Gärten, Straßen, Hütten und Flechtzäune des Kosakendorfes sind in undurchsichtige, erstickend heiße Staubwolken gehüllt, und nur die Wipfel der Pyramidenpappeln ragen spitz daraus hervor.
Von allen Seiten tönt vielstimmiges Schreien, Getöse, Hundegebell, Pferdewiehern, Eisenklirren, Kinderweinen, saftiges Fluchen, Weibergeschrei, wüster heiserer Gesang, von den trunkenen Lauten einer Ziehharmonika begleitet. Es ist, als habe ein ungeheurer Bienenschwarm seine Königin verloren und schwirre nun bestürzt, verwirrt, mit aufgeregtem, ärgerlichem Summen durcheinander.
Dieser schrankenlose, glühende Wirbel hat auch die Steppe bis zu den Windmühlen auf dem Hügel erfasst — auch dort ein unaufhörliches tausendstimmiges Branden.
Nur gegen den schäumenden, brausenden, kalten Bergfluss, der hinter dem Dorfe ungestüm dahinströmt, kommen die stickigen Staubwolken nicht auf. Fern hinter dem Fluss versperren blauende Bergmassen den halben Himmel.
Verwundert schweben die rostroten Steppenräuber, die Geier, in der glitzernden heißen Luft; lauschend wenden sie ihre krummen Schnäbel nach allen Seiten und können nicht recht klug werden — so etwas hat es hier noch nie gegeben.
Sollte das gar ein Jahrmarkt sein? Aber warum sieht man dann nirgends Zelte, Händler und aufgetürmte Waren?
Oder ist es etwa ein Lager von Auswanderern? Was sollen dann aber die Geschütze hier, die Munitionswagen, die vielen Karren und Gewehre?
Also eine Armee. Aber warum hört man überall Kinderweinen? Warum hängen Windeln zum Trocknen an den Gewehren, warum baumeln Korbwiegen an den Geschützrohren, woher kommen diese vielen Mütter, die ihre Säuglinge stillen, und die Kühe, die Seite an Seite mit den Artilleriepferden ihr Heu kauen? Und die vielen braungebrannten Weiber und Mädchen, die ihre Kochkessel mit Hirse und Speck über die rauchenden Feuer aus getrocknetem Kuhmist hängen?
Alles ist verworren, staubig, ungeordnet, in Schreien, Lärmen und unglaubliches Durcheinander verstrickt.
Im Dorfe gibt es nur Kosakenfrauen, alte Weiber und Kinder. Die Kosaken sind verschwunden, als hätte sie der Erdboden verschluckt. Die Frauen gucken aus den kleinen Fenstern ihrer Hütten auf das Sodom und Gomorra hinaus, das sich über die in Staubwolken gehüllten Straßen und Gassen ergießt:
»Verfluchtes Pack!«
Aus Kuhgebrüll, durchdringendem Hahnenkrähen und Menschenstimmen tauchen bald verwitterte, heisere, bald kräftig klingende Steppenstimmen auf:
»Genossen, zum Meeting!...«
»Zur Versammlung!...«
»Heda, los, Jungens!...«
»Zur Gemeindeversammlung!«
»Nach den Windmühlen!«
Zugleich mit der langsam sinkenden Sonne fällt auch der heiße Staub nieder, und die Pyramidenpappeln werden in ihrer ganzen riesigen Höhe sichtbar.
So weit das Auge reicht, weiten sich Gärten, blinken
weiße Hütten, und in allen Straßen und Gassen wimmelt es von Wagen, Karren, Pferden, Kühen — in allen Gärten und hinter den Gärten bis zu den Windmühlen auf dem Hügel, die ihre langen Fangarme nach allen Seiten spreizen.
Um sie herum aber, immer weiter und breiter, ergießt sich das Menschenmeer unter stetig wachsendem Tosen, mit den zahllosen Flecken bronzefarbener Gesichter. Graubärtige Greise, Weiber mit abgehärmten Gesichtern, Mädchen mit lustigen Augen; kleine Kinder schießen zwischen den Beinen der Erwachsenen hin und her; hastig atmende Hunde mit lang heraushängenden, zuckenden Zungen — all das verliert sich in der alles überschwemmenden Masse der Soldaten. Zottig kriegerische Fellmützen, abgegriffene Schirmmützen, Gebirgshüte aus Filz mit hängenden Rändern. Zerfetztes Feldgrau, verschossene Kattunhemden, Tscherkessenröcke. Manche sind nackt bis zum Gürtel, und auf ihren muskulösen, bronzenen Oberkörpern schlingen sich kreuzweise die Patronengurte der Maschinengewehre. Ungeordnet, wie es gerade kommt, ragen über den Köpfen die dunkelgestählten Bajonette nach allen Richtungen. Die altersgeschwärzten Windmühlen sehen staunend zu: so etwas haben sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen!
Auf dem Hügel vor den Windmühlen versammelten sich die Regimentsführer, Bataillonskommandeure, Kompanieführer, Stabschefs. Wer sind denn eigentlich diese Regimentsund Kompanieführer, diese Bataillonskommandeure, diese Stabschefs? Es sind Soldaten der alten zaristischen Armee darunter, die sich bis zum Offizier heraufgedient haben, Friseure, Böttcher, Schreiner, Matrosen, Fischer aus Kosakendörfern und -Siedlungen. Jeder ist Befehlshaber einer kleinen roten Abteilung, die er in seiner Straße, in seinem Dorf oder in seiner Siedlung organisiert hat. Aber es gibt auch Offiziere der alten Armee darunter, die sich der Revolution angeschlossen haben.
Der Regimentskommandeur Worobjow, baumlang, mit einem riesigen Schnauzbart, bestieg den unter seiner Last knarrenden Drehbalken der Mühle, und seine Stimme dröhnte in die Menge hinein:
»Genossen!«
Wie ist sie winzig, diese Stimme über diesem Meer von Tausenden und aber Tausenden erzenen Gesichtern, die ihre zahllosen Augenpaare auf ihn richten. Um ihn herum drängt sich der ganze übrige Kommandobestand.
»Genossen!«
»Geh zum Teufel!...«
»Scher dich!...«
»Hol dich der Teufel!...«
»Halt 's Maul!...«
»Hast du etwa keine goldenen Achselstücke getragen?«
»Er hat sie ja längst abgeschnitten...«
»Was kläffst du...«
»Schlagt ihn nieder, in Dreiteufelsnamen!«
Das unübersehbare Menschenmeer brandete mit einem Wald von Armen auf. Wie soll man feststellen, was dieser oder jener geschrieen hat!
Bei der Mühle steht eine Gestalt, untersetzt, klobig, wie aus Blei gegossen, mit verkrampften viereckigen Kinnladen. Unter den niedrigen Brauen funkeln wie zwei stechende Schusterahlen kleine, graue Augen, die nichts unbeachtet lassen. Der Mann wirft einen kurzen Schatten, dessen Kopf von den Umstehenden zertreten wird.
Der Mann auf dem Balken, mit dem großen Schnauzbart, schreit dröhnend und angestrengt:
»So lasst mich doch ausreden!... Genossen, wir müssen uns doch über die Lage klar werden... «
»Geh zum Teufel!«
Lärmen und Schimpfen überfluteten seine einsame Stimme.
Inmitten des Meeres von Armen, aus dem Gewühl der Stimmen erhob sich ein langer, von Sonnenhitze, Arbeit und Kummer verdorrter Weiberarm, und eine gequälte Weiberstimme kreischte in die Luft:
»Wir wollen nichts hören, fang nur gar nicht erst an, du Aaskerl!... Jesus Maria! Eine Kuh hatt' ich und zwei Paar Ochsen, eine Hütte und einen Samowar — wo ist das alles geblieben?«
Und wieder wallte es wie toll über die Menge — jeder schrie, keiner hörte.
»Ich hätt' jetzt Brot genug, wenn ich meine Ernte eingebracht hätte...«
»Sie haben uns eingeredet, wir müssten nach Rostow...«
»Warum sind keine Jacken verteilt worden? Und keine Fußlappen und keine Stiefel?«
Vom Balken schreit die einsame Stimme:
»Warum habt ihr euch denn alle aufgemacht, wenn...«
Da brauste die Menge auf:
»Wegen euch doch! Ihr Schweinehunde habt uns beschwätzt, habt uns das Blaue vom Himmel herunter versprochen. Wir waren ja alle daheim, hatten unsere Wirtschaft — jetzt treiben wir uns wie verdammte Seelen in der Steppe herum.«
»An der Nase habt ihr uns herumgeführt«, tönte es auch aus vielen Soldatenkehlen, und die dunklen Bajonette wogten.
»Ja, wohin denn nun?«
»Nach Jekaterinodar.«
»Da sind ja die Weißen!«
»Nirgends können wir hin...«
Der mit den harten Kinnladen steht noch immer da und blickt stechend aus seinen grauen, wie Schusterahlen spitzen Äuglein.
Und da geht es rollend und unwiderruflich über die Menge hin.:
»Ver—ra—ten haben sie uns!«
Diese Stimme drang überallhin, und wer sie zwischen all den Wagen und Wiegen, Pferden und Kühen, Wachtfeuern und Munitionskarren nicht gehört hat, der hat die Worte gewiss erraten. Ein Krampf lief über die Menge hin, ihr Atem stockte. Hochauf flatterte eine hysterische Weiberstimme, aber es war kein Weib, das da schrie, sondern ein kleiner Soldat mit einem Vogelgesicht, nackt bis zum Gürtel, in gewaltigen, viel zu großen Stiefeln:
»Man geht mit unsereinem um wie mit krepiertem Vieh!«
Aus der Menschenmenge drängt sich einer, der sie um einen ganzen Kopf überragt, schweigend zu den Windmühlen hin, arbeitet mit aller Gewalt mit den Ellbogen: ein sehr schönes Gesicht, mit kaum sprossendem schwarzem Schnurrbärtchen, mit einem Matrosenmützchen, dessen zwei Bänder über dem gebräunten Nacken flattern, auf dem Kopf. Er drängt sich durch, die Augen unverwandt auf das Häufchen der Befehlshaber geheftet — seine Fäuste umklammern das unheilvoll blinkende Gewehr:
»Na... Schluss jetzt!...«
Der Mann mit den harten Kinnladen presste sie noch mehr zusammen. Sein erbitterter Blick überflog das stürmische Menschenmeer bis an dessen Rand: dunkle, brüllende Mäuler, dunkelrote Gesichter und unter den Brauen funkensprühende, böse, stechende Augen.
Der mit der Matrosenmütze und den flatternden Bändern war nicht mehr weit; er hielt sein Gewehr noch immer umklammert, den Blick unverwandt vorwärtsgerichtet, als fürchte er, sein Ziel aus den Augen zu verlieren; und immer weiter stieß er sich durch die ihn einengende Menge, die lärmend und schreiend auf und ab wogte.
Der Mann mit den ehernen Kinnladen empfindet es besonders bitter: er hat ja Schulter an Schulter mit allen diesen Leuten als Maschinengewehrschütze an der türkischen Front gekämpft. Meere von Blut... Tausendfachen Tod über dem Haupte... Die letzten Monate hatten sie zusammen gegen die Weißen gekämpft, gegen die Kosaken, gegen die Generale — bei Jejsk, Temrjuk, Taman, in den kubanischen Kosakensiedlungen.
Er öffnete die Kinnladen und sagte mit seiner ehernen Stimme, die trotz Lärmen und Schreien in die Menge drang:
»Mich kennt ihr, Genossen, wir haben unser Blut zusammen vergossen. Ihr selbst habt mich zum Kommandeur gewählt. Aber wenn wir jetzt so weitermachen, werden wir alle miteinander umkommen. Diese Kosakenbrut und die Weißen dringen von allen Seiten auf uns ein. Nicht eine einzige Stunde ist da zu verlieren.«
Er sprach in ukrainischer Mundart, und das nahm für ihn ein.
»Und du, hast du nicht auch Achselstücke getragen?!« schrie durchdringend der kleine, bis zum Gürtel nackte Soldat.
»Hab' ich sie drum gebeten, um die Achselstücke? Ihr wißt's ja selber, hab' an der Front gekämpft, da hat die Obrigkeit sie mir angehängt. Bin ich nicht einer wie ihr? Hab' ich nicht ebenso wie ihr Armut und Arbeit auf meinem Buckel geschleppt... hab' ich nicht mit euch gepflügt und gesät?...«
»Alles, was recht ist«, schwirrte es jetzt durch den dichten Lärm, »er ist einer von den Unsrigen!«
Der Schlanke in der Matrosenuniform hat sich endlich aus der Menge gelöst: in zwei Sätzen stand er neben ihm und holte, immer noch schweigend und unverwandten Blickes, aus voller Kraft mit dem Bajonett aus, wobei er einen Hintermann mit dem Kolben stieß. Der Mann mit den harten Kinnladen machte nicht den geringsten Versuch auszuweichen; nur etwas wie ein krampfhaftes Lächeln zuckte über seine pergamentgelb gewordenen Züge.
Von der Seite, den Kopf wie ein junger Stier nach vorne neigend, stieß der kleine, nackte Soldat den Matrosen mit der Achsel an den Ellbogen:
»Was machst du denn?«
Das weit ausholende Bajonett verlor dadurch die Richtung und fuhr, statt den Menschen mit den ehernen Kinnladen zu treffen, einem danebenstehenden jungen Bataillonskommandeur in den Leib. Dieser tat einen lauten Seufzer, als ströme er Dampf aus, und fiel auf den Rücken. Der schlanke Matrose suchte wütend die Spitze des Bajonetts aus der Wirbelsäule herauszuziehen.
Ein Kompanieführer mit bartlosem Mädchengesicht klammerte sich an einen Windmühlenflügel und kletterte hinauf. Der Flügel senkte sich knarrend, und er langte wieder auf der Erde an. Alle übrigen, außer dem mit den eckigen Kinnladen, griffen nach ihren Revolvern — in ihren bleichen, entstellten Gesichtern stand Qual.
Aus der Menschenmenge drängten sich noch ein paar Leute vor — die Augen verstört aufgerissen, Gewehre in den verkrampften Händen.
»Den Hunden einen Hundetod!«
»Haut sie nieder, dass sie keine Kinder mehr zeugen können!« '
Auf einmal verstummte alles. Alle Köpfe wandten sich und sahen in eine Richtung.
Ü ber die Steppe, im gestreckten Galopp, flach über der Erde, stürmte ein Rappe daher; der Reiter im rotgefleckten Hemde lag mit Brust und Kopf auf der Pferdemähne, beide Arme hingen an den Seiten des Pferdes herab. Näher, immer näher kam er... Man sah, dass das Pferd wie von Sinnen heranraste. Dicker Staub wirbelte hinter ihm drein. Die Flanken waren blank vor Schweiß, die Brust mit schneeweißen Schaumflocken bedeckt. Und der Reiter schwankte
im Takt des Galopps — hin und her —, immer in der gleichen Haltung, den Kopf an die Pferdemähne gedrückt.
In diesem Augenblick tauchte ein neuer schwarzer Punkt in der Ferne auf.
Durch die Menge lief es:
»Da kommt noch einer!...«
»Der hat's aber eilig...«
Der Rappe war indessen schnaubend herangestürmt, weiße Schaumflocken flogen zur Erde; unmittelbar vor der Menge blieb das Pferd jäh stehen und knickte in den Vorderbeinen zusammen. Der Reiter im rotgefleckten Hemde rollte wie ein Mehlsack über den Pferdekopf hinweg und klatschte dumpf mit weit ausgebreiteten Armen und unnatürlich verdrehtem Kopfe auf die Erde.
Die einen stürzten zu ihm hin, die anderen zu dem sich aufbäumenden Pferde, dessen schwarze Flanken klebrig-rot schimmerten.
»Das ist ja Ochrim!« riefen die Herbeieilenden und suchten den Erkaltenden behutsam in eine gerade Lage zu bringen. Auf Schulter und Brust klaffte eine Hiebwunde, und auf dem Rücken dunkelte ein schwarzer Fleck geronnenen Blutes.
Und wie ein aufflackerndes Lauffeuer lief es entsetzt durch die Menschenmenge, hinter den Windmühlen und zwischen den Fuhrwerken, die Straßen und Gassen entlang:
»Die Kosaken haben den Ochrim niedergesäbelt!...«
»Unsern Ochrim! Unsern Ochrim!«
»Welchen Ochrim?«
»Na, bist wohl nicht gescheit, kennst den Ochrim nicht mehr! Den von der Pawlowskaja, dessen Haus oben an der Schlucht steht.«
Jetzt kam auch der zweite herangesprengt. Sein Gesicht, das schweißdurchtränkte Hemd, die Hände, die Hosen, die nackten Füße — alles war mit Blut befleckt; war das eigenes oder fremdes Blut? Und die Augen traten ihm rund aus den Höhlen. Er sprang von dem wankenden Pferde und stürzte zu dem Liegenden, dessen Gesicht unaufhaltsam eine durchsichtige, gelbe, wächserne Blässe überzog — Fliegen krochen schon über die Augen.
»Ochrim!«
Dann hockte er schnell nieder und legte das Ohr an die blutüberströmte Brust. Aber schon im nächsten Augenblick erhob er sich wieder und stand mit gesenktem Kopf vor dem Liegenden:
»Mein Junge... mein Sohn!«
»Tot...« hallte gedämpft ein Stimmengewirr ringsum.
Noch eine Weile stand der Alte da, auf einmal schrie er mit seiner heiseren, ewig erkälteten Stimme, dass sie bis zu den entferntesten Hütten und Wagen drang:
»Die Kosakensiedlung Slawjanskaja hat sich erhoben, und Poltawskaja, Petrowskaja und Stiblijewskaja. Jetzt baut man auf jedem Kirchplatz einen Galgen — alle werden der Reihe nach aufgehängt, wer ihnen in die Hände gerät. In Stiblijewskaja sind die Weißen, die säbeln alle nieder, die hängen und erschießen, ihre Reiter jagen die Leute in den Kubanfluss hinein. Sie kennen keine Gnade für die Zugewanderten. Alte Männer, Frauen — keiner wird geschont. Sind alle Bolschewiki — sagen sie. Der alte Opanas, der Feldhüter, der seine Hütte gegenüber der Jawdocha Pereperetschiza hat...«
»Wir wissen!« dröhnte es dumpf aus der Menge.
»... er hat sie auf den Knien um sein Leben gebeten - sie haben ihn doch aufgehängt. Die aufständischen Weißen haben viele Waffen. Weiber und Kinder graben Tag und Nacht in den Gärten und Feldern und holen Gewehre, Maschinengewehre, Munitionskisten mit Geschossen und Patronen — ohne Ende! — alles von der türkischen Front hergeschleppt. Und Geschütze haben sie auch. Es geht wie ein Lauffeuer... das ganze Kubangebiet steht in Flammen. Und unseren Brüdern aus der Armee quälen sie die Seele aus dem Leibe. Sie hängen sie an den Bäumen auf. Einige Trupps schlagen sich einzeln durch, die einen nach Jekaterinodar, die anderen zum Meer, andere wieder nach Rostow, aber alle werden von den Weißen niedergesäbelt.«
Wieder stand er eine Weile über den Toten gebeugt mit
hängendem Kopf da.
Und in regungsloser Stille schauten aller Augen auf ihn.
Er schwankte plötzlich, griff mit den Händen ins Leere, tastete sich zum Pferde und stieg in den Sattel - das Pferd stand noch immer mit schweißbedeckten Flanken da, bei jedem Atemzug krampften sich die blutigen Nüstern zusammen.
»Wohin?... Bist du ganz von Sinnen?!... Pawlo!«
»Halt!... Wohin?! Zurück!...«
»Haltet ihn zurück!...«
Aber schon entfernte sich das Aufschlagen der Hufe in der Steppe. Er holte weit aus, gab dem Pferde einen Schlag, und das Tier streckte gehorsam den nassen Hals vor, legte die Ohren zurück und stob in Karriere davon. Die Schatten der Windmühlen jagten schräg und lang hinter ihnen drein.
»Der geht zugrunde — für nichts und wieder nichts.«
»Ja, aber er hat doch seine Familie dort! Und hier liegt nun sein Sohn tot da.«
Der mit den ehernen Kinnladen stieß langsam, schwerfällig heraus:
»Habt ihr's gesehen?«
Die Menge gab düster zur Antwort:
»Sind ja nicht blind.«
»Habt ihr's gehört?«
Finster kam es zurück:
»Wir haben's gehört.«
Aber der Mann mit den harten Kinnladen fuhr unerbittlich fort:
»Genossen, wir können jetzt nirgends mehr hin; vorn und hinten — überall ist der Tod. Die dort«, er wies mit dem Kopf nach den rötlichschimmernden Hütten der Siedlung und den riesigen Pappeln, die lange, schräge Schatten warfen, »die werden uns vielleicht noch heute niedermachen. Wir haben keinen einzigen Wachtposten aufgestellt, keine einzige Patrouille ausgeschickt, niemand ist da, der es anordnet. Wir müssen zurück. Aber wohin? Zuerst muss die Armee umgruppiert werden. Wählt euch selbst Befehlshaber aus, aber ein für allemal — dann sollen sie Macht haben über Tod und Leben. Eiserne Disziplin muss sein, dann sind wir gerettet. Dann schlagen wir uns zu den Hauptkräften durch, und dann kommt auch aus Russland Hilfe. Seid ihr einverstanden?«
»Einverstanden!« dröhnte die Steppe in einem Aufschrei; von allen Seiten kam die Antwort — aus dem Gedränge der Fuhrwerke, aus den Straßen und Gassen und Gärten bis zum Flusse hinab.
»So ist's recht. Wir wollen uns gleich an die Wahlen machen und dann sofort die Truppenteile neu formieren. Den Wagenzug der Flüchtlinge müssen wir von den Kampftruppen absondern. Die Kommandeure müssen auf die Abteilungen verteilt werden.«
»Einverstanden!« klang es wieder einmütig über die grenzenlose gelbe Steppe.
In den ersten Reihen stand ein Mann mit einem würdevollen Bart. Ohne sonderliche Anstrengungen übertönte seine tiefe, etwas heisere Stimme alle anderen:
»Wo sollen wir denn hin? Wo haben wir was zu suchen? Das ist ja der reine Verderb: alles haben wir im Stich gelassen, unser Vieh, unsere Wirtschaft!«
Es war, als wenn jemand einen Stein hineingeworfen hätte — die Menge begann zu schwanken, zu lärmen, man schrie ihm zu:
»Und wohin willst denn du? Zurück? Dass man uns alle niedermacht?...«
Der Bärtige antwortete:
»Warum denn uns niedermachen, wir kommen doch freiwillig und liefern unsere Waffen ab - es sind ja Menschen und keine wilden Tiere. Die aus Morkuschinskoje haben sich ergeben - 50 Mann waren es. Und als sie ihre Waffen und Patronen abgeliefert hatten, da haben ihnen die Kosaken kein Haar gekrümmt — und jetzt arbeiten sie ungestört.«
»Da hast du's! Das waren ja lauter Kulaken, die sich ergeben hatten.«
Ü ber die Köpfe flog es tosend und aufgeregt:
»Der riecht auch einem schwarzen Köter unter den Schwanz!«
»Uns wird man ohne viel Gerede hängen!...«
»Für wen sollen wir denn pflügen gehen?!« schreien die Weiber mit dünner Stimme. »Wieder für die Kosaken und die Offiziere?«
»Wieder ins Joch hinein?«
»Unter die Kosakenknute? Unter die Offiziere und Generale?!«
»Scher dich fort, du Hundeseele, solange deine Haut noch heil ist.«
»Schlagt ihn nieder! Von seinen eigenen Leuten wird man verraten und verkauft...«
Der Bärtige schrie hinein:
»Aber so hört doch, was kläfft ihr denn wie die Kettenhunde?«
»Da gibt's gar nichts zu hören. Bist ein sauberer Patron!«
Die erregten roten Gesichter wenden sich einander zu, die Augen funkeln wütend, Fäuste fuchteln über den Köpfen. Jemand wird geschlagen, einer wird mit Nackenstößen in die Siedlung davongejagt.
»Schweigt, Bürger!«
»Haltet doch ein! Bin ich ein Strohsack oder was?«
Der mit den ehernen Kinnladen rief in die Menge hinein:
»Genossen, lasst das jetzt, wir haben Wichtigeres zu tun. Wir wollen jetzt den Kommandierenden wählen, die anderen Befehlshaber wird dann der Kommandierende selbst ernennen. Wen wollt ihr wählen?«
Eine Sekunde herrschte regungslose Stille: Steppe, Siedlung und die zahllose Menge — alles erstarrte. Dann erhob sich ein Wald von schwieligen, knorrigen Armen und Händen, und über die ganze Steppe bis zum Horizont, und in der Siedlung, in den zahllosen Gärten, bis zum Fluss hinab klang der eine Name:
»Koshu—u—u—ch!«
Und lange noch rollte der Ton unter den blauenden Bergen:
»... u—u—u—uch!«
Koshuch presste die ehernen Kinnladen zusammen, salutierte, und man sah, wie seine Gesichtsmuskeln zuckten. Er trat zu den Toten, zog den schmutzigen Strohhut vom Kopf. Und wie unter einem Windstoß hoben sich alle Mützen, entblößten sich alle Köpfe, soviel es ihrer gab, und die Weiber schluchzten auf. Koshuch stand eine Weile mit gesenktem Kopf vor den Toten:
»Wir wollen unsere Genossen mit allen Ehrenbezeigungen beerdigen. Hebt sie auf.«
Man breitete zwei Militärmäntel aus. Zu dem toten Bataillonschef, auf dessen Brust sich ein breiter erstarrter Fleck rötete, trat der schlanke Matrose — die Bänder flatterten ihm über den gebräunten Nacken —, er neigte sich still und behutsam, als fürchte er, ihm weh zu tun, und hob ihn auf. Auch Ochrim legte man auf einen Mantel.
Die Menge machte Platz, dann schloss sie sich und floss, einem endlosen Strome gleich, mit entblößten Köpfen dahin. Und jeder Gestalt folgte ein langer schräger Schatten, der von den Nachfolgenden zertreten wurde.
Eine junge Stimme ertönte weich und gramvoll:
»Als O-opfer seid ihr gefa-allen im Kampf.« Andere Stimmen fielen ein, grob und ungeschlacht, nicht wie es Melodie und Lied verlangten - aber immer lauter und vielstimmiger floss der Rhythmus:
»In heiliger Li-iebe zum Vo-olke...«
Ungeschickt, schwerfällig klingt das Lied - aber woher taucht die zarte Trauer auf, die so seltsam harmoniert mit der weiten, öden, versonnenen Steppe, mit den altersgeschwärzten Windmühlen, mit den hohen, an den Wipfeln leicht vergoldeten Pappeln und mit den weißen Hütten, an denen die Prozession vorüberzieht, und mit den endlosen Gärten, an denen die Toten vorbeigetragen werden, als wenn hier die Heimat wäre, in der man geboren ist, in der man auch zu sterben hat.
Und dichte, blaue Abendschatten überzogen die Berge.
Die alte Gorpina, dieselbe, deren dürrer Arm sich drohend aus dem Wald von Händen emporgereckt hatte, wischt sich jetzt mit ihrem staubigen Rocksaum die roten, nassen Augen, die staubigen Runzeln und flüstert schluchzend und sich zahllose Male bekreuzigend:
»Heiliger Gott, heiliger großer Gott, Heiliger, Unsterblicher — erlöse uns... heiliger Gott, heiliger großer Gott...« und schnäuzt sich tiefbekümmert in denselben Rocksaum.
In geschlossenen Reihen marschieren die Soldaten mit festem Schritt, ernsten Gesichtern und finster zusammengezogenen Brauen, und rhythmisch wogen die Reihen ihrer dunklen Bajonette.
»... Ihr kämpftet und starbet um kommendes Recht...«
Der gegen Abend sich legende Staub hebt wieder seine trägen Knäuel, umwölkt wieder alles.
Und alles verschwindet in seinen Schleiern, man hört nur den dumpfen Takt der Schritte und das:
»Gelitten habt ihr im Kerkerverlies...«
Das gewaltige Getürm des Gebirges ragt dunkel in der nächtlichen Ruhe und verdeckt die ersten schüchternen Sterne.
Da sind schon die Grabkreuze. Die einen sind umgesunken, die anderen stehen schief. An verödetem Land, mit Gestrüpp überwuchert, vorbei. Eine Eule huscht leicht vorüber. Fledermäuse flattern lautlos dahin. Zuweilen blinkt Marmor auf, das Gold der Aufschriften sickert durch die Abenddämmerung — es sind Grabdenkmäler reicher Kosaken und Händler, Denkmäler eines fest gefügten Lebens, einer unerschütterlichen Ordnung —, Denkmäler, über denen jetzt das Lied erklingt:
»... doch kommt einst der Tag, und das Volk erwacht.«
Man grub zwei Gräber. Die Särge aus frischen, harzigen, duftenden Brettern wurden in aller Eile zusammengeschlagen. Man legte die Leichen hinein.
Koshuch stand mit bloßem Kopf auf der eben ausgehobenen frischen Erde:
»Genossen! Ich will sagen... umgekommen, zugrunde gegangen, sind unsere Kameraden. Ja... wir müssen sie in allen Ehren zu Grabe tragen... sie haben ihr Leben für uns gelassen... Ja, ich will sagen... Warum sind sie gefallen?... Genossen! Ich will sagen, Sowjetrussland ist nicht zugrunde gegangen, und es wird bis ans Ende dieser Welt weiterleben. Genossen, wir sind hier, ich meine... im Druck, aber dort ist — Russland, Moskau. Russland wird siegen. Genossen, ich will sagen... in Russland herrscht die Arbeiter- und Bauernmacht... und das wird unser aller Rettung sein. Gegen uns sind die Kadetten, das heißt, ich will sagen, die Generale, Gutsbesitzer und alle möglichen Kapitalisten, mit einem Wort, ich will sagen... Schinder, Gesindel! Aber sie werden uns nicht kriegen, Gott verdamm mich, ja! Wir werden's ihnen zeigen! Genossen, nun ja, hm... ich will sagen, wir wollen unsere Kameraden beerdigen und an ihren Gräbern schwören, dass wir bis zum letzten Blutstropfen für die Sowjetmacht kämpfen werden...«
Man begann die Särge hinabzulassen. Die alte Gorpina hielt sich schluchzend den Mund zu — anfangs winselte sie leise wie ein junger Hund, dann heulte sie plötzlich laut auf; ihrem Beispiel folgte eine zweite, eine dritte. Der ganze Friedhof war von Weiberstimmen überflutet. Und jede bemühte sich, bis zum Grabe vorzudringen und eine Handvoll Erde hineinzuwerfen. Die Erde schlug dumpf auf.
Jemand flüsterte Koshuch ins Ohr:
»Wie viel Patronen soll man austeilen?«
»Stücker zwölf.«
»Ein bisschen dünn.«
»Na, du weißt ja, wir haben wenig Munition. Wir müssen jeden Schuss sparen.«
Eine dünne Salve rollte, eine zweite, eine dritte. Sekundenlang sprangen Gesichter, Kreuze und die schnell arbeitenden Schaufeln aus der Dunkelheit hervor.
Als es wieder still wurde, fühlten auf einmal alle: es ist Nacht, ringsum Ruhe, es riecht nach warmem Staub, das unaufhörliche Rauschen des Wassers wirkt einschläfernd oder ruft verschwommene Erinnerungen hervor — man weiß nicht recht, welche; und hinterm Fluss, am Rande der Welt, in lang sich hinziehenden, schweren, zackigen Massen — die dunklen Berge.
Die Fenster blicken dunkel in die Nacht, und in ihrer Regungslosigkeit ist etwas Unheilverkündendes.
Von dem Blechlämpchen ohne Zylinder, das auf einem Hocker steht, schwebt hastig und zitternd ein schwarzer Schleier zur Decke hinauf. Dicker Tabaksqualm. Auf dem Boden, gleich einem phantastischen Teppich mit zahllosen Zeichen, Linien, grünen und blauen Flecken und schwarzen Windungen, liegt eine ungeheure Karte vom Kaukasus ausgebreitet.
Barfuss, in Hemden ohne Gürtel kriechen die Befehlshaber behutsam auf allen vieren über die Karte. Die einen rauchen, bemüht, die Asche nicht auf die Karte fallen zu lassen; andere klettern unentwegt weiter auf ihr herum. Koshuch, mit zusammengepressten Kiefern, kauert daneben; unter dem vordringenden Schädel blickt er mit winzigen, hellen, stechenden Augen ins Leere, im Gesicht etwas Eigenes. Alles versinkt im blauen Tabakrauch.
Durch die Schwärze der Fenster dröhnt, keine Sekunde verstummend, das drohende Brausen des Flusses, das man am Tage überhört.
Vorsichtig, im Flüsterton sprechen sie miteinander, obwohl die Bauern aus diesem Hof und allen benachbarten ausquartiert sind.
»Wir werden hier alle zugrunde gehen; kein Befehl wird durchgeführt. Seht ihr denn nicht selbst?«
»Man kann mit den Soldaten nichts anfangen.«
»Dann werden sie eben elend draufgehen — die Kosaken werden alle kurz und klein hauen.«
»Wenn der Bauer nicht muss, rührt er weder Hand noch Fuß.«
»Was heißt — nicht muss, seht ihr denn nicht, dass ringsum alles in Flammen steht?«
»Dann geh nur hin und sag's ihnen!«
»Und ich sage, wir müssen Noworossijsk besetzen und dort warten.«
»Davon kann keine Rede sein«, sagte der Stabschef im reingewaschenen, gegürteten Hemd, mit einem glattrasierten Gesicht. »Ich habe eine Meldung vom Genossen Skornjak. In der Stadt geht alles drunter und drüber: dort sind die Deutschen, die Türken, die Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Kadetten und unser Revolutionskomitee. Da finden fortwährend Meetings statt, es wird ohne Ende geredet, man geht von einer Versammlung in die andere, tausend Rettungspläne werden ausgearbeitet - lauter leeres Stroh gedroschen. Die Armee in die Stadt führen heißt, sie ganz und gar zersetzen.«
Durch das immerwährende Brausen des Flusses klang deutlich ein vereinzelter Schuss. Er kam aus der Ferne, aber die kleinen, nachtschwarzen Fenster sagten sofort mit ihrer regungslosen Schwärze: »Jetzt... fängt es an...«
Innerlich gespannt, horchten alle auf die Geräusche, äußerlich aber fuhren sie, ohne die Zigaretten wegzulegen und hastig rauchend, mit den Fingern weiter über die schon ohnehin bis zum letzten Strich auswendig gelernte Karte.
Aber es half nichts, es blieb immer das gleiche: links versperrt die blaue Farbe des Meeres den Abzug; rechts und oben ist es ganz bunt von feindlichen Dörfern und Höfen; unten, im Süden, verlegt die braune Farbe der undurchdringlichen Gebirgszüge den Weg. Eine richtige Mausefalle...
Einem riesigen Zigeunerlager gleich stehen sie an diesem schwarzen, sich über die Karte schlängelnden Fluss, dessen Rauschen unausgesetzt durch die schwarzen kleinen Fenster dringt. Und in den überall auf der Karte vermerkten Schluchten, im Schilf, in den Wäldern, Steppen, Siedlungen und Höfen sammeln sich die Kosaken. Bis jetzt hat man die aufständischen Siedlungen und Höfe einzeln irgendwie zur Ruhe zwingen können, aber jetzt flammt das ganze ungeheure Kubangebiet im Aufstand. Die Sowjetmacht ist überall niedergeschlagen; ihre Vertreter in den einzelnen Siedlungen sind ermordet, wie Kreuze auf dem Friedhof stehen dicht die Galgen im ganzen Lande: überall hängt man die Bolschewiki, und diese gibt's vorwiegend unter den auswärtigen Siedlern, obwohl es auch Kosaken gibt, die Bolschewiki sind; die einen wie die andern baumeln jetzt an den Galgen. Wohin zurückgehen? Wo ist die Rettung?
»Es ist klar, wir müssen uns nach Tichorezkaja durchschlagen, von dort nach Swjatoi Krest, und von da durch die Frontlinie nach Sowjetrussland.«
»Bist aber klug! — Swjatoi Krest! Wie willst du denn durch das ganze aufständische Kubangebiet ohne Patronen und Geschosse hinkommen?«
»Und ich sage, wir müssen uns zur Hauptarmee durchschlagen...«
»Ja, wo ist sie denn, diese Hauptarmee? Hast du eine Extrapost von dort bekommen? Dann sag uns doch!«
»Und ich sage — wir müssen Noworossijsk besetzen und dort abwarten, bis aus Russland Hilfe kommt.« Jeder spricht, und jeder denkt sich dabei: ,Wenn man mir die Sache übertrüge, ich würde einen ausgezeichneten Plan ausarbeiten und alle retten.'
Wieder ertönt Unheil verkündend ein ferner Schuss durch den nächtlichen Lärm des Flusses. Nach einer Weile ein zweiter, dann noch einmal. Plötzlich hagelt es von Schüssen — dann verstummt wieder alles.
Alle wenden die Köpfe zu den regungslos schwarzen Fenstern.
Hinter der Wand, irgendwo ganz in der Nähe, vielleicht auf dem Dachboden, krähte ein Hahn.
»Genosse Prichodko«, sagte Koshuch, »gehen Sie hin, sehen Sie nach, was da los ist.«
Ein junger, untersetzter Kubankosak mit einem schönen, etwas pockennarbigen Gesicht, in einem enggegürteten Halbrock, ging hinaus, die nackten Füße vorsichtig setzend. »Und ich sage...«
»Entschuldigen Sie, Genosse, es ist vollkommen unmöglich«, unterbricht der Glattrasierte, aufgerichtet und in aller Ruhe auf die anderen herabblickend; er ist im Gegensatz zu den anderen, die lauter Soldaten, Böttcher, Tischler, Friseure sind und sich erst im Kriege hinaufgedient haben, ein alter Revolutionär mit militärischer Ausbildung. »Es ist ganz unmöglich, die Armee in diesem Zustande weiterzuführen, das hieße — sie einfach vernichten. Das ist keine Armee, das ist ein Haufe von Menschen, der andauernd Meetings veranstaltet. Man muss neu organisieren. Außerdem binden uns die Zehntausende von Flüchtlingswagen an Händen und Füßen. Man muss sie von der Truppe trennen — mögen sie ziehen, wohin sie wollen, oder nach Hause zurückkehren; die Armee muss vollständig frei und ungebunden sein. Schreiben Sie einen Befehl: ,Wir bleiben in der Siedlung zwei Tage zum Zweck der Reorganisation'...«
Er sprach, und die Worte verhüllten den eigentlichen Gang seiner Gedanken.
»Ich habe große Kenntnisse, theoretische und praktische, ich habe das Kriegswesen eingehend studiert — warum also er und nicht ich? Die Menge ist blind, sie bleibt immer nur eine Menge...«
»Was fällt Ihnen ein?« begann Koshuch mit einer Stimme wie rostiges Eisen. »Jeder Soldat hat Mutter, Vater, Braut, Familie da — er wird sie doch nicht verlassen! Wenn wir hier sitzen werden, wird man uns bis auf den letzten Mann abschlachten. Marschieren müssen wir, marschieren, marschieren! Die Armee kann unterwegs umformiert werden. Wir müssen so schnell wie möglich an der Stadt vorbei, ohne anzuhalten — längs der Meeresküste bis Tuapse, dort passieren wir auf der Chaussee den Bergrücken und vereinigen uns mit den Hauptkräften. Sie können noch nicht weit sein. Und hier umzingelt uns jeden Tag der Tod.«
Da begannen alle durcheinanderzureden, jeder hatte sein eigenes Projekt, das ihm selbst vorzüglich, den anderen aber nichts wert schien.
Koshuch erhob sich, seine harten Gesichtsmuskeln zuckten, die winzigen, stahlgrauen Augen stachen um sich. Er sagte:
»Morgen früh... bei Sonnenaufgang brechen wir auf!«
Und dachte: ,Die Schufte, sie werden den Befehl nicht ausführen!'
Alle schwiegen unzufrieden, und hinter diesem Schweiger stand:
»Für den Narren gilt kein Gesetz.«
Als Prichodko hinaustrat, schwoll das Rauschen des Wassers plötzlich an und füllte die ganze Finsternis. Vor der Tür auf der dunklen Erde, stand schwarz und geduckt ein Maschinengewehr. Daneben zwei dunkle Gestalten mit dunklen Bajonetten.
Prichodko geht, aufmerksam in die Dunkelheit spähend. Der Himmel ist mit wannen Wolken bedeckt. An allen Ecken und Enden, nah und fern, bellen hartnäckig, unermüdlich und vielstimmig die Hunde. Zuweilen verstummen sie, horchen: der Fluss rauscht, und wieder geht's los — unentwegt, unerträglich.
Die weißgetünchten Kosakenhäuser schimmern kaum sichtbar durch das Dunkel. Auf der Straße türmen sich schwere« Haufen; wenn man näher hinsieht, sind es Fuhren; Schnarchlaute und pfeifender Atem dringt unter den Wagen hervor und von den Wagen — überall liegen Menschen. Mitten auf der Straße erhebt sich schwarz etwas Langes — es ist weder eine Pappel noch ein Glockenturm, schaust du näher hin, siehst du eine hochgestellte Deichsel. Monoton und geräuschvoll kauen die Pferde; die Kühe schnaufen.
Alexej schreitet behutsam über die Menschenleiber, die aufglimmende Zigarette leuchtet ihm für Sekunden. Friedlich und still ist es, aber man wartet, man weiß nicht worauf — auf einen fernen Schuss?...
»Wer da?«
»Gut Freund.«
»Wer da... wohin?«
Kaum fühlbar legten sich zwei Bajonette auf seinen Arm.
»Der Kompanieführer«, und fügt mit leisem Flüsterton hinzu: »Lafette.«
»Stimmt.«
»Die Losung?«
Der stachlige Schnurrbart kitzelt ihm das Ohr, er hört heiseres Flüstern:
»Koppel«, und schwerer Schnapsgeruch schlägt unter dem Schnurrbart hervor.
Er geht weiter, und wieder, kaum erkennbar, Fuhren, geräuschvoll kauende Pferde, schläfrige Atemzüge, das keine Sekunde lang aussetzende Lärmen des Wassers, hartnäckiges, unerträgliches Hundegebell. Er schreitet vorsichtig über Arme und Beine. Hier und da unter den Wagen leises Geflüster: Soldaten mit ihren Frauen; unter den Flechtzäunen verhaltenes Lachen, unterdrückte Aufschreie — Verliebte.
,Worauf die jetzt kommen, betrunken sind sie, die Canaillen. Haben gewiss den ganzen Schnaps der Kosaken ausgesoffen. Meinetwegen: trinkt soviel ihr wollt, aber vertrinkt nicht euren Verstand... Merkwürdig, dass die Kosaken uns bis jetzt in Ruhe gelassen haben?! Die dummen Kerle!'
Etwas schimmert weiß... ist's eine Lehmmauer oder ein weißes Gewand?
,Auch jetzt wäre es noch nicht zu spät; jeder von uns hat etwa ein Dutzend Patronen, auf ein Geschütz kommen vielleicht anderthalb Dutzend Granaten! Sie aber haben alles in Hülle und Fülle... '
Das Weiße bewegt sich.
»Bist du's, Anka?«
»Und du, was schleichst du da in der Nacht herum?«
Ein dunkles Pferd, wahrscheinlich ein Rappe, kaut das zwischen den Deichseln aufgehäufte Heu... Alexej begann sich eine Zigarette zu drehen. Auf den Wagen gestützt, rieb sich das Mädchen das Bein mit dem nackten Fuß. Unter dem Wagen schläft auf der ausgebreiteten Decke der Vater; lautes Schnarchen dringt herauf.
»Werden wir noch lange hier sitzen?«
»Bald geht's los«, seine Zigarette glimmte auf.
Von ihrem Schimmer beleuchtet, traten ein Stück seiner Nase, seine tabakbraunen Fingerspitzen, die Funken in den Augen des Mädchens, ihr kräftiger, aus dem weißen Hemd sich aufschwingender Hals mit der Münzenkette für einen Augenblick aus der Dunkelheit, um sofort wieder zu verschwinden. Man sieht wieder nur die dunklen Umrisse der Fuhren; Kühe schnaufen, Pferde kauen, der Fluss lärmt. Warum hört man keine Schüsse mehr?
,Man müsste sie einfach heiraten
Und wie es ihm immer in solchen Fällen war, glaubte er den wie ein Grashalm schlanken Hals eines nie gekannten Mädchens vor sich zu sehen... mit blauen Augen, durchsichtig zartem Kleid... Hat das Gymnasium beendet... Sogar nicht einmal eine Frau, eine Braut ist sie... ein Mädchen, das er nie gesehen, aber das irgendwo lebt.
»Wenn die Kosaken kommen, ersteche ich mich.«
Sie greift in den Busen und holt etwas schwach Blinkendes hervor.
»Scharf ist es... versuch mal.«
Huwitt, huwitt...
Eine seltsame, sich entfernende nächtliche Stimme, die zart ans Herz greift — aber es ist nicht die Stimme eines weinenden Kindes; wohl ein Uhu.
,Was steh' ich denn da herum, ich muss doch gehen... '
Die Beine sind wie angewachsen.
Er steht immer noch da, zieht tief den Rauch ein — und wieder treten aus der Dunkelheit ein Stückchen Nase, seine Finger, ein fester Mädchenhals mit einem Grübchen, die blitzende Kette, die junge, vom gestickten Hemd eingefasste Brust... Und wieder Finsternis, Brausen vom Fluss her, menschliche Atemzüge.
Sein Gesicht ist dicht neben ihren Augen. Ein Gefühl, wie Stiche unsichtbarer Nadeln, überläuft ihn. Er nimmt das Mädchen beim Arm.
»Anka...«
Er riecht nach Tabak, nach jungem, gesundem Körper.
»Anka, komm, gehen wir zu den Gärten, sitzen wir dort eine Weile...«
Sie stemmte sich mit beiden Händen gegen seine Brust und riss sich los, dass er wankend hinter sich jemand auf die Füße oder gar auf die Hände trat. Das Weiße huschte hastig in den aufknarrenden Wagen, ein neckisches Lachen perlte leise verklingend dahin, und die Großmutter Gorpina hob ihren Kopf vom Kissen, setzte sich aufrecht im Wagen und kratzte sich verzweifelt den Rücken.
»U—u, Nachtfalter... hat man denn gar keine Ruhe vor denen? Und wer steht denn da?«
»Ich, Großmutter.«
»Aha, Aljoscha. Du bist's? Hab' dich nicht erkannt. Was soll das werden, mein Junge? Ach, Unglück gibt es, mein Herz ahnt es, ein bitteres Unglück! Als wir aus dem Dorf fuhren, lief uns eine Katze über den Weg, dick war sie, trächtig, und nachher flitzte ein Hase ins Feld — Gott, du mein Gnädiger! Wie soll es denn werden? Was denken sich denn die Bolschewiki? Haus und Hof haben wir verlassen. Als ich mit dem Alten verheiratet wurde, sagte mir die Mutter: Da hast du den Samowar, hüte ihn wie deinen Augapfel, wenn du sterben wirst, werden ihn deine Kinder und Enkel bekommen. Wenn Anka heiratet, muss sie den Samowar haben. Und jetzt haben wir das ganze Hab und Gut verlassen. Was denken sich die Bolschewiki? Was wird die Sowjetmacht nun machen? Mag die Regierung kaputt gehen, wie mein Samowar kaputt gegangen ist! Nur auf drei Tage sollten wir das Dorf verlassen, und jetzt treiben wir uns schon eine ganze Woche umher... Was ist das schon für eine Sowjetmacht, die nichts für uns tun kann. Die Kosaken haben sich erhoben und streifen wie besessen durch die Steppen... Schad' ist's um, die Unsrigen... Den Ochrim und den anderen, so jung war der! O Jesus, Jesus!«
Großmutter Gorpina kratzte sich noch immer, und als sie verstummte, brachte der Fluss sich wieder in Erinnerung: erfüllte die ganze weite Nacht mit seinem Rauschen.
»Ach, Großmutter, jammere nicht, das hilft ja doch nichts.«
Und wieder glomm die Zigarette auf. Er dachte: sollte er bei der Kompanie bleiben oder beim Stab? Wo und wann wird er endlich die blauen Augen und den feinen Hals finden?
Aber Großmutter ist endgültig aufgewacht. Es ist auch schwer: ein langes Leben liegt wie ein Schatten hinter ihr. Zwei Söhne fielen an der türkischen Front; zwei stehen hier unter Gewehr. Der Alte schnarcht unterm Wagen, und diese Elster da liegt still zusammengekauert — schläft sie oder nicht —, bei ihr kann man's ja nie wissen. Ach, schwer ist es! Die Knochen spüren das lange Leben — das sechste Jahrzehnt ist bald zu Ende. Das Kreuz ist lahm von der Arbeit. Und für wen hat man gearbeitet? Für die Kosaken und für die Generale und Offiziere. Ihnen gehört das ganze Land, und die Zugewanderten leben wie Hunde... O weh! Man schuftete sich ab, tagaus, tagein, zur Erde starrend, wie ein Zugochs. Betete jeden Tag morgens und abends — zuerst für die Eltern, dann für den Zaren, dann für die Kinder und schließlich für alle rechtgläubigen Christen. Und der Zar? Der ist ja gar kein Zar, ein räudiger Hund ist er, haben ihn davongejagt. War das aber schrecklich, als sie erfuhr, dass man den Zaren abgesetzt hatte — die Knie zitterten ihr damals. Aber dann: na, so gehört sich's auch - dem Hund einen Hundetod. »Ein Kreuzunglück mit diesen Flöhen.«
Und die Alte kratzte sich erbost. Dann sah sie in die Dunkelheit hinaus - der Fluss rauschte - und sie bekreuzigte sich:
»Der Morgen ist bald da.«
Sie legte sich wieder, konnte aber nicht einschlafen. Wie ein Schatten steht das Leben neben dem Menschen, man wird ihn nie los: er steht da und schweigt, als sei er überhaupt nicht vorhanden, und ist doch da — man spürt seine schwere Last.
,Die Bolschewiki glauben nicht an Gott. Na, scheinen ihre Sache zu verstehen, tun das ihrige. Wie sie kamen, stürzten sie alles auf einmal um. Die Offiziere, die Gutsbesitzer, die rissen schnell aus. Nun, und die Kosaken, die sind natürlich wie die wilden Tiere geworden... Gebe Gott ihnen Gesundheit, den Bolschewiki, auch wenn sie an keinen Gott glauben. Sind ja doch Christenmenschen, keine Heiden... Wären sie früher dagewesen, so wäre es zum verfluchten Krieg nicht gekommen, dann wären meine beiden Söhne am Leben... Jetzt liegen sie nun in der Türkei... Wo sind diese Bolschewiki bloß hergekommen? Die Leute sagen, aus Moskau, andere meinen aus Deutschland — der deutsche Zar soll sie gemacht und nach Russland geschickt haben. Und kaum waren sie da, schrieen sie schon: Das Land, den ganzen Boden den Bauern, dass sie ihn für sich bebauen und nicht für die Kosaken. Gute Menschen sind es... aber warum haben sie meinen Samowar... schl... schlafen... Söhne... gute... Katze... '
Die Alte schlummert ein, lässt den Kopf sinken — der Morgen muss nahe sein.
Jeder hat sein eigenes Leben. Unter einem dicht an den Zaun herangeschobenen Wagen girrt es, als seien dort Turteltauben. Was hat eine Turteltaube nachts unter dem Wagen zu gurren? Aus einem Münddien tönt es u-aa u-aa. Und es ist jemand dabei, der es gern hört, eine liebevolle, junge Mutterstimme gurrt mit.
»Was hast du denn, mein Blümchen? Trink doch noch, mein Engelchen! Da, da, nimm! Willst wohl nicht mehr? Schau, wie er's versteht: einen Ruck mit dem Kopf und die Mutterbrust weggestoßen!«
Und sie lacht ein solch ansteckendes, glückliches Lachen, dass es ringsherum hell wird. Man sieht es nicht, aber sie hat gewiss schwarze Brauen und matte silberne Ringe in den kleinen Ohren.
»Ist mein Herzchen jetzt satt? Sieh einer an, wie böse er ist! Wie er Mamas Brust mit seinen Händchen drückt, und die Nägelchen fein wie Zigarettenpapier... Gib sie her, deine Händchen, jedes Fingerchen kriegt ein Küsschen: eins, zwei, drei. Oh, was er für Blasen macht! Ein großer Mann wird er werden. Und die alte Mutter wird keine Zähne mehr haben — da wird der Sohn zu ihr kommen und sagen: ,Na, Alte, setz dich, wir wollen Grütze essen...' Stepan, Stepan, schläfst noch immer? So wach doch endlich auf, unser Sohn bummelt...«
»Na — was... so lass doch!... stör nicht!... will schlafen!... «
»So wach doch auf, Stepan... der Sohn hat Lust zu bummeln... bist du aber schwerfällig! Da lege ich unsern Sohn zu dir... So ist's recht, so ist's recht, Söhnchen, pack ihn nur bei der Nase... dein Vater hat sich noch keinen Bart, auch keinen Schnurrbart angeschafft, so zieh du an seinen Lippen, zieh nur!...«
Und aus der Dunkelheit dringt anfangs eine schläfrige, dann aber ebenso fröhliche, lachende Stimme:
»Na, komm her, Söhnchen — es ist gut so, gib dich nicht mit Weibern ab... bald geht's in den Krieg, und nachher gehen wir zusammen aufs Feld... Ja, was ist denn das — du machst ja ein ganzes" Meer hierher...«
Und die Mutter lacht ein unfassbar glückliches, klingendes
Lachen.
Alexej Prichodko geht weiter, schreitet vorsichtig über Beine, Deichseln, Kummete, Säcke hinweg, ab und zu mit der glimmenden Zigarette den Weg erhellend.
Schon ist alles verstummt. Überall ist es finster. Und sogar unter dem Wagen am Zaun ist es jetzt still geworden. Die Hunde schweigen. Nur der Fluss braust, aber auch dieses Brausen ist gleichsam zahmer geworden, es scheint jetzt weit in die Ferne gerückt, und ein ungeheurer Schlaf deckt mit seinem gleichmäßigen Atem Zehntausende von Menschen.
Alexej geht und wartet nicht mehr auf die Schüsse; die Augen fallen ihm zu; kaum merklich beginnen die gezackten Bergkämme auf dem hell werdenden Himmelsgrunde sich abzuzeichnen.
,Sie greifen ja gerade im Morgendämmern an... '
Er ging zum Stab zurück, überbrachte seine Meldung, suchte dann in der Dunkelheit einen Wagen, stieg ein: der Wagen knarrte und wankte. Er wollte an etwas denken... was war es doch gleich?! — Die schweren Augenlider fielen zu, er sank in einen tiefen, süßen Schlaf.
Eisenklirren, Knarren, Rasseln, Schreien: Ta-ta-ta-ta...
»Wohin! Wohin! Halt!...«
Warum flammt der ganze Himmel: ist es Feuer oder die Morgenröte?
»Erste Kompanie — marsch, marsch!«
Schwarze Schwärme von Saatkrähen ziehen endlos, unter betäubendem Schreien, über den roten Himmel.
Im morgendlichen Grau werden Kummete umgeworfen, Krummholze geschwungen. Flüchtlinge, Trainsoldaten lassen Deichseln fallen, stoßen einander, fluchen wild...
... Bumm! Bumm!...
... Ein fieberhaftes Hasten, Anspannen; Achsen geraten in die Speichen, Pferde werden gepeitscht, krachend kommt man auseinander, Räder fliegen ab, man jagt über die Brücke, verstopft sie jeden Augenblick.
... Tra-ta-ta-ta... bumm!... bumm!...
Enten schwirren zur Steppe, zu den Futterplätzen. Weiber heulen verzweifelt...
... Tra-ta-ta-ta...
Artilleristen spannen in wilder Hast die Pferde vor.
Mit glotzenden Augen, in kurzer Jacke, ohne Hosen, mit behaarten Beinen springt ein kleiner Soldat vorüber, schleppt zwei Gewehre hinter sich drein und schreit:
»Wo ist unsre Kompanie?!... Wo ist unsre Kompanie?!... «
Und hinter ihm her läuft durchdringend schreiend ein Weib ohne Kopftuch:
»Wassil!... So hör doch! Wassil! Wassil!«
Tra-ta-traa-ta-ta!... Bumm! Bumm!
Schon geht es los: am Rande der Siedlung erheben sich über den Hütten, über den Bäumen hohe Rauchsäulen. Das Vieh brüllt.
Ist denn die Nacht schon zu Ende? War denn nicht eben erst noch Dunkelheit, und das schläfrige Atmen von Zehntausenden, und das ewige Brausen des Flusses? Und lag denn nicht die unsichtbare Schwärze der Gebirgszüge dort am Rande?
Doch jetzt sind sie nicht schwarz und nicht blau, sondern rosa. Und alles überbrüllend — das dumpfe Brausen des Flusses und das Dröhnen, Krachen und Knarren der endlosen Wagenreihen —, rollt es, kalt in das Herz dringend: rrr...
trra-ta-ta-ta...
Aber all das scheint winzig und bedeutungslos, wenn aus der berstenden Luft der erschütternde Donner bricht: pramm!! Koshuch sitzt vor der Hütte. Das Gesicht gelb und ruhig; es ist fast, als wenn jemand mit der Eisenbahn verreisen wollte, und alle hasten nun und eilen, und als ob nach Abgang des Zuges alles wieder still, ruhig wie gewöhnlich werden würde. Jeden Augenblick eilen oder sprengen auf schäumenden Pferden Menschen mit Meldungen zu ihm. Der Adjutant und die Ordonnanzen stehen neben ihm in Bereitschaft.
Die Sonne erhebt sich immer höher, immer unerträglicher knattert das Gewehr- und Maschinengewehrfeuer. Alle Meldungen beantwortet er in gleicher Weise: »Spart die Patronen, hütet die Munition wie euern Augapfel, benutzt sie nur im Notfalle. So nah wie möglich heranlassen und dann zur Attacke! Aber lasst sie nicht in die Gärten hinein, achtet darauf, dass sie nicht in die Gärten hineinkommen! Nehmen Sie zwei Kompanien aus dem I.Regiment, vertreiben Sie sie von den Windmühlen, stellen Sie dort Maschinengewehre auf.«
Von allen Seiten kommt man mit beunruhigenden Meldungen. Aber ruhig und gelb wie früher, mit spielenden harten Gesichtsmuskeln sitzt er da, und jemand, der in ihm ist, spricht munter: »Recht so, Jungens, recht so!« Vielleicht werden die Kosaken in einer Stunde oder vielleicht auch in einer halben in die Siedlung einbrechen und alle niedersäbeln. Ja, er weiß es, aber er sieht auch, wie gehorsam und exakt eine Kompanie nach der anderen, ein Bataillon nach dem anderen die Befehle durchführt, wie glänzend sich jene Bataillone und Kompanien schlagen, die noch gestern zügellos Lieder brüllten, sich weder um die Befehlshaber noch um ihn selbst kümmerten und nur tranken und sich mit Weibern zu schaffen machten; er sieht, wie präzis seine Anordnungen von den Kommandeuren befolgt werden, von denselben, die ihn in der verflossenen Nacht alle so verächtlich behandelt haben.
Man brachte einen Soldaten, der von den Kosaken gefangen genommen und wieder freigelassen worden war. Nase, Ohren, Zunge waren ihm abgeschnitten, die Finger abgehauen, und auf seiner Brust stand mit seinem eigenen Blute geschrieben: »Mit euch allen, Hundsfötter, wird das gleiche] geschehen.«
,Recht so, Jungens, recht so... '
Die Kosaken greifen mit wilder Wut an.
Als aber Leute von rückwärts herangejagt kamen und ihm atemlos meldeten: »Unsere Leute schlagen sich an der Brücke«, da wurde er gelb wie eine Zitrone... »Trainsoldaten kämpfen mit Flüchtlingen...« Koshuch stürzte dorthin.
Vor der Brücke ein wildes Handgemenge: man zerschlug einander mit Äxten die Räder, hieb aufeinander ein, mit] Knüppeln, Peitschen; Gebrüll und Geschrei, Weiber kreischten in Todesangst, Kinder weinten... Auf der Brücke ein dichter Knäuel: Wagen hingen mit den Achsen in den Speichen anderer, schnaubende und sich bäumende Pferde verhechelten sich im Gesträng, eingepresste Menschen, verzweifelt brüllende Kinder... Tra-ta-ta... — kam es aus den Gärten ... Man konnte weder vorwärts noch rückwärts.
»Ha—alt! Halt!« brüllte Koshuch mit seiner heiseren, rasselnden Stimme, aber er hörte sein eigenes Wort nicht. Er schoss dem zunächst stehenden Pferd ins Ohr.
Man stürzte sich mit Knüppeln auf ihn.
»Ha, du Hundesohn! Du erschießt ein Tier! Schlagt ihn nieder!«
Koshuch mit seinem Adjutanten und zwei Soldaten zog sich zurück, wurde an den Fluss gedrängt — Knüppel schwirrten über seinem Kopfe.
»Ein Maschinengewehr!« krächzte Koshuch Der Adjutant schoss wie ein Aal zwischen den Wagen und den Leibern der Pferde durch. Im nächsten Augenblick rollte man ein Maschinengewehr heran, und seine Bedienungsmannschaft eilte herbei.
Die Bauern brüllten auf wie verwundete Stiere: »Schlagt sie tot, die Christusverräter!« - und begannen, den Soldaten die Gewehre mit Knüppeln aus den Händen zu
schlagen.
Die Soldaten wehrten sich mit Gewehrkolben - sie konnten doch nicht gegen ihre Väter, Mütter und Frauen schießen.
Koshuch sprang wie ein Raubtier zum Maschinengewehr, führte einen Patronengurt ein und: Ta-ta-ta... strich es fächerförmig über die Köpfe hinweg - das Wehen des Todes bewegte mit seinem Gesang das Haar. Die Bauern wichen zurück. Drüben aus den Gärten klang ebenfalls noch immer das alte: Ta-ta-ta...
Koshuch hörte auf zu schießen und begann aus Leibeskräften ellenlange Flüche auszustoßen. Das beruhigte sofort. Er befahl, jene Wagen von der Brücke ins Wasser zu stoßen, die nicht auseinander gebracht werden konnten. Die Bauern gehorchten. Die Brücke war frei gemacht. Ein Trupp Soldaten stellte sich mit dem Gewehr in der Hand davor auf, und der Adjutant begann, die Wagen der Reihe nach durchzulassen.
Die Wagen jagten in Dreierreihen, rumpelten über die Brücke; angebundene Kühe liefen hinterher und schüttelten verzweifelt die Hörner, aufgeregt grunzende Schweine jagten in Karriere an ihren Strippen zerrend, die Bohlen dröhnten, sprangen wie Klaviertasten, im ohrenbetäubenden Lärm versank das Brausen des Flusses.
Die Sonne steigt immer höher. Unerträgliches, geschmolzenes Funkeln spielt auf dem Wasser.
Hinter dem Fluss jagt ein breites Band sich in Staubwolken verlierender Bauernwagen dahin; die Dorfplätze, die Straßen, die Gassen, die ganze Kosakensiedlung leeren sich immer mehr.
In einem ungeheuren, von aufflammenden Schüssen bekränzten Bogen umfassen die Kosaken die Siedlung — die beiden Flügel des Bogens stützen sich auf den Fluss. Immer enger wird der Bogen, immer enger umfasst er die Siedlung, die Gärten und die Wagenkolonne, die unausgesetzt über die Brücke rollt. Hartnäckig schlagen sich die Soldaten, kämpfen um jeden Zollbreit Erde, kämpfen für ihre Kinder, Väter und Mütter, sie sparen jeden Schuss, schießen selten, aber jeder Schuss schafft Kosakenwaisen, Tränen und Leid in Kosakenfamilien.
Wütend drängen die Kosaken vor, näher, immer näher rücken ihre Schützenketten heran. Schon dringen sie in die Gärten ein, huschen hinter Bäumen, Zäunen und Sträuchern hervor. Ein Dutzend Schritte liegen noch zwischen den Schützenketten. Stille — die Soldaten sparen die Patronen, einer belauert den anderen. Sie heben die Nasen: wittern — aus den Reihen der Kosaken trägt es ihnen durchdringenden Schnapsgeruch entgegen. Neidisch blähen sie die Nüstern:
»Haben sich voll gepumpt, die Hunde... Ach, wenn man doch einen Schluck hätte!...«
Und plötzlich eine Stimme aus den Reihen der Kosaken, halb freudig erregt, halb tierhaft böse:
»Heiliger Vater! Was treibst du denn hier, Chwomka!!... Ach du, der Teufel soll dich holen, Herrgott!...«
Hinter einem Baum starrte mit seinen Kuhaugen ein junger milchgesichtiger Kosak herüber und trat schließlich, das Gewehrfeuer nicht beachtend, ganz hervor.
Auch aus der Reihe der Soldaten löste sich ein ebenso milchgesichtiger Chwomka:
»Na, und du, Wanjka?! Verrecken sollst du, Galgenstrick, elender!-...«
Beide aus demselben Kosakendorf, aus der gleichen Straße, die Hütten standen nebeneinander unter den mächtigen Palmweiden. Morgens, wenn man das Vieh austreibt, stehen die Mütter am Zaun und schwatzen miteinander. Ist es denn schon so lange her, dass die Bürschlein zusammen auf Stecken geritten sind, im schimmernden Kuban Krebse gefangen haben und endlos lange badeten? Ist sie wirklich schon so weit, die Zeit, als sie mit den Mädchen zusammen die heimatlichen ukrainischen Lieder sangen, gemeinsam zum Militärdienst einrückten und zusammen, im Feuerring der berstenden Granaten, auf Leben und Tod gegen die Türken kämpften?
Und jetzt?
Und jetzt schrie das Kosakenbürschlein:
»Was hast du denn hier zu schaffen, du krummer Stänkerer? Hast dich den verfluchten Bolschewiki verschrieben, Bandit, nacktbäuchiger!«
»Was?! Ich ein Bandit?! Und du, was bist du denn? Ein stinkender Kulak... Dein sauberer Alter hat dem Volke nicht wenig das Fell über die Ohren gezogen, den Lebendigen und den Toten... Und du bist dieselbe Spinne!«
»Was! Ich eine Spinne! Kriegst eine über den Schädel!« — brüllte der Kosak, warf das Gewehr weg und hieb zu. Prack!
Chwomkas Nase wurde zu einer unförmigen Birne. Aber auch Chwomka blieb ihm nichts schuldig und schlug. Prack!
»Da, du Hund!«
Ein Auge des Kosaken wurde blind.
Sie packten einander an der Gurgel — und nun begann eine wilde Schlägerei.
Wie brüllende Stiere,. geduckt, mit glotzenden Augen, stürzten die Kosaken auf den Gegner, zum Faustkampf. Eine Wolke von Fuselgeruch überflutete den Garten. Und als seien sie von diesem Beispiel angesteckt, stürzten sich die Soldaten mit bloßen Fäusten in den Kampf, keiner gebrauchte das Gewehr — als sei keines vorhanden.
Das war eine Schlägerei!... Faustschläge hagelten auf Mund und Nase, gegen die Kehlköpfe und Kinnladen, atemlos rangen sie, mit knirschenden Zähnen und heiserem Gekrächz, und alles wurde überbrüllt von unerträglichem, unerhörtem Fluchen.
Die Kosakenoffiziere, die Roten Kommandeure rannten mit Revolvern, heiser vom Schreien, zwischen den Kämpfenden umher, vergeblich bemüht, sie zu trennen, sie zu veranlassen, zu den Waffen zu greifen, dabei wagten sie selbst nicht zu schießen — ein unerhörtes Menschenknäuel wogte hin und her, ein Knäuel aus Feinden und Freunden, und unerträglicher Alkoholdunst schwebte über ihm.
»Ha, ihr Schufte...«, schreien die Soldaten, »habt euch den Wanst vollgesoffen, nun ist euch alles gleich!«
»Sollten wir etwa das heilige Getränk euch Schweinen zum Aufschleckern lassen?« schreien die Kosaken.
Und wieder stürzten sie sich aufeinander, umklammerten sich in erbitterten Umarmungen, drückten sich die Nasen ein und hieben ohne Ende mit den Fäusten drein, wohin und wie es gerade traf. Der wilde, erbitterte Hass duldete nichts zwischen sich und dem Feind — man wollte mit eigenen Händen würgen, pressen, brechen; man wollte unmittelbar unter dem Hieb seiner Faust das aufspritzende, glucksende Blut auf des Gegners Schnauze spüren, und alles überwallte ein grölendes, endloses unflätiges Fluchen und ein dichter, kaum das Atmen zulassender Schnapsdunst.
Eine Stunde, zwei Stunden dauerte das wilde Handgemenge, das unaufhörliche fluchende Brüllen. Niemand bemerkte, wie es dunkel wurde..
Zwei Soldaten hieben hartnäckig in der Dunkelheit lange aufeinander ein, ächzend, schnaubend — da reißen sie sich auf eine Sekunde los, sehen sich an:
»Bist du's, Opanas?! Was fällt dir ein, du Hundsfott,
drischst auf mich los, als wär' ich eine Garbe auf der Tenne!«
»Du Mikolka?!... Und ich dachte ein Kosak. Du dreckige Sau, hast mir ja die ganze Visage aufgerissen...«
Sich die blutigen Gesichter wischend, schimpfend, gehen sie langsam in ihre Schützenkette zurück, suchen in der Dunkelheit nach ihren Gewehren.
Und daneben verkrampfen sich zwei Kosaken zu einem Knäuel; bald saß der eine, bald der andere auf seinem Gegner, bis sie sich endlich erkannten:
»Du Hund, verfluchter, du reitest auf mir herum wie auf einem alten Gaul?«
»Garaska?! Warum hast du denn nicht geschrieen? Du hast nur immer gebrummt, wie ein Ochs — ich dachte, du seiest ein Roter.«
Und sich das Blut abwischend, gingen sie in der Richtung zum Kosakenlager. Das niederträchtige Fluchen hatte endlich aufgehört, man hörte jetzt wieder das Rauschen des Flusses und das endlose Trommeln der Pferdehufe und der Räder auf den losen Bohlen der Brücke — noch immer rollten die Wagen der Bauern, und die Ränder der schwarzen Wolken säumten sich, kaum merklich, purpurn wie von einem erlöschenden Feuer. Längs der Gärten lag die Schützenkette der Soldaten, ringsherum in der Steppe zog sich die der Kosaken hin. Man schwieg, damit beschäftigt, sich die geschlagenen Knochen zu pflegen. Noch immer trommelte es über die Brücke. Der Fluss rauschte. Kurz bevor es Morgen wurde, war die Siedlung geräumt. Die letzte Eskadron wirbelte über die Bohlen, die Brücke flammte auf, Salven, Maschinengewehrgeknatter verfolgten die Abziehenden.
Durch die Straßen der Siedlung gehen singend, in langschößigen Reitermänteln, Kosaken aus den Elitebataillonen; an den zottigen schwarzen Fellmützen schimmern weiße Bändchen. Und die Gesichter sind sonderbar verziert: bei dem einen ist das Auge blaurot unterlaufen; ein anderer hat anstatt der Nase einen blutigen Hügel; die Backen sind geschwollen; die Lippen kissenartig gedunsen — man sieht keinen Kosaken, dessen Gesicht nicht in dieser Weise verschönert wäre.
Aber sie schreiten in dichten Reihen munter aus, zackiger, eiserner Takt schlägt durch die aufgewirbelten Staubwolken auf:
»Sie wollten nicht...... sie meuterten...«
klang kräftig, massig das Lied über den Gärten, hinter der) Gärten, in der Steppe, über die Siedlung hinaus. »... verloren die Ukraine!«
Kosakenfrauen gehen ihnen entgegen, blicken in die Gesichter, suchen nach den Ihren; manche stürzen jauchzend einem Kosaken entgegen, andere brechen verzweifelt zusammen, heulen auf, die Lieder übertönend; eine alte Mutter rauft sich das graue Haar — starke Arme tragen sie in eine
Hütte.
»... sie meuterten...«
Kosakenbuben tummeln sich zwischen den Großen; wo kommen auf einmal die vielen Kinder her, wo sind sie hervorgekrochen? Man hat sie bisher nicht gesehen. Sie rennen
und schreien:
»Vater!... Vater!«
»Onkel Mikola... Onkel Mikola!«
»Die Roten haben unsern Stier gefressen.«
»Und ich habe einem von ihnen mit meiner Armbrust das Auge ausgeschossen; er lag betrunken im Garten und schlief.« An Stelle des abgezogenen breitete sich jetzt ein anderes Lager in den Straßen und Gassen der Siedlung aus; man sah es dass dieses Lager zur Siedlung gehörte. Schon rauchten die Sommerküchen in allen Höfen. Kosakenmädchen machten sich eilig zu schaffen, irgendwo aus der Steppe trieb man versteckt gewesene Kühe ins Dorf; Hühner und Gänse tauchten auf; das Kochen und Braten war in vollem Gange.
Aber am Fluss ist eine andere eilige Arbeit im Gange — Äxte schlagen, hämmern, spalten um die Wette, sogar das Brausen des Flusses übertönend; in der Sonne funkelnd, fliegen nach allen Seiten weiße Späne: die Kosaken bauen fieberhaft an einer neuen Brücke, an Stelle der verbrannten, um den Feind noch einzuholen.
Und in der Siedlung das übliche. Neue Kosakenabteilungen werden gebildet. Offiziere mit Notizbüchern. Tische stehen mitten auf der Straße, Schreiber stellen Listen zusammen.
Aufrufe von Namen.
Die Kosaken warfen den auf und ab gehenden Offizieren Seitenblicke zu; die goldenen Achselklappen blitzten in der Sonne. Noch ganz vor kurzem — kaum sechs, sieben Monate ist es her — sah es ganz anders aus: auf den Plätzen, in den Straßen der Siedlung, in den Gassen lagen, blutigen Haufen gleich, mit abgerissenen Achselklappen solche Offiziere herum. In den Gehöften, in den Steppen und Schluchten, wo immer sie Zuflucht suchten, machte man Jagd auf sie, schleppte sie in die Siedlungen, schlug man sie schonungslos nieder, hängte sie, und tagelang hingen sie an den Pappeln, den Raben zur Freude.
Und begonnen hatte es vor etwa einem Jahr, als der sich von Russland aus entfaltende Brand die türkische Front ergriff. Woher kam das? Welche Umstände bewirkten das?
Niemand wusste etwas Genaueres darüber. Eines Tages tauchten unbekannte Bolschewiki in der Gegend auf, und es war, als wenn plötzlich der Star von den Augen gefallen wäre: alle wurden sehend, alle sahen auf einmal, was sie Jahrhunderte nicht gesehen, aber Jahrhunderte gefühlt hatten: die Offiziere, die Generalstäbler, die große Beamtenlegion, die Hetmans und den unerträglichen Militärdienst, der sie; ruinierte. Jeder Kosak musste seine Söhne, seine drei, vier Söhne auf eigene Kosten ausrüsten, jedem ein Pferd, Sattel, Uniform, Waffen kaufen — und da war ein Hof schnell ruiniert. Der Bauer aber kam fast nackt zum Militärdienst, er wurde mit allem ausgestattet, vom Kopf bis zu den Füßen eingekleidet. Die Kosakenmasse verarmte und verkümmerte allmählich immer mehr, zersetzte sich; die Schicht der reichen Kosaken stieg empor, erstarkte auf Kosten der anderen, die immer tiefer hinabsanken.
Unerträglich, blendend blickt die winzige Sonne auf das sich unter ihr hinstreckende Gebiet. Die Glut zittert, wallt drückend über der Erde.
Und die Menschen sagen:
»Kein Land ist so schön wie unseres.«
Blendendes Gefunkel spielt auf der Weite des seichten Asowschen Meeres. Kaum merklich schillern glasklare grüne Fältchen, ziehen träge dahin und bespülen den Ufersand. Es wimmelt von Fischen.
Nicht weit davon das Schwarze Meer. Bodenlos und bis auf den Grund, bis in seine tiefsten Tiefen spiegelt sich in ihm das umgestülpte Blau. Unerträglich ist das zitternde Geflimmer. Die Augen schmerzen. Schwarz, mit langen, sich auflösenden Schweifen, rauchen Dampfer in der blauen Ferne — sie kommen Getreide holen, sie bringen Geld ins Land.
Dunkel, massig türmen sich nah am Meere Felsen zu Gebirgen die Gipfel mit ewigem Schnee bedeckt, von tiefen, blauen Falten durchfurcht.
In den endlosen Gebirgswäldern, in Schluchten und Tälern,
auf Ebenen, Hochland und Gebirgskämmen — überall zahllose Vögel und Tiere, sogar solche Tiere, die sonst in der Welt schon fast ausgestorben sind: Auerochsen.
Im Innern des wilden, zerspülten, aufgewühlten Geklüfts gibt's Kupfer und Silber, Zink und Blei, Quecksilber und Graphit und Zement und vieles andere noch; wie schwarzes Blut sickert Erdöl durch alle Risse, in Bächen, auf Flüssen schillern in allen Regenbogenfarben zerfließende, ölige, nach Petroleum riechende Flecke.
Das allerschönste Land!
Von den Bergen aber, von den Meeren ziehen sich Steppen dahin, unendlich, grenzenlos.
»Sie sind ohne Ende, haben keine Grenzen!«
Weizen wallt seidig, Wiesen grünen, Schilfstauden rascheln über den Sümpfen, Weißen Flecken gleich schimmern, in Gartengrün gefasst, die Siedlungen, Höfe und Dörfer, Pyramidenpappeln recken sich in den heißen Himmel, und über den durchglühten Grabhügeln spreizen Windmühlen ihre grauen Flügel.
Regungslos sich drängende Schafherden bedecken mit grauen Flecken die Steppe; dichte Wolken von Millionen Bremsen, Mücken und Stechfliegen summen, schwanken über ihnen.
Bis zu den Knien im Spiegel der Steppenteiche steht träge das braunrote Vieh. Pferdeherden streben mit wiegenden Köpfen den schattigen Schluchten zu.
Und über allem die sengende, klingende, immerwährende Glut.
Die Köpfe der vorgespannten Pferde sind mit Strohhüten bedeckt - alle würden sie, vom tödlich scharfen Blick der winzigen Sonne getroffen, zusammenbrechen. Und auch die Menschen, die unvorsichtig ihren Kopf entblößen, stürzen mit plötzlich rot gewordenem Gesicht in den sengenden Staub des Weges nieder, die Augen verglasen bald. Überallhin dringt die feinklingende, alles durchzitternde Glut.
Wenn der schwere Pflug, von drei, vier Paaren steilhörniger Ochsen gezogen, durch die endlose Steppe seine Furchen zieht, wälzt das weißfunkelnde Pflugeisen eine so fette, ölige Erde zur Seite, dass man sie, die nicht wie Erde, sondern wie schwarze Butter aussieht, essen möchte. Und so tief man auch mit dem schweren Pfluge greift, niemals gelangt man bis zum toten Lehm, immer wendet der funkelnde Stahl unberührte, jungfräuliche, einzigartige Schichten von Schwarzerde um, die stellenweise metertief sind.
Und welche Kraft, welche übermenschliche, gebärende Kraft! Ein Junge bohrt spielend irgendeinen herumliegenden Stecken in die Erde, und ehe man sich umschaut, schießen Sprösslinge auf, und bald breitet ein Baum seine Äste zu einer Krone aus. Weintrauben, Wassermelonen, Zuckermelonen, Birnen, Aprikosen, Tomaten, Auberginen — es ist nicht aufzuzählen, was es da alles gibt! Und alles mächtig, erstaunlich, fast unnatürlich.
Eines Tages hüllen Wolken die Berge ein, ziehen schwer über die Steppen, schicken Ströme von Regen herab, die gierige Erde trinkt sich satt, und dann tritt die unbändige Sonne ihre Riesenarbeit an, und eine märchenhafte Ernte überschüttet das Land.
»Es gibt kein schöneres Land, als dieses Land!« Wer sind denn die Herren dieses wunderbaren Landes? Kubankosaken sind es, sind die Herren dieses herrlichen Landes. Und sie haben Knechte, ein Volk von Arbeitern, die ebenso zahlreich sind wie die Kosaken selbst, die ebenso ukrainisch sprechen und ebenso die ukrainischen Lieder singen.
Sie sind leibliche Brüder, diese zwei Völker; die einen wie die andern sind aus der geliebten Ukraine hierher gekommen.
Nicht freiwillig kamen die Kosaken; die Zarin Katharina II. hat sie vor anderthalb Jahrhunderten gewaltsam in dieses Land getrieben; sie zerstörte die freie Saporosher Kosakenwehr und schickte sie hierher; sie schenkte ihnen gnädig dieses damals wilde, furchtbare Land. Blutige Tränen weinten die Saporosher Kosaken über dieses Geschenk, sehnten sich nach ihrer ukrainischen Heimat zurück. Gelbe Fieber krochen aus den Sümpfen und aus dem Schilf, saugten sich fest an den Menschenleibern, schonten weder alt noch jung, brachten viel Volk ums Leben. Raubgierige Tscherkessen empfingen die Siedler mit scharfen Dolchen und treffsicheren Kugeln; blutige Tränen weinten die Saporosher Kosaken, sie gedachten ihrer alten Heimat, kämpften Tag und Nacht mit dem gelben Fieber, mit den Tscherkessen, mit dem wilden Neuland — es fehlte ihnen an geeigneten Geräten, um der uralten, unberührten Erde Herr zu werden.
Und jetzt... jetzt:
»Es gibt kein schöneres Land, als unser Land!«
Jetzt schielen alle gierig nach diesem Land, nach dieser Schale voll unbeschreiblicher Reichtümer. Aus den Gouvernements Charkow, Poltawa, Jekaterinoslawl, Kiew strömten die von der Not Getriebenen herbei — halbnackt, bettelarm, mit ihrer kargen Habe und ihren Kindern, zerstreuten sich in den vielen Kosakensiedlungen, blickten wie hungrige Wölfe auf das herrliche Land.
Ihr wollt Land haben? — könnt lange warten!
Und da wurden die Siedler zu Knechten bei den Kosaken, man nannte sie: »Auswärtige«. Die Kosaken setzten ihnen hart zu, ließen ihre Kinder nicht in die Kosaken-Volksschulen, zogen ihnen das Fell über die Ohren für jeden Fußbreit ihrer Höfe, ihrer Gärten, bei der Verpachtung des Bodens, ließen von ihnen alle Ausgaben der Siedlungen bestreiten und nannten sie mit tiefer Verachtung — »Teufelsbrut«, »Gesindel«.
Die Auswärtigen aber, hartnäckig wie Eisen, wandten sich, da sie landlos waren, jeglichem Handwerk, jeder industriellen Tätigkeit zu; sie waren geschickt, strebten nach Wissen, zur Kultur, zur Schule. Sie zahlten den Kosaken mit der gleichen Münze heim und nannten sie »Kurkul« (Anm.: »Kurkul« — ukrainisch, was auf russisch »Kulak« heißt, nämlich ein reicher Bauer, der durch Wucher u. dgl. die ärmeren Bauern ausbeutet und ruiniert. ), »Vogelscheuche« usw. So brennt gegenseitig Hass und Verachtung, und die zaristische Regierung, die Generale, Offiziere und Gutsbesitzer entfachten mit Freuden diese tierische Feindschaft;
Ein herrliches Land! — und das dampft, durchtränkt mit bitterer Galle, mit bissiger Wut, mit Hass und Verachtung,
Aber nicht alle Kosaken, nicht alle Auswärtigen verhalten sich so zueinander. Jene, die sich aus ihrer Armut emporgerungen, die in eiserner Arbeit, durch Findigkeit, Hartnäckigkeit zu Reichtum gekommen sind, werden von den wohlhabenden Kosaken geachtet. Sie haben Mühlen gebaut, ausgedehnte Kosakenländereien in Pacht genommen, sich Knechte, verarmte Auswärtige, gedungen, sie haben ihr Geld in Banken, handeln mit Getreide. Sie werden von jenen Kosaken hoch geachtet, deren Häuser mit Blech bedeckt sind und deren Scheunen von der Fülle des Getreides bersten; eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.
Warum jagen die Kosaken pfeifend, johlend, in Reitermänteln, die Fellmützen im Nacken, durch die Straßen hin und her? Der Märzschmutz sprüht unter den Pferdehufen nach allen Seiten, Schüsse blitzen in den blauen Frühlingshimmel. Ist vielleicht ein Festtag heute? Und die Kirchenglocken schleudern fröhliche blaue Klänge über die Siedlungen, Dörfer und Höfe. Und Menschen in festtäglichen Gewändern, Kosaken und Auswärtige, Mädchen und Burschen, Greise und alte Frauen mit eingefallenen Mündern — alles, alles wogt durch die frühlingshaften festlichen Straßen. Ist gar schon Ostern? Aber nein doch, das ist kein Pfaffenfeiertag! Es ist ein Menschheitsfeiertag, der erste nach Jahrhunderten. Seit Jahrhunderten, solange die Erde steht, das
erste Fest.
Nieder mit dem Krieg!. .-.
Kosaken umarmen einander, umarmen die Auswärtigen, die Auswärtigen fallen den Kosaken um den Hals, es gibt keine Kosaken, keine Auswärtigen mehr, es gibt nur Staatsbürger. Keine »Kurkuls« mehr, keine »Teufelsbrut« — nur Staatsbürger.
Nieder mit dem Krieg!...
Im Februar verjagte man den Zaren, im Oktober ereignete sich etwas im fernen Russland; niemand wusste recht, was geschehen war, nur das eine prägte sich in den Herzen ein:
Nieder mit dem Krieg!...
Prägte sich tief ein und war berauschend verständlich.
Und eins nach dem anderen strömten die Regimenter von der türkischen Front zurück. Zurück flutete die Kosakenreiterei, geschlossen marschierten die Fußbataillone der Kubankosaken, es kamen die aus den Auswärtigen zusammengesetzten Infanterieregimenter, es dröhnte die reitende Artillerie, und alles das zog, einem endlosen Strome gleich, nach dem Kuban, in die heimatlichen Siedlungen, mit allen Waffen, mit Vorräten, mit Munition und Train. Unterwegs wurden Schnapsbrennereien und Spirituslager geplündert. Man soff, ertrank, verbrannte bei lebendigem Leibe in einer Flut von Schnaps.
Aber im Kubangebiet herrschte schon die Sowjetmacht. Ins
Kubangebiet zogen schon Arbeiter aus den Städten, Matrosen
von den versenkten Schiffen, und durch sie wurde alles plötzlich
klar und einfach: Gutsherren, Bourgeois, die Kosakenhauptleute, die zaristische Saat des Hasses zwischen den Kosaken und den Auswärtigen und zwischen allen Völkern des Kaukasus. Und da flogen die Köpfe der Offiziere, in Säcke gebunden warf man die Offiziere ins Wasser.
Aber man muss pflügen, und säen muss man; die Sonne, die wunderbare südliche Sonne, wartet gierig auf die Ernte.
»Wo sollen wir denn ackern?« Man muss das Land aufteilen, die Zeit wartet nicht«, sagten die Auswärtigen zu den Kosaken.
»Euch Land geben?« antworteten die Kosaken, und ihre Gesichter wurden finster.
Und die Freude über die Revolution begann zu verblasse »Land wollt ihr haben, ihr Taugenichtse?'« Sie hörten auf, ihre Offiziere und Generale umzubringen, und die kamen schnell aus ihren Verstecken hervorgekrochen, schlugen sich in den geheimen Kosakenversammlungen an die Brust und sagten, den Aufruhr schürend:
»Von den Bolschewiki wurde beschlossen: den Kosaken das ganze Land zu nehmen und es den Auswärtigen zu geben, die Kosaken aber zu Knechten zu machen. Die sich widersetzen, werden nach Sibirien verbannt, ihr ganzes Eigentum wird beschlagnahmt und den Auswärtigen übergeben.«
Da verdunkelte sich das Land am Kuban, geheimer Brand schlich durch die Steppen und Schluchten, von Siedlung zu Siedlung, von Hof zu Hof.
»Es gibt kein schöneres Land, als unser Land!« Und wieder wurden die Kosaken zu »Kurkuls«, zu »Vogelscheuchen«.
»Es gibt kein schöneres Land, als dieses Land!« Und wieder wurden die Zugewanderten — zu »Teufelskindern«, zu »Gesindel«.
Fröhlich wurde im März des Jahres achtzehn der Brei gekocht; man schluckte ihn, der heiß war, dass einem die Tränen kamen, im August, zu einer Zeit, da die Sonne in diesem Lande noch sengend ist und mächtige Wolken heißen Staubes über die Steppe ziehen.
Ä xte klingen, weiße Späne fliegen, die neue Brücke stemmt sich gegen das andere Ufer. Schnell und dröhnend sprengt die Reiterei, marschieren die Fußkosaken hinüber; man eilt, den sich zurückziehenden roten Feind einzuholen.
Wagen knarren, Soldaten schreiten, Arme bewegen sich im Takt. Bei diesem ist das Auge angeschwollen, bei jenem ist die Nase blau wie eine Pflaume. Bei diesem sind die Backenknochen mit Schrammen bedeckt — es gibt keinen, in dessen Gesicht nicht ungewohnte Farben glühen. Sie gehen, fuchteln mit den Armen und erzählen lustig:
»Da hau' ich ihm in die Magengrube, dass er die Beine hochwirft.«
»Und ich presse seinen Kopf zwischen die Beine und verdresch' ihm den Hintern... und er, der Schuft.. beißt
zu...!«
»Oho!... Ha-ha-ha!« braust es durch die Reihen.
»Und was wird dein Frauchen dazu sagen?«
Munter erzählen sie, und keinem fällt es ein, darüber nachzudenken, wie es kam, dass sie, statt zu stechen und zu töten, in wilder Begeisterung einander mit Fäusten bearbeiteten.
Man führt vier bei der Siedlung gefangene Kosaken mit und verhört sie unterwegs. Ihre Augen sind trüb, die Gesichter voll blauer Flecke; das macht sie den Soldaten vertrauter.
»Habt ihr denn keine Waffen gehabt, dass ihr mit Fäusten auf uns losgegangen seid?«
»Wir hatten ein wenig getrunken«, murmelten die Kosaken schuldbewusst.
Die Augen der Soldaten funkeln auf. »Wo habt ihr den Schnaps her?«
»Die Offiziere hatten in den Gärten der benachbarten Siedlung fünfundzwanzig Fässer vergraben gefunden. Die Unseren hatten ihn von Armawir mitgebracht, wo sie eine Brennerei gestürmt hatten. Die Offiziere haben uns antreten lassen und gesagt: ,Wenn ihr die Siedlung nehmt, so kriegt ihr Schnaps.' Und wir antworteten ihnen: ,Gebt uns lieber gleich den Schnaps — dann werden wir sie niedermachen wie die Hühner.' Da gaben sie denn jedem zwei Flaschen, wir tranken sie gleich aus. Zu essen kriegten wir nichts, dass der Schnaps besser wirkte. Da hat es uns nicht länger gehalten, wir sind losgestürmt und haben die Gewehre weggeworfen, denn die haben uns nur gehindert.«
»Verfluchte Sauhunde!« rief ein Soldat. »Wie die Schweine...« und holte zum Schlage aus. Aber man hielt ihn zurück:
»Lass ihn! — die Offiziere haben sie doch aufgehetzt. Warum schlagen?«
Hinter der Wegbiegung machte man halt, und die Kosaken begannen ihr Grab zu graben.
Endlose knarrende Wagenzüge, die alles in Staub hüllten, schlängelten sich kilometerlang auf der Landstraße. Vorn blauten die Berge. In den Wagen leuchteten rote Kissen, staken Rechen, Schaufeln, Fässer, funkelten Spiegel und Samoware, und zwischen Bergen von Kleidern, Pferdedecken und Bündeln zappelten Kinderköpfchen, Katzenohren, gackerten Hühner in geflochtenen Körben; Kühe trotteten hinterher, und zottige Hunde voller Kletten, mit hängenden Zungen, hielten sich keuchend im Schatten der Wagen. Die Fuhren mit dem aufgetürmten Sack und Pack knarrten, die Bauern hatten beim Verlassen ihrer Dörfer gierig nach allem gegriffen, was sich irgendwie mitnehmen ließ, um es ja nicht den aufständischen Kosaken zu lassen.
Es war nicht das erste Mal, dass die Auswärtigen ihre Höfe
verließen. Ausbrüche einzelner Kosakenaufstände gegen die Sowjetmacht hatten die Auswärtigen in der letzten Zeit schon öfter von ihren Wohnstätten vertrieben; aber das dauerte immer nur zwei bis drei Tage. Dann kamen die Roten Truppen, schafften Ordnung, und alles kehrte wieder an die alten Plätze zurück.
Aber jetzt dauert es etwas zu lange — schon die zweite Woche. Und das mitgenommene Brot hatte nur für einige Tage gereicht. Und jeden Tag, jede Stunde warten sie, dass man ihnen sagt: nun, jetzt kann man zurückkehren! Aber je länger es anhält, desto verwickelter wird die Sache. Die Kosaken rebellieren immer wütender, von allen Seiten kommen böse Nachrichten: in den Siedlungen sind Galgen aufgerichtet, an denen die Auswärtigen gehängt werden. Wann wird das ein Ende nehmen? Und was ist wohl aus der zurückgelassenen Wirtschaft geworden?
Es knarren die Wagen, Fuhren und Karren, Spiegel funkeln in der Sonne, Kinderköpfchen schwanken zwischen den Kissen, buntscheckige Haufen von Soldaten ziehen dahin, auf der Landstraße, längs der Felder, die ratzekahl sind, als seien Heuschrecken hier gewesen, auf denen es keine Wassermelonen, Kürbisse, Melonen und Sonnenblumen mehr gibt. Es gibt keine Kompanien mehr, keine Bataillone und Regimenter, alles vermischt sich, läuft durcheinander. Jeder geht, wie es gerade kommt. Die einen singen Lieder, die anderen streiten sich, schreien, fluchen, wieder andere hocken auf den Wagen und wackeln schläfrig mit den Köpfen.
An die Gefahr, an den Feind denkt niemand. Auch um die Kommandeure kümmert sich keiner. Wenn man versucht,
diesen fließenden Strom irgendwie zu organisieren, schickt man die Kommandeure zum Teufel und geht weiter, die Gewehre wie Knüppel, mit dem Kolben nach oben, auf der Schulter, rauchend, zotige Lieder singend. — Das alte Regiment ist eben ein für allemal vorbei!
Koshuch wird von dem unausgesetzt fließenden Strom mitgerissen. Es ist, als säße eine gespannte Feder in der Brust und presste sie zusammen: Wenn die Kosaken jetzt den Zug überfallen, wird keiner davonkommen. Die einzige Hoffnung, dass der Tod, wenn er ihnen ins Gesicht blickt, alle aufrüttelt, so aufrüttelt wie gestern, und sie in geschlossenen Reihen seinen Befehlen gehorchen werden... Aber wird es nicht zu spät sein? Und er wünscht, dass es bald Alarm gäbe.
In dem wildrauschenden Strom ziehen die Demobilisierten der zaristischen Armee und die durch die Sowjetmacht Mobilisierten, ziehen freiwillig jene, die aus eigenem Antrieb der Roten Armee beigetreten sind, meistens kleine Handwerker, Böttcher, Schlosser, Klempner, Tischler, Schuster, Friseure und besonders viele Fischer. Alles sich kümmerlich durchs Leben schlagende »Auswärtige« — lauter Arbeitsvolk, dem die Sowjetmacht plötzlich eine kleine Lebenshoffnung gab — sie fühlten auf einmal, dass das Leben nicht immer ein solches Hundeleben zu sein braucht wie bisher. Aber die überwiegende Masse sind doch Bauern. In dichten Haufen haben sie ihre Höfe verlassen, nur die Reichen sind geblieben, denen die Offiziere und Kosaken nichts zuleide taten.
Das Auge seltsam überraschend, reiten schlanke, enggegürtete Gestalten zahlreicher Kubankosaken ihre gutgepflegten Pferde. Nein, das sind keine Feinde, sondern revolutionäre Brüder, besitzlose Kosaken, in ihrer Mehrzahl Frontsoldaten, denen die Revolution unter Rauch, Flammen, unter immerwährender Todesgefahr einen unverlöschlichen Funken ins Herz gesenkt hat.
Eine Eskadron nach der anderen, in zottigen, mit roten Schleifen geschmückten Fellmützen. Die Gewehre über dem Rücken, schwarze, silberverzierte Dolche und Säbel am Ge-
hänge, gut ausgerichtet und diszipliniert inmitten des allgemeinen Wirrwarrs.
Die tüchtigen Pferde schütteln die Köpfe.
Man wird sich mit den Vätern und Brüdern schlagen. Alles haben sie verlassen: ihre Höfe, ihr Vieh, ihr Hab und Gut — ihre Wirtschaft ist zerstört. Schlanke, gewandte Gestalten, die roten Schleifen, von lieber Hand gebunden, leuchten an den Mützen; mit jungen, starken Stimmen singen sie ukrainische Lieder.
Koshuch betrachtet sie liebevoll: »Brav, Burschen, auf euch ruht die ganze Hoffnung.« Liebevoll sieht er sie an, aber noch liebevoller diese in den Staubwolken wandernde abgerissene Masse der Auswärtigen, denn er ist Blut von ihrem Blut.
Wie einen langen, schrägen Schatten schleppt er seine Vergangenheit nach sich, eine Vergangenheit, die man vergessen, der man sich aber nicht entziehen kann. Die allergewöhnlichste hungrige, arbeitsvolle, graue, dunkle Vergangenheit. Die Mutter, noch jung, aber das Gesicht schon von tiefen Runzeln durchfurcht, wie eine arbeitsüberbürdete Mähre; ein Haufen Kinder, die sich von allen Seiten an die Rockschöße klammern. Der Vater — seit jeher Tagelöhner beim Kosaken —, man mag arbeiten soviel man will, man bringt doch nichts zuwege — weder einen eigenen Hof noch ein eigenes Feld.
Von seinem sechsten Jahre an ist Koshuch Gemeindehirt. Steppe, Schluchten, Schafe, Wald, Kühe; Wolken ziehen darüber hin, und unter ihnen die Schatten — das war seine Schule.
Als geschickter, gewandter Junge kommt er als Lehrling in den Laden eines reichen Dorfhändlers, lernt nach und nach lesen und schreiben; dann kommt die Soldatenzeit, der Krieg, die türkische Front... Er ist ein ausgezeichneter Maschinengewehrschütze. In den Bergen brachte er seine Maschinengewehrabteilung in den Rücken des Feindes, und als die türkische Division sich zurückzuziehen begann, bearbeitete er sie von unten mit seinen Maschinengewehren — wie Gras mähte er sie nieder, das heiße, lebendige Blut stieg dampfend auf —, niemals hätte er früher gedacht, dass menschliches Blut in Bächen fließen kann — aber das war türkisches Blut, und das vergaß man bald.
Als Auszeichnung für seine unerhörte Tapferkeit schickte man ihn zur Offiziersschule. Wie schwer das war! Der Kopf zum Platzen. Aber mit unermüdlicher Hartnäckigkeit betrieb er sein Studium, Tag und Nacht, und... fiel durch. Die Offiziere lachten ihn aus, das Lehr- und Erziehungspersonal der Anstalt und die Junker; dieser Mushik will Offizier werden! So ein Schuft... ein Mushik... das stumpfe Vieh! Ha-ha-ha — ein Offizier will er werden!
Er hasste sie schweigend, mit zusammengebissenen Zähnen. Man schickte ihn als unbefähigt zum Regiment zurück.
Und wieder Granaten und Schrapnells, tausend Tote, Blut, Stöhnen, und wieder mähen seine Maschinengewehre (er hatte ein erstaunliches Auge) und legen sich die Menschen nieder wie Gras. In unmenschlicher Anspannung, unter fortwährender Todesgefahr, die um die Köpfe raste, dachte man nicht daran, wessen Blut in Bächen fließt, in wessen Namen es fließt: für den Zaren, fürs Vaterland, für den rechten Glauben? Mag sein, aber alles blieb nebelhaft. Deutlich und nahe war eins: Offizier werden. Herauskommen um jeden Preis aus dieser Welt von Blut und Klagen, emporkommen, so wie aus einem Hirtenjungen ein Ladenjunge geworden war. Und ruhig, mit ehernen Kinnladen, inmitten der krepierenden Geschosse, die Menschen mähend, war er wie bei sich zu Hause, auf der Wiese, wenn er Gras mähte, das sich rund um ihn legte.
Zum zweiten Male schickte man ihn in die Offiziersschule: Es fehlt an Offizieren, im Kampf fehlt es immer an Offizieren, und in Wirklichkeit nimmt er ja schon lange die Stelle eines Offiziers ein; er befehligt zuweilen große Abteilungen, keine einzige Niederlage konnte man ihm nachsagen. Denn die Soldaten betrachteten ihn als einen der Ihren, auch er kam von der Erde, von den Feldern. Und sie folgten ihm rückhaltlos, diesem knorrigen Mann mit den ehernen Kinnladen, gehen mit ihm durch Feuer und Wasser. In wessen Namen? — Für den Zaren, für das Vaterland, für den wahren Glauben? Mag sein. Aber das alles verschwindet im blutigen Nebel; zurück kann man nicht; dort droht Erschießung, also lieber vorwärts, lieber ihm, diesem ruhigen, starken Bauern folgen.
Wie schwer, wie qualvoll schwer! Der Kopf platzt einem; es ist viel schwerer, sich die Dezimalbrüche anzueignen, als in den Tod zu gehen.
Die Offiziere schütteln sich vor Lachen; die Offiziere, die nötiger- und unnötigerweise in der Schule stecken. Die Schule ist ja ein ruhiges, behagliches Plätzchen, um sich von der Front zu drücken, und es findet sich immer ein Posten, den wohlwollende Menschen freihalten. Die Offiziere schütteln sich vor Lachen: Lümmel, ungehobelter, schmutziger Schuft! Aber so schwer man es ihm auch machte, wie man ihn auch trotz seiner immerhin richtigen Antworten schikanierte — er bewältigte es doch...
Und doch, und doch... man schickte ihn als unbefähigt zum Regiment zurück.
Aufflammende Blitze der Geschütze, explodierende Schrapnells, das seelenlose Knattern der Maschinengewehre, ein blutig-feuriger Wirbelsturm, »und Tod und Hölle von überall« — und er ist wie zu Hause, wie der Bauer in seiner Wirtschaft.
Ein tüchtiger Bauer, hartnäckig wie ein Stier, macht er sich voller Wut an alles, was er vorhat; nicht umsonst ist er ein Ukrainer, die Stirn hängt schwer über den winzigen, grauen stechenden Augen.
Für seine Wirtschaftlichkeit in diesem Todesbetrieb wird er zum dritten Male, ja zum dritten Male, in die Offiziersschule geschickt.
Schon wieder da! Wieder Stoff zum Gelächter für die Offiziere. Ein Mushik... Einer aus dem Gesindel... Und schicken ihn als unbefähigt zum Regiment zurück.
Da kommt aus dem Stab ein gereizter Befehl: Koshuch sofort zum Fähnrich zu machen — es fehlt an Offizieren!
Ho-ho! An Offizieren ist großer Mangel: vorn an der Front, aber nicht in der Etappe.
Verächtlich stellte man ihm das Patent aus. Er kehrt zu seiner Kompanie zurück — auf seinen Schultern funkelt es: er hat's erreicht. Und er freut sich und auch wieder nicht.
Freut sich: denn er hat's erreicht, erreicht unter schrecklichen Schwierigkeiten mit seinem hartnäckigen, übermenschlichen Willen. Und freut sich doch nicht; denn die funkelnden Achselstücke trennten ihn von den Seinen, von den Vertrauten, von den Bauern und Soldaten. Sie trennten ihn von den Soldaten, brachten ihn aber den Offizieren nicht näher: um Koshuch bildete sich ein leerer Kreis.
Die Offiziere, seine neuen Kameraden, nannten ihn nicht offen einen »Bauernlümmel«, »Gesindel«, »Tölpel«, aber im Lager, in der Offizierskantine, überall, wo ein paar Menschen mit Achselstücken waren, bildete sich um ihn herum ein leerer Kreis. Sie sagten es nicht mit Worten, aber ihre Augen, ihre Gesichter, jede ihrer Bewegungen sagten es: Bauernlümmel, Canaille...
Er hasste sie mit einem ruhigen, immerwährenden, tiefversteckten Hass. Und verachtete sie. Diesen Hass und die Kluft, die sich zwischen ihm und den Soldaten jetzt bildete, erstickte er mit kaltem Mut in tausendfachen Todesgefahren.
Aber auf einmal begann alles zu wanken: die Berge Armeniens, die türkischen Divisionen, die Soldaten, Generale mit ratlosen, verblüfften Gesichtern, die verstummten Geschütze, der Märzschnee auf den Gipfeln — es war, als wenn der Weltraum einen Riss erhalten hätte und Unerhörtes, Nie gesehenes, aber immer in den geheimsten Tiefen Lebendes zum Vorschein gekommen wäre; etwas, was nie mit Worten genannt wurde, trat auf einmal klar, einfach, greifbar in Erscheinung.
Es kamen Menschen, gewöhnliche Menschen, mit mageren gelben Fabrikgesichtern, die anfingen, diesen Riss immer mehr zu verbreitern. Und uralter Hass, uralte Unterdrückung, uralte Sklaverei brachen mit eins aus diesem Riss hervor.
Jetzt bedauerte Koshuch zum ersten Mal, dass an seinen Schultern die Achselstücke glänzten, die er sich mit solch eiserner Energie erkämpft hatte. Er fand sich in den Reihen der Arbeiterfeinde, der Bauernfeinde, der Soldatenfeinde.
Als die Oktobertage heranrollten, riss er sich voller Verachtung die Achselstücke ab und fuhr, von dem rauschenden Strom der Truppen, die ihren Heimatdörfern zustrebten, erfasst, im dunklen Winkel eines voll gepfropften Güterwagens, bemüht, sich nicht zu zeigen, nach Hause. Trunkene Soldaten brüllten Lieder und machten Jagd auf die sich versteckenden Offiziere. Er wäre nicht heimgekommen, hätte man ihn entdeckt.
Als er ankam, lag alles in Scherben, die alte Ordnung, die alten Verhältnisse, das Neue aber war noch trübe und unklar. Die Kosaken umarmten die Auswärtigen, machten Jagd auf die Offiziere und schlugen sie nieder.
Wie Hefebrocken fielen die aus den Fabriken angekommenen Arbeiter und die Matrosen von den versenkten Schiffen in die fiebernde Bevölkerung, und wie ein Sauerteig erhob sich das Kubangebiet: in den Siedlungen, Dörfern und Flecken herrschte die Sowjetmacht.
Obwohl Koshuch es mit Worten nicht zu sagen vermochte, nicht über Klassen, Klassenkampf, Klassenverhältnisse reden konnte — das, was die Arbeiter darüber sagten, erfasste er mit seinem ganzen Wesen. Und das, was früher; seinen glühenden Hass ausmachte — die Offiziere —, das schrumpfte jetzt zu einem Nichts vor jenem Gefühl zusammen, das ihn jetzt erfasste, vor dem Ahnen des grenzenlosen Klassenkampfes. Er wusste jetzt, dass die Offiziere nur jämmerliche Lakaien der Gutsherren und der Bourgeoisie waren.
Die Spuren der einstmals mit so großer blutiger Mühe errungenen Achselstücke brannten auf seinen Schultern. Obwohl man ihn als einen der Ihren kannte, sah man ihn doch scheel an.
Und ebenso eisern, mit derselben ukrainischen Hartnäckigkeit beschloss er, diese Spuren auf seinen Schultern mit glühendem Eisen, mit seinem Blute und dem Preis seines Lebens zu vertilgen und dieser Masse der Armut, die Fleisch von seinem Fleisch war, ebenso — nein noch hingebungsvoller zu dienen.
Und da geschah es. Die Dorfarmut begann die Bourgeois zu enteignen. Da aber dazu alle zählten, die ein zweites Paar Hosen hatten, gingen die Burschen von Hof zu Hof, brachen alle Behälter und Truhen auf, teilten das Erbeutete an Ort und Stelle auf; manche zogen sich gleich die neuen Stücke an, denn — man muss doch alles gleichmachen.
Auch zu Koshuch hatten sie während seiner Abwesenheit hereingeschaut und mitgenommen, was sich fand. Und dem zurückkehrenden Koshuch blieb nichts als das, was er trug — ein zerrissener Kittel, ein alter Strohhut, zerrissene Stiefel, während seiner Frau nur der eine Rock blieb, den sie gerade anhatte. Koshuch, ganz erfüllt von einem einzigen Gefühl, einem hartnäckigen Gedanken, machte nur eine wegwerfende Handbewegung.
Man wollte alle gleichmachen, als man aber daranging, das Land unter alle aufzuteilen, erhob sich das ganze Kubangebiet und stürzte die Sowjetmacht.
Jetzt zieht Koshuch inmitten des Lärms, des Knarrens der Räder, des Schnaubens der Pferde und inmitten mächtiger Staubwolken als Führer einer Roten Kolonne dahin.
Auf der letzten Station vor den Bergen herrschte eine babylonische Wirrnis: Lärm, Schreien, Weinen, schweres Fluchen, verstreute, durcheinander gemengte Truppen, einzelne Soldatengruppen — und hinter der Station Schüsse, Schreie, Verwirrung. Von Zeit zu Zeit dröhnen Kanonenschüsse.
Hier ist auch Koshuch mit seiner Kolonne und seinen Flüchtlingen. Auch Smolokurow ist mit seiner Kolonne und Flüchtlingen bei dieser Station eingetroffen. Unaufhörlich kommen neue Abteilungen heran, von allen Seiten von Kosaken verfolgt und bedrängt. Auf diesem letzten Fleck drängten sich Zehntausende dem Tode geweihte Menschen zusammen — die Kadetten und Kosaken verschonen keinen, weder alt noch jung, alle werden entweder unter den Säbeln, im Feuer der Maschinengewehre fallen, oder an den Bäumen hängen, oder in tiefe Schluchten geworfen und lebendig begraben werden.
In der Verzweiflung werden schon wiederholt Rufe laut: »Wir sind verraten.« »Die Kommandeure haben uns verraten!...«
Und als sich das Geschützfeuer plötzlich verstärkte, brach es los:
»Rette sich, wer kann! Lauft, Jungens...!«
Koshuchs Kolonne hielt die Kosaken so gut es ging zurück, aber man fühlte, dass es nicht lange dauern würde.
Die Befehlshaber berieten ununterbrochen, aber es hatte nicht viel Zweck; niemand wusste, was im nächsten Augenblick geschehen würde.
Koshuch erklärte:
»Die einzige Rettung ist: über die Berge und drüben an der Küste des Meeres durch Gewaltmärsche auf einem Umwege den Anschluss an unsere Hauptkräfte erreichen. Ich: ziehe gleich los.«
»Wenn du das wagen wirst, werde ich auf dich feuern lassen«, sagte Smolokurow, ein Riese mit schwarzem breitem Bart und weiß funkelnden Zähnen. »Wir müssen uns ehrenvoll verteidigen und nicht fliehen.«
Eine halbe Stunde darauf setzte sich Koshuchs Kolonne in Bewegung, niemand wagte es, sie zurückzuhalten. Und kaum hatte sie sich in Bewegung gesetzt, folgten ihr Zehntausende von Soldaten, Flüchtlingen, Wagen und Tieren, in panikartiger Flucht, sich drängend, die Chaussee verstopfend, bemüht, einander zu überholen und die Vorderwagen in den Graben zu werfen.
Eine endlose lebende Schlange wand sich durch die Berge.
Man zog den ganzen Tag und die ganze Nacht. Vor Tagesgrauen machte man halt, ohne die Pferde auszuspannen; der Zug nahm viele Kilometer der Chaussee ein. Über dem Gebirgspass, ganz dicht über ihm, funkelten riesige Sterne. Unermüdlich rauschte in der Schlucht das geschwätzige Wasser. Allenthalben Finsternis und Schweigen, als wenn es weder Berge, noch Wälder, noch Abhänge gäbe. Nur die Pferde hörte man kauen. Kaum war man eingeschlafen, als schon die Sterne zu erblassen begannen. Ferne Waldhöhen traten hervor; durch die Schluchten wallten milchweiße Nebelschleier. Wieder rührte sich alles, wieder bewegte sich der Trupp kilometerlang über die Chaussee.
Hinter den fernen Bergkämmen flammten blendende Sonnenstrahlen auf, und lange blaue Schatten flüchteten über die Abhänge. Die Spitze der Kolonne erreichte den Pass. Als man oben war, stockte jedem der Atem: ein schwindelnder Abgrund stürzt von den Gipfeln, und wie ein unwirklicher Traum leuchtet tief unten die Stadt. Hinter der Stadt aber erhebt sich verblüffend, wie eine grenzenlose blaue Mauer, das Meer, eine solche nie gesehene gewaltige Mauer, dass an ihrer tiefen Bläue aller Augen hell werden.
»He, Nachbar, siehst du das Meer?!«
»Das steht ja wie eine Mauer!«
»Da wirst du halt über die Mauer klettern müssen.«
»Aber wie denn, wenn man am Ufer steht, liegt's doch ganz glatt da, bis an den Horizont?«
»Hast denn nicht gehört, wie der alte Moses die Juden aus der ägyptischen Knechtschaft führte, und das Wasser für sie wie Mauern war, und sie mitten ins Meer hineingingen wie auf dem Trockenen?«
»Uns wird es wohl nicht durchlassen, es steht ja da wie eine Wand.«
»Das ist ja wegen Garasjka, damit seine neuen Stiefel nicht nass werden.«
Den Berg hinab geht es sich lustiger, die Arme schlenkern, Geplauder und Gelächter laufen durch die Reihen. Immer tiefer senkt sich der Kopf der Schlange, und niemand denkt an das schwarze gigantische Bügeleisen, das unheilvoll regungslos, mächtig qualmend das blaue Gesicht der Bucht verunstaltet — ein deutscher Panzerkreuzer. Um ihn herum liegen feine schwarze Striche — türkische Torpedoboote; auch sie geben schwarzen Qualm von sich.
Ü ber den Bergkamm fließen immer neue Reihen munter ausschreitender Soldaten, alle sind gleich überrascht von dem dichten Blau der sich bis zum Himmel erhebenden Mauer; hell werden aller Augen, und erregt bewegen sich die Arme beim Abstieg auf der sich schlängelnden Chaussee.
Da kommt auch der Tross. Die Pferde schütteln die Köpfe, die Kummete rutschen ihnen auf die Ohren, im Trab laufen die Kühe. Mit Geschrei jagen, auf Gerten reitend, die Kinder. Die Erwachsenen stemmen sich bremsend gegen die rollenden Fuhrwerke. Und alle zusammen ziehen munter auf den Windungen der Chaussee dem unbekannten Schicksal entgegen.
Hinten erhob sich der Kamm des Gebirgspasses und deckte den halben Himmel zu.
Die Stadt zwischen der Bucht und den Zementwerken umgehend, erreichte der Kopf der endlosen Schlange den schmalen Uferstrich. Auf der einen Seite schoben sich kahle Berge dicht zur Küste heran, auf der anderen — das Herz stand einem still bei diesem Anblick — dehnte sich mit blauäugiger Zartheit die endlose, lichte Wasserebene.
Kein Rauch, kein Segel. Nur eine ständig neu entstehende durchbrochene Spitzenrüsche taucht auf, zieht taunass über das Steingeröll am Ufer und verschwindet zwischen den feuchten Blöcken. In dem lautlosen Schweigen klingt, nur dem Herzen vernehmbar, das Lied der Urzeit.
»He, Nachbar, siehst du, jetzt hat sich das Meer wieder hingelegt!«
»Hast du geglaubt, dass es immer wie eine Mauer stehen wird? Der Blick vom Berge trügt. Wie könnte man es sonst befahren?«
»He, Garasjka, jetzt sind deine Stiefel hin; jetzt werden sie nass, wenn wir durchs Meer gehen!«
Garasjka aber schreitet munter, barfuss, mit geschultertem Gewehr.
Ein schallendes Gelächter rollt durch die Reihen; auch hinten, wo man nichts gehört hat, wird mitgegrölt.
Und eine finstere Stimme:
»Jetzt ist alles eins, jetzt gibt's kein Zurück mehr: rechts ist Wasser, links die Berge und hinten die Kosaken. Also vorwärts, weiter bleibt uns nichts!«
Der Kopf der Schlange bewegte sich schon lange auf dem schmalen Uferweg und verschwand hinter der Biegung. Die Mitte des Zuges bog um die Stadt, und das Ende schlängelte sich noch immer die weißen Windungen der Chaussee hinab.
Der deutsche Stadtkommandant, der an Bord des Panzerkreuzers seinen Aufenthalt hatte, bemerkte die unvorhergesehene Bewegung bei der fremden, aber seinen kaiserlichen Kanonen unterstellten Stadt, und diese Bewegung war entschieden ungehörig. Er gab Befehl, dass diese unbekannten Menschen, Soldaten, Kinder und Frauen, alles, was hastig an der Stadt vorüberzog, sofort Halt mache, Waffen, Munition, Mundvorrat, Furage ausliefere und sich bis auf weitere Befehle nicht vom Fleck rühre.
Aber die staubige, graue Schlange kroch hastig weiter; eilig trabten die Kühe, trippelten die Kinder, sich an die Wagen klammernd; die Erwachsenen trieben die Pferde an, und aus den Reihen drang dichter, dumpfer, von den Bergen widerhallender Lärm; blendendweißer Staub begleitete den Zug.
In diesen endlosen Strom begann krachend, fluchend, fremde Achsen und Räder brechend, ein anderer Strom von beladenen Wagen sich aus der Stadt zu ergießen; vom Seewind salzdurchtränkte heisere Matrosenstimmen fluchten und schrieen. Auf den Wagen der neuen Ankömmlinge sah man sehnige, stämmige, nach Schnaps riechende Matrosengestalten, in weißen Matrosenhemden mit blauen umgeschlagenen Kragen; schwarze, goldbedruckte Bänder flatterten von den runden Mützen. Über tausend Wagen, Kaleschen, Fuhren, Korbwagen ergossen sich in den vorbeikriechenden Zug, geschminkte Weiber und an die fünftausend schwer fluchende Matrosen saßen in ihnen.
Der deutsche Kapitän wartete eine Weile, aber der Zug hielt noch immer nicht.
Da, auf einmal, die hellblaue Stille durchbrechend, krachte es vom Kreuzer. Und das Krachen rollte weiter durch die Berge und Schluchten, als wenn ungeheure Felsen barsten. Nach einer Sekunde hallte es wider, weiß Gott wie weit, hinter der regungslos hängenden blauen Ferne.
Ü ber der fortkriechenden Schlange tauchte rätselhaft weich ein weißes Wölkchen auf, barst mit schwerem Krachen und löste sich langsam auf.
Der braune Wallach, der nachts wie ein Rappe aussah, bäumte sich unerwartet und brach, die Deichseln zersplitternd, zusammen. Etwa zwanzig Menschen stürzten hinzu, packten ihn an der Mähne, an den Beinen, an Schweif und Ohren und zogen ihn von der Chaussee in den Graben, und die Fuhre rollte mit ihm hinab. Keine Sekunde stockte der ungeheure Zug: Fuhre an Fuhre, Wagen an Wagen, Karren an Karren rollte er, die ganze Breite der Chaussee einnehmend, unaufhaltsam vorwärts. Gorpina und Anka griffen weinend von dem umgekippten Wagen, was ihnen unter die Hände geriet, steckten es in fremde Wagen und gingen zu Fuß weiter, während der Alte mit zitternden Händen das Zaumzeug des toten Pferdes durchschnitt und ihm das Kummet abzog.
Zum zweiten Male leckte eine blendende Zunge vom Kreuzer, wieder rollte es in der Stadt und in den Bergen, hallte es hinter der blauen Ferne wider. Abermals leuchtete hoch oben ein Schneeklümpchen auf, und allerorts sanken stöhnende Menschen zusammen. Eine junge, schwarzäugige Mutter, mit matten Silberstreifen in den Ohren, hatte ein kleines Kind an der Brust; das hielt plötzlich im eifrigen Saugen inne, seine Händchen fielen herab, die erkaltenden Lippen lösten sich von der Brust, der kleine Kopf sank in den Nacken.
Die Mutter stieß einen wilden, tierischen Laut aus, man stürzte auf sie zu, sie wehrte ab, stopfte ihre Brust, aus der die Milch weiß herabtropfte, in den kleinen, erblassenden Mund. Das kleine Gesichtchen mit den verdrehten Augen erlosch, überzog sich mit gelber Blässe.
Und die Schlange kroch immer weiter, immer weiter im Bogen um die Stadt. Oben auf dem Gebirgspass, dicht unter der Sonne, erschienen jetzt Menschen, Pferde. Sie waren winzig, kaum einen Fingernagel groß. Sie machten sich an etwas zu schaffen, rannten geschäftig um die Pferde und — erstarben plötzlich.
Und gleich darauf krachte es dort oben viermal hintereinander und rollte vieltausendfach durch die Berge. Da begannen hastige, sprühende, kleine Wölkchen in der Luft zu entstehen und zu zerrinnen. Zuerst hoch oben, dann immer tiefer, immer dichter über der Chaussee. Bald hier, bald dort brachen Menschen, Pferde, Kühe schreiend, wimmernd, stöhnend zusammen. Man warf die Menschen, ohne auf ihr Stöhnen zu achten, auf die Wagen, das Vieh und die Pferde zerrte man in den Graben, und die Schlange kroch, ohne auch nur eine Sekunde zu stocken, weiter, Rad an Rad, Achse an
Achse.
Der kaiserliche Kommandant fühlte sich beleidigt. Wohl durfte er Frauen und Kinder erschießen, die Ordnung erforderte dies, aber andere durften das nicht wagen, ohne seine, des Kommandanten, Erlaubnis. Der lange Rüssel des Kreuzers hob sich und spie eine ungeheure feurige Zunge aus. Hoch oben, über der blauen Tiefe, über den Zug und die Berge hinweg, strich etwas sausend, lispelnd durch die Luft und platzte dort, am Gebirgspass, wo die winzigen, fingernagelgroßen Merischlein waren. Das brachte neue Bewegung unter sie. Die vier Geschütze der Batterie widmeten sich jetzt ausschließlich dem Kapitän der »Goeben« und schickten ihre weißen Wölkchen zu dem Kreuzer. Die »Goeben« verstummte ärgerlich. Ungeheure schwarze Rauchschwaden quollen auf einmal aus ihrem Schornstein hervor; finster setzte sie sich in Bewegung, verließ die blaue Bucht, drehte um und...
... eine gewaltige Erschütterung zerriss Meer und Himmel. Das Blau des Wassers wurde trübe. Die Erde erbebte; qualvoll presste etwas die Lungen, das Gehirn; im Städtchen flogen Fenster und Türen auf — alle waren einen Augenblick lang taub.
Ü ber dem Gebirgspass erhob sich, die Sonne verfinsternd, das riesenhafte Ungetüm einer Sprengwolke, trüb grünlich, sich langsam windend. In seinen giftigen Dünsten peitschte das übrig gebliebene Kosakenhäuflein wie rasend die Pferde und verschwand mit dem einzigen übrig gebliebenen Geschütz hinter der Höhe. Und noch immer stand der grünliche Trauerflor des Ungeheuers in der Luft; langsam, kaum merklich; löste er sich auf.
Von der unmenschlichen Erschütterung zerbarst die Erde, es war, als öffneten sich die Gräber, auf allen Straßen zeigten sich Gestalten, die ihnen entstiegen waren. Wächsern, mit schwarz eingefallenen Löchern statt Augen, in zerrissener, stinkender Wäsche schleppten sie sich, krochen, humpelten sie — alle in einer Richtung — der Chaussee zu. Die einen schweigend, in sich gekehrt, die Blicke nicht vom Ziel wendend, andere auf Krücken humpelnd, schlenkernd, ihre Leidensgenossen überholend, wieder andere rannten und stießen unartikulierte, schrille, herzzerreißende Laute aus.
Und eine feine, klingende Stimme, wie die eines angeschossenen Vogels, wimmerte unausgesetzt:
»Trin—ken... trin—ken... trin—ken... « — wie ein verwundeter Vogel über einer nackten, verdorrten Wiese.
Ein ganz junger Bursche in zerrissener Wäsche, durch die der Körper gelb hervorschimmerte, schiebt gleichgültig die erstorbenen Beine vor sich her und wimmert, den fiebernden Blick gerade vor sich hin gerichtet:
»Trin—ken... trin—ken... «
Eine Schwester mit jungenhaft kurzgeschorenem Kopf, mit verblasstem Kreuz auf dem zerrissenen Ärmel, läuft ihm barfuss nach.
»So wart doch, Mitja... Wohin willst du?... Ich gebe dir gleich Wasser zu trinken, Tee... so wart doch... komm zurück! Es sind doch Menschen und keine Tiere...«
»Trin—ken... trin—ken... «
In den Bürgerhäusern werden eiligst Fenster und Türen geschlossen. Aus den Dachfenstern, hinter den Zäunen fallen Schüsse — den Flüchtenden in den Rücken. Aus den Lazaretten, aus Hospitälern, aus Privathäusern kriecht alles heraus, stürzt aus den Fenstern, fällt von den oberen Stockwerken herab und trottet dem abziehenden Tross nach.
Da sind schon die Zementwerke und die Chaussee... Auf der Chaussee aber ziehen hastig Kühe, Pferde, Hunde, Menschen, Fuhren, Karren vorbei — der Schweif der Schlange entfernt sich.
Beinlose, Armlose, mit zertrümmerten, von schmutzigen Lappen zusammengehaltenen Kinnladen, mit Turbanen aus blutigen Binden, mit verbundenen Bäuchen, eilen dahin, ohne die fiebernden Blicke von der Chaussee abzuwenden. Aber die Wagen entfernen sich immer mehr, und die Menschen, die neben ihnen her schreiten, haben verschlossene, finstere Gesichter, sie blicken nur gerade vor sich hin. Und ein klagendes Flehen steht über der Erde.
»Brüder... Brüder... Genossen!«
Heisere, zerrissene Stimmen klingen bald durchdringend hell, bald dumpf von allen Seiten:
»Genossen, ich habe keinen Typhus, glaubt mir's — keinen Typhus! Ich bin nur verwundet, Genossen!«
»Auch ich habe keinen Typhus... Wahrhaftiger Gott...«
»Auch ich nicht...«
»Auch ich...«
»Auch ich...«
Aber die Wagen kriechen weiter.
Ein Verwundeter klammerte sich an einen mit aufgetürmtem Gerümpel und Kindern beladenen Wagen und hüpfte, sich mit beiden Händen festhaltend, auf einem Bein. Der graubärtige Besitzer des Wagens, mit von der Sonne dunkel gegerbtem Gesicht, bückte sich, packte ihn bei seinem einzigen Bein und schob ihn hinauf, auf die Köpfe der verzweifelt aufschreienden Kinder...
»So gib doch acht, du zerquetschst ja die Kinder!« schrie die Bäuerin, der das Tuch vom Kopf gerutscht war.
Der Einbeinige machte das glücklichste Gesicht von der Welt. Aber längs der Chaussee folgten mehr und mehr, humpelnd, fallend, sich wiederaufrichtend oder an der Böschung liegen bleibend.
»Ihr lieben Leut', würden euch ja alle mitnehmen, aber wohin mit euch? Haben so schon unsere eigenen Verwundeten, und zu essen haben wir auch nichts, werdet mit uns doch elendiglich zugrunde gehen, ihr tut uns so leid...« Die Weiber schnäuzen sich und trocknen die immer wieder hervorquellenden Tränen.
Ein Soldat von ungeheurem Wuchs, mit finster zusammengezogenen Brauen und einem Bein, wirft, konzentriert vor sich hinblickend, seine Krücken vor, dann seinen starken Körper nach und misst so, pendelnd, die Chaussee ab:
»Ihr verfluchten Hunde... dass euch...«
Der Zug geht weiter und weiter. Die letzten Räder wirbeln schon weit entfernt den Staub auf, nur schwach dringt das Klappern der eisernen Achsen herüber. Die Stadt, die Bucht entfernen sich immer mehr. Die Chaussee zieht sich öde hin, und langsam bewegen sich wächserne, halbtote Menschen in lang gestreckter Kette, den nicht mehr sichtbaren Wagen folgend. Nach und nach bleiben sie kraftlos stehen, setzen sich nieder, bleiben auf der Böschung liegen. Und aller Augen sind dorthin gerichtet, wo der letzte Wagen verschwand. Still legt sich der von den letzten Sonnenstrahlen gefärbte Staub.
Der große einbeinige Soldat aber wirft noch immer seinen starken Körper, zwischen den Krücken pendelnd, über die menschenleere Chaussee und murmelt:
»Hol euch der Satan... haben unser Blut für euch vergossen... Dass euch...«
Von der anderen Seite rücken die Kosaken in die Stadt ein.
Lang dehnt sich die müde Nacht, und keinen Augenblick unterbricht der schwarze Menschenstrom seinen lärmenden Lauf.
Schon erblassen erschöpft die Sterne. Braune, versengte Berge, Flussbetten und Schluchten treten hervor.
Der Himmel wird hell. Unermesslich dehnt sich das immer wieder seine Farben wechselnde Meer, bald zartviolett oder weißlichgrau, bald von der blauen Tiefe des in seinen Fluten tauchenden Himmels überzogen.
Die Bergkuppen erglühen. Und es erglühen die dunklen, zahllosen schwankenden Bajonette.
Auf felsigen, dicht an die Chaussee vorgeschobenen Abhängen — Weinberge, weiße Landhäuser, leere Villen. Zuweilen sieht man dort Menschen stehen, mit Schaufeln und Hacken, in selbstgeflochtenen Strohhüten. Sie stehen und schauen; an ihnen vorüber schreiten in endlosen Reihen Soldaten mit herabhängenden Armen, und zahllos schwanken die spitzen Bajonette.
Wer sind sie? Woher kommen sie? Wohin gehen sie so unaufhaltsam — mit müde schlenkernden Armen? Mit Gesichtern, die gelb sind wie gegerbtes Leder. Verstaubt, zerfetzt. Schwarze Ringe unter den Augen. Die Wagen knarren, dumpf schlagen müde Hufe auf. Kinderköpfe schauen aus den Fuhren heraus. Die erschöpften Pferde lassen die Köpfe hängen.
Und wieder graben die Spaten das Erdreich um. Was geht's sie an!... Aber wenn sie die müden Rücken wiederaufrichten, da bewegen sich den Windungen des Ufers gehorsam folgend, noch immer zahllose schwankende Bajonette an ihnen vorüber.
Und schon steht die Sonne hoch über den Bergen, schon ist die Erde von glühender Luft überflutet, und das Gefunkel des Meeres schmerzt in den Augen. Stunde um Stunde — sie schreiten und schreiten. Menschen beginnen zu wanken, die Pferde halten an.
»Ist er übergeschnappt, der Koshuch?«
Flüche werden laut.
Man meldete Koshuch, dass die beiden Kolonnen Smolokurows sich mit ihrem Train von seiner Kolonne abgelöst und in einem Dorf ihr Lager aufgeschlagen hätten, und dass zwischen ihnen auf der Chaussee eine Lücke von etwa zehn Kilometern frei geworden sei. Er zog die kleinen Augen noch mehr zusammen, als wollte er ihre spöttischen Funken verbergen, und sagte nichts. Sie zogen weiter und weiter.
»Er hetzt uns zu Tode!« ging es dumpf die Kolonne entlang.
»Und warum jagt er uns: hüben ist das Meer, drüben sind die Berge, wer kann uns was anhaben? So aber gehen wir auch ohne die Kosaken vor lauter Plackerei zugrunde. Fünf Pferde sind schon gefallen... und auch die Menschen legen sich in die Straßengräben.«
»Was kümmert ihr euch um ihn!« schreien die mit Revolvern, Handgranaten und Patronengurten behängten Matrosen, sich unter die Reihen der Soldaten mischend, »seht ihr denn nicht; dass er auf seinem Kopf bestehen will? Ist er nicht auch Offizier gewesen? Werdet schon sehen, er wird euch kaputt hetzen. Wenn ihr noch lange fackelt, wird es zu spät sein.«
Als die Sonne am höchsten stand, machte man eine Viertelstunde halt, tränkte die Pferde, und auch die in Schweiß gebadeten Menschen tranken sich satt, und wieder ging es auf der glühenden Chaussee weiter. Die bleischweren Beine bewegten sich kaum, der glühende Wind versengte die Gesichter. Unerträglich funkelte das Meer. Und weiter ziehen sie. Ein dumpfes Murren wird laut, und die Kolonnen drohen auseinanderzulaufen. Einige Befehlshaber von Kompanien und Bataillonen erklären Koshuch, dass sie ihre Abteilungen absondern und selbständig marschieren werden.
Koshuchs Gesicht verdunkelte sich, aber er antwortete nicht. Die Kolonne zieht weiter und weiter.
Nachts machte man halt. Kilometerweit flammten Lagerfeuer längs der Chaussee auf. Man hackte niedriges, trockenes, knorriges Gestrüpp. In dieser Wüste gibt es keine Wälder: man zerschlug die Zäune der Landhäuser, brach Fensterrahmen aus, schleppte Möbel herbei, verbrannte alles. Feldkessel mit Suppe kochten über den Feuern.
Man sollte wohl meinen, dass alle vor unmenschlicher Müdigkeit sofort zusammenbrechen müssten und wie tot schlafen würden. Aber die von Flammen erhellte Dunkelheit wallte purpurn, war seltsam belebt. Man hörte Gespräche, Gelächter, Harmonikas. Die Soldaten scherzten, stießen einander ins Feuer. Gingen zum Tross, schäkerten mit den Mädchen. In den Kesseln kochte die Grütze. Das Feuer leckte die großen Kessel der Kompanien. Seltener rauchten Feldküchen.
Es war ein ungeheures Lager, gerade so, als hätte man sich hier für lange niedergelassen.
Solange die Nacht der allgemeinen Bewegung folgte, gab es nur eine Bewegung und nur eine Nacht. Als sie aber Halt machten, zerfiel alles, und jedes Teilchen lebte auf seine Weise.
Um ein kleines Feuer mit darüberhängendem Kessel, den man mit einigen anderen Sachen aus dem auf dem Wege verlassenen Wagen gerettet hatte, hockte die zerzauste, im rötlichen Schein des Feuers einer Hexe gleichende Alte, Gorpina. Neben ihr, auf einer auf dem Boden ausgebreiteten Pferdedecke, schlief zugedeckt der Alte. Die Gorpina wiegte murmelnd den Kopf:
»Keine Tasse und kein Löffel... und auch das Fässchen ist dort geblieben; wer mag's wohl kriegen? So schön war es, so fest, aus Ahornholz. Ob wir noch mal so einen Gaul kriegen, wie der Gnjedko war? Wie der lief! Brauchte nicht angetrieben zu werden... Alter, komm, essen!«
Von der Pferdedecke kam es heiser:
»Ich will nicht.«
»Wirst krank, wenn du nicht isst; sollen wir dich dann auf den Händen weitertragen?!«
Der Alte liegt im Dunkel, schweigend, das Gesicht bedeckt, auf der Erde.
Dicht bei einem Wagen, auf der Chaussee, schimmert weiß und schlank eine Mädchengestalt. Eine Stimme spricht singend:
»Mein Herzchen... so gib doch her. Das geht doch nicht...«
Um den Wagen geschart, stehen, kaum sichtbar, Frauen und sprechen gleichzeitig:
»So gib ihn doch her... man muss doch das Engelsseelchen begraben... der Herr wird's zu sich nehmen.«
Schweigend stehen die Bauern daneben.
Und die Weiber:
»Die Brüste sind ja zum Platzen voll...«
Sie strecken die runzligen Hände vor und betasten die straffgespannten Brüste der jungen Mutter. Ihr bloßer Kopf mit den wie bei einer Katze in der Dunkelheit funkelnden Augen neigt sich zu der aus dem zerrissenen Hemd weiß hervorschimmernden Brust, und die geübten Finger stecken die Warze mit zärtlicher Bewegung in den leblosen, offenen, kalten Mund.
»Wie versteinert ist sie...«
»Das Kleine riecht schon, man hält's in der Nähe nicht mehr aus.«
Männerstimmen:
»Da gibt's nicht viel zu schwätzen, man muss es halt nehmen und beerdigen!«
»Ist ja ansteckend... das geht ja nicht. Man muss es beerdigen...«
Und zwei kräftige, starke Bauern ergreifen das Kind, lösen die Mutterarme. Ein durchdringender tierischer Schrei zerreißt die Dunkelheit — man hört ihn an den sich gleich einer Kette an der Chaussee hinziehenden Feuern; er schwingt sich über das dunkle, unsichtbare Meer; in den öden Bergklüften musste man ihn hören, falls sich dort jemand verborgen hielt. Der Wagen schwankt und knarrt im erbitterten Kampf.
»Sie beißt ja...«
»Diese Hexe — alle ihre Zähne hat sie mir in die Hand gegraben... «
Die Männer ziehen sich zurück. Wieder stehen nur die jammernden Weiber da. Aber auch sie gehen weg. Andere kommen, betasten die straffgespannten Brüste.
»Sie wird ja sterben, die Milch ist dick geworden...«
Auf ihrem Wagen aber sitzt noch immer die junge Mutter, sie wendet ihren Kopf fortwährend nach allen Seiten, funkelt lauernd mit dem tierhaften Blick, jede Sekunde zu wilder Verteidigung bereit. Ab und zu drückt sie ihre Brust in den regungslosen, steifen Mund der Kindesleiche.
Flammen zittern, verschwinden in der Ferne.
»Herzchen, so gib es doch her, es ist ja tot. Wir werden es beerdigen, und du weinst dich aus. Warum weinst du denn nicht?!«
Und das Mädchen drückt diesen zerzausten jungen Hexenkopf mit den in der Dunkelheit brennenden Wolfsaugen zärtlich an ihre Brust. Sie behutsam abwehrend, spricht die Mutter mit heiserer Stimme:
»Still, Anka, still... er schläft, weck ihn nicht auf. Er schläft die ganze Nacht, und wenn die Sonne aufgeht, wird er aufwachen und auf Stepan warten. Sobald der Vater da ist, wird er wieder Blasen machen und mit den Füßchen strampeln... Ich. weiß doch... ein so liebes Kind, so verständig und klug...!«
Und leise erklingt das gedämpfte, liebende Lachen der Mutter.
»Pst...«
»Anka!... Anka...!« ertönt vom Feuer eine Stimme, »so komm doch essen... der Alte will nicht, und du kommst auch nicht... Eine rechte Ziege bist du, die Grütze ist ja schon angebrannt.«
Noch immer kommen Weiber, betasten die Brüste, jammern und gehen wieder. Oder sie bleiben stehen, das Kinn auf die Hand gestützt, und schauen schweigsam zu. Die Bauern rauchen ihre Pfeifen, sekundenlang leuchten ihre bärtigen Gesichter rötlich auf.
»Man muss Stepan holen lassen, das Kind wird ja bei ihr auf den Armen verfaulen... Es werden ja Würmer kommen...«
»Wir haben doch schon nach ihm geschickt...«
»Der lahme Mikitka ist nach ihm gelaufen.«
Lagerfeuer, ganz anderer Art. Auch die Gespräche sind anders, und das Lachen und Kreischen der Frauen, das schwere Fluchen und das Aufklingen der Flaschen. Bald klimpern einige Mandolinen, Gitarren und Balalaikas, ein ganzes Orchester erklingt straff, hell — es hat nichts mit der Dunkelheit, nichts mit der Kette der Feuer in der Dunkelheit gemein. Regungslos sind die schwarzen Berge, das unsichtbare Meer schweigt, um die Menschen mit seiner Größe nicht zu bedrücken.
Auch die Menschen sind anders, groß, breitschultrig, mit sicheren Bewegungen. Wenn die starken, bronzenen Gestalten in breiten Hosen und weißen Matrosenjacken mit offenem, bronzefarbigem Hals in den rotschwankenden Kreis der Flammen treten, werfen sie mächtige Schatten, und von den runden Mützen flattern die Bänder über ihren Nacken. Kein Wort, keine Bewegung ohne lange, schwere Flüche.
Die Weiber, vom flimmernden Schein des Feuers aus der Dunkelheit herausgerissen, leuchten wie bunte, schreiende Flecken. Lachen, Kreischen — verliebtes Spiel. Die bunten Röcke aufgerafft, hocken sie vor den Feuern, singen mit verdächtig heiseren Stimmen, und auf den viereckigen auf der Erde ausgebreiteten, hell schimmernden Tischtüchern — Blechdosen mit Kaviar, Sardinen, geräucherten Heringen, Weinflaschen, Kuchen, Konfekt, Honig... Dieses Lager dehnt sich weit in die Dunkelheit — Lärmen, Klingen, grölendes Lachen, Fluchen, Rufen, dazwischen ab und zu überraschend geordnete, hell aufklingende Saitenklänge der Mandolinen und Balalaikas. Oder ein trunkener, aber wohlgestimmter Männerchor dröhnt plötzlich gewaltig auf, um sofort wieder abzubrechen, als wenn man damit sagen wollte: Habt ihr's gehört? Wir können alles! Und dann wieder das gleiche — Kreischen, Lärmen, scherzhaftes Fluchen.
»Genossen!«
»Hier...«
»Das Tauende her!«
»Spiel doch...«
»Oh! Kombüse!... Du hast mir ja das Armband abgerissen... So lass mich doch! Das Arm...«
Die Stimme brach erstickt ab.
»Genossen, warum sind wir eigentlich hier?! Oder sind etwa die Offizierszeiten wiedergekommen? Was hat Koshuch zu befehlen... Wer hat ihn eigentlich zum General eingesetzt? Genossen, das ist eine Ausbeutung des arbeitenden Volkes. Feinde und Ausbeuter...«
»Haut sie nieder, wenn es so steht...«
Und geschlossen und prachtvoll klingt es:
»Brüder, ergreift die Gewehre, Auf zur entscheidenden Schlacht...«
Im Lichtschein des Feuers sitzt ein Mann, seine Knie umfassend, regungslos da. Hinter seinem Rücken ragt rot beschienen ein Pferdekopf vor. Die weichen Lippen des Tieres lesen hastig das auf der Erde verstreute Heu auf. Hörbar mahlen seine Zähne. Das große, schwarze Pferdeauge glänzt klug und aufmerksam mit seinen violetten Lichtern.
»Ja, so war es«, sagt er, immer noch nachdenklich seine Knie umfassend und mit starrem Blick in das aufflackernde Feuer blickend. Und er erzählt: »Anderthalbtausend Matrosen haben sie zusammengetrieben, alle, die sie gekriegt haben... Was waren das für Narren: Wir sind auf dem Wasser — uns rührt keiner an. Aber man hat sie zusammengetrieben, aufgestellt und ihnen befohlen: Grabt! — Und ringsherum Maschinengewehre, zwei Geschütze, Kosaken mit Gewehren.
Da graben sie nun — jung sind sie alle, kräftig. Ringsherum — viel Volk, Weiber weinen. Die Offiziere gehen umher, mit Revolvern in der Hand. Wer zu langsam gräbt, kriegt eine Kugel in den Bauch, damit er sich länger quält. Die einen graben, und die anderen, die eine Kugel abgekriegt haben, rutschen in ihrem Blut herum, stöhnen. Das Volk seufzt, die Offiziere brüllen: ,Ruhig, ihr Hundesöhne!'«
Während er erzählt, lauschen die anderen auf das, was er nicht erzählt, was sie aber alle von irgendwoher kennen.
Da stehen sie ringsherum, rot beschienen, ohne Mützen, auf die Bajonette gestützt, andere liegen auf dem Bauch, und hören zu; aus der Dunkelheit treten die zerzausten, aufmerksamen, auf Fäuste gestützten Köpfe rötlich hervor. Die Alten hören mit gesenkten Köpfen zu. Weiß schimmern die Weiber, zusammengekauert, voller Gram. Und wenn das Feuer erstirbt — versinkt alles ringsum, sitzt nur der eine da, der seine Knie umfasst hält. Der Pferdekopf hinter seinem Rücken senkt sich auf einen Augenblick, hebt sich wieder und kaut geräuschvoll; schwarz glänzt das kluge, aufmerksame Auge. Und es ist wirklich, als wenn außer diesem einen Mann niemand mehr da wäre, nur die dunkle, unendliche Nacht. Und vor seinen Augen — Steppe, Windmühlen, ein schwarzer Hengst jagt darüber hin, sprengt herbei, und der blutig zerhackte Körper plumpst wie ein Sack über den Hals; und hinter ihm drein der andere — springt von seinem Pferd, hält sein Ohr an die blutige Brust des Liegenden: »Mein Sohn... mein Junge...«
Irgend jemand wirft knorrige, trockene Äste des Christdorns in die glimmenden Kohlen. Sie flammen auf, die Dunkelheit weicht — und wieder sieht man Menschen auf Bajonette gestützt, schweigsame Greise, Weiber, aufmerksame, auf Fäuste gestützte Köpfe.
»Ein Mädchen haben sie gequält — es ist nicht zu beschreiben. Kosaken, eine ganze Hundertschaft... einer nach dem anderen über sie her — so starb sie denn auch — unter ihnen. In unserem Hospital war die Schwester, Fabrikarbeiterin, den Kopf kurzgeschoren, wie ein Bub sah sie aus, rannte immer barfuss umher, pockennarbig und flink war sie; sie wollte die Verwundeten nicht verlassen: es gab niemand, der sie pflegte, der ihnen Wasser reichen konnte. Eine Menge Typhuskranker. Alle sind sie niedergeschlagen worden, an die zwanzigtausend. Aus dem zweiten Stock hat man sie aufs Pflaster geworfen... Offiziere, Kosaken rannten mit gezogenen Säbeln durch die ganze Stadt, schlugen alle nieder, bis auf den letzten. Die ganze Stadt ist voller Blut.«
Und man sieht schon nicht mehr die sternenklare Nacht, nicht mehr die dunkle Masse der Berge — es hallt nur: »Genossen!... Brüder... Ich habe keinen Typhus, ich bin nur verwundet...« Unauslöschlich stehen die bettelnden Gestalten der Krüppel vor den Augen.
Wieder ist es dunkel, und über dem Dunkel die Sterne, wieder erzählt er mit ruhiger Stimme, und wieder fühlen alle, was er nicht ausspricht: einem zwölfjährigen Jungen hat man mit einem Gewehrkolben den Kopf zerschmettert; die alte Mutter zu Tode gepeitscht; die Frau vergewaltigt, endlose Male, und dann am Brunnenbalken aufgehängt; zwei Kinder sind verschwunden — er schweigt, aber alle wissen das alles schon.
Das große Schweigen in dem geheimnisvollen Dunkel der Berge, in der verborgenen Weite des Meeres steht mit alledem in irgendeinem seltsamen Zusammenhang — kein Geräusch ist hörbar, kein Feuer blinkt.
Der rote Schein flackert durch den dichten Kreis des Dunkels umher. Seine Knie umfassend, sitzt der Mann im Schein des Feuers. Geräuschvoll kaut das Pferd.
Auf einmal lachte ein Junger, der sich auf sein Bajonett stützte — die weißen Zähne blinken im bartlosen Gesicht:
»In unserer Siedlung, als die Kosaken von der Front kamen, packten sie alle Offiziere, die ihnen unter die Hand kamen, und schleppten sie in die Stadt zum Meer und dort an den Hafen. Sie banden ihnen Steine an den Hals und stießen einen nach dem anderen vom Ufer ins Meer. Die plumpsen ins Wasser und sinken immer tiefer und tiefer — man sieht alles. Das Wasser dort ist gla—asklar wie eine Träne — bei Gott! Ich war selbst dabei... Es hat lange gedauert, bis sie auf den Grund kamen, mit Armen und Beinen haben sie gestrampelt, ach, wie gestrampelt — wie Krebse mit dem Schwanz.«
Und wieder lachte er, zeigte seine weißen, rosa überzogenen Zähne. Vor dem Feuer saß der Mann, umklammerte seine Knie. Es war eine rotflimmernde Dunkelheit ringsumher, und die horchende Menge nahm immer mehr zu.
»Und als sie endlich unten ankamen, krampften sie sich ineinander, dass es aussah wie ein Knäuel. Alles konnte man sehen — wunderbar!«
Man horchte auf: fern und weich, zum Herzen sprechend, klangen harmonisch die Saitenklänge wieder.
»Die Matrosen!« sagte jemand.
»Und bei uns haben die Kosaken die Offiziere in Säcke gesteckt. In Säcke gesteckt, zugebunden und heida ins Meer.«
»Wie kann man bloß Menschen in Säcken ersäufen«, sagte traurig eine verwitterte Steppenstimme, schwieg eine Weile und fügte dann, niemand sah, wer es war, bekümmert hinzu: . »Wo kriegt man denn jetzt Säcke her, es gibt ja keine, es ist ein Kreuzelend, wenn man in der Wirtschaft keine Säcke hat, aus Russland schickt man keine mehr.«
Wieder Schweigen. Vielleicht deshalb, weil ein Mann vor dem Feuer sitzt, regungslos, seine Knie umklammernd.
»In Russland ist die Sowjetmacht.«
»In Moskau!«
»Nun ja, wo der Bauer ist, da ist auch die Macht.«
»Und zu uns kamen Arbeiter, brachten die Freiheit mit, richteten in den Siedlungen Sowjets ein, sagten, dass man den Reichen das Land nehmen muss.«
»Sie brachten die Gerechtigkeit mit, den Reichen aber — Tod...«
»Ist denn nicht aus dem Bauer der Arbeiter geworden? Bruderherz, wie viele von den Unsrigen arbeiten in dem Zementwerk und in der Maschinenfabrik, und überall in den Städten...«
Von irgendwoher drang es schwach herüber:
»Mu—utter... «, dann brach ein Kind in Schluchzen aus. Eine Weiberstimme beruhigte es. Das war wahrscheinlich drüben auf der Chaussee, bei den dunklen Wagenreihen.
Der Mann am Feuer löste die Hände von seinen Knien, erhob sich, noch immer vom roten Schein erhellt, zäumte das Pferd auf, das seinen Kopf gerade gesenkt hatte, steckte den Rest des Heus in den Sack, warf das Gewehr über die Schulter, sprang in den Sattel und verschwand sofort in der Dunkelheit. Lange noch klangen die sich entfernenden Hufschläge und verhallten dann völlig.
Und wieder schien es: als sei die Dunkelheit geschwunden, nur die endlose Steppe war da und die Windmühlen, und von diesen Windmühlen kam ein Getrappel, schräge Schatten jagten vorbei. Ein Ruf: »Wohin?... Bist wohl nicht bei Sinnen?!... Zurück!« »... Er hat ja eine Familie zu Hause, und hier liegt sein Sohn im Blut...«
»He, zweite Kompanie!« rief jemand.
Und wieder war alles dunkel — nur die lange Feuerkette leuchtete.
»Er ist zu Koshuch geritten, er weiß alles, wie es bei den Kosaken steht.«
»Sieht ja selber wie ein Kosak aus — der Kittel, die Gasyrs (Anm.: Lederzeug mit aufgenähten Patronentaschen, wie es die Kosaken tragen) und die Fellmütze. Die Kosaken halten ihn für einen der Ihren. Von welchem Regiment? Er nennt ihnen ein Regiment — er kennt sie ja alle — und reitet weiter. Und wenn der Ort günstig ist, knallt er aus einem Hinterhalt auch einen Kosaken nieder. Überall kennt er sich aus, weiß genau, welche Truppenteile sie haben und wo sie stehen... Alles meldet er dem Koshuch.«
»He, zweite Kompanie! Seid ihr taub geworden?!« Langsam erhob man sich, reckte sich, gähnte. Hinter dem Berg kamen neue Sterne hervor. Man hockte um die Kessel nieder und begann die Suppe zu essen.
Hastig langt man mit dem Löffel in den gemeinsamen Kessel, verbrennt sich, aber jeder hat's eilig, um nicht hinter dem anderen zurückzubleiben. Sie verbrannten sich dabei den Mund und die Kehle, Gaumen und Zunge wurden taub wie ein Lappen, das Schlucken war schmerzhaft, aber sie hatten's eilig, hastig langten sie zu. Plötzlich erwischt einer etwas! Er hat ein Stück Fleisch aufgegabelt. Einstweilen in die Tasche damit, er wird's später essen, und wieder langt er unter den neidischen Seitenblicken der mit den Löffeln im Kessel herumfischenden Soldaten zu.
Sogar in der Dunkelheit fühlte man es — ein großer, ungestümer Haufen rückte gräuschimmernd heran, und mit ihm ein Gemurmel erregter trunkener Stimmen, untermischt mit unglaublichen Flüchen. Jene, die um die Suppe herumsaßen und löffelten, wandten ihre Köpfe für einen Augenblick:
»Matrosenpack.«
»Unruhiges Volk...«
Sie kamen heran und begannen sofort gehörig über die Dasitzenden herzufallen.
»... Da sitzt ihr und fresst euren Brei, und dass die Revolution kaputt geht — das ist euch schnuppe... Schufte! Bourgeois!«
»Was kläfft ihr denn da? Schreihälse!«
Man sieht die Matrosen scheel an, aber sie sind bis an die Zähm mit Revolvern, Patronengurten und Handgranaten behängt.
»Wohin führt euch Koshuch?!... Habt's euch überlegt? Wir haben die Revolution gemacht... Die ganze Flotte versenkt, haben uns um Moskau nicht gekümmert! Die Bolschewiki kuhhandeln dort mit Wilhelm, aber wir werden nicht dulden, dass die Volksinteressen verraten werden. Wer das Volk verrät, wird auf der Stelle kaltgemacht! Wer ist! Koshuch? — ein Offizier. Und ihr, wie eine Hammelherde lauft ihr ihm nach!«
Hinter dem Feuer, über dem der schwarze Kompaniekessel hängt, ruft eine Stimme:
»Habt euch mitsamt euren Dirnen uns aufgebunden?... Ein ganzes Bordell schleppt ihr mit!«
»Und was kümmert's euch?!... Seid wohl neidisch... Steckt eure Nasen nicht in fremde Töpfe. Wir haben unser Leben verdient. Wer hat die Revolution gemacht? Die Matrosen. Wen ließ der Zar erschießen, ertränken, an die Taue binden? Matrosen. Wer hat aus dem Auslande revolutionäre Literatur eingeschmuggelt? Matrosen. Wer hat die Bourgeoisie und die Pfaffen niedergemacht? Matrosen. Ihr fangt erst an, eure Augen aufzusperren, und wir Matrosen haben schon lange unser Blut hergeben müssen. Und als wir unser revolutionäres Blut vergossen haben — habt ihr Henkersknechte uns mit den Zarenbajonetten gespießt. Verfluchtes Gesindel!... Wozu taugt ihr denn, Dreckfinke?!«
Einige Soldaten legten ihre Holzlöffel beiseite, griffen nach den Gewehren, erhoben sich, und die Dunkelheit war plötzlich voll Spannung. Die Feuer schienen auf einmal verschwunden.
»Jungens, nehmt sie aufs Korn!«
Die Gewehrkolben saßen schon an der Wange.
Die Matrosen griffen nach ihren Revolvern, mit der anderen lösten sie hastig die Handgranaten.
Ein grauhaariger Ukrainer, der den ganzen imperialistischen Krieg an der Westfront mitgemacht und sich mit seiner Kaltblütigkeit und Unerschrockenheit den Unteroffizier verdient, hatte bei Beginn der Revolution die Offiziere in seiner Kompanie niedergeschlagen, stopfte sich jetzt die heiße Grütze in den Mund, klopfte mit dem Löffel auf den Rand des Kessels, wischte sich den Schnurrbart und sagte:
»Rein wie die Hähne: ko-ko-ko-ko! Warum kräht ihr denn nicht?«
Ringsherum lachte man.
»Wieso machen sich die Kerle über uns lustig?« wandten sich die Soldaten ärgerlich nach dem Grauhaarigen um.
Jetzt wurde die lange Reihe der Lagerfeuer wieder sichtbar.
Die Matrosen steckten ihre Revolver ein und machten die Handgranaten wieder fest.
»Hol euch der Teufel, macht, was ihr wollt...«
Und sie zogen weiter — eine lärmende, aufgeregte Bande; ihre weißen Jacken schimmerten in der Dunkelheit, dann verschwanden sie aus dem Schein der Feuer.
Sie waren fort, aber es blieb etwas zurück.
»Schnaps haben sie, ganze Fässer voll.«
»Sie haben's den Kosaken gestohlen.«
»Ach was, gestohlen! — sie zahlen alles in bar.«
»Geld haben sie wie Heu!«
»Sie haben ja alle ihre Schiffe ausgeraubt.«
»Was soll denn das Geld in den versenkten Schiffen? Das nutzt ja doch keinem.«
»Als die zu uns ins Dorf kamen, da nahmen sie den Reichen sofort alles und teilten es unter die Armen aus, und die Reichen verjagten sie, einige von ihnen schossen sie nieder oder hängten sie auf.«
»Schau, Bruder, ein Stern ist ins Meer gefallen...«
Alle horchten: von dort, wo es keinen Menschen gab, wo die unermessliche nächtliche Wasserwüste lag, kam ein Ton ein Aufplätschern oder eine ferne, unbekannte Stimme, eine Stimme vom unsichtbaren Meer.
Schweigen stand in der Nacht.
»Alles was recht ist, die Matrosen sagen die Wahrheit, Was treiben wir uns hier herum? Wären wir doch geblieben, wo wir waren — unser Brot hatten wir, unser Vieh, und jetzt... «
»Es ist schon richtig: wir laufen einem Offizier nach und wissen nicht warum.«
»Was ist denn der für ein Offizier? Er ist genau so einer wie du und ich.«
»Und warum hilft uns die Sowjetmacht nicht? Sie sitzen in Moskau und haben's gut, und wir müssen löffeln, was sie eingebrockt haben.«
Aus der Ferne, irgendwo bei den erlöschenden Lagerfeuern, ertönten durch die Entfernung geschwächte Stimmen; Lärm — die Matrosen tobten, sie schritten von Feuer zu Feuer; von einem Truppenteil zum nächsten.
Die Nacht gewann die Oberhand. Die Feuer begannen zu erlöschen, bald hier, bald dort, bis endlich die goldene Kette ganz verschwand — überall lag das Dunkel wie ruhiger
schwarzer Samt über der Stille. Keine Stimmen, nur eins füllte die Dunkelheit — geräuschvoll kauten Pferde.
Eine dunkle Gestalt sucht sich hastig zwischen schwarzen, regungslosen Wagen ihren Weg oder läuft, wenn möglich,
seitwärts, längs der Chaussee und überspringt die schlafenden Gestalten. Ihr folgt eine andere, eine ebenso unkenntlich schwarze Gestalt, die den einen Fuß nach sich zieht. An den Wagen wacht dieser oder jener auf, hebt den Kopf, blickt den sich schnell entfernenden Gestalten nach.
»Was haben sie hier zu schaffen? Was sind das für Leute? Womöglich Spione...«
Man müsste eigentlich aufstehen, sie festnehmen, aber der Schlaf überwältigt einen, und der Kopf sinkt zurück.
Immer noch die schwarze Nacht, Stille, und jene zwei laufen, springen, drängen sich hindurch, wenn es eng ist; die Pferde heben die Köpfe, hören auf zu kauen, spitzen die Ohren, horchen in die Dunkelheit hinein.
Weit vorne und rechts, wahrscheinlich neben den dunklen Bergen, ertönt ein Schuss. Einsam und überflüssig klingt er in dieser Ruhe, in das friedliche Kauen der Pferde. Und wieder ist es still, aber die Spur dieses Schusses ist noch fühlbar, ist noch nicht verschwunden. Die zwei laufen noch schneller.
Tak, tak, tak.'... fallen Schüsse — immer an derselben Stelle rechts unter den Bergen. Sogar in dieser Dunkelheit kann man die dichte Schwärze des aufgesperrten Gebirgsrachens unterscheiden. Jetzt — ein Maschinengewehr, sich übersprudelnd: Ta-ta-ta-ta!... und nach einer Weile, wie um das nicht zu Ende Gesagte zu vervollständigen: Ta-ta...Ta!
Dunkel erhebt sich ein Kopf, noch einer. Jemand setzt sich
aufrecht Einer springt hastig auf und beginnt, nach seinem Gewehr, das in der Pyramide steht, zu tasten... kann es
nicht finden.
»He, Grizko, hörst du!... So hör doch!«
»Lass mich in Ruh'!«
»So hör doch — Kosaken!...«
»Lass mich... sonst... du kriegst eine in die Zähne, bei Gott, kriegst eine.«
Jener schüttelte den Kopf, rieb sich das Kreuz, trat dann zu dem auf der Erde ausgebreiteten Mantel, legte sich nieder, bewegte die Schultern, um sich besser zurechtzulegen
... Ta-ta-ta...
... Tak! Tak! Tak!
Fein wie Stecknadeln zucken Flämmchen aus dem aufgesperrten Rachen des Gebirges.
»Die verfluchten Hunde! Keinen Augenblick hat man Ruhe... Kaum sind wir hergekommen, müde, da bellen sie schon wie die Hunde; Krämpfe sollen sie kriegen, die Verfluchten! Gut, schlag dich, wie du magst — hau zu, beiß mit den Zähnen, aber wenn die Leute schlafen, rühr sie nicht an — alles egal, es hat ja doch keinen Zweck. Verschießen bloß die Patronen und nehmen den Menschen die Ruhe...«
Eine Sekunde später mischt sich in das gleichmäßige Kauen der Pferde noch das Atmen eines müden Menschen.
Jener, der voranlief, sagte atemlos:
»Wo ist es denn?«
Der andere antwortet:
»Hier, wo der Baum steht«, und er rief:
»Großmutter Gorpina!«
Aus der Dunkelheit antwortete es:
»Was denn?«
»Seid ihr hier?«
»Ja, ja, hier...«
»Wo ist denn der Wagen?«
»Da steht er ja, dort rechts am Graben.«
Und nach einer Weile drang aus der Dunkelheit die gurrende, in Tränen aufklingende Stimme:
»Stepan!... Stepan!... Er lebt ja nicht mehr...«
Und sie reichte ihm demütig das Bündel hin. Er nahm das seltsam kalte, regungslose Körperchen, von dem ein schwerer Geruch ausging. Sie drückte ihren Kopf an seine Brust, und die Dunkelheit leuchtete plötzlich von perlenden, herzbrechenden Tränen.
»Er lebt ja nicht mehr, Stepan...«
Und schon sind die Weiber da; keine Müdigkeit, kein Schlaf können sie hindern, mit dabei zu sein. Ihre trüben Gestalten drängen sich um den Wagen, sie bekreuzigen sich, seufzen, geben gute Ratschläge.
»Jetzt weint sie endlich...«
»Jetzt wird's ihr besser werden.«
»Man muss ihr die Milch aussaugen, sonst steigt sie ihr zu Kopf.«
Die Weiber betasteten eines nach dem andern die straffgespannten Brüste.
»Wie Stein.«
Und sich bekreuzigend, Gebete flüsternd, drücken sie ihre Lippen an die Brüste des jungen Weibes und saugen, spucken andächtig nach drei Seiten aus und bekreuzigen das Ausgespuckte.
Zwischen niedrigen, stacheligen Sträuchern des Christdorns grub man ein kleines Grab. Dann legte man etwas in Lappen Gehülltes hinein und schüttete die Erde wieder zu.
»Stepan... Stepan... er lebt ja nicht mehr.«
Man sah undeutlich, wie die im Dunkel schwarz aufragende Mannergestalt mit beiden Armen den Kreuzdornstamm umschlang, und man hörte ihn schnaufen. Sie umfing seinen Hals:
»Stepan!... Stepan!... Stepan!...«
Und wieder glitzerten in der Dunkelheit perlende Tränen.
»Er lebt nicht mehr... Stepan... Er ist fort...«
Die Nacht überwältigt doch alle. Kein Feuer, kein Gespräch. Nur das Geräusch der kauenden Pferde. Aber auch sie verstummen nach und nach. Einige legen sich nieder. Der Morgen ist nahe.
An den regungslosen schwarzen Bergen zieht sich stumm das schwarze Band des Lagers hin.
Nur an einer Stelle vermochte das alles einschläfernde nächtliche Dunkel den Menschen nicht zu überwältigen. Durch die Bäume eines schlafenden Gartens blinkt ein Flämmchen— es ist einer da, der für alle anderen wacht.
In dem ungeheuren eichengetäfelten Esszimmer, mit zerstochenen, zerrissenen kostbaren Gemälden an den Wänden, erkennt man im schwachen Schimmer einer feinen Wachskerze die in den Ecken aufgehäuften Sättel und die zusammengestellten Gewehre, die am Boden auf den schweren, teuren, von den Fenstern abgerissenen Portieren und Vorhängen in toten, seltsamen Stellungen liegenden Soldaten. Ein schwerer Dunst von Menschen- und Pferdeschweiß hängt im Raum.
Schwarz und schmal blickt ein Maschinengewehr aus der Tür hinaus.
Ü ber den prächtigen, geschnitzten Eichentisch gebeugt, der sich massig durch die Mitte des Raumes hinzieht, verfolgt Koshuch mit scharfen, stechenden Augen, vor denen es kein Entrinnen gibt, die Linien der auf den Tisch ausgebreiteten Karte. Der Stummel des Kirchenlichts flimmert, das erkaltende Wachs tropft herab, und flüchtige Schatten bewegen sich über Tisch, Wände und Gesichter.
Ü ber dem blauen Meer der Karte, über den Bergzügen, die wie zottige Tausendfüßler aussehen, neigt sich aufmerksam der Adjutant.
Die Ordonnanz, das Gewehr umgehängt und die Patronentasche umgeschnallt, steht wartend daneben, und die zauberhaft huschenden Schatten erwecken den Eindruck, es rege sich alles an ihm.
Der Lichtstummel erstirbt eine Sekunde lang, dann wird alles regungslos.
»Hier!« stupst der Adjutant mit dem Finger auf einen Tausendfüßler, »von dieser Schlucht aus können sie uns noch angreifen.«
»Hierher können sie nicht durch — der Berggrat ist hoch und unpassierbar, sie können uns von jener Seite nicht erreichen.«
Ein heißer Wachstropfen fiel auf die Hand des Adjutanten.
»Wenn wir nur diese Biegung erreichen, dann kriegen sie uns nicht mehr. Wir müssen vorwärts, was das Zeug hält.«
»Nichts zu fressen gibt es da.«
»Gleichviel: bleiben wir hier, fliegt uns auch kein Brot ins Maul. Vorwärts, das ist die Rettung. Ist nach den Kommandeuren geschickt?«
»Sie werden gleich da sein«, antwortete die Ordonnanz, über deren Gesicht und Hals schnell dämmernde Schatten huschten.
Nur in den riesigen Fenstern dunkelte unbewegt die schwarze Nacht.
Ta-ta-ta-ta... hallt es irgendwo in den Felsen, und wieder füllt sich die Nacht mit unheilvoller Spannung.
Schwere Schritte auf der Treppe, dann auf der Veranda, durch das Speisezimmer; es ist, als trügen sie diese unheilvolle Spannung oder eine Nachricht darüber herein. Sogar die flimmernde Kerzenflamme reichte aus, um die Müdigkeit, die eingefallenen Gesichter der verstaubten Kommandeure erkennen zu lassen.
»Nun, was gibt's?« fragte Koshuch.
»Verjagt.«
In dem ungeheuren, kaum erleuchteten Esszimmer herrschte
trübe Unklarheit.
»Die haben nichts zum Angreifen«, sagte einer mit heiserer Stimme, »sie hatten keine Geschütze, bloß ein Maschinengewehr auf einem Maultier.«
Koshuchs Gesicht wurde steinern, der gerade Strich der Augenbrauen senkte sich; alle begriffen — nicht um den Angriff der Kosaken ging es.
Sie drängten sich um den Tisch, der eine rauchte, der andere kaute an einer Brotkruste, ein dritter blickte stumpf und erschöpft auf die Karte, die im trüben Schimmer auf dem Tisch ausgebreitet lag.
Koshuch brummte durch die Zähne:
»Ihr führt die Befehle nicht durch.«
Da gerieten auf einmal die müden Gesichter und staubigen Hälse in Bewegung; der Raum füllte sich mit scharfen, ans Befehlen im Freien gewohnte Stimmen:
»Die Soldaten sind abgehetzt.«
»Meine Leute sind nicht mehr hochzukriegen.«
»Meine Kompanie hat nicht einmal Feuer angemacht — sie fielen wie tot nieder, als wir hier ankamen.«
»Mit solchen Gewaltmärschen kann man eine ganze Armee kaputt machen.«
»Zum Kotzen ist es.«
Koshuchs Gesicht war regungslos. Die kleinen Augen unter der vorgeschobenen Stirn blickten nicht auf, sondern warteten, horchten. In den riesigen, geöffneten Fenstern lag regungslose Schwärze und hinter ihr — die Nacht, voller Müdigkeit, voll unruhiger Spannung. Von der Schlucht her waren keine Schüsse mehr zu hören. Man spürte, dass die Finsternis dort noch dicht war.
»Ich, meinesteils, bin jedenfalls nicht gesonnen, das Leben meiner Leute zu riskieren!« brüllte ein Oberst, als kommandiere er, »ich habe die moralische Verantwortung für Leben, Gesundheit und Schicksal der mir anvertrauten Menschen übernommen.«
»Ganz richtig«, sagte ein Brigadekommandeur, der sich mit seiner Gestalt, seiner Sicherheit und seiner fühlbaren Gewohnheit, Befehle zu erteilen, von den anderen unterschied.
Er war in der alten Armee Offizier gewesen, und er fühlte, dass jetzt endlich der Augenblick gekommen sei, seine ganze Kraft zum Ausdruck zu bringen, alle seine Fähigkeit zu zeigen, die man in der zaristischen Armee nicht zur Geltung kommen ließ.
»... ganz richtig. Überdies ist überhaupt kein Feldzugsplan ausgearbeitet. Die Verteilung der einzelnen Truppenteile muss eine ganz andere sein — die Kosaken können uns jeden Augenblick den Weg abschneiden.«
»Wenn ich an deren Stelle wäre«, rief hitzig der schlanke Kommandeur einer kubanischen Hundertschaft, in enggegürtetem Tscherkessenkittel, mit einem silbernen Dolch schräg an der Hüfte und die Pelzmütze keck auf ein Ohr gerückt, »wenn ich an deren Stelle wäre — würde ich von der Schlucht aus einen Überfall machen — und — im Handumdrehen... "in wäre das Geschütz.«
»Und dann — wir haben keine Befehle, keine Dispositionen; sind wir denn eine Horde oder eine Bande?«
Koshuch sagte langsam:
»Bin ich der Kommandierende, oder seid ihr es?«
Und seine Worte drückten dem ungeheuren Zimmer einen unsichtbaren Stempel auf. Die kleinen, stechenden Augen Koshuchs warteten auf etwas, nur eine Antwort erwarteten sie nicht.
Und wieder rührten sich die Schatten, die Gesichter und ihren Ausdruck verändernd.
Und wieder füllten übertriebene Laute, verwitterte Stimmen den Raum.
»Auch auf uns Kommandeuren liegt die Verantwortung, und keine geringere...«
»Sogar zur Zarenzeit hat man sich in schwierigen Augenblicken mit den Offizieren beraten— und jetzt ist doch Revolution!«
Und hinter den Worten stand unausgesprochen: ,Du einfältiger, untersetzter, ungeschlachter Mann von der Ackerscholle, du bist unfähig, die ganze Schwierigkeit der Lage zu erfassen. Du hast den Offiziersrang an der Front erhalten. Aber an der Front hat man aus Mangel an echten Offizieren sogar Trottel zu Offizieren gemacht. Die Massen haben dich zum Befehlshaber ernannt, aber die Massen sind ja blind... '
So sprachen die Augen, der Gesichtsausdruck, die ganze Gestalt der ehemaligen Armeeoffiziere. Und die Kommandeure, die ehemals Böttcher, Tischler, Klempner und Friseure gewesen waren, dachten:
,Du bist ebenso einer wie wir, nicht um ein Haar besser! Warum stehst du an der Spitze und nicht wir? Wir würden viel besser als du mit der Sache fertig werden.' Und Koshuch hörte das eine wie das andere, die Worte selbst und das, was hinter den Worten war. Noch immer horchte er mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit hinter den Fenstern hinaus und wartete.
Und dann kam es.
Irgendwo weit in der Nacht erwachte ein schwacher dumpfer
Ton. Immer größer und stärker, immer klarer und klarer
wurde er; langsam anschwellend, dumpf, schwer und ungeschlacht füllte sich die Nacht mit schweren, aus der Finsternis
kommenden Schritten. Da erreichten sie die Stufen,
verloren ihren Rhythmus, zersplitterten sich und begannen über die Veranda zu stampfen, durch die offen stehenden, schwarzblickenden Türen strömten, einem Strome gleich, Soldaten in den trübe beleuchteten Raum. Es kamen immer mehr und mehr, bis sie endlich den ganzen Raum ausfüllten. Es war schwer, den einzelnen zu erkennen, man fühlte nur, dass es ihrer viele und dass sie alle gleich waren.
Die Kommandeure drängten sich an jenes Tischende, wo die Karte ausgebreitet lag. Mühsam flackerte der Lichtstummel.
Die Soldaten hüsteln im Halbdunkel, schnäuzen sich, spucken aus, reiben mit den Sohlen auf dem Parkett, drehen sich Zigaretten, ein stinkender Rauch breitet sich unsichtbar über der verschwommenen Menge aus.
»Genossen!«
Der ungeheure Raum, voller Halbdunkel und Menschen, füllte sich mit Stille.
»Genossen!«
Koshuch brachte mühsam die Worte durch die Zähne.
»Ihr, Genossen, Vertreter der Kompanien, und ihr, Genossen Kommandeure, sollt es wissen, in welcher Lage wir sind. Stadt und Hafen hinter uns sind von den Kosaken besetzt. Zwanzigtausend kranke und verwundete rote Soldaten sind dort zurückgeblieben, und diese ganzen zwanzigtausend sind von den Kosaken auf Befehl der Offiziere niedergemacht worden. Das gleiche erwartet auch uns. Die Kosaken sitzen der Nachhut von der dritten Kolonne im Nacken. Rechts ist das Meer, links die Berge. Zwischen ihnen — ein Loch, und in diesem Loch sind wir. Die Kosaken hinter den Bergen setzen uns schnell nach, überfallen uns aus den Schluchten, wir müssen sie also jeden Augenblick abwehren. Das wird auch fortdauern, bis wir jene Stelle erreichen, wo die Bergkette sich vom Meer abwendet — dort ist sie hoch und breit, und die Kosaken können uns nichts mehr anhaben. So können wir am Ufer entlang Tuapse erreichen, von hier sind's dreihundert Kilometer. Dort führt eine Chaussee über die Berge, und von dort können wir wieder nach dem Kuban gelangen, und dort stehen unsere Hauptkräfte, dort ist unsere Rettung. Wir müssen mit ganzer Kraft weitermarschieren. Proviant haben wir nur noch für fünf Tage — wenn wir warten, werden wir alle vor Hunger krepieren. Vorwärts, immer vorwärts — wir müssen laufen, weder schlafen, noch trinken, noch essen; nur wenn wir marschieren, was das Zeug hält, sind wir gerettet. Und verlegt uns jemand den Weg, dann müssen wir uns durchschlagen.«
Er schwieg, ohne jemanden zu beachten.
Es war eine Stille im Zimmer, das von Menschen und den letzten Schatten des niedergebrannten Lichtstummels erfüllt war. Auch in dem gewaltigen Dunkel der Nacht hinter den schwarzen Fenstern und über dem gewaltigen, unendlichen Meere lagerte dieselbe Stille.
Hunderte erregter Augen richteten ihre brennenden Blicke auf Koshuch. Und wieder presste er mühsam durch die Zähne:
»Brot und Furage werden wir unterwegs nicht finden — wir müssen also laufen, bis wir in die Ebene kommen.«
Er schwieg wieder, senkte die Augen und sagte dann:
»Wählt euch einen anderen Kommandeur, ich lege das Kommando nieder.«
Der Stummel war niedergebrannt, gleichmäßiges Dunkel hüllte alles ein. Nur die regungslose Stille blieb.
»Gibt es denn keine Kerze mehr?«
»Doch«, sagte der Adjutant, zündete ein Streichholz nach dem anderen an, das, wenn es aufflammte, Hunderte von regungslosen, auf Koshuch gerichteten Augen hervortreten ließ, oder, wenn es im Verlöschen war, alles wieder in Dunkelheit hüllte. Endlich glimmte das dünne Wachskerzchen auf, und das schien die Spannung aufzulösen: man begann zu sprechen, sich zu bewegen, zu hüsteln, zu schnäuzen, zu spucken, das Ausgespuckte auf dem Parkett zu verreiben, einander anzusehen.
»Genosse Koshuch«, begann der Brigadekommandeur, und zwar mit einer solch weichen Stimme, dass man meinen könnte, er hätte nie in seinem Leben kommandiert, »wir alle wissen, welche Schwierigkeiten, welche ungeheuren Hindernisse auf unserem Wege zu überwinden sind. Hinter uns wartet der Tod, aber auch vor uns erwartet uns der Tod, wenn wir Zeit verlieren. Wir müssen mit der größtmöglichen Schnelligkeit vorwärts kommen. Und nur Sie mit Ihrer Energie und Findigkeit werden imstande sein, die Armee zu retten. Das ist, hoffe ich, auch die Ansicht aller meiner Genossen.«
»Recht so!... Stimmt!... Wir bitten!...« erwiderten hastig alle Kommandeure.
Die vielen durch das Halbdunkel glänzenden Soldatenaugen richteten sich noch immer hartnäckig auf Koshuch.
»Wie können Sie das Kommando niederlegen«, sagte der Kommandeur der Kavallerieabteilung, wobei er sich seine Fellmütze der größeren Überzeugung halber so energisch in den Nacken schob, dass sie fast heruntergefallen wäre, »Sie sind doch von allen gewählt worden.«
Die Soldaten blickten schweigend mit glänzenden Augen.
Koshuch warf einen unversöhnlichen, stechenden Blick unter seiner vorgeschobenen Stirn hervor:
»Gut denn, Genossen. Ich stelle aber eine unabänderliche Bedingung — bei der geringsten Außerachtlassung der Befehle — Erschießung! Unterschreibt's!«
»Nun ja denn, wir wollen...«
»Aber wozu denn... ?«
»Warum denn nicht unterschreiben... ?«
»Wir sind ja auch so immer bereit...«
Die Kommandeure waren sichtlich betreten.
»Jungens!« rief Koshuch, die Kinnladen zusammenpressend, »Jungens, sagt jetzt, was ihr denkt!«
»Tod!« dröhnten Hunderte von Stimmen — der große Esssaal schien sie nicht fassen zu können, sie quollen durch die offenen, schwarzen Fenster hinaus, aber dort hörte sie niemand.
»Jeden erschießen!... Die Hundsfötter!... Soll man ihnen etwa die Köpfchen streicheln, wenn sie die Befehle nicht ausführen... Schlagt sie nieder!«
Als wenn Eisenreifen von einem Fass abgesprungen wären, geriet alles in Bewegung, drehte sich, fuchtelte mit den Händen, schnäuzte sich, stieß einander an, rauchte hastig, warf die Stummel auf den Boden, zerdrückte sie.
Koshuch sagte, die Worte durch die Zähne pressend — es war, als wenn er sie einzeln in die Gehirne einhämmerte:
»Jeder, der die Disziplin verletzt, ob Kommandeur oder Soldat, wird erschossen.«
»Erschießen!... Erschießen die Kerle, ob Kommandeur oder Soldat — einen wie den anderen...«, dröhnte es durch den riesigen Raum, der zu eng war, und wieder quollen die Stimmen in die Dunkelheit hinaus.
»Gut! Genosse Iwanjko, schreiben Sie ein Papier, die Kommandeure sollen es unterschreiben: Für den geringsten Verstoß gegen einen Befehl — standrechtliche Erschießung!«
Der Adjutant holte aus seiner Tasche einen Fetzen Papier hervor, beugte sich bei der Kerze nieder und begann zu schreiben.
»Und ihr, Genossen, an eure Plätze. Teilt euren Leuten den Beschluß mit: Eiserne Disziplin, verschont wird keiner.«
Sich drängend, stoßend und die Zigaretten zu Boden werfend, strömten sie auf die Veranda hinaus, von dort in den Garten, und ihre Stimmen zerstreuten sich in der Dunkelheit.
Ü ber dem Meere wurde es heller.
Die Kommandeure spürten plötzlich: eine Last fiel von ihnen, alles erhielt seinen Platz, wurde einfach, klar und präzis; sie warfen sich Scherze zu, lachten, kamen nacheinander zum Tisch, um das Todesurteil zu unterschreiben.
Koshuch, noch immer mit zusammengezogenen Augenbrauen, erteilte kurze Befehle, als wenn das, was augenblicklich vorging, in keiner Beziehung zu jener wichtigen und großen Sache stünde, die er zu leisten berufen sei.
»Genosse Wostrotin, nehmen Sie eine Kompanie und...«
Das Stampfen eines heransprengenden Pferdes ertönte. Vor der Veranda verstummte es. Man hörte, wie das Pferd — wahrscheinlich wurde es angebunden — schnaubte und, sich schüttelnd, mit den Steigbügeln klirrte.
In der trüben, flimmernden Halbfinsternis tauchte ein Kubaner in einer Fellmütze auf.
»Genosse Koshuch«, sagte er, »die zweite und dritte Kolonne haben zehn Kilometer hinter uns zur Nacht Halt gemacht. Der Kommandierende befiehlt, dass Sie warten, bis ihre Kolonnen Sie erreicht haben — um zusammen weiterzugehen.«
Koshuch mit seinen steinernen Gesichtszügen sah ihn regungslos an:
»Weiter?«
»Die Matrosen gehen haufenweise zu den Soldaten und zwischen die Wagen, brüllen und hetzen die Leute auf — sie sollen den Kommandeuren nicht gehorchen und selber kommandieren; sie sagen, man müsse den Koshuch erschlagen.«
»Weiter?«
»Die Kosaken sind aus der Feldschlucht vertrieben. Unsere Schützen sind die Schlucht hinauf und haben sie auf die andere Seite gejagt. Jetzt ist's ruhig dort. Drei von den Unsrigen sind verwundet, einer ist tot.«
Koshuch schwieg eine Weile.
»Es ist gut. Geh.«
Die Gesichter und die Wände im Esszimmer wurden schon heller. Im Rahmen eines Bildes leuchtete kaum merklich das Blau eines von des Künstlers Hand geschaffenen Meeres; im Rahmen des Fensters leuchtete schon das blaue Wunder des wirklichen Meeres.
»Genossen Kommandeure — in einer Stunde brechen wir auf. Wir müssen so schnell wie möglich marschieren. Halt wird nur dann gemacht, wenn Menschen und Tiere trinken müssen. Bei jeder Schlucht müssen Schützenketten mit einem Maschinengewehr vorgeschoben werden. Sie müssen dafür sorgen, dass die Truppenteile zusammenbleiben. Sehen Sie zu, dass die Einwohner dieser Gegend von den Soldaten nicht belästigt werden. Schicken Sie mir mit Berittenen öfters Meldungen über den Zustand Ihrer Truppenteile.«
»Zu Befehl!« riefen die Kommandeure.
»Sie, Genosse Wostrotin, führen Ihre Kompanie als Nachhut, um die Matrosen von uns zu trennen. Hindern Sie sie daran, mit uns zu marschieren, mögen sie mit den anderen Kolonnen ziehen.«
»Zu Befehl.«
»Nehmen Sie Maschinengewehre mit, und machen Sie von ihnen Gebrauch, wenn es nötig sein sollte.«
»Zu Befehl.«
Die Kommandeure wandten sich dem Ausgange zu.
Koshuch begann dem Adjutanten einen Armeebefehl zu diktieren — wer von diesen Kommandeuren abgesetzt, wer versetzt werden und wer ein höheres Kommando erhalten soll.
Dann legte der Adjutant die Karte zusammen und ging zusammen mit Koshuch hinaus.
In dem ungeheuren leeren Raum mit dem bespienen, mit Stummeln bedeckten Parkett flackerte rötlich die vergessene Kerze, Stille herrschte und schwerer Menschendunst. Weder Gewehre noch Sättel waren zurückgeblieben. Und das Holz unter dem Lichtstummel begann zu schwellen, wurde schwarz, zog sich zusammen.
Durch die weitgeöffnete große Tür dampfte in blauen morgendlichen Nebeln das Meer.
Längs der Ufer, längs der Berge, weit vorn und ganz hinten wirbelten, als hagele es Erbsen, Trommeln den Weckruf. Hier und da sangen Trompeten wie eine Schar kupferner Schwäne — es hallte in den Bergen, in den Schluchten und am Ufer wider und erstarb in der Ferne des Meeres, denn das dehnte sich grenzenlos. Über der soeben verlassenen wunderbaren Villa erhob sich eine Rauchsäule. Die vergessene Kerze war nicht müßig geblieben.
Die zweite und dritte Kolonne, die der Kolonne Koshuchs folgten, blieben weit zurück. Niemand hatte Lust, sich anzustrengen — Hitze herrschte und Müdigkeit. Abends machte man früh halt, des Morgens brach man spät auf. Die leere weiße Chaussee zwischen der Spitzenkolonne und den beiden anderen wurde zusehends größer.
Wenn man des Abends Halt machte, zog sich auch hier das Lager kilometerlang auf der Chaussee zwischen den Bergen und dem Ufer hin. Ebenso verstaubt, erschöpft und von der Sonne versengt waren die Menschen. Aber wenn das Lager aufgeschlagen war, verschwand auch hier bald die Müdigkeit, lustige Feuer flammten auf, man hörte Lachen, Scherze, Rufen; die lieben ukrainischen Lieder, bald zärtlich weich, bald drohend und zornig, wie die Geschichte dieses Volkes — ertönten zu den Klängen der Harmonika.
Wie vorher in der ersten Kolonne gingen die mit Revolvern und Handgranaten behängten Matrosen, die man von dort vertrieben hatte, auch hier zwischen den Wagen umher und fluchten:
»Eine Hammelherde seid ihr! Wem lauft ihr eigentlich nach? — Einem goldbetressten Zarenoffizier! Wer ist dieser Koshuch? Hat er nicht dem Zaren gedient? Er hat ihm gedient, und jetzt spielt er den Bolschewik. Und wisst ihr, wer diese Bolschewiki sind? Man hat sie aus Deutschland als Spione in plombierten Wagen nach Russland geschickt — und Narren haben sich in Russland gefunden, die es zu ihnen hinzieht. Wisst ihr denn nicht, dass sie mit Wilhelm einen Geheimvertrag gemacht haben? Freilich, so eine Hammelherde weiß nie etwas! Russland und das Volk stürzt ihr ins Verderben. Nein, wir Sozialrevolutionäre haben gewusst, was wir zu tun hatten: Die bolschewistische Regierung in Moskau hat uns den Befehl gegeben, dass wir den Deutschen die Flotte ausliefern sollten. Aber wir haben sie versenkt — da, nehmt euch die Flotte! Und ihr Schafsköpfe wisst von nichts und folgt ihnen gesenkten Hauptes! Aber sie haben eine geheime Vereinbarung. Die Bolschewiki haben dem Wilhelm ganz Russland mit allem Drum und Dran verkauft; einen ganzen Zug voll Gold haben sie aus Deutschland dafür bekommen. Ihr lausiges, dreckiges Gesindel.«
»Was kläfft ihr wie die Hunde! Macht, dass ihr weiterkommt... «
Die Soldaten schimpften, aber wenn die Matrosen weitergingen, dann hieß es hinterher:
»Alles, was recht ist, die Matrosen sind ein schwatzhaftes Volk, aber die Wahrheit sagen sie. Warum helfen uns denn die Bolschewiki nicht?! Die Kosaken hetzen uns wie die Hasen, und die sitzen in Moskau, schicken uns keine Hilfe, denken immer nur an sich selber.«
Und genau sowie die Tage zuvor kamen aus einer Schlucht, die sogar in dieser Finsternis schwarz gähnte, Schüsse, und an verschiedenen Stellen flammten sekundenlang Feuernadeln auf und erloschen wieder, ein Maschinengewehr knatterte noch ein wenig, dann versank das ganze Lager langsam in eine schwere Ruhe.
Und ebenso wie bei der ersten Kolonne versammelten sich auch hier die Kommandeure der beiden Kolonnen in einer leeren Villa, deren Terrasse auf das unsichtbare Meer hinausging. Man eröffnete die Sitzung erst, als ein herangesprengter Bote Kerzen brachte, die er in einem nahe gelegenen Dorfe aufgestöbert hatte. Auch hier lag auf dem Esstisch eine Karte ausgebreitet, auch hier waren die Dielen mit Zigarettenstummeln bedeckt und die kostbaren Bilder an den Wänden zerstochen und zerschnitten.
Smolokurow, ein riesiger, schwarzbärtiger, gutmütiger Mann, der selber nicht wusste, was mit seiner strotzenden physischen Kraft anzufangen, saß in weißer Matrosenjacke, mit gespreizten Beinen da und trank Tee. Ringsherum die Kommandeure der Truppenteile.
Aus der Art, wie sie rauchten, einander Bemerkungen zuwarfen und die Zigaretten am Boden zertraten — fühlte man heraus, dass sie nicht wussten, womit anfangen.
Auch hier fühlte sich jeder der Anwesenden berufen, diese ungeheure Masse von Menschen zu retten.
Wohin?!
Die Lage ist unbestimmt, unklar. Was erwartet sie weiter? Nur das eine wusste man: hinter ihnen war der Untergang.
»Wir müssen einen Kommandierenden für alle drei Kolonnen wählen«, sagte einer der Kommandeure.
»Sehr richtig!... stimmt!«
Jeder dachte sich:
,Selbstverständlich bin ich der geeignetste dazu' — aber sagen konnte es keiner. Und da alle das gleiche dachten, so schwiegen sie, sahen aneinander vorbei und rauchten.
»Wir müssen doch schließlich etwas unternehmen... man muss jemand wählen. Ich schlage Smolokurow vor.« »Smolokurow!... Smolokurow!...« Der Ausweg aus der unbestimmten Lage war gefunden. Jeder dachte: .Smolokurow ist ein ausgezeichneter Genosse, ein gutmütiger Bursch, restlos der Revolution ergeben, eine Stimme hat er wie eine Posaune, die wunderbar auf Kundgebungen dröhnt ... an dieser Sache aber wird er sich wohl den Hals brechen, und dann ... dann... wird man sich natürlich an mich wenden
Und wieder schreien alle einmütig: »Smolokurow!... Smolokurow!«
Smolokurow breitete verwirrt seine mächtigen Arme aus:
»Ihr wisst ja selbst... ich... Ihr wisst es ja, ich kenne mich eigentlich nur auf dem Wasser aus, dort werde ich, wenn's darauf ankommt, mit einem Panzerkreuzer fertig... aber hier, auf dem Lande...«
»Smolokurow!... Smolokurow!«
»Nun ja, wenn es sein muss... natürlich, ich nehme es an, nur müsst ihr mir alle helfen — denn sonst stehe ich allein da... Also gut... Morgen brechen wir auf — schreiben Sie einen Befehl.«
Alle wussten sehr gut, ob der Befehl geschrieben wurde oder nicht, es blieb doch nichts weiter übrig, als sich auf der Chaussee weiterzuschleppen — denn man konnte doch nicht stehen bleiben oder zurückgehen und den Kosaken in die Hände fallen. Und alle wussten, dass sie gar nichts weiter zu tun hatten, als zu warten, bis Smolokurow nicht mehr aus noch ein weiß und sich durch seine Anordnungen den Hals bricht. Übrigens war auch dafür wenig Aussicht, denn er hat ja doch nichts weiter zu tun, als der Kolonne Koshuchs zu folgen.
Und jemand sagte:
»Man muss Koshuch diesen Befehl schicken; dass ein neuer Oberkommandierender gewählt ist.«
»Er pfeift darauf, er wird ja doch tun, was er will«, riefen alle.
Smolokurow schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Bretter unter der Karte aufstöhnten.
»Ich werde ihn zum Gehorsam zwingen, ich werde ihn zwingen! Er floh mit seiner Kolonne auf die schmachvollste Weise in die Stadt. Er hätte bleiben und kämpfen sollen, um zu siegen oder ehrenvoll zu fallen.«
Alle blickten auf ihn. Er richtete seine riesige Gestalt auf, und nicht so sehr die Worte als die mächtige Gestalt mit dem schwungvoll erhobenen Arm wirkten auf alle überzeugend. Alle fühlten auf einmal — der Ausweg war gefunden: Koshuch war an allem schuld. Er rennt immer weiter, gibt keinem die Möglichkeit sich auszuzeichnen, die innewohnenden Geisteskräfte und Fähigkeiten zu verwerten, und alle Anstrengungen, die ganze Aufmerksamkeit nimmt der Kampf mit diesem Koshuch in Anspruch.
Eine geschäftige Arbeit begann. Zu Koshuch wurde mitten in der Nacht eine Ordonnanz geschickt. Man organisierte einen Stab, schaffte Schreibmaschinen herbei, richtete eine Kanzlei ein — es konnte losgehen.
Man begann, Aufrufe an die Soldaten zum Zweck ihrer Erziehung und Organisation auf diesen Schreibmaschinen zu schreiben.
»Wir Soldaten fürchten keinen Feind...«
»Denkt daran, Genossen, dass unsere Armee mit jeder Schwierigkeit fertig wird...«
Diese Befehle wurden vervielfältigt, man las sie in den Kompanien und Eskadronen vor. Die Soldaten hörten schweigend zu, ohne die Augen von dem Lesenden abzuwenden, dann gaben sie sich die größte Mühe, wandten jede List an, um den Befehl in ihre Hand zu bekommen — es kam nicht selten zu Schlägereien, sie glätteten dann das Papier sorgfältig auf ihren Knien und verwendeten es als Zigarettenpapier.
Auch an Koshuch schickte man Befehle, aber er kümmerte sich nicht um sie, ging immer weiter, ließ hinter sich die öde Chaussee, und der leere Raum zwischen den beiden Kolonnen wurde immer größer. Und das ärgerte alle.
»Genosse Smolokurow, Koshuch fragt nicht nach Ihnen — er marschiert immer weiter«, sagten die Kommandeure, »pfeift auf alle Ihre Befehle.«
»Ja, was soll man mit ihm anfangen«, lachte Smolokurow gutmütig, »ich habe es Ihnen ja gesagt, dass ich nur auf dem Wasser zu Hause bin.«
»Aber Sie sind doch der Kommandierende der gesamten Armee, man hat Sie doch gewählt, und Koshuch ist Ihr Untergebener.«
Smolokurow schweigt eine Weile, dann füllt sich auf einmal seine ganze riesige Gestalt mit Zorn:
»Gut, ich werde ihn schon zurechtbiegen... zurechtbiegen werde ich ihn...!«
»Das geht doch nicht, dass wir so weiter hinter ihm dreintrotten. Wir müssen unseren eigenen Plan ausarbeiten. Er will am Ufer entlang den Gebirgspass erreichen, der vom Meere aus in die Kubansteppen führt, aber wir können gleich von hier aus das Gebirge überschreiten — hier führt eine alte Straße über Dofinowka durch die Berge, die ist viel kürzer.« »Sofort einen Befehl an Koshuch schicken!« brüllte Smolokurow, »er soll auf der Stelle mit seiner Kolonne Halt machen und sofort zu einer Beratung hierher kommen. Die Armee wird den Weg über die Berge von hier aus einschlagen. Wenn er nicht sofort Halt macht, werde ich der Artillerie Befehl geben, seine Kolonne über den Haufen zu schießen.«
Koshuch erschien nicht und zog immer weiter — er blieb unerreichbar.
Smolokurow gab den Befehl, den Weg über die Berge einzuschlagen. Da benutzte sein Stabschef, ein ehemaliger Hörer der Kriegsakademie, die Gelegenheit, als keiner der Kommandeure zugegen war — denn in ihrer Gegenwart bäumte sich Smolokurow wie ein wildes Ross (Smolokurow war unglaublich störrisch), und sagte vorsichtig:
»Wenn wir den Weg von hier aus über die Berge nehmen, verlieren wir in den Bergen unseren ganzen Tross, die Flüchtlinge und vor allem die ganze Artillerie; es gibt ja keine richtige Straße hier, sondern nur Gebirgswege, und Koshuch handelt sehr richtig, wenn er bis zu jener Stelle weiterzieht, wo eine Chaussee über den Bergrücken führt. Ohne Artillerie werden uns die Kosaken mit bloßen Händen niederschlagen, und außerdem werden sie die Kolonnen einzeln erledigen — die Koshuchs und die unsrige.«
Obwohl das vollkommen klar war, so war doch nicht dies das Überzeugende an der Sache. Überzeugend wirkte der Umstand, dass der Stabschef Smolokurow gegenüber außerordentlich vorsichtig und bescheiden, dass dieser Stabschef die Militärakademie hinter sich hatte und doch darauf nicht eingebildet war.
»Schreiben Sie den Befehl, dass wir weiter die Chaussee entlang marschieren werden«, sagte Smolokurow mit finsterer Miene.
Und wieder strömten Soldaten, Flüchtlinge und Wagen in lärmenden, unordentlichen Haufen über die Chaussee.
Wie immer herrschte des Nachts in der Kolonne Koshuchs statt der Ruhe und des Schlafes Geplauder, das Geklimper der Balalaikas und Harmonikas, Singen und Mädchenlachen. Oder es strömten, die Nacht erfüllend und belebend, die harmonischen, mächtigen Klänge eines Chors, Stimmen voller Jugendkraft, getragen von einem geheimen Sinn, der die Kräfte vervielfacht.
»Es brüllen,
stöhnen die Wellen
Im blauen Meer,
Es weinen und klagen Kosaken
In türkischer Gefangenschaft...«
Bald schwoll das Lied an, bald sank es bis zum Flüsterton. Und war es nicht das Meer, das sich in den Wellen der jungen Stimmen hob und senkte, war es nicht die Trauer dieser Nacht, die Trauer der Mädchen und Burschen, die, der Knechtschaft bei den Offizieren, Generalen und Reichen entronnen, ausziehen, um für ihre Freiheit zu kämpfen? Und Trauer, Trauer und Freude zugleich ergossen sich durch die lebendige, gespannte Stille der Nacht.
»... Im blauen Meer...«
Nahe ist ja das Meer, tief, ihnen zu Füßen, aber es schweigt und ist unsichtbar.
Im Einklang mit dieser Freude und Trauer begannen sich die Ränder der Bergkämme fein zu vergolden. Das machte die Berge noch schwärzer, noch trauernder steht ihr Massiv.
Dann leuchteten wie durch Rauchschleier lange Streifen des Mondlichts zwischen den Schluchten und Bergkuppen auf, und noch dunkler, noch dichter zogen neben ihnen die schwarzen Schatten der Bäume, der Hänge und Gipfel dahin.
Dann stieg hinter den Bergen der Mond auf, überflutete alles mit seinem Schein. Die Welt wurde eine andere. Die Burschen hörten auf zu singen. Alles war deutlich zu sehen — auf Steinen, Felsen, gestürzten Bäumen sitzen die Burschen und Mädchen, unter den Felsen das Meer —, strömend ergoss sich, bis zum Horizont hin, kaltes, geschmolzenes Gold über die Fluten. Der Anblick war kaum zu ertragen.
»Es atmet«, sagte jemand.
»Die Leute sagen, der liebe Gott hat das alles gemacht.«
»Wie ist das — fährt man geradeaus, so kommt man in Rumänien an, und anders wiederum in Odessa oder Sewastopol. Kommt man dahin, wohin sich der Kompass dreht?«
»Bei uns an der türkischen Front haben die Pfaffen immer, wenn's zum Kampf ging, eine Messe gelesen. Aber es half alles nichts — die Unsrigen starben wie die Fliegen...«
Neue, rauchblaue Streifen legen sich über die Abhänge, brechen an dem vorstehenden Felsen, holen bald eine weiße Bergwand aus der Dunkelheit, bald die ausgestreckten Arme der Bäume oder eine faltige Schlucht — und alles ist deutlich, klar, lebendig.
Lärmende Stimmen, Stampfen von vielen Füßen und schweres Fluchen bewegen sich über die Chaussee.
Alle heben die Köpfe...
»Was ist denn da los? Welche Schufte fluchen denn da so...?«
»Die Matrosen, wer denn sonst.«
Vom Mondschein beleuchtet, gingen die Matrosen in großen, unordentlichen Haufen. Bald tauchten sie in die Finsternis, bald wurden sie wieder sichtbar, und wie eine üble Dunstwolke folgte ihnen das gemeine Fluchen. Es war langweilig geworden. Burschen und Mädchen spürten die Müdigkeit und schickten sich, gähnend und sich rekelnd, an, auseinander zugehen.
»Man muss schlafen...«
Lärmend, johlend nähern sich die Matrosen einem vorspringenden Felsen. Im finsteren Mondschatten stand der Wagen, in dem Koshuch schlief.
»Wohin?« verlegten ihnen zwei Posten mit ihren Gewehren den Weg.
»Wo ist der Kommandierende?«
Aber Koshuch war schon aufgesprungen, in der Dunkelheit über dem Wagen funkelten zwei Wolfsaugen auf. Die Posten legten an:
»Wir werden schießen.«
»Was wollt ihr?« klang Koshuchs Stimme.
»Wir kommen zu Ihnen, Kommandierender, der Proviant ist uns ausgegangen. Sollen wir vor Hunger krepieren? Wir sind fünftausend Menschen. Unser ganzes Leben haben wir der Revolution geopfert, und jetzt sollen wir wie Hunde umkommen?«
Koshuchs Gesicht blieb unsichtbar — so dicht war der Schatten, wo er stand, aber alle sahen das Funkeln der zwei Wolfsaugen.
»Tretet in die Armee ein, wir werden euch Gewehre geben und mit verpflegen. Wir haben nur noch wenig Proviant. Wir können nur wirkliche Kämpfer ernähren, sonst schlagen wir uns nicht durch. Aber auch den Kämpfern sind die Rationen verringert worden.«
»Sind wir etwa keine Kämpfer? Ihr wollt uns mit Gewalt in eure Reihen hineinpressen. Wir wissen selbst, was wir zu tun haben. Wenn es zum Kampf kommt, werden wir nicht schlechter, sondern besser als ihr kämpfen. Uns alte Revolutionäre habt ihr nicht zu belehren. Wo wart ihr denn, als wir den Zarenthron gestürzt haben? Ihr wart Offiziere in der Zarenarmee. Und jetzt sollen wir krepieren, nachdem wir alles der Revolution geopfert haben? In der Stadt sind anderthalbtausend unserer Leute niedergemacht worden, die Offiziere haben sie lebendig vergraben, und wir...«
»Freilich, jene haben ihr Leben geopfert, und ihr treibt euch hier mit Weibern herum...«
Die Matrosen brüllten wie eine Herde wilder Stiere auf:
»Hast du uns revolutionären Kämpfern so was vorzuhalten?!«
Sie fuchtelten mit den Armen vor den beiden Soldaten, aber die Wolfsaugen hintergeht man nicht so leicht, sie sehen gut - alles sehen sie; hier brüllen die Leute und fuchteln mit den Armen, an den Seiten aber und hinter ihnen schleichen Gestalten heran, huschen gebückt über die mondbeschienenen Stellen und lösen schon ihre Handgranaten von den Gürteln. Und plötzlich stürzen sie sich von allen Seiten auf den Wagen.
Und in derselben Sekunde: Ta-ta-ta-ta...
Das Maschinengewehr bellt aus dem Wagen. Und wie gehorsam war es diesem scharfen Auge! Keine einzige Kugel verirrte sich in dieser gefleckten, wirren Finsternis, keine einzige traf, sondern strich nur mit unheimlichem Todeswehen dicht über die Matrosenmützen. Alle zerstoben entsetzt.
»Ist das ein Satan!... Ist der geschickt! Wenn man solche Schützen hätte!...«
In dem weiten Raume schläft im dunstigen Mondlicht das Lager. Es schlafen die mondhellen Berge, und über das ganze Meer krümmt sich eine schimmernde Straße.
Noch hatte sich der Himmel nicht aufgehellt, als schon die Spitze der Kolonne auseinander gezogen auf der Chaussee entlangkroch.
Rechts dehnte sich noch immer die blaue Weite aus, links türmten sich dichtbewaldete Berge und über ihnen öde Felsen.
Hinter den felsigen Bergkämmen steigt immer zunehmende Glut hervor. Die unausbleiblichen Staubwolken erheben sich auf der Chaussee, Legionen von Fliegen kleben unausgesetzt an Menschen und Tieren — es sind die heimatlichen Steppenfliegen aus dem Kuban, die den Flüchtlingen treu folgen, mit ihnen übernachten und, kaum ist der Morgen da, wieder zusammen mit ihnen ausschwärmen.
Einer weißen Schlange gleich gleitet die Chaussee in das Walddickicht. Tiefe Stille. Kühle Schatten. Zwischen den Stämmen Felsen. Wenige Schritte von der Chaussee fort ist das Dickicht undurchdringlich: Unterholz, von Hopfen und Lianen umschlungen. Es recken sich die großen Nadeln des Kreuzdorns, verkrampftes Gestrüpp unbekannter Sträucher. Hier leben Bären, Wildkatzen, Gemsen, Hirsche, Luchse, die des Nachts widerwärtig nach Katzenart schreien. Hunderte von Kilometern ist kein Mensch zu sehen, von den Kosaken keine Spur.
Früher einmal lebten hier in den Bergen verstreut Tscherkessen. Pfade schlängelten sich durch Schluchten und Wälder. Zuweilen schimmerten, wie an die Felsen angeklebt, winzige kleine Häuser. Inmitten der Urwälder gab es kleine Maisfelder oder kleine gut gepflegte Gärten in den Schluchten beim Wasser.
Vor siebzig Jahren etwa vertrieb die zaristische Regierung die Tscherkessen nach der Türkei. Seit jener Zeit überwucherte das Gestrüpp die Bergpfade, die Gärten der Tscherkessen verwilderten, über Hunderte von Kilometern streckte sich die öde Bergwüste, die Heimat des Wildes.
Die Soldaten ziehen den Gurt immer enger — immer kleiner werden die Rationen.
An die Wagen klammern sich die Verwundeten, Kinderköpfchen wackeln, magere Artilleriepferde ziehen mühsam das einzige Geschütz vorwärts.
Die Chaussee aber macht mutwillig Schleifen und schlängelt sich bis dicht an das Meer hinab. Über die blaue grenzenlose Weite zieht sich — die Augen schmerzen beim Hinschauen—eine blendende Sonnenstraße hin.
Durchsichtige, glashelle, kaum merkliche Fältchen gleiten irgendwoher aus der Ferne heran und bespülen das angeschwemmte Geröll des Strandes.
Der Zug kriecht unausgesetzt weiter, ohne anzuhalten, doch die Burschen, Mädchen, Kinder, Verwundete, alle, die dazu imstande sind, laufen zum Strand, streifen sich im Laufen die Fetzen ihrer Hosen, Hemden, Röcke vom Leibe, stellen hastig die Gewehre zusammen und stürzen sich in das blaue Wasser. Aufspritzende Funken, flüchtige Regenbogen. Und Ausbrüche eines ebenso sonnigen, funkelnden Lachens, Kreischens, Rufens — ein lebendiger menschlicher Lärm —, der Strand hat seinen Sinn erhalten.
Das Meer, das ruhige große Tier mit gütigen weißen Fältchen, liegt still da und leckt zärtlich die lebendige Küste, die lebenden gelblichen Körper, die sich inmitten des sprühenden Wassers, des Lärmens und Lachens bewegen.
Die Kolonne kriecht weiter und weiter.
Die einen springen heraus, greifen nach ihren Hosen, Hemden, Röcken, Gewehren, rennen nackt, die stinkenden Kleider unter dem Arm, zur Chaussee — Tropfenperlen zitternd auf den gelben Körpern— und ziehen sich unter lauten Scherzen und Zoten der anderen hastig im Laufen an.
Andere hingegen eilen voller Gier zum Strand hinab, entkleiden sich im Laufen und stürzen in den Strudel, in Schaum und Gefunkel, und das schweigende Meer mit den immer gleich dahinhuschenden durchsichtigen Wellen leckt zärtlich ihre Leiber.
Und die Kolonne kriecht weiter und weiter.
Villen tauchen auf, die weißen Häuschen eines Fleckens, verwaist am öden Strand. Alles drängt sich zur schmalen weißen Bahn der Chaussee — der einzigen Möglichkeit der Fortbewegung inmitten dieser Wälder, Felsen, Klüfte, felsigen Küsten.
Bauern und Soldaten laufen unterwegs in die Villen, durchsuchen alles.— aber alles ist leer, öde, verlassen.
Im Flecken — dunkelbraune Griechen mit großen Nasen, kirschschwarzen Augen: sie sind abweisend und schweigen mit verhaltener Feindseligkeit.
»Kein Brot... haben selbst keins... sind selber hungrig...«
Sie wissen nicht, wer diese Soldaten sind, woher sie kommen, wohin sie gehen und was sie tun — sie fragen auch nicht danach in ihrer abweisenden Feindseligkeit.
Man durchsuchte alles — es fand sich wirklich nichts. Aber man errät aus den Gesichtern, dass sie es versteckt halten. Da sie keine Landsleute, sondern Griechen waren, nahm man ihnen alle Ziegen, wie sehr auch die schwarzäugigen Griechinnen schreien mochten.
In einer breiten, die Berge auseinanderdrängenden Schlucht
— ein russisches Dorf, dessen Bewohner irgendwann hierher verschlagen worden sind. Ein Bächlein funkelt am Grunde der Schlucht. Hütten. Vieh. Auf einem Hang neigen sich gelbe Weizenfelder. Es sind Landsleute aus dem Poltawaer Gebiet, die russisch sprechen. Sie gaben, soviel sie konnten — Brot und Hirse. Fragten, wohin und woher des Weges. Sie hatten gehört, dass man den Zaren vertrieben habe, und dass die Bolschewiki gekommen seien, sonst wussten sie nichts. Die Soldaten erzählten ihnen alles und, wie leid es ihnen auch tat
— denn es waren ja Landsleute —, nahmen ihnen trotz Geschrei und Gejammer der Weiber alle Hühner, Gänse, Enten fort.
Die Kolonne zieht weiter, hält sich nirgends auf.
»Wenn wir bloß was zu fressen hätten«, sagen die Soldaten und ziehen den Gurt noch enger.
Kavalleristen durchsuchten alle Villen, in der allerletzten stöberten sie ein Grammophon und eine Menge Platten auf. Sie packten es auf einen leeren Sattel, und zwischen den Felsen, in die Waldesstille und inmitten der dicken Staubwolken klang eine rissige heisere Stimme:
»...Hohoho — ein Floh! Ho-hoho — ein Floh!« — es klang akkurat wie eine menschliche Stimme und doch auch wieder nicht.
Die Kavalleristen und Soldaten schüttelten sich vor Lachen.
»Noch einmal, noch einmal! Den Floh!«
Dann kamen nach der Reihe: »Wenn ich an das Flüsschen gehe...«, »Oh, versuch mich nicht...«, »Die ganze Menschheit auf der Erde...«
Dann sang eine Platte: »Gott schütze den Zaren.«
Ringsherum brüllte man auf...
»Weg mit dem Dreck!«
»Häng ihn dir an den...«
Man warf die Platte auf die Chaussee, unter die zahllosen Füße, Hufe und Räder der Dahinziehenden.
Seit dieser Zeit hatte das Grammophon keinen Augenblick Ruhe mehr: Heiser, krächzend, sang es vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein — Romanzen, Lieder, Opern. Es wanderte der Reihe nach von Eskadron zu Eskadron, von Kompanie zu Kompanie, und wenn man es nicht rechtzeitig weitergab, kam es zu Schlägereien. Der Kasten wurde zum erklärten Liebling aller, man behandelte ihn wie etwas Lebendiges.
Über den Sattel gebeugt, die Fellmütze im Nacken, jagt über die Chaussee, dem Zuge entgegen, ein Kubaner.
»Wo ist der Führer?«
Das Gesicht ist schweißnass, die feuchten Flanken des Pferdes atmen schwer.
Hinter den Waldhängen gleiten glänzende, weiße, runde Riesenwolken hervor und blicken auf die Chaussee hinab.
»Sieht nach einem Gewitter aus.«
Irgendwo, hinter der Chausseebiegung, machte die Spitze der Kolonne halt. Die Reihen der Fußsoldaten rückten aufeinander; die Wagen hielten, die Pferde rissen die Köpfe in die Höhe —, nach und nach kam der ganze Zug zum Stehen.
»Was ist los? Warum so früh Rast?« Das schwitzende Gesicht des Kubaners, das abgehetzte Pferd, der plötzliche Halt — verbreiteten Unruhe, Unsicherheit. Weit vorne verhallende einzelne Gewehrschüsse gaben mit einem Schlage allem einen unheilvollen Sinn. Der Klang der Schüsse prägte der eintretenden Stille einen Stempel auf, der nicht mehr verschwand.
Das Grammophon verstummte. Koshuch jagte in einem Korbwagen an die Spitze des Zuges. Dann sprengten Reiter von dort herbei und sperrten, unmenschlich fluchend, den Weg.
»Zurück!... Zurück!... Werden schießen!...« »Seid ihr taub!... Gleich wird der Kampf losgehen!... Zurück! Koshuch hat befohlen zu schießen, wenn ihr nicht zurückgeht.«
Sofort war alles in heller Aufregung. Weiber, Greise, Mädchen, Kinder begannen zu jammern und zu klagen.
»Wohin sollen wir denn? Wohin treibt ihr uns, wir gehören doch zu euch! Wenn es ans Sterben geht, dann zusammen!«
»Koshuch hat befohlen — fünf Kilometer Abstand sollen zwischen euch und den Soldaten sein. Ihr hindert den Kampf!« »Was sollen wir denn hier? Mein Iwan ist ja dort...« »Und mein Mikita!« »Und mein Opanas!«
»Ihr werdet fortgehen, und wir bleiben hier zurück — ihr wollt uns verlassen.«
»Denkt ihr mit dem Hintern oder wie? Habt ihr nicht gehört: Man kämpft ja für euch! Sobald der Weg frei gemacht ist, ziehen wir zusammen weiter. Ihr hindert dort nur den Kampf!«
Soweit man sehen konnte, schoben sich die Wagen immer dichter aneinander. Fußgänger, Verwundete drängen sich; Weiber heulten. Die ganze Chaussee kilometerweit verstopfend, lag der Zug regungslos da. Die Fliegenschwärme fielen gierig über die Pferderücken, Flanken, Hälse her; bedrängten die Kinder; die Pferde schüttelten verzweifelt die Köpfe, schlugen sich mit den Vorderhufen unter den Bauch. Durch das Laub leuchtet das Meer. Aber alle sehen nur das Stück Chaussee vor sich, das von den Reitern versperrt ist, und hinter den Reitern — mit Gewehren die eigenen Soldaten, die allen so bekannt und vertraut sind. Sie sitzen und drehen sich Zigaretten aus breitblättrigen Pflanzen, die sie mit trockenen, verriebenen Gräsern füllen.
Aber da rühren sie sich schon, stehen langsam auf, setzen sich in Bewegung — die Chaussee wird immer leerer, der Abstand vergrößert sich mehr und mehr, der Staub legt sich langsam —, Unheil und Unglück liegen in der Luft. Die Reiter sind unerbittlich.
Eine Stunde vergeht, eine zweite. Vorn die leere Chaussee schimmert bedrückend weiß, wie der Tod. Weiber mit geschwollenen Augen schluchzen, jammern. Zwischen den Bäumen blaut das Meer, und die Wolken blicken über die Waldhöhen auf das Meer hinab.
Irgendwo ertönt ein schwerer Kanonenschuss, dann ein zweiter, ein dritter. Eine Salve rollt über die Schluchten, Wälder und Berge. Gleichmütig und kalt trommelt ein Maschinengewehr dazwischen.
Da geraten auf einmal sämtliche Peitschen in krampfhafte Bewegung und fallen sausend auf die Pferderücken nieder. Die Pferde reißen sich los, bäumen sich, drängen vor, aber die Reiter beginnen, unnatürlich fluchend, mit ihren Nagaikas auf Pferdeköpfe, Augen, Ohren dreinzuschlagen. Die Pferde schnauben, schütteln die Köpfe, blähen die roten Nüstern, sie wälzen die runden Augen, werfen sich gegen die Deichseln, bäumen sich auf. Aber von hinten drängen die Pferde der anderen Wagen nach, unmenschlich gehetzt, von Peitschen geprügelt; Kinder schreien, hauen mit Gerten auf die Beine und Bäuche der Tiere; Weiber reißen aus allen Kräften an den Zügeln; Verwundete schlagen mit ihren Krücken gegen die Flanken der Pferde.
Die wild gewordenen Pferde stürzten vorwärts, warfen die Reiter beiseite und jagten vor Entsetzen schnaubend mit vorgestreckten Köpfen und zurückgelegten Ohren auf der Chaussee. Bauern sprangen in die Wagen; Verwundete klammerten sich an die Deichseln, fielen hin, wurden mitgeschleift, rollten in die Chausseegräben.
Durch die weißlich wirbelnden Staubknäuel jagte das Dröhnen der Räder, das unerträgliche Klirren der unter den Wagen hängenden Eimer und das verzweifelte Gejohle dahin. Durch das Laub schimmerte das blaue Meer.
Man begann erst dann langsamer zu fahren, als man die Infanterie einholte.
Niemand wusste etwas Genaueres. Man sagte, dass vorn die Kosaken seien. Woher aber sollten hier die Kosaken auftauchen? Längst sind sie durch die Bergmassen voneinander getrennt. Einige meinten, es seien Tscherkessen, andere — Kalmücken oder Georgier oder Völker mit unbekannten Namen — unzählige Heere. Und das führte dazu, dass die Flüchtlingswagen sich noch ängstlicher an die Truppenteile drängten — es gab keine Mittel, sich von ihnen loszureißen, sei es denn, dass man sie bis auf den letzten Mann niederschieße.
Ob Kosaken oder Georgier, Tscherkessen oder Kalmücken — leben musste man. Wieder sang das Grammophon auf dem Pferderücken: »Lasst ab von mir, ihr Liebesplagen.« Von allen Seiten sangen die Burschen mit. Man ging, wie es gerade kam. Manche kraxelten den Berg hinauf, zerrissen sich an Dornen und Ästen die letzten Fetzen und aßen wie Tiere mit verzogenem Gesicht bittersaure Beeren und wilde Äpfel. Man sammelte Eicheln, kaute sie, spuckte sie wieder aus. Als sie dann aus dem Walde herauskamen, hingen ihnen die Fetzen vom blutig zerkratzen Leibe herab — sie hatten Mühe sich die Schamteile zu bedecken.
Weiber, Mädchen, Kinder — alle streben in den Wald. Schreiend, lachend, weinend — die Nadeln stechen, die Dornen ritzen, die Lianen winden sich um die Glieder —, es gibt kein vorwärts noch rückwärts mehr — aber mit dem Hunger ist nicht zu spaßen.
Zuweilen schieben sich die Berge zurück, die Abhänge werden weniger steil, kleine Felder mit unausgereiftem Mais leuchten herab, irgendwo ans Ufer schmiegt sich ein Dörfchen an. Im Nu sind die Felder mit Menschen wie mit Heuschrecken bedeckt, Soldaten brechen die Stauden, gehen dann zur Chaussee zurück, lösen die feuchten Körner aus der Hülle und kauen lange und gierig an ihnen.
Mütter kauen ebenfalls, aber sie verschlucken die Körner nicht, sondern schieben mit ihren warmen Zungen den gekauten Brei ins Mäulchen ihrer Kinder.
Aber weit vorn ertönten wieder Schüsse, knattert wieder ein Maschinengewehr — doch niemand beachtet es mehr, man hat sich daran gewöhnt. Dann wieder Ruhe. Das Grammophon zwitschert: »Ich glaub' nicht mehr den Schwüren...«
Im Walde erschallen Zurufe, klingt Lachen, von allen Seiten tönen Soldatenlieder. Die Flüchtlinge vermischen sich mit den letzten Infanterieabteilungen, und alles zusammen fließt, von mächtigen Staubwolken umgeben, rastlos auf der Chaussee entlang.
Zum ersten Male haben Feinde den Weg verlegt, neue Feinde. Warum? Was wollen sie?
Koshuch begreift — es ist wie eine Mausefalle. Links — die Berge, rechts — das Meer, und dazwischen die schmale Chaussee. Die Chaussee führt über einen schäumenden Gebirgsbach, dessen Ufer eine Brücke nach Art der Eisenbahnbrücken verbindet: Man kommt um diesen Punkt nicht herum. Vor der Brücke haben die Feinde Maschinengewehre und Geschütze aufgestellt. In diesem von stählernen Balken umrahmten Loch kann man die stärkste Armee zum Halten bringen. Ja, wenn man sich entfalten könnte — es ist eben anders als in den Steppen.
Man reicht ihm einen Befehl von Smolokurow, der ihn darüber belehrt, wie man den Feind angreifen müsse. Gelb vor Wut wie eine Zitrone und die Kinnbacken zusammenpressend, wirft Koshuch ihn fort, ohne ihn gelesen zu haben. Die Soldaten heben ihn eilig auf, glätten ihn auf den Knien und drehen sich Zigaretten daraus, die sie mit trockenem Laub stopfen.
Die Truppen ziehen sich längs der Chaussee hin. Koshuch betrachtet sie: abgerissen, barfuss, die Hälfte hat zwei, drei Patronen pro Mann, die andere Hälfte hat überhaupt keine Munition mehr. Ein einziges Geschütz mit nur sechzehn Geschossen. Aber Koshuch presst die Kinnladen zusammen, sieht die Soldaten mit einem Blick an, als wenn ein jeder von ihnen dreihundert Patronen im Sack hätte, als wenn Batterien mit überfüllten Munitionskästen dastünden und als wenn ringsherum die vertraute Steppe sich ausbreitete, auf der sich die ganze Kolonne frei entfalten könne.
Und mit ebensolchen Augen, mit demselben Gesicht sagt er: »Genossen! Wir haben uns mit den Kosaken und Kadetten geschlagen. Wir wissen, warum wir mit ihnen gekämpft haben — deshalb, weil sie die Revolution erdrosseln wollten.«
Die Soldaten sahen ihn mit finsteren Gesichtern an, und ihre Augen sagen:
,Das wissen wir auch ohne dich. Was soll das schon... Aber in das Loch da vorn auf der Brüske wollen wir ja doch nicht kriechen...'
»... die Kosaken sind wir los — die Berge schützen uns, wir können eine Weile aufatmen. Aber ein neuer Feind verlegt uns den Weg. Wer ist dieser Feind? Es sind georgische Menschewiki, und die Menschewiki sind dasselbe wie die Kadetten, auch sie verbrüdern sich mit den Reichen und denken nur an das eine — wie sie der Sowjetmacht den Garaus machen könnten...«
Und die Soldatenaugen sprechen:
,Liebt euch nur immer — du und deine Sowjetmacht! Wir sind barfuss, nackt, und zu fressen haben wir auch nichts...'
Koshuch verstand ihre Augensprache, er wusste, das ist der Untergang.
Und er griff zum letzten Trumpf, er wandte sich an die Kavalleristen:
»Genossen, eure Aufgabe ist: die Brücke im Sturm nehmen.«
Bis auf den letzten Mann verstanden die Kavalleristen, dass der Kommandierende ihnen eine wahnwitzige Aufgabe stellt: der Ritt über die schmale Brücke, im Gänsemarsch (auf der Brücke kann man sich nicht entfalten), unter Maschinengewehr- und Geschützfeuer, das bedeutet, dass die eine Hälfte auf der Brücke fallen und die andere — da sie über den Berg von Leibern nicht herüberspringen kann — beim Rückprallen niedergemäht wird.
Aber die Gestalten waren so schlank, die Reiterkittel legten sich so eng um die silbergegürteten Hüften, die Fellmützen saßen so forsch auf den Köpfen, die Waffen der Väter und Großväter blinkten so mutig in der Sonne, und die prachtvollen Steppenpferde schüttelten so lebhaft ihre Köpfe, und alle sahen auf sie, mit offensichtlichem Gefallen, dass sie laut ausriefen:
»Wir nehmen die Brücke, Genosse Koshuch!«
Das gedeckt aufgestellte Geschütz begann, Felsenschluchten und Berge mit gewaltigem, wachsendem Echo erfüllend, jenen Punkt hinter der Brücke zu beschießen, wo die feindlichen Maschinengewehre aufgestellt waren, während die Kavalleristen, sich die Fellmützen zurechtrückend, schweigend, lautlos und ohne einen Schuss abzugeben, hinter der Wegbiegung hervorsprengten und mit ihren Pferden, die vor Schrecken die Ohren zurücklegten, die Hälse streckten und die blutroten Nüstern blähten, zur Brücke und über die Brücke jagten.
Die georgischen Maschinengewehrschützen duckten sich unter den aufknallenden Schrapnellwölkchen, das wilde Dröhnen in den Bergen betäubte sie... Auf eine solche Tollkühnheit nicht gefasst, griffen sie zu spät zu den Maschinengewehren... Ein Pferd fiel, ein zweites, ein drittes, aber die Mitte der Brücke war schon erreicht, dann das Ende der Brücke — jetzt fiel der sechzehnte, der letzte Schuss des Geschützes — und... die Feinde ergriffen die Flucht.
Hurraaa!... Es begann ein Gemetzel.
Die georgischen Truppenteile, die in einiger Entfernung von der Brücke aufgestellt waren, zogen sich auf der Chaussee zurück und verschwanden hinter der Straßenbiegung.
Jene aber, die unmittelbar an der Brücke standen und denen der Rückzug jetzt abgeschnitten war, stürzten zum Ufer. Die georgischen Offiziere aber waren ihnen schon vorausgeeilt, sie sprangen in die Boote und ruderten auf die Dampfer zu. Dichte Rauchwolken stiegen aus den Schornsteinen auf — die Dampfer gingen in See.
Bis zum Halse im Wasser stehend, streckten die georgischen Soldaten die Arme nach den Dampfern aus und schreien, verfluchten, beschworen sie bei dem Leben ihrer Kinder — von hinten aber sausten Säbelhiebe auf sie nieder, und blutige Lachen bildeten sich auf dem Wasser.
Immer kleiner wurden die Dampfer, als winzige schwarze Punkte verschwanden sie am Horizont, und am Ufer gab es niemand mehr, der flehen und fluchen konnte.
Felsige Höhen begannen sich über den Wäldern und Schluchten zu türmen. Wenn ein Windhauch von dort herüberkommt, bringt er Kühle mit, auf der Chaussee unten aber — Fliegen, Glut, Staubwolken.
Die Chaussee zog sich jetzt wie ein schmaler Korridor hin — hohe Felsen ragen an beiden Seiten auf. Von den Höhen hängen herausgewaschene Wurzeln. Die Windungen der Chaussee hindern immer häufiger den Ausblick nach vorn und zurück. Man kann weder abbiegen noch umkehren. Und unaufhaltsam strömt die lebendige Masse durch dieses Felsenbett. Steinmassen verbergen das Meer.
Die Bewegung stockt. Wagen halten an, Menschen und Pferde. Lange, ermüdend lange wartet man, dann kommt der Zug wieder langsam in Bewegung, um nach einer Weile wieder haltzumachen. Niemand weiß etwas, es ist nichts zu sehen — nur Wagen, Steinmauern und oben ein Stückchen blauen Himmels.
Ein dünnes Stimmchen:
»Ma-ama, essen!...«
Und auf dem nächsten Wagen:
»Ma-ama, essen!...«
Und auf dem dritten auch.
»Werd't ihr wohl still sein! Wo soll ich's denn hernehmen... Soll ich etwa die Wände da 'raufklettern? Ihr seht doch die Wände.«
Die Kinder wollen nicht still sein, schluchzen und jammern, dann erheben sie ein Zetergeschrei.
»Ma-ama...! Gib Maisgrütze! Beeren! Maisgrütze!«
Wie gehetzte Wölfinnen blicken die Mütter mit blitzenden Augen um sich, prügeln die Kinder.
»Kusch!... ist ja rein nicht zum Aushalten! Wenn ihr bloß endlich krepieren würdet, ihr reißt einem ja das Herz aus dem Leibe...«, und sie weinen böse, ohnmächtige Tränen.
Irgendwo, weit weg, fallen Schüsse. Niemand beachtet es, niemand weiß etwas.
Sie stehen eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden, setzen sich dann in Bewegung und halten wieder.
»Ma-ama! Maisgrütze!«
Die Mütter sind so erbost, dass sie allen an die Kehle fahren könnten; sie wühlen in den Wagen, beschimpfen sich gegenseitig, suchen junge Maishalme hervor, kauen sie lange, qualvoll, bis das Blut aus dem Zahnfleisch fließt, dann neigen sie sich zu dem gierig geöffneten Kindermund und füllen ihn, mit Nahrung. Die Kinder versuchen zu schlucken, das harte Stroh sticht im Hals, sie husten, sind am Ersticken, spucken es aus, brüllen.
»Ich will nicht, ich wi-ill nicht!«
Die verzweifelten Mütter fallen über sie her.
»Was wollt ihr denn... satt seid ihr eben...«
Die Kinder schmieren sich die Tränen über das schmutzige Gesicht, versuchen zu schlucken, würgen sich damit.
Die Kinnladen zusammengepresst, beobachtet Koshuch von einem Felsen aus mit einem Feldstecher die Stellungen des Feindes. Die Kommandeure drängen sich um ihn, sehen ebenfalls durch Feldstecher; Soldaten kneifen ihre Augen zu und sehen auch ohne Feldstecher nicht schlechter als die Kommandeure.
Hinter der Biegung wurde die Schlucht weiter. Durch den breiten Trichter leuchten blau die fernen Berge. Dichte Wälder liegen an den Abhängen des Gebirgsstocks, der die Kluft versperrt. Sein vorderer Teil ist kahl und steinig, und der Gipfel ragt ganz steil acht Meter empor. Dort sind die Schützengräben des Gegners, und sechzehn Geschütze blicken gierig auf die aus dem Korridor sich herausschlängelnde Chaussee.
Als die Kolonne das Felsentor verlassen wollte, begannen Geschütze und Maschinengewehre zu arbeiten. Die Soldaten fluteten hinter die Felsen zurück. Koshuch sieht klar: Hier kommt nicht einmal ein Vogel lebendig durch. Die Kolonne kann sich nicht entfalten, es gibt nur einen Weg — die Chaussee, und dort ist der Tod. Er blickt auf das weißschimmernde Städtchen, weit unten am Ufer, auf die blaue Bucht, in der dunkel georgische Dampfer stehen. Man muss etwas Neues ausdenken, aber was? Ein Ausweg muss gefunden werden, aber welcher? Und er kniet nieder und beginnt auf der auf dem Staub der Chaussee ausgebreiteten Karte herumzukriechen, er prüft die geringsten Windungen, die kleinsten Pfade und Falten des Gebirges.
»Genosse Koshuch!«
Koshuch hebt den Kopf. Zwei stehen vor ihm — auf unsicheren Beinen.
,Die Canaillen! Haben sich schon vollgesoffen...'
Aber er sieht sie schweigend an.
»Also, Genosse Koshuch, über das weiße Handtuch da springen wir nicht 'rüber — Georgien schließt uns alle zusammen. Wir haben sozusagen ausgekundschaftet... freiwillig!«
Koshuch wendet den Blick nicht von ihnen ab.
»Na, atme mal! Aber ordentlich, atme mich an und nicht in dich hinein! Du weißt, darauf steht Erschießen!«
»Ich schwöre dir bei allen Heiligen — das ist Waldluft, wir gingen die ganze Zeit durch den Wald, und da haben wir uns damit vollgeatmet.«
»Oder meinst du etwa, es gibt in diesem Wald Schenken und Gastwirtschaften?!« fällt der andere, mit den listig-lustigen ukrainischen Augen, ein. »Im Wald gibt's nur Bäume und Vögel, zu saufen nichts.«
»Na, was gibt's, redet!«
»Also, Genosse Koshuch, wir gehen zu zweit, er und ich, und führen ein ernstes Gespräch miteinander: sollen wir hier nun alle auf der Chaussee sterben oder zurückgehen und den Kosaken in den Rachen fallen? Sterben wollen wir nicht, und in den Rachen wollen wir auch nicht. Also, was tun? Da sehen wir hinter den Bäumen eine Kneipe. Wir schleichen heran — vier Georgier sitzen da, trinken Wein und essen Schaschlyk —, das ist ja bekannt — die Georgier sind Trunkenbolde. Und der Bratenduft sticht uns so in die Nase, dass es nicht mehr zum Aushalten war. Die Kerle haben alle Revolverchen. Wir springen heraus, schießen zwei nieder: ,Halt, nicht vom Fleck! Ihr seid umzingelt, Hände hoch! Sie stehen ganz sprachlos da, die haben uns nicht erwartet; den dritten haben wir niedergestochen, und diesen da gebunden, der Schankwirt hat einen Schreck gekriegt, dass bald gestorben wäre. Es ist wahr, den Schaschlyk haben wir gefuttert, den Wein aber haben wir nicht angerührt — weil Sie es uns doch so befohlen haben.«
»Mag es der Teufel holen, das elende Gesöff! Bei Gott, nicht einmal gerochen haben wir dran... mag der Satan mir die ganze Fresse umdrehen, wenn es nicht wahr ist. Mag...«
»Zur Sache!«
»Wir schleppten also die Georgier in den Wald, nahmen ihnen die Waffen ab und brachten den vierten und den Wirt hierher. Unterwegs begegnen wir fünf Bauern mit Weibern und Mädchen — 's sind unsere russischen Bauern, die in der Nähe der Stadt wohnen. Sind auf die Georgier schlecht zu sprechen, die sind ja auch nicht unsere Landsleute, diese braunen Teufel, stellen immer unseren weißen Mädchen nach. Die Bauern haben alles liegen- und stehen lassen und sind mit uns gekommen. Sie sagen nun, dass es Wege gibt, auf denen man die Stadt umgehen kann. Schwere Wege, über Abgründe, an Felsen vorbei, aber gangbar sind sie. Ein Angriff von vorn, meinen sie, ist nicht möglich. Aber die Wege und Pfade kennen sie, wie ihre fünf Finger. Na klar, schwer ist es, aber vorn ist doch der Untergang, und man kann ihn vermeiden...«
»Wo sind sie?«
»Hier!«
Ein Bataillonskommandeur kommt auf Koshuch zu.
»Genosse Koshuch, wir waren eben am Meer, dort kommt man nicht durch: steiniges Ufer, fällt steil ins Wasser ab.«
»Ist es dort tief?«
»Dicht am Felsen bis zum Gurt oder auch bis zum Halse, stellenweise — darüber.«
»Das macht nichts«, sagt ein danebenstehender zerlumpter Soldat mit einem Gewehr in der Hand, der aufmerksam zugehört hat. »Es sind ja Steine da, sind von den Felsen ins Meer gestürzt, man kann, wie ein Hase, von Stein zu Stein springen.«
Von allen Seiten kommen zu Koshuch Meldungen, Hinweise, Pläne, die oft unerwartet geistreich sind und die die allgemeine Lage klären.
Die Kommandeure werden zu einer Beratung gerufen. Koshuchs Kinnladen sind hart aufeinandergepresst, die stechenden Augen blicken unnahbar unter der vorgeschobenen Stirn.
»Genossen, so steht es: alle drei Eskadronen fallen auf einem Umwege in die Stadt ein. Der Umweg ist schwierig, geht durch Wälder, über Felsen, an Abgründen vorbei, und dazu muss man den Marsch nachts ausführen. Aber er muss um jeden Preis gemacht werden.«
,Wir werden zugrunde gehen... alle unsere Pferde verlieren... ' stand in den Augen der Reiter zu lesen — ihre Zunge hätte es nicht ausgesprochen.
»Wir haben fünf Führer — es sind Russen, die hier lange leben. Die Georgier haben ihnen hart zugesetzt... Ihre Familien bleiben in unserer Hand. Es ist den Führern gesagt worden, dass ihre Familien für sie haften. Der Angriff muss im Rücken der Stadt ausgeführt werden...«
Er schwieg eine Weile, blickte in die durch die Schlucht heraufkriechende Nacht und fügte kurz hinzu:
»Alles niedermachen!«
Die Kavalleristen rückten ihre Fellmützen verwegen in den Nacken:
»Wird gemacht, Genosse Koshuch!«
Und sie schwangen sich gewandt in die Sättel.
Koshuch:
»Das Infanterieregiment... Genosse Chromow, Sie steigen mit Ihrem Regiment die Felswand zum Ufer hinab und schleichen über die Steine am Wasser zum Hafen. Bei Morgendämmerung schlagen Sie ohne einen einzigen Schuss zu und besetzen die Dampfer.«
Und wieder fügte er nach einer kurzen Pause hinzu: »Alles niedermachen!«
,Die Georgier brauchen auf den Schiffen nur ein Maschinengewehr aufzustellen, und das ganze Regiment wird zum Teufel gehen..." dachten sie, sagten aber mit entschlossenen Stimmen:
»Zu Befehl, Genosse Koshuch.«
»Zwei Regimenter sind für den Sturmangriff bereitzustellen.«
Nach und nach begann die sanfte Röte der fernen Berggipfel zu verlöschen: gleichmäßiges, tiefes Blau kroch aus der Tiefe zu den Spitzen. Durch die Schluchten schlich die Nacht.
»Ich werde sie führen«, sagte Koshuch.
Vor aller Augen breitete sich das regungslose Bild aus: der schwarze Hochwald, dahinter eine Bergwand und darüber, wie der Tod mit leerem Blick, der einsame Felsvorsprung. Das stand eine Zeitlang und verblasste. Die Nacht kroch durch die Schluchten. Koshuch kletterte auf einen Felsblock. Unten grau, schmutzige Fetzen, nackte Füße, eine Menge funkelnder Bajonettspitzen.
Keiner wandte den Blick von Koshuch: er besaß das Geheimnis, die Frage über Leben und Tod zu lösen. Er war verpflichtet, einen Ausweg zu finden, einen Ausweg — alle sahen es klar — aus einer ausweglosen Lage.
Von diesen Tausenden auf ihn gerichteten fordernden Augen getragen, sich im Besitz des unfassbaren Geheimnisses über Leben und Tod fühlend, sagte Koshuch:
»Genossen! Wir haben keine Wahl: entweder fallen wir hier, oder die Kosaken dahinten werden uns bis auf den letzten Mann niedermetzeln. Die Schwierigkeiten sind fast unüberwindlich: Wir haben keine Patronen, keine Munition für die Geschütze, wir müssen mit bloßen Händen kämpfen, und von dort blicken uns sechzehn Geschütze an. Aber wenn alle...«, dann brüllte er mit einer wilden, fremden Stimme auf, dass allen das Herz zusammenzuckte: »Wenn alle wie ein Mann dreinschlagen, dann liegt der Weg zu den Unsrigen frei!«
Das, was er sagte, wusste auch ohne ihn jeder, auch der einfachste Soldat, aber als er mit dieser seltsamen Stimme aufschrie, waren alle von der Neuheit des Gesagten überrascht; die Soldaten riefen:
»Wie ein Mann! Wir schlagen uns durch oder fallen.«
Die letzten Flecken der weißschimmernden Felsen verschwanden. Nichts mehr zu sehen: weder Berge noch Felsen noch Wälder. Die letzten Reihen der abziehenden Pferde verschwanden. Man konnte auch die hinabsteigenden Soldaten nicht sehen, die, einander an den Lumpen haltend, ausgleitend, zum Meeresstrand hinunterschlichen. Die letzten Reihen der zwei Regimenter tauchten in den undurchdringlichen Wald, über dem der steile Felsen mit den Feinden wie der Tod mit geschlossenen Augen fühlbar war.
Die Wagenkolonne erstarrt im nächtlichen Schweigen. Kein Feuer, kein Gespräch, kein Gelächter, selbst die Kinder legten sich lautlos, trotz des brennenden Hungers, nieder. Schweigen, Dunkelheit,
Ein georgischer Offizier in einem enggegürteten roten Tscherkessenkittel mit goldenen Achselklappen, schwarzen mandelförmigen Augen, die die Frauen (er wusste es gut) um den Verstand brachten, ging auf dem Bergplateau auf und ab und warf prüfende Blicke um sich. Schützengräben, Brustwehren, Maschinengewehre.
Vierzig Meter weiter ein ungangbarer, steiler Abhang, darunter ein steiniger Pfad, und dann die undurchdringliche Finsternis der Wälder, und hinter den Wäldern — jene Felsenschlucht, aus der das weiße Band der Chaussee sich hinauswindet. Dorthin sind die Geschütze gerichtet, dort ist der Feind.
Mit gleichmäßigen Schritten gehen die Posten in schmucken, funkelnagelneuen Uniformen an den Maschinengewehren auf und ab.
Dieses zerlumpte Gesindel da unten hat heute morgen tüchtig abgekriegt, als es den Versuch machte, hinter dem Felsen hervorzukommen — sie werden es nicht so bald vergessen.
Er, der Oberst Micheladse (so jung und schon ein Oberst), hat diese Stellung auf dem Bergpass gewählt und im Generalstab auf ihr bestanden. Sie ist der Schlüssel, der das ganze Ufergebiet abschließt.
Er warf wieder einen Blick auf das Steinplateau, auf den steilen Abhang, auf die Uferfelsen, die ebenfalls steil ins Wasser abfielen — ja, alles war wie auf Bestellung gemacht, um jede beliebige Armee aufhalten zu können.
Aber damit nicht genug. Es genügt nicht, sie nicht heranzulassen, man muss sie vernichten. Und er hat schon einen Plan dazu ausgearbeitet: Es müssen Dampfer mit Truppentransporten in den Rücken — dorthin, wo die Chaussee zum Meeresufer hinunterläuft — geschickt werden, von den Schiffen aus das Feuer aufnehmen, Landungstruppen ausschiffen und diese ganze stinkende Bande in dem Felsenkorridor, wie Ratten in der Falle, einsperren.
Er ist es, Fürst Micheladse, der Besitzer eines nicht sehr großen, aber reizenden Landgutes bei Kutais, er ist es, der dieser giftigen das Ufer entlangkriechenden Natter mit einem Hieb den Kopf abhauen wird.
Die Russen sind die Feinde Georgiens, des herrlichen Georgiens mit seiner Kultur, ebensolche Feinde wie die Armenier, Türken, Aserbaidshaner, Tataren, Abchasier. Die Bolschewiki sind Feinde der Menschheit, sind Feinde der Weltkultur. Er, Micheladse, ist auch Sozialist, aber er (sollte man dieses kleine Mädchen, diese Griechin, vielleicht doch holen lassen?... nein, es geht nicht... der Soldaten wegen...) ist ein echter Sozialist, mit einem tiefen Verständnis für den Mechanismus der historischen Ereignisse, aber er ist ein Todfeind aller Abenteurer, die unter der Maske des Sozialismus auf die niedrigsten Instinkte der Massen spekulieren...
Er ist nicht blutgierig, das vergossene Blut ekelt ihn an, aber wenn es sich um die Weltkultur handelt, um das Wohl und die Größe seines Volkes — dann ist er unerbittlich. Diese da müssen bis auf den letzten Mann vernichtet werden!
Er geht mit einem Feldstecher in der Hand auf und ab, blickt auf den drohenden, steilen Abhang, in das Dunkel der undurchdringlichen Wälder, auf den weißen, gewundenen Streifen der öden Chaussee, auf die sich im Abendrot rötenden Bergkuppen, und hört die Stille, die friedliche Stille des weich anbrechenden Abends.
Dieser prachtvolle, aus bestem Tuch gefertigte Tscherkessenrock, der seine hübsche Gestalt so gut zur Geltung bringt, die schneeweiße Fellmütze, der kostbare, goldverzierte Dolch, der goldverzierte Revolver — das Werk des berühmtesten Meisters im Kaukasus, Osman —, alles das verpflichtet ihn zu einer Heldentat, zu einer besonders großen Leistung; alles das sondert ihn von allen ab, sowohl von den Soldaten, die bei seinem Anblick in strammer Haltung ersterben, als auch von den Offizieren, die seine Erfahrungen und seine Kenntnisse nicht haben; und wenn er mit elastischen Schritten auf und ab geht, fühlt er die Schwere seiner Einsamkeit.
»He!«
Ein Bursche springt herbei, ein junger Georgier mit einem unregelmäßigen, gelben, freundlichen Gesicht und ebensolchen mandelförmigen, feuchtschimmernden Augen wie die des Obersten; er salutiert:
»Herr Oberst befehlen?«
,... dieses... Mädchen... die Griechin... hol sie her...'
Aber er sagte es nicht, sondern fragte mit strengem Blick:
»Das Abendessen?«
»Zu Befehl. Die Herren Offiziere warten.«
Der Oberst schritt majestätisch an den auffahrenden, regungslos ersterbenden Gestalten der Soldaten vorbei — sie hatten alle magere Gesichter, sie hungerten, die Verpflegung war schlecht organisiert, und sie erhielten nur eine Handvoll Mais täglich. Sie salutierten, folgten ihm mit den Blicken, während er lässig mit seinem weißen Handschuh spielte. Er schritt an den abendlichen, verlöschenden Lagerfeuern, an Artilleriepferden und Gewehrpyramiden vorüber und trat in ein langes, weißes Zelt, in dem ein langer, mit Flaschen, Tellern, Gläsern, Kaviar, Käse, Obst schwer beladener Tisch funkelte.
Die Unterhaltung der jungen, ebenso wie er schlanken, ebenso wie er gekleideten Offiziere brach ab, alle erhoben sich.
»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte der Oberst.
Und als er sich in seinem Zelt niederlegte, wiegte ihn ein angenehmer Schwindel ein; er hielt dem Burschen, der ihm den funkelnden Lackstiefel ausziehen sollte, sein Bein hin. Der Oberst dachte:
,Schade, dass ich die Griechin nicht holen ließ... Übrigens ist es gut, dass ich es nicht getan habe...'
Die Nacht ist so gewaltig, dass sie die Berge und Felsen und die ungeheure Tiefe, die tagsüber unter der Bergwand gähnt, verschlingt.
An der Brustwehr geht ein Posten auf und ab, ebenso schwarzsamten ist er wie alles in dieser samtenen Finsternis. ET geht zehn Schritte vor, dreht sich langsam um, geht wieder zehn Schritte zurück. Wenn er in der einen Richtung geht, treten die unklaren Umrisse eines Maschinengewehrs aus der Dunkelheit, geht er zurück, dann wird der felsige Abhang spürbar, der bis zum obersten Rand gleichmäßig mit Dunkel gefüllt ist. Dieser unsichtbare steile Abhang verbreitet ein Gefühl der Ruhe und Sicherheit: keine Eidechse kann hier heraufklettern.
Und wieder langsam zehn Schritte vor, eine langsame Wendung und wieder...
Er hat zu Hause einen kleinen Garten, ein kleines Maisfeld, und seine Frau Nina, und auf ihren Armen — der kleine Sergo. Beim Abschied blickte ihn Sergo mit seinen kirschschwarzen Augen lange an, dann hüpfte er auf den Armen der Mutter, streckte die weichen, vollen Händchen in die Luft und lächelte ein reizendes, zahnloses Kinderlächeln. Als aber der Vater ihn auf seinen Arm nahm, spritzte er ihm Speichelblasen ins Gesicht. Und dieses zahnlose Kinderlächeln und diese Blasen schimmern nun durch die Dunkelheit.
Zehn langsame Schritte, der dunkle Umriss des Maschinengewehrs, eine langsame Wendung, der Rand des steilen Abgrunds, und wieder...
Die Bolschewiki haben ihm nichts Böses getan... Er wird sie von dieser Höhe aus beschießen... Keine Eidechse wird die Chaussee passieren können... Die Bolschewiki haben den Zaren gestürzt, und der Zar hat Georgien auch bloß ausgeplündert, sehr gut... Die Leute erzählen sich, dass man in Russland das ganze Land den Bauern gegeben hat... Er seufzte. Er ist Soldat, er wird schießen, wenn es ihm befohlen wird, auf jene, die dort hinter den Felsen sind.
Das zahnlose Lächeln und die Blasen tauchen, ungerufen, wieder aus der Dunkelheit; in der Brust wird es warm, der Mann lächelt, innerlich, aber auf dem dunklen Gesicht liegt tiefer Ernst.
Noch immer dehnt sich die gleiche Stille, bis zum Rande mit Finsternis gefüllt. Es geht wahrscheinlich zum Morgen, und diese Stille drückt ein wenig... Der Kopf ist unendlich schwer, er sinkt immer tiefer, um plötzlich wieder hochzufahren. Sogar inmitten der Nacht breitet sich undurchdringlich die ungleichmäßige Schwärze der Berge hin; über ihren Hängen blitzen einzelne Sterne.
Weit in der Ferne ertönt die Stimme eines Nachtvogels — eine seltsame Stimme. Wie kommt es, dass er in Georgien nie solche Nachtvögel gehört hat?
Alles ist mit Schwere erfüllt, ist unbeweglich und schwimmt ihm wie ein Ozean von Finsternis entgegen — und da ist nichts Seltsames dabei, dass es unbeweglich ist und doch ihm entgegenschwimmt.
,Nina, du?... Und wo ist Sergo?...'
Er schlug die Augen auf, der Kopf wackelt ihm auf der Brust, er selbst lehnt an der Brustwehr. Die letzten Sekunden des unterbrochenen Schlafes schwimmen vor seinen Augen durch den nächtlichen Raum.
Er schüttelt den Kopf, alles um ihn her scheint erstorben; er blickt misstrauisch ringsumher: dieselbe regungslose Dunkelheit, dieselbe kaum sichtbare Brustwehr und das Maschinengewehr und der Abgrund, den man nicht sieht, den man nur ahnt. Weit in der Ferne schrie ein Vogel auf. Solche Vögel gibt es doch in Georgien nicht...
Er richtet den Blick in die Ferne. Die gleiche zerklüftete Schwärze. Schwach schimmern die erblassenden Sterne — ihr Stand hat sich schon verändert. Dicht vor ihm — der schweigsame Ozean der Finsternis, und er weiß, dass in seiner Tiefe undurchdringliche Wälder sind. Er gähnt und denkt: ,Man muss auf und ab gehen, sonst...'
Aber er dachte nicht zu Ende, denn schon wieder begann die undurchdringliche Finsternis unter dem Abhang zu schwimmen, endlos, unüberwindlich, und "das Herz presste sich ihm kummervoll zusammen.
Er fragte:
,Kann denn die Nachtfinsternis schwimmen?'
Und es antwortete ihm:
,Doch, sie kann.'
Aber man antwortete nicht mit Worten, man lachte nur mit dem Zahnfleisch.
Und weil der Mund zahnlos und weich war, begann er sich zu fürchten. Er streckte die Hand aus, und Nina ließ den Kopf des Kindes fallen. Der graue Kopf rollte (das Herz stockte ihm), aber dicht über dem Rande hielt der Kopf an... Die Frau erstarrt entsetzt. — Ah!... aber nicht deshalb, sondern aus einem anderen Grunde: in der gespannten Morgenfinsternis grauten zahllose Köpfe am Rande des Abgrundes — wahrscheinlich sind sie alle gefallen und hinabgerollt... sie hoben sich immer mehr: es kamen Hälse zum Vorschein, Arme, Schultern, und eine eiserne, klirrende Stimme, als wenn sie zwischen geschlossenen Kinnladen mit Gewalt herausgepresst würde, brach in die Starrheit der Stille:
»Vorwärts!... Zum Sturm!!!...«
Ein unerträgliches, tierhaftes Gebrüll zerriss die Dunkelheit ringsum. Der Georgier schoss, warf die Hände hoch, und... ein unerträglicher Schmerz stach ihm in den Rücken... Er brach zusammen und rollte dahin, und in diesem unmenschlichen Schmerz erlosch plötzlich das auf den Armen der Mutter mit ausgestreckten Händchen hüpfende Kind, das Blasen spritzte und sein zahnloses Lächeln lächelte.
Der Oberst stürzte aus dem Zelt und rannte hinab zum Hafen. Ringsherum flogen Soldatengestalten, sprangen über Steine und über die Gefallenen durch das sich lichtende Morgengrau. Von hinten kam ein unmenschliches, noch nie gehörtes Gebrüll. Pferde rissen sich los und rasten in wildem Entsetzen mit fliegendem Zaumzeug...
Wie ein munterer Bengel sprang der Oberst mit einer solchen Schnelligkeit über Steine und Sträucher, dass sein Herz alle Mühe hatte, nachzukommen. Vor seinen Augen schwebte nur das eine: die Bucht... die Dampfer... die Rettung...
Und mit derselben Geschwindigkeit, mit der sich seine Beine bewegten, schoss ihm der Gedanke — nein, nicht durch das Gehirn, sondern — durch den ganzen Körper:
,... Wenn sie nur nicht... wenn sie nur nicht... totschlagen... wenn sie mich nur verschonen... leben... nur leben... werde alles für sie tun... das Vieh, das Geflügel will ich hüten... Töpfe waschen... Erdarbeiten machen... den Mist fortschaffen... aber nur leben... mein Gott!... leben!...'
Aber das schwere, die Erde erschütternde Stampfen klingt furchtbar dicht hinter ihm, neben ihm: noch furchtbarer die sterbende Nacht erfüllend, rollt von hinten das wilde, unmenschliche Gebrüll: rra-a-a! und heisere, wütende Flüche.
Und wie um den Schrecken dieses Brüllens zu unterstreichen, ertönt bald hier, bald dort: Krach!... Krach!... Er weiß, was es ist, es sind Gewehrkolben, die Schädel zerschmettern. Klägliches Aufschreien, das plötzlich verstummt — er weiß, dass es der Tod unter dem Bajonett ist. Er rast, die Zähne zusammenbeißend, der glühende Atem pfeift ihm dampfend aus der Nase.
,... Nur leben... dass sie mich nur verschonten, ich habe keine Heimat, keine Mutter... keine Ehre, keine Liebe... nur dem Tode entgehen, dann wird das alles wieder kommen... Aber jetzt, leben, leben, leben!...'
Es schien, als seien alle Kräfte erschöpft, aber er straffte den Hals, zog den Kopf in die Schultern ein, presste die Fäuste zusammen und jagte mit einer solchen Schnelligkeit dahin, dass der Wind um ihn herumpeitschte und die wahnsinnig rennenden Soldaten zurückzubleiben begannen — ihre Todesschreie trugen den fliehenden Oberst weiter.
Krach!... Krach!...
Da blaut schon die Bucht... Die Dampfer... ah, die Rettung !...
Als er zur Landungsbrücke stürzte, hielt er eine Sekunde lang an: auf den Dampfern, auf der Brücke, am Kai, auf der Mole war etwas im Gange — ach, überall klang es: Krach! Krach!....
Er war bestürzt: auch hier war jenes furchtbare, die Luft erschütternde Brüllen, auch hier flammten Todesschreie auf und erloschen.
Er machte sofort kehrt und jagte mit größerer Leichtigkeit und Geschwindigkeit von der Bucht fort, zum letzten Male blitzte hinter der Mole das endlose Blau auf...
,... leben... leben... leben...'
Er jagte an weißen Häuschen vorbei, deren schwarze stumme Fenster seelenlos blickten, er jagte dorthin, wo die weiße, ruhige Chaussee nach Georgien führte. Aber nicht in das Groß-Georgien, nicht in jenes Georgien, das die Mission hat, in der ganzen Welt die Kultur zu verbreiten, nicht in jenes Georgien, das ihn zum Oberst gemacht hat, sondern in das liebe, einzige, heimatliche Georgien, wo die Blüten der Bäume im Frühling so herrlich duften, wo hinter den bewaldeten Höhen die Schneekuppen funkeln, wo die Glut klingend über der Erde steht, wo Tiflis ist, wo der Gebirgsfluss Kura schäumt und wo er seine Kindheit verbracht hat... ,... leben... leben... leben
Die Häuschen wurden seltener, es kamen Weinberge, und das Brüllen, das furchtbare Brüllen und die vereinzelten Schüsse blieben weit hinten, weit unten am Meere. ,Gerettet!!!'
In derselben Sekunde füllten sich alle Straßen wie mit einem Erdbeben: hinter der Straßenbiegung kam eine Flut von galoppierenden Pferden und mit ihr dasselbe entsetzliche Brüllen: rrra-a-a..., schmale Säbelstreifen funkelten auf.
Der ehemalige Fürst Micheladse, einstmals ein georgischer Oberst, stürzte sofort zurück. ,... rettet!!!'
Und den Atem anhaltend, jagte er in das Stadtzentrum. Einige Male hämmerte er gegen die Haustore, sie waren fest verschlossen und verriegelt, niemand gab ein Lebenszeichen von sich, dort gab es nur eine grenzenlose Gleichgültigkeit gegenüber allem, was sich auf der Straße abspielte.
Da wusste er, dass die einzige Rettung — die Griechin war. Mit schwarzfunkelnden liebevollen Augen wartet sie jetzt auf ihn. Sie ist der einzige Mensch in der Welt, den er noch hat... er wird sie heiraten, ihr sein Geld und sein Gut schenken, den Saum ihres Kleides küssen...
Mit furchtbarer Gewalt sprengte eine Explosion seinen
Kopf.
In Wirklichkeit war es keine Explosion: es war ein Säbel, der ihn spaltete und sein Hirn verspritzte.
Die Glut flammt immer mehr auf. Ein unsichtbarer toter Nebel liegt schwer über der Stadt, den Straßen und Plätzen, den Kais. Die Mole, die Höfe, die Chaussee sind mit Körpern bedeckt. In den verschiedensten Stellungen liegen regungslose Menschenhaufen. Die einen haben furchtbar verdrehte Köpfe, die anderen sind ohne Köpfe. Wie Gallert zitterten Gehirnklumpen auf dem Pflaster. Wie in einem Schlachthause ziehen sich Ströme geronnenen Blutes längs der Häuser und Mauern, rinnen unter den Toren.
Auf den Dampfern, in den Kajüten, auf der Kommandobrücke, auf Deck, in den Laderäumen, vor den Feuerungen, zwischen den Maschinen liegen sie — mit feinen Gesichtern, mit jungem, dunklem Bartflaum. Regungslos hängen Körperteile über den Rand des Kais, und wenn man in das durchsichtig blaue Wasser blickt, liegen sie ruhig auf den schleimiggrünen Steinen — graue Fischscharen decken sie fast zu.
Nur aus dem Zentrum der Stadt klingen häufige Schüsse und hastiges Geknatter eines Maschinengewehrs: bei der Kathedrale hat sich eine georgische Kompanie festgesetzt und stirbt heldenhaft. Aber auch ihre Schüsse sind bald verstummt.
Die Toten liegen da, und die Lebenden überfüllen das Städtchen, die Straßen, die Höfe, die Häuser, die Kais, die Chaussee, die Abhänge und Schluchten, Ströme von Menschen, Pferden und Wagen. Hasten, Lachen, Lärmen, Rufen.
Zwischen den Lebenden und Toten reitet Koshuch.
»Sieg, Genossen, Sieg!«
Und als gäbe es keine Toten und kein Blut, klingt es freudig und ungestüm: »Hurra!«
Weit in den blauen Bergen hallt es wider und erstirbt hinter den Dampfern und Molen in dem feuchten Blau.
Aber auf den Basaren, in den Läden, in den Geschäften ist ein geschäftig Hasten und Rennen: man zerschlägt Kisten, zerreißt Tuchballen, häuft Berge von Wäsche, Decken, Schlipsen, Brillen, Unterröcken auf.
Vor allem sind die Matrosen da. Überall blinken die stämmigen Gestalten in den weißen Jacken und breiten Hosen, die goldbedruckten Bänder flattern über den schwarzgebräunten Nacken. Schallend klingt es: »Klargemacht!« »Legt an!...« »Marsch ab...« »Jetzt — das nächste Regal!«
Sie arbeiten geschickt, schnell, organisiert. Der eine stülpt sich einen prachtvollen Damenhut auf, wickelt einen Schleier um die borstigen Kinnladen, der andere gefällt sich unter einem seidenen Spitzenschirm.
Soldaten, unglaublich zerlumpte barfüßige Soldaten rennen umher, holen sich Kattun, Leinwand, Rohleinen für ihre Frauen und Kinder.
Einer zerrt aus einem Karton gestärkte Hemden hervor, hält ein Hemd hoch und brüllt:
»Jungens, Hemden, habt ihr schon so etwas gesehen!« Wie in ein Kumt steckt er den Kopf durch die Hemdbrust. »Warum biegt sich das nicht? Wie aus Pappe!« Und er bückt sich und streckt sich, blickt sich auf die Brust, wie ein Schafbock.
»Wahrhaftiger Gott, das biegt sich nicht, wie aus Pappe!« »Du Narr! Es ist gestärkt.«
»Was heißt — gestärkt?«
»Die Herren machen das mit Kartoffelmehl, damit sie eine Brust haben.«
Ein langer dürrer Bursch, der schwarze Körper schimmert überall durch die Lumpen, brachte einen Frack ans Tageslicht. Lange betrachtete er ihn von allen Seiten, warf sich kurz entschlossen die Fetzen ab und steckte seine wie bei einem Orang-Utan langen zottigen Arme in die Ärmel, sie reichten nur bis zum Ellbogen. Er zog ihn direkt auf den nackten Körper an. Knöpfte vorne zu, unten war der Ausschnitt. Er murmelte:
»Eine Hose müsste man haben.«
Er begann zu suchen, die waren schon fort. Er ging in die Wäscheabteilung, zog einen Karton hervor, der Seltsames enthielt. Er breitete es auseinander, murmelte wieder:
»Merkwürdig! Hosen und doch keine Hosen, verdammt dünn sind sie. Fjodor, was ist das?«
Aber Fjodor hatte alle Hände voll zu tun, er zerrte Kattunballen hervor, Frau und Kinder waren ja fast nackt.
Der Soldat betrachtete seine Beute eine Weile und begann dann, finster entschlossen, sich die Fetzen, die einmal eine Hose waren, vom Leibe zu reißen. Und er zog sich das Gefundene über die sehnigen, von Sonne und Schmutz schwarzen Beine. Es stellte sich heraus, dass das, was er gefunden, nicht einmal bis zu den Knien reichte und mit Spitzen besetzt war.
Fjodor sah ihn an und brach in ein lautes Gelächter aus:
»Jungens, schaut mal hin, der Opanas...!«
Der Laden bebte vor Lachen:
»Das sind doch Weiberhosen!!«
Opanas gab finster zur Antwort:
»Na, und ist ein Weib etwa kein Mensch?!«
»Wie willst du denn in dem Ding laufen, ist ja geschlitzt, man sieht ja alles, und dünn ist es auch.«
Opanas betrachtete sie betrübt.
»Es ist wahr... diese Schafsköpfe, machen die Hosen aus einem so dünnen Stoff, verderben bloß das Material.«
Er holte alles heraus, was der Karton enthielt, und begann schweigend ein Paar über das andere anzuziehen. Sechs Stück waren es; prächtige Spitzenwolken schwollen über seinen Knien an.
Die Matrosen horchten eine Weile hinaus und stürzten plötzlich zu den Türen und Fenstern. Draußen erklangen schwere Huftritte, Flüche, Peitschen knallten auf menschlichen Körpern. Die Soldaten stürzten zu den Fenstern. Matrosen rannten aus Leibeskräften über den Platz, bemüht, das Aufgeraffte zu retten. Kavalleristen jagten hinter ihnen drein, hieben unerbittlich mit Peitschen auf sie ein, blaue Striemen legten sich über die Gesichter und Hälse, Blut rann.
Die Matrosen blickten wie gehetzte Hunde um sich, warfen endlich ihre vollgestopften Säcke hin und stoben nach allen Seiten auseinander.
Unruhig, hastig wirbelten die Trommeln. Der Hornist blies zum Appell.
Zwanzig Minuten später standen Soldatenreihen mit strengen Gesichtern auf dem Platz. Seltsam kontrastierte diese Strenge mit ihrer Kleidung. Die einen standen wie ehedem in durchschwitzten Lumpen, die andern in gestärkten, mit Stricken umgürteten Hemden, manche in Damennachtjacken oder Leibchen, aus denen die schwarzen Hälse und Arme seltsam hervorstarrten. Und der Flügelmann der dritten Kompanie, ein großer, dürrer Mann mit finsterem Gesicht, stand im schwarzen Frack da, die Spitzen der Damenhöschen reichten ihm bis zu den Schenkeln.
Mit fest zusammengepressten Kinnladen trat Koshuch auf die Reihen zu, seine Augen waren grau, funkelten scharf. Hinter ihm die Kommandeure in schönen georgischen Fellmützen, in purpurnen Tuchröcken mit silberbeschlagenen Dolchen.
Koshuch stand eine Weile da, das spitze Funkeln seiner kleinen Augen strich über die Reihen.
»Genossen!«
Es war dieselbe rostig klingende Stimme, die nachts »Vorwärts! Zum Sturm!« kommandiert hatte.
»Genossen! Wir sind eine revolutionäre Armee, wir kämpfen für unsere Kinder und Frauen, für unsere alten Mütter und Väter, für die Revolution, für unser Land. Und wer hat uns das Land gegeben?«
Er schwieg und wartete, obwohl er wusste, dass keine Antwort kommen würde, denn sie standen in Reih und Glied.
»Wer hat uns das Land gegeben? Die Sowjetmacht! Und was habt ihr getan? Ihr seid zu Räubern geworden! Ihr seid auf Raub ausgegangen!«
Die Stille war so gespannt, dass es schien, sie würde jeden Augenblick platzen. Und das rostige Eisen brach klirrend weiter, dröhnte:
»Ich, der Kommandierende der Kolonne, bestimme, dass jeder, der auch nur einen Faden genommen hat, 25 Rutenschläge erhält.«
Alle sahen ihn regungslos an, ohne die Augen von ihm abzuwenden. Er war abgerissen, die Hosen hingen in Fetzen an ihm, der alte Strohhut war wie ein Pfannkuchen.
»Wer auch nur etwas Geraubtes hat, trete drei Schritt vor!«
Eine Sekunde Schweigen dehnte sich, niemand rührte sich. Plötzlich aber dröhnte die Erde: Eins! Zwei! Drei! Es waren nicht viele, die in ihren zerfetzten Lumpen stehen blieben.
Aber im vorgetretenen Glied standen sie buntscheckig aufgeputzt.
»Alles, was ihr in der Stadt genommen habt, wird zusammengetan und an eure Frauen und Kinder verteilt. Legt alles hin, alles, was ihr habt!«
Die erste Reihe geriet in Bewegung und begann Stücke von Kattun, Leinwand und Rohleinen niederzulegen, die andern fingen an, ihre gestärkten Hemden, Damenjäckchen und Leibchen auszuziehen, auf der Erde bildeten sich Häuflein, vor denen nackte, verbrannte Gestalten standen. Auch der Flügelmann zog Frack und Damenhosen aus und stand dürr und nackt da.
Ein Wagen rollte vor, von dem ein Bündel Ruten genommen wurde.
Koshuch trat an den vorderen Flügelmann heran:
»Leg dich nieder!«
Der streckte sich auf alle viere und legte sich dann ungeschickt mit dem Gesicht auf die Damenhosen. Die Sonne brannte auf seinem nackten Hintern.
Koshuch brüllte heiser:
»Legt euch alle nieder!«
Und alle legten sich nieder und hielten ihren Rücken der heißen Sonne entgegen.
Koshuch sah sie an, und sein Gesicht war steinern. Haben nicht diese selben Menschen, als sie noch eine wilde Horde waren, ihn zum Befehlshaber gewählt? Haben sie ihm nicht zugeschrieen: »Verraten... Er hat uns verkauft!« Haben sie nicht mit ihm gespielt wie mit einem Holzspan? Haben sie ihn nicht mit ihren Bajonetten bedroht?
Und jetzt liegen sie demütig, nackt vor ihm.
Und eine Welle von Kraft und Macht, jener gleich, die ihn erfüllte, als er den Offiziersrang erstrebte, wallte in seiner Seele auf. Aber diesmal war es eine andere Welle, ein anderer Ehrgeiz. Er wird sie retten, er wird diese Menschen, die in der Erwartung der Züchtigung so demütig vor ihm liegen, zur Freiheit führen. Ja, jetzt sind sie demütig, aber wenn er es wagte ihnen zu sagen: Jungens, geht zurück zu den Kosaken, zu den Offizieren, dann würden sie ihn mit den Bajonetten aufspießen.
Und wieder rasselte Koshuchs rostige Stimme über die Liegenden:
»Anziehen!«
Alle erhoben sich und begannen ihre gestärkten Hemden, die Blusen und Jacken anzuziehen, und der lange Rotarmist kroch wieder in seinen Frack und in die sechs Höschen hinein.
Koshuch gab ein Zeichen, und zwei Soldaten ergriffen mit aufleuchtenden Gesichtern das unberührte Rutenbündel und legten es zurück in den Wagen. Dann fuhr der Wagen längs der Reihen, und alle warfen freudig Leinwand, Kattunstücke und andere geraubte Sachen hinein.
Im schwarzsamtnen Ozean des Dunkels flimmern rötlich die Wachtfeuer — Menschengesichter, flache, wie aus Pappe geschnittene Gestalten, Fuhren, Pferdeköpfe flüchtig bescheinend. Die ganze Nacht ist von Stimmen, Rufen, Lachen erfüllt; Lieder entstehen bald nah, bald fern und erlöschen wieder: eine Balalaika klimpert auf, Harmonikas klingen dazwischen. Und Wachtfeuer, lange Reihen von Wachtfeuern...
Die Nacht ist noch mit etwas anderem erfüllt, mit etwas, woran man nicht denken möchte.
Ü ber der Stadt liegt ein blauschimmernder Glanz.
Der rötliche Widerschein des Lagerfeuers blickt neugierig in ein altes Gesicht, ein bekanntes Gesicht. He, guten Abend, Großmutter! Großmutter Gorpina! Daneben liegt der Großvater schweigend auf seinem Schafpelz. Soldaten mit rotbeschienenen Gesichtern sitzen um das Feuer herum, sie sind aus demselben Dorfe. Die Feldkessel hängen am Feuer, aber in diesen Feldkesseln ist kaum mehr als Wasser.
Und Großmutter Gorpina:
»Heilige Mutter Gottes! Was soll bloß werden?! Nun sind wir gelaufen, gelaufen und noch immer nichts zu essen, es ist rein, um zu krepieren. Was ist das für eine Obrigkeit, die nicht einmal etwas zu essen verschaffen kann. Eine Obrigkeit... , die Anka ist fort, der Alte schweigt.«
Die Chaussee entlang verläuft eine ungleichmäßige Kette von sich weit hinziehenden Lagerfeuern.
Am Feuer liegt ein Soldat auf dem Rücken (man sieht ihn nicht), sein Kopf liegt auf den verschränkten Armen, er blickt in den dunklen Himmel und sieht die Sterne nicht. Ist es, dass er sich an etwas erinnern möchte, oder ist es Sehnsucht? Er liegt, den Kopf auf den verschränkten Armen, denkt seine eigenen Gedanken, und wie diese Gedanken gleitet seine Stimme jung, weich und nachdenklich dahin.
»... Ni-i-i-mm dein Fra-u-chen...«
Das Wasser sprudelt im Kessel.
Großmutter Gorpina:
»Jesus, Jesus, wohin kommen wir noch! Wir werden hier doch noch krepieren. Das Wasser bläht einem bloß den Bauch auf, es mag kochen, soviel es will!«
»Sieh mal!« sagt der Soldat, der sein rotbeschienenes Bein im neuen englischen Stiefel und neuen Reithosen hochhebt.
Am Nebenfeuer erklingt munter eine -Harmonika. Die lange Flammenkette flackert.
»Und Anka ist rein wie verschwunden..., das Teufelsmädel! Wo ist sie? Was soll man bloß mit ihr machen? Wenn du, Älter, sie wenigstens beim Schopf nehmen wolltest. Was
schweigst du denn wie ein Holzklotz?«
»... G-i-b me-i-n Pf-e-i-fchen zur-ü-ü-ck...«
Er wandte sich um, stützte das Kinn auf die Hand und
blickte ins Feuer. Die Harmonika vollführte komplizierte musikalische Schnörkel. In dem rotschimmernden Dunkel waren leises Lachen, Stimmen, Lieder.
»Und alle waren Menschen, und jeder hatte eine Mutter...«
Er sagte das mit seiner jungen Stimme,- ohne sich an jemand zu wenden, und sofort breitete sich Schweigen aus, Harmonikastimmen und Lachen verlöschend, und alle fühlten auf einmal den schweren, von den Berghängen herüberwehenden Verwesungsgeruch: dort lagen ihrer besonders viele.
Ein älterer Soldat erhob sich, um zu sehen, wer das gesagt hatte... Er spie ins Feuer, es zischte. Wahrscheinlich hätte das Schweigen diese plötzlich fühlbar gewordene Dunkelheit noch lange beherrscht, aber auf einmal ertönten Schreie, Stimmen, Fluchen. »Was ist los?!« »Was gibt's?!«
Alle Köpfe wandten sich einer Richtung zu. Und von dort, aus der Dunkelheit, kam es: »Los, vorwärts, Canaille!«
In den beleuchteten Kreis trat eine erregte Soldatenmenge, und die Flammen rissen bald den Teil eines roten Gesichts, bald einen erhobenen Arm oder ein Bajonett aus der Dunkelheit. Und mitten drin glänzten, es kam so unerwartet, dass es verblüffte, goldene Achselklappen auf den Schultern eines jungen, schlanken, enggegürteten Georgiers, der kaum dem Knabenalter entwachsen war.
Er blickte mit seinen großen, wie bei einem Mädchen anmutigen Augen gehetzt um sich, und an den langen Wimpern zitterten Blutstropfen wie rote Tränen. Es schien, als würde er jeden Augenblick klagend ausrufen: Mama!... Aber er sagte nichts, blickte nur gehetzt um sich.
»Er hockte in den Sträuchern«, erzählte ein Soldat, noch immer erregt, »das kam so: Ich wollte gerade meine Notdurft verrichten und ging in die Büsche, und unsere Leute schreien immer wieder: Geh, mach, dass du weiterkommst! Ich setz' mich also hinter einen Strauch und sehe etwas Schwarzes?! Ich dachte, es wäre ein Stein, packte ihn an, und da war es der Junge. Da hat er denn eins mit dem Gewehrkolben abgekriegt.«
»Stecht ihn nieder, den Hundsfott!« rannte ein kleiner Soldat mit erhobenem Bajonett herbei.
»Halt!... Wartet!...«, wurden Stimmen laut, »man muss es dem Kommandeur melden.« Der Georgier begann flehend:
»Ich bin eingezogen worden..., man hat mich mobilisiert... , ich konnte nicht anders..., man hat mich gezwungen... , ich habe eine Mutter...«
Und an den Wimpern hingen neue rote Tränen, rannen von der zerschlagenen Stirn herab. Die Soldaten standen, die Hände auf den Gewehrmündungen, mit finsteren Blicken da. Jener, der auf dem Bauch gelegen und die ganze Zeit regungslos in die Flamme geblickt hatte, sagte: »Ein junges Kerlchen..., kaum sechzehn...« Da wurden empörte Stimmen laut: »Wer bist du denn? ein Herrschaftlicher? Wir kämpfen gegen die Kadetten, was haben sich die Georgier einzumischen? Haben wir sie hergebeten? Wir schlagen uns auf Leben und Tod mit den Kosaken herum, da soll sich keiner in die Sache mengen. Wer seine Nase in den Türspalt steckt, dem wird sie mitsamt dem Kopf abgerissen.«
Allenthalben ertönten erregte, wütende Stimmen. Auch von den anderen Feuern traten Soldaten hinzu.
»Was ist das für 'n Bursch?«
»Ein Bürschlein, noch nicht trocken hinter den Ohren.«
Ein Soldat fluchte schwer und begann den Kessel vom Feuer zu nehmen. Der Kommandeur trat hinzu. Er sah den Jungen flüchtig an und sprach, sich umwendend, so dass der Georgier es nicht hören konnte, leichthin:
»Fort mit ihm!«
»Komm!« sagten zwei Soldaten übertrieben streng; sie warfen die Gewehre hoch, ohne den Georgier anzusehen.
»Wohin führt ihr mich?«
Die drei setzten sich in Bewegung, und aus der Dunkelheit kam es mit demselben übertriebenen Ernst:
»Zum Stab... , zur Vernehmung... Du wirst dort übernachten... «
Kurz darauf fiel ein Schuss. Er rollte, lange sich brechend, in den Bergen und verstummte endlich; aber die Nacht war noch immer voll stummen Donnergrollens. Die zwei kamen zurück, setzten sich schweigend, ohne jemand anzusehen, ans Feuer; die Nacht war erfüllt von dem Eindruck des letzten Schusses.
Als wenn sie den unauslöschlichen Ton verwischen wollten, begannen alle zu sprechen, lebhaft, lauter als sonst. Die Harmonika spielte wieder, eine Balalaika klimperte.
»Wir zwängen uns also dort durch den Wald und kommen an den Felsen, da fühlen wir, aus der Sache wird nichts. Weder zu jenen hinauf werden wir klettern können, noch davonkommen — sobald es Tag wird, werden sie uns alle niederschießen... «
»Weder hin noch her!« lachte jemand.
»Und dabei dachten wir alle: die verfluchten Hunde stellen sich, als wenn sie schliefen, beim nächsten Schritt wird es Blei regnen. Wenn sie dort oben zehn Schützen aufstellen, fegen sie die beiden Regimenter nieder. Wir klettern also vorwärts, steigen einander auf die Schultern oder gar auf die Köpfe!«
»Und der Alte, der Koshuch, wo war der?«
»Der war auch mit dabei. Als wir fast oben waren, es blieben nur noch vier Meter, aber akkurat wie eine Mauer, keine Menschenmöglichkeit, weder hin, noch zurück, nun hielten alle den Atem an. Da reißt der Alte einem das Bajonett vom Gewehr, haut es in den Felsen und klettert weiter. Und wir alle machen es ihm nach und klettern so bis zum obersten Rand...«
»Und bei uns ist ein ganzer Zug ertrunken. Wie die Hasen hüpften wir von einem Stein zum andern. Stockfinster war es. Da rutschten sie einer nach dem anderen ins Wasser hinunter und ersoffen alle.«
Aber so lebhaft das Gespräch auch war, so lustig die Flammen auch flackerten, die Dunkelheit war doch zum Bersten voll mit etwas, was jeder vergessen wollte und doch spürte: der schwere Verwesungsgeruch.
Großmutter Gorpina sagte:
»Was ist denn das?« und wies in die Dunkelheit hinein.
Alle wandten die Blicke dorthin. In der Dunkelheit, wo sich unsichtbar die Bergmassen erhoben, flackerten rauchige Fackeln auf, bewegten sich, neigten sich.
Die junge Stimme im Dunkel sagte:
»Das sind unsere Kommandos, die gemeinsam mit den Städtern die Toten auflesen. Den ganzen Tag sammeln sie schon.«
Alle schwiegen.
Wieder die Sonne. Wieder das Funkeln des Meeres, die blaugrauen Umrisse der fernen Berge. Alles das senkt sich langsam — die Chaussee schlängelt sich immer höher und höher.
Winzig klein schimmert das weiße Städtchen, verschwindet allmählich. Wie mit Bleistiftstrichen ist die blaue Bucht von den dünnen Linien der Mole umrissen. Die georgischen Dampfer sehen wie schwarze Striche aus. Es ist nur schade, dass man sie nicht mitnehmen kann.
Mitgenommen hat man übrigens genug. Man schleppt sechstausend Geschosse, dreihunderttausend Patronen mit. Die ölig-schwarzen Riemen straffend, ziehen ausgezeichnete georgische Pferde sechzehn georgische Geschütze die aufsteigende Chaussee hinan. Auf georgischen Wagen türmt sich allerlei Kriegsgerät — Feldtelephone, Zelte, Stacheldraht, Medikamente; Sanitätswagen rollen —, alles in Hülle und Fülle. Nur das Wichtigste fehlt: Brot und Heu.
Die Pferde schreiten geduldig, schütteln hungrig die Köpfe. Die Soldaten ziehen ihre Gurtriemen immer enger, aber alle sind guter Dinge; ein jeder hat zwei- bis dreihundert Patronen zu schleppen — munter schreiten sie inmitten der lustigen heißen Wolken des weißen Staubes. In Schwärmen begleiten die Fliegen den vertrauten Zug. Im Takt mit den Schritten schwingt sich das Lied in das Sonnengefunkel:
»Hat denn die Wirtin wenig Schnaps? Hat sie denn wenig Bier und Met?«
Endlos knarren Wagen, Fuhren, Karren, Planwagen. Zwischen roten Kattunkissen wackeln abgemagerte Kinderköpfchen.
Auf den die Chausseeschleifen abkürzenden Pfaden ziehen sich endlose Ketten von Fußgängern hin — immer noch in den alten zerrissenen Mützen, Hüten, mit Stöcken in den Händen, die Weiber barfuss, in zerschlissenen Röcken. Aber man sieht keinen mehr, der das Vieh antreibt, denn Kühe, Schweine und sogar Hunde sind spurlos verschwunden. Das macht der Hunger.
Die endlos sich windende Schlange, schillernd mit ihren zahllosen Gliedern, kroch wieder in die Berge, den öden Felsen zu; an Abhängen, Schluchten, Klüften vorbei, kroch zum Gebirgspass, um sich wieder in die Steppe hinabzuwinden, wo es Brot und Butter gibt, wo die Freunde warten.
»Wir schlagen zu Boden das Elend, den Kummer,
Wir wollen trinken und fröhlich sein.«
»Auf, in den Kampf! — To-r-re-ro — To-r-re-ro...«
Man hatte im Städtchen neue Platten gefunden.
Unerreichbare Höhen ragen in den blauen Himmel hinein.
Das Städtchen unten ist im Meer versunken, versunken sind die Ufer. Einer blauen Mauer gleich erhebt sich das Meer, aber allmählich verdecken es die neben der Chaussee wachsenden Bäume. Staub, Hitze, Fliegen, von Menschen verlassene Wälder, in denen nur Tiere leben.
Gegen Abend zog ein Klagen über den endlosen, knarren den Zug hin:
»Mutter... essen... essen... Mutter!«
Die abgemagerten Mütter, mit den geschwärzten, vogelähnlichen Gesichtern, blickten mit vorgestrecktem Halse aus entzündeten Augen auf die sich immer höher schlängelnde Chaussee; barfuss liefen sie eilig neben den Wagen her — sie hatten keine Antwort für ihre Kinder.
Man stieg immer höher und höher; die Wälder lichteten sich und blieben schließlich ganz zurück. Eine Felsenwüste umfing sie, ein Gewirr von Klüften, Spalten, Blöcken. Der geringste Ton, jeder Hufschlag, das Knarren der Räder — alles hallte wider, schwoll an und erstickte die menschlichen Stimmen. Alle Augenblicke musste man gefallene Pferde aus dem Wege räumen.
Auf einmal ließ die Hitze nach; es wehte von den Höhen, alles wurde grau. Die Nacht kam unvermittelt. Vom dunkelnden Himmel ergossen sich Ströme. Das war kein Regen mehr — lärmend stürzte das Wasser, warf die Menschen um, erfüllte die Dunkelheit mit tosenden Wasserwirbeln. Aus allen Richtungen kam es, von oben, von unten, von den Seiten. Das Wasser strömte über die Fetzen, über das an der Stirn klebende Haar. Man verlor die Richtung und die Verbindung miteinander; Menschen, Wagen, Pferde schleppten sich gesondert hin, als wenn zwischen ihnen stürmische Weiten klafften — ohne zu wissen, was und wer rundum ist.
Jemand wurde fortgeschwemmt... Jemand schrie auf... Aber was vermochte die menschliche Stimme hier auszurichten? Das Wasser brodelte... War es der Wind, oder wütete der schwarze Himmel, oder stürzten die Berge nieder, oder wird gar alles, mitsamt Wagen und Pferden, fortgeschwemmt.
»Hil-fe!«
»Hil-fe! Die Welt geht unter!«
Sie meinten, sie hätten geschrieen, aber ihre blauen Lippen brachten nur ein Flüstern heraus.
Pferde, vom brausenden Strom seitwärts getrieben, zogen den Wagen mit den Kindern in den Abgrund, und die Menschen merkten es nicht, glaubten noch immer dem Wagen zu folgen.
Kinder vergruben sich in durchnässte Kissen und Kleider:
»Mu-utter! Mu-utter! Va-ater!«
Es schien ihnen, als schreien sie verzweifelt, in Wirklichkeit aber toste nur das rasend strömende Gewässer. Die Felsen sah man nicht, aber man hörte das Rollen der Steine. Es goss ununterbrochen, und der Wind heulte wie toll.
Ein Jemand, der in diesem Tollhaus das Wort zu führen schien, riss auf einmal einen gewaltigen Vorhang beiseite, und unerträglich klar und scharf erzitterte im blauen Lichte alles, was bisher in der Schwärze der unermesslichen Nacht
versunken war. Schneidend blau erbebten die Krümmungen der fernen Berge, die Zinken der hängenden Felsen, der Rand des Abgrunds, die Pferdeohren, und das Furchtbare an alledem war, dass in diesem flackernden Licht alles regungslos tot schien: regungslos die schrägen Wasserstreifen in der Luft, regungslos die schäumenden Sturzbäche, regungslos die Pferde mit zum Schritt erhobenen Hufen, regungslos die im Schreiten erstarrten Menschen, regungslos die zum Schreien geöffneten Münder und die bleichen, blauen Händchen der Kinder zwischen den nassen Kissen. Alles war im unsteten zuckenden Flackern wie erstarrt.
Dieses blaue Flackern schien die ganze Nacht anzuhalten; wenn aber der Vorhang der Wolken plötzlich wieder zugezogen wurde, erwies sich jedes Mal, dass es nur der Bruchteil einer Sekunde war.
Das Ungetüm der Nacht verschlang alles, sogleich diesen Hexensabbat übertönend, barsten die Berge, ihren Tiefen entrang sich ein Rollen, für das die Unermesslichkeit der Nacht zu eng schien, es zersplitterte in tönende Blöcke, brach sich, breitete sich immer wachsend, anschwellend nach allen Seiten hin aus, erfüllte die unsichtbaren Klüfte, Abgründe; Menschen wurden taub, Kinder lagen wie tot da.
Inmitten der brausenden Ströme, der fortwährend zuckenden Blitze, des unaufhaltsam anwachsenden Donners blieb der Zug stehen — die Truppen, die Geschütze, Munitionswagen, Flüchtlinge, Wagen —, der letzte Rest der Kraft war erschöpft. Alles stand, hilflos dem Willen der stürmenden Ströme preisgegeben, dem Winde, dem Dröhnen und dem unerträglich zuckenden toten Licht. Das Wasser jagte dahin erreichte die Knie der Pferde. Die entfesselte Nacht war endlos.
Und am Morgen — wieder leuchtende Sonne. Die Luft durchsichtig, wie gewaschen, duftig leicht — die blauen Berge. Nur die Menschen sind schwarz, noch magerer und haben eingefallene Augen. Mit Anspannung der letzten Kräfte helfen sie den Pferden. Diese Pferde aber haben knochige Köpfe, jede ihrer Rippen kann man zählen, das Fell ist blank gewaschen.
Man meldet Koshuch:
»Also, Genosse Koshuch: drei Wagen sind mitsamt ihren Insassen in den Abgrund gestürzt. Einen Wagen hat ein Felsblock zerschmettert. Zwei Menschen hat der Blitz erschlagen. Zwei aus der dritten Kompanie werden vermisst. Und die Pferde fallen zu Dutzenden, die ganze Chaussee ist mit ihnen besät.«
Koshuch betrachtet die blankgespülte Chaussee, die finster sich türmenden Felsen und antwortet:
»Es wird kein Nachtlager gemacht, wir marschieren ohne Aufenthalt weiter — Tag und Nacht.«
»Die Pferde halten es nicht aus, Genosse Koshuch. Wir haben kein Bündel Heu mehr. In den Wäldern konnten wir wenigstens mit Laub füttern, und jetzt — lauter kahle Steine.«
Koshuch schwieg eine Weile.
»Wir marschieren ohne Aufenthalt weiter. Halten wir erst einmal — gehen alle Pferde zum Teufel. Schreiben Sie den Befehl.«
Herrliche klare Bergluft, wie gut, sie einzuatmen. Aber den Zehntausenden ist es nicht um die gute Luft zu tun, schweigend schreiten sie mit gesenkten Köpfen neben den Wagen, an den Böschungen, neben den Geschützen her, die Kavalleristen gehen zu Fuß und führen ihre Pferde.
Nackt türmen sich ringsum die Felsen. Schmal dunkeln die Klüfte. Bodenlose Abgründe, in denen der Untergang lauert. Durch öde Schluchten ziehen Nebelschwaden.
Die dunklen Schluchten und Klüfte und Felsen sind erfüllt vom endlosen Knarren der Wagen, von Hufschlägen, von dröhnendem Eisenrasseln und Geklirr. Und alles das, tausendfach widerhallend, schwillt an zu einem wüsten unaufhörlichen Getöse. Alle gehen schweigend, aber wenn auch jemand wütend aufschrie, die menschliche Stimme würde in dieser Dutzende Kilometer weit kreischenden Bewegung spurlos verwehen.
Die Kinder weinen nicht mehr, bitten nicht mehr um Brot, nur ihre blassen Köpfchen wackeln in den Kissen. Die Mütter trösten sie nicht mehr, herzen sie nicht mehr, nähren sie nicht mehr — sie schreiten neben dem Wagen, mit irren Blicken verfolgen sie die endlosen Schleifen der jetzt zu den Wolken ansteigenden Chaussee. Aber aller Augen sind trocken.
Unüberwindliches, wildes Entsetzen verbreitet sich jedes Mal, wenn ein Pferd im Gehen innehält. Wie besessen greifen alle nach den Rädern, stützen mit den Schultern den Wagen, schlagen wie rasend auf das Tier ein, schreien mit unmenschlichen Stimmen — aber all ihre Anspannung, ihre Anstrengung wird von dem gelassenen, tausendfach widerhallenden, tausendfach wiederholten Knarren der zahllosen Räder übertönt.
Das Pferd macht noch einen, zwei Schritte, wankt und stürzt, die Deichseln brechend, zu Boden. Keine Kraft vermag es dann aufzuheben: die Beine sind steif ausgestreckt, das Mau] zähnegefletscht, und der Tag verblasst in den violett angelaufenen Augen.
Man nimmt die Kinder vom Wagen; die Mutter prügelt die älteren in wilder Verzweiflung, damit sie weitergehen, die Kleinsten nimmt sie auf den Arm. Aber wenn es ihrer viele sind, dann... dann lässt sie eines oder zwei der Kleinsten im unbeweglichen Wagen zurück und geht weiter, mit trockenen Augen, ohne sich umzublicken. Und die anderen hinter ihr schreiten langsam, ohne aufzuschauen; langsam rollen die weiterziehenden Wagen an dem liegengebliebenen vorüber, die lebenden Pferde an dem toten, die lebenden Kinder an den auch noch lebenden — und das keine Sekunde aussetzende, tausendfach widerhallende Knarren nimmt gelassen das Geschehene in sich auf.
Eine Mutter, die ihr Kind viele Kilometer weit geschleppt hat, beginnt zu wanken, die Beine zittern ihr, die Chaussee verschwimmt im Nebel, die Wagen, die Felsen beginnen zu kreisen.
»Ich... ich kann nicht weiter.«
Sie setzt sich abseits auf einen Steinhaufen und schaut und wiegt ihr Kind — endlos ziehen die Wagen an ihr vorüber.
Der schwarze, ausgetrocknete Mund des Kindes ist weit geöffnet, die kornblumenblauen Augen blicken regungslos.
Die Mutter jammert verzweifelt:
»Ich habe ja keine Milch mehr, mein Herzchen, mein Täubchen...«
Ganz von Sinnen, küsst sie ihr Kind — ihr Leben, ihre letzte Freude. Aber die Augen sind trocken.
Regungslos ist der dunkle kleine Mund; regungslos blicken die trüb gewordenen Augen. Sie presst diesen lieben, hilflos erkaltenden kleinen Mund an die Brust.
»Mein Herzenskind — jetzt wirst du dich nicht mehr quälen... Jetzt brauchst du nicht mehr auf den Tod zu warten.«
In ihren Armen das langsam erkaltende Körperchen.
Sie reißt den Steinhaufen auseinander, legt ihren Schatz hinein, nimmt das Kreuzchen von ihrem Halse, streift es über den zurückgesunkenen Kopf, verscharrt den kleinen Leichnam und bekreuzigt die Stelle, bekreuzigt sie unzählige Male.
An ihr vorüber ziehen die anderen, schweigend, ohne hinzusehen. Ununterbrochen ziehen Wagen vorbei, und ein tausendstimmiges, tausendfach sich wiederholendes Knarren ist inmitten der kahlen Felsen zu hören.
Weit vorn, an der Spitze der Kolonne, ziehen die Kavalleristen gewaltsam die wankenden Pferde hinter sich her; die Ohren der Pferde hängen schlapp herunter wie bei Hunden.
Es wird heiß. Legionen von Fliegen, die während des Gewitters verschwunden schienen, alle klebten an den unteren Planken der Wagen, summen jetzt in dichten Wolken über
dem Zuge.
»He, Jungens! Na, was ist denn mit euch los? Ihr seht ja aus wie Katzen, wenn sie was gemaust haben. Los, singen
wir eins!«
Niemand gab eine Antwort. Erschöpft schritten sie langsam weiter, zogen die Pferde nach sich.
»Himmelsakrament, ihr Miesepeter! Zieht doch den Kasten auf, dass wir Marschmusik haben.«
Er wühlte im Sack mit den Grammophonplatten, zog die erste beste heraus und begann mit Mühe die Aufschrift zu entziffern:
»B-bb-b-i-bb-i-Bim bbb-o-bim-bom... Was ist 'n das für 'n Kauderwelsch? Co... lo... on... Lachende Clowns... Sonderbar! Na, spielen wir!«
Er zog das am Sattel befestigte Grammophon auf und ließ es spielen.
Eine Sekunde lang drückte sein Gesicht eine unaussprechliche Verwunderung aus, dann verengten sich seine Augen zu schmalen Spalten, er sperrte den Mund bis zu den Ohren auf, die Zähne glänzten auf — und er brach in ansteckendes Lachen aus. Statt des erwarteten Liedes drang aus dem Grammophontrichter ein betäubendes Lachen — zwei lachten, bald einer, bald ein anderer, bald beide zusammen. Sie lachten mit verblüffenden Stimmen; zuweilen kicherten sie mit dünner Stimme wie kleine Jungens, die man kitzelt, bald grölten sie wie brüllende Stiere, und alles ringsherum dröhnte; sie lachten bis zum Ersticken, hielten sich die Bäuche, lachten wie hysterische Frauen, lachten wie besessen, als wenn sie nicht mehr aufhören könnten.
Die ringsum schreitenden Kavalleristen begannen zu lächeln, schauten auf das Grammophon, das noch immer wie besessen in allen Tonarten lachte. Ein leises Gelächter ging durch die Reihen; dann vermochte man nicht mehr an sich zu halten und begann so wie das Grammophon zu lachen; das Lachen schwoll an, ging von Reihe zu Reihe, rollte weiter und weiter. Es erreichte die langsam schreitenden Infanteristen, auch sie begannen zu lachen, ohne zu wissen, warum — das Grammophon war hier nicht zu hören —, sie lachten immer lauter, von den vorderen Reihen angesteckt. Und das Gelächter rollte unaufhaltsam von Reihe zu Reihe den kilometerlangen Zug weiter.
»Was grölen die denn? Was ist denn los?« Aber im nächsten Augenblick lachten auch die Frager, schüttelten die Köpfe, lachten bis zur Erschöpfung.
»He, Väterchen, verschluck nicht den Bart...«
Die ganze Infanterie marschierte und lachte, es lachte der ganze Zug, es lachten die Flüchtlinge, es lachten die Mütter, Furcht und Wahnwitz in den Augen; durch das Knarren der Räder, inmitten der kahlen Felsen rollte das Lachen der Menschen kilometerweit dahin.
Als dieses Lachen Koshuch erreichte, wurde er bleich, gelb, wie gegerbtes Schaffell.
»Was ist los?«
Der Adjutant unterdrückte nur mühsam das aufsteigende Lachen und sagte:
»Weiß der Teufel..., sind wohl verrückt geworden..., will sehen, warum sie lachen.«
Koshuch riss ihm Peitsche und Zügel aus der Hand, warf sich schwer in den Sattel und begann erbarmungslos auf das Pferd einzuhauen. Das abgemagerte Tier schritt langsam mit hängenden Ohren dahin, die Peitsche schlug ihm blutige Striemen. Endlich begann es zu trotten — ringsherum rollte das Lachen...
Koshuch fühlte, wie seine Wangen zu zucken begannen, er presste die Zähne zusammen. Endlich erreichte er die sich vor Lachen schüttelnde Spitze. Fürchterlich fluchend hieb er mit der Peitsche auf das Grammophon ein.
»Ruhe!«
Die Grammophonplatte knackste und verstummte. Und Schweigen lief über die Reihen, löschte das Lachen aus. Wieder herrschte nur das eine quälende, tausendfach widerhallende Knarren und Rasseln der Räder.
Vorbei glitten die dunklen Zinnen öder Felsen.
Jemand sagte:
»Der Pass!«
Die Chaussee begann sich spiralförmig zu senken.
»Wie viele sind es?«
»Fünfe!«
Glühend und öde waren Wald, Himmel, die fernen Berge.
»Nebeneinander? «
»Nebeneinander...«
Der Kubaner aus der Patrouille, mit schweißnassem Gesicht, sprach nicht zu Ende — das Pferd kämpfte verzweifelt mit den Fliegen, schüttelte den Kopf, der Reiter rutschte bis auf die Mähne, es versuchte, ihm die Zügel aus der Hand zu reißen.
Koshuch saß mit seinem Adjutanten und dem Kutscher im Korbwagen — die Gesichter waren brennendrot, wie nach einem Dampfbad. Ringsherum war es öde und leer.
»Weit von der Chaussee?«
Der Kubaner wies mit der Peitsche nach links:
»Zehn bis fünfzehn Kilometer hinter dem Gehölz.«
»Führt da ein Weg von der Chaussee hin?«
»Jawohl!«
»Keine Kosaken zu sehen?«
»Keine Spur. Unsere Patrouille ist an die zwanzig Kilometer vorausgeritten und hat keinen Kosaken gesehen. In den Siedlungen erzählen sie, dass die Kosaken dreißig Kilometer weiter an einem Flüsschen Schützengräben ausheben.«
Koshuchs Gesicht wurde plötzlich ruhig und wie immer gelb, als wenn es nicht kurz zuvor hochrot gewesen wäre.
»Die Spitze der Armee anhalten, sie soll den Weg, der von der Chaussee abführt, einschlagen, allen Tross, die Flüchtlinge und den ganzen Fuhrpark an ihnen vorbeiziehen lassen.«
Der Kubaner neigte sich über den Sattelknopf und sagte vorsichtig, leise, damit es nicht wie Insubordination klinge:
»Es ist ein großer Umweg..., die Leute halten sich kaum auf den Beinen..., es ist heiß..., sind ja halb verhungert...«
Die kleinen Augen Koshuchs richteten sich in die zitternde, glühende Ferne, wurden grau... Der dritte Tag... Die Gesichter sind eingefallen, die Augen brennen vor Hunger. Den dritten Tag schon haben sie nichts gegessen. Die Berge sind überwunden, aber man muss mit aller Kraft weitermarschieren, um aus dem öden Vorgebirge herauszukommen, die Siedlungen zu erreichen, Pferde und Menschen zu verpflegen. Und man muss eilen, um die Kosaken daran zu hindern, sich zu verschanzen. Man darf keine Minute verlieren, darf diese zehn, fünfzehn Kilometer Umweg nicht riskieren.
Er blickte in das junge, vor Hunger und Hitze dunkle Gesicht des Kubaners. Die Augen leuchteten stahlhart auf, und er sagte, die Worte durch die Zähne pressend:
»Die Armee soll von der Chaussee abbiegen und an ihnen vorbeiziehen.«
»Zu Befehl!«
Der Kubaner rückte seine runde, schweißnasse Fellmütze auf dem Kopf zurecht, versetzte seinem Pferd einen Hieb, dass es auf einmal munter wurde, und, als gäbe es keine unerträgliche Hitze, keine Bremsen und Fliegen, tänzelte, sich umwandte und die Chaussee lustig entlanggaloppierte. Aber die Chaussee war nur ein endloser Wirbel grauweißen Staubes, der sich über die Bäume erhob und hinten in den Bergen verschwand. Und in diesen wirbelnden Staubwolken zogen Tausende von hungrigen Menschen einher.
Koshuchs Korbwagen, dessen Holzteile man nicht berühren konnte — so heiß waren sie —, rollte weiter und mit ihm das unerträgliche Klirren. Hinter dem Sitz schaute ein Maschinengewehr hervor.
Der Kubaner sprengte durch die undurchsichtigen, wogenden, erstickenden Wolken. Nichts war zu erkennen, aber man hörte, wie die erschöpften, zersplitterten Reihen kraftlos dahintaumelten, die Hufschläge der Pferde, das Knarren der Fuhren. In den schwarzgebrannten Gesichtern leuchten trübe Tropfen Schweißes.
Man hört kein Gespräch, kein Lachen — alles ist erfüllt von schwerem Schweigen. Und in diesem heißen, übervollen Schweigen schleppende, taumelnde Schritte, Stampfen der Hufe, Knarren der Achsen.
Die Pferde wanken erschöpft mit kraftlos hängenden Ohren.
Die Köpfchen der Kinder in den Wagen taumeln von einer Seite zur anderen, matt schimmern die bleckenden Zähne.
»Tri-i-nken — tri-i-nken...«
Ein stickiger, weißlicher, alles bedeckender Nebel zieht über die Chaussee, und unsichtbar ziehen in ihm die Kolonnen dahin, die Reiter und die Wagen. Aber vielleicht ist es auch kein Nebel, vielleicht ist es grenzenlose Verzweiflung, ohne Hoffnung, ohne Gedanken — einzig und allein das Unvermeidliche. Das, was die Reihen mit eiserner Kraft zusammengehalten hatte, als sie in den schmalen Spalt zwischen Berg und Meer einbogen, was die ganze Zeit über schweigend mit ihnen dahinzog — nun drohte es zu ersterben. Hungrig»barfuss, erschöpft, kaum bekleidet waren sie, und die Sonne tat das übrige. Vorn aber erwarteten sie satte, starke Kosakenregimenter, Hasserfüllte Generale.
Der Kubaner ritt durch diese schweigenden, knarrenden Staubwolken, nur durch Anruf erkannte er die Truppenteile.
Von Zeit zu Zeit zerreißt der graue Dunst, und in der hellen Öffnung zittern dann die Umrisse von Hügeln, steht der starre Wald, wölbt sich ein blauer Himmel. Auf die entzündeten Gesichter der Soldaten brennt unbarmherzig die Sonne. Und wieder begleitet die ständige Hoffnungslosigkeit das langsame, unregelmäßige Stampfen der Schritte, das schleppende Schlagen der Hufe, die knarrende Musik der Fuhrwerke. An den Böschungen sitzen und liegen kraftlose, in Staub gehüllte Gestalten — ihre Köpfe sind zurückgeworfen, die Lippen verdorrt, Fliegen schwirren über ihnen.
Der Kubaner, Menschen und Pferde im Vorbeitraben anstoßend, erreichte die Spitze des Zuges, neigte sich über den Sattel und sagte dem Kommandeur einige Worte. Der zog finster die Stirn zusammen, warf einen Blick auf die trüb hervortretenden und wieder verschwindenden Soldatengestalten und kommandierte mit heiserer, fremder Stimme:
»Regiment, halt!«
Wie Watte sog der schwere Dunst seine Worte auf, aber es zeigte sich, dass seine Stimme dort, wo es nötig war, doch vernommen wurde — immer schwächer, immer entfernter klangen die Rufe:
»Bataillon, halt!... Kompanie, halt!...«
Und irgendwo ganz in der Ferne erlosch das kaum hörbare letzte »Ha-a-lt!«
Das Dröhnen der Schritte in der Spitzengruppe verstummte, von Reihe zu Reihe erstarb die Bewegung, und eine Sekunde lang trat in dem glühenden Dunst Schweigen ein, und die große Ruhe der letzten Erschöpfung, die unbewegliche Stille der drückenden Hitze. Dann füllte sie sich auf einmal mit Husten und Spucken — man spie den Staub aus den Lungen, fluchte, drehte sich Zigaretten aus trockenem Laub und Gräsern, und langsam legte der sich senkende Staub Menschen, Tiere, Wagen frei.
Man saß am Wegrande, im Chausseegraben, hielt die Gewehre zwischen den Knien. Regungslos lagen die Soldaten ausgestreckt auf dem Rücken.
Kraftlos, mit hängenden Köpfen standen die Pferde, sie wehrten nicht einmal mehr die Fliegen ab.
»Aufstehen! He, erhebt euch!«
Keiner rührte sich — ebenso regungslos war die Chaussee mit den Menschen, Pferden und Wagen. Es schien, als sei keine Kraft imstande, diese Menschen zum Aufstehen zu bewegen — sie waren wie von Glut erfüllte Steine.
»Zum Satan!... So steht doch auf!... Seid ihr denn taub!«
Wie zum Tode Verurteilte erhoben sie sich einzeln, zu zweit, und begannen, ohne auf das Kommando zu warten, zu gehen, wie es gerade kam, die bleischweren Gewehre auf den Schultern, mit den entzündeten Augen vor sich hin starrend.
Sie schritten verstreut auf der Chaussee, auf den Böschungen, in den Chausseegräben. Die Wagen begannen wieder zu knarren, und die unzählbaren Fliegenschwärme setzten sich in Bewegung.
Verdorrte, sonnengeschwärzte Gesichter, fiebrige Augen, statt der Mützen zum Schutz vor der schrecklichen Sonne Klettenblätter, Zweige, Strohbündel. Die nackten Füße sind schwarz und rissig. Manche, wie Neger mit schwarzen Leibern, sind fast nackt, nur die Hüften mit Lumpen bedeckt. Auf den mageren Körpern treten die Muskeln hervor. Die Horde trottet dahin mit hängenden Köpfen, die Gewehre auf den Schultern, mit zusammengekniffenen Augen und offenen, ausgetrockneten Mündern, zerzaust, abgerissen, gehetzt von Glut, Hunger und Verzweiflung. Wieder erheben sich dunstige Staubwolken. Von den Bergen kriecht die sich endlos windende Chaussee in die Steppe hinaus.
Plötzlich ertönt es unerwartet und verblüffend:
»Rechts schwenkt!«
Und jedes Mal, wenn sich ein neuer Truppenteil der Stelle nähert, ertönt dasselbe seltsame Kommando:
»Rechts schwenkt..., rechts..., rechts!...«
Anfangs erstaunt, dann immer lebhafter biegen die Soldaten in den Nebenweg ein, er ist hart, staubfrei. Man sieht, wie die Truppen eilig abbiegen, wie die Kavalleristen hinabreiten, wie der Train schwerfällig, wankend, knarrend hinabrollt. Fernen eröffnen sich, bewaldete Hügel, blaue Berge. Noch immer ist die Luft voll Sonnenglut. Die schwarzen Fliegenlegionen biegen ebenfalls ab. Die langsam sich senkenden Staubwolken und das stickige Schweigen bleiben auf der Chaussee zurück, und die Landstraße belebt sich mit Stimmen, Lachen und Rufen.
»Wohin geht's denn?«
»Vielleicht führen sie uns in den Wald, damit wir uns die Kehle etwas benetzen — allzu arg vertrocknet ist sie!«
»Schlaukopf! — Man hat dir im Walde ein Federbett zurechtgelegt — streck dich mal aus!«
»Und Pfannkuchen gebacken.«
»Mit Butter...«
»Mit saurem Rahm...«
»Mit Honig...«
»Und eine kühle, saftige Melone dazu...«
Der Lange, Hagere, im zerrissenen, durchgeschwitzten Frack, in zerfetzten, schmutzigen, spitzenbesetzten Höschen spie ärgerlich aus.
»Wollt ihr wohl still sein, Pack...«
Er zog sich wütend den Riemen enger, dass die Rippen vorstanden, und warf das bleischwere Gewehr auf die andere Schulter.
Das Gelächter verscheuchte die dichten Fliegenschwärme.
»Opanas, dreh deine Höschen 'rum — bist ja vorn splitternackt —, die Weiber im Dorf werden dir keinen Käsekuchen geben, werden sich schämen.« »Ho-ho-ho-ho... ha-ha-ha...« »Jungens, wir werden wohl ein Lager aufschlagen.« »Hier gibt's keine Siedlungen. Ich kenn' ja die Gegend.« »Schwatz nicht — hast du die Telegraphenpfosten nicht gesehen? Wo sollen sie denn hinführen, wenn nicht in eine
Siedlung?«
»He, Kavaliere, wollt ihr euer Brot umsonst essen —
spielt eins!«
Von dem Pferde, an dessen Sattel das Grammophon befestigt war, kam es mit heiserer Stimme:
»Wohin, wohin... seid ihr entschwunden,
ihr, meines Frühlings goldne Tage...«
schallte es in der Glut, inmitten schwarzer, schwebender Fliegenwolken; mit Schweiß und mehlweißem Staub bedeckt, schritten die Menschen jetzt munter aus; die Sonne blickte vollkommen gleichgültig auf sie nieder. Die bleiernen Füße bewegten sich mühsam vorwärts; irgendein hoher Tenor begann:
»Und die gute Wirtin wusste... «
Aber die Stimme brach ab — ein trockener Krampf erfasste die Kehle. Andere, ebenso heisere Stimmen fielen in das
Lied ein:
»Was der Moskowiter wollte... «
Die geschwärzten Gesichter hellten sich auf, und an allen Enden stimmten heisere, aber feste Stimmen in den Gesang ein.
»He, schaut mal: da ist unser Alter!«
Alle wandten im Vorbeigehen die Köpfe und sahen hin: ja, er war es, noch immer derselbe: stämmig, untersetzt, wie ein Pilz — mit seinem großen hängenden, schmutzigen Strohhut. Er steht da und betrachtet sie; das Hemd zerrissen und verschwitzt, man sieht die behaarte Brust, aus den Stiefeln schauen die rissigen Zehen hervor.
»Jungens, unser Alter sieht akkurat wie ein Bandit aus; wenn der einem im Walde begegnet, kriegt man ordentlich Angst.«
Lachend, mit liebevollen Augen sehen sie ihn an.
Und er lässt diesen unordentlichen, trägen, lärmenden Haufen an sich vorüberziehen und durchbohrt jedes Gesicht mit seinen stechenden, alles sehenden Äuglein, die stahlgrau aus dem unbeweglichen Gesicht funkeln.
Ja... eine Bande, eine richtige Räuberbande', denkt Koshuch — ,wenn uns die Kosaken jetzt in die Quere kommen, geht alles zum Teufel... Eine Bande!'
»Wohin, wohin . , .
seid ihr entschwunden... «
»Was ist denn das?« eilte es durch die Menge und verschlang den Gesang."
Eine Grabesstille, nur vom Dröhnen der Schritte unterbrochen, entstand, und alle Köpfe, alle Augen wandten sich der einen Richtung zu, dorthin, wo sich in langer Reihe die Telegraphenpfosten wie an einem Faden in die Ferne dahinzogen und immer kleiner wurden, bis sie in der zitternden Glut dünn wie Bleistifte wurden. An den nächststehenden Pfosten hingen regungslos vier nackte Menschen. Dichtes Fliegengeschmeiß umschwärmte sie. Die Köpfe waren geneigt, als Wenn sie mit dem jungen Kinn die Schlinge an sich drücken Wollten; sie grinsten mit gebleckten Zähnen; unter der Stirn gähnten die schwarzen Löcher der leeren Augenhöhlen. Aus den von Raubvögeln zerfetzten Bäuchen hingen schleimige grüne Gedärme heraus. Die Sonne glühte. Die von Rutenhieben gestriemte Haut war stellenweise geplatzt. Die Krähenschar stieg auf, setzte sich auf die Baumwipfel, schrie von dort herab.
Vier waren es, und am fünften — am fünften hing ein Mädchen mit herausgeschnittenen Brüsten, nackt und schwarz. »Regiment ha-a-lt!...«
An dem ersten Pfosten war ein weißer Papierfetzen angeheftet.
»Bataillon ha-a-lt!...« »Kompanie ha-a-lt!...« So ging es weiter durch die Reihen, ersterbend. Schweigen und süßlicher Verwesungsgeruch ging von diesen fünf Gestalten aus.
Koshuch nahm seinen zerrissenen Strohhut vom Kopf. Und alle, die Mützen hatten, entblößten ebenfalls die Köpfe. Und wer keine hatte, riss sich das über den Kopf gestülpte Strohgeflecht oder die Blätter und Zweige vom Kopf. Die Sonne brannte.
Und der Dunst war erstickend süßlich. »Genossen, gebt den Zettel her!« Der Adjutant riss das Papier vom ersten Telegraphenpfosten und reichte es ihm. Koshuch presste die Kinnladen zusammen, heiser, trocken klangen seine Worte:
»Genossen«, und er hob das Papier, das blendend weiß in der Sonne schimmerte, »der General sendet euch eine Nachricht. General Pokrowski schreibt: ,Dieselbe strenge Strafe, wie sie diese fünf Canaillen vom Maikoper Werk erlitten haben, haben alle jene zu gewärtigen, die mit den Bolschewiki in irgendwelcher Verbindung stehen.'«
Er presste die Kinnladen zusammen, schwieg eine Weile und fügte dann hinzu:
»Es sind eure Brüder und eure Schwestern.« Er schloss den Mund und unterdrückte jedes weitere Wort — denn es war nichts mehr darüber zu sagen.
Tausende von blitzenden Augen sahen ihn starr an. Ein einziges, übermenschlich großes Herz schlug ihm entgegen.
Aus den Augenhöhlen der Toten rannen schwarze Tropfen herab. Der Dunst wurde immer unerträglicher.
Die klingende Glut erlosch in der Stille — nur das Summen der Fliegenlegionen war noch zu hören. Die Tropfen rannen.
»Vorwärts! Marsch!«
Das Dröhnen der schweren Schritte zerbrach auf einmal die Stille, glitt gleichmäßig dahin, es war, als wenn ein einziger Mensch von unerhörtem Wuchs und lastender Schwere marschiere. Es war, als wenn ein einziges, übermenschlich großes Herz schlüge.
Sie gehen, und ohne es zu bemerken, beschleunigen sie die schwer ausgreifenden Schritte, die Reihen werden immer geordneter, geschlossener. Die Sonne brennt erbarmungslos.
Der rechte Flügelmann der Ersten Kompanie — der mit dem kleinen schwarzen Schnurrbärtchen — ließ das Gewehr fallen und brach zusammen. Das Gesicht wurde purpurn, die Sehnen am Halse schwollen an, und die blutroten Augen verdrehten sich. Die Sonne blickte mitleidlos herab.
Niemand hielt seinen Schritt an, alle marschierten weiter, marschierten noch fester, noch eiliger; die glänzenden Blicke sahen in die ferne, zitternde Glut.
»Sanitäter!«
Ein Sanitätswagen kam, man hob den Mann auf — die Sonnenglut hatte ihn umgebracht.
Man ging eine Weile — es brach noch einer zusammen, dann zwei auf einmal.
»Sanitätswagen!«
Ein Kommando ertönte:
»Bedeckt die Köpfe!«
Wer eine Mütze hatte, stülpte sie auf. Manche öffneten Sonnenschirme. Wer nichts hatte, riss trockenes Gras von der Wegböschung, wand es sich um den Kopf. Man riss sich die durchschwitzten, staubdurchtränkten Fetzen vom Leibe, zog sich die Hosen herunter, riss sie in Stücke, band sich nach Weiberart Tücher um den Kopf und schritt dröhnend, schwer ausholend, aus, das endlose Band der Chaussee in sich aufnehmend.
Koshuch will mit seinem Korbwagen die Vorhut einholen. Der Kutscher, der vor Hitze vorquellende Augen wie ein Krebs hat, schlägt auf die mageren Pferde ein. Die Pferde sind schaumbedeckt, aber sie können die Vorhut nicht einholen: immer schneller, immer unaufhaltsamer schreiten die
schweren Reihen.
»Was ist mit ihnen, die rennen ja wie der Wind.«
Wieder versetzte er den erschöpften Pferden schwere Hiebe.
,Recht so, Jungens, recht ist's', denkt Koshuch und richtet die stahlgrauen Augen in die Ferne, ,so legen wir siebzig Kilometer an einem Tage zurück.'
Er steigt aus dem Wagen und marschiert mit; er muss sich anstrengen, um nicht zurückzubleiben, und verschwindet in den endlosen, schnell ausschreitenden Reihen.
Die Telegraphenpfosten entschwinden einsam in der fernen Wüste. Die Spitze der Kolonne biegt rechts ab, und als sie die öde Chaussee erreicht, umhüllten sie wieder die stickigen Wolken. Es ist nichts mehr zu sehen. Man hört nur das schwere Dröhnen der Schritte, gleichmäßig, monoton erfüllt es die schwülen, wallenden Wolken, die schnell vorwärts rollen.
Andere Truppenteile, einer nach dem andern, nähern sich
den fünf Pfosten, bleiben stehen.
Jeden Laut erstickend, tritt Grabesstille ein. Der Kommandeur verliest das Papier des Generals. Tausende von brennenden Menschenaugen blicken, ohne zu zucken, in die Ferne, und ein Herz, übermenschlich groß, durchzittert mit seinen Schlägen die Stille.
Regungslos hängen die fünf. Unter den Schlingen löst sich das schwarze Fleisch, Knochen bleichen.
Auf den Spitzen der Telegraphenpfosten sitzen Krähen, schielen seitwärts mit glänzenden Knopfaugen nach den hängenden Gestalten. Der süßliche Dunst des verwesenden, in der Sonne schmorenden Fleisches steigert sich, Übelkeit erregend.
Da setzen sich die Reihen wieder in Bewegung — immer schneller werden die Schritte; ohne es zu bemerken, ohne Kommando ordnen sie sich, allmählich richten sie sich aus in schwere, enge Reihen. Und sie gehen mit entblößten Köpfen, vergessen sie zu bedecken, beachten nicht die in der Ferne verschwindenden Telegraphendrähte, nicht die kurzen scharfen Tinten der Mittagsschatten; die qualvoll verengten Pupillen blitzen hart der Ferne entgegen.
Und wieder ein Kommando:
»Bedeckt die Köpfe!«
Immer fester werden die Schritte, immer schwerer und gleichmäßiger die geschlossenen Reihen — sie ergießen sich über die Chaussee, in die Staubwolken, gleiten mit ihnen dahin.
Tausende, Zehntausende von Menschen marschieren. Und es gibt keine Kompanien, keine Bataillone, keine Regimenter mehr — es gibt nur ein geschlossenes Ganzes, namenlos, ungeheuer. Mit zahllosen Schritten schreitet es, mit zahllosen Augen blickt es, mit zahllosen Herzen schlägt nur ein einziges großes Herz.
Und wie ein Blick saugen sich aller Blicke in die glühende Ferne.
Lange, schräge Schatten legen sich über die Erde. Blaugrauer Nebel verhüllt die Berge. Die geschwächte, müde, gütig gewordene Sonne legt sich schwer auf den Himmelsrand. Wagen, Karren, Fuhren mit Kindern, mit Verwundeten schleppen sich mühsam dahin.
Man hält sie für einen Augenblick an und sagt: »Seht, das sind eure Brüder... Das sind die Taten der Generale.«
Dann ziehen sie weiter, man hört nur das Knarren der Räder. Die Kinder flüstern furchtsam:
»Mutter, werden die Toten des Nachts nicht zu uns kommen?«
Die Weiber bekreuzigen sich, schnäuzen sich in den Rocksaum, trocknen sich die Augen:
»Ihr armen Menschen!«
Kaum sichtbar schreiten die Greise neben ihren Wagen.
Dunkelheit senkt sich herab. Die Pfosten sieht man nicht mehr, und der Himmel lastet wie auf schwarzen ungeheuren Mauern. Der ganze Himmel funkelt, aber es wird dadurch nicht heller. Es ist, als ragten Berge ringsherum auf, aber es sind nur Hügel; die Berge sind längst in die schwarze Nacht untergetaucht — eine ungekannte, geheimnisvolle Ebene, in der alles zu erwarten ist, dehnt sich ringsherum aus.
Ein einsamer weiblicher Schrei durchdringt die Finsternis, dass sich die Sterne erschreckt zusammendrängen.
»Oh, oh, oh! Was sie gemacht haben, die verfluchten, niederträchtigen Ungeheuer... Seht, ihr guten Menschen... Seht sie doch an!«
Die Frau umfasst den einen Pfosten, drückt das zerzauste junge Haar an die erkalteten Beine und umarmt sie.
Kräftige Arme reißen sie mit Mühe von dem Pfosten und schleppen sie zum Wagen. Wie eine Schlange entwindet sie sich ihnen, stürzt wieder zu dem Pfosten, und wieder scheint es, dass selbst der funkelnde Himmel sich wie im Fieber hin und her wirft:
»Wo ist denn eure Mutter? Wo sind denn eure Schwestern? Habt ihr denn nicht leben wollen...? Wo sind eure klaren Augen, wo eure Kraft, wo sind eure zärtlichen Worte verklungen? Ach, ihr Armen, ihr Unglücklichen! Niemand ist da, der um euch weinen, sich um euch grämen..., niemand, der euch mit seinen Tränen benetzen würde!«
Man packt sie wieder, sie reißt sich gewaltsam los, und wieder klingt es durch die ängstlich bebende Nacht:
»Was haben sie angerichtet!... Den Sohn haben sie mir aufgefressen, meinen Stepan aufgefressen! So fresst doch uns alle auf einmal auf, mit Fleisch und Blut... Fresst uns alle auf, bis ihr an Menschenblut und Knochen erstickt...«
»Sie ist wahnsinnig geworden!«
Die Wagen bleiben nicht stehen, sie knarren weiter. Auch ihr Wagen ist weitergezogen. Andere kräftige Arme ergreifen die Frau, aber wieder reißt sie sich los, wieder ertönen nicht Schreie, sondern schneidende, unmenschliche Laute durch die unruhige Nacht.
Erst der Nachhut gelang es, die Frau zu überwältigen und sie an den letzten Wagen zu binden. Weiter zogen sie.
Menschenleer, öde wurde es am Wege, und ungestört breitete sich der süßliche Dunst in der Nacht aus.
Dort, wo die Chaussee das Gebirge verlässt, warten gierig die Kosaken. Seitdem der Brand des Aufstandes sich über das ganze Kubangebiet ausbreitete, ziehen sich die bolschewistischen Kräfte allenthalben vor den Kosakenregimentern, vor den Offiziersabteilungen der Freiwilligenarmee zurück — nirgends können sie festen Fuß fassen, eine Basis finden, den wütenden Angriff der Generale zurückzuschlagen; eine Stadt nach der anderen, eine Siedlung nach der anderen werden preisgegeben.
Bereits bei Beginn des Aufstandes war ein Teil der bolschewistischen Truppen aus dem eisernen Ring der Aufständischen ausgebrochen und zog, ein ungeordneter mächtiger Menschenhaufen von zehntausenden Flüchtlingen mit Tausenden von Wagen, auf dem engen Gürtel zwischen Meer und Gebirge dahin. Er war nicht einzuholen — so schnell floh er, nun aber haben ihm die Kosakenregimenter den Weg verlegt und lauern ihm auf.
Den Kosaken war berichtet worden, dass die sich einem Strome gleich durch das Gebirge wälzende Menschenmasse zahllose geraubte Reichtümer — Gold, Edelsteine, Kleidung, Grammophone und eine ungeheure Menge von Waffen und Heeresgut mit sich führe, aber — weil sie es seit jeher so gewohnt sei — zerfetzt, barfuss, ohne Mützen marschiere. Und alle Kosaken, vom General bis zum letzten Fußsoldaten, warten nun ungeduldig auf alle die Reichtümer, alle die Kostbarkeiten, die ihnen von selbst in die Hände fallen werden.
General Denikin beauftragte den General Pokrowski mit der Formierung von Truppenteilen in Jekaterinodar, um die aus den Bergen kommenden Kolonnen zu umzingeln und keinen einzigen lebend entkommen zu lassen. Pokrowski formierte ein Korps, ausgezeichnet bewaffnet und mit allem Nötigen versorgt, und verlegte den Weg am Weißen Fluss, dessen Wasser vom stürmischen Gebirgslauf schäumend weiß ist. Eine Abteilung schickte er den Ankommenden entgegen.
Munter, die Fellmützen schief aufgesetzt, reiten die Kosaken auf. satten, feurigen Pferden, die die Köpfe schütteln und an den Zügeln zerren. Die silberbeschlagenen Waffen klirren, funkeln in der Sonne; schlanke, enggegürtete Gestalten mit weißbebänderten Fellmützen wippen in den Sätteln.
Lieder singend reiten sie durch die Siedlungen, die Kosakenmädchen bewirten sie mit Gekochtem und Gebratenem, während die Alten Fässer mit Wein herbeirollen.
»Bringt uns wenigstens einen einzigen Bolschewik mit, damit wir uns so einen Kerl mal ansehen.«
»Werden schon genug mitbringen, stellt Galgen bereit.«
Die Kosaken waren flott im Trinken und flott im Dreinschlagen.
In der Ferne zeigten sich mächtige Staubwolken.
»Aha, da sind sie ja!«
Da sind sie, die Zerlumpten, von der Sonne Geschwärzten, mit Stroh- und Grasgeflecht statt der Mützen.
Die Kosaken rückten die Fellmützen zurecht, zogen die aufblitzenden, klirrenden Säbel, neigten sich über die Sattelknöpfe, die Kosakenpferde stoben dahin, dass der Wind in den Ohren pfiff.
»He, jetzt werden wir sie niedersäbeln!«
»Hurra-a-a!«
In ein bis zwei Minuten geschah das ungeheuerlich Unerwartete: sie prallten zusammen, stießen aufeinander, und... die Kosaken stürzten von den Pferden, die Fellmützen zerhauen, die Nacken zersäbelt; zuweilen spießten die Bajonette Pferd und Reiter zugleich auf. Da rissen sie die Pferde zurück, wandten um und flogen — so tief über den Sattelknopf gebeugt, dass man sie kaum sehen konnte — ebenso schnell zurück, wie sie gekommen waren, der Wind sauste ihnen noch heftiger um die Ohren, und die pfeifenden Kugeln holten sie von den Pferden. Die verfluchten Barfüßigen drängten nach, verfolgten sie zwei, drei, fünf, zehn Kilometer weit — die einzige Rettung war, dass ihre Pferde zu abgequält waren.
Die Kosaken jagten durch die Siedlung, jene anderen brachen in die Gehöfte ein, rissen frische Pferde aus den Ställen, hieben nach links und rechts, wenn man sie ihnen nicht schnell genug gab, und — galoppierten weiter. Und viele weißbebänderte Kosakenmützen rollten über die Steppe, viele Kosaken in Tscherkessenmänteln, in silberbeschlagenes Leder gegürtet, lagen gleich schwarzen Punkten auf den Hügeln, den goldenen Feldern, im lichten Gehölz.
Die Flüchtenden hielten erst inne, als sie die in Schützengräben verschanzte erste Linie der Hauptarmee erreichten.
Und die aus den Bergen kommenden barfüßigen, halbnackten Scharen folgten, solange der Atem reichte, ihren Eskadronen. Die Geschütze begannen zu donnern, Maschinengewehre zu knattern.
Koshuch wollte seine Kräfte nicht bei helllichtem Tage in Aufstellung bringen; er kannte das große Übergewicht des Gegners, wollte ihm seine Schwäche nicht zeigen und wartete auf die Nacht. Als es aber dunkel wurde, geschah dasselbe wie am Tage: keine Menschen, sondern leibhaftige Teufel stürzten sich auf die Kosaken. Die Kosaken hieben und stachen auf sie ein, mähten sie reihenweise mit Maschinengewehren nieder, aber es wurden immer weniger und weniger Kosaken, immer schwächer brüllten, lange Feuerlohen speiend, ihre Geschütze, immer seltener wurde das Geknatter der Maschinengewehre, bald war Gewehrfeuer überhaupt nicht mehr zu hören — die Kosaken fielen in Massen.
Sie hielten nicht stand und ergriffen die Flucht. Aber auch die Nacht vermochte sie nicht zu retten. Wie niedergemäht fielen die Kosaken unter den Säbelhieben und Bajonettstößen. Da begannen ihre Reihen sich aufzulösen; sie ließen Geschütze und Maschinengewehre zurück, rannten in alle Himmelsrichtungen davon, zerstreuten sich in Wäldern und Schluchten — ratlos vor der unbegreiflichen satanischen Gewalt, die über sie hergefallen war.
Und als die Sonne die ersten langen Schatten der Steppenhügel auf die Ebene zeichnete, lagen ungezählte schnauzbärtige Kosaken regungslos auf der grenzenlosen Steppe. Weder Verwundete noch Gefangene — alle lagen regungslos.
Im Hinterland, im Lager der Flüchtlinge, loderten Feuer, es brodelte in den Töpfen, Pferde kauten Heu und Hafer. In der Ferne dröhnte die Kanonade, niemand beachtete sie — man war daran gewöhnt. Nur wenn sie verstummte und einzelne Reiter aus der Kampflinie kamen — bald eine Ordonnanz mit Befehlen oder ein Furagier oder ein Soldat, der insgeheim die Seinigen aufsuchen wollte —, stürzten von allen Seiten Frauen mit geschwärzten, verquälten Gesichtern auf sie zu, klammerten sich an die Steigbügel, an die Zügel:
»Lebt der Meinige?«
»Und meiner?«
»Lebt er, so sag's doch!«
Mit flehenden Augen, voller Entsetzen und Hoffnung.
Und der Reiter trabt dahin, leicht mit der Peitsche klatschend, wirft nach links oder nach rechts hin:
»Er lebt... Lebt... Verwundet... Verwundet... Tot... Wird bald hergebracht...«
Er reitet vorüber, und hinter ihm bekreuzigt man sich entweder glückselig erleichtert oder stößt klagende Laute aus, oder man bricht wortlos zusammen.
Verwundete werden gebracht — Mütter, Frauen, Schwestern , Bräute, Nachbarinnen übernehmen die Pflege. Tote kommen auf Wagen an, schluchzende Frauen werfen sich über sie, und weithin hört man das verzweifelte Klagen und Jammern.
Berittene holen schon den Popen.
»Wie das liebe Vieh werden sie beerdigt — ohne Kreuz und Weihrauch.«
Aber der Pope weigert sich, sagt, er habe Kopfweh.
Er soll trotzdem das heilige Gewand anlegen. Er steckt den Kopf in den schwarzen Priesterornat, legt die Stola um, zieht die langen Haarsträhnen unter dem Kragen hervor. Man lässt ihn Kreuz, Weihrauchlampe, Weihrauch mitnehmen.
Auch der Küster und der Messgehilfe werden herbeigeholt. Der Küster — ein mächtiger, versoffen aussehender Mann mit rotem Gesicht — ebenfalls in schwarzem, goldgesticktem Messgewand. Der Messgehilfe ist klein und dürr.
Alles ist bereit. Man treibt die drei vorwärts.
Im Lager des Trosses, in den Gärten, auf dem Kirchhof wartet schon eine zahllose Menge.
»Seht, seht, sie bringen den Popen herbei!«
Die Weiber bekreuzigen sich:
»Na, Gott sei Dank, wenigstens eine richtige Beerdigung.«
Und die Soldaten:
»Schaut — den Küster und den Messgehilfen haben sie auch herbeigeschafft!«
»Der Küster sieht stattlich aus. Akkurat wie ein Mastschwein!«
Die drei hasten eilig heran, der Schweiß fließt in Strömen von den Köpfen. Der Küster zündet behände die Weihrauchlampe an, die Toten liegen regungslos mit gekreuzten Armen.
»Gelobt sei Gott...«
Der Küster fällt mit schläfriger Bassstimme ein, der Messgehilfe sagt leise und näselnd, die Worte verschluckend:
»Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger Allmächtiger...«
Bläulich zieht der Weihrauch dahin. Die Weiber halten sich den Mund zu und schluchzen. Die Soldaten haben strenge, schwarze abgemagerte Gesichter; die Stimme des Popen dringt nicht bis zu ihnen.
Der ohne Mütze auf einem schlanken Fuchs sitzende Kubaner trieb das Pferd mit einem leichten Druck in die Flanken ein paar Schritte vorwärts, neigte sich zu dem Popen und sagte mit flüsternder Stimme, die auf dem ganzen Friedhof zu hören war:
»Was krächzt du denn wie ein ungefütterter Rabe. Singe mit voller Stimme...«
Pope, Küster und Messgehilfe schielten ihn von der Seite an. Und sofort begann des Küsters Bassstimme zu schmettern, so dröhnend, dass die Krähen des ganzen Friedhofs aufstoben; der Pope fiel im Tenor ein, und des Küsters Gehilfe erhob sich augenrollend auf die Zehen und schlug einen solchen Fistelton an, dass es in den Ohren weh tat.
»Gott schenke seiner Seele Ruhe...«
Der Kubaner zog sein Pferd zurück und saß regungslos wie eine Statue mit finster gerunzelten Brauen im Sattel. Alle bekreuzigten und verneigten sich.
Als die Gräber zugeschaufelt waren, krachten drei Salven. Sich schnäuzend und die Augen trocknend, sagten die Weiber gerührt:
»Das war aber eine feine Totenmesse...«
Die Nacht verschluckte die ungeheure Steppe, ihre Hügel, die an ihrem Rande blauenden verfluchten Berge und die Siedlung auf der feindlichen Seite — kein Licht, kein Ton drang von dort herüber, es war, als wenn sie überhaupt nicht da wäre. Von der Tageskanonade erschreckt, schwiegen sogar die Hunde. Nur der Fluss brauste.
Den ganzen Tag dröhnten hinter dem jetzt unsichtbaren Fluss und den grauen Linien der Schützengräben der Kosaken die Geschütze. Sie feuerten, ohne zu sparen. Und zahllose Rauchwölkchen flammten weiß über der Steppe, über den Gärten, über den Schluchten auf. Von hier aus wurde das Feuer nur vereinzelt, müde und unwillig erwidert.
»Aha...«, sagten die Kosakenartilleristen schadenfroh, »sie können nicht mehr!« Sie brachten die Geschütze in Stellung, richteten sie, und wieder sausten die Geschosse.
Für sie stand fest: auf der Gegenseite ist man schwächer, man ist dort nicht mehr imstande, jeden Schuss zu beantworten. Vor Abendanbruch hatten die Barfüßigen einen Angriff gegen den Fluss begonnen, wurden aber so bewirtet, dass ihre Linien zerrissen und sie sich verkrochen, wo sie nur irgend konnten. Schade, dass es Nacht war, sonst hätte man es ihnen gehörig gegeben. Nun, es wird schon noch Morgen werden.
Der Fluss erfüllt die ganze Dunkelheit mit seinem Brausen. Koshuch ist zufrieden— stahlgrau funkeln die kleinen Augen. Ja, zufrieden: die Armee ist in seinen Händen wie ein gehorsames, elastisches Instrument. So hatte er am Abend die Linien vorgeschoben und Anweisung gegeben, nur flau vorzurücken und vorgeschobene Stellungen zu beziehen. Und jetzt, in der Nacht, als er in der samtenen Finsternis diese Stellung nachprüfte, fand er alle dicht am Fluss auf den ihnen zugewiesenen Plätzen; unter dem zehn Meter tiefen Abhang brauste das Wasser und erinnerte ihn mit seinem Brausen an jenen Fluss und an jene Nacht, als der Feldzug begonnen hatte.
Jeder der Soldaten kroch im Dunkeln vor, tastete sich bis zum Rande, prüfte selbst die Lage, maß den Hang aus. Und jeder wusste, um was es sich handelte, kannte genau seinen Platz. Er wartete nicht wie ein Hammel, wohin und wie ihn die Kommandeure vorwärtsschieben werden.
Im Gebirge hat es geregnet. Der Fluss, der am Tage mit wilder Wut dahinbrauste, rauscht jetzt gedämpfter. Die Soldaten kennen seine Tiefe — sie haben es schon fertig gebracht, sie auszumessen —, der Fluss ist jetzt anderthalb bis zwei Meter tief, man wird stellenweise schwimmen müssen, aber das macht nichts, man wird eben ein bisschen schwimmen. Als es noch hell war, suchten sich die Soldaten in den Löchern, Büschen und im hohen Rasen, unter fortwährend explodierenden Geschossen liegend, jenes Stück des feindlichen Schützengrabens aus, auf das sie losschlagen würden.
Links waren zwei Brücken: eine aus Holz und eine Eisenbahnbrücke — jetzt sah man sie nicht. Die Kosaken richteten eine Batterie gegen sie und stellten Maschinengewehre auf, auch das war nicht zu sehen.
In der nächtlichen, vom Rauschen des Flusses erfüllten Dunkelheit stehen auf Koshuchs Befehl ein Kavallerie- und ein Infanterieregiment regungslos den Brücken gegenüber.
Langsam verstreicht die Nacht, ohne Sterne, ohne Geräusche, ohne Bewegung, nur der Lärm des unsichtbar strömenden Wassers füllt einförmig die öde Nacht.
Die Kosaken saßen in den Gräben, horchten auf das Rauschen des Wassers, ohne die Gewehre loszulassen, obwohl sie dachten, dass die Barfüßigen in der Nacht es nicht wagen würden, über den Fluss zu setzen, sie haben ja schon genug abgekriegt; die Kosaken warteten also. Langsam verstreicht die Nacht.
Die Soldaten lagen wie die Dachse am Rande des Abhanges, horchten ebenso wie die Kosaken auf das Brausen des Wassers und warteten. Und das, worauf sie warteten, was, wie es schien, niemals eintreten würde, trat dennoch ein: langsam, mühselig, kaum spürbar, wie eine Andeutung, breitete sich die Morgendämmerung aus.
Man sieht noch nichts, weder Farben, noch Linien, noch Umrisse, aber die Dunkelheit beginnt schon zu verblassen, wird durchsichtig. Ermattetes gespanntes Warten im Morgengrauen.
Etwas kaum Unfassbares huschte am linken Ufer entlang, einem elektrischen Funken oder einer unhörbaren Schwalbenschar gleich...
Von dem zehn Meter hohen Ufer rollten Soldaten wie aus einem Sack mitsamt Lehm, Sand und Steinschutt herab... Der Fluss rauscht.
Tausende von Körpern bewirkten Tausende von plätschernden Aufschlägen, leichte, vom Lärm des Flusses übertönte Aufschläge... Der Fluss rauscht... Monoton rauscht der Fluss.
Im grauen Dunst des Morgens tauchte auf einmal ein Wald von Bajonetten vor den verblüfften Kosaken auf — inmitten von Stöhnen, Brüllen, Ächzen und Fluchen ging die Arbeit los. Das waren keine Menschen mehr, nur noch wimmelnde, ineinander verstrickte, blutige Knäuel von Tieren. Die Kosaken legten Dutzende um und fielen selbst zu Hunderten. Schon wieder wälzte sich eine unbegreifliche satanische Kraft von irgendwoher auf sie zu. Waren das wirklich dieselben Bolschewiken, die sie durch das ganze Kubangebiet gehetzt haben? Nein, das ist etwas anderes. Nicht umsonst sind sie alle nackt, schwarz, in Lumpen.
Als es am rechten Ufer seiner ganzen Länge nach wild aufbrüllte, begannen die Artillerie und die Maschinengewehre der Roten über die Köpfe ihrer Kämpfer hinweg die Siedlung mit Eisen und Blei zu überschütten, während das Kavallerieregiment in wilder Jagd über die Brücken setzte; ihnen folgte im Gewaltmarsch die Infanterie. Die Batterie und die Maschinengewehre sind genommen — über die ganze Siedlung ergießen sich die Eskadronen. Man sieht, wie etwas Weißes aus einer Hütte springt und mit erstaunlicher Schnelligkeit auf einem ungesattelten Pferde im Dunst des Morgens verschwindet.
Hütten, Pappeln, die weiß schimmernde Kirche — alles tritt immer deutlicher hervor. Hinter den Gärten schimmert die Morgenröte.
Aus dem Hause des Popen wurden Menschen mit aschgrauen Gesichtern und goldenen Achselklappen herausgeführt—es war ein Teil des Generalstabes. Neben dem Pferdestall des Popen schlug man ihnen die Köpfe ab, und das Blut tränkte den Mist.
Der Lärm, das Schreien, die Schüsse, das Fluchen, das Stöhnen übertönten sogar das Brausen des Flusses.
Man fand das Haus des Kosakenhauptmanns der Siedlung. Durchsuchte es vom Keller bis zum Dachboden — er selbst war schon fort. Geflohen. Da fing man an zu schreien:
»Wenn der sich nicht selbst stellt, werden wir ihm die Kinder totschlagen!«
Er fand sich nicht ein.
Da schickten sie sich an, seine Kinder niederzusäbeln. Die Frau des Hauptmanns wälzte sich mit aufgelöstem Haar auf den Knien, klammerte sich an die Füße der Soldaten. Einer sagte vorwurfsvoll:
»Was schreist du denn wie abgestochen! Ich hatte auch ein Mädchen, akkurat wie deine, drei Jahre alt... Im Schotterhaufen haben wir sie vergraben — dort in den Bergen. Ich habe auch nicht geschrieen! Da, nimm deine Kinder!«
Neben einer Hütte, vor der ein Haufen Glasscherben auf dem Boden verstreut lagen, versammelte sich ein Häuflein Eisenbahner,
»Hier hat General Pokrowski genächtigt. Seid ein ganz klein wenig zu spät gekommen. Als er euch kommen hörte, zerschlug er das Fenster mitsamt dem Rahmen, sprang so, wie er war, im Hemd, ohne Unterhose, auf ein ungesatteltes Pferd und sprengte davon.«
Ein Kavallerist fragte finster:
»Warum denn ohne Hose? War er denn in der Badestube?«
»Er hat geschlafen.«
»Wie denn, geschlafen und ohne Hose? Das gibt's doch nicht!«
»Die Herren schlafen immer so — die Doktoren empfehlen es ihnen.«
»Diese verfluchten Hunde! Nicht einmal schlafen tun sie wie richtige Menschen!«
Er spie aus und entfernte sich.
Die Kosaken flohen. Siebenhundert von ihnen lagen in den Schützengräben und in der Steppe. Alles nur Tote. Und wieder ergriff die Fliehenden inmitten der Anspannung aller Kräfte ein fassungsloses Staunen vor dieser unbekannten satanischen Kraft.
Vor knapp zwei Tagen noch war diese Siedlung von den Hauptkräften der bolschewistischen Truppen besetzt, die Kosaken hatten sie dann unerwartet vertrieben, und jetzt sind sie selbst von anderen wieder hinausgejagt worden. Wo sie nur hergekommen sein mögen? Ist da nicht der Satan im Spiel?
Die über dem fernen Steppenrand aufsteigende Sonne schickte den Fliehenden blendende Strahlen entgegen.
Weithin bewegten sich die Flüchtlinge und ihr Wagenzug über die Steppe, über die Hügel, durch die Wälder.
Es ist noch immer derselbe blaue Rauch der Lagerfeuer; dieselben knochigen Kinderköpfchen können sich kaum auf den mageren, dünnen Hälsen halten. Wieder liegen auf weiß ausgebreitetem Zelttuch. Tote mit gekreuzten Armen; Weiber wälzen sich hysterisch daneben, raufen sich das Haar, es sind andere Frauen, nicht dieselben wie gestern.
Soldaten drängen sich um einige Reiter.
»Wohin wollt ihr?«
»Den Popen holen.«
»Koshuch hat befohlen, das Blasorchester zu holen, dasselbe, das wir den Kosaken abgenommen haben.«
»Was soll uns das Orchester? Ein Orchester hat doch nur Blechinstrumente, der Pope aber hat eine lebendige Kehle!«
»Zum Teufel, brauchen wir seine Kehle? Er brüllt ja, dass man die Krämpfe kriegt. Und ein Orchester ist eine militärische Ehrenbezeigung...«
»Das Orchester!... das Orchester!...«
»Einen Popen wollen wir haben! Einen Popen!«
Die Rufe »das Orchester« und »einen Popen wollen wir haben« vermengten sich mit den saftigsten Flüchen. Die Frauen kamen auf das Gerücht h in herbeigelaufen und schreien erbittert:
»Einen Popen, einen Popen!«
Und die jungen Soldaten schreien:
»Das Orchester, das Orchester!«
Das Orchester erwies sieh als das stärkere.
Die Reiter stiegen wieder von ihren Pferden.
»Na, uns soll's recht sein — lasst das Orchester kommen!«
In unendlichen Reihen ziehen Flüchtlinge und Soldaten dahin, und feierlich, Trauer und Kraftgefühl hineintragend, klingen die Messingstimmen des Blasorchesters, und messinggelb leuchtet die Sonne.
Die Kosaken waren geschlagen, aber Koshuch rührte sich nicht vom Fleck, obwohl man weitermarschieren musste, koste es, was es wolle. Patrouillen und Überläufer aus der einheimischen Bevölkerung berichteten alle dasselbe: die Kosaken konzentrieren ihre Kräfte wieder, reorganisieren sie. Unaufhörlich kommen neue Truppenteile aus Jekaterinodar an, mit Artillerie, Maschinengewehren und Munition; starke Offiziersformationen marschieren drohend heran; eine Kosakenhundertschaft nach der anderen stößt zu den Weißen. Immer dunkler wird es um Koshuch, immer gewaltiger die sich gegen ihn konzentrierende Kraft. Man muss weiter — um jeden Preis weiter! Noch kann man sich durchschlagen, noch sind die roten Hauptkräfte nicht weit... Koshuch aber rührt sich nicht.
Er hat nicht das Herz, weiterzumarschieren, solange die zurückgebliebenen Kolonnen noch nicht heran sind. Er weiß, dass sie kampfunfähig sind; wenn man sie ihrem eigenen Schicksal überlässt, werden sie von den Kosaken kurz und klein geschlagen, bis auf den letzten Mann niedergemetzelt werden. Dann wird der Ruhm, der Koshuchs Zukunft, die Zukunft dieses Retters von Zehntausenden von Menschen, verklären soll, durch die Vernichtung der zurückgebliebenen Kolonnen getrübt werden.
Und er schickte sich an, zu warten. Die Kosaken aber häuften immer mehr Streitkräfte an. Mit unwiderstehlicher Gewalt schloss sich der eiserne Ring, und wie um das zu bestätigen, begann die feindliche Artillerie, Himmel und Steppe erschütternd, die Menschen mit Strömen von Eisen zu überschütten. Aber Koshuch rührte sich nicht vom Fleck. Er gab nur den Befehl, das Feuer zu erwidern. Des Tages flammten über den beiden Linien unzählige weiße Knäuel in der Luft auf, die sich sofort wieder in zarten Hauch auflösten; des Nachts durchzitterten feurige Lohen die Finsternis, so oft, dass man das Rauschen des Flusses nicht hörte.
Ein Tag verging, eine Nacht verging. Die Geschütze dröhnen, werden heiß — und die Kolonnen sind noch immer nicht da. Der zweite Tag und die zweite Nacht vergingen, und noch immer ist die Kolonne nicht da. Es fehlt bereits an Munition. Koshuch befiehlt, Munition zu sparen. Das ermuntert die Kosaken: sie sehen, dass das Feuer nicht mehr wie früher erwidert wird, dass man nicht weiter vorgeht. Und sie beginnen den Angriff vorzubereiten.
Drei Tage schon hat Koshuch nicht mehr geschlafen. Sein Gesicht ist wie gegerbtes Leder. Er hat das Gefühl, als ob seine Beine bis an die Knie in die Erde versänken. Die vierte Nacht beginnt, erleuchtet vom unaufhörlichen Aufblitzen der Schüsse. Koshuch sagt:
»Ich lege mich auf eine Stunde hin, wenn's was gibt, weckt mich sofort.«
Er hatte kaum die Augen geschlossen, als man ihn schon wieder weckte:
»Genosse Koshuch! Genosse Koshuch! Es steht schlimm...« Koshuch springt auf — er begreift nicht, wo er sich befindet, was mit ihm los ist. Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht, wischt sich den Schlaf aus den Augen, da fällt ihm auch schon die Stille auf: die Tag und Nacht dröhnenden Geschütze sind verstummt; nur Gewehrgeknatter erfüllt noch die Dunkelheit. Eine schlimme Geschichte — also ist das Handgemenge schon im Gange. Vielleicht ist auch schon die Front durchbrochen! Und er hörte, wie der Fluss braust.
Er hastet zum Stab — sieht, dass sich alle Gesichter verändert haben, fahlgrau sind sie.
Er reißt einem das Hörrohr aus der Hand — die georgischen Telefone kamen ihnen jetzt gut zustatten:
»Ich bin's — der Kommandierende.«
Es hört sich an, als wenn eine Maus aus dem Telefon piepst:
»Genosse Koshuch, schicken Sie uns Verstärkung. Ich kann mich nicht länger halten! Starke Stoßtruppen, Offiziersbataillone.«
Koshuch erwidert hart:
»Verstärkung werde ich nicht geben, habe keine, haltet aus bis zum letzten Mann.«
Aus dem Telefon:
»Ich kann nicht... Der ganze Angriff konzentriert sich gegen mich, wir halten nicht...«
»Sie müssen die Stellung halten, sage ich Ihnen. Wir haben keinen einzigen Mann in Reserve. Ich komme gleich selbst hin.«
Und Koshuch hört nicht mehr, wie der Fluss rauscht: er hört, wie vorn, rechts und links das Gewehrgeknatter ertönt.
Er gab Befehle... kam aber nicht dazu, zu Ende zu sprechen.
Er sah trotz der Dunkelheit sofort, dass die Kosaken eingebrochen waren; sie hauen wie wütend drein; eine Kavallerieabteilung fliegt durch die Bresche.
Koshuch stürzt weiter — da trifft er auf den Kommandeur, der eben telephonisch mit ihm gesprochen hatte.
»Genosse Koshuch...«
»Warum sind Sie hier?«
»Ich kann mich nicht mehr halten... Sie sind durchgebrochen...«
»Wie haben Sie sich unterstanden, Ihre Leute im Stich zu lassen?!«
»Genosse Koshuch, ich wollte Sie persönlich um Verstärkung bitten.«
»Verhaftet ihn!«
Ein wildes Gewühl, Schüsse, Säbelhiebe, ein unentwirrbarer Knäuel wälzt sich durch die Finsternis. Hinter den Wagen, hinter den schwarzen Umrissen der Dorfhäuser zucken Revolver- und Gewehrschüsse. Der Teufel selbst kann hier Freund und Feind nicht voneinander unterscheiden... Möglich sogar, dass seine Leute sich gegenseitig vernichten... Oder träumt er das alles nur?
Koshuch erkennt in der Dunkelheit die Gestalt des ihm entgegeneilenden Adjutanten. »Genosse Koshuch...«
Er hat eine erregte Stimme — jeder will ja noch ein wenig leben! Und plötzlich hört der Adjutant: »Nun... ist's das Ende?«
Eine unbekannte Stimme, eine Stimme, wie man sie noch nie von Koshuch gehört hat. Schüsse, Schreie, ein stöhnendes, ächzendes Gewühl — und bei dem Adjutanten regt sich irgendwo in der Tiefe, halb unbewusst, ein blitzschneller, ein wenig schadenfroher Gedanke:
,Aha! — Du bist also auch nur ein Mensch, wie wir alle...
willst also auch leben!'
Aber das dauert nur den Bruchteil einer Sekunde. Es ist stockfinster, man sieht nichts, aber man fühlt: Koshuchs Gesicht ist steinern, und die harte Stimme tönt durch die zusammengepressten Kinnladen:
»Sofort ein Maschinengewehr vom Stab an die Durchbruchstelle. Alle Leute aus dem Stab, aus dem Train sammeln, die Kosaken soweit wie möglich an die Wagen drängen. Eine Eskadron vom rechten Flügel heranholen...«
»Zu Befehl!«
Der Adjutant taucht in der Dunkelheit unter. Koshuch stürzt weiter. Rechts, links — aufblitzende Zungen der Gewehrschüsse; eine Stelle von etwa siebzig Meter Breite ist finster: hier sind die Kosaken eingebrochen. Aber die Soldaten sind nicht geflohen, sie sind nur zur Seite gedrängt worden. Sie lagen, wie es gerade kam, in gedeckten Stellungen und schossen. Trotz der Dunkelheit kann man sehen, wie weiter vorne Knäuel von Menschen von Stelle zu Stelle hüpfen — immer näher kommen sie... fallen nieder und schießen: Flammenzungen blitzen auf — die Soldaten schießen nach diesen Flammenzungen.
Man rollte das schwere Maschinengewehr des Stabes heran. Koshuch befahl, das Feuer einzustellen und nur nach Kommando zu schießen. Er setzte sich ans Maschinengewehr und fühlte sich auf einmal sicher und wohl. Rechts und links — blitzendes Geknatter. Sobald die Soldaten zu feuern aufhörten, stürzte die feindliche Schützenkette heran: Hurra-a-a!... Sie sind schon nahe, schon erkennt man die einzelnen Gestalten, die, das Gewehr in der Hand, gebückt laufen. Koshuch: »Schnellfeuer!«
Und er richtete sein Maschinengewehr: Trr-trr-trr...
Wie dunkle Kartenhäuschen brechen die schwarzen Gestalten zusammen. Die Sturmlinie stockt, schwankt eine Weile und... flutet panikartig in die Dunkelheit zurück. Wieder herrschte undurchdringliche Finsternis, die Schüsse fielen seltener, nach und nach wurde das Rauschen des Flusses hörbar. Auch im Rücken begannen die Schüsse zu verstummen — die Kosaken, ohne Unterstützung, zerstreuten sich allmählich, ließen ihre Pferde im Stich, versteckten sich unter die Wagen, in den Hütten und Gärten. An die zehn Mann wurden gefangen genommen. Säbel hieben auf die nach Schnaps riechenden Münder ein.
Als der Morgen graute, wurde der verhaftete Kommandeur zum Friedhof geführt. Man kehrte ohne ihn zurück.
Die Sonne stieg auf und erleuchtete die unbewegliche, gebrochene Kette der Gefallenen, die dalagen, als hätte sie eine Flusswelle herangespült und zurückgelassen. Stellenweise lagen sie in dichten Haufen — dort, wo in der Nacht Koshuch mit seinem Maschinengewehr gewesen war. Die Kosaken schickten einen Parlamentär: Koshuch erlaubte ihnen, die Toten aufzulesen — wenn sie liegen bleiben, gibt's Verwesungsgeruch und Krankheiten.
Nachdem die Leichen fortgeschafft waren, begannen wieder die Geschütze zu donnern. Wieder erschüttert ein unmenschliches Dröhnen Himmel und Steppe, qualvoll hallen die Schläge in Brust und Gehirn wider. Ein Regen von Metallsplittern geht nieder. Alles, was lebt, sitzt und geht, mit offenem Munde — das ist besser für die Ohren; die Toten warten regungslos, dass sie ins Hinterland fortgeschafft werden.
Die Patronentaschen leeren sich, die Munitionskästen ebenfalls. Aber Koshuch rührt sich nicht vom Fleck — von den zurückgebliebenen Kolonnen ist nichts zu hören. Er ruft die Kommandeure zu einer Beratung zusammen, er will nicht die Verantwortung allein tragen; wenn sie bleiben, gehen alle zugrunde; wenn sie sich durchschlagen und weitermarschieren — gehen die zurückgebliebenen Kolonnen zugrunde.
Weit im Rücken, wo Wagen, Pferde, Greise, Kinder, Verwundete endlos über die Steppe dahinziehen, senkt sich die Abenddämmerung blau herab. Wie jeden Abend, so war es. auch diesmal: blaue Rauchsäulen stiegen von den Feuern auf.
Es macht nichts, dass man an die fünfzehn Kilometer weit weg ist, dass die Erde den ganzen Tag über von schwerern, fernem Dröhnen erschüttert wurde; man hatte sich daran gewöhnt, bemerkte es nicht mehr.
Es blaut die Dämmerung, es blaut der Rauch der Lagerfeuer, es blaut der ferne Wald. Und zwischen dem Wald und den Wagenreihen blaut die öde, geheimnisvolle Ebene der Felder.
Stimmen, Klirren, Tierschrei, Kinderweinen, Eimerrasseln — und die zahllosen rötlichen Lagerfeuer.
In diese Heimatlichkeit, in diesen friedlichen Wirrwarr flog, im Walde geboren, etwas Fernes, Fremdes hinein.
Anfangs war es nur ein gedehntes fernes A-a-a-al.... irgendwo weit aus der trüben Dämmerung kam es, aus dem trüben Schimmer des Waldes: A-a-a-a!...
Dann lösten sich schwärzliche Flecke vom Walde ab, einer nach dem andern... schwarze Schatten entfalteten sich, schlossen sich dann längs des Waldes zu einem schwarzen schwankenden Streifen und rollten, wachsend, dem Lager zu, und mit ihnen das ebenfalls anwachsende, Todesgrauen verbreitende Rrr-a-a-a-a!
Alle Köpfe, soviel es ihrer nur gab — Menschen- und Tierköpfe —, wandten sich einem trüben Waldstrich zu, von dem die schwankende Linie mit aufblitzenden Nadeln darüber dem Lager zurollte.
Aller Augen sahen dorthin. Rötlich schimmerten die Lagerfeuer.
Alle hörten es auf einmal: die ganze Erde füllte sich bis tief in ihren Schoß hinein mit schweren Hufschlägen, sogar der ferne Geschützdonner wurde übertönt.
A-a-a-a!...
Zwischen den Rädern, Deichseln, Feuern klangen Stimmen auf, voller Todesgewissheit:
»Die Kosaken!... Kosaken!... Kosa-a-ken!«
Die Pferde hörten zu kauen auf, spitzten die Ohren, Hunde verkrochen sich unter die Wagen.
Keiner versuchte zu fliehen, sich zu retten; alle blickten starr in die dunkle Dämmerung, woher die schwarze Lawine kam.
Dieses große, vom dumpfen Huftritt erfüllte Schweigen wurde auf einmal vom Schrei einer Mutter durchbrochen. Sie packte ihr Kind, das einzige ihr gebliebene Kind, presste es an die Brust, stürzte der heranrollenden Lawine entgegen. Durchdringend erklang ihr Schrei:
»Tod!... To-od!... Der To-od kommt!...«
Und wie eine Epidemie griff der Schrei um sich, erfasste Zehntausende von Kehlen:
»Der To-od!... Der To-od!...«
Alle, so viele es ihrer gab, packten, was ihnen unter die Hände geriet — einen Stock, ein Kummet, einen Rock, ein Reisigbündel, die Verwundeten ergriffen ihre Krücken —, und alle fuchtelten damit in einem Anfall von Verzweiflung in der Luft, stürzten sich dem Tode entgegen.
»To-od!... To-od!...«
Kinder klammerten sich an die Röcke der Mütter, rannten ihnen aus Leibeskräften nach und schreien mit ihren dünnen Stimmchen:
»To-od!... To-od!...«
Die galoppierenden Kosaken, die unerbittlich auffunkelnden Säbel fest umklammernd, sahen im Dämmer der sich herabsenkenden Nacht zahllose Reihen von Schützenketten vor sich, die sich gleich einem Ozean heranwälzten, mit zahllosen erhobenen Gewehren und schwarzwehenden Fahnen, begleitet von dem einen tierhaft herausgebrüllten endlosen Ruf:
»To-od!...«
Ganz unwillkürlich, ohne jedes Kommando, strafften sich die Zügel, mit aufgeworfenen Köpfen hoben sich die Pferde auf die Hinterbeine und blieben stehen. Die Kosaken verstummten, richteten sich in den Steigbügeln auf, blickten scharf auf die schwarz heranrollenden Reihen. Sie kannten den Brauch dieser Teufelsbrut — ohne einen einzigen Schuss dicht heranzukommen, um Brust an Brust sich in satanischer Wut mit dem Bajonett auf den Feind zu stürzen. So war es immer; seit sie von den Bergen gekommen sind, und bis auf die letzten Nachtangriffe, wo sie wie stumme Teufel plötzlich in den Schützengräben der Kosaken auftauchten — viele Kosaken sind in ihrer Heimatsteppe liegen geblieben.
Und hinter den Wagen, hinter den zahllosen Feuern, wo die Kosaken hilflose Haufen von unbewaffneten Greisen, Weibern und Kindern vermuteten, und von hier aus, vom Rücken her, einen panischen Schrecken gleich einem Brand in allen Truppenteilen des Feindes zu verbreiten wähnten — kamen immer neue Massen von Truppen herangestürmt, die dunkle Nacht mit dem furchtbar drohenden Gebrüll erfüllend:
»Tod!«
Und als die Kosaken sahen, dass der Zustrom von feindlichen Massen schier kein Ende nehme, rissen sie die Pferde herum, hieben auf sie ein und sprengten in wilder Karriere davon. Man hörte die Sträucher und die Bäume im Walde krachen.
Die vordersten Reihen der rennenden Frauen, Kinder, Verwundeten, Greise blieben endlich mit Todesschweiß auf dem Gesicht stehen. Schwarz gähnte vor ihnen der öde, menschenleere Wald.
Den vierten Tag dröhnen die Geschütze, und die Patrouillen melden, dass ein neuer General von Maikop aus mit Kavallerie, Infanterie und Artillerie zum Feinde gestoßen sei. In der Beratung der Kommandeure wurde in dieser Nacht beschlossen, sich durchzuschlagen und weiterzumarschieren, ohne die zurückgebliebenen Kolonnen abzuwarten.
Koshuch gibt den Befehl: das Gewehrfeuer ist, um den Feind zu täuschen, gegen Abend nach und nach einzustellen.
Die Geschütze sind sorgfältig auf die Schützengräben des Feindes einzuschießen und in der Nacht jedes Feuer einzustellen. Die Regimenter sind, sobald es dunkel wird, in Schützenlinie möglichst dicht an die vom Feinde besetzten Höhen heranzuführen, aber so, dass der Feind dadurch nicht alarmiert wird. Alle Truppenverschiebungen müssen ein Uhr dreißig beendet sein; ein Uhr fünfundvierzig ist aus allen verfügbaren Geschützen Schnellfeuer von je zehn Schuss abzugeben. Mit dem letzten Schuss beginnt zwei Uhr nachts der allgemeine Angriff, die Regimenter stürmen die Schützengräben der Gegner. Das Kavallerieregiment bleibt in Reserve — zur Unterstützung der Infanterie und zur Verfolgung des Gegners.
Schwarze, tiefhängende ungeheure Wolken schoben sich. heran und blieben regungslos über der Steppe stehen. Seltsam verstummten die Geschütze auf beiden Seiten; sogar das Gewehrfeuer hörte auf, man hörte wieder den Fluss brausen.
Koshuch horcht in die Dunkelheit hinaus — verdammt! — kein einziger Schuss; während der letzten Tage und Nächte hörte das Geschütz- und Gewehrfeuer keinen Augenblick auf. Sollte der Feind das gleiche beabsichtigen, dann prallen zwei Angriffe aufeinander, das Moment der Überraschung kommt nicht zur Geltung, und beide Angriffe werden aneinander zerschellen.
»Genosse Koshuch!...«
In die Stube trat der Adjutant, hinter ihm zwei Soldaten mit Gewehren und zwischen ihnen — ein unbewaffneter kleiner, bleicher Soldat.
»Was ist?«
»Vom Gegner. Ein Brief vom General Pokrowski.«
Koshuchs Blick saugte sich an dem kleinen Soldaten fest — dieser, erleichtert aufatmend, griff unter das Hemd und begann zu suchen. Er stotterte:
»Ich bin ein Gefangener... als wir uns zurückzogen, gerieten sieben Mann von uns in Gefangenschaft zu den Weißen... die andern sechs sind zu Tode gequält worden...«
Er schwieg eine Weile. Man hörte das Brausen des Flusses. Hinter den Fenstern war es dunkel.
»Hier ist der Brief. General Pokrowski hat mich übel heruntergemacht... «
Und fügte verlegen hinzu:
»Und auch Sie, Genosse Kommandeur. ,Hol ihn der und jener', sagte er zu mir, ,da, bring ihm diesen Brief.'«
In Koshuchs Augen spielten Funken, als er mit schlauer, zufriedener Miene die vom General Pokrowski selbst geschriebenen Zeilen überflog:
»Du niederträchtiger Hund... mag Dich der Teufel holen, hast alle Offiziere der russischen Armee und Flotte geschändet, indem Du in die Reihen der Bolschewiki, dieser Diebe, dieses Gesindels getreten bist. Ich erkläre Dir hiermit, Schurke und elender Bandit, dass Dir und Deinem barfüßigen Gesindel das Ende bevorsteht: denn weiter wirst Du nicht kommen. — Du bist von meinen Trappen und von den Truppen des Generals Heiman umzingelt. Wir werden Dich Hundsfott nicht entwischen lassen. Wenn Du Begnadigung haben willst, das heißt, wenn Du für Deine Verbrechen mit dem Dienst in einer Strafkompanie davonkommen willst, dann befehle ich Dir folgendes: noch heute Nacht alle Waffen an der Station Beloretschenskaja abzuliefern und die entwaffnete Bande in einer Entfernung von vier bis fünf Kilometer westlich von der Station aufzustellen; sobald dieser Befehl durchgeführt ist, melde es mir sofort nach dem vierten Bahnwächterhäuschen.«
Koshuch blickte auf die Uhr und auf die Dunkelheit hinter den Fenstern. Es war zehn Minuten nach eins.
,Also deshalb haben sie zu schießen aufgehört: der General wartet auf Antwort', dachte er. Fortwährend kamen Meldungen von den Kommandeuren der Truppenteile — seine Befehle waren überall durchgeführt — die Truppen lagen dicht vor den Stellungen des Feindes.
»Gut... gut...«, sagte Koshuch vor sich hin und blickte schweigend, mit unbeweglichem Gesicht auf die vor ihm Stehenden.
Draußen in der Dunkelheit durchbrach ein hastiger Pferdegalopp das Rauschen des Flusses. Koshuchs Herz stockte: »Schon wieder etwas los..., es bleibt nur noch eine Viertelstunde... «
Man hörte, wie ein Mann vom schnaubenden Pferde sprang.
»Genosse Koshuch«, sagte hastig der Bote, ein Kubaner, sich den Schweiß von der Stirn wischend, »die andere Kolonne - trifft ein.«
Mit blendendem Licht füllte sich die Nacht, die Stellung des Gegners, der General Pokrowski und sein Brief, die ferne Türkei, wo sein Maschinengewehr Tausende von Menschen niedermähte, und wo er, Koshuch, unter Tausenden von Toten heil geblieben, am Leben geblieben war — um nicht nur seine Leute, sondern auch die Tausende ihm folgenden wehrlosen und dem Tode geweihten Kosaken zu retten.
Zwei Pferde, die rabenschwarz schienen, jagten durch die Nacht, in der nichts zu erkennen war. Irgendwelche schwarze Reihen von Truppen marschierten in die Siedlung.
Koshuch sprang ab und trat in die hellerleuchtete Stube eines reichen Kosaken.
Am Tisch stand hoch aufgerichtet der Riese Smolokurow, trank, ohne sich zu bücken, starken Tee — der schwarze Bart hob sich gut auf dem sauberen Matrosenanzug ab.
»Holla, Brüderchen«, sagte er mit seinem tiefen samtenen Bass, den hereingetretenen Koshuch von oben betrachtend, ohne ihn dadurch etwa kränken zu wollen, »willst du Tee?«
Koshuch sagte:
»In zehn Minuten beginnt unser Angriff. Meine Leute stehen dicht vor den Schützengräben des Gegners, die Geschütze sind gerichtet. Bringe deine Truppen an die beiden Flanken, und der Sieg ist sicher.«
»Tu ich nicht!«
Koshuch presste die Kinnladen zusammen und fragte:
»Warum?«
»Warum, weil sie noch nicht da sind«, sagte Smolokurow gutmütig und lustig und blickte den kleinen zerlumpten Mann von seiner Riesenhöhe schalkhaft an.
»Die zweite Kolonne marschiert in die Siedlung — ich habe es eben selbst gesehen.«
»Ich gebe meine Leute nicht her.«
»Warum?«
»Warum, warum!« ahmte jener mit seinem tiefen Bass nach, »darum, weil die Leute müde sind, weil sie sich ausruhen müssen. Bist du eben erst zur Welt gekommen, dass du das nicht verstehst?«
Wie eine gespannte Feder füllte der eine Gedanke Koshuchs Gehirn und verdrängte alle anderen Empfindungen: ,Wenn ich siege, dann allein...'
Und er sagte ruhig:
»Dann stell' wenigstens deine Leute bei der Station in Reserve auf, und ich nehme dann alle meine Reserven und verstärke dadurch den Angriff.«
»Ich gebe meine Leute nicht her. Ich habe es gesagt — und damit basta —, du kennst mich.«
Er ging von einer Ecke zur andern, und auf seiner ganzen mächtigen Gestalt und auf dem kurz zuvor gutmütigen Gesicht breitete sich jetzt der Ausdruck eines starren Eigensinns aus; jetzt war nichts mehr von ihm zu wollen. Koshuch begriff das und sagte zum Adjutanten:
»Kommen Sie.«
»Einen Augenblick«, erhob sich Smolokurows Stabschef, trat auf Smolokurow zu und sagte mit einer Stimme, die gleichzeitig weich und gewichtig klang:
»Jeremej Alexejitsch, man könnte ja die Leute bei der Station in Reserve aufstellen — sie werden ja nur in Reserve stehen.«
Hinter seinen lässigen Worten klang: »Wird Koshuch geschlagen, dann schlachtet man auch uns ab.«
»Hm..., ich habe ja eigentlich... nichts dagegen... Meinetwegen nimm dir die Truppen, die eben angekommen sind.«
Bei Smolokurow war nichts auszurichten, wenn er sich einmal auf etwas versteift hatte. Aber einem kleinen Druck von einer Seite, von wo er ihn nicht erwartete, gab er sofort hilflos nach.
Das schwarzbärtige Gesicht wurde wieder gutmütig. Er schlug mit seiner mächtigen Pranke auf die Schulter des untersetzten Mannes:
»Nun, Bruderherz, wie steht's, he? Weißt du, Bruder, wir sind Seebären — auf dem Wasser, da können wir was ausrichten; da mag uns der Satan selber kommen. Aber auf dem Trocknen — davon verstehen wir soviel wie die Kuh vom Tanzen.«
Und er brach in ein Gelächter aus, dass die blendenden Zähne unter dem schwarzen Bart aufblitzten.
»Willst du Tee?«
»Genosse Koshuch«, sagte der Stabschef freundschaftlich, »ich schreibe sofort einen Befehl — die Kolonne wird an der Station Reservestellung einnehmen.«
Aus den Worten klang: »Nun, mein Lieber, bist also doch nicht ohne unsere Hilfe ausgekommen...«
Koshuch trat zu den Pferden und sagte im Dunkeln mit leiser Stimme zum Adjutanten:
»Bleiben Sie hier, gehen Sie mit der Kolonne bis zur Station, und dann erstatten Sie Meldung. Man kann nicht wissen, woran man bei diesen Leuten ist.«
In langen Ketten lagen die Soldaten an die harte Erde gedrückt — das dichte Schwarz der Nacht presste sie noch mehr an die Erde. Tausende tierhaft scharfer Augen drangen in die Dunkelheit, aber in den Schützengräben der Kosaken war es regungslos und stumm. Der Fluss rauschte.
Die Soldaten hatten keine Uhren, und die Erwartung wurde immer angespannter. Die Nacht stand schwer und regungslos da, aber ein jeder fühlte, wie es langsam und unentwegt auf zwei Uhr ging. Die Zeit floss wie das ununterbrochene Rauschen des Wassers dahin.
Obwohl alle nur darauf warteten, zerbrach das Dunkel doch völlig unerwartet, und purpurne Wolkenknäuel schossen durch die Nacht. Dreißig Geschütze begannen unermüdlich zu donnern. Und die bisher unsichtbaren Schützengräben der Kosaken zeichneten sich durch die blendend aufflammenden Schrapnellgeschosse gerade dort, wo Menschen fielen, in leuchtender Kette ab.
»Noch immer nicht zu Ende!« dachten qualvoll die Kosaken, sich an die trockenen Wände der Schützengräben drückend, jede Sekunde darauf wartend, dass die purpurnen Ränder der schwarzen Wolken zu blinken aufhören, die Scherben der zerbrochenen Nacht sich wieder zusammenfügen, dass man nach diesem das ganze Eingeweide erschütternden Dröhnen endlich wieder aufatmen kann. Aber das purpurne Blinken hörte nicht auf, und das Donnern dauerte, Erde, Brust und Gehirn erschütternd, fort, bald hier, bald dort klangen einsame, stöhnende Laute sich windender Menschen dazwischen.
Und ebenso plötzlich, wie es durchbrochen wurde, schloss sich das Dunkel wieder, die plötzlich eingetretene Stille löschte das purpurne Zucken und erstickte das unmenschliche Gebrüll der Geschütze. Vor den Schützengräben tauchte auf einmal eine dichte Reihe von Gestalten auf, und ein anderes Gebrüll rollte jetzt die Gräben entlang — es war ein lebendiges, tierisches Brüllen. Die Kosaken waren im Begriff, aus den Schützengräben zu fliehen — sie hatten nicht die mindeste Lust, sich mit bösen Geistern abzugeben. Aber auch dazu kamen sie nicht mehr: die Gräben füllten sich mit Toten. Da wandten sie sich dann mit mutiger Verzweiflung dem Gegner zu, um mit ihm bis aufs äußerste zu kämpfen.
Ja, es war eine satanische Kraft: fünfzehn Kilometer wurden sie verfolgt, fünfzehn Kilometer flohen sie in anderthalb Stunden.
General Pokrowski sammelte die Reste der Kosakenkavallerie und -infanterie, die Offrziersbataülone und führte die erschöpfte, ratlose Armee nach Jekaterinodar zurück, dem »Gesindel« den Weg freigebend.
Mit Anspannung aller Kräfte, in schnellen Märschen die Erde stampfend, ziehen sie, eng geschlossen, in Lumpen, vom Pulverdampf geschwärzt, über die Steppe, die staubigen Augenbrauen eng zusammengezogen. Und aller Blicke richteten sich scharf in die Ferne, auf den Horizont der sonndurchglühten
Steppe.
Schwer dröhnen die rollenden Geschütze. Pferde schütteln ungeduldig in den Staubwolken die Köpfe... Artilleristen wenden ihren Blick nicht von dem fernen blauen Strich.
Endlose Wagenketten knarren über den Weg, nackte Füße wirbeln den Staub auf, einsame Mütter ziehen an fremden Wagen dahin. Auf den geschwärzten Gesichtern leuchten trocken die leergeweinten Augen, auch sie richten sich nach dem fernen Strich des Steppenblaus.
Von der allgemeinen Eile erfasst, humpeln Verwundete dahin. Der eine hinkt auf schmutzig verbundenem Fuß, ein anderer pendelt zwischen den weitschwingenden Krücken, ein dritter hält sich krampfhaft mit seinen dürren Händen am Wagenrand, aber alle blicken sie unausgesetzt in die blaue Ferne.
Zehntausende von entzündeten Augen blicken hartnäckig, gespannt vor sich hin: dort ist Glück, dort ist das Ende der Qualen und der Müdigkeit.
Die heimatliche Kubansonne brennt auf sie nieder. Man hört keine Stimmen, keine Lieder, kein Grammophon mehr. Das endlose Knarren in den dicken Staubwolken, die dumpfen Hufschläge, der schwere Tritt der ungeordneten Reihen und die unruhige Legion der Fliegen — alles fließt, einem hastenden Strom gleich, strebt dem verlockenden Blau der geheimnisvollen Ferne zu. Bald, bald öffnet sie ihr Tor, dass das Herz freudig aufjauchzt: da sind sie, die Unsrigen! Aber, soviel sie auch gehen, so viele Siedlungen, Gehöfte, Vorwerke und Aule sie auch passieren — es bleibt immer das gleiche: die blaue Ferne tritt immer weiter und weiter zurück, . bleibt ebenso geheimnisvoll, ebenso unerreichbar. Soviel sie auch gehen, überall hören sie ein und dasselbe:
»Sie sind dagewesen, sind aber fort... Vorgestern Abend noch waren sie da, dann machten sie sich eilig auf und zogen alle davon.«
Ja, sie waren da. Da sind die Spuren der Pferde — überall Heu verstreut, überall ist Pferdedünger zu sehen. Und jetzt ist alles leer.
Hier stand die Artillerie; man sieht die graue Asche der erloschenen Feuer und die schweren Spuren der Artillerieräder, die hinter der Siedlung in die große Landstraße eingebogen sind.
Die alten Pyramidenpappeln am Wege sind voller Wunden: die Achsen zahlreicher Räder haben sie ihnen zugefügt.
Alles spricht dafür, dass sie noch vor kurzem da waren, jene, um derentwillen man unter den Schrapnells des deutschen Panzerschiffs marschierte, um derentwillen man mit den Georgiern kämpfte, um derentwillen man die Kinder in den Gebirgsschluchten zurückließ, um derentwillen man wie irrsinnig sich mit den Kosaken herumschlug... Aber es hilft alles nichts, noch immer bleibt die blaue Ferne unerreichbar. Knarrend hastet der Wagenzug über den Weg, unermüdlich klingen die eiligen Huftritte, unermüdlich folgen Fliegenschwärme dem hastigen Knarren des Zuges, unermüdlich bewegen sich endlose Staubwirbel über den Strom von Zehntausenden, unermüdlich leuchtet noch immer die Hoffnung in zehntausenden Augen, die sich auf den Horizont richten.
Bis auf die Knochen abgemagert — die Haut ist wie versengt —, sitzt Koshuch mit finsterer Miene in seinem Korbwagen; Tag und Nacht blicken seine zu schmalen grauen Spalten zusammengekniffenen Augen auf den fernen Himmelsstrich. Auch für ihn bleibt er geheimnisvoll und fern — fest sind Koshuchs Kinnladen zusammengepresst.
Eine Siedlung nach der andern, ein Bauernhof nach dem andern ziehen an ihnen vorbei.
Kosakenfrauen begegnen ihnen, verbeugen sich tief: in ihren freundlich lächelnden Augen glimmt der Hass. Und wenn der Zug vorüber ist, blicken ihm die Weiber erstaunt nach: sie haben ja niemand erschlagen, niemand beraubt — wie ist es möglich, diese verhassten Bestien!
Des Nachts meldet man Koshuch immer dasselbe: Kosakenabteilungen lassen sie, ohne einen Schuss abzugeben, durch, räumen ihnen immer den Weg. Weder des Tages noch des Nachts greifen sie den Zug an. Und hinter ihm schließen sie
sich wieder — auch da, ohne die Nachhut anzugreifen.
»Es ist recht!... Haben sich die Finger verbrannt...«, sagt Koshuch, und die Muskeln in seinem Gesicht zucken. Er gibt den Befehl:
»Schickt Berittene zu allen Kolonnen, zu allen Teilen des Zuges: sie sollen nicht zurückbleiben. Ununterbrochen weitergehen, keinen Augenblick Halt machen. Die Nachtruhe darf höchstens drei Stunden dauern.«
Und wieder knarren die Wagenreihen, zerren erschöpfte Pferde an den Wagenriemen, mit schwerer Hast dröhnen die Geschütze. In stiller, staubiger Mittagsglut, in sternfunkelndem Dunkel der Nacht, in früher, noch nicht erwachter Morgendämmerung zieht das schwere Dröhnen durch die Kubansteppen.
Koshuch wird gemeldet:
»Die Pferde fallen, Menschen bleiben zurück.«
Er presst durch die Zähne:
»Lasst die Wagen stehen, die Lasten legt auf andere, deren Pferde noch laufen können. Passt auf die Zurückbleibenden auf, nehmt sie mit. Ununterbrochen weitermarschieren.«
Wieder kleben Zehntausende von Augenpaaren an dem fernen Strich, des Tages und des Nachts streifen sie über die graugelben Stoppelfelder. Und immer wieder berichten die Kosakenweiber in den Siedlungen mit glimmendem Hass in den lächelnden Augen:
»Freilich waren sie hier — gestern noch...«
Sie sprachen die Wahrheit: erloschene Feuer, umherliegendes Heu, Pferdedünger zeugen davon.
Auf einmal lief die Nachricht durch alle Kolonnen. Frauen und Kinder sprachen sie nach:
»Sie sprengen die Brücken... Sie ziehen sich vor uns zurück und sprengen hinter sich die Brücken...«
Großmutter Gorpina flüstert mit starrem, entsetztem Blick:
»Sie sprengen die Brücken... sie wollen nichts mit uns zu schaffen haben, sprengen die Brücken.«
Die Soldaten umklammern fest ihre Gewehre in den schwarzen, knochigen Händen und sagen dumpf:
»Sie sprengen die Brücken... sie wollen nichts mit uns zu schaffen haben... sprengen die Brücken.«
Und wenn der Kopf des Zuges sich einem Flüsschen nähert, einem Bach oder einer Schlucht, dann sehen es alle: wie schwarze Zahnstümpfe ragen die verkohlten zerspaltenen Brückenpfosten auf, die Straße bricht ab, Hoffnungslosigkeit weht ihnen entgegen.
Mit finsterer Stirn befiehlt Koshuch: »Die Brücken wiederherstellen, Balken und Bretter herbeischaffen. Eine besondere Abteilung formieren aus Leuten, die mit der Axt umzugehen wissen. Sie sollen mit der Vorhut vorausreiten. Nehmt die dazu nötigen Balken und Bretter von der Bevölkerung und führt sie bei der Vorhut mit.«
Ä xte traten in Tätigkeit, weiße, frische Späne funkelten in der Sonne. Und auf den knarrenden, oberflächlich zusammengefügten Brettern rollten wieder Tausende von Wagen, schwerfällige Artillerie; ängstlich schnaubten die Pferde, mit furchtsamen Blicken auf das Wasser.
Endlos fließt der Menschenstrom, und wie ehedem sind aller Augen dorthin gerichtet, wo der unerreichbare Strich Steppe und Himmel scheidet.
Koshuch versammelt die Kommandeure und sagt ihnen in aller Ruhe — die Muskeln zucken auf seinen Backenknochen: »Genossen, unsere Hauptarmee zieht sich mit aller Kraftanstrengung zurück...«
Man gibt ihm finster zur Antwort: »Wir verstehen nicht, warum tun sie das?« »Sie fliehen und sprengen die Brücken. Lange halten wir es so nicht mehr aus — die Pferde fallen zu Dutzenden. Die Menschen sind bis aufs letzte erschöpft, bleiben zurück und werden von den Kosaken niedergehauen. Wir haben ihnen eine gute Lehre erteilt, die Kosaken fürchten uns, machen uns Platz, die Generale und ihre Truppen räumen uns den Weg und lassen es zu keinem Zusammenstoß kommen. Aber wir sind trotzdem in einem eisernen Ring, und wenn es noch lange so andauert, dann wird er uns erdrosseln; Patronen haben wir wenig und Artilleriemunition fast gar nicht mehr. Wir müssen etwas unternehmen, um aus dieser Lage herauszukommen.«
Er blickte sie mit seinen winzigen, zusammengekniffenen Augen scharf an. Alle schwiegen.
Da sagte Koshuch, und die durch die Zähne gepressten Worte fielen scharf und klar:
»Wir müssen sie einholen. Eine Kavallerieabteilung können wir nicht schicken, unsere Pferde taugen nichts, sie werden die Jagd nicht aushalten, die Kosaken werden alle niederhauen. Dann werden sie wieder Mut kriegen und uns von allen Seiten anfallen. Wir müssen es anders machen. Wir müssen die Hauptarmee einholen und ihr Nachricht von uns geben.«
Wieder Schweigen. Koshuch sagte:
»Wer meldet sich dazu?«
Es meldete sich ein noch ganz junger Kommandeur.
»Genosse Seliwanow, nehmen Sie zwei Soldaten, setzen Sie sich ins Auto und sehen Sie zu, dass Sie um jeden Preis durchkommen. Bringen Sie der Hauptarmee Nachricht von uns. Erklären Sie ihnen unsere Lage, machen Sie ihnen klar, dass sie uns der Vernichtung preisgeben.«
Eine Stunde später stand vor dem von schrägen Sonnenstrahlen übergossenen Dorfhause, in dem der Stab untergebracht war, ein Auto. Zwei Maschinengewehre guckten aus dem Wagen hervor: das eine nach hinten, das andere nach vorn. In einer ölglänzenden Bluse machte sich der Chauffeur — schweigsam und verschlossen — an dem Motor zu schaffen, prüfte alle seine Teile, ohne dabei die Zigarette aus dem Munde zu nehmen. Seliwanow und zwei Soldaten mit jungen sorglosen Gesichtern, in deren Augen eine tief versteckte Spannung lag, warteten.
Der Motor begann zu schnaufen, trug mit einem Ruck den Wagen von der Stelle, der bohrte sich durch die Staubwolken, wurde immer kleiner, verengte sich zu einem Punkt und verschwand.
Und die endlosen Haufen, die endlosen Wagenreihen, die endlosen Pferdeketten flossen, von dem Auto nichts ahnend, finster und unaufhörlich dahin, bald mit Hoffnung, bald mit Verzweiflung in die blaue Ferne starrend.
Der Sturmwind pfeift. Schräg, wie ein Blitz vorüberhuschend, weichen die Hütten, die Pappeln an den Wegrändern, Flechtzäune und ferne Kirchen zur Seite. Menschen, Pferde und Vieh auf den Straßen, in der Steppe und in den Siedlungen haben kaum Zeit, ihrem Schreck Ausdruck zu geben — aber ehe sie um sich blicken, ist nichts mehr da, auf dem Wege wirbelt nur wie toll der Staub, in dem von den Bäumen heruntergerissene Blätter und ein paar Strohhalme kreisen.
Die Kosakenfrauen schütteln die Köpfe: »Muss verrückt geworden sein. Wer es wohl ist?« Kosakenstreifen und Patrouillen lassen den toll dahinsausenden Wagen an sich vorüber, im ersten Augenblick halten sie ihn für einen der ihren: die Roten werden sich doch nicht allein mitten unter den Feind wagen! Manchmal kommen sie doch darauf und feuern ein paar Schüsse ab — dann ist es jedoch meist zu spät. Nur ein wachsendes Sausen in der Luft, das immer ferner wird.
So wird im sausenden, pfeifenden Winde ein Kilometer nach dem anderen, ein Dutzend Kilometer nach dem anderen zurückgelegt. Wenn es jetzt eine Panne gibt, wenn der Reifen platzt, dann ist es aus. Gespannt blicken die beiden Maschinengewehre nach vorn und zurück, und ebenso gespannt spähen vier Paar Augen auf den ihnen entgegenrasenden Weg voraus.
Im sausenden Dröhnen, das verzweifelte Atmen zum feinen Geheul steigernd, flog das Auto dahin. Unheimlich war es, wenn sie einem Fluss entgegenflogen und dort die Zahnstummel zerstörter Brücken herausstarrten. Dann wandte man seitwärts, machte einen ungeheuren Umweg, bis man irgendwo eine von der Bevölkerung provisorisch gebaute Brücke fand.
Gegen Abend leuchtete in der Ferne der weiße Glockenturm einer großen Siedlung auf. Gärten, Pappeln, die weißen Punkte der Dorfhütten wuchsen ihnen schnell entgegen.
Ein Soldat jauchzte plötzlich auf, wandte den anderen sein ganz verändertes Gesicht zu: »Die Un-se-ren...« »Wo?... Wo?... Was du sagst!«
Aber sogar das Gebrüll des dahinsausenden Motors vermochte seine Stimme nicht zu ersticken. »Die Unseren! Die Unseren! Da!«
Seliwanow erhob sich brüsk, als wappne er sich, um im Falle eines Irrtums seiner Enttäuschung Herr zu werden, und: »Hurra-a-a-a!«
Eine große Streife ritt ihm entgegen — wie Mohnblumen leuchteten die roten Sterne auf den Mützen.
Im selben Moment pfiff aber schon das bekannte Singen an ihren Ohren vorbei: dsi-i-i... ti-i... ti-i... und wieder und wieder — wie das entfernte Summen der Mücken. Auch aus den grünen Gärten, hinter den Hütten knallten ihnen die Schüsse entgegen.
Seliwanows Herz krampfte sich zusammen: den Tod von den eigenen Leuten! Und mit heller, sich brechender Knabenstimme schrie er verzweifelt mit der Mütze winkend: »Gut Freund!... Gut Freund!...«
Lächerlich, als wenn im Brausen des dahinsausenden Autos auch nur ein Wort zu verstehen wäre: er begriff das schließlich selbst und packte die Schulter des Chauffeurs:
»Halt, halt!... Bremse!...«
Die beiden Soldaten versteckten die Köpfe hinter den Maschinengewehren. Der Chauffeur, dessen Gesicht in diesen wenigen Sekunden plötzlich erschreckend verfiel, bremste den sich in Rauch und Staub hüllenden Wagen — alle fielen nach vorn über; zwei Kugeln knallten klirrend gegen den Wagen.
»Gut Freund!... Gut Freund!...«, brüllten vier menschliche Kehlen.
Die Schüsse dauerten fort. Die Soldaten der Streife rissen die Karabiner von den Schultern, jagten vom Wege abseits, um das Feuer aus den Gärten nicht zu hindern — und feuerten im Reiten.
»Sie werden uns töten...«, stammelte mit trockenen Lippen der Chauffeur, ließ das Steuer fahren und brachte den Wagen völlig zum Stehen.
In Karriere sprengten sie heran. Ein Dutzend Mündungen drohten schwarz herüber. Einige Kavalleristen sprangen mit angstverzerrten Gesichtern von den Pferden.
»Weg von den Maschinengewehren! Hände hoch!... Aussteigen!... «
Die andern brüllten mit blassen Gesichtern:
»Haut sie nieder! Was wartet ihr... Offiziere sind es... Man muss die...«
Aufblitzend flogen die Säbel aus der Scheide.
»Sie werden uns töten!...« Seliwanow, die beiden Soldaten, der Chauffeur sprangen hastig aus dem Wagen. Aber sobald sie zwischen die schnaubenden Pferdeköpfe, die gezückten Säbel und vor die zielenden Mündungen gerieten, beruhigten sich die Reiter sofort: es waren die Maschinengewehre, die sie in diese Raserei versetzt hatten.
Jetzt war die Reihe zu fluchen an den Insassen des Autos.
»Seid ihr toll geworden?... Gegen die Eigenen... Habt ihr die Augen im Hintern?... Müsst euch doch zuerst die Papiere ansehen... Hättet uns alle samt und sonders niedergemacht... , dann ist's zu spät...«
Die Kavalleristen beruhigten sich:
»Wer seid ihr denn?«
»Wer seid ihr denn!... Ihr müsst zuerst fragen und dann schießen! Führt uns zum Armeestab!«
»Was sollten wir tun?« erwiderten die Kavalleristen kleinlaut, während sie sich in den Sattel schwangen. »Vergangene Woche ist genau so ein Panzerauto herangerast und hat uns mit Maschinengewehrfeuer überschüttet. War das eine Panik! Setzt euch in den Wagen!«
Sie nahmen wieder im Auto Platz. Zwei Kavalleristen setzten sich zu ihnen, die übrigen umringten sie misstrauisch, mit dem Karabiner in der Hand.
»Genossen, haltet euren Wagen im Zaum — sonst kommen wir nicht nach, die Pferde sind abgehetzt.«
Sie näherten sich den Gärten, bogen in die Straße ein. Die ihnen begegnenden Soldaten blieben stehen, fluchten:
»Schlagt sie doch einfach nieder... , wohin schleppt ihr sie?!«
Schräg und lang sanken die noch warmen Schatten des Abends. Irgendwo grölten Betrunkene ihre Lieder. Unterwegs, hinter den Bäumen, gähnten mit ihren zerschlagenen Fenstern ausgeplünderte Kosakenhütten. Ein gefallenes Pferd verbreitete schweren, üblen Dunst. Auf allen Straßen lag verstreutes Heu. Hinter den Gartenzäunen ragten verstümmelte Obstbäume hervor. Während der ganzen Fahrt durch die Siedlung war kein Schwein, kein Huhn zu sehen.
Sie hielten beim Stab. Der ganze Haufe wälzte sich ins Zimmer des Kommandeurs der Abteilung.
Mit vor Glück erregter Stimme erzählte Seliwanow von dem ganzen Feldzuge, von den Kämpfen mit den Georgiern, mit den Kosaken, kam von einem zum andern, ohne eins zu Ende zu erzählen:
»... Mütter... Kinder verhungert... Wagen stürzten in Schluchten... keinen Schuss mehr hatten wir... mit nackten Händen haben wir gekämpft...«
Auf einmal stockte er: seinen langen Schnurrbart und das borstige Kinn in der Hand, saß der Kommandeur gebückt da, ohne die fremden kalten Augen von ihm zu wenden.
Die anderen Kommandeure — lauter junge, braune Gesichter — standen oder saßen unbeweglich da und hörten, ohne Lächeln, ohne eine Miene zu verziehen, zu.
Seliwanow fühlte, wie ihm das Blut in Hals, Nacken und Ohren stieg; er brach brüsk ab und sagte mit einer Stimme, die plötzlich heiser geworden war:
»Hier sind die Papiere«, und reichte sie dem Kommandeur.
Dieser schob sie, ohne sie anzusehen, seinem Gehilfen zu, der sie unwillig und mit sichtlicher Voreingenommenheit zu betrachten begann. Der Kommandeur sagte, ohne den Blick von Seliwanow abzuwenden, langsam, jedes Wort betonend:
»Wir haben ganz entgegengesetzte Nachrichten.«
»Erlauben Sie«, Seliwanows Gesicht und die Stirn wurden blutrot. »Sie haben uns also... Sie halten uns also für...«
»Wir haben ganz andere Nachrichten«, sagte mit gelassener Betonung wieder der Kommandeur, er hielt noch immer seinen langen Schnurrbart und das Kinn in seiner Faust, ließ sich nicht unterbrechen und wandte den Blick nicht von dem andern ab: »Wir haben genaue Nachrichten: die gesamte Armee, die die Tamanhalbinsel verlassen hat, ist bis auf den letzten Mann an den Ufern des Schwarzen Meeres aufgerieben.«
Im Zimmer wurde es still. Durch das geöffnete Fenster drangen betrunkene Soldatenstimmen und schwere Flüche herein.
,Und hier ist die Disziplin nicht auf der Höhe...', dachte Seliwanow mit seltsamer Befriedigung.
»Aber erlauben Sie... genügen Ihnen die Papiere nicht... Was soll denn das schließlich... nach so viel Anstrengungen, nach unmenschlichen Kämpfen — uns zu den Unsrigen durchgeschlagen, um hier...«
»Nikita!« wandte sich der Kommandeur ruhig an seinen Gehilfen, indem er sein Kinn losließ, sich erhob und seinen Körper reckte — ein langer Kerl mit langem, hängendem Schnurrbart.
»Ja?«
»Such den Befehl heraus!«
Der Gehilfe suchte in der Aktentasche, holte ein Papier hervor, reichte es ihm hin. Der Kommandeur legte es auf den Tisch und begann, ohne sich zu bücken, wie von einem Glockenturm aus, zu lesen. Dass er in solcher Stellung zu lesen begann, schien in lässiger Weise die Unerschütterlichkeit seiner eigenen Meinung und der aller Anwesenden auszudrücken.
»Befehl Nr. 73 vom Oberkommando. Es ist ein Funkspruch des Generals Pokrowski an den General Denikin aufgefangen worden. Darin wird mitgeteilt, dass vom Meere her, aus der Richtung Tuapse, eine zahllose Horde im Anzug ist. Diese wilde Horde besteht aus russischen, aus Deutschland zurückgekehrten Gefangenen und aus Seeleuten. Sie sind ausgezeichnet bewaffnet, haben zahlreiche Geschütze, Vorräte und führen eine Menge geraubter Wertgegenstände mit sich. Dieses wohlausgerüstete Gesindel schlägt alles auf seinem Wege nieder: die besten Kosaken und Offizierstruppen, Kadetten, Menschewiki und Bolschewiki.«
Der Lange verdeckte, sich auf den Tisch stützend, mit der Hand das Papier, sah Seliwanow scharf an und wiederholte gedehnt:
»Und Bolsche—wi—ki!«
Dann nahm er seine Hand von dem Papier und fuhr, noch immer stehend, fort zu lesen:
»Im Hinblick darauf befehle ich: den Rückzug ununterbrochen fortzusetzen, die Brücken hinter sich zu sprengen; alle Überfahrtsmöglichkeiten zu vernichten; die Boote restlos zu verbrennen. Für den geordneten Rückzug sind die Kommandeure der Truppenteile verantwortlich.«
Und wieder sah er Seliwanow scharf an und sagte, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen:
»Sehen Sie, Genosse. Ich will Sie in keiner Weise verdächtigen, aber Sie müssen sich auch in unsere Lage versetzen: wir sehen uns... zum ersten Male, und die Nachrichten widersprechen sich, wie Sie selbst sehen... wir haben doch kein Recht... wir sind für die Massen verantwortlich, und wir wären Verbrecher...«
»Aber dort wartet man doch, wartet!« rief Seliwanow verzweifelt aus.
»Ich verstehe, ich verstehe, regen Sie sich nicht auf. Ich will Ihnen etwas sagen: kommen Sie, essen wir, trinken wir einen Tee, Sie sind gewiss hungrig, auch Ihre Leute...«
,Er will uns einzeln verhören...', dachte Seliwanow und fühlte auf einmal eine unüberwindliche Schläfrigkeit.
Eine hübsche, gesetzte Kosakenfrau brachte eine Schüssel Krautsuppe auf den ungedeckten Tisch; die Suppe war von einer so dicken Fettschicht bedeckt, dass sie nicht dampfte. Die Frau verbeugte sich tief:
»Wohl bekomm's!«
»Schon gut, Hexe, friss zuerst selbst!«
»Ich bitt' Sie, Väterchen, warum denn?«
»Na, wird's bald?«
Sie bekreuzigte sich, nahm einen Löffel, tauchte ihn in die plötzlich aufdampfende Suppe und begann vorsichtig zu schlürfen.
»Friss noch! Diese Canaillen: ein paar von den Unsrigen haben sie schon vergiftet. Wein her!«
Nach dem Essen kam man überein: Seliwanow fährt im Auto zurück, zur Kontrolle wird ihm eine Eskadron mitgegeben.
Das Auto fährt in langsamem Tempo, fährt in umgekehrter Reihenfolge an den bekannten Siedlungen und Bauernhöfen vorbei.
Seliwanow sitzt mit zwei Kavalleristen — sie haben gespannte Gesichter, die Revolver sind schussfertig. Und ringsherum: vorn, hinten, seitwärts, heben und senken sich bald im Takt, bald durcheinander Soldatengestalten in den Sätteln auf schnellfüßigen Kavalleriepferden.
Der Motor schnaubt zurückhaltend, langsam erhebt sich eine Staubwolke.
Die Spannung bei den im Wagen sitzenden Kavalleristen lässt allmählich nach, die Gesichter werden schlaffer; sie beginnen beim gedämpften Summen des Wagens Seliwanow vertraulich ihre Leidensgeschichte zu erzählen. Die Armee ist geschwächt, die Kampfbefehle werden nicht durchgeführt, kleine Häuflein Kosaken genügen, um sie in Flucht zu setzen; wohin das Auge blickt, desertieren die Soldaten aus den demoralisierten Truppenteilen.
Seliwanow senkt den Kopf, denkt:
,Wenn wir jetzt auf Kosaken stoßen — ist alles verloren.'
Kein einziger Stern leuchtet, und das macht, dass der weiche, schwarze Samt alles aufsaugt — man sieht weder Straßen noch Pappeln, noch Gärten, noch Hütten. Wie Nadelstiche blitzen die winzigen Lichter.
In dem weichen, dunklen Raum spürt man die gewaltige lebendige Menge. Man schläft nicht. Bald rasselt ein mit dem Fuß angestoßener Eimer, bald geraten Pferde aneinander, dann hört man:
»Brr, haltet still, ihr Teufel!« Bald erklingt eine monotone Mutterstimme, die sich nur in zwei Tönen wiegt: »A-u-u!... a-u-u!... a-u-u!«
Ein ferner Schuss, aber man weiß, es sind unsere. Hier und da schwillt der Lärm von Stimmen an und legt sich wieder. Wieder herrscht nur die Dunkelheit.
»Nun heute schon den letzten Tag...«, klingt schläfrig ein Lied mit müdem Lächeln.
Warum will der Schlaf nicht kommen?
Fern, vielleicht auch dicht vor den Fenstern, Knistern von Rädern.
»He, wohin willst du denn? Unsere Wagen stehen doch dort!«
Aber man sieht nichts — weicher, schwarzer Samt.
Seltsam — ist man etwa nicht müde genug? Blickt man etwa nicht Tag und Nacht, ohne die Augen abzuwenden, auf die ferne Linie des Horizonts?
Es ist, als wenn dieser Septembersamt und die unsichtbaren Dornhecken und der Geruch des Dorfes, als wenn das alles die langersehnte vertraute Heimat wäre.
Morgen findet draußen hinter dem Dorf die Begegnung mit den Truppen der Hauptarmee statt. Deshalb ist die Nacht voll fließender Bewegung, voller Stimmen und Geräusche — von dem Knistern der Räder und einem schläfrigen Lächeln erfüllt.
Der Lichtstreifen aus der angelehnten Tür legt sich schmal über die Erde, bricht sich an dem Flechtwerk des Zaunes, verschwindet in dem Gemüsegarten.
In der Kosakenhütte brodelt der Samowar. Die Wände leuchten weiß. Geschirr steht auf dem Tisch, weißes Brot. Ein reines Tischtuch.
Koshuch sitzt mit offenem Hemd auf der Bank, man sieht die behaarte Brust. Seine Schultern hängen herab, die Arme hängen, der Kopf ist gesenkt. So kehrt der Landwirt vom Felde zurück — den ganzen Tag hat er, mit funkelndem Pflugeisen die schwarze, fette Erde brechend, seine Felder abgeschritten; jetzt nagt eine angenehme Müdigkeit in den Armen und Beinen, das Weib bereitet ihm das Essen, und von der Wand, ein wenig rußend, scheint ein Blechlämpchen herab — müde ist er vom Wirtschaften, arbeitsmüde.
Neben ihm sitzt der Bruder — auch er ist ohne Waffen. Sorglos hat er seine Stiefel ausgezogen und betrachtet aufmerksam die vollkommen durchgelaufene Sohle. Koshuchs Frau hebt mit hausfraulicher Gebärde den Deckel vom Samowar — eine rebellische Dampfsäule steigt auf —, sie nimmt die in das dampfende Handtuch eingewickelten Eier heraus, legt sie auf den Teller, wo sie rund und weiß leuchten. In der Ecke dunkle Heiligengesichter. Drüben, wo die Wirtsleute wohnen, ist alles still.
»So, jetzt könnt ihr essen...«
Auf einmal schriller Lärm, die drei wandten den Kopf: im Lichtstreifen tauchte ein bekanntes bebändertes Mützchen auf, ein zweites, ein drittes... Wilde Flüche, Gewehrkolben stießen auf.
Ohne eine Sekunde zu verlieren — ,Verdammt, wo ist bloß der Revolver geblieben!' — rief Alexej:
»Mir nach!«
Wie ein Stier stürzte er davon. Ein Kolben traf ihn gegen die Schulter. Er wankte, hielt sich aber auf den Beinen, und unter seiner eisenschweren Faust krachte ein Nasenbein: stöhnend, fluchend brach ein Körper zusammen.
Alexej sprang über ihn hinweg:
»Mir nach!«
Er verschwand aus dem Bereich des Lichtes, tauchte in die Finsternis und jagte mit langen Sätzen über Gemüsebeete, dabei die hohen Stängel der Sonnenblumen niederbrechend, Den ihm folgenden Koshuch trafen wohlgezielte Kolbenschläge. Er brach hinterm Zaun zusammen, um ihn herum tobten vom Meereswind heisere Stimmen: »Aha!... Da ist er, haut zu!« Scharf und durchdringend klang die Stimme des Bruders:
»Hilfe!«
Schläge hagelten auf Koshuch nieder, er verzehnfachte die Kräfte, rollte aus dem Lichtstreifen in die Dunkelheit, sprang auf und jagte der Stimme seines Bruders nach. Und hinter seinem Rücken, ihm hart auf den Fersen, stampften schwere Tritte; heiser klang es hinter ihm her, unterbrochen vom
stoßweisen Atem:
»Nicht schießen, sonst laufen alle zusammen... Haut ihn
mit dem Kolben! Da ist er!«
Dunkler als die Finsternis der Nacht wuchs ein Zaun vor ihnen empor. Bretter knackten, Alexej schwang sich hinüber. Elastisch wie ein Jüngling setzte auch Koshuch über das Hindernis, und beide stürzten in einen unbeschreiblichen Wirrwarr von Schreien, Stößen, Flüchen, Kolbenschlägen hinein: »Haut die Offiziere nieder! Auf sie mit dem Bajonett!« »Nicht anrühren!... Wir nehmen sie mit!...« »Seid hereingefallen, ihr Schufte!... Stehenbleiben, sonst...« »Sofort zum Stab — sie müssen vernommen werden... Wir werden ihnen die Sohlen mit glühenden Kohlen kitzeln!« »Schlagt sie nieder!...« »Zum Stab! Zum Stab!«
Koshuchs und Alexejs Stimmen tauchten im schwarzen Wirbel unter, sie konnten sich in dem stürmischen Durcheinander selbst nicht hören.
Mit unausgesetzten Flüchen, unter fortwährendem Lärm schleppte man sie durch die Finsternis; ein Klirren der Waffen, Schwanken der Bajonette, ein Chor von Flüchen begleitete sie.
,Das Schlimmste scheint vorbei zu sein', ging es durch Koshuchs Kopf; er wandte sein Gesicht nicht von dem Licht ab, das sich aus den Fenstern des großen, zweistöckigen Schulgebäudes — des Stabs — ergoss.
Jetzt traten sie in den Lichtschein — alle sperrten die Mäuler auf:
»Das ist ja der Alte!«
Koshuch sagte ruhig, nur die Gesichtsmuskeln zuckten: »Seid ihr toll geworden?«
»Ja, wir... Ja, wie konnten sie bloß!... Die verdammten Matrosen! Sie kommen, erzählen: zwei Offiziere, zwei Kosakenspione hätten sie aufgespürt — wollen Koshuch ermorden —, verlangten, wir sollten sie hoppnehmen. ,Wir', sagten sie, ,stöbern sie auf, und ihr lauert hier hinter dem Zaun. Wenn die beiden über den Zaun setzen, dann haltet ihnen die Bajonette unter den Hintern... Zum Stab führt sie nicht, dort sitzen Verräter, die sie wieder loslassen werden. Bringt sie heimlich um die Ecke...' Und wir hatten ihnen geglaubt...« Koshuch sagte ruhig:
»Mit den Kolben auf das Matrosenpack loshauen.« Die Soldaten stürzten nach allen Seiten auseinander; eine ruhige Stimme kam aus der Dunkelheit:
»Auseinandergelaufen. Sind's Narren, dass sie warten werden, bis sie der Tod holt?«
»Komm, Tee trinken«, sagte Koshuch zum Bruder, sich das Blut vom Gesicht wischend. »Stellt Posten auf.« »Zu Befehl!«
Auch die späte kaukasische Sonne ist noch heiß genug. Nur die Steppen sind durchsichtig, nur die Steppen sind blau. Feines Spinngewebe glitzert. Nachdenklich stehen die Pappeln mit ihrem sich lichtenden Laub. Zartes Gelb legt sich über die Gärten. Weiß ist der Glockenturm.
Und hinter den Gärten, in der Steppe — ein unendliches Menschenmeer, wie damals, zu Anfang des Feldzuges: wie damals — unübersehbar. Aber etwas Neues liegt über ihm. Dieselben zahllosen Wagen der Flüchtlinge, aber warum leuchtet in den Gesichtern wie ein Widerschein, wie ein lebender Abglanz der Ausdruck unauslöschlicher Zuversicht? Es sind dieselben zerfetzten, halbnackten, barfüßigen Soldatengestalten... Aber warum stehen die Reihen so schnurgerade, so schweigsam ausgerichtet — die Gesichter wie aus geschwärztem Eisen geschmiedet, einem schlanken Walde gleich geordnet die unübersehbaren Spitzen der Bajonette? Und warum stehen diesen Reihen gegenüber, aber ungeordnet, ebensolche unendliche Reihen von leidlich gutgekleideten Soldatengestalten, deren Bajonette aber hin und her wanken und deren Gesichter Verwirrung und unsichere
Erwartung verraten?
Wie damals lagert eine ungeheure Staubwolke über der Menge; jetzt aber getränkt von herbstlicher Schwere, beginnt sie sich zu senken, und klar wird die Steppe und deutlich sichtbar jeder Zug auf den Gesichtern.
Damals erhob sich über dem grenzenlosen aufrührerischen Menschenmeer ein öder Hügel mit schwarzen Windmühlen; jetzt ist es eine leere Wiese, auf der dunkel ein Wagen steht.
Aber damals ergoss sich das Menschenmeer stürmisch und wild über die Steppe, jetzt ist es straffgefaßt in eisernen Ufern.
Man wartet. Und eine schweigsame, laut- und wortlose feierliche Musik wogt über der unübersehbaren Menschenmenge — durch den blauen Himmel, durch die blauen Steppen, durch die goldene Glut.
Ein kleines Menschenhäuflein erschien. Und jene, die zu den Reihen mit den eisernen Gesichtern gehörten, erkannten in diesem sich nähernden Häuflein ihre Kommandeure, die ebenso abgemagert, ebenso geschwärzt waren wie sie selbst. Auch die andern, die ihnen gegenüberstanden, fanden ihre Kommandeure heraus, die ebenso gesunde, braune Gesichter hatten wie sie selbst.
In der ersten Gruppe schritt Koshuch, bis auf die Knochen verdorrt, bis auf die Knochen abgemagert, zerfetzt wie ein Barfüßler, mit Stiefeln, aus denen die Zehen hervorblickten. Auf seinem Kopfe hingen die Reste des einstmaligen Strohhutes.
Sie schritten auf den Wagen zu und drängten sich um ihn. Koshuch bestieg ihn, riss die Strohhutreste von seinem Kopf und warf einen langen Blick über die eisernen Reihen seiner Leute, über die zahllosen, in der Steppe verschwindenden Wagen, über die traurigen Gesichter der Flüchtlinge, die Pferd und Wagen verloren hatten, und über die Reihen der
Hauptarmee.
Alle, soviel es ihrer hier gab, sahen ihn an. Er sagte:
»Genossen!«
Alle wussten, wovon die Rede sein würde, aber ein lebendiger Funke durchzuckte dennoch alle Herzen.
»Genossen, fünfhundert Kilometer haben wir zurückgelegt — hungrig, nackt, barfuss. Die Kosaken haben uns hart zugesetzt. Wir hatten kein Brot, keine Vorräte, keine Furage. Die Menschen starben, stürzten in die Abgründe, fielen unter feindlichen Kugeln; wir hatten keine Patronen, mit nackten Händen haben wir kämpfen müssen...«
Und obwohl sie alles das wussten — sie hatten es ja selbst durchgemacht —, so funkelten Koshuchs harte Worte doch neu und unerwartet auf.
»... Unsere Kinder haben wir in den Bergen zurückgelassen...«
Und über den Köpfen, über dem ganzen großen Heer wehte es, zitterten, krampften sich die Herzen zusammen:
»Ach du mein Weh, o unsre Kinder!«
Von Rand zu Rand schwankte das Menschenmeer:
»Unsere Kinder!... Unsere Kinder!...«
Unbeweglich ruhte sein Blick auf ihnen, er wartete ab und
sagte:
»Und wie viele unserer Brüder erlagen unter den Kugeln in den Steppen, in den Bergen, in den Wäldern, sind auf ewig dahin!...«
Alle Köpfe entblößten sich, und ein Grabesschweigen breitete sich wie eine Welle über die Menge aus. Bunten Blumen am Grabe gleich, klang durch diese Stille leises Frauen-
schluchzen.
Koshuch stand eine Weile mit gesenktem Kopf da, richtete sich dann auf, blickte auf diese Tausende und brach das
Schweigen:
»Und wofür denn haben Tausende, Zehntausende von Menschen das Leid und die Qual auf sich genommen? Wofür?«
Er sah sie wieder eine Weile schweigend an und sagte
plötzlich das Unerwartete:
»Für eins allein, für die Sowjetmacht, denn für die Bauern und Arbeiter gibt es außer ihr nichts auf der Welt...«
Da brach ein Seufzer aus zahllosen Lungen — die Spannung wurde unerträglich, einsame Tränen tropften über die starren Gesichter, langsam tropften sie über die Gesichter der zur Begrüßung Angetretenen, über die Gesichter der Greise — leuchtend funkelten sie in den Augen der Mädchen...
»... für die Macht der Bauern und Arbeiter...«
»Also das ist es! Das ist es, wofür wir gekämpft, unsere Kinder verloren haben wofür die Unseren gefallen, gestorben sind.« Es war, als wenn sich die Augen weit öffneten, als wenn sie zum ersten Mal das tiefste Geheimnis erkannt hätten.
»So lasst mich's doch sagen, ihr guten Leute«, schrie weinend und sich schnäuzend Großmutter Gorpina, die sich zum Wagen drängte und alle zur Seite stieß, »so lasst mich's doch sagen...«
»So wart' doch, Großmutter Gorpina, lass doch den Alten zu Ende reden — hernach kommst du dran.«
»Stört mich nicht«, sie drängte sich mit den Ellbogen durch die Menge, niemand vermochte sie aufzuhalten.
Und sie schrie mit heiserer Stimme; das Haar hing ihr in grauen Strähnen unter dem losen Kopftuch auf die Schulter. Immer wieder schrie sie:
»Kämpft, ihr guten Leute, kämpft gegen die Herren und Offiziere! Unsern Samowar haben wir verloren. Als ich heiratete, hat mir die Mutter ihn zur Aussteuer mitgegeben und gesagt: Hüte ihn wie deinen Augapfel!... Und nun haben wir ihn nicht mehr... Aber mag alles darüber zugrunde gehen, wenn nur unsere Bauernmacht lebt, unser Leben lang haben wir geschuftet, keine Freude gekannt und nicht gewusst warum. Und meine Söhne... meine Söhne...«
Die Alte erstickte in greisenhaften Tränen und wusste selbst nicht, ob es Tränen des Leids oder einer unbegreiflichen, aufleuchtenden Freude waren.
Und wieder entrang sich aus der Brust dieses Menschenmeeres ein schweres und doch freudiges Seufzen und breitete sich aus bis zum Steppenrand. Mit finsterer Miene, schweigend, arbeitete sich der Mann der alten Gorpina zum Wagen hinauf. Der ist nicht so leicht herunterzuschleppen — ein unverwüstlicher Greis —, durchtränkt mit Teer- und Erdgeruch, die Hände hart wie Pferdehufe.
Er kletterte hinauf und wunderte sich, dass er plötzlich so hoch über der Menge stand. Aber im nächsten Augenblick vergaß er es wieder, und eine wetterharte, wie ein ungeschmiertes Wagenrad knarrende Stimme erklang:
»Es war ein alter Gaul, den wir hatten, aber gut war er. Ihr wisst es selbst — die Zigeuner sehen einem Pferd bis auf die Nieren, sie guckten ihm ins Maul und untern Schwanz und sagten, er sei nicht älter als zehn Jahre, und er war doch schon dreiundzwanzig! Ein tüchtiger Gaul war das!...«
Und der Alte lachte plötzlich, lachte zum ersten Mal — tausend kleine Fältchen bildeten sich um die Augen; es war ein kindliches, spitzbübisches Lachen, das seiner ganzen klobigen, erdigen Gestalt so wenig entsprach.
Und Großmutter Gorpina schlug sich verblüfft auf die
Schenkel:
»Herr du mein Gerechter! So sagt mir doch, Leute, ist er verrückt geworden? Sein Lebtag hat der Alte geschwiegen; schweigend hat er mich genommen, schweigend hat er mich geliebt, schweigend hat er mich geschlagen — und jetzt schwätzt er auf einmal. Hat der Alte den Verstand verloren?«
Der Alte vertrieb die lustigen Fältchen um seine Augen, die zottigen Brauen schoben sich vor, und wieder knarrte seine Stimme durch die ganze Steppe wie ein ungeschmiertes
Wagenrad:
»Sie haben unsern Gaul erschlagen, tot ist er! Alles haben wir verloren, alles, was wir im Wagen hatten. Zu Fuß haben wir laufen müssen. Das Kumt habe ich ihm abgeschnitten, aber auch das ist auf dem Wege liegen geblieben. Der Alten ihr Samowar und das ganze Hab und Gut zu Hause haben wir verloren... Und ich sage euch, wahrhaftigen Gottes«, und des Alten Stimme schwoll zu einem Brüllen an: »mir tut's nicht leid! Mag alles hin sein — es ist um unsere Bauernmacht! Ohne sie werden wir verrecken, wie Aas am Zaun liegen bleiben... « Kalte, sparsame Tränen hinderten den Alten, weiterzusprechen.
Wie ein Windstoß, wie ein Gewitter rollte es von Rand zu Rand:
»... Hu-r-r-a-a!... Unsere eigene Macht! Unsere Bauernmacht! Hoch lebe sie, die Sowjetmacht!«
Von Rand zu Rand ging es.
»Da ist es also das Glück?!...« ging es versengend durch Koshuchs Brust, und seine Kinnladen zuckten zum ersten Mal.
»Das ist es also!...« sprühte es unerträglich freudig durch die eisernen Reihen der zerfetzten, abgemagerten Menschen — »dafür haben wir also gehungert, gefroren! Also nicht bloß, um unsere Haut zu retten!...«
Und die Mütter mit den verwundeten, nicht mehr heilenden Herzen, mit den nie trocknenden Tränen — nein, niemals werden sie diese hungrig gefletschten Zinken der Bergschluchten vergessen! Aber auch diese furchtbaren Orte, diese furchtbare Erinnerung an sie verwandelte sich jetzt in eine stille Trauer, fand ebenfalls Platz in diesem Großen und Festlichen, das lautlos über der endlosen, in der Steppe ausgebreiteten Menschenmasse klang.
Und jene, die satt und angezogen in langen Reihen den eisernen, verhungerten, nackten Menschen gegenüberstanden — sie fühlten sich als Waisen bei diesem unvorhergesehenen Fest. Und ohne sich der hervorquellenden Tränen zu schämen, brachen sie ihre Reihen und fluteten, einer Lawine gleich, alles überschwemmend, dem Wagen zu, auf dem der abgerissene, abgemagerte Koshuch stand. Und ein neuer Ruf erklang in der Steppe:
»Unser Va-a-ter!... Führe uns, wohin du willst. Wir werden kämpfen auf Tod und Leben!«
Tausende von Händen streckten sich ihm entgegen, rissen ihn vom Wagen, Tausende von Händen erhoben ihn über die Schultern, über die Köpfe und trugen ihn. Und die Steppe erzitterte kilometerweit, von zahllosen menschlichen Stimmen aufgerüttelt.
»Hurra-a!!... Hurra-a!!... a-a-a!... Unser Alter, unser
Koshuch!...«
Und man trug ihn dort, wo die schnurgeraden Reihen standen, und auch dort, wo die Artillerie stand, man trug ihn zwischen den Pferden der Eskadronen, und die Reiter drehten sich auf ihren Sätteln um und schreien mit vor Begeisterung verzerrten Gesichtern, mit dunkel geöffneten Mündern, unausgesetzt schreien sie.
Man trug ihn zwischen den Flüchtlingen und ihren Wagen, und die Mütter hielten ihm ihre Kinder entgegen.
So trug man ihn und brachte ihn wieder zurück — stellte ihn behutsam auf den Wagen. Koshuch öffnete den Mund, um zu sprechen, und alle sahen ihn verblüfft an, als wenn sie ihn zum ersten Mal gesehen hätten. »Er hat ja blaue Augen!«
Nein, sie schreien es nicht, denn sie vermochten ihren Gefühlen keinen Ausdruck zu geben: er hatte wirklich blaue, zärtliche Augen, sie lächelten ein liebes Kinderlachen; nein, das sagten sie nicht, aber sie schreien dafür:
»Hurrra-a-a-a! Es lebe unser Alter, unser Koshuch! Wir folgen ihm bis ans Ende der Welt!... Wir wollen kämpfen für die Sowjetmacht! Wir werden kämpfen gegen die Herrschaften, gegen die Generale, gegen die Offiziere!«
Und er sah sie zärtlich aus seinen blauen Augen an, und in sein Herz brannte sich der Gedanke ein:
,Für mich gibt es weder Vater noch Mutter, weder Frau, Brüder, noch Nächste, noch Verwandte — ich habe nur diese, die ich vom Tode gerettet habe... Ich, ich habe sie in die Heimat geführt... Solche gibt es Millionen, sie tragen eine Schlinge um den Hals, und ich will für sie kämpfen. Hier ist mein Vater, mein Haus, meine Mutter, meine Frau und meine Kinder... Ich, ich habe diese Tausende, diese Zehntausende vom Tode gerettet...'
Wie mit flammender Schrift brannte es sich in sein Herz ein, die Lippen aber sagten:
»Genossen!...«
Aber er kam nicht weiter. Die Soldatenmenge zur Seite drängend, stürmte eine wilde Matrosenmasse heran. Allenthalben blauten runde Mützen, flatternde Bänder. Gewaltig mit dem Ellbogen arbeitend, flutete die Matrosenlawine immer näher an den Wagen heran.
Koshuch betrachtete sie ruhig aus seinen grauen Augen, die wieder wie Stahl blinkten; sein Gesicht war wieder starr, die Kinnladen fest zusammengepresst.
Sie sind schon ganz nahe — nur eine dünne Schicht von Soldaten trennt sie von ihm. Alles ringsherum haben sie überschwemmt; allenthalben, wohin man auch blickt, blaue Mützchen und flatternde Bänder. Wie eine Insel steht der dunkle Wagen da und auf ihm Koshuch.
Ein kräftiger, breitschultriger Matrose, über und über behängt mit Handgranaten, zwei Revolvern und Patronengurten, packte den Wagenrand. Der Wagen neigte sich, knarrte. Er stellte sich neben Koshuch hin, nahm sein blaues Mützchen ab, schwenkte es durch die Luft, und seine heisere Stimme, in der Seewind und salzige Weite, Trunkenheit, Tollkühnheit und haltloses Leben war, erhob sich über dem ganzen Umkreis:
»Genossen!... Wir Matrosen, wir Revolutionäre — wir gestehen es offen ein, vor Koshuch und vor euch. Wir haben ihm in jeder Weise geschadet, als er das Volk rettete, wir haben ihm sozusagen Schweinereien gemacht!... Wir haben ihm nicht geholfen, wir haben ihn nur kritisiert — und jetzt sehen wir, dass wir unrecht hatten! Im Namen aller hier versammelten Matrosen reichen wir unserm Genossen Koshuch die Hand und sagen in aller Offenheit: ,Wir sind schuldig — sei uns nicht böse!'«
Und die gleichen, vom Seewasser rauen Stimmen brüllten ringsherum:
»Wir sind schuld, Genosse Koshuch, sei uns nicht böse!«
Hunderte von kräftigen Armen zerrten ihn vom Wagen und begannen ihn hochzuwerfen. Koshuch flog hoch in die Luft, fiel wieder auf die Hände zurück, flog wieder hoch — Steppe, Himmel und Menschen —, alles drehte sich vor seinen Augen.
»Ich kann nicht mehr — alle Eingeweide bringen sie einem durcheinander!«
Von Rand zu Rand dröhnte es: »Hurrra-a-a unserem Alten!... Hurrra-a-a!« Als sie ihn auf den Wagen stellten, wankte Koshuch ein wenig; die Augen waren wieder hell, verengten sich, lächelten ein schlaues ukrainisches Lächeln.
,Diese verfluchten Spitzbuben — haben sich geschickt aus der Affäre gezogen. Wäre ich ihnen anderswo so in die Hände geraten, dann wär's mein Ende gewesen! Aber seine eiserne, harte Stimme sagte: »Wer ans Vergangene denkt — der wird gehenkt!« »Ho-ho, ha-ha, hurra-a-a!«
Viele Redner wollen noch sprechen, warten, bis sie an die Reihe kommen, ein jeder meint, dass das, was er zu sagen hat, die Hauptsache, das Allerwichtigste ist, und wenn er es nicht sagt, dann wird alles einstürzen. Die Menschen hören zu. Aber nur jene, die dicht am Wagen stehen, können die Worte vernehmen, die andern hören nur Bruchstücke, die noch weiter Stehenden überhaupt nichts; aber alle lauschen gierig, strecken die Köpfe vor, hören zu. Weiber halten den Kindern ihre leere Brust hin, oder wiegen sie hastig in ihren Armen, um sie zum Schweigen zu bringen, um ebenfalls besser hören zu können.
Und es ist seltsam, wenn sie auch nichts hören, oder doch nur Wortfetzen, das Wichtigste wird letzten Endes doch von allen erfasst.
»Die Pans wollen ihr Land zurückhaben.«
»Leck mir... kriegst aber auch dann das Land nicht zurück!«
»Hast gehört, Panasjuk, in Russland gibt's eine Rote Armee.«
»Was ist das für eine?«
»Eine richtige rote: die Hosen sind rot und das Hemd ist rot und die Mütze ist rot, hinten und vorn und durch und durch rot — wie ein Krebs.« »Schwätz keinen Unsinn.« »Wahrhaftig! Der Redner hat's eben gesagt!« »Und ich hab' gehört: Soldaten gibt es in Moskau nicht mehr — sie heißen jetzt alle Rotarmisten.« »Vielleicht kriegen wir auch rote Hosen?« »Und eine strenge Disziplin sollen sie haben.« »Besser als bei uns kann's nicht sein: seit unser Alter uns verdreschen wollte, gehen wir alle, als wenn wir ein Zaumzeug anhätten. Schau, wie wir im Glied marschieren, wie an einer Schnur. Als wir durch die Dörfer gingen, hat keiner unsertwegen einen Schaden gehabt, keiner unsertwegen geweint.«
So riefen sie einander zu, von den Reden nur Bruchstücke aufschnappend, unfähig, alles Erlebte und Erkannte auszusprechen, aber fühlend, dass sie, durch unermessliche Steppen, unpassierbare Berge und Urwälder von dem Mutterland abgeschnitten, vielleicht in weit geringerem Maße, aber zweifellos dasselbe schufen, was dort in Russland im großen geschaffen wurde, dass sie so, wie sie waren, hungrig, nackt, barfuss, ohne materielle Mittel, ohne irgendwelche Hilfe, es dennoch geschafft haben. Selber geschafft. Sie verstanden es nicht klar, aber sie fühlten es, auch ohne es aussprechen zu können.
Bis zum späten Abend sprachen die Redner, einander ablösend, die Brocken ihrer Worte fügten sich zusammen, schufen ein klares Bild — und das Gefühl eines unermesslichen Glücks und der Zusammengehörigkeit, mit jenem Großen, das sie kennen und doch nicht kennen und das sich Sowjetrussland nennt — schwoll immer mehr an.
Zahllos funkeln die Feuer im Dunkeln, ebenso zahllos sind die Sterne darüber.
Still erhebt sich der durchleuchtete Rauch, Soldaten in Fetzen, Weiber in Fetzen, Greise, Kinder sitzen um die Feuer, sitzen müde, erschöpft.
Wie an dem bestirnten Himmel die Rauchspur verblasst, so zerfließt in der tiefen Erschöpfung der freudevolle Schwung der ungeheuren Menschenmenge. In dieser weichen Dunkelheit, im Widerschein der Feuer, in diesem zahllosen Menschenmeer erlischt das neue, weiche Lächeln, erlischt im leise heraufziehenden Traum.
Die Feuer erlöschen. Still ist es. Blaue Nacht.
ENDE