Sunao Tokunaga - Die Straße ohne Sonne (1931)
http://nemesis.marxists.org

Handelnde Personen

Mitglieder der Streikleitung:
Hagimura
Takagi, Vorsitzender
Matzusaki, Kassierer
Yshisuka, stellvertretender Vorsitzender
Matsuo, Sekretär
Yamamoto
Yamaura
Kamei
Terraishi Nagata
Ando
Oshima
Matsusawa
Yatsuo, Watamasa, Nakai (illegale Streikleitung)
Oda, Vorsitzender der Hyogikai (Rat der japanischen revolutionären
Gewerkschaften) Tarui, Rechtsanwalt (Mitglied des Zentralkomitees der Rodosha Nomin
To, Arbeiter- und Bauernpartei)
Mitamura, Führer der Druckereigewerkschaft Osaka Rabekawa, Mitglied des Zentralkomitees der Hyogikai Ujenojama, Tsurumi, Verhandlungsbeauftragte

Genossenschaftler:
Hirovka, Sekretär des Genossenschaftsverbandes der Provinz Kanto
ito, Sekretär der Genossenschaft "Kyodasha Koishikawa"
Streikende Arbeiter:
Miatsi, Moriya, von der S. -Abteilung
Kuroiva
Kakekawa
Morohachi, Makabayachi, Gruppenleiter
Matsumoto, Sekretär des Streikbüros
Kindo, Gruppenleiter (Rechter)
Keko, Kiko, Santjan, Jungarbeiter
Heso Hisachita (Hetjan), Lehrling
Kijose, Tomitjan, Kuriere, Schriftsetzer

Streikende Frauen:
Robuko Oja (Robu-tjan, die ''ewige Jungfrau), Vorsitzende
Matsui Shirajama (Matjan, die "Rothaarige")
Takae Haruki (Taka-tjan), Buchbinderin
Okayo Haruki (Kayo-tjan), Buchbinderin
Ogin-tjan, Ablegerin
Fusa-tjan, Buchbinderin
Okimi (Kimi-tjan), Buchbinderin
Sen Ogawa, Streikbrecherin
Matsu Takahachi, Koto Matsuyama, Mutsu Tokura, Streikzellenmitglieder

Arbeiterfrauen:
Otatso, die Alte
Matsudaros Großmutter
Frau Kiko
Frau Gentjan
Die "Nachbarin aus dem Eisland"
Industrielle und Schiedsrichter:
Ynoshita, Stadtverordneter, Direktor der Orientklischeeanstalt,
Vertreter des Druckereiunternehmerverbandes Senso Minayama, Direktor der Tokio-Technik-Druckerei Matsumoto, Direktor der Zeitschrift "Damenwelt" Kunio, Direktor des Yamato-Kodan-Verlags Okawa, Inhaber der Daido-Druckerei, Mitglied des Oberhauses, Leiter des Mitsuifinanzblocks Furuya, Direktor der Daido-Druckerei
Kuroda , Personalchef der Ost-Papierfabrik im Okawa-Trust Baron Shibusaka, Vater und Sohn, Konkurrenten des Okawa, Leiter des Mitsubichi Finanzblocks

Kleinbürger:
Takekawa, Hausbesitzer
Adatji, Besitzer einer Druckereiwerkstatt
Muroto, Polizeidirektor Yoshida, Werkmeister Takayama, Spitzel

 

DAS FLUGBLATT

Die Straßenbahn hielt an, Autos wurden jäh gebremst - Lastwagen und Beiwagenmaschinen, die eben noch über die Straßen rasten, stoppten und standen in einer langen Reihe. "Was gibt's?" "Was ist los?"
Die grelle Sonne, die durch den Straßenstaub brach, brannte auf den Gesichtern der sich zusammenballenden Menschen. Die Massen wogten von rückwärts heran wie Kaulquappen. "Eine Parade! Der Prinzregent mit seinem Gefolge fährt zum Seminar. " Flüsternd wurde die Nachricht blitzschnell nach allen Seiten weitergegeben. Die Autos stoppten ihre Maschinen, der Lärm brach ab. Die Leute zogen die Hüte.
Nach ungefähr einer Viertelstunde sahen die in der vordersten Reihe und hinter der goldstrotzenden Uniform eines Polizeileutnants und den salutierenden Händen der Polizisten fünf Autos, die lautlos wie auf einem Filmstreifen vorüberfuhren. An der lackschwarzen Karosserie glänzte im staubigen Licht das kaiserliche Wappen, die goldene Chrysantheme, und blendete, einen Sonnenstrahl brechend, die Augen. Aber die Leute in den hinteren Reihen sahen nur die Mützen der Polizisten. Die Absperrung wurde aufgehoben. Wie ein Strom sprengten die Menschenwellen die Schleusen.
" Au, Teufel, gib doch acht, "schrie in diesem Augenblick ein Mann, der einen japanischen Überwurf (Anm.: Kreisrunde Pellerine, in die für den Kopf ein Loch geschnitten ist.) trug. Ein anderer, mit einem gelben Regenmantel bekleidet, hatte ihn getreten und vor die Brust gestoßen. "Was soll das?"
Einige Leute, die der rücksichtslos Vordrängende gleichfalls gestoßen oder getreten hatte, schrien mit. Der mit dem japanischen Überwurf schob seinen starken Arm vor und packte den andern am Zipfel seines Mantels.
" Verhaftet ihn!" rief der so Angegriffene, und reckte seine rechte Hand über die Menge. "Verhaftet ihn!" Brüllend mühte er sich, gleichsam in der Masse schwimmend, den Angreifer zu erreichen. Im selben Augenblick flatterte eine Menge weißer Papierblätter über allen und fiel langsam auf die Köpfe nieder. "Das war dieser Arbeiter - man soll ihn verhaften!", schrie der Mann, der wie ein Kommissar aussah. Erstaunt ließ der im' japanischen Überwurf den Rock des anderen los; da sprang schon ein uniformierter Polizist vor und gab ihm einen Fußtritt. Er schrie auf. Um sie stieß sich die Menschenmenge. Der Spitzel fiel über ein gestürztes Fahrrad und über ihn hinweg ein Teil der Leute. Man schrie: "Koreaner!"(Anm.: Die Koreaner gelten, als nationale Minderheit, im japanischen Bürgertum als aufrührerisches Element.) "Nein, ein Sozialist!"
Polizei und Zivilbeamte rannten umher und drängten die Massen zurück. Den Arbeiter konnten sie aber nicht wiederfinden. "Habt ihr die Blätter, die eben geworfen wurden, beschlagnahmt?" fragte keuchend der Mann mit dem gelben Mantel die Polizisten. "Ich habe keine mehr gesehen. " "Ich auch nicht." "Unmöglich! Dummheit!"
Bös und unzufrieden wollte er sich umdrehen. "Ach, da ist eins"
Eine alte Frau, die gestürzt war, wollte mit dem Papier ihre Kleider reinigen. "Das ist es!"
Um die ahnungslose Alte drängten die Menschen. Ein Zivilbeamter riß der Frau das Flugblatt aus der Hand.

An die lieben Bürger vom Verwaltungsbezirk Koishikawa und alle Bürger Tokios!
Wir 3000 streikenden Arbeiter von der Daido-Druckerei, mit unseren 15000 Familienmitgliedern, kämpfen schon 50 Tage gegen den Großkapitalisten Okawa, der in gemeinster Weise 38 Schriftgießer entlassen hat, um so die besten Kräfte unserer Druckereigewerkschaft zu vernichten und unseren 15000 Familienangehörigen den Mund vertrocknen zu lassen. Mit der stärksten Unterstützung des Hyogikai, des Rates der revolutionären japanischen Gewerkschaften und der anderen Arbeiterorganisationen werden wir bis zum Sieg gegen den großen Finanzblock des Okawa kämpfen und unser Bollwerk, das in der vordersten Reihe der japanischen Arbeiterbewegung steht, bis zum Tod verteidigen. Bürger des Verwaltungsbezirks Kotshikawa und Bürger Tokios, wir glauben, daß ihr an unserer Seite steht und das Recht der Streikenden unterstützen werdet.
Seiner privaten Interessen wegen ließ Okawa die 15000 Leute hungern, wurden die Händler der Straßen Tosaki, Hisakata, Hakusangoten in die Not gejagt. Okawa, der sich dieses Zustandes nicht schämt, soll endgültig geschlagen werden.
Wir bitten euch im Namen des Rechtes, daß ihr durch eure Unterstützung für uns und durch eure öffentliche Meinung diesen schamlosen Kerl beseitigen hellt und für unseren Sieg eintretet.
Oktober 1926.

Die Versamm1ung der streikenden Arbeiter der Da i do-Druckerei .
Die Kommission der sympathisierenden Bürger des Verwa1tungsbezirks Kotshikawa .

Die Augen des Kriminalkommissars sprangen über die Zeilen wie Vogel zwischen den Ästen. "Ja, das ist es. "
Er flüsterte mit den Polizisten ging in einen Laden, schleppte ein Fahrrad heraus und verschwand.
Die Sirenen der Autos lärmten wieder, die Straßenbahn setzte sich in Bewegung, aber die Massen blieben in Gruppen an der Straßenkreuzung stehen, wie schmutzige Flecken auf einer Kinderzeichnung. Angstvoll flüsterte man untereinander.
" Bestimmt wird heute noch etwas passieren."
" Wegen eines Blattes solchen Lärm zu machen. "
Von der Verkehrspolizei verjagt, stellten sich die Menschen unter die Vordächer der Läden und hinter die Briefkästen. "Es kommt - es kommt was!"
Ungeduldig knatternd kam eine Beiwagenmaschine mit dem Bezirkshauptmann herangeschossen. Der Bezirkshauptmann hatte den Säbel zwischen den Beinen. Die Maschine fuhr in weiter Kurve um den Platz. Ein Polizist sprang heran und legte salutierend die Hand an die Mütze. Der Hauptmann gab ihm hastig flüsternd seine Befehle und fuhr weiter in das Tor zum Seminar. Etwa zehn Minuten später kam in eiligem Lauf eine halbe Hundertschaft Polizisten, die vom Haupttor des Seminars bis zum Platz in zwei Reihen Aufstellung nahmen. Sie standen mechanisch und ausdruckslos und sahen aus wie gestellte Photographien.

 

II. Oben und unten

Der Prinzregent war in ausgezeichneter Laune. Als er in dem neuangeschafften Prachtsessel unter dem Baldachin saß und die Schule begrüßte, kamen dem streng kaisertreuen Schulvorsteher Tränen in die Augen.
Die Sonne des Herbstes schien warm und schön.
Seine Hoheit der Prinzregent trat unter Führung des alten Vorstehers in den Garten der Schule, um seinen Gedächtnisbaum zu pflanzen. Weit und hügelig streckte sich der Garten, in dessen Mitte ein großen Teich lag. Es gab viele Bäume in üppigem Grün, Kiefern, Fichten, Zedern, deren dicht verflochtene Äste ihr hohes Alter ahnen ließen. Über ein Tal, in dem kein Wasser floß, war eine Empfangsbrücke gebaut. In eleganten Vormittagsanzügen kamen die Zylinderhüte und Säbel der Begleitung hinter der Hoheit.
Mitten auf der Brücke blieb der hohe Herr plötzlich stehen. Der alte Vorsteher erschrak und sah den Prinzen an. Ein Adjutant sagte verbindlich zum Vorsteher:
" Schöne Aussicht, in der Tat. Ich dachte nicht, daß man in Tokio eine so schöne Landschaft sehen kann. "
Wirklich war die Aussicht von dieser Brücke nach Südosten so schön, daß sie den Aufenthalt seiner Hoheit wert war. In sattem Grün zog sich der Wald vom Grunde des Tals die Hügel hinan. Der alte Vorsteher begann zu erklären:
" Der vor Ihnen liegende Teil wurde zur Zeit der Dynastie Tokugawa angelegt. Vorn der Tempel des Fürsten Tokugawa, er wird Hak-san-Tempel genannt. Ursprünglich war er ein Landhaus des Fürsten. Auf der rechten Seite lag, meiner bescheidenen Meinung nach, das Haus des Prinzen Date und daneben das Haus des Großfürsten Abe!" Die Begleiter folgten dem Finger des Alten.
" Unterhalb des Waldes, am Abhang des Berges, liegt der botanische Garten, dort, wo ehemals der Kräutergarten Tokugawas war. Gerade gegenüber auf dem Berg, der sich bis hierher zieht, stand das Haus des Fürsten Matsudaira, heute Shimizudani genannt." Der Prinzregent, der mit großem Interesse die Erklärungen angehört hatte, unterbrach plötzlich den Vorsteher:
" Dann muß zwischen jenem Berg und diesem hier ein Tal liegen: ich möchte es gerne sehen!" "Wie Hoheit befehlen!"
Der Vorsteher erschrak tief und strich sich über die Stirn, die bis zum Wirbel kahl war. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und sagte entschlossen:
" Dieses Tal hieß früher Senkawa-Kanal. Der Kanal hatte klares Wasser, und das Ganze war von großem landschaftlichem Reiz. Aber jetzt hat man den ganzen Lauf des Kanals mitsamt den Ufern umgegraben, und an ihrer Stelle stehen heute Fabriken und vier Straßen. Etwa 30000 bis 40 000 Bürger wohnen in diesem Tale." Die Zylinderhüte wunderten sich. "Oho - hinter diesem Wald - so, so."
Auch die Uniformen wunderten sich - wenn sie ein Fernglas gehabt hätten, würden sie aus reinem Berufsinteresse festgestellt haben, wie groß der Raum war, den diese Quartiere hinter dem Wald einnahmen. Mit bloßem Auge jedoch konnte man das nicht feststellen. Zum Glück gab sich Seine Hoheit mit dieser Auskunft zufrieden und setzte ihren Weg fort. Der Vorsteher beruhigte sich. Selbst dieser alte Pädagoge, der von den Dingen dieser Welt sehr wenig erfuhr, wußte, daß in diesem Tal, das kaum eine Quadratmeile groß war, das schlimmste Armenviertel Tokios lag. Und er wußte auch, daß dieser früher so schöne Senkawa-Kanal heute alle schmutzigen Abwässer aufnahm, in der Regenzeit im Frühsommer und Herbst über die Ufer stieg und in die Häuser trat, so daß in dieser Zeit die 40000 Bürger ihre Betten unter die Decke hängen mußten. Unter ihnen gurgelte das stinkende Wasser.
Das Projekt, diesen Kanal zu verbessern, war immer ein gutes Objekt für die Referenten der Stadt- und Bezirksverordnetenwahlen. Es war aber im Rathaus noch niemals ernstlich in Angriff genommen worden, und deshalb waren in diesem Frühjahr die Mädchen dieses Viertels demonstrierend in das Rathaus eingedrungen. Der alte Vorsteher wußte das alles, und gerade deshalb fühlte er die ernste Gefahr des Streiks der Daido-Druckerei, die dort lag. Von Tag zu Tag hatte er die Entwicklung der Dinge kommen sehen: Es war zu erwarten, daß es noch an diesem Abend zu Gewalttätigkeiten kommen würde.

Die Sonne spielte von Berg zu Berg ihr Versteckspiel. Niemals kamen ihre Strahlen in das Tal. Die "Straße im Tal" war in Wahrheit "die Straße ohne Sonne". Die Senkawa-Rinne hatte vollkommen ihre alte Gestalt verloren. Über ihr hingen die kleinen Balkone der Arbeiterbaracken; auch die Küchen und die Aborte waren zum Teil über den Graben gebaut. Die Rinne wurde mit Aschehaufen, zerbrochenen Flaschen, Lumpen und Papier zugeworfen und bewies nur durch die periodischen Überflutungen ihre Existenz. Diese Senkawa-Kloake war die Mitte der Straße im Tal und gleichzeitig ihr Symbol. Je weiter man von ihr fort, den Abhang des Berges hinaufstieg, desto reicher wurden die Bewohner; es hieß gleichzeitig, daß man sich von dem schmutzigen Wasser entfernte und der Sonne näher kam. Hier war das Barometer, das die verschiedenen Klassen der Gesellschaft anzeigte. Die Meister und Angestellten fanden nichts Sonderbares daran. Denn auf der Spitze dos Hügels stand das Haus des Okawa neben den großen Häusern des Matsudaira, aus dem bekannten Adelsgeschlecht. Die Daido-Druckereigesellschaft lag in der Mitte des Senkawa-Viertels. Von ihrem Tor führte eine neun Meter breite Straße durch den Berghang mitten zwischen die Baracken: das war die einzige Hauptstraße dieses Viertels. An ihr lagen die Läden der Kleinhändler: Kleine Speisehäuser, Kneipen, Fischläden, Manufakturwarenhandlungen, Apotheken, Schnapsbudiken und die Kramläden, in denen alles zu haben war. Die Fischhändler und Kleinkrämer hatten nicht nötig, schon frühmorgens auf den Markt zu gehen. Auf den Märkten gibt es so früh keine Waren, die für diese Barackenleute passen. Die Händler kannten ihre Konsumenten und die Kaufkraft ihrer Taschen genau. Die Arbeiter verbringen den größten Teil des Tages in der Fabrik und müssen in den kurzen Nachtstunden alle dürftigen Freuden ihres Lebens genießen - essen, in der Kneipe den billigsten Reiswein trinken und in den öffentlichen Badehäusern den Alkohol wieder ausgären - das alles in diese kurze Stunde gedrängt, ist ihr normaler Tag. In kleinen zwölf Quadratmeter großen Kammern, in die kein Licht kommt, leben und schlafen fünf bis sechs Menschen einer Familie. Wenn die Schwester keinen Mann findet, oder der jüngste Sohn nicht in eine andere Familie heiratet, kann der ältere Bruder seine eigene Frau nicht in sein Haus
holen.
" Aber mein Lieber, es ist doch eine Schande, seine Familie auch
nachts noch mit seiner Frau zu belästigen!" Aber das ist kein Witz, das ist bitterer Ernst.
Die Minner und Frauen in der Fabrik kannten sich alle. Das Gemeinsame, das sie verband, war''die Liebe der Fabrik." Aber seit dem Beginn des Streiks fanden sich alle verändert. Sie sahen blaß und verwelkt aus. Die Fabrik war das Element ihres Lebens, die gewohnte Umgebung drückte allen denselben Stempel auf, so daß sie sich gegenseitig, schön fanden. Die Frauen trugen einen schwarzen Kittel und eine weiße Schürze, die Arbeiter ihre Arbeitskleider mit weißen Hemden -das sah bekannt und daher vertraut aus.
Aber jetzt hatten nicht nur die jungen Leute diese ermüdeten, gleichförmigen und schnell zum Zorn gereizten Gesichter. Und nicht nur die Menschen - die ganze Straße ohne Sonne, auch die Ziegelgebäude der Fabrik, die sehr böse und ganz leer und stolz aussahen. Die Kleinhändler der Hauptstraße, die Frauen in den Baracken und die umherziehenden Spielwarenhändler, die von den Groschen der Kinder lebten - alle
waren böse.
Sie fühlten, daß ihnen etwas in der Kehle steckte, sie waren sehr gehetzt, gereizt und ungeduldig. Sie wußten nicht, was es war. "Teufel nochmal, nieder damit!" Immer schienen solche Ausbrüche der Wut auf ihren Lippen zu liegen.

 

III. Bewohner

"Und deshalb Vater, sprich mit der Schwester, wenn sie zurückkommt, ich kann nichts dafür - -"
Okayo war in Bedrängnis, sie wartete sehnlichst auf ihre Schwester Takae. Obwohl Okayo sehr schüchtern war und keine Worte fand, den kranken Vater zu überzeugen, brachte sie es nicht über sich, diesen Streik zu verraten. Unwillkürlich mußte sie sich vor dem Vater, der mit zornblassem Gesicht bat und drohte, auf den Namen der Schwester berufen. Solche Macht hatte die ältere Schwester über den Vater. "Ausgeschlossen, diese Wahnwitzige würde nicht verstehen, was ich sage. Aber du, Okayo- -"
Das Gesicht des Kranken verzog sich vor Schmerz. Der Schmerz wütete in seinen Gelenken, die in der Kälte zitterten. Mit den Augen zwang er Okayo, die mit dem Kessel in die Küche wollte, zu bleiben. "Selbst du redest bei jedem zweiten Wort von Verrat und so - - aber das ist alles Unsinn - -"
Hartnäckig bestand der Kranke darauf, daß Okayo unbedingt in die Fabrik gehen müsse. Er wollte sein Versprechen, das er dem Meister Yoshida gegeben hatte, halten. Denn er hielt ihn für seinen Wohltäter. "Ich alter Mann und ihr Mädchen, wir müssen der Gesellschaft dankbar sein. Wir haben bis jetzt von dem Reis der Gesellschaft gelebt. Die tote Mutter dachte auch so und ihr müßt ebenso denken. " Okayo dachte an ganz andere Dinge - ich muß gleich Abendessen bereiten, die Schwester muß gleich zurück sein. Die Schwester ging mit anderen Mädchen in die Stadt als Wanderhändlerin, um für den Streik Geld zu verdienen.
" Na, wenn es soweit ist, werde ich Takae verstoßen und fortjagen. Wem du nur willst, wird Herr Yoshida dich morgen schon in der Fabrik einstellen, ohne daß die Leute, die streiken, davon wissen, hörst du?" "Um Gotteswillen - -"
Sie sah in die bösen Augen des Vaters und fühlte, wie ihre Liebe zu ihm schwand.
" Vater, dann hast du es dem Herrn Yoshida versprochen - ja?" Sie sah dem Vater scharf in die Augen und wollte aufstehen; ihre junge Stirn war blaß.
" Also, willst du nicht gehen?"
Der Kranke richtete sich mühsam auf und wollte das Mädchen am Kleid festhalten. Während sie sich voller Angst zurückzog, hörte sie Takae kommen und war sehr froh. Der Vater brummte böse. "Du bist mir die Richtige, so mit deinem Vater zu zanken. " Takae kam lächelnd herein, sie klopfte den Staub von ihren Strümpfen. Der Kranke war recht enttäuscht, wollte aber heute nicht, wie sonst immer zurücktreten. Böse sah er von Okayo zu Takae. "Draußen weht ein starker Wind... ach, ich bin so müde." Sie saß abgespannt und müde da, aber sie sagte mit betonter Munterkeit:
" In der alten Baracke ist es doch wärmer als draußen, sie ist ihre 15 Yen 50 Sen Miete wert."
Takae tat als hätte sie von dem Streit zwischen dem Vater und ihrer Schwester nichts gemerkt.
" Kayo-tjan, sei lieb und mach was zu essen, ich kann mich vor Huriger
nicht mehr bewegen."
Okayo wollte die Gelegenheit wahrnehmen, um aufzustehen und hinauszugehen.
" Bleib!" bellte der Vater. Okayo zögerte.
" Was ist denn mit euch, was habt ihr?"
Wenn man ihn so fragte, konnte er nicht in dem Ton weiterbrüllen. "Was hast du denn, Kayo-tjan, du siehst so mutlos aus?" Takae war nur drei Jahre älter, aber sie hatte an Okayo Mutterstelle
vertreten.
" Vater hat sicher wieder angefangen zu jammern. Laß ihn nur. Man muß
nicht böse werden, wenn er ein bißchen irre denkt."
Okayos Mund verzog sich unwillkürlich zu einem Lächeln.
" Was - du verrücktes Weib, du bist selbst irre und du verachtest deinen
Vater."
Der Kranke schrie, nahm die Teetasse, die neben seinem Kissen stand und warf sie nach Takae. Die Tasse traf das Ohr des Mädchens und fiel auf den Boden.
" O weh!"
Sie griff mit der Hand an ihr Ohr, aber sie regte sich nicht weiter auf. "Vater, ich verachte dich gar nicht, ich habe es gewiß nicht so gemeint. Aber du solltest mich auch nicht verachten."
Okayo ging in die Küche, um das Abendessen zu machen. Takae sagte, während sie ihre Waren, Seife und Federhalter ordnete: "Hör mal, Vater, du denkst falsch. Jedes zweite Wort das du schreist, ist wahnsinniges Weib. Die Zeiten haben sich heute geändert gegen damals, wo dich der vorige Besitzer so 'geliebt' hat und du deine Hand in der Schneidemaschine verloren hast."
Takae streichelte ihr schmerzendes Ohr und fuhr leise fort: "Für dich sehen wir vielleicht wahnsinnig aus. Von unserer Seite aus aber, muß ich leider sagen, bist du ein bißchen garstig und komisch." Der Kranke warf sich herum und drehte sein Gesicht der Wand zu. Dann wurde Licht angezündet und Okayo stellte einen kleinen Eßtisch neben den Kranken. In gewöhnlichen Zeiten erklangen, wenn die Lampen angezündet wurden, die Glocken der Fabrik, die Gegend wurde lebhaft und lärmend - die Arbeiter kamen aus der Fabrik in die Baracken, als würde eine Herde in den Stall getrieben; dann schrien die Säuglinge und die Frauen schalten. Aber jetzt wurde der Tag dunkel und hell und lautlos, wie eine Kuckucksuhr mit zerbrochener Feder. Leer, müde und unzufrieden. "Hast du viel verkauft?" Okayo setzte sich neben ihre Schwester und nahm ihre Stäbchen. Vorher
hat'? sie dem Vater Essen gegeben.
" Nicht besonders. Man verkauft jetzt so immer dieselbe Menge. Die Leute sind schon an uns gewöhnt. "
" Dann bleibt doch lieber bei dem Geschäft, als daß ihr wieder Buchbinderinnen spielt. Ausgesperrt seid ihr so oder so -vielleicht tut ihr euch fünf oder sechs zusammen. "
" Wenn wir dabei singen und trommeln, dann sehen wir gerade so aus -" "Wieso?"
" Wie die Kinder aus dem Waisenhaus. "
Sie fingen an zu lachen, aber das Lachen hatte einen bitteren Beigeschmack. Besonders Okayo konnte ihr Lachen nicht verbeißen. Solch ein Mädchen von achtzehn Jahren lacht schon, wenn sich nur die Blätter am Baum bewegen; solch ein Mädchen, das noch jeden Tag schöner wird. Okayo hatte ein weißes, wohlgeformtes Gesicht. Wie Takae die Schwester ansah, schien ihr, das Mädchen müsse immer glücklich bleiben, und dabei fiel ihr etwas ein. "Heut' hab' ich Miatji getroffen." "Wo?"
Okayo hob den Kopf.
" In Dosaka im Hongo-Bezirk, mit vier oder fünf anderen zusammen, Hagimura war auch dabei. Die anderen kannte ich nicht, aber ich glaube, sie gehören alle zu einer S-Abteilung." "So? Was machen sie eigentlich?"
" Ich weiß es auch nicht. Die Sachen der S-Abteilung sind streng geheim." "Machen sie etwas Gefährliches?" Okayo glaubte, die Schwester wisse Bescheid.
" Ich weiß es nicht------"
Selbst die einzelnen Streikleiter wußten es nicht. Und wenn sie es wußten, würden sie nicht darüber sprechen. Die Arbeit der S-Abteilung soll geheim bleiben. Takae hatte aber schon wieder den ernsten Ton aufgegeben:
" Und Miatji hat naoh dir gefragt. " "Ach."
Sie wurde rot.
" Und da haben die andern ihn gehänselt, und Miatji war ganz verlegen." Takae wußte längst, daß Okayo und Miatji sich liebten. Der Gedanke an die Entwicklung dieser Liebe, von der schon die anderen Arbeiter redeten, beunruhigte sie. Ein wenig Eifersucht war dabei und sehr viel schwesterliche Liebe.
Die beiden hatten ihr Essen verzehrt. Unversehens war das Geplauder verstummt. Sie gingen zusammen in das öffentliche Bad. Takae machte sich Vorwürfe , weil sie der Schwester so zugesetzt hatte. Okayo wurde nach derartigen Gesprächen immer sehr lebhaft und schminkte sich lange vor dem Spiegel. "Vielleicht bin ich auch in Miatji verliebt - -."
Takae mochte nicht daran denken. Sie verließ vor der Schwester das
Bad.
Auf der Senkawa-Brücke standen fünf oder sechs junge Männer. Eigentlich war es schon zu kalt, um sich auf der Straße zu treffen, aber sie hatten sonst keinen Raum, in dem sie sich versammeln konnten. "Hallo, Taka-tjan, hast du gebadet?" rief ein Junge in gelber Matrosenhose und Arbeiterbluse, die Mütze schief über das Ohr gezogen. "Wer bist du denn? Ah, der Ke-ko, du bist der Richtige!" Sie gab dem Burschen die Hand, mit der andern nahm sie ihm seine
Mütze fort.
" Oha, warte, Taka-tjan, du darfst sie nicht in den Graben werfen!" Ke-ko spitzte vor Verlegenheit den Mund. Die andern amüsierten sich und klatschten in die Hände.
" Schadet nichts, die Mütze ist so schon schmutzig. Kauf dir eine bessere, wenn du eine Freundin willst."
Takae in ihrer Ausgelassenheit mußte sich selbst mit dem Siebzehnjährigen necken. Ke-ko sprang zu und ergriff sie am Arm. "Was, du willst mit mir raufen? Komm doch heran!" Takae hatte seinen Hals mit beiden Händen gefaßt und schüttelte ihn. "Ke-ko, Kerl, du hast Glück", riefen lachend die andern. Takaes Arme entblößten sich bis zur Schulter und leuchteten in der
Dunkelheit.
" Guten Abend."
Okayo trat hinzu.
" O, hast du dich schön gemacht, gib mir deine Hand", näherte sich
ihr ein Junge. "Hör bloß auf."
Okayo hatte seine Hand zurückgestoßen und ging zu Ki-ko, der ein bißchen närrisch mit einer Mundharmonika vor dem Mund dumm vor sich
hinlächelte.
" Spiel uns eins------"
" Vielleicht 'Karabon'."
Ki-ko begann zu spielen, zwischen seinen vorstehenden Zähnen hielt
er das Instrument.
" Hör auf damit, hör auf. Spiel lieber das rote Fahnenlied", rief Takae,
die immer noch Ke-ko am Hals hielt.
" Ja natürlich, das Lied von der roten Fahne."
Sie gehörten alle zu den Streikenden und waren aus verschiedenen Gruppen.
Das schwarze Wasser des Senkawa-Kanals floß langsam und träge abwärts, auf seinem Grunde leuchtete eine Porzellanscherbe oder ein Flaschenhals, ein Fischkopf trieb auf dem Wasser. Am Himmel stand die Mondsichel angenagelt, wie auf dem Hintergrund eines Theaters. "Rote Fahne, Fahne der Massen------."
Tief und stark klang die Melodie durch die Nacht, unter der Tausende von Baracken schweigend und gedrückt lagen.
Am Ende der Barackenreihe standen die Ziegelgebäude der Fabrik, wie das Teufelsschloß im Märchen. Das war der Punkt, gegen den die Jungen ihr Lied schmetterten.
Feiglinge geht,
wenn ihr wollt------"
Die Jungen und Mädchen auf der Brücke schlugen lebhaft mit der Hand die Melodie und stampften den Takt auf den Brückenbohlen. Ki-ko spielte weiter, bis ihm der Speichel vom Munde floß.

 

Zwei Lager

Das Fest der Streiker

"Der mit großer Erbitterung geführte Streik der Daido-Druckerei in der Hisakatastraße im Bezirk Kotshikawa hat noch kein Ende gefunden. Seit der Sperrung der Fabrik dauert er bereits über 50 Tage. Aber die 3000 Streikenden halten noch immer fest zusammen. Der Hyogikai, der Rat der revolutionären Gewerkschaften, sammelt in allen angeschlossenen Verbänden Japans Gelder für den Streikfonds. Es scheint, daß die Streikenden trotz der strengen polizeilichen Absperrungen Hilfe aus Osaka und Hokaido erhalten. Die Gesellschaft hat ihr Verhalten geändert. Seit die letzten Verhandlungen gescheitert sind, beabsichtigt die Daido-Druckerei, alle linksstehenden Arbeiter rücksichtslos auszusperren. - Dadurch erleiden die Kleinhändler in der Nähe der Fabrik den größten Schaden. Dieser Streik wird die wirtschaftliche Lage der Straßen gefährden. Deshalb suchen die von den Straßenanwohnern gewählten Vertrauensleute nach einem Ausweg aus dieser Lage." In allen Zeitungen Tokios wurde dieser Artikel gebracht: "Tokio Nichi", "Nichi", "Asahi", "Yomiuri", "Hochi", "Tomai". (Anm.: Die bürgerlichen Zeitungen Tokios) Die Bürger von Tokio hatten mehr zu tun, sie hatten keine Zeit, sich über derartige Artikel, die zwei, drei Tage hintereinander in fetter Schrift vor ihren Augen erschienen, Gedanken zu machen. Wichtigere Ereignisse nahmen ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Wahl zum Parlament! Schwankungen in der Regierungspartei! Plötzlich wie rote Signale aufspringende Zusammenbrüche der Wirtschaft! Und täglich mehr und anderes.
Wenn der gute Bürger von Tokio nicht an chronischer Gedächtnisschwäche leiden würde, konnte er dabei leicht irrsinnig werden. Aber zu seinem Glück vergaß er selbst die größten Ereignisse, die um ihn wirbelten, wie die Tageszeitung in der Straßenbahn. Er arbeitete und schuftete, er lief an diesem schönen Herbstvormittag herum, wie jeden Tag.
Wirklich, es war ein sehr schöner Vormittag.
Vom Tempeltor bis zum Friedhof des Gokoku-Tempels sammelten sich fröhlich lärmend die Streikenden der Daido-Druckerei. Von der ersten bis zur siebenten Gruppe, mit Ausnahme der vielen Gruppen der S-Abteilung, der Vermittlungsgruppe und Fouragegruppe, versammelten sich ungefähr 2700 Arbeiter auf dem freien Platz, um ihren Kampf mit neuem Mut aufzunehmen.

Das gefallene Herbstlaub auf dem Hügel hinter dem Tempel und der Tempelgarten lagen im Rauhreif. "Gen-tjan - willst du nicht mein Partner sein?"
Ein Mädel mit Backen wie ein runder Reiskuchen und Beinen wie dicke Reisweinflaschen, rief einen Arbeiter an, der neben ihr stand und vor Aufregung die Füße nicht ruhig halten konnte.
" Nein, das will ich nicht. Wenn ich so einen dicken Popo tragen soll, werde ich zusammenbrechen, ehe ich ans Ziel gekommen bin." Das war nicht gerade liebenswürdig. "Haha, du dummer Schlappschwanz."
An einem Baum, inmitten des provisorischen Sportplatzes hing ein Zettel: "Blindes Pferderennen. Ausgewählt aus allen Gruppen." Unter der Sonne, die sie nicht oft zu sehen bekamen, leuchteten die blassen Gesichter der Arbeiter und Arbeiterinnen vor Freude. "Die Männer sind mit verbundenen Augen die Pferde, die Frauen sind die stummen Reiter. Habt ihr verstanden? Wir geben für die Sieger drei Preise. Jeder Preis ein Dutzend Handtücher. Habt ihr verstanden!' Die Komiteemitglieder bestimmten jedesmal je drei Paare, die dem Spielleiter zu melden waren.
Einer rief schreiend mit einem Megaphon herum. Die Leute hatten keine Ahnung von Sport. Besonders Stafettenlauf war allen unbekannt. Sie hielten das vielleicht für den Namen einer ausländischen Medizin. Aber "Blindes Pferderennen" kannten alle.
Auf der linken und rechten Seite bildete sich eine etwa 400 Meter lange Menschenmauer. Alle Augen leuchteten heute; die Massen hatten sich mit der Sonne angefreundet. Abgelegte Blusen und Haoris hingen auf den Ästen oder lagen auf den Steinen umher. In weitem Kreis umstanden uniformierte Polizisten und lauernde Zivilbeamte den Platz. Meist wurde ein Liebespaar als Partner zum blinden Pferderennen ausgewählt. Da sah man einen mageren Arbeiter, einer durstigen Frühlingsblume ähnlich, der ein dickes Mädel trug und unter der Last keuchte.
"Achtung! Eins. Zwei. Drei. Los!"
Eine rote Signalfahne schlug herab; sie rannten los, unsicher wie kleine Kinder, die Laufen lernen. Aufgeregt durch die Signale und Zurufe lief das 'Pferd' blind und hilflos in die Menschenmauer, die Reiterin riß vor Schreck ihre Augen weit auf und lenkte das 'Pferd', indem sie heftig an den Ohren ihres Partners zog.
Wenn die Paare zusammenstießen und stürzten, kamen meist gleich zwei Pferde mit ihren Reiterinnen zu Fall. Das Pferd machte sich am Boden staubig, die Reiterin kugelte herunter, daß man ihr rotes Unterzeug sag. Jubel und Heiterkeit, Händeklatschen und Zurufe. Dadurch angespornt fing eine Tapfere ihr blindes Roß, das sie, ohne sich abzustauben, wieder bestieg.
Etwas abseits von den andern stand Hagimura im Schatten des Tempelturms auf dem Hügel. Hagimura war der Verantwortliche der heutigen Veranstaltung. Zwei Genossen riefen ihn an.
Es waren Yamamoto von der Gewerkschaftsleitung und Yshisuka, der zweite Vorsitzende vom Streikkomitee. Sie verlangten, man solle die heutige Versammlung zu einer Demonstration benutzen. "Das ist unmöglich", sagte Hagimura, nachdem er Yshisukas Gestotter angehört hatte. Bei der ungenügenden Schulung der Arbeiter ist das, trotz der guten Gelegenheit, taktisch unklug. Außerdem hätte er keinen Befehl von der Gewerkschaftsleitung, das sei wieder nur so ein ausgefallener Vorschlag. Sein Gesicht drückte offen Mißfallen aus und er sah scharf auf den kleinen Mann, der mit schiefem Gesicht lächelte. "Warum! Weil wir keinen Auftrag von der Gewerkschaftsleitung haben?" fragte Yshisuka. "Wenn die Gelegenheit so gut ist, muß man doch eine Demonstration machen."
Yshisuka wandte sich um und suchte Zustimmung bei Yamamoto, dem er ein Zeichen machte.
Yamamoto lächelte finster und sagte mit einem sonderbaren Ausdruck in den Augen: "Ich habe schon gehört, daß du ängstlicher geworden bist. "
Der Junge in den zwanziger Jahren schlug bei allen Unterredungen immer einen vorlauten, altklugen Ton an. Hagimura betrachtete ihn schweigend. Als er hinter dem Turm Schritte hörte, nahm er eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie an. Die Schritte gingen vorbei.
Hagimura zwang sich, nicht empfindlich zu sein. Seit Yamamoto Berufsrevolutionär geworden war, gab es mit ihm, mit dem er sonst in der Fabrik gut zusammengearbeitet hatte, immer gefühlsmäßige Differenzen, wenn nicht über Theoretisches geredet wurde. ' Dann wollen wir also die Leiter der Gruppen versammeln und ihre Meinung hören", sagte Yshisuka. Yamamoto lächelte immer noch. So ein Beschluß, ohne die Organisation zu fragen, ist wirklich unmöglich, dachte Hagimura.
" Ausgeschlossen", sagte er. "Ich bin absolut dagegen. Ich trage die Verantwortung der obersten Leitung gegenüber. Und außerdem gefällt mir eure hinterlistige Taktik nicht." Er sagte das schneidend und
wandte sich ab.
" Mach dich nicht groß, du Bonze", zischte Yshisuka, seine Gesichtsfarbe hatte sich verändert. "Was?"
Er drehte sich zu ihm. "Hör auf damit!" Yamamoto faßte Hagimura am rechten Arm und wollte ihn beruhigen,
aber der schüttelte die Hand ab und ging fort.
" Feigling", schrie Yshisuka hinter ihm her. Er ging, ohne sich no?h einmal umzudrehen, zu den Massen hinüber.
" Hallo, Hagimura, willst du nicht blindes Pferd sein?" rief ein Gruppenleiter ihm zu. "Gern, ich mache mit."
Er ging zur fünften Gruppe, zu der er gehörte, um sich eine Partnerin zu suchen. Aber er konnte da keine Bekannte finden, weil er wegen seiner Tätigkeit selten in die Gruppe kam. "Wer will von mir getragen sein?" Als er seine Jacke auszog, kam Takae.
" Ich will auf dir reiten." Sie stand in Strümpfen auf der Erde, ihre Backen waren gerötet. "Bravo, ihr beide seid ein schönes Paar."
Neben ihnen klatschten die Leute in die Hände. Als er am Start mit verbundenen Augen herumgedreht wurde, hatte er alles vergessen und sein
Gesicht wurde warm.
" Noch nicht - noch nicht, ich sage, noch nicht", schrie der Spielleiter
heiser hinter ihm.
Takae, die er für leicht gehalten hatte, weil sie so schwach und abgemagert aussah, war nun, als er sie auf dem Rücken hatte, doch sehr schwer. Er trug sie auf den im Rücken verschränkten Händen, die vor Aufregung heiß und feucht wurden. "Bravo, Hagimura, du sollst siegen!" "Taka-tjan, halt dich brav."
Sein Trommelfell dröhnte, und wenn Takae an seinen Ohren zog, dröhnte es noch mehr. Er konnte sich vor Aufregung kaum besinnen, hörte den Lärm der Tritte, die Paare rannten los, er bekam einen Stoß in den Rücken und rannte hinterdrein. Er fühlte seine Beine unsicher in der Luft und stürzte unversehens über die voranlaufenden Pferde. Er war verwirrt, konnte sich nicht gleich erheben und hatte Sand in Mund und Nase. Unwillkürlich riß er sich die Binde von den Augen und sah Takae, die weiter vor gefallen war, sich ihr weißes Bein reibend, auf sich "Schnell, schnell", schrie Takae energisch, sprang auf seinen Rücken und er mußte mit schwitzender Stirne weiterlaufen. Plötzlich fühlte er sich am Arm gepackt. "Aufhören, Hagimura, aufhören!" schrie Takae.
Er zog die Binde von den Augen und sah zwei ihm wohlbekannte Polizeikommissare vor sich. "Was wollen Sie?"
Das klang, als sei er schlechter Laune, weil man ihn im Mittagsschlaf gestört hatte. "Warum verhaften Sie mich?"
Die Kommissare grinsten und zogen ihn schweigend fort. Er konnte es noch nicht begreifen.
Dieser eine Augenblick genügte, um die Stimmung auf dem Platz völlig zu ändern, die Menschenmauer brach auseinander, hier und da sah Hagimura Zusammenstöße mit Polizisten. "Sagen Sie, weshalb, warum verhaftet man mich?" Er versuchte, die Hände, die seine Arme nach hinten drehten, abzuschütteln. "Schuft!"
Der andere Kommissar sprang hinzu, ergriff seine linke Hand und riß ihm den Arm nach hinten.
" Gehen Sie weiter. Auf der Wache bekommen Sie Auskunft!" Er wurde vorwärtsgeschoben und konnte sich nicht wehren. Die beiden Polizisten hatten ihm beide Arme nach hinten gedreht. Er sah, wie sich seine Leute in Haufen drängten und einander zubrüllten. Sie kamen dicht geschlossen auf Hagimura zu, um ihn im Gedränge zu befreien.
" Halt! Wartet doch. Ich komme gleich zurück."
Er beruhigte sie, weil er fürchtete, daß sonst nur noch mehr Opfer in die Hände der Polizei fallen würden.
Vor dem Tempeltor hielten drei Autos mit offenen Mäulern. "Hagimura, deine Mütze."
Takae warf ihm über die Rücken der Knminalbeamten Jacke und Mütze zu.
" Na, deine Freundin ist ein hübsches Mädchen - was?"
Die Beamten ließen seine Hände frei und machten sich über ihn lustig,
während er seine Jacke anzog.
" Halten Sie den Mund!"
Er hatte das kaum gesagt, als er schon in eine Ecke des Autos gestoßen
wurde.
Als er vor der Polizeiwache den Wagen verließ, stieß er auf Takagi, den ersten Vorsitzenden des Streikkomitees, der mit einem Polizeiwagen aus der entgegengesetzten Richtung eingebracht wurde.
" Hallo!"
" Was soll das heißen?"
Takagi wollte etwas rufen, doch Hagimura konnte es nicht mehr hören,
weil sie gleich auseinandergerissen wurden------.
Auf dem Wege zur Zelle fühlte er, daß diese Verhaftung für den Streik von größter Bedeutung werden mußte.
In der Zelle war es so dunkel, daß er nichts sehen konnte. Er war vom hellen Tag in die Finsternis gekommen. - Wenn Takagi schon verhaftet war, mußte auch die anderen Leiter das gleiche Schicksal getroffen
haben.
Was hatte das zu bedeuten?
Als es sich an das Dunkel gewöhnt hatte, sah er neben sich einen jungen
Mann, der seinen Kopf im Halbschlaf an die Wand gelehnt hatte. Moriya
- einer von der S-Abteilung!
" Hallo!" (Anm.: In den japanischen Polizeigefängnissen ist es verboten zu sprechen.) flüsterte er, um die Wächter nicht aufmerksam zu machen.
In diesem Augenblick stieg eine Erinnerung in ihm auf, die er erst
jetzt zu verstehen begann: wie da draußen nach der Sitzung der Streikleitung ein Mann im Dunkeln seine Hand ergriffen und gedrückt hatte -
schweigend, und sofort hatten sie sich wieder getrennt - -. Er hatte damals an diesem Schweigen nichts Merkwürdiges gefunden. Es ist nicht erlaubt an solchen Orten und in solchen Zeiten viel zu reden. Ob dieser Händedruck irgendeine Bedeutung hatte? Abschied für immer?
Tod?

 

II. Zwei Besuche

Die Dämmerung drang durch das Zellenfenster. Hagimura hatte fast nicht geschlafen. Die ganze Nacht hindurch hatte er die eisernen Zellentüren auf- und zuschlagen hören. Deshalb konnten die Leute in den Zellen alle nicht schlafen, wenn ihnen auch endlich vor Übermüdung und vergeblichem Warten die Augen zufielen. Bald nachdem Hagimura in diese Zelle gebracht worden war, hatte man Moriya herausgeholt, er war nicht zurückgekommen. So hatte Hagimura den Grund ihrer Verhaftung nicht erfahren und ihm blieben nur Vermutungen. "Wenn nur wieder jemand hereinkommen würde." Er gähnte, reckte sich und legte sich wieder auf den Boden. Die Polizisten, die wegen erhöhter Alarmbereitschaft hier versammelt waren, mußten diese Nacht gleichfalls auf der Wache zubringen. Sie drängten sich in allen Etagen des Amtes. Sie waren in dieser Zeit schon wegen der Parlamentswahlen übergenug beschäftigt. "Zum Teufel, wegen dieser Streiker habe ich wieder meinen Jungen nicht sehen können. Ich habe sein Gesicht schon zehn Tage nicht gesehen," brummte ein Polizist, dessen Augen vor Müdigkeit rot geschwollen waren.
Helle Sonnenstrahlen glitten über die Betonwand, drangen durch die Mattglasfenster in das Zimmer des Polizeichefs. Das war durch eine Dampfheizung angenehm erwärmt. Auf dem großen Tisch stieg langsam und gleichmäßig der duftende Dampf aus den Teetassen, die der Polizeidiener gerade gebracht hatte.
Der Polizeichef sah aus geröteten Augen auf die Wand, auf eine Uhr, die um drei stehengeblieben war. Der Chef hatte ein flaches Gesicht mit vorspringendem Kinn, das noch durch einen Bart unterstrichen wurde; er glich einer Samureifigur(Anm.: Samurei heißen die Angehörigen der japanischen Ritterkaste, die noch uralte Standesbegriffe bewahren. Sie spielten in der klassischen Literatur eine große Rolle. Ihr politischer Einfluß ist heute ebenfalls auf die Offizierspartei, großenteils auf die Großindustrie übergegangen, die auch den Hof des Mikado beherrscht.), wie man sie auf den Papierdrachen zeichnet. Mißgelaunt drückte er auf einen Knopf in der Tischplatte. Bevor die Klingel aufgehört hatte, zu schellen, erschien der alte Polizeidiener, der bescheiden an der Tür stehen blieb. "Sag' dem Protokollführer, wenn er mit seiner Vernehmung fertig ist, soll er zu mir kommen. Du hast mir noch nicht die Zeitung gebracht!" Der Chef nahm eine Tasse, um seinen drahtigen Bart spielte der Dampf. Die Zeitung kam sofort, aber der Protokollführer ließ auf sich warten. Der Chef verbiß ein Gähnen und breitete die Zeitung aus. Wie er erwartet hatte, wurde der gestrige Vorfall in jeder Zeitung groß, fett und übertrieben gebracht.
Brandstiftung! Der Täter wahrscheinlich ein Streiker der Daido-Druckerei?
Jede Zeitung schrieb fast dasselbe, aber die Tatsache, daß sich der bewaffnete Täter schon am Abend vorher auf den Boden des Hauses geschlichen hatte, fehlte überall. Bluff!
Er verachtete die Zeitungen. Ein Satz aber - " Täter noch nicht verhaftet" - mit dem die Findigkeit der Polizei verspottet werden sollte, ärgerte ihn.
" Dumme Kerle, wir sind ihnen längst auf der Spur. " Da kam der Protokollführer herein. Ein fünfzigjähriger Mann mit kahle breiter Stirn und kleinen Augen, er trug keinen Säbel und war recht aufgeräumt.
" Entschuldigen Sie, daß ich Sie warten ließ, der Kerl war ja so hartnäckig - - -. "
Der Chef bemühte sich, seinem untergebenen Kollegen gute Laune zu
zeigen und schob ihm leutselig einen Stuhl hin.
" Ich danke für Ihre Mühe. Wie steht es?"
Der Protokollführer legte einen großen Band Protokollakten vor ihn hin
und sagte:
" Ja, sie sind sehr hartnäckig; sehr schwer, etwas aus ihnen herauszubringen."
" Hm, hm", machte der Chef, während er die Akten durchsah, "wie steht es, meinen Sie, daß der wirkliche Täter unter ihnen ist?" Der Protokollführer schüttelte den Kopf.
" Wir haben die Kerle tüchtig gezwickt. Aber meiner Meinung nach haben die führenden Leute mit diesem Vorfall gar nichts zu tun." Der Chef starrte den Mann mit den kleinen Augen an. "Unsere politische Polizei hat gerade eine Beratung mit der Revierpolizei, bei der die Geschichte passiert ist. Wenn sie zurückkommen, werden wir zusammen beraten und kennen dann alle Meinungen." Der Unterbeamte fuhr fort, indem er den weit jüngeren Chef unterwürfig ansah: "Die Organisation dieses Streiks ist anders als sonst - sehen Sie zum
Beispiel mal dieses Protokoll - das da."
Er nahm aus dem Haufen einen Akt heraus, und seine Stimme wurde
leise.
" Dieser Junge heißt Moriya und gehört zu einer sogenannten S-Abteilunft"
Er hörte ein Geräusch, drehte sich um und sah an der Tür den alten
Polizeidiener, der eine Visitenkarte in der Hand hielt.
" Herr Polizeichef, zwei Herren wollen Sie sprechen."
Der Chef ärgerlich über die Störung, sah auf die Karte und las:

Stadtverordneter Genichi Ynoshita Direktor des Verbandes der Druckereibesitzer
in Tokio.

Es war der Direktor der Orient-Klischee-Anstalt, dem Polizeichef durch Parteibeziehungen bekannt. Auf der Rückseite der Karte stand mit Bleistift geschrieben: "Ich möchte Sie umgehend wegen des Streiks der Daido-Druckerei sprechen." "Äh, äh, er kommt recht ungelegen."
Der Chef war unschlüssig, weil das Gespräch bestimmt auf die gestrigen Vorgänge kommen würde. Aber es war immerhin ein Besucher, den man nicht gut abweisen konnte.
Der Protokollchef verließ aus Höflichkeit das Zimmer, aber bevor er durch die Tür trat, kam er schnell noch einmal zurück und flüsterte dem Chef etwas ins Ohr.
Der zwinkerte mit den Augen, sah den Beamten eindringlich an und
nickte zustimmend.
Zwei Herren kamen herein.
Ja, wir haben uns lange nicht gesehen - entschuldigen Sie die Störung." Der Herr, von dunkler Gesichtsfarbe, mit listigen, beweglichen Augen und kurzgeschnittenem Schnurrbart, die Finger im Westenausschnitt, war Ynoshita.
" Bitte schön, im Gegenteil, bin sehr erfreut." Der Polizeichef hob seinen Hintern aus dem Sessel und schloß die Knöpfe seiner Uniformjacke.
Darf ich bekannt machen: dieser Herr ist der Direktor der Tokio-Kunstdruckerei, Herr Senzo Minayama - der Polizeichef vom Polizeiamt, mein Freund Herr Muroto."
Der vorgestellte Herr, der ein merkwürdig langes Kinn hatte, und der Chef begrüßten sich, ohne ihrer Würde etwas zu vergeben. Der Polizeidiener brachte Tee.
" Ja, das ist ja nun eine große Geschichte geworden." Die Stimme Ynoshitas schrillte blechern. Der Polizeichef schwieg mit einem galligen Lächeln, er dachte an seine Verantwortung. "Aber Kollege Okawa ist auch zu starrköpfig - ha ha ha." Es war eine beliebte Methode des Stadtverordneten, der es gewohnt war, mit den Beamten, denen er seine Stellung verdankte, freundlich umzugehen, die Bürokratenwürde mit einem behäbigen Lachen einzuwickein und dabei den Gesichtsausdruck der anderen zu studieren. Besonders gern spielte er dabei den Namen des führenden Mannes im Mitsui-Finanzblock, Okawa, Mitglied des Oberhauses, als den eines Kollegen aus.
Minayama lachte mit, der Polizeichef blieb ernst. Wenn seine Gegenüber nicht Stadtverordnete gewesen wären, hätte er längst gefragt: "Was wünschen Sie, ich bin sehr beschäftigt. " So aber drückte nur sein Gesicht diese Stimmung aus. "Kurz und gut, ich habe eine Bitte... Ich möchte von Ihnen einige Streik führer ausborgen, die gestern hier eingesperrt wurden." Ynoshita sprach jetzt ernsthaft. Er war, wie der Polizeichef wußte, einer der Schiedsmänner zwischen den Streikenden und dem Unternehme Er kam als Vertreter des Schiedsgerichts und wollte die Streikführer mitnehmen, um am Nachmittag mit den Leuten der Fabrik zu verhandeln.
" So. Ja, das ist sehr schlimm. Die Untersuchung ist noch nicht beendet. Die beiden verstanden, daß ein Beamter nicht gleich Jawohl, ich werde mich bemühen" sagen konnte. Deshalb betonte Ynoshita, daß er seine Ehre darein setze, diesen Streik, der ernstlich die Ordnung der Gesellschaft gefährde, beizulegen, und daß auch der Polizeichef seinen guten Willen verstehen müsse.
Der Sonnenschein, der durch das Mattglasfenster hereindrang, wurde wärmer. Endlich schwang sich der Polizeichef auf, hinzuzusetzen:
" Nachdem ich vorher die Absicht des Polizeipräsidenten gehört habe." "Also dann werde ich Sie am Nachmittag wieder anrufen. Ich bitte um
Ihre Unterstützung - -."
Die zwei Besucher verließen das Zimmer des Polizeichefs. Vor dem Tor des Amtes stand ein neuer Packard, der Motor sang mit hellem Klang.
" Glauben Sie bestimmt daran?" fragte Minayama, als sie im Wagen
saßen.
" Na, es ist immer so. Ein Beamter darf einfach nicht gleich ja sagen,"
lachte der Stadtverordnete optimistisch. Das Auto fuhr geradeaus durch die Otawastraße und verschwand im Hof des Hauses von Herrn Kuniko, dem Direktor des Yamato-Kodan-Verlages.
Okawa war ein Frühaufsteher. Er trug niemals europäische Kleidung und auch niemals andere Schuhe als leichte japanische Strohsandalen.
Das war stadtbekannt.
An diesem Tage war er wie immer um fünf Uhr aufgestanden. Seine Energie, die er durch strenge Enthaltung von Frauen und Wein gut konserviert hatte, war seit seiner Jugend die gleiche geblieben. Jetzt konnte er von drei Uhr ab nicht mehr gut schlafen, das war die einzige
Unregelmäßigkeit, die das Alter mit sich brachte.
Der schweigsame, zu einem Strich zusammengepreßte Mund nahm den größten Teil seines Gesichts mit dem gut gebauten Kinn ein. Er war nicht sehr groß; aber Menschen, die dieses Gesicht von oben zu sehen bekamen, waren nicht häufig. Die meisten bückten sich vor diesem kleinen Mann so tief, daß sie ihn doch von unten ansehen mußten.
Unter den Abgeordneten des Oberhauses war er der einzige, der bei jedem Kabinettswechsel als Kandidat der Barone vorgeschlagen wurde.
Seine Hartnäckigkeit und sein klarer, mathematischer Kopf wurden von seinen Anhängern abgöttisch verehrt.
Um sieben Uhr, nach dem Frühstück, ging er in sein Arbeitszimmer und sah die Berichte seiner Gesellschaften durch, mehr als fünfzig.
Mit seinem Sekretär sprach er nie anders als im Befehlston. Das gestrige Ereignis war ihm so gleichgültig, daß er darüber gar nichts in der Zeitung lesen wollte. Nachdem er die wirtschaftlichen und
politischen Seiten der Zeitungen überflogen hatte, rief er nach seinem Dienstmädchen und kleidete sich um.
Vor der Tür sagte sein Sekretär:
" Herr Shibusaka hat eben angerufen und fragt, ob er zu Hause auf Sie
warten soll. Was soll ich antworten?"
" Ist Herr Shibusaka persönlich am Apparat?"
" Ja."
Darauf ging er selbst in die Telefonkabine.
Der alte Shibusaka war gleichfalls ein Frühaufsteher. Okawa lachte vergnügt, als er nach fünf Minuten die Telefonkabine verließ. Er war selten guter Laune.
Die beiden Helden treffen aufeinander! dachte der Sekretär bei sich. Der Generalstabschef des Mitsubichi-Finanzblocks war bis heute Okawas bester Gegner, der auf allen möglichen Aktionsgebieten mit ihm gekämpft hatte. Mit einemal wurde Okawa um ein Zusammentreffen gebeten. Der Sekretär war sehr gespannt und befahl einem Diener, das Auto zu schicken.
Um neun Uhr trat Okawa, gefolgt von seinem Sekretär, in das Direktorenzimmer des japanischen Industrieverbandes. Acht Herren standen von den Stühlen auf, um ihn zu begrüßen.
Es waren die Direktoren der Daido-Druckerei, der japanischen Lampenfabrik, der Okawa-Maschinenwerke, der Okawa-Gummiwerke und so fort.
Okawa nahm auf dem Präsidentenstuhl Platz und sah die acht Herren an wie Untertanen, die er hierher kommandiert hatte. Diese acht Herren hatten verschiedene Titel: Direktor, Geschäftsführer, zweiter Fabrikvorsteher usw.; sie besaßen aber nur dem Namen nach Anteile der Gesellschaft und waren im übrigen Angestellte ohne besondere Rechte.
Nach einem kurzen Schweigen sagte Okawa plötzlich: "Herr Furuya, bitte den Streikbericht."
Ein langer dünner Herr, dessen Kopf und Körper nur durch einen schwarzen Schlips getrennt wurden, das war Furuya, der Geschäftsführer der Daido-Druckerei. Er hatte diese Frage erwartet und nahm aus der Aktentasche den Tagesbericht, ein Protokoll und Flugblätter der Streiker und erklärte.
Okawa, der schwer wie ein Berg auf dem Sessel saß, sah starr an die Wand und sprach kein Wort. Nachdem der Geschäftsführer seinen Bericht beendet hatte, mußte er noch die kleinen und großen Flugblätter vorlesen, ehe Okawa antwortete.
Die Leute von der japanischen Lampenfabrik und von der Oosi-Papier-fabrik verstanden nicht, warum man sie zu diesem Streikbericht hinzugezogen hatte.
Im Zimmer herrschte eine drückende Stille, nur die lebhaften Geräusche der Autos, die sieben Stockwerke tiefer in der Unterwelt über die Straße rasten, drangen gedämpft durch die geöffneten Fenster herein.
Endlich begann Okawa zu sprechen: "Lehnen Sie jede Antwort an die Streikenden ab."
" Ja," sagte der Geschäftsführer und machte ein hilfloses Gesicht, weil Okawa sich nicht genauer erklärte.
Okawa wandte sich jetzt fragend an die anderen Herren:
" Wie lange können Sie mit Ihren Lagervorräten aushalten, wenn wir
jetzt die ganze Produktion stillegen?"
Die Frage kam ihnen völlig unerwartet. Überrascht berichtete jeder
nun ganz allgemein über die Bestände der Fabriklager und der bei
den Provinzvertretern lagernden Waren.
" Gut. Ich habe jetzt eine Besprechung mit Herrn Shibusaka. Sie gehen
in Ihre Fabriken und bringen alle Lager in Ordnung, damit wir nicht
in Verlegenheit kommen, wenn morgen der Streik beginnt."
Er winkte seinem Sekretär mit den Augen, nahm seinen Stock, den
Furuya ihm reichte und verließ das Direktorenzimmer, ohne sich,
wie das diese Herren meist tun, eine Zigarre anzubrennen. Okawa
ging die Wendeltreppe herunter, er liebte es nicht, den Fahrstuhl
zu benutzen. Als er durch das Haupttor des Wolkenkratzers trat, sah
er eine fragwürdige Gestalt.
Es war ein Mann in Arbeiterkleidung, der im Schatten des Gebäudes stand und ihn durchdringend ansah. Trotz der Entfernung sah Okawa, daß sich der Mann schnell zurückzog, als sich ihre Blicke trafen. Okawa trat an das Auto, der Sekretär stand hinter ihm, der Chauffeur machte eine Verbeugung und öffnete die Wagentür - in diesem Moment schrie der Sekretär auf und Okawa sah in das verzerrte Gesicht eines Arbeiters, der wie eine Katze auf ihn zukam.
" Dummer Kerl," schrie Okawa; er lehnte sich auf seinen Stock. Der Chauffeur und der Sekretär, die hinzusprangen, versuchten den Arbeiter fortzudrängen.
" Okawa!" schrie der Arbeiter und seine Lippen zitterten wie die eines Sterbenden. Er hob seine rechte Hand und warf einen glänzenden Gegenstand, der hart an Okawas Kopf vorbeiflog.
Verwirrte Arme und Beine kreisten wie zersprungene Federwerke, Schreckensschreie und Stöhnen erschütterten die Luft. Aus dem Gebäude und hinter dem Auto kamen Leute gelaufen. Die verknäulten Arme trennten sich, die Beine des Blusenmannes stießen in die Luft -er rollte seinen Körper wie einen Ball und verschwand hinter der Ecke.
" Laßt ihn nicht fort!"
" Er darf nicht fliehen!"
" Haltet ihn!" riefen die Leute und liefen durch die Nebenstraße hinter
ihm her.
Aus den Büros kamen die Direktoren, als erster der Geschäftsführer Furuya mit schreckensbleichem Gesicht. Auch die Polizisten kamen. Okawa stand die ganze Zeit mit bösem Gesicht und schweigend. Der Sekretär kam zurück und sagte keuchend:
" Sind Sie verwundet? Fühlen Sie sich unwohl? Er ist ins Marunoutji-Building hineingelaufen. Sie werden ihn bestimmt verhaften."
Ein Polizist fragte den Sekretär genau aus, ein anderer rannte ans
Telefon.
" Ah, solch ein Ding" - der Geschäftsführer wollte einen glänzenden Gegenstand, der neben einer Säule lag, aufheben, aber der Polizist hatte es bemerkt und brüllte ihn an:
" Lassen Sie das gefälligst so liegen, wie es liegt!"
Ein handgroßes Messer - oh - die Leute besahen noch entsetzt und außer sich das Messer, als Okawa sagte:
" Es ist schon 11 Uhr, wir dürfen uns nicht verspäten. Fahren wir los!"
Er stieg scheinbar völlig ruhig ins Auto. Als der Wagen fortglitt, nahm Furuya eine militärische Haltung an.
" Diese Streiker - fürchterliche Kerle - - aber unsere Generale sind noch erstaunlicher. Nicht mal mit den Wimpern hat er gezuckt...."

 

III. Frauenversammlung

Draußen wellte ein wilder Herbststurm. Ein Teil des Buddhatempels Anrakusi unter der Anhöhe des Botanischen Gartens diente als drittes Büro der Streikenden. In der Nähe des Eingangs des dunklen, verwüsteten Tempels standen einige Polizisten im Finstern, nur ihre Augen leuchteten.
Diese Weiber haben Mut."
Rund wie Lumpenknäuel kamen die Frauen vom Wind herangejagt. Sie verschwanden, als saugte sie der Tempel ein, im Vorbeigehen sahen sie die Polizisten über die Achsel an.
Drinnen begann die Funktionärsversammlung der streikenden Frauen. Als Takae erschien, war die Tagesordnung schon zur Hälfte erledigt. Sie setzte sich in eine Ecke des ungeheizten Zimmers und begrüßte die Kolleginnen mit einem bedrückten Gesicht.
" Guten Abend, entschuldigt, daß ich mich verspätet habe," sagte sie ganz leise zu Fusa-tjan, die, in einen schwarzen Wollschal gehüllt, der nur ihre Augen sehen ließ, neben ihr saß.
" Du bekommst keine Fleißprämie," scherzte Fusa-tjan, unter der vorspringenden Stirn sahen ihre Augen vorwitzig heraus. "Ach, schadet nichts, ich werde die ganze Nacht bleiben und die Arbeit nachholen."
Am Vorstandstisch saß Fräulein Oja, die Leiterin der Frauenabteilung. Im Zimmer, unaufhörlich schwätzend, waren etwa dreißig Frauen versammelt, sie schrieben, fragten, sprachen miteinander, wie es ihnen paßte.
" Kollegin Vorsitzende, man soll die Privatunterhaltungen verbieten," schrie Matsu-tjan, die rechts neben Takae saß. Takae dachte: das ist ein unangenehmer Mensch da neben mir, sie ist bei der Vorsitzenden lieb Kind. Ihre Stimme klang wie geborstenes Metall, unter rötlichem Haar
funkelten kleine Walfischaugen:
" Vorsitzende, laß abstimmen, mach schnell," schrie Fusa-tjan, um Matse-tjan zum Stillschweigen zu bringen, nachdem sie die Vorschlagsliste an Takae weitergegeben hatte. "Wie kann diese Rothaarige von Privatunterhaltungen reden, sie selber schwätzt soviel."
Fusa-tjan war nicht nur mit Matsu-tjan böse, die gegen sie voreingenommen war, sondern auch mit der Vorsitzenden, die vom Schlage jener nicht übermäßig gescheiten Intellektuellen war. "Die Tagesordnung fortsetzen!" kamen Zurrufe von den Mitgliedern
aus der Buchbinderabteilung.
" Was sagst du, du Wasserkopf," schimpfte Matsu-tjan leise Fusa-tjan, doch es war kaum zu hören. Sie hatte eigentlich mehr Angst vor Takae als vor Fusa-tjan. Takae hob den Kopf, nachdem sie das Protokoll unterschrieben hatte. Vor Takae hatte selbst die Vorsitzende, Fräulein Robuko Oja, ein bißchen Angst, deshalb dämpfte Matsu-tjan bei solchen Bemerkungen ihre Stimme.
Aber Takae dachte immer noch an Okayo und Hagimura. Sie grübelte darüber, ob Miatji wohl die heutige Brandstiftung auf dem Gewissen habe, wußte, daß es sich bestimmt aufklären würde, wenn sie mit Hagimura sprechen konnte, aber der war von der Verhaftung am Gokokutempol noch nicht zurück.
" Dann wollen wir über alle Vorschläge zusammen abstimmen," sagte die Vorsitzende und plusterte sich auf, nachdem sie sich mit der Schriftführerin beraten hatte.
Diese Frau mit dem Spitznamen "ewige Jungfrau" hatte noch niemals ihre Brille abgelegt, von ihrer runden Nase perlte fettiger Schweiß. "Sie hat eine Nase wie ein Hund, deshalb kann sie auch so gut riechen," sagten die Mädel, die zu der Vorsitzenden in Opposition standen. Sie hatte das typische Doppelkinn und die fettige Haut einer alten Jungfer. "Erster Punkt. Die Arbeit im Straßenverkauf wird unter Führung der Abteilungsleitung fortgesetzt wie gestern. Zweitens. Die Vorschläge der Genossin Matsu Takahaji, betreffend Gegenmaßnahmen gegen Sen Ogawa und andere Verräter, werden vom Gruppenleiterkomitee erledigt. Zu Ausschußmitgliedern sind ernannt: Koto Motsujama, Mutsu Tokura. Drittens. Methoden der Agitation der streikenden Arbeiterfrauen für unsere Sache, und zwar Organisierung der Frauenreferenten und agitatorische Theatervorführungen durch den proletarischen Künstlerverband. Dazu werden außer der Vorsitzenden zwei Ausschußmitglieder bestimmt. Das ist alles. Wer dafür ist, den bitte ich die Hand zu erheben."
Die Frauen hoben wie Schülerinnen die Hände. Die Vorsitzende zwinkerte der Schriftführerin zu.
Draußen hinter der Papiertür knarrte die Holztür im Wind. "Ach, ich bin so schläfrig," flüsterte Fusa-tjan in Takaes Ohr; die unterdrückte ein Gähnen und fragte:
" Wer kommte heute von der Streikleitung, um Bericht zu geben?" Fusa-tjan hielt den Kopf schief.
" Ich weiß nicht... Verhandlungen, die weder Kopf noch Schwanz..." "Man muß zeigen, daß wir zu allem entschlossen sind. " Fusa-tjan verriet ihre Ungeduld und jede dachte wie sie. "Kommt der Bericht der Streikleitung wieder erst nach elf Uhr?" fragte ein Mädchen mit einer Momoware-Frisur (Anm.: Momoware und Itjogaeschi sind Haartrachten, wie sie bei den Töchtern bürgerlicher Familien üblich sind; etwa: sehr ordentlich frisiert.), die an der Papiertür saß. Sie hieß Ogin-tjan und war Helferin in der Schriftsetzerabteilung. Alle Vorschläge waren erledigt. Für das Wichtigste, den Bericht über die Streiklage, sollte wie immer ein Mitglied der höchsten Streikleitung kommen.
" Vorsitzende, ich wünsche eine Pause", riefen einige ermüdete Stimmen von der anderen Seite. Aber die ewige Jungfrau schwieg feierlich, sie wollte keine Pause beschließen lassen. Sie wälzte Pläne, wobei sie ein Mädchen, das eine Itjogaeschi-Frisur trug, scharf ansah. Das Mädchen verbarg sich in einem roten Wollschal und war leicht eingenickt. Sie lehnte an einer Papiertür, auf der etwas wie ein Tempelbild hing.
Die Vorsitzende sagte hinterhältig - "unerhört, ein Straßenmädchen als Funktionärin!" -
Sie warf einen Blick voll schärfster Verachtung auf das blasse Profil mit der Itjogaeschi-Frisur.
" Natürlich ist sie schläfrig, sie will noch auf dem Rückweg im Cafe Geld verdienen..."
" Vorsitzende, einen Dringlichkeitsantrag", schrie Matsu-tjan. Alle fuhren auf und richteten ihre Blicke auf die Sprecherin. Takae staunte gleichfalls - was war denn da los? Die Vorsitzende schaufelte mit ihrem Kinn, als wenn sie darauf gewartet hätte. "Mein Antrag lautet: Ich möchte zur Kenntnis bringen, daß sich ein Mitglied der Frauenabteilung so beträgt, daß die Ehre des Streiks gefährdet wird. "
Die Versammelten sahen einander an. "Das ist ja interessant", flüsterte Fusa-tjan.
" Ich erkläre, hier ist ein Mädel im Zimmer, das die weibliche Ehre als Lockmittel braucht, um damit Geld zu verdienen. Das ist das Schamloseste, was eine Frau tun kann. Ich hoffe, daß sie das einsieht und uns sofort verläßt. Ich will deshalb auch noch keinen Namen nennen. Es genügt wohl, wenn ich ihre Handlungsweise, die das Ansehen des Streiks gefährdet, anprangere. Wenn sie aber nicht von allein verschwindet, werde ich ihren Namen doch..."
" Einen Moment"
Die Vorsitzende hob die Hand. Die rothaarige Matsu-ijan sah selbstgefällig in die Brille der Vorsitzenden, ob sie auch ihren Auftrag gut
durchgeführt hätte.
" Schon gut, schon gut, Begründung genügt."
Die Vorsitzende winkte Matsu-tjan, sich zu setzen, sie hatte die ganze Sache längst begriffen. Aber die andern konnten die Handlung der Vorsitzenden nicht verstehen, die gegen alle Gepflogenheiten verstieß. Eines verstanden sie aber - Kimi-tjan, ein bleiches Mädchen aus der Buchbinderabteilung, das immer eine gepflegte Itjogaeschi-Frisur trug, war noch blasser geworden und hatte ihren Kopf sinken lassen. Takae war erstaunt, sie kannte Okimi recht gut. Es war möglich, daß diese Vorwürfe auf Wahrheit beruhten, aber wozu mußte man diese Dinge zur Sprache bringen? Man konnte gewiß nicht sagen, daß die Kleine sehr kampftüchtig war, aber sie erledigte ihre Aufgaben sehr gewissenhaft; warum mußte man dieses kleine schüchterne Mädel jetzt anklagen, sie hatte ganz allein eine fünfköpfige Familie zu ernähren, ihre gute Frisur und ihr ungesundes, blasses Aussehen kamen nicht aus ihrem eigenen Willen - diese Bande hat das unglaublich angefangen. Takae war heute außergewöhnlich zurückhaltend, weil sie immer an Okayo denken mußte, aber jetzt fühlte sie, wie eine heiße Wut in ihr
aufstieg.
" Ich bitte die Antragstellerin, ihren Antrag zurückzuziehen, da das für das Mädchen eine Lebensfrage ist. Ich schlage vor, daß sie sich mit mir persönlich darüber aussprechen soll." Die ewige Jungfrau lachte der Rothaarigen vielsagend zu. "Teufel, die Bande macht Theater", dachte Takae. Die Rothaarige bestand hartnäckig auf ihrem Antrag. Alle Blicke wanderten von den kleinen Walfischaugen Matsu-tjans zu Takae, von da zur Vorsitzenden und endlich zu Okimi, die hilflos an der Tür saß; als wenn sie sich unsichtbar machen wollte.
" Warte mal, Genossin Shirajama (das war der Familienname der Rothaarigen), wenn du deinen Vorschlag nicht zurückziehen willst, will ich vorher meine Meinung sagen", sagte die Vorsitzende und Matsu-tjan setzte sich. Fusa-tjan stieß an Takaes Knie. "Die Bande will die kleine Kimi-tjan quälen... pfui Teufel!" Fusa-tjan war, wie Takae und Okimi aus der Buchbinderei. "Genossin Shirajama erklärt, ihren Antrag nicht zurückziehen zu wollen. Das ist furchtbar hart für die Betroffene... Wenn die Betreffende wirklich hier im Zimmer ist, wird sie natürlich von allein gehen, deshalb habe ich gefordert, daß dieser Antrag zurückgezogen wird. " Die randlose Brille schoß ihre Blitze auf das Profil der Okimi. Sie triumphierte, daß es ihrem Keuschheitsfanatismus gelungen war, eine Genossin aus diesem Kreis auszuschließen.
" Ich möchte zu dieser Angelegenheit noch sagen, daß die werktätigen Frauen ganz allgemein das Prinzip der Keuschheit viel zu wenig beachten. Wir sind in der Fabrik, und gerade in solchen ungewöhlichen Zeiten wie jetzt, von den Männern verachtet wie die Dirnen, und nur deshalb, weil wir zu wenig auf unsere Ehre halten." Die ewige Jungfrau war in der Tat noch unberührt, aber das hatte wohl seine besonderen Gründe.
" Vorsitzende!" schrie Fusa-tjan, die sich nicht mehr halten konnte, und gleichzeitig erscholl von allen Seiten lärmender Einspruch. Aber die Vorsitzende bestand hartnäckig auf diesem Antrag. "Die Keuschheit gehört zum Wesen der Frau, und ich kann absolut nicht verstehen, wie eine Frau ihr höchstes Gut so verhökern kann und wie ein altes Taschentuch fortwerfen..."
Die ewige Jungfrau redete sich fast von Atem. Während jene "Damen", die mit der Vorsitzenden sympathisierten, schweigend zuhörten, gab die Gruppe um Fusa-tjan und Ogin-tjan laut ihrer Empörung Ausdruck. "Vorsitzende, du bis halstarrig. " "Vorsitzende, hör auf mit deiner Litanei!"
Takae schrie jetzt auch. Das ganze Zimmer tobte, und die Predigt der Vorsitzenden war nicht mehr zu hören. "Vorsitzende, eine Frage", schob Takae sich vor. Fusa-tjan sprang zu Okimi und sagte: "Keine Sorge, wir halten zu dir!" Am Tisch schrie Takae aufgebracht:
'Ich habe eine Frage an die Genossin Shirajama, die den Antrag gestellt hat. Wen willst du anklagen, wer hat dich verkauft?" Sie sah die Rothaarige durchdringend an und schüttelte erregt ihr festgebundenes Haar. Matsu-tjan zögerte verlegen.
" Nun los, wenn du jemand anklagst, mußt du stichhaltige Gründe dafür haben."
Takae drängte sich an Matsu-tjan heran. Die Vorsitzende schlug auf den Tisch und schrie gellend, um ihrem Günstling zu helfen: "Ich bitte um Ruhe!"
" Natürlich kann ich es sagen, es ist Kimi-tjan von deiner Abteilung." "Was, Kimi-tjan, das ist ja interessant. Dann heraus mit deinen Beweisen!"
Takae näherte ihr Gesicht der Rothaarigen. "Quatsch, was soll ich da lange beweisen." Sie wollte kneifen. " Dummes Weibsstück!"
Takaes Hand fuhr in die roten Haare. Alle sprangen auf; die in der Nähe der beiden Frauen standen, bemühten sich, Takae zurückzuhalten.
" Nobu-tjan!"
Takae drehte sich um und sprang zum Platz der Vorsitzenden, die angeblich eine höhere Schule besucht haben sollte, und sah ihr fest in die Augen. Die Vorsitzende erschrak, denn Takae war die einzige, die ihr an Schlagfertigkeit gewachsen war, und ihrem drohenden Gesicht nach war alles von ihr zu erwarten. "Nobu-tjan, du willst hier mit dieser Rothaarigen eine abgekartete
Komödie aufführen?"
Um Takae sammelten sich Fusa-tjan, Ogin-tjan und andere, die zu der Gruppe der Vorsitzenden in Opposition standen; auch um diese, Fräulein Oja, sammelten sich ihre Schützlinge, die "Damengruppe", und im Augenblick war im Zimmer ein aufgeregtes Durcheinander.
" Eine abgekartete Komödie? Ich tue nur, was ich als Leiterin der
Frauenabteilung tun muß."
Die Vorsitzende gab sich Mühe, beherrscht zu bleiben, um als Ältere
Takae ihre Überlegenheit fühlen zu lassen.
" Du lügst, dein Gesicht verrät genau, was du vorhast!"
Takae wurde in ihren Worten immer gleich scharf und ausfallend,
weshalb die "Damen" sie "Führerin der Fürsorgemädchen" nannten.
" Versteh gefälligst, ich habe als Frauenleiterin die Verantwortung
und muß auch die Moral der Mitglieder überwachen. Wie kannst du als
Funktionärin der Frauen so wild sein wie ein Mann, das ist schamlos."
" Sie hat recht!"
" Fürsorgegöre!"
" Mannstolles Weibstück!" riefen die "Damen" durcheinander.
Takae kam wieder an den Tisch und überschrie den Lärm: "Genossinnen,
ich bin gegen dieses Gerede von Keuschheit, mit dem sie nur unsere
Genossin herausbringen will."
" Jawohl, sehr richtig!" schrien Fusa-tjan und ihre Anhängerinnen, und
eine von ihnen rief höhnisch:
" Alte Jungfer!"
" Die Vorsitzende will mit ihrem bourgeoisen Keuschheitsgeschwätz unsere Genossin Kimi-tjan rausdrängeln!"
Der Lärm wuchs wieder an, die Vorsitzende trommelte auf den Tisch und schrie mit ihrer meckernden Stimme:
" Das ist eine scheußliche Lüge, was die Genossin Takae Haruki sagt, hat gar keinen Sinn und Verstand. Sag' gefälligst, warum ich bürgerlich sein soll, warum?" Die ewige Jungfrau bog ihr rot angelaufenes Gesicht über den Tisch
vor, ihre Lippen zitterten hysterisch.
" Natürlich bist du eine Spießbürgerin. Soll ich erst den Grund sagen? Dein ganzes Keuschheitsgerede hat weiter keinen Zweck, als den sexuellen Akt möglichst teuer an den Mann zu verkaufen. Ihr sagt, ich bin eine Jungfrau oder eine Dame, weil ihr euch lieber leichter und teurer an einen Angestellten anstatt an einen Arbeiter verkaufen wollt. Das ist deine Keuschheitstheorie, und das ist praktisch nichts anderes als die bürgerliche Ansicht über diese Dinge." Takaes Antwort traf den Nagel auf den Kopf.
" Seht euch mal unsere Damen an!" kreischte Ogin-tjan begeistert. Das löste allgemeine Heiterkeit aus. Die Vorsitzende stand wie mit Wasser begossen und zitterte unter diesem Lachen. "Also meinst du, es sei ganz in Ordnung, sich zu prostituieren?" versuchte die Jungfrau die ganze Diskussion zu verdrehen. "Ob das gut ist oder nicht gut ist, weiß ich nicht, darauf kommt es hier auch gar nicht an. Aber eins ist klar, wenn sich eine prostituiert, damit sie als Genossin hier bei uns mitarbeiten und dabei noch eine fünfköpfige Familie ernähren kann, so ist das weit ehrlicher und richtiger als die ganze geheiligte eheliche Liebe von euch." "Scheußlich!" "Das soll man anhören!"
" Sie verdient wahrhaftig, daß sie Anführerin der Fürsorgemädel genannt wird!" riefen die Damen dazwischen.
" Aha, also behauptest du doch, daß die Prostitution berechtigt ist. " Die Vorsitzende wollte Takae verächtlich machen und den Sinn ihrer Worte verdrehen, um sich ihren Sieg zu sichern, aber Takae ließ nicht locker.
" Natürlich habe ich recht. Es ist viel sauberer und macht viel weniger Gestank, wenn man die ganze sogenannte Ehre einfach wie ein altes Taschentuch wegwirft, als daß man als ewige Jungfrau im Glassahrank stehen bleibt wie eine faule, alte Konserve!"
Das Gesicht von Fräulein Oja, verzerrte sich, ihre Lippen zitterten hysterisch, die wandte sich um, schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Der Lärm im Zimmer war nicht mehr zu beruhigen, die "Damen" brüllten vergebens aus vollem Halse, es war umsonst: die Opposition hatte gewonnen.
" Sei tapfer, brauchst nicht mehr zu weinen, Kopf hoch, wir haben gewonnen, wir stehen zu dir." Takae umarmte Kimi-tjan und ließ sie aufstehn: "Kimi-tjan, jetzt rede du zu diesen 'Damen' und erkläre ihnen, daß die Frauen der Arbeiterklasse nicht nur ihre weibliche Ehre, sondern ihr ganzes Leben opfern müssen, bis wir mit dem ganzen Proletariat befreit sein werden, - sag ihnen das!"

 

IV. Das Opfer

Es war beinahe 11 Uhr, als sie nach dem Bericht der Streikleitung nach Hause gingen.
Den Bericht hatte Matsuo, der junge Sekretär der obersten Streikleitung, überbracht, weil fast alle anderen Führer noch in Haft waren. Wir erleben beim Streik der Daido-Druckerei die frechsten Provokationen der Unternehmer gegen die Arbeiter. Wir Druckereiarbeiter ganz Tokios warnen die Unternehmer und verlangen, daß die berechtigten Forderungen dieses Streiks bedingungslos bewilligt werden.
Generalversammlung der Druckereiarbeiter von ganz Tokio "Diese Resolution ist von der heutigen Generalversammlung der Buchdrucker in den Matsumoto-Festsälen einstimmig angenommen und sofort durch die Vertreter den Unternehmern zugestellt worden", referierte der frische Genosse der Frauenversammlung. "Unsere Verhandlungen mit den Unternehmern sind wegen der brutalen Angriffe durch die Polizei eingestellt. Aber wir müssen bereit sein. Dieser Streik ist kein gewöhnlicher Streik wie die bisherigen, es ist ein entscheidender Kampf um unsere Organisation - so liegen die Dinge." Neue Kraft strömte von dem jungen, schlanken, knochigen Mann wie ein frischer Wind auf die Körper der ermüdeten Frauen. Er verschwand eilig und geschäftig, denn noch viele andere Versammlungen der einzelnen Abteilungen warteten auf ihn.
Mit der sinkenden Nacht legte sich die Aufregung der Frauen wieder, und die beiden streitenden Gruppen reichten sich schließlich angesichts des großen gemeinsamen Kampfes die Hand.
" Sei nur ruhig, Kimi-tjan, wenn es nötig wird, werde ich es auch so machen wie du - was denn sonst? Um denen die Kehle zuzudrücken, müssen wir sogar unser Leben opfern", sagte Takae zu Okimi und Fusa-tjan, als sie gemeinsam nach Hause gingen. Die temperamentvolle Fusa-tjan hörte das schweigend an, und Okimi wurde wieder fröhlich.
" Danke, ich verstehe schon - ich bin bereit, und morgen werde ich wieder fleißig meine Seife verkaufen."
Okimi steckte ihr Gesicht aus dem Wollschal und lachte. An der Ecke der dritten Barackenreihe verabschiedete sich Takae von ihren Kolleginnen und ging ihrem Hause zu, wo Okayo auf sie wartete, um mit ihr ins Badehaus zu gehen. Auf dem Wege erzählte Takae von dem was bei der heutigen Frauenversammlung vorgefallen war, dem Bericht der Streikleitung und dem übrigen. Okayo war so andächtig bei der Sache, daß sie unversehens an ein Reklameschild stieß. Es schien, als klammere sie sich an die kleinste Tatsache, um ihre Ängste und all ihre Sorgen zu überwinden, deshalb griff sie auch alles so begierig auf.
Schwester, mir ist so... ich fühle... ich werde Miatji bestimmt nicht wiedersehen... mir ist so... über mir..."
Takae erschrak, wie tapfer ihre kleine Schwester gegen alles, was sie quälte, ankämpfte. Ihre Vermutung, Miatji sei der Brandstifter im Hause Okawas wurde zur Gewißheit. "Aber... es ist gar nicht so schlimm für mich... " Vor Mitleid mit dieser Ergebenheit eines Kindes wie Okayo wäre Takae am liebsten der Schwester um den Hals gefallen.
" Hast du heute die Zeitung "Nichi Nichi" gelesen, Schwester? Da stand was von einem Arbeiter, der sich von seiner Frau getrennt hat, um so besser für den Streik arbeiten zu können, weil sich die Streiklage bei den Daido-Druckern so verschärft hat, - wer kann das sein?" Takae wußte es nicht, aber bestimmt war unter den vielen Streikenden so etwas möglich. Nein, sicher viel häufiger als in der Zeitung stand. "Kimi-tjan tut mir wirklich leid... ihr kleiner Bruder ist blind, hast du das nicht gewußt?"
Okayo arbeitete in derselben Abteilung neben Okimi. Okimi war wohl zwei oder drei Jahre älter, aber noch genau so schüchtern wie Takaes Schwester. Am Himmel blinzelten Sterne, und die Sichel des zunehmenden Mondes stand einsam wie vom Wind blank geweht über dem Haksuan-Wald. In der öffentlichen Badeanstalt drängten sich die Menschen, besonders in der Frauenabteilung schrien die Säuglinge und Kinder im dichten Dampf. Okayo wusch Takae den Rücken, dann nahm Takae den Kübel mit heißem Wasser und bearbeitete Okayos Rückseite. "Schwester, aber warum bekommt denn Kimi-tjan kein Kind?" fragte Okayo, sich leicht herumwendend. Wie kindlich war sie, und sie hatte doch schon einen Freund!
" Ja... man macht das natürlich so, daß man keine Kinder bekommt", antwortete die Schwester lächelnd.
Die Junge schwieg nachdenklich. Mit dem ausgedrückten Waschlappen rieb Takae derb der Schwester den Rücken, der schon weiblicher geworden war. Sie hatte bereits Fleisch angesetzt. "O weh, was tust du denn?" rief Okayo verwundert und sah, sich umwendend, in das vergnügt lachende Gesicht der Schwester. "Weil du immer an ihn denkst, ich wollte dich bloß wecken. " Ihr Lachen war froh und stark, aber die kleine Okayo, die mit in das Lachen einstimmte, lachte nur kraftlos und matt.
" Los wir wollen uns noch etwas in der Wanne wärmen, dann gehen wir. " In dem schon trüb gewordenen Wasser des Bassins sank Takae bis an den Hals ein und atmete tief, als wollte sie alle Müdigkeit von sich fortblasen. Sie sah im Bassin viele bekannte Gesichter, war aber viel zu müde, um ihre Grüße zu erwidern. Okayo kam auch ins Wasser, nachdem sie ihren Seifenkasten gewaschen hatte - in diesem Augenblick bemerkte Takae mit dem Scharfsinn der Frau eine neue Wölbung am Körper der Schwester. Diese Entdeckung drückte sie nieder und machte sie verschlossen und zurückhaltend. "Sie ist schwanger..."
Als sie nach einer Weile im stürmischen kalten Nachtwind heimgingen, bedrückte sie schwere Angst, sie konnte die trüben Bilder, die vor ihr auftauchten, nicht verjagen...
" Ich muß sie selber fragen und ihr einen Rat geben." Es war nur natürlich, daß sie ihrer Schwester mit Rat und Tat helfen wollte, aber sie wußte nicht, wie sie es anfangen sollte, weil Okayo ihr noch nichts darüber gesagt hatte. Es war schon Mitternacht.
Takae legte sich gleich auf ihre armselige Wattedecke neben den alten Vater und wollte wie gewöhnlich noch in einem geborgten Buch blättern, aber es war ihr heute unmöglich, der Schrift aufmerksam zu folgen, zu viele Sachen gingen ihr durch den Kopf.
Sie hörte noch eine Weile auf die kleinen leisen Geräusche Okayos in der Küche, dann schlief sie, müde von den Anstrengungen des Tages
ein.
Spät in der Nacht wachte Takae aus dem Durcheinander der Träume auf.
Sie hörte ganz deutlich ein Geräusch, wie wenn dünne Bambusrohre aneinandergeschlagen wurden... Es war noch lange bis zur Dämmerung.
" Was kann das sein?"
Erschrocken sah sie auf das Bett der Schwester neben sich, aber das war leer. Sie setzte sich auf, auch im Zimmer war Okayo nicht. Das Lager war schon kalt, sie war also schon länger fort. Takae wollte schon den Vater wecken, als sie vor dem Fenster ein Geräusch hörte. In Erinnerung an die gestrigen Ereignisse ergriff sie Angst. Vor dem Fenster floß der Senkawa-Kanal, zwischen den leisen Geräuschen der Nacht hörte sie Menschenstimmen - das war bestimmt auf der Brücke. Sie stand ganz leise auf und trat an die Tür, die sich geräuschlos öffnete, sie war nicht eingeklinkt. Gleich um die Ecke des Hauses war die Brücke, dort sah sie zwei Schatten im Mondlicht. Okayo - der andere Schatten war bestimmt Miatji... aber warum kam er hierher und warum
so spät...?
Sie zog sich unter das Dach des Hauses zurück und schloß den Kragen
des dünnen Nachtkleides.
" Wie unvorsichtig, bei so strenger Polizeikontrolle hierher zu kommen - und dann noch auf diese Brücke, wo er so leicht gesehen werden kann. Aber die beiden standen wie angefroren Hand in Hand an das Geländer gelehnt: sie sah das weiße Nachtkleid und den roten Gürtel Okayos, eingehüllt in den bekannten braunen Mantel Miatjis. Sie wartete fünf oder zehn Minuten, aber sie wollten sich nicht trennen, es sah aus, als weinte Okayo an Miatjis Brust. In der Ferne hörte man die Holzklapper der Nachtwächter. Der Mond kam über den Haksuanwald und lief zum Wald des Seminars.
In Takae stieg die Angst hoch. Natürlich konnte sie verstehen, daß er trotz aller Gefahren hierher kam. Aber es war doch zu gefährlich, auf der Brücke zu stehen.
" Oder will er sich selbst der Polizei stellen?"
Wenn die Polizei ihn jetzt entdeckte, würde Okayo mit ihm fortgeschleppt werden, - das durfte nicht sein, der schwache Körper konnte die Haft nicht ertragen.
Sie haben beide den Verstand verloren - sie raffte sich auf und trat vor das Haus. Aber als sie die beiden Gestalten auf der Brücke sah, schloß sie die Augen. Das auf der Brücke war jetzt eine Welt für sich. "Ach, Quatsch," flüsterte sie vor sich hin und ärgerte sich über sich selbst, daß sie hier als komische Figur herumstand. Dann ging sie wieder ins Haus.
" Bin ich etwa neidisch?"
Sie schlich behutsam auf ihr Lager, um den Vater nicht zu wecken. Aber ihr Kopf beruhigte sich nicht.
Miatjis fest geschlossene Lippen, die breite Stirn, sein männliches Gesicht standen ihr stets vor Augen, obwohl sie nie vergaß, daß er der Freund ihrer Schwester war.
Takae sah das Gesicht Fusa-tjans, die sie auslachte: "Sowas müßte verboten sein."
Der Wecker zeigte bereits halb vier, sie wälzte sich auf ihrem Lager und konnte ein Gefühl der Bangigkeit nicht los werden. In diesem Augenblick hörte sie leise Tritte, die über die Brücke und um das Haus gingen und vor der Tür hielten. Die Tür wurde geöffnet und Okaya trat zuerst herein, weckte die Schwester und sagte: "Einen Augenblick, Schwester, ich habe eine Bitte. "
Takae stand auf und tat, als ob sie jetzt erst wach werde. Okayo zeigte schweigend auf die Tür.
Da stand Miatji.
Takae zog einen Kimono über die Schultern und ging zu ihm.
" Komm herein. "
Dann ließ sie Okayo die Tür schließen und Feuer machen.
Schon als Okavo hereinkam war der Vater aufgewacht und sah den unbekannten blassen Mann unsicher an.
Vater. " Takae beugte sich zu ihm und flüsterte mit ihm. Er gab ein Zeichen des Einverständnisses, aber er legte den Kopf wieder auf die Kissen.
Na, was hast du?"
Takae ging zu Miatji, der, wie es sich gehörte, am offenen Feuer saß.
Er entgegnete leise:
" Ach, es ist nicht geglückt. Du hast wohl in der Zeitung davon gelesen?" Er lächelte traurig, auf seinen Backen lagen die scharfen Schatten der Müdigkeit und des Gehetztseins.
" Umsonst".
Takae sah dem Mann ins Gesicht. Sie schwiegen lange. Aber sie verstanden sich besser, als wenn sie viele Worte gesprochen hätten. Da kam Okayo mit frischer Glut für den Ofen. Ihre vom Weinen geschwollenen Augen blinzelten vom Lampenlicht geblendet. Miatji schob seine Socken herunter, nahm einen zusammengefalteten Zettel heraus und drückte ihn Takae in die Hand.
" Gib das Hagimura oder Nakai, es ist ein Bericht von einem Mann der wichtige Aufgaben bearbeitet. Gib es ihnen bestimmt." Miatji hatte unbedingtes Vertrauen zu Takae.
Sie willigte schweigend ein. Dann sagte Miatji einfach, ohne Zusammenhang:
" Ich werde mich morgen der Polizei stellen." Takae erschrak, aber Miatji fuhr ruhig fort:
" Ich finde es in der augenblicklichen Lage am besten. Das war von Anfang an so beabsichtigt, und jetzt gerade gibt es keinen anderen Weg, um die verhaftete Streikleitung freizukriegen." Er war entschlossen. Takae konnte kein Wort sagen.
Draußen auf der Straße ging die Nachtwache mit der Holzklapper vorbei, dazwischen hörte man das Klirren der Säbel und den Tritt schwerer
Stiefel.
" Jetzt gehen immer Polizei und Nachtwache zusammen."
" Miatji, willst du nicht hier schlafen?"
Als ihn Okayo so fragte, drehte er sich dem Lager der beiden Mädchen
zu und lächelte leise.
" Miatji ist ein tapferer Kerl, aber jetzt kann er doch nicht schlafen, wir
wollen lieber warmen Reis für ihn kochen."
Die beiden Schwestern gingen in die Küche und bereiteten den Reis. Der Mann, der zwei Tage und zwei Nächte lang dem Netz der Polizei entronnen war, folgte mit den Augen den Bewegungen der Mädchen, und
seine Lider wurden heiß.
Okayo bediente ihn, er nahm die Stäbchen, seine schmal gewordenen
Lippen verzogen sich wehmütig:
" Warm."
Der Dampf aus der Reisschüssel hüllte die beiden Gesichter ein, legte sich auf die Lider des Mannes, und Okavos Augen füllten sich mit Tränen.
Abschied auf wieviele Jahre... Takae ging hinaus und ließ die beiden allein.
Die kalte Morgenluft wurde schon heller. Takae sah den Himmel. Sie hatte ein heißes Schlucken in der Kehle. Dann hörte sie, daß Miatji hinter der Tür seine Schuhe anzog.
" Bleib gesund und kräftig", sagte die zitternde Stimme der Schwester.
Der Mann sagte nichts.
" Mach auf, Takae. "
Miatji stieß von innen gegen die Tür, sie ließ die Klinke los. Miatji kam heraus und drückte ihre Hand.
" Ich gehe jetzt, vergiß den Bericht nicht."
Der junge Kommunist drehte sich um und ging eilig fort.
" Schon gut, schon gut, weine nicht."
Während sie Miatji, der sich scharf in der hellen Dämmerung abhob und schnell davonlief, mit den Augen folgte, streichelte sie die Haare der weinenden Schwester wie in den Tagen ihrer Kindheit....
" Weine nicht. Weine nicht."

 

Kampfposten

I. Kuriere

Urplötzlich erhob sich der lärmende Klang der Glocken, mit denen die Extrablätter an den Straßenecken ausgeläutet wurden. "Der Rücktritt des Kensekai-Kabinetts!"
Vor den roten Säulen der Haltestellen, vor den Eingängen der Banken, vor den Toren der Fabriken, auf den Bahnsteigen, in den Schaufenstern, an den Anzeigentafeln der Zeitungshäuser flogen, tanzten und überstürzten sich die noch nicht trockenen Blätter und verbreiteten sich in einem Augenblick über die ganze Stadt. Die eiligen Schritte der Menschen, das Hin und Her der aufgeregten Blicke schufen in den Nachmittagsstunden, die im wirbelnden Staub lagen, von der matten Frühwintersonne überstrahlt, eine ängstliche Stimmung.
" Fiasko der Chinapolitik und Unfähigkeit zur Rettung der bankrotten Banken."
" Deshalb also ist das Kabinett zurückgetreten," murmelte der Mann mit Hut und europäischem Anzug. Nicht anders dachte der Mann in Mütze und Havelock, und der Mann in der Arbeiterbluse, der ein Rad schleppte. Der Student in der Uniform, der Schaffner der Straßenbahn, die Polizisten und ihre Offiziere wiederholten es - die Gesichter der Mitglieder des zurückgetretenen Kabinetts kannte jeder genau nach den Photographien oder von Karrikaturen. Ihre Gesichtszüge wurden durch die Zeitschriften und Ansichtskarten öfter und eindringlicher in die Köpfe der Bürger gehämmert, als die Bilder der Eltern und Brüder in der Heimat.
Es war allen geläufig, wie die Daten des Kalenders, daß der Finanzminister, der reiche Osaka, Generaldirektor des großen Mitsubichi-Konzerns, mit dem dicken, breiten Gesicht, dem schwarzen glänzenden Schnurrbart, stinkend nach der Schminke seiner Dienstmädchen und Freundinnen, mit den rücksichtslosen verschlagenen Zügen, sein Geld in den Ankauf des Terrains für den Hafenbau gesteckt hatte. Dieser Generaldirektor und Finanzminister hatte vor einigen Wochen plötzlich in allen großen Zeitungen Japans ein neues Wirtschaftsprogramm proklamiert. (So dachten wenigstens die Massen derer, die nicht aufzupassen verstanden.)
" Die Vernachlässigung und Undurchsichtigkeit der Finanzen in den verschiedenen Handels- und Industriegesellschaften unserer Klein - und Mittelunternehmer nach dem Weltkrieg machten strengste Rationalisierung und Liquidation unumgänglich. Trotzdem schien das große Erdbeben in Tokio und Umgebung vom September 1923 den Mittel- und Kleinunternehmern noch einmal die Möglichkeit eines neuen Aufschwungs zu geben. Diesen Zusammenbruch der Finanzen durch eine nachlässige und künstlich gehaltene Wirtschaftspolitik hat jetzt das Sejukai-Kabinett auszubaden. Das ließ die drohenden Gefahren immer schneller wachsen. Trotz der häufigen Warnungen unserer Kensekai-Partei brachte diese gedankenlose Art des Wirtschaftens unserer Klein- und Mittelindustrie nur ein trauriges Moratorium. Unsere Regierung wird nicht nur durch die Finanzeinschränkungspolitik eine unserer drei großen Grundlinien anstreben, um unsere traurige Finanzlage zur Gesundung zu führen, sondern auch für die bankrotten Banken und ihre Depositoren Richtlinien aufstellen..." Die Kensekai stützte sich auf die Industrie und den Handel in den Städten ganz Japans. Die Proklamation der Regierung mußte innerhalb dieser Partei große Erschütterungen hervorrufen. Aber diese Proklamation wurde schon nach einer Woche ein leeres Schreckgespenst, weil das Kabinett zurücktreten mußte. Nach dieser Proklamation schien der Grund des Moratoriums letzten Endes die gedankenlose Vernachlässigung der Finanzgeschäfte der Mittel- und Kleinunternehmer zu sein.
" Macht keinen Quatsch!" sagte Yatsuo, der lustig seinen Mantel über die Schulter gelegt hatte.
Im Zimmer waren fünf Männer, der junge Tomitjan, der für die Streikleitung Kurierdienste tat, hatte eben eine Extraausgabe von draußen hereingeholt.
" Was soll das bedeuten?" fragte der nette, intelligent aussehende Junge eifrig. Er war Schriftsetzer.
" Die prinzipielle Schuld trägt natürlich das Großkapital. Selbstverständlich gibt es Ausnahmen. Den ersten Stoß gab die Krise in Handel und Industrie, das heißt die Überproduktion, und die unmittelbare Ursache des katastrophalen Bankrotts war, daß die Großen ihren Beutel zusperrten", erklärte Yatsuo, das Extrablatt auf den übereinandergeschlagenen Beinen. Dieser Mann mit dem vollen, fast weiblichen Gesicht und der hohen Stimme war einer der tapfersten Kämpfer in der Leitung des Gewerkschaftsrates der Provinz Kanto. Es war so still im Zimmer, daß man hätte glauben können, es sei schon spät am Abend. Das Zimmer lag in der ersten Etage, ein Reklameschild des Restaurants verdeckte das Fenster gegen die Straße hin, auf der die elektrischen Bahnen vorbeiratterten. Gegenüber dem Fenster war in der Wand ein schmaler Durchlaß. Durch einen kleinen Eingang kam man vom Zimmer über eine schmale Treppe und durch die Hintertür des Restaurants ganz unerwartet auf einen alten Friedhof mit einem Buddha-Tempel, durch eine andere kleine Papiertür konnte man in ein kleines Zimmer des im Erdgeschoß liegenden Restaurants gelangen.
Sagen wir also ruhig, daß dieser etwa vier Quadratmeter große Raum, dessen einziger Schmuck ein paar schlechte Ölbilder waren, eben jener Raum war, in dem der Besitzer des Restaurants seine Mädchen ihre besonderen Einnahmen machen ließ.
Die Gesichter aber, die man jetzt in diesem Raum sehen konnte, paßten nicht zu diesen Dingen und gaben dem ganzen Zimmer ein groteskes Aussehen.
Wollte man hierher, war es geboten, sich an der Mauer des Friedhofes oder beim Eingang des Restaurants des öfteren umzusehen, ob einem niemand auf der Spur sei; deshalb wurde auch in dieser Kammer nur leise gesprochen. Von der Existenz dieses Zimmers wußten überhaupt nur ganz zuverlässige Leute.
Nakai und Watamasa saßen sich an einem kleinen Tisch gegenüber und zeichneten ungeschickt an einer Landkarte. "Sag mal, wer wird deiner Meinung nach das nächste Kabinett bilden?" fragte Yatsuo plötzlich Watamasa. "Ja, das wäre zu überlegen. "
Watamasa hob den Kopf und sah den andern an. Er mochte an die dreißig sein, hatte ein spitzes, vorgeschobenes Kinn, einen gestutzten Schnurrbart und war sehr mager. Tiefe Falten in der Stirn machten ihn älter als er war, aber alle seine Bewegungen verrieten rücksichtslose Energie. Er trug japanische Kleider mit schmalen Ärmeln. "Ich denke Sibirien..." "Du also auch -?"
Die Person, die in ihrem Kreise den Spitznamen "Sibirien" trug, war natürlich General Tanaka, der Vorsitzende der Sejukaipartei (Anm.: Militärpartei, vgl. Nachwort) der, wie jedermann wußte, die Verantwortung für die Militärexpedition nach Sibirien trug und Mittelpunkt der Korruptionsaffäre in der Armee war. "Ich denke auch", hob Nakai - scherzhaft "der lange Frühlingstag" genannt - seinen langen Pferdekopf vom Tisch auf. Seit Beginn des Streiks der Daido-Drucker hatte noch niemand von den Streikenden dieses Dreigestirn in der Leitung des Gewerkschaftsrats auch nur auf einen Augenblick zu Gesicht bekommen. Über einen Monat lebten sie schon in dieser kleinen Kammer im Verwaltungsbezirk Kotshikawa. Nur sehr wenige wußten davon, und man warf ihnen bereits vor, ihrer Sache untreu geworden zu sein. "Wenn es 'Sibirien' wird, dann gibts was", brummte Watamasa und beugte sich wieder über seine Karte.
" Ha, ha," Yatsuo lachte grimmig, wie immer, wenn er auf einen besonders gefährlichen Gegner traf.
In diesem Augenblick klopfte es an die Tür - dreimal, das verabredete Geheimzeichen.
" Herein", sagte Yatsuo. Ein weiterer Kurier, der geschlafen hatte, richtete sich auf und schlang die Arme um die Knie. Hagimura trat herein.
" Hallo!"
Die drei drehten sich zu ihm. "Neue Berichte?" fragten sie.
" Ja, sehr Wichtiges."
Hagimura setzte sich auf die umherliegenden Zeitungen.
" Da, es ist eilig."
Auf dem Zettel standen mit Bleistift drei Zeilen: "Am 19. abends wird die Gesellschaft alle entführten Lehrlinge mit Auto in die Mühlenfabrik fahren, zusammen mit den Buchbindemaschinen. "
Alle lasen den Zettel.
" Woher kommt das?" erkundigte sich Watamasa ruhig. "Von Miatji, ich habe ihn vor einer Stunde durch die Genossin Takae Haruki von der Frauenabteilung bekommen. "
Die drei Männer überlegten - das eilte - am 19. abend - das heißt heute abend - es galt also keine Zeit zu verlieren. "Wir wollen es so machen," sagte Watamasa, und die Köpfe beugten sich zueinander.
Tomi-tjan, der Kurier, informierte inzwischen Kijose:
" Der Genosse Miatji hat sich selbst der Polizei gestellt."
Die Beratung dauerte fünf Minuten. Nakai schrieb eilends die Befehle.
" Nakai, ich empfehle als Beobachter den Lehrling Hisachita, er ist zuverlässig." Tomi-tjan und Kiose bekamen je einen Befehl.
" Sehr eilig, mit Auto... seid vorsichtig," mahnte Yatsuo die beiden.
Sie verschwanden durch die Tür in der Wand und liefen in verschiedenen
Richtungen davon.
" Das hat man an die Gesellschaft geschickt," sagte Hagimura und nahm einen Zettel aus der Tasche, seine linke Hand wärmte er am Ofen. "Ist das die genaue Abschrift?" Watamasa faltete den Zettel auseinander:

Resolution.
Der Streik der Daido-Drucker zeigt deutlich, wie frech die Gesellschaft den Arbeitern das Recht auf ihre Existenz rauben will. Deshalb sprechen wir, die Eltern und Brüder der Lehrlinge, den 2500 Streikenden unsere Sympathie aus und stimmen dafür, daß während des Streiks unsere Söhne und Brüder die Arbeit niederlegen.
Vertreter der Eltern und Brüder der
Lehrlinge.
Genziro, Hisachita und weitere 32 Eltern.

"Ho, ho!" Alle besahen den Zettel. "Man muß diese Lehrlinge schleunigst befreien." Hagimura haßte das Lehrlingssystem, das er alle Tage mit ansehen mußte. Die Ausbeutung der Lehrlinge war noch schlimmer als die der Arbeiter.
" Ist eigentlich allerhand, daß noch im ganzen Osten das feudalistische Gildensystem selbst in den modernsten und fortschrittlichsten Fabrikationszweigen weiterlebt. 300 Lehrlinge arbeiten allein in der Daido-Druckerei. "
Watamasa und Yatsuo sahen sich an. Sie zeigten beide das gleiche bittere Lächeln. Hagimura kannte Watamasa schon sieben oder acht Jahre, seit der ersten Bewegung gegen das "Gesetz für Ruhe und Ordnung". All die Zeit hatte Watamasa ausschließlich für die Bewegung gearbeitet. Hagimura blieb in der Fabrik und tat dort seine Pflicht, und so hatten sie in den letzten drei Jahren keine Gelegenheit gefunden, sich zu sehen. Aber er erinnerte sich noch genau wie er und Watamasa, zusammen mit Kawai und Yamagishi, die dann vom Militär ermordet wurden, bei dieser Kampagne in einer Polizeizelle gesessen hatten. Zuverlässigkeit und Treue waren in die Stirnfalten dieses Dreißigjährigen eingegraben. Sein Kimono mit den schmalen Ärmeln war noch derselbe, den er vor acht Jahren getragen hatte. "Ach, das paßt ja, daß du gerade jetzt gekommen bist; hilf mir einen Augenblick, hast du Zeit?" fragte Watamasa, dem die Anwesenheit Hagimuras sehr gelegen kam.
" Ja, ich habe noch ein Stunde Zeit. - Was gibt es?" "Wir wollen eine Karte der Fabrik und ihrer Umgebung machen und du weißt doch sicher gut Bescheid dort, "sagte Nakai. "Ja, natürlich, ich kenne jeden Abort." Alle lachten und Hagimura trat an den Tisch.
" Die Umgebung der Fabrik haben wir nach dem Plan von Tokio eingezeichnet, aber wichtiger ist der weiße Fleck hier, wo wir den genauen Plan der Fabrikanlage einzeichnen wollen."
" Nichts leichter."
Hagimura nahm einen neuen Bogen und begann zu zeichnen.
" Dieser Privatweg, der zwischen der rechten und linken Werkstatt durchführt, ist ungefähr 360 Meter lang, er macht an dieser Stelle einen Bogen und endet am Abhang des botanischen Gartens. Das linke Seitentor geht nach Shimizudani, das rechte nach dem Abhang Densuin, verstehst du, und die Aus- und Eingänge sind..." beschrieb
Hagimura jede Einzelheit der Lage. Er kannte die Fabrik viel genauer
als die Zahl der Strohmatten in seinem Zimmer (Anm.: An Stelle von Teppichen sind die japanischen Zimmer mit Strohmatten ausgelegt, die in einer Normalgröße hergestellt werden, nach denen im Volke die Größe des Raumes angegeben wird.). Den größten Teil seines Lebens hatte er in dieser Fabrik verbracht.
Alle Eingänge der Fabrik wurden mit roten Strichen bezeichnet und bald war mit Hagimuras Hilfe die Karte fertig.
Hagimura konnte sich schon denken, wozu man diese Karte brauchte; das war keine Sache, nach der man fragte.
Es war im Zimmer fast dunkel geworden. Yatsuo drehte am Schalter.
" Es wird Zeit." Watamasa dachte an den Boten, da klingelte es.
" Telephon..."
Yatsuo ging an den Apparat, der in der Ecke des Zimmers verborgen war und nahm den Hörer.
" O, von Hisachita..." sagte er zu den andern hin.

 

II. Revolverschüsse

An der Kreuzung der Susageisastraße, im Verwaltungsbezirk Kotshikawa, neben dem roten Kasten des öffentlichen Fernsprechers, rechts an der Ecke des Geishaviertels von Haksuan schlenderte ein Junge mit breiten gelben Matrosenhosen herum. Das war Hisachita, den Hagimura vor einer Stunde im Restaurant "Kanarienvogel" empfohlen hatte und den sie aus 300 Lehrlingen ausgewählt hatten. Eines nach dem anderen leuchteten aus der wachsenden Dämmerung die Lichter der Straßenlaternen auf, standen erst matt in der Dämmerung; jetzt aber war es überall hell, wo ihr starkes Licht hinkam. Niemand kümmerte sich um die Anwesenheit des Jungen. Die Straßenbahnen fuhren, die Autos rollten. Radfahrer flitzten herum und die Menschen gingen eiligen Schrittes vorbei.
Hisachita sah aufmerksam nach rechts und links und ging dann wieder zur roten Telephonbude zurück.
Gesicht und Hände waren ungewaschen, aber die Stupsnase gab dem Jungen ein freundliches Aussehen. Eine kleine Geisha mit ihrem Patron ging an ihm vorüber, in diesem Augenblick stieß der Junge die kleine Geisha zur Seite und flitzte in den Schatten neben einem Drogerieschaufenster. Er hatte gesehen, wie oben an der Kurve der Straßenbahn drei Autos einbogen. "Das sind sie!"
Hisachita versteckte sich und machte sich klein, um von dem Licht aus dem Schaufenster nicht getroffen zu werden.
Es waren zwei Privatautos mit geschlossenem Verdeck und ein Zweitonnenlastwagen der Gesellschaft, der ihm bekannt war. Die drei Autos fuhren mit höchster Geschwindigkeit an dem Jungen vorbei.
" Das ist der Lastwagen!"
Zwischen Maschinen und Papierballen sah er in dem Wagen die wohlbekannten Gesichter seiner Kollegen. Hallo! wollte er gerade rufen, besann sich aber rechtzeitig.
''Zweitausendeinsundneunzig, zweitausendeinsundneunzig... " sagte er die Autonummer vor sich her, die hinten am Wagen wackelte, nahm ein Stück Papier aus der Tasche und notierte sie. Die drei Wagen fuhren geradeaus, den Abhang des Haksuan hinauf, bogen nach links ab und verschwanden in der Finsternis. "Zum Teufel, wohin wollen sie unsere Kollegen bringen?" Die Gesellschaft hatte unter dem Vorwand, die Lehrlinge zu schützen, einen Teil von ihnen mit Gewalt geraubt und festgehalten und wollte sie nun an diesem Abend heimlich irgendwohin bringen, wo sie zur Arbeit gezwungen werden sollten.
Hisachita trat in die Telephonzelle, nahm den Hörer, verlangte Amt und Nummer:
" Hallo, ist da Yatsuo von der S-Leitung?" Er berichtete mit aller Ausführlichkeit; was er erzählte, konnte aber kein anderer verstehen, weil sie besondere Ausdrücke verabredet hatten.
" Zweitausendeinsundneunzig, jawohl; außerdem noch zwei Privatwagen, sie verschwanden am Abhang des Haksuan nach links. - Was? - Bestimmt, ich habe die Gesichter meiner Kollegen im Lastauto erkannt. Er hängte den Hörer an und trat hinaus. Die Aufgabe war erledigt. Hisachita ging mit festen Schritten über die Kreuzung und verschwand pfeifend am dunklen Abhang des botanischen Gartens.

Weit schwieriger war die Aufgabe, vor der die zweite Gruppe stand. Zwischen den Vorstädten Itabachi und Sugamo, am Ende der Häuserblocks, wo die Häuserreihen wie zerbrochene Kämme zwischen Stadt und Land stehen, hielten mit abgeblendeten Lichtern zwei Autos, als ob sie auf Fahrgäste warteten. In den beiden dunklen Wagen saßen je drei junge Männer in gespannter Erwartung. Ein Mann mit einer Brille und ohne Hut saß am Steuer. Er schob den Kopf heraus und fragte nach rückwärts in den Wagen:
" Kuroiva, hast du dich auch nicht verhört? War es vielleicht um sieben Uhr?"
Als Antwort kam ein Kopf mit einer Mütze hervor, zu dem ein großer, kräftiger Mann gehörte: "Nein."
Er stieg aus dem Wagen und kam zu dem Mann mit der Brille. "Bestimmt um sechs, ich habe das doch auf dem Befehlszettel gelesen, nicht nur so gehört. Wenn inzwischen was passiert ist, werden wir es schon noch erfahren. "
Der Chauffeur des anderen Wagens trat zu ihnen:
" Kollegen, wenn's vorbei ist, müssen wir mit der Sirene das Zeichen geben. Rufe sind bei solchem Klamauk nicht zu hören. " Auch der Chauffeur war ein Streiker aus der Transportabteilung der Gesellschaft. Der Mann mit der Brille hockte jetzt auf den Knien neben dem Wagen an der Erde und sagte:
" Wollen wir vorsichtshalber noch einmal besprechen, was zu tun ist?" Von dem zweiten Wagen kamen die anderen fünf. "Aber Kakekawa, wenn es sehr viele Lehrlinge sind, können wir gar nicht alle in unseren Wagen nehmen."
" Halb so schlimm... ist ja nur für kurze Zeit. Meiner Meinung nach sind es etwa fünfzehn, weil ja im ganzen nur dreißig geraubt sind." Die Brille wußte über alles Bescheid, er schien der älteste von ihnen zu sein.
" Sie wollen das "Fusi-Magazin" vom Yamato-Kodan-Verlag binden lassen, das schon ausgedruckt ist, um es bis Neujahr rauszubringen, aber das nutzt ihnen doch nichts."
Kuroiva lachte. Die Streikenden durften nicht zulassen, daß auch nur dieser kleine Teil gemacht wurde. Ihr Kampf ging jetzt auf Leben und Tod. Eine kleine Atempause, ein kleines Sich-Recken konnten große Verzögerung und unabsehbare Verlängerung des Kampfes bedeuten. Besonders diese Geschichte mit den Lehrlingen war für die Streikenden von größter Bedeutung, weil sie ihnen von der Gesellschaft geraubt waren. Welche Opfer würde es kosten, diese kleinen Genossen zurückzuholen !
" Achtung!" rief der Genosse, der vorn als Wache stand, dem Kreis zu, "sie kommen!"
Kaum hatten sie sich erhoben, als sie die drei Autos die menschenleere Straße herabkommen sahen. Eins . Zwei. Drei. "Das sind sie."
Für die drei Leute im ersten Wagen war die Brille der verantwortliche Führer, für den zweiten der große Mann. "Zweitausendeinsundneunzig Allright."
Sie ließen die Autos vorbeifahren, dann blendeten an beiden Wagen die Scheinwerfer auf, lärmend sprangen die Motoren an und mit knapper Wendung auf die Straße brausten die Wagen hinter "2091" her. Bald hörten die Häuser an der Itabachilandstraße auf, sie sprangen zurück wie die kleinen Kiesel, die von den Reifen der Autos gefaßt wurden. Die Lichter der Autos spalten die Finsternis wie Keile, die fünf Wagen rasten wie vom Teufel gejagt hintereinander her.
" Herrlich, wir machen Kintopp in Wirklichkeit!" rief grinsend Kuroiva seinen Leuten zu, die vor Aufregung bleich waren.
" Die da vorne haben scheint's schon bemerkt, daß wir hinter ihnen her sind," sagte die Brille, die neben dem Chauffeur saß. Die Leute, die unter strenger Kontrolle der Streikenden in dieses Abenteuer gingen, trugen eine schwere Verantwortung.
Der Lastwagen fuhr über einen Eisenbahnübergang. Das kam unerwartet. Nach ihren Informationen sollte das Ziel der Wagen die Mühlenfabrik von Itabachi sein. Doch dann hätten sie rechts von den Schienen abbiegen und nicht über die Bahnlinie fahren müssen. "So, so, es scheint, sie wollen uns täuschen."
Ohne abzustoppen, rasten die beiden Autos hinterher. Die Häuser von Itabachi lagen hinter ihnen. Die Wagen fuhren jetzt auf der Landstraße zwischen Wasserfeldern (Anm.: Die Reisfelder werden im Frühjahr überflutet.) - fünf Minuten - sieben Minuten. Nur zur rechten sah man den Lichtschimmer der Vorstadt Itabachi. "Wohin sie wohl fahren?"
Im kalten Nachtwind und in der Erwartung des Kampfes strafften sich die Körper der Männer.
" Sie fahren um die Ecke. Die Bande will einen Umweg machen," schrie die Brille. Kuroiva steckte seinen Kopf aus dem Wagen: "Ausgezeichnet, überholt sie!" brüllte er, den ganzen Mund voll Wind. "Achtung!" wurde nach hinten befohlen; die Gelegenheit darf man nicht versäumen, dachte die Brille.
" Jetzt muß ich meinen Spielzeugrevolver arbeiten lassen"; der Mann mit dem kahlen Schädel im ersten Wagen zog sich die Jacke aus. Seinem bösen angespannten Gesicht mußte jeder glauben, daß der Revolver echt sei.
Die Motoren liefen mit Vollgas, die Maschinen zitterten vor Schnelligkeit, unter den Rädern sprangen kleine Kiesel in die Luft. 20 Meter - 16 Meter - 10 Meter. Auf der ausgefahrenen Landstraße stießen und sprangen die Wagen; jeden Augenblick konnte es eine Panne geben.
" Kinder, wir kommen!" Der Wind riß die Stimme in die Finsternis. Sechs Meter - zwei Meter - sie waren vorbei, beide Wagen bremsten hart ab, die ganze Straßenbreite versperrend - "Halt!"
Der Mann mit dem rasierten Schädel sprang vom ersten Wagen, lief an den Führersitz des feindlichen Autos und zielte mit dem Revolver auf die Leute. Im selben Augenblick erhielt er einen Schlag auf den Arm, der sofort gefühllos wurde und herabsank. Aber die Wagen hielten.
" Halunke... !" Kuroiva sprang auf den Lastwagen und umschlang den Mann mit dem Knüppel. Der Lastwagen, der einen Zusammenstoß mit den andern Wagen hatte vermeiden wollen, war mit einem Rad auf das weiche Feld geraten und stand ganz schief; er war in der Dunkelheit in dem überschwemmten Boden festgefahren. Vier Männer sprangen von den Autos der Gesellschaft. Sie hatten Knüppel und Dolche und rangen mit den andern auf den Wasserfeldern. "Vorsichtig, nicht so aufgeregt", rief die Brille den Genossen zu. Die großen Lampen der Automobile strahlten nach allen Richtungen und beleuchteten hin und wieder die Gesichter der Kämpfenden. "Steigt aus, schnell, schnell", rief der mit dem ausrasierten Schädel den ängstlichen Lehrlingen zu. Die Genossen waren in einer schlechten Lage. Die Feinde waren alle bewaffnet. Kuroiva konnte deshalb nicht an seinen Gegner herankommen und wurde auf dem Felde herumgejagt.
" Schurke!" Er glitt nieder, nahm eine Handvoll Erde und Steine und warf sie dem Mann ins Gesicht, aber in der Dunkelheit verfehlte er sein Ziel, der Bursche hob dicht über ihm das Messer. "Gefahr!"
Die Brille kam heran und warf, weil es nicht schnell genug ging, seinen Knüppel auf den Messerhelden, der mit dem Kopf auswich und so dem unter ihm liegenden Kuroiva ein Ziel bot. Der traf ihn mit einem Stein mitten ins Gesicht.
" Umstellt sie!" brüllte die Brille. Auf den sumpfigen Feldern zitterte die Finsternis wie Wassergras im Meer.
Die Kieselsteine flogen - die Steine waren immer unsere beste Waffe. Die Lehrlinge schossen mit den Kieselsteinen Deckungsfeuer. Die Feinde waren Strolche, gewerbsmäßige Bösewichte, aber die Unseren waren ihnen überlegen.
Da blitzte ein Feuerschein in der Dunkelheit auf. "Lump!"
Kuroiva sprang von hinten dem Strolch auf den Rücken. Einer wälzte sich am Boden. Es roch nach Pulver.
" Hör auf!" schrie die Brille und zog Kuroiva hoch, die Sirenen der Autos brüllten durch die Nacht. Die Mannschaft der zwei Autos quetschte sich mit den Lehrlingen in die Wagen, ihre Augen waren blutunterlaufen. "Scheiße!"
Einer der Rowdys erhob sich mit letzter Anstrengung. In diesem Augenblick setzten sich die Autos in Bewegung. Päng - - ein scharfer Knall zerschnitt die Finsternis. "Oh!"
Die Brille schrie auf und fiel in den eben anfahrenden Wagen. Im Licht der Schlußlampe schwelte der gelbe Rauch eines Schusses. Finsternis. Zwei Autos verschwanden wie der schnelle Wind.

 

Die Masken ab

I . Stadtverordnete

Müde - ach, so müde war Hagimura, daß er nicht mehr vernünftig zu denken vermochte, obwohl er sich Mühe gab, seine Gedanken zusammenzuhalten. Er legte seinen Kopf in die weichen Gräser, die schon gelb wurden, sie waren weich wie die Halshaare der Hunde aus dem Nordland. Seine Gedanken waren stumpf und matt.
Nein - er schüttelte den Kopf und zwang sich zur Überlegung: all diese Schiedsmänner im Schlichtungsausschuß waren ihrem Wesen nach nichts weiter als Funktionäre des Bürgertums; die rechten Gewerkschaftler Ynoshita und Yshikawa nicht weniger als der Direktor des Yamato-Kodan-Verlags, sie waren alle gleich. Wenn man sie unvoreingenommen ansah, waren sie nicht neutral, hatte Nakai gesagt. Aber konnte man das so einfach behaupten? Kunio, der Direktor vom Yamato-Kodan-Verlag, hatte als Kunde starken Einfluß auf die Daido-Druckerei, zu der auch die andern Druckereiunternehmer in den verschiedensten Beziehungen standen. - Die Erfahrungen des Streiks vom Jahre 1924 haben gezeigt, daß es sehr zweckmäßig sein kann, bürgerliche Kräfte während des Streiks auszunutzen, hatten er, Hagimura, wie auch Takagi eingeworfen. - Aber Nakai hatte ihnen auseinandergesetzt, diese Methode sei nur in besonderen Fällen anzuwenden und habe keine prinzipielle Bedeutung. Ganz unparteiisch betrachtet müsse man nach der augenblicklichen Lage der Dinge auf solche Spezialitäten verzichten, sich davon freimachen. - Alle diese Gedanken zogen durch Hagimuras müden Kopf. - Ob seit 1920 mein Kopf und Takagi seiner eingerostet ist... oder macht Nakai einen Denkfehler... "Wach auf!"
Ein Fußtritt traf seinen gebogenen Rücken. "Laß das..."
Hagimura konnte sich noch nicht von der Wollust des Schlafes losreißen; alles in ihm wirbelte durcheinander und seine Gedanken waren ohne jede Klarheit.
" O, so müde, was für'n Teufel hat mich mit dem Fuß gestoßen", sagte Hagimura. Er mochte nicht aufstehen, unlustig und verzagt reckte er sich und gähnte - da sah er mit seinen verschlafenen blinzelnden Augen eine schöne Frau, die wie eine Hofdame aussah und über eine geschwungene Brücke auf ihn zukam. -
Die Mittagssonne hatte die gepflegte Grasfläche des Hügels, auf dem er lag, schön durchwärmt, und auf die dicht mit Sträuchern bewachsene Mulde am Berg fielen die warmen Sonnenstrahlen wie durch ein Brennglas.
Man kann sich kaum vorstellen, daß es mitten in der Großstadt noch einen solch abgeschiedenen Ort gibt. Da sind Hügel und Täler, Bäume und Brücken. Die vielen Diener und Gärtner hatten in dieser freien demokratischen Zeit nur zu dem einzigen Zwecke hier Aufenthaltsrecht, um die vielen Raupen von den Bäumen zu verjagen und die Erde zu fegen.
Der Lärm der Straßenbahnen und die Schreie der Autos waren von diesem geheiligten Ort weit entfernt. "Hagimura, steh auf!"
Ein kleiner Grasballen flog ihm ins Gesicht; als er böse, die Gräser aus dem Mund spuckend, aufstand, lachten Yamaura und Kamet ihn aus.
" Pfui, Teufel, so ein Schurke!"
Hagimura faßte Yamaura an seinem schmutzigen Stiefel und zog ihn den Berg hinunter. Yamaura stürzte und rollte wie ein Bündel Lumpen den Abhang hinab. Hagimura entschuldigte sich lachend. Im Garten war ein Pavillon, davor standen mit den vertrockneten Gesichtern alter Mandarinen die Arbeiter Takagi, Yshisuka, Yamamoto, Teraishi, Ando, Tsurumi, Ujenojama. Sie gaben sich Mühe, über ihre Schläfrigkeit durch die Lösung der ganz unmöglichen und törichten Frage hinwegzukommen, wie lange einer, ohne wahnsinnig zu werden, ohne Schlaf auskommen könne. Dann sprach man darüber, daß man Verbrecher durch Entziehung des Schlafes mürbe machen könnte, oder wie in einer russischen Novelle von einer Amme zu lesen war, die auf diese Weise das Kind ihres Herrn tötete. Auch wie in einem europäischen Roman die Rede darauf kommt, daß durch den Druck der Müdigkeit mehrere Arbeiter von Halluzinationen befallen, das Gekreisch der Druckmaschinen für das Gebrüll von Löwen hielten und mit eisernen Stangen auf die Maschinen losschlugen. "Wir werden auch bald Halluzinationen haben."
Takagi lachte klanglos mit tiefer Kehlstimme. Da kam die Frau, die einer Hofdame glich, mit Kaffee; sie war so höflich und bescheiden und zeigte niemals ihre weißen Zähne, so zahm war sie. Hagimura und andere kamen zwischen den Büschen heraus. "Hallo, Hagimura, trink Kaffee!" schrie Takagi. Das Dienstmädchen goß einem Arbeiter nach dem andern aus einer silbernen Kaffeekanne ein.
" Ach, längst genug, ich habe seit gestern mittag schon fünfzig Tassen Kaffee getrunken", sagte Hagimura; er drängte die Leute zur Seite und setzte sich auf die Bank. Er sah dem Dienstmädchen in die Augen, die waren grundlos, als sähe man durch Glas.
" Hagimura, schau nicht so scharf, sie wird gleich Naginata (Anm.: Ein Zaubertrank, ähnlich dem griechischen Lethe.) bringen", scherzte Takagi mit ihm, und das arme Mädchen mußte in das Lachen einfallen. Wirklich, alle Dienstmädchen und Diener waren hier auf das Schema "Yamato Kodan" eingestellt.
Selbst bei solchen Gelegenheiten blieb Nakai immer ernst. Sein "langer Frühlingstag" war leicht bewölkt. Am ähnlichsten war ihm Minayama, der Direktor der Technik-Druckerei.
" Wir sind im selben Stall", hatte gestern Yamamoto gescherzt und mit seiner hohen Stimme dazu gelacht, als die Arbeiter in einer Sitzung mit den Leuten vom Schlichtungsausschuß zusammen waren und Minayama mit seinem langen Gesicht die verspätete Antwort der Gesellschaft entschuldigte.
" Aber was machen wir jetzt?" fragte Takagi wieder ernst. Die Leute vom Schlichtungsausschuß hatten sie hierher eingeladen, aber die Antwort von der Gesellschaft war noch nicht gekommen. In der Dämmerung wurden sie abermals benachrichtigt und auf 10 Uhr vormittags vertröstet.
" Jetzt ist es schon 9 Uhr, wollen wir den dritten Vorschlag der Schiedsmänner bewilligen und bis 10 Uhr warten, oder wollen wir fortgehen? Wir wollen jetzt darüber abstimmen."
Kamei stand auf und beobachtete die Umgebung. Die Frage lag an und für sich sehr einfach, aber dahinter versteckte sich ein Schachzug der bürgerlichen Vermittler. Die Arbeiter wurden unruhig, weil sie sich dieser bürgerlichen Diplomatie nicht gewachsen fühlten. Sie mußten sich in jedem Falle erst zurückziehen und von ihren Grundsätzen aus eine Taktik aufbauen.
" Halt, einen Moment!" schrie Kamei, der bemerkt hatte, daß in den nächsten Büschen sich etwas bewegte. Alle sahen sich um: es war ein Junge in der Uniform eines Schülers - "ein Telegramm" - er schob Takagi ein Stückchen Papier hin. Es war ein Bote vom Gewerkschaftsbüro. Takagi öffnete das Kuvert und las: "ein Uhr nachmittags eintreffe bahnhof tokio oda."
Das Papier ging von Hand zu Hand und auf die vertrockneten Gesichter kam ein Lächeln. "Wir wollen nah Hause gehen. " Das Telegramm war von der Generalleitung der Gewerkschaft in Osaka:
Oda, der Vorsitzende des Z.K. der Gewerkschaft, würde heute in Tokio eintreffen.
" Also dann wollen wir in der Frage unseres Verhaltens gegen den Schlichtungsausschuß erstmal mit dem Genossen Oda diskutieren. Und jetzt wollen wir heimgehen. "
Nakai nickte schweigend; er sprach nur sehr selten, seine Meinung über den Schlichtungsausschuß war das Resultat klarer Überlegungen, aber er machte seinen Mund nicht eher auf, als er seiner Ansicht ganz sicher war.
Dieser Mann mit dem langen Gesicht war der Verbindungsmann von der ersten Etage des Restaurants "Kanarienvogel" mit der offiziellen Organisation der Streikenden.
" Die Arbeiter, von diesem heiligen Ort erlöst, rannten wie die übermütigen Kinder den Abhang hinab und verschwanden im Schatten der Sträucher. Bald erschienen sie wieder am Haupteingang des Gartens, von den liebenswürdigen Blicken Ynoshitas und Minayamas, die auf der Veranda des Hauses standen, begleitet.

"Sind die Arbeiter schon fortgegangen?" fragte Herr Kunio, als Ynoshita und Minayama in den Saal zurückkamen. Dieser ganz japanisch eingerichtete Saal war ungefähr sechzig Quadratmeter groß. Kostbare Intarsien in der oberen Wand und die Maserung der Holzdecke gaben dem Raum eine große Ruhe und Würde. Am Griff der zwei Meter hohen Papiertür hingen große rote Quasten, sie erinnerten an die Entstehung dieses Hauses, das vor etwa sechzig Jahren einem reichen Fürsten gehört hatte. Herr Kunio saß dick und würdevoll auf weichen lila Kissen aus Chinaseide. Im Saal waren außer ihm, Ynoshita und Minayama noch sechs oder sieben Leute. Ynoshita sagte, als er an seinen Platz ging:
" Na, die Arbeiter sind sehr ungeduldig. Aber darf ich Sie fragen, meine Herrschaften, ob sie gut geruht haben?"
Die Leute im Saale dachten alle, daß einem nicht ausgeruhten Gaumen ni:hts gut schmecken kann.
" Ach, schrecklich, ich habe nur wenig geschlafen, und mein Schnupfen geht nicht weg", entgegnete Herr Kunio mit seinem Konterbaß. Er mußte husten, und sein zwanzig Zoll breiter Hals schwoll auf wie bei einem singenden Laubfrosch.
" O, das ist schlimm, Sie sehen aber doch so gut aus. Natürlich macht dieser Streik jedem großen Kummer." Der Stadtverordnete schwatzte gern.
In seiner Eigenschaft als Direktor der Klischeeanstalt wollte er die Gelegenheit ausnutzen, um von Kunio, seinem besten und größten Kunden, etwas herauszuholen. Herr Kunio stützte sich mit beiden Händen, dick wie Weinflaschen, auf eine silberne Feuerzange, die in der Glut des Bronzeofens steckte, sein Fußballgesicht blieb ungerührt. Die Herrschaften hatten seit gestern abend schon fünfmal das Zimmer gewechselt. Das Haus hatte ungefähr dreißig Zimmer, europäische, chinesische, japanische - und jedesmal hatten sie andere Getränke und andere Speisen genossen. Die Herrschaften verstanden sich auf die verschiedensten Arten der Unterhaltung, und jeder Wechsel der protzigen Zimmerdekorationen ergab neue Gesprächsthemen. Aber was diese gelehrten und geschwätzigen Herren nicht verstehen konnten, das waren die Führer der Streikenden, die aussahen, als seien sie Abfälle, die hierher gekehrt worden waren. Sie saßen, nur mit Kaffee versorgt, von gestern abend bis heute. Obwohl auch ihre Gesichter nichts verhehlten, konnten die Herrschaften, selbst Ynoshita, in ihrem Bauch lesen. Sie waren so ofenherzig und tapfer, aber den Herren immer unverständlich. Wenn die Herrschaften mit den Arbeitern redeten, glaubten sie immer vor dem glühenden Lokomotivkessel, einer Eilzugmaschine zu stehen: niemand kann wissen, wann er explodiert.
" Die Arbeiter sagen immer 'natürlich.' Aber mir scheint, 'natürlich hat bei uns einen ganz anderen Sinn."
Der Direktor des Verlags "Damenwelt" brachte das als neueste Entdeckung vor. Er war nebenbei der festen Meinung, daß die japanische soziale Bewegung nur durch Unterstützung fremder Helfershelfer existieren könne. Zu dieser Meinung fühlte er sich berechtigt, weil er einmal dem japanischen Anarchisten O. das Reisegeld nach Frankreich spendiert hatte. Die Herrschaften hatten alle ein großes Maul wie die Frösche, der Fußball war die dicke Kröte unter all den Ochsenfröschen, Regenfröschen, roten und karierten Fröschen. Aber diese Reptilien interessierten sich gar nicht für diese neue Entdeckung, über die Bedeutung des Wortes 'natürlich' . Sie waren alle geschwollen von schlechter Laune und recht nervös, weil die Direktoren der Shitatchi-Druckerei und der Wirtschaftszeitung "Diamant" noch nicht zurück waren. Die beiden hatte man als Unterhändler zu Okawa gesandt. Den Verlegern - besonders Herrn Kunio - brachte die eintägige Verspätung der Lösung einen Schaden von einigen Millionen. An der Wand hinter dem Fußball hing ein großes Schriftbild mit der Inschrift "Treue und Pflicht": Seine vielen Last- und Lieferwagen, die in großen Reklamebuchstaben die Aufschrift trugen: "Dem Vaterland dienen mit Zeitschriften", steigerten den Prozentsatz der Verkehrsunfälle in der Stadt Tokio.
Die zahlreichen Druckerzeugnisse des Yamato-Kodan-Verlags, die unterschiedlichen Unterhaltungszeitschriften, Bücher und Lehrbücher, zusammen zwanzig Prozent der gesamten japanischen Buchproduktion wurden alle von der Daido-Druckerei gedruckt. Die Aktien der Daido-Druckerei erfaßten ein Kapital von 10 Millionen Yen und konnten nur durch diese großen Kunden ihren Kurs auf einer bestimmten Höhe halten. Katis in Amerika und Kunio in Japan: alle Zeitungen brachten die Porträts der beiden Bücherkönige auf ihren Titelseiten. Aber die Streiks, diese internationale Mode, begannen diesen Fußball internationaler Größe zu quälen. "Treue und Pflicht" und Tapferkeit im ganzen Leib, mit diesen zwei Parolen hatte er während der ganzen Epoche seiner Kämpfe, von der Kolportagezeit bis auf diesen Tag, alle Hindernisse niedergeworfen - aber diese internationale Mode auszutilgen, reichten seine Mittel nicht aus. Er hatte versucht, mit seiner Idee"dem Vaterland dienen mit Zeitschriften" diese internationale Mode zu schlagen; dafür wurde in seinen fünf Millionen Zeitschriften Monat für Monat von Kaisertreue, von Kusunoki-Masatsura, einem alten kaisertreuen Ritter, und von Fleiß und Treue des Weisen Ninomija Sontoku gepredigt. Aber diese internationale Mode verbreitete sich immer mehr, und in diesem Streik stellte sie einen Dauerrekord auf, der alles Dagewesene übertraf. Sie hatte einen Maßstab angenommen, der ihn noch trauriger machte, als wenn seine zwei Söhne an Typhus erkrankt wären. Eine ganze Reihe Drucksachen kam zu spät heraus und schon manche Nummer mußte ausfallen. Wohl hatte er das meiste an kleinere Druckereien verteilt, aber alle zusammen hatten keine so große Produktionsfähigkeit wie Daido.
" Wollen Sie nicht selbst eine Druckerei einrichten?" fragte schnaufend Matsomuto, der Direktor der "Damenwelt". "Sie sind doch anders gestellt als wir, und wenn man so viel zu drucken hat wie Sie, wäre das doch rentabler. "
In der Tat hatte er recht. Kunio, der viele Aktien und Anteile von
Druckereien besaß, hatte schon oft an derartige Unternehmungen gedacht, aber er war klüger und wußte genau, daß Arbeiter nicht so gehorsam sind wie die Redakteure und Korrespondenten seiner Gesellschaft. Er traute sich nicht, seine berüchtigte Gerissenheit gegenüber den Angestellten auch an den Arbeitern zu versuchen.
" Nein, ausgeschlossen, ich bin zu unbedeutend und habe auch nicht genug Kapital dafür."
Der Fußball schob mit der Bescheidenheit einer Frau seinen etwas verrutschten Heiligenschein wieder hoch.
Da öffnete ein Diener die Tür, kniete auf der Schwelle nieder: "Herr Ynoshita, ein Telefonanruf für Sie." "Endlich kommt es."
Ynoshita stand heiter auf, alle glaubten, es sei die Antwort der Daido-Druckerei, und alle Herzen erhoben sich einmütig zu einem Gebet um eine ihnen günstige Lösung. Für die Verleger war es besser, wenn dieser Streik schnellstens beigelegt - für die Druckereibesitzer, wenn die Lösung scheitern und der Streik fortdauern würde. Hinter diesen gegensätzlichen Interessen kämpften die Druckereiunternehmer mit allen Tricks, sich jetzt die Kunden einander abzugewinnen, und ganz im Hintergrunde dieses Streiks gab es geheime Kämpfe im Druckereiunternehmerverband: sie wurden geleitet vom Finanzblock, der gegen Okawa gerichtet war. Ynoshita kam mit einem beunruhigten Gesicht in den Saal und sagte eilig:
" Baron Shibusaka hat mich eben angerufen, ich soll sofort zu ihm kommen, ich verstehe das nicht. " Er ging zum Fußball und verabschiedete sich:
" Entschuldigen Sie, daß ich auf eine Stunde fortgehe. Wenn Sie einen Wunsch haben, rufen Sie mich bitte im Zimmer 85 im Dai-ithi-Sogo-Building an. "
Der Abgeordnete war aufgeregt. Shibusaka war sein Meister. Er sprang in seinen vor der Haustür stehenden Packard. Im schwankenden Wagen dachte er darüber nach, was Shibusakas Sekretär gesagt hatte. - "Der junge Baron war sehr böse; er sagte, das sei recht blödsinnig von Ynoshita, er hätte ihn für klüger gehalten. Ich halte es für richtiger, wenn Sie sofort zu ihm kommen und seine Laune beruhigen."
Das Auto fuhr über die Edokawa-Brücke, unter dem Kodan-Abhang am Graben des kaiserlichen Schlosses entlang bis zum sieben Stock hohen Dai-ithi-Sogo-Building.
Er bemerkte gar nicht, daß ein Motorrad ihm den ganzen Weg bis hierher gefolgt war und dann in der Richtung auf den Bahnhof Tokio verschwand.
Natürlich hatte er keine Ahnung, daß seine Autonummer 5-713 immer, auch wenn er nicht schneller als die polizeilich zugelassene Höchstgeschwindigkeit fuhr, von einem Motorrad verfolgt wurde. Und am wenigsten konnte er ahnen, daß gerade die Streikenden, die er so gut einzuseifen gedachte, über eine Organisation verfügten, die ihn ständig beobachtete.

 

II. Das Haus am Bahndamm

Der Thronfolger der Familie Shibusaka war ein jugendlicher Parlamentsabgeordneter und als fortschrittlicher Denker bekannt. Durch seine demokratische Art und die exakten Kenntnisse, die er auf der Universität Cambridge erworben hatte, war es ihm gelungen, die merkwürdige Blume "neuzeitlicher"Adam Smithscher Theorien auf den spröden alten Boden väterlicher Tradition zu verpflanzen. Wenn es die drei Musterfabriken Tojo-Textilfabrik, Matsuja-Lokomotivwerk und Tokio-Meßinstrumentefabrik nicht gegeben hätte, würde der Arbeitsbericht der Wohlfahrtsabteilung beim japanischen Innenministerium noch kläglicher und die Forderung des internationalen Arbeitsamtes nach Aufhebung der Ausnahmegesetze für Japan noch "energischer" ausgefallen sein.
Aber dieses junge Reichstagsmitglied des "neuen Japan" war an diesem Morgen recht müde und schlechter Laune, weil er nach dem gestrigen Autoausflug ganz gegen seine sonstigen Gentlemen-Gepflogenheiten in einer Music-hall etwas reichlich gesündigt hatte.
" Rufen Sie bitte Herrn Ynoshita!" befahl er einem Pagen und nahm die Visitenkarte Ynoshitas, die seit einer guten Stunde, während der er mit drei Herren verhandelt hatte, auf seinem Schreibtisch lag. "Nehmen Sie bitte Platz, entschuldigen Sie, daß ich Sie so lange warten lassen mußte. "
Er sah Ynoshita an, der noch viel feiger war als der Diener, der ihn hereingeführt hatte, erhob sich ein wenig und zeigte auf einen Drehstuhl, der durch zwei Schreibtische von ihm getrennt stand. (Die Leser wissen vielleicht, daß solche Gentlemen stets gern diese großen Tische benutzen, nicht wegen ihrer Schönheit oder aus geschäftlicher Notwendigkeit, sondern als Barrikade, wenn sie "gefährliche" Arbeiter empfangen müssen, um ihre Großzügigkeit zu beweisen.) Aber im Falle Ynoshita hatte er solche Rücksichten nicht nötig. Er war ein englischer Gent, keiner vom Schlage dieser Orientalen mehr, die ihren Besuchern ständig den Geruch der Schminke ihrer Mädchen vom gestrigen Abend zu riechen geben, und er trug einen Anzug von tadellosem, englischen Schnitt.
" Ich habe mich beeilt, auf Ihren Anruf zu Ihnen zu kommen. " Ynoshita konnte nicht einsehen, warum er blödsinnig sein sollte. Der junge MdR. beugte sich mißlaunig aus seinem Lehnsofa vor und sagte: "Unterstützen Sie immer noch die Streikenden der Daido-Druckerei?" "Tja - Tja!" Ynoshita wand sich auf seinem Stuhl. "Unterstützten? -Unterstützen - ja, was heißt unterstützen?" Er verstand Shibusaka nicht.
" Das heißt, daß Sie als Vermittler zwischen Gesellschaft und Streikenden unverhältnismäßig stark die Forderungen der Streikenden unterstützen und so die Gesellschaft schädigen - natürlich, ohne es zu wollen, aber das wird sich schon in einigen Tagen zeigen." Ynoshita war verlegen, - aber das ist doch selbstverständlich - hätte er beinahe gesagt, wenn ihm nicht rechtzeitig die telefonische Warnung des Sekretärs dieses jungen Herrn eingefallen wäre. Es lag natürlich ganz und gar nicht in seiner Absicht, den Arbeitern zu helfen; aber in dem internen Konflikt des Finanzblocks der Unternehmergesellschaft stand der alte Shibusaka gegen Okawa, und der junge Herr selbst, der die Arbeiterfrage studierte, war Anhänger der Demokratie. Er, Ynoshita, verachtete im Grunde die Gedanken des jungen Barons -aber warum verwahrte sich jetzt dieser Junge gegen seine Hilfe.... 'Herr Ynoshita, ich dachte gar nicht, daß Sie so altmodische Ansichten haben."
Das M.d.R. faßte mit schlanken Fingern den Rahmen seiner Brille und sah den Mann, der viel älter war als er, überlegen an. "Also, Sie wissen noch nicht, daß sich mein Vater gestern mit Okawa getroffen hat?"
Die Situation wurde immer unverständlicher. - Ynoshita verlor seine ganze Würde.
" Wieviel Mitglieder der revolutionären Gewerkschaften, die hinter diesem Streik stehen, sind in Ihrer Fabrik? Können Sie das sagen?" Der Abgeordnete war wieder überrascht.
" Ja, ich glaube zwanzig bis dreißig, aber das ist nicht so gefährlich. " Er wollte schon die Teetasse nehmen, die der Page hereingebracht hatte.
'Hahahaha, deshalb haben Sie so...."
Seine Augen sagten: Blödsinnige Ansichten, aber er verschluckte das Wort, nahm eine Zigarre aus dem silbernen Kasten und entzündete sie. Dann ganz ruhig und höflich: "Rauchen Sie auch?" und sank tief in den Sessel.
Sein Benehmen hatte die hundertprozentige Wirkung, Ynoshita seine Blödheit endlich begreifen zu lassen.
" Das Zusammentreffen meines Vaters mit Okawa geschah auf meinen Vorschlag. Dieser Streik ist von größter politischer Bedeutung, deshalb habe ich die wirtschaftlichen Konflikte als nebensächlich zurückgestellt -ja - und habe meinem Vater vorgeschlagen und auch Herrn Okawa habe ich gesagt...."
Durch den Zigarrenrauch schimmerte die gestickte Rose des Fenster vorhanges, und es schien, als lächele sie Ynoshita verächtlich an. "Aha, aha?"
Aber der Herr Stadtverordnete war immer noch nicht im Bilde. "Ich habe den Charakter und die Funktion der Gewerkschaften in jeder Einzelheit studiert - und ich glaube jetzt, daß die Gewerkschaft dieser Streiker, denen Sie helfen wollen, nach russischem System aufgezogen ist, das ist mehr als eine nur ideelle Bewegung." Ynoshita fühlte, daß die greifbaren Vorstellungen, die er endlich zu fassen glaubte, schnell wieder verschwanden. "Was heißt Gewerkschaft nach russischem System?" Das junge M.d.R. war nervös:
" Das heißt, daß die Gewerkschaft ihren Impuls von der russischen sozialistischen Sowjetrepublik bekommt." Der Stadtverordnete erstaunte: "Ah, so - Kommunisten. " "Noch nicht ganz, aber beinahe."
Das junge Reichstagsmitglied war stolz. Jedenfalls brauchte er keine Bestätigung, ob seine Vermutung richtig sei oder nicht, aber nach Ansicht dieses neuen Ideologen, nach den Maßstäben seiner empirischen Erkenntnis, gehörten sie zu "Rot" und waren ein Giftkraut, das man von der gut gepflegten Wiese der Menschheit ausreißen mußte. "Wie Sie schon wissen, wird meine Se-ju-kai, die Partei, der ich angehöre, schon in den nächsten Tagen den kaiserlichen Auftrag zur Kabinettsbildung bekommen. In diesem Falle wird das Zusammentreffen zwischen Okawa und Shibusaka für die Politik des neue Kabinetts von größter Bedeutung sein. "
Der Stadtverordnete saß naiv und etwas feige wie ein Schulkind da. "Über die Frage der wirtschaftlichen Unternehmungen wird noch später zwischen meinem Vater und Okawa zu reden sein, aber im Augenblick sind sie einer Meinung. - Sie werden über die Abmachungen noch näheren Bescheid bekommen - und deshalb müssen Sie und die Herren der Druckereiunternehmervereinigung von diesem Schlichtungsausschuß zurücktreten." "Ja - ich bin einverstanden. " Der Stadtverordnete war geschlagen.
" Weiter, Sie müssen möglichst schnell die Mitglieder der Gewerkschaft in allen Druckereien, die zum Unternehmerverband gehören, feststellen und mir bis morgen vormittag Bericht darüber geben, ich werde dann überlegen und das mit einem einflußreichen Politiker besprechen." Der junge Baron erledigte die Sache ganz geschäftsmäßig. "Ja, ich danke Ihnen vielmals für Ihre Mühe - ich schäme mich beinahe meines Alters."
Endlich hatte er seinen "Blödsinn" eingesehen und ging ganz geschlagen fort.

An einem Ort, zwei Meilen entfernt von der "Straße ohne Sonne", tagte eine Sitzung der höchsten Streikleitung.
Wo dieser Ort liegt, ob in Tokio oder in einer Vorstadt, weiß niemand außer den paar Beteiligten. Allabendlich wurde der Versammlungsort durch ein geheimes Vermittlungsorgan mit drei Zeichen XOV bekanntgegeben.
Deshalb wußten die zwanzig Mitglieder der Leitung nie vorher, wo eine Sitzung stattfand. Das war sehr lästig...
Unaufhörlich wurden sie in ihrer täglichen Arbeit, die auch zum Kreis ihrer Pflichten gehörte, durch unerwartete Schwierigkeiten gestört. Es war spät in der Nacht und durch die Finsternis tobte der Wind.
Plötzlich donnerte es über den Köpfen der Männer, aber es war nur
die letzte Stadtbahn, die vorüberfuhr. Das Haus lag unmittelbar am
Bahndamm.
Es waren sieben Gesichter, die hier beisammen waren.
" Wenn noch wenigstens drei kommen würden, könnten wir beginnen",
sagte Takagi ungeduldig, er wartete bereits seit drei Stunden hier.
Was ist nun mit unserem seltenen Gast, wird er kommen?" fragte Matzusaki, der Kassierer, und schob seinen Kahlkopf aus dem schwarzen Wollschal. Takagi nickte vorsichtig.
" Entschuldigt die Verspätung! kamen Yshisuka. Nakai. Hagimura und Yamamoto gleichzeitig herein. "Was s 11 denn das?"
Einer faßte den dicken Ärmel der Dotera (Anm.: Dick mit Wolle gefütterter Kimono.). die Yamamoto als Verkleidung trug, und alle lachten.
" Laß doch, laß doch, es ist todernst", sagte Yshisuka, von dem man nie wußte, ob er Spaß oder Ernst machte. Das Lachen der Leute, die das kleine Zimmer füllten, wurde allmählich leiser. Jedesmal wenn der Wind heulte, knarrte unheimlich die schlecht gebaute Holztür. "Wollen wir anfangen?"
Takagi nahm aus seiner Tasche den Gruppenleiterbericht, den Bericht der S-Abteilung, das Protokoll der Befehle der S-Abteilung die
Berichte der Pressekommission, der Verpflegungsabteilung und der Abwehrabteilung, gab sie dem Sekretär und verlas die Tagesordnung der Sitzung: 1. Entscheidung über die Stellung zum Schlichtungsausschuß Das Zimmer war so voll Rauch, daß man die Gesichter der Genossen nicht mehr genau erkennen konnte. Das Thema nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Alle sagten ganz leise ihre Meinung. Dabei stellte sich heraus, daß Yamaura und Kamei zu der Ansicht von Nakai neigten, und Hagimura mit seiner Meinung in der Minderheit blieb. Nakai verhielt sich wie immer schweigsam. Hagimura war bereit, seine eigene Meinung zurückzustellen, wenn seine Zweifel nochmals widerlegt würden.
" Ich lege, offen gesagt, keinen so großen Wert darauf, ob wir den Leuten vom Schlichtungsausschuß einen Fußtritt geben oder nicht, ich habe nur Angst, daß wir, die Leitung, zuviel Theorie treiben und die Streikenden in eine verzweifelte Lage bringen, es gehen ohnehin schon so viele Gerüchte darüber herum. "
Wahrend er das sagte, erinnerte er sich, daß Nakai ihm einmal gesagt hatte: Du bist Trado-Unionist geworden....
" Sollen wir das so gering einschätzen, was unsere Mitglieder in den anderthalb Jahren gelernt haben? Es ist schrecklich, wenn der Genosse Teraishi sagt: je größer die Arbeitslosigkeit, um so früher die Revolution; solche nackten Theorien den Massen zu sagen, ist gefährlich, damit macht man die Arbeiter nur ganz verwirrt." Hagimura sagte das ganz gefühlsmäßig, ohne die Folgen zu bedenken, aber gleichzeitig fiel ihm ein, daß er vielleicht zuviel gesagt hätte. Er konnte nicht mehr an sich halten, und die kalten Gesichter Yamamotos und Yshisukas regten ihn noch mehr auf.
" Ich sage offen: es war ein großer Schlag, daß wir uns die erste Chance aus der Hand gleiten ließen. Heute sind noch alle Streikenden mit ganzem Herzen bei der Sache, aber wenn sie erst anfangen, müde zu werden, halten sie nicht mehr lange aus."
Seine Unruhe trieb ihn, immer weiter zu reden. Die Genossen schwiegen und starrten ihn an. Noch nie war in den bisherigen Sitzungen die Selbstkritik so auf die Spitze getrieben worden.
" Dummheit", sagte Nakai leise; Hagimura wunderte sich, Nakai brauchte sonst nie derartig heftige Worte.
" Solche Gefühle, von denen der Genosse Hagimura spricht, hat nur er allein. - Aber unsere Feinde erlauben uns nicht, uns lange damit abzugeben. "
Nakai starrte auf Hagimura, es schien, als ob die kleinen Augen des langen Gesichts aufglänzten, aber das war nur ein kurzer Augenblick. Die Genossen Hagimura und Takagi sind noch von den Gespenstern des siegreichen Streiks von 1924 verzaubert."
Nakais Augen brannten. Hagimura konnte sich über diese heftigen Worte merkwürdigerweise nicht einmal ärgern.
" Wir sind in diesen fünfzig Tagen des Kampfes durch die scharfe Offensive des Kapitals in eine andere Lage gedrängt, wir müssen diese Tatsache klar erkennen. - Der erste Vorschlag zu Beginn der Verhandlungen war nur ein Versuch der Gesellschaft, um Zeit zu gewinnen und ihre Kräfte zu sammeln, und wir haben jetzt deutlich gesehen, daß der erste Schritt rückwärts damals zu Beginn des Streiks, von uns ein Fehler war."
Die Anwesenden hörten im Lärm des draußen tobenden Sturmes ihre Herzen klopfen.
" Die Tatsachen, die uns in diesen fünfzig Tagen in so einen entscheidenden Kampf gedrängt haben, sind erstens, daß die Sejukai-Partei in der Reichstagswahl die entscheidende Mehrheit gewonnen hat; zweitens, die Gefahr, die immer noch durch die Krise der Banken droht, und drittens, der Rücktritt des Kabinetts aus den obengenannten Gründen." Nakai unterbrach seine Ausführungen, weil er darauf aufmerksam gemacht wurde, daß jemand ins Zimmer wolle. "Hallo!"
Drei Männer traten herein. Der älteste, ein dicker Mann mit kurzgeschnittenen Haaren, war Oda, der Vorsitzende des Z.K., der junge Mann im europäischen Anzug war der beste Redner der Gewerkschaft und der dritte, in schmutzigen japanischen Kleidern, Mitamura von der Druckereigewerkschaft Osaka. "Hast du eine gute Reise gehabt?"
Nachdem sie sich wortlos die Hände gedrückt hatten, sagte Oda und lächelte allen gutmütig zu:
" Einen Moment, vor der Begrüßung möchte ich etwas mitteilen." Takagi als Versammlungsleiter war einverstanden. "Ich habe eine kleine Neuigkeit gehört: sämtliche Buchdruckereiunternehmer sind aus dem Schlichtungsausschuß ausgeschieden." Die Leute sahen sich an. - Schlechte Komödianten! Hagimuras Lippen zuckten verächtlich.
Der Bericht über die gestrige Zusammenkunft Okawas und Shibusakas und den Besuch Ynoshitas bei dem jüngeren Shibusaka erledigte alle Zweifel.
" Endlich!" brummte Takagi.
Nakai starrte auf ein zerrissenes Loch in der Decke. "Ent-schei-den-der-Kampf!" stand allen sichtbar in der Luft geschrieben und hielt sie in ihrem Bann.

 

Front

I. Verhaftung

Der eisige Wind stieß von beiden Seiten tobend in das Tal zwischen dem Shimizudanihang und dem Haksuanwald herunter und stieg wie eine Fontäne wieder über die nassen, schmutzigen Dächer der Mietkasernen, die wie altes Papier im Regen lagen.
" Hallo, Essen kommt", schrie eine Frau im roten Wollunterrock an der Wasserleitung der ersten Baracke und schwenkte die Kinderwindeln, die sie gerade gewaschen hatte. Sie sah den Lastwagen, der seinen Hintern hochspringen ließ wie ein Pferd, als er über die Straßenbahnschienen in die Straße einbog.
Dieser Lastwagen, mit langen Fahnen behangen, war mit Reissäcken, Shoju (Anm.: Japanisches Maggi.) und allem, was nötig war, beladen. Aus der Baracken kamen eilends fünf oder sechs Frauen und einige Kinder in dünnen Schlafhemden.
" Wartet, wartet - das ist - das ist... " schrie Otatso die geschwätzige Alte, sich vordrängend, "das ist der Lastwagen unseres Bundes, der Genossenschaft in Kanto. "
Die alte Otatso, die die Schriftzeichen ihres eigenen Namens nicht zu lesen verstand, kannte schon die Inschriften der Fahnen auf dem Auto. "Bravo, sie leben - hoch!"
Die Männer auf dem Wagen erhoben ihre Fäuste. . "Bravo!" antworteten die Weiber und Kinder.
Siehst du, unsere Genossenschaft ist immer noch obenauf, wenn die Kleinhändler auch vom Streik schon pleite gehen." An diesem Morgen war Okayo mit blassem Gesicht aufgestanden. Immer wieder mußte sie in diesen Tagen an Miatji denken, als sie unter dem Herd Feuer machte, als sie sich ihr Gesicht wusch, immer, das Bild Miatjis kam nicht aus ihren Gedanken.
Der Kopf war ihr schwer, ihre Brust schmerzte, und obwohl sie sich zusammennahm, fühlte sie eine Müdigkeit in allen Gliedern, als wollten die Gliedmaßen auseinanderfallen. Die Schwester meinte, das sei der natürliche Zustand der Schwangerschaft und tröstete sie. Okayo wollte der Schwester keine Sorgen machen, sie scheute sich vor der tatkräftigen Schwester zu klagen.
Sie fühlte in diesen Tagen die ersten Bewegungen des Kindes. Das kleine Wesen, dessen Dasein sie vor einem Monat noch nicht geahnt hatte, wuchs unaufhörlich in ihrem Leibe. In ihren leeren Gedanken empfand sie diese ersten Bewegungen des Kindes wie Stoße und wurde selbst verzagt wie ein Kind. Während sie gemeinsam mit ihren Kollegen in ihrem Streiklokal arbeitete, trat auf ihr junges Gesicht mit der Momoware-Frisur plötzlich der Ausdruck eines Erschreckens, in dem Freude und Leid nicht zu unterscheiden waren.
Aber ihr Schicksal war nur eine belanglose Episode an der revolutionären Front. Unaufhörlich warteten neue Aufgaben, sie mußte noch in der Straßenhandel- und in der Verpflegungsabteilung arbeiten. Seit gestern war eine Resolution im Lokal der dritten Streikgruppe, zu der Okavo gehörte, angeschlagen.

Resolution
Es muß jedem japanischen Arbeiter jetzt klar sein, daß die Unternehmer den Streik der Daido-Druckerei ausnutzen wollen, um, wie die Gesellschaft es schon im Frühjahr geplant hat. die Gewerkschaften zu vernichten.
Dieser provokatorische Angriff der Gesellschaft ist zweifellos der erste Hieb, den die herrschende Unternehmergesellschaft gegen die proletarische Klasse geführt hat. Die Verbrechen der Unternehmerklasse haben jetzt die unrettbare politische und wirtschaftliche Katastrophe verursacht, und nun wollen sie alle Lasten dieser Katastrophe der proletarischen Klasse aufwälzen und die werktätigen Massen in Arbeitslosigkeit und Hunger stoßen.
Jetzt haben wir Proletarier klar zu erkennen, daß wir die Streikenden der Daido-Druckerei vor der Gefahr der räuberischen Offensive der Unternehmer unterstützen müssen. Alle müssen der Bedeutung dieser großen Aufgabe bewußt werden.
Das erste erweiterte ZK des Rates der japanischen revolutionären Gewerkschaften ruft alle angeschlossenen Gewerkschaften Japans auf, mit aller Kampfkraft den Streikenden der Daido-Druckerei zu helfen. In den kommenden Kämpfen müssen wir einen entscheidenden Sieg erringen.
(Streikdokuments. 38).
Das erste erweiterte Zentralkomitee des Rates der japanischen revolutionären Gewerkschaften.

Diese Resolution hatte der Vorsitzende Oda mitgebracht, als er vor- gestern von Osaka kam. Der Kampf war in eine dritte Etappe eingetreten und hatte das schon ermattende Feuer der ermüdeten Streiker von neuem entfacht.
Die Lokale der einzelnen Streikgruppen rund um den Bezirk Kotshikawa hatten schon oft gewechselt. Durch die Maßnahmen der Gesellschaft und der Polizei ließen sich die Gruppenlokale nie länger als eine Woche halten. In diesen immerfort wechselnden Lokalen kamen die Streikenden jeden Morgen um sieben Uhr zum Appell. Das Lokal der dritten Streikgruppe, zu der Okayo gehörte, war vom Emme-intempel in Kotshikawa nach einem Kabarett-lokal in Janagimathi und dann zum Gume-ijitempel gewandert, zuletzt war die Gruppe wieder in den Shime-Saalbau im Honko-Bezirk eingezogen. Jede Streikgruppe wurde von einem oder zwei Gruppenleitern geführt, und alle Angelegenheiten wurden im Gruppenkomitee beschlossen. In den Gruppen gab es eine eigene, autonome Rechtssprechung. Außerdem gab es noch Streikgruppenzellen, die zur S-Abteilung gehörten und von der höchsten Streikleitung zusammengesetzt wurden. Sie hatten alle Abweichungen in den Streikgruppen aufzuklären und außerdem die verschiedenen Aktionen durchzuführen.
Jede Gruppe umfaßte ungefähr 300 bis 400 Mitglieder und stellte einen sozialen Organismus dar, dessen Mitglieder sich gegenseitig in ihrer Not halfen; selbst die Konflikte der Eheleute wurden von einem Gruppengericht geschlichtet. Dort war man entweder ganz radikal oder ganz konservativ, aber immer wieder offenbarte sich doch die Fähigkeit zu klarster Kritik.
Rund um die Gruppenkomitees waren die Meinungen in ständiger Bewegung. Die Meinungen beherrschten die ganze Atmosphäre der Gruppen trotz aller Gefahren. Die Befehle der höchsten Streikleitung mußten sich oft erst der öffentlichen Gruppenmeinung anpassen. Aber diese öffentliche Meinung wurde zeitweilig durch Gerüchte beeinflußt, die von der Gesellschaft und der Gegenpropaganda der Spione ausgestreut wurden. Die Genossen verloren die Siegeszuversicht und die ganze Gruppe wurde verwirrt; doch diese Fälle waren selten. In der Hitze des Kampfes erregte sich diese öffentliche Meinung derart, daß jeden Augenblick die Explosion erfolgen konnte - wie bei Lokomotiven, die bis an den Hals Kohlen geschluckt haben.
Die Spitzel der Gesellschaft bewiesen manchmal eine solche Geschicklichkeit und Frechheit, daß sie den scharfen, durchdringenden Augen der Gruppenzellenleitung entgehen konnten. Sie schmuggelten sich in wichtige Funktionen der Streikgruppen, fälschten Befehle der höchsten Streikleitung und versuchten verschiedentlich, gefährliche Pläne durchzuführen, um damit eine ganze Gruppe auf einmal zu vernichten. Die Gruppe war auch die Familie der Streikenden. Sie säuberten des Morgens ihr Lokal, ordneten die Garderobe und gaben alle wertvollen Gegenstände einem dazu bestimmten Genossen in Obhut. Die Arbeiter, die im Augenblick ohne besondere Funktionen waren, sorgten für Unterhaltung und spielten "ihr Theater". Sie waren alle gute Schauspieler und gute Kritiker. Mittags kam die Verpflegungsabteilung mit Reisklößen und verteilte den Tee. Das armselige Posium war Diskussionstribüne und feierlicher Richtertisch, gleichzeitig aber auch die Bühne für ihre Schauspiele.
Da geschah es wohl manchmal, daß über die Liebesgeschichte zweier Streikenden hergezogen wurde - aber von Tag zu Tag häuften sich die Berichte über die elende Lage der Streikenden und ließen alle Anwesenden ernst werden. Die Spitzel schmuggelten sich immer häufiger in die wichtigsten Stellen, immer unverhüllter bedrohte die uniformierte Polizei die Frauen und Kinder und versuchte sie von den Lokalen fortzujagen. Gerüchte flogen immer öfter herum und schnürten die Kehlen der Gruppen zusammen. Um die Gruppen noch fester zusammenzuschweißen spannten die Gruppenzellen alle Kräfte an. Ein Bote, der vor dem Eingang des Lokals sein Rad abstellte, sprang zum Gruppenkomitee.
" Hallo, habt ihr heute morgen um 10 Uhr Auftrag gegeben, daß ihr zehn Abwehrmänner haben wollt?"
Das Gesicht des Jungen in Mütze und Kittel war von der rasenden Fahrt gerötet. Die Komiteeleute antworteten augenblicklich, ohne erst ihre Akten einzusehen:
" Nein, wir nicht, wir hatten überhaupt keinen Bedarf daran. " Der Bote fragte schnell noch einmal:
" Aber, Genosse Wakabajashi, dein Name stand darunter und der Stempel."
Der Bemützte fragte dringend und rieb sich seine erstarrten Hände. Die Genossen sagten wie aus einem Munde:
" Absolut nicht, wer hat denn eigentlich den Auftrag zu euch gebracht?" Die Tatsachen lagen klar. Die vier Männer, die den Auftrag zur fünften Gruppe gebracht hatten, standen seit gestern auf der Appelliste als fehlend, und in dem Bericht der Wohnungsbesuchsgruppen, die diese Leute aufgesucht hatten, stand für alle vier: "Gestern nacht nicht nach Hause gekommen, Erklärung der Angehörigen."
Die Gruppenzelle berichtete telefonisch der S-Abteilung und dem Gruppenkomitee der fünften Streikgruppe, und dann fuhr der Bote mit dem Rade zur Streikzentrale.
Am selben Nachmittag wurde Okayo vor dem Lokal von einem seltsamen Manne angerufen. Er war ein dicker Mann von etwa dreißig Jahren, der unter einem Havelock einen japanischen Kimono trug, der seine fette Brust sehen ließ. Sie hielt ihn erst für einen der Streikenden, und trotzdem sie ihn außerordentlich unsympathisch fand, ging sie ganz unbekümmert zu ihm hin. Es war gar nicht selten, daß ein Mann von einer anderen Gruppe mit einem Anliegen oder einem Wunsche zu ihnen kam. "Bist du Kayo-tjan?"
Sie trat ängstlich einen Schritt von diesem merkwürdigen, unsympathischen Menschen zurück. "Miatji hat mir eine Bestellung übergeben..." "Das ist ein Spitzel."
Sie ließ sich nicht täuschen, drehte sich auf dem Absatz herum und wollte fort. "Warf mal."
Der Mann hatte eine durchdringende Stimme, er sah sie, die überrascht stehengeblieben war, scharf an und kam näher. Er änderte sofort seinen Ton und lächelte: "Ich habe eine Frage. "
Aber der Ort war seinem Vorhaben nicht günstig, sie standen dicht vor dem Eingang des Lokals. Wie er sich umsah, kamen Oja, Takae, Ma-tjan und Fusa-tjan von der Haltestelle der elektrischen Bahn, sie gehörten zur Wanderreferentengruppe und wollten jetzt in das Lokal. "Was ist los?"
Takae hatte schon von weitem die beiden bemerkt und sprang heran. "Geh' gleich in den Saal, du brauchst nicht hier herumzustehen." Sie nahm ihre Schwester unter den Arm und zog sie von dem aufdringlichen Kerl fort.
" Du, das ist ein Spitzel, was hat er zu dir gesagt?" Okayo lächelte.
" Ja, er sagte so etwas wegen Miatji, aber ich habe ihm nichts gesagt." Sie hatte immer noch ein Gefühl der Angst. Takae war empört und sah sich noch einmal nach dem Kerl um, der den beiden Schwestern nachstarrte.
" Du brauchst keine Furcht mehr zu haben. Wenn man vor solchen Kerlen Angst haben wollte, dann könnte man auf der Straße nicht gerade gehen - aber wie häßlich er grinst... "
Takae wollte ihm eigentlich eine Fratze schneiden, aber sie ließ es bleiben und ging mit ihrer Schwester in den Sall, der in der ersten Etage lag.
" Du mußt immer sehr vorsichtig sein, Kayo-tjan. " Im Saal redete sich Oja mit hochgeschobenem Kinn in Eifer. Robuko Oja und Takae waren in der Frauenabteilung die besten Rednerinnen.
Von dem kleinen Nebenraum aus, wo Okayo mit ihrer Schwester stand, konnte man alle Gesichter im Saal wie unter einer Lupe sehen. Die Gesichter der Genossen, die zwei Monate langen schweren Kampfes durchgemacht hatten, sahen von hier noch vertrauter aus als sonst, das Feuer der Rednerin verband sich mit den Augen zu einer Flamme, die in allen Anwesenden brannte. Dann zitterte Schreien und Händeklatschen in Wellen durch den ganzen Saal. Takae sah die Gesichter, während sie das Manuskript ihrer Rede überflog, als die scharfe Stimme des Polizeikommissars rief:
" Halt!------"
In diesem Augenblick ging ein Beben durch den ganzen Saal, man schrie, die Säbel der Polizisten schepperten blechern, aber sofort beschwichtigte die ruhige Stimme der Gruppenleiterin die ganze Aufregung.
" Als nächste spricht die Genossin Takae Haruki von der Frauenabteilung. "
Wieder klatschten alle; noch während des Beifalls trat Takae auf die? Tribüne.
" Seit Anfang des Streiks bis heute sind 63 Tage vergangen, zwei volle Monate sind vorbei. Sieg oder Niederlage, davon will ich jetzt nicht reden, aber wir können stolz darauf sein, - nicht nur vor dem japanischen Proletariat, sondern vor den werktätigen Massen der ganzen Welt, daß wir fest zusammengeschlossen und mit ungebrochenem Kampfgeist gegen die Übermacht der Offensive des Kapitals gekämpft haben, und daß dieser Kampf in die Geschichte der Arbeiterbewegung für immer ein glänzendes Beispiel und ein unverlöschbares Dokument sein wird."
Während jeder Satz von Beifall unterbrochen wurde, schüttelte sie ihre festgebundenen Haare; eine Hand auf den Tisch gestützt, bewegte sie ihren Oberkörper hin und her, was eine Eigentümlichkeit von ihr war. Wenn sie an einen Höhepunkt der Begeisterung kam, schien ihr kleiner Körper unter die Massen springen zu wollen. Sie war eine wunderbare Agitatorin. Sie verstand leichter die Herzen der Arbeiter zu packen als das Herz eines Liebhabers.
Sie erwähnte verschiedene traurige Vorfälle und sagte, man dürfe sich durch solche erschütternden Kleinigkeiten nicht mutlos machen lassen, aber man müsse sich auch der Verantwortung für die Opfer bewußt sein. In diesem Moment klirrten die Säbel, und der Ruf des Kommissars erscholl: "Vorsicht!"
Sie hielt einen Augenblick inne, blies ihre Backen auf, ihre Augen brannten lebhaft:
" Aber wir dürfen nicht zulassen, daß diese Opfer Opfer bleiben, wir dürfen nicht nur leiden, wir müssen mit unseren Fäusten, mit unseren Leibern kämpfen, damit diese Todesopfer nicht umsonst gefallen sind."
" Halt!"
Gleichzeitig hörte sie den zweiten Befehl: "Verhaften!"
Ein Polizist sprang vor, packte sie an der Schulter und schleppte sie fort. Ein Teil der Genossen wollte zwischen sie treten, aber es war schon zu spät - alle Anwesenden sprangen auf die Tribüne, die Frauenleiterin Oja und Okayo kamen auch hinzu, es entstand ein großes Durcheinander... Arme und Beine, Hände und Füße - alles drehte sich in rasender Bewegung. Aber schon nach kaum fünf Minuten hatte die ausgezeichnet bewaffnete und geschulte Polizei diese Aufregung niedergeschlagen. Takae, Oja und Okayo und einige andere verschwanden auf der Treppe nach unten, von zahlreichen Polizeispitzeln begleitet. Als sie auf die Straße kamen, bemerkte Takae erst, daß auch Okayo mit verhaftet war.
Sie wurde fast wahnsinnig; der auffallende Mann von vorhin hielt Okayo am Arm.
" Was hat denn dieses Mädchen gemacht, warum ist sie verhaftet?" Takae bemühte sich ihre gefesselten Hände freizumachen, und wollte zu ihrer Schwester. "Laß doch, laß doch los!"
Sie schüttelte ihre verwirrten Haare und stampfte mit den nackten Füßen auf den Boden.

 

II. Essenausgabe

Durch das westliche Tor der Fabrik, das durch uniformierte Polizei und Fabrikbeamte bewacht war, fuhr furchtlos der Lastkraftwagen mit den Aufschriften der Kantongenossenschaft. Wie ein betrunkener Postwagen schwankte dieses Vehikel. Das Lager der Genossenschaft der Streikenden, Kotshikawa-Kyodosha, befand sich in einem Gebäude innerhalb des Fabrikterrains, fünfzig Meter vom Büro der Gesellschaft neben dem Fabriklager. Hier wehten die Fahnen mit den drei roten Streifen und dem P. und die roten Fahnen mit dem Stern C.O., hier kämpften die Gewerkschaften schon über 60 Tage. "Zum Teufel, sie bringen wieder so viel Reis. " Der lange Mann im schwarzen europäischen Zivilanzug murmelte es zwischen den Zähnen, dem Lastwagen nachsehend. Er trat gerade aus dem Verschlag der Werkpolizei. Es war ein früherer Polizeileutnant, der jetzt zum Personalchef der Gesellschaft aufgerückt war, weil er die Leute der Druckereigewerkschaft so gut kannte. "Das geht so nicht weiter. "
Er schüttelte den Kopf und ging mit breiten Schritten in das Büro der Fabrik.
" Diese Legalität macht die Burschen so frech - was heißt vom Tokio-Provinzialamt anerkannte Genossenschaft?" Er wußte Bescheid, wie die Legalität ausgenutzt werden kann. Die Tür der Genossenschaft wurde geöffnet, zehn Arbeiter kamen und umstellten als Schutz den Wagen; alle hatten eiserne Stangen unter den Arm geklemmt, und mit gewohnter Fertigkeit gingen die Säcke von Mann zu Mann. Komm - hoi, komm - hoi!
Aber im Hause selbst sah es aus wie bei einem über Nacht ausgezogenen Schieber - die Reislager und die Holzkohlenlager waren kahl und leer. Man konnte die Rattenlöcher sehen, durch die der kalte Wind hereinblies. Das während der sechzigtägigen Kämpfe mit dem Blut der Streikenden aufgebrachte Gewerkschaftsgut war bis auf das letzte Reiskorn verzehrt, bis auf die letzte Holzkohle verbrannt. Besonders bitter machte sich bemerkbar, daß die Engroslieferfirmen, die sie sonst außer der Genossenschaften auch noch belieferten, ihre Lieferungen nach der Verschärfung des Streiks eingestellt hatten. Natürlich hatte die Gesellschaft bei den Engrosfirmen interveniert. Man hatte schon vorher an derartiges gedacht, aber die jetzige Maßnahme war doch zu unverschämt. "Deshalb", sagte der vollbärtige Hirovka, der Angestellte der Genossenschaft, nachdem sie alle Reissäcke abgeladen hatten, während er die Finger seiner Militärhandschuhe abzog, "deshalb müssen wir vor allen Dingen unsere Genossenschaft vergrößern, das ist das Allernotwendigste. Und ich behaupte, eine proletarische Genossenschaft darf nur direkt vom Erzeuger kaufen, das ist doch klar und auch eine von den Erfahrungen dieses Streiks".
Dieser fünfzigjährige Mann, hart wie Stein und geduldig wie ein Ochse, war seit 1919 auf Leben und Tod mit der Genossenschaftsbewegung verbunden und hatte bereits mehrere Streiks mitgemacht. Wenn er durch die Polizei verjagt wurde, bebaute er zusammen mit seiner alten Mutter in seiner Heimat die Reisfelder, aber während die Glut der verbotenen Streiks noch weiterschwelte, war er bereits wieder da, kam wieder nach Tokio und trug geduldig seine Reissäcke.
" Wir müssen selber stark genug werden, wir müssen den Genossen der Bauerngewerkschaften die Hände reichen, wir müssen Transportmittel haben, Lokomotiven und Dampfer. In der Stadt müssen wir eine starke Lieferungsorganisation haben und uns alle Lebensmittel selbst produzieren. "
" Hab' verstanden, hab' verstanden. "
Ito, der andere Angestellte der Genossenschaft, hob die Hand und beruhigte ihn. "Wenn du zu reden anfängst, geht die Sonne unter." Die andern kamen hinzu und prusteten vor Lachen. Wirklich übertraf Hirovkas Beharrlichkeit noch die der kleinen Straßenhändler des Waisenhauses (Anm.: Die japanischen Waisenkinder müssen ihren Lebensunterhalt durch Straßenhandel verdienen.).
" Wenn wir dein Geschwätz zu Ende anhören wollten, dann würden die Streiker vor Hunger vertrocknen. "
Trübsinn kannte dieser Mann so wenig wie eine geregelte Tageseinteilung, aber in allen gefährlichen Situationen blieb er der Ruhigste. "Hallo, Genosse Ito und Hirovka!" hörte man die Stimme Hagimuras aus einer Nebenkammer. Er war gestern nacht von einer Gruppenleitersitzung hierher gekommen und hatte in der Kammer geschlafen. Trotz der durch die brüderlich reiche Spende der Genossenschaften ganz Japans heute angekommenen Lebensmittel und trotz der harten Arbeit der Verpflegungsabteilungen war es nicht möglich, wie sonst noch stets, allen Leuten Essen auszuteilen. In dieser Not beschloß die Gruppenleitersitzung, nur denjenigen Familien, die nach Feststellung der Untersuchungskommission am meisten von der Not betroffen waren, Lebensmittel auszuliefern.
Hagimura als Vorsitzender des Gruppenleiterkomitees sammelte alle Zettel vom Untersuchungsausschuß und verglich sie mit der Zahl der Reissäcke.
Aber Hagimuras Standpunkt als Gewerkschaftler konnte leicht mit dem Standpunkt der selbständigen Genossenschaften in Konflikt kommen. Es war notwendig, sich von der alten, falschen Anschauung freizumachen, die die Genossenschaft nur als Proviantabteilung der Gewerkschaften betrachtete.
" Deshalb darf die Kotshikawa Kyodosha als Genossenschaftsverband", beriet Hagimura mit Hirovka und Ito, als sie in seiner Kammer zusammenkamen, "nicht den Wiederaufbau der Genossenschaft vergessen, wir müssen stets und in jedem einzelnen Fall daran denken, ganz gleich, ob wir in diesem Streik unterliegen oder siegen. Von diesem Gesichtspunkt aus... "
Hagimura fragte die beiden um ihre Meinung, nachdem er ihnen den Beschluß der Gruppenleitersitzung mitgeteilt hatte. Hirovka entschied: "Meiner Meinung nach könnte man noch eher die Lieferungen teilweise ganz einstellen, das steht absolut nicht in Widerspruch mit der Idee der Genossenschaft. "
" Genosse Ito!" riefen die Genossen vom Hof. Sie kamen alle mit Lebensmittelkarten.
" Tja, tja, das ist wahr, alle sind in einer schlechten Lage, wen soll man da aussuchen?" sagte Ito; er konnte es sich nicht vorstellen, daß er all die bekannten Gesichter wieder mit leeren Händen nach Hause schicken sollte.
" Aber wir müssen aushalten, solange wir können." Hagimura sagte das hart und entschieden.
" Es ist schwer, aber wir müssen es den Leuten verständlich machen. "Du hast recht, ich werde mit ihnen reden. "
Hirovka ging hinaus. Ito und Hagimura folgten ihm. Vor dem Hause sammelten sich 30 bis 40 Leute. Familienangehörige der Streikenden. Sie schwenkten die Essenmarken wie Hungerfahnen und drängten und stritten sich.
" Hallo, laßt euer Gerede, wenn ihr sagt, daß wir keine zwei Säcke Reis mehr bekommen. Gebt uns einen Sack Reis und Miso", schrie eine alte Frau, die sich krampfhaft an das Schalterfenster klammerte. Von den Nachdrängenden eingekeilt, begann ein Säugling, der auf dem Rücken einer Frau hockte, zu weinen, als ob er am Spieß steckte. "Ito-tjan", schmeichelten die Frauen, die ihn gut kannten, "bei mir ist alles richtig aufgeschrieben, brauchst nur zu stempeln." "Das geht nicht", sagte der Sekretär schroff, er wurde noch ärgerlicher, schalt sich selber, daß er die Genossen fortjagen mußte. "Du hast deinen Teil schon vor fünf Tagen bekommen, mach, daß du fortkommst."
" Denkst du", sprang die Frau von Itos Freund Kiko vor, "wir sind doch selbstverständlich nicht hierher gekommen, weil wir schon vor vier Tagen Reis bekommen haben. Wir sind keine Tauben, wir essen nicht nur einzelne Körner, du Kürbis!"
Jetzt trat Hirovka heraus und stieg auf einen Stuhl, den er mitgebracht hatte.
" Genossen, hört mal her, was ich jetzt sage. Ihr alle wißt, es sind nur hundert Sack Reis und je zwei Faß Miso und Shoju angekommen." Die Leute schwiegen, neugierig, was der allbekannte Vollbart sagen würde. Hagimura ließ die Genossen darauf achten, ob keine Spitzel unter ihren Leuten seien. Er hielt es nicht für richtig, daß solche Auseinandersetzungen von den Spitzeln belauscht würden, wenn es sich auch kaum vermeiden ließ.
" Aber das ist nicht genug, um euch alle satt zu machen wie sonst immer, versteht ihr! Und wir können auch nicht gleich wieder zwei oder drei Lastwagen voll hierher schleppen, weil unsere Gewerkschaft so arm geworden ist."
Hagimura ging, als er Hirovkas freimütige Darstellung der Lage hörte, ein kalter Schauer über den Rücken, wie gebannt starrte er in die Gesichter der Versammelten.
" Deshalb haben wir beschlossen, daß wir zuerst an die, die am meisten Not leiden, austeilen. Die Gruppenleiter - ihr wißt, wer das ist -haben festgestellt, wer es am nötigsten hat. Meldet euch also bei den Gruppenleitern, und die die nichts mehr aufs Leihhaus zu tragen haben, bekommen dann zuerst. "
Hagimura und allen andern ging es durch alle Glieder, wie sich jetzt eine dunkle Welle über alle diese Gesichter legte, wie Wolken vor die Sonne.
" Hallo, Meister, dann kriegen wir also heute keinen Reis?" Als ein alter Mann so unvermittelt und ein wenig komisch losbrach, begannen alle Weiber und Kinder durcheinanderzureden. "Gib doch wenigstens heute noch. " "Vom nächsten Mal wollen wir es so machen. "
" Gib doch ein wenig zu essen, mit hungrigem Bauch kann man nicht in den Krieg ziehen. "
Die Leute bedrängten Hirovka, der erstarrt dastand, als wolle er sie alle umfassen, aber dieses Bronzestandbild des Karrenschleppers war nicht so leicht umzuwerfen. Ohne die Augenbrauen zu bewegen, sagte er mit einem Gesicht wie eine Maske, nachdem die Leute etwas ruhiger geworden waren:
" Jetzt hat eben einer gesagt, mit leerem Bauch kann man nicht in den Krieg ziehen. Leute, unser Krieg ist kein Krieg, den man mit vollem Bauch führen kann. Das ist ein Krieg, den man mit leerem Magen und Steinen im Bauch - führen - muß!"
Die Frauen starrten auf den harten Mann, wie auf einen Felsen. "Versteht ihr - trotzdem ich das sagen muß - eure Kanto-Gesellschaft wird euch nicht aushungern lassen. Deshalb dürft ihr nicht bei uns betteln und nicht schimpfen. Wir müssen alle aushalten, solange wir können. Um uns zu helfen, haben alle Mitglieder der 20 Genossenschaften des japanischen Genossenschaftsverbandes 'Tage ohne Reis' eingeführt. Wißt ihr. was das heißt: 'Tage ohne Reis'? Das heißt, sie essen nur Hafer statt Reis."
Hagimura und Ito schluckten trocken. Die Frauen ließen ihre erhobenen Hände und Schultern fallen. Die Frauen, die in der ersten Reihe standen gingen hinter die Menge zurück; das Kind, dem die Milch fehlte, wimmerte auf dem Rücken der Mutter.
Trotzdem haben wir Arbeiter in der Stadt es noch leichter als die Pächter auf den Dörfern, die das ganze Jahr nur Kastanien und Hafer essen. Aber deshalb kämpfen die Pächter doch tapfer. Versteht ihr! Ihr müßt euch deshalb auch an diesem 'Tag ohne Reis' beteiligen. Macht die Misosuppe dünner - eßt die Quetschreste von den Bohnen als Gemüse, bis wir in diesem Streik gesiegt haben." Die Frauen sahen nach unten, dann hob Hirovka seine Hand über sie hin.
" Habt ihr verstanden, Genossen, wenn es nicht mehr geht dann kommt zu den Gruppenleitern - wir werden euch bestimmt Reis schaffen, solange wir noch am Leben sind - Geduld, Geduld und Mut, ohne das könnt ihr nicht siegen."
Tief beugten sich die Köpfe - jetzt ging eine von den alten Frauen fort, dann zwei - mit gesenkten Köpfen - sie konnten so nicht sehen, daß über das harte, bärtige Gesicht die Tränen wie schwere Körner rollten.

 

III. Giftgas

Die Frauen, vom Lager der Genossenschaft verscheucht, kehrten heftig diskutierend in ihre Baracken zurück. Auf ihre knochigen Backen stand der Ärger, der keine wirklichen Gegenstand mehr hatte. Sie waren wie Hennen, denen man die Eier fortgenommen hat. "Wollen wir den Portier der Gesellschaft anbrüllen wie Kühe, die nur trockenen Hafer gefressen haben", schrie Kikos Frau laut am Eingang ihrer Wohnung.
Fünf oder sechs Frauen an der Ecke der Gasse erwiderten ihr: "Anbrüllen ist noch zu wenig, du Dumme - - -"
Wirklich sahen sie aus, als ob sie nicht nur brüllen, sondern auch beißen könnten. Sie hatten nichts mehr ins Leihhaus zu tragen. Gerade als Kikos Frau, die die zehnjährige Arbeit in der Fabrik unfähig gemacht hatte, Kinder zu gebären, aus ihrer breiten Brust ein scharfes Wort hervorstoßen wollte, kam eine alte Frau, die Großmutter von Matsudaro, ihren Enkel auf dem Rücken, mit dem watschelnden Gang einer vom Hund gejagten Henne zu dem gemeinsamen Brunnen und begann über das Elend zu jammern:
" Was nützt denn alles, wenn wir trotzdem den Streik verlieren, nachdem wir so erbärmlich gelebt haben mit Bohnenmus und Kastanien?" So jammerte die Alte, wie sie das ganze Jahr jammerte: Das Giftgas der siebenten Baracke.
Eigentlich war allen zum Jammern, aber die Rede des bärtigen Hirovka hielt sie alle noch im Bann. Kikos Frau hatte die Essenmarke der Genossenschaft ins Haus geworfen und kam zu der Frau, schob die Alte beiseite und sagte, Hirovka nachahmend, ihre bei den leeren Hände ausbreitend:
" Man muß Geduld haben, versteht ihr, wir müssen uns gedulden, bis der Streik mit einem Sieg beendet ist. "
Sie wollte scherzen, aber während sie sprach, wurde ihr Gesicht ganz ernst. Und auch die anderen Frauen hatten nicht gelacht. "Na, nur keine Angst, es wird schon so gehen", sagte die Frau von Gentjan, die auch einen Säugling auf dem Arm hatte. "Man sagt, der Reis geht immer mit der Sonne, deshalb wird es auch besser werden."
Die alte Großmutter Matjan schob ihren Kopf hoch und warf ein: "Aber die Sonne zeigt in diesen Baracken nie ihr Gesicht. Ach, guck doch mal - sie sieht immer woanders hin."
Am Mittag hatte sich der Wind gelegt, und die Sonne schien jetzt mit matten Strahlen auf den ruhenden Haksuanwald. Aber hier unten, bei den Baracken, stand es wie graue Wolken und wie die stumpfen Augen der toten Hexen, und an der Wasserleitung waren unzählige Kinderwindein aufgereiht, an denen Eiszapfen hingen.
" Wie kalt", sagte Gentjans Frau und klopfte mechanisch das Kind auf ihrem Rücken, das noch gar nicht weinte, aber in ihre Wohnung wollte sie auch nicht gehen. "Wollen wir ein Feuer anmachen - Feuer! -Feuer!"
Frau Kiko schleppte alte Latten von der Brücke und Faßreifen, legte alles auf einen Haufen und steckte ihn an. Dann stand sie mit dem Rücken zum Feuer, sie schlug ihre Kleider hoch, um die Wärme schneller zu spüren, man sah ihren roten Unterrock.
" Schadet nichts, wenn die Sonne nach der anderen Seite scheint, werden wir von unten Feuer machen und braten wie an der Sonne." "Gut, gut, wenn man einmal die gebratene Sonne ißt, bekommt man im ganzen Leben keinen Hunger mehr. "
Diesmal fingen alle zu lachen an. Auf der Erde taute der Rauhreif und zerfloß. Die Funken der Bambusreifen flogen in das schwarze Wasser des Grabens und zerzischten. "Donnerwetter!"
Die Frauen sahen etwas Komisches.
" Wer ist denn das?" flüsterte Großmutter Matsudaro zu Frau Kiko, die neben ihr saß. Zwei merkwürdige Damen erschienen plötzlich an der Ecke der Barackenstraße, zwei Damen in japanischer Kleidung und eine dritte in europäischem Kostüm und Pelzmantel, sie war die älteste. Die Frauen an der Wasserleitung machten große Augen. "Das sind wohl Medizinhändlerinnen, sie tragen alle Koffer", flüsterte die Großmutter Frau Kiko zu, aber die schüttelte den Kopf. "Das sind bestimmt keine Arzneihändlerinnen, und auch keine Hebammen, - drei Hebammen auf einem Haufen, das ist unmöglich, und vor allem tragen Hebammen keine so guten Kleider." "Das sind bestimmt teure Kleider", meinte Frau Kiko. "Ja, das ist keine Ware, die oft hierher kommt."
Die Damen riefen höflich in jedes Haus, und wenn niemand antwortete, öffneten sie die schlechtgezimmerte Haustür und sahen hinein. "Nanu, sie hat in mein Haus geguckt!" schrie ganz verlegen die Großmutter Matsudaro. "Bei uns ist niemand zu Hause. "
" Sie bloß nicht so ängstlich, bei dir gibt's doch gar nichts zu stehlen", sagte eine Frau zu ihr.
Die Damen kamen näher, blieben, als sie die Gruppe der Frauen am Feuer fast erreicht hatten, stehen und flüsterten miteinander. Die Frauen am Feuer starrten mit ängstlichen Augen und weit offenen Mündern die Damen an. Dann kamen die drei, die europäisch gekleidete an der Spitze, heran. Frau Kiko hatte eilig ihren Rock heruntergestreift und ihren roten Unterrock bedeckt. "Wenn ich nicht irre, sind Sie die Hausfrauen der Streikenden?" sagte die Europäische schmeichelnd, ihre Handtasche von einer Hand in die andere wechselnd. Sie grub ihr dickes Kinn in tiefe Falten und lächelte.
Die Frauen waren alle verlegen, wie Schüler, die auf der Straße ihren Lehrer treffen. Jetzt grüßten hinter dem Rücken der europäischen auch die zwei schönen Damen die angezogen waren wie Schauspielerinnen. Die Großmutter Matsudaro entschloß sich, nachdem sie die anderen Frauen angesehen hatte, mit dem Kopf zu nicken. "Und wir sind —"
Damit übergab sie der Großmutter mit gewohnter Geste ihre Visitenkarte.
" Wir sind gekommen, um den Familienmitgliedern der Streikenden, besonders den Frauen, zu raten. "
Frau Kiko hatte der Großmutter, die gar nicht lesen konnte, die Karte abgenommen und flüsterte dann der neben ihr stehenden Frau zu: "Die Herrschaften sind Mitglieder des buddhistischen Frauenvereins in Tokio. Die mit dem europäischen Kostüm ist die Vorsitzende." Obwohl Frau Gentjan das gehört hatte, konnte sie noch nicht begreifen. Buddhisten sind doch Pfaffen? Aber diese Frauen sind doch zu schön für Pfaffenfrauen.
" Wir haben ja solch Mitleid mit Ihnen, die durch diesen Streik so sehr leiden müssen, und wir wollten heute mit Ihnen sprechen und Ihnen raten - und dazu sind wir hierher gekommen."
Die Frauen waren erstaunt - war ihr Streik so in der Welt bekannt, daß solche vornehmen Leute sich heimlich um sie sorgten? Die Europäische mit ihrer hohen Nase und einer so weißen Haut, wie ein Fremde, kam zur Großmutter und erklärte:
" Wie Buddha gesagt hat, die Menschen sind alle gleich. Ihre Leiden sind unsere Leiden, ich möchte Ihre ehrliche Meinung hören, und dann werden wir dafür sorgen, daß dieser Streik eine friedliche Lösung findet." Die Frauen wurden immer verlegener, das war ein kitzelndes Gefühl, wie wenn einem der Popo mit einer Feder gestreichelt würde. Eine von den Damen, mit schöner Frisur, nahm aus ihrer Handtasche etwas Schokolade und trat zu Frau Gentjan: "O, was für ein artiger Knabe..."
Sie reichte dem Kind ein Stück Schokolade. Doch der magere Säugling machte nur große Augen und hatte keinen Mut die Hand auszustrecken. Er war unterernährt und deshalb so artig.
Frau Kiko sah die schöne Dame scharf an und dachte - ob diese Füchse uns was vormachen wollen?
Die andere mit der japanischen Frisur hielt dem Mädchen auf dem Rücken der Großmutter Schokolade hin und sagte lockend: "O, mein armes Kind, wie schön, wenn dein Vater nicht mehr streiken würde. Kleines Fräulein, sag deinem Vater, wenn er zurückkommt, hör' mit dem Streik auf, Vater, und geh' mit mir in den Tiergarten -hast du verstanden - oh - du bist ein kluges Kind. " Frau Kiko hatte schon gerochen, wie die Sache stand, sie zog Frau Gentjan am Ärmel und sagte leise zu ihr: "Vorsicht, das sind Füchse."
Die beiden Damen gingen bei den Frauen herum und streuten ihre Verlockungen und ihre Schokolade aus. Unterdessen redete die Vorsitzende mit zärtlicher Stimme weiter:
" Wir haben schon mit allen Frauen aus den andern Häusern gesprochen. Bei jedem Streik sind alle beide Teile schuldig, die Gesellschaft ist ebenso hartnäckig wie Ihre Herren Männer. So was ist natürlich unvermeidlich bei Männern, die ihren eigenen Willen haben - aber kurz und gut, beide Seiten müssen sich bescheiden." "Jetzt kommt's", zog Frau Kiko wieder die andern am Ärmel. "Wir reden doch hier als Frau zu Frauen, ich bitte Sie darum, teilen Sie Ihren werten Gatten unsere Meinung mit, daß sie sich um Ihretwegen und Ihrer lieben Kinder wegen wieder mit der Gesellschaft einigen. Wenn Sie von Ihrer Seite so handeln, wird Ihnen auch die Gesellschaft bestimmt entgegenkommen."
In diesem Augenblick schrie Frau Kiko, die wie auf Kohlen saß, und stampfte mit dem Fuß auf: "Schweig, du Fuchs!"
Sie wurde lebhaft, und wie Arbeiterfrauen, wenn sie aufgeregt sind, immer gut reden können, schrie sie, während sie ihr Gesicht der spitzen Nase der erstaunten Dame näherte:
" Was heißt liebes Kind. - Was heißt Gleichheit der Menschheit! Wenn du wissen willst, was Ungleichheit ist, dann vergleiche deine Kleider und unsere, wenn wir beide gleich sind, dann laß uns unsere Lumpen tauschen."
" Wie die Wilden!" drehte sich die Dame mit der japanischen Frisur um, die von den andern getrennt, sich kaum am Grabenrand halten konnte.
" Wer ist wilder, ihr oder wir? Diese frechen Weiber - Ihr seid hierher gekommen, um uns uneinig zu machen, ihr Füchse, ihr steckt euch hinter die Maske von Buddha, das soll euch nicht glücken, ihr Spitzel der Gesellschaft!"
Auch die anderen Frauen, die von dem Kitzel wieder zu sich gekommen waren, fanden ihren Mut wieder.
" Was, Spitzel der Gesellschaft?" schrie Frau Gentjan laut. "Hallo, kommt mal alle her, hier wollen uns Fabrikspitzel in die Enge treiben!"
Jetzt hatten die drei Damen ihren ganzen Mut verloren. Das Geschrei der Frauen lockte aus allen Kasernen Frauen, Kinder und alte Männer herbei.
" Was für Fabrikspitzel?" "Werft sie in den Graben!"
Die Damen waren in großer Angst über die Holzbrücke geflohen und hatten sich ihre Kleider zerrissen. Frau Kiko hob einen noch brennenden Bambusreifen hoch und schrie ihnen nach: "Kommt vorgestern wieder - ihr Giftgas!"
Aber diese frommen buddhistischen Damen erschienen hartnäckig am nächsten Morgen wieder in dieser Straße ohne Sonne. Diesmal standen sie vor der Tür der Frauenabteilung der Gewerkschaft. "Ich möchte gern die Frauenleiterin sprechen, ist sie anwesend?" fragte die europäisch gekleidete sehr höflich.
Ogin-tjan, die zufällig in der Auskunft saß, las die Visitenkarte, hielt ihren Kopf schief und antwortete:
" Nein, sie ist nicht zu Hause, aber wenn sie auch zu Hause wäre, sie würde nicht mit Ihnen sprechen."
Diese wenig liebenswürdige Antwort war deutlich genug, die Damen sahen sich an, und die eine fragte noch einmal:
" Ich weiß natürlich, daß sie sehr beschäftigt ist, aber nur fünf Minuten Hartnäckig wollten sie sich nicht aus der Tür drängen lassen. Da schrie Ogin-tjan und lies den Staub, der auf dem Tisch lag, auf die Damen:
" Die Frauenleiterin und die Schwestern sind nicht hier. Wenn Sie sie so dringend sehen wollen, dann gehen Sie zum Polizeiamt, sie sind alle schon zwei Tage in Haft und werden dort gequält!"

 

IV. Vorposten

Der kranke, alte Vater konnte nicht schlafen. Als die Dämmerung kam, hörte er die Hagelkörner gegen die Holztür trommeln, auf das Blechdach und auf die treibenden Eisschollen des Senkawa-Kanals. Die Baracke wurde jetzt einsam und still, nicht einmal die Schreie der Kinder waren mehr zu hören. Das Reißen in seinen Gelenken wurde durch die Kälte noch ärger, er umklammerte krampfhaft die Kissen, um die Schmerzen zu lindern. Große Tränen standen ihm auf den Backen. "Die verfluchte Hexe!"
Der Alte meinte immer noch, Takae trage an allem schuld, auch an der Verhaftung dieser netten schüchternen Okayo. Seit sich die Gewerkschaft in der Fabrik eingerichtet hat, opponierte die Älteste immer heftiger gegen die Meinung ihres Vaters - sie, die bis dahin so kindlich gewesen war, wurde immer selbständiger und setzte ihren Kopf gegen den Vater durch.
" Hat den Teufel im Leib, dieses wahnsinnige Weib. " Wäre er gesund und hätte noch seine rechte Hand, wollte er sie schon schlagen und zurichten, bis sie wieder zur Vernunft käme. Der Kranke sah auf die alten Bücherregale, die am Fenster neben dem Tisch standen - da lagen ungefähr zehn Bücher, dünne Broschüren mit rotem Deckel und dicke Bücher mit Goldaufschrift, die eigentlich nur Gelehrte lesen sollten. Der Alte erinnerte sich, in diesen Büchern las Takae immer, wenn sie von der Nachtarbeit zurückkam; dann saß sie im Bett und las.
" Sie haben schuld, diese Bücher - diese verdammten Dinger haben Takae verrückt gemacht!"
Der Kranke stand auf, stützte seinen Körper an der Wand und kroch zum Bücherbrett, alle Kraft sammelte er in dem wankenden Fuß. Durch das geöffnete Fenster zog der Wind und riß in den Knochen des Alten. Der Kranke schob das Fenster hoch und griff mit der noch nicht ganz gelähmten Linken nach den Büchern. "Verschwindet, ihr Teufel!"
Die Bücher flatterten lautlos in das schwarze Wasser des Kanals und tauchten unter. In der kalten, allmählich heller werdenden Luft sah er die weißen Blätter versinken.
" Sei doch nicht so unduldsam, Vater" schrie die Nachbarin, als sie die wilden Augen und den pfeifenden Atem des Alten sah, den jedes Buch, das er fortwarf, mit neuem Haß erfüllte. "Nein, nein, ich werde all diese Teufel ersäufen." Er schlug nach ihrer Hand, die sich ihm entgegenstreckte. Ein paar Bücher waren auf den Grund gesunken, andere schwammen, vom Wasser, das durch die Eisspalten hochquoll, fortgerissen weiter. Über der kalten Wasserfläche lag dünner Nebel.
Wie der Staub und die Lumpen auf dem Senkawa-Kanal waren auch die Waren in den Lebensmittel- und Weinhandlungen, in den Küchen- und Grünkramgeschäften weniger geworden. Jetzt, wo sich keine Gemüsereste und Lumpen mehr in den Netzen fingen, blieben auch keine Waren bei den Händlern. Seit die Fabriksirene nicht mehr im Bezirk Kotshikawa heulte, war die Schlagader der Straße im Tal durchschnitten worden. Und die großen Fabrikanlagen lagen in der kalten Luft wie riesige Kadaver von Wasserpferden.
Die Kleinhändler waren in großer Verlegenheit. Sie wählten ihre Vertreter und setzten ein Komitee ein, in dem es viel Arbeit und lächerliche Diskussionen gab, sie baten jeden, der irgendwelchen Einfluß besaß, in diesem Streik zu vermitteln.
Ihre Diskussionen waren deshalb so komisch, weil sie sich selbst traurigerweise für neutral hielten. Sie gingen zu den großen Herren des Bezirks und klagten den ehrenamtlichen Stadträten ihre Not. Immerfort jammerten sie, sie seien gezwungen, zusammen mit den Streikenden zu sterben. Aber diese Ehrenleute an die sich die Kleinhändler Wandten, waren letzten Endes auch nur indirekte Angestellte der Gesellschaft. Und während die guten Kleinhändler glaubten, in diesem Streik neutral bleiben zu können, erwachte in den gestrengen Kritikern, den großen Leuten des Bezirks und den Ehrenmännern im Magistrat das Klassenbewußtsein, und sie wußten ganz genau, was sie zu tun hatten. Immer mehr Läden standen in der Hauptstraße leer, immer weniger elektrische Lampen brannten, und die Dunkelheit eroberte die Straßen. Die Zahl der Mädchen, die abends in verdächtige Kaffees und Weinhandlungen gingen, um am Morgen mit blassem Gesicht zurückzukommen, wuchs von Tag zu Tag.
" Sei doch nicht so eigensinnig, Vater, morgen oder übermorgen kommen sie bestimmt wieder, sie sind doch keine Diebe oder Brandstifter", sagte die Nachbarin tröstend in ihrem nordjapanischen Dialekt und brachte den Kranken ins Bett. Sie hatte alle zwei Jahre ein Kind geboren, der letzte Säugling lag unterernährt mit glänzenden Augen an ihrer nackten Brust, er konnte nicht mehr weinen.
" Aber es ist wirklich schlimm, wenn der Streik noch lange dauert, Vater, es ist Zeit, daß die Fabrik nachgibt."
Der Kranke biß seine zitternden Zähne zusammen und vergrub sich in
den Kissen.
Die Nachbarin ging nachts mit ihren beiden Kindern Eßwaren verkaufen.
Ihr Körper war wild und gesund wie ihre Sprache.
Aber die Gesellschaft wird nicht nachgeben. Sie nehmen nur neue Arbeiter." Der Alte konnte seine Zunge nicht im Zaum halten."
" Was?" sah die Frau den Kranken an, der ganz verlegen wurde.
" Nein... ich... weiß nicht, ob es wahr ist oder nicht, ich habe das nur so von Herrn Yoshida gehört.! - Aber das ist doch nicht schlimm." Der kranke Vater schielte ängstlich in das weiße Gesicht der Frau, die im Schneeland (Anm.: Auf Hokkaido, der Nordinsel Japans) geboren war."
" Woher kennst du denn Yoshida?"
Die Frau legte die Feuerschaufel, in der sie Glut für den kleinen Ofen den Kranken gebracht hatte, auf den Boden.
" Er war mein Meister. " Vor Überraschung schwieg die Nachbarin, die auch in diesen Büchern
gelesen hatte.
" Aber Vater, es hat doch keiner gesehen, daß Arbeiter in die Fabrik gehen,"
Die Frau suchte nach einem rettenden Gedanken.
" Nein, man hat die Männer unter Planen wie die Säcke auf Pferdewagen
in die Fabrik gefahren. "
Das Unwetter hatte nachgelassen, nur zuweilen klapperten die vom Wind gejagten Hagelschauer eintönig gegen die Haustür. "Ah, so macht man das!"
Jetzt begriff die Frau manches - der Mann von Oka-tjan, die auf der anderen Seite wohnte, war seit zwei Tagen nicht gesehen worden, und Harbo, ein anderer Nachbar, war gestern nacht auch nicht heimgekommen. Sie schlug ihr Kleid um das Kind, das sie auf dem Rücken trug, und legte die mitgebrachten Holzkohlen in den Porzellanofen. "Nur nicht bange sein, Vater, und nicht ungeduldig werden - ich bringe dir nachher, wenn ich es fertig habe, zu essen." Das Holzbrett über dem Graben klapperte, als die Nachbarin nach Hause ging.
Auf der Hauptstraße, an der Ecke der dritten Barackenreihe, stand ein Handwagen. Mit vorsichtigen Schritten ging ein Lumpenhändler den Weg, der zu den Baracken führte, hinunter. Er hatte sein Gesicht in einem schwarzen Schal versteckt, ein Mann im Arbeitskittel ging hinter ihm. Die beiden traten in die erste Tür der Baracke, in der auch Takaes Familie wohnte. Sie kamen nach kaum zwei Minuten mit einem großen Bündel beladen, - es sah aus, als sei ein Mensch darin - heraus und luden es auf den Wagen.
Dann fuhr der Lumpenhändler den Wagen in das Hintertor der Fabrik, kam allein zurück und ging in die Gasse zwischen der dritten und vierten Barackenreihe.
Mitten auf der schmalen, ungefähr einen Meter breiten Gasse blieb er erstaunt stehen. Vor ihm standen zwei Burschen, ebenso erstaunt wie er selbst - und diese Jungen hatten ihn gleich an den Augen erkannt, denn der schwarze Schal ließ nur seine Augen frei. Wortlos starrten sie einander an. Der eine Junge war klein und hatte einen lächerlich großen Kopf, der andere lang und aufgeschossen, mit auffallend dicken Backen; beide standen auf Vorposten und sollten gerade diesen Lumpenhändler aufspüren. Aber der war ihnen jetzt über: dieser Lumpenhändler war ihr Meister, und wenn sie mit ihm allein waren, wurden sie ängstlich und feige.
" Sanko!" rief der Lumpenhändler den großköpfigen Jungen an; er verstand nicht, was die Jungen hier machten und suchte in den Bewegungen ihrer Augen ihr Vorhaben zu erkennen.
Alle drei schwiegen und hielten den Atem an, aber bald hatte der Lumpenhändler wieder seine Überlegenheit über diese Burschen gefunden, die nur seine Untergebenen und grüne Jungen waren. "Ihr seid doch noch Kinder, macht keine Dummheiten, habt ihr denn ganz alle Dankbarkeit vergessen?" "Dankbarkeit - -?"
Die beiden sahen sich groß an, Sanko legte den Kopf schief zwischen seinen schmutzigen Kragen und sah den Mann wütend an.
" Dummer Esel", schimpften beide wie aus einem Munde, drehten sich auf den Hacken herum und verschwanden schnell in den Gassen. Dem Lumpenhändler kroch die Furcht vor etwas Unbekanntem von den Füßen über den ganzen Leib. Er zog den Kopf ein, lief schnell den Weg zurück und ging dann eilends über die Hauptstraße.

Zwei Stunden nach dieser komischen Szene stand der Lumpenhändler oben am Abhang des botanischen Gartens allein mit seinem Handwagen; der Mann im Arbeitskittel war nicht mehr bei ihm.
Im Nachmittagswind zitterten unruhig die kahlen Köpfe der Bäume, drüben stand als dunkler Hintergrund die Ziegelmauer der Blinden- und Taubstummenschule und trotz der Wegkreuzung kamen hier nur sehr wenige Menschen vorbei. Der Lumpenhändler ging mit kleinen Schritten an der Ziegelmauer auf und ab.
Jetzt kam ein junger Mann im schwarzen Mantel, mit braunem Halstuch von der Straßenbahn über den Abhang hierher. Der Lumpenhändler beachtete ihn kaum, weil dahinter noch mehr Leute kamen. Der junge Mann steckte die Hand in die Tasche und kam eilig mit gesenktem Kopf heran: kurz vor dem Lumpenhändler zog er ein Taschentuch heraus und schneuzte sich umständlich. Dann nahm er wieder seine frühere Haltung an und mischte sich unter die Passanten. Ein Radfahrer fuhr vorbei, ein Pferdefuhrwerk kam den Abhang herauf, eine Frau, ein Kind, ein Student, ein Mann mit einem europäischen Anzug.
Der junge Mann verließ auffällig den Fußweg und streifte den Lumpenhändler. Im selben Augenblick zog er seine rechte Hand aus der Tasche "Hund!" Er stieß zu, und ehe das Schimpfwort noch verklungen war, stürzte der Lumpenhändler ohne einen Laut nieder.
Die Bäume des Botanischen Gartens zitterten leicht und der Wind trug das Rattern der Straßenbahn herüber - Student, Kind, Frau, Hund, Radfahrer und der Mann mit dem europäischen Anzug waren vorüber - - -. Eine Hand gegen den Bauch gedrückt, stöhnte der Lumpenhändler mit heiserer Stimme: "Ich bin gestochen. "
Als sich aber endlich neue Straßenpassanten um den Lumpenhändler sammelten, war der Junge längst verschwunden.

 

V. Himmel und Hölle

So lange saß Takae schon in der Tiefe des viereckigen Sarges aus Eisenbeton, daß sie das Bewußtsein von Zeit und Stunde verloren hatte. In diesem Sarg gab es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht.
In der immerwährenden Dämmerung und Finsternis dieses Steinkastens bewegten sich fünf oder sechs Schatten von Menschen. Die gelbe Dämmerung, die kaum die Gesichter erkennen ließ, tropfte aus unerreichbarer Höhe wie aus einem trüben Auge in die Zelle. Man hatte alle voneinander getrennt. Takae konnte nicht wissen, wohin Okayo und Oja gebracht waren. Sie spitzte ihre Ohren nach jedem kleinsten Geräusch, das sich schmerzhaft durch die dicke Betonwand zu ihr hineinschmuggeln mußte.
Und die Schwester in anderen Umständen. Hier, in diesem Loch! Ununterbrochen wurde in der Zelle gelärmt. Ein paar alte schrien ohne Pause aufeinander ein.
Als sie sich einmal etwas beruhigt hatten, kam eine mit unruhigen Augen zu Takae, um sich mit der Neuangekommenen zu unterhalten. In der Zelle waren noch eine alte fünfzigjährige Frau mit verschlafenem, fettigem Gesicht, ein alter Landstreicher, der aussah, wie eine mit Lumpen umwickelte Stange, und ein Knabe, der einem Lumpenknäuel glich.
Der Alte schien sich nie mehr bewegen zu wollen, er krächzte nur immerfort und hatte wohl nicht mehr lange zu leben. Die Dirne, eine Gewohnheitsverbrecherin sagte, daß sie alle zwei bis drei Monate auf 29 Tage hierher müsse. "Aber da kam man nichts machen, das ist mein Beruf." Sie schien fest daran zu glauben.
" Na, die Polizei kann auch nicht dagegen an, und wenn sie noch so feierliche Gesichter machen -", sie grinste gemein und machte eine unanständige Geste, auf die sie scheinbar stolz war, so daß Takae von diesem Abhub ihres Geschlechts die Augen wenden mußte. Vielleicht war jetzt draußen Nacht. Die Schritte der Gefängniswärter hallten auf dem Betonboden in den eiskalten Korridoren wider. Die Gefangenen hatten nur dünne, schmutzige Decken gegen die Kälte. Die Dirne fragte etwas unbestimmt, wobei sie ihre gelben, fauligen Zähne zeigte:
" Wo is'n dein Strich?"
Sie meinte natürlich, Takae müßte denselben Beruf haben wie sie. Als Takae den Kopf schüttelte, wollte sie es nicht glauben. "Aber du kannst wirklich noch arbeiten, bist doch noch jung. " Dann wurde die alte Dirne sentimental.
" Ich will doch aber nicht so sterben wie diese Alte da, aber-----"
Die Alte, die auf die Dirne wies, hatte die Knie angezogen und das Gesicht zum Schutz gegen die Kälte in die Hände gelegt. Diese Alte war die "schwerste Verbrecherin" unter ihnen. Sie hatte das Haus eines Arztes angesteckt. Sie wollte sich an dem Arzt für den Tod ihres Enkels rächen, der nur deshalb gestorben war, weil sie kein Geld hatte, um dem Arzt die Medizin zu bezahlen.
Die Alte stand auf und ging, schwankend zwischen Ohnmacht, verzweifelter Qual und Schmerzen, hin und her. Sie wimmerte und griff sich mit den Händen an den grauhaarigen Kopf. Die Dirne sah sie mit offenem Munde an.
Die Alte glaubte noch an das Bild von "Himmel und Hölle", das ihr von Kindheit an eingeprägt war. Sie beichtete ihre Sünden.
Das Bild von "Himmel und Hölle", das in ihr Herz eingegraben war, bewies ihr, daß der Arzt recht hatte, ihren Enkel, den einzigen Lichtblick auf dieser Welt sterben zu lassen, weil sie ihm die Medizin nicht bezahlt hatte. Das Bild verurteilte sie auch, weil sie sich gerächt und das Haus des Arztes in Brand gesteckt hatte. Als nun auch noch schlecht von ihr gesprochen wurde, zerschnitt ein neuer Schmerz ihren Körper. "Heule nicht so, immer fängt sie wieder an", schrie der Junge; er stieß an Takaes Knie und richtete sich auf. Dieser vierzehnjährige Junge hatte das Bild von "Himmel und Hölle" nicht gesehen, dieses Lumpenknäuel kannte nur das Leben, das in der Nacht in den Röhren beim Straßenbau, auf leeren Hausböden oder in der Polizeizelle schläft und am Tage überall herumstreift, wo es nach Essen riecht.
" Ach, ich kann dabei nicht schlafen." Murrend schlief der Junge wieder ein. Er hatte an diesem schon gewohnten Ort keinen Grund traurig zu sein.
Plötzlich hörte man über den Köpfen Tritte von harten Schuhen. Takae trat an das Gitter und preßte ihr Gesicht an die metallnen Stäbe. Eine vertraute Frauenstimme schrie: "Ich weiß nicht, ich weiß davon gar nichts."
Ohne Zweifel war es Okayo, die da oben schrie. Takaes Körper zog sich vor ohnmächtiger Wut und Schmerz krampfhaft zusammen. Der schwarze Schatten eines Kriminalbeamten ging an dem Fenster auf dem Gang vorbei. Jetzt hörte es sich an, als ob man eindringlich etwas frage. Aber Okayos Stimme wiederholte hartnäckig, daß sie nichts wisse. "O weh, o weh", schrie Okayo in wildem Schmerz. Der Beamte schien ihr die Arme ausgedreht zu haben. Aufgescheucht schlug Takae mit den Fäusten gegen das Gitter und schrie: "Teufel! Schweine! Bestien!"
Aber nur harte Sohlen trampelten als Antwort darauf gegen das Gitter. Dann hörte sie die Stimme Okayos nicht mehr. Die harten Schritte des Kriminalbeamten hatten sich gleichfalls entfernt. Takae konnte keine Ruhe finden. -
Die Kälte der Dämmerung kroch ihr unter die Fußnägel, drang in ihre Kniegelenke und kitzelte in den Schenkeln.
Am nächsten Morgen öffnete ein Wärter die Türen der Zellen und führte die Leute einzeln auf den Abort. Okayo hatte sich in dieser einen Nacht völlig verändert. Ihr blasses geschwollenes Gesicht, ihre blutunterlaufenen Augen, ihre unordentliche Kleidung, alles erzählte von den Mißhandlungen der vergangenen Stunden.
Sie trat mit zusammengebissenen Zähnen auf den Gang, wie eine Seekranke schwankte sie durch die Gänge, sich mit einer Hand an der eiskalten Wand stützend. Der Säbel des Wärters trieb sie vorwärts. Als sie durch den zweiten Gang, tief wie ein Tunnel, ging, sah sie unerwartet Menschen vor sich.
" Oh!" Okayo blieb mit weit aufgerissenen Augen stehen, - da stand Miatji die Hände mit Ketten gefesselt; er sah zehn Jahre älter aus. Sie konnte nicht einmal den Mund öffnen.
Miatji bewegte seine Lippen, aber es wurde kein Wort; auf seinen geschwollenen Backenknochen waren dunkelblaue Flecken wie Schorf. "Was machen Sie!" Der Wärter, der hinter Miatji stand, stieß ihn in den Rücken. Miatji verlor jeden Halt, fiel gegen die Wand und wankte einige Schritte vor. Das Ganze dauerte nur drei oder vier kurze Minuten - länger konnte sie ihm auch nicht nachsehen. Die starke Erregung ließ ihr Herz erstarren.
Sie wußte, wo ihre Schwester saß, aber sie weinte schon nicht mehr. Sie saß in der Ecke der Zelle und tat hier und da einen tiefen Atemzug. Ihr Frühstück wurde durch das Gitter geschoben wie Vogelfutter, aber das Essen in dem viereckigen Kasten machte ihr keinen Appetit. Okayo starrte den viereckigen Kasten an und schob ihn wieder durch das Gitter zurück.
" Ach, ich glaube, ich werde hier sterben." Tag und Nacht - sie trank nicht mehr, nicht einmal Wasser. Am nächsten Morgen wurden Oja und Takae herausgelassen; man hatte sie kaum vernommen; die Polizei fand keinen Grund, sie in Untersuchungshaft zu behalten. Als sie ins Freie traten, blendete das helle Sonnenlicht ihre Augen; am Hintertor des Polizeiamtes sah Takae den Beamten, der Okayo verhaftet hatte.
" Hallo, verzeihen Sie, ich möchte gerne wissen, ob man Okayo Haruki schon herausgelassen hat?" fragte Takae höflich, ihren Haß verbergend. "Ich weiß nicht", sagte der Beamte gleichgültig, " das ist nicht mein Ressort."
Takae war verzweifelt, doch sie zögerte noch, ihm von der Schwangerschaft der Schwester zu erzählen - sie konnte nicht bitten; außerdem mußte sie erst Gelegenheit haben, diese Sache mit Miatji zu erklären. Der Beamte sagte, um weiteren Fragen auszuweichen: "Vielleicht ist sie schon zu Haus, das kann man nicht wissen, vielleicht ist sie schon vor Ihnen gegangen, gehen Sie nur schnell nach Hause. " Sie wußte natürlich, daß diese Worte sie nur ablenken sollten und sie hatte keinen Grund, weiter zu fragen. Aber sie klammerte sich doch an diese einzige kleine Hoffnung und folgte Oja.
Draußen wurden sie von Fusa-tjan und Ogin-tjan und einigen anderen Kolleginnen empfangen. Takae verabschiedete sich kurz und ging eilends ihrem Hause zu. Okayo war nicht da.
Sie hatte keinen Mut, etwas anzufangen; sie stand in dem lange nicht aufgeräumten Hause herum und sah gedankenlos ins Leere. "Was macht Okayo?" fragte der alte Kranke als erstes. Ohne ihm zu antworten und ohne sich erst auszuruhen, ging sie wieder von Hause fort.
Sie sah ein, daß es zwecklos sei, noch einmal auf der Polizeiwache nachzufragen, auch durch den Vertreter der Streikleitung bei der Polizei etwas unternehmen zu lassen, würde in dieser Zeit, in der immer 20 bis 30 Genossen in Haft waren, viel zu lange dauern. Dort waren alle mehr als reichlich beschäftigt.
Takae ging über die Senkawa-Brücke; einige Straßen weiter, kam an den Fuß des Haksuanabhanges; sie wußte, in einem zweistöckigen Haus am Abhang wohnte Hagimura in einer kleinen Kammer. Rechts an der Tür ging eine steile Treppe hinauf, oben war eine Papiertür. Sie rief: "Genosse Hagimura!"
Nach einer Weile antwortete eine tiefe heisere Stimme. Sie öffnete die Tür und trat ein. Hagimura erhob sich vom Bett und rief erstaunt, seine vom Schlaf geschwollenen Augen krampfhaft aufgerissen: "Aha, du bist wieder da!" Er hatte von ihrer Verhaftung gehört. "Was macht Kayo-tjan?"
Takae kniete an seinem Bett nieder und berichtete kurz das Vorgefallene.
" Alles wäre nicht so schlimm, wenn meine Schwester nicht in diesem Zustand wäre - aber du weißt doch. Und deshalb komme ich um Rat zu dir. "
Hagimura drehte sich unter den Decken herum. Erst vor noch nicht zwei Stunden hatte er sich schlafen gelegt; er war in der Frühe von einer Sitzung der höchsten Streikleitung nach Hause gekommen. Er kannte einen jungen Rechtsanwalt, der als Sekretär aktiv in der Arbeiter-und Bauernpartei arbeitete und schlug vor, jetzt gleich zu ihm hinzugehen. "Aber Moment mal", brummte er und blinzelte Takae an, aber sie verstand nicht, was er meinte.
" Nach der anderen Seite sehen - ich muß doch aufstehen." Takae wurde verlegener als Hagimura - was war sie für eine dumme Frau. Sie trat rasch an die Tür, senkte den Kopf und spürte den Geruch des hinter ihr aufstehenden Mannes. Als er schnell Anzug und Mantel angezogen hatte, sah sie wieder zu ihm hin und sagte: "Siehst du, ich bin so eine dumme Frau. "
Sie stiegen den Haksuanabhang hinauf und kamen in die Nishikatastraße. Mit dem Rücken zur Straßenbahn standen oben am Abhang die großen Villen.
" Taka-tjan, diese Straße herunter, das große Eckhaus dahinten gehört auch dem Okawa", erklärte Haigumura und wies mit dem Kinn in die Richtung. Da stand drohend das schwarze Tor, wie bei einem Schloß aus der Feudalzeit. Um den Spitzeln, die sicher vor dem Haustor des Direktors herumstanden, nicht aufzufallen, bogen sie vor dem Hause zur Straßenbahnstraße ab.
Während sie die hohe Mauer aus künstlichem Stein entlanggingen, mußte Takae die Enden ihres Schals festhalten, um mit schnellen Schritten dem vorauseilenden Manne folgen zu können.
" Hoppla!" Plötzlich blieb sie sehen, von irgendwoher kam ein roter Ball geflogen, prallte gegen ihr Bein und rollte in den Graben unter- halb der Mauer.
" Bitte, geben Sie mir meinen Ball" bat von der Tür her ein hübsches Mädchen, das den Ball geworfen hatte. Die Kleine war etwa sechs Jahre alt und trug eine Pony-Frisur auf ihrem wohlgenährten Köpfchen. Sie wiederholte:
" Fräulein, geben Sie mir den Ball. "
Der hübsche kleine Mund befahl. - Zweifellos gehörte diese Hintertür zum Hause Okawas - dann war also dieses Mädchen sicher ein Kind oder Enkelkind von Okawa. Takae trat näher heran und sah eindringlich auf das hochmütige Kind, das mit erhobenem Arm befehlend auf den Ball wies. Aber als es dem eiskalten Blick Takaes begegnete, zog es rasch seine Hand zurück, als hätte es einen elektrischen Schlag bekommen und sein Gesicht verfärbte sich.
Da kam ein Kindermädchen; Takae zwang sich mit Gewalt höflich und lächelte das Kind an. Das Kinderfräulein stand hinter dem Mädchen, das endlich wieder guter Laune war, und nickte.
" Wie heißt du? - Fräulein Eisuko? - Du kannst aber schon gut deinen Namen sagen. "
Takae sagte das so fließend, daß sie selbst darüber erstaunte. Sie streichelte das Kind und eilte Hagimura nach, der vorausgegangen war und auf sie wartete. "Was war denn da los?" Sie war vom schnellen Laufen außer Atem.
" Das Mädchen war Okawas Enkelkind", erklärte sie und wies nach rückwärts auf die Hintertür, an der das kleine Mädchen immer noch stand und den beiden nachsah. "Ach so, das ist also Okawas einzigster Schatz!"

 

VI. Weißer Terror

Rechtsanwalt Taruis bäuerliches Aussehen paßte eigentlich wenig zu einem Intellektuellen. Seine schwarze Zelluloidbrille hinterließ auf seiner dicken rundlichen Nase dunkelbraune Flecke. "Gut, ich habe alles verstanden, ich werde unterwegs beim Polizeiamt vorbeigehen. "
Der junge Rechtsanwalt war gleich bereit, alles nötige zu unternehmen. An dem einzigen Möbel des kleinen Empfangszimmers, das aus einem kleinen niedrigen Tisch bestand, rauchte der Rechtsanwalt ununterbrochen seine Gordon Bat's (Anm.: Billigste japanische Zigarettenmarke).
" Ich habe gehört, der rechte Flügel, der Gewerkschaftsbund der staatlichen Arbeiter, will in unserer Arbeiter- und Bauernpartei Fraktionen bilden", fragte Hagimura, als die Angelegenheit mit Okayo erledigt war, den ihm politisch nahestehenden Genossen. Er war in der eigentlichen politischen Bewegung wenig bewandert, weil die Arbeit für den Streik ihn ganz in Anspruch nahm.
Tarui blies den Rauch seiner Zigarette gegen die Decke, aber sein Gesicht blieb ausdruckslos.
" Ja, sie scheinen den nächsten Parteitag nicht abwarten zu können , ich glaube, daß es bald zur Explosion kommt."
Takae faßte zu der ruhigen, kraftvollen Haltung dieses Mannes, den sie heute zum erstenmal sah, großes Vertrauen. Dann brachte eine junge, etwa 22-jährige Frau den Tee. Ihrem einfachen Aussehen nach konnte man annehmen, sie sei das Dienstmädchen. Sie begrüßte die beiden Gäste höflich und Tarui stellte sie den beiden als Genossin vor, sie war seine Frau.
" Sind die Führer der Fraktion Tatsuoka und Nichimoto, wie man sagt?" Der Rechtsanwalt nickte zustimmend und begann von den Aussichten und der Zukunft der Partei zu reden. Seiner Meinung nach hing die Spaltung der Partei an einem Haar. Die Leute, die sich ihrer Aufgabe als Avantgarde bewußt seien, müßten jetzt durch hundertprozentige Aktivität den, Bestand dieser Partei der proletarischen Einheitsfront schützen. "Heute nachmittag wird eine Sitzung des Zentralausschusses stattfinden, wer kommt von euch?"
Hagimura antwortete, Yamamoto und Nakai würden kommen, er selbst sei auch Mitglied des Zentralausschusses, aber er habe keine Zeit, hinzugehen. Der Rechtsanwalt steckte sich eine neue "Bat" an. "Vielleicht werden die Mitglieder, die dem Gewerkschaftsbund der staatlichen Arbeiter angehören, gar nicht erscheinen. " Hagimura machte ein fragendes Gesicht.
" Diese Tendenz zeigt sich immer klarer, bestimmt werden sie nicht kommen; diese Trade-Unionisten sind voller Angst, weil ihr linker Flügel durch die Polizei unterdrückt wird, sie haben in der Arbeiter- und Bauernpartei keine Ruhe mehr. " In dieser kleinen Kammer, in diesem vornehmen Viertel waren die Strömungen der Bewegung nicht weniger zu spüren als in der Streikgegend. Takaes Überzeugung, die wie eine Lokomotive immer von neuem mit Widerstandswillen gespeist werden mußte, festigte sich immer mehr. "Das sind alles Gewohnheitsverbrecher und niederträchtige Verräter." Hagimura erinnerte an das Verhalten dieser Leute vor der Vereinigung mit der Partei.
" Ja, wahrscheinlich wird in einigen Tagen der Prozeß der Spaltung deutlicher festzustellen sein. "
Es ist schon heute soweit, war im Gesicht des Rechtsanwaltes zu lesen. Es hätte noch endlos zu diskutieren gegeben, aber sie durften nicht. Die Offensive des Kapitals hatte die Kämpfer der Avantgarde weit auseinandergeworfen - und doch nur immer näher zusammengebracht. "Also, dann bitte ich dich um Erledigung dieser Sache." Takae und Hagimura verabschiedeten sich von Tarui und gingen fort. Takae war schon ruhiger geworden.
In diesem vornehmen Viertel schien jetzt um die Mittagszeit die Sonne durch die Wolken und warf matte Strahlen.
" Ich war ganz verlegen, ich dachte, die Frau war das Dienstmädchen, sie ist sehr nett. "
" Ach, ich möchte etwas essen" , sagte Hagimura und blieb vor eine m kleinen Cafe auf dem Haksuanberg stehen.
Er hatte seit gestern abend nichts gegessen. Takae sah in das kleine Cafe hinein, es fiel ihr ein, daß sie auch noch nicht gegessen hatte. Bei der Entlassung gibt die Polizei am Morgen kein Essen mehr. "Dann esse ich auch. "
Als sie durch die Glastür in das schmutzige Lokal eintraten, erschienen aufdringlich die kleinen Mädchen - Willkommen - und musterten unverschämt das Paar. Die Wand des Raumes war mit weißem Lack gestrichen; sie waren die einzigen Gäste. Das war ihnen angenehm. Als sie sich gegenübersaßen, befiel beide eine Schüchternheit und sie mußten sich zwingen, ein Gespräch in Gang zu bringen. Hagimura sprach von der Resolution der gestrigen Sitzung der höchsten Streikleitung.
" Ja, Takae, der Streik wird immer komplizierter." Sie wußte garnicht, was inzwischen passiert war und hörte, während der leere Blick durch den Raum schweifte, die Entwicklung der Ereignisse, die Tatschen, von denen Hagimura erzählte.
Oji-Papierfabrik und Klischeedruckerei sowie Nippon-Lampenfabrik hatten vorgestern gleichzeitig alle Arbeiter, die bei dem im Rat revolutionärer Gewerkschaften Japans zusammengeschlossenen Verbänden organisiert waren, entlassen. Die Leute hatten gegen diese Maßregelung protestiert und waren in den Streik getreten.
" Und was soll jetzt werden?" sagte sie plötzlich nach langem Stillschweigen. In der Theorie erkannte sie recht gut, wie sich die Verhältnisse zwangsläufig zuspitzten. Sie sprach zornig, als ständen unsichtbare Feinde vor ihr.
" Was werden wird? - Es gibt nur eins: noch einmal zum letzten Kampf mit allen Kräften - vollständiger Sieg oder Untergang." "Das ist alles?" Takae sah auf das zerzauste Haar Hagimuras und zeigte deutlich ihre Unzufriedenheit mit seiner Antwort. Von drinnen brachte das Mädchen zweimal Curry-Reis und stellte ihn wenig liebenswürdig vor die beiden. Die Löffel waren hier und da rostig. Die weichen Sonnenstrahlen, die durch die Milchglasfenster hereindrangen, spiegelten sich in den weißen Lackwänden. "Das ist nicht alles, es kommt noch etwas", bemerkte Hagimura, nachdem er einen Bissen Reis gegessen hatte.
" Gesamtangriff gegen die gesamte Front des Kapitals", lachte er schrill, seine Aufregung zwischen den Wimpern versteckend. "Der Hauptakt des Streiks wird morgen beginnen - Gesamtmobilisation aller Streitkräfte, alle Mann an Deck - aber das muß noch geheim bleiben."
Takae antwortete nur mit den Augen, mit einem Lächeln um den Mund meldete sie sich zur Stelle: Alle Mann an Deck!
" Das wird wunderbar!" Sie sah vergnügt auf die starken Schultern ihres Gegenübers. Obwohl sie beide bisher oft zusammen gearbeitet hatten, hatte sie Hagimura immer nur als Vorbild und als guten Berater angesehen. Dieser Mann mit dem starken Bart und den breiten Schultern war ein typischer Westjapaner. Sein Gesicht war aus großen und kräftigen Linien gebildet.
Hagimura hielt plötzlich im Essen ein und hob den Kopf, sie fühlte sich ein wenig beschämt, ihn so lange angesehen zu haben. "Ach, wie dumm, ich habe zu wenig Geld, ich habe gar nicht daran gedacht." Er war verlegen.
" Ist nicht so schlimm, ich habe noch einen Yen bei mir." Er klopfte mit seiner Hand auf den Gürtel. "Gerettet, dann werde ich also noch einmal essen." "Bitte schön", lachte sie.
In diesem Augenblick huschten einige Schatten über die Glastür und verschwanden sofort wieder. Takae hatte zufällig hingesehen, aber nichts Auffälliges daran gefunden.
" Dann gibt es Generalstreik", setzte sie die unterbrochene Unterhaltung fort, während der Mann den Tee eingoß.
" Wenn es dazu kommt, muß man unbedingt dafür sorgen, daß der Kampf sich politisch auswirkt. Ich habe bei Tarui nichts davon gesagt, weil das auch geheim bleiben muß. In der nächsten ZK-Sitzung der Arbeiterund Bauernpartei soll eine Aktionsresolution über diesen Streik gefaßt werden. " Als Hagimura sich den zweiten Teller nahm, sah Takae zufällig auf die Glastür. "Was ist denn da los?"
Ein großer Schatten senkte sich plötzlich auf ihre Köpfe und sie sahen beide, daß draußen an der Glastür die flachgedrückten Gesichter von ungefähr zehn Menschen klebten. "Was soll denn das?"
Da wurde die Glastür aufgerissen und etwa zehn Leute stürmten ins Zimmer.
Jetzt begriff Hagimura.
" Verflucht, verloren!" schrie er Takae schnell zu, "das sind Pinkertons und Werkfaschisten, verschwinde schnell und unterrichte die Streikleitung. "
In dem engen Raum drängten sich die Männer rings um Hagimura. Der ging schweigend rückwärts und zog sich die Jacke aus. Unmöglich zu fliehen. Ein langer Mann an der Spitze der andern kam auf ihn zu:
" Du bist Hagimura------"
Schon flog der erste Teller, schlug gegen die Wand und zerschellte. Im hinteren Raum machten die Bewohner Lärm. Takae zögerte noch, aber dann entschloss sie sich, lief nach hinten und verschwand. "Schurke, Teufel !" Der Mann der eben gefragt hatte, stürzte, Hagimura hatte einen Stuhl auf ihm zerschlagen. Die englische Sauce spritzte herum und Salzstreuer zerbrachen.
Hagimura kämpfte und verteidigte sich mit allen Kräften, aber diese Strolche waren an solche "Arbeit" gewöhnt und in der Überzahl. Sie warteten, bis er nichts mehr zu werfen hatte und sprangen dann von allen Seiten auf ihn zu.
Der verquirlte Menschenblock lag flach auf dem Boden, Hagimura fühlte an einer Stelle schmerzhaft alle Nerven brennen. Klebrig tropfte sein Blut auf die Gesichter der unter ihm Liegenden und gleichzeitig fühlte er einen Schmerz im Hinterkopf. Es war so, als würde er mit einer groben Bürste gegen den Strich gebürstet. Dann wurde er bewußtlos.

 

Sturm

I. Am Vorabend

Wie alle anderen Weltstädte hat Tokio seine Vororte mit einem Ring von Fabrikvierteln umgeben. Südlich von Shinagawa zieht sich ein breiter Gürtel von Tokio nach Yokohama. An der Ostseite bildet Oshima den Mittelpunkt.
Die ganze Gegend von Skishima ist dem Wasser abgewonnen. Im Norden von Tokio liegen Nordsenjiu und Südsenjiu, südöstlich davon Oji und Jujo. Immer mehrdehnen sich diese Fabrikviertel, die Barometer der großkapitalistischen Zentralisierung, aus. Die Macht des sich fort und fort vermehrenden Kapitals ebnet alle Berge ein, trocknet die Sümpfe aus, kanalisiert die Flüsse und baut Straßen. Diese Viertel werden immer größer und breiter, recken sich nach allen Himmelsrichtungen, nach Südwest, Südost und Nordost, wie das Meer, das sich in das Land
hineinfrißt.
Es fängt an mit den Ankauf des Bodens; der Bauer verliert seine Rechte und die rückständige, der Provinz eigentümliche Lebensweise ändert sich von Grund auf. Damit beginnt das Durcheinander der wirtschaftlichen, politischen und strategischen Konzentration der bürgerlichen Parteien, der Aktionen und Korruptionen. Aber diese Schattenseiten werden durch den "Aufbau der Wirtschaft" oder den "kulturellen Fortschritt" überschminkt. Und nun herrscht das Großkapital in diesem neuen Königreich stolz, feierlich und brutal wie Don Quijote auf seiner fernen Insel (Anm.: So im Original. Der berühmte Roman des Cervantes ist das meistgelesene europäische Buch in Japan.).
Die riesige Fabrik steht mitten in der Stadt wie eine Burg, wie ein Schloß auf dem Berge.
Man baut ein Polizeiamt und auf den früheren Reisfeldern unterhalb des Dammes am Wasserfeld, werden aus alten abgetakelten Güterwagen Baracken erbaut, um für das zerbrechliste Rohmaterial der Fabrik, den Menschen, Schlafstellen zu liefern. Das lärmende Geheul der Sirenen weckt die Menschen und treibt alle aus den Wohnlöchern, mit Ausnahme der Nachtmädchen, die gespenstisch geschminkt in ihren Betten bleiben. Der schwarze Rauch aus dem größten Schornstein verdunkelt selbst die Sonne und die Ketten der Kräne lassen die öligen Wasserflächen erzittern. Die rotglühenden Kessel winden sich wie Fieberkranke im Schüttern der Fabrik.
Die größte Autorität in einer solchen Fabrikstadt haben der absolutistisch schaltende Polizeipräsident und die Sozialpolitiker: Stadtverordnete und Missionare, lammfromm wie Bräute; der buddhistische Priester dumm wie ein Stein; der Arzt mit seiner albernen Liebenswürdigkeit. Um das gemeinsame Ziel aller hier zusammenwirkenden Kräfte zu fördern, gibt es billigen Reis, Wein und Scharen billiger Frauen. Das sind die Fabrikviertel, die Lungen der Großstadt. Sieben Stockwerke hohe Gebäude werfen riesige Schatten auf das Pflaster. In den Villen der Reichen, den großen Kaufhäusern, die die Mode ausspeien, unter der Kuppel des Reichstages, in den Tanzsälen der großen Hotels, den Theatern und Music-Halls, in den Palästen der großen Banken im europäischen Renaissancestil pulst das Blut, das die Vorstädte speisen.
In gelbbraunen Lederkoffern wird dieses Blut als vornehmste Habe in der Zentrale in Sicherheit gebracht - zur Bank, in die Wechselstuben, Börsen, Kaufhäuser, Theater, Bars, vornehmen Restaurants, Tanzhallen und so weiter.
Ein kluger bürgerlicher Politiker hat im Reichstag vorgeschlagen, alle Fabriken aus der Stadt zu verlegen.
" Eine bequeme Wohnung muß immer in Ordnung sein. Küchen, Dienerkammern und Aborte werden immer so angelegt, daß sie die Stimmung der Hausbewohner nicht stören. Das ist nicht nur nützlich und nicht nur um äußerer Schönheit willen, sondern weil man dadurch auch von Lärm und Gestank befreit wird; vom hygienischen Standpunkt aus ist es ein unbedingtes Erfordernis. "
Der Reichstag nahm diesen "Vorschlag zur Güte" einstimmig an. Die "Straße ohne Sonne" im Kotshikawabezirk würde danach das Schicksal haben, zwei Meilen weit fortgejagt zu werden.
Jetzt, wo Tokio von fortschrittlichen Kapitalisten Europas und Amerikas besucht wird, darf eine solch schmutzige Gasse nicht mehr mitten in der Stadt bleiben. Zudem war das "malerische Waldtal", das der Kronprinz beim Besuch des Seminars entdeckt hatte, eine besondere Sehenswürdigkeit der Stadt. Solch ein Schmutzfleck ist im schönen Tokio eine Ausnahme. Deshalb sollte diese "Straße ohne Sonne" schon in nächster Zukunft mit ihren Barackenreihen nach außerhalb wandern, um' das Ansehen der Großstadt nicht zu stören.
Es trägt doch wirklich auch nicht zur "allgemeinen Harmonie" bei, wenn auf dem schönen Pflaster die Lastwagen fahren, in den Wartesälen der großen Banken die blauen Arbeiterblusen sitzen, auf dem Parkett der Tanzahallen die Arbeiterinnen tanzen, in den großen Schaufenstern der Kaufhäuser Essenkästen aus Aluminium, blaue Arbeitshosen und gestrickte wollene Unterröcke ausgestellt werden!
Erst wenn die neuen Typen von Citroen, Buick und Nash auf dem staubfreien Asphalt fahren, wenn gut manikürte Hände aus Pelzärmeln heraus im Scheckbuch blättern, wenn die Damen in schönen, glänzenden Kostümen ihre schlanken Rundungen tanzen lassen, wenn die kostbaren, zarten Gewege mit noch kostbareren Edelsteinen geschmückt werden -dann erst wird die Stadt in ihrem richtigen Lichte glänzen. Ja, nur dafür existiert die ganze kapitalistische Kultur, ihr System, dazu haben ihre Abgeordneten ihre Gesetze geschaffen. Funken fliegen!
Von der Stadt ausgehend verbreitet es sich nach allen Seiten und brennt, wie vom Wind gejagter Heidebrand. Wenn die Abenddämmerung in den Schatten der Berge kriecht, lodert der Brand auf den Feldern, am Bahndamm der Vorstadt Oji.
Kinder mit glühenden Backen schlugen mit Standen das vertrocknete Gras auf dem Damm, daß dürres Heidegras und Schilf zitternd und schwankend, vom Feuer fortgepeitscht aufflog.
" Guck mal, schon wieder ein voller Wagen" schrien die Kinder und winkten mit den Händen. Es war auffällig , in wie kurzen Abständen heute die überfüllten Wagen hintereinander kamen.
Die Elektrische fuhr über das Feuer, gegen den Wind stürmend vorbei. Die Wagen waren mit Menschen überladen.
Zornige Gesichter - traurige Gesichter - Arbeiterblusen - abgetragene Mäntel - Arbeiterinnen, die Gesichter halb von schwarzen Schals verdeckt.
Die elektrischen Bahnen hielten am Berg; ihre Körper zitterten. Jedesmal, wenn eine Bahn hielt, stiegen Rufe auf - Bansai (Anm.: Eigentlich 10 000 Jahre; d.h. soll er leben)! Wieder der nächste Wagen - noch einer und noch ein dritter. Alle waren überfüllt und spuckten die Massen an der Endstation am Askajamaberg aus.
Die Kinder machten Trompeten aus ihren Händen und schrien: "Hallo, wohin geht ihr?", aber die Massen gingen schweigend, als wären sie böse, stiegen den Berg herab und drängten nach der Vorstadt Oji hin. Männer, Frauen und Kinder gingen, als hätten sie nichts miteinander zu tun, scheinbar ohne jede Eile, und überschwemmten die Straßen der Stadt, die schon in Abenddämmerung lag. Niemand wußte wohin. Nur die Hunde mit ihrer scharfen Witterung spürten, daß diese Massen einen gemeinsamen Geruch hatten.
" Was ist da nur los?" Die Kleinbürger der Vorstadt ließen ihre fragenden Augen über die Scharen der unbekannten Arbeiter schweifen. Der Polizist an der Eingangsstraße telephonierte übereifrig an das Polizeiamt.
Aber die Massen ließen ihre Absicht noch nicht erkennen. Mit wachsender Dunkelheit schien sich die Zahl der Arbeiter ungeheuer zu vermehren. Sie gingen, mit niedergeschlagenen Augen, andere mit hocherhobenen Kopf, immer zwei oder drei in einer Reihe. Arbeiterblusen Sweater - Mäntel - Arbeiterinnen, deren schwarze Schals im Wind flatterten.
Auf der Hauptstraße, in den rückwärtigen Gassen, um die Fabrik, im Schatten der Mauer, auf den Schienen für die Handloren, unter den Bergen, vor den Warenläden, auf dem großen Platz der Stadt - sie über schwemmten wie eine Flut von Schatten die Askaijamaberge bis an die Ufer des Ojikawa - immer mehr - immer mehr. Die Kleinhändler der Stadt kamen auf die Straße und sagten erstaunt: "Sie sind anders, als sonst die Leute bei einer Kundgebung. " Gerade tagte die Protestkundgebung der ausgesperrten Arbeiter der Oji Papierfabrik in einem Winkel im Osten der Vorstadt. Aber diese Massen kamen von der Endstation der Vorstadtbahn.
Immer mehr stieg die Verwirrung. Die Bewohner der Stadt wurden unruhig. "Aber, ich verstehe das nicht."
Sieh, wie finster und zornig sie alle aussehen", sagte der Wirt eines Reisweinausschanks zu seinem Nachbarn, einem Kuchenbäcker. "Vielleicht richtet sich ihr Haß gegen die Papierfabrik hier?" Vollkommene Finsternis senkte sich über den Horizont, die Lampen an den Häusern wurden zahlreicher. Vor dem Berg stand die Oji-Papierfabrik. Acht Straßen gingen, wie die Felder eines Schachbretts, von ihr aus. In diesen Straßen gab es Kinos, Schulen, Cafes, Kabaretts und zahlreiche Lebensmittelläden, die genau dieselbe Rolle spielten wie in der "Straße ohne Sonne". Sie waren sehr billige und ärmliche Speisetische des Barackenzuges, der sich um diese Vorstadt lagerte. Vor dem Tor der Fabrik lag der einzige Platz der Vorstadt mit seinen Cafe's, Bars, Bücherläden und Kleidergeschäften, die Kulturzentrale dieser Stadt.
Die Bäume an den Bergen verschwammen im Dunkel, immer noch stieg Schar um Schar den Berg hinab, kam aus dem Schatten der Bäume hervor, aus den Schluchten der Wiesen. Bald war auch der Berg unter schwarzen Massen begraben. Jetzt kam das Geknatter eines Motorrades aus einer der Straßen, die Bewohner sammelten sich aufgeregt flüsternd vor den Ladentüren: Die Kundgebung ist zu Ende - jetzt kommt der Polizeileutnant! Das scharfe Knattern kam näher. Der Polizeileutnant in blitzender Uniform, den Säbel zwischen den Beinen, saß mit vorgereckter Brust in dem Beiwagen der Maschine.
" Jetzt kommen die Leute aus der Kundgebung. "
Vier oder fünf Gewerkschaftsfahnen mit blanken glänzenden Fahnenspitzen kamen in der drängenden Menschenmenge näher. Die Massen schrien zornig - nein, sie sangen, aber man verstand die Worte nicht, weil es zuviele waren und mit ihren schrillen Stimmen, wie das Pfeifen der tausend sausenden Treibriemen in der Fabrik, auseinandergerissen wurden. - In diesem Augenblick erlosch auf einen Schlag alles elektrische Licht in diesem Stadtteil. "Eine Störung!"
Nur die Sterne brannten an dem kalten, dunklen Himmel. In den finsteren Straßen schrien verwirrt und aufgeregt die Anwohner - was hatte das zu bedeuten? Aber die Fahnen marschierten unbeirrt weiter. In der Nähe des Fabriktors beschleunigten die Massen ihre Schritte und bald begannen sie zu laufen. Die Massen wurden dichter und größer, von den Ecken der Straßen, unter den Dächern der Häuser hervor drangen die schwarzen Schatten in die Dunkelheit des Platzes und ballten sich vor der Fabrik zusammen, dunkle, rote Fahnen schwammen über den ersten Reihen. Sie überschwemmten den ganzen Platz und verjagten alles mit ihrem Lärm.
Auf dem Berg hinter der Fabrik funktelten aus den schwarzen Schatten lauernde Augen in die Tiefe. Unter ihnen lag die wie ein Panzerschiff bestückte Fabrik und streckte ihren Eisenbetonbauch auf dem Grunde der Finsternis. Dort, wo man die Fabrik fast mit Händen greifen konnte, standen die großen Schornsteine wie Dämonen und wirkten noch düsterer, weil sie keinen Rauch ausspien. Die Mauer, hoch und dick, wie von einem Gefängnis, begann unten am Berg, zog sich über die Straße bis an das Ufer, wo die Wellen des Ojikawa in der Finsternis leuchteten.
Die Mauer hob und senkte sich gleich der "chinesischen Mauer" bis an den Fluß. "Wo ist das Hintertor?"
Unterhalb des Berges lagen die sägeförmigen Dächer der Fabrikgebäude mit festverschlossenen Eisentoren. Ihren Mittelpunkt bildete das spitze, kegelförmige Dach der großen Filteranlage. Von dort aus liefen sternförmig die einzelnen Fabrikgebäude.
Die schwarzen Schatten starrten schweigend auf die riesige Bestie und hielten den Atem an.
Fünf Minuten - zehn Minuten - plötzlich sprang ein Schatten auf die Mauer neben dem Haupttor und schwenkte eine Fahne. Das dunkle Fahnentuch flatterte in der Finsternis wie eine riesige Fledermaus. Da - ein Schrei stieg auf - ein großes Geräusch, wie ein Bergsturz rollend, flog brausend um die Fabrik, brandete gegen den Berg, schwoll wieder zurück, hin über den Fluß Ojikawa und erfüllte die ganze Vorstadt, donnernd brauste es unter dem Nachthimmel. Bäume umreißend das Gras zerstampfend, rollten die Menschenmassen wie eine Lawine herab - hunderte - tausende - zehntausende drückten gegen die Mauer, kletterten auf die Gitter, die Tore, krochen wie Ameisen auf die Mauer Die Mauer war in ihren ganzen Länge von den schwarzen Schatten umspült. Die Augen funkelten. Wie vom Teufel besessen stürmten die untenstehenden über die sich den Berg hinabziehende Mauer. Das Getös wurde zum Sturm, der die Stille der Nachtdurchbrach, der die Fabrik mit der Schnelligkeit des elektrischen Funkens umraste und stoßweise, wie ein Taifun, heulte. Die Finsternis war erschüttert und zerrissen; auf der Höhe der Betonmauer wirbelten und tobten die Fahnen. Es war ein Vulkan, der plötzlich kochende Wassermassen emporwirft.

 

II. Kampf in der Fabrik

Die schwarzen Schatten sprangen von der Höhe der Mauer in die Tiefe, das riesige, schwerbewaffnete Kriegsschiff ging in diesen schwarzen Schatten unter. Auch im Innern der Fabrik lag alles in Finsternis. Geruch von verrosteten Eisen und Chemikalien stand im Dunkeln wie von verwesenden Leichen.
Sie stießen in Trupps zu drei und fünf Mann vor.
Die Fahnen waren ihre Kompaßnadeln, zeigten ihnen den Weg - sie schwankten hocherhoben bis zum Hofplatz der Fabrik, wie Bojen auf stürmischen Wellen. "Vorsicht!"
" Macht keinen Streit untereinander!"
Die schwarzen Schatten krochen auf dem Boden oder rannten dicht an der Betonmauer hin; in der Mitte die Frauen und Kinder; sie waren darauf gefaßt, daß der Feind jeden Augenblick hervorspringen würde... Finster lag der Platz da. Der Feind ließ sich nicht sehen; er versteckte sich im Dunkeln und verriet sich durch keinen Laut. Auf dem Hofplatz sprang Geschrei auf, Fahnen wurden wild geschwenkt und zerschnitten die Finsternis.
Die schwarzen Schatten schlossen sich zu einem wirbelnden Strom, in dem es kochte und Blasen aufstiegen.
Dann aber stürmten sie, sich teilend, brüllend in die Bürogebäude der Fabrik. In einem Fenster der dritten Etage schwankte verlegen ein einsames Talglicht und irgendwo klingelte ein Telephon, als ob es zerrissen würde.
" Heraus mit dem Direktor!" schrie ein Arbeiter, der allen voran war, vor der Glastür.
Etwa fünfzehn Gesichter von Angestellten duckten sich leichenblaß auf einem Haufen hinter einem Schreibtisch und wackelten verlegen auf ihren Hälsen. "Wer hat uns entlassen?"
Von der Treppe her drohten die Schritte der Massen: "Macht die Tür auf!"
Die Glastür zersprang und über ihre Trümmer drängten die empörten Gesichter mitten ins Zimmer.
" Macht doch keine Dummheiten, der Herr Direktor ist doch nicht hier. " Einer kam bis an den Geldschrank vor und antwortete, vor Erregung zitternd. Aber gleich brüllten ihn die Arbeiter an. "Wer hat uns entlassen?"
Der Vollbart, der eben das Wort geführt hatte, entgegnete: "Der Chef der Personalabteilung, aber der ist nicht hier - nein - der ist nicht hier!"
Einige Wachskerzen stürzten vom Tisch und das Wachs floß auf den Teppich. Einer von den Angestellten schob ängstlich seine Hand an den Türgriff rechts hinter ihm. Der Mann mit dem Vollbart suchte die Angreifer zu beschwichtigen und durch Ausflüchte zu überlisten. "Lüge nicht. Du bist ja der Personalchef selber!" Aus der Menge zeigte ein Mann ohne Hut mit dem Finger auf ihn. Das Gesicht des Vollbärtigen verzerrte sich angstvoll. Der Mann, der auf ihn zeigte, war ein von ihm entlassener Arbeiter.
Der Tisch wurde umgeworfen, alle Lichter stürzten um, der Wandschirm krachte zusammen. Alles brüllte und stampfte durcheinander. Da ging die hintere Tür auf, blanke Säbel schimmerten durch das Dunkel, fünf riesige Männer, Werkfaschisten, drängten sich herein. In die zornigen Gesichter kam Bewegung, sie drängten nach rückwärts. Schritt für Schritt wichen sie vor den blanken Säbeln zurück und zwängten sich durch die zerbrochene Tür auf den Korridor. Die Finsternis schluckte die Stimmen, die Nerven spannten sich vor Erstarrung. Ein herabgefallenes Licht sengte den Teppich an, eine kleine schwelende Flamme beleuchtete das triumphierend grinsende Profil des vordersten Werkfaschisten.
" Hunde!" Aus der Masse auf dem Korridor stieß eine blanke Fahnenspitze vor - der Getroffene schrie röchelnd auf, schwankte und klappte schlaff zusammen. Wieder leuchteten die Spitzen der zusammengerollten Fahnen, sie drangen durch die Tür bis zur Mitte des Zimmers. Die schimmernden Säbel und die leuchtenden Fahnenspitzen stießen, wie magnetisch angezogen, gegeneinander. Endlich wurden die Schwerter an die Wand gedrückt.
Jetzt schleuderte ein Mann, die Gelegenheit wahrnehmend, eine Handvoll Pulver den Werkfaschisten in die Augen. Das war Tomi-tjan, der Kurier aus dem ersten Stock des grotesken Restaurants "Kanarienvogel. "
Die Angestellten und die Säbelmänner husteten und rieben sich die tränenden Augen. Sie standen widerstandslos an der Wand. Da hörte Tomi-tjan ein Geräusch, sah sich um und erschrak: in den Korridoren wurden die Massen der Arbeiter zurückgedrängt - seine überreizten Nerven vernahmen das Klappern unzähliger Säbel. Es gab keinen Ausweg!
Sie mußten ihre letzten Kräfte aufbieten. "Nicht fliehen!" Sie schlossen sich zu einem festen Menschenblock zusammen und drängten sich durch die Korridore, bis sie an den Treppen auf einen noch stärkeren Gegner stießen. "Nicht fliehen!"
" Nicht auseinanderlaufen - dicht zusammenbleiben!" Die Haufen der Uniformen, die schon bis zur achten Stufe geklettert waren, wollten in einem Atemzuge bis oben vorstoßen. Die Hand am Säbelgriff, drangen sie weiter vor.
" Wollt ihr zuschlagen?" Gleichzeitig flog das Pulver den Polizisten ins Gesicht. "Drücken! - Noch eine Stufe - nicht fliehen - drücken!" Mit ihrem ganzen Leib verteidigten sie jede einzelne Stufe und wollten sich nicht zurückziehen.
Alle Eingänge waren fest mit eisernen Türen verschlossen. Aber da die meisten Arbeiter, die jetzt die Fabrik stürmten, sonst hier arbeiteten, kannten sie alle Geheimnisse der Fabrik, in der sie ihr Leben lang nisteten. Durch Fenster, Luftlöcher und Luken schmuggelten sie sich wie der Wind - huschten in die Kesselräume, die Filteranlage, in die Hallen, wo die Papierpressen standen und die Trockenkammern.
Die Fabrik sah fremd und böse aus wie eine im Zank geschiedene Frau, und es schien, als sähe sie von ihnen fort. An den schlafenden Kesseln vorbei wanden sich die breiten und flachen Eisenrohre der Filteranlage hoch bis über den zweiten Stock hinauf.
" Hallo, komm hierher!" rief leise ein Mann aus dem Dunkeln und ergriff die Hand seines Nebenmannes. Die leise Stimme klang in den leeren Raum und die kräftigen Männer drängten vorsichtig vorwärts. Der Kleinste von ihnen schien die Führung zu haben. "Wir steigen von hier herauf", sagte der Kleine. Sein Fuß stand schon auf der eisernen Leiter. Tastend stiegen sie aufwärts, das Eisen quietschte beim Klettern. Sie kamen zur ersten Etage; dort standen große eiserne Zylinder, um die eiserne Rohrschlangen wie Adern herumliefen. Der Geruch von Chemikalien, Rohpapier und Lumpen brannte in ihren Nasen.
" Es ist erst in der zweiten Etage, wir müssen noch ein Ende klettern. " Verstohlen stiegen sie die letzten Stufen hinauf.
" Ah, wartet. " Der Kleine stockte, sein Kopf war gegen den eisernen Deckel in der Decke gestoßen.
" Was ist los, was denn?" fragte der nächste Schatten dicht unter ihm. "Zum Teufel, oben ist Wache!"
Sie schwiegen ängstlich: im Dunkeln lauerte der Gegner auf die Gelegenheit, über sie herzufallen.
" Drück nur mal, bloß keine Angst", stieß ein großer kräftiger Mann den Kleinen an die Sohlen. "Geht nicht, der Deckel ist fest. "
Die Öffnung war mit einem Scharnierdeckel versperrt. Der Kleine hörte, wie sich über ihnen, in der zweiten Etage, jemand näherte. "Steig ab, schnell es kommt jemand!" Da hielten schon die Schritte über ihren Kopf. Es war jetzt gefährlich, sich auf der Mitte der Leiter auch nur vorsichtig zu bewegen; der Kleine hing sich an die Rückseite der Leiter.
Gleichzeitig fiel das weiße Licht einer Taschenlampe von oben durch die Klappe, immer mehr, je weiter sie aufgezogen wurde. "Wer da?" fragte ein hell beschienenes Gesicht ängstlich aus dem Loch hervor. Das Licht fiel auf die Mütze des kräftigen Arbeiters. "Steig ab. sonst stoß ich dich herunter!" Er hatte eine eiserne Stange in der Hand, die Taschenlampe näherte sich dem Gesicht mit der Mütze. Im selben Augenblick stieß der Arm des kleinen Mannes vor, packte die Hand mit der Taschenlampe und zog sie mit aller Kraft nach unten.
Die Taschenlampe fiel auf den eisernen Boden der ersten Etage; es wurde dunkel. Der Wachmann, der so plötzlich den Boden unter den Füßen verlor, schlug schwer auf den Mann mit der Mütze. Beide verknäulten sich, stürzten von der Leiter und rangen unten weiter. Der Kleine sprang nach oben und stieg in die zweite Etage, in der, wie er wußte, niemand sonst war. Rasch nahm er eine eiserne Stange und drang auf sein Ziel los. Auch in der Dunkelheit wußte er genau und besser als wieviel Festkleider seine Frau hatte, wo er hinwollte: Die wichtigsten Teile der Filteranlage, deren Schlund in der dritten Etage aufgesperrt war befanden sich vor einem der Zylinder: Manometer, Geschwindigkeitszähler und die elektrischen Magnete. Das alles war mit einem Schlag leicht zu zerstören.
Er schlug die Eisenstange mit voller Kraft auf die Maschinenteile. Die kleinen Meßapparate, deren Zifferblätter im Dunkeln schimmerten, zersprangen klirrend - -.
Er hörte Schritte hinter sich, die über den eisernen Boden rannten; war es Freund oder Feind?
Aber ohne sich umzusehen, schlug er zum zweiten, zum dritten Male zu. - Der Klang zerbrechenden Metalls und Knirschen splitternden Glases scholl von den Wänden des zweihundert Quadratmeter großen Raumes wider.
" Erledigt, vollkommen erledigt?" fragte einer der Genossen, dessen Namen er nicht kannte. Der Kleine sprang von der Schmiergalerie herunter, ohne die Stange loszulassen. Jetzt erst merkten die beiden, daß draußen das Licht wieder angegangen war. Unter dem Fenster, wo sie standen, lag der Hof der Fabrik. In den Büros und in den Gebäuden rund um den Platz brannten wieder die elektrischen Lampen und beleuchteten den Kampf. Von den Haufen der Uniformen gejagt, drängten die Arbeitermassen über den Platz zurück an die Mauer. Die Fahnen waren nicht mehr zu sehen. Aber in gleicher Höhe mit ihnen, hinter den Fenstern der Büros kämpften die Massen Mann gegen Mann, man sah Fahnen und Uniformen.
" Hallo, schon Rückzug?" Kuroiva, der sich bei der Befreiung der Lehrlinge tapfer beteiligt hatte, wandte sein Gesicht vom Fenster ab. Der Kleine war ein Junge von achtzehn Jahren, er trug keinen Hut, nur eine Hose und einen schmutzigen Sweater.
Sie stiegen durch den offenen Deckel in die erste Etage hinunter, aber kaum hatte der erste seinen Fuß auf die Leiter gesetzt, als beide die vorher abgestürzten Leute mit einem Haufen Polizisten in schwerem Kampf sahen.
" Geht nicht, hier ist's gefährlich. " Der Junge sprang elastisch zurück, lief quer durch die Etage und öffnete ein Glasfenster, von dem eine doppelte Drahtseilbahn nach unten bis zum Eingang des gegenüberliegenden Lagers führte. An beiden Seilen hingen eiserne Körbe, die seit Beginn der Aussperrung nicht berührt worden waren.
" Das ist ganz ungefährlich, steig in den Korb. " Der Junge kroch in den Korb, zog an einem Seil und glitt abwärts. Kuroiva folgte ihm.
Unter sich sah er, wie die Polizisten triumphierend den Arbeitern nachdrängten.

 

III. In der Falle

Die Läden der Stadt hielten ihre Türen geschlossen. Als es Mitternacht wurde, erhob sich der Wind, trug den Lärm über die Stadt und klopfte an jede Tür, von der Hauptstraße bis in die kleinste Hintergasse. Auf der finsteren Landstraße am Askaijamaberg jagten die Lastwagen, beladen mit Polizei, rasend heran. Jeden Augenblick kamen neue Polizisten. Auf dem Fabrikhof hatten sie die Massen vollkommen überwältigt. Fahnen zerrissen, Säbel zerbrachen, Polizeimützen wurden zertrampelt. Als die Massen sahen, daß die Polizisten blank zogen, schrien sie vor Empörung auf. Tomi-tjan entriß einem verhafteten Genossen die Fahne und rannte die Treppe zum Dachgarten in der dritten Etage hinauf. Der war als Erholungsplatz eingerichtet und von einem eiseren Gitter umgeben. Trotzdem an den Ecken je eine elektrische Lampe hing, fand er eine Stelle, wo er sich vor den Augen der ihn verfolgenden Polizisten verbergen konnte. Während er ein Taschentuch zerriß und sich die Fetzen um den verwundeten Arm wickelte, überlegte er schnell, wie er von hier entkommen könnte. Der Wind wehte stark über seine Haare. Von Zeit zu Zeit schwoll das Geschrei an, kroch an der Eisenbetonmauer empor und trieb vom Wind getragen durch die Luft.
Er nahm das Fahnentuch von der Stange, wickelte es unter der Jacke um den Leib und suchte, auf die Fahnenstange gestützt, nach einen Ausweg. "Halt, du Hund willst ausrücken. " Er hörte das Klirren eines Säbels dicht neben sich. Als er sich erstaunt umsah, stürzte ein Schatten aus der Tür. Es war ein verfolgter Genosse; er wollte schnell zu ihm herüber, aber es war bereits zu spät. Die zwei Gestalten stürzten sich auf den zusammengesunkenen Genossen.
" Da ist noch einer!" Eine dunkle Figur näherte sich ihm. Tomi-tjan floh auf dem engen Raum das Gitter entlang. Er machte sich zum Kampf mit dem Polizisten fertig.
Als der Polizist ihn ansprang, stieß er mit aller Kraft die Fahnenstange vor - der Uniformierte brach stöhnend zusammen.
Tomi-tjan ging Schritt für Schritt zurück und suchte einen Ausweg. Er wußte, daß sich an der Außenwand solcher Gebäude eine Feuerleiter befindet. Da erklang schon die Trillerpfeife des Polizisten, stoßweise, wie das Schluchzen eines sich in Krämpfen windenden Kindes. Tomi-tjan stieß instinktiv mit dem Fuß an den Anfang der Feuerleiter. Er kletterte abwärts, seine Sohlen rutschten; tief unter sich sah er die vielen hunderte Menschenschatten durcheinander rennen.
" Er ist auf der Leiter!" rief der Polizist seinem auf den Signalpfiff herankommenden Kollegen zu. Sie verfolgten Tomi-tjan seitwärts an der Wand hin und Tomi-tjan wanderte mit der Geschwindigkeit einer Eidechse zweimal um das ganze Gebäude. In der zweiten Etage war keiner von den Genossen mehr zu sehen. Im Herunterklettern sah er, und seine Füße wurden vor Schreck gelähmt, daß die ihm vorausgelaufenen Polizisten unten auf ihn warteten.
Er hatte längst die Fahnenstange fortgeworfen, weil sie ihn auf der schmalen Leiter behinderte. Wieder nach oben zu steigen war sinnlos, er war überall eingekreist, von allen Seiten stürzten sie auf ihn los. "Na, jetzt ist alles gleich. " Er sah bis zur Erde, es waren ungefähr neun Meter, stieg er zwei Stufen höher und sprang in den dunklen Hof hinunter - - - -
Takae rannte, ohne sich umzusehen, den Damm längs des Oji hinunter. Hier waren schon andere Genossen geflohen, aber sie waren bald auseinandergekommen, auch Oja, die eine Strecke lang neben ihr her lief, war schon zurückgeblieben. Ein drückender Dunst kam aus der Tiefe der unter ihr schimmernden Wasserfläche herauf. Heftiger Schmerz brannte in ihrer nackten Ferse. Je weiter sie sich von der Gefahrenzone entfernte, desto größer wurden die Schmerzen. Bald wüteten sie so rasend in all ihren Nerven, daß sie nicht mehr imstande war, sich zu bewegen. Sie kroch in den Schatten des Dammes.
Sie hatte sich Glasscherben in die Ferse getreten. Als sie die Splitter herauszog, zuckte ein neuer Schmerz durch ihren ganzen Leib. "Hallo!" schrie ein Schatten, der etwas hinter ihr den Damm hinaufrannte. Vor Schreck vergaß sie einen Augenblick ihren Schmerz. Sie drückte sich in den Busch und starrte in die Dunkelheit. Als der Schatten an ihr vorüberrannte, schrie sie vor Freude laut auf: "He-tjan, du bist es."
Der Angerufene stoppte und kam zu ihr heran. "Taka-tjan!"
Der Schatten war He-so Hisachita, der Lehrling. "Ach, ich dachte schon, du bist auch verhaftet. " Der Junge kam vom Damm herunter und faßte ihre Hand; er keuchte vom schnellen Lauf.
" Du, die Genossin Oja und Kijose sind eben festgenommen worden. " Am Himmel flogen die Sterne wie Flecken auf einem alten Film vorbei. Der Wind trug den Lärm aus der etwa einen halben Kilometer entfernten Fabrik bis zu ihnen herüber. Sie verband die Ferse mit ihrem Taschentuch und stützte sich auf Hisachitas Schulter.
" Was mach' ich damit?" Takae streckte dem Jungen ein schwarzes verknautschtes Ding hin, das sie in der Hand hielt.
" Was hast du da?" In der Dunkelheit erkannte er eine Kokarde. Es war eine Polizeimütze.
Unter ihnen schäumte in weißen Streifen der Fluß an die Ufer.
" Na, du wenigstens sollst Wasser schlucken!"
Wie eine Fledermaus überschlug sich der Lumpen und klatschte ins Wasser.

Laßt die Fahne nicht rauben!
Zwei Gestalten hielten im vollen Lauf schützend die Fahne. Es waren Morohachi, der Gruppenleiter und Kamei, die vom Wege abgekommen waren. Mitten im Lauf merkten sie plötzlich, daß sie gerade dorthin liefen, wo die meisten Feinde waren.
" Warte", flüsterte Kamei. Zu ihrer Rechten floß ein reißender, etwa vier Meter breiter Fluß. "Sicher ist das ein Nebenfluß des Ojikawa. "
Morohachi wandte sich im Laufen nach dem schäumenden Wasser. Sie rannten über die Brücke; der Lichtschein über der Stadt schien den richtigen Weg zu zeigen.
" He!" Morohachi hielt plötzlich und stieß nach Kamei mit der Fahnenstange, daß der fast gestürzt wäre.
" Was denn?" Aufblickend sah Kamei vier oder fünf Polizisten, die in etwa zwanzig Meter Entfernung ihnen entgegen kamen, sie waren an den funkelnden Säbeln genau zu erkennen.
Beide rannten bis zur Brücke zurück. Gerade wollten sie sich in einer kleinen Gasse verstecken, als Kamei plötzlich erschrocken aufschrie. Ein Kriminal sprang aus der Gasse heraus, packte Kamei und versuchte ihm den Arm auszudrehen. "Hunde!"
Ohne die Polizisten auf den Fersen wären sie leicht entkommen, so war es schon zu spät. Vielleicht konnte Kamei entwischen, aber mindestens einer wurde doch gefaßt.
" Hallo, hierher", schrie der Kriminal, der neuen Mut faßte, als er die Schritte auf der Brücke hörte.
Kamei nahm die Fahne und verließ den Genossen. Die Müdigkeit und der Schmerz von dem eben erhaltenen Schlag lasteten wie eine Mauer auf seinem Rücken.
Als er die Hand des Polizisten auf seiner Schulter spürte, sprang er, die Fahne im Arm, in das rasende Wasser--------
Wie vom Wind fortgewehtes Papier flogen die Massen aus den Gassen heraus flohen durch die Hauptstraße und zerstreuten sich in alle Winkel der Vorstadt Oji. Auf dem Platz vor der Fabrik fuhren die Polizeiautos hin und her. Der Polizeileutnant hetzte mit heiserer Stimme seine Leute herum.
In einem Cafe, das in der ersten Etage eines Hauses am Platz lag -es war natürlich wie alle anderen Läden geschlossen - öffneten zwei zitternde Kellnerinnen ein wenig die Tür und glotzten auf die grausigen Vorgänge dort unten. Deshalb bemerkten sie beide nicht, wie durch eine andere Tür leise ein Gast in den ersten Stock kam, sich ohne Hast an einen Tisch hinter ihnen setzte, seinen Hut aus dem Gesicht schob und den Mantelkragen herunterschlug. "Hallo, bitte ich möchte etwas essen." Die jungen Kellnerinnen kreischten erschrocken auf. "Geben Sie mir, was Sie gerade haben. "
Der Gast schien ganz ruhig, er hatte seinen Hut aufbehalten, nahm eine Zigarette aus der Tasche und steckte sie mit der linken Hand in den Mund.
" Na, paß doch auf, gib mir Feuer."
Die Kellnerin schreckte auf, aber durch sein gutmütiges Lächeln beruhigt, reichte sie ihm ein brennendes Streichholz.
Dieser Gast schien Bescheid zu wissen, was für Geschäfte die Mädchen in diesem Hause machten; er lächelte der älteren zu und zwinkerte mit den Augen. Die Kellnerin zog ihre fettig glänzende Stirn kraus und sah den Gast unsicher an. "Das ist aber eine Unruhe heute!"
Ehe sie den Satz beenden konnte, nahm er ihre Hand und rückte zur Seite.
" Also bring' mir Wein. "
Die verschmähte Kellnerin ging schlechtgelaunt das Gewünschte zu holen Der Gast plauderte oberflächlich und trank den Wein, der ihm gar nicht schmeckte. Dazwischen beobachtete er scharf und genau durch einen Spalt zwischen den Vorhängen die Vorgänge unten auf dem Platz. Als die Kellnerin einen Augenblick auf die Toilette ging, nahm der Gast Handschuhe aus der Tasche und zog sie sich über die Hände. An seinem Daumen und am Handgelenk klebte Blut. Der Gast war Nakai.
" Sag mal, habt ihr Telephon?" fragte er wie nebenher, als sie zurückkam. Die Frau zeigte auf das Telephon in der Ecke des Zimmers. Er ging an den Apparat und telephonierte mit Watamasa, der in der ersten Etage des Restaurants Kanarienvogel auf seinen Anruf wartete. Nachdem er fünf Minuten gesprochen hatte, hängte er den Hörer an und sagte wie ganz betrunken zu der Kellnerin: "Alles erledigt; gehen wir schlafen."
Die Frau staunte über die Unverblümtheit des Gastes und entgegnete: "Hier ist doch kein Gasthof!"
Nakai vertrug nicht viel Wein, er stieg ihm gleich in den Kopf, aber er wurde doch nicht betrunken. Watamasa hatte ihn am Telephon, nachdem sie einige Worte gewechselt hatten, gewarnt, er solle vorsichtig sein.
Jetzt hatte er Frauen und Cafe nicht mehr nötig, außerdem hatte er gegessen.
" Also, dann nicht. " Er warf seinen Geldbeutel der Frau hin und stieg die Treppe hinunter. Ruhig wie nach einem Sturm ging Nakai, einen Zahnstocher zwischen den Zähnen und leicht schwankend zur Straßenbahn.

 

Wunden

I. Spaltung

Am nächsten Morgen. Durch den schmutzigen Schnee glichen Straßen,... Uferdamm, Platz, Bergabhang, der Eingang des Polizeiamtes, den Gesichtern der Dirnen, wenn sie am Nachmittag erwachen. Als die letzten wimmelnden Ameisen aus der Vorstadt Oji vertrieben waren, war es bereits ein Uhr; bald darauf begann es zu schneien. Während der ganzen Zeit, bis endlich die schwache Wintersonne den zertretenen Schnee gelb färbte, war in dem Eingang des Oji-Polizeiamtes ein ruhiges Kommen und Gehen von Uniformen und Zivilbeamten. Zerbrochene Gewerkschaftsfahnen - mit schwarzer, klebriger Kruste behaftete Fahnenspitzen; viele Hüte und Mützen, zerbrochene Regenschirme, Stangen, blutgefärbte Taschentücher, Schals, Arbeitskittel... Das alles lag als Beweismaterial auf dem Tisch der politischen Polizei in der ersten Etage, weit genug von dem Lärm auf den unteren Korridoren. Der Chef der politischen Polizei, der Dezernent für Arbeiterfragen und der Chef der Kriminalabteilung unterhielten sich mit dem Vorsteher des Reviers, der einen Verband um den Kopf trug. "Hum, das ist ja allerhand", brummte der Chef, "haben Sie schon die Rädelsführer verhaftet?"
Der politische Chef erinnerte an den Brand der Polizei-Schilderhäuser (Anm.: 1917 gab es anläßlich einer willkürlichen Erhöhung der Straßenbahntarife in Tokio Straßenrevolten, bei denen sämtliche Schilderhäuser der Polizei verbrannt wurden.). "Ja. wir sind gerade bei der Vernehmung... . aber es sind schon mehrere hundert Verhaftete."
Der Reviervorsteher zwinkerte mit seinen rotgeränderten Augen unter dem Verband hervor. Ihm lag vor allem daran, den Kerl, der den Stein auf ihn geworfen hatte in seine Hände zu bekommen.
Na, das hat alles keinen Zweck, die Rädelsführer haben sich doch in
Sicherheit gebracht. "
Der politische Chef war fest davon überzeugt und blies den Rauch
seiner Zigarette durch den Bart.
Um seine Wichtigkeit und Unzersetzbarkeit möglichst augenfällig zu
machen, mußte er einen ganz hervorragenden Schlachtplan entwerfen.
Vor allem mußte er diese Gelegenheit wahrnehmen, um der neuen Regierung seine besonderen Fähigkeiten als guter Reiter zu beweisen. Nachdem er einige von den Belastungsmitteln betrachtet hatte, fand er etwas, das ihn den Atem anhalten ließ. Heftig stieß er den Rauch seiner Zigarette von sich. "Oho, hm -."
Alle sahen hin. Das schwarze Ding war eine glänzende acht Zoll lange Pistole.
" Sie müssen den Platz, wo der Krawall stattgefunden hat, noch genauer untersuchen", sagte der Chef zum Vorsteher der Wache, sah auf seine Armbanduhr und verließ das Zimmer.
Aus der Hintertür des Polizeiamts kamen zwei Sanitäter mit einer Bahre, drängten die Mauer der neugierigen Anwohner auseinander und gingen zum Krankenhaus. Die Leute der Straße mußten fortsehen, so grauenhaft war das, was auf der Bahre lag.

Das Auto des politischen Chefs hielt eine halbe Stunde später vor dem Hause der Gesellschaft für Klassenversöhnung in Onarimon im Shibo-Bezirk. Die Straße »vor dem Hause war vollkommen gesperrt und von uniformierten Polizisten begraben. Als der Chef aus dem Wagen stieg, grüßten die Polizisten militärisch. In Wirklichkeit war hier kein Polizeikongreß, sondern ein außerordentlicher Parteitag der Rodosha Nomin To (Arbeiter- und Bauernpartei), wie die sechs langen Transparente über der Tür anzeigten.
Der Chef ging in den Aufenthaltsraum der polizeilichen Versammlungskontrolle. Seine Augen suchten nach den Detektiven, er erkannte jeden einzelnen: sie hatten ihre Netze gespannt.
Im Saal war die Luft vom Atem der Menschen heiß zum Umfallen. Aber nicht nur auf den Delegiertenplätzen unten im Saal, sondern auch oben im Rang, bei den Zuhörern, brannten helle Augen, wie die der Massen der gestrigen Nacht - bis hoch unter die Decke. Trotzdem war es im Saal still. Das Klappern eines Bleistiftes, der am Platz des Sekretärs zu Boden fiel, drang bis in den hintersten Winkel der Galerie.
Mit angehaltenem Atem starrten die Tausende nach dem Platz des VerSammlungsleiters, der vorläufig noch leer war.
Delegierte aus ganz Japan, von den Bauerngewerkschaften, der Angestelltenunion, von den Suiheisha-Genossenschaftsverbänden (Anm.: Die "Suiheisha" sind die Verbände der japanischen Parias (Eta), zu denen die "unreinen" Berufe (Abdecker usw.) gehören. Diese Kastenbegriffe haben sich von den ältesten Zeiten an erhalten.), zusammen mehrere tausend Delegierte, vertraten die vielfachen Wünsche ihrer Organisationen und bemühten sich nachdrücklich, diese Ansprüche auf diesem außerordentlichen Parteitag zum Ausdruck zu bringen. Auch die Gesichter von Takagi, Nakai und Yamamoto waren unter den Delegierten des Hyo-gikai zu sehen; sie waren sich der ungeheuren Wichtigkeit ihrer Aufgabe auf diesem Parteitag bewußt.
" Die Polizei macht sich schon zur Aufhebung bereit", flüsterte man in den Winkeln der Zuhörerplätze; es schienen Anhänger des linken Flügels zu sein.
" Legale Umänderung des § 3 im Aktionsprogramm der Partei", lautete der Vorschlag der Rechten, wegen dem sie diesen außerordentlichen Parteitag gefordert hatten. Sie wollten mit diesem "Vorschlag" die Spaltung "auf legalem Wege" durchführen.
Dieser § 3 des Aktionsprogramms, auf dem Gründungskongreß vor einem halben Jahre beschworen, war für die Rechten "Brennholz auf dem Rücken des Waschbären auf dem Katji-Katji-Berg (Anm.: Etwa soviel wie "feurige Kohlen auf den Häuptern". Anspielung auf das japanische Märchen vom Hafen, der aus Wut dem Waschbären eine Last Brennholz zu tragen gibt und es auf seinem Rücken anzündet. Katji-Katji bedeutet das Geräusch des Feuerschiagens.), das heißt, sie wollten die glühende Last der Verfolgung und Unterdrückung durch die Polizei nicht auf ihren verräterischen Rücken tragen. Das aber bedeutete vom Standpunkt der Linken nur eine feige Abweichung, Verfälschung der Parolen, Ablehnung der tatsächlichen Forderungen der Gesamtheit der proletarischen Massen. Obwohl dieser Zwist unvermeidlich zur Spaltung führen mußte, konnten sie eine solche willkürliche Abänderung, die vom Kern der Parteiidee ablenkte und der augenblicklichen Offensive des Kapitals auswich, nicht erlauben. "Seht die Massen, die aus den Betrieben und aus ihren Dörfern verjagt wurden: trotz ihrer Wunden verteidigen sie ihre Sache und werden ihr bis in den Tod treu bleiben! Wie kann man untätig zusehen wollen, wie diese Massen vor unsern eigenen Augen zugrunde gehen?" sprach es aus den Blicken der Linken. Aber die Rechten dachten: Jene Position des japanischen Proletariats, die in den Zeiten der günstigen Konjunktur vor und nach dem Weltkriege erkämpft wurde, kann unter den jetzigen wirtschaftlichen Verhältnissen unmöglich gehalten werden. Sie glaubten an die parlamentarische Politik und an periodisch wiederkehrende Finanzkonjunkturen: ein Schritt rückwärts und zwei Schritte vorwärts -so meinten sie. Aber:
" Ein Schritt rückwärts bedeutet immer zwei weitere Schritte rückwärts, nein, es bedeutet sogar Niederlage und Vernichtung. " Die Rechten würden ihre Antwort brüllen - aber Nakai und seine Genossen würden das letzte Wort haben:
" Wir haben das in diesem Daidostreik praktisch erfahren. Die Massen werden es nicht zulassen, daß dieses Spiel noch einmal wiederholt wird. "
Das alles waren grundsätzliche, theoretische Auseinandersetzungen zwischen den beiden Flügeln, die sich so wenig jemals verstehen werden wie Wasser und Feuer. Dazu kam der nicht wieder gutzumachende Fehler der Rechten, die sich durch die Kabinettspolitik des Generals "Sibirien" zu bestimmten Maßnahmen hatten treiben lassen. So war es: die Offensive des Kapitals hatte durch die Hände der Rechten die gewaltige Bombe der Unterdrückung mitten im Lager des Proletariats explodieren lassen.
Die im Sitzungszimmer am Tisch der Versammlungsleitung seit drei Stunden tagende Vorkonferenz, die infolge heftiger Diskussionen zu keiner Einigung kam, erregte im höchsten Maße die Aufmerksamkeit der Polizeibeamten auf der improvisierten Wachstube. Die Fische mit glänzenden Schuppen (Anm.: Nämlich die uniformierten Polizisten.) schwammen im großen Strom, sammelten sich an bestimmten Punkten und schnupperten überall herum. Endlich wurde die Vorkonferenz geschlossen. Trotzdem die Rechten zuletzt nachgaben, hatten sich die Differenzen nur noch verstärkt. Der wichtigtuerische Polizeileutnant flüsterte dem Chef in die Ohren: "Ich glaube, die Rechten wollen keine andern Vorschläge zur Debatte kommen lassen, wenn ihr eigener Antrag abgelehnt oder verschoben wird. "
Der politische Chef nickte lächelnd. Die beiden Vertreter der Staatsautorität fixierten die Plätze der Linken, wo sie das Pferdegesicht Nakais und den runden Rücken von Takagi sahen.
" Da sitzen die Hunde, als wenn nichts geschehen wäre." Er mußte an den gestrigen "Aufstand" denken, und mit der Routiniertheit seines Berufes brachte er seinen Gedankengang zu Ende: "Na, noch einige Stunden, dann kommt die Spaltung. "
Er instruierte seinen Untergebenen und verließ die Wache. Die Atmosphäre im Saal hatte seine Laune gehoben, er fuhr ins Polizeipräsidium zurück..... Aber wenn er nur noch eine halbe Stunde hier im Saal geblieben wäre, hätte sein Gesicht noch mißmutiger ausgesehen als am Morgen beim Verlassen des Polizeiamts in Oji.
Laut außerordentlichem Antrag der Linken beschloß nämlich der Parteitag vor Eintritt in die Tagesordnung:

Resolution
Es ist offensichtlich, daß die schnell aufeinander folgenden Streiks in der letzten Zeit einzig die Folge unverhüllter Unterdrückung der Gewerkschaftsbewegung durch das Kapital sind. Das bedeutet nicht nur eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, sondern ohne Frage vollständige Vernichtung der Gewerkschaften. Es ist nur konsequent, daß die Unternehmer künftig die Koalitionsfreiheit der Arbeiterklasse ganz aufheben wollen.
Wir, die Rodosha Nomin To, protestieren gegen die politischen Maßnahmen der Regierung gegen die Streikenden der Daido-Druckerei und der Oji-Papierfabrik, die sich tapfer gegen die maßlose Ausbeutung und Unterdrückung durch die Unternehmer zur Wehr setzen. Wir verlangen, daß sich die Regierung verantwortet. Die Entwicklung der Ereignisse von gestern abend ist ein warnendes Beispiel. Die Schuld an diesem Ausgang der Ereignisse trägt ausschließlich die Regierung. Wir erheben schärfsten Protest gegen diese Regierung, die nur Handlanger der Unternehmer und Kapitalisten ist.
Rodosha Nomin To.

Diese Resolution wurde vom Versammlungsleiter verlesen und einstimmig angenommen.
Das begeisterte Klatschen der Linken wurde von neuem angefacht, als der Vertreter des Schanghaier allchinesischen Gewerkschaftsbundes begrüßt wurde. Ein Koreaner entrollte das Begrüßungsschreiben, ein rotes, viereckiges Papier, und verlas es mit koreanischem Akzent: "Nieder mit dem Imperialismus!" "Nieder mit dem Militarismus...!" "Halt!"
Die Hand eines Polizisten packte schnell die Schulter des Koreaners. Über die Köpfe der Delegierten, die aufgeregt von den Sitzen sprangen, flatterte das herzliche Geschenk, das rote Papier, und fiel in die Massen. Der leise Gesang Takaes riß mit einem Male sein Bewußtsein aus dem Fieberschlaf. Fettiger Schweiß rann von seiner Stirn... Aber nur für einen kurzen Augenblick der Klarheit konnte er Takae erkennen, die ihm die Eiskompressen wechselte, hörte er das Rauschen der Bäume draußen - dann verschwamm alles wieder, die Dinge hatten noch keinen Bestand. In der Kammer dämmerte es schon leicht, doch in den letzten schwachen Sonnenstrahlen, die durch das Milchglasfenster trieben, erschien das Gesicht Hagimuras in dem weißen Leinen wie eine Totenmaske. Takaes Kopf war so leer wie die Medizinflaschen. Sie mußte zu Hause den kranken Vater und hier Hagimura pflegen - ohne Okayos Hilfe. Auch brannte immer noch die Wunde an ihrer Ferse. "Wird er sterben?"
Seine glanzlosen Augen öffneten sich mechanisch, wie bei einem Maschinenmenschen, aber er erkannte sie nicht.
Während die Medizin mit lautem Schlucken durch seinen Hals floß, zählte das Mädchen wie ein erfahrener Arzt an seinem Arm die Pulsschläge; sie stützte sich auf die schmutzige Decke seines Junggesellenbettes. "Wenn sein Leib morgen kalt ist... Nur einen Tag hat er in der Klinik gelegen, dann wurde er fortgejagt. Wenn er dann drei, vier Jahre tot ist, werde ich zu meiner Kollegin, die neben mir in der Fabrik steht, sagen: "Die haben meinen Freund getötet... !" Und die wird dann antworten: "Brutale Bande, - armer Kerl!" Dann werden wir beide das Lied aus dem Gefängnis singen. Und nach Fünf Minuten werde ich wieder heiter sein, als wenn nichts passiert wäre." "Sterben -".
In ihrem leeren Kopf huschten die Bilder wie ein Rauch vorüber. Würgend stieg es ihr in der Kehle hoch. "Nun, tut es dir weh - -?"
Hagimura verzog sein Gesicht und bewegte den Mund. Doch seine Augen schlossen sich wieder, und wieder versank er in Bewußtlosigkeit, nur seine Lippen zitterten noch leise.
Sie legte ihre Hand auf seine Stirn, wechselte die Eiskompresse und sah die kräftigen Arme des Mannes, die unter der Decke hervorkamen. "Nein, er wird wieder gesund, wird bestimmt wieder gesund...." Sie nahm seine Hand und sagte, sich selbst tröstend: "So kann man nicht sterben - so kann man nicht sterben - so kann man nicht...." Er war für sie die Quelle alles Wissens. Er hatte sie gelehrt, wie man die Welt anschauen muß, er hatte ihr gezeigt, wo die Teufel sind und wer. Der Bücherschrank, der gar nicht zu diesem Zimmer paßte, war ihre ganze Schule. Auf dem kleinen Schreibtisch, der zugleich als Eßtisch diente, lag eine aufgeschlagene Broschüre "Organisatorische Fragen" von Lenin, in der er bis zu seiner Verwundung gelesen hatte. Sie nahm das Heft und blätterte darin, aber sie war viel zu müde und legte das Heft wieder auf den Tisch. Dann hockte sie sich wieder auf. ''Fräulein Takae, die Milch! "hörte sie die Stimme der Wirtin von unten. Sie holte die Milch herauf und wärmte sie im Wasser. Das Fieber schien zu sinken. Von seinem Gesicht verschwand die Röte, und der keuchende Atem ging ruhiger.
Sie fühlte, wie das Leben wieder in seinen Körper strömte und durch alle Adern rann. Sie war sehr froh.
Sie goß die warme Milch in eine Tasse, hielt sie ihm an den Mund und stützte ihn im Rücken. "Hagimura - -. "
Sie mußte ihn erst ein paarmal anrufen, bis er die Augen öffnete und sie ansah.
" Milch. - Willst du nicht - -?"
Er trank mit hastigen und mühsamen Schlucken ein wenig. "Du mußt bald gesund werden - - "
Der Kranke trank ohne Lust etwa einen Viertelliter, dann holte er tief Atem.
" Bald ist alles wieder gut."
Sie wischte ihm den Mund, und als sie die Decke glatt legen wollte, faßten seine immer noch kräftigen Hände ihren Arm.
" Ah, oh - -!" machte sie erstaunt. Seine Augen waren geschlossen, seine Lippen bewegten sich kraftlos, es blieb nur eine Bewegung, aber in der Wärme seiner Hand fühlte sie, was er sagen wollte. "Hab keine Angst, schlaf ruhig, ich bleibe immer bei dir. " Sie hatte ihr Gesicht dicht neben seines gelegt und konnte nur halb ausdrücken, was sie fühlte; sie wurde rot dabei.
Verschämt sah sie auf die geschlossenen Augen des Mannes, dann küßte sie seine Stirn.

 

II. Streikbrecher

Stürmische Nächte wechselten mit eiskalten, regnerischen Tagen; das Jahresende rückte näher. Okayo kam zurück.
Blaß, mit trüben Augen, aus denen alles Leben geflohen schien; das aufgedunsene Gesicht und die geschwollenen Glieder hatten sie gegen früher so verändert, daß ihr Vater, der aus seinem Bett herauskroch, zu weinen begann, als sie, von Takae gestützt , über die Schwelle des Hauses trat.
Zwei Bettmatten wurden nebeneinandergelegt. Okayo konnte nicht mehr aufrecht sitzen. Ihre Lippen waren schwarz und zitterten unaufhörlich wie vor Frost. Sie war im Gefängnis krank geworden - Beri-Beri (Anm.: Beri-Beri, japanisch Kak-ke, eine im ganzen Osten weitverbreitete Krankheit, die durch vitaminarme Ernährung entsteht. Infolge vollständigen Versagens aller Organe des Körpers tritt in den meisten Fällen der Tod ein.). Trotzdem waren ihre Sinne immer noch wach. Ihr bleiches Gesicht hob sich von der Bettdecke ab, während sie alle Dinge berichtete, die Takae zum Weinen brachten.
" Ich werde sterben und mein Kind wird auch nicht am Leben bleiben. " Sie lächelte traurig und weh unter ihrer Frisur, die Takae eben in Ordnung gebracht hatte.
" Ach, er ist auch so geworden, sie haben ihn genau so zugerichtet, noch schlimmer - und wenn ich selbst wieder gesund würde - ihn werde ich nie wiedersehen. "
Sie ahnte, daß sie ihren Freund nicht mehr sehen würde. Das Bild Miatjis, den sie seit der Begegnung im Gang der Polizeiwache nicht mehr gesehen hatte, war in ihr eingebrannt.
Das Essen widerte sie an; die Reissuppe, die die Schwester ihr fast gewaltsam aufdrängte, hatte sie gleich wieder erbrochen. Der Senkawa-Kanal war ganz mit Eis bedeckt.
Takae konnte nicht mehr ins Streiklokal gehen, sie mußte ihre beiden Kranken pflegen. Durch Genossinnen der Frauenabteilung, die sie zuweilen besuchten, hörte sie, daß die Stimmung der Gruppe ganz gesunken und gebrochen war.
Niedergedrückt saß sie an Okayos Kissen. Dunkel und schwer lastete die Nachricht auf ihren Gedanken, daß die Fabrik die Aussperrung aufgehoben und mit großen Kosten und vieler Mühe etwa dreihundert Streikbrecher gesammelt und mit ihnen die Produktion wieder in Gang gebracht habe.
" Wir suchen Schriftsetzer, Buchdrucker und Anleger", hatte eine einfache, aber sehr große Anzeige in den Zeitungen sich der Sturmflut der Erwerbslosen entgegengeworfen. Es war ein harter Schlag gegen die Streikenden, die so plötzlich die Kälte des Jahresendes doppelt spürten. Die Gesellschaft hatte nach der Generalaktionärsversammlung alle Posten von Direktoren und Angestellten neu besetzt und begann ihre Magazine wieder aufzubauen. Groß aufgemachte Begrüßungsartikel in allen Zeitungen setzten die Kunden von der Wiederaufnahme der Arbeit in Kenntnis. Gleichzeitig ließ die Entlassung von 2700 Streikenden den unbeugsamen Willen Okawas erkennen. Die Einigungsvorschläge der Bürger des Kotshikawabezirks wie der Vermittlungsversuch des Chefs des Kotshikawa-Polizeiamts wurden rundweg abgelehnt. Auch ein buddhistischer Oberpriester hatte aus demselben Grunde Okawa aufgesucht. Der äußerst würdige Priester hielt diesem harten reichen Mann eine Predigt, warnte ihn, auf seine Erfolge und seinen Reichtum stolz zu sein und wollte die Massen retten. Der Priester glaubte, diesen Auftrag vom Himmel selbst erhalten zu haben. Es gab alte Vorbilder, die ihn in seiner Handlungsweise bestärkten. Aber der Weltmann hatte ihn gar keiner Antwort gewürdigt. Nachdem er etwa zehn Minuten lang geredet und sich dann von seinem Sessel erhoben hatte, sagte Okawa nur:
" Ich danke vielmals für Ihre Bemühung. "
Die niedergedrückte Stimmung entstand nicht nur aus all diesen Gründe». Die vielen Opfer hatten große Lücken in die Gruppen der Kämpfer gerissen, und in die leeren Stellen schlichen sich jetzt die Spitzel der Gesellschaft. Im kalten Wind des Jahresendes flatterten traurig die Jahrmarktsfahnen.
Hagimura stand früh auf, steckte seine Füße in die Strohsandalen und verließ zum ersten Male sein Haus. Nur weil bei dem Schlag, den er bekam, der Knochen nicht verletzt war, konnte die stark schmerzende Wunde verhältnismäßig schnell verheilen.
Er wollte sich nach der Lage des Streikbüros erkundigen und dann Takae danken und Okayo besuchen.
Jedesmal wenn er an einen kleinen Stein stieß, fühlte er schmerzhaft seine Kopfwunde.
" Donnerwetter, du läufst ja schon, schadet die das nicht?" schrie Takae laut und erstaunt, als er in der Tür erschien. "Ach, es geht schon wieder, ist gar nicht so schlimm." Er begrüßte den alten Vater, dankte Takae und sah der Okayo, die auf den Matten lag, in das bleiche Gesicht. "Ich habe gehört, du hast Miatji getroffen. "
" Ja", nickte Okayo, dann sagte sie weiter: "Furchtbar - - sein Gesicht." Den Schluß verschluckte sie in der Kehle. Seit sie wieder zu Hause war, lag sie apathisch auf ihren Kissen.
" Ach was, in einem Jahr ist er wieder gesund zurück, es war doch nur der Versuch zu einem Attentat. " Takae wollte die Schwester aufheitern. Aber Hagimura schwieg. "Hat die Gesellschaft die Fabrik wieder aufgemacht?" Takae nickte und fragte dann: "Hat man dir auch deine Entlassung mitgeteilt?" Sie nahm vom leeren Bücherschrank zwei Postkarten und zeigte sie ihm. Der kranke Vater seufzte tief auf. "Haha... entlassen auf Grund der Fabrikordnung... na... nein, ich habe nichts bekommen. "
Er besah die andere Seite der Karte und sagte:
" Die Hunde, sie denken, daß sie mich nicht erst besonders benachrichtigen brauchen. " Er lachte laut, aber dabei schnitt wieder ein heftiger Schmerz durch seinen Kopf.
" Nun, ich werde mal zum Streikbüro gehen." Er sorgte sich ständig um die Streikleitung, die nach dem Sturm auf die Oji-Papierfabrik immer kleiner wurde, die meisten Genossen waren fortwährend in Haft. "Geh' lieber nicht, wenn du unterwegs mit den Banditen zusammentriffst, ist diesmal Schluß mit dir."
Er ging langsam, die Strohsandalen schleppend, nach draußen, in der Tür drehte er sich um und lachte-
" Oh, ich bin ja so schon halb tot, vielleicht ist es besser, wenn sie mich ganz totschlagen. "
Zum Streikleitungsbüro unter dem Haksuan-Abhang war es nur einige 100 Meter. Diese Gegend hier war ganz in der Macht der Streikenden und deshalb auch für ihn sicher.
" Die Gesellschaft hat durch Zeitungsanzeigen wieder Arbeiter eingestellt".... Takaes Worte fielen ihm beim Gehen ein, als er einige unbekannte Arbeiter, die wie Drucker aussahen, in Begleitung von Streckern in das Büro gehen sah.
" Hallo, hallo, Hagimura, wieder gesund - - " Einige Genossen, die sich hier zu schaffen machten, sammelten sich um ihn. "Och nee, du bist nicht gestorben", schrie Ando, der seinen Kopf aus einem Fenster in der ersten Etage heraussteckte. Er arbeitete als Hagimuras Vertreter.
" Was schwatze ich,so einfach stirbt man doch nicht. " Bei Andos rauhem und ehrlichem Ton mußte er nun wirklich lachen, wie seit langem nicht.
" Aber schade, wenn du gestorben wärst, hätten wir dich geehrt wie Liebknecht", sagte Ando, während er Berichte und Bücher ordnete. Die Anwesenden lachten laut und herzlich über die liebevolle Grobheit. "Aber kannst du wirklich schon weder herumlaufen?" "Natürlich. " Hagimura las die Präsenztafel, die Berichte der Abwehrabteilung und der Gruppenzellen. Alle Blätter und Berichte deuteten auf eine große Veränderung. Während dieser letzten zehn Tage, an denen er im Bett lag, hatte sich die Lage der Streikenden zusehends verschlechtert.
Im Büro war keiner von der höchsten Leitung, nur vier oder fünf junge Leute arbeiteten in diesem kritischen Augenblick. "Ando, was sind das für Leute, die ich nicht kenne?" "Die machen mir Kummer, das sind Streikbrecher, die auf das Inserat hin in die Fabrik gegangen sind. Wir haben abgefangen und auf sie eingeredet, aber sie verstehen uns gar nicht", sagte Ando, die Berichte in den Händen.
" Du kannst doch recht geschickt sprechen, versuch' du es doch mal mit ihnen. Matsumoto und Kuroiva sind auch gerade dabei. Es werden jetzt schon immer mehr Streikbrecher. Sie machen mit ihren Redensarten die beiden ganz verrückt. "
Wirklich mußten ja die Streikenden alle Hoffnung verlieren, wenn immer mehr Arbeitswillige in die Fabrik gingen.
Von unten hörte man deutlich die laute Stimme Kuroivas. Hagimura wollte erst die Lage erkunden und stieg die Treppe herab. Unten waren zwei Zimmer voll von Streikbrechern. An einem kleinen Tisch in der Ecke sprachen Kuroiva und der blasse Matsumoto aufgeregt auf die Männer ein und versuchten ihnen die Lage zu erklären. "Dieser Streik geht noch weiter; er fängt erst jetzt wirklich an. Die Gesellschaft erklärt, daß sie uns entlassen hat, aber wir haben die Entlassung gar nicht angenommen, wie können wir mit solcher unvorschriftsmäßigen Entlassung einverstanden sein", schrie Kuroiva, sich auf den Tisch stützend. Aber es blieb ohne Wirkung. "Wir haben im Büro gehört, daß das Entlassungsgeld den Leuten durch Postanweisung zugeschickt worden ist", sagte ein Arbeiter, der an der Säule lehnte, sah seine Kollegen an und fuhr fort: "Es hat keinen Zweck, wir sind nicht hierher gekommen, um ins Streikbüro zu gehen, wir wollen zur Gesellschaft und arbeiten. " Dreißig, vierzig Köpfe nickten ihm zu. "Jawohl, das ist ja lächerlich, laß uns schon gehen." Es waren alles undisziplinierte, unorganisierte Arbeiter, außerdem standen hier ihre eigenen Interessen mit denen der Streikenden in direktem Widerspruch.
" Laßt euch doch nicht betrügen! Jetzt will die Gesellschaft euch einstellen, und wenn der Streik zu Ende ist, wird sie euch wieder fortjagen. " Kuroiva erhitzte sich, aber sie blieben ganz gleichgültig und
kalt.
" Ach, wir sind zufrieden, wenn wir solange Arbeit haben, bis wir wieder rausgejagt werden, wir sind ja bescheiden."
Sie hatten keine Spur von Klassenbewußtsein und dachten nur an ihr eigenes Interesse. Sie wurden immer hartnäckiger. Der Arbeiter, der eben geredet hatte, schrie wieder: "In der Frühe sind wir hierher gekommen, um zu arbeiten, wenn wir jetzt noch lange hier herumreden, werden wir überhaupt nicht mehr eingestellt. "
Diese Erwerbslosen waren auf jeden Fall zufrieden, wenn sie nur Arbeit bekamen.
Je mehr Arbeitswillige zur Streikleitung gebracht wurden, desto hartnackiger wurden sie und drängten, wieder fortzukommen und sich nicht länger ihre Arbeit nehmen zu lassen. Da kamen noch einige, von einem Streikposten begleitet. "Hallo, noch ein paar, erkläre den Brüdern damit sie ein Einsehen haben!" Er ging gleich wieder fort.
In den Morgenzeitungen war die erste Annonce erschienen, und jetzt, zur Mittagszeit, war die Masse der Arbeitswilligen schon nicht mehr zu zählen. Die Streikposten kämpften mit aller Kraft gegen die Schutzkette der Gesellschaft und der Polizei, sie boten alle List auf, um die Streikbrecher abzufangen.
" Kollegen, denkt daran, wie schwer wir bis jetzt gekämpft haben - und wie es mit uns werden soll, wenn ihr die Arbeit aufnehmt - -". Kuroiva starrte mit geröteten Augen auf den Mann an der Säule, der sich am hartnäckigsten wiedersetzte.
" Aber Kollege", sagte ein alter fünfzigjähriger, verhungerter Mann, der neben Kuroiva saß, und hob seine Hand, "ich habe auch nicht zum Spaß meinen Beutel um und um gedreht, um von Fukagawa bis hierher mit der Elektrischen fahren zu können. Ich bin schön ein halbes Jahr ohne Arbeit. Frau und Kinder sind schon ganz vertrocknet. Wenn ich jetzt keine Arbeit bekomme, kann ich das Jahresende nicht überleben. So geht das nicht weiter. " Er zog seine Pelerine fester um sich. "Ich bin schon seit einem Jahr erwerbslos", kam eine Stimme aus den hintersten Reihen.
" Macht keinen Quatsch, laßt uns ruhig an die Arbeit gehen." "Wir machen das nicht zu unserm Vergnügen, wir stehen auf der Grenze zwischen Leben und Verhungern."
" Wirklich, mir ist das schon alles Jacke wie Hose - ne, nicht wenn ihr droht, erst recht nicht, laßt uns in Frieden."
Die Stimmung wurde immer verzweifelter, die Streikbrecher begannen zu lärmen und fühlten sich immer sicherer. Da fuhr Kuroiva auf und brüllte:
" Also, ihr wollt uns verraten, wollt Streikbrecher machen -". Hagimura wollte sich zu ihm durchdrängen, aber die Menschen standen dicht wie eine Mauer.
" Was heißt verraten -!" Mitten in der Menge reckte sich plötzlich ein junger Mann auf, der wie ein Werkstudent aussah, und ging dicht an Kuroiva heran. "Warum sollen wir Verräter sein, was habe ich mit euch überhaupt zu tun? Wenn ich in der Fabrik arbeite, ist es mein fester Wille, mein Recht, das das bürgerliche Gesetz schützt - was seid ihr für Dummköpfe! "
Der kleine Werkstudent glaubte die Streikenden durch seine Worte niedergetrumpft zu haben.
" Richtig, wer streikt, streikt, und wir tun, was wir wollen!" Die Erwerbslosen standen. Da sprang Kuroiva vor, in die Erwerbslosen herein: "Du Lump!", und schlug dem Werkstudenten mit der Faust ins Gesicht, daß der das Gleichgewicht verlor und lang hinschlug. Ein ungeheurer Tumult entstand. Durch den Lärm alarmiert, kamen die Genossen von oben herunter, von außen umstellten die Streikposten das Zimmer.
" Warte doch!" Hagimura drängte sich zu Kuroiva und Matsumoto. "Kollegen, ihr könnt ja gehen, wenn ihr wollt, aber erst seid mal ruhig, ich möchte auch etwas sagen!"
" Na, sag schon!" "Das ist doch keine Sache, gleich zu schlagen!" - aber sie beruhigten sich schnell, weil sie jetzt fortkommen sollten. "Ihr könnt natürlich gehen, aber mir scheint, ihr habt gar nicht verstanden, was bis jetzt geredet worden ist. Deshalb hört erst einmal zu, was ich euch zu sagen habe, nachher könnt ihr meinetwegen fortgehen, Hagimura trat hinter den Tisch.
" Gut, wir hören zu, aber dann laßt uns in Frieden gehen!" Die Leute beruhigten sich schnell und setzten sich wieder. "Ich kenne doch selbst die meisten von euch, es ist nicht schön, man muß es vermeiden, sich unter Kollegen zu zanken; wir haben doch alle denselben Beruf -"
" Natürlich! - Selbstverständlich!" riefen die Leute, die noch in Aufregung waren.
" Jawohl ja, selbstverständlich", sagte Hagimura und sah zu den Rufenden hin. "Genauso wie ihr durch die lange Arbeitslosigkeit leidet, haben wir durch diesen siebzig Tage dauernden Streik gelitten; da ist es bestimmt nicht richtig, wenn wir, die dasselbe zu leiden haben, uns in den Haaren liegen und zanken."
Seine witzige Schlußfolgerung machte die Stimmung der Leute zugänglicher.
" Wir sind Brüder und müssen selbstverständlich erreichen, daß es allen gut geht. Aber wenn ihr Arbeit nehmt, verlieren wir. " Hagimura sah, daß der Werkstudent das Zimmer verlassen wollte, er wischte sich das Blut von der Nase.
" Hallo, wart' doch mal einen Augenblick - sag' mir mal, wie denkst du denn darüber?"
Der Student versteckte sich wieder hinter den Rücken, weil alle Blicke auf ihn Ger waren.
" Wir Streikenden sind nicht etwa neidisch darauf, daß ihr Arbeit bekommt, wir wollen euch absolut nicht davon abhalten; aber ihr müßt verstehen, wie Kollege Kuroiva euch schon erzählt hat, daß dieser Streik ausgebrochen ist, weil achtunddreißig Arbeiter aus der Schriftgießerei entlassen wurden - wenn wir nun so denken, du bist du und ich bin ich, wie der Mann da im schwarzen Mantel gesagt hat, dann brauchten wir jetzt nicht unter dem kalten Himmel mit hungrigem Bauch zu sitzen... " Hagimura redete weiter und vergaß ganz, wie ihn der Kopf schmerzte. "Aber ihr müßt als Arbeiter auch einsehen, was das heißt, daß hier dreißigtausend Menschen auf Leben und Tod für diese achtunddreißig kämpfen, versteht ihr nicht diesen unerhörten Mut, begreift ihr nicht diese Macht...?" Hagimura hob seine Stimme, die Erwerbslosen saßen schweigend mit gesenkten Köpfen. Da holte Matsumoto die alte Gewerkschaftsfahne herunter.
" Kollegen, hebt die Köpfe auf und schaut auf diese Fahne! Diese Fahne ist das Symbol der dreitausend Streikenden - der Geist der Opfer in den Gefängnissen! Die Qualen der verstorbenen Genossen, die Schreie der wahnsinnig gewordenen Frauen, all das ist eingedrungen, eingewebt in das rote Tuch!"
Die Fahne hing schwer herab. Das Tuch war von vielen Flecken gefärbt. Jeder Fleck hatte einen tiefen Sinn. Die Männer saßen mit gesenkten Köpfen.
" Kollegen, Genossen, ich möchte genau wissen, ob ihr mich verstanden habt. Hier steht unsere Fahne, unsere rote Fahne - ihr, die ihr mich nicht verstanden habt, geht über diese Fahne, zertretet diese Fahne und geht, geht, ganz gleich, ob in die Fabrik oder irgendwo anders hin..!'
Den Männern stieg es heiß die Kehle hoch, einige husteten kurz, aber keiner wagte sich zu bewegen.

 

Im Joch

I. Die Schlichtung wird erzwungen

"... die Streikenden der Daido-Druckerei demonstrierten nach heftigen Zusammenstößen mit der Wache des Kobinata-Polizeiamtes, bei denen mehr als zweihundert von ihnen verhaftet wurden, im zoologischen Garten im Uenopark, wo sie eindrangen, um die strenge Beobachtung durch die Polizei zu durchbrechen und die Auflösung auf Grund des Verbots der Versammlungen unter freiem Himmel zu umgehen. Auf einen Alarmruf eilten einige Polizisten in den Garten, aber sie mußten untätig dabeistehen und zusehen, ohne etwas gegen die Streiker unternehmen zu können..."
Nach dem ausführlichen Bericht der Zeitung "Tokio Nichi-Nichi" war die Existenz der Streikenden der Daido-Druckerei wirklich so gefährlich wie die des Tigers, der plötzlich aus seinem Käfig losgelassen wird. Dem Berichterstatter schien es besonders witzig, daß sie ausgerechnet im zoologischen Garten demonstrierten. Die eingesperrten Tiger stoßen mit den Pranken gegen die eisernen Gitter und brüllen, wenn in ihrem gebändigtem Herzen ihr altes wildes Blut, an die großen freien Felder erinnert, lebendig wird. Auch in den Streikenden erwachte nach jahrhundertelanger Unterdrückung die Sehnsucht nach Freiheit und Gleichheit und entzündete das Blut in ihren Herzen. Aber sie waren noch nicht aus dem Käfig heraus.
Die Se Ju Kai, die Partei der Militärs und Grundbesitzer, organisierte das Kabinett, nachdem General "Sibirien" von Seiner Majestät den Auftrag bekommen hatte.
Die Se Ju Kai hatte im Parlament im Verhältnis zur Min Sei To Minderheit. Eine Reihe schwerer Probleme - Chinapolitik, Moratorium, die vielen Streiks größten Maßstabs, der Pächterstreik usw. - standen vor dem Kabinett. Das Volk ahnte, das dieses Se Ju Kai-Kabinett nur kurzlebig sein würde. Die Zeitungen der Oppositionsparteien stellten schon jetzt die ungleiche Zusammensetzung fest.
Aber dieser General Sibirien, Häuptling der japanischen Militärpartei, genoß großes Vertrauen im Oberhaus und im geheimen Staatsrat. Eines Tages, kurz vor der Eröffnung des Parlaments, um das sich drohende Wolken zusammenzogen, wurde er von einem dieser Herren des Oberhauses eingeladen. Sein Geschäftsfreund, ein alter hochverdienter Staatsmann, der der Mittelpunkt des japanischen Imperialismus war, gab dem tapferen und entschlossenen General einen Auftrag. Er enthielt die Forderung, die "gefährlichen Gedanken", sie seine Kunden mehr als Chinapolitik und Moratorium fürchteten, weil sie für ihre imperialistischen Gelüste am gefährlichsten waren, besser und geschickter als bisher im Schach zu halten. Das bedeutete die Vernichtung des verhaßten Kommunismus.
Auch dem General Sibirien schien als "gewissenhaftem" Staatsmann im allgemeinen wie im besonderen von der Frage der Taktik seiner Partei aus die Beherrschung "der staatsfeindlichen Umtriebe" und die "Vernichtung des Kommunismus" der beste Reklametrick für seine Partei zu sein. Nicht anders konnte diese wichtigste, unvermeidbarste Frage gestellt werden.
Einmal war ein solches Aushängeschild gut zu gebrauchen, um das Vertrauen des Oberhauses und des geheimen Staatsrates zu gewinnen, zugleich aber war es der beste Maulkorb für die oppositionellen Parteien im Unterhaus. Beide bürgerlichen Parteien, die jetzt in Japan herrschten, die Se Ju Kai wie die Min Sei To, konnte diese Parole als Trumpf im kommenden politischen Kampf ausspielen.
Ja, wenn er diesen Trumpf möglichst wirksam anbrachte, mußte es ihm gelingen, die feindliche Min Sei To zu spalten und vielleicht eine dritte, kleinere Partei als Stimmvieh an seine Seite zu zwingen. Der alte Reichstagsabgeordnete Osaki, Vorsitzender dieser dritten Partei, der als ehrlicher Staatsmann und radikaler Liberaler in der Bürgerschaft großes Vertrauen genoß, schlug eine Kundgebung über die "Not des Reiches" infolge der "staatsfeindlichen Umtriebe" vor und versuchte außerdem, mit Leib und Seele für seine Sache begeistert, die Kosten für die Beeinflussung und Bekämpfung der staatsfeindlichen Umtriebe (Zehn Millionen Yen) durch Regierungsvorschlag dem Staatshaushalt aufzubürden. In flammender Rede hatte er dafür plädiert. Feierlich und in komischer Ahnungslosigkeit tanzte er an den Fäden, an denen der General Sibirien zog.
Trotz allem aber kam der Bankrott der Mittel- und Kleinunternehmer. Die Erwerbslosen überschwemmten die Städte und Dörfer wie Flußwasser im Frühling. Alle früheren Streiks waren im Gegensatz zu dem jetzigen elend zusammengebrochen. Und diese bedauerlichen Rekorde wurden jeden Tag von neuem überboten.
Die Zeitungen der Oppositionspartei Min Sei To nutzten diese Gelegenheit als Material zum Angriff gegen die Regierung aus, aber immer nur soweit, daß der wirkliche Kern des Problems ja nicht berührt wurde..... Wenn die Regierung und ihre Partei durch ihre Unfähigkeit und Ungeschicklichkeit die Arbeiterprobleme - den Pächterstreik, Arbeiterstreiks, die Erwerbslosenfrage - sich soweit entwickeln lassen, dann wird sonnenklar, daß sie uns in eine fürchterliche Zukunft führen werden. Wenn wir an unser Verhältnis zur Staatsautorität schon dieselben Maßstäbe legen könnten, wie in den europäischen Ländern, würde der Ausbruch des Generalstreiks unvermeidlich sein. Außerdem müssen wir daran denken, daß die Nationalrevolution unseres Nachbars China von großem Einfluß auf unsere Arbeiterklasse sein wird...
Aber dieser Angriff der Oppositionspartei war für den General nur ein neuer Ansporn. Er entschloß sich, diesen seinen "wichtigsten Plan" durch das Untersuchungskomitee der Mandschurei und Kokuriukei und durch die geheimen Gendamerieorganisationen ausführen zu lassen. Er war sicher, daß, wenn er diesen Plan gerade in dieser Zeit, in der die Feuer der Opposition am heißesten brannten, zur Durchführung brachte, seine Trümpfe am besten wirken mußten.
Beamte und Polizeichefs der Provinz wurden auf Grund seiner "eingehenden" Überlegungen versetzt. Besonders die leitenden Stellen im Polizeipräsidium, wo sich sein Wille am deutlichsten und stärksten widerspiegeln sollte, wurden durch die "passendsten" Leute besetzt. Es war gerade kurz nach dieser Umstellung, als Takagi und Nakai von der Streikleitung und Oda, der Vorsitzende der Hyogikai, ins Polizeipräsidium gebeten wurden. Man führte sie ins Gastzimmer in der ersten Etage. Staunend lernten sie dieses Gebäude, an das sie nur bittere Erinnerungen hatten, von einer ganz neuen Seite kennen: welche Teppiche mit gelben Blumenmustern auf grünem Grund kitzelten die Sohlen ihrer zerrissenen Schuhe.
" Der Herr Chef der politischen Polizei wird sofort erscheinen", sagte der Beamte, der sie hierher geführt hatte. Takagi erinnerte sich, das Gesicht dieses Polizisten schon irgendwo gesehen zu haben, vielleicht hatte er ihn schon einmal aus dem Polizeiauto gerissen und in andere , weniger angenehme Winkel dieses Gebäudes befördert. Ein Diener brachte Tee.
" Das ist die sogenannte höhere Politik", grinste Oda und setzte sich in einen Sessel.
" Aha, ausgezeichnet", mit lächelndem Gesicht, das die Arbeiter noch mißtrauischer machte, kam der Chef der politischen Polizei mit dem Vorsteher der Arbeiterabteilung herein. "Bitte nehmen Sie Platz. Aber es ist recht kalt, wollen wir uns nicht an den Ofen setzen?" Der Chef lächelte Takagi und Nakai, die noch immer standen, wohlwollend zu. Sie rückten vom Tische ab, Oda saß in der Mitte, der Chef mit seinem schönen würdigen Bart und der Vorsteher der Arbeiterabteilung, ein kleiner Mann mit schlauen Augen und spitzer Nase, vor ihnen. Die Arbeiter überlegten, mit was für Argumenten wohl die beiden auf die Beschlüsse, die sie im Gewerkschaftsbüro gemeinsam mit Watamasa und Hagimura festgelegt hatten, antworten würden.
" Haben Sie die Absicht, sich auf irgendeine Weise mit der Gesellschaft zu versöhnen?" begann der Vorsteher. Die unverbindliche Besprechung begann genau so, wie sie sich das vorgestellt hatten.
" Natürlich, aber natürlich, wenn die Gesellschaft den ehrlichen Willen zeigt , antwortete Oda offenherzig.
" Um Mißverständnissen vorzubeugen, muß ich ihnen erklären, daß diese Besprechung ganz außerhalb meiner offiziellen Funktion steht, ich bin hier als einfacher Privatmann. "
Obwohl der Ofen im Zimmer rot glühte, war eine kühle Atmosphäre zwischen diesen Leuten.
Aber Herr Oda, Sie sind wirklich ein bedeutender Mann geworden - haha -. " Der Chef, der bis dahin geschwiegen hatte, begleitete diese Worte mit einem nicht ganz angebrachten Lachen. Er wünschte die Atmosphäre zwischen ihnen etwas liebenswürdiger zu machen.
" Wieso, Sie haben ja auch eine ganz hervorragende Karriere gemacht . Oda lachte ungezwungen mit seinem großen Mund - was für ein komisches Zusammentreffen, gerade an diese Menschen hatte Oda recht böse Erinnerungen damals war er noch Polizeileutnant in Osaka. Sie hatten dann oftmals von den verschiedenen Seiten der Front voneinander gehört, aber so Auge in Auge hatten sie sich in diesen acht Jahren nicht mehr gesehen.
" Damals haben sie mich ja ziemlich gequält." - Der Chef versuchte versöhnlich zu lachen "Na, ich habe auch gedacht diese Hunde ". Auch bei dieser Unterhaltung gab Oda einen Beweis seiner Weitherzigkeit, der er seine ungeheure Popularität bei den Arbeitern im Kreise Osaka und die ungeschmälerte Geltung seines Führertums verdankte. "Aber auch diesmal haben sie uns ganz schön zugesetzt, Herr Oda. " Ein stechender Blick schoß auf das ruhig lächelnde Gesicht Odas. Aber dessen noch von den Kämpfen der letzten Zeit leuchtenden Züge zeigten nicht die Spur irgend einer Wirkung. In dieser Zeit, in der der Chef Karriere gemacht hatte, war auch Oda ein "bedeutender Mensch" geworden.
" Ach. machen Sie doch keine Witze, wir sind gezwungen, uns zu wehren, nachdem man uns zu diesem Kampf herausgefordert hat. Das war die Wahrheit. Der Pfeil, den der Polizeichef abgeschossen hatte, traf auf einen Stein und prallte wirkungslos ab.
So.....aber die Geschichte in der Oji-Papierfabrik vor einigen Tagen... . ist die nicht auf euren Befehl geschehen...?" Ssst... . der Pfeil sollte Oda an seiner empfindlichsten Stelle treffen. Die kleinen Augen des Vorstehers der Arbeiterabteilung bemühten sich, hinter den großen Linien von Odas Backenknochen, die so charakteristisch für die Männer aus Westjapan sind, etwas zu entdecken.
" Hahaha, das ist ja ganz schlimm, Sie wollen also alle Schuld auf uns schieben?" Oda schien vergnügt, aber jetzt blieb der Polizeichef kalt und grinste kühl mit hochgezogenen Lippen. Wieder fühlten sie die eisige Luft im Zimmer.
" Nun, kurz und gut -" der Gastgeber änderte ohne Übergang das Thema wenn sie die Absicht haben, sich zu einigen, was würden sie dazu sagen, wenn wir uns bereit erklären würden, zu vermitteln....?" Die Arbeiter sahen sich an; das war endlich das Hauptthema. 'Außer uns kommt noch ein Herr hinzu, der Sekretär des Innenministeriums, Herr Matsukawa, natürlich gleichfalls als Privatperson." Und der Vorsteher fügte hinzu- "Sie müssen uns glauben, daß von uns aus alles nur aus übergroßem Mitgefühl für Sie geschieht." Das klang wie eine Drohung. Die drei überlegten, ihre Köpfe blieben kalt. Aber die Absicht war zu offensichtlich, es war zu deutlich, wie diese Leute an den Fäden tanzten und nur den Willen Okawas und Shibusakas, die hinter den Kulissen der Regierung und der Oppositionsparteien standen, ausführten. Obwohl sie sich alle Mühe gaben, als Privatpersonen aufzutreten.
'Hat die Gesellschaft schon ihr Einverständnis zu diesem Vorschlag erklärt?" fragte diesmal Takagi.
'Hm, ja, offiziell noch nicht, aber ich weiß schon, wie sie sich entscheiden wird." Der Chef der politischen Polizei blies sich auf und zeigte seinen dicken Bauch, aber die drei Arbeiter saßen mit unbewegten Gesichtern.
" Ich denke, das ist auch für euch sehr wünschenswert, daß dieser Streik möglichst bald beigelegt wird, auch vom Standpunkt der Ruhe und Ordnung im Staate wünschen wir es... eure Gegner..." Der Chef zögerte, eure Gegner sind mächtige Kapitalisten, wollte er sagen. Den dreien ging es durch den Kopf, daß man hinter den Worten dieses Gesprächs die ganze herrsche Gesellschaftsordnung sehen konnte. Nach einer Weile sagte Oda:
" Wenn wir Ihnen in dieser Beziehung vertrauen sollen, dann müssen, glaube ich, folgende Bedingungen erfüllt werden Einstellung aller Entlassenen, Bezahlung der Streikkosten -.'' Während er das sagte, erfüllte ihn unendliche Trauer, weil dieser große Streik, der so viele Opfer gekostet hatte, mit einer solchen bedingungslosen Unterwerfung enden sollte.
" Ach, setzen Sie sich keinen Floh ins Ohr, verlangen Sie nur nicht zu viel... den Leuten, die schon entlassen sind, denen ist nicht mehr zu helfen."
Die drei waren wie vor den Kopf geschlagen. War dieses Wort des Polizisten aus seinem eigenen Hirn gekommen? Wie eine Rasierklinge lief ein kalter Schauer über ihre Rücken.
" Wenn alle Streikenden entlassen werden sollen, dann werden wir kämpfen, bis wir verhungert sind.!" Die drei fühlten, daß sie ihre Bauchriemen würden noch enger schnallen müssen und alle anderen mit ihnen. Worte konnten hier nichts mehr nützen, sie gaben sich keine Mühe, diese Auffassung länger zu verheimlichen.
" Ach, machen Sie sich das doch nicht so einfach, nicht wahr, jedenfalls..." fing der Vorsteher wieder an, er machte noch einmal den Versuch, die drei etwas zu beruhigen.
" Wir können die Sache ein bißchen geschickt aufziehen und schieben." Die drei Arbeiter zogen ihre Augenbrauen kraus und standen schweigend auf. Nach einer Weile: "Na, wir werden überlegen." Das war eine stärkere Ablehnung als ein glattes Nein. Der Polizeichef zog seinen Stuhl zurück und zeigte nun offen seine feindliche Haltung. "So, überlegen - hm - auch schön!"
Das war das letzte Wort in diesem Zimmer; die drei Arbeiter gingen ohne Gruß hinaus.
Als sie am Zimmer der Pressekorrespondenten vorübergingen, sprangen die Journalisten wie die Eichhörnchen heran. "Wie war's? Wird der Streik durch Vermittlung des Polizeipräsidenten beendet?" Oda schüttelte mißgestimmt den Kopf. Draußen wehte ein scharfer Wind und trieb die demütigen Rücken der drei an, die zur Haltestelle der Tramway gingen.

 

II. Gerüchte

Das Wasser des Senkawa-Kanals war zugefroren.
Schwarzes Eis war in Schichten und Schollen übereinander erstarrt. Bis zum Frühlingsregen, der zwei Tage und Nächte hintereinander dauert und alle Küchen, Aborte und Fußböden in der Straße ohne Sonne überschwemmt, würde das Eis nicht aufgehen.
" Die Straße ohne Sonne" war vor Kälte und Hunger völlig erstarrt. Die riesige Fabrik, die mit ihren roten Ziegeln wie ein Gefängnis aussah, hielt noch immer die große, dicke, eiserne Pforte geschlossen. Nur durch die kleinen Notausgänge und durch die Bruchstellen in der Mauer gingen die Streikbrecher, von Werkfaschisten und Privatspitzeln begleitet, scheu und ängstlich wie die Hausmäuse. Sie wurden wie Waren verpackt auf Lastwagen in die Fabrik geschafft. Sie schliefen in der Fabrik auf Stroh.
Die geringste Bewegung der unruhigen Stimmung da draußen, auf die sie durch die dicke Ziegelmauer lauschten, beunruhigte sie. Wenn die Gesellschaft in diesem Streik besiegt wurde, bedeutete das ihren Tod. Zwischen den stillstehenden Rotationsmaschinen flüsterten sie miteinander.
" Die Gesellschaft will ohne Bedingungen nachgeben", sagte ein Streikbrecher mit ängstlichen Augen. "Ich habe gehört, das Innenministerium will durch das Polizeipräsidium vermitteln."
Erst standen drei beieinander, dann kamen noch fünf dazu. Tief in ihren Herzen schlug der Vorwurf des Verrats an ihren Kollegen, denen sie geschworen hatten, auf Leben und Tod mit ihnen zu kämpfen, und kroch als Angst aus den bösen Gesichtern, die die Zähne bleckten. Die staubigen, sonst von ihren Genossen bedienten Maschinen schienen ihnen nun wie zornige, böse Ungeheuer.
In den Morgenzeitungen hatte die Nachricht gestanden, die Streikleiter seien vom Polizeipräsidenten zu einer Besprechung der Lage gebeten worden und hätten hocherhobenen Hauptes das Präsidium verlassen. Die Ungewißheit hielt sie bei der Arbeit auf, das schlechte Gewissen ließ ihnen keine Ruhe, sie blieben nicht auf ihren Plätzen. Den Meistern trauten die Leute überhaupt nicht mehr und glaubten ihren Beschwichtigungsversuchen erst recht nicht.
Das Gekreisch einer Rotationsmaschine setzte aus, die Schriftsetzer warfen ihre Winkelhaken hin und liefen von ihren Setzkästen fort; sie rotteten sich in den Ecken zusammen und sahen sich mit unruhig flackernden Augen an.
Erst rückte ein Arbeiter in der Nacht aus der Fabrik aus, dann zwei, drei...
Auf dem Stroh umschlangen sich ängstlich die Arbeiterinnen und weinten vor sich hin. In den leeren, ungeheizten Fabrikhallen schwirrte der drohende Sturm der Gerüchte.
" Hast du gehört... gestern nacht hat die Fabrikwache Herrn Sato ermordet. "
" Den Meister Matsumoto aus der vierten Halle haben sie in den Kanal geworfen, jetzt ist er im Fabrikhospital. "
Die Rotationsmaschinen liefen leer. Die Arbeiterin an der Thompson-Setzmaschine wurde taub vor lauter Gerüchten.
" Hast du gehört? Die Streikenden werden schon morgen die Arbeit aufnehmen. "
Die Gerüchte flogen von der ersten Halle in die zweite, aus der dritten Abteilung der Rotationsdruckerei in die Gravierabteilung, in die Mile-Abteilung, die Flachdruckerei, aus den Setzersälen in die Galvanoabteilung, in die Photographenabteilung, in die Reparaturwerkstätte, die Gießerei, hin und her, mit der Schnelligkeit des elektrischen Stroms, flogen sie hin und her und wuchsen immer mehr an. Jedes Gerücht wurde von sich spontan zusammenfindenden Gruppen diskutiert. Drei, fünf, zehn schlichen sich aus den Sälen, zuletzt versammelten sich ungefähr 300 im Rotationsmaschinensaal. "Was wird mit uns? Hört mal, wir sind - -" "Was wollt ihr von uns?"
Sie zankten sich, schrien und kreischten. Schon weinte ein Teil der Arbeiterinnen und Jugendlichen. Die Meister und Vorarbeiter versteckten sich, um der drohenden Gefahr zu entgehen.
" Her mit dem Verantwortlichen! Wer hat uns verraten, bringt ihn her!" Ihre Stimmung trieb sie von einem Gerücht zum andern, wie auf der Börse.
" Jetzt sind wir doch schon am Ende, geht ins Büro!" Einer der Ängstlichen brachte die Bombe zum Platzen: "Ja, so ist es richtig, her mit dem Fabrikdirektor!"
Wie Lumpen, die der Sturm vor sich her treibt, stürmten sie ins Bürohaus.
Was? Der Direktor ist nicht da?!"
" Dann schickt einen andern her, der uns erklären kann, wie es steht!" Sie drängten durch die Tür ins Büro. In dem aufgeräumten Kontor, das aussah, wie das Wahllokal eines durchgefallenen Kandidaten, lärmten sie, stießen sich und schrien alle durcheinander. "Bitte, Ruhe, Ruheeee", trat der neu angestellte, schlanke Direktor vor die aufgeregten Leute.
" Meine Herren, beruhigen Sie sich, nichts davon ist wahr, daß die Streikenden wieder in die Fabrik kommen, wir verhandeln nur, aber das Gerücht ist eine Lüge!"
Doch die Streikbrecher dachten nur noch an ihre Ängste, an die finsteren Gesichter der tausend Kollegen, die morgen in großen Zügen in die Fabrik einmarschieren würden... "Sorge dafür, daß uns nichts geschieht... !"
" Schwöre uns, daß wir jeder tausend Yen kriegen, wenn wir entlassen werden!"
Die beruhigende Stimme des Direktors hörten sie nicht mehr. "Gib uns jedem einen Polizisten als Schutz. "
Es war ihnen ernst. Todernst. Sie umringten den Direktor wie hungrige Bremsen einen Hund -
" Ihr habt uns gezwungen, Verrat zu begehen, wenn ihr uns jetzt ohne Schutz laßt, dann werden wir euch nicht leben lassen. " Der Direktor war unsicher, das Gerücht war nämlich gar kein Betrug. Die politische Protestaktion der Ronoto (Rodosha Nomin To) hatte die Entschlüsse des Polizeipräsidenten beeinflußt, außerdem hatte das Innenministerium seine Nase in die Sache gesteckt, und obwohl sich Okawa noch hartnäckig wehrte, konnte man nicht wissen, wann er seinen Entschluß ändern würde, um seine Würde als neuernannter Baron in der Öffentlichkeit zu beweisen. Für den Direktor war Okawa der absolute Machthaber und schrankenlose Tyrann, aber dasselbe waren in diesem Augenblick diese Lumpen hier, er stand zwischen beiden eingekeilt.
" Gut, gut, wir werden sehen, wie es sich am zweckmäßigsten arrangieren läßt... " antwortete er, und gab sich Mühe, ruhig und vernünftig zu erscheinen.
" Zweckmäßig... arrangieren... damit ist nichts getan, gib uns eine schriftliche Bestätigung!"
Sie zerrten an seinem Mantel und gaben ihm keine Ruhe. Der Direktor verdrehte die Augen:
" Aber meine Herren, das hat doch keinen Zweck... wenn ich etwas schreiben würde, was wollen Sie... ich werde ja selbst entlassen... "
Es würde ihm genau so gehen, wenn Okawa seinen Entschluß änderte und wenn auch nur die halbe Zahl der Streikenden zurückkehren würde.
" Ich bin wohl Direktor, aber meine Anteile und Aktien stehen nur so
auf dem Papier. Fast alle Aktien der Gesellschaft hat Herr Okawa. Ich
bin auch nur ein Angestellter... "
Er konnte seine Autorität und Würde nicht mehr aufrecht erhalten.
" Lüge nicht!"
Die Streikbrecher, die selbst ihre Genossen verraten hatten, wollten
ihm nicht glauben.
" Doch, das ist so, das ist die reine Wahrheit. "
Unstillbare Verzweiflung und Trauer öffneten einen bodenlosen Abgrund unter ihren Füßen.
" Dann... was soll mit uns werden?"
" An wen sollen wir uns wenden?"
Sie wollten noch einmal diesen einzigen und letzten Schutz, der nun auch schwand, den Direktor, festhalten...
Aber es war vergebens. Die trügerische Hoffnung hatte nicht mehr die frühere Gestalt. Sie packten einen Werkfaschisten an der Schulter, wie Ertrinkende nach einem Strohhalm greifen:
" Herr, was sollen wir machen?"
Der Mann mit dem Spitzbart wand sich wie ein Wurm, nahm verlegen seinen Stock von einer Hand in die andere und sagte in die leere Luft:
" Wie soll ich das wissen?"
Er war ein Tagelöhner wie sie, der jeden Tag woanders angestellt war.

Immer werden zwei Kräfte miteinander ringen. Der Sturm treibt die Windmühlenflügel auf beiden Seiten des Berges. Die Taktik der Gesellschaft, sich in die Breschen der Streikenden einzuschmuggeln - das immer stärkere Versiegen aller Geldquellen der Streikenden - die Korruptionsgelder - alles drang auf die Streikgruppen ein. Die Gesellschaft hatte der Genossenschaft die Räume gekündigt und sie gewaltsam auf die Straße gesetzt; die Restaurants, die Stützpunkte der Ernährungsabteilungen, wurden von der Gesellschaft aufgekauft und geschlossen.
Während sich die Kampffront immer mehr verbreiterte, wurde die Zahl der Streikführer immer kleiner. Durch das Netz der S-Abteilungen hindurch transportierte die Gesellschaft immer mehr von diesen merkwürdigen "Waren" auf Lastwagen in die Fabrik. Aber das war noch nicht alles. Die Gesellschaft schob ihre Hand bis in den Ausschuß der Bewohner des Kotshikawa-Bezirks, der gegründet war, um die Not der Streikenden zu lindern und den Untergang des Bezirks aufzuhalten. Hier zeigte das ausgeworfene Geld am ersten seine Wirkung. "Wir fordern Okawa auf, sich zu überlegen, ob er so hartnäckig sein will, den ganzen Bezirk untergehen zu lassen. "
Die angekündigten Protestkundgebungen des Bezirks, auf denen diese Resolution gefaßt werden sollte - sie fanden sonst jeden Abend statt -waren gestern und heute schon ausgefallen.
Hagimura, Yamaura und Kamei, die ständig mit diesem Ausschuß zusammengearbeitet hatten, waren heute abend von diesen Leuten noch besonders aufgefordert worden.
Als die drei ins Büro des Ausschusses im Tempel Eme-in kamen, wurden sie von sieben mißgelaunten Gesichtern empfangen. Bis jetzt waren Hagimura und die anderen bemüht gewesen, freundschaftlich mit dem Ausschuß zu arbeiten, sie hatten auch in gewissen Fragen immer Sympathie gefunden.
" Entschuldigen Sie unsere Verspätung, wir haben immer so viel zu tun..". sagte Hagimura, als er Platz nahm. Aber die Kleinbürger taten ganz fremd, während sich die drei Mühe gaben, ein freundliches Gesicht zu machen.
" Ich habe gehört, Ihre Führer sollen Kommunisten sein." Das kam unerwartet. Die drei Arbeiter sahen sich an, die Sache schien ihnen ein bißchen komisch. Der alte Mann mit langem Vollbart, der das eben gesagt hatte, war Inhaber einer kleinen Schlosserei und Bezirksverordneter der Minseito.
" Ist das wahr?" fragte nun Takegawa, ein kleiner Hausbesitzer, der neben dem Vollbart saß und seine Glatze leuchten ließ. Das Benehmen der Ausschußmitglieder hatte sich in dieser einen Nacht völlig verändert.
" Worauf soll das eigentlich hinaus?" erkundigte sich Hagimura, immer noch bemüht, freundlich zu lächeln, nach dem Grund dieser etwas dunklen Frage. Gerade dieser kleine Schlossermeister und ebenso der Priester des Tempels, der an der Tür saß, hatten gelegentlich einmal zu ihn©n gesagt: wenn sie recht haben, unterstützen wir auch die Kommunisten; denn gegen so freche Unternehmer sind selbst kommunistische Methoden erlaubt. Sie hatten also nur ein großes Maul gehabt. Es mußte ein bestimmter Grund vorliegen, daß diese Leute heute nacht so völlig umgewandelt waren und ein merkwürdig kaltes Benehmen zur Schau trugen, dachten die Arbeiter.
" Wer hat Ihnen eigentlich so etwas erzählt?" fragte Hagimura den Bezirksverordneten, der immer noch schwieg, an seiner Stelle entgegnete der kleinmütige Priester:
" Wir haben das vom Polizeiamt Kobinata gehört." "Aha, hat vielleicht der Polizeivorsteher das gesagt?" Hagimura und seine Genossen verstanden nun ungefähr: diese Leute hatten wahrscheinlich heimlich mit dem Polizeiamt verhandelt und zugestimmt, den Innenminister als Schlichter auftreten zu lassen. Das kühle Schweigen, das dieser Unterhaltung folgte, bedrückte den kahlen, kalten Raum des Buddha-Tempels. Die Halle des Tempels diente als Streiklokal der zweiten Gruppe. Die Sympathie des Priesters hatte die Streikenden geschützt, so daß diese Gruppe noch niemals ihr Lokal wechseln mußte.
" Ist heute abend keine Versammlung?" Yamaura wollte die Unterhaltung auf ein anderes Gleis bringen.
" Nein, wir wollen keine Versammlungen mehr machen", erwiderte zornig der Besitzer einer kleinen Druckerei. Die drei Arbeiter erschraken - "hm, sie sind bestochen - aha, bestochen..." "Warum denn nicht?" fragte Kamei, ohne sich beleidigt zu zeigen. "Wir können keine Kommunisten unterstützen", erklärte kurz ablehnend der Schlossermeister. Hagimura sah ein, daß es keinen Zweck hatte, noch weiter ein verbindliches Gesicht zu machen. "Haha, Sie sympathisieren mit der Gesellschaft." Der Stich traf die schwächste Stelle dieser Kleinbürger, und man sah gleich die Wirkung. Sie schämten sich etwas und wandten ihre Gesichter ab.
" Wir waren von Anfang an streng neutral und sind es noch heute. " Der alte Schlosser steckte seine Zigarette in die Asche des Ofens. Dann schwiegen wieder alle. Hagimura dachte, das würden von morgen an stramme Reaktionäre sein.
" Nebenbei, ich möchte Ihnen sagen wegen dem Versammlungslokal - -", begann der kleinmütige Priester mit einem verzweifelten Ausdruck, als wolle er eine große Last von der Schulter wälzen. "Die Provokation durch die Polizei ist zu stark - und auch unsere Tempelgemeinde protestiert sehr energisch. "
Auch das war jetzt klar: auch aus diesem Lokal würden sie morgen herausgeschmissen sein. - Auch dieser Hund ist mit drei- oder vierhundert Yen bestochen... Der Zorn würgte Hagimura in der Kehle. Yamaura stieß gegen sein Knie, er solle sich zusammennehmen. "Das ist sehr schade - aber dann kann man natürlich nichts machen, ist ja von Ihrem Standpunkt ganz verständlich. Aber geben Sie uns doch ein paar Tage Aufschub, bei unserer langen Freundschaft. " Das konnte der Priester natürlich nicht ablehnen. Aber es würde unmöglich sein, in diesem Bezirk einen passenden Saal zu mieten, wenn diese Kleinbürger offen zu den Reaktionären übergingen. "Also, Sie wollen uns nicht mehr beistehen....", sagte Kamei, um zu Ende zu kommen.
" Und lehnen uns ab, weil wir Kommunisten sind", warf Hagimura höhnend ein. Die Suppe war gar.
Die drei gingen hinaus. - Es war schon gleichgültig, diese Kleinbürger gehörten zu einer Klasse, die auf die Dauer nicht mit ihnen zusammengehen konnte. Draußen wehte es kalt.
" Sie werden von morgen ab Helfershelfer der Reaktion sein." Kamei drehte sich zu Yamaura, der ihm folgte.
" Sie waren von Anfang an so. Besonders dieser Bezirksverordnete hat uns nur unterstützt, um von der Gesellschaft Geld herauszuschlagen. " "Dann haben sie wenigstens ihre Absicht durchgeführt." Die drei lachten laut, aber die furchtbare Verlassenheit erstickte das grundlose Lachen.
Hagimura verabschiedete sich von den andern beiden und ging nach Hause, er hatte noch einige Stunden Zeit bis zu Sitzung der Zentralleitung. Als er bis zur Mitte des Haksuan-Abhanges gekommen war, stieß er mit Takae zusammen, die eilig aus der Tür seines Hauses kam. Im Schein der elektrischen Lampen sah er ihr Gesicht. "Was ist Taka-tjan?" Sie hatte ihn bis jetzt gesucht. "Oh, Okayo liegt im Sterben, komm zu uns - schnell -."

 

SCHATTEN ÜBER DEN FAHNEN

I. Qualvolles Sterben

Takae rannte voran, Hagimura folgte ihr durch die dunklen Gassen der Baracken.
Schon an der Haustür drang ihnen der starke Geruch von Kreosot entgegen. Ununterbrochenes Stöhnen übertönte das Geräusch, das die ganze Familie machte.
Der weiße Operationskittel des Arztes lag mitten im Zimmer, wie eine heruntergeschlagene Motte. Die Frauen und Kinder der Nachbarschaft drängten sich an der Tür; das unaufhörlich aufquellende Stöhnen hielt sie im Bann, sie hielten ihre Köpfe schief und litten mit der Kranken.
" Schwester------"
Okayo suchte in einer Pause der Wehen die Hand der Schwester. Der starke Blutverlust hatte schon ihre Sehkraft getrübt. Takae schob die Leute, die an der Tür standen, beiseite und trat an die Kissen. Das Kind, auf das sie ihre letzte Hoffnung setzte, war noch nicht geboren. "Ich bin ja bei dir, Kayo-tjan - faßt meine Hand, halt' dich ganz fest." Takae zog ihre Augenbrauen hoch wie im Wahnsinn und ließ die beiden suchenden Hände der Schwester sich an den ihren festklammern. "Faß doch fest, sei nicht so bange, kleines Häschen. " Die Schmerzwellen zermahlten den schwachen Körper der Kranken, daß sie sich zusammenkrümmte; dann wieder bog sie sich hoch und ihr ganzer Körper warf sich wie verbrennendes Papier in der Flamme. Die ältere Schwester bemühte sich, das kleine Leben, das die Flut entführen sollte, in ihren Armen zu bergen.
Hagimura wurde vom Arzt und der Pflegerin in die Ecke geschoben und saß und stand abwechselnd hilflos herum. Er glaubte, irgend etwas tun zu müssen, wußte aber nicht, was er anfangen sollte, grad' so, als stände er vor einem sich zu rasch drehenden Zahnrad. Außerdem machte ihn diese Szene, vor der ein Mann immer Angst hat, an sich schon verlegen.
Man hörte die heisere Stimme des alten Vaters: "Sie stirbt - bitte, bitte, helfen Sie ihr doch."
Die Frucht, noch nicht sechs Monate alt, war infolge der Beri-Beri-Krankheit im Mutterleib abgestorben, und das Mädchen war zu schwach, das tote Kind herauszutreiben. Sinnlos quälte sie sich in den Wehen. "Hallo, holen Sie noch einen Arzt ------ wenn sie einen Herzkrampf bekommt, ist alles vorbei ------ ganz gleich wer, aber schnell bitte. "
Der Arzt sagte das grob, ihn kümmerten die Gefühle der Kranken nicht weiter. Hagimura eilte hinaus.
Die schmerzenden Wehen kamen in immer kürzeren Zwischenräumen.
Die Nachbarin, die in der Küche vor Hilflosigkeit fortwährend Wasser kochte, drehte jedesmal, wenn das Stöhnen lauter wurde, den Kopf
zur Kranken und sagte:
" Noch mal tief Atem holen - so - noch mal - preß dich zusammen... Oh - ah - ja, ja sie ist so herunter." -
Das tote Kind war schon mit dem Kopf heraus, die Krankenschwester saß gebückt bei der Kranken, wandte sich zum Arzt und berichtete:
" Herr Doktor, schon eine Stunde und sieben Minuten seit dem ersten Wasser."
Wenn die Welle des Schmerzes zurückebbte, wurde das Bewußtsein der Kranken ganz matt, sie fiel in sich zusammen wie ein Blasebalg.
Dieser Zustand war noch gefährlicher als die Zeit, in der sie von den Schmerzen gequält wurde. Dann zog Takae sie stark an den Haaren, um sie wieder zum Bewußtsein zu bringen.
" Du mußt es herauspressen, selbst das tote Kind muß heraus - sonst muß Okayo sterben. "
" Schwester... " flüsterte Okayo und suchte Takaes Hand, wenn mit dem Schmerz das Bewußtsein wiederkam.
Die Kinder aus den Baracken, die vor der Tür standen, begannen zu weinen.
" Bitte, bringen Sie das Kind heraus, und wenn Sie es zerschneiden müssen, meine Schwester muß leben, auf jeden Fall!" Takae sah böse auf den Arzt, der mit seiner kalten Geschäftigkeit die Kranke loswerden wollte, und schrie wie besessen: "Verdammt, wenn meine Schwester stirbt, werde ich diesen Hunden, dieser Polizei, die Kehlen durchbeißen."
Die dicke Krankenschwester, die die beiden Schenkel der Kranken
hielt, sah erschrocken in das wilde Gesicht. Hagimura kam keuchend zurück:
" Er kommt gleich - es ist ein Arzt für innere Leiden, ist es gut so?" Der Arzt nickte böse.
" Ich habe seinen Koffer mitgebracht, damit er kommen muß. " Dann trat er leise an die Kissen. Okayo lag schon wie tot. Nur ein leises Stöhnen, wenn sich beim Einsetzen der Wehen der zuckende Körper aufbäumte, verriet noch, daß Leben in ihr war. "Kayo-tjan, siehst du mich noch - Hagimura -."
Der große starke Mann flüsterte an ihrem Ohr. Aber ihre leeren Augen bewegten sich nicht, sie erkannte ihn nicht mehr. In ihrer völlig veränderten gelben vertrockneten Stirn lagen die großen, versunkenen Augen, in denen nur eine wehe Erinnerung an die ehemalige Okayo blieb -wie vom Wind verwehte Blüten.
" Bleib bei dir, Okayo", schrie Takae krampfhaft, wie irre, jedesmal, wenn der Druck der kranken Hand nachließ.
Der andere, schweigsame Arzt kam herein, die beiden Ärzte begrüßten sich mit einer Höflichkeit, die wenig zu der Stimmung in diesem Zimmer paßte. Dann berieten sie sich über die Behandlung, nahmen verschiedene Nickelinstrumente und bereiteten die Operation vor. Da bewegte Okayo den Mund. Takae hielt ihr Ohr schnell an den zitternden Mund der Schwester und fragte: "Was willst du?" Okayo war jetzt vollkommen von Sinnen und hatte Haluzinationen; sie faßte den rechten Arm Hagimuras und sagte mit schlaftrunkener Stimme wie ein gesunder Mensch:
" Saburo (das war der Vorname Miatjis), es geht mit mir zu Ende. Alles vorbei - vorbei - unser Kind auch... "
Okayo bewegte den Mund, ruhig und kaum hörbar: "Der Streik ist auch vorbei - - alles vorbei - -."
Aus ihrem Gesicht verschwanden die Schatten der Schmerzen und Qualen. Takaes rotgeweinte Augen spiegelten Verzweiflung und Verwirrung wider. Die letzten Worte der Schwester preßten ihre Kehle zusammen, sie legte den Kopf auf die Kissen, ohne einen Laut - ohne zu weinen ------.
Die Kranke ließ ihre Hand vom Arm Hagimuras herabfallen.

Okayo war tot - ein Herzkrampf hatte ihr Leben beendet, wie eine Blüte, die der Wind fortweht.
" Machen Sie keinen Unsinn", sagte Takae zu den zwei Ärzten, die mit ihren Messern sich der Toten näherten.
Sie weinte nicht mehr.
Auf das erkaltende Gesicht der toten Schwester starrend, saß sie an den Kissen, regungslos wie ein Stein. Schluchzen kam vom Fußboden der Küche. Der kranke, alte Vater stierte irre auf einen Punkt. Die Leute aus den Baracken sammelten sich, sie holten aus der Pumpe Wasser und füllten die leeren Reiskästen mit Reis und kochten Essen für die Familie. Sie legten den Leichnam dorthin, wo die Bettmatte des alten Vaters gelegen hatte; der alte Hiko, der gegenüber in der Baracke wohnte, saß vor dem kleinen Hausaltar und schlug die Glocke. In der kleinen Kammer und in der Küche saßen die vielen Leute gedrängt, beteten die heiligen Texte und hielten die Totenwache.
Am nächsten Morgen kamen alle Streikenden, sie stellten die rote Fahne an das Kopfkissen der Toten.
Hagimura beriet mit dem Alten die Trauerfeier und sammelte Geld von den Streikenden, die ohne Zögern von dem wenigen gaben, das sie selber hatten.
Am nächsten Abend wurde der Leichnam über die Brücke des Senkawa-Kanals, den Haksuan-Abhang hinauf, zum Armenfriedhof in Soshikawa gebracht. Über die einsamen Gräber wehte wild der Winterwind, am Saume des Waldes verwob sich die Dunkelheit in den Baumkronen.
Takae stand tränenlos an dem kleinen Grabhügel. Ringsum standen die Trauernden, schweigende Sterne. Als Vertreter der Streikenden verlas Takagi vor dem Grabhügel die Abschiedsworte. Die rote Fahne der Streikenden, von Mori, einem Freund Miatjis getragen, bewegte sich schwer und dunkel über dem kleinen Grabhügel.
"... wir stehen jetzt, mit diesem neuen Opfer, auf der Grenze zwischen Leben und Tod. Wie können wir diesen Toten danken------?"
Aus einer einfachen Schale stieg der Weihrauch inmitten einer dichten Menschenmauer hinauf in den Abendhimmel. Ojah, Fusa-tjan, Okimitjan, Gin-tjan nahmen ein wenig Räucherpulver, sie hatten alle verweinte Augen - streuten das Pulver in die Schale und schluchzten. "Tote Genossin, du hast im Leben wenig Glück gesehen. Wir werden die Erinnerung an dich in unseren Herzen tragen und in unser Gedächtnis eingraben."
Okimi begann plötzlich laut zu weinen. Nun kam das Weinen von allen Seiten.
Takaes Lippen zitterten, aber ihre Tränen waren eingefroren------.
" Wir schwören an deinem Grabe, unter unseren Fahnen, daß wir unsern Kampf bis zur Entscheidung fortführen werden. "
Mit gesenkten Köpfen standen regungslos die Frauen. Einige Männer begannen zu singen, in einem Augenblick schwoll das Lied hoch an, alle sangen.
Nur sie konnten es wagen ihre Trauer, ihre Freude, ihren Zorn, all ihre Gefühle in diesem Gesang, diesem Rhythmus zu bergen.
" Fahne des Volkes - rote Fahne------"
Die Fahne flatterte von den singenden Stimmen bewegt. Vom fernen Horizont drohte die Finsternis, die singenden Stimmen wurden vom Wind verweht und vom Wald verschluckt. Dann ging die Fahne vom Grabe fort, und die Leute zerstreuten sich langsam.
Die Sonne war jetzt ganz untergegangen, und der Grabhügel blieb einsam und verlassen. Takae kniete vor dem Grabe. Sie fühlte die kalte Erde, unter der ihre Schwester schlief, ihr erstarrtes Herz wurde weicher. "Kayo-tjan..." Der Wind trug den Ruf fort. "Kayo-tjan, antwortest du nicht mehr - -?"
Plötzlich überfiel sie der Schmerz, und ihr Rücken zuckte, von einem heftigen Weinkrampf erschüttert. "Mein Kind, mein liebes, das ist dein Vater. "
Sie nahm ein Photo Miatjis aus der Tasche und legte es auf den Hügel . Hagimura stand hinter ihr und wagte nicht, sich zu bewegen. Er war tief erschüttert. Die Nacht senkte sich über den Friedhof, auf dem außer ihnen kein Mensch mehr war, und in der Tiefe der Dunkelheit verschwand der Grabhügel. "Okayo, Okayo ... "
Takae drückte ihren Kopf auf die Erde, weinte und schrie und tobte verzweifelt. Die fernen Büsche verloren in der Dunkelheit ihre Umrisse, der Wind wühlte in ihnen und wirbelte um den Grabhügel, unter dem Okayo mit ihrem toten Kind schlief.

 

II. Das geheimnisvolle Feuer

Noch einige Tage nach dem Tode Okayos lebte Takae ganz mit dem alten Vater zu Hause, sprach kein Wort und schien völlig erschöpft wie . eine kranke Katze.
Sie fühlte immerfort Schwindel, als ob sie von einem hohen Felsen herabstürzte. Kimi-tjan und Fusa-tjan kamen täglich auf dem Rückweg von der Versammlung zu ihr. Auch die freundlichen Nachbarn kamen öfter herein, um sie zu trösten. Aber selbst wenn sie die tröstenden Worte an Okayo erinnerten, konnte sie nicht mehr weinen, sie konnte sich nicht vorstellen, wie die allzu stark schmerzende Wunde heilen sollte.
Eines Abends, als sie nachdenklich am kalten Ofen saß, schrie Fusatjan mit der ihr eigentümlichen schrillen Stimme herein: "Taka-tjan, weißt du, diese Rothaarige ist in die Fabrik zur Arbeit gegangen. Sie hat immer nur ein großes Maul gehabt, und jetzt verrät sie uns!"
Der schwarze Schal ließ nur ihre Augen sehen, wie sie durch die Türspalte diese Neuigkeit rief: die Rothaarige hatte am lautesten auf seiten Ojas gebrüllt.
" So" antwortete Takae mechanisch. Sie zeigte kaum Interesse. Fusa-tjan sah sie enttäuscht an und schob den Kopf ganz durch die Türspalte: "Diese Damen verraten uns, wenn es uns Arbeitern am schlechtesten geht, verdammt das ist doch kaum zu glauben!"
Aber Fusa-tjan bekam keine Antwort, schloß schließlich wieder die Tür und ging fort; laut klapperten ihre Schritte auf den Brettern des Straßengrabens (Anm.: Die "Rinnsteine" in den japanischen Armenvierteln sind aus Holz.). Takae blieb in ausdruckslosem Schweigen zurück. Auch im Hause konnte sie an dem Gasolingeruch, den der Wind bis hierher trug, spüren, daß die Kraft der Streikenden Tag für Tag schwächer wurde.
Aber sie war für diesen Geruch schon fast unempfindlich geworden. Je mehr sie von einem Tag zum andern das quälende Schwindelgefühl niederdrückte, desto gefühlloser wurde sie. Sie blieb fast gleichgültig, wenn die Frage nach Sieg oder Niederlage des Streiks an sie gestellt wurde. Das alles war jetzt unwichtig für sie, die nicht mehr glauben wollte, daß es in ihrem künftigen Leben noch Licht geben würde. "Den Feind schlagen, oder sich schlagen lassen, einen anderen Weg gibt es nicht mehr. "
Es war ihr nur zu klar, wer sie vom Felsen herabgestoßen hatte. Sie brauchte sich nicht erst umzudrehen. Sie fühlte die Augen des Feindes im Rücken - die todglühenden Augen - schmerzhaft und heftig. Diese kranke Katze leckte nicht einmal mehr ihre Wunde. Ihre Augen funkelten und sie schärfte ihre Nägel. Der Wind riß an dem Blech auf dem Dache, klapperte mit den Grubendeckeln und schlug mit dem Giebelfenstern. Der alte Vater lag den ganzen Tag zusammengekrümmt in den Kissen und stöhnte. Und auch die Barackenreihen lagen wie tot im trockenen Wind des Jahresendes.
Eine Woche nach dem Tode Okayos ging Takae zum ersten Male aus dem Hause. Aber sie ging nicht zu den Streikenden, ihr Gesicht von einem Schal verhüllt, irrte sie, vom Wind getrieben oben den Abhang entlang, bog in die Villenstraße ein. Sie wußte noch genau, wo die Villa Okawas lag.
Am Abend kam sie wieder zurück, und am nächsten Morgen in der Frühe ging sie wieder fort.
Auf dem Heimweg von einer Sitzung der Zentralstreikleitung verabschiedete sich Hagimura von Kamei und Terraishi auf der Kasugastraße und ging geradeaus in der Richtung auf Haksuan die Schienen entlang. Die Läden zu beiden Seiten der Straße hatten noch ihre Türen geschlossen. Die müden Lampen verblaßten in der frierenden Luft der ersten Dämmerung.
Den Kragen seines Mantels hochgeschlagen, ging er nachdenklich durch die Straßen, in denen noch nicht einmal die erste Straßenbahn fuhr. Er beschleunigte seine Schritte, um seine Fußspitzen, die vor Kälte fast gefühllos waren, zu erwärmen.
Deutlich hatten sich in der Sitzung der Zentralstreikleitung, die von gestern abend bis in den Morgen gedauert hatte, zwei Richtungen unterscheiden lassen. Bisher hatte man sich in den Sitzungen wenigstens am Schluß noch immer geeinigt, auch wenn die gegensätzlichen Meinungen noch so heftig aufeinanderprallten. Die Hoffnung eines Sieges in den ökonomischen Fragen lag vor den Leuten wie ein noch nicht geöffnetes Lotterielos. Und die Führer machte der Stolz auf die vergangenen Streiks, aus denen sie immer als "siegreiche Generale" hervorgegangen waren, etwas hochmütig. In der Tiefe ihres Herzens klebte noch"der alte, süße Traum", in dem sie wie durchgehende Droschkenpferde kämpften und mit Löwenmut die Massen anfeuerten.
Aber dieser Streik machte im Gegensatz zu allen süßen Träumen das Elend noch größer, und die unvermeidlichen, schrecklichen Folgen erschienen vor ihren Augen wie die roten Warnungszeichen an einem Gasometer.
" Wir hätten bei der ersten Verhandlung überlegter vorgehen müssen", begann Kamei jammernd.
" Außerdem haben wir uns bei der zweiten Verhandlung verrechnet", sagte Yamaura tadelnd zu Nakai.
Nogota, Ando, Oshima, Matsusawa - fast alle leitenden Delegierten der Daido-Druckerei stimmten dem Tadel Yamauras zu. "Willst du das auch noch verständig gehandelt nennen?" Nakai blieb mit gesenktem Kopf sitzen und biß sich auf die Lippen. Yamamoto und Terraishi brüllten los: "Was heißt verrechnet, wer hat sich verrechnet! ?" Zu allem Unglück kam noch die Spannung zwischen den Leuten der Daido-Druckerei und den Berufsrevolutionären hinzu, die jetzt zur Entladung kam.
Takagi schwieg finster vor sich hin. Nakai war niedergedrückt als trüge er eine schwere Last.
Verrechnet - das war schon vor dem Sturm auf die Oji-Papierfabrik geschehen. Sie hatten den Fehler gemacht, die zweite Verhandlung, von der der Sieg der Streikenden erwartet werden konnte, - nur etwa zweihundert Mann sollten zu günstigen Bedingungen entlassen werden - zum Scheitern zu bringen, nachdem schon alle Forderungen der Streikenden angenommen waren. Es war schon so weit, daß Direktor Furuya als Vertreter der Gesellschaft, und Oda, Takagi und Nakai die Abmachungen festgelegt hatten, und daß nach Ablauf von sechs Stunden dieser Vertrag von einem Notar unterzeichnet werden sollte.
Aber drei Stunden später wünschte Direktor Furuya plötzlich Aufschub der Unterzeichnung und erklärte kurz darauf, er müsse die Verhandlungen abbrechen. Er selbst wurde seines Postens als Vertreter der Gesellschaft enthoben. Leider aber hatten die Vertreter der Streikenden nicht daran gedacht, daß über dreihundert Streikbrecher in der Fabrik saßen.
Diese dreihundert Ratten würden, zusammen mit den anderen Reserven, der Gesellschaft, von Direktor Furuya ganz abgesehen, sie zum Selbstmord zwingen.
Daß Sie sich derart fürchterlich verrechnet hatten, war die Ursache, daß die Streikenden zum dritten Male ihre ganze Entschlossenheit aufbieten mußten.
Jetzt entschloß sich auch Okawa, den ganzen Profit von fünf Jahren in diesem Kampf zu opfern; und so ging die Gesellschaft aus dem Kampf und der Unordnung neu gestärkt hervor.
Das Großkapital hatte den Schleier seiner Vampirmaske gelüftet. Erst nach dem Zusammenschluß Okawas und Shibusakas begann das Großkapital gleichzeitig mit der Kabinettsänderung seinen Generalangriff. So entbrannte zum dritten Male der Kampf. Alle Kräfte der linken Front in ganz Japan wurden aufgeboten und hier in der "Straße ohne Sonne" gesammelt. 2000 Yen Streikfonds und 5000 Streikhelfer wurden aus allen Gegenden Japans, von Kyushu, Shikoku, Aomori, Sapporo zusammengebracht.
Aber die Streikenden waren schon müde, sahen vollkommen erschöpft aus, von der drohenden Unterdrückung niedergeschlagen. "Wir haben uns nicht verrechnet, wir konnten nicht anders handeln" sagte Nakai und hob den Kopf.
" Wieso?" Yamaura und einige andere wollten sich nicht damit zufrieden geben.
" Wir sind noch nicht niedergeschlagen, und es wäre reiner Zufall gewesen, wenn jene zweite Verhandlung Erfolg gehabt hätte. " Nakais Gesicht sprühte Empörung. Yamaura schrie, was Nakai sage, sei eine reine Verdrehung der Tatsachen. - Die Diskussion war eher heftiger geworden. Vollends hatte die letzte Erklärung der Gesellschaft die oberste Streikleitung in zwei Lager gespalten:
" Die Gesellschaft wird ein Drittel der Streikenden nach ihrer Auswahl wieder aufnehmen. Den anderen zwei Dritteln wird sie nach einer an anderer Stelle veröffentlichten Berechnung das Entlassungsgeld auszahlen. Gleichzeitig ist die Streikorganisation aufzulösen. " "Sowas von Blödsinn, wir lassen uns nicht verkohlen!" schrie Ishisuka spontan. "Kämpfen und wenn alle Streikenden entlassen werden!" Aber Yamaura und die anderen wollten das nicht, sie dachten zuerst daran, wie elend die Lage dieser dreitausend Streikenden war. "Wenn noch mehr erwerbslos werden, wird die Revolution nur beschleunigt" höhnte Terraishi die Feiglinge.
Die meisten waren durch diese Äußerung empört. Jetzt ging es auch nicht mehr um die letzte Mitteilung der Gesellschaft jetzt kam der offene Gegensatz der Gefühle und Meinungen zum Ausbruch. Kampf gegen Okawa oder Kampf gegen die ganze obere Klasse. Kampf um die Entlassenen und Ausgesperrten oder Kampf bis zur letzten Entscheidung.
Aber auch Hagimura konnte dabei nicht ruhig bleiben. "Ob wir die Revolution beschleunigen oder nicht. Das Schlimmste ist jetzt der Hunger."
" Du kannst so etwas sagen, weil du überhaupt noch nicht aus dem Eßkasten essen mußtest!" höhnte Terraishi weiter. "Entlassen heißt für uns hungern, das versteht ihr nicht, ihr Bonzen!"
Diese Beschimpfung brachte Hagimura, ohne daß er es eigentlich wollte, ganz mit Terraishi auseinander. Er spürte außerdem seinen leeren Magen wie einen Eisblock.
Er war so wütend, daß er sich beinahe im Laufschritt davonmachte - -. Er war tief traurig, daß solche feigen Sklavengefühle in ihm waren, aber dieses Gerede von Terraishi, der sich, trotzdem er vielleicht mit am schlimmsten unter dem Hunger litt, so ohne Bedenken über sein Leiden und das Leiden der andern hinwegsetzen konnte, brachte ihn immer von neuem auf.
" Natürlich werden sie dazu bereit sein, aber wo sollen sie sich nachher verkriechen, diese dreitausend Erwerbslosen?"
Kurz vor der Ecke der Sasugarjastraße ging er von der Gasse der Asumagarage durch die Passage nach der Blinden- und Taubstummenschule auf dem Haksuanabhang, von wo es bis zu seinem Hause nicht mehr weit war. Theoretisch hatte Nakai natürlich recht, das mußte er selbst zugeben. "Erst schlafen, dann noch mal überlegen." Er schüttelte den Kopf und ging rascher um seine schlechte Laune zu verjagen. Es wurde schon heller.
Plötzlich, zuerst traute er seinen Ohren nicht: Feueralarm! Die Feuerglocke rasselte. "Ah, Feuer!" rief er unwillkürlich und sah sich um. Fast zu seinen Füßen, mitten in dem schneebedeckten Stadtviertel, stieg aus dem Gebäude der Daido-Druckerei schwarzer, wirbelnder Rauch, vom Wind getrieben. Dann schoß wie eine Fontäne eine Feuersäule hoch. Er blieb stehen. Die Feuerglocke weckte andere, jetzt tönten von allen Seiten die Glocken und zerrissen die Dämmerung. Der schwarze Rauch hüllte den Seminarwald in dichte Wolken, und das Schloß des Teufels, das die Straße ohne Sonne beherrschte, ertrank in den Flammen.
" Feuer, Feuer!"
Plötzlich waren seine Augen von Helligkeit geblendet, wie in einer Eisenbahn die aus dem Tunnel kommt. Er rannte den Abhang hinunter, seinen Hunger, seine Müdigkeit, seine Traurigkeit abschüttelnd wie ein Kind.

 

III. Das geheimnisvolle Feuer 2

Terraishi, der sich auf der Kasugastraße von Hagimura getrennt hatte, stieg den Gokurukusiabhang hinunter, wo er etwa zehn Minuten eher als Hagimura auf der gegenüberliegenden Seite am Haksuanabhang anlangte.
Er wohnte in der zweiten Etage des Büros der zweiten Abteilung der Gewerkschaft, der Wohnung Hagimuras gerade gegenüber; unten im Tal zwischen ihnen, lag "die Straße ohne Sonne".
Er war von kurzer, gedrungener Gestalt, lief immer in einem alten Studentenmantel herum und trug eine Brille für hochgradige Kurzsichtigkeit. Auf seinem Wege wurde er sonst häufig von den Polizisten aus den Schilderhäusern angerufen. Aber heute war, als er etwas ängstlich an diesen Kästen vorbeieilte, kein Beamter zu sehen. Er ging rasch den Weg hinunter; plötzlich hörte er hinter sich Tritte und, als er sich erschrocken und vorsichtig umsah, kamen zwei uniformierte Polizisten aus der Wache und sahen hinter ihm her. Er setzte ohne sich umzusehen seinen Weg fort, achtete aber auf alles, was hinter seinem Rücken vorging. So entging ihm, daß rechts von ihm, über seinem Kopf, ein Mensch auf dem Gitter stand.
" Was?" Er schrak auf, als plötzlich zwei Meter vor ihm ein Mann im europäischen Anzug vom Gitter herunter auf die Straße sprang. Der Mann stand eilig vom Boden auf, griff seinen herabgefallenen Hut und rannte an ihm vorbei den Abhang hinauf.
Das Benehmen des Mannes war merkwürdig, frech und verlegen zugleich. Terraishi dachte unwillkürlich, der Mann sei ein verkleideter Kriminal. "Was hat das zu bedeuten?"
Hinter diesem Gitter, von dem der Merkwürdige herunterkam, befand sich ein kleiner, leerer Platz auf dem erst vor kurzem fünf oder sechs neue Baracken gebaut waren. Früher, ehe das eiserne Gitter aufgestellt war, konnte man hier direkt in die Fabrik hineinschlüpfen. Er hatte es selbst einige Male gemacht, war in der Mittagspause heraus und wieder hereingeschlichen.
" He, der Kerl ist aus der Fabrik gekommen!"
Eine böse Ahnung überkam ihn, aber er hatte Angst, sich umzusehen, er wußte, wenn die Polizisten ihn erkannten, würde er bestimmt sofort verhaftet, da man ihn schon einige Tage suchte.
Unten am Abhang stand ein altes Tempeltor des alten buddhistischen Gokuraku-Si. An dieser Stelle bog die Straße zur "Straße ohne Sonne" hinüber.
Es war mittlerweile so hell geworden, daß man Gesichter unterscheiden konnte. Die Läden zu beiden Seiten lagen noch in tiefem Schlaf. "Halt, halten Sie, hallo -"
Plötzlich trampelten eilige Schritte hinter ihm her, er wendete sich um und sah die beiden Polizisten, die aus der Wache gekommen waren, und den Mann mit dem Schnurrbart; sie rannten auf ihn zu. "Aus! zum Teufel!"
Ohne zu überlegen, rannte er instinktiv los; er wußte, daß jetzt alle Streikleiter ohne jeden Grund verhaftet wurden. Der abschüssige Weg beschleunigte seinen Lauf, er rannte, was die Beine hergeben wollten; da riß der Riemen seiner Holzsandale und er stürzte.
" Du Hund, du hast das Feuer angelegt!"
Vor Terraishi, dem die Polizisten beide Arme nach hinten gedreht hatten, drängte das Gesicht des europäisch gekleideten Mannes, der ihn so anbrüllte.
" Feuer angelegt -?" Wenn er nur deswegen festgenommen wurde, schien es ihm selber komisch, daß er überhaupt fortgelaufen war. Er zwang sich, ruhig zu bleiben und fragte, was diese Bemerkung bedeuten sollte.
" Was heißt, Feuer angelegt?"
" Sag die Wahrheit und lüge nicht lange, du Hund!"
Der Spitzel schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, daß seine Brille fortflog. Er begriff gar nicht, was sie von ihm wollten - wo war denn eigentlich Feuer - er sah sich in der Straße um, in der nichts zu sehen war.
" Quatsch nicht lange und geh' schon!"
Die Polizisten zu beiden Seiten drehten ihm die Arme aus und schleiften ihn den Weg zurück den Abhang hinauf. Als sie um das Tempeltor herumgingen, schlug plötzlich die Feuerglocke rasselnd Alarm. Wirklich, aus dem Gitter, wo vorhin der Spitzel herabgesprungen war, stieg schwarzer Rauch in dicken Wolken zum Himmel auf. Terraishi kniff die Augen zusammen, weil er seine Brille verloren hatte, sah über den Schultern der Polizisten Rauch und über sein Gesicht flog ein Schatten der Angst.
" Zum Teufel, ihr habt mich in die Falle gelockt!"
Nun begriff er, zu welchen brutalen Mitteln seine verhaßten, mächtigen Feinde griffen, und sah sich das Gesicht mit dem Schnurrbart, das sich schamlos zu ihm wandte, genau an. "Frecher Lump, geh' weiter!"
Er biß sich auf die Lippen, als er abermals niedergestoßen wurde. Frecher Lump - wer? ich oder ihr? Das Blut stieg ihm vor Empörung in den Kopf, sein Hirn umnebelte sich wie mit schwarzem, wirbelndem Rauch.

Das geheimnisvolle Feuer breitete sich mehr und mehr aus und ließ seine Funken über die Fabrik regnen.
Das Rasseln der Feuerglocken und die Sirenen der rasenden Feuerwehrautos weckten die tote Straße ohne Sonne lärmend auf. Feuer in der Fabrik! - Geräusch sich öffnender Türen - eilige Schritte - schreiende Stimmen - aus den Baracken winselte das Weinen der Kinder - einige schrien aus dem Schlaf geschreckt, als hätten sie sich verbrannt. "In der Fabrik!" "Bei der Gesellschaft!"
Die Leute aus den Baracken rannten auf die Brücke über dem Senkawa-Kanal in zerissenen Schlafhemden und alten schmutzigen Doteras (Anm.: Dick gefütterte Kimonos). "Teufel, sollst lieber ganz zu Asche werden!"
Die Flammen beleuchteten grell die roten Ziegelgebäude, flogen brausend seitwärts zum Walde des Seminars und erleuchteten den Himmel. "Siehst du, das ist die Strafe Gottes!" "Die Streikbrecher werden schön blaß sein!" Aber sie sollten selber blaß werden.
Eine größere Gefahr als das Feuer drohte in ihrem Rücken. Zwischen den roten Feuerwehrautos ratterten die Lastwagen, vollbeladen mit Polizei, fuhren durch die Straße ohne Sonne und versperrten die Ein - und Ausgänge der Straße. Die "verdächtigen" Männer wurden in Massen verhaftet und auf die Autos geladen.
Ein Streikender, der einen Säugling unter dem Mantel trug, stieg auf das Auto.
" Solche Dummheit, gib das Kind der Frau", schimpfte ein Polizist den vierzigjährigen, etwas beschränkten Mann wütend an. "Ja, meine Frau ist auf Arbeit, bei uns ist niemand zu Hause", antwortete er bescheiden und streichelte sanft den Kopf des Kindes. "Dann gib es zu einer Nachbarin."
Ein alter Nattohändler (Anm.: Gericht von gegorenen Bohnen, das die Arbeiter fertiggekocht kaufen.) der zu Hause seine Ware vorbereitet hatte, und gerade fortgehen wollte, um auf den Handel zu gehen, wurde mit seinem ganzen Kram verhaftet.
Aber das geheimnisvolle Feuer wurde bald gelöscht und ging vorbei wie ein Possenspiel.
Die Fabrik behielt ihr nüchternes Aussehen, als sei nichts passiert. Nur die Betonmauern waren ein wenig geschwärzt und das Dach vom Lagerhaus teilweise verbrannt. Fünf oder sechs Baracken hinter der Fabrik, von denen das geheimnisvolle Feuer ausgegangen war, waren ganz abgebrannt, aus den Ruinen stieg noch weißer Dampf und der Brandgeruch von Wolle und Leder.
Aber die Verhaftung der "verdächtigen" Männer ging weiter. Nach einem lange vorher festgelegten Plan wurden alle aktiven Streiker, mit Ausnahme der Frauen, wie Reissäcke auf die Lastwagen geworfen. "Der muß ins Präsidium!" schrie ein Polizist, der mit Kreide auf den Rücken bestimmter Leute Zeichen machte. Die sogenannten Brandstiftungsverdächtigen waren in diesem Fall nur eine Ware, und Hagimura war eine verhältnismäßig wichtige Ware, die mit Kreide auf dem Rücken gezeichnet wurde.
Am selben Tage berichteten die Morgenzeitungen, Fräulein Etsuko, die siebenjährige Enkelin Okawas, sei um elf Uhr vergangener Nacht plötzlich verstorben.
Dieses kluge und hübsche Kind war das liebste, was Okawa besaß. Es war sein einziger Schatz, das schönste Licht in seinem Privatleben, das sonst nicht sehr glücklich war. Sein Stolz und seine Hartnäckigkeit, die ganze Welt zu beherrschen, verschwanden vor diesem Schatz. Mit ihr zusammen wurde er zu einem durchschnittlich schwachen, guten Großpapa.
Der Arzt stellte als Todesursache eine starke Vergiftung fest. Das Kindermädchen und die Diener waren ratlos, aber die Hausmeisterin sagte aus, daß niemand der "Prinzessin" eine solche gefährliche Speise, die zu einer Vergiftung führen konnte, gegeben hätte. Ungefähr um sieben Uhr, nach dem Abendessen begann die Prinzessin über Schmerzen zu klagen, um elf Uhr war sie nach großen Qualen gestorben. Der junge Professor der Medizin bestand hartnäckig auf seinem Verdacht, den er mit seiner streng wissenschaftlichen Untersuchung begründete.
Okawa, der in diesem Augenblick den kostbarsten Edelstein seines Besitzes verlor, ertrug diesen Verlust trotz aller Hartnäckigkeit nicht, er schloß sich in sein Zimmer ein und zeigte sich niemandem. Der Arzt verhörte alle Hausbewohner, er hatte in dem Erbrochenen des Mädchens Arsenik gefunden und erkundigte sich, ob solches Gift irgendwo im Hause sei. Dann fragte er weiter, ob jemand Fremdes ihr das Gift gegeben haben könnte.
Aber das war in diesem Hause, das streng bewacht wurde, unmöglich. Der Arzt sagte zu den Eltern des Kindes, deren Augen vom vielen Weinen geschwollen waren:
" Wenn jemand Fremdes mit bestimmter Absicht das Kind vergiftet hat, kann ich vom Standpunkt der gerichtlichen Medizin die Sache nicht so auf sich beruhen lassen. Wenn sie erlauben, möchte ich die Leiche obduzieren. " Der gewissenhafte Arzt hatte einen Verdacht wegen der Todesursache.
" Dummheit, wird sie durch eine Obduktion wieder lebendig -?" schrie Okawa seinen Sohn und seine Schwiegertochter an, die ihn um Rat fragten.
" Sie ist an einer Krankheit gestorben, das muß genügen", sagte er hart und wandte sich um.
Als die beiden die Tür zu seinem Arbeitszimmer hinter sich geschlossen hatten, stand er auf und ging in den Wintergarten in der zweiten Etage. In diesem Wintergarten, nach Süden gelegen, blühten Hunderte von Blumen wie im Frühling; er setzte sich in einen Rohrsessel und starrte hinaus..... Er hatte gesiegt, er sollte siegen. Seine kräftige Energie ließ ihn noch nicht alt werden. Sein starker Arm, der ihn auf dem Strom der Zeit vom kleinen Händlertum bis zur Blüte des modernen Kapitalismus gerudert hatte, sollte noch nicht schwach werden. Er selbst hatte nie viel von sich reden gemacht, wie die Unternehmer mit den grünen Schnauzen von heute, aber er trug in sich das klare und sichere Bewußtsein, Mitglied der herrschenden Klasse zu sein. Er trug auf seinen Schultern nicht nur seine eigenen Lasten, sondern die der ganzen herrschenden Klasse.
Er hatte die Macht der Arbeiter nie gering geachtet wie die andern; mit seinem klaren und weitschauenden Kopf hatte er sie richtig eingeschätzt, aber darüber hinaus hatte er sich nie von ihrem großen Schatten beirren lassen. Er hielt seinen kurz geschorenen Kopf geradeaus auf den Feind gerichtet und kämpfte mit den linken roten "Strolchen" ganz Japans. Er hatte anfangs geglaubt, daß sie seine Geschäfte nicht stören würden, doch er mußte bald einsehen, daß diese Rechnung falsch war. Die Arbeiter richteten die Spitzen ihrer Speere immer drohender gegen ihn. Sie wollten die Grenze, die ihnen als Arbeiter gezogen war, übertreten; sie waren nicht Aale, sie waren Schlangen.
Während dieses Streiks besuchte ihn eines Tages Herr Bunji Suzuki, der Vorsitzende des Sodome (Alljapanischer Gewerkschaftsbund), den er früher einmal kennengelernt hatte. Der wollte sein Einverständnis einholen, um die rechten Elemente der Streikenden zu organisieren und auf diese Weise die Versöhnung der Unternehmer und Arbeiter zu erreichen. Okawa antwortete diesem berühmten dicken Gentlemen mit einem einzigen Satz:
" Meine Arbeiter sind keine Aale, denen können sie nichts vorzaubern. " Und so kämpfte er mit diesen Schlangen, die keine Aale waren, und das nicht aus eigennützigen Gründen. Es brauchte ihn nicht zu kümmern, ob eine unter den vierzig Gesellschaften, die er besaß, sich wirtschaftlich rentierte oder nicht - dafür tat es nicht not, auf Leben und Tod zu kämpfen. Daß er trotz aller Angriffe und Vorwürfe, selbst aus seinen eigenen Kreisen, seinen grauen Kopf durchsetzte und in diesem Kampf unbeugsam geradeaus ging, geschah, weil er diese roten Schlangen, die sich riesenhaft vermehrten, die an den Wurzeln der herrschenden Klasse nagten, grundsätzlich vernichten wollte.
Er starrte auf die Haufen der roten Schlangen und wollte keinen Schritt zurückweichen. Ein Schritt rückwärts bedeutete die Niederlage der ganzen Klasse. Alle Kräfte, die ihm zur Verfügung standen, hatte er zusammengefaßt, um diese Schlangen vollständig niederzuschlagen. Die zerschlagenen und zerissenen Schlangen sollten die Lust verlieren, zu kämpfen, sie sollten nur noch kriechen ...
Trotzdem - welch ein Fehler in seiner Rechnung! - durch eine weibliche Schlange, die ihn plötzlich von hinten anfiel, wurde ihm ein Stück Fleisch abgerissen. Die Wunde schmerzte - seine ganze Liebe, Etsuko war ihm genommen.
Ohne die Untersuchung dieses dummen, ehrlichen Professors wäre die Todesursache niemals bekannt geworden. "Wird sie wieder lebendig durch die Obduktion?" "Dummheit!"
Sein großer Mund schrie noch einmal auf; aber was nützte es, die Todesursache noch bekannt zu machen. "Dummheit!"
Mit höhnischem Lachen würde er sie fragen: Glaubt ihr, die Arbeiter werden sich fürchten, wenn die Todesursache bekannt wird und eine von den Schlangen vernichtet wird?
" Um diese Schlangen zu vernichten, gibt es noch andere Methoden!" Man darf ihnen seine schwachen Seiten nicht zeigen. Ein Tiger wird wegen einer Wunde nicht zurückweichen....
Sein Blick kehrte aus dem Leeren zurück; er sah durch die Glasfenster auf das Tor seines Hauses und schloß nachdenklich die Augen: er erinnerte sich daran, wie seine Enkelin gestern um fünf Uhr vor diesem Tor mit ihrem Ball spielte.
Als er als Teil seines Tagespensums gestern hier im Wintergarten seine Pflanzen begossen hatte, hatte er plötzlich gesehen, wie da unten vor der Tür ein zwanzigjähriges, schlecht gekleidetes Mädchen Etsuko streichelte - Etsuko lachte fröhlich - -
Er hatte gedacht, es sei ein Mädchen aus der Nachbarschaft. "Sie war es!"
Er kreuzte die Arme über die Brust und schloß wieder die Augen. "Großpapa" - die Stimme war in seinen Ohren, wie auf einer Grammophonplatte.
Die Ruhe des warmen Wintergartens hatte ihn getröstet; er fühlte es heiß unter den Augenlidern werden. "Dummheit, kommt sie davon wieder?"
Er hob den grauen Kopf und stand auf.

 

IV. Wir schützen die Fahne

Die Katastrophe näherte sich.
Das geheimnisvolle Feuer hatte den Streikenden den letzten Stich in die Kehle versetzt.
Das System der Streikgruppen hatte überall empfindliche Lücken. Keine Streikgruppe hatte mehr ein Lokal, um sich zu sammeln; wenn sie zu mehreren auf der Straße erschienen, wurden sie auf Grund des "Verbots von Versammlungen unter freiem Himmel" aufgelöst, zerstreut oder verhaftet.
Wäre Hagimura auch nicht in der Polizeizelle eingesperrt worden, seine Stellung zwischen den beiden Richtungen der Streikleitungen hätte ihn weiter gequält. Es gab keinen anderen Weg mehr, als sich auf der Linie von Nakai zu einigen.
Die rechten Elemente, die bis jetzt unter den scharfen Augen der Gruppenzellen nichtsunternehmen konnten, hoben allmählich die Köpfe. Sie erklärten ihr Mißtrauen gegen die Zentralleitung und das Gruppenkomitee, und halfen so, eine niederdrückende Stimmung zu verbreiten. Die Spitzel der Gesellschaft warben jetzt offen für Streikbruch und Verrat, und das Honorar für geheime Mitteilungen von den Plänen und Schwächen der Streikenden wurde immer geringer. Die "Waren", die erst geheim auf Wagen, verdeckt, in die Fabrik geschafft wurden, trugen jetzt Schuhe und Hüte und gingen durch das Haupttor der Fabrik. Die Streikposten wurden zwecklos, einige von ihnen kamen überhaupt nicht wieder. Die Ernährungsabteilungen hatten keinen Reis mehr zum Kochen, die Verkaufsmöglichkeiten der Wanderhandeisabteilung wurden gleich Null. Die Genossenschaft war fast bankrott und in ihrem Laden war nichts mehr zu finden, womit man den Hunger stillen konnte. Der Zentrale der Hyogikai war es wegen der Ausweitung der Front auch nicht mehr möglich, diesen einen Streik weiter zu unterstützen. Der erste Vorsitzende der Streikenden, Takagi, und fast alle Mitglieder der Zentralleitung, Nakai, Hagimura und die andern waren in den Polizeizellen eingesperrt. Das Gruppenleiterkomitee war gleichfalls seines Kerns beraubt, und nur die rechten Elemente blieben. Der Streik war fast schon niedergeschlagen.
Das Gruppenleiterkomitee in seiner augenblicklichen Zusammensetzung erklärte nun auch sein Mißtrauen zur Zentralstreikleitung.
Die Streikgruppenleiter konnten dem Jammern und den Vorwürfen, die sie überschwemmten, nicht mehr standhalten.

Im Büro der Zentralstreikleitung hing die rote Fahne in den Strahlen der Wintersonne; in ihrem roten Tuch barg sie die vielen traurigen und heroischen Erinnerungen des Kampfes. Unter dieser Fahne tagte das Gruppenleiterkomitee. Die Zahl der Gruppenleiter betrug kaum mehr zehn; außer einigen Rechten, die nur auf Grund ihrer langen Tätigkeit in der Fabrik gewählt waren und seit Beginn des Streiks noch nicht einmal verhaftet waren, waren alle andern dritte oder vierte Ersatzleute, die Alten waren verwundet tot oder verhaftet.
Diese Gesichter, um einige rechtsgerichtete Gruppenleiter geschart, waren nun das einzige Organ, das die letzte Entscheidung über diesen großen Streik der Tokio und ganz Japan erschüttert hatte, fällen sollte. Ihre "glänzende Sitzung" wurde mit Jammern begonnen. Sie beharrten in ihren alten Träumen, suchten nach den persönlichen Fehlern der Zentralstreikleiter und formulierten ihre unsicheren Vorwürfe daraus.
1. Die Gesellschaft wird einen Teil der Streikenden wieder einstellen, nach Auflösung der Streikorganisation.
2. Die Streikenden sollen die von der Gesellschaft vorgeschriebenen Entlassungsgelder anerkennen.
3. Die Gesellschaft wird außer den Entlassungsgeldern den Streikenden 20 000 Yen übergeben.
Wer hatte sich die Möglichkeit einer solch elenden Niederlage vorgestellt! Aber das Gruppenleiterkomitee hatte gerade im Augenblick der Entscheidung alles Mark aus den Knochen verloren. Da war nur eine dünne Schnur, die der donnernd stürzende riesige Baum zufällig erst im letzten Augenblick zerriß.
" Wollen wir eine Versammlung aller Streikenden einberufen und die entscheiden lassen", schlug ein Gruppenleiter vor. "Wir wollen lieber jetzt keine Beschlüsse fassen, sondern erst alle fragen." Dieser Vorschlag ließ in der trostlosen Stimmung der Versammelten, die alle Haltung verloren hatten, ein kleines Hoffnungslicht aufgehen. Unruhig glitten die neuen Köpfe hin und her, wie Tropfen von Quecksilber. "Aber wer macht den Bericht?"
Wieder waren sie unentschlossen, weil sie ahnten, daß eine allgemeine Versammlung nicht so ruhig ablaufen würde. Sie wagten nicht, sich dem Wirbel der Vorwürfe und des Geschreis entgegenzustellen, dazu brauchte man nämlich einen festen Standpunkt, ein Auge, das die ganze Sache übersah.
" Das geht nicht, daß das Komitee in diesem Fall zu keinem Beschluß kommt, das ist wie ein Schiff ohne Steuer. "
Aber sie waren auch wirklich keine guten Steuerleute; von den Wogen geschüttelt, klammerten sie sich an das Ruder, um sich nur festzuhalten.
Da hörten sie unten lärmende Stimmen, ein paar Leute kamen die Treppe herauf. Fünf oder sechs aufgeregte Köpfe schrien durcheinander:
" Ihr dummen Biester, wir machen nicht mehr mit, wir machen den Streik nicht mehr länger mit!"
" Zum Teufel, ihr Hunde, ihr habt uns belogen! Die Kerle von der Zentralleitung haben sich verhaften lassen, weil sie Angst hatten, vor uns hinzutreten!"
" Was heißt schon 'Leiter', ihr Ochsen!"
Sie brüllten aus vollen Lungen, einigen kamen die Tränen vor Empörung. Die Gruppenleiter schwiegen verlegen, darauf waren sie nicht gefaßt. "Wenn wir mit solchen Bedingungen einverstanden sind, dann haben wir von Anfang an die Augen zu gehabt. - Räuberbande ihr!" Die Gruppenleiter erschraken; woher hatten diese Leute die Versöhnungs-bedingungen in Erfahrung gebracht, die doch ganz geheim gehalten waren? "Was denn, warum regt ihr euch so auf?"
Kindo, der älteste Gruppenleiter, in schwarzem Arbeitskittel, wollte aufstehen; da sprang einer der Streikenden auf ihn zu, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn: "Stell dich doch nicht so blöd an, Kerl!"
Der schmutzige, etwa vierzigjährige Mann, der ihn hielt, bespritzte ihn vor Aufregung beim Sprechen mit Speichel.
" Die Versöhnungsbedingungen kennen wir schon, wissen wir schon -denkt ihr vielleicht, daß wir damit einverstanden sind?" Die andern umringten die Gruppenleiter, und so wurde die Sitzung gesprengt. Unten sammelten sich unterdessen die Streikenden aus all den Gruppen, die kein Lokal mehr hatten. Das Ungewisse Jahresende vor sich, hatten fast alle traurige Gesichter, in denen unruhige Augen verbluten wollten. Sie konnten schon tapfer sein, jetzt aber waren sie so abgekämpft, daß der geringste Widerspruch sie krankhaft erregte. "Hallo, ich habe etwas ganz Unglaubliches gehört!" trat ein Bemützter zu einer Gruppe von etwa fünfzehn Mann und zeigte den Inhalt der Versöhnungsbedingungen .
" Und das Gruppenleiterkomitee hat sich mit den Bedingungen einverstanden erklärt!" Alle Umstehenden wurden blaß.
" Hört mal", flüsterte die Mütze mit funkelnden Augen, "die Leute von der Zentralleitung haben sich mit Absicht verhaften lassen, weil sie nicht mehr weiter wußten. "
Am Winterhimmel hingen tiefe Wolken, und ein Hagelschauer war im Anzug. Die blassen Gesichter wurden müde und kraftlos und sahen in ihrer Empörung seltsam verstört aus.
" Vorsicht, Vorsicht, der Kerl ist sehr verdächtig!" schrie ein junger Mann in Matrosenhose, dem an dem Mann plötzlich etwas aufgefallen war.
" Das sind doch nur Gerüchte, solche Parolen haben wir schon genug gehört!"
Der das rief, war Hisachita, der Lehrling.
Er hatte schon vorher den verdächtigen Kerl gesehen; das war bestimmt Takayama, aus der Zeitungsabteilung, er erkannte ihn, trotzdem er über dem Kimono einen Havelock trug und ganz anders als sonst aussah. Dieser Bursche stieß stets im gefährlichsten Moment zu ihnen, aber wenn es wirklich gefährlich wurde, hatte er sich immer aus dem Staube gemacht. Hisachita hatte nie davon gehört - und er hatte ein verdammt gutes Gedächtnis - daß Takayama auch nur einmal verhaftet war. Hisachita schlängelte sich flink durch die Menge, um sich den Burschen zu greifen, aber der war schon verschwunden. "Wer sich noch in dieser Woche meldet, wird von der Gesellschaft wieder eingestellt, mit Ausnahme der schon Entlassenen..." Auch solche Gerüchte kamen zu den Jammernden geflogen. Die Leute hatten gar keine Lust, auf die Worte Hisachitas, des Kükens zu hören. "Geh zu den Gruppenleitern, wir werden sie fragen, dann wird alles klar."
" Fragt das Gruppenkomitee - -."
Sie hatten gar nicht die Energie mehr, selbst zu untersuchen, woher solche Gründe stammten.
In diesem Durcheinander waren die Gruppenleiter nicht nur nicht imstande, diese Gerüchte als solche zu entlarven, sie bewiesen auch ihre totale Unfähigkeit, das Steuer des gestrandeten Schiffes auf den richtigen Kurs zu bringen.
" Teufel, ihr habt uns belogen, ihr Gauner, was seid ihr für Leiter, ihr seid eine schöne Räuberbande!" "Wir machen den Quatsch nicht mehr mit!"
Sie tobten und schrien und ließen ihrer hoffnungslosen Wut freien Lauf. Dunkel hing die Fahne an der Wand.

Die letzte Generalversammlung der Streikenden wurde eröffnet. Es war Vormittag, die Hagelkörner wurden schräg vom Wind gepeitscht und die Kälte fraß in den mageren Knochen. In der Tempelhalle Densu-in sammelten sich die todwunden Streiker von allen Fronten.
An einer Seite der halbdunklen Tempelhalle stand ein einfacher Tisch, dahinter leuchtete die rote Fahne und zu beiden Seiten die vielen roten Fahnen der Abteilungen.
Die Halle war von uniformierten Polizisten mit heruntergelegtem Sturmriemen bewacht. Unter der Oberfläche des Raumes, wie in einer düsteren Meerenge, strömten wirbelnd die Stimmungen der verschiedenen Richtungen. Man suchte Gelegenheit zu einem Zusammenstoß. Nach fünf, nach zehn Minuten wurde die Spannung zwischen den Strömungen dichter und unversöhnlicher.
Die ermüdeten Elemente, die nachdem Wirrwarr der Gruppenleitersitzung immer mehr verzweifelt waren, wurden durch ihr gemeinsames Mißtrauen gegen die Zentralleitung zusammengeschlossen: sie verlangten den sofortigen Abbruch des Streiks. Die ganze rechte Seite der Halle einnehmend schrien sie ununterbrochen: "Los, fangt an!"
" Wo ist die Zentralleitung, kommt endlich raus!"
Hinten, auf der linken Seite, sammelten sich die Jungen, die auf allen Seiten der Front noch geblieben waren. Zorn und Trotz brüllte aus ihren Mäulern, sie schüttelten die Köpfe über die Verspätung und sahen wütend auf den leeren Vorstandstisch.
Sie waren geschlossen gegen jede Versöhnung. Sie hatten Angst, daß das unfähige Gruppenleiterkomitee, von den Rechten bedroht, diesem Versöhnungsplan zustimmen würde.
Sie waren in der Minderheit. Die ermüdeten Streiker schienen sich gegen die Verführung der Rechten nicht mehr wehren zu können. Die Jungen ließen geschickt kleine Zettel von Hand zu Hand durch die Reihen gehen, auf denen stand: "Gegen jede Versöhnung!" "Mut!"
Aber die vielen, vielen stumpfen Gesichter in der Halle - - diese verzweifelten, resignierten Gesichter machten noch nicht das erste Tausend voll. Die dreitausend Genossen, in den letzten zwei Jahren von der Gewerkschaft geschult und diszipliniert, waren schon zusammengebrochen. Ein Drittel von ihnen boykottierte sogar diese letzte wichtige Versammlung. Von den zuverlässigen führenden tapferen Genossen war niemand zu sehen - sie saßen alle im Gefängnis. "Gegen jede Versöhnung!"
" Organisiert die Befreiung der Zentralleitung!"
Diese Minderheit der jungen Leute wußte, was sie zu tun hatte. Jetzt war dem Gruppenleiterkomitee nicht mehr zu trauen. Die Frauen, die hinten auf der rechten Seite saßen, schwenkten zu den Jungen ein, jetzt, am Abgrund, bewiesen sie eine wunderbare Zähigkeit. "Heraus aus dieser Versammlung, wenn unserer Meinung nicht zugestimmt wird!" schrien Fusa-tjan und Ogin-tjan, wild ihre Köpfe schüttelnd, und standen auf.
Auch unter den Jungen erhoben sich einige und schrien: "Fort mit diesen schamlosen Versöhnungsbedingungen!" In der Halle wurde es lebendig. Von der Seite der Rechten spritzte hohes und verächtliches Lachen auf. Die Frauen erhoben sich empört, um auf diese Provokation zu antworten; bald stimmte einer das Lied von der roten Fahne an, die Polizei schritt ein und verhaftete einige, aber das Lied hörte nicht auf.
Längst war die Eröffnungszeit der Tagung überschritten und noch zeigte sich niemand am Vorstandstisch. Wegen der unversöhnlichen Gegensätze der beiden Richtungen konnte die Vorkonferenz der Gruppenleiter zu keinem Abschluß kommen. "Los, fangt schon an!" Der Lärm im Saal wurde immer größer.
Da sprang ein junger Mann, der seine alte dreckige Mütze in den Nacken geschoben hatte, auf den Vorstandstisch. Von rechts klatschte man.
" Kollegen!"
Mit geröteten Backen schrie der Junge aus voller Lunge. "Wir haben heute drei volle Monate bis aufs Blut gekämpft-." Er keuchte nach jedem Satz wie ein Fisch auf dem Trocknen. "Viele von uns werden im Kerker gequält, viele sind gestorben, viele sind wahnsinnig geworden - -. "
Kunstlos, nur mit der ganzen gesammelten Kraft seines jungen Körpers schlug der Junge jeden Satz wie mit einem Hammer in die Leute hinein. "Aber - diese Opfer haben wir nicht gebracht - um nun diese schamlosen Versöhnungsbedingungen anzunehmen. "
" Jawohl, richtig!" brüllten die Leute, die seine Worte wie Medizin schluckten. Der Junge war nicht berühmt, nicht einmal sehr bekannt unter ihnen, aber seine breiten Schultern sahen so vertrauenerweckend aus, als würde dieser wichtige Moment, in dem er sprach, von diesen breiten Schultern getragen. Der Junge nahm seine Mütze ab und schwenkte sie in der Luft:
" Jetzt holt der Feind zum Todesstreich gegen uns aus - wir müssen ihm das Schwert aus der Faust schlagen oder darunter sterben!" Die Rechten hüllten sich in vorsichtiges Schweigen. Der Junge gab ihrer Stimmung nur neue Nahrung.
" Wir müssen diese Bedingungen ausschlagen, ablehnen und weiterkämpfen!"
Die Linken empfingen den Jungen, als er vom Tisch zurückkam, mit begeistertem Beifall. Aber unter den Rechten flüsterte man sich vorsichtig zu, einer von ihnen stand auf und rief:
" Sofortige Abstimmung über Fortsetzung des Streiks oder Annahme der Bedingungen!"
Am Vorstandstisch erschien jetzt Kindo mit gleichgültigem Gesicht als Vertreter des Gruppenleiterkomitees. Die Stimmung im Saal machte ihn verlegen, er wollte etwas sagen. "Sofort den Beschluß des Komitees!" Die Linken standen auf und rückten näher. Die Rechten drohten mit Abstimmung. Die beiden Richtungen rotteten sich am Vorstandstisch zusammen.
" Das Gruppenleiterkomitee - hat unter Tränen beschlossen - daß wir mit der Annahme der Bedingungen diesen Streik abbrechen - -." Kaum hatte er das gesagt, sprangen die Jungen auf die Tribüne, stießen ihn herunter, unter den Frauen stiegen die hohen schrillen Stimmen hoch - der ganze Saal kochte. "Heraus aus diesem Dreck!" "Heraus aus diesem Saal!" "Die Fahne gehört uns!"
Die Jungen ergriffen die rote Fahne, Leute von den Rechten wollten sie ihnen entreißen. Man rang um die Fahne und ihre Hülle wurde zerrissen.
" Nehmt die Fahne!"
Der Junge, der vorher gesprochen hatte, sprang von der Tribüne herab in den Menschenblock, der um die Fahne rang, er stieß Freund und Feind beiseite, nahm die Fahne und rannte mit ihr aus der Halle. "Heraus! Heraus!"
Die Jungen und Frauen folgten ihm. Draußen stand der Junge, die Fahne im Arm, und schrie: "Schützt die rote Fahne!" "Die rote Fahne!"