1
„Jimmie", sagte Lizzie, „können wir nicht mal ins Kino gehn?"
Jimmie stellte die Untertasse mit heißem Kaffee, die er gerade zum Mund führen wollte, wieder hin und starrte seine Frau an. Er sagte nichts; in dreieinhalb Jahren Ehe hatte er gelernt, dass man nicht immer alles aussprechen muss, was einem in den Sinn kommt. Doch in Gedanken sann er über die Abgründe nach, die zwischen der männlichen und der weiblichen Seele liegen. Dass einer überhaupt wünschen konnte, sich einen Filmstar anzugucken, wie er an Fassaden hochklettert oder unter einem rasenden Expresszug hervor gezerrt wird - an diesem schicksalhaften Tag, diesem größten Wendepunkt der Geschichte!
„Du weißt doch, Lizzie", sagte er geduldig, „ich werde im Opernhaus gebraucht."
„Aber dafür bleibt dir doch noch der ganze Vormittag!" „Ja, schon; aber dauern wird es den ganzen Tag." Da schwieg Lizzie, denn auch sie hatte in dreieinhalb Jahren Ehe viel gelernt. Sie hatte gelernt, dass auf dieser Welt die Frauen von Arbeitern selten alles bekommen, was sie gern haben möchten; und auch, dass einen Propagandisten zum Mann zu haben noch lange nicht das Schlechteste ist, was einem widerfahren kann. Schließlich hätte er ja auch seine Zeit und sein Geld fürs Trinken oder für andere Frauen verschwenden können oder hätte am Husten zugrunde gehen können wie der Mann von nebenan. Wenn man am Sonntagnachmittag auf ein bisschen Vergnügen verzichten musste - nun, dann seufzte man wohl, aber nicht zu laut.
Jimmie begann aufzuzählen, was an diesem Sonntagvormittag und -nachmittag noch alles zu erledigen war. Lizzie
schien es das gleiche zu sein, was immer vor Versammlungen zu erledigen war. Allerdings war diese Versammlung größer - sie fand in der Oper statt, und alle Geschäfte hatten die Ankündigung im Schaufenster ausgehängt mit einem Bild des Kandidaten, der bei dieser Veranstaltung reden würde. Doch es war schwer für Lizzie, einzusehen, dass zwischen diesem und den anderen Kandidaten ein Unterschied bestehen sollte - bisher war noch keiner von ihnen gewählt worden! Lizzie wäre wirklich viel lieber zu Hause geblieben, denn sie verstand das Englische nicht sehr gut, wenn es von der Tribüne herunter dröhnte und wenn so viele lange Wörter darin vorkamen; aber sie wusste, dass Jimmie versuchte, ihr Bildung beizubringen, und da sie eine; Frau war, hatte sie zumindest Bildung genug, um zu wissen, auf welche Weise man seinen Mann festhält. Jimmie hatte gerade eine neue Lösung für das Problem gefunden, wie man die Kinder zu den Versammlungen mitnehmen konnte, und Lizzie wusste, dass er ungeheuer stolz auf seinen Einfall war. Solange erst ein Kind dagewesen war, hatte Jimmie es getragen. Als das zweite dazugekommen war, hatte Lizzie mitgeholfen. Doch jetzt waren es drei, mit einem Gesamtgewicht von über sechzig Pfund, und die Straßenbahn war ziemlich weit entfernt; außerdem fühlte sich Jimmie in seinem Klassenbewusstsein getroffen, wenn er einem räuberischen Unternehmen zwanzig Cent zahlen sollte. Sie hatten es damit probiert, einer Nachbarin etwas dafür zu zahlen, dass sie bei den Kindern blieb; aber die erste, mit der sie es versuchten, war ein junges Ding, das es satt bekam und wegging und die Kleinen sich die Kehle aus dem Hals schreien ließ, und die zweite war eine polnische Dame, die sie bei ihrer Rückkehr sinnlos betrunken vorfanden.
Aber Jimmie war entschlossen, zu den Versammlungen zu gehen, und ebenso entschlossen, Lizzie mitzunehmen. Es sei einer der Flüche des Systems, sagte er, dass es den Frauen aus der Arbeiterklasse jede Möglichkeit nehme, sich weiterzubilden. Daher hatte er dem „Industrieladen", einem Trödelladen, den die Heilsarmee unterhielt, einen Besuch abgestattet und dort für fünfzehn Cent einen wunderbaren breiten Zwillingskinderwagen erstanden, der ganz und gar mit glänzendem schwarzem Lack überzogen war.
Auf der einen Seite war er entzwei, doch Jimmie hatte das mit Draht in Ordnung gebracht und durch sorgfältiges Packen gezeigt, dass es möglich war, die Kinder darin unterzubringen - Jimmie und Pete nebeneinander und das Baby am Fußende.
Die einzige Schwierigkeit bestand darin, dass Jimmie zwei die Füße nicht still halten konnte. Er konnte seine Glieder überhaupt nicht still halten, der kleine Tausendsassa. Hier war er nun, flitzte in der Küche herum und haschte nach dem immer wieder entschlüpfenden Schwanz des letzten Familienzuwachses, eines halbverhungerten Köters, der mit Jimmie von der Straße hereingekommen und inzwischen schon bis zu einem Anflug von Hundeähnlichkeit aufgepäppelt worden war. An diesem Prachtstück baumelte hinten in aufreizender Manier ein nackter, runder Schwanz; Jimmie zwei, immer im Glauben, er könnte ihn fangen, trabte Runde auf Runde um den Küchentisch, vor sich greifend und lachend, so dass er sich nach einiger Zeit vor purer Erschöpfung setzen musste.
Jimmie eins sah ihm hingerissen zu. War das ein Schlingel! Hatte man schon mal ein Kerlchen von zweieinviertel Jahren gesehen, das so sicher auf den Beinen war wie das hier? Oder lauter brüllen konnte? Dieses, weil Jimmie zwei eine Abkürzung unter dem Küchenherd hindurch versucht hatte, was ihm jedoch misslungen war. Lizzie stürzte sich über ihn, drückte ihn an ihren üppigen Busen und überschüttete ihn mit einem Schwall von Trostworten auf tschechisch. Da Jimmie eins kein Wort davon verstand, nutzte er die allgemeine Verwirrung aus, um Mantel und Mütze zu holen und voll frischer Entschlossenheit zum Opernhaus zu eilen. Denn man muss wissen, sooft ein Sozialist seinen Sohn ansieht oder auch nur an ihn denkt, umso dringlicher erscheint ihm seine Tätigkeit als Propagandist. Möge die Welt bald verändert werden, damit den kleinen Bürschchen die Leiden und Demütigungen erspart bleiben, die den Eltern zuteil geworden sind!
2
„Genosse Higgins, hast du mal einen Hammer?" Der das fragte, war Genosse Schneider, und er machte sich nicht einmal die Mühe, von der Leiter herunterzusteigen, wo er eine Wimpelgirlande hielt, sondern er wartete gemütlich, dass ihm der Hammer gebracht würde. Und kaum hatte der Bringer die Leiter erklommen, als eine Frauenstimme von der Bühne her rief: „Genosse Higgins, ist das Ypselbanner (Anm.: „Ypsel" ist entstanden aus YPSL, der Abkürzung für Young People's Socialist League (= Jungsozialistenverband).) inzwischen gekommen?" Und hinten vom Parkett her drang die volltönende Stimme des dicken Genossen Rapinsky: „Genosse Higgins, bringst du mal bitte einen Tisch für die Literatur her?" Und von der Loge im zweiten Rang rief Genossin Mary Allen: „Da du doch gerade unten bist, Genosse Higgins: Würdest du wohl telefonieren und dafür sorgen, dass das Empfangskomitee die Änderung der Zugankunft erfährt?"
So ging es in einem fort, und Jimmie rannte schwitzend und mit rotem Gesicht in dem großen Saal umher; denn es war Hochsommer, und kein Luftzug drang durch die Fenster der Leesviller Oper, und wenn man hoch oben an der Wand stand, um die Girlanden mit den roten Wimpeln zu befestigen, fühlte man sich wie im Backofen. Doch die Girlanden mussten nun einmal befestigt werden, ebenso wie die große rote Fahne über der Bühne und das Banner des Karl-Marx-Vereins und das Banner der „Ypsels", das heißt des Jungsozialistenverbandes von Leesville, und das Banner der Maschinenarbeitergewerkschaft, Ortsgruppe 4717, und der Zimmermannsgewerkschaft, Bezirk 529, und des Arbeiterkonsumvereins. Und weil Genosse Higgins niemandem das Recht absprach, ihm Befehle zu erteilen, sondern immer alles freundlich lächelnd erledigte, hatten sich die Leute angewöhnt, in ihm genau den richtigen Mann für langweilige und unangenehme Aufgaben zu sehen. Im Augenblick hatte er noch mehr als sonst um die Ohren, weil die Mitglieder dieser sonst recht gut funktionierenden Ortsgruppe halb von Sinnen waren, wie ein Ameisenhaufen, den man mit einer Schaufel aufgescheucht hat. Auch die Zuverlässigsten zeigten einen Hang, zu vergessen, was
sie gerade vorhatten, und standen in Gruppen herum, um die Nachrichten zu erörtern, die über den Draht gekommen und in der Morgenzeitung veröffentlicht worden waren. Jimmie Higgins hätte gern gehört, was die anderen zu sagen wussten; aber irgend jemand musste ja bei der Arbeit aushalten, denn die Ortsgruppe stand mit fast dreihundert Dollar in der Kreide wegen des heutigen Abends, der deshalb ein Erfolg werden musste, selbst wenn die halbe zivilisierte Welt plötzlich aus den Fugen ging. So kletterte Jimmie weiter auf Trittleitern und machte Wimpel fest. Als es Zeit zum Mittagessen wurde und die Mitglieder des Ausschmückungskomitees fortgingen, fiel es plötzlich einem von ihnen ein, dass der Rollkutscher, der die Literatur bringen sollte, kommen könnte, wenn niemand da war, um sie entgegenzunehmen. So durfte denn Genosse Higgins während der Mittagspause dableiben. Es gab eine plausible Begründung - er gehörte dem Literaturkomitee an; überhaupt gehörte er jedem Komitee an, das mit harter Arbeit verbunden war - dem Komitee, das die Flugblätter zur Ankündigung der Versammlung zu verteilen hatte, dem Komitee, das die Arbeitergewerkschaften aufsuchen und sie bitten sollte, Eintrittskarten zu verkaufen, dem Komitee, das auf der Versammlung Geld sammeln sollte. Dagegen gehörte er den Komitees, die mit Ehre und Erbauung verbunden waren, wie zum Beispiel dem Komitee, das den Kandidaten am Bahnhof empfangen und zur Oper geleiten sollte, nicht an. Aber Jimmie wäre auch nie auf den Gedanken gekommen, dass er in solch einem Komitee etwas zu suchen haben könnte; denn er war doch bloß ein ungebildeter Mensch, ein Maschinenarbeiter, zu klein geraten und unterernährt, mit schlechten Zähnen und rauen Händen und ohne Gaben oder Fähigkeiten, die ihn hätten anziehend machen können; während dem Empfangskomitee ein Rechtsanwalt und ein wohlhabender Arzt und der Sekretär der Teppichwebergewerkschaft angehörten: alles Leute, die gute Kleidung trugen, Bildung besaßen und wussten, wie man mit einem Kandidaten reden muss. Jimmie wartete also, und als der Rollkutscher kam, packte et die Bücher und Broschüren aus, baute sie in ordentlichen Stapeln auf den Büchertischen auf und hängte ein paar von den zugkräftigsten hinter den Tischen an die Wand. Natürlich war Genossin Mabel Smith, die Vorsitzende des Literaturkomitees, darüber hoch erfreut, als sie vom Mittagessen zurückkam. Dann erschienen die Mitglieder des Deutschen Liederkranzes, um ihr geplantes Programm zu proben, und Genosse Higgins hätte sich am liebsten hingesetzt und zugehört, aber irgend jemand stellte fest, dass noch Leim gebraucht wurde, und so jagte er los, um einen Drugstore zu finden, der am Sonntag geöffnet war. Später wurde es ruhiger, und Jimmie merkte jetzt, dass er Hunger hatte. Er kramte seine Taschen aus und fand darin siebzehn Cent. Bis nach Hause war es weit; deshalb wollte er um die Ecke bei „Tom" eine Tasse Kaffee und ein paar Krapfen zu sich nehmen. Doch gewissenhaft fragte er erst, ob noch jemand etwas brauche, worauf Genossin Mabel Smith ihn bat, sich sehr zu beeilen, damit er ihr helfen könne, die Flugblätter auf den Plätzen zu verteilen, und auch Genosse Meissner würde Hilfe brauchen beim Aufstellen der Stühle auf der Bühne.
3
Wenn man in Leesville vom Opernhaus aus nach Westen in die Hauptstraße einbog, kam man zuerst am „Cafe Heinz" vorbei, einem eleganten Speiserestaurant, das nichts für Jimmie war; dann am „Bijou-Nickelodeon" mit einem elektrischen Klavier im Eingang und am „Preiswerten Schuhladen", der ständig Sonderverkäufe auf Grund von Konkursen, Bränden oder Umzügen anbot; danach an Lipskys „Filmpalast" mit einem braun-gelben Cowboy, der mit einem rot-gelben Mädchen auf den Armen davongaloppierte; dann an „Harrods Feinkostladen" an der Ecke. Und überall war im Fenster ein Aushang mit dem Bild des Kandidaten und der Ankündigung, dass er am Sonntagabend um acht Uhr in Leesville in der Oper über das Thema „Der Krieg - Ursachen und Abhilfe" reden würde. Jimmie Higgins sah die Aushänge, und ein würdevoller, doch freudiger Stolz erfüllte seine Brust; denn sie alle prangten dort, weil er, Jimmie, mit den Besitzern gesprochen und ihre mehr oder minder widerwillige Zustimmung erhalten hatte. Jimmie wusste, dass sich an diesem Sonntag überall in
Deutschland, Österreich, Belgien, Frankreich und England die Arbeiter in den Städten zu Millionen und aber Millionen versammelten, um dagegen zu protestieren, dass der rote Schrecken des Krieges über ihren Häuptern losgelassen wurde. Und auch in Amerika - ein Ruf aus der Neuen Welt würde hinüberschallen zur Alten, dass die Arbeiter sich erheben und ihren Schwur wahr machen sollten, dieses Verbrechen gegen die Menschheit zu verhindern. Er, Jimmie Higgins, besaß keine Stimme, die irgend jemand beachtet hätte; doch er hatte mitgeholfen, die Leute in seiner Stadt zusammenzubringen, damit sie einem Mann zuhörten, der eine Stimme hatte und der den Werktätigen die Bedeutung dieser Weltkrise klarmachen würde.
Es war der Präsidentschaftskandidat der Partei. Zurzeit standen nur Wahlen zum Kongress bevor, aber dieser Mann hatte schon so oft für die Präsidentschaft kandidiert, dass jeder ihn in dieser Rolle sah. Man konnte sagen, dass bei ihm jede Wahlkampagne vier Jahre dauerte; er bereiste das Land von einem Ende zum anderen und zählte die Hörer seiner brennenden, bitteren Botschaft nach Millionen. Der Zufall
hatte es gefügt, dass der Tag, den die Kriegsherren und Geldleute Europas dafür ausgewählt hatten, ihre Sklaven zur Schlachtbank zu treiben, auch der Tag war, an dem der Kandidat laut Plan im Opernhaus von Leesville sprechen sollte. Kein Wunder, dass die Sozialisten der kleinen binnenländischen Stadt aufgeregt waren! Jimmie Higgins betrat „Toms Imbissstube", grüßte den Besitzer, setzte sich auf einen Hocker an der Theke, bestellte Kaffee und bediente sich mit Krapfen - man hätte sie „Rettungsringe" nennen sollen, so voller Luft waren sie. Er stopfte sich den Mund voll und blickte dabei auf, um sich zu vergewissern, dass Tom den Aushang, der die Versammlung ankündigte, nicht weggenommen hatte; Tom war nämlich Katholik, und einer der Gründe, weswegen Jimmie hierherging, war, dass er mit ihm und seinen Stammkunden über Ausbeutung unverdienten Wertzuwachs und Mehrwert diskutieren wollte.
Doch ehe es überhaupt zu einem Gespräch kommen konnte, warf Jimmie zufällig einen Blick in die Runde. Im hinteren Teil der Imbissstube standen vier kleine Tische mit Wachstuchdecken, wo man einen Schnellimbiss einnehmen konnte, und an einem dieser Tische saß ein Mann. Jimmie warf einen flüchtigen Blick auf ihn und fuhr derart zusammen, dass er beinahe seinen Kaffee verschüttet hätte. Unmöglich - und doch - natürlich - wer konnte dieses Gesicht verkennen? Das Gesicht eines mittelalterlichen Kirchenmannes, hager, asketisch, doch mit einem neuzeitlichen Zug von Freundlichkeit, und darüber eine Glatze wie ein Mond, der über der Prärie aufsteigt. Jimmie fuhr zusammen und starrte dann das Bild des Kandidaten an, das über dem Regal mit Backwaren thronte. Er wandte sich wieder zu dem Mann um, und der Mann blickte auf, und seine Augen begegneten Jimmies Augen, in denen Erstaunen und Ehrfurcht lagen. Die ganze Geschichte stand ihm im Gesicht geschrieben - unmissverständlich, besonders für einen Kandidaten, der im Lande herumreiste und Reden hielt und dabei alle Augenblicke erkannt wurde an seinen Fotos, die ihm vorausgeeilt waren. Ein Lächeln trat auf sein Gesicht, und Jimmie setzte die Kaffeetasse aus der einen zitternden Hand, legte den Krapfen aus der anderen und erhob sich von seinem Hocker.
4
Jimmie hätte nicht gewagt, sich dem anderen zu nähern, wenn nicht dessen Lächeln gewesen wäre - ein Lächeln, das zwar müde, aber doch offen und einladend war. „Grüß dich, Genosse!" sagte der Mann. Er hielt ihm die Hand hin, und in seinem ganzen Leben war Jimmie noch nie dem Himmelreich so nahe gewesen wie im Augenblick dieses Händedrucks.
Als ihm die Stimme wieder gehorchte, brachte er nur heraus: „D-du solltest doch erst fünf Uhr zweiundvierzig ankommen!"
Als ob der Kandidat das nicht selbst gewusst hätte! Er erklärte, dass er die Nacht zuvor nicht zum Schlafen gekommen und darum eher gefahren sei, um wenigstens tagsüber noch ein Nickerchen zu machen.
„Ach so", sagte Jimmie und dann: „Ich hab dich an deinem Bild erkannt."
„Ja?" sagte der andere geduldig.
Und Jimmie kramte in seinem verstörten Kopf nach etwas, was sich wirklich zu sagen lohnte. „Du willst sicher das Komitee sprechen?"
„Nein", sagte der andere, „erst will ich mal hiermit fertig sein." Und er nahm einen Schluck Milch aus seinem Glas und biss in sein Sandwich und kaute. Jimmie war derart aus der Fassung geraten, dass er wie ein Blödian dasaß und nicht wusste, was er sagen sollte, während der Mann seine Mahlzeit beendete. Als er fertig war, sagte Jimmie noch einmal - zu mehr war er nicht fähig: „Sicher willst du jetzt das Komitee sprechen?" „Nein", lautete die Antwort, „ich will nur hier sitzen - und vielleicht mit dir reden, Genosse - Genosse ...?" „Higgins", sagte Jimmie.
„Genosse Higgins - das heißt, wenn du Zeit hast."
„Aber sicher!" rief Jimmie. „Ich hab massenhaft Zeit. Aber
das Komitee ..."
„Lass nur das Komitee, Genosse. Weißt du, wie viel Komitees ich auf dieser Reise kennengelernt habe?" Jimmie wusste es nicht und getraute sich auch nicht zu fragen.
„Wahrscheinlich hast du nie darüber nachgedacht, was es heißt, Kandidat zu sein", fuhr der andere fort. „Man reist von Ort zu Ort und hält jeden Abend dieselbe Rede, und es kommt einem so vor, als ob man jede Nacht im selben Hotel schliefe, und auch fast so, als ob man mit demselben Komitee zusammenträfe. Aber man darf nicht vergessen, dass die Rede, die man hält, für jeden Zuhörerkreis neu ist, und man muss sie so halten, als hielte man sie das erste Mal; außerdem darf man nicht vergessen, dass das Komitee aus treuen Genossen besteht, die für die gute Sache alles geben; also sagt man ihnen nicht, dass das eine Komitee genau wie das andere ist oder dass man todmüde ist oder vielleicht Kopfschmerzen hat.."
Jimmie saß da und staunte in ehrfurchtsvollem Schweigen. Da er kein belesener Mann war, hatte er nie etwas gehört von dem „Haupt, das eine Krone drückt". Dies war sein erster Blick hinter die Kulissen der Berühmtheit. Der Kandidat fuhr fort: „Und außerdem, Genosse, sind da die Nachrichten aus Europa. Ich brauche ein bisschen Zeit. Ich muss das alles erst verarbeiten!"
Seine Stimme klang jetzt düster, und Jimmie, der ihn anstarrte, kam es vor, als lägen in den müden Augen alle Sorgen der Welt. „Na, dann geh ich wohl besser", sagte er. „Nein, nein", entgegnete der andere, schnell wieder gefasst Er blickte auf und bemerkte, dass Jimmie sein Essen stehen gelassen hatte. „Bring doch dein Essen her", sagte er; worauf Jimmie seine Tasse und seinen Teller holte und seine restlichen Krapfen unter den Augen des Kandidaten verschlang.
„Ich dürfte eigentlich gar nicht reden", sagte dieser. „Du merkst ja, wie heiser ich bin. Aber rede du. Erzähl mir von der Ortsgruppe und wie die Dinge hier so laufen." Jimmie raffte allen Mut zusammen. Es war das einzige Thema, über das er wirklich reden konnte, das einzige, von dem ihm Herz und Seele voll waren. Leesville war eine typische kleine Industriestadt, mit einer Flaschenfabrik, einer Brauerei, einer Teppichweberei und den großen Empire Machine Shops, in denen Jimmie selbst dreiundsechzig Stunden jeder Woche seines Lebens zubrachte. Die Arbeiter waren natürlich noch nicht wach geworden; aber man konnte nicht klagen, die Bewegung wuchs an. Die Ortsgruppe zählte stolze hundertzwanzig Mitglieder, wenn natürlich auch nur an die dreißig von ihnen aktiv mitarbeiteten. Das sei überall so, warf der Kandidat ein - es waren immer nur wenige, die das Opfer brachten und die Sache am Leben erhielten.
Dann erzählte Jimmie von der Versammlung des heutigen Abends, von den Vorbereitungen, die sie getroffen hatten, und den Schwierigkeiten, die sie gehabt hatten. Die Polizei hatte plötzlich beschlossen, das gesetzliche Verbot von Postwurfsendungen durchzusetzen, obwohl sie dem „Kaufhof" von Isaac diese Informationsmethode gestattet hatte. Der Leesviller „Herald" und der „Abendkurier" stimmten der Polizeiaktion begeistert zu. Wenn man nämlich keine Postwurfsendungen in Umlauf bringen durfte, musste man ja offensichtlich in diesen Zeitungen inserieren. Der Kandidat lächelte - er kannte die amerikanischen Polizeibeamten, und er kannte auch den amerikanischen Journalismus.
Jimmie hatte ein paar Tage Feierschichten machen müssen im Werk und erzählte, wie gut er diese Zeit genutzt hatte,
indem er in den Geschäften Aushänge über die Versammlung hatte anbringen lassen. In einem Immobilienbüro gerade über der Straße war ein alter Schotte. „Verschwinde!" hatte der gesagt. „Da hielt ich es für besser zu verschwinden!" sagte Jimmie. Und dann hatte er sein Herz in beide Hände genommen und war in die First National Bank gegangen. Dort war gerade ein Herr über den Flur gekommen, und Jimmie war an ihn herangetreten und hatte ihm ein Plakat mit dem Bild des Kandidaten hingehalten. „Würden Sie so gut sein und das ins Fenster stellen?" hatte er gefragt, und der andere hatte es sich gelassen angesehen. Dann hatte er gelächelt - er war offenbar ein anständiger Kerl. „Ich glaube nicht, dass meine Kunden Ihr Unternehmen fördern würden", hatte er gesagt; doch Jimmie hatte ihn angehauen, ob er nicht Eintrittskarten nehmen und sich über den Sozialismus informieren wolle - und es war kaum zu glauben, er hatte doch tatsächlich einen Dollar herausgerückt! „Hinterher erfuhr ich dann, dass es Ashton Chalmers gewesen war, der Präsident der Bank!" sagte Jimmie. „Da hätt ich aber einen ganz schönen Schreck gekriegt, wenn ich das gewusst hätte."
Er hatte nicht vorgehabt, über sich zu reden; er wollte nur einen übermüdeten Kandidaten unterhalten, wollte verhindern, dass er ins Grübeln geriet über eine Welt, die in den Krieg zog. Aber der Kandidat merkte beim Zuhören, dass sich ihm Tränen in die Augen stehlen wollten. Er betrachtete die Gestalt vor sich - ein gebeugter, unterernährter kleiner Mann, dem die eine Schulter tiefer hing als die andere, der den struppigen braunen Schnurrbart voll Kaffeespuren hatte, der schwarze Zahnstümpfe und abgearbeitete Hände hatte, in die Schmutz und Schmieröl so tief eingedrungen waren, dass Waschen die reinste Zeitverschwendung gewesen wäre. Seine Kleidung war abgetragen und saß schlecht, sein Zelluloidkragen war gebrochen und sein Schlips fast ein Fetzen. Nach einem solchen Mann hätte sich niemand auf der Straße umgedreht - und doch sah der Kandidat in ihm einen von jenen unbekannten Helden, die eine Bewegung ausmachen, die die Welt verändern soll.
5
„Genosse Higgins", sagte der Kandidat nach einem Weilchen, „wir beide sollten einfach ausreißen." Jimmie guckte verblüfft. „Was?"
„Ich meine: vor dem Komitee, vor der Versammlung, einfach vor allem." Dann, als er die Bestürzung auf dem Gesicht des anderen sah: „Ich meine, wir sollten einen Spaziergang raus aufs Land machen." „Ach so!" sagte Jimmie.
„Ich sehe das Land zwar durch die Abteilfenster der Eisenbahn, aber ich komme monatelang nicht mit ihm in Berührung. Dabei bin ich auf dem Lande aufgewachsen. Da auch?"
„Ich bin hier und da aufgewachsen", sagte der kleine Maschinenarbeiter.
Sie standen auf und zahlten jeder seine zehn Cent an den Wirt der Imbissstube. Jimmie konnte der Versuchung nicht widerstehen, seinen Helden vorzustellen und einem frommen Katholiken zu zeigen, dass ein sozialistischer Kandidat weder Hufe noch Hörner hat. Der Kandidat war es gewohnt, zu diesem Zweck vorgestellt zu werden, und fand gewisse spontane, herzliche Worte, die er schon mindestens zehntausendmal vorher gesagt hatte, mit dem Ergebnis, dass der fromme Katholik versprach, am Abend zu der Versammlung zu kommen.
Sie traten hinaus, und weil auf der Hauptstraße vielleicht irgendein Komiteemitglied vorbeikommen konnte, führte Jimmie seinen Helden durch eine schmale Gasse in eine Nebenstraße. Sie gingen an der Glasfabrik vorbei, die für den Nichteingeweihten nur ein langer Bretterzaun war, überquerten die Schienenstränge der Atlantic-Western-Eisenbahn und kamen an der Teppichweberei vorbei, einem riesigen vierstöckigen Ziegelkasten. Danach lichteten sich die Reihen von Bretterbuden, es kamen freie Parzellen und Aschehaufen und schließlich Farmen. Des Kandidaten Beine waren lang und Jimmies leider kurz, und so musste er fast rennen. Die Sonne brannte auf sie nieder, und Schweißtropfen von der Glatze des Kandidaten stahlen sich unter dem Band seines Strohhuts hervor und rannen in seinen aufweichenden Kragen; darum zog er
seine Jacke aus, hängte sie sich über den Arm und schritt weiter aus, schneller denn je. Jimmie hetzte neben ihm her und scheute sich, etwas zu sagen, denn er ahnte, dass der
Kandidat über die Weltkatastrophe nachgrübelte, über die Millionen junger Männer, die zur Schlachtbank marschierten. Auf den Plakaten, die Jimmie in Leesville verteilt hatte, standen zwei Zeilen über den Kandidaten, geschrieben von Amerikas Lieblingsdichter:
Ein wärmres Herze findst du nicht, Und suchst du bis zum Weltgericht.
So gingen sie vielleicht eine Stunde und waren mittlerweile wirklich auf dem Lande. Sie kamen zu einer Brücke über den Lee, und dort blieb der Kandidat plötzlich stehen, blickte auf das Wasser, das unter ihm dahinglitt, und auf die Landschaft, durch die es sich schlängelte, eine Allee grüner Bäume mit Strecken von Weideland und grasenden Kühen. „Das sieht hübsch aus", sagte er. „Gehn wir doch mal hinunter." So kletterten sie über einen Zaun und wanderten eine Weile am Wasser entlang, bis eine Flusswindung sie
außer Sichtweite der Straße führte. Dort setzten sie sich auf eine Uferböschung, wischten sich den Schweiß von Stirn und Nacken und blickten in die sich kräuselnde Strömung. Man konnte das Wasser nicht gerade kristallklar nennen, denn wenn an einem Fluss so ungefähr alle zehn Meilen eine Stadt liegt mit Fabriken, die alle möglichen Chemikalien in ihn leiten, dann wird die Arbeit zu viel für die Erneuerungskräfte von Mutter Natur. Aber das müsste schon ein sehr schmutziger Strom sein, der im Hochsommer nach einem Spaziergang von vier Meilen nicht einladend aussehen sollte. So wandte sich der Kandidat plötzlich mit spitzbübischer Miene an Jimmie: „Genosse Higgins, hast du schon mal in einem Wasserloch gebadet?" „Klar hab ich das!" sagte Jimmie. „Wo denn?"
„Überall. Ich war zehn Jahre lang immer mal wieder auf der Walze - bis ich geheiratet habe."
„Na denn", sagte der Kandidat, immer noch lächelnd, „was meinst du?"
„Was ich meine? Klar, meine ich!" erwiderte Jimmie.
Er war fast außer sich vor Ehrfurcht über diesen unglaublichen Glückszufall, diese echte Kameradschaft mit dem Helden seiner Träume. Für Jimmie war dieser Mann eine körperlose Intelligenz gewesen, ein Spender proletarischer Ideen, ein übernatürliches Wesen, das im Lande herumzog, auf Tribünen stand und die Herzen der Massen mitriss. Es war Jimmie niemals der Gedanke gekommen, dass er einen nackten Körper haben könnte, dass er Freude daran haben könnte, im kalten Wasser herumzuplanschen wie ein Junge, der die Schule schwänzt. Wie es heißt, erzeugt Vertraulichkeit Geringschätzung, bei Jimmie aber erzeugte sie Begeisterung.
6
Etwas langsamer als zuvor gingen sie wieder heimwärts. Der Kandidat fragte Jimmie nach seinem Leben, und Jimmie erzählte die Geschichte eines Sozialisten - nicht die eines der führenden Köpfe, eines „Intellektuellen", sondern die eines Sozialisten aus „Reih und Glied". Jimmies Vater war ein erwerbsloser Arbeiter, der seine Familie verlassen hatte, ehe noch Jimmie sich dazugesellte; Jimmies Mutter war drei Jahre später gestorben, so dass er sich weder an sie erinnern noch sich auf ein Wort der fremden Sprache besinnen konnte, die er zu Hause gesprochen hatte, noch auch nur wusste, welche Sprache es gewesen war. Die Stadt hatte ihn in ihre Obhut genommen und zu einer Negerin in Pflege gegeben, die acht elende Kümmerlinge zu versorgen hatte; sie fütterte sie mit Haferschleim und Wasser und gab ihnen im Winter nicht einmal eine Bettdecke. Man sollte es nicht für möglich halten . . . „Ich kenne Amerika", warf der Kandidat ein. Jimmie fuhr fort. Mit neun war er zu einem Sägewerker gegeben worden, der ihn täglich sechzehn Stunden arbeiten ließ und ihn obendrein schlug; darum war Jimmie durchgebrannt und hatte zehn Jahre lang das Leben eines verwahrlosten Kindes in den Städten und das eines Landstreichers auf der Wanderschaft geführt. Bei der Aushilfe in einer Garage hatte er ein bisschen was über Maschinen aufgeschnappt und dann während einer Hochkonjunktur Arbeit bei den Empire Machine Shops gefunden. In Leesville war er geblieben, weil er geheiratet hatte; seine Frau hätte er in einem Bordell kennengelernt; sie hatte das Leben dort aufgeben wollen, und sie hatten es miteinander versucht.
„Ich erzähle das nicht jedem", sagte Jimmie. „Weißt du -man würde es vielleicht nicht verstehen. Aber du kannst es ruhig wissen."
„Danke", erwiderte der Kandidat und legte seine Hand auf Jimmies Schulter. „Erzähl mir, wie du Sozialist geworden bist."
Da war nichts Besonderes dabei, lautete die Antwort. Es war da einer im Werk gewesen, der hatte immer „das Maul aufgerissen"; Jimmie hatte über ihn gelacht - denn sein Leben hatte ihn misstrauisch gegen alle werden lassen, und wenn einer in Politik machen wollte, dann hatte der sich nur wieder einen Dreh ausgedacht, damit er einen weißen Kragen tragen und auf Kosten der Arbeiter leben konnte. Doch dieser Kerl hatte nicht lockergelassen, und einmal hatte Jimmie für mehrere Monate Feierschichten einlegen müssen, und die Familie war fast verhungert, und da hatte er Zeit gehabt zum Nachdenken und auch die Lust dazu. Der Kerl war mit ein paar Broschüren vorbeigekommen, und Jimmie hatte sie gelesen, und es hatte ihm gedämmert, dass es hier eine Bewegung seiner Arbeitskameraden gab, die ihren Nöten ein Ende machen konnte.
„Wie lange ist das her?" fragte der Kandidat, und Jimmie antwortete: drei Jahre. „Und deine Begeisterung hat sich noch immer nicht gelegt?" Dies mit einer Spannung, die Jimmie überraschte. Nein, antwortete er, so einer wäre er nicht. Mochte kommen, was wollte, er würde weiter sein Teil dazu beitragen, die Arbeiter zu befreien. Vielleicht würde er selbst den neuen Tag nicht mehr erleben, wohl aber seine Kinder, und der Mensch arbeitete nun mal wie der Teufel, um seine Kinder zu retten. Sie kamen wieder in die Stadt, und der Kandidat drückte Jimmies Arm. „Genosse", sagte er, „ich möchte dir sagen, wie gut mir dieser kleine Ausflug getan hat. Ich schulde dir viel Dank." „Mir?" rief Jimmie.
„Du hast mir neue Hoffnung und neuen Mut gegeben, und
das zu einem Zeitpunkt, als ich mich geschlagen fühlte. traf heute Morgen in der Stadt ein und war nicht zum Schlafen gekommen und versuchte, das im Hotel nachzuholen, konnte es aber nicht, wegen des Entsetzlichen, was da jetzt vor sich geht. Ich schrieb ein Dutzend Telegramme, schickte sie ab und hatte Angst, ins Hotelzimmer zurückzukehren, weil ich wusste, dass ich doch nur den ganzen Nachmittag wach liegen würde. Aber jetzt - jetzt weiß ich wieder, dass unsere Bewegung ihre Wurzeln in den Herzen der Menschen hat!"
Jimmie zitterte. Doch er konnte nichts weiter herausbringen als: „Ich wollte, ich könnte jeden Sonntag so was machen."
„Ich auch", sagte der Kandidat.
7
Sie gingen die Hauptstraße hinunter und sahen weiter vorn einen Menschenauflauf vom Bürgersteig bis über die Bordschwelle hinaus. „Was ist denn das?" fragte der Kandidat, und Jimmie antwortete, dort sei das Büro des „Herald". Es mussten Meldungen eingetroffen sein. Der andere beschleunigte seinen Gang, und Jimmie, der sich mit langen Schritten neben ihm hielt, verstummte wieder, weil er wusste, dass nun erneut die gigantische Last und Qual der Welt die Schultern seines Helden drückte. Sie kamen an den Rand der Menschenmenge und sahen vor dem Zeitungsbüro eine Meldung angeschlagen. Aber sie standen zu weit weg, als dass sie sie hätten lesen können. „Was gibt's?" fragten sie.
„Da steht, die Deutschen wollen in Belgien einmarschieren. Und sie haben eine Menge Sozialisten in Deutschland erschossen."
„Was?" Und die Hand des Kandidaten packte Jimmies Arm.
„So steht es jedenfalls da."
„Mein Gott!" rief der Mann. Er begann sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, mit Jimmie in seinem Kielwasser. Sie drangen bis zu dem Bulletin vor und standen davor und lasen die Maschine geschriebenen Worte - eine dürre
Bekanntmachung, dass über hundert führende deutsche Sozialisten hingerichtet worden seien wegen ihrer Bestrebungen, die Mobilisierung zu verhindern. Sie standen und starrten, bis Leute, die von hinten schoben, sie abdrängten. Dann standen sie außerhalb der Menge; der Kandidat starrte ins Leere, und Jimmie starrte auf den Kandidaten, beide stumm. Tatsächlich hätten sie auch nicht verstörter sein können, wenn die Meldung sich auf Mitglieder der Ortsgruppe Leesville der Sozialistischen Partei Amerikas bezogen hätte.
Der Schmerz war dem Kandidaten so deutlich vom Gesicht abzulesen, dass Jimmie sich den Kopf zerbrach, was er ihm Tröstliches sagen konnte. „Wenigstens haben sie getan, was sie konnten", flüsterte er.
Der andere brach plötzlich los: „Sie sind Helden! Sie haben den Namen Sozialist für immer geheiligt!" Er donnerte weiter, als ob er eine Rede hielte - so stark wird eine lebenslange Gewohnheit. „Sie haben ihre Namen zuoberst auf die Ehrentafel der Menschheit geschrieben! Gleichgültig, was danach geschieht, Genosse - die Bewegung hat sich behauptet. Wegen dieser Begebenheit wird sich die ganze Zukunft ändern!"
Er begann die Straße hinunterzugehen und redete dabei mehr zu sich als zu Jimmie. Er wurde von den Schwingen seiner Vision davongetragen, und sein Begleiter war so gepackt, dass er ernstlich nicht wusste, wo er war. Hinterher, in der Erinnerung, blieb diese Episode das wunderbarste Ereignis seines Lebens; er erzählte die Geschichte früher oder später jedem Sozialisten, dem er begegnete. Unvermittelt blieb der Kandidat stehen. „Genosse", sagte er, „ich muss zurück ins Hotel. Ich möchte ein paar Telegramme schreiben. Erkläre du das bitte dem Komitee - ich möchte lieber niemand sehen, bis es Zeit ist für die Versammlung. Den Weg finde ich alleine."
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In der Oper waren Genossin Mabel Smith, Genosse Meissner, der Sekretär der Ypsels, Genosse Goldstein, und die drei Mitglieder des Empfangskomitees versammelt: der hoffnungsvolle junge Rechtsanwalt Genosse Norwood, Genosse Dr. Service und Genosse Schultze von der Teppichwebergewerkschaft. Auf sie stürzte Jimmie atemlos zu. „Habt ihr schon das Neueste gehört?" „Was denn?"
„Hundert Sozialistenführer in Deutschland erschossen!" „Herrgott!" rief Genosse Schultze entsetzt, und alle drehten sich instinktiv nach ihm um, denn sie wussten, wie nahe ihm das gehen musste - er hatte einen Bruder in Leipzig, der ein sozialistischer Redakteur war und dem die Einberufung drohte.
„Wo hast du das her?" rief Schultze, und Jimmie erzählte, was er wusste. Und da brach der Tumult los! Die anderen wurden aus dem hinteren Teil des Saales herbeigerufen, kamen angerannt, und es gab Fragen und Ausrufe der Bestürzung. Auch hier war es so, als ob das Verbrechen an der Ortsgruppe Leesville begangen worden wäre - so vollständig eins fühlten sie sich mit den Opfern. In einer Stadt mit einer Brauerei gab es selbstverständlich eine Menge deutsche Arbeiter; aber auch wenn es die nicht gegeben hätte, wären die Gefühle doch die gleichen gewesen, denn die Sozialisten der Welt sind eins, die Seele der Bewegung ist ihr Internationalismus. Der Kandidat hatte, als er erfuhr, dass Jimmie Sozialist war, keine weiteren Empfehlungen erbeten oder erhalten, sondern war sofort sein Freund geworden, und genauso wäre es mit einem Genossen aus Deutschland, Japan oder dem innersten Afrika gewesen -er hätte keine zwei Worte Englisch zu können brauchen, das eine Wort „Sozialist" hätte genügt. Es dauerte lange, bis sie an etwas anderes denken konnten; doch schließlich wies jemand auf das Problem hin, das sich für die Ortsgruppe ergeben hatte - der Kandidat war nicht erschienen, Da rief Jimmie: „Aber er ist doch hier!" Und sofort drehten sich alle nach ihm um. „Wo denn? Seit wann denn? Wieso denn?" „Er ist heute Morgen angekommen."
„Und warum hast du uns das nicht mitgeteilt?" Das fragte Genosse Dr. Service vom Empfangskomitee, und zwar mit entschiedener Schärfe im Ton.
„Er wollte nicht, dass es jemand erfuhr", sagte Jimmie. „Wollte er, dass wir an die Bahn gehen und glauben, er hätte uns versetzt?"
Tatsächlich, es war schon nach der Zugankunft! Jimmie hatte sowohl den Zug wie auch das Komitee völlig vergessen, und nun hatte er nicht das Geschick, seinen Fehler zu vertuschen. Ihm fiel weiter nichts ein, als seine Geschichte zu erzählen - wie er am Nachmittag mit dem Kandidaten einen Spaziergang über Land gemacht hatte, wie sie schwimmen gegangen waren und wie sie auf der Tafel die Meldung gelesen hatten und wie der Kandidat reagiert hatte und was er gesagt hatte. Der gute Jimmie zweifelte nicht daran, dass seine Begeisterung von allen anderen geteilt wurde, und als bei der nächsten regulären Versammlung der Ortsgruppe der Genosse Dr. Service einen Vorschlag verriss, den Jimmie zu machen wagte, hatte der kleine Maschinenarbeiter nicht die geringste Ahnung, womit er sich den Rüffel verdient haben könnte. Es fehlte ihm die Weltklugheit; er begriff nicht, dass ein wohlhabender Arzt, der aus purer Menschenfreundlichkeit zur Bewegung stößt und zum unzweifelhaften Nachteil seiner gesellschaftlichen und geschäftlichen Interessen sein Ansehen und sein Vermögen dafür einsetzt, immerhin eine gewisse Rücksichtnahme von Seiten der Jimmie Higginse und sogar auch von Seiten eines Kandidaten verlangen darf.
2
Man hätte meinen sollen, Jimmie wäre müde gewesen; aber dies war ein Tag, an dem der Körper keine Rechte hatte. Zunächst half Jimmie Genossin Mabel, auf jeden Platz ein Flugblatt mit einem Brief des Kongresskandidaten dieses Wahlbezirks zu legen; dann rannte er los zur Straßenbahn und fuhr für seinen letzten Nickel nach Hause, um die Verabredung mit Lizzie nicht zu verpassen. Mit ihr wollte er den Fehler nicht machen, der ihm mit dem Komitee passiert war, auf keinen Fall!
Lizzie hatte, wie sich zeigte, ihren Teil der Verabredung getreulich eingehalten. Die drei Kleinen steckten in farbenprächtigen Kattunkleidchen; den ganzen Morgen hatte sie damit zugebracht, diese Sachen zu waschen und zu bügeln - wie auch ihr eigenes Kleid, das halb rot, halb grün und von üppigen, fast krinolinenhaften Ausmaßen war. Lizzie war selber in den entsprechenden Dimensionen gebaut, mit breiten Hüften und vollem Busen, großen braunen Augen und schwerem dunklem Haar. Wenn sie das schmuddlige Hauskleid abgelegt hatte, war sie eine prächtige, kraftvolle Frau, und Jimmie war stolz darauf, dass er den richtigen Blick gehabt hatte. Es war schon eine Leistung, eine gute Frau zu finden und sie dort zu entdecken, wo Jimmie Lizzie gefunden hatte. Sie war fünf Jahre älter als er, stammte aus Böhmen und war schon als Kleinkind nach Amerika gekommen. Ihr ehemaliger Name - „Mädchenname" konnte man in Anbetracht der Umstände kaum sagen - war Elizabeth Huszar, was sie so aussprach, dass Jimmie lange Zeit angenommen hatte, sie hieße Elisa Betuser.
Jimmie schlang einen Happen Brot hinunter, trank eine Tasse metallisch schmeckenden Tee, verstaute dann die Kleinen im Kinderwagen und trabte die anderthalb Meilen bis zum Stadtzentrum. Dort angekommen, nahm Lizzie das größte der Kinder und Jimmie die anderen beiden, und derart beladen, stapften sie ins Opernhaus. An diesem heißen Abend war das so, als ob sie drei Öfen im Arm hielten, und falls die Kleinen aufwachten und zu weinen anfingen, hatten die Eltern die Wahl, ob sie lieber etwas verpassen oder die ärgerlichen Blicke sämtlicher Umsitzenden auf sich nehmen wollten. In Belgien unterhielten die Sozialisten in ihrem „Volkshaus" eine Kinderkrippe, doch die amerikanische Bewegung hatte diese nützliche Einrichtung noch nicht entdeckt.
Der Saal war bereits halb voll, und immer noch mehr Menschen strömten herein. Jimmie nahm mit seiner Familie Platz und ließ dann seine wachen Augen stolz umher-
schweifen. Die Rundschreiben des künftigen Kongressabgeordneten, die er auf die Plätze gelegt hatte, wurden nun von den dort Sitzenden gelesen; die Fahnen, die aufzuhängen ihm so viel Mühe gemacht hatte, prangten an den Wänden; eine Karaffe mit Eiswasser stand auf dem Rednerpult, und ein Blumenstrauß und ein Hammer für den Vorsitzenden lagen bereit; die Stühle hinten auf der Tribüne für den Liederkranz waren ordentlich ausgerichtet und die meisten schon besetzt von stämmigen deutschen Gestalten mit rosigen deutschen Gesichtern. Bei jeder Einzelheit dieser Arrangements hatte Jimmie mit Hand angelegt. Besitzerstolz auf diese große summende Menschenmenge erfüllte ihn und auch Stolz darauf, dass sie ihm Dank schuldete. Sie hatten natürlich keine Ahnung, die Kindsköpfe, sie dachten, eine solche Versammlung machte sich von selber! Sie zahlten ihre zehn Cent - fünfundzwanzig Cent für einen reservierten Platz - und bildeten sich ein, dass damit alle Unkosten gedeckt waren, dass dabei vielleicht sogar noch einer was abstaubte! Sie murrten und fragten sich, warum die Sozialisten immer Eintrittsgeld für ihre Versammlungen haben wollten - warum sie nicht die Leute umsonst einließen, wie das die Demokraten und die Republikaner taten. Sie besuchten Demokratische und Republikanische Versammlungen und hatten Freude an der Blaskapelle und an dem Feuerwerk, sowohl dem pyrotechnischen wie dem rhetorischen - und ließen sich nicht träumen, dass sie in eine Falle tappten, die ihre Ausbeuter bezahlten! Na, das würden sie ja nun heute Abend erfahren! Jimmie dachte an den Kandidaten und wie er wohl bei diesem oder jenem ankommen würde. Denn Jimmie kannte Dutzende von denen, die Eintrittskarten genommen hatten, und suchte den einen oder anderen in der Menge mit den Augen und nickte ihm hinter seiner Babybarrikade glücklich zu. Als er sich dann den Hals ausrenkte, um einen Blick nach hinten zu werfen, fuhr er plötzlich zusammen. Den Mittelgang herunter kam Ashton Chalmers, Präsident der First National Bank von Leesville, und mit ihm - war es denn die Möglichkeit! - der alte Granitch, Inhaber der riesigen Empire Machine Shops, in denen Jimmie arbeitete! Der kleine Maschinenarbeiter fühlte, wie er vor Aufregung zitterte, als diese beiden hochgewachsenen Gestalten den
Gang herunter an ihm vorbeischritten. Er stieß Lizzie mit dem Ellbogen an und flüsterte ihr die Sensation ins Ohr, und ringsum summte es von Geflüster - denn natürlich waren diese beiden mächtigen Männer, die Häupter der „unsichtbaren Regierung" von Leesville, allgemein bekannt. Sie waren gekommen, um zu erfahren, was ihre Untertanen dachten! Nun, das konnten sie haben!
3
Der große Saal war voll; in den Gängen entstand bereits Gedränge, und schon schloss die Polizei die Türen -etwas, was Jimmie als Bestandteil der allumfassenden kapitalistischen Verschwörung ansah. Das Publikum wurde ungeduldig; bis schließlich der Vorsitzende die Bühne betrat, gefolgt von mehreren wichtigen Persönlichkeiten, die vorn an der Rampe Platz nahmen. Die Sänger standen auf, der Dirigent hob den Taktstock, und schon erklang die Marseillaise: ein französisches Revolutionslied, gesungen von einem deutschen Verein in englischer Sprache - wenn das nicht Internationalismus war! Sich des Ernstes dieser Weltkrise bewusst, sangen sie, als ob sie hofften, dass man sie bis nach Europa hörte. Dann erhob sich der Vorsitzende - Genosse Dr. Service. Er war ein Bild von einem Mann, groß, stattlich, mit grauem Schnurrbart und einem auf Spitze gestutzten Kinnbart; seine stolzgeschwellte Brust bedeckten sauberes weißes Leinen und enganliegendes Tuch; er gab einen äußerst imposanten Vorsitzenden ab, der der Bewegung Ehre machte. Er räusperte sich und verkündete, sie seien an diesem Abend zusammengekommen, um einen der größten Redner Amerikas zu hören, und er, der Vorsitzende, werde daher keine Rede halten, worauf er sich ans Werk machte und eine Rede hielt. Er sprach davon, was für eine ernste Stunde dies sei und dass der Redner ihnen die Bedeutung dieser Stunde erklären würde, und nahm darauf prompt das meiste von dem vorweg, was der Redner sagen würde. Es war dies eine Schwäche des Genossen Dr. Service, doch hatte man Hemmungen, ihn darauf aufmerksam zu machen wegen seines seriösen schwarzen Anzugs und seiner imposanten Erscheinung und weil er das Geld für die Saalmiete vorgeschossen hatte.
Schließlich und endlich machte er dann aber doch wieder dem Liederkranz Platz, und es kam ein Quartett und sang ein deutsches Lied und dann noch eine Zugabe. Danach war die Reihe an Genossen Gerrity, dem rührigen jungen Versicherungsagenten, der in der Ortsgruppe der Organisator war und die Aufgabe hatte, eine „Kollekterede" zu halten. Er hatte eine humorvolle Art, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. „Hier bin ich schon wieder!" begann er, und alles lächelte, denn man kannte seine Masche. Während er seinen neuesten Witz erzählte, lud Jimmie das jüngste Baby auf Lizzies Arm ab, legte das andere Kleine auf den Sitz, mit dem Kopf gegen ihr Knie, und wand sich heraus auf den Gang, den Hut in der Hand und bereit fürs Geschäftliche; sobald der Organisator schwieg und der Liederkranz wieder weitermachte, ging Jimmie ans Münzeneinsammeln. Sein Revier war das Parkett vorn mit den reservierten Plätzen, wo die beiden mächtigen Magnaten saßen. Jimmie wurden die Knie weich, aber er tat seine Pflicht und fühlte sich geschmeichelt, als er sah, dass jeder der beiden eine Münze in den Hut warf, die doch dazu verwendet werden würde, ihre Macht in Leesville zu stürzen!
4
Die Hüte wurden zur Theaterkasse gebracht und ausgeschüttet, und die Spendensammler und die Liederkranzsänger begaben sich wieder auf ihre Plätze. Eine erwartungsvolle Stille trat ein - und dann endlich kam lang ausschreitend der Kandidat auf die Bühne heraus. Ein Sturm brach los! Die Menschen jubelten und klatschten und brüllten. Er nahm bescheiden Platz; doch als das Getöse andauerte, durfte er es mit gutem Recht auf sich beziehen, und er stand auf und verbeugte sich; als es weiter andauerte, verbeugte er sich noch einmal und noch einmal. Es hatte in der Absicht des Genossen Dr. Service gelegen, vorzutreten und zu sagen, dass es natürlich unnötig sei, den Redner des Abends vorzustellen; doch als ob das Publikum geahnt hätte, was der ehrenwerte Doktor im Schilde führte, hörte
es nicht auf zu applaudieren, bis der Kandidat selbst vortrat, die Hand hob und mit seiner Rede begann. Er hielt sich nicht mit rhetorischen Präliminarien auf. Dies, sagte er - und seine Stimme zitterte vor Erregung -, sei die ernsteste Stunde, die die Menschen auf Erden je erlebt hätten. An diesem Tage habe er an der Anschlagtafel ihrer Lokalzeitung eine Meldung gelesen, die ihn mehr bewegt habe als alles zuvor im Leben, über der er fast den Mut verloren habe, sich auf ein Podium zu stellen und das Won an ein Publikum zu richten. Vielleicht hatten sie jene Nachricht noch gar nicht gehört. Er teilte sie ihnen mit, und ein Schrei der Entrüstung entrang sich den Zuhörern.
Ja, sie hätten allen Grund, sich zu empören, sagte der Redner; nirgends auf all den blutigen Seiten im Buch der Geschichte lasse sich ein Verbrechen finden, das so gemein sei wie dieses! Die Herren Europas hätten den Verstand verloren in ihrer Gier nach Macht; sie hätten die Rache da Menschheit auf ihre gekrönten und geadelten Häupter geladen. Hier an diesem Abend sage er ihnen - und die raue, heisere Stimme des Redners schwoll an zu einem Zornesschrei -, sage er ihnen, dass diese Herren mit der Unterzeichnung des Hinrichtungsbefehls für die heldenhaften Märtyrer ihrem eigenen System das Todesurteil gesprochen, dass sie dem Bau der kapitalistischen Gesellschaft die Grundsteine entzogen hätten! Die Stimme des Redners schien die Zuhörer von den Plätzen zu reißen, und die letzten Worte des Satzes gingen unter in einem Beifallsorkan.
Als wieder Ruhe herrschte, sprach der Mann weiter. Er zeigte ein merkwürdiges Gebaren auf der Tribüne. Seine schlaksige Gestalt stand keinen Augenblick still. Er rannte von einem Ende der Bühne zum anderen; er duckte sich und beugte sich vor, als ob er unter die Zuhörer springen wollte; ein langer, magerer Finger wurde vor ihren Gesichtern geschüttelt oder auf sie gerichtet, als ob er ihnen seine Worte in die Herzen treiben wollte. Seine Rede war ein Sturzbach von scharfen Pointen, beißender Ironie, Schmähungen. Er war bitter; wenn man nichts über den Mann und seine Sache wusste, fühlte man sich abgestoßen und angewidert. Man musste wissen, wie sein Leben verlaufen war - dass es ein unaufhörlicher Kampf gegen die Unterdrückung gewesen war; seine sozialistische Erziehung hatte er im Gefängnis erhalten, in das man ihn gesperrt hatte, weil er die Lohnsklaven eines mächtigen Unternehmens hatte organisieren wollen. Sein Zorn war der Zorn eines weichherzigen Dichters, eines Freundes der Kinder und der Natur, der angesichts böswillig zugefügter Qualen zum Äußersten getrieben wird. Und wenn er einem je als Radikaler erschienen war, zu fanatisch, als dass sich dafür eine Entschuldigung hätte finden lassen, hier an diesem Abend bekam er seine Rechtfertigung, hier an diesem Abend sah man ihn als Propheten. Denn nun hatte die Herrenklasse sich die Maske vom Gesicht gerissen und der ganzen Welt enthüllt, wo sie moralisch stand! Endlich sahen die Menschen ihre Herrscher, wie sie wirklich waren! Sie haben die Menschheit in einen Abgrund des Wahnsinns gestürzt. „Sie nennen es Krieg", rief der Redner, „aber ich nenne es Mord." Und dann schilderte er ihnen, was zu dieser Stunde in Europa geschah - führte ihnen den entsetzlichen Alptraum vor Augen, zeigte ihnen, wie Häuser in die Luft gesprengt, Städte den Flammen preisgegeben, Menschenleiber von Kugeln oder Bombensplittern zerrissen wurden. Er schilderte, wie einem Mann ein Bajonett in den Bauch gestoßen wurde, ließ sie die unmenschliche Tat miterleben und die schaurige Niedertracht mitempfinden. Männer, Frauen und Kinder saßen da wie gebannt, und diesmal konnte niemand laut sagen oder auch nur denken, dass die Bilder eines sozialistischen Agitators übertrieben seien - nein, nicht einmal Ashton Chalmers, Präsident der First National Bank von Leesville, oder der alte Abel Granitch, Inhaber der Empire Machine Shops!
5
Und was war die Ursache dieser schwärzesten aller Katastrophen? Der Redner bewies, dass das entscheidende Motiv nicht Rassenhass, sondern kommerzielle Habgier war. Die Quelle des Krieges war der Weltkapitalismus, der nach Märkten schrie, da er seine Überproduktion loswerden musste, um seine Lohnsklavenhorden zu Hause bei Beschäftigung zu halten. Er untersuchte die verschiedenen Faktoren; und jetzt, da der Schatten des europäischen Unwetters über ihnen stand - jetzt endlich hörten die Männer und Frauen zu, jetzt erkannten sie, dass die Sache auch sie anging. Er warnte sie - sie sollten nicht glauben, dass sie vor den Hufen dieses Kriegsungeheuers sicher seien, nur weil sie dreitausend Meilen entfernt waren! Der Kapitalismus war ein Weltphänomen, und all die Kräfte des Schmarotzertums und der Ausbeutung, die Europa in diese Tragödie getrieben hatten, waren auch hier in Amerika am Werk. Die profitgierigen Geldleute würden sich beeilen, aus dem Zusammenbruch jenseits des Ozeans ihren Vorteil zu ziehen; Missgunst und Streit würden herrschen - die Zuhörer sollten ein für allemal begreifen: Falls es dem Weltkapitalismus nicht gelänge, diesen Krieg zu einem Weltkrieg zu machen, dann nur, weil die Arbeiter Amerikas die Warnung beherzigt und ihre Vorbereitungen getroffen hätten, um die Verschwörung zu vereiteln.
Deshalb sei er gekommen, dies sei der Kern seiner Botschaft. Viele von denen, die ihm zuhörten, seien Flüchtlinge aus der Alten Welt, die vor der Unterdrückung und Versklavung dort geflohen seien. An sie richte er als einer, dessen Herz durch mehr Leid zerrissen werde, als er ertragen könne, jetzt die Aufforderung: Sorgt dafür, dass zumindest ein Stück des schönen Erdengartens vor den Dämonen der Zerstörung verschont bleibt! Sorgt dafür, dass die Arbeiter die Warnung früh genug beherzigen; sorgt dafür, dass sie sich organisieren und ihren eigenen Apparat für Information und Propaganda aufbauen - so dass es, wenn die Krise naht, wenn die Geldleute Amerikas die Kriegstrommel rühren, nicht die Zerstörung und die Verwüstung gibt, die diese Herren haben wollen, sondern die Freude und die Freiheit eines Gemeinwesens auf genossenschaftlicher Grundlage.
„Wie viele Jahre schon haben wir Sozialisten euch gewarnt!" rief er. „Aber ihr habt uns nicht getraut, ihr habt geglaubt, was euch eure Ausbeuter erzählt haben! Und jetzt, in dieser Stunde der Krise, blickt ihr nach Europa und entdeckt, wer die wahren Freunde der Menschheit, der Kultur sind. Welche Stimme kommt übers Meer im Protest gegen den Krieg? Die Stimme des Sozialismus, und zwar einzig
die Stimme des Sozialismus. Und heute Abend hört ihr sie auch in diesem Saal! Ihr Männer und Frauen Amerikas und ihr Ausgestoßenen aus allen Teilen der Welt, legt mit mir dieses Gelöbnis ab - legt es jetzt ab, ehe es zu spät ist, und haltet euch daran, wenn die Stunde der Krise naht! Gelobt beim Blute unserer gemarterten Helden, jener ermordeten
deutschen Sozialisten - gelobt, dass, was auch immer kommen möge und wann und wie es kommen möge, keine
Macht auf Erden oder in der Hölle euch in diesen Bruderkrieg hineinziehen soll! Fasst diesen Beschluss, sendet diese Botschaft an alle Nationen der Erde - dass die Menschen aller Nationen und aller Rassen eure Brüder sind und dass ihr niemals bereit sein werdet, ihr Blut zu vergießen. Falls die Geldleute und Ausbeuter Krieg haben wollen, sollen sie ihn haben, aber sie sollen ihn unter sich austragen! Sollen sie die Bomben und Granaten, die sie fabriziert haben, nehmen und damit aufeinander losgehen! Sollen sie ihre eigene Klasse in die Luft sprengen - aber sie sollen nur ja nicht
versuchen, die Werktätigen in ihre Streitereien hineinzuziehen!"
Immer wieder brach das Publikum als Antwort auf solche Mahnrufe in Beifall aus. Männer hoben in feierlichem Schwur die Hände, und die Sozialisten unter ihnen gingen aus der Versammlung nach Hause mit einem neuen Ernst auf dem Gesicht, einer neuen Hingabe im Herzen. Sie hatten ein Gelöbnis abgelegt und würden es halten - selbst wenn sie deswegen das Schicksal ihrer heldenhaften deutschen Genossen teilen müssten!
Und dann schlugen sie am nächsten Morgen die Zeitung auf, suchten gespannt nach weiteren Einzelheiten über das Schicksal der heldenhaften deutschen Genossen und fanden keine. Tag für Tag, morgens und abends, suchten sie nach weiteren Einzelheiten und fanden keine. Im Gegenteil, zu ihrer großen Verblüffung erfuhren sie, dass die Führer der deutschen Sozialdemokratie für die Kriegskredite gestimmt hatten und dass die Mitglieder der Bewegung auf den Straßen von Belgien und Frankreich den Parademarsch klopften! Sie konnten es einfach nicht fassen; selbst jetzt ist ihnen noch nicht klar, dass die Meldung, die sie an jenem schicksalhaften Sonntagnachmittag so erregt hatte, nur ein gerissener Schwindel war, ausgestreut von den deutschen
Kriegsherren, in der Hoffnung, die Sozialisten in Belgien, Frankreich und England zur Revolte zu veranlassen, um Deutschland auf diese Weise den Sieg zu verschaffen!
1
Die graue Flut der Schreckensherrschaft überrollte Belgien, und jeden Morgen, und am Nachmittag erneut, schlug die erste Seite der Zeitung von Leesville ein wie eine Bombe. Fünfundzwanzigtausend Deutsche bei einem Angriff auf Lüttich gefallen, eine viertel Million Russen in den masurischen Sümpfen niedergemetzelt und ertrunken und so weiter, bis es den Menschen wie ein Mühlrad im Kopf herumging. Sie sahen vor ihren Augen Reiche und Kulturen zugrunde gehen, sahen alle die Gewissheiten, auf die ihr Leben gegründet war, sich auflösen wie Nebel bei Sonnenaufgang.
Bisher hatte es Jimmie Higgins immer von sich gewiesen, eine Tageszeitung zu halten. Für ihn bitte keine kapitalistischen Lügen; er wollte seine Pennies für das sozialistische Wochenblatt aufheben! Doch nun musste er die Nachrichten haben, und so abgespannt er nach der Tagesarbeit auch war, saß er doch auf der Veranda seines Hauses, die müden Füße gegen einen Pfosten gestemmt, und entzifferte die Depeschen. Danach schlenderte er zum Zigarrenladen des Genossen Stankewitz hinunter, eines verschrumpelten kleinen rumänischen Juden, der in Europa gelebt hatte und eine Landkarte besaß und Jimmie zeigte, wo Russland lag und warum Deutschland durch Belgien marschierte und warum England sich einmischen musste. Es war gut, einen Freund zu haben, der weit gereist war und Fremdsprachen konnte - besonders, als die Kämpfe sich um Orte wie Przemysl und Przasnysz konzentrierten!
Jeden Freitagabend hatte dann die Ortsgruppe ihre Versammlung. Jimmie war stets als erster da, eifrig darauf bedacht, dass ihm kein Wort entging, das die besser informierten Genossen zu sagen wussten, und auf diese Weise die Bildung zu vervollständigen, die die Gesellschaft ihm so grausam vorenthalten hatte.
Der Krieg war kaum ein paar Wochen alt, als in Jimmies Kopf schon alles durcheinanderging; nie hätte er es für möglich gehalten, dass die Menschen so viele widersprüchliche Meinungen haben und mit solch leidenschaftlicher Starrheit daran festhalten könnten! Es schien, als ob der Weltkrieg in Leesville im Kleinen ausgefochten würde. Auf der dritten Versammlung nach Kriegsbeginn erhob sich der wohlhabende Dr. Service und stellte mit seiner imposanten Rednerstimme den Antrag, die Ortsgruppe solle ein Telegramm an das Zentralkomitee der Partei schicken, mit dem Ersuchen, gegen die Invasion in Belgien zu protestieren; desgleichen ein Telegramm an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, mit dem Ersuchen, gleichermaßen zu verfahren. Da aber ging ein Höllenlärm los! Genosse Schneider, der Brauereiarbeiter, wollte wissen, ob die Ortsgruppe Leesville schon jemals das Zentralkomitee ersucht habe, gegen die Invasion in Irland zu protestieren. Oder hatte die Sozialistische Partei vielleicht schon mal den Präsidenten der Vereinigten Staaten ersucht, Ägypten oder Indien vor Unterdrückung zu schützen? Genosse Dr. Service, der sich nicht gesetzt hatte, begann die Freveltaten, die die deutsche Armee in Belgien verübt hatte, leidenschaftlich anzuprangern; worauf Genosse Schneiders blühendes Gesicht purpurrot anlief. Er verlangte zu wissen, ob denn nicht jedermann bekannt sei, dass Frankreich zuerst in Belgien eingefallen wäre und dass die Belgier die Franzosen willkommen geheißen hätten? Waren etwa nicht alle belgischen Festungen Deutschland zugekehrt? Natürlich! antwortete der Doktor. Aber wennschon! War es etwa ein Verbrechen, zu wissen, wer einen angreifen wollte?
Ohne auf diese Frage einzugehen, begehrte der purpurgesichtige Brauer zu wissen, ob denn nicht aller Welt bekannt wäre, dass die Franzosen mit einem Flugzeugbombardement auf die deutschen Städte den Krieg angefangen hatten? Der Genosse Doktor, dessen Gesicht sich ebenfalls purpurrot färbte, erwiderte, die ganze Welt wisse, dass dies ein Märchen sei, das die deutsche Propagandamaschinerie in Umlauf gesetzt habe. Und woher wisse das die ganze Welt? brüllte Schneider. Durch eine Telegrammzensur, die von britischem Gold beherrscht wurde? Dieser Streit beschäftigte Jimmie sehr. Störend war nur, dass er beiden Meinungen zustimmte und die Neigung verspürte, beiden Seiten zu applaudieren. Er applaudierte auch dem nächsten Redner, dem jungen Emil Forster, einem schlanken, blassen, blonden Jugendlichen, der in der Teppichfabrik Designer war. Emil gehörte zu denen, die selten auf Versammlungen das Wort ergriffen, denen man aber, wenn es doch einmal geschah, mit Aufmerksamkeit zuhörte, denn er war Student und ein Denker; er spielte Flöte und sein Vater, der ebenfalls Ortsgruppenmitglied war, Klarinette; das Paar war darum für „gesellige Abende" unentbehrlich. Mit seiner freundlichen, leidenschaftslosen Stimme erklärte er, es sei nicht leicht für die Menschen in Amerika, das Dilemma der deutschen Sozialisten in der gegenwärtigen Krise zu verstehen. Man müsse bedenken, dass die Deutschen nicht nur gegen England und Frankreich kämpften, sondern auch gegen Russland, und Russland sei ein riesiges, noch halb barbarisches Land unter der vielleicht grausamsten Regierung der Welt. Wie würde wohl den Amerikanern zumute sein, wenn in Kanada oben dreihundert Millionen unwissende, versklavte Menschen säßen, die man in riesigen Armeen drillte?
Ganz schön und gut, entgegnete Dr. Service schlagfertig. Aber warum bekämpften die Deutschen dann nicht Russland und ließen Frankreich und Belgien in Frieden? Weil, antwortete Emil, die Franzosen das nicht zulassen würden. In Amerika denke man an Frankreich als an eine Republik, doch dürfe man nicht vergessen, dass es sich um eine kapitalistische Republik handle, eine Nation, die von Bankiers regiert werde, und diese Bankiers hätten mit Russland ein Bündnis geschlossen, das einzig und allein die Zerstörung Deutschlands zum Ziel haben könne. Frankreich habe Russland so etwa vier Milliarden Dollar geliehen. Und da sprang Schneider hoch. Ja, und dieses Geld sei es, womit die Geschütze und Granaten beschafft worden seien, die jetzt dazu benutzt würden, Ostpreußen zu verwüsten, das Land, wo er, Schneider, geboren sei!
2
Auf beiden Seiten geriet man immer mehr in Hitze, und die Neutralen bemühten sich, den Streit zu schlichten. Genosse Stankewitz, Jimmies Freund aus dem Zigarrenladen, rief mit seiner schrillen, eindringlichen Stimme: „Warum wollen wer uns einmischen in Kämpfe in Europa? Wissen wer nicht, was sind Bankiers und was sind Kapitalisten? Was ist für ein Unterschied für den Arbeiter, ob er wird ausgeraubt von Paris oder wird ausgeraubt von Berlin? Ich muss wissen", sagte Stankewitz, „hob ich gearbeit' in alle beide Städte, und bin ich gewesen genauso hungrig unter dem Rothschild, als ich bin gewesen unter dem Kaiser." Dann war Genosse Gerrity, der Organisator der Ortsgruppe, an der Reihe. Was sie auch täten, sagte Gerrity, sie müssten sich in diesem Krieg ihre Neutralität erhalten; die einzige Hoffnung der Welt liege jetzt in der sozialistischen Bewegung - dass sie den internationalen Geist bewahren und eine kriegszerrissene Welt zurück zum Frieden führen möge. Besonders in der Ortsgruppe Leesville müssten sie jetzt einen klaren Kopf behalten, denn sie ständen vor dem wichtigsten Schritt in ihrer Geschichte: der Gründung einer Wochenzeitung. Dem dürfe sich nichts in den Weg stellen!
Ja, sagte Genosse Service, aber sie müssten doch wohl die politische Linie der Zeitung festlegen, oder wie? Wollten sie etwa gegen das Unrecht im eigenen Land auftreten, sich jedoch um den empörendsten Fall von internationalem Unrecht in der Geschichte der Welt nicht kümmern? Sollte eine Arbeiterzeitung etwa nichts sagen dürfen gegen die Versklavung der Arbeiter Europas durch den Kaiser und seine Militaristenclique? Er, Dr. Service, wolle dann mit so einer Zeitung nichts zu schaffen haben. Da starrten die Mitglieder der Ortsgruppe einander erschrocken an. Jeder Mann und jede Frau, die sa saßen, wussten, dass der wohlhabende Doktor mit fünfhundert Dollar an der Spitze der Spendenliste für den demnächst zu gründenden Leesviller „Worker" gestanden hatte. Der Gedanke, diesen großzügigen Beitrag zu verlieren, versetzte sogar die Deutschen in Bestürzung.
Aber es gab in der Ortsgruppe einen Mann, den keine Drohung einschüchtern konnte. Und der erhob sich jetzt - hager, fahl, ja fast schon grün, mit schwarzem Haar, das ihm in die Augen fiel, und einem Husten, der ihn bei jedem zweiten Satz schüttelte. Er hieß Bill Murray; den „Wilden Bill" nannten ihn die Zeitungen. Die rote Karte, die er bei sich trug, war von den Sekretären einiger dreißig Ortsgruppen im Lande abgezeichnet. Er hatte unter einem Motorpflug in Kansas ein paar Zehen verloren und in einer Weißblechfabrik in Alleghany County die halbe Hand; er war bei einem Streik in Chicago bewusstlos geprügelt und bei einem offenen Redewettstreit in San Diego geteert und gefedert worden. Dieser Mann nun sagte den Mitgliedern der Ortsgruppe Leesville, was er von jenen Salonrevolutionären hielt, die die Ortsgruppe bis zur Ehrbarkeit eines Kirchenvereins hochstilisieren wollten. Der Wilde Bill hatte die Diskussionen über Abschnitt sechs, die Schutzbestimmung gegen Sabotage und Gewaltanwendung in der Satzung der Partei, verfolgt. Dieselben Leute, die sich für das bisschen bürgerlichen Aufputz begeistert hatten, versuchten jetzt, die Ortsgruppe für die Verteidigung der englischen Seemacht einzuspannen. Worin lag denn verdammt noch mal für den Arbeiter der Unterschied, ob der Kaiser nun eine Eisenbahn nach Bagdad bekam oder nicht? Natürlich, wenn einer in England zur Schule gegangen war und eine englische Frau hatte und sich als englischer Gentleman fühlte -ein merklicher Schauder ging durch die Versammlung, denn jeder wusste, dass Dr. Service gemeint war -, na schön, dann sollte der doch das erste Schiff nehmen, das über den Ozean fuhr, und sich anwerben lassen; aber er sollte nicht versuchen, aus einer amerikanischen Sozialistenortsgruppe eine Rekrutierungsstelle für britische Grundbesitzer und Aristokraten zu machen!
Dies wiederum rief Genossen Norwood auf den Plan, den jungen Rechtsanwalt, der mitgeholfen hatte, im Nationalkonvent der Partei den Abschnitt sechs durchzubringen. Wenn gewissen Leuten dieser Paragraph nicht passte, warum traten sie dann nicht aus der Partei aus und gründeten ihre eigene Organisation?
„Weil", antwortete Murray, „wir lieber Sabotage begehen als streiken!"
„Mit anderen Worten", fuhr Norwood fort, „ihr bleibt in der Ortsgruppe und treibt durch eine Kampagne von Hohn und Anzüglichkeiten eure Gegner hinaus!" „Es ist dies seit Monaten die erste Versammlung, auf der wir das Vergnügen haben, Genossen Norwood zu begrüßen", sagte der Wilde Bill mit gehässiger Gelassenheit. „Vielleicht hat er gewusst, dass wir aufgefordert werden sollten, ein Regiment für Kitchener aufzustellen!" Und dann erhob sich wieder Genosse Stankewitz, und sein mageres, eifriges Gesicht sah unglücklich aus. „Genossen, das bringt uns doch nicht weiter! Es gibt doch nur eine Frage, die wer müssen beantworten, und die heißt: Sind wer nu Internationalisten, oder sind wer keine?" „Mir scheint", fuhr Norwood fort, „die Frage heißt: Sind wir Antinationalisten?"
„Na schön", schrillte der kleine Jude. „Will ich lassen gelten - ich bin Antinationalist! Alle Sozialisten sollten sein!" „Aber so verstehe ich es nicht", erklärte der junge Rechtsanwalt. „Wer allerdings zu einer Rasse gehört, die schon seit zweitausend Jahren kein Land mehr ihr Eigen nennt, für den ist es leicht..."
„Und wer ergeht sich jetzt in Anzüglichkeiten?" höhnte der Wilde Bill.
3
So stand es um die Ortsgruppe Leesville. Das Ergebnis der Debatte war, dass Genosse Dr. Service erklärte, er wolle von nun ab mit der Sozialistischen Partei nichts mehr zu schaffen haben. Und der Genosse Doktor knöpfte seine hübsche schwarze Jacke über der stattlichen Brust zu und stolzierte aus dem Saal. Der Rest des Abends verging größtenteils mit einer Diskussion über ihn und seine Person und seinen Einfluss in der Ortsgruppe. Das sei überhaupt kein Sozialist, erklärte Schneider, das sei ein englischer Aristokrat oder jedenfalls so was Ähnliches - seine Frau habe zwei Brüder im britischen Expeditionskorps und einen Neffen, der sich schon freiwillig für die Territorialarmee gemeldet habe, und im Augenblick sei ein Vetter zu Besuch auf dem Wege nach Kanada, weil es so am schnellsten ginge, in die Geschichte mit hineinzukommen. Doch trotz all dieser nachteiligen Umstände war die Ortsgruppe nicht zu bewegen, ihren großzügigen Förderer einfach fallenzulassen, und Genosse Gerrity, der Organisator, sowie Genosse Goldstein von den Ypsels wurden als Komitee eingesetzt, das zu ihm gehen und mit ihm reden und ihn womöglich in den Schoß der Partei zurückführen sollte. Was Jimmie anging, so war sein Problem nicht derart kompliziert. Er hatte nirgendwo Verwandte, von denen er wusste, und wenn er ein „Vaterland" hatte, dann hatte dieses Vaterland jedenfalls vergessen, ihn diesen Umstand wissen zu lassen. Das erste, was sein Vaterland für ihn getan hatte, war, dass es ihn einer Negerin in die Hände gab, die ihn mit Haferschleim und Wasser großzog und ihn im Winter ohne Decke schlafen ließ. Dieses Vaterland war für Jimmie ein Haufen Besitzer und Bosse, die einen für den Lohn, den sie einem zahlten, tüchtig schwitzen ließen und einem die Polizei mit Knüppeln auf den Hals hetzten, wenn man Sperenzchen machte. Ein Soldat war für Jimmie ein Kerl, der der Polizei zu Hilfe kam, wenn sie in die Klemme geriet. Ein Soldat ging mit herausgedrückter Brust und in die Luft gereckter Nase umher, und Jimmie nannte ihn „Blechkopp" und hielt ihn für einen Verräter an der Arbeiterklasse.4
Doch im Laufe der Wochen begannen sich Nachrichten über Gräueltaten zu häufen, und Jimmie musste eine Rückzugsstellung beziehen. Na ja, konnte ja sein, aber schließlich waren alle Armeen gleich. Jemand erzählte Jimmie von dem Ausspruch eines berühmten Generals, der Krieg sei die Hölle, und daran hielt sich Jimmie - es war genau das, was er glauben wollte! Krieg war ein Rückfall in die Barbarei, und je schlimmer er wurde, desto überzeugender wurde Jimmies Argument. Er hatte kein Interesse für die Bemühungen der Menschen, den Krieg zu verbessern, indem sie sich einigten, auf diese Weise zu töten, aber nicht auf jene, diese Sorte Menschen zu töten, aber nicht jene.
Diese Ideen übernahm Jimmie von seinen Genossen in der Ortsgruppe und von den sozialistischen Zeitungen, die jede Woche eintrafen, und von den vielen Rednern, die er hörte. Diese Redner waren Männer und Frauen von verwirrender Offenheit und mit einem klaren, völlig logischen Standpunkt. Ob sie nun über Krieg, Verbrechen, Prostitution, politische Korruption oder andere soziale Übel sprachen, immer wollten sie nur das eine: das alte, baufällige Gefüge niederreißen und an seine Stelle etwas Neues und Kluges setzen. Man konnte sie möglicherweise dazu bringen, zuzugeben, dass es zwischen den kapitalistischen Regierungen leichte Unterschiede gab; doch wenn es zur Nutzanwendung kam, zum Handeln, stellte man fest, dass für diese Leute alle Regierungen gleich waren - und niemals so gleich wie in Kriegszeiten!
Auch war der Protest der Sozialisten noch nie so notwendig gewesen! Sehr schnell wurde offenbar, dass es für Amerika keine leichte Sache sein würde, sich aus dem Weltstrudel herauszuhalten. Weil die amerikanischen Arbeiter einen Lohn unter dem Existenzminimum bekamen und nicht kaufen konnten, was sie produzierten, gab es einen Produktionsüberschuss, der im Ausland verkauft werden musste; so war das Geschäft der amerikanischen Fabrikanten abhängig von ausländischen Märkten - und hier plötzlich stürzten sich alle Haupthandelsnationen der Welt darauf, so viel amerikanische Produkte zu kaufen, wie sie konnten, und ihre Feinde möglichst daran zu hindern, überhaupt etwas zu kaufen.
Eine Rednerin kam nach Leesville, eine gewitzte kleine Person mit einer scharfen Zunge, die diese Streitigkeiten veranschaulicht hatte und sie als Dialog wie in einem Bühnenstück zum Besten gab: Kaiser Willy sagt: „Ich brauche Baumwolle." John Bull sagt: „Kriegst du nicht." Uncle Sam sagt: „Aber das ist sein gutes Recht. Mach Platz, John Bull." Aber John Bull sagt: „Dann halte ich deine Schiffe an und bringe sie in meine Häfen." Uncle Sam sagt: „Nein, nein! Mach das nicht!" Aber John Bull tut es trotzdem. Und dann sagt der Kaiser: „Was bist du denn für einer, dass du dir von John Bull deine Schiffe stehlen lässt? Bist du ein Schlappschwanz, oder bist du heimlich ein Freund von diesem alten Gauner?" Und Uncle Sam sagt: „John Bull, dann gib mir wenigstens meine deutsche Post und meine deutschen Zeitungen." Aber John Bull antwortet: „Du hast einen Haufen deutsche Spitzel im Lande - darum kann ich dir deine Post nicht geben. Und die deutschen Zeitungen kannst du nicht kriegen, weil der Kaiser sie mit Lügen über mich vollstopft." Und der Kaiser sagt: „Wenn John Bull mich meine Baumwolle und mein Fleisch und all das übrige nicht haben lassen will, warum hörst du dann nicht auf, ihm was zu schicken?" Er wartet ein Weilchen, und dann sagt er: „Wenn du nicht aufhörst, diesem alten Gauner Sachen zu schicken, dann versenke ich eben einfach die Schiffe, und Schluss." Und Uncle Sam schreit: „Aber das ist gegen das Gesetz!" - „Wessen Gesetz?" fragt der Kaiser. „Was ist denn das für ein Gesetz, das nur in der einen Richtung gilt?" - „Aber auf den Schiffen sind Amerikaner!" ruft Uncle Sam. „Na, dann lass sie doch nicht rauf auf die Schiffe!" antwortet der Kaiser. „Lass sie so lange nicht rauf, bis John Bull sich an das Gesetz hält."
Auf diese Art dargestellt, war die Situation jedem Jimmie Higgins verständlich, und als die Diskussionen weitergingen, wurde Jimmies eigener Standpunkt von Monat zu Monat klarer. Er war nicht daran interessiert, Baumwolle nach England zu schicken und Fleisch noch viel weniger. Er schätzte sich schon glücklich, wenn er selber zweimal in der Woche ein Stück Fleisch hatte, und es leuchtete ihm ein, dass die Kerle, denen das Fleisch gehörte, dieses, wenn sie es nicht ins Ausland verschicken durften, vielleicht in Amerika zu einem Preis verkaufen würden, den ein Arbeiter bezahlen konnte. Das war nicht etwa bloß Habgier von Jimmie; er war durchaus bereit, auf Fleisch zu verzichten, wenn es um ein Ideal ging - man brauchte sich ja bloß anzusehen, wie viel Kraft, Zeit und Geld er für den Sozialismus einsetzte! Der springende Punkt war: Wenn man Waren nach Europa schickte, half man, den Kampf in Gang zu halten; wenn man aber damit aufhörte, dann mussten die Holzköpfe doch Vernunft annehmen. Also stellten die Jimmie Higginse ihre Kampagne unter die Losung: „Hungert den Krieg aus und macht Amerika satt!"
5
Im dritten Kriegsmonat begannen in Leesville beunruhigende Gerüchte zu kursieren. Der alte Abel Granitch hätte sich auf einen Vertrag mit der belgischen Regierung eingelassen, und die Empire Machine Shops würden nun Granaten herstellen. In den Lokalzeitungen erschien darüber nichts, aber jeder behauptete, er hätte es aus erster Hand, und wenn auch nicht zwei Leute dasselbe sagten, so musste doch irgendein wahrer Kern in alldem stecken. Und dann erfuhr Jimmie eines Tages zu seiner Bestürzung von Lizzie, der Verwalter des Grundstückseigentümers sei gekommen und habe ihnen gekündigt und sie müssten binnen drei Tagen ausziehen. Der alte Granitch habe das Land aufgekauft, und die Werke sollten nach dieser Seite hin erweitert werden. Jimmie traute seinen Ohren kaum, denn er war sechs Häuserblocks vom nächstgelegenen Teil der Werke entfernt; aber es war die Wahrheit, das sagten alle. Das gesamte Land war aufgekauft worden, und ein halbes Tausend Familien - Kinder und Greise und Kranke, Männer auf dem Totenbett und Frauen im Kindbett - hatten alle miteinander drei Tage Zeit, in neue Unterkünfte umzuziehen.
Man stelle sich das Durcheinander vor, das Babel der Sprachen, die Frauen, die sich von Veranda zu Veranda Fragen und Ratschläge zuriefen! Die Kraftausdrücke und das Geschimpfe und die Drohungen mit dem Gericht! Der Ansturm auf die Grundstückseigentümer, und wie die Preise in die Höhe gingen! Jimmie lief zum Genossen Meissner, der sich ein Haus gekauft hatte und es in Raten abzahlte; Meissner, als Sozialist, versuchte nicht, ihm das Fell über die Ohren zu ziehen, sondern war froh, dass er Hilfe für die Abzahlungen bekam. Es waren keine Trennwände auf dem Dachböden, den Jimmie mietete, aber sie wollten Vorhänge anbringen und würden sich irgendwie behelfen, und Lizzie würde Mrs. Meissners Herd benutzen, bis sie oben irgend etwas installieren konnten. Und dann ab zum Gemüseladen an der Ecke, einen Handwagen ausborgen und mit dem Transport der Möbel anfangen; denn morgen würde jeder umziehen, und dann würde man einen fahrbaren Untersatz weder für Geld noch für gute Worte kriegen können. Bis nach Mitternacht plagten sich Jimmie und Meissner mit dem Transport von Babies und Bettzeug und Kochtöpfen und Stühlen und Hühnerkörben, hoch aufgetürmt auf dem Handwagen.
Und am nächsten Morgen im Werk neue Aufregung! Jimmie war jetzt vier Jahre beim alten Granitch beschäftigt und hatte während dieser ganzen Zeit immer dieselbe Arbeit gemacht, in einer Riesenhalle in einem Durcheinander von wirbelnden Rädern und Riemen stehend, unter Dröhnen und Kreischen und Poltern und Sausen, das von seinen fünf Sinnen einen vollkommen auslöschte. Vor ihm kam, mechanisch transportiert, eine Palette voll kleiner rechteckiger Stahlklötze an. die er, mit jeder Hand einen, an zwei Stellen in eine Maschine einführte; die Maschine fasste diese Klötze, rundete ein Ende ab, fräste den Rest ein bisschen kleiner, schnitt ein Gewinde ein und ließ sie dann als Bolzen in eine Palette auf der anderen Seite fallen. Weil Jimmie die Maschine beaufsichtigen und die Schmierbüchsen voll Öl halten musste, wurde seine Arbeit als angelernt eingestuft und mit neunzehneinhalb Cent die Stunde bezahlt. Vor einiger Zeit hatte ein Experte den Vorgang studiert und durchgerechnet, dass es bei diesem Preis für die Arbeitskraft um einen achtel Cent pro Stunde billiger war, die Arbeit von Hand tun zu lassen, als eine Maschine dafür aufzustellen, und daher hatte Jimmie schon seit vier Jahren diesen Arbeitsplatz, wo er von sieben bis zwölf und noch einmal von halb eins bis sechs immer auf demselben Fleck stand und jeden Sonnabendabend die Summe von zwölf Dollar und neunundzwanzig Cent nach Hause trug. Man könnte vielleicht meinen, die riesigen Maschinenwerke hätten das auf zwölf Dollar dreißig aufgerundet, aber wer das denkt, hat keine Ahnung von der Massenproduktion. -Und nun, urplötzlich und ohne Warnung, fand Jimmies präzis geordnete, gewohnte Welt ihr Ende. Er stand auf seinem Platz, als die Sirene heulte, doch die Maschinen liefen nicht an. Und wenig später kam der irische Vorarbeiter mit der kurzen Mitteilung, die Maschinen würden nie wieder laufen, jedenfalls nicht an dieser Stelle; sie sollten weggeräumt und neue Maschinen dafür aufgestellt werden, und die Leute sollten sofort mit Schraubenschlüsseln, Hämmern und Brechstangen an die Arbeit gehen und eine neue Welt errichten!
Eine Woche lang taten sie das, und in der Zwischenzeit sah Jimmie jeden Abend auf dem Heimweg, wie Wohnstätten demoliert wurden - Dächer stürzten unter Wolken <von Staub zusammen, und Arbeitsbrigaden luden die Trümmer auf riesige Lastwagen. Es dauerte nicht lange, da hatten sie Karbidbeleuchtung und arbeiteten die ganze Nacht durch -Trupps von Arbeitern, die in Zelten auf freien Parzellen außerhalb der Stadt wohnten und ihre Zeltbahnbetten durch Schlafen in zwei Schichten warm hielten. Jimmie Higgins erkannte die schreckliche Wahrheit, dass trotz aller Agitation der Sozialisten tatsächlich der Krieg nach Leesville gekommen war!
1
Es dauerte einige Zeit, bis Jimmie begriff, was das für neue Maschinen waren, die er aufstellen half. Niemand fühlte sich bemüßigt, es ihm zu erklären, denn er war nur ein Paar Hände und ein kräftiger Rücken; ein Gehirn erwartete man nicht bei ihm - und was eine Seele oder ein Gewissen betraf, so erwartete man die bei gar keinem. Russische Bevollmächtigte waren nach Leesville gekommen mit siebzehn Millionen von dem Geld, das die Pariser Bankiers vorgeschossen hatten, und so waren über Nacht ganze Häuserblocks dem Erdboden gleichgemacht worden, und an ihrer Stelle erhob sich eine riesige Stahlkonstruktion, und auf dem Fleck, wo Jimmie vier Jahre lang dieselben Handbewegungen ausgeführt hatte, bereitete man den Bau neuer Maschinen vor für die Massenproduktion von Granatkörpern.
Als Jimmie mit Sicherheit wusste, was da vor sich ging, stand er vor einem ernsten moralischen Problem. Durfte er als ein internationaler Sozialist sich dazu hergeben, Granaten herzustellen, die seine deutschen Genossen töten sollten? Durfte er sich dazu hergeben, die Maschinen herzustellen, die die Granaten herstellen sollten? Durfte er des Schmiergeld vom alten Granitch annehmen, den Anteil des Arbeiters an der abscheulichen Kriegsbeute - eine Lohn-Steigerung von vier Cent die Stunde, mit der Aussicht auf weitere vier, wenn die Produktion begann? Jimmie hatte sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen, als gerade eins seiner Kinder krank war und er sich sowieso schon den Kopf zerbrach, wie er wohl von seinem bisschen Lohn das Geld für den Arzt erübrigen könnte! Leicht fiel die Antwort dem Genossen Schneider, dem stämmigen, robusten Brauer, der in der Ortsgruppenversammlung aufstand und mit bitterer Verachtung von jenen Sozialisten sprach, die bei dem alten Höllenhund Granitch weiter in Lohn und Brot blieben. Schneider war für Streik in den Empire Machine Shops, und am liebsten noch am selben Abend! Doch da erhob sich die Genossin Mabel Smith, deren Bruder in dem Unternehmen Buchhalter war. Schneider habe gut reden, aber angenommen, es verlangte jemand, dass die Brauereiarbeiter streiken und sich weigern sollten, für Munitionsarbeiter Bier zu brauen? Das seien doch nur Spitzfindigkeiten, entgegnete Schneider, doch sie stritt das ab, erklärte, es sei nur ein Beispiel dafür, in welcher Klemme der Arbeiter stecke, der keinen Einfluss auf sein eigenes Schicksal habe und keine Stimme hinsichtlich der Verwendung seines Produkts. Es könne einer sagen, dass er mit Munitionsarbeit nichts zu tun haben wolle, und als Farmer auf die Felder gehen - und dann baue er dort Weizen an, der an die Armeen geliefert werde! Der Zusammenhalt der kapitalistischen Gesellschaft sei dergestalt, dass einer nirgends Arbeit finden könne, die nicht in irgendeiner Weise darauf abziele, seine Kollegen in anderen Ländern umzubringen.
Jimmie Higgins sprach zu Lizzie schon ernsthaft davon, nach Hubbardtown zu ziehen - verleitet durch Plakate in einer Arbeitsvermittlung, die in einem leerstehenden Laden in der Main Street eingerichtet worden war. Die Hubbard Engine Company versuchte dem alten Granitch die Arbeiter abzuwerben und bot für angelernte Arbeit zweiunddreißig Cent die Stunde! Jimmie erkundigte sich und erfuhr, dass die Firma ihren Betrieb für Gasmotoren erweitern wolle; zu welchem Zweck, wurde nicht gesagt, aber die Leute vermuteten, dass die Motoren in Schiffe eingebaut werden sollten, die man zum Versenken von Unterseebooten einsetzen wolle. So kam Jimmie zu der Ansicht, dass die Genossin Mabel Smith recht hatte; er konnte genauso gut bleiben, wo er war. Er würde so viel Geld verdienen, wie er kriegen konnte, und seinen neuen Wohlstand dazu benutzen, den Kriegsgewinnlern das Leben sauer zu machen. Das erste Mal im Leben war Jimmie frei von Geldsorgen. Er konnte nun überall gutbezahlte Arbeit bekommen, und es war ihm daher völlig egal, was der Boss sagen mochte. Er redete mit seinen Kumpels und erklärte ihnen, wie das mit dem Krieg war; gegenwärtig noch ein Krieg der Kapitalisten, doch vielleicht dazu bestimmt, sich in eine andere Art Krieg zu verwandeln, den die Kapitalisten nicht nach ihrem Geschmack finden würden.
2
Es war wunderbar, ganz unglaublich, was sich in Leesville tat. Wie sehr Jimmie Higgins auch von Hass auf das System erfüllt war, er konnte nicht anders als begeistert sein von dem, was er sah. Tausende von Männern strömten in die einst so alltägliche kleine Stadt - Männer von mehr als einem Dutzend Völkerschaften und Glaubensbekenntnissen, alte Männer und junge, weiße und schwarze - sogar ein paar gelbe! Es war ein Boom wie der Goldrausch von San Francisco 1849; das Geld, das die Pariser Bankiers der russischen Regierung gezahlt hatten und das die russische Regierung dem alten Granitch gezahlt hatte, überschwemmte in goldener Flut die Stadt. Die Spekulanten erhöhten den Preis für Land, die Hausbesitzer erhöhten die Mieten, die Gasthäuser verdoppelten die Preise, und selbst dann noch mussten sie die Leute auf Billardtischen unterbringen! Sogar Tom Callahan von der „Imbissstube" musste zwei Gehilfen einstellen und anbauen und seine Küche in den Hinterhof verlegen.
Nachts durchstreiften die Horden der Fremden die Straßen, und Lipskys „Filmpalast" war gerammelt voll bis an die Türen, und der „Preiswerte Schuhladen" hatte jede Woche einen neuen Sonderverkauf wegen Konkurs, und die Pendeltüren der Kneipen kamen stundenlang nicht zur Ruhe. Wo so viel Männer beisammen waren, zogen sich natürlich auch Frauen hin - Schwärme von Frauen - von ebenso vielen Völkerschaften wie die Männer. Leesville besaß einige vierzig Religionsgemeinschaften und hatte sich bisher sehr angestrengt, den Eindruck der Wohlanständigkeit zu erwecken; doch jetzt fielen alle Schranken, die Polizei der Stadt wurde von dem neuen Bevölkerungszuwachs überrollt -oder war es die goldene Flut aus Paris, die auf dem Wege über Russland kam? Wie dem auch sei, man konnte auf der Main Street Sachen sehen, die einen in seinem Misstrauen gegen den Krieg nur bestärkten.
Noch nie hatte es eine solche Gelegenheit für sozialistische Propaganda gegeben! All diese Menschenhorden, zusammengeholt von allen Enden der Welt, losgerissen von Bindungen an Familie, an Religion, an alte Gewohnheiten aller Art, wahllos zusammengewürfelt, auf die unterschiedlichste Weise lebend, gefasst auf alles, was da kommen mochte! Früher hatten diese Männer geschluckt, was ihnen ihre Zeitungsredakteure und Prediger und Politiker boten; sie hatten alltägliche ehrbare Tätigkeiten ausgeübt und ein zahmes, unabenteuerliches Leben geführt. Doch jetzt stellten sie Munition her, und man konnte sagen, was man wollte: es ging ein bestimmtes psychologisches Verhalten mit der Herstellung von Munition einher. Ein Arbeitgeber mochte fromm tun und über Recht und Gesetz reden, solange er seine Männer Unkraut hacken oder Dachschindeln legen oder Wege planieren ließ; aber was konnte er seinen Leuten noch sagen, wenn er Granaten herstellte, die dazu dienen würden, Menschen in Stücke zu reißen? So traten denn der Sozialist und der Anarchist und der Syndikalist und der Betriebsgewerkschafter auf den Plan. Seht euch diese Herren an, seht euch diese Zivilisation an, die sie geschaffen haben! In den ältesten Kulturzentren der Welt sind zehn, zwanzig Millionen Lohnsklaven zusammengetrieben worden - und dann beschrieb der Sozialist oder Anarchist oder Syndikalist oder Betriebsgewerkschafter im Einzelnen die blutigen, bestialischen Prozesse, denen diese zehn, zwanzig Millionen unterworfen waren. Und jeden
Tag brachten die Zeitungen neue Einzelheiten, die sie zitieren konnten - Hunger und Pest, Feuer und Mord, Giftgas, Brandbomben, torpedierte Passagierschiffe. Seht euch diese frommen Heuchler an, die Herren, mit ihrer feinen Lebensart, ihrer Kultur, ihrer Religion! Das sind die Leute, denen ihr folgen sollt, für solche wie sie seid ihr an die Maschinen gekettet schon all die zermürbenden Jahre voller Plackerei!
3
An jeder Straßenecke, in jedem Versammlungsraum, an jedem Ort, wo die Arbeiter zur Mittagszeit zusammenkamen, hörte man solche Diskussionen und fand Männer, die zuhörten - Männer, die vielleicht bisher noch nie zugehört hatten bei solchen Diskussionen. Sie nickten dann, und ihre Gesichter wurden hart - ja, die Leute oben an der Spitze mussten schon eine korrupte Sippschaft sein! Hier in Amerika - das ein Land der Freiheit und was sonst noch alles sein sollte -, hier waren sie ganz genauso, sie drängten sich um den Trog, um das Blut zu trinken, das in Europa vergossen wurde. Natürlich tarnten sie ihre Habgier als Sympathie für die Alliierten; aber glaubte denn wirklich einer, dass der alte Granitch die russische Regierung ins Herz geschlossen hatte? In Leesville glaubte das gewiss niemand; sie wussten, er machte seinen Rebbach, und ihre Herzen verhärteten sich in eiserner Entschlossenheit, ebenfalls ihren Rebbach zu machen.
Zuerst dachten sie, es würde ihnen glücken. Die Löhne stiegen fast nach Wunsch; noch nie hatte der ungelernte Arbeiter so viel Geld in der Tasche gehabt, ganz zu schweigen von dem Facharbeiter, der sich schon in der Plutokratenklasse befand. Aber rasch entdeckten die Männer den Wurm in dieser saftigen Kriegsfrucht; die Preise stiegen fast ebenso schnell wie die Löhne - an manchen Orten sogar noch schneller. Die Summen, die man dem Vermieter zahlen musste, überstiegen alle Begriffe; einem ledigen Arbeiter wurden zwei bis drei Dollar die Woche abgenommen für die zwölfstündige Benutzung einer Matratze nebst Bettdecke, wofür er in den alten Tagen fünfzig Cent gezahlt hatte. Das Essen war knapp und von schlechter Qualität; es dauerte nicht lange, und es wurden einem für ein Stück Pastete oder eine Tasse Kaffee sechs Cent abverlangt - und dann sieben Cent und schließlich zehn. Wenn man sich beschwerte, erzählte einem der Wirt eine lange Geschichte, wie viel er für Miete und für Arbeitskräfte und für die Waren zahlen müsse, und es ließ sich nicht abstreiten, dass er wahrscheinlich recht hatte. So ungefähr das einzige, was nicht teurer wurde, war eine Briefmarke, und der Sozialist wies darauf hin und erklärte, dass das Postamt Uncle Sam gehörte und nicht Abel Granitch!
Jede Preiserhöhung war für die Sozialisten Wasser auf die Mühle und verlieh ihrer Forderung „Hungert den Krieg aus und macht Amerika satt!" neuen Nachdruck. Der Sozialist sah, wie Millionen Tonnen von Gütern in Dampfschiffe verladen und nach Europa versandt wurden, wo sie dann im Krieg vernichtet wurden; er sah, wie die Arbeiter Europas zu Schuldsklaven einer Parasitenklasse in Amerika wurden; er sah, wie Amerika immer näher an den Höllenschlund des Kampfes herangezogen wurde. Nichts von alledem gefiel dem Sozialisten. Er verlangte lautstark nach einem Embargo - nicht nur für Munition, sondern auch für Lebensmittel und überhaupt alles, bis die Kriegsherren Europas Vernunft angenommen hätten. Er rief die Arbeitet zum Streik auf, um auf diese Weise die Politiker zu zwingen, das Embargo zu verhängen.
Natürlich ließ er sich das besonders angelegen sein, wenn er Deutscher oder Österreicher, Ungar oder Tscheche war. Obwohl die letzteren unterworfene Völkerschaften waren, brachten sie es doch in diesen frühen Tagen nicht fertig, über den Umstand hinwegzusehen, dass die Granaten, die die Empire Machine Shops produzierten, ihre Väter umbrachten. Auf ihrer Seite standen auch die Juden, die die russische Regierung so bitter hassten, dass nichts anderes zählte; außerdem die Iren, deren erster Gedanke im Leben es war, John Bull die Sünden von Jahrhunderten heimzuzahlen, und deren zweiter Gedanke es war, bei jedem Gerangel mitzumischen. Jimmie Higgins kannte sich da überhaupt nicht mehr aus; er hatte sich schon um Katholiken verschiedenster Nationen bemüht und als Dank nichts als harte Worte geerntet, doch nun plötzlich machten Tom Callahan aus der „Imbissstube" und Pat Grogan aus dem Grünkramladen an der Ecke die Entdeckung, dass er im Grunde vielleicht doch gar nicht so dumm war!
4
Im Ergebnis dieser Gärung unter den Arbeitern hatte die Ortsgruppe ihre Mitgliederzahl verdoppelt und hielt an zwei Abenden in der Woche Ecke Main Street Straßenversammlungen ab. Die beabsichtigte Herausgabe des Wochenblattes dagegen ließ noch immer auf sich warten. Genosse Dr. Service hatte seine beiden Schwäger verloren, den einen in der Schlacht bei Mons und den anderen bei dem ersten furchtbaren Gasangriff auf Ypern, wo ganze Regimenter unvorbereitet überrascht wurden und unter entsetzlichen Qualen umkamen. Auch zwei Vettern seiner Frau hatten einen hohen Preis zahlen müssen - der eine war blind und der andere Gefangener in Ruhleben, das Schlimmste, was einem passieren konnte. So hielt Dr. Service eine letzte beleidigte Rede in der Ortsgruppe und nahm sich seine fünfhundert Dollar, um eine Rote-Kreuz-Einheit aufzuziehen!
Doch jetzt fragten sich die Deutschen und die Kriegsgegner in der Ortsgruppe, ob der Sozialismus in der Stadt der Empire Machine Shops vor die Hunde gehen sollte, nur weil sich ein einziger reicher Mann mit einer englischen Frau als Renegat erwiesen hatte? Eine solche Frage beantwortete sich von selbst! Das Spendensammeln wurde energischer denn je betrieben, und schon war über die Hälfte der verlorenen fünfhundert Dollar wieder eingebracht, als eines Abends John Meissner mit einer sehr erstaunlichen Geschichte ankam.
Er kehrte gewöhnlich auf dem Heimweg abends bei Sandkuh auf ein Glas Bier ein, und wenn jemand in der Kneipe auf den Krieg zu sprechen kam, nutzte er die Gelegenheit, um ein bisschen Propaganda zu machen. Diesmal hatte er eine regelrechte Rede gehalten, in der er erklärte, dass die Arbeiter dem Munitionsgeschäft bald einen Riegel vorschieben würden, und da war ein Kerl mit ihm ins Gespräch gekommen, der alles mögliche über ihn und die
Ortsgruppe hatte wissen wollen. Wie viel Mitglieder sie hätte? Wie viele genauso wie Meissner dächten? Wie sie ihre Sache denn durchsetzen wollten? Sehr bald hatte der Mann Meissner zu einem Tisch hinten in der Ecke gezogen und nach der geplanten Zeitung gefragt und welche politische Richtung sie vertreten solle; auch nach den Gewerkschaften in der Stadt und ihrer politischen Richtung und nach der Persönlichkeit ihrer Führer. Der Mann hatte gesagt, er sei Sozialist, aber Meissner glaubte ihm nicht. Meissner meinte, er müsse so was sein wie ein Gewerkschaftsorganisator. Es war die Rede gewesen von verschiedenen Gewerkschaften, die bestrebt waren, in die Domäne des alten Granitch einzubrechen, und selbstverständlich versuchte der IWW mit seinem Programm einer „einzigen großen Gewerkschaft" überall einzudringen. Meissner erzählte weiter, wie dieser geheimnisvolle Fremde ihm erklärt hatte, dass es möglich wäre, für die Unterstützung eines Streikvorhabens in den Empire Shops eine Menge Geld zu bekommen. Das neue Werk sei gerade so weit, dass mit der Produktion begonnen werden könne, und neue Menschenmassen strömten herein; dabei brauchten nur ein paar smarte Jungs mit eingeschleust zu werden, die drinnen für den Achtstundentag und einen Mindestlohn von sechzig Cent die Stunde agitierten. Wer dazu bereit sei, könne gutes Geld verdienen und soviel er wolle; wenn der Leesviller „Worker" ebenfalls eine solche Politik vertreten wolle, gebe es keinen Grund, warum er nicht schon nächste Woche mit einer großen Ausgabe herauskommen und die Stadt überschwemmen solle. Das einzig Wichtige sei nur, dass die Vereinbarungen geheim bleiben müssten. Meissner dürfe niemandem trauen, außer den waschechten „Roten", die bereit seien, etwas durchzusetzen, und nicht erst fragten, wo das Geld herkäme. Um zu beweisen, dass es ihm Ernst sei, habe der Fremde ein Bündel Banknoten aus der Tasche geholt, wahllos ein halbes Dutzend herausgezogen und Meissner in die Hand gedrückt. Es seien Zehndollarnoten gewesen - mehr Geld, als ein kleiner Boss von der Glasfabrik im ganzen Leben auf einen Schlag in der Hand gehabt habe! Meissner breitete die Scheine aus, und Jimmie starrte mit weit aufgerissenen Augen darauf. Der Krieg machte sich ja wirklich - Zehndollarnoten für die sozialistische Propaganda, die man in den Kneipenhinterzimmern einsammeln konnte. Wie hieß denn der Mann eigentlich? Und wo hatte er seine Bleibe? Meissner bot sich an, Jimmie mit ihm zusammenzubringen, und so schlangen die beiden ihr Abendbrot hinunter und machten sich schleunigst auf den Weg.
5
Jerry Coleman hatte mehrere Kneipen genannt, wo er bekannt sei, und in einer davon fanden sie ihn, einen glattrasierten, redegewandten jungen Mann, den Jimmie für einen Kriminalbeamten oder Privatdetektiv gehalten hätte, mit denen+ er in den Tagen, als er „auf der Walze" gewesen war, seine Erfahrungen gemacht hatte. Der Mann war gut gekleidet und hatte gepflegte Fingernägel, was sich bekanntlich Arbeiter selten leisten können. Aber er tat nicht vornehm und bat sie, ihn beim Vornamen zu nennen. Er unterhielt sich eine Weile mit Jimmie - lange genug, um sich über seinen Mann Gewissheit zu verschaffen. Dann blätterte er weitere Banknoten hin und trug Jimmie auf, noch mehr Männer zusammenzuholen, denen man trauen konnte. Es sei nicht gut, wenn einer allein so viel Geld bei sich habe, denn das errege Verdacht; aber wenn sie sich an die Arbeit machen und dieses da für Handzettel verwenden würden, die man unter den Munitionsarbeitern verteilen könne, und für Straßenversammlungen und für die beabsichtigte radikale Zeitung - nun, dann wäre dort, wo dieses hergekommen sei, noch eine Menge mehr. Und wo sei dies hergekommen? fragte Jimmie, und Jerry Coleman machte ein schlaues Gesicht und zwinkerte mit den Augen. Nach einiger Überlegung kam er dann zu dem Schluss, dass es vielleicht gut sei, es ihnen zu sagen, vorausgesetzt, dass sie versprechen würden, nicht ohne seine Erlaubnis darüber zu anderen zu reden. Dieses Versprechen gaben sie, und Jerry erklärte ihnen, dass er ein Bundesorganisator der AFL sei, die beschlossen habe, diese Munitionswerke gewerkschaftlich zu organisieren und den Achtstundentag durchzusetzen. Aber es sei von größter Wichtigkeit, dass die Bosse nicht Wind von der Sache bekämen; sie dürfe weiter keinem verraten werden als denjenigen, die Coleman für vertrauenswürdig genug hielte. Jimmie und Meissner traue er, und sie sollten wissen, dass der große Gewerkschaftsverband hinter ihnen stände und ihnen, ungeachtet der Kosten, durchhelfen würde. Natürlich erwarte man, dass sie das Geld ehrlich verwendeten.
„Mein Gott!" rief Jimmie. „Wofür halten Sie uns denn? Für eine Bande von Gaunern?"
Nein, sagte der andere, ein so schlechter Menschenkenner sei er nun nicht. Und Jimmie bemerkte bissig, wer leicht zu Geld kommen wolle, der befasse sich nicht mit sozialistischer Agitation. Wenn es etwas gebe, worauf die Sozialisten stolz sein könnten, dann sei es dies, dass ihre Arbeiter und gewählten Funktionäre niemals Bestechungsgelder anrührten. Mr. Coleman - das heißt Jerry - würde eine Abrechnung für jeden Dollar bekommen, den sie ausgäben. Am selben Abend fand gerade eine Sitzung des Propagandakomitees der Ortsgruppe statt, dem ein halbes Dutzend der aktivsten Mitglieder angehörten. Jimmie und Meissner liefen eiligst hin, und ihr neu erlangter Reichtum brannte ihnen Löcher in die Taschen. Sie informierten das Komitee, dass sie für den Propagandafonds Geld gesammelt hätten, und holten vor den Augen ihrer erstaunten Genossen die Summe von einhundert Dollar hervor. Der Komiteevorsitzende hatte soeben vom Zentralbüro der Partei in Chicago das Muster eines neuen Flugblatts mit dem Titel „Erst macht Amerika satt" zur Ansicht erhalten; dieses Flugblatt war zu einem sehr niedrigen Preis, tausend Stück für ein oder zwei Dollar, zu haben; dank Jimmies Beihilfe konnte man telegrafisch zehntausend Flugblätter per Eilzustellung anfordern. Und dann lag da ein Angebot des Büros des Einzelstaats vor, Genossen Seaman, den Autor eines Antikriegsbuches, zwei Wochen lang jeden Abend in Leesville reden zu lassen. Aus Mangel an Mitteln hatte die Ortsgruppe beschlossen, dieses Angebot abzulehnen; aber jetzt, mit der neuen Beihilfe, fühlte sich das Propagandakomitee den fünfzig Dollar, um die es ging, gewachsen. Und dann war da noch der Vorschlag des Genossen Gerrity, des Organisators, der jeden Mittwoch- und Sonnabendabend Straßenversammlungen abhielt; wenn er einen Helfet haben könnte, zu fünfzehn die Woche, könnten diese Versammlungen jeden Abend stattfinden. Hier warf John Meissner ein, er sei sicher, dass für diesen Zweck finanzielle Unterstützung zu erhalten wäre, vorausgesetzt, man träfe die Entscheidung gleich. So entschied man sich denn.
6
Die Sitzung wurde geschlossen, und danach hatten Meissner und Jimmie noch eine Besprechung mit dem Organisator Gerrity, dem Brauer Schneider und der Genossin Mary Allen, die alle drei dem Komitee angehörten, das mit den Angelegenheiten des „Worker" betraut war. Jimmie erklärte, dass sie einen Gewerkschaftsorganisator getroffen hätten - sie könnten zwar nichts Näheres über ihn mitteilen, aber das Komitee würde Gelegenheit haben, ihn kennenzulernen -, der den Rest des erforderlichen Geldes zuschießen würde, vorausgesetzt, dass man bereit wäre, in der Zeitung sofort die Belegschaft der Empire Shops zum Streik aufzurufen. Konnte man dieses Versprechen geben? Die Genossin Mary Allen lachte nur und zeigte damit, dass sie jeden verachtete, der über diese Frage im Zweifel sein konnte! Genossin Mary war Quäkerin; sie liebte die gesamte Menschheit mit religiöser Inbrunst - und es ist erstaunlich, wie verbittert die Leute im Dienste der allumfassenden Menschenliebe werden können. Ihr scharfes, blasses Gesicht rötete sich, und ihre dünnen Lippen pressten sich zusammen, während sie antwortete, dass der „Worker" ganz bestimmt die Kriegsgewinnler angreifen würde, solange sie dem Leitungskomitee angehörte!
Schließlich kam man überein, dass die Genossin Mary am folgenden Morgen Jerry Coleman aufsuchen und sich überzeugen solle, dass er es wirklich ernst meinte; wäre das der Fall, so würde sie für den Abend das gesamte Komitee zusammentrommeln. Das Komitee war ermächtigt zu handeln, sobald das nötige Kapital beigebracht war; wenn also Coleman in Ordnung war, gab es keinen Grund, warum die erste Nummer der Zeitung nicht schon in der nächsten Woche erscheinen sollte. Der Genosse Jack Smith, ein Reporter des „Herald", der kapitalistischen Zeitung in Leesville, sollte kündigen und Redakteur des „Worker" werden, und er hatte seine Leitartikel schon fertig - hatte sie schon den ganzen vorigen Monat in der Ortsgruppe herumgezeigt! Jimmie und Meissner machten sich auf den Heimweg, glücklich in dem Gefühl, dass sie an diesem Abend mehr für den Sozialismus getan hatten als in ihrem ganzen bisherigen Leben. Aber während sie gingen, klang plötzlich das Geläut von Glocken durch die Nacht; Feuer! Sie kannten die Signale, zählten die Schläge und stellten fest, dass es in der Nähe ihrer Wohnung sein musste! Eine Feuerspritze raste vorbei, die nach hinten Funken sprühte, und sie begannen zu laufen. Noch bevor sie ein paar Häuserblocks weit gekommen waren, sahen sie am Himmel einen grellen Lichtschein, und das Herz schlug ihnen bis zum Hals; der arme Meissner keuchte hervor, dass er versäumt habe, seine letzte Monatsrate für die Versicherung zu bezahlen! Doch während sie in einer ständig wachsenden Menschenmenge weiterrannten, erkannten sie, dass das Feuer zu nah war, als dass es bei ihnen zu Hause hätte sein können; außerdem war es ein so starker Feuerschein, wie er durch noch so viele brennende Baracken nicht hätte entstehen können. Und schon hörte man Rufe in der Menge: „Es sind die Empire Shops! Die alten Werkstätten!" Ein Wagen mit Hakenleitern raste mit heulender Sirene vorbei, dann der Feuerwehrhauptmann in seinem Auto mit wild bimmelnder Glocke; sie bogen um die Ecke und erblickten am anderen Ende der Straße das Gebäude, in dem Jimmie vier Jahre lang die Bolzenschneidemaschine bedient hatte. Die ganze eine Seite war eine hoch auflodernde, züngelnde, tosende Flammensäule!
1
Mit äußerstem Unbehagen beobachtete Jimmie Higgins, wie zielstrebig der Krieg nach Leesville kam, obwohl er sich doch alle Mühe gab, ihn fernzuhalten. Man nehme doch nur die ausgefallenste Sache, die sich denken ließ -die idiotischste Sache von der Welt -, die deutschen Spione!
Als Jimmie die Leute von deutschen Spionen reden hörte, lachte er ihnen ins Gesicht, sagte ihnen, sie seien ja Spinner, sie gehörten in den Kindergarten, denn für Jimmie gehörten deutsche Spione ins Reich der Kobolde, Hexen und Seeschlangen. Und hier nun fand sich der ratlose kleine Mann mitten in einer Hexenjagd auf deutsche Spione, wie sie ihm nicht einmal im Traum eingefallen wäre! Alle Leute schienen es für selbstverständlich zu halten, dass die Empire Machine Shops von deutschen Agenten in Brand gesetzt worden waren; sie wussten das ganz einfach, und zu der Zeit, als das Feuer gelöscht war, liefen schon hundert verschiedene Geschichten um, auf die sie ihre Überzeugung stützten. Das Feuer war in einer Reihe von Explosionen von einem Ort zum andern übergesprungen; der Wachmann, der noch zwei Minuten vorher seinen Kontrollgang durch die Halle gemacht hatte, war zurückgelaufen und hatte hell brennendes Benzin gesehen und war in den auflodernden Flammen fast umgekommen. Und am andern Morgen kam der Leesviller „Herald" heraus, brachte in Riesenlettern diese Geschichten und behauptete, das Werk sei voll deutscher Agenten gewesen, die als Arbeiter verkleidet gewesen wären. Noch am selben Tag verhaftete die Polizei ein Dutzend völlig harmlose deutsche und österreichische Arbeiter; jedenfalls sah Jimmie es so, denn zwei der Männer waren Mitglieder der sozialistischen Ortsgruppe. Irgendjemand erzählte Mrs. Meissner, dass alle Deutschen in Leesville verhaftet I würden, und die arme Frau schlotterte vor Angst. Sie wollte, dass ihr Mann weglaufen solle, aber Jimmie überzeugte beide, dass das das Schlimmste wäre, was er tun könnte; Meissner blieb darum im Haus, und Jimmie hielt drei volle Tage den Mund - für ihn eine außerordentliche Leistung und eine schlimmere Strafe als Zuchthaus. Er hatte seine Arbeit verloren - für immer, wie er dachte. Aber auch hierin schätzte er die Kräfte falsch ein, die sein Leben in die Hand genommen hatten - die Macht des Goldes, das auf dem Weg über Russland nach Leesville gekommen war. Am Tag nach dem Brand erhielt er Bescheid, er solle sich wieder zur Arbeit melden; der alte Granitch war so sehr bemüht, seine Arbeiter vor den Klauen der Hubbard Engine Company zu bewahren, dass er sie alle, ob gelernt oder ungelernt, einstellte, um die Brandschäden zu beseitigen! Fünf Tage später trafen schon die ersten Lastwagen mit neuem Material ein, und der Wiederaufbau der Empire Shops begann. Man sollte es nicht für möglich halten - ein paar Maschinen, die beim Brand nicht allzu sehr gelitten hatten, wurden repariert und liefen nach ein paar Wochen, geschützt durch ein provisorisches Zelt, bereits wieder, während um sie herum die Mauern des neuen Gebäudes in die Höhe wuchsen!
Das war es, was die Welt an Amerika so bewunderte. Der Brand habe den alten Granitch wieder jung gemacht, sagten die Leute; er arbeitete zwanzig Stunden täglich in Hemdsärmeln, und sein Vokabular an Flüchen wurde immer fürchterlicher. Selbst Lacey Granitch, sein flotter Sohn, ließ den Lichterglanz des Broadways im Stich und kam nach Hause, um seinem alten Herrn zu helfen, die Verträge einzuhalten. Die Einsatzfreude für diese Verträge wurde Leesville sozusagen zur Religion; sie griff sogar auf die Arbeiter über, so dass es Jimmie ging wie einem Mann in der Brandung, der Mühe hat, sich gegen den Sog von unten auf den Beinen zu halten.
2
Das „Worker"-Projekt wurde verschoben, denn als Genossin Mary Allen, die Quäkerin, am Tag nach dem Brand Jerry Coleman aufsuchen wollte, war dieser Spender von Zehndollarscheinen auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Es verging eine Woche, bevor er sich wieder blicken ließ, und inzwischen hatte sich sowohl innerhalb der Ortsgruppe als auch außerhalb einiges ereignet. Um das letztere als das vermutlich Wichtigere zuerst zu nennen: Ein englisches Passagierschiff, der Stolz der Atlantikflotte, mit amerikanischen Millionären beladen bis zur letzten Kabine, wurde ohne vorherige Warnung von einem deutschen U-Boot torpediert. Mehr als tausend Männer, Frauen und Kinder ertranken, und ein Schauder des Entsetzens über diese „Heldentat" erfasste die ganze zivilisierte Welt. Auf der Versammlung der Ortsgruppe Leesville, die am Abend danach stattfand, erwies es sich als schwierig, zum geschäftlichen Teil überzugehen.
Die Mitglieder standen herum und diskutierten. Was sollte man zu einer Regierung sagen, die derartige Verbrechen befahl? Was sollte man zu einem Marineoffizier sagen, der einen derartigen Befehl ausführte? So Genosse Norwood, der junge Anwalt; und Schneider, der Brauer, antwortete, dass die deutsche Regierung alles getan habe, was ein vernünftiger Mensch verlangen könne. Sie habe in den New-Yorker Zeitungen bekanntmachen lassen, das Schiff würde angegriffen werden und jeder, der mit ihm führe, täte es auf eigene Gefahr. Wenn Frauen und Kinder auf Munitionsschiffen reisten...
„Auf Munitionsschiffen?" rief Norwood, und da zeigte Schneider auf eine Zeitungsmeldung, dass die „Lusitania" eine Ladung Patronenhülsen an Bord gehabt habe. „Schöne Munition!" höhnte der Anwalt. Nun, lautete die Antwort, wozu seien Patronenhülsen wohl gut, wenn nicht dazu, Deutsche umzubringen? Die Deutschen seien von der ganzen Welt angegriffen worden, und sie müssten sich schließlich verteidigen. Wenn man Genossen Schneider so ansah, glaubte man ihm, dass er sich von der ganzen Welt angegriffen fühlte; sein Gesicht war rot bis zu den Haarwurzeln, und er war bereit zur Verteidigung mit jeder Waffe, die ihm in die Finger kam. Genosse Koeln, ein langer Glasbläser, mischte sich in die Diskussion ein. Die deutsche Regierung sei Gewährsmann für die Behauptung, dass die „Lusitania" mit Kanonen bestückt gewesen sei. Und als Norwood darauf höhnisch lachte, gerieten alle anwesenden Deutschen in hellen Zorn. Was hatte er schon, um das zu widerlegen? Das Wort der britischen Regierung! Das Schlagwort vom „perfiden Albion" war doch nicht von ungefähr entstanden! „Was ich einfach nicht begreife", erklärte der junge Anwalt, „ist die Art und Weise, wie ihr Deutschen jetzt für den Kaiser eintretet, wo ihr doch vor dem Krieg nicht genug über ihn schimpfen konntet."
„Und was ich nicht begreife", konterte Schneider, „ist, wie ihr Amerikaner für König George eintretet. Jede Zeitung der Wall Street ereifert sich, dass Amerika in den Krieg eintreten soll - nur weil ein paar Millionäre umgekommen sind!"
„Du scheinst dir nicht im Klaren darüber zu sein, dass die, Mehrzahl der Männer, die auf diesem Schiff umgekommen sind, Arbeiter waren!"
„Haha!" höhnte Genosse Stankewitz. „Hat de Wall Street ein Herz für de Arbeiter!"
Genossin Mary Allen, die alle Menschen liebte, schaltete sich ein. Wenn diese Arbeiter bei einem Bergwerksunglück umgekommen wären, das durch verbrecherische Nachlässigkeit und Profitgier verursacht worden sei, wenn sie an irgendeiner Berufskrankheit gestorben wären, der man leicht hätte vorbeugen können, wenn sie in einer Fabrik, die keine Feuerleitern angeschafft hätte, verbrannt wären -dann hätte niemand in der Wall Street deshalb in den Krieg ziehen wollen. Davon war selbstverständlich jeder Sozialist überzeugt; jedem Sozialisten war klar, dass die Versenkung der „Lusitania" nur deshalb als ein so ungeheures Verbrechen galt, weil die privilegierten Leute davon betroffen und dadurch zu Schaden gekommen waren, die Leute, die zählten, die in die Zeitungen kamen und die nicht belästigt werden durften, nicht einmal durch Krieg. So war es möglich, dass Jimmie Higgins, obwohl er entsetzt war über das, was die Deutschen getan hatten, sich irritieren ließ durch das Theater, das die Wall-Street-Zeitungen machten. Der junge Emil Forster sprach, und man hörte ihm wie stets zu. Es sei ein Streit, sagte er - und wie üblich bei Streiten, gäbe es auf beiden Seiten Recht und Unrecht. Man habe ein paar englische und amerikanische Kinder abzuwägen gegen die Millionen deutscher Kinder, die die britische Regierung verhungern lassen wolle. Es handle sich um die britische Seemacht, die sich zu behaupten suche - und natürlich die meisten Nachrichtenkanäle kontrolliere. Sie berufe sich auf das, was sie „Gesetz" nenne - das heiße auf die Bräuche, die sie in der Vergangenheit zweckdienlich gefunden habe. Die britischen Kreuzer könnten Schiffe stoppen und durchsuchen und deren Mannschaften mitnehmen; U-Boote aber könnten das nicht; worauf also das Geschrei der Briten nach dem „Gesetz" hinauslaufe, sei der Versuch, Deutschland davon abzubringen, seine einzige Waffe anzuwenden. Und dann solle man sich auch ehrlich fragen, ob es eigentlich schlimmer sei, Menschen rasch zu ertränken, als sie langsam verhungern zu lassen.
Da meldete sich der Wilde Bill. Dieses Gezanke über deutsch oder britisch kotze ihn an. Merkten sie denn gar nicht, die Hornochsen, dass sie den Herren in die Hände spielten? Stritten sich untereinander, wo sie doch die Arbeiter wachrütteln, auf den eigentlichen Kampf vorbereiten sollten! Und der verhutzelte kleine Stankewitz redete wieder dazwischen - deswegen hasse er ja den Krieg, er spalte die Arbeiter. Es lasse sich nicht das geringste zugunsten des Krieges sagen. Aber der Wilde Bill setzte sein schiefes Lächeln auf. Es lasse sich allerhand zugunsten des Krieges sagen. Der Krieg gebe den Arbeitern Gewehre in die Hand und bringe ihnen bei, wie man sie benutze; wie sei es, wenn sie eines Tages diese Gewehre umdrehten und ihre eigenen Schlachten schlügen?
3
Genosse Gerrity eröffnete nun die Sitzung und bemühte sich, zum Geschäftlichen überzugehen. Man verlas das Protokoll der letzten Sitzung, stimmte über neue Mitglieder ab, und dann erhob sich Genossin Mary Allen, um über die Arbeit des „Worker"-Komitees Bericht zu erstatten. Die Geldmittel waren beschafft, die erste Nummer der Zeitung sollte in der kommenden Woche erscheinen, und es war nun Sache eines jeden Mitglieds der Ortsgruppe, sich auf die Beine zu machen und die Werbetrommel zu rühren wie noch nie. Genossin Mary Allen, mit dem hageren, glühenden Gesicht einer religiösen Fanatikerin, steckte alle mit ihrem Feuereifer an.
Alle, außer Rechtsanwalt Norwood. Seit Dr. Service sich zurückgezogen hatte, war er der Hauptstörenfried auf der proalliierten Seite, und er hielt nun eine kleine Rede. Er sei angenehm überrascht, dass das Geld so schnell beschafft worden sei; aber es seien ihm denn doch gewisse beunruhigende Zweifel gekommen, worauf er Nachforschungen angestellt und festgestellt habe, dass an der Sache etwas Mysteriöses sei. Es werde angegeben, dass die neue Zeitung einen Generalstreik in den Empirewerken fordern solle, und natürlich wisse jeder, dass es jetzt mächtige, unheilvolle Kräfte gebe, die ein Interesse daran hätten, Streiks in Munitionsfabriken zu organisieren.
Im nächsten Augenblick war der Wilde Bill aufgesprungen. Hatte der Genosse vielleicht etwas dagegen, dass Munitionsarbeiter den Achtstundentag forderten? „Nein", sagte Norwood, „natürlich nicht, aber wenn wir im Bündnis mit anderen in einen Kampf ziehen wollen, dann sollten wir doch wohl wenigstens wissen, wer diese Leute sind und was für Absichten sie haben. Soweit ich erfahren habe - offenbar will man darüber nicht so recht mit der Sprache heraus -, ist eine Menge Geld von einem einzigen Mann gegeben worden, und niemand weiß, wer dieser Mann ist."
„Er ist Organisator für die AFL!" Das war Jimmies Stimme; In seiner Aufregung hatte er das feierliche Versprechen, die
Sache geheimzuhalten, völlig vergessen!
„Ach wirklich!" sagte Norwood. „Wie heißt er denn?"
Niemand antwortete.
„Hat er seinen Ausweis gezeigt?"
Wieder Stille.
„Ich brauche natürlich Männern, die mit Gewerkschaftsangelegenheiten so vertraut sind wie die Genossen hier, nicht zu erzählen, dass jeder echte Organisator für eine Gewerkschaft sich ausweisen kann. Wenn er seine Papiere nicht; zeigt, ist das zumindest Anlass dafür, an die Organisation zu schreiben und sich über ihn zu erkundigen. Hat das jemand getan?"
Wieder herrschte Schweigen.
„Ich möchte niemand beschuldigen ...", sagte Norwood. „I wo!" rief der Wilde Bill dazwischen. „Du willst nur anschwärzen!"
„Ich will nur sichergehen, dass die Ortsgruppe weiß, was sie tut. Es ist ja wohl in Leesville kein Geheimnis, dass Gelder dafür eingesetzt werden, in den Empirewerken Unruhe zu stiften. Zweifellos ist dieses Geld schon durch sehr viele Hände gegangen, seit es der Kaiser weggegeben hat, aber wir können überzeugt sein, dass seine Hände es bis zu seinem endgültigen Ziel lenken."
Was gab es da für einen Tumult! „Pfui! Pfui!" riefen einige, und andere riefen: „Bring uns deine Beweise!" Die „scharfen" Mitglieder schrien: „Werft ihn raus!" Sie hatten Norwood schon lange loswerden wollen, und hier bot sich offenbar eine günstige Gelegenheit.
Doch der junge Rechtsanwalt hielt seine Stellung und gab ihnen Schuss um Schuss zurück. Beweise wollten sie? Angenommen, sie hätten von einer kapitalistischen Verschwörung erfahren, die die Gewerkschaften in der Stadt zugrunde richten wolle, und angenommen, der Leesviller „Herald" hätte lautstark „Beweise" verlangt - was hätten sie dann wohl gedacht?
„Mit anderen Worten", brüllte Schneider, „du weißt, dass es wahr ist, einfach weil es Deutschland ist!" „Ich weiß, dass es wahr ist", sagte Norwood, „weil es Deutschland helfen würde, den Krieg zu gewinnen. Weitere Beweise braucht man nicht - wenn eine bestimmte Sache Deutschland hilft, den Krieg zu gewinnen, dann weiß man, dass diese Sache auch gemacht wird. Ihr Deutschen wisst das alle, und ihr seid obendrein sogar noch stolz darauf; das ist eure Tüchtigkeit, mit der ihr euch brüstet." Wieder ertönte der Ruf: „Pfui! Pfui!", aber der Ruf kam von Genossin Mary, der Quäkerin, und es war offensichtlich, dass sie einen Chor erwartet hatte und aus der Fassung gebracht war, als sie sich allein sah.
Der junge Norwood, der seine Deutschen kannte, lachte verächtlich. „Gerade jetzt verkauft eure Regierung Pfandbriefe in Amerika, angeblich zugunsten der Familien der Gefallenen und Verwundeten. Einige dieser Pfandbriefe sind, wie ich zufällig weiß, in dieser Stadt gekauft worden. Glaubt jemand von euch wirklich, dass das Geld die Familien der Gefallenen und Verwundeten erreichen wird?" Diesmal antworteten die Deutschen. „Ich glaube es!" dröhnte Genosse Koeln. „Ich auch! Ich auch!" schrien andere.
„Dieses Geld bleibt hier in Leesville!" erklärte der Rechtsanwalt. „Damit wird ein Streik in den Empirewerken vorbereitet!"
Ein Dutzend Männer meldete sich gleichzeitig zum Wort. Schneider, der Brauer, bekam es, weil er alle anderen überbrüllen konnte. „Was will der Genosse eigentlich?" wollte er wissen. „Ist er nicht für den Achtstundentag?"
„Hat er etwa vom alten Granitch Geld bekommen?" gellte der Wilde Bill. „Oder weiß er vielleicht nichts davon, dass Granitch Geld ausgibt, damit smarte junge Rechtsanwälte ihm helfen, seine Munitionssklaven bei der Arbeit zu halten?"
4
Nachdem Norwood sein Öl ins Feuer gegossen hatte, setzte er sich für eine Weile wieder hin und ließ es brennen. Als die Deutschen höhnten, er habe ja Angst, auszusprechen, was er wirklich meinte - nämlich, dass die Ortsgruppe sich gegen die Forderung nach einem Achtstundentag stellen solle -, da lachte er sie nur aus. Er habe erreichen wollen, dass sie sich selbst bloßstellten, und das habe er geschafft. Nicht nur, dass sie bereit seien, für den Kaiser zu arbeiten - sie seien obendrein noch bereit, dafür vom Kaiser Geld zu nehmen!
„Von ihm Geld nehmen?" rief der Wilde Bill. „Ich würde vom Teufel selber Geld nehmen, um weiter für den Sozialismus agitieren zu können!"
Der alte Hefmann Forster stand auf und nahm mit seiner sanften, gefühlvollen Stimme das Wort. Falls es die Wahrheit sei, dass der Kaiser Geld für derartige Zwecke gebe, würde er doch bestimmt feststellen müssen, dass er sehr wenig damit erkauft habe. Auch in Deutschland gebe es Sozialisten, das dürfe man nicht vergessen ... Darauf ein gellendes Lachen. Diese zahmen deutschen Sozialisten! Der das sagte, war Genosse Claudel, ein belgischer Juwelier. Würde vor solchen Revolutionären auch nur ein Hase Angst haben? Die fraßen doch dem Kaiser aus der Hand - ließen ihre Zeitungen in den Schützengräben als Regierungspropaganda verteilen! Sollte mal einer einen Belgier was über deutsche Sozialisten erzählen! So sah man, wie die Grenzen zwischen den europäischen Nationen die Ortsgruppe Leesville in zwei Hälften spalteten: auf der einen Seite die Deutschen und Österreicher, die russischen Juden, die Iren und die christlichen Pazifsten; auf der anderen Seite zwei englische Glasbläser, ein französischer Kellner und ein paar Amerikaner, die wegen einer Collegebildung oder einer anderen snobistischen Schwäche im Verdacht standen, eine Vorliebe für John Bull zu haben. Zwischen diesen extremen Gruppen stand die Masse der Mitglieder, hörte ratlos zu und versuchte sich tastend durch das Labyrinth hindurchzufinden. Das war keine leichte Sache für diese einfachen Leute, für die Jimmie Higginse. Es trieb sie fast zur Verzweiflung, wenn sie die Sache zu Ende zu denken versuchten. Die Frage hatte so viele Seiten - der letzte, mit dem man sprach, hatte stets ein besseres Argument als alle anderen, die man vorher gehört hatte! Natürlich empfand man Sympathie für Belgien und Frankreich, aber hasste man deswegen etwa die herrschenden Klassen Englands weniger? Die waren doch der Erbfeind, sozusagen der Feind aus dem Schulbuch. Und sie waren diejenigen, über die man am meisten wusste; da jeder amerikanische Schwachkopf, der schnell reich geworden war und sich über seinesgleichen erheben wollte, sich unweigerlich englische Kleidung, englisches Personal und englische schlechte Manieren zulegte. Für den schlichten Durchschnittsamerikaner bedeutete das Wort „englisch" Privilegien, Kultur der herrschenden Klasse, Establishment, all das, wogegen er rebellierte. Deutschland war dagegen der Prolet unter den Nationen -der arme Hund, der nie eine Chance gehabt hatte und sie sich jetzt mit Gewalt verschaffen wollte. Außerdem waren die Deutschen gründlich; sie machten sich die Mühe, einem ihre Sache auseinanderzusetzen, es war ihnen wichtig, was man von ihnen hielt; wogegen der verdammte Engländer seine snobistische Nase hoch trug und sich keinen Pfifferling darum kümmerte, was andere von ihm dachten.
Außerdem war in dieser Kontroverse die Macht der Trägheit auf der Seite der Deutschen, und die Trägheit ist in allen Organisationen eine gewaltige Macht. Was die Deutschen von den amerikanischen Sozialisten wollten, war einfach, dass sie weitermachen sollten mit dem, was sie ihr ganzes Leben lang getan hatten. Und der sozialistische Parteiapparat war zu dem Zweck geschaffen, weiterzumachen ohne Rücksicht auf alle Mächte auf Erden, im Himmel oder in der Hölle. Sollte man doch von Jimmie Higgins einmal verlangen, die Forderung nach höheren Löhnen und dem
Achtstundentag fallenzulassen! Wusste nicht jeder, der bei Verstand war, was Jimmie auf so ein Ansinnen antworten würde? Du kannst mich mal!
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Andererseits lässt sich nicht leugnen, dass Jimmie bei dem Gedanken schauderte, sein Geld könnte vielleicht vom Kaiser kommen. Zwar waren die Traditionen der sozialistischen Bewegung deutsche Traditionen, aber es waren deutsche regierungsfeindliche Traditionen: Jimmie sah den Kaiser als Teufel in Person, und der bloße Gedanke, irgend etwas zu tun, was der Kaiser getan haben wollte, war für ihn Grund genug, sofort damit aufzuhören. Er begriff auch, wie schlimm es für die Bewegung wäre, wenn irgendjemand glaubte, sie nähme Geld vom Kaiser. Angenommen, es gelangte ein Bericht über die Diskussion dieses Abends an den „Herald"! Und das, wo die Öffentlichkeit bis zum Wahnsinn erregt war über die Sache mit der „Lusitania"! Nachdem die Diskussion sich so etwa eine Stunde hingezogen hatte, brachte Norwood den Antrag ein, das „Worker"-Komitee solle beauftragt werden, die Quellen aller eingegangenen Gelder gründlich zu überprüfen und alles zurückzuweisen, was nicht von Sozialisten käme oder von Leuten, die mit dem Sozialismus sympathisierten. Der gesunde Menschenverstand der Versammelten setzte sich durch, und sogar die Deutschen stimmten für diesen Antrag. Aber ja, sollten sie nur hingehen und überprüfen! Die sozialistische Bewegung war sauber, war stets sauber gewesen; sie hatte vor niemand etwas zu verbergen. Aber dann erhob sich ein neuer Streit. Claudel beantragte, dass Norwood Komiteemitglied werden solle, und dem widersetzten sich natürlich die Radikalen aufs heftigste. Das war ja eine Beleidigung, ein Zweifel an der Integrität des Komitees. Und außerdem, gab Baggs, ein Engländer, zu verstehen, könnte Norwood ja vielleicht wirklich etwas finden! Die Jimmie Higginse stimmten den Antrag nieder - nicht, weil sie irgendwelche Enthüllungen fürchteten, sondern weil sie meinten, einem ruhigen, verständigen Menschen wie ihrem Organisator Gerrity dürfe man zutrauen, dass er den guten Ruf der Bewegung schützte, und zwar ohne jemand vor den Kopf zu stoßen oder viel Gewese zu machen. Die Überprüfung erfolgte, und das Ergebnis war, dass Jerry Coleman sein Geld, das er für den „Worker" gegeben hatte, stillschweigend zurückbekam. Doch der Fehlbetrag wurde sofort von den Deutschen in der Ortsgruppe ersetzt, die das Ganze für ein abgekartetes Spiel hielten, für einen Versuch, die Agitation für einen Streik abzuwürgen. Diese Genossen gaben überhaupt nichts auf das Gerede über „deutsches Gold", achteten aber andererseits sehr wachsam auf den Einfluss russischen Goldes, das, wie sie wussten, ganz offen von dem alten Abel Granitch verteilt wurde. Und daher griffen sie tief in die Tasche und kramten ihren kärglichen Lohn heraus, damit die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit in Leesville lebendig bliebe. Das Endergebnis der ganzen Episode war, dass die Ortsgruppe das Geld des Kaisers zurückwies, jedoch unbezahlt weiter das tat, was der Kaiser wollte. Das konnte man kaum eine zufriedenstellende Lösung nennen, aber es war die beste, die Jimmie Higgins zu diesem Zeitpunkt finden konnte.
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Die erste Nummer des „Worker" erschien: Auf der ganzen Titelseite Jack Smith' Leitartikel, der die Arbeiter der Empirewerke aufrief, diese Gelegenheit zu benutzen, um sich zu organisieren und ihr Recht zu fördern. „Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden Freizeit!" verkündete Genosse Jack, was vom „Herald" und vom „Kurier", die das Erscheinen eines Wilderers in ihrem journalistischen Revier in größte Wut versetzte, mit Schimpfkanonaden über „deutsche Propaganda" beantwortet wurde. Der „Herald" wusste zu berichten, was sich in der Ortsgruppe zugetragen hatte; außerdem brachte er ein Bild vom Wilden Bill und ein Interview mit diesem Schrecken des Westens, der erklärte, er sei für Krieg gegen die Kapitalistenklasse mit der Hilfe aber auch jedes Verbündeten, der sich finden ließe - selbst wenn es sich um Schmirgelpulver in Kugellagern und Kupfernägel in Obstbäumen handle. Der „Herald" erhob die Beschuldigung, die Haltung der Sozialisten in der Frage „unsauberer Gelder" sei bloß Theater. Passiert sei einfach Folgendes: Die deutschen Mitglieder der Ortsgruppe hätten deutsches Geld erhalten und dieses mit dem einfachen Trick, es durch ihre geweihten Hände laufen zu lassen, in „sozialistisches Geld" verwandelt. Da sich Norwood in der Ortsgruppe etwa in diesem Sinne geäußert hatte, erhoben die deutschen Genossen jetzt gegen ihn den Vorwurf, er hätte die Bewegung an die kapitalistische Presse verraten. Und so kam es zu einem weiteren erbitterten Streit in der Ortsgruppe. Der junge Anwalt lachte über den Vorwurf. Glaubten sie denn wirklich, sie könnten in Leesville deutsches Geld annehmen, ohne dass es herauskäme? „Dann glaubst du also, wir nehmen wirklich deutsches Geld?" tobte Schneider und verlangte wutschnaubend eine Antwort. Der andere wollte nicht direkt antworten, sondern erzählte ihnen eine kleine Parabel. Er sah einen Baum seine Wurzeln in den Boden strecken und sich überall ausbreiten, jedes kleine Würzelchen dafür eingerichtet, Wasser aufzusaugen. Und oben auf der Erde stand ein Mann mit einet bestimmten Menge Wasser, das er ausgoss, er goss und goss ohne Unterlass, und das Wasser sickerte hinab zu den Würzelchen, und jedes Würzelchen suchte nach Wasser und schob sich dorthin, wo Wasser zu erwarten war. „Und nun", sagte Norwood, „fragt ihr mich, ob ich glaube, dass der Baum etwas von dem Wasser abbekommen hat?" Und das gab natürlich Anlass zu einer erbitterten Auseinandersetzung. Die Hitzköpfe wollten von spitzfindigen Unterscheidungen nichts hören; sie erklärten, Norwood beschuldige die Bewegung der Korruption und stelle die Kriegsgegner als Schurken hin! Er versorge die kapitalistische Presse mit Munition. Pfui Teufel! Pfui Teufel! „Er ist ein Lockspitzel!" schrie der Wilde Bill. „Schmeißt ihn raus, den Judas!"
Das Durchschnittsmitglied der Ortsgruppe, der absolut ehrliche Mann wie Jimmie Higgins, der sich abrackerte und halb zu Tode hungerte, um seine Klasse aufzuklären, hörte sich derartige Streitereien ratlos und unglücklich an. Er sah sie als Widerhall der entsetzlichen nationalen Hassgefühle, die Europa zerrissen, und war verärgert darüber, dass diese Streitigkeiten der Alten Welt mit Gewalt in das amerikanische Industrieleben eingeschleppt wurden. Warum konnte er denn nicht weitermachen in seiner Pflicht, die amerikanischen Arbeiter dem genossenschaftlichen Gemeinwesen entgegenzuführen?
Weil, so antworteten die Deutschen, der alte Granitch die amerikanischen Arbeiter als Munitionssklaven behalten wolle, und diesem Gedanken schloss sich der weit überwiegende Teil der Mitglieder an. Sie waren keine Pazifisten, keine Leute, die Widerstand ablehnten; sie waren durchaus gewillt, die Kämpfe der Arbeiterklasse durchzufechten. Wogegen sie etwas hatten, war, dass sie die Kämpfe der herrschenden Klasse durchfechten sollten. Sie wollten weitermachen wie schon immer, im Widerstand gegen die herrschende Klasse, und ohne sich um Gerede über deutsche Agenten zu kümmern. Jimmie Higgins glaubte - und er hatte mit diesem Glauben vollkommen recht -, dass selbst dann, wenn es keine deutschen Agenten gegeben hätte, die kapitalistischen Zeitungen von Leesville sie erfunden hätten, als ein Mittel, in dieser Krise die Agitatoren in Verruf zu bringen. Jimmie Higgins hatte sein ganzes Leben in einem Land zugebracht, in dem die Herren ihn hungern ließen und ihn unterdrückten und, wenn er sich selbst zu helfen versuchte, jede Waffe des Verrats und der Verleumdung gegen ihn einsetzten. So war Jimmie zu der Ansicht gelangt, dass ein kapitalistisches Land wie das andere war und dass man ihn nicht kirre machen konnte durch Märchen von Kobolden und Hexen und Seeschlangen und deutschen Spionen.
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Jeden Abend führte die Partei jetzt ihre Straßenversammlungen an einer Ecke gleich an der Main Street durch. Jimmie, der sich freiwillig als Helfer gemeldet hatte, schlang abends hastig sein Essen hinunter und rannte dann hin. Er war natürlich keiner von den Rednern - er wäre entsetzt gewesen bei dem Gedanken, selbst eine Rede zu halten; aber er gehörte zu denen, die mit ihrer Arbeit das Reden halten erst möglich machten und für die Bewegung gleichsam die Ernte einbrachten.
Die Requisiten für die Versammlung wurden im Laden eines befreundeten Zimmermanns in der Nähe aufbewahrt. Der Zimmermann hatte eine „Rednertribüne" gebaut, die das reinste Wunderwerk war - ein Podest auf vier schmalen Beinen, zerlegbar, so dass ein einzelner Mann die ganze Sache tragen und aufstellen konnte. Der Redner ragte auf diese Weise sechzig, siebzig Zentimeter über die Köpfe der Menge hinaus und hatte ein Geländer zur Verfügung, auf das er sich stützen konnte und auf das er sogar mit der Faust schlagen konnte, falls er nicht allzu heftig zuschlug. In einiger Entfernung von seinem Kopf brannte eine Petroleumlaterne, die sein Gesicht erleuchtete, und Jimmies Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass diese Lampe ordnungsgemäß gereinigt und gefüllt war, und sie einen Teil der Zeit an einer Stange hochzuhalten. Die übrige Zeit verkaufte er Literatur unter der Menge - Exemplare des Leesviller „Worker" und Flugschriften zu fünf und zehn Cent, die vom Zentralbüro kamen.
Nachts kam er dann, von dieser Anstrengung nach der schweren Tagesarbeit erschöpft, nach Hause, schlief an Lizzies Seite ein und musste von ihr aus dem Bett gescheucht werden, wenn am nächsten Morgen der Wecker klingelte. Sie machte ihm dann eine Tasse heißen Kaffee, und wenn er die getrunken hatte, war er wieder ein Mensch und erzählte von den Erlebnissen des letzten Abends. Irgendetwas war immer los: es fing jemand Streit an, es war einer betrunken, vielleicht versuchten auch ein paar Schläger im Sold des alten Granitch die Versammlung zu sprengen. Lizzie tat ihr Bestes, die Teilnahme an den Aktivitäten ihres Mannes zu bekunden, die man von einer pflichtgetreuen Ehefrau erwartet. Aber die ganze Zeit nagte ein Kummer an ihrer Seele - der ewige Kummer des weiblichen Temperaments, das vorsichtig und konservativ ist, im: Gegensatz zum männlichen Temperament, das unternehmungslustig und destruktiv ist. Da verdiente Jimmie nun doppelt soviel wie je zuvor, hätte seine Kinder ordentlich satt machen und zum ersten mal in seinem gehetzten Leben ein bisschen auf die Seite legen können, aber statt die günstige Gelegenheit auszunutzen, ging er jeden Abend auf die Straße und tat das menschenmögliche, um die goldene Chance zu zerstören, die das Schicksal ihm bot! Ganz wie der Mann, der auf einen Baum klettert, um einen Ast abzusägen, und der sich auf den Ast setzt und zwischen sich und dem Baum sägt!
Trotz größter Anstrengungen wurde Lizzies breites, gutmütiges Gesicht bisweilen hart vor Enttäuschung, und eine dicke Träne rollte über jede ihrer runden Backen. Sie tat Jimmie leid, und er versuchte geduldig, ihr seine Handlungsweise zu erklären. Sollte ein Mann etwa nur an seine eigene Frau und an seine eigenen Kinder denken und all die anderen Frauen und Kinder der Arbeiterklasse gänzlich vergessen? Das war ja der Grund, weshalb die Arbeiter zu allen Zeiten Sklaven gewesen waren, weil nämlich jeder nur an sich und nie an seine Genossen dachte. Nein, man musste an seine Klasse denken! Man musste als Klasse handeln - wachsam jeden Vorteil wahrnehmen, Solidarität lehren und das Klassenbewusstsein wecken! Jimmie verwendete diese langen Wörter, die er auf Versammlungen gehört hatte; aber wenn er dann sah, dass Lizzie sie nicht verstand, dann fing er wieder von vorn an und sagte es noch einmal in Wörtern von bloß einer Silbe. Sie hatten den alten Granitch gerade jetzt in der Klemme, jetzt mussten sie's ihm zeigen, und gleichzeitig mussten sie den Arbeitern ihre Macht zeigen. Lizzie seufzte und schüttelte den Kopf; denn für sie war der alte Granitch kein Mensch von Fleisch und Blut, sondern ein Naturphänomen, so wie der Winter oder der Hunger. Granitch oder irgendeiner seinesgleichen war schon seit unzähligen Generationen der Herr ihrer Vorfahren gewesen, und der Versuch, seine Macht zu brechen oder auch nur einzuschränken, war, als wollte man der Flut oder der Sonne befehlen.
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Die Ereignisse trieben rasch ihrem Höhepunkt zu und rechtfertigten Lizzies schlimmste Befürchtungen. In den Werken brodelte die Unzufriedenheit, und Agitatoren schienen förmlich aus dem Boden zu schießen; manche von ihnen wurden zweifellos von Jerry Coleman bezahlt, während andere ihren Lohn in der Befriedigung der Ressentiments fanden, die das Profitsystem ihnen ins Herz gelegt hatte. Ganz spontan und ohne vorherige Absprache kam es in der Mittagspause zu Versammlungen, und bald erfuhr Jimmie, dass Männer herumgingen und die Namen aller aufschrieben, die bereit waren zu streiken. Die Dinge wurden auf die Spitze getrieben durch die Leitung der Empirewerke, die natürlich von ihren Spitzeln auf dem Laufenden gehalten wurde. Sie entließ über zwanzig der Unruhestifter, und als diese Nachricht in der Mittagszeit bekannt wurde, brach der ganze Betrieb in lodernden Zorn aus. „Streik! Streik!" hieß die Parole. Jimmie war einer von vielen, die einen Umzug durch das Werk starteten mit Geschrei, Gesang, Drohungen gegen die Bosse und Kampfansagen an alle, die etwa wieder zurück an die Arbeit gehen wollten. Doch nur weniger als ein Zehntel der Belegschaft machte den Versuch dazu, und so produzierte an diesem Nachmittag das Werk der Empire Machine Shops, das eigentlich Granatkörper für die russische Regierung herstellen sollte, gewerkschaftliche, sozialistische und proletarisch-internationalistische Rhetorik.
Jimmie Higgins war vor Aufregung außer sich. Er tanzte herum und schwenkte seine Mütze, er schrie sich heiser, er war drauf und dran, seinem Impuls nachzugeben und höchstpersönlich eine Rede zu halten. Bald kamen die Genossen Gerrity und Mary Allen, die von den Unruhen erfahren und eine ganze Ausgabe des „Worker" auf einen Ford geladen hatten; Jimmie wurde Zeitungsjunge, verkaufte diese Zeitungen, Hunderte davon, bis seine Taschen vom Gewicht der vielen Centstücke fast platzten. Und danach ließ man ihn nicht wieder fort, sondern schickte ihn auf Botengänge für die Genossen, die damit beschäftigt waren, die Arbeiter zu organisieren; er trug Bündel von Mitgliedskarten und Aufnahmeformularen herbei, folgte einem Mann mit einer Stimme wie ein Bulle und einem Megaphon, der in verschiedenen Sprachen den Standort der Gewerkschaftsgeschäftsstelle ausrief und die Säle, in denen am Abend in verschiedenen fremden Sprachen Versammlungen abgehalten werden sollten. Offensichtlich hatte jemand den Ausbruch dieser Unruhen vorausgesehen und sich die Mühe gemacht, im Voraus zu planen. Am späten Nachmittag wurde Jimmie Zeuge eines aufregenden Vorfalls. In einer der Werkhallen hatte eine Anzahl Männer darauf bestanden, wieder an die Arbeit zu gehen, und eine riesige Menge von Streikenden hatte sich versammelt, um auf sie zu warten. Sie hatten Angst herauszukommen und blieben nach der Feierabendsirene im Gebäude, während die Draußenstehenden johlten und pfiffen und die Bosse wild nach Hilfe telefonierten. Der größte Teil der Polizei von Leesville war zur Stelle, und außerdem verfügte die Firma über eine eigene Wachmannschaft und Privatdetektive. Aber sie wurden auf dem ganzen Gelände gebraucht. Man sah sie an den verschiedenen Eingängen, drohend, doch nicht ganz so selbstsicher wie gewöhnlich; ihre Hände hatten den Drang, nach hinten zu rutschen, zu der Ausbuchtung auf ihrer rechten Hüfte. Jimmie und ein anderer Bursche hatten sich eine leere Kiste besorgt und standen nun darauf, lehnten sich gegen die Fabrikmauer und schrien „Pfui! Pfui!", sobald sich der Kopf eines Streikbrechers zeigte. Sie sahen ein Auto mit wildem Hupen zum Tor hereinfahren, so dass die Menge nach links und rechts zur Seite springen musste. Das Auto war mit Männern beladen, die einer auf des andern Knien saßen oder sich auf den Trittbrettern draußen festklammerten. Ein zweiter Wagen kam, genauso beladen. Es waren Wachmannschaften, die man den weiten Weg von Hubbardtown herbeigeholt hatte; denn natürlich half die Hubbard Engine Company ihren Rivalen in einem Notfall wie diesem. Das war die Solidarität des Kapitalismus, über die die Sozialisten nicht müde wurden zu predigen. Die Männer sprangen von den Wagen und stellten sich fächerartig vor der Tür auf. Sie hatten Gummiknüppel in den Händen und eine grimmige Entschlossenheit auf den Gesichtern; sie riefen: „Zurücktreten! Zurücktreten!" Die Menschenmenge johlte, machte aber langsam Platz, und ein paar Minuten später öffneten sie die Türen des Gebäudes, und der erste der furchtsamen Arbeiter erschien. Gebrüll ertönte, und irgendwo aus der Menge wurde ein Stein geworfen. „Festnehmen, den Mann!" schrie eine Stimme, und Jimmies Aufmerksamkeit wurde auf den Besitzer dieser
Stimme gelenkt - einen jungen Mann, der im ersten Auto angekommen war und jetzt auf dem Sitz stand, von wo aus er die Menge übersehen konnte. „Festnehmen, den Mann." schrie er wieder, zeigte mit dem Finger in die Menge, und drei Wachleute sprangen zu der angezeigten Stelle. Der Mann, der das Geschoß geworfen hatte, begann zu rennen, konnte aber in der Menge nicht rasch genug vorwärts kommen, und offenbar hatten die Wachleute ihn im Nu beim Kragen. Er versuchte sich loszureißen, und sie schlugen ihn auf den Kopf und droschen um sich, um die übrige Menge in Schach zu halten. „Bringt ihn rein!" schrie der junge Mann im Wagen wieder. Und einer der Wachmänner drehte seine Hand im Kragen des unglücklichen Steinwerfers, bis der purpurrot im Gesicht war, und zog ihn und stieß ihn hinein ins Gebäude.
3
Der junge Mann im Wagen wandte sich gegen die Menge, die den Weg zum Ausgang versperrte. „Schafft diese Leute aus dem Weg!" schrie er die Wachmänner an. „Treibt sie weg - sie sollen sich zum Teufel scheren, sie haben hier nichts zu suchen." Und so weiter mit einer Reihe schwungvoller Flüche, die sowohl die Wachmänner wie die Polizisten auf Trab brachten, so dass sie fleißig ihre Gummiknüppel gegen die Menge gebrauchten. „Weißt du, wer das ist?" fragte Jimmies Gefährte auf der Kiste. „Das ist Lacey Granitch." Jimmie erschrak, ein Schauder überlief ihn bis zu den Sohlen seiner abgetragenen Schuhe. Lacey Granitch! In den vier Jahren, die der kleine Maschinenarbeiter nun für die Empirewerke arbeitete, hatte er den jungen Herrn kein einziges Mal auch nur flüchtig zu Gesicht bekommen - was kein Wunder war, denn der junge Herr hielt Leesville für ein „Nest" und beehrte es nur ein- bis zweimal im Jahr mit seiner Gegenwart. Aber sein Geist lastete auf der Stadt; er war für Leesville eine mythologische Figur, entweder des Staunens und der Ehrfurcht oder des Schreckens, je nach dem Temperament des Betrachters. In der Ortsgruppe war eines Tages der Wilde Bill mit einem Skandalblatt aus der
Hauptstadt in der Hand aufgestanden und hatte eine Seite aus der Magazinbeilage hochgehalten. Darin hatte ein Artikel gestanden, der schilderte, wie Lacey Granitch sieben Tänzerinnen das Herz gebrochen hatte, indem er mit einer achten durchgebrannt war. Er „vernaschte sie mit Haut und Haaren", dem Artikel nach zu urteilen; um den Lesern eine Vorstellung von der Atmosphäre zu geben, in der der junge Held lebte, von dem Wirbel der Vergnügungen, die sein Leben ausmachten, hatte der Künstler der Sonntagsbeilage um den Blattrand ein irritierendes Durcheinander von weiblichen Knöcheln und Waden in einem Rausch von Unterwäsche gewoben; während man auf dem Kopf der Seite einen Soupertisch mit knallenden Champagnerkorken sah, auf dem eine von Schleiern nur unzulänglich verhüllte Dame zwischen den Schüsseln tanzte.
Dies hatte sich zur gleichen Zeit ereignet, als die Ortsgruppe mitten in einer harten Kontroverse über „Abschnitt sechs" begriffen war. Sollte die Sozialistische Partei die Mitglieder, die für Sabotage, Gewalt und Verbrechen eintraten, ausschließen? Der junge Norwood war für geordnete Methoden bei der Umgestaltung der Gesellschaft, und da stand nun der Wilde Bill und ließ kein gutes Haar an dem jungen Plutokraten von den Empire Shops. „Dafür rackert ihr Rindviecher euch nun ab! Dafür müsst ihr hübsch brav sein und dürft keine Schraubenschlüssel ins Getriebe schmeißen - damit die sieben Hüpflieschen mit den gebrochenen Herzen ihren Kummer in Champagner ersäufen können!" Und nun war der Held all dieser romantischen Eskapaden da, hatte die weißen Lichter des Broadways im Stich gelassen und war heimgekehrt, seinem alten Herrn zu helfen, die Verträge einzuhalten. Er stand auf dem Autositz und ließ seine Blicke rasch umherschweifen, ein Jäger, der auf der Hut ist vor gefährlichem Wild. Seine dunklen Augen wanderten hin und her, sein stolzes Gesicht war bleich vor Zorn, seine hohe, tadellos gepflegte Gestalt zeugte von Herrschertum, von Führungsqualitäten. Er war anmaßend wie ein junger Cäsar, schrecklich in seiner Rache, und der arme Jimmie, der ihn beobachtete, wurde zwischen zwei widersprüchlichen Empfindungen hin und her gerissen. Er hasste ihn - hasste ihn mit unversöhnlichem, beständigem Hass. Aber er bewunderte ihn auch, bestaunte ihn, duckte sich vor ihm. Lacey war ein Wüstling, ein fluchender Tyrann, ein brutaler Snob; aber er war auch der Herr, der Sieger, der stolze, freie, reiche junge Aristokrat, um dessentwillen die ganze übrige Menschheit existierte. Und Jimmie Higgins war nur ein armer kleiner Wurm von einem Proletarier, der nichts hatte als seine Arbeitskraft, die er verkaufen konnte, und der allein mit seinem Willen versuchte, über seine Sklavenpsychologie hinauszuwachsen! Es gibt ein altes Sprichwort, dass „die Katze sich den König ansehen darf". Aber das kann sich nur auf Hauskatzen beziehen, auf Palastkatzen, die an die Hofetikette gewöhnt sind; es kann sich nicht auf proletarische Kellerkatzen beziehen, nicht auf die Jimmie-Higgins-Variante roter revolutionärer Jauler. Jimmie und sein Gefährte standen auf ihrem Hochsitz, schrien „Pfui! Pfui!", und plötzlich teilte sich die Menge vor ihnen und gab sie dem Zornesfinger des jungen Herrn preis. „Verschwindet! Haut ab! Ein bisschen plötzlich!" Und Jimmie, der arme, kleine, abgerissene, unterernährte Jimmie mit den schlechten Zähnen und den verarbeiteten Händen, schrumpfte vor diesem Auspuff aristokratischen Zorns zusammen und beeilte sich, in der Menge unterzutauchen. Aber er ging mit flammendem Herzen, jeden Augenblick stellte er sich vor, wie er kehrtmachte, dem Zornesfinger trotzte, die befehlsgewohnte Stimme niederbrüllte oder sie sogar in die Kehle zurückdrosch, aus der sie kam!
4
Jimmie hielt sich nicht einmal mit Abendessen auf. Den größten Teil des Abends half er dabei, die Arbeiter zu organisieren, und den ganzen folgenden Tag brachte er damit zu, sozialistische Versammlungen vorzubereiten. Er arbeitete wie ein Besessener, über die Grenzen menschlichen Leistungsvermögens hinausgehoben. Denn an jenem Tag verfolgte ihn, wohin er auch ging, das Bild des stolzen, freien, reichen jungen Aristokraten mit den dunklen Augen, die rasch wanderten, der hohen, tadellos gepflegten Gestalt, die von Herrentum kündete, und der Stimme, die von Herausforderung widerhallte. Jimmie war für den
Augenblick ganz besessen von Hass, und er sah um sich her Tausende von anderen, die in der gleichen Stimmung waren und sie laut herausbrüllten. Jeder Redner, den man auftreiben konnte, musste reden, bis ihm die Stimme versagte, und abends sollten ein halbes Dutzend Straßenversammlungen stattfinden. So hielten sie es immer, wenn Streik war; denn dann hatte der Arbeiter Zeit zuzuhören - und auch das Verlangen danach!
So kam die entscheidende Wende, bei der der kleine Maschinenarbeiter zeigen musste, aus welchem Stoff er gemacht war. Er hielt gerade die Laterne am üblichen Versammlungsort Ecke Main Street und Third Street, während Genosse Gerrity den Streik und die Wahl als die beiden Schneiden des Schwertes der Arbeit erklärte, als plötzlich vier Polizisten um die Ecke kamen und sich ihren Weg durch die Menge bahnten. „Sie müssen aufhören!" erklärte der eine. „Aufhören?" rief Gerrity. „Was soll das heißen?" „Solange der Streik dauert, dürfen keine Straßenreden mehr gehalten werden." „Wer sagt das?" „Befehl vom Polizeichef." „Aber wir haben eine Genehmigung." „Alle Genehmigungen sind zurückgezogen. Schluss damit!"
„Aber das ist gegen das Gesetz!"
„Wir wollen nicht mit Ihnen diskutieren, junger Mann..."
„Aber wir sind hier im Recht." „Vergessen Sie's, junger Mann!" Gerrity wandte sich rasch an die Menge. „Mitbürger", rief er, „wir sind hier in der Ausübung unserer Rechte als amerikanische Staatsbürger! Wir führen eine friedliche und ordentliche politische Versammlung durch, und wir kennen unsere Rechte und denken nicht daran, sie aufzugeben. Wir..."
„Kommen Sie von der Kiste da runter, junger Mann!" befahl der Polizist, und die Menschenmenge pfiff und schrie buh. „Mitbürger!" begann Gerrity wieder, aber weiter kam er nicht, denn der Polizist packte ihn beim Arm und zog, und Gerrity kannte die Art amerikanischer Polizisten zu gut, um Widerstand zu leisten. Er stieg hinunter - redete aber immer noch. „Mitbürger ..."
„Wollen Sie wohl endlich den Mund halten?" befahl der andere, und als Gerrity immer noch weiterredete, verkündete er: „Sie sind festgenommen." Ein halbes Dutzend Sozialisten befanden sich in der Menge, und dies war eine Herausforderung für die Selbstachtung eines jeden von ihnen. Im Nu war Genossin Mabel Smith auf die Kiste gesprungen. „Arbeitergenossen!" rief sie. „Ist das hier Amerika, oder ist es Russland?" „Das genügt, Lady", sagte der Polizist, so rücksichtsvoll, wie er zu sein wagte; denn Genossin Mabel trug einen großen Filmstarhut und viele andere Zeichen der Jugend und Schönheit.
„Ich habe das Recht, hier zu sprechen, und beabsichtige auch, hier zu sprechen", erklärte sie. „Wir möchten Sie doch nicht gern festnehmen, Lady ..." „Sie müssen mich entweder festnehmen oder mir gestatten zu reden."
„Tut mir leid, Lady, aber Befehl ist Befehl. Sie sind festgenommen."
Dann kam die Reihe an Genossen Stankewitz. „Kollegen, wer stehn hier fer de Rechte der Arbeiter." Und mit einem Ruck hatten sie ihn heruntergezogen. Und dann der Wilde Bill. Dieser waschechte, unabhängige Proletarier hatte sich in der Nähe der Versammlung aufgehalten, da ihm wegen der Unbeherrschtheit seiner Äußerungen von der Ortsgruppe verboten worden war, sich an den Reden zu beteiligen; aber jetzt waren natürlich alle Vorschriften hinfällig, und Bill sprang auf das wankende Podest. „Sind wir Sklaven?" brüllte er. „Sind wir Hunde?" Anscheinend dachten die Polizisten das, denn sie rissen ihn mit einem Ruck vom Podest, und einer von ihnen packte ihn beim Handgelenk und drehte ihm den Arm um, so dass seine Rede in einem Schmerzensschrei endete. Dann kam Johnny Edge, ein schüchterner Junge mit einem Armvoll Schriften, von denen er sich trotz Polizeigewalt nicht trennte, und dann - dann war da noch einer! Armer Jimmie! Er wollte nicht im Mindesten festgenommen werden, und er war zu Tode erschrocken bei dem Gedanken, eine wenn auch noch so kurze Rede zu halten, wie sie an diesem Abend an der Tagesordnung war. Aber da jetzt seine Ehre auf dem Spiel stand, gab es keinen Ausweg. Er reichte seine Laterne einem der Umstehenden und bestieg die Tribüne. „Ist das hier ein freies Land?" rief er. „Haben wir Redefreiheit?" Und Jimmies erster Versuch in Rhetorik endete mit einem Ruck an seinen Rockschößen, der fast das schwache Podest, auf dem er stand, umgekippt hätte.
Es waren vier Polizisten mit sechs Festgenommenen und eine Menschenmenge um sie herum, die vor Empörung heulte, vielleicht kurz davor war, gewalttätig zu werden -wer konnte das wissen? Die Hüter der Ordnung hatten jedoch vorgesorgt. Einer von ihnen ging bis zur Ecke und ließ seine Trillerpfeife ertönen, und eine Minute später hörte man das Heulen einer Sirene, und um die Ecke schaukelte der große Gefangenentransportwagen der Stadt, die „Schwarze Maria". Die Menge machte Platz, und einer nach dem andern wurden die Gefangenen hineingestoßen. Einer von ihnen, der Wilde Bill, erhob seine Stimme, als er sich vom Griff seines Fängers einen Augenblick befreit fühlte, und schrie durch das Drahtgitter des Wagens: „Ich erhebe Anklage gegen diesen Rechtsbruch! Ich bin ein freier Amerikaner ..."
Und plötzlich fühlte sich Jimmie, der neben ihm im Wagen saß, zur Seite geschleudert, ein Polizist sprang an ihm vorbei und landete seine Faust mit furchtbarer Gewalt voll auf den Mund des Redners. Der Wilde Bill ging zu Boden wie ein Ochse unter dem Beil des Schlächters, und der Gefangenentransportwagen fuhr an, während das Geheul seiner Sirene die Proteste der Menge erstickte. Der arme Bill! Er lag quer über dem Sitz, und Jimmie, der neben ihm sitzen musste, nahm ihn in seine Arme und hielt ihn. Er zuckte und machte schreckliche Bewegungen wie im Krampf. Dabei gab er keinen Laut von sich, und Jimmie dachte angstvoll, er würde sterben. Es dauerte nicht lange, und Jimmie fühlte eine heiße Nässe über seine Hände laufen, erst glitschig, dann klebrig werden. Er musste dort sitzen bleiben, fast ohnmächtig vor Entsetzen; er wagte nichts zu sagen, denn vielleicht würde der Polizist ihn auch schlagen. Er saß da, hielt den zuckenden Körper fest mit seinen Armen umklammert und flüsterte: „Armer Bill! Armer Bill!"
5
Sie kamen zur Polizeiwache, und Bill wurde hinausgetragen und auf eine Bank gelegt, und die anderen wurden vor dem Schreibtisch aufgebaut und mussten ihre Personalien angeben. Gerrity forderte empört, telefonieren zu dürfen, und dieser Forderung wurde stattgegeben. Er störte Anwalt Norwood bei einer Gesellschaft und trug ihm auf, eine Kaution zu beschaffen; inzwischen wurden die Gefangenen in Zellen abgeführt. Sie waren dort erst ein paar Minuten, als durch die Reihe der Stahlkäfige der Gesang einer Frauenstimme drang. Es war Genossin Mabel Smith mit ihrer klaren, angenehmen Stimme, der sie so oft an geselligen Abenden in der Ortsgruppe gelauscht hatten. Sie sang die Internationale:
„Wacht auf, Verdammte dieser Erde, Die stets man noch zum Hungern zwingt!"
Die Klänge packten sie bis ins Innerste, und sie stimmten laut in den Refrain mit ein. Darauf kam natürlich der Wärter: „Maul halten." Und dann noch einmal: „Maul halten!" Und dann wurde ein Eimer Wasser durch die Gitterstäbe geschüttet. Jimmie bekam es direkt in den Mund, und um es mit des Dichters Worten zu sagen, „das weitere Geschehen interessierte ihn nicht mehr". Gegen Mitternacht kamen Rechtsanwalt Norwood und Dr. Service. Beide hatten sie sich gegen Straßenreden zum gegenwärtigen Zeitpunkt ausgesprochen; aber wenn es sich um Genossen handelte, die in Schwierigkeiten waren, konnten sie sich dem Appell an ihr Mitgefühl natürlich nicht entziehen. Das sind eben die Probleme der durch und durch achtbaren, gesitteten „Solansozialisten" im Umgang mit den ungezogenen Kindern der Bewegung, den nach Unmöglichem Strebenden, den zu direkten Aktionen Drängenden und den sonstigen proletarischen Heißspornen. Dr. Service zückte ein Bündel Geldscheine und löste alle Gefangenen aus und machte, während man auf einen Krankenwagen wartete, der den Wilden Bill ins Krankenhaus bringen sollte, in eindrucksvoller Weise seiner Empörung gegenüber dem Polizeisergeanten Luft. Jimmie Higgins, der
bisher immer laut mit den „Wilden" geschrien hatte, erkannte plötzlich, wie angenehm es ist, einen Freund zu haben, der im schwarzen Anzug auftritt, sich stramm hält wie der Tambourmajor einer Militärkapelle und den Ruf hat, ein paar hunderttausend Dollar wert zu sein.
Jimmie ging nach Hause, wo Lizzie auf und ab lief und in tausend Ängsten die Hände rang - denn es war unmöglich gewesen, ihr Nachricht zu geben, was geschehen war. Sie warf sich in seine Arme und fuhr dann erschreckt wieder zurück, als sie merkte, dass er nass war. Er erzählte ihr die Geschichte, und - soll man das glauben! - Lizzie, die nur eine Frau und erst im Abc-Schützen-Stadium der revolutionären Bildung war, begriff doch tatsächlich nicht, dass es ein glorreiches und heroisches Abenteuer war, wenn man verhaftet wurde! Sie fand, es wäre eine Schande, und wollte ihn überreden, das schreckliche Geheimnis vor der Nachbarschaft zu verbergen! Und als sie erfuhr, er hätte die Sache noch gar nicht hinter sich, sondern müsste am Morgen aufs Gericht zur Verhandlung, brach sie in eine Tränenflut aus und weckte Jimmie zwei auf, der zu brüllen anfing. Sie ließ sich erst besänftigen, als Jimmie eins einwilligte, sofort seine nassen Sachen auszuziehen, ein, zwei Tassen kochend heißen Tee zu trinken und sich in Decken wickeln zu lassen, damit er nicht an Lungenentzündung starb, bevor er aufs Gericht gehen konnte.
Am nächsten Morgen war der Gerichtssaal überfüllt, und ein gestrenger, feierlicher Richter runzelte die Stirn über seinen Brillengläsern, und Rechtsanwalt Norwood hielt eine schwungvolle Verteidigungsrede für das amerikanische Grundrecht der Redefreiheit. Sie war so mitreißend, dass Jimmie sich kaum zurückhalten konnte, seinem eigenen Anwalt Beifall zu klatschen! Und dann stand Genosse Dr. Service auf und gab in seinem eindrucksvollsten Tonfall sein ärztliches Gutachten ab, dass des Wilden Bills Nase gebrochen sei, dass ihm drei Vorderzähne ausgeschlagen worden seien und dass er im Krankenhaus liege und nicht in der Lage sei, vor Gericht zu erscheinen, und dann mussten alle anderen Gefangenen aussagen, was der Wilde Bill getan hatte, um sich dieses Schicksal zuzuziehen. Der Polizist, der den Schlag geführt hatte, sagte aus, der Gefangene habe sich der Festnahme widersetzt; ein zweiter Polizist bezeugte: „Ich hab gesehn, wie der Gefangene ihm zuerst geschlagen hat, Euer Ehren" - was Genossin Mabel Smith zu dem Zwischenruf veranlasste: „So ein ungrammatischer Tatsachenverdreher!"
Das Ergebnis der Verhandlung war, dass jeder der Angeklagten zu einer Geldstrafe von zehn Dollar verurteilt wurde. Genosse Gerrity weigerte sich als erster, diese Strafe zu bezahlen, und alle übrigen - sogar Genossin Mabel -folgten seinem Beispiel. Dies verursachte dem Richter augenscheinliche Seelenqual, denn Genossin Mabel mit ihren entrüsteten rosigen Wangen und ihrem großen Filmstarhut sah mehr denn je wie eine Lady aus, und es ist eine selbst Richtern bekannte Tatsache, dass amerikanische Gefängnisse nun mal nicht für Ladies eingerichtet sind. Die Sache wurde schließlich dadurch beigelegt, dass Anwalt Norwood trotz ihrer Proteste und ihres Verlangens, ins Gefängnis geworfen zu werden, für Genossin Mabel die Strafe bezahlte.
6
Die fünf Männer wurden über die „Seufzerbrücke", wie sie genannt wurde, zum Stadtgefängnis abgeführt, wo man wieder ihre Personalien aufnahm, Fotos von ihnen machte und ihre Fingerabdrücke registrierte - wodurch ihnen zum ersten mal klar wurde, dass sie gefährliche Verbrecher waren. Man nahm ihnen ihre Kleidung weg und gab ihnen Hemden und Hosen, deren ausgeblichenes Blau von dem Elend Dutzender früherer Träger zu zeugen schien. Sie wurden durch stahlvergitterte Türen geführt und über dunkle, stahlvergitterte Flure zu einem der „Tanks". Ein „Tank", so stellte man fest, war ein Stockwerk dieser vierstöckigen Packkiste; auf jeder Seite befanden sich ein Dutzend Gitterzellen, jede mit vier Pritschen, so dass die maximale Bewohnerzahl, die in den Mittelraum des „Tanks" hineingepfercht werden konnte, sechsundneunzig betrug; dieser Fall trat jedoch nur montagmorgens ein, wenn alle Betrunkenen hereingebracht worden waren und die Gerichte noch keine Zeit gehabt hatten, sie auseinanderzusortieren.
Nachdem man ein paar Minuten auf seiner Pritsche gelegen oder sich an die Wand des „Tanks" gelehnt hatte, spürte man irgendwo an sich ein lästiges Stechen. Man begann zu reiben und zu kratzen; es dauerte nicht lange, da rieb und kratzte man an einem Dutzend verschiedener Stellen, und dann merkte man, dass der Nachbar einen grinsend beobachtete. „Filzbienen?" fragte er und riet einem, seine Jacke auszuziehen und sich an der beliebten Jagdpartie der Institution zu beteiligen. Jimmie erinnerte sich an einen Redner, der vom Stadtgefängnis als der „Leesviller Läuseranch" gesprochen hatte; er hatte das damals für einen guten Witz gehalten, aber jetzt fand er es gar nicht so witzig. Es war großartig, im Gerichtssaal aufzustehen und seine Stellung als Märtyrer zu beziehen; doch jetzt entdeckte Jimmie, wie so mancher Unglückliche vor ihm, dass das Märtyrerdasein durchaus nicht das Vergnügen ist, als das es gerühmt wird. Es war vorbei jetzt mit dem Pathos, mit dem Gesang. Wenn man auch nur ein wenig summte, holten sie einen heraus und schlossen einen in einem dunklen Loch ein, das der „Abkühler" hieß! Lesen konnte man auch nicht, denn in der Zelle gab es kein Licht, und auf dem zentralen Versammlungsort des „Tanks" herrschte beständige Dämmerung. Offensichtlich waren die einzigen Beschäftigungen, die die Behörden von Leesville für einen vorgesehen hatten, „Filzbienen" jagen, Zigaretten rauchen, Würfel spielen und die Bekanntschaft der verschiedensten Arten von interessanten jungen Verbrechern machen, damit man sich, wenn es soweit war und man sein Leben draußen wiederaufnehmen durfte, entscheiden konnte, ob man lieber Straßenräuber, Geldschrankknacker, Fälscher oder Fassadenkletterer werden wollte.
Jimmie Higgins brachte natürlich eine andere Psychologie mit als der durchschnittliche Gefängnisinsasse. Jimmie konnte seine Art von Arbeit genauso gut im Gefängnis tun wie irgendwo sonst, und abgesehen von der Ungezieferplage, der Kost von Brot und dünnem Kaffee und übel riechender fettiger Suppe und der Sorge um seine hilflose Familie draußen, war es für ihn eine glückliche Zeit - er machte die Bekanntschaft von Tramps und Taschendieben und erläuterte ihnen die revolutionäre Philosophie. Wenn ein Mensch die soziale Ungerechtigkeit im Alleingang abschaffen wollte, konnte er nie sehr weit kommen. Nur wenn er sich als Angehöriger einer Klasse begriff, klassenbewusst auftrat und klassenbewusst handelte, konnte er ein dauerndes Ergebnis erzielen. Manche Arbeiter hatten das herausgefunden und beschlossen, es auch ihren Gefährten mitzuteilen. Sie brachten die wunderbare Botschaft sogar denen im Gefängnis; führten ihnen das Bild einer Welt vor Augen, die mit Güte und Gerechtigkeit neu gestaltet war, das genossenschaftliche Gemeinwesen der Arbeiter, in dem jeder bekommen sollte, was er produzierte, und niemand seine Mitmenschen ausbeuten konnte.
7
Drei Tage verstrichen, und dann wurde Jimmie eines Nachmittags aufgerufen, weil Besuch für ihn da war. Er konnte sich denken, wer der Besuch war, und das Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er hinunterging. Er blickte durch den dunklen Maschendraht und sah Lizzie stehen -die stämmige, mütterliche Lizzie, jetzt sehr blass und schwer atmend und mit Tränen, die in kleinen Bächen ihre Backen hinunterrannen. Die arme Lizzie, mit ihren drei Kleinen zu Hause und ihrer simplen, gewöhnlichen, unrevolutionären Psychologie, die das Ins-Gefängnis-Gehen als eine Schande betrachtete anstatt als eine Probe der Männlichkeit, als eine ehrende Auszeichnung! Jimmie fühlte einen Kloß in der Kehle und einen Drang, das verfluchte Drahtnetz niederzureißen und das liebe mütterliche Geschöpf in die Arme zu schließen. Doch alles, was er tun konnte, war, sein Gesicht zu einem fragwürdigen Lächeln zu verziehen. Klar, er amüsiere sich großartig in diesem Gefängnis! Unter keinen Umständen hätte er das verpassen mögen! Er hatte aus „Glotzaugen-Mike" einen Sozialisten gemacht und hatte Pete Curley, einem Heiratsschwindler, das Versprechen abgerungen, „Warum Krieg" zu lesen. Es gab nur eins, was ihm Sorgen gemacht hatte, und das war, wie seine Familie zurechtkam. Sie hatten praktisch nichts im Hause gehabt, das wusste er, und der arme Meissner konnte nicht vier zusätzliche Mäuler stopfen. Doch Lizzie, die ebenfalls ihren Mund zu einem Lächeln verzog, versicherte ihm, dass zu Hause alles in Ordnung sei, dass es keinen Grund zur Sorge gebe. Erstens habe Genosse Dr. Service ihr ein Stück Papier geschickt, auf dem sein Name gestanden habe; es habe sich herausgestellt, dass man so was Scheck nenne, und der Kaufmann habe diesen gegen einen Fünfdollarschein eingelöst. Und zum andern war da ein Haushaltsgeheimnis, das ihm Lizzie verraten musste - sie hatte nämlich ein bisschen Geld beiseite gelegt, ohne es Jimmie zu sagen.
„Aber wie denn bloß?" rief Jimmie erstaunt - er hatte angenommen, er wüsste alles über seinen Haushalt und die dafür nötigen Ausgaben.
So erklärte Lizzie ihm den Trick, den sie angewandt hatte. Jimmie war so verschwenderisch gewesen, ihr von seinem gestiegenen Lohn ein neues Kleid zu spendieren: ein Prachtstück in mehreren Farben, das wie Seide aussah, aber keine war. Lizzie hatte behauptet, dass es fünfzehn Dollar gekostet habe, und er hatte sich an der Nase herumführen lassen und es geglaubt! Die Wahrheit war, dass sie das Kleid in einem Gebrauchtwarenladen für drei Dollar gekauft und zwölf Dollar weggesteckt hatte für die Zeit, wenn es zum Streik kommen würde!
Und Jimmie ging zurück zu seinem „Tank", schüttelte den Kopf und philosophierte: „Nein, diese Frauen!"
1
Als Jimmie aus dem Gefängnis kam, war der Streik vorbei; man hatte ihn durch einen doppelbödigen Trick beendet, indem man die Löhne der Arbeiter heraufsetzte, ihre Führer dagegen hinter Gitter brachte. Jimmie meldete sich wieder an seinem alten Arbeitsplatz, und der Boss sagte zu ihm, er solle sich zum Teufel scheren; darauf machte sich Jimmie auf nach Hubbardtown und reihte sich ein in die lange Schlange von Männern, die vor dem Tor der Motorenfirma warteten. Jimmie wusste, dass es schwarze Listen gab; daher antwortete er, als er dran war, auf die üblichen Fragen, er hieße Joe Aronsky und hätte zuletzt in einem Maschinenwerk in Pittsburg gearbeitet; nach Hubbardtown wäre er gekommen, weil er von dem hohen Lohn und der guten Behandlung gehört hätte. Während er die Fragen beantwortete, bemerkte er, wie ein Mann, der in der Ecke saß, genau sein Gesicht musterte und wie der Boss sich umdrehte und in jene Richtung blickte. Der Mann schüttelte den Kopf, und der Boss sagte: „Nichts zu machen." Da begriff Jimmie, dass die Hubbard Engine Company Maßnahmen getroffen hatte, um ihr Werk von Agitatoren aus Leesville frei zu halten.
Einige Tage brachte er damit zu, es in anderen Betrieben seiner Heimatstadt zu versuchen, aber vergebens - er war erkannt. In der Brauerei war man langsamer als anderswo -für zwei Stunden stellten sie ihn ein. Dann hatten sie seine Vergangenheit entdeckt und feuerten ihn, und Jimmie „verkohlte" den Boss, indem er sagte, sie kämen zu spät - er hätte schon jedem Mann in der Halle ein sozialistisches Flugblatt gegeben!
In einem abgelegenen Stadtviertel gab es in der Jefferson Street einen Fahrradladen, der einem alten Deutschen namens Kumme gehörte. Einer der Genossen erzählte Jimmie, dass dieser einen Gehilfen brauchte, und Jimmie ging hin und bekam einen Job für zwei Dollar den Tag. Bei den gegenwärtigen Preisen war das eine schlechte Bezahlung, aber Jimmie gefiel der Arbeitsplatz, weil sein Boss beinah ein Sozialist war, ein Pazifist - hinsichtlich aller Länder außer Deutschland. Diese Klippe überwand er, indem er sagte, jede Nation hätte das Recht, sich zu verteidigen, und in diesem Krieg wäre Deutschland die Nation, die angegriffen worden sei. Ein gut Teil seiner Energie verwendete der alte Mann darauf, seinen Kunden das zu beweisen, und wenn es Kunden gab, denen das nicht passte, dann konnten sie woanders hingehen.
Die Kunden, die kamen, waren größtenteils Deutsche, und so blieb Jimmie weiterhin reichlich versorgt mit Argumenten gegen die Munitionsindustrie, die sie ein „Mordgewerbe" nannten, und für das Programm „Erst macht Amerika satt". Unter denen, die häufig kamen, war Jerry Coleman, der noch immer in Aktion und besser denn je mit Zehndollarscheinen versehen war. Er hatte sich inzwischen als Organisator für eine neue Propagandagesellschaft zu erkennen gegeben, die sich „Nationaler Friedensrat der Arbeiter" nannte. Da „Arbeiter" und „Frieden" die Begriffe waren, von denen Jimmie lebte, sah er keinen Grund, warum er diese Organisation nicht unterstützen sollte. Coleman versicherte Jimmie, dass er den Kaiser hasse, dass aber das deutsche „Volk" verteidigt werden müsse. So wurde Jimmie, ohne die geringste Ahnung davon zu haben, eins der Werkzeuge, mit denen der Kaiser die soziale Unzufriedenheit in Amerika schürte.
Aber Jimmie war jetzt bei seiner Agitation vorsichtiger. Er hatte durch seine Gefängnisstrafe seine Familie so sehr in Not gebracht, dass er Lizzie einige Versprechungen hatte machen müssen. Ihre Sorge um die Kinder konnte sie nicht länger für sich behalten, und das ließ gewisse Spannungen zwischen ihnen entstehen und veranlasste Jimmie, über sein Geschick zu murren. Was hatte es für einen Zweck, einer Frau etwas beibringen zu wollen, die nicht über den eigenen Herd hinaussehen konnte? Wenn man ein Welterlöser sein wollte, wenn man im Spitzentanz auf den umwölkten Berggipfeln des Heldentums wandelte, zog sie einen herunter und kettete einen an die Alltagswelt, erstickte sie einem alle Glut und alles Feuer in der Seele! Die Erinnerungen an die „Filzbienen", an den dünnen Kaffee und die übel riechende fettige Suppe waren bei Jimmie etwas in den Hintergrund gerückt, und er durchlebte wieder die erhabene Stunde, als er vor Gericht gestanden hatte und für die Grundrechte des amerikanischen Bürgers eingetreten war. Er wollte diese kühne Tat in ihrem vollen Wert anerkannt wissen. Die arme, blinde, hausbackene Lizzie, die diese tieferen Bedürfnisse der Seele ihres Mannes nicht erfüllen konnte!
Jimmie war bis dahin in seinem Eheleben so häuslich gewesen, wie man es nur von einem proletarischen Propagandisten erwarten konnte. Er hatte sich nach einem Eigenheim gesehnt und diesen unterdrückten Wunsch offenbart, indem er eine große Packkiste und einige zerbrochene Schindeln besorgte und im Hof für Jimmie zwei ein Spielzeughaus baute. Er hatte sogar Zeit gefunden an seinen übermüdeten, überlasteten Sonntagen im Hochsommer - der Jahreszeit, wo in der Ortsgruppe am wenigsten zu tun war -, einen Garten anzulegen. Nun aber füllte natürlich der Krieg seine ganzen Gedanken aus, ließ ihn um die Zukunft der Menschheit bangen und verlockte ihn zu Martyrium und häuslichen Reibereien.
2
In dieser kritischen Zeit in Jimmies Leben geschah es, dass in Leesville eine temperamentvolle junge Person mit Namen Evelyn Baskerville erschien. Evelyn war keine müde Küchensklavin - mit ihrem lockeren braunen Haar, ihren kecken kleinen Grübchen, ihrer hübschen Figur, ihrem flotten Hut mit der Truthahnfeder an der Seite. Evelyn war Stenographin und nannte sich eine fortschrittliche Frauenrechtlerin; sie stellte bei ihrem ersten Besuch die ganze Ortsgruppe auf den Kopf. Es war der „gesellige Abend", an dem alle Männer rauchten, und dieses „freie" junge Ding nahm von ihrem Begleiter eine Zigarette an und paffte munter drauflos. In großen Kulturzentren wie London oder Greenwich Village hätte das natürlich kein Aufsehen erregt; aber in Leesville war es das erste Mal, dass die Gleichberechtigung der Frauen dahingehend interpretiert wurde, dass die Frauen sich die Laster der Männer zulegen sollten. Dann hatte Evelyn aus ihrer Handtasche einige Flugblätter über Geburtenkontrolle zutage gefördert und. vorgeschlagen, dass die Ortsgruppe deren Verteilung übernehmen solle. Dieses Thema war neu in Leesville, und wenn die Mitglieder auch meinten, das Ganze wäre schon richtig, so empfanden sie es doch als peinlich, die Sache allzu gründlich in einer öffentlichen Versammlung erklären zu lassen. Evelyn war für einen „Geburtenstreik" als das sicherste Mittel, den Krieg zu beenden; sie war dafür, dass der „Worker" dieses Programm übernehmen sollte, und verbarg auch nicht ihre Verachtung für die Reaktionäre in der Bewegung, die noch immer so tun wollten, als ob die Babies vom Storch gebracht würden. Das heikle Thema wurde schließlich „zurückgestellt", und als sich die Versammlung vertagte und die Mitglieder nach Hause gingen, sprach alles über
Miss Baskerville - wobei die Männer in der Hauptsache mit den Männern und die Frauen mit den Frauen sprachen. Ziemlich bald wurde offenbar, dass die temperamentvolle, fesche junge Person sich Genossen Gerrity, den Organisator, angeln wollte. Da es sich bei Gerrity um einen akzeptablen Junggesellen handelte, war dagegen nichts einzuwenden. Aber ein wenig später kam dann der Verdacht auf, dass sie es auf Genossen Claudel, den belgischen Juwelier, abgesehen habe. Zweifellos hatte sie ein Recht darauf, ihre Wahl zwischen den beiden zu treffen; doch unter den Frauen waren manche der Meinung, dass sie zu lange brauchte, um sich zu entscheiden, und schließlich sagten bereits ein, zwei boshafte Damen, dass sie gar nicht die Absicht habe, sich zu entscheiden - sie wolle beide. Und dann schlug der Blitz in Jimmies Leben ein. Es war kurz nach seiner Haft, als ihm noch der Ruhm anhaftete, da trat nach der Versammlung Genossin Baskerville an ihn heran und zog ihn ins Gespräch. Wie fühlte man sich denn so als Knastologe? Als er sagte, großartig, erwiderte sie, er solle sich nur nicht zu viel einbilden - sie habe selber dreißig Tage abgesessen wegen Postenstehens in einem „Hemdblusenstreik"! Während sie ihn ansah, blitzten ihre hübschen braunen Augen vor Mutwillen, und ihre schelmischen kleinen Grübchen zeigten sich ausgiebig. Dem armen, schlichten Jimmie fuhr es bis in die Fußspitzen, denn er hatte noch nie bei einer so reizenden Person Beachtung gefunden, außer vielleicht, wenn er ihr eine Zeitung verkaufte oder, in seinen Landstreichertagen, sie um Geld für ein Sandwich anbettelte. So etwas gehörte zu dem Wunderbaren an der sozialistischen Bewegung - sie riss die Klassenschranken nieder und eröffnete einem aufregende Einblicke in die höheren Sphären von Kultiviertheit und Charme.
Genossin Baskerville fuhr fort, ihre Grübchen und ihren Witz vor Jimmie spielen zu lassen, obwohl Genosse Gerrity und Genosse Claudel und verschiedene andere Motten die Kerzenflamme umschwirrten und alle Frauen in der Ortsgruppe sie aus den Augenwinkeln beobachteten. Zu Jimmies maßloser Bestürzung fragte die temperamentvolle junge Göttin der Unabhängigkeit schließlich: „Möchten Sie mich nicht nach Hause bringen, Genosse Higgins?" Er stammelte ein „Ja", und schon gingen sie los, wobei die junge Göttin ihn mit Fragen über die Zustände im Gefängnis überschüttete und hinsichtlich der ökonomischen Aspekte der Kriminologie eine höchst überzeugende Belesenheit an den Tag legte - gleichzeitig schien sie völlig blind zu sein für das Umherschwirren der anderen Motten und für die Entrüstung der nicht emanzipierten Damen der Ortsgruppe Leesville.
3
Sie gingen zusammen die Straße hinunter, und erst schüttelte sich Genossin Baskerville vor Entsetzen über die „Filzbienen", dann äußerte sie ihr Entzücken über die Bekehrung des „Glotzaugen-Mike" zum Sozialismus, und schließlich amüsierte sie sich über das Absingen der Internationale auf der Polizeiwache. Hatte sie in diesem unscheinbar wirkenden kleinen Maschinenarbeiter eine „Persönlichkeit" entdeckt? Jedenfalls überhäufte sie ihn mit Fragen über sein bisheriges Leben und seine Ansichten. Als er ihr von seiner hungrigen, verwahrlosten Kindheit erzählte, murmelte sie mitfühlende Worte, und der bezauberte Jimmie hatte den Eindruck, hier sei eine Frau, die instinktiv all die Sehnsüchte seines Herzens verstünde. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm, und ihm war, als ob ein Engel ihn berührte - seltsame kleine Schauer überliefen ihn wie elektrische Ströme.
Ja, Genossin Baskerville konnte ihm seine Leiden nachfühlen, weil sie ebenfalls gelitten hatte. Sie hatte eine Stiefmutter gehabt und war sehr früh von zu Hause weggelaufen und hatte sich allein durchgeschlagen. Das war auch der Grund, weshalb sie sich so entschlossen für die Frauenemanzipation einsetzte - sie kannte aus bitterer Erfahrung die Versklavung ihres Geschlechts. Es gab viele Männer, die mit Worten an die Gleichberechtigung der Geschlechter glaubten, doch was Taten betraf, keine wirkliche Vorstellung davon hatten; und die Frauen selbst - nun, man konnte ja schon hier in der Ortsgruppe sehen, wie die engstirnigsten, spießbürgerlichsten Gedanken ihre Gemüter beherrschten. Jimmie wusste nicht, was für Gedanken Genossin Baskerville meinte, doch er wusste, dass ihre Stimme voller Musik und voll rascher Modulationen war, die ihm durch und durch gingen.
Er sollte sie ja eigentlich nach Hause begleiten, aber er hatte keine Ahnung, wo sie wohnte, und sie offenbar auch nicht, denn sie liefen und liefen und sprachen von all den großartigen neuen Ideen, die Männer und Frauen bewegten. Glaubte Genosse Higgins an die Ehe auf Probe? Genosse Higgins hatte noch nie von dieser verrückten Idee gehört, aber er lauschte und verbarg tapfer sein Unbehagen. Aber was würde mit den Kindern? Die eifrige Frauenrechtlerin antwortete, Kinder brauchten ja nicht zu sein. Unerwünschte Kinder seien ein Verbrechen! Sie habe vor, die Frauen der Arbeiterklasse zu versammeln und sie in der Technik dieser delikaten Angelegenheit zu unterweisen, und inzwischen war sie, in Ermangelung der Frauen, auch bereit, es jedem innerlich verlegenen, zitternden Mann zu erklären, der zuhören mochte.
Plötzlich blieb sie stehen und rief: „Wo sind wir denn eigentlich?" Und sie brach in fröhliches Gelächter aus, als sie entdeckte, dass sie so weit vom Ziel abgekommen waren. Sie kehrten um und schlugen nun den richtigen Weg ein, und dabei ging die Vorlesung über Frauenrecht für Fortgeschrittene weiter. Den armen Jimmie erfüllte Bestürzung -er war hin und her gerissen. Er hatte sich für einen Radikalen gehalten, weil er an die Expropriation der Expropriateure glaubte; aber über die Pläne, mit den Konventionen zu brechen und die Familie aufzulösen - über diese Pläne war er entgeistert. Und sie wurden ihm ins Ohr gezwitschert von einem erstaunlichen, temperamentvollen jungen Ding, dessen sanfte Hand auf seinem Arm lag und das vom schwachen Duft eines berauschenden Parfüms umgeben war! Warum erzählte sie ihm dies alles? Was wollte sie? Was wohl? Was?
4
Sie kämen zu dem Haus, in dem sie wohnte. Es war schon spät am Abend, und die Straße war leer. Jimmie hatte nun gute Nacht zu sagen, aber aus irgendeinem Grund wusste er nicht, wie er das anstellen sollte. Genossin Evelyn gab ihm die Hand und zog sie aus irgendeinem Grund nicht wieder zurück. Natürlich wäre es unhöflich gewesen, wenn Jimmie sie weggeschoben hätte. So hielt er sie fest, sah die schattenhafte Gestalt vor sich an und fühlte seine Knie zittern. „Genosse Higgins", sagte die unerschrockene mädchenhafte Stimme, „wir wollen Freunde sein, nicht wahr?" Und natürlich antwortete Jimmie, das wollten sie - für immer! Und die mädchenhafte Stimme erwiderte: „Ich hin froh darüber!" Und dann flüsterte sie plötzlich: „Gute Nacht!", und die schattenhafte Gestalt drehte sich um und huschte ins Haus.
Jimmie ging weiter, innerlich seltsam erregt. Dergleichen hatten die Dichter jahrhundertelang zu schildern versucht, doch Jimmie Higgins wusste nichts von den Dichtern, und so war es für ihn etwas völlig Neues, und er musste ganz allein mit der Erschütterung fertig werden und die damit verbundenen Probleme ganz allein lösen. Herumgewirbelt und in die Luft geschleudert zu werden wie ein Junge, den man beim Schulfest mit einer Zeltbahn prellt; eine Beute zu sein für Verwirrung und Angst, für Hoffnung und Sehnsucht, für Verzweiflung und Auflehnung, für köstliche Erregung, zornige Selbstverachtung und nagenden Zweifel! Wie richtig sah es jener Dichter, der sich als erster das Symbol des schalkhaften kleinen Gottes ausdachte, der den Arglosen beschleicht und ihm mit scharfem, peinigendem Pfeil durch das Herz schießt!
Am schlimmsten war, dass Jimmie es Lizzie nicht erzählen konnte. Es war das erste Mal in vier Jahren, dass er Sorgen hatte, von denen er Lizzie nichts erzählen konnte! Er schämte sich sogar, als er nach Hause kam und ins Bett kroch - als ob er Lizzie ein furchtbares Unrecht angetan hätte, und doch wäre er einigermaßen ratlos gewesen, wenn er hätte sagen sollen, worin dieses Unrecht bestand oder wie er es hätte vermeiden können. Nicht er war es ja, der die junge Frauenrechtlerin so entzückend und süß und frei und wunderbar erschaffen hatte. Nicht er war es ja, der den kleinen Gott erschaffen und das Gift für die Pfeilspitze zusammengebraut hatte. Nein, eine Macht, die stärker war als er, hatte diese Situation vorbereitet, eine Macht, die grausam und unerbittlich war, die Ränke schmiedete gegen den
häuslichen Frieden; vielleicht war sie vom Kapitalismus gedungen, der nicht zulassen wollte, dass ein Propagandist der sozialen Gerechtigkeit seine Arbeit voll inneren Friedens verrichtete.
Jimmie suchte zu verbergen, was vorging und natürlich -arme, naive Seele - hatte er nie im Leben gelernt, etwas zu verbergen, und jetzt war es zu spät, damit anzufangen. Beim nächsten Treffen der Ortsgruppe sagten die Frauen, Sie seien enttäuscht vom Genossen Higgins; sie hätten gedacht, er habe sich wirklich der guten Sache verschrieben, aber nun sähen sie, dass er wie alle anderen Männer sei -durch ein einziges Lächeln auf einem hübschen Gesicht habe er sich den Kopf verdrehen lassen. Statt sich um seine Arbeit zu kümmern, laufe er hinter dieser Person, dieser Baskerville, her, glupsche sie sehnsuchtsvoll an wie ein Mondkalb und mache sich vor der ganzen Versammlung zum Gespött. Und dabei warteten zu Hause eine Frau und drei Kinder auf ihn und glaubten, er rackre sich ab für die gute Sache. Als sich die Versammlung vertagte und „die Baskerville" das Anerbieten des Genossen Gerrity annahm, sie nach Hause zu bringen, war der Genosse Higgins so sichtbar unglücklich, dass er sich vor dem ganzen Saal lächerlich machte.
5
Im Interesse der öffentlichen Moral war es notwendig, dass die Frauen der Ortsgruppe in dieser Sache etwas unternahmen. Zumindest dachten das ein paar von ihnen, und völlig eigenmächtig und unangemeldet machten sie Lizzie am nächsten Tag einen Besuch und rieten ihr, häufiger zu den Versammlungen zu kommen und sich bezüglich der neuen Ideen des fortgeschrittenen Frauenrechts auf dem laufenden zu halten. Als Jimmie an diesem Abend nach Hause kam, fand er daher seine Frau in Tränen aufgelöst, und es kam zu einer herzzerreißenden Szene. Denn die arme Elizabeth Huszar, gesprochen Elisa Betuser, hatte nie Gelegenheit gehabt, sich mit den neuen Ideen des fortgeschrittenen Frauenrechts vertraut zu machen. Ihre Ansichten über „freie Verbindungen" stammten aus einer ganz anderen Welt, deren Ideen keineswegs neu waren, sondern im Gegenteil uralt, und „fortgeschritten" waren sie nur auf dem Wege zur Verdammnis. Sie beurteilte Jimmies Verhalten nach absolut alten Maßstäben, und sie war untröstlich, überwältigt von Kummer und Scham. Er war wie alle Männer - und sie hatte sich törichterweise eingebildet, er sei anders! Er verachtete sie und behandelte sie schändlich - eine Frau, die er im Bordell aufgelesen hatte. Der arme Jimmie war niedergeschmettert. Er war sich keiner Missachtung Lizzies bewusst; er war nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie die Sache vielleicht so auffassen würde. Aber sie hatte sie so aufgefasst, daran war kein Zweifel, und zudem mit einer Heftigkeit, die ihn schreckte. Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass so viele Tränen aus den Augen einer einzigen Frau strömen könnten - und auch nicht, dass seine gute, breitgesichtige, ehrliche Frau in ihrem Schmerz so abgrundtief unglücklich sein könnte. „Oh, ich hab es ja gewusst, ich hab es die ganze Zeit gewusst - dass es so kommen würde! Ich hätt dich nun mal nich heiraten sollen - du weißt, ich hab dich gewarnt."
„Aber Lizzie!" wandte ihr Mann ein. „Du irrst dich. Das hat damit überhaupt nichts zu tun!"
Sie fuhr wild auf ihn los, die Finger gespreizt, als wollte sie ihn kratzen. „Willst du damit sagen, wenn du nicht eine von der Straße geheiratet hättst, dass du dann auch hinter so einem Lockenkopf her gewesen wärst? Wenn du eine ständige Frau gehabt hättest, wo du weißt, sie hat ihre Rechte ..."
„Lizzie!" protestierte er bestürzt. „Nun hör doch mal zu ..."
Aber sie war nicht aufzuhalten. „Alle haben gesagt, ich war schön dumm, aber ich hab's doch getan, weil du geschworen hast, du wirst es mir nie vorwerfen! Und dann hab ich die Kinder da gekriegt" - Lizzie schwenkte ihren Arm zu den Kindern hinüber, als ob sie sie von der Erde wegwischen wollte, auf die sie durch einen schweren Fehler geraten waren. Jimmie zwei, der alt genug war, um zu merken, dass etwas Ernstes vor sich ging, und dessen Instinkt entschieden dagegen gerichtet war, von der Erde weggewischt zu werden, begann wild zu heulen; das steckte die Kleinen
an - und alsbald brüllten alle drei zum Steinerweichen, „Buh-huu-huu!"
Es war wahrlich das schreckliche Ende einer Romanze. Jimmie ergriff, fast außer sich, die Hand seiner beleidigten Ehehälfte. „Das ist doch alles Unsinn!" rief er. „Was haben die dir bloß erzählt! Es ist doch gar nichts passiert, Lizzie!
Ich hab sie doch bloß einmal abends nach Hause gebracht!"
Aber Lizzie antwortete, einmal abends sei schon mehr als genug - sie wisse das aus eigener, verhasster Erfahrung. „Und diese Lockenköpfigen, die sich das Haar kräuseln, die kann ich. Was hat sie sich abends von verheirateten Männern nach Haus bringen zu lassen? Und dann, worüber sie redet ..."
„Sie meint es doch nicht böse, Lizzie - sie will nur den Arbeiterfrauen helfen. Man nennt das Geburtenkontrolle -sie will den Frauen beibringen ..."
„Wenn sie den Frauen was beibringen will, warum redet sie dann nich mit den Frauen? Warum redet sie dann die ganze Zeit mit den Männern? So was willst du mir weismachen, mir, mit dem, was ich hinter mir habe?" Und Lizzie brach von neuem in einen Tränenstrom aus, schlimmer als zuvor.
6
Jimmie fand, dass es mit der Romanze wie mit dem Martyrium war - es war eine Menge Ärger damit verbunden, von dem die Romanzendichter nichts erwähnten. Ihm war wirklich hundeelend zumute, denn er empfand tiefe Zuneigung für die Mutter seiner Kinder, und er wollte Unter gar keinen Umständen, dass sie seinetwegen Kummer hatte. Und außerdem hatte sie recht, das musste er zugeben - ihre Schüsse saßen. „Wie wär dir zumute, wenn du rauskriegtest, dass ich mich von irgend 'nem Mann nach Haus bringen lasse?" Wenn es ihm so dargestellt wurde, sah er ein, dass er sich dann allerdings recht mies gefühlt hätte. Eine Flut alter Empfindungen regte sich wieder in ihm. Er ging in der Erinnerung mit seinen krakeelenden Freunden zu dem verruchten Haus, wo er Elizabeth Huszar, gesprochen Elisa Betuser, zum ersten Mal begegnet war. Sie hatte
ihn mit auf ihr Zimmer genommen und war, statt in der üblichen Weise gefügig zu sein, in Tränen ausgebrochen. Man hatte sie schlecht behandelt, und sie war verzweifelt einsam und unglücklich. Jimmie hatte gefragt, warum sie nicht aufhörte mit diesem Leben, und sie hatte geantwortet, dass sie das mehr als einmal versucht hätte, es aber nicht schaffte, genug zum Leben zu verdienen, und außerdem ließen die Bosse sie, weil sie groß und hübsch wäre, sowieso nicht in Ruhe, was wäre also der Unterschied, wenn man den Männern doch nicht entgehen könnte?
Sie hatten auf dem Bett gesessen und geredet, und Jimmie hatte ihr ein bisschen von seinem Leben erzählt, und sie hatte ihm ein bisschen von ihrem Leben erzählt - eine mitleiderregende, rührende Geschichte. Man hatte sie als Kind mit nach Amerika genommen, ihr Vater war bei einem Unfall ums Leben gekommen, und ihre Mutter hatte mit Reinemachen mehrere Kinder ernährt. Lizzie war in einem Slumviertel im äußersten Osten New Yorks aufgewachsen, und sie konnte sich an keine Zeit erinnern, wo sie nicht sexuell ausgenutzt worden war; lüsterne kleine Jungen hatten ihr Tricks beigebracht, und Männer hatten sie mit Bonbons und Essen gekauft. Und doch hatte etwas in ihr um Anständigkeit gerungen; aus eigenem Antrieb hatte sie versucht, zur Schule zu gehen, trotz ihrer Lumpen, und als sie dann dreizehn war, hatte sie sich auf eine Annonce als Kindermädchen gemeldet. Diese Geschichte hatte auf Jimmie besonders Eindruck gemacht - es war wirklich eine mitleiderregende Episode.
Sie war in einem „piekfeinen" Appartement mit einem Pförtner und einem Fahrstuhl beschäftigt gewesen - in dem wundervollsten Haus, das Lizzie jemals zu Gesicht bekommen hatte; es war gewesen, als ob man im Himmel lebte, und sie hatte sich so sehr bemüht, zu tun, was man ihr auftrug, und sich ihrer wunderschönen Herrin und des reizenden Babys würdig zu erweisen. Aber sie war erst zwei Tage dagewesen, als die Herrin Ungeziefer am Baby entdeckt hatte und zu Lizzie gekommen war und unbedingt ihren Kopf hatte untersuchen wollen. Und natürlich hatte sie etwas gefunden. „Das sind doch bloß Nissen!" hatte Lizzie gesagt; sie hatte noch nie von jemand gehört, der keine Nissen im Haar hatte. Aber die wunderschöne Dame hatte sie ein abscheuliches Geschöpf genannt und ihr befohlen, sofort ihre Sachen zu packen und das Haus zu verlassen. Und so hatte Lizzie warten müssen, bis sie Insassin eines Bordells wurde, ehe sich jemand die Mühe machte, ihr beizubringen, wie man Nissen aus dem Haar bekommt und wie man ein Bad nimmt und wie man sich die Fingernägel reinigt und sonstige körperliche Sauberkeit erreicht. Jimmie erinnerte sich wieder an das alles, und er fiel vor seiner Frau auf die Knie, hielt mit aller Kraft ihre beiden Hände und schwor ihr, dass er nichts Schlimmes getan habe. Er erzählte ihr genau, was er Schlimmes getan hatte, und das war die beste Art, sie zu überzeugen, dass er nichts Schlimmeres getan hatte. Er schwor ihr wieder und wieder, dass er nie, nie mehr mit Amor spielen würde - er würde sogleich zur Genossin Baskerville gehen und ihr sagen, dass „alles aus" sei.
Da blickte Lizzie auf durch ihre Tränen. „Nein", sagte sie, „du brauchst gar nicht zu ihr zu gehen!" „Was soll ich denn dann tun?"
„Lass sie einfach bloß in Ruhe - sag ihr gar nichts. Sie wird schon selber merken, dass es aus ist."
7
Aber wenn man schon eine tote Romanze hat, kann man sie nicht einfach im Rinnstein verrotten lassen; man wird unwiderstehlich dazu getrieben, sie ehrenvoll zu begraben. Trotz seiner feierlichen Versprechen ertappte sich Jimmie dabei, dass er die ganze Zeit an Genossin Baskerville dachte und daran, was er machen sollte, wenn er ihr das nächste Mal begegnete - was für edelmütige, würdevolle Reden er ihr halten würde. Er musste es einrichten, dass er mit ihr allein war; denn natürlich konnte er so etwas nicht sagen, wenn die eifersüchtigen alten Weibsen in der Ortsgruppe auf ihn aufpassten. Das Beste würde sein, beschloss er, ihr offen und ehrlich die Wahrheit zu sagen, ihr von Lizzie zu erzählen und wie anständig und gut sie gewesen sei und wie sehr er sich seiner Pflichten ihr gegenüber bewusst sei. Dann würden in die reizenden Augen der Genossin Baskerville Tränen treten, und sie würde ihm sagen, dass sie
seinen ausgeprägten Sinn für eheliche Verantwortung ehre, Sie müssten entsagen; aber selbstverständlich würden sie liebe und treue Freunde bleiben - immer und ewig. Jimmie hielt in seiner Phantasie ihre Hände, als er diese ergreifenden Worte sagte: Immer und ewig! Er wusste, einmal würde er diese Hände wieder loslassen müssen, doch zögerte er und hatte sich noch nicht ganz bis zum Punkt der Ausführung durchgerungen, als er auf dem Heimweg von der Arbeit, während er die Jefferson Street hinunterging - siehe da! -, vor sich eine schmucke, muntere kleine Person erblickte, sorglos dahintrippelnd, mit einem feschen Hutpaar dessen einer Seite eine Truthahnfeder steckte. Jimmie erkannte die Gestalt schon von weitem, und als er sie näher kommen sah, tat sein Herz einen Hupfer und klopfte gegen seine Kehle, so dass ihm all die schönen Reden schwuppdiwupp aus dem Kopfe flogen.
Als sie ihn sah, erschien ein lebhaftes Begrüßungslächeln auf ihrem Gesicht. Sie kam auf ihn zu, und ihre Hände umschlossen sich. „Ach!" rief sie. „Welch eine angenehme Begegnung!"
Jimmie schluckte zweimal und begann dann: „Genossin Baskerville ...", und dann schluckte er wieder und begann: „Genossin Baskerville ..."
Sie unterbrach ihn. „Ich bin nicht Genossin Baskerville", erklärte sie.
Er verstand nicht, was diese unerwarteten Worte bedeuten sollten.
„Wie?" fragte er.
„Haben Sie die Neuigkeit noch nicht gehört?" sagte sie und strahlte ihn an. „Ich bin Genossin Mrs. Gerrity." Völlig verblüfft starrte er sie an.
„Ich bin es seit vierundzwanzig Stunden! Sie dürfen mit gratulieren!"
Ganz langsam begann die Bedeutung der Worte in Jimmies begriffsstutzigem Kopf zu dämmern. „Genossin Mrs. Gerrity!" wiederholte er. „Aber - aber - ich dachte, Sie halten nichts von der Ehe?"
Da lächelte sie das bezauberndste Lächeln, ein Lächeln, das verziert war mit zwei Reihen weißer Perlenzähne. „Verstehen Sie nicht, Genosse Higgins? Keine Frau hält etwas von der Ehe - bis sie den richtigen Mann trifft."
Das war allzu tiefsinnig. Jimmie staunte noch immer offenen Mundes. „Aber eigentlich dachte ich ... dachte ich ..." Er stockte wieder; denn in Wahrheit hatte er noch gar nicht genau gewusst, was er dachte, und jedenfalls schien es sinnlos, es jetzt noch formulieren zu wollen. Aber natürlich wusste sie es, ohne dass er es ihr sagte; sie wusste, was sein bestürzter Blick und seine gestammelten Worte bedeuteten. Da sie ein freundliches Menschenkind war, legte sie ihre Hand auf seinen Arm. „Genosse Higgins", sagte sie, „halten Sie mich nicht für zu gemein!" „Gemein?" rief er. „Aber nein! Weshalb? Wie ..." „Versuchen Sie sich vorzustellen, Sie wären ein Mädchen, Genosse Higgins. Man kann doch einem Mann keinen Heiratsantrag machen, nicht wahr?" „Natürlich nicht... Das heißt..."
„Das heißt, nicht, wenn man will, dass er ihn annimmt! Man muss dafür sorgen, dass er ihn macht. Und vielleicht ist er schüchtern und sagt nichts, und Sie müssen ihm die Idee erst in den Kopf setzen. Oder vielleicht ist er nicht sicher, ob er Sie haben will, und Sie müssen ihm klarmachen, wie überaus begehrenswert Sie sind! Vielleicht müssen Sie ihm einen Schreck einjagen und ihn glauben machen, dass Sie mit jemand anders davonlaufen wollen! Begreifen Sie jetzt, was ein Mädchen für Probleme hat?" Jimmie war noch immer völlig durcheinander, aber er begriff genug, um stammeln zu können: „Ah, ja." Und Genossin Baskerville - das heißt Genossin Mrs. Gerrity - überließ ihm wieder ihre Hand.
„Genosse Higgins", sagte sie, „Sie sind ein lieber, sympathischer Mensch, und Sie sind nicht zu böse auf mich, nein? Wir wollen doch Freunde sein, nicht wahr, Genosse Higgins?"
Und Jimmie drückte die sanfte, warme Hand, blickte in die strahlenden braunen Augen und hielt einen Teil der wundervollen Rede, die er sich auf dem Nachhauseweg ausgedacht hatte. Er sagte: „Immer und ewig!"
1
Der Weltkrieg nahm mit ständig wachsender Härte seinen Fortgang. Den ganzen Sommer lang bestürmten die Deutschen die französischen und englischen Linien, während die Engländer die Tore von Konstantinopel bestürmten und die Italiener die Tore von Triest. Die Deutschen sandten ihre gigantischen Luftschiffe aus, damit sie Bombenladungen auf London abwarfen, und ihre U-Boote, damit sie Passagierdampfer und Lazarettschiffe versenkten. Jeder neue Verstoß gegen das internationale Recht gab Veranlassung zu weiteren Protestbriefen der Vereinigten Staaten und zu weiteren Kontroversen in den Zeitungen und im Kongress und in Kummes Fahrradladen in der Jefferson Street in Leesville.
An diesem letztgenannten Ort waren die Diskussionen allerdings ziemlich einseitig. Praktisch alle, die dort hinkamen, betrachteten die Munitionsindustrie als etwas Verdammungswürdiges und machten kein Geheimnis aus ihrer Freude, wenn sie von Unglücksfällen betroffen wurde -wenn Schiffswerften in Flammen aufgingen und niederbrannten, wenn Eisenbahnbrücken und Schiffe auf See durch mysteriöse Explosionen zerstört wurden. Kumme, ein verhutzelter, grauhaariger alter Bursche mit einer Knollennase und einem Rundschädel, begann in einer Mischung von Englisch und Deutsch zu fluchen, wenn jemand auch nur mit einem Wort die Schiffe erwähnte, die in ganzen Flotten das Meer überquerten, beladen mit Granaten, die deutsche Soldaten töten sollten; er wies mit dürrem Finger auf jeden, der ihm zuhören wollte, und erklärte, dass die Deutschen im Lande keine Sklaven seien und ihr Vaterland gegen die perfiden Briten und ihre Mietlinge aus der Wall Street verteidigen würden. Kumme hielt sich eine Tageszeitung in deutscher Sprache und ein paar Wochenzeitungen, die in englischer Sprache zur Förderung der deutschen Sache erschienen; er kreuzte in diesen Zeitungen Stellen an und las sie laut vor - alles mögliche, was man wusste oder sich ausdenken konnte zur Unehre Englands, Frankreichs und Italiens, der Wall Street und der Nation, die sich von der Wall Street an der Nase herumführen und ausbeuten ließ. Es gab viele Amerikaner, die im Interesse sozialer Reformen in ihrem eigenen Land „Schmutz aufgewirbelt" und dabei das soziale System Deutschlands gelobt hatten. Diese Argumente kamen den deutschen Propagandisten jetzt sehr gelegen, und Jimmie nahm sie mit zur Ortsgruppe der Sozialisten und gab sie weiter. Nach der Ortsgruppenversammlung gingen er und Meissner in die Kneipe, wo sie sich mit Jerry Coleman trafen, der weitere Zehndollarscheine verteilte für den Druck von Antikriegsliteratur.
Der alte Kumme hatte einen Neffen namens Heinrich, der ihn ab und zu besuchte. Es war ein hochgewachsener, gutaussehender junger Mann, der viel besser englisch sprach als sein Onkel und bessere Kleidung trug. Am Ende blieb er ständig da, und Kumme verkündete, dass er im Laden helfen solle. Soweit Jimmie das beurteilen konnte, brauchten sie keine Hilfe, und schon gar nicht von einem Burschen wie Heinrich, der eine Speiche nicht von einer Lenkstange unterscheiden konnte; aber das ging Jimmie nichts an. Heinrich zog also Arbeitskleidung an und brachte ein paar Wochen damit zu, hinter dem Ladentisch zu sitzen und sich in leisem Ton mit Männern zu unterhalten, die ihn besuchen kamen. Nach einiger Zeit ging er auch wieder aus, und schließlich teilte er mit, dass er sich Arbeit in den Empirewerken beschafft habe.
2
Und dann bekamen die ständigen Gäste im Laden weiteren Zuwachs - in Gestalt eines irischen Arbeiters namens Reilly. Die Iren waren im Krieg ein Problem für sich - der Stachel im Gewissen der Alliierten, die schwache Stelle in ihrem Panzer, das gebrochene Glied in der Kette ihrer Argumente; jeder Deutsche war deshalb glücklich, wenn ein Ire zur Tür hereinkam. Dieser Reilly nun kam, um sich einen geplatzten Reifen flicken zu lassen, und blieb, um zu verkünden, wie er über die Weltlage dachte. Der alte
Kumme klopfte ihm auf den Rücken, schüttelte ihm die Hand, sagte, er wäre der Richtige und er solle doch wiederkommen. Darauf wurde Reilly ein regelmäßiger Gast im Laden; er zog aus seiner Tasche eine Zeitung, die „Hibernia", und Kumme holte unter dem Ladentisch eine Zeitung hervor, die „Germania", und dann konnten die beiden stundenlang über das „perfide Albion" schimpfen. Jimmie, über ein Kettenrad gebeugt, an dem er einen Zahn geradebog, sah auf, grinste und rief: „Aber genau!"
Es war Winter und wurde früh dunkel, und Jimmie machte seine Arbeit bei elektrischem Licht hinten im Laden, als Reilly hereinkam und ihn geheimnisvoll tuend in eine Ecke zog. War es ihm wirklich Ernst damit gewesen, als er gesagt hatte, dass er den Krieg hasse und bereit sei, gegen ihn zu kämpfen? Die Empire Shops produzierten jetzt jeden Tag Tausende von Granatkörpern, die zum Menschenmord verwendet werden sollten. Es habe gar keinen Zweck, wenn man versuchen wolle, einen Streik anzufangen, denn es schnüffelten zu viele Spitzel herum, und jeder, der dem Mund aufmache, würde auf die Straße gesetzt; wenn noch dazu einer von draußen es versuchte, würden sie ihn gleich in den Knast stecken - denn natürlich habe der alte Granitch die Stadtverwaltung in der Tasche. All das war für Jimmie eine alte Geschichte, aber nun rückte der Ire mit einem neuen Plan heraus. Es gebe da eine Möglichkeit, die Empirewerke stillzulegen, eine Möglichkeit, die schon anderswo ausprobiert worden sei und die funktioniert habe. Er, Reilly, wisse, wo man Trinitrotoluol herkriege - einen Sprengstoff, der um ein Vielfaches stärker sei als Dynamit. Sie könnten doch aus dem Stahlrohr von Fahrrädern Bomben machen, und Jimmie, der sich ja in den Empire Shops auskenne, könne austüfteln, wie man hineinkäme und die Sache erledigte. Es spränge eine Menge Geld dabei heraus - die Kerls, die so was machten, hätten für den Rest ihres Lebens ausgesorgt. Jimmie war starr. Für ihn hatten deutsche Spione ganz ernstlich ins Reich der Seeschlangen gehört, und nun schob hier direkt vor seinen Augen eine Seeschlange ihren Kopf durch die Dielen von Kummes Fahrrad Werkstatt! Jimmie antwortete, dass er sich mit so was noch nie abgegeben habe. Das sei nicht die rechte Art, dem Krieg ein Ende
zu machen, durch so was gebe es bloß noch mehr Krieg.
Der Ire begann zu diskutieren, bewies ihm, dass kein Mensch dabei zu Schaden kommen würde; die Explosion würde nachts stattfinden und nichts weiter treffen als Abel Granitchs Geldsack. Aber Jimmie blieb hart; zum Glück war ihm in der Ortsgruppe eins stets und ständig eingehämmert worden: Die Bewegung konnte keine Verschwörung gebrauchen, sie musste mit offener Propaganda arbeiten und die Herzen und Hirne der Menschen gewinnen. Erst wurde der Ire ärgerlich und nannte ihn einen Feigling und einen Schlappschwanz. Dann wurde er misstrauisch und wollte wissen, ob Jimmie ihn an die Empirewerke verpfeifen würde. Darüber lachte Jimmie; er war kein Freund von Abel Granitch - das verdammte alte Schwein sollte selber für sich spionieren. Jimmie wollte einfach mit der Sache nichts zu tun haben, weder so noch so. So wurde der Plan fallengelassen, aber der kleine Maschinenarbeiter hielt von nun an die Augen offen und merkte sich, wie viel Deutsche, alles Fremde, den Laden als Treffpunkt benutzten; beobachtete auch die rasch entstandene Freundschaft zwischen dem Iren und Kummes Neffen Heinrich, der sich so Bolzengrade hielt und keinen Hinterkopf hatte. Überraschend plötzlich trieben die Dinge dann dem Höhepunkt zu - eine Bombe platzte, wenn auch keine von der Art, die Jimmie erwartet hatte. Es war ein Abend im Februar, und er wollte gerade abschließen, als er sah, wie sich die Tür öffnete und vier Männer eintraten. In einer besonderen, zielsicheren Weise gingen zwei von ihnen auf den verdutzten Jimmie zu und die anderen beiden auf Kumme. Der eine drehte den Rockaufschlag um, zeigte einen großen goldenen Stern und sagte: „Im Namen des Gesetzes: Sie sind verhaftet." Und zur gleichen Zeit ergriff der andere Jimmies Arme und schob ein Paar Handschellen über seine Gelenke. Dann fuhr er mit den Händen an seinem Gefangenen entlang, eine Zeremonie, die als „Filzen" bekannt war, und gleichzeitig hatten die anderen beiden sich Kummes bemächtigt. Jimmie sah zwei weitere Männer durch die Hintertür den Laden betreten, aber sie hatten nichts zu tun,
denn sowohl Jimmie wie Kumme waren zu überrascht gewesen, um an Flucht zu denken.
Sie wurden nach draußen zu einem Auto geführt, hineingestoßen, und ab ging's wie der Wind. Ihre Fragen blieben unbeantwortet, und so hörten sie nach einer Weile auf, Fragen zu stellen, saßen still da und dachten über alle Sünden nach, die sie in ihrem Leben begangen hatten, und über die Höhe der Wahrscheinlichkeit, dass diese Sünden der Polizei bekannt waren.
3
Jimmie dachte natürlich, es ginge zum Gefängnis; doch stattdessen brachten sie ihn zum Postamt, in ein Zimmer im ersten Stock. Kumme wurde in ein anderes Zimmer gebracht, und Jimmie sah ihn nicht wieder; er hatte genug zu tun, sich auf einen strengblickenden jungen Mann zu konzentrieren, der am Schreibtisch saß und ihn in die Mangel nahm. „Pflichtgemäß mache ich Sie darauf aufmerksam, dass alles, was Sie aussagen, gegen Sie verwendet werden kann", sagte dieser junge Mann und begann dann, ohne dass Jimmie Zeit hatte, sich den Sinn dieser Worte klarzumachen, ihn mit Fragen zu bombardieren. Während der ganzen Tortur standen die beiden Geheimpolizisten neben ihm, und in einer Ecke des Zimmers, an einem anderen Schreibtisch, nahm eine Stenographin emsig auf, was sagte. Jimmie wusste, dass es so was wie Stenographinnen, gab - war es doch noch gar nicht lange her, dass er sich beinah in eine verliebt hätte. „Ihr Name?" sagte der strengblickende junge Mann, und dann: „Wo wohnen Sie?" Und dann: „Berichten Sie mir alles, was Sie über den Bombenanschlag wissen." „Aber ich weiß doch gar nichts!" rief Jimmie. „Sie sind in der Gewalt der Bundesregierung", erwiderte der junge Mann, „und Ihre einzige Chance ist, alles offen zu gestehen. Wenn Sie uns helfen, kommen Sie vielleicht davon."
„Aber ich weiß doch gar nichts!" rief Jimmie wieder. „Haben Sie davon gehört, dass die Empire Shops in die Luft gesprengt werden sollten?" „J-ja, Sir." „Von wem?"
„Von einem Mann ..." So weit kam Jimmie, und dann fiel ihm das Versprechen ein, das er gegeben hatte. „Das kann
ich nicht sagen!" fuhr er fort.
„Warum nicht?"
„Es wäre nicht anständig."
„Sind Sie dafür, dass man Gebäude in die Luft sprengt?" „Nein, Sir!" Jimmie legte in seine Antwort den Ton bemühter Aufrichtigkeit, und darum begann der andere mit ihm zu diskutieren. Überall im Land seien ungeheure Verbrechen verübt worden, und die Regierung wolle ihnen ein Ende setzen; es sei doch wohl die Pflicht eines anständigen Bürgers, dabei jede mögliche Hilfe zu leisten. Jimmie hörte sich das an, bis ihm der Angstschweiß auf die Stirn trat; aber er konnte sich nicht überwinden, einen Arbeiter, also seinesgleichen, zu „verpfeifen". Nein, und wenn er dafür zehn oder zwanzig Jahre ins Gefängnis musste, wie der strengblickende junge Mann ihm in Aussicht stellte. „Haben Sie Reilly gesagt, dass Sie mit Bomben nichts zu tun haben wollten?" fragte der junge Mann, und Jimmie antwortete: „Na klar!" Und sein armer Kopf war so durcheinander, dass er nicht einmal merkte, wie er mit seiner Antwort preisgab, was niemals zu verraten er sich geschworen hatte! Der Befrager schien alles bis ins einzelne zu wissen, und es war darum ein leichtes für ihn, Jimmie dahin zu bringen, dass er ausplauderte, wie er Kumme über die Empire Shops und das Land und den Präsidenten hatte schimpfen hören; wie er Kumme mit Reilly hatte flüstern hören und mit Deutschen, deren Namen er nicht wusste, und wie er gesehen hatte, dass Heinrich, Kummes Neffe, Stücke von Stahlrohr zuschnitt. Dann fragte der Mann, der ihn verhörte, nach Jerry Coleman. Wie viel Geld hatte Jimmie bekommen, und was hatte er damit gemacht? Jimmie weigerte sich, die Namen anderer zu nennen; aber als der junge Mann eine Andeutung machte, dass Jimmie vielleicht von dem Geld etwas für sich behalten habe, rief der kleine Maschinenarbeiter mit leidenschaftlicher Heftigkeit, nicht einen Dollar hätte er behalten, und sein Freund Meissner auch nicht; sie hätten Jerry Coleman Quittungen gegeben, und das, obwohl sie manches Mal wegen ihrer Miete in Schwierigkeiten gewesen seien. Die Polizei könne ja Genossen Gerrity und Genossin Mary Allen und die anderen Ortsgruppenmitglieder fragen.
So brachte der Befrager Jimmie dazu, über die Deutschen in der Bewegung zu reden. Schneider, der Brauer, zum Bei-spiel - er gehörte zu denen, die wild auf die Alliierten schimpften, und hatte trotzdem bei dem Bombenanschlag mitgemacht. Jimmie war entrüstet; Genosse Schneider war ein Sozialist, wie man keinen besseren finden konnte, und Sozialisten hatten mit Bomben nichts zu tun! Aber dann der junge Emil Forster - der hatte doch in seiner Freizeit Sprengstoff hergestellt, oder? Worauf Jimmie sich noch mehr aufregte. Er kannte den jungen Emil gut; der Junge war Teppichdesigner und Musiker, und wenn irgendjemand so was von ihm sagte, dann log er, das war alles.
Etwa eine Stunde setzte der Mann seine Befragung fort, indem er den armen Jimmie mit Zweifeln und Ängsten dieser Art quälte; bis er schließlich ein bisschen von seiner Strenge fallenließ und zu Jimmie sagte, er habe ihn bloß auf die Probe stellen wollen, um zu sehen, was er über verschiedene Männer wüsste, die sich durch ihre deutschfreundlichen Gefühle verdächtig gemacht hätten. Nein, es liege den Behörden nichts vor gegen Schneider oder Forster oder irgendeinen anderen gutgläubigen Sozialisten. Sie seien nur einfach Dummköpfe, dass sie sich als Werkzeuge deutscher Verschwörer benutzen ließen, die Geld ausgaben wie Wasser, um in den Munitionsfabriken des ganzen Landes Störungen zu verursachen.
4
Dann las der Befrager, der sich als „Sonderbeauftragter" des Justizministeriums ausgab, Jimmie die Leviten. Ein ehrlicher Mann wie er solle sich was schämen, sich von deutschen Verschwörern reinlegen zu lassen, die die amerikanische Industrie zum Zusammenbruch bringen und die amerikanische Arbeiterschaft an der Nase herumführen wollten.
„Aber sie wollen doch, dass die Munitionsherstellung aufhört!" rief Jimmie.
„Aber doch nur, damit Deutschland mehr Munition herstellen kann!"
„Aber gegen die Herstellung von Munition in Deutschland hin ich doch auch!"
„Und wie wollen Sie die Herstellung in Deutschland verhindern?"
„Ich bin internationaler Sozialist. Wenn ich den Krieg im eigenen Land bekämpfe, helfe ich den Sozialisten, ihn in anderen Ländern zu bekämpfen. Und damit hör ich auch nicht auf - nicht, solange ich noch atmen kann!" Und so hielt doch tatsächlich Genosse Jimmie vor dem Sonderbeauftragten der Regierung, der sein Schicksal in den Händen hatte, eine Rede über Pazifismus! Aber Jimmie Higgins gegenüber durfte eben keiner unwidersprochen für den Krieg eintreten, selbst dann nicht, wenn Jimmie deshalb vielleicht für den Rest seines Lebens ins Gefängnis musste!
Der junge Mann lachte - freundlicher, als Jimmie es am Anfang dieses Verhörs für möglich gehalten hätte. „Higgins", sagte er, „Sie sind ein gutmütiger Schwachkopf. Sie können sich bei Ihrem Glücksstern bedanken, dass einer der Männer, denen Sie vertraut haben, ein Geheimagent der Regierung war. Wenn wir nicht die Wahrheit über Sie wüssten, hätten Sie ganz schön zu tun, um sich rein zu waschen."
Jimmie war der Unterkiefer herabgeklappt. „Ein Geheimagent der Regierung! Wer ist der Geheimagent?" „Reilly", sagte der junge Mann.
„Reilly? Aber er war es doch, der mir das Angebot gemacht hat!"
„Na, dann gratulieren Sie sich mal, dass Sie das Angebot
nicht angenommen haben!" „Aber vielleicht hat er Heinrich auch ein Angebot gemacht!"
„Nein, Heinrich brauchte kein Angebot gemacht zu werden. Wegen Heinrich haben wir ja überhaupt mit den Ermittlungen begonnen. Er hat schon überall im Land Sprengkörper fabriziert und anbringen lassen. Sein Name ist nicht Heinrich, und er ist auch nicht Kummes Neffe; sein Name ist von Holtz, und er ist preußischer Offizier, ein persönlicher Freund vom Kaiser."
Jimmie war sprachlos. Heiliger Strohsack! Er hatte hinten im Fahrradladen vom alten Kumme gesessen und sich die Pfeife aus dem Tabaksbeutel eines persönlichen Freundes
vom Kaiser gestopft. Er hatte diesen persönlichen Freund vom Kaiser eine Flasche und einen Esel genannt und ihm erklärt, dass ein richtiger Mechaniker schon ein Kugellager fertig montiert hätte, während er, der persönliche Freund vom Kaiser, sich noch in die Hände spuckte. War denn das die Möglichkeit!
Mr. Harrod, der „Sonderbeauftragte", teilte Jimmie mit, dass er das, was er wisse, bezeugen müsse, und Jimmie war derart entrüstet über die Art, wie er reingelegt worden war, dass er das auch gern tun wollte. Er würde Kaution stellen müssen, um sein Erscheinen zu garantieren, fügte der andere hinzu; ob er jemand wisse, der für ihn bürgen würde? Jimmie zermarterte sein gequältes Hirn. Der Genosse Dr. Service würde sich vielleicht bereit erklären, wenn er ganz sicher wäre, dass Jimmie nicht wirklich die Absicht gehabt hatte, den Deutschen zu helfen. Mr. Harrod willigte freundlich ein, diese Versicherung abzugeben, und rief Dr. Service an, den er offenbar kannte, und teilte ihm die Umstände mit. Dr. Service sagte schließlich, er würde ein paar tausend Dollar hinterlegen, um Jimmies Erscheinen vor der Anklagejury und beim Prozess zu garantieren. Mr. Harrod fügte hinzu, dass, falls Dr. Service verspräche, am anderen Morgen zu kommen und die Angelegenheit zu erledigen, sein Wort genügen würde und der Zeuge für die Nacht gehen könnte. Der Arzt versprach es, und Jimmie wurde mitgeteilt, dass er bis zum anderen Morgen um zehn Uhr frei sei. Er schoss davon wie eine Lerche aus einem Käfig.
5
Er war ermahnt worden, niemand etwas zu erzählen so sagte er Lizzie, dass er aufgehalten worden sei, um ein Motorrad zu reparieren. Und am nächsten Morgen stand er zur gewöhnlichen Stunde auf, um zu vermeiden, dass er Verdacht erregte, und ging hin und starrte den Laden an, der abgesperrt worden war und vor dem ein Polizist Wache hielt. Er kaufte sich einen Leesviller „Herald" und las die aufregende Geschichte des deutschen Komplotts, das in Leesville ans Tageslicht gebracht worden war. Ein halbes Dutzend Verschwörer war verhaftet worden, und man hatte mehr als ein Dutzend Bomben gefunden, die alle in den Empire Shops hochgehen sollten, Franz Heinrich von Holtz, der eine Brücke in Kanada in die Luft gesprengt und eine Höllenmaschine an Bord eines großen Atlantikdampfers gebracht hatte, war endlich geschnappt worden! Eine halbe Stunde vor der Zeit wartete Jimmie vor dem Postamt, und als Genosse Dr. Service kam, gingen sie hinein und unterschrieben die Kaution. Als sie wieder herauskamen, kommandierte der strenge und unnahbare Arzt Jimmie zu sich ins Auto und verpasste ihm eine ganz gehörige Abreibung. Er nahm ihn in die Mache - legte ihn sozusagen übers Knie - und hörte nicht auf, ehe es nicht gehörig weh tat! Der kleine Maschinenarbeiter war so völlig von sich überzeugt gewesen: wollte da frischfröhlich den Krieg durch Einstellung der Munitionstransporte beenden und die Warnungen von Männern in den Wind schlagen, die älter und klüger waren als er! Und nun sah er ja, wohin er damit gekommen war - verhaftet mit einer Bande von Brandstiftern und Desperados, die angeleitet und bezahlt wurden von einem persönlichen Freund vom Kaiser! Der arme Jimmie konnte nicht viel zu seiner Verteidigung anführen: für diesmal war er wirklich geknickt. Er konnte nur sagen, dass er keine bösen Absichten gehabt habe - er habe bloß gegen den Munitionshandel agitiert - also gegen eine schlechte Sache ...
„Schlecht?" unterbrach ihn der Genosse Arzt. „Die Sache, von der die Freiheit der Menschheit abhängt!" „Wa-as?" rief Jimmie, denn diese Worte klangen ihm wie schierer Wahnsinn.
Der andere erklärte. „Eine Nation, die ihre Nachbarn vernichten will, macht sich ans Werk und steckt alle Kräfte in die Herstellung von Kanonen und Granaten. Die freien Völker der Welt machen da nicht mit - man kann sie nicht dazu bringen, weil sie nichts vom Krieg halten; man kann ihnen nicht begreiflich machen, dass ihre Nachbarn Krieg wollen. Wenn sie also angegriffen werden, besteht ihre einzige Überlebenschance darin, auf den freien Markt zu gehen und sich die Mittel zur Verteidigung zu kaufen. Und dieses Recht willst du ihnen nehmen - willst sie verraten, sie unter die Hufe des Kriegsungeheuers werfen! Du, der
du sagst, du glaubst an Gerechtigkeit, machst dich zum Werkzeug einer solchen Verschwörung! Du nimmst deutsches Geld ..."
„Ich hab niemals deutsches Geld genommen!" rief Jimmie heftig.
„Hat Kumme dir kein Geld gezahlt?" „Dafür hab ich doch in seinem Laden gearbeitet - ich hab meine zehn Stunden den Tag ganz ehrlich abgearbeitet!" „Und dieser Jerry Coleman? Hat der euch kein Geld gegeben?"
„Aber das war für Propaganda - er war Werber für den Nationalen Friedensrat der Arbeiter ..." Worauf der Genosse Doktor förmlich schnaubte vor Verachtung. „Wie konntest du nur ein solcher Esel sein? Liest du denn keine Nachrichten? Aber nein - natürlich, das tust du ja nicht - du liest ja nur die deutschen ,Enten'!" Und der Genosse Doktor zog seine Brieftasche heraus, die von Zeitungsausschnitten bald platzte, und suchte einen Artikel aus einer New-Yorker Zeitung hervor, in dem stand, dass die Regierung gegen die Funktionäre einer Organisation, die sich Nationaler Friedensrat der Arbeiter nenne, wegen Anstiftung zu Streik und Gewalttätigkeit gerichtlich vorgehe. Der Gründer der Organisation sei ein Mann, der als der „Wolf von der Wall Street" bekannt sei; das Kapital stamme von einem preußischen Armeeoffizier, einem Attaché der deutschen Gesandtschaft, der seine diplomatische Immunität dazu benutzt habe, in einem befreundeten Land zu Verschwörung und großangelegter Zerstörung von Eigentum aufzuhetzen. Was sagte Jimmie nun? Der arme Jimmie wusste darauf gar nichts zu sagen. Ganz klein und gebrochen saß er da. Nicht nur das Geld, das er jeden Sonnabendabend von Kumme erhalten hatte, sondern auch die Zehndollarscheine, die ihm Jerry Coleman in die Hand gedrückt hatte - auch sie waren also vom Kaiser gekommen! Sollte etwa die ganze radikale Bewegung vom Kaiser übernommen werden und Jimmie Higgins dadurch seine Aufgabe verlieren?
1
Kummes Fahrradgeschäft wurde aufgelöst und das Inventar versteigert. Jimmie Higgins sah das sehnsüchtig mit an und dachte: Wenn er nun sein Kapital nicht für sozialistische Traktate verschwendet, wenn er ein bisschen von seinem Lohn gespart hätte wie jeder normale Mensch, dann hätte er vielleicht jetzt diesen kleinen Laden kaufen und einen Start ins Leben haben können. Aber leider musste Jimmie auf solche Pläne verzichten! Er musste in dein Stand bleiben, den der Präsident seines Landes als „industrielle Leibeigenschaft" bezeichnet hatte; er musste weiterhin für den Profit eines anderen arbeiten, weiterhin auf Gnade und Ungnade den Launen irgendeines anderen ausgesetzt bleiben.
Er suchte sich Arbeit in den Eisenbahnwerkstätten; aber nach ein paar Wochen kam ein Organisator, der dort eine Gewerkschaft aufzubauen versuchte. Jimmie trat natürlich bei; wie hätte er auch anders gekonnt? Und so fand er, als er das nächste Mal seinen Lohn abholen ging, einen grünen Zettel in seinem Umschlag, auf dem ihm mitgeteilt wurde, dass die Atlantic Western Railroad Company seine Dienste nicht länger benötige. Eine Erklärung wurde nicht gegeben und auch nicht gesucht - denn Jimmie war mit den Gepflogenheiten der amerikanischen Lohnsklaverei, die man euphemistisch „industrielle Leibeigenschaft" nannte, durchaus vertraut.
Er begann neu, als Beifahrer eines Lastwagenfahrers. Es war die schwerste Arbeit, die er bisher gemacht hatte - und sie fiel ihm noch schwerer, weil sein Boss ein stumpfsinniger Kerl war, der weder über Politik noch über Krieg reden wollte. So war Jimmie unzufrieden; vielleicht steckte ihm auch der Frühling im Blut; jedenfalls durchstöberte er seine Sonntagszeitung und fand die Anzeige eines Farmers, der eine „Arbeitskraft" suchte. Die Farm lag sechs Meilen von der Stadt entfernt, und Jimmie, der sich an seinen Spaziergang mit dem Kandidaten erinnerte, gönnte sich einen
Sonntagnachmittagsausflug. Er verstand nichts von Landarbeit und sagte das auch; aber die Munitionsfabriken hatten so viel Arbeitskräfte vom Lande abgezogen, dass der Farmer froh war, überhaupt jemand zu bekommen. Er hatte ein „Pächterhaus" auf dem Hof, und am Montagmorgen heuerte Jimmie seinen früheren Boss, den Lastwagenfahrer, an, um mit seinen wenigen Möbelstücken umzuziehen; er sagte seinem kleinen Freund Meissner Lebewohl und lernte schon am nächsten Tag, wie man Kühe melkt und einen Pflug lenkt.
So kehrte Jimmie zurück an den Busen der altehrwürdigen Mutter Natur. Doch leider kam er nicht, um Glück und Gesundheit zu finden, nicht als freier Mann, um seinen Weg zu machen und sich ein neues Leben aufzubauen; er kam als Ackerknecht, um sich vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung abzuschinden für einen Lohn, der kaum zum Leben reichte. Der Farmer war der Eigentümer von Jimmies Zeit, und Jimmie verabscheute ihn von Herzen, weil er griesgrämig und geizig war, seine Pferde misshandelte und an seinem Lohnarbeiter herumnörgelte. Jimmie verstand nicht genügend von der ökonomischen Seite des Bauerndaseins, um zu erkennen, dass John Cutter genauso sehr Sklave war wie er selbst - durch eine Hypothek verkauft an Ashton Chalmers, den Präsidenten der First National Bank von Leesville. John schuftete nicht anders als Jimmie vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung und hatte außerdem noch alle Angst und Sorge zu tragen; seine Frau war ein blasses, hohlbrüstiges Arbeitstier und schluckte ebenso viele Flaschen Patentmedizin wie die arme Mrs. Meissner.
Jimmie blieb jedoch leidlich guter Dinge, weil er Neues lernte und weil er sah, dass das Leben auf dem Lande den Kindern guttat, die frische Luft bekamen und besseres Essen, als sie in ihrem kurzen Leben bisher je gehabt hatten. Den ganzen Sommer über pflügte er und eggte und hackte, versorgte Pferde und Kühe und Schweine und Hühner und fuhr mit den Farmerzeugnissen in die Stadt, um sie zu verkaufen. Abends war er zu müde, um seine sozialistischen Zeitungen zu lesen; sechs Monate lang ließ er die Welt gehen, wie sie wollte - ihren Weg verzweifelten Kampfes und furchtbarer Qualen. Es war die Zeit, da die deutschen
Horden sich gegen die Festungswerke von Verdun warfen. Fünf entsetzliche Monate lang stürmten sie, Welle auf Welle, in endloser Folge; die Franzosen aber bissen die Zähne zusammen und schworen: „Sie kommen nicht durch!", und die übrige zivilisierte Menschheit hielt den Atem an und wartete.
2
Die einzige Gelegenheit für Jimmie, über diese Dinge zu reden, bot sich Sonnabendabends, wenn er zu dem Laden an der nächsten Kreuzung schlenderte. Die Männer, die er hier traf, waren für ihn ein neuer Menschenschlag -den Fabrikarbeitern so unähnlich, als kämen sie von einem anderen Stern. Jimmie kannte es nicht anders, als dass man sich über solche „Dorftrottel" lustig machte; verstandesmäßig betrachtete er sie als Überbleibsel eines vergangenen Zeitalters; so konnte er sich natürlich ihr Gespräch nicht lange mit anhören, ohne „einzuhaken". Er begann mit der Feststellung, die Alliierten seien ebenso schlimm wie die Deutschen. Damit kam er noch ungestraft davon, denn alle hatten aus ihren Schulbüchern gelernt, dass man die „Britischen" hassen müsse, und über die Franzosen und Italiener wussten sie nicht viel. Aber als Jimmie dann sagte, die amerikanische Regierung sei ebenso schlimm wie die deutsche - alle Regierungen würden von Kapitalisten geführt und alle zögen wegen ausländischer Märkte und solchem Kram in den Krieg -, da hatte er aber in ein Wespennest gestochen! „Willst du damit sagen, die amerikanische Armee würde dasselbe machen, was die Preußen in Belgien gemacht haben?" Und als Jimmie antwortete: „Ja", stand ein entrüsteter Bürger von seinem Platz auf einer Crackerkiste auf, tippte ihm auf die Schulter und sagte: „Hör mal zu, Sportsfreund, du gehst jetzt am besten ganz schnell nach Hause. Du holst dir bloß 'nen Frack aus Teer und Federn, wenn du hier bei uns das Maul zu weit aufreißt." So hielt Jimmie eine Weile den Mund, und als er mit seinem Armvoll Einkäufen losging, erhob sich ein von einem weißen Backenbart gezierter ehrwürdiger Alter, der zugehört hatte, und folgte ihm nach draußen. „Ich habe den gleichen Weg", sagte er. „Steigen Sie auf." Jimmie kletterte in die Kutsche, und während die knochendürre Mähre gemächlich durch die Sommernacht trabte, stellte der Kutscher Jimmie Fragen über sein Leben. Wo war er aufgewachsen? Wie war es möglich, dass einer sein ganzes Leben in Amerika gewesen war und doch so wenig über sein Heimatland wusste?
Peter Drew, so hieß der alte Farmer, war in der ersten Schlacht von Bull Run dabei gewesen und hatte in der Armee von Nordvirginia bis hin nach Richmond gekämpft. Daher wusste er, wie sich amerikanische Armeen benehmen; er konnte Jimmie erzählen, wie eine Million freier Männer zu den Waffen geeilt waren, um die Einheit ihrer Nation zu retten, und ganze Arbeit geleistet hatten und dann ruhig wieder heimgekehrt waren an ihre Arbeit auf der Farm und in der Schmiede. Jimmie hatte von Genossin Mary Allen, der Quäkerin, die Behauptung gehört: „Gewalt hat noch nie ein Problem gelöst." Das wiederholte er nun, und der Alte erwiderte, ein Amerikaner solle eigentlich der letzte auf der Welt sein, der so etwas behauptet, denn sein Land habe das beste Beispiel in der Geschichte dafür gegeben, wie wichtig manchmal eine tüchtige Tracht Prügel sei Durch Gewalt sei die Sklavenfrage gelöst worden - und zwar so dauerhaft gelöst, dass man jetzt durch den Süden reisen und lange suchen könne, bis man einen Menschen finde, der es lieber wieder anders haben wolle. Von alledem aber wusste Jimmie nichts; er wusste überhaupt nichts von Amerika. Der alte Mann sagte, es erschrecke ihn, zu sehen, dass ein Mensch in diesem Lande habe aufwachsen können und doch so wenig von seinem Wesen verstehe. Die ganze wertvolle Tradition, vollkommen tot, was Jimmie anging! Alle die Helden, die ihr Leben gelassen hatten, um für das Land, in dem er lebte, die Freiheit zu erringen und sie ihm zu bewahren - und er wusste nicht einmal ihre Namen, wusste nicht einmal die Namen der großen Schlachten, in denen sie gekämpft hatten! Die Stimme des alten Mannes bebte, und er legte seine Hand auf Jimmies Knie.
Der kleine Sozialist versuchte zu erklären, dass er seine eigenen Träume hatte. Er kämpfe für die internationale Freiheit - sein Patriotismus ziele höher und weiter als nur
auf ein einzelnes Land. Das sei ja alles schön und gut, sagte der Alte, aber warum die Leiter umstoßen, auf der man hochgeklettert sei - besonders, wenn man vielleicht doch noch nicht ganz oben sei? Warum nicht die bessere Seite seines Heimatlandes kennenlernen und sich an sie halten? Peter Drew sprach dann von einer Rede, die er Abraham Lincoln habe halten hören, und zitierte daraus; konnte Jimmie etwa daran zweifeln, dass auch Lincoln sich gegen die Beherrschung des Landes durch die Wall Street gestellt hätte? Und wenn sein Land von Männern wie Lincoln geformt und geleitet worden sei, warum dann das Bild des Landes mit Füßen treten und seinen guten Namen beschmutzen - nur weil es in ihm ein paar üble Kerle gebe, die sich seinen Idealen von Freiheit und Demokratie entgegenstellten?
Dieser alte Soldat wohnte etwa eine Meile entfernt von Jimmie und lud seinen neuen Freund ein, ihn zu besuchen. So zog am nächsten Nachmittag - es war Sonntag - Lizzie ein frisch gestärktes Kleid an, und Jimmie packte die beiden kleinsten Kinder in den Zwillingskinderwagen, nahm die dicke Patschhand von Jimmie zwei, und dann trotteten sie die Landstraße hinunter zu dem Farmhaus, das schon der Vater des alten Mannes gebaut hatte. Mrs. Drews war eine alte Dame mit einem lieben Gesicht, die zwar ziemlich angegriffen aussah, deren helle Augen jedoch vor Gastfreundlichkeit strahlten. Sie brachte einen Korb mit reifen Pfirsichen heraus, setzte sich zu Lizzie und plauderte voll Verständnis mit ihr über Kinderpflege, während Jimmie und der Alte unter dem Schatten einer Ulme neben der Küchentür saßen und über amerikanische Geschichte redeten. Jimmie hörte Geschichten von Schlachten und Gefangenschaften, von ungeheurem Heldentum und Selbstaufopferung. Bisher hatte er den Krieg sozusagen von außen her betrachtet; jetzt aber bekam er Einblick in das Innere, begann er zu verstehen, wie ein Mann bereit sein konnte, sein Heim und seine Lieben zu verlassen und hinauszumarschieren, um zu
kämpfen und zu leiden und zu sterben, um dadurch das Land zu retten, an das er glaubte.
Auch noch ein anderer neuer Gedanke zeigte sich hier: Dieser alte Bursche war Soldat gewesen, hatte sich durch vier Jahre unaufhörlicher Schlachten hindurch gekämpft
und war doch ein gütiger Mensch geblieben. Er war freundlich, sanft, großmütig; er verlieh den Aussprüchen Würde, über die Jimmie sich nur immer mokiert hatte. Es war unmöglich, vor solch einem Mann nicht Hochachtung zu haben, und so kam Jimmie allmählich auf den Gedanken, dass es vielleicht doch so etwas wie „eine Seele Amerikas" geben könnte, von der Peter Drew die ganze Zeit redete. Vielleicht stand dieses Land doch noch für mehr als für Wall-Street-Spekulanten und korrupte Politiker, Polizisten mit Knüppeln und Milizsoldaten mit Bajonetten, die sie Arbeitern in den Leib stießen, wenn die versuchten, ihr Los im Leben zu verbessern!
3
Im Verlauf des Sommers musste sich Jimmie mehrere Tage freinehmen und nach Leesville gehen, um dem Prozess gegen die deutschen Verschwörer beizuwohnen. Er musste in den Zeugenstand treten und alles sagen, was er über Kumme und Heinrich und die anderen Männer wusste, die häufig in den Fahrradladen gekommen waren. Es war eine sehr ernste Erfahrung, und noch ehe alles, vorbei war, war Jimmie von Herzen froh, dass er die Aufforderung, dabei mitzuhelfen, die Empire Machine Shops in die Luft zu sprengen, abgelehnt hatte. Der Prozess endete damit, dass Jimmies alter Arbeitgeber zu sechs Monaten verurteilt wurde und Heinrich und seine Kumpane zu je zwei Jahren. Mehr erlaubte das Gesetz nicht - zur hellen Empörung des Leesviller „Herald". Der „Herald" forderte lebenslänglich für jeden, der die Industrie störte, von der der Wohlstand der Stadt abhing.
Unter den Beobachtern des Prozesses war Genösse Smith, der Redakteur des „Worker"; und Jimmie setzte sich mit ihm in „Toms Imbissstube" und ließ sich erzählen, wie sich die Dinge in den Empire Shops in jüngster Zeit entwickelt hatten. Die Bewegung der Unzufriedenheit war völlig erstickt worden; das große Unternehmen lief Tag und Nacht auf Hochtouren. Man stellte Hunderte von neuen Arbeitskräften ein, meistens Frauen und Mädchen, trieb sie zu immer schnellerem Arbeitstempo an und produzierte Tag für
Tag Zehntausende von Granatkörpern. Und noch immer war man nicht zufrieden; neue Gebäude entstanden, die Firma breitete sich wie ein riesiger Fleck über die Landschaft aus. Es war schon die Rede von einer Sprengstofffabrik in der Nähe, damit die Granaten ebenso schnell gefüllt werden könnten, wie sie hergestellt wurden. Die Hochkonjunktur in Leesville dauerte an; die Spekulanten hielten reiche Ernte; es schien, als wären die herrschenden Kreise der Stadt allesamt in einem Rausch. Genosse Smith riet Jimmie zu bleiben, wo er war, denn es würde für die Arbeiter in Leesville schwerer und schwerer, etwas zu essen zu bekommen. Doch auswärts auf den Höhen entlang dem Flussufer in dem Stadtteil, der „Nob Hill" heiße, entständen neue Paläste. So sei es überall im östlichen Teil des Landes, sagte der junge Redakteur; die Reichen wüssten nicht mehr, wo sie mit ihren Millionen hinsollten. An dem Tag, an dem der Prozess zu Ende ging, blieb Jimmie in der Stadt, um eine Ortsgruppenversammlung zu besuchen und seine rückständigen Beiträge zu bezahlen. Er traf alle seine alten Freunde wieder und hörte sich an, wie der Wilde Bill aufstand und eine seiner Schimpfkanonaden losließ. Bill hielt einen Zeitungsausschnitt in der Hand, der von dem unbegreiflichen Wahnsinn berichtete, der die Wall Street ergriffen hatte. Rüstungsaktien schnellten in unglaubliche Höhen empor; „Kriegskinder" nannten die Leute sie mit unvorstellbar zynischem Humor. Auf der „Großen Weißen Straße", wo sie hineilten, um diese Neuauflage von Tausendundeiner Nacht zu feiern, kam es zu solchen Orgien der Ausschweifung, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. „Dafür müssen wir uns abrackern!" brüllte der Wilde Bill - und sah wilder aus denn ja, seit die Polizei ihm das Nasenbein gebrochen und ihm drei Vorderzähne ausgeschlagen hatte. „Dafür werden wir an unsere Arbeit gekettet - in den Knast gesteckt, wenn wir auch nur den Mund aufmachen! Um Millionen zu scheffeln für den alten Granitch, damit der junge Lacey Hüpflieschen heiraten und sich wieder von ihnen scheiden lassen kann - oder damit er einem anderen die Frau wegnehmen kann, was er ja jetzt wohl gerade tut, wie es heißt!"
Dann sprach der junge Emil Forster, und Jimmie bekam die inneren Zusammenhänge der schrecklichen Weltereignisse
erklärt. Russland war mitten in einer gigantischen Offensive, - die Österreich überwältigen sollte; England warf gleichzeitig seine neuen Armeen an die Somme; für diese beiden riesigen Truppenbewegungen brauchte man Granaten - Millionen und aber Millionen Granaten aus Amerika, das allein imstande war, genügend davon herzustellen. Die Eisenbahnen waren damit vollgestopft, an den Endstationen und in den Häfen türmten sie sich zu Bergen; ganze Flotten von Dampfern wurden damit beladen und fuhren nach England und Frankreich und auf dem Weg über Archangelsk nach Russland. Und natürlich wollten die deutschen U-Boote sie aufhalten; die ganze Welt glich einem Pulverfass in dieser Situation. Der Präsident hatte durch eine Reihe von Noten Deutschland zu dem Zugeständnis gezwungen, keine Passagierschiffe zu versenken; aber dieses Versprechen war nicht leicht zu halten - Zwischenfälle waren an der Tagesordnung, und die Wut der Völker wuchs; Amerika wurde stündlich näher an den Strudel dieses grässlichen Kampfes herangezogen. So sah das Bild aus, das Jimmie mit zurück auf die Farm nahm; es war kaum verwunderlich, wenn er jenen Frieden und Frohsinn nicht fand, den der Mensch ja eigentlich am Busen der Mutter Natur schlürfen soll!
1
Es war schon spät in der Nacht, als Jimmie die Ortsgruppe der Sozialisten verließ und die Straßenbahn nach draußen aufs Land nahm. Er hatte von der Haltestelle, wo er aussteigen musste, noch fast zwei Meilen zu Fuß zu gehen, und es war ein Gewitter aufgekommen; er stieg aus und begann durch die Dunkelheit und den strömenden Regen zu trotten. Mehrmals rutschte er von der Straße ab in den Graben, und einmal fiel er der Länge nach auf den Bauch, stand wieder auf und wusch sich mit dem sauberen Regenwasser, das auf ihn niederprasselte, den Schlamm aus Augen und Nase. Während er noch damit beschäftigt war, hörte er den Ton einer Hupe und sah ein grelles Licht rasch näher kommen. Er sprang wieder in den Graben, und in schnellem
Tempo fuhr ein großes Auto vorbei, das ihn von oben bis unten mit Matsch bespritzte. Vor sich hin schimpfend, stapfte er weiter. Zweifellos einer von diesen Rüstungsmillionären - die bei Nacht durchs Land rasten und mit ihren Hupen Krach machten, als ob ihnen die Straße gehörte, und dabei arme Fußgänger mit ihrem Dreck vollspritzten! So ging es weiter, bis Jimmie an eine Kurve kam und das grelle weiße Licht wiedersah, das diesmal stillstand. Es schien nach oben in die Bäume zu zeigen, und als er näher kam, wurde ihm der Grund klar - das Auto war von der Straße in den Graben gerast, auf der anderen Seite wieder hoch und dort auf die Seite gekippt. „Hallo!" sagte eine Stimme, als Jimmie angepatscht kam. „Hallo!" antwortete er. „Wie weit ist es bis zum nächsten Haus?" „Vielleicht 'ne halbe Meile." „Und wer wohnt dort?"
„Ich."
„Haben Sie Pferd und Wagen?" „Die gibt's im Farmhaus noch ein Stück weiter." „Was meinen Sie, könnten wir dort genug Männer bekommen, um diesen Wagen wieder auf die Räder zu stellen?" „Weiß ich nicht; hier wohnen nicht viele." „Verdammt!" murmelte der Mann vor sich hin. Dann, nach einem Moment: „Alsdann, hierzubleiben hat erst recht keinen Sinn." Dies an seine Begleitperson gerichtet, die Jimmie als eine Frau erkannte. Sie stand still, während der kalte Regen auf sie niederprasselte. Der Mann legte seinen Arm um sie und sagte zu Jimmie: „Gehen Sie bitte voran." So machte sich Jimmie auf den Weg und patschte durch den Matsch wie zuvor.
Geredet wurde nichts mehr, bis sie das „Pächterhaus" erreichten, in dem Jimmie mit seiner Familie wohnte. Doch unterdessen dachte der kleine Sozialist angestrengt nach; ihm kam es so vor, als ob er die Stimme des Mannes kannte, und er versuchte sich zu erinnern, wo und unter welchen Umständen er sie schon gehört hatte. Sie kamen zu dem
Haus, das dunkel war, und das Paar blieb auf der Veranda stehen, während Jimmie hineinging, nach einem Streichholz tappte und die einzige blakige Petroleumfünzel anzündete, auf die die Familie angewiesen war. Die Lampe in der Hand, trat er in die Tür und bat das Paar herein. Sie folgten seiner Einladung, und so sah Jimmie flüchtig das Gesicht des Mannes und hätte beinahe die Lampe zu Boden fallen lassen. Es war Lacey Granitch!
2
Der junge Gebieter von Leesville war zu sehr mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, um den Aus druck auf dem Gesicht des Bauerntölpels vor ihm zu bemerken; vielleicht war er auch einfach daran gewöhnt, von Bauerntölpeln erkannt und angestarrt zu werden. Er sah sich im Zimmer um und bemerkte einen Ofen. „Können Sie uns Feuer machen, damit die Dame sich trocknen kann?" „J-ja", sagte Jimmie. „Ich - ich glaube schon." Aber er rührte sich nicht; er stand wie angewurzelt. „Lacey", schaltete sich die Frau ein, „halte dich nicht damit auf. Lass den Wagen in Ordnung bringen oder besorge einen anderen." Jimmie blickte sie an; sie war ziemlich klein und sehr schön - überhaupt der schönste Mensch, den Jimmie je zu Gesicht bekommen hatte. Man sah, dass sie teuer gekleidet war, auch wenn alles, was sie anhatte, vom Regen durchweicht war.
„Unsinn!" rief Lacey. „Du kannst nicht weiterfahren, bis du wieder trocken bist - du wirst sonst krank." Und er wandte sich an Jimmie. „Machen Sie Feuer, ja?" rief er. „Ein tüchtiges Feuer. Ich werde Ihnen alles, was Sie für uns tun, entsprechend vergüten. Nur stehn Sie nicht die ganze Nacht da und glotzen!" fügte er ungeduldig hinzu. Jimmie stürzte los, um zu gehorchen; teils, weil er sein ganzes Leben lang daran gewöhnt gewesen war, loszustürzen, um zu gehorchen - teils aber auch, weil ihm die schöne nasse Lady leid tat und weil Lacey Granitch, wenn er noch länger dastand und gaffte, ihn vielleicht erkannte. Eine der lebhaftesten Erinnerungen aus Jimmies Rebellenleben war der Augenblick, als der junge Herr der Empire Machine
Shops aus der Masse der Streikenden gerade ihn herausgesucht und verflucht hatte, und es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, dass der Vorfall auf den anderen der beiden Beteiligten vielleicht einen viel weniger tiefen Eindruck gemacht haben könnte.
In wenigen Minuten war der Ofen warm, und auf Drängen ihres Begleiters legte die Lady ihren Automantel und ihren Hut ab und hängte beides über einen Stuhl. Alles darunter war nass, und der Mann drängte sie, auch Rock und Bluse auszuziehen. „ Vor ihm ist es doch egal, oder?" versuchte er sie zu überreden und meinte Jimmie, aber die Lady wollte nicht. Sie stand am Ofen, bibberte leicht und bat ihren Begleiter inständig, er solle sich beeilen und auf irgendeine Weise den Wagen wieder flottmachen. Wenn man sie nun verfolgte ...
„Ach, Unsinn, Helen!" rief Lacey. „Du quälst dich doch mit Einbildungen. Sei vernünftig und sieh zu, dass du trocken wirst." Er packte Holz in den Ofen und befahl Jimmie, noch einen Armvoll zu holen, und Jimmie gehorchte mit seinen Händen und seinen Füßen - doch unterdessen registrierte sein rebellisches Gehirn jede Einzelheit der Situation und machte sich einen Vers darauf.
Durch das Reden war Lizzie wach geworden. Deshalb lief Jimmie ins Nebenzimmer und flüsterte ihr zu: „Lacey Granitch ist hier!" Wenn er ihr erzählt hätte, der Engel Gabriel sei da oder Jehova mit all seinem Donner und seinem Gefolge von Seraphim, hätte die arme Lizzie auch nicht sprachloser sein können. Jimmie sagte ihr, sie solle aufstehen, sich Kleid und Schuhe anziehen und der Lady eine Tasse Kaffee machen; die verwirrte Frau gehorchte - wenn sie auch lieber unters Bett gekrochen wäre, als den himmlischen Persönlichkeiten unter die Augen zu treten, die von ihrem Heim Besitz ergriffen hatten.
3
Lacey befahl Jimmie, ihn zu begleiten, um Hilfe zu suchen, damit der Wagen wieder fahrbereit gemacht werden konnte. Sie gingen zusammen hinaus, und auf der Veranda, bevor sie sich wieder dem Regen aussetzten, blieb der junge Granitch stehen und sagte: „Schauen Sie, lieber Mann; ich möchte, dass Sie mir helfen, ein paar Leute zusammenzuholen, und ich möchte, dass Sie schweigen - bitte sagen Sie nichts darüber, wer im Wagen war. Wenn irgendjemand kommen und Fragen stellen sollte, dann halten Sie den Mund, und es wird sich für Sie lohnen - sehr lohnen, dafür sorge ich, Haben Sie kapiert?"
Jeder Instinkt in Jimmie Higgins war bereit zu antworten: Jawohl, Sir. Das war die Antwort, die er immer auf solche Befehle gegeben hatte - er und sein Vater und auch schon seines Vaters Vorväter. Aber etwas anderes in ihm widerstand diesem Instinkt - die neue revolutionäre Psychologie, die er so mühselig erworben hatte und die ständig im Widerstreit mit seiner alten Fügsamkeit lag. Wenn jemals im Leben, dann schien jetzt der Augenblick gekommen, zu zeigen, aus welchem Holz er geschnitzt war. Er ballte die Fäuste, und alles in ihm wurde zu Eisen. „Wer ist die Dame?" fragte er.
Lacey Granitch war so verblüfft, dass er sichtbar zusammenzuckte. „Was wollen Sie damit sagen?" „Ich will damit sagen - ist sie Ihre Frau? Oder ist sie die Frau eines andern?"
„Also du verdammter ..." Und der junge Gebieter von Leesville hielt sprachlos inne. Jimmie trat zur Vorsicht ein paar Schritte zurück, wurde aber in seinem festen Entschluss nicht wankend.
„Ich kenne Sie, Mr. Granitch", sagte er, „und ich weiß, was Sie treiben. Sie sollten wissen, dass sie niemand zum Narren halten können."
,Was zum Teufel geht das Sie an?" rief der andere; aber dann hielt er wieder inne, und Jimmie hörte ihn schwer atmen. Offenbar bemühte er sich, seine Selbstbeherrschung zu bewahren; als er wieder sprach, war seine Stimme ruhiger. „Hören Sie, mein Guter", sagte er. „Sie haben die Chance, heute Abend einen Batzen Geld zu verdienen..." „Ich will Ihr Geld nicht!" fiel ihm Jimmie ins Wort. „Ich würde Ihr dreckiges Geld nicht anrühren, das Sie mit Menschenmord verdienen!"
„Mein Gott!" sagte Lacey Granitch, und dann schwach:
„Was haben Sie eigentlich gegen mich?"
„Was ich gegen Sie habe? Ich hab in den Empirewerken gearbeitet und bin in den Streik getreten für meine Rechte, und Sie haben mich beschimpft wie einen Hund und die Polizei zu mir geschickt, mich verhaften lassen, und dem Wilden Bill haben sie das Nasenbein gebrochen und mich auf zehn Tage eingelocht, wo ich gar nichts getan habe..."
„Ach, das ist es also?"
„Ja, das ist es; aber das würde mich noch nicht mal so stören - wenn nicht die Granaten wären, die Sie machen, um drüben in Europa Menschen umzubringen. Und das Geld verschwenden Sie dafür, mit Ballettratten Champagner zu trinken und mit den Frauen von andern Männern durchzubrennen!"
„Du...", und Lacey stieß einen gemeinen Fluch aus und stürzte sich auf Jimmie; doch Jimmie hatte das erwartet und war auf der Hut. Es war kein Geländer an der kleinen Veranda, auf der er stand, und er sprang hinunter auf den Boden und rannte fort. Weil er die Gegend kannte, konnte er in der Dunkelheit schneller laufen als sein Verfolger. Er rannte den Pfad hinunter und hinaus auf die Landstraße
- und auf einmal war der Scheinwerfer eines Autos fast über ihm. Das Fahrzeug wurde scharf abgebremst, und eine erschrockene Stimme rief: „He, hallo!"
„He, hallo!" antwortete Jimmie und blieb im Lichtkegel stehen; denn er glaubte nicht, dass sein Gegner es wagen würde, ihn dorthin zu verfolgen.
Die Stimme aus dem Auto ließ sich wieder vernehmen. „Ein Stück weiter zurück liegt ein Auto im Straßengraben. Wissen Sie vielleicht, wer die Leute sind, die in dem Auto gesessen haben?"
„Das weiß ich allerdings!" antwortete Jimmie prompt. „Und wo sind sie geblieben?"
„Da oben in dem Haus dort - Lacey Granitch und eine Lady, die Helen heißt..."
Im selben Moment wurde die Wagentür aufgestoßen. Ein Mann sprang heraus und dann noch einer und noch einer; immer mehr stiegen aus - Jimmie hätte es nicht für möglich gehalten, dass ein Auto so viele Leute fassen konnte. Keiner von ihnen sagte ein Wort, sondern alle begannen auf Jim-mies Haus zuzulaufen wie bei einem Sturmangriff in einer Schlacht.
4
Jimmie folgte nach. Er hörte die Geräusche eines Handgemenges auf dem Rasen und Schreie aus dem Inneren des Hauses. Zuerst konnte der kleine Farmarbeiter sich nicht entscheiden, was er machen sollte, aber schließlich rannte er zum Haus, und dort im Vorderzimmer sah er die schöne Lady, der die nassen Haare über den Rücken flossen und der die Tränen über das Gesicht flossen, auf den Knien liegen vor dem Mann, der Jimmie vom Auto aus angesprochen hatte. Sie hielt mit beiden Händen seinen Mantel gepackt und klammerte sich mit solcher Verzweiflung daran, dass er sie, als er sich abwenden wollte, mit sich über den Boden schleifte. „Paul!" kreischte sie. „Was willst du tun?"
„Sei still! Sei still!" befahl der Mann. Er war jung, groß und sah übermenschlich gut aus; sein Gesicht hatte das weiße Leuchten leidenschaftlicher Entschlossenheit, seine Lippen waren zusammengepresst wie bei einem Mann, der auszieht in den Tod auf dem Schlachtfeld. „Antworte mir!" weinte die Frau immer wieder; bis er schließlich sagte: „Ich werde ihn nicht umbringen; aber ich werde ihm eine Lehre erteilen."
„Paul, Paul, hab Erbarmen!" schluchzte die Frau; hysterisch bettelte sie weiter, in der fürchterlichsten Seelenqual, die Jimmie je gesehen oder gehört hatte. „Es war nicht seine Schuld, Paul, es war meine! Ich hab es getan! Ach, um Christi willen! Du treibst mich zum Wahnsinn!" Sie stöhnte, sie flehte, sie schluchzte, bis es sie würgte, und als der Mann versuchte, ihre Hände loszureißen, kämpfte sie mit ihm, so dass er sich nicht befreien konnte.
„Du wirst mich nicht weichmachen, Helen", erklärte er. „Das lass dir gesagt sein."
„Aber ich sage dir doch, es war meine Schuld, Paul! Ich bin mit ihm davongelaufen!"
„In Ordnung", antwortete der Mann grimmig. „Ich werde dafür sorgen, dass keines andern Mannes Frau jemals mehr mit ihm davonläuft."
Ihr Geschrei setzte wieder ein, wilder als je, bis zwei andere. Männer ins Zimmer kamen. „Joe", sagte Paul zu einem von ihnen, „schaff sie zum Auto und behalt sie da. Pass auf, dass
sie nicht um Hilfe ruft - wenn jemand vorbeikommt, sorg dafür, dass sie ruhig bleibt, halt ihr den Mund zu." „Paul, du bist ein Satan!" kreischte die Frau. „Ich bring dich dafür um!"
„Nur zu", antwortete der Mann. „Mir wär's egal - aber diese Sache erledige ich noch, bevor ich sterbe." Und er riss die Hände der Frau von sich los und verlieh durch seine zornige Unnachgiebigkeit den anderen beiden Männern die nötige Entschlusskraft. Sie trugen sie halb ohnmächtig aus dem Zimmer.
Die ganze Zeit hatte Jimmie Higgins dagestanden wie versteinert, und Lizzie hatte sich in eine entfernte Ecke des Zimmers verkrochen, fast gelähmt vor Entsetzen. Nun wandte sich der Mann an sie beide. „Meine guten Leute", sagte er, „wir möchten uns Ihr Zimmer für etwa eine halbe Stunde ausborgen. Wir werden Sie gut dafür bezahlen - so gut, dass Sie das ganze Haus dafür kaufen können, wenn Sie möchten."
„W-w-was wollen Sie denn tun?" stammelte Jimmie. Wir wollen einem jungen Mann, dessen Erziehung vernachlässigt worden ist, ein paar Grundsätze der Moral beibringen", erwiderte der andere. Irgendwie konnte Jimmie damit nicht sehr viel anfangen, aber er hütete sich, noch etwas zu sagen, denn er hatte noch nie im Leben einen Menschen gesehen, der ihm so sehr den Eindruck unwiderstehlicher Kraft vermittelte wie dieser Mann. Er war wirklich ein übermenschliches Wesen, furchterregend, gerüstet mit Blitzen des Zornes.
Die Tür des Hauses öffnete sich wieder, und Lacey Granitch kam herein, an jeder Seite einen Mann, der ihn beim Arm hielt, und an den Handgelenken ein paar Handschellen. Von all dem Furchtbaren, das Jimmie in jener furchtbaren Nacht zu sehen bekommen hatte, war das Gesicht des jungen Herrn der Empire Machine Shops das Schlimmste. Es war grün - wirklich und wahrhaftig grün. Seine Knie zitterten so, dass er zu Boden zu sinken drohte, und seine dunklen Augen waren die Augen eines in der Falle gefangenen Tieres.
Hinter ihm erschien noch ein Mann, der zwei schwarze Etuis in den Händen hielt. Er öffnete das eine, entnahm ihm ein Instrument, an dem Drähte befestigt waren, und hängte einen Teil davon an einen Haken an der Wand; dann drückte er auf einen Schalter, und ein milder weißer Lichtschein erhellte das Zimmer. Der Mann, der das Kommando führte, derjenige, den die Lady Paul genannt hatte, wandte sich jetzt an Jimmie und seine Frau. „Sie können sich Ihre Lampe nehmen", sagte er. „Gehen Sie bitte ins andere Zimmer, und bleiben Sie dort, bis wir Sie rufen." „W-w-was wollen Sie denn machen?" fand Jimmie noch einmal den Mut zu stammeln. Aber der andere sagte ihm nur, er solle ins Nebenzimmer gehen und dort bleiben, und es würde schon alles in Ordnung gehen, und er würde für seine Zeit und seine Mühe gut bezahlt werden. Es würde zwecklos sein, wenn er versuchen sollte, sich einzumischen, und ebenso zwecklos, wenn er versuchen sollte, weg-zulaufen, denn das Haus wäre bewacht.
5
Jimmie zwei war von dem Lärm aufgewacht und wimmerte; also lief Lizzie ihn beruhigen, und Jimmie stellte die kleine blakige Lampe auf die Kommode und ging dann hin, setzte sich zu Lizzie aufs Bett und nahm ihre Hand in die seine. Beider Hände zitterten mit unglaublicher Heftigkeit.
Jeder Laut aus dem anderen Zimmer war deutlich zu vernehmen. Lacey bettelte, und Paul befahl ihm, den Mund zu halten. Man hörte ein Handgemenge und dann ein entsetztes Stöhnen, das allmählich erstarb. In das Schlafzimmer der Familie Higgins begann ein ganz widerwärtiger Geruch einzudringen; sie konnten sich nicht vorstellen, was das war. Und dann hörten sie wildes Geschrei von Lacey Granitch, als ob er die Qualen der Hölle erlitte. Es war über die Maßen schrecklich; der Schweiß trat in Perlen auf die Gesichter der Lauschenden, und Jimmie war gerade zu der Überzeugung gekommen, dass es seine Pflicht sei, hineinzustürzen und zu protestieren oder vielleicht aus dem Fenster zu klettern und zu versuchen, sich davonzustehlen und Hilfe zu holen, als sich die Tür öffnete und der Mann, der Paul hieß, hereinkam und die Tür hinter sich wieder zumachte.
Es ist alles in Ordnung", sagte er. „Die Leute machen immer Theater, wenn man ihnen eine Narkose gibt; lassen Sie sich dadurch nicht erschrecken." Und er blieb stehen und wartete, starr und verbissen, während die Geräusche weiter zu vernehmen waren. Schließlich hörten sie auf, und es herrschte Stille - eine lange, lange Stille. Er öffnete die Tür und ging zurück ins andere Zimmer, und die beiden Higgins blieben zurück und hielten sich bei den zitternden Händen.
Ab und zu hörten sie einen Mann mit leiser Stimme sprechen oder jemand durchs Zimmer gehen, und immer stärker drang dieser schauderhafte, übermächtige Geruch herein, der sie befürchten ließ, sie würden ersticken und ihre drei Kleinen auch. Die Spannung und das Entsetzen waren fast unerträglich geworden - als sie endlich wieder Lacey Granitch vernahmen, der stöhnte, schluchzte - herzzerreißende Laute. „Mein Gott! Mein Gott!" flüsterte Lizzie. „Was machen sie bloß?" Und als Jimmie nicht antwortete, flüsterte sie wieder: „Wir sollten sie daran hindern! Wir sollten Hilfe holen!"
Aber dann öffnete sich die Tür noch einmal, und Paul kam herein. „Es ist jetzt alles in Ordnung", sagte er. „Er taucht wieder auf." Keiner von den beiden Higgins hatte die leiseste Ahnung, was mit „taucht wieder auf" gemeint war, aber es beruhigte sie, dass wenigstens dieser herrische Mensch zufrieden war. Sie warteten; sie hörten Lacey sich erbrechen, wie es schien - und dann hörten sie ihn zwischen seinen kraftlosen, keuchenden Atemzügen fluchen. Er beschimpfte die Männer mit dem gleichen gemeinen Ausdruck, mit dem er Jimmie belegt hatte, und das setzte irgendwie die ganze Angelegenheit in ein besseres Licht - es brachte einen wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Paul ging hinaus und blieb eine Weile fort, und als er zurückkam, sagte er: „Wir gehen jetzt, und seien Sie versichert, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Wir werden den Patienten hierlassen, und sobald wir zu einem Telefon kommen, werden wir das Krankenhaus benachrichtigen, damit ein Krankenwagen geschickt wird. Sie brauchen also weiter nichts zu tun, als zu warten, sich still zu verhalten und sich keine Sorgen zu machen. Und hier ist etwas für die Überlassung Ihres Hauses..." Der Mann hielt Jimmie ein Bündel Geldscheine hin, das er mechanisch nahm. „Und wenn Sie jemand fragen sollte, was heute Nacht passiert ist, sagen Sie einfach, Sie haben nichts gesehen und wissen nicht das mindeste darüber. Entschuldigen Sie, dass ich Sie belästigt habe, aber es war nicht zu vermeiden. Und nun gute Nacht."
Und so ging der herrische junge Mann hinaus, und sie hörten ihn und seine Begleiter die Verandastufen hinunterstampfen. Sie lauschten, bis sie hörten, dass das Auto anfuhr und in die Dunkelheit entschwand. Dann vernahmen sie aus dem Nebenzimmer ein Stöhnen. Zitternd vor Angst, stand Jimmie auf und stahl sich bis zur Tür, die er einen winzigen Spalt breit öffnete. Das Zimmer lag in völliger Dunkelheit. „Holen Sie mir Wasser!" stöhnte die Stimme Laceys, und Jimmie ging auf Zehenspitzen zurück, nahm die blakige kleine Lampe und kam dann wieder an die Tür. Er spähte hinein und sah, dass Lacey auf dem Boden lag, über sich ein Laken, aus dem nur sein Kopf hervorguckte, der auf einem Kissen lag. Sein Gesicht war gelb und schmerzverzerrt. „Wasser! Wasser!" wimmerte er, und Jimmie holte eilig ein Glas und füllte es aus dem Eimer. Als er es Lacey brachte, versuchte dieser erst zu trinken und begann sich dann zu erbrechen; dann lag er da und schluchzte leise vor sich hin. Er sah, wie Jimmie ihn anstarrte, und seine Augen füllten sich plötzlich mit Hass, und er flüsterte: „Das hast du mir eingebrockt, du verdammtes kleines Stinktier!"
1
Der Krankenwagen traf ein, und die beiden Pfleger, die mitgekommen waren, brachten eine Trage herein und schafften den jungen Granitch weg. Jimmie öffnete die Fenster, damit der Äthergeruch abzog, und dann saßen er und Lizzie noch stundenlang auf und beredeten jede Einzelheit
der schrecklichen Szene, deren Zeuge sie geworden waren, und ergingen sich in Vermutungen, was das alles zu bedeuten hätte. Als Jimmie das Bündel Geldscheine, das ihm in die Hand gedrückt worden war, näher untersuchte, stellte er fest, dass es zehn waren, neu, unzerknüllt und schön gelb, und auf jedem stand die Zahl Zwanzig. Es war mehr Geld, als diese beiden bescheidenen kleinen Leute je gehabt hatten oder je zu haben erwarten durften. Es war im wörtlichen Sinne Blutgeld, fanden sie, aber es ließ sich schwer einsehen, wem es nützen würde, wenn sie es zurückwiesen. Zweifellos konnte das Geschehen dieser Nacht nicht mehr rückgängig gemacht werden - um all das Geld nicht, das der alte Granitch in seinen Stahlkammern angehäuft hatte.
Jimmie hielt den Mund, wie man es ihn geheißen hatte, und offenbar verriet niemand etwas über die Rolle, die er bei der Angelegenheit gespielt hatte - es kamen keine Reporter zu ihm heraus aufs Land, um ihn zu interviewen. Doch als er ein paar Abende später zu dem Laden an der Kreuzung ging, stellte er dort fest, dass alles in hellem Aufruhr war - kein Mensch redete von etwas anderem oder dachte an etwas anderes. Die Nachricht hatte tatsächlich per Telegraf in der ganzen Welt die Runde gemacht, und überall, wo die Leute sie lasen, schauderten sie vor Entsetzen, und die Sozialisten hatten ein Musterbeispiel dafür, wie sich übermäßiger Reichtum auf die Moral auswirkte. Es gab ein halbes Dutzend Versionen von der Geschichte, stellte Jimmie fest; einige erklärten, der erzürnte Ehemann habe den jungen Granitch bei sich zu Hause erwischt und einen Chirurgen dort hingeholt; andere, er habe ihn in ein Krankenhaus gebracht; wieder andere, die Operation sei in einem nahe gelegenen Haus an der Landstraße vollzogen worden. Aber keiner erwähnte das Pächterhaus auf John Cutters Farm, und Jimmie hüllte sich in den Stolz seines Besserwissens und ließ die Dauerkunden im Dorfladen schwatzen. Er ging jeden Abend hin, um neuen Klatsch zu erfahren, und zuerst hörte er, der alte Granitch wolle alle Verschwörer verhaften und ins Gefängnis werfen lassen, dann aber hieß es, der junge Lacey habe das Krankenhaus verlassen und sei verschwunden, niemand wisse, wohin. Und man erfuhr es auch niemals; niemals wieder erschien er, um die Streikenden in den Empirewerken zu verfluchen oder den Ballettmädchen auf der Großen Weißen Straße das Herz zu brechen! Das Haar seines harten alten Vaters wurde in wenigen Wochen grau, und während er fortfuhr, seine Verträge mit der russischen Regierung zu erfüllen, wussten doch alle Leute, dass Gram, Wut und Schande ihm das Herz zerrissen.
Jimmie und seine Frau hatten zahlreiche vertrauliche Beratungen wegen der Zwänzigdollarscheine. Was sollten sie mit ihrem Vermögen anfangen? Der „Worker", der ständig dringend Geld brauchte, gab gerade zu diesem Zeitpunkt Pfandbriefe in kleinen Werten heraus, und Jimmie konnte sich keine bessere Kapitalanlage denken als eine Arbeiterzeitung; aber Lizzie konnte leider nicht dazu gebracht werden, das einzusehen. Und dann blieb sein Auge an der Anzeige einer Ölfirma hängen, die in einer sozialistischen Zeitung abgedruckt war, was sie über jeden Verdacht erhaben machte. Aber wieder versperrte Lizzie den Weg. Sie bat ihren Luftschlösser bauenden Ehemann, das Geld ihr anzuvertrauen; sie argumentierte, dass die Hälfte davon ihr ja sowieso gehöre - denn hatte sie nicht ihr Teil dazu beigetragen, es zu verdienen? „Was für ein Teil?" fragte Jimmie, und sie antwortete, sie habe den Mund gehalten - und hätte er vielleicht mehr getan?
Elisa Betuser wollte diesen Schatz haben als Sicherheit für die Kinder, falls ihr Propagandistenvater in was auch immer für Schwierigkeiten geriete. Und schließlich gab der Propagandistenvater nach, und die Frau ging daran, das Geld auf die uralte Weise ihres Geschlechts zu verwahren. Sie nahm die zehn unzerknüllten Banknoten, nähte sie in ein Stück Stoff ein, wickelte den Stoff um den Knöchel ihres rechten Beines, nähte es dort zusammen und zog ihren Strumpf darüber, damit man ihn nicht sah. Und diese Apparatur würde dort bleiben - Tag und Nacht, Winter und Sommer, sie würde sich nie von ihrer Besitzerin trennen. Lizzie würde eine wandelnde Bank sein, eine Bank, von der sie wusste, dass sie vor Börsenpaniken und Krisen geschützt war; das Gefühl der zweihundert Dollar um ihren Knöchel würde sich jedem Körperteil Lizzies mitteilen - würde ihr Herz wärmen, ihren Kopf erfreuen, ihre Leber und ihre Verdauung anregen.
2
Und bald ließen die Zufälle des Lebens Jimmie froh sein über die der weiblichen Natur angeborene konservative Einstellung. Die gigantische britische Offensive erstickte an der Somme in Schlamm und Blut, und die russische Offensive brach vor Lemberg zusammen; und inzwischen verstaute John Cutter seine Äpfel tonnenweise im Keller, wurde mit dem Schälen des Rests seiner Maisernte fertig und fuhr seine Ladung Kürbisse auf den Markt; und dann teilte er eines Sonnabendabends, nachdem die Kühe, nass und dampfend vom Novemberregen, herein getrieben worden waren, seinem Lohnarbeiter mit, dass er nach Ablauf dieses Monats seine Dienste nicht mehr benötige, dass er sich Hilfe nicht länger leisten könne. Jimmie starrte ihn fassungslos an - denn er hatte angenommen, er habe einen Dauerjob, da er die Arbeit gelernt und nie ernste Klagen gehört hatte.
„Aber", erklärte Cutter, „die Arbeit ist doch gemacht. Erwarten Sie von mir, dass ich Sie bezahle, damit Sie herumsitzen können? Natürlich werde ich Sie nächstes Frühjahr gern wiedernehmen."
„Und was soll ich in der Zwischenzeit machen?" funkelte Jimmie ihn an, und sein ganzer Hass auf das schändliche Profitsystem wallte in seinem Herzen auf. So viel Nahrung hatte er erzeugen und speichern helfen - und nicht ein Pfund davon war sein! „Hören Sie", meinte er, „ich weiß, was Sie brauchen! So 'ne Art dressierten Bär, der den ganzen Sommer arbeitet und danach seinen Winterschlaf hält und nichts frisst!"
Der kleine Sozialist war um so wütender, als er wusste, dass sein Boss gerade einen Glückstreffer gezogen hatte - man legte bei der Bahn ein Anschlussgleis zu dem großen Sprengstoffwerk, das draußen auf dem Lande errichtet wurde, und Cutter hatte für einen schmalen Streifen Land, der nichts weiter war als ein Stück Wald, einen Kaufpreis in Höhe seiner Hypothek bekommen. Jimmie war dabei gewesen, als der Handel zustande kam, und hatte ein förderliches Wort eingeworfen über den Wert des „Nutzholzes", doch jetzt hatte er keinen Teil an dem Handel. Er musste zufrieden sein mit dem Angebot, das Pächterhaus für fünf
Dollar im Monat den Winter über zu behalten, und mit einem Job bei der Eisenbahn als Gleisbettbauer. Es kamen Regen, Schnee und Stürme, doch den Bau der Eisenbahn konnte nichts aufhalten. Der lief im Dreischichtbetrieb Tag und Nacht, denn die halbe Welt schrie nach den Mitteln, sich in die Luft zu jagen, und die andere Hälfte musste wie der Teufel arbeiten, um diese Mittel zu beschaffen. So jedenfalls stellte sich die Sache Jimmie Higgins dar, der die Art, wie dieser Teufelskrieg ihn überallhin verfolgte, als persönliche Beleidigung auffasste. Er war vor ihm aufs Land geflohen, hatte seine kleine Familie zu einem Pächterhaus auf einer abgelegenen, armseligen Farm gebracht, die mehrere Meilen von der nächsten Stadt entfernt war; aber dann kreuzte da plötzlich ein Arbeitstrupp von Makkaronis mit Picken und Schaufeln auf. Den Hühnerstall, in dem Lizzie ihre elf Hühner und einen Hahn hielt, und den Schweinestall, in dem ein kleines Schwein gierig die Küchenabfälle verschlang, hoben sie einfach hoch und setzten sie beiseite, und zwei Tage später kam eine Riesendampfmaschine auf einem Gleis heran gekrochen, nahm Schienen und Schwellen von einem Wagen hinter sich auf, schwenkte sie herum, legte sie vor sich nieder und rollte dann weiter über das Gleis, das sie selber gelegt hatte. So wanderte die Eisenbahn im buchstäblichen Sinn hinaus aufs Land, und es dauerte nicht lange, da kamen ganze Zugladungen von Zement und Sand und Wellblechwänden und Dächern an Familie Higgins' Hintertür vorbeigerattert und -gepoltert. Tag und Nacht ging das so, und sie wussten, dass ein bisschen weiter auf einem Stück buschbewachsenem Ödland von zwei Meilen im Quadrat Straßen und Schienenwege angelegt und in großen Abständen voneinander kleine kompakte Häuschen errichtet wurden. Noch ein paar Monate, und die verängstigte Familie würde nachts wach liegen und lauschen, wie die Züge vorbeidonnerten, die aus der Sprengstofffabrik kamen und bis oben mit Trinitrotoluol und dergleichen zungenbrecherischen Werkzeugen des Mordes und der Vernichtung beladen waren. Und dies war nun das Schicksal, das der Kapitalismus einem glühenden Antimilitaristen, einem Propagandisten der internationalen Brüderlichkeit bescherte!
3
Jimmie Higgins ging ab und zu in die Ortsgruppe, um seine Beiträge zu bezahlen und sein Herz an pazifistischen Reden zu erquicken. Unmittelbar vor Weihnachten schrieb der Präsident der Vereinigten Staaten einen Brief an alle kriegfrührenden Nationen und beschwor sie, den Kampf zu beenden; er gab zu verstehen, dass die kriegführenden Länder in bezug auf Schlechtigkeit einander nicht nachständen, und erklärte ausdrücklich, dass Amerika mit ihrem Streit nichts zu tun habe. Darüber empfanden die Mitglieder der Ortsgruppe Leesville der Sozialistischen Partei natürlich außerordentliche Genugtuung; genau das sagten sie ja seit zwei Jahren und vier Monaten! Dass ein kapitalistischer Präsident mit ihnen konform gehen würde, hatten sie sich nie träumen lassen, aber als der Fall eintrat, nutzten sie ihn weidlich aus; sie verlangten, dass der kapitalistische Präsident noch weiter gehen, dass er seinen Worten Taten folgen lassen solle. Wenn die einander bekriegenden Nationen keinen Frieden schließen wollten, sollte Amerika wenigstens seine Hände in Unschuld waschen, indem es ein Embargo verhängte und sich weigerte, sie mit den Mitteln der Selbstvernichtung auszurüsten!
Aber aus irgendeinem für Jimmie Higgins unerfindlichen Grund wollte der kapitalistische Präsident diesen nächsten Schritt nicht tun, und die Zeit verging, und Ende Januar schlug der Blitz ein in Gestalt einer Erklärung der deutschen Regierung, dass sie mit Wirkung vom folgenden Tage ihre Zustimmung, Schiffe zu überprüfen und zu durchsuchen, zurücknehme und gegen alle Fahrzeuge, die in verbotenen Zonen angetroffen würden, Krieg bis zum äußersten führen werde. Jimmie ging ein paar Tage danach zu einer Zusammenkunft der Ortsgruppe und fand die Versammlung brodelnd vor Erregung. Der Präsident war an jenem Tag vor den Kongress getreten und hatte eine Rede gehalten, die zum Krieg aufrief, und die Deutschen und Österreicher in der Ortsgruppe tobten vor Empörung, schüttelten die Fäuste und ereiferten sich über das unglaubliche Verbrechen eines Angriffs auf das „Vaterland". Soeben war eine neue Nummer des „Worker" erschienen, voll bitterer Proteste, und die Deutschen und die Pazifisten wollten die
Ortsgruppe zur Propagierung eines landesweiten Generalstreiks der Arbeiterschaft verpflichten. Die Straßenversammlungen waren wieder aufgenommen worden - denn natürlich hatte die Polizei, nachdem der Streik in den Empirewerken beigelegt worden war, keinen Vorwand mehr, sie zu verhindern. Die Extremisten wollten jetzt Antikriegsredner an jede Ecke postiert und Antikriegsflugblätter unter jede Tür geschoben haben; sie waren bereit, für diese Tätigkeiten das Geld aufzubringen und ihre Zeit zu opfern.
Rechtsanwalt Norwood erhob sich und ließ die Spaltung sichtbar werden, die nun in der Partei voll ausgebildet war. Wenn sich die Vereinigten Staaten diese unverschämte Erklärung der deutschen Regierung gefallen ließen, dann hieße das alles in Gefahr bringen, was einem Freund der Freiheit teuer sei. Es würde bedeuten, dass England durch Aushungern zum Ausscheiden aus dem Krieg gezwungen und dass die britische Seemacht zerschlagen werden würde - jene britische Seemacht, die die Grundlage bilde für jede freie Regierung auf der Welt. Norwood kam nicht weiter infolge des Sturms von Hohn und Spott, der sich gegen ihn erhob. „Freiheit in Irland!" schrie Genossin Mary Allen. „Und in Indien! Und in Ägypten!" brüllte Genosse Koeln, der Glasbläser, dessen mächtige Lungen sich zwanzig Jahre lang auf diesen kritischen Augenblick vorbereitet hatten. Es war schwer, dem Gelächter ein Ende zu machen - es schien so komisch, dass ein Mann, der sich Sozialist nannte, britische Schlachtschiffe verteidigte! Doch Genosse Gerrity, der Vorsitzende, klopfte mit seinem Hammer und drang darauf, dass die Versammlung fair bleiben solle; jeder Redner solle angehört werden, wenn er an der Reihe sei. So fuhr Genosse Norwood fort. Er sehe ein, dass keine Regierung der Welt perfekt sei, aber einige seien eben besser als andere, und es sei eine historische Tatsache, ob sie es nun zugeben wollten oder nicht, dass eine solche Freiheit, wie sie auf der Welt bereits erreicht worden sei - in England und Kanada und Australien und Neuseeland und den Vereinigten Staaten -, unter dem Schutz der britischen Schlachtschiffe gestanden habe. Wenn diese Schlachtschiffe untergingen, so würde das bedeuten, dass jeder einzelne dieser freien Staaten anfinge, sich eine Militärmacht aufzubauen, die um vieles stärker wäre als die, die er jetzt habe. Wenn die Vereinigten Staaten in der gegenwärtigen Krise die überkommenen Bräuche im Seehandel nicht hochhielten, so könne das nur eins und nichts anderes bedeuten -dass Amerika die nächsten dreißig Jahre damit zu tun haben würde, seine Kräfte der Vorbereitung eines Kampfes auf Leben und Tod mit dem deutschen Imperialismus zu widmen. Wenn wir nicht später kämpfen wollen, dann müssen wir jetzt kämpfen ...
„Na gut, dann kämpf du doch!" rief Genosse Schneider, der Brauer, und sein rotes Gesicht war röter als je zuvor in der Geschichte der Ortsgruppe Leesville. „Ich werde allerdings kämpfen", antwortete der junge Anwalt. „Dies ist meine letzte Rede hier oder sonstwo - morgen fahre ich ab in ein Offiziersausbildungslager. Ich bin hergekommen, um meine Pflicht zu tun, um euch Genossen zu warnen - wenn ich auch weiß, dass es keinen Zweck hat. Die Zeit für Debatten ist vorbei - das Land tritt in den Krieg ein ..."
„Ich trete nicht in den Krieg ein!" brüllte Schneider. „Nimm dich in acht", antwortete der andere. „Kann sein, du bist mittendrin, ehe du dich's versiehst." Und der große Brauer lachte, dass die Wände wackelten. „Ich möchte mal sehen, wie die mich dazu kriegen wollen! Für die britische Seemacht kämpfen! Ha! Ha! Ha!"
4
Es war eine stürmische Rede, die der junge Norwood hielt, aber er hielt durch bis zum Ende, damit er, wie er sagte, ein reines Gewissen haben könne, damit er sicher sein könne, alles getan zu haben, was in seiner Macht stehe, um die Bewegung vor ihrem schwersten Fehler zu bewahren. Er warnte sie - die Wut im Lande sei im Steigen, man könne sie Stunde um Stunde steigen sehen, und was man in der Vergangenheit geduldet habe, würde man nun nicht mehr länger dulden. Die Demokratie würde ihr Leben schützen - sie würde zeigen, dass sie in einer Krise ebenso stark sei wie der Militarismus...
„Ja, und um das zu erreichen, sich selbst in Militarismus verwandeln!" rief Genossin Mary Allen. Die Quäkerin war völlig außer sich; mehr noch als die Deutschen sah sie in dem, was vorging, die Verletzung ihrer heiligsten Überzeugungen.
Amerika, ihr Vaterland, wollte also in den Krieg ziehen, schickte sich an, seine Reichtümer für ein Massengemetzel unter den Menschen einzusetzen! Genossin Marys dünnes Gesicht war weiß; ihre Lippen waren schmal vor Entschlossenheit, doch ihre Gefühle verrieten sich durch das Beben ihrer Nasenflügel. Und was hielt sie für eine Rede! Solche Sturzbäche von wildem Hass für die Sache der allumfassenden Liebe! Genossin Mary zitierte einen sozialistisches Schriftsteller, der gesagt habe, dass, genau wie die Gladiatorenkämpfe erst aufgehört hätten, als christliche Mönche bereit gewesen seien, sich in die Arena zu werfen, der Krieg erst aufhören würde, wenn die Sozialisten bereit wären, sich unter die Hufe der Kavallerie zu werfen. Und in dieser nicht mehr jungen Quäkerin sah man zumindest einen Sozialisten vor sich, der bereit war, noch am selben Abend hinzugehen und sich unter die Hufe der Kavallerie oder den Infanterie oder Artillerie oder sogar eines Polizeiautos zu werfen.
Und diese Stimmung teilte die Versammlung insgesamt Wenn Amerika in den europäischen Kampf eintrat, dann nur, weil die sozialistische Organisation ihre Protestmittel erfolglos verpufft hätte. Sie würden Kundgebungen ansetzen, sie würden Literatur verteilen, sie würden ihre Überzeugungen auf der Straße verkünden und in den Läden und überall, wo sie an die Menschen herankamen. Sie wollten nichts zu schaffen haben mit diesem niederträchtigen Kampf, weder jetzt noch später; sie würden auch zukünftig, wie in der Vergangenheit, die kapitalistischen Politiker brandmarken und bloßstellen, desgleichen die kapitalistischen Zeitungen, die schuld am Krieg seien und daran reich würden. Und genauso stark wie diese ihre Gefühle würden ihre Erbitterung und ihre Verachtung gegenüber den wenigen Abtrünnigen sein, die in dieser kritischen Stunde, dieser Probe für Mannesmut und Lauterkeit, die Bewegung im Stich ließen und sich freiwillig in Offiziersausbildungslager meldeten!
So trug Jimmie, als er in dieser Nacht nach Hause ging,
einen Armvoll revolutionärer Schriften bei sich, die er in der Mittagsstunde unter den Arbeitern des Bautrupps zu erteilen begann, der jetzt innerhalb des Geländes der Sprengstofffabrik tätig war. Natürlich wurde er im Verlauf des Nachmittags zu seinem Boss beordert und entlassen; sie brachten ihn bis an die Grenze des Fabrikgeländes und sagten ihm, wenn er sich je wieder blicken ließe, würden sie ohne Warnung auf ihn schießen. Abends ging er dann hinauf zum Laden an der Kreuzung, versuchte dort seine Literatur an den Mann zu bringen, und geriet, in Streit mit ein paar Crackerkisten-Dauerkunden; der eine sprang auf, schüttelte seine Faust vor Jimmies Nase und schrie: „Mach, dass du wegkommst, du dreckige kleine Laus! Wenn du nicht aufhörst mit deinem Verrätergesabber, kommen wir eine Nacht runter und machen dir mit 'ner Eisenstange Beine!"
1
Das Land war anscheinend versessen auf den Krieg, und Jimmie Higgins war versessen auf ein Märtyrerschicksal. Wenn der große Irrsinn wirklich von Amerika Besitz ergreifen sollte, dann jedenfalls nicht, ohne dass er sein Möglichstes getan hatte, um es zu verhindern. Er würde sich dem Streitwagen in den Weg stellen, er würde sich unter die Hufe der Kavallerie werfen und noch mit seiner Leiche die Straße versperren. Für welches tatkräftige Programm es nur ein Hindernis gab - oder genauer gesagt vier Hindernisse, ein großes und drei kleine, wobei das große Elisa Betuser war.
Die arme Lizzie hatte natürlich keine reale Vorstellung von den Weltmächten, gegen die ihr Mann stritt; für Lizzie bestand das Leben aus drei Babies, die zu füttern und zu beschützen ihre Pflicht war, und einem Ehemann, der ihr Werkzeug war, diese Pflicht zu erfüllen. Die Welt außer-
halb dieser Familie war für sie ein nebelhafter, schattenhafter Ort voll nebelhafter, schattenhafter Schrecken. Irgendwo im Himmel droben gab es eine Heilige Jungfrau, die helfen würde, wenn man sie in gehöriger Weise anrief, aber Lizzie wurde die Möglichkeit, diese Jungfrau anzurufen, durch den Umstand erschwert, dass ihr Ehemann die Heilige verachtete und imstande war, beleidigende Zweifel an ihrer Tugend zu äußern.
Jetzt waren die schattenhaften Schrecken der großen Welt draußen nach eigenen Gesetzen in Bewegung geraten, und da hatte es sich ihr armer Wicht von einem Ehemann in den Kopf gesetzt, ihnen in den Weg zu treten. Er war seine Arbeit losgeworden, schon das vierte oder fünfte Mal, seit Lizzie ihn kannte, und er war in unmittelbarer Gefahr, ins Gefängnis zu wandern oder geteert und gefedert zu werden. Je mehr der Streit sich erhitzte und die Gefahr wuchs, desto mehr geriet Lizzie in einen Zustand, der die Diagnose „chronische Bereitschaft zur Hysterie" verdient hätte. Ihre Augen waren rot von heimlichem Weinen, und beim geringsten Anlass brach sie in Ströme von Tränen aus und warf sich ihrem Ehemann in die Arme. Dies setzte Jimmie zwei in Gang und die Babies, die sich stets nach ihm richteten. Und Jimmie eins stand verwirrt und hilflos da. Hier zeigte sich eine neue Seite des Heldenlebens, von der nichts in den Büchern stand. Er grübelte - ob es wohl in der Geschichte schon mal einen verheirateten Märtyrer gegeben hatte? Wenn ja, was hatte der Märtyrer dann mit seiner Familie angefangen?
Jimmie bemühte sich, dies seiner unglücklichen Ehefrau zu erklären. Es gehe hier darum, hundert Millionen Menschen vor den Gräueln des Krieges zu bewahren; was zähle im Vergleich dazu ein einzelner Mann? Aber leider zog dieses Argument überhaupt nicht, denn die schlichte Wahrheit war, dass für Lizzie dieser eine Mann mehr zählte als die anderen neunundneunzig Millionen neunhundertneunundneunzigtausendneunhundertneunundneunzig zusammen. Und überhaupt, was konnte dieser eine Mann schon ausrichten! Ein einzelner, armer, unbedeutender, hilfloser Arbeiter ohne Job ...
„Aber es ist doch die Organisation!" rief er. „Es sind wir alle zusammen - es ist die Partei! Wir haben versprochen zusammenzuhalten, und darum müssen wir das auch tun!
Wenn ich aussteige, bin ich ein Feigling, ein Verräter! Wir
Wissen die Arbeiter aufklären ...!"
„Aber das könnt ihr nicht!" rief Lizzie.
„Aber wir tun es ja schon! Komm mit und überzeuge
dich!"
„Und was können die Arbeiter tun?" Was natürlich Jimmie zu einer Propagandarede anregte. Was die Arbeiter tun konnten? Man fragte besser, was sie nicht tun konnten! Wie konnte irgendein Krieg ausgetragen werden ohne die Arbeiter? Wenn sie nur zusammenstehen würden, wenn sie sich erheben würden gegen ihre kapitalistischen Unterdrücker...
„Aber das tun sie ja doch nicht!" schluchzte die Frau. „Sie sind dir zu überhaupt nichts nütze! Du gehst hin und wirst auf die Straße gesetzt - oder man schlägt dir das Gesicht kaputt wie dem armen Bill Murray ..." „Und ist das vielleicht schlimmer als in den Krieg ziehen?"
„Du musst ja nicht in den Krieg!"
„Wer sagt das? Ich muss mit, wenn das Land in den Krieg zieht. Die holen mich ab und zwingen mich! Wenn ich nicht will, dann erschießen sie mich! Machen sie das etwa nicht schon so in England und in Frankreich und in Russland und in all diesen Ländern?"
„Aber werden sie das hier denn auch so machen?" rief Lizzie fassungslos.
„Aber sicher! Genau das haben sie vor - das ist es ja, was wir nicht zulassen wollen und wogegen wir kämpfen! Du weißt nicht, was hier im Lande vor sich geht - hör mal zu!"
Und Jimmie holte die letzte Nummer des „Worker" hervor, in der Kongressreden mit der Forderung nach allgemeiner Wehrpflicht zitiert waren und erklärt wurde, eine derartige Maßnahme sei ein wesentlicher Schritt zum Kriege. „Siehst du nicht, auf was sie aus sind? Und wenn wir das verhindern wollen, müssen wir jetzt handeln, ehe es zu spät ist. Kann ich nicht ebenso gut hier in Leesville in den Knast gehen wie mich per Schiff nach Europa schaffen lassen, damit ich erschossen werde - oder vielleicht schon unterwegs von einem U-Boot versenkt?"
Und so trat ein neuer Schrecken in Lizzies Leben - der ihr künftig manche Nacht den Schlaf raubte, der zum ersten Mal in ihr Mutterherz den Gedanken eingrub, dass der Weltkrieg sie doch etwas angehen könnte. „Was würde dann aber aus den Kindern werden?" jammerte sie, und Jimmie antwortete: Wer kümmerte sich schon darum, was aus den Kindern der Arbeiterklasse wurde, unter diesem teuflischen kapitalistischen System?
2
So hatte Jimmie für eine Weile seinen Willen - er ging nach Leesville und half Literatur verteilen und hielt die Lampe bei den Straßenversammlungen, wo manche Leute sie auspfiffen und andere sie in Schutz nahmen und die Polizei einschreiten musste, um einen Aufruhr zu verhindern. Eben zu dieser Zeit versuchte eine militante Mehrheit im Senat eine Kriegserklärung gegen Deutschland durchzupeitschen, und eine Handvoll Pazifisten blockierte in den letzten Stunden der Sitzungsperiode den Weg, was eine mehrwöchige Verzögerung zur Folge hatte. Wie man diese Aktion ansah, hing ganz vom eigenen Standpunkt ab. Der Präsident brandmarkte die Pazifisten als „unbotmäßige Männer", und die Zeitungen der Wall Street hätten sie am liebsten lynchen lassen; wogegen Jimmie und seine Genossen in der Ortsgruppe sie als Helden und Freunde der Menschheit feierten. Die Sozialisten machten geltend, der Präsident sei vor nur vier Monaten mit den Stimmen der Pazifisten und einem pazifistischen Programm wiedergewählt worden und jetzt stürze er das Land in den Krieg und beschimpfe diejenigen, die zu seinen früheren Überzeugungen ständen!
Dazu kam noch ein anderes Ereignis, das Jimmie vor Aufregung fast außer sich geraten ließ. Drei Tage lang waren alle Nachrichten aus Petrograd wie abgeschnitten, und dann kam eine Meldung durch, die die Welt elektrisierte - der Zar war gestürzt, das russische Volk war frei! Jimmie traute kaum seinen Augen; er fuhr drei Tage darauf in die Stadt zur Ortsgruppenversammlung und traf die Genossen beim Feiern an, als ob sie die Welt erobert hätten. Hier war das eingetreten, was sie in all diesen mühseligen Jahren tagein, tagaus gepredigt hatten, gepredigt unter Spott, Hass und Verfolgung; hier war die soziale Revolution und klopfte an die Tore der Welt! Sie würde übergreifen auf Österreich und Deutschland, auf Italien, Frankreich, England - und auch auf Leesville! Überall würde das Volk zu seinem Recht kommen, und Krieg und Tyrannei würden verschwinden wie ein verhasster Alptraum! Redner um Redner stand auf, diese glorreiche Zukunft zu verkünden; sie sangen die Marseillaise und die Internationale, und die anwesenden Russen fielen sich um den Hals, und die Tränen liefen ihnen die Wangen hinunter. Es wurde der Beschluss gefasst, dass sie sofort eine Massenkundgebung durchführen müssten, um dieses epochemachende Ereignis der Bevölkerung der Stadt zu erläutern; außerdem mussten sie fester denn je zu ihrem Programm des Widerstands gegen den Krieg stehen. Was sollte es denn jetzt, da die soziale Revolution an die Tore der Welt klopfte, noch für einen Sinn haben, wenn Amerika sich dem Militarismus zuwandte?
So ging Jimmie mit doppeltem Eifer an die Arbeit und widmete seine ganze Zeit der Agitation. Er hatte offensichtlich keine Chance, einen Job zu bekommen, und gab für den Augenblick die Suche danach auf. Der Besitzer des Ladens an der Kreuzung, der ihn wegen seiner Ansichten nicht leiden konnte, wollte ihm nichts mehr anschreiben, und so war die arme Lizzie zu etwas gezwungen, was sie geschworen hatte, nie zu tun - sie musste den Strumpf von ihrem rechten Bein ziehen, die Bandage von ihrem Knöchel abtrennen und einen der zehn kostbaren Zwanzigdollarscheine herausziehen. Deren leuchtendes Gelb war inzwischen ziemlich verblasst, und sie waren auch alles andere als glatt und neu; doch der Ladenbesitzer nahm daran keinen Anstoß - er gab das Wechselgeld heraus und benutzte die Gelegenheit, um ihr eine freundliche Warnung bezüglich der unvorsichtigen Reden ihres Mannes zukommen zu lassen. Er würde Ärger kriegen, und seine Frau täte gut daran, ihm den Mund zu stopfen, bevor es zu spät sei. So hörte die arme Lizzie. auf, eine Pazifistin zu sein, und ging nach Hause, um an der Brust ihres Mannes wieder einmal hysterisch zu werden.
3
Da sie es nicht schaffte, ihn zurückzuhalten, gab sie durch den Briefträger dem alten Peter Drew Nachricht, er möge doch kommen und helfen. Der alte Farmer spannte seine knochige Mähre an und fuhr sie besuchen. Er redete ein paar Stunden lang über Amerika, während Jimmie über Russland redete. Sollte Amerika vor dem Kaiser kuschen? Jimmie antwortete, dass sie den Kaiser auf die gleiche Weise stürzen würden, wie sie den Zaren gestürzt hätten. Nachdem einmal die Arbeiter Russlands den Weg gewiesen hätten, würden nie mehr die Arbeiter irgendeiner Nation sich unter das Joch der Sklaverei beugen. Ja, selbst in den sogenannten Republiken, wie zum Beispiel Frankreich, das von Bankiers regiert wurde, und Amerika, das von der Wall Street regiert wurde - selbst hier würden die Arbeiter aus dem Aufstand ihre Lehren ziehen!
„Aber in Amerika können die Leute doch alles kriegen, was sie haben wollen!" rief der bestürzte alte Mann. „Sie brauchen doch nur entsprechend zu wählen ..." „Wählen?" knurrte Jimmie wütend. „Und sich dann von irgendeiner korrupten politischen Bande die Stimmen wegnehmen lassen wie hier in Leesville? Erzählen Sie mir nichts über Wahlen - man hat mir gesagt, weil ich in einen neuen Bezirk gezogen bin, habe ich mein Stimmrecht verloren - ich habe es verloren, weil ich meine Arbeit verloren habe! Also hat in Wirklichkeit der alte Granitch das Sagen, ob ich wählen darf oder nicht! Das gleiche gilt für zwei Drittel der Leute in den Empire Shops - die Hälfte der ungelernten Arbeiter im Land hat kein Stimmrecht, weil sie kein Zuhause, weil sie überhaupt nichts hat." „Aber", meinte der alte Soldat, „wie soll denn eure neue Arbeiterregierung funktionieren, wenn nicht mit Wahlen?" „Natürlich mit Wahlen", antwortete Jimmie. „Aber zuerst setzen wir die Kapitalisten an die Luft; sie werden kein Geld mehr haben, sich einen politischen Apparat zu kaufen; sie werden keine Zeitungen mehr besitzen, um Lügen über uns zu drucken. Sehen Sie sich nur mal diesen Leesviller ,Herald' an - sie drucken einfach glatte, gemeine Lügen - die Wahrheit können wir an die Menschen gar nicht herantragen.“
Und so ging es weiter. Es war sinnlos, dass der alte Mann für die „Heimat" eintrat; für Jimmie hatte sich die „Heimat" verloren gegeben, hatte sich unterkriegen lassen, hatte sich von den Kapitalisten, den „Plutos", einstecken lassen. Jimmies Loyalitätsbewusstsein gehörte nicht seiner Heimat, sondern seiner Klasse, die ausgebeutet worden war, gehetzt, gejagt von Pontius zu Pilatus. In früheren Zeiten hatte sich die Regierung von den Firmen benutzen lassen; daher hatte es jetzt keinen Zweck, wenn der Präsident für Gerechtigkeit und Demokratie eintrat und dabei die schönen Worte des Idealismus benutzte. Jimmie glaubte nicht, dass er es ernst meinte, und jedenfalls würde die Wall Street schon dafür sorgen, dass aus seinen Versprechungen nichts wurde. Die „Plutos" würden seine Worte nehmen und drehen, bis sie den Sinn hatten, der ihnen genehm war, und inzwischen würden sie weiter ihre Beschimpfungen über Jimmie Higgins ausgießen, ihm denselben alten Sand in die Augen streuen, ihn blind machen mit demselben alten Hass. Darum gab es keine Möglichkeit für einen alten Soldaten und Patrioten, den Panzer von Jimmies vorgefassten Meinungen zu durchstoßen.
4
Am nächsten Tag sollte die große Massenkundgebung zu Ehren der russischen Revolution stattfinden, und war es denn zu glauben, Lizzie hoffte, sie könnte Jimmie überreden, zu Hause zu bleiben; sie hatte Mr. Drew aufgeboten, damit er ihr beim Überreden half! Die arme Lizzie malte sich aus, wie jeder einzelne im Saal ins Gefängnis abtransportiert wurde, wie Jimmie aufsprang und etwas schrie, worauf die Polizei über ihn herfiel und ihm mit ihren Knüppeln den Schädel einschlug. Vergeblich versicherte er, er hätte nichts Abenteuerlicheres vor, als Literatur zu verkaufen und den Platzanweiser zu spielen. Sie schloß ihn heftig in die Arme, weinte Tränenströme und erklärte, als er sich immer noch nicht erweichen ließ, sie würde mitgehen. Sie wollte Mrs. Drew zu überreden versuchen, an diesem einen Abend einmal nach den Kleinen zu sehen. Der alte Peter Drew antwortete, er hätte selber Lust, zu der
Versammlung zu gehen. Wie wäre es denn, wenn er Lizzie und die Kleinen abholen käme, die Kinder bei sich zu Hause absetzte und dann mit Lizzie zu der Versammlung fuhr? Sie konnten sich ja mit Jimmie im Opernhaus treffen, wo er den ganzen Tag mit dem Ausschmücken zu tun hatte. Nach der Kundgebung konnten sie dann alle zusammen nach Hause fahren. „Fein!" sagte Jimmie, der schon davon träumte, wie das revolutionäre Fieber den alten Soldaten erfasste.
Aber leider lief die Sache nicht so. Zu Jimmies Bestürzung erschien der alte Mann in der Oper in einer verschossenen blauen Uniform, die von oben bis unten voller Messingknöpfe war! Natürlich rissen alle die Augen auf, und das um so mehr, als sie diese militärische Persönlichkeit an der Seite des Genossen Higgins sahen. Der alte Knabe musterte den Schwarm von Menschen, darunter viele Männer mit roten Abzeichen und die Frauen mit roten Bändern oder Schärpen; er musterte den Saalschmuck - die riesige Fahne und die langen roten Wimpel, das Banner des Karl-Marx-Vereins und das Banner der Ypsels, das heißt des Jungsozialistenverbandes von Leesville, und das Banner der Maschinenarbeitergewerkschaft, Ortsgruppe 4717, und der Zimmermannsgewerkschaft, Bezirk 529, und des Arbeiterkonsumvereins; Er drehte sich zu Jimmie um und fragte: „Wo ist die amerikanische Fahne?"
Der Liederkranz sang die Marseillaise, und nachdem die Zuhörer applaudiert, rote Tücher geschwenkt und sich heiser geschrien hatten, hielt der Vorsitzende, Genosse Gerrity, eine kleine Ansprache. Seit Jahren seien es alle Sozialisten gewohnt, die Zustände in ihrem Heimatland mit einem bildlichen Vergleich zu beschreiben, den sie nun nicht länger würden anwenden können, denn Russland sei frei, und Amerika würde Russlands Beispiel folgen, wenn es den Verstand dazu hätte. Er stellte den Genossen Pawel Michailowitsch vor, der eigens aus dem fernen New York hergekommen sei, um ihnen die Bedeutung des größten Ereignisses der Geschichte klarzumachen. Genosse Pawel, ein schlanker, schmächtiger, gelehrtenhaft aussehender Mann mit schwarzem Bart und schwarzgeränderter Brille, sagte ein paar Worte auf russisch und hielt dann eine einstündige Rede in gebrochenem Englisch. Darin erklärte er, wie die Russen sich den Weg in die Freiheit erkämpft hätten und
diese Freiheit jetzt nutzen würden, um auch das übrige Proletariat zu befreien. Und dann kam Genosse Schultze von der Teppichwebergewerkschaft und versicherte ihnen, es sei jetzt nicht mehr nötige gegen Deutschland in den Krieg zu ziehen, denn den deutschen Arbeitern sei jetzt der Weg in die Freiheit gezeigt worden, und sie würden sehr bald nachfolgen. Er, Schultze, wisse das, weil sein Bruder Redakteur bei einer sozialistischen Zeitung in Leipzig sei; er habe vertrauliche Nachrichten darüber, was sich im Vaterland tue.
Dann wurde Genosse Smith vorgestellt, der Redakteur des „Worker", und damit begann der Krach. Der junge Redakteur hielt sich nicht lange mit Vorreden auf; er sei ein internationaler Revolutionär, und ihn würde keine kapitalistische Regierung für ihre blutigen Schurkenstreiche einziehen. Er würde sich niemals fortschicken lassen, seine Arbeitergenossen umzubringen, ganz gleich, ob in Deutschland, Österreich, Bulgarien oder der Türkei. Das würden die Herren der Wall Street noch erleben: Wenn sie sich vorgenommen hätten, freie Amerikaner zur Schlachtbank zu treiben, dann hätten sie den größten Fehler ihres raffgierigen Lebens gemacht. „Versteht mich recht", erklärte Genosse Smith - obwohl es bisher eigentlich nichts gab, worin er hätte missverstanden werden können -, „versteht mich recht, ich bin kein Pazifist, ich bin nicht gegen den Krieg an sich - es geht nur darum, dass ich entschlossen bin, mir auszusuchen, in welchem Krieg ich kämpfe. Wenn sie mir ein Gewehr in die Hand drücken wollen, werde ich mich nicht weigern, es zu nehmen - nicht die Spur, denn ich und alle anderen Lohnsklaven haben uns schon lange Gewehre gewünscht! Aber ich werde nach eigenem Ermessen entscheiden, auf wen ich dieses Gewehr richte - ob auf die Feinde vor mir oder auf die Feinde hinter mir - ob auf meine Brüder, die Arbeiter in Deutschland, oder auf meine Unterdrücker, die Ausbeuter von der Wall Street, ihre Zeitungslakaien und ihre militärischen Leuteschinder!"
Die Sätze dieser Rede fielen wie Hammerschläge und weckten einen Beifallssturm bei den Zuhörern. Doch plötzlich merkte die jubelnde Menge, dass irgendetwas Ungewöhnliches im Gange war. Ein betagter weißbärtiger Mann in verschossener blauer Uniform hatte sich von seinem Platz mitten im Saal erhoben und schrie und gestikulierte mit der Armen. Die neben ihm Sitzenden versuchten ihn wieder auf seinen Platz herunterzuziehen, aber er wollte sich nicht unterkriegen lassen, er schrie weiter, und ein Teil der Zuhörer wurde aus Neugier still. „Pfui! Pfui!" hörten sie ihn rufen. „Schämt ihr euch nicht!" Und er wies mit zitterndem Finger auf den Redner und erklärte: „Was Sie da reden, ist Hochverrat, junger Mann!" „Hinsetzen!" brüllte die Menge. „Maul halten!" Aber der Alte fuhr sie an. „Sind denn in diesem Saal gar keine Amerikaner? Wollt ihr euch diesen schamlosen Verräter anhören ohne jegliche Widerrede?" Man packte ihn an den Rockschößen und drohte ihm mit den Fäusten; auf der anderen Seite des Saals sprang der Wilde Bill auf einen Stuhl und schrie: „Schneidet ihm doch den Hals ab, dem alten Knacker!"
Zwei Polizisten kamen den Mittelgang entlanggelaufen, und der „alte Knacker" wandte sich an sie: „Wozu seid ihr eigentlich da, wenn nicht, um die Fahne und die Ehre Amerikas zu schützen?" Aber die Polizisten verlangten, er solle aufhören, die Versammlung zu stören, und so machte der Alte kehrt und marschierte aus dem Saal. Doch ging er nicht, ohne sich noch einmal umzudrehen, der Menge mit der Faust zu drohen und mit seiner brüchigen Stimme zu brüllen: „Verräter! Verrräter!"
5
Der arme Jimmie blieb vernichtet auf seinem Platz zurück. Dass ausgerechnet er, der einsatzfreudigste der Arbeiter für den Sozialismus, die Ursache einer so schmachvollen Szene gewesen war - dass gerade er in diese revolutionäre Versammlung einen Mann in der Uniform eines Mörders der Arbeiterklasse eingeschleppt hatte! Er konnte nicht bleiben und den Genossen ins Gesicht sehen; bevor die Reden zu Ende waren, gab er Lizzie einen Stoß, und die beiden standen auf und stahlen sich hinaus, wobei sie allen aus dem Wege gingen, die sie kannten.
Draußen blieben sie ratlos stehen. Sie dachten natürlich,
der Alte wäre ohne sie fortgefahren; sie malten sich den langen Heimweg von der Straßenbahn in Dunkelheit und Schlamm aus - und Lizzie in ihrem einzigen Sonntags-Versammlungs-Ausgeh-Kleid! Doch als sie zu dem Platz kamen, wo Mr. Drew seine Kutsche abgestellt hatte, fanden sie ihn zu ihrem Erstaunen geduldig auf sie warten. Als er sie zögern sah, rief er: „Kommt! Steigt ein!" Sie waren sehr verlegen, gehorchten aber, und die alte Mähre setzte sich heimwärts in Trab.
Lange Zeit fuhren sie schweigend dahin. Schließlich konnte Jimmie es nicht länger aushalten und begann: „Es tut mir so leid, Mr. Drew. Sie verstehen nicht..." Aber der Alte schnitt ihm das Wort ab. „Es hat keinen Sinn, dass Sie und ich versuchen, miteinander zu reden, junger Mann." So fuhren sie den Rest des Weges ohne ein Wort - nur einmal bildete sich Jimmie ein, von Lizzie einen Schluchzer zu hören.
Jimmie nahm es sich wirklich zu Herzen, denn er fühlte für diesen alten Soldaten Hochachtung, sogar Zuneigung. Mr. Drew hatte Eindruck auf ihn gemacht, nicht so sehr durch seine Argumente, die Jimmie als sechzig Jahre hinter der Zeit zurück betrachtete, sondern durch seine Persönlichkeit. Da war mal ein Patriot, der gerade und aufrecht war! Wie schade, dass er nicht imstande war, den revolutionären Standpunkt zu begreifen! Wie schade, dass man ihn hatte erzürnen müssen! Das war auch einer der Schrecken des Krieges, der Freunde entzweite und sie dazu brachte, dass sie sich stritten und hassten.
Zumindest schien das Jimmie an jenem Abend so, während er noch voll war von den Reden, die er gehört hatte. Aber zu anderen Zeiten kamen ihm Zweifel - denn natürlich kann ein Mann nicht einer ganzen Gemeinschaft Trotz bieten und den Kampf ansagen, ohne sich manchmal fragen zu müssen, ob nicht vielleicht auch die Gemeinschaft einiges Recht auf ihrer Seite habe. Jimmie hörte von Untaten, die die Deutschen im Krieg begangen hatten; sie waren so gemein im Kampf, sie gaben sich förmlich Mühe, äußerst empörende und sinnlose, fast wahnsinnige Dinge zu tun! Sie machten es jedem, der sie verteidigen wollte, unnötig schwer, in ihnen überhaupt noch Menschen zu sehen. Jimmie behauptete, er habe nicht die Absicht, den Deutschen zu helfen; er war bitterböse über die Anschuldigungen der Leesviller Zeitungen, dass er ein deutscher Agent und ein Verräter sei; aber er kam nicht um die unbequeme Tatsache herum, dass das, was er tat, tatsächlich die Tendenz hatte, die deutschen Interessen zu fördern, zumindest zeitweilig. Wenn ihm das von irgendeinem Patrioten in einer Kontroverse vorgehalten wurde, war seine Antwort, dass er von den deutschen Sozialisten fordere, sie sollten gegen ihre militärische Führung revoltieren; aber dann begann der Patriot die deutschen Sozialisten zu kritisieren und erklärte, dass sie viel bessere Deutsche als Sozialisten wären, und führte Äußerungen und Handlungen an, die das beweisen sollten. Ein deutscher Sozialist war im Reichstag aufgestanden und hatte erklärt, dass die Deutschen auf zwei Arten kämpften - ihre Armeen besiegten den Feind auf dem Schlachtfeld, wogegen ihre Sozialisten die Moral der Arbeiter in den feindlichen Ländern untergruben. Als man Jimmie diese Stelle vorlas, antwortete er, das sei eine Lüge, eine solche Rede hätte ein Sozialist niemals gehalten. Natürlich hatte er keine Möglichkeit, zu beweisen, dass es eine Lüge war; er wusste es einfach! Aber als er dann fortging und darüber nachdachte, begann er zu zweifeln; wie, wenn es doch wahr wäre? Wenn nun die deutschen Arbeiter schon in der Kindheit so gedrillt und geschult wurden, dass selbst diejenigen, die sich Revolutionäre nannten, im Innern Patrioten waren! Jimmie begann dies und jenes zusammenzufügen - was er so gehört oder gelesen hatte. Diese deutschen Sozialisten zeigten ja wirklich keine allzu große Kühnheit beim Kampf gegen ihre Regierung! Die Antwort hieß, dass sie gegen ihre Regierung nicht opponieren könnten; weil sie dann ins Gefängnis gesteckt wurden. Aber das war eine ziemlich dürftige Antwort; es war ihre Pflicht, ins Gefängnis zu gehen - wenn sie das nicht tun wollten, wie konnten sie dann von Jimmie Higgins erwarten, dass er hier in Amerika ins Gefängnis ging? Jimmie unterbreitete dieses Problem dem Genossen Meissner, der darauf antwortete, wenn Jimmie als erster ginge, dann würden zweifellos die deutschen Genossen nachfolgen. Aber Jimmie sah nicht ein, warum er der erste sein sollte, und als sie nach der Erklärung dafür suchten, stellte sich heraus, dass Jimmie im Grunde seines Herzens allmählich glaubte, Deutschland sei mehr schuld am Krieg als Amerika. Und nicht nur, dass Genosse Meissner das nicht zugeben wollte, nein, er regte sich sogar noch auf und wurde heftig und suchte Jimmie zu überzeugen, dass die anderen kapitalistischen Regierungen in der Welt die Ursache für den Krieg seien - Deutschland verteidige sich nur gegen sie! So weit war es also, sie stritten sich, genau wie zwei x-beliebige Nicht-Revolutionäre! Sie wiederholten die gleichen Argumente, die schon in der Ortsgruppe zwischen dem Rechtsanwalt Norwood und dem Brauer Schneider gewechselt worden waren! Nur, dass diesmal Jimmie Norwoods Standpunkt vertrat! Jimmie musste sich mit der betrüblichen Tatsache abfinden, dass sein treuer Freund Meissner Deutscher war - und daher auf irgendeine schwer fassbare Weise anders als er, außerstande, die Dinge so zu sehen wie er!
1
Ob Krieg oder nicht Krieg, der Boden musste gepflügt und die Saat in die Erde gebracht werden; darum kam John Cutter zu seinem Mieter und bot ihm an, er solle seinen Job als Landarbeiter wieder aufnehmen. Nur müsse er das Maul halten über den Krieg, denn wenn Cutter selbst auch kein fanatischer Patriot war, wollte er doch kein Risiko eingehen, eines Nachts sein Pächterhaus niedergebrannt zu finden. So gab es wieder einmal eine Diskussion in der Familie Higgins. Lizzie erinnerte sich daran, dass Jimmie im vergangenen Sommer vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung gearbeitet hatte und sogar zum Lesen sozialistischer Zeitungen zu müde gewesen war, geschweige denn zum Fortführen der Propaganda; was der geplagten Frau eines Propagandisten der wünschenswerteste Zustand schien, der möglich war! Die arme Elisa Betuser - schon zweimal war sie wieder gezwungen gewesen, den Strumpf
von ihrem rechten Bein zu ziehen, die Bandage an ihrem Knöchel aufzutrennen und einen weiteren jener kostbaren gelben Zwanzigdollarscheine herauszuholen; es waren jetzt nur noch sieben übrig, und jeder davon war Lizzie mehr wert als ihr Augapfel.
Jimmie erklärte sich schließlich bereit, den Mund zu halten, solange er hier auf dem Lande war. Was hatte es schon für einen Sinn, diesen Dorfdeppen etwas beibringen zu wollen? Sie wollten den Krieg, also sollten sie ihn haben; sollten sie sich doch in Stücke reißen oder in den Schützengräben vergiften lassen! Wenn Jimmie Propaganda machen musste, dann würde er das in der Stadt tun, wo die Arbeiter Verstand hatten und wussten, wer ihre Feinde waren. So spannte Jimmie wieder einmal John Cutters Pferde vor den Pflug und fuhr hinaus auf John Cutters Acker, um wieder einmal Mais anzubauen für einen Mann, den er nicht leiden konnte. Den ganzen Tag lenkte er den Pflug oder die Egge, und abends fütterte und versorgte er die Pferde und Kühe, und dann kam er nach Hause und aß sein Abendbrot beim Rattern des langen Güterzugs, der durch seinen Hinterhof fuhr und Material für die Herstellung von TNT - Trinitrotoluol - geladen hatte.
Denn die große Sprengstofffabrik arbeitete jetzt Tag und Nacht und sorgte dafür, dass Jimmie die ganze Zeit an den Krieg denken musste, ob er nun wollte oder nicht. Um Mitternacht rollten die Züge mit dem fertigen Material heraus und brachten Jimmies Fenster zum Klirren mit ihrem Geratter und Gerumpel. Sie führten seine Phantasie fort zur Frontlinie jenseits des Ozeans, wo mit dem Inhalt dieser Wagen wenig später Menschen in Stücke gerissen werden würden. Eines Nachts gab es eine Störung auf der Strecke, und der Zug hielt auf seinem Hof, und am Morgen sah er die schwarzgestrichenen Wägen, auf denen in flammendroten Buchstaben das Wort „Gefahr" stand. Über die Dächer der Wagen ging ein Mann mit einem Knüppel in der Hand und einer Ausbuchtung auf der Hüfte und hielt Wache. Es erwies sich, dass irgend jemand in der Nacht eine Schiene herausgerissen hatte, augenscheinlich in der Absicht, den Zug zum Entgleisen zu bringen; infolgedessen kam ein Kriminalpolizist zu Jimmie, während er auf dem Feld arbeitete, und fragte ihn aus. Sie kannten Jimmies
Akte und verdächtigten ihn, mehr zu wissen, als er sagen wollte. „Ach, schern Sie sich doch zum Teufel", rief der zornige Sozialist. „Glauben Sie, wenn ich etwas hochgehen lassen wollte, hätte ich das ausgerechnet da gemacht, wo ich arbeite?" Und als er dann nach Hause zum Essen kam, stellte er fest, dass sie auch bei Lizzie gewesen waren und sie zu Tode erschreckt hatten. Sie hatten damit gedroht, die Familie aus dem Haus zu weisen; Jimmie sah sich von diesem verfluchten Krieg überallhin verfolgt - bis er ihn schließlich packen und in den Schützengraben schleifen würde!
2
Der neue Kongress war zusammengetreten und hatte den Kriegszustand mit Deutschland erklärt, und das Land stürzte zu den Waffen. Männer meldeten sich zu Hunderttausenden freiwillig; aber das war den Militaristen noch nicht genug - sie wollten die gesetzliche Wehrpflicht, so dass jedermann gezwungen werden konnte mitzugehen. Wenn sie sich ihrer selbst und ihres großartigen Krieges so sicher waren, warum waren sie dann nicht damit zufrieden, diejenigen kämpfen zu lassen, die kämpfen wollten? So argumentierten der rebellische Jimmie und seine antimilitaristischen Gefährten. Aber nein! Die Militaristen wussten
recht gut, dass die Masse des Volkes nicht kämpfen wollte, darum beabsichtigten sie, sie zum Kampf zu zwingen. Die ganze Energie der sozialistischen Bewegung konzentrierte sich jetzt darauf, diesen Wehrpflichtplan zu durchkreuzen.
Die Ortsgruppe Leesville mietete wieder das Opernhaus und organisierte eine Massenprotestversammlung, und die kapitalistischen Zeitungen in der Stadt begannen lautstark gegen diese Versammlung zu wettern. Sollte man zulassen, dass der Patriotismus und die Loyalität Leesvilles durch eine weitere Konzentration von Aufwiegelei und Verrat herausgefordert wurden? Der „Herald" brachte noch einmal die Geschichte von dem tapferen alten Bürgerkriegsveteranen, der sich von seinem Platz erhoben und seinen Protest gegen die Hetze Jack Smith', des berüchtigten „roten" Redakteurs, herausgeschrien hatte. Der „Herald" druckte zum
zweitenmal das Bild des tapferen alten Veteranen in seiner verschossenen blauen Uniform ab sowie die Liste der Schlachten, in denen er gekämpft hatte, von der ersten bei Bull Run bis hin zur Belagerung von Richmond. Ein vorbeikommender Farmer gab Lizzie ein Exemplar dieser Zeitung und fügte hinzu, wenn es hier am Ort weiter verräterisches Gerede gäbe, dann würde es zu einem Lynchfest kommen. Jimmie fand also seine Frau wieder in Tränen vor. Sie war absolut entschlossen, ihn unter gar keinen Umständen zu der Versammlung gehen zu lassen. Drei Tage lang weinte sie und stritt mit ihm bis weit in die Nacht. Es wäre komisch gewesen, wenn es nicht so tragisch gewesen wäre. Jimmie führte das alte Argument an, dass man ihn, wenn er es nicht schaffte, dem Krieg ein Ende zu machen, in die Schützengräben schleppen und töten würde. Daraufhin wurde Lizzie dann natürlich sofort Pazifistin. Was für ein Recht hatte der Krieg, ihr Jimmie wegzunehmen? Die kleinen Jimmies hatten ein Recht auf ihren Vater! Alle Kinder hatten ein Recht auf ihren Vater! Aber wenn dann Lizzie diese tränenreichen Überzeugungen zum Ausdruck gebracht hatte, sagte Jimmie, also gut, dann müsse er zu der Versammlung gehen, dann müsse er sein Möglichstes tun, um den Krieg zu verhindern. Woraufhin die arme Lizzie plötzlich wieder die Schreckensbilder von der Polizei mit ihren Knüppeln und den Patrioten mit ihren Teereimern und Federsäcken vor sich sah! Nein, Jimmie durfte keine Propaganda mehr treiben, Jimmie durfte nicht zu der Versammlung gehen! Der arme Jimmie versuchte, sie festzunageln; was wolle sie denn lieber: dass er von den Deutschen getötet wurde oder von der Polizei und dem Mob? Aber Lizzie wollte, dass er weder auf die eine noch auf die andere Weise getötet wurde! Sie wollte, dass er am Leben blieb! Jimmie versuchte, einstweilen einen Kompromiss zu erzielen. Er würde zwar zu der Versammlung gehen, aber er würde versprechen, kein Wort zu sagen. Doch das tröstete Lizzie nicht - sie wusste, dass, wenn irgendetwas passierte, ihr Mann mit hineingezogen werden würde. Nein, wenn er entschlossen war zu gehen, dann würde sie auch mitgehen - selbst wenn sie die drei Kleinen in den Kinderwagen packen und diesen die zwei, drei Meilen bis zur Straßenbahn schieben müssten! Wenn Jimmie versuchen würde, eine
Rede zu halten, dann würde sie sich an seine Rockschöße hängen, dann würde sie ihm den Mund zuhalten, dann würde sie sich zwischen ihn und die Knüppel der Polizisten werfen!
So lagen die Dinge, als am Nachmittag vor der Versammlung heftiger Regen einsetzte und der Weg zur Straßenbahn für einen dreifach beladenen Kinderwagen unbefahrbar wurde. Also gab es wieder einen hysterischen Anfall in der Familie; Jimmie nahm die Hand seiner Frau in die seine und schwor ihr feierlich, sie könne ihn ruhigen Herzens zu dieser Versammlung gehen lassen, er würde nichts tun, was ihn auf irgendeine Weise in Schwierigkeiten bringen könnte. Er würde nicht versuchen, eine Rede zu halten, er
würde nicht aufspringen und schreien - egal, was passierte, er würde kein Sterbenswörtchen sagen! Er würde bloß Flugschriften verkaufen und den Leuten ihre Plätze anweisen, wie er das auf hundert anderen Versammlungen auch schon gemacht hatte. Um sicherzugehen, dass ihm nichts passierte,
würde er sogar das rote Abzeichen weglassen, das er sonst immer bei sozialistischen Veranstaltungen trug! Durch diese immer wieder von neuem wiederholten Versprechungen gelang es ihm schließlich, seine weinende Ehefrau zu beruhigen; er löste sanft ihre Hände von seinen Rockschößen, winkte ihr und den Kindern zu und ging. Das letzte, was er durch den Regenschleier sah, war Jimmie zwei, der ein rotes Taschentuch schwenkte, das Lizzie ihrem Ehemann im letzten Augenblick aus der Tasche gezogen hatte. Das letzte, was er hörte, war die Stimme von Jimmie zwei, der schrie: „Und sei ja artig! Halte den Mund!" Jimmie marschierte los und dachte dabei an den
kleinen Racker; er war jetzt fünf Jahre alt und wuchs so rasch, dass man es förmlich sah. Er hatte große schwarze Augen wie seine Mutter, und in seinem Grinsen lag alle Schalkhaftigkeit dieser Welt. Was er schon alles wusste, und was für Fragen er stellte! Jimmie und Lizzie wurden es nie müde, über seine Fragen zu reden; Jimmie fiel eine nach der anderen wieder ein, als er so durch den Matsch trabte -und wie stets presste er die Lippen zusammen, ballte die Fäuste und wandte sich von neuem der Aufgabe zu, die Welt zu einem Ort zu machen, wo auch ein Arbeiterkind leben konnte.
3
Der Hauptredner des Abends war ein junger Collegeprofessor, der aus seinem Amt entlassen worden war, weil er sich in seinen öffentlichen Äußerungen auf die Seite der Arbeiterklasse gestellt hatte, und der daher für Jimmie ein Held war. Dieser junge Mann hatte alle Einzelheiten über den Krieg parat; er zeigte einem, dass es sich um eine gigantische Verschwörung der Kapitalisten auf der ganzen Welt handelte, die die materiellen Grundlagen des Reichtums und dazu die Leiber und Seelen der Arbeiter vollständig in ihre Gewalt bringen wollten. Er prangerte unerbittlich diejenigen an, die das Land in den Krieg hineingedrängt hatten; er prangerte die Spekulanten und Finanzleute der Wall Street an, die bereits ihre Milliarden verdient hatten und noch weitere ... zig Milliarden dazuverdienen würden. Er prangerte den Plan an, Männer zum Kämpfen zu zwingen, die gar nicht kämpfen wollten, und jeder seiner Sätze wurde von der Menschenmenge, die das Opernhaus zum Bersten füllte, mit donnerndem Beifall begrüßt. Nach dieser Versammlung zu urteilen, musste man glauben, dass Amerika kurz vor einer Revolution gegen den Krieg stand. Der junge Professor nahm Platz und wischte sich den Schweiß von der blassen Stirn, und dann sang wieder der Liederkranz, nur dass er jetzt nicht mehr Liederkranz hieß, sondern sich aus Rücksicht auf lokale Vorurteile „Arbeitergesangsverein" nannte. Dann erhob sich Genosse Smith, der Redakteur des „Worker", und kündigte an, dass nach der Spendensammlung der Redner Fragen beantworten würde; dann begann Genosse Smith selbst eine Rede zu halten, des Inhalts, dass die Arbeiter von Leesville etwas Entscheidendes unternehmen müssten, um klarzustellen, dass sie dagegen seien, in den Krieg hineingerissen zu werden. Er für sein Teil wolle sagen, dass er diesem Geschrei nach Krieg keinen Zollbreit nachgeben werde - er weigere sich offiziell, sich für irgendeinen kapitalistischen Krieg einberufen zu lassen, und er sei bereit, sich mit anderen zusammenzutun und mit ihnen zu vereinbaren, dass sie sich nicht einberufen lassen würden. Die Zeit sei knapp - wenn etwas geschehen solle, dann müssten sie sofort handeln ... Und dann gab es plötzlich eine Unterbrechung - diesmal nicht durch einen alten Soldaten, sondern durch einen Polizeiwachtmeister, der auf der einen Seite der Bühne gestanden hatte und nun vortrat und verkündete: „Die Versammlung ist geschlossen." „Was?" schrie der Redner.
„Die Versammlung ist geschlossen", wiederholte der Polizist. „Und Sie, junger Mann, sind festgenommen." Das Publikum stieß ein Gebrüll aus, und plötzlich sprang aus der Versenkung vor der Bühne, von wo normalerweise das Orchester liebliche Musik aussandte, eine Reihe blau uniformierter Männer, die sich zwischen dem Publikum und dem Redner aufstellten. Gleichzeitig kam ein Dutzend Soldaten durch den Mittelgang nach vorn marschiert, mit Gewehren in den Händen und aufgepflanzten Bajonetten. „Das ist ja unerhört!" schrie Genosse Smith. „Kein Wort mehr!" befahl der Polizeibeamte, und zwei Polizisten, die ihm gefolgt waren, fassten den Redner bei den Armen und wollten ihn von der Bühne herunterführen. Genosse Gerrity sprang nach vorn aufs Podium. „Ich protestiere gegen dieses Vorgehen!" schrie er. „Wir halten hier eine ordnungsgemäße Versammlung ab ..." Ein Polizist packte ihn. „Sie sind festgenommen." Dann meldete, sich Genossin Mabel Smith, die Schwester des Redakteurs des „Worker". „Pfui Schande! Pfui Schande!" rief sie. Und dann, an einen Polizisten gewandt: „Nein, ich werde nicht schweigen! Ich protestiere im Namen der freien Rede! Ich erkläre ..." Und als der Polizist sie beim Arm ergriff, schrie sie weiter, aus voller Kehle, wodurch die Menge außer sich geriet.
Überall unter der Zuhörerschaft kam es zu Tumulten. Mrs. Gerrity, die Frau des Organisators, sprang von ihrem Platz auf und begann zu. protestieren. Zufällig befand sich Jimmie Higgins nicht weit von ihr im Gang, und sein Herz durchfuhren seltsame, fast vergessene Empfindungen, als er diese schmucke kleine Gestalt sah mit dem feschen Hut, an dessen einer Seite die Truthahnfeder steckte. Genossin Evelyn Baskerville aus Greenwich Village, sie, mit dem lockeren braunen Haar und den kecken kleinen Grübchen und den kühnen, schockierenden Ideen, sie, die Jimmie Higgins' Seele so aufgewühlt und fast das Higginssche Heim zerstört hatte - hier stand sie und wandte eine neue Art von Koketterie an, durch die sie drei Soldaten mit Gewehr und Bajonett zwang, ihr ihre ausschließliche Aufmerksamkeit zu schenken!
Und dann Genossin Mary Allen, die Quäkerin mit ihrem Glauben an die moralische Kraft, die über das Trommelfell wirkte. Sie stand im Mittelgang mit ihrem Armvoll Flugschriften und ihrer roten Schärpe über der Schulter und rief: „Im Namen der Freiheit und des Fair play protestiere ich gegen diesen Gewaltakt! Ich will nicht zusehen, dass mein Land in den Krieg hineingerissen wird, ohne von meinem Recht, zu protestieren, Gebrauch zu machen! Ich stehe hier, in einer Stadt, die sich christlich nennt; ich spreche im Namen des Friedensfürsten..." und so weiter, eine richtige kleine Rede, während der mehrere verlegene junge Männer ins Khaki herauszufinden suchten, wie man gleichzeitig ein Gewehr und eine schreiende Quäkerin festhielt. Und dann Genosse Schneider, der Brauer. Er war hinten auf der Bühne bei den Sängern gewesen und kam nun irgendwie nach vorn. „Haben wir denn in Amerika keine Rechte mehr?" brüllte er. „Haben wir unter dieser Zuhörerschaft..."
„Halt die Klappe, du deutsches Schwein!" brüllte irgend jemand vorn vor der Menge, und drei Polizisten stürzten sich augenblicklich auf Genossen Schneider, packten ihn beim Kragen und drehten so sehr, dass das Gesicht des Deutschen, das immer purpurrot anlief, wenn er erregt war, eine dunkle, gefährliche Farbe annahm.
Armer Jimmie Higgins! Da stand er nun mit seinem Armvoll Broschüren „Warum Krieg?" - zitternd vor Aufregung, jeder Nerv, jede Sehne reizte ihn, sich in diesen Streit zu stürzen, seine Stimme über den Tumult zu erheben, seine Rolle als Mann zu spielen - oder sogar als eine Genossin Mabel Smith oder eine Genossin Mary Allen oder eine Genossin Mrs. Gerrity geborene Baskerville. Aber er war hilflos - Hand und Fuß waren ihm gebunden durch die feierlichen Versprechen, die er Elisa Betuser gegeben hatte, der Mutter seiner Kinder.
Er sah sich um und erblickte nah bei sich im Mittelgang noch einen Mann, dem ebenfalls Hand und Fuß gebunden waren - gebunden durch die Erinnerung an den Hieb ins Gesicht, der ihm das Nasenbein gebrochen und drei Vorderzähne ausgeschlagen hatte! Der Wilde Bill sah, wie ihn ein Polizist fixierte, der eifrig nach einem neuen Vorwand suchte, um sich auf ihn zu stürzen und ihn zusammenzudreschen; so war er still wie Jimmie. Die beiden mussten dort stehen und zusehen, wie die verfassungsmäßigen Grundrechte amerikanischer Bürger in den Wind geschlafen wurden, mussten zusehen, wie die Freiheit unter den Stiefeln einer brutalen Soldateska in den Staub getreten wurde, mussten zusehen, wie die Gerechtigkeit im innersten Schrein ihres Tempels erwürgt und vergewaltigt wurde. Zumindest las sich das, was man selber mit angesehen hatte, im Leesviller „Worker" so; wenn man dagegen den „Herald" las, was neun von zehn Leuten taten, dann erfuhr man, saß sich in Leesville am Ende doch die Kräfte des Anstands und der Ordnung durchgesetzt hätten, dass die Propaganda der Hunnen endgültig zum Schweigen gebracht worden sei und dass die Aufwiegler die schwere Hand des Volkszorns zu spüren bekommen hätten.
4
Draußen versammelte sich eine Menschenmenge, um spöttische Bemerkungen von sich zu geben, während die Gefangenen in den Polizeiwagen verladen wurden; aber die Polizei trieb sie weg, hielt alle in Bewegung und unterband mehrere Versuche, eine Straßenrede zu halten. Jimmie fand sich bei einem halben Dutzend anderer Genossen, die ziellos die Main Street hinunterwanderten und immer wieder erörterten, was geschehen war, wobei ein jeder erklärte, warum und weshalb er der Märtyrerkrone nicht teilhaftig geworden sei. Manche hatten ebenso laut wie die übrigen geschrien, waren aber von der Polizei nicht bemerkt worden; manche hatten es für klüger gehalten, wegzulaufen, um bei einer anderen Gelegenheit schreien zu können; manche wollten noch in derselben Nacht damit anfangen, ein Flugblatt zu drucken und eine neue Massenversammlung einzuberufen. Sie zogen sich in „Toms Imbissstube" zurück, um noch weiter über die Ereignisse zu diskutieren; sie besetzten ein paar Tische, bestellten ihr gebührendes Soll an Kaffee und Sandwiches oder Pastete und Milch und
waren eben bei der Frage angelangt, wie man ohne die Hilfe des Genossen Dr. Service die Kaution aufbringen könne - als plötzlich etwas passierte, was sie die ganze Versammlung vergessen ließ.
Es war wie ein gigantischer Schlag, der die ganze Welt auf einmal traf; eine kosmische Zuckung, ganz unbeschreiblich Die Luft wurde plötzlich zu einem lebenden Wesen, das einem ins Gesicht sprang; die Fenster des kleinen Restaurants flogen nach innen in einem Regen von Glas, und die Wände und Tische zitterten wie in einem Krampf. Bei alledem hörte man einen gewaltigen, alles durchdringenden Knall, der fern und nah zugleich war und sich im Zerbersten und Zersplittern unzähliger Glasscheiben, die aus unzähligen Fenstern fielen, verlor. Danach herrschte Stille eine unheilvolle, grauenhafte Stille, so schien es; die Menschen starrten einander an und riefen: „Mein Gott! Was war das?" Die Antwort dämmerte anscheinend allen zugleich: „Die Pulverfabrik!"
Ja, das war es, ohne Zweifel. Seit Monaten hatten sie darüber geredet und darüber nachgedacht und Vermutungen angestellt hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit und der Folgen. Und nun war es passiert. Plötzlich stieß einer in der Runde einen Schrei aus, und sie wandten sich ihm zu und starrten in sein weißes Gesicht und erblickten darin das Entsetzen, das sein Herz gepackt hatte. Genosse Higgins, der so nah am Gefahrenort wohnte! „Gottes willen, Freunde, ich muss hin!" stieß er hervor, und mehrere Genossen sprangen auf und liefen mit ihm auf die Straße. Falls in Leesville wirklich noch eine Glasscheibe ganz geblieben war - wenn man den Fuß auf dieses Pflaster setzte, hätte man es nicht geglaubt. Wäre Jimmies Tüchtigkeit besser ausgebildet und er es gewohnt gewesen, mit dem Geld großzügiger umzugehen, hätte er vielleicht etwas per Telefon oder per Anfrage in den Zeitungsbüros erfahren können; aber ihm fiel nichts weiter ein, als die Straßenbahn zu nehmen, um nach Hause zu kommen. Die Genossen liefen mit, stellten aufgeregt Vermutungen an und versuchten ihn zu beruhigen - es konnte ja nichts Schlimmeres sein, als dass ein bisschen Glas und Geschirr entzwei war. Einige hatten vorgehabt, ihn den ganzen Weg zu begleiten, aber ihnen fiel ein, dass es zu spät
sein würde für die letzte Straßenbahn zur Stadt zurück und dass sie ja am andern Morgen früh zur Arbeit mussten. So brachten sie Jimmie bis an die Bahn und verabschiedeten sich dann.
5
Die Straßenbahn war voller Leute, die alle hinausfuhren, um zu sehen, was passiert war; Jimmie hatte darum viel Gesellschaft, und es wurde viel geredet. Doch als er zu seiner Haltestelle kam, stieg er als einziger aus und ging allein weiter, denn die anderen wollten zum Sprengstoffwerk und fuhren noch ungefähr eine Meile mit der Bahn weiter. Niemals würde Jimmie diesen Weg vergessen - diesen Gang durch einen Alptraum. Die Straße war stockdunkel, und bevor er auch nur die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, stolperte er über etwas und stürzte kopfüber. Er stand auf, tappte umher und stellte fest, dass es ein Baum war, der quer über der Straße lag. Er versuchte sich zu erinnern und entsann sich, dass an dieser Stelle ein großer abgestorbener Baum gestanden hatte. Konnte den die Explosion umgerissen haben?
Er ging weiter, sich nun vorsichtiger vorantastend, jedoch von seiner Angst zu größerer Eile getrieben. Ein Stückchen weiter erreichte er ein Farmhaus; er stellte sich auf den Hof und rief, bekam aber keine Antwort. Der Hof war bedeckt mit Schindeln, die offenbar vom Dach heruntergefallen waren. Noch verängstigter als zuvor ging er weiter. Er kam an eine Kurve, die, wie er wusste, weniger als eine halbe Meile von seinem Haus entfernt war, und hier waren mehrere Pferde mit Wagen angebunden, aber auf seine Rufe gab niemand Antwort. Dann führte die Straße durch einen Wald; doch offenbar war gar keine Straße mehr da -die Bäume waren mitsamt Wurzeln und allem hochgerissen und quer über die Straße geschleudert worden. Jimmie musste sich tastend seinen Weg bald hier, bald dort suchen, rammte sich einen abgebrochenen Ast in die Backe und war inzwischen fast so weit, dass er vor Entsetzen geweint hätte. Er wusste, dass sein Haus zwei Meilen vom Sprengstoffwerk entfernt lag, und er konnte sich nicht vorstellen, wie eine
Explosion auf diese Entfernung hatte solchen Schaden anrichten können.
Weiter vorn sah er eine Laterne hin und her schwanken, und er schrie lauter denn je und konnte schließlich den Träger der Laterne dazu bewegen, auf ihn zu warten. Es stellte sich heraus, dass es ein Farmer war, der ein Stück weiter hinten wohnte; er wusste nicht mehr als Jimmie, und sie gingen zusammen weiter. Dort, wo sie den Wald verließen, war die Straße besät mit lockerer Erde, Büschen, Zaunteilen und Schutt, alles schwarz verbrannt. „Es muss hier in der Nähe gewesen sein", erklärte der Mann und fügte etwas hinzu, was Jimmies Herz fast stocken ließ. „Es muss auf der Eisenbahnstrecke gewesen sein!"
Sie kamen zu einer kleinen Anhöhe, von der aus bei Tage die Bahnstrecke zu sehen war. Sie erblickten Laternen, eine Vielzahl, hin und her schwebend wie ein Schwarm Leuchtkäfer. „Kommen Sie mit", bat Jimmie den Farmer und lief auf sein Haus zu. Die Straße war unter Erdmassen begraben, als ob Tausende von Baggern ihren Inhalt auf sie entleert hätten. Ate sie an die Stelle kamen, wo der Zaun von Jimmies Haus hätte sein müssen, fanden sie keinen Zaun, sondern nur einen Berg lockerer Erde, der da nie gewesen war. Wo der Apfelbaum gestanden hatte, war gar nichts; wo der Rasen gewesen war, war jetzt ein Abhang, und wo das Haus gestanden hatte, war ein gewaltiges Tal, das in der Dunkelheit wie ein bodenloser Abgrund wirkte!
6
Jimmie war völlig von Sinnen. Er riss dem anderen die Laterne weg, rannte hierhin und dorthin und suchte nach vertrauten Zeichen seines Heimes - nach dem Hühnerstall, dem Schweinestall, dem Zaun hinten mit der abgebrochenen Ulme in der Ecke, den Bahngleisen dahinter. Er konnte nicht glauben, dass er schon an der richtigen Stelle war - er konnte nicht an die Wirklichkeit eines so gespenstischen Anblicks glauben, wie seine Augen ihn ihm vermittelten. Er rannte planlos umher, stolperte über Berge von aufgehäufter brauner Erde, rutschte in Krater hinein, die von einem merkwürdigen, penetranten Geruch erfüllt waren, der seine Augen
brennen machte, kletterte wieder heraus und lief hinter Männern mit Laternen her, schrie ihnen Fragen zu und wartete doch nicht auf eine Antwort. Ihm war so, als ob er nur ein bisschen weiterlaufen müsste, um ganz bestimmt das Haus und alles andere, wonach er suchte, zu finden; aber er fand nur noch mehr Krater und noch mehr Erdhaufen, und allmählich wurde ihm die entsetzliche Tatsache bewusst, dass sich die ganze Bahnstrecke entlang, so weit er sehen oder laufen konnte, diese gigantische Mulde erstreckte, ein Tal von bloßer Erde, an dessen Seiten sich Berge türmten, auf denen hier und da Räder und Achsen und Eisengestelle von explodierten Güterwagen lagen, während über seinem Grund die todbringenden Gase von Trinitrotoluol schweben!
Jimmie rief den Männern und Frauen mit den Laternen zu, ob sie seine Frau und seine Kinder gesehen hätten. Aber niemand hatte sie gesehen - niemand hatte sie vor der drohenden Explosion gewarnt! Jimmie schluchzte, rief halb wahnsinnig ihre Namen; er rannte hin zur Straße und fand nach vielem Suchen einen verkohlten Baumstumpf, der ihm die genaue Richtung wies, so dass er wusste, wo das Haus hätte sein müssen, und er sich überzeugen konnte, dass es genau dort gewesen war, wo jener schreckliche Abhang in den Abgrund führte. Laut rufend rutschte er auf dem Abhang herum, als ob er erwartete, dass die Seelen seiner Lieben dort noch weilten und der Gewalt sich plötzlich ausdehnender Gase standgehalten hätten. Dann rannte er zurück über die Straße und rief, als ob sie dorthin entflohen wären. Schließlich stieß er auf Mr. Drew; den alten Mr. Drew, der vor ein paar Wochen Elisa Betuser und ihre drei Kleinen in seiner Kutsche mitgenommen hatte! Die Erinnerung daran war das, womit sie Jimmie jetzt am nächsten waren, und so griff er nach dem Arm des alten Soldaten, klammerte sich daran und weinte wie ein kleines Kind. Der Alte wollte ihn fortziehen, ihn mit zu sich nach Hause nehmen. Aber Jimmie konnte von dieser Stelle nicht weg, der Bann des Entsetzens hielt ihn fest. Er irrte umher, er zog Mr. Drew mit sich, er redete vergeblich auf die Leute ein; ab und an stieß er Flüche aus gegen die Kriegemacher und besonders gegen diejenigen, die Sprengstoffe herstellten und sie in Güterzügen durch anderer Leute Höfe transportierten. Diesmal ließ man ihn reden, ohne ihm mit Lynchen zu drohen. So ging es weiter durch diese Nacht der Qual. Jimmie verlor den alten Drew in der Dunkelheit und war ganz allein, als der Morgen dämmerte und er das Ausmaß der Verwüstung um sich her sehen konnte und die verstörten Gesichter der Menschen in seiner Nähe. Bald danach kam das Schlimmste. Er sah Leute beieinanderstehen, und als er herankam, machten sie ihm Platz. Sprechen wollte anscheinend keiner, aber alle blickten ihn an, als ob sie neugierig wären, was er tun würde. Einer der Männer trug einen Gegenstand, der in eine Pferdedecke gehüllt war; Jimmie starrte darauf, und nach kurzem Zögern schlug der Mann ein Stück Decke zurück, und Jimmies Augen bot sich ein entsetzlicher Anblick - ein Menschenbein, ein großes weißes Bein, dessen untere Hälfte in einem schwarzen Strumpf steckte, der am oberen Ende mit einem Band befestigt war. Es war so ein Bein, wie man es in den Schaufenstern von Geschäften sieht, die allerlei hübsche Sachen für Damen verkaufen; nur dass dieses Bein weich war, oben zerfetzt, mit Blut beschmiert und teil weise verkohlt. Ein Blick genügte Jimmie, er schlug die Hände vor die Augen, machte kehrt und rannte davon -rannte bis zur Straße und weiter, immer weiter - irgendwohin, nur weg von diesem Alptraum!
7
Jimmies ganze Welt war ausgelöscht, zu Ende. Er hatte kein Zuhause mehr, ihm war es egal, was aus ihm wurde. Er stolperte vorwärts, bis er an das Straßenbahngleis kam, und stieg in die erste Bahn, die kam, Es war reiner Zufall, dass sie zurück nach Leesville fuhr, denn Jimmie interessierte diese Stadt nicht mehr. Als die Bahn am Depot ankam, stieg er aus und irrte ziellos umher, bis er zufällig an einer Kneipe vorbeikam, in der er sich früher immer mit Jerry Coleman, dem Verteiler von Zwanzigdollarscheinen, getroffen hatte. Jimmie ging hinein und bestellte einen Whisky; er sagte dem Wirt nicht, was geschehen war, sondern nahm seinen Drink mit zu einem Tisch und setzte sich hin, um allein zu sein. Als er ihn ausgetrunken hatte, bestellte er den nächsten, weil es ihm half, nicht zu denken; er saß da am Tisch und trank eine Stunde oder länger. Und allmählich formte sich in seinem benebelten Kopf ein seltsamer, ein grauenhafter Gedanke, schlimmer als alles andere in dieser entsetzlichen Nacht. Welches Bein von Lizzie war es gewesen, das der Mann da in der Pferdedecke gehabt hatte? Das rechte Bein oder das linke? Wenn es das linke gewesen war, nun, dann war nichts weiter; aber wenn es das rechte gewesen war, nun, dann war unter dem Strumpf eine Bandage festgenäht, und in der Bandage steckte ein Päckchen von sieben verblassten gelben Zwanzigdollarscheinen! Was würden sie damit machen? Würden sie das Bein begraben, ohne es zu untersuchen? Oder würde der Mann, der es gefunden hatte, es zufällig entkleiden? Und was sollte Jimmie machen? Hundertundvierzig Dollar waren keine Kleinigkeit für einen Arbeiter - das war mehr Geld, als er jemals im Leben gehabt hatte oder jemals wieder haben würde. Aber konnte er hingehen zu dem Mann und sagen: „Haben Sie an dem Bein meiner Frau Geld gefunden?" Konnte er sagen: „Geben Sie mir bitte das Bein von meiner Frau, damit ich es entkleiden und die Bandage abtrennen und an das Geld herankommen kann, das man mir gegeben hat, damit ich schweige über den chirurgischen Eingriff bei Lacey Granitch, der in meinem Hause vorgenommen wurde, bevor es bei der Explosion in die Luft ging." Jimmie dachte über all das nach, während er noch ein paar Drinks zu sich nahm, und kam endlich zu dem Schluss: „Ach, zum Teufel! Was soll ich denn überhaupt mit Geld? Ich will ja sowieso nicht mehr leben!"
1
Jimmie Higgins trottete ziellos die Straße entlang, als er auf den Wilden Bill stieß, der natürlich äußerst erstaunt war, seinen Freund betrunken zu sehen. Als er den Grund
erfuhr, enthüllte er eine unerwartete Seite seines Wesens. Wenn man den Wilden Bill nach seinen Reden beurteilte, hielt man ihn für einen durch und durch verkommenen Menschen, für eine von Neid, Hass und Bosheit zersetzte Seele und die Hartherzigkeit in Person. Aber jetzt traten ihm die Tränen in die Augen, und er legte seinen Arm um Jimmies Schulter. „Au Mann, so ein Scheißdreck! Mein Gott, tut mir das leid!" Und Jimmie, der nichts so sehr brauchte wie einen Menschen, der mit ihm traurig war, fiel Bill um den Hals und brach in Tränen aus, erzählte immer wieder von vorn, wie er hatte nach Hause gehen wollen und dort bloß noch einen Riesenexplosionstrichter vorgefunden hatte und wie er umhergeirrt war und nach seiner Frau und seinen Kindern gerufen hatte, bis sie ihm schließlich das eine Bein von seiner Frau gebracht hatten. Der Wilde Bill hörte zu, bis er die Geschichte auswendig kannte, und sagte dann: „Weißt du was, Kumpel, lass uns beide hier verschwinden aus dieser Stadt." „Verschwinden?" fragte Jimmie verständnislos. „Ich brauch nur den Mund aufzumachen, und schon stürzen sich die Polizisten auf mich. Leesville ist ein Mistkaff, sage ich dir. Lass uns abhaun." „Und wo wollen wir hin?"
„Irgendwohin - ist doch ganz egal. Es wird bald Sommer. Machen wir hier Schluss."
Jimmie war einverstanden - warum sollte er nicht? Sie gingen zu der Pension, wo Bill wohnte; dort schnürte er seine irdischen Güter in einen Sack - sie bestanden zum größten Teil aus einem Tagebuch, in dem er seine Abenteuer als Anführer eines Arbeitslosenheers verzeichnet hatte, das vor etwa vier Jahren von Kalifornien nach Washington, D. C., marschiert war. Sie nahmen die Straßenbahn und wanderten, nachdem sie draußen auf dem Land ausgestiegen waren, am Fluss entlang. Jimmie, noch immer schluchzend, und Bill, geschüttelt von einem seiner furchtbaren Hustenanfälle. Schließlich ließen sie sich am Ufer nieder, und zwar gar nicht weit von der Stelle entfernt, wo Jimmie mit dem Kandidaten schwimmen gewesen war; er gab einen ergreifenden Bericht von diesem Abenteuer, schlief jedoch mittendrin ein. Bill zog los und erbettelte in einem Bauernhaus etwas zu essen, wobei ihm sein Husten als erwünschtes
Mittel diente, das Herz der Hausfrau zu erweichen. Als es Nacht wurde, gingen sie zur Bahnstrecke und sprangen auf einen in Richtung Süden fahrenden Güterzug; so kehrte Jimmie Higgins zu dem Landstreicherleben -zurück, mit
dem er einen beträchtlichen Teil seiner Jugend zugebracht hatte.
Aber ein Unterschied war da jetzt: Er war nicht mehr das blinde und hilflose Opfer eines falschen ökonomischen Systems, sondern ein Revolutionär, zutiefst klassenbewusst, in harter Schule erzogen. Das Land zog in den Krieg, und Jimmie zog in den Krieg gegen das Land. Die beiden Agitatoren sprangen bei einem Bergwerkscamp vom Zug, besorgten sich einen Job als „Übertageleute" und schickten sich an, den Arbeitern in einer verdreckten firmeneigenen Pension ihr Evangelium des Aufruhrs zu predigen. Als man sie entdeckte, sprangen sie auf einen anderen Güterzug auf und wiederholten die Vorstellung in einer anderen Gegend des Distrikts.
Die Firmen waren zu wachsam, als dass sich irgendeine Möglichkeit für einen Streik geboten hätte; aber der Wilde Bill flüsterte den jungen Arbeitern zu, er wüsste einen Trick, der doppelt soviel wert sei - er würde ihnen die Kunst beibringen, wie man am Arbeitsplatz streikte! Dieser Gedanke war natürlich bestechend für aufgebrachte Männer; sie konnten so dem Boss Kontra geben, ohne dass er sie von der Lohnliste strich. Bill hatte ganze Bücher gelesen über Theorie und Praxis der „Sabotage", und er kannte alle möglichen Kniffe, die ein Arbeiter anwenden konnte, damit sein Arbeitgeber Blut schwitzte. Wenn man in einer Maschinenfabrik arbeitete, dann schüttete man Schmirgelpulver in die Achslager: wenn man auf einer Farm arbeitete, schlug man Kupfernägel in die Obstbäume, wovon sie eingingen; wenn man Äpfel verpackte, drückte man in einen davon seinen Daumennagel und konnte sicher sein, dass bei
der Ankunft die ganze Kiste verfault war; wenn man in einer Sägemühle arbeitete, schlug man einen langen Nagel in einen Stamm; wenn man in einem Restaurant arbeitete, trug man doppelte Portionen auf, um den Besitzer zu ruinieren, und spuckte in jede Portion, um sicher zu sein, dass der Gast davon nicht profitierte. Das alles tat man in leidenschaftlicher Erregung, in einer Stimmung von rasendem
Opfermut, weil einem in der Seele die lodernde Flamme des Hasses angefacht worden war, durch ein Gesellschaftssystem, das auf Unterdrückung und Schurkerei beruhte.
2
Solange Jimmie das unauffällige und vergleichsweise friedliche Leben eines Propagandisten des Sozialismus geführt hatte, war für ihn die Frage „Sabotage, Gewalttat und Verbrechen" eine mehr oder weniger akademische gewesen, eine Frage, die die Genossen erbittert debattiert und die sie mit großer Stimmenmehrheit abgelehnt hatten. Aber jetzt war Jimmie draußen unter den „Wobblies", den „Tippelbrüdern" - den ungelernten Arbeitern, die buchstäblich nichts als ihre Muskelkraft zu verkaufen hatten; hier war er in den vordersten Gräben des Klassenkampfes. Diese Männer zogen durchs Land, von einer Gelegenheitsarbeit zur anderen, ganz nach der Laune der Jahreszeiten und den Schwankungen der Industrie. Ihnen war das Wahlrecht genommen und damit auch ihre Stellung als Staatsbürger; sie hatten keine Möglichkeit, sich zu organisieren, und damit auch, keine Rechte als Menschen. Sie wurden in verdreckten Baracken untergebracht, bekamen verdorbenen Fraß vorgesetzt und wurden beim geringsten Won des Aufbegehrens verprügelt oder eingesperrt. Also bekämpften sie ihre Unterdrücker mit jeder Waffe, deren sie habhaft werden konnten.
Im Terpentinölgebiet stießen Jimmie und sein Kumpel in einem Wald auf einen „Dschungel", einen Ort, wo sich die Wobblies sammelten und von dem lebten, was die Umgegend ihnen so bot. Hier an den Lagerfeuern begegnete Jimmie den Guerillas des Klassenkampfes und lernte die aufrührerischen Lieder, die sie sangen - manche waren Parodien von Kirchenliedern, bei denen die Rechtgläubigen und Ehrbaren vor Schreck in Ohnmacht gefallen wären. Hier ruhten sie sich aus, tauschten Nachrichten aus darüber, wie es mit ihrem Kampf voranging, diskutierten über die Taktik, fluchten auf die Sozialisten und die anderen „Leisetreter" und „Labourbonzen" und sangen ein Loblied auf die „eine große Gewerkschaft", den „Massenstreik" und die „direkte Aktion" gegen die Herren der Industrie. Sie erzählten Geschichten von ihren Leiden und ihren Taten, und Jimmie saß und hörte zu. Manchmal bekam er vor Bestürzung ganz große Augen, denn noch nie waren ihm Männer begegnet, die so desperat waren. Zum Beispiel „Erdbeer-Curran" - so genannt wegen seiner roten Haare und seiner unzähligen Sommersprossen -, ein junger Ire mit dem Gesicht eines Chorknaben und mit Augen, die glatt aus dem Blau des Himmelszelts genommen worden sein mussten. Dieser Halbwüchsige erzählte von einem „Redefreiheitskrawall" in einer Stadt weit drüben im Westen und wie der Polizeichef die Prügelattacke angeführt habe und wie sie es ihm heimgezahlt hätten. „Wir haben ihn sauber umgelegt", sagte Erdbeere; es war dies eine seiner Lieblingsredensarten - immer, wenn ihm jemand in den Weg kam, „legte er ihn um". Und daraufhin wollte „Plattkopf-Joe", der aus dem Indianergebiet kam, mit ihm gleichziehen und erzählte, wie er in einem Bergwerk Dynamit unter den Sockel eines Brechers gelegt habe und die ganze Anlage den Hang hinunter in den eine Meile tiefer liegenden Canon gerutscht sei. Und dann erzählte ein lahmer Bursche, ein gewisser „Chuck" Peterson, wie im Hopfengebiet von Kalifornien zwei Streikführer eingesperrt worden seien und danach ein paar Jahre lang in der Gegend eine Epidemie von Bränden und Zerstörungen gewütet habe.
Von all diesen Vorfällen redeten die Männer ganz beiläufig, so wie etwa Soldaten über die Ereignisse des letzten Feldzugs sprechen würden. Dieser Klassenkampf dauerte schon eine Ewigkeit und hatte seine eigene Moral und seine eigenen Traditionen; wer an ihm teilnahm, hatte seinen Heroismus und seine Größe, genau wie jeder andere Soldat. Sie hätten ihren Kampf ja gerne offen geführt, aber die Gegenseite hatte allein die Schusswaffen. Jedesmal wenn es die Wobblies schafften, die Arbeiter zu organisieren und einen großen Streik auszurufen, wurden alle Hilfsmittel kapitalistischer Unterdrückung gegen sie eingesetzt - kapitalistische Polizisten verprügelten sie, kapitalistische Sheriffs schossen auf sie, in kapitalistischen Gefängnissen hungerten und froren sie, und so wurde ihr Streik zerschlagen, und ihre Kräfte wurden zersplittert. Nach vielen Erfahrungen dieser Art war es unvermeidlich, dass die Hitzköpfe sich auf die geheime Rache verlegten und zu Verschwörern gegen die kapitalistische Gesellschaft wurden. Und die Gesellschaft vergaß alle Provokationen, die von ihr gekommen waren, nannte die Wobblies Verbrecher und ließ es damit bewenden. Aber es waren Verbrecher ganz eigener Art, die im Dienst eines fernen Traums standen. Sie hatten ihren Humor und ihre Kultur, ihre Literatur, ihre Musik und ihre bildenden Künste. Es gehörten gebildete Männer zu ihnen, Absolventen amerikanischer und ausländischer Universitäten; man konnte erleben, dass einer aus der Gruppe um diese Lagerfeuer von Sklavenaufständen im alten Ägypten oder Griechenland erzählte oder dass einer Strindberg und Stirner zitierte oder dass er eine Szene von Synge vortrug oder berichtete, wie er in einem einsamen Farmhaus die Familie verblüfft habe, indem er ihnen auf einem arg verstimmten Klavier das „Prélude" von Rachmaninow vorspielte.
Ebenso traf man unter ihnen Männer, die sich ihre Freundlichkeit, ihre Herzensgüte bewahrt hatten, Männer von bewundernswerter Geduld, deren Traum von der Bruderschaft aller Menschen keine Verfolgung und keine Schändlichkeit hatten zerstören können. Sie hielten fest an ihrer Vision einer erlösten, einer von den Ausgestoßenen und Niedrigen erneuerten Welt, einer Vision, die einst von einem gewissen jüdischen Zimmermann ins Leben gerufen wurde und seitdem der Welt schon neunzehnhundert Jahre keine Ruhe lässt. Der Unterschied war, dass diese Männer ganz genau wussten, wie sie es anfangen wollten; sie hatten eine feste Weltanschauung, ein festes Programm, das sie als frohe Botschaft unter die Lohnsklaven der Welt trugen. Und sie wussten, dass diese frohe Botschaft nie sterben würde - alle Kerker und Schlagstöcke und Maschinengewehre des Landes konnten sie nicht umbringen, auch nicht Spott und Verleumdung, nicht Hunger, Kälte und Krankheit. Nein! Denn die Arbeiter hörten und begriffen, sie lernten die unschätzbare Lektion der Solidarität. Sie formierten die „eine grolle Gewerkschaft", bereiteten den Augenblick vor, da sie die Industrie übernehmen und sie durch ihre eigenen Arbeiterräte statt durch Parlamente und gesetzgebende Körperschaften verwalten würden. Das war die große Idee, die dem Verband der Industriearbeiter der Welt zugrunde lag; das war es, was sie unter „direkter Aktion" verstanden, und nicht das Anrüchige, was die kapitalistischen Zeitungen aus diesem Schlagwort machten.
3
Das Land zog jetzt in seinen eigenen Krieg, den es für wichtig hielt, und rief Jimmie Higgins und den Rest seiner Gefährten auf, sich zum Militärdienst zu melden. Im Monat Juni gehorchten zehn Millionen Männer diesem Ruf -doch Jimmie war selbstredend nicht unter ihnen. Jimmie und seine Gefährten fanden, das sei der größte Witz des Jahrhunderts. Wenn das Vaterland sie haben wollte, dann sollte es doch kommen und sie holen. Und tatsächlich kam das Vaterland auch - ein Sheriff mit einigen dreißig Farmern und Terpentinarbeitern, die als Hilfssheriffs vereidigt und mit Schrotflinten und Gewehren bewaffnet waren. Sollten ihre Söhne vielleicht nach Übersee gehen und sich auf dem Schlachtfeld umbringen lassen, während diese Desperados hier weiter Picknick im Freien machten und Schweine und Hühner auffraßen, die anständige Menschen mühsam großgefüttert hatten? Sie hatten mit diesem „Dschungel" schon lange aufräumen wollen; jetzt konnten
sie es im Namen des Patriotismus tun. Sie umzingelten das Lager, schossen einen Mann an, der sich im Dunkeln davonmachen wollte, durchsuchten die übrigen nach Waffen, verluden sie dann in ein halbes Dutzend Autos und schafften sie fort zum nächsten Spritzenhaus. So stand Jimmie denn also vor einer dörflichen Musterungskommission. Wie alt war er? Ehrlich gesagt, wusste Jimmie das selbst nicht genau, aber nach seiner Schätzung war er ungefähr sechsundzwanzig. Die Altersgrenze für die Einberufung war dreißig, also schwor er, er sei zweiunddreißig. Und was sollten sie dagegen machen? Sie wussten ja nicht, wo er geboren war, und konnten ihn nicht zwingen, es zu sagen - weil er es selbst nicht wusste! Sein Gesicht war von vielen Sorgen zerfurcht, und er hatte ein paar graue Haare seit jener Schreckensnacht, als seine Lieben ausgelöscht worden waren. Diese Bauern wussten zwar, wie man das Alter eines Pferdes schätzte, aber nicht, wie man das Alter eines Menschen schätzte! „Wir ziehn dich so oder so ein!" versicherte der Vorsitzende der Kommission, der der Friedensrichter am Ort war ein alter Knabe mit einem Bart wie ein Ziegenbock. „All right", sagte Jimmie, „aber von mir habt ihr nichts." „Was soll das heißen?"
„Das soll heißen, dass ich nicht kämpfen werde; ich bin aus Gewissensgründen gegen den Krieg." „Dann wird man dich erschießen!" „Schießt nur, wenn's euch Spaß macht!" „Man wird dich auf Lebenszeit ins Gefängnis stecken." „Das kümmert mich einen Scheißdreck!" Es war schwer zu sagen, was man mit so einem Menschen anfangen sollte. Steckte man ihn tatsächlich ins Gefängnis, würde man ihn bloß auf Gemeindekosten durchfüttern müssen, und es würde nicht helfen, die Deutschen zu besiegen. An dem Blitzen seiner Augen konnte man erkennen, dass er nicht leicht kleinzukriegen sein würde. Das lokalpatriotische Interesse behielt die Oberhand, und der Alte mit dem Wippebart fragte: „Wenn wir dich laufenlassen, verschwindest du dann aus diesem County?" „Was zum Teufel liegt mir an eurem blöden County?" antwortete Jimmie.
Also ließen sie ihn gehen, und den Wilden Bill ebenfalls, weil man auf einen Blick sehen konnte, dass er's in dieser Welt und ihren Kriegen nicht mehr lange machen würde. Die beiden brachen in einen leeren Güterwagen ein und donnerten die ganze Nacht darin über die Schienen. Während sie dort noch so in der Dunkelheit lagen, wurde Jimmie durch einen entsetzlichen Aufschrei seines Gefährten geweckt, und als er die Hand ausstreckte, fasste er in etwas Warmes, Nasses.
„O mein Gott!" keuchte Bill. „Ich bin geliefert." „Was ist denn?" „Ein Blutsturz."
Der erschrockene Jimmie wusste nicht einmal, was das war. Er konnte nichts weiter tun als dasitzen, seines Freundes zitternde Hand halten und auf sein Stöhnen lauschen. Als der Zug hielt, sprang Jimmie hinaus und rannte zu einem der Bremser. Der kam mit seiner Laterne und sah den Wilden Bill in einer Blutlache liegen, schon so geschwächt, dass er nicht mehr den Kopf heben konnte. „Jesses!" rief der Bremser. „Der ist ja tatsächlich hin!"
Der da „hin" war, versuchte etwas zu sagen, und Jimmie beugte sich mit einem Ohr zu ihm hinunter. „Good-bye, Kumpel", flüsterte Bill. Das war alles, aber es brachte Jimmie zum Schluchzen.
Die Lokomotive pfiff. „Was, verdammt noch mal, habt ihr Penner auf diesem Zug zu suchen?" fragte der Bremser -aber nicht so grob, wie es dem Wortlaut nach scheinen konnte. Er hob den Sterbenden hoch - keine sehr große Last - und legte ihn auf dem Bahnsteig nieder. „Tut mir leid", sagte er, „aber wir haben Verspätung." Er schwenkte seine Laterne, die quietschenden Wagen setzten sich in Bewegung, der Zug fuhr davon, und Jimmie blieb zurück und saß da bei seinem toten Kumpel. Einsam und verlassen schien die Welt in dieser langen Nacht. Am Morgen kam der Stationsvorsteher und verständigte die nächste Behörde, und im Laufe des Tages kam dann ein Wagen, um die Leiche abzuholen. Was hätte es für einen Sinn gehabt, wenn Jimmie noch gewartet hätte? Ein Armenfriedhof war wie der andere, und die Beerdigung würde keine großartige Angelegenheit sein. Der Mann, der den Wagen fuhr, beäugte Jimmie misstrauisch und fragte ihn nach seinem Alter; in dieser Gegend wären sie knapp dran mit Arbeitskräften, sagte er - bei ihnen hieß es: „Arbeite oder kämpfe!" Jimmie sah eine weitere Musterung auf sich zukommen und sprang daher wieder auf einen Güterzug; als Erbschaft nahm er des Wilden Bills Tagebuch über das Arbeitslosenheer mit.
4
Es war Erntezeit, und Jimmie fuhr nach Westen ins Weizengebiet. Die Arbeit war hart, aber bei dem Lohn bekam man Stielaugen. Jimmie erkannte, dass der Krieg gar nicht so schlecht war - für die, die zu Hause blieben! Wenn man bei einem Farmer die Art nicht schätzte, wie er mit einem redete, oder die Kekse nicht mochte, die seine Frau einem anbot, konnte man weiterziehen zum nächsten, und der stellte einen dann für einen halben Dollar mehr pro Tag ein. Für einen Arbeiter war es fast das Paradies, ein Zustand, wie ihn Jimmie noch nie erlebt hatte. Ungünstig war eigentlich nur eins: diese lästigen Musterungskommissionen, die nie aufhörten herumzuschnüffeln. Immerfort luden sie einen vor, drohten einem und fragten einen aus -drehten einen immer wieder durch dieselbe Mühle. Warum konnten diese Schwachköpfe einem nicht eine Karte geben, die zeigte, dass man durch die Mühle durch war, und es damit gut sein lassen? Aber nein, sie gaben einem keine Karte - sie wollten einen lieber immer wieder hochjagen, weil man keine Karte hatte. Das war alles so ein Dreh, dachte Jimmie, um ihn zu zermürben und ihn auf Biegen und Brechen in ihre Armee zu pressen. Aber hier würden sie eben mal kein Glück damit haben!
Jedoch war Jimmie Higgins nun, da der Wilde Bill aus seinem Leben verschwunden war, nicht mehr halb so gefährlich. Es lag eigentlich nicht in seiner Natur, Hassgefühle zu hegen oder sich vorsätzlich rächen zu wollen. Jimmie war Sozialist im wahren Sinne des Wortes - er fühlte sich als Teil der Gesellschaft, und den Frieden und den Überfluss und die Freundlichkeit, die er für sich selber wünschte, wünschte er für die ganze Menschheit. Er träumte nicht von einem Zeitpunkt, da er die Kapitalisten von der Macht vertreiben und sie so behandeln könnte, wie sie jetzt ihn behandelten; er wünschte sich die Welt so, dass sie für die Kapitalisten ein ebenso angenehmer Ort wäre wie für die Arbeiter - alle würden gleichmäßig miteinander teilen, und Jimmie war bereit, die alte Rechnung zu löschen und jederzeit auf faire Weise neu anzufangen. Seine Propaganda nahm wieder die alte idealistische Tönung an, und nur wenn jemand ihn auf die Schlachtbank zerren wollte, bekam er Zähne und Krallen.
So wurde er wieder leidlich froh - froher, als er es je für möglich gehalten hätte. Vergebens sagte er sich, dass er nichts hatte, wofür er leben konnte; er hatte das Großartigste auf der Welt, für das man leben konnte, die Vision einer gerechten und vernünftigen und glücklichen Welt. Solange sich jemand fand, der zuhörte, wenn er davon redete und erklärte, wie man das erreichen könnte, war das Leben die Mühe wert, war das Leben real. Nur dann und wann quälte ihn sein bitterer Kummer wieder - wenn er des Nachts aufwachte und in der Erinnerung die Arme um den weichen, warmen, lieben Körper Elisa Betusers geschlungen hatte; oder wenn er zu einer Farm kam, wo Kinder waren, deren Geplapper ihn an den kleinen Knirps erinnerte, der für ihn der Hauptgrund gewesen war, sich eine gerechte und vernünftige und glückliche Welt zu wünschen. Auf einer solchen Farm, wo Kinder waren, musste Jimmie feststellen, dass er dort nicht arbeiten konnte, und als er der Farmersfrau den Grund verriet, schlossen er und die Frau einen zeitweiligen Waffenstillstand im Klassenkampf und feierten das mit einer halben Apfeltorte.
5
Die Sozialisten hielten in St. Louis einen Parteitag ab und arbeiteten eine Deklaration zum Krieg aus. Sie nannten ihn den ungerechtesten Krieg der Geschichte, „ein Verbrechen am Volk der Vereinigten Staaten"; sie riefen die Arbeiter des Landes auf, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen, und verpflichteten sich „zur Unterstützung aller Massenbewegungen gegen die Wehrpflicht". Das war natürlich in einer solchen Zeit ein folgenschwerer Schritt; dessen waren sich die Genossen auch bewusst, und es gab ernste Diskussionen über den Entwurf und recht erhebliche Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Klugheit einer solchen Deklaration. In der Stadt Hopeland, in deren Nähe Jimmie arbeitete, bestand eine Ortsgruppe, und er ließ sich von Leesville nach dort überweisen, bezahlte seine rückständigen Beiträge und ließ seine kostbare rote Karte auf den neuesten Stand bringen. Und dann ging er hin und hörte sich die Debatten an, die genauso aufregend und verwirrend waren wie diejenigen, die er bei Ausbruch des Krieges mit angehört hatte.
Ein paar Leute wiesen darauf hin, was die Worte „alle Massenbewegungen gegen die Wehrpflicht" genaugenommen eigentlich bedeuteten. Der führende Textilkaufmann der Stadt, der Sozialist war, erklärte, dass diese Worte Aufruhr und Gewalttätigkeit des Pöbels bedeuteten und dass die Resolution als Aufruf zum Hochverrat angesehen werden würde. Worauf ein russisch-jüdischer Schneider, Rabin mit Namen, aufsprang; sein Vorname war Scholem, was Frieden bedeutet, und er rief in großer Aufregung: „Wos hobn wer Sozialisten ze schaffen mit solchene Wörter? Die können wer doch überlassen dem Feind, oder was?" Man hätte meinen können, man wäre in Leesville und hörte den Genossen Stankewitz. Der einzige Unterschied war, dass es in dieser Stadt nicht viele Deutsche gab und dass diese wenigen sich in ihren Diskussionen auf Irland und Indien beschränkten.
Jimmie hörte sich die Argumente an, hin und her und wieder hin, und das Durcheinander in seinem Kopf wurde immer größer. Er haßte den Krieg genauso sehr wie bisher; aber andererseits lernte er auch, die Deutschen zu hassen. Die amerikanische Regierung, die in den Krieg eintrat, sah sich genötigt, ihren Schritt zu erklären, und die Läden und Reklameflächen waren voll von Parolen und Plakaten, und die Zeitungen waren voll von Schilderungen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Deutschland begangen hatte. Jimmie mochte es zwar ablehnen, solchen „Wall-Street-Schmus", wie er das nannte, zu lesen - die Arbeiter mit denen er zusammen war, lasen ihn aber und bombardierten ihn jedesmal damit, wenn er sich mit ihnen in eine Diskussion einließ. Dazu die Tagesereignisse in den Nachrichtendepeschen - das Versenken von Lazarettschiffen mit Verwundeten, der Beschuss von Rettungsbooten, das Verschleppen dreizehn-, vierzehnjähriger belgischer Kinder zur Sklavenarbeit in Kohlenbergwerken! Wie konnte man denn anders als eine Regierung hassen und fürchten die solche Gräueltaten beging? Wie konnte er ruhig bleiben bei dem Gedanken, dass er vielleicht einer solchen Regierung zum Sieg verhalf?
Jimmie war ehrlich, er versuchte sich vor den Tatsachen, so wie er sie sah, nicht zu drücken, und wenn er es sich richtig überlegte, wenn er daran dachte, was er zusammen mit dem Wilden Bill und Erdbeer-Curran und Plattkopf-Joe und Chuck Peterson angestellt hatte, konnte er nicht leugnen dass er, wenn auch unbeabsichtigt, dem Kaiser geholfen hatte, den Krieg zu gewinnen. In seinen Diskussionen mit anderen traute sich Jimmie nicht, alles zu sagen, was er über solche Dinge wusste; doch wenn er mit sich selbst zu
Rate ging, war sein Gewissen belastet, und an seiner Seele nagte der Zweifel. Angenommen, es wäre wahr, was Genosse Dr. Service ihm hatte beweisen wollen, nämlich dass ein Sieg des Kaisers bedeuten würde, dass Amerika die nächsten zwanzig, dreißig Jahre damit beschäftigt wäre, für den nächsten Krieg zu rüsten? War es dann nicht vielleicht doch besser, eine Weile auf die revolutionäre Agitation zu verzichten, bis der Kaiser außer Gefecht gesetzt war? Nicht wenige Sozialisten argumentierten so - Männer, die in der Bewegung aktiv gewesen waren und von denen Jimmie vor dem Krieg eine hohe Meinung gehabt hatte. Nun sprachen sie sich gegen die Resolution von St. Louis aus -den „Majoritätsreport", wie er genannt wurde. Als dieser Report mit einem Stimmenverhältnis von etwa acht zu eins in der Abstimmung angenommen wurde, zogen sich diese Genossen aus der Partei zurück, und einige griffen ihre früheren Freunde erbittert an. Derartige Äußerungen wurden von der kapitalistischen Presse aufgegriffen, und das wiederum empörte Jimmie Higgins. Schöne Sozialisten, die das Schiff in der Stunde der Gefahr verließen! Renegaten nannte Jimmie sie und verglich sie mit Judas Ischariot und Benedict Arnold und dergleichen Berühmtheiten vergangener Zeiten. Da die anderen aus genau demselben Holz geschnitzt waren wie Jimmie, blieben sie ihm die Antwort nicht schuldig und schimpften Jimmie einen Deutschenfreund und Verräter, was es nicht eben leichter machte, Jimmie zu überreden, sich ihre Argumente wenigstens anzuhören. So waren beide Seiten vor Wut verblendet, vergaßen, worum es eigentlich ging, und dachten nur daran, einem verhassten Widersacher eins auszuwischen.
6
Im ganzen Land schickten jetzt Männer ihre Söhne in die Ausbildungslager und steckten ihr Geld in „Freiheitsobligationen". Sie waren deshalb nicht in der Stimmung, sich Argumente anzuhören - bei der leisesten Andeutung, dass die Sache, für die sie Opfer brachten, nicht vollkommen richtig und gerecht sei, gerieten sie in Wut. Es gab da eine Organisation, die sich „Volksrat für Frieden und Demokratie" nannte. Sie versuchte einen Kongress abzuhalten; die Zusammenkunft wurde vom Pöbel unterbrochen, und die Delegierten irrten im Lande umher und versuchten vergeblich zusammenzukommen. Der Bürgermeister von Chicago gab ihnen die Erlaubnis, in der Stadt ein Treffen durchzuführen, aber der Gouverneur des Staates Illinois schickte Truppen, um es zu verhindern! Man muss wissen, dass die Menschen im Lande alles über die Organisation erfahren hatten, für die Jerry Coleman tätig gewesen war - über den „Nationalen Friedensrat der Arbeiter", und hier gab es nun eine andere Organisation, die praktisch denselben Namen trug, und führte eine Agitation durch, die für den Durchschnittsbürger dasselbe war. Der Unterschied zwischen gedungenem Verrat und Superidealismus war viel zu fein, als dass ihn die Menschen in einer solchen Gefahrenzeit festgestellt hätten.
Es kam immer mehr in Mode, Sozialisten zu verhaften und ihre Zeitungen zu verbieten; an manchen Orten erklärten die Behörden den „Majoritätsreport" für „durch die Post nicht beförderbar" und stellten die Sekretäre von Einzelstaaten und Bund vor Gericht, weil sie ihn in der täglichen Routine ihrer Geschäfte verschickt hatten. Jimmie erhielt vom Genossen Meissner aus Leesville einen Brief, in dem er ihm mitteilte, dass der Genosse Jack Smith für seine Rede in der Oper zwei Jahre Zuchthaus bekommen habe und dass die anderen verhinderten Redner zu einer Geldstrafe von je fünfhundert Dollar verurteilt worden seien. Mehrere Nummern des „Worker" hatten nicht durch die Post befördert werden dürfen, und nun hatte die Polizei die Büros gestürmt und ein einstweiliges Druckverbot erwirkt. Überall im Land geschah Ähnliches; wenn man darum jetzt Jimmie gegenüber für den Krieg eintrat, war seine Antwort, dass Amerika preußischer sei als Preußen selbst, und was habe es denn für einen Sinn, für die Demokratie im Ausland zu kämpfen, wenn man zu Hause jedes Stückchen Demokratie opfern müsse, um den Kampf zu gewinnen?
Jimmie glaubte das wirklich - glaubte es mit verzweifeltet, leidenschaftlicher Intensität. Er rechnete mit einem Krieg, der zugunsten der Bedrückung im eigenen Land gewonnen werden würde; er sah voraus, dass das System des Militarismus und der Unterdrückung dem amerikanischen Volk für immer aufgezwungen bleiben würde. Jimmie räumte ein, dass es dem Präsidenten persönlich mit den schönen Worten, die er über die Demokratie sagte, vielleicht ernst sein mochte; doch die großen Machthaber der Wall Street, die das Land seit vielen Jahrzehnten regierten - sie hatten ihre geheimen Ziele, für die die Kriegsbegeisterung als bequemer Deckmantel diente. Sie wollten die allgemeine Wehrpflicht in Amerika einführen; sie wollten dafür sorgen, dass jedes Schulkind die militärischen Lektionen von Gehorsamkeit und Subordination lernte. Außerdem wollten sie die radikalen Zeitungen aus dem Verkehr ziehen und aller radikalen Propaganda ein Ende machen. Diejenigen Sozialisten, die sich hatten verleiten lassen, das Kriegsprogramm des Präsidenten zu unterstützen, würden eines Morgens mit einem gallebitteren Geschmack im Mund aufwachen.
Nein, sagte Jimmie Higgins, die richtige Art, den Krieg zu bekämpfen, war, die Vorwände zu bekämpfen, durch die man überredet werden sollte, den Krieg mitzumachen, so geschickt und einleuchtend sie auch immer sein mochten. Die richtige Art, den Krieg zu bekämpfen, war die Art, wie es die Russen machten. Die Propaganda für die proletarische Revolution, das glorreiche Beispiel, das die russischen Arbeiter gegeben hatten, würden mehr dazu beitragen, die Macht des Kaisers zu zerstören, als alle Kanonen und Granaten der Welt. Doch die Militaristen wollten sie nicht auf die Art zerstört haben - Jimmie hatte den Verdacht, dass es vielen von ihnen lieber war, wenn der Kaiser den Krieg gewänne, als wenn ihn die Sozialisten gewännen. Die Regierungen verweigerten den Sozialisten, die sich in einem neutralen Land treffen und die Grundlage für eine Regelung erarbeiten wollten, durch die alle Völker der Welt zu einer Einigung gelangen könnten, die Ausreisepässe, und Jimmie hielt das Verbot dieser Sozialistenkonferenz für das größte Verbrechen des Weltkapitalismus; es war der Beweis, dass der Weltkapitalismus seinen wahren Feind kannte und den Krieg als Vorwand benutzen wollte, um diesen Feind niederzuhalten.
7
Mit jedem Tag setzte Jimmie mehr Hoffnung auf Russland. Sein kleiner Freund Rabin, der Schneider, hielt eine russische Zeitung, die in New York erschien, den „Nowy Mir", und übersetzte immer die darin abgedruckten Meldungen und Kommentare. Dadurch angeregt, beschloss die Ortsgruppe Hopeland, den russischen Arbeitern in einer Botschaft ihre brüderliche Sympathie auszudrücken. Wie sich herausstellte, war in Petrograd und Moskau ein Kampf im Gange zwischen den proalliierten Sozialisten und den Internationalisten, den wahren, hundertprozentigen, nicht nach rechts, nicht nach links abweichenden, waschechten Proletariern. Die ersteren hießen Menschewiki, die letzteren Bolschewiki, und natürlich war Jimmie voll und ganz für die letzteren. Kannte er denn nicht die Lockvogelsozialisten im eigenen Land, die sich vom Kapitalismus benutzen ließen?
Zwei große Fragen standen zur Debatte - erstens der Grund und Boden, den die Bauern den Grundbesitzern wegnehmen wollten, und zweitens die Auslandsschulden. Der russische Zar hatte von Frankreich vier Milliarden Dollar und von England ein oder zwei Milliarden geliehen, die dazu verwendet werden sollten, die russischen Arbeiter zu versklaven und mehrere Millionen von ihnen auf dem Schlachtfeld in den Tod zu treiben. Sollten sich da die russischen Arbeiter zur Rückzahlung dieser Schulden verpflichtet fühlen? Wenn jemand Jimmie Higgins diese Frage stellte, antwortete er mit einem donnernden „Nein", und er hielt alle Sozialisten, die für Kerenski in Russland eintraten, für von der Wall Street bezahlte oder hereingelegte Elemente.
Als die amerikanische Regierung in dem Wunsch, das russische Volk zur Bündnistreue im Krieg aufzurufen, eine Kommission hinüberschickte und als deren Leiter einen der berüchtigtsten Kapitalistenanwälte Amerikas einsetzte, einen Mann, von dem die Jimmies sagten, er habe sein ganzes Leben im Sold der Freiheitsgegner gestanden, da wurde Jimmie Higgins' schrille Stimme ein Aufschrei von Hohn und Wut. Natürlich sorgte Jimmies Organisation dafür, dass die Bolschewiki über den Charakter dieser Kommission im
voraus unterrichtet wurden - was sich aber als überflüssig erwies, denn gleich nach dem Sturz des Zaren hatte eine Wallfahrt russischer Sozialisten von New York und San Francisco her eingesetzt; Menschen, die in den Slums der großen Städte die Schattenseite des amerikanischen Kapitalismus kennengelernt hatten und die keine Zeit verloren, die russischen Radikalen mit ausführlichen Informationen über die Wall Street zu versorgen!
Es traf sich, dass in San Francisco ein bekannter Arbeiterführer angeklagt worden war, er habe eine Bombe gelegt, um eine Kriegsbereitschaftsdemonstration zu vereiteln. Man hatte ihn auf Grund von Zeugenaussagen verurteilt, die nachweislich Meineide waren, und die Gewerkschaften des Landes hatten eine Kampagne geführt, um sein Leben zu retten - eine Kampagne, die die kapitalistischen Zeitungen nach alter Gewohnheit geflissentlich übersehen hatten. Jetzt aber nahmen sich die heimgekehrten Flüchtlinge in Petrograd der Sache an, organisierten einen Marsch zur amerikanischen Botschaft und forderten die Freilassung dieses „Munis". Die Nachricht davon kam natürlich nach Amerika zurück - zum größten Erstaunen des amerikanischen Volkes, das noch nie etwas von diesem „Muni" gehört hatte. Jimmie Higgins hielt es für den tollsten Witz von der Welt, dass da ein großer Arbeiterkampf in San Francisco im Gange war und die Amerikaner die erste Meldung darüber aus Petrograd bekamen! „Da seht ihr's", rief er, „wie viel echte Demokratie es in Amerika gibt, wie viel Sorge um die Werktätigen!"
So klang diesen ganzen Sommer und Herbst, da Jimmie Higgins sich auf den Feldern abrackerte, um für sein Vaterland erst die Weizenernte und dann die Maisernte einzubringen, in seinem Herzen ein Lied des Jubels und der wachsenden Hoffnung. Weit drüben jenseits des Meeres nahmen Menschen seiner Art die Zügel der Macht in die Hand, zum ersten mal in der Weltgeschichte. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis auch hier in Amerika die Arbeiter diese wunderbare Lektion lernen würden, bis sie gepackt werden würden von dem Gedanken, dass Freiheit und Überfluss wirklich auch ihnen beschieden sein könnten!
1
Der Winter kam, und die Landarbeiter zogen in die Städte; aber dieses Jahr nicht als abgebrannte Arbeitslose -sondern jeder als ein kleiner König. Jimmie wanderte nach Ironton, besorgte sich einen Job bei einer großen Autofirma für acht Dollar am Tag und machte sich ans Agitieren für einen Zehndollarlohn. Nicht etwa, dass er die beiden Dollar mehr nötig gehabt hätte, sondern bloß, weil es sein oberstes Lebensprinzip war, das Profitsystem zu stören. Die kapitalistischen Zeitungen dieser Großstadt des Mittelwestens griffen wütend Arbeiter an, die in Kriegszeiten „gegen ihr Vaterland" streikten; Jimmie wiederum griff jene an, die das Wort „Vaterland" als Tarnbezeichnung für „Boss" gebrauchten und den Krieg zum Vorwand nahmen, der Arbeiterschaft ihr wertvollstes Recht zu rauben. Es gab in Ironton eine sozialistische Ortsgruppe, die noch immer aktiv und zielstrebig war, obwohl ihr Büro von der Polizei durchsucht worden war und die meisten Zeitungen und Zeitschriften der Partei von der Beförderung durch die Post ausgeschlossen worden waren. Flugblätter konnte man aber immer gedruckt bekommen, und wenn man den Krieg auch nicht mehr direkt angreifen konnte, so konnte man doch Englands Musterschau der „Demokratie" in Irland verhöhnen, konnte auf die Profite der Profitjäger aufmerksam machen und konnte parallel zur Pflichteinziehung von Männern die Pflichteinziehung von Vermögenswerten verlangen. Manche amerikanischen Sozialisten wurden fast so gewitzt wie jener deutsche Rebell aus den Vorkriegstagen, der in der Absicht, den Kaiser bloßzustellen, eine Lebensgeschichte des römischen Kaisers Agricola schrieb und dessen Eitelkeiten und irrsinnige Extravaganzen darlegte. Im Spätherbst ereignete sich etwas, worüber sich Jimmie Higgins hätte mehr Sorgen machen sollen, als er es wirklich tat. Am Isonzo standen die italienischen Armeen ihren Erbfeinden, den Österreichern, gegenüber; sie waren am Ende eines langen, erschöpfenden und größtenteils erfolglosen
Feldzuges, und die italienischen Sozialisten in der Heimat führten gegen ihre eigene Regierung ganz genau so einen Krieg, wie Jimmie Higgins ihn in Amerika führte. Sie wurden unterstützt von katholischen Intriganten, die die italienische Regierung hassten, weil sie die weltliche Macht des Papstes zerstört hatte; sie wurden unterstützt durch die geschickten, unermüdlichen Bemühungen österreichischer Agenten im Lande, die unter den italienischen Truppen Gerüchte über die freundlichen Absichten der Österreicher und über das unmittelbare Bevorstehen eines Waffenstillstands verbreiteten. Diese Agenten gingen so weit, Exemplare der führenden italienischen Zeitungen zu fälschen mit Meldungen über Hungersnöte und Aufstände in den Heimatstädten und über das Niederschießen von Frauen und Kindern. Diese Zeitungen wurden in italienischen Schützengräben vor einem bestimmten Gebirgsabschnitt verteilt, wo die österreichischen Truppen sich mit den Italienern verbrüdert hatten; danach wurden die österreichichen Truppen in der Nacht abgezogen und durch ausgesuchte deutsche Stoßtruppen ersetzt, die im Morgengrauen angriffen, die italienische Linie durchbrachen, die Armee auf einer Front von hundertsechzig Kilometern zurückwarfen, rund eine viertel Million Gefangene machten und ein paar tausend Geschütze eroberten - praktisch alle, die die Italiener hatten.
Dass Jimmie Higgins diesem erschreckenden Vorfall nicht mehr Aufmerksamkeit beimaß, lag zum Teil daran, dass er davon in den kapitalistischen Zeitungen gelesen hatte und es nicht glaubte; hauptsächlich jedoch daran, dass gerade jetzt sein ganzes Interesse auf Russland gerichtet war, wo das Proletariat soeben daranging, die Macht zu erobern. Nun würde man ja sehen, wie man mit Kriegen Schluss machte und einer aus den Fugen geratenen Welt wieder zum Frieden verhalf!
Die gemäßigte sozialistische Kerenski-Regierung bat die kapitalistischen Herrscher der alliierten Nationen um die Festlegung ihrer Friedensbedingungen, damit die Arbeiter Russlands wüssten, wofür sie kämpften. Die russischen Arbeiter wünschten eine Erklärung, in der von Annexionen, Entschädigungen und Abrüstung keine Rede war; unter solchen Bedingungen würden sie helfen, den Krieg weiterzuführen, trotz Hungersnot und Leid im verzweifelten Russland. Doch die alliierten Staatsmänner wollten eine solche Erklärung nicht abgeben, und die russischen Arbeiter, unterstützt von allen Sozialisten der Welt, erklärten, der Grund dafür sei, dass diese alliierten Staatsmänner einen imperialistischen Krieg führten - sie wollten den Krieg nicht eher beenden, als bis sie den Deutschen große Gebiete abgenommen und eine Entschädigung erpresst hätten, die Deutschland für eine Generation kampfunfähig machen würde. Die russischen Arbeiter weigerten sich rundheraus, für solche Ziele zu kämpfen, und so kam es im November zur zweiten Revolution, dem Aufstand der Bolschewiki.
So ziemlich das erste, was diese taten, nachdem sie die Paläste und Regierungsarchive in Besitz genommen hatten, war, der Welt die Geheimverträge bekanntzugeben, die die Herrscher Englands, Frankreichs und Italiens mit Russland abgeschlossen hatten. Diese Verträge rechtfertigten voll und ganz die Haltung der russischen Revolutionäre - sie zeigten, dass die alliierten Imperialisten die schamloseste Plünderung geplant hatten; England sollte die deutschen Kolonien und Mesopotamien erhalten und Frankreich das deutsche Gebiet bis zum Rhein; Italien sollte die Adriaküste erhalten und sich überdies Palästina und Syrien mit England und Frankreich teilen.
Und hier kam für Jimmie Higgins der entscheidende Punkt - diese enorm wichtigen Enthüllungen, die wichtigsten seit Kriegsbeginn, wurden von den kapitalistischen Zeitungen Amerikas praktisch unterschlagen! Zuerst druckten diese Zeitungen eine kurze Notiz - die Bolschewiki hätten sogenannte Geheimverträge veröffentlicht, aber die Echtheit dieser Dokumente müsse stark bezweifelt werden. Dann brachten sie ausweichende und verlogene Dementis der britischen, französischen und italienischen Diplomaten, und dann hüllten sie sich in Schweigen! Kein Wort las man mehr über die Geheimverträge; abgesehen von ein, zwei amerikanischen Zeitungen mit ehrbarer Tradition, wurde der volle Text dieser Verträge allein in der sozialistischen Presse abgedruckt! „Und nun", sagte Jimmie Higgins zu den Arbeitern in seiner Firma, „was haltet ihr nun von unseren großartigen Verbündeten? Was haltet ihr nun von unseren
Wall-Street-Zeitungen?" Musste ein Arbeiter, dem man solche Tatsachen vorlegte, nicht einsehen, dass Jimmie Higgins einen begründeten Standpunkt und eine sehr wichtige Aufgabe in der Welt hatte, trotz all seiner Unvernunft und Engstirnigkeit?
2
Jimmie war jetzt im siebten Himmel und ging umher wie auf Wolken. Endlich eine proletarische Regierung, die erste in der Geschichte! Eine Regierung von Arbeitern wie er, die ihre eigene Sache führten, ohne die Hilfe von Politikern und Bankiers! Traten vor die Welt und sagten die Wahrheit über Staatsangelegenheiten, in einer Sprache, die auch der kleine Mann verstand! Lösten die Armeen auf und schickten die Arbeiter nach Hause! Jagten die Herren aus den Fabriken und beauftragten Betriebsräte mit der Leitung! Entzogen den korrupten kapitalistischen Zeitungen die Annoncen und machten sie dadurch kaputt! Unser kleiner Freund stürzte allmorgendlich zur Ecke, um die Zeitung zu holen und zu sehen, was als nächstes geschehen war; er lief die Straße hinunter, so aufgeregt, dass er das Frühstücken vergaß.
Jimmie hatte in Ironton eine neue Bekanntschaft gemacht: der kleine Schneider Rabin, der Scholem hieß, was Frieden bedeutet, hatte ihm einen Brief an seinen Bruder mitgegeben, der Deror hieß, was Freiheit bedeutet. Jeden Nachmittag, wenn die Autofirma die Tore schloss, holte sich Jimmie eine Abendzeitung und brachte sie zu Derors Schneiderwerkstatt, und die beiden buchstabierten sich die Nachrichten zusammen. Mein Gott, guck dir das an! Hast du so was schon gehört! Der Verantwortliche im bolschewistischen
Außenministerium war ein marxistischer Jude, der mitgeholfen hatte, den „Nowy Mir" herauszugeben, die revolutionäre Zeitung, aus der Scholem Jimmie vorgelesen hatte! Er war im Waldorf-Astoria-Hotel Kellner gewesen, und nun
veröffentlichte er die Geheimverträge und gab Propagandamanifeste für das internationale Proletariat heraus. Die kapitalistische amerikanische Presse war natürlich voll von Lügen über die neue Revolution; aber Jimmie konnte
recht gut zwischen den Zeilen der kapitalistischen Presse lesen, und die wenigen sozialistischen Zeitungen, die noch existierten und die er im Ortsgruppenbüro las, vermittelten ihm die restlichen Informationen, die er brauchte. Für Jimmie war selbstverständlich alles, was die Bolschewiki taten, richtig; war es etwas Unrechtes, dann war es gelogen. Der kleine Maschinenarbeiter wusste, dass die Bolschewiki die vier Milliarden Dollar Schulden, die die Zarenregierung bei den Bankiers in Frankreich gemacht hatte, nicht anerkannten, und Jimmie wusste auch genau, was für eine Lügenkraft in vier Milliarden Dollar steckte.
Die amerikanischen Zeitungen empörten sich darüber, dass die russischen Sozialisten die Sache der Demokratie verrieten und Deutschland eine Chance gaben, den Krieg zu gewinnen. Die amerikanischen Zeitungen nannten sie deutsche Agenten, aber Jimmie ließ sich von solchem Gerede nicht verdummen. Jimmie war vertraut mit den falschen Beschuldigungen, wie man sie in Amerika gegen die Arbeiter einsetzte. Er sah doch, das erste, was die bolschewistischen Führer taten, war, einen Appell an die revolutionären Arbeiter in Deutschland zu richten. Das russische Proletariat hatte den Weg gezeigt - nun sollte das deutsche Proletariat folgen! Literatur wurde gedruckt und in Massen nach Deutschland geschickt, Flugblätter wurden von Fliegern über den deutschen Truppen abgeworfen, und als Jimmie und Deror lasen, dass die deutschen Generäle gegen solche Praktiken bei den Russen protestiert hatten, lachten sie laut auf vor Freude. Kein Wunder, dass die Kriegsherren zeterten; sie wussten, was da auf sie zukam! Und als Jimmie und Deror im Januar vom Aufstand einer Brigade deutscher Soldaten und von einem Streik mehrerer hunderttausend Arbeiter in ganz Deutschland lasen, glaubten sie, das Ende wäre nahe. Der kleine Schneider erhob sich in der Ortsgruppe Ironton und stellte den Antrag, dass sie sich den Namen „Bolschewik" geben sollte - ein Antrag, der mit donnerndem Beifall angenommen wurde. Und diese amerikanischen Bolschewiki berieten sich daraufhin mit den Arbeitergewerkschaften, schlugen ihnen vor, dass sie „Betriebsräte" bilden und die Übernahme der Industrie nach russischem Muster vorbereiten sollten!
3
Aber plötzlich lief etwas schief mit der neugebauten Revolutionsdampfwalze. Die deutschen Militärchefs griffen sich die Streikführer in der Heimat und warfen sie ins Gefängnis oder schickten sie in die vordersten Schützengräben, um sie niedermetzeln zu lassen. Durch Terror, geschickt vermischt mit Überredung, brachen sie den Streik
und schickten die murrenden Sklaven zurück in die Tretmühle. Und dann begannen die deutschen Armeen in Russland einzumarschieren!
Das war die Krise, auf die Jimmie Higgins seit Kriegsbeginn gehofft hatte. Tolstoi hatte gelehrt, dass, wenn die eine Nation sich zu kämpfen weigere, es für eine andere Nation unmöglich sei, sie zu überfallen, und obwohl Jimmie Higgins weder ein Mystiker noch ein Widerstandsverweigerer aus religiösen Gründen war, stimmte er hierin doch mit dem großen Russen überein. Unmöglich, dass Arbeiter in einer feindlichen Armee dazu gebracht werden konnten, auf ihre Frieden verkündenden Brüder zu schießen! Und hier nun wurde endlich die Theorie ausprobiert; hier nun wurde deutschen Sozialisten befohlen, gegen russische Sozialisten zu marschieren - befohlen, auf die rote Fahne zu feuern! Würden sie tun, was ihre Herrscher, die Kriegsherren, ihnen befahlen? Oder würden sie auf die lauten Appelle des internationalen Proletariats hören und ihre Waffen gegen ihre eigenen Offiziere richten? Die ganze Welt sah, was geschah; sie sah, wie die glorreiche Revolutionsmaschine, in die Jimmie Higgins sein ganzes Vertrauen gesetzt hatte, in einen Graben fuhr und ihre Fahrgäste im Dreck landeten. Die deutschen Armeen marschierten, und die Sozialisten in den deutschen Armeen taten genau das, was die NichtSozialisten taten - sie feuerten auf die rote Fahne, wie sie auf die Fahne des Zaren gefeuert hätten. Sie gehorchten den Befehlen ihrer Offiziere, wie echte, loyale Deutsche; sie trieben die Bolschewiki zurück, zerstreuten sie, nahmen ihre Waffen und ihre Vorräte und zerstörten ihre Städte; sie führten die russischen Frauen und Kinder ab in die Sklaverei, genauso, als ob es sich um belgische oder französische Frauen oder Kinder gehandelt hätte, die von dem deutschen Gott als rechtmäßige Beute der Kultur vorausbestimmt waren. Sie plünderten Riga und Reval, sie fielen über die östlichen Teile Russlands her -über Kurland, Livland, Estland; sie marschierten ins reiche Korngebiet Südrußlands, die Ukraine, ein; sie landeten mit ihren Schiffen in Finnland und besetzten es und beseitigten damit die Freiheiten dieses prächtigen Volkes. Sie standen vor den Toren Petrograds, und die bolschewistische Regierung musste nach Moskau flüchten. Und über all diese Heldentaten berichteten die deutschen sozialistischen Zeitungen mit kaltem Stolz!
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Der arme Jimmie Higgins! Es war wie der Schlag einer mächtigen Faust ins Gesicht; er war buchstäblich betäubt -es dauerte Wochen, ehe er die volle Bedeutung dessen, was geschehen war, den Zusammenbruch aller seiner Hoffnungen, begriff. Und genauso war es mit Irontons bolschewistischer Ortsgruppe; es war kein „Feuer" mehr in den Sitzungen. Ein paar Krakeeler allerdings, Männer, die seit zwanzig, dreißig Jahren Phrasen droschen und von Tatsachen nicht mehr Ahnung hatten als von den Scheinfüßchen einer Amöbe, schrien schon am nächsten Tag wieder nach der Revolution. Doch die Vernünftigen in der Gruppe wussten, dass ihre „Resolution von St. Louis" da drüben in den Schützengräben von Petrograd totgeschossen wurde. Interessant war vor allem Rabins Reaktion. Die Amerikaner glaubten allgemein, dass man einen Juden nicht zum Kämpfen bringen könne; man erzählte sich eine Geschichte von einem, der seinem Sohn zurief, warum er sich von einem anderen Jungen denn knuffen lasse, und der Sohn flüsterte zurück: „Sei still, ich hab ein Fünfcentstück unterm Fuß!" Den ganzen Krieg über waren die jüdischen Sozialisten in Amerika, nächst den Deutschen, die glühendsten Pazifisten gewesen; aber nun war da eine soziale Revolution, die von Juden geführt wurde, war da eine rassische Regierung, die den Juden zum ersten mal in der Geschichte ihre Rechte zusprach! Darum stand der kleine jüdische Schneider vor diesen amerikanischen Bolschewiki auf und erklärte, während ihm die Tränen über die Backen liefen: „Genossen, was werd ich nu noch groß reden; ich werd gehn in diesen Krieg! Ich werd mich stellen bei de polnische Sozialisten, bei de behmische Sozialisten - ich werd kämpfen gegen den Kaiser bis zum Tod! Und ebenso wird kämpfen jeder jüdische Sozialist auf der Welt!" Und das war nicht nur Prahlerei - Genosse Rabin machte danach wirklich seine Schneiderwerkstatt dicht und reiste ab, um in die „Rote Brigade" einzutreten, die gerade von den jüdischen Revolutionären New Yorks aufgestellt wurde! Wären die deutschen Kriegsherren darauf ausgegangen, die amerikanischen Sozialisten lahmzulegen, es ihnen unmöglich zu machen, weiter den Frieden zu fordern, so hätten sie auch nicht anders handeln können. Sie schleppten die hilflosen Bolschewiki zu einer Friedenskonferenz nach Brest-Litowsk und zwangen sie, alle Gebiete, die Deutschland besetzt hatte, abzutreten und obendrein noch eine enorme Entschädigung zu zahlen. Sie wollten die neue russische Regierung mit Gewalt zu einem Vasallen der Mittelmächte machen, der ihnen die übrige Welt versklaven half. Die deutschen Armeen zogen durch die eroberten Gebiete, plünderten sie aus, raubten den Bauern jedes bisschen Essen, schlugen sie, erschossen sie, verbrannten ihre Häuser, wenn sie Widerstand leisteten. Sie gaben der Welt ein solches Schauspiel, was ein deutscher Frieden bedeuten würde, dass überall freie Männer die Zähne zusammenbissen, die Fäuste ballten und schworen, diese Schande mit den Wurzeln aus der Zivilisation auszurotten. Sogar Jimmie Higgins!
5
Jawohl, sogar Jimmie Higgins! Er fasste den Entschluss, so angestrengt zu arbeiten, wie er nur konnte, und so viele Lastwagen zu produzieren, wie er nur konnte. Aber leider ist es nicht möglich, dass ein Mensch, wenn er das ganze Leben lang gehetzt und unterdrückt worden ist und wenn Hass und Aufruhr sich ihm bis in die tiefste Seele gegraben laben, das über Nacht vergisst wegen gewisser intellektueller Ideen, gewisser Meldungen, die er in seiner Zeitung liest. Was mit Jimmie geschah, war, dass sein Herz buchstäblich in zwei Hälften zerrissen wurde; er fand, dass er in jeder Minute seines Lebens zwei einander absolut widersprechende und diametral entgegengesetzte Standpunkte in sich vereinigte. Er schwor den verhassten deutschen Armeen Vernichtung, und dann machte er kehrt und schwor den Leuten in der Heimat Vernichtung, die das Vorhaben organisierten, die deutschen Armeen zu vernichten! Denn diese Leute waren Jimmies lebenslängliche Feinde und konnten ebenso wenig wie er ihre Vorurteile über Nacht vergessen. Zum Beispiel das verlogene Kapitalistenblatt, das Jimmie jeden Morgen lesen musste! Wenn Jimmie in der „Ironton Daily Sun" einen patriotischen Leitartikel gelesen hatte, war es ihm an diesem Tag völlig unmöglich mitzuhelfen, dass der Krieg gewonnen wurde! Oder die Politiker, die das Kriegsgeschrei nach Demokratie im Ausland dazu zu benutzen suchten, alle Spuren von Demokratie im eigenen Lande zu zertrampeln; die die Radikalen, die sie hassten und fürchteten, zu kaufen und die Kosten des Krieges mit Hilfe von Steuern auf lebensnotwendige Artikel und Kriegsanleihen den Armen aufzubürden suchten! Oder die Kapitalisten, die zündende Reden über Patriotismus hielten, sich jedoch weigerten, auf die Herrschaft über ihre Lohnsklaven zu verzichten!
Jimmie Higgins arbeitete in einer Fabrik, die Lastkraftwagen für die Armeen in Frankreich herstellte, und die Fabrikbesitzer wollten ihrer Belegschaft keine Gewerkschaft gestatten, und so kam es zu einem Streik. Die Bosse schlossen eine Übereinkunft, alle wieder einzustellen und eine Gewerkschaft zuzulassen, und machten sich dann hinterhältig daran, die Übereinkunft zu brechen und sich die aktivsten Organisatoren unter diesem oder jenem fadenscheinigen Vorwand vom Halse zu schaffen. Jimmie Higgins, der mit der Geschicklichkeit seiner Hände helfen wollte, die Welt reif zu machen für die Demokratie, wurde von seinem Arbeitsplatz fortgejagt und konnte auf der Straße herumlaufen, weil eine große, profitgierige Firma nichts von Demokratie hielt und sich dagegen sperrte, ihren Arbeitern bei der Festlegung ihrer Arbeitsbedingungen eine Stimme einzuräumen! Die Regierung gab sich Mühe, mit solchen Notfällen wie diesem fertig zu werden und die Epidemie von Streiks zu beenden, die die Rüstungsarbeit überall behinderten; aber die Regierung hatte ihre Maschine noch nicht in Gang, und in der Zwischenzeit bekam Jimmies schwächlicher Keim von Patriotismus einen kräftigen Nachtfrost ab.
Jimmie betrank sich und verschwendete einen Teil seines Geldes für ein Straßenmädchen. Dann schämte er sich, und da ihn immer noch die Erinnerung an seine Frau und seine Kinder quälte, gab er sich einen Ruck und beschloss, das Leben von vorn anzufangen. Er musste wieder an Leesville denken; es war der einzige Ort auf der Welt, wo er wirklich glücklich gewesen war, und es war jetzt, seit Deror Rabin nach dem Osten gegangen war, der einzige Ort, wo er Freunde hatte. Wie ging es wohl den Meissners? Und wie der Genossin Mrs. Gerrity geborene Baskerville? Was dachte die Ortsgruppe Leesville über Russland und über den Krieg? Jimmie fasste den plötzlichen Entschluss, sich davon selbst, zu überzeugen. Er rechnete sich aus, was eine Fahrkarte kostete, und stellte fest, dass er genug Geld dafür hatte und sogar noch etwas übrigbehielt. Er würde die Reise machen - und er würde sie ganz vornehm machen, als Staatsbürger und Arbeitskraft der Rüstungsindustrie, nicht als Landstreicher in einem Viehwagen.
1
Es war ein stürmischer Morgen Anfang März, und es lag noch Schnee, und Flocken wirbelten durch die Luft, als Jimmie Higgins in Leesville aus dem Zug stieg. Vor dem Bahnhof lag ein Platz, auf dem eine Anzahl Leute versammelt waren, und Jimmie schlenderte hinüber, um zu sehen, was dort los sei. Er erblickte eine Gruppe von etwa zwanzig jungen Leuten, einige in Khakiuniform, einige ganz normal in Hose und Pullover, die gedrillt wurden. Jimmie, der in der Laune war, den besseren Herrn zu spielen, blieb stehen und sah zu.
Es war genau das, was seit nahezu drei Jahren sein Denken und Reden beschäftigte; diese ungeheuerliche Perversion der menschlichen Seele, die Militarismus hieß, diese Macht, die die Menschen ergriff und sie in Automaten verwandelte, in Roboter, die als Masse Befehlen gehorchten und dann hingingen und Dinge taten, zu denen jeder einzeln nicht einmal im Traum fähig gewesen wäre. Hier hatte man ein Häuflein netter, durchschnittlicher junger Männer aus Leesville, Angestellte aus den umliegenden Geschäften „Cocktailschwenker" und „Ladenschwengel", Verkäufer, die mit geübter Hand hübschen Damen Schuhe anprobiert hatten. Jetzt unterwarfen sie sich dieser deformierenden Disziplin, unterzogen sie sich dieser infernalischen Verwandlung.
Jimmies Blick wanderte die Reihe entlang: Dort stand ein Straßenbahnschaffner, den er kannte, dort ein Maschinenarbeiter aus den Empirewerken, da war auch ein Sohn von Ashton Chalmers, dem Präsidenten der First National Bank von Leesville. Und plötzlich gab es Jimmie einen Ruck. Unmöglich! Das konnte doch nicht sein! Doch - wirklich! Der junge Emil Forster! Emil der Sozialist, Emil der Deutsche, Emil der Student und Denker, der die heuchlerische Maskierung dieses kapitalistischen Krieges durchschaut und jeden Freitagabend in der Ortsgruppe furchtlos die Wahrheit verkündet hatte - da war er nun, mit seiner ein wenig schwächlichen Gestalt im Khakianzug, einem Gewehr in der Hand und dem Ausdruck grimmiger Entschlossenheit auf dem Gesicht, und machte die Manöver des Zugexerzierens mit: links, zwei, drei, vier, links, zwei, drei, vier - Kolonne links, marsch - eins, zwei, drei, vier - links, zwei, drei, vier - rechts schwenkt, marsch - links, zwei, drei, vier - halb links schwenkt, marsch - und so weiter. Wenn man sich ein Bild von der Szene machen will, muss man sich des rasche Stampfen vieler Füße im Gleichschritt vorstellen -trapp, trapp, trapp, trapp, trapp trapp, muss man sich die Marschierenden vorstellen, mit ihren feierlich starren Gesichtern, und die Befehle, die von einem rotgesichtigen jungen Mann von verwegenem Aussehen herausgedonnert wurden, wobei das Wort „marsch" jedesmal mit einer Wucht ausgestoßen wurde, die einen ins Herz traf. Dieser rotgesichtige junge Mann war die leibhaftige Verkörperung
des militärischen Tyrannen, wie Jimmie ihn sich vorgestellt hatte; er beobachtete das Geschehen mit Adleraugen, schimpfte, fuhr dazwischen, trieb an, ohne die mindeste Rücksichtnahme auf die Gefühle der Sklaven, die er befehligte, oder auf die Anstandsformen des zivilisierten Umgangs.
„Kurz treten, Casey! Achten Sie auf den letzten Mann - der reißt sich ja den Arsch auf, wenn ihr nich auf ihn wartet, Kolonne links, im Gleichschritt, marsch - links, zwei, drei, vier - ja, jetzt geht's - weiter so - schon besser! Ein bisschen mehr Schwung in die Knochen, Chalmers, bitt ich mir aus - wenn ihr so in Berlin einmarschiert, glauben die, es ist das Krampfadergeschwader! Vom rechten Flügel zu vierten aufschließen - marsch - Abstand halten der letzte Mann! Wie oft muss ich euch das noch sagen?" Und so weiter und so fort, stampf, stampf, stampf, stampf - während ein kleiner Junge, der neben Jimmie stand, offenbar ein Schulschwänzer, immer wieder von vorn sang: „Links, links, um die Ecke stinkt's. Da hat der Hauptmann hingeschissen und vergessen wegzuwischen."
2
Wer schon mal dagestanden und beim Sport oder Spiel im Freien zugesehen hat, an einem Märztag, wenn Schnee liegt und ein scharfer Wind bläst, der weiß, wie das ist -man muss mit den Füßen stampfen, um warm zu bleiben, und wenn dann in der nächsten Umgebung zwanzig linke Füße im Gleichschritt auf den Boden donnern und dann zwanzig rechte Füße im Gleichschritt auf den Boden donnern, dann lässt es sich einfach nicht vermeiden, dass man beim Stampfen selber Takt hält mit dem Donnern; außer dem steigt der Rhythmus des Stampfens in einem nach oben und teilt sich dem ganzen Körper mit - die Gedanken halten Takt mit der Marschkolonne - trapp, trapp, trapp, trapp - links, zwei, drei, vier! Die Psychologen lehren, dass, wenn jemand die Handlungen ausführt, die einer bestimmten Gemütsbewegung entsprechen, er bald anfängt, diese Gemütsbewegung zu verspüren, und so war es auch bei Jimmie Higgins. Durch einen derart subtilen Vorgang, dass
er gar nichts davon merkte, wurde Jimmie in einen Militaristen verwandelt! Jimmies Hände ballten sich, Jimmies Kinnbacken erstarrten, Jimmies Füße fassten Tritt, fassten Tritt auf dem Weg nach Berlin, um die preußischen Kriegsherren zu lehren, was es hieß, sich mit den freien Männern einer großen Republik anzulegen!
Doch dann trat etwas ein, was diese aufkeimende Begeisterung in Jimmie verdorren ließ. Der rotgesichtige Bursche platzte in den Marschrhythmus hinein. „Mensch, Pete Casey, kriegen Sie denn den Kurzschritt nicht in Ihren Kopp? Zug halt! Aber, aber, was ist denn los mit Ihnen? Treten Sie aus dem Glied; ich zeig es Ihnen noch mal." Und der arme Casey, ein sanfter kleiner Mann mit Hängeschultern, der noch vor einer Woche im Chalmers Building den Fahrstuhl bedient hatte, übte geduldig auf der Stelle treten, damit die übrigen in der Reihe um ihn als Drehpunkt herumschwenken konnten. Der Minityrann, der ihn angepfiffen hatte, war entschlossen, seinen Willen durchzusetzen, und Jimmie, der es in langen Jahren industrieller Knechtschaft mit vielen solchen Tyrannen zu tun gehabt hatte, freute sich, als dieser spezielle sich in seinen Befehlen verhedderte und seine Kolonne direkt auf den Brunnen mitten auf dem Exerzierplatz zulaufen ließ und einige über die Einfassung marschierten und in das eisbedeckte Brunnenbecken hinunterrutschten. Die Zuschauer brüllten vor Lachen, und die Marschierenden ebenfalls, und der rotgesichtige junge Mann musste gute Miene zum bösen Spiel machen und von seinem hohen Ross herunterkommen.
Der Widerstreit der Impulse in Jimmies Seele ging weiter. Diese marschierenden Männer waren die „Dummköpfe", über die er sich schon seit reichlich zwei Jahren lustig machte. Sie sahen nicht aus wie „Dummköpfe", das musste er zugeben; im Gegenteil, sie sahen aus, als ob sie durchaus in der Lage wären, zu entscheiden, was sie wollten. Und sie hatten entschieden; sie hatten ihre Arbeit mehrere Wochen vor dem Zeitpunkt, da man sie einberufen würde, aufgegeben und sich darangemacht, die Anfangsgründe des militärischen Handwerks zu erlernen, in der Hoffnung, auf diese Weise schneller nach Frankreich zu kommen. Unter ihnen gab es Bankiers und Kaufleute und Immobilienmakler, Seite an Seite mit Cocktailschwenkern und Ladenschwengeln und Fahrstuhlführern - und alle ließen sich herumkommandieren von einem ehemaligen Schmiedegehilfen, der davongelaufen war, um auf den Philippinen zu kämpfen.
Jimmie bekam diese Auskünfte von einem Zuschauer; so wurde ihm klar, dass er hier das vor sich sah, worüber er in den Zeitungen gelesen hatte - die neue Volksarmee, die auszog, die Welt reif zu machen für die Demokratie! Jimmie hatte solche Worte gelesen und sie bloß für Täuschung gehalten, eine Falle für die „Dummköpfe". Doch hier bot sich seinen Augen ein Bild zum Staunen: Ein Sohn von Ashton Chalmers, dem Präsidenten der First National Bank von Leesville, wurde herumkommandiert und „geschliffen" von einem ehemaligen Schmiedegehilfen, der zufällig mit der Lautstärke einer Dampframme brüllen konnte: „Das Gewehr - wumms! Gewehr - wumms! Achtung, präsentiert daaas - wumms!"
Der Zug rückte auseinander zu Bajonettübungen - sie packten die schweren Gewehre und schwenkten sie mit wilder Gewalt bald dahin, bald dorthin. „Gewehr über den Kopf schwingen und zurück, Achtung, Ausführung! - eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht - acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins." Diese Schwünge bei dem raschen Tempo waren kein Spaß; der arme kleine Fahrstuhlführer Casey fiel hoffnungslos zurück; es reichte bei ihm nur bis zu einem halben Schwung, und dann schaffte er es nicht mehr im Rhythmus des Zählens zurück bis zur Grundstellung; er sah umher, grinste verzagt, fand wieder in den Rhythmus und versuchte es von neuem. Die Gesichter der Männer waren starr, der Atem der Männer ging schwerer und schwerer, die Gesichtsfarbe der Männer wurde gefährlich rot.
„Schwingen nach rechts!" schrie der tyrannische Schmied. „Achtung, Ausführung - eins, zwei..." und so weiter. Und dann gellte er: „Nein, Chalmers, nicht mit den Armen stoßen - hochschwenken das Gewehr! Hoch schwenken vom Boden! Ja, so ist's richtig! Zustoßen! Zustoßen! Spießt sie auf!" Jimmie überkam das kalte Grausen. Oben an den Gewehren war nichts weiter als ein kleines schwarzes Loch, aber Jimmie wusste, was dort eigentlich hätte sein sollen -was dort eines Tages sein würde, die Übung bedeutete, dass diese liebenswürdigen jungen Leesviller Verkäufer sich darauf vorbereiteten, eine scharfe, blitzende Klinge in die Eingeweide von Menschen zu rammen! „Stoßt zu! Stoßt zu!" schrie der ehemalige Schmied, und mit äußerster Anstrengung schwenkten sie die schweren Gewehre, warfen sich zur Seite und fielen mit dem einen Fuß aus. Grauenhaft Grauenhaft!
3
Der Mensch ist ein Herdentier, und es ist ein Grundsatz seines Wesens, dass, wenn eine Gruppe seiner Mitmenschen etwas Bestimmtes tut und es mit Energie und Eifer tut, jeder, der nicht mitmacht, der Energie und Eifer nicht teilt, zur Zielscheibe für Spott und Wut wird und sich innerlich unsicher und unglücklich fühlt. Das ist selbst dann der Fall, wenn die Gruppe nichts Lohnenderes tut, als sich zu betrinken. Und in welch stärkerem Maße wird das erst der Fall sein, wenn sie damit beschäftigt ist, die Welt reif zu machen für die Demokratie! Es gibt nur eine Möglichkeit, wie der Mensch sich davor schützen kann: Er muss sich immer wieder vor Augen führen, dass er im Recht ist und dass das eines Tages erkannt werden wird; mit anderen Worten, er muss sich an eine andere Menschengruppe halten, die ihm in einer künftigen Zeit Beifall zollen wird. Ist er dieses künftigen Beifalls sicher, dann kann er es schaffen, sich gegen die Verhöhnungen des Augenblicks zu behaupten. Aber wie nun, wenn er zu zweifeln beginnt - wenn er von dem Gedanken verfolgt wird, dass die Menschen der Zukunft womöglich genauso denken werden wie die der Gegenwart, die im Gleichschritt marschieren und den Hunnen Bajonette in den Leib stoßen lernen!
Einer der Umstände, die in Jimmies Seele diesen zerstörerischen Zweifel weckten, war der Anblick Emil Forsters, wie er Marschieren und Zustoßen übte. Emil war einer seiner Helden gewesen, Emil wusste hundertmal mehr als er - und Emil zog in den Krieg! Die Kolonne marschierte quer über den Platz zum Rathaus und stellte die Gewehre in einem Raum unten im Erdgeschoß ab, und dann kam Emil heraus, und Jimmie ging auf ihn zu. Der junge Teppichdesigner freute sich natürlich, seinen alten Freund wiederzusehen, und lud ihn zum Essen ein. Als sie zusammen die Straße entlang schritten, fragte Jimmie, was das Ganze zu bedeuten hatte, und Emil antwortete: „Es bedeutet, dass ich einen Entschluss gefasst habe." „Du willst gegen die Deutschen kämpfen?" Du wirst das zwar merkwürdig finden, aber ich will gegen sie kämpfen zu ihrem eigenen Besten. Bebel hat in seinen Memoiren geschrieben, dass man in autokratischen Ländern den demokratischen Fortschritt auf dem Weg über eine militärische Niederlage erreicht, und es scheint, dass es Amerikas Aufgabe ist, Deutschland diese Niederlage beizubringen."
„Aber - du hast doch immer genau das Gegenteil gepredigt!"
„Ich weiß; ich komme mir auch manchmal albern genug vor. Aber die Situation ist jetzt eine andere, und es hat keinen Zweck, die Augen vor den Tatsachen zu verschließen." Jimmie wartete.
„In Russland ganz besonders", fuhr Emil fort und beantwortete damit die unausgesprochene Frage. „Was hat es für einen Sinn, den Sozialismus zu erringen, wenn man sich dann einfach langlegt und von einer Militärmaschine überfahren lässt? Man macht sich zum Narren, das ist alles - und das muss man begreifen. Worauf kann denn Russland jetzt noch hoffen?"
„Na, da sind die deutschen Sozialisten!" „Nun, die hatten doch einfach nicht die Macht, das ist alles. Außerdem müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass viele von ihnen keine wirklichen Revolutionäre sind - sie sind Politiker und haben gewagt, sich gegen die Masse zu stellen. Jedenfalls haben sie, was immer auch der Grund dafür sein mag, ihr eigenes Land nicht gerettet, und sie haben Russland nicht gerettet. Sie können wahrhaftig nicht erwarten, dass wir ihnen noch eine dritte Chance geben - das kostet zu viel."
„Aber tun wir dann nicht gerade das", wandte Jimmie ein, „weswegen wir ihnen Vorwürfe machen - Patrioten werden und eine kapitalistische Regierung unterstützen?" „Wenn du eine Regierung unterstützt", erwiderte Emil,
„dann kommt es ganz darauf an, wozu sie deine Unterstützung benutzt. Wir alle kennen die Mängel unserer Regierung, aber wir wissen auch, dass die Amerikaner das ändern können, wenn genügend von ihnen das wollen, und darin liegt nun mal der Unterschied. Mir ist allmählich klargeworden, dass, wenn wir den Kaiser schlagen, die Deutschen ihn davonjagen werden, und dann können wir mit ihnen vernünftig reden."
4
Sie schritten ein Stück schweigend dahin, und Jimmie versuchte diese Gedanken zu verarbeiten. Sie waren neu -nicht in dem Sinn, dass er sie noch nie gehört hatte, aber in dem Sinn, dass er sie noch nie von einem Deutschen gehört hatte. „Wie denkt denn dein Vater darüber?" fragte er schließlich.
„Er hat sich nicht geändert", erwiderte der andere. „Und das macht es ganz schön schwer - wir können gerade noch vermeiden, dass wir uns streiten, mehr nicht. Er ist alt, und neue Ideen sind für ihn nicht mehr so leicht zu verstehen. Und doch sollte man denken, er müsste der erste sein, der es begreift; sein Vater war einer der alten Revolutionäre; er wurde in Dresden eingekerkert. Du weißt wohl nicht viel über die deutsche Geschichte?" „Nein", sagte Jimmie.
„Also, damals versuchten die Deutschen, sich zu befreien, und wurden von den Truppen niedergeworfen, und die echten Revolutionäre wurden ins Exil getrieben. Einige von ihnen kamen hier herüber - wie mein Großvater. Aber wie du siehst, haben ihre Kinder das Unrecht, das ihnen zugefügt wurde, vergessen - sie sehen Deutschland in der Erinnerung so sentimental, wie es in den Geschichten und Liedern dargestellt wird - als eine Art Weihnachtsbaumdeutschland. Sie kennen das Deutschland nicht, das sich seitdem entwickelt hat - das Deutschland der Stahl- und Kohlekönige, das die ganze Grausamkeit des Feudalismus mit der modernen Wissenschaft und Leistungsfähigkeit vereinigt - die Bestie mit dem Gehirn eines Ingenieurs!"
Sie gingen weiter, Emil in Gedanken verloren. „Weißt du", platzte er plötzlich los, „dieser Krieg ist für mich eine Offenbarung - die furchtbarste, die du dir vorstellen kannst. So etwa, als ob du ein Mädchen liebst und zusehen musst, wie sie vor deinen Augen wahnsinnig wird oder sich in ein Monstrum verwandelt. Denn ich habe an das Weihnachtsbaumdeutschland geglaubt; ich habe es geliebt und verteidigt; ich konnte mich einfach nicht überwinden, zu glauben, was ich in den Zeitungen las. Wenn ich jetzt zurückblicke, dann ist mir, als ob es eine Falle war, die die deutschen Kriegsherren für meinen Verstand aufgestellt hatten - als hätten sie ihren Arm bis hier rüber nach Amerika ausgestreckt und mich dazu gebracht, das zu denken, was sie wollten! Vielleicht bin ich jetzt ins andere Extrem verfallen - ich stelle fest, dass ich allem misstraue, was deutsch ist. Vater hat mir das gestern Abend erst vorgeworfen; er sang ein altes deutsches Lied, in dem es heißt: Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder! Und da habe ich ihn daran erinnert, dass die Nation, die uns das lehren will, singend in Belgien einmarschiert ist!"
„Jesus!" rief Jimmie. Er konnte sich denken, wie der alte Hermann Forster diese Bemerkung aufgenommen hatte! Der junge Teppichdesigner lächelte ziemlich traurig. „Er sagt, es kommt davon, dass ich Khaki angezogen habe. Aber die Wahrheit ist, dass ich schon vorher von diesen Gedanken erfüllt war und dass sie dann auf einmal zur Entscheidung gedrängt haben. Meine Einberufung stand bevor, und ich musste mich entscheiden, so oder so. Ich entschloss mich zu kämpfen - und als ich den Entschluss erst einmal gefasst hatte, wollte ich auch sofort dabei sein." Emil machte eine Pause, sah seinen Freund an und fragte: „Und wie steht's mit dir?"
Jimmie war natürlich einer von denen, die sich dem Militärdienst entzogen hatten, einer von den verhassten „Drückebergern". Normalerweise hätte er das Emil erzählt, und die beiden hätten sich eins ins Fäustchen gelacht. Doch jetzt war Emil in Khaki, war Emil ein Patriot; vielleicht war es nicht klug, ihm völlig zu vertrauen! „Sie haben mich noch nicht geholt", sagte Jimmie, und dann: „So sicher wie früher bin ich mir allerdings nicht mehr, aber es geht noch nicht so weit, dass ich Soldat werden will - ich weiß nicht, ob ich das aushalten könnte, mich so herumkommandieren zu lassen, wie das der Kerl mit euch macht."
Emil lachte. „Kannst du dir nicht vorstellen, dass ich üben will?"
„Aber muss er euch denn mit solchen Ausdrücken beschimpfen?"
„Das gehört nun mal dazu - das stört keinen. Er bringt uns in Schwung - und das wollen wir."
Für Jimmie war dieser Gesichtspunkt so neu, dass er nicht wusste, was er antworten sollte.
„Weißt du", fuhr der andere fort, „wenn du wirklich vorhast zu kämpfen, dann bist du auch mit ganzer Seele dabei; es ist ganz merkwürdig, wie deine Gefühle sich wandeln. Du stellst dir vor, du stehst dem Feind gegenüber, und weißt, dass dein Erfolg von der Disziplin abhängt; wenn ein Führer da ist, und besonders, wenn du das Gefühl hast, dass er seine Sache versteht, dann bist du froh, dass er dir was beibringt, damit die ganze Maschine so läuft, wie du es haben willst. Ich weiß, aus meinem Munde klingt das komisch, aber ich habe gelernt, die militärische Disziplin zu lieben." Und Emil lachte, ein nervöses Lachen. „Diese Armee meint es ernst, das darfst du glauben, und leistet gründliche Arbeit. Die kämpfen da drüben in Europa seit dreieinhalb Jahren und schicken ihre besten Leute herüber, um uns was beizubringen, und wir klotzen ran und lernen - ich sage dir, wir schinden uns ab, als ob der Teufel hinter uns her wäre!"
5
Es war so seltsam, dergleichen aus dem Mund Emil Forsters zu hören! Jimmie konnte es kaum fassen - die Welt glitt ihm unter den Füßen fort. Die sozialistische Bewegung wurde auf Abwege geführt - von den Militaristen auf ihre Seite gezogen! Er wagte das nicht recht auszusprechen, deutete aber vorsichtig an: „Hast du keine Angst, dass wir uns an das Kämpfen gewöhnen könnten - an die militärische Disziplin und das alles? Kann doch sein, sie schmieren uns an - die Plutokraten."
„Ich weiß", sagte der andere. „Daran habe ich auch schon gedacht, und ich glaube auch, dass sie es versuchen werden - nur zu diesem Zweck wollen sie überhaupt die Ausbildung für alle. Dagegen müssen wir uns wehren, das ist alles; dagegen müssen wir uns sofort wehren - um klarzustellen, warum wir in diesen Krieg ziehen. Wir müssen es den Leuten erklären - dass dies ein Krieg ist, der der ganzen Welt die Demokratie bringen soll. Wenn wir das den Leuten einhämmern können, haben die Imperialisten keine Chance mehr."
„Wenn ihr das schaffen könnt, dann natürlich . . .", begann Jimmie zögernd.
„Aber wir sind doch schon dabei!" rief Emil. „Wir tun es doch tagtäglich. Nimm doch nur zum Beispiel diesen Streik hier in Leesville." „Welchen Streik?"
„Ja, weißt du denn nicht, dass sie in den Empire Shops wieder die Arbeit niedergelegt hatten?" „Nein, keine Ahnung."
„Die Leute sind in den Ausstand getreten, und die Regierung hat eine Schlichtungskommission geschickt und beide Seiten dazu gezwungen, einen Schiedsspruch zu akzeptieren. Sie haben den alten Granitch fertiggemacht - er musste die Gewerkschaft anerkennen und den Achtstundentag als Grundlage bewilligen."
„Mein Gott!" rief Jimmie. Dafür war er in den Empirewerken eingetreten und von dem jungen Lacey Granitch verflucht worden; dafür hatte er sich ins Gefängnis stecken und von den Läusen auffressen lassen! Und nun hatte die Regierung den Arbeitern geholfen, ihre Forderungen durchzusetzen! Es war das erste Mal - buchstäblich das allererste Mal in Jimmies ganzem Leben -, dass er sich veranlasst fühlte, sich die Regierung einmal nicht als Feind und Sklaventreiber vorzustellen. „Wie hat es Granitch denn geschluckt?" fragte er. „Ach, mühsam! Er hat gedroht, sich zurückzuziehen und die Regierung seinen Betrieb führen zu lassen; als er dann aber feststellen musste, dass die Regierung durchaus dazu bereit war, gab er den Bluff auf. Und sieh mal - hier ist noch etwas!" Emil fasste in die Innentasche seines Mantels und zog einen Zeitungsausschnitt heraus. „Ashton Chalmers hat neulich bei einem Bankett anlässlich einer Bankierstagung eine Rede gehalten. Lies mal!" Jimmie las im Gehen die Zeilen, die Emil mit Bleistift unterstrichen hatte. „Ob wir wollen oder nicht, wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die alte Ordnung tot ist Wir gehen einer neuen Zeit entgegen, in der die Arbeiter zu ihrem Recht kommen werden. Wenn wir nicht als hoffnungslos Gestrige zurückbleiben wollen, dann müssen wir uns ranhalten und unser Teil dazu beitragen, diese neue Zeit einzuführen, die andernfalls mit Blutvergießen und Zerstörung kommen wird." „Ist denn das die Möglichkeit!" sagte Jimmie. „Leesville hat es fast umgehaun", sagte Emil. „Du hättest die Zeitungen sehen sollen, die die Rede abgedruckt haben! Als ob Gott im Himmel verrückt geworden wäre, und die Pfaffen in den Kirchen müssten es bekanntgeben!" Den kleinen Maschinenarbeiter durchfuhr plötzlich ein Gedanke. Er packte seinen Freund beim Arm. „Emil!" rief er. „Erinnerst du dich an das eine Mal, wo Ashton Chalmers und der alte Granitch zu unserer Versammlung in die Oper gekommen sind?" „Aber klar!" sagte Emil. „Vielleicht war das der Anstoß!" „Nichts wahrscheinlicher als das." „Und ich war's, der ihm die Eintrittskarten verkauft hat!" Jimmie bebte vor Begeisterung bis in die Zehenspitzen. Solcherart ist die Belohnung, die hin und wieder dem Herzen eines Propagandisten zuteil wird; er kämpft, von Hohn und Verzweiflung umgeben - und dann zeigt sich plötzlich, wie ein Lichtstrahl, der Beweis, dass er irgendwo, irgendwie eine andere Seele erreicht hat, dass er einen wirklichen Eindruck gemacht hat. Ashton Chalmers hatte den sozialistischen Redner gehört und war gegangen und hatte gelesen und sich informiert; er hatte die Macht dieser großen Weltbewegung für ökonomische Gerechtigkeit erkannt, er hatte die Fesseln und Schranken seiner Klasse durchbrochen und die Wahrheit verkündet über das, was er kommen sah. Als Jimmie die wunderbaren Worte las, die der Bankpräsident gesprochen hatte, war er dem Impuls, gegen Deutschland zu kämpfen, näher als je zuvor in seinem Leben!
1
Natürlich waren nicht alle Sozialisten Leesvilles vom „Militärbazillus" befallen wie Emil Forster. Am späten Nachmittag traf Jimmie den Genossen Schneider, der auf dem Heimweg von seiner Arbeit in der Brauerei war, und Schneider war immer noch der alte - immer noch das frische Germanengesicht, immer noch die kräftige Germanenstimme, immer noch der empörte Germanenstandpunkt. Jimmie brauchte nur den Namen Emil zu erwähnen, und Schneider ging hoch. Das war ja vielleicht ein Sozialist! Konnte nicht mal warten, bis der Rekrutenausbilder zu ihm kam, nein, er musste ihm nachlaufen, musste hingehen und sich in aller Öffentlichkeit auf dem Platz schleifen lassen, wo alle Faulenzer in der Stadt zusehen konnten, wie er sich zum Affen machte!
Nein, sagte Schneider und fluchte gehörig, er selber sei keinen Zollbreit von seinem Standpunkt abgewichen; ihn konnten sie einbuchten, wenn sie es nun mal nicht anders haben wollten, ihn konnten sie vor einem Erschießungskommando aufbauen, den Militarismus würden sie nicht in ihn hineinkriegen. Direkt befragt, gestand der dicke Brauer, dass er sich gemeldet hatte; aber einziehen lassen würde er sich nicht, nie im Leben! Jimmie deutete an, der Grund dafür könnten vielleicht seine Frau und seine sechs Kinder sein, doch der andere war zu sehr in seine Schimpfkanonade vertieft, als dass er Jimmies Grinsen bemerkt hätte. Er polterte weiter, mit so durchdringendem Organ, dass es mehrmals Leute auf der Straße mit anhörten und ihm unmutige Blicke zuwarfen. Jimmie, der weniger in Märtyrerstimmung war, trennte sich von ihm und ging die Meissners besuchen.
Der kleine Flaschenabpacker wohnte noch am alten Ort. Er hatte den Oberstock seines Hauses an eine polnische Familie vermietet, die ihm seine ständig steigenden Unkosten bestreiten half. Er begrüßte Jimmie mit ausgebreiteten Armen - klopfte ihm vor Begeisterung auf den Rücken und machte eigens für ihn eine Flasche Bier auf. Er stellte hundert Fragen nach Jimmies Erlebnissen und erzählte seinerseits, was es in Leesville gegeben hatte. Die Ortsgruppe als Ganzes war fest geblieben in ihrer Haltung zum Krieg und machte immer noch Propaganda gegen ihn, obwohl sie heftig angefeindet wurde. Die Arbeiter waren so mit „patriotischem Schmus" vollgepumpt, dass man sie kaum noch dazu bringen konnte, einem zuzuhören; was die Radikalen anging, so waren sie Gezeichnete - ihre Post wurde abgefangen, ihre Versammlungen von fast ebenso vielen Geheimpolizisten wie Zuhörern besucht. Mehrere waren eingezogen worden - was Meissner als bewusste Verschwörung seitens der Musterungskommission ansah. Wen hatten sie geholt? fragte Jimmie. Der andere antwortete: Genossen Claudel, den Juwelier - der wollte natürlich gehen, und Genossen Koeln, den Glasbläser - der war zwar Deutscher, aber naturalisiert, darum hatten sie ihn trotz seiner Proteste geholt, und Genossen Stankewitz ... „Stankewitz!" rief Jimmie bestürzt. „Ja, der ist schon weg." „Wollte er denn?"
„Sie haben ihn nicht gefragt, ob er wollte. Sie haben ihm einfach gesagt, er müsste sich stellen." Irgendwie rückte das den Krieg Jimmie mehr ins Bewusstsein als alles andere, was bisher passiert war. Der kleine rumänische Jude hatte ihm fast alles, was er über diesen Weltkrieg wusste, beigebracht; über den Ladentisch des Zigarrengeschäfts hatte Jimmie die ersten Geographiestunden seines Lebens erhalten. Er hatte gelernt, dass Russland das gelbe Land war und Deutschland das grüne und Belgien das blassblaue und Frankreich das hellrosa; er hatte gesehen, wie die Bahnlinien vom grünen zum rosa durch das blassblaue liefen und wie die großen Festungen in dem blassblauen alle gegen das grüne gekehrt waren - etwas, was Meissner und Schneider und der Rest des grünen Volkes als Schmach und Schande ansahen, als Schuldbekenntnis seitens des blassblauen Volkes. Das verhutzelte, eifrige kleine Gesicht des Genossen Stankewitz stieg vor Jimmie auf; er hörte die schrille Stimme, die die Streitereien in der Ortsgruppe zu schlichten versuchte. „Genossen, das bringt uns doch nicht weiter! Es gibt doch nur eine Frage, die wer
müssen beantworten: Sind wer nu Internationalisten, oder sind wer keine?"
„Mein Gott!" rief Jimmie. „Ist denn das zu fassen?" Er war an dem Punkt angelangt, wo er bereit war, zuzugeben, dass der Kaiser möglicherweise Prügel beziehen musste und dass es vielleicht auch in Ordnung war, wenn Männer, die so dachten wie Emil Forster, auszogen und ihn verdroschen. Aber einen Mann zu holen, der den Krieg von ganzem Herzen hasste, ihn wegzuschleppen aus seinem kleinen Geschäft, das er mit so viel Mühe aufgebaut hatte, und ihn zu zwingen, eine Uniform anzuziehen und den Befehlen anderer Männer zu gehorchen - nun, wenn man so etwas sah, dann verstand man, was Kriegsgräuel waren!
2
Genosse Meissner fuhr fort. Schlimmer noch - sie hatten auch den Genossen Gerrity geholt. Jimmie starrte ihn an. „Aber der ist doch verheiratet!"
„Weiß ich", erklärte Meissner, „aber das allein reicht nicht. Man muss eine Frau haben, die von einem abhängig ist. Und die Gerritys haben das nicht gewusst - Genossin Evelyn hat ihre Stellung als Stenographin behalten, und irgendjemand muss die beiden verpfiffen haben, denn die Kommission hat ihn hoppgenommen und seine Zurückstellung gestrichen. Natürlich nur, weil er in der Ortsgruppe Organisator war; sie tun, was sie können, um uns kaputtzumachen." Und was hat Gerrity gemacht?"
„Er hat sich geweigert zu dienen, und da haben sie ein Kommando geschickt, das ihn fortgeschleppt hat. Sie haben ihn nach Camp Sheridan gebracht und versucht, ihn in eine Uniform zu stecken, und er hat sich geweigert - er wolle nicht arbeiten, er wolle mit dem Krieg überhaupt nichts zu tun haben. Da haben sie ihm den Prozess gemacht und ihn zu fünfundzwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt; sie haben ihn in Einzelhaft gesteckt, und er kriegt nur Wasser und Brot - und zeitweise ketten sie ihn mit den Handgelenken an..."
„Oh! Oh!" ächzte Jimmie.
„Die Genossin Evelyn hat darüber fast den Verstand verloren. Sie ist zusammengebrochen und hat geweint in der Ortsgruppe, und sie ist zu den Kirchen gerannt - sie haben da Frauennähzirkel, musst du wissen, und machen Sachen für das Rote Kreuz, und sie und Genossin Mary Allen stehen dann auf und halten Reden und machen die Frauen verrückt. Einmal haben sie sie verhaftet, aber sie haben sie wieder laufenlassen - sie wollten nicht, dass es in die Zeitungen kommt."
Genosse Meissner hatte nicht voraussehen können, wie diese spezielle Neuigkeit Jimmie treffen würde; Meissner wusste nichts von dem merkwürdigen Abenteuer seines Freundes, von der Liebeserschütterung, die seine Seele aufgewühlt hatte. Vor Jimmies innerem Auge stieg das reizende Gesicht mit den kecken kleinen Grübchen und der Gloriole aus lockerem braunem Haar auf; den Gedanken, dass Genossin Evelyn Baskerville in Not war, konnte er einfach nicht ertragen. „Wo ist sie?" rief er. Er sah sich schon davon stürzen, um sogleich die Agitation aufzunehmen, sah sich schon die kirchlichen Nähzirkel überfallen und dem Zorn der Patriotinnen Trotz bieten; sah sich schon zusammen mit Genossin Evelyn ins Gefängnis gehen oder vielleicht auch - wer konnte das wissen? - zart und verehrungsvoll ein Paar brüderliche, tröstende Arme um sie schlingen.
Jimmie hatte das Temperament des Träumers, des Idealisten, dem es genügt, sich eine Sache zu wünschen, um sie sogleich Wirklichkeit werden zu sehen. Seine Phantasie, von dem Bild der reizenden Stenographin beflügelt, stürmte im wildesten aller Flüge davon. Zum ersten mal wurde ihm bewusst, dass er ein freier Mann war; was indessen Genossin Evelyn betraf - wie, wenn ihr das Schlimmste noch bevorstand, wie, wenn Genosse Gerrity bei der Kost von Wasser und Brot nun dahinsiechte oder in die Schützengräben geschleppt und getötet wurde - dann würde die trauernde Witwe jemand brauchen, der sie aufrichtete, der seine brüderlichen, tröstenden Arme um sie legte ... „Wo ist sie?" fragte Jimmie noch einmal, und Genosse Meissner verscheuchte seinen Traum durch die Erwiderung, dass sie abgereist sei, um in New York für eine Organisation zu arbeiten, die für die humane Behandlung von „Kriegsdienstverweigerern" agitierte. Meissner kramte die
Flugschrift dieser Organisation hervor; darin wurden die grässlichsten Geschichten über die Misshandlung solcher Opfer der Kriegswut berichtet; man hatte sie geschlagen, gefoltert und hungern lassen, hatte sie der Verhöhnung und Demütigung ausgesetzt, in vielen Fällen vor das Kriegsgericht geschleppt und sie zu zwanzig, dreißig Jahren Zuchthaus verurteilt. Jimmie saß die halbe Nacht auf und las diese Geschichten - mit dem Ergebnis, dass wieder einmal das schwache Pflänzchen des Patriotismus in seiner Seele zermalmt wurde!
3
Jimmie ging zu der nächsten Ortsgruppenversammlung. Das war eine bescheidene Angelegenheit jetzt, denn einige Mitglieder waren im Gefängnis, einige in den Ausbildungslagern, einige trauten sich nicht zu kommen, aus Angst, ihre Arbeitsplätze zu verlieren, und einige ließen sich durch fortgesetzte Schikanen abschrecken. Doch die alten Kämpen waren da - Genosse Schneider und der sanfte alte Hermann Forster und Genossin Mabel Smith, die von der Misshandlung ihres Bruder im Countygefängnis berichtete, und Genossin Mary Allen, die Quäkerin. Die letztere betrachtete es noch immer als eine persönliche Beleidigung, dass Amerika trotz all ihrer Anklagen und Proteste an dem blutigen Massaker teilnehmen wollte; sie war sogar noch blasser und magerer geworden, seit Jimmie sie das letzte Mal gesehen hatte - ihre Hände zitterten, und ihre dünnen Lippen bebten beim Sprechen - man sah, dass sie vor Erregung über die ungeheure Schändlichkeit der Weltereignisse förmlich verbrannte. Sie las den Ortsgruppenmitgliedern die bewegende Geschichte von einem Jungen vor, der sich in New York als Kriegsdienstverweigerer hatte registrieren lassen und in ein Ausbildungslager gebracht und solchen Demütigungen ausgesetzt worden war, dass er sich erschossen hatte. Genossin Mary hatte keine eigenen Kinder; darum hatte sie diese Kriegsdienstverweigerer als Kinder angenommen, und beim Vorlesen ihrer Schicksale blutete ihr das Herz vor Kummer und Zorn. Jimmie ging zu den Empire Shops zurück und bewarb sich um Arbeit. Sie brauchten Tausende von Männern, so stand es im „Herald" - aber sie brauchten keinen einzigen, der so war wie Jimmie! Der Mann, bei dem er sich bewarb, erkannte ihn sofort und sagte: „Nichts zu machen!" Aus purer Bosheit ging Jimmie zum Büro der neugegründeten Gewerkschaft und verlangte, sie sollten den alten Abel Granitch zwingen, ihm Arbeit zu geben, entsprechend der Vereinbarung, die mit der Regierung getroffen worden sei. Aber der Gewerkschaftssekretär entschied, nachdem er sich die Sache überlegt hatte, dass die Bestimmung gegen das Führen schwarzer Listen sich nur auf Männer anwenden ließe, die auf Grund des letzten Streiks arbeitslos geworden seien, nicht auf die Streikenden früherer Jahre. „Es wäre sinnlos, sich absichtlich Ärger auf den Hals zu ziehen", sagte dieser Sekretär. Jimmie ging, spottete über die Gewerkschaft und fluchte so herzhaft auf den Krieg wie eh und je.
Es eilte ihm nicht damit, Arbeit zu bekommen, denn er hatte noch Geld in der Tasche und konnte bei den Meissners billig wohnen. Er ging wieder hin und sah zu, wie der junge Forster exerzierte, und ging dann mit ihm nach Hause und war dabei, als es zu einem Streit mit dem alten Forster kam. Es war zu merken, wie sehr diese Familie sich entzweit hatte; der Alte hatte seinen abtrünnigen Sohn mehrfach aus dem Haus gewiesen, doch die Mutter hatte sich für ihn ins Mittel gelegt und bittend vorgebracht, dass der Junge ja in wenigen Tagen hinausmusste und vielleicht nie mehr zurückkehren würde. An dem Abend, an dem Jimmie bei ihnen war, stand in der Zeitung eine Rede des Präsidenten, in der er seine Kriegsziele umriss: die Bedingungen für einen gerechten Frieden für alle Völker, für einen Völkerbund und für allgemeine Abrüstung. Emil las das triumphierend vor, weil er darin die Rechtfertigung dafür fand, dass er den Krieg unterstützte. War das nicht zu einem großen Teil das, was die Sozialisten wollten? Widerstrebend antwortete Hermann Forster, dass es mit den Worten schon seine Richtigkeit hatte, wie aber stand es mit den Taten? Und außerdem, wie war das mit den anderen Alliierten - glaubte der Präsident, dass er sie kommandieren konnte? Nein - für die Imperialisten Englands, Frankreichs und Italiens waren diese schönen Worte nur Köder für
Leichtgläubige; sie würden ihnen dazu dienen, die Arbeiter ruhig zu halten, bis der Krieg gewonnen war, und dann würden die Militaristen dem amerikanischen Präsidenten einen Fußtritt verpassen und dem Kadaver Deutschlands die Knochen abnagen. Wenn sie sich wirklich an die Bedingungen des Präsidenten halten wollten, warum kamen sie dann nicht offen und ehrlich damit heraus und sagten das? Warum kündigten sie dann nicht die Geheimverträge? Warum begann England seine Karriere in Demokratie nicht damit, dass es Irland und Indien die Freiheit schenkte? So ging es weiter, und Jimmie hörte beiden Sprechern zu und gab ihnen abwechselnd recht und spürte mehr und mehr jenen qualvollen Zustand geistiger Verwirrung, in dem er sich zwischen zwei absolut widersprüchlichen und einander diametral entgegengesetzten Standpunkten befand.
4
Den ganzen Winter waren die Zeitungen voller Gerede über eine mächtige Offensive der Deutschen gewesen, die im Frühjahr stattfinden sollte. Dem deutschen Volk wurde alles darüber mitgeteilt, auch dass sie den Krieg mit einem glorreichen Sieg beenden sollte. In Amerika glaubte niemand so recht daran; die Tatsache allein, dass der Angriff so dreist angekündigt wurde, schien Grund genug, anderswo Obacht zu geben. Vielleicht bereitete sich der Feind darauf vor, Italien zu überwältigen, und wollte Frankreich und England davon abhalten, Truppen an die geschwächte italienische Front zu schicken! Aber dann plötzlich, in der dritten Märzwoche, stürmten die Deutschen mit aller Macht gegen die britische Front vor Cambrai; Armee für Armee drangen sie vor, überwältigten die Abwehr und brachen durch. Die britischen Streitkräfte zogen sich zurück - jede Stunde konnte ihr Rückzug in wilde Flucht ausarten. Tagtäglich sah sich Jimmie, wenn die Depeschen eintrafen, die Karte vor dem Büro des „Herald" an und bemerkte, wie sich eine große Lücke in der britischen Front auftat, eine Speerspitze, die mitten ins Herz Frankreichs zeigte. Drei Tage, vier Tage, fünf Tage ging
dieses entsetzliche Aufreißen der Front weiter, und die ganze Welt hielt den Atem an. Sogar Jimmie Higgins war von den Nachrichten erschüttert - er war um diese Zeit bereits weit genug in den Krieg eingedrungen, um zu erkennen, was ein deutscher Sieg bedeuten würde. Es gehörte schon ein sehr kräftiger Pazifistenmagen dazu, wenn man einen solchen Ausgang der Dinge guten Mutes schlucken wollte.
Genossin Mary Allen hatte einen solchen Magen; für ihren religiösen Eifer lag nicht der mindeste Unterschied darin, welche Räuberbande die Welt regierte. Auch Genosse Schneider hatte einen solchen Magen; er wusste, dass Deutschland der Geburtsort und die Wiege des Sozialismus war, und glaubte, das Beste, was der Welt widerfahren könne, sei, dass sie von den Deutschen erobert würde, damit die deutschen Sozialisten sie nach und nach in ein genossenschaftliches Gemeinwesen umwandeln könnten. Genosse Schneider frohlockte nun offen über diesen neuen Beweis deutscher Übermenschlichkeit, der Unbesiegbarkeit deutscher Zucht. Doch die meisten anderen Mitglieder der Ortsgruppe fürchteten sich vor dieser Macht - sie erkannten wider Willen, wie ernst die Gefahr war, die der Zivilisation drohte.
Jimmie las die Nachrichtendepeschen am Schwarzen Brett, ging hinüber, um beim Exerzieren zuzusehen, und anschließend mit Emil Forster zu „Toms Imbissstube". Er hatte schon immer viel übrig gehabt für Emil, und der junge Designer, unglücklich über den Hader zu Hause, war jetzt froh, jemand zu haben, dem er sein Herz ausschütten konnte. Er half Jimmie zu verstehen, was die britische Niederlage bedeutete, die enormen Verluste an Geschützen und Nachschub, die Last, die dadurch Amerika aufgebürdet werden würde. Denn Amerika würde diese Verluste ersetzen müssen. Amerika würde die Deutschen aus jedem Fußbreit dieses neueroberten Gebiets wieder hinaustreiben müssen.
Jimmie hörte zu und studierte die Sache gründlich auf der Landkarte, und so lernte er allmählich, sich für eine neue Wissenschaft zu interessieren, die der militärischen Strategie. Bist du erst einmal dem Zauber dieses Spiels erlegen, so ist deine Seele auch schon verloren. Du denkst an Männer nicht länger als an menschliche Wesen, die leiden, hungern, bluten, in Qualen sterben; du denkst an sie als an Schachfiguren; du verfügst über sie wie ein Spieler über seine Chips, ein Kaufmann über seine Waren; du teilst sie ein in Brigaden, Divisionen und Korps, rückst sie hierhin und dorthin, rechnest deine Verluste gegen die Verluste des Feindes auf, setzt in kritischen Augenblicken deine Reserve ein, zahlst diesen Preis für jenes Angriffsziel, rottest Tausende und aber Tausende aus mit einer Handbewegung, einem Federstrich, einem Druck auf den elektrischen Knopf! Hast du erst einmal gelernt, das Leben von diesem Standpunkt zu betrachten, bist du kein menschliches Herz mehr, an das Pazifisten und Menschenfreunde appellieren können; du bist eine Maschine, die Verderben ausmahlt, du bist ein reifer Apfel, bereit, dem Kriegsgott in den Schoß zu fallen, du bist ein Herbstblatt, bereit, von den Stürmen des Patriotismus erfasst und in Vernichtung und Tod geblasen zu werden.
1
Eines Abends kam Jimmie nach Hause zu den Meißners und erfuhr dort eine Neuigkeit, über die er sich sehr freute. Genosse Stankewitz war aus dem Camp Sheridan zurückgekommen! Da der Mann, dem er seinen Tabakladen verkauft hatte, seinen Verbindlichkeiten nicht nachgekommen war, hatte Stankewitz drei Tage Urlaub erhalten, um seine geschäftlichen Angelegenheiten zu regeln. „Donnerwetter, der sieht gut aus!" rief Meissner, und so eilte Jimmie nach dem Abendessen zu dem kleinen Laden an der Ecke.
Nach nie hatte Jimmie derart über das veränderte Aussehen eines Menschen gestaunt; er erkannte seinen rumänisch-jüdischen Freund buchstäblich nicht wieder. Die Runzeln, die ihn alt gemacht hatten, waren ausgefüllt; seine Schultern waren gestrafft - er schien ein paar Zentimeter gewachsen; er war braungebrannt, seine Backen hatten Farbe - er war einfach ein neuer Mann! Jimmie und er hatten sich in den alten Tagen öfter ein bisschen herumgebalgt, wie es junge Männer zu tun pflegen, hatten die Fäuste hochgenommen und sich gegenseitig ein paar Hiebe verpasst und so getan, als ob sie einander die Nasen zerschmettern wollten. Sie hatten sich die Hand gegeben und zugedrückt, um zu sehen, wer es am längsten aushalten könne. Doch als sie es jetzt wieder versuchten, war das nichts im Vergleich zu damals - Jimmie bekam einen Händedruck und brüllte: „Aufhören!"
„Was glaubste woll?" rief Stankewitz. „Ich wieg schon zwanzig Pfund mehr - zwanzig Pfund! Verdammt geschunden werd man in de Armee ja, aber zu essen kriegt man gut. Solch guten Fraß hast du noch nie nicht gehabt, wo du auch hast gearbeitet."
„Dir gefällt es?" fragte Jimmie verwundert. „Und ob es mir gefällt, darauf kannste Gift nehmen! Ich lern eine Menge, was ich noch nicht wusste. Ich weiß Bescheid jetzt über diesen Krieg - das kannste glauben." „Du bist für den Krieg?"
„Und ob ich dafür bin, darauf kannste Gift nehmen!" Genosse Stankewitz donnerte beim Sprechen mit seiner Faust erregt auf den Ladentisch. „Wer missen gewinnen den Krieg, verstehste? Wer missen schlagen die Junker! Das hätt ich mer gesagt, auch wenn ich nicht gegangen wär in de Armee - das hätt ich mer gesagt, wo ich gesehn hob, was se machen mit Russland." „Aber die Revolution ..."
„Die Revolution kann warten - kann sein ein Jahr, kann sein zwei Jahr. Was haben wer schon von de Revolution, wenn die Junker drüber wegtrampeln! No, Sir - ich will de Daitschen raus haben aus Rumänien, raus aus Russland und raus aus Polen - und ich sag der, in dieser amerikanischen Armee sind eine Menge rumänische Sozialisten, eine Menge polnische Sozialisten, und werd dem Kaiser noch leid tun, wenn er se trefft in Frankreich, das kannste glauben!"
So bekam Jimmie eine zweite Spritze Patriotismus verpasst, diesmal eine starke Dosis; denn Stankewitz war Feuer und
Flamme für seine neue Überzeugung und genauso voll Propagandadrang wie zu der Zeit, als er sich „Antinationalist" genannt hatte. Er konnte es nicht zulassen, dass man anderer Meinung war als er - ging schon hoch bei der bloßen Erwähnung jener dogmatischen Ortsgruppenmitglieder, die noch immer gegen den Krieg waren. Das waren Dummköpfe - oder sie waren Deutsche, und Genosse Stankewitz war genauso bereit, in Leesville gegen die Deutschen zu kämpfen wie in Frankreich. Er regte sich beim Diskutieren so auf, dass er beinahe die Zigarren und die Schaukästen vergaß, die er in zwei Tagen losschlagen musste. Jimmie fand diese Verwandlung äußerst erstaunlich - nicht nur die neue Uniform und die neuen Muskeln seines rumänisch-jüdischen Freundes, sondern auch seine Unbeirrbarkeit in bezug auf den Krieg und seine Loyalität gegenüber dem Präsidenten wegen dessen mutiger Tat, Amerikas guten Ruf dafür zu verpfänden, dass den gehetzten und gequälten unterworfenen Völkerschaften Osteuropas die Freiheit und eine friedliche Zukunft verschafft wurden.
2
Jimmie besorgte sich einen Bogen Briefpapier, borgte sich von Mrs. Meissner eine kratzende Feder und ein Fläschchen Tinte und schrieb mit großer Mühe und mangelhafter Orthographie einen Brief an Genossin Evelyn Gerrity geborene Baskerville, in dem er seine Sympathie und unverbrüchliche Freundschaft versicherte. Er sagte ihr nicht, dass er in Sachen Krieg schwankend zu werden begann, und es war ja tatsächlich auch so, dass er zu schwanken aufhörte, wenn er sich Jack Gerrity vorstellte, wie er an die Gitterstäbe eines Zellenfensters gekettet war - dann wünschte er sich die soziale Revolution auf der Stelle. Aber als er dann losging, um den Brief auf dem Postamt einzuwerfen, damit er schneller ankäme, kaufte er sich eine Zeitung und las, was in Frankreich vorging. Und wieder führte ihn der Kriegseifer in Versuchung.
In verzweifeltem, verbissenem Kampf war es den Briten gelungen, den gewaltigen deutschen Ansturm ein paar Tage lang aufzuhalten. Aber Hilfe tat not - sofortige Hilfe, wenn
die Zivilisation gerettet werden sollte. Der Ruf drang über das Meer - Amerika musste Hilfe schicken - Geschütze, Granaten, Lebensmittel und vor allen Dingen Menschen. Jimmies Blut wallte auf; er verspürte den Drang, dem Ruf Folge zu leisten und diesen verzweifelten Männern zu Hilfe zu eilen, die da in Granattrichtern hockten und seit einer ganzen Woche ohne Ruhepause Tag und Nacht kämpften. Hätte Jimmie nur sofort zu ihnen eilen können! Hätte er nur nicht erst in ein Ausbildungslager gehen und sich einem militärischen Leuteschinder unterordnen müssen! Wären nur nicht die Kriegsgewinnler, die korrupten Politiker und die verlogenen, räuberischen Zeitungen und all die anderen Feinde der Demokratie im Heimatland gewesen! Jimmie warf seinen Brief in den Schlitz und wollte das Postamt gerade wieder verlassen, als ihm ein Plakat an der Wand ins Auge fiel - ein großes Plakat mit fetten schwarzen Buchstaben: DEINE HEIMAT BRAUCHT DICH! Jimmie glaubte, es wäre wieder so eine „Freiheitsobligations"-Sache; sie waren deswegen schon ein paarmal hinter ihm her gewesen und hatten ihm sein wohlverdientes Geld aus der Tasche ziehen wollen, aber selbstredend hatten sie das nicht geschafft. Immerhin - er blieb aus Neugierde stehen und las, dass Männer für Frankreich gebraucht wurden
- alle möglichen Facharbeiter. Es war eine lange Liste von Berufen aufgeführt, alles, was man sich denken konnte -Zimmerleute, Klempner, Elektriker, Forstarbeiter, Schauerleute, Eisenbahner, Wäschereiarbeiter, Köche, Lagerarbeiter - es ging ein paar Spalten lang so weiter. Jimmie kam zu „Maschinenarbeiter" und fuhr schuldbewusst zusammen. Dann kam er zu „Motorradfahrer" und „Motorradschlosser"
- und ballte plötzlich die Hände zur Faust. Blitzartig kam ihm eine verrückte Idee, die ihn so erregte, dass er kaum weiterlesen konnte. Warum sollte er nicht nach Frankreich gehen - er, Jimmie Higgins! Er war ein Mann ohne Bindungen auf der Welt - frei wie die Winde, die über den Ozean bliesen! Und außerdem suchte er einen Job - warum also nicht einen von diesen da annehmen? Das war ein Weg, wie er an all den Abenteuern teilhaben, wie er all die Sehenswürdigkeiten kennenlernen konnte, von denen er immer gelesen und gehört hatte, und das alles ohne die lange Verzögerung in einem Ausbildungslager
und ohne dass er sich von einem militärischen Leuteschinder herumkommandieren lassen musste! Jimmie suchte nach der Bezahlung, die angeboten wurde; einundfünfzig Dollar den Monat und einen „Zuschuss" für Unterkunft und Spesen. Ganz unten auf dem Plakat las er die Worte: „Warum nicht für deinen Uncle Sam arbeiten?" Zufällig war Jimmie in diesem Augenblick seinem Uncle Sam gerade ziemlich freundlich gesinnt, und daher dachte er: Warum soll ich es nicht mal mit ihm als Boss probieren? War das letzten Endes nicht das, was jeder Sozialist wollte - ein Angestellter der Allgemeinheit sein, ein Diener der Gesellschaft und nicht irgendeines privaten Profitmachers?
3
Jimmie ging an den Postschalter, um sich näher zu erkundigen, und der Angestellte sagte ihm, dass die „Kriegshilfsdienst-Meldestelle" sich an der Ecke Main Street und Jefferson Street befände. Er kam zu der bezeichneten Ecke und fand dort in einem leerstehenden Laden ein großes Werbeschild vor - „Arbeiter für den Kriegshilfsdienst gesucht" sowie einen Soldaten in Khaki, der vor dem Laden auf und ab marschierte. Noch vor einer Woche hätte man Jimmie weder mit Geld noch mit guten Worten dazu gebracht, irgendwo einzutreten, wo ein Soldat das Sagen hatte; aber inzwischen hatte er durch Emil und Stankewitz gelernt, dass auch ein Soldat ein Mensch sein kann, und so ging er näher und sagte: „Tag."
„Tag auch", sagte der Soldat und musterte ihn mit abschätzendem Blick.
„Wenn ich mich hier anwerben lassen sollte, wann würde ich dann nach Frankreich kommen?" „Heute Abend", sagte der Soldat. „Du willst mich wohl verkohlen?"
„Ich werd nicht dafür bezahlt, dass ich die Leute verkohle", sagte der Soldat, und dann: „Warum denn so eilig?" „Ich hab keine Lust, in einem Ausbildungslager zu versauern."
„Wenn du deine Arbeit verstehst, versauerst du da bestimmt nicht. Was bist du denn?"
„Maschinenarbeiter; ich habe Fahrräder repariert und verstehe ein bisschen was von Motorrädern." „Komm rein", sagte der Soldat, ging voran und übergab Jimmie einem Sergeant, der am Schreibtisch saß. „Hier ist ein Maschinenarbeiter", sagte er, „er hat's eilig, an die Arbeit zu gehn. Will vielleicht seiner Frau ausreißen." „Ein Trupp geht heute Abend noch nach dem Ausbildungslager ab", sagte der Sergeant.
„Ausbildungslager?" wiederholte Jimmie. „Ich will nach Frankreich!"
Der Sergeant lächelte. „Sie erwarten doch wohl nicht von uns, dass wir Sie losschicken, ehe wir Sie geprüft haben oder?"
„Nein, das wohl nicht", sagte Jimmie unschlüssig. Er war auf der Hut vor Tricks. Wenn sie ihn nun als Zivilarbeiter einstellten und dann doch in den Kampf schickten!
Der Sergeant fuhr fort: „Wenn Sie tüchtig sind, werden Sie schon nach Frankreich kommen. Wir brauchen da drüben schleunigst Männer, und wir werden Sie nicht unnötig aufhalten."
„Hm", sagte Jimmie, „vielleicht wollen Sie mich aber gar nicht, wenn Sie mehr über mich wissen. Ich bin Sozialist."
„Ich dachte, Sie sind Maschinenarbeiter", konterte der Sergeant.
„Sozialist bin ich auch. Ich war bei dem Streik in den Empirewerken vor ein paar Jahren dabei, und man hat mich auf die schwarze Liste gesetzt. Ich kann in den großen Betrieben hier keine Arbeit mehr kriegen."
„Na fein", sagte der Sergeant, „dann dürfte es Ihnen ja um so leichter fallen, sich von dieser Stadt zu trennen, denke ich."
„Können Sie denn so einen Mann gebrauchen?" beharrte Jimmie.
„Was wir brauchen, sind Männer, die was von Maschinen verstehn und ranklotzen wie der Teufel, um den Kaiser zu schlagen. Wenn Sie so einer sind, dann ist uns Ihre Religion egal. Wir haben da einen Trupp, der heute Abend abgeht."
„Heiliges Kanonenrohr!" sagte Jimmie. Er hatte gedacht, er
würde Zeit haben, Fragen zu stellen und sich die Sache zu überlegen, Zeit haben, seine Freunde aufzusuchen und sich von ihnen zu verabschieden. Aber der Sergeant war so zielstrebig und sachlich, hielt es für so vollkommen selbstverständlich, dass jedem, der etwas taugte, daran liegen müsse, die Hunnen verprügeln zu helfen! Jimmie, der es so eilig gehabt hatte, schämte sich jetzt, den Rückzug anzutreten, sich zu räuspern und zu stottern: Ich weiß noch nicht recht; ich bin mir nicht ganz schlüssig. Und so schnappte die Falle hinter ihm zu - das Ungeheuer Militarismus hatte ihn gepackt!
4
„Nehmen Sie Platz", sagte der Sergeant, und der ängstliche kleine Sozialist setzte sich auf den Stuhl neben dem Schreibtisch. „Wie ist Ihr Name?" „James Higgins." „Ihre Anschrift?"
„Ich bin gerade bei einem Freund zu Besuch." „Die Anschrift des Freundes?" und so weiter; wo hatte Jimmie zuletzt gearbeitet, was war das für eine Arbeit gewesen, welche Referenzen konnte er angeben. Jimmie musste grinsen, als er daran dachte, wie sein Lebenslauf einem militärischen Leuteschinder erscheinen musste. An seiner letzten Arbeitsstelle, in der Lastwagenfabrik von Ironton, war er entlassen und auf die schwarze Liste gesetzt worden; in den Empire Shops war er entlassen und auf die schwarze Liste gesetzt worden; er war verhaftet und eingesperrt worden wegen „Redenhaltens" auf den Straßen von Leesville; er war festgenommen worden in Verbindung mit der Bombenverschwörung Kummes und Heinrich von Holtz'. Der Sergeant trug jeden dieser Punkte kommentarlos ein, doch beim letzten hob er den Blick und starrte den Bewerber an.
„Ich hatte nichts damit zu tun", erklärte Jimmie. „Das müssen Sie mir beweisen", sagte der Sergeant. „Ich hab das schon mal bewiesen", erwiderte Jimmie. „Wem?"
„Mr. Harrod, dem hiesigen Vertreter des Justizministeriums."
Der Sergeant griff zum Telefon und verlangte das Postamt. Jimmie hörte die eine Hälfte des Gesprächs mit an - würde Mr. Harrod wohl bitte die Akte James Higgins nachschlagen, der sich um die Einstellung in der Reparaturabteilung des Kraftfahrkorps bewarb? Es folgte eine Pause - in der Mr. Harrod sprach -, während Jimmie, entschieden nervös. wartete; aber es war offenbar alles in Ordnung - der Sergeant hängte den Hörer ein und bemerkte beruhigend: „Er sagt, Sie sind bloß ein Naivling. Ich soll Ihnen gratulieren, weil Sie Vernunft angenommen haben." Jimmie machte das Beste aus dieser mehr als zweifelhaften Beurteilung und schickte sich an, die Fragen nach seiner Befähigung zu beantworten. Gab es in den Empirewerken jemand, der ihm dies bescheinigen konnte? Der Sergeant wollte schon die Empire Shops anrufen, besann sich dann aber anders; wenn Jimmie tatsächlich in einem Maschinenbetrieb und in einem Fahrradgeschäft gearbeitet hatte, würde man sicherlich in der Armee etwas für ihn finden. In einer Stunde so verzweifelter Not nahmen sie fast jeden. „Wie groß sind Sie?" wollte der Sergeant wissen und fügte hinzu: „Was Sie wiegen, ist nicht so wichtig, weil wir Sie herausfüttern werden."
Das Sprechzimmer des Einstellungsarztes lag eine Treppe höher im selben Gebäude, und Jimmie wurde nach oben gebracht und aufgefordert, Jacke und Hemd abzulegen, und musste sich den Brustkorb messen, Herz und Lunge abhorchen, die Zähne zählen, die Nase inspizieren und noch allerlei Mätzchen ähnlicher Art gefallen lassen. Ihm fehlte natürlich einiges, aber, wie sich herausstellte, für Armeezwecke reichte es. Der Arzt kritzelte die Daten rasch auf ein Blatt Papier und unterschrieb es, worauf Jimmie und der Soldat wieder nach unten gingen zum Einstellungsbüro.
Und jetzt stand der kleine Sozialist plötzlich da mit einem Verpflichtungsschein vor der Nase und einer eingetunkten Feder in der Hand. Kein einziges Mal war er gefragt worden: Haben Sie sich das auch genau überlegt? Ist es Ihnen wirklich Ernst damit, diesen unwiderruflichen Schritt zu tun? Nein, der Sergeant hatte es für selbstverständlich gehalten, dass Jimmie es ernst meinte. Er hatte all das Befragen und Niederschreiben seiner Personalien, das Wiegen und Messen und was nicht noch alles erledigt und saß nun da, den Blick zwingend auf sein Opfer gerichtet, als wollte er sagen: Wollen Sie mir wirklich erzählen, dass ich das alles umsonst gemacht habe? Wenn Jimmie sich tatsächlich geweigert hätte zu unterschreiben, was für ein Gluthauch der Verachtung hätte ihn versengt!
Infolgedessen hielt sich Jimmie nicht einmal damit auf, das ganze Formular durchzulesen; er unterschrieb. „Also", sagte der Sergeant, „der Zug geht um neun Uhr siebzehn heute Abend. Ich werde dort sein, um Ihnen Ihre Fahrkarte zu geben. Seien Sie pünktlich da. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass Sie jetzt der militärischen Disziplin unterliegen." Ein neuer Ton klang aus diesen letzten Worten, und Jimmie erbebte innerlich und ging mit einem hohlen Gefühl in der Magengegend hinaus.
5
Er stürmte davon, um es dem Genossen Stankewitz zu erzählen, der ihn vor Begeisterung umarmte und schrie, dass sie sich in Frankreich wiedersehen würden! Dann ging er es Emil Forster erzählen, der sich ebenfalls darüber freute. Es drängte Jimmie, auch den Genossen Schneider aufzusuchen
und es ihm zu erzählen. Er entdeckte in sich eine jähe, merkwürdige Feindschaft Schneider gegenüber; er wollte die Sache mit ihm ins reine bringen, zu ihm sagen: Wach auf, du Schafskopf - vergiss deinen albernen Traum, dass
der Kaiser den Krieg gewinnt!
An andere noch dachte Jimmie, die er nicht aufsuchen
würde. Genossin Mary Allen zum Beispiel - sie sollte die Neuigkeit lieber erst erfahren, wenn er außer Reichweite
ihrer scharfen Zunge war! Auch an Genossin Evelyn dachte er; vielleicht sah er sie nie wieder, und wenn er sie doch wiedersah, dann würde sie vielleicht nicht mehr mit ihm reden wollen! Aber Jimmie unterdrückte den plötzlichen Schmerz, den ihm diese Vorstellung verursachte. Er zog in
den Krieg, und die Sehnsüchte und Wonnen der Liebe mussten beiseite stehen!
Er ging zum Abendessen zu den Meissners und eröffnete ihnen die Nachricht. Er hatte Proteste und Gegenargumente erwartet und war erstaunt, als sie ausblieben. Hatten dem kleinen Flaschenabpacker die Erlebnisse des Genossen Stankewitz imponiert? Oder war es möglich, dass er Angst hatte, vor Jimmie seine Meinung offen auszusprechen - geradeso, wie Jimmie Angst gehabt hatte im Falle Emil Forsters?
Jimmie hatte den Meissners ein paar Sachen anzuvertrauen; er wollte ihnen auch das Tagebuch des Wilden Bill dalassen, von dem er sich bisher nicht getrennt hatte, das jedoch kaum die richtige Lektüre auf einem Truppentransport sein durfte.
„Gewiss", willigte Meissner ein, „außerdem kriegen es sonst vielleicht noch die U-Boote."
Jimmie fuhr erschrocken zusammen. Verflucht noch mal! Der Gedanke war ihm noch gar nicht gekommen. Er musste ja durch die Sperrzone! Er kriegte also vielleicht doch was vom Kampf ab! Er kam vielleicht gar nicht bis nach Frankreich? „Sag mal!" rief er. „Dieser Ozean muss aber mächtig kalt sein zu dieser Jahreszeit!"
Einen Augenblick schwankte er. Sicher wäre es klüger gewesen, bis zu einer wärmeren Jahreszeit zu warten, wenn die Folgen des Überbordgehens weniger unangenehm sein würden! Doch Jimmie musste an die Armeen in ihrer tödlichen Verklammerung denken; niemals würden Meldefahrer ihre Motorräder dringender brauchen als jetzt! Auch an den Sergeant in der Meldestelle dachte Jimmie. „Nehmen Sie zur Kenntnis, dass Sie jetzt der militärischen Disziplin unterliegen!" Mit grimmiger Entschlossenheit biss er die Zähne zusammen. Zum Teufel mit den U-Booten, er würde gehen und seine Pflicht tun! Schon empfand er den Nervenkitzel seiner Verantwortung in dieser bedeutenden historischen Stunde; er war ein Krieger, hatte eine Pflicht zu erfüllen, und das Schicksal von Nationen hing von seinem Verhalten ab!
1
Es waren sieben Mann, die an jenem Abend unter der vorläufigen Aufsicht eines Schmieds aus der dortigen Gegend in den Zug stiegen. Am anderen Morgen um sieben zeigten sie ihre Papiere am Eingangstor des Ausbildungslagers vor und wurden von einem Soldaten die Hauptstraße hinuntergeführt, wobei sie sich an ihre Bündel und Koffer klammerten und neugierig ihre Umgebung betrachteten. Es war eine Stadt, in der rund vierzigtausend Mann lebten, auf einem Gelände, das ein Jahr zuvor noch ödes Buschland gewesen war. In alle Richtungen erstreckten sich lange Reihen von Holzbauten - Unterkünfte, Speiseräume, Unterrichtsräume, Büros, Lagerschuppen - mit großen Freiflächen von Ausbildungs- und Übungsgelände dazwischen. Diese Stadt auch nur zu sehen - mit ihrer wimmelnden Einwohnerschaft von jungen Männern, alle in Uniform, aufrecht, eifrig, gut in Form und strotzend vor Gesundheit, jedermann geschäftig, und jedermann offensichtlich ganz in Anspruch genommen von seiner Aufgabe -, das war ein Erlebnis, das sich lohnte. Es war ein neuer Typ von Stadt -eine Stadt ohne Müßiggänger, ohne Trunkenbolde, ohne Parasiten. Die sieben Arbeiter aus Leesville kamen sich plötzlich verlottert und zweitklassig vor in ihrer schlecht sitzenden Zivilkleidung und mit ihrer Sammlung von Bündeln und Koffern.
Als erstes wurden Neuankömmlinge gesäubert, desinfiziert und geimpft. In einer Ortsgruppe der Sozialisten begegnet man allen möglichen Exzentrikern, den überdrehten Randfiguren der Bewegung, und so hatte Jimmie auch schon mal eine Schmährede gegen die teuflische Sitte des Impfens zu hören bekommen, das mehr tödliche Krankheiten hervorbrächte, als es verhindern sollte. Aber die Sanitätsoffiziere dieses Camps hielten sich nicht damit auf, Jimmie nach seinen Ansichten über dieses so hochwichtige Thema zu fragen; sie sagten ihm einfach, er solle an seinem linken Arm den Ärmel aufrollen, und machten sich dann daran,
seine Haut sauberzuwischen und sie mit einer Nadel zu ritzen.
Und dann kam der Schneider, um ihn in Khaki einzukleiden. Auch das war etwas, womit der kleine Maschinenarbeiter nicht gerechnet hatte; er hatte es für selbstverständlich gehalten, dass er für Uncle Sam in irgendwelchen alten Lumpen arbeiten dürfe, geradeso, wie er es für Abel Granitch getan hatte. Aber nein - er musste eine Ausrüstung haben, vollständig bis zur Zahnbürste, deren Benutzung sie ihm zeigen würden. Als er dann sauber und stramm in Khaki eingekleidet war, auf dem Ärmel ein Autorad, um die Waffengattung zu bezeichnen, stand er vor dem Spiegel, betrachtete sich und spürte dabei eine demoralisierende, unwürdige Erregung. Er sah kein bisschen weniger gut aus als Genosse Stankewitz! Wenn er die Straße langging, ob dann wohl die Mädchen auch kichern und sich nach ihm umdrehen würden, wie sie das bei dem gesetzten und korrekten Genossen Emil taten? So wurde das Netz des Militarismus um Jimmie Higgins' Seele geknüpft.
2
Jimmie stand unter Quarantäne und durfte wegen seiner Impfungen gegen Typhus und anderes das Camp nicht verlassen. Es gab auch genug Interessantes für ihn an Ort und Stelle; doch dann wurde er plötzlich sehr krank und stellte bestürzt fest, dass der Impfgegner wohl doch recht gehabt haben müsse. Seine Gesundheit war für immer untergraben, er würde an einem Dutzend obskurer Krankheiten leiden! Elend am Körper und noch elender an der Seele, ging er ins Lazarett; doch nach ein paar Tagen begann er sich besser zu fühlen und hörte auf die Krankenschwestern, die ihm aufmunternd erzählten, dass jeder sich ein Weilchen so fühle. Dann stand er auf und bekam mehrere Tage frei, um sich völlig zu erholen - Tage, die er damit zubrachte, im Lager herumzuspazieren und das faszinierende Treiben zu beobachten.
Es glich einem Zirkus mit Hunderten von Manegen. Das Drillen und Marschieren, das er auf dem Platz in Leesville gesehen hatte, ging hier im großen Maßstab vor sich. Hunderte von Gruppen wurden durch das Zugexerzieren und das „kleine Handbuch" geschleust, während andere Gruppen sich mit SpezialÜbungen befassten - Eskaladierwände hochkletterten. Schützengräben aushoben, Straßen bauten und nach Scheiben schossen. Jeden zweiten Tag regnete es, und der Boden war ein einziger Matsch, doch das störte niemand im Geringsten; die Männer kamen dreckverkrustet zurück, dampfend wie Schmalztiegel. Es machte ihnen anscheinend Spaß; nichts konnte ihnen die Lust zum Necken und Scherzen nehmen.
Jimmie sah ihnen mit einem Gemisch aus Neugier und Entsetzen zu; denn was hier getan wurde, führte ihm den Krieg in seiner grenzenlosen und vielgestaltigen Schlechtigkeit unmittelbar vor Augen. Hier wurde einer Gruppe von Leuten beigebracht, wie man unter Beschuss vorrückt; sie krochen auf dem Bauch über den Boden, sprangen von einem Hügel zum andern, warfen sich hin und taten so, als ob sie feuerten. Ein Mann an der Spitze, der ein imaginäres Maschinengewehr betätigte, brüllte, wenn er sie „erwischt" hatte. Jetzt schnallten sie ihr kleines Schanzzeug ab und begannen sich wie Maulwürfe in den Boden einzubuddeln. „Grabt, ihr Scheißkerle, grabt!" schrie der Offizier. „Schädel runter, Smith! Lass den Dreck fliegen! Mehr Musike rein! Na also!"
Jimmie hatte noch nie eine Footballmannschaft trainieren sehen; daher hatte er keine Ahnung, zu welchen Leistungen man Männer durch Härtetraining antreiben konnte. Es war abscheulich - doch auch faszinierend, es schlug ihn in Bann. Er sah, was diese Männer taten; sie lernten, als Masse zu handeln, mit lähmender, furchtbarer Gewalt zu handeln. Was sie auch taten, sie taten es mit der Vernichtungskraft eines Sturmbocks. Man sah das Feuer in ihren Augen, den grimmigen, entschlossenen Ausdruck auf ihren Gesichtern; man wusste, sie gingen ohne Zögern und Zagen in den Krieg.
Man kam über eine Bodenerhebung und stieß auf einen Haufen Soldaten bei Bajonettübungen. Man brauchte nicht viel Phantasie, um zu begreifen, was hier gespielt wurde; sie hatten lederne Attrappen und stürzten sich auf diese Figuren, hauend, stechend und - was das allermerkwürdigste war - brüllend vor Wut. Die Offiziere hielten sie direkt an,
zu schreien, zu knurren und sich in echte Wut hineinzusteigern! Das ließ einem das Blut erstarren - Jimmie wandte sich ab, weil ihm übel war. Gerade das war ja seine Rede seit dreieinhalb Jahren - man musste sich in eine wilde Bestie verwandeln, um in den Krieg zu ziehen! Jimmie sah sich auch die Schießstände an, von denen den ganzen Tag ein Geknatter von Schüssen herüberdrang wie das Klappern vieler Schreibmaschinen. Kompanien von Männern kamen anmarschiert und verteilten sich auf die Schützenstände und begannen unter der Leitung ihrer Ausbilder, ihr Teil zu dem Lärm beizusteuern. Hinten bei den Schießscheiben waren andere, die die Treffer zählten und telefonisch die Ergebnisse durchgaben; so lernten die Männer den ganzen Tag lang, ob Winter oder Sommer, Regen öder Sonnenschein, wie man seine Mitmenschen tötet, mechanisch, als wäre es eine Sache fabrikmäßiger Routine. Auf anderen Plätzen gab es bewegliche Schießscheiben, wo sich Scharfschützen ihre Fähigkeiten erwarben; man bemerkte, dass ihre Ziele niemals Vögel oder Wild waren, wie bei den Schießbuden, die Jimmie an der See auf Ausflügen der Ortsgruppe gesehen hatte. Nein, es waren Menschenköpfe oder Menschenleiber, und jede Figur war graugrün angemalt, damit es aussah wie die Umformen des Feindes
3
So lebte Jimmie Tag für Tag mit der Vorstellung des Tötens, hatte das harte und grausame Gesicht des Krieges vor sich. Er hatte geglaubt, dass das Reparieren von Motorrädern überall gleich sei, wo man es auch tat; aber jetzt stellte er fest, dass es etwas ganz anderes war, ob man Motorräder reparierte für Botenjungen und für Arbeiter, die mit ihrer Liebsten in den Urlaub fahren wollten, oder ob man sie für Frontkämpfer und Meldefahrer reparierte. Nachdrücklicher als je wurde Jimmie dazu gedrängt, über den Krieg mit sich ins reine zu kommen. Es wurde für ihn täglich schwieriger, zwei einander widersprechende Meinungen nebeneinander zu haben.
Alle Männer, denen er jetzt begegnete, waren einer Meinung und ließen sich auf gar keine Weise dazu bewegen, eine andere auch nur in Erwägung zu ziehen. Jimmie stellte fest, dass er sie dazu bringen konnte, einzuräumen, dass es nach diesem Krieg, was die Demokratie betraf, ungeheure Veränderungen auf dieser Welt geben würde, dass das Volk sich danach nicht mehr reinlegen und ausbeuten lassen würde, wie es das bisher getan hatte; er stellte fest, dass er ihnen den Gedanken schmackhaft machen konnte, die Regierung solle die großen Industrieunternehmen führen und Nahrungsmittel und Kleidung für das Volk produzieren, so wie sie jetzt Nahrungsmittel und Kleidung für die Truppen produzierte. Aber wenn er versuchte, diesem Programm den Namen Sozialismus zu geben, dann ging der Ärger los. Waren die Sozialisten nicht diese Irren, die wollten, dass Amerika die Waffen „niederlegte" wie Russland? Die Voraussetzung jeder Diskussion mit diesen Männern war, dass Amerika den Krieg gewinnen würde; wenn man auch nur vorsichtig andeutete, dass das vielleicht noch gar nicht so ganz sicher war, dann begegnete man zuerst scharfem Spott und dann bösen Blicken und bekam den Rat, eine Pille zu nehmen, damit man das Hunnengift aus dem Gedärm kriegte.
Es hatte auch nicht den geringsten Sinn, wenn man versuchte, von den Gefahren des Militarismus zu reden. Diese Männer wussten alles über die Gefahren des Militarismus -für den Kaiser. Der Mann, der am Abzugsende eines Gewehrs sitzt und mit dem Ding so zu zielen versteht, dass er auf sechshundert Meter eine Katze wegputzen kann - so ein Mann überlässt der Katze das Grübeln. So jedenfalls erschien die Sache diesen robusten jungen Rekruten, die lernten, wie man im Schlamm marschierte und im Regen schlief und Teppichnägel kaute und aus Hunnen Leberwurst machte. Sie erfüllten ihre Aufgabe mit einer ungestümen, erschreckenden Fröhlichkeit; sie schwelgten in ihrer Härte, nannten sich „Grizzlybären" und „Wildkatzen" und was nicht noch alles; sie sangen wilde Lieder über ihre Reizbarkeit, und ihr Motto war: „Immer feste drauf!" Es war eine beängstigende Atmosphäre für einen Träumer und Utopisten; Jimmie Higgins zog sich in sich selbst zurück, zu ängstlich sogar, die Hand nach einem sozialistischen Genossen auszustrecken, mit dem er über die Ereignisse in der Welt draußen hätte reden können.
4
An den Abenden gab es Filmvorführungen, Konzerte, Vorträge - die sich natürlich fast alle mit dem Krieg befassten. Sie fanden in großen Sälen statt, die vom Christlichen Verein junger Männer gebaut worden waren, einer Organisation, für die Jimmie herzliche Verachtung empfand. Er hielt sie für eine Erfindung der ausbeutenden Klassen, um auch das Stehkragenproletariat das Kuschen zu lehren. Doch niemand konnte in einem Ausbildungslager leben, ohne von dem „Verein" Kenntnis zu nehmen. Jimmie bekam eine Einladung zu einem Vortrag und ging aus Langeweile hin.
Sergeant Ebenezer Collins, aus Flandern importiert, hatte die Aufgabe, den amerikanischen Landsern etwas über die Tücke der Hunnen zu erzählen. Sergeant Collins sprach eine komische Sprache, die Jimmie noch nie gehört hatte und die er auch nicht immer verstand; sie diente jedoch dazu, ihn zu überzeugen, dass der Sergeant echt war, denn es hätte sich einer unmöglich eine solche Sprechweise zurechtmachen können! „Wenn man nu in Ypern reinjeht", sagte der Redner, „dann sieht man alte grauhaarige Damens und Kinderchens wie kleine Jeister, und wenn man denn zu ihnen sagt: Jehn Se weg, der Hunne kann schon heute hier sin', dann wolln se nich jehn, denn se ham keene Bleibe, wo se hinjehn könn!"
Doch trotz der Schwierigkeiten einer fremden Sprache erkannte man, dass dieser Londoner Sergeant ein ganze Mann war. Zunächst einmal hatte er Sinn für Humor; den hatte er sich inmitten von Angst und Tod bewahrt - hatte ihn sich bewahrt, während er nächtelang in Schützengräben voll eiskaltem Wasser stand und ihm eiskaltes Wasser in den Kragen lief. Außerdem hatte der Sergeant Sinn für Ehre - es gab Dinge, die konnte er einem Hunnen nicht antun, selbst wenn der Hunne sie ihm vielleicht antun würde. Jimmie hatte in der Ortsgruppe Leesville erregten Debatten zugehört, ob die Alliierten wirklich besser wären als die Deutschen; ob zum Beispiel die Alliierten Passagierschiffe mit Frauen und Kindern an Bord versenkt hätten, wenn es notwendig gewesen wäre, um den Krieg zu gewinnen. Sergeant Collins diskutierte diese Frage nicht, er entpuppte sich nur schlicht und einfach als Kämpfer. „Det is, weil wir Sport treiben und die nich", erklärte er. „Wenn eener Sport treibt, denn weeß er, wat fair is." Drei Jahre und acht Monate lang hatte Jimmie Geschichten über Gräueltaten gehört, und drei Jahre und acht Monate lang hatte er sich geweigert, sie zu glauben. Doch jetzt erzählte der Londoner Sergeant von einem Kameraden, der bei einem Nachtangriff von den Hunnen verwundet worden war; der Sergeant hatte versucht, ihn zurückzutragen, hatte ihn aber zurücklassen müssen; gegen Morgengrauen hatten sie einen Gegenangriff gemacht und das Dorf wieder eingenommen, und dort hatten sie den Kameraden des Sergeanten gefunden, noch am Leben trotz der Tatsache, dass er mit Bajonetten durch Hände und Füße an eine Scheunentür genagelt war. Als diese Geschichte erzählt wurde, hörte man ein leises Murmeln durch den Saal gehen und sah ein paar tausend junge Männer die Fäuste ballen, die Zähne zusammenbeißen und sich bereitmachen für ihre große Aufgabe in Frankreich.
Gerade jetzt, sagte der Sergeant, seien die Deutschen zum schlimmsten Angriff des Krieges übergegangen. Die Briten, die sich verzweifelt wehrten, seien in die Enge getrieben. Die Entscheidung liege jetzt bei den Männern in den Ausbildungslagern Amerikas; niemand als sie könne die Lage noch retten, die übrige Welt davor bewahren, unter die Hufe des Hunnenungeheuers zu geraten. Würden sie ihre Schuldigkeit tun? Jimmie Higgins hörte die Antwort aus diesen zweitausend jungen Kehlen, und der Pazifist in ihm schrumpfte noch weiter zusammen.
Aber ganz verstummte der Pazifist niemals. Krieg war unrecht! Krieg war unrecht! Es war schlecht und grausam, wenn die Menschen ihre Streitigkeiten auf solche Art beilegten. Und wenn die Menschen noch nicht einsichtig genug waren, um auf die Stimme der Vernunft zu hören -nun, selbst das machte den Krieg noch nicht gerecht! Ein Mann musste Prinzipien haben und ihnen treu bleiben -wie anders konnte er sonst die Welt verändern? Jawohl, Krieg war unrecht! Doch der Krieg war nun mal da; und ihn unrecht nennen hieß noch nicht, ihm ein Ende machen! Was zum Teufel sollte einer da tun?
5
Sobald Jimmie in der Lage war zu arbeiten, brachten sie ihn in den Teil des Lagers, wo eine Motorradabteilung ausgebildet wurde. Hier gab es eine große Reparaturwerkstatt mit vielen beschädigten Maschinen, an denen er seine Fähigkeiten beweisen konnte. Den speziellen Maschinentyp, der hier verwendet wurde, kannte er nicht, war aber bald eingeweiht in seine Geheimnisse und überzeugte die verantwortlichen Offiziere, dass er die Maschine auseinandernehmen und wieder zusammensetzen, Reifen wechseln und flicken, Kugellager reinigen und verbogene Felgen wieder richten konnte. „Sie sind in Ordnung", sagten die Offiziere. „So was wie Sie hat man drüben verdammt nötig. Sie brauchen nicht lange zu warten."
Es gab da einen Bahnsteig, wo die Züge im Lager ankamen, und alle paar Stunden traf jetzt ein langer Zug ein, der mit Männern beladen wurde. Jimmie erhielt seinen Marschbefehl, packte sein Zeug, meldete sich beim Appell und nahm seinen Platz im Zug ein; am nächsten Tag bei Sonnenuntergang wurde er an einem „Mobilmachungslager" ausgeladen
- wieder eine riesenhafte Stadt, die im vorsichtigen Militärstil als „Irgendwo in New Jersey" bezeichnet wurde, obwohl jeder im Umkreis von hundert Meilen ihre genaue Lage kannte. Hier gab es einen Hafen, für Kriegszwecke geschaffen, mit Dock- und Kaianlagen, wo die Transportflotten mit Material und Truppen beladen wurden. Die Schiffe fuhren in Flottenverbänden und transportierten dreißig- bis vierzigtausend Mann auf einmal nach Europa. Allein vom New-Yorker Hafen ging jede Woche eine solche Flotte ab
- die Antwort Amerikas auf die neue Offensive der Hunnen.
Hier traf man nicht nur die kämpfende Truppe an, sondern auch die Verbände des ganzen komplizierten rückwärtigen Dienstes: Trupps von Holzfällern aus dem fernen Nordwesten, die in Frankreich die Wälder fällen und sie zu Eisenbahnschwellen und Zimmerung für Schützengräben verarbeiten sollten; Eisenbahner, Bergleute und Bautrupps, Ingenieure und Bahnwärter, Brückenbauer und Straßenbauer, Telefonleitungsleger und Telefonisten, die Fahrer von vierzigtausend Autos und fünftausend Lokomotiven; Bäcker und Köche, Schuster und Schneider, Bauern, die den französischen Boden bestellen, und Ärzte und Pfleger, die die Kranken und Verwundeten versorgen sollten. Nichts von dem, was das Können und Wissen eines Hundertmillionenvolkes anzubieten hatte, fehlte hier in diesem riesigen Lager. Die Jüngsten und Begeisterungsfähigsten waren sämtlich hier, eifrig darauf bedacht, das Ihrige zu tun, der Gefahr spottend, nervös vor prickelnder Erregung, bebend vor Neugier und Lust. Jimmie Higgins, der sie beobachtete, merkte, dass seine Zweifel dahinschmolzen wie Schnee im April. Wie konnte einer dieses Leben und Treiben mit ansehen, ohne davon angesteckt zu werden? Wie konnte er mit diesen lachenden Jungen zusammen sein und nicht ihre Stimmung teilen?
Jimmie selbst hatte keine frohe Kindheit gehabt, er kannte die Jugend seines eigenen Landes nicht - die kesse, Slang redende, ziemlich respektlose, überhaupt nicht zu bändigende Jugend dieser demokratischen Welt. Wenn sie etwas nicht wussten - nun, dann wussten sie es eben nicht; wenn sie etwas nicht konnten - dann war ihre Devise: „Zeig es mir!" Jimmie, der keine Schule besucht hatte, kam schlecht zurecht mit ihrem merkwürdigen Slang. Wenn einer von den Burschen zur Begrüßung sagte: „Na, du Lude!", so hieß das nicht unbedingt, dass er einen nicht leiden konnte, und wenn er sagte: „Hallo, Süßer!", so hieß das nicht, dass er überwältigende Zuneigung zu einem empfand. Wenn er von seinem Offizier als „hartgesotten" sprach, dann meinte er nicht, dass dieser Offizier der Einwirkung von Wasser bei hundert Grad Celsius ausgesetzt gewesen war; er meinte bloß, dass der Offizier ein Snob war. Wenn er am helllichten Tag „Gute Nacht!" sagte, war das so zu verstehen, dass er mit einem nicht einer Meinung war.
Es gab häufige und stürmische Meinungsverschiedenheiten mit Jimmie Higgins, wenn der den Unterschied zwischen den deutschen Machthabern und dem deutschen Volk klarmachen wollte! Für solche Spitzfindigkeiten hatten diese allwissenden Knaben kein Interesse. Wenn Jimmie sich nicht beirren ließ, nannten sie ihn eine „doofe Nuss", einen „armen Irren"; sie sagten, bei ihm „piepe" es, er hätte wohl „einen Knick in der Oberleitung"; sie machten Kurbelbewegungen mit den Händen, um anzudeuten, dass er „Räder im
Kopf" habe, sie machten über ihm Flügelschläge, um kundzutun, dass er „Fledermäuse im Oberstübchen" habe. So gab Jimmie Frieden und ließ sie ihre eigene Sprache reden -ließ sie einander auffordern, „sich am Riemen zu reißen" oder „erst mal Durchblick zu kriegen" oder „zackzack zu machen" oder „nicht den wilden Mann zu markieren". Und er saß da und hörte zu, während sie mit Genuss ein Lied sangen, das erzählte, was sie machen wollten, wenn sie nach Frankreich kämen:
Heraus mit der Trompete, Jungs, ein neues Lied hebt an,
Und dieses neue Lied, das singen zwei Millionen Mann,
Und wer ein rechter Kerl ist, der singt mit, so laut er kann -
Denn wir haun den Kaiser in die Pfanne!
Refrain:
Willy, ach Willy, nimm dich vor uns in acht;
Willy, ach Willy, wir kommen über Nacht.
Und wer uns in den Weg tritt, wird zu Hackefleisch gemacht
– Denn wir haun den Kaiser in die Pfanne!
Auf Frankreichs hellen Straßen zieht ein Heer aus aller Welt:
Der Tommy hat sich brüderlich zum Poilu gesellt,
Und Afrika zieht ebenso wie Schottland mit ins Feld
- Denn wir haun den Kaiser in die Pfanne!
(Refrain)
Ein Schiff sticht von New York in See und bringt uns die Kanonen.
Aus Boston kommt ein andres Schiff mit Schweinefleisch und Bohnen.
Und noch ein Schiff bringt Traubensaft und Sprudel mit Zitronen -
Denn wir haun den Kaiser in die Pfanne!
(Refrain)
Ob ihr zu Haus in Dixieland, in Maine das Holz gefällt,
Ob ihr in Texas Cowboys wart, ob Felder habt bestellt, Kommt, Leute, her von überall, der Yankee sieht die Welt
- Denn wir haun den Kaiser in die Pfanne!
(Refrain)
Und was wir einmal angefangen, führen wir zu Ende. Wir jagen alle Fürsten fort, es kommt die große Wende.
Helft uns das Volk vom Joch befrein; wir brauchen alle Hände -
Denn wir haun den Kaiser in die Pfanne!
Refrain:
Willy, ach Willy, nimm dich vor uns in acht;
Willy, ach Willy, wir kommen über Nacht.
Und wer uns in den Weg tritt, wird zu Hackefleisch
gemacht -Denn wir haun den Kaiser in die Pfanne!
1
Man blieb nicht sehr lange in dem Mobilmachungslager, denn die Ankunft des Zuges war abgestimmt mit der Abfahrt des Transportschiffs. Man bekam dort eine Mahlzeit, schlief dort manchmal eine Nacht, und dann marschierte man zum Hafen. Es war auch nicht viel mit der traditionellen „süßen Trauer" bei der Abreise dieser großen Flotten; weinende Mütter und Schwestern waren nicht eingeladen worden, und die Damen in der Kantine hatten Kaffee und Brötchen, Zigaretten und Schokolade schon an so viele Zehntausende ausgeteilt, dass sie an Tränen nicht mehr dachten. Es war, als ob eine Nation auswanderte; was sich jetzt schon von Amerika auf der anderen Seite befand, war so viel, dass niemand Heimweh zu bekommen brauchte.
Jimmies Einschiffung fand bei Nacht statt; auf den langen, überdachten Piers, die von Bogenlampen erleuchtet waren, setzten die Soldaten ihr Gepäck ab und standen herum, kauten, sangen Lieder und hielten einer des andern Kampfgeist wach. Schubweise gingen sie an Bord, und dann stahl sich das Schiff ohne Licht und Geräusch das lange Hafenfahrwasser entlang und hinaus auf die See. Man konnte nie wissen, zu welcher Stunde die feindlichen U-Boote einen Überfall auf die amerikanische Seite versuchen würden; daher war die Einfahrt zum Hafen vermint und blockiert, und nur eine enge Passage wurde geöffnet, wenn die Schiffe ausliefen.
Als es Morgen wurde, befand sich der Konvoi schon draußen auf See, inmitten prächtiger grüner Wogen, und Jimmie Higgins lag in seiner engen Koje und verfluchte sein Geschick, das ihn dort hingelockt hatte, verfluchte das Ungeheuer Militarismus, in dessen Klauen er gefangen war. Der Heeressanitätsdienst hatte zwar ein Serum gegen Pocken und ein weiteres gegen Typhus, aber vorerst noch nichts gegen die Seekrankheit; deshalb wünschte sich Jimmie die ersten vier Tage der Reise, dass ein U-Boot kommen und seinem Elend ein für allemal ein Ende machen möchte. Schließlich kam er jedoch an Deck, ein ganz klein gewordener sozialistischer Agitator, der weiter nichts wollte als ein Plätzchen im Sonnenschein - vorzugsweise eins, wo er die Dünung des Atlantiks nicht sehen konnte; beim bloßen Gedanken an sie drehte sich ihm schon der Magen um. Aber allmählich fand er seine Füße wieder, aß mit Ausdauer, blickte hinaus über das Wasser und sah die anderen Schiffe des Geleitzugs, sonderbar bemalt mit vielfarbigen Flecken; sie fuhren in Form eines riesigen V, zwei Kreuzer vornweg und ein weiterer zu jeder Seite und noch einer als Nachhut. Tag und Nacht hielten die Männer im Ausguck Wache, waren die Signalgasten und die Männer am Heliographen bei der Arbeit und summte der Funk seine Warnungen über die Bewegungen des Feindes unter Wasser. Bisher hatten die U-Boote noch keinen Transporter erwischt, doch verschiedene Versuche hatten sie schon unternommen, und jeder wusste, dass sie es wieder versuchen würden. Zweimal
am Tag drang von einem Ende des Schiffes bis zum anderen das Läuten der Glocke, und dann eilten die Mannschaften zum Bootsmanöver; jeder Passagier hatte seine Nummer, und wenn er nicht krank in seiner Koje lag, hatte er mit umgeschnallter Schwimmweste den ihm vorgeschriebenen Platz einzunehmen.
Die Passagiere spielten Karten, lasen, sangen und alberten auf den Decks herum. Auf dem Oberdeck, zu dem man Jimmie nicht heraufbat, waren die Offiziere untergebracht und auch eine Anzahl Frauen und Mädchen, die zu den Lazarett- und Feldlazaretteinheiten gehörten. Die Soldaten nannten sie „Karbolmäuschen", und man sah, dass es tüchtige „Karbolmäuschen" waren, ernsthaft und arbeitseifrig, und in den Uniformen mit den vielen Taschen wirkten sie sehr kompetent und imponierend. Unter ihnen befanden sich Suffragetten, die dem Spott des anderen Geschlechts damit begegneten, dass sie bewiesen, dass die Welt sie im Krieg wie im Frieden brauchte; dass sie ihnen selbst noch an Bord des überfülltesten Transportschiffs einen Platz einräumen musste.
Da Jimmie noch nie auf einem Ozeandampfer gewesen war, wusste er nicht, dass er überfüllt war; es störte ihn nicht, dass auf den Decks kaum Platz für einen Spaziergang war. Er beobachtete das Meer und die großen weißen Möwen und die gescheckten Schiffe; er sah der Besatzung bei der Arbeit zu und machte sich mit seinen Mitpassagieren bekannt. Es dauerte nicht lange, und er fand einen Krankenwagenfahrer, der Sozialist war; außerdem ein Mitglied des IWW aus den Holzfällerlagern von Oregon. Sogar die Wobblies hatten offenbar den Kaiser hassen gelernt; eine Gruppe von ihnen befand sich schon in Frankreich, und es wären noch mehr hingegangen, wenn die Regierung sie nicht verärgert hätte, indem sie ihre Führer ins Gefängnis warf. Ein Armeeoffizier mit etwas Grütze im Kopf war in die Fichtenwälder oben im Nordwesten gegangen, hatte an den Patriotismus der Männer appelliert, ihnen anständige Arbeitszeit und anständigen Lohn zugesagt und ihre Gewerkschaften anerkannt; das Ergebnis war, dass sogar der gefürchtete Verband der Industriearbeiter der Welt zahm geworden war und alle Holzfäller sich dafür entschieden hatten mitzuhelfen, „den Kaiser in die Pfanne zu haun"!
2
Die Flotte näherte sich der U-Boot-Zone, und es wurde Zeit, dass die Geleitzerstörer eintrafen. Alles spähte nach vorn, und schließlich lief der Ruf über die Decks: „Da sind sie!" Jimmie entdeckte eine Rauchfahne am Horizont und sah, wie sie sich in eine Gruppe rasch dahinfliegender Schiffe verwandelte. Er staunte, wie sie auf diesem weiten, weglosen Meer die Transporter hatten ausfindig machen können; er bewunderte die schlanken Schiffe mit ihren vier niedrigen, schnittigen Schornsteinen. Diese Seeterrier bestanden aus dünnen Stahlmänteln, die Motoren von gewaltiger Kraft beherbergten; sie zogen durch das Wasser, buchstäblich mit der Geschwindigkeit eines Expresszugs, und ließen eine blubbernde weiße Kielwasserspur hinter sich. Wenn man sah, wie sie auf den Wellen von einer Seite zur anderen schaukelten und schwankten, wie sie hin und her geworfen wurden, staunte man, dass in ihnen Menschen leben konnten und nicht zu Tode geschüttelt wurden. Jimmie wurde nicht müde, sie zu beobachten, und sie wurden nicht müde, zwischen den Schiffen des Geleitzugs hin durchzurasen und ihre Rauchmuster zu weben, während die Männer auf ihren Decks Wache hielten, ausspähend nach dem geheimen Feind.
Jedermann an Bord der Transportschiffe war natürlich in Alarmbereitschaft. Jimmie stand insgeheim Todesängste aus, ließ es sich aber nicht anmerken vor diesen frotzelnden Soldatenjungen, die sich über deutsche U-Boote genauso lustig machten wie über „Sauerkraut" und „Brezeln" und „Limburger Käse" und „Wiener", sonst als „hot dogs" bekannt. Sie hofften doch tatsächlich, dachte Jimmie, einem U-Boot zu begegnen; natürlich nicht, um sich versenken zulassen, aber sie hätten doch gar zu gern gesehen, dass ein Torpedo so knapp ein, zwei Zentimeter an ihnen vorbeigeschossen wäre, damit sie ihren Leuten zu Hause etwas Aufregendes hätten berichten können.
Es kamen Stürme und alles verhüllende Regenwände über das Wasser und Nebelschleier, die einem völlig die Sicht nahmen; doch immer noch schossen die kleinen Seeterrier hin und her und wanden ihr schäumendes Kielwasser um die Flotte, bei Tag und Nacht. Wie sie es fertigbrachten, im Dunkeln Zusammenstöße zu vermeiden, war ein Rätsel, das über die Vorstellungskraft hinausging; Jimmie lag wach und malte sich aus, wie eins von ihnen gleich einem scharfen Speer auf die Kojenreihe im Zwischendeck losfuhr, wo er untergebracht war. Doch als der Morgen dämmerte, war seine Koje nicht durchbohrt, und die Wachhunde auf dem Meer woben noch immer ihre Muster. Es war ein Tag mit starkem Wind, mit Wolken und gelegentlich durchbrechenden Sonnenstrahlen, in denen die Wellen weiß und schäumend glitzerten. Jimmie stand mit seinem Freund, dem Wobbly, an der Reling und beobachtete die schaumgekrönten Wellen, als sein Gefährte seine Aufmerksamkeit auf ein Blitzen lenkte, das hartnäckig andauerte und einem ins Auge fiel. Sie zeigten es anderen, und da der strikte Befehl lautete, alles Ungewöhnliche zu melden, schrie jemand es dem nächsten Ausguck zu. Ein Ruf lief durch das Schiff, darauf erfolgte eiliges Flaggenschwenken des Signalgasts, und drei Zerstörer schossen davon wie Hunde auf der Jagd.
Ein paar Männer an Bord hatten Ferngläser bei sich und riefen, es sei etwas Schwarzes, und schließlich, es handle sich um ein Floß mit Menschen darauf. Später im Hafen erhielt Jimmie eine Erklärung für das Blitzen, das ihm ins Auge gefallen war - eine Frau auf dem Floß hatte einen kleinen Taschenspiegel gehabt, mit dem sie die Sonnenstrahlen zum Schiff reflektiert hatte, bis sie schließlich Aufmerksamkeit erregte.
Die Männer mit den Ferngläsern befanden sich zum großen Teil auf dem Oberdeck, und so sah Jimmie nichts von der Bergung; die Transportschiffe wichen natürlich weder vom Kurs ab, noch verlangsamten sie die Fahrt, denn ihre Befehle ließen Nächstenliebe unberücksichtigt. Sogar die kleinen Zerstörer näherten sich dem Floß erst, nachdem sie das Meer im Umkreis von einigen Meilen abgesucht hatten, und auch dann stoppten sie nicht ganz ab, sondern schoben sich vorbei und warfen den Menschen auf dem Floß Taue zu, mit denen sie einen nach dem anderen an Bord hievten. Ein Matrose, der neben Jimmie stand, erklärte ihm dieses Vorgehen, wie sich erwies, hatten die U-Boote die Gewohnheit, in der Nähe von Flößen und Rettungsbooten auf der Lauer zu liegen und über die Schiffe, die zu deren Rettung kamen, herzufallen. Die unglücklichen Schiffbrüchigen waren der Köder - „lebender Köder", erklärte der Matrose; die U-Boote lagen tagelang, manchmal eine ganze Woche lang, auf der Lauer und sahen zu, wie die Menschen in den Rettungsbooten gegen die Wellen kämpften, sahen zu, wie sie vor Kälte, Hunger und Durst starben, sahen zu, wie sie in ihrer Todesangst Signale gaben, wie sie ans Ruder gebundene Stofffetzen flattern ließen, wie sie riefen und um Hilfe flehten. Einer nach dem anderen siechten die Schiffbrüchigen dahin, und wenn der letzte umgekommen war, verschwand auch das U-Boot. „Toter Köder ist wertlos", erklärte der Matrose.
3
Dieser Matrose, Toms mit Namen, kam aus Cornwall; denn der Transporter war britisch und ebenso die begleitenden Kriegsschiffe - Jimmies Schicksal war dem „perfiden Albion" anvertraut worden! Siebenmal war dieser Toms torpediert und siebenmal war er gerettet worden, und er wusste Landratten ganz erstaunliche Geschichten zu erzählen, die ein neues Licht warfen auf eine Sache, über die unsere sozialistische Landratte mehrere Jahre lang debattiert hatte - das Torpedieren von Passagierschiffen mit Frauen und Kindern an Bord. Irgendwie war es für Jimmie ein Unterschied, als er von ganz bestimmten Frauen und Kindern hörte, als er hörte, wie sie ausgesehen und was sie gesagt hatten und wie es zugegangen war, als sie in die offenen Boote mussten, so mitten im Winter, und dann die Boote voll Wasser liefen und die Kinder erst blau wurden und dann weiß und sie schließlich gerettet wurden, mit abgefrorenen Nasen und Ohren und Händen und Füßen. Jimmie war ein Arbeiter und verstand die Sprache der Arbeiter, ihre Ansichten und ihre Lebensauffassung. Und der hier war auch ein Arbeiter; kein bewusster Sozialist, sicher nicht, aber immerhin ein Gewerkschafter, der das Misstrauen der Sozialisten gegen die Kapitalisten und Imperialisten teilte. Was dieser wetterharte Seemann Jimmie erzählte, war Jimmie bereit einzusehen und zu glauben; so lernte er, was er von den korrupten Zwecken dienenden
Zeitungen nicht hatte lernen wollen: dass es einen Verhaltens- und Moralkodex auf See gab, ein Gesetz seemännischen Anstands, das jahrhundertelang nicht gebrochen worden war, außer von Piraten und Barbaren. Die Männer, die zur See fuhren, waren eine Klasse für sich, sie hatten Instinkte, die aus der besonderen Grausamkeit des Elements, dem sie Trotz boten, geboren wurden - Instinkte, die stärker waren als alle Schranken von Nation und Völkerschaft und sogar stärker als die Haßgefühle des Krieges. Doch nun war gegen diese Seegesetze verstoßen worden, und der Hunne, der gegen sie verstoßen hatte, hatte sich damit für alle Menschen außerhalb der Grenzen des Erlaubten gestellt. In den Herzen der Seeleute hatte sich gegen ihn ein Hass von besonderer und einzig dastehender Intensität entwickelt; sie machten Jagd auf ihn, wie man auf Vipern und Klapperschlangen Jagd macht. Die Gewerkschaft, der dieser Toms angehörte, hatte gelobt, dass ihre Mitglieder nicht nur für die Dauer des Krieges, sondern auch in den Jahren danach weder auf einem deutschen Schiff fahren würden noch auf einem Schiff, auf dem ein Deutscher mitfuhr, noch auf einem Schiff, das einen deutschen Hafen ansteuerte oder deutsche Waren geladen hatte. Sie hatte sich geweigert, sozialistische Delegierte zu befördern, die gemeinsam mit deutschen Sozialisten internationale Konferenzen besuchen wollten; sie hatte sich geweigert, ganz egal, für welchen Zweck, Arbeiterführer zu befördern, deren Einstellung gegenüber Deutschland sie für zu lasch hielt. Als Jimmie das erfuhr, kam es, wie man sich denken kann, zu einer Kontroverse, die bis weit in die Nacht hinein dauerte! Eine beachtliche Menge versammelte sich und gab dem kleinen Sozialisten mit Wucht und Schärfe Kontra. Das Ende vom Lied war, dass irgendjemand ihn meldete und der befehlshabende Offizier seiner „Kraftfahreinheit" ihm anständig die Leviten las. Er sei nicht hier, um Friedensbedingungen auszuhandeln, sondern seine Arbeit zu tun und den Mund zu halten. Jimmie, von den Fängen und Klauen des Militarismusungeheuers eingeschüchtert, antwortete: „Jawohl, Sir" und ging weg und brütete den ganzen Tag vor sich hin und wünschte, dass die U-Boote dieses Transportschiff erwischen sollten mit Mann und Maus, ausgenommen zwei Sozialisten und einen Wobbly.
4
Es war am Morgen des Tages, an dem sie im Hafen einlaufen sollten. Jeder trug seine Schwimmweste und stand am vorgeschriebenen Platz, als plötzlich ein gellender Aufschrei ertönte und dann das Geschrei vieler Stimmen von der Seite des Schiffes her; Jimmie stürzte an die Reling und sah eine weiße Kielwasserspur gleich einem schnellen Fisch direkt auf das Schiff zukommen. „Torpedo!" hallte es, und die Menschen standen da wie angewurzelt. Weit hinten, wo die weiße Spur anfing, konnte man ein Periskop sehen, das langsam weiterzog; eine Serie krachender Geräusche folgte, und das Wasser ringsumher spritzte hoch auf, und die kleinen Seeterrier stürzten herbei, feuerten und machten ihre todbringenden Wasserbomben bereit. Doch von alledem bekam Jimmie nur einen flüchtigen Eindruck; ein Donnern ertönte, als ob sich die Hölle vor ihm öffnete; er wurde auf das Deck geschleudert, halb betäubt, und ein großes Stück Reling wirbelte an seinem Kopf vorbei und schlug in die Luxuskabine hinter ihm.
Das ganze Schiff war in Aufruhr; Menschen stürzten hin und her, die Besatzungsmitglieder rasten los, um die Boote zu Wasser zu bringen. Jimmie setzte sich auf und starrte umher, und das erste, was er sah, war sein Freund, der Wobbly, der in einer Blutlache lag mit einer großen klaffenden Wunde am Kopf.
Plötzlich begann jemand zu singen: „O sagt, könnt ihr sehn, bei des Morgenrots Licht..." Jimmie hatte dieses Lied nie gemocht, weil die Säbelrassler und Hurrapatrioten es als Vorwand benutzten, um die Radikalen zu tyrannisieren und zu demütigen, die nicht schnell genug Haltung annahmen. Doch jetzt war es einfach wunderbar, zu sehen, wie das Lied wirkte; alle fielen ein, und die jungen Rekruten und Arbeiter und Krankenschwestern und Krankenwagenfahrerinnen, sosehr sie sich auch fürchten mochten, dachten wieder daran, dass sie Teil einer Armee auf dem Weg in den Krieg waren. Einige halfen der Besatzung, die Boote zu Wasser zu lassen; andere verbanden Wunden und trugen die Verletzten über die sich rasch schräg stellenden Decks.
Das große Schiff ging unter. Der Gedanke war entsetzlich
dieser Koloss, der zwei Wochen lang die Heimat mehrerer tausend Menschen gewesen war, dieses schwimmende Hotel mit seinen Schlafkojen, seinen Speiseräumen, seinen Küchen, in denen der Lunch schon auf das Gegessenwerden wartete, seinen starken Motoren und seiner Ladung von allem, was eine Armee zum Leben und Wohlbefinden braucht - das alles sollte auf den Grund des Meeres sinken! Jimmie Higgins hatte vom Torpedieren vieler Ozeandampfer gelesen, doch bei all dem Lesen hatte er weniger darüber erfahren als hier in den wenigen Minuten, während er sich halb benommen an ein Stag klammerte und zusah, wie die Rettungsboote über die Seiten hinaus geschwenkt wurden und verschwanden.
5
„Die Frauen zuerst!" tönte der Ruf; aber die Frauen wollten nicht gehen, bevor nicht die Verwundeten von Deck waren, und das verursachte eine Verzögerung. Jimmie half seinen Freund, den Wobbly, holen und reichte ihn weiter, so dass er mit einem Seil heruntergelassen werden konnte. Um diese Zeit hatte das Deck schon eine solche Neigung, dass es schwer war, darauf zu gehen; der Bug sackte ab, und das Heck hob sich immer höher in die Luft. Wie groß so ein Ozeandampfer war, sah man jetzt erst, als er sich wie ein gewaltiger Berg erhob und bereit machte, in die Wellen zu tauchen! „Springt runter!" schrien Stimmen. „Die anderen Schiffe lesen euch auf. Springt und schwimmt!"
Jimmie stürzte an die Reling. Er sah unten ein Rettungsboot, das sich abzustoßen versuchte und von den hohen Wellen gegen das Schiff geschleudert wurde. Er hörte einen entsetzlichen Schrei und sah einen Mann zwischen das Boot und die Schiffsseite rutschen. Rechts und links von ihm sprangen Menschen - so viele, dass er keine leere Stelle im Wasser finden konnte. Doch schließlich sah er eine, kletterte über die Reling und wagte den Sprung. Er schlug ins eiskalte Wasser und sank, und eine Welle wälzte sich über ihn. Dank seiner Schwimmweste kam er rasch wieder hoch, schnappte nach Luft, wurde von einer neuen Sturzwelle fast erstickt und dann von dem Ruder im den Händen eines um sein Leben ringenden Matrosen auf den Kopf geschlagen. Es gelang ihm, auszuweichen und ordentlich auszugreifen, um vom Schiff wegzukommen. Er wusste, wie man das macht, dank den vielen „Schwimmlöchern" - einschließlich des einen, das er mit dem Kandidaten aufgesucht hatte. Aber nie zuvor war er in solch fürchterlicher Kälte geschwommen; sie war schlimmer, als er sie sich bei seinem Gespräch mit dem Genossen Meissner vorgestellt hatte! Ihre eisige Hand schien ihn zu erdrücken, das Leben aus ihm herauszupressen; er kämpfte verzweifelt, so wie man gegen das Ersticken ankämpft. Die Wogen schleuderten ihn hin und her, und dann plötzlich wurde er gepackt wie von den Niagarafällen und mitgerissen und nach unten gezogen - tiefer und tiefer. Er dachte, das wäre das Ende, und als er dann doch wieder an die Oberfläche kam, hatte er fast keine Kraft mehr zum Atmen. Der große Schiffsrumpf war nicht mehr zu sehen, und Jimmie zappelte in einem Strudel, zusammen mit gekenterten Booten und Rudern und Liegestühlen und den verschiedensten Wrackteilen und einer Menge Menschen, die sich an irgendwelche Trümmer klammerten oder mit aller Kraft schwammen, um sie zu erreichen. Jimmie war gerade so weit, dass er sich herumwerfen und mit dem Gesicht untertauchen wollte, als plötzlich über ihm auf einem Wellenkamm ein Boot aufragte, von Matrosen heftig gerudert. Einer im Boot warf ihm ein Tau zu, das er zu fangen suchte, aber verfehlte; das Boot schoss auf ihn zu, und ein Arm langte heraus und packte ihn beim Kragen. Es war ein starker und tröstlicher Arm, und Jimmie überließ sich ihm und wusste dann lange Zeit gar nichts mehr
6
Als Jimmie die Augen wieder aufschlug, befand er sich in einer recht ungewöhnlichen Lage. Zuerst wurde er nicht klug daraus; er spürte bloß unaufhörliche Schläge und Stöße, als ob ihn jemand in einem Riesensalzstreuer hin und her schüttelte. Da die Natur sich gegen solche Behandlung verzweifelt wehrte, erkämpfte sich Jimmie den Weg
zurück ins Bewusstsein und bekam etwas in seiner Nachbarschaft zu fassen, was sich alsbald als ein Messinggeländer herausstellte; er mühte sich, die Schläge seiner Peiniger abzuwehren, welch letztere sich als besagtes Geländer herausstellten plus einer Wand plus zweier anderer Männer, die links und rechts von ihm lagen, wobei jeder der drei mit Tauen an dem Messinggeländer festgebunden war. Die Wand und das Geländer und Jimmie und die anderen Männer benahmen sich auf unglaubliche Weise - sie schwebten nach unten, als ob sie in einen bodenlosen Abgrund tauchen wollten, dann schwebten sie wieder nach oben, als ob sie sich ganz und gar von der irdischen Sphäre lösen wollten; wobei der gesamte enorme Schwung vom untersten bis zum obersten Punkt, mathematisch errechnet, jedesmal eine Zeit von fünfeinhalb Sekunden in Anspruch nahm. Es dauerte nicht lange, und Jimmie entdeckte, dass es eine ganze Reihe Männer waren, die angebunden dieser bestürzenden Form von Folterung ausgesetzt wurden. Sie erinnerten an eine Reihe Kadaver in einem Schlächterladen -nur, wer konnte sich schon einen Schlächterladen vorstellen, in dem der Fußboden erst um fünfundvierzig Grad in die eine Richtung und dann, in einer Zeit von genau fünfeinhalb Sekunden, um fünfundvierzig Grad in die andere Richtung kippte?
Und sie brachten immer noch mehr Kadaver und hängten sie in diesen verrückt gewordenen Schlächterladen! Zwei Matrosen in Uniform kamen herein getaumelt, einen Mann zwischen sich tragend, klammerten sich ans Geländer, an Jimmie, an die anderen Männer, an alles, was sie greifen konnten. Mit aller Macht schossen sie vor, solange die Schaukel im Gleichgewicht war, bis zu einem neuen Platz am Geländer, wo sie den neuen Mann mit einem Stück Tau um die Mitte anbanden und ihn den Schlägen und Misshandlungen überließen. Die eine Seite des Raums war schon dicht mit Kadavern bepackt, und nun war die andere Seite dran, und noch immer brachten sie neue. Es war dies offenbar ein Speiseraum, da ein Tisch mit zwei Reihen von Stühlen die ganze Mitte einnahm; sie banden Menschen auf diesen Stühlen fest, sie brachten andere und banden sie unten an den Stühlen fest, überall, wo irgendwie Platz war! Einige meinten, sie könnten sich allein festhalten; doch
wenn die Matrosen gegangen waren, entdeckten sie, dass es mehr Geschicklichkeit erforderte, sich festzuhalten, als sie gedacht hatten, kamen über den Boden gesaust und landeten mit voller Wucht oben auf einem Mitmenschen. Es war nicht das erste Mal in Jimmies Leben, dass er sich in einer unangenehmen Situation allein wieder hochrappeln musste; sehr bald hatte er wieder einen klaren Kopf. Er bibberte wie im Schüttelfrost und brachte es fertig, aus seiner nassen Jacke herauszukommen. Da vor ihm auf den Stühlen ein paar Damen festgeschnallt waren, wollte er nicht weitergehen; aber bald kamen Matrosen mit Stapeln von Wolldecken und ließen ihn das schwierige Kunststück vollbringen, sich aus seiner triefenden eisigen Uniform herauszuschälen und sich dann so in eine Wolldecke einzuwickeln, dass das Seil um seine Mitte ihn nicht in zwei Hälften zersägte. Danach kam ein Steward mit einem Topf heißem Kaffee; während er mit bewundernswerter Geschicklichkeit den Topf jeder Winkellage das Schiffes anpasste, goss er daraus Kaffee in Tassen, die kleine Tüllen zum Trinken hatten, und kriegte auf diese Weise etwas davon Jimmies Kehle hinunter.
Der kleine Maschinenarbeiter fühlte sich danach besser und konnte dem Mann zu seiner Rechten seine Aufmerksamkeit widmen, der sich die Nase so oft aufgeschlagen hatte, dass sie in Strömen blutete, und der gegen so viele Kanten gestoßen worden war, dass ihm das Blut in die Augen gelaufen war und ihn blind gemacht hatte. Der Mann an seiner anderen Seite konnte sich offenbar gar keine Mühe geben, dass sein Kopf nicht immerfort aufschlug und seine Füße nicht immerfort in Jimmies Magengrube geschleudert wurden; nachdem Jimmie mehrmals protestiert hatte, kam ein Offizier, legte sein Ohr auf die Brust des Mannes und erklärte ihn für tot. Man brachte noch ein Seil und zurrte ihn fester, so dass er sich benehmen musste.
Mehrere Stunden hing Jimmie an diesem Geländer. Der Zerstörer würde bald im Hafen sein, erzählten sie ihm immer wieder; inzwischen brachten sie ihm heiße Suppe, um ihn bei Kräften zu halten. Manche wurden ohnmächtig, aber man konnte nichts weiter für sie tun. Die ersten Bootsladungen mit Geretteten hatten die Kojen der Offiziere wie der Mannschaften gefüllt; die übrigen mussten am Geländer
bleiben, so gut es ging. Sie konnten noch dankbar sein, dass das Wetter anständig war, sagte einer der Matrosen; das Schiff schlingerte zwar auch nicht rascher bei schlechtem Wetter, aber es schlingerte in derselben Zeit viel höher -eine Unterscheidung, die Jimmie als spitzfindig empfand. Die Arme des bedauernswerten Kerls waren vor Erschöpfung taub, er hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dass auf der Welt noch einmal irgend etwas zum Stillstand käme, als gemeldet wurde, der Hafen sei in Sicht und alle Not habe bald ein Ende. Und tatsächlich ließ das Schlingern allmählich nach. Das kleine Schiff erbebte noch immer von vorn bis achtern durch das Arbeiten seiner starken Motoren, doch das machte Jimmie nichts aus - an Maschinen war er gewöhnt; er band sich von dem Geländer los und legte sich auf den Boden, gleich da, wo er war, und schlief ein. Er öffnete auch nicht die Augen, als sie mit einer Trage kamen, ihn zu einem Pier trugen, ihn in einen Lastwagen schoben und schnellstens in ein Krankenhaus brachten.
1
Als Jimmie wieder Interesse am Leben nahm, lag er in einem Bett: einem Bett, das tatsächlich stillstand, das nicht sprunghaft bis an die Decke stieg und dann wie ein geschwinder Fahrstuhl ins Erdgeschoß sank. Besser noch war der Umstand, dass dieses Bett sauber bezogen war und dass ein liebreizender Engel in fleckenlosem Weiß darüber schwebte. Ihr, die ihr von Jimmie Higgins' Abenteuern lest, seid vielleicht ein wenig mit den guten Dingen des Lebens gesegnet und müsst euch erst erklären lassen, dass Jimmie noch nie erfahren hatte, wie es ist, zwischen Bettzeug zu schlafen - geschweige denn zwischen sauberem Bettzeug; Sie hatte er erfahren, wie es ist, in einem Nachthemd zu schlafen; noch nie hatte er heiße Brühe genossen, die ihm ein schneeweißer Engel mit einem strahlenden Lächeln und
einer Aureole von goldbraunem Haar gebracht hatte. Dieses wunderbare Wesen bediente ihn auf seinen leisesten Wink hin, und wenn sie nicht damit beschäftigt war, Botengänge für ihn zu erledigen, saß sie an seinem Bett und plauderte, wobei sie ihm alle möglichen Fragen stellte über ihn und sein Leben. Sie hielt ihn für einen Soldaten, und er, elender Wicht, merkte, was sie dachte, und schob es auf, ihr zu erzählen, dass er nur ein gewöhnlicher Motorradschlosser war!
Das hier war ein Kriegslazarett, und was man hier zu sehen und zu hören kriegte, war schrecklich; aber Jimmie entging das für lange Zeit fast gänzlich - er fühlte sich so behaglich! Er lag da wie eine angenehm schläfrige Katze; er aß Gutes und trank Gutes, und dann schlief er ein, und dann öffnete er die Augen im Sonnenschein einer goldbraunen Aureole. Erst allmählich erkannte er, dass irgendwo auf der Station jemand die ganze Nacht würgte und röchelte, weil seine Lungen zum Teil von giftigen Säuren zerfressen waren.
Jimmie erkundigte sich und erfuhr, dass über hundert Menschen auf dem Transportschiff hatten ihr Leben lassen müssen, einschließlich mehrerer Frauen; die Krankenschwester brachte eine Zeitung mit einer Liste der Opfer, in der er den Namen Mike Angoni fand - seinen Freund, den Wobbly aus dem fernen Westen! Auch den Namen Peter Toms fand er - den Matrosen aus Cornwall, den es bei der achten Attacke erwischt hatte! Jimmie las, dass das U-Boot, das den Transporter versenkt hatte, von einer Wasserbombe zerschmettert worden war; das Meer war voll von seinen Trümmern gewesen! Und so merkwürdig und schrecklich es auch scheinen mag, Jimmie, den Pazifisten, den Sozialsten, durchzuckte ein Gefühl der Genugtuung! Nicht ein einziges Mal hielt er sich damit auf, darüber nachzudenken, dass an Bord dieses Unterwasserfahrzeugs vielleicht irgendein deutscher Genosse gewesen war, irgendein versklavter, unglücklicher Internationalist wie er selbst! Jimmie wollte, dass die heimtückischen, verräterischen Schrecken des Meeres ohne jede Rücksicht ausgerottet würden! Die Krankenschwester mit dem Glorienschein von goldbraunem Haar fand Interesse an ihrem amerikanischen Patienten und setzte sich hin und unterhielt sich mit ihm, wann immer sich die Gelegenheit bot. Sie erfuhr von Elisa Betuser und den Kleinen, die bei der Explosion in Stücke gerissen worden waren. Sie erfuhr auch, dass Jimmie Sozialist war, und stellte ihm Fragen deswegen. Urteilte er nicht ein bisschen hart über die Oberklasse? Konnte es denn nicht sein, dass unter den Kapitalisten ein paar waren, die ebenso froh wären wie er, wenn sie ein besseres Gesellschaftssystem wüssten? Die junge Dame sprach das Wort „Kapitalisten" mit dem Akzent auf dem ersten „i" aus, was Jimmie eine Zeitlang verwirrte; auch versicherte sie ihm, dass die „Lohnskala" niemals mehr so weit heruntergehen würde, wie sie vor dem Krieg gewesen sei, und Jimmie musste fragen, was eine „Skala" sei. Was sie mit „Tortelett" meinte, brauchte er nicht zu fragen, weil es auf seinem Tablett lag -ein köstliches Erdbeertörtchen.
2
Dies alles hatte zu bedeuten, dass der Zerstörer in einen englischen Hafen eingelaufen war; die Krankenschwester war Britin. Hätte Jimmie Takt besessen, so hätte er sich daran erinnert, dass die Briten eine Garnitur von Herzögen, Grafen, Lords und dergleichen hatten, die ihnen lieb und teuer waren. Doch Takt ist nicht die Haupttugend von Sozialisten; vielmehr rühmte sich Jimmie sogar, dass er Takt verachte - wenn man seine Meinung über etwas wissen wollte, sagte er es den Leuten lieber „direkt auf den Kopf zu". Also gab er diesem weißen Engel zu verstehen, dass er die degenerierten Aristokraten der Alten Welt mit abgrundtiefer Verachtung betrachte; er würde sie am liebsten ohne viel Federlesens unverzüglich aus dem Verkehr ziehen. Vergebens hielt der Engel in Weiß ihm vor, dass manche doch vielleicht ganz brauchbare Menschen waren oder zumindest Menschen mit gutem Willen - Jimmie erklärte sie für einen Haufen Parasiten und Profitmacher; das einzig Richtige sei es, reinen Tisch mit ihnen zu machen. „Aber Sie werden ihnen doch nicht den Hals abschneiden?" sagte die Schwester. „Sie müssten doch jedenfalls eine Chance bekommen, sich zu bessern!"
„Aber gewiss!" antwortete Jimmie. „Was ich meine, ist bloß, jeder Mensch muss arbeiten - die Herzöge und Aristokraten genau wie alle anderen."
Die Schwester ging hinaus, um Jimmies Nachtgeschirr auszuschütten, und während sie draußen war, rührte sich der Mann im Nebenbett, der Richtkanonier auf einem amerikanischen Zerstörer gewesen war und den Kopf so dick verbunden hatte, dass er wie ein Hinduswami aussah, wandte seine müden Augen Jimmie zu und nölte: „Du, Kumpel. das Gequatsche lass man lieber!"
„Was willst 'n damit sagen?" fragte Jimmie, der Streit mit einem Militaristen witterte.
„Ich will damit sagen, dass diese junge Dame hier selber
zum Adel gehört."
„Ach hör doch auf!" sagte Jimmie.
„Ehrlich!" sagte sein Nachbar. „Ihr Vater ist der Graf von Skyeterrier oder irgend so 'nem Lausenest." „Nee, nich mit mir!" knurrte der kleine Maschinenarbeiter - denn bei denen von der Truppe war man nie sicher, ob sie einen nicht aufzogen. „Hast du sie nach ihrem Namen gefragt?" „Miss Clendenning heißt sie, hat sie mir gesagt." „Na, dann frag sie mal, ob sie nicht die Ehrenwerte Beatrice Clendenning ist, und warte ab, was sie antwortet." Aber Jimmie brachte nicht den Mut auf zu fragen. Als die junge Dame zurückkam und seinen sauber ausgespülten Nachttopf wiederbrachte, lag ihr Lieblingspatient still, hatte aber einen so roten Kopf, dass sie ihn verdächtigte, er habe ohne Erlaubnis aufstehen wollen.
3
Damit waren die Wunder keineswegs zu Ende. Am nächsten Tag ging ein aufgeregtes Gemurmel durch den Saal, und überall wurde frisch saubergemacht, obwohl eigentlich gar nichts da war, das saubergemacht werden musste. Blumen wurden hereingebracht, und jede Krankenschwester hatte sich eine Blume an die Bluse gesteckt. Als Jimmie wissen wollte, was los sei, sah ihn die Ehrenwerte Beatrice mit einem undurchdringlichen Lächeln an. „Wir bekommen hohen Besuch", sagte sie. „Aber das wird ja einen klassenbewussten Proletarier wie Sie nicht interessieren."
Mehr wollte sie ihm nicht sagen; aber als sie fort war, verriet es ihm der Bettnachbar. „Der König und die Königin kommen", sagte der Richtkanonier.
„Sonst noch was?" sagte Jimmie - diesmal ganz sicher, dass er verkohlt wurde.
„Sie kommen die U-Boot-Opfer besuchen", sagte der Richtkanonier. „Lass mal für heute deine sozialistischen Grobheiten weg."
Jimmie fragte die Schwester, als sie zurückkam, und tatsächlich stimmte es - der König und die Königin sollten in das Lazarett kommen und den Opfern des U-Boots ihre Hochachtung aussprechen. Aber das würde ihn, Jimmie Higgins, ja nicht interessieren. Vielleicht wäre es ihm lieber, wenn man ihn wegtrug und irgendwo in ein Extrazimmer legte, damit seine Revolutionärsaugen nicht Anstoß nehmen müssten? Oder wollte er lieber dableiben und mit Seiner Majestät wie mit einem Straßenredner sprechen? „Der hat bestimmt keine Zeit, mit so einem wie mir zu sprechen!" sagte Jimmie.
„Darauf würde ich mich nicht verlassen", antwortete die Schwester. „Er hat ja weiter nichts zu tun, als zu reden, müssen Sie wissen!"
Jimmie riskierte nichts weiter, weil er merkte, die Ehrenwerte Beatrice lachte ihn aus, und er war noch nie von einer Frau ausgelacht worden und wusste nicht ganz, wie er das auffassen sollte. Schließlich konnte er ja nicht wissen, dass die Ehrenwerte Beatrice eine Suffragette war und sich aus Prinzip über alle Männer lustig machte. Jimmie lag still in seinem Bett und ließ sich seine unwürdige Aufregung nicht anmerken. War das nicht ein tolles Ding? Er, ein ganz kleiner Arbeiter von nirgendwo, den die Wohlfahrt aufgezogen hatte und der einen großen Teil seines Lebens als Tramp verbracht hatte - er sollte den König von England kennenlernen! Jimmie hatte eine Art, mit Königen umzugehen, die umfassend und endgültig war; statt „König" sagte er „Kennich", und mit diesem, Namen hatte er sie erledigt, hatte sie einfach ausgelöscht. „Ich hab für so 'n Kennich keine Verwendung", hatte er zu der Ehrenwerten Beatrice gesagt.
Aber jetzt kam so ein „Kennich" ins Lazarett! Und wie sollte sich Jimmie verhalten? Wie zum Teufel redete man mit so einem? Musste man „Eure Majestät" sagen? Jimmie verkrampfte die Hände unter der Bettdecke. „Ich will verdammt sein, wenn ich das mache!" Er nahm seine ganze revolutionäre Leidenschaft zusammen, er beschwor die Geister seiner Gewerkschaftsfreunde, des Wilden Bill und Erdbeer-Currans und Plattkopf-Joes und Chuck Petersons. Was würden die unter den gegebenen Umständen tun? Was würde der Kandidat tun? Irgendwie war Jimmies revolutionäre Bildung unvollständig - in keiner Ortsgruppe der Sozialisten war je etwas darüber gesagt worden, wie ein Genosse sich zu verhalten hatte, wenn ihn ein „Kennich" besuchen kam!
Jimmie war von Natur aus ein freundlicher Mensch; er war bereit, auf die Freundlichkeit anderer Menschen freundlich zu reagieren. Aber vertrug es sich mit dem revolutionären Moralkodex, höflich gegen einen „Kennich" zu sein? War es nicht vielmehr seine Pflicht, irgendetwas zu tun, was seine Verachtung für „Kenniche" zum Ausdruck brachte? Vielleicht hatte Seine Königliche Hohlheit noch nie im Leben jemand getroffen, der ihm mal „die Meinung geigte". Nun, das konnte er heute haben!
4
Eine Schwester stürzte in großer Aufregung in den Saal und flüsterte: „Sie kommen!" Und danach standen die Schwestern alle herum und spielten nervös mit den Händen, während die Patienten dalagen und ihre Augen fest auf die Tür geheftet hatten, wo die Erscheinung sich zeigen sollte.
Schließlich erschien ein Mann in Uniform, den Jimmie nicht mal im Traum für einen König gehalten hätte, wenn er nicht schon sein Bild in der Illustrierten gesehen hätte Er war ein mittelgroßer, ziemlich gebückt gehender Herr, entschieden alltäglich aussehend und mit einem ergrauen-den, kurzgeschorenen braunen Bart und rosigen Wangen, wie alle Engländer sie haben. Begleitet wurde er vom Chefarzt, und hinter ihm kam eine Dame, eine ernstblickende,
schwarzgekleidete Dame, mit einer Reihe weiterer Ärzte als Gefolge, und hinter denen wieder kamen mehrere Offiziere in Uniform.
Der König und die Königin blieben am oberen Ende des Krankensaals stehen und blickten die Bettenreihen entlang. Beide hatten ein freundliches Lächeln aufgesetzt, grüßten kopfnickend und sagten: „Haudjudu?" Und natürlich lächelte alles zurück, und die Schwestern knicksten und sagten: „Haudjudu, Euer Majestäten?" Und dann sagte Seine Majestät: „Ich hoffe, es geht Ihnen allen schon besser?" Daraufhin rief der Arzt die Stationsschwester, die lächelnd vortrat, sich verneigte und antwortete, alle machten sehr schöne Fortschritte, danke der Nachfrage; worauf sowohl Seine wie Ihre Majestät erklärten, sie seien hoch erfreut. Die Königin sah sich um und ging, als sie einen Mann mit vielen Verbänden erblickte, zu ihm, setzte sich an sein Bett und begann ihm Fragen zu stellen; der König ging den Mittelgang hinunter durch den Saal, bis plötzlich sein Auge auf die Ehrenwerte Beatrice fiel.
Sie hatte sich nicht gerührt; sie stand an ihrem Platz, ganz wie die anderen Schwestern. Doch Jimmie, der Obacht gab, sah auf dem Gesicht des Königs ein Lächeln erscheinen,
und dann ging der König auf sie zu und sagte: „Oh, haudjudu?" Die junge Dame begrüßte ihn auf eine Weise, als
wäre sie es gewohnt, jeden Tag mit Königen zusammenzutreffen.
„Wie geht es Ihren Patienten?" erkundigte sich Seine Majestät.
„Ausgezeichnet", sagte sie, und Seine Majestät sagte, er sei hoch erfreut - als ob er nicht erst vor einer Minute ganz wörtlich dasselbe gesagt hätte. Mit wohlwollenden, doch müden Augen blickte er die Patienten an, und die Ehrenwerte Beatrice brachte ihn mit den feinen Mitteln, über die Frauen verfügen, dazu, dass er speziell ihren Günstling bemerkte. Sie wusste, er würde mit ein paar Patienten reden wollen, und brachte es mit einer kaum merklichen Geste zuwege, dass es Jimmie Higgins war, dem er sich zuwandte.
„Wie heißen Sie?" fragte er, und dann: „Nun, Higgins, wie fühlen Sie sich?"
„Ach, ich bin schon wieder auf dem Damm", sagte Jimmie forsch, „ich würde gerne aufstehn, aber sie lässt mich nich."
„Ja", sagte Seine Majestät, „früher war der König ein Tyrann, heute ist es die Krankenschwester." Er lächelte die Ehrenwerte Dame an. „Sie sind ein amerikanischer Soldat?"
„Nee", erwiderte Jimmie, „ich bin bloß Maschinenarbeiter." „Dieser Krieg ist ein Krieg der Maschinen", antwortete Seine Majestät gnädig.
„Ich bin Sozialist!" platzte Jimmie unvermittelt heraus.
„Tatsächlich!" sagte Seine Majestät.
„Aber genau!" lautete die Antwort.
„Aber wie ich sehe, sind Sie keiner von den Sozialisten, die
sich ihrem Land entgegenstellen."
„Lange Zeit hab ich das getan", sagte Jimmie. „Ich konnte nich einsehn, was wir mit diesem Krieg zu schaffen haben. Aber ich hab meine Ansicht geändert - ein bisschen." „Freut mich zu hören", bemerkte Seine Majestät. „Zweifel-los hat Ihnen Ihre jüngste Erfahrung geholfen, Ihre Ansicht zu ändern."
„Klar", erwiderte Jimmie. „Aber Sozialist bin ich geblieben, machen Sie sich da nichts vor, Mister König." „Ich werde es mir merken", sagte Seine Majestät, und er blickte die Ehrenwerte Beatrice an, und zwischen beiden blitzte eine jener kaum spürbaren Botschaften auf, die höchst kultivierte Menschen zu senden und zu empfangen wissen - über die Köpfe sozialistischer Maschinenarbeiter aus Leesville, USA, hinweg. Für die Ehrenwerte Beatrice besagte die Nachricht: „Ganz köstlich!" Für Seine Majestät besagte sie: „Ich wusste, Sie würden Ihre Freude daran haben!"
Jimmie dachte natürlich an nichts anderes als an Propaganda. Aus dieser seltenen Gelegenheit musste er das Beste machen! „Nach dem Krieg hier wird alles anders!" sagte er. „Für die Arbeiter, meine ich."
„Es wird für uns alle anders", sagte Seine Majestät. „Auch die Dümmsten von uns wissen das." „Die Arbeiter müssen kriegen, was sie verdienen!" beharrte Jimmie. „Ja, Mister König - zu Hause, wo ich herkomme, kann einer sein ganzes Leben zwölf Stunden täglich arbeiten und kriegt doch nicht so viel gespart, dass er sich beerdigen lassen kann. Und es heißt ja, hier in England soll es noch schlimmer sein."
„Wir haben furchtbare Armut hier", gab Seine Majestät zu. „Wir werden eine Möglichkeit finden müssen, sie zu beseitigen."
„Eine andere Möglichkeit als den Sozialismus gibt es nicht", rief Jimmie. „Interessieren Sie sich mal dafür, und Sie werden es sehen! Wir müssen das Profitsystem beseitigen. Der Mann, der die Arbeit macht, muss kriegen, was er produziert."
„Nun", sagte Seine Majestät, „Sie werden doch so weit mit mir übereinstimmen - wir müssen erst die Deutschen schlagen." Und dann wandte er sich an die Ehrenwerte Beatrice. „Wir werden von unseren amerikanischen Besuchern viel lernen", sagte er und blitzte ihr wieder eine dieser fast unmerklichen Nachrichten zu, die besagte, dass es vielleicht doch keine so gute Sache sei, wenn sich Patienten in Lazaretten über sozialistische Propaganda ereiferten! So wandte sich die Ehrenwerte Beatrice einem Mann in einem anderen Bett zu und Seine Majestät ebenfalls; er ermittelte, dass der Mann Deakin hieß und dass er aus Kap Cod kam. Seine Majestät bemerkte, wie dringend England gute Yankee-Richtkanoniere benötige und wie dankbar er denen sei, die der britischen Marine zu Hilfe kamen. Jimmie hörte zu, doch wirklich ein kleines bisschen eifersüchtig - nicht seinetwegen natürlich, sondern weil er wusste, dass der Sozialismus so viel wichtiger war als Geschützrichten!
5
Am Fußende des Bettes stand ein Offizier. Er hatte dort schon eine ganze Zeitlang gestanden, doch Jimmie hatte ihn nicht bemerkt, bis der König aufgestanden und weitergegangen war. Der Offizier war gerade die Sorte handgeschöpfter Aristokraten, wie sie sich Jimmie alle vorstellte: glattrasiert bis auf einen kleinen Spielzeugsoldatenschnurrbart, mit gelassenen, unbewegten Gesichtszügen, einer schmucken, fleckenlosen Uniform und einem komischen kleinen modischen Spazierstock in der Hand, um anzudeuten, dass er niemals etwas tat, was im entferntesten nach Arbeit aussah. Er beäugte den Maschinenarbeiter mit, wie der Maschinenarbeiter meinte, überheblicher Miene. „Mein guter Mann", sagte er, „Sie hatten eine Unterhaltung mit dem König!"
Das lag allerdings auf der Hand. „Klar!" sagte Jimmie. „Im allgemeinen", fuhr der Offizier fort, „redet man den König, wenn man zu ihm spricht, mit ,Eure Majestät' an -nicht mit ,Mister König'."
Jimmie war jetzt müde und nicht auf Streit aus; er fiel dem andern nicht in die Zügel, wie er es sonst wohl getan hätte. „Hat mir keiner gesagt", brummte er. „Außerdem", fuhr der andere fort, „hat man nicht unaufgefordert Ansichten zu äußern. Man wartet, bis der König eine Frage stellt, und dann antwortet man." Jimmies Augen waren geschlossen, und er öffnete sie nur halb, als er antwortete: „Und mir haben sie gesagt, das hier wär ein Krieg für die Demokratie!" sagte er.
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Jimmie Higgins bekam noch ein paar Tage bewilligt, um sich im Park des Lazaretts auszuruhen, und machte dort die Bekanntschaft und hörte die Erfahrungen von Männern, die in der Schlacht Arme und Beine verloren hatten oder von Flammenwerfern verbrannt worden waren oder durch Giftgas lebenslange Schäden davongetragen hatten. So seltsam es scheinen mag, Jimmie fand unter diesen Männern nicht wenige, mit denen er reden konnte, deren Ansichten den seinen nahekamen. Diese Briten waren durch die Mühle gegangen; sie wussten Bescheid. Ihnen sollte man nicht mehr mit Ruhm und Ehre kommen! Das überließ man den Zeitungsschmierern, den verdammten Schurken, die zu Hause blieben und die Trommel rührten, um andere Männer anzutreiben, dass sie in den Krieg marschierten und
starben. Man ging und ließ sich zusammenschießen, war fürs Leben ruiniert - und danach, was hatten sie dann noch für einen übrig? Für einen Verkrüppelten und Hilflosen war die Welt hart. Ja, sagte Jimmie, genauso hart, wie die Welt für einen Sozialisten war, den Träumer von der Gerechtigkeit.
Doch da war das alte Dilemma wieder, dem er nie hatte entfliehen können, weder in Leesville, USA, noch auf hoher See noch hier in Old England. Wie sollte man es mit den Hunnen halten? Ihnen die Hand entgegenzustrecken war dasselbe, als ob man sie in einen Tigerkäfig steckte. Nein, bei Gott, man musste gegen sie kämpfen, musste sie schlagen, koste es, was es wolle! Und der Redner fuhr fort und erzählte, was er gesehen hatte: einen preußischen Offizier, der einem englischen Chirurgen in den Rücken schoß, nachdem dieser Chirurg ihm die Wunden verbunden hatte; den Kommandanten eines Gefangenenlagers, der bei einer Typhusepidemie jede ärztliche Hilfe verweigerte und die ihm anvertrauten Leute wie Ratten krepieren ließ. Also, wenn es auch die Hölle war, man musste hindurch; wenn man ein Mann sein wollte, musste man die Zähne zusammenbeißen, die Fäuste ballen und seinen Teil von dem Grauenhaften übernehmen, egal, was es auch sein mochte. Und Jimmie, der auf seine bescheidene Art durchaus ein Mann war, biss die Zähne zusammen, ballte die Fäuste und übernahm in seiner Phantasie immer den Teil von demjenigen menschlichen Wracke das gerade mit ihm sprach. So wurde Jimmie Higgins zwischen den Mächten Militarismus und Revolution wie ein Tennisball hin und her geschlagen.
Gerade jetzt war die Lage wieder äußerst gespannt - die Hunnen hatten in Flandern eine gewaltige Offensive begonnen, die dritte Schlacht von Ypern, und die Briten wichen zurück, zwar nicht in wilder Flucht, sondern in geordnetem Rückzug, der aber doch jede Stunde in wilde Flucht ausarten konnte. Die Meldungen trafen mehrmals täglich ein, und die Leute auf den Straßen blieben stehen und lasen sie mit ängstlichen Gesichtern. Wenn der Wind richtig stand, hörte man den Kanonendonner jenseits des Ärmelkanals; Jimmie lag nachts wach und lauschte auf das dumpfe, ununterbrochene Rollen - ein furchtbares Gewitter von
Menschenhand, das den Soldaten, die sich in Granattrichtern und eilig aufgeworfenen Gräben duckten, Stahlschauer auf die Köpfe regnete. Der Krieg klang tatsächlich sehr nahe, wenn der Wind richtig stand!
2
Doch der Mensch muss immerhin leben. Jimmie war zum ersten mal in einem fremden Land, und als er Ausgang bekam, bummelte er mit ein paar anderen jungen Amerikanern durch die Straßen und bestaunte die Sehenswürdigkeiten dieser Stadt, die vor dem Krieg noch ein kleiner Hafen gewesen war, jetzt aber zu einem großen Zentrum des Welthandels geworden war, zu einem der Punkte, von denen aus Tag für Tag halb England über den Ärmelkanal geschafft wurde.
Man sah auf den Straßen keine Zivilisten bis auf ein paar alte Männer; man sah auch niemanden müßig bis auf die kleinen Kinder. Die Frauen fuhren die Lastwagen und die Straßenbahnen, die hier „Tram" hießen, und die Fahrstühle, die hier „Lift" hießen. Alle hatten ernste, verschlossene Gesichter, doch Sie hellten sich auf, wenn die Leute die Amerikaner sahen, die von so weit her gekommen waren, um ihnen in ihrer Not zu helfen. In den Konditoreien und den komischen kleinen „Pubs", in denen rotbäckige Mädchen sehr dünnes Bier ausschenkten, konnte man zu den Besuchern aus Übersee nicht höflich genug sein; auch der hochnäsige „Bobby" blieb stehen, um einem den Weg zu zeigen. „Die örste röchts, dann die drütte lünks", ratterte er herunter, und wenn man ihn dann dumm ansah, sagte er es noch einmal, genauso schnell wie vorher. Doch man brauchte Motorräder in den neuen amerikanischen Armeen so nötig, dass man Jimmie nicht viel Zeit ließ, den Helden zu spielen; er bekam seine Befehle und eine neue Ausrüstung und sagte der Ehrenwerten Beatrice Lebewohl, wobei er versprach, ihr ab und an zu schreiben und nicht zu schlecht über die Aristokratie zu denken. Er überquerte den Ärmelkanal, der von Booten wimmelte wie der Hudson von Fähren, und kam zu einem anderen und noch größeren Hafen, den die Amerikaner für Kriegszwecke ganz und gar umgebaut hatten. Seit dem Kampfbeginn waren hier lange Reihen von Docks entstanden; Jimmie sah Riesenkräne, die in den Frachtraum eines Schiffes hinuntertauchten und ganze Lokomotiven oder vielleicht ein halbes Dutzend Lastwagen auf einmal heraufzogen. Hinter diesen Docks war ein Gewirr von Eisenbahnanlagen und Gleisen und kilometerweit ein Schuppen hinter dem anderen, bis oben hin mit Vorräten aller Art vollgestopft. Die umliegenden Hügel bedeckte eine ganze Lagerstadt, und oben auf der Höhe stand eine alte, knarrende, moosbewachsene Windmühle - das Mittelalter blickte bestürzt auf diese neue Zeit herab.
Niemand fiel es ein, Jimmie zur Besichtigung dieser Wunderwerke einzuladen, doch ab und zu bekam er ein bisschen Einblick, und die Männer, mit denen er sich unterhielt, erzählten ihm mehr. Der eine hatte das Ausladen konservierter Tomaten geleitet; sechs Monate lang hatte er nichts weiter gesehen als Kiste um Kiste und Wagenladung um Wagenladung konservierter Tomaten, die auf der einen Seite in einen Schuppen hereinkamen und auf der anderen Seite wieder hinausgingen. Irgendwo in den höheren Regionen weilte ein bewundernswertes Tomatenhirn, das genau wusste, wie viel Konserven eine Einheit von Landsern in einem Ausbildungslager täglich verbrauchte, wie viel für die Patienten in den Lazaretten benötigt wurden, für die Holzfäller in den französischen Wäldern, für die Nachtschwärmer in den Baracken des Christlichen Vereins junger Männer. Hin und wieder brachte ein Schiff Nachschub, und der Mann, der Jimmie das erzählte, war der Boss einer Gruppe Neger, die die Kisten auf Lastwagen luden. Und dann begegnete Jimmie einem Franzosen, der Kellner in einem Chicagoer Hotel gewesen war und nun der Boss einer Gruppe drahthaariger koreanischer Arbeiter war. Jimmie hatte gedacht, er habe in den Werkstätten und Fabriken und Bergwerken Amerikas schon alle Völkerstämme der Erde kennengelernt; aber hier hörte er von neuen Menschensorten - Annamiten und Siamesen, Afghanen und Sikhs, Madagassen und Abessiniern und Algeriern. Das ganze britische Empire war hier vertreten und alle französischen Kolonien. Portugiesen und Brasilianer und Westindier, Buschmänner aus Australien und Zulus aus Südafrika, und
da die immer noch nicht gereicht hatten, schüttete jetzt Amerika den erst teilweise verschmolzenen Inhalt seines Tiegels aus - Hawaiier und Puertoricaner, Filipinos und „Spiggoties", Eskimos aus Alaska, Chinesen aus San Francisco, Sioux aus Dakota und schlichte schwarze Plantagennigger aus Louisiana und Alabama! Jimmie sah, wie eine Gruppe dieser letzteren ein Gleis in Ordnung brachte, das durch eine von einem Flugzeug abgeworfene Bombe aus seiner Lage gerissen war; ihre schwarze Haut glänzte von Schweiß, ihre weißen Zähne schimmerten in freundlichem Lächeln, wie sie da ihre schweren Brecheisen schwangen, eine lange Reihe von ihnen, die sich wie eine Maschine bewegte und dazu sang, um im Takt zu bleiben. „Alle Mann -ran!" rief der Offizier, und die Reihe kam Schwung...
„Nimm die Winde! Nimm die Stange! Nicht so träge! Nicht so lange! Faß mal an! Klotz mal ran
3
Seit nahezu vier Jahren hatte Jimmie über Frankreich gelesen, und jetzt war er selber hier und konnte sich alles mit eigenen Augen ansehen. Menschen mit Holzschuhen zum Beispiel! Es war die Mühe wert, über das Meer zu kommen, um sich anzusehen, wie Frauen und Kinder klipp, klapp über das Kopfsteinpflaster klapperten. Und die komischen kleinen Personenwagen der Eisenbahn mit den Türreihen wie Kaninchenställe. Beruhigend war es, dass der Zug eine normal große Lokomotive hatte mit der Aufschrift USA. Jimmie hatte eine Aktie an dieser Lokomotive und genoss einen sozialistischen Freudenschauer bei dem Gefühl, von ihr gezogen zu werden.
Dank dem U-Boot und dem Lazarettaufenthalt war er von seiner Einheit getrennt worden. Er hatte einen Marschbefehl mit der Anweisung, unter Benutzung eines bestimmten Zuges in eine bestimmte Stadt zu fahren. Nun saß Jimmie in diesem Zug und blickte aus dem Fenster, glücklich wie ein Junge, der schulfrei hat. Ein schönes Land, allenthalben strahlend im frischen Grün des Frühlings; breite, geradlinige Straßen für den Militärverkehr, gesäumt von Pappeln, Häuser aus Naturstein mit eigenartigen Steildächern und Greise, Frauen und Kinder bei der Arbeit auf den Feldern. Jimmie unterhielt sich mit den Männern im Abteil, Soldaten und Arbeitern, jeder ein Rädchen in dem großen Getriebe, jeder mit einem wichtigen Auftrag unterwegs. Jeder wusste etwas zu erzählen, sei es vom Kampf, sei es davon, wie die Vorbereitungen liefen. Seit mehr als einem Jahr war Amerika dabei, sich auf den Krieg einzustellen: was würde es jetzt, in der gefährlichen Krise des Krieges, tun? Alle waren aufs äußerste gespannt, jeder wartete ungeduldig darauf, in den Einsatz zu kommen, sich zu bewähren in der Aufgabe, die ihm so am Herzen lag. Alle wussten, dass die amerikanischen Landser den „Fritz" besiegen würden; sie wussten es genauso, wie fromme Menschen wissen, dass es einen Gott im Himmel gibt, nur - und damit unterschieden sie sich von den meisten frommen Menschen - hatten sie es besonders eilig, in diesen Himmel zu kommen und vor diesen Gott zu treten. Neben Jimmie saß ein Farmerjunge aus Wisconsin, dem Aussehen, dem Namen, sogar dem Akzent nach deutsch; aber er war bereit, gegen die Soldaten des Kaisers zu kämpfen - und ganz sicher, dass er sie schlagen würde! Hatte er denn nicht seit seiner Kindheit in einem freien Land gelebt, und hatte er nicht eine amerikanische Volksschule besucht?
Alle hatten spaßige Geschichten zu erzählen von Soldatenabenteuern in fremdem Land. Die Franzosen waren in Ordnung, selbstverständlich, besonders die Mädchen; aber die Kaufleute waren knickrig, und man tat gut daran, das Wechselgeld zu zählen und auf die Münzen zu beißen, die sie einem herausgaben. Was die Sprache anging - ach du liebe Güte! Warum wollten zivilisierte Leute durchaus eine Sprache sprechen, bei der man wie ein Schwein grunzen musste - oder wie ein ganzer Stall von Schweinen in allen Größen? Auf der anderen Seite des Ganges saß ein Chicagoer Straßenbahnschaffner mit einem kleinen Sprachführer, aus dem er ab und zu laut vorlas. „An, in, on, un" - Schweine in den verschiedensten Größen! Wenn man Brot haben wollte,
sagte man „Päng", und wenn man ein Gericht Eier haben wollte, sagte man „Katzöh". Und wie wäre es mit folgendem Zungenbrecher - sag mal „fünfhundertfünfundfünfzig Franc" auf französisch!
Zum Glück brauchte man so große Zahlen nicht zu sprechen - nicht mit der Löhnung eines Landsers, sagte ein Klempner aus dem Randgebiet von New York. Er für sein Teil hielt sich nicht lange mit Grunzen auf - er tat so, als ob er trank oder aß, und schon schleppten sie so lange was ran, bis sie herausgekriegt hatten, was er wollte. Einmal hatte er ein Mädchen kennengelernt, das ihm gefiel, und hatte sie zum Essen einladen wollen. Er hatte also ein Huhn gezeichnet und gedacht, er würde es gebraten bekommen. Sie hatte mit dem Kellner geplappert, und der war zurückgekommen mit zwei weichgekochten Eiern. So stellten die Franzosen sich das vor, wenn man eine Dame zum Essen einlädt!
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Jimmie wurde auf einen Lastwagen verladen, und ab ging die Post. Jetzt war aber verdammt zu spüren, dass es in den Krieg ging; es waren zwei fast lückenlose Kolonnen von Pferdewagen und Lastautos unterwegs; die eine mit französischen Soldaten und Material, die nach vorne gingen, die andere mit verwundeten französischen Soldaten, die zurückkamen. Es war wie auf dem Broadway zur Hauptverkehrszeit; bloß, dass hier alles in einer Staubwolke vorbeirollte - man bekam nur kurz mal Fahrer mit angespannten Gesichtern und blutunterlaufenen Augen zu sehen. Ab und zu gab es eine Stauung, und dann kochten die Männer über und fluchten aufeinander in allen möglichen Sprachen; Stabsfahrzeuge, die es besonders eilig hatten, fuhren von der Straße herunter und holperten querfeldein weiter, während Trupps schwarzer Arbeiter aus den französischen Kolonien die Gelegenheit nutzten, um die tiefen Fahrspuren in der Chaussee wieder aufzufüllen. Sie setzten Jimmie in einem Dorf ab, wo seine Kraftfahrereinheit ihr Quartier hatte: in einer langen Wellblechbaracke von der Art, wie man sie bei der Armee über Nacht aufstellt. Hier waren etwa zwei Dutzend Männer mit Reparaturarbeiten beschäftigt, und Jimmie hielt sich nicht lange mit Förmlichkeiten auf, sondern zog die Jacke aus und fasste mit zu. Es gab alle Hände voll zu tun, wie er sah; die Maschinen kamen an, ganze Wagenladungen manchmal, mit allem, was er an Schäden je gesehen hatte, und mit manchen Schäden, von denen man sich in Kummes Fahrradladen nichts hatte träumen lassen - die Reifen von Schrapnellsplittern zerfetzt, die Rahmen von Explosionen verbogen und dazu noch hässliche Blutflecken, um das Bild zu vervollständigen.
Es war eine der vielen Stellen, wo man amerikanische Einheiten eingesetzt hatte, um die angeschlagenen französischen Linien zuzustopfen. In der Nähe lag ein Reservebataillon, und außerhalb des Dorfes war ein Arbeitskommando dabei, Zelte für ein Lazarett aufzustellen. Etwa fünfzig Kilometer weiter vorn war die Front, und man hörte hin und wieder die Geschütze, ein leises, dumpfes Rollen, unterbrochen von den Hammerschlägen dicker Brocken. Hier in diesem fürchterlichen Inferno wurden Stunde um Stunde Millionen von Dollar in die Luft gejagt; eine Riesenfleischmaschine, die die Menschen zermalmte und seit fast vier Jahren weder Tag noch Nacht stillgestanden hatte. Mit diesem Geschützdonner in den Ohren konnte man ein leidenschaftlicher Pazifist sein oder auch ein leidenschaftlicher Militarist, aber man konnte dem Krieg gegenüber nicht gleichgültig bleiben, konnte nicht geteilter Meinung über ihn sein. Und doch - Jimmie Higgins war geteilter Meinung! Er wollte die Hunnen zurückschlagen, die diese ganze entsetzliche Schweinerei angerichtet hatten; er wollte aber auch die Profitmacher schlagen, die in der Heimat Schweinereien anrichteten. Jimmie war gerade in einem kritischen Moment zur Armee gestoßen, als keine amerikanischen schweren Geschütze da waren und die Zusagen für Maschinengewehre und Flugzeuge nicht eingehalten worden waren. In den Zeitungen zu Hause herrschte helle Aufregung, und in der Armee wurde nicht wenig gemurrt. Es wäre Schiebung und Politik, sagten die Männer, und diesen Gedanken griff Jimmie bereitwillig auf. Er erläuterte ihnen, wie die Profitmacher in der Heimat ihre Stellungen ausbauten und sich darauf vorbereiteten, die Soldaten auszubeuten, wenn sie zurückkamen und keine Arbeit hatten. Für diesen Gedankengang waren die Männer sehr aufgeschlossen, und der kleine Maschinenarbeiter freute sich darüber, was für einen grimmigen Ausdruck ihre Gesichter bekamen. Keine Angst, um diese Sache würden sie sich kümmern, und Jimmie machte weiter und erklärte ihnen genau, auf welche Weise sie sich darum kümmern mussten!
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Das kam aber nur hin und wieder vor, wenn der Wind sich gedreht hatte und man die Geschütze nicht hörte. Meistens wurden Jimmies Gedanken unwiderstehlich zur Front gelenkt; rings um ihn herum waren Tausende anderer Männer, alle mit ihren Gedanken an der Front, die Fäuste geballt, die Zähne zusammengebissen, in jeder Faser konzentriert auf die eine Aufgabe, die Bestie in Schach zu halten. Jimmie sah, wie die grauen Krankenwagen hereinkamen und die Verwundeten auf Tragen herausgehoben wurden, die Köpfe bandagiert, die Körper mit Laken zugedeckt, die Gesichter geisterhaft bleich. Er sah die Poilus, frisch aus dem Schützengraben, nach Gott weiß was für einer Dauerlast des Schreckens. Sie kamen angestolpert, gebeugt vom Gewicht ihrer Ausrüstung. Zum ersten mal sah Jimmie sie an einem Tag, an dem es pausenlos regnete und die von den großen Lastwagen zerwühlte Erde sich in knöcheltiefen Schlamm verwandelte; die Franzosen waren von Kopf bis Fuß dreckverkrustet; man sah unter ihren Stahlhelmen nur einen schlammbespritzten Bart, eine Nasenspitze und ein Paar eingesunkene Augen. Nicht weit von der Stelle, wo Jimmie arbeitete, hielten sie an und machten Rast; sie fielen um in die Nässe und schliefen ein in Wasserpfützen, in denen nicht einmal das Vieh hätte schlafen können. Man brauchte nicht Französisch zu können, um zu begreifen, was diese Männer durchgemacht hatten. Großer Gott! Das also ging da vorne vor sich? Jimmie dankte seinem Schicksal, dass er nicht weiter vorn war. Aber dieser Trost eines Feiglings hielt nicht lange vor, denn Jimmie war kein Feigling, er war es nicht gewohnt, andere für sich kämpfen und leiden zu lassen. Er bekam Gewissensbisse. Wenn das der Preis dafür war, die Bestie niederzuringen und die Welt reif zu machen für die Demokratie, warum drückte er sich dann? Warum saß er dann warm und wohlgenährt im Trocknen, während die Arbeiter Frankreichs draußen in den Gräben im Regen lagen? Jimmie machte kehrt und schob Überstunden ohne Extrabezahlung - etwas, wozu der alte Granitch ihn nie im Leben hätte kriegen können und der alte Kumme auch nicht. Drei volle Tage blieb er Militarist und vergaß seine lebenslange Erziehung zur Rebellion. Aber dann bekam er Streit mit einem rotköpfigen nordirischen Hurrapatrioten aus seiner Einheit, der die Ansicht vertrat, jeder Sozialist sei innerlich ein Hochverräter und nach dem Kriege solle man die Armee einsetzen, um mit denen allen Schluss zu machen. In seinem Zorn ging Jimmie weiter, als er eigentlich wollte, und bekam wieder einen „Anpfiff" von seinem vorgesetzten Offizier; darauf loderten ein paar Tage seine proletarischen Gefühle lichterloh, und er wollte die Revolution sofort und auf der Stelle, Hunnen oder keine Hunnen.
6
Aber die meiste Zeit wurde Jimmie jetzt vom Herdentrieb beherrscht; er wollte das, was alle die Männer in seiner Umgebung auch wollten - die Bestie fernhalten von diesen schönen französischen Wiesen und malerischen alten Dörfern, von diesen amerikanischen Lazaretten und Erholungs-lagern und den Baracken des Christlichen Vereins junger Männer - ganz zu schweigen von den Motorradreparaturschuppen mit Jimmie Higgins darin! Und das schlimme war, dass die Bestie eben nicht ferngehalten wurde; sie kam näher und näher - ein Sturmangriff nach dem anderen! Jim-mies Dorf lag in der Nähe des Marnetals, und das war der Weg nach Paris; die Bestie wollte nach Paris, sie rechnete fest damit, nach Paris zu kommen!
Das Rollen der Geschütze wurde immer lauter, und die wildesten Gerüchte flogen durch das Land. Der Verkehr auf
den Straßen wurde dichter, kam aber langsamer voran, denn die Deutschen beschossen die Straße weiter vorn mit Artillerie, und es gab häufig Stockungen; eine Riesengranate
hatte nur ein paar Kilometer entfernt einen französischen Artillerietrain getroffen. „Wenn das so bleibt, verlegen sie uns nach hinten", sagte Jimmies Sergeant, und Jimmie fragte sich: Was aber, wenn man sie nicht verlegte? Was aber, wenn man das nun einfach vergaß? Gab es irgendeinen Menschen, dessen spezielle Pflicht es war, darauf zu achten, dass Motorradeinheiten gerade noch rechtzeitig verlegt wurden? Und was, wenn die Deutschen nun durchbrachen und alle Berechnungen über den Haufen warfen? Das war eine ganze Menge mehr, als Jimmie Higgins in dem Moment hatte haben wollen, da er in Leesville, USA, den Fuß in die Meldestelle gesetzt hatte! In Jimmies Einheit wurden an alle Gasmasken ausgegeben, und in der Baracke wurde eine Alarmglocke angebracht, und jeder musste üben, die Gasmaske so rasch wie möglich aufzusetzen. Jimmie hatte so viel Angst, dass er ernstlich daran dachte, davonzulaufen; was er aber wirklich tat - so verdreht ist die menschliche Natur -, war, in die entgegengesetzte Richtung zu rennen! Sein kommandierender Offizier kam in die Baracke und fragte: „Leute, kann einer von euch fahren?" Man stelle sich einmal vor, dass jemand, der Motorräder reparierte, vielleicht zugegeben hätte, er könne nicht fahren! „Ich!" sagte Jimmie. „Ich!" sagte jeder zweite, der da arbeitete.
„Um was geht's?" fragte Jimmie - vorwitzig und unternehmungslustig wie stets.
„Die Franzosen verlangen ein halbes Dutzend Mann jetzt
sofort. Ihnen sind mehrere Kraftfahreinheiten aufgerieben
oder gefangengenommen worden."
„Verdammt!" sagte Jimmie. „Ich geh mit!"
„Ich auch!" sagte ein zweiter.
„Ich auch!"
„Ich auch!"
„Gut", sagte der Offizier und zählte sie ab: „Sie und Sie und Sie. Und Sie, Cullen, übernehmen das Kommando. Melden Sie sich beim französischen Hauptquartier in Chatty Terry. Sie wissen, wo das ist!"
„Aber klar!" sagte Cullen. „War schon da." Jimmie war noch nie in „Chatty Terry" gewesen, aber er wusste, dass es irgendwo auf der anderen Seite der Marne lag. Der Offizier gab ihm eine Karte und zeigte ihm, durch welche Dörfer er
kommen müsste. Jimmie und seine Kameraden sagten die Namen dieser Dörfer auf, und zwar in vernünftiger Sprache, ohne Zugeständnisse an die albernen Vorstellungen der Einheimischen. Weipers, Riems, Verduhn, Devil-Wut, Armentieres, Sang Miel - von diesen allen hatte Jimmie schon gehört; auch von einem Ort, wo die Amerikaner vor einer Woche ihren ersten ruhmreichen Sieg erfochten hatten und den sie manchmal Cantinny, manchmal Tincanny nannten. Und jetzt machte sich Jimmie auf den Weg nach „Chatty Terry", unter dem Kommando eines rotköpfigen Iren, der vor ein paar Tagen die Ansicht vertreten hatte, dass alle Sozialisten Verräter seien und erschossen werden sollten! Der Offizier verteilte Marschbefehle an sie - er gab jedem einen, für den Fall, dass sie getrennt wurden -, und dann gingen sie los, dorthin, wo die neuen Maschinen aufgereiht standen. Unterwegs erlebte Jimmie einen Augenblick absoluter Panik. Auf was hatte er sich da eingelassen, Idiot, der er war? Ging dorthin, wo die Granaten einschlugen und Kraftfahreinheiten wegputzten! Und noch dazu Granaten, die meistens voll Giftgas waren! Von all den Dummheiten, die er im Leben fertiggekriegt hatte, setzte diese doch allem die Krone auf! Seine Knie begannen zu zittern, und ihm wurde ganz schlecht! Doch dann blickte er auf und sah Pat Cullens drohende blaue Augen; Jimmie erwiderte den funkelnden Blick, und der Kampfgeist flammte in ihm auf, er packte den Lenker eines Motorrads und schob es zur Tür. Sollte ihn irgend so ein irischer Mick dabei erwischen, dass er Schiss hatte, und ihn vor allen zusammenstauchen und die sozialistische Bewegung mit Dreck bewerfen? Wohl kaum!
1
Die sechs Motorradfahrer sprangen auf ihre Maschinen und fuhren knatternd die Landstraße hinunter. Natürlich fuhren sie um die Wette; Motorradfahrer fahren immer um
die Wette - und hier hatten sie die beste aller Entschuldigungen, die französische Armee brauchte sie ja so dringend, weil mehrere ihrer kostbaren Motorradeinheiten aufgerieben oder gefangen genommen worden waren! Sie rasten dahin, schlüpften zwischen Lastkraftwagen und Autos, Krankenwagen und Munitionswagen, Pferdewagen und Maultierwagen hindurch, wobei es ihnen immer wieder gelang, um Haaresbreite davonzukommen, was für jeden normalen Motorradfahrer die größte Freude im Leben ist. Hin und wieder, wenn es ihnen zu langsam ging, krochen sie in den Gräben weiter oder schoben ihre Maschinen über die gepflügten Felder. So traf es sich, dass sich Jimmie mit seinem rotköpfigen irischen Widersacher auf einmal im Wettstreit befand; eine schmale Lücke zwischen zwei abgestellten Fahrzeugen, und Jimmie kam auf Handbreite durch, warf sich auf seine Maschine und sauste davon, frei und triumphierend - sein eigener Boss! Er gab volle Pulle und machte Fahrt - meine Herren! Kein Mick sollte ihn einholen und ihm Befehle zuschrein!
Lange Züge von Flüchtlingen kamen aus der Richtung der Schlachtfelder zurückgeströmt; bedauernswerte Bauersleute mit Pferdekarren und Hundekarren und selbst Schubkarren, zahnlose alte Männer und Frauen, die nebenher trotteten, Kinder und Säuglinge, die zwischen Bettzeug und Mobiliar und Pfannen und Vogelkäfigen thronten. Das war der Krieg, wie ihn das einfache Volk erlebte; aber Jimmie konnte sich nicht damit aufhalten, darüber nachzudenken - Jimmie war auf dem Weg an die Front! Große Aufklärungsballons schwebten über seinem Kopf wie ungeheure graue Elefanten mit großen Ohren; Flugzeuge schwirrten umher, vollführten die unglaublichsten akrobatischen Kunststücke und besprühten einander mit Schauern von Stahl; aber Jimmie hatte keine Zeit für einen einzigen flüchtigen Blick auf diese Wunder - Jimmie war auf dem Weg an die Front! Er jagte um eine Kurve, und direkt vor ihm war ein Loch in der Mitte der Straße, so groß, als hätte ein Löffelbagger eine Woche lang daran gearbeitet. Jimmie bremste scharf und wich seitwärts aus, streifte fast einen Baum und sauste in ein Kohlfeld. Er stieg ab, sagte ein paarmal „Junge, Junge!" und plötzlich war es, als ob er mit einem zwölfzölligen
Brett eins hinters Ohr kriegte - die ganze Welt um ihn verwandelte sich in ein ungeheures Grollen, und ein grauer Rauchberg schoss vor ihm in die Höhe. Jimmie riss die Augen auf und sah, wie aus einem kleinen Gebüsch ein langes schwarzes Etwas herauskam gleich der Schnauze eines Riesentapirs aus prähistorischer Zeit. Es war ein zehnzölliges Geschütz, dessen Rohr nach dem Rücklauf wieder in die alte Lage zurückkehrte, und Jimmie, der den Qualm roch, kämpfte sich mit seiner Maschine zur Straße zurück, bevor das Biest wieder loslegte und ihn endgültig erstickte.
In der Ferne stand ein Fachwerkhaus und davor eine Scheune und Ställe mit Strohdächern. Irgend etwas heulte auf, genau wie die Sirene Nummer eins der Firma Hoch und Ladder, die in den Straßen von Leesville, USA, die Luft zerriss; in einem der Ställe blitzte etwas auf, und alles verschwand in einer Sprengwolke, die sich in der Luft ausbreitete wie ein ungeheurer Flederwisch aus Truthahnfedern. Wieder ertönte ein Pfeifen, ein bisschen näher, und die Erde schoss in die Höhe als ein riesiger schwarzer Pilz, der brodelte und wallte wie die Wolken eines aufziehenden Gewitters. Wumm! Wumm! Ein zweifaches ungeheures, durchdringendes Dröhnen erfüllte Jimmies Ohren, und seine Knie begannen zu zittern. Teufel noch mal! Er stand unter Beschuss! Er sah nach vorn, gleich da oben mussten die Deutschen sein! War es jetzt seine Pflicht, weiterzufahren, ins Ungewisse hinein?
Eins war klar, es war eine große Schlacht im Gange; doch der Gefechtslärm war so verteilt, dass man einfach nicht sagen konnte, ob er von vorn oder von hinten kam. Der Train jedoch rückte gleichmäßig weiter vor - Pferdewagen, Maultierwagen, Kraftwagen, alle schoben sich unverdrossen weiter, ohne auf das Platzen der Granaten zu achten. Und dann warf Jimmie einen Blick zurück und sah diesen verdammten rotköpfigen Iren! Er glaubte eine raue Stimme rufen zu hören: „Vorwärts, los! Vorauf wartest du noch?" Jimmie sprang auf seine Maschine und drehte auf! Er kam an eine Stelle, wo es in eine Ladung Munition eingeschlagen hatte und Fahrer und Fahrzeug zerfetzt dalagen; es war ein grauenhafter Anblick, aber Jimmie fuhr ohne große Gefühlsregung daran vorbei - sein einziger Gedanke war, Pat Cullen auf der Fahrt nach Chatty Terry zu schlagen! Dann kam er an ein Dorf und fand dort ein Bauernhaus, dessen Dach weggerissen war, und einen Geruch, der frisch aus der Hölle kam, und eine verängstigte alte Frau am Wegrand mit zwei verängstigten Kindern, die sich an ihren Rock klammerten. Jimmie bremste seine Maschine und schrie: „Chatty Terry?" Als die alte Frau nicht gleich antwortete, schrie er wieder: „Chatty Terry? Chatty Terry? Verstehn Sie kein Französisch? Chatty Terry?" Die alte Frau verstand offenbar kein Französisch. Er fuhr die Dorfstraße hinunter und stieß auf einen Militär-Polizisten, der auf einer Kreuzung den Verkehr regelte. Dieser Mensch verstand Englisch und sagte: „Chatty Terry? Es ist gefallen!" Und als Jimmie verblüfft stehenblieb und nicht wusste, was er nun machen sollte, sagte ihm der Gendarm, dass das Hauptquartier in dieses Dorf verlegt worden sei - es befinde sich im Château; er sagte nicht „Chatty", und Jimmie verstand darum sein Englisch nicht. Aber er fuhr in die angegebene Richtung und kam an ein Gebäude mit eisernen Gittertoren davor und einem großen Garten und einer Wache davor und geschäftigem Kommen und Gehen; da wusste er, er hatte sein Ziel erreicht und seinen irischen Widersacher geschlagen!
2
Jimmies Marschbefehl war auf französisch und englisch ausgefertigt, so dass der Posten ihn lesen konnte und ihm winkte, er könne passieren. An der Tür des Châteaus zeigte er seinen Schein wieder vor, und ein französischer Offizier in der Halle bekam ihn zu Gesicht und rief: „Ein Motorradfahrer? Mon Dieu!" Fast rennend brachte er Jimmie in ein anderes Zimmer, wo ein anderer Offizier an einem großen Tisch mit einer darauf ausgebreiteten Karte saß und unzählige Aktenschränke an der Wand standen, „Un Courier américain!" rief er. „Nur einer?" fragte der Offizier auf englisch. „Fünf kommen noch", sagte Jimmie rasch. Er hasste Pat Cullen wie den Teufel, aber er wollte doch nicht, dass irgendein französischer Offizier dachte, Pat trödelte bei seiner Arbeit.
„Die Straße ist aufgerissen und dabei so viel Verkehr. Ich bin gekommen, so schnell ich ..."
„'ier!" fiel ihm der Offizier ins Wort - nicht ganz so höflich, wie man es den Franzosen gewöhnlich nachsagt. „Dieses Paket enthält Karten, nach Luftaufnahmen angefertigt -Sie verstehn? Es ist für das Artillerie ..." Der Offizier hielt einen Augenblick inne; draußen ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen, und die Fensterscheiben im Zimmer zersprangen, und irgendetwas streifte Jimmies Gesicht.
„Voilà!" kommentierte der Offizier. „Der Feind kommt näher. Unsere Leitungen sind unterbrochen; wir schicken Kuriere, aber vielleischt sie kommen nischt an; es muss sein, dass wir schicken viele - wie sagt man? - Doubletten, Sie verstehn?"
„Aber sicher!" sagte Jimmie.
„Es ist serr dringend; die Schlacht 'ängt davon ab - vielleischt sogar der Krieg. Sie verstehn?" „Aber sicher!" sagte Jimmie wieder. „Sic haben Mut, mon garcon?"
Hierauf antwortete Jimmie nicht so prompt; aber der Offizier war zu taktvoll, um zu warten. Statt dessen fragte er: „Sie sprecken französiesch?" Und als Jimmie den Kopf schüttelte: „Es muss sein, dass Sie lernen. Sagen Sie nach: Batterie Nomb Katt. Versuchen Sie, bitte serr: Batterie Nomb Katt." Jimmie versuchte es, stammelnd wie ein Schuljunge; der Offizier ließ ihn die Laute wiederholen und versicherte ihm ernsthaft, er brauche keinerlei Bedenken zu haben; wenn er diese Laute genau nachspreche, werde jeder Franzose wissen, wo er hinwolle. Er solle die Hauptstraße nehmen, die vom Dorf nach Osten führe, und so lange fahren, bis er zu einer Abzweigung komme; dann solle er sich rechts halten, und wenn er dann an den Rand eines dichten Waldes komme, solle er den Weg nach links nehmen und dann zu allen, denen er begegne, sagen: „Batterie Nomb Katt!" „Sie 'aben eine Waffe?" fragte der Offizier, und als Jimmie mit Nein antwortete, drückte er auf einen Knopf und sprach einige rasche Worte zu einer Ordonnanz, die mit einer Selbstladepistole und einem Koppel angerannt kam, das Jimmie sich mit einem Gemisch aus freudigem Stolz und panischer Angst umschnallte. „Sagen Sie den Männern dieser Batterie, dass die Amerikaner ihnen bald zu 'ilfe kom-men. Sie werden sie doch finden, mein tapferer Amerikaner?" Der Offizier sprach zu ihm wie zu einem Sohn, den er zärtlich liebte, und Jimmie, der noch nie einen Befehl in diesem Ton empfangen hatte, erwiderte die Zuneigung, ballte plötzlich die Fäuste und antwortete: „Ich werde mein Bestes tun, Sir." Er machte kehrt, um das Zimmer zu verlassen, und wen sah er da gerade hereinkommen - Pat Cullen! Jimmie zwinkerte ihm zu, grinste, hastete hinaus und sprang auf seine Maschine.
3
Da war nun also der kleine Maschinenarbeiter aus Leesville, USA, und jagte die zerschossene Straße dieses französischen Dorfes hinunter, während so etwas wie ein mittelwestlicher Wirbelsturm in meinem Kopf tobte. Es heißt immer, dass sich ein Ertrinkender noch einmal an alles erinnert, was in seinem Leben geschehen ist; vielleicht traf das auf Jimmie nicht zu, aber sicher war, dass er sich an jedes Argument für den Pazifismus erinnerte, das er in seinem Lehen gehört hatte. Um Gottes willen, auf was hatte er sich da eingelassen? Er war unterwegs dorthin, wo die ganze deutsche Armee durchzubrechen versuchte - mit einem Auftrag, wie es ihn gefährlicher in diesem Krieg nicht geben konnte! Wie im Namen von Karl Marx und der ganzen revolutionären Hierarchie hatte er sich nur in einen solchen Schlamassel bringen können? Er, Jimmie Higgins, Bolschewik und Wobbly!
Und er hielt sogar durch! Er war drauf und dran, sein Leben aufs Spiel zu setzen - bloß weil er nun mal damit angefangen hatte - weil er sich verpflichtet hatte - weil er Karten mit sich führte, die einer Batterie helfen konnten, den Krieg zu gewinnen! War ihm dieser verfluchte Kapitalistenkrieg wirklich so viel wert? So schrien die proletarischen Dämonen in Jimmie Higgins' Seele, und unterdessen hämmerte und tuckerte der Motor, und eine wunderbare Macht tief in seinem Unterbewusstsein bewegte den Lenker, so dass er den Granattrichtern auswich und die Autos nur streifte. Die Luft war erfüllt vom Kreischen der Granaten und vom
Krachen der Einschläge, einem infernalischen Getöse, in dem er kaum einzelne Geräusche unterscheiden konnte. Die Straße vor ihm war nicht mehr so voll; die Fahrzeuge hatten sie verlassen, hatten sich nach beiden Seiten verteilt. Wie weit war es noch bis zu der bewussten Abzweigung? Und gesetzt den Fall, die Deutschen waren schon dort und hatten die „Batterie Nomb Katt" gefangengenommen -sollte er ihnen dann auch noch ein brandneues Motorrad als Zugabe liefern? Er kam an anderen Batterien vorbei; warum konnte er die Karten nicht denen geben? Innerlich kochend, fuhr Jimmie weiter. Wäre er ein Meldefahrer gewesen, hätte er über all das genau Bescheid gewusst, aber er war bloß ein Reparaturschlosser, und sie hatten kein Recht, ihm einen solchen Job aufzuhalsen!
Jimmie fuhr jetzt durch Wälder, deren Bäume von Granaten zerfetzt waren, und er hielt es für einen Akt der Klugheit, von der Maschine abzusteigen, sich weiterzuschleichen und zu peilen, ob womöglich Deutsche auf der Lichtung weiter vorn waren. Und plötzlich knickten ihm die Knie ein, wegen der Angst, die er bei all diesem Höllenlärm ausstand. Ihm wurde furchtbar elend in der Magengegend, und er tat dasselbe, was er während der ersten drei Tage auf seiner Ozeanfahrt von New York hierherüber getan hatte. Zugleich gerieten auch all seine übrigen Körperfunktionen in Tätigkeit. Eine vorbeikommende Gruppe Franzosen brach in fröhliches Gelächter aus; es war lächerlich und demütigend, aber Jimmie konnte einfach nichts dagegen machen -er war nicht zum Soldaten geboren, er hatte kein Soldat werden wollen, sie hatten kein Recht gehabt, ihn hierherzuschicken, wo sich ungeheure Granattrichter in der Erde auftaten und ganze Bäume aus der Erde gerissen wurden und die Luft erfüllt war von einem Gestank, der vielleicht eine Gasmaske erforderlich machte, vielleicht aber auch nicht -wie sollte der arme Jimmie das wissen?
4
Er bezwang das entsetzliche Zittern seiner Knie und die grotesken Anstrengungen seines Körpers, alles loszuwerden, was in ihm war, setzte sich wieder auf seine Maschine und stahl sich weiter vor. Er kam immer nur zehn, zwanzig Meter auf einmal voran, weil die Straße so aufgerissen war. Sollte er die Maschine liegenlassen und lieber laufen? Oder sollte er umkehren und denen erzählen, dass ihre verdammten Karten alle verkehrt waren, dass die Straße gar keine Abzweigung hatte? Nein - denn endlich kam die Abzweigung doch, und nachdem Jimmie weitere hundert Meter teils gefahren, teils gelaufen war, kam er an ein Weizenfeld und dann an ein Gehölz, und am Rande des Gehölzes spien vier Kanonen Flammen und Rauch und Lärm. Jimmie stellte seine Maschine in einem Graben ab und stürmte über das Feld, verrückt vor Erleichterung, dass er seine „Batterie Nomb Katt" gefunden hatte und nun sein kostbares Päckchen übergeben und dann aus diesem Gemetzel heraus konnte, so rasch ihn zwei Räder wegfahren würden. Doch zu seiner Bestürzung musste er feststellen, dass es nicht die französische Batterie war, sondern eine amerikanische Batterie; die französische Batterie lag noch weiter vorn und ein bisschen nach rechts zu; der Offizier gab ihm die Richtung an und hielt es für ganz selbstverständlich, dass Jimmie zu seinem Bestimmungsort weiterfahren würde. Doch dann kam ein zweiter Offizier dazu. „Was haben Sie denn da?" Und als Jimmie antwortete, Karten, wollte er sie sehen; er war anscheinend so scharf auf Karten wie ein Kind auf seine Geschenke am Weihnachtsabend. Er riss das Päckchen auf - was in der Armeesprache „den Dienstweg verkürzen" heißt -, breitete die Karten aus und begann einem anderen Offizier, der auf einem Feldstuhl an einem Klapptischchen saß und viele Blätter mit Ziffern vor sich liegen hatte, Ziffern zuzurufen. Dieser Offizier schrieb die Informationen auf - und die Männer an den Geschützen schoben dann die Granaten in die Rohre und traten zurück, während die jaulenden Boten auf ihren Weg geschickt wurden. Weiter hinten waren andere Männer und karrten Munition heran, die sie von einem der großen Lastatitos abluden, denen Jimmie auf der Chaussee ausgewichen war. Es war eine regelrechte Fabrik hier mitten auf dem Feld, die dem unsichtbaren Feind Vernichtung schickte. „Wir sitzen ganz schön im Dreck", bemerkte der Offizier, als er die Karten wieder zusammenfaltete und Jimmie aushändigte. „Unsere Leitungen sind in der letzten halben
Stunde dreimal unterbrochen worden, und wir müssen blind schießen."
„Wo sind die Deutschen?" fragte Jimmie. „Irgendwo dort weiter vorn." „Haben Sie sie gesehen?"
„Großer Gott, nein! Hoffentlich sind wir weg, bevor sie so nahe sind!"
Jimmie fühlte sich durch die Ruhe und Sachlichkeit all der Männer in dieser Todesfabrik ein bisschen sicherer. Wenn sie das Getöse aushalten konnten, dann konnte er das zweifellos auch; bloß - sie waren alle zusammen, während er allein weiter musste. Jimmie wünschte, er hätte sich zur Artillerie gemeldet!
Er steckte die Karten in die Innenseite seiner Jacke, jagte zu seiner Maschine zurück und fuhr wieder los. Wie man ihn angewiesen hatte, nahm er einen Seitenpfad, dann eine Waldschneise - und dann hatte er sich verfahren. Da gab es gar nichts - er hatte sich hoffnungslos verfranzt. Der Pfad
verlief gar nicht so wie der, nach dem er suchte. Er führte über weite Strecken durch Wälder voll zerfetzter Bäume,
die kreuz und quer lagen; dann ging er über ein Kornfeld, dann führte er steil in eine Schlucht hinab und kletterte auf der anderen Seite wieder hoch bis auf eine Anhöhe und dann wieder hinunter. „Verdammt!" sagte Jimmie zu sich selbst. Und wenn man sich allen Lärm in allen Kesselfabriken Amerikas zusammen vorstellen könnte, dann hätte man immer noch weniger als den Krach in diesem Wald, durch den Jimmie irrte, als er zu sich selbst „Verdammt!" sagte.
5
Pustend und keuchend und schweißtriefend gelangte er hinauf auf die Anhöhe, und dort sprang er plötzlich von seiner Maschine, rannte mit ihr« hinter einen Baumstamm und spähte angstvoll dahinter hervor. Da vorn waren Männer; aber was für welche? Jimmie versuchte sich an Bilder von Deutschen zu erinnern; ob die so aussahen? Die Luft war voll Rauch, was die Entscheidung schwer machte; doch allmählich erkannte Jimmie eine einzelne Gruppe, die ein Maschinengewehr auf Rädern zog; sie stellten es hinter eine Bodenerhebung und begannen in Richtung Deutschland zu schießen. So ging Jimmie näher, doch zögernd, um nicht in den Schussbereich des Maschinengewehrs zu kommen, das einen Lärm machte wie eine Nietmaschine, bloß schneller und lauter. Es hatte als Lauf eine dicke runde Röhre, und die Männer fütterten es mit langen Patronengurten aus einer Kiste und waren so sehr bei der Sache, dass sie Jimmie überhaupt nicht beachteten. Er stand da und starrte sie an wie gebannt. Denn diese Geschöpfe sahen nicht wie Menschen aus, sondern wie behaarte Ungeheuer aus Höhlen - zerlumpt, schmutzverkrustet, rußig und rauchgeschwärzt, die Gesichter verkniffen, die Zähne blitzend wie die Zähne wütender Hunde. Jimmie vergaß völlig den Feind, er sah nur diese rührende, flammenspuckende Maschine und die Männer, die ein Teil von ihr waren. Plötzlich sprang einer der Männer, ein bisschen behaarter und ein bisschen schwärzer als die übrigen, auf und schrie: „Adderjähr! Adderjähr!" Und das Maschinengewehr hörte auf zu röhren und Flammen zu spucken, und die Männer packten es und rissen und zerrten, um es zurückzuziehen. Der Führer trieb sie unentwegt an; bis auf einmal etwas Erstaunliches geschah - mitten im Schreien waren plötzlich sein ganzer Mund und sein Unterkiefer weg. Man sah nicht, was damit wurde - sie verschwanden einfach ins Nichts, und an ihrer Stelle war jetzt eine rote Höhle, aus der Blut strömte. Der Mann stand da, und seine entsetzten Augen funkelten weiß in dem schwarzen, behaarten Gesicht, aus dem gurgelnde Laute kamen - als glaubte er, er schrie noch immer Befehle oder könnte es noch, wenn er sich nur genug anstrengte.
Die anderen kümmerten sich überhaupt nicht um diesen Zwischenfall; sie zerrten weiter an dem Maschinengewehr. Und sollte man es für möglich halten, der Mann ohne Mund und Unterkiefer packte ebenfalls mit an! Die Räder trafen auf einen Widerstand im Boden, und er fuchtelte in ohnmächtiger Erregung mit den Händen und stürzte dann auf Jimmie zu, so dass der entsetzte kleine Maschinenarbeiter die ganze Grauenhaftigkeit dieser roten Höhle, aus der das Blut schoss, sehen musste.
Jimmie versuchte es mit seiner Zauberformel: „Batterie Nomb Katt." Aber der Mann fuchtelte wie rasend mit den
Händen und packte Jimmie beim Arm, die leibhaftige Verkörperung jenes Ungeheuers Militarismus, dem der kleine Maschinenarbeiter seit vier Jahren aus dem Weg gegangen war! Er stieß Jimmie zum Maschinengewehr hin, und die anderen Männer schrien: „Assisteh!" So blieb Jimmie natürlich nichts weiter übrig, als zuzupacken und mitzuzerren wie die anderen. Schließlich brachten sie die Räder in Bewegung und rollten das Ding die Anhöhe hinauf. Ein Pferdewagen kam durchs Gehölz geholpert, und die Männer am Maschinengewehr stießen ein Keuchen aus, das ein Hurra sein sollte, und wieder packte einer von ihnen Jimmie und rief: „Porteh! Porteh!" Er zog eine schwere Kiste heraus und lud sie auf Jim-mies Arme und trug eine zweite selbst, und wenige Minuten später trommelte das Maschinengewehr, und Jimmie schleppte weiter Kisten. Die Männer, die den Wagen fuhren, sprangen auf die Pferde und rumpelten fort, und immer noch trug Jimmie Kisten, blindlings, verzweifelt. Machte er das, weil er Angst hatte vor dem kleinen französichen Dämon, der ihn anbrüllte? Nein, das eigentlich nicht, denn als er gerade mit einer Kiste zurückkam, sah er den kleinen Dämon plötzlich wie ein Taschenmesser zusammenklappen und nach vorn fallen. Er gab keinen Laut von sich, er zuckte nicht einmal; er lag da mit dem Gesicht in Schlamm und Laub - und Jimmie rannte zurück und holte die nächste Kiste.
6
Er machte das, weil er begriff, dass die Deutschen kamen. Er hatte sie nicht gesehen; doch als das Maschinengewehr schwieg, vernahm er in der Luft ein Winseln wie von einem Wurf elefantengroßer junger Hunde. Manchmal fielen Äste auf ihn herab, der Dreck vor ihm flog ihm ins Gesicht, und überall um ihn her war da natürlich jenes Krachen der platzenden Granaten, das für ihn inzwischen schon etwas ganz Natürliches geworden war. Und plötzlich fiel wieder ein Mann und dann noch einer - nur noch zwei waren übrig, und einer von ihnen gab Jimmie Zeichen, was er tun müsse, und Jimmie sagte kein Wort, er ging einfach an die Arbeit und lernte ein Maschinengewehr bedienen nach der Methode, die von modernen Pädagogen bevorzugt wird - durch die Praxis.
Auf einmal griff sich der Mann, der das Maschinengewehr richtete, mit der Hand an die Stirn und fiel nach hinten Jimmie befand sich neben ihm, und das Maschinengewehr schoss noch - was war also natürlicher für Jimmie, als seinen Posten zu übernehmen und über Kimme und Korn zu zielen? Tatsächlich hatte er noch nie im Leben mit irgendeiner Art von Schusswaffe gezielt; doch er hatte eine Begabung für Maschinen - und eine Neigung, sich in fremde Sachen einzumischen, wie wir wissen. Jimmie visierte also, und plötzlich war es, als ob die Konturen des fernen Waldes lebendig würden; die Büsche spien graue Gestalten aus, die vorwärts liefen, hinfielen, wieder aufsprangen und liefen und wieder hinfielen. „Iel wjänn!" zischte der Mann an Jimmies Seite. So bewegte Jimmie das Maschinengewehr hierhin und dorthin und zielte überall-hin, wo er die grauen Gestalten sah. Tötete er Deutsche? Er wurde sich darüber nie ganz klar; ständig verfolgte ihn der Gedanke, dass er sich vielleicht nur lächerlich gemacht hatte, dass er Kugeln in die Erde oder hoch hinauf in die Luft geschossen hatte - und die Poilus an seiner Seite, die dachten, er müsse das alles wissen, weil er einer jener wunderbaren Amerikaner war, die über das Meer gekommen waren, um la belle France zu retten! Die Deutschen fielen weiter um, aber das besagte gar nichts, denn das war jedenfalls ihre Methode vorzustoßen, und Jimmie blieb keine Zeit, zu zählen und festzustellen, wie viele umfielen und wie viele wieder aufstanden. Er wusste weiter nichts, als dass sie fortwährend näher kamen - mehr und mehr von ihnen und näher und immer näher, und die Franzosen murmelten Flüche, und das Maschinengewehr hämmerte und röhrte, bis der Lauf so heiß war, dass er glühte. Und dann hörte es plötzlich auf. „Sakreh!" riefen die beiden Franzosen und machten krampfhafte Anstrengungen, das Maschinengewehr zu zerlegen, aber sie hatten noch keine Minute daran gearbeitet, als der eine von beiden sich mit der Hand an die Seite fuhr und mit einem Schrei zurückfiel; eine Sekunde später verspürte Jimmie einen furchtbaren Schlag auf seinen linken Arm,
und als er ihn hochheben wollte, um nachzusehen, was los war, hing er zur Hälfte schlaff herunter, und aus seinem Ärmel floss Blut!
7
Das war zu viel für den übriggebliebenen Franzosen. Er packte Jimmie am anderen Arm und rief: „Wenneh! Wenneh!" Offenbar hieß das, sie sollten weglaufen; Jimmie wollte nicht weglaufen, aber der Franzose plapperte so schnell und zerrte so sehr und Jimmie war sowieso vor Schmerz halb benommen, dass er sich zurückziehen ließ. Wenig später kamen sie zu einem toten Soldaten, der dalag mit einem Gewehr neben sich, und der Franzose ergriff das Gewehr, schnallte den Patronengurt ab und warf sich dann hinter einem großen Felsblock zu Boden. Jimmie fiel die Selbstladepistole ein, die er umgeschnallt hatte; er hielt sie dem Franzosen hin, schüttelte den Kopf und sagte: „Nix weiß - nix gehn!" - als ob er dachte, dass der Franzose schlechtes Englisch besser verstehen würde als gutes Englisch! Doch der Franzose verstand das Kopfschütteln und zeigte Jimmie. wie man den kleinen Sicherungshebel wegschieben musste, der den Abzug freigab zum Feuern. Mit hastigen Fingern riss er den Ärmel von Jimmies Hemd ab und verband ihm den Arm fest mit einer Binde aus seinem Tornister; dann schob er sich über dem Felsen hoch, verfluchte den sakreh Bosch und begann zu feuern. Jimmie brachte den Mut auf hinüberzuspähen, und da waren die grauen Gestalten, noch viel näher jetzt, und er wusste, dass es Deutsche waren, weil sie so aussahen wie auf den Bildern die er kannte. Sie kamen auf ihn zugelaufen, feuerten dabei, und Jimmie feuerte seinen Revolver ab und schloss dabei die Augen, weil er solche Angst davor hatte. Aber als er dann fand, dass der Revolver richtig funktionierte, schoss er wieder, und diesmal schloss er die Augen nicht, weil er einen langen Deutschen geradewegs auf sich zulaufen sah, das Gesicht von Kampfeswut verzerrt. Es war klar, was dieser Deutsche vorhatte - er wollte sich mit seinem scharfen Bajonett auf Jimmie stürzen, und irgendwie dachte Jimmie überhaupt nicht an seine pazifistischen Argumente – er schoss und sah den Deutschen fallen und war mörderisch froh über den Anblick.
Hinter ihm wurde auch geschossen; offenbar hatten eine Menge Franzosen in diesem Wald versteckt gelegen, und dem Feind wurde es nicht leicht gemacht, vorzurücken. Jimmies Gefährte sprang auf und lief wieder weiter, und Jimmie folgte ihm, und etwa hundert Meter weiter hinten kamen sie an einen Granattrichter, in dem ein halbes Dutzend Poilus saßen. Jimmie stolperte hinein, und die Männer schnatterten auf ihn ein und gaben ihm weitere Patronen, so dass er das Seine tat, als die Deutschen wieder auftauchten. Eine Kugel rasierte ihm ein Büschel Haar von der Schläfe, und ein in unmittelbarer Nähe explodierendes Schrapnell zerriss ihm fast das Trommelfell, aber er schoss trotzdem weiter. Er war jetzt wirklich mit ganzem Herzen bei der Sache, er würde diese Bosch aufhalten oder draufgehen. Zusammen mit fünf Franzosen, von denen zwei verwundet waren, hielt er eine Stunde lang den Granattrichter; einer von ihnen lief nach hinten und kam mit weiterer Munition zurückgestolpert; er lud ein Gewehr für Jimmie und legte es so hin, dass er es mit einer Hand bedienen konnte. So schoss Jimmie weiter, halb tot, halb blind, halb erstickt. vom Pulverrauch.
Der sakreh Bosch stürmte von neuem, und dies war das Ende, jeder in dem Granattrichter wusste das. Die grauen Gestalten kamen buchstäblich in Schwärmen, ihre Kugeln kamen wie ein Hagelschauer. Jimmie entschloss sich, zu warten, bis der Feind so nahe war, dass er mit dem Revolver wirkungsvoll zielen konnte. Er kauerte da und beobachtete einen Franzosen, dem das Lebensblut aus einem Loch in der Brust sickerte; dann schob er sich aus der Deckung hoch und schoss seine Pistole leer, und immer noch kamen Deutsche angestürmt.
Jimmie war jetzt derart müde, dass ihm so ziemlich alles egal war; er kniete in dem Trichter, blickte hoch und sah plötzlich die riesenhafte Gestalt eines Deutschen über sich aufragen, das Gewehr erhoben. Jimmie schloss die Augen und wartete auf den Stoß, und plötzlich kam der Deutsche mit einem Krach auf ihn herabgestürzt. Jimmie hielt sich mit Sicherheit für tot; er lag da und überlegte, war das die Unsterblichkeit? Aber es war eigentlich
weder wie im Himmel noch wie in der Hölle, so wie er sich diese beiden Orte vorgestellt hatte, und allmählich merkte er, dass der Deutsche sich krümmte und stöhnte. Jimmie kroch unter ihm hervor und blickte auf, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein anderer Deutscher über dem Granattrichter auftauchte, kopfüber herabstürzte und auf das Gesicht schlug.
Es war augenscheinlich, dass irgendjemand von weiter hinten diese Deutschen bediente; darum lag Jimmie still, mit einem schwachen Hoffnungsschimmer im Herzen. Das Rattern von Schüssen ging weiter, ein Gefecht, das zehn, fünfzehn Minuten dauerte, doch Jimmie war zu erschöpft, um hinauszuspähen und festzustellen, wie die Dinge liefen. Auf einmal hörte er, wie jemand hinter ihm angelaufen kam, und er guckte sich um, blickte hoch und sah zwei Männer in den Granattrichter springen. Ein Blick genügte, und ihm hüpfte das Herz. Die amerikanischen Landser!
8
Jawohl, es waren zwei amerikanische Landser in dem Granattrichter! Jimmie hatte so viele Tausende von ihnen gesehen, dass es für ihn keinen Zweifel gab. Verglichen mit den vom Krieg zermürbten Poilus waren sie wie Soldaten aus einem Modeblatt: glattrasiert, mit langem Kinn und festen Lippen und tausend anderen Kleinigkeiten, die einem klarmachten, dass Zuhause doch Zuhause und besser war als jeder andere Ort auf der Welt. Und ach, die wunderbare nüchterne Exaktheit dieser Modeblattsoldaten! Sie sagten kein Wort, sie hielten sich nicht einmal damit auf, in die Runde zu blicken; sie warfen sich einfach an den Rand des Granattrichters, schoben ihre Gewehre hinüber und machten sich an die Arbeit. Man brauchte es nicht zu sehen -man konnte es diesen Männern vom Gesicht ablesen, dass sie etwas trafen!
Auf einmal kamen noch zwei hereingesprungen. Ohne auch nur zur Begrüßung zu nicken, legten sie sich hin und begannen zu schießen, und als sie die meisten Patronen verbraucht hatten, stand einer auf und schrie etwas nach
hinten, und schon kam ein Mann mit Nachschub in in einer großen Patronentasche angerannt. Später kamen noch drei mit Gewehren. Offenbar waren jetzt nicht mehr so viele Deutsche da, denn diese Neuankömmlinge fanden Zeit zum Reden. „Uns haben sie gesagt, wir sollen dahinten eine Stellung halten", sagte der eine „Aber Fehlanzeige!"
„Da vorn sind noch mehr Hunnen", sagte ein anderer. „Holen wir uns die."
„Besser gleich als später", sagte ein dritter. „Du bleibst hinten und lässt dir den Finger da verbinden", sagte der erste Sprecher, doch der andere hieß ihn selber gehn und sich die Finger verbinden lassen. Dann sah der eine sich um und entdeckte Jimmie. „Mensch, hier ist 'n Yankee!" rief er. „Was machst du denn hier?" Jimmie antwortete: „Ich bin Motorradfahrer; ich sollte Karten zu einer Batterie bringen, aber die ist wohl schon längst aufgerieben."
„Du bist verwundet", sagte der andere. „Ach, das ist nicht so schlimm", sagte Jimmie entschuldigend. „Das ist auch schon lange her." „Jedenfalls gehst du zurück", sagte der Landser. „Wir sind ja jetzt hier - da geht alles in Ordnung." Er sagte es nicht aufschneiderisch, sondern als sachliche Feststellung. Er war noch ein Junge, ein Kind mit roten Backen und einer hässlichen kleinen Stupsnase voll Sommersprossen und einem breiten, grinsenden Mund. Aber Jimmie kam er vor wie der hübscheste Junge, der jemals aus den USA gekommen war. „Kannst du laufen?" fragte er. „Klar!" sagte Jimmie.
„Und diese Franzmänner?" Der Landser sah sich die anderen an. „Verstehst du ihr Kauderwelsch?" Als Jimmie den Kopf schüttelte, wandte er sich an die vom Krieg zermürbten Bärtigen. „Ihr Jungs geht zurück", sagte er. „Wir brauchen euch im Augenblick nicht." Als sie ihn verständnislos anstarrten, fragte er: „Polli wu franzeh?" „Wui, wui!" riefen sie wie aus einem Mund. „Na also", sagte der Landser, „ihr geht zurück! Go home! Tut swiet! Geht schlafen! Ruht euch aus! Wir schlagen die Heinis!" Als die Poilus für diese Art „Franzeh" nicht viel Verständnis zeigten, half der Landser ihnen auf die Beine, zeigte nach hinten, klopfte ihnen auf die Schulter und grinste sie mit seinem breiten Mund an. „Guter Junge! Go home! Amerikaner machen schon! Amerikaner!" - als ob das gereicht hätte, um zu erklären, dass Frankreichs Aufgabe in diesem Krieg getan war! Die Poilus guckten aus dem Granattrichter heraus und sahen einen Schwarm dieser neuen Modeblattsoldaten durch den Wald nach vorn stürmen, sich niederwerfen und auf den sakreh Bosch schießen. Sie blickten den rotbäckigen Jungen an wie dankbare Hunde, schulterten ihr Gepäck und die Gewehre und setzten sich in Marsch nach hinten, wobei sie Jimmie stützten, der sich plötzlich sehr schwach fühlte und rasende Kqpfschmerzen hatte.
9
Diese Landser hatten ein Lied, das Jimmie immer wieder gehört hatte: „Die Yankees kommen!" Und nun musste das Lied umgeschrieben werden: „Die Yankees sind da!" Alle die die Wälder, durch die Jimmie mit seinem Motorrad geirrt war, wimmelten jetzt von netten, neuen, glattrasierten, frisch maßbeschneiderten jungen Soldaten, losgelassen, um sich zum ersten mal mit dem Hunnen zu messen. Vier Jahre lang hatten sie über ihn gelesen und ihn gehasst, anderthalb Jahre lang hatten sie sich dafür bereit gemacht, ihn zu schlagen - und jetzt ließ man sie endlich los und sagte ihnen, sie sollten rangehn! Auf den Straßen hinten befand sich eine endlose Kette von Lastwagen mit Landsern, dazu Marineinfanteristen oder „Ledernacken", wie sie genannt wurden. Sie waren an diesem Morgen um vier Uhr aufgebrochen und den ganzen Tag, wie Sardinen zusammengepresst, gefahren, und hier nun, ein paar Kilometer weiter hinten in den Wäldern, hatten die Lastwagen angehalten, und die Sardinen waren herausgesprungen und in den Krieg gezogen!
Erst viel später wurde Jimmie klar, was für ein Weltdrama er miterlebt hatte. Seit vier Monaten arbeitete sich die Bestie in Richtung Paris vor; unaufhaltsam, unwiderstehlich fraß sie sich weiter wie ein Waldfeuer, verbreitete immer größere und immer furchtbarere Verwüstung - diese Bestie mit dem Gehirn eines Ingenieurs! Die Welt hatte geschaudert und den Atem angehalten, denn sie wusste, wenn es der Bestie gelang, nach Paris vorzudringen, würde es das Ende des Krieges und all dessen bedeuten, was freien Menschen etwas wert war. Und hier nun machte sie ihre letzte große Attacke, und die französischen Linien wankten und krachten und brachen ein, und in dieser äußerst gespannten Situation hatte man die Lastwagen mit amerikanischen Landsern herangeschafft zu ihrer ersten richtigen Bewährungsprobe gegen die Bestie.
Der Befehl hatte gelautet, die Stellung unter allen Umständen zu halten; doch das war den Landsern nicht genug gewesen, sie und die Ledernacken waren zum Angriff übergegangen und hatten die Deutschen schwer angeschlagen zurückgeschickt. Die Elite der preußischen Armee war von diesen neuen Truppen aus Übersee besiegt worden, über die sich die Deutschen mokiert, deren bloße Existenz sie verächtlich geleugnet hatten.
Es war ein Schlag, von dem sich der „Fritz" nie wieder erholte; er gewann von da ab keinen Fußbreit Boden mehr, und es war der Anfang eines Rückzugs, der nicht mehr zum Stillstand kam, bis er den Rhein erreicht hatte. Und das hatten die Yankees fertiggebracht - die Yankees unter Beteiligung von Jimmie Higgins! Denn Jimmie war zuerst dagewesen; Jimmie- hatte die Stellung gehalten, während die Yankees im Anmarsch waren! Ja, wirklich; wenn er nicht bei dem Maschinengewehr ausgehalten und es bedienen geholfen hätte, wenn er sich nicht in dem Granattrichter versteckt und ein Gewehr und eine Selbstladepistole auf die angreifenden Hunnen abgefeuert hätte - nun, dann hätten sie vielleicht diese Stellung eingenommen, die Yankees hätten keine Gelegenheit gehabt, sich zum Angriff zu formieren, und der Sieg von „Chatty Terry" wäre nicht mit Glanz und Glorie in die Geschichte eingegangen! Der gesamte Gang der Weltgeschichte wäre vielleicht anders verlaufen, wenn ein einziger kleiner sozialistischer Maschinenarbeiter aus Leesville, USA, nicht zufällig durch „Bellow Wood" geirrt wäre auf der Suche nach einer sagenhaften und nie entdeckten „Batterie Nomb Katt"!
1
Doch diese Triumph- und Ruhmesgedanken waren einem späteren Abschnitt von Jimmie Higgins' Leben vorbehalten. Im Augenblick war er schwach, sein Kopf schmerzte heftig, und sein linker Arm brannte wie Feuer. Und obendrein geschah etwas so Merkwürdiges, dass es die ganze Schlacht aus seinen Gedanken verdrängte. Er ging mit seinen französischen Gefährten einen Pfad entlang, als einer von ihnen etwas abseits vom Weg einen Mann in französischer Uniform am Boden liegen sah. Er war kein Soldat, sondern ein Sanitäter oder Krankenträger, wie man an der weißen Armbinde mit dem roten Kreuz erkennen konnte. Er hatte einen Schulterdurchschuß, und irgendjemand hatte seine Wunde verbunden und ihn liegenlassen; die französischen Soldaten halfen ihm jetzt auf die Beine und nahmen ihn mit. Jimmie sah zu, und als er das Gesicht des Mannes erblickte, verspürte er die Gewissheit, dass er dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte. Er hatte es schon einmal gesehen oder jedenfalls eins, das diesem zum Verwechseln ähnlich sah - und zwar in einer stark gefühlsbetonten Situation. Die alten Gefühle rührten sich in den Tiefen seines Unterbewusstseins und brachen plötzlich zur Oberfläche durch, eine Explosion von Erregung. Das konnte ja nicht sein! Der Gedanke war absurd! Doch - es musste so sein! Es war so! Der verwundete französische Krankenträger war Lacey Granitch!
Der junge Erbe der Empire Machine Shops hätte vielleicht den kleinen sozialistischen Maschinenarbeiter nicht erkannt; aber das Erkennen stand so deutlich auf Jimmies Gesicht geschrieben, dass Lacey sein eigenes Gedächtnis durchsuchte. Während die Gruppe weiterging, warf er hin und wieder einen beunruhigenden Blick auf seinen Landsmann, und als sie dann an eine Straße kamen und sich hinsetzten, um auszuruhen und auf irgendein Fahrzeug zu warten, ließ er sich neben Jimmie nieder und begann: „Du bist doch der, der damals in der Nacht in dem Haus war, nicht?"
Jimmie nickte, und der junge Gebieter von Leesville sah ihn unbehaglich an, sah weg und sah ihn wieder an. „Ich möchte dich um etwas bitten", sagte er. „Und zwar?" „Verrat mich nicht." „Wie meinst du das?"
„Sag nicht, wer ich bin. Es ist nicht nötig, dass es einer fährt. Ich versuche davon loszukommen." „Verstehe", sagte Jimmie. „Ich sage nichts." „Versprichst du's mir?" „Klar."
Dann herrschte Schweigen. Und dann rief der andere plötzlich ohne einen für Jimmie erkennbaren Grund: „Du sagst es doch!"
„Aber nein!" protestierte Jimmie. „Warum glaubst du das?"
„Du hasst mich!" Jimmie zögerte, als ob er seine Seele erforschte. „Nein", sagte er, „ich hasse dich nicht - nicht mehr." „Himmel!" rief der andere. „Du brauchst es auch nicht - ich habe alles bezahlt, was ich schuldig war!" Jimmie musterte sein Gesicht. Ja, man konnte es sehen, das stimmte. Nicht nur, dass Lacey abgezehrt aussah und seine Züge verkrampft waren von den Schmerzen, die er litt; in seinem Gesicht waren Linien, die nicht bloß ein paar Gefechtstage dort eingezeichnet hatten, auch nicht ein paar Jahre Krieg. Er sah zwanzig Jahre älter aus als der unverschämte junge Plutokrat, den Jimmie erlebt hatte, wie er den Streikenden in den Empirewerken Beleidigungen entgegen schleuderte.
Seine Augen suchten ängstlich und bittend die Jimmies. „Ich musste weg", sagte er. „Ich konnte es nicht aushalten -alle starrten mich an, grinsten hinter meinem Rücken! Ich versuchte in die amerikanische Armee einzutreten, aber sie wollten mich nicht nehmen - für keine Art von Dienst. So ging ich nach Frankreich, wo sie dringend Leute brauchten - die nahmen mich als Krankenträger. Ich habe alles mitgemacht - seit über einem Jahr. Ich bin schon zweimal verwundet worden, aber ich soll anscheinend nicht sterben, egal, wohin ich gehe. Es sind die Kerle, die leben wollen, die sterben müssen - verdammt noch mal!"
Der Sprecher machte eine Pause, als erschienen vor seinem geistigen Auge die Männer, die er hatte sterben sehen, während sie leben wollten. Als er weitersprach, tat er es im Ton einer demütigen Bitte. „Ich habe versucht, für meine Fehler zu bezahlen. Jetzt will ich bloß noch meine Ruhe und dass nicht jeder über mich tuschelt. Das ist doch nicht zu viel verlangt!"
Jimmie antwortete: „Ich geb dir mein Wort - ich erzähl keiner Menschenseele was davon." „Danke", sagte Lacey, und dann, nach einer kurzen Pause: „Mein Name ist Peterson, Herbert Peterson."
2
Ein Lastwagen kam vorbei und nahm sie mit zum nächsten Verbandplatz: ein paar alte Zelte mit großen roten Kreuzen darauf und ein paar weitere, die gerade aufgestellt wurden, und Autos, die Pflegepersonal und Material brachten, und andere, die Verwundete brachten, Franzosen und Amerikaner. Jimmie war inzwischen so schwach, dass ihm alles egal war; er nahm in einer Reihe Verwundeter seinen Platz ein und wartete geduldig und gab sich Mühe, kein Gewese zu machen, denn schließlich war Krieg, und der Hunne musste geschlagen werden, und jeder tat sein Bestes. Er legte sich auf die Erde und schloss die Augen, und allmählich drang ein bekannter Geruch zu ihm. Zuerst glaubte er, es sei das Werk seiner Einbildung - weil er gerade Lacey Granitch getroffen hatte und an die Nacht erinnert worden war, als er und Lizzie im Zimmer des einsamen Farmhauses gehockt und auf die Geräusche gelauscht und den Geruch eingeatmet hatten, die durch die Tür drangen. Es dauerte auch nicht lange, und Jimmie hörte die gleichen Laute aus dem Zelt - Stöhnen und Schreien, Gestammel wie von Irrsinnigen. Wie merkwürdig, dass er beide Male, da er diesen Geruch in die Nase bekam und diese Schreie hörte, mit dem jungen Herrn der Empire Shops zusammen war!
Dann war Jimmie an der Reihe. Sie führten ihn ins Zelt und hielten sich nicht lange mit ihm auf - vergewisserten sich nur, dass keine Arterie verletzt war und er nicht verbluten
würde, und hängten ihm dann eine Karte für das Brigadelazarett um. Sie luden ihn mit etwa zwanzig anderen „Sitzpatienten", darunter auch Lacey Granitch, in einen Lastwagen und schickten ihn auf eine lange Fahrt, die ihm alles andere als Spaß machte. Im Lazarett, das aus einer großen Gruppe von Zelten bestand und jetzt vor Geschäftigkeit wimmelte, wartete Jimmie wieder, bis er an der Reihe war - so viel Wunden auf einmal und so wenig Leute, um sie zu versorgen!
Schließlich wurde er zum Operationsplatz geführt; das erste, was sein Blick erfasste, waren ein paar Sanitäter, die eine Wanne mit abgesägten Armen und Beinen und allen möglichen Teilen von Menschen hinaustrugen. Ein Chirurg stand da in einem blutbefleckten weißen Kittel und einer weißen Maske vorm Gesicht und mehrere Schwestern, ebenfalls mit weißen Masken. Keiner begrüßte ihn oder hielt sich mit Vorreden auf - sie legten ihn auf den Operationstisch und deckten alles bis auf seinen zerschossenen Arm mit einem Gummilaken ab, schnitten seine Verbände auf, und dann tat ihm eine Schwester etwas über das Gesicht und sagte „Tief einatmen, bitte."
Es war wieder dieser ekelhafte Geruch, aber diesmal übermächtig. Jimmie atmete, und alles begann zu schaukeln und zu verschwimmen, und sein Kopf begann zu dröhnen, schlimmer als zu der Stunde, da er das Maschinengewehr bedient hatte. Er konnte das nicht mehr aushalten, er schrie und kämpfte, um freizukommen, aber sie hatten ihm die Füße angebunden, und jemand hielt seinen anderen Arm fest, so dass seine krampfhaften Anstrengungen nutzlos waren.
Er begann zu fallen; kopfüber stürzte er in riesige, bodenlose Abgründe - tiefer und tiefer und tiefer. Er hörte eine merkwürdige Stimme sagen: „Ihre Kragen sind zu eng." Die Worte dröhnten ihm in den Ohren, sie nahmen eine ungeheure, überwältigende Bedeutsamkeit an, sie wurden ein ganzes Universum für sich - „Ihre Kragen sind zu eng!" Der ganze Rest der Schöpfung schwand, die Lampe des Seins verlosch; nur eine Stimme blieb, die unter wirbelnden Unendlichkeiten verkündete: „Ihre Kragen sind zu eng!"
3
Irgendwo in den weiten Räumen des Chaos war ein Schnarchen. Ewigkeiten später entrang sich der Leere eine geheimnisvolle vergessene Anstrengung, etwas aus einer würgenden Kehle zu befördern. Nach etlichen solchen unerklärlichen Lebensäußerungen flackerte die schwache Bewusstseinsflamme, die sich Jimmie Higgins nannte, auf, und er erkannte, dass er selbst es war, der verzweifelt versuchte, nicht zu ersticken. Außerdem erkannte er, dass er zu einem einzigen entsetzlichen Schmerz geworden war; irgend jemand musste einen Nagel durch seinen Arm getrieben und ihn damit am Boden festgemacht haben; außerdem hatten sie seinen Magen aufgeblasen, so dass er zu platzen drohte, und wenn er würgte, war es eine Qual. Er keuchte um Hilfe, aber keiner kümmerte sich um ihn; er war ganz allein im Kerker des Schmerzes, begraben und vergessen für immer.
Allmählich tauchte er aus den nebelhaften Regionen der Narkose wieder auf und erkannte, dass er auf einer Krankenbahre lag und getragen wurde. Er stöhnte nach Wasser, aber niemand wollte ihm welches geben. Er sagte, es sei etwas Schlimmes mit ihm los, er werde gleich innen platzen; aber sie erwiderten, das sei nur der Äther und er solle sich darüber nicht beunruhigen, er werde sich bald wieder besser fühlen. Sie legten ihn in einem Raum auf ein Feldbett, eins in einer langen Reihe, und gingen fort, so dass er ganz allein mit den Dämonen ringen musste. Es war Krieg, und ein Mann, der nur einen zerschossenen Arm hatte, konnte eigentlich von Glück sagen.
So lag Jimmie eine Nacht und einen Tag da und fand sich, so gut es ging, mit seiner schlimmen Lage ab. In diesem Zelt gab es zwei Schwestern, und Jimmie, der nichts weiter zu tun hatte, als sie zu beobachten, entwickelte eine bittere
Wut auf beide. Die eine war mager und knochig und blass;
verbissen ging sie ihren Pflichten nach, verstand keinen
Spaß, und Jimmie merkte nicht, dass sie vor Erschöpfung bald umfiel. Die andere war hübsch, hatte lockeres blondes
Haar und flirtete schamlos mit einem jungen Arzt. Vielleicht hätte Jimmie sich überlegen sollen, dass die Männer dieser Tage rasch weggerafft wurden und manche sich also darum kümmern mussten, die nächsten Generationen zu liefern; aber Jimmie war nicht in der Stimmung, sich mit der Philosophie des Flirts zu befassen - er dachte an die Ehrenwerte Beatrice Clendenning und wünschte sich zurück nach „Merry England". Außerdem besann er sich auf seine pazifistischen Grundsätze und wünschte, er hätte sich aus diesem verfluchten Krieg herausgehalten! Doch seine Schmerzen ließen etwas nach, und sie luden ihn in einen Krankenwagen und brachten ihn weiter nach hinten in ein großes Etappenlazarett. Hier war er bald imstande, sich aufzusetzen und sich nach draußen in die Sonne schieben zu lassen und die unvermuteten Genüsse der Rekonvaleszenz zu entdecken - den erstaunlichen fortwährenden Appetit, den erstaunlichen fortwährenden Nachschub an guten Dingen zum Essen und Trinken; die Wohltat, sich Bäume und Blumen anzusehen, auf das Singen der Vögel zu lauschen und anderen zu erzählen, wie man mit dem Motorrad losgefahren war, um die „Batterie Nomb Katt" zu suchen - was zum Teufel hieß das überhaupt? -, und wie man der ganzen Hunnenarmeen gegenübergestanden und sie ein paar Stunden lang aufgehalten und ganz allein die Schlacht von Chatty Terry gewonnen hatte!
4
Einer der ersten Männer, die Jimmie sah, war Lacey Granitch, und Lacey führte ihn in eine Ecke des Parks und fragte: „Hast du es auch keinem erzählt?" „Nein, Mr. Granitch", sagte Jimmie. „Mein Name ist Peterson", sagte Lacey. „Jawohl, Mr. Peterson", sagte Jimmie. Es war schon eine merkwürdige Bekanntschaft zwischen diesen beiden, hergeholt von den entgegengesetzten Polen des gesellschaftlichen Lebens und zusammengebracht in der Demokratie des Schmerzes. Jimmie hatte den jungen Gebieter von Leesville am Boden und hätte auf sein Gesicht trampeln können; doch so seltsam es scheinen mag, Jimmie nahm ihm gegenüber die Haltung scheuer Demut ein. Jimmie fühlte sich als Verräter, der ihn einer scheußlichen, grausamen Rache ausgeliefert hatte; außerdem konnte Jimmie trotz all seines revolutionären Eifers nicht vergessen, dass er zu einem der Herren der Welt sprach. Man konnte das Ansehen und die Macht, die mit den Millionen der Granitchs verbunden waren, aus ganzer Seele hassen, aber man konnte ihnen gegenüber nicht gleichgültig bleiben, man konnte sich in ihrer Gegenwart niemals natürlich geben.
Was Lacey betraf, so war er nicht mehr der stolze, freie, reiche junge Plutokrat; er hatte gelitten und gelernt, seine Mitmenschen ohne Rücksicht darauf, ob sie Geld hatten oder nicht, zu achten. Er hörte, wie dieser kleine sozialistische Maschinenarbeiter, den er in einer Schar Streikender einmal mit Flüchen belegt hatte, in den Rachen des Todes gefahren war und geholfen hatte, der Bestie die Schnauze zuzunageln. Darum wollte er mehr über ihn wissen, und die beiden saßen stundenlang da und unterhielten sich, wobei jeder eine neue Welt entdeckte.
Gerade jetzt waren ganz Europa und Amerika in heftigem Streit entbrannt über das Problem der Bolschewiki. Hatten sie die Demokratie an den Hunnen verraten, oder wiesen sie, wie sie selber behaupteten, der Menschheit den Weg zu einer neueren und umfassenderen Art von Demokratie? Lacey glaubte natürlich das erstere - das glaubte jeder in der amerikanischen Armee und übrigens auch jeder in Frank-reich, außer ein paar waschechten Roten. Als Lacey herausfand, dass Jimmie einer von diesen Roten war, fragte er ihn laus, und tagelang ging es heiß her bei ihnen. Wie konnten Männer das getan haben, was Lenin und Trotzki getan hatten, wenn sie nicht bezahlte deutsche Agenten waren? So musste Jimmie die Theorie des Internationalismus erklären; die Bolschewiki machten in Deutschland Propaganda, sie taten mehr, um die Macht des Kaisers zu brechen, als selbst die alliierten Armeen. Woher wollte Jimmie das wissen? Einzelheiten darüber wusste er natürlich nicht, aber er kannte den Kern des Internationalismus; er konnte erklären, was Lenin und Trotzki taten, weil er wusste, was er tun würde, wenn er an ihrer Stelle wäre!
Sie redeten und redeten, und der junge Gebieter von Leesville, der eines Tages der Erbe eines ungeheuren Vermögens sein würde und der dazu erzogen war, zu glauben, dass ihm das nach menschlichem und göttlichem Recht auch zustand, hörte einen kleinen Wicht von einem Maschinenarbeiter aus den Werken erklären, wie er diese Masse an Eigentum übernehmen würde - er und seine übrigen Genossen, vereint in einer einzigen großen Gewerkschaft - und wie sie es verwalten würden, nicht zu Laceys Nutzen, sondern zum Nutzen der ganzen Gesellschaft. Jimmie vergaß allen Respekt vor Persönlichkeiten, wenn er auf dieses Thema kam; dies war sein Traum, das Proletariat, das die Expropriateure expropriierte, und er sprach davon mit glänzenden Augen. Früher hätte der junge Gebieter von Leesville ihm mit frecher Gemütsruhe geantwortet, vielleicht mit Maschinengewehren gedroht; doch jetzt sagte er nur zögernd, das sei ein großes Programm und er fürchte, es würde nicht funktionieren.
5
Interessiert fragte er Jimmie nach seinem früheren Leben, um zu verstehen, wie es zu einem solchen Fanatismus hatte kommen können. Jimmie erzählte von Hunger und Vernachlässigung, von Überarbeitung und Erwerbslosigkeit, von Streiks und Gefängnissen und vielfachem Druck. Der andere hörte zu und nickte. „Ja, natürlich, das hätte jeden zum Äußersten getrieben." Und dann sagte er nachdenklich: „Ich überlege, wer von uns beiden es im Leben schlimmer getroffen hat." Jimmie fehlten die Voraussetzungen, diese Bemerkung zu begreifen - Lacey hatte doch wohl alles gehabt, oder? Worauf Lacey antwortete: „Ich hatte zu viel, und du hattest zu wenig, und welches ist davon das Schlimmere für einen Menschen?"
Um klarzumachen, was er meinte, erzählte er Jimmie ein bisschen aus seinem eigenen Leben. Er schilderte ihm einen großen Haushalt, einen Vater, der vom Geschäft übermäßig in Anspruch genommen war und die Führung seines Hauses Angestellten überließ. „Meine Mutter war eine Gans", sagte Lacey. „Es hört sich ja vielleicht nicht schön an, wenn einer das sagt, aber mir ist das eigentlich mein ganzes Leben lang bewusst gewesen. Vielleicht war mein alter Herr zu beschäftigt, um sich eine Frau mit Verstand zu suchen -vielleicht hat er auch geglaubt, es gibt keine. Wie dem auch sei, die Vorstellung, die meine Mutter so hatte, war, zu zeigen, dass sie mehr Geld ausgeben konnte, als jede andere Frau in der Stadt; das fand sie ,standesgemäß', und ihre Kinder gehörten mit zu dieser Show - wir mussten mehr anzuziehen haben und mehr Dienstboten tyrannisieren als die Kinder anderer Leute. Ich habe darüber gründlich nachgedacht - zum Nachdenken hatte ich in letzter Zeit ja reichlich Gelegenheit. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich einmal das Kindermädchen nicht ins Gesicht geschlagen hätte, wenn sie mir ein Spielzeug wegnehmen wollte. Nie musste ich um etwas zweimal bitten - wenn man mir nicht sofort gab, was ich haben wollte, machte ich eine Szene und bekam es. Dann lernte ich rauchen und Wein trinken, und danach kamen die Frauen - die Frauen haben mir den Rest gegeben, wie du weißt."
Er machte eine Pause, und Jimmie nickte verständnisvoll; er erinnerte sich an die Geschichte von den acht Ballettmädchen, die der Wilde Bill in der Ortsgruppe vorgelesen hatte.
„Es ist schlimm, wenn ein junger Mann eine Menge Geld hat", sagte Lacey, „und die Frauen Jagd auf ihn machen. Man hat natürlich auch seine Gefühle - man kann gar nicht anders als einigen Frauen vertrauen, aber sie sind alle vollkommen kalt - zumindest die Sorte, die ein reicher junger Mann kennenlernt. Ich meine nicht nur Abenteurerinnen -ich meine die Mädchen der Gesellschaft, diejenigen, die fürs Heiraten in Frage kommen. Die verdammten alten Drachen von Müttern schieben natürlich von hinten kräftig nach - legen alles, was sie haben, in Kleidung an und wissen dabei nicht, wie sie die Rechnungen für die letzte Saison bezahlen sollen. Die Mädchen gehen darauf aus, dich einzufangen, sie sind besessen von ihrem Ziel, sie kümmern sich nicht um ihren Ruf, sie haben, verflucht noch mal, keine Hemmungen. Du führst sie aus im eigenen Auto, und dann wollen sie aussteigen und Blumen pflücken, und sie ziehen dich in den Wald, und auf einmal hältst du ihre Händchen, und dann umarmst und küsst du sie, und dann gehst du aufs Ganze. Doch dann musst du sie heiraten, und wenn sie merken, dass du das nicht willst, werden sie hysterisch und sagen, sie wollen sich eine Kugel in den Kopf schießen; aber sie schießen sich keineswegs eine Kugel in den Kopf, sondern sie küssen dich wieder ein bisschen, borgen sich deine Krawattennadel mit den Brillanten und vergessen, sie zurückzugeben." Der junge Gebieter von Leesville wurde still. Trübe Erinnerungen umfingen ihn, und Jimmie, der einen raschen Blick auf ihn warf, fand, dass er müde und alt aussah. „Ich habe nie mit jemand darüber gesprochen, was am Ende passiert ist", sagte er, „und ich habe das auch nicht vor, aber so viel kann ich sagen - das eine Mal, wo ich eine verheiratete Frau geliebt habe, war die einzige ehrliche Liebe meines Lebens, weil sie die einzige Frau war, die es nicht darauf abgesehen hatte, mich zu heiraten!"
Das war natürlich zu kompliziert für einen Mann wie Jimmie Higgins. Aber so viel bekam der kleine Sozialist mit -dass der Erbe des Granitchvermögens in Wahrheit ein recht unglücklicher Mensch gewesen war. Und das war eine ganz außergewöhnliche Entdeckung für Jimmie, der es als selbstverständlich betrachtet hatte, dass die Reichen die Glücklichen auf Erden sind. Er hatte sie gehasst, weil er glaubte, sieg seien ohne Sorgen, sie seien die Lotosesser, von denen der Dichter schreibt, dass sie
... im Lotoslande leben und im Moose ruhn, Göttern gleichend, unbekümmert um der Menschen Tun.
Denn bei ihrem Nektar ruhn sie, und der Donnerkeil
Schmettert tief ins Tal hinunter, und es blitzt der Sonnenpfeil
Um ihr goldnes Haus,
wo ew'ge Friedenslust ihr Teil;
Wo sie heimlich lächelnd blicken auf verheertes Land, Pest und Hunger, Erderschütterung, brüllende Wirbel,
glühnden Sand, Schlacht und brennende Stadt und untergehndes Schiff
und flehnde Hand, Doch sie lächeln, und sie finden süßen Klang im
Wehelied,
Das wie eine alte Klage trauervoll gen Himmel zieht, Kaum so trübe, wenn man durch die trüben Worte sieht,
Abgesungen von dem armen Volk, das endlos schafft, Pflügt und sät und still die Ernte in die Scheuern rafft, Wenig Öl und Trauben jährlich kelternd, in der Bütten Haft... (Anm.: Die hier zitierten Zeilen stammen aus dem Gedicht „Die Lotosesser" (1833) von Alfred Tennyson, deutsch von Adolf Strodtmann.)
Doch jetzt hatte Jimmie die soziale Kluft überschritten, er hatte das Problem von Armut und Reichtum von der anderen Seite gesehen. Nach dieser Entdeckung würde er in seinen Urteilen über seine Mitmenschen barmherziger sein; er würde verstehen, dass das System, in dem wir gefangen sind, wahres Glück unmöglich macht - für diejenigen, die zu viel haben, genauso wie für die, die zu wenig haben.
1
Während Jimmie durch die Straßen dieser französischen Stadt schlenderte und darauf wartete, dass sein zerschossener Arm wieder zu gebrauchen sein würde, dauerte das Todesringen des Krieges an. Mitte Juli wagten die Deutschen an der Marne einen letzten verzweifelten Vorstoß; sie wurden in ein paar Tagen von den vereinten Franzosen und Amerikanern zum Stehen gebracht, und dann schlug der Oberbefehlshaber der Alliierten zurück, brach seitlich in die deutsche Front ein und trieb den Feind vor sich her, der zwar noch immer wütend kämpfte, jedoch den Boden Frankreichs verließ. Ganz Frankreich hielt den Atem an vor Aufregung, vor Erleichterung, in die sich noch Furcht mischte. So viele Male hatten sie in diesen vier schweren, schrecklichen Jahren Hoffnung gefasst, und so viele Male waren ihre Hoffnungen wieder zunichte gemacht worden! Aber diesmal war es kein Irrtum - es war wirklich die Wende. Der Feind kämpfte um jeden Schritt, aber er gab den Frontbogen allmählich auf, und die Alliierten stießen nach - griffen einmal hier an, einmal dort und ließen den Gegner nicht zur Ruhe kommen. Jimmie las darüber in der Armeezeitung „Stars and Stripes" und war das erste Mal in den vier Jahren derselben Meinung über den Krieg. Auf jedem Schlachtfeld war Jimmie mit zusammengebissenen Zähnen, geballten Fäusten und mit ganzem Herzen dabei. Die Nachwirkung der Narkose hatte er überwunden, und den Schock über seine Verwundung vergaß er allmählich; ihm war klargeworden, dass Wunden, ja selbst der Tod, etwas waren, was man aushalten konnte - natürlich nicht frohen Sinnes, nicht leichten Herzens, aber doch immerhin aushalten konnte, wenn man nur sicher war, dass die Bestie dadurch unschädlich gemacht wurde.
Früher hatte Jimmie das Wort „deutsch" auf Männer wie Meissner und Forster und Schneider bezogen; doch jetzt bedeutete es eine riesenhafte graue Gestalt, die über dem Rand eines Granattrichters aufragte, das Gesicht hassverzerrt, das Bajonett erhoben, um zuzustechen. Vielleicht war das Eindrucksvollste in Jimmies ganzem Leben das Gefühl der Erleichterung, das er empfunden hatte, als ihm bewusst wurde, dass irgendein amerikanischer Landser dieser ragenden Gestalt eine Kugel in den Leib geschossen hatte. Mochte es doch noch mehr solche Landser geben, mehr und immer mehr, bis die letzte Gestalt erschossen war! Jimmie wusste natürlich, dass die Politik, der er in Amerika das Wort geredet hatte, nicht diesen Zweck verfolgte; wäre es in Leesville nach Jimmie gegangen, dann wären in Chatty Terry keine Landser zur Stelle gewesen, um Jimmie zu retten! Über diesen Punkt war sich Jimmie jetzt völlig im klaren, und für den Augenblick war der Pazifist in ihm tot.
Er hörte zu, was die Männer im Lazarett redeten. Sie waren alle durch die Mühle gegangen, sie waren verwundet worden, leicht oder schwer, aber das hatte ihren Kampfgeist nicht gebrochen - nicht ein bisschen; es gab kaum einen unter ihnen, der nicht hoffte, ausgeheilt zu werden und wieder mitmachen zu dürfen, bevor es vorbei war. So nahmen sie den Krieg - als ein Spiel, das sensationellste, aufregendste, das sie jemals spielen würden. Diese jungen Männer waren mit Football groß geworden, es war der Hauptsport
und das einzige echte Interesse im Leben Hunderttausender von jungen Amerikanern jahraus, jahrein. Sie hatten den Kampfgeist und die Methode des Football in die Armee übernommen und weitergegeben an jene weniger vom Glück begünstigten Millionen, die weder ein College noch eine höhere Schule besucht hatten: das Zusammenspiel, die Schnelligkeit, den fortgesetzten schonungslosen Drill, die völlige, unbedingte Verlässlichkeit, das dauernde Suchen aufgeweckter junger Köpfe nach neuen Kombinationen, neuen Tricks und vor allem die völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Gefahr, sich das Schlüsselbein zu brechen oder sich einen Herzfehler zu holen, sofern nur das Spiel gewonnen wurde!
Diese Armee griff nun einen Feind an, der sich auf seine Maschinengewehre verließ, um Truppenverbände zu zerschlagen und Zeit zu gewinnen, damit er Material und schwere Geschütze nach hinten in Sicherheit bringen konnte; folglich bestand das Leben der jungen Amerikaner für den Augenblick darin, alle Kniffe zu erlernen, wie man Maschinengewehre überrennt. Jimmie hörte zu, wie die neuen Männer sich unterhielten, und erlebte, wie sie die Technik vor seinen Augen entwickelten. Tanks waren nicht schlecht, Flugzeuge waren auch nicht schlecht, wenn man sie nur hatte; aber meistens waren sie nicht rechtzeitig da; darum lernte der Landser, Maschinengewehre mit dem Bajonett zu erobern. Man hatte seine kleine Gruppe, gedrillt wie eine Footballmannschaft, mit einem eigenen System der Verständigung durch Signale und mit einer eigenen Angriffstaktik, ausgetüftelt von jungen Leuten, die sich nächtelang zusammengesetzt hatten. Es war ein teures Spiel -man konnte schon froh sein, wenn ein Drittel der Spieler lebend davonkam; aber falls man es schaffte, dass einer davon mit einem Bajonett bis zu dem Maschinengewehr vordrang, hatte man das Spiel gewonnen - weil man dann das Maschinengewehr nehmen, es auf die zurückweichenden Deutschen richten und in einer Minute genügend von ihnen umbringen konnte, um die Verluste in der eigenen Gruppe wettzumachen.
2
Lacey Granitchs Schulter heilte, und er ging zurück an seine Arbeit. Er sagte Jimmie, was es für ihn bedeutet habe, einem Sozialisten zu begegnen; wenn er an das glauben könnte, was Jimmie glaubte, dann hätte er gar nichts gegen das Leben, nicht einmal mit seiner Schande. Jimmie nannte ihm Bücher, die er lesen sollte, und Lacey versprach, sie zu lesen; natürlich war Jimmie stolz und glücklich - er sah im Geiste schon, wie die Empire Machine Shops in die Hand der Arbeiter gegeben wurden und wie das kapitalistische System wenigstens in einem amerikanischen Industriezweig Harakiri beging.
Von einem Arbeitskollegen aus dem Reparaturstützpunkt, wo er zuletzt gearbeitet hatte, erhielt Jimmie einen Brief, in dem stand, dass die Amerikaner diesen Sektor übernommen hätten und nun eine große Werkstatt eingerichtet würde und wann er denn zurückkäme? Aber Jimmie war nicht so versessen darauf, zurückzukehren; Motorräder zu reparieren schien keine so verlockende Aussicht für einen Mann, der die ganze Hunnenarmee aufgehalten und die Schlacht von Chatty Terry gewonnen hatte. Da Jimmie im Kampf gezeigt hatte, was er wert war, fragte er sich, ob es denn für ihn keine Möglichkeit gäbe, richtig in die Armee einzutreten und richtig seinen Mann zu stehen. Er schrieb an den Kommandeur seiner Kraftfahreinheit einen Brief, berichtete, was vorgefallen war, und fragte an, ob das wohl zu machen sei? Der Offizier antwortete, er würde der Sache nachgehen, und wenn sich die Wahrheit von Jimmies Geschichte heraustellen sollte, könne er einer ehrenvollen Erwähnung und seiner Beförderung gewiss sein. Und tatsächlich kam einen Monat später, als Jimmie so weit war, dass er das Lazarett verlassen konnte, ein offizielles Schreiben, dass er zum Sergeant im Kraftfahrdienst befördert sei und sich zwecks Dienstantritt in einem gewissen Hafen am Ärmelkanal beim Stab einzufinden habe. Sergeant Jimmie Higgins!
Jimmie fand sich natürlich ein und wurde mit der Führung eines Dutzends Motorradfahrer und -Schlosser betraut, die soeben mit einem Transportschiff eingetroffen waren. Diese Männer sahen zu Jimmie auf als zu einem Veteranen
und Helden, und Jimmie, der noch nie im Leben etwas zu sagen gehabt hatte - es sei denn, man bezieht Jimmie zwei und die beiden Babies mit ein -, wäre das vielleicht ein ganz kleines bisschen zu Kopfe gestiegen. Aber es war wirkliche Arbeit zu leisten und keine Zeit für Flausen. Es lag etwas in der Luft, wilde Gerüchte und Spekulationen liefen um; Jimmies kleine Einheit, die aus besonders befähigten Männern bestand, sollte einen Sonderauftrag bekommen und auf Expedition gehen, offenbar auf dem Seewege. Wohin es gehen sollte, erfuhr niemand - das war bei der Armee nicht üblich; doch kurz darauf wurden mit Schaffell gefütterte Mäntel und schwere, mit Wolle gefütterte Stiefel ausgegeben - mitten im August! So wussten sie denn, dass sie nach dem hohen Norden kamen, und das für längere Zeit. Handelte es sich vielleicht um einen Überraschungsangriff in der Ostsee? Entweder das, sagten die Neunmalklugen, oder aber Archangelsk. Jimmie hatte von diesem letzteren Ort noch nie gehört und musste sich erst danach erkundigen. Wie er erfuhr, hatten die Alliierten ungeheure Mengen von Material nach diesem Hafen im äußersten Norden Russlands geschafft, und nun, da die Russen aus dem Krieg ausgeschieden waren, bestand die Gefahr, dass die Deutschen davon Besitz ergriffen.
Jimmie bebte vor Aufregung bis in die Sohlen seiner neuen gefütterten Stiefel. Er würde nach Russland kommen, würde die Revolution sehen! Jimmie hatte bloß eine vage Vorstellung davon, wie es jetzt auf der Welt aussah, denn während der letzten drei, vier Monate hatte er nur offizielle Zeitungen gelesen, die sich ganz auf die Aufgabe konzentrierten, die zu erfüllen war, und Schwierigkeiten und Komplikationen mit Absicht unerwähnt ließen. Die Leute, mit denen er sprach, behaupteten beharrlich, es sei nötig, dass die Alliierten etwas gegen den Vertrag von Brest-Litowsk unternahmen; wenn man den Deutschen erlaubte, von dem hilflosen Russland Besitz zu ergreifen und es für ihre Zwecke auszunutzen, dann hielten sie womöglich noch hundert Jahre durch. Das russische Volk selbst musste das einsehen und die Hilfe der Alliierten begrüßen! Über diesen letzten Punkt war sich Jimmie nicht sicher, doch er erinnerte sich an die Brüder Rabin und an ihre Begeisterung für die Sache der Alliierten; so unterdrückte er seine Zweifel und half, seine Kraftfahreinheit an Bord eines Transporters zu verstauen.
3
Es folgte eine Fahrt durch die Nordsee und hinauf zur Küste Norwegens; eine Region der Nebel und ruhelosen Winde und andauernder Todesangst durch U-Boote und Minen. Die Expedition bestand aus drei Transportern und ein paar Kriegsschiffen, die sie begleiteten, und einem halben Dutzend Zerstörern, die ihre Schaummuster hin und her webten. Jeden Tag wurde es kälter und die Tageslichtspanne kürzer; sie kamen ins Land der Mitternachtssonne, doch zu einer Jahreszeit, da die Mitternacht fast den Mittag erreichte. Die Männer hatten reichlich Zeit zum Lesen und Reden; Jimmie erörterte wieder einmal den Krieg vom sozialistischen Standpunkt, nahm die russischen Revolutionäre in Schutz, brachte wie gewöhnlich jemand damit in Rage und wurde wegen seiner aufrührerischen Ansichten gemeldet.
Jimmies Vorgesetzter war Lieutenant Gannet. Vor dem Krieg war er Angestellter in einer Baumwollfabrik gewesen und hatte nie etwas zu sagen gehabt. Nun musste er plötzlich lernen, Befehle zu erteilen, und seine Vorstellung davon war, sich besonders scharf und autoritär zu geben. Er war ein äußerst gewissenhafter junger Mann, kriegsbegeistert und bereit, in Erfüllung seiner Pflicht jede Härte, jede Gefahr auf sich zu nehmen; aber von Jimmie konnte man nicht erwarten, dass er das richtig einzuschätzen verstand -Jimmie bekam nur mit, dass sein Vorgesetzter eine Art hatte, durch seine Brillengläser zu funkeln, als ob er bestimmt wüsste, dass man ihn anlog.
Lieutenant Gannet fragte nicht etwa, was Jimmie gesagt hatte; er teilte Jimmie mit, was er gesagt hatte, und erklärte ihm, dass solches Gerede in der Armee nicht statthaft sei, solange er sich in Hörweite befinde. Jimmies Aufgabe sei es, dafür zu sorgen, dass ein paar Motorräder in einwandfreiem Zustand blieben und ein paar Motorradfahrer ihre Arbeit machten; ansonsten habe er gefälligst den Mund zu halten und nicht zu versuchen, die Geschicke der Nation zu lenken. Jimmie wagte die Bemerkung, dass er nichts weiter gesagt habe, als was Präsident Wilson die ganze Zeit sage. Worauf der Lieutenant entgegnete, Sergeant Higgins' Ansichten über Präsident Wilsons Ansichten interessierten ihn nicht - Sergeant Higgins solle seine Ansichten für sich behalten, oder er würde ernstlich Schwierigkeiten bekommen. Jimmie trat weg, kochend vor Entrüstung, genauso sehr Rebell wie jemals zuvor in der Ortsgruppe Leesville. Was hatte ein Soldat denn überhaupt für Rechte? War er befugt, politische Fragen zu erörtern und sich mit den Äußerungen des Präsidenten seines Landes einverstanden zu erklären? Durfte er, gleich seinem Präsidenten, an einen gerechten Frieden glauben und an das Recht aller Völker auf Freiheit und Selbstbestimmung, selbst wenn viele von den Offizieren in der Armee solche Ideen hassten und verachteten? Jimmie wusste es nicht, und es war niemand da, der es ihm hätte sagen können; aber Jimmie wusste, dass er seine Rechte als Bürger nicht hatte aufgeben wollen, als er sich meldete, um für die Demokratie zu kämpfen, und wenn ihm diese Rechte genommen werden sollten, dann jedenfalls nicht ohne Widerstand.
4
Die Transportschiffe kamen in das Gebiet der Eisberge, der tiefhängenden Nebel, der schneebedeckten Felsklippen und der über ihnen kreisenden Möwenschwärme. Tagelang, nächtelang dampften sie durch diese arktischen Gewässer und gelangten schließlich in das Weiße Meer und in den Hafen von Archangelsk.
Die Alliierten waren seit Kriegsbeginn hier und bauten Docks und Schuppen und Bahnanlagen; aber sie hatten nie genug davon bauen können, und da das Verkehrsministerium der korrupten russischen Regierung zusammengebrochen war, lag hier alles mögliche Material, das zur Versorgung einer Armee gehörte, bergeweise an der Küste herum. So zumindest hatte Jimmie es gehört; er hatte in den Zeitungen gelesen, dass diese Erklärung als Antwort auf Anfragen im britischen Parlament offiziell abgegeben worden sei.
Jimmie hatte daraus entnommen, dass er hier sei, um diese Materialberge vor den Deutschen zu retten, und war erstaunt, als er sich im Hafen umsah und überhaupt keine Berge irgendwelcher Art entdecken konnte. Weiter hinten im Landesinnern gab es ausgedehnte Fichtenwälder und moosbedeckte Sümpfe, in die der Mensch im Sommer bis zum Hals einsinken konnte. Jetzt, im September, waren sie schon fest zugefroren, und man fuhr in einem Schlitten mit einem Rentiergespann drüber hinweg, in Pelze eingemummt, so dass man, bis auf den fehlenden Backenbart, aussah wie der Weihnachtsmann auf den Bildern der Kinderzeit. Doch zum größten Teil wurde der Armeeverkehr auf den Flüssen, die die Wälder und Sümpfe durchschnitten, abgewickelt und auf dem einzigen Schienenweg, den man wieder in Betrieb nahm. Dieses Land hatte natürlich keine Straßen, auf denen man Motorräder hätte benutzen können, selbst nicht im Sommer. Jimmie stellte fest, dass seine Arbeit auf die Stadt und die Feldlager in der Nähe beschränkt bleiben würde. Nur ein paar Straßen würden schneefrei gehalten werden, und die kleine Gruppe von Meldern würde darauf herumflitzen, hin und wieder in eine Schneewehe rutschen und dabei die. Fahrzeuge ruinieren. Das war zu schaffen, und Jimmie hätte den Laden geschmissen und wäre so glücklich gewesen, wie er überhaupt zu sein vermochte - hätte er nur seinen Seelenfrieden finden können.
Die ersten paar Tage hatte er natürlich keine Zeit zum Nachdenken, er war geschäftig wie eine Ameise, um sich mit seinen Leuten an Land einzurichten und Werkbänke und Werkzeuge in einem Eisenschuppen aufzustellen, in dem sich an jedem Ende ein bullernder Ofen befand und ein großer Stapel Brennholz, das die Bauern auf schweren, flachen Rentierschlitten anfuhren. Jimmie und seine Einheit arbeiteten nicht nur bei Tageslicht, sondern auch während des größten Teils der lichtlosen Stunden, und machten sonntags keine Pause. Fünftausend Mann samt Material sollten an Land gebracht werden - noch dazu in größter Eile, als ob die Deutschen jede Stunde erwartet würden. Es dauerte eine Weile, bevor Jimmie Zeit fand, sich die Stadt anzusehen, die „Tommies" zu begrüßen, die schon einen Monat vor ihm hier angekommen waren,
und zu hören, was sie bisher gemacht hatten und was sie noch vorhatten.
Jimmie hatte es so aufgefasst, dass diese Expedition gegen die Deutschen kämpfen solle; aber nun wurde er misstrauisch; offenbar sollte sie gegen die Bolschewiki kämpfen! Die soziale Revolution war in Archangelsk vollzogen worden, und ein Arbeiter-und-Bauern-Rat hatte bereits die Macht übernommen, als die britische Armee und Marine überraschend angegriffen und den Hafen besetzt hatten, wobei sie die Revolutionäre in ungeordneter Flucht vor sich hertrieben. Nun schickten sie eine Expedition per Bahn hinterher und eine weitere zu Schiff die Dwina aufwärts nach Norden und verfolgten die russischen Sozialisten und trieben sie in die zugefrorenen Sümpfe zurück! Und da kamen nun die amerikanischen Truppen, wurden eilig an Land gebracht, bewaffnet und bereitgemacht, um gemeinsam mit ihnen, wie es Jimmie schien, gegen organisierte Arbeiter in den Kampf zu ziehen! Jimmie war völlig verwirrt. Es war alles so neu und fremd für ihn - und er hatte niemand, der ihm einen Rat geben konnte. Wenn zu Hause ein sozialistisches Problem aufgetaucht war, hatte er es Meissner oder Stankewitz vorgelegt oder Genossen Gerrity, dem Organisator, oder Genossin Mabel Smith, der Vorsitzenden des Literaturkomitees. Doch jetzt kannte Jimmie in dieser ganzen Expedition keinen einzigen, der eine Ahnung von Radikalismus hatte; sie betrachteten die Bolschewiki als wildgewordene Hunde, als Verräter, Kriminelle, Verrückte, jedes Wort war ihnen recht, das schlimm genug schien. Die Bolschewiki waren der Sache der Alliierten untreu geworden, sie waren ein Bündnis mit Deutschland eingegangen, um die Demokratie zu verraten; darum waren jetzt die Amerikaner gekommen, um ihnen beizubringen, was Recht und Ordnung hieß! Die Amerikaner sahen sich als Vortrupp einer großen Expedition, die nach Petrograd und Moskau marschieren und die Idee des Bolschewismus ausrotten sollte. Und Jimmie Higgins sollte dabei helfen! Jimmie Higgins, gebunden und geknebelt vor den Wagen des Militarismus gespannt, sollte dabei mitmachen, die erste proletarische Regierung in der Geschichte zu zerschlagen!
Je mehr Jimmie darüber nachdachte, desto empörter wurde er; er betrachtete es als persönliche Beleidigung - als einen hundsgemeinen Streich, den man ihm spielte. Er hatte ihre Propaganda geschluckt, er hatte sich vollfüllen lassen mit ihrem Patriotismus, er hatte alles stehen- und liegenlassen, um herzukommen und für die Demokratie zu kämpfen. Er war in die Schlacht gezogen, hatte sein Leben riskiert, hatte Verwundung und Schmerzen für sie erduldet. Und nun hatten sie ihren Vertrag mit ihm gebrochen, hatten ihn hierhergebracht und ihm befohlen, gegen Arbeiter zu kämpfen - ganz, als wäre er Milizsoldat bei sich zu Hause! Schöne Demokratie! Hier marschierten sie ein und waren noch stolz auf ihr Vorhaben, die russischen Revolutionäre zu besiegen!
Und Jimmie Higgins stand unter Kriegsrecht, musste gehorchen und den Mund halten! Jimmie dachte an all seine Freunde zu Hause, die die Militärmaschine verurteilt hatten; er dachte an Genossin Mary Allen, an Genossin Mabel Smith und Genossin Evelyn Baskerville und Genossen Gerrity; er hatte ihren Rat nicht annehmen wollen, und wenn sie jetzt sehen könnten, was er machte, wie würden sie ihn verachten! Jimmie wand sich, wenn er nur daran dachte; er war auch nicht zu trösten, als einer der Männer aus seiner Kompanie ihm „aus erster Quelle" erzählte, was hier eigentlich los sei - dass nämlich die Amerikaner, um die Engländer zu überreden, ihre Armeen der Führung eines französischen Generals zu unterstellen und so die Lage in Frankreich zu retten, gezwungen gewesen wären, ihre eigenen Armeen ebenfalls den Franzosen zu unterstellen, und nun erleben müssten, dass ihnen befohlen würde, hier einzumarschieren und gegen eine revolutionäre Regierung zu kämpfen, die ihre Schulden bei Frankreich nicht anerkannt und damit ein von Natur aus sparsames Volk gekränkt habe.
5
Jimmie begegnete einem Mann, den er fast für Deror Rabin gehalten hätte, so sehr ähnelte er dem kleinen jüdischen Schneider. Ein großer, schwarzbärtiger Bauer brachte eine Ladung Brennholz, und er hatte einen Juden bei sich, der ihm half - einen Burschen mit scharfen Gesichtszügen
und durchdringenden schwarzen Augen; seine Wangen waren eingesunken, als ob er seit Jahren nicht genügend zu essen gehabt hätte, und seine Brust wurde von Husten gequält. Er hatte Hände und Füße mit Lappen umwickelt, denn er hatte weder Stiefel noch Handschuhe; aber er war ganz fröhlich, und sofort, als er seine Ladung hingeschüttet hatte, nickte er und sagte: „Guten Tag!" „Guten Tag!" erwiderte Jimmie. „Ich kann Englisch", sagte der Bursche. Es überraschte Jimmie nicht, dass jemand Englisch konnte;
er war nur überrascht, wenn es einer nicht konnte. Er grinste also und sagte: „Na klar!"
„Ich war in Amerika", fuhr der andere fort. „Hab gearbeit' in Schwitzbude in Grand Street."
Man merkte ihm an, dass er sich lieber unterhielt als Holz trug; er trödelte herum und fragte: „Wo hast du gearbeit' in Amerika?" Als der Bauer ihn auf russisch anbrummte, ging er wieder an die Arbeit; aber im Weggehen sagte er: „Irgendwann werd ich reden mit dir von Amerika." Worauf Jimmie natürlich mit freundlicher Zustimmung antwortete.
Als er ein paar Stunden später nach getaner Arbeit hinausging, stieß er auf den kleinen Juden, der in der Dunkelheit auf ihn gewartet hatte. „Manchmal ich hab Sehnsucht für Amerika", sagte er und ging neben Jimmie die Straße hinunter, wobei er seine dünnen Arme um sich schlug, um sich warm zu halten.
„Warum bist du denn zurückgekommen?" wollte Jimmie wissen.
„Hab ich gelesen von Revolution. Denk ich, vielleicht ich werd reich."
„Oje!" sagte Jimmie und grinste. „Biste's denn geworden?"
„Geheerste zur Gewerkschaft in Amerika?" entgegnete der andere.
„Aber sicher!" sagte Jimmie. „Welche Gewerkschaft?" „Maschinenarbeiter."
„Haste schon mitgemacht bei en Streik?" „Aber immer!"
„Und haste Priegel gekriegt?"
„Und ob!"
„Streikbrecher warste nie, oder?" „Bestimmt nicht!"
„Biste - wie sagt man - klassenbewusst?" „Klar! Ich bin Sozialist!"
Der andere wandte sich ihm voll zu; seine Stimme zitterte
vor plötzlicher Erregung. „Haste rote Karte?"
„Na klar!" sagte Jimmie. „Sogar bei mir, hier in meiner
Jacke."
„Gott der Gerechte!" rief der andere. „E Genosse!" Er streckte Jimmie die mit altem Sacktuch umwickelten Hände entgegen. „Towaritsch!" rief er. Und obwohl sie hier in Finsternis und schneidender Kälte standen, spürten sie alle beide, wie das Herz ihnen warm wurde. Sogar hier am nördlichen Polarkreis, in dieser Wildnis von Eis und Trostlosigkeit, sogar hier tat der Geist der internationalen Brüderlichkeit seine Wunderwirkung!
Doch dann tappte der kleine Jude, zitternd vor Erregung, mit seinen umwickelten Händen nach Jimmie. „Wenn du bist e Sozialist, warum kämpfst du dann gegen de russischen Arbeiter?"
„Ich kämpfe doch gar nicht gegen sie!" „Du trägst aber de Uniform!" „Ich bin bloß Motorradschlosser." „Aber du hilfst! Tötest de russischen Menschen! Du machst de Sowjets kaputt! Warum?"
„Ich hab das nicht gewusst", verteidigte sich Jimmie. „Ich wollte gegen den Kaiser kämpfen, und sie haben mich hierhergebracht, ohne mir was zu sagen." „Ah! Ja, so ist es mit Militarismus, mit Kapitalismus! Wir sind Sklaven! Aber wir werden frei sein! Und du wirst helfen, du wirst nicht umbringen de russischen Arbeiter!" „Nein, bestimmt nicht!" rief Jimmie rasch. Und der kleine Fremde schob seinen Arm durch Jimmies. „Du komm mit, rasch! Ich zeig dir was, Towaritsch!"
6
Sie schlängelten sich durch die finsteren Straßen, bis sie zu einer Reihe von Arbeiterhütten kamen, verfertigt aus unbehauenen Baumstämmen, die Risse mit Lehm und Stroh verstopft - Löcher, in denen ein amerikanischer Farmer nicht einmal sein Vieh hätte unterbringen mögen. „So leben de Arbeiter", sagte der Fremde und klopfte an die Tür einer der Hütten. Eine Frau, an deren Röcken mehrere Kinder hingen, riegelte auf, und die Männer traten in eine von einer armseligen, blakenden Funzel erhellte Hütte. Auf der einen Seite befand sich ein riesiger Ofen, darauf ein Kessel, in dem Kohl kochte. Der Mann sagte kein Wort zu der Frau, sondern bedeutete Jimmie, vor dem Ofen Platz zu nehmen, und musterte ihn mit seinen durchdringenden
schwarzen Augen. „Zeigste mir de rote Karte?" sagte er plötzlich. Jimmie zog seinen schaffellgefütterten Mantel aus, knöpfte den Sweater darunter auf und zog aus einer Innentasche seines Waffenrocks die kostbare Karte mit den Beitragsstempeln, gegengezeichnet von den Sekretären der Orts-gruppe Leesville und der Ortsgruppe Hopeland und der Ortsgruppe Ironton. Der Fremde sah sie sich genau an und nickte dann. „Gut! Ich verlass mich auf dich." Als er die Karte zurückgab, bemerkte er: „Ich heiß Kalenkin. Ich bin Bolschewik."
Jimmie schlug das Herz höher - obwohl er es natürlich schon geahnt hatte. „Wir haben unserer Ortsgruppe in Ironton den Namen ,Bolschewik' gegeben", sagte er. „Sie haben uns vertrieben von hier", fuhr der Jude fort, „aber ich bin zurückgeblieben für de Propaganda. Ich suche Genossen unter de Amerikaner und de Briten. Ich sag: ,Kämpft nich gegen de Arbeiter, kämpft gegen de Herren, de Kapitalisten.' Verstehste?" „Klar!" sagte Jimmie.
„Wenn de Herren mich fassen, se bringen mich um. Aber ich verlass mich auf dich."
„Ich werd nichts sagen!" entgegnete Jimmie rasch. „Du hilfst mir", fuhr der andere fort. „Du gehst zu de amerikanischen Soldaten und sagst: ,Die russischen Menschen waren geknechtet so viele Jahre; nun sind sie frei, und da
kommt ihr sie töten oder wieder zu Knechte machen! Warum das?' Was werden sie sagen, Towaritsch?" Jimmie antwortete: „Sie werden sagen, sie wollen den Kaiser schlagen."
„Aber wir helfen den Kaiser schlagen! Wir kämpfen gegen ihn!"
„Sie sagen, ihr habt mit ihm Frieden geschlossen!" „Wir kämpfen mit Propaganda - die fürchtet der Kaiser am meisten. Wir geben dafür Millionen Rubel aus, wir drucken Zeitungen, Flugblätter - du weißt ja, Genosse, was Sozialisten machen. Wir schicken sie nach Deutschland, wir werfen sie ab aus Flugzeugen, wir haben Druckerpressen in -wie sagt ihr noch - de Schweiz, de Niederlande - überall. De Deutschen lesen, sie denken, sie sagen: Warum kämpfen wir für den Kaiser, warum sind wir nich frei wie de Russen? Ich weiß das, Towaritsch, ich hab geredet mit viele deutsche Soldaten. Es greift um sich wie Feuer in Deutschland. Kann sein, es braucht seine Zeit - ein Jahr - zwei Jahre, aber eines Tages wird das Volk sehn, de Bolschewiki hatten recht, sie kennen de Arbeiter, das Herz der Arbeiter
- sie haben das Leben, das Feuer, das nicht kann ausgelöscht werden im Herzen!"
„Bestimmt!" sagte Jimmie. „Aber so was kann man nicht zu den Landsern sagen."
„Gott der Gerechte!" sagte Kalenkin. „Als ob ich nich wüsst. Ich war doch in Amerika! Die denken, sie sind de Leut, was der große Gott selber gemacht hat! Sie wissen alles - sie brauchen nichts zu lernen. Sie sind de Demokratie; sie haben keine Klassen; Lohnsklaven - das is bloß ausländisches
- wie sagt man - Gesindel, nich wahr? Die schießen auf uns - hab ich doch gesehn, wie sie eingeschlagen haben auf de Arbeiter in Grand Street bei Streik." „Hab ich alles hinter mir", sagte Jimmie. „Was können wir machen?"
„Propaganda!" rief Kalenkin. „Es is das erste Mal, dass wir haben reichlich Geld für Propaganda - das Geld von ganz Russland für de Propaganda! Überall auf der Welt erreichen wir de Arbeiter - überall rufen wir ihnen zu: Steht auf! Steht auf und zerreißt eure Ketten! Glaubste, sie werden uns nich hören, Towaritsch? De Kapitalisten wissen, dass sie werden uns hören, die zittern, und darum sie schicken Armeen, dass sie uns sollen schlagen. Die glauben, die Armeen werden gehorchen - immer gehorchen - oder was?" „Sie glauben, das russische Volk wird gegen euch aufstehn."
Worauf der kleine Mann in wildes, vergnügtes Gelächter ausbrach. „Wir haben doch unsere eigene Regierung! Zum ersten Mal in Russland, zum ersten Mal in der Welt regieren de Arbeiter, und da werden die denken, dass wir werden meutern gegen uns selber! Sie haben hier aufgestellt - wie sagt man - Marionetten, was sie nennen Sozialisten, die machen hier in Archangelsk e Regierung, was sie nennen russisch! Die machen sich selber was vor, aber nichts vormachen tun se de Russen!"
„Sie glauben, diese Regierung wird sich durchsetzen", sagte Jimmie.
„Sie wird sich durchsetzen, so weit de Truppen reichen -so weit und nich weiter. Aber in Russland finden sich de Menschen alle zusammen. Und wenn sie sehn, de fremden Truppen kommen, dann sind sie alle Bolschewiki. Und warum, Towaritsch? Weil sie wissen, was das heißt, wenn Kapitalisten kommen und wollen neue Regierungen machen für Russland. Es heißt Staatsschulden - Schulden bei de Franzosen, Schulden bei de Engländer! Weißte das?" „Aber sicher weiß ich das", sagte Jimmie. „Es sind Milliarden, fünfzehn Milliarden Rubel allein an Frankreich. De Bolschewiki haben gesagt: ,Wir bezahlen die nich so schnell.' Und warum auch? Was haben sie gemacht mit dem Geld? Sie haben es geliehen an den Zaren, und für was? Um Sklaven zu machen aus den russischen Menschen, um sie zu stecken in die Armeen und sie kämpfen zu lassen gegen de Japaner, um aufzustellen e Polizeitruppe und hunderttausend russische Sozialisten zu schicken nach Sibirien! Nu, hab ich recht? Und solche Schulden sollen zahlen de russischen Sozialisten? So schnell nich! Wir sagen: ,Wir hatten nichts zu tun mit dem Geld! Ihr habt es geliehen dem Zaren, und nun holt es zurück vom Zaren!' Aber die sagen: ,Ihr müsst zahlen!' Und sie schicken Truppen, um Russland wegzunehmen das Land, um wegzunehmen das Öl und de Kohle und das Gold. So, Towaritsch! Sie wollen de Sowjets unterkriegen! Aber dazu müssen sie jede Stadt und jedes Dorf in Rußland einzeln nehmen - und die ganze Zeit machen wir Propaganda bei de Soldaten; wir machen sie bei de Franzosen und bei de Engländer und bei de Amerikaner, genau wie wir sie machen bei de Deutschen!"
7
Der kleine Mann hatte eine lange Rede gehalten und war erschöpft; er wurde vom Husten gepackt, presste die Hände gegen die Brust, und sein weißes Gesicht wurde krebsrot im Feuerschein. Die Frau brachte ihm Wasser zu trinken und blieb bei ihm stehen, die eine Hand auf seiner Schulter; ihr breites Bauerngesicht mit den tiefen Sorgenfalten bebte bei jedem neuen Hustenanfall des Mannes. Auch Jimmie bebte, während er dasaß und zusah und sich seiner hohen Bestimmung bewusst wurde. Er kannte jetzt die Lage, und er wusste, was seine Pflicht war. Es war alles ganz klar, ganz einfach - sein ganzes Leben war eine einzige lange Vorbereitung darauf gewesen. Irgendetwas in ihm schrie auf mit den Worten eines anderen proletarischen Märtyrers: „Lass diesen Kelch an mir vorübergehen!", aber er brachte die Stimme seiner Schwäche zum Schweigen und fragte nach einer Weile: „Sag mir, was ich tun soll, Genosse."
Kalenkin fragte: „Haste gemacht Propaganda in Amerika?" „Klar", sagte Jimmie, „ich war schon mal im Knast, weil ich auf der Straße eine Rede gehalten habe." Da ging der andere in eine Ecke und wühlte unter einem halben Dutzend Kohlköpfen ein Paket hervor. Es enthielt Flugblätter, ein paar hundert vielleicht, und der Jude gab Jimmie eins davon und erklärte: „Sie fragen mich: ,Was solln wir machen, damit de Amerikaner begreifen?' Ich sage: ,Sie müssen wissen, wie wir machen Propaganda bei de Deutschen.' Ich sage: ,Druckt die Aufrufe, was wir geben de deutschen Truppen, und übersetzt sie ins Englische, damit auch de Amerikaner und de Engländer können lesen.' Glaubste, das wird helfen?"
Jimmie nahm das Flugblatt, rückte die Lampe ein bisschen näher und las:
Aufruf des Armeekomitees der Zwölften Russischen Armee (Bolschewiki), durch Anschlag überall verbreitet in der Stadt Riga während ihrer Räumung durch die Russen
Deutsche Soldaten!
Die russischen Soldaten der Zwölften Armee machen euch darauf aufmerksam, dass ihr für die Autokratie einen Krieg führt gegen die Revolution, gegen Freiheit und Gerechtigkeit. Der Sieg Wilhelms wird der Tod der Demokratie und der Freiheit sein. Wir räumen Riga in dem Bewusstsein, dass die Macht der Revolution sich schließlich doch stärker erweisen wird als die Macht der Kanonen. Wir wissen, dass auf die Dauer euer Gewissen sich durchsetzen wird und dass die deutschen Soldaten zusammen mit der russischen revolutionären Armee dem Sieg der Freiheit entgegen marschieren werden. Ihr seid im Augenblick stärker als wir, aber euer Sieg ist nur der Sieg der rohen Gewalt. Die moralische Kraft ist auf unserer Seite. Die Geschichte wird berichten, dass das deutsche Proletariat sich gegen seine revolutionären Brüder gestellt und die internationale Solidarität der Arbeiterklasse vergessen hat. Dieses Verbrechen könnt ihr nur auf eine Weise wiedergutmachen. Ihr müsst eure eigenen und gleichzeitig die internationalen Interessen erkennen und all eure gewaltige Kraft gegen den Imperialismus einsetzen und mit uns Hand in Hand gehen - in das Leben und in die Freiheit!
Jimmie sah auf.
„Was hältste davon?" rief Kalenkin gespannt. „Prima!" rief Jimmie. „Genau das, was sie brauchen! Dagegen kann niemand was haben. Es ist ja Tatsache, es ist genau das, was die Bolschewiki tun."
Der andere lächelte ingrimmig. „Towaritsch, wenn sie dich
finden mit dem Zettel, erschießen sie dich wie en Hund!
Sie werden erschießen uns alle!"
„Aber warum?"
„Weil es ist bolschewik."
Jimmie wollte schon sagen: Aber es ist doch die Wahrheit! Doch er merkte, wie naiv das klingen würde. So wartete er, während Kalenkin fortfuhr: „Zeig das nur Männern, was du
kannst vertrauen. Versteck den Stapel und nimm eins und mach es dreckig, und dann sagste: ,Das hab ich gefunden auf der Straße. Nu seht mal, kämpfen so de Bolschewiki gegen den Kaiser? Wenn das so ist, was müssen wir kämpfen gegen sie?' So gibst du die weg, und irgendwann komm ich mit was Neues."
Jimmie gab zu, dass man es so machen musste. Er faltete an die zwanzig Flugblätter zusammen, stopfte sie in eine Innentasche seines Waffenrocks und zog seinen schweren Mantel und seine Handschuhe an, die er gern dem elenden, halbverhungerten und halberfrorenen Bolschewiken geschenkt hätte. Er klopfte ihm ermunternd auf den Rücken und sagte: „Du kannst mir vertraun, Genosse; ich werde sie weitergeben, und sie werden Ergebnisse bringen, darauf kannst du dich verlassen."
„Du darfst nichts von mir sagen!" rief Kalenkin mit großer Eindringlichkeit.
Worauf Jimmie antwortete: „Nicht mal, wenn sie mich bei lebendigem Leibe rösten."
1
Jimmie ging zum Abendessen in die Kantine; aber die Berge von dampfend heißem Essen blieben ihm in der Kehle stecken - er dachte an den halbverhungerten kleinen Juden.
Die dreißig Silberlinge in der Tasche seines Waffenrocks brannten jeder einzeln ein Loch. Wie der Judas von ehedem wollte er sich am liebsten aufhängen und fand dafür ein schnelles Verfahren.
Neben ihm am Tisch saß ein Motorradfahrer, der vor dem Krieg gewerkschaftlich organisierter Klempner gewesen war und mit Jimmie darin übereinstimmte, dass die Arbeiter sich ihre Arbeitsplätze zurückholen oder die Politiker dafür schwitzen lassen würden. Auf dem Weg vom Essen nahm
Jimmie diesen Kameraden unauffällig beiseite und bemerkte: „Hör mal, ich hab da was Interessantes." Nun war Interessantes hier am nördlichen Polarkreis eine Seltenheit. „Was ist es denn?" fragte der Klempner. „Ich ging so auf der Straße", sagte Jimmie, „und da hab ich was Gedrucktes im Rinnstein gesehen. Es war der Aufruf, den die Bolschewiki an die deutschen Soldaten gerichtet haben und den sie in den deutschen Schützengräben verteilen."
„Donnerwetter!" sagte der Klempner. „Was steht denn drin?"
„Na, sie werden aufgerufen, sich gegen den Kaiser zu erheben - dasselbe zu machen, was die Russen gemacht haben."
„Kannst du denn deutsch lesen?" fragte der andere. „Nee", sagte Jimmie. „Das hier ist in englisch." „Aber wieso denn in englisch?" „Weiß ich doch nicht." „Was soll denn das hier in Archangelsk?" „Weiß ich erst recht nich." „Gottverdammich!" rief der Klempner. „Wetten, dass die Kerle jetzt ihren Dreh bei uns versuchen wollen?" „Daran hab ich nich gedacht", sagte Jimmie verschlagen. „Kann schon sein."
„Wetten, dass sie damit bei den Yankees nich weit kommen?" prophezeite der andere.
„Glaub ich auch nich. Aber immerhin ist es interessant, was sie sagen."
„Lass mich mal sehn", sagte der Klempner.
„Aber hör mal", sagte Jimmie, „sag es niemandem weiter.
Ich möcht keinen Ärger kriegen."
„Stumm wie ein Fisch, Kumpel." Und der Klempner nahm das beschmutzte Stück Papier und las. „Mein Gott!" sagte er. „Das ist ja komisch." „Was ist komisch?"
„Na, das klingt doch gar nich so, als ob die Kerle den Kaiser unterstützen, oder?".Und der Klempner kratzte sich am Kopf. „Also hör mal, mir kommt das ganz vernünftig vor!"
„Mir auch!" sagte Jimmie. „Dacht ich gar nich, dass sie so viel Grips haben."
„Das ist genau, was die Deutschen brauchen, bei Gott", sagte der Klempner. „Ich finde, wir müssten eigentlich Leute anstellen, um so was zu verteilen." „Find ich auch", sagte Jimmie begeistert. Der Klempner überlegte wieder. „Ich glaube", sagte er, „der Haken ist, sie werden so was nich allein an die Deutschen verteilen wollen; sie werden es an beide Seiten verteilen wollen."
„Genau!" sagte Jimmie, noch begeisterter. „Und natürlich geht das nich", sagte der Rohrleger, „darunter würde die Disziplin leiden." So waren Jimmies Hoffnungen zunichte gemacht.
Doch das Ergebnis der Unterredung war, dass der Klempner sagte, er würde gern den Zettel behalten und ihn ein paar anderen Männern zeigen. Er versprach noch einmal, Jimmie nicht zu erwähnen; daher war Jimmie einverstanden und ging seiner Wege mit dem Gefühl, ein Saatkorn in guten Boden gebracht zu haben.
2
Auch der „Christliche Verein" war mit der Expedition nach Archangelsk gekommen und hatte eine Baracke aufgestellt, in der die Männer Dame spielten und lasen und sich Schokolade und Zigaretten zu Preisen kauften, die sie für zu hoch hielten. Jimmie schlenderte hinein und sah dort einen Landser, mit dem er sich auf dem Transporter ein paarmal unterhalten hatte. Dieser Landser war zu Hause Drucker gewesen und hatte Jimmies Ansicht geteilt, dass vielleicht eine ganze Menge Politiker und Zeitungsredakteure Präsident Wilsons radikale Ideen gar nicht richtig verstanden und sie, soweit sie sie verstanden, hassten und fürchteten. Dieser Drucker las gerade eins der anspruchslosen Magazine, das voll war von dem intellektuellen Brei, den ein Konsortium von Großbankiers für harmlos genug hielt, um ihn dem gewöhnlichen Volk zu servieren. Er machte ein gelangweiltes Gesicht, deshalb ging Jimmie zu ihm hin, lockte ihn beiseite und wiederholte dasselbe Spielchen wie bei dem Klempner - mit demselben Ergebnis. Dann schlenderte er weiter, um sich einen der Filme anzusehen, die mitgenommen worden waren, um der Expedition in den langen Polarnächten die Zeit auf angenehme Reise zu vertreiben. Der Film zeigte ein puppenhaft süßes Mädchen mit einem Jahreseinkommen von einer Million Dollar in seiner üblichen Rolle als armes kleines Waisenkind, nach der neuesten Mode gekleidet und mit Ringellöckchen frisch vom Friseur, das jene furchtbaren Schicksale erduldet, die für die Armen der Alltag sind, und am Schluss dann belohnt wird durch die Liebe eines reichen und edlen und hingebungsvollen jungen Mannes, der das soziale Problem dadurch löst, dass er sie in einem Palast etabliert. Auch dies hatte die Billigung eines Konsortiums von Bankiers gefunden, bevor es das gewöhnliche Volk erreichte, und mittendrin, während das Waisenkind mit den Ringellöckchen in Großaufnahme zu sehen war, mit großen Wassertropfen, die ihr die Backen hinunterliefen, bemerkte der Landser auf dem Platz neben Jimmie: „Mein Gott! Warum müssen sie uns denn immer wieder solchen Käse vorsetzen?"
Jimmie schlug darum vor, sie wollten „abhaun", und sie gingen hinaus, und Jimmie spielte sein Spielchen ein drittes Mal und wurde wieder gebeten, das Flugblatt, das er im Rinnstein gefunden hatte, dem anderen zu überlassen. So ging es zwei Tage lang, bis Jimmie den letzten der Aufrufe los war, die Kalenkin ihm anvertraut hatte. Und am Abend des letzten Tages, als der gerissene Propagandist gerade für die Nacht in die Falle gehen wollte, erschien plötzlich ein Sergeant mit einem halben Dutzend Männer und erklärte: „Higgins, Sie sind festgenommen." Jimmie starrte ihn an. „Warum denn?" „Befehl - mehr weiß ich nicht."
„Gut, warten Sie einen Augenblick...", begann Jimmie, aber der Sergeant sagte, Warten gäbe es dabei nicht, packte Jimmie an einem Arm, und einer von den Männern packte ihn am anderen Arm, und dann führten sie ihn ab. Ein dritter hängte sich Jimmies Tornister über die Schulter, während die übrigen den Raum zu durchsuchen begannen, die Matratze aufschlitzten und nach losen Dielen im Fußboden suchten.
3
Jimmie brauchte nicht sehr lange, um seine Lage zu begreifen. Als er Lieutenant Gannet vorgeführt wurde, war ihm schon klar, was passiert war und wie er sich verhalten würde.
Der Lieutenant saß an einem Tisch, aufrecht und steif, mit einem schrecklich finsteren Blick hinter den Brillengläsern. Auf dem Tisch lagen sein Degen und seine Pistole - ganz, als wollte er Jimmie hinrichten und müsste sich nur noch entscheiden, auf welche Art.
„Higgins", donnerte er, „woher haben Sie dieses Flugblatt?"
„Das habe ich im Rinnstein gefunden." „Sie lügen!" sagte der Lieutenant. „Nein, Sir", sagte Jimmie. „Wie viele haben Sie gefunden?"
Jimmie hatte diesen kritischen Punkt vorausgesehen und
sich entschlossen, auf Nummer Sicher zu gehen. „Drei, Sir",
sagte er und fügte hinzu, „glaube ich."
„Sie lügen!" donnerte der Lieutenant wieder.
„Nein, Sir", sagte Jimmie lammfromm.
„Wem haben Sie sie gegeben?"
Diese Frage hatte Jimmie nicht eingeplant. Sie verschlug ihm die Sprache. „Ich - ich möchte es lieber nicht sagen", antwortete er.
„Ich befehle Ihnen, es zu sagen", sagte der Lieutenant. „Verzeihung, Sir, aber das kann ich nicht." „Sie werden es sagen müssen, ehe wir miteinander fertig sind", sagte der andere. „Darüber sollten Sie sich im klaren sein. Sie sagen, Sie haben drei gefunden?" „Es können auch vier gewesen sein", sagte Jimmie und ging noch mehr auf Nummer Sicher. „Ich hab nicht so genau darauf geachtet."
„Sie sympathisieren mit diesen Ansichten", sagte der Lieutenant. „Wollen Sie das leugnen?"
„Das nicht, Sir - nicht unbedingt. Ich sympathisiere mit einigen davon."
„Und sie haben diese Flugblätter im Rinnstein gefunden und sich nicht die Mühe gemacht nachzuzählen, ob es drei oder vier waren?"
„Nein, Sir."
„Könnten es nicht auch fünf gewesen sein?" „Ich weiß nicht, Sir - ich glaube nicht." „Sechs aber gewiss nicht?"
„Nein, Sir", sagte Jimmie, der sich jetzt ganz sicher fühlte. „Sechs waren es ganz bestimmt nicht." Darauf öffnete der Lieutenant eine Schublade im Tisch vor sich und nahm ein Bündel Flugblätter heraus, gefaltet, zerknittert und beschmutzt, und breitete sie vor Jimmie aus: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben. „Sie lügen!" sagte der Lieutenant.
„Ich habe mich geirrt, Sir", sagte Jimmie. „Haben Sie diesen Mann schon durchsucht?" fragte der Offizier die anderen Soldaten. „Noch nicht, Sir." „Dann tun Sie's."
Sie vergewisserten sich, dass Jimmie keine Waffe hatte, und dann ließen sie ihn sich bis auf die Haut ausziehen. Sie durchsuchten alles, rissen sogar die Sohlen seiner Stiefel los, und natürlich fanden sie mit als erstes die rote Karte in der Innentasche seines Waffenrocks. „Aha!" rief der Lieutenant.
„Das ist eine Karte der Sozialistischen Partei", sagte Jimmie.
„Wissen Sie nicht, dass in der Heimat Männer, die diese Karte haben, für zwanzig Jahre ins Gefängnis gehen?" „Nicht, weil sie die Karte haben", sagte Jimmie standhaft. Es entstand eine Pause, während Jimmie sich wieder anzog.
„Also, Higgins", sagte der Lieutenant, „Sie sind auf frischer Tat beim Hochverrat gegen das Vaterland und seine Fahne ertappt worden. Darauf steht die Todesstrafe. Es gibt nur einen Weg, wie Sie freikommen können - indem Sie alles offen gestehen. Haben Sie mich verstanden?" „Jawohl, Sir."
„Dann sagen Sie mir, wer Ihnen diese Flugblätter gegeben hat."
„Bedaure, Sir, ich habe sie im Rinnstein gefunden." „Sie wollen doch nicht bei dieser albernen Ausrede bleiben?"
„Es ist die Wahrheit, Sir."
„Wollen Sie Ihre Mitverschwörer mit Ihrem Leben schützen?"
„Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß, Sir." „Wie Sie wollen", sagte der Lieutenant. Er nahm ein Paar Handschellen aus der Schublade und ließ sie Jimmie anlegen. Er nahm seinen Degen und seine Pistole - und Jimmie, der militärische Bräuche nicht kannte, riss vor Angst die Augen weit auf. Doch der Lieutenant wollte sich nur die Waffen ans Koppel schnallen, dann zog er seinen Mantel und die großen Pelzhandschuhe an und setzte die Pelzkappe auf, die bis auf Augen und Nase alles verdeckte, und befahl, Jimmie abzuführen. Draußen wartete ein Auto, und der Offizier fuhr mit dem Gefangenen und zwei Wachen zum Militärgefängnis.
4
Dem Gefangenen saß die Angst im Herzen, aber ei ließ das niemand merken. Und ebenso ließ Lieutenant Gannet niemand die Unsicherheit merken, die er im Herzen hatte. Er war Offizier, er hatte eine harte militärische Pflicht zu erfüllen, und er tat es; aber er hatte noch nie jemand in Handschellen gelegt und noch nie jemand ins Gefängnis geschafft, und er war fast ebenso verstört deswegen wie der Gefangene.
Der Lieutenant hatte das schreckliche Schauspiel mit angesehen, wie Russland zusammenbrach, wie es in Trümmer und Erniedrigung verfiel wegen einer, wie es ihm erschien, hochverräterischen Propaganda, die in Russlands Armeen betrieben worden war; ihm war klar, dass diese „tollwütigen Hunde" von Bolschewiki bewusst konspirierten, um die anderen Armeen zu vergiften, um die übrige Welt in denselben Zustand zu bringen, in dem sie sich selbst befanden. Es erschien ihm ungeheuerlich, dass solche Bestrebungen auch in der amerikanischen Armee im Gange sein sollten. Wie weit war das schon gediehen? Das wusste der Lieutenant nicht und hatte daher Angst, wie Menschen immer Angst haben angesichts des Unbekannten. Es war seine unmissverständliche Pflicht, auf die er einen Eid geleistet hatte, den Kopf dieser Schlange mit dem Absatz zu zertreten, aber
dennoch war er tief beunruhigt. Dieser Sergeant Higgins war in Frankreich wegen Tapferkeit befördert worden und war trotz seiner frechen Zunge ein recht manierlicher Untergebener. Und nun erwies er sich hier als aktiver Verschwörer, als Propagandist des Aufruhrs, als trotziger und dreister Verräter!
Sie waren am Gefängnis angekommen, das der Zar zu dem Zweck errichtet hatte, die Menschen dieser Provinz niederzuhalten. Es ragte als gewaltiges Steinmassiv in die Dunkelheit, und Jimmie, der in der Ortsgruppe Leesville gepredigt hatte, dass Amerika schlimmer als Russland sei, erfuhr nun, dass er sich geirrt hatte - Russland war ganz genauso. Sie passierten ein steinernes Tor, und eine Stahltür öffnete sich vor ihnen und schlug hinter ihnen wieder zu. An einem Schreibtisch saß ein Sergeant, und bis auf die Tatsache, dass er Brite und seine Uniform nicht blau, sondern braun war, hätte es Leesville, USA, sein können. Jimmies Name und Adresse wurden notiert, und dann fragte Lieutenant Gannet: „Ist Perkins schon da?"
„Noch nicht, Sir", lautete die Antwort; aber in diesem Moment öffnete sich die Tür, und ein massiger Mann trat ein, in einen Mantel gehüllt, der ihn womöglich noch massiger machte. Diesen Mann sah Jimmie vom ersten Augenblick so an, wie ein hypnotisiertes Kaninchen eine Schlange ansieht. Der kleine Sozialist hatte in seinem gehetzten Leben so viel mit Polizisten und Detektiven zu tun gehabt, dass er sofort wusste, was da „auf ihn zukam".
5
Dieser Perkins war vor dem Krieg Mitarbeiter einer Privatdetektei gewesen - was die Arbeiter verächtlich als einen „Schnüffler" bezeichneten. Als sich die Regierung plötzlich vor die Notwendigkeit gestellt sah, eine Menge „auszuschnüffeln", war sie gezwungen gewesen, zu nehmen, was sich bot, ohne allzu genau hinzusehen. So kam es, dass Perkins jetzt Sergeant beim Secret Service war, und genauso, wie die Zimmerleute Nägel einschlugen wie zu Hause, und die Chirurgen Fleisch schnitten wie zu Hause, „schnüffelte" Perkins wie zu Hause.
„Na, Sergeant?" sagte der Lieutenant. „Was haben Sie herausgefunden?"
„Ich glaube, ich habe die Geschichte, Sir." Man konnte Gannet die Erleichterung vom Gesicht ablesen, und Jimmie sank das Herz in die Hosen. „Es sind nur noch ein paar Einzelheiten zu klären", fuhr Perkins fort. „Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn ich diesen Gefangenen befrage?"
„Oh, nicht das geringste", sagte der andere. Er war heilfroh, dass er diese schwierige Angelegenheit einem Mann von Entschlusskraft, einem Profi, übergeben konnte, der solche Fälle gewohnt war und wusste, wie man damit fertig wurde.
„Ich werde Ihnen sofort Bericht erstatten", sagte Perkins. „Ich warte", sagte der Lieutenant.
Und Perkins packte Jimmies zitternden Arm mit einem Griff wie ein Schraubstock und führte ihn ab, einen langen Steinkorridor entlang und eine Treppe hinunter. Unterwegs griff er sich noch zwei andere Männer, ebenfalls in Khaki, die ihm folgten; zu viert gingen sie durch eine Reihe unterirdischer Gänge bis zu einer Steinzelle mit einer soliden Stahltür, die sie hinter sich zuschlugen - ein Geräusch, das für Jimmies verängstigte Seele wie der Glockenschlag zum Jüngsten Gericht klang. Und sofort ergriff Sergeant Perkins ihn bei der Schulter, wirbelte ihn herum und funkelte ihn wild an. „So, du kleiner Scheißkerl!" sagte er. Als ehemaliger Detektiv in einer amerikanischen Großstadt war dieser Mann vertraut mit dem „dritten Grad", durch den man Gefangene dazu bringt, dass sie sagen, was sie wissen, und auch vieles, was sie nicht wissen, aber wovon sie wissen, dass die Polizei es hören möchte. Bei einem der beiden anderen Männer, einem Soldaten Connor, war dieses Folterverhör mehr als einmal angewendet worden. Er war ein vorbestrafter Einbrecher, das letztemal jedoch in einer Stadt im Mittelwesten wegen einer Kneipenschlägerei festgenommen worden, und der Richter hatte zufällig von seinen Vorstrafen nichts gewusst und sich durch sein tränenreiches Betteln rühren und zu einer Strafe auf Bewährung herumkriegen lassen, vorausgesetzt, dass der Häftling Soldat werden würde, um für sein Vaterland zu kämpfen.
Der andere Mann hieß Grady und hatte in einer Mietwohnung in „Hell's Kitchen" in New York eine Frau und drei Kinder zurückgelassen, um herüberzukommen und gegen den Kaiser zu kämpfen. Er war ein gutherziger, anständiger Ire, der sich ein hartes Brot damit verdient hatte, dass er zehn Stunden am Tag Ziegelsteine und Mörtel eine Leiter hochschleppte; doch er war fest davon überzeugt, dass es irgendwo unter seinen Füßen eine Hölle mit Pech und Schwefel gäbe, in der er für immer braten würde, wenn er den Geboten der über ihn gesetzten Obrigkeit nicht gehorchte. Grady wusste, dass es gewisse böse Menschen gab, die die Religion hassten und verleumdeten und Millionen Seelen in die Hölle lockten; sie hießen Sozialisten oder Anarchisten und mussten offensichtlich Sendboten des Satans sein; es war also ein gottgefälliges Werk, sie auszurotten und zu vernichten. So denken die Gradys seit tausend Jahren, und darum haben sie in dunklen unterirdischen Verliesen die Daumenschrauben gedreht und die Hebel der Folterbank bedient. In vielen großen Städten Amerikas, wo die Polizei vom Aberglauben im Verein mit der Schnapsindustrie und den städtischen Unternehmen beherrscht wird, tun sie es noch immer.
6
„So, du kleiner Scheißkerl", sagte Perkins, „nun hör mir mal gut zu. Ich hab mich hier mal umgesehn deinetwegen und die Namen von den meisten Bolschewiken rausgekriegt, mit denen du Kontakt hattest. Aber ich will sie alle haben, und ich kriege sie auch alle - kapiert?" Trotz all seiner Angst schlug Jimmie das Herz höher vor Triumph. Perkins log! Nicht ein bisschen hatte er rausgekriegt! Er wollte bloß seinen Gefangenen bluffen und seinem Vorgesetzten zeigen, was für ein toller „Schnüffler" er war. Er tat das, was die Polizisten überall taten - er versuchte durch Einschüchterung zu erreichen, was er durch Können und Intelligenz nicht erreichen konnte. „Gleich wirst du singen", fuhr der Mann fort. „Du denkst vielleicht, du kannst es aushalten, aber du wirst merken, das ist nicht drin. Ich reiße dir jedes Glied einzeln aus, wenn
du's nicht anders haben willst - ich schrecke vor nichts zurück, was sein muss, damit du ausspuckst. Ist das klar?" In einer Art Krampf nickte Jimmie mit dem Kopf, doch sosehr er sich auch bemühte, einen Ton von sich zu geben -es wurde nur ein Würgen in der Kehle daraus. „Du handelst dir nur 'ne Menge Schmerzen ein, wenn du mich warfen lässt, darum sei lieber vernünftig. Also - wer sind die Leute?" „Es gibt gar keine. Es . . ."
„Ach, so ist das? Na, dann wollen wir mal sehn!" Und der Sergeant schwenkte Jimmie herum, um hinter ihn zu kommen. „Festhalten", sagte er zu den beiden Männern, und sie packten den Gefangenen bei den Schultern; der Sergeant griff sich seine beiden Handgelenke, die mit Handschellen gefesselt waren, und drückte sie an Jimmies Rücken nach oben.
„Au!" schrie Jimmie. „Halt! Halt!" „Spuckst du aus?" sagte der Sergeant. „Halt!" schrie Jimmie, außer sich, und als der andere stärker drückte, begann er zu schreien. „Sie brechen mir ja den Arm! Den verwundeten." „Den verwundeten?" sagte der Sergeant. „Er hat eine Kugel abgekriegt!" „Was du nicht sagst!" meinte der Sergeant. „Es ist wahr - Sie können sich erkundigen! Bei der Schlacht von Chatty Terry in Frankreich!"
Gerade nur für einen Augenblick wurde der Druck auf Jimmies Arme schwächer; aber dann fiel dem Sergeant ein, dass Soldaten, die Karriere machen wollen, ihren Vorgesetzten nicht mit Gefühlsduseleien kommen dürfen. „Wenn du in der Schlacht verwundet worden bist", sagte der Sergeant, „warum wirst du dann zum Verräter? Gib mir die Namen, die ich brauche!" Und er begann wieder zu drücken. Der Schmerz war entsetzlicher als alles, was sich Jimmie je hatte träumen lassen. Ein Kreischen entrang sich ihm. „Warten! Warten! Hören Sie!" Der Folterer lockerte den Druck und sagte: „Die Namen?" Und als Jimmie die Namen nicht sagte, presste er noch stärker. Jimmie krümmte sich vor Schmerzen, aber die beiden anderen Männer hielten ihn wie in einem Schraubstock. Er flehte, er schluchzte und stöhnte; doch die Mauern dieses Verlieses waren so gebaut worden, dass die Besitzenden draußen nicht gestört werden konnten durch Kenntnis von dem, was drinnen in ihrem Interesse geschah.
Wir gehen ins Museum und sehen uns die teuflischen Instrumente an, die die Menschen einst zur Folterung ihrer Mitmenschen benutzten, und wir schaudern und beglückwünschen uns, dass wir in einer humaneren Zeit leben, und dabei übersehen wir, dass man gar keine komplizierten Instrumente nötig hat, um dem menschlichen Körper Schmerz zuzufügen. Jeder kann jeden quälen, wenn der ihm hilflos ausgeliefert ist. Erforderlich allein ist das Motiv - das heißt irgendeine Machtbefugnis, die gesetzlich verankert ist und sich vor Rebellion abzuschirmen versteht. „Sag mir die Namen!" verlangte der Sergeant. Er hatte Jimmies beide Hände bis zum Hals hochgedrückt und lehnte sich vorwärts über Jimmie und presste und presste. Jimmie war blind vor Schmerz, sein ganzes Sein krampfverzerrt. Es war zu entsetzlich, das gab es doch nicht! Alles, alles, damit das aufhörte! Eine Stimme schrie in seiner Seele: Rede! Rede! Doch dann dachte er an den kleinen Juden, so mitleiderregend, so vertrauensvoll - nein, nein, er würde nichts sagen! Er würde niemals etwas sagen! Aber wie, wie sollte er das schaffen? Wie diese Qualen aushalten? Er konnte sie doch nicht aushalten - sie waren grauenhaft!
Er wand sich und schrie, stammelte und flehte und schluchzte. Vielleicht hat es Menschen gegeben, die die Folter mit Würde ertragen haben, aber Jimmie gehörte nicht zu ihnen. Jimmie war erbärmlich, Jimmie war von Sinnen; er tat alles mögliche, alles, was ihm einfiel - bloß nicht das eine, das, was Perkins ihm fortwährend befahl. Das ging so weiter, bis der Sergeant außer Atem war; was sich allerdings als ein Nachteil des primitiven Handbetriebs der Folterung erwies, auf den sich die amerikanischen Polizisten wegen der Gefühlsduselei der Politiker beschränken müssen. Der Folterer verlor die Geduld und begann an Jimmies Armen zu rütteln und zu drehen, so dass Connor ihn warnen musste - er wolle ihm doch sicher nichts brechen?
Also sagte Perkins: „Drückt ihm den Kopf runter." Sie bogen Jimmie nach vorn, bis sein Kopf den Boden berührte, und Grady band Jimmie die Beine fest, damit er sie ruhig hielt; Connor hielt ihn am Hals fest, und Perkins setzte seinen Fuß auf die Handschellen und trat nach unten. Auf diese Weise konnte er die Folter im Stehen fortsetzen und dabei frei atmen, was für ihn eine große Erleichterung war. „So, du verfluchter Hund!" sagte er. „Das kann ich die ganze Nacht aushalten. Und nun pack mal aus!"
7
Jimmie erschien jeder Augenblick des Schmerzes als der schlimmste. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass ein Schmerz so lange anhalten konnte, dass er mit solch heißer, sengender Flamme brennen konnte. Er knirschte mit den Zähnen, er zerbiss sich die Zunge, er ließ sein Gesicht über die Steine schleifen. Alles hätte er gegeben für eine Atempause - auch schon für eine andere Art Schmerz, damit er nicht mehr an die furchtbare Pein in den Schultern und Ellbogen und Handgelenken denken musste. Aber eine Atempause gab es nicht; seine Seele wurde in bodenlosen Abgründen herumgewirbelt und herumgestoßen, aus deren Tiefen wie von einem fernen Berggipfel Perkins' Stimme zu ihm drang: „Pack aus! Pack aus - oder du bleibst die ganze Nacht in dieser Stellung!"
Aber Jimmie blieb nicht in dieser Stellung, denn Perkins wurde es zu viel, auf einem Fuß zu stehen, und er wusste, dass der Lieutenant oben auf und ab schritt und sich wunderte, warum es wohl so lange dauerte, ein paar Fragen zu stellen. Jimmie hörte die Stimme von dem fernen Berggipfel: „So wird das nichts; wir müssen ihn ein bisschen aufknüpfen." Und er holte aus seiner Tasche einen starken Strick, band das eine Ende um Jimmies beide Daumen und ließ das andere Ende durch einen Eisenring in der Kerkermauer laufen - der dort von einem Handlanger des Zaren zur Verwendung im Geiste der Demokratie angebracht worden war. Die beiden anderen Männer hoben Jimmie hoch, bis seine Füße den Boden nicht mehr berührten, machten dann den Strick fest, und Jimmie hing mit seinem vollen Gewicht an seinen Daumen, die Hände noch immer auf dem Rücken gefesselt.
So machte er jetzt seinen drei Kerkermeistern keine Mühe mehr - außer dass er ein hässlich anzusehendes Etwas war, das Gesicht krebsrot und verkrampft und die Zunge blutig gebissen. Sie drehten ihn herum, mit dem Gesicht nach der Mauer, dann störte sie nichts weiter mehr als die Geräusche, die schwächer geworden waren, doch darum nicht weniger unangenehm, ein Stammeln und Plappern, ununterbrochen und doch nicht rhythmisch, so als ob es von einer ganzen Menagerie gequälter Tiere herrührte. Immer noch verstrich die Zeit, und Perkins' Zorn wuchs, Ihm persönlich hätte es nichts ausgemacht, denn seine Nerven waren stark; er hatte in den alten Zeiten zu Hause eine ganze Menge Arbeiter vom IWW in der Mangel gehabt; aber er hatte gesagt, er würde die Information herausholen, und daher stand sein Ruf auf dem Spiel. So gab er Jimmie einen Stoß und sagte: „Singst du jetzt endlich?" Und als sich Jimmie noch immer weigerte, sagte er schließlich: „Also, dann werden wir's mit der Wasserkur versuchen müssen. Connor, holen Sie mir ein paar Krüge Wasser und einen Trichter - nicht zu klein."
„Jawohl, Sir", sagte der ehemalige Einbrecher und ging hinaus, und in der Zwischenzeit wandte sich Perkins wieder an sein Opfer. „Hör zu, du kleines Mistvieh", sagte er. „Ich werde jetzt was Neues ausprobieren, etwas, was dich ganz bestimmt weichmacht. Ich bin auf den Philippinen gewesen mit der Armee; da haben sie's oft so gemacht, und bis jetzt hab ich noch keinen gesehn, der es ausgehalten hat. Wir lassen dich bis oben hin mit Wasser volllaufen, und dann kannst du ein paar Stunden liegen, damit es auch überall hinsickert, und dann schütten wir noch was nach, und das machen wir Tag und Nacht, so lange, bis du auspackst. Es wär also besser für dich, wenn du dir das noch mal überlegst und gleich singst, ehe wir dir das Wasser eintrichtern, denn so leicht kriegt man es nicht wieder raus."
Jimmies Gesicht lag an der Wand, und seine gemarterten Daumen schmerzten, als ob man Messer in ihn hineinstach und umdrehte; er hörte diese Drohungen und vernahm wieder den Schrei in seiner Seele nach einer Atempause, koste es, was es wolle.
Jimmie kämpfte einen Kampf, den schwersten, den je ein
Mensch gekämpft hat - den Kampf des Gewissens gegen die Schwachheit des Fleisches. Reden oder nicht reden? Der arme gefolterte Körper schrie: Rede! Doch das Gewissen keuchte mit kraftloser Stimme immer und immer und immer wieder: Nein! Nein! Nein! Es musste sich fortwährend behaupten, weil der Kampf niemals vorbei, niemals gewonnen war. Jeder Augenblick bedeutete neue Qual und daher wieder eine Versuchung; jedes Argument musste endlos wiederholt werden. Warum sollte er nicht reden? Weil Kalenkin ihm vertraut hatte, und Kalenkin war ein Genosse. Aber vielleicht war Kalenkin inzwischen verschwunden, war an einem seiner Hustenanfälle gestorben, vielleicht hatte er von Jimmies Verhaftung gehört und war geflohen. Vielleicht würden sie Kalenkin auch gar nicht foltern, wie sie Jimmie folterten, weil er kein Soldat war; vielleicht steckten sie ihn nur eben ins Gefängnis und behielten ihn da, und andere würden die Arbeit weiterführen. Vielleicht...
Und so weiter. Aber die kraftlose Stimme flüsterte in Jimmie Higgins' Seele: Du bist die Revolution. Du bist die soziale Gerechtigkeit, die in dieser Welt um ihr Leben kämpft. Du bist die Menschheit, die ihr Gesicht dem Licht zuwendet, die darum ringt, ein neues Ziel zu erreichen, ein altes Grauen hinter sich zu lassen. Du bist Jesus am Kreuz, und wenn du versagst, schreitet die Welt rückwärts, vielleicht für immer. Du musst durchhalten! Du musst das ertragen! Und das! Und das! Du musst alles ertragen - ewig - so lange, wie es nötig ist! Du darfst nicht „auspacken"!
8
Connor kam zurück mit den Wasserkrügen und dem Trichter! Sie nahmen Jimmie ab - ach, welche Wohltat für seine Daumen! - und legten ihn auf den Boden, die geschundenen, geschwollenen Hände, noch immer gefesselt, unter dem Körper, und Grady setzte sich auf seine Füße, und Connor setzte sich auf seine Brust, und Perkins stieß ihm mit Gewalt den Trichter in den Hals und goss Wasser hinein.
Jimmie musste natürlich schlucken; er musste verzweifelt würgen, um nicht zu ersticken, und nur zu bald war er bis oben hin voll Wasser, und dann begannen die fürchterlichsten Qualen, die er bis dahin erduldet hatte. Es war wie der Schmerz von dem Äthergas, nur unendlich viel schlimmer. Er wurde aufgetrieben wie ein Ballon; sein Inneres wollte platzen; sein ganzer Körper war eine einzige wunde Geschwulst - und Connor, der auf seinem Bauch saß, machte sich ab und zu ein bisschen schwerer, um sicherzugehen, dass das Wasser auch an die richtigen Stellen drang.
Jimmie konnte nicht schreien, aber sein Kopf lief blau an, und auf Stirn und Hals traten die Adern hervor; er begann zu würgen, und das war das schlimmste von allem; jede Zuckung seines Körpers stach ihn mit zehnmal tausend Messern.
Jimmie hatte mit mehreren Wobblies gesprochen, die diese „Wasserkur", die übliche Methode der Polizeibehörden in kleinen Städten und Dörfern, durchgemacht hatten. Sie ist einfach und billig und sauber; sie hinterlässt keine Blutspuren und keine Beulen, die dem Gericht vorgezeigt werden könnten; sie verstopft dem Opfer den Mund, so dass seine Schreie nicht durch die Gefängnisfenstern dringen - daher genügt schon ein einfaches Abstreiten völlig, um sie geheimzuhalten. Der Wilde Bill hatte diese Behandlung erfahren, Erdbeer-Curran sogar mehrere Male. Aber ach, dachte Jimmie, wie das hier konnte es nicht gewesen sein - noch niemals hatte ein Mensch so etwas wie das hier ausgehalten! Der arme Jimmie war in Geschichte nicht bewandert und wusste nicht, dass der Mensch schon alles ertragen hat, was sein Mitmensch ihm hat antun können. Er wird es auch künftig ertragen, so lange, wie Privilegien gesetzlich verankert sind und es erlaubt ist, das Gesetz für ihre unheiligen Zwecke einzusetzen.
So wurde in Jimmie Higgins' Seele der Kampf der Jahrhunderte ausgetragen. Er war ein Zwerg von einem sozialistischen Maschinenarbeiter, mit schlechten Zähnen und abgearbeiteten Händen, und er konnte nichts Erhabenes oder Begeisterndes tun, nicht einmal etwas Würdevolles; übrigens würde es für jeden schwer sein, etwas Würdevolles zu tun, wenn er auf dem Boden liegt mit ein paar Litern Wasser im Leib und ein Mann auf seinen Beinen, ein anderer auf seinem Bauch sitzt und ein dritter ihm einen Trichter in den Mund rammt. Jimmie konnte weiter nichts tun, als in seinem Innern den fürchterlichen Kampf zu kämpfen und ihn nicht zu verlieren. „Heb das Knie, wenn du bereit bist zu singen", sagte Perkins, und Grady stand auf, damit Jimmie das Knie heben konnte, wenn er wollte; aber Jimmies Knie hob sich nicht.
Tief innen in Jimmie Higgins' gepeinigter Seele geschah etwas Merkwürdiges. Während er gebunden und hilflos dalag, verzweifelnd, sich krümmend vor Schmerz, halb wahnsinnig vor Angst, rief Jimmie um Hilfe - und Hilfe ward ihm zuteil; die Hilfe, die alle Kerkermauern durchdringt und alle Kerkermeister und Folterknechte überlistet; jene Macht, die alle Schranken von Stahl und alle Schranken der Furcht bricht...
„Du hast große Freunde; Verbündet sind dir Jubel, Leid und Liebe Und eines Mannes unzähmbarer Mut!"
In Jimmies Seele ließ sich die Stimme vernehmen, die lauter spricht als die Drohungen und Befehle der Tyrannei und die da sagt: Ich bin ein Mensch, und ich bestehe. Ich besiege das Fleisch, ich trete den Leib unter mich und erhebe mich über ihn. Ich trotze seinen Kerkern, seinen Rücksichten und seinen Ängsten. Ich bin die Wahrheit, und die soll gehört werden auf Erden. Ich bin die Gerechtigkeit, und die soll verwirklicht werden auf Erden. Ich bin die Freiheit, und ich breche alle Gesetze, ich trotze aller Unterdrückung, ich triumphiere, ich verkünde die Erlösung! - Und weil zu allen Zeiten und unter jedem Himmel diese heilige Kraft in der Seele des Menschen gewohnt hat, weil diese geheimnisvolle Stimme dort gesprochen hat, ist die Menschheit aus Finsternis und Barbarei fortgeschritten bis wenigstens zum Traum von einer anständigen und glücklichen Welt.
So lag Jimmie da, verwandelte seinen Schmerz in Ekstase, in eine schwindeln machende, gefährliche Verzückung, dicht an der Grenze des Wahnsinns, und Sergeant Perkins stand auf, sah auf ihn herab und schüttelte den Kopf. „Mein Gott!" sagte er. „Was steckt in diesem kleinen Mistvieh?" Er gab Jimmie einen Tritt in die Rippen, und Jimmies Seele tat
einen Sprung und wirbelte durch eine Unendlichkeit von Pein.
„Bei Gott, dich kriege ich zum Reden!" schrie Perkins und begann mit seinen schweren Stiefeln nach ihm zu treten - bis Connor ihn bremste, denn er wusste, das war moralisch nicht vertretbar - es hinterließ Spuren.
So sagte der Sergeant schließlich unvermittelt: „Wartet hier." Und er ging nach oben, wo Gannet auf und ab schritt.
„Lieutenant", sagte er, „der Kerl ist ein sturer Fall." „Was sagt er denn?"
„Ich kann kein Wort aus ihm herausholen. Er ist Sozialist und ein Spinner, müssen Sie wissen, und Sie würden sich wundern, wie übel manchmal solche Kerle sein können. Sobald ich die Geschichte komplett habe, mach ich Ihnen Meldung, aber bis dahin hat es keinen Zweck, wenn Sie hier warten."
Darauf ging der Offizier, und Perkins kehrte in das Verlies zurück und gab den Befehl, dass alle zwei Stunden jemand Jimmie mit Wasser vollfüllen und ihm eine Chance geben solle, „ja" zu sagen. Und Jimmie lag da in seiner Einsamkeit und stöhnte und weinte, ab und zu zitternd in jener gefährlichen Verzückung, die nicht anhält, sondern durch größte Willensanstrengung ständig erneuert werden muss, so wie ein erschöpftes Pferd mit Sporen und Peitsche angetrieben werden muss. Niemals, niemals konnte dieser Kampf wirklich gewonnen werden! Niemals ließ sich der Leib ganz und gar vergessen, ließen sich seine lauten Forderungen vollkommen zum Schweigen bringen! Gott kommt, aber der Zweifel folgt auf dem Fuße. Was hat dieses furchtbare Opfer für einen Sinn? Was soll dabei Gutes herauskommen, wer wird es erfahren, wen wird es kümmern? So der Satan in der Seele, und so das ewige Duell zwischen dem Neuen, von dem der Mensch träumt, und dem Alten, das er zum Gesetz erhoben hat.
1
Ein neuer Tag war angebrochen - obwohl Jimmie es nicht wusste in seinem Verlies. Er wusste nur, dass Sergeant Perkins wiedergekommen war, dastand, ihn ansah und mit einem Federkiel in den Zähnen herumstocherte. Dieser kleine Bolschewik hatte die Wasserkur länger ausgehalten als jeder andere, der Perkins untergekommen war, und er wunderte sich und grübelte, was für ein verdammter Idiot das war und was der damit wohl zu erreichen glaubte. Aber es war notwendig, ihn weiter zu bearbeiten, denn Perkins wusste, dass seine Karriere auf dem Spiel stand. Er hatte etwas herauskriegen sollen und hatte das nicht geschafft! Darum befahl er, Jimmie an den Daumen aufzuhängen, an den armen Daumen, die auf das Dreifache ihrer normalen Größe angeschwollen waren und sich fast schwarz gefärbt hatten. Aber nun mischte sich Jimmies gute Mutter Natur ein und machte dem Verfahren ein Ende; der Schmerz war so unerhört, dass Jimmie das Bewusstsein verlor, und als der Sergeant sah, dass er betrogen wurde, schnitt er sein Opfer los und ließ es auf den feuchten Steinen liegen. So bestand Jimmies Leben drei Tage lang abwechselnd aus Ohnmachten und Schmerzensqualen - die übliche Routine beim „dritten Grad" in hartnäckigeren Fällen, und immer rief Jimmie in seinen bewussten Augenblicken den Gott in seiner Seele an, und der Gott folgte seinem Ruf mit seinen Heerscharen, und die Posaunen des Sieges hallten in Jimmies Seele wider, und er „packte nicht aus". Am vierten Tag betraten die drei Folterknechte die Zelle, stellten ihn auf die Beine, schleppten ihn die Steintreppe hoch, wickelten ihn in eine Decke und setzten ihn in ein Auto.
„Jetzt hör mal zu", sagte Perkins, der neben ihm saß, „du kommst jetzt vors Kriegsgericht. Hast du verstanden?" Jimmie gab keine Antwort.
„Und ich rate dir zu deinem eigenen Besten - wenn du vielleicht Märchen erzählen willst über das, was wir mit dir gemacht haben, bring ich dich zurück in die Zelle und reiß dir alle Glieder einzeln aus. Hast du kapiert?" Noch immer antwortete Jimmie nicht - dieser störrische kleine Satan, dachte Perkins. Doch in Jimmies Seele flackerte eine schwache Hoffnung auf. Könnte er sich nicht an die höhere Instanz um Hilfe wenden und weiteren Foltern entgehen? Jimmie hatte an sein Vaterland geglaubt und an seines Vaterlands Bestimmung, die Demokratie zu verteidigen; er hatte die wunderschönen Reden von Präsident Wilson gelesen und konnte einfach nicht glauben, dass der Präsident die Folterung eines Menschen im Gefängnis gestatten würde. Doch leider war es ein weiter Weg vom Weißen Haus nach Archangelsk - und er war sogar noch weiter, wenn man ihn über die Verzweigungen des Armeeapparats maß, ein Weg, der durch das rote Aktenband der Bürokratie noch gründlicher verbarrikadiert war als irgendein Abschnitt der Hindenburg-Linie durch Stacheldraht. Jimmie wurde in einen Raum gebracht, wo sieben Offiziere mit sehr ernster und feierlicher Miene an einem großen Tisch saßen. Perkins stützte ihn unter den Achseln, so dass es aussah, als ob er auf eigenen Füßen ginge. Er wurde auf einen Stuhl gesetzt und warf einen Blick um sich - doch ohne viel Hoffnung in den Gesichtern vor sich zu finden. Der Vorsitzende des Kriegsgerichts war Major Gaddis, der vor dem Krieg an einer großen Universität Professor der Ökonomie gewesen war, was besagt, dass er von einem Konsortium von Bankiers ausgewählt worden war als ein Mann, der an eine herrschende Klasse glaubte und den keine Macht der Welt dazu bringen konnte, an etwas anderes zu glauben. Er war ein Mann von strengem Ehrgefühl, ein sehr gepflegter und gebildeter Gentleman, sofern man zu seiner Gesellschaftsschicht gehörte; aber er war überzeugt, dass es die Pflicht der unteren Klassen sei, zu gehorchen, und dass die Existenz der zivilisierten Gesellschaft davon abhänge, ob man sie zum Gehorsam brachte.
Neben ihm saß Colonel Nye, ein so gegensätzlicher Typ, wie man ihn sich nur vorstellen konnte. Nye war Glücksritter in Mexiko und Mittelamerika gewesen und als Führer einer jener Söldnerbanden zu Wohlstand gelangt, die vor dem Krieg von den großen Unternehmen Amerikas organisiert wurden, um Streiks zu brechen. Er hatte eine Privatarmee von fünftausend Mann befehligt, Kavallerie, Infanterie und Artillerie, der Öffentlichkeit bekannt unter dem Namen „Smithers Detective Agency". Während eines großen Kohlenstreiks war er von der Regierung eines Bundesstaats praktisch als Chef der Miliz eingesetzt worden und hatte sich damit beschäftigt, Maschinengewehre auf Zeltkolonien mit Frauen und Kindern abfeuern zu lassen. Er war wegen Mordes vor ein Milizgericht gestellt und freigesprochen worden, womit es unmöglich geworden war, dass irgendein ziviles Geschworenengericht ihn anklagen und hängen lassen konnte. Jetzt war er automatisch aus der Miliz des Bundesstaats in die Armee übernommen worden, wo er einen sehr tüchtigen Offizier abgab, der den Ruf hatte, streng auf Disziplin zu halten.
First-Lieutenant Olson war Textilverkäufer gewesen, der einen Offizierslehrgang besucht hatte. Da er es zu etwas bringen wollte, sah er immer erst seine Vorgesetzten an, ehe er eine Meinung äußerte. Dasselbe galt für Captain Cushing, einen gutmütigen jungen Bankkassierer mit einer hübschen Frau, die sein Gehalt stets ein paar Monate früher ausgab, als er es bekam. Der fünfte Offizier, Lieutenant Gannet, führte meistens das Wort, weil er Jimmies unmittelbarer Vorgesetzter war und die Untersuchung des Falles geleitet hatte. Er hatte die Sache mit Major Prentice, dem Ankläger des Militärgerichts, durchgesprochen und ebenso mit Captain Ardner, dem jungen Militärrechtsanwalt, der lediglich der Form nach Jimmies Verteidigung übernahm; die drei waren sich einig, dass es sich um einen äußerst ernsten Fall handle. Propaganda für den Bolschewismus in dieser Archangelsk-Expedition musste unter allen Umständen im Keim erstickt werden. Die Anklage gegen Jimmie lautete auf Gehorsamsverweigerung und Anstiftung zur Meuterei, und darauf stand die Todesstrafe.
2
Jimmie saß auf seinem Stuhl und war sich nur teilweise bewusst, was vorging, wegen der Schmerzen in seinen geschwollenen Daumen und seinen verrenkten Armen. Die in ihm aufgeflackerte Hoffnung war wieder erloschen, und er hatte das Interesse an dem Verfahren verloren - er brauchte seine ganze Energie, um die Schmerzen zu ertragen. Er wollte ihnen nicht sagen, woher er die Flugblätter hatte, und als sie ihm zusetzten, grunzte er nur vor Schmerz. Er wollte nicht mit Captain Ardner reden, der ihn vergeblich zu überzeugen versuchte, dass er in seinem - des Gefangenen - Interesse handle. Nur zweimal fuhr Jimmie auf; das erste Mal, als Major Gaddis seiner Entrüstung darüber Luft machte, dass ein Bürger der großen amerikanischen Demokratie sich mit diesem bolschewistischen Geschmeiß verbünden könne, das in ganz Russland eine Schreckensherrschaft führe, brandschatze, morde, foltere ...
„Wer spricht hier von Foltern?" schrie Jimmie, halb von seinem Stuhl aufspringend. „Habt ihr mich etwa nicht gefoltert - nicht regelrecht in Stücke gerissen?" — Das Gericht war schockiert. „Gefoltert?" fragte Captain Cushing.
„Gefoltert seit Tagen - seit einer Woche vielleicht, weiß ich's, da unten in diesem Verlies!"
Major Gaddis wandte sich an Sergeant Perkins, der hinter Jimmies Stuhl stand und kaum seine Hände von dem Gefangenen lassen konnte. „Was heißt das, Sergeant?" „Das ist absolut unwahr, Sir."
„Sehen Sie sich diese Daumen an!" rief Jimmie. „Daran haben sie mich aufgehängt!"
„Der Gefangene war gewalttätig", sagte Perkins. „Er hat den Soldaten Connor, einen der Wärter, fast umgebracht, darum mussten wir strenge Maßnahmen ergreifen." „Das ist eine Lüge!" schrie Jimmie. Aber sie brachten ihn zum Schweigen, und die würdige Militärmaschine mahlte weiter. Jeder musste einsehen, dass die Disziplin in die Brüche gehen würde, wenn das Wort eines Aufsehers nicht mehr gelten sollte als das eines Häftlings, das Wort eines loyalen und erprobten Untergebenen nicht mehr als das eines Verräters und Verschwörers, eines erklärten Sympathisanten mit dem Feind.
Binnen kurzem stellte dann auch der den Vorsitz führende Offizier die Frage, ob sich der Gefangene darüber im Klaren sei, dass ihm die Todesstrafe drohe. Als er keine Antwort bekam, informierte er den Gefangenen dahingehend, dass das Gericht wahrscheinlich diese äußerste Strafe verhängen würde, wenn er es sich nicht überlegen und seine Komplicen unter den Bolschewiki nennen würde, damit sich die Armee gegen die Propaganda dieser Mörder schützen könne. Hier fuhr Jimmie wieder auf - doch diesmal nicht so heftig, eher mit einer Spur grimmiger Ironie. „Sagten Sie Mörder? Sind Sie nicht gerade dabei, mich zu ermorden?" „Wir führen nur das Gesetz aus", sagte das Gericht. „Ihr macht, was ihr Gesetz nennt, und die machen, was sie Gesetz nennen. Ihr bringt Leute um, die nicht gehorchen, und sie tun dasselbe. Wo liegt da der Unterschied?" „Sie bringen alle gebildeten und gesetzestreuen Leute in Russland um", erklärte Major Gaddis streng. „Alle reichen Leute, meinen Sie", sagte Jimmie. „Sie zwingen die Reichen, ihren Gesetzen zu gehorchen; sie geben ihnen eine Chance, dieselbe wie allen anderen, und wenn sie dann nicht gehorchen, dann bringen sie sie um - aber nur so viele, wie sie umbringen müssen, damit sie gehorchen. Und macht ihr nicht dasselbe mit den Armen? Hab ich nicht gesehen, dass ihr das so gemacht habt, immer wenn ein Streik war? Fragen Sie doch Colonel Nye da! Hat er nicht gesagt: ,Zum Teufel mit den Haftbefehlen - Totenscheine können sie kriegen!'?"
Colonel Nye errötete; er wusste nicht, dass sein Ruhm ihm den ganzen Weg von Colorado bis zum Polarkreis gefolgt war. Das Gericht beeilte sich, ihn in Schutz zu nehmen. „Wir führen hier keine sozialistische Debatte durch. Es ist offenkundig, dass der Gefangene keine Reue zeigt und verstockt ist und dass es keinen Grund zur Milde gibt." Dementsprechend befand das Gericht Jimmie Higgins für schuldig im Sinne der Anklage und verurteilte ihn zu zwanzig Jahren Festung - was den Umständen nach sogar ein recht mildes Urteil war. In New York City fand genau zur gleichen Zeit ein Prozess gegen fünf russische Juden statt, alle noch die reinen Kinder und darunter ein Mädchen, wegen desselben Verbrechens, das Jimmie begangen hatte: Verteilung eines Aufrufs, dass die amerikanischen Truppen aufhören sollten, russische Sozialisten umzubringen; diese Kinder erhielten zwanzig Jahre, und eins von ihnen starb bald nach der Inhaftierung - als Folge von Folterungen durch Agenten des Secret Service, wie seine Gefährten schworen.
3
Jimmie wurde ins Gefängnis zurückgebracht. Major Gaddis, der durchaus ein gerechter Mann war und Recht und Ordnung zu seiner Religion gemacht hatte, gab strengste Anweisung, der Gefangene dürfe nicht wieder an den Daumen aufgehängt werden. Natürlich sei es wünschenswert, herauszufinden, wer die bolschewistischen Flugblätter gedruckt habe, aber bei den Bemühungen, den Gefangenen zu einer Aussage zu veranlassen, sollten nur die Bestrafungen angewandt werden, die von den Armeeinstanzen ausdrücklich genehmigt seien.
So kehrte Jimmie zurück in sein unterirdisches Verlies und bekam acht Stunden am Tag um die Handgelenke eine Kette, deren anderes Ende oben durch den Eisenring gezogen war, so dass er mit den Füßen gerade noch den Boden berührte. Da hing Jimmie und erprobte sein Gewissen -das war der Test, den damals viele Männer in den Strafbaracken von Fort Leavenworth über sich ergehen lassen mussten. Jimmies Gewissen war tatsächlich längst nicht so stark, wie es hätte sein sollen. Jimmie hatte Anwandlungen von schamlosem Selbstmitleid, Anwandlungen von hoffnungslosem, quälendem Zweifel. Er wollte das seine Kerkermeister nicht merken lassen, doch sie lauschten hinter der Tür durch einen Schlitz, den der Zar zu diesem Zweck hatte ausklügeln lassen; er konnte geschlossen werden, solange der Gefangene unter der Folter schrie, und dann vom Kerkermeister wieder geöffnet werden, ohne dass der Gefangene es merkte.
Auf diese Weise hörte Perkins, wie Jimmie schluchzte und jammerte, mit sich selbst und mit anderen redete - mit einer gewissen „Erdbeere" und noch jemand, der „Wilder Bill" hieß, und wie er sie fragte, ob sie je so etwas durchgemacht hätten und ob es wirklich einen Sinn hätte, ob es wirklich der Revolution helfen würde? Perkins dachte, er hätte hier etwas Wichtiges herausbekommen, und meldete es Lieutenant Gannet, mit dem Ergebnis, dass in den gesamten amerikanischen Streitkräften eine Fahndung nach zwei Männern mit den Namen „Erdbeere" und „Wilder Bill" anlief. Doch diese Männer waren unauffindbar; wie es der Zufall so will, hatte der Wilde Bill Zuflucht gefunden an einem Ort, wo nicht einmal der Geheimdienst der Armee hinreicht, und Erdbeer-Curran stand zu dieser Zeit gerade in Kalifornien zusammen mit einer Schar anderer Wobblies vor Gericht und erhielt dort so ziemlich die gleiche An von Behandlung wie Jimmie in Archangelsk. Bei seinem Kampf mit Jimmie hatte Sergeant Perkins den großen Vorteil, dass Jimmies Seele in ihrer erbarmungswürdigen Schwäche offen vor ihm lag, während Perkins' Seele Jimmie verborgen blieb. Die Wahrheit war nämlich, dass Perkins an rasender Wut, gemischt mit einem tüchtigen Schuss Angst, litt. Was war das, verdammt noch mal, für eine Idee, die eine kleine Ratte von Arbeiter stärker sein ließ als alle Obrigkeit? Und wie sollte man verhindern, dass sich diese Idee ausbreitete und die behagliche, wohlgefügte Welt zerstörte, in der Perkins in Kürze seine Beförderung zum Offizier erwartete? Genau einen Tag nach dem Kriegsgerichtsverfahren, das als strengstes militärisches Geheimnis galt, fanden die Militärbehörden zu ihrer größten Verblüffung an mehreren auffälligen Stellen ein Plakat in englischer Sprache mit dem Wortlaut:
Amerikanische Soldaten, wißt ihr, dass ein Armeesergeant gefoltert wird und zu zwanzig Jahren Kerker verurteilt worden ist, weil er versucht hat, euch zu sagen, wie die Bolschewiki Propaganda gegen den deutschen Kaiser machen?
Kennt ihr den wahren Grund, warum eure Armeen hier sind? Seid ihr bereit, dafür zu sterben, dass man das russische Volk zwingt, eure Vorstellung von Staatsgewalt zu übernehmen? Seid ihr bereit, eure Kameraden foltern zu lassen, damit euch die Tatsachen vorenthalten bleiben?
Und natürlich wollten die Landser, die dieses Plakat lasen, wissen, ob es die Wahrheit sagte. Und schnell sprach es sich herum, dass alles stimmte. Männer, die das Flugblatt noch hatten, das Jimmie verteilt hatte, fanden nun eifrige Leser dafür, und bald kannten alle den Inhalt und stritten sich über die Frage, ob man amerikanische Armeen dafür verwenden dürfte, eine soziale Revolution in einem fremden Land niederzuwerfen. Dieselben Fragen wurden in der Heimat in den Sälen des Kongresses gestellt. Senatoren stellten das Recht in Frage, Truppen in ein Land zu entsenden, gegen das nie der Krieg erklärt worden war, und andere Senatoren forderten, man solle sie sofort abziehen. Und diese Nachrichten erreichten die Männer ebenfalls und vergrößerten die Gefahr. Archangelsk war kein angenehmer Aufenthaltsort, besonders jetzt nicht, da schnell der Winter näher rückte; die Männer neigten zum Murren - und nun hatten sie eine Handhabe!
4
Die Kräfte, die diese Armee befehligten, hatten unter einer schweren Behinderung zu leiden, wie sie wahrscheinlich noch niemals in der Geschichte eine Armee zu spüren bekommen hatte. Der Oberbefehlshaber der Armee nämlich, der ihre politische Linie bestimmte und ihren moralischen Ton anzugeben versuchte, trat alle Augenblicke vor den Kongreß und hielt Reden voll aufreizender und verantwortungsloser Äußerungen, die dazu angetan waren, den Soldaten gefährliche Gedanken in den Kopf zu setzen, die Disziplin zu zerstören und die Kampfmoral zu untergraben. Der Präsident schrieb einen Brief an einen Parteitag, in dem er erklärte, die Arbeiter Amerikas lebten „in wirtschaftlicher Sklaverei"; er verkündete wieder und wieder, jedes Volk habe das Recht, sein Schicksal und seine Regierungsform selbst zu bestimmen, ohne Einmischung von außen. Und das, während die Armee den Versuch machte, die Russen niederzuwerfen, die sich gegen die „wirtschaftliche Sklaverei" in ihrem eigenen Land erhoben hatten! Eine Armee, muss man verstehen, ist ein Apparat zum Kämpfen; ein Mann, der in sie eintritt und an ihrer Aufgabe teilhat, nimmt sehr schnell ihren Ton an, der ein Ton bodenloser Verachtung für alle Politiker ist, insbesondere für solche, die Reden halten und Briefe schreiben, die „Idealisten" und „Träumer" und „Theoretiker", die keinen Sinn dafür haben, dass Männer dazu da sind, Schlachten zu schlagen und zu gewinnen. Alle Offiziere der alten Armee, die von der Kadettenschule West Point kamen, waren aufgewachsen in der Tradition der Klassenherrschaft und bis in die Knochen durchdrungen von dem Gedanken, dass sie
eine besondere Zuchtrasse seien, dass der Gehorsam, den man ihnen schuldete, ein Gesetz Gottes sei; und von den neuen Offizieren kam die große Mehrheit aus den wohlhabenden Kreisen und hatte auch nichts übrig für Redenhalten und Briefeschreiben zum Thema Menschenrechte. Sie waren alles andere als begeistert von dem Gedanken, sich von einem „idealistischen" Oberbefehlshaber einen pazifistischen Kriegsminister vor die Nase setzen zu lassen. Sie zögerten nicht, ihrer Entrüstung Ausdruck zu verleihen, und als dieser pazifistische Minister in Sachen Kriegsdienstverweigerer Anordnungen erließ, die auf Gefühlsduselei und Theorie beruhten," nahm der Armeeapparat sich die Freiheit, diese Anordnungen zu interpretieren und den Unsinn aus ihnen herauszuschneiden. Und je weiter man sich vom Büro des pazifistischen Ministers entfernte, um so gründlicher war zwangsläufig das Zurechtschneiden; auf diese Weise kam es zu der Erscheinung, die der arme Jimmie Higgins so unbegreiflich fand - dass eine politische Linie, die in Washington von aufrichtigen Humanisten und Liberalen festgelegt worden war, in Archangelsk durchgeführt wurde von einem ehemaligen Detektiv, der aus einer Schule der Korruption und Grausamkeit hervorgegangen war.
Jimmie Higgins konnte nicht verstehen, dass hier in Archangelsk Amerikaner ihre Befehle von britischen und französischen Offizieren entgegennahmen, die keinen Atemzug an Pazifismus und schöne Gefühle verschwendeten und keine verrückten Ideen über Kriege für die Demokratie im Kopf hatten. Sollte ihnen eine einzige obskure kleine Ratte von einem sozialistischen Maschinenarbeiter ihre Weltpläne verpatzen dürfen? Sich hier als Autorität aufzuspielen, sich zu erdreisten, die Äußerungen seines Präsidenten wörtlich zu nehmen, unter Mißachtung ihrer Autorität in Archangelsk! Sich mit verräterischen und kriminellen Schurken zu verbünden, die Seelen amerikanischer Soldaten vergiften und die Brandfackel der Meuterei unter ihnen entflammen zu wollen! So, wie Jimmie Higgins sich schon früher einmal in einer strategischen Position befunden hatte, als er die ganze Hunnenarmee aufgehalten und die Schlacht von Châ-teau-Thierry gewonnen hatte, so befand er sich jetzt in einer Position von gleicher strategischer Wichtigkeit - auf
der Verbindungslinie der alliierten Armeen, die Russland angriffen, und er drohte diese Linie zu unterbrechen und die Armeen zum Rückzug zu zwingen!
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Es wurde dringlicher denn je, diese bolschewistischen Sympathisanten zu entdecken und ihre Propaganda auszumerzen. Dass man Jimmie an den Handgelenken aufhängte, hatte die gewünschten Informationen nicht gebracht; daher kam er jetzt bei Wasser und Brot in Einzelhaft, was ein anderer Test für die Lauterkeit des Gewissens war. Für das Gewissen mag ja eine Diät von weißem Mehl und Wasser zuträglich sein, aber Jimmie stellte sehr bald fest, dass sie für den Darm und für den Kreislauf höchst abträglich ist - sie ist, ehrlich gesagt, viel schlimmer als eine Diät von Wasser allein. Jemand, der ein paar Tage lang von weißem Mehl und Wasser lebt, bekommt entweder totale Verstopfung oder aber Durchfall; sein Blut wird klumpig von Stärkegiftstoffen, seine Nerven degenerieren, er wird rasch ein Opfer der Tuberkulose oder der perniziösen Anämie oder irgendeiner anderen Krankheit, die ihn nie wieder gesund werden lässt.
Außerdem bekam Jimmie die Wasserkur nach der Methode von Fort Leavenworth. Es war nötig, dass alle Gefangenen gebadet wurden; was einige Wärter so auslegten, dass man einen Strahl eiskaltes Wasser auf sie richtete und sie zwang, sich darunterzustellen. Weil Jimmies Arme so stark verletzt waren, dass er sich nicht selbst abschrubben konnte, ergriff Connor eine grobe Bürste und Salz und schrubbte ihm ganze Hautfetzen herunter. Wenn Jimmie sich wegwand, folgten sie ihm mit dem Schlauch; wenn er schrie, spritzten sie ihm in Mund und Nase; wenn er hinstürzte, ließen sie zehn, fünfzehn Minuten lang das kalte Wasser über ihn lau-
Jimmie hatte in seinem Leben als Ausgestoßener der Gesellschaft ein gut Teil rauer Behandlung erfahren, aber noch nie so konzentriert auf eine derart kurze Zeitspanne. Sein Mut blieb ungebrochen, aber sein Körper gab nach, und dann begann auch sein Geist nachzugeben. Er wurde ein Opfer der Wahnvorstellungen; die Alpträume, die seinen Schlaf heimsuchten, belagerten auch seine wachen Stunden, und er dachte, er würde gefoltert zu Zeiten, da er nur einfach an seinen Ketten hing. Bis schließlich Perkins, der durch die Tür horchte, merkwürdige Schreie und Grunzer hörte, tierähnliche Laute, Bellen und Knurren. Er rief Connor und Grady, und dann standen die drei und lauschten.
„Mein Gott!" sagte Grady. „Der ist übergeschnappt." „Der ist plemplem", sagte Connor. „Der ist meschugge", sagte Perkins. Doch ihnen allen kam auch der Gedanke - vielleicht spielte er nur Theater! Was war für einen dieser Sendboten des Satans leichter, als vorzutäuschen, er sei vom Teufel besessen? So warteten sie noch eine Weile ab, bis Connor, als er Jimmie anschließen wollte, ihn dabei ertappte, wie er sich die Fingerspitzen abnagte. Das war nun wirklich ernst, und so ließen sie den Gefängnisarzt kommen, der Jimmie nur kurz zu untersuchen brauchte, um festzustellen, dass er ein delirierender Irrer sei. Jimmie hielt sich für eine Art Pelztier, und er war in einer Falle gefangen und versuchte seine Pfote abzunagen, um zu entkommen. Er schnappte mit den Zähnen nach jedem, der in seine Nähe kam; er musste bewusstlos geschlagen werden, bevor man ihm eine Zwangsjacke anlegen konnte.
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Und auf diese Weise entzog sich Jimmie Higgins schließlich doch noch seinen Peinigern. Jimmie weiß nicht mehr das mindeste von dem russischen Juden Kalenkin; selbst wenn er es wollte, könnte er das Geheimnis nicht mehr ausplaudern; also hat man es aufgegeben, sein Gewissen auf die Probe zu stellen, und behandelt ihn freundlich; man hat ihm einreden können, dass er nicht mehr in der Falle sitzt. Daher ist er ein braves Tier - er kriecht auf allen vieren herum und isst sein Essen von einem Blechteller, ohne seine abgenagten Finger zu benutzen. Noch immer hat er quälende Schmerzen in den Armgelenken, aber es macht ihm nicht mehr so viel aus, weil er als Tier nur die
Schmerzen des Augenblicks leidet; er weiß nicht, dass er morgen wieder leiden wird, und macht sich darüber keine Gedanken. Er gehört nicht länger zu denen, die „das Vorher sehen und das Nachher und dürsten nach dem, was nicht ist". Er ist ein „braves Hundchen", und wenn man ihm den Kopf tätschelt, reibt er sich an einem und winselt freundlich.
Der arme, wahnsinnige Jimmie Higgins wird seinem Vaterland nie wieder Ärger machen; aber Jimmies Freunde und Genossen, die davon wissen, was er erlebt hat, die kann die Gesellschaft sich nicht so leicht vom Halse schaffen. Bei den Arbeitskämpfen, die der großen Demokratie des Westens drohen, werden Männer und Frauen auftreten, die von wilder, lodernder Bitterkeit beseelt sind, und die große Demokratie des Westens wird sich über ihre Geistesverfassung sehr wundern und sich gar nicht erklären können, wie es dazu gekommen sein mag. Diese Rebellen wird man vor der großen (Anm.: Gemeint ist Abraham Lincoln. Der zitierte Satz stammt aus seiner Antrittsrede zu Beginn seiner zweiten Amtszeit als Präsident der Vereinigten Staaten (4. 3. 1865).) Demokratie die Worte ihres größten Demokraten zitieren hören, die er in ernster Warnung während des Gemetzels und der Zerstörung des Bürgerkriegs sprach: „Doch wenn Gott will, dass dies andauert, bis all der Reichtum, der durch zweihundertundfünfzig Jahre unbelohnter Arbeit des Unfreien angehäuft wurde, verloren ist und bis jeder durch die Peitsche vergossene Blutstropfen mit einem durch das Schwert vergossenen Blutstropfen bezahlt ist, dann müssen wir heute sagen, was vor dreitausend Jahren gesagt wurde: ,Die Urteile des Herrn sind wahrhaft und gerecht allzumal.'"