu weinte und schluchzte wie ein kleines Kind.
„Hört auf, hört doch endlich auf!" Mitsu hatte die Stäbchen in die Reisschale fallenlassen und den Kopf aufs Kissen geworfen. Kassuga Schinobu drehte sich um und heulte plötzlich noch lauter als Mitsu. „Was ist hier los?"
Keine hatte bemerkt, dass Hatsue eingetreten war. Als Kiku sah, was für eine Wendung die Dinge nahmen, verlor sie ganz und gar die Fassung. Sie zog die Brauen zusammen, kaute an ihren Nägeln und blickte zu Boden.
„Was ist hier los?" fragte Hatsue noch einmal. Sie war erregt über all das, was sie bei der Versammlung im Speisesaal gehört hatte, und ihr Gesicht brannte noch vor Eifer.
Sie sah Kiku in die Augen; doch diese trat wortlos an das Kohlenbecken.
Mitsu weinte noch immer. Kassuga Schinobu heulte laut, das Gesicht zur Wand gedreht, und machte nur eine abwehrende Bewegung mit den Schultern, als Hatsue sie anrührte. „Was ist denn geschehen?"
Tojoda Schige warf Hatsue einen Blick zu und griff schweigend nach ihrer Näharbeit.
Hatsue blieb einen Augenblick stehen, dann nahm sie den Haori von der Wand und begann, sich umzuziehen.
Nicht einmal einen Schrank gab es hier. Während des Krieges hatten in diesem kleinen Raum zwölf Mädchen gewohnt. Alle ihre Habseligkeiten lagen wie in einem Eisenbahnabteil auf dem Platz, den sie einnahmen.
„Na, Mitsutjan, geht es dir besser?" Das Mädchen nickte schluchzend. Hatsue setzte sich Schige gegenüber unter die Lampe und legte einen Zettel mit Notizen, die sie während der Versammlung gemacht hatte, und die Broschüre über die Gewerkschaften auf ihren Schoß. Als sie durch die kalte Innengalerie nach Hause gelaufen war, hatte sie den Wunsch verspürt, ihren Freundinnen so schnell wie möglich zu erzählen, dass in der Fabrik endlich eine Gewerkschaft gegründet werde und dass man wahrscheinlich höhere Löhne fordern würde. Jetzt war ihr die Lust dazu vergangen.
Sie saß schweigend, mit halboffenem Munde da, aber ihrem ernsten Gesicht mit den Grübchen in den Wangen war anzusehen, dass sie entschlossen war, als Zimmerälteste hier Ordnung zu schaffen.
„Ich bin schuld, ich habe zu viel geredet", sagte Kiku.
Sie beugte sich über Schinobu und versuchte, ihr in die Augen zu blicken.
Doch anscheinend kam Schinobu erneut die Beleidigung zu Bewusstsein, die man ihr zugefügt hatte; sie heulte noch lauter. Hatsue beobachtete diese Szene aufmerksam, ohne eine Miene zu verziehen.
Sie ahnte, was geschehen war, aber damit war noch nichts getan. Was ist der Grund für all den Kummer und das Elend? dachte Hatsue. Sie wollte ihren Freundinnen helfen, ihnen einen Teil ihrer Last abnehmen. Und wie immer, wenn sie solche Gedanken hatte, wurde sie noch schweigsamer, Höhere Löhne! Ach, wenn das Wirklichkeit würde! Hatsue fiel ein, dass es im Hauptwerk schon zum Streik gekommen war. Trotzdem konnte sie sich nicht vorstellen, dass es den Arbeitern tatsächlich gelungen sein sollte, eine Lohnerhöhung durchzusetzen. Sie war noch immer aufgeregt, und ihr ausdrucksvolles Gesicht glühte. Aber über ihren Grübeleien vergaß sie die andern Mädchen nicht; im Gegenteil, sie dachte mehr an sie als an sich selbst, und das erschien ihr ganz natürlich, als könnte es gar nicht anders sein.
Oikawa Mitsu stützte sich auf den Ellbogen und begann ihren Reisbrei zu essen. Tojoda Schige nähte eifrig, und Kassuga Schinobu ging leise in den Korridor hinaus, um sich zu waschen.
Hatsue seufzte erleichtert auf. Plötzlich spitzte Tojoda Schige die Ohren. Die Hand mit der Nadel blieb in der Luft hängen. Auch Hatsue hörte das Geräusch eilig auf- und zugeschobener Schoji. „Was ist das?"
„Oh - ein Mann! Ein Mann im Frauenheim!" rief eine gellende Stimme. Ein unglaubliches Durcheinander brach los. Mädchen kreischten. Schoji klappten, schwere Männerschritte stampften über die Dielen.
„Hierher, hierher, kommt schnell her!" Kiku wollte in den Korridor hinausstürzen, fuhr aber erschrocken zurück, hielt sich an den Schoji fest und winkte ihren Freundinnen. „Hatsutjan! Hatsutjan! Da ist er, der freche Kerl!"
Die Mädchen traten ängstlich näher.
Furukawa Schiro rannte wie ein Irrer mit einem Paket Flugblätter unter dem Arm durch den Korridor.
Das ist ja 'n schöner Reinfall! dachte er.
In seiner Verwirrung blieb er mitten auf dem Korridor stehen, kniff die Augen zusammen und starrte vor sich hin, als wüsste er nicht, was er tun sollte.
Er war hergekommen, um die Flugblätter der Arbeiterkonferenz des Bezirks Kanagawa zu verteilen. Das Schild „Männern ist der Eintritt verboten" hatte er nicht beachtet.
Deshalb war er verblüfft, als man seinen Gruß beim Eintritt in das erste Zimmer mit einem erschrockenen Aufschrei beantwortete.
Er warf einen Blick in den nächsten Raum - und da geschah das gleiche.
Wie auf Kommando wurden sämtliche Schoji im Gang aufgeschoben. Stimmen wurden laut, und einige schrien sogar: „Ruft den Direktor!"
Jetzt dachte er nicht mehr an die Flugblätter. Er wollte nur noch weglaufen; doch kaum wandte er sich der Treppe zu, als die Arbeiterinnen, die dort standen, unter lautem Kreischen davonstoben. Er stürzte zum Ausgang am anderen Ende des Korridors. Auch hier brach eine Panik aus. Nun wusste er nicht mehr wohin er sich wenden sollte. „Hehe... hören Sie..."
Schiro fand keine Worte; aber ihm war klar, dass er unter allen Umständen die Flugblätter verteilen musste, um wenigstens zu beweisen, dass er kein Dieb oder Einbrecher war. „He - he... hören Sie! Hier..." Er hielt den Stoß Zettel hoch und ging auf eine Gruppe Mädchen zu. Sie wichen kreischend zurück. Kaum aber hatte er sich einen Schritt entfernt, um sich einer andern Gruppe zuzuwenden, als die ersten ihren früheren Platz wieder einnahmen. „Du da, hör doch mal, nimm schon..."
Als er Jamanaka Kiku bemerkte, die allen Mut gesammelt hatte und in den Korridor hinausgetreten war, lief er erfreut auf sie zu. Das war doch das Mädchen, das vor kurzem im Fabrikheim in Kami-Suwa vor seinen Läusen geflüchtet war! „Hier, verteil das an alle..."
Er wollte Kiku die Flugblätter überreichen; doch sie schrie auf und versteckte sich hinter Hatsues Rücken. Schiro stand ratlos mit den Flugblättern in der Hand mitten auf dem Gang.
Da trat Hatsue vor und nahm sie ihm wortlos ab. „Seht mal an, die Jamanakasan!" „Die hat Mut!"
Alle lachten und schwatzten durcheinander. Hatsue erschrak über ihre eigene Kühnheit und bekam einen puterroten Kopf.
Ikenobe Schinitschi erwachte als erster, warf einen Blick auf die Armbanduhr, die an seinem Kopfende lag, und sprang erschrocken hoch.
Es war fast ein Viertel vor sieben. „Du, steh auf!" rief er dem schlafenden Furukawa zu, während er sich hastig ankleidete. Gewöhnlich brauchte Schinitschi fünf Minuten zum Waschen, zehn Minuten zum Frühstücken und weitere fünf Minuten für den Weg zum Bahnhof. Dort stieg er in den Sieben-Uhr-Zug und schritt zwanzig Minuten später die Straße entlang, die vom Bahnhof Okaja zur Fabrik führte. „Beeil dich, Furukawa, sonst kommst du zu spät!" Er zog seinen alten Mantel über, legte seine Armbanduhr an und bückte sich, um die Hefte und die Notizzettel aufzunehmen, über denen er bis tief in die Nacht gesessen hatte. Dabei fiel sein Blick auf eine der Seiten, und er hockte sich nieder.
„...Unser Land hat eine militärische Niederlage erlitten. Wir müssen jetzt auf den Trümmern ein neues, demokratisches Japan aufbauen. Wir, die Arbeiterjugend, verkünden den neuen Humanismus der Nachkriegsepoche..."
Das war der Entwurf zu einer Rede, die Schinitschi zwei Tage später auf einer allgemeinen Betriebsversammlung halten sollte.
Schinitschi und Onoki hatten den Auftrag bekommen, im Namen der Arbeiter die Begrüßungsworte zu sprechen.
„...Ja, wir sind einfache Arbeiter, doch wir sind die Träger des Humanismus. Mehr noch..." Zum ersten Mal in seinem Leben sollte er öffentlich auftreten und reden. Er vermochte ein ängstliches Gefühl nicht zu unterdrücken. Übermorgen - dieser Gedanke verfolgte ihn.
„...Mehr noch: Wir, die Werktätigen, sind berufen, die neuen Prinzipien des Humanismus zu festigen...", flüsterte er den Text seiner Rede vor sich hin, während er das Heft in die Tasche steckte. Im Geiste stellte er sich die Versammelten und unter ihnen hauptsächlich Ren vor, die gewiss dort sein würde. Er wollte den Humanismus mit den schönsten und klangvollsten Ausdrücken preisen, die er nur finden konnte. Allerdings war er nicht ganz sicher, ob sie auch in jedem Falle zutreffend sein würden. Er fasste das Potsdamer Abkommen und „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" von Engels auf seine Weise auf. Er fühlte, wie sich unter dem Einfluss der Lehre vom Klassenkampf seine Vorstellungen vom Humanismus änderten. Für Schinitschi waren die Begriffe „Menschlichkeit" und „Klassenkampf" jetzt unlösbar verbunden; sie ergänzten einander. Er war fest überzeugt, dass seine Liebe zu Ren ebenfalls auf den Prinzipien der Menschlichkeit beruhte, und fürchtete, Ren könnte die Idee des Klassenkampfes ablehnen. Das würde unweigerlich zum Bruch zwischen ihnen führen.
„Na, Furukawa, was ist denn?" rief er im Weggehen noch einmal. So ein Kerl! Man bekommt ihn nicht munter. Und gestern hat er auch nicht gearbeitet. Will er heute etwa wieder blau machen? „Was ist, bist du krank?" Furukawa schlief mit ausgebreiteten Armen, das Gesicht ins Kissen vergraben. „Nein, krank nicht...", murmelte er, als Schinitschi ihn durch Püffe zu wecken versuchte. „Na schön, ich werde es Araki melden." Schinitschi war schon auf der Treppe, als Furukawa plötzlich in Unterhosen auf dem Korridor erschien. „He, Ikenobe, borge mir zehn Jen!" rief er
Furukawa ging ins Zimmer zurück, kroch wieder unter die Decke, legte sich auf den Bauch, presste das Kinn ins Kissen und starrte mit entzündeten Augen vor sich hin. Er war nicht krank, aber er hatte ein Gefühl, als ob sein ganzer Körper vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen gelähmt wäre.
Es schien ihm, als wären seit vorgestern Abend viele Jahre vergangen. In diesen beiden Tagen hatte er „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" und die Broschüre über die Gewerkschaften gelesen und mit der Lektüre von „Lohnarbeit und Kapital" begonnen. Wie war das gekommen?
Er war in einer seltsamen Verfassung, seit er die Aufrufe angeklebt und, selbst überrascht, dem Montagemeister erklärt hatte: „Was das ist? Das Recht der Arbeiter!"
Und als wäre diese kurze Zeitspanne eine Art Grenze für ihn geworden, rückten alle bisherigen
Ereignisse seines fünfundzwanzigjährigen Lebens weit fort.
Interessante Dinge geschehen auf der Welt! Furukawa starrte vor sich hin. Die alten Schoji knarrten leise; das Überzugpapier war rissig und an manchen Stellen geplatzt. Hinter dem Geländer der Galerie sah man die vom goldenen Sonnenlicht überflutete Straße. In der Ferne pfiff eine Lokomotive, eine Fabriksirene heulte. Alles war sinnlos gewesen... Wieder klang ihm in den Ohren das Brummen amerikanischer „Grumman"-Jäger, die so stürmische Sturzflüge vollführten, dass sie jeden Augenblick die Erde zu berühren schienen... Ein Torpedo zog seine Bahn durch die Wellen und ließ einen langen, weißen Streifen hinter sich... Das Schiff brannte und versank im Meer... Alles, was er im Krieg erlebt hatte, erschien ihm jetzt in einem neuen, ungewohnten Licht. Die Kapitalisten und die Armee... die Kapitalisten und der Krieg...
„Na, schon gut!" stieß er hervor, schleuderte das Kopfkissen beiseite, suchte Hefte und Bücher zusammen und griff nach einem Rotstift. Mehr als dreißig Stunden hockte er schon über den Büchern. Er war sich kaum bewusst, dass er tags zuvor die Arbeit versäumt hatte, und er erinnerte sich nicht, wie oft er in dieser Zeit in den Speisesaal gegangen war. Er wusste nur, dass er bereits zwei Bücher ausgelesen hatte. Das dritte aber war nicht so leicht zu bewältigen, und gerade dieses dritte - „Lohnarbeit und
Kapital" von Karl Marx - fesselte ihn am meisten. Ein paar Stellen las er laut und merkte nicht einmal, dass ihm die Decke von der Schulter rutschte, die vor Kälte blau anlief.
„Der Kapitalist, so scheint es, kauft also ihre Arbeit mit Geld. Für Geld verkaufen sie ihm ihre Arbeit. Dies ist aber bloß der Schein. Was sie in Wirklichkeit dem Kapitalisten für Geld verkaufen, ist ihre Arbeitskraft. Diese Arbeitskraft kauft der Kapitalist auf einen Tag, eine Woche, einen Monat usw."
Schiro wechselte die Stellung und setzte sich auf das Bett. Sieh mal einer an, was für interessante Dinge da stehen!
Er begann zu frieren. Hastig zog er die Decke hoch und schrieb die Ausdrücke „Arbeitskraft" und „Tauschwert", unter denen er sich noch nichts vorstellen konnte, in sein Heft. Dann machte sich der Hunger bemerkbar. Schiro wurde schwarz vor den Augen, und die Schriftzeichen verschwammen. Aber leider war ihm zu spät eingefallen, dass er etwas essen musste - die Frühstückszeit war längst vorüber. Er zog seinen Mantel über den Nachtkimono und verließ das Haus.
Furukawa ging die Straße am Bahnhof entlang und schwenkte den Zehn-Jen-Schein, den Ikenobe ihm gegeben hatte, in der Hand. Mit abwesendem Gesichtsausdruck, als könnte er sich noch immer nicht von seinen Gedanken losreißen, betrat er eine kleine Imbissstube und bestellte eine Portion Röstkartoffeln. Er aß gierig, und jede einzelne Kartoffel erschien ihm fast als eine „Frucht der Ausbeutung". „Na, Frau Wirtin, du verdienst wohl ganz ordentlich, was?"
„Was heißt hier ordentlich? Wie soll man etwas verdienen, wenn die Lebensmittel so teuer sind", erwiderte die Wirtin und häufte eine neue Portion Kartoffeln auf seinen Teller. „Ja, gewiss." Die Lebensmittel sind teuer - also sind die Kapitalisten ganz einfach Spekulanten? Irgendetwas stimmt da nicht. Aber in dem Buch von Marx steht kein Wort über die Wirte von Imbissstuben, die Bratkartoffeln verkaufen. „Hier, junger Mann, Sie bekommen was raus." Furukawa stopfte sich ein paar Kartoffeln, die auf dem Teller liegengeblieben waren, in die Tasche und verließ das Lokal. Wie ist das nun? überlegte er. Alle Menschen, die ich ringsherum sehe, sind also entweder Kapitalisten oder Arbeiter, Ausbeuter oder Ausgebeutete. Ein Mittelding gibt es nicht.
Ein alter Mann kam in gebückter Haltung auf ihn zu. Er trug einen Sack über der Schulter, und offenbar lag ihm nur daran, möglichst schnell an sein Ziel zu gelangen. Ein junges Mädchen trippelte vorüber; die Ärmel ihres Kimonos flatterten, üppiges Lockenhaar fiel ihr in die Stirn. Zwei Männer mit ernsten Mienen standen mitten zwischen Stapeln von Mandarinenkisten vor einem Ladeneingang und unterhielten sich. Ab und zu nickten sie mit den Köpfen. Alle diese Leute erschienen Schiro sonderbar und unwirklich.
Das Häuschen eines Polizisten, das Bahnhofsgebäude, das Lokomotivendepot... Die verworrenen Linien der Schienen, die in die Ferne liefen... Und all das war durch Ausbeutung, durch Betrug geschaffen worden!
Schiro fühlte, wie bedeutend und groß die Wahrheit war, die er soeben erst erfahren hatte. Es schien ihm, als brauchte er nur mit lauter Stimme die Existenz dieser Wahrheit zu verkünden, und der ganze Betrug ringsum würde zusammenfallen, in alle Winde zerstieben.
Er war überrascht, als er sich hinter der Bahnhofsmauer wiederfand. Er schritt über die rostigen Schienen auf einen Kohlenlagerplatz zu. Ein Kran lud Kohle aus einem Güterzug auf kleine Loren um. Als Schiro einen alten Arbeiter bemerkte, der mit einer Schaufel den Kohlendreck zusammenkratzte, fragte er unvermittelt: „He, du! Sag mal, wie viel verdienst du?"
Der alte Mann, der eine Arbeiterjoppe mit dem Stempel der Eisenbahnverwaltung trug, richtete sich auf und sah Schiro misstrauisch an, während er mit dem Zipfel eines Handtuchs, das er um den Hals gewickelt hatte, den Schweiß vom Gesicht wischte. Vielleicht beeindruckten ihn Schiros entzündete Augen; denn nach kurzem Zögern antwortete er: „Wie viel ich verdiene? Einen Spatzendreck." „Soso... wie wir alle." Schiro trat näher. „Man muss eine Gewerkschaft organisieren und kämpfen!" „Was? Kämpfen?"
Der Alte hatte offenbar nicht begriffen. „Du wirst von den Kapitalisten ausgebeutet." „Von wem?"
„Von Kapitalisten! Die Kapitalisten, verstehst du, pressen deine Arbeitskraft aus dir heraus." „Bei der Eisenbahn gibt es keine Kapitalisten, die gehört dem Staat", entgegnete der Alte ärgerlich und griff wieder nach der Schaufel; das Gespräch langweilte ihn.
Ein junger Arbeiter erschien in der Tür des Lagerraumes, schrie etwas und stieß Schiro zur Seite. Unmittelbar über Schiros Kopf schwebte rasselnd der eiserne Greifer des Krans. Schiro ließ sich auf einen Kohlenhaufen sinken und grübelte: Der Staat? Was denn, ist das noch ein Kapitalist?
Schiro wurde vom Bahnhofsgelände verjagt. Bekümmert schritt er die Straße entlang. In einer Seitengasse bemerkte er ein kleines Schild mit der Aufschrift „Buchhandlung Rote Mütze". Er blieb stehen, schob die Hand in die Tasche und tastete nach dem Heft, in das er die unverständlichen Wörter „Produktionsverhältnisse", „Produktionsweise", „Tauschwert", „Metaphysik" und so weiter geschrieben hatte. Kurz entschlossen trat er in den winzigen Buchladen ein.
Der Name „Rote Mütze" klang recht originell, und der Inhaber sah ebenfalls ungewöhnlich aus. Er war noch nicht alt, etwa vierzig Jahre, aber völlig kahl. Er trug einen alten Pullover. In seinem Munde steckten schwarze Zahnstummel, und wenn er lächelte, dann verwandelten sich seine Augen in schmale Spalten. „Äh... erlauben Sie, ich möchte gern wissen..." Er zog das Heft hervor und reichte es dem Mann hinter dem Ladentisch, der an einer Bambuspfeiffe sog. Prüfend betrachtete er das Heft und Furukawas Gesicht, und dann leuchtete ein freundlicher Funke in seinen Augen auf. „Wo arbeiten Sie?"
„Im Werk Kawasoi, bei der Tokio-Electro-Company."
„Aha, Tokio-Electro. Soso. Na schön. Bitte, wenn Sie rauchen wollen..."
Er schob Schiro ein Hibatschi aus Porzellan hin, blätterte in dem Heft und lächelte verständnisvoll. Dann nahm er ein altes, roteingebundenes Buch aus dem Regal.
„Sehen Sie, es gibt so ein Buch, aber es ist nicht ganz das richtige für Sie."
Er überreichte Schiro den dicken Band, auf dem in Goldschrift der Titel „Wörterbuch der sozialpolitischen Terminologie" prangte.
„Könnten Sie vielleicht etwas warten? Ich habe heute die neuen Prospekte gesehen und eine Bestellung aufgegeben. In zwei Wochen bekomme ich
ein Buch, aus dem Sie alle Kenntnisse schöpfen können, Sie brauchen." „Zwei Wochen?" Schiro sah den Ladeninhaber erschrocken an. Er wusste nicht, dass dieser Mann ein alter Kommunist war, der schon mehr als einmal für seine Überzeugung im Gefängnis gesessen hatte. Ein komischer alter Kauz, dachte Furukawa. Zwei Wochen soll ich warten? Ihm kam diese Frist wie hundert Jahre vor - bis dahin könnte er längst tot sein. „Was kostet das Wörterbuch?" Der Inhaber tat, als bemerke er Schiros Ungeduld nicht, und erklärte ihm des Langen und Breiten, dass die einzelnen Fragen in diesem Buch nicht immer vollständig beantwortet seien. Dann fügte er im geschäftsmäßigen Ton hinzu: „Der Preis ist hoch -35 Jen. Ich habe dem Antiquar viel dafür bezahlen müssen."
Schiro stand hastig auf. „Gut, ich hole das Geld." Der Buchhändler rief ihm nach: „Halt, halt! Sie können es am Monatsende bezahlen!"
Schiro hörte es nicht, er war schon weit weg.
Eine Stunde später erschien Schiro wieder in dem Buchladen, und kurz danach verließ er ihn mit dem „Wörterbuch der sozialpolitischen Terminologie" unter dem Arm.
Er hatte sein ganzes Eigentum, ein Sommerhemd, das er bei der Demobilisierung erhalten hatte, aus dem Rucksack genommen und in dem kleinen Laden hinter dem Lokomotivendepot bei jenem Wucherer versetzt, zu dem ihn damals die gepuderte Frau geführt hatte.
Lächelnd blätterte Schiro die Seiten um. „Abstrakt - unanschaulich, auf Allgemeines bezogen... Konkret - wirklich, gegenständlich, greifbar..."
Die meisten Erklärungen in dem Wörterbuch waren schwer verständlich, aber das, was er zu erfassen vermochte, beeindruckte ihn tief. Es war, als zerrisse der Wind eine Nebelwand.
Schiro glaubte, er müsste sofort alles, was er gelernt hatte, an sich selbst erproben. Er hatte viel gesehen und erlebt; doch in seinem Kopf herrschte ein wildes Durcheinander; jedesmal aber, wenn er sich über etwas klar wurde, schien alles ringsum plötzlich in hellem Licht zu erstrahlen.
Trotzdem war vieles merkwürdig; der Mann zum Beispiel, der dieses Buch geschrieben hatte, oder der Inhaber des Buchladens... Es gab also eine ganze Menge Leute, denen die Wahrheit schon lange bekannt war. Warum schwiegen sie? Warum saßen sie mit den Händen im Schoß da und beobachteten kaltblütig diese ganze ungerecht geordnete Welt?
Schiro wich mit knapper Not den Radfahrern und Wagen aus und erreichte schließlich die Eisenbahnüberführung. Dort bot sich ihm ein seltsamer Anblick.
Ein Mann lehnte am Zaun und schrie mit heiserer Stimme: „Die Zeitung ,Akahata', das Organ der Kommunistischen Partei Japans!" Neben ihm stand ein junges Mädchen mit einem Packen Zeitungen unter dem Arm; sie schwenkte eine Glocke und rief: „Die neue Ausgabe der ,Akahata'! Einen Jen!" Der Mann und das Mädchen waren klein, untersetzt und sahen sich sehr ähnlich - wahrscheinlich Vater und Tochter. Das Mädchen hatte ein hübsches Gesicht und trug einen grellbunten Haori und eine rote Schürze. Schiro schien es, als klingelte das Mädchen nur für ihn. „Geben Sie mir fünf Stück!"
Furukawa reichte dem Mädchen einen Fünf-Jen-Schein. Er wollte die Zeitungen für Ikenobe, Onoki und zwei andere Kollegen mitnehmen. Als ihm das Mädchen versehentlich nur ein Exemplar gab, wiederholte er noch einmal: „Fünf, bitte!" Doch kaum hatte er die Zeitung entfaltet, als er mit veränderter Stimme sagte: „Nein, lassen Sie, eine genügt."
In der Mitte der aufgeschlagenen Seite prangte eine Karikatur mit der Unterschrift: „Kriegsverbrecher Kaiser Hirohito." Seine Majestät trug eine Brille und hielt ein abgebrochenes Schwert in der Hand, das einer Säge ähnelte. Schiro war fassungslos.
„Kaiser Hirohito! Kaiser Hirohito!" murmelte er vor sich hin, während er nach Hause lief. In seinem Zimmer setzte er sich aufs Bett und betrachtete die Zeitung von neuem.
Schiro war zumute, als hätte man ihm einen Schlag in die Herzgrube versetzt. Erst jetzt erfuhr er, dass Seine Majestät der Kaiser „Hirohito" hieß. Es wollte ihm nicht in den Kopf. Der „Tenno" hatte plötzlich einen Namen wie andere Menschen auch!
„Kriegsverbrecher Kaiser Hirohito" stand unter der Karikatur, weiter nichts. Nun ja, das war auch nicht nötig.
Die zerbeulte Mütze des Oberkommandierenden bedeckte den Kopf des Kaisers, die Unterlippe hing herab, sein Blick war stumpf und blöde, und er hielt das Schwert, als wollte er zum Schlage ausholen. Schiro wollte die Zeitung zerreißen, aber er vermochte es nicht. Seine Hände zitterten.
Er ärgerte sich über den Zeichner dieser Karikatur. Es war, als wäre ein Altar, den er sich im Herzen errichtet hatte, krachend zusammengestürzt. Er starrte auf die Zeitung und biss sich in die Lippen.
Seine Seele war verwundet; doch er hatte nicht die Kraft, den Schlag zu erwidern. Sekunde um Sekunde verrann; die Hand, die nach der Zeitung gegriffen hatte, erlahmte und sank herab.
Was bedeutete das? Warum schwankte er? Ihm fiel ein, wie er vor kurzem mit Inoue über den Kaiser gestritten hatte. Mit den Fäusten war Schiro über Inoue, einen demobilisierten Soldaten wie er selbst, hergefallen, weil der geschrien hatte: „Ich spucke auf deinen Kaiser! Er war schuld an diesem Krieg!"
In Schiros Vorstellung gab es keinen Zusammenhang zwischen dem Potsdamer Abkommen, dem Buch „Lohnarbeit und Kapital" und der Person des Kaisers. Der Zusammenhang zwischen dem Krieg und den Kapitalisten war ihm schon klargeworden, aber der Kaiser hatte seiner Meinung nach nichts mit den Kapitalisten zu tun.
Das Gesicht des Kaisers auf der Karikatur schien sich ständig zu verändern. Zuerst war es trübe wie hinter einem Nebelschleier, dann traten die hängende Lippe und der idiotische Blick wieder deutlich hervor. Allmählich verschwand der Kaiser, und an seiner Stelle erschien ein stumpfsinniges Männchen mit dem Namen Hirohito. Und auf einmal schob sich das Bild der toten Mutter zwischen Schiro und den Kaiser. So klar sah er sie vor sich, als stände sie hier neben ihm. Sie war hager, und ihr weitaufgerissener Mund über dem spitzen Kinn schrie ihm etwas zu. Schiros Lippen begannen zu zucken. Er hatte sich noch nicht ganz von der Erschütterung beim Anblick der Karikatur erholt, aber merkwürdig - jetzt interessierte sie ihn nicht mehr. Die Kaiserkarikatur kehrte auf das grobe, graue Papier zurück, und nur das Gesicht der Mutter blieb deutlich. Schiro stützte das Kinn in die Hand und seufzte tief auf.
An einem regnerischen Tage Ende Januar 1946 fand im Werk Kawasoi eine Belegschaftsversammlung zur Gründung der Gewerkschaft statt.
In allen Werkhallen wurden die Maschinen abgestellt, sogar im Büro blieb niemand außer dem Direktor und einigen älteren Angestellten.
Von Zeit zu Zeit traten die Wachleute aus dem Kontrollhäuschen am Eingang und blickten besorgt zum anderen Ende des Fabrikhofes hinüber, wo ein körniger Eisregen in schrägen Streifen hernieder rauschte; das alte Gebäude, in dem gewöhnlich die Versammlungen abgehalten wurden, schien sich fröstelnd unter dem tiefhängenden Himmel zusammenzukauern.
Hier, wo einst die Seidenkönige Sumikura den Gipfel ihrer Macht erreicht hatten, in dem Unternehmen, wo sie ihre ersten Erfolge erzielten, wurde zum ersten mal in der mehr als ein halbes Jahrhundert alten Geschichte der Sumikura ein Gewerkschaftsverband gegründet.
Auf dem Podium, im Präsidium, saß Tschidschiwa Satoru. Er war am Abend zuvor aus Tokio zurückgekehrt, wo er mit Araki die Verbindung zu der Gewerkschaftsorganisation des Hauptwerks aufgenommen hatte. Tschidschiwa hatte sich halb umgewandt, einen Arm um die Stuhllehne geschlungen. Er machte einen völlig ruhigen Eindruck. Wenn man ihn ansah, dann konnte man meinen, er wisse seit langem, dass alles so werden würde, wie es heute war. Es schien ihn und die anderen auch nicht zu verwundern, dass ihn die Ereignisse in wenigen Tagen zu einem der Gewerkschaftsorganisatoren gemacht hatten.
Tatsächlich war die Ernennung Tschidschiwas gesetzmäßig gewesen. Im Werk Kawasoi hielt man sich an die Satzung der Gewerkschaftsorganisation des Hauptwerkes, wo sogar alte Meister und Werkhallenleiter in die Gewerkschaft eingetreten waren. Und obgleich es unter den Angestellten weniger Gewerkschaftsmitglieder gab als unter den Arbeitern, herrschte noch die traditionelle Ansicht, dass ein Meister einige Dutzend Arbeiter „wert" sei. Die Arbeiter waren nicht klassenbewusst und stark genug, um in einer so kurzen Frist selbständig, ohne die Hilfe der fortschrittlichen technischen Intelligenz, eine Gewerkschaftsorganisation zu schaffen. Deshalb war niemand erstaunt darüber, dass Tschidschiwa in dieser Versammlung den Vorsitz führte.
Neben Tschidschiwa spielte Takenoutschi Tadaitschi eine der Hauptrollen. Zu Beginn der Versammlung hatte er eine „Deklaration über die Gründung des Gewerkschaftsverbandes der Arbeiter des Werkes Kawasoi" verlesen. Jetzt war er sehr geschäftig; er rannte über die Bühne, stieg in den Saal hinunter, lief zu den Verwaltungsangestellten und flüsterte ihnen etwas ins Ohr, nahm wieder auf dem Podium Platz und lächelte liebenswürdig nach allen Seiten. Mit einem Wort, er benahm sich, als wäre es sein Verdienst, dass die Versammlung zustande gekommen war.
Mit einigen traditionellen Gewohnheiten, die bisher in diesem Saal beachtet wurden, hatte man heute gebrochen. Die Stühle zu beiden Seiten der Bühne und an den Wänden waren weggeräumt worden. Die Angestellten saßen mit untergeschlagenen Beinen n den Arbeitern auf dem Fußboden. An der Stelle, wo früher die Worte „Heiliges Land Japan" prangten, hing jetzt die Losung: „Wir gründen eine Arbeitergewerkschaft!"
Trotzdem machte sich die Tradition noch bemerkbar. Die Angestellten hockten in einer Gruppe unmittelbar vor dem Podium, halb mit dem Rücken zu den andern. Von den Arbeitern waren Onoki und Ikenobe in das Organisationskomitee gewählt worden; Arbeiterinnen waren nicht darin vertreten. Sie alle, unter ihnen auch Jamanaka Hatsue, saßen auf der rechten Seite des Saales, die den Frauen vorbehalten war. Nur zwei junge Mädchen aus der Fabrikverwaltung - die Kontoristin Toki Hana und Torisawa Ren - nahmen die Plätze für die Vertreterinnen der Angestellten im Komitee ein.
Bereits in den ersten beiden Stunden erzielte die Versammlung, die zu Mittag begonnen hatte, hervorragende Ergebnisse.
Nach den einleitenden Worten Kassawaras, der im Namen des Organisationskomitees sprach, und der Verlesung der „Gründungsdeklaration" wurden die Forderungen bekanntgegeben, die der Company unterbreitet werden sollten. Die Erklärungen zu diesem Entwurf gab Araki.
Der Entwurf stimmte im Wesentlichen mit den Forderungen überein, die bereits von der Gewerkschaftsorganisation des Hauptwerkes der Company vorgelegt worden waren. Er enthielt zehn Punkte, darunter die Forderung nach einer fünffachen Erhöhung der Löhne, Anerkennung der Gewerkschaft, Anerkennung des Rechtes der Arbeiter auf den Abschluss von Kollektivverträgen, Einführung des Siebenstundentages und etwas ganz Neues: das Recht der Gewerkschaft, an der Geschäftsführung der Company teilzunehmen und eine Produktionskontrolle auszuüben. Araki sah blass und müde aus. In gebeugter Haltung, die Hände in den Taschen vergraben, sprach er mit heiserer Stimme. „Einführung des realen Sieben-Stunden-Arbeitstages... Diese Forderung ist aufgenommen worden, damit die Verwaltung berücksichtigt, dass in den Achtstundentag die Mittagspause eingerechnet wird. Verstanden?" „Jaja, alles klar!"
Die erregten Stimmen der Arbeiter bewiesen, dass sie die einzelnen Forderungen nicht nur begriffen, sondern auch unterstützten.
Araki erklärte sorgsam Punkt für Punkt und warf ab und zu einen Seitenblick in den Saal. Rechts von der Bühne, in den vorderen Reihen, saßen Schima Narijoschi und einige andere Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft". Den Mittelpunkt dieser Gruppe bildete Komatsu Nobujoschi in seiner auffälligen Offiziersuniform. Sie schwiegen, als fühlten sie ihre Ohnmacht; aber wenn es in dieser Versammlung feindlich Gesinnte gab, denen daran lag, die Bestätigung des Entwurfs - den wichtigsten Punkt der Tagesordnung zu verhindern, so waren es die Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft".
„Also, Kollegen, ich habe unseren Entwurf erläutert, so gut ich konnte. Nun müssen wir unsere Entschlossenheit zum Ausdruck bringen und der Gesellschaft diese Forderungen unterbreiten!" rief Araki erregt und hob den Kopf. Bisher hatte er es vermieden, die Zuhörer anzusehen, um sich nicht ablenken zu lassen. In dieser Minute aber fiel es ihm schwer, seine tiefe Bewegung zu verbergen. Wer hätte damals in den Bergen, als er sich mit Nakatani und den anderen beriet, wohl gedacht, dass es ihm gelingen würde, eine Gewerkschaft mit einem so umfassenden Programm zu gründen?
„Natürlich besteht die Möglichkeit, dass wir zu der Waffe greifen müssen, die wir besitzen - zu unserem Recht auf Streik. Und wenn die Gesellschaft darauf mit Produktionsdrosselung antwortet, dann können wir eine neue Kampfmethode anwenden: die Kontrolle der Arbeiter über die Produktion."
Tschidschiwa stand auf und sagte etwas, aber seine Worte gingen in dem ausbrechenden Beifall unter. Viele von denen, die so begeistert applaudierten, wussten gar nicht, was „Kontrolle der Arbeiter über die Produktion" bedeutete. Alle glaubten jedoch, dass der Verfasser des Entwurfs die beste und wirkungsvollste Kampfmethode gewählt hatte. Die Leute begriffen selbst nicht, wie ihnen geschah; ein nie gekanntes Gefühl erfasste sie und suchte, sich in Ausrufen und Händeklatschen Luft zu machen.
Araki bemerkte, dass Komatsu Nobujoschi unbeweglich mit verschränkten Armen dasaß. Der Beifall schien ihn wie Peitschenhiebe zu treffen. Die Resolution wurde angenommen, und die Forderungen sollten gleich nach der Versammlung durch eine Delegation von fünf ständigen Mitgliedern des Gewerkschaftskomitees dem Direktor überreicht werden. Die Wahl fiel auf Araki, Tschidschiwa, Takenoutschi, Nakatani und Kassawara.
„Onoki Kumaokun, ein Arbeiter aus der Dreherei, hat das Wort zur Begrüßung der Arbeiter", verkündete der Vorsitzende. Doch die Rede Onokis, die den Enthusiasmus der Anwesenden noch steigern sollte, verlief ganz anders geplant.
Ab die kleine Gestalt Onokis auf dem Podium erschien, ging die Erregung der Arbeiter allmählich in fröhliche Lebhaftigkeit über. „Kollegen!" rief Onoki laut mit zurückgeworfenem Kopf. Plötzlich stockte er. Nicht dass er vergessen hätte, was er sagen sollte - das Konzept seiner Rede lag vor ihm auf dem Pult, außerdem wusste er sie von Anfang bis Ende auswendig -, nein, er verstummte, weil ihm auf einmal, kaum dass er die Bühne betreten hatte, der ganze Saal wie ein Ozean in dichtem Nebel vorkam. Vor allem aber fühlte er, dass seine Rede, an der er die ganze Nacht hindurch gearbeitet hatte, zu der gegebenen Situation überhaupt nicht passte. Auf die Anrede „Kollegen!" folgte in seinem Konzept der Satz:
„Beantworten wir also die Frage, ob unser Land, Japan, wirklich als ein Land der Götter angesehen werden kann." Als er sich auf diese Rede vorbereitet hatte, war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass er in einer solchen Atmosphäre, in einer solchen Umgebung würde sprechen müssen. Er stand da und schwieg. „Na und, was weiter?" fragte einer laut, und einige Mädchen kicherten. „Beantworten wir also die Frage, ob unser Land, Japan, wirklich als ein Land der Götter angesehen werden kann!" schrie Onoki mit schriller Stimme und kniff die Augen zu. „Hat uns nicht der Aggressionskrieg, der auf Kosten des Proletariats geführt wurde überzeugt, dass die Legende vom ,heiligen Wind' (Anm.: Der „heilige Wind" rettet in kritischen Zeiten Japan, das „Land der Götter, das unter besonderem göttlichem Schutz steht". Die japanischen Militaristen und Chauvinisten benutzten diese Legende für ihre Kriegspropaganda.) verflogen ist wie Staub?"
„Warum so trübselig?" ertönte ein neuer Zwischenruf, und die Zuhörer begannen zu lachen.
Onoki wollte sich nicht beirren lassen und redete voll Eifer weiter.
Er verschwand fast hinter dem hohen Katheder. Von Zeit zu Zeit zog er den Kopf ein, stockte, trat von einem Fuß auf den anderen und zuckte mit den Schultern.
„Du bist nicht zu sehen! Zeig mal dein Gesichtchen, Kleiner!"
Wieder brach Gelächter aus.
Araki und Nakatani blickten sich besorgt im Saal um. Die Forderung nach Lohnerhöhung und alle zehn Punkte der Resolution waren zwar bereits angenommen, doch die Rede Onokis erwies sich als unangebracht. Jamanaka Hatsue und die andern jungen Mädchen fühlten sich jetzt sehr frei und ungezwungen. In den ganzen zehn Jahren, die sie in der Fabrik waren, hatten sie noch nie so etwas erlebt. Heute fürchteten sie keinen, nicht einmal den Direktor. Dort saßen sogar die Verwaltungsangestellten mit allen andern zusammen! Man konnte lachen und scherzen, soviel man wollte, und wurde nicht bestraft. Die Mädchen vermochten sich nicht vorzustellen, dass es wirklich gelingen sollte, eine fünffache Erhöhung der Löhne durchzusetzen. Aber sie waren mit einer Beteiligung am Streik und mit der „Kontrolle der Arbeiter über die Produktion" einverstanden, komme, was da wolle.
Eine unerklärliche Unruhe packte die Mädchen. Je komischer die Rede Onokis klang, desto nervöser wurden sie, eben weil sie mit ihm fühlten und dem, was er sagte, zustimmten. Wenn sie hätten ausdrücken können, wie ihnen in diesen Minuten zumute war, so hätten sie gewiss das Wort ergriffen, obwohl das gegen alle Traditionen gewesen wäre. Die Spannung stieg; die wachsende Erregung konnte jeden Augenblick zum Ausbruch kommen. Die Arbeiter fühlten, dass es von ihnen abhing, diese wirre Rede zu einer realen Kraft zu machen.
Plötzlich schlug Onoki mit der Faust auf den Tisch und schrie: „Der Kaiser ist ein...!"
Ganz still wurde es im Saal. Alle blickten sich an. In der vordersten Reihe, wo die Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft" saßen, erhob sich Komatsu. „Das ist eine Respektlosigkeit."
Er stieg langsam auf die Bühne und ging am Vorsitzenden vorbei auf Onoki zu. Tschidschiwa erhob sich halb, zupfte Komatsu am Ärmel und sagte etwas zu ihm; doch der sah den Vorsitzenden gar nicht an und zeigte nicht die geringste Neigung, das Podium zu verlassen.
Jetzt, da die Sache eine so unerwartete Wendung nahm, erwies sich der kleine Redner trotz seiner Unerfahrenheit als sehr tapfer. Wieder schlug er mit der Faust auf den Tisch und schrie: „Der Kaiser ist der Kriegsverbrecher Nummer Eins! Wir müssen Schluss machen, endlich Schluss machen mit dem ,heiligen Wind' und mit dem Kaisermythus!"
Seine Stimme klang schrill wie eine Lokomotivpfeife, aber jetzt lachte keiner mehr. Eine drückende, gespannte Stille breitete sich aus. Onoki und Komatsu standen nebeneinander. Die Worte des Redners erweckten die Zweifel, die tief im Unterbewusstsein eines jeden der Anwesenden verborgen lagen. Um sie zu beseitigen, musste jetzt klar und deutlich die Frage beantwortet werden: Kann man den Kaiser als Kriegsverbrecher betrachten oder nicht? Muss man für ihn eintreten oder nicht?
Als Onoki seine Rede beendet hatte, ergriff er sein Konzept und verließ das Podium. Seinen Platz aber nahm ohne Erlaubnis des Vorsitzenden Komatsu ein; in der allgemeinen Verwirrung erhob keiner Einspruch dagegen. Der Vorsitzende stand auf. Araki und Kassawara traten auf das Podium zu; die Arbeitervertreter sprangen von ihren Plätzen auf. Ikenobe merkte, dass aus seiner Rede wahrscheinlich nichts werden würde. Aufgeregt zog er sein Manuskript aus der Tasche und steckte es wieder ein.
„Über Erfolg und Niederlage im Kriege entscheidet das Schicksal", begann Komatsu. „Mag uns diesmal auch das Kriegsglück verlassen und die kaiserliche Armee unter Blutvergießen eine Niederlage erlitten haben..."
Er stand breitbeinig da, die Hände in den Taschen, den Körper straff aufgerichtet, und sprach mit halblauter Stimme wie ein Kompanieführer, der den Soldaten Instruktionen erteilt.
Seine Worte schienen die Menschen zu ernüchtern. War nicht ihre freudige Erregung seit dem Beginn der Versammlung ein Irrtum gewesen?
„Ich wiederhole voller Ehrfurcht: Seine Majestät der Kaiser ist der Stützpfeiler für unsere, für die Existenz der japanischen Nation. Das haben die Truppen der Alliierten anerkannt, das hat Amerika anerkannt, und sogar die Kapitulationsbedingungen sehen vor, dass die Staatsform Japans unverändert bleibt." „Richtig!" rief ein Mitglied der „Tenrju-Gesellschaft".
Selbst in der Mitte des Saales, wo die Arbeiter saßen, hörte man zögerndes Beifallklatschen, das in der plötzlichen Stille seltsam scharf klang und die spannungsgeladene Unruhe noch verstärkte.
Auf einmal ertönte Torisawa Rens helle Stimme: „Nein, das ist nicht richtig! Vorsitzender!"
Der Vorsitzende sah sie an, als wollte er sie auffordern, das Ende der Rede Komatsus abzuwarten; aber sie ließ sich nicht beirren. „Was Komatsusan sagt, stimmt nicht. Das ist eine reaktionäre Rede!" Sie blickte Komatsu spöttisch an, den Kopf leicht zur Seite geneigt, als wollte sie sich über ihn lustig machen.
Sie hielt eine Nummer der „Akahata" in den Händen und schaute, während sie sprach, ab und zu hinein. Ihre klingende Stimme war frei und ohne eine Spur von Verlegenheit.
Alle starrten sie an, verwundert über ihr mutiges Auftreten.
„Der Kaiser trägt die Verantwortung für den Angriffskrieg. Ohne den Sturz des Kaiserregimes ist es unmöglich, Japan zu demokratisieren..." „Richtig!" schrie Furukawa vom äußersten Ende des Saales herüber.
Aber das Interesse für Rens Ausführungen begann bald nachzulassen. Sie sagte zu viele unverständliche, gelehrte Worte, die vor diesem Auditorium nicht angebracht waren.
„Was Komatsusan sagt, das zielt auf Unterstützung des Kaisers ab. Es spiegelt die Ideologie der Gutsbesitzer und der Monopolkapitalisten wider."
„Schluss! Tu doch nicht so gebildet!" rief plötzlich einer, und ein anderer fuhr fort: „Was versteht überhaupt so ein Mädel davon? Mach, dass du runterkommst!"
Rens Wangen färbten sich. Sie wandte sich in die Richtung, aus der der Zwischenruf gekommen war, und sagte laut und deutlich: „Wir, die arbeitenden Menschen, müssen klassenbewusster werden! Aber ihr habt noch nicht mal gemerkt, dass die Sozialistische Partei in ihren Losungen für die bevorstehenden Wahlen nicht den Sturz des monarchistischen Systems fordert." Onoki und Ikenobe erhoben sich von ihren Plätzen und applaudierten. Auf die Mehrzahl der Anwesenden aber hatte Rens Rede eine ganz andere Wirkung ausgeübt. Ihre elegante Kleidung und ihr gepflegtes Aussehen hatten die Arbeiter misstrauisch gemacht, und ihre letzten Worte, die wie ein Verweis klangen, riefen unwillkürlich Antipathie gegen sie und gegen alles, was sie gesagt hatte, hervor. „Was schwatzt die da?" hörte man von allen Seiten. Ren versuchte, einige Zwischenrufe zu erwidern, aber schließlich sah sie ein, dass es keinen Zweck hatte, und setzte sich mit einer heftigen Bewegung, die Lippen zornig vorgeschoben, auf ihren Platz. „Ja", begann Komatsu wieder, „wenn wir auch eine Niederlage erlitten haben, so müssen wir, das Volk des heiligen Japans, in dieser Schicksalsstunde unsere Herzen, die von Ergebenheit und von Standhaftigkeit erfüllt sind, stark machen und sorgsam darauf achten, dass wir nicht zum Spielball in den Händen der Kommunisten oder derer werden, die mit ihnen sympathisieren."
Obgleich Ren bei den meisten Anwesenden auf Ablehnung gestoßen war, erhoben sich doch, wenn auch nur vereinzelt, protestierende Stimmen gegen die monarchistische Rede Komatsus. Zu voller Größe aufgerichtet, stand Furukawa in den hinteren Reihen rief etwas. Die Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft! aber, die eine gewisse Unterstützung spürten, wurden jetzt ganz unverschämt.
Araki ging zu dem Vorsitzenden und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
„Ich habe durchaus nicht die Absicht, gegen die Gewerkschaft oder gegen die Forderung nach Lohnerhöhung zu sprechen", fuhr Komatsu fort. „Ich mache mir nur Gedanken darüber, ob nicht die Kommunisten dahinterstecken. In der Tat, wer außer den Kommunisten wagt es, derart empörende Reden zu halten, die gegen Seine Majestät den Kaiser gerichtet sind?"
Seine Worte gingen im Beifall der Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft" und in den Protestrufen der Arbeiter unter. Viele sprangen von ihren Plätzen auf. Ikenobe und seine Kollegen hatten sich ebenfalls erhoben. Plötzlich schrie jemand von hinten, so laut, dass es im Saal widerhallte: „Ruhe!", und im nächsten Augenblick stürzte Furukawa mit entschlossenem Gesicht an den Sitzenden vorbei zum Podium.
Schiro stützte sich mit beiden Händen auf den Rand des Podiums und schwang sich hinauf. Nun standen zwei Männer dort oben - ein Soldat und ein Offizier -, die einander über das Pult hinweg mit hasserfüllten Blicken maßen. Alle im Saal spürten deutlich den unversöhnlichen, rasenden Hass Schiros gegen den Offizier. Er hielt sich an dem Pult fest und reckte den Hals vor; er atmete schwer, und aus seinem mageren, braunen Gesicht mit den hervortretenden Wangenknochen und dem spitzen Kinn sprach eine unbezähmbare Angriffslust. Komatsu war einen Schritt zurückgewichen, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen. Die Faust Schiros hob sich langsam, und es sah aus, als wollte sie jeden Augenblick auf Komatsu niedersausen.
Ein allgemeiner Tumult brach aus. Besonders laut brüllten die Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft", die Schiro mit Schimpfworten überschütteten. „Seht! Seht alle her!" Schiro streckte mit einer heftigen Bewegung die Hand aus und hielt den Zeigefinger unmittelbar vor das Gesicht seines Feindes. „Er... er ist Offizier!"
Zuerst verstand keiner, was dieser junge Bursche im Soldatenmantel rief. Aber als er sich dem Saale zuwandte, wurde allen klar, dass die Rednertribüne jetzt ihm gehörte.
„Ich weiß nicht, was er ist - Hauptmann oder Leutnant, ist ja auch ganz egal. Ich habe mit diesem Offizier noch eine Rechnung zu begleichen."
Die Stimmung im Saal schlug wieder um. Überall sah man erstaunte, beunruhigte Gesichter und verständnislose Augen - die meisten begriffen nicht, was eigentlich los war. Der Saal ähnelte einem Feld, auf dem ein Sturm die Halme durcheinanderwirbelt. Araki wollte auf Furukawa zulaufen, blieb aber stehen, verblüfft über dessen rasende Wut.
„Diese Offiziersuniformen sind schuld, dass ich auf die Philippinen verschleppt wurde. Sie sind schuld, dass ich zwei Tage und zwei Nächte im Meer treiben musste. Sie sind schuld, dass mehr als die Hälfte meiner Kameraden durch amerikanische Fliegerbomben umgekommen ist. Und was haben sie inzwischen getan, diese Gecken in Offiziersuniform?"
Komatsu, der das Podium verlassen wollte, machte brüsk kehrt. Furukawa trat hinter das Rednerpult. Sein Kinn begann zu zittern, Tränen liefen ihm über die Wangen.
„Ihr wisst es selbst! Alle, die bei der Armee gewesen sind, alle, die an der Front waren, wissen es."
Komatsu war inzwischen vom Podium hinuntergestiegen; er stand jetzt unten, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und schien auf irgendetwas zu warten. Furukawa bemerkte ihn nicht. Er streckte die Hand nach hinten aus, zeigte auf die Stelle, wo Komatsu noch vor wenigen Sekunden gewesen war, und fuhr mit lauter Stimme fort: „Diese Offiziere - was haben sie gesagt, als man uns Soldaten totgeschlagen hat? Die Befehle der Obrigkeit, das sind die Befehle des Kaisers. So haben sie gesagt!"
Die Worte Schiros hatten einen ungewöhnlichen Erfolg. Sogar den Mitgliedern der „Tenrju-Gesellschaft" verschlug es die Sprache.
Furukawa hatte nie geglaubt, dass er eine Rede kalten könnte, und er hatte gar nicht daran gedacht, zu sprechen. Doch beim Anblick der Offiziersuniform Komatsus hatte ihn die Wut gepackt. Er sah, wie Onoki das Podium verließ, und es schien ihm, als hätte dieser Offizier Onoki weggejagt. Da konnte er sich nicht länger beherrschen. Ursprünglich war er nur auf die Bühne gelaufen, um Komatsu zu verprügeln. Aber als er sich dem Feind Auge in Auge gegenübersah und die Blicke der anderen auf sich gerichtet fühlte, hatte er sich an die Versammelten gewandt. Sein Gegner war ihm ausgewichen, doch für einen Rückzug war es zu spät; Furukawa musste sprechen. „Und was den Kaiser betrifft", fuhr er hitzig fort, „der Kaiser hat einen Namen. Er heißt Hirohito. Als ich im Kriege war, habe ich das nicht gewusst."
Merkwürdig, erst jetzt begriff er, warum der Anblick der Offiziersuniform sein Herz mit solchem Zorn erfüllt hatte.
„Der Kaiser... der Kaiser... ist der Anführer dieser ganzen Offiziersbande!" schrie er und stockte eine Sekunde, um die passenden Ausdrücke zu suchen. „Deshalb hat er uns mit den Händen dieser Offiziere verprügeln lassen und uns gezwungen, sinnlos zu verrecken."
„Du bist wohl Kommunist?" unterbrach ihn eine Stimme. Furukawa zuckte zusammen und parierte sofort: „Und wenn ich Kommunist wäre, was wäre dabei? Du stumpfsinniger Trottel!"
Gutmütiges Gelächter erscholl. Eine der Arbeiterinnen klatschte sogar in die Hände. Wahrhaftig, was wäre schon dabei, wenn dieser junge Bursche im Soldatenmantel Kommunist wäre! Selbst für die Frauen hatten die Worte „Kommunistische Partei" keinen schrecklichen Klang mehr.
Komatsu, der sich gerade setzen wollte, sprang wieder auf. Die Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft" tobten.
Araki packte Furukawa an der Schulter und versuchte, ihn vom Podium herunterzuziehen; doch Schiro hatte die Sympathien der meisten bereits gewonnen. Er schüttelte Arakis Hand ab. „Was brüllt ihr so?" fauchte er die „Tenrju"-Leute an. „Ihr schreit ,unehrerbietig!' und ,frech!', dabei muss der Kaiser auch sein kleines und sein großes Bedürfnis verrichten, ebenso wie wir alle."
Ohne zu überlegen, stieß er hervor, was ihm durch den Kopf ging. Er redete ohne Zusammenhang; trotzdem bewirkte seine ganze Erscheinung, sein überraschendes, unvorhergesehenes Auftreten, dass die quälenden Zweifel der Menschen zerstoben. Eine heftige Erregung hatte die Arbeiter erfasst. Und je wilder die Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft" sich gebärdeten, desto sicherer fühlten sich die Arbeiter. Durch Gelächter und Applaus zeigten sie, dass sie hinter diesem jungen Burschen im Soldatenmantel standen.
Schiro fing wieder einen Zwischenruf auf: „Was? Was hast du gesagt?... Eine Ahnenreihe, jahrtausendelang? Ist ja lächerlich." Der Lärm im Saal hatte inzwischen seinen Höhepunkt erreicht. „Quatsch ist das! Der Kaiser stammt von einer Konkubine! Was redest du für Dummheiten? Wenn überhaupt jemand eine jahrtausendealte Ahnenreihe hat, dann du und ich!" Einige „Tenrju"-Leute sprangen auf und stürzten zur Bühne. Auch im Saal hatten sich viele von ihren Plätzen erhoben. „Ihr wollt raufen? Meinetwegen. Na los, kommt her! Wer ist der erste?"
Furukawa warf den Mantel von den Schultern, stützte sich mit einem Fuß gegen den Rand des Podiums und nahm eine drohende Haltung gegen die Bürschchen von der „Tenrju-Gesellschaft" ein, die vor Wut brüllten.
Die Nacht brach an, im Tal des Tenrju tobte ein Schneesturm. Der Verkehr auf der Sumikurastraße war unterbrochen; alles ringsum schien erstarrt. In den Bergen, die an beiden Ufern des Flusses steil emporragten, heulte der Wind in kräftigen Stößen, wirbelte auf dem Werkgelände von Kawasoi einen feinen, körnigen Schnee auf und hüllte den mondlosen Himmel in weiße Schleier.
Hier und da blinkte in den Fabrikgebäuden noch rötlicher Lampenschein. Nicht nur im Pförtnerhaus,
auch im Arbeitszimmer des Direktors brannte Licht und gegenüber, in einem einstöckigen Häuschen, der früheren Sortierabteilung, das an das Arbeiterinnenheim grenzte und in dem sich jetzt das Gewerkschaftskomitee befand, waren die Fenster hell erleuchtet.
Der Januar war vorüber, und die Gewerkschaftsorganisation in Kawasoi hatte den Kampf um die „Kontrolle der Produktion" aufgenommen. Die Forderungen des Komitees - darunter auch die dringendsten wie „Erhöhung der Löhne", „realer Siebenstundentag", „Teilnahme an den Produktionsberatungen" - waren von der Company abgelehnt worden. Das hatte der Direktor erklärt, als er aus Tokio zurückkam. Daraufhin legte das Gewerkschaftskomitee zum zweitemal seine Forderungen schriftlich nieder und schickte den stellvertretenden Vorsitzenden Tschidschiwa und den Sekretär Kassawara nach Tokio, und sich mit dem Gewerkschaftskomitee des Hauptwerkes der Company in Verbindung zu setzen. Am nächsten Tag lief die Frist ab, die man dem Direktor für eine Antwort gesetzt hatte; doch er dachte nicht daran, nach Tokio zu reisen, sondern verschanzte sich hinter allen möglichen Ausreden - es sei unmöglich, eine Fahrkarte zu bekommen, er sei erkältet...
Schließlich würde alles von den Ergebnissen des Kampfes abhängen, den zur Zeit sämtliche Gewerkschaftsorganisationen gegen die Company führten, angefangen vom Gewerkschaftskomitee des Hauptwerkes, hinter dem die Konferenz der Arbeitervertreter des Bezirkes Kanagawa stand, bis zu den Gewerkschaftsorganisationen aller vier Fabriken, die zur „Tokio-Electro-Company" gehörten. Auch im Unterrichtszimmer brannte Licht. Hier wurden die Arbeiterkurse abgehalten. Schneeflocken klebten an den Fensterscheiben, und der große Raum war ungeheizt. Trotzdem saßen etwa hundertfünfzig Männer und Frauen an den langen Holztischen. „Wir behandeln heute den Abschnitt ,Die historischen Wurzeln des Leninismus'. Schlagen Sie auf...", sagte der Lektor - es war der Rechtsanwalt Obajaschi Sentaro - und blickte von einem Buch auf, das er in der Hand hielt. Er gab die zweite Unterrichtsstunde an Hand des Buches „Uber die Grundlagen des Leninismus".
„Der Leninismus entstand unter den Bedingungen des Imperialismus, den Lenin als ,sterbenden Kapitalismus' bezeichnete. Erinnern Sie sich - wir haben gestern schon darüber gesprochen", fuhr Obajaschi fort und ging, die Hände auf dem Rücken, vor der Tafel hin und her. Verlegen lächelnd ließ er den Blick durch den Raum gleiten, als wollte er ihn bis in den letzten Winkel erforschen. Die Jugend, die dichtgedrängt Schulter an Schulter saß, bestand zur Hälfte aus jungen Mädchen.
Hier starrte ein junger Mann im Soldatenhemd dem Lektor staunend ins Gesicht, dort sah ein junges Mädchen, in einen Schal gehüllt, die Hände in den Taschen ihres blauen Arbeitsanzugs vergraben, ernst zu Sentaro auf. Zwar beantworteten sie noch nicht jede Frage des Lektors, aber sie folgten seinen Ausführungen aufmerksam. So etwas hatte es bisher in der Geschichte des Werkes Kawasoi nicht gegeben.
„...unter den Bedingungen des Imperialismus, als sich die Widersprüche des Kapitalismus bis zum äußersten zugespitzt hatten... Von diesen Widersprüchen sind drei Widersprüche als die wichtigsten zu betrachten. Klar? Das ist sehr wichtig, passen Sie gut auf. Der erste Widerspruch ist der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital. Der Imperialismus ist die Allmacht der monopolistischen Truste und Syndikate, der Banken und der Finanzoligarchie in den Industrieländern.
Jamanaka Hatsue machte sich eifrig Notizen. „Widerspruch", „Finanzoligarchie", „Allmacht der Monopole". Natürlich hatte sie ebenso wie die anderen Mädchen ihre eigenen Bücher; doch manche Schriftzeichen waren ihnen unbekannt; deshalb verstanden sie nicht alles.
„Wie hat er gesagt: Finanzoligar... oligor..." Kiku stieß Hatsue verwirrt mit der Schulter an. Oikawa Mitsu, die vor ihnen saß, flüsterte rasch:„Oligarchie... Oligarchie, verstehst du?"
Hatsue errötete so heftig, als wäre das gesamte Blut ihres Körpers in ihr Antlitz geflutet. Was für eine Menge Schriftzeichen! Sie blickte abwechselnd auf den Mund des Lektors und auf ihr Heft, um hastig die Wörter niederzuschreiben. Sie hatte ein Gefühl, als ob sie stolpernd und fallend unbekannte Bergpfade erklimme und beharrlich dem Rücken eines Menschen vor ihr folge.
„Unser Japan ist auch eines dieser ,Industrieländer', über die in diesem Buch gesprochen wird. Und obgleich Japan den Krieg verloren hat, da bei uns das Monopolkapital herrscht..."
Der Lektor erklärte an konkreten Beispielen den ersten Widerspruch des Kapitalismus. Hatsue schrieb eifrig mit.
„Der zweite Widerspruch ist der Widerspruch zwischen den verschiedenen Finanzgruppen und imperialistischen Mächten in ihrem Kampf um Rohstoffquellen, um fremde Territorien. Der Imperialismus ist Kapitalexport nach den Rohstoffquellen, wütender Kampf um den Monopolbesitz dieser Rohstoffquellen, Kampf um die Neuverteilung der bereits aufgeteilten Welt..."
Immer mehr neue Wörter kamen hinzu. Jamanaka Kiku lauschte mit herabgezogenen Mundwinkeln. Von Zeit zu Zeit verdeckte sie ihre Nachschrift mit beiden Händen. Lagen doch heute wieder wie zum Trotz ihre Aufzeichnungen kaum dreißig Zentimeter von Furukawa entfernt, der auf dem letzten Platz der Nebenreihe saß und ab und zu in ihr Heft blickte! „Dieser Umstand ist seinerseits deshalb bedeutsam, weil er zur Folge hat, dass sich die Imperialisten gegenseitig schwächen, dass die Position des Kapitalismus überhaupt geschwächt wird, dass der Moment der proletarischen Revolution näherrückt und dass diese Revolution zur praktischen Notwendigkeit wird."
Unvermittelt fragte der Lektor: „Ist das allen klar?"
Und sofort riefen Toki Hana und Torisawa Ren mit ruhiger, sicherer Stimme: „Ja, natürlich!" - „Alles klar!"
Hatsue wusste nicht, ob ihr kalt oder warm war und ob draußen noch der Schneesturm tobte. Obgleich es ihr sehr schwerfiel, den Worten des Vortragenden zu folgen, überkam sie ein Gefühl, als hätte sich ihr plötzlich eine Welt eröffnet, die ihr bis dahin völlig unbekannt war.
Es gab noch einen anderen Grund, warum Hatsues Wangen glühten. Doch davon ahnte der Lektor nichts und es ging nicht nur Hatsue so. In den Unterrichtsstunden der Arbeiterzirkel saßen die jungen Mädchen mit den Männern zusammen, und später würden sie wahrscheinlich auch in deren Gegenwart sprechen müssen.
„Der Imperialismus ist die schamloseste Ausbeutung und unmenschlichste Unterdrückung der Hunderte von Millionen zählenden Bevölkerung riesiger Kolonien und abhängiger Länder." Der Lektor sprach über den dritten Widerspruch des Kapitalismus.
„Hör mal, hör mal...", Furukawa tippte schon seit einer Weile Kiku abwechselnd auf die Schulter oder mit dem Bleistift gegen die Rippen. Und jedesmal senkte Kiku den Blick, bekam einen roten Kopf und rückte näher an Hatsue heran, so dass diese fast gar keinen Platz mehr hatte.
„Verstehst du das? Schwer, nicht wahr? Wenn du es nicht verstehst, dann sag es lieber dem Lehrer... Sensei! Sensei! Hören Sie... viele begreifen nicht alles"! rief Furukawa plötzlich, erhob sich und warf einen Blick auf das Heft, das Kiku mit der Hand verdeckte.
Der Lektor wandte sich ihm zu, und alle anwesenden Männer sahen Furukawa und seine Nachbarin an. Kiku hielt den Kopf tief über den Tisch gebeugt. „So?" Obajaschi kratzte sich hinter dem Ohr und machte ein bedenkliches Gesicht. Offenbar gelang es ihm nicht immer, einfache Worte zu finden, um die wissenschaftlichen Begriffe zu erklären. Nach kurzer Überlegung nahm er ein Stück Kreide, schrieb das Wort „Monopol" an die Tafel und nickte
Kiku zu. „Verstehst du dieses Wort?"
„Antworte doch, es ist keine Schande", flüsterte Furukawa ihr ermunternd zu.
„Nein, ich verstehe es nicht", piepste Jamanaka Kiku, stand auf und blickte verlegen zur Tafel. Dieses Vogelstimmchen ähnelte ganz und gar nicht ihrer sonst so klangvollen Stimme.
Der Lektor schüttelte den Kopf und schrieb ein zweites Wort - „Aufteilung". „Na, und das?"
„Auch nicht."
Obajaschi dachte wieder nach und schrieb dann das dritte Wort „Proletarier". Diesmal nickte Kiku. „Das verstehe ich!" Die Männer lachten gutmütig.
„Hört auf zu lachen!" schrie Furukawa, aber es war schon zu spät. Kiku barg ihren Kopf in Hatsues Schoß und brach in Schluchzen aus.
Die Vorlesung war zu Ende. Ikenobe Schinitschi stand mit etwas verlegener und zugleich missmutiger Miene in der Mitte des Auditoriums. „Im Kampf lernen, im Lernen kämpfen - das muss ein Gesetz für alle Proletarier werden", sagte Obajaschi, gegen die Tafel gelehnt, mit heiserer Stimme. Die eifrigsten Kursteilnehmer bildeten einen engen Kreis um ihn.
Toki Hana, Kaischima Nobuko und Torisawa Ren bewirteten den Unterrichtsleiter mit Tee. Hatsue, Kiku und einige andere Mädchen räumten den Saal auf. Sie hatten sich Handtücher um die Köpfe gewunden, trugen die Tische in eine Ecke, stellten sie übereinander und fegten den Fußboden. An dieser Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen, Angestellten und Arbeitern, die seit jeher in der Fabrik herrschte, hatte sich bisher niemand gestoßen. Heute aber war Schinitschi darüber empört.
„Dieser Ausspruch stammt von Kobajaschi Takidschi", fuhr Obajaschi fort.
Überrascht trat Schinitschi näher. „Sie kennen Kobajaschi Takidschi?" Schinitschi hatte früher einmal einige Erzählungen von Kobajaschi gelesen. Damals hatten sie ihn befremdet. War das denn alles in Wirklichkeit so? Vor kurzem aber hatte er bei einem Antiquar eine Erzählung von Kobajaschi entdeckt: „Der 15. März 1928." Und jetzt dachte er ganz anders darüber.
„Ich habe ihn gesehen, allerdings nur ein einziges Mal, in Tokio, in einer Versammlung. Ich war damals noch Student."
Furukawa Schiro klopfte mit dem Bleistift auf seinen Notizblock und fragte ohne die geringste Verlegenheit: „Wer ist denn das? Kobajaschi Takidschi, sagten Sie, nicht wahr?"
„Was, du kennst ihn nicht?" rief Onoki, bevor der Lektor antworten konnte. „Das ist doch ein berühmter Schriftsteller. Nicht wahr, Sensei? Er war Kommunist; deshalb haben sie ihn festgenommen und zu Tode gequält. Und der kennt Kobajaschi Takidschi nicht!"
Beim Anblick von Furukawas betretenem Gesicht lachten alle. Nur Schinitschi senkte stumm den Kopf. Die Erzählung „Der 15. März 1928", in der die Geschichte des harten Kampfes der älteren Generation der Kommunisten geschildert wurde, hatte einen starken Eindruck auf ihn gemacht. Er glaubte, alles mit eigenen Augen gesehen zu haben. Konnten sie hier, konnten Menschen wie er diesen Kampf fortsetzen?
„Hört mal alle her!" rief Obajaschi, hob die Arme hoch und wandte sich den jungen Mädchen zu. Sie waren mit dem Aufräumen fertig, knieten der Sitte gemäß in tiefer Verbeugung an der Schwelle und wollten gehen. „Ich möchte Sie ein hübsches Lied lehren. Setzen Sie sich alle zusammen. Kommen Sie hierher..."
Während er sie rief, schrieb er den Text des Liedes an die Tafel. Die Mädchen aber blieben auf der Schwelle und versteckten sich hintereinander.
„Fahne des Volkes, rote Fahne..."
sang der Lektor, schlug den Takt mit der Kohlenzange gegen das Becken und wiegte seinen kahlen Kopf. Tiefe Röte stieg ihm in die Wangen; er schien verjüngt und sah wieder wie ein Student aus. „Na, singt doch mit!"
„Höher die rote Fahne!"
Furukawa starrte Obajaschi mit offenem Mund an. Dann aber vereinte er als erster seine Stimme mit der des Lektors, obgleich er falsch sang und die Worte verwechselte. Er hörte dieses Lied zum ersten Mal. Rau, männlich und feierlich war es, und es kam ihm vor, als hätte es schon lange Zeit in seinem Herzen geklungen.
„Über der Kremlmauer dröhnt dieses Lied, man singt es im fernen Chicago..."
An Obajaschis Hals traten die Adern hervor. Zuerst war der Gesang ein unharmonisches Durcheinander von Stimmen; doch allmählich fanden sie sich zusammen. Die Mädchen neigten sich unwillkürlich immer tiefer zu der Türschwelle hinab, und Jamanaka Kiku, die alle Lieder schneller als die übrigen lernte, sang hingerissen mit.
Schinitschi vermied es, Ren anzublicken. Sie trug einen dunkelblauen Mantel, dazu hatte sie einen orangefarbenen Schal um den Hals geschlungen. Als sie merkte, dass ihre Stimme sich dem Chor nicht einfügen wollte, zuckte sie mit den Schultern und sah Schinitschi an. „Es geht nicht", erklärte sie und ließ den Blick ungeniert über die Singenden schweifen: Da war das hagere, lehmfarbene Gesicht von Toki Hana, die laut, ohne die geringste Verlegenheit sang; da waren Furukawa und die andern - alle, sogar Hatsue und ihre Freundinnen, sangen eifrig die Melodie mit. „Na, wer fährt nach Okaja? Dann singen wir unterwegs weiter!" Obajaschi erhob sich und setzte seine Sportmütze auf. Der enge Kreis öffnete sich, und einige junge Leute stiegen mit Obajaschi die Stufen hinab.
Schinitschi folgte ihnen, um den Lektor hinauszubegleiten. Er war Mitglied der Schulungskommission der Gewerkschaft, und da der Leiter dieser Kommission, Nakatani, an diesem Abend an einer Sitzung des Komitees teilnahm, war Schinitschi verantwortlich für die Arbeiterkurse. Obajaschi wartete unten auf ihn. „Möchtest du in den Kommunistischen Jugendverband eintreten, Schinitschikun?" fragte er mit gedämpfter Stimme. Dann zog er ein Blatt aus der Tasche und reichte es Schinitschi, der ihn erstaunt ansah. „Nein, nein, der Komsomol ist eine Massenorganisation. Das ist etwas anderes als die Kommunistische Partei... Na, lies mal die Satzungen durch und sprich mit deinen Freunden darüber." Obajaschi ging eilig auf den Hof hinaus, wo seine Begleiter warteten. Er verschwand sofort in einer dichten Schneewolke. „Kommunistischer Jugendverband? Komsomol?" murmelte Schinitschi vor sich hin, während er die finstere Galerie zum Gebäude des Gewerkschaftskomitees entlang schritt. Es beruhigte ihn, dass es noch nicht die Kommunistische Partei war; doch zugleich war er unbefriedigt. Seit einiger Zeit bemühte er sich, besonders streng gegen sich selbst zu sein; denn er fühlte, dass ihn die Liebe zu Ren immer mehr in ihren Bann zog. Als er am anderen Ende der Galerie eine dunkle Silhouette bemerkte, wusste er, dass es Ren war. „Sie begleiten mich, ja?" fragte sie, schob ihm etwas in die Hand und näherte ihr weißes Gesicht unter der spitzen Kapuze dem seinen.
„Ich würde gern mitgehen, aber ich muss noch..." Er wollte erklären, dass er an diesem Abend verantwortlich für die Kurse sei und noch zu tun habe; doch Ren schüttelte den Kopf und ließ ihn nicht ausreden. „Gut, dann warte ich. Ich muss mit Ihnen sprechen." Am Ende der Galerie tauchte eine Gestalt auf, und sie trennten sich. Schinitschi steckte den Notizblock, den Ren ihm gegeben hatte, in die Manteltasche. Nun wurde wieder nichts aus seinen Plänen - auch heute Abend würde erpicht dazu kommen, in dem Buch „Staat und Revolution" zu lesen, mit dessen Studium er begonnen hatte.
Als Schinitschi den Tagungsraum betrat, war die Sitzung noch im Gange.
Nakatani streckte den Kopf aus einer Gruppe Arbeiter hervor, die um eine eiserne Hibatschi herumsaßen.
Danke, dass du mich vertreten hast. Ist der Unterricht schon zu Ende?" fragte er. Schinitschi nickte.
„Gut, mach die Eintragungen ins Protokollbuch", sagte Nakatani und verschwand wieder in dem Kreis. Obgleich das Gewerkschaftskomitee den Kampf für die Produktionskontrolle aufgenommen hatte, war vorläufig noch keine Rede davon, sie im Hinblick auf die Verfügung über die fertige Produktion oder auf ihren Absatz auszuüben. Man musste jetzt mit allen Kräften die Produktion steigern und damit endlich das wahr machen, worüber die Company immer nur zum Scheine sprach, denn sie setzte ihre Sabotagepolitik fort; man musste gegen den Produktionsausfall ankämpfen, der durch verzögerte Lieferung der Rohstoffe und der notwendigen Ersatzteile von anderen Fabriken entstand. Das war eine schwere Aufgabe, und die Sitzungen des Gewerkschaftskomitees, das sich abends unter dem Vorsitz Arakis versammelte, wurden von Mal zu Mal länger. „Schon acht Uhr!" rief Araki. „Machen wir Schluss für heute."
Geräuschvoll brachen sie auf.
Schinitschi setzte sich an den Tisch unter dem Schild mit der Aufschrift „Schulungskommission" und machte seine Eintragungen ins Kontrollbuch: Zweiter Unterrichtstag der Arbeiterzirkel; anwesend 157 Kollegen und Kolleginnen; erste Stunde von siebzehn bis achtzehn Uhr; Thema: Der dialektische Materialismus... Als Schinitschi fertig war, zog er den Notizblock aus der Tasche und vertiefte sich in seine Lektüre.
Seit einiger Zeit tauschten Schinitschi und Ren ihre Gedanken und Gefühle schriftlich aus und benutzten dazu den Notizblock, den sie einander zusteckten. Ren schrieb mit lila Tinte, Schinitschi mit schwarzer. Manchmal erwähnten sie ihre Liebe - beide genierten sich, darüber zu sprechen -, manchmal stritten sie über irgendetwas. Dieser Notizblock war ihr sorgsam gehütetes Geheimnis.
Ren verstand sehr gut, was Schinitschi in seinem letzten Brief mit „Bedeutung der Praxis" gemeint hatte.
Wie alle Briefe Schinitschis ähnelte auch dieser einer wissenschaftlichen Abhandlung; im Übrigen war er voll von Andeutungen und sinnbildlichen Ausdrücken.
„Ist das wirklich notwendig?" schrieb Ren. „Ich gebe zu, dass die praktische Erfahrung eine große Bedeutung hat, besonders für ein so kleinbürgerliches Mädchen wie mich. Gut, nehmen wir einmal an, ich siedle in das Gemeinschaftsheim über - kann man behaupten, dass diese Umgebung das Richtige ist, wenn man lesen und lernen will?"
Es klopfte leise. Schinitschi legte hastig die Hand auf den Notizblock und hob den Blick. Die weißen Finger Rens trommelten leicht gegen die vereiste Fensterscheibe.
„Hast du gelesen?" fragte Ren, als sie neben Schinitschi einherschritt. Er sah zu Boden und nickte.
Sie hatten etwa dreihundert Meter auf der Sumikurastraße in Richtung Okaja zurückgelegt, waren nach links abgebogen und stiegen jetzt einen Weg bergauf, der sich zwischen terrassenförmigen Feldern hinschlängelte.
Der Sturm hatte nachgelassen, und die weiße Schneedecke ringsum verbreitete Helligkeit. Das Dorf Sanbonmatsu, das einen Kilometer weit entfernt war, schien greifbar nahe zu liegen.
„Wenn du es wünschst, dann ziehe ich um. Es macht mir. nichts aus. Mir ist es gleich, ob ich im Gemeinschaftsheim wohne oder anderswo."
Sie hatte sich bei ihm eingehakt und trat aus Übermut mit ihren Gummistiefeln mitten in die Schneehaufen. Ab und zu blickte sie ihm ins Gesicht. Ihre Stimme klang zärtlich und einschmeichelnd.
„Und was meinst du selbst?" fragte Schinitschi.
„Ich? Ja, eigentlich..." Ren begann so herzlich zu lachen, dass sie hin und her schwankte und Schinitschi beinahe das Gleichgewicht verlor. „Ich will nicht."
Bei ihrem Lachen fühlte er sich in der Tiefe seiner Seele verletzt.
„Es gibt doch auch unter den Arbeitern verschiedene Menschen", fuhr sie fort. „Es gibt zum Beispiel solche wie Schinitschisan, aber es gibt auch solche... na, eben die rückständigen, die keine Spur Klassenbewusstsein besitzen."
Sie spürte Schinitschis Stimmung, der finster und schweigsam neben ihr herging, und hörte auf zu lachen. Dann sagte sie ernsthaft: „Das Buch von Kobajaschi Takidschi, das du mir gegeben hast, habe ich gelesen. Es hat mich sehr ergriffen. Ich glaube, die Menschen, die er schildert, sind die echten Proletarier." Sie blieb stehen und drückte Schinitschi fest die Hand. „Schinitschisan aber hat sonderbare Vorstellungen! Die Frauen dort im Gemeinschaftsheim sind so ungebildet und haben so veraltete Begriffe, dass man mit ihnen überhaupt nicht sprechen kann. Das ist der Grund, warum ich nicht..."
Schinitschi unterbrach sie heftig: „Und wer ist schuld daran, dass sie so ungebildet und rückständig geblieben sind?"
Ren warf den Kopf in den Nacken und sah Schinitschi mit großen Augen an.
„Ich sage nicht, dass du unbedingt in das Gemeinschaftsheim ziehen musst. Aber trotzdem..." Schinitschi suchte mühsam nach den passenden Worten. Dann, als sei er entschlossen, alles auszusprechen, fügte er hinzu: „Ich kann diesen Komatsu nicht leiden. Damals in der Versammlung hast du selbst gesagt, dass er ein Reaktionär sei, nicht wahr? Natürlich, er ist ein Verwandter von dir, aber..."
Ren machte eine Bewegung, als wollte sie Schinitschis Hand zurückstoßen. Ihre Augen, in deren Tiefe kleine Fünkchen aufflackerten, starrten Schinitschi sekundenlang erschrocken an, und auf einmal bekamen sie einen übermütigen Glanz. „Aha, es geht also um Nobujoschisan!"
Plötzlich bog sie sich wieder vor Lachen und schüttelte Schinitschi am Arm. „Ach, du! Was bist du doch für ein komischer Kauz! Eifersüchtig - auf so einen!"
Je lauter Ren lachte, desto finsterer wurde Schinitschi. Er wollte ihr sagen, dass er gar nicht daran dächte, eifersüchtig zu sein; aber das wäre eine Lüge gewesen. Er musste zugeben, dass er ein Gefühl der Eifersucht auf Komatsu nicht zu unterdrücken vermochte. Ren wohnte ja in seinem Hause.
„Ich ziehe trotzdem um. Wirklich, ich ziehe um", sagte Ren, wieder ernst geworden. „Komatsu Nobujoschi ist zweifellos ein Reaktionär. Gestern ist er spät nach Hause gekommen, und heute habe ich ihn gefragt, wo er so lange gewesen sei. Er sagte, er habe mit dem Stationsvorsteher von Okaja gesprochen und eine Fahrkarte für den Direktor gekauft."
„So?" Schinitschi sah Ren von der Seite an. Also hatte der Direktor es schließlich doch nicht ausgehalten und wollte nun nach Tokio fahren. Ren hätte diese Neuigkeit dem Komitee berichten müssen!
Sie sprach weiter, als ahnte sie nichts von seinen Gedanken: „Er hat noch gesagt, dass alle, angefangen mit Araki, rausgeworfen werden, wenn die Company siegt. Und ich habe gefragt: ,Wenn nun aber die Gewerkschaft siegt? Wird dann Nobujoschisan hinausgeworfen?' Da wurde er wütend und sagte nichts mehr."
Schinitschi fühlte, wie sehr Komatsu sie alle hasste. Zugleich war er ärgerlich, dass Ren, dieselbe Ren, die jetzt Arm in Arm neben ihm ging und lebhaft erzählte, als handele es sich um eine amüsante Geschichte, Komatsu gegenüber keine Spur von feindlicher Gesinnung hegte.
„Er hat sich ja noch nie durch allzu viel Verstand ausgezeichnet", sagte sie lachend.
Doch Ren, deren zärtliche, schmeichelnde Stimme dicht an Schinitschis Schulter erklang, schien ihn aufrichtig zu lieben.
So war es auch. Ren hätte Komatsu Nobujoschi niemals den Vorzug gegeben; sie dachte nicht einmal daran, die beiden miteinander zu vergleichen. Aber sie betrachtete Komatsu nicht als ihren Feind, obwohl sie ihn einen „Reaktionär" nannte.
„Na, na!" Sie versetzte Schinitschi einen scherzhaften Puff und lachte. „Ich habe geträumt. Rate mal, was."
Schinitschi wandte sich ihr, verlegen lächelnd, zu Rens Gesicht war ihm so nahe, dass ein weißes Wölkchen ihres Atems fast seine Wangen streifte. „Ich weiß nicht. Sag es mir." „Nein, ich sage es nicht!" Sie lief ein, zwei Schritte voraus, machte kehrt und ergriff seine Hände. Mit zurückgebogenem Oberkörper zog sie ihn hinter sich her. Die Kapuze war ihr vom Kopf geglitten, und ihr Antlitz schien strahlend weiß.
„Das kann man nicht sagen. Nicht einmal schreiben kann man das."
Sie nickte heftig, als wollte sie dieser Behauptung Nachdruck verleihen, und setzte sich plötzlich lachend in einen Schneehaufen.
„Heb mich auf! Na los, zieh doch, fest!" Lachend hing sie an seinen Händen. Er presste erregt ihre kalten, schmalen Gelenke und versuchte, sie hochzuziehen. „Hahaha! Hahaha!" lachte Ren schallend. Schinitschi fühlte, wie sein Gesicht zu glühen begann.
Beide hatten Komatsu nicht bemerkt, der schon eine ganze Weile auf dem Felde stand. Er war Ren entgegengegangen. „Oh - bist du es, Nobujoschisan?" sagte das Mädchen plötzlich, und ihre Stimme klang ärgerlich.
Komatsu, in Offiziersmantel und Kapuze, trat auf sie zu und reichte ihr schweigend ihren Schirm, ohne Schinitschi zu beachten. „Vielen Dank!" Ren hatte ihre Verlegenheit bereits überwunden.
Sie klemmte den Schirm unter den Arm und ging vor Komatsu her. Nach einigen Schritten drehte sie sich um und rief Schinitschi zu: „Das, was wir besprochen haben, mache ich so, wie du sagst!"
Es war Nachmittagspause. Nur wenige Arbeiterinnen aus der Montagehalle zwei gingen für diese fünfzehn Minuten ins Freie. In der Halle herrschte Halbdunkel, da fast alle Lampen ausgeschaltet waren.
„Nakaaanori, der aus Kisso..."
grölte jemand neben dem stillstehenden Fließband. Dann ertönte ein langgezogenes Gähnen, und eine Stimme rief: „Huah! Ich habe Hunger!"
Oikawa Mitsu hockte auf einer Kiste neben der Treppe und blätterte in ihrem Schreibheft. Unvermittelt, als wäre ihr gerade wieder eingefallen, dass sie Hunger hatte, drehte sie sich zu Hatsue um und sagte: „Weißt du, ich esse wahnsinnig gern süße Kartoffeln!"
In der Kantine bekamen sie nur dünne Kartoffelsuppe.
„Ich würde... ich würde... ach, wenn wir doch gewinnen würden..." Mitsu packte Hatsue am Jackenärmel und weihte sie flüsternd in ihr Geheimnis ein: „Wenn wir siegen, dann esse ich fünf Portionen von diesem Püree, weißt du, das am Bahnhof verkauft wird."
Jaiminaka Kiku hatte den Arm um die Schultern von Kassuga Schinobu geschlungen und schaukelte sie hin und her. Ihr feines Ohr hatte Mitsus Worte aufgefangen.
„Was faselst du da? Man soll das Fell nicht verkaufen, bevor man den Bären hat."
Kassuga Schinobu wandte ihren Kopf mit dem koketten roten Tuch und sagte zu ihr: „Ach, Kikutjan! Das sind aber ,Widersprüche'! Wie sollen wir dann kämpfen?"
Alle lachten darüber, wie gewandt ihr der Ausdruck „Widersprüche" über die Lippen ging. Seitdem die Arbeiterkurse eingerichtet worden waren, konnte man die „gelehrten" Worte überall in den Werkhallen hören. Es hieß: „Das sind Widersprüche." - „Der hat sich mal wieder monopolisiert." - „Das kommt daher, dass er ein schrecklicher Imperialist ist." Die Kursusteilnehmer beruhigten sich erst, wenn sie die Begriffe, die sie gelernt hatten, in ihrer gewohnten Umgebung anwenden konnten. Manchmal gebrauchten sie sie auch, wenn sie gar nicht am Platze waren. Die Ausdrücke aber, die sie nicht im täglichen Leben verwerten konnten, vergaßen sie bald.
Die Arbeiterinnen hätten solche Wörter wie „Widersprüche" nicht aufschreiben können, aber wenn es ihnen gelang, sie erfolgreich anzubringen, so freuten sie sich, als hätte sich dadurch der enge Rahmen ihres Alltagslebens erweitert und als wären sie über sich selbst hinausgewachsen.
„Er ist da! Er ist da, das wandelnde Wörterbuch!" schrie eine und blickte durch das Fenster auf den Fabrikhof hinunter. „Seht mal, wie er rennt!" Hatsue lief ans Fenster und sah über die Schultern der andern hinweg den Zipfel eines vorüberhuschenden Soldatenmantels. Sie fühlte, dass sie rot wurde, und trat vom Fenster zurück. Gleich würde er hereinkommen. Das Herz schlug ihr bis in den Hals. „Seid gegrüßt! Seid gegrüßt!" Furukawa polterte mit wuchtigen Soldatenschritten, atemlos vom schnellen Laufen, in die Halle. Vor seiner Brust hing ein Sprachrohr, unter dem Arm hielt er sein berüchtigtes „Wörterbuch der sozialpolitischen Terminologie".
„Fangen wir an, Freunde! Los, raus mit den Wörtern, die ihr nicht begriffen habt!" schrie Furukawa, das Sprachrohr an den Lippen, und von allen Seiten kamen die Arbeiterinnen mit den Heften auf ihn zu. Sie hatten schon auf ihren „Wanderlehrer", wie sich Furukawa nannte, gewartet.
Das Sprachrohr auf der Brust, das Wörterbuch unter dem Arm, erschien Furukawa Schiro pünktlich dreimal täglich - morgens, mittags und in der Nachmittagspause - in den einzelnen Werkhallen. „Ja, Freunde! Lernen muss man. Wenn wir nicht lernen..."
Man streckte ihm die Hefte entgegen; er nahm das Sprachrohr ab und begann, hastig in dem Wörterbuch zu blättern.
„Ein ,Exploitierter'? Aha, hier haben wir's schon: Ein Ausgebeuteter. Soso! Das ist der, aus dem der Saft herausgepresst wird... Na, du da, verstehst du das? Zum Beispiel: Die Aktionäre der ,Tokio-Electro-Company' pressen den Saft aus dir oder aus mir heraus. Jetzt die nächste. Wenn wir nicht lernen, dann können wir die Kapitalisten nicht besiegen."
Jedesmal, wenn man ihm ein Heft entgegenhielt, nickte er freundlich, und in seinen Augenwinkeln bildeten sich zahllose Fältchen. „,Schwächung'? Hm - ,Schwächung'... Aha, geschwächt, entkräftet, der Kräfte beraubt... Verstanden?... Wie? ,Sich erheben'? Das heißt gegen jemanden auftreten. Wir, die Mitglieder der Gewerkschaft des Werkes Kawasoi von der Tokio-Electro über siebenhundert Menschen - haben uns gegen die Kapitalisten der Company erhoben. Ist das klar?" Hatsue, die im Hintergrund stand, trat von einem Fuß auf den andern. Sie war froh, wenn andere nach den Ausdrücken fragten, die sie nicht begriffen hatte. Doch es gab auch einige, nach denen sich niemand erkundigte. Ihr Gesicht glühte. Seit Furukawa die Flugblätter bei ihnen im Wohnheim verteilt hatte, verfolgte sie der Gedanke, dass sich alle Blicke auf sie richteten, sobald sie mit dem jungen Burschen sprach.
„Nur Mut, Freunde! Es gibt ein Sprichwort: ,Fragen ist für eine Minute peinlich, nicht fragen ein ganzes Leben lang.' Keinem braucht es unangenehm zu sein, wenn er etwas zum ersten Mal fragt... wenn wir nicht lernen... Was? Gleich, gleich!"
Ohne es zu merken, hatte sich Furukawa daran gewöhnt, öffentlich aufzutreten, und er unterhielt sich von Mal zu Mal freier mit den Leuten. Wenn er in die Hefte blickte, die ihm entgegengestreckt wurden, und dabei lächelte, dann zogen sich seine großen, braunen Augen zu schmalen Spalten zusammen. Er hatte eine auffallend lange Nase und eingesunkene Wangen. War er über etwas ungehalten, so wurde sein Gesicht ganz finster, aber wenn er, die Augen zusammengekniffen, den Kopf auf die Seite geneigt, in die Hefte blickte, dann nahm sein Gesicht einen erstaunlich naiven, hilflosen und unglücklichen Ausdruck an. „Aha, hier, auf Seite einunddreißig... ,Expansion'? Halt, so ein Wort gibt es, glaube ich, nicht einmal in diesem Buch..."
Das „wandelnde Wörterbuch" kratzte sich hinter dem Ohr, entschuldigte sich und bat um Geduld.
„Bis morgen werde ich das schon irgendwo finden." „Bitte, das hier... was heißt das?" Errötend hielt Hatsue ihm endlich ihr Heft hin. „Kleinbürger? Aha, das ist..." Hatsue schlug die Augen nieder und sah jetzt nur noch seinen ausgefransten Hemdärmel vor sich, während er in dem Buch blätterte. „...einer, der zwar aus dem Proletariat stammt, aber kein Klassenbewusstsein hat."
„Ich verstehe..." Hatsue war nicht mehr imstande, den Kopf zu heben. Sie glaubte, alle ringsum lächelten einander verschmitzt zu. Und - merkwürdig -Furukawa schien auch ein wenig rot geworden zu sein.
„Das sind solche Typen, die es zu etwas bringen wollen und sich bei der Bourgeoisie einschmeicheln... alles in allem Leute mit bourgeoiser Natur..."
Er konnte nicht zu Ende sprechen, denn jemand rief dazwischen: „Hört nur, wie liebenswürdig er mit Hatsutjan redet!"
Alle lachten laut, als sie sein verlegenes Gesicht sahen.
Die Sirene verkündete das Ende der Pause, und alle kehrten an ihre Arbeitsplätze zurück. Die Lampen strahlten auf, und das Fließband begann wieder, gleichmäßig zu rattern.
„Liebes, zaaartes Blümelein..." „Halt! Die Schraube hier hat keinen Kopfschlitz!" „Blümlein auf dem Feld!"
„Zum Teufel! Wieder kein Schlitz!" In Abständen von zwei Metern saßen die Mädchen am Fließband, unter ihnen auch Tojoda Schige. Sie zogen die Schrauben an den Gehäusen fest, und neben ihnen summten wie Hummeln die automatischen Schraubenzieher, die von der Decke herabhingen. Seitdem die Arbeiterinnen den Kampf um die Produktionskontrolle aufgenommen hatten, machten sie sich Gedanken über die Steigerung der Produktivität. Tags zuvor hatte die Fabrikverwaltung die Arbeiterinnen unter allen möglichen Vorwänden zu einem Stillstand von zwei Stunden gezwungen. Die Metallgehäuse, die von der Lackiererei geliefert wurden, waren längst in Okaja eingetroffen, aber die Fabrikverwaltung schickte keine Lastwagen, um sie holen zu lassen.
„...Lieiebes zaaartes Blümelein" Auch die schweigsame Hatsue stimmte in den Gesang ein, aber so leise, dass man sie fast nicht hörte. Es kam selten vor, dass sie sich am Singen beteiligte. Im Geiste sah sie Furukawa in seinem verblichenen Hemd mit den ausgefransten Ärmelaufschlägen. Wie gern hätte sie ihm ganz rasch, ohne dass es jemand merkte, das Hemd geflickt!
„Puuurpurroote Liippen..."
Auf einmal merkte Hatsue, dass immer weniger Spulen zu ihr gelangten. Sie bückte unruhig zum Ende des Fließbandes hinunter; es sah aus, als stände eine der Spulmaschinen still. Gab es etwa wieder keinen Materialnachschub? Hastig griff sie mit der linken Hand nach einer Spule und presste die fadendünnen Drähte in die Steckdose. Der Zeiger des Prüfgerätes beschrieb einen Halbkreis und sprang zwei- oder dreimal zurück. Mit einem unangenehmen Gefühl drückte Hatsue den Stempel „Ausschuss" auf und warf die Spule in einen Korb neben ihren Füßen. Wenn der Draht nicht in Ordnung war, dann waren die Spulen wertlos.
„Diese Fabrik ist auch so ein Widerspruch", sagte Kassuga Schinobu laut. Sie saß in der Nähe von Hatsue, dort, wo die Spulen den letzten Arbeitsgang durchmachten, das Umwickeln mit Isolierband. „Was ist das überhaupt, eine Fabrik? Ich denke, das ist ein Ort, an dem Waren produziert werden."
„Natürlich! In Tokio ist alles verbrannt, die Leute brauchen Elektrizitätszähler." „Ach so, deshalb verhindert man die Arbeit wohl absichtlich!" „Das verstehen wir bloß nicht." Alle redeten durcheinander. „Ich hasse diese Gewerkschaft!" „Na hör mal, wenn wir etwas hassen müssen, dann die Company! Wahrhaftig, die füttern uns mit Strandkohl und Rettichkraut." „Richtig!"
„Lasst uns singen!" Und eine stimmte etwas unsicher „Höher die rote Fahne..."
„Hoch empor...", fiel Jamanaka Kiku mit ihrer durchdringenden, hohen Stimme ein. „Sie bleibt stehen! Sie steht still!"
Die letzte Spulmaschine war ausgefallen.
Die Mädchen drängten sich um die Maschinen, die sich nicht mehr bewegten. Es war ein laufender Arbeitsvorgang, und wenn eine Stockung eintrat, so blieb das ganze Fließband stehen. „Ich werde mich erkundigen!"
Jamanaka Kiku und einige andere Mädchen liefen zur Treppe. Das Kontor des Obermeisters war leer; Kassawara war nach Tokio gefahren, und Toki Hana hatte in der Verwaltung zu tun. Auf einer Tafel über dem Tisch des Meisters waren die Produktionsziffern der ersten Tageshälfte, bis zur Mittagspause, eingetragen. Es fehlte nicht viel, und die für heute vorgesehene Ziffer wäre erreicht worden.
„Kommt alle hierher!" Oikawa Mitsu tauchte plötzlich an der Treppe auf. Sie schwenkte die Arme und rief die andern zu sich. „Herhören! Es ist genug Draht am Lager, aber weder der Chef der Produktionsabteilung noch der Verwaltungsdirektor ist da. Und der Chef der Allgemeinen Abteilung weigert sich, das Lager öffnen zu lassen!"
„Der will uns wohl zum Narren halten? Los, kommt!" riefen einige, und eine Gruppe von etwa dreißig Arbeiterinnen lief die Treppe hinunter.
Wie ungewöhnlich das alles war! Hatsue fühlte eine merkwürdige Schwerelosigkeit in ihrem ganzen Körper. Bisher hatte sie bei einem Besuch im Büro niemals auch nur für eine Minute vergessen, dass sie verantwortlich war für die Handlungen der Mädchen. Jetzt aber liefen alle zusammen über die Galerie, und jede trug die Verantwortung.
Auf der obersten Treppenstufe vor der Verwaltung stand Komatsu Nobujoschi, den Rücken gegen die Tür gelehnt, eine Zigarette zwischen den Zähnen, die Augen gegen den Rauch zusammengekniffen. Ein Schlüsselbund hing aus seiner Tasche heraus. Vor ihm, die Hände zu Fäusten geballt, mit mühsam unterdrückter Erregung, stand Toki Hana. Um sie herum tänzelte, die Hände auf dem Rücken, den Kopf zur Seite geneigt, der lächelnde Takenoutschi Tadaitschi.
„Ich bin der Chef der Allgemeinen Abteilung. Die Produktion geht mich nichts an. Woher soll ich wissen, was bei euch los ist? Die Schlüssel kann ich nicht hergeben."
Die Mädchen blieben am Fuße der Treppe stehen. Der anmaßende Gesichtsausdruck Komatsus weckte ihren Hass. Er glaubte doch nicht etwa, dass sie diesen Kupferdraht essen wollten? Die angesehene Stellung, die Komatsusensei seinerzeit in der Seidenspinnerei innehatte, konnte die Mädchen jetzt nicht mehr einschüchtern.
„Geben Sie den Draht heraus!" rief eine und kicherte. Gleich darauf mischten sich ernste Stimmen ein: „Komatsusan ist doch auch Gewerkschaftsmitglied!" „Uns in unserem Kampf zu stören... So eine Gemeinheit!"
Komatsu sah die Mädchen erstaunt an. Das war ja unerhört! Ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen, stieg er ein paar Stufen herunter und ließ einen zornigen Blick über die Mädchen gleiten. Er war noch nicht dazu gekommen, etwas zu sagen, als vom Kontrollhäuschen her ein Fahrrad wie ein Pfeil über den Hof schoss, gegen die Bretterwand der Galerie stieß und umkippte.
Torisawa Ren befreite den Saum ihres roten Rockes, der sich an der Lenkstange verfangen hatte. Dann stieß sie die Arbeiterinnen beiseite, sprang die Stufen hinauf und hielt Komatsu einen Lieferschein mit dem Stempel des Chefs der Produktionsabteilung unter die Nase.
„Nun? Ich glaube, jetzt haben Sie keine Einwände mehr, nicht wahr? Sie haben gesagt, der Chef der Produktionsabteilung wäre krank." Sie zog Komatsu das Schlüsselbund aus der Tasche. „Und als ich zu ihm in die Wohnung kam, saß er seelenruhig am Herd und bastelte an seinem Angelgerät!"
Ohne die anderen Mädchen auch nur anzusehen, wandte sich Ren um und gab Takenoutschi die Schlüssel. „Los, schließ das Lager auf!"
Takenoutschi zählte für sie überhaupt nicht.
Der Lagerraum wurde geöffnet, und Ren blieb wie ein Inspektor an der Schwelle stehen. Hatsue und die andern packten Draht in Körbe und trugen sie in die Halle.
„Torisawasan ist prima, nicht wahr?" sagte Oikawa Mitsu zu Hatsue, während sie mit einem Korb die Treppe hinaufstiegen. Jamanaka Kiku, die hinter ihnen ging, um den Korb zu stützen, meinte: „Mag sein, ich kann sie trotzdem nicht leiden!"
Hatsue überlegte. Natürlich war Torisawa Ren ein tüchtiges Mädchen. Aber Hatsue ärgerte sich, dass nicht sie, sondern Ren alles erledigt hatte.
„Höher die rote Fahne..."
sang eine, als die Spulmaschinen wieder zu rotieren begannen. Es war, als sollte dieses Lied den Mädchen helfen, ihre Stimmung zum Ausdruck zu bringen.
Die Metallspulen waren kühl, und der Wind, der von den Bergen herüber wehte, rüttelte an den Fensterscheiben; doch die Arbeiterinnen bemerkten nichts von alledem. Sie mussten das Versäumte bis Feierabend nachholen. „Sieh mal, im Isolierband ist ein Riss!" „Das ist eine ,Schwächung'!" antwortete eine, und alle lachten.
Hatsue arbeitete flott. Das Fließband rollte unaufhaltsam und brachte ihr eine Spule nach der andern. Man konnte also auch ohne den Befehl der Herren von der Werkleitung die Produktion über den Durchschnitt hinaus steigern. Voller Stolz gingen die Mädchen mit frischen Kräften an die Arbeit. „Hatsutjan, schlaf nicht!" rief Kassuga Schinobu, die am Anfang des Fließbandes saß und den Kopf im Takt ihrer Handbewegung wiegte.
Hatsue antwortete vergnügt: „Ach, beeil dich nur mit dem Zureichen, damit keine Zeit zum Schlafen bleibt!"
Es war kurz vor Feierabend. Auf einmal wurden die Mädchen unruhig. „Nanu? Was ist denn los?"
„Siehst du nicht? Sie sind zurückgekommen!" hörte man flüstern, und alle blickten zum Fenster. Auf dem Fabrikhof herrschte lebhaftes Treiben, am Eingang stand Direktor Sagara inmitten einer Menschenmenge.
„Kollegen! Die Forderungen der Gewerkschaft des Hauptwerkes an die Gesellschaft sind angenommen worden!" schrie der Verbindungsmann Jamanaka Kisuke durch das Sprachrohr und stürmte die Treppe zur Montagehalle hinauf. „Tschidschiwa und Kassawara, unsere Komiteemitglieder, sind wieder da. Versammelt euch nach Arbeitsschluss vor dem Gewerkschaftsbüro!"
Es wurde schon dunkel, und der Wind hatte sich noch nicht gelegt.
Vor dem Gewerkschaftsbüro drängten sich die Arbeiter. Manche waren zwar nach Hause gegangen, denn es kostete Überwindung, mit leerem Magen in der Kälte zu stehen; aber die meisten harrten geduldig aus. Die Leute hockten unter den Fenstern am Boden; einige suchten unter der Galerie Schutz vor dem Wind. Die Frauen saßen im Kreise und hatten einander die Arme um die Schultern gelegt.
„Wie lange soll das denn dauern? Es ist gleich sieben!" hörte man in der Finsternis murren.
„Ich bitte um etwas Geduld!" schrie Tschidschiwa aus einem Fenster. „Das Komiteemitglied Takenoutschi ist soeben aus der Verwaltung zurückgekehrt und hat berichtet, dass dort im Augenblick eine Konferenz unserer Bevollmächtigten mit dem Direktor stattfindet. Ich nehme an, dass die Antwort bald eintrifft."
Die Leute hörten schweigend zu. Hin und wieder blickten sie zu den erleuchteten Fenstern der Verwaltung auf.
„Die Company hat ihren Beschluss bereits den Gewerkschaftsorganisationen von vier Fabriken mitgeteilt, darunter auch der Gewerkschaft des Hauptwerkes in Horikawa", fuhr Tschidschiwa fort. „In unserer Fabrik ist die endgültige Entscheidung offenbar Direktor Sagara überlassen worden. Jetzt läuft alles auf die Frage hinaus, ob ein Unterschied zwischen dem Bezirk Tokio-Jokohama und unserem Bezirk Nagano besteht oder nicht. Wir müssen die Werkleitung zwingen, zuzugeben, dass es keinen Unterschied gibt. In unserer Gegend sind ja die Preise sogar noch höher. Das haben wir in unseren Forderungen von Anfang an festgestellt. Wir werden diese Forderungen bis zum äußersten verteidigen."
Hatsue war mit den andern Mädchen hergekommen, ohne vorher etwas zu essen und ohne ihre Kleidung zu wechseln. Sie hatte den Arm um die Schultern von Oikawa Mitsu gelegt und sah Tschidschiwa an. Freude durchströmte sie bei dem Gedanken, dass die Lohnerhöhung Wirklichkeit werden sollte. Gleichzeitig überlegte sie voll Unruhe, wie man jetzt handeln, was man in diesem entscheidenden Augenblick des Kampfes tun müsste, um einen vollen Erfolg zu erzielen. „Um euch über den Stand der Dinge zu unterrichten", fuhr Tschidschiwa fort, „werde ich die Antwort der Company an die Gewerkschaftsorganisationen der vier Fabriken verlesen. Erstens: Der bisherige Grundlohn bleibt bestehen. Als einmalige Unterstützung wird eine Summe in Höhe des Grundlohnes ausgezahlt. Zweitens: Familienunterstützung für die Ehefrau monatlich 50 Jen, außerdem für jedes unterhaltspflichtige Familienmitglied 35 Jen alle zwei Monate. Drittens: Zulage für Lebensmittel, täglich 15 Jen. Viertens: Teuerungszulage..."
Die Versammelten begrüßten jeden neuen Punkt mit Applaus und freuten sich, als wäre alles schon Tatsache. Plötzlich wurde es in den hinteren Reihen unruhig. „Was ist los?" „Der Direktor ist weg." „Weg? Wieso weg?"
Die Bevollmächtigten für die Verhandlungen mit der Direktion stießen die Versammelten auseinander und eilten auf das Komiteegebäude zu. Allen voran, bleich und erregt, Araki. Kassawara trat ans Fenster. „Was für eine Niedertracht!" rief er empört. „Direktor Sagara hat die Verhandlungen abgebrochen und die Fabrik verlassen. Aber wir werden unter allen Umständen eine Entscheidung erzwingen, und wenn wir die ganze Nacht dazu brauchen."
Der Aufruhr und der Lärm übertönten die Worte Kassawaras. Die Leute folgten Araki und den andern Bevollmächtigten, die aus dem Gebäude herauskamen, mit den Augen. Ikenobe und Onoki - Mitglieder des Kampfkomitees - organisierten rasch einen Postendienst.
„Ist jemand hier aus Heim drei?" ertönte die aufgeregte Stimme Furukawas durch das Dunkel. „Kassuga" Schinobusan!"
„Hiier!"
„Jamanaka Hatsuesan!" „Hiier!"
Hatsue und die andern Mädchen liefen die vereiste Sumikurastraße entlang auf das Dorf Schimo-Gawasoi zu.
„Schneller, schneller!" feuerte Furukawa die Mädchen an.
„Ich kann nicht mehr!" keuchte die rundliche Tojoda Schige.
Furukawa lief zu ihr hin und stieß sie in den Rücken. Die Mädchen, die kaum noch Luft bekamen, lachten laut auf.
„Los! Munter!"
Sie waren alle erhitzt, ihre Wangen und ihre Ohren brannten, als hätte man sie gekniffen.
Hinter dem Gemeindehaus von Schimo-Gawasoi bogen die Mädchen in einen Seitenweg ein und
liefen auf einen Hain zu. Schon von hier aus war der große, altertümliche Bau zu sehen, den die Company Direktor Sagara zur Verfügung gestellt hatte. Vor dem Tor mit dem Schutzdach und im Hof huschten Posten durch das Dunkel.
„Was heißt das? Ist er getürmt?" fragte Furukawa, als ihm ein paar Mann aus dem Tor entgegentraten, Furukawa ließ die Mädchen warten und ging in den Hof. Über der vergitterten Haustür leuchtete matt eine Laterne. Im Vorzimmer konnte man die Gestalten einiger Männer unterscheiden - das waren die Bevollmächtigten. „Los, Mädels! Mir nach!"
Offenbar hatte Furukawa bestimmte Anweisungen erhalten. Unter seiner Führung bog die Gruppe um die Ecke des Zaunes und begann den Weg zwischen den Feldern hinaufzusteigen. Einige Posten hockten schweigend an diesem Wege und beobachteten den Hintereingang des Hauses.
Am Rande des Abhangs, wo der Wind besonders heftig blies, zählte Furukawa seine Leute ab und teilte sie in zwei Gruppen ein. „Ihr bleibt hier stehen", wandte er sich an Hatsue und zwei andere Mädchen. „Wenn ihr den Direktor erblickt, dann schreit ihr, so laut ihr könnt." „Was sollen wir denn schreien?" Eine kicherte.
„Ganz egal, nur laut muss es sein, aus voller Kehle! Die andern Posten sind in der Nähe; sie können euch hören. Da gibt's gar nichts zu lachen!" Furukawa sprach ernst. „Der Direktor will die Zulage, die wir fordern, herabsetzen. Angeblich darf man die Provinz nicht mit der Hauptstadt vergleichen. Er will, dass auch im Hauptwerk die Forderungen der Arbeiter abgelehnt werden. Versteht ihr? Aber wir halten durch! Der Direktor ist entschlossen zu verhindern, dass unsere Fabrik den andern Unternehmen der ,Tokio-Electro' ein Beispiel gibt."
Furukawa nahm drei der jungen Mädchen mit und stieg den Hang hinab. Kassuga Schinobu, Oikawa Mitsu und Hatsue blieben allein. Unter ihnen, etwa hundert Meter entfernt, schimmerte das weiße Dach des Direktorenhauses durch die Bäume. „Ich habe Angst", flüsterte Oikawa Mitsu und packte Hatsue am Ärmel ihrer Arbeitsjacke.
Hatsue fühlte sich auch nicht wohl in ihrer Haut. Wenn Direktor Sagara plötzlich vor ihnen auftauchte? Was sollten sie dann tun? „Brr! Kalt ist es!" sagte Kassuga Schinobu mit zitternder Stimme. Sie wickelte sich ein rotes Tuch um den Kopf, zog die Schultern ein und stampfte mit den Füßen.
„Warum will Sagarasensei eigentlich ausreißen?" Aus Gewohnheit nannten sie alle den Direktor noch immer „Sensei".
„Wie soll man ihn denn aufhalten? Ich kann das nicht!"
Im Kampf um die Kontrolle über die Produktion hatten die Arbeiterinnen erkannt, dass die Herren von der Fabrikverwaltung die Gewerkschaft hassten. Durch
die Arbeiterkurse hatten sie eine Ahnung von Politik bekommen und erfahren, dass die Gesellschaft aus zwei gegeneinander kämpfenden Klassen bestand aus Kapitalisten und aus Arbeitern. Aber obgleich schon manche Veränderungen in den Köpfen der Arbeiterinnen vor sich gegangen waren, blieben sie jedem Vorgesetzten gegenüber schüchtern.
Hatsue hatte noch deutlich in Erinnerung, wie ihr der Direktor während des Krieges bei der Verteilung von Auszeichnungen für gute Arbeit feierlich ein Belobigungsschreiben überreichte; er stand auf einem erhöhten Podium, und sie hatte ihn voll Dankbarkeit angesehen.
„Unsinn ist das alles! Warum sollte der Direktor ausgerechnet hierherkommen?" rief Kassuga Schinobu.
Ihr war nach einer halben Stunde die Geduld gerissen. Um sich zu erwärmen, stampfte sie andauernd mit den Füßen; schließlich verschwand sie unbemerkt in der Dunkelheit.
Zwischen den Bäumen, die im Wind hin und her schwankten, sah man nur das Dach des großen, alten Hauses und das matte, gelbliche Licht, das durch die Fensterläden nach außen drang.
Was ging dort jetzt vor? Von hier aus schien das alles so fern.
„Ach, aber es wäre doch schön, wenn wir mehr Lohn bekämen", begann Oikawa Mitsu gähnend. Sie hockte auf dem Feldrain und versuchte, sich gegen den Wind zu schützen. „Dann könnte ich meiner Mutter jeden Monat zweihundert Jen schicken!"
Das war ihr sehnlichster Wunsch und nicht die fünf Portionen süßen Kartoffelbreis, wie sie vor kurzem behauptet hatte. Sie erzählte Hatsue, dass bei ihr zu Hause das siebente Kind, ein Junge, geboren worden sei und dass ihr Vater keine Arbeit finden könne. Dann gähnte sie wieder und sagte: „Ich werde Schinobutjan suchen", und stieg den Hang hinab. „Geh nicht zu weit!" rief Hatsue ihr nach. Es war Hatsue ein wenig unheimlich, allein zu bleiben. Sie hatte Hunger, und die Kälte drang ihr bis ins Mark. Sie wickelte sich einen wollenen Schal um den Kopf und steckte die Hände in die Ärmel ihres Arbeitsanzuges.
Am Himmel sah man weder Mond noch Sterne. Hatsue bekam Angst. Man hatte ihr befohlen, „Posten zu stehen"; aber was das bedeutete und welche Rolle sie in dem Kampf spielte, wusste sie nicht.
Ein Schatten glitt lautlos über den Rand des Abhangs.
„Mitsutjan, bist du es? Schinobutjan?"
Beim Klang ihrer Stimme, die das Heulen des Windes übertönte, schrak die Gestalt zusammen und blieb wie erstarrt stehen.
Hatsue sprang auf. „Wer ist da?" wollte sie rufen; doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken.
Der Mann sah Hatsue scharf an und lief nach kurzem Zögern an ihr vorbei, einen schmalen Pfad am Abhang entlang. Ringsum war alles weiß von Schnee. Hatsue konnte gerade noch feststellen, dass der Mann europäisch gekleidet war, einen Filzhut auf dem Kopf trug und einen kleinen Koffer in der Hand hielt. Kaum aber hatte sie sein Gesicht erkannt, das er mit einem Schal zu verdecken suchte, als sie unwillkürlich so laut aufschrie, dass sie selbst erschrak. Der Mann begann zu rennen, aber gleich darauf warf sich ein Körper gegen ihn, und zwei Hände krallten sich in seinen Mantelkragen. Direktor Sagara wandte sich jäh um. „Was soll das?" Als er sah, dass dieses barhäuptige Mädchen ihren Schal hatte sie verloren - Hatsue war, blickte er ihr ins Gesicht. Beide atmeten schwer. „Jamanaka Hatsue?" „Ja...", antwortete sie unwillkürlich und wich vor
ihm zurück. „Närrin! Lass das!" Sagaras Schal hatte sich gelöst, das graue Bärtchen zuckte. Die stumpfe, aufgeworfene Nase, das Doppelkinn, die Falten am Hals... dieses herrische Gesicht, das sie so gut kannte und vor dem sie zitterte! Hatsues Hände sanken kraftlos herab. „Lass diese idiotischen Spaße! Ich... ich...", murmelte er aufgeregt und unzusammenhängend, während er den Koffer von einer Hand in die andere nahm. „Ich habe es eilig, verstehst du? So ein Blödsinn... Hast du dir überlegt, was das für Folgen haben kann? Pass auf, sag keinem Menschen, dass du mich getroffen hast, hörst du?"
Hatsue verstand nicht, was er sagte. Das Herz hämmerte wie rasend in ihrer Brust, in ihren Ohren rauschte es, und in ihrem Gehirn trommelten die Worte: „Der Direktor flieht! Der Direktor flieht!" „Bitte...", begann Hatsue, als der Direktor sich von ihr abwandte, und klammerte sich von neuem an seinen Mantel. Sie wollte ihm zurufen: „Wir haben alle Hunger und warten auf Sie! Geben Sie uns eine Antwort!" Doch er hatte sich umgedreht, und im selben Moment sprühten ihr unter einer heftigen Ohrfeige die Funken aus den Augen. Eine Sekunde lang fühlte sie ihren Körper überhaupt nicht. Der Direktor lief weg.
„Bitte!" Sie holte ihn ein und hängte sich an ihn. Er schüttelte sie ab, und sie fiel in den Schnee, packte ihn aber sofort kräftig am Bein. „Lass los, du dumme Gans!" Sagara versuchte, sich zu befreien, verlor aber das Gleichgewicht und stürzte. Er sprang auf und lag gleich wieder am Boden. Da stieß er das Mädchen mit dem Fuß gegen die Brust und ins Gesicht. Hatsue holte tief Luft. „Hierher!... Kommt hierher!" Hatsue war ein kräftiges Mädchen. In dem Augenblick, als ihr Sagara die Ohrfeige versetzt hatte, schien sie sich zu verwandeln. Fest hielt sie den Stiefel des Mannes umklammert und starrte, ohne auf seine Tritte zu achten, voller Hass in sein von Wut und Angst entstelltes Gesicht.
Eine Stunde später erschollen in der Menge, die sich unter den Fenstern des Gewerkschaftsbüros versammelt hatte, freudige Rufe. Direktor Sagara betrat mit dem Chef der Produktionsabteilung den Raum.
„Sind alle Komiteemitglieder da?" „Ja, jetzt sind alle da. Bitte sehr", sagte Araki, verschränkte die Arme über der Brust und blickte zu den Bevollmächtigten hin, die rechts und links von ihm saßen. Nur mit Mühe vermochte er seiner Erregung Herr zu werden.
Die Leute rückten zusammen, um für den Direktor Platz zu machen. Takenoutschi stieß sie beiseite und brachte einen Stuhl.
Der Direktor aber setzte sich nicht. Er zog das Blatt Papier mit der Antwort aus der Tasche und knallte es auf den Tisch. „So!"
Wütend blickte er um sich. Er kam sich vor wie ein Gefangener. Gesichter umringten ihn, unzählige Augen sahen durch die Fenster herein, rechts, links und hinter ihm standen die Menschen und warteten auf seine Antwort.
Er wollte nach dem Papier greifen, ließ es aber liegen, zog seine Brille hervor und musterte noch einmal alle mit einem finsteren Blick. Die Leute beobachteten ihn gespannt. Das Doppelkinn hinter dem schwarzen Schal, das graue Bärtchen unter der Nase das ganze Äußere des Direktors schien zu sagen: Ich bin jetzt machtlos und muss tun, was ihr wollt. Aber habt ihr euch auch alles gut überlegt?
Hatsue stand hinter den andern und starrte Sagara unverwandt an. Schultern und Brust taten ihr noch weh. Das undurchdringliche, hochmütige Gesicht des Direktors kam ihr vor wie eine Maske, unter der ein anderes Gesicht gesehen hatte, als er sie Stiefeln trat und beschimpfte.
„Die Einzelheiten sind in einem andern Schriftstück niedergelegt", sagte er endlich. „Wir verlesen jetzt nur den allgemeinen Teil. Hm, so..." „Im Punkt eins Ihrer Forderungen berufen Sie sich darauf, dass die Preise im Bezirk Nagano höher seien als in den Bezirken Tokio und Osaka, und bestehen auf einer Lohnerhöhung im gleichen Ausmaß, wie sie in den genannten Bezirken bewilligt worden ist.
Hiermit setzen wir Sie davon in Kenntnis, dass die Verwaltung der Company eine Lohnerhöhung für möglich hält, unter der Voraussetzung, dass Sie umgehend einen ausführlichen Entwurf vorlegen, der als Grundlage dienen kann."
Applaus und begeisterte Rufe ertönten. Alle freuten sich bei dem Gedanken, dass der Traum von der Erhöhung der Löhne endlich in Erfüllung gehen und dadurch ihre schwere Lage wenigstens etwas erleichtert werden sollte.
Der Direktor schielte die Umstehenden wütend an. Takenoutschi, der schon eine Weile mit dem Stempelkissen neben ihm gewartet hatte, reichte es ihm und sagte: „Bitte sehr!" Mit zitternder Hand nahm Sagara den Stempel. Als er ihn auf das Dokument drückte, wurde er rot vor Zorn.
Viele wichen jetzt seinem Blick aus. Ihre Forderungen waren angenommen, und sie empfanden in ihrer Freude fast so etwas wie Dankbarkeit.
„Nein, nicht nötig!" Sagara lehnte die Tasse Tee ab, die Toki Hana ihm anbot, und strebte dem Ausgang zu. Die Arbeiter gaben ihm den Weg frei. Plötzlich, als wäre er gestolpert, blieb er stehen. Dicht an der Wand, mitten in einer Gruppe Arbeiterinnen, hatte er Jamanaka Hatsue bemerkt. Ruhig begegnete sie seinem Blick und wandte die Augen nicht ab. Sagara streifte wütend die Handschuhe über und schritt hinaus.
Hatsue fühlte, wie es sie heiß und kalt überlief. Ihre Hände ballten sich.
Die warmen Strahlen der Morgensonne überfluteten die geräumige Terrasse und drangen durch die auseinandergeschobenen Schoji ins Innere des Zimmers.
Komatsu Nobujoschi lag zwischen Stapeln von Zeitungen auf dem Bauche und stützte das Kinn in die Hände. Seine geröteten Augen blickten gedankenlos ins Leere. Der kostbare, goldbraune Haori - ein Familienerbstück - stand über der Brust offen. Die ganze Haltung des jungen Mannes zeugte davon, dass er von Kind auf tun und lassen konnte, was er wollte.
Selbst hier in Schinsu, wo der Frühling immer spät kommt, hatten sich ein paar alte Pflaumenbäume im Garten vor dem Haus mit Blüten bedeckt. Dieser Garten mit dem Teich und der umgestürzten, verwitterten, steinernen Laterne dehnte sich weit, bis an den Fuß eines waldigen Hügels. Die Besitzer des Gutes waren Verwandte Sumikuras und galten bis zum ersten Weltkrieg als die reichsten Gutsherren in diesem Bezirk. Auch jetzt noch hatte ihr Haus, obwohl verfallen, nicht seinesgleichen in Sanbonmatsu.
Nobujoschi gähnte herzhaft und runzelte die Stirn. Der Wahltermin rückte heran. Die Zeitungen brachten unter großen Schlagzeilen die Meldungen über die örtlichen Kandidaten und veröffentlichten die Programme der politischen Parteien. Unablässig verfolgte Nobujoschi eine Losung der Kommunistischen Partei: „Nieder mit der Monarchie! Für die Schaffung einer Volksregierung!" Außerdem beunruhigte ihn die Tätigkeit des „Komitees für Produktionskontrolle", das kurz nach dem Konflikt in der Fabrik gegründet worden war. Diese Gedanken tauchten in seinem Bewusstsein auf und unter, genauso, wie dort hinter dem Hügel im ziehenden Frühjahrsdunst der Gipfel des Jagatake hervortrat und wieder verschwand.
Im April wurden die Tage länger; doch seitdem die Company Kompromisse eingegangen war, brauchte Komatsu erst gegen halb zehn Uhr zum Dienst zu gehen. Durch den Kampf, den die Gewerkschaft führte, hatte sich auch das Gehalt Nobujoschis erhöht, und zwar im Vergleich zu den Löhnen der Arbeiter beträchtlich. Aber das machte ihm keine Freude; denn er fand es erniedrigend, ein einfacher Angestellter mit Gehalt zu sein.
Da fiel sein Blick auf die Schlagzeilen in einer der Zeitungen: „Handelsminister Ogassawara ist um eine Antwort verlegen" - „Gewerkschaftsvertreter protestieren gegen das Verbot der Arbeiterkontrolle über die Produktion". Hastig griff er nach der Zeitung und las den ganzen Artikel durch. Es war ein Bericht über die Ereignisse im Bergwerk Takahagi. „Im Zusammenhang mit dem kürzlich gefassten Beschluss des Ministeriums für Industrie und Handel, der den Kapitalisten Vorteile verschafft", schrieb die Zeitung, „verlangen die Vertreter der Vereinigung von dreißig Gewerkschaftsorganisationen die Einführung einer Arbeiterkontrolle über die Bergwerke. Das Handelsministerium aber weicht einer eindeutigen Antwort aus und erklärt, die Frage der Gesetzmäßigkeit einer Arbeiterkontrolle über die Produktion sei noch nicht von der Regierung entschieden worden." Nobujoschi spie aus, schleuderte die Zeitung weg und drehte sich auf den Rücken. So ein Waschlappen! schien seine wütende Miene auszudrücken.
Er erinnerte sich an die „Erklärung der vier Minister", die zur Zeit des Februarkonfliktes in der Fabrik veröffentlicht worden war und von der Notwendigkeit sprach, „die Gewaltakte der Arbeiter, die von Arbeitskonflikten begleitet werden, zu unterbinden, da sie Handlungen seien, die dem Gesetz zuwiderlaufen und Eingriffe in das Eigentumsrecht darstellen". Diese Erklärung hatte Nobujoschi Hoffnung eingeflößt. Er unterhielt sich damals mit Direktor Sagara darüber und glaubte, dass sich hinter diesen Worten ein anderer, tieferer Sinn verbarg, der mit der allgemeinen politischen Lage zusammenhing.
Schon seit einigen Minuten war im Innern den Hauses ein dumpfes, krampfhaftes Altmännerhusten zu hören. Ein Greis trat, von einer Dienerin gestützt, ins Zimmer. Sein gelber, gedunsener Körper war in einen flauschigen, buntkarierten Morgenrock gehüllt, über den er noch einen braunen Mantel mit Wattefutter geworfen hatte. Nobujoschi sprang rasch auf, schloss den Kragen, strich seinen Kimono glatt und nahm Haltung an. „Nobujoschi, lies mir die Zeitung vor!" Der zittrige, halbgelähmte Greis war Nobujoschis Vater. Er setzte sich und streckte die Beine zu beiden Seiten eines schwarzen Lacktischchens aus, das mit dem Wappen des Hauses Komatsu geschmückt war. Mit der rechten Hand, die er noch frei bewegen konnte, umklammerte der Alte zwei Essstäbchen. Die Dienerin, eine Bauersfrau von etwa dreißig Jahren, kniete neben ihm, hielt ihm eine Schale vor den Mund und half ihm vorsichtig beim Essen.
„Was ist das? Nogami Tsutomu gewinnt die Oberhand? Dumme Gans, keine Suppe, sondern Mixed Pickles! Mixed Pickles, sage ich dir!" schrie er die Frau mit seiner dumpfen, heiseren Stimme an und ließ ein paar Reiskörner aus dem Mund fallen. „Ich höre nicht, lies lauter! Wie? Obajaschi Sentaro? Woher kommt der denn? Aus Okaja? Ein Anwalt aus Okaja? Kenne ich nicht! Diese jungen Kerle sind mir unbekannt!"
Der Alte brachte das alles mit einer Miene hervor, als wäre es undenkbar, Leute als Kandidaten für das Parlament zu nennen, die er nicht kannte. Vor vielen Jahren war er lange Zeit Mitglied des Bezirksrates gewesen, dann hatte man ihn bei den Wahlen durchfallen lassen. Es gab aber auch eine Periode in seinem Leben, da er für das Parlament kandidierte. In den politischen Kreisen von Süd-Schinano besaß er damals Einfluss.
„Herrn Komatsu hat die Politik verrückt gemacht, und er hat dabei alle seine Grundstücke durchgebracht", wurde über ihn gesagt. Der apoplektische Alte aber wusste ganz genau, dass die politische Kannegießerei durchaus nicht immer zum Ruin führt - im Gegenteil. Seinerzeit war es ihm gelungen, bei der Einführung neuer Grundsteuern für einen Spottpreis Waldgrundstücke zu erwerben. Als später die Seidenfabrikanten die Regierung um Bargelddarlehen ersuchten, wurde er einer der größten Aktienbesitzer der Sumikura-Unternehmen.
Die Wirtschaftskrise nach dem ersten Weltkrieg und die militärische Niederlage Japans nach dem zweiten waren schwere Schläge für ihn gewesen. Dazu hatte ihn jetzt seine Gesundheit im Stich gelassen; aber er zweifelte nicht daran, dass die Leute, die am Ruder waren und den Schlüssel zum gesamten politischen Geschehen in Händen hielten, einen Ausweg aus der gegenwärtigen schlimmen Situation finden würden.
„Nogami Tsutomu? Hm! Dieser junge Kerl - früher hat er Bücklinge vor mir gemacht. Na, meinetwegen. Er hat Geld, und ... Hm!"
Während der Alte vor sich hin murmelte, hörte Nobujoschi höflich zu; brach das Brummeln ab, so begann er unverzüglich, wieder zu lesen.
Die Sonnenstrahlen fielen auf den Herd mit dem glänzenden schwarzen Rost, und der Haken darüber sprühte goldene Funken.
Mit trüben, tränenden Augen unter welken Lidern sah der Greis die Dienerin an, und diese lief eilig um den Herd herum, hob das gelähmte Bein ihres Herrn hoch und begann es zu massieren. „Hör auf!" brüllte der Alte, als Nobujoschi die Liste der Kandidaten der Kommunistischen Partei und die Wahllosungen der Kommunisten vorzulesen begann.
„Nieder mit der Momomonarchie?... Was soll das heißen?" Ein Reisklümpchen fiel von dem Stäbchen herunter, das in seiner Hand zitterte. „Wie kann die Regierung eine solche Unverschämtheit dulden! Hm?..."
„Japan hat das Potsdamer Abkommen angenommen. Deshalb ist vorläufig nichts dagegen zu machen", antwortete Komatsu.
In der nächsten Sekunde flogen die Stäbchen zusammen mit der Schale der Dienerin an den Kopf.
„Dieses Po - Po - Posdam..." Der Zorn drohte den Greis zu ersticken. „Das... das... kann ich nicht begreifen!"
Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, Reiskörner im Haar, rieb die Dienerin dem Alten den Rücken.
„Das Land wegnehmen... Eigentumssteuern erheben..."
Der Alte schnappte nach Luft. Als er sich etwas erholt hatte, begann er wieder, mit schwacher Stimme zu sprechen, während er die gelähmte Hand in der Schwebe hielt. „Was sollen wir Gutsbesitzer dann tun?"
Nobujoschi legte die Zeitung auf den Schoß und blickte ins Feuer. Weder Vater noch Sohn schienen die Dienerin zu bemerken, die mit schuldbewusster Miene, über und über rot, dastand und sich mit ihren geschwollenen Händen die Reiskörner aus den Haaren zupfte. „Das ist ein Attentat gegen das Eigentum! Wir haben den Krieg zwar verloren, haben kapituliert - meinetwegen. Aber dieses Po... Wie heißt es?... Das will mir nicht in den Kopf."
Er war mit dem Essen fertig, und während die Frau ihm Tee einflößte, fuhr er fort zu knurren. Ein Bein und ein Arm waren gelähmt; doch seine Zunge funktionierte ausgezeichnet. „Diese Pachtbauern", brummte er, „sind in letzter Zeit ganz unverfroren geworden. Sogar die Tagelöhner schämten sich nicht, dreiste Lieder zu singen. Hörst du?" schrie er zum Schluss. „Merk es dir gut! Selbst wenn wir Bettler werden, wenn wir hinter einem Zaun verrecken ein Komatsu wird niemals sein Land selbst bestellen. Hörst du? Die Komatsu waren einst die ersten Vasallen des Hauses Suwa. Keiner von unseren Vorfahren hat jemals Mist gekarrt. Es wäre besser, anständig aus dem Leben zu scheiden, als auch nur ein Fass voll Mist zu schleppen. Lieber eine Schlinge um den Hals..."
Die Arme über der Brust verschränkt, starrte Nobujoschi auf einen Fleck. Was der Vater sagte, war nichts als seniles Geschwätz. Das war längst veraltet. Nobujoschi hatte natürlich nicht das geringste Verlangen, Mist zu karren, aber man musste einen andern Ausweg finden. War das Unglück einmal da, dann hatte es keinen Sinn, mit einer Schlinge um den Hals anzufangen.
In einem Punkt hatte der Sohn den Vater sehr gut verstanden, nämlich als dieser sagte, das Potsdamer Abkommen wolle ihm nicht in den Kopf.
Die Dienerin brachte den Alten ins Bett. An der Schwelle drehte er sich noch einmal um.
„Nobu! Nobujoschi! Ruf Torisawa Kintaro an. Sag, dass er Ren nach Hause holen soll, hörst du?" befahl er. „Sie hat da so etwas geschwatzt, dass sie die Absicht habe, in das Gemeinschaftsheim der Fabrik überzusiedeln. Sie ist zwar noch ein kleines Mädchen, aber in letzter Zeit entwickelt sie sich auch zu einer Roten, die dumme Gans!"
Nobujoschi stützte die Handflächen gegen die Knie und verbeugte sich. Ren wollte also wirklich umziehen! Er sah seinem Vater nach, betrachtete dann eine Minute lang die antiken Waffen an der Wand, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und flegelte sich rücklings auf die Matte. Jetzt ließ er seinen Gefühlen freien Lauf. Wie rasend schüttelte er den Kopf und trommelte mit den Füßen wie ein ungezogenes Kind. „Nein, nein, nein!" Nach einigen Minuten wurde er still.
Er stand auf, ging in sein Zimmer und zog die Offiziersuniform an, die er im Dienst trug. Sein Gesicht war wieder ruhig. Mit seinem gewohnten festen Schritt steuerte er auf Rens Wohnraum zu.
In Rens Zimmer lag alles durcheinander. Man konnte nirgends einen Fuß hinsetzen. Ein großer verschnürter Koffer, eine Kiste mit Büchern, ein Kästchen mit Toilettengegenständen und Bettzeug in bunter Umhüllung türmten sich zur Abholung bereit in einer Ecke. Ren selbst, im Morgenrock, eine Schnur als Gürtel um die Taille, kniete am Boden und beschäftigte sich eifrig mit einem Stoß Plakate.
„Volksregierung oder Regierung des Kaisers?" -„Stimmt für unseren Kandidaten Obajaschi Sentaro, für die helle Zukunft Japans!" - „Für den Vertreter der Werktätigen, für den Kandidaten der Kommunistischen Partei, Obajaschi Sentaro!" stand in roter und grüner Farbe darauf.
Ren hatte tags zuvor bis spät in die Nacht Losungen gemalt und war trotzdem noch nicht fertig. Ohne zu frühstücken, hatte sie sich sofort wieder an die Arbeit gemacht. Die Wahlen rückten näher, und die Mitglieder des Kommunistischen Jugendverbandes in der Fabrik hatten alle Hände voll zu tun. Besonders viel lastete auf Ren. Ikenobe und Onoki sollten heute eine Abstimmung in der Fabrik durchführen, und Ren hatte allein fünfzig Plakate zu malen. Nach dem Mittagessen sollte sie sie mit Hilfe einiger anderer Mädchen aus dem Jugendverband in der Stadt ankleben. Außerdem würde sie noch am Vormittag in das Fabrikheim umziehen; die Erlaubnis der Company war endlich eingetroffen.
„Im Schmelztiegel unseres Hasses..." Mit beklecksten, vor Anstrengung steifen Fingern führte Ren den Pinsel. Ihren Umzug hatte sie telefonisch zu Hause gemeldet und schon vergessen, was ihr Bruder, der gegen ihren Entschluss war, dazu geäußert hatte. Übrigens ließ er nach diesem Gespräch nichts mehr von sich hören. Kintaro war gewiss beschäftigt - er war gerade dabei, in Schimo-Gawasoi eine Holzgerätefabrik aufzumachen.
„...schmieden wir ein eisernes Schwert..." Neue Gefühle und neue Gedanken bewegten Ren. Die wunderbare Theorie, die sie studierte, und das ereignisreiche Leben, an dem sie jetzt aktiv teilnahm, eröffneten ihr eine neue Welt. Vor kurzem hatte sie mit der Lektüre der Schrift „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" begonnen. Sie las mehr als die andern Mädchen und wusste am besten von allen in den theoretischen Fragen Bescheid. Das Bewusstsein, dass sie mit jedem Tag der neuen Welt näherkam - einer Welt, von der sie nie zuvor gehört hatte -, erfüllte sie mit freudiger Unruhe. Ihre ehemaligen Schulfreundinnen oder Lehrer, die sie hin und wieder traf, erschienen ihr merkwürdig beschränkt und stumpfsinnig. Selbst an ihren Bruder, der aus Angst vor einer Enteignung seines Landes Unternehmer zu werden suchte, ohne zu begreifen, dass das Los aller Eigentümer ohnehin längst entschieden sei, dachte sie jetzt mit einem Gefühl nachsichtigen Mitleids. „Gehst du heute nicht zur Arbeit?"
Die eckige Gestalt Nobujoschis schob sich zwischen die offenstehende Schoji und verdeckte das Sonnenlicht.
„Nein. Und warum bist du nicht im Dienst?" fragte Ren, ohne den Kopf zu heben.
Nobujoschi ging durch den Raum, setzte sich neben einen kleinen Tisch und sah sich schweigend um. Er ließ den Blick von dem großen Bündel in dem bunten Tuch über den Koffer zu Ren gleiten, die sich tief über ein Plakat beugte. Ihre weißen Füße schauten unter dem Saum des bunten leinenen Morgenrocks hervor, aus dem wirren Haar drohten die Nadeln jeden Augenblick herauszufallen, ihr Hals war weiß und rund. Ren bemerkte nicht, dass Nobujoschis Kinn plötzlich herabsank, als ginge ihm der Atem aus.
„Na, Nobujoschisan, hat die Gewerkschaft nun doch gesiegt?" fragte sie anzüglich. Er antwortete nicht.
„Nobujoschisan mag sich erbosen, soviel er will, das hilft alles nichts. Es ist eine historische Notwendigkeit." Nobujoschi trommelte mit den Fingern auf den Tisch.
„Was für ein großes Ereignis, wenn das Proletariat erwacht, wenn es anfängt, die Klassenstruktur der Gesellschaft zu verstehen", sagte Ren, legte die getrockneten Plakate zusammen und beugte sich über einen frischen Bogen Papier.
„Ist es wahr, dass Furukawa Schiro zum Vorsitzenden der Jugendsektion ernannt wurde?" fragte Komatsu, ohne seine Stellung zu verändern. „Warum haben sie denn nicht deinen Liebhaber gewählt?"
Als er die Worte „deinen Liebhaber" hervorstieß, bebte seine Stimme. Ren wandte sich um. „Weil Furukawasan besser dafür geeignet ist", erwiderte sie und sah Nobujoschi scharf an.
Sie hasste dieses Lächeln, dieses ganze undurchdringliche, unerschütterliche Gesicht. „In einer proletarischen Organisation wählt man die Leute nicht nach persönlichen Erwägungen. Das ist etwas anderes als die bürgerlichen Organisationen; da braucht man einem Menschen nur einen Posten zu geben, und schon fängt er an, sich wichtig zu machen!" Je mehr sie sprach, desto giftiger wurde das Lächeln Komatsus. Plötzlich stellte er eine provokatorische Frage: „Ist es wahr, dass in der Jugendsektion nur Mitglieder der Kommunistischen Partei sind?" „Darum brauchst du dir keine Sorgen zu machen", antwortete Ren ärgerlich.
Doch auch diese Worte schienen Komatsu nicht im Geringsten zu berühren. „Man sagt, dass es in unserer Fabrik ungefähr fünfzig Kommunisten gibt. Stimmt das?" „Weiß ich nicht. Du bist ja der reinste Spion!" Nobujoschi verließ seinen Platz, ging pfeifend im Zimmer auf und ab, betastete die herumliegenden Sachen und gähnte zwischendurch ungeniert.
Dann unterbrach er das Pfeifen und fragte: „Wollen wir vielleicht ein bisschen tanzen?"
Auch jetzt bemerkte Ren noch nichts Ungewöhnliches in seinem Benehmen. Es fiel ihr nur auf, dass er die Tangomelodie „Abschied" pfiff.
Als sie endlich mit ihrer Arbeit fertig war und aufstehen wollte, erblickte sie dicht vor sich sein Gesicht.
„Aaah! Bist du verrückt geworden?" schrie sie. Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Sie wollte Komatsu zurückstoßen, versetzte ihm mit der freien Hand eine Ohrfeige und versuchte mit aller Gewalt, sich von ihm loszureißen. Erst in diesem Augenblick erkannte sie mit Schrecken, wie stark er war, aber es war zu spät...
Endlich gelang es ihr, seinen Kopf wegzuschieben. Mit bleichem Gesicht starrte sie ihn aus weitaufgerissenen Augen an. Er hatte ihr etwas angetan, was soviel bedeuten musste wie ihr die Tugend rauben, und doch nahm er seelenruhig seine Aktentasche und die Mütze und ging zur Tür hinaus. Das Geräusch seiner Schritte war noch lange zu hören...
Als Komatsu Nobujoschi das Fabrikgelände betrat, bemerkte er auf dem Hof einen Jeep.
„Guten Tag!" grüßte der Wachtposten und hob die Hand an den Mützenschirm. Komatsu erwiderte den Gruß lässig, blieb stehen und betrachtete den Jeep.
Komatsu kam spät; der Arbeitstag hatte längst begonnen, und auf dem Fabrikhof war es still. Unter den warmen Strahlen der Sonne taute der Schnee. Von dem nassen Boden stiegen Dunstschwaden auf. An den Bretterwänden, sogar an den Pfeilern der Galerie, wo die Kontrolluhr stand, klebten – ungewöhnlicher Anblick! - rot- und blaubemalte Plakate und Aufrufe.
Einige enthielten die Stellungnahme der Gewerkschaft zu den Parlamentswahlen, nannten die Namen der Mitglieder des Gewerkschaftskomitees, die neu gewählt worden waren, andere trugen Losungen wie „Jugend heraus!" - „Versammlung der Jugendsektion der Gewerkschaft!" Ein Plakat fiel besonders auf: In leuchtend roten Schriftzeichen verkündete es: „Die Zukunft gehört der Jugend!" Es war, als hätten die Menschen im Kampf zum ersten mal ihre Fähigkeiten und ihre Möglichkeiten entdeckt.
Komatsu schlug den Weg zur Fabrikverwaltung ein.
Im Korridor stieß er unvermutet mit Takenoutschi Tadaitschi zusammen, der aus dem Empfangsraum stürzte. Durch die halboffene Tür erblickte Komatsu zwei amerikanische Offiziere, die in zwangloser Haltung mitten im Zimmer standen. Vor ihnen erkannte man den Glatzkopf des Chefs der Personalabteilung, der sich tief verneigte, und das lächelnde Gesicht des Direktors, der hin und wieder radebrechend ein paar englische Worte in die Unterhaltung einwarf.
Komatsu klopfte an und trat ein. „Brauchen Sie mich?" fragte er den Direktor leise. Auf Sagaras Nase schimmerten Schweißtropfen; seine Laune aber war ausgezeichnet. „Sie sprechen doch englisch, nicht wahr?" „O nein!" Komatsu schüttelte selbstbewusst grinsend den Kopf. Der Direktor stellte ihn vor; als sich einer der Amerikaner umwandte, machte Komatsu eine graziöse Verbeugung wie ein Tänzer, der seine Dame auffordert, und streckte dem Gast ohne jede Hemmung die Hand entgegen: „Good morning, Sir! Welcome!"
Seine Aussprache war grauenhaft; doch seine Stimme klang so selbstsicher, dass Sagara vor Staunen den Mund aufriss.
Bald darauf begann im Hof ein Motor zu knattern; der Jeep machte eine jähe Wendung, flog durch das Tor und verschwand auf der Sumikurastraße. Er hinterließ die groben Abdrücke seiner Reifen und einen schwachen Benzingeruch.
„Ein hübsches Wägelchen, nicht wahr?" bemerkte Direktor Sagara. Er stand auf der Schwelle, umringt von seinen Untergebenen, die dem davonfahrenden Jeep nachblickten. Der Direktor hob den Kopf, schaute in den wolkenlosen blauen Himmel und machte ein Gesicht, als wollte er sagen: Schönes Wetter heute!
Langsam glitten seine Augen über die Plakate und die Aufrufe, aber merkwürdigerweise verschwand sein Lächeln auch jetzt nicht.
„Also, meine Herren", sagte er schließlich und machte kehrt. „Bitte kommen Sie in mein Büro."
Er steckte die Hände in die Hosentaschen und stieg mit energischen Schritten die Treppe hinauf, ohne die Angestellten, die ihm entgegenkamen und ihm mit einer Verbeugung den Weg frei machten, auch nur eines Blickes zu würdigen.
„Es handelt sich um folgendes..." Er nahm den Hörer vom Telefon, das anhaltend läutete, wühlte in den Papieren auf seinem Schreibtisch und reichte seinen Untergebenen, die inzwischen Platz genommen hatten, ein Exemplar der Lokalzeitung. „Na, was ist? Ja, ich höre... Jaja, ist gut..."
Er legte den Hörer auf und sah zu, wie die Zeitung von Hand zu Hand ging.
„Naa, Herr Gemeinderat, was sagen Sie dazu?" fragte er spöttisch und blickte Takenoutschi an.
Takenoutschi Tadaitschi gab die Zeitung an Komatsu weiter, verschränkte die Arme über die Brust und legte den Kopf auf die Seite. Bei den Märzwahlen für die Organe der örtlichen Selbstverwaltung hatte die Sozialistische Partei ihn als Kandidaten aufgestellt, und er war in die Gemeindeverwaltung von Kawasoi gewählt worden. „Hm, ja, wirklich...", murmelte er.
Der Direktor schielte wütend zu ihm hin. „Wenn man die Nase zu hoch reckt, dann kann man leicht stolpern."
Die Zeitung brachte in der zweiten Spalte einen Artikel mit der schreienden Schlagzeile: „Das Werk Kawasoi der Tokio-Electro-Company ein Kommunistennest! Allein hundert Jungkommunisten!"
„Die Zeitungsleute sind doch ein durchtriebenes Volk! Wo mögen sie das nur wieder herhaben!" wandte sich Sagara an Komatsu, der schweigend die Zeitung betrachtete.
Komatsu antwortete nicht.
„Das ist unangenehm der Company gegenüber. Was meinen Sie?" Der Direktor setzte seine saure Miene auf und sah den Personalchef an. Dann glitt sein Blick wieder zu Komatsu hinüber. „Haben wir denn wirklich so viele Kommunisten?"
„Keine Ahnung." Komatsus Antwort klang wie immer völlig gleichgültig, und keiner der Anwesenden kam auf den Gedanken, dass die Anregung zu diesem Artikel von ihm stammen könnte.
Er schwieg und musterte kühl den neben ihm sitzenden Takenoutschi Tadaitschi, der über die Lage in der Gewerkschaft und die Gesinnung einzelner Arbeiter berichtete. Ab und zu warf Komatsu einen Blick aus dem Fenster, wo im blendenden Sonnenglanz die Abhänge der fernen Berge schimmerten.
Große Hoffnungen keimten in seinem Herzen. Aber je festere Formen diese Hoffnungen annahmen, desto unbeteiligter erschien er nach außen hin.
Die Unterhaltung mit Takenoutschi begann den Direktor aufzuregen.
„Was redest du da für Unsinn?" rief er gereizt. „Wenn deiner Meinung nach Araki und Nakatani keine Kommunisten sind, wer ist dann Kommunist?" „Ich behaupte ja nicht, dass sie nicht Mitglieder der Kommunistischen Partei sind. Ich sage nur, möglicherweise..." Takenoutschi beugte den Kopf tief über den Tisch. Seine Äuglein glitzerten zwischen den geschwollenen Lidern, und er kicherte. „Verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Direktor! Ich kann die Kommunisten nicht ausstehen. Ich habe auch keine Veranlassung, für Araki einzutreten."
Mit böser Miene, als wollte er sagen: Das ist gar nicht lächerlich!, führte der Direktor den Bleistift über die Liste, die vor ihm lag. Da fiel sein Blick auf Komatsu. Er warf den Bleistift hin und nickte Takenoutschi zu. „Das genügt mir. Ich danke Ihnen, meine Herren." In diesem Augenblick heulte die Sirene zur Mittagspause, und Takenoutschi verließ mit dem Personalchef das Zimmer. Sagara hielt Komatsu zurück. „Na, wie sieht es in Wirklichkeit aus?" Sagara schielte zur Tür, dann blickte er Komatsu erwartungsvoll an. Du weißt doch etwas! stand in seinem Gesicht geschrieben. Aber er wurde enttäuscht; Komatsu sagte gleichgültig: „Das weiß ich auch nicht."
Der Direktor trommelte mechanisch mit den Fingern auf den Tisch. Jetzt reicht es mir. Sie haben meine Geduld lange genug auf die Probe gestellt! dachte er. Das leichte Lächeln wich noch immer nicht von seinen
Zügen. Ebenso wie in Komatsu hatte der amerikanische Besuch auch in ihm Hoffnungen erweckt, und er erriet die Gedanken Komatsus, der nach wie vor schweigend zum Fenster hinausschaute.
„Wir dürfen nicht zögern. Die Zeitungen schreiben schon darüber. Ich glaube, ich als Direktor bin verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen. Was meinen Sie?"
„Hm..."
„Dieser Tage wollen sie diese - wie nennt sich das -,Jugendkonferenz' einberufen. Vielleicht fällt Ihnen etwas ein."
„Hm..."
„Sollen wir das Aktiv der ,Tenrju-Gesellschaft' zusammenrufen? Wenn Ihnen ein anderer Raum nicht geeignet erscheint, dann will ich Ihnen gern mein Büro zur Verfügung stellen."
Komatsu sah noch immer stumm zum Fenster hinaus. Plötzlich sagte er: „Es stimmt, in der Fabrik gibt es verdächtige Leute."
„Also doch?"
„Jawohl. Und zwar eine ganze Menge!" Komatsu setzte sich, den Blick über den Kopf des Direktors hinweg aufs Fenster gerichtet. „Dieser... dieser Kommunistische Jugendverband..."
„Was? Kommunistischer Jugendverband?" rief Sagara.
Als er in die kalten, zusammengekniffenen Augen seines Gegenübers blickte, zuckte er unwillkürlich zusammen. „Und wie viele Mitglieder hat dieser - Jugendverband?"
„Ich glaube, über hundert."
„Hundert?" Der Direktor war entsetzt. Keine zwei Monate existierte die Gewerkschaft in der Fabrik und schon... Sagara konnte nicht begreifen, wie das möglich war. „Wer ist denn... wer ist denn der Rädelsführer?"
Sagara reichte Komatsu die Liste der Mitglieder des Gewerkschaftskomitees.
Komatsu nahm einen Rotstift zur Hand und überflog die Namen - Araki, Kassawara, Tschidschiwa, Nakatani... Als er auf Furukawa stieß, machte er einen Haken und gab dem Direktor die Liste zurück. „Der?" Erstaunt blickte der Direktor auf. „Wirklich der?" Sagara hatte Furukawa Schiro schon als Lehrling gekannt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er sich in diesem fröhlichen, lächelnden Burschen so sehr getäuscht haben sollte.
„Er ist ein Rowdy!" Mehr sagte Komatsu nicht, aber es war ihm anzusehen, dass der Name Furukawa unangenehme Erinnerungen in ihm weckte, so unangenehme, dass er sich in die Irre leiten ließ - er ahnte nicht, dass in Wirklichkeit Ikenobe Schinitschi der Leiter des Jugendverbandes im Werk Kawasoi war.
„Ich kenne ihn, aber... hm ..."
„Glauben Sie ja nicht, dass er so harmlos ist, wie er tut."
„Schön, ich werde ihn beobachten. Weiter!" Sie gingen die Liste durch und hakten die Namen derer ab, die sie für Kommunisten hielten. Alle jungen Arbeiter, darunter auch Ikenobe und Onoki, wurden
gekennzeichnet. Schwieriger war es bei den Mädchen Toki Hana, Torisawa Ren, Jamanaka Hatsue... „Viele von ihnen sind Kommunisten, nur ..."
Komatsu prüfte die Liste aufmerksam. Wahrhaftig, unter den aktiven Teilnehmern an der Wahlkampagne, die den Kandidaten der Kommunistischen Partei, Obajaschi Sentaro, unterstützten, waren viele Mädchen. Es war verhältnismäßig einfach, Genaueres über Toki Hana oder Torisawa Ren herauszubekommen; aber bei den Mädchen aus dem Fabrikheim gerieten Sagara und Komatsu in eine Sackgasse. Unter den Arbeiterinnen gab es keine Leute wie Takenoutschi oder Tschidschiwa und keine Spitzel wie die Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft", folglich war es nahezu unmöglich, etwas über sie in Erfahrung zu bringen.
„Na schön!" Der Direktor legte den Rotstift hin, nahm die Brille ab, und das Lächeln erschien wieder auf seinen Lippen. „Die Anführer haben wir jetzt, also können wir schon etwas unternehmen."
„Es gibt ein Mittel." Komatsu drückte das Kinn zurück und sah den Direktor finster an. Sagara nickte, als wüsste er, was der andere meinte. Der Direktor stellte sich eine Gewerkschaft ohne Kommunisten vor und fühlte sich erleichtert.
„Ja, übrigens... wir sollten Englisch lernen", sagte er unvermittelt und bedeutungsvoll und lehnte sich im Sessel zurück.
„Möchten Sie rauchen? Das haben mir die amerikanischen Gäste vorhin geschenkt."
Er zog ein Päckchen amerikanischer Zigaretten aus der Tasche, zündete sich eine an und atmete genießerisch den Rauch ein.
Furukawa Schiro kletterte an dem Mast hinauf, verband die Mikrophonleitung mit dem Stromkabel und rief: „In Ordnung! Fertig!"
„Als erste spricht Jamanaka Hatsue!"
Aus einer Gruppe junger Mädchen und Burschen, die die rote Fahne der Kommunistischen Jugend und Plakate mit dem Namen des Kandidaten der Kommunistischen Partei, Obajaschi Sentaro, trugen, löste sich mit hochrotem Kopf Jamanaka Hatsue. Ikenobe drückte ihr das Mikrophon in die Hand. „Wir, die Arbeiter vom Werk Kawasoi der Tokio-Electro-Company, sind heute hierhergekommen, um zu euch zu sprechen; denn recht viele Menschen sollen uns hören."
An diesem hellen Frühlingsabend wurde auf der Hauptstraße von Okaja vor dem Postamt eine Wahlversammlung für den Kandidaten der Kommunistischen Partei abgehalten. Der Tag der Wahl rückte näher, und überall auf den Straßen der kleinen Stadt gab es mehr oder weniger gut besuchte Versammlungen.
Gegenüber der Post, im Bankgebäude, fand auch eine Versammlung statt. Hier wurde für den Kandidaten der Sozialistischen Partei, Nogami Tsutomu, geworben. Ikenobe Schinitschi stand neben Jamanaka Hatsue, als müsste er sie beschützen, und warf wütende Blicke auf das Bankhaus. In der Hand hielt er einen Notizblock, auf dem die Namen der Redner verzeichnet waren. „Wir Frauen", begann Hatsue, „haben bisher geglaubt, Wahlen wären Männersache, eine Angelegenheit der reichen und angesehenen Leute. Nun aber..."
Immer mehr Passanten blieben stehen. Seit zehn Tagen betrieb die Kommunistische Jugendgruppe des Werkes Kawasoi Wahlpropaganda, und junge Mädchen wie Hatsue hatten gelernt, öffentlich aufzutreten, ja, sogar zu sprechen. Hatsue trug die übliche Kleidung der Frauen von der Seidenspinnerei Okaja, eine dunkelblaue Jacke und einen roten Schal. Die Leute staunten, dass sie den Mut hatte, sich dort hinzustellen, mit dem Mikrophon in der Hand, und zu reden. Eine Frau - das war etwas ganz Neues! „Was hat die Regierung für uns Arbeiter getan?"
Die Menge applaudierte. Hatsue wurde rot vor Verlegenheit und verstummte für einen Augenblick.
Ikenobe machte ein ernstes Gesicht. Er war unzufrieden mit sich. Die Zahl der Jungkommunisten im Werk hatte sich zwar innerhalb der letzten beiden Monate auf 87 erhöht, aber keiner war Mitglied der Kommunistischen Partei geworden. Selbst er, der Leiter des Jugendverbandes, war noch nicht in die Partei eingetreten. Dabei glaubte er an den Sieg des Kommunismus und führte den Kampf im Sinne der Kommunistischen Partei.
In den hinteren Reihen entstand eine Bewegung. Furukawa Schiro, der auf den Steinstufen vor dem Postamt gesessen hatte, verschwand rasch in der Menge. Ikenobe erwachte aus seinen Grübeleien und sah Hatsue an.
„Ich begreife nicht, wie ein Arbeiter gegen die Kommunistische Partei sein kann! Wer außer der Kommunistischen Partei kümmert sich um uns, die Arbeiter?" Hatsue sprach voller Begeisterung. Ihre Wangen hatten sich gerötet, der Wind spielte mit ihrem Haar. Aus ihren großen, klaren Augen leuchtete eine leidenschaftliche Überzeugung. Man spürte, dass dieses einfache Arbeitermädchen seinen Weg mit dem Herzen gefunden hatte und dass sie nicht zu beirren war. Furukawa tauchte wieder auf. Jamanaka Kiku und Oikawa Mitsu hatten seit Beginn der Versammlung vom Gehsteig aus die Passanten angerufen: „Stimmt für den Kandidaten der Kommunistischen Partei, Obajaschi Sentaro!"
Auf einmal wurden die Stimmen der Mädchen vom Geschrei der Anhänger Nogami Tsutomus übertönt. Junge Leute in Studentenjacken und Mitglieder der Jugendorganisation der Stadt mengten sich unter die anderen.
„Hören Sie die Rede des Herrn Nogami Tsutomu, des Kandidaten der Sozialistischen Partei, des ältesten Mitglieds der Bauernbewegung!"
Jamanaka Kiku stand, ohne es selbst zu merken, plötzlich mitten auf der Straße und schrie aus Leibeskräften:
„Stimmt für Obajaschi Sentaro, den Kandidaten der Kommunistischen Partei Japans!"
Im selben Augenblick sprang einer von den Kerlen Studentenjacken neben sie und brüllte: „Für Herrn Nogami Tsutomu von der Sozialistischen Partei! Die Kommunisten achten den Kaiser nicht! Die Kommunisten fordern den Sturz der Monarchie!" Eine Rauferei entstand. Furukawa eilte Kiku zu Hilfe, aber auch der Gegner hatte Verstärkung erhalten. „Halt den Mund!" fauchte Furukawa den Studenten an; aber der kreischte weiter und drehte sein Sprachrohr nach allen Seiten: „Die Kommunisten achten den Kaiser nicht! Die Kommunistische Partei führt das Land ins Verderben!"
Die Menge teilte sich in zwei Gruppen. Furukawa hätte gewiss eine Schlägerei angefangen, wenn ihn nicht Ikenobe und einige Polizisten, die auf den Lärm hin herbeigeeilt waren, zurückgehalten hätten. „Genossen! Die Sozialistische Partei - das sind Spitzbuben!" Furukawa war gelb vor Wut. Seine Hand, die das Mikrophon hielt, zitterte. „Sie sagen, wir, die Kommunistische Partei, achten den Kaiser nicht, die Kommunistische Partei führt das Land ins Verderben... Dabei..."
Furukawa wurde heiser. Er schluckte krampfhaft und gestikulierte heftig, während er seine Zuhörer durchbohrend anblickte. Ein merkwürdiges Gefühl ergriff ihn. „Wir, die Kommunistische Partei..." Diese Worte waren ihm unwillkürlich entfahren. Jeden Tag war er durch die Straßen gegangen, hatte für die Kommunistische Partei agitiert, und jetzt, da er Auge in Auge dem Feinde gegenüberstand, der ihn öffentlich schmähte, rief er, ohne zu überlegen: „Wir Kommunisten..."! „Der Kaiser hat zusammen mit der Militärclique und den Kapitalisten den Krieg angefangen und die Kommunisten ins Gefängnis geworfen!. Das ist der Grund für die schlimme Lage Japans. Wer wagt da noch zu behaupten, dass wir es sind, die das Land ins Verderben führen?"
Furukawa sprach leidenschaftlich und eindringlich. Ab und zu unterbrach er sich und ließ den Blick über die Zuhörer gleiten, als hoffte er, in ihren Gesichtern die Worte zu finden, die ihm fehlten. Dann aber sagte er etwas, das alle aufhorchen ließ:
„Es gibt verschiedene Länder! Solche, in denen die Armen immer mehr werden, während eine kleine Gruppe Menschen immer fetter wird und riesige Reichtümer anhäuft! Aber es gibt auch Länder wie die Sowjetunion, wo alles ganz anders aussieht... Wir müssen Japan verändern! Wir müssen es so verändern, dass es keine armen Leute mehr gibt. Und deshalb müssen wir gegen die scheinheilige Sozialistische Partei kämpfen! Wer wird das tun? Ihr, Genossen, ihr werdet es tun! Und wir... wir..."
Er stockte, verstummte und steckte die Hände in die Taschen seiner Soldatenbluse. Man hörte Lachen, und eine spöttische Stimme rief: „Wer ist denn das ,wir'?"
„Wer das ist?" Sein Gesicht nahm einen ruhigen, weichen Ausdruck an, in seinen Augenwinkeln bildeten sich kleine Fältchen. „Wir - die Kommunistische Partei Japans!"
Als es so dunkel wurde, dass man die Gesichter nicht mehr unterscheiden konnte, löste sich die Versammlung auf. Ikenobe und Furukawa gingen die Straße zum Bahnhof hinunter. Sie wollten die zusammengerollten Plakate und das Mikrophon zu Araki bringen, der in der Nähe des Bahnhofs wohnte. Beide schwiegen, keiner konnte sich entschließen, als erster ein Gespräch zu beginnen.
Dieser Furukawa! dachte Ikenobe und wurde nervös. Wird er nicht bald etwas sagen? - Ich will Kommunist werden! Ich muss es werden! Aber habe ich die Voraussetzungen dafür und habe ich genug Energie?
Sie näherten sich dem sogenannten Fabrikhaus, einer Baracke in einer Gasse hinter der Bahn. Es war Abendbrotzeit, und Arakis Frau hantierte geschäftig vor der Tür. Freundlich wie immer empfing sie die Gäste. „Ikenobe und Furukawa sind gekommen!"
„Aha, sind sie da?" hörte man Araki drinnen antworten. „Kommt herein!"
Durch die Gittertür sahen sie vier Kinder im Zimmer umhertollen. Das älteste war etwa acht Jahre alt.
Araki hatte seinen Arbeitsanzug noch nicht abgelegt. Er hielt einen kleinen Jungen auf dem Schoß und machte sich einige Notizen, die seine Gewerkschaftsarbeit betrafen. Das tat er täglich. „Ich bin gleich fertig!"
Furukawa nahm das Kind auf den Arm. Ikenobe setzte sich vor das kleine Hibatschi, in dem ein schwaches Feuer glimmte, und betrachtete die Photographie von Arakis Bruder, die an der Wand über Tür hing.
Ein Kommunist! Die Lampe erhellte nur einen Teil des Zimmers, und im Halbdunkel schien es, als ob der Mann auf dem Bild über irgendetwas nachdächte. Die senkrechte Falte zwischen den Augenbrauen, der schmale Mund - genau wie bei seinem Bruder. Jedesmal, wenn Ikenobe zu Araki kam, sah er das Bild an, und jedesmal, wenn er das Wort „Kommunist" hörte, stellte er sich nicht Obajaschi Sentaro oder Kobajaschi Masaru vor, sondern dieses Gesicht auf der Photographie.
Und er? Hat er sich entschlossen? dachte Ikenobe und blickte verstohlen zu Araki hinüber. „Ihr habt sicherlich noch nicht zu Abend gegessen?" Araki schloss das Notizbuch. „Gib uns was zu essen!" rief er seiner Frau zu. Dann wandte er sich an Ikenobe und sagte: „Es ist eine Verschwörung gegen uns im Gange."
Furukawa, der mit den Kindern spielte, horchte auf. „Hier, lest mal! Ich habe es in der Kontrollabteilung von der Wand gerissen."
Es war jener Zeitungsartikel, rot umrandet, damit er jedem sofort in die Augen sprang. Die Schlagzeilen waren unterstrichen: „Das Werk Kawasoi der Tokio-Electro-Company ein Kommunistennest! Allein hundert Jungkommunisten!"
Erst ein Tag war vergangen, seit Komatsu und Takenoutschi diesen Artikel im Büro des Direktors gelesen hatten. Nach Feierabend hatten einige Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft" die Zeitungsausschnitte überall in der Fabrik ausgehängt. „Das ist nicht schlimm. Nakatani und ich haben die meisten schon beseitigt." Nach kurzem Zögern fuhr Araki fort: „Viel unangenehmer ist es, dass der Direktor Tschidschiwa und Takenoutschi zu sich gerufen und mit ihnen verhandelt hat." Die drei tauschten Blicke.
Was hatte der Direktor mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Gewerkschaftskomitees Tschidschiwa und dem Mitglied des Gewerkschaftskomitees Takenoutschi besprochen? Tschidschiwa und Takenoutschi würden wohl kaum in Opposition zur Gewerkschaft treten, aber sie waren der Kommunistischen Partei feindlich gesinnt; deshalb war es leicht möglich, dass sie unter dem Einfluss dieses Zeitungsartikels mit der Gruppe Araki brechen würden.
„Ich glaube, die einfachen Mitglieder der Gewerkschaft haben nichts gegen die Kommunistische Partei!" rief Furukawa hitzig. „Die Ergebnisse der Abstimmung vor kurzem haben doch gezeigt, dass sechsundvierzig Prozent für die Kommunistische Partei sind!"
„Vergiss nicht, dass nur die Jugend befragt wurde", wandte Araki ein.
Ikenobe ließ den Kopf sinken; Furukawa starrte Araki verdutzt an.
„Die Gedankenfreiheit wird doch durch das Potsdamer Abkommen garantiert! Na und? Wie ist es denn damit?"
„Wenn wir nichts tun als uns entrüsten, dann wird nicht viel Vernünftiges herauskommen." Araki wiegte den Kopf und lächelte ironisch. „Wenn Tschidschiwa und seine Freunde jetzt antikommunistische Losungen verbreiten, so gibt es keine Garantie, dass die Gewerkschaft nicht gespalten wird. Manch einer ist der Ansicht, dass die Kommunistische Partei mitunter zu scharf rangeht", fügte er hinzu und nahm seinen Jüngsten auf den Arm.
Ikenobe knackte mit den Fingern und starrte ins Feuer. Ja, Araki hatte recht. Es gab eine Anzahl Jungkommunisten in der Fabrik, aber das waren hauptsächlich die Mädchen aus dem Gemeinschaftsheim. Unter den Arbeiterinnen, die zu Hause wohnten, gab es noch viele, die einen Bogen machten, wenn sie eine rote Fahne sahen. „Wie kann man denn so etwas sagen! Wie kann man nur...", murmelte Furukawa. „Im Werk Kawasoi ist nicht ein einziger Kommunist!"
Araki und Ikenobe hoben gleichzeitig die Köpfe und lächelten trübe. Furukawa hatte mit dieser Bemerkung den wundesten Punkt berührt. „So ist es doch, nicht wahr? Oder stimmt es etwa nicht?" fuhr Furukawa empört fort. Araki und Ikenobe schwiegen. „Allerdings, wenn es auch noch keine Kommunisten gibt, ich... ich..." Ikenobe sah ihn an; er stockte, sprach aber gleich darauf weiter und blickte Ikenobe dabei mutig in die Augen: „Ich glaube, es wäre besser, wenn welche da wären. Oder etwa nicht? Ich bin nicht ohne Grund so wütend geworden!"
Furukawa war wirklich sehr aufgeregt. Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn. „Ich weiß nicht, was für ein Mensch dieser Tschidschiwa ist; Takenoutschi aber, da könnt ihr sagen, was ihr wollt - der riecht nach Spitzel! Auf was warten wir noch? Bevor wir erleben, dass man die Gewerkschaftsmitglieder mit Kommunisten erschreckt, die sie nie gesehen haben, sollten wir lieber..."
„Pst!" machte Ikenobe und tippte Furukawa aufs Knie.
Er verstummte sofort.
Atakis Frau kam herein, stellte einen Topf mit Nudelsuppe auf den Tisch und lud alle zum Essen ein. „Also, bitte, greift zu! Es ist zwar ein bescheidenes Mahl, aber..."
Araki saß neben seiner Frau, die einen alten Kittel trug. Er hielt das Kind auf dem Schoß und betrachtete nachdenklich die zerrissenen Matten auf dem Fußboden. Seine Lippen zuckten.
Schweigend fuhren Furukawa und Ikenobe nach Hause. Das Gesicht dem Winde zugewandt, standen sie in Gedanken versunken auf der Plattform des überfüllten Eisenbahnwagens.
Bin ich würdig, Kommunist zu werden? fragte sich Ikenobe immer wieder.
Sicherlich ist es schwer, Kommunist zu sein, wenn Ikenobe und Araki die Sache so ernst nehmen. Ist es denn für einen gewöhnlichen Sterblichen unmöglich, Kommunist zu werden? überlegte Furukawa.
Beide waren sich klar darüber, dass es jetzt nicht mehr genügte, nur dem Jugendvorstand anzugehören. Kobajaschi hatte ihnen schon früher vorgeschlagen, in die Partei einzutreten, und ihnen sogar Antragsformulare gegeben. Nun empfanden sie es als unbedingt notwendig. Während der Wahlkampagne mussten sie nicht nur ihren Arbeitskollegen, sondern auch vielen fremden Menschen die Position der Kommunisten erklären, mussten sie gegen die Liberale und gegen die Sozialistische Partei sprechen.
Kommunisten - das ist die Partei der Proletarier in aller Welt! Überall gibt es Kommunisten - in der Sowjetunion, in China, in Europa, in Amerika - auf dem ganzen Erdball, und überall verteidigen sie die Interessen des Volkes.
Wenn ich würdig wäre, dachte Ikenobe wohl zum hundertsten Male, dann würde ich mich bedeutend sicherer fühlen im Leben, mich von allem Unnützen, Überflüssigen befreien und ein echter, wahrhafter Mensch werden.
Ich bin doch Proletarier! Was fehlt mir denn noch, um Kommunist zu werden? grübelte Furukawa. Meine Kenntnisse und praktischen Erfahrungen sind, glaube ich, nicht geringer als die der andern Genossen... Ich bin offenbar nicht ernst genug... Das ist sicherlich auch Arakis und Nakatanis Ansicht. „Du, Ikenobe!" Der Zug hatte Kami-Suwa erreicht; sie stiegen aus und gingen durch die Sperre. Furukawa blickte Ikenobe traurig von der Seite an.
„Sag mal - die Kommunisten müssen doch alle hervorragende Menschen sein, nicht wahr?"
Ikenobes Augen blitzten auf; doch statt einer Antwort stieß er nur ein kurzes „Hm!" hervor.
Sie überquerten die Gleise. Der Wind blies ihnen ins Gesicht, und in der Ferne hörten sie die Wogen des Suwasees rauschen. Bedrückt schlich Furukawa hinter Ikenobe her.
Marx und Lenin waren Kommunisten. Und Stalin. Und Mao Tsetung, Kim Ir Sen, Tokuda Kjuitschi sie alle sind Kommunisten! In der ganzen Welt führen die Proletarier einen unablässigen Kampf, und ihr Vortrupp ist überall die Kommunistische Partei. Könnte man doch auch Kommunist werden, dachte Furukawa, und Schulter an Schulter mit ihnen schreiten! Ja, dafür würde er mit Freuden sein Leben hingeben.
Furukawa legte sich gleich nieder. Ikenobe hingegen verließ das Zimmer, lief durch die finsteren Gänge in den Erholungsraum, holte ein Tintenfass und setzte sich an den Tisch. Dann legte er das Antragsformular für die Aufnahme in die Partei vor sich hin. Es war zwar bereits ausgefüllt, aber er wollte alles noch einmal abschreiben.
Sorgfältig wie bei allem, was er tat. setzte er seinen Familiennamen, Vornamen, Geburtsdatum, Bildungsgang und Arbeitsstelle ein. Das dauerte nicht lange; doch als er zu der Spalte kam, in der er seinen Wunsch, in die Partei einzutreten, begründen sollte, stützte er das Kinn in die Hand und überlegte.
„Wenn ich in die Partei aufgenommen werde, so verspreche ich, mich der Parteidisziplin zu unterwerfen, der Partei ergeben, ein treuer Kämpfer für die Sache der Befreiung des Proletariats zu sein und alle meine Kräfte der Arbeit zu widmen. Selbst wenn ich mein Leben dafür opfern müsste, werde ich mir immer bewusst sein, dass ich den Weg gegangen bin, den wir, die Proletarier, gehen müssen, und werde es niemals bereuen." So lautete die erste Fassung des Antrages. Jetzt klang es ihm zu selbstgefällig, und er wollte es ändern.
Aber als er das Geschriebene nochmals durchlas, fühlte er, dass es hier nichts zu ändern gab. Konnte man ohne diesen Entschluss Kommunist werden?
Wenn sich der Kampf verschärfte, dann würde man ihn aus der Fabrik entlassen. Nun, wenn schon! Sollten sie ihn doch verhaften und ins Gefängnis werfen - was tat's!
Er blickte zu der trüben Zehn-Watt-Lampe auf und überlegte. Er stellte sich das nervöse Gesicht Arakis vor und die Photographie seines verstorbenen Bruders. Araki hatte eine alte Mutter, eine Frau und Kinder... Auch Ikenobe hatte einiges zu bedenken. Er war das älteste von sieben Kindern. Sein Vater war ein Greis. Ja, und er selbst war auch nicht gerade der Kräftigste. Nach der Lungenentzündung musste er vorsichtig sein.
Er hatte einmal geglaubt, als einzelner stark werden zu müssen. Er wusste damals noch nicht, dass die Kommunisten in allen Ländern immer zahlreicher wurden und dass sie als Genossen einander halfen. Die Kommunisten kämpfen in den vordersten Reihen; die Kugel trifft sie als erste, aber das Volk stützt sie, das Volk steht hinter ihnen.
Es gibt keinen anderen Weg für mich, entschied er schließlich. In Gedanken versunken, saß er da und spürte nicht, wie ihm Hände und Füße erstarrten.
„He, Ikenobe!" - In Unterhosen, den Militärmantel übergeworfen, trat Furukawa ins Zimmer.
„Wo hast du die Erzählung von Kobajaschi Takidschi gelassen?"
Ikenobe versteckte hastig den Aufnahmeantrag und sah den vor Kälte zitternden Furukawa an. Offenbar hatte der Bursche wieder in seiner Bücherkiste gekramt, als wäre es seine eigene. Aber wie kam es, dass er sich plötzlich für Belletristik interessierte?
„Onoki hat sie mitgenommen."
„Kumao? Nagut."
„Du, der schläft schon. Hol es morgen." Furukawa hörte nicht auf ihn. Seine bloßen Füße patschten zur Treppe.
Furukawa Schiro hatte sich in seine Decke gewickelt und las die Erzählung „15. März 1928" von Kobajaschi Takidschi. Zuerst lag er ruhig, dann aber krümmte er sich vor Kälte. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und richtete sich auf. Er seufzte und sah sich um. Ikenobe schlief schon lange. Furukawa fragte sich immer wieder: Könnte ich das ertragen?
Er dachte an die Erzählung, die über den heldenhaften Kampf der Arbeiter in Hokkaido berichtete und entsetzliche Foltern schilderte, die jene grausame „Geheimpolizei" gegen Kommunisten und andere revolutionäre Arbeiter anwandte. Diese Polizei war vor dem Kriege in Japan geschaffen worden. Selbst durch dicke Mauern hörte man das Pfeifen der Bambusstöcke, mit denen man die nackten, gefesselten Menschen schlug, die mit den Köpfen nach unten aufgehängt waren und so lange misshandelt wurden, bis sie das Bewusstsein verloren. Dann übergoss man sie mit Wasser und folterte sie von neuem.
Furukawa rückte unter die Lampe und las weiter. Das Herz erstarrte ihm in der Brust.
...Saito war durch die Folterungen wahnsinnig geworden. Sata hatte geschluchzt, als man ihn befreite. Furukawa begeisterte sich für den Heroismus eines Watari, Kuda, Rjukitschi.
Furukawa reckte sich und verschränkte die Arme über der Brust. Er hatte keine Angehörigen und brauchte sich nicht wie Ikenobe um seine Eltern und seine Geschwister zu sorgen. Aber die Geheimpolizei, die Verfolgungen, die Folter...
Die Zensur hatte einige Seiten der Erzählung gestrichen; deshalb war Furukawa überzeugt, dass die Folterungen viel schrecklicher gewesen sein mussten, als sie geschildert waren.
Könnte ich das aushalten ? dachte Furukawa. Doch dann erkannte er, dass glühender Hass gegen die kaiserliche Geheimpolizei den Helden dieser Erzählung die Standhaftigkeit und die Kraft verlieh, alle Misshandlungen zu ertragen.
Auf dem Fabrikhof war ein Netz gespannt. Der Direktor und der Verwaltungschef spielten Tennis. Der kleine Balljunge lachte über den Direktor; es sah ja auch zu komisch aus, wie er mit seinem dicken Bauch hin und her rannte.
Es war still und einsam auf dem Fabrikhof, den die letzten Strahlen der untergehenden Sonne beleuchteten. Es gab jetzt viel Arbeit auf den Feldern - die Gerste wurde gejätet, Kartoffeln wurden gelegt und Reissetzlinge gepflanzt; deshalb beeilten sich die Arbeiter, die in den Dörfern wohnten, abends heimzukommen. Im Arbeiterinnenheim schauten einige Frauen aus den Fenstern. Sie hatten die Ellbogen auf die Simse gestützt und trugen ihre Arbeitsjacken über den Nachtkimonos.
Aber die Ruhe war trügerisch. In diesem Augenblick fanden zwei Versammlungen in der Fabrik statt, bei denen es sehr lebhaft zuging. Den beiden Männern auf dem Fabrikhof, die an diesem stillen und scheinbar schläfrigen Abend einander den Ball zuwarfen, war es durchaus nicht gleichgültig, was dort geschah.
Der Junge lachte hellauf. Ein heftiger Schlag hatte den Ball weit aus dem Spielfeld getrieben. Sagara blieb stehen und ließ den Tennisschläger sinken. „Na, wie ist es? Machen wir Schluss?" Der Verwaltungschef, ein großer junger Mann, kam auf den Direktor zu und nahm den Zelluloidschirm von der Stirn, der seine Augen gegen die Sonne schützte.
„Sie spielen wirklich meisterhaft, Direktor, das muss man sagen!"
Direktor Sagara prustete und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht.
„Na, hören Sie mal! Erst treiben Sie einen in die Enge, und dann machen Sie sich noch lustig!"
Der Junge brachte einen Eimer Wasser, ein Stück Seife und ein Handtuch. Während die beiden Spieler sich die Hände wuschen, fragte der Direktor: „Was meinen Sie, kann man den Absolventen unserer Abendschule den Titel ,Angestellte zweiten Grades' geben? Vereinbart sich das mit der Betriebsordnung?" „Mit der Betriebsordnung? Nun, es gibt viele Beispiele dafür, aber..."
Der Verwaltungschef trocknete sich die Hände, bot seinem Partner eine Zigarette an und reichte ihm Feuer.
„Gibt es unter den Fabrikarbeitern solche verdienstvollen Leute?"
„Was sagen Sie - verdienstvolle? Hm, nun ja, was heißt verdienstvoll", antwortete der Direktor unbestimmt und stieß eine Wolke Tabakrauch aus. „Na gut, wir werden sehen. Ich werde dann mit Ihnen sprechen."
Er warf das Jackett, das ihm der Junge gebracht hatte, über den Arm und ging, noch immer vom Spiel erhitzt, die Galerie entlang. An der Ecke machte er kehrt.
„Ich will doch mal in die Versammlung der Jugendsektion schauen!"
Der Verwaltungschef hatte seine Jacke korrekt angezogen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen.„Ich glaube, es wäre besser, wenn Sie sich dort nicht zu oft zeigten. Sie könnten in eine peinliche Lage geraten." „Hm..."
„Es ist doch noch nicht bekannt, wie die Sowjetunion im Kontrollrat für Japan auftreten wird."
Sagara runzelte die Stirn und zog seinen feisten Hals zwischen die Schultern, blähte seine kurze Nase und schob die Oberlippe vor. Es war vergebliche Mühe, ihn überzeugen zu wollen. Er nickte, als erkenne er die Begründung des Verwaltungschefs an, rückte den Schirm seiner Sportmütze zurecht, machte eine Schwenkung mit seinem dicken Bauch und ging davon.
Die Komiteemitglieder waren so aufgeregt, dass keiner bemerkte, wie Sagara gemächlich an den Fenstern des Gewerkschaftsraumes vorüberschritt.
„Vorsitzender! Ich bitte ums Wort", verlangte Takenoutschi Tadaitschi und beugte sich weit über den Tisch. „Lassen Sie uns offen sprechen! Gibt es in der Gewerkschaft Kommunisten oder nicht?" fragte er laut und warf Araki einen misstrauischen Blick zu.
Araki, der den Vorsitz führte, antwortete nicht.
Wie in allen Gewerkschaftsorganisationen Japans nach dem Kriege, bestanden die ersten Gewerkschaftskomitees im Werk Kawasoi aus Meistern und Werkhallenleitern. Einfache Arbeiter waren nicht dabei.
„Beunruhigt Sie das so sehr?" fragte Nakatani und nahm eine Prise Tabak aus seinem Beutel.
Takenoutschi wandte sich brüsk zu ihm um. „Jawohl, das beunruhigt mich! Weil Missverständnisse auftreten können, wenn solche Artikel über uns in der Zeitung erscheinen. Die öffentliche Meinung..." Er trommelte mit den Fingern auf den Zeitungsausschnitt.
„Nicht wahr?" Er machte eine Kopfbewegung zu Tschidschiwa hin.
„Nun, Takenoutschikun, du bist doch, soviel ich weiß, Mitglied der Sozialistischen Partei? Und die Sozialistische Partei erlässt doch auch allerhand Aufrufe - oder nicht?" bemerkte Kassawara.
Alle lachten. Takenoutschi war aufs äußerste gereizt und wollte etwas erwidern, aber er fand nicht die passenden Worte.
„Trotzdem...", begann Tschidschiwa und blickte wie gewöhnlich von einem zum andern. „Natürlich wird die Freiheit des Denkens durch das Potsdamer Abkommen garantiert, wie der Vorsitzende des Komitees sagt. Trotzdem... Die Sozialistische Partei handelt stets legal, während die Kommunistische Partei..." Er suchte nach einer Begründung für seine Einwände.
„Die Kommunistische Partei ist ebenfalls legal", unterbrach ihn Nakatani lachend, und Tschidschiwa schrie aufgebracht: „Bitte keine Zwischenrufe! Die Kommunistische Partei... Na schön, zugegeben, die Kommunistische Partei ist auch legal. Aber wenn so ein Artikel erscheint und die Stimmung der Gewerkschaftsmitglieder zu beeinflussen droht, dann müssen wir einen entsprechenden Aufruf erlassen."
„Richtig!" bestätigte Takenoutschi und hob den Kopf. „Man muss Klarheit schaffen! Wenn es in der Gewerkschaft Kommunisten gibt, dann gibt es welche, und wenn nicht, dann nicht!"
Eine heftige Diskussion begann. Einige Mitglieder des Gewerkschaftskomitees - der Obermeister der Montagehalle eins, Tsurutama, und andere - beteiligten sich nicht daran, sondern beobachteten gespannt die Streitenden. „Wollen wir abstimmen, Herr Vorsitzender?" fragte Takenoutschi ironisch lächelnd.
Araki hielt seinem höhnischen Blick ruhig stand. Er schwieg eine Weile. Arakis Schweigen aber bedeutete stets, dass er eine Antwort bereit hatte, die dem Gegner die Sprache verschlagen würde. Langsam hob er das Feuerzeug an seine Tabakspfeife, rauchte sie an, nahm sie aus dem Mund und stützte die Ellbogen auf den Tisch.
„Wir wissen nicht, ob zurzeit Mitglieder der Kommunistischen Partei unter uns sind. Aber selbst wenn es im Augenblick keine gibt, so ist es möglich, dass es in Zukunft welche geben wird. Bei der Sozialistischen Partei liegen die Dinge, soviel ich weiß, ebenso. Sogar unter den Mitgliedern der ,Tenrju-Gesellschaft' soll es eine ganze Menge Angehörige der Sozialistischen Partei geben. Die Gewerkschaft ist keine politische Organisation, und es gehört nicht zu ihren Aufgaben, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. So betrachtet auch die Gewerkschaftsorganisation des Hauptwerkes die Sache. Mich interessiert jedoch, wie die übrigen Mitglieder des Gewerkschaftskomitees darüber denken - Tsurutamasan zum Beispiel. Ich hätte gern seine Ansicht und die der andern Kollegen gehört."
Obermeister Tsurutama und die andern bisher Unbeteiligten nickten erleichtert, als Araki so energisch auftrat, und schlossen sich seiner Meinung an.
Araki lehnte sich im Stuhl zurück. „Eine Verleumdung durch die Zeitung ist sinnlos und erreicht niemals ihren Zweck. Ist es nicht so, Tschidschiwasan?"
Als Sagara, noch immer mit der gleichen sorglosen Miene, die Galerie entlang schritt und in den Saal blickte, in dem die Jugendsektion der Gewerkschaft ihre Versammlung abhielt; stellte er fest, dass dort die Lage noch viel gespannter war.
Ikenobe führte den Vorsitz, und auf der Männerseite des Saales stand hochaufgerichtet ein junger Bursche in Soldatenuniform. Er hatte einen Fetzen Papier in der Hand und gab Erklärungen zu dem soeben eingebrachten Vorschlag ab, dass Mitglieder des Kommunistischen Jugendverbandes „kein Recht" haben sollten, „der Jugendsektion der Gewerkschaft beizutreten". „Lauter!" rief der Vorsitzende.
Der Bursche blickte verwirrt zur Seite; dann las er stockend, als könnte er die Schrift auf dem Zettel nur mit Mühe entziffern, weiter: „Der Grund dafür... liegt darin... darin, dass sie der Kommunistischen Partei nahestehen... Die Kommunistische Partei... beleidigt erstens Seine Majestät den Kaiser... Zweitens will sie alle reinen Sitten und schönen Bräuche...
das patriarchalische System... äh... unseres Landes Japan vernichten... Drittens lehnt sie... das Privateigentum ab."
Dieser junge Mann war erst vor kurzem heimgekehrt. Er arbeitete als Lagerverwalter in der Werkzeugabteilung. Die Zuhörer verstanden ihn schlecht; denn seine Rede enthielt allzu viele Fremdwörter. Trotzdem wurden alle Anwesenden unruhig, weil sie sahen, was sich hinter diesen Ausführungen verbarg.
Über dem Platz des Vorsitzenden hingen Plakate, auf denen mit Tusche geschrieben stand: „Für allgemeine Teilnahme an der Demonstration am 1. Mai!" -„Wir verlangen Kulturinstitute für die Jugend!" -„Wir schaffen Aktionstrupps der Jugend!"
Es war die erste Versammlung nach der Gründung der Jugendsektion der Gewerkschaft. Ungefähr zweihundert junge Leute waren erschienen; zwei Drittel davon waren Mädchen. Bis zum Auftritt jenes Burschen war die Diskussion über die einzelnen Fragen von lebhaften Zwischenrufen, Gelächter und beifälligen Äußerungen begleitet gewesen.
Ikenobe erhob sich: „Wir haben die Erklärungen zu dem eingebrachten Vorschlag gehört. Wer hat noch eine Frage?" „Es liegt noch ein Antrag vor!"
Wie nicht anders zu erwarten war, kam dieser Ruf aus der Ecke, in der eng zusammengedrängt ungefähr zwanzig Angehörige der „Tenrju-Gesellschaft" saßen. Es war ganz unverkennbar Schimas Stimme, der eigentlich gar nicht mehr zur Jugend gehörte. Er zog die
Militärmütze tief in die Stirn und versuchte, sein Gesicht zu verdecken. Man sah, dass er den Mitgliedern der „Tenrju-Gesellschaft" Anweisungen erteilte.
Wieder stand ein junger Mann in Uniform auf und las etwas von einem Zettel ab. „Wenn man... äh... unser Japan mit einer Familie vergleichen will, so ist Seine Majestät der Kaiser das Oberhaupt dieser Familie. Es läuft auf dasselbe hinaus, ob man ein Land leitet oder eine Familie."
Komatsu Nobujoschi, der stellvertretende Vorsitzende, hatte sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt, die Hände in den Hosentaschen, mit der gleichgültigen Miene eines Menschen, den das, was rings um ihn vorgeht, nicht im Geringsten berührt. „He, Vorsitzender! Noch ein Antrag!" Es war offensichtlich, dass jedesmal derselbe Text verlesen wurde - ein organisierter Störungsversuch. Es wurde laut im Saal, und aller Augen wandten sich Furukawa und Onoki zu, die neben dem Podium auf den Plätzen für das Sektionsaktiv saßen.
Zu Beginn der Versammlung hatte Furukawa Bericht erstattet und einen Resolutionsentwurf vorgelegt. Dann kamen auf einmal diese überraschenden Anträge... Seitdem hatte sich Furukawa nicht mehr gerührt; er schien ganz und gar mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
„Ich bitte ums Wort!" rief Komatsu. „Ich bin an dem soeben eingebrachten Kollektivantrag beteiligt!"
Beim Klang dieser Stimme zuckte Furukawa zusammen und hob den Kopf.
Ohne den Vorsitzenden zu beachten, stieg Komatsu auf das Podium.
Sein Auftreten war ein Verstoß gegen die Versammlungsordnung.
Onoki und einige andere protestierten heftig, aber dem Vorsitzenden Ikenobe gelang es nicht, die Ordnung wiederherzustellen.
Inzwischen hatten sich Jamanaka Kiku und Kassuga Schinobu aus der Gruppe der Jungkommunisten gelöst und unbemerkt bis an den Tisch des Aktivs durchgeschlängelt. Sie flüsterten Hatsue etwas ins Ohr, die ihre Mitteilung sofort an Furukawa und Onoki weitergab. Wie sich herausstellte, hatten die Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft" die Zeitung mit dem berüchtigten Artikel über das „Kommunistennest" Kawasoi herumgereicht. „Ich glaube, es ist jedem klar, dass zwischen dem Kommunistischen Jugendverband und der Kommunistischen Partei kein Unterschied besteht", begann Komatsu.
„Richtig! Stimmt!" pflichteten die Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft" bei. Komatsu war bleich und ungewöhnlich erregt. Während er sprach, schüttelte er von Zeit zu Zeit die Faust.
„Zugegeben, dass heutzutage die freie Meinungsäußerung gestattet ist... Aber wie sollen wir die Kommunisten nennen, die unsere herrlichen Traditionen, das patriarchalische System, die Altersordnung, die Regulierung des ganzen Lebens durch den Familienältesten zerstören wollen?"
Bei den Worten Komatsus geriet Furukawa in Wut. Er stürzte auf das Podium. „Die Kommunisten zerstören die Familie nicht! Im Gegenteil, die Kommunisten erstreben bessere Familienverhältnisse." Furukawa sprach hastig und gestikulierte wild. Aber er war kein Araki; es ging über seine Kräfte, sich Auge in Auge mit dem Gegner zu messen und dessen vorbereitete, wohldurchdachte Angriffe abzuwehren. „Die japanische Familie auf dem Lande ist feudalistisch. Und in der Stadt ist sie bürgerlich. Versteht ihr? Was ist die Familie? Wie bezeichnet Engels die Familie?" Er verzog das Gesicht, legte die Hand an die Stirn, überlegte und fuhr fort: „Die monogame Familie ist gegründet auf die Herrschaft des Mannes. Versteht ihr?"
Die Jungkommunisten hörten ihm aufmerksam zu, die andern blieben gleichgültig. Die meisten der anwesenden Jungen und Mädchen stammten aus Bauernfamilien und begriffen nicht, was Furukawa sagte. Als aber die Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft" brüllten: „Nieder mit den Kommunisten! Runter mit dir!" gerieten sie ebenfalls in Bewegung. „Das patriarchalische System in Japan besteht unverändert seit Jahrtausenden", erklärte Komatsu. „Die Kommunisten wollen das Privateigentum und die Familie vernichten! Genug! Ich verlange, dass über diese Frage abgestimmt wird."
Der Beifall der „Tenrju"-Leute übertönte seine letzten Worte und die wütenden Zwischenrufe Furukawas. „So hört mich doch an!... Der Jugendverband lehnt das Privateigentum nicht ab... Das ist Verleumdung... Demagogie!" stieß er hervor. „Ruhe! Ruhe!" beschwichtigte der Vorsitzende.
Einige, die sich durch die provokatorische Rede Komatsus beeinflussen ließen, schrien mit den „Ternju"-Leuten: „Abstimmen! Abstimmen!"
Da konnte sich Onoki nicht länger beherrschen. Er sprang vor und rief: „Hört mal zu! Seht mich an! Jaja, mich!" Er warf den Kopf in den Nacken und zeigte mit dem Finger auf sein Gesicht. „Ich bin Jungkommunist! Habe ich wirklich eine so scheußliche Fratze, dass man denken könnte, ich wäre zu all diesen Gemeinheiten fähig, von denen hier gesprochen wurde? Seht mich doch einmal genau an!"
Die „Tenrju"-Leute tobten und wollten Onoki zum Schweigen bringen, aber man applaudierte ihm bereits. Besonders lange und herzlich klatschten die Arbeiterinnen, unter denen es viel Jungkommunisten gab.
„Aber diese Burschen... Ja, die dort..." - Onoki wies auf die lärmenden „Tenrju"-Leute - „bombardieren uns schon lange mit solchen gemeinen Vorwürfen. Dabei handelt es sich doch nur darum, wer tatsächlich die Interessen der Arbeiter vertritt!"
Zornsprühend ging Onoki an seinen Platz.
Stimmzettel wurden verteilt, und die Abstimmung begann.
Furukawa stand wie erstarrt. Wenn alle Jungkommunisten dagegen stimmten, so bedeutete das ungefähr neunzig Stimmen. Es war der erste Zwischenfall dieser Art, und Furukawa war nicht sicher, ob man sich auf die Einmütigkeit der Jungkommunisten verlassen konnte. Seine Kehle wurde trocken, sein Gesicht brannte. Doch im Grunde hatte er keine Angst vor der Abstimmung; ihn empörten das dreiste Benehmen und die Frechheit der „Tenrju"-Leute. Viele von ihnen trugen Uniformen. Alle Demobilisierten, die in die Fabrik zurückkamen, wurden sofort in diese Gesellschaft gezogen.
Furukawa beobachtete die Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft" aufmerksam und fühlte, wie der Hass, ein kalter Hass, den er nie zuvor gekannt hatte, sein ganzes Wesen durchdrang.
„Ausgegebene Stimmzettel 203, ungültig 51", verkündete Ikonobe. Neben ihm standen die Mitglieder der Zählkommission, zu denen auch Vertreter der „Tenrju-Gesellschaft" gehörten. „Für die vorgeschlagene Resolution stimmten 69, dagegen 83."
Als der Applaus der Jungkommunisten aufbrandete, fühlte Furukawa, dass er nahe daran war, das Bewusstsein zu verlieren. Er lief auf die Galerie hinaus und trank einen Schluck Wasser. Tränen verdunkelten seinen Blick. Das war sie - die Kraft der Organisation!
„Einen Augenblick!" Eine Hand legte sich auf seine Schulter. „Du bist doch Furukawa, wenn ich nicht irre?"
Furukawa hob den Kopf. Kalte Augen, die in krassem Gegensatz zu einem freundlichen Lächeln standen, blickten ihn unter dem Schirm einer Sportmütze hervor an. „Na, wie geht's?"
Es war Direktor Sagara!
„Wie bitte?" fragte Furukawa. Er begriff nicht, was der Direktor von ihm wollte. „Du bist ja ein Prachtkerl geworden!" Der Direktor warf sein Jackett auf den anderen Arm und berührte wieder Furukawas Schulter. Blitzartig dachte Furukawa an die Zeit, da er im Werk Oi gearbeitet hatte und das graue Bärtchen unter der kurzen, breiten Nase im Gesicht des Direktors noch schwarz gewesen war. „Besuch mich doch mal in meiner Wohnung, ja?"
Es war am zweiten Mai, kurz vor der Mittagspause. Furukawa Schiro hatte seine Mütze mit dem Schirm nach hinten aufgesetzt und die Hängelampe tief bis in Augenhöhe herabgezogen. Er beugte sich über den Drehstahl und presste krampfhaft den Griff des Supports.
So ging es ihm oft - über der Arbeit vergaß er alles andere auf der Welt.
Mit halboffenem Mund, die Zungenspitze vorgeschoben, arbeitete er konzentriert. Tags zuvor hatte er den Auftrag erhalten, Gewinde mit dreißig Millimeter Durchmesser zu schneiden. Jetzt führte er den Drehstahl zur Seite und schaltete den Motor ab.
„Hört, ihr Arbeiter in aller Welt, Wie sieghaft dieses Lied erklingt..."
Wenn ihm die Arbeit leicht von der Hand ging, dann pflegte er zu singen.
Alle standen offenbar noch unter dem Eindruck der Maidemonstration vor dem Gebäude der Stadtverwaltung von Okaja - in der Halle hörte man die Melodie dieses Liedes. Dreitausend Arbeiter aus Okaja hatten an der Maidemonstration teilgenommen, fünfhundert allein aus dem Werk Kawasoi. In den Reihen der Demonstranten fielen besonders die Mitglieder des Gewerkschaftsverbandes der Fabrik auf, unter denen es viele Jungkommunisten gab. Die dicht geschlossenen Reihen der Arbeiterinnen, in den gleichen dunkelblauen Jacken, mit roten Nelken auf der Brust, waren nach allgemeiner Ansicht die Zierde der Maifeier in Okaja gewesen. „Furukawakun! Bist du hier?" ertönte eine Stimme. Furukawa hörte nicht. Er sang weiter. Da er einige Worte des Textes nicht mehr wusste, summte er nur die Melodie vor sich hin:
„Trantatatam..."
Er war ganz in seine Arbeit versunken.
„He, Furukawa!" rief die Stimme wieder. Endlich reagierte er und wandte sich um. Obermeister Araki stand in dem Gang zwischen den Drehbänken. Furukawa schaltete die Maschine ab und lief mit klappernden Holzschuhen zu Araki.
„Du wirst ins Büro des Direktors versetzt!" sagte Araki mit leisem Spott. Furukawa riss vor Staunen den Mund auf.
„Ich habe eben telefonisch Bescheid bekommen. Hat der Direktor früher Mal davon gesprochen?"
„Kein Wort..."
Araki stützte die Arme auf eine Drehbank und blickte Furukawa durchdringend an.
„Na schön, was soll man dazu sagen?" meinte er. „Geh nur. Jedenfalls ist es ein Glück für dich."
Furukawa wusste nicht, was es bedeutete, ins „Büro des Direktors" versetzt zu werden. Aber er verstand den Gesichtsausdruck Arakis.
„Pass nur auf, dass man dir da nicht den Schwanz einklemmt!" Araki lachte und drückte Furukawa fest die Hand. „Ich werde mich gelegentlich erkundigen."
Der Direktor und der Verwaltungschef saßen an einem großen, mit grünem Tuch überzogenen Tisch.
„Ah, da bist du ja!" sagte Sagara mit einer Miene, als hätte er schon lange auf ihn gewartet. „Setz dich!"
Furukawa blieb stehen und nahm seine Mütze ab. Es war ein Unterschied, ob man als Angehöriger des Gewerkschaftskomitees oder in einer dienstlichen Angelegenheit mit dem Direktor sprechen sollte. Unbewusst spürte er diesen Unterschied. Und überhaupt - was bedeutete das „im Büro des Direktors arbeiten"? Warum übertrug man ihm plötzlich eine andere Arbeit? Er witterte eine Falle und war unwillkürlich auf der Hut.
„Du bist ab heute befördert. Herzlichen Glückwunsch", sagte der Direktor wohlwollend. Der Verwaltungschef richtete sich in seinem Sessel auf, las etwas vor und überreichte Furukawa ein Blatt Papier.
„...Herrn Furukawa Schiro... den Titel eines Angestellten zweiten Grades zu verleihen..."
Stempel und Unterschrift des Präsidenten der Tokio-Electro-Aktiengesellschaft, Fudschikuma Rejo.
Furukawa klemmte die Mütze unter den Arm, nahm das Papier mit beiden Händen entgegen und verbeugte sich. Ein Wunder war geschehen!
Angestellter zweiten Grades - das war mehr als einfacher „Lohnarbeiter"! Dieser Titel eröffnete Perspektiven für einen weiteren Aufstieg bis zur Stellung eines Meisters - vorausgesetzt natürlich, dass er sich nichts zuschulden kommen ließ. Meister zu werden war sein Wunschtraum schon damals gewesen, bevor er Soldat wurde. Und wie hatte er sich angestrengt, was hatte er gelernt, um dieses Ziel zu erreichen!... Nun erschien ihm auf einmal alles, wonach er gestrebt hatte, so weit entfernt, als wäre ein Vorhang zwischen ihm und seiner Vergangenheit niedergegangen. „Wie lange hast du die Abendschule besucht?" „Dreizehn Semester."
„Du warst doch, soviel ich weiß, der beste Schüler?"
„Sieh mal einer an!" bemerkte der Verwaltungschef mit einem kurzen Blick auf Furukawa.
„Jaja, er ist ein begabter Bursche." Der Direktor musterte ihn abschätzend. „In früheren Zeiten hätte er ein Stipendium bekommen, um sein Studium fortzusetzen."
Furukawa wartete darauf, dass der Direktor von der Gewerkschaft und von dem Kommunistischen Jugendverband reden würde; Sagara aber schien nicht daran zu denken. Die Gefühle Furukawas waren ihm offenbar gleichgültig.
„So, also - ich möchte dich zu meinem Assistenten ernennen", sagte er und blickte Furukawa ins Gesicht. „Kannst du Englisch?"
„Schlecht... Ganz wenig."
In der Abendschule hatte er sich besonders in Mathematik und im Englischen ausgezeichnet. Er hatte sich auch außerhalb des Unterrichts viel mit diesen Fächern beschäftigt und beherrschte sie recht gut.
„Macht nichts, macht nichts. Es ist nicht schlimm, wenn du noch etwas Zeit brauchst. Du musst eben noch lernen, hörst du?"
Der Direktor stand auf, öffnete einen Schrank in der Ecke des Zimmers, nahm ein paar Bücher heraus und forderte Furukawa durch eine Kopfbewegung auf, ihm in eine andere Ecke des Raumes hinter einen hohen Wandschirm zu folgen.
„Hier ist dein Arbeitsplatz." Lächelnd verzog er die Oberlippe mit dem grauen Bärtchen.
„Du brauchst dich nicht zu beeilen. Hier hast du ein Buch. Versuch es zu lesen. Wenn es allzu schwer wird, dann gebe ich dir eine andere Arbeit, vorläufig aber..." Er legte ein englischjapanisches Lexikon und ein umfangreiches Buch in englischer Sprache vor Furukawa hin.
„Economic of eff... eff... Wie spricht man das aus?"
Der dicke Wälzer in dunkelbraunem Ledereinband war 1914 in New York erschienen.
Furukawa machte runde Augen vor Staunen. „Efficiency... Aha, Arbeitsproduktivität! ,Die Ökonomik der Arbeitsproduktivität'... Donnerwetter!"
Furukawa setzte sich in seinem „Arbeitsraum" eine Seite Wand, eine Seite Fenster, zwei Seiten Wandschirm - an den rohgezimmerten Tisch und vermochte sich von seinem Staunen noch immer nicht zu erholen. War er ins Gefängnis geraten?
Als er aber am nächsten Tage die „Ökonomik der Arbeitsproduktivität" zu lesen begann, riss ihn die Lektüre so mit, dass er alles andere vergaß. Er betrachtete seinen Platz hinter dem Wandschirm nicht mehr als Gefängnis. Vor den Augen des Direktors huschte hin und wieder ein schmutziges Soldatenhemd vorbei, was ihn ganz nervös machte, oder es erscholl plötzlich Gesang aus der Ecke, so dass schließlich der Direktor mehr als Furukawa unter der Nachbarschaft zu leiden hatte.
„He, geht es nicht ein bisschen leiser?" rief er, und Furukawa verstummte erschrocken. Er hatte gar nicht die Absicht, Lärm zu machen - das Buch war eben so interessant! Es gab viele unverständliche Stellen darin, und obgleich er ein Wörterbuch zur Hand hatte, lief er doch öfter zum Verwaltungschef oder zum Leiter der Planabteilung, die gut Englisch konnten. In seiner Hast stieß er unterwegs einen Stuhl um oder er vergaß, die Tür zu schließen.
„Furukawasan, kommen Sie doch mal einen Augenblick her", flüsterte ihm Torisawa Ren eines Tages zu, als sie ihn auf dem Korridor traf. „Gestern war der Direktor bei Komatsu und hat sich verplappert. ,Es ist gut', sagte er, ,dass ich Furukawa auf meine Seite gezogen habe; aber schlecht ist es, dass ich in meinem Zimmer jetzt über nichts reden kann... Wie im besetzten Gebiet!'"
Ren kicherte, und Furukawa sah sie fragend an.
„Die Komplizierung des Produktionsapparates in den Vereinigten Staaten und der immer schärfer werdende Konkurrenzkampf haben eine neue Ära für die Geschäftswelt heraufbeschworen. Die Verdienstspanne hängt mehr als je zuvor von der Arbeitsproduktivität ab. Heutzutage ist die Produktivität unlösbar mit der Vergrößerung und der Entwicklung der Industrie verknüpft."
Furukawa brauchte einige Tage für die Übersetzung des kurzen Vorworts und des Kapitels „Ausnutzung des Betriebes und Fragen der Arbeit".
„Die Probleme der Ausrüstung und der Rohstoffe wurden bereits Ende des vorigen Jahrhunderts eingehend studiert. Die Fragen der Arbeit aber wurden bis jetzt noch nicht genügend beleuchtet. Erst seit ganz kurzer Zeit haben die Unternehmer endlich die Bedeutung des Faktors Arbeitskraft für den Prozess der Warenproduktion erkannt. Namentlich die Menschen, die ihre geistige und physische Kraft im Betrieb einsetzen, sind die entscheidende Voraussetzung für die Leistung und den Erfolg eines Unternehmens."
Nachdem Furukawa diesen Abschnitt übersetzt hatte, begann er, fieberhaft in den Büchern zu wühlen, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Es war ein ganzer Berg, darunter sein eigenes „Wörterbuch der sozialpolitischen Terminologie", jene Bücher, die Araki und Ikenobe gehörten, zum Beispiel „Lohnarbeit und Kapital" und „Die Grundlagen des Leninismus".
Halt! dachte Furukawa. Wann ist denn dieses Buch herausgekommen, das solche Begeisterung bei den japanischen Kapitalisten hervorgerufen hat? 1914... 1914?
Wie aus dem „Wörterbuch der sozialpolitischen Terminologie" ersichtlich war, hatte 1914 der erste Weltkrieg begonnen. Die USA traten 1917 in den Krieg ein; doch bereits beim Erscheinen dieses Buches hatte der Konkurrenzkampf die kapitalistischen Staaten in eine Sackgasse gedrängt, so dass die weitere Erzielung von Profit ohne bewaffneten Zusammenstoß nicht mehr möglich war.
„Na, machen wir Fortschritte?" fragte der Direktor und trat, eine Zigarette zwischen den Lippen, hinter Furukawa.
Der klatschte sich auf die Schenkel.
„So ist das also? Ach, diese Halunken!" schrie er so laut, dass der Direktor erschrocken zurückfuhr.
„Es ist wohl sehr interessant?" „Ja, sehr."
„Ein aufschlussreiches Buch, nicht wahr?" „Ja, sehr aufschlussreich!" Sie hatten sehr verschiedene Gedanken bei diesen
Worten.
„Ich erinnere mich." Stolz klang aus der Stimme des Direktors. „Als meine Freunde und ich das Institut absolviert hatten und eine Stellung bei der Company annahmen, legte man uns ans Herz, dieses Buch zu lesen... In die Unternehmen unserer Gesellschaft wurde nämlich Kapital der General-Electric investiert; wir stützen uns in allem auf das amerikanische System..." „Interessant!" warf Furukawa ein. „Du bist jetzt auch Angestellter der Company, und darum musst du lernen... Das sogenannte Fließbandsystem wurde gleich nach dem Erscheinen dieses Buches eingeführt. Unsere Company hat als erste in Japan - zumindest als erstes Unternehmen des Mitsuikonzerns - diese Methode in vollem Umfange angewendet." Der Direktor schob die Daumen in die Ärmelausschnitte seiner Weste, reckte den Bauch vor, wippte auf den Fußspitzen und klappte ab und zu die Absätze gegeneinander. Sein Blick streifte den Tisch. Er bemerkte den Namen Marx auf dem Umschlag des Buches „Lohnarbeit und Kapital", sagte aber nichts.
„Efficiency, mit andern Worten: Arbeitsproduktivität! Wenn du damit fertig bist, dann gebe ich dir andere Bücher - über das Slippersystem und das Jetonsystem (Anm.: Lohnzahlungssysteme, die der verstärkten Ausbeutung der Arbeiter dienen; sogenannte „Antreibersysteme".)."
„Das Slippersystem? Ist das ein Lohnzahlungssystem?"
„Richtig. In dem Schrank dort stehen diese Bücher, alle geordnet... Arbeite nur fleißig." Der Direktor legte Furukawa die Hand auf die Schulter und sah ihm ins Gesicht. „Denke daran, dass du jetzt Angestellter der Company bist, hörst du? Nicht Arbeiter, sondern Angestellter! Und das heißt", seine Augen blickten forschend und zugleich selbstbewusst und herrisch, „dass du deine Kraft vor allem der Company widmen musst. Die Gewerkschaft und ähnliche Scherze - das kommt alles erst in zweiter Linie. Du musst dein Schicksal mit dem der Company verknüpfen. Verstehst du?"
Furukawa schaute mit halbgeschlossenen Augen aus dem Fenster.
„Na schön, arbeite nur. Nimm zum Beispiel unseren Leiter der Produktionsabteilung, einen ehemaligen technischen Zeichner. Er hat auch als unterer Angestellter angefangen." Der Direktor ging, und Furukawa machte sich wieder an die Arbeit. Die Feder fuhr kratzend über das Papier. Dann hob er plötzlich den Kopf und sah wieder aus dem Fenster.
Soll ich sagen, dass ich nicht will, dass ich in die Werkhalle zurück möchte? Peinlich, überlegte Furukawa.
Er fürchtete, mit der Zeit die Dinge genauso zu sehen wie die Verfasser dieses Buches. Studium der Arbeitsproduktivität - das hieß unter den Bedingungen des Kapitalismus: Studium der Ausbeutungsmethoden. „Furukawa!" rief der Direktor. Als er vor den grünen Tisch trat, lehnte Sagara im Sessel und blätterte in einer Zeitschrift. „Lies das hier mal und übersetze es! Sinngemäß genügt. Ich kann nicht mehr so viel Englisch." Er warf die Zeitschrift, die er in der Hand hielt, auf den Tisch. „Und das da mit der Arbeitsproduktivität... das kannst du einstweilen weglegen."
Die Zeitschrift in dem hübschen, himmelblauen Umschlag war eine neue Nummer des „Reader's Digest".
Der Umschlag roch nach Druckerschwärze. Offenbar hatte diese amerikanische Zeitschrift den Ozean erst vor ganz kurzer Zeit überquert. Auf dem Umschlag stand das Datum - Mai 1946. Wo hatte der Direktor das her? Zuerst las Furukawa mit Hilfe des Wörterbuchs das Inhaltsverzeichnis. Er stürzte sich stets eifrig auf jede neue Arbeit, nicht so sehr aus Pflichtgefühl als aus Interesse an der Sache, das sofort in ihm erwachte. Er legte die Zeitschrift Tag und Nacht nicht aus der Hand, stopfte seine Tasche bis zum Platzen voll englischjapanischer Wörterbücher, nahm sie mit nach Hause, ins Fabrikheim, und las sogar noch im Bett.
Eines Abends hatte er sich den Artikel „Können die USA die Welt führen?" vorgenommen. Er fröstelte, ein Schauer lief ihm über den Rücken. „Was hast du, bist du krank? Dein Gesicht ist ja ganz rot", fragte Schinitschi besorgt, als er den Freund husten hörte. Er selbst las eifrig in dem Buch „Staat und Revolution".
Furukawas nackte Schultern ragten unter der Decke hervor, während er mit kratzender Feder lauter saubere Papierbogen der Company vollschrieb. Plötzlich hielt er inne.
„Hör mal!" sagte er und blickte gespannt zu Ikenobe hinüber. „Was meinst du, muss diese Okkupationsarmee nicht auch die Beschlüsse des Potsdamer Abkommens durchführen?"
„Nun ja, so heißt es", antwortete Ikenobe. Furukawa kniff die Augen zusammen, legte den Kopf auf die Seite und dachte angestrengt nach: Ich möchte nur wissen, ob die japanischen Kommunisten diese Zeitschriften lesen, ob ihnen bekannt ist, was diese Zeitschriften schreiben.
Am nächsten Tage saß Furukawa wieder hinter dem Wandschirm im Büro des Direktors und kämpfte gegen ein Schwindelgefühl an.
Er arbeitete an der Übersetzung des Artikels „Können die USA die Welt führen?" Er spürte eine Schwäche im ganzen Körper, stützte ab und zu die Ellbogen auf den Tisch und legte die Stirn in die Hand.
In der hübschen ausländischen Zeitschrift waren zwischen dem Text in zarten, angenehmen Farben Hundeköpfe und Menschengesichter abgebildet. Eine Zeitschrift, die Ozeane überflogen hatte! Eine Zeitschrift, die sich bemühte, die amerikanische Ideologie über die ganze Welt zu verbreiten!
Hier stimmt doch etwas nicht, überlegte Furukawa. Merkwürdig - bis jetzt hat noch keiner bezweifelt, dass die Beschlüsse der Potsdamer Deklaration wirklich durchgeführt werden.
Er bekam plötzlich keine Luft mehr. Wütend warf er den Federhalter hin.
Wussten die Genossen, zum Beispiel Araki, was man hier schrieb?
Ihm lief es kalt über den Rücken. Draußen vor dem Fenster lachte die Sonne; ihre Strahlen überfluteten die in frischem Grün leuchtenden Berghänge. Sie rückten immer mehr in die Ferne, als sähe er sie nur im Traum.
Nein, alles kommt daher, dass wir, die Arbeiter, zu wenig wissen. Wenn unseren Leuten so eine amerikanische Zeitschrift in die Hände käme, dann würden sie sich wahrscheinlich wundern, was darin steht!
Er schlug den Kragen seines Soldatenmantels hoch und griff wieder zur Feder. Wie kalt es war! Oder sollte er wirklich krank sein?
„Furukawakun! Na, zeig mal, was du fertig hast!" drang die Stimme des Direktors an sein Ohr.
Er raffte die sauber beschriebenen Blätter zusammen und ging zu dem grünen Tisch.
„Setz dich!" Der Direktor zog einen Stuhl heran und ließ Furukawa neben sich Platz nehmen. Offenbar war er in glänzender Laune. „Was ist denn mit dir? Hast du dich erkältet?"
„Kann sein." Der Direktor nahm die Übersetzung in die Hand; und schob die Brille auf die Stirn.
„So geht das nicht, du musst achtgeben auf dich", murmelte er, während er die Übersetzung las. Dann drehte er sich jäh mitsamt dem Sessel zu Furukawa um. „Na, was sagst du? Sind die USA nicht ein großartiges Land?"
„Hm."
„Jedenfalls sind sie in der Nachkriegsperiode das führende Land der Welt. Nicht wahr?"
Furukawa fühlte eine bleierne Müdigkeit. Er hockte zusammengekauert neben dem runden Gasofen.
„Nimm zum Beispiel unsere Fabrik. Sie hat in der ganzen Gegend den Ruf, ,rot' zu sein. Schlimm ist das! Nun wollte ich dich bitten, uns zu helfen, mit diesen... na, wie heißen sie doch noch gleich... diesen Jungkommunisten aufzuräumen."
Furukawa hob überrascht den Kopf und starrte den Direktor an.
„Nein, nein, ich will mich ja nur mit dir beraten." Sagara sah ihm ebenfalls aufmerksam ins Gesicht, als wollte er feststellen, welche Wirkung seine Worte hervorriefen. Er lächelte. „Ich bin durchaus nicht gegen Demokratie oder, sagen wir, gegen die Gewerkschaft. Das wollte ich damit nicht zum Ausdruck bringen."
Er nahm Zigaretten vom Tisch, beugte sich vor und bot Furukawa eine an. „Man muss sich auch einmal in meine Lage versetzen! Ich bin der Company für achthundert Menschen verantwortlich, die man mir anvertraut hat. Ich habe mich noch nie beschwert, aber ich spreche ganz offen... Wie viel Jungkommunisten gibt es in der Fabrik?" „Hundertsieben."
„Und wer ist der Anführer? Du, nicht wahr?" „Nein, Ikenobe Schinitschikun aus der Versuchsabteilung."
„Ikenobe? Hm, hm... Du leitest doch, soviel ich weiß, die Jugendsektion der Gewerkschaft? Dann kannst du uns vielleicht trotzdem helfen?"
Furukawa schrak zusammen. Vor seinen Augen drehte sich alles; das Gesicht des Direktors verschwamm.
Bis jetzt hatte er ohne Bedenken geantwortet es handelte sich ja um eine Massenorganisation. Aber was hatten die letzten Worte Sagaras zu bedeuten? „Was soll ich tun?" Er geriet in eine gereizte Stimmung. Die Zigarette schmeckte ihm auf einmal nicht mehr. „Siehst du... äh... begreifst du denn wirklich nicht?"
Der Direktor lehnte sich im Sessel zurück. Seine Mundwinkel zuckten nervös. „Eine großartige Zukunft liegt vor dir."
Furukawa wandte sich ab und zerdrückte die Zigarette im Aschenbecher. „Urteile selbst..." Der Direktor trommelte mit seinen dicken Fingern auf die Blätter der Übersetzung. „Ich nehme an, dass dir schon dieses Material hier gezeigt hat, wie die Besatzungsmächte über die Kommunistische Partei denken."
Die fiebrig glänzenden Augen Furukawas sprühten Funken. Jetzt erkannte er, warum der Direktor ihn gezwungen hatte, aus „Reader's Digest" zu übersetzen. Das Blut schoss ihm in die Wangen. „Nein, das hat es nicht."
Das war eine unverblümte Abfuhr für den Direktor. „Nicht?" „Nein."
Die Zornesader schwoll auf der Stirn des Direktors.
„Aber du... du... Ich habe für dich, meine ich, soviel..." Er hieb mit der Faust auf den Tisch. „Ist dein Kopf immer noch mit diesen verdrehten Begriffen von Demokratie vollgestopft? Denkst du immer noch an den Kommunismus?" brüllte er.
„Nun ist mir alles klar!" Furukawa hob gleichfalls die Stimme.
„Und ich sage dir, dass es verdrehte Begriffe sind!" Das Telefon und die Blumenvase sprangen unter dem Faustschlag des Direktors in die Höhe. „Amerika ist das Ursprungsland der Demokratie!"
„Aber in der Sowjetunion ist sie jetzt zu Hause."
Beide sprangen auf und standen, durch den Gasofen getrennt, einander gegenüber.
„Raus! Mach, dass du rauskommst!"
Der Verwaltungschef stürzte herbei, um den Direktor zu beruhigen.
Es gelang ihm nur mit Mühe, seiner Erregung Herr zu werden. Schwer atmend wischte er sich den Schweiß von der Stirn.
„Schluss... Genug! Raus! Scher dich wieder an die Werkbank!"
Wegen Strommangels stand wieder ein arbeitsfreier Tag bevor, der erste in diesem Monat. Ren, Hatsue und einige andere Mädchen kehrten laut schwatzend von den Arbeiterkursen in ihr Zimmer elf im Heim drei zurück.
„Guten Abend! Willkommen daheim!" grüßte Tojoda Schige nach altem Brauch und verneigte sich tief. Sie hatte allein bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, einer Näharbeit, gesessen. „Guten Abend!" Hatsue, Mitsu, Schinobu und Kiku verbeugten sich ebenfalls. Nur Ren blieb hochaufgerichtet stehen. Sie hielt diese Zeremonie für ein Überbleibsel des Feudalismus, und überdies ärgerte sie sich, dass Schige als einzige aus ihrem Zimmer die Arbeiterkurse nicht besuchte.
„Na, Oikawasan, komm, ich erkläre dir diesen Abschnitt, komm her!" forderte Ren Oikawa Mitsu auf und setzte sich auf ihren Platz. Hinter ihr standen ein Lederkoffer, eine Bücherkiste und ihr kleiner Toilettentisch mit dem Spiegel.
„Ich komme gleich, einen Augenblick." Die immer hungrige Mitsu ging in eine Nische unter dem Fenster, schöpfte eine Kelle Wasser aus dem Eimer und trank.
„Kassugasan, und du?"
Schinobu und Kiku hatten sich aufs Fensterbrett geschwungen, baumelten mit den Beinen und trommelten mit den Fersen gegen die Bretterwand. Sie antworteten nicht.
„Eigentlich könnte man ins Kino gehen", sagte Schinobu. Draußen begann es zu dämmern.
„Die Keimform - das ist der Uranfang jeder Erscheinung...", begann Ren.
Hatsue nahm ihr Heft und schrieb mit. Ren hatte Notizblock und Buch auf den Knien ausgebreitet und hörte gereizt das gedämpfte Lachen und Flüstern Schinobus und Kikus. Sie sprach weiter; doch plötzlich hob sie den Kopf und wandte sich ärgerlich um. „Seid doch endlich still!"
Schinobu und Kiku zogen die Köpfe zwischen die Schultern, aber gleich darauf fingen sie wieder an zu kichern.
„Bewusstes Wachsen... Erkläre das, bitte." „Wie die kommandiert", sagte Kiku halblaut zu Schinobu.
Seit Ren hier eingezogen war, schien es den Mädchen, als wäre es auf einmal zu eng im Zimmer geworden. Vom ersten Tage an hatte es sich ergeben, dass Ren das große Wort führte. Man konnte nicht behaupten, dass die Zimmerälteste Hatsue die Neue den andern vorzog; aber Ren schien trotzdem eine Sonderstellung einzunehmen. Obgleich Ren niemals zur Bürste oder zum Lappen griff, um die Toilette zu reinigen - eine Arbeit, die alle der Reihe nach tun mussten -, regte sich keine auf.
Selbst Kiku wagte nicht, Ren etwas zu sagen. Und sie wusste, weshalb sie das nicht tat. Ihre Eltern hatten Land von Rens Bruder gepachtet; außerdem hing alles - die Arbeit ihres Vaters im Walde, die kleinen Handreichungen im Gutshaus und die andern Nebenverdienste, die sich von Zeit zu Zeit ergaben - von der Gnade der Familie Torisawa ab. Hatsue wie Kiku waren in der gleichen Lage. Deshalb waren sie Ren gegenüber sehr vorsichtig.
„Einen Kohldampf habe ich!" sagte Schinobu laut und schnitt eine närrische Grimasse. Sie gebrauchte absichtlich grobe Ausdrücke.
Schige, die immer noch nähte, Mitsu und sogar Hatsue lachten. „Schlafen! Schlafen! Lasst uns bald zu Bett gehen!" Die Mädchen wollten den bevorstehenden freien Tag benutzen, um nach Torisawa zu fahren, wo sie ihre Tabakrationen und einige andere Dinge gegen Reis und Mehl eintauschen wollten. Es war ein weiter Weg, und sie mussten früh aufstehen.
Kassuga Schinobu schob die Schoji auseinander und holte einen Besen aus dem Korridor. „Na, lasst mich mal auskehren! Fort mit euch!"
Sie sah nichts Besonderes in Torisawa Ren, außer, dass sie das College besucht hatte und hübscher war als sie.
Sie begann so energisch zu fegen, dass die Mädchen in eine dichte Staubwolke gehüllt wurden. Hatsue und Mitsu sprangen lachend beiseite. Hatsue, die größte und kräftigste von allen, bewegte sich leicht und behände. Mit lustigem Gekreisch stürzten alle in die andere Ecke des Zimmers, nur Ren blieb unbeweglich sitzen. „Was habt ihr da eben geredet?" Trotz ihrer Zartheit lag in der ganzen Haltung Rens etwas Gebieterisches, das Hatsue nicht hatte. „Wir? Och, nichts. Wirklich nichts", flüsterte Kiku und versteckte sich hinter Schinobus Rücken. „Doch, ich habe es gehört. Du hast gesagt: ,Wie die kommandiert!'" entgegnete Ren, ohne den Kopf zu heben.
Kassuga Schinobu blickte Ren einige Sekunden lang scharf an; dann holte sie mit dem Besen aus und hüllte sie von Kopf bis Fuß in eine Staubwolke.
„Dein Brummen und Zanken hören wir uns nachher an. Es lohnt nicht, sich wegen Lappalien zu erhitzen. Na komm, erhebe dich, ich muss fegen."
Ren stieg langsam das Blut zu Kopf. „Sag das noch mal, bitte!"
Sie hatte sich halb zu Schinobu umgedreht, blieb aber gerade aufgerichtet sitzen. „Jetzt habe ich es aber satt! Dauernd alles wiederholen! Ich habe gesagt, dass man sich nicht wegen
Lappalien erhitzen soll... Steh lieber auf, damit ich auskehren kann", gab Schinobu bissig zurück. Sie war ein nervöses Mädchen und neigte zur Hysterie. „Was spielst du dich überhaupt als gnädiges Fräulein auf? Wenn dich der Hafer sticht, dann mach lieber mal die Toilette sauber!"
Ren wurde bleich; ihre Hände verkrampften sich in ihrem Rock.
Eine solche Beleidigung hatte man ihr in ihrem ganzen Leben noch nicht zugefügt.
„Du... du..." Die Wut nahm ihr den Atem. Alles Blut schoss ihr in den Kopf; sie war nicht mehr imstande, zusammenhängend zu reden, verlor ihre Selbstbeherrschung und stieß hervor, was ihr gerade einfiel: „Lumpen... Lumpenproletarierin... Was man ihr auch einzupauken sucht, vom Kampf, von praktischer Erfahrung - alles vergebens. So etwas ist und bleibt eine Hure!"
Das war ein entsetzliches Wort. Hatsue und die anderen erstarrten. Schinobu aber holte mit dem Besen aus.
„Lasst mich! Lasst mich!" schrie sie, als sie ihr den Besen entreißen wollten. Sie wehrte sich so verzweifelt, dass selbst die kräftige Hatsue kaum mit ihr fertig wurde. „Was hat sie gesagt? Was hat sie?... Lasst mich!"
Mit zusammengebissenen Zähnen beobachtete Ren, wie die Mädchen, einander drängend und stoßend, Schinobu den Besen aus der Hand zu winden suchten.
Ren war seit ihrer Kindheit niemals beleidigt worden, und sie dachte nicht darüber nach, ob ein Wort, das sie aussprach, einen anderen verletzte. Die Kränkung aber, die man ihr selbst zugefügt hatte, war so schmerzhaft, dass sie ihre Ruhe nur mit Mühe bewahren konnte.
„Ich schlage sie tot, das Mistvieh!" schrie Schinobu unter Tränen. „Was quatscht sie hier von bewusstem Wachstum? Dabei kann sie nichts als kommandieren, aber Plakate kleben - das hat sie wahrscheinlich noch nie gemacht! Nicht ein einziges Mal ist sie mit den anderen in die Stadt gegangen! Lasst mich!"
Sie riss sich los und stürzte auf Ren zu. Ihr wirres Haar, von dem die Baskenmütze heruntergerutscht war, berührte beinahe das Gesicht ihrer Gegnerin.
„Alle sagen es, Kikutjan und Mitsutjan! Wenn dich der Hafer sticht, dann erhebe dich und wisch wenigstens mal Staub. Und wenn es dir nicht passt, dann pack deine Sachen und mach, dass du fortkommst!"
Das war zu viel. Rens bleiche Wangen zuckten, ihre Mundwinkel zogen sich nach unten, sie wandte sich brüsk ab und sank mit dem Gesicht auf die Bastmatte.
Ren weinte die ganze Nacht hindurch.
Sie hatte niemals laut geweint, auch jetzt schluchzte sie nur leise, und wenn es zu schlimm wurde, dann biss sie in den Saum ihrer Decke. Von Zeit zu Zeit schien sie sich zu beruhigen; doch gleich darauf stieg es ihr wieder heiß in die Kehle, und sie suchte das Schluchzen zu ersticken, indem sie den Kopf in die Kissen vergrub. Halbdunkel herrschte im Zimmer. Der schwache Schein der Korridorlampe fiel durch die Schoji. Die kostbare Decke Rens stach als heller Fleck gegen die der andern ab.
„Kann ich denn noch hierbleiben?" flüsterte Ren fortwährend. Plötzlich erkannte sie, dass sich kein Mensch darum kümmerte. Warum war sie eigentlich hier?
Rechts von ihr schlief unter einer rauen Decke aus dunklem Baumwollgewebe Oikawa Mitsu mit offenem Munde. Links stand Schinobus Bett, zwischen ihnen lag Jamanaka Hatsue. Sie schlief ruhig und friedlich, die runde Wange ins Kissen geschmiegt. Tu, was du für richtig hältst, schien ihr Gesicht zu sagen.
Aaa... Ikenobesan! Ren biss in die Decke und war nahe daran, laut loszuheulen. Sie kam sich einsam und verlassen vor.
Niemand hielt hier ihre Anwesenheit für notwendig. Ob sie ging oder blieb - die Gewerkschaft im Werk Kawasoi würde weiterkämpfen wie bisher, die Arbeiterklasse würde immer stärker werden...
Das Leben im Gemeinschaftsheim fiel Ren nicht leicht; aber sie war eigensinnig und hatte sich in diesen vier Wochen alle Mühe gegeben, sich an die Verpflegung in der Fabrikkantine und an das Zusammenleben mit den einfachen Menschen zu gewöhnen.
Schinitschisan! schrie sie in Gedanken. Sie wünschte, sie könnte sich jetzt an ihn schmiegen und von ihm bemitleiden lassen. War auch die eine Stütze, das Kollektiv, zusammengebrochen, so blieb ihr noch eine andere - Schinitschi. Nein, das stimmte ja gar nicht! Ren schrak zusammen und starrte mit weitaufgerissenen Augen in die Finsternis. Sie war doch durch Komatsu entehrt!
Er hatte sie zwar nur ein einziges Mal geküsst, aber seitdem vermochte Ren Schinitschi nicht mehr in die Augen zu sehen. Unbewusst war sie ihm ausgewichen.
Vor dem unverhängten Fenster wurde es hell. Angenommen, sie ginge nach Hause zurück - was erwartete sie dort? Ihr Bruder machte sich Sorgen, dass man ihm das Land enteignete oder Eigentumssteuer erhob. Das alte Geschlecht der Torisawa zerfiel.
Oikawa Mitsu erwachte, schob die Hände unter den Kopf, reckte sich und gähnte. „Kikutjan! Schinobutjan! Aufstehen!"
Ren stellte sich schlafend und blieb mit geschlossenen Augen liegen. Der leichte Morgenwind kühlte ihre verweinten Wangen. Alles erschien ihr jetzt so unsinnig, so nutzlos. Sie war allein.
„Guten Morgen, Kollegen! Heute ist herrliches Wetter, und viele von euch wollen wahrscheinlich in die Stadt gehen ..."
Der Lautsprecher im Korridor übertrug die Mitteilungen der Gewerkschaft.
„Seit der letzten Versammlung der Jugendsektion werden in der Fabrik provokatorische und demagogische Gerüchte verbreitet. Im Namen der Gewerkschaft ermahnen wir die Arbeiter, auf der Hut zu sein."
Ren brachte rasch ihr Bett in Ordnung. Sie wollte nicht hinter den andern zurückstehen; aber sie fühlte sich sehr elend.
Schige räumte das Zimmer auf, Schinobu und Mitsu fegten den Korridor, Hatsue und Kiku, die sich umgezogen hatten, gingen mit Eimern in den Händen hinaus, um zusammen mit einigen Mädchen aus Zimmer zwölf und dreizehn die Toiletten zu reinigen.
„Nicht doch!" wehrte Kiku mit einer Handbewegung ab, als sie bemerkte, dass Ren ihnen zerstreut folgte. „Es brauchen aus jedem Zimmer nur zwei zu sein."
Ren blieb mitten auf dem Korridor stehen. Die Mädchen aus den Nebenräumen liefen plaudernd und lachend vorüber.
Ren hatte ein sonderbares Gefühl; bisher hatte sie sich zu dieser Stunde seelenruhig im Waschraum die Zähne geputzt und nichts von alledem beachtet, was um sie herum vorging.
„Willst du auch die Toilette saubermachen, Torisawasan?"
Ren schritt mechanisch hinter Kiku her, da sie nicht wusste, was sie sonst mit sich anfangen sollte. Hatsue beobachtete Ren sanft lächelnd. Hatsue hatte ihr Haar hochgekämmt und mit einem Handtuch umwunden. Ihr Gesicht strahlte vor Güte und Milde.
„Wartet einen Augenblick!"
Sie lief ins Zimmer zurück, holte ihre Hosen und half Ren, sie anzuziehen. Dann band sie ihr ein Handtuch über das Haar. Wie ein Kind ließ Ren alles mit sich geschehen. „Wir werden aufwischen, und du holst Wasser."
Hatsue und Kiku scheuerten eifrig den Fußboden, Ren trug Wasser herbei und säuberte die Wände. Sie spürte, wie allmählich, einer Wolke gleich, die der Wind vertreibt, das Gefühl der Entfremdung verschwand. Sie kam sich nicht mehr überflüssig und nutzlos vor.
„Seht doch mal, Torisawasan mit Bürste und Eimer! Welch ungewohnter Anblick!" rief Mitsu erfreut, als sie Ren mit dem Eimer ins Zimmer treten sah. Sie klatschte in die Hände und umarmte Ren.
„Na, wie ist es, fahren wir nach Torisawa?" fragte Schinobu, die mit dem Rücken zu Ren am Boden hockte, ohne sich umzudrehen. Schige und Mitsu packten die Sachen, die sie eintauschen wollten, in ihre Rucksäcke.
„Also Reis und Mehl. Und was noch? Ach, ich glaube, das wird man dort selbst wissen", sagte Kiku mit einem Blick auf die schweigende Ren.
Ren und Hatsue konnten sich den anderen nicht anschließen. Sie mussten an einer Sitzung im Büro des Jugendverbandes teilnehmen.
„Torisawasan hat sicher ein Haus wie ein Schloss. Da trauen sich solche wie ich gar nicht hinein", sagte Schinobu. Hatsue erwiderte lächelnd: „Lass nur, es wird alles gut gehen."
Ren stand in plumpen, weiten Hosen mit bleichem Gesicht stumm an der Tür. „Komm, wir gehen in die Kantine." Hatsue tippte ihr auf die Schulter, die in dem einen Monat ihres Lebens im Gemeinschaftsheim ganz schmal geworden war.
Ren nickte gehorsam.
Am Nachmittag verließen Ren und Hatsue das Heim.
Seit dem Tage, da die Forderung der „Tenrju"-Leute, den Jungkommunisten die Übernahme von Funktionen in der Jugendsektion der Gewerkschaft zu verbieten, mit einer knappen Mehrheit von vierzehn Stimmen abgelehnt worden war, vermied es die Leitung des Kommunistischen Jugendverbandes, in der Fabrik zusammenzukommen.
Die Sitzungen fanden deshalb gewöhnlich in Arakis Wohnung statt.
Die beiden Mädchen hatten den Fabrikhof überquert und gingen an der Galerie mit der Kontrolluhr vorbei. Da bemerkte Hatsue einen neuen Anschlag. Sie blieb stehen und stieß Ren an. Auf einer weißen Tafel klebte ein rotumrandeter Ausschnitt aus der „Asahi-Schimbun" (Anm.: „Morgenzeitung", bekannte japanische Tageszeitung.), und darüber war mit
schwarzer Tusche geschrieben: „Ablehnende Haltung gegenüber dem Kommunismus. Erklärung des Vertreters der Vereinigten Staaten von Amerika, Acheson. Meldung der ,New York Times'. Der Sonderkorrespondent der ,New York Times', Mr. Barton Crain, berichtet über die Sitzung des Kontrollrats für Japan am 15. dieses Monats folgendes:
Die Sowjetunion erhielt heute vom Stab Mac Arthurs die eindeutige Erklärung, dass die USA dem Kommunismus ablehnend gegenüberstehen, ganz gleich, ob es sich um Amerika oder um Japan handelt. Diese Erklärung wurde durch den Vertreter im Kontrollrat für Japan, Mr. Acheson, während der Diskussion über eine Petition abgegeben, die einige japanische Organisationen nach der Maidemonstration an den Stab MacArthurs und den Kontrollrat gerichtet hatten."
Hatsue blinzelte verwirrt, als wäre ihr etwas ins Auge geflogen, und ging weiter. Ren folgte ihr, ohne die Meldung zu Ende gelesen zu haben. Schweigend schritten sie durch das Tor hinaus auf die Sumikurastraße.
Ren war mit ihrem eigenen Kummer beschäftigt, und Hatsue sprach ohnehin nie von Dingen, über die sie sich noch nicht ganz im Klaren war. Sie erkannte, dass der Aushang dieser Meldung am Anschlagbrett das Werk der „Tenrju-Gesellschaft" war und dass über ihrem Haupte und über den Häuptern ihrer Freunde eine drohende, dunkle Wolke schwebte.
„Oh, Rensan! Und Ikesan ist noch nicht da!" rief Jamanaka Kisuke, als die Mädchen Arakis Haus erreichten. Er sagte das mit einem Gesicht, als wäre Ren schuld daran. Alle lachten, auch Kaischima Nobuko, die vor ihnen gekommen war, Outschi, ein junger Zeichner aus der Versuchsabteilung, und Kodschima aus der Kontrollabteilung. Jamanaka Kisuke trug ein rotes Tuch im Halsausschnitt seines Sweaters; der schlanke, langaufgeschossene Jüngling war im Stimmbruch, und auf seiner Oberlippe spross ein spärliches Bärtchen. „Was sollen wir machen? Es ist schon drei Uhr." Niedergeschlagen nahm Ren hinter Hatsue Platz. Kisuke schnaubte wütend: „Wir müssen doch die Berichte der Bezirksverantwortlichen hören! Soll ich nach Kami-Suwa fahren und ihn holen?"
„Nicht nötig, er wird gleich kommen", bemerkte Araki und hob den Blick von der Zeitung, die er auf den Knien hielt. Neben ihm lagen noch einige Zeitungen, und in allen stand unter schreienden Schlagzeilen jene Meldung, die Ren und Hatsue kurz zuvor gelesen hatten. Während die schüchterne Hatsue noch überlegte, ob sie Araki wegen der Meldung fragen sollte, wurden die Schoji auseinandergeschoben. Araki drehte sich um. Ikenobe trat ein.
„Wo sind denn Furukawa und Onoki?" „Furukawa ist krank. Er hat eine Lungenentzündung", sagte Ikenobe hastig. „Lungenentzündung?"
„Ja. Vierzig Grad Fieber."
Hatsue erbleichte. „Seit gestern Abend wachen Nakatani, Oncki und Inoue abwechselnd bei ihm." „Ist es denn gefährlich?" Arakis Stimme klang besorgt. „Lebensgefährlich?" Ikenobe schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube, so schlimm ist es nicht. Er hat zwei Spritzen bekommen. Sein Herz ist gesund, wie der Doktor sagt."
„Das stimmt", bestätigte Araki und fügte hinzu: „Ja, ein gesundes Herz hat der Bursche!"
Außer Araki hatte keiner Hatsues Erregung bemerkt. Auf ihrem Gesicht erschien ein schwaches, kaum sichtbares Lächeln.
Die Sitzung begann. Es war still im Zimmer. Arakis Frau und die Kinder waren ausgegangen.
Araki hatte neben dem Hibatschi Platz genommen. Er hörte zu und blätterte zerstreut in den Zeitungen. „Ablehnende Haltung gegenüber dem Kommunismus..." - „Erklärung des Vertreters der USA, Acheson..." Zweifellos würden die Burschen von der „Tenrju-Gesellschaft" nicht zögern, diese Erklärung auszunutzen und den Druck zu verstärken.
„Ich denke, der Kampf um die Steigerung der Produktion wird diese lügenhafte Propaganda entlarven und der Sabotage der Company ein Ende machen. Habe ich recht, Arakisan?" wandte sich Ikenobe, der den Vorsitz führte, an Araki. Er erklärte den Jungkommunisten, wie man den Entwurf für einen Beschluss über den Kampf um die Steigerung der Produktion, den das Gewerkschaftskomitee vorgelegt hatte, aufzufassen habe.
Neuerdings wurde in den Werkhallen erzählt, seit der Gründung der Gewerkschaft seien viele Faulpelze in der Fabrik aufgetaucht, und die Company habe deshalb große Verluste zu verzeichnen.
Araki hatte erkannt, dass hinter diesen Redereien eine böse Absicht steckte, dass es sich um eine Form der Sabotage handelte, die die Company verübte. Um diese Machenschaften zu durchkreuzen, musste das Gewerkschaftskomitee auf der nächsten Versammlung die Frage des Kampfes um die Steigerung der Produktion aufwerfen.
Ikenobe, der an Furukawas Krankenlager eine schlaflose Nacht verbracht hatte, sah müde aus. Seine Wangen aber begannen bald vor Erregung zu glühen, und zeigten wieder ihre jugendfrische Farbe.
Die Diskussion ging weiter.
„Immer wieder wird behauptet, wir wären faul und wollten nicht arbeiten. Dabei tun sie selbst alles, um die Maschinen wegen Rohstoffmangels zum Stillstand zu bringen", sagte Jamanaka Kisuke, der an einer Bohrmaschine arbeitete.
Kodschima aus der Kontrollabteilung schüttelte den Kopf.
„Nein, es gibt auch solche, die wirklich faulenzen. Wir haben zum Beispiel in unserer Abteilung einige Arbeiter, die schwänzen und, statt zu arbeiten, Schwarzhandel treiben."
„Das kommt alles daher, dass man den Leuten nicht bezahlt, was ihnen zusteht. Was ist das denn für ein Zustand, dass bis jetzt der Lohn für die zweite Aprilhälfte nicht ausgezahlt wurde!" warf einer ein; doch Ikenobe unterbrach ihn: „Bitte keine Zwischenrufe ! Jedenfalls müssen die Jungkommunisten führend sein im Kampf um die Steigerung der Produktion. Wer möchte noch etwas sagen?"
Ikenobe fasste das Ergebnis der Diskussion zusammen. Araki war in Gedanken versunken.
In der Fabrik gab es bis jetzt noch keine Organisation der Kommunistischen Partei. So hatte es sich ergeben, dass der Jugendverband allein die führende Rolle übernehmen musste. Betrachtete man Tschidschiwa und Takenoutschi mit ihren Helfershelfern als rechten Flügel in der Gewerkschaft, so waren die Jungkommunisten die treibende Kraft des linken.
Plötzlich trat Kassawara ins Zimmer. Er war mit dem Fahrrad gekommen. „Arakikun! Ein Telegramm vom ,Vereinigten Stab'", sagte er ernst.
Der „Vereinigte Stab" war eine Organisation des Gewerkschaftskomitees von elf Unternehmen der Tokio-Electro-Company im Bezirk Kanto. Die Arbeiter hatten diese Organisation nach dem Februarkampf geschaffen. Sie befand sich beim Gewerkschaftskomitee des Hauptwerkes der Company.
Durch das Telegramm wurde eine außerordentliche Tagung der Vertreter aller Gewerkschaftskomitees der Tokio-Electro-Fabriken einberufen.
Araki und Kassawara berieten eine Weile in einer Ecke des Zimmers, dann steckte Araki das Telegramm in die Tasche, trat auf Ikenobe zu und bat ums Wort. „In Anbetracht dessen, dass ich dringend nach Tokio fahren muss, möchte ich noch etwas zu der Resolution sagen, die ihr vorbereitet habt."
Araki ließ den Kopf sinken, verschränkte die Arme über der Brust und sprach langsam, als suchte er nach den passenden Worten. „Das, was ihr jetzt hören sollt, ist bisher nur dem ,Vereinigten Stab' der Gewerkschaft bekannt. Wie ihr wisst, habe ich eben ein Telegramm erhalten, das die Einberufung einer außerordentlichen Konferenz meldet... Daraus kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass sich die Lage noch mehr zugespitzt hat. Ich will euch sagen, was ich davon halte: Ich vermute, dass der Plan zur Rückführung der Betriebe und das Programm der sogenannten ,Produktionsregulierung', die von der Company aufgestellt wurden, nichts anderes sind als Pläne für Massenentlassungen und Produktionsbeschränkungen.
Wahrscheinlich wird das alles bald öffentlich bekanntgegeben. In den Werkhallen sind tatsächlich Gerüchte verbreitet worden, seit Gründung der Gewerkschaft hätten sich Bummelei und Faulenzerei entwickelt. Diese Flüsterpropaganda konnte zweifellos nur in der ersten Zeit nach den Februarereignissen Erfolg haben, als eine straffe Organisation fehlte. Warum aber nimmt sie gerade jetzt zu, ungeachtet dessen, dass die Zahl der verbummelten Arbeitsstunden dank der Erziehungsarbeit der Gewerkschaft erheblich zurückgegangen ist? Nun, ich glaube, das brauche ich euch nicht zu erklären. Der Kampf für die Steigerung der Produktion, den die Gewerkschaft aus eigener Initiative beginnt, schließt den Kampf gegen die Disziplinlosigkeit ein. Er wird helfen, diese Lügenpropaganda zu entlarven."
Anschließend sprach Kassawara: „Das ist eine private Information, und ich habe nicht das Recht, Zahlen und Namen zu nennen; doch auch in unserer Fabrik wird ein Rückführungsplan ausgearbeitet, und es werden Listen der Kollegen zusammengestellt, die entlassen werden sollen."
„Dann... dann... warum noch warten? Wir müssen das alles bekanntmachen und kämpfen!"rief Jamanaka Kisuke aufgebracht.
Kaischima Nobuko, die neben ihm saß, stieß ihn an, und er verstummte, schwer atmend vor Erregung.
„Deshalb fahren Arakikun und ich heute Abend nach Tokio zu der Konferenz des ,Vereinigten Stabes'. Er ist anders als im Februar. Die Company dehnt jetzt ihre Maßnahmen über das ganze Land aus, und wir müssen ebenso handeln", erklärte der Sekretär des Gewerkschaftskomitees, Kassawara, mit ernster Miene. Nach kurzer Pause fuhr er fort: „Endlich hat sich auch die Geschichte mit den Militärhemden aufgeklärt. Es gibt sogar einen Zeugen. Er ist hier unter uns, darum beschränke ich mich im Augenblick auf diese Mitteilung. In den nächsten Tagen werden wir im Namen der Gewerkschaft den Sachverhalt öffentlich bekanntgeben."
Die Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft" und andere, die ihr nahestanden, hatten in letzter Zeit Militärhemden zu einem außergewöhnlich niedrigen Preis erhalten. Darüber waren die Arbeiter empört.
„Wir haben sofort Erkundigungen eingezogen, und weitere Einzelheiten hat uns Torisawa Ren mitgeteilt. Diese Hemden gehörten zu den Sachwerten, die einige einflussreiche Persönlichkeiten der Fabrik insgeheim beiseite geschafft hatten. Ein Teil dieser Werte wurde unmittelbar nach Kriegsende aus dem Versteck irgendwo in den Bergen geholt und in den Speichern eines Gutshauses verborgen."
Alle sahen Ren erstaunt an. Sie hatte sich an die Schulter Hatsues gelehnt und rührte sich nicht. Ruhig, als handle es sich um etwas, was sie gar nichts anging, erklärte sie: „Bei uns zu Hause in den Speichern liegen Sachen, die die Company zur Aufbewahrung dort hingebracht hat. Ich weiß nicht, was für Sachen das sind, aber ich habe gesehen, dass oft Leute von der Fabrik kamen und das eine oder das andere mitnahmen. Ich bin bereit, das jederzeit überall zu bestätigen."
Die Abenddämmerung senkte sich herab. Ren und Schinitschi stiegen den Uferdamm des Tenrju hinunter; wie ein Kind hielt sie sich an Schinitschis Ärmel fest.
Schinitschi hatte Ren noch nie so bedrückt gesehen. „Was hast du denn?"
Er verlangsamte den Schritt; Ren aber wandte das Gesicht ab und antwortete nicht.
Nach der Versammlung hatten sich alle vor Arakis Haus verabschiedet und auf den Heimweg gemacht. Schinitschi wählte den einsamen Weg am Flussufer. Er hatte die Absicht, Ren nach Hause zu begleiten; aber als sie an die kleine Hängebrücke kamen, schüttelte Ren den Kopf und verzog das Gesicht. Sie gingen weiter, bogen um Felsvorsprünge und kletterten über die Erdwälle zwischen den Feldern.
„Fällt es dir jetzt schwer, im Gemeinschaftsheim zu wohnen?"
Ren blieb mit hochgezogenen Schultern stehen, das Gesicht dem Fluss zugewandt, und schwieg. Traurig stand sie auf den Steinen in ihrer weißen Jacke und dem roten Röckchen.
Schinitschi fühlte sich verantwortlich dafür, dass sie in das Gemeinschaftsheim gezogen war. Er hatte auf Grund seiner Vorstellung von der Klassenmoral dazu geraten; zugleich aber litt er unter der Sorge, ob sie es aushalten würde. „Kannst du nicht mehr dort bleiben?"
Ren schüttelte den Kopf. „Was sonst?"
Er ging weiter und fühlte, wie Ren sich an seinen Ärmel klammerte. Er war verwirrt. Warum haben die Frauen so schwierige, unbegreifliche Gefühle und Stimmungen? Ständig wechselten ihre Launen. Er erlebte Ren zum ersten Mal so schüchtern und sanft. Noch nie hatte er so leicht und einfach mit ihr gesprochen. Sie kam ihm schutzlos vor wie ein Grashalm am Wege.
„Nein, ich weiß, es muss wirklich schwer sein für dich. Ich bin von Kind auf daran gewöhnt, deshalb macht es mir nichts aus. Ich glaube, du kannst dich kaum an das Essen in der Fabrikkantine gewöhnen."
Sie erreichten einen Erdwall, und Schinitschi ließ sich unter einigen abgeblühten Kirschbäumen nieder.
„Es ist eben alles Kampf..."
Er versuchte mehrmals, seine Zigaretten aus der Tasche zu ziehen; doch Ren hielt ihn noch immer fest.
In Gedanken erblickte sie das Gesicht Kassuga Schinobus, als sie mit dem Besen ausholte und rief: Plakate kleben - das hat sie wahrscheinlich noch nie gemacht! Die Worte brannten Ren im Herzen.
„Um besser und tiefer von dem sozialistischen Bewusstsein durchdrungen zu werden, muss man das Leben und den Kampf der Arbeiter selbst kennenlernen und durchmachen."
Schinitschi merkte nicht, dass Ren bei diesen Worten kaum die Tränen zurückzuhalten vermochte und sich in die Lippen biss. Hatte er doch gerade das ausgesprochen, was sie quälte.
Endlich ließ sie seinen Ärmel los, und er drückte ihre Hand. „Du bist dünner geworden."
Sie warf sich ihm zu Füßen und schmiegte den Kopf gegen seine Knie; ihr Körper bebte in verhaltenem Schluchzen.
Schinitschi legte den Arm um ihre Schultern und blickte auf den Fluss, der wild rauschend zwischen den steilen Ufern dahin strömte. Die Sonne war untergegangen, und in der Dämmerung leuchtete der weiße Schaum der Wellen, die sich an den Felsen brachen. Schinitschi fühlte durch den Stoff seines Kimonos hindurch die feuchten, warmen Wangen des Mädchens und zerbrach sich den Kopf, warum sie weinte. „Du wirst dich daran gewöhnen", suchte er sie zu trösten. Etwas anderes fiel ihm nicht ein.
Als er merkte, dass er sie noch immer umfasst hielt, geriet er in Verlegenheit: Sollte er die Hand wegnehmen oder nicht? Wie sollte er sich überhaupt in dieser Situation benehmen? Sie erschien ihm hilflos, einfach und mädchenhaft, und er musste wieder an den Grashalm am Wege denken. Sie war ihm so nah und teuer in diesem Augenblick, dass er den Mut fand, sie fest in seine Arme zu schließen. „Und wenn du alles überwunden hast, dann wirst du ein prächtiges Mädchen sein."
Ren aber litt nicht, weil sie sich an das Essen in der Kantine oder an das Reinigen der Toiletten gewöhnen musste. Viel schwerer war es, Beleidigungen zu ertragen und zuzugeben, dass sie sie verdient hatte. Schwer war es, die Mängel einzugestehen, die sie bisher nicht an sich bemerken wollte - ihre Dünkelhaftigkeit, die an Hochmut grenzte, ihr Bestreben, ständig andere zu kommandieren, alles nach ihrem Willen gehen zu lassen, jeden zurechtzuweisen, der sich dagegen aufbäumte.
Ihre Einstellung zu den anderen Mädchen hatte sich ganz unbewusst ergeben, als Folge der Gewohnheiten, die man ihr als Kind eingeimpft hatte. Jetzt fühlte sie sich tief verletzt, und das tat weh.
„Hörst du? Du wirst gewiss damit fertig werden. Das meiste ist ja schon überstanden", flüsterte Schinitschi und streichelte sie. „Du schaffst das Letzte auch noch, und dann liegt ein neuer Weg ins Leben vor dir. Ja, man muss sich selbst überwinden..." Schinitschi verstummte; er fühlte, dass man diese Worte auch auf ihn anwenden konnte. Hatte er sich denn selbst überwunden? Hatte er nicht sein Aufnahmegesuch in die Partei immer wieder umgeschrieben und dann doch
liegengelassen?
Ren hob den Kopf und blickte Schinitschi forschend an. „Es ist dir wahrscheinlich widerwärtig, so ein kleinbürgerliches Geschöpf wie mich anzusehen!" sagte sie schließlich. „Wieso?"
„Weil..." Sie schlug die Augen nieder und zerrte mit beiden Händen am Kragen seines Kimonos. Dann lächelte sie unvermittelt und barg ihr Gesicht rasch an seiner Brust.
„Genug! Alles wird gut."
„Wirklich?"
„Natürlich. Ich glaube, wir sind jetzt ein bisschen klüger geworden, nicht wahr?"
Sie nickte folgsam wie ein Kind. Er gab einer plötzlichen Aufwallung nach, legte die Arme um ihre Schultern und zog sie an sich.
„Was ist? Träume ich?" Furukawa erwachte und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Er war allein. Aber etwas im Zimmer hatte sich verändert. Ikenobes Tisch fehlte wahrscheinlich war Schinitschi ausgezogen, um den Kranken nicht zu stören.
Die Freunde hatten der Reihe nach bei ihm gewacht. Er war sicher, auch Jamanaka Hatsue gesehen zu haben. Ihre Hände, die aus den weiten Ärmeln mit dem purpurroten Futter hervorkamen, bewegten sich lautlos über seinem Kopf, während sie den Eisbeutel zurechtrückten. Er vermochte ihr Gesicht durch den Nebelschleier, der alles ringsum verhüllte, nicht zu erkennen, aber er erinnerte sich deutlich an den Duft ihres Haares, als sie sich über ihn beugte.
Im Augenblick war niemand im Zimmer. Der Beutel mit dem zerschmolzenen Eis war heruntergerutscht und baumelte an einer Schnur, die an dem kleinen Holztischchen neben dem Bett befestigt war. Goldgelbe Lichtstrahlen drangen von außen herein und zitterten an der Decke - war es Morgen oder Abend?
Schiro schloss die Augen. Liebes! dachte er unbefangen wie ein Kind.
Als sein Zustand ernst und sogar bedrohlich geworden war, hatte er nicht an den Tod gedacht. Er empfand nur den Wunsch, einen Freund zu finden, die Zärtlichkeit eines Menschen zu spüren. Und Trauer, Trauer darüber, dass er in der ganzen Welt keinen einzigen Menschen hatte, der ihm nahestand, erfüllte sein Herz.
Wie müde er war! Sein Körper erschien ihm leicht, ohne jedes Gewicht; er glaubte, in einem endlosen Ozean von Müdigkeit zu schwimmen. Nein, das habe ich sicherlich nur geträumt. Weshalb sollte sie hierherkommen? überlegte Furukawa, fand sich damit ab und sank wieder in tiefen Schlaf.
Zwei Tage und drei Nächte hatte er ununterbrochen im Fieber gelegen und jedes Zeitgefühl verloren. Und wie es immer bei Schwerkranken der Fall ist, gelang es ihm nicht, in den kurzen Augenblicken, in denen das Bewusstsein zurückkehrte, seine Gedanken zu sammeln. Schlummerte er aber ein, so quälten ihn wieder wirre Traumbilder. Dauernd hat er Streit mit dem Direktor.
„Steig auf diesen Berg!" befiehlt der Direktor auf Englisch.
Schiro tut es. Die Luft geht ihm aus. Es ist heiß. Er ist wie mit Feuer übergossen. Auf seinem Rücken hängt ein Gewehr. Er umklammert mit beiden Händen die Griffe der Tragbahre. Er ist im Kampfgebiet bei Manila...
„Siehst du es?" schreit der Direktor. Sie stehen auf dem Gipfel eines himmelhohen Berges.
„Ich sehe nichts."
„Wie kannst du es denn nicht sehen? Da, über deinem Kopf!"
Schiro hebt die Augen und erblickt ein amerikanisches Flugzeug, das, aus allen Bordwaffen feuernd, im Sturzflug niedergeht. Schiro weiß nicht, wohin er sich verkriechen soll, und rennt hin und her. Jetzt strauchelt er, stürzt den Abhang hinunter, dem Meer entgegen, wird von einem Luftstrom gepackt und bleibt schwebend in der Luft hängen wie ein welkes Blatt.
Er will aus Leibeskräften schreien, aber es gelingt ihm nicht, die Lippen zu öffnen...
Jamanaka Hatsue schob behutsam die Schoji auf und trat ins Zimmer. Sie brachte einen Eisbeutel und ein trockenes Handtuch und setzte sich ans Kopfende des Bettes. Als sie den alten Eisbeutel weggenommen hatte, in dem das Eis schon ganz zerschmolzen war, berührte sie vorsichtig mit der Hand die Stirn des Kranken.
Mit angehaltenem Atem lauschte sie eine Weile. Dann legte sie ihm ganz sanft, um ihn nicht zu wecken, das Handtuch und den neuen Eisbeutel auf die Stirn.
Sie war von der Arbeit gekommen und trug noch ihren Arbeitskittel. Lautlos bewegte sie sich hin und her und räumte auf. Dann kniete sie auf der Türschwelle nieder und betrachtete den Schlafenden. Schließlich erhob sie sich und ging leise hinaus.
Zehn Tage später konnte Schiro sich schon im Bett aufsetzen. Er war fast fieberfrei, aber noch sehr schwach. Er kam sich wie zerschlagen vor.
Es war ein heißer Sommertag, und blendende Sonnenstrahlen drangen durch die Schoji ins Zimmer.
Regulierung der Produktion? Rückführung der Fabrik?
Schiro hatte die Augen zugekniffen und grübelte über die Neuigkeiten nach, die ihm Nakatanis Frau berichtet hatte, als sie das Mittagessen brachte. Welches Datum haben wir eigentlich heute? Mitunter schien es ihm, als wäre ein ganzes Jahr verstrichen, seit er nach dem Streit mit dem Direktor heimgegangen war und sich sofort mit Fieber zu Bett gelegt hatte. Dann wieder kam es ihm vor, als wäre das alles vor ganz kurzer Zeit, vor ein paar Stunden vielleicht, geschehen.
Das Zimmer war fast leer; man hatte die meisten Sachen hinausgeschafft...
Halt - was sagte sie? Araki und Kassawara sind nach Tokio zur Konferenz des „Vereinigten Stabes" gefahren. Auch Direktor Sagara ist in Tokio gewesen. Und dann noch etwas: Bald würde im Werk Kawasoi die Anordnung über die Produktionsregulierung ausgehängt werden; deshalb hatten Ikenobe und Nakatani sehr viel zu tun — die Gewerkschaft bereitete Gegenmaßnahmen vor.
Rückführung der Fabrik? Das wäre doch ein Unglück!
Dieser Gedanke drang mit der Langsamkeit einer Zeitlupenaufnahme in Schiros Bewusstsein. Als er aber endlich begriffen hatte, was geschehen war, begann sein Kopf angestrengt zu arbeiten.
Er erinnerte sich an das, was er in den zwei Wochen als Sekretär des Direktors erfahren hatte. Die amerikanische Zeitschrift mit dem himmelblauen Umschlag... Der Vorschlag des Direktors... Alles das waren Glieder einer Kette. Es gab feindliche Kräfte in der Welt, die allen Ländern die Schlinge um den Hals zu werfen versuchten! Im Augenblick drohte diese Schlinge Schiro und seine Freunde zu erwürgen. „Wer ist da?" fragte er heiser flüsternd, als er Schritte auf dem Korridor vernahm.
„Wir sind es", antwortete Jamanaka Kiku und kicherte verlegen.
Dann ertönte Rens helle Stimme: „Wir wollten Sie besuchen. Oder stören wir?"
Schiro rutschte schleunigst unter die Decke. Die Mädchen schoben die Schoji auseinander, traten ein und setzten sich neben das Bett. Das ganze Zimmer war auf einmal wie verwandelt.
„Das haben wir gekauft, alle zusammen... Bitte schön!"
Oikawa Mitsu streckte ihm linkisch wie ein Schulmädchen ein umfangreiches, in Zeitungspapier eingewickeltes Paket entgegen. Ein Säckchen mit Reis fiel heraus, ein paar Eier und Mandarinen rollten hinterdrein. Das kam den Mädchen komisch vor, und sie kicherten wieder.
„Es ist schön, dass das Fieber so rasch gesunken ist, nicht wahr?" begann Kiku und blickte Hatsue an. „Aber was meinen Sie, was in der Fabrik los ist! Schlimm ist das!" fügte sie mit ernster Miene hinzu.
Schiro kratzte sich hinter dem Ohr und schaute das Päckchen an. Kikus Worte schienen eine Bresche in einen Damm geschlagen zu haben; denn alle begannen auf einmal zu reden: „Unter Rückführung stellt sich jeder was anderes vor..." - „In der Fabrik arbeiten zu viel Frauen, behaupten sie. Furukawakun soll übrigens der gleichen Meinung sein!"
„Hach!" Schiro starrte blinzelnd die Schoji an. „Da hat man sich gerade aus dieser Krankheit aufgerappelt, und schon geht alles durcheinander. Rückführung..."
„Aber es gibt auch welche, die nicht entlassen werden", fuhr Kiku hastig fort. „Bei Ihnen, Furukawasan, weiß man noch nicht genau, ob Sie rückgeführt werden oder nicht. Nun, Rückführung wäre dasselbe wie Entlassung. Manche, zum Beispiel Onoki, Ikenobe und Inoue, freuen sich, dass sie wieder nach Tokio kommen. Sie sind ja in Tokio zu Hause."
„Wie?" Furukawa begriff noch immer nicht, was Kiku meinte.
„Na ja, wenn es anständige Leute sind, dann sollen sie es meinethalben besser haben. Die hier" - Kiku stieß Kassuga Schinobu an - „ist aus der Fabrik im Stadtteil Janagi. Natürlich ist sie begeistert." Schinobu betrachtete angelegentlich die Bastmatten auf dem Fußboden und sagte kein Wort.
„Hatsue gehört zum Werk Schisuoka, folglich wird sie entlassen; denn eine Frau kann nicht allein in einem fremden Ort leben, wo es kein Gemeinschaftsheim gibt. Nicht wahr, Hatsuetjan?"
Hatsue hob lächelnd den Kopf und nestelte an der Schnur ihres Haori.
„Dagegen muss man doch protestieren!" Furukawa sah Hatsue an, wandte aber den Blick sofort wieder ab, als wäre er erschrocken. Die schweigsame, lächelnde Hatsue mit den großen, strahlenden Augen und den Grübchen in den Wangen erschien ihm heute besonders schön.
„Ganz recht. Aber das ist leichter gesagt als getan", mischte sich Ren ein und erzählte alles der Reihe nach: Die kranken und schwangeren Frauen galten als beurlaubt. Die meisten anderen Arbeiterinnen hätten mit ihrer Entlassung zu rechnen, da es nicht üblich wäre, dass junge Mädchen allein in einer fremden Stadt wohnten. Einige aber nahmen die Gelegenheit, nach Tokio zu gelangen, gern wahr und sagten nichts gegen die Rückführung.
„Damit rechnet die Company offenbar. Takenoutschi und Tschidschiwa treten zwar gegen eine Drosselung der Produktion und gegen die Entlassungen auf, behaupten aber, dass es sehr schwierig sei, gegen den Rückführungsplan im Ganzen zu protestieren. Das ist der Grund dafür, dass das Gewerkschaftskomitee noch nicht zu einem Beschluss gekommen ist und keinen festen Standpunkt in dieser Frage einnimmt."
„Und was meinen Arakisan und Nakatanisan dazu?"
„Aus der Verwaltung werden nur wenige zurückgeschickt, aber Arakisan wird dabei sein, soviel ich weiß", sagte Ren mit gedämpfter Stimme. Da sie in der Fabrikverwaltung arbeitete, wusste sie besser Bescheid als die andern Mädchen.
„Ist die Verfügung schon veröffentlicht?"
„Nein, noch nicht. Vorläufig streitet man noch mit dem ,Vereinigten Stab'. Die Entscheidung wird Mitte Juni erwartet. Aber wenn die Meinungen der einzelnen Gewerkschaftsorganisationen geteilt sind, dann kann auch der ,Vereinigte Stab' nichts erreichen." Schiro schwieg nachdenklich.
Das war doch eine Katastrophe! Wenn das so weiterging, dann würde die Gewerkschaft auseinanderfallen! „Und Ikenobe, dieser Kerl, freut sich wahrscheinlich?"
Ren zuckte mit den Schultern und schüttelte den
Kopf. „Ich weiß nicht." Das Gespräch hatte Schiro ermüdet. Er lag auf dem Rücken und starrte zur Decke empor. Im Grunde glaubte er nicht, dass sich Ikenobe freute, aber Schinitschi lebte schon solange hier in den Bergen, fern von seiner Familie... Ebenso ging es vielen anderen kein Wunder also, dass sie gegen die Rückführung nichts einzuwenden hatten.
Das hatten sich alles diese Halunken vom Vorstand der Company ausgedacht. Diese Teufel!
Schiro drehte sich auf die Seite, und die Mädchen gingen leise hinaus. Es wurde still im Zimmer, und Schiro schlummerte ein. Ein Geräusch weckte ihn. Als er die Augen öffnete, erblickte er Hatsue, die mit hochgekrempelten Ärmeln in einer Ecke des Zimmers stand und irgendetwas zusammenpackte. Das Blut schoss Schiro in die Wangen.
„Hatsuesan!" hauchte er; doch sie hörte es nicht und arbeitete mit raschen, geschickten Bewegungen weiter; Schiro wagte kaum zu atmen.
Plötzlich füllten sich seine Augen mit Tränen.
In der Mittagspause drängten sich die Arbeiter vor dem Schwarzen Brett neben der Steckuhr. Sie waren es schon gewohnt, dass in letzter Zeit ständig neue Bekanntmachungen ausgehängt wurden. Diesmal aber war es etwas Besonderes:
„Achtung! Die Untersuchung durch die Gewerkschaft hat zu einer Klärung der Angelegenheit der Militärhemdenverteilung geführt.
Es gibt einen Zeugen, der aussagen kann, woher diese Hemden stammen und wie sie an eine gewisse Gruppe von Personen verteilt wurden.
Alle Einzelheiten werden auf der nächsten Versammlung im Juni bekanntgegeben und den Mitgliedern der Gewerkschaft zur Überprüfung vorgelegt.
Gewerkschaftskomitee des Werkes Kawasoi der Tokio-Electro-Company."
Ikenobe Schinitschi stand gegen die Holzwand gelehnt, rauchte eine Zigarette und machte dabei ein harmloses Gesicht.
Der Himmel hatte sich bezogen; ein heftiger Wind wehte. Auf dem Fabrikhof herrschte reges Leben. In einer Ecke spielte eine Gruppe junger Leute Ball. Ein Mann mit einem leeren Rucksack über der Schulter drängte sich durch, ohne auf den fliegenden Ball zu achten, und huschte an Ikenobe vorbei durchs Tor. Das war einer von denen, die auf Lebensmittelsuche gingen, ohne den Feierabend abzuwarten. Junge Mädchen sprangen Seil, kreischten und lachten; andere standen in Gruppen beieinander. Einige Frauen hockten auf dem Erdboden und musterten ein Stück Stoff, das offenbar als Tauschobjekt dienen sollte. Sie machten finstere Gesichter und hatten Sorgenfalten auf den Stirnen. Ein Heimkehrer schlenderte über den Hof und suchte Bekannte.
Ikenobe überlegte beunruhigt, was für Folgen die Ankündigung haben könnte, die das Gewerkschaftskomitee auf Verlangen der Gewerkschaftsmitglieder veröffentlicht hatte. Ob es wohl Komplikationen geben würde?
Immer mehr Menschen kamen herbei und lasen die Bekanntmachung. Hier in der Galerie, an der belebtesten Stelle des ganzen Fabrikgeländes, hingen noch andere Anschläge: der Zeitungsausschnitt mit der Acheson-Erklärung, die Ankündigung der nächsten Zusammenkunft der „Tenrju-Gesellschaft" und der schon vergilbte Hinweis auf die Gewerkschaftsversammlung im Juni. Zwischen all diesen Meldungen gab es auch Zettel wie: „Tausche wenig getragenes Herrenjackett gegen fünf Scho Reis oder acht Scho Weizen. Haschimoto, Werkzeughalle", oder „Ein Liter Zuteilungsschnaps gegen Lebensmittel zu tauschen gesucht. Jamamoto Hana, Kontrollabteilung."
Die fortschreitende Inflation machte alles zunichte, was die Arbeiter im Februar erkämpft hatten, und solche Anzeigen wurden von vielen mehr beachtet als alle andern Mitteilungen.
Ikenobe warf einen kurzen Blick zu dem Gebäude der Werkleitung hinüber. Der Wind blähte die Vorhänge an den Fenstern des Direktorzimmers. Ikenobe kamen diese Fenster vor wie böse Augen, hinter denen sich der Rückführungsplan verbarg, dessen Veröffentlichung jeden Tag erwartet wurde.
Zerstreut schritt er über den Hof auf das Büro des Gewerkschaftskomitees zu. Plötzlich schrak er zusammen. Ein amerikanischer Jeep fuhr durchs Tor, brauste dicht an ihm vorüber und hielt vor dem Verwaltungsgebäude.
Im Gewerkschaftsbüro sah sich Ikenobe erstaunt um. Hier fand offenbar eine Sitzung statt; doch keines der sieben ständigen Komiteemitglieder sprach ein Wort.
An dem langen Tisch saß zurückgelehnt mit halb geschlossenen Augen der Vorsitzende Tschidschiwa, neben ihm Araki, der die Arme über der Brust verschränkt hatte und mit gesenktem Kopf vor sich hin starrte. Rittlings auf einem Stuhl, den Rücken dem Vorsitzenden zugewandt, hockte Takenoutschi. Sein Kinn lag auf der Stuhllehne, und er blickte von Zeit zu Zeit nach der Tür. Nakatani und Kassawara hatten die Tabakspfeifen zwischen den Zähnen und sahen den Rauchwolken nach, die zur Decke aufstiegen.
Ikenobe erkannte sofort, dass etwas vorgefallen war - das Schiff hatte die Orientierung verloren.
„Also, ich kann wohl gehen", sagte Takenoutschi plötzlich in energischem Ton, warf einen Blick auf den Vorsitzenden, rührte sich aber nicht von der Stelle. Tschidschiwa murmelte etwas vor sich hin, die anderen schwiegen.
Ikenobe machte Araki ein Zeichen; er stand auf und folgte Schinitschi vor die Tür.
„Ich glaube, unsere Bekanntmachung hat den Gegner vorzeitig gewarnt."
„Meinst du?"
„Komatsu ist nicht untätig geblieben. Er wird alle, die Hemden bekommen haben, gegen uns aufhetzen. Unter ihnen gibt es einige, die nicht Mitglieder der ,Tenrju-Gesellschaft' sind. Zwei aus unserer Abteilung sind eben zu ihm in den Unterrichtsraum gegangen."
„So?"
Araki trat auf die leere Galerie hinaus, lehnte sich an das Geländer und senkte nachdenklich den Kopf.
„Vielleicht haben wir ihnen durch unsere Mitteilung die Möglichkeit gegeben, im Voraus Maßnahmen zu treffen", fuhr Schinitschi fort. „Takenoutschi scheint sich sehr sicher zu fühlen."
„Nein, das glaube ich nicht", erwiderte Araki leise, ohne den Kopf zu heben. „Er ist erbost, dass der Beschluss über die Veröffentlichung der Bekanntmachung in seiner Abwesenheit gefasst wurde. Er hat nämlich ein schlechtes Gewissen, weil jetzt seine alten Sünden ans Tageslicht kommen. Er ist es gewesen, der die Sachen damals bei Torisawa und in den Bergen versteckt hat. Anscheinend ist der Direktor daran beteiligt. Sie werden sich auf die Versammlung vorbereiten. Im Übrigen sind zwischen Takenoutschi und Tschidschiwa Meinungsverschiedenheiten aufgetreten." „Nicht möglich!"
„Tschidschiwa unterstützt den Rückführungsplan, aber er hat seine eigenen Ansichten über Ehrlichkeit, verstehst du? Er verlangt, dass der Vorfall mit den Militärhemden gründlich untersucht wird. Dadurch verlieren die Anhänger des Rückführungsplans einen ihrer Wortführer."
Das bedeutete eine Spaltung der rechten Gruppe in der Gewerkschaft!
„Die Leute, die Hemden bekommen haben, sind nicht schuld. Das müssen wir bedenken und sofort einen neuen Aufruf erlassen. Aber viel ernster, viel wichtiger ist die Tatsache, dass sich einige Arbeiter über die Rückführung freuen. Was soll man mit ihnen machen? Dir geht es doch auch so, nicht wahr?"
„Nein, ich habe mich damit abgefunden."
„Was heißt abgefunden? Es gibt welche, die sich nicht damit abgefunden haben, und zwar sind das führende Mitglieder unseres Jugendverbandes. Unsere Aufgabe besteht darin, den Kampf mit jenen zu führen, die durch diese Maßnahme betroffen, das heißt, die entlassen werden. Na, was meinst du dazu? Willst du nicht einige Jungkommunisten zusammenrufen und mit ihnen darüber beraten?"
Auf einer Lichtung in den Bergen versammelte sich nach Feierabend eine kleine Gruppe Jungkommunisten, unter ihnen Ikenobe, Onoki, Inoue, Ito - ein Mechaniker aus der Montagehalle zwei - und der Dreher Fukuda. Sie stammten alle aus Tokio und hatten früher im Werk Oi gearbeitet.
Von den Mädchen war nur Kassuga Schinobu erschienen.
„Ich möchte sehr gern nach Tokio zurück", sagte Inoue laut wie immer und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. „Seit zwei Jahren habe ich meine Mutter nicht gesehen. Sie ist krank. Mein Vater schreibt, ich soll die Arbeit bei der ,Tokio-Electro' aufgeben. Da kommt mir diese Rückführung sehr gelegen."
Araki hatte sich in der Nähe auf einen Stein niedergelassen und blickte zwischen den Bäumen hindurch auf die weißen Schaumkronen, die der Wind den Wellen des Suwasees aufsetzte.
„Was meinst du, Kassugasan?" wandte sich Araki an das junge Mädchen, das mit untergeschlagenen Beinen auf der Erde hockte und Grashalme abrupfte.
„Ich?" Sie hob den Kopf und lachte leise. „Mir ist es ganz gleich."
Inoue, der sich neben ihr im Gras ausgestreckt hatte, sah sie erstaunt an.
„Dddann ist es mmir aaauch gleich", stotterte er, richtete sich auf und fuhr fort: „Tttrotzdem ist es schwer. Ich habe nnämlich eine Freundin in Ttokio das müsst ihr verstehen!"
Beim Sprechen rieb er seine Knie mit der Hand und zog seine runde rote Nase kraus. Das sah so komisch aus, dass alle lachten. Aber auch dieses Lachen machte sie nicht froher.
„Vorsitzender!" wandte sich Ikenobe unvermittelt an Onoki. „Ich finde, dass Äußerungen wie ,mir ist es gleich' unangebracht sind. Können wir denn kämpfen, wenn wir eine solche Einstellung haben? Bedenkt doch, wie viele wegen der Rückführung entlassen werden! Dummköpfe seid ihr, weiter nichts!"
Inoue legte den Kopf auf die Seite und blinzelte. „Uunangebracht?... Was sollen die Vorwürfe? Ddu hast dddoch selbst zuerst gedacht..." Er wurde wütend und stotterte mehr als sonst.
Ikenobe machte eine beschwichtigende Handbewegung und sagte rasch: „Hört auf zu streiten! Das ist eine sehr wichtige Frage. Ich könnte mich ja auch über die Rückführung freuen; aber ich bin der Ansicht, dass wir dagegen kämpfen, dass wir in diesem Kampfe sogar an der Spitze stehen müssen."
Araki sah die Jungkommunisten aufmerksam an. Einige saßen gesenkten Hauptes, die Arme um die Knie geschlungen, auf ihren Plätzen und sagten kein Wort.
Diese Passivität musste unter allen Umständen überwunden werden.
Araki wusste, wie notwendig gerade jetzt Leute waren, die nicht an ihre persönlichen Vorteile dachten, sondern nur daran, was für die Allgemeinheit nützlich war.
Furukawa war allein im Zimmer. In einem Kimono von Ikenobe saß er auf dem Bett. Der Arzt hatte ihm noch nicht erlaubt auszugehen. Ob er es doch einmal versuchte?
Durch das Fenster blickte er auf die Straße hinaus. In der Ferne, hinter den stufenförmig abfallenden Dächern, schimmerte der Suwasee. Ein heftiger Wind trieb blendendweiße Wolken am Himmel dahin.
In wenigen Tagen sollte die Gewerkschaftsversammlung stattfinden. Die Jugendsektion der Gewerkschaft und der Kommunistische Jugendverband bereiteten sich gemeinsam darauf vor. Furukawa wusste, dass die sogenannte „Initiativgruppe" der Jungkommunisten, zu der Onoki, Ikenobe und Inoue gehörten, zusammen mit anderen solchen Gruppen vorgehen und gegen die Rückführung der Fabrik protestieren würden. Der „Vereinigte Stab" war sich noch immer nicht mit der Company einig geworden. In den Fabriken, die durch den Rückführungsplan unmittelbar betroffen waren, machte sich eine starke Unruhe bemerkbar. Alle Gewerkschaftsorganisationen, mit der Gewerkschaft des Hauptwerks an der Spitze, führten einen erbitterten Kampf.
All das hatte Furukawa durch Ikenobe, Onoki, Torisawa Ren und Jamanaka Hatsue erfahren, die ihn oft besuchten.
Nein, in einer solchen Zeit durfte man nicht abseits stehen und die Hände in den Schoß legen!
Kam denn heute niemand, um ihm zu berichten, was in der Fabrik vorging?
Er griff nach einer Sammlung ausgewählter Artikel von Lenin und begann zu lesen. Hin und wieder machte er am Rande einen Strich mit dem Rotstift und dachte nach.
Plötzlich schrak er zusammen und richtete sich auf. Draußen ertönte der vertraute Schritt, näherte sich seinem Zimmer und machte vor den Schoji wie unschlüssig halt.
„Störe ich, Furukawasan?" Mit einem Bündel unter dem Arm trat Jamanaka Hatsue ein und hockte sich neben der Schwelle nieder.
„Man hat mich beauftragt, Sie nach Ihrer Meinung als Vorsitzender der Jugendsektion zu fragen. Ich musste mitten in der Arbeit gehen. Kassawara hat mir die Kündigung überbracht..." Hatsue nannte die Meister jetzt nicht mehr „Sensei". Sie zog ein Taschentuch hervor und wischte über ihr erhitztes Gesicht. Als Furukawa das purpurrote Futter ihrer Kimonoärmel sah, war er ganz verwirrt.
„Heute in der Mittagspause hat die ,Tenrju-Gesellschaft' eine Erklärung über diese Geschichte mit den Militärhemden herausgegeben."
Hatsue hielt Furukawa einen Fetzen Papier hin. Es war der Text der Erklärung, den sie mit Bleistift in großen, ungelenken Schriftzeichen abgeschrieben hatte.
„Wir, die aus dem Kriege zurückgekehrt sind, die wir für das Vaterland gekämpft haben, sind der
Meinung, dass wir ein verbrieftes Recht haben auf den Empfang..."
Ach so! Sieh mal einer an! „...Wir haben nicht die Absicht, uns mit derart verlogenen Hirngespinsten abzufinden, die uns in üblen Ruf bringen. Wir halten es für unsere Pflicht, gegen die extremen Elemente innerhalb der Gewerkschaft zu kämpfen..."
„So steht es also?" Mit verzerrten Lippen blickte Schiro auf. „Diese Hemden sind doch nicht nur an Heimkehrer verkauft worden?"
„Natürlich nicht. In unserer Abteilung zum Beispiel hat auch der alte Gehilfe eins bekommen."
Hatsue und Schiro bemerkten nicht, wie nahe sie einander durch solche Gespräche kamen.
„Heute soll Ikenobesan in der Sitzung des Gewerkschaftskomitees im Namen der Jugendsektion sprechen. Er lässt Sie bitten, Ihre Ansicht über die Sache aufzuschreiben."
„Schön!" Furukawa nickte. Es gab unter den Mitgliedern der „Tenrju-Gesellschaft" viele Jugendliche, und die Fragen, die die Heimkehrer betrafen, gingen auch die Jugendsektion an. „Na, und wie denkt ihr anderen darüber? Du zum Beispiel?" „Ich denke, dass..." sie senkte den Blick und starrte auf ihre Hände, die in ihrem Schoße ruhten. Dann hob sie die langen Wimpern und sah Schiro an. „Ich denke, wenn wir alle, die Hemden bekommen haben, als Verbrecher betrachten, dann werden sie beleidigt und wütend sein. Sie wollen doch die Hemden nicht wiederhergeben..."
„...und nicht davor zurückschrecken, aus der Gewerkschaft auszutreten, was?"
„Ich weiß nicht, ob es soweit kommen würde... Aber ich glaube, je mehr Menschen wir auf unserer Seite haben, desto besser ist es."
„Das stimmt. Wenn es uns gelingt, die alten Sünden Takenoutschis aufzudecken, dann dürfen wir jene nicht vergessen, die schon Hemden erhalten haben. Man muss diese Leute dem Einfluss Komatsus entziehen und zugleich dem Gefühl der Empörung derer Rechnung tragen, die keine bekommen haben. Eine schwere Aufgabe! Ich würde schließlich auch nicht nein sagen, wenn ich so billig ein Hemd kaufen könnte. Sieh mal!"
Furukawa hob den Arm, um sein zerrissenes Hemd zu zeigen. Beide Ärmel waren sorgfältig ausgebessert.
„Was ist denn das für ein Wunder?" fragte er verblüfft.
Hatsue schlug die Augen nieder und errötete bis an die Haarwurzeln.
„Das hast du auch gemacht? Ich danke dir schön..."
Wenn sich Schiro über etwas wunderte, dann senkten sich seine Augenbrauen, und sein Gesicht nahm einen so bekümmerten Ausdruck an, als wollte er in Tränen ausbrechen. Er dachte einige Minuten lang nach, kratzte sich hinter dem Ohr, ergriff einen Bogen Papier, legte ihn vor sich aufs Kissen und begann, an Ikenobe zu schreiben.
Die Schoji klapperten unter den Windstößen. Schiro tauchte die Feder ein und schrieb einige Zeilen. Auf einmal stockte er unschlüssig. Hinter sich vernahm er ein Rascheln - Hatsue zog ein Päckchen aus ihrem Bündel. Sie saß ganz still und schien mühsam Atem zu holen. Schiros Herz klopfte, und Hatsue atmete immer rascher.
Schiro fühlte, dass in diesem Augenblick etwas sehr Wichtiges, Unabwendbares geschah. Er glaubte zu ersticken, wenn er weiter schwiege. „Hör mal", begann er, ohne sich umzudrehen. „Hör mal zu, Hatsuesan..." „Ja?"
„Wenn ich... wenn ich..." Schiro hob die Feder vor die Augen und betrachtete ihre Spitze. „Wenn ich sage, dass ich dich liebe, bist du dann böse?"
Er wandte sich um. Hatsue hatte die Augen niedergeschlagen und die Hände fest zusammengepresst. „Bist du böse?" Sie schüttelte langsam den Kopf. „Wirklich nicht?"
Alles ringsum schien in hellem Licht zu erstrahlen. Er umarmte sie. Seine Hand spürte die weiche, warme Mädchenschulter.
Als er die Kühle ihres schwarzen Haars und die Hitze ihrer Wangen dicht an seinem Gesicht fühlte, wusste er selbst nicht mehr, was er ihr in die Ohren flüsterte.
Von Zeit zu Zeit nickte sie; ihr Antlitz war rein und unschuldig wie das eines Kindes.
Als Hatsue gegangen war, fand Schiro keine Ruhe mehr. Er lief im Zimmer auf und ab, schob die Schoji auseinander, pfiff und trat auf die Galerie hinaus. Er hatte den Wunsch, sich auszusprechen. In diesem Augenblick hielt er sich für den glücklichsten Menschen auf der Welt. Er empfand Gewissensbisse, als wäre er vor allen Menschen schuldig.
„He! He!" schrie er und beugte sich über das Geländer. Die Köchin des Gemeinschaftsheims ging mit einem Korb über den Hof. Sie war offenbar auf dem Wege in die Stadt, um einzukaufen. Als sie Schiro rufen hörte, hob sie ärgerlich den Kopf. „Was wollen Sie denn?" „Ach, nichts..." Die Frau drohte ihm mit dem Finger und ging weiter.
Es war noch nicht Feierabend, und keiner von Schiros Freunden ließ sich blicken.
Er kehrte ins Zimmer zurück, nahm einige Mandarinen aus dem Päckchen, das Hatsue mitgebracht hatte, warf sie in die Luft, fing sie wieder auf und streichelte sie. Dann streckte er sich auf den Bastmatten aus.
Seine Liebe zu Hatsue, die erste Liebe seines Lebens, fegte alle trüben Erinnerungen und Gedanken mit einem Schlage hinweg. Er dachte nicht einmal daran, dass sie es schwer haben würden, wenn sie heirateten; denn sie besaßen beide nichts. All das hatte jetzt keine Bedeutung für ihn. Wichtig war nur - er warf die Mandarine in die Luft -, wichtig war nur, dass sie genickt hatte...
Die ganze Welt stand ihm jetzt offen. Er war nicht mehr allein. Er war nicht mehr unglücklich.
Bums! - Er hatte die Hand nicht rechtzeitig aufgehalten, und eine Mandarine knallte ihm gegen die Stirn.
Ob sie auch nicht böse ist? Ich bin doch immer so ungestüm. Er drehte sich auf den Bauch. Ich habe sie so heftig an mich gerissen, dachte er beunruhigt, dass sie beinahe gefallen wäre. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll, wenn ich sie wiedersehe...
„Was ist das?" stieß er plötzlich hervor. Eine Zeitlang hatte er geistesabwesend die Zeitung betrachtet, in die Hatsues Mandarinen eingewickelt gewesen waren. Auf einmal drang der Sinn der Worte in sein Bewusstsein.
„Ablehnende Haltung gegenüber dem Kommunismus. Erklärung des Vertreters der Vereinigten Staaten von Amerika, Acheson."
Schiro streckte die Hand aus und strich die Zeitung glatt. Sekundenlang blickte er unbeweglich vor sich hin. Dann riss er das Blatt heraus und entzifferte mühsam das Datum. Sechzehnter Mai. Der sechzehnte?
Einen Tag vorher hatte er den Wortwechsel mit dem Direktor gehabt und sich nach seiner Heimkehr sofort zu Bett gelegt.
Er hob den Kopf und starrte die Schoji an, die der Wind hin und her warf. Dann sprang er mit einem
Ruck auf, schob die Schoji auseinander und stürmte die Treppe hinunter. Er lief in die Kantine und raffte alle Zeitungen zusammen, die dort umherlagen.
Er kehrte mit dem Stoß unter dem Arm zurück, breitete die zerrissenen, fettbeschmierten Blätter auf dem Fußboden aus und begann zu lesen.
Natürlich hatte er wieder keine Zigarette. Mechanisch steckte er die Hand in die Tasche und wühlte darin, ohne sich dessen bewusst zu werden.
„Nichtorganisierte Demonstrationen sind verboten" -„Erklärung MacArthurs", lauteten die Schlagzeilen auf der ersten Seite der „Asahi-Schimbun" vom 21. Mai. Unter diesen Artikeln stand in kleiner Schrift der Aufruf der Kommunistischen Partei: „Friedliche, organisierte Demonstrationen."
Schiro öffnete die Schoji und trat auf die Galerie hinaus. Unter ihm lagen die Dächer der Häuser; weiße Schaumkronen tanzten auf dem Suwasee. Der Gipfel des Jagatake stach in das grelle Blau des Himmels.
Schiro kniff die Augen zusammen und blinzelte in die hitzeflimmernde Luft. Plötzlich aber tauchte wie von ungefähr eine große schwarze Wolke auf. Der See, die Berge hinter dem Jagatake und die stufenförmig abfallenden Dächer - alles wurde mit einem Schlage fahl und blass. Furukawa hatte keine Zweifel mehr.
Er lief ins Zimmer und ließ sich aufs Bett sinken. „So etwas!" sagte er laut. Nachdenklich starrte er die Decke an. Schließlich erhob er sich, ging zu der Stelle, wo die Mandarinen auf den Bastmatten lagen, und hockte sich nieder.
Der Klassenkampf ist ein politischer Kampf...
Die Worte Lenins gingen ihm durch den Kopf. Er dachte an seine Freunde. Mit einem Mal wusste er, dass sie alle, seine Freunde und er, von furchtbaren, feindlichen Kräften bedroht wurden.
Die Hände über der Brust gefaltet, musterte er die Rahmen der Schoji. Eine seltsam feierliche Erregung ergriff ihn und raubte ihm fast den Atem. Ein Schauder rann ihm durch den ganzen Körper. Ich darf nicht länger zögern! Ich bin ein Arbeiter, ein Proletarier! Die Arbeiter müssen sich zusammenschließen! sagte er sich immer wieder. War er selbst auch nur ein Sandkorn - ohne Sandkörner gab es keinen Damm!
Er holte ein Blatt Papier, streckte sich auf den Bastmatten aus und schrieb sein Gesuch um Aufnahme in die Partei. Als er es unterzeichnet hatte, nahm eisernen Stempel mit dem Namen „Furukawa", hauchte ihn an und drückte ihn zweimal neben die Unterschrift. Mit angehaltenem Atem betrachtete er den fertigen Antrag.
Bis zum Abend blieb Schiro auf einem Fleck sitzen und blickte nur von Zeit zu Zeit durch das Fenster zu Onokis Zimmer hinüber, das sich im dritten Stockwerk des gegenüberstehenden Gebäudes befand. Solange Schiro krank war, wohnte Ikenobe bei Onoki. Nach Feierabend besuchten ihn beide regelmäßig. Heute fiel Furukawa das Warten besonders schwer. Es drängte ihn, sich mit den Freunden auszusprechen.
„Ich bin Proletarier, und mein ganzes Leben wird der Partei gehören", hatte er in seinem Antrag geschrieben. Natürlich war ihm dabei auch Hatsue eingefallen; aber er machte sich keine Gedanken darüber, wie sie sich zu seinem Eintritt in die Kommunistische Partei stellen würde.
Na, endlich! In Onokis Zimmer wurde Licht gemacht, und man hörte seine scharfe, hohe Stimme. Schiro steckte den Antrag in die Tasche und ging hinüber.
Als. er bei seinen Freunden eintrat, war Ikenobe noch in Arbeitskleidung, mit Notizen beschäftigt, und Onoki streifte gerade den Kimono über.
„Nanu, der Patient? Was fällt dir ein, gehst du auf einmal spazieren?"
„Er ist lange genug krank gewesen. In einer solchen Zeit darf man nicht im Bett liegen", sagte Onoki scherzend, band den Gürtel um und wandte sich Schiro zu.
„Oh!" stieß er im selben Moment hervor und blieb mit offenem Munde stehen. Ikenobe und Onoki starrten Schiro, der ihnen mit finsterer Miene sein Aufnahmegesuch entgegenhielt, sprachlos an.
„Sieh mal, er hat den Aufnahmeantrag geschrieben!" rief Onoki und verzog die Lippen, als wäre er wirklich böse. Dann stürzte er an seinen Tisch. Ikenobe schwieg einige Sekunden, schlug die Augen nieder und zog langsam ein sorgfältig zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Tasche, nahm es auseinander und legte es mit zitternder Hand auf Schiros Antrag.
„Und das ist - meiner! Alles in Ordnung, mit Stempel." Onoki brachte seinen Antrag und legte ihn zuoberst auf die beiden andern.
Wortlos setzten sich die Freunde - Ikenobe aufrecht, die Arme über der Brust verschränkt, Onoki zurückgelehnt, den Kopf in den Nacken geworfen und die Hände um die Knie geschlungen, Furukawa mit übergeschlagenen Beinen und steifen Ellbogen - und blickten auf die Anträge. Ikenobe und Onoki hatten ihre Gesuche unzählige Male geändert und neu geschrieben. Keiner war zum Sprechen aufgelegt. Was sollte man auch sagen? Sie konnten vor Erregung kaum atmen. So still saßen sie beieinander, dass selbst das Ticken von Onokis Tischuhr ungewöhnlich laut klang. „Gehen wir!" meinte Onoki schließlich. „Ja, gehen wir!" rief Furukawa wie ein Echo, obgleich er nicht wusste, wohin. Aber er fühlte, dass sie jetzt auf dem richtigen Wege waren.
Sie schritten durch die Gasse hinter dem Güterbahnhof von Kami-Suwa, überquerten eine Allee und gelangten auf die hellerleuchtete Hauptstraße. Hier blieb Onoki eine Sekunde lang stehen, sah sich um und setzte seinen Weg fort. Offenbar wusste er genau, wohin sie sich wenden mussten. Wieder kamen sie durch eine dunkle Gasse und machten gleich darauf vor einem villenartigen Hause halt. „Wir sind da."
Neben dem Eingang schimmerte im Halbdunkel ein neues weißes Schild mit der Aufschrift „Bezirkskomitee der Kommunistischen Partei von Süd-Schinano".
„Geh voraus!" Ikenobe stieß Furukawa mit der Schulter an, als sie den Vorraum betraten. Schiro wollte der Aufforderung Folge leisten, besann sich aber eines andern und schob Onoki vor. „Los, du! Du bist älter als ich."
„Was redest du nur für Unsinn? Ganze drei Tage!" rief Onoki.
Da wurde eine Tür geöffnet, und helles Licht fiel in den Vorraum. Ein junges Mädchen in gelbem Kleid erschien auf der Schwelle. Nun gab es kein Zurück mehr - Onoki ging auf sie zu.
„Aus welcher Fabrik kommen Sie?" fragte das Mädchen freundlich. Es war dasselbe junge Mädchen, das im Frühjahr, als noch Schnee lag, am Bahnhof von Kami-Suwa die „Akahata" mit der Karikatur des Kriegsverbrechers Hirohito verkauft hatte.
„Oho, wen sehe ich da?" In der Tür tauchte der Inhaber der Buchhandlung „Rote Mütze" auf, bei dem Furukawa das „Wörterbuch der sozialpolitischen Terminologie" erstanden hatte. „Ach so, ich verstehe... Kommen Sie doch herein. Ehrlich gesagt, ich habe Sie schon lange erwartet. Ich habe mir gleich gedacht, dass Sie herkommen werden."
Der kahlköpfige Mann lächelte. „Ich mache Sie gleich mit unserem Sekretär bekannt."
Sie folgten dem Buchhändler, durchschritten ein Zimmer, in dem einige Männer offenbar eine Sitzung abhielten, und betraten ein zweites. Ein untersetzter, alter Mann trat durch eine andere Tür ein.
„Kodschima Schotaro", stellte der Buchhändler vor. „Kommen Sie hierher... Bitte, eine Tasse Tee..." Er gab dem alten Mann die drei Anträge. Der Alte setzte eine Brille mit dicken Gläsern auf und begann zu lesen.
Dieser gebückte Greis in der abgetragenen Wolljacke war der älteste Kommunist im Bezirk. Sie hatten schon von ihm gehört.
„Na schön, als Bürgen können wir vielleicht Kobajaschi Massarukun und Kodanakun vorschlagen."
Die Freunde hatten überhaupt nicht daran gedacht, dass sie Bürgen haben müssten.
Der alte Mann las ihnen laut das Parteistatut vor. Er sagte, dieses Statut sei nicht einfach eine Reihe von Worten, die auf dem Papier stünden, sondern es sei das Ergebnis langer Erfahrung, die man im Kampf gesammelt habe, in einem Kampf, dem viele Kommunisten in Japan und in der ganzen Welt zum Opfer gefallen seien. Dann reichte er jedem eine Schale Tee und fuhr lächelnd fort: „Die Kommunistische Partei - das ist keine Partei, in die man beliebig eintreten und aus der man, wenn es einem passt, wieder austreten kann. Die Kommunistische Partei ist die Partei, die sich die Befreiung der Menschheit, die Beseitigung der Ausbeutung zum Ziel gesetzt hat. Jeder, der in diese Partei eintritt, muss ihr seine ganze Kraft und sein Leben widmen."
Die Freunde vergaßen, ihren Tee zu trinken. „Glauben Sie also nicht, dass Sie mit dem Eintritt in die Partei schon wer weiß was vollbracht hätten. Ihre Aufgabe beginnt jetzt erst. Nicht wahr, Genossen? Lassen Sie uns gemeinsam und voneinander lernen..."
Als die Freunde wieder auf der Straße standen, seufzte Furukawa tief auf, als hätte er die ganze Zeit den Atem angehalten, und schrie: „Hurra!" Onoki und Ikenobe brüllten ebenfalls „Hurra!", und alle drei stürmten davon.
Ihre freudige Erregung wurde immer stärker. Nun waren sie Kommunisten! Sie wollten es kaum glauben! Von heute ab, so schien es ihnen, waren sie für alles verantwortlich, was um sie herum vorging: für die Lokomotive dort, deren Lampen beim Rangieren aufleuchteten, für das Häuschen des Polizisten, der den Straßenverkehr regelte, für das Bahnhofsgebäude, für die Arbeiter, die mit vereinten Kräften einen Güterwagen auf ein Abstellgleis schoben, für die Leute auf der Straße und für die Händler mit den Bauchläden, die sich im trüben Licht einer Laterne drängten.
All das war nur eine kleine, abgelegene Stadt in den Bergen; aber wie dieses Städtchen ein Teil der ganzen Welt und mit der ganzen Welt verbunden ist, so sind auch die Kommunisten aller Länder miteinander verbunden. Die drei Freunde rückten unwillkürlich dichter aneinander. Seit ihrer Lehrzeit hatten sie zehn Jahre lang wie Brüder zusammen gelebt, aber noch nie hatten sie sich einander so nahe gefühlt wie in dieser Minute.
Im Fabrikheim erfuhren sie, dass Nakatani noch nicht zu Hause sei. Das Ergebnis der Besprechungen mit dem Vorstand der Company über die Frage der
Rückführung des Betriebes sollte im Laufe der Nacht bekanntwerden, und Nakatani war im Werk geblieben, um das Telegramm in Empfang zu nehmen. Alle drei liefen wieder auf die Straße.
Sie hätten ohnedies vor Aufregung nicht schlafen können.
Sie beschlossen, nach Okaja zu fahren, um Nakatan oder Araki alles zu erzählen. Vorher würden sie ja doch keine Ruhe finden.
„Bist du nicht müde?" fragte Ikenobe, als sie in Okaja ausstiegen, und legte den Arm um Furukawas Schultern.
„Woher denn! Heute ist doch ein ganz besonderer Abend!" rief Onoki, bevor Furukawa antworten konnte.
Arm in Arm schritten sie die mondbeschienene Sumikurastraße entlang. Furukawa dachte nicht mehr an seine Krankheit und fühlte keine Müdigkeit.
Ein leichter, nebliger Dunst lag über der Asphaltchaussee, und der vertraute Weg kam ihnen in dieser Nacht neu und unbekannt vor.
„Bist du nicht zu früh aufgestanden?" fragte Nakatani, als er vor die Tür des Gewerkschaftsbüros trat und Furukawa mit den beiden andern erblickte. Hinter Nakatanis Rücken tauchte die hohe Gestalt Arakis auf. Er hatte die Hände in den Hosentaschen, lächelte und schwieg. Er schien etwas zu ahnen und musterte forschend die Gesichter der jungen Burschen. „Wir sind in die Kommunistische Partei eingetreten!"
Nakatani riss erstaunt die Augen auf. Araki streckte ihnen die Hand entgegen.
„Prachtjungs! Das habt ihr gut gemacht!" rief er und drückte Furukawa fest die Hand. „Ich habe mich auch entschlossen... aber ihr seid mir zuvorgekommen. Na, dafür werdet ihr jetzt meine Bürgen."
Furukawa klatschte begeistert in die Hände.
„Kommt!" schrie Onoki und schüttelte wild den Kopf. Alle drei stürmten weiter.
„Wohin?" rief ihnen Nakatani nach.
„In den Wald hinauf! In den Wald!" Sie hatten das Verlangen, so hoch wie möglich zu steigen. Oben traten sie auf die Lichtung hinaus und blieben Schulter an Schulter stehen.
Der Mond hing genau über dem Jagatake. Der Wind hatte sich gelegt, und das Wasser des Suwasees schimmerte in weichem, goldigem Glanz. Die Berggipfel leuchteten silbern, und die Schluchten und Falten waren in Nebel gehüllt. Schwarz hoben sich die Fabrikschornsteine am Seeufer gegen den hellen Hintergrund ab.
„Furukawa, schrei ,Hurra'! Du hast als erster davon gesprochen, nun gib auch das Kommando!"
Sie wandten ihre Gesichter den dunklen Betonschornsteinen zu. In dieser Fabrik, die auf ein halbes Jahrhundert Geschichte zurückblicken konnte, waren sie - Ikenobe, Furukawa und Onoki - die ersten drei Kommunisten.
Vor Erregung traten Ikenobe Tränen in die Augen. Alle drei hoben die Hände: „Es lebe unser Tag!" -„Es lebe die Kommunistische Partei Japans!"