Ein junger Köter kläffte unaufhörlich. Auf dem Hof, in der Ecke, spielte ein  dürres Kind. Es schob geduldig Murmeln zwischen den Kopfsteinreihen und nahm ab  und zu eine in den Mund.
  Plötzlich brüllte es los, keine Worte, sondern ein furchtbares, stickendes  Gebrüll. Im zweiten Stock schob sich ein wuschliger Frauenkopf durch das  Fenster.
  „Frau Danna! Frau Danna! sehn Se doch mal rasch! Der kleene Kerl hat ne Murmel  verschluckt! — Nee, sowas! Immer den Jungen alleene lassen... "
  Vom Vorderaufgang kam eine Frau heruntergerannt. Sie trug eine schmutzigfeuchte  Schürze. Ihre Kleidärmel waren hochgekrempelt, das Gesicht rot und aufgeregt.  Alle Frauen, die zuhause waren, sahen jetzt aus den Fenstern. Die von vorhin  brüllte wieder: „Rasch doch! Der wird ja schon janz blau!" Frau Danna  handelte schnell, sie schien noch einige Übung in solchen Dingen zu besitzen:  Karlchen wurde auf den Kopf gestellt und hin und her geschleudert. Er gluckste  nur noch und hatte einen feuerroten Kopf. Dann spuckte er eine blaue,  verschleimte Murmel aus.
  „So, Du Lausejunge! Warum nimmst Du die in den Mund?! He?! Warum nimmst Du  immer die Murmeln in den Mund?!" Klatsch, klatsch, hatte er ein paar  saftige Ohrfeigen. Von neuem ging das Gebrüll los, und Karlchen kroch auf allen  Vieren zwischen die beiden Müllkästen. Frau Danna musste wieder zum  Vorderaufgang zurück und nahm sich einen Eimer Wasser von unten mit.
  Im zweiten Stock des Quergebäudes standen vier Frauen und schimpften. Eine  fünfte kam gerade mit einer Tasche voll Kohlen, sie wurde aufgehalten: „Schade,  dass Sie nicht hier waren. Eben hätten Sie wieder was erleben können. Der  kleene Karl wäre bald erstickt!"
  „So? — Na, det kommt ja bei den öfter vor."
  „Na ja. Aber wenn nu wirklich mal wat passiert?"
  „Denn hat die olle Danna ooch keene Schuld. Sechs Kinder und drei Aufgänge, det  is doch ein bisschen happig", sagte die Frau mit der Kahlentasche und ging  weiter.
  Die Frau mit dem Wuschelkopf rief ihr hinterher: „Sie müssen die ooch immer  noch in Schutz nehmen. Warum hat se denn so ville Kinder? Wat?"
  „Die is eben noch nich so schlau wie Sie. Sie passen eben besser uff, vastehn  se!"
  „Ach, wern se man wieder frech, Sie! Wat hat denn det damit zu tun?" -
  Oben klappte eine Tür. Frau Schade konnte nicht mehr hören, dass sie eine „alte  Knüppeltülle" sei.
  Solche Vorgänge konnte man in der Nostizstraße täglich erleben. Immer war  Krach. Sinnlos beschimpften sich die Leute. Ständig kamen traurige  Leierkastenmänner und spielten immer ein und dieselben Lieder. Lumpenhändler  brüllten, und morgens kam ein alter Mann,
  der Brennholz gegen Kartoffelschalen eintauschen wollte. Auf einigen Höfen  waren Kuhställe. Dort lagerte furchtbarer Gestank bis unter die Dächer und  drang in die Wohnungen. Bunte, giftige Fliegen schwirrten durch die Fenster,  setzten sich auf Speisereste und quälten rachitische Säuglinge. Das waren die  Brummer. Dann gab es noch die kleine gewöhnliche Mistfliege. Und wo keine  geflügelten Insekten waren, tummelten sich Wanzen. Man konnte machen, was man  wollte, sie waren nicht wegzubringen. Vor einiger Zeit hatte eine Frau die  Wohnung geschwefelt, ihr acht Monate altes Kind war im Schwefelqualm erstickt,  jedoch die Wanzen wurden fetter und aufdringlicher. Sie hausten hinter Tapeten,  hinter dem brüchigen Stuck an der Decke, sie kamen sogar an der Hauswand hoch  durch die Fenster geklettert. Wanzen waren die Plage der saubersten Frauen,  auch derer, die in den Vorderhäusern wohnten. Aber dort wussten die Leute, wo  die Millionen Wanzen herkamen: aus den Hinterhäusern.
  Im ersten Stock eines Hauses an der Gneisenaustraße wohnte nach vorn heraus die  Frau des Krankenkassenangestellten Mädicke, Sie war eine stolze Person mit  wippenden, festen Brüsten. Trotz zehnjähriger Ehe hatte sie, weiß der Teufel,  keine Kinder. Eigentlich passte sie nicht in die Nostizstraße. Sie hatte einen  anderen Gang als die übrigen Frauen, trug den Kopf hoch und hatte soviel Kraft  und Zeit übrig, dass sie mit dem Hintern wackeln konnte. Das sah ja nun  wirklich nicht schön aus, aber es war so doch wenigstens ein Unterschied  vorhanden. Sie war die einzige, die keine Wanzen hatte, jedenfalls behauptete  sie das immer. Und ihr Mann musste den Mund halten. Ihr Wanzenpulver kaufte sie  nämlich nicht im nächsten Farbwarengeschäft, sondern Emil musste bis zum  Farben-Neumann in der Markgrafenstraße gehen.
  „Die Leute sind ja bloß neidisch auf uns, Emil!" sagte sie oft. „Sieh bloß  bald zu, dass wir eine andere Wohnung bekommen, oder ich rück Dir doch noch aus ... .'
  „Aber ja doch, Marta, unser Neubau ist ja bald fertig, da gibt es  Dienstwohnungen. Und ich bin nicht schlecht angeschrieben. Werde nur nicht  ungeduldig."
  „Ach, werde nur nicht ungeduldig!" ereiferte sie sich, „der Dreck, der  Dreck hier! Und die verfluchten Wanzen! Und dann die Kinder!"
  Ja, die Kinder. Sie kamen aus der Schule, lärmten und warfen sich mit Dreck,
  Keines von ihnen war kräftig. Alle hatten den gleichen stumpfen Blick. Nur  wenige waren lebendiger, die waren bei allen Gelegenheiten die Führer. Wenn sie  zum Tempelhofer Feld zogen, eine Schlacht mit Kuhmistkügelchen schlugen oder  sonst wie auf der Straße tobten. In der Nostizstraße war das nicht so leicht.  Oft saßen sie stumpfsinnig auf den Treppen, ohne Leben und Fröhlichkeit. Alles  war so tot und langweilig. Träumerisch trugen die Mädels Puppen herum, wurden  von den Jungens aus irgendeinem Anlass gestoßen, und dann ging die Heulerei  los. Sie stellten sich auf den Hof und schrieen ihr Elend weinerlich gegen die  abgeplatzten Wände. „Mutta! Mutta! Der Atze hat mir jehaun!"
  „Wollt ihr mal vom Hof runter! Verfluchte Jöhren! Immer der Krach, der  verdammte!... "
  An der Ecke Mariendorfer Straße, vorn vier Treppen, wohnte die Familie Rhoden.  Kurz nach dem Krieg war sie aus Westdeutschland gekommen. Jeden Morgen um fünf  Uhr ging der Vater mit seinen siebzehn- und achtzehnjährigen Jungen zur  Zentralmarkthalle. Er betrieb Gemüsehandel en gros. Die Jungen waren kräftige  Burschen. Groß, hohe Stirnen und Hände wie Maurerkellen. Abends saßen die drei  mit Mutter und Schwester am Tisch und sangen sämtliche Lieder, die den  deutschen Rhein preisen. Ein Plüschsofa stand an der Wand und darüber hingen  uralte Bilder von längst verfaulten Menschen.
  Neben ihnen wohnte der Sozialdemokrat Langscheidt. Er war Portier auf einem  Arbeitsnachweis, recht dick und behäbig, manchmal kam er mit einem blauen Auge  nach Hause. Und an einem Morgen klebte ein großes Plakat an der Haustür:
  „Arbeiter der Nostizstraße! Der Schuft Langscheidt, Mitglied der SPD.,  denunziert hungernde Erwerbslose an Polizeibeamte. Haltet ihm sein schändliches  Verhalten unter die Nase, zeigt ihm, dass er ein Achtgroschenjunge ist! Mehrere  Erwerbslose."
  Seit diesem Tage sprach niemand mehr mit ihm. „Achtgroschenjunge", das war  eins der gemeinsten Schimpfworte der Nostizstraße. Das war ein Aussätziger, ein  Schuft, vor dem man nicht einmal ausspuckt.
  Langscheidt war das gleichgültig. Er war ja auch schon sehr alt; fünfzehn Jahre  in der SPD. und zwanzig Jahre in der Gewerkschaft. Da gibt es so etwas wie  Tradition. Eilig und kläglich schlich er an den Häusern entlang, wenn er vom  Nachweis kam. Sein Sohn hatte auch etwas von der Tradition, aber von der alten,  echten. Er war ohne Wissen seines Vaters in die Gruppe Nostizstraße des  Kommunistischen Jugendverbandes gegangen. Heute war er der politische Leiter  der Gruppe. Er ist bei der ersten Panzerkreuzerabstimmung mit vier anderen  jungen Arbeitern aus der Sozialistischen Arbeiterjugend ausgetreten.
  Wenn er sich seinen Stempel vom Nachweis holte, musste er an seinem Vater  vorbei. Der grüßte ihn freundlich und rückte ab und zu auch eine Zigarette  heraus. Aber eines Tages war’s aus damit: Vor dem Nachweis wurde Karl von einem  Roten-Jungfront-Manm gegrüßt. „Rot Front! Karl!" „Rot Front! Theo!"  erwiderte der Sohn des Portiers. Und am Abend war der Krach da. Aufgeregt lief  der Vater im Zimmer hin und her. „Der Lümmel! Nee, sowat! Das hätte ich mir  nicht träumen lassen. — Was sagst Du nun dazu, was?!" fauchte er seine  Frau an.
  „Was soll ich denn dazu sagen? Das ist doch auch Dein Sohn. Du hast ihn Dir  doch erzogen. Jetzt sieh zu, wie Du mit ihm fertig wirst! Ich will mit Politik  nichts zu tun haben."
  „So! Du machst Dir ja die Sache recht einfach. Natürlich habe ich ihn erzogen.  Aber so nicht! So nicht, sag ich Dir. Stell Dir vor, auf. dem Nachweis ist  Krach, und ich muss mich mit meinem eigenen Sohn herumschlagen! Stell Dir das  einmal vor. Plötzlich ist Krach, und der Karl ist dabei! Mein Gott, so ein  Lausejunge! Und wie
  schön könnte er es haben. Wäre der bei uns geblieben, hätte er längst Arbeit. Nee,  nee, das hätte ich mir nicht träumen lassen...." Es klopfte, Frau  Langscheidt öffnete die Tür. Karl trat herein. Er grüßte knapp wie immer. Die  Mutter sah ihn mit stillen Augen an. Sie wollte ihm rasch etwas zuflüstern,  doch da kam schon der Vater wuchtig und schwer heran.
  „Komm mal her, Bursche! — Na, wird's bald?!" Karl ging auf ihn zu und  sagte ruhig: „Was ist das für ein Ton, Vater?"
  „Da hört doch alles auf! Was das für ein Ton ist? Ein anderer wie Deiner, Du —  Du — Vaterschänder!"
  Der alte Langscheidt brüllte und spritzte weißen Schaum vor Wut. Er holte tief  Luft und legte von neuem los, keifend und heiser:
  „Warst wohl dabei, als das Plakat angeklebt wurde, wat? Da haste wohl noch  mitgemacht — Du — Du Kommuniste, Du! Ich weiß jetzt alles. Mir haben sie alles  erzählt. Du beteiligst Dich an verbotenen Demonstrationen und bist sogar  Funktionär. He, wie denkst Du Dir denn das alles?"
  „Was soll ich mir denken? Ich bin überzeugt davon, dass ich meine Kraft dem  Proletariat zur Verfügung stellen muss, sei es nun bei einer verbotenen  Demonstration oder sonst wo. Ihr habt ja früher auch trotz Verbot demonstriert.  Dein Vater... "
  „Ach Du! Was weißt Du denn davon? Nichts! Neunzehn Jahre alt und denn da schon  mitreden! Früher, ja, da war es auch was anderes. Heute haben wir zu bestimmen,  und nicht mehr der Kaiser. Ich bin zwanzig Jahre in der Gewerkschaft, fünfzehn  Jahre in der SPD, mir kannst Du nichts erzählen, mein Junge. Also, dass Du  Bescheid weißt: ab heute bist Du um acht Uhr abends oben, verstanden?!"
  „Warum soll ich nicht verstehen? Du hast ja so gebrüllt, dass es das ganze Haus  verstehen muss."
  „Wer man noch frech, Du Dickkopp!"
  Der Alte schob los und knallte die Stubentür hinter sich zu. Karl setzte sich.
  „Was wirst Du nun machen?" fragte ihn die Mutter. Ängstlich sah sie ihn  an, als ob sie sagen wollte; ich verstehe dich ja. Lass doch den Alten meckern!  Aber sei vernünftig, mir zuliebe... 
  Karl dachte nicht daran, so „vernünftig" zu sein, dazu war er zu  selbständig. Er verkrampfte die Finger ineinander, schluckte ein paar Mal und  sah starr vor sich hin. Hart und knochig war sein Gesicht. Eine Haarsträhne  fiel ihm wie ein Streifen Licht über die Stirn, Seine Mundwinkel hingen schlaff  nach unten. Aber traurig war er nicht.
  „Nachgeben kann ich nicht, Mutter. Das tue ich nicht, Du weißt es ja. Das  Plakat habe ich nicht angeklebt; aber hätte ich den Auftrag dazu bekommen, nun,  dann hätte ich ihn ohne weiteres ausgeführt. Ich werde abwarten, was Vater  macht. Meine politische Betätigung lasse ich mir jedenfalls nicht verbieten.  Sonst gehe ich lieber . . ."
  „Junge, bist Du verrückt? Wo willst Du hin? Bist arbeitslos, hast keine  vernünftigen Sachen, Du kommst doch gleich unter den Schlitten, Junge,"
  „Also, ich muss jetzt gehen. Sag Vater, ich bin zum Gruppenabend. Warum denn  das verheimlichen? Auf Wiedersehen, Mutter!"
  Karl lief die Treppen hinunter. Seine Mutter weinte, als er fort war, sie hatte  gewusst, dass es einmal so kommen musste.
  Es war kurz vor sieben Uhr, Im Erdgeschoß plärrte Radiomusik. Aus einem Fenster  drangen kreischende, schimpfende Stimmen, zerflatterten zwischen den Wänden  ohne Widerhall.
  „Pack doch mal det Kind ins Bett! Mensch, der verfluchte Spektakel! Immer  Jebrüll, nie hat man mal Ruhe! Verdammte Scheiße!"
  Im Treppenhaus bogen sich unter Karls Tritten die knarrenden, halbverfaulten  Dielen. Unten hing das Treppengeländer lose, nur mit Draht notdürftig  zusammengeflickt. Von den Wänden war der Kalk abgeplatzt, man sah die gelbroten  Mauersteine. An einigen Stellen grinsten mit Kreide oder Buntstift gemalte  Figuren oder Inschriften, etwa: „Die Lisbeth Schunkel ist eine alte  Nutte." Unter den hölzernen Fenstersimsen wucherten Schimmelpilze.  Komisch: gerade heute fiel das Karl auf. Sonst hatte er nie darauf geachtet. Im  Hausflur klebte ein mit Schreibmaschine geschriebener Zettel:
  „Alle Mieter, die vom letzten Monat die Miete noch nicht bezahlt haben, fordere  ich auf, dieses sofort nachzuholen. Im anderen Falle werde ich meine Maßnahmen  ergreifen. Ebenso ist die fällige Miete abends ab 5 Uhr bei mir abzuliefern.
  Der Wirt, Bartenstein."
  An der abgeplatzten Decke baumelte die Gaslampe langsam hin und her, ihr Licht  flackerte zischend, der Glühstrumpf lag durchlöchert im Zylinder. Das  ausströmende Gas roch schwer und süßlich.
  
  Am Abend beherrschte die Jugend die Nostizstraße. Rohe Burschen, kümmerliche  Burschen, standen mit sanftmütigen und frischen Mädeln vor den Haustüren. Trübe  Gasfunzeln beleuchteten den Bürgersteig. Boshaft hüpfende Schatten versuchten,  die Eintönigkeit der Straße zu beleben. Graue Regenwolken hingen am Himmel, an  den Rändern mit mattem Rosa gefärbt. Eine Schupopatrouille lief langsam auf und  ab. An den Ecken standen einige Prostituierte in schlechten Kleidern und mit  verschmierten Gesichtern. Jeden Mann, der vorbeikam, redeten sie an.
  „Na, Süßer, willst Du ein bisschen mitkommen?"
  Die meisten gingen achtlos vorbei. Einige blieben stehen, kniffen die Augen  zusammen und sprachen leise über den Preis und anderes. Manche wurden frech und  gemein. Sie wollten sich dann halbtot lachen, wenn die Mädels ärgerlich wurden  und sich zierten. Die Jugendlichen der Nostizstraße achteten nicht darauf, so  etwas sahen sie alle Tage.
  Vor dem Lokal in der Mitte des Bürgersteiges hockte eine ganze Bande auf den  Steinplatten. Die meisten wurden mit ihren Spitznamen angeredet. Die kleinsten,  Kater und Spinne, schnorrten dauernd Zigaretten: „Peikbeen, lass mir  mitrauchen."
  „Geht nich mehr. Meine Kumille kriegt Erich. Und denn is meine Zijarette ooch  keene Hure, vastehste?"
  „Hab Dir man nich so, bei mir kommste dauernd schlauchen," knurrte Kater,
  Erich Schmidt saß etwas abseits. Er war in sich zusammengesunken und hatte  schwarze, traurige Augen. Müde erhob er sich, reckte seinen kümmerlichen Körper  und sagte langsam: „Keen Mensch hat wat zu roochen. Keen Aas hat Jeld. Kinder,  wo soll det bloß noch hin... .. ?!"
  „Passt ma off, Jungs, jetz fängt der an zu heuln. Da jeh ick lieber."
  „Hau ab, Du alter Seechsack!"
  Ein blasses Mädel mischte sich dazwischen: „Kinder, seid doch bloß nicht immer  gleich so gemein."
  „Wat heißt hier gemein. Gemein ist, wenn der Hund vor de Türe scheißt. Wir sind  nich gemein, vastehste! Und wenn du nicht ein Mädel wärst, würde ich Dir vort  Maul haun, alte Henne."
  „Hält de Fresse, Franz!" beruhigte ihn Spinne.
  Die Lokaltür ging auf, und der Wirt schob seinen massiven Körper durch die Tür.
  „Tach, Othello!" begrüßten ihn die Jungens. Weiß der Himmel, aber Othellos  Gestalt passte nicht zu dem Wirt, er sah eher wie Cäsar aus. Er war nicht in  guter Laune und schnauzte die Jungens an: „Runter von die Treppe! Wenn Ihr hier  seid, traut sich kein Gast her. Los, los! Verschwinden, oder es kommt ein Topp  Wasser."
  Othello sprach ruhig, er war ein Gemütsmensch. Am Tage sagte er schon gar  nichts, wenn die Burschen auf der Steintreppe saßen, da kamen ja sowieso fast gar  keine Gäste.
  „Los, Jungens, jehn wir doch nach'n Rummel, da is ne neue Bude!" schlug  jemand vor. „Dufte. Los, ick mache mit." Spinne wollte unbedingt etwas zu  rauchen haben. Er ging zu Othello in den Laden und legte fünf Pfennig auf den  Tisch. „Jib mir doch mal ne Zijarette vor een Sechsa... "
  „Jibts nich. Notverordnung. Kann nur zehn Stück verkaufen, mein Lieber."
  „Ach, mach doch, Othello. Mensch, ick würde Dir ja gerne zehne abkoofen, aber ... "
  „Na, hier nimm schon... ." Zufrieden trottete Spinne hinter den anderen  her. Er wusste genau, dass es einzelne Zigaretten nicht mehr zu kaufen gab.  Nicht mal bezahlen brauchte er sie, sonst machte sich der Wirt strafbar.  Othello war gar nicht so. Manch einem Arbeitslosen, der mit knurrendem Magen zu  ihm kam, wurde eine Boulette zugesteckt.
  In der Nostizstraße wurde es ruhiger, wenn die Jungens fort waren. Dann kamen  schüchterne Mädels hervor, stellten sich vor die Haustüren und plauderten. Der  Eierjude holte eine Bank und stellte sie vor seinen Ladenkeller. Mütter,  armselige Mütter mit müden, gleichgültigen Augen kamen mit ihren Kindern vom  nahen Kreuzberg zurück. Sie schleppten die Kleinsten auf Rücken und Armen, die  größeren liefen nebenher.
  In Othellos Kneipe räkelten sich träge die wenigen Gäste. Im Vorderraum saßen  nur mürrische, alte Herren mit langweiligen Gesichtern. Die Wirtin, eine  frische, lebenslustige Person, brachte aus der Küche einen Teller frischer  Bouletten. Prüfend überflog ihr Auge die Kundschaft, dann schüttelte sie  verständnislos den Kopf und lief hastend davon.
  Die Schwüle der Sommerabende schien in dieser Straße am schwersten,  drückendsten zu sein. Überall offene Fenster. Die Männer schoben das Hemd  zurück und streichelten ihre behaarte Brust. Die Frauen hatten es leichter: ein  loses und durchsichtiges Kleid, darunter irgendeine weiße Hose, Schlüpfer oder  Unterrock.
  „Da wird man janz marode, bei die Hitze."
  „Na, Du brauchst doch nicht zu schimpfen. Ihr habt ja nischt an, verdammtet  Weibervolk!"
  „Wat solln wir denn oooh anhaben, Mensch? Denkste denn, die Wohlfahrt gibt uns  Bemberg-Seide. Det is die reenste Sackleinewand. Und denn erzählten sie uns:  ,werdende Mütter, tragt hygienische Unterwäsche!'... ."
  Eine junge Frau war wütend und prügelte ihren Sohn. Der stand bockig da und  machte keine Miene zum Heulen. Immer und immer wieder bekam er einen Puff auf  den Hinterkopf.
  „Du Lausebengel! Wo haste die Strümpfe jelassen? Wo haste die Strümpfe? Willste  jetzt Dein Maul aufmachen! Jehn offs Tempelhofer Feld, ziehn sich die Strümpfe  aus und lassen se sich klauen."
  „Ach, mit die Strümpfe is det nicht schlimm, Frau Körner, meiner is mal ohne  Hose nachhause jekommen, einfach mit einer Decke um den Bauch jewickelt."
  An der nächsten Ecke standen die Freunde des verprügelten Knaben und grienten.  Einer rief der Frau Körner zu:
  „Los, jib ihm eene! Immer noch eene. Mensch, nimm doch den Holzhammer! Los  doch, hau doch, Dein Junge wird ja doch een Raubmörder!"
  „Halts Maul, Lausekopp!"
  Allmählich verschwand einer nach dem andern. Othellos Kneipe bekam neue Gäste.  Mütter riefen ihre Kinder zum Schlafengehen, und in den Wohnungen nahmen viele  die Petroleumlampen und leuchteten die Tapeten ab.
  
  Der Rummel nannte sich stolz „Fortuna-Park". Er lag gegenüber dem alten  Steuerhäuschen am Tempelhofer Feld, in einer vornehmen Gegend, die die Jungens  aus der Nostizstraße das „Topplappenviertel" nannten. Hier sah man abends  viele höhere Schüler mit Hakenkreuzen und Dienstmädchen. Die Hakenkreuze  verschwanden, wenn das Anrücken des Nostizkietzes gemeldet wurde.
  Reger Betrieb herrschte auf dem Rummel. Lampen in allen Farben beleuchteten  verlockend die armseligen Rummelschönheiten. Eine große Drehorgel überdröhnte  jeden anderen Lärm. Alles lief im Kreise: die Lichter, die Karussells, die  Glücksräder und die Besucher. Unendlich viele Sehnsüchte brodelten versteckt in  dem gleichmäßigen Rummeltrott. Junge Mädels kicherten, sie liefen zwischen  rohen Burschen oder glotzenden Gymnasiasten von Bude zu Bude.
  Vor einem breiten, grünen Zelt schrie ein Mann mit heiserer, knabenhafter  Stimme: .
  „Hier kann man sehen, wie Kinkerling, das Affenweib, mit Sägespänen gefüttert  wird! Halb Mensch, halb Affe, fristet Kinkerling ihr kümmerliches Leben: sie  lebt nur von Sägespänen, andere Speisen weist sie zurück. Ihr Vater war der  Häuptling eines Negerstammes
  Im Innern Afrikas. Er wurde von einem Gorillaweibchen angefallen, das er  schließlich gefangennahm und zähmte. Eines Nachts spürte er heißen Atem an  seinem Ohr... "
  „... und wenn dein kleines Herz noch frei ist, dann komm zu mir... "  orgelte es dazwischen.
  Franz musste natürlich wieder einen Witz reißen: „Du, lass Dir mal von Dein  Affenweibchen Pfötchen jeben! Wat machste denn, wenn sie Dir mal nachts  anfällt?"
  „Tatü! Tata!" brüllte es von der anderen Seite her, „Ringkampf! Boxkampf!  Wollen Sie ringen, wollen Sie boxen? Dann kommen Sie herauf und kämpfen Sie mit  meinem Bären. Ich mache aber die Herrschaften von vornherein aufmerksam, dass  ich für keinerlei Schaden aufkomme."
  Die Burschen verstellten den Mädels den Weg und versuchten anzubändeln.
  „Verzeihung, Fräulein, dürft ich Sie einladen für diese Bude hier...  ?"
  Kater stellte sich plumper an und wurde grob; „Klopp Dir mal det Mehl von de  Backe, siehst ja wie ein Mülleimer aus."
  Peikbeen hatte ein langes Mädel beim Wickel, das sich wehrte und ihn anschnauzte:
  „Lassen Sie mich endlich zufrieden! Fassen Sie mich nicht dauernd an...  Sie,  ick sahre et Ihnen jetzt zum letzten Mal, ick hole meinen Freund, der is bloß  een Topp Bier trinken."
  „Wat is denn mit Dein Freund schon los, Du olle Kuh. Sei froh, dass Dir mal  eener da anpackt, wo bei andere Frauen die Titte sitzt."
  Eine Gruppe lustiger Mädels kicherte in einer Luftschaukel. Immer wilder und  höher stemmten sie mit kräftigen Bewegungen die verzierten Holzkähne. Wupp!  Wupp! Wupp! Wupp!
  Ein Mann mit spitzer Nase und eckigen Bewegungen schrie in die Luft: „Nicht so  hoch! Das ist verboten!"
  Die Jungens kannten den Mann, sie wollten, ohne zu bezahlen, Luftschaukel  fahren,
  „Jeht nich, Jungs. Ich bin doch nur Angestellter." Der letzte Satz klang  etwas stolz. Der Mann erzählte, wie er trotz der schlechten Bezahlung doch zu  einem ganz guten Verdienst kam:
  „. . , denn zähl ick det Jeld in meine Hand vor. Dann schütt ichs in seine,  und bei mir bleibt immer een Groschen kleben. Nachzählen tut der nich."
  „Du alter Gauner, Mit mir mach mal sowas. Dir nehm ick mang die..."
  „Na, hör ma zu, das sind doch aber meistens Arbeiter oder Arbeitslose,"  sagte vorwurfsvoll Erich. „Ach ja, recht haste. Aber ick muss doch auf meine  Kosten kommen."
  „Du Schwein. Det werden wir Dir mal austreiben." Auf dem Podest vor der  Sporthalle standen Ringer und Boxer. Etliche mit runden, fetten Leibern, andere  wieder schlank und sehnig. Hier staute sich die Menge, und auch die Nostizgilde  blieb lange stehen. Der Ausrufer hetzte die Kämpfer aufeinander, einige  Stammkunden und Anreißer hetzten feste mit.
  „Kommt näher ran, Herrschaften! Heute ist mal was ganz Besonderes los: Tedje,  der Kölner Meister, ist von dem ehemaligen Landesmeister Badens herausgefordert  worden. Der Kampf geht bis zur Entscheidung. Als Preis sind fünfzig Mark  ausgesetzt worden."
  Herr Tedje fuhr erregt auf: „Ja, aber bitte, wenn er heute wieder aufgeben  sollte, dann schmeiße ich den ganzen Laden hin... "
  „Na, wer will hier noch mal mitmachen? Dreimal wird gedreht, dreimal wird  gewonnen! Das letzte Los hier! Zehn Pfennig! Hallo, bleiben Sie mal stehen! —  Hier, die Wurst können Sie für zehn Pfennig gewinnen, da brauchen Sie nich mehr  mit die... "
  Die Glücksräder drehten sich. Spinne wagte einen Groschen. Seine Nummer war  elf, und auf zwölf blieb der Zeiger stehen.
  „Verfluchter Mist! Det is ja Schiebung!"
  In einer Ecke, neben dem Sportzelt, standen Apparate mit lebenden Bildern. „Die  sinnliche Frau" stand auf einem dieser Apparate. Dorthin schlich Erich,  steckte einen Groschen in den Schlitz und kurbelte... 
  Enttäuscht schlich er davon, wie ein Hund, der ohne Grund fürchterlich  geprügelt wurde. Die anderen hatten ihn beobachtet, spöttisch lächelnd kamen  sie näher: „Na, wat haste denn nu jesehn? War sie nackend?"
  Erich knirschte mit den Zähnen, böse sah er seine Freunde an. Die wieherten vor  Freude wie satte Pferde.
  „Rutscht mir mal den Buckel runter, ihr Arschlöcher!"
  Die anderen lachten nur. Franz legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte  freundschaftlich: „Lass man, bleib bei die Handarbeit. Is das Beste. Hast ja  eben ne schöne Vorlage gehabt."
  Erich dachte resigniert: Affe! Dann wurde er wieder traurig. Wieder nichts.  Immer wieder wird man verkohlt. Immer wieder derselbe Schwindel... 
  Stumpfsinnig lief er mit den andern weiter im Kreise, zwischen jungen Burschen  und Mädels, die hier Abend für Abend ihr Elend zu vergessen suchten.
  Eine Bude hatte gerade die Vorstellung beendet. Die Künstler traten auf die  Rampe und lockten die Menge heran. „Internationale Schau" verkündeten  große Buchstaben. Schilder mit geheimnisvollen Namen gaben der Sache einen sehr  romantischen Anstrich.
  „Hallo! Die große Abnormitätenschau! Alfons Bartelli, der Mann ohne Nerven!  Otto Bonkulus, der Mann mit den tausend Köpfen! Daisy E. Opton, die große  Musikvirtuosin! Sonja, die geniale Sensation... "
  Als sich Daisy vorstellte, grienten sich die Jungens an, jemand sagte: „Mensch,  die alte Zicke aus der Bergmannstraße." Aber die Jungens aus der  Nostizstraße wissen, was Solidarität ist, sie verrieten ihre Entdeckung nicht.  Daisy hatte eine bunte Pfauenfeder im Haar und wiegte sich hin und her. Ein  etwas älterer Herr erzählte so ergreifend von der Seltenheit dieser  internationalen Schau, dass die ganze Bande ihr letztes Geld zusammenkramte und  in die Bude trat, bedächtig und würdevoll, als ob sie ein großes Theater  besuchten. Der alte Herr erzählte draußen weiter:
  „... nich etwa enthauptet. Er hat nur die Gabe, sich selbst an allen  Körperstellen zu betrachten. Was doch sehr interessant ist, nicht wahr? Und  dann ist da unsere Daisy. Sie spielt alles, was Sie wollen. Auf einem Banjo.  Banjo sind doch jetzt sehr modern. Aber passen Sie gut auf, meine Herrschaften,  Daisy hat die wunderbare
  Gabe mit auf die Welt gebracht, genau zu wissen, welches Lied Sie gerne hören  möchten. Sie kann nämlich Gedanken lesen! Ah, da staun Se, wat? Ich habe hier  einen zugeklappten Umschlag. So, nun klappe ich ihn auf, sehn Sie? Hier sind  zehn Zahlen, hinter jeder steht ein bekannter Schlager, und Sie brauchen nur  darauf zu tippen, ohne dass es die große Künstlerin sieht, und gleich geht’s  los: ,Weine nicht, Mütterlein, weine nicht'... na, und so weiter. Sie sehn  also, meine Damen und Herren, Daisy ist schon eine Attraktion für sich. Dann  ist aber noch Sonja da, die Sensation. Das genügt, mehr brauche ich Ihnen  darüber nicht zu sagen. Ich werde versuchen, Sie auf eine ganz neuartige Weise  zu unterhalten. Die Lieblinge des Volkes werde ich darstellen, die alten  Sozialisten, angefangen vom ollen August Bebel. Meine Damen und Herrn! Das ist  Volkseigentum, das geht uns alle an. Zögern Sie nicht! Zehn Pfennig ist der  Eintritt. Gleich ist Anfang, gleich ist Beginn! Kommen Sie herein, draußen  ist’s gefährlich, denn wir leben im Zeichen der Notverordnung!"
  In der Bude war noch sehr viel Platz; höchstens 25 Zuschauer befanden sich  drinnen. Erich musste neben einer dicken, aber sehr freundlichen Dame sitzen.  Sie kuschelte sich dicht an ihn heran. Er konnte nicht wegrutschen, da ihn  Franz immer wieder von der anderen Seite zurückdrückte.
  Da ging der Vorhang hoch, und der Mann von vorhin bat um Applaus für den großen  Künstler Bonkulus, der sofort auf die Bühne treten werde. Bonkulus war ein  strammer Junge im Turnanzug, und er konnte auch was. Er gab gute artistische  Leistungen, und jeder war begeistert. Er durfte dann in den Zuschauerraum gehen  und Spenden sammeln. Die Pfennige flogen spärlich in die Mütze. Erich kramte  eine Zigarette hervor und gab sie ihm. Spinne stieß ihn ärgerlich in den Rücken  und flüsterte: „Gauner! For mir haste vorhin keene jehabt."
  Dann kam wieder der Herr von vorhin und erklärte, wie schwer es sei, Gesichter  anderer Menschen nachzuahmen. Jeder glaubte ihm das sehr gern. „Also, erst mal  August Bebel." Er drehte sich zur Wand, klebte ein bisschen Putzwolle an,  und als er sich wieder umdrehte, waren die Zuschauer sehr erstaunt; wie Bebel  auf den bekannten Bildern sah jetzt der Direktor der „Internationalen  Schau" aus. Dann kam Wilhelm Liebknecht an die Reihe, nach ihm Sacco und  Vanzetti. Alles war gespannt auf das nächste Bild. „Und jetzt unser ermordeter  Karl Liebknecht, der Führer der Jugend." Da pfiff plötzlich ein junger  Mann in der hinteren Reihe. Franz sprang auf, schlug ihm unter das Kinn, packte  ihn mit beiden Armen und trug ihn zum Ausgang. Ein Fußtritt, und der junge Mann  lag draußen. „Bravo!" riefen einige Zuschauer. Franz setzte sich wieder,  als ob nichts geschehen sei.
  Daisy war ja nun wirklich keine Attraktion. „Die spielt aber mies," sagte  jemand leise.
  Und jetzt kam Sonja. Trocken und steif begann sie: „Ich komme jetzt zu Ihnen  herunter. Ich habe hier Horoskope. Die Sterne lügen nicht. Sie brauchen mir nur  Ihre Hand au zeigen, und ich gebe
  Ihnen einen Zettel, auf dem alles draufsteht. Das ist doch sehr schön, wenn man  alles vorher weiß. Preis nur zehn Pfennig."
  Sonja kam herunter, eine Frau in der ersten Reihe hielt ihre Hand hin. „Ein  M," stellte Sonja fest. Dann flüsterte sie mit der Frau und kramte  umständlich ein grünes Kuvert hervor. Peikbeen räusperte sich.
  „Wollen Sie auch einmal?"
  „Nee, mit Dir nich, Du weeßt ja schon immer alles vorher, da macht det keenen  Spaß."
  „Na, denn nich."
  Aber Erich wollte gern wissen, was mit ihm los war. Sonja nahm seine Hand: „Ein  ganz großes A. Sie sind ein großes Glückskind und im Zeichen des Mars  geboren."
  Aber Erich widersprach: „Det is doch een M, Mensch. Det soll een A sin?"
  „Doch, doch. Sehn Sie sich Ihre Hand mal durch ein Vergrößerungsglas an, mein  Herr."
  Dann bekam er den Zettel, wo alles draufsteht.
  „Im Namen meiner Künstlerkollegen meinen herzlichsten Dank!" damit hatte  Sonja die Vorstellung geschlossen.
  Vor dem Rummel musste Erich sein Horoskop vorlesen, er war wütend:
  „So ein Mist, wieder een Jroschen! Immer wieder fällt man off den Blödsinn rin  — hört ma her: ,Eine fleißige Arbeit wird Sie vor den Gefahren des Leichtsinns  retten. Die Liebe zur Arbeit wird Ihnen alle Gemütlichkeiten des Lebens  verschaffen. Die Kinder, die Sie bekommen werden, folgen ihrem Beispiel und  werden demnach Ihr größtes Vergnügen sein, — na, det kann ja dufte  werden."
  „Steht nich drauf, wie viel Kinder Du kriegen sollst?"
  „Na, Erich, jetzt weeste ja Bescheid. Koof Dir man jetz immer Fromms Act."
  „Ach ja, Jungs, ist schon alles Dreck. Los, jehn wa nach de Nostizritze, ick  bin müde."
  Die Rummelwächter räumten den Platz. Nur wenige Lampen brannten noch. Blauer  Qualm spielte wie Nebelschwaden um die Laternen. Aus einem Tanzcafe gellten  wilde Jazzmelodien. Schwere Lastautos donnerten in Richtung Tempelhof und  schleuderten Anhänger hinter sich her. Am Flughafen blinzelten rote  Signalzeichen. Der Asphalt der breiten Straße glänzte. Langsam schlenderte die  Nostizgilde ihrer Straße zu.
  Vor dem Lokal stand Karl Langscheidt mit seinen Genossen. Sie sprachen leise  und überlegten.
  „Ja, was machen wir denn da?" fragte Willi.
  „Janischt. Karl jeht jetzt rauf, und wenn ihn der Alte rausschmeißt, pennt er  bei mir ne Weile offs Sofa. Nachher werden wir denn schon sehen."
  Die Jungens vom Rummel waren herangekommen.
  „Rot Front! Ihr olln Leunakämpfer!"
  „Rot Front! Ihr olln Rummelfritzen!"
  „Oh, lass man, war janz nett, nich wahr, Erich? Der weeß nämlich jetz, wat mit  ihm los is: acht Kinder soll er kriejen und die Gemütlichkeiten des Lebens.  Dufte, wat?"
  „Fängste schon wieder an? Dir hau ick heute noch in de Fresse."
  „Mach doch, wenn de das Echo vertragen kannst. Immer los. Hol mal den Verbandskasten,  Spinne!"
  Die Jungens verstanden sich mit den jungen Kommunisten ganz gut. Nur mit  Politik durfte man ihnen nicht kommen. Wenn es aber hieß: die Nazis kommen  durch die Nostizstraße, dann waren die Jungens besser als viele der  Organisierten,
  „Sagt mal Jungens, was habt Ihr denn da vom Rummel? Jede Woche ziehen sie Euch  etwas von der Unterstützung ab. Wird nicht lange mehr dauern, dann heißts: Ab  über die Stoppeln, die Jugendlichen der Nostizstraße nach Pommern, Landarbeit  fürs Essen, Arbeitsdienstpflicht gegen die Erwerbslosigkeit. Dann ist es zu  spät, Herrschaften."
  Theo war bei den Jungens beliebt, er konnte sich das erlauben. Aber sie lachten  nur.
  „So siehst Du aus, mein Lieber. Bei uns kommt gar nischt in Frage. Und wenn,  dann gehen wir alle zusammen los und schlagen alles in Grund und Boden,"  sagte Franz.
  „Na, und dann? Meint Ihr, die lassen Euch zusammen? Nee, mein Lieber... "
  „Du willst woll schon wieder 'ne Rede halten, wat, Theo? Mensch, brauchst de  nich. Du weest doch, wenn wat los is, sin wa wieder da, wir wissen, wat wir zu  tun haben. Nur schlagen, mang schlagen, dass alles kracht!"
  „Ja, natürlich, wenn Ihr man organisiert schlagen würdet. Aber so nützt Ihr der  Arbeiterschaft verdammt wenig. Seht mal, Ihr habt doch so viel Zeit, seid erwerbslos,  kümmert Euch doch mal ein bisschen um Eure Lage, macht doch mal was dagegen,  alle zusammen. Zusammen mit uns. Zusammen mit der organisierten Arbeiterschaft  ganz Deutschlands... "
  „... Und der umliegenden Randstaaten", ergänzte Spinne. „Quatsch nich  dämlich", fuhr ihn Erich an, „Du kannst doch bloß blöde Witze  machen."
  „Und Du jammerst über jeden Dreck, denkste denn, davon wird's besser alter  Saftelkopp?"
  Auf der anderen Straßenseite blieben die beiden Schupos stehen, die Jungens  wurden ruhiger und gespannt. Der eine Grüne nestelte an seinem Koppel herum und  sah seinen Kollegen fragend an. Doch der winkte ab: „Lassen wir sie stehen, ich  meine, die sind doch ganz ruhig, warum sollen wir sie denn erst reizen."
  „Ja, aber es sind mindestens 15 Mann, und es ist elf Uhr", sagte der  andere zögernd. „Aber meinetwegen! Man weiß schon gar nicht mehr, was alles  verboten ist."
  Langsam gingen sie weiter, ab und zu sahen sie sich um. Nur Theo und Karl  standen noch da und unterhielten sich.
  „...Ja, und da muss etwas gemacht werden, die Jungens sind zu schade, um auf  dem Rummel ganz versaut zu werden. Wir denken immer, die Nostizstraße ist schon  rot, weil jeder Zweite Kommunisten gewählt hat. Aber das nützt uns einen Dreck.  Mensch, was würden das für knorke Genossen werden .
  Karl zweifelte, er war immer sehr vorsichtig und bei den Jungens nicht gut  angeschrieben. Sie waren schon wütend wegen seines Vaters, den sie gefressen  hatten wie zehn Pfund schwarze Seife.
  „Meinst Du denn, das ist so leicht, mit denen was zu machen? Da sind doch so  viele Knallköppe drunter. Sieh sie Dir doch mal an: der Rummel und die Weiber —  weiter sehen die doch nischt. Was soll man denn da machen-?"
  „Persönlich an sie herantreten, mein Lieber, zeigen, dass wir für alle ihre  Nöte Verständnis haben, zeigen, warum ihr Leben so jämmerlich ist und wie sie  sich helfen können. Die Nostizstraße muss eine ganze Stoßbrigade des  Jugendverbandes werden. Sieh Dir doch die soziale Zusammensetzung der Leute an:  alles Proleten, wenig Kleinbürger. Die Straßenzelle der Partei ist vierzig Mann  stark, und wir nur sechzehn. Dazu kommen noch zehn Jungfrontleute, die aber  nicht bei uns organisiert sind, Das ist doch kein Verhältnis, Mensch. Wenn ich  doch nur Zeit hatte!"
  Theo hatte immer keine Zeit. Er war Führer der Roten Jungfront und aktives  Mitglied im Jugendverband. Jeden Abend Sitzung, jeden Abend nicht vor zwölf Uhr  ins Bett. Und dann noch dieser Karl„der noch so viele sozialdemokratische  Hemmungen und Arbeitsmethoden hatte.
  „Na, wem später noch mal darüber sprechen. Ich bin müde. Mal sehn, was der Alte  sagt. Licht brennt ja nicht mehr, Machs gut, Theo!"
  „Also, lieber Freund, morgen abend Sportpalast. Machs besser!"
  
  Erich war auch noch nicht schlafen gegangen. Er sah das blasse Mädel vor ihrer  Haustür stehen und auf jemanden warten, der einen Hausschlüssel hatte.
  Sie konnte Erich gut leiden, er war nicht gleich so gemein wie die andern  Jungens.
  „Na, wat hat denn der doofe Franz noch gesagt? Der patzige Affe."
  „Nischt, Frieda. Musst Dir nischt draus machen, der meints in Wirklichkeit ganz  anders. Hast Du keinen Schlüssel?"
  „Nee. Wir haben bloß zwee. Eenen hat meine Mutter, die rückt ihn nicht raus,  und den andern hat mein Bruder, der hat Nachtschicht."
  Dann schwiegen beide. Frieda sah zu Boden. Erich betrachtete sie furchtsam und  hoffnungslos. Er war etwas aufgeregt. Seine Hände spielten. Langsam legte er  den Kopf zur Seite und presste ein Auge zusammen. Er fürchtete sich vor einer  Dummheit: jetzt auf sie zuspringen und drücken. Langsam ging er auf sie zu und  nahm ihre Hand. Sie sah immer noch zu Boden. So etwas hatte sie erwartet.
  „Frieda, komm, wir gehen noch ein Stück."
  Wortlos ging sie mit. Der arme Bursche war ja nett, er kam ihr immer so  verprügelt vor. Seine Mutter, Frau Schmidt, hatte ihr schon oft von Erich erzählt.
  „Wo lang gehen wir?"
  „Zum Kreuzberg."
  „Meinetwegen, aber nur zur Unterhaltung, verstehst Du, Erich?"
  Erich hatte wohl verstanden, konnte aber nicht recht begreifen: immer ich habe  so ein Pech. Immer ich... 
  „Ja", sagte er leise, „nur zur Unterhaltung. Ich möchte gern mit Dir  sprechen, ganz vernünftig sprechen."
  Erich sah sie wie aus weiter Ferne an. In Gedanken versunken, presste er den  Kopf an ihre Brust . , .
  Ihre letzten Worte stimmten ihn noch trauriger. £r schob gedankenlos einen  abgerissenen Knopf in den Mund. Grenzenlos erbärmlich fühlte er sich. Was  sollte er denn dem Mädel jetzt sagen? Würde sie nicht wütend werden und ihm  davonlaufen, wenn er ganz einfach sagen würde: Du, ich hab Dich gern?
  Auf dem Kreuzberg blieb er vor einer schlecht beleuchteten, unbesetzten Bank  stehen. Heiß stieg es in ihm hoch. Erregung tobte wild in ihm. Er setzte sich  und zog das Mädchen auf seinen Schoß. Mit zitternden Händen strich er über  ihren stillen Körper.
  „Frieda — ich habe Dich lieb... "
  Sie schwieg lange. Dann sagte sie: „So reden sie alle. Das wollt ihr ja nur.  Aber richtige Liebe findet man ja nicht. Du — hör auf... "
  Er spürte ihre wannen Schenkel. Wie Feuer rann es durch seinen Körper.
  „Frieda, lass doch! — Helf mir doch! Du — Du — helf mir doch! Mensch, was ist  denn bloß...  ?"
  „Lass los jetzt, verflucht noch mal! Wie denkste Dir denn det? Ich kann doch  nicht, Erich. Wenn was passiert. — Geh weg, da kommt der Parkwächter."
  Erich stöhnte. Dann fiel er in sich zusammen. Erbarmungslose Verzweiflung  überfiel ihn. Plötzlich stand er ernüchtert auf und presste ihre Handgelenke.  „Komm jetzt. Du verstehst mich ja auch nicht... "
  Frieda stand auf und verteidigte sich ruhig:
  „Doch, ich verstehe Dich. Aber so kannst Du mir Deine Freundschaft doch nicht  klar machen. Meinst Du denn, ich seh' nicht, dass Du es gut meinst? Aber so  nicht, Erich, so nicht. Komm jetzt!"
  Wortlos liefen sie zurück. Beim Abschied sah sie ihn gütig an, aber er verstand  nicht. Sinnlos erschien ihm das Leben... 
  Seine Mutter schlief schon, als er heimkam. Es war schon spät geworden Auf dem  Herd lag die schwarze Katze und blinzelte ihn mit verschlafenen Augen an.
  Mit leichtem Stöhnen warf er sich ins Bett.
Auf der Treppe des Hinterbodens lag ein alter Mann. Es war morgens sieben  Uhr. Er lag mit dem halben Oberkörper schräg gegen die Wand gelehnt. Ein feiner  Sonnenstrahl spielte um seinen Mund. Der Alte blinzelte mit den Augen und  musste lächeln. Er glich einem Kind, das man unter den Armen kitzelt. Über  seine Knie hatte er einen dicken, zerlumpten Mantel gelegt, ein zweiter, von  unbestimmbarer Farbe, lag unter ihm auf der Erde. Der Alte wurde unwillig: der  Sonnenstrahl traf sein Auge, und das Spielen mit ihm machte keinen Spaß mehr.  Langsam erhob sich der Obdachlose. Seine schmutzigen, krummen Finger fuhren ein  paar Mal durchs Haar wie ein Kamm. Die kleinen, müden Augen träumten, traurig  irrten sie auf dem Bodenflur umher. Fast zärtlich strich er sich über die  Backen. Dann humpelte er vorsichtig und leise los, sah erst eine Weile nach  unten und ging dann Schritt für Schritt bedächtig die Treppe hinab.
  Eines der grauen, elenden Nachtgespenster der Berliner Mietskasernen hatte  ausgeschlafen und ging betteln, demütig, hoffnungslos...
  Karl Langscheidt sprang von seinem Schlafsofa. Der Vater kam in die Küche und  brummte ihn an:
  „Wann bist Du gekommen?!"
  „Um elf Uhr, Vater, wir hatten Gruppenabend."
  „So, Gruppenabend. Da habt ihr Wohl wieder über die Sozialfaschisten  geschimpft, wat?"
  „Nee. Aber wir haben über den SPD.-Parteitag gesprochen und den Betrug der  reformistischen Führer an den sozialdemokratischen Arbeitern und am  Proletariat. Über die Notverordnungen und die Rolle der demagogischen  „linken" Führer... ."
  Der Alte unterbrach ihn schroff:
  „Hör auf! Willst mich wohl wieder belehren, wat? Wenn Du bis heute abend nicht  vernünftig bist, dann pack Deine Sachen und geh meinetwegen nach Moskau!  So."
  Die Mutter stellte Kaffee vor die beiden hin und blickte von einem zum andern.  Als sich der Alte umdrehte, legte sie einen Finger an den Mund, Karl nickte und  winkte lässig mit der Hand. Das Gesicht der Mutter war rissig. Die spärlichen,  grauen Haarsträhnen hatte sie mit Wolle zu einem kleinen Knoten  zusammengebunden.
  Die eine Wand der Küche lief in großem Bogen von der Flurtür bis zum Fenster.  In der Mitte, rings um die Wasserleitung, drang die Feuchtigkeit durch die  blättrige Ölfarbe, die sich stellenweise zu kleinen grauen Muscheln  zusammengerollt hatte. Karls Sofa stand in der Nähe der Tür. Der Alte sah noch  recht verschlafen aus. Sein vom Schweiß gelbes Hemd hatte an den Schultern  große Risse. Die Mutter deutete vorwurfsvoll darauf.
  „Ach, nu fang Du ooch noch an. Hab schon genug Ärger. So eine Sauerei! Nischt  kann man sich mehr zulegen. Nich mal ne vernünftige Molle kann man trinken. Wo  soll det noch hin?"
  Er sagte das so hoffnungslos und traurig, dass Karl mit ihm Mitleid bekam. Der  ist ja auch nur sein ganzes Leben angeprügelt worden, deshalb frisst er jetzt  aus der Hand, dachte er. Dann sah er in Gedanken ein Bild von einem Festessen  sozialdemokratischer Minister und musste lächeln.
  Sein Vater stand langsam auf, sah ihn noch einmal kurz und streng an und schob  los. Nach kurzer Zeit ging Karl hinterher.
  Auf der Straße traf Karl den alten Mann, der auf der Bodentreppe geschlafen  hatte, und gab ihm eine geschmierte Scheibe Brot. Der sah ihn dankbar an und  sagte:
  „Ach, Sie sind ja der von gestern abend. Haben Sie sich erschreckt, im Dunkeln  auf der Treppe?"
  „Ach wo! Vor was denn? Aber sehen Sie sich vor, wenn Sie unser Nachbar Rhoden  trifft, der holt die Polizei."
  „Wat heißt Polizei? Da jibt's wenigstens ne vernünftige Schlafstelle. Danke  schön fürs Brot — ihr Jungs, ihr seid doch noch die Besten."
  Er humpelte weiter zur Gneisenaustraße und blieb vor einem Papierkorb stehen.  Nichts, nicht einmal einen Stummel fand er. Er setzte sich in der  Mittelpromenade auf eine Bank und ließ sich von der Sonne bescheinen. Mit der  Umwelt schien er fertig zu sein. Nichts interessierte ihn.
  Hinter seinem Rücken lag die kasernenmäßige Volksschule. Davor prügelten sich  ein paar Jungens. Über den Rasen jagte ein zottiger Hund hinter einem glatten,  mit langer Schnauze, und versuchte ihn anzuspringen. Leute blieben stehen und  lächelten.
  Aber dem Alten war das alles egal. Seinetwegen konnten jetzt zwei  Straßenbahnwagen zusammenfahren. Wer kümmerte sich denn um ihn? Nur einen  einigermaßen brauchbaren Stummel hätte er gerne. Und der lag, saftig und  breitgetreten, fünf Schritte von ihm entfernt. Aber er schämte sich, gleich  darauf loszustürzen — der Alte war früher bei den Preußen gewesen und hatte  heute noch Disziplin in den Knochen, Er pirschte langsam im Halbkreis an den  Stummel heran, mit einer unheimlichen Ruhe, ungefähr so, wie ein armer Berliner  Teufel, der einen Fahrschein liegen sieht und sich nicht recht traut, ihn vor  den Leuten aufzuheben.
  Der Alte hatte den Stummel erwischt und lief wieder die fünf Schritte zur Bank  zurück. Hier zerrieb er ihn und steckte ihn in eine alte, abgeknabberte Pfeife.  Auf ihrem Mundansatz stak ein roter Bierflaschengummi; denn der Alte hatte fast  keine Zähne mehr. Nun rauchte er.
  
  In der Nostizstraße begann wieder der gleichmäßig eintönige Tag. Othello fegte  den Laden und seine Frau putzte mit inniger Liebe den Bierhahn. Frau Mädicke  ging wackelnd, mit festen, aufgesteckten Brüsten zur Markthalle am Marheinekeplatz.  Sie roch stark nach Kölnisch Wasser. Wenn sie die Arme beim Gehen bewegte, sah  man schwarze, krause Haare unter den Achselhöhlen hervorquellen.
  Ein Bandonionspieler zog von Hof zu Hof und spielte sentimentale Lieder.
  Der Mann aus dem Kuhstall kam und brüllte auf jedem Hol langgedehnt:
  Brenn—hoolz für Kaar—too—ffelschalenl" Einige Weiber kamen mit Körben aus  den Wohnungen und brachten dünne, schwindsüchtige Schalen. Dann wurde um  Holzstückchen gefeilscht:
  „Hörn Sie mal, Herr Kuhstall, wat soll det sin? Brennholz?! Zahnstocher sin  det, Sie alter Kuhastronom. Sehn Sie sich mal meine Schalen an! Viel zu schade  für det Vieh. Da haben Sie ja jar keen Verständnis für."
  „Hier haben Sie noch wat. Mein Jott, wat wollen Se denn noch haben für die  faulen Dinger? Mein Vieh pisst nich mal ruff, vastehn Se? Ick bin ja viel zu  rücksichtsvoll. Man müsste ja direkt... ."
  Eine andere, hagere Frau mischt sich dazwischen:
  „Hörn Se bloß off zu saftein! Los, ick muss weiter! Rüber mit so 'n paar  Baumstämme!"
  Die Kinder der unteren Klassen gingen zur Schule, folgsam und ahnungslos.  Einige trafen sich an der Ecke und zeigten einander ihre Schulhefte.
  Juden aus Abzahlungsgeschäften, Beamte der Gas- und Elektrizitätswerke kamen,  um Geld zu holen. Sie trafen an den Wohnungstüren nur verzweifelte Frauen und  schreiende Kinder. Kein Geld, nur Hunger, Gejammer und muffige Luft.
  Frau Rhoden hatte das Radio angestellt, und die halbe Nostizstraße hörte die  Übertragung einer vaterländischen Feier. Die Musik spielte „Üb' immer Treu' und  Redlichkeit" und hinterher „Deutschland, Deutschland über alles.“ Die  Nostizstraße gehört auch zu Deutschland. Aber außer Frau Rhoden bleiben die  meisten Bewohner beim Anhören der Nationalhymne teilnahmslos. Einige murrten  und sagten:
  „Schönet Konzert für Arbeetslose!"
  Frau Danna fegte vor der Haustür, und die Gemüsefrau auf der anderen Seite der  Straße saß schlaff und mager neben einem Korb Kopfsalat.
  Der Briefträger kam eilig und schwitzend. Oft blieb er vor einer Frau stehen,  kramte in seinem ledernen Umschlag, schüttelte den Kopf und zog weiter.
  Ein Lumpenhändler zog seinen Wagen hinter sich her. Junge Burschen und Mädels  kamen verschlafen aus den Haustüren und begrüßten einander.
  Die Sonne schien bis zum zweiten Stock der rechten Straßenseite. Am Himmel  standen weiße, nebelhafte Wolken.
  „Verflucht warm, wat? Schade, dass ich nich baden fahren kann."
  „Jeh doch offn Hof unter die Pumpe, Mensch!"
  Die Bewohner der Hofseiten, die nach der Bergmannstraße zu lagen, bekamen die  Sonne aus zweiter Hand: Die oberen Fensterscheiben der anderen Seite warfen sie  grell und doch schwach zurück.
  Vor seinen Eierkisten saß der Händler und langweilte sich. Hinter seinem Rücken  kam leise ein junger Bursche heran und nahm sich ein Ei zum Frühstück mit. Es  war sogar gestempelt. „Danish" stand mit kleinen, blauen Buchstaben  darauf.
  An einigen Hauswänden waren mit frischer Farbe Losungen gemalt: Rot Front in  allen Ecken, der Hitler muss verrecken!
  Einige Leute standen auf dem Fahrdamm und sahen nach der Arndtstraße, sie  sprachen lebhaft, und viele freuten sich. Andere kamen hinzu.
  „Wat is denn los? Een Flugzeug? Oder das ,Trumpf'-Luftschiff? . . ."
  „Ach wat, Flugzeug. Det sehn wir ja alle Tage — aber da, da oben aufs Dach ... "
  „Au Backe! Kinder, die machen aber Dinger! Meine Herrn!" Mit  halbmannsgroßen Buchstaben war ein schräges Dach der
  Arndtstraße bemalt. Neben der Inschrift: Die Rote Jungfront lebt!
  prangte ein großer Sowjetstern,
  „Dufte, dufte", sagte ein alter Mann und rieb sich unaufhörlich die Hände.
  „So is richtig. Det schadet janischt. Lass man den Hauswirt kratzen. Warum  verbieten se! Die anderen können alles machen. Der Stahlhelm darf  aufmarschieren, und die Nazis werden immer frecher... "
  „Det da keener bei runterjefallen is, wundert mir bloß. Wie sind die denn da bloß  ruffjekommen?"
  „Die kriejen doch allet fertig. Ostern fährt een Rot-Front-Fliejer über Berlin,  den haben se bis heute noch nich. Gut sin die Jungs."
  Frau Schade war auch hinzugekommen. Sie wurde gefragt:
  „War det nich etwa Ihr Theo?... "
  „Mein Theo? Mensch, der wird so leicht schwindlig. Der war gestern schon um  acht Uhr oben. Nee, der war et bestimmt nich... "
  „Mein Jott, wenn man so bedenkt, früher, rote Pfingsten. Wat war da immer für  Leben in unsern Kietz. Und wat waren det for Kerle. Aus Apolda hatt' ick immer  drei Stück im Quartier, die Jungs schreiben mir heute noch. Warum haben sie die  nun verboten?"
  „Warum? Na Mensch, weil die zu stark wurden, deshalb! Aber bilden Sie sich bloß  nich ein, det die nich mehr da sin, bloß weil Sie keene Uniform mehr sehen. Sie  sehn doch, da oben , . ."
  „Na ja. Det denke ick mir ja ooeh. Wärn ja ooch duslig, wenn se sich det  jefalln ließen."
  „Mein Jott, wenn heute der RFB, erlaubt wäre, keen Nazi würde mehr da sein,  sage ich Ihnen."
  An der Ecke der Bergmannstraße war wieder ein neuer Menschenauflauf. Dort hing  ein Schupo an einer Laterne und versuchte, das Straßenschild mit einem  Seitengewehr abzukratzen. Über Nacht war aus der Nostizstraße eine  Thälmannstraße geworden.
  
  Auf dem Nachweis für ungelernte Arbeiter des Bezirks Kreuzberg war ein  unaufhörliches Kommen und Gehen. Im Hausflur stand dick und wichtig der Portier  Langscheidt. Im dritten Stock wurde gestempelt, im vierten war der Aufenthalts-  und Arbeitsvermittlungsraum. Die Luft war überall stickig und verbraucht. Die  Fenster waren nur in ihrem oberen Teil geöffnet. Unten auf der Straße flutete  der Verkehr: Lange Reihen Autos, Straßenbahnen und Omnibusse. Ein Polizist  leitete auf dem freien Platz ruhig und überlegen die Wagenkolonnen. Aus dem  Hochbahnhof Hallesches Tor krochen eilig die gelbroten Züge. Dort oben hatten  1918 und beim Kapp-Putsch Maschinengewehre gestanden. Rechts, an der Ecke der  Lindenstraßa, stand das Gebäude des „Vorwärts", Angestellte mit  Aktenmappen huschten eilig durch die Eingänge und mimten den „zweiten  Mann"„
  Vom Arbeitsnachweis sieht man auch einen Teil der blanken Friedrichstraße und  die Belle-Alliance-Straße bis zum Kreuzberg hinab. Schwere Kämpfe hatten sich  hier während der Revolution abgespielt, am „Vorwärls"-Gebäude, am  Halleschen Tor und in der Friedrichstraße bei Büxenstein.
  Die Arbeitslosen dachten oft daran... 
  Behäbig saßen" die Angestellten des Nachweises hinter ihren Schaltern;  lange Reihen Erwerbsloser standen und warteten. Eine ekelhafte, müde Atmosphäre  stand schlummerig In allen Räumen. Die Abgefertigten saßen auf langen Bänken.  „Die Rote Fahne" ging von Hand zu Hand; jeder wollte sie zuerst lesen.
  „Haste jelesen, Justav, jestern haben se wieder ne Filiale von Goldacker  ausjeräumt."
  „Na ja, wat solln se denn machen, Mensch?! Mir haben se heute ooch wieder zwee  Mark abgezogen. Nächste Woche bin ich ausgesteuert."
  „Wenn ick doch bloß wüsste, wo ick da mitmachen kann, ick würde mir ooch wat  rausholn."
  Traurig und gleichgültig saß ein blasser Bursche am Fenster. Der Hunger stach  ihm aus den Augen. Seine Kleider waren abgeschabt, die Ärmel viel zu lang.  Seine Nase war spitz und die Stirn flach und grau. Nervös hatte er die dürren  Hände in den Schoß gelegt. Aus seinen entzündeten Augen trieften schmutzige  Tropfen. Immer, wenn jemand vorbeiging, zuckte er zusammen. Er holte ein Paket  aus der Tasche und wickelte große Stücke Brot und einige Scheiben Wurst aus  Zeitungspapier. Langsam und schmatzend aß er.
  Da trat Erich Schmidt an ihn heran, fasste ihn zögernd an den Schultern. Der  Blasse drehte sich um und hörte auf mit Kauen. Dann lächelte er still.
  „Emil, Mensch, wie siehst Du denn aus?! Wie kommst Du denn hier her? Meine  Herren, hast Du Dir verändert! Wat frißte denn da?"
  „Da! Für zwee Stunden Perserteppiche kloppen. Eeen Achtel Wurst in  Zeitungspapier. Und denn tun se noch so, als ob se een wat schenken!"  sagte Emil. Flüsternd sprach er weiter: „Ick bin aus de Fürsorge jetürmt. Halt  de Fresse. Wollte mir hier anmelden. Aber, denkste, Papiere, polizeiliche  Anmeldung..."
  „Na und?"
  „Hab ick doch nich. Un mir bringen se doch wieder zurück nach Züllichau. Da jeh  ick aber nich mehr hin. Da war's ja — nich — zum Aushalten! Unterwegs bin ich  umjekippt, in Freienwalde habn se mir ins Krankenhaus jeschleppt. Fünf Tage,  denn haben se mir wieder rausjeschmissen. Der Arzt sagt, ick muss bald sterben,  ick hab de Schwindsucht... "
  Er schüttelte ein paar Mal leicht den Kopf, schob ein Stück Brot in den Mund  und sah Erich an. So warm und kameradschaftlich. Erich konnte nicht sprechen,  ihm war sonderbar zumute. In seiner Brust stand ein heißer Klumpen Mitleid.  Einige Male versuchte er, seinem Schulfreund in die Augen zu sehen: Er konnte  nicht. Sacht fasste er ihn am Ärmel und sagte: „Komm nach oben, da ist nicht so  schlechte Luft."
  Erich presste den Mund zusammen. Seine Augen brannten, rote Flecken standen ihm  auf der Stirn. Der klägliche Rest Mensch stieg vor ihm die Treppe hinauf. Der  geht ja kaputt, der geht kaputt... dachte er hastig.
  Was war das früher für ein Kerl gewesen! In der Schule... Vater im Krieg  gefallen...  Geld geklaut, Fürsorge...  Schwindsüchtig und ausgerissen...  So  geht der kaputt. So... 
  Erich strich sich über die Schläfen. Im Halse würgte es.
 ... Und wir, wir alle? Ich, Ich, was wird aus uns?! Wir gehen ja alle kaputt...   wir alle. Alle! Zuhause...  was soll denn das werden... ?
  In allen Räumen des Nachweises lag die Müdigkeit. Erich wurde immer  verzweifelter. In ihm vibrierte jeder Nerv. Und dazu summte in seinem Innern  wieder diese dicke, widerlich sentimentale Saite... Im Aufenthaltsraum war es  lauter. Fast alle Plätze waren besetzt. In der Mitte stand ein niedriger  Podest. Alte Männer rauchten schlechten Tabak, und die Jungen versuchten, sich  Zigaretten zu drehen. Blaue Rauchschwaden standen unter der Decke, wanderten  von einer Ecke zur anderen und suchten einen Weg ins Freie. Mindestens sechzig  Menschen befanden sich hier oben. Einige schliefen, nickten dabei mit den  Köpfen und wachten dann jäh auf.
  „Mach mal Platz, hier ist doch kein Asyl!" weckte ein ,besserer'  Arbeitsloser einen Schlafenden auf. Der Schlafende trug eine Brille, er glotzte  verständnislos, stand auf und tappte los wie ein gefangener Bär.
  Ganz hinten in der Ecke lag das Nachtgespenst aus der Nostizstraße auf einer  Bank und schnarchte. Ihn störte keiner. Neben sich hatte er ein schmutziges  Paket liegen.
  Drei vierzehn-, fünfzehnjährige Burschen saßen am kalten Ofen und spielten  Schafskopf:
  „Du musst koofen, Justav."
  Gustav hatte rote Backen, lüstern und frech belauerte er seine Mitspieler, Er  spielte wie ein Alter.
  „Bedienen, Du alte Wiesenpenne — so! Und der steht von hinten. Allet  meine!"
  Gustav wurde unruhig und hatte keine Lust mehr zum Spielen. Kater und Spinne  hatten ständig verloren und waren wütend. Sie schlugen alle drei die Beine  übereinander und langweilten sich.
  „Heute wird's wohl keene Arbeet mehr geben, is ja schon elf Uhr.
  „Sag mal, Gustav, hast Du schon mal gearbeitet?" „Ick? Solange wie ick aus  der Schule raus bin noch nich. Als Schulrabe ja. Ick wer wohl ooch keene mehr  kriejen", sagte er ruhig. Und halb lachend, halb bedauernd fuhr er fort:  „Und als ich zehn Jahre alt war, hat der Alte jesagt: ,Gustav, Du wirst mal  Rechtsanwalt!' Heute bin ick zu Hause bloß noch det ,Sticke Mist'."
  Kater kaute an einem Streichholz. „Det sin wir ja alle", sagte er so ganz  nebenbei. „Aber lass man. Wem wir eben Verbrecher. Eeen andern Beruf jibs ja  für uns nich mehr. Schade, dass Du nich Rechtsanwalt bist, da hält ick een  billigen Verteidiger..."
  Ein Mann mit schwarzer Hornbrille und schwarzem Lüsterjakett kam in den Saal.  Alles sprang auf. Der Mann stellte sich auf das Podium und sah sich von  oben,die Leute an.
  „Nu los doch, Mensch! Lass uns nich so lange warten!"
  „Immer ruhig, junger Mann, nicht wahr?"
  Die Erwerbslosen standen dicht gedrängt um ihn herum und sahen zu ihm auf wie  zu einem Lehrer, der interessante Geschichten zu erzählen hat. Er begann laut:
  „Zwei Mann Zettel verteilen, Speisehaus Friedrichstraße."
  „Wie viel? Wie viel Mark die Stunde?"
  „Das steht nicht bei. Jedenfalls handelt sich's um ein Speisehaus und ein Mittagessen  wird schon abfallen."
  „Oho! Det kenn wir, det Mittagessen! Pellkartoffeln und Soße! Da jeht keener  hin!"
  „Was wollen Sie denn schon wieder? Sie können doch die Leute nicht von der  Arbeit abhalten! — Also los: Wer will hingehn? Lohn nach Vereinbarung."
  Zwei alte Männer meldeten sich. Sie gaben ihre Stempelkarten ab und gingen  still lächelnd fort. Spinne machte ein verächtliches Gesicht und stieß Gustav  an:
  „Zettel verteiln! Det soll nu für unsereens Arbeet sin! Arbeitsburschenstellen  kommen überhaupt nicht mehr raus. Dreck verfluchter!"
  Jemand lachte ganz laut. Niemand drehte sich nach ihm um. Sechzig Erwerbslose  warteten auf Arbeit. Aber keiner hatte Hoffnung. Der Mann mit der Brille tat  immer wichtiger. Er wühlte geschäftig zwischen den Papieren in seiner Hand und  kramte eine neue Vermittlungskarte vor. Es wurde wieder ruhig und die Augen der  Wartenden wurden gespannt.
  „Zwei Mann zum Teppichklopfen. Sie müssen das schon öfter gemacht haben. Stunde  achtzig Pfennig. Es handelt sich um je zwei Stunden."
  Zehn, zwölf Leute drängten sich zur Mitte und hielten ihre Karlen in die Luft.  „Hier!" — „Icke!" — „Icke!" . . .
  „Halt, nur zwei Mann. Wer ist länger als anderthalb Jahr arbeitslos?"
  Das waren fast alle, die sich gemeldet hatten. Der Mann suchte zwei junge Leute  aus, und empfahl ihnen, gleich hinzugehen: Großbeerenstraße 58, bei Frau  Schnacke.
  „Pass off det Jeld off, det aus die Teppiche fällt!" rief man den beiden  nach.
  Der Kreis um den Ausrufer wartete noch.
  „Kommt denn heute noch wat raus?"
  „Ja, das weiß ich nicht. Sie können ja warten, Sie haben ja so viel Zeit!"
  „Du alter Tintenklohn, det denkste Dir ja bloß. Los, schwinge Deine  Scheißständer und kiek nach, ob neue Arbeet da ist!... "
  „Denkst wohl, weil Du die Ruhe weg hast, haben wir ooch Zeit, wat? Ick muss  noch nach de Wohlfahrt zum Kottbusser Damm!"
  Enttäuscht schlich jeder zu seinem Platz zurück. Sie wurden ja immer  enttäuscht. Immer und überall. Enttäuscht und gedemütigt. Sie wurden  herumgejagt mit nutzlosen Formularen, von einem Amt zum anderen, von Behörde zu  Behörde. Manchmal nur wegen eines Stempels. Nur wenige murrten. Sie fraßen  alles in sich hinein. Und das alles schwoll an zu einer gewaltigen Portion Hass  und Wut. Da brauchte nur einer zu kommen, der sie an der richtigen Stelle  packte und sagte: Jetzt ist aber Schluss! Die Berliner Erwerbslosen sehen  friedlich und sanft aus, doch es braucht nur die richtige Stelle bei ihnen  aufgerissen zu werden, und sie schlagen auf den Tisch. Die Wohlfahrt lässt die  Kräftigsten nicht ganz verhungern, vielleicht werden sie später einmal  gebraucht. Als Arbeiter oder Soldaten. — —
  Wieder wurde Karten gespielt: Es war schon halb zwölf. Ab und zu flog ein toter  Blick zur Uhr. Die Luft wurde immer stickiger. Der Qualm fand nirgends einen  Abzug, Ein Erwerbsloser wurde blass und ging. Auf dem Flur erbrach er  grünlichen Schleim und fasste sich in die Magengegend. Dann lehnte er den  grauen Kopf schwer an die Wand. Von unten brachte jemand Wasser. Er wollte  nicht trinken, hastig und heiser keuchte er: „Jeht doch weg mit Eurem  Dreckwasser! Weiter habt Ihr nischt; Wasser oder blaue Bohnen."
  Ein Bekannter stützte ihn und führte ihn zur Treppe.
  „Komm, jeh nach Hause, bei Deine Frau."
  „Ach, hör uff! Da wird mir ooch nich besser, Mensch, zu Hause. Wenn ick det so  sehe — die Wut könnte man kriejen. Jetzt haben wir noch zwölf Mark die Woche.  Drei Kinder. Un denn det Gejammer zu Hause . . ."
  Kein anderer hatte sich um den Mann bekümmert. Das kam doch alle paar Tage vor,  überhaupt, wenn es so heiß war. Wer weiß, wer morgen vor Hunger umfallen wird.
  Spinne äffte den Ausrufer nach und stellte sich auf das Podium. Von irgendwoher  hatte er sich eine Hornbrille geborgt. Mit verstellter Stimme rief er in den  Saals
  „Achtung! Ein Hausdiener mit Backenbart und eigenem Fahrstuhl wird verlangt! -  Firma Karstadt, Hermannplatz. — Na, meldet sich keener?!"
  Manche lachten. Es gibt Erwerbslose, die nicht mehr lachen können. Es gelingt  ihnen einfach nicht mehr. So elend, so erbärmlich sind Menschen behandelt  worden, Sie können nicht mehr lachen, haben nie frohe Stimmungen.
  Spinne wurde wütend:
  „Wat? bei so eine feine Firma wollt Ihr nicht hin? Ihr Arbeitslosen seid ja  viel zu faul zum Arbeiten. Das steht doch alle Tage in den Zeitungen. Aber hier  — hier habe ich noch eine feine Stelle. Kommt nur für einen Sohn achtbarer  Eltern in Frage, Kater, det is wat for Dir! Verlangt wird: vier Pocken auf dem  linken Oberarm, polizeiliches Führungszeugnis und Schuhgröße 41. Er muss  englisch und französisch verstehen. Es handelt sich um eine allein stehende  Dame mit Köter... "
  Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Langscheidt stürzte herein:
  „Runter da! Das ist Hausfriedensbruch, Sie müssen aber auch überall dabei sein.  Denken Sie, mir macht das Spaß, hier für Ordnung zu sorgen?"
  „Beklecker Dir man nich! Für Ordnung sorjen wir schon alleene . . ,"
  „Raus, Du Achtgroschenjunge!!"
  Langscheidt wurde rot und verschwand wieder. An der Tür prallte er mit seinem  Sohn Karl zusammen. Karl trug auf der linken Brust stolz das Komsomolabzeichen.
  Die Jungens aus der Nostizstraße sahen gespannt zur Tür. Aber sie kamen nicht  auf ihre Kosten. Karl machte seinem Vater Platz und kam dann lächelnd, mit  leichten Schritten in den Saal. Alles an ihm glänzte: die Backen, die Haare,  die Stirn. Er ging langsam auf Erich zu und blickte erstaunt auf Emil. Die  anderen drei schoben sich auch allmählich heran. Der kranke Emil betrachtete  sie mit wehleidigen, entzündeten Greisenaugen, Lange drückte er Karl die Hand.
  „Sehn wir uns doch noch mal? Vierzehn Jahre waren wir damals alt, Karl."
  „Ja, Emil, es ist schon sehr lange her."
  Eine dumpfe Pause entstand. Karl suchte nach Worten, alle hatten irgendwie  Angst, zu sprechen.
  „Bist Du auch bei die Kommunisten, Karl?"
  „Ja. Schon ne ganze Weile. Und Du? Was machst Du? Ich meine, kümmerst Du Dich  um nichts?"
  „Natürlich, Mensch. Ich hab alles mitgemacht da unten. Aber dass Du dabei bist,  das habe ich mir denken können. Manchmal habe ich daran gedacht, dass Du ja  auch Kommunist sein musst. Ich hatte das so im Gefühl. Am meisten gefreut haben  wir uns, da unten im Heim, wenn wir ,Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!' gesungen  haben. Das war alles so komisch. Und Du hast dagesessen, warst wehrlos und  konntest nich raus. Wir hatten alle eine einzige Wut in solchen Situationen.  Manchmal kam Kommunistische Jugend in Autos vorbei — und wir — Mensch! Da hab  ich oft an Euch alle denken müssen. An alle. Und an die Nostizstraße. — Was ist  da jetzt los?"
  „Sie ist rot, Emil, Da kannst Du Gift drauf nehmen. Ab heute heißt sie  Thälmannstraße."
  „Das ist gut so. Aber ich weiß nicht, irgendwie hab ich auch das gefühlt.  Mensch, der Dreck da — ach ja, über den Thälmann, über den haben wir uns oft  unterhalten. Wie sieht der denn überhaupt aus?"
  Das wusste sogar Spinne. Thälmann hatte jeder aus der Nostizstraße schon einmal  gesehen. Im Sportpalast oder so. „Ja", sagte er wichtig, „det kann ick Dir  sagen: wie ein Arbeiter, Wenn der spricht, staunste Bauklötzer. Da merkste  gleich: det ist derjenige, welcher . , det is unser Führer."
  „Haste seine letzte Broschüre gelesen?" fragte Karl. „Die hats in  sich."
  Spinne hatte sie nicht gelesen. Er erwiderte: „Mensch, wenn Teddy aber nach de  Nostizritze kommt und sagt: ,Jungs, los!' — ick bin mit bei,"
  „Wie steilste Dir denn "det vor", fragte Kater höhnisch, „det mit bei  sein?"
  „Jib doch nich so schaurig an! Soviel wie Du hab ick ooch davon weg,  verstehste."
  Karl lächelte: das war ja eben die Unklarheit bei den Jungens. Schlagen, ein  bisschen Thälmann, und das andere ist ihnen alles egal. Da versagen sie alle,  wenn sie sich nicht der proletarischen Disziplin fügen. Da versagt einfach der  Mensch. Sie leben im erbärmlichsten Elend, winden sich durch und brüllen dann  für ein paar Minuten auf. Wie gebändigte Raubtiere, denen die Wildheit noch in  den Knochen steckt- Aber alles ist so unklar bei ihnen — da gibt es noch viele,  zermürbende Arbeit... 
  
  Langsam verließ ein Erwerbsloser nach dem anderen den stickigen  Arbeitsnachweis. Schwitzend, hungrig und traurig, den Kopf nach vorn gebeugt,  liefen sie irgendwohin. Hinein in dieses sinnlose Leben ohne Freude. Verfluchte  Müdigkeit drückte auf ihren Köpfen, ließ die Augen glotzen und alles grau  erscheinen. Wenige waren da, meistens junge, von denen ging Kraft aus und Mut.  Sie gingen aufrecht, und man freute sich.
  
  Karl Langscheidt, Erich Schmidt und Emil Hefen zum Belle-Alliance-Platz. Sie  setzten sich auf eine leere Bank. Ein Gespräch wollte nicht in Gang kommen. Vor  allem Erich hatte eine grässliche Stimmung. Immer wieder zerrte ein komisches  Mitleidsgefühl an seinem Herzen. Emil saß in der Mitte und stierte zu Boden.  Niemand hatte große Lust zu sprechen. Und alle drei wussten, dass sie einander  etwas sagen mussten. Aber was und wie, das wusste nur — aber auch noch  undeutlich — Karl. Er begann ganz leise, ohne die Stimme zu heben, eintönig;  der Klang seiner Stimme passte zu den dreien. Niemand gab sich Mühe, froh  auszusehen. Langsam, während Karl 6prach, löste sich die stumpfe Verstimmung.  Nur Emil döste weiter, ab und zu lächelte er still und teilnahmslos wie ein  Schwindsüchtiger.
  „... Seht Euch mal das an, da oben. Wie man da behandelt wird. Und dann die  Luft. Keiner muckt auf. Das ist alles so ekelhaft, am liebsten würde ich nicht  mehr hergehen. Aber...  Hier, haben wir uns wieder gesehen, Emil. Da oben in  dieser heißen Lausebude. Mensch, wenn man das bedenkt, wo wir schon hingekommen  sind — wir alle, Kater, Spinne, Du und Du und Peikbeen und ich und alle die  anderen — ich weiß nicht. Man müsste dann doch etwas Gemeinsames haben: wir  müssten dann doch Kameraden sein. Aber ja. Kameradschaftlichkeit setzen sie  voraus, wenn sie Zigaretten schlauchen wollen. Wenn man das so sieht, die  Jungs, aus der Schule raus — hier hast Du Deine Stempelkarte — zum Nachweis.  Keiner, wenigstens keiner von unsern Jungs aus der Straße, wird in den  Produktionsprozess eingereiht. Was soll denn aus denen mal werden? Das geht  tiefer, immer weiter, bis zum Lumpenproletariat. Und dann sind sie für die  revolutionäre Arbeiterschaft verloren...  Sie wollen alles vergessen. Da ist  dann der Rummel, die Weiber. Manche gehen zu Biens in der Kreuzbergstraße  tanzen, und andere wieder machen sich mit gemeinen Zoten Luft...  Immer  stärker, immer brutaler wird die proletarische Jugend unterdrückt. Die Jungens  müssen ja kaputtgehen, wenn sie so weiterleben, wenn ihr Leben keinen Inhalt  hat, kein Ziel...  Sie sollen zu uns kommen, Das müssen sie einfach tun, wenn  sie nicht vollständig stupide und stur werden wollen, wenn sie in ein besseres,  schöneres Leber hineinwollen...  Mensch, ich hab doch früher auch gedacht, mit  Volkstanz und schönen Wanderfahrten wird das Leben besser. Aber ja, das Maul  haben sie einem zugebunden, wenn wir mal aufgemuckt haben. Was sind wir hin-  und hergerannt, freudig und eifrig. Und sie sind immer reaktionärer,  kleinbürgerlicher geworden. Das haben ja sogar bürgerliche Zeitungen nach dem  Leipziger Parteitag bestätigt. Nach der Haltung der SPD. richtet sich heute  schon die Börse. Schade um die Proletenjungs, die heute noch an den Sozialismus  der Wels und Breitscheid glauben... "
  Emil war vollständig in sich zusammengesunken. Von unten her betrachtete er die  Freunde. Erich dachte lange nach, dann sagte er ebenso leise und zögernd wie  Karl, mit viel Zweifel und Bitterkeit in der Stimme:
  „Ja, Du hast schon ganz recht. Aber ich glaube nicht, dass es einem dann besser  geht, ich meine persönlich besser, wenn man bei Euch ist. Aber Du hast schon  recht, — Ja, wenn man sich mit allen so unterhalten könnte, wie jetzt mit Dir,  dann — ich glaube, dann verliert man allmählich die Zweifel. Aber Ihr habt ja  nie Zeit dazu. Alle haben es so eilig. Und Eure Mädels sehen einen von oben  herab an. Alle kommen sich furchtbar wichtig vor und tun geheimnisvoll, als  wenn Ihr eine Geheimorganisation seid...  Ich sehe selbst, dass mein ganzes  Leben Quatsch ist. Zu was denn leben, wofür denn? — Beantworte mir mal eine  Frage: meinst Du, wenn ich jetzt in den Jugendverband gehe, dass das dann alles  aufhört, das Nachgrübeln und Suchen und der ganze Mist? Dann die fressende  Sehnsucht nach Menschen, die einen verstehen... ?"
  Wieder trat eine kurze Pause ein. Es war schon zwei Uhr Mittag geworden. Am  Himmel standen verbummelte Wolken und es wurde mit einem Mal drückend schwül.  Karl richtete sich auf, sah Erich an und sagte schnell:
  „Das hängt von Dir ab. Wenn Du bei uns bist, hast Du Deine Aufgaben. Dann hat  das Leben einen Sinn, Du hast ein Ziel, gemeinsam mit uns. Der eine hat große  Schwierigkeiten, der andere findet sofort den richtigen Kontakt und wird ein  guter Revolutionär. Wenn Du nur immer das machst, was für Deine Klasse richtig  ist, dann ist's schon gut. Das andere musst Du alles über Bord werfen. — Du  bist sehr sentimental, Erich. — Was Du von meinen Genossen sagst, stimmt schon  zum Teil. Aber Du musst sehen, dass es ihnen auch nicht immer leicht wird,  gegen sich selbst vorzugehen und alle Schlacken auszuräumen. Sie stammen aus  dem gleichen Milieu wie Du. — Komm zu uns Erich, ich werde Dir helfen... " 
  Unbeholfen und alt stand Emil auf. Sein Gesicht war fahl, die Backenknochen  standen grau hervor. Er sagte mit fremder, ferner Stimme zu Erich:
  „Sei froh, dass Du endlich dahinter gekommen bist. Greif zu und versuche  tüchtig, besser als ich zu sein. Ich bin krank, fertig mit der Welt. Sonst  würde ich schon wissen, was ich zu tun habe. — Jetzt muss ich gehen."
  „Red doch nich so ein Unsinn!" beruhigte ihn Karl. „Du bist noch lange  nicht fertig mit der Welt. Man muss jetzt eine Möglichkeit finden, wie Du Dich  durchschlägst."
  „Ach, das überlass nur mir. Ihr habt genug zu tun, ich weiß schon, was ich  mache. Auf Wiedersehen! Grüß die Jungens! Und die Straße... "
  
  Emil war langsam zum Kreuzberg gelaufen, nachdem er stundenlang in der Stadt  herumgeirrt war. Oft dachte er an das Gespräch vom Mittag. Feiner Bengel, der  Karl...  Aber ich bin krank, ich kann nicht mehr... 
  Müde setzte er sich auf eine Bank in der dunkelsten Ecke. Er saß da, ein  erbärmliches Stück Mensch. Alles an ihm war alt, versaut. Sein Körper hinfällig  zum Zusammenbrechen.. Ein junger, kräftiger Mensch ist kaputtgegangen. Die  Schwindsucht hatte ihn zerfressen, weil er kein Geld hatte, sich auszuheilen.  Der konnte nicht mehr leben, nicht mehr denken...
  Kleine Regentropfen fielen. Der Mensch schlug den Rockkragen hoch. Ein paar  Bänke weiter lagen Obdachlose, noch etwas entfernter flüchteten Liebespärchen  vor dem Regen. Von irgendwoher klang eine schwermütige Weise. In der Luft lag  ein Seufzen, schwer und traurig. Jemand ging vorbei und murmelte vor sich hin.  In der nahen Schultheiß-Brauerei polterten Tonnen. Eine Lampe nach der anderen  wurde ausgedreht und die Bäume standen dunkel und drohend. Von der Stadt her  drang das schrille Klingeln der Straßenbahnen. Und Emil saß da, alles war leer  in ihm, er versuchte, nicht einzuschlafen. Würgender Hunger stach in seinem  Magen. Sein Puls ging ruhig. Es ist ja Wahnsinn, in blöder Geduld hier zu  sitzen und auf noch mehr Elend zu warten, zu warten, bis ich krepiere — dachte  er ein paar Mal. Seine Schultern und der Schädel zuckten, und, um einem  Krampfanfall vorzubeugen, schüttelte er heftig den Kopf und streckte die Hände  steil in die Luft. Dann sah er mit totem Blick in die dunklen Blätter der Bäume ... 
  Emil hatte niemanden mehr. Seine Mutter war vor zwei Jahren an der Schwindsucht  gestorben. Zweimal hatte sie ein totes Kind zur Welt gebracht. Emil hatte keine  Verbindung mehr mit seiner Umwelt, alle hatten sich von ihm gelöst. Und irgendetwas  Schwarzes trieb ihn einem unbekannten Abgrund entgegen.
 ...  warten — nicht mehr warten! Wartet ihr doch! Ihr könnt es ja. Seid doch  nicht so!...  Ich schaffe es nicht! Ich kann nicht mehr warten!
  Er hatte laut geschrieen. Dann stützte er wieder den Kopf in die Hände. Die  Kälte drang durch die Kleider und sein Blut rebellierte.
  Neben der Bank stand ein Papierkorb. Eine Ratte sprang hinein und raschelte.  Emil kümmerte sich nicht darum; als er von der Anstalt zu einem Bauern gebracht  worden war, musste er im Stall neben Ratten schlafen.
  Ab und zu knarrte ein Baum, Nachtvögel flogen lautlos, mit schnellem  Flügelschlag vorüber.
  Stundenlang saß Emil ohne Schlaf, den Rücken nach vorn gebogen. Er war immer  mehr in sich zusammengesunken, wie ein jämmerliches, schmutziges Bündel. Sein  wehrloser Körper dachte nicht an Widerstand... 
  Endlich erhob er sich und wankte den Weg zur Kreuzbergstraße hinab. Ein Wächter  mit Taschenlampe und Schäferhund kam ihm entgegen. Er brummte Emil an: „Wird ja  auch Zeit. Hier die Gegend unsicher machen, was?"
  Emil drehte sich nicht einmal um. Zu was denn auch. Der Wächter wird noch genug  Arbeit haben, um den anderen Obdachlosen da oben klar zu machen, dass die  Menschen vor dem Gesetz alle gleich seien und sie deshalb nicht auf einer Bank  im städtischen Park zu schlafen haben. Er wird seinen Köter bellen lassen und  sich freuen, wie die Verschlafenen ängstlich davonrennen... , dachte er.
  In der Nostizstraße lief Emil langsamer. Die Schupopatrouille hatte ihn  misstrauisch betrachtet, war dann aber kopfschüttelnd weitergegangen. „Der ist  ja plemplem!" hatte der eine gesagt.
  Vorsichtig tappte Emil dem Haus zu, in dem er aufgewachsen war. Alles war wie  früher, so alt und grau, derselbe Geruch stand in der Luft, auch nach  Pferdebouletten roch es noch. Schritt für Schritt lief er weiter. An einem Haus  blieb er stehen, holte einen Bleistiftstummel aus der Hand und schrieb an ein  grünes Schild: „Emil war hier gewesen."
  Seine Augen suchten an den Häuserfronten entlang. In einer Wohnung flackerte  trübselig eine Petroleumlampe. Sonst war es überall dunkel, fast feindselig.  Die Nostizstraße schlief und atmete schwer. Die Häuser schienen von oben her  zusammenzustürzen und alles mitzureißen. Kichernd prallten Regentropfen auf die  Dächer, und auf der Straße schlugen sie hell auf. An allen Wänden stand  Entsetzen, und aus den dunklen Fenstern glomm die Müdigkeit... .
  Emil lief weiter, die Baruther Straße hinauf, bog in die Zossener Straße links  ein und ging dann schnell zum Landwehrkanal. Er kletterte auf die Brücke, holte  ein Rasiermesser aus der Tasche und drückte es fest gegen die Kehle. Blut  spritzte, ein leiser Schrei — niemand hörte ihn — der Körper klatschte ins  Wasser wie ein voller Sack.
  Am andern Abend schrieben die Zeitungen gleichgültig und zynisch:
  . „Gestern abend nahm sich ein junger, etwa 17jähriger Bursche auf eine  entsetzliche Weise das Leben. Er ließ sich, nachdem er sich vorher die Kehle  mit einem Rasiermesser durchgeschnitten hatte, von der Brücke am Halleschen Tor  in den Landwehrkanal fallen. Der Vorgang wurde nicht beobachtet, jedoch fanden  kurze Zeit später Passanten das Rasiermesser und Blutspuren. Sie alarmierten  die Feuerwehr, die sofort nach der Leiche fischte. Man fand sie in der Nähe der  Brücke zwischen einem Motorboot und der Kanalmauer. Die Personalien des Toten  konnten noch nicht ermittelt werden... "
  Die „Rote Fahne" schrieb am folgenden Tag einen längeren Artikel:
  „Furchtbare Selbstmordtragödie eines entwichenen Fürsorgezöglings. Der  jugendliche Arbeiter Emil F. war vier Jahre in der Erziehungsanstalt Z. Schon  nach ganz kurzer Zeit stellte der Arzt Lungentuberkulose fest. Aber trotzdem  jagte man ihn zur Landarbeit zu einem Bauer in der Umgebung. Von früh bis spät  musste der Jugendliche bei schlechter Ernährung arbeiten. Als die Erntearbeit  vorüber war, wurde er wieder in die Anstalt zurückgebracht. Vor vier Wochen  flüchtete er und kam zu Fuß nach Berlin. In der Nähe von F. brach er auf der  Landstraße bewusstlos zusammen. Man brachte ihn in ein Krankenhaus. Dort sagte  ihm der Arzt, dass er nicht mehr lange zu leben habe. Da das Krankenhaus den  jungen Arbeiter nicht umsonst behandeln wollte, wurde er einfach vor die Tür  gesetzt. Vorgestern kam er nach Berlin. Am Tage trafen ihn noch seine  Schulfreunde in einer furchtbaren Verfassung. Er hatte hohes Fieber. Nachdem er  wahrscheinlich längere Zeit in der Stadt herumgeirrt war, schnitt er sich gegen  4 Uhr morgens an der Zossener Brücke die Kehle durch und stürzte sich ins  Wasser. F. hatte früher mit seiner Mutter, die inzwischen an Tuberkulose  gestorben ist, in der Nostizstraße gewohnt, Dieser Fall... "
Frau Mädicke war wirklich eine Ausnahme. Heute morgen hatte sie ihren Mann  schon um acht Uhr aus dem Bette gejagt. (Sonst stand er immer erst um halb neun  auf.) Frau Mädicke war wieder hinter den Wanzen her. Sie hatte einen blauen  Morgenrock an, bestickt mit dicken, roten Blumen. Der Flitgeruch stritt in der  Luft mit Duft von Kölnischem Wasser. Sie brachte den Kanarienvogel vorsichtig  in die Küche und unterhielt sich blöde und kindisch mit ihm:
  „Wo ist denn mein Hänsekin, he? Wo ist denn mein Hänsekin? Willst Du nicht ein  bisschen singen? Hänsekin, sing doch Deinem Frauchen was vor. Willste nich? —  Komm, ich geb Dir ein Stück Eierbrot — da. Musst Du aus der Stube raus, ja? Die  ollen Wanzen, nich Hänsekin? Die ollen Wanzen .
  Hänsekin flatterte aufgeregt hin und her. Er war teilnahmslos und beleidigt.  Endlich ließ ihn Frauchen in Ruhe, sie nahm den Flitzerstäuber in die Hand und  ein Röhrchen zwischen ihre wulstigen Lippen. Ihr Gesicht verzog sich dabei, als  hätte sie ein Kilo Schmierseife im Mund, und dann pustete sie mit voller Lunge  einen feinen zerstiebenden Strahl Flit auf die roten Bettmatratzen. Sie musste  dabei wohl ihre Kehle etwas angefeuchtet haben, denn sie schimpfte los wie ein  räudiger Köter, dem man Insektenpulver auf die von Flöhen zerbissenen Stellen  gestreut hatte.
  „Verfluchter Mist! Mein Gott, ich werde noch verrückt. Die verfluchten Wanzen.  Was mach ich denn bloß, was mach ich denn bloß! Die Leute unten sind ja Schweine.  Ja, wenn sie alle was machen würden! Aber ja, ziehn bloß den ganzen Tag über  andere her: was hat denn die Mädicken heut wieder an, waa? An die Wanzen denken  sie nicht. Was soll ich denn bloß machen... ?"
  Es klingelte. Sie schob sich mit feuchten Fingern die fetten schwarzen Haare  zurecht und stampfte zur Tür.
  „Entschuldigen Sie, gnädige Frau! Ich habe hier einen ganz neuen Artikel,  gestatten Sie... "
  „Janischt jestatte ich!" sagte Frau Mädicke. Aber der junge Mann vor ihr  lächelte so liebenswürdig, und dann das mit der „gnädigen Frau"... 
  „Sehen Sie, ich habe hier ein prima Kopfwaschmittel. Für Ihre herrlichen Haare  wie geschaffen, gnädige Frau. Das ist echte Markenware, wir können Ihnen dieses  günstige Angebot nur deshalb machen, weil meine Firma dank ihrer guten  Beziehungen in der glücklichen Lage war, preiswert in Arabien Wohlgerüche  aufzukaufen. Versäumen Sie nicht, von unserem seltenen Angebot Gebrauch zu  machen. Ein ganz außergewöhnliches Angebot, gnädige Frau.'' „So,  Kopfwaschmittel aus Arabien? Wat kost denn det?" „Drei Mark die Flasche,  sie reicht für..." „Waas?? Drei Mark? Hörn Sie mall" „Ja, gnädige  Frau dürfen aber nicht vergessen , , ." „Drei Mark. Kinder, das ist ein  Haufen Geld. — Geben Sie mal eine Flasche von dem arabischen Zeug!"
  Der junge Mann reichte ihr eine grüne Flasche und steckte ernst und feierlich  die drei Markstücke ein. Er schnupperte mit der Nase in der Luft herum und  sagte: „Nach was riecht denn das hier so stark bei Ihnen?"
  „Ach, das ist Farbe. Mein Mann hat soviel Farbe rumstehn."
  „Ach so, sonst — Wanzenvertilgungsmitte] hätte ich Ihnen auch rerkaufen können.  Auf Wiedersehen!"
  Das Haarwaschmittel war wahrscheinlich sehr vielseitig und zu allem Möglichen  zu gebrauchen. Drei Wochen später wischte Frau Mädicke ihre Küche damit auf.
  Frau Mädicke fand die Wanzen überall, träge und blutig krochen sie dahin. Flit  spritzte, die Wanzen schwammen ein bisschen darin herum und krochen dann  unbekümmert weiter. „Da, wieder so ein fettes Biest!" Sie drückte mit dem  Daumen ein gut ausgewachsenes Exemplar an die Wand. Blutbeschmiert zog sie den  Daumen zurück und schimpfte unentwegt. Sie hatte keine Wanzen; sie kamen alle  aus dem Hinterhaus. Aber die Wanzen hatten sie. Stärker als Frau Mädicke und  ihr schlecht verspritztes Flit waren die Wanzen.
  Es klingelte wieder.
  „Wat is denn nu schon wieder los!" brüllte sie, hinter der Tür antwortete  ein undeutliches Murmeln, wütend riss sie die Tür auf.
  Ein junger, ungefähr sechzehnjähriger Bursche, mit abgerissenen Kleidern, stand  vor ihr, sah sie mit stumpfem Blick an und bettelte tonlos;
  „.... ich bekomme keine Unterstützung mehr, zu Haus sind auch alle arbeitslos.  Ich habe großen Hunger. Stehlen will ich nicht gehen. Haben Sie nicht..."
  „Ich habe ooch nischt. Geh doch arbeiten! Mein Mann muss sich auch rumplagen!"
  Sie schlug die Tür zu und der junge Bursche machte einen demütigen Diener. Aber  kaum war er zur Nachbartür gekommen, da öffnete Frau Mädicke wieder: „Warten  Sie mal, ich habe eine Arbeit für Sie. Mein Mann kann die Kohlen nicht tragen.  Gehen Sie mit mir zum Kohlenhändler und tragen Sie mir die Kohlen rauf!"
  In der Mariendorfer Straße ließ sie einen Zentner Kohlen einsacken, und der  Händler warf ihn dem Jungen auf den Rücken. Der keuchte los. Der Sack erdrückte  ihn fast. Frau Mädicke lief stolz neben ihm her, als ob sie aller Welt zeigen  wollte dass sie es gar nicht nötig habe. Schnaufend ließ der Junge in der Küche  den Sack auf den Boden fallen, die Frau wurde zornig: „Sehn Sie sich doch ein  bisschen vor! Sind so groß und können nicht mal den Sack halten!" Dann gab  sie ihm ein Zehnpfennigstück. Draußen spuckte der Junge vor ihre Tür.
  
  Die Nostizstraße hungerte. Es war schlimmer als in den elenden Jahren der  Inflation.
  In den Läden hingen Speckseiten, Butter und Brot waren aufgestapelt. Die  kleinen Händler in der Straße jammerten: Viertelpfundweise verkauften sie die  Margarine, manchmal kamen Leute und verlangten zwei Scheiben Brot. Mütter gaben  den Kindern mit Wasser yerdünnte Milch zu trinken... 
  Peikbeen ging zur Wohlfahrtsvorsteherin. Frau Sommer wohnte Nr. 42. Sie war  eine freundliche, ernste Frau. Ihre lebhaften Augen musterten den groben  Burschen, der zu ihr kam und Brot forderte. Ein hübscher, schwarz-gelber Kater  strich um ihre Füße. Über ihrem wackligen Schreibtisch hing ein Leninbild.
  „Ja, lieber Freund, das ist schlimm, Du weißt, mir sind alle Hände gebunden.  Ich kann Dein Gesuch nur weiterleiten. Oder meinst Du, uns setzen sie dorthin,  wo wir wirklich helfen können ?" „Nee, das nich, aber...  Mein Vater ist  auch schon zehn Monate arbeitslos. Ich kriege zu Hause einfach nischt mehr zu  fressen. Und dann ist das auch so komisch, nicht einen Pfennig Geld habe ich im  letzten Jahr verdient, das ist dann ein verfluchtes Gefühl den Eltern  gegenüber. Da traut man sich nicht mehr ran ans Brot... " Frau Sommer  nickte mit dem Kopf und sagte hastig: „Ich kenne das. Obwohl ich schon eine  alte Frau bin, kann ich Euch Jungens verstehen, ich habe selbst Kinder unter  elenden Verhältnissen großziehen müssen. Aber ich habe darauf geachtet, dass  sie wissen, warum es uns Proleten so dreckig geht. Ich verstehe Euch aber  nicht, wenn Ihr bei Euren Vergnügungen nutzlos Kraft verpulvert. Macht doch mal  was gegen Euer Elend. Kämpft doch für ein besseres Leben! Die ganze bürgerliche  Wohlfahrt ist doch nur Schwindel . . , Ein besseres Leben könnt Ihr Euch bloß  auf der Straße erkämpfen, und Ihr seid diejenigen, die in vorderster Reihe  stehen müssen. Von Euch kann man das verlangen, nicht von den alten Frauen, die  hierher zu mir kommen, müde und verkrüppelt. Die können nicht mehr brüllen,  marschieren und fordern. Aber Ihr, Ihr Jungs!"
  „Na ja, aber wenn man doch Hunger hat...  Wenn man am liebsten an nichts mehr  denken möchte..."
  „Da, hast Du ein paar Essenmarken. Glaube nicht, dass Du satt wirst. Die andere  Sache werde ich unterstützen."
  
  Der kleine Karl Danna spielte wieder mit den Murmeln, Eine hatte sich zwischen  den Müllkästen festgeklemmt, und er versuchte nun, mit krummen, kleinen Fingern  darunterzufassen. Unwillig fuhr er sich dann über den Mund, der Müll vermengte  sich mit dem Speichel, und der kleine Kerl hatte ein gelb verschmiertes  Gesicht. Die Frau mit dem Wuschelkopf ging vorüber: „Wie kann man bloß det Kind  so alleene da. sitzen lassen! Mein Gott..."
  Der kleine Kerl brüllte. Wütend schrie seine Mutter aus der Kellerwohnung:  „Willst Du mal stille sin! Komm mal her, Du Dreckschwein!"
  Eine Frau sang in ihrer Wohnung einen Choral, viel Sehnsucht lag in dem Lied,  wenn auch die Melodie abscheulich gesungen wurde, dass es fast klang, als solle  Gott verhöhnt werden.
  Ü berall roch es nach Kuhstall und Katzendreck. Zahllose Fliegen summten durch  die Schwaden dicken Gestanks.
  Die Jungens aus der Nostizstraße standen an der Ecke. Peikbeen erzählte von  seinem Besuch bei der Wohlfahrtsvorsteherin. Karl drehte sich aus zusammengeflochtenem  Tabak Zigaretten. Irgend jemand begann von Emil zu sprechen. Wut und Mitleid  zitterten in seiner Stimme. Ein anderer erzählte zaghaft von einem  Schulerlebnis, das er in der Kriegszeit mit Emil hatte:
  „... Da gab’s Rotkohl, es sollte jedenfalls Rotkohl sein. Furchtbar hat der  Dreck gestunken, aber wir haben ihn runtergewürgt vor lauter Hunger. Damals  hatten wir gerade Nachmittagsunterricht, weil 32
  keine Kohlen da waren, vormittags froren die Mädels, dann wir in den  halbdurchwärmten Räumen mit den Lehrern um die Wette. Und in der zweiten Stunde  hat Emil seinen Rotkohl ausgekotzt. Die alte hysterische Zicke von Lehrerin hat  ihn dann durchgeprügelt, fürchterlich geprügelt... "
  „Da müsste man doch wirklich den Knüppel nehmen! Was haben sie mit uns nicht  schon alles angestellt! Heute haben sie mir wieder zwei Mark abgezogen ... "
  „Ach, sing doch nich so ville, Erich, Du wohnst doch noch zu Hause. Du hast  doch noch allet, Mensch."
  „Een Dreck hab ick! Meenste, meine Mutter kann mir von ihre Rente ernähren, Du  Pfeife!"
  Immer mehr Jungens kamen. Spinne und Kater, wieder zusammen, wie zwei Brüder.  Franz stand abseits mit zusammengezogener Stirn. Kater schob sich an ihn heran  und bettelte: „Gib mir ne Zigarette!"
  „Aufs Maul werd ick Dir haun, Du Gauner!"
  Franz war immer bissig. Er lungerte um seine Freunde rum und fauchte jeden an,  der ihm zu nahe kam Und doch war er ein guter Kamerad. Viel gesunde Kraft ging  von ihm aus. Bei allen Gelegenheiten wurde er um Rat gefragt. Scharfe Falten  lagen um seinen Mund, hart war seine Sprache und offen.
  Unvermittelt sprach er die anderen an: „Jungs! Aufpassen! Wir sind achtzehn  Mann, los, holen wir uns was zu fressen!"
  Das schlug wie eine Bombe ein. Jetzt war einer da, der sie führte. Mit  funkelnden Augen sahen sie ihn an.
  „Steht nich so da und glotzt! Wer nich mitmachen will, bleibt hier. Los, ich  gehe vor. Aber aufpassen, Jungs!"
  Alle gingen mit. Hintereinander, in kurzen Abständen, liefen die Jungens hastig  zur Lindenstraße. Unterwegs wurde wenig gesprochen. Sie gingen, plötzlich mit  einer entschlossenen Energie geladen. Sie dachten nicht daran, was werden  könnte — nur weiter, vorwärts! An der Spitze lief Franz, neben ihm Erich  Schmidt. Keiner blieb zurück. Sie rannten los, um sich einmal sattzufressen, um  zu zeigen, dass sie sich nicht widerstandslos aushungern ließen... 
  Beim Schlächtermeister Kasch war Betrieb. Kleinbürgerfrauen feilschten mit den  Verkäuferinnen.
  „Nicht soviel Knochen, bitte!"
  „Frollein, mir ein Pfund Kalbfleisch."
  Der dicke Meister schwitzte. Seine weiße Schürze war blutgetränkt wie die  Uniform eines Soldaten nach dem Bajonettangriff. Mit sicherer Hand trennte er  große Scheiben Fleisch von einem Kalb ab.
  „Wie viel Kotelett, gnä Frau?"
  „Geben Sie drei, vier Stück, Meister."
  Große Fleischstücke flogen vom Hauklotz auf die Waagen, wanderten von dort in  die Taschen der keifenden Frauen.
  Vor der großen Schaufensterscheibe standen Weiber und schüttelten den Kopf.  Ihre leeren Augen lungerten zwischen den Auslagen. Ab und zu betrat eine von  ihnen den Laden und verlangte Knochen.
  „Wat wollen Sie haben? Knochen?"
  „Ja, für zwanzig Pfennig Knochen."
  Frau Mädicke stand in dem Laden und kaufte Leber. Freundlich nickte sie dem  Meister zu und wippte dabei mit den Brüsten. Ein großes Paket packte sie in  ihre Tasche, dann ging sie zur Kasse, wechselte einen Zehnmarkschein. „Det  schöne, gute Geld!" jammerte sie.
  Plötzlich kamen acht, neun brutale Burschen in den Laden gestürmt. Wie Wölfe,  die in eine Schafherde geraten sind, sprangen sie auf Keulen und aufgerissene  Bäuche zu. Die Weiber kreischten auf, und die Verkäuferinnen flüchteten. Der  Meister schwang drohend seine breite Axt in der Luft. Peikbeen drückte ihn mit  aller Wucht zur Seite und schrie ihn an:
  „Hab Dir man nich so, Du fettes Aast! Dein Geld wollen wir ja janich. Jetzt  halts Maul!"
  Alles ging blitzschnell. Klebrige Fleischstücke und lange Würste wurden in den  Kleidertaschen verstaut, unter den Jacken versteckt. Mit großartiger Geste  packte Peikbeen einen Arm voll Rollschinken und warf ihn auf die Straße unter  die draußen stehenden Leute. Dabei rief er:
  „An Mein Volk! Jetzt fresst!"
  Vor Freude über ein solches Wunder rannten alte Mütterchen und abgehärmte  Frauen mit den Schinken davon. Franz rannte als letzter aus dem Laden,
  Plötzlich schrie jemand laut und gellend: „Überfall! Überfall!" Ein  kleiner Flitzer sauste heran, stoppte scharf ab; noch im Fahren stürzten sechs  bis sieben junge Schupos von den Wagen. Wie unbefriedigte Sadisten schlugen sie  auf die neugierige Menge ein.
  „Weitergehen! Herrschaften, immer weitergehen!"
  Grob und näselnd brüllten sie die Leute an. Eine Frau bekam mit dem  Gummiknüppel einen Schlag auf den Kopf und blieb liegen. Ihre hellen Haare  klebten über der Stirn blutig zusammen. Niemand half ihr, niemand traute sich,  zu ihr hinzugehen. Ihr kleiner Junge stand neben ihr und weinte jämmerlich.  Dann richtete sich die Frau mühsam auf, warf die Hände in die Luft und schrie:  „Warum schlagt Ihr denn?! Ich habe doch nichts getan! Warum... "
  Dann brach sie wieder zusammen und schlug schwer mit dem Kopf auf die Steine  auf. Der Schlächtermeister rannte immer noch mit seiner Axt im Laden aufgeregt  hin und her und schnauzte die Verkäuferinnen an. Frau Mädicke stand lauernd auf  der anderen Seite in einem Hausflur. Rasch und giftig zeigte sie einem Schupo  Peikbeen: „Da, der da!"
  Peikbeen wollte gerade um die nächste Straßenecke flüchten. Der Schupo zog die  Pistole und rief: „Halt! Stehen bleiben!'
  „Wat denn, wat denn, Herr Wachtmeister! Ick hab doch jarnischt jemacht."
  „Maul halten! Mitkommen!" Wie ein Bündel wurde er auf ein Auto geladen und  zur Wache nach der Alexandrinenstraße gebracht.
  Dort gab es ein langes, neugieriges Verhör.
  „Wer hat Ihnen den Auftrag dazu gegeben?"
  „Niemand; ick kam da zufällig vorbei. Ick streite entschieden ab, det ick dabei  war. Und von Auftraggeben kann überhaupt keene Rede sein."
  „Wo wohnen Sie?"
  „Nostizstraße, zufällig, Herr Vorsteher."
  „Na, da scheinen Sie ja also doch der Richtige zu sein. Nostizstraße? Hm, das  genügt uns. Abführen!"
  Peikbeen wurde noch am gleichen Tag zum Polizeipräsidium gebracht. Der  Schnellrichter verurteilte ihn sofort zu vier Monaten Gefängnis wegen  Landfriedensbruchs und Aufruhrs.
  
  Am Abend des gleichen Tages hatte die Gruppe Nostizstraße Gruppenabend bei  Othello. Langsam fand sich einer nach dem andern ein, und Othello hielt die  Hand an den Bierhahn. Die Kneipe bekam plötzlich ein anderes Gesicht. Zwölf bis  fünfzehn Jungens lungerten vorn an den Tischen herum. Sie rauchten und  besprachen irgendeine organisatorische Maßnahme. Der Lautsprecher brüllte die  neuesten Nachrichten:
  „... Vor allem in Kassel und Frankfurt am Main schwere Zusammenstöße. Es kam  überall zu ausgedehnten, kommunistischen Ausschreitungen. In Kassel nahmen  kommunistische Erwerbslose eine drohende Haltung gegen die Polizei ein und  überschütteten diese mit einem Hagel von Pflastersteinen. In der Marktgasse und  Wildemannsgasse wurden die Beamten mit Blumentöpfen bombardiert. Vereinzelte  Schüsse fielen, und ein Polizeibeamter blieb mit einem Bauchschuß tot auf dem  Platz. Bis gegen ein Uhr donnerten die Schrecksalven der Polizei durch die  Nacht. Ein Zivilist wurde ebenfalls schwer verwundet und dürfte wohl kaum mit  dem Leben davonkommen. Etwa dreißig Personen wurden zwangsgestellt. — Frankfurt  am Main. Hier bildeten sich in der Altstadt gegen zehn Uhr abends Sprechchöre,  die „Nieder"-Rufe auf die Regierung Brüning ausstießen. Gegen elf Uhr  wurden einige Straßen in der Nähe der Zeil fast unpassierbar. Einige Polizisten  wurden tätlich angegriffen, so dass sie scharfe Schüsse abgaben. Verletzt wurde  niemand. Auch in Berlin kam es heute morgen zu schweren Ausschreitungen.  Ungefähr vierzig Jungen drangen in das Fleischwarengeschäft von Kasch in der  Lindenstraße ein und erbeuteten Wurstwaren im Werte von ungefähr 25 Mark. Die  Täter konnten bis auf einen unerkannt entkommen. Es hatte sich eine große  Menschenmenge angesammelt, jedoch gelang es der Schupo in ganz kurzer Zeit, die  Ordnung wiederherzustellen. — Vor dem Kaufhaus Tietz am Alexanderplatz fuhr in  den Morgenstunden ein Taxi vor, aus dem drei junge Burschen heraussprangen und  mit Pflastersteinen vier große Fensterscheiben vollständig zertrümmerten. Die  Passanten waren durch den Vorfall so aufgeregt, dass sie vergaßen, die Nummer  des Wagens festzustellen. Die Täter sind auch hier unerkannt entkommen. — Wir  machen eine Pause von fünf Minuten. Es folgt dann das Vaterländische  Lieder-Potpourri, gespielt von... "
  „Siehste, da habt ihrs! Polizeibeamte werden bedrängt, Wurst wird geklaut, und  Schaufenster werden eingeschlagen. Die verfluchten Kommunisten!" sagte  jemand ironisch. „Und immer sind es Horden junger Burschen."
  Theo kam, in Begleitung von vier stämmigen Burschen, mit vollen, langen Haaren.
  „Rot Front! Ihr Untermenschen!"
  „Rot Front! Jungs! Ist Karl noch nicht da?" „Nee, der liest seinem Alten  die Parteitagsberichte vor." Der Budicker brachte den fünf Jungens fünf  Mollen halb und halb. Theo bezahlte. „Wat, sonst kostet die Molle zwanzig und  jetz willste fünfundzwanzig haben? Du kannst wohl nich dafor?"
  „Na, los, rück schon raus! Die werden Euch det Biersaufen schon abgewöhnen. Bei  mir is bald Ebbe, wenn det so weitergeht. Da verdien ick gerade mein Fressen.  Da hat meine Olle noch nischt, die Kinder noch nischt, und die Miete bezahlt  mir ooch keene Wohlfahrt. Notverordnung, meine Lieben. Tja, das kommt noch  besser."
  Othello ließ sich schwerfällig neben Theo nieder und sprach leise:
  „Du, heut' morgen waren die Bullen hier. Mir wollten sie wieder mal einen  Schreck einjagen, von wegen Konzessionsentziehung und so. Sie haben sich das  Vereinszimmer angesehen und haben gefragt, wer hier alles tagt."
  „Na und, was haste gesagt?"
  „Was soll ick da sagen? Ab und zu der Jugendverband, hab ick jesagt. Wo die  Partei ist, wollten sie wissen, und ob in meinem Lokal alles ruhig ist. Da hack  jesagt, ick bin Manns jenug, um Ordnung zu schaffen. Und ob ich schon mal bei  einem Waffen gesehen habe... "
  „Ach ja, wat die sich so allet denken."
  Ein kraftloser, bleicher Mann saß in der Nähe des Einganges und blätterte in  der „Linkskurve". Die Zeitschrift hatte er vor sich auf der Aktenmappe  liegen. Hinter seiner Hornbrille funkelten tiefe, braune Augen; seine dunklen,  schwachen Haare waren am Hinterkopf durch den Ansatz einer Platte geteilt. Er  hatte ein faltiges, aufgeregtes Gesicht. Seine weiblichen, feinen Hände lagen  auf dem Tisch und trommelten nervös den Takt des Liedes „Aufs Pferd, Kameraden,  aufs Pferd... " Über seiner eingefallenen Brust beulte sich ein frisch  gewaschenes Oberhemd. Theo kam an ihn heran und legte die patschige Hand auf  seine Schulter:
  „Du, Doktor, heute abend kommt ein neuer Genosse. Ich bin der Meinung, dass Du  ihn am besten mit Deinen Theorien verschonst. Der muss gleich praktisch  arbeiten, der Junge ist schon verwirrt genug." Der blasse Doktor brauste  auf: „Was soll das heißen, Genosse? Bitte, unterlass diese Anzüglichkeiten. Ich  bin sonst gezwungen, organisatorisch gegen Dich vorzugehen. Das machst Du ganz  systematisch, Genosse Theo."
  Ü ber Theos Gesicht huschte ein bescheidenes Lächeln. „Schon gut. Tu das!"
  Der Doktor passte gar nicht hierher, auch seine Art zu reden nicht. Die war  geziert und geschraubt. Er schien ein verstecktes Dasein zu leben.
  Ab und zu ging die Tür auf. An den Tischen wimmelte es von Jugendlichen. Drei  Mann spielten Skat, altklug und wichtig. Es war kurz vor acht Uhr. Karl kam  eilig, er hielt in der Hand zusammengerollte Bogen Papier, hinter ihm trat  Erich ein.
  Erichs blasser, stets trauriger Mund wurde lebhaft. Die meisten kannten ihn.  Der Doktor rückte die Brille schief und betrachtete ihn mit seinen ernsten,  nachdenklichen Augen. Als sich Erich umdrehte, schob er sofort das rote Heft  vor und studierte einen Artikel „Der Mangel der Arbeiterkunstkritik".
  Die Genossin Trude, Kassiererin der Gruppe, rief Karl zu sich heran. Sie  besprachen kurz etwas, und Karl nickte zustimmend und hastig mit dem Kopf.  Trude lachte. Sie lachte so heiter und lebenslustig, dass jeder seine helle  Freude daran hatte. Sogar Othello musste grienen und verkaufte ihr sofort einen  Streifen Schokolade für zehn Pfennig. Trude trug eine Windjacke; die nackten  Beine streckte sie jungenhaft von sich. Überhaupt war manches an ihr gar nicht  wie bei einem Mädel. In dem vollen Gesicht standen frech und herausfordernd die  lebhaften Augen, der Mund sprudelte in einem fort, rot und üppig waren die  Lippen wie überreife Erdbeeren. Eine überschüssige, ungebändigte Kraft pulste  in ihr, jeder fühlte sich von ihr angezogen. Links neben Trude saß die Genossin  Elli, feine, unsagbar schöne Konturen des Gesichts, nervöse Hände im Schoß  liegend. Der Missmut schien ihr ständig in der Kehle zu sitzen. Unbehaglich sah  sie zu den drei Skatspielern hinüber.
  „Jugendverbandsmitglieder, und denn Skat spieln!"
  „Ach, Du alte Singuhr! Komm, wir gehen mit Dir auf die Straße, spielen  Murmeln."
  Der eine Junge, ein kräftiger Bursche in Windjacke und Gamaschen, klopfte  verächtlich seine Tabakspfeife aus.
  „Wat sich die Weiber immer bei uns einzumischen haben. Alles, ist  unkommunistisch. Und wenn sie im Cafe Eis fressen und Sonntags mit ihren Ottos  im Theater sitzen, denn kommen se sich wie Revolutionäre vor, die zehn Jahre  illegale Arbeit hinter sich haben. Soll lieber auf ihre Mädels aufpassen, die  olle Kuh!"
  Der Doktor hatte auch früher mal wegen des Skatspiels Krach gemacht, aber die  Jungens hatten nur mit den Achseln gezuckt und gemeint, sie seien trotzdem  bessere Komsomolzen als er, den sie zur Arbeit stets aus dem Bett holen  müssten. Er setzte sich zu Elli und begann eine lange Debatte über den  unbefriedigten Spieltrieb der Großstadtjugend. Die beiden schienen einen guten  Kontakt zu haben. Elli hörte aufmerksam zu und konnte sich einige hämische  Blicke auf die Skatspieler nicht verkneifen.
  Leise surrend drehte sich der Ventilator über der Tür. Irgend jemand pfiff das  Lied von dem kleinen Trompeter. An den Wänden hingen riesige Plakate der  Sportler, der „Roten Hilfe" und ein Werbeplakat der „Jungen Garde".  Mehrere Zeitungen lagen auf den Tischen, einige andere hingen fein säuberlich  an der Wand.
  An der verräucherten Decke brannte eine helle elektrische Lampe. Fliegen,  kleine, staubige Motten und Mücken flogen, von dem Licht angelockt, darauf zu,  verbrannten sich die Flügel und blieben in der Schale unter der Glühbirne  liegen. Am Schanktisch standen vier Arbeiter mit Rucksäcken auf dem Rücken; sie  trudelten eine Lage aus. Eine Frau zog verschüchtert und ängstlich ihren Mann  am Ärmel:
  „Komm doch, Paul, komm doch schon... "
  „Ja doch, hör doch uff! Noch eene Molle, denn komm ick ja schon, Olle."
  Der größte Teil der Genossen war schon nach hinten ins Vereinszimmer gegangen,  nur die Skatspieler, Karl, Theo und Erich, saßen noch draußen. Karl sprach  leise mit Othello und rief dann:
  „Los, Genossen, wir fangen an!"
  „Nu lass uns man det Spiel noch zu Ende machen. Jetzt is et noch nich halb  neune. Ihr habt ja nie pünktlich angefangen. Noch fünf Minuten... . "
  „Nee, nee, los! Jetzt ist Sitzung. Wir hätten schon früher angefangen, aber der  Referent hat uns versetzt, — Also los, Ernst, mach keen Unsinn."
  Ernst war ein stiller Bursche mit ewig ärgerlichem Gesicht. Sein Mund war stets  ein wenig geöffnet, und man sah schlechte, schiefe Zähne. Lang gezogen sagte  er;
  „Siehste, schon wieder Referent versetzt. Warum lasst Ihr Euch det dauernd  gefallen? Wir werden schon so lange, wie die Gruppe existiert, als Stiefkinder  behandelt. Die Schweinebande... "
  Im Vereinszimmer waren alle Stühle besetzt. Am Fenster saßen drei Mädels an  einem Tisch- Rechts an der Wand hing ein roter Baldachin, darunter eine  Leninbüste. Die stammte noch aus der Zeit, als der RFB. in Uniform ging. Links  waren Bogen grauen Packpapiers mit Bilderausschnitten angeheftet, die  Wandzeitung. Die Bilder waren sehr alt, sie zeigten Szenen der Pariser Kommune.  Darüber, in einfachem Rahmen, ein Bild; „Attentat auf Lenin". Am unteren  Teil des Rahmens war auf einem Metallschild eine Inschrift eingraviert: „Der  Roten Jungfront, 6. Abteilung, 5. Zug, für gute Arbeit im Märzaufgebot als  ersten Preis. Die Gauführung Berlin-Brandenburg".
  Das Zimmer war viel zu eng. Eine furchtbare Hitze machte die Kehlen trocken;  die Jungens hatten die Jacken ausgezogen und die Hemdsärmel "aufgekrempelt,  braun und sicher lagen ihre Arme auf den Tischen. Der Tabaksqualm schlängelte  sich in langen Fäden zur Decke und blieb dort in dicken Wolken stehen. Die  Genossen hatten rote Gesichter und schwitzten.
  „Fangt doch endlich- an, zum Donnerwetter!" „Ja doch, is gleich halb  neune." Theo eröffnete die Sitzung, rasch trat Ruhe ein. „Genossen, unsere  heutige Sitzung ist eröffnet. Wir haben darum so spät angefangen, weil uns der  Referent versetzt hat, den wir von der UBL. angefordert hatten."
  „Schon wieder mal nicht erschienen?" „Det is doch allerhand!" Theo  sprach weiter, sicher und fest:
  „Ja, Genossen, schon wieder mal. Das ist jetzt etliche Male hintereinander  passiert; ich glaube nicht, dass der Genosse, der kommen sollte, sich heute  abend amüsiert, sondern irgendeine andere wichtige Arbeit hat. Wir werden die  Sache aber prüfen und Krach schlagen Tatsache ist jedenfalls, dass unsere  Unterbezirksleitung schwach ist, man wird nicht nur unsere Gruppe versetzen,  sondern auch andere Ich glaube aber, wir sind stark genug, unsern Gruppenabend  auch ohne Referenten durchzuführen. Es gibt nämlich tatsächlich Genossen, die  ihre schlechte Arbeit und die der Gruppe immer damit entschuldigen, dass die  Referenten nicht kommen. Das tut aber nichts zur Sache. Wir werden über unsere  kommenden Arbeiten sprechen und verlangen, dass sich alle Genossen an der  Diskussion beteiligen. Vor allem die notorischen Meckerköppe werden  aufgefordert, neue Vorschläge für die Arbeit zu machen. Das Wort hat jetzt der  Genosse Karl."
  „Ich bitte, doch das Rauchen einzustellen", meinte Elly eifrig. Der größte  Teil der Anwesenden murrte dagegen,
  „Hast wohl nischt zu roochen, wat?"
  „Ach wo, die roocht nicht, die kann det doch nich vertragen."
  „Weiber dürfen überhaupt nicht roochen, vastehste."
  „Ja, Genossen, die Genossin Elly hat recht. Hier sitzen über zwanzig Mann im  Raum, und wenn zehn davon rauchen, dann fällt einem das Sprechen schwer, noch  dazu bei solcher Hitze. Also macht die Zigaretten und Pfeifen aus,"
  „Meine Kumille rooch ick erst zu Ende. Wenn ick sie köppe, schmeckt sie nachher  nich mehr."
  Trude konnte sich über den ausgebliebenen Referenten immer noch nicht  beruhigen: „Ich bin der Meinung, dass die Gruppe eine Entschließung ausarbeitet  und annimmt, in der gesagt wird... "
  Sie wurde von vielen Seiten unterbrochen:
  „Blödsinn!"
  „So ein Quatsch!"
  „Mach doch ne Abstimmung darüber!"
  „Wir sind doch keene Staatspartei!"
  Aber Trude ließ nicht locker. Erregt sprang sie vom Stuhl au! und versuchte,  ihre Ansicht durchzusetzen:
  „Bedenkt doch, Genossen, wir bleiben mit unserer politischen Schulung weit  zurück. Noch dazu, wo unsere Gruppe zum größten Teil aus jungen Genossen  besteht,"
  „Wat Du immer mit Deine Schulung hast. Arbeite lieber, det is viel gescheiter.  Wie viele „Junge Garden" haste denn von die letzte Nummer verkooft,  he?"
  „Ruhe! Zum Donnerwetter! Euch ist wohl die Hitze in den Kopf gestiegen,  wat?"
  Gekränkt setzte sich Trude. Einen Moment lang öffnete sie den Mund, wie zu  einem Schrei, runzelte die Stirn und zog eine bösartige Grimasse. Dann klammerte  sie sich mit ihrem Blick an Karl; der nickte zustimmend, und sie wurde ruhiger.
  Erich saß neben Theo, mit einem wehmütigen Blick umfasste er Elly, doch sie  nahm von ihm keine Notiz. Er stand vollständig in ihrem Bann. Nach einer Weile  drehte er sich wieder um und ließ den Kopf sinken.
  Mit etwas heiserer Stimme begann Karl zu sprechen, indem er zu Elly hinübersah:
  „Wir haben die Tatsache zu verzeichnen, dass junge Genossen, die nicht mit  vielem theoretischen Kram überlastet sind, besser arbeiten als Genossen, die  jahrelang in unseren Reihen stehen, dicke Bücher gelesen haben, ja, die  Illegalität 1923/24 mitgemacht haben Dort, wo der Kampf geführt wird, im  Betrieb, auf der Straße, überall dort, wo es gilt, systematische Kleinarbeit zu  leisten, erziehen wir unsere Genossen am besten. Das sind Tatsachen, die nicht  zu leugnen sind. Wir haben bei uns alte Genossen, die nichts unternehmen, um  die Arbeit der Gruppe durch neue, Jugendliche Arbeitsmethoden zu beleben.  Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen."
  Er machte eine kurze Pause und sah sich um. Erich lächelte ihm leicht zu.
  „Wir werden jetzt in echt bolschewistischer, selbstkritischer Art die Arbeit  unserer Gruppe betrachten. Da müssen wir von vornherein feststellen, dass wir  weit hinter dem Tempo der revolutionären Entwicklung zurückgeblieben sind. Wir  haben die Tatsache zu verzeichnen, dass arbeitslose Jugendliche aus eigener  Initiative heraus demonstrativ in die Läden größerer Geschäftsleute gehen und  Lebensmittel plündern, ohne Führung, ohne vorherige Organisation. Das ist ein  Zeichen für die ungeheuer rasch fortschreitende Verelendung und Verzweiflung  weiter Schichten der Jungarbeiter. Diese Jugendlichen müssen wir erfassen. Wir  müssen ihre Kräfte, die sie nutzlos vergeuden, in den Dienst der deutschen  Komsomolz stellen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, dass der große Teil  dieser Jugendlichen zum Lumpenproletariat herabsinkt. Gestern überfielen zwei  junge Arbeitslose einen Geldbriefträger, weil sie Hunger hatten! Auf der  Polizei musste man ihnen zu essen geben, ehe sie Aussagen machen konnten.  Dieser Fall hat die gleiche Bedeutung wie der Fall Lieschen Neumann und all die  anderen, die in der letzten Zeit zu Hunderten vorgekommen sind. Hier müssen wir  eingreifen. Hier muss eine intensive Propaganda einsetzen. Wir müssen den  Jugendlichen zeigen, dass sie durch solche Dinge ihre wirtschaftliche Lage  nicht verbessern, sondern sich vielmehr ihr ganzes Leben versauen. Wir wenden  uns von diesen Jugendlichen nicht ab. Man muss ihnen klarmachen, dass erst im  Sozialismus alle Voraussetzungen für ein vernünftiges Leben gesichert sind. Der  kapitalistische Staat kann nicht mehr helfen. Er allein ist die wahre Ursache  allen Elends; der Sozialismus muss erkämpft werden, um alles müssen wir  kämpfen. Mit dem entscheidenden Teil des Proletariats zusammen. Und wir können  nicht sagen, dass wir den entscheidenden Teil der Jungarbeiterschaft unseres  Viertels — eines ausgesprochenen Arbeiterviertels — erfasst haben. Gewiss, wir  wissen, dass unser Gebiet rot ist, wir wissen, dass der größte Teil der jungen  Arbeiter bei der letzten Wahl für die KPD. gestimmt hat, aber das allein genügt  nicht. Wir brauchen diese Leute für den aktiven Kampf. Und wie kommen wir an  die Jugendlichen heran? In den Haustüren stehen täglich große Gruppen, die uns  nur von der allgemeinen Propaganda kennen. Unsere Agitationsmethoden sind  veraltet und wenig lebendig. Die Jungfront ist allerdings illegal, aber sie  geht einfach auf die Dächer und malt dort ihre Parolen. Gestern sprach ich mit  einem jungen Arbeiter, der erklärte mir glatt: ,Ja, Eure Genossen haben es ja  immer so eilig, sie tun immer so, als wenn Ihr eine geheime Organisation seid.'  Das zeigt, wie wenig lebendig unsere Propaganda ist. Ich schlage vor, dass die  Gruppe erstens den Vertrieb der ,Jungen Garde' besser organisiert und steigert  und zweitens eine eigene Zeitung herausgibt. Diese Zeitung soll vor allem auf  unseren Kietz zugeschnitten sein. Der Inhalt soll sich den- lokalen  Verhältnissen anpassen. Sie muss so interessant sein, dass jeder Jugendliche  auf das Erscheinen der nächsten Nummer geradezu wartet. Wir werden nachher  sehen, wer die Aufgaben eines Redakteurs übernehmen wird..."
  „Knorke! Det fehlt uns!"
  „... Jetzt steht die Frage des Abziehapparates. Die Gruppe hat kein Geld,  einen zu kaufen. Aber wir müssen das Geld irgendwie zusammenbringen, und wenn  sich alle Genossen dafür einsetzen..."
  Der ärgerliche Ernst unterbrach ihn:
  „Halt mal! Ich kenne einen Parteigenossen, der hat einen knorken Greifapparat  zu stehen. Da gehe ich morgen mit ein paar Jungens hin, und det Ding wird  beschlagnahmt."
  „Ick komm mit, Ernst."
  „... Also, wenn dort ein Apparat unbenutzt steht, gibt Euch die Gruppenleitung  den Auftrag, den Apparat zu beschlagnahmen. Wie wär’s denn, Ernst, wenn Du Dich  auch gleich um die Redaktion kümmern würdest?"
  „Wer? Icke?! Mensch, da hab ick doch keene Ahnung von. Nee, det kann ick  nich."
  „Der macht 'ne Familienzeitschrift. ,Humor vom Tage' und so."
  „Lasst doch den Unsinn."
  „Ernst und Doktor gemeinsam!" machte jemand den Vorschlag. Die Mädels an  dem Tisch hinten lachten. Eine kleine Blonde wurde lebhaft und meinte:
  „Ich habe einen Vorschlag zur Finanzierung: wir gehen zu Geschäftsleuten,  erklären so und so und fragen, ob sie nicht inserieren wollen. Jedes Inserat  eine Mark. Fünf, sechs Stück bekommen wir schon zusammen, und dann haben wir  Geld für Papier und Platten. Die Platten nehme ich mit ins Geschäft, und da  werden sie auf Kosten der Likörfabrik Schadow & Co. getippt."
  „Dufte, Grete! Siehste, Du bist jar nich so dämlich, wie Du aussiehst!"
  „Halt doch Dein gottloses Maul, Rudi, mach doch andere Vorschläge."
  „Othello muss ooch inserieren: Ia Bouletten, gut gepflegte Biere!"
  Ernst hatte einen feuerroten Kopf. Er war eifrig und machte sich Notizen.  Dieser Vorschlag war für ihn außerordentlich ungewöhnlich. Er griente ein paar  Mal breit und zeigte seine schlechten Zähne.
  „Euch werde ich schon zeigen, wat ein roter Redakteur ist, Ihr Mummelgreise.  Die Zeitung werde ich schon machen, aber wehe dem, der nicht seine zwanzig  Stück umsetzt! Der Genosse Doktor ist mir als Mitarbeiter natürlich angenehm,  vorausgesetzt, dass er keine Ecke über das Geschlechtsleben der Mistkäfer für  sich beansprucht."
  Doktor grunzte tief. Erst schien es, als wollte er Ernst nicht hören. Dann  wurde er böse und ballte seine kleine Schreiberfaust: „Warte man, Dir werde ich  schon rankriegen, von wegen Mistkäfer... "
  Das bodenlose Gewieher der Genossen wollte nicht verstummen. Karl schlug ein  paar Mal mit der Faust auf den Tisch. Erich wurde immer lebendiger, am liebsten  hätte er auch mitgelacht oder etwas gesagt. Er fühlte sich hier mit einmal  froher und sicherer.
  Mit fester Stimme sprach Karl weiter:
  „Ich glaube, die beiden Genossen werden schon gut zusammenarbeiten. Die  Gruppenleitung wird mit ihnen nachher noch alle konkreten Fragen besprechen.  Genossen, nun zu unserer Dorfpatenschaft. Die Genossen aus Langendorf haben uns  geschrieben, ob wir denn nichts von der Parole „Kommunisten aufs Land!"  gehört hätten. Sie bitten uns, mitzuteilen, wann wir die Güte haben würden,  unserer Patenschaftspflicht nachzukommen. Genossen, wir haben jetzt Juni. Seit  März sind wir nicht mehr dagewesen. Wir haben daher mit den Funktionären  beschlossen, gemeinsam mit der Gruppe Kreuzberg am Sonntag auf Landagitation zu  fahren..."
  „Bravo! Warum denn nicht gleich so!"
  „Fahrgeld? Wat kost Fahrgeld?"
  „Wir fahren, obwohl ja Autofahrten verboten sind, aus Sparsamkeitsgründen mit  dem Auto, Fahrgeld beträgt eine Mark fünfzig, und das ist bei hundert  Kilometern nicht zu viel. Ich glaube, dass alle Genossen das Fahrgeld  aufbringen können. Wenn nicht, sollen sie sich beim Genossen Theo melden. Der  Genosse Theo hat eine feine Methode, solchen Drückebergern zum Fahrgeld zu  verhelfen. Also: Sonntag alles aufs Land! Der Wagen hat Sitzplätze, ist  luftbereift. Wir fahren natürlich nicht vom Lokal ab, sondern so, dass wir ohne  Polizei aus Berlin, mit verschlossenem Verdeck, herauskommen. Die Fünferführer  geben die näheren Anweisungen noch durch..."
  „Ick kann nich mitkommen, Karl!"
  „Warum nich?"
  „Meine Schwester feiert Verlobung. Da jibts wat zu fressen, die heirat een  Schlächter."
  „Kommt janich in Frage, Maxe. Du kommst mit, und damit basta."
  „Wat jeht uns Deine Schwester an. Meine stirbt Sonntag, und ick fahre doch  mit."
  „Der Genosse Max wird auch mitkommen. Ich glaube nicht, dass er sich bei der  Verlobung wohlfühlt. Wenn die alten Tanten singen: ,Aus der Jugendzeit' und  ,Wie früher alles doch so anders war'. Also, kommste mit, Max?"
  „Mal sehn. Ick weeß noch nich jenau."
  „Ach wat, nimmst Dir eben ein paar anständige Würste und drei bis vier  Napfkuchen mit."
  „Natürlich, habt keine Angst, der Max wird da sein."
  Der kleine Max, ein verschmitzter Bursche, fühlte sich wohl, ihm tat Zureden  immer recht gut. Und ein Genosse neben ihm, wahrscheinlich sein Vertrauter, flüsterte  ihm zu: „Wen meenst Du denn mit Schwester? Eure Töle?" Und dann krepierten  beide beinahe vor Lachen.
  „Ruhe! Maxe. Weiter, Genossen. Wir haben vorhin über Schulung gesprochen.  Sonntag in acht Tagen findet eine Wochenendschule statt. Unsere Gruppe kann  zwei Delegierte entsenden. Ich schlage den Genossen Peter Simon und die  Genossin Elly vor."
  Elly sprang vom Stuhle auf und stieß mit der Kniescheibe hart gegen die  Tischkante. „Au, verflucht!" Sie war vor lauter Zorn blasser als sonst im  Gesicht und hatte so laut gebrüllt, dass wieder ein übermütiges Gewieher  einsetzte. Nur Erich sah sie bedauernd an, und Doktor blieb starr wie eine  Bildsäule. Schulmeisterhaft und strafend warf er seine Blicke umher. Elly trat  dicht an Karl heran und schaute ihm beleidigt ins Gesicht:
  „Genosse Karl, ich protestiere dagegen, dass Du hier einfach so diktatorisch  festlegst, dass ich mit zur Schule soll!" Dabei stampfte sie mit ihren  niedlichen Füßchen auf den Boden, als wenn sie sich mit aller Gewalt Respekt  verschaffen wollte. Karl sah betroffen zu Theo. So verrückt war sie ja noch nie  gewesen. Was ist denn bloß mit ihr los?
  „Hast wohl ne Verabredung, wat?"
  „Und wenn ich zehnmal eine Verabredung habe, das geht Dir gar nichts an,  bäh!" Sie steckte weit und ulkig ihre Zunge heraus.
  „Der ist die Hitze in den Kopf gestiegen", lachte Karl.
  Er wollte zur Tagesordnung übergehen, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde.  Der Referent stürzte atemlos und schwitzend herein: „Entschuldigt, Genossen,  ich hatte eine wichtige Sitzung. Aber es ist ja erst halb zehn, da... "
  „Aha, der Spachtel! der Genosse Spachtel!" staunten die Genossen.
  Spachtel erklärte, er wolle die Sache kurz machen, sozusagen Telegrammstil.  Seine Stimme hatte einen weinerlichen Klang, und seine Hände spielten dauernd  auf dem Tisch herum. In regelmäßigen Abständen sagte er: „... nicht wahr  Genossen..." Max hatte einen Bieruntersatz vor sich liegen, und immer,  wenn dieser Satz gesprochen wurde, machte er einen Bleistiftstrich.
  Spachtel sprach wirklich im Telegrammstil; mal war er in Spanien, dann wieder  in Genf, dann sprach er etwas konkreter von dem Heranreifen einer  revolutionären Krise in Deutschland. Er machte einige Vorschläge zur  Intensivierung der Arbeit, kritisierte heftig die Arbeit der Gruppe als die  schlechteste im Bezirk Zentrum und erreichte damit am Schluss eine lebhafte  Debatte. Als erste Diskussionsrednerin sprach Trude, ruhig und überzeugend. Sie  war auch der Meinung, dass die Gruppe gegenüber der allgemeinen Entwicklung  sehr im Tempo zurückgeblieben sei. Alle übrigen begrüßten den Vorschlag einer  eigenen Zeitung und gaben die Versicherung ab, dass sie alle nach Kräften  mitarbeiten würden.
  Theo gab kurz und knapp organisatorische Anweisungen für die nächsten Tage,  dann schloss er die Sitzung etwas zu eilig. Aus Protest fingen zwei, drei  Genossen an, das Komsomolzenlied zu singen. Es dauerte nicht lange, und die  ganze Bande sang stehend mit, vor allem der Refrain schlug dröhnend gegen die  Wände.
  
  „Landwirtschaft und Industrie
  produzieren wie noch nie
  in der Sowjetunion!
  Bauer, der so lange schlief,
  schaftt jetzt mit dem Kollektiv
  für die Sowjetunion!
  Im Betrieb: Komsomol!
  Auf dem Land: Komsomol!
  Überall: Komsomol!
  Bricht dem Sozialismus Bahn.
  Ja, die Komsomolzen,
  Was sind das doch für Kerle?
  
  Knorke! Knorke alle Mann.
  Ja, die Komsomolzen, 
  Was sind das doch für Kerle? 
  Knorke! Knorke alle Mann.
  
  Lenin spricht: Elektrokraft
  mit am Sozialismus schafft
  in der Sowjetunion!
  Mit Traktor und Eisenbahn
  bau'n wir den Fünfjahresplan
  für die Sowjetunion!
  Im Betrieb: Komsomol... 
  
  Technik und das Alphabet 
  bringt ins Dorf der Stadtprolet 
  in der Sowjetunion! 
  Volksverdummung ist gewesen, 
  heute lernt der Bauer lesen 
  für die Sowjetunion! 
  Im Betrieb: Komsomol... 
  
  Hüte dich, du Weißgardist! 
  Immer wacht der Rotarmist 
  in der Sowjetunion! 
  GPU. und Milizei 
  kämpfen mit Lenins Partei 
  für die Sowjetunion! 
  Im Betrieb: Komsomol... 
  
  Höre, deutscher Jungprolet! 
  Stolz die rote Fahn weht 
  in der Sowjetunion! 
  Kämpfe und verzage nie, 
  kämpf mit aller Energie 
  für die Sowjetunion! 
  Im Betrieb: Komsomol... 
  
  Die vier stämmigen Burschen, die mit Theo gekommen waren, setzten sich draußen  an einen Tisch und beratschlagten leise.
  „... die olle Kuh, die. Wegen der is der arme Teufel doch bloß Hopps gegangen ... "
  „Also los, treffen wir die Vorbereitungen, und um halb zwölf vor der Haustür.  Rot Front!"-------
  Als Frau Mädicke am nächsten Morgen Brötchen holen wollte, brüllte sie laut  auf: Vor ihrer Tür standen zwei volle, schwere Müllkästen, darauf ein Paar  lange, braune Pferdebeine mit blanken Hufeisen. Sie stanken furchtbar... 
  Grässliche Träume hatte Frau Mädicke in den folgenden Nächten: Immer hingen  baumelnde, stinkende Pferdebeine vor ihr, die Hufeisen blinkten, und dann kam  der Schlächtermeister Kasch mit der Axt... 
Bei Familie Rhoden war Krach. Richtiger, derber Krach kam bei der Familie  aus dem Rheinland nur selten vor. Viktor war nur zwei Stunden älter als sein  Bruder Hermann. Kraftstrotzend und faul war er am Morgen im Bett geblieben.  Zwar hatte er seinem Vater versprochen, gleich aufzustehen und zur Markthalle  nachzukommen, aber er dachte nicht im geringsten daran. Die Mutter kam,  schimpfte, kreischte und wollte ihm die Decke wegziehen. Viktor war bockig wie  ein Esel, auf dem man schon zu lange herumgeritten ist; ärgerlich knurrend  steckte er den Kopf unter die Decke und blieb liegen. Immer das ewige Einerlei:  Viktor, aufstehen, zur Markthalle! Viktor, fass mal an die Kiepe da an, und  dann sortiere die faulen Äpfel aus! Viktor, Feierabend, dann gehst du noch eine  Weile spazieren bis neun Uhr, und dann marsch, ins Bett!
  Viktor war ein kräftiger Bursche. Er hatte auch andere Sehnsüchte — aber die  wurden ihm in der Nostizstraße zwischen 7 und 9 Uhr abends nicht erfüllt. Er  fühlte sich gekränkt, vernachlässigt, gedemütigt, und er war doch der Sohn  eines selbständigen Gemüsehändlers en gros. So protestierte er in dieser  hilflosen, ahnungslosen Art. Damit kommst du nicht durch, Viktor, hatte er  manchmal zu sich selbst gesagt.
  Doch der Drang in seinem Körper, dieser Drang, den jeder Bursche in Viktors  Alter staunend empfindet, ohne ihn beschreiben zu können, war stärker, als die  gute, rheinische Erziehung. Deshalb kam der Krach.
  „Warum bist Du nicht gekommen?" fragte nachmittags der Vater, als er  schwitzend aus der Markthalle zurückgekehrt war.
  Erst wollte Viktor stillschweigend abziehen, ohne sich zu verteidigen, dann  aber hatte er es sich anders überlegt und sagte kühl, fast höhnisch; „Ich  fühlte mich nicht wohl, Papa."
  Da wetterte der Alte los, seine Stimme überschlug sich vor so viel Frechheit.  „So, Du fühltest Dich nicht wohl?! Hast Du überhaupt schon heute etwas  verdient? He, hast Du schon überhaupt etwas verdient, frag ich Dich? — Willst  Du antworten, Du störrischer Bengel?!"
  Die Mutter legte ängstlich die Hand auf den Arm des aufgeregten Alten. Der sah  sie verständnislos an. „Willst ihn wohl in Schutz nehmen, was? Unsereins plagt  sich von früh bis spät, dass es die Kinder später mal besser haben, und dann  erntet man so einen Dank. Überhaupt heute, bei solchen Zeiten. Wir haben letzte  Woche alle drei zusammen keine siebzig Mark verdient, und der bleibt einfach  liegen, bleibt im Bett: ich komme gleich nach. Geh man, schufte Du man, Alter.  Wer nicht kommt, ist mein Viktor! So!"
  Hermann musste kichern, er stieß dem Bruder in die Seite und flüsterte  schadenfroh: „Siehste, da hast Du es!" Der Alte rannte aufgeregt hin und  her. Er wollte nichts zu essen haben.
  „Nein, nein! Lass, ich kann vor Ärger nichts essen. Da muss man ja...  da hat  man ja...  haaach! Da weiß man überhaupt nicht mehr, was man dazu sagen  soll!" Er sah Viktor so böse und drohend an, dass der sein Essen stehen  ließ und sich in das Zimmer zurückziehen wollte, das den beiden Jungens  gehörte. Da donnerte ihn der Alte von neuem an. Seine Augen waren aufgequollen  und die Lippen blau wie die einer Wasserleiche.
  „Hier geblieben! Sag mir jetzt, was mit Dir Jos ist! Sag mir jetzt endlich,  oder ich vergeß mich!"
  Jetzt bekam Viktor richtige Angst, Mit kleinen, trippelnden Schritten lief er  vor seinem Vater hin und her und wusste nicht, was er sagen sollte. Wenn er  geantwortet hätte: Papa, ich hatte keine Lust, dann hätte es Senge gegeben,  fürchterliche Senge — da hing so ein altes, kerniges Militärkoppel im Schrank.  Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Er traute sich nicht, den Vater  anzusehen, nur von unten herauf beobachtete er alle seine Bewegungen.
  „Wilhelm, um Himmelswillen, Wilhelm! Lass ihn doch sein! Er wird sich sicher  nicht wohl gefühlt haben", rief entsetzt die Mutter.
  „Ach was! Ein Kerl wie ein Bär und sich nicht wohlfühlen. Lächerlich. Lass mich  nur machen, Du hast ihn nämlich bloß verwöhnt. Der liegt im Bett, und ich quäle  mich mit den Körben und Kisten herum. Warum hat man denn die Lausejungens  großgezogen? Bloß zum Sattfressen? Nee, meine Liebe!"
  „Ja natürlich, ich hab' ihn verwöhnt, nun gib mir man wieder die Schuld.  Natürlich, wenn Du nicht weiter kannst, dann bekomme ich Deine Wut zu spüren.  Ist ja lächerlich, sich so aufzuregen. Lass ihn zufrieden, es wird schon nicht  wieder vorkommen. Nicht wahr, Viktor, mein Junge?"
  „Nein, Mama, es wird nicht mehr vorkommen", sagte Viktor und kam sich  dabei wie ein Schulrabe vor.
  „Was Du bloß immer hast! Ich möchte gerne wissen, warum er nicht aufgestanden  ist."
  „Weil mich ein solches Leben ankotzt!!" brüllte Viktor plötzlich. „Wir haben  unser Abitur gemacht, haben gelernt bis in die Nacht, und ich habe dabei  bestimmt nicht von Gemüsekörben geträumt, Papa. Das wollte ich Dir sagen."
  Der Alte war platt. So etwas war einfach noch nicht dagewesen, so etwas hatte  sich von den beiden Jungens noch keiner erlaubt. Wie ein Wilder brüllte jetzt  Herr Rhoden los:
  „Ruhe, Ruhe, Freundchen! Immer ruhig bleiben, nicht wahr? Was kotzt Dich an,  wie Du Dich auszudrücken beliebtest, he? — Dieses Leben? Ja, sag mal, was hast  Du Dir denn überhaupt für ein Leben vorgestellt? Meinst Du, das Gute kommt  alles von selbst. Nein, da heißt es arbeiten von früh bis spät, arbeiten und  noch mal arbeiten, wenn man es zu etwas bringen will. Du siehst, ich muss auch  zufrieden sein.“
  „Ja, Papa, Du bist vielleicht zufrieden, aber wir sind jung! Das darfst Du  nicht vergessen. Und dann weiß ich ja auch, dass Du von früh bis spät arbeitest  und noch immer nicht weiter gekommen bist. Im Gegenteil: vor vier Jahren hast  Du den Laden verkaufen müssen, zwei Jahre später das Auto. Früher hattest Du  vier Leute ständig angestellt, heute keinen. Das ist es ja, was ich nicht  begreife."
  „Das verstehst Du wieder nicht. Das hängt mit der allgemeinen Krise zusammen.  Und weil Deutschland den Krieg verloren hat. Wir müssen eben die Hälfte des Ertrags  unserer Arbeit an die Franzosen zahlen. Wir, die Mittelständler... " Der  Alte wurde ruhiger.
  „Das weiß ich ja auch alles, Papa. Aber warum arbeitest Du denn da? Ich meine,  warum arbeitest Du denn so viel, dass die andere Hälfte, die man aus Dir herauspresst,  recht groß wird? — Sieh mal, ich kann verzichten, und ich verzichte gern. Aber  etwas muss man doch schließlich vom Leben haben. Du hattest uns beiden ein  Motorrad versprochen... "
  „Ach so, dahinaus willst Du! Das mach Dir man ab, mein Junge, Motorrad, nee,  nee, da ist nichts mehr zu wollen. Vorläufig gar nicht daran zu denken, mein  Lieber. Arbeite tüchtig und spare, dann werden wir weiter sehen. Aber vorläufig  — nee. Und jetzt will ich meine Ruhe haben!"
  Der Alte nahm einen Pack Steuerquittungen und ging damit in die große Stube.  Seine Frau eilig, immer noch ängstlich, hinter ihm her.
  „Bude zu, Affe krank!" sagte lächelnd Hermann. „Mensch, unser Alter, mit  dem kannst Du doch nicht reden, was denkst Du, wie der mir heute den ganzen Tag  in den Ohren gelegen hat: Das faule Schwein kommt doch nicht! Na, warte man,  lass mich man zuhause sein, dem schlag ich die Knochen im Leibe kaputt,  vielleicht ist er doch krank — aber nein doch, ein Kerl wie ein Bulle...  so  ging das den ganzen Tag. — Warum bist Du denn nun eigentlich nicht gekommen?  Mensch, wegen Dir musste ich heute doppelt arbeiten. Dauert nicht lange, dann  bleibe ich einfach liegen."
  „Ja, was soll ich Dir da antworten? Dir gehts wahrscheinlich genau so wie mir,  Hermann. Es ist alles Scheiße!" Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch  und sah lauernd zu Hermann.
  Der schien alles nicht so schwer zu nehmen. Er blickte gleichgültig umher und  knabberte die Knochen seines Koteletts ab. Dann nahm er sich wieder sein Buch  vor, „Die Sünde wider das Blut".
  ,Ja, Hermann, man muss sich doch darüber klar sein, was später werden soll.  Meinst Du, ich habe Lust, mich dauernd mit Gemüsekörben rumzuschleppen und wie  ein Jude mit den Leuten zu handeln? Ekelhaft ist so ein Prachergeschäft —  verflucht, wenn ich doch bloß weg könnte von hier! Immer dasselbe Einerlei,  immer derselbe Stumpfsinn!"
  „Ja, die Juden", sagte Hermann gedehnt „,wenn die nicht wären. Wo soll  denn das auch alles hin? Der alte Herr kann doch nichts dafür; was denkst Du,  was der sich für Kopfschmerzen macht, Viktor. — Übrigens, wenn im Sportpalast  wieder mal Naziversammlung ist, gehe ich wieder hin. Das sind doch Kerls! Und  der Goebbels, der kann reden, sage ich Dir! Da wird man direkt begeistert.  Manches ist ja Quatsch, was er sagt, aber die Juden, die hat er anständig beim  Wickel."
  „So. Also Dir gefällt das auch. Mir hat vor allem der Fahneneinmarsch  imponiert. Das Militärische, Forsche, dafür kann ich mich begeistern. Man muss  ja irgend etwas haben. Gehn wir zu den Nazis, Hermann!"
  „Und der alte Herr, was wird der dazu sagen?"
  „Ach was, der sagt gar nichts, der freut sich vielleicht noch. Bei den letzten  Reichstagswahlen hat er auch Nazis gewählt.; Der schimpft auch auf die Juden.  Das muss doch mal anders werden, entweder gehn wir so oder so kaputt."
  „Und wenn es in der Straße bekannt wird?"
  „Das braucht ja niemand zu wissen. Sehen wir uns eben ein bisschen vor."
  „Das sind aber alles Kommunisten."
  „Was heißt Kommunisten. Sind wir ja auch, bloß, dass wir mit den Juden auch  abrechnen wollen. Bin schon einverstanden mit den Kommunisten. Alles kaputt  schlagen! Weißt Du, manchmal möchte ich den Kurfürstendamm herunterrennen und  alles über den Haufen stechen, so eine Wut habe ich... "
  Hermann legte das Buch beiseite. Er kratzte sich die Brust und schnaufte. Hass  und Wut war in beiden aufgestaut. Irgendwo musste jetzt Luft geschafft werden.
  „Und das alles wegen dem verlorenen Krieg! Weil wir alles bezahlen müssen,  deswegen geht es uns so beschissen, und wegen der Juden, die alles in der Hand  haben und mit Frankreich liebäugeln. Und dagegen sind eben die Nazis."
  „Die Kommunisten aber auch, Viktor."
  „Na ja, aber wir können doch nicht zu den Kommunisten gehen. Mach Dich doch  nicht lächerlich! Das geht nicht... "
  „Ich versteh schon. Aber stell Dir vor, wir kommen mit den Leuten hier aus der  Straße in Konflikt. Die werden von den Nazis doch oft schlimmer als die Juden  behandelt. Ich habe da doch immer noch einige Bedenken."
  „Ach, die gehen schon noch vorüber. Das ist doch kein Problem. — Hoffentlich  hat sich der Alte beruhigt; ich dachte schon, er wollte mich fressen."
  Der Alte hatte sich noch nicht beruhigt. Mit einem lauten Fluch hatte er seinen  Schreib- und Steuerkram in die Ecke geworfen und sich stöhnend und resigniert  ins Bett gepackt.
  „Sei doch schon endlich ruhig, Wilhelm!" redete ihm seine Frau gut zu.
  „Du hast gut reden. Aber ich, ich allein bin hier der Leidtragende... "  Seine Stimme klang weinerlich. Er fasste mit krummen Fingern in die Bettdecke  und warf sich hin und her. Seine Frau kämmte sich die Haare.
  Das zweischläfige Bett nahm den größten Teil der Stube ein. Über ihnen hing ein  kleines, silbernes Kreuz, dessen Querteil hielt mit Nägeln die Arme Jesu. Blut  tropfte von den Händen des Gekreuzigten, Blut tropfte von seinem Kopf, der  schwermütig und zerfurcht von vielem Leiden auf die rechte Schulter geneigt  war.
  Rhoden hob das Kinn hoch und sah seufzend nach oben. „... und erlöse uns von  dem Übel... " Der Mann streckte die Arme empor und lag lange mit  geschlossenen Augen da. „Erlöse uns? Erlöse uns? Wer erlöst uns denn?"  schrie er plötzlich.
  Seine Frau kam sonderbar ruhig: „Sei still, Papi."
  „Ja, sei still. Immer bin ich still gewesen, Marie."
  Der alte Rhoden, der nicht wusste, warum das alles so war, weinte. Dicke,  salzige Tränen hingen ihm an den Wimpern, liefen über die faltigen Backen und  den traurig verzogenen Mund. „Meine eigenen Jungens, meine Jungens, an denen  ich so gehangen habe, Marie. Was sind das für kräftige Kerle. Weißt Du, ich  sage ihnen das nicht, ich lasse sie es auch nicht merken. Und doch freue ich  mich, wenn ich mit beiden, der eine links, der andere rechts, durch die Straßen  gehe. Meine Jungens sind so zu mir? Und ausgerechnet der Viktor. Von dem habe  ich das meiste gehalten. Ich kann sie ja trotzdem so gut verstehen. Sie sind ja  noch so jung."
  „Sei doch jetzt ruhig, Wilhelm", sagte liebevoll seine Frau und kuschelte  sich dicht an ihn. „Warum machst Du Dir denn immer so viel Kopfschmerzen, es  wird schon alles besser werden. Sei doch ruhig jetzt... "
  „Wie kann ich denn ruhig sein! — Ach, lass mich doch in Frieden. Herrgott,  machst Du Dir denn gar keine Kopfschmerzen darüber? Was soll denn aus den  Jungens mal werden? Wer weiß, wie lange noch, und mein Gemüsehandel hat  aufgehört, längstens noch bis zum Winter. Die verdammten Steuern machen einen  ja kaputt, die fressen ja am meisten...  Ich kann das schon verstehen von dem  Viktor. Die armen Teufel haben ja auch nichts von ihrem Leben."
  „Wilhelm, hör doch jetzt auf. Das ist doch nun einmal so: wenn der liebe Gott  will, hilft er schon."
  „Ja, der liebe Gott... . ja... "
  
  Theo trug gern Ledergamaschen und ein einfaches Hemd. Wenn er allein war, ging  er immer eilig, er wusste selbst nicht warum, es lag so in ihm drin. Er  arbeitete in einer kleinen Tischlerei in der Wiener Straße, eine halbe Stunde  von der Nostizstraße entfernt. Oft ging er nicht gleich von der Arbeit aus nach  Hause, es wurde elf, zwölf, manchmal auch ein Uhr, ehe er Mittag essen konnte.  Seine Gamaschen waren stets blank, man konnte sich darin spiegeln. An seiner  blauen Schirmmütze trug er ein rotes Fliegerabzeichen. Darauf war er stolz. Das  hatte ihm mal eine kleine, schwarze russische Genossin geschenkt. Er dachte oft  sehnsüchtig an sie. Bis ihm dann plötzlich wieder einfiel, dass er noch da und  da hin müsse. Und er sprang auf, raste los und rannte alles über den Haufen,  was ihm in den Weg kam. Er konnte Unpünktlichkeit nicht leiden.  „Unpünktlichkeit ist Diebstahl an der proletarischen Revolution" pflegte  er zu Genossen zu sagen, die das Privileg für sich in Anspruch nahmen, immer zu  spät zu kommen, und sei es auch nur um eine halbe Minute, Fast nie gönnte sich  Theo einen freien Abend, nur ganz selten einmal an einem Sonntag. Und auch dann  konnte er nicht stille sitzen: et suchte die faulen Genossen auf und schmierte  sie nach Strich und Faden aus.—
  Wie ein Wiesel sprang er die vier Treppen hoch, klopfte ungestüm.
  „Nanu, nanu, wo brennt's denn schon wieder?" empfing ihn seine Mutter.  Frau Schade war immer guter Laune. Aber sie konnte auch ernst sein, besonders  wenn sie sich mit den Frauen unterhielt, da konnte sie manchmal geradezu wütend  werden:
  „Schon sechs Kinder, und det siebente soll jetzt kommen?! Wat wollen Sie denn  bloß mit so viel? Zu was denn!"
  „Ach ja, wat soll man denn bloß machen?"
  „Quatsch, es gibt doch so viel Sachen, die einigermaßen sicher sind...  ,"
  Solche Gespräche führte sie oft, sie redete dann so leidenschaftlich, dass den  Frauen beinahe Angst wurde. Aber sie hatten Vertrauen zu ihr und ließen sich  geduldig die Seele waschen.-------
  „Junge, wo kommst Du bloß so spät her? Det janze Essen ist schon wieder kalt ... "
  „Mach, Mutter, mach! Ich muss rasch wieder weg. Wir haben Flugblätter verteilt  vor DTW. in der Zeughofstraße. Mach schnell, ich habe keine Zeit."
  „Na, Du wirst doch wohl noch zum Essen Zeit haben. Herrgott, Du wirst ja immer  weniger. Was nützt Dich denn der Klassenkampf, wenn Du nachher auf der Nase  liegen bleibst."
  „Ach, mach doch schon, Mutter, das ist doch gar nicht wichtig! — Wenn Du das  Essen noch nicht fertig hast, esse ich eben nachher."
  „Nu warte doch schon, warte doch, is doch gleich fertig. — Nee, der Junge, der  macht sich noch ganz kaputt mit seiner Rummrennerei... "
  Sie hantierte still am Herd und sah ab und zu mal zu Theo. Er saß am  Küchentisch, den Kopf in die Hände gestützt und las eilig die „Rote Fahne".
  Frau Schade bewohnte mit ihrem Jungen Stube und Küche. Der Vater war bei den  Spartakuskämpfen 1918 erschossen worden. In der Stube, am Fenster, stand ein  selbstgebautes Bücherregal, von oben bis unten mit Broschüren und marxistischer  Literatur voll gestopft. Darüber in schmucklosem, schwarzem Rahmen ein  Leninbild. Lenin lächelte auf diesem Bild ganz leis, ein leises Lächeln, das  einem ordentlich Mut machte.
  Die Wand hatte Theo im Winter mit billiger Ölfarbe gestrichen. Unter einer  alten Matratze hatte er Füße angebracht, mit einer wollenen Decke belegt, stand  sie jetzt als seine Schlafgelegenheit in der Küche.
  Seine Mutter kam lächelnd mit einem großen Teller Kohl: „Hier, Theo, lass Dirs  schmecken! Fleisch ist nicht drin, aber es wird auch so gehen."
  „Ach, das ist doch gar nicht wichtig, Mutter. Mach schon, ich muss gehen,"
  Hastig begann er zu schlingen. „Au verflucht, is das heiß!" „Nu hör aber  auf! Ich kann doch nicht wegen dem Klassenkampf das Essen ohne Feuer  kochen."
  „Doch, wenn es notwendig ist, muss auch das gehen, Genossin Schade. Dann wird  eben nicht gekocht, dann wird der Kohl eben roh gefressen, nicht wahr?"
  Die Mutter kam langsam an den Küchentisch heran. Am liebsten hätte sie jetzt  ihrem Jungen das Haar gestreichelt, aber sie wusste, er konnte das nicht leiden  und würde hochfahren. Für ihn waren Mutterliebe und Familiensinn Begriffe, die  einer alten, stockigen Vergangenheit angehörten. Sie schaute ihm beim Essen zu  und sagte nur: „Bist ein tüchtiger Kerl, Theo."
  Er hatte fertig gegessen, schob den Teller beiseite und sprang auf. Mit seinen  harten Händen fasste er die Mutter bei den Schultern, dass sie aufschrie.
  „Ja, Mutter, wir beide, nicht wahr? Aber jetzt muss ich gehen, wenn ein Genosse  kommt und es ist eilig, dann schick ihn zu Doktor. Rot Front! Mutter!"
  „Rot Front! Theo!" rief sie ihm nach. Aber er hörte nicht mehr, seine  Schritte polterten schon im zweiten Stock.
  Doktor wohnte möbliert in der Solmsstraße bei einer alten, äußerst freundlichen  Frau. Sie war etwas rundlich, hatte graue Haare und gütige, verständnisvolle  Augen.
  Ernst probierte an dem Greifapparat herum. Sein Kopf war vor lauter Eifer rot  und die Hände von der Farbe schwarz. Er sah aus wie ein kleiner Junge, dem man  zum ersten Mal einen Tuschkasten zum Spielen gegeben hatte.
  „Wenn ick bloß wüsste, wie det Ding funkt. Mein Jott, die olle Schraube hier,  zu wat die bloß da dranne is, möcht ick wissen."
  „Zeig doch mal her!" unterbrach Doktor fachmännisch Ernsts Betrachtungen  über die Tücken und Schrauben eines Abziehapparates. Nach einer Weile zuckte er  mit den Schultern und murmelte unverständlich etwas. Da klingelte es, und  gleich hinter der Wirtin trat Theo ins Zimmer.
  „Schöner Besuch", murrte Ernst, „der will doch bloß wieder  kritisieren."
  „Guten Tag, Jungs!"
  „Guten Tag, Papa!"
  Doktor bemerkte grienend: „Die Begrüßung zweier Komsomolzen, von denen der eine  sich anmaßt, der Vater des anderen zu sein, während der andere sich tatsächlich  einbildet, er war der Junge des
  einen.'
  „Nu werde man nich schon wieder philosophisch, Doktor! Zeigt mal her, was Ihr  gemacht habt! Warum habt Ihr denn den Apparat schon aufgestellt?"
  „Zum Abziehen, alter Dussel, oder denkste zum Brotschneiden?" knurrte ihn  Ernst an. Es passte ihm gar nicht, dass Theo so mir nichts dir nichts  hereingeschneit kam, wie ein Lehrer alles kontrolliert und einem womöglich noch  alles über den Haufen schmeißt.
  Missgelaunt holte er ein paar eng beschriebene Bogen vom Schrank. Oben auf dem  Papierstapel lagen etliche gute Zeichnungen und der Kopf der Zeitung, fein  säuberlich mit Ausziehtusche in mühseliger Arbeit von Ernst hergestellt, „Die  Rote Sturmfanfare".
  „Hm, Sturmfanfare, Das hört sich ganz gut an, klingt aber zu romantisch. Sturm  ist mir zu windig, und Fanfare heißt schon die Zeitung vom Kampfbund Machen wir ... "
  „Siehste, Doktor, wat hab ick jesagt?! Der kommt, und denn: ja, ja, ja, det,  und det, und det muss aus politischen Gründen geändert werden. Wie soll se denn  heeßen, wat?"
  „Müssen wir mal sehen. Jedenfalls muss es etwas mit Jugend sein, es soll doch  eine Jugendzeitung werden."
  Ernst war ordentlich wütend, Doktor lächelte still vor sich hin und sagte:  „Kabbelt Euch man, ich verbrenne mir nicht mehr die Schnauze."
  „Nennen wir sie doch Komsomolz-Prawda" meinte nach einer Weile Ernst  lächelnd, dabei seine schlechten Zähne zeigend.
  „Unsinn, ,Prawda' versteht doch keen Mensch!"
  Theo überlegte ernsthaft, Ernst erteilte Ratschläge, Doktor ging Tee kochen.
  „Na, pass mal auf, Theo, nennen wir doch det Ding ,Der junge
  Wühler'."
  „Hm, jung und wühlen. Passt ganz gut zusammen. Jung und die bürgerliche  Gesellschaft unterwühlen, den Proleten aufwühlen, hm", sagte Theo, „gut,  Ernst, schön, sagen wir ,Der junge Wühler'. Aber wir müssen uns beeilen.  Gestern ist die ,Junge Garde' verboten worden, da muss von uns sofort etwas unternommen  werden. Siehste, Du kannst direkt wat."
  „Wollt ick ooch jewußt haben, alter Freund. Also ,Der junge Wühler'. Verflucht,  nu muss ick ja eenen neuen Kopp malen."
  Doktor brachte Tee. Ernst brummte: „Ne anständige Molle wäre mir lieber."
  „Ach was, Molle. Bier ist schädlich. Alkohol hält den Proleten vom Klassenkampf  ab. Das Biertrinken sollten sich alle Genossen abgewöhnen."
  „Wie ein Pastor sprichst Du. Molle trinken hat noch lange nischt mit besaufen  zu tun. Und wenn anständiger Ersatz da ist, werden unsere Jugendgenossen keine  Molle mehr trinken. Man kann doch Othello nich kaputljehen lassen."
  Theo hatte sich die Artikel vorgenommen, die Ernst und Doktor im Übereifer  zusammengeschmiert hatten. Er blätterte und machte sich Notizen. Nach einer  Weile sagte er gemessen und freundschaftlich:
  „Der Hauptfehler der Zeitung stellt sich jetzt schon heraus Es ist falsch, wenn  Ihr beide die Artikel allein schreibt, Ihr müsst auch die Genossen aus der  Gruppe damit beauftragen. Weiter müsst Ihr zu erreichen versuchen, dass  indifferente Jugendliche über ihre Nöte in unserer Zeitung schreiben. Dann  finde ich keinen Artikel, der besonders auf unser Gebiet zugeschnitten ist; in  den umliegenden Straßen passieren so viele Dinge, die sich ausgezeichnet  verwerten lassen, da findet Ihr so viel interessantes Material. Und dann, was  ist das für ein Unsinn im Schlusssatz des Leitartikel.... Die proletarische  Jugend ist am Ende Es ist daher kein Wunder, wenn Hungernde auf offener Straße  Briefträger anfallen oder Selbstmord verüben. Das ist unklar. In dem ganzen  Artikel kommt nicht zum Ausdruck, dass es eine andere proletarische Jugend  gibt, die den Kampf führt gegen diese Zustände. Ein Jugendgenosse wird keinen  Briefträger anfallen, nicht wahr? — Warum hast Du das nicht korrigiert, Doktor?"
  „Was heißt das, Genosse Theo, der Ernst lässt sich von mir doch nichts sagen.  Mach Du man ruhig," sagte Doktor ironisch.
  „Quatsch nicht so duslig!"
  Ernst war ganz aufgeregt. Er nahm die Blätter eines nach dem anderen zur Hand  und sah sie wie geistesabwesend noch einmal durch. Dann legte er sie mit einem  lauten Fluch auf den Tisch, so heftig, dass der Tee überschwappte. „Wat nu,  Mensch? Nu soll ick wohl wieder von vorne anfangen, wat? — meine Herren!"
  Doktor lachte innerlich und nickte mit dem Kopf. „Feiner Anfang. Wenn wir so  weiter machen, sind wir in vierzehn Tagen fertig.
  Ist ja auch klar, bei dieser falschen Zusammenstellung der Redaktion."
  „Du wolltest wohl sicher sagen, bei dieser psychologischen Unmöglichkeit der  Zusammenstellung", verbesserte ihn Theo.
  „Vielleicht hast Du recht, mein Lieber. Diese Seite darf man nicht außer acht  lassen. Jedenfalls ist die Basis für eine gute Zusammenarbeit nicht  vorhanden."
  „Dann hast Du die Aufgabe, eine solche Basis schnellstens zu schaffen,  verstehst Du. Wir müssen die Kräfte, die vorhanden sind, verwenden,  Unmöglichkeiten in Deinem Sinne darf es für uns nicht geben! Du bist stärker  als Ernst, das ist entscheidend."
  Ernst interessierte die Unterhaltung der beiden absolut nicht, er hantierte  wieder am Abziehapparat herum.
  „Hast Du ihn geholt, Ernst?"
  „Ja, zwei Mann hoch. Erst wollte er ihn nicht rausrücken, da hatten wir ihm ein  bisschen vom Wehrsport erzählt, und nach langem hin und her hat er ihn dann  vorgekramt. Er wusste selber nicht, wem der Apparat gehört. Jetzt gehört er  jedenfalls uns."
  Ernst war wieder der alte. Seine Wut war wie weggeblasen, und stolz lief er um  den Apparat herum wie ein großer Wachhund.
  „Macht die Sachen bis morgen fertig und gebt sie Grete mit. Platten hat sie  schon besorgt. Vor der Landagitation werden wir doch keine Zeitung haben, heute  ist schon Donnerstag...."
  Doktor hatte die dritte Tasse Tee beim Wickel. Ernst schnupperte daran herum  und goss sie in einem Zug herunter. „Ist der zum Abführen, Doktor?"
  
  Wolkenfetzen schoben sich am Himmel zu großen grauen Klumpen zusammen, als die  drei die Straße betraten. Wütend trieb der Wind Blätter und Papierreste vor  sich her, es war dunkler als an anderen Abenden um die gleiche Zeit.
  Die drei Jungens gingen zur Nostizstraße, in der Mitte Doktor wie ein altes,  hilfloses Männlein. Ernst war lustig, er fing an zu singen:
  „Ach, lass doch fahren hin, was früher einmal war! Maruschka, koch uns Tee aus  dem neuen Samowar."
  Dabei lief er in kleinen Sprüngen einige Meter vor und klatschte in die Hände.  Seine Augen lachten, und die schlechten Zähne sahen plötzlich gutmütig aus. Er  kam wieder zurück und sagte nachdenklich:
  „Mensch, wenn wir uns doch mal richtig freuen könnten! So wie die russische  Jugend, Sich richtig freuen, ohne auf andere Rücksicht nehmen zu brauchen. So  wie ,Hier, wir sind die Jugend, macht Platz'!"
  Er schlug vor lauter Übermut auf Doktors schmale Schulter, und wäre die Brille  nicht stabil gewesen, bestimmt wären die Gläser dabei herausgesprungen. „Du  bist ja gar nicht so, Doktor. Lass man."
  Doktor lächelte plötzlich still und wurde nachdenklich.
  
  In der Nostizstraße war es ruhiger als gewöhnlich, es war nicht so heiß, die  meisten Leute schliefen schon. Nur Jugendliche standen in losen Gruppen vor den  Haustüren. Franz machte ein finsteres
  Gesicht und Kater schlich von einem zum anderen. Frieda stand mit
  dem hageren, hübschen Gustav an die Haustür gelehnt. Sie sah aus,
  als sei eben das Glück an ihr vorbeigegangen. Gustav redete leise auf
  sie ein, packte sie grob am Arm, sie sah ihn an, ängstlich und flehend:
  „Lass doch, Gustav! Ich kann doch nicht, ich kann doch nicht..."
  „Schön, wenn Du nicht willst, gehe ich. Es gibt ja so viele Mädels,
  die nicht nein sagen."
  „Das weiß ich ja. Das weiß ich ja auch, Gustav. Warte doch, später mal. Jetzt  nicht. Ich kann doch nicht... "
  „Also los, komm mit. Bei uns ist keiner zu Hause. Komm, mach schon!"
  „Nein! Ich kann nicht. Ich möchte aber, dass Du bleibst."
  „Dann rutsch mir den Buckel runter", sagte Gustav und schob ärgerlich ab.  Frieda lief hinter ihm her, sie fauchte ihn an und schlug ihre Fingernägel tief  in sein Handgelenk. „Du Biest!" keuchte sie. Gustav staunte, dann holte er  aus und schlug ihr klatschend ins Gesicht. Sofort waren alle fünf Finger zu  sehen. Frieda taumelte und lehnte sich bleich an die Wand. Aus ihrer Nase  tropfte hellrotes Blut auf ihre kleinen, abgearbeiteten Hände. Sie sah es an,  mit verständnislosen, gleichgültigen Augen. Gustav aber ging seelenruhig  weiter. Er bereute schon wieder sein Verhalten, aber zurück ging er nicht mehr,  das brachte er doch nicht fertig. Seine Freunde hatten den Vorgang aus geringer  Entfernung beobachtet.
  „Warum hast Du geschlagen?" fragte Spinne.
  „Meine Sache, verstehste!"
  „Na, Du brauchst doch aber nicht gleich zu hauen," wiederholte Spinne.
  „Ach, halt die Fresse!"
  Franz kniff die Augen zusammen und sah lauernd zu Frieda. In ihm tobte es. Aber  dann sagte er friedfertig: „Geht Dir nischt an, Spinne! Lass die doch machen,  was sie wollen. Mensch, so oder so, is ja doch allet ejal. Wenn die später  verheiratet ist, hat sie es nich so schwer, da is sie schon dran gewöhnt. Die  verfluchten Weiber. Ick hatte mal eene, die wollte wegen mir ins Wasser gehen,  aber rangelassen, hat mir das Aas nich. Heute geht sie aufn Strich. Wenn ick  will, kann ick bei die als Lude gehn."
  „Na, und warum jehste nich?" fragte Spinne neugierig.
  „Alte Nudelpfeife! Denkste denn, ick lasse mir wejen so eine Sau einsperrn? Wer  Geld nimmt, wird verklagt, mein Lieber."
  „Ja, is schlimm, mit die Tippelschicksen, ich möchte keene sinn."
  Spinne wurde nachdenklich. Solche Gespräche kitzelten. „Na, wie is denn det,  brauchen die denn alle een Luden?"
  Franz fuhr wütend hoch. „Brauchen, brauchen! Wat weeß ick. Manch eene braucht  een, manche wieder nich. Wenn alle solche Prügels kommen wie Du, da brauchen sie  keenen, mit Dir wird ja jede fertig. Oder willst Du etwa Lude wern?"
  „Ach wo. Aber muss doch interessant sein der Beruf."
  Gustav gähnte gelangweilt. Am liebsten wäre er zu Frieda gelaufen, hätte sie  zärtlich umgefasst und ihre Haare gestreichelt. Er sagte schleppend:
  „Wenn ,Grüne Woche' is, denn möcht ick Lude sinn. Mensch, würde ick die  Großagrarier hochnehm! Ohne Hemde würde ick die über die Stoppeln jagen. Das  sinn die Richtigen. Und im Dorf wundert man sich, wie die Syphilis reinjekommen  is. Da wäre noch wat zu machen."
  Große, schwere Regentropfen fielen. Der Himmel wurde dunkel, ein heftiger Wind  fegte plötzlich durch die Straßen. „Da, jetzt fängt et och noch an zu  regnen!" „Wat, jehn wa nach Hause. Kinder is det een Mist."
  
  In Othellos Kneipe war wenig Betrieb. Drei alte Männer spielten Skat. Erich  Schmidt saß mit Elly an einem Tisch. Elly sah den Burschen mit dem traurigen  Gesicht neugierig an. Im Hinterzimmer war es dunkel. Othello saß mit  halbgeschlossenen Augen hinter der Theke und träumte.
  „Ach ja", seufzte Elly. Auf ihrem blassen Gesicht waren kleine rote  Flecken. Sie schob die Oberlippe vor, und als Erich zu ihr hinsah, tat sie  wieder gleichgültig und gelangweilt.
  „Was meinst Du?"
  „Nichts, ich dachte nur so."
  Nach einer Weile begann sie wieder. Ganz verändert war sie auf einmal: „Wie alt  bist Du eigentlich, Erich?"
  „Zwanzig. Warum fragst Du?"
  „Du siehst jünger aus. — Gefällts Dir bei uns?"
  „Wie man's nimmt. Ich habe ja noch nicht viel mitgemacht. Ihr habt ein paar  ganz anständige Leute hier." Er beobachtete sie, indes er sich weit über  den Tisch lehnte, dabei die Hände knetend, bis sie schweißig wurden.
  „Es wird Dir schon gefallen. Wenn Du erst theoretisch ein bisschen weiter bist.  Kommst Du mit zur Autofahrt?"
  „Ich kann nicht, hab kein Geld. Karl sagt ja, man wird für mich sammeln unter  den Genossen, aber das möchte ich nicht."
  „Ach, komm doch mit. — Ich werde Dir das Fahrgeld geben."
  „Nicht doch! Nein! Das geht doch nicht."
  „Nu mach schon, komm nimm. — Ich möchte gern, dass Du mitkommst."
  Sie sahen sich lange an. Erich wurde wieder sentimental, beinahe hätte er  geheult. Oder sie gepackt, fest gepackt, und dann die Zähne in ihre schmalen,  strengen Lippen geschlagen.
  Da kam Doktor mit den beiden anderen.
  „Na, Ihr?"
  „Na, Du?"
  „Also, stell Dir vor, Elly, die Zeitung kann noch nicht rauskommen, weil diese  beiden keinen vernünftigen Artikel fertig kriegen", begann Theo.
  Ernst fügte entschuldigend hinzu: „Die Artikel waren ja alle fertig, nicht  wahr, Doktor? Aber der Orgleiter hat sie durchgestrichen. Quatsch, politische  Unmöglichkeit usw. Und nachher fing Doktor mit seiner Basis an." Er trat  hinter Ellys Stuhl und fasste sie unter die Arme.
  „Ist das ein Kerl!" dachte Erich. „Einfach auch so machen, ganz einfach zu  ihr hingehen, drücken und stille sein dabei."
  Elly wurde wieder wütend. Ihr Gesicht verzog sich, und der echte Mundwinkel  hing abweisend nach unten. Dann lächelte sie Erich wieder zu.
  „So, da sind wir ja zusammen. Der Genosse Erich gehört zu unserer  Fünfergruppe!"
  „Das ist fein!" sagte Elly, und Erich wurde rot. Doktor staunte und  blinzelte durch die Brillengläser wie ein Staatsanwalt.
  „Wir sind vollzählig. Los, gehen wir kleben. Solmsstraße, Baruther, Zossener,  Fürbringer, Mittenwalder, Bergmann. Doktor und ich schwingen den Pinsel, vorn  passt Ernst auf, und Elly und Erich hinten. Wartet, ich hol die Plakate und den  Kleister."
  Die Straßen waren wenig belebt. Neugierig blieben die Leute stehen und sahen  sich die frisch gekleisterten Plakate an.
  „Am 1. August wird demonstriert gegen die Kriegsgefahr. Für die Verteidigung  der Sowjetunion, Gegen Arbeitsdienstpflicht.
  Die revolutionären Jungarbeiter."
  Das Kleben ging rasend schnell. Jede Fünfergruppe hatte nur vierzig kleine  Plakatstreifen. Erich trottete stumpf neben Elly her. Er wartete darauf, dass sie  zu sprechen anfinge. Elly sah sich ab und zu um. Sie schien ihn gar nicht mehr  zu bemerken.
  „Warte hier! Wir müssen aufpassen, bis die beiden über die Ecke sind, dann  können wir weitergehen. Wenn ein Grüner kommt, pfeifst Du ,Waldeslust'!"
  Umständlich steckte er sich eine Zigarette an. Es war kühl nach dem Regen. Elly  schob sich dicht an ihn heran und sagte: „Lass mir auch mal einen Zug  machen!" Sie nahm ihm die Zigarette aus der Hand und sog gierig den Rauch  ein. „Dankeschön, Erich, Bist ein guter Kerl. — Komm weiter."
  An der nächsten Ecke standen Ernst und die beiden Kleber.
  „Was ist los?"
  „Der Kleister ist zu dick."
  Ernst nahm den Topf und ging wortlos in einen Hausflur. Dort knöpfte er sich  den Hosenstall auf: „So. Da habt Ihr. Wir werden doch nicht aufhören. Jetzt ist  der Kleister wieder dünn. Habt Ihr noch viel Plakate?"
  „Nee, fünf, oder sechs Stück."
  Das war alles so selbstverständlich, Erich musste lächeln. Dann schämte er sich  wieder vor Elly, doch die tat so, als hätte sie nichts gesehen. Sie hielt ihn  wieder zurück, bis die anderen die nächste Querstraße erreicht hatten.
  „Alles so ruhig heute. Kein Grüner. Sonst haben sie uns immer gleich beim  Wickel."
  Was sollte Erich antworten. Er trottete neben ihr her und dachte verkrampft  nach. Komisch, dieses Mädel, nimmt mir die Zigarette weg, geht kleben wie ein  Junge. Erst macht sie einen mit dem Augenblinkern verrückt, und dann tut sie  wieder so, als sähe sie
  keinen.
  In der Bergmannstraße trafen sie wieder mit den anderen zusammen.
  „So, hat alles geklappt. Ab, nach Hause!"
  Als Erich daheim ankam, schnauzte ihn die Mutter an, wo er so spät herkomme.  Auf dem Tisch flatterte trübselig ein Talglicht. Langsam zog sich Erich aus.
  Im Bett dann dachte er mit gieriger Freude an Elly, hin und wieder auch an die  anderen Genossen, an das neue Leben um ihn...
Die Gruppen ,Kreuzberg' und ,Nostizstraße' hatten je drei Genossen als  Stoßbrigade nach Langendorf geschickt. Es waren alles Arbeitslose. Am  Donnerstag waren sie mit der Bahn losgefahren, um mit den dortigen Genossen  eine Betriebszeitung für die Jutespinnerei anzufertigen, eine  Jugendbelegschaftsversammlung zu organisieren und alle Vorbereitungen für die  Agitation am Sonntag zu treffen. Drei Langendorfer Genossen waren vor kurzem  bei der Abwehr eines faschistischen Überfalls verhaftet und zu hohen  Gefängnisstrafen verurteilt worden, der Leiter der Jugendgruppe hatte als so  genannter Rädelsführer acht Monate bekommen. Die Arbeit der Gruppe wurde  schlechter. Der Mann, um den sich alles geschart hatte, saß im Gefängnis, die  Gruppe war ihres Motors beraubt, man sah in Langendorf vom Kommunistischen  Jugendverband sehr wenig. Die Partei war schwach, zählte in den Betrieben nur  wenige Mitglieder, und obwohl die RGO. in der Jutespinnerei bei den letzten  Betriebsratswahlen die meisten Stimmen erhalten hatte, existierte keine  Betriebszelle.
  Am Sonnabend kam Leben in die Bude, das halbe Nest wartete auf die Berliner,  die Stoßbrigade saß schon seit sechs Uhr abends drei Kilometer vor dem Dorf im  Chausseegraben. Der Gendarm hatte noch nichts bemerkt, er nahm sich mit seinem  struppigen Schnauzbart recht harmlos und gemütlich aus, saß im „Gasthaus zur  Krone" und trank irgendein Schlossbräu. Neben ihm saß sein Schäferhund,  blinzelte ihn ab und zu schläfrig an und leckte sich die Schnauze. Draußen auf  der Treppe lag ein Betrunkener und grölte. Im Arbeiterquartier hingen  vereinzelte rote Fahnen, sie blähten sich, wenn ein leichter Wind blies. Pferde  scharrten in den Ställen, Kühe brüllten, wurden gemolken und legten sich dann  schwerfällig aufs frische Stroh. Ein paar Bauern kamen gemächlich, die Pfeife  schief im Mundwinkel, von der Feldarbeit zurück. Der Frieden des Abends  breitete sich über dem Dorf aus. Blauer Rauch stieg kerzengrade aus den  Schornsteinen hoch, irgendwo quakten Frösche, ein Knecht dengelte die Sense . ,  .
  
  In der Garage am Kaiser-Friedrich-Platz versammelten sich nach und nach die  Genossen. Einige Meter vor dem Eingang stand Karl Langscheidt und gab den  Leuten, die mit Tornistern und gelben Hemden kamen, Zeichen. Von weitem sah er  einen Trupp von mindestens acht Genossen anrücken. Wütend rannte er ihnen  entgegen:
  „Seid Ihr verrückt geworden! Acht Mann hoch, ein Wunder, dass Ihr nicht noch  singt dabei! Los, verteilen!"
  Verdattert sahen sich die Jungens an, wurden rot und gingen mit gesenkten  Köpfen auseinander. Und dabei waren sie vorher so heiter gewesen, hatten sich  schon alles so schön ausgemalt: Kommen wir an, Abteilung halt! Wir begrüßen die  Genossen mit einem kräftigen Rot Front! und dann freuen sich die anderen...   Und nun hieß es: Seid ihr denn verrückt geworden! Na, macht nichts. Hat recht,  der Karl. Wir sind Ochsen gewesen.
  An der Tür stand der Leiter der Gruppe ,Kreuzberg' und schloss sie sofort  wieder hinter den Neuangekommenen. In der Garage wurde leise geflüstert. Die  Fachleute besahen sich den Wagen, klopften daran herum, nickten wie Greise mit  den Köpfen und gaben ihre Erläuterungen:
  „Hm, ein ganz guter Kasten. Wird schon durchhalten. Bloß die Bereifung ist zu  schwach. Müsste Zwillingsreifen haben... "
  „Oder drei Achsen. Mit unserem Mercedes-Benz kommt der aber nicht mit. Mensch,  ist der gefahren! Achtzig Kilometer in der Kurve, wir haben gedacht, uns fliegt  der Kopf ab."
  „Gib doch nich so an, wer gloobt Dir denn det, achtzig Sachen. Det kannste mir  doch nich erzählen. Ick habe doch schon öfter als Du Autofahrten  mitgemacht."
  Der Chauffeur trieb die Jungens auseinander: „Geht da los, Ihr  Fachmänner!" Und dann sagte er zu einem hageren Burschen mit gewaltiger  strohblonder Mähne: „Du setzt Dir auf den Kühler als Teddybär." Die  anderen lachten. „Siehste, Teddybär. Mensch, wat denken Se, der heeßt ja schon  Teddy", prustete ein stämmiger Bursche heraus. „Halt mir mal fest, ick  muss wiehern. — Jut. Dufte. Teddybär... "
  Trude verteilte Bonbons. Die anderen Mädels standen in einer Ecke. Trude  lächelte ein stilles, gewinnendes Lächeln. Der blaue Rock reichte ihr knapp bis  an die Knie, die Haare fielen in breiten Strähnen über ihr Gesicht.
  Dreißig Genossen hatten sich inzwischen eingefunden, verhältnismäßig viel  Mädels unter ihnen. Gruppe ,Kreuzberg' wurde überhaupt von Mädels beherrscht  und war mit acht Genossinnen erschienen, außerdem Elly, Trude und Grete von der  Gruppe ,Nostizstraße'.
  Erich stand etwas abseits und sah in das Halbdunkel der Garage. Er hatte keinen  Tornister und auch nichts zu essen mit. Da kam Elly, drückte ihm fest die Hand  und gab ihm drei Mark:
  „Hier, hol Dir was zu essen für unterwegs, das andere ist Fahrgeld. Und wenn Du  dort Hunger hast, komm zu mir, ich hab genug mit. Meinetwegen kauf Dir auch Zigaretten."
  „Ach, lass doch! Behalt nur Dein Geld!"
  „Geh, Mensch! Wir haben nicht mehr viel Zeit,"
  Erich machte keine Miene zu gehen und stand unentschlossen da. Elly wurde  schließlich wütend, fasste ihn ärgerlich am Arm und zog ihn hinter sich her auf  die Straße. Bei einem Bäcker holte sie zehn Semmeln und vom Schlächter ein  halbes Pfund Hartwurst. Sie legte alles in den Arm des verwirrten Jungen, ließ  ihn stehen und rannte Zigaretten holen.
  „So, hier hast Du noch zehn ,Juno'. Wir bleiben zusammen, denn ich will auch  rauchen,"
  Der Wagen war besetzt, als sie zurückkamen. Theo schnauzte beide an. Es gab  keine Sitzplätze, und die Leute meuterten.
  „Erst erklären sie groß, es gibt Sitzplätze, und nun steht man die ganze  Zeit!" sagte ein kleines Mädchen. Sie hatte Kulleraugen und sah in ihrer  Entrüstung niedlich wie ein beleidigtes Baby aus.
  „Ach, lass doch! Wirst schon nicht umfallen." Karl, der vorn stand und mit  leiser Stimme Instruktionen gab, beruhigte die Kleine: „Setz Dir nachher auf  den Boden, wir werden schon Platz schaffen. Die Bänke sind ja da, aber wenn wir  sie mitnehmen, ist es noch viel enger." Er streichelte ihr langsam übers  Haar, und die Kulleraugen wurden wieder fröhlich.
  Das Verdeck wurde heruntergezogen, nur durch zwei kleine Zelluloidfenster an  beiden Seiten fiel spärliches Licht. Der Wagen fuhr langsam an, leise und  gleichmäßig arbeitete der Motor. Es gab einen Ruck, als der Wagen den  Prellstein streifte. Das Tageslicht drang durch die Plane. An Straßenkreuzungen  wurde manchmal gehalten. Nach und nach wurde das Branden des Verkehrs  schwächer. Ernst erklärte, ohne hinauszusehen, den Genossen, durch welche  Straßen man fuhr. „Passt auf, jetzt gehts über die Brücke in Friedrichsfelde.  Da — eine kleine Steigung,"
  Ungehindert erreichte das Auto die Chaussee. Genau so ungehindert wie jeder  andere Lastwagen, der irgendwelche Stückgüter in der Richtung Frankfurt an der  Oder fuhr.
  Durch einen kleinen Schlitz an der vorderen Holzwand konnte ein Genosse den  Tachometer beobachten, eifrig rief er nach hinten: „Fünfundvierzig — fünfzig —  dreiundfünfzig Kilometer! Meine Herren, der brummt ja ganz schön los!"
  Der Wagen zitterte, immer stickiger wurde die Luft unter dem Verdeck. Theo  drängte sich von der Mitte nach hinten und rollte das Verdeck ein Stück hoch.  Frische Luft drang herein, bisweilen auch eine dicke Wolke beißender  Chausseestaub. Jemand erzählte eine Episode von einer anderen Autofahrt:
  „Da hatten wir Panne, det olle Ding lief einfach nich mehr. Aber trotzdem war  eine gute Stimmung. Schließlich fing es auch noch an zu regnen. Wir ließen zehn  Mann beim Gepäck und Wagen zurück und marschierten los. Als wir an ein Dorf  kamen, sprang ein kleiner Junge aus dem Chausseegraben und rannte rasch vor uns  her ins Kaff. Dabei brüllte er immer: ,Mutta! Mutta! Sperr die Hühner ein, die  Kommunisten kommen'!"
  „Oeh!? Glaubst Du wohl alleine nich. Mensch, erzähl doch keene  Märchen...."
  „Doch, doch, und nachher hat uns der Bürgermeister empfangen, hat  Ehrenjungfrauen aufgestellt, Bier aus der Gemeindekasse bezahlt, und wir haben  gefressen und gesoffen auf Deibel komm raus. Dann hat jeder ne verrostete Mark  bekommen und ne anständige Wurst..."
  „Du spinnst ja schon wieder, Karl."
  Die Kleine mit den Kulleraugen hatte sich hingesetzt. Nach und nach machte es  sich einer nach dem anderen auf dem Wagenboden bequem. Die meisten standen bald  wieder auf, denn die Erschütterungen des Wagens ließen sich im Stehen besser  ertragen.
  „Du, Karl, wie alt bist Du eigentlich?"
  „Wer? Icke? Neunzehn Lenze, mein Lieber", antwortete Karl ahnungslos,
  „Und da kannst Du noch nich mal auf Deine eigenen Füße stehen? Meine Güte, so  ein fettes Vieh, wie Du bist!"
  „Entschuldige! Ich dachte, es wäre ein Brett. So ungefähr steht es sich nämlich  auf Deine Plattfüße."
  „Kinder, los, singen wir doch eins!" schlug Karl vor. Und drei, vier  Jungens, die immer zusammenhielten, sangen mit vollen Stimmen:
  
  „Junge, wenn du willst,
  Junge, wenn du willst,
  spiel auf meine Geige!
  Junge, wenn du willst,
  spiel auf mein Klavier!
  
  Im Rheinland wächst der Sauerkohl, 
  die Welt ist kugelrund, 
  da sah ich mal ein Mägdlein steh'n 
  von hundertachtzig Pfund.
  
  So nehme, was du nehmen kannst,
  du holder Abendstern,
  und hau die Olle mit der Pfanne vorn Kopp,
  das ist der Tag des Herrn!
  
  Freut eu-euch des Lebens! 
  Großmutter wird mit der Sense rasiert, 
  Freut euch des Lebens, 
  ehe das Unglück passiert!
  
  Zwei Schwiegermütter gingen ins Wasser
  au, au, au! 
  Sie wurden nass und immer nasser,
  au, au, au! 
  Die eine, die wer bald ersoffen..."
  
  „Aufhörn! Aufhörn!" protestierten die Mädels und machten einen solchen  Lärm, dass man die drei Sänger nicht mehr hören konnte. Einer packte Trude und  hielt ihr den Mund zu. „Willst Du stille sein!"
  Mit einem lauten Aufschrei zog er die Hand wieder weg. „Das Biest beißt ja, die  Kröte!"
  „Siehste, vergreif Dir nich an andrer Leute Kinder!"
  Weiter ging die Fahrt. Rascher, immer rascher. Von hinten drangen dicke  Staubwolken in den Wagen, bedeckten die Gesichter mit einer grauen  Puderschicht. Das Auto musste halten, ein Zug fuhr gemächlich über die  Chaussee. Karl sprang als erster vom Wagen und brüllte: „Absteigen!  Pinkelpause!"
  Die Jungens blieben gleich am Wagen stehen. „Meine Herren, det wurde ooch Zeit.  Junge, hat mir die Blase jedrückt!" Die Mädels schlichen sich abseits in  ein kleines Gehölz.
  Nachdem der Zug vorübergekeucht war, ging es weiter.
  Die Kleine stand wieder auf, sie wurde im Sitzen doch zu sehr durchgeschüttelt.  Teddy, der hinter ihr stand, zog sie kameradschaftlich an sich: „Weine nich, Du  armes Kind, komm an meinen Busen!" Sie legte ihren Kopf an seine Brust. So  war die Fahrt auszuhalten.
  Die Räder schleuderten kleine Kieselsteine an die Schutzbleche. Die  Chausseebäume rasten vorüber, von vorn schrie einer: „Kinder, sechzig Sachen  die Stunde!"
  „Sag ma dem Chauffeur, Trude is schwindlig jeworden, sie will lieber mit ein  Roller fahren."
  „Ach Du! Wejen mir kanns noch schneller jehn", erwiderte Trude behäbig,  sie bekam den Mund beim Sprechen nicht mehr auseinander. Den ganzen Tag hatte  sie an der Schreibmaschine gesessen und war jetzt schrecklich müde. Aber die  andern waren noch lustig, unterhielten sich leise, rauchten oder machten Witze
  „... Sagt der Olle: ,nu hau doch zu, Peter' — Peter lief langsam um sie herum,  wie ein kleiner Köter, und sagte: ,wer mich schwer hüten, kost mich ja sechzig  Taler!'...."
  „Fangt Ihr schon wieder mit die ollen Schweinereien an?"
  „Sind doch keine Schweinereien, Mädel. Das hat sich wirklich zugetragen, ich  hab doch die Lampe gehalten."
  Erich stand neben Elly. Ihr Kopf reichte gerade ein kleines Stück über seine  Schulter. Er spürte ihren Körper durch die Windjacke und merkte, dass sie sich  ganz ungeniert an ihn anlehnte. Sie rauchten beide.
  „Ist gut, so eine Zigarette, nich Erich?"
  „Ja. — Aber warum Du rauchst, verstehe ich nicht. Hast Da denn etwas  davon?"
  „Hm. Warum soll ich nicht rauchen? Ich habe wahrscheinlich den gleichen Genuss  wie Du."
  Darauf wusste er nichts zu antworten. Bei jedem Zug, den sie an der Zigarette  machte, glomm ein roter Schein über ihr Gesicht. Die scharfen Konturen traten  dann deutlich hervor, und sie erschien schöner als sonst. Umständlich  zerdrückte sie den Stummel.
  „Frierst Du nicht', nur in dem Hemd, Erich?"
  „Doch, aber nicht sehr."
  Sie zog ihre Windjacke aus. „So. Damit decken wir uns beide die Schultern  zu." Mollig war es unter der Windjacke, Er merkte, wie sie ihren Arm um  ihn legte, und kam sich vor wie ein unbeholfener Junge. Ihm war sonderbar  zumute. Eine Freude stieg in ihm hoch, die er bis dahin nie gekannt hatte.  „Bist ein guter Kerl, Erich."
  Hin und her, hin und her schaukelten die Körper. Erich musste an eine Szene im  (Panzerkreuzer Potemkin' denken: wie der Offizier die Schaukelbewegungen der  hängenden Tischplatten im Speiseraum nachahmte... 
  „Wie lange werden wir noch fahren?"
  „Vielleicht eine halbe Stunde", antwortete Ernst.
  Die Stimmung wurde immer schläfriger.
  Einer kroch schimpfend auf den Knien herum und suchte seinen Brotbeutel. „Wenn  ich doch bloß wüsste, wo mein Brotbeutel ist. — Mensch, wer hat ihn? Dem reiße  ich die Gedärme aus dem Leib . . ." Der strohblonde Teddy drehte sich halb  um, hinter ihm hing an der Verdeckstange ein Brotbeutel.
  „... Mein Brotbeutel mein Brotbeutel! Und da sind zwei Eier drin! Ungekocht.  Wenn i . doch bloß wüsste..."
  „Ach, hör auf! Hier hängt er ja."
  Ernst erzählte in einem fort, Glaubhaftes und Unwahrscheinliches, „. . . Ach  so, Genossen, ich wollte Euch ja noch etwas erzählen. Da, wo wir jetzt  hinfahren, ist in der Nähe ein großer versumpfter See. Rundherum leben in  großem Elend kleine Fischer. Ein alter Mann fuhr abends allein raus, Aalschnüre  legen. Dabei ist er ertrunken. Seine beiden Söhne fischten nach ihm drei Tage  und fanden ihn am vierten. Aber Herrgott, wie sah der Alte aus: überall an ihm  hatten' sich dicke Aale fettgefressen. So dick wie mein Arm. Da sagte der eine  Sohn zu dem andern: ,Du, den Alten schmeißen wir wieder rein. Das wird ein  gutes Geschäft.' Der andere war einverstanden, und sie banden dem Alten eine  Leine um den Bauch. Jeden Abend zogen sie ihn ans Ufer und hatten immer zwanzig  Pfund Aale... "
  „Lüge doch nicht!" rief kreischend die kleine Grete.
  „Doch! Ist wahr. Die Genossen aus Langendorf haben es mir selbst erzählt, Du  kannst ja dort fragen. Fechter hieß der Fischer."
  „Aeh, brrr. Da freß ich keene Aale mehr."
  „Das ganze Essen versaut der einem."
  Nach dreistündiger Fahrt hielt der Wagen plötzlich mitten auf der Chaussee. Vor  dem Kühler standen sechs verwegen aussehende dunkle Burschen.
  „Haut doch die Bande auf den Kopp! Los, weiterfahren!"
  „Ruhe, Ruhe! Hab nich so eine große Fresse, Männe. Los, absteigen, wollt Ihr  noch weiterfahren?"
  „Ach, Ihr wolltet uns wohl einen Schreck einjagen. Ihr Schleimscheißer? Euch  hätten wir... "
  „Alles absteigen!"
  Verschlafen räkelten sich die Genossen vor dem Wagen, gähnten und bewegten  komisch Arme und Oberkörper.
  
  Im Arbeitersportlokal brannte noch Licht, Leute standen vor der Tür, etwa  fünfzig Mann warteten im Gastzimmer. Von den Berlinern brüllte einer: „Wir  begrüßen die Langendorfer mit einem dreifachen, kräftigen..."
  Eine harte Pfand legte sich auf seinen Mund, und jemand sagte: „Nicht doch,  nicht doch, Mensch!"
  „Mein Gott, beklecker Dir man nicht!"
  „Schläft doch schon alles. Warum seid Ihr denn nicht früher gekommen?"
  „Ja, unser Flugzeug war im letzten Moment kaputtgegangen, da mussten wir mit  unserem Wagen fahren, hat aber durchgehalten, das gute Vieh."
  Jeder Langendorfer wollte Einquartierung haben. Ein braungebrannter  riesengroßer Jugendgenosse saß an einem Tisch und verteilte die Berliner.
  „Mir ein Mädel und zwei Jungens!"
  „Mir einen Musiker!"
  „Was wollen Sie denn, Mutter Schulze, das Ist doch nicht der RFB. Musik ist  nicht mit."
  „Ach, schade!"
  „Mir einen Genossen!"
  „Mir auch einen!"
  „Und mir auch!"
  „Schluss, ist keiner mehr da. Also hört mal her, Berliner! Morgen früh um neun  treffen wir uns hier zur Agitation."
  „Wat, steht Ihr denn in det Kaff so früh uff?"
  „Halt doch mal Dein Maul!" Und Karl fügte hinzu: „Die Funktionäre treffen  sich gemeinsam mit den Langendorfern um acht Uhr hier zu einer Vorbesprechung.  Den Genossen empfehle ich, recht früh aufzustehen, in der Nähe ist ein  wunderbarer See zum Baden."
  „Da, wo die Leiche rum schwimmt?"
  Viele Menschen mussten ohne Einquartierung umkehren, sie waren ärgerlich  darüber. Eine verhutzelte, freundliche Frau schimpfte: „Und ich habe einen  Eimer voll Kartoffelsalat gemacht. Und jetzt habe ich bloß einen."
  Erich kam zu Mutter Schulze. Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn wie einen  Schuljungen, der vom Lande in die Großstadt zu Besuch gekommen ist. Vor einem  kleinen Häuschen machte sie halt.
  „So, da wohne ich. Mein Mann ist Nachtwächter, der kommt noch. Das hier sind  alles Gemeindehäuser."
  Im zweiten Stock schloss sie eine Tür auf. „Komisch, die Luft hier",  dachte Erich, „gar nicht wie auf dem Lande." Man kam gleich in die Küche.  In einer Ecke stand ein altertümlicher Herd aus rohen Backsteinen. Ein schwarzer  Kater kam schnurrend geschlichen und fuhr schmeichelnd mit dem Kopf über Erichs  Waden. Von der Decke war stellenweise der Kalk abgeplatzt, durch die Wände  drang schimmelnde Feuchtigkeit. Die elektrische Birne brannte düster wie in  einem Berliner Pissoir.
  „Hast Hunger, Junge?"
  „Nee, ich hab gegessen."
  „Nu, nu, Du wirst doch noch was vertragen! Einen Kaffee und ein paar  Wurststullen... "
  Sie stellte alles vor ihm auf den Tisch. Langsam begann er zu essen. Die Wurst  war gut.
  „Ist selbst geschlachtet. Von meinem Bruder. Mein Mann hat sie heute  geholt"
  Erich wurde heiß, seine Kehle brannte, und er hörte einen Moment auf mit Kauen.  Die Alte schaute ihn unentwegt an.
  „Kennst Du den Otto Mirke aus der sechsten Abteilung?"
  „Nee, Berlin ist ja- so groß, Frau Schulze."
  „Ach, das war ein feiner Junge, der schreibt mir noch immer. Wenn Du ihn mal  siehst, grüß ihn von mir. Er war Trompeter und konnte gut blasen. Was waren das  für Kerls damals... "
  Schwere Schritte tappten von unten herauf, ein vermummtet Mann trat ein.
  „Da seid Ihr ja. Ich habe Euch gar nicht kommen hören. Hast Du Deine Trompete  hier?"
  „Nicht doch, Vater, die haben doch keine — Du musst nämlich wissen, Junge, mein  Mann war Trompeter bei den Preußen."
  Der Alte war erst ein bisschen enttäuscht, doch dann taute er auf. Sein  ruhiger, fast harter Blick prüfte Erich. „Was macht Ihr denn in Berlin? Geht’s  noch nicht bald los? Sind die Sozialdemokraten noch immer so stark? Und wie ist  denn das mit den Kirchen, stürmen die Kommunisten immer noch rein? Das ist es eben,  damit bin ich nicht einverstanden..."
  „Was? Kirchen stürmen? Davon weiß ich nichts, und es stimmt auch nicht. Es wird  wohl eifrig Propaganda gemacht gegen die Kirche, aber Stürmen — nee, das stimmt  nicht. Wo haben sie denn das her?"
  „Jo, det les ick in unsern ,Volksfreund'. Unser Sonntagsblatt. Da steht det all  drin. — Also stimmt wohl nich, wat, Junge?"
  „Nee, stimmt nich. Es ist doch klar, dass man die Landbevölkerung falsch  unterrichtet, um kein Bündnis zwischen Stadt- und Landarbeitern Zustandekommen  zu lassen."
  „Das kommt zustande, Genosse. Du siehst doch, wir machen den Anfang. Wenn wir  ooch noch nich so weit sind, wie Ihr. Aber es kommt zustande! Na, gute Nacht!  Du wirst müde sein, und ich muss jetzt gehen."
  Herrlich hatte Erich geschlafen in dem alten, molligen Bauernbett. Er streckte  sich wohlig, dass die Glieder knackten, eine originelle Kuckucksuhr an der Wand  schlug acht Uhr. Er sprang aus dem Bett und zog sich rasch an, Frau Schulze kam  von unten mit einem Eimer Wasser heraufgekeucht. Gemeinsam tranken sie Kaffee.  Erich musste unbedingt ein paar Stullen für unterwegs mitnehmen.
  „Um zwölf Uhr essen wir. Dann wirst Du meinen Mann wieder sehen."
  „Was, Mittagessen? Na ja, ja. Ich werde hier sein."
  
  Die Funktionäre und zwei Mann von der Stoßbrigade saßen im Hinterzimmer des  Arbeiterlokals. Der große, braune Langendorfer Kerl leitete die Sitzung. Er  sprach unsicher, weil er sich einbildete, die Berliner könnten alle besser  sprechen. Er gab einen kurzen Überblick über die Arbeit im Ort, alle hörten aufmerksam  zu. Trude, die Kassiererin der Gruppe ,Nostizstraße' kritisierte stark die  schlechte Betriebsarbeit.
  „Ja, na ja, Genossin, Du hast schon recht. Aber wir haben keine Mittel. Man  muss doch außer all den Broschüren lokales Material haben. Ein Genosse von Euch  ist mit dem Rad nach Frankfurt gefahren und hat dort die Betriebszeitung  abgezogen. Gestern morgen wurde sie verteilt. Es ist die erste in der  Jutespinnerei, und sie hat eingeschlagen wie eine Bombe, in der Frühstückspause  hat alles über die ,Rote Knute' diskutiert. Wir müssen die Zeitung auf alle  Fälle weiter herausbringen. Aber wie?"
  „Schön, dann mache ich den Vorschlag", sagte Trude, „dass der Überschuss  der Broschüren und Zeitungen, die wir bei der Agitation nachher verkaufen, der  Ortsgruppe zur Verfügung gestellt wird. Sie kann sich dann einen Apparat kaufen  und die Zeitung herausgeben."
  „Eine alte Schreibmaschine haben wir hier."
  „Na, seht ihr!"
  Etliche Berliner Leute protestierten, aber nur versteckt. Sie murmelten,  trauten sich aber nicht, offen zu widersprechen. Trude schlug so energisch auf  den Tisch und bestand so nachdrücklich auf ihre Forderung, dass sie damit jeden  Widerstand brach. Die Langendorfer freuten sich, und Trude hatte sofort ihre  Sympathien gewonnen.
  Der Braune fuhr fort, schon etwas sicherer geworden: „Wir stellen fest, dass  Eure Stoßbrigade gut gearbeitet hat. Alle unsere Genossen sind begeistert, wir  haben Irischen Mut bekommen und nehmen an, dass später die Arbeit noch besser  vorwärts geht. Wir versprechen Euch, jetzt wirklich zu arbeiten. Die  Demonstration ist vorbereitet durch Handzettel, kleine Plakatstreifen, und auch  die ,Volkswacht' hat dazu aufgerufen. Zu unserer Unterstützung kommen heute  mittag fünfzig Küstriner Genossen. Es ist notwendig, dass nachher beim Materialverkaufen  nochmals darauf aufmerksam gemacht wird: Heute nachmittag zwei Uhr auf dem  Marktplatz! Da wir mit Überfällen auf Gruppen von Lileraturverkäufern rechnen,  schlage ich vor, fünf Mann im Lokal zu lassen. Für den Fall der Fälle."
  „Schön, habt Ihr einen Referenten bestellt?" „Ja, natürlich. Ist alles  gemacht, Genosse Karl." Hinten am Ofen saß ein kleiner Langendorfer  Genosse mit Stupsnase in einem echten Bauerngesicht. Er trat an den Tisch heran  und begann umständlich, aber mit wohlklingender Stimme zu sprechen: „Hört mal  her, Berliner! Ihr quatscht immer so viel vom Bündnis zwischen Stadt und Land.  Schön. Ihr verlangt auch von uns, dass wir diese und jene Arbeit durchführen.  Auch schön. Das tun wir ja auch. Deshalb sind wir ja Kommunisten. Aber es genügt  nicht, wenn ihr alle Jubeljahre mal hier rauskommt. Ihr könnt Euch gar keinen  Begriff machen, welche Schwierigkeiten, wir hier haben. Hier ist eine verflucht  schwarze Ecke. Wenn die Leute auch nicht mehr so wie früher in die Kirche  rennen, aber der Pfaffe ist ihnen alles. Dann die Gutsbesitzer. Sie üben den  schlimmsten Terror aus. Außerdem ist unsere Position in der Jutespinnerei sehr  schlecht und unsere Ortsgruppe schwach. Der Genosse Hans sitzt jetzt, das wisst  Ihr ja, und seitdem er weg ist, gebt bei uns alles schief. Wir werden  natürlich, wenn Ihr wieder Tort seid, mit verstärkten Kräften an die Arbeit  gehen. Das ist klar. Aber zum Donnerwetter, macht uns doch mal Vorschläge! Ihr  habt doch mehr Erfahrung als wir."
  Die Berliner nickten Zustimmung. Karl zerpolkte langsam einen Bieruntersatz zu  kleinen Fetzen, Theo überlegte. Er wollte gerade zu sprechen anfangen, da kam  Trude ihm zuvor. Jeder beobachtete sie gespannt. Ihre etwas dicken Finger  schlugen auf den Tisch den Takt zu ihren Worten:
  „Ja, Genossen, ich habe mir folgendes überlegt: wenn wir von hier zwei bis drei  Leute mit nach Berlin nehmen, ungefähr für vier Wochen, und zwei bis drei  Berliner vier Wochen hier lassen könnten, das wäre eine feine Sache. Unsere  Genossen könnten ihre Erfahrungen hier im Dorf sehr gut praktisch verwerten,  und sie kommen als Landspezialisten zurück. Die Langendorfer machen bei uns  eine gute Schule durch, wir werden sie natürlich nach Möglichkeit ausbilden und  mitnehmen zu unseren Wochenendschulen. Ich glaube, das lässt sich bei guter  Organisation sehr leicht durchführen. In Frage kommen natürlich nur arbeitslose  Genossen. Stempeln, Geldholen, wenn sie noch etwas bekommen, ist kein Problem.  Das können andere machen während dieser Zeit. Und Schlafgelegenheiten müssen eben  geschaffen werden!"
  Eine Weile war es still. „Die Trude ist doch ein Kerl" dachten die  meisten. Stühle wurden gerückt, und der kleine Bauer steckte sich eine mächtige  Tabakspfeife an. Er schmunzelte, machte ein paar Züge und platzte dann los;
  „Siehst Du, das wär was. Ja, das wär was."
  Der Braune meinte so leichthin: „Ich werde Euch was sagen: bei uns gibt’s keine  Schwierigkeiten! Da will unsere ganze Ortsgruppe nach Berlin. Und drei Berliner  verpflegen wir, und Schlafgelegenheit ist auch vorhanden."
  Jetzt wurde es unruhig im Raum. Karl ging raus und kam mit einer Flasche Seiter  zurück. Trude sah eindringlich von einem zum andern.
  „Ja, ja, ist sehr nett. Wenn das so ginge... "
  „Warum soll’s denn nicht gehen?"
  „Ich meine nur so... "
  Karl zuckte ein paar mal die Achseln. Er goss sein Glas voll und trank Schluck  für Schluck. Er machte den Eindruck, als hätte er schwere Bedenken. „Ist gut,  der Vorschlag", sagte er dann, „wirklich sehr gut. Ein Auswechseln der  Kräfte. Sehr gut. Aber es ist auf alle Fälle ein Experiment. Wir haben da keine  Erfahrung drin."
  Da polterte Theo los: „Unsinn. Quatsch! Was heißt denn Erfahrung? So müssten  wir immer reden bei der Schaffung neuer Arbeitsmethoden Hier liegt doch alles  klar auf der Hand. Trude hat uns da einen guten Vorschlag gemacht und  gleichzeitig gezeigt, wie man ihn durchführen kann. Ich weiß genau, dass wir  mindestens drei Genossen haben, die dafür in Frage kommen. Die Langendorfer  werden wir schon unterbringen, das sind wirklich keine Schwierigkeiten. Jeder  Genosse muss damit unbedingt einverstanden sein."
  „Sind wir ja auch alle."
  „Natürlich. Da kann doch keiner was dagegen haben."
  „Und Du, Karl?"
  „Was denn? Ich bin natürlich prinzipiell damit einverstanden,
  weiß aber nicht, ob es prinzipiell richtig ist... " „Was redest Du heute  nur für einen Unsinn?" „Ja, man merkt, es ist schon wieder sehr  warm." An den Fenstern zeigten sich Gesichter. Erst vereinzelt, dann
  immer mehr. Schließlich wurde an die Scheiben getrommelt und
  gebrüllt:
  „Los, der Stab soll rauskommen!"
  „Wir verlangen auch von Euch Pünktlichkeit!"
  „Na los, gehn wir."
  Der Kleine, der aussah wie ein Bauer, tanzte um Trude herum, schlug sie  klatschend auf den Hintern und lachte dabei.
  „Dufte, Mädel. Du hast von mir direkt einen Kuss verdient. Ich komm mit, ich  komm mit nach Berlin... "
  „Na komm, gib mir einen!"
  Jetzt traute sich der Kleine auf einmal nicht... 
  Rasch wurde draußen das Werbematerial verteilt. Immer in Gruppen zu vier Mann  ging es los. Zu jeder Gruppe gehörte ein Langendorfer als Führer. Standen auf  beiden Seiten der Straße Häuser, teilten sich die Gruppen wieder. Erich lief  mit Theo. Sie hatten vorwiegend kleine Bauernhöfe zu bearbeiten.
  „Guten Tag. Hier ist eine Broschüre, die Sie sicher interessieren wird: ,Das  Bauernhilfsprogramm der KPD.' "
  „Unser Herr ist nicht zu Hause. Ich kann nicht."
  „Nu, dann kaufen Sie doch!"
  „Och, lesen? Nee! Haben Sie nicht etwas, wo Bilder drin sind", sagte die  große, starke Dienstmagd.
  „Ja, natürlich. Hier haben Sie die ,AIZ.' Und kommen Sie heute um zwei Uhr auf  den Marktplatz!"
  „Was ist denn da los?"
  „Versammlung und Demonstration."
  „Tanz is woll nich?"
  „Nee", sagte Theo lachend, „dazu sind wir nicht hergekommen, hübsches  Fräulein."
  Sie stießen überall auf Misstrauen. Ein alter Bauer schrie sie an:
  „Raus hier! Raus hier! Ihr habt uns genug verraten mit Euren Notverordnungen,  ihr Sozis!"
  „Die sind wir doch gar nicht. Wir sind Kommunisten."
  „Das ist doch alles dasselbe, die machen doch alles zusammen mit den  Sozialdemokraten."
  „Ach wo!"
  Theo debattierte mindestens eine Viertelstunde mit dem Bauern, schließlich  kaufte er eine Broschüre und versprach zum Marktplatz zu kommen.
  In einem kleinen Häuschen kamen sie gleich vom Vorgarten in die Küche. Eine  Frau rührte geschäftig im Kochtopf herum und rief: „Karl, komm doch mal her,  die Kommunisten sind da." Karl kam in Filzpantoffeln, er lächelte und  kaufte gleich eine Broschüre und ein Exemplar der „Jungen Garde".
  Nach ungefähr zwei Stunden hatten die beiden alles verkauft bis auf eine  Zeitung. Die bezahlte Theo aus seiner eigenen Tasche und schenkte sie einem  jungen Melker.
  Die Genossen waren schon alle zurück. Trude saß im Garten an einem Tisch und  nahm das Geld in Empfang, neugierig standen die anderen um sie herum. Nach  einer Weile sprang sie auf:
  „Wir haben alles verkauft. Es ist viel zu wenig mitgenommen worden. 215  Broschüren, 50 ,AIZ' und 175 ,Junge Garden'. Die Stoßbrigade hat auch gut  verkauft: 180 Broschüren, 30 ,AIZ' und 85 ,Junge Garden."
  Die Genossen zerstreuten sich allmählich, froh über diesen schönen Erfolg
  Trude rechnete weiter: „Wir haben einen Überschuss von 21 Mark. Also können wir  der Ortsgruppe 20 Mark geben. Die eine Mark behalten wir für unsere  Kasse."
  „Schön!" sagten Theo und Karl gleichzeitig, dann schoben die drei  untergefasst los.
  Um ein Uhr trafen sich die Genossen zur Demonstration. In aller Eile waren  große rote Transparente gemalt worden, für die Spitze des Zuges die Losung der  russischen Bolschewiken: ,Alles Land den kleinen Bauern! Aufteilung der großen  Güter, Kampfbündnis zwischen Stadt und Land!', für das Ende: ,Der Kommunismus  will nicht den Reichtum abschaffen, sondern die Armut.'
  Die Küstriner kamen mit Gesang anmarschiert, der Zug begann sich zu formieren.  Eine riesige rote Fahne flatterte hoch über den Demonstranten, schloss sie zur  Einheit zusammen.
  
  „Links, links, links und links, 
  Die Trommeln werden gerührt. 
  Links, links, links und links. 
  Der rote Kreuzberg marschiert!"
  
  Kurz hinter der Spitze des Zuges marschierte Erich. Er drückte Karls Arm.
  „Du, das ist ein komisches Gefühl, das Marschieren."
  „Ja, Erich, ein herrliches Gefühl."
  Der Zug zog durch das ganze Dorf. Aus den Fenstern der Arbeiterwohnungen  grüßten kernige Fäuste und Kinderhändchen. Immer mehr Menschen schlossen sich  den Demonstrierenden an. Von vorn kam der braune Genosse gerannt und meinte:  „Das hat Langendorf noch nicht gesehen!"
  Hin und wieder im Chor ein Ruf:
  „Nieder mit der Regierung Brüning!"
  „Bauern aufgepasst! Junge Kommunisten sagen: Nur der Sozialismus kann Euch  retten!"
  Immer weiter. Die Sonne brannte, Staub wirbelte auf. Immer weiter: „Links,  links, links und links...."
  Plötzlich kam der Gendarm angerannt. Er stellte sich mit ausgebreiteten Armen  vor den Zug und schrie mit heiserer Stimme: „Halt! Halt! Die Demonstration ist  nicht angemeldet! Halt! Halt!"
  Jemand packte ihn unter den Armen und stellte ihn beiseite.
  Weiter wogte der Zug. Der Gendarm staunte viel trauriger als sonst hing sein  Bart nach unten. Sein Hund wedelte mit dem Schwanz, bellte und lief in eiligen  Sprüngen neben dem Zug her Die Berliner und die Küstriner sangen abwechselnd.
  
  „Wir sind die erste Reihe, 
  Wir gehen drauf und dran! 
  Wir sind die junge Garde, 
  Wir greifen, greifen an!"
  
  Am Marktplatz machten die Demonstranten Halt. Viele Leute standen da, neugierig  und unschlüssig. Zögernd kamen sie näher, scharten sich um den schnell  aufgebauten Rednertisch. Aufgeregt kam der Braune gerannt: „Mensch, ich finde  den Referenten doch nicht!"
  „Der wird noch jarnich da sein!"
  „Helft doch suchen!"
  „Wir wissen ja nicht, wie er überhaupt aussieht."
  „Ist es nicht der da mit dem Hut?"
  „Wer? Der Pausbäckige da? — Das ist doch der Inspektor von dem Gut."
  Unschlüssig standen sie eine Weile da. Die Leute brachten in großen Eimern  Trinkwasser.
  „Karl, Du musst sprechen!"
  „Ich, Theo? Ich kann nicht, ich bin heiser..."
  „Ach Gott, Du Schlappschwanz! Schön, dann gehe ich..."
  Theo sprang auf den Tisch. Er begrüßte die Massen:
  „Wir Jungkommunisten aus der Stadt begrüßen die Arbeiter, Bauern und  Landarbeiter mit einem kräftigen Rot Front!"
  Dreimal schallte der Kampfruf über den Platz. Dann sprach Theo weiter, erst  stockend, dann immer lebhafter, seine Stimme wurde klarer. Er sprach über das  Bauernhilfsprogramm der KPD., über Russland und den Sozialismus. Oft wurde er  von erregten Zurufen unterbrochen. „Jawohl, schlagt endlich zu, wir machen  mit!"
  Auch der Gendarm hatte sich wieder eingefunden und kreiste in großem Bogen um  die Menge.
  Nach Theos Rede sprach der Braune in seiner harten, bäuerischen Sprache:
  „...Jawohl, gerade bei uns in Langendorf kommt alle Wochen der  Gerichtsvollzieher und holt manchem die letzte Kuh aus dem Stall. Die  Sozialdemokraten haben Euch verraten. Ihr habt Hitler gewählt, Hitler hat Euch  die Revolution versprochen, Hitler denkt heute nicht mehr daran. Hitler braucht  keine Revolution zu machen, um den Faschismus einzuführen, denn was heute ist,  das ist der brutale Faschismus. Schluss damit! Es gibt nur eins: Kampf, Kampf  und nochmals Kampf! Der Kleinbauer gemeinsam mit dem Industriearbeiter, dem  Erwerbslosen. Kein Kampf, kein Widerstand, das bedeutete noch mehr Elend, hieße  Untergang in Barbarei!"
  „Bravo, bravo!"
  Lange noch, nachdem die ,Internationale' verklungen war, standen die Genossen  in kleinen Gruppen mit der Bevölkerung zusammen und debattierten. Drei junge  Landarbeiter füllten Aufnahmescheine für den Jugendverband aus.
  „Die wollten schön lange kommen. Heute endlich kamen sie; War gut der  Aufmarsch, sehr gut."
  Als die Berliner abfuhren, war der Wagen von vielen Menschen umringt. Frau  Schulze brachte Erich noch ein paar Stullen und einen großer. Strauß roter Nelken.  „Und seh zu, dass Du den Otto Mirke triffst." ..
  „Kommt bald wieder, Berliner!"
  „Ja, aber feste. Hauptsache: Ihr lasst nicht nach, bei uns ist alles in  Butter."
  Drei Genossen aus Langendorf fuhren mit, der kleine Bauer mit der großen  Tabakspfeife und noch zwei starke Burschen mit gebräunten Gesichtern.
  Leise surrte der Motor, endlich sprang der Wagen an. Der Gendarm atmete auf und  lief zum Telefon...
  
  „Rot Front Genossen!" — „Rot Front! Rot Front!" Auf der Fahrt wurde  wenig gesprochen. Der Bauer machte mit seinem Tabaksqualm die Bude blau und  wurde ganz nach hinten geschoben. Erich hatte die Nelken hochgehangen. „War  aber schon ziemlich alt, Deine Braut."
  „Ja, aber wie sollte sie anders ihre Freude ausdrucken..."
  Kurz hinter Kaulsdorf stand ein Radfahrer quer auf der Chaussee. Mit einem Ruck  hielt der Wagen.
  „Was ist denn los?"
  „Seid Ihr KJ.?"
  „Ja, warum denn?"
  „An der Friedrichsfelder Brücke steht ein Überfall, die wollen Euch  abfangen."
  „So, dann fahren wir eben links über Karlshorst. Danke schön!"
  „Rot Front, Genossen!" Der Radfahrer verschwand wieder.
  Leise und vorsichtig schlichen um elf Uhr abends die dunklen Gestalten aus der  Garage heraus. Die Straßen waren wenig belebt.
  Erich lief mit Elly gemeinsam nach Hause. Vor ihrer Haustür blieben sie stehen,  fest und warm sahen sie sich an. Er nahm ihre Hand. „Du, Du — Elly, ich muss  Dir was sagen." — „Quatsch, ich weiß schon. Komm mit rauf, ich habe ein  eigenes Zimmer." Erich liebte das Leben wieder.
Es war wieder ein sehr warmer, drückender Abend. Über der Stadt  Gewitterstimmung. Die Nostizstraße lag lauernd da, wartete auf Regen und ihre  Häuser verschmolzen mit dem Himmel zu einem einzigen, grau-trüben Ton. Im  schwermütigen Licht der hereinbrechenden Nacht brach sich hoffnungslos der  Schein trüber Gasfunzeln. Es gab keine Laternenanzünder mehr. Die meisten von  ihnen moderten wohl schon auf den Friedhöfen, und nachts leuchteten  Glühwürmchen auf ihren armseligen Grabhügeln. Mit einem kleinen, ganz stillen —  Peng — entzündeten sich die Laternen automatisch. Man musste dicht daran  stehen, um es zu hören.
  Vor vier Tagen war der kleine Karl Danna gestorben. Er sah ganz weiß aus und  seine Mutter hatte sich über ihn geworfen. „KALLI, Karlchen! Bleib doch hier ...  Geh doch nicht in den Himmel! Bleib bei Muttern... . Du bist jetzt ein  Engel... "
  Und dann hatte sie gebrüllt. Ihre Augen klammerten sich an den toten Körper des  kleinen Karl und sahen nicht die langsam hereinschleichenden Frauen. Die kamen  ganz leise die vier Treppenstufen zur Kellerwohnung herab, brachten einen  warmen Geruch mit, den der Moder auseinandertrieb, wie eine Seifenblase. Alle  pressten den Mund zusammen und dachten nach. Einige legten die Hand unters  Kinn, als ob sich da ein Spitzbart befände. Manche waren auch neugierig, wie  sieht ein in der Kellerwohnung verrecktes Proletenkind aus? Natürlich, wie ein  Engel. Aber darum stritten sie nicht sehr laut. Eine schwangere Frau,  verkümmert und mit toten Augen, drückte ihm eine rote Rose in die Hand, früher  hatte diese kleine, durchsichtige Hand mit Murmeln zwischen Müllkästen  gespielt. Karl Danna starb. — Aber es gab ja noch mehr kleine Kinder. Noch  viel, viel mehr spielen auf den düsteren Höfen der Nostizstraße. Die Frau trug  ein Kind im Leib. Noch viel mehr Frauen der Nostizstraße tragen Kinder im Leib.  Und alle sterben nicht so früh. Sie kommen zur Schule, werden zum ,Ja' sagen  erzogen. Manche bekommen dann Arbeit, manche nicht Und dann stehen sie vor den  Haustüren und warten. Sie warten immer auf irgend etwas. Und ihre Sehnsüchte  zerfressen die Seele, stiften Verwirrung und schwächen den zermürbten  Organismus. Es kommen immer mehr und mit ihnen kommen neue Winde.
  Vom Tod des kleinen Karl sprach man in vielen Häusern. Die Stimmen senkten  sich, waren ängstlich und traurig. Die Frau mit dem Wuschelkopf lief mit dummem  Gesicht in der Küche umher. Ihre Nachbarin war bei ihr.
  „...Ich kann das immer noch nicht begreifen. Die Mutter eine so starke Frau.  Wischt die Treppe, scheuert und macht...  Und dann ist sie noch vom Lande. Hat  immer kräftig gearbeitet. Hat Muskeln die Frau... "
  „...Ja, sie ist stark. Hat viel gearbeitet. Aber eben deshalb. Als sie mit dem  Karl ging, zwei Tage vorher, hat sie Schnee gefegt. Da ist sie umgefallen  morgens um fünf... "
  Frau Mädicke strich sich die fettigen Finger an ihrem Busen ab und tanzte vor  ihrem Mann hysterisch auf und ab. Der Mann war ja so schwach, er dachte nie.  Alles musste so sein, bloß seine Frau konnte er nicht begreifen. Und dabei war  das alles so einfach. Bloß im Bett war er der Schwächere, schlief immer gleich  ein. Und das zahlte sie ihm zurück mit böser Zunge.
  „Ist ja kein Wunder. Kein Mensch passt auf das Kind auf. Den ganzen Tag  alleine. Den ganzen Tag... '
  „Ach, hör auf. Ich will nicht hören, was in der Straße vorgeht. Meinetwegen  können sie alle krepieren... "
  „Soo! — Und wer hat mir denn hergebracht in die Straße, hä? Du bist's doch  gewesen, hast Männchen gemacht, eine Blume im Knopfloch gehabt. Ja. Und denn;  kommen Sie man, Fräulein. Himmel, was hat der Mensch einem alles  vorgeschwindelt. Und nu haust man hier in so ein dreckiges Loch. Er will aber  nischt wissen, von dem Dreck. Soo!"
  „Ach!"
  Seine Brust hob sich einen Moment und fiel dann wieder schwach zusammen. „Hör  auf. Ich kann nicht dafür. — Was gehen mich anderer Leute tote oder lebende  Kinder an? Wir haben keine."
  „Nee. Gott sei Dank. Wir haben keine. Von Dir nicht, von Dir nicht, Du, Du, Du  . . ,"
  Und oben vier Treppen bei Schades unterhielt sich die Mutter mit ihrem Sohne.
  „Der arme Bengel Jetzt wird er nicht mehr heulen. Schade um ihn. Aber vielleicht  ist es ganz gut, dass er weg ist. Wer weiß, was er alles durchmachen müsste ... . Ist aber doch traurig. Jeden Tag trifft man ihn auf dem Hof. Und nun sieht  man ihn einfach nicht mehr. Jetzt liegt er da irgendwo... "
  Theo hatte es wieder eilig. Aber er blieb doch länger sitzen und sagte ganz  ruhig:
  „Ach Mutter, werde doch nicht sentimental. Der Tod ist doch eine  Selbstverständlichkeit." Genau so wie eine Geburt. Warum soll man da  trauern? Eins ist morsch, wird irgendwie zerschlagen, und das andere frische,  ist wieder da, kräftiger und besser. Das ist so wie mit der Gesellschaft...   Aber die Wut kann einen packen, wenn man sieht, unter welch erbärmlichen  Umständen der arme Deibel krepiert ist. Nicht weil er alt war, weil seine Zeit  ran war, sondern einfach, weil seine Mutter kein Geld hatte für seine Kleidung.  Weil der Junge nie Milch und immer nur ein Stück verkrüppelter Sonne gesehen  hat. Und dann da unten in der Kellerwohnung. Das geht vielen so. Millionen  Proleten krepieren in den Hinterhöfen der Großstädte an Tuberkulose, an Krebs,  vor Hunger, einfach weil sie kein Geld haben zu ihrer Gesundung. Und im  kapitalistischen Staat ist das Geld notwendig dazu...  Wenn einer so verreckt,  wie der kleine Karl da unten, dann ist das keine Selbstverständlichkeit,  sondern einfach die brutale Tatsache, dass die bürgerliche Gesellschaft nicht  in der Lage ist, zu helfen. Für uns ein Grund mehr zum Hass...  Das bisschen  Säuglingspflege und Mutterschutz ist doch bloß Schwindel. Nicht etwa aus  christlicher Nächstenliebe oder Menschlichkeit heraus ist sie geschaffen, nein,  weil man doch später einen Teil gesunder Arbeitstiere braucht. Alles lassen sie  nicht verrecken. Soviel, um die Produktion in Gang zu halten, müssen immer da  sein. Und dazu können sie keine Krüppel gebrauchen... "
  „Hast wieder mal recht, Theo. Aber es ist doch komisch. So ein sonderbares  Gefühl...  Uns Alten wird es ja schwer fallen, das so zu betrachten, wie Du.  Aber Ihr, Ihr, Theo. Du und Deine Genossen..."
  
  Und während die Mutter des toten Kindes zwischen bleichen Lippen, mit irrer  Stimme wütende Gebete murmelte — Gebete, die so ungläubig klangen und gar  keinen Trost bringen wollten —, stand drei Haustüren weiter die größere Jugend:  Franz, Kater, Spinne, Gustav und die anderen. Auch Frieda war dabei. Sie hatte  den Vorfall mit Gustav längst vergessen. Neben ihr stand ein verschmitztes  rotblondes Mädchen. Sie standen da und wussten nicht, was sie anfangen sollten.  Mit schelmischem Gesicht erzählte die rotblonde Edith ein kleines  Rummelerlebnis.
  „Kommt da so ein Otto mit Schülermütze und will mit mir angeben. Ob ick mit  nachn Kreuzberg komme und ob wir Sonntag nach Wannsee fahrn wolln. Junge, hab  ick den hochjenomm. Ick hab jesacht, er soll man erst seine Schularbeiten  machen. Un dann hat er ne Fresse jezohjen un is jetürmt."
  Sie zeigte beim Sprechen weiße Zähne wie eine Hündin. Kaum spürbare, hungrige  Neugier auf das andere Leben klang aus ihren Worten. Gustav sagte mit einer  gutmütigen Grobheit in der Stimme:
  „Na, na. Wirst wohl doch verrückt gewesen sein auf den Pieper. Die Jungs haben  Taschengeld, meine Liebe , . ."
  Verstohlen kicherten die Jungen und Kater flüsterte Spinne etwas ins Ohr. Sie  waren alle irgendwie verbunden. Alles schien so einfach bei ihnen. Einfach,  grob und ehrlich. Ihre Gesichter waren alle aus einem Holz. Und das war früh  gealtert. War stellenweise grün, und wenn man die Hand darüber hielt, leuchtete  mattes, phosphorartiges Licht. Innen war es hart, kernig und unverbraucht. Nur  die Herzen schmolzen bei dem geringsten warmen Atem. Aber das merkte man nicht  so leicht: Die Brutalität verbarg alles Sanftmütige.
  „Was wollen wir anfangen?"
  Das wusste niemand. Was war denn auch groß anzufangen? Gustav war wütend auf  Erich.
  „Das Schweineaast lässt sich bei uns überhaupt nich mehr 6ehn... "
  „Ist bei die Kommunisten, verstehste; oller Leunakämpfer geworden... "
  „Alle Abend rennt er rum. Alle Abend, Mensch, mir würde det keen Spaß machen.  Da ist man so gebunden."
  Franz schüttelte eine Last von seinen Schultern. Mit einem Ruck war. es unten.  Aber er spürte keine Erleichterung. Er dachte ganz anders. Aber das bisschen  Halt konnte er nicht preisgeben. Wenn er jetzt bei denen nicht mehr der starke  Franz war, dessen Wort das letzte und entscheidende ist, so war er verloren. Er  spuckte aus und sagte giftig:
  „Lasst doch die Affen. Rennen sich die Hacken ab. Wenn’s mal so weit ist, dann  sind wir ja auch da. Wär mir schwer hüten, von so einem Scheißer, wie der Karl  Langscheidt, befehlen lassen. —"
  „Na ja, der Theo ist ooch da. Und der ist bestimmt anders."
  „Wat heißt det? Natürlich. Ist ein knorker Bengel. Aber alle sind sie doch nich  so... "
  „Haben da ooch ein paar affige Mädels in ihre Gruppe. Deswegen wird er wohl  bloß hingegangen sein... "
  „Na, lass ihm. Gründen uns einfach ooch een Verein!"
  Da. Bums! Natürlich fehlte bloß der Name. Jedem Deutschen einen eigenen Verein.  Und Franz warf sich in die Brust. Jetzt war er dran, jetzt konnte er zeigen,  dass nur er bis jetzt gefehlt hatte, um den Laden in Schwung zu bringen.  „Schön, machen wir eine Klicke auf. Fahne: grün-weiß. Jeden Sonnabend gehts  los. Alle Woche eine Sitzung und wir wissen gleich, was wir anfangen sollen .  "
  „Dufte, dufte", rief Spinne und tanzte von einem Bein auf das andere. Man  muss doch irgendwie Kraft verbrauchen. Und in einer Klicke braucht man nicht  einmal große Leistungen zu vollbringen. Da ist es so schön gemütlich. Viel  gemütlicher werden sie es haben als die Bürger in ihren Kegelklubs oder  Skatvereinen. Viel gemütlicher als die Bürger, die ihre Geilheit in einem  Bordell am nackten Fleisch billiger Proletenmädels aufpeitschen. Viel  gemütlicher wird es sein als in den billigen Cafes, wo Warenhausmädels mit 100  Mark Monatsgehalt schlechten Kaffee schlürfen und Konfektionsjünglingen, mit  vom Chef geklauten Briefmarken in der Tasche, gurrende, alberne Blicke  zuwerfen.
  „Ja, gründen wir eine Klicke."
  Warum sollten sie denn keinen Verein haben? Irgend etwas braucht doch der  Mensch. Und da die Romantik den Flaum ihrer Seelen zerfressen hatte, tauchten  tolle Namen auf. „Wie soll det Ding heißen?"
  Da, die erste große Tat.
  „Der Schrecken der Oase... .?"
  „Wat, Du bist wohl blödsinnig? Det is doch keen richtiger Name."
  „Na, denn...  na denn...  der blutige Speer?!"
  „Ach, Quatsch."
  „Recht schweinisch, aber gut muss er sein. Gut... "
  „Klicke Aftersausen... ?"
  „Lass Dir man nich eene anhauen, Du Aftersauser. Wenn Du Aftersausen hast, jeh  ein paar Häuser weiter."
  „Wat denn, solln da ooch Mädels bei sein?" fragte Gustav. Frieda wurde  rot. Die andere lächelte nur und tat schnippisch. Sie spitzte den Mund.
  „Na, denn nich."
  „Warte doch mal. Ja, natürlich. Warum denn nich. Det wird doch überall so  gemacht."
  „Denn hätt ick nämlich een feinen Namen gehabt: Klicke Weiberschreck!"
  „Gibs ja schon. Im Osten. Aber warum solln keene Weiber bei sein?" fragte  erstaunt Kater und blinzelte Edith zu. Edith hatte, wie fast alle rotblonden  Frauen, ein milchiges Gesicht. Aber wunderschöne, reine, beinahe durchsichtige  Haut. Man möchte sie nicht küssen, aber ganz leicht mit dem Mund darüber  fahren. Ganz leicht. Und dann die Haare ins Maul nehmen . . Jetzt hatte sie  kleine, rote Flecken auf den Backen. Und unter der Unterlippe zeigte sich auf  einmal ein lustiges Grübchen. So aufgeregt und eifrig war sie.
  Franz tat ernst und senkte den Kopf wie ein böser Stier. Über seiner  Nasenwurzel versuchten ein paar kümmerliche Fältchen Eindruck zu schinden. Alle  warteten jetzt auf ihn.
  „Passt mal auf: Edelsau! Klicke Edelsau. Ganz einfach. Ist nicht so säuisch und  doch interessant. Sonntag machen wir die erste Fahrt. Sonnabend abend fahren  wir los... '
  „Wohin denn? Und bis dahin haben wir doch noch keine Fahne... .?"
  „Muss mir noch überlegen, wohin. Die Fahne hat auch noch Zeit."
  Ü ber den Namen waren die wenigsten erfreut und Gustav gab ganz offen seiner  Enttäuschung Ausdruck.
  „Ooch, Edelsau. Nee. Det jefällt mir nich, mein Lieber. Warum nich Apachenblut  oder so ein Indianername?"
  „Jibs schon. Allet schon da. Wir können doch nich so heißen, wie andere  Klicken."
  „Ja, aber Edelsau jefällt mir nich."
  „Halts Maul. Wenn’s Dir nich jefällt, dann jeh, Du oller Stänkerkopp. Oder sag  einen anderen Namen."
  „Ich weiß keinen. Meinetwegen sagt Toppsau. Mir auch egal. Der Name spielt ja  auch keine Rolle."
  So unterhielten sie sich noch eine ganze Weile. In ihnen schmorte der Groll,  der Überdruss, die Liebe, von der sie selbst nichts wussten und der Hass,  fürchterlicher Hass gegen alles, was nicht um sie war. Ihre Gesichter verrieten  stummes Genießen und sie freuten sich.
  Ein helles Trompetensignal drang vom Hof auf die Straße. Hinterher hörte man  jemand laut und kurz sprechen. Die Worte schlingerten sich durch den langen  Hausflur und brachen ab, ehe sie die Straße erreichten. Auf beiden Seiten  liefen eilig junge Arbeiter. Die Gruppe Nostizstraße protestierte gegen das  Verbot der ,Jungen Garde'. Die Genossen sprangen die Treppen hinauf und  herunter. Rasch ging das alles. An den Türen wurde geklopft, fast gleichzeitig  an allen auf einem Flur. Die Nachbarn kamen angeschlürft. Manche schnell und  rissen mit einem Ruck die Tür auf.
  „Was ist denn los?'
  „,Junge Garde', die Zeitung der werktätigen Jugend verboten. Macht Krach.  Protestiert mit uns."
  Ein anderer kam hinterher und bot Zeitungen an.
  „Hier, die letzten Nummern der ,Jungen Garde'. Die ,Rote Faust', die illegale  Kampfzeitung der werktätigen Jugend."
  Unten stand Theo und sprach. Man hörte nur Bruchstücke und die Wände warten die  Worte hin und her... 
  „Die Reaktion wird immer frecher...  Der Faschismus tobt in Deutschland...   Notverordnungen und nochmals Notverordnungen...  Der Hooverplan, eine bessere  Methode der Ausbeutung... Ihr Arbeiter, Jungproleten, Ihr Mittelständler, Ihr  seid diejenigen...  Ihr müsst kämpfen! Mit uns, mit dem Kommunistischen  Jugendverband, mit der KPD.!"
  Zu der neugegründeten Klicke kam Erich Schmidt. Er drückte jedem ein auf einem  Abziehapparat hergestelltes Flugblatt in die Hand.
  „Na. Du?"
  „Na, Ihr? Kommt, macht mit... "
  „Ach, wat. Bei die Hitze. Rennt Ihr man."
  Franz riss ihm das Flugblatt aus der Hand und wollte es zerknüllen. Aber dann  besann er sich und las:
  
  „Die ,Junge Garde' verboten !!!! Verbotsseuche über Deutschland!
  Der Berliner Polizeipräsident hat die unendliche Kette der Verbote der  revolutionären Presse um ein neues Glied erweitert. Betrachtet man nur die  Verbote der letzten vier Wochen, so kommt es einem fast vor, als ob die herrschende  Klasse ihr System nur noch durch Verbote der Arbeiterpresse und revolutionären  Veranstaltungen vor dem endgültigen Zusammenbruch bewahren will. Die kläglichen  Rollen, die hierbei die sozialdemokratischen Minister und Polizeipräsidenten  spielen, gibt wirklich allen Arbeitern bis weit ins sozialdemokratische Lager  hinein zu denken. Die Nazi-Presse wird auf vier Wochen verboten und dies dann  schnell auf zwei Wochen reduziert. Unser Polizeipräsident darf ja auch seinen  Nazi-Lieblingen nicht wehe tun. Wie anders bei den Kommunisten, dort jagt ein  Verbot das andere und ,Vergehen' gegen diese Verbote werden mit hohen  Gefängnisstrafen belegt. Wie dem auch sei, Grzesinski müsste doch bald merken,  dass uns seine Verbote einen Dreck kümmern und nur dazu führen, dass wir unsere  Arbeit unter den Jungarbeitermassen verdoppeln. Die ,Junge Garde', die Zeitung  der werktätigen Jugend, wird bei ihrem Wiedererscheinen von einer verdoppelten  Leserzahl erwartet und begrüßt. Das ist die beste Antwort, gerichtet an alle Feinde  der Arbeiterklasse mitsamt ihren sozialdemokratischen Helfern in Form von  Polizeipräsidenten und Ministern.
  Werktätige Jugend Berlins! In Betrieb und auf der Stempelstelle! Hört den Ruf  der jungen Kommunisten, reiht Euch ein in den Kommunistischen Jugendverband!  Kämpft mit uns gegen Arbeitsdienstpflicht und Jugendausbeutung! Für  Jugendschutz und Jugendrecht! Für ein Sowjetdeutschland!
  Lest und abonniert die ,Junge Garde', die Zeitung der Jugend in Stadt und  Land."
  
  „Ja, wat soll man dazu sagen. Möcht sie abonnieren, hab aber keen Geld ... "
  „Haben recht, Mensch, wenn man sich det so bedenkt. Da kann een wirklich die  Wut packen. Die Nazis, die Lausewänste, könn sich allet erlauben. Mensch,  wenn’s doch bloß erst losjehn würde", sagte erbittert Gustav. Es war so,  als hätte er jetzt schon die Klicke Edelsau vergessen.
  „Da ist man so gebunden bei die, sonst würd ick auch mitmachen. Die rennen,  rennen. — Wenn wir alle mithelfen würden, würde es schneller gehn... "
  Franz schnauzte ihn an;
  „Renn doch mit, Mensch!"
  Und Kater sagte beruhigend:
  „Wat Du ooch bloß immer hast, Justav... "
  Erich war längst weiter gelaufen und Theo sprach schon auf einem Hof an der  Ecke Bergmannstraße Ein Überfallwagen raste vorüber. Er stoppte kurz, es roch  nach Gummi. Die Grünen sprangen herunter und rannten in die Häuser. Nach einer  Weile mussten sie erfolglos abfahren.
  Die Mitglieder der Klicke Edelsau fingen an, sich zu langweilen. Edith gähnte,  warf den Haarschopf nach hinten und meinte müde:
  „Ich geh schlafen... "
  „Ja, was soll man denn anfangen. Gute Nacht."
  „.... Also Sonnabend!"
  
  Die Mitglieder der Klicke Edelsau liefen vom Bahnhof Königswusterhausen zu den  Tonkuten hinter Körbiskrug, Franz als Klickenbulle vorne weg und hinterher acht  Jungens und zwei Mädels. Auf ihren Tornistern thronten klappernde  Kochgeschirre. Sie trugen alle fast gleichmäßige Kleidung: kurze Hosen und  bunte Hemden. Gustav war als Wanderlehrling bestimmt worden, weil er vom  Wandern die wenigste Ahnung hatte. Darüber war er sehr wütend, denn Kater und  Spinne waren viel jünger. Die Jungens nannten ihn jetzt ,Blaubacke'. Warum,  wussten sie selber nicht. Seine Backe war gar nicht blau, aber besetzt mit  einigen Leberflecken, die wie braune Dreckspritzer1 aussahen. Er trug eine  zusammengerollte Pferdedecke unter dem Arm und sah gar nicht zunftmäßig aus.  Jeder hänselte ihn.
  „Musst noch viel lernen, Blaubacke. Siehst aus, als wenn Dir jemand aus die  Dörfer gejagt hat. Find ein paar Stullen, rennt über die Stoppeln und kommt  nach Berlin... "
  „Halt die Fresse, Mensch. Und hör mit den Namen off, vastehste!"
  An einer Bahnschranke mussten sie warten. Jungen und Mädels in blauen Hemden  standen schon davor und sangen Lieder von der romantischen, alten Zeit, wo noch  die Postkutschen durchs Land fuhren:
  
  „Vorn auf dem gelben Wa-agen,
  sitz ich beim Schwager vorn.
  Vorwärts die Ro-osse traben,
  Lustig ertönet das Horn.
  Wiesen und Felder und Auen,
  leuchtendes Aehrengold.
  Möchte so gerne noch schau-auen,
  Aber der Wa-agen rollt!"
  
  Die Burschen trugen saubere Rucksäcke und manch einer hielt ein  verschüchtertes, unschuldig tuendes Mädel im Arm. Über ihren Haarschnecken und  Bubiköpfen lagen glänzende Metallringe mit altgriechischen Verzierungen. In der  Mitte der Gruppe stand ein langer Bursche und zupfte an einer Guitarre. Seine  dünnen, behaarten Beine staken in Sandalen. Kater klatschte in die Hände und  vollbrachte irgendetwas, wie einen Volkstanz. Dabei sang er mit verstellter  Stimme:
  
  „Was kümmert uns die Politik? 
  Wir tanzen uns die Waden dick!"
  
  Dann lief er zu Spinne „Halalala", sang er weiter. „Freundschaft, Spinne!  Kommst Du auch mit zur SAJ.?"
  Man warf ihm böse Blicke zu. Die Mädels schlugen die Zungen an die Gaumen, dass  es sich so anhörte, wie wenn ein Bäuerin Schweine lockt und der Lange mit den  behaarten Beinen murmelte: „Lausejungs."
  Aber die Lausejungs hörten nichts. Der endlos lange Güterzug fuhr vorüber und  die Klicke marschierte weiter. Links lag ein kleiner See, an den Ufern große  Flächen mit Schilf bewachsen. Ein schmaler, blasser Bursche, Peikbeens Bruder,  rief: „Mensch, is det aber romantisch!" „Wat weest Du denn von die  Romantik, Orje?" Vorn begann man zu singen. Helle und tiefe Stimmen  stritten miteinander. Franz brummte nur und Gustav spielte auf einer  Mundharmonika:
  „Als die goldne Abendsonne sandte ihren letzten Schein, Zogen einst zwei  Tippelbrüder in ein kleines Dörfchen ein. Und in diesem kleinen Dörfchen steht  ein Häuschen ganz allein, Und die beiden Tippelbrüder, sie kehrten bei dem  Bauern ein. Und der Bauer hat ne Tochter, die war so schön, Und die beiden  Tippelbrüder, sie wollten mit dem Mädel geh'n. Da sprach der erste: Schönste  Blume, Du, Schenk mir doch ein bisschen Liebe und Dein kleines Herz dazu!
  Da sprach der zweite: Schönste auf der Welt.
  Schenk mir doch ein bisschen Liebe und dazu Dein ganzes Geld!"
  Da sprach das Mädel: höret zu, Ihr zwei!
  Meidet Alkohol und Weiber, sie reißen Euch das Herz entweil
  Als die goldne Morgensonne, sandte ihren ersten Schein,
  Zogen einst zwei Tippelbrüder, weiter in die Welt hinein!"
  Es wurde dunkler. Die Bäume warfen keine Schatten mehr und die Gräser wurden  taufeucht. Franz lief immer schneller. Die Hintersten mussten sich ranhalten,  um mitzukommen. Edith schimpfte:
  „Ist das ne Looferei. Det is doch keene Erholung. —"
  „Mensch, Franz! Schalt mal den anderen Gang ein."
  „Komm man, komm man, Du rothaarige Hexe."
  Kater versuchte, ihr Mut zu machen. Er nahm ihr den Rucksack ab und hängte ihn  an den Arm. Dann sah er auf ihre Haare und sagte:
  „Hast Du früher mal in die Nagelkiste geschlafen, oder hast Du Dir früher die  Haare nicht abgetrocknet? Die sind ja ganz rostig."
  „Quatsch nich so dämlich. Na, warte, Du kommst mir ja noch mal, Bursche ... "
  Die beiden Tonkuten waren tief und angefüllt mit grünlichem, klarem Wasser.  Hier hatte früher eine nahe Ziegelei ihr Material für die Ziegelsteine geholt.  Von der Ostseite waren sie von einem Wald begrenzt. Schnell hatte die Klicke  Zelte aufgebaut. Ärmliche Zelte, aus Decken und zerrissenen Militärplanen.  Frieda stand unschlüssig da. Sie legte ihr Gepäck auf die Erde und setzte sich  daneben. Auf einmal hatte sie Angst bekommen. Das war so ruhig hier. Ruhig und  unheimlich zwischen den brutalen Burschen. Gustav kam an sie heran. Er sah grob  aus und meinte gutmütig:
  „Komm zu mir ins Zelt. Wenn Du nicht allein willst — schön — nimm Edith mit . .  ,"
  Sie sah ihn an. Aber er schlug den Blick zu Boden und umfasste mit den Augen  ihre Schenkel, die der hochgerutschte Rock freigelegt hatte.
  „Na, was ist?"
  „Ja, ich — ich möchte schon. Aber Du musst vernünftig sein, Gustav, ja?"
  „Was heißt vernünftig sein? Quatsch nich und sage, was Du willst."
  „Na ja. Draußen kann ich ja nicht bleiben. Und bei den anderen, die sind genau  so... ."
  Edith und Kater liefen in den Wald Holz suchen. Er strich schmeichelnd um sie  herum und war wieder freundlich.
  „War nicht so gemeint vorhin, Edith. Deine Haare sind nämlich schön... ."
  „Ja, aber nicht für Dich... "
  „Ach, Du alte Henne. Für wen denn? Was verlangst Du denn überhaupt?"
  Etwas abseits von den Zelten wurde ein Lagerfeuer angezündet. Das trockene  Reisig prasselte und ohne viel Qualm schlugen die Flammen hoch. Alle setzten  sich heran. Ein Stück Mond kam hinter zerrissenen Wolken vor. Von fern her  tönten die schwermütigen Klänge einer Ziehharmonika, und von der nahen Chaussee  hörte man die Autos hupen. Alle waren still und starrten in das Feuer. In ihnen  war eine karge Freude und sie fühlten, dass einer dem anderen gut war. Sie  lehnten sich aneinander und Gustav schlich sich zu Frieda, legte seinen Kopf in  ihren Schoß.
  „Krabbel mir ein bisschen die Haare... ."
  Das klang bittend. Frieda verzog traurig den Mund. Ihre Augen wurden plötzlich  warm und sie küsste Gustav auf die Stirn. Der staunte... .
  „Spiel ein bisschen, Gustav."
  Gustav spielte und sie sangen wie alte Krieger im Schützengraben, die wehmütig  an die ferne, ferne Heimat dachten.
  
  „Auf der Insel zu Samoa, lag ein Kuli da und starb.
  Inmitten seinen Kameraden, den die Feindeskugel tödlich traf
  
  Kamrad, siehst Du die Heimat wieder, 
  Kamrad, siehst Du dann mein Weib. 
  Sag, ich lass sie herzlich grüßen 
  Sag, dass ich ihr ewig treu verbleib.
  
  Nimm den Ring von meinem Finger, 
  Nimm den Ring von meiner Hand. 
  Drück auf ihre lockige Stirne 
  einen Kuss von mir als Abschiedspfand."
  
  Eine Melodie folgte der anderen. Die sentimentalen Lieder wühlten die rohen  Burschen bis ins Innerste auf. Sie schämten sich auf einmal vor einander. Da  war irgend etwas, was sie nicht ausdrücken konnten. Einige krochen weiter vom  Feuer weg, die anderen bogen sich weit zurück. Frieda sang nicht mit. Sie  schwieg, schwieg mit aller Kraft und hätte am liebsten geheult. Und in ihren  Gedanken stritt sich die stille, plötzliche Freude mit ihrem armseligen Leben.  Orje rauchte eine kurze Pfeife und sah dem ringelnden Rauch nach. Er kniff die  Augen zusammen und blinzelte den anderen zu. Neben ihm, auf dem Rücken, lag Franz  und starrte in den Himmel. Er hatte einen Grashalm im Mund. Sein Denken war  verwirrt
  „Kinder, können wir nicht immer so dufte zusammen sein... ?"
  „Ach ja."
  „Jeht nicht. Immer nicht. Dauert nicht lange und die Stänkerei jeht wieder von  vorne los."
  „Und warum? He, warum? Wegen die Weiber und weil eener immer allet besser als  der andere wissen will, vastehste!"
  Edith lächelte. Ihre Haare glänzten, und das Gesicht sah matt aus, wie Marmor.  Sie mischte sich ins Gespräch.
  „Lasst doch, ein bisschen Stänkerei muss sein. Sonst macht doch das ganze Leben  keinen Spaß."
  „Ja, und vor allem Jungs, werde ich Euch mal eins sagen; die Stänkereien sind  ja gar nicht so gemeint. Im Grunde genommen sind es meistens versteckte  Freundlichkeiten. Ärger haben wir alle. Herrgott und den muss man doch irgendwo  loswerden... ." „Hast recht, Orje. Aber manchmal ist das schon  gemein." Das Feuer war langsam abgebrannt, Große Holzstücke glühten weiter  und knisterten. Vom Ufer strich ein leichter Wind. Im Walde schrie ein Nachtvogel  und die Ziehharmonika setzte wieder mit einem Schlager ein.
  „Die dämlichen Schlager. Wie sich das anhört.' „Erika, Erika, brauchst du nicht  einen Freund?" So ein Quatsch. Und denn von wejen Auto schickt. Wer hat  denn von uns ein Auto? Der Mist geht uns doch gar nichts an. So eine olle  Plärrerei."
  Diese Worte schufen eine stumpfe Verwirrung. Sie legte sich wie ein nebelhafter  Streifen unbekannten Denkens in ihre Hirne. Am Himmel glommen zaghaft einige  Sterne. Der bleiche Mondschimmer warf schwache Schatten der Bäume, Spinne lag  mit dem Bauch auf der Erde und kaute an einem Grashalm. Er sagte, ohne  aufzublicken: „Singt doch mal ein paar Kommunistenlieder.".
  Traurig klang das Lied vom „kleinen Trompeter" durch die Nacht:
  
  „Schlaf wohl, Du kleiner Trompeter 
  Wir waren Dir alle so gut. 
  Schlaf wohl, Du kleiner Trompeter, 
  Du lustiges Rotgardistenblut."
  
  Franz hatte die ganze Zeit nicht gesprochen. Er durchbrach plötzlich die Stille  und kam auf Peikbeen zu sprechen, der das Lied so oft gesungen hatte.
  „Was mag Peikbeen jetzt machen...?"
  Die Jungen horchten auf. Ach ja, Peikbeen. — Vergessen hatten sie ihn nicht.
  „Jetzt ist es elf Uhr. Der hat längst seinen Kanten Brot weg und liegt jetzt  auf der Pritsche."
  „Wo sitzt er denn überhaupt?"
  „Lehrter Straße, Zellengefängnis. Soll schlimm sein da. Zille hat jetzt seine  acht Monate da abgemacht Sah blass aus, wie er raus kam."
  „Schweinerei, eine verfluchte Schweinerei ist das", brüllte Orje und  sprang erregt auf. „Wegen einem Stück Wurst — wegen einem Stück Wurst. Er hatte  wirklich Hunger gehabt."
  Orje lief um das Feuer herum. Er wurde immer wütender.
  „Und dann gleich vier Monate! Vier Monate. Was kriegen die großen Strolche, die  das Volk bestehlen? Hier — hier", er holte eine Nummer der „Roten  Fahne" aus der Tasche, „hier habe ich einen Artikel. Ihr kennt doch alle  Achtenberg und Hoffmann aus der Nostizstraße Mit Achtenberg sind wir in eine  Schule gegangen, die haben vier Monate in Untersuchung gesessen. Gestern sind  sie verurteilt worden. Passt auf, ich lese vor:
  
  „Antifaschistische Gesinnung mit Zuchthaus bestraft. Neues Schreckensurteil in  Moabit. — 9 Jahre 9 Monate Zuchthaus und 9 Monate Gefängnis für vier  Jungarbeiter.
  Der Zuschauerraum war überfüllt, als das Urteil gegen die sechs Arbeiter, die  des Überfalls auf Nationalsozialisten in Wilhelmsaue angeklagt waren,  gesprochen wurde Mit tiefer Erbitterung, voller Abscheu gegen die Klassenjustiz  nahmen die Arbeiter das furchtbare Urteil entgegen. Den Kurs, den  Landgerichtsdirektor Ohnesorge gegen Kommunisten eingeschlagen hat, fortsetzend,  verurteilte das Schwurgericht die Arbeiter Achtenberg und Hoffmann wegen  versuchten Totschlags in drei Fällen (!) zu vier Jahren Zuchthaus, Steinhäuer  zu einem Jahr 9 Monaten Gefängnis. Die Angeklagten Schmidt und Petzold mussten  freigesprochen werden. — Das, was sich am 13. März in Wilhelmsaue nach einer  Versammlung der Nationalsozialisten im Viktoriagarten abspielte, ist nichts  weiter als eine natürliche Folge der ungeheuren faschistischen Terrorwelle, die  seit Monaten und Jahren durch alle Städte und Dörfer Deutschlands geht und  immer wieder wehrlosen Arbeitern das Leben kostet. Die gesamte Pressemeute vom  ,Vorwärts' bis zum Nazi-,Angriff mag toben und schreien über  ,Rot-Mord-Gesindel' und dergleichen, soviel sie mögen. Die Schmierfinken ihrer Redaktionsstuben  wissen sehr gut, dass alle Bluttaten auf Konto der Hakenkreuzler fallen. — Der  angeklagte Jungarbeiter Achtenberg sagte am ersten Verhandlungstag auf eine  entsprechende Frage des Gerichts: „...das ist doch allerhand, wenn unsere  Arbeiter niedergeschossen werden, dann wird man doch Rache nehmen dürfen.' —  Der Vorsitzende glaubte in der Urteilsbegründung feststellen zu können, dass  die angeklagten Arbeiter den Überfall planmäßig vorbereitet hatten. Wenn er  damit den glühenden Hass gegen die faschistische Mordpest, die in jedem  Werktätigen lebendig ist, meint, dann haben die Angeklagten ,planmäßig'  gehandelt. Mit diesem Urteil hat das Klassengericht erneut bewiesen, dass das  ,Dritte Reich' in Moabit seinen Einzug gehalten hat."
  
  „Wat? Vier Jahre?"
  „Vier Jahre!! Vier Jahre
  Es trat Ruhe ein. Eine fürchterliche Ruhe. Alle waren aufgesprungen. Sie bissen  die Zähne zusammen. Sie rissen die Augen auf in maßloser Wut. Sie waren erregt,  alle Romantik war futsch.
  „Vier Jahre", wiederholte einer. „Vier — Jahre . . ."
  „Und die Nazis? Und die! Die können alles machen. Hab ich eine Wut! Hab ich  eine Wut! Was waren das für Kerle: Hoffmann und Achtenberg, Mensch... ."
  Sie wollten schreien. Dann setzten sie sich wieder, legten frisches Holz auf  und wurden ruhiger. Franz begann wieder, langsam und stockend:
  „Eigentlich müsste man doch... "
  Er beendete den Satz nicht. Irgend etwas hielt ihn davon zurück. Prüfend  betrachtete er seine Freunde. Sie hatten nichts bemerkt.
  Vielleicht dachten sie so wie er. So wie sein unausgesprochener Satz:  „Eigentlich müsste man doch was dagegen machen. Das kann sich doch niemand  gefallen lassen. Im vorigen Jahr haben die Nazis unseren Freund Waller Neumann  erschossen. Die Mörder wurden freigesprochen. Da muss man doch gegen ankämpfen.  Unsere Klicke ist ein Dreck. Ich will nichts mehr davon wissen... "
  Langsam kroch einer nach dem anderen ins Zelt. Unheimlich lag die Ruhe über dem  Platz. Die Jungens und Mädels lagen lange da mit offenen Augen. Frieda saß im  Zelt und hielt die Knie gegen die Brust gedrückt. Von Gustav wurde sie  überhaupt nicht beachtet. In der anderen Ecke lag Edith und versuchte  einzuschlafen. Der Junge gab ihr seine Decke und kroch auf den Knien aus dem  Zelt Draußen rannte er unruhig auf und ab. Er stieß auf Orje. Leise schlichen  sie sich fort, wie nach einer stummen Verabredung. „Na", fragte Orje. „Ja,  ich kann nicht schlafen."
  „Mir gehts genau so." Und nach einer Weile: „Eigentlich sind wir doch  Feiglinge."
  „Ja, eben daran denke ich ja. Wir schimpfen auf die Latscher, auf die SAJ.;  sind ja selbst welche. Andere rennen, arbeiten, kommen ins Zuchthaus und wir  gründen eine Klicke. Ist das ein Mist, ist das ein Mist... " Sie liefen  immer weiter von den Zelten weg und setzten sich am Waldrand ins taufrische  Gras, Keiner hatte mehr recht Lust zum sprechen.
  „Orje, Mensch. Seh Dir doch das alles an. Unsere Straße. Alle haben Hunger. Und  wir...  Unsere besten Freunde sind Kommunisten, kriegen Staatsferien oder  werden erschossen. — Aber was kann man denn mit unseren Jungen schon anfangen ... ."
  „Die denken jetzt genau wir wir, mein Lieber."
  „Ich bin ja so ein Schwein, so ein Schwein, Mensch."
  „Was? Wie meinst Du denn das?"
  „Ach, hör uff. Da gibs nichts zu reden."
  Langsam und schweigend liefen sie zurück.
  Am andern Morgen krochen Kater und Spinne als erste aus den Zelten und gingen  baden. Man musste schwimmen können; denn es ging gleich steil ab. Verschlafen  torkelten die andern hoch und sprangen ins Wasser. Gustav machte Feuer an und  kochte Kaffee. Der Himmel war bewölkt. Leichter Nebel stieg auf. Im Westen sah  man die hohen Funktürme von Königswusterhausen. Die Zelte sahen jetzt noch  ärmlicher aus und waren schlaff Spinne gab Edith einen Stoß. Sie fiel ins  Wasser Kater gab ihm daraufhin eine saftige Ohrfeige. Dann schlugen sie sich und  die anderen bildeten einen Kreis, Sie rollten sich auf der Erde, sprangen  wieder auf, packten sich in den Haaren. Spinne blutete aus der Nase. Edith gab  ihm ihr Taschentuch.
  „Da, so bin ich zu Dir. Wie eine Mutter, und Du Aast schmeißt mir ins Wasser  "
  „Ach Du, Du... "
  Leute kamen vorüber. Klickenbrüder wie sie. Sie grüßten: ,Wildfrei' und sahen  verwegen aus.
  „Wo seid Ihr her? Wie heißt Eure Klicke?" „Vom Kreuzberg, Klicke  Edelsau."
  Die anderen lachten. „Edelsau, hä, Edelsau. Dufte wat, Atze? Wo habt Ihr denn  Eure Säue? Die Beeden da?"
  Sie deuteten auf die beiden Mädels. Kater wollte auf sie zuspringen, besann  sich aber im letzten Moment, denn sie trugen alle einen Spaten. Einer war  dabei, hatte einen Zylinder ohne Krempe auf dem runden Kopf und in der Hand  eine große Keule. Das war deren Klickenbulle ,Onkel' nannten ihn die anderen.  Onkel trat ein paar Schritte gravitätisch wie ein Indianerhäuptling vor und  hielt eine kurze Rede: „Also, dass Ihrs wisst: hier ist unser Stammplatz. Wir  wollen hier keine Jannoven herhaben . . , ,"
  „Hoho, von wegen Jannoven!"
  „Halt die Fresse, jetzt rede icke, vastehste! — Ihr könnt natürlich ruhig  hierbleiben. Bestimmen tun wir hier. Da drüben liegt ,Fichte'. Das ist ihr  Gelände. Vor die müsst Ihr Euch vorsehn, die machen um jeden Dreck Krach und  wollen von Klicken nischt wissen. Manchmal kommt auch die ,Rote Jungfront' her.  Das sind unsere Freunde. Mit die dürft Ihr nicht angeben, die haun Euch zu  Puppendreck. Wer ist denn Euer Klickenbulle?"
  Franz war wütend. „Nu halt mal einen Moment die Luft an. Du kannst uns viel  erzählen. Was .Fichte' ist und die ,Rote Jungfront', das wissen wir alleene.  Ihr habt uns gar nichts vorzuschreiben... "
  „Jawohl, richtig", riefen seine Freunde, und Spinne hatte die blutende  Nase schon wieder vergessen. „Wir bleiben und damit basta. Und wenn Ihr zehnmal  mehr seid wie wir."
  „Schön", sagte Onkel und warf sich in die Brust, „bleibt hier. Wenn Ihr  affig werdet, reißen wir Euch die Zelte über dem Kopf ab. So. Nu jehn wir  wieder. Tarzan, Du passt uff die Leute uff."
  Tarzan, ein sehniger, braungebrannter Bursche mit behaarter Brust, sah prüfend  von einem zum anderen. Er deutete erst auf Gustav, dann auf Franz. ,.Den zum  Frühstück, den brech ick in der Mitte auseinander und die anderen atme ick  ein."
  Damit zog er mit seinen Kumpanen los. Still, mit erhobenem Kopf und von dem  Gedanken durchdrungen; denen haben wir es aber tüchtig gegeben. Klicke Edelsau  schäumte vor Wut, Nur Edith lächelte und sah unbeobachtet lange dem haarigen  Tarzan nach.
  „Die Schweinebandel Kommen hierher und befehlen," — „Lasst sie doch.  Brauchen uns ja nicht um sie bekümmern."
  Die Sonne stieg höher und brannte durch die Wolken. Fünf Mann liefen ins Dorf  und holten Wasser. Gustav begann Frieda lauernd zu betrachten. Sie merkte es  und wurde unsicher. Ab und zu sah sie zu ihrer Freundin. Die tat so ungeniert  mit Kater, dass man annehmen konnte, beide wären ein restlos glückliches  Liebespärchen. Ein Liebespärchen, das sich etwas Schönes vorgaukelte. So wie  Schulkinder. Und die dann feststellen, dass doch alles nur Unsinn ist und nur  aus Spaß gesagt wurde. So herzig waren die beiden miteinander. Unbemerkt von  den anderen lief Frieda in den Wald. Sie hatte nur ihren
  Badeanzug an. Ihre spärlichen Brüste legten sich prall an und sahen größer,  fester aus. Ihr schien alles so unsinnig. Ihre Pulse tobten. In ihrer Brust lag  Zorn. Kiefernadeln stachen sie in die nackten Fußsohlen. Das Unterholz knackte.  Sie warf sich auf den trockenen Waldboden und dachte lange nach: an Gustav,  warum der so ist und an die anderen und ihr Verhalten. Sie kam sich so  verlassen vor. Niemand war gut zu ihr. Und wenn es die Jungens eine Zeitlang  waren, dann wollten sie eben nur das Eine. Keinen Menschen hatte sie. Zu Hause  war man froh, wenn man sie eine Weile nicht sah. Ihre Mutter war auf beiden  Ohren taub, schimpfte deshalb viel, weil sie annahm, alle Gespräche drehten  sich um sie und man mache sich über sie lustig. Die Schwester war schon drei  Jahre lang fort. Ihr ging es schlecht. Vor vier Monaten hatte sie aus Hamburg geschrieben.  Der Vater arbeitete den ganzen Tag. Wenn er nachmittags kam, war er hundemüde,  wollte nichts hören und nichts sehen. Sie wurde in ihren wirren Betrachtungen  unterbrochen. Gustav kam plötzlich mit rotem Gesicht auf sie zugesprungen.  „Ach, da bist Du ja..."
  Sie erschrak und bekam Angst. Eine grässliche Angst vor Gustav, die ihr die  Kehle zuschnürte. Sie kroch zurück. Er kam näher und fasste sie um. Fest  presste er sie an sich, stammelte hilflos. Sie riss die Augen auf.
  Gustav keuchte: „Frieda, liebe Frieda, sei doch vernünftig. Ich habe Dich ja  trotzdem so lieb...  Frieda!"
  „Gustav! Nicht doch, Gustav! Wenn was passiert, ich kann doch nicht. Lass das  jetzt!!"
  In ihre Augen trat ein sonderbarer Glanz. „Sei ruhig, Gustav. Sei doch gut ... "
  „Ich kann nicht! Du machst mich verrückt. Das ist ja nicht zum aushalten! Du —  Du... ."
  Er warf sich über sie, drückte ihre Arme zusammen. Da bekam sie eine unbändige  Kraft und brüllte: „Hilfe! Hilfe!"
  Gustav ließ sie jäh los. Dann senkte er den Kopf. „Ich kann doch nichts  dafür", sagte er mit leiser Stimme und rannte in den Wald.
  Kater und Edith kamen atemlos angerannt. „Was ist denn los? Warum schreist Du  denn?"
  „Ach, nichts. Ich dachte, hier wäre ein Tier. Es ist wirklich nichts — wartet,  ich komme gleich mit zurück."
  Sie glaubten nicht daran und dachten sich ihr Teil. So kann kein Mensch  brüllen, der in einem Walde bei Berlin ein Tier sieht.
  Am Lagerplatz warteten die anderen. Das Wasser hatten sie schon ausgetrunken.  Gustav lag schlafend neben seinem Zelt. Frieda legte sich neben ihn und nahm  seine Hand. Er ließ es geschehen, sah sie aber nicht an.
  Schnell verging der Tag. Die Sonne hatte die Rücken der Klickenmitglieder rot  gebrannt, und das Gepäck scheuerte. Franz schimpfte. Er hatte den schwersten  Tornister zu tragen. Als erster lief er wieder los. Spinne begann zu singen,  laut und ausgelassen:
  
  „Zwei Freunde stiegen auf einen Turm 
  au, au, au.
  Der eine hat einen Bandenwurm, 
  au, au, au.
  Da lässt sich ja der andre munter, 
  au, au, au,
  An dem Freund sein Bandwurm rauf und runter, 
  au, au, au.
  Ja, wenn man so eine Musik hört,
  dann ist alles wieder gut, dann ist alles wieder gut.
  Ja, wenn man so einen Eierkuchen bäckt, 
  dann geht alles wie genudelt, wie geleckt!"
  
  „Ach, hör doch auf. Immer den gleichen Mist."
  „Nu loof doch man schon. Ick trete Dir ja dauernd in die Hacken!"
  Durchgeschwitzt und mit brennenden Rücken kamen sie nach Königswusterhausen.  Die Züge waren mit Menschen und Gepäck vollgepackt. Einer fluchte auf den  anderen. Kinder schrieen und jammerten. Ein Hund jaulte unter den Füßen der  Menschen. Am Görlitzer Bahnhof suchten sich die Klickenbrüder Fahrscheine für  die Straßenbahn. Nur Kater, Edith und Frieda liefen gemeinsam zur Nostizstraße.
Der ,Junge Wühler' war fertiggestellt worden. Ernst brachte 300 Nummern  angeschleppt. Das Papier war schlecht, die Schritt stellenweise verwischt und  unklar. Aber der Inhalt war gut. Trude, Theo, Karl und Doktor saßen zusammen,  als Ernst kam. Jeder nahm sich eine Zeitung und begann zu lesen. Ernst stellte  sich ein paar Schritte abseits und betrachtete die Genossen lauernd. Doktor  nickte ihm ein paar Mal verstohlen zu und deutete auf Theo. Die anderen lasen  alle. Besonders der Artikel auf der ersten Seite interessierte sie lebhaft.
    
  „Werktätige Jugend — Vorwärts!
  In allen Städten, auf allen Straßen, in allen Dörfern Deutschlands herrschen  Hunger und Not. Millionen Unterdrückte sammeln sich zur Volksrevolution gegen  den Faschismus, für den Sozialismus unter Führung der Kommunisten. Das Volk  kennt keine Gesetze mehr, das Volk meutert. Das Volk hat keine Angst vor den  Pistolenläufen der Bourgeoisie. Das herrschende System klappert in seinen  Fugen. Der Bolschewismus ist im siegreichen Vormarsch. Deshalb flehen die  Machthaber in Deutschland um die Hilfe ihrer imperialistischen Freunde in  Amerika und Frankreich. Deshalb der Hooverplan. Nicht deshalb, weil Hoover mit  dem werktätigen deutschen Volke Mitleid hat, sondern weil in Deutschland  Milliarden amerikanischen Kapitals stecken. Das droht, ihnen verloren zu gehen:  der Bolschewismus wird keinerlei Schulden der bürgerlichen Gesellschaft  anerkennen. Der Hooverplan bedeutet die Schaffung einer antibolschewistischen  Kriegsfront gegen die Volksrevolution, gegen die siegreiche Sowjetunion.
  Der Hooverplan bringt keine Erleichterung. Brüning erklärte: an der  Notverordnung wird nicht gerüttelt. Die Machtgier der Kapitalisten ist  unersättlich. Die Angst vor dem Bolschewismus zu groß. Deshalb scheitern alle  Pläne zur Liquidierung des räuberischen Youngplans. Deshalb werden alle  Schulden, die die herrschende Klasse gemacht hat, aus den Knochen des gesamten  werktätigen Volkes gepresst.
  Junge Arbeiter, deshalb kommt man Euch heute mit der faschistischen  Arbeitsdienstpflicht. Mit Zuckerbrot und Peitsche werdet Ihr erzogen. Für die  lausigen paar Mark Unterstützung sollt Ihr Zwangsarbeit leisten. Und weil die  Arbeitsdienstpflicht beschleunigt eingeführt werden soll, weil der Widerstand  der jungen Arbeiter wächst, weil nach dem sozialdemokratischen Parteitag  Hunderte junger Sozialdemokraten zu uns kommen hat der sozialdemokratische  Polizeipräsident Euer Kampforgan, die ,Junge Garde' verboten. Diese Zeitung  hier ist die Antwort der Gruppe Nostizstraße des KJV. Wir lassen den ,Jungen  Wühler' jetzt regelmäßig erscheinen. Er wird in Eurer Sprache zu Euch sprechen,  wird Euch den Weg zeigen aus dem Elend, den Weg unserer russischen Brüder, den  Weg der russischen Jugend und ihrer heroischen Kämpfe: den Weg zum Sozialismus!  Abonniert die ,Junge Garde'! Protestiert, kämpft mit uns! Sozialdemokratischer  Jungarbeiter, her zu uns! Hinein in den Kommunistischen Jugendverband!"
  
  Einer nach dem andern legte die vier Seiten starke Zeitung wieder hin. Alle  machten furchtbar ernste Gesichter. Nur Trude freute sich. Karl faltete die  Zeitung zusammen und trommelte damit auf den Tisch. Dann begann er langsam zu  sprechen:
  „Hm, ja, ganz gut. Muss aber noch viel, viel besser werden Der erste Artikel  ist ausgezeichnet. Hinten die gehen auch. Habt Euch Mühe gegeben "
  Ernst tat liebenswürdig, als ob ihm ein Lehrer unter seine Arbeit ,lobenswert'  geschrieben hat und platzte dann plötzlich los:
  „Genosse Karl, den nächsten Leitartikel schreibst Du Fass alles, was in den  nächsten Tagen passiert, zusammen und stell ihn mir in acht Tagen zu,  verstanden?'
  „Was? Ich? Mensch, ich bin so mit Arbeit überlastet. Das geht nicht. Aber ja. —  Ich werde sehen. Du bist ja ziemlich energisch, mein Lieber Du sollst doch die  Zeitung machen."
  „Genosse Gruppenleiter, zusammensetzen soll ich sie und las Material verwalten.  — Hab gar nicht vorher dran gedacht.
  Dann machte er eine ulkige Verbeugung, schnippte neckisch mit dem Finger und  wiederholte buchstabierend:
  „Zu—sam—men—set—zen. Ge—nos—se Grup—pen—lei—ter."
  Die Genossen lachten, Trude schlug Ernst lustig auf die Schulter wie ein  Rollkutscher und schließlich begann auch Karl zu grienen. Sie saßen bei Frau  Schade in der Stube. Frau Schade war zum Zellenabend der Partei gegangen. Hier  konnten sie ungestört alle Arbeiten besprechen. Doktor kramte in Theos  Bücherregal und legte ein Buch nach dem anderen auf den Fußboden.
  „Kiekt Euch den Bücherwurm an."
  „Du hast wohl gar keine Romane, Theo", rief Doktor, „hier liegen  Broschüren, Broschüren und nochmals Broschüren. Und ein paar Gorki-Bähde."
  „Die genügen vollständig. Hab keine Zeit zum Lesen, Mensch, wenn man alles  lesen sollte, was heute so rauskommt."
  Doktor stand auf und vergaß, die Bücher zurückzulegen. Er war aufgeregt, sah  seine Genossen an, räusperte sich mehrere Male und es sah aus, als wenn er  jetzt eine große Rede halten wollte.
  „Das ist Unsinn! Zum Lesen muss man einfach Zeit haben. Man muss sich auch mit  seinem eigenen Ich beschäftigen Das ist überhaupt noch ein Problem bei uns im  Jugendverband, jawohl! Man muss einen Ersatz, sozusagen einen Ersatz für die  Religion finden. Man muss die Genossen zum organisierten Denken erziehen. Diese  Frage steht vor allem auch später in der Aufbauperiode des Sozialismus. Diese  ganzen persönlichen Schwierigkeiten unserer Genossen kommen doch nur daher,  weil sie Arbeitsmaschinen sind. Ich sehe, Ihr lacht und versteht mich sicher  wieder mal falsch. Aber es ist so, Genossen."
  Trude schüttelte den Kopf hin und her und die Haare fielen Ihr ins Gesicht.  „Das sind doch mal wieder Theorien. Was heißt Ersatz für die Religion? Was  meinst Du überhaupt? Und wenn wir jetzt Arbeitsmaschinen sind, zäh und  dauerhaft, ununterbrochen an unserem Platz stehen, so kann doch das nicht  schaden. Und wenn eine Maschine, oder ein Teil von ihr, verbraucht ist, dann  wird sie eben abmontiert, mein Lieber. Das ist. bolschewistisch. In der  Jetzigen Situation brauchen wir nur Kämpfer, Arbeiter, die wissen, wo ihr Platz  ist. Und die werden sich nicht mit ihrem Ich beschäftigen, sondern nur mit dem  Kampf ihrer Klasse. Ersatz für Religion — nenne das Ding meinetwegen so, wie Du  willst, ist der Kommunismus und der Fünfjahrplan. Und wenn der Fünfjahrplan  beendet ist, dann kommt ein neuer. Genossen, die politisch klar denken, haben  keine Schwierigkeiten. Alle persönlichen Probleme werden so gelöst, wie es eben  möglich ist. Und wenn er dazu viel Zeit verbraucht, ist er eben kein guter  Kommunist."
  „Sehr richtig!"
  „Ja, aber wenn jetzt die Reaktion eintritt? Auf dem einzelnen ist doch die  Kollektive aufgebaut. Unsere Genossen sind durchweg alle sexuell  unbefriedigt."
  „Das kann ich gerade nicht behaupten", warf Ernst lachend ein.
  Trude lehnte sich auf dem alten Plüschsofa weit zurück.
  Ü ber ihrem Kopf lächelte das Leninbild.
  „Ach, Doktor. Darüber gibt es soviel Theorien in Russland heute noch. Speziell  über die sexuelle Frage. Da ist die Glas Wasser-Theorie, die Zehnmänner-Theorie,  da sind die schwarzen Mucker, die Askese predigen; und während sie ihre  Theorien aufstellen, löst die proletarische Jugend diese Fragen unter sich.  Eben weil sie viel realer zum Leben eingestellt ist. Das sind sekundäre Fragen.  Vielleicht muss man sich später damit beschäftigen. Aber das Grundlegende ist  doch: Schaffung von gesunden ökonomischen Verhältnissen. Damit ist auch die  sexuelle Frage gelöst. Die Schwierigkeiten, von denen Du sprichst, sind doch  nur technischer Natur. Angst vor Empfängnis, wo sollen wir hingehen und so  weiter."
  „Jawohl. Im Park, im Hausflur. Da müssen sie sich herumdrücken. Gebt ihnen eine  Bude und ein anständiges Bett, dann wird vieles besser", sagte Theo, als  ob er aus eigener Erfahrung spreche.
  Doktor war immer noch nicht beruhigt: diese Heuochsen, sie verstehen mich  nicht. Karl stierte nach der Decke und dachte nach. Doktor fing wieder an,  hartnäckig seinen Standpunkt zu vertreten.
  „Sieh mal, Trude, ich meine jetzt nicht nur das rein sexuelle. Es muss doch in  der Liebe auch etwas Psychologisches geben. Man kann doch da nicht einfach  immer mitmachen. Ich brauche jedenfalls einen geistigen Kontakt und eine  fördernde Umgebung... "
  „Ja, natürlich...  da kann man sich doch nicht einfach so hinlegen... Mensch,  hör doch bloß uff! Unsere Parole ist: alles für die proletarische Klasse. Auch  die Liebe. Dient sie dem Klassenkampf, fördert sie, gibt sie neue Kraft, dann  ist es gut, egal, wie es die Menschen fertig gebracht haben. Stiftet sie aber  Verwirrung und schafft sie Fesseln, dann fort mit ihr, dann ist sie  kleinbürgerlich, sentimental und rückständig. Erst im freien sozialistischen  Staat werden wir lieben können, wie wir wollen. So wie es jedem passt. Da gibt  es nur Kameradschaftlichkeit und Sexualität. Das ist die Liebe, die nicht mehr  abhängig ist von der Moral degenerierter Bürger und des Kapitals. Alles was im  Dienste des Klassenkampfes steht, ist für uns gut und wichtig. Das andere geht  uns nichts an. Und wer diese Fragen in den Mittelpunkt stellen will, stiftet Verwirrung  in den unklarsten Köpfen und ist auch kein guter Kommunist."
  Doktor sah sie betroffen an und setzte sich auf einen Stuhl.
  „Jetzt hört aber mit dem Gequatsche auf", sagte Theo. „Ist gar nicht  wichtig."
  Es klopfte und Elli kam, Sie kam fast immer zu spät.
  „Wo kommst Du jetzt her?"
  „Musste Überstunden machen. Ein paar sind auf Ferien, aber jeden Tag geht die  gleiche Post raus wie sonst. Da muss man doppelt arbeiten. Kein Vergnügen ... ."
  Doktor sprang auf: warum war sie nicht früher gekommen? Vielleicht hätte ich  eine Hilfe gehabt. Er gab ihr die Hand. Aber sie sah ihn ganz knapp an. Ihre  Backen waren von einem leichten Rot überzogen und ihre Augen glänzten. Die  anderen Genossen blieben sitzen. Als Gruß schlugen sie die Faust auf den Tisch,  dass er wackelte. Alle setzten sich zurecht und Karl begann:
  „Genossen, wir unterhalten uns jetzt ganz kurz über ein paar wichtige  organisatorische Arbeiten. Wir können ruhig sagen, dass unsere Landagitation  ein voller Erfolg war. Die Genossen, die wir mitgenommen haben, schlafen dort,  wo unsere Genossen geschlafen haben, die jetzt nach Langendorf gefahren sind ... "
  „Na siehste. Und Du hast erst so große Angst gehabt." „Der ,Junge Wühler'  ist auch fertig. Bis auf einige Mängel kann man damit zufrieden sein. Man muss  jetzt mit den Fünferführern den Vertrieb organisieren. Die Zeitung ist gerade  jetzt zum Verbot der ,Jungen Garde' zur rechten Zeit erschienen. Aber der  Hauptpunkt unserer Zusammenkunft bildet der schwächste Punkt unserer Arbeit:  die Betriebsarbeit. Wir haben einen schweren Rüffel bekommen. Und das mit  Recht. Uns nützt die Entschuldigung nichts mehr, wir haben keine Großbetriebe.  Der Betrieb „Deutsche Telefunken-Werke" liegt in unserem Bereich und da  muss jetzt mit aller Kraft vorgestoßen werden. Wie Ihr wisst, bestand dort eine  Betriebszelle, die wieder eingegangen ist, weil man dort alle unsere Genossen  und Sympathisierenden entlassen hat. Wir müssen einige Genossen bestimmen, die  gleich mit den Vorarbeiten beginnen und dann alle Kräfte unserer Gruppe darauf konzentrieren.  Ich glaube, dass alle Genossen von dieser Notwendigkeit überzeugt sind. Wir  brauchen die Betriebsarbeiterjugend. Und dieser Betrieb gehört zur  Metallbranche. Wir können dort die Frage eines siegreichen  Metallarbeiterstreiks nicht stellen, wenn keine Betriebsgruppe vorhanden ist.  Und sie wird geschaffen werden. Es muss einfach möglich sein. In einigen großen  Metallbetrieben hat der Lohnraub unter den Jugendlichen schon eingesetzt. Die  Jugendlichen werden ihre Forderungen neben denen der Erwachsenen stellen. Die  Jugend der RGO. wird den Kampf organisieren. Wir haben noch nichts getan,  Genossen; das muss sofort nachgeholt werden."
  Trude saß da, ernst und nachdenkend. In ihr brodelte eine ansteckende Kraft.  Doktor malte auf einem Stück Papier. Theo sprach:
  „Richtig, Genossen. Ich werde mich nach Feierabend zur Verfügung stellen,  trotzdem ich ja schon in einer Betriebszelle im Südosten bin. Aber das geht  nicht mehr so weiter. Vor uns stehen entscheidende Fragen. Ich konnte mich um  diese Frage weniger kümmern. Aber zum Donnerwetter, wir haben doch noch mehr
  Genossen!-------Doktor! Was ist mit Dir? Willst Du die Arbeit nicht
  ü bernehmen?"
  Doktor schreckte auf. „Was? Ich hab gar nicht richtig hingehört."
  „Das ist doch allerhand! Hört einfach nicht hin. Also, Doktor bekommt jetzt den  Auftrag, die Vorarbeiten zur Gründung einer Jugendbetriebszelle bei  ,Telefunken', Tempelhofer Ufer, zu organisieren. Die Genossen, die er dazu  braucht, soll er sich aussuchen. Ich empfehle den kleinen Genossen aus  Langendorf — den mit der Pfeife — und den neuen Genossen Erich Schmidt, der  sich gut eingearbeitet hat."
  „Also, Ruhe. Doktor und ich werden die Sache erledigen. Das ist besser  so", meinte Karl.
  Doktor pustete sich beleidigt auf. Er sagte in derselben Tonstärke wie Theo:  „Ja, ich bin einverstanden. Natürlich. Brüll mich aber gefälligst nicht immer  so an. Ich höre nicht schlecht!"
  „Na. Du hast doch eben geschlafen", erinnerte ihn Elly.
  Donnerwetter, von Elly hatte er das nun gerade nicht erwartet. Was war da los?  Sie war doch sonst anders. — Der Mensch bleibt eben nicht stehen. Er geht  weiter, wird klarer. — Noch dazu im Kommunistischen Jugendverband. Und Elly war  einen großen Schritt weitergegangen. — Ihm wurde ganz heiß zumute, er verspürte  aber keinen Zorn. Nur so ein ganz kleiner Wurm nagte in seinem Kopf und fraß  raspelnd an seiner Ahnungslosigkeit.
  Karl sprach weiter. „Die Antwort auf das Verbot der ,Jungen Garde' ist  ungenügend. Man muss die Jungarbeiterschaft der umliegenden Straßen  mobilisieren. Man muss eine Demonstration organisieren. Legal dazu einladen und  illegal organisieren. Die beste Möglichkeit bietet sich beim Verkauf des  ,Jungen Wühlers'... "
  Theo richtete sich auf. Er hatte sich eifrig Notizen gemacht und hatte schon  einen Plan.
  „Ich schlage vor, gleich morgen eine Haus- und Hofagitation durchzuführen.  Dabei können Zeitungen und Material verkauft und gleichzeitig auf die  Demonstration aufmerksam gemacht werden."
  „Jawohl, einverstanden. Will ein Genosse noch sprechen?"
  Keiner meldete sich.
  „Schön, gehn wir jetzt nach Hause. Doktor, Du musst Dich sofort an die Arbeit  machen. Heute ist Montag und spätestens Freitag verlangen wir einen positiven  Bericht. Besprich alles mit Karl."
  „Mal sehn, ich werde es jedenfalls versuchen. Wird schon gehn."
  Die Genossen standen auf und wollten gehen. Da besann sich Theo. „Wartet mal  einen Moment, Genossen. Einige junge Arbeiter aus der Nostizstraße haben sich  zu einer Klicke zusammengefunden. Man muss diesen Leuten zeigen, wie falsch sie  handeln. Ich weiß, wann sie ihre nächste Sitzung haben und werde hingehen und  mit ihnen sprechen. Weiter: Ihr kennt ja die Artikel, die der ,Angriff' über  die Nostizstraße schreibt, von wegen ,rotes Chicago' und so weiter. Diese  Artikel verfehlen auf die verbohrten SA.-Männer nicht ihre Wirkung. Der  Nachrichtendienst meldet uns heute, dass die Nazis einen Sturm auf die  Nostizstraße und auf das Lokal hier planen... ."
  „Oho! Lass sie man kommen!"
  „...darauf müssten wir eigentlich alle Tage vorbereitet sein. Man muss sofort  alle Abwehrmaßnahmen treffen. Vor allem gilt es, die Bevölkerung darauf  aufmerksam zu machen. Sie sollen ruhig ein paar Blumentöpfe mehr auf die  Fensterbretter stellen... Die ,Rote Jungfront' werde ich benachrichtigen. Die  haben ja darin mehr Erfahrung als wir und sie sollen die Leitung übernehmen.  Weiter wird uns mitgeteilt, dass die Brüder Viktor und Hermann Rhoden bei den  Nazis gelandet sind... ."
  „Das hab ich mir gedacht."
  „Ach, die armen, irren Freunde!"
  „Wir werden mit ihnen sprechen müssen. Und wenn wir es geschickt anfangen,  werden wir sie loslösen können. Stellen wir fest, dass sie sich an Überfällen  auf Arbeiter beteiligen, werden sie als Faschisten behandelt. Solche haben in  der roten Nostizstraße nichts zu suchen. So. das wäre alles."
  Leise liefen sie die Treppen hinab Im Hausflur standen Edith und Kater. Sie  taten harmlos, und Edith schüttelte ihr rotblondes Köpfchen, als ob sie sagen  wollte: ist nichts gewesen, meine Lieben.
  Die Straße war menschenleer. Nur an der nächsten Ecke stand wuchtig und sinnlos  die allnächtliche Schupopalrouille. Ernst lachte und stieß Theo an.
  „Du, da würde ich um die herum Plakate kleben. Die würden nichts merken Tun mir  leid, die armen Kerls. Jede Nacht müssen die auf die Nostizstraße  aufpassen."
  „Na, ja", gab Theo schläfrig zurück, „irgendwie muss doch der Hass gegen  die Kommunisten in ihnen organisiert werden,"
  Doktor wollte mit Elly nach Hause gehen. Aber sie war auf einmal verschwunden.  Er hatte das gar nicht bemerkt. Sonst sprach sie immer nach Sitzungen gern mit  ihm und ließ sich die Seele waschen. Aber heute haute sie einfach ab. Er lief  daher noch ein Stück mit Trude und legte seine altbekannte Platte auf.
  „Sieh mal, Genossin Trude, ich meinte ja vorhin gar nicht nur die Liebe Es gibt  doch Dinge im menschlichen Leben, die augenblicklich mit dem Kampf nichts zu  tun haben. Die einfach... "
  Sie unterbrach ihn auf eine grobe Art. Das tat sie sonst nie. Ihm ging heute  auch alles gegen den Strich.
  „Doktor, verschon mich bitte mit dem Gewäsch. Ich habe jetzt andere Gedanken.  Komisch, darüber möchtest Du Dich gern unterhalten. Warum sprichst Du nicht  über die anderen Fraßen, die wir behandelt haben. Über die Betriebszelle? Wenn  Du Dich darüber mit mir unterhalten willst, bitte."
  „Nein, eben das ist es ja. Das macht uns alle kaputt."
  Er lief los. Unterwegs murmelte er: „Ach, diese Weiber..."
  
  Am andern Abend hatte die „Klicke Edelsau"' ihre Sitzung. Vor einem Lokal  in der Bergmannstraße standen Franz und Kater.
  „Wer weeß, ob die Olle Lichtgeld verlangt?"
  „Ach wat. Ick hab ihr doch gesagt, wir machen später großes Eisbeinessen."
  Langsam kam einer nach dem anderen. Sie kamen gleichgültig, ohne Neugier.
  „Na, wat steht Ihr hier?"
  „Jeht man rin! Wir warten auf die andern, damit sie wissen, wo es ist."
  Hinter dem Schanktisch stand eine fette Wirtin. Unter ihren Augen lagen ein  paar ausgedörrte Tränensäcke. Als die Gäste kamen strich sie sich übers  spärliche Haar.
  „Wünschen die Herren etwas?"
  Ihre Stimme war die einer Greisin. Sie piepste, überschlug sich und war  lauernd. In ihren Backen schob sie etwas hin und her. Vielleicht einen Bonbon,  vielleicht auch einen Priem. Nein, die Herren wünschten nichts. Sie hatten kein  Geld Nur Franz kaufte sich einen Recher und sah die anderen knurrend an.
  „Mensch, een Becher könnt Ihr Euch doch bestelln. Wat is denn det... ."  flüsterte er.
  „Bestell doch, wenn Du willst. Hauptsache, Du bezahlst", gab Spinne ebenso  knurrend zurück.
  Im Schaufenster stand ein großes Vogelbauer. Da sprang eine alte, sehr alte  Dohle drin herum. Hinter dem altklugen Köpfchen hatte sie eine rote Stelle. Sie  krächzte erbärmlich, legte den Kopf weit auf die Seite und sah frech und  herausfordernd die Gäste an. An der Tür zum Vereinszimmer hing ein kleines  Pappschild: „Das Fangen von Schmetterlingen und Vögeln ist in meinem Lokal  verboten. Der Wirt." In der ganzen Bude roch es nach kaltem Rauch und  abgestandenem Bier. Der Geruch setzte sich sofort in die Kleider. In einer Ecke  stand ein eiserner Kanonenofen und daneben ein schmutziges, graues Plüschsofa.  Verschüchtert räkelten sich die Jungens. Die Wirtin legte eine Platte auf, und  das Grammophon quakte: „Auch Du wirst mich einmal betrügen, wirst mich nicht  immer lieben!" Kater feixte sich eins und sagte schmalzig, als ob ihm das  Herz auseinander reißen wollte: „Ach, ja." — Edith und Frieda kamen. Frieda  war scheu, sie sah sich ständig um und setzte sich dann auf einen Stuhl. Edith  lächelte, ihr Haar leuchtete, und sie trat gleich wie ein verschwitzter  Bauarbeiter an die Theke. Jeder dachte, sie bestellt sich jetzt einen großen  Korn und 10 Juno. Sie sagte aber nur mit leiser Stimme:
  „Ein Glas Himbeerwasser."
  Die Wirtin nahm die Bürste, fuhrwerkte damit in einem Glase herum und warf es  ein paar Mal im Spülbecken ärgerlich hin und her.
  „Los, woll'n wir anfangen."
  Sie gingen in das kleine Vereinszimmer. Die elektrische Lampe war für den  kläglichen Raum viel zu hell und blendete die Augen An der Wand hingen Bilder  in verschnörkelten Bilderrahmen. „Der Ausflug des Sparvereins ,Goldene 7' am  14. Februar 1909." Und darüber eins mit dicken, nackten Männern. Sie hatten  Brüste beinahe wie Weiber, und vor ihnen standen Zentnergewichte. Die Wirtin  kam hereingefegt und nahm die Decken von den Tischen. Sie knüllte sie unter dem  Arm zusammen und brummelte dann: „Ist wohl nicht nötig, wa?"
  „Nee, is bei uns janich nötig", echote Kater zurück.
  Franz setzte sich hin wie ein kleiner Bonze. Sogar ein kleines blaues Heft  hatte er vor sich auf den Tisch gelegt. Der Ordnung halber. Dann machte er ein  furchtbar ernstes Gesicht, und die anderen mussten grinsen.
  „Wat lacht Ihr denn, Ihr Affenköppe?" Wieder kicherten sie, und Edith  platzte laut los.
  „Du alte, rothaarige Hexe! Hör uff zu lachen. Wir machen jetzt unsere Sitzung ... "
  Komisch, die anderen lachten trotzdem weiter, und Spinne konnte sich nicht mehr  halten.
  „Halt mir feste, Mensch, ick muss wiehern. Junge, ick muss wiehern."
  Franz wurde wütend, lieber die Nasenwurzel legten sich wieder die kleinen,  ärgerlichen Falten. Er sprang auf und schlug die Faust auf den Tisch.
  „Zum Donnerwetter — was ist denn los? Wenn Ihr nicht ruhig seid, machen wir  eben keine Sitzung!"
  Langsam wurde es ruhiger. Die Wirtin kam noch einmal schwer fällig und bissig  herein.
  „Wenn Sie wat bestellen wolln, da is die Klingel. Da brauchen Se bloß ruff zu  drücken."
  „Na, passt mal uff", sagte Orje, „zu einer Sitzung gehört vorher ein Lied  Denn wird ooch die Stimmung anders."
  Auf die Stimmung kam es an, und sie sangen dann auch ein romantisches Lied.
  Die anderen Lieder singen sie lieber draußen, damit es die Leute hören und sich  ärgern. Sie zeigen sich nicht so öffentlich in ihren Stimmungen. Kein Mensch  wird die Psyche des jungen Proleten erkennen. Es sei denn, ein junger Arbeiter  packt sie vor ihm auf den Tisch, so wie sie ist.
  
  „Als schon der Vollmond hintern Hügel trat, 
  Saßen beim Feuerschein
  Einsam ein Cowboy und sein Kam'rad;
  Kam'rad schaute traurig drein. 
  Drauf spricht der andre: 
  Komm, Jim, und wandre, 
  Wandre mit mir zur Stadt.
  Schlag dir das Mädel wohl aus dem Schädel,
  Das dich betrogen hat. 
  Wo weilt sie jetzt...  ?"
  
  Statt ,Mädel aus dem Schädel schlagen sang Kater: „Schlag doch der Dirne eins  auf die Birne." Und Edith knallte ihren zierlichen Schuh gegen sein  Schienbein. Jetzt waren alle vernünftig. Stolz begann Franz: „Wir machen heute  unsere erste Sitzung. Zuerst müssen wir festlegen, wie viel Beitrag jeder  zahlen soll... "
  „Wat, Beitrag?"
  „Du bist wohl verrückt geworden!"
  „Haltet doch Eure Fressen! Beitrag muss doch gezahlt werden, das ist doch  überall so."
  „Von was soll denn die Fahne bezahlt werden? Und dazu ist es auch ganz gut,  wenn wir eine Kasse haben... "
  „Jawohl, janz richtig!"
  „Wenn jeder zehn Pfennig Wochenbeitrag bezahlt, denn ist das nicht zu viel.  Dann brauchen wir auch einen Kassierer, Wer soll den Kassierer machen?"
  „Orje! Orje!"
  „Nee, een Mädel. Edith. Ick schlage Edith vor."
  „Ach, die versauft det ganze Geld."
  Edith pustete sich auf; sie ließ sich nicht alles gefallen.
  „Rutscht mir mal den Buckel runter mit Eure dämliche Kasse."
  „... Also, Edith, willst Du Kassiererin werden?"
  „Wie sich det anhört: ,Willst Du Kassiererin werden?' Klar. Mensch, erst muss  aber mal eine Kasse da sein, Ihr Idioten."
  „Na, na. Pust Dir man nich so uff, Fräulein. Bei uns herrscht Bildung,  vastehste!'
  „... Schön, Edith ist Kassiererin. Jetzt wegen der Fahne. Alle Klicken sind  grün-weiß, wir natürlich auch. Also machen wir eine grün-weiße Fahne."
  „Na, hört mal her", sagte Gustav, „grün-weiß, schön. Aber wat rotet muss  doch auch bei sein. Machen wir eine grün-weiße Fahne und oben in der Ecke eine  rote Gösch!"
  „Unsinn", donnerte ihn Franz an. „kommt nicht in Frage. Bei uns wird keine  Politik getrieben."
  Was sollte man dazu sagen? Franz setzte ja doch immer seinen Kopf durch.
  Gustav wagte trotzdem noch einen schüchternen Einwand:
  „Wenn da ein bisschen Rot zwischen ist, so ist das doch noch keine Politik. Das  schadet doch nichts. Schließlich sind wir doch alle... "
  Die Tür ging auf, und lächelnd kam Theo ins Zimmer. Erst staunten die Leute,  dann wurden sie auf einmal alle unruhig. Franz Knirschte hörbar mit den. Zähnen  und senkte angriffslustig den Kopf wie ein anspringender Boxer. „Hoho! Du hast  Dir wohl verloofen, wat? Kommt hier einfach so rin, der Mensch."
  „N'abend, Jungens! Ihr habt Euch verloofen, wie ich sehe. Was ist denn das hier  für eine Zusammenkunft? Ku-Klux-Klan — oder die blutige Hand?"
  Franz ging seelenruhig auf ihn zu.
  „Hör mal, mein Lieber, Du kommst hier reingeschneit und fängst gleich an zu  flaxen. Wir sind jetzt eine Klicke, verstehst Du?"
  Franz wusste, dass es sich in dieser Situation dumm angehört hätte, wenn er den  Namen der Klicke nannte Den wusste ja auch Theo längst Und verstanden hatte er  auch. Jeder, außer Franz, kam und gab ihm die Hand.
  „Willst Du bei uns eintreten?"
  „Komm man, wir brauchen noch einen Wanderlehrling."
  „Ruhe jetzt! Setzt Euch wieder hin und lasst Euch von dem da nicht verrückt  machen."
  Theo stand da, mit einem seltsamen Lächeln. Er warf seine blaue Mütze mit dem  Fliegerabzeichen geschickt auf einen Kleiderhaken. Seine grauen Augen glänzten  freundlich. Er setzte sich hin und schlug die Beine übereinander. Seine  Gamaschen waren blank geputzt, und die Lampe spiegelte sich darin Eine unruhige  Pause trat ein. Die meisten schämten sich ein bisschen vor Theo. Warum, wussten  sie nicht. Der war immer so offen. Und nicht so grob wie der Franz. Er war  viel, viel klüger und hatte für alles Verständnis. Die meisten hatten mit ihm  gemeinsam die Schulbank in der Gneisenaustraße gedrückt. Jedenfalls hatte Theo  viel Sympathie.
  „Was ist los, was willst Du?" fragte ärgerlich Franz.
  „Ich will Euch was erzählen, damit Euch die Zeit nicht lang wird "
  „Haste gehört, Spinne?" sagte Kater fröhlich, „er will uns was erzählen,  die süße Sau. Ach, komm, Theo, nimm mich in Dein Nachthemd."
  Wieder setzte schallendes Gelächter ein. Franz wurde immer ohnmächtiger Er  fühlte den Beginn eines Zersetzungsprozesses. Die Klicke, seine Klicke war  gefährdet.
  „Hör mal, mein Lieber. Erst hast Du mir danach zu fragen. Ich bin hier  Klickenbulle."
  „Natürlich, Fränzchen. Du bist der Klickenbulle Das ist doch ganz klar. Ich  will Dir ja auch Deinen Posten nicht wegnehmen."
  „Ja doch, Mensch, lass ihn doch erzählen, Franz. Die anderen Sachen haben ja  noch Zeit."
  „Die haben eben keine Zeit!"
  „Ach, natürlich. Hab Dir man nich so."
  „Los, Theo, erzähle."
  Vorsichtig und tastend begann Theo zu reden. In seiner Stimme lag so viel wahre  Freundschaft und dann wieder ein bisschen Zorn. Viele der Jungens verzogen  nachdenklich die Lippen, während er sprach. Von Franz her schob sich eine  wachsende Kühle heran. Theo zeigte keinen Groll. Er bedauerte sie auch nicht in  ihrer erbärmlichen Hoffnungslosigkeit. Er sagte einfach das, was da war, Und in  ihrer Sprache.
  „Hört her, Jungens. Ihr habt jetzt eine Klicke gegründet. Mich wundert nur,  dass Ihr es nicht schon früher getan habt. Das macht doch viel mehr Spaß: so  alle zusammen. Ihr wollt eben irgendwie mal den ganzen Dreck vergessen. Aber  darauf kommt es nicht an! Ihr dürft nicht vergessen, dass man Euch verkommen  lässt! Ihr seid jung, steht mitten im Leben. Aber wie sieht Euer Leben aus. Was  soll ich Euch da einen großen Salm vormachen Wie Ihr zu leben gezwungen werdet,  wisst Ihr ja am besten, das spürt Ihr ja selber. Was ist der Sinn Eurer Klicke?  Ist das ein Weg zur Verbesserung Eurer Lage? Keiner wird ja sagen können. Nur  der oder jener wird etwas von Unterhaltung quatschen. Ihr braucht diese Unterhaltung  nicht. Ihr spielt herum und wandert genau so wie die Latscher. Zwischen Euch  und ihnen besteht kein Unterschied. Ihr schwindelt Euch alle etwas vor. Ihr  wollt einfach nicht ständig an Eure Lage erinnert sein. Das ist falsch. Gott  sei Dank seid Ihr alle miteinander noch knorke Kerls. Euch hat die bürgerliche  Gesellschaft noch nicht zu Lumpenproletariern gemacht. Aber dorthin führt Euer  Weg, meine Lieben. Und wenn Ihr dort seid, taugt Ihr nichts mehr für Eure  Klasse, dann seid Ihr verloren. Und das wollen meine Genossen und ich  verhindern, deshalb komme ich her und spreche mit Euch ganz kameradschaftlich.  Alle seid Ihr aus der Nostizstraße. Und die ist rot. Aber auch Euch brauchen  wir. Gerade jetzt in diesem Moment brauchen wir Euch, Jungens: wo die Arbeitsdienstpflicht  auf der Tagesordnung steht, wo immer neue Notverordnungen geschaffen werden, wo  Euch immer mehr an der Unterstützung abgebaut wird, wo die Faschisten immer  frecher werden, wo die Klassenjustiz unsere Freunde Hoffmann und Achtenberg zu 8  Jahren Zuchthaus verurteilt hat. Wollt Ihr Euch das gefallen lassen, Jungens?  Ihr müsst kämpfen. Ihr müsst raus aus Eurer Gleichgültigkeit, müsst Stellung  nehmen. Und Widerstand leisten. Wenn Ihr andere für Euch verbluten lasst und in  die Zuchthäuser stecken lasst, dann gut, landet auf dem Misthaufen des  Lumpenproletariats oder der Kleinbürger, nehmt alles geduldig hin, haltet Eure  Schnauzen und kuscht. Immer haben wir gekuscht. Besinnt Euch nur. Aber dann  wollen wir mit Euch nichts mehr zu tun haben."
  Theo hatte sie aufgerüttelt. Leichter Schrecken stand in ihren Augen, und die  Gesichter wurden ernst. Keiner sprach oder sah den
  anderen an. Niemand hatte Lust zu reden. Ihre letzte Freude war ihnen genommen:  die Freude an der Klicke. Sie wussten nicht, wie lange. Aber jetzt war alles  aus. Ihnen war wie einem, der tagsüber in der Bude sich auf den Feierabend  freut und dann abends feststellt, dass er ein Dreck ist. Ein Dreck mit Ärger  und Hass und Stunk. Edith seufzte, Kater, Gustav, alle seufzten. Still und beklommen  saßen sie da. Alles war erstarrt, und erst nach einer geraumen Weile löste sich  die dumpfe Beklemmung, Sie löste sich ab wie Schalen, blieb aber ganz dicht  neben ihnen liegen. Greifbar, mit kichernder, höhnischer Fratze...  Einer  begann:
  „Na, ja, Du hast recht. Aber... " Weiter sagte er nichts mehr. Kater  meinte kleinmütig: „Du hast gut reden, Theo." Edith begann wieder zu  lächeln. Sie war ja so ahnungslos. Spinne kratzte sich den Kopf, und Gustav  wäre am liebsten getürmt. Plötzlich sprang Orje auf und schlug mit der Faust  auf den Tisch.
  „Natürlich hat er recht! Natürlich hat er recht. Aber wir sind Feiglinge. Wir  haben sogar Peikbeen im Stich gelassen. Kein Schwein fragt sich auch nur  einmal: warum ist er verhaftet worden; warum muss er vier Monate sitzen?"  Ihm ging die Puste aus. Er schwitzte, wischte sich mit einem schmutzigen  Taschentuch das Gesicht ab und sank dann auf seinem Stuhl zusammen.
  Die Klicke versprach, an der nächsten Demonstration teilzunehmen. Das andere  wollten sie sich alle überlegen. Sie trotteten nach Hause. In ihre Stumpfheit  war ein kleines Loch gerissen worden. Das prickelte im Kopf, wenn sie nachts im  Bett lagen, warf sie hin und her und stimmte nachdenklich.
  
  Theo traf am gleichen Abend Trude bei Othello. Sie war aufgeregt und ärgerlich.  Sie schlug Krach und berichtete: in der Gneisenaustraße gibt es eine  Lederfabrik, Dort arbeiteten 25 junge Arbeiterinnen. Beim letzten Lohntag hat  man ihnen kurzerhand zehn Prozent vom Lohn abgezogen. Keine von ihnen war  irgendwie organisiert. Einmütig traten sie in den Streik. Sie stellten  Streikposten, jagten die Mädels, die der Nachweis geschickt hatte, zum Teufel  Zwei von ihnen wurden von der Polizei verhattet, zum Polizeipräsidium gebracht  und wegen Hausfriedensbruchs zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt. Sie konnten  sich nicht länger halten; gestern wurde der Streik abgebrochen. Über die Hälfte  der Arbeiterinnen wurde nicht mehr eingestellt. Heute erhielt Trude von einer  den Bericht. Theo staunte, und Trude lief aufgeregt hin und her.
  „Und wir Ochsen wissen von nichts. Wir hätten den Streik führen müssen. Wir  hätten die Mädels zusammenfassen müssen. Keiner hat sie unterstützt. Die Partei  weiß von nichts, die RGO. weiß von nichts, und wir wissen von nichts."
  „Ja, ein verfluchter Dreck! Da sieht man, wie wir gearbeitet haben. Na, das  muss endlich anders werden. Jetzt heißt es: Betriebsarbeit und nochmals  Betriebsarbeit."
  Trude konnte sich immer noch nicht beruhigen. Sie sagte so etwas, wie „die  Gruppenleitung zur Verantwortung ziehen" und „die Haare könnt' ich mir  ausraufen". Karl kam hinzu. An dem ließ sie ihre Wut aus. Der arme Knabe  kam sich mit Recht geprügelt vor und ließ den Kopf hängen. Er machte sich  Notizen und schob ohne Gruß gleich wieder ab.
  Das Radio spielte. Man hörte die ersten Klänge des Deutschlandliedes. Othello  sprang zum Apparat und drehte an den Schrauben. Auf einmal war es still im  Laden. Die Gäste waren befriedigt, und Othello fluchte. Ein paar stramme  Burschen saßen am Tisch und rauchten. Sie schienen gleichgültig und waren  ruhig. Keiner von ihnen trank Bier. Ein langer, mit Tabakspfeife und  Schiebermütze, stand auf und polterte die Treppen hinunter. Er sah aus wie Nat  Pinkerton. Ganz in der Ecke, am Ofen, saß Erich Schmidt. Vor ihm lag „Die Rote  Fahne". Theo setzte sich zu ihm und schlug ihm auf den Rücken.
  „Na, liest Du?"
  „Ja, früher hab ich das Zeug nicht verdauen können. Aber heute komme ich ohne  „Rote Fahne" nicht mehr aus. Nur die verfluchten Fremdwörter."
  „Ja, die sind schlimm, mein Lieber. Kannst nichts machen gegen. Es gibt auch  bei uns Leute, die alles in hochtrabende Worte kleiden müssen. Aber ist nicht  weiter schlimm. Wirst sie schon lernen."
  Theo war schläfrig Er bestellte zwei Mollen Halb und Halb. Othello kam  schwerfällig und stellte sie auf den Tisch.
  „Na, Jungs, was Neues?"
  „Nee."
  Theo brachte das Gespräch auf Elly.
  „Ist eine bessere Genossin geworden, als ich dachte. Hat sich in der letzten  Zeit sehr gut entwickelt."
  Erich wurde rot und sah verlegen zur Seite.
  „Wie viel ,Wühler' hast Du verkauft?"
  „Heute 35 Stück", sagte Erich und fuhr flüsternd fort: „Du, die beiden  Rhodens wollen mich werben. Ich soll mal einen Ausmarsch mitmachen."
  „Dufte. Wann?"
  „Sonnabendnacht bis Sonntagfrüh. Ich hab gesagt, ich werde es mir  überlegen."
  „Ist gut. Schadet auch gar nichts, wenn Du mitfährst und einen Bericht  anfertigst."
  Sie rauchten und plauderten nebensächliches Zeug. Was sollten sie sich auch  groß erzählen? Jeder wusste, was er zu tun hatte.
Erich traf sich mit Hermann und Viktor in der Yorkstraße; von da aus gingen  sie zum Sammelplatz am Halleschen Tor. Erich begrüßte die andern mit „Guten  Abend!" Viktor puffte ihn in die Seite. „Du, das gibt es bei uns nicht,  hier musst Du ,Heil' sagen. Das ist unser Gruß."
  Bald hatten sich zwanzig bis fünfundzwanzig Leute versammelt; gutmütig  aussehende Burschen, Kerle mit der Fresse der Fememörder und ahnungslose  Kleinbürgersöhne. Ein etwas dicker Herr war darunter, die Mundwinkel blasiert  herabgezogen. Fast alle trugen die graue Kleidung des alten Heeres, nur wenige  hatten Windjacken. An den Beinen sah man Wickelgamaschen und Bärenstiefel. Ein  langer Kerl kam stolz gelaufen, knallte die Hacken zusammen, rief übermäßig  laut „Heil" und verschwand in einem Lokal am Landwehrkanal. Nach einer  Weile kam er wieder heraus, auf den Kopf die Mütze des Kronprinzenregiments  gestülpt, stolzierte mit Offiziersgesten auf und ab und ließ sich bewundern.  Der Kopf war für den langen Kerl viel zu klein, die Mütze passte ihm nicht  recht. Einer war da, der musterte jeden der Anwesenden, dann gab er leise  Befehl, auf die Straßenbahnlinie 96 zu steigen und bis Machnow zu fahren, „ohne  Aufsehen zu erregen".
  Die Jungens waren stabil gebaut, sie versuchten, sich proletarisch zu benehmen.  Ein Bursche plapperte in der Straßenbahn davon, dass er früher auch mal beim  RFB. gewesen sei und die Fahnenspitze mit einem wollenen Lappen geputzt habe.  Erich fragte ihn, wo er denn damals gewohnt habe. „In der Nostizstraße, mein  Lieber. War in der Kameradschaft Kreuzberg.“ Erich hatte ihn noch nie gesehen.  Aber der Kerl wurde ja auch von seinen Kameraden als „Angeber" bezeichnet.  An vielen Haltestellen stiegen, einzeln oder in Gruppen, neue  Sturmabteilungsleute ein. „Wer weiß, wird’s regnen?"
  „Ach wo! Wenn wir rausfahren, nicht! Frontsoldaten fragen auch nicht danach,  wie das Wetter wird, Du Muttersöhnchen."
  In der Ecke neben Erich unterhielten sich die beiden Rhoden mit etlichen  unbefriedigt dreinschauenden Jünglingen:
  „Ja, sollten wir nun mit Schulterriemen kommen oder nicht? Ich bin der Meinung ... "
  „Uns hat der Stuf erklärt, der Schulterriemen bleibt zu Hause." „Ich bin  aber anders informiert. Mit Euch zu debattieren, hat ja gar keinen Zweck."
  Der Sturmführer erschien, warf böse Blicke umher und beendete den Streit.
  An Erich schob sich der lange Kerl mit der Kronprinzenregimentsmütze heran. Er  schnarrte: „Sitzt falsch. Uff die andere Seite. Wie siehste denn aus?"  Dabei deutete er auf Erichs Brotbeutel, der an der rechten Seite hing, während  ihn die Nazis auf der linken Seite trugen.
  Eine Dame stieg ein; sie wollte wahrscheinlich nach Teltow zum Vergnügen und  hatte sich dementsprechend aufgetakelt. Die Rauhbeine im Wagen markierten  Kavaliere, rückten zusammen und nahmen sie in ihre Mitte. Nach einer Weile  sagte jemand eine Schweinerei, die Jüngsten kicherten, andere wieder grienten  nur verstohlen. Als die Dame an einer der nächsten Haltestellen ausgestiegen  war, schimpfte der Gruppenführer: „Wenn Leute dabei sind, lasst gefälligst die  Sauereien, verstanden! Was sollen die Leute sonst von unserer Bewegung denken?  Auf die fällt es doch letzten Endes zurück. Also, kommt nicht wieder vor."
  Die Gerüffelten schwiegen und senkten den Kopf. Die Straßenbahn schaukelte  jetzt durch Rieselfelder; es war neun Uhr abends. Die Machnower Schleuse war  der allgemeine Treffpunkt. Es ging über eine Brücke hinein in den Wald. Überall  Flüstern und glimmende Zigaretten. Alle waren gespannt in Erwartung.
  Nach einer halben Stunde pfiff jemand. Viktor nahm Erich an der Hand und rannte  mit ihm los. Hermann fiel fluchend über einen Baumstubben. Ein Mann, den  niemand sehen konnte, gab Befehle.
  „Achtung! Au—gen ke—ra—de aus!! Links — um! Rechts — um! Alle, die nicht  versichert sind, vortreten!"
  Erich trat vor die Front, zugleich mit ihm ein dicker Junge in Halbschuhen und  Mantel
  „Sie machen die Übung auf eigene Gefahr und Risiko mit. Sie scheinen noch nicht  zu wissen, dass wir eine SA.-Versicherung haben! Kehrt — Marsch!"
  Für diejenigen, die sich verlaufen oder „blind" gehen sollten, wurde das  Marschziel angegeben.
  „Achtung! Uhren stellen: es ist jetzt genau neun Uhr achtunddreißig.  Fertigmachen! Im Gleichschritt — Maarsch! Links, zwei, drei, vier, links, zwei,  drei, vier!"
  Ungefähr zweihundert Mann marschierten los, eingeteilt in Stürme, Trupps und  Scharen. Die Nacht war still und schön. Manchmal flüsterte einer, dann brüllten  die andern los: „Maul halten! Schmeißt doch den Kerl raus, der versaut ja  alles!"
  Der vorn brüllte wieder und kam nach hinten gerannt: „Vordermann halten! Was  ist denn da schon wieder?! Oh Gittigittigit!"
  Erich dachte: schade um die Jungens. Manche sind ganz sympathisch. Das macht  denen nun Spaß, sich hier so dressieren zu lassen...  Irgendwas brauchen sie  doch... 
  Um Mitternacht kamen sie müde und abgehetzt in ein Dorf. Der Führer ließ halten  und sagte flüsternd: „Hier sind zwei Lokale. In dem einen sitzt die Kommune, in  dem andern das Reichsbanner. Also mosert nicht, wir sind in der Minderzahl, und  unsere Schutzstaffel ist nicht hier. Wegtreten!"
  Erich lief mit Viktor los. Im Lokal waren alte und junge Arbeiter. Die hatten  alle braungebrannte Gesichter und harte Fäuste, die meisten rauchten Pfeife. Am  Billard war Betrieb. Viktor bestellte großzügig drei Glas Bier und holte Äpfel  aus dem Brotbeutel. „Da, die gibt uns der Alte immer mit. Früher gab’s das  nicht, aber jetzt ist er schon viel vernünftiger geworden."
  Hermann lehnte sich lässig zurück. Er war ärgerlich. „Was soll denn das  dämliche Marschieren nun bedeuten? Man wird bloß müde; und dann die alte  Großschnauze."
  „Hör doch auf, Du verstehst eben nichts vom Gemeinschaftsgefühl. Das ist doch  herrlich, so mit den Kameraden durch den Wald marschieren! Und kein einziger  Jude ist dabei. Herrlich ist das! Bald werden wir den Marsch ins ,Dritte Reich'  antreten."
  Er sagte das so feierlich, beinahe zürnend, dass sich Erich zusammennehmen  musste, um nicht laut loszulachen. Er dachte nur: armer, irrer Freund.
  Wieder wurde eine Stunde marschiert. Dann ertönte das Kommando: „Marschordnung!  Jetzt darf geraucht werden!" Die Gruppenführer liefen nach vorn.
  Jedes Mal bei ,.Marschordnung" oder „Pause" wurde hinzugefügt: „Jetzt  darf geraucht werden!" Das fiel Erich auf; er fragte Hermann, was das zu  bedeuten habe. „Ach, gar nichts. Aber wir rauchen alle ,Sturm', das ist die  Zigarette nationalsozialistischer Produktion, vollständig trust- und konzernfrei.  Kein Jude ist daran beteiligt Aber ich rauche sie nicht mal gern, die schmecken  lange nicht so gut wie eine ,Juno' und kosten fünf Pfennig. Hier hast du eine.  Aber mach sie nicht schlecht, wenn Viktor dabei ist."
  Immer weiter ging’s. Zoten wurden gerissen. Sie kicherten, wenn einer solche  Worte im Munde zerkaute, waren wie die Kinder.
  „Achtung! Die ganze Scheiße wegtreten!" Alles sprang in die Büsche und  pinkelte. Zu Erich kam der lange Kerl, er knöpfte sich gerade den Hosenstall zu  und sagte mit verstellter Stimme: „Tag, Kamrad! Sag mal, woher kennen wir uns  bloß? Hab ich Dir nicht bei Verdun einen Granatsplitter aus der Brust  gezogen?"
  Erich antwortete: „Verschwinde hier!" und dachte: Natürlich, den trägst Du  jetzt mit Dir im Kopf herum, Du langes Gelumpe. Der Lange war einen Moment  verwundert, sah Erich knapp an und lief dann weiter. Er haute einen andern an:  „Donnerwetter! Da treffen wir uns wieder! Wir waren doch zusammen am Isonzo,  stimmts?"
  „Ja, Du bist der Lange, der immer so gestunken hat, wenn die Granaten platzten,  Siehste, jetzt kenn ich Dich."
  „Ach, Du Affe! Versau doch nicht alles! — Nicht wahr das war ne Sache. Drei  Meter unter Schnee gelegen und geladen und geschossen und geladen und  geschossen, und zum Schluss haben wir überhaupt nur noch geschossen. Bin doch  damals Offizier geworden, hab das Eiserne Kreuz erster Klasse, teurer  Kamerad!"
  Es liefen noch viele andere herum und unterhielten sich in dieser Art, auch  Viktor. „Was? Woher wir uns kennen? Ich war bei Immelmann. Hatte mit meinem  Fokker gerade zwei Franzosen abgeschossen, da kamst Du angesurrt. Dein ganzer  Apparat hat gebrannt, und ich habe Dich gerettet. Mensch, das war ne Sache,  wat, Kamerad?"
  „Ja, ja, bloß mir gehts schlecht, ich habe eine alte Brandwunde, die ich damals  abbekommen habe, bricht immer auf. Das juckt wie die Pest. Aber lass ma, bald  fliegen wir wieder über Frankreich . . "
  Es wurde schon schummrig, als sie an die Kemmelberge kamen. Ein anderer Trupp,  der zu ihnen stoßen sollte, hatte sich verspätet, und sie mussten in die Büsche  kriechen. Nach einer Weile großes Geschrei: „Ah, da sind sie ja! Da sind sie  ja! Hurra! Hurra!"
  „Da! da krauchen sie in die Büsche rum!" — „Haltet die Schnauze!"  brüllte sie der Führer an. „Wir warten hier auf Euch." — „Ach so."
  Jetzt war der oberste Standartenchef nicht zu finden, und sie mussten gemeinsam  Grüßen und Ausrichten üben, Scheinwerfer tasteten sich zaghaft von weither an  den Baumreihen entlang, bald polterten zwei elegante Autos über die holprige  Chaussee. Erich dachte, dass es eine Parade geben würde, aber sie mussten durch  einen feuchten Grund und auf lehmigen Wegen zu einer Lichtung im Walde  krauchen. Hier wurden Fackeln angezündet, und die Trupps stellten sich im  Kreise auf. Dann sprach der Osaf. Er knöpfte sich jede Gruppe vor. Viele wurden  gelobt, andere getadelt. Er sagte auch, väterlich herablassend wie ein  freundlicher Feldherr: „Euch muss man die Jacke vollhauen, wenn Eure Gruppe  nicht in Ordnung ist!"
  Seine Stimme wurde plötzlich feierlich: „Einer unserer Kameraden hat Hand an sich  gelegt. Ich betone ausdrücklich, dass es eine Schande für unsere Bewegung ist.  Wir haben alle den Glauben an unseren herrlichen Führer Adolf Hitler!"
  „Eben deshalb hat er es ja getan", murmelte jemand ganz leise; manche  hatten es gehört, sagten aber nichts.
  „Das ,Dritte Reich' ist nicht mehr fern. Wir dürfen jetzt nicht verzweifeln! —  Jede Gruppe hat einen kräftigen Mann zu stellen für eine Ehrenwache. Wir singen  jetzt die erste Strophe von ,Die Fahne hoch!'
  Dann zogen sie weiter. Der Weg wurde immer schlechter, Links und rechts  Lehmlöcher. Der Dreck blieb zäh an den Schuhen kleben. Hermann knurrte ab und  zu ärgerlich. Viktor träumte von seinem Flieger. Knappe Kommandos vorn, die man  hinten nicht verstehen konnte. Der Zug hielt, und der Plan des Geländespiels  wurde bekannt gegeben: das Gros wurde eingeteilt in drei Trupps; der eine Trupp  soll verhindern, dass die beiden anderen in das Dorf gelangen. Das Dorf A hat  zwei Zugangsstraßen und eine stark kommunistisch verseuchte Bevölkerung. Die  Verteidiger waren die Rote Armee, während die Armee des ,Dritten Reiches'  angriff. Erich und auch die beiden Rhoden gehörten zum Lehrkorps der Roten, das  einen kleinen Weg bewachte, der von der Schule aufs freie Feld hinausführte,  Patrouillen wurden ausgeschickt.
  Es war kühl geworden, die Leute vom Lehrkorps froren und krochen eng an einer  Mauer zusammen. Sie flüsterten. Einer ließ einen Furz, und ein anderer trat ihn  dafür in den Hintern. Sie kamen sich wichtig vor und benahmen sich wie alte  Frontkrieger. Ein Ostpreuße erzählte schaurige Geschichten von toten Russen,  die des Nachts auf weißen Pferden über Felder reiten sollen und ohne Köpfe auf  den Äckern herumsitzen. Er wurde ausgelacht, dann wurden die Jungens  nachdenklich und still.
  Einer von den Vorgesetzten kam: „Los, hin zum Dorfplatz! Hier beherrschen wir  alles mit unserem schwerem MG. Dalli, dalli!"
  Dort mussten sie wieder endlos lange warten. Das machte alles keinen Spaß mehr,  sie wurden ungeduldig. Aber das gehörte auch zum Kriegspielen.
  Plötzlich stürmte aus einer Straße ein dunkler Haufen Menschen. Sie rannten  alles um, hatten gesiegt, und die Roten mussten sich ergeben. Erich wurde  angerufen: „Halt! Bleib doch stehen! Du bist ja längst tot, rennst ja immer in  der Feuerlinie herum!" Aber er kümmerte sich nicht darum, er hatte die  Schnauze voll. Die SA.-Leute waren enttäuscht, das Spiel hatte irgendwie nicht  geklappt. Aber da der Osaf geäußert hatte, dass er nur die Marschleistungen der  Leute prüfen wolle, beruhigten sie sich bald wieder.
  Der Marsch ging weiter. Die meisten hatten nasse Füße. Gesungen wurde nicht und  gesprochen sehr wenig, es kam nicht mehr die richtige Stimmung auf. Um neun Uhr  morgens gab es Mehlsuppe ohne Salz und Zucker. Nur wenige aßen mit Heißhunger,  die meisten hatten gut belegte Stullen mit.
  Viktor und Hermann wollten mit ihrem Sturm noch etwas unternehmen, aber Erich  verdrückte sich und ging nach Stahnsdorf zur Straßenbahn.
  Die Bahn war überfüllt. Mit Erich stiegen noch ungefähr zehn SA.-Leute ein. Sie  waren alle in Stimmung und sangen Landsknechtlieder. Einige unterhielten sich  laut über das Geländespiel: „. . . die ganze Kommune zusammengehaun, Kamrad!  Dorf umzingelt, und dann auf sie!... ."
  Die Leute staunten, ein alter Arbeiter sagte laut: „Ihr Arschlöcher!" Aber  die Nazis waren so fröhlich, dass sie nichts hörten. Der lange Kerl war auch  wieder dabei und gab schaurig an: „Kommt da so eine Granate rübergebrummt, die  platzt, alles kaputt. Ich, mein Monokel ins Auge geklemmt, Monokel in Kakao  gefallen, Monokel ganz geblieben, Kakao voll—stän—dig zertrümmert. Ne Sache,  was Kamerad?"
  Es wurde leerer im Wagen, und sie setzten sich. Einer schlief gleich ein und  legte seinen Kopf schwer auf die Schulter des Nachbarn. Die Straßenbahn  holperte und er rülpste dazu im Schlaf. Eine steinalte Frau stieg ein. Sie sah  sich um, kein Mensch stand auf. Erich hatte keinen Sitzplatz. Die Frau war  armselig gekleidet. Um die Schultern hing ihr ein zerfranstes Umschlagtuch.  Aber die Rauhbeine saßen da, als wenn sie auf einer Tonne weichen Kaugummis  hockten, die meisten starrten aus dem Fenster und zählten die Pflastersteine,  die übrigen stellten sich schlafend Sie waren ja auch müde, die ganze Nacht  marschiert und gekämpft. Die Frau schob die Tür auf und ging auf den  Vorderperron. Nach einer Weile kam sie zurück, es war zu windig draußen. Ein  Mann mit Hornbrille, der ein kleines Kind auf dem Schoß hatte, stand auf:  „Setzen Sie sich! Hier im Wagen befinden sich anscheinend ein paar betrunkene  Lümmels." — „Erlauben Sie mal! Meinen Sie etwa uns damit?!"
  An der Gneisenaustraße stieg Erich ab und lief nach Hause.
  
  Am Abend traf er Theo zusammen mit Trude.
  „Na, wie war’s?"
  „Aus den Übungen bin ich nicht recht schlau geworden, die waren alle versaut.  Aber ich. habe andere Beobachtungen gemacht. Ist ganz interessant, da mal so  mitmachen."
  „Mach einen Bericht für den Gegnerobmann, Erich! Vielleicht kann er was  brauchen davon. Mal sehn, wenn’s geht, werden wir auch was in unsere Zeitung  setzen. Bist Du müde?"
  „Au, saumäßig. Jetzt hau ich ab, ich schlaf erst ein paar Stunden. Rot  Front!"
  Am Montagabend saßen Hermann und Viktor in ihrer Stube beisammen. Sie bekamen  jetzt regelmäßig eine Zeitung zugeschickt, die von oppositionellen SA.-Leuten  zusammengestellt wurde. Auf der Titelseite war das Bild eines stämmigen  SA-Mannes in Uniform, der eine Fahne in den Fäusten hielt. ,Sprachrohr' war der  Titel der Zeitung, ,herausgegeben von den aufrechten Soldaten der deutschen  Revolution'. Viktor brachte die Nummern jedes Mal seinem Gruppenführer, aber  Hermann hob sie sorgfältig auf.
  Er hatte Nr. 4 vor sich liegen und las aufmerksam einen Artikels
  „Ein Ablenkungsmanöver! Wie unser Wahrheitsverkünder, der ,Angriff, Euch  beinahe täglich erzählt, klaut uns die Kommune unsere Parolen und geht damit  hausieren. Russland hat bekanntlich den Fünfjahrplan. Was lag näher, als die  Praxis, die wir seit Jahren verfolgen, fortzusetzen und die Arbeitsmethoden der  Kommune nachzuahmen, wie üblich im Westentaschenformat. So entstand also unser  so genannter Zweimonatsplan, der eine ziemlich jämmerliche Nachäffung des  Fünfjahrplans darstellt. Was will der Zweimonatsplan? Innerhalb dieser  Zeitspanne soll der Mitgliederbestand unseres Gaues verdoppelt werden. Ganz im  Gegenteil zu dem sonst immer betonten Auslesebetrieb wird man wohl dazu  übergehen müssen, alles, was nicht gerade polizeiwidrig dof ist, in die Partei  zu pressen. Insbesondere wird man wohl in Anbetracht der katastrophalen  Finanzlage des Berliner Gaues Wert darauf legen, kapitalkräftige Revoluzzer zu  gewinnen, die dann in den vordersten Reihen der Stoßtruppen für das ,Dritte  Reich' kämpfen sollen. Das kann eine schöne Entwicklung geben! Seht Euch doch  heute schon einmal in Euren Sektionen um, Ihr werdet kaum einen Arbeiter  finden. Was Ihr seht, sind Spießbürger, Konjunkturritter und ähnliche  Dunkelmänner, die aus opportunistischen Gründen sich in die Partei aufnehmen  ließen. Und wo noch Arbeiter stecken, stellt man fest, dass sie nur noch  passive Mitglieder sind, von ernsten Zweifeln an der Parteileitung befallen. Im  Grunde genommen will man sie auch gar nicht mehr haben. Hoffen die paar  revolutionär eingestellten, ehrlichen Sozialisten, die es bei uns immer noch-  gibt, wirklich, mit solchen Mitteln die innere und äußere Befreiung  Deutschlands erringen zu können? Das Gegenteil wird der Fall sein. Wir paar ehrliche  Sozialisten werden von den neu Hinzukommenden ganz an die Wand gedrückt und  kalt gestellt werden. Nicht der Arbeiter kommt zu uns, sondern derjenige, der  glaubt, bei uns Pfründe erobern zu können. Die sechshundert Bewerbungsschreiben  an den ,Angriff sprechen eine deutliche Sprache. Seht Euch unseren Gau an. Wo  findet Ihr da noch Arbeiter? Offiziere und Akademiker sind dort tonangebend. Wo  waren die Leute, die heute das Heft in der Hand haben, in den Anfängen der  Partei, als wir, gejagt von der Kommune, unsere Schädel hinhielten im Kampf um  das ,Dritte Reich', an das wir alle einmal inbrünstig geglaubt haben?"  Hermann presste die Lippen aufeinander. Er sah starr auf den Fußboden. Seine  Hände zitterten nervös. Er wusste: Das war kein Judenschwindel, das war die  Sprache eines ehrlichen, nationalsozialistischen Arbeiters, der noch an die  Revolution Hitlers glaubt. Dann las er weiter: „Wir sind betrogen! Die Partei  ist heute ein hohler Koloss auf tönernen Füßen, den ein gar nicht zu kräftiger  Windstoß zu Fall bringen wird. Der Zweimonatsplan zerstört noch mehr das  Fundament. Der Koloss aber wird sich vergrößern, um dann umso eher  zusammenzukrachen. Denkt an alles, was innerhalb des letzten Jahres geschehen  ist, welchen Weg die Partei gegangen und welchen sie noch gehen wird. Den Weg  in die Koalition mit den Brüning-Jesuiten und Kohlenbaronen, den Chemiekönigen  und Bankfürsten, den Weg des Abbaues der Sozialfürsorge und des Arbeitslohnes.  Das ist der Weg der finstersten Reaktion! SA.-Mann, Parteigenosse, willst Du  diesen Weg gehen? Nein! Steuer herum und fest in die Hand genommen! Unser Ziel  sieht anders aus!"
  Das war eine harte, bittere Sprache. Hermann ließ das Blatt sinken und staunte.  „Das ist so, Viktor. Ich hab doch auch meine Augen offen gehabt."
  „Du bist ja wahnsinnig! Du hast keinen Glauben an die Idee, Du bist ein  Nörgler. Alles, was andere sagen, glaubst Du. Aber unsere Schriften lässt Du  links liegen!"
  Hermann stand auf und sagte laut: „Weil die mir nichts bieten! Ich habe doch  das Programm von Feder gelesen, das ist so kahl, so kahl und hohl sage ich Dir,  ich lese schon, mein Lieber. Und das hier haben nicht andere geschrieben."
  „Das glaubst Du, aber ich nicht. Das bringt nur so ein jüdischer Schmierfinke  fertig."
  „Ach so! So tust Du alle sachlichen Argumente ab: alles ist Schwindel. Aber  hier — die Leute sind doch genau informiert: hier ist ein Bericht vom  Parteitag, hier ist der Bericht eines SS.-Mannes, wie sich Hitler in Berlin  bewachen ließ, hier schreiben sie über die Verhältnisse im Gaubüro, wo man  Friedrichstadtnutten Karten zum Sportpalast schenkt und einfach mit Bleistift  die Preise ändert. Das müssen doch Leute von uns sein. Vielleicht ist einiges  übertrieben. Ich will jedenfalls nicht nur gehorchen, wie Hitler sagte, ich  will überzeugt sein, will wissen, wofür ich kämpfe. Die erste Zeit ging das ja.  Aber ich finde nicht das Wissen, das ich brauche. Unsere Gegner können uns  alles widerlegen. Vor allem die Sache mit Leutnant Scheringer hat mir zu denken  gegeben, hier liegt eine Broschüre von ihm, seine Briefe aus der Festung."
  Viktor verzweifelte daran, seinen Bruder zu überzeugen. Er brüllte darum seinen  Bruder an: „Alles Schwindel! Alles Schwindel! Scheringer ist von jeher ein  Schwindler gewesen!"
  „Ach so. Und damals hatte ihm die Partei ihre großen Erfolge zu danken. Denke  nur an den Prozess der Ulmer Offiziere, da war er für uns der Mustertyp des  deutschen Offiziers. Genau so, wie es mit den Bombenlegern von Schleswig war.  Zuerst waren sie unsere Bauern, wir haben sie für unsere Propaganda ausgenützt,  und heute laufen die zur Kommunistischen Partei. Die kümmert sich als einzige  Partei um Klaus Hein, und der Bauernführer Salomon gibt die Erklärung ab, dass  er mit dem Bauernhilfsprogramm der KPD. einverstanden ist."
  „Ja, weil er ebenso wenig Glauben an die Idee hat, wie Du, nicht etwa, weil er  da einen ,Schwindel durchschaut' hat. Ich habe Vertrauen zu unseren  Führern."
  „Hm. Ja. Das Sprengstoffattentat auf Goebbels kommt mir auch recht komisch vor.  Und... "
  „Halt' Deine Schnauze, Mensch! Mach unsere Führer nicht schlecht, oder ich  breche mit Dir!"
  Viktor schlug die Tür hinter sich zu. Das hatte er ja kommen sehen. Diese  verfluchten Zeitungen, wenn er nur den Kerl erwischen könnte, der sie in den  Kasten steckte!
  Hermann setzte sich wieder. Ihm tat Viktor leid. Mit seinem Bruder hatte er  sich immer gut gestanden — aber er konnte nicht anders handeln. Müde nahm er  das Blatt wieder zur Hand.
  ,Wenn Goebbels schnorren geht', hieß ein Artikel, in dem ein SA.-Mann eine  Versammlung beschrieb, die zum Zwecke der Kassenstärkung veranstaltet worden  war. Er hatte als Arbeiter versehentlich eine Einladung bekommen. „... Ich  glaubte in eine Versammlung von Mitgliedern der Nationalsozialistischen  Arbeiterpartei zu kommen. Zu meinem riesengroßen Erstaunen fand ich dort nur  Leute vor, die in einer Arbeiterpartei nichts zu suchen haben. Es waren dort  Akademiker, Hoffräuleins, Offiziere und sonstige Monokelträger, nur keine  Arbeiter...  Für mich war es sehr aufschlussreich festzustellen, dass zirka  fünf bis zehn Prozent von den Anwesenden verdammt nach Kanaan aussahen, ob das  bloß die Wesensverwandtschaft mit dem Doktor gemacht hat?...  Scheinbar ist ein  neuer Mercedes fällig...  Wie lange noch?"
  Unter dem Artikel befand sich ein Bild, wie Goebbels sich vor einem dicken  Herrn verbeugt, der eine Zigarre im Maul hält und seine Brieftasche zieht;  daneben als Text: „Mein Krampf! Ein Gewinnen des bürgerlichen Wahlstimmviehs  aber darf niemals das Ziel dieser Bewegung sein."
  Hermann warf die Zeitung zu Boden und sagte laut:. „Ach, was? soll man da bloß  machen..."
  
  An diesem Abend traf sich die Gruppe ,Nostizstraße', die Genossen steckten sich  die Taschen voll Material und gingen zu vieren oder fünfen in die Häuser.  Ernst, der kleine Bauer aus Langendorf und noch zwei andere Genossen bildeten  einen Trupp. „Nu los, wollen mal den anderen was vormachen! Wir müssen das  meiste verkaufen."
  Öde lag die Nostizstraße da. Vereinzelt kamen Leute, verschwanden in den  Haustüren. Ein kleiner Genosse mit frechem Gesicht und Stupsnase fuhr auf dem  Fahrrad die umliegenden Straßen auf und ab. Es war still, wie eine dunkle Wolke  legte sich das Schweigen auf die Erde und brachte graue Träume mit. Da und dort  brannten schon zaghaft die Lampen in den Häusern. Überall tauchten kleine  Gruppen der Genossen auf. Zurufe flogen hin und her.
  „Du nimmst den Vorderaufgang mit Peter. Wir bleiben hinten. Los, die Häuser  werden bald zugemacht."
  Herr und Frau Mädicke saßen in der Stube, beide hatten den Kopfhörer um, er  rauchte eine abgeknabberte Pfeife, sie stickte etwas Undefinierbares, Ab und zu  knackte es im Radio, dann verzog sie knurrend das Gesicht, und er sprang auf  und drehte an allen möglichen Schrauben. Eine böse Behaglichkeit lag im Zimmer.  Die Fenster waren fest geschlossen. Manchmal lächelte Frau Mädicke leise, dann  wurden ein paar Zahnstumpen sichtbar, und ihr Gesicht sah noch hässlicher aus  als sonst. Ihre Augen bekamen einen fernen, sehnsüchtigen Glanz, mit weicher  Stimme sagte sie: „Ah, die singt aber schön!"
  Der Mann hörte nicht, sie wurde wütend und brüllte ihn an: „Hast Du Dreck in  den Ohren?!"
  Umständlich nahm er den Hörer vom Kopf. „Was sagst Du?"
  „Ach Gott, der Mann! Der Mann macht mich noch verrückt! — Jetz rutsch mir den  Buckel runter!"
  Eine Weile war es wieder still im Zimmer, dann klingelte es schrill. Erstaunt  sahen sich die beiden Mädickes an. „Wer kann das noch sein, so spät?"
  „Herrgott, frag doch nicht so lange, geh hin und mach auf!"
  Er humpelte in seinen grünen, bestickten Filzpantoffeln los. Vor der Tür  standen Ernst und noch einer.
  „Guten Abend! Ihnen kommen wir auch mal besuchen, Herr Mädicke. Sehen Sie mal,  unsere Zeitung, die ,Junge Garde', ist von Grzeszinski verboten worden. Da  haben wir 'ne neue herausgegeben, ,Der junge Wühler'. Die ist dufte, Sie,  kostet nur fünf Pfennige."
  „Ja, ja, ich — ich, warten Sie mal, meine Frau... "
  Da brüllte sie auch schon hinter ihm, keifend und giftig: „Mach doch die Türe  zu! Wat unterhältst Du Dir denn so lange!"
  Er trat schüchtern zur Tür und gab ihr mit dem Fuß einen Tritt. Die beiden  Genossen grienten sich eins. „So ein Pantoffelheld! Die Frau ist eine  Hexe."
  Frau Mädicke war ganz aufgeregt, sie schimpfte auf ihren Mann und er sagte ein  paar mal leise vor sich hin: „Wenn ich doch bloß erst tot wäre...."
  Sie rannte zum Fenster, riss es auf, dass die Scheiben klirrten und sah auf die  Straße. „Du — Du, da unten sind ein paar Grüne. Jeh rasch runter und sag  Bescheid! Die Burschen, die Burschen, das sind die, die uns die Müllkästen und  det Pferdebeen vor die Türe gepackt haben, Det sind die. Los, geh runter!"
  „Ach, lass doch! Ich soll nun gehen, und bei Gelegenheit hauen die mir mal die  Jacke voll. Die vergreifen sich womöglich noch an einen alten Mann. Nee, nee,  da mach ich nicht mit." Böse sah sie ihn an:
  „Ach, Du Memme, Du! Du Feigling! Da denkt man, man hat eenen Kerl im Haus, Du  Hosenscheißer!" Leise öffnete sie die Tür und schlich vorsichtig die  Treppe hinab.
  „Herr Wachtmeister, Herr Wachtmeister! Hören Sie doch mal, bleiben Sie doch mal  stehen!"
  „Was haben Sie denn, Frau? Sie sind ja ganz außer Atem?"
  „Herr Wachtmeister, da — da sind Kommunisten in unser Haus und vakoofen  verbotene Zeitungen. Bei mir waren sie ooch. Ick hab aber keene genommen. Mein  Mann... ."
  Im Hinteraufgang hatten die Genossen elf ,Junge Wühler' verkauft, fröhlich  pfeifend kamen sie über den Hof. Die anderen beiden waren noch im Quergebäude.  Da standen plötzlich drohend und massiv zwei Schupos vor ihnen. „Halt! Wer  verkauft hier Zeitungen? Zeigen Sie mal Ihre Taschen!"
  Bei Ernst fanden sie noch zwei Zeitungen, der kleine Bauer spielte den  Ahnungslosen.
  „Den lassen Sie man gehen, der ist eben per Zufall mit mir die Treppe  runtergekommen, nicht wahr, Herr Lutze?"
  Der Herr Lutze nickte so erschrocken mit dem Kopf und sah so ungefährlich aus,  dass ihn die beiden Grünen laufen ließen.
  „Aber Sie, Bursche, Sie kommen mit zur Wache. Das wäre ja noch schöner. Na,  los!"
  „Was wäre noch schöner?"
  Erstaunt sahen sich die Grünen an, als ob sie sagen wollten: So was, hat  obendrein noch eine große Schnauze! Frech sind die Lümmels... ."
  „Sind Sie stille! Los, los Bürschchen. Auf Sie haben wir gerade gelauert."
  Der eine Polizist stieß Ernst vor sich her, der andere sagte nichts, es hatte  den Anschein, als ob er das Verhalten seines Kollegen nicht billigte.
  Auf der Straße hatten sich Menschen angesammelt.
  „Wen habt Ihr denn da gefangen, einen Raubmörder?"
  „Machen Sie Platz da! Das geht Sie gar nichts an."
  „Ach wo, die haben sich wieder mal stark gefühlt und haben einen jungen  Kommunisten verhaftet."
  „Nee, det is doch allerhand! Wat hat er denn jemacht?"
  „Zeitungen verkauft, nur Zeitungen verkauft."
  „Wat, deswegen wird man heute schon verhaftet? Junge, Junge, sind wir  weit!"
  Der erste Schupo sagte ruhig zu den Leuten: „Gehn Sie doch auseinander. Wir  müssen doch unsere Pflicht erfüllen." In seinen Worten klang eine leichte  Ironie, die aber keiner bemerkte. Es war eben ein Grüner, und die Grünen in  Uniform hatten bei der Nostizstraße keinen Stein im Brett. Dazu hatten die  Leute in den letzten Jahren, und vor allem in den letzten Monaten schon zuviel  erlebt
  Straßenbesetzung!
  „Ach Sie, wat is denn Ihre Pflicht? Det wissen Sie ja alleene nich mehr vor  lauter Notverordnungen."
  Ernst hatte Adressen von Genossen in der Tasche, er hätte sich backpfeifen  mögen. Sie waren auf Seidenpapier geschrieben. An der Ecke Bergmannstraße  hatten sich etliche Genossen versammelt, die Polizisten mussten den  Gummiknüppel ziehen. Diesen Moment nutzte Ernst aus: er holte mit unauffälliger  Handbewegung das Papier aus der Seitentasche und steckte es in den Mund. Ein  paar Kaubewegungen, und ohne große Schwierigkeiten war es heruntergeschluckt.
  Ein Überfallwagen kam angerast und schaffte Ordnung in der Nostizstraße.
  
  Die Genossen trafen sich auf der Gneisenaupromenade. Dass einer verhaftet  wurde, kam ja fast alle Tage vor, sie verloren darum nicht gleich den Kopf. Im  Gegenteil.
  „So eine Gemeinheit!" sagte ärgerlich der Bauer aus Langendorf. „Mir  hätten sie auch bald gehabt, aber der Ernst ist ein feiner Genosse, wenn der  sich nich so geschickt verhalten hätte, dann wäre ich jetzt ooch mit. Ich bin  jetzt Herr Lutze!"
  „Wie viel Zeitungen habt Ihr verkauft?"
  „36 Stück, 14 haben wir noch, die nehme ich morgen mit zum Nachweis."
  „Dufte! Und Ihr? He, passt doch ein bisschen auf!" „Wat denn, wat denn?  Mensch, hier haste Geld, 60 Stück off eenen Schlag, mein lieber Scholli."
  Einer nach dem anderen ging nach Hause. Theo, Elly und Erich setzten sich noch  auf eine Bank.
  „Wird er wiederkommen?" fragte Elly.
  „Natürlich. Den lassen sie frei. Vielleicht kriegt er einen Prozess."
  Erich atmete schwer. Er war ganz gelassen und selbst darüber etwas erstaunt.  Dann sagte er einfach: „Ja, da wird man immer härter, wenn man das erlebt. Und  jetzt weiß ich auch, dass wir nicht umsonst arbeiten."
Doktor lief nachdenklich am Landwehrkanal auf und ab. Er schwitzte und hatte  die Mütze zurückgeschoben. Auf der andern Seite des Kanals fuhren in  regelmäßigen Abständen Hochbahnzüge. Der Kanal war schmutzig und roch nach  warmem Teer. Der Himmel spiegelte sich blau in dem trägen Wasser, auf dem  stellenweise buntschimmernde Ölflecke sanft schaukelten. Ein Schleppdampfer mit  vier großen Kähnen fuhr leise vorüber. Sie waren mit Sand beladen und ragten  nur ein ganz kleines Stück über dem Wasserspiegel, es sah so aus, als ob sie  jeden Augenblick untergehen wollten. Ganz kleine Wellen schlug die Schraube des  Dampfers. Unwillig und kraftlos plätscherten sie gegen die Kanalwand und fielen  müde wieder zurück. Auf dem letzten Kahn saß eine alte Frau und schälte  Kartoffeln, gleichgültig blinzelte sie Doktor zu. Der wischte sich sorgfältig  und ärgerlich den Schweiß von der Stirn. Er erweckte den Eindruck eines  arbeitslosen Kaufmanns, der die Zeit totschlägt.
  Es war kurz vor Feierabend. Einige Mädels liefen schwatzend an ihm vorbei, eins  von ihnen sagte kichernd: „Da unten die Frau möchte ick nich sin." Doktor,  der sowieso schon gereizt war, ärgerte sich über diese Worte. Lange dachte er  über diese Mädels nach: sie kümmern sich um nichts, werden da im Kaufhaus Tietz  an der Ecke hin und her gejagt, müssen springen und höflich sein. Sie grinsen  ständig, fühlen sich wichtig und tun so, als wären sie weiß Gott was für  Schönheiten, auf die ein jeder gleich hereinfallen muss. Und dabei sind sie  doch so armselig. Bald sind sie verbraucht, noch einige wenige Jahre, und ihre  Sehnsüchte versacken in einer lausigen Bude, zwischen schmutzigen Kindern und  immerwährendem Elend.
  Doktor lief ärgerlich weiter. Gerade ihm, der doch gar nicht wusste, wie man da  vorgehen sollte, hatte die Gruppe den Auftrag gegeben. Dann lächelte er und  sagte halb ironisch, halb gutmütig zu sich selber: „lass doch, Doktorchen, die  lieben Leute wollen Dich erziehen. Sie wollen Dich verproletarisieren. Nu gut.  An mir soll es nicht liegen... "
  Aus dem dunklen, großen Torweg des Telefunkenhauses kämen eilig Arbeiter. Alles  ältere Männer. Viele hatten Fahrräder. Manche kamen mit Stehkragen und  Aktentasche, andere im offenen Hemd, mit blauen Kaffeeflaschen. Zuletzt  verließen die Lehrlinge das Gebäude.
  Ein Arbeiter mit feinem Gesicht und schmalen, kümmerlichen Lippen grüßte: „Was  suchst Du denn hier, Genosse Doktor?"
  Doktor drehte sich erstaunt um, überlegte einen Moment. „Ach, Du bist es! Ja,  was ich hier will? Wir wollen eine Jugendbetriebszelle gründen, und ich soll  den Laden schmeißen. Ausgerechnet ich. Ich habe da so viel Ahnung von wie vom  Gänsebeschlagen. — Was ist denn hier los im Betrieb?" Und dann setzte er  in kläglichem Tonfall hinzu: „Kannst Du mir nicht irgendwie helfen?"
  Der Genosse zog Doktor ein paar Schritte weiter. „Ist gut, dass Ihr Euch darum  kümmert. Aber es ist schwer, mein Lieber. Die besten Jungens sind entlassen  worden. Von unserer Parteizelle haben sie auch welche rausgefeuert. Die  Schweine passen ja so auf! Überall stecken Spitzel. — Was soll ich Dir helfen.  Drei, vier junge Kerls kenne ich, die Ihr bearbeiten könnt. Warte mal, ich  werde Dir einen zeigen, mit dem sprichst Du dann. Musst aber sehr geschickt  vorgehen, Doktor! — Da, dieser lange Lümmel da. Der hat eine freche Schnauze,  lässt sich von keinem zu nahe kommen und sympathisiert stark mit uns. Den wollten  sie schon früher kappen. Machs gut, ich muss zur Zelle."
  Der lange Lümmel kam mit noch einem jungen Arbeiter. Er trug die Jacke unter  dem Arm und spuckte am Haustor kräftig aus. Er hatte ein gutmütiges, kluges  Gesicht.
  „So, wieder mal ein Tag rum. Haste jesehn, Fritze, heute mittag die dofe Sau  von Kühne? Mensch, wat der sich so einbildet! Bei mir aber nicht, mein Lieber,  Der kann auf ne Wäscheleine pennen und sich hinterm Feuerhaken ausziehen, das  schmale Gehopse! Bloß die verfluchte Fresse!"
  Der andere sah zu seinem langen Kollegen auf, gab ihm fröhlich einen Rippenstoß  und sagte grinsend: „Hau ihn doch mal aufs Maul, den Angeber! So ganz aus  Spaß."
  „Na ja. Bei Gelegenheit mal."
  Am Halleschen Tor standen Zeitungshändler und riefen die Abendzeitungen aus:  ,Tempo!', ,Die Welt — am Abend!', ,Der Angriff!!'... .
  Ein Mann mit auffallend hervorstehendem Unterkiefer verkaufte den ,Angriff. Ein  paar Gymnasiasten standen neben ihm, schwatzten laut, lachten blöd und  musterten die Vorübergehenden. Der Zeitungshändler schien sie gar nicht zu  beachten, obwohl sie zu seinem Schutze da standen. Vielleicht dachte er- sich:  was ist mit die albernen Bengels schon los! Die kriegen eins auf die Fresse und  rennen zum Schutzmann.
  Ein großer Herr kam eilig heran, knallte die Hacken zusammen, hob den rechten  Arm weit in die Luft und brüllte: „Heil!" Die Gymnasiasten kamen sich auf  einmal wichtig vor, der Herr kaufte eine Zeitung. Es war ein echt preußischer  Offizierstypus, ein paar Narben am Kinn, um die Mundwinkel ein zynisches Lächeln.  Hastig ging er weiter.
  Die beiden Burschen von ,Telefunken' gingen langsam über Hie Brücke. Der Lange  spuckte wieder aus, las laut mit verstellter Stimme die Überschrift eines  ,Angriffs' vor: „Rot Mord wütet! Ins Zuchthaus mit dem Gesindel!" Dann lachte  er breit und höhnisch! Die Gymnasiasten sahen ihn böse an und schlichen zum  Rücken des Zeitungsverkäufers. Dieser tat, als ginge ihn die ganze Geschichte  nichts an.
  Am Hochbahnhof blieben die beiden Burschen stehen. Doktor lief um sie herum, er  überlegt, ob er sie mit Du oder mit Sie ansprechen sollte. Er fühlte sich  überhaupt recht unbeholfen, ab und zu lief um seinen Mund ein nervöses Zucken,  dann zeigte er einen Moment die Zähne, sah mutig aus und blieb wieder stehen.  „Eigentlich ist doch alles so einfach, bloß ich bin nicht der richtige Kerl zu  dieser Aufgabe", dachte Doktor.
  Der Kleine rannte plötzlich die Treppen zur Hochbahn hinauf. Doktor gab sich  einen Stoß und stand vor dem Langen. Der kniff die Augen zusammen, griente ein  wenig und sagte freundlich: „Na, wat schieiste denn, Du oller  Brillenkönig?"
  Doktor atmete erleichtert auf. „Kann ich Sie — kann ich Dich mal sprechen,  Kollege?"
  Bei dem Wort Kollege griente der andere wieder und meinte gutgelaunt: „Nu mal  los, wat haste denn?"
  „Ach, es ist nur wegen Eurem Betrieb. Ich bin Mitglied im Kommunistischen  Jugendverband. Wenn es Dir recht ist, gehn wir hier ein Stück am Kanal  entlang."
  Dem Langen schien es recht zu sein. „Meinetwegen. Aber lange habe ich nicht  Zeit, verstehste!"
  Sie liefen längs des Kanals auf und ab. Schon nach ganz kurzer Zeit hatte  Doktor den richtigen Kontakt gefunden. Emil hieß der Lange und wohnte an der  Kottbuser Brücke. „Vastehste, da unten im Topplappenviertel."
  Sie unterhielten sich lange. Doktor redete immer mehr, und Emil hörte ihm  gespannt zu.
  „Ja, ja. Hast Du schon ganz recht", unterbrach er ihn, „aber det is nich  so einfach, mein Lieber. Die besten Leute haben sie rausgefeuert. Wir sind nur  noch ein paar Mann, die stieke sind. — Seh ma, mir brauchste det ja nich so lange  auseinanderzuposamentieren. Ich weeß doch ooch Bescheed, war damals in die Rote  Jungfront, 6. Abteilung, 2. Zug. Fummel hieß unser Zugführer, kennste  den?"
  Doktor kannte Fummel nicht, mit der Roten Jungfront hatte er nicht viel zu tun  gehabt, die Jungens waren ihm zu grob gewesen, sie hatten ihn immer verkohlt,
  „Pass mal auf, Emil. Man kann natürlich nicht verlangen, dass Du wegen so  einfacher Arbeiten aus dem Betrieb fliegst. Das muss alles gut organisiert  werden. Du sollst uns nur unterstützen, zusammen mit den stieken Jungens, die  noch da sind. Wir von der Straßenzelle fertigen Material an und verteilen es  vor dem Betrieb. Die Unterlagen für das Material sollst Du besorgen. Die  Jungens, von denen Du annimmst, dass sie gut sind, informiere vorsichtig und  lade sie zu einer Sitzung ein. Ich hole Dich dann wieder ab. Und auf der;  Sitzung werden wir schon sehen. Hauptsache, es sind Leute da."
  „Für fünfe, sechse garantiere ick. Rot Front, Du olle Brillenschlange!"
  Emil lief unter der Hochbahn weiter nach dem Kottbuser Tor zu. Er pfiff ein  Lied und schlenkerte mit den langen Armen hin und her. Etwas schwerfällig sah  er aus, schwerfällig und dabei wie ein kleiner Junge. Aber Knochen hatte er wie  ein junger Stier. Doktor war froh, seine Gedanken waren leicht, als er zur  Nostizstraße zurückging.
  Auf einer Holzbarriere neben der Straßenbahn, Ecke Nostiz- und Gneisenaustraße,  saßen junge Arbeiter und ließen die Beine herunterhängen. Andere standen im  Kreis herum, in ihrer Mitte zappelten unruhig zwei Schutzpolizisten, Einer von  ihnen war mürrisch und wäre am liebsten fortgelaufen; der andere debattierte  und fuchtelte dabei aufgeregt mit den Armen in der Luft herum. Theo sprach  unablässig. Auch Ernst war wieder bei seinen Genossen, man hatte ihn  freigelassen und einen Prozess in Aussicht gestellt.
  „Ja, Herrschaften, ich sehe, Sie sind gar nicht so dumm", sagte der  aufgeregte Schupo, „aber Ordnung muss sein. Soviel verstehe ich auch schon von  Politik."
  „Wat is denn Eure Ordnung? He? Wie sieht denn diese Ordnung aus?"
  „Hören Sie mal, wo sollten wir denn hinkommen, wenn jeder machen könnte, was er  wollte? Das würde doch ein Chaos werden. Hier, die Nostizstraße ist schon  schlimm genug. Gott sei Dank, sie gehört nicht mehr zu unserem Revier. Wir sind  von der Gneisenauwache."
  „Ach Herrje! Die Nostizstraße. Warum denn die Nostizstraße? Warum denn? Weil  hier die Leute hungern, weil sie auf die Gesetze pfeifen? Gehl man dort hin, wo  die Festessen stattfinden, dann seid Ihr richtig."
  „Stellen Sie sich das mal vor, Herr Wachtmeister, Ihre Ordnung", sagte  Ernst und trat einen Schritt vor, „Ordnung ist, wenn die einen krepieren, in  den Wohlfahrtsämtern angebrüllt werden und wenn sich auf der anderen Seite die  Reichtümer häufen. Wenn hier schwangere Proletenfrauen nicht wissen, wie sie ihre  Kinder satt machen sollen, und auf der andern Seite die Frauen der herrschenden  Klasse in die Berge ins Sanatorium fahren, ihre Kleider zeigen, die Fressen  anmalen und — Abtreibungen vornehmen lassen. Da kräht kein Staatsanwalt danach.  Natürlich braucht der Bürger die Ordnung. Das haben die sozialdemokratischen  Führer 1918 auch gesagt. Ruhe und Ordnung. Dann kam Noske. Dann kamen die  faschistischen Freikorps, die er geschaffen hatte. Da hatte der Bürger die  Ruhe, aber das Proletariat hat seine Besten bei dieser ,Ordnung' verloren und  hat die Schnauze gehalten. Aber heute nicht mehr. Und nun haben sie alle die  Schnauze voll. Was gehen mich die Gesetze an, wenn ich Hunger habe? Einen  Dreck! Und stellen Sie sich vor, was für eine Situation Sie als Polizist  kommen: ich gehe mit ander auf die Straße und fordere Arbeit und Brot, trotzdem  Demonstrieren verboten ist, und der Bürger seine dreckige Ruhe braucht. Sie als  Polizist haben mit ihren Kollegen den Auftrag, den Demonstrationszug mit allen  Mitteln auseinander zuschlagen. Wir gehen nicht. Sie greifen zur Waffe, stehen  vor mir. Ich habe Ihnen nie etwas getan, wir kennen uns gar nicht. Ich bin ein  Prolet, Sie sind ein Prolet. Stellen Sie sich das einmal vor! Sie schießen mich  über den Haufen und schützen den Staat. Den Staat, der uns gar nichts angeht,  der uns verrecken lässt, den die herrschende Klasse braucht, um das Proletariat  zu unterdrücken. Und Sie gehören auch zum Proletariat."
  „Na, na, so schnell wird ja nun doch nicht geschossen... "
  „Oho! Eure Pusten sitzen ziemlich locker. Ihr lasst Euch ja von den  faschistischen Polizeioffizieren verrückt machen!"
  „...Und dann ist es auch nicht nötig zu demonstrieren. Wenn ich Hunger, habe,  brauche ich ja keinen Krach zu machen, davon wird es ja auch nicht besser... "
  „Der Krach ist dazu da, das Volk zu mobilisieren! Wir werden Krach machen,  immer stärker! Bis Eure Pistolen und Maschinengewehre nichts mehr nutzen."
  „Ja, aber, was soll denn das werden, wie soll denn das enden . . ?"
  „Ein Sowjetdeutschland!"
 ... ..Eine Obrigkeit muss doch da sein. Und wir leben doch in
  einer Demokratie. Das Volk hat sich doch diese Obrigkeit gewählt. Wir haben  doch eine Demokratie, das können Sie doch nicht abstreiten."
  Der andere Schupo zupfte seinen Kollegen ärgerlich am Ärmel. Fünf Schritte  entfernt stand die zwei Mann starke Schupopatrouille der Nostizstraße von der  Heimwache. Sie waren verblüfft, schüttelten leicht die Köpfe und machten kehrt.  Verwundert sahen sie sich an: wie können sich unsere Kollegen mit diesen  Lausebengels unterhalten! Das ging ihnen nicht in den Kopf. Sie wussten doch,  wo der Feind stand, es wurde ihnen ja so oft und so oft in die Schädel  gehämmert. Da ist die Nostizstraße, in der wohnen Kommunisten, vor allem  Jugendliche. Das ist ein Aufruhrherd; also tun Sie Ihre Pflicht.
  Doktor war zu der debattierenden Gruppe getreten und hatte die letzten Sätze  über die Demokratie gerade noch gehört. Und als sich die Grünen davonmachen  wollten, meinte er so nebenbei: „Ja, vor dem Gesetz sind alle gleich. Es ist  den Armen wie den Reichen verboten, unter Brückenbogen zu schlafen und Brot zu  stehlen. Das ist Ordnung, das ist Demokratie... "
  Die Jungens lachten, auch der eine Schupo griente: „Natürlich, das verstehe ich  schon, aber... "
  Ein Herr mit Spitzbart kam langsam heran; er musterte, ohne fein Wort zu sagen,  die Umstehenden. Die beiden Grünen zottelten los in Richtung Gneisenauwache. Da  sagte einer von den Jungens zu den übrigen: „Mensch, merkt Ihr denn nichts?  Hier riechts doch nach Bullenfleisch!"
  „Ja, hast recht. Wer hat acht Groschen da? Hol doch mal eener acht Groschen aus  der Tasche... "
  Dann Hefen sie weiter, in die Nostizstraße hinein; der Herr mit dem Spitzbart  sah ihnen aus trüben Augen nach, drehte sich ärgerlich um und schob ab, als  ginge ihn die ganze Sache nichts an.
  
  Vor den Haustüren standen Leute. Ein zottiger Köter spielte mit einem kleinen,  niedlichen Hund; der kleine legte sich auf den Rücken, streckte die vier Pfoten  lächerlich in die Luft, und der große leckte ihn ab. Eine Frau kam mit einem  quietschenden Kinderwagen. Vier Kinder liefen über den Damm, das jüngste fiel  hin und blutete aus der Nase, fürchterlich fing es an zu brüllen.
  Das Nachtgespenst schlich durch die Straße, mit vornübergebeugtem Kopf, es  suchte Stummel. Während es im Zickzack den Bürgersteig entlang lief, murmelte  es unverständliche Worte vor sich hin. Seine tränenden, kranken Augen waren  müde und klein, wie die eines neugeborenen Hundes, der zum ersten Male die  Augen aufschlägt. Das spöttische Grinsen um den Mund machte das runzlige Gesicht  noch hässlicher. Die Augenbrauen waren verfilzt und weiß wie ein Bausch Watte.  Eine junge Frau kicherte und rief einem etwa dreijährigen Kinde zu: „Du,  Gustav, seh' mal, der alte Mann, der holt Dich, wenn Du nicht artig bist und  hörst, was Mutti sagt!" Das Kind verzog die Lippen, kämpfte vergebens  gegen das Weinen an, plärrte los. „Willst Du mal stille sein! Du verdammtet  Balg! Heult den janzen Tach. Den janzen Tach! Hergott, wenn hat man denn mal  Ruhe...."
  Obwohl die Sonne die Häuser nur noch ganz oben an den Dachrinnen beschien,  blieb es immer noch furchtbar drückend.
  Franz stand ärgerlich neben Frieda, Gustav und Orje.
  „Wat machen wir heute? He?"
  „Jarnischt. Ziehn uns nackend aus und passen auf die Sachen auf. Ick schwitze  wie ein Affe."
  „Ach, mit Euch ist ja nischt anzufangen!" sagte Franz. „Ihr versaut ja  alles! Was soll man denn mit Euch machen, blödes Volk?"
  „Ach, ja. Blödes Volk! Mensch, hör off, oder ick haue Dir doch noch mal uffs  Maul. Dir hab ick so richtig gefressen."
  Gustav war aufgeregt. Frieda sah ihn warm an.
  „Na, komm, stoßen wir uns eene aus! Mir schon recht...  "
  „Ja, los, komm in Hausflur!"
  Orje fuhr gutmütig dazwischen: „Macht doch keen Unsinn, Kinder!", und  Frieda packte mit aller Kraft Gustavs Arm. Er riss sich grob los, mit den Zähnen  knirschend. In Friedas Augen standen Tränen, kullerten rasch die Wange hinab.
  „Zu was denn bloß, Kinder? Immer müsst Ihr stänkern. Ist doch gar kein Grund  da, zu was denn bloß?... "
  Franz presste mit heißer, ärgerlicher Stimme hervor: „Eine Wut hab ick, eine  Wut!" Er sah aus, als wollte er mit dem Schädel gegen die Wand rennen.  Nach einer Weile drehte er sich um, stützte sich an ein Fenstersims und begann  zu grübeln.
  Vier Häuser weiter standen Peter Simon von der Gruppe ,Nostizstraße' und der  Bauer aus Langendorf. Peter erzählte wichtigtuerisch, der andere kaute  unentwegt an seinem Pfeifenstück. Derb und lustig schlug er Peter auf den  Rücken, so dass Peter einen Moment einknickte wie ein abgestochenes Kalb. Dann  erzählte Peter weiter:
  „Musst sie erst richtig scharf machen, verstehste? Is ja nun je nachdem, wie's  Dir gerade passt. Bei der eenen kommste so weiter und bei der anderen so.  Mensch, det is ne feine Sache, wenn man den Bogen so richtig spitz hat. Und  warum soll man sich nicht amüsieren he? Det steht doch nirgends. Hauptsache,  det Mädel hat ooch wat davon. Lange offhalten kann man sich ja sowieso nicht  dabei. Hast ja nie Zeit. Wenn de nich auf dem Kien bist, wirste durch die  Parteiarbeit zum Eunuchen. Und det liegt mir jarnicht... "
  „Ja, ick habe da ja weniger Erfahrung, bei uns auf dem Dorf is das einfacher.  Da sind fremde Schnitterinnen. Von Liebe kann natürlich gar keene Rede sein.  Gehst mit ihr los und legst ihr einen Bund Stroh auf den Kopf, dann braucht man  sie nicht zu sehen."
  „Sind da polnische Weiber? Die soll'n doch so feurig sind?"
  „Ach ja, feurig. Stinken tun se, wenn se den ganzen Tag offs Feld geschwitzt  haben. Nee, macht keen Spaß, mein Lieber."
  Plötzlich stand Trude neben den beiden. Das Gespräch verstummte jäh, obwohl  Peter gern mehr von den polnischen Weibern gehört hätte. Er war gar nicht  verlegen; und damit nicht ein zu dummer Eindruck bei Trude entstünde, erzählte  er weiter: „... Vastehste! Wir um die Ecke, und die Grünen in die Häuser. Denn  sind wir nachhause gegangen. Nachher zuhause det Essen: Peter, stech zu, sind  Linsen!"
  Der Bauer lachte und spuckte in großem Bogen braunen Tabakspeichel. Trude sah  von einem zum andern, sie hatte die Verlegenheit der Jungens bemerkt. Das hatte  sie ja bei Jungens schon öfter erlebt: sie waren einfach zu feige,  weiterzusprechen. Und dabei hatten Mädels doch auch Interesse für derartige  Themen, hätten vielleicht sogar mit guten Ratschlägen aufzuwarten.
  Sie sagte: „Gehn wir!"
  „Is denn schon so weit? Mensch, wat wollen wir paar Mann denn machen?!"
  „Egal. Es wird eben gemacht."
  Ü berall in den Straßen standen Gruppen junger Arbeiter. Ältere kamen hinzu und  unterhielten sich.
  „Wird’s denn noch lange so weiter gehen? Ich meene, jetzt muss doch endlich  Schluss sein!"
  „Liegt doch an Euch! Nur an Euch!"
  „Ja, was sollen wir denn machen!? Die Kommunisten machen doch ooch nischt.  Sollen sagen: so, jetzt gehts los! Denn bin ick ooch mit bei."
  Plötzlich sprangen acht, zehn Mann auf den Fahrdamm und begannen zu singen;  „Wir sind die erste Reihe, wir gehen drauf und dran!"
  Immer mehr schlossen sich" an, auch Ältere. Kater und Spinne, etwas später  Gustav und Frieda. Der Herr mit dem Spitzbart rannte los. Der Zug marschierte  die Nostizstraße hoch, bog in die Arndtstraße ein.
  Fenster wurden geöffnet. „Rot Front!"
  Weiter. Immer weiter.
  Eine rote Fahne schwang sich über den Zug, ein fünfzackiger Messingstern  glänzte an ihrer Spitze,
  Kinder liefen dem Zug hinterher und Frauen.
  „Was ist denn los? Warum rennt Ihr denn so?!'"
  „Die Jugend marschiert!"
  Die Marschierenden hielten fest zusammen, erst gegen Ende wurden die Reihen  etwas lockerer. Aber immer mehr schlossen sich an. Aus den Haustüren kamen sie  gerannt. „Da, Demonstration! Los, Atze, mit!"
  Kleinbürgerfrauen blieben ängstlich stehen und tuschelten. „Na, wenn det man gut  geht. Det is doch verboten, ne wahr?" — „Ach wat, verboten! Hungern ist  doch auch nicht verboten. Lass die man ruhig. Es muss doch mal anders  werden!"
  Links, links, links! Der Zug marschierte in Richtung Chamissoplatz.
  Die Körper der Jungen zuckten, alle Muskeln waren gespannt.
  „Ach wat! Lass sie doch kommen. Ob wir so oder so krepieren!"
  „Nieder mit dem Demonstrationsverbot! Wir wollen Arbeit und Brot!"
  „Was haben die Erwerbslosen?"
  „Hunger! Hunger! Hunger!"
  „Es lebe Sowjetrussland, denn wir maschieren schon.
  Wir stürmen in dem Zeichen der Völkerrevolution!"
  Kater lief neben Spinne, eine Reihe vor ihnen Erich Schmidt. Er lächelte und  betrachtete die Reihen strahlend: „Na Jungs? Los, weiter! Immer mit! Immer  mit!"
  Am Platz rannten die Leute zusammen, sprangen von den Bänken auf. Vor dem  Reichsbannerlokal standen vier Männer in Windjacken. Einer sagte: „Da  marschiert der Auswurf der Menschheit!"' Sein dicker Bauch wippte wabblig  auf und nieder wie eine Biertonne im Landwehrkanal, die Speckfalte im Nacken quoll  glänzend über den Jackenkragen. Ein jüngerer Kamerad, mit ernstem Gesicht  tippte mit dem Zeigefinger an die Stirn und sagte: „Hast einen Vogel! Pass auf,  die machen uns noch was vor." Verärgert gingen sie wieder ins Lokal  zurück. „Herr Wirt! Vier Mollen!" Dann droschen sie weiter Skat. Draußen  drängte die dunkle Masse vorwärts. Ein Lastwagen fuhr polternd an dem Zug  vorbei, der Fahrer reckte seine ölige Faust aus dem Führerkasten: „Nieder mit  dem Verbot der ,Jungen Garde'! Nieder mit der Hungerregierung!" Ein  einziger Schrei, wild und entschlossen antwortete: „Nieder!"
  Radfahrer fuhren dem Zug voraus. Einer kam zurückgerast: „Achtung! Schupo von  vorn!" Ein Beben lief durch die Menge, einen Augenblick lang schreckte sie  zurück, aber die Vordersten gingen weiter, rissen alles mit. „Vorwärts!"  Zwei Schupos kamen von vorn gerannt, sie stutzten einen Moment, dann schlugen  sie mit den Gummiknüppeln in die Spitze des Zuges. Ein Knäuel von Armen packte  zu und stellte sie wie Puppen auf den Bürgersteig. „Gebt den Weg frei, wir  haben Hunger!" Die beiden waren sprachlos. Einer sagte: „Nee so was! Na  lass sie, ick wer mir nich die Knochen kaputtschlagen lassen."
  Das Signalhorn eines Überfallwagens schrillte, er kam von der Friesenstraße  her. Er holperte über einen Prellstein. Eine Frau fiel in Ohnmacht. Die Grünen  sprangen vom Wagen und hieben mit harten Gummiknüppeln auf wehrlose Körper.  „Stehen bleiben! Ruhig auseinandergehen! Nicht rennen!" Ein Kind fiel zu  Boden und brüllte. Kater und Spinne drückten sich an eine Hauswand. „Seh ma,  seh ma, wie die mangdreschen!"
  „Weitergehen! Weitergehen! Los! Los!" brüllte sie ein baumlanger Schupo  mit Embryogesicht an. Kater bekam einen Hieb über den Kopf, dass er lang  hinfiel. „Ah! Was hab ich denn gemacht! Ihr Hunde! Ihr Hunde!"
  Der Schupo wollte ihn verhaften, ein Menschenknäuel schob sich dazwischen.  Kater sprang mit letzter Kraft auf und rannte in ein Haus. Eine alte Frau  öffnete eine Tür: „Hier, kommen Sie rasch rein! Die hausen ja wie die  Vandalen!"
  Sie wischte ihm das Blut vom Gesicht, sein Kopf schmerzte fürchterlich.
  Die Grünen standen, Gummiknüppel in der Hand, breit und lauernd auf dem  Fahrdamm. Von der Arndtstraße her drangen wieder Schreie: „Nieder mit der  Hungerregierung!" Die Polizisten sprangen auf den Wagen, fuhren mit  offener Wagenklappe los. Ein Schupo hing halb aus dem Wagen. An der Arndtstraße  sprangen sie wieder ab und schlugen dazwischen. „Los! Weitergehen!"
  Bis in die späte Nacht hinein fuhr der Überfallwagen die Nostizstraße auf und  ab.
  Und dennoch klebten am anderen Morgen kleine Plakate an den Wänden:
  
  „An die Bewohner des Kreuzbergs!
  Gestern kam es in verschiedenen Straßen des Kreuzbergs zu  Protestdemonstrationen gegen die Notverordnung und Brüning-Regierung. Auch in  der Nostizstraße und der angrenzenden Arndtstraße kam es zu  Protestdemonstrationen junger Arbeiter, die sich immer in friedlichen Maßen  hielten und die Grenzen der disziplinierten Agitation nicht überschritten. Erst  nach Erscheinen der Polizei und der willkürlichen Verhaftung einzelner Jungarbeiter  kam es zu Zusammenstößen, wobei auch viele unbeteiligte Passanten den  Ordnungsknüppel dieser ,freien Republik' zu spüren bekamen. Alle Augenzeugen,  die die Vorgänge von ihren Wohnungsfenstern beobachteten, gaben ihrer Empörung  bei den Diskussionen mit den Jungarbeitern offenen Ausdruck.
  Über den Transport der Festgenommenen berichten Augenzeugen folgende, empörende  Einzelheiten: mit Schimpfworten, wie ,Sauhunde', ,Kommunistenschweine' und  ,rotes Gesindel', wurden sie mit Fußtritten der Polizeibeamten auf den Wagen  befördert. Die Fahrt bis zur Wache war für die Verhafteten mit dauernden  Quälereien und Schikanen seitens der Polizisten verbunden. Als die Verhafteten  den Wagen verließen, ereignete sich folgende brutale Misshandlung: als ein  Festgenommener die Treppe zur Wache hinaufrannte, um sich den Schlägen der  Polizisten zu entziehen, wurde er von hinten gepackt, die Treppe  heruntergerissen und besinnungslos geschlagen. Er wurde daraufhin, weil er  nicht laufen konnte, von den Beamten die Treppe hinauf in die Wache geschleift.  Oben wurden im Beisein der Revierbeamten die Misshandlungen fortgesetzt Dabei  tat sich besonders ein ,Zeuge' namens Richter hervor, der einem der  Festgenommenen mit den Worten: ,Du Schweinehund wagst es, einen pflichttreuen  Beamten anzugreifen?' einen kräftigen Schlag ins Gesicht versetzte. Wir werden  auf diesen Kommunistenfresser noch besonders zurückkommen. Diese  Jungarbeitermisshandlungen zeigen jedem Menschen, wie weit wir in  Brüning-Deutschland gekommen sind. Die Bewohner des Kreuzbergs müssen aus  diesen Vorgängen die Lehren ziehen. Sie müssen erkennen, dass die  Demonstrationen der Arbeiterschaft nur die Folgen der Brüningschen  Notverordnungspoltik sind. Vielen, die bisher abseits standen, geht jetzt ein  Licht auf, weil sie die Auswirkungen der Notverordnungen am eigenen Leibe  verspüren. Ihr Wille, nicht freiwillig zu verhungern, gibt ihnen die  Überzeugung, dass sie kämpfen müssen unter der Führung der Kommunistischen  Partei, An die Arbeiterschaft des Kreuzbergs richten wir deshalb den  Kampfappell: wenn unsere Genossen zu Euch in die Wohnungen kommen und Euch  auffordern, der KPD, beizutreten, so sagt nicht nein, sondern denkt daran, um  den Kampf bis zum Sieg zu führen, brauchen wir auch Dich! Du fehlst in den  Reihen Deiner kämpfenden Genossen! Wenn wir alle zusammenstehen, wird es uns  ein leichtes sein, aus diesem morschen kapitalistischen System ein freies  sozialistisches Deutschland zu schaffen. Ein Deutschland ohne Notverordnungen  und ohne Gummiknüppel. Ein Deutschland der Arbeit und des Wohlstandes für alle  Werktätigen. Darum hinein in die KPD.! Jungwerktätige, hinein in den  Kommunistischen Jugendverband!
  Mit kräftigem Rot Front!
  Die Jungarbeiter des Kreuzbergs."
  
  Kater und Orje standen in der Nostizstraße vor einem Plakat und lasen.
  „Na, die haben ja wieder ganz schön gehaust!" sagte Orje, Die eine Ecke  des Flugblattes hing lose, Orje spuckte sich in die Finger und klebte die Ecke  fest. Kater stand neben ihm, er hatte eine eigroße Beule auf dem Kopf und eine  furchtbare Wut im Leib. „Der Grüne, weeste, so ein langes Aast, Mensch, ick  kann Dir sahren... " Er presste die Zähne aufeinander und atmete schwer.
  „Tuts denn weh, Kater?"
  „Affenkopp! Lass Dir doch mal mit det Ding vorn Schädel haun! Da denkste, Du  bist im siehmten Himmel."
  Sie liefen nebeneinander her. Die Straße und auch die Menschen waren eintönig  wie an all den anderen Abenden. Aber dennoch war Ha irgend etwas, versteckt,  sprungbereit. Vor allem Kater und Orje merkten das. Sie fühlten die Veränderung  in sich, staunten erst, jeder versuchte zu erraten, ob der andere das gleiche  fühlte wie er selbst.
  An der Holzbarriere war niemand. Sie setzten sich darauf, Kater baumelte  gleichgültig mit den Beinen, ab und zu sah er in den Himmel. Ein böser Druck  lag auf seinem Herzen,
  „Na, Du. Was macht denn Edith?"
  „Ach, lass die rothaarige Hexe!" Kater hob die leere Hand und warf  Unsichtbares weit fort. „Die will doch wat anderet, Mit Proletenjungs hat die  nischt im Sinn. Wat soll ick ihr denn auch? Arbeitslos, zerrissen, keen Geld .  . ," Seine Stimme war kalt.
  Er sprang von der Barriere herab. Wäre jetzt Gras um ihn gewesen, und Blumen,  dann hätte er sich vielleicht hingeworfen und gewimmert. Aber da drüben war die  Nostizstraße.
  Kater schlug mit der Faust auf den Balken. „Mensch, wie lange Soll denn det  noch so gehen?! Man kommt ja aus dem Dreck janich mehr raus. So ein verfluchter  Mist!"
  „Ja, Kater, wie lange...  Bald, bald muss das aufhören. Wir leben doch wie die  Hunde. Aber es muss bald losgehen. Es muss! Alles muss kaputtgeschlagen werden!  Alles! Du, wenn das soweit ist, dann... ach, Kater."
  Eine Straßenbahn fuhr vorüber. Orje brannte sich eine Zigarette an, die Hand,  in der er das Streichholz hielt, zitterte. Sein Gesicht zuckte und war  sonderbar bleich. Nervös sah er Kater an. Lange sahen sich beide fest an.  Nachher schämten sie sich, redeten aneinander vorbei. Es wurde schnell dunkel.  Der Mond verkroch sich blass hinter zerrissenen Wolken. Eine Gruppe Jungens kam  vom Baden im Landwehrkanal zurück. Frau Mädicke schaukelte mit ihrem Gatten  über die Gneisenaupromenade. Er ging ein Stückchen hinter ihr und besah sich  lüstern ihren wippenden Hintern.
  Im Ecklokal lärmten Betrunkene, die Tür ging auf, ein alter Mann torkelte die  Treppen herunter. Weißer Speichel klebte ihm um den Mund. Verzweifelt fasste er  sich an den Kopf und fuchtelte kläglich mit den Armen in der Luft herum.  Plötzlich schimpfte er los: „Da hat man nu! Da ist — da geht man nu — bei dir —  hup — een — hup — hab ick — mein — janzet Vermögen va—soffen!" Er fiel  hin, stand wieder auf und lief dann an der Wand lang schaukelnd nach Hause.
  „Warst Du schon mal besoffen, Orje?" fragte gedehnt Kater.
  „Nee, eigentlich noch nicht. Eenmal, Silvester. Da bin ick nachmittags bei  Tietz gewesen und hab Kostproben getrunken. Franz war auch mit. Jeder sechs,  sieben Gläser. Nachher haben wir ganz schön geschaukelt. Ick hab ja doch wieder  alles ausgekotzt. Wenn Du nischt im Magen hast... ."
  „Is doch eijentlich komisch: die Alten saufen, aber von unsere Jungens hab ick  noch keen besoffen jesehn. Jewiß, wenn eener ne Molle kooft, trinken se mit,  aber besaufen — nee."
  „Hast recht. Ist aber gut so. Wir müssen viel, viel besser sein. Mensch, wenn  wir ooch so saufen wollten, wie der Alte da, dann
  würden sie uns schon helfen. Dann wäre alles aus. Für immer. Ist ganz gut so. —  Wir sind alle feige. Peikbeen schreibt, wenn er rauskommt, ist er Kommunist.  Wir sind feige, sage ich Dir. Hab ich nicht recht?"
  „Ja", sagte Kater und ließ den Kopf sinken. Er träumte. Orje setzte sich  zurecht und beobachtete ihn.
  In der Straße war es stiller geworden. Es war kurz vor elf Uhr. Nur wenig Leute  standen vor den Haustüren. Frieda und Gustav hatten sich am Nachmittag einen  Fahrschein gesucht und waren mit der Untergrund zum Grunewald gefahren. Unten,  an der Arndtstraße, schlichen ein paar Männer umher und verschwanden dann  wieder. Ein Motorrad fuhr knatternd durch die Straße, hielt einen Moment vor  Othellos Lokal und raste dann weiter. Auf dem Soziussitz saß ein Bursche mit  zerhacktem Gesicht. Die rechte Hand hatte er in der Hosentasche vergraben. Die  Schupopatrouille war nirgends zu sehen. Jetzt kam von der Belle-Alliance-Straße  her ein Trupp von ungefähr dreißig Männern hintereinander in losen Gruppen. Sie  schwiegen und verteilten sich in den Hausfluren und Lokalen der Gneisenaustraße.  Ein langer Kerl rannte hin und her. In der Nostizstraße blieb er stehen, sah  von Haus zu Haus und lief dann wieder zurück. Am Bürgersteig, nicht weit von  Kater und Orje, hielten zwei elegante Privatautos. Die Motore waren nicht  abgestellt. Orje stutzte. Er merkte sich die Autonummer und riss Kater aus  seinem Dösen. „Du, seh mal." Kater sah sich um. Er tat erst verwundert.  Dann sagte er leise: „Nazis. Los, hin zu Othello.; Die wollen die Straße  überfallen. Da, da drüben der, det is Nazithiele, Los, jehn wir."
  Othello stand behäbig hinter dem Schanktisch. Im Hinterzimmer brannte kein  Licht. Vorn saßen Theo und zirka fünfzehn stramme Jungs. Auch Erich war dabei  und Ernst. Der kleine Bauer aus Langendorf paffte unentwegt aus seiner  Tabakspfeife.
  „Wat roochst Du denn da? Stinkt wie Seegras, vermischt mit Grunewald."
  „Ja, früher hab ick ooch bessern Tabak geraucht. Aber heute... "
  Am Ofen saßen Trude und Elly mit den anderen Mädels. Sie flüsterten und  kümmerten sich nicht um die Burschen. Ein paar ältere Parteigenossen standen  umher und schimpften auf ihre schlappe Zellenleitung. „Nichts wird  gemacht", beklagte sich einer bitter. „Alle arbeiten. Die Situation ist so  günstig und unsere Zelle schläft weiter."
  „Ach, mecker doch nicht! Das liegt doch nicht nur an der Leitung. Das liegt  auch an den Genossen selbst. Da muss mal frisches Blut rein. Da, von der Jugend  ein paar."
  „Ooch nich richtig, mein Lieber. Da Leute rausziehen, ist sehr einfach ... "
  Orje und Kater kamen ganz außer Atem ins Lokal.
  Orje trat an Theo heran. Kater setzte sich zu den anderen und wartete die Dinge  ab. Ina Hinterzimmer standen die Stühle auf den Tischen.
  „Was ist denn los?"
  „Nazis in der Gneisenaustraße! Planen wahrscheinlich Überfall. Zwei Privatwagen  stehen an der Ecke. Die Nummern schreib ich Dir noch auf. Vorhin ist eine  Harley-Davidson durch die Straße gefahren."
  „Schön von Dir, mein Lieber. Deswegen liegen wir ja in Alarm. Heute, vor einer  halben Stunde, haben wir das vom Nachrichtendienst erfahren. Wir haben Leute  rausgeschickt, die sind aber noch nicht zurück."
  Die Tür ging auf und Doktor stürzte herein. „Du, Achtung! Die Bergmannstraße  ist frei. Aber vom Berg her kommen jetzt hintereinander mindestens hundert  Mann. Thiele ist bei. Auch die Gneisenaustraße ist besetzt."
  „Ruhe, Ruhe. Nur keine Aufregung. Los, die Hintertür auf! Drei Mann im  Hausflur. Die Mädels sollen auch gehen. Sollen nachsehen, ob die Leute  kochendes Wasser haben. Und dann immer von oben runter!"
  An den Tischen draußen blieb alles ruhig. Nur Erich zitterte vor lauter  Aufregung. „Mensch, lass sie nur kommen. Ich greif mir gleich einen  Stuhl."
  „Aber die haben doch Pistolen."
  „Ach, lass sie doch schießen. Hier kommt keiner rein, das sag ich Dir!"
  Trude wollte vorn im Schankraum bleiben. Sie schmollte und reckte ihre braunen  Arme. „Meint Ihr denn, ich bin feige?"
  „Nee, nee, Trude. Das wissen wir ja. Aber Du musst da mitgehen. Das ist auch  eine Aufgabe. Ihr müsst die Leute Bescheid sagen, sie sollen Blumentöpfe  bereithalten. Los, los!"
  Theo gab ihr einen leichten Stoß und schob sie mit den andern zur Hintertür  hinaus. Auf der Straße war noch alles ruhig. Alle Genossen waren gespannt und  auf dem Posten. Die Ruhe im Lokal war quälend.
  „Ick jeh raus. Los, kommt mit! Die Schweine schlagen wir zu Puppendreck!"  brüllte plötzlich ein untersetzter Bursche los. Seine Hände umklammerten die  Tischkante. Er zitterte am ganzen Körper. Man beruhigte ihn. „Mach keen  Quatsch! Die schießen Dir über den Haufen. Im Nu ist Schupo da, wenn wir  rausgehen. Und dass die auf uns losgehen, ist doch klar, das haben wir doch  schon oft erlebt."
  „Verfluchter Mist! Mensch, wenn ick doch bloß ne Pistole hätte, Kinder  nee."
  „Ja leider. Dafür kommt unsereens zwee Jahre ins Zuchthaus."
  Der Genosse konnte sich immer noch nicht beruhigen. Er rannte
  hin und her und suchte einen Gegenstand zum Schlagen. „Gib mir
  mal einen Gummischlauch, Othello." „Nee, jeht nich. Nachher heißt
  es, ich verteile Waffen und mir wird die Konzession entzogen."
  „Ach, so ein Mist, ach, so ein Mist. Jetzt sitzen wir hier drinne fest. Draußen  auf der Straße, in den Häusern müssten wir stehen Die ganze Bevölkerung müsste  bereit sein. Jeder müsste einen anständigen Knüppel in der Hand haben. Und die  Leute kommen, sag ich Euch. Wir hätten nur vorher das Maul aufmachen sollen. —  Was sollen wir paar Mann anfangen." „Hast schon recht. Aber es ist zu spät  organisiert worden", entschuldigte sich Theo. „Ach ja. Das muss klappen!  Sonst werden wir nie Revolution machen." „Wie viel sind’s denn  überhaupt?"
  „Hundertfünfzig Mann. Alle werden sie ja nicht angreifen. Die anderen decken  ab." „Ach herrje, soviel? Müssen die aber eine Angst vor der Nostizstraße  haben. Mensch... "
  Ein lustiger Genosse mit ewig lächelndem Gesicht stand an der Tür. Er schob  einen Tisch davor und legte die Hand darauf, als wenn er ein Gewehr in Anschlag  brachte, „Da seht mal her. Nur so einen ganz kleinen Revolver möcht ich haben.  Und dann lass sie kommen. Der erste: Peng! Der zweite: Peng! Das wär ne dufte  Sache. Dann könntet ihr alle nach Hause gehen."
  Der aufgeregte Genosse schob ihn ärgerlich zur Seite. „Jeh los hier. Die kommen  jeden Moment und Du erzählst hier Märchen."
  Er hatte sich eine Bierflasche besorgt und wog sie prüfend in der Hand. Dann  nahm er sie beim Hals wie eine Handgranate und sagte schon etwas fröhlicher: „So  siehste. Det jeht ooch ohne Revolver. Haust ihm eenfach mit de Pulle vorm Kopp  Da, bautz! Und wenn er fragt, warum, haust Du nochmal. Und immer nochmal. Aber  ick hab keen Schwein, mir looft keener vor de Pulle."
  Er stellte sie ärgerlich auf den Tisch und fluchte: „Passt mal off, die kommen  janich. Uns haben sie wieder einen Bären aufgebunden."
  Plötzlich horchte er auf und nahm die Flasche wieder in die Hand. Breitbeinig  stellte er sich in die Tür. Draußen gellte langgezogen ein schriller  Signalpfiff.
  „Achtung, vorwärts!"
  Die Nostizstraße, von Süden her, zog im Trab ein dunkler Haufen Menschen. Vor  dem Lokal blieben sie einen Moment stehen und gröhlten.
  „Nieder mit der Kommune! Wo seid ihr feigen Hunde denn!"
  Ein Pflasterstein flog gegen das Fensterkreuz und prallte ab. Verschlafen kamen  Leute an die Fenster. Sie staunten und rieben sich den Schlaf aus den Augen.  Fenster wurden geöffnet. „Was ist denn bloß los?" Von oben rief eine laute  Stimme: „Achtung, faschistischer Überfall!!!"
  Auch Herr Rhoden sah aus dem Fenster. Sein langes Nachthemd reichte ihm beinahe  bis an die Füße. Seine beiden Jungens waren bei da unten. Sie waren der  Rückendeckung zugeteilt und standen in einem Hausflur der Gneisenaustraße.  Hermann war besorgt um Viktor. „Komm, wir gehen."
  „Nein, ich bleibe. Ich bin nicht feige."
  „Weißt Du, was wir machen?"
  „Natürlich, wir wischen der Kommune eins aus!"
  Die anderen lachten und einer tippte Hermann mit dem Finger an die Stirn. „Bist  ja plem, plem. Das macht doch Spaß, Mensch. Ich komme mir so vor, wie damals  bei Langemarck, Kamrad."
  Der Sprecher war ein nicht überaus kluger Student im dritten Semester. Seine  Augen waren schlitzförmig und die Nase stand wie eine durstige Knolle nach  oben. Hermann spuckte ihm vor die Füße.
  „Du Schwein! Alle miteinander seid Ihr Schweine. Sind denn das die Finanzjuden,  die ihr totschlagen wollt? Das sind Proleten, genau wie Ihr. Schade, dass Ihr  bewaffnet seid. Windelweich hätten sie Euch sonst geschlagen."
  Er rannte los. Die anderen sahen sich verdutzt um. Viktor rief ihm leise nach:  „Hermann, Hermann..." Dann entsicherte er seine Dreysepistole, Kaliber  7,65.
  Hermann lief zur Nostizstraße und versuchte an das Lokal heranzukommen. Er sah  Gustav in einem Hausflur stehen. „Du, Du, die haben Schusswaffen, seh Dich  vor", rief er ihm von weitem zu. „Wo ist denn einer von den Kommunisten?  Wo — ich muss, ich habe was zu sagen..."
  „Ja, da kommst Du jetzt schlecht rein. Geh mal auf den Hof, da liegen Knüppel.  Wirst ihn noch gebrauchen." Aber Hermann lief weiter. Sein Vater hatte ihn  nicht beobachtet und griente unentwegt weiter.
  Kochendes Wasser plätscherte aus den Fenstern auf die Straße. Die Mädels  kochten es mit den Frauen eimerweise.. Unten brüllten welche auf: „Au,  verflucht! Kochendes Wasser! Den ganzen Arm hab ich mir verbrüht, den ganzen  Arm..."
  „Faschistenhunde! Nieder mit den Arbeitermördern!"
  Blumentöpfe sausten herab. Und Steine und Kohlenstücken. Die Nostizstraße  schlief nicht mehr. Im Lokal stand Theo und hielt die Genossen zurück. „Wir  haben die Aufgabe, das Lokal zu verteidigen. Keiner geht raus." Da fiel  ein Schuss. Noch einer und noch einer. Dreimal hintereinander: Peng! Peng!  Peng! Der Genosse rannte mit der Flasche in der Hand zurück und kam mit einer  Axt wieder. Jetzt war niemand mehr da, der ihn zurückhielt. Er sprang über Theo  hinweg und zur Tür heraus. Theo lag mit dem Kopf auf die Erde. Man hob ihn auf.  Othello holte eilig eine Decke. „Was ist denn los?" „Verflucht! Theo ist  getroffen!"
  Er schlug die Augen auf und versuchte zu lächeln. Dann presste er die Zähne  fest aufeinander und drückte die Fäuste gegen den Leib.
  „Theo! Theo, wo hats denn getroffen? Sag doch Theo... . Mein Gott..."
  „Hier, hier — ist aber nicht so schlimm, Ge—nos—sen. Ich, Ich
  Erich stand neben ihn. Er drückte seine Hand.
  „Du — Erich. Du musst jetzt meine Funktion übernehmen. Ich —> kann  vor—läu—fig nicht mehr . . ." Er hob seine blutige Hand bleich in die  Luft. Blass war sein Gesicht. Dann schien er nichts mehr zu spüren. Man trug  ihn fort.
  „Mit der Taxe gleich weg! — Bauchschuß, hm, Glückssache."
  Erich stand einen Moment still, und seine Augen starrten auf die Stelle, wo  Theo gelegen hatte. Eine kleine Blutlache versickerte langsam in die morschen  Dielen. Dann sprang er auf und rannte hinaus.
  „Nieder mit den Arbeitermördern!" schallte es ihm auf der Straße entgegen.  Vor dem Lokal lagen Steine und zerbrochene Blumentöpfe. Die Faschisten waren  abgezogen. Die beiden Privatwagen hatten ihre Verwundeten fortgeschafft. Von  der Geneisenaustraße kamen eilig Genossen und Arbeiter zurück. Kurze Zeit hinterher  fuhr langsam ein Überfallwagen durch die Straße. Der Genosse mit dem Beil saß  oben und winkte: „Rot Front, Genossen!" Ein Schupo schnauzte ihn an. „Rot  Front", echote es zurück. Eine halbe Stunde später kam Verstärkung. „Alles  vorbei, liebe Freunde. Habens auch ohne Euch geschafft. Bloß einen Mann mit  Bauchschuß haben wir weggetragen."
  „So ein Mist! Verflucht, wärn wir doch bloß ein bisschen mehr gerannt..."  Die Straße beruhigte sich bald wieder. Sie hatte gelernt, sie war jetzt bereit.  Alle Hoffnungslosigkeit war verschwunden.
Doktor traf sich am anderen Tag mit Karl. In der Nostizstraße war es  unheimlich ruhig. Fast keine Menschen standen vor den Haustüren. Ein  Überfallkommando fuhr hin und her. Ab und zu ein Ruf: „Fenster zu!" Oder  „Weitergehen!"
  Die beiden gingen zu Doktor in der Solmsstraße. Das Lokal wurde ständig von der  Polizei bewacht. Wenig Gäste saßen da und Othello fluchte. Kriminalbeamte  liefen schwitzend herum. Einige hatten Hunde mitgebracht.
  „Was sagst Du zu gestern abend, Karl?"
  „Was soll man sagen, war schlecht organisiert. Eins steht fest: Die kommen  wieder. Auch die Polizei kommt wieder. Die Aufgabe der Nazis ist ja, durch  solche Überfälle die Arbeiterschaft zu verwirren. Alle anderen Straßen sind  nicht so gut wie unsere. Alles Kleinbürger und Sozialdemokraten. Da haben sie  es leichter. Und die Polizei — na, Du weißt ja."
  „Aber, Herrgott, das geht doch nicht. Wir können doch nicht von unseren  Genossen verlangen, dass sie tagtäglich auf den Beinen sind. Sie haben keine  vernünftige Kleidung, nichts Rechtes im Magen, das geht doch nicht."
  „Es ist schon so, Doktor: Wir allein sind augenblicklich zu schwach, um die  Faschisten zu schlagen. Und wenn wir auch zahlenmäßig stärker sind. Kampf gegen  Faschismus heißt nicht nur Überfälle der SA. abwehren. Da gehört viel mehr zu.  Lies doch heute abend die Zeitungen. Fast alle bringen verlogene Berichte. Die  Kommunisten haben angegriffen, die Kommunisten haben geschossen. Vor allem das  „Tempo". Wenn ich das so lese... "
  Karl knurrte beim Sprechen und biss dann die Zähne aufeinander.
  „Das ist doch die beste Unterstützung für die Nazis. Dass die Polizei immer  gegen uns vorgehen wird, ist ja klar. Dann die Justiz. Wehren wir uns, bekommen  die Nazis Keile und ein Genosse wird verhaftet, dann sehen wir ihn lange Zeit  nicht wieder. Passiert das einem von den anderen, wird er meistens  freigesprochen. Das macht doch den Leuten Mut, deshalb werden sie Immer frecher  und rennen ungehindert mit ihren Pistolen herum. Uns nützt nur die Massenaktion.  Mobilisierung der gesamten Bevölkerung. An ihrem geschlossenen Widerstand  müssen solche Überfälle scheitern."
  Doktors Wirtin klopfte schüchtern an die Tür.
  „Darf ich mal reinkommen?"
  „Bitte, bitte."
  Sie war aufgeregt und sagte rasch: „Was sagen Sie denn bloß zu den  Schießereien? Mein Gott, so lange, wie ich hier wohne, war so was noch nicht  vorgekommen. So eine ruhige Gegend. Das ist ja Mord und Totschlag, das ist ja  Bürgerkrieg. Bis hierher hab ich die Schüsse gehört."
  Sie redete immer aufgeregter. Doktor hatte keine Lust zum Sprechen. Ihn  bedrückte irgend etwas. Immer musste er an gestern denken. Und an Theo. Karl  sagte langsam: „Ja, Bürgerkrieg. Den wird’s geben. Und er wird sich in der  Hauptsache nicht nur in der Nostizstraße abspielen, sondern ganz wo anders.  Aber Ihnen wird ja nichts passieren."
  Die Frau lächelte. Sie sah Karl freundlich und prüfend an.
  „Versteh das nicht. Sie sind doch auch Kommunist. Und Sie — Sie sehen doch gar  nicht so aus. Wenn man die Zeitungen liest. — Versteh das nicht", murmelte  sie. Langsam lief sie zur Küche zurück. Doktor saß nachdenklich auf einem  Stuhl.
  „Hat ja keinen Zweck, mit der alten Frau zu diskutieren. Wir brauchen andere  Leute. Die stirbt ja doch bald", sagte Karl hart und wandte sich erstaunt  Doktor zu.
  „Was hast Du denn bloß, Mensch?"
  „Ach, nichts. Ich weiß nicht. Ich denk zu viel darüber nach. Und überhaupt, ich  bin nicht so wie Ihr. Ich hab alles viel schwerer und Ihr alle habt gegen mich  eine falsche Einstellung. Alles ist so geschäftsmäßig, persönlich kennt man  keinen. Und dann das andere... "
  Karl war verwundert. Ein starkes Kameradschaftsgefühl für Doktor, stark und  etwas weichlich, durchdrang ihn plötzlich. Er sah kurz auf. Doktor verzog den  Mund. Seine Unterlippe war blass und hing wulstig nach unten.
  „Ach, lass doch, Doktor. Ist doch nicht so schlimm. Hauptsache die Arbeit. —  Mir gehts ja auch manchmal so. Vor allem, wenn ich verliebt bin. Da gibt’s dann  so dumme Stimmungen. Man kann nicht einschlafen, denkt sinnloses Zeug und  bildet sich ein, man müsste mehr Zeit für persönliche Dinge haben. Aber dann  ist die Arbeit wieder da und alles wird besser."
  Er stockte einen Moment. Seine Stimme war weich und er schämte sich. Dann  begann er wieder: „Unseren anderen Genossen gehts doch oft auch so. Manchem so  und manchem so Wenn man sie
  sprechen hört, meint man, sie wären roh und einseitig. Aber na __
  lass man. Unterhalten uns lieber über ,Telefunken', nicht, Doktor?"
  „Ja, glaube auch. Ist wichtiger."
  Es wurde dunkel im Zimmer. Auf der Straße kreischte ein junges Mädel. Von der  Küche her drang das Klappern von Kochtöpfen. Die beiden schwiegen wie auf  Verabredung. So, als ob der Eindruck des Gespräches erst richtig verschwinden  sollte. Sie saßen da und streckten die Beine von sich. Doktor putzte die  Brillengläser und kniff die Augen zusammen, als schmerzten sie leicht. Er holte  mit den Armen weit aus und sagte: „Eine Verbindung hab ich schon "
  „So, ist gut. Und, was ist?"
  „Ja, wird schwer sein. Betriebsarbeit, mein Lieber, da ist viel versäumt  worden. Die besten Kräfte müssen da eingesetzt werden. Ist schwer, da  ranzukommen. Aber wir müssen. Machen wir die Vorarbeiten, später muss die ganze  Gruppe eingesetzt werden. Überhaupt muss von vornherein für eine gute  Verbindung von der Straßenzelle zur Betriebszelle gesorgt werden. Auf unserem  Abziehapparat ziehen wir Einladungen zu einer Jugendversammlung ab. Ich hab  einen knorken Kerl, der wird im Betrieb auch ein paar verteilen, die anderen  wir."
  „Gut, dufte, Doktor. Da haste ja direkt schon wat jemacht. Los, wir gehn gleich  zu Ernst abziehen. Hoffentlich ist der Hund zu Hause."
  Sie liefen beide Jos und waren fröhlich Die anderen Genossen hatten heute  nichts zu tun. Elly und Erich saßen auf einer Bank in der Gneisenaustraße. „Rot  Front, Ihr beiden", rief Karl. Erich wollte erst den Nacken einziehen,  dann grüßte er zurück. Doktor nickte mit dem Kopf und musste lachen.
  
  Der lange Emil traf sich mit Karl und Doktor sofort nach Betriebsschluss.
  In einer halben Stunde sollte die Versammlung beginnen.
  Emil lachte breit und schlug Doktor auf die Schultern. „Mensch, ick sage Dir.  Bei uns wat machen. Die Jungs wolln alle. Aber sie traun sich nich. Na, Ihr  werdet ja sehn."
  Sie saßen in einem Lokal in der Lankwitzstraße am Halleschen Tor. Emils Freund,  Fritz, kam mit einem blassen Burschen. „Is hier richtig?"
  „Jawohl, komm ma her. Kommt Ihr alleene", fragte Emil.
  „Na, vielmehr werden nicht kommen. Ihr wisst ja. Der olle Kühne steht an de  Ecke Tempelhofer Ufer un passt uff. Die janz. neuen Stifte traun sich erst  recht nicht her."
  „Ma, wolln ma sehn. Wird schon werden."
  An der Theke standen Kohlenkutscher und tranken ihre Mollen. Doktor rauchte  eine Zigarette nach der anderen. Es kamen noch vier junge Arbeiter. Einige  schüchtern, andere frech. Ein schwerfälliger Bursche blieb an der Tür stehen  und sah noch einmal die Straße hinunter. Dann fluchte er:
  „Der Kühne ist der reinste Betriebsspitzel. Uffs Maul haun, den Lumpen. Steht  immer noch an de Ecke un passt uff."
  „Weiter wird wohl keener kommen. Los, jehn wa nach hinten", meinte Emil.  Karl hatte sich eine lange Rede zurechtgelegt. Aber er sprach nur kurz. Und  Emil unterbrach ihn auch öfter. „Hör mal, det wissen wir ia schon allet. Son  bisschen klassenbewußt sin wir ja ooch. Lass Dir doch von de Jungs aus den  Betrieb berichten."
  Der Blasse stand auf. Sein Gesicht war schmutzig und die Finger unheimlich  lang. Beim Sprechen hustete er öfter und machte lange Pausen.
  „Ja, Kollegen. Damit sind wir wohl alle einverstanden. Äber die technischen  Schwierigkeiten, die sind schlimm. Unsere Jugendlichen im Betrieb sind  verängstigt. Sie getraun sich nicht mehr, eine eigene Meinung zu haben. Und  gerade ein Teil der älteren Verbandsmitglieder haben dafür gesorgt! Überall  Spitzel im Betrieb. Vor allem der Kühne. Sagst Du was, Bumms: hier hast Du  Deine Papiere, Wir hatten ja mal einen roten Jugendvertrauensmann, den Alex.  Auch entlassen. Wir paar konnten allein keinen Krach machen. Und von außerhalb  des Betriebes wurden wir nicht unterstützt, also — Ihr wart ja schon mal bei  uns, wisst ja Bescheid. Wir hatten sogar zum Jugendtag in Leipzig eine  Delegation, Die Teilnehmer wurden alle entlassen. Vor drei bis vier Wochen  hatte sich Alex wieder eine Verbindung mit dem Betrieb gesucht. Ist ja gut, der  Junge, muss man schon sagen. Er war auch beliebt bei den Kollegen. Wie gesagt,  er traf sich mit einem Arbeitsburschen vor dem Betrieb. Der Arbeitsbursche  wurde von Kühne gesehen und am nächsten Freitag hatte er die Papiere. Ihr seht,  wie schwer das ist...."
  „Ja, das ist schon eine Scheiße."
  „Ach wat", polterte der lange Emil los. „Kühne haun wir mal vors Maul. Der  wird bald die Schnauze halten. Habt doch man bloß nich so viel Angst, Mensch.  Jedenfalls kann . man die Schwierigkeiten ganz gut beseitigen. Das ist doch  alles Quatsch. Wir sin doch keene Hampelmänner."
  „Sagst Du so. Aber heute aus dem Betrieb fliegen, das ist allerhand."
  „Ja, das muss auf alle Fälle vermieden werden", sagte Karl. „Wir brauchen  Betriebsarbeiter. Die sind wichtig. Ihr sollt auch nicht offen auftreten bei  der Kleinarbeit, Gewiss, manchmal ist das notwendig. Aber wir von der  Straßenzelle sind ja auch da. Wir werden Euch mit allen Mitteln unterstützen.  Erst mal eine Zeitung fertig stellen. Ihr liefert das Material dazu. Wie: was  ist im Betrieb los, wer sind die größten Schinder, Werkpolizei, Lehrlingsfragen,  Faschisten, immer in Verbindung mit tagespolitischen und grundsätzlichen  Fragen. Weiter, was wird im Betrieb produziert... ."
  „Oho, das ist ja eben das Wichtige", rief der Blasse dazwischen. „Fast  alle Funkeinrichtungen, auch für Panzerkreuzer. Der Großsender Nauen stammt von  ,Telefunken'. Das ist sehr wichtig, meine Lieben."
  Karl war verwundert. Der weiß ja allerhand, dachte er.
  „... wir werden also zwei, drei Nummern von der Zeitung verteilen und dann  eine große öffentliche Jugendbetriebsversammlung organisieren. Und zwar so,  dass es keinem Spitzel möglich ist, die Jugendlichen zu überwachen. Das wird  schon möglich sein. Ein Vertreter der RGO. wird eingeladen und auch welche von  der Parteibetriebszelle. Einverstanden?"
  „Ja, es muss gehen. Aber wie gesagt, von außen gut unterstützen."
  „Ja, ja, könnt beruhigt sein."
  Nur ein junger Arbeiter war ängstlich. Er stand das erste Jahr in der Lehre und  hatte große Angst vor seinem Vater, einem Sozialdemokraten. Nun, Karl wusste ja  Bescheid. Er verschwand dann auch bald stillschweigend. Der Blasse lachte, als  er raus war. „Um, den hatte ich ja die meiste Angst, Genossen. Na, lass  man."
  „Bist Du denn auch Genosse?"
  „Icke? Klar. Ich bin aus Moabit."
  „Ach! Seh mal an. Det is doch eine Schweinerei. Und davon wissen wir gar  nichts. Seh mal an", sagte ärgerlich Karl. Alle anderen, außer Emil,  traten in den Jugendverband ein, mit dem Versprechen, im Betrieb zu arbeiten  und die Zelle weiter auszubauen. Zwei von ihnen waren damals schon im  Jugendverband, und als die Zelle aufflog, kümmerten sie sich um nichts mehr.  Emil wollte nicht.
  „Ach, da ist man doch dauernd gebunden. Ick hab da soone kleene Brumme. Uff die  muss ick uffpassen, sonst looft se mir weg. Später mal, wenn ick verheiratet  bin. Aber ick arbeete mit. Mensch, ick als oller Klassenkämpfer...." Er  reckte seine große Faust,
  Vergnügt trotteten Karl und Doktor nach Hause.
  Von nun an trafen sie sich oft mit den Jungens aus ,Telefunken'. Sie hatten  schon viele Artikel aus dem Betrieb erhalten. In der; nächsten Woche sollte die  erste Betriebszeitung fertiggestellt werden. Jetzt galt es, die Genossen aus  der Gruppe Nostizstraße zu mobilisieren.
  Einen Tag später hatte die Gruppe ,Nostizstraße' Versammlung. Die Sitzung hatte  noch nicht begonnen. Kater, Gustav, Orje und Frieda waren gemeinsam gekommen.  Sie saßen vor Trude an einem Tisch und füllten Aufnahmescheine aus. Alle  Genossen waren da. Ernst hatte die neueste Nummer des ,Jungen Wühler' gebracht.  Nur Erich fehlte noch. Karl stand von seinem Stuhl auf und sprach: „Genossen!  Wir haben in den letzten Wochen trotz allem Terror eine gute Arbeit geleistet.  Heute abend sind vier junge Arbeiter, die Ihr alle gut kennt, zu uns gekommen.  In ganz kurzer Zeit eine. Betriebsgruppe bei ,Telefunken' aufgebaut. Darüber  werden wir noch später sprechen müssen. Einer unserer Genossen ist von  Faschisten verwundet worden. Theo hat einen schweren Bauchschuß und liegt im  Urbankrankenhaus. Er wird lange nicht bei uns sein können. Er lässt Euch alle  grüßen und verlangt von der Gruppe verstärkte Arbeit. Und wir werden verstärkt  arbeiten. Wir müssen einfach, Genossen!"' Die Genossen saßen da mit  verbissenen Gesichtern. Alle dachten an Theo. Nur Doktor lächelte still vor  sich hin. Er hatte in der letzten Woche viel gearbeitet. Die Betriebszelle von  ,Telefunken' war jedenfalls geschaffen. Jetzt galt es nachzustoßen.
  Eine kurze Pause trat ein. Die Körper waren gespannt. Man hörte stoßweises  atmen. Jemand sagte: „Jawohl, wir müssen! Jetzt heißt es nicht nachlassen. Und  wenn wir wirklich Komsomolzen sein wollen, dann schaffen wir es auch."
  Die Tür ging auf. Nur wenige sahen sich um. Dann erhob sich eine brodelnde  Unruhe: „Sssssssss — Ru—he!" Erich war eingetreten und schob Hermann  Rhoden vor sich her. „Hier, ein neuer Genosse. Er traut sich nicht so recht... ."
  „Bravo", riefen welche. Ein paar Stimmen murrten: „Der hat sich doch an  dem Überfall beteiligt... ." „Nein, stimmt nicht." Auch Gustav stand  auf und sagte verlegen: „Ich weiß es genau. Er stand bei mir, Nur sein  Bruder...." Langsam kam Hermann näher. „Wenn Ihr erlaubt...."
  „Bitte, bitte! Du ja, aber Dein Bruder niemals."
  „Also Erich, Du bist vorgeschlagen an Theos Stelle. Wie denkt Ihr darüber,  Genossen?" „Dufte, jawoll, Erich, Erich!" Der wurde bis über die  Ohren rot. Aber am meisten freute sich Elly. Langsam begann der neue  organisatorische Leiter zu sprechen. Seine Stimme wurde einen Moment unsicher,  doch dann sprach er sicher weiter. „Ja, was soll ich dazu sagen. Ich kann nicht  gut reden. Das wisst Ihr ja. Ich habe den Marxismus auch nicht mit dem Löffel  gefressen. Aber arbeiten will ich, das verspreche ich Euch, Genossen. Und wir  haben noch viel, viel Arbeit. Ich bin noch nicht lange Mitglied der  Organisation. Aber das weiß ich heute: Kampf und nochmals Kampf. Um jeden  Jungarbeiter müssen wir kämpfen. Um jeden in Betrieb und Straßenzelle. Um jeden  in den gegnerischen Organisationen. Ich habe Theo versprochen, dass ich jetzt  doppelt arbeiten werde. Und das verspreche ich Euch auch. Und so werde ich  meine Funktion antreten, wenn ich auch nicht so gut sprechen kann...."