Ein junger Köter kläffte unaufhörlich. Auf dem Hof, in der Ecke, spielte ein dürres Kind. Es schob geduldig Murmeln zwischen den Kopfsteinreihen und nahm ab und zu eine in den Mund.
Plötzlich brüllte es los, keine Worte, sondern ein furchtbares, stickendes Gebrüll. Im zweiten Stock schob sich ein wuschliger Frauenkopf durch das Fenster.
„Frau Danna! Frau Danna! sehn Se doch mal rasch! Der kleene Kerl hat ne Murmel verschluckt! — Nee, sowas! Immer den Jungen alleene lassen... "
Vom Vorderaufgang kam eine Frau heruntergerannt. Sie trug eine schmutzigfeuchte Schürze. Ihre Kleidärmel waren hochgekrempelt, das Gesicht rot und aufgeregt. Alle Frauen, die zuhause waren, sahen jetzt aus den Fenstern. Die von vorhin brüllte wieder: „Rasch doch! Der wird ja schon janz blau!" Frau Danna handelte schnell, sie schien noch einige Übung in solchen Dingen zu besitzen: Karlchen wurde auf den Kopf gestellt und hin und her geschleudert. Er gluckste nur noch und hatte einen feuerroten Kopf. Dann spuckte er eine blaue, verschleimte Murmel aus.
„So, Du Lausejunge! Warum nimmst Du die in den Mund?! He?! Warum nimmst Du immer die Murmeln in den Mund?!" Klatsch, klatsch, hatte er ein paar saftige Ohrfeigen. Von neuem ging das Gebrüll los, und Karlchen kroch auf allen Vieren zwischen die beiden Müllkästen. Frau Danna musste wieder zum Vorderaufgang zurück und nahm sich einen Eimer Wasser von unten mit.
Im zweiten Stock des Quergebäudes standen vier Frauen und schimpften. Eine fünfte kam gerade mit einer Tasche voll Kohlen, sie wurde aufgehalten: „Schade, dass Sie nicht hier waren. Eben hätten Sie wieder was erleben können. Der kleene Karl wäre bald erstickt!"
„So? — Na, det kommt ja bei den öfter vor."
„Na ja. Aber wenn nu wirklich mal wat passiert?"
„Denn hat die olle Danna ooch keene Schuld. Sechs Kinder und drei Aufgänge, det is doch ein bisschen happig", sagte die Frau mit der Kahlentasche und ging weiter.
Die Frau mit dem Wuschelkopf rief ihr hinterher: „Sie müssen die ooch immer noch in Schutz nehmen. Warum hat se denn so ville Kinder? Wat?"
„Die is eben noch nich so schlau wie Sie. Sie passen eben besser uff, vastehn se!"
„Ach, wern se man wieder frech, Sie! Wat hat denn det damit zu tun?" -
Oben klappte eine Tür. Frau Schade konnte nicht mehr hören, dass sie eine „alte Knüppeltülle" sei.
Solche Vorgänge konnte man in der Nostizstraße täglich erleben. Immer war Krach. Sinnlos beschimpften sich die Leute. Ständig kamen traurige Leierkastenmänner und spielten immer ein und dieselben Lieder. Lumpenhändler brüllten, und morgens kam ein alter Mann,
der Brennholz gegen Kartoffelschalen eintauschen wollte. Auf einigen Höfen waren Kuhställe. Dort lagerte furchtbarer Gestank bis unter die Dächer und drang in die Wohnungen. Bunte, giftige Fliegen schwirrten durch die Fenster, setzten sich auf Speisereste und quälten rachitische Säuglinge. Das waren die Brummer. Dann gab es noch die kleine gewöhnliche Mistfliege. Und wo keine geflügelten Insekten waren, tummelten sich Wanzen. Man konnte machen, was man wollte, sie waren nicht wegzubringen. Vor einiger Zeit hatte eine Frau die Wohnung geschwefelt, ihr acht Monate altes Kind war im Schwefelqualm erstickt, jedoch die Wanzen wurden fetter und aufdringlicher. Sie hausten hinter Tapeten, hinter dem brüchigen Stuck an der Decke, sie kamen sogar an der Hauswand hoch durch die Fenster geklettert. Wanzen waren die Plage der saubersten Frauen, auch derer, die in den Vorderhäusern wohnten. Aber dort wussten die Leute, wo die Millionen Wanzen herkamen: aus den Hinterhäusern.
Im ersten Stock eines Hauses an der Gneisenaustraße wohnte nach vorn heraus die Frau des Krankenkassenangestellten Mädicke, Sie war eine stolze Person mit wippenden, festen Brüsten. Trotz zehnjähriger Ehe hatte sie, weiß der Teufel, keine Kinder. Eigentlich passte sie nicht in die Nostizstraße. Sie hatte einen anderen Gang als die übrigen Frauen, trug den Kopf hoch und hatte soviel Kraft und Zeit übrig, dass sie mit dem Hintern wackeln konnte. Das sah ja nun wirklich nicht schön aus, aber es war so doch wenigstens ein Unterschied vorhanden. Sie war die einzige, die keine Wanzen hatte, jedenfalls behauptete sie das immer. Und ihr Mann musste den Mund halten. Ihr Wanzenpulver kaufte sie nämlich nicht im nächsten Farbwarengeschäft, sondern Emil musste bis zum Farben-Neumann in der Markgrafenstraße gehen.
„Die Leute sind ja bloß neidisch auf uns, Emil!" sagte sie oft. „Sieh bloß bald zu, dass wir eine andere Wohnung bekommen, oder ich rück Dir doch noch aus ... .'
„Aber ja doch, Marta, unser Neubau ist ja bald fertig, da gibt es Dienstwohnungen. Und ich bin nicht schlecht angeschrieben. Werde nur nicht ungeduldig."
„Ach, werde nur nicht ungeduldig!" ereiferte sie sich, „der Dreck, der Dreck hier! Und die verfluchten Wanzen! Und dann die Kinder!"
Ja, die Kinder. Sie kamen aus der Schule, lärmten und warfen sich mit Dreck,
Keines von ihnen war kräftig. Alle hatten den gleichen stumpfen Blick. Nur wenige waren lebendiger, die waren bei allen Gelegenheiten die Führer. Wenn sie zum Tempelhofer Feld zogen, eine Schlacht mit Kuhmistkügelchen schlugen oder sonst wie auf der Straße tobten. In der Nostizstraße war das nicht so leicht. Oft saßen sie stumpfsinnig auf den Treppen, ohne Leben und Fröhlichkeit. Alles war so tot und langweilig. Träumerisch trugen die Mädels Puppen herum, wurden von den Jungens aus irgendeinem Anlass gestoßen, und dann ging die Heulerei los. Sie stellten sich auf den Hof und schrieen ihr Elend weinerlich gegen die abgeplatzten Wände. „Mutta! Mutta! Der Atze hat mir jehaun!"
„Wollt ihr mal vom Hof runter! Verfluchte Jöhren! Immer der Krach, der verdammte!... "
An der Ecke Mariendorfer Straße, vorn vier Treppen, wohnte die Familie Rhoden. Kurz nach dem Krieg war sie aus Westdeutschland gekommen. Jeden Morgen um fünf Uhr ging der Vater mit seinen siebzehn- und achtzehnjährigen Jungen zur Zentralmarkthalle. Er betrieb Gemüsehandel en gros. Die Jungen waren kräftige Burschen. Groß, hohe Stirnen und Hände wie Maurerkellen. Abends saßen die drei mit Mutter und Schwester am Tisch und sangen sämtliche Lieder, die den deutschen Rhein preisen. Ein Plüschsofa stand an der Wand und darüber hingen uralte Bilder von längst verfaulten Menschen.
Neben ihnen wohnte der Sozialdemokrat Langscheidt. Er war Portier auf einem Arbeitsnachweis, recht dick und behäbig, manchmal kam er mit einem blauen Auge nach Hause. Und an einem Morgen klebte ein großes Plakat an der Haustür:
„Arbeiter der Nostizstraße! Der Schuft Langscheidt, Mitglied der SPD., denunziert hungernde Erwerbslose an Polizeibeamte. Haltet ihm sein schändliches Verhalten unter die Nase, zeigt ihm, dass er ein Achtgroschenjunge ist! Mehrere Erwerbslose."
Seit diesem Tage sprach niemand mehr mit ihm. „Achtgroschenjunge", das war eins der gemeinsten Schimpfworte der Nostizstraße. Das war ein Aussätziger, ein Schuft, vor dem man nicht einmal ausspuckt.
Langscheidt war das gleichgültig. Er war ja auch schon sehr alt; fünfzehn Jahre in der SPD. und zwanzig Jahre in der Gewerkschaft. Da gibt es so etwas wie Tradition. Eilig und kläglich schlich er an den Häusern entlang, wenn er vom Nachweis kam. Sein Sohn hatte auch etwas von der Tradition, aber von der alten, echten. Er war ohne Wissen seines Vaters in die Gruppe Nostizstraße des Kommunistischen Jugendverbandes gegangen. Heute war er der politische Leiter der Gruppe. Er ist bei der ersten Panzerkreuzerabstimmung mit vier anderen jungen Arbeitern aus der Sozialistischen Arbeiterjugend ausgetreten.
Wenn er sich seinen Stempel vom Nachweis holte, musste er an seinem Vater vorbei. Der grüßte ihn freundlich und rückte ab und zu auch eine Zigarette heraus. Aber eines Tages war’s aus damit: Vor dem Nachweis wurde Karl von einem Roten-Jungfront-Manm gegrüßt. „Rot Front! Karl!" „Rot Front! Theo!" erwiderte der Sohn des Portiers. Und am Abend war der Krach da. Aufgeregt lief der Vater im Zimmer hin und her. „Der Lümmel! Nee, sowat! Das hätte ich mir nicht träumen lassen. — Was sagst Du nun dazu, was?!" fauchte er seine Frau an.
„Was soll ich denn dazu sagen? Das ist doch auch Dein Sohn. Du hast ihn Dir doch erzogen. Jetzt sieh zu, wie Du mit ihm fertig wirst! Ich will mit Politik nichts zu tun haben."
„So! Du machst Dir ja die Sache recht einfach. Natürlich habe ich ihn erzogen. Aber so nicht! So nicht, sag ich Dir. Stell Dir vor, auf. dem Nachweis ist Krach, und ich muss mich mit meinem eigenen Sohn herumschlagen! Stell Dir das einmal vor. Plötzlich ist Krach, und der Karl ist dabei! Mein Gott, so ein Lausejunge! Und wie
schön könnte er es haben. Wäre der bei uns geblieben, hätte er längst Arbeit. Nee, nee, das hätte ich mir nicht träumen lassen...." Es klopfte, Frau Langscheidt öffnete die Tür. Karl trat herein. Er grüßte knapp wie immer. Die Mutter sah ihn mit stillen Augen an. Sie wollte ihm rasch etwas zuflüstern, doch da kam schon der Vater wuchtig und schwer heran.
„Komm mal her, Bursche! — Na, wird's bald?!" Karl ging auf ihn zu und sagte ruhig: „Was ist das für ein Ton, Vater?"
„Da hört doch alles auf! Was das für ein Ton ist? Ein anderer wie Deiner, Du — Du — Vaterschänder!"
Der alte Langscheidt brüllte und spritzte weißen Schaum vor Wut. Er holte tief Luft und legte von neuem los, keifend und heiser:
„Warst wohl dabei, als das Plakat angeklebt wurde, wat? Da haste wohl noch mitgemacht — Du — Du Kommuniste, Du! Ich weiß jetzt alles. Mir haben sie alles erzählt. Du beteiligst Dich an verbotenen Demonstrationen und bist sogar Funktionär. He, wie denkst Du Dir denn das alles?"
„Was soll ich mir denken? Ich bin überzeugt davon, dass ich meine Kraft dem Proletariat zur Verfügung stellen muss, sei es nun bei einer verbotenen Demonstration oder sonst wo. Ihr habt ja früher auch trotz Verbot demonstriert. Dein Vater... "
„Ach Du! Was weißt Du denn davon? Nichts! Neunzehn Jahre alt und denn da schon mitreden! Früher, ja, da war es auch was anderes. Heute haben wir zu bestimmen, und nicht mehr der Kaiser. Ich bin zwanzig Jahre in der Gewerkschaft, fünfzehn Jahre in der SPD, mir kannst Du nichts erzählen, mein Junge. Also, dass Du Bescheid weißt: ab heute bist Du um acht Uhr abends oben, verstanden?!"
„Warum soll ich nicht verstehen? Du hast ja so gebrüllt, dass es das ganze Haus verstehen muss."
„Wer man noch frech, Du Dickkopp!"
Der Alte schob los und knallte die Stubentür hinter sich zu. Karl setzte sich.
„Was wirst Du nun machen?" fragte ihn die Mutter. Ängstlich sah sie ihn an, als ob sie sagen wollte; ich verstehe dich ja. Lass doch den Alten meckern! Aber sei vernünftig, mir zuliebe...
Karl dachte nicht daran, so „vernünftig" zu sein, dazu war er zu selbständig. Er verkrampfte die Finger ineinander, schluckte ein paar Mal und sah starr vor sich hin. Hart und knochig war sein Gesicht. Eine Haarsträhne fiel ihm wie ein Streifen Licht über die Stirn, Seine Mundwinkel hingen schlaff nach unten. Aber traurig war er nicht.
„Nachgeben kann ich nicht, Mutter. Das tue ich nicht, Du weißt es ja. Das Plakat habe ich nicht angeklebt; aber hätte ich den Auftrag dazu bekommen, nun, dann hätte ich ihn ohne weiteres ausgeführt. Ich werde abwarten, was Vater macht. Meine politische Betätigung lasse ich mir jedenfalls nicht verbieten. Sonst gehe ich lieber . . ."
„Junge, bist Du verrückt? Wo willst Du hin? Bist arbeitslos, hast keine vernünftigen Sachen, Du kommst doch gleich unter den Schlitten, Junge,"
„Also, ich muss jetzt gehen. Sag Vater, ich bin zum Gruppenabend. Warum denn das verheimlichen? Auf Wiedersehen, Mutter!"
Karl lief die Treppen hinunter. Seine Mutter weinte, als er fort war, sie hatte gewusst, dass es einmal so kommen musste.
Es war kurz vor sieben Uhr, Im Erdgeschoß plärrte Radiomusik. Aus einem Fenster drangen kreischende, schimpfende Stimmen, zerflatterten zwischen den Wänden ohne Widerhall.
„Pack doch mal det Kind ins Bett! Mensch, der verfluchte Spektakel! Immer Jebrüll, nie hat man mal Ruhe! Verdammte Scheiße!"
Im Treppenhaus bogen sich unter Karls Tritten die knarrenden, halbverfaulten Dielen. Unten hing das Treppengeländer lose, nur mit Draht notdürftig zusammengeflickt. Von den Wänden war der Kalk abgeplatzt, man sah die gelbroten Mauersteine. An einigen Stellen grinsten mit Kreide oder Buntstift gemalte Figuren oder Inschriften, etwa: „Die Lisbeth Schunkel ist eine alte Nutte." Unter den hölzernen Fenstersimsen wucherten Schimmelpilze. Komisch: gerade heute fiel das Karl auf. Sonst hatte er nie darauf geachtet. Im Hausflur klebte ein mit Schreibmaschine geschriebener Zettel:
„Alle Mieter, die vom letzten Monat die Miete noch nicht bezahlt haben, fordere ich auf, dieses sofort nachzuholen. Im anderen Falle werde ich meine Maßnahmen ergreifen. Ebenso ist die fällige Miete abends ab 5 Uhr bei mir abzuliefern.
Der Wirt, Bartenstein."
An der abgeplatzten Decke baumelte die Gaslampe langsam hin und her, ihr Licht flackerte zischend, der Glühstrumpf lag durchlöchert im Zylinder. Das ausströmende Gas roch schwer und süßlich.
Am Abend beherrschte die Jugend die Nostizstraße. Rohe Burschen, kümmerliche Burschen, standen mit sanftmütigen und frischen Mädeln vor den Haustüren. Trübe Gasfunzeln beleuchteten den Bürgersteig. Boshaft hüpfende Schatten versuchten, die Eintönigkeit der Straße zu beleben. Graue Regenwolken hingen am Himmel, an den Rändern mit mattem Rosa gefärbt. Eine Schupopatrouille lief langsam auf und ab. An den Ecken standen einige Prostituierte in schlechten Kleidern und mit verschmierten Gesichtern. Jeden Mann, der vorbeikam, redeten sie an.
„Na, Süßer, willst Du ein bisschen mitkommen?"
Die meisten gingen achtlos vorbei. Einige blieben stehen, kniffen die Augen zusammen und sprachen leise über den Preis und anderes. Manche wurden frech und gemein. Sie wollten sich dann halbtot lachen, wenn die Mädels ärgerlich wurden und sich zierten. Die Jugendlichen der Nostizstraße achteten nicht darauf, so etwas sahen sie alle Tage.
Vor dem Lokal in der Mitte des Bürgersteiges hockte eine ganze Bande auf den Steinplatten. Die meisten wurden mit ihren Spitznamen angeredet. Die kleinsten, Kater und Spinne, schnorrten dauernd Zigaretten: „Peikbeen, lass mir mitrauchen."
„Geht nich mehr. Meine Kumille kriegt Erich. Und denn is meine Zijarette ooch keene Hure, vastehste?"
„Hab Dir man nich so, bei mir kommste dauernd schlauchen," knurrte Kater,
Erich Schmidt saß etwas abseits. Er war in sich zusammengesunken und hatte schwarze, traurige Augen. Müde erhob er sich, reckte seinen kümmerlichen Körper und sagte langsam: „Keen Mensch hat wat zu roochen. Keen Aas hat Jeld. Kinder, wo soll det bloß noch hin... .. ?!"
„Passt ma off, Jungs, jetz fängt der an zu heuln. Da jeh ick lieber."
„Hau ab, Du alter Seechsack!"
Ein blasses Mädel mischte sich dazwischen: „Kinder, seid doch bloß nicht immer gleich so gemein."
„Wat heißt hier gemein. Gemein ist, wenn der Hund vor de Türe scheißt. Wir sind nich gemein, vastehste! Und wenn du nicht ein Mädel wärst, würde ich Dir vort Maul haun, alte Henne."
„Hält de Fresse, Franz!" beruhigte ihn Spinne.
Die Lokaltür ging auf, und der Wirt schob seinen massiven Körper durch die Tür.
„Tach, Othello!" begrüßten ihn die Jungens. Weiß der Himmel, aber Othellos Gestalt passte nicht zu dem Wirt, er sah eher wie Cäsar aus. Er war nicht in guter Laune und schnauzte die Jungens an: „Runter von die Treppe! Wenn Ihr hier seid, traut sich kein Gast her. Los, los! Verschwinden, oder es kommt ein Topp Wasser."
Othello sprach ruhig, er war ein Gemütsmensch. Am Tage sagte er schon gar nichts, wenn die Burschen auf der Steintreppe saßen, da kamen ja sowieso fast gar keine Gäste.
„Los, Jungens, jehn wir doch nach'n Rummel, da is ne neue Bude!" schlug jemand vor. „Dufte. Los, ick mache mit." Spinne wollte unbedingt etwas zu rauchen haben. Er ging zu Othello in den Laden und legte fünf Pfennig auf den Tisch. „Jib mir doch mal ne Zijarette vor een Sechsa... "
„Jibts nich. Notverordnung. Kann nur zehn Stück verkaufen, mein Lieber."
„Ach, mach doch, Othello. Mensch, ick würde Dir ja gerne zehne abkoofen, aber ... "
„Na, hier nimm schon... ." Zufrieden trottete Spinne hinter den anderen her. Er wusste genau, dass es einzelne Zigaretten nicht mehr zu kaufen gab. Nicht mal bezahlen brauchte er sie, sonst machte sich der Wirt strafbar. Othello war gar nicht so. Manch einem Arbeitslosen, der mit knurrendem Magen zu ihm kam, wurde eine Boulette zugesteckt.
In der Nostizstraße wurde es ruhiger, wenn die Jungens fort waren. Dann kamen schüchterne Mädels hervor, stellten sich vor die Haustüren und plauderten. Der Eierjude holte eine Bank und stellte sie vor seinen Ladenkeller. Mütter, armselige Mütter mit müden, gleichgültigen Augen kamen mit ihren Kindern vom nahen Kreuzberg zurück. Sie schleppten die Kleinsten auf Rücken und Armen, die größeren liefen nebenher.
In Othellos Kneipe räkelten sich träge die wenigen Gäste. Im Vorderraum saßen nur mürrische, alte Herren mit langweiligen Gesichtern. Die Wirtin, eine frische, lebenslustige Person, brachte aus der Küche einen Teller frischer Bouletten. Prüfend überflog ihr Auge die Kundschaft, dann schüttelte sie verständnislos den Kopf und lief hastend davon.
Die Schwüle der Sommerabende schien in dieser Straße am schwersten, drückendsten zu sein. Überall offene Fenster. Die Männer schoben das Hemd zurück und streichelten ihre behaarte Brust. Die Frauen hatten es leichter: ein loses und durchsichtiges Kleid, darunter irgendeine weiße Hose, Schlüpfer oder Unterrock.
„Da wird man janz marode, bei die Hitze."
„Na, Du brauchst doch nicht zu schimpfen. Ihr habt ja nischt an, verdammtet Weibervolk!"
„Wat solln wir denn oooh anhaben, Mensch? Denkste denn, die Wohlfahrt gibt uns Bemberg-Seide. Det is die reenste Sackleinewand. Und denn erzählten sie uns: ,werdende Mütter, tragt hygienische Unterwäsche!'... ."
Eine junge Frau war wütend und prügelte ihren Sohn. Der stand bockig da und machte keine Miene zum Heulen. Immer und immer wieder bekam er einen Puff auf den Hinterkopf.
„Du Lausebengel! Wo haste die Strümpfe jelassen? Wo haste die Strümpfe? Willste jetzt Dein Maul aufmachen! Jehn offs Tempelhofer Feld, ziehn sich die Strümpfe aus und lassen se sich klauen."
„Ach, mit die Strümpfe is det nicht schlimm, Frau Körner, meiner is mal ohne Hose nachhause jekommen, einfach mit einer Decke um den Bauch jewickelt."
An der nächsten Ecke standen die Freunde des verprügelten Knaben und grienten. Einer rief der Frau Körner zu:
„Los, jib ihm eene! Immer noch eene. Mensch, nimm doch den Holzhammer! Los doch, hau doch, Dein Junge wird ja doch een Raubmörder!"
„Halts Maul, Lausekopp!"
Allmählich verschwand einer nach dem andern. Othellos Kneipe bekam neue Gäste. Mütter riefen ihre Kinder zum Schlafengehen, und in den Wohnungen nahmen viele die Petroleumlampen und leuchteten die Tapeten ab.
Der Rummel nannte sich stolz „Fortuna-Park". Er lag gegenüber dem alten Steuerhäuschen am Tempelhofer Feld, in einer vornehmen Gegend, die die Jungens aus der Nostizstraße das „Topplappenviertel" nannten. Hier sah man abends viele höhere Schüler mit Hakenkreuzen und Dienstmädchen. Die Hakenkreuze verschwanden, wenn das Anrücken des Nostizkietzes gemeldet wurde.
Reger Betrieb herrschte auf dem Rummel. Lampen in allen Farben beleuchteten verlockend die armseligen Rummelschönheiten. Eine große Drehorgel überdröhnte jeden anderen Lärm. Alles lief im Kreise: die Lichter, die Karussells, die Glücksräder und die Besucher. Unendlich viele Sehnsüchte brodelten versteckt in dem gleichmäßigen Rummeltrott. Junge Mädels kicherten, sie liefen zwischen rohen Burschen oder glotzenden Gymnasiasten von Bude zu Bude.
Vor einem breiten, grünen Zelt schrie ein Mann mit heiserer, knabenhafter Stimme: .
„Hier kann man sehen, wie Kinkerling, das Affenweib, mit Sägespänen gefüttert wird! Halb Mensch, halb Affe, fristet Kinkerling ihr kümmerliches Leben: sie lebt nur von Sägespänen, andere Speisen weist sie zurück. Ihr Vater war der Häuptling eines Negerstammes
Im Innern Afrikas. Er wurde von einem Gorillaweibchen angefallen, das er schließlich gefangennahm und zähmte. Eines Nachts spürte er heißen Atem an seinem Ohr... "
„... und wenn dein kleines Herz noch frei ist, dann komm zu mir... " orgelte es dazwischen.
Franz musste natürlich wieder einen Witz reißen: „Du, lass Dir mal von Dein Affenweibchen Pfötchen jeben! Wat machste denn, wenn sie Dir mal nachts anfällt?"
„Tatü! Tata!" brüllte es von der anderen Seite her, „Ringkampf! Boxkampf! Wollen Sie ringen, wollen Sie boxen? Dann kommen Sie herauf und kämpfen Sie mit meinem Bären. Ich mache aber die Herrschaften von vornherein aufmerksam, dass ich für keinerlei Schaden aufkomme."
Die Burschen verstellten den Mädels den Weg und versuchten anzubändeln.
„Verzeihung, Fräulein, dürft ich Sie einladen für diese Bude hier... ?"
Kater stellte sich plumper an und wurde grob; „Klopp Dir mal det Mehl von de Backe, siehst ja wie ein Mülleimer aus."
Peikbeen hatte ein langes Mädel beim Wickel, das sich wehrte und ihn anschnauzte:
„Lassen Sie mich endlich zufrieden! Fassen Sie mich nicht dauernd an... Sie, ick sahre et Ihnen jetzt zum letzten Mal, ick hole meinen Freund, der is bloß een Topp Bier trinken."
„Wat is denn mit Dein Freund schon los, Du olle Kuh. Sei froh, dass Dir mal eener da anpackt, wo bei andere Frauen die Titte sitzt."
Eine Gruppe lustiger Mädels kicherte in einer Luftschaukel. Immer wilder und höher stemmten sie mit kräftigen Bewegungen die verzierten Holzkähne. Wupp! Wupp! Wupp! Wupp!
Ein Mann mit spitzer Nase und eckigen Bewegungen schrie in die Luft: „Nicht so hoch! Das ist verboten!"
Die Jungens kannten den Mann, sie wollten, ohne zu bezahlen, Luftschaukel fahren,
„Jeht nich, Jungs. Ich bin doch nur Angestellter." Der letzte Satz klang etwas stolz. Der Mann erzählte, wie er trotz der schlechten Bezahlung doch zu einem ganz guten Verdienst kam:
„. . , denn zähl ick det Jeld in meine Hand vor. Dann schütt ichs in seine, und bei mir bleibt immer een Groschen kleben. Nachzählen tut der nich."
„Du alter Gauner, Mit mir mach mal sowas. Dir nehm ick mang die..."
„Na, hör ma zu, das sind doch aber meistens Arbeiter oder Arbeitslose," sagte vorwurfsvoll Erich. „Ach ja, recht haste. Aber ick muss doch auf meine Kosten kommen."
„Du Schwein. Det werden wir Dir mal austreiben." Auf dem Podest vor der Sporthalle standen Ringer und Boxer. Etliche mit runden, fetten Leibern, andere wieder schlank und sehnig. Hier staute sich die Menge, und auch die Nostizgilde blieb lange stehen. Der Ausrufer hetzte die Kämpfer aufeinander, einige Stammkunden und Anreißer hetzten feste mit.
„Kommt näher ran, Herrschaften! Heute ist mal was ganz Besonderes los: Tedje, der Kölner Meister, ist von dem ehemaligen Landesmeister Badens herausgefordert worden. Der Kampf geht bis zur Entscheidung. Als Preis sind fünfzig Mark ausgesetzt worden."
Herr Tedje fuhr erregt auf: „Ja, aber bitte, wenn er heute wieder aufgeben sollte, dann schmeiße ich den ganzen Laden hin... "
„Na, wer will hier noch mal mitmachen? Dreimal wird gedreht, dreimal wird gewonnen! Das letzte Los hier! Zehn Pfennig! Hallo, bleiben Sie mal stehen! — Hier, die Wurst können Sie für zehn Pfennig gewinnen, da brauchen Sie nich mehr mit die... "
Die Glücksräder drehten sich. Spinne wagte einen Groschen. Seine Nummer war elf, und auf zwölf blieb der Zeiger stehen.
„Verfluchter Mist! Det is ja Schiebung!"
In einer Ecke, neben dem Sportzelt, standen Apparate mit lebenden Bildern. „Die sinnliche Frau" stand auf einem dieser Apparate. Dorthin schlich Erich, steckte einen Groschen in den Schlitz und kurbelte...
Enttäuscht schlich er davon, wie ein Hund, der ohne Grund fürchterlich geprügelt wurde. Die anderen hatten ihn beobachtet, spöttisch lächelnd kamen sie näher: „Na, wat haste denn nu jesehn? War sie nackend?"
Erich knirschte mit den Zähnen, böse sah er seine Freunde an. Die wieherten vor Freude wie satte Pferde.
„Rutscht mir mal den Buckel runter, ihr Arschlöcher!"
Die anderen lachten nur. Franz legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte freundschaftlich: „Lass man, bleib bei die Handarbeit. Is das Beste. Hast ja eben ne schöne Vorlage gehabt."
Erich dachte resigniert: Affe! Dann wurde er wieder traurig. Wieder nichts. Immer wieder wird man verkohlt. Immer wieder derselbe Schwindel...
Stumpfsinnig lief er mit den andern weiter im Kreise, zwischen jungen Burschen und Mädels, die hier Abend für Abend ihr Elend zu vergessen suchten.
Eine Bude hatte gerade die Vorstellung beendet. Die Künstler traten auf die Rampe und lockten die Menge heran. „Internationale Schau" verkündeten große Buchstaben. Schilder mit geheimnisvollen Namen gaben der Sache einen sehr romantischen Anstrich.
„Hallo! Die große Abnormitätenschau! Alfons Bartelli, der Mann ohne Nerven! Otto Bonkulus, der Mann mit den tausend Köpfen! Daisy E. Opton, die große Musikvirtuosin! Sonja, die geniale Sensation... "
Als sich Daisy vorstellte, grienten sich die Jungens an, jemand sagte: „Mensch, die alte Zicke aus der Bergmannstraße." Aber die Jungens aus der Nostizstraße wissen, was Solidarität ist, sie verrieten ihre Entdeckung nicht. Daisy hatte eine bunte Pfauenfeder im Haar und wiegte sich hin und her. Ein etwas älterer Herr erzählte so ergreifend von der Seltenheit dieser internationalen Schau, dass die ganze Bande ihr letztes Geld zusammenkramte und in die Bude trat, bedächtig und würdevoll, als ob sie ein großes Theater besuchten. Der alte Herr erzählte draußen weiter:
„... nich etwa enthauptet. Er hat nur die Gabe, sich selbst an allen Körperstellen zu betrachten. Was doch sehr interessant ist, nicht wahr? Und dann ist da unsere Daisy. Sie spielt alles, was Sie wollen. Auf einem Banjo. Banjo sind doch jetzt sehr modern. Aber passen Sie gut auf, meine Herrschaften, Daisy hat die wunderbare
Gabe mit auf die Welt gebracht, genau zu wissen, welches Lied Sie gerne hören möchten. Sie kann nämlich Gedanken lesen! Ah, da staun Se, wat? Ich habe hier einen zugeklappten Umschlag. So, nun klappe ich ihn auf, sehn Sie? Hier sind zehn Zahlen, hinter jeder steht ein bekannter Schlager, und Sie brauchen nur darauf zu tippen, ohne dass es die große Künstlerin sieht, und gleich geht’s los: ,Weine nicht, Mütterlein, weine nicht'... na, und so weiter. Sie sehn also, meine Damen und Herren, Daisy ist schon eine Attraktion für sich. Dann ist aber noch Sonja da, die Sensation. Das genügt, mehr brauche ich Ihnen darüber nicht zu sagen. Ich werde versuchen, Sie auf eine ganz neuartige Weise zu unterhalten. Die Lieblinge des Volkes werde ich darstellen, die alten Sozialisten, angefangen vom ollen August Bebel. Meine Damen und Herrn! Das ist Volkseigentum, das geht uns alle an. Zögern Sie nicht! Zehn Pfennig ist der Eintritt. Gleich ist Anfang, gleich ist Beginn! Kommen Sie herein, draußen ist’s gefährlich, denn wir leben im Zeichen der Notverordnung!"
In der Bude war noch sehr viel Platz; höchstens 25 Zuschauer befanden sich drinnen. Erich musste neben einer dicken, aber sehr freundlichen Dame sitzen. Sie kuschelte sich dicht an ihn heran. Er konnte nicht wegrutschen, da ihn Franz immer wieder von der anderen Seite zurückdrückte.
Da ging der Vorhang hoch, und der Mann von vorhin bat um Applaus für den großen Künstler Bonkulus, der sofort auf die Bühne treten werde. Bonkulus war ein strammer Junge im Turnanzug, und er konnte auch was. Er gab gute artistische Leistungen, und jeder war begeistert. Er durfte dann in den Zuschauerraum gehen und Spenden sammeln. Die Pfennige flogen spärlich in die Mütze. Erich kramte eine Zigarette hervor und gab sie ihm. Spinne stieß ihn ärgerlich in den Rücken und flüsterte: „Gauner! For mir haste vorhin keene jehabt."
Dann kam wieder der Herr von vorhin und erklärte, wie schwer es sei, Gesichter anderer Menschen nachzuahmen. Jeder glaubte ihm das sehr gern. „Also, erst mal August Bebel." Er drehte sich zur Wand, klebte ein bisschen Putzwolle an, und als er sich wieder umdrehte, waren die Zuschauer sehr erstaunt; wie Bebel auf den bekannten Bildern sah jetzt der Direktor der „Internationalen Schau" aus. Dann kam Wilhelm Liebknecht an die Reihe, nach ihm Sacco und Vanzetti. Alles war gespannt auf das nächste Bild. „Und jetzt unser ermordeter Karl Liebknecht, der Führer der Jugend." Da pfiff plötzlich ein junger Mann in der hinteren Reihe. Franz sprang auf, schlug ihm unter das Kinn, packte ihn mit beiden Armen und trug ihn zum Ausgang. Ein Fußtritt, und der junge Mann lag draußen. „Bravo!" riefen einige Zuschauer. Franz setzte sich wieder, als ob nichts geschehen sei.
Daisy war ja nun wirklich keine Attraktion. „Die spielt aber mies," sagte jemand leise.
Und jetzt kam Sonja. Trocken und steif begann sie: „Ich komme jetzt zu Ihnen herunter. Ich habe hier Horoskope. Die Sterne lügen nicht. Sie brauchen mir nur Ihre Hand au zeigen, und ich gebe
Ihnen einen Zettel, auf dem alles draufsteht. Das ist doch sehr schön, wenn man alles vorher weiß. Preis nur zehn Pfennig."
Sonja kam herunter, eine Frau in der ersten Reihe hielt ihre Hand hin. „Ein M," stellte Sonja fest. Dann flüsterte sie mit der Frau und kramte umständlich ein grünes Kuvert hervor. Peikbeen räusperte sich.
„Wollen Sie auch einmal?"
„Nee, mit Dir nich, Du weeßt ja schon immer alles vorher, da macht det keenen Spaß."
„Na, denn nich."
Aber Erich wollte gern wissen, was mit ihm los war. Sonja nahm seine Hand: „Ein ganz großes A. Sie sind ein großes Glückskind und im Zeichen des Mars geboren."
Aber Erich widersprach: „Det is doch een M, Mensch. Det soll een A sin?"
„Doch, doch. Sehn Sie sich Ihre Hand mal durch ein Vergrößerungsglas an, mein Herr."
Dann bekam er den Zettel, wo alles draufsteht.
„Im Namen meiner Künstlerkollegen meinen herzlichsten Dank!" damit hatte Sonja die Vorstellung geschlossen.
Vor dem Rummel musste Erich sein Horoskop vorlesen, er war wütend:
„So ein Mist, wieder een Jroschen! Immer wieder fällt man off den Blödsinn rin — hört ma her: ,Eine fleißige Arbeit wird Sie vor den Gefahren des Leichtsinns retten. Die Liebe zur Arbeit wird Ihnen alle Gemütlichkeiten des Lebens verschaffen. Die Kinder, die Sie bekommen werden, folgen ihrem Beispiel und werden demnach Ihr größtes Vergnügen sein, — na, det kann ja dufte werden."
„Steht nich drauf, wie viel Kinder Du kriegen sollst?"
„Na, Erich, jetzt weeste ja Bescheid. Koof Dir man jetz immer Fromms Act."
„Ach ja, Jungs, ist schon alles Dreck. Los, jehn wa nach de Nostizritze, ick bin müde."
Die Rummelwächter räumten den Platz. Nur wenige Lampen brannten noch. Blauer Qualm spielte wie Nebelschwaden um die Laternen. Aus einem Tanzcafe gellten wilde Jazzmelodien. Schwere Lastautos donnerten in Richtung Tempelhof und schleuderten Anhänger hinter sich her. Am Flughafen blinzelten rote Signalzeichen. Der Asphalt der breiten Straße glänzte. Langsam schlenderte die Nostizgilde ihrer Straße zu.
Vor dem Lokal stand Karl Langscheidt mit seinen Genossen. Sie sprachen leise und überlegten.
„Ja, was machen wir denn da?" fragte Willi.
„Janischt. Karl jeht jetzt rauf, und wenn ihn der Alte rausschmeißt, pennt er bei mir ne Weile offs Sofa. Nachher werden wir denn schon sehen."
Die Jungens vom Rummel waren herangekommen.
„Rot Front! Ihr olln Leunakämpfer!"
„Rot Front! Ihr olln Rummelfritzen!"
„Oh, lass man, war janz nett, nich wahr, Erich? Der weeß nämlich jetz, wat mit ihm los is: acht Kinder soll er kriejen und die Gemütlichkeiten des Lebens. Dufte, wat?"
„Fängste schon wieder an? Dir hau ick heute noch in de Fresse."
„Mach doch, wenn de das Echo vertragen kannst. Immer los. Hol mal den Verbandskasten, Spinne!"
Die Jungens verstanden sich mit den jungen Kommunisten ganz gut. Nur mit Politik durfte man ihnen nicht kommen. Wenn es aber hieß: die Nazis kommen durch die Nostizstraße, dann waren die Jungens besser als viele der Organisierten,
„Sagt mal Jungens, was habt Ihr denn da vom Rummel? Jede Woche ziehen sie Euch etwas von der Unterstützung ab. Wird nicht lange mehr dauern, dann heißts: Ab über die Stoppeln, die Jugendlichen der Nostizstraße nach Pommern, Landarbeit fürs Essen, Arbeitsdienstpflicht gegen die Erwerbslosigkeit. Dann ist es zu spät, Herrschaften."
Theo war bei den Jungens beliebt, er konnte sich das erlauben. Aber sie lachten nur.
„So siehst Du aus, mein Lieber. Bei uns kommt gar nischt in Frage. Und wenn, dann gehen wir alle zusammen los und schlagen alles in Grund und Boden," sagte Franz.
„Na, und dann? Meint Ihr, die lassen Euch zusammen? Nee, mein Lieber... "
„Du willst woll schon wieder 'ne Rede halten, wat, Theo? Mensch, brauchst de nich. Du weest doch, wenn wat los is, sin wa wieder da, wir wissen, wat wir zu tun haben. Nur schlagen, mang schlagen, dass alles kracht!"
„Ja, natürlich, wenn Ihr man organisiert schlagen würdet. Aber so nützt Ihr der Arbeiterschaft verdammt wenig. Seht mal, Ihr habt doch so viel Zeit, seid erwerbslos, kümmert Euch doch mal ein bisschen um Eure Lage, macht doch mal was dagegen, alle zusammen. Zusammen mit uns. Zusammen mit der organisierten Arbeiterschaft ganz Deutschlands... "
„... Und der umliegenden Randstaaten", ergänzte Spinne. „Quatsch nich dämlich", fuhr ihn Erich an, „Du kannst doch bloß blöde Witze machen."
„Und Du jammerst über jeden Dreck, denkste denn, davon wird's besser alter Saftelkopp?"
Auf der anderen Straßenseite blieben die beiden Schupos stehen, die Jungens wurden ruhiger und gespannt. Der eine Grüne nestelte an seinem Koppel herum und sah seinen Kollegen fragend an. Doch der winkte ab: „Lassen wir sie stehen, ich meine, die sind doch ganz ruhig, warum sollen wir sie denn erst reizen."
„Ja, aber es sind mindestens 15 Mann, und es ist elf Uhr", sagte der andere zögernd. „Aber meinetwegen! Man weiß schon gar nicht mehr, was alles verboten ist."
Langsam gingen sie weiter, ab und zu sahen sie sich um. Nur Theo und Karl standen noch da und unterhielten sich.
„...Ja, und da muss etwas gemacht werden, die Jungens sind zu schade, um auf dem Rummel ganz versaut zu werden. Wir denken immer, die Nostizstraße ist schon rot, weil jeder Zweite Kommunisten gewählt hat. Aber das nützt uns einen Dreck. Mensch, was würden das für knorke Genossen werden .
Karl zweifelte, er war immer sehr vorsichtig und bei den Jungens nicht gut angeschrieben. Sie waren schon wütend wegen seines Vaters, den sie gefressen hatten wie zehn Pfund schwarze Seife.
„Meinst Du denn, das ist so leicht, mit denen was zu machen? Da sind doch so viele Knallköppe drunter. Sieh sie Dir doch mal an: der Rummel und die Weiber — weiter sehen die doch nischt. Was soll man denn da machen-?"
„Persönlich an sie herantreten, mein Lieber, zeigen, dass wir für alle ihre Nöte Verständnis haben, zeigen, warum ihr Leben so jämmerlich ist und wie sie sich helfen können. Die Nostizstraße muss eine ganze Stoßbrigade des Jugendverbandes werden. Sieh Dir doch die soziale Zusammensetzung der Leute an: alles Proleten, wenig Kleinbürger. Die Straßenzelle der Partei ist vierzig Mann stark, und wir nur sechzehn. Dazu kommen noch zehn Jungfrontleute, die aber nicht bei uns organisiert sind, Das ist doch kein Verhältnis, Mensch. Wenn ich doch nur Zeit hatte!"
Theo hatte immer keine Zeit. Er war Führer der Roten Jungfront und aktives Mitglied im Jugendverband. Jeden Abend Sitzung, jeden Abend nicht vor zwölf Uhr ins Bett. Und dann noch dieser Karl„der noch so viele sozialdemokratische Hemmungen und Arbeitsmethoden hatte.
„Na, wem später noch mal darüber sprechen. Ich bin müde. Mal sehn, was der Alte sagt. Licht brennt ja nicht mehr, Machs gut, Theo!"
„Also, lieber Freund, morgen abend Sportpalast. Machs besser!"
Erich war auch noch nicht schlafen gegangen. Er sah das blasse Mädel vor ihrer Haustür stehen und auf jemanden warten, der einen Hausschlüssel hatte.
Sie konnte Erich gut leiden, er war nicht gleich so gemein wie die andern Jungens.
„Na, wat hat denn der doofe Franz noch gesagt? Der patzige Affe."
„Nischt, Frieda. Musst Dir nischt draus machen, der meints in Wirklichkeit ganz anders. Hast Du keinen Schlüssel?"
„Nee. Wir haben bloß zwee. Eenen hat meine Mutter, die rückt ihn nicht raus, und den andern hat mein Bruder, der hat Nachtschicht."
Dann schwiegen beide. Frieda sah zu Boden. Erich betrachtete sie furchtsam und hoffnungslos. Er war etwas aufgeregt. Seine Hände spielten. Langsam legte er den Kopf zur Seite und presste ein Auge zusammen. Er fürchtete sich vor einer Dummheit: jetzt auf sie zuspringen und drücken. Langsam ging er auf sie zu und nahm ihre Hand. Sie sah immer noch zu Boden. So etwas hatte sie erwartet.
„Frieda, komm, wir gehen noch ein Stück."
Wortlos ging sie mit. Der arme Bursche war ja nett, er kam ihr immer so verprügelt vor. Seine Mutter, Frau Schmidt, hatte ihr schon oft von Erich erzählt.
„Wo lang gehen wir?"
„Zum Kreuzberg."
„Meinetwegen, aber nur zur Unterhaltung, verstehst Du, Erich?"
Erich hatte wohl verstanden, konnte aber nicht recht begreifen: immer ich habe so ein Pech. Immer ich...
„Ja", sagte er leise, „nur zur Unterhaltung. Ich möchte gern mit Dir sprechen, ganz vernünftig sprechen."
Erich sah sie wie aus weiter Ferne an. In Gedanken versunken, presste er den Kopf an ihre Brust . , .
Ihre letzten Worte stimmten ihn noch trauriger. £r schob gedankenlos einen abgerissenen Knopf in den Mund. Grenzenlos erbärmlich fühlte er sich. Was sollte er denn dem Mädel jetzt sagen? Würde sie nicht wütend werden und ihm davonlaufen, wenn er ganz einfach sagen würde: Du, ich hab Dich gern?
Auf dem Kreuzberg blieb er vor einer schlecht beleuchteten, unbesetzten Bank stehen. Heiß stieg es in ihm hoch. Erregung tobte wild in ihm. Er setzte sich und zog das Mädchen auf seinen Schoß. Mit zitternden Händen strich er über ihren stillen Körper.
„Frieda — ich habe Dich lieb... "
Sie schwieg lange. Dann sagte sie: „So reden sie alle. Das wollt ihr ja nur. Aber richtige Liebe findet man ja nicht. Du — hör auf... "
Er spürte ihre wannen Schenkel. Wie Feuer rann es durch seinen Körper.
„Frieda, lass doch! — Helf mir doch! Du — Du — helf mir doch! Mensch, was ist denn bloß... ?"
„Lass los jetzt, verflucht noch mal! Wie denkste Dir denn det? Ich kann doch nicht, Erich. Wenn was passiert. — Geh weg, da kommt der Parkwächter."
Erich stöhnte. Dann fiel er in sich zusammen. Erbarmungslose Verzweiflung überfiel ihn. Plötzlich stand er ernüchtert auf und presste ihre Handgelenke. „Komm jetzt. Du verstehst mich ja auch nicht... "
Frieda stand auf und verteidigte sich ruhig:
„Doch, ich verstehe Dich. Aber so kannst Du mir Deine Freundschaft doch nicht klar machen. Meinst Du denn, ich seh' nicht, dass Du es gut meinst? Aber so nicht, Erich, so nicht. Komm jetzt!"
Wortlos liefen sie zurück. Beim Abschied sah sie ihn gütig an, aber er verstand nicht. Sinnlos erschien ihm das Leben...
Seine Mutter schlief schon, als er heimkam. Es war schon spät geworden Auf dem Herd lag die schwarze Katze und blinzelte ihn mit verschlafenen Augen an.
Mit leichtem Stöhnen warf er sich ins Bett.
Auf der Treppe des Hinterbodens lag ein alter Mann. Es war morgens sieben Uhr. Er lag mit dem halben Oberkörper schräg gegen die Wand gelehnt. Ein feiner Sonnenstrahl spielte um seinen Mund. Der Alte blinzelte mit den Augen und musste lächeln. Er glich einem Kind, das man unter den Armen kitzelt. Über seine Knie hatte er einen dicken, zerlumpten Mantel gelegt, ein zweiter, von unbestimmbarer Farbe, lag unter ihm auf der Erde. Der Alte wurde unwillig: der Sonnenstrahl traf sein Auge, und das Spielen mit ihm machte keinen Spaß mehr. Langsam erhob sich der Obdachlose. Seine schmutzigen, krummen Finger fuhren ein paar Mal durchs Haar wie ein Kamm. Die kleinen, müden Augen träumten, traurig irrten sie auf dem Bodenflur umher. Fast zärtlich strich er sich über die Backen. Dann humpelte er vorsichtig und leise los, sah erst eine Weile nach unten und ging dann Schritt für Schritt bedächtig die Treppe hinab.
Eines der grauen, elenden Nachtgespenster der Berliner Mietskasernen hatte ausgeschlafen und ging betteln, demütig, hoffnungslos...
Karl Langscheidt sprang von seinem Schlafsofa. Der Vater kam in die Küche und brummte ihn an:
„Wann bist Du gekommen?!"
„Um elf Uhr, Vater, wir hatten Gruppenabend."
„So, Gruppenabend. Da habt ihr Wohl wieder über die Sozialfaschisten geschimpft, wat?"
„Nee. Aber wir haben über den SPD.-Parteitag gesprochen und den Betrug der reformistischen Führer an den sozialdemokratischen Arbeitern und am Proletariat. Über die Notverordnungen und die Rolle der demagogischen „linken" Führer... ."
Der Alte unterbrach ihn schroff:
„Hör auf! Willst mich wohl wieder belehren, wat? Wenn Du bis heute abend nicht vernünftig bist, dann pack Deine Sachen und geh meinetwegen nach Moskau! So."
Die Mutter stellte Kaffee vor die beiden hin und blickte von einem zum andern. Als sich der Alte umdrehte, legte sie einen Finger an den Mund, Karl nickte und winkte lässig mit der Hand. Das Gesicht der Mutter war rissig. Die spärlichen, grauen Haarsträhnen hatte sie mit Wolle zu einem kleinen Knoten zusammengebunden.
Die eine Wand der Küche lief in großem Bogen von der Flurtür bis zum Fenster. In der Mitte, rings um die Wasserleitung, drang die Feuchtigkeit durch die blättrige Ölfarbe, die sich stellenweise zu kleinen grauen Muscheln zusammengerollt hatte. Karls Sofa stand in der Nähe der Tür. Der Alte sah noch recht verschlafen aus. Sein vom Schweiß gelbes Hemd hatte an den Schultern große Risse. Die Mutter deutete vorwurfsvoll darauf.
„Ach, nu fang Du ooch noch an. Hab schon genug Ärger. So eine Sauerei! Nischt kann man sich mehr zulegen. Nich mal ne vernünftige Molle kann man trinken. Wo soll det noch hin?"
Er sagte das so hoffnungslos und traurig, dass Karl mit ihm Mitleid bekam. Der ist ja auch nur sein ganzes Leben angeprügelt worden, deshalb frisst er jetzt aus der Hand, dachte er. Dann sah er in Gedanken ein Bild von einem Festessen sozialdemokratischer Minister und musste lächeln.
Sein Vater stand langsam auf, sah ihn noch einmal kurz und streng an und schob los. Nach kurzer Zeit ging Karl hinterher.
Auf der Straße traf Karl den alten Mann, der auf der Bodentreppe geschlafen hatte, und gab ihm eine geschmierte Scheibe Brot. Der sah ihn dankbar an und sagte:
„Ach, Sie sind ja der von gestern abend. Haben Sie sich erschreckt, im Dunkeln auf der Treppe?"
„Ach wo! Vor was denn? Aber sehen Sie sich vor, wenn Sie unser Nachbar Rhoden trifft, der holt die Polizei."
„Wat heißt Polizei? Da jibt's wenigstens ne vernünftige Schlafstelle. Danke schön fürs Brot — ihr Jungs, ihr seid doch noch die Besten."
Er humpelte weiter zur Gneisenaustraße und blieb vor einem Papierkorb stehen. Nichts, nicht einmal einen Stummel fand er. Er setzte sich in der Mittelpromenade auf eine Bank und ließ sich von der Sonne bescheinen. Mit der Umwelt schien er fertig zu sein. Nichts interessierte ihn.
Hinter seinem Rücken lag die kasernenmäßige Volksschule. Davor prügelten sich ein paar Jungens. Über den Rasen jagte ein zottiger Hund hinter einem glatten, mit langer Schnauze, und versuchte ihn anzuspringen. Leute blieben stehen und lächelten.
Aber dem Alten war das alles egal. Seinetwegen konnten jetzt zwei Straßenbahnwagen zusammenfahren. Wer kümmerte sich denn um ihn? Nur einen einigermaßen brauchbaren Stummel hätte er gerne. Und der lag, saftig und breitgetreten, fünf Schritte von ihm entfernt. Aber er schämte sich, gleich darauf loszustürzen — der Alte war früher bei den Preußen gewesen und hatte heute noch Disziplin in den Knochen, Er pirschte langsam im Halbkreis an den Stummel heran, mit einer unheimlichen Ruhe, ungefähr so, wie ein armer Berliner Teufel, der einen Fahrschein liegen sieht und sich nicht recht traut, ihn vor den Leuten aufzuheben.
Der Alte hatte den Stummel erwischt und lief wieder die fünf Schritte zur Bank zurück. Hier zerrieb er ihn und steckte ihn in eine alte, abgeknabberte Pfeife. Auf ihrem Mundansatz stak ein roter Bierflaschengummi; denn der Alte hatte fast keine Zähne mehr. Nun rauchte er.
In der Nostizstraße begann wieder der gleichmäßig eintönige Tag. Othello fegte den Laden und seine Frau putzte mit inniger Liebe den Bierhahn. Frau Mädicke ging wackelnd, mit festen, aufgesteckten Brüsten zur Markthalle am Marheinekeplatz. Sie roch stark nach Kölnisch Wasser. Wenn sie die Arme beim Gehen bewegte, sah man schwarze, krause Haare unter den Achselhöhlen hervorquellen.
Ein Bandonionspieler zog von Hof zu Hof und spielte sentimentale Lieder.
Der Mann aus dem Kuhstall kam und brüllte auf jedem Hol langgedehnt:
Brenn—hoolz für Kaar—too—ffelschalenl" Einige Weiber kamen mit Körben aus den Wohnungen und brachten dünne, schwindsüchtige Schalen. Dann wurde um Holzstückchen gefeilscht:
„Hörn Sie mal, Herr Kuhstall, wat soll det sin? Brennholz?! Zahnstocher sin det, Sie alter Kuhastronom. Sehn Sie sich mal meine Schalen an! Viel zu schade für det Vieh. Da haben Sie ja jar keen Verständnis für."
„Hier haben Sie noch wat. Mein Jott, wat wollen Se denn noch haben für die faulen Dinger? Mein Vieh pisst nich mal ruff, vastehn Se? Ick bin ja viel zu rücksichtsvoll. Man müsste ja direkt... ."
Eine andere, hagere Frau mischt sich dazwischen:
„Hörn Se bloß off zu saftein! Los, ick muss weiter! Rüber mit so 'n paar Baumstämme!"
Die Kinder der unteren Klassen gingen zur Schule, folgsam und ahnungslos. Einige trafen sich an der Ecke und zeigten einander ihre Schulhefte.
Juden aus Abzahlungsgeschäften, Beamte der Gas- und Elektrizitätswerke kamen, um Geld zu holen. Sie trafen an den Wohnungstüren nur verzweifelte Frauen und schreiende Kinder. Kein Geld, nur Hunger, Gejammer und muffige Luft.
Frau Rhoden hatte das Radio angestellt, und die halbe Nostizstraße hörte die Übertragung einer vaterländischen Feier. Die Musik spielte „Üb' immer Treu' und Redlichkeit" und hinterher „Deutschland, Deutschland über alles.“ Die Nostizstraße gehört auch zu Deutschland. Aber außer Frau Rhoden bleiben die meisten Bewohner beim Anhören der Nationalhymne teilnahmslos. Einige murrten und sagten:
„Schönet Konzert für Arbeetslose!"
Frau Danna fegte vor der Haustür, und die Gemüsefrau auf der anderen Seite der Straße saß schlaff und mager neben einem Korb Kopfsalat.
Der Briefträger kam eilig und schwitzend. Oft blieb er vor einer Frau stehen, kramte in seinem ledernen Umschlag, schüttelte den Kopf und zog weiter.
Ein Lumpenhändler zog seinen Wagen hinter sich her. Junge Burschen und Mädels kamen verschlafen aus den Haustüren und begrüßten einander.
Die Sonne schien bis zum zweiten Stock der rechten Straßenseite. Am Himmel standen weiße, nebelhafte Wolken.
„Verflucht warm, wat? Schade, dass ich nich baden fahren kann."
„Jeh doch offn Hof unter die Pumpe, Mensch!"
Die Bewohner der Hofseiten, die nach der Bergmannstraße zu lagen, bekamen die Sonne aus zweiter Hand: Die oberen Fensterscheiben der anderen Seite warfen sie grell und doch schwach zurück.
Vor seinen Eierkisten saß der Händler und langweilte sich. Hinter seinem Rücken kam leise ein junger Bursche heran und nahm sich ein Ei zum Frühstück mit. Es war sogar gestempelt. „Danish" stand mit kleinen, blauen Buchstaben darauf.
An einigen Hauswänden waren mit frischer Farbe Losungen gemalt: Rot Front in allen Ecken, der Hitler muss verrecken!
Einige Leute standen auf dem Fahrdamm und sahen nach der Arndtstraße, sie sprachen lebhaft, und viele freuten sich. Andere kamen hinzu.
„Wat is denn los? Een Flugzeug? Oder das ,Trumpf'-Luftschiff? . . ."
„Ach wat, Flugzeug. Det sehn wir ja alle Tage — aber da, da oben aufs Dach ... "
„Au Backe! Kinder, die machen aber Dinger! Meine Herrn!" Mit halbmannsgroßen Buchstaben war ein schräges Dach der
Arndtstraße bemalt. Neben der Inschrift: Die Rote Jungfront lebt!
prangte ein großer Sowjetstern,
„Dufte, dufte", sagte ein alter Mann und rieb sich unaufhörlich die Hände.
„So is richtig. Det schadet janischt. Lass man den Hauswirt kratzen. Warum verbieten se! Die anderen können alles machen. Der Stahlhelm darf aufmarschieren, und die Nazis werden immer frecher... "
„Det da keener bei runterjefallen is, wundert mir bloß. Wie sind die denn da bloß ruffjekommen?"
„Die kriejen doch allet fertig. Ostern fährt een Rot-Front-Fliejer über Berlin, den haben se bis heute noch nich. Gut sin die Jungs."
Frau Schade war auch hinzugekommen. Sie wurde gefragt:
„War det nich etwa Ihr Theo?... "
„Mein Theo? Mensch, der wird so leicht schwindlig. Der war gestern schon um acht Uhr oben. Nee, der war et bestimmt nich... "
„Mein Jott, wenn man so bedenkt, früher, rote Pfingsten. Wat war da immer für Leben in unsern Kietz. Und wat waren det for Kerle. Aus Apolda hatt' ick immer drei Stück im Quartier, die Jungs schreiben mir heute noch. Warum haben sie die nun verboten?"
„Warum? Na Mensch, weil die zu stark wurden, deshalb! Aber bilden Sie sich bloß nich ein, det die nich mehr da sin, bloß weil Sie keene Uniform mehr sehen. Sie sehn doch, da oben , . ."
„Na ja. Det denke ick mir ja ooeh. Wärn ja ooch duslig, wenn se sich det jefalln ließen."
„Mein Jott, wenn heute der RFB, erlaubt wäre, keen Nazi würde mehr da sein, sage ich Ihnen."
An der Ecke der Bergmannstraße war wieder ein neuer Menschenauflauf. Dort hing ein Schupo an einer Laterne und versuchte, das Straßenschild mit einem Seitengewehr abzukratzen. Über Nacht war aus der Nostizstraße eine Thälmannstraße geworden.
Auf dem Nachweis für ungelernte Arbeiter des Bezirks Kreuzberg war ein unaufhörliches Kommen und Gehen. Im Hausflur stand dick und wichtig der Portier Langscheidt. Im dritten Stock wurde gestempelt, im vierten war der Aufenthalts- und Arbeitsvermittlungsraum. Die Luft war überall stickig und verbraucht. Die Fenster waren nur in ihrem oberen Teil geöffnet. Unten auf der Straße flutete der Verkehr: Lange Reihen Autos, Straßenbahnen und Omnibusse. Ein Polizist leitete auf dem freien Platz ruhig und überlegen die Wagenkolonnen. Aus dem Hochbahnhof Hallesches Tor krochen eilig die gelbroten Züge. Dort oben hatten 1918 und beim Kapp-Putsch Maschinengewehre gestanden. Rechts, an der Ecke der Lindenstraßa, stand das Gebäude des „Vorwärts", Angestellte mit Aktenmappen huschten eilig durch die Eingänge und mimten den „zweiten Mann"„
Vom Arbeitsnachweis sieht man auch einen Teil der blanken Friedrichstraße und die Belle-Alliance-Straße bis zum Kreuzberg hinab. Schwere Kämpfe hatten sich hier während der Revolution abgespielt, am „Vorwärls"-Gebäude, am Halleschen Tor und in der Friedrichstraße bei Büxenstein.
Die Arbeitslosen dachten oft daran...
Behäbig saßen" die Angestellten des Nachweises hinter ihren Schaltern; lange Reihen Erwerbsloser standen und warteten. Eine ekelhafte, müde Atmosphäre stand schlummerig In allen Räumen. Die Abgefertigten saßen auf langen Bänken. „Die Rote Fahne" ging von Hand zu Hand; jeder wollte sie zuerst lesen.
„Haste jelesen, Justav, jestern haben se wieder ne Filiale von Goldacker ausjeräumt."
„Na ja, wat solln se denn machen, Mensch?! Mir haben se heute ooch wieder zwee Mark abgezogen. Nächste Woche bin ich ausgesteuert."
„Wenn ick doch bloß wüsste, wo ick da mitmachen kann, ick würde mir ooch wat rausholn."
Traurig und gleichgültig saß ein blasser Bursche am Fenster. Der Hunger stach ihm aus den Augen. Seine Kleider waren abgeschabt, die Ärmel viel zu lang. Seine Nase war spitz und die Stirn flach und grau. Nervös hatte er die dürren Hände in den Schoß gelegt. Aus seinen entzündeten Augen trieften schmutzige Tropfen. Immer, wenn jemand vorbeiging, zuckte er zusammen. Er holte ein Paket aus der Tasche und wickelte große Stücke Brot und einige Scheiben Wurst aus Zeitungspapier. Langsam und schmatzend aß er.
Da trat Erich Schmidt an ihn heran, fasste ihn zögernd an den Schultern. Der Blasse drehte sich um und hörte auf mit Kauen. Dann lächelte er still.
„Emil, Mensch, wie siehst Du denn aus?! Wie kommst Du denn hier her? Meine Herren, hast Du Dir verändert! Wat frißte denn da?"
„Da! Für zwee Stunden Perserteppiche kloppen. Eeen Achtel Wurst in Zeitungspapier. Und denn tun se noch so, als ob se een wat schenken!" sagte Emil. Flüsternd sprach er weiter: „Ick bin aus de Fürsorge jetürmt. Halt de Fresse. Wollte mir hier anmelden. Aber, denkste, Papiere, polizeiliche Anmeldung..."
„Na und?"
„Hab ick doch nich. Un mir bringen se doch wieder zurück nach Züllichau. Da jeh ick aber nich mehr hin. Da war's ja — nich — zum Aushalten! Unterwegs bin ich umjekippt, in Freienwalde habn se mir ins Krankenhaus jeschleppt. Fünf Tage, denn haben se mir wieder rausjeschmissen. Der Arzt sagt, ick muss bald sterben, ick hab de Schwindsucht... "
Er schüttelte ein paar Mal leicht den Kopf, schob ein Stück Brot in den Mund und sah Erich an. So warm und kameradschaftlich. Erich konnte nicht sprechen, ihm war sonderbar zumute. In seiner Brust stand ein heißer Klumpen Mitleid. Einige Male versuchte er, seinem Schulfreund in die Augen zu sehen: Er konnte nicht. Sacht fasste er ihn am Ärmel und sagte: „Komm nach oben, da ist nicht so schlechte Luft."
Erich presste den Mund zusammen. Seine Augen brannten, rote Flecken standen ihm auf der Stirn. Der klägliche Rest Mensch stieg vor ihm die Treppe hinauf. Der geht ja kaputt, der geht kaputt... dachte er hastig.
Was war das früher für ein Kerl gewesen! In der Schule... Vater im Krieg gefallen... Geld geklaut, Fürsorge... Schwindsüchtig und ausgerissen... So geht der kaputt. So...
Erich strich sich über die Schläfen. Im Halse würgte es.
... Und wir, wir alle? Ich, Ich, was wird aus uns?! Wir gehen ja alle kaputt... wir alle. Alle! Zuhause... was soll denn das werden... ?
In allen Räumen des Nachweises lag die Müdigkeit. Erich wurde immer verzweifelter. In ihm vibrierte jeder Nerv. Und dazu summte in seinem Innern wieder diese dicke, widerlich sentimentale Saite... Im Aufenthaltsraum war es lauter. Fast alle Plätze waren besetzt. In der Mitte stand ein niedriger Podest. Alte Männer rauchten schlechten Tabak, und die Jungen versuchten, sich Zigaretten zu drehen. Blaue Rauchschwaden standen unter der Decke, wanderten von einer Ecke zur anderen und suchten einen Weg ins Freie. Mindestens sechzig Menschen befanden sich hier oben. Einige schliefen, nickten dabei mit den Köpfen und wachten dann jäh auf.
„Mach mal Platz, hier ist doch kein Asyl!" weckte ein ,besserer' Arbeitsloser einen Schlafenden auf. Der Schlafende trug eine Brille, er glotzte verständnislos, stand auf und tappte los wie ein gefangener Bär.
Ganz hinten in der Ecke lag das Nachtgespenst aus der Nostizstraße auf einer Bank und schnarchte. Ihn störte keiner. Neben sich hatte er ein schmutziges Paket liegen.
Drei vierzehn-, fünfzehnjährige Burschen saßen am kalten Ofen und spielten Schafskopf:
„Du musst koofen, Justav."
Gustav hatte rote Backen, lüstern und frech belauerte er seine Mitspieler, Er spielte wie ein Alter.
„Bedienen, Du alte Wiesenpenne — so! Und der steht von hinten. Allet meine!"
Gustav wurde unruhig und hatte keine Lust mehr zum Spielen. Kater und Spinne hatten ständig verloren und waren wütend. Sie schlugen alle drei die Beine übereinander und langweilten sich.
„Heute wird's wohl keene Arbeet mehr geben, is ja schon elf Uhr.
„Sag mal, Gustav, hast Du schon mal gearbeitet?" „Ick? Solange wie ick aus der Schule raus bin noch nich. Als Schulrabe ja. Ick wer wohl ooch keene mehr kriejen", sagte er ruhig. Und halb lachend, halb bedauernd fuhr er fort: „Und als ich zehn Jahre alt war, hat der Alte jesagt: ,Gustav, Du wirst mal Rechtsanwalt!' Heute bin ick zu Hause bloß noch det ,Sticke Mist'."
Kater kaute an einem Streichholz. „Det sin wir ja alle", sagte er so ganz nebenbei. „Aber lass man. Wem wir eben Verbrecher. Eeen andern Beruf jibs ja für uns nich mehr. Schade, dass Du nich Rechtsanwalt bist, da hält ick een billigen Verteidiger..."
Ein Mann mit schwarzer Hornbrille und schwarzem Lüsterjakett kam in den Saal. Alles sprang auf. Der Mann stellte sich auf das Podium und sah sich von oben,die Leute an.
„Nu los doch, Mensch! Lass uns nich so lange warten!"
„Immer ruhig, junger Mann, nicht wahr?"
Die Erwerbslosen standen dicht gedrängt um ihn herum und sahen zu ihm auf wie zu einem Lehrer, der interessante Geschichten zu erzählen hat. Er begann laut:
„Zwei Mann Zettel verteilen, Speisehaus Friedrichstraße."
„Wie viel? Wie viel Mark die Stunde?"
„Das steht nicht bei. Jedenfalls handelt sich's um ein Speisehaus und ein Mittagessen wird schon abfallen."
„Oho! Det kenn wir, det Mittagessen! Pellkartoffeln und Soße! Da jeht keener hin!"
„Was wollen Sie denn schon wieder? Sie können doch die Leute nicht von der Arbeit abhalten! — Also los: Wer will hingehn? Lohn nach Vereinbarung."
Zwei alte Männer meldeten sich. Sie gaben ihre Stempelkarten ab und gingen still lächelnd fort. Spinne machte ein verächtliches Gesicht und stieß Gustav an:
„Zettel verteiln! Det soll nu für unsereens Arbeet sin! Arbeitsburschenstellen kommen überhaupt nicht mehr raus. Dreck verfluchter!"
Jemand lachte ganz laut. Niemand drehte sich nach ihm um. Sechzig Erwerbslose warteten auf Arbeit. Aber keiner hatte Hoffnung. Der Mann mit der Brille tat immer wichtiger. Er wühlte geschäftig zwischen den Papieren in seiner Hand und kramte eine neue Vermittlungskarte vor. Es wurde wieder ruhig und die Augen der Wartenden wurden gespannt.
„Zwei Mann zum Teppichklopfen. Sie müssen das schon öfter gemacht haben. Stunde achtzig Pfennig. Es handelt sich um je zwei Stunden."
Zehn, zwölf Leute drängten sich zur Mitte und hielten ihre Karlen in die Luft. „Hier!" — „Icke!" — „Icke!" . . .
„Halt, nur zwei Mann. Wer ist länger als anderthalb Jahr arbeitslos?"
Das waren fast alle, die sich gemeldet hatten. Der Mann suchte zwei junge Leute aus, und empfahl ihnen, gleich hinzugehen: Großbeerenstraße 58, bei Frau Schnacke.
„Pass off det Jeld off, det aus die Teppiche fällt!" rief man den beiden nach.
Der Kreis um den Ausrufer wartete noch.
„Kommt denn heute noch wat raus?"
„Ja, das weiß ich nicht. Sie können ja warten, Sie haben ja so viel Zeit!"
„Du alter Tintenklohn, det denkste Dir ja bloß. Los, schwinge Deine Scheißständer und kiek nach, ob neue Arbeet da ist!... "
„Denkst wohl, weil Du die Ruhe weg hast, haben wir ooch Zeit, wat? Ick muss noch nach de Wohlfahrt zum Kottbusser Damm!"
Enttäuscht schlich jeder zu seinem Platz zurück. Sie wurden ja immer enttäuscht. Immer und überall. Enttäuscht und gedemütigt. Sie wurden herumgejagt mit nutzlosen Formularen, von einem Amt zum anderen, von Behörde zu Behörde. Manchmal nur wegen eines Stempels. Nur wenige murrten. Sie fraßen alles in sich hinein. Und das alles schwoll an zu einer gewaltigen Portion Hass und Wut. Da brauchte nur einer zu kommen, der sie an der richtigen Stelle packte und sagte: Jetzt ist aber Schluss! Die Berliner Erwerbslosen sehen friedlich und sanft aus, doch es braucht nur die richtige Stelle bei ihnen aufgerissen zu werden, und sie schlagen auf den Tisch. Die Wohlfahrt lässt die Kräftigsten nicht ganz verhungern, vielleicht werden sie später einmal gebraucht. Als Arbeiter oder Soldaten. — —
Wieder wurde Karten gespielt: Es war schon halb zwölf. Ab und zu flog ein toter Blick zur Uhr. Die Luft wurde immer stickiger. Der Qualm fand nirgends einen Abzug, Ein Erwerbsloser wurde blass und ging. Auf dem Flur erbrach er grünlichen Schleim und fasste sich in die Magengegend. Dann lehnte er den grauen Kopf schwer an die Wand. Von unten brachte jemand Wasser. Er wollte nicht trinken, hastig und heiser keuchte er: „Jeht doch weg mit Eurem Dreckwasser! Weiter habt Ihr nischt; Wasser oder blaue Bohnen."
Ein Bekannter stützte ihn und führte ihn zur Treppe.
„Komm, jeh nach Hause, bei Deine Frau."
„Ach, hör uff! Da wird mir ooch nich besser, Mensch, zu Hause. Wenn ick det so sehe — die Wut könnte man kriejen. Jetzt haben wir noch zwölf Mark die Woche. Drei Kinder. Un denn det Gejammer zu Hause . . ."
Kein anderer hatte sich um den Mann bekümmert. Das kam doch alle paar Tage vor, überhaupt, wenn es so heiß war. Wer weiß, wer morgen vor Hunger umfallen wird.
Spinne äffte den Ausrufer nach und stellte sich auf das Podium. Von irgendwoher hatte er sich eine Hornbrille geborgt. Mit verstellter Stimme rief er in den Saals
„Achtung! Ein Hausdiener mit Backenbart und eigenem Fahrstuhl wird verlangt! - Firma Karstadt, Hermannplatz. — Na, meldet sich keener?!"
Manche lachten. Es gibt Erwerbslose, die nicht mehr lachen können. Es gelingt ihnen einfach nicht mehr. So elend, so erbärmlich sind Menschen behandelt worden, Sie können nicht mehr lachen, haben nie frohe Stimmungen.
Spinne wurde wütend:
„Wat? bei so eine feine Firma wollt Ihr nicht hin? Ihr Arbeitslosen seid ja viel zu faul zum Arbeiten. Das steht doch alle Tage in den Zeitungen. Aber hier — hier habe ich noch eine feine Stelle. Kommt nur für einen Sohn achtbarer Eltern in Frage, Kater, det is wat for Dir! Verlangt wird: vier Pocken auf dem linken Oberarm, polizeiliches Führungszeugnis und Schuhgröße 41. Er muss englisch und französisch verstehen. Es handelt sich um eine allein stehende Dame mit Köter... "
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Langscheidt stürzte herein:
„Runter da! Das ist Hausfriedensbruch, Sie müssen aber auch überall dabei sein. Denken Sie, mir macht das Spaß, hier für Ordnung zu sorgen?"
„Beklecker Dir man nich! Für Ordnung sorjen wir schon alleene . . ,"
„Raus, Du Achtgroschenjunge!!"
Langscheidt wurde rot und verschwand wieder. An der Tür prallte er mit seinem Sohn Karl zusammen. Karl trug auf der linken Brust stolz das Komsomolabzeichen.
Die Jungens aus der Nostizstraße sahen gespannt zur Tür. Aber sie kamen nicht auf ihre Kosten. Karl machte seinem Vater Platz und kam dann lächelnd, mit leichten Schritten in den Saal. Alles an ihm glänzte: die Backen, die Haare, die Stirn. Er ging langsam auf Erich zu und blickte erstaunt auf Emil. Die anderen drei schoben sich auch allmählich heran. Der kranke Emil betrachtete sie mit wehleidigen, entzündeten Greisenaugen, Lange drückte er Karl die Hand.
„Sehn wir uns doch noch mal? Vierzehn Jahre waren wir damals alt, Karl."
„Ja, Emil, es ist schon sehr lange her."
Eine dumpfe Pause entstand. Karl suchte nach Worten, alle hatten irgendwie Angst, zu sprechen.
„Bist Du auch bei die Kommunisten, Karl?"
„Ja. Schon ne ganze Weile. Und Du? Was machst Du? Ich meine, kümmerst Du Dich um nichts?"
„Natürlich, Mensch. Ich hab alles mitgemacht da unten. Aber dass Du dabei bist, das habe ich mir denken können. Manchmal habe ich daran gedacht, dass Du ja auch Kommunist sein musst. Ich hatte das so im Gefühl. Am meisten gefreut haben wir uns, da unten im Heim, wenn wir ,Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!' gesungen haben. Das war alles so komisch. Und Du hast dagesessen, warst wehrlos und konntest nich raus. Wir hatten alle eine einzige Wut in solchen Situationen. Manchmal kam Kommunistische Jugend in Autos vorbei — und wir — Mensch! Da hab ich oft an Euch alle denken müssen. An alle. Und an die Nostizstraße. — Was ist da jetzt los?"
„Sie ist rot, Emil, Da kannst Du Gift drauf nehmen. Ab heute heißt sie Thälmannstraße."
„Das ist gut so. Aber ich weiß nicht, irgendwie hab ich auch das gefühlt. Mensch, der Dreck da — ach ja, über den Thälmann, über den haben wir uns oft unterhalten. Wie sieht der denn überhaupt aus?"
Das wusste sogar Spinne. Thälmann hatte jeder aus der Nostizstraße schon einmal gesehen. Im Sportpalast oder so. „Ja", sagte er wichtig, „det kann ick Dir sagen: wie ein Arbeiter, Wenn der spricht, staunste Bauklötzer. Da merkste gleich: det ist derjenige, welcher . , det is unser Führer."
„Haste seine letzte Broschüre gelesen?" fragte Karl. „Die hats in sich."
Spinne hatte sie nicht gelesen. Er erwiderte: „Mensch, wenn Teddy aber nach de Nostizritze kommt und sagt: ,Jungs, los!' — ick bin mit bei,"
„Wie steilste Dir denn "det vor", fragte Kater höhnisch, „det mit bei sein?"
„Jib doch nich so schaurig an! Soviel wie Du hab ick ooch davon weg, verstehste."
Karl lächelte: das war ja eben die Unklarheit bei den Jungens. Schlagen, ein bisschen Thälmann, und das andere ist ihnen alles egal. Da versagen sie alle, wenn sie sich nicht der proletarischen Disziplin fügen. Da versagt einfach der Mensch. Sie leben im erbärmlichsten Elend, winden sich durch und brüllen dann für ein paar Minuten auf. Wie gebändigte Raubtiere, denen die Wildheit noch in den Knochen steckt- Aber alles ist so unklar bei ihnen — da gibt es noch viele, zermürbende Arbeit...
Langsam verließ ein Erwerbsloser nach dem anderen den stickigen Arbeitsnachweis. Schwitzend, hungrig und traurig, den Kopf nach vorn gebeugt, liefen sie irgendwohin. Hinein in dieses sinnlose Leben ohne Freude. Verfluchte Müdigkeit drückte auf ihren Köpfen, ließ die Augen glotzen und alles grau erscheinen. Wenige waren da, meistens junge, von denen ging Kraft aus und Mut. Sie gingen aufrecht, und man freute sich.
Karl Langscheidt, Erich Schmidt und Emil Hefen zum Belle-Alliance-Platz. Sie setzten sich auf eine leere Bank. Ein Gespräch wollte nicht in Gang kommen. Vor allem Erich hatte eine grässliche Stimmung. Immer wieder zerrte ein komisches Mitleidsgefühl an seinem Herzen. Emil saß in der Mitte und stierte zu Boden. Niemand hatte große Lust zu sprechen. Und alle drei wussten, dass sie einander etwas sagen mussten. Aber was und wie, das wusste nur — aber auch noch undeutlich — Karl. Er begann ganz leise, ohne die Stimme zu heben, eintönig; der Klang seiner Stimme passte zu den dreien. Niemand gab sich Mühe, froh auszusehen. Langsam, während Karl 6prach, löste sich die stumpfe Verstimmung. Nur Emil döste weiter, ab und zu lächelte er still und teilnahmslos wie ein Schwindsüchtiger.
„... Seht Euch mal das an, da oben. Wie man da behandelt wird. Und dann die Luft. Keiner muckt auf. Das ist alles so ekelhaft, am liebsten würde ich nicht mehr hergehen. Aber... Hier, haben wir uns wieder gesehen, Emil. Da oben in dieser heißen Lausebude. Mensch, wenn man das bedenkt, wo wir schon hingekommen sind — wir alle, Kater, Spinne, Du und Du und Peikbeen und ich und alle die anderen — ich weiß nicht. Man müsste dann doch etwas Gemeinsames haben: wir müssten dann doch Kameraden sein. Aber ja. Kameradschaftlichkeit setzen sie voraus, wenn sie Zigaretten schlauchen wollen. Wenn man das so sieht, die Jungs, aus der Schule raus — hier hast Du Deine Stempelkarte — zum Nachweis. Keiner, wenigstens keiner von unsern Jungs aus der Straße, wird in den Produktionsprozess eingereiht. Was soll denn aus denen mal werden? Das geht tiefer, immer weiter, bis zum Lumpenproletariat. Und dann sind sie für die revolutionäre Arbeiterschaft verloren... Sie wollen alles vergessen. Da ist dann der Rummel, die Weiber. Manche gehen zu Biens in der Kreuzbergstraße tanzen, und andere wieder machen sich mit gemeinen Zoten Luft... Immer stärker, immer brutaler wird die proletarische Jugend unterdrückt. Die Jungens müssen ja kaputtgehen, wenn sie so weiterleben, wenn ihr Leben keinen Inhalt hat, kein Ziel... Sie sollen zu uns kommen, Das müssen sie einfach tun, wenn sie nicht vollständig stupide und stur werden wollen, wenn sie in ein besseres, schöneres Leber hineinwollen... Mensch, ich hab doch früher auch gedacht, mit Volkstanz und schönen Wanderfahrten wird das Leben besser. Aber ja, das Maul haben sie einem zugebunden, wenn wir mal aufgemuckt haben. Was sind wir hin- und hergerannt, freudig und eifrig. Und sie sind immer reaktionärer, kleinbürgerlicher geworden. Das haben ja sogar bürgerliche Zeitungen nach dem Leipziger Parteitag bestätigt. Nach der Haltung der SPD. richtet sich heute schon die Börse. Schade um die Proletenjungs, die heute noch an den Sozialismus der Wels und Breitscheid glauben... "
Emil war vollständig in sich zusammengesunken. Von unten her betrachtete er die Freunde. Erich dachte lange nach, dann sagte er ebenso leise und zögernd wie Karl, mit viel Zweifel und Bitterkeit in der Stimme:
„Ja, Du hast schon ganz recht. Aber ich glaube nicht, dass es einem dann besser geht, ich meine persönlich besser, wenn man bei Euch ist. Aber Du hast schon recht, — Ja, wenn man sich mit allen so unterhalten könnte, wie jetzt mit Dir, dann — ich glaube, dann verliert man allmählich die Zweifel. Aber Ihr habt ja nie Zeit dazu. Alle haben es so eilig. Und Eure Mädels sehen einen von oben herab an. Alle kommen sich furchtbar wichtig vor und tun geheimnisvoll, als wenn Ihr eine Geheimorganisation seid... Ich sehe selbst, dass mein ganzes Leben Quatsch ist. Zu was denn leben, wofür denn? — Beantworte mir mal eine Frage: meinst Du, wenn ich jetzt in den Jugendverband gehe, dass das dann alles aufhört, das Nachgrübeln und Suchen und der ganze Mist? Dann die fressende Sehnsucht nach Menschen, die einen verstehen... ?"
Wieder trat eine kurze Pause ein. Es war schon zwei Uhr Mittag geworden. Am Himmel standen verbummelte Wolken und es wurde mit einem Mal drückend schwül. Karl richtete sich auf, sah Erich an und sagte schnell:
„Das hängt von Dir ab. Wenn Du bei uns bist, hast Du Deine Aufgaben. Dann hat das Leben einen Sinn, Du hast ein Ziel, gemeinsam mit uns. Der eine hat große Schwierigkeiten, der andere findet sofort den richtigen Kontakt und wird ein guter Revolutionär. Wenn Du nur immer das machst, was für Deine Klasse richtig ist, dann ist's schon gut. Das andere musst Du alles über Bord werfen. — Du bist sehr sentimental, Erich. — Was Du von meinen Genossen sagst, stimmt schon zum Teil. Aber Du musst sehen, dass es ihnen auch nicht immer leicht wird, gegen sich selbst vorzugehen und alle Schlacken auszuräumen. Sie stammen aus dem gleichen Milieu wie Du. — Komm zu uns Erich, ich werde Dir helfen... "
Unbeholfen und alt stand Emil auf. Sein Gesicht war fahl, die Backenknochen standen grau hervor. Er sagte mit fremder, ferner Stimme zu Erich:
„Sei froh, dass Du endlich dahinter gekommen bist. Greif zu und versuche tüchtig, besser als ich zu sein. Ich bin krank, fertig mit der Welt. Sonst würde ich schon wissen, was ich zu tun habe. — Jetzt muss ich gehen."
„Red doch nich so ein Unsinn!" beruhigte ihn Karl. „Du bist noch lange nicht fertig mit der Welt. Man muss jetzt eine Möglichkeit finden, wie Du Dich durchschlägst."
„Ach, das überlass nur mir. Ihr habt genug zu tun, ich weiß schon, was ich mache. Auf Wiedersehen! Grüß die Jungens! Und die Straße... "
Emil war langsam zum Kreuzberg gelaufen, nachdem er stundenlang in der Stadt herumgeirrt war. Oft dachte er an das Gespräch vom Mittag. Feiner Bengel, der Karl... Aber ich bin krank, ich kann nicht mehr...
Müde setzte er sich auf eine Bank in der dunkelsten Ecke. Er saß da, ein erbärmliches Stück Mensch. Alles an ihm war alt, versaut. Sein Körper hinfällig zum Zusammenbrechen.. Ein junger, kräftiger Mensch ist kaputtgegangen. Die Schwindsucht hatte ihn zerfressen, weil er kein Geld hatte, sich auszuheilen. Der konnte nicht mehr leben, nicht mehr denken...
Kleine Regentropfen fielen. Der Mensch schlug den Rockkragen hoch. Ein paar Bänke weiter lagen Obdachlose, noch etwas entfernter flüchteten Liebespärchen vor dem Regen. Von irgendwoher klang eine schwermütige Weise. In der Luft lag ein Seufzen, schwer und traurig. Jemand ging vorbei und murmelte vor sich hin. In der nahen Schultheiß-Brauerei polterten Tonnen. Eine Lampe nach der anderen wurde ausgedreht und die Bäume standen dunkel und drohend. Von der Stadt her drang das schrille Klingeln der Straßenbahnen. Und Emil saß da, alles war leer in ihm, er versuchte, nicht einzuschlafen. Würgender Hunger stach in seinem Magen. Sein Puls ging ruhig. Es ist ja Wahnsinn, in blöder Geduld hier zu sitzen und auf noch mehr Elend zu warten, zu warten, bis ich krepiere — dachte er ein paar Mal. Seine Schultern und der Schädel zuckten, und, um einem Krampfanfall vorzubeugen, schüttelte er heftig den Kopf und streckte die Hände steil in die Luft. Dann sah er mit totem Blick in die dunklen Blätter der Bäume ...
Emil hatte niemanden mehr. Seine Mutter war vor zwei Jahren an der Schwindsucht gestorben. Zweimal hatte sie ein totes Kind zur Welt gebracht. Emil hatte keine Verbindung mehr mit seiner Umwelt, alle hatten sich von ihm gelöst. Und irgendetwas Schwarzes trieb ihn einem unbekannten Abgrund entgegen.
... warten — nicht mehr warten! Wartet ihr doch! Ihr könnt es ja. Seid doch nicht so!... Ich schaffe es nicht! Ich kann nicht mehr warten!
Er hatte laut geschrieen. Dann stützte er wieder den Kopf in die Hände. Die Kälte drang durch die Kleider und sein Blut rebellierte.
Neben der Bank stand ein Papierkorb. Eine Ratte sprang hinein und raschelte. Emil kümmerte sich nicht darum; als er von der Anstalt zu einem Bauern gebracht worden war, musste er im Stall neben Ratten schlafen.
Ab und zu knarrte ein Baum, Nachtvögel flogen lautlos, mit schnellem Flügelschlag vorüber.
Stundenlang saß Emil ohne Schlaf, den Rücken nach vorn gebogen. Er war immer mehr in sich zusammengesunken, wie ein jämmerliches, schmutziges Bündel. Sein wehrloser Körper dachte nicht an Widerstand...
Endlich erhob er sich und wankte den Weg zur Kreuzbergstraße hinab. Ein Wächter mit Taschenlampe und Schäferhund kam ihm entgegen. Er brummte Emil an: „Wird ja auch Zeit. Hier die Gegend unsicher machen, was?"
Emil drehte sich nicht einmal um. Zu was denn auch. Der Wächter wird noch genug Arbeit haben, um den anderen Obdachlosen da oben klar zu machen, dass die Menschen vor dem Gesetz alle gleich seien und sie deshalb nicht auf einer Bank im städtischen Park zu schlafen haben. Er wird seinen Köter bellen lassen und sich freuen, wie die Verschlafenen ängstlich davonrennen... , dachte er.
In der Nostizstraße lief Emil langsamer. Die Schupopatrouille hatte ihn misstrauisch betrachtet, war dann aber kopfschüttelnd weitergegangen. „Der ist ja plemplem!" hatte der eine gesagt.
Vorsichtig tappte Emil dem Haus zu, in dem er aufgewachsen war. Alles war wie früher, so alt und grau, derselbe Geruch stand in der Luft, auch nach Pferdebouletten roch es noch. Schritt für Schritt lief er weiter. An einem Haus blieb er stehen, holte einen Bleistiftstummel aus der Hand und schrieb an ein grünes Schild: „Emil war hier gewesen."
Seine Augen suchten an den Häuserfronten entlang. In einer Wohnung flackerte trübselig eine Petroleumlampe. Sonst war es überall dunkel, fast feindselig. Die Nostizstraße schlief und atmete schwer. Die Häuser schienen von oben her zusammenzustürzen und alles mitzureißen. Kichernd prallten Regentropfen auf die Dächer, und auf der Straße schlugen sie hell auf. An allen Wänden stand Entsetzen, und aus den dunklen Fenstern glomm die Müdigkeit... .
Emil lief weiter, die Baruther Straße hinauf, bog in die Zossener Straße links ein und ging dann schnell zum Landwehrkanal. Er kletterte auf die Brücke, holte ein Rasiermesser aus der Tasche und drückte es fest gegen die Kehle. Blut spritzte, ein leiser Schrei — niemand hörte ihn — der Körper klatschte ins Wasser wie ein voller Sack.
Am andern Abend schrieben die Zeitungen gleichgültig und zynisch:
. „Gestern abend nahm sich ein junger, etwa 17jähriger Bursche auf eine entsetzliche Weise das Leben. Er ließ sich, nachdem er sich vorher die Kehle mit einem Rasiermesser durchgeschnitten hatte, von der Brücke am Halleschen Tor in den Landwehrkanal fallen. Der Vorgang wurde nicht beobachtet, jedoch fanden kurze Zeit später Passanten das Rasiermesser und Blutspuren. Sie alarmierten die Feuerwehr, die sofort nach der Leiche fischte. Man fand sie in der Nähe der Brücke zwischen einem Motorboot und der Kanalmauer. Die Personalien des Toten konnten noch nicht ermittelt werden... "
Die „Rote Fahne" schrieb am folgenden Tag einen längeren Artikel:
„Furchtbare Selbstmordtragödie eines entwichenen Fürsorgezöglings. Der jugendliche Arbeiter Emil F. war vier Jahre in der Erziehungsanstalt Z. Schon nach ganz kurzer Zeit stellte der Arzt Lungentuberkulose fest. Aber trotzdem jagte man ihn zur Landarbeit zu einem Bauer in der Umgebung. Von früh bis spät musste der Jugendliche bei schlechter Ernährung arbeiten. Als die Erntearbeit vorüber war, wurde er wieder in die Anstalt zurückgebracht. Vor vier Wochen flüchtete er und kam zu Fuß nach Berlin. In der Nähe von F. brach er auf der Landstraße bewusstlos zusammen. Man brachte ihn in ein Krankenhaus. Dort sagte ihm der Arzt, dass er nicht mehr lange zu leben habe. Da das Krankenhaus den jungen Arbeiter nicht umsonst behandeln wollte, wurde er einfach vor die Tür gesetzt. Vorgestern kam er nach Berlin. Am Tage trafen ihn noch seine Schulfreunde in einer furchtbaren Verfassung. Er hatte hohes Fieber. Nachdem er wahrscheinlich längere Zeit in der Stadt herumgeirrt war, schnitt er sich gegen 4 Uhr morgens an der Zossener Brücke die Kehle durch und stürzte sich ins Wasser. F. hatte früher mit seiner Mutter, die inzwischen an Tuberkulose gestorben ist, in der Nostizstraße gewohnt, Dieser Fall... "
Frau Mädicke war wirklich eine Ausnahme. Heute morgen hatte sie ihren Mann schon um acht Uhr aus dem Bette gejagt. (Sonst stand er immer erst um halb neun auf.) Frau Mädicke war wieder hinter den Wanzen her. Sie hatte einen blauen Morgenrock an, bestickt mit dicken, roten Blumen. Der Flitgeruch stritt in der Luft mit Duft von Kölnischem Wasser. Sie brachte den Kanarienvogel vorsichtig in die Küche und unterhielt sich blöde und kindisch mit ihm:
„Wo ist denn mein Hänsekin, he? Wo ist denn mein Hänsekin? Willst Du nicht ein bisschen singen? Hänsekin, sing doch Deinem Frauchen was vor. Willste nich? — Komm, ich geb Dir ein Stück Eierbrot — da. Musst Du aus der Stube raus, ja? Die ollen Wanzen, nich Hänsekin? Die ollen Wanzen .
Hänsekin flatterte aufgeregt hin und her. Er war teilnahmslos und beleidigt. Endlich ließ ihn Frauchen in Ruhe, sie nahm den Flitzerstäuber in die Hand und ein Röhrchen zwischen ihre wulstigen Lippen. Ihr Gesicht verzog sich dabei, als hätte sie ein Kilo Schmierseife im Mund, und dann pustete sie mit voller Lunge einen feinen zerstiebenden Strahl Flit auf die roten Bettmatratzen. Sie musste dabei wohl ihre Kehle etwas angefeuchtet haben, denn sie schimpfte los wie ein räudiger Köter, dem man Insektenpulver auf die von Flöhen zerbissenen Stellen gestreut hatte.
„Verfluchter Mist! Mein Gott, ich werde noch verrückt. Die verfluchten Wanzen. Was mach ich denn bloß, was mach ich denn bloß! Die Leute unten sind ja Schweine. Ja, wenn sie alle was machen würden! Aber ja, ziehn bloß den ganzen Tag über andere her: was hat denn die Mädicken heut wieder an, waa? An die Wanzen denken sie nicht. Was soll ich denn bloß machen... ?"
Es klingelte. Sie schob sich mit feuchten Fingern die fetten schwarzen Haare zurecht und stampfte zur Tür.
„Entschuldigen Sie, gnädige Frau! Ich habe hier einen ganz neuen Artikel, gestatten Sie... "
„Janischt jestatte ich!" sagte Frau Mädicke. Aber der junge Mann vor ihr lächelte so liebenswürdig, und dann das mit der „gnädigen Frau"...
„Sehen Sie, ich habe hier ein prima Kopfwaschmittel. Für Ihre herrlichen Haare wie geschaffen, gnädige Frau. Das ist echte Markenware, wir können Ihnen dieses günstige Angebot nur deshalb machen, weil meine Firma dank ihrer guten Beziehungen in der glücklichen Lage war, preiswert in Arabien Wohlgerüche aufzukaufen. Versäumen Sie nicht, von unserem seltenen Angebot Gebrauch zu machen. Ein ganz außergewöhnliches Angebot, gnädige Frau.'' „So, Kopfwaschmittel aus Arabien? Wat kost denn det?" „Drei Mark die Flasche, sie reicht für..." „Waas?? Drei Mark? Hörn Sie mall" „Ja, gnädige Frau dürfen aber nicht vergessen , , ." „Drei Mark. Kinder, das ist ein Haufen Geld. — Geben Sie mal eine Flasche von dem arabischen Zeug!"
Der junge Mann reichte ihr eine grüne Flasche und steckte ernst und feierlich die drei Markstücke ein. Er schnupperte mit der Nase in der Luft herum und sagte: „Nach was riecht denn das hier so stark bei Ihnen?"
„Ach, das ist Farbe. Mein Mann hat soviel Farbe rumstehn."
„Ach so, sonst — Wanzenvertilgungsmitte] hätte ich Ihnen auch rerkaufen können. Auf Wiedersehen!"
Das Haarwaschmittel war wahrscheinlich sehr vielseitig und zu allem Möglichen zu gebrauchen. Drei Wochen später wischte Frau Mädicke ihre Küche damit auf.
Frau Mädicke fand die Wanzen überall, träge und blutig krochen sie dahin. Flit spritzte, die Wanzen schwammen ein bisschen darin herum und krochen dann unbekümmert weiter. „Da, wieder so ein fettes Biest!" Sie drückte mit dem Daumen ein gut ausgewachsenes Exemplar an die Wand. Blutbeschmiert zog sie den Daumen zurück und schimpfte unentwegt. Sie hatte keine Wanzen; sie kamen alle aus dem Hinterhaus. Aber die Wanzen hatten sie. Stärker als Frau Mädicke und ihr schlecht verspritztes Flit waren die Wanzen.
Es klingelte wieder.
„Wat is denn nu schon wieder los!" brüllte sie, hinter der Tür antwortete ein undeutliches Murmeln, wütend riss sie die Tür auf.
Ein junger, ungefähr sechzehnjähriger Bursche, mit abgerissenen Kleidern, stand vor ihr, sah sie mit stumpfem Blick an und bettelte tonlos;
„.... ich bekomme keine Unterstützung mehr, zu Haus sind auch alle arbeitslos. Ich habe großen Hunger. Stehlen will ich nicht gehen. Haben Sie nicht..."
„Ich habe ooch nischt. Geh doch arbeiten! Mein Mann muss sich auch rumplagen!"
Sie schlug die Tür zu und der junge Bursche machte einen demütigen Diener. Aber kaum war er zur Nachbartür gekommen, da öffnete Frau Mädicke wieder: „Warten Sie mal, ich habe eine Arbeit für Sie. Mein Mann kann die Kohlen nicht tragen. Gehen Sie mit mir zum Kohlenhändler und tragen Sie mir die Kohlen rauf!"
In der Mariendorfer Straße ließ sie einen Zentner Kohlen einsacken, und der Händler warf ihn dem Jungen auf den Rücken. Der keuchte los. Der Sack erdrückte ihn fast. Frau Mädicke lief stolz neben ihm her, als ob sie aller Welt zeigen wollte dass sie es gar nicht nötig habe. Schnaufend ließ der Junge in der Küche den Sack auf den Boden fallen, die Frau wurde zornig: „Sehn Sie sich doch ein bisschen vor! Sind so groß und können nicht mal den Sack halten!" Dann gab sie ihm ein Zehnpfennigstück. Draußen spuckte der Junge vor ihre Tür.
Die Nostizstraße hungerte. Es war schlimmer als in den elenden Jahren der Inflation.
In den Läden hingen Speckseiten, Butter und Brot waren aufgestapelt. Die kleinen Händler in der Straße jammerten: Viertelpfundweise verkauften sie die Margarine, manchmal kamen Leute und verlangten zwei Scheiben Brot. Mütter gaben den Kindern mit Wasser yerdünnte Milch zu trinken...
Peikbeen ging zur Wohlfahrtsvorsteherin. Frau Sommer wohnte Nr. 42. Sie war eine freundliche, ernste Frau. Ihre lebhaften Augen musterten den groben Burschen, der zu ihr kam und Brot forderte. Ein hübscher, schwarz-gelber Kater strich um ihre Füße. Über ihrem wackligen Schreibtisch hing ein Leninbild.
„Ja, lieber Freund, das ist schlimm, Du weißt, mir sind alle Hände gebunden. Ich kann Dein Gesuch nur weiterleiten. Oder meinst Du, uns setzen sie dorthin, wo wir wirklich helfen können ?" „Nee, das nich, aber... Mein Vater ist auch schon zehn Monate arbeitslos. Ich kriege zu Hause einfach nischt mehr zu fressen. Und dann ist das auch so komisch, nicht einen Pfennig Geld habe ich im letzten Jahr verdient, das ist dann ein verfluchtes Gefühl den Eltern gegenüber. Da traut man sich nicht mehr ran ans Brot... " Frau Sommer nickte mit dem Kopf und sagte hastig: „Ich kenne das. Obwohl ich schon eine alte Frau bin, kann ich Euch Jungens verstehen, ich habe selbst Kinder unter elenden Verhältnissen großziehen müssen. Aber ich habe darauf geachtet, dass sie wissen, warum es uns Proleten so dreckig geht. Ich verstehe Euch aber nicht, wenn Ihr bei Euren Vergnügungen nutzlos Kraft verpulvert. Macht doch mal was gegen Euer Elend. Kämpft doch für ein besseres Leben! Die ganze bürgerliche Wohlfahrt ist doch nur Schwindel . . , Ein besseres Leben könnt Ihr Euch bloß auf der Straße erkämpfen, und Ihr seid diejenigen, die in vorderster Reihe stehen müssen. Von Euch kann man das verlangen, nicht von den alten Frauen, die hierher zu mir kommen, müde und verkrüppelt. Die können nicht mehr brüllen, marschieren und fordern. Aber Ihr, Ihr Jungs!"
„Na ja, aber wenn man doch Hunger hat... Wenn man am liebsten an nichts mehr denken möchte..."
„Da, hast Du ein paar Essenmarken. Glaube nicht, dass Du satt wirst. Die andere Sache werde ich unterstützen."
Der kleine Karl Danna spielte wieder mit den Murmeln, Eine hatte sich zwischen den Müllkästen festgeklemmt, und er versuchte nun, mit krummen, kleinen Fingern darunterzufassen. Unwillig fuhr er sich dann über den Mund, der Müll vermengte sich mit dem Speichel, und der kleine Kerl hatte ein gelb verschmiertes Gesicht. Die Frau mit dem Wuschelkopf ging vorüber: „Wie kann man bloß det Kind so alleene da. sitzen lassen! Mein Gott..."
Der kleine Kerl brüllte. Wütend schrie seine Mutter aus der Kellerwohnung: „Willst Du mal stille sin! Komm mal her, Du Dreckschwein!"
Eine Frau sang in ihrer Wohnung einen Choral, viel Sehnsucht lag in dem Lied, wenn auch die Melodie abscheulich gesungen wurde, dass es fast klang, als solle Gott verhöhnt werden.
Ü berall roch es nach Kuhstall und Katzendreck. Zahllose Fliegen summten durch die Schwaden dicken Gestanks.
Die Jungens aus der Nostizstraße standen an der Ecke. Peikbeen erzählte von seinem Besuch bei der Wohlfahrtsvorsteherin. Karl drehte sich aus zusammengeflochtenem Tabak Zigaretten. Irgend jemand begann von Emil zu sprechen. Wut und Mitleid zitterten in seiner Stimme. Ein anderer erzählte zaghaft von einem Schulerlebnis, das er in der Kriegszeit mit Emil hatte:
„... Da gab’s Rotkohl, es sollte jedenfalls Rotkohl sein. Furchtbar hat der Dreck gestunken, aber wir haben ihn runtergewürgt vor lauter Hunger. Damals hatten wir gerade Nachmittagsunterricht, weil 32
keine Kohlen da waren, vormittags froren die Mädels, dann wir in den halbdurchwärmten Räumen mit den Lehrern um die Wette. Und in der zweiten Stunde hat Emil seinen Rotkohl ausgekotzt. Die alte hysterische Zicke von Lehrerin hat ihn dann durchgeprügelt, fürchterlich geprügelt... "
„Da müsste man doch wirklich den Knüppel nehmen! Was haben sie mit uns nicht schon alles angestellt! Heute haben sie mir wieder zwei Mark abgezogen ... "
„Ach, sing doch nich so ville, Erich, Du wohnst doch noch zu Hause. Du hast doch noch allet, Mensch."
„Een Dreck hab ick! Meenste, meine Mutter kann mir von ihre Rente ernähren, Du Pfeife!"
Immer mehr Jungens kamen. Spinne und Kater, wieder zusammen, wie zwei Brüder. Franz stand abseits mit zusammengezogener Stirn. Kater schob sich an ihn heran und bettelte: „Gib mir ne Zigarette!"
„Aufs Maul werd ick Dir haun, Du Gauner!"
Franz war immer bissig. Er lungerte um seine Freunde rum und fauchte jeden an, der ihm zu nahe kam Und doch war er ein guter Kamerad. Viel gesunde Kraft ging von ihm aus. Bei allen Gelegenheiten wurde er um Rat gefragt. Scharfe Falten lagen um seinen Mund, hart war seine Sprache und offen.
Unvermittelt sprach er die anderen an: „Jungs! Aufpassen! Wir sind achtzehn Mann, los, holen wir uns was zu fressen!"
Das schlug wie eine Bombe ein. Jetzt war einer da, der sie führte. Mit funkelnden Augen sahen sie ihn an.
„Steht nich so da und glotzt! Wer nich mitmachen will, bleibt hier. Los, ich gehe vor. Aber aufpassen, Jungs!"
Alle gingen mit. Hintereinander, in kurzen Abständen, liefen die Jungens hastig zur Lindenstraße. Unterwegs wurde wenig gesprochen. Sie gingen, plötzlich mit einer entschlossenen Energie geladen. Sie dachten nicht daran, was werden könnte — nur weiter, vorwärts! An der Spitze lief Franz, neben ihm Erich Schmidt. Keiner blieb zurück. Sie rannten los, um sich einmal sattzufressen, um zu zeigen, dass sie sich nicht widerstandslos aushungern ließen...
Beim Schlächtermeister Kasch war Betrieb. Kleinbürgerfrauen feilschten mit den Verkäuferinnen.
„Nicht soviel Knochen, bitte!"
„Frollein, mir ein Pfund Kalbfleisch."
Der dicke Meister schwitzte. Seine weiße Schürze war blutgetränkt wie die Uniform eines Soldaten nach dem Bajonettangriff. Mit sicherer Hand trennte er große Scheiben Fleisch von einem Kalb ab.
„Wie viel Kotelett, gnä Frau?"
„Geben Sie drei, vier Stück, Meister."
Große Fleischstücke flogen vom Hauklotz auf die Waagen, wanderten von dort in die Taschen der keifenden Frauen.
Vor der großen Schaufensterscheibe standen Weiber und schüttelten den Kopf. Ihre leeren Augen lungerten zwischen den Auslagen. Ab und zu betrat eine von ihnen den Laden und verlangte Knochen.
„Wat wollen Sie haben? Knochen?"
„Ja, für zwanzig Pfennig Knochen."
Frau Mädicke stand in dem Laden und kaufte Leber. Freundlich nickte sie dem Meister zu und wippte dabei mit den Brüsten. Ein großes Paket packte sie in ihre Tasche, dann ging sie zur Kasse, wechselte einen Zehnmarkschein. „Det schöne, gute Geld!" jammerte sie.
Plötzlich kamen acht, neun brutale Burschen in den Laden gestürmt. Wie Wölfe, die in eine Schafherde geraten sind, sprangen sie auf Keulen und aufgerissene Bäuche zu. Die Weiber kreischten auf, und die Verkäuferinnen flüchteten. Der Meister schwang drohend seine breite Axt in der Luft. Peikbeen drückte ihn mit aller Wucht zur Seite und schrie ihn an:
„Hab Dir man nich so, Du fettes Aast! Dein Geld wollen wir ja janich. Jetzt halts Maul!"
Alles ging blitzschnell. Klebrige Fleischstücke und lange Würste wurden in den Kleidertaschen verstaut, unter den Jacken versteckt. Mit großartiger Geste packte Peikbeen einen Arm voll Rollschinken und warf ihn auf die Straße unter die draußen stehenden Leute. Dabei rief er:
„An Mein Volk! Jetzt fresst!"
Vor Freude über ein solches Wunder rannten alte Mütterchen und abgehärmte Frauen mit den Schinken davon. Franz rannte als letzter aus dem Laden,
Plötzlich schrie jemand laut und gellend: „Überfall! Überfall!" Ein kleiner Flitzer sauste heran, stoppte scharf ab; noch im Fahren stürzten sechs bis sieben junge Schupos von den Wagen. Wie unbefriedigte Sadisten schlugen sie auf die neugierige Menge ein.
„Weitergehen! Herrschaften, immer weitergehen!"
Grob und näselnd brüllten sie die Leute an. Eine Frau bekam mit dem Gummiknüppel einen Schlag auf den Kopf und blieb liegen. Ihre hellen Haare klebten über der Stirn blutig zusammen. Niemand half ihr, niemand traute sich, zu ihr hinzugehen. Ihr kleiner Junge stand neben ihr und weinte jämmerlich. Dann richtete sich die Frau mühsam auf, warf die Hände in die Luft und schrie: „Warum schlagt Ihr denn?! Ich habe doch nichts getan! Warum... "
Dann brach sie wieder zusammen und schlug schwer mit dem Kopf auf die Steine auf. Der Schlächtermeister rannte immer noch mit seiner Axt im Laden aufgeregt hin und her und schnauzte die Verkäuferinnen an. Frau Mädicke stand lauernd auf der anderen Seite in einem Hausflur. Rasch und giftig zeigte sie einem Schupo Peikbeen: „Da, der da!"
Peikbeen wollte gerade um die nächste Straßenecke flüchten. Der Schupo zog die Pistole und rief: „Halt! Stehen bleiben!'
„Wat denn, wat denn, Herr Wachtmeister! Ick hab doch jarnischt jemacht."
„Maul halten! Mitkommen!" Wie ein Bündel wurde er auf ein Auto geladen und zur Wache nach der Alexandrinenstraße gebracht.
Dort gab es ein langes, neugieriges Verhör.
„Wer hat Ihnen den Auftrag dazu gegeben?"
„Niemand; ick kam da zufällig vorbei. Ick streite entschieden ab, det ick dabei war. Und von Auftraggeben kann überhaupt keene Rede sein."
„Wo wohnen Sie?"
„Nostizstraße, zufällig, Herr Vorsteher."
„Na, da scheinen Sie ja also doch der Richtige zu sein. Nostizstraße? Hm, das genügt uns. Abführen!"
Peikbeen wurde noch am gleichen Tag zum Polizeipräsidium gebracht. Der Schnellrichter verurteilte ihn sofort zu vier Monaten Gefängnis wegen Landfriedensbruchs und Aufruhrs.
Am Abend des gleichen Tages hatte die Gruppe Nostizstraße Gruppenabend bei Othello. Langsam fand sich einer nach dem andern ein, und Othello hielt die Hand an den Bierhahn. Die Kneipe bekam plötzlich ein anderes Gesicht. Zwölf bis fünfzehn Jungens lungerten vorn an den Tischen herum. Sie rauchten und besprachen irgendeine organisatorische Maßnahme. Der Lautsprecher brüllte die neuesten Nachrichten:
„... Vor allem in Kassel und Frankfurt am Main schwere Zusammenstöße. Es kam überall zu ausgedehnten, kommunistischen Ausschreitungen. In Kassel nahmen kommunistische Erwerbslose eine drohende Haltung gegen die Polizei ein und überschütteten diese mit einem Hagel von Pflastersteinen. In der Marktgasse und Wildemannsgasse wurden die Beamten mit Blumentöpfen bombardiert. Vereinzelte Schüsse fielen, und ein Polizeibeamter blieb mit einem Bauchschuß tot auf dem Platz. Bis gegen ein Uhr donnerten die Schrecksalven der Polizei durch die Nacht. Ein Zivilist wurde ebenfalls schwer verwundet und dürfte wohl kaum mit dem Leben davonkommen. Etwa dreißig Personen wurden zwangsgestellt. — Frankfurt am Main. Hier bildeten sich in der Altstadt gegen zehn Uhr abends Sprechchöre, die „Nieder"-Rufe auf die Regierung Brüning ausstießen. Gegen elf Uhr wurden einige Straßen in der Nähe der Zeil fast unpassierbar. Einige Polizisten wurden tätlich angegriffen, so dass sie scharfe Schüsse abgaben. Verletzt wurde niemand. Auch in Berlin kam es heute morgen zu schweren Ausschreitungen. Ungefähr vierzig Jungen drangen in das Fleischwarengeschäft von Kasch in der Lindenstraße ein und erbeuteten Wurstwaren im Werte von ungefähr 25 Mark. Die Täter konnten bis auf einen unerkannt entkommen. Es hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt, jedoch gelang es der Schupo in ganz kurzer Zeit, die Ordnung wiederherzustellen. — Vor dem Kaufhaus Tietz am Alexanderplatz fuhr in den Morgenstunden ein Taxi vor, aus dem drei junge Burschen heraussprangen und mit Pflastersteinen vier große Fensterscheiben vollständig zertrümmerten. Die Passanten waren durch den Vorfall so aufgeregt, dass sie vergaßen, die Nummer des Wagens festzustellen. Die Täter sind auch hier unerkannt entkommen. — Wir machen eine Pause von fünf Minuten. Es folgt dann das Vaterländische Lieder-Potpourri, gespielt von... "
„Siehste, da habt ihrs! Polizeibeamte werden bedrängt, Wurst wird geklaut, und Schaufenster werden eingeschlagen. Die verfluchten Kommunisten!" sagte jemand ironisch. „Und immer sind es Horden junger Burschen."
Theo kam, in Begleitung von vier stämmigen Burschen, mit vollen, langen Haaren.
„Rot Front! Ihr Untermenschen!"
„Rot Front! Jungs! Ist Karl noch nicht da?" „Nee, der liest seinem Alten die Parteitagsberichte vor." Der Budicker brachte den fünf Jungens fünf Mollen halb und halb. Theo bezahlte. „Wat, sonst kostet die Molle zwanzig und jetz willste fünfundzwanzig haben? Du kannst wohl nich dafor?"
„Na, los, rück schon raus! Die werden Euch det Biersaufen schon abgewöhnen. Bei mir is bald Ebbe, wenn det so weitergeht. Da verdien ick gerade mein Fressen. Da hat meine Olle noch nischt, die Kinder noch nischt, und die Miete bezahlt mir ooch keene Wohlfahrt. Notverordnung, meine Lieben. Tja, das kommt noch besser."
Othello ließ sich schwerfällig neben Theo nieder und sprach leise:
„Du, heut' morgen waren die Bullen hier. Mir wollten sie wieder mal einen Schreck einjagen, von wegen Konzessionsentziehung und so. Sie haben sich das Vereinszimmer angesehen und haben gefragt, wer hier alles tagt."
„Na und, was haste gesagt?"
„Was soll ick da sagen? Ab und zu der Jugendverband, hab ick jesagt. Wo die Partei ist, wollten sie wissen, und ob in meinem Lokal alles ruhig ist. Da hack jesagt, ick bin Manns jenug, um Ordnung zu schaffen. Und ob ich schon mal bei einem Waffen gesehen habe... "
„Ach ja, wat die sich so allet denken."
Ein kraftloser, bleicher Mann saß in der Nähe des Einganges und blätterte in der „Linkskurve". Die Zeitschrift hatte er vor sich auf der Aktenmappe liegen. Hinter seiner Hornbrille funkelten tiefe, braune Augen; seine dunklen, schwachen Haare waren am Hinterkopf durch den Ansatz einer Platte geteilt. Er hatte ein faltiges, aufgeregtes Gesicht. Seine weiblichen, feinen Hände lagen auf dem Tisch und trommelten nervös den Takt des Liedes „Aufs Pferd, Kameraden, aufs Pferd... " Über seiner eingefallenen Brust beulte sich ein frisch gewaschenes Oberhemd. Theo kam an ihn heran und legte die patschige Hand auf seine Schulter:
„Du, Doktor, heute abend kommt ein neuer Genosse. Ich bin der Meinung, dass Du ihn am besten mit Deinen Theorien verschonst. Der muss gleich praktisch arbeiten, der Junge ist schon verwirrt genug." Der blasse Doktor brauste auf: „Was soll das heißen, Genosse? Bitte, unterlass diese Anzüglichkeiten. Ich bin sonst gezwungen, organisatorisch gegen Dich vorzugehen. Das machst Du ganz systematisch, Genosse Theo."
Ü ber Theos Gesicht huschte ein bescheidenes Lächeln. „Schon gut. Tu das!"
Der Doktor passte gar nicht hierher, auch seine Art zu reden nicht. Die war geziert und geschraubt. Er schien ein verstecktes Dasein zu leben.
Ab und zu ging die Tür auf. An den Tischen wimmelte es von Jugendlichen. Drei Mann spielten Skat, altklug und wichtig. Es war kurz vor acht Uhr. Karl kam eilig, er hielt in der Hand zusammengerollte Bogen Papier, hinter ihm trat Erich ein.
Erichs blasser, stets trauriger Mund wurde lebhaft. Die meisten kannten ihn. Der Doktor rückte die Brille schief und betrachtete ihn mit seinen ernsten, nachdenklichen Augen. Als sich Erich umdrehte, schob er sofort das rote Heft vor und studierte einen Artikel „Der Mangel der Arbeiterkunstkritik".
Die Genossin Trude, Kassiererin der Gruppe, rief Karl zu sich heran. Sie besprachen kurz etwas, und Karl nickte zustimmend und hastig mit dem Kopf. Trude lachte. Sie lachte so heiter und lebenslustig, dass jeder seine helle Freude daran hatte. Sogar Othello musste grienen und verkaufte ihr sofort einen Streifen Schokolade für zehn Pfennig. Trude trug eine Windjacke; die nackten Beine streckte sie jungenhaft von sich. Überhaupt war manches an ihr gar nicht wie bei einem Mädel. In dem vollen Gesicht standen frech und herausfordernd die lebhaften Augen, der Mund sprudelte in einem fort, rot und üppig waren die Lippen wie überreife Erdbeeren. Eine überschüssige, ungebändigte Kraft pulste in ihr, jeder fühlte sich von ihr angezogen. Links neben Trude saß die Genossin Elli, feine, unsagbar schöne Konturen des Gesichts, nervöse Hände im Schoß liegend. Der Missmut schien ihr ständig in der Kehle zu sitzen. Unbehaglich sah sie zu den drei Skatspielern hinüber.
„Jugendverbandsmitglieder, und denn Skat spieln!"
„Ach, Du alte Singuhr! Komm, wir gehen mit Dir auf die Straße, spielen Murmeln."
Der eine Junge, ein kräftiger Bursche in Windjacke und Gamaschen, klopfte verächtlich seine Tabakspfeife aus.
„Wat sich die Weiber immer bei uns einzumischen haben. Alles, ist unkommunistisch. Und wenn sie im Cafe Eis fressen und Sonntags mit ihren Ottos im Theater sitzen, denn kommen se sich wie Revolutionäre vor, die zehn Jahre illegale Arbeit hinter sich haben. Soll lieber auf ihre Mädels aufpassen, die olle Kuh!"
Der Doktor hatte auch früher mal wegen des Skatspiels Krach gemacht, aber die Jungens hatten nur mit den Achseln gezuckt und gemeint, sie seien trotzdem bessere Komsomolzen als er, den sie zur Arbeit stets aus dem Bett holen müssten. Er setzte sich zu Elli und begann eine lange Debatte über den unbefriedigten Spieltrieb der Großstadtjugend. Die beiden schienen einen guten Kontakt zu haben. Elli hörte aufmerksam zu und konnte sich einige hämische Blicke auf die Skatspieler nicht verkneifen.
Leise surrend drehte sich der Ventilator über der Tür. Irgend jemand pfiff das Lied von dem kleinen Trompeter. An den Wänden hingen riesige Plakate der Sportler, der „Roten Hilfe" und ein Werbeplakat der „Jungen Garde". Mehrere Zeitungen lagen auf den Tischen, einige andere hingen fein säuberlich an der Wand.
An der verräucherten Decke brannte eine helle elektrische Lampe. Fliegen, kleine, staubige Motten und Mücken flogen, von dem Licht angelockt, darauf zu, verbrannten sich die Flügel und blieben in der Schale unter der Glühbirne liegen. Am Schanktisch standen vier Arbeiter mit Rucksäcken auf dem Rücken; sie trudelten eine Lage aus. Eine Frau zog verschüchtert und ängstlich ihren Mann am Ärmel:
„Komm doch, Paul, komm doch schon... "
„Ja doch, hör doch uff! Noch eene Molle, denn komm ick ja schon, Olle."
Der größte Teil der Genossen war schon nach hinten ins Vereinszimmer gegangen, nur die Skatspieler, Karl, Theo und Erich, saßen noch draußen. Karl sprach leise mit Othello und rief dann:
„Los, Genossen, wir fangen an!"
„Nu lass uns man det Spiel noch zu Ende machen. Jetzt is et noch nich halb neune. Ihr habt ja nie pünktlich angefangen. Noch fünf Minuten... . "
„Nee, nee, los! Jetzt ist Sitzung. Wir hätten schon früher angefangen, aber der Referent hat uns versetzt, — Also los, Ernst, mach keen Unsinn."
Ernst war ein stiller Bursche mit ewig ärgerlichem Gesicht. Sein Mund war stets ein wenig geöffnet, und man sah schlechte, schiefe Zähne. Lang gezogen sagte er;
„Siehste, schon wieder Referent versetzt. Warum lasst Ihr Euch det dauernd gefallen? Wir werden schon so lange, wie die Gruppe existiert, als Stiefkinder behandelt. Die Schweinebande... "
Im Vereinszimmer waren alle Stühle besetzt. Am Fenster saßen drei Mädels an einem Tisch- Rechts an der Wand hing ein roter Baldachin, darunter eine Leninbüste. Die stammte noch aus der Zeit, als der RFB. in Uniform ging. Links waren Bogen grauen Packpapiers mit Bilderausschnitten angeheftet, die Wandzeitung. Die Bilder waren sehr alt, sie zeigten Szenen der Pariser Kommune. Darüber, in einfachem Rahmen, ein Bild; „Attentat auf Lenin". Am unteren Teil des Rahmens war auf einem Metallschild eine Inschrift eingraviert: „Der Roten Jungfront, 6. Abteilung, 5. Zug, für gute Arbeit im Märzaufgebot als ersten Preis. Die Gauführung Berlin-Brandenburg".
Das Zimmer war viel zu eng. Eine furchtbare Hitze machte die Kehlen trocken; die Jungens hatten die Jacken ausgezogen und die Hemdsärmel "aufgekrempelt, braun und sicher lagen ihre Arme auf den Tischen. Der Tabaksqualm schlängelte sich in langen Fäden zur Decke und blieb dort in dicken Wolken stehen. Die Genossen hatten rote Gesichter und schwitzten.
„Fangt doch endlich- an, zum Donnerwetter!" „Ja doch, is gleich halb neune." Theo eröffnete die Sitzung, rasch trat Ruhe ein. „Genossen, unsere heutige Sitzung ist eröffnet. Wir haben darum so spät angefangen, weil uns der Referent versetzt hat, den wir von der UBL. angefordert hatten."
„Schon wieder mal nicht erschienen?" „Det is doch allerhand!" Theo sprach weiter, sicher und fest:
„Ja, Genossen, schon wieder mal. Das ist jetzt etliche Male hintereinander passiert; ich glaube nicht, dass der Genosse, der kommen sollte, sich heute abend amüsiert, sondern irgendeine andere wichtige Arbeit hat. Wir werden die Sache aber prüfen und Krach schlagen Tatsache ist jedenfalls, dass unsere Unterbezirksleitung schwach ist, man wird nicht nur unsere Gruppe versetzen, sondern auch andere Ich glaube aber, wir sind stark genug, unsern Gruppenabend auch ohne Referenten durchzuführen. Es gibt nämlich tatsächlich Genossen, die ihre schlechte Arbeit und die der Gruppe immer damit entschuldigen, dass die Referenten nicht kommen. Das tut aber nichts zur Sache. Wir werden über unsere kommenden Arbeiten sprechen und verlangen, dass sich alle Genossen an der Diskussion beteiligen. Vor allem die notorischen Meckerköppe werden aufgefordert, neue Vorschläge für die Arbeit zu machen. Das Wort hat jetzt der Genosse Karl."
„Ich bitte, doch das Rauchen einzustellen", meinte Elly eifrig. Der größte Teil der Anwesenden murrte dagegen,
„Hast wohl nischt zu roochen, wat?"
„Ach wo, die roocht nicht, die kann det doch nich vertragen."
„Weiber dürfen überhaupt nicht roochen, vastehste."
„Ja, Genossen, die Genossin Elly hat recht. Hier sitzen über zwanzig Mann im Raum, und wenn zehn davon rauchen, dann fällt einem das Sprechen schwer, noch dazu bei solcher Hitze. Also macht die Zigaretten und Pfeifen aus,"
„Meine Kumille rooch ick erst zu Ende. Wenn ick sie köppe, schmeckt sie nachher nich mehr."
Trude konnte sich über den ausgebliebenen Referenten immer noch nicht beruhigen: „Ich bin der Meinung, dass die Gruppe eine Entschließung ausarbeitet und annimmt, in der gesagt wird... "
Sie wurde von vielen Seiten unterbrochen:
„Blödsinn!"
„So ein Quatsch!"
„Mach doch ne Abstimmung darüber!"
„Wir sind doch keene Staatspartei!"
Aber Trude ließ nicht locker. Erregt sprang sie vom Stuhl au! und versuchte, ihre Ansicht durchzusetzen:
„Bedenkt doch, Genossen, wir bleiben mit unserer politischen Schulung weit zurück. Noch dazu, wo unsere Gruppe zum größten Teil aus jungen Genossen besteht,"
„Wat Du immer mit Deine Schulung hast. Arbeite lieber, det is viel gescheiter. Wie viele „Junge Garden" haste denn von die letzte Nummer verkooft, he?"
„Ruhe! Zum Donnerwetter! Euch ist wohl die Hitze in den Kopf gestiegen, wat?"
Gekränkt setzte sich Trude. Einen Moment lang öffnete sie den Mund, wie zu einem Schrei, runzelte die Stirn und zog eine bösartige Grimasse. Dann klammerte sie sich mit ihrem Blick an Karl; der nickte zustimmend, und sie wurde ruhiger.
Erich saß neben Theo, mit einem wehmütigen Blick umfasste er Elly, doch sie nahm von ihm keine Notiz. Er stand vollständig in ihrem Bann. Nach einer Weile drehte er sich wieder um und ließ den Kopf sinken.
Mit etwas heiserer Stimme begann Karl zu sprechen, indem er zu Elly hinübersah:
„Wir haben die Tatsache zu verzeichnen, dass junge Genossen, die nicht mit vielem theoretischen Kram überlastet sind, besser arbeiten als Genossen, die jahrelang in unseren Reihen stehen, dicke Bücher gelesen haben, ja, die Illegalität 1923/24 mitgemacht haben Dort, wo der Kampf geführt wird, im Betrieb, auf der Straße, überall dort, wo es gilt, systematische Kleinarbeit zu leisten, erziehen wir unsere Genossen am besten. Das sind Tatsachen, die nicht zu leugnen sind. Wir haben bei uns alte Genossen, die nichts unternehmen, um die Arbeit der Gruppe durch neue, Jugendliche Arbeitsmethoden zu beleben. Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen."
Er machte eine kurze Pause und sah sich um. Erich lächelte ihm leicht zu.
„Wir werden jetzt in echt bolschewistischer, selbstkritischer Art die Arbeit unserer Gruppe betrachten. Da müssen wir von vornherein feststellen, dass wir weit hinter dem Tempo der revolutionären Entwicklung zurückgeblieben sind. Wir haben die Tatsache zu verzeichnen, dass arbeitslose Jugendliche aus eigener Initiative heraus demonstrativ in die Läden größerer Geschäftsleute gehen und Lebensmittel plündern, ohne Führung, ohne vorherige Organisation. Das ist ein Zeichen für die ungeheuer rasch fortschreitende Verelendung und Verzweiflung weiter Schichten der Jungarbeiter. Diese Jugendlichen müssen wir erfassen. Wir müssen ihre Kräfte, die sie nutzlos vergeuden, in den Dienst der deutschen Komsomolz stellen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, dass der große Teil dieser Jugendlichen zum Lumpenproletariat herabsinkt. Gestern überfielen zwei junge Arbeitslose einen Geldbriefträger, weil sie Hunger hatten! Auf der Polizei musste man ihnen zu essen geben, ehe sie Aussagen machen konnten. Dieser Fall hat die gleiche Bedeutung wie der Fall Lieschen Neumann und all die anderen, die in der letzten Zeit zu Hunderten vorgekommen sind. Hier müssen wir eingreifen. Hier muss eine intensive Propaganda einsetzen. Wir müssen den Jugendlichen zeigen, dass sie durch solche Dinge ihre wirtschaftliche Lage nicht verbessern, sondern sich vielmehr ihr ganzes Leben versauen. Wir wenden uns von diesen Jugendlichen nicht ab. Man muss ihnen klarmachen, dass erst im Sozialismus alle Voraussetzungen für ein vernünftiges Leben gesichert sind. Der kapitalistische Staat kann nicht mehr helfen. Er allein ist die wahre Ursache allen Elends; der Sozialismus muss erkämpft werden, um alles müssen wir kämpfen. Mit dem entscheidenden Teil des Proletariats zusammen. Und wir können nicht sagen, dass wir den entscheidenden Teil der Jungarbeiterschaft unseres Viertels — eines ausgesprochenen Arbeiterviertels — erfasst haben. Gewiss, wir wissen, dass unser Gebiet rot ist, wir wissen, dass der größte Teil der jungen Arbeiter bei der letzten Wahl für die KPD. gestimmt hat, aber das allein genügt nicht. Wir brauchen diese Leute für den aktiven Kampf. Und wie kommen wir an die Jugendlichen heran? In den Haustüren stehen täglich große Gruppen, die uns nur von der allgemeinen Propaganda kennen. Unsere Agitationsmethoden sind veraltet und wenig lebendig. Die Jungfront ist allerdings illegal, aber sie geht einfach auf die Dächer und malt dort ihre Parolen. Gestern sprach ich mit einem jungen Arbeiter, der erklärte mir glatt: ,Ja, Eure Genossen haben es ja immer so eilig, sie tun immer so, als wenn Ihr eine geheime Organisation seid.' Das zeigt, wie wenig lebendig unsere Propaganda ist. Ich schlage vor, dass die Gruppe erstens den Vertrieb der ,Jungen Garde' besser organisiert und steigert und zweitens eine eigene Zeitung herausgibt. Diese Zeitung soll vor allem auf unseren Kietz zugeschnitten sein. Der Inhalt soll sich den- lokalen Verhältnissen anpassen. Sie muss so interessant sein, dass jeder Jugendliche auf das Erscheinen der nächsten Nummer geradezu wartet. Wir werden nachher sehen, wer die Aufgaben eines Redakteurs übernehmen wird..."
„Knorke! Det fehlt uns!"
„... Jetzt steht die Frage des Abziehapparates. Die Gruppe hat kein Geld, einen zu kaufen. Aber wir müssen das Geld irgendwie zusammenbringen, und wenn sich alle Genossen dafür einsetzen..."
Der ärgerliche Ernst unterbrach ihn:
„Halt mal! Ich kenne einen Parteigenossen, der hat einen knorken Greifapparat zu stehen. Da gehe ich morgen mit ein paar Jungens hin, und det Ding wird beschlagnahmt."
„Ick komm mit, Ernst."
„... Also, wenn dort ein Apparat unbenutzt steht, gibt Euch die Gruppenleitung den Auftrag, den Apparat zu beschlagnahmen. Wie wär’s denn, Ernst, wenn Du Dich auch gleich um die Redaktion kümmern würdest?"
„Wer? Icke?! Mensch, da hab ick doch keene Ahnung von. Nee, det kann ick nich."
„Der macht 'ne Familienzeitschrift. ,Humor vom Tage' und so."
„Lasst doch den Unsinn."
„Ernst und Doktor gemeinsam!" machte jemand den Vorschlag. Die Mädels an dem Tisch hinten lachten. Eine kleine Blonde wurde lebhaft und meinte:
„Ich habe einen Vorschlag zur Finanzierung: wir gehen zu Geschäftsleuten, erklären so und so und fragen, ob sie nicht inserieren wollen. Jedes Inserat eine Mark. Fünf, sechs Stück bekommen wir schon zusammen, und dann haben wir Geld für Papier und Platten. Die Platten nehme ich mit ins Geschäft, und da werden sie auf Kosten der Likörfabrik Schadow & Co. getippt."
„Dufte, Grete! Siehste, Du bist jar nich so dämlich, wie Du aussiehst!"
„Halt doch Dein gottloses Maul, Rudi, mach doch andere Vorschläge."
„Othello muss ooch inserieren: Ia Bouletten, gut gepflegte Biere!"
Ernst hatte einen feuerroten Kopf. Er war eifrig und machte sich Notizen. Dieser Vorschlag war für ihn außerordentlich ungewöhnlich. Er griente ein paar Mal breit und zeigte seine schlechten Zähne.
„Euch werde ich schon zeigen, wat ein roter Redakteur ist, Ihr Mummelgreise. Die Zeitung werde ich schon machen, aber wehe dem, der nicht seine zwanzig Stück umsetzt! Der Genosse Doktor ist mir als Mitarbeiter natürlich angenehm, vorausgesetzt, dass er keine Ecke über das Geschlechtsleben der Mistkäfer für sich beansprucht."
Doktor grunzte tief. Erst schien es, als wollte er Ernst nicht hören. Dann wurde er böse und ballte seine kleine Schreiberfaust: „Warte man, Dir werde ich schon rankriegen, von wegen Mistkäfer... "
Das bodenlose Gewieher der Genossen wollte nicht verstummen. Karl schlug ein paar Mal mit der Faust auf den Tisch. Erich wurde immer lebendiger, am liebsten hätte er auch mitgelacht oder etwas gesagt. Er fühlte sich hier mit einmal froher und sicherer.
Mit fester Stimme sprach Karl weiter:
„Ich glaube, die beiden Genossen werden schon gut zusammenarbeiten. Die Gruppenleitung wird mit ihnen nachher noch alle konkreten Fragen besprechen. Genossen, nun zu unserer Dorfpatenschaft. Die Genossen aus Langendorf haben uns geschrieben, ob wir denn nichts von der Parole „Kommunisten aufs Land!" gehört hätten. Sie bitten uns, mitzuteilen, wann wir die Güte haben würden, unserer Patenschaftspflicht nachzukommen. Genossen, wir haben jetzt Juni. Seit März sind wir nicht mehr dagewesen. Wir haben daher mit den Funktionären beschlossen, gemeinsam mit der Gruppe Kreuzberg am Sonntag auf Landagitation zu fahren..."
„Bravo! Warum denn nicht gleich so!"
„Fahrgeld? Wat kost Fahrgeld?"
„Wir fahren, obwohl ja Autofahrten verboten sind, aus Sparsamkeitsgründen mit dem Auto, Fahrgeld beträgt eine Mark fünfzig, und das ist bei hundert Kilometern nicht zu viel. Ich glaube, dass alle Genossen das Fahrgeld aufbringen können. Wenn nicht, sollen sie sich beim Genossen Theo melden. Der Genosse Theo hat eine feine Methode, solchen Drückebergern zum Fahrgeld zu verhelfen. Also: Sonntag alles aufs Land! Der Wagen hat Sitzplätze, ist luftbereift. Wir fahren natürlich nicht vom Lokal ab, sondern so, dass wir ohne Polizei aus Berlin, mit verschlossenem Verdeck, herauskommen. Die Fünferführer geben die näheren Anweisungen noch durch..."
„Ick kann nich mitkommen, Karl!"
„Warum nich?"
„Meine Schwester feiert Verlobung. Da jibts wat zu fressen, die heirat een Schlächter."
„Kommt janich in Frage, Maxe. Du kommst mit, und damit basta."
„Wat jeht uns Deine Schwester an. Meine stirbt Sonntag, und ick fahre doch mit."
„Der Genosse Max wird auch mitkommen. Ich glaube nicht, dass er sich bei der Verlobung wohlfühlt. Wenn die alten Tanten singen: ,Aus der Jugendzeit' und ,Wie früher alles doch so anders war'. Also, kommste mit, Max?"
„Mal sehn. Ick weeß noch nich jenau."
„Ach wat, nimmst Dir eben ein paar anständige Würste und drei bis vier Napfkuchen mit."
„Natürlich, habt keine Angst, der Max wird da sein."
Der kleine Max, ein verschmitzter Bursche, fühlte sich wohl, ihm tat Zureden immer recht gut. Und ein Genosse neben ihm, wahrscheinlich sein Vertrauter, flüsterte ihm zu: „Wen meenst Du denn mit Schwester? Eure Töle?" Und dann krepierten beide beinahe vor Lachen.
„Ruhe! Maxe. Weiter, Genossen. Wir haben vorhin über Schulung gesprochen. Sonntag in acht Tagen findet eine Wochenendschule statt. Unsere Gruppe kann zwei Delegierte entsenden. Ich schlage den Genossen Peter Simon und die Genossin Elly vor."
Elly sprang vom Stuhle auf und stieß mit der Kniescheibe hart gegen die Tischkante. „Au, verflucht!" Sie war vor lauter Zorn blasser als sonst im Gesicht und hatte so laut gebrüllt, dass wieder ein übermütiges Gewieher einsetzte. Nur Erich sah sie bedauernd an, und Doktor blieb starr wie eine Bildsäule. Schulmeisterhaft und strafend warf er seine Blicke umher. Elly trat dicht an Karl heran und schaute ihm beleidigt ins Gesicht:
„Genosse Karl, ich protestiere dagegen, dass Du hier einfach so diktatorisch festlegst, dass ich mit zur Schule soll!" Dabei stampfte sie mit ihren niedlichen Füßchen auf den Boden, als wenn sie sich mit aller Gewalt Respekt verschaffen wollte. Karl sah betroffen zu Theo. So verrückt war sie ja noch nie gewesen. Was ist denn bloß mit ihr los?
„Hast wohl ne Verabredung, wat?"
„Und wenn ich zehnmal eine Verabredung habe, das geht Dir gar nichts an, bäh!" Sie steckte weit und ulkig ihre Zunge heraus.
„Der ist die Hitze in den Kopf gestiegen", lachte Karl.
Er wollte zur Tagesordnung übergehen, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde. Der Referent stürzte atemlos und schwitzend herein: „Entschuldigt, Genossen, ich hatte eine wichtige Sitzung. Aber es ist ja erst halb zehn, da... "
„Aha, der Spachtel! der Genosse Spachtel!" staunten die Genossen.
Spachtel erklärte, er wolle die Sache kurz machen, sozusagen Telegrammstil. Seine Stimme hatte einen weinerlichen Klang, und seine Hände spielten dauernd auf dem Tisch herum. In regelmäßigen Abständen sagte er: „... nicht wahr Genossen..." Max hatte einen Bieruntersatz vor sich liegen, und immer, wenn dieser Satz gesprochen wurde, machte er einen Bleistiftstrich.
Spachtel sprach wirklich im Telegrammstil; mal war er in Spanien, dann wieder in Genf, dann sprach er etwas konkreter von dem Heranreifen einer revolutionären Krise in Deutschland. Er machte einige Vorschläge zur Intensivierung der Arbeit, kritisierte heftig die Arbeit der Gruppe als die schlechteste im Bezirk Zentrum und erreichte damit am Schluss eine lebhafte Debatte. Als erste Diskussionsrednerin sprach Trude, ruhig und überzeugend. Sie war auch der Meinung, dass die Gruppe gegenüber der allgemeinen Entwicklung sehr im Tempo zurückgeblieben sei. Alle übrigen begrüßten den Vorschlag einer eigenen Zeitung und gaben die Versicherung ab, dass sie alle nach Kräften mitarbeiten würden.
Theo gab kurz und knapp organisatorische Anweisungen für die nächsten Tage, dann schloss er die Sitzung etwas zu eilig. Aus Protest fingen zwei, drei Genossen an, das Komsomolzenlied zu singen. Es dauerte nicht lange, und die ganze Bande sang stehend mit, vor allem der Refrain schlug dröhnend gegen die Wände.
„Landwirtschaft und Industrie
produzieren wie noch nie
in der Sowjetunion!
Bauer, der so lange schlief,
schaftt jetzt mit dem Kollektiv
für die Sowjetunion!
Im Betrieb: Komsomol!
Auf dem Land: Komsomol!
Überall: Komsomol!
Bricht dem Sozialismus Bahn.
Ja, die Komsomolzen,
Was sind das doch für Kerle?
Knorke! Knorke alle Mann.
Ja, die Komsomolzen,
Was sind das doch für Kerle?
Knorke! Knorke alle Mann.
Lenin spricht: Elektrokraft
mit am Sozialismus schafft
in der Sowjetunion!
Mit Traktor und Eisenbahn
bau'n wir den Fünfjahresplan
für die Sowjetunion!
Im Betrieb: Komsomol...
Technik und das Alphabet
bringt ins Dorf der Stadtprolet
in der Sowjetunion!
Volksverdummung ist gewesen,
heute lernt der Bauer lesen
für die Sowjetunion!
Im Betrieb: Komsomol...
Hüte dich, du Weißgardist!
Immer wacht der Rotarmist
in der Sowjetunion!
GPU. und Milizei
kämpfen mit Lenins Partei
für die Sowjetunion!
Im Betrieb: Komsomol...
Höre, deutscher Jungprolet!
Stolz die rote Fahn weht
in der Sowjetunion!
Kämpfe und verzage nie,
kämpf mit aller Energie
für die Sowjetunion!
Im Betrieb: Komsomol...
Die vier stämmigen Burschen, die mit Theo gekommen waren, setzten sich draußen an einen Tisch und beratschlagten leise.
„... die olle Kuh, die. Wegen der is der arme Teufel doch bloß Hopps gegangen ... "
„Also los, treffen wir die Vorbereitungen, und um halb zwölf vor der Haustür. Rot Front!"-------
Als Frau Mädicke am nächsten Morgen Brötchen holen wollte, brüllte sie laut auf: Vor ihrer Tür standen zwei volle, schwere Müllkästen, darauf ein Paar lange, braune Pferdebeine mit blanken Hufeisen. Sie stanken furchtbar...
Grässliche Träume hatte Frau Mädicke in den folgenden Nächten: Immer hingen baumelnde, stinkende Pferdebeine vor ihr, die Hufeisen blinkten, und dann kam der Schlächtermeister Kasch mit der Axt...
Bei Familie Rhoden war Krach. Richtiger, derber Krach kam bei der Familie aus dem Rheinland nur selten vor. Viktor war nur zwei Stunden älter als sein Bruder Hermann. Kraftstrotzend und faul war er am Morgen im Bett geblieben. Zwar hatte er seinem Vater versprochen, gleich aufzustehen und zur Markthalle nachzukommen, aber er dachte nicht im geringsten daran. Die Mutter kam, schimpfte, kreischte und wollte ihm die Decke wegziehen. Viktor war bockig wie ein Esel, auf dem man schon zu lange herumgeritten ist; ärgerlich knurrend steckte er den Kopf unter die Decke und blieb liegen. Immer das ewige Einerlei: Viktor, aufstehen, zur Markthalle! Viktor, fass mal an die Kiepe da an, und dann sortiere die faulen Äpfel aus! Viktor, Feierabend, dann gehst du noch eine Weile spazieren bis neun Uhr, und dann marsch, ins Bett!
Viktor war ein kräftiger Bursche. Er hatte auch andere Sehnsüchte — aber die wurden ihm in der Nostizstraße zwischen 7 und 9 Uhr abends nicht erfüllt. Er fühlte sich gekränkt, vernachlässigt, gedemütigt, und er war doch der Sohn eines selbständigen Gemüsehändlers en gros. So protestierte er in dieser hilflosen, ahnungslosen Art. Damit kommst du nicht durch, Viktor, hatte er manchmal zu sich selbst gesagt.
Doch der Drang in seinem Körper, dieser Drang, den jeder Bursche in Viktors Alter staunend empfindet, ohne ihn beschreiben zu können, war stärker, als die gute, rheinische Erziehung. Deshalb kam der Krach.
„Warum bist Du nicht gekommen?" fragte nachmittags der Vater, als er schwitzend aus der Markthalle zurückgekehrt war.
Erst wollte Viktor stillschweigend abziehen, ohne sich zu verteidigen, dann aber hatte er es sich anders überlegt und sagte kühl, fast höhnisch; „Ich fühlte mich nicht wohl, Papa."
Da wetterte der Alte los, seine Stimme überschlug sich vor so viel Frechheit. „So, Du fühltest Dich nicht wohl?! Hast Du überhaupt schon heute etwas verdient? He, hast Du schon überhaupt etwas verdient, frag ich Dich? — Willst Du antworten, Du störrischer Bengel?!"
Die Mutter legte ängstlich die Hand auf den Arm des aufgeregten Alten. Der sah sie verständnislos an. „Willst ihn wohl in Schutz nehmen, was? Unsereins plagt sich von früh bis spät, dass es die Kinder später mal besser haben, und dann erntet man so einen Dank. Überhaupt heute, bei solchen Zeiten. Wir haben letzte Woche alle drei zusammen keine siebzig Mark verdient, und der bleibt einfach liegen, bleibt im Bett: ich komme gleich nach. Geh man, schufte Du man, Alter. Wer nicht kommt, ist mein Viktor! So!"
Hermann musste kichern, er stieß dem Bruder in die Seite und flüsterte schadenfroh: „Siehste, da hast Du es!" Der Alte rannte aufgeregt hin und her. Er wollte nichts zu essen haben.
„Nein, nein! Lass, ich kann vor Ärger nichts essen. Da muss man ja... da hat man ja... haaach! Da weiß man überhaupt nicht mehr, was man dazu sagen soll!" Er sah Viktor so böse und drohend an, dass der sein Essen stehen ließ und sich in das Zimmer zurückziehen wollte, das den beiden Jungens gehörte. Da donnerte ihn der Alte von neuem an. Seine Augen waren aufgequollen und die Lippen blau wie die einer Wasserleiche.
„Hier geblieben! Sag mir jetzt, was mit Dir Jos ist! Sag mir jetzt endlich, oder ich vergeß mich!"
Jetzt bekam Viktor richtige Angst, Mit kleinen, trippelnden Schritten lief er vor seinem Vater hin und her und wusste nicht, was er sagen sollte. Wenn er geantwortet hätte: Papa, ich hatte keine Lust, dann hätte es Senge gegeben, fürchterliche Senge — da hing so ein altes, kerniges Militärkoppel im Schrank. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Er traute sich nicht, den Vater anzusehen, nur von unten herauf beobachtete er alle seine Bewegungen.
„Wilhelm, um Himmelswillen, Wilhelm! Lass ihn doch sein! Er wird sich sicher nicht wohl gefühlt haben", rief entsetzt die Mutter.
„Ach was! Ein Kerl wie ein Bär und sich nicht wohlfühlen. Lächerlich. Lass mich nur machen, Du hast ihn nämlich bloß verwöhnt. Der liegt im Bett, und ich quäle mich mit den Körben und Kisten herum. Warum hat man denn die Lausejungens großgezogen? Bloß zum Sattfressen? Nee, meine Liebe!"
„Ja natürlich, ich hab' ihn verwöhnt, nun gib mir man wieder die Schuld. Natürlich, wenn Du nicht weiter kannst, dann bekomme ich Deine Wut zu spüren. Ist ja lächerlich, sich so aufzuregen. Lass ihn zufrieden, es wird schon nicht wieder vorkommen. Nicht wahr, Viktor, mein Junge?"
„Nein, Mama, es wird nicht mehr vorkommen", sagte Viktor und kam sich dabei wie ein Schulrabe vor.
„Was Du bloß immer hast! Ich möchte gerne wissen, warum er nicht aufgestanden ist."
„Weil mich ein solches Leben ankotzt!!" brüllte Viktor plötzlich. „Wir haben unser Abitur gemacht, haben gelernt bis in die Nacht, und ich habe dabei bestimmt nicht von Gemüsekörben geträumt, Papa. Das wollte ich Dir sagen."
Der Alte war platt. So etwas war einfach noch nicht dagewesen, so etwas hatte sich von den beiden Jungens noch keiner erlaubt. Wie ein Wilder brüllte jetzt Herr Rhoden los:
„Ruhe, Ruhe, Freundchen! Immer ruhig bleiben, nicht wahr? Was kotzt Dich an, wie Du Dich auszudrücken beliebtest, he? — Dieses Leben? Ja, sag mal, was hast Du Dir denn überhaupt für ein Leben vorgestellt? Meinst Du, das Gute kommt alles von selbst. Nein, da heißt es arbeiten von früh bis spät, arbeiten und noch mal arbeiten, wenn man es zu etwas bringen will. Du siehst, ich muss auch zufrieden sein.“
„Ja, Papa, Du bist vielleicht zufrieden, aber wir sind jung! Das darfst Du nicht vergessen. Und dann weiß ich ja auch, dass Du von früh bis spät arbeitest und noch immer nicht weiter gekommen bist. Im Gegenteil: vor vier Jahren hast Du den Laden verkaufen müssen, zwei Jahre später das Auto. Früher hattest Du vier Leute ständig angestellt, heute keinen. Das ist es ja, was ich nicht begreife."
„Das verstehst Du wieder nicht. Das hängt mit der allgemeinen Krise zusammen. Und weil Deutschland den Krieg verloren hat. Wir müssen eben die Hälfte des Ertrags unserer Arbeit an die Franzosen zahlen. Wir, die Mittelständler... " Der Alte wurde ruhiger.
„Das weiß ich ja auch alles, Papa. Aber warum arbeitest Du denn da? Ich meine, warum arbeitest Du denn so viel, dass die andere Hälfte, die man aus Dir herauspresst, recht groß wird? — Sieh mal, ich kann verzichten, und ich verzichte gern. Aber etwas muss man doch schließlich vom Leben haben. Du hattest uns beiden ein Motorrad versprochen... "
„Ach so, dahinaus willst Du! Das mach Dir man ab, mein Junge, Motorrad, nee, nee, da ist nichts mehr zu wollen. Vorläufig gar nicht daran zu denken, mein Lieber. Arbeite tüchtig und spare, dann werden wir weiter sehen. Aber vorläufig — nee. Und jetzt will ich meine Ruhe haben!"
Der Alte nahm einen Pack Steuerquittungen und ging damit in die große Stube. Seine Frau eilig, immer noch ängstlich, hinter ihm her.
„Bude zu, Affe krank!" sagte lächelnd Hermann. „Mensch, unser Alter, mit dem kannst Du doch nicht reden, was denkst Du, wie der mir heute den ganzen Tag in den Ohren gelegen hat: Das faule Schwein kommt doch nicht! Na, warte man, lass mich man zuhause sein, dem schlag ich die Knochen im Leibe kaputt, vielleicht ist er doch krank — aber nein doch, ein Kerl wie ein Bulle... so ging das den ganzen Tag. — Warum bist Du denn nun eigentlich nicht gekommen? Mensch, wegen Dir musste ich heute doppelt arbeiten. Dauert nicht lange, dann bleibe ich einfach liegen."
„Ja, was soll ich Dir da antworten? Dir gehts wahrscheinlich genau so wie mir, Hermann. Es ist alles Scheiße!" Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch und sah lauernd zu Hermann.
Der schien alles nicht so schwer zu nehmen. Er blickte gleichgültig umher und knabberte die Knochen seines Koteletts ab. Dann nahm er sich wieder sein Buch vor, „Die Sünde wider das Blut".
,Ja, Hermann, man muss sich doch darüber klar sein, was später werden soll. Meinst Du, ich habe Lust, mich dauernd mit Gemüsekörben rumzuschleppen und wie ein Jude mit den Leuten zu handeln? Ekelhaft ist so ein Prachergeschäft — verflucht, wenn ich doch bloß weg könnte von hier! Immer dasselbe Einerlei, immer derselbe Stumpfsinn!"
„Ja, die Juden", sagte Hermann gedehnt „,wenn die nicht wären. Wo soll denn das auch alles hin? Der alte Herr kann doch nichts dafür; was denkst Du, was der sich für Kopfschmerzen macht, Viktor. — Übrigens, wenn im Sportpalast wieder mal Naziversammlung ist, gehe ich wieder hin. Das sind doch Kerls! Und der Goebbels, der kann reden, sage ich Dir! Da wird man direkt begeistert. Manches ist ja Quatsch, was er sagt, aber die Juden, die hat er anständig beim Wickel."
„So. Also Dir gefällt das auch. Mir hat vor allem der Fahneneinmarsch imponiert. Das Militärische, Forsche, dafür kann ich mich begeistern. Man muss ja irgend etwas haben. Gehn wir zu den Nazis, Hermann!"
„Und der alte Herr, was wird der dazu sagen?"
„Ach was, der sagt gar nichts, der freut sich vielleicht noch. Bei den letzten Reichstagswahlen hat er auch Nazis gewählt.; Der schimpft auch auf die Juden. Das muss doch mal anders werden, entweder gehn wir so oder so kaputt."
„Und wenn es in der Straße bekannt wird?"
„Das braucht ja niemand zu wissen. Sehen wir uns eben ein bisschen vor."
„Das sind aber alles Kommunisten."
„Was heißt Kommunisten. Sind wir ja auch, bloß, dass wir mit den Juden auch abrechnen wollen. Bin schon einverstanden mit den Kommunisten. Alles kaputt schlagen! Weißt Du, manchmal möchte ich den Kurfürstendamm herunterrennen und alles über den Haufen stechen, so eine Wut habe ich... "
Hermann legte das Buch beiseite. Er kratzte sich die Brust und schnaufte. Hass und Wut war in beiden aufgestaut. Irgendwo musste jetzt Luft geschafft werden.
„Und das alles wegen dem verlorenen Krieg! Weil wir alles bezahlen müssen, deswegen geht es uns so beschissen, und wegen der Juden, die alles in der Hand haben und mit Frankreich liebäugeln. Und dagegen sind eben die Nazis."
„Die Kommunisten aber auch, Viktor."
„Na ja, aber wir können doch nicht zu den Kommunisten gehen. Mach Dich doch nicht lächerlich! Das geht nicht... "
„Ich versteh schon. Aber stell Dir vor, wir kommen mit den Leuten hier aus der Straße in Konflikt. Die werden von den Nazis doch oft schlimmer als die Juden behandelt. Ich habe da doch immer noch einige Bedenken."
„Ach, die gehen schon noch vorüber. Das ist doch kein Problem. — Hoffentlich hat sich der Alte beruhigt; ich dachte schon, er wollte mich fressen."
Der Alte hatte sich noch nicht beruhigt. Mit einem lauten Fluch hatte er seinen Schreib- und Steuerkram in die Ecke geworfen und sich stöhnend und resigniert ins Bett gepackt.
„Sei doch schon endlich ruhig, Wilhelm!" redete ihm seine Frau gut zu.
„Du hast gut reden. Aber ich, ich allein bin hier der Leidtragende... " Seine Stimme klang weinerlich. Er fasste mit krummen Fingern in die Bettdecke und warf sich hin und her. Seine Frau kämmte sich die Haare.
Das zweischläfige Bett nahm den größten Teil der Stube ein. Über ihnen hing ein kleines, silbernes Kreuz, dessen Querteil hielt mit Nägeln die Arme Jesu. Blut tropfte von den Händen des Gekreuzigten, Blut tropfte von seinem Kopf, der schwermütig und zerfurcht von vielem Leiden auf die rechte Schulter geneigt war.
Rhoden hob das Kinn hoch und sah seufzend nach oben. „... und erlöse uns von dem Übel... " Der Mann streckte die Arme empor und lag lange mit geschlossenen Augen da. „Erlöse uns? Erlöse uns? Wer erlöst uns denn?" schrie er plötzlich.
Seine Frau kam sonderbar ruhig: „Sei still, Papi."
„Ja, sei still. Immer bin ich still gewesen, Marie."
Der alte Rhoden, der nicht wusste, warum das alles so war, weinte. Dicke, salzige Tränen hingen ihm an den Wimpern, liefen über die faltigen Backen und den traurig verzogenen Mund. „Meine eigenen Jungens, meine Jungens, an denen ich so gehangen habe, Marie. Was sind das für kräftige Kerle. Weißt Du, ich sage ihnen das nicht, ich lasse sie es auch nicht merken. Und doch freue ich mich, wenn ich mit beiden, der eine links, der andere rechts, durch die Straßen gehe. Meine Jungens sind so zu mir? Und ausgerechnet der Viktor. Von dem habe ich das meiste gehalten. Ich kann sie ja trotzdem so gut verstehen. Sie sind ja noch so jung."
„Sei doch jetzt ruhig, Wilhelm", sagte liebevoll seine Frau und kuschelte sich dicht an ihn. „Warum machst Du Dir denn immer so viel Kopfschmerzen, es wird schon alles besser werden. Sei doch ruhig jetzt... "
„Wie kann ich denn ruhig sein! — Ach, lass mich doch in Frieden. Herrgott, machst Du Dir denn gar keine Kopfschmerzen darüber? Was soll denn aus den Jungens mal werden? Wer weiß, wie lange noch, und mein Gemüsehandel hat aufgehört, längstens noch bis zum Winter. Die verdammten Steuern machen einen ja kaputt, die fressen ja am meisten... Ich kann das schon verstehen von dem Viktor. Die armen Teufel haben ja auch nichts von ihrem Leben."
„Wilhelm, hör doch jetzt auf. Das ist doch nun einmal so: wenn der liebe Gott will, hilft er schon."
„Ja, der liebe Gott... . ja... "
Theo trug gern Ledergamaschen und ein einfaches Hemd. Wenn er allein war, ging er immer eilig, er wusste selbst nicht warum, es lag so in ihm drin. Er arbeitete in einer kleinen Tischlerei in der Wiener Straße, eine halbe Stunde von der Nostizstraße entfernt. Oft ging er nicht gleich von der Arbeit aus nach Hause, es wurde elf, zwölf, manchmal auch ein Uhr, ehe er Mittag essen konnte. Seine Gamaschen waren stets blank, man konnte sich darin spiegeln. An seiner blauen Schirmmütze trug er ein rotes Fliegerabzeichen. Darauf war er stolz. Das hatte ihm mal eine kleine, schwarze russische Genossin geschenkt. Er dachte oft sehnsüchtig an sie. Bis ihm dann plötzlich wieder einfiel, dass er noch da und da hin müsse. Und er sprang auf, raste los und rannte alles über den Haufen, was ihm in den Weg kam. Er konnte Unpünktlichkeit nicht leiden. „Unpünktlichkeit ist Diebstahl an der proletarischen Revolution" pflegte er zu Genossen zu sagen, die das Privileg für sich in Anspruch nahmen, immer zu spät zu kommen, und sei es auch nur um eine halbe Minute, Fast nie gönnte sich Theo einen freien Abend, nur ganz selten einmal an einem Sonntag. Und auch dann konnte er nicht stille sitzen: et suchte die faulen Genossen auf und schmierte sie nach Strich und Faden aus.—
Wie ein Wiesel sprang er die vier Treppen hoch, klopfte ungestüm.
„Nanu, nanu, wo brennt's denn schon wieder?" empfing ihn seine Mutter. Frau Schade war immer guter Laune. Aber sie konnte auch ernst sein, besonders wenn sie sich mit den Frauen unterhielt, da konnte sie manchmal geradezu wütend werden:
„Schon sechs Kinder, und det siebente soll jetzt kommen?! Wat wollen Sie denn bloß mit so viel? Zu was denn!"
„Ach ja, wat soll man denn bloß machen?"
„Quatsch, es gibt doch so viel Sachen, die einigermaßen sicher sind... ,"
Solche Gespräche führte sie oft, sie redete dann so leidenschaftlich, dass den Frauen beinahe Angst wurde. Aber sie hatten Vertrauen zu ihr und ließen sich geduldig die Seele waschen.-------
„Junge, wo kommst Du bloß so spät her? Det janze Essen ist schon wieder kalt ... "
„Mach, Mutter, mach! Ich muss rasch wieder weg. Wir haben Flugblätter verteilt vor DTW. in der Zeughofstraße. Mach schnell, ich habe keine Zeit."
„Na, Du wirst doch wohl noch zum Essen Zeit haben. Herrgott, Du wirst ja immer weniger. Was nützt Dich denn der Klassenkampf, wenn Du nachher auf der Nase liegen bleibst."
„Ach, mach doch schon, Mutter, das ist doch gar nicht wichtig! — Wenn Du das Essen noch nicht fertig hast, esse ich eben nachher."
„Nu warte doch schon, warte doch, is doch gleich fertig. — Nee, der Junge, der macht sich noch ganz kaputt mit seiner Rummrennerei... "
Sie hantierte still am Herd und sah ab und zu mal zu Theo. Er saß am Küchentisch, den Kopf in die Hände gestützt und las eilig die „Rote Fahne".
Frau Schade bewohnte mit ihrem Jungen Stube und Küche. Der Vater war bei den Spartakuskämpfen 1918 erschossen worden. In der Stube, am Fenster, stand ein selbstgebautes Bücherregal, von oben bis unten mit Broschüren und marxistischer Literatur voll gestopft. Darüber in schmucklosem, schwarzem Rahmen ein Leninbild. Lenin lächelte auf diesem Bild ganz leis, ein leises Lächeln, das einem ordentlich Mut machte.
Die Wand hatte Theo im Winter mit billiger Ölfarbe gestrichen. Unter einer alten Matratze hatte er Füße angebracht, mit einer wollenen Decke belegt, stand sie jetzt als seine Schlafgelegenheit in der Küche.
Seine Mutter kam lächelnd mit einem großen Teller Kohl: „Hier, Theo, lass Dirs schmecken! Fleisch ist nicht drin, aber es wird auch so gehen."
„Ach, das ist doch gar nicht wichtig, Mutter. Mach schon, ich muss gehen,"
Hastig begann er zu schlingen. „Au verflucht, is das heiß!" „Nu hör aber auf! Ich kann doch nicht wegen dem Klassenkampf das Essen ohne Feuer kochen."
„Doch, wenn es notwendig ist, muss auch das gehen, Genossin Schade. Dann wird eben nicht gekocht, dann wird der Kohl eben roh gefressen, nicht wahr?"
Die Mutter kam langsam an den Küchentisch heran. Am liebsten hätte sie jetzt ihrem Jungen das Haar gestreichelt, aber sie wusste, er konnte das nicht leiden und würde hochfahren. Für ihn waren Mutterliebe und Familiensinn Begriffe, die einer alten, stockigen Vergangenheit angehörten. Sie schaute ihm beim Essen zu und sagte nur: „Bist ein tüchtiger Kerl, Theo."
Er hatte fertig gegessen, schob den Teller beiseite und sprang auf. Mit seinen harten Händen fasste er die Mutter bei den Schultern, dass sie aufschrie.
„Ja, Mutter, wir beide, nicht wahr? Aber jetzt muss ich gehen, wenn ein Genosse kommt und es ist eilig, dann schick ihn zu Doktor. Rot Front! Mutter!"
„Rot Front! Theo!" rief sie ihm nach. Aber er hörte nicht mehr, seine Schritte polterten schon im zweiten Stock.
Doktor wohnte möbliert in der Solmsstraße bei einer alten, äußerst freundlichen Frau. Sie war etwas rundlich, hatte graue Haare und gütige, verständnisvolle Augen.
Ernst probierte an dem Greifapparat herum. Sein Kopf war vor lauter Eifer rot und die Hände von der Farbe schwarz. Er sah aus wie ein kleiner Junge, dem man zum ersten Mal einen Tuschkasten zum Spielen gegeben hatte.
„Wenn ick bloß wüsste, wie det Ding funkt. Mein Jott, die olle Schraube hier, zu wat die bloß da dranne is, möcht ick wissen."
„Zeig doch mal her!" unterbrach Doktor fachmännisch Ernsts Betrachtungen über die Tücken und Schrauben eines Abziehapparates. Nach einer Weile zuckte er mit den Schultern und murmelte unverständlich etwas. Da klingelte es, und gleich hinter der Wirtin trat Theo ins Zimmer.
„Schöner Besuch", murrte Ernst, „der will doch bloß wieder kritisieren."
„Guten Tag, Jungs!"
„Guten Tag, Papa!"
Doktor bemerkte grienend: „Die Begrüßung zweier Komsomolzen, von denen der eine sich anmaßt, der Vater des anderen zu sein, während der andere sich tatsächlich einbildet, er war der Junge des
einen.'
„Nu werde man nich schon wieder philosophisch, Doktor! Zeigt mal her, was Ihr gemacht habt! Warum habt Ihr denn den Apparat schon aufgestellt?"
„Zum Abziehen, alter Dussel, oder denkste zum Brotschneiden?" knurrte ihn Ernst an. Es passte ihm gar nicht, dass Theo so mir nichts dir nichts hereingeschneit kam, wie ein Lehrer alles kontrolliert und einem womöglich noch alles über den Haufen schmeißt.
Missgelaunt holte er ein paar eng beschriebene Bogen vom Schrank. Oben auf dem Papierstapel lagen etliche gute Zeichnungen und der Kopf der Zeitung, fein säuberlich mit Ausziehtusche in mühseliger Arbeit von Ernst hergestellt, „Die Rote Sturmfanfare".
„Hm, Sturmfanfare, Das hört sich ganz gut an, klingt aber zu romantisch. Sturm ist mir zu windig, und Fanfare heißt schon die Zeitung vom Kampfbund Machen wir ... "
„Siehste, Doktor, wat hab ick jesagt?! Der kommt, und denn: ja, ja, ja, det, und det, und det muss aus politischen Gründen geändert werden. Wie soll se denn heeßen, wat?"
„Müssen wir mal sehen. Jedenfalls muss es etwas mit Jugend sein, es soll doch eine Jugendzeitung werden."
Ernst war ordentlich wütend, Doktor lächelte still vor sich hin und sagte: „Kabbelt Euch man, ich verbrenne mir nicht mehr die Schnauze."
„Nennen wir sie doch Komsomolz-Prawda" meinte nach einer Weile Ernst lächelnd, dabei seine schlechten Zähne zeigend.
„Unsinn, ,Prawda' versteht doch keen Mensch!"
Theo überlegte ernsthaft, Ernst erteilte Ratschläge, Doktor ging Tee kochen.
„Na, pass mal auf, Theo, nennen wir doch det Ding ,Der junge
Wühler'."
„Hm, jung und wühlen. Passt ganz gut zusammen. Jung und die bürgerliche Gesellschaft unterwühlen, den Proleten aufwühlen, hm", sagte Theo, „gut, Ernst, schön, sagen wir ,Der junge Wühler'. Aber wir müssen uns beeilen. Gestern ist die ,Junge Garde' verboten worden, da muss von uns sofort etwas unternommen werden. Siehste, Du kannst direkt wat."
„Wollt ick ooch jewußt haben, alter Freund. Also ,Der junge Wühler'. Verflucht, nu muss ick ja eenen neuen Kopp malen."
Doktor brachte Tee. Ernst brummte: „Ne anständige Molle wäre mir lieber."
„Ach was, Molle. Bier ist schädlich. Alkohol hält den Proleten vom Klassenkampf ab. Das Biertrinken sollten sich alle Genossen abgewöhnen."
„Wie ein Pastor sprichst Du. Molle trinken hat noch lange nischt mit besaufen zu tun. Und wenn anständiger Ersatz da ist, werden unsere Jugendgenossen keine Molle mehr trinken. Man kann doch Othello nich kaputljehen lassen."
Theo hatte sich die Artikel vorgenommen, die Ernst und Doktor im Übereifer zusammengeschmiert hatten. Er blätterte und machte sich Notizen. Nach einer Weile sagte er gemessen und freundschaftlich:
„Der Hauptfehler der Zeitung stellt sich jetzt schon heraus Es ist falsch, wenn Ihr beide die Artikel allein schreibt, Ihr müsst auch die Genossen aus der Gruppe damit beauftragen. Weiter müsst Ihr zu erreichen versuchen, dass indifferente Jugendliche über ihre Nöte in unserer Zeitung schreiben. Dann finde ich keinen Artikel, der besonders auf unser Gebiet zugeschnitten ist; in den umliegenden Straßen passieren so viele Dinge, die sich ausgezeichnet verwerten lassen, da findet Ihr so viel interessantes Material. Und dann, was ist das für ein Unsinn im Schlusssatz des Leitartikel.... Die proletarische Jugend ist am Ende Es ist daher kein Wunder, wenn Hungernde auf offener Straße Briefträger anfallen oder Selbstmord verüben. Das ist unklar. In dem ganzen Artikel kommt nicht zum Ausdruck, dass es eine andere proletarische Jugend gibt, die den Kampf führt gegen diese Zustände. Ein Jugendgenosse wird keinen Briefträger anfallen, nicht wahr? — Warum hast Du das nicht korrigiert, Doktor?"
„Was heißt das, Genosse Theo, der Ernst lässt sich von mir doch nichts sagen. Mach Du man ruhig," sagte Doktor ironisch.
„Quatsch nicht so duslig!"
Ernst war ganz aufgeregt. Er nahm die Blätter eines nach dem anderen zur Hand und sah sie wie geistesabwesend noch einmal durch. Dann legte er sie mit einem lauten Fluch auf den Tisch, so heftig, dass der Tee überschwappte. „Wat nu, Mensch? Nu soll ick wohl wieder von vorne anfangen, wat? — meine Herren!"
Doktor lachte innerlich und nickte mit dem Kopf. „Feiner Anfang. Wenn wir so weiter machen, sind wir in vierzehn Tagen fertig.
Ist ja auch klar, bei dieser falschen Zusammenstellung der Redaktion."
„Du wolltest wohl sicher sagen, bei dieser psychologischen Unmöglichkeit der Zusammenstellung", verbesserte ihn Theo.
„Vielleicht hast Du recht, mein Lieber. Diese Seite darf man nicht außer acht lassen. Jedenfalls ist die Basis für eine gute Zusammenarbeit nicht vorhanden."
„Dann hast Du die Aufgabe, eine solche Basis schnellstens zu schaffen, verstehst Du. Wir müssen die Kräfte, die vorhanden sind, verwenden, Unmöglichkeiten in Deinem Sinne darf es für uns nicht geben! Du bist stärker als Ernst, das ist entscheidend."
Ernst interessierte die Unterhaltung der beiden absolut nicht, er hantierte wieder am Abziehapparat herum.
„Hast Du ihn geholt, Ernst?"
„Ja, zwei Mann hoch. Erst wollte er ihn nicht rausrücken, da hatten wir ihm ein bisschen vom Wehrsport erzählt, und nach langem hin und her hat er ihn dann vorgekramt. Er wusste selber nicht, wem der Apparat gehört. Jetzt gehört er jedenfalls uns."
Ernst war wieder der alte. Seine Wut war wie weggeblasen, und stolz lief er um den Apparat herum wie ein großer Wachhund.
„Macht die Sachen bis morgen fertig und gebt sie Grete mit. Platten hat sie schon besorgt. Vor der Landagitation werden wir doch keine Zeitung haben, heute ist schon Donnerstag...."
Doktor hatte die dritte Tasse Tee beim Wickel. Ernst schnupperte daran herum und goss sie in einem Zug herunter. „Ist der zum Abführen, Doktor?"
Wolkenfetzen schoben sich am Himmel zu großen grauen Klumpen zusammen, als die drei die Straße betraten. Wütend trieb der Wind Blätter und Papierreste vor sich her, es war dunkler als an anderen Abenden um die gleiche Zeit.
Die drei Jungens gingen zur Nostizstraße, in der Mitte Doktor wie ein altes, hilfloses Männlein. Ernst war lustig, er fing an zu singen:
„Ach, lass doch fahren hin, was früher einmal war! Maruschka, koch uns Tee aus dem neuen Samowar."
Dabei lief er in kleinen Sprüngen einige Meter vor und klatschte in die Hände. Seine Augen lachten, und die schlechten Zähne sahen plötzlich gutmütig aus. Er kam wieder zurück und sagte nachdenklich:
„Mensch, wenn wir uns doch mal richtig freuen könnten! So wie die russische Jugend, Sich richtig freuen, ohne auf andere Rücksicht nehmen zu brauchen. So wie ,Hier, wir sind die Jugend, macht Platz'!"
Er schlug vor lauter Übermut auf Doktors schmale Schulter, und wäre die Brille nicht stabil gewesen, bestimmt wären die Gläser dabei herausgesprungen. „Du bist ja gar nicht so, Doktor. Lass man."
Doktor lächelte plötzlich still und wurde nachdenklich.
In der Nostizstraße war es ruhiger als gewöhnlich, es war nicht so heiß, die meisten Leute schliefen schon. Nur Jugendliche standen in losen Gruppen vor den Haustüren. Franz machte ein finsteres
Gesicht und Kater schlich von einem zum anderen. Frieda stand mit
dem hageren, hübschen Gustav an die Haustür gelehnt. Sie sah aus,
als sei eben das Glück an ihr vorbeigegangen. Gustav redete leise auf
sie ein, packte sie grob am Arm, sie sah ihn an, ängstlich und flehend:
„Lass doch, Gustav! Ich kann doch nicht, ich kann doch nicht..."
„Schön, wenn Du nicht willst, gehe ich. Es gibt ja so viele Mädels,
die nicht nein sagen."
„Das weiß ich ja. Das weiß ich ja auch, Gustav. Warte doch, später mal. Jetzt nicht. Ich kann doch nicht... "
„Also los, komm mit. Bei uns ist keiner zu Hause. Komm, mach schon!"
„Nein! Ich kann nicht. Ich möchte aber, dass Du bleibst."
„Dann rutsch mir den Buckel runter", sagte Gustav und schob ärgerlich ab. Frieda lief hinter ihm her, sie fauchte ihn an und schlug ihre Fingernägel tief in sein Handgelenk. „Du Biest!" keuchte sie. Gustav staunte, dann holte er aus und schlug ihr klatschend ins Gesicht. Sofort waren alle fünf Finger zu sehen. Frieda taumelte und lehnte sich bleich an die Wand. Aus ihrer Nase tropfte hellrotes Blut auf ihre kleinen, abgearbeiteten Hände. Sie sah es an, mit verständnislosen, gleichgültigen Augen. Gustav aber ging seelenruhig weiter. Er bereute schon wieder sein Verhalten, aber zurück ging er nicht mehr, das brachte er doch nicht fertig. Seine Freunde hatten den Vorgang aus geringer Entfernung beobachtet.
„Warum hast Du geschlagen?" fragte Spinne.
„Meine Sache, verstehste!"
„Na, Du brauchst doch aber nicht gleich zu hauen," wiederholte Spinne.
„Ach, halt die Fresse!"
Franz kniff die Augen zusammen und sah lauernd zu Frieda. In ihm tobte es. Aber dann sagte er friedfertig: „Geht Dir nischt an, Spinne! Lass die doch machen, was sie wollen. Mensch, so oder so, is ja doch allet ejal. Wenn die später verheiratet ist, hat sie es nich so schwer, da is sie schon dran gewöhnt. Die verfluchten Weiber. Ick hatte mal eene, die wollte wegen mir ins Wasser gehen, aber rangelassen, hat mir das Aas nich. Heute geht sie aufn Strich. Wenn ick will, kann ick bei die als Lude gehn."
„Na, und warum jehste nich?" fragte Spinne neugierig.
„Alte Nudelpfeife! Denkste denn, ick lasse mir wejen so eine Sau einsperrn? Wer Geld nimmt, wird verklagt, mein Lieber."
„Ja, is schlimm, mit die Tippelschicksen, ich möchte keene sinn."
Spinne wurde nachdenklich. Solche Gespräche kitzelten. „Na, wie is denn det, brauchen die denn alle een Luden?"
Franz fuhr wütend hoch. „Brauchen, brauchen! Wat weeß ick. Manch eene braucht een, manche wieder nich. Wenn alle solche Prügels kommen wie Du, da brauchen sie keenen, mit Dir wird ja jede fertig. Oder willst Du etwa Lude wern?"
„Ach wo. Aber muss doch interessant sein der Beruf."
Gustav gähnte gelangweilt. Am liebsten wäre er zu Frieda gelaufen, hätte sie zärtlich umgefasst und ihre Haare gestreichelt. Er sagte schleppend:
„Wenn ,Grüne Woche' is, denn möcht ick Lude sinn. Mensch, würde ick die Großagrarier hochnehm! Ohne Hemde würde ick die über die Stoppeln jagen. Das sinn die Richtigen. Und im Dorf wundert man sich, wie die Syphilis reinjekommen is. Da wäre noch wat zu machen."
Große, schwere Regentropfen fielen. Der Himmel wurde dunkel, ein heftiger Wind fegte plötzlich durch die Straßen. „Da, jetzt fängt et och noch an zu regnen!" „Wat, jehn wa nach Hause. Kinder is det een Mist."
In Othellos Kneipe war wenig Betrieb. Drei alte Männer spielten Skat. Erich Schmidt saß mit Elly an einem Tisch. Elly sah den Burschen mit dem traurigen Gesicht neugierig an. Im Hinterzimmer war es dunkel. Othello saß mit halbgeschlossenen Augen hinter der Theke und träumte.
„Ach ja", seufzte Elly. Auf ihrem blassen Gesicht waren kleine rote Flecken. Sie schob die Oberlippe vor, und als Erich zu ihr hinsah, tat sie wieder gleichgültig und gelangweilt.
„Was meinst Du?"
„Nichts, ich dachte nur so."
Nach einer Weile begann sie wieder. Ganz verändert war sie auf einmal: „Wie alt bist Du eigentlich, Erich?"
„Zwanzig. Warum fragst Du?"
„Du siehst jünger aus. — Gefällts Dir bei uns?"
„Wie man's nimmt. Ich habe ja noch nicht viel mitgemacht. Ihr habt ein paar ganz anständige Leute hier." Er beobachtete sie, indes er sich weit über den Tisch lehnte, dabei die Hände knetend, bis sie schweißig wurden.
„Es wird Dir schon gefallen. Wenn Du erst theoretisch ein bisschen weiter bist. Kommst Du mit zur Autofahrt?"
„Ich kann nicht, hab kein Geld. Karl sagt ja, man wird für mich sammeln unter den Genossen, aber das möchte ich nicht."
„Ach, komm doch mit. — Ich werde Dir das Fahrgeld geben."
„Nicht doch! Nein! Das geht doch nicht."
„Nu mach schon, komm nimm. — Ich möchte gern, dass Du mitkommst."
Sie sahen sich lange an. Erich wurde wieder sentimental, beinahe hätte er geheult. Oder sie gepackt, fest gepackt, und dann die Zähne in ihre schmalen, strengen Lippen geschlagen.
Da kam Doktor mit den beiden anderen.
„Na, Ihr?"
„Na, Du?"
„Also, stell Dir vor, Elly, die Zeitung kann noch nicht rauskommen, weil diese beiden keinen vernünftigen Artikel fertig kriegen", begann Theo.
Ernst fügte entschuldigend hinzu: „Die Artikel waren ja alle fertig, nicht wahr, Doktor? Aber der Orgleiter hat sie durchgestrichen. Quatsch, politische Unmöglichkeit usw. Und nachher fing Doktor mit seiner Basis an." Er trat hinter Ellys Stuhl und fasste sie unter die Arme.
„Ist das ein Kerl!" dachte Erich. „Einfach auch so machen, ganz einfach zu ihr hingehen, drücken und stille sein dabei."
Elly wurde wieder wütend. Ihr Gesicht verzog sich, und der echte Mundwinkel hing abweisend nach unten. Dann lächelte sie Erich wieder zu.
„So, da sind wir ja zusammen. Der Genosse Erich gehört zu unserer Fünfergruppe!"
„Das ist fein!" sagte Elly, und Erich wurde rot. Doktor staunte und blinzelte durch die Brillengläser wie ein Staatsanwalt.
„Wir sind vollzählig. Los, gehen wir kleben. Solmsstraße, Baruther, Zossener, Fürbringer, Mittenwalder, Bergmann. Doktor und ich schwingen den Pinsel, vorn passt Ernst auf, und Elly und Erich hinten. Wartet, ich hol die Plakate und den Kleister."
Die Straßen waren wenig belebt. Neugierig blieben die Leute stehen und sahen sich die frisch gekleisterten Plakate an.
„Am 1. August wird demonstriert gegen die Kriegsgefahr. Für die Verteidigung der Sowjetunion, Gegen Arbeitsdienstpflicht.
Die revolutionären Jungarbeiter."
Das Kleben ging rasend schnell. Jede Fünfergruppe hatte nur vierzig kleine Plakatstreifen. Erich trottete stumpf neben Elly her. Er wartete darauf, dass sie zu sprechen anfinge. Elly sah sich ab und zu um. Sie schien ihn gar nicht mehr zu bemerken.
„Warte hier! Wir müssen aufpassen, bis die beiden über die Ecke sind, dann können wir weitergehen. Wenn ein Grüner kommt, pfeifst Du ,Waldeslust'!"
Umständlich steckte er sich eine Zigarette an. Es war kühl nach dem Regen. Elly schob sich dicht an ihn heran und sagte: „Lass mir auch mal einen Zug machen!" Sie nahm ihm die Zigarette aus der Hand und sog gierig den Rauch ein. „Dankeschön, Erich, Bist ein guter Kerl. — Komm weiter."
An der nächsten Ecke standen Ernst und die beiden Kleber.
„Was ist los?"
„Der Kleister ist zu dick."
Ernst nahm den Topf und ging wortlos in einen Hausflur. Dort knöpfte er sich den Hosenstall auf: „So. Da habt Ihr. Wir werden doch nicht aufhören. Jetzt ist der Kleister wieder dünn. Habt Ihr noch viel Plakate?"
„Nee, fünf, oder sechs Stück."
Das war alles so selbstverständlich, Erich musste lächeln. Dann schämte er sich wieder vor Elly, doch die tat so, als hätte sie nichts gesehen. Sie hielt ihn wieder zurück, bis die anderen die nächste Querstraße erreicht hatten.
„Alles so ruhig heute. Kein Grüner. Sonst haben sie uns immer gleich beim Wickel."
Was sollte Erich antworten. Er trottete neben ihr her und dachte verkrampft nach. Komisch, dieses Mädel, nimmt mir die Zigarette weg, geht kleben wie ein Junge. Erst macht sie einen mit dem Augenblinkern verrückt, und dann tut sie wieder so, als sähe sie
keinen.
In der Bergmannstraße trafen sie wieder mit den anderen zusammen.
„So, hat alles geklappt. Ab, nach Hause!"
Als Erich daheim ankam, schnauzte ihn die Mutter an, wo er so spät herkomme. Auf dem Tisch flatterte trübselig ein Talglicht. Langsam zog sich Erich aus.
Im Bett dann dachte er mit gieriger Freude an Elly, hin und wieder auch an die anderen Genossen, an das neue Leben um ihn...
Die Gruppen ,Kreuzberg' und ,Nostizstraße' hatten je drei Genossen als Stoßbrigade nach Langendorf geschickt. Es waren alles Arbeitslose. Am Donnerstag waren sie mit der Bahn losgefahren, um mit den dortigen Genossen eine Betriebszeitung für die Jutespinnerei anzufertigen, eine Jugendbelegschaftsversammlung zu organisieren und alle Vorbereitungen für die Agitation am Sonntag zu treffen. Drei Langendorfer Genossen waren vor kurzem bei der Abwehr eines faschistischen Überfalls verhaftet und zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt worden, der Leiter der Jugendgruppe hatte als so genannter Rädelsführer acht Monate bekommen. Die Arbeit der Gruppe wurde schlechter. Der Mann, um den sich alles geschart hatte, saß im Gefängnis, die Gruppe war ihres Motors beraubt, man sah in Langendorf vom Kommunistischen Jugendverband sehr wenig. Die Partei war schwach, zählte in den Betrieben nur wenige Mitglieder, und obwohl die RGO. in der Jutespinnerei bei den letzten Betriebsratswahlen die meisten Stimmen erhalten hatte, existierte keine Betriebszelle.
Am Sonnabend kam Leben in die Bude, das halbe Nest wartete auf die Berliner, die Stoßbrigade saß schon seit sechs Uhr abends drei Kilometer vor dem Dorf im Chausseegraben. Der Gendarm hatte noch nichts bemerkt, er nahm sich mit seinem struppigen Schnauzbart recht harmlos und gemütlich aus, saß im „Gasthaus zur Krone" und trank irgendein Schlossbräu. Neben ihm saß sein Schäferhund, blinzelte ihn ab und zu schläfrig an und leckte sich die Schnauze. Draußen auf der Treppe lag ein Betrunkener und grölte. Im Arbeiterquartier hingen vereinzelte rote Fahnen, sie blähten sich, wenn ein leichter Wind blies. Pferde scharrten in den Ställen, Kühe brüllten, wurden gemolken und legten sich dann schwerfällig aufs frische Stroh. Ein paar Bauern kamen gemächlich, die Pfeife schief im Mundwinkel, von der Feldarbeit zurück. Der Frieden des Abends breitete sich über dem Dorf aus. Blauer Rauch stieg kerzengrade aus den Schornsteinen hoch, irgendwo quakten Frösche, ein Knecht dengelte die Sense . , .
In der Garage am Kaiser-Friedrich-Platz versammelten sich nach und nach die Genossen. Einige Meter vor dem Eingang stand Karl Langscheidt und gab den Leuten, die mit Tornistern und gelben Hemden kamen, Zeichen. Von weitem sah er einen Trupp von mindestens acht Genossen anrücken. Wütend rannte er ihnen entgegen:
„Seid Ihr verrückt geworden! Acht Mann hoch, ein Wunder, dass Ihr nicht noch singt dabei! Los, verteilen!"
Verdattert sahen sich die Jungens an, wurden rot und gingen mit gesenkten Köpfen auseinander. Und dabei waren sie vorher so heiter gewesen, hatten sich schon alles so schön ausgemalt: Kommen wir an, Abteilung halt! Wir begrüßen die Genossen mit einem kräftigen Rot Front! und dann freuen sich die anderen... Und nun hieß es: Seid ihr denn verrückt geworden! Na, macht nichts. Hat recht, der Karl. Wir sind Ochsen gewesen.
An der Tür stand der Leiter der Gruppe ,Kreuzberg' und schloss sie sofort wieder hinter den Neuangekommenen. In der Garage wurde leise geflüstert. Die Fachleute besahen sich den Wagen, klopften daran herum, nickten wie Greise mit den Köpfen und gaben ihre Erläuterungen:
„Hm, ein ganz guter Kasten. Wird schon durchhalten. Bloß die Bereifung ist zu schwach. Müsste Zwillingsreifen haben... "
„Oder drei Achsen. Mit unserem Mercedes-Benz kommt der aber nicht mit. Mensch, ist der gefahren! Achtzig Kilometer in der Kurve, wir haben gedacht, uns fliegt der Kopf ab."
„Gib doch nich so an, wer gloobt Dir denn det, achtzig Sachen. Det kannste mir doch nich erzählen. Ick habe doch schon öfter als Du Autofahrten mitgemacht."
Der Chauffeur trieb die Jungens auseinander: „Geht da los, Ihr Fachmänner!" Und dann sagte er zu einem hageren Burschen mit gewaltiger strohblonder Mähne: „Du setzt Dir auf den Kühler als Teddybär." Die anderen lachten. „Siehste, Teddybär. Mensch, wat denken Se, der heeßt ja schon Teddy", prustete ein stämmiger Bursche heraus. „Halt mir mal fest, ick muss wiehern. — Jut. Dufte. Teddybär... "
Trude verteilte Bonbons. Die anderen Mädels standen in einer Ecke. Trude lächelte ein stilles, gewinnendes Lächeln. Der blaue Rock reichte ihr knapp bis an die Knie, die Haare fielen in breiten Strähnen über ihr Gesicht.
Dreißig Genossen hatten sich inzwischen eingefunden, verhältnismäßig viel Mädels unter ihnen. Gruppe ,Kreuzberg' wurde überhaupt von Mädels beherrscht und war mit acht Genossinnen erschienen, außerdem Elly, Trude und Grete von der Gruppe ,Nostizstraße'.
Erich stand etwas abseits und sah in das Halbdunkel der Garage. Er hatte keinen Tornister und auch nichts zu essen mit. Da kam Elly, drückte ihm fest die Hand und gab ihm drei Mark:
„Hier, hol Dir was zu essen für unterwegs, das andere ist Fahrgeld. Und wenn Du dort Hunger hast, komm zu mir, ich hab genug mit. Meinetwegen kauf Dir auch Zigaretten."
„Ach, lass doch! Behalt nur Dein Geld!"
„Geh, Mensch! Wir haben nicht mehr viel Zeit,"
Erich machte keine Miene zu gehen und stand unentschlossen da. Elly wurde schließlich wütend, fasste ihn ärgerlich am Arm und zog ihn hinter sich her auf die Straße. Bei einem Bäcker holte sie zehn Semmeln und vom Schlächter ein halbes Pfund Hartwurst. Sie legte alles in den Arm des verwirrten Jungen, ließ ihn stehen und rannte Zigaretten holen.
„So, hier hast Du noch zehn ,Juno'. Wir bleiben zusammen, denn ich will auch rauchen,"
Der Wagen war besetzt, als sie zurückkamen. Theo schnauzte beide an. Es gab keine Sitzplätze, und die Leute meuterten.
„Erst erklären sie groß, es gibt Sitzplätze, und nun steht man die ganze Zeit!" sagte ein kleines Mädchen. Sie hatte Kulleraugen und sah in ihrer Entrüstung niedlich wie ein beleidigtes Baby aus.
„Ach, lass doch! Wirst schon nicht umfallen." Karl, der vorn stand und mit leiser Stimme Instruktionen gab, beruhigte die Kleine: „Setz Dir nachher auf den Boden, wir werden schon Platz schaffen. Die Bänke sind ja da, aber wenn wir sie mitnehmen, ist es noch viel enger." Er streichelte ihr langsam übers Haar, und die Kulleraugen wurden wieder fröhlich.
Das Verdeck wurde heruntergezogen, nur durch zwei kleine Zelluloidfenster an beiden Seiten fiel spärliches Licht. Der Wagen fuhr langsam an, leise und gleichmäßig arbeitete der Motor. Es gab einen Ruck, als der Wagen den Prellstein streifte. Das Tageslicht drang durch die Plane. An Straßenkreuzungen wurde manchmal gehalten. Nach und nach wurde das Branden des Verkehrs schwächer. Ernst erklärte, ohne hinauszusehen, den Genossen, durch welche Straßen man fuhr. „Passt auf, jetzt gehts über die Brücke in Friedrichsfelde. Da — eine kleine Steigung,"
Ungehindert erreichte das Auto die Chaussee. Genau so ungehindert wie jeder andere Lastwagen, der irgendwelche Stückgüter in der Richtung Frankfurt an der Oder fuhr.
Durch einen kleinen Schlitz an der vorderen Holzwand konnte ein Genosse den Tachometer beobachten, eifrig rief er nach hinten: „Fünfundvierzig — fünfzig — dreiundfünfzig Kilometer! Meine Herren, der brummt ja ganz schön los!"
Der Wagen zitterte, immer stickiger wurde die Luft unter dem Verdeck. Theo drängte sich von der Mitte nach hinten und rollte das Verdeck ein Stück hoch. Frische Luft drang herein, bisweilen auch eine dicke Wolke beißender Chausseestaub. Jemand erzählte eine Episode von einer anderen Autofahrt:
„Da hatten wir Panne, det olle Ding lief einfach nich mehr. Aber trotzdem war eine gute Stimmung. Schließlich fing es auch noch an zu regnen. Wir ließen zehn Mann beim Gepäck und Wagen zurück und marschierten los. Als wir an ein Dorf kamen, sprang ein kleiner Junge aus dem Chausseegraben und rannte rasch vor uns her ins Kaff. Dabei brüllte er immer: ,Mutta! Mutta! Sperr die Hühner ein, die Kommunisten kommen'!"
„Oeh!? Glaubst Du wohl alleine nich. Mensch, erzähl doch keene Märchen...."
„Doch, doch, und nachher hat uns der Bürgermeister empfangen, hat Ehrenjungfrauen aufgestellt, Bier aus der Gemeindekasse bezahlt, und wir haben gefressen und gesoffen auf Deibel komm raus. Dann hat jeder ne verrostete Mark bekommen und ne anständige Wurst..."
„Du spinnst ja schon wieder, Karl."
Die Kleine mit den Kulleraugen hatte sich hingesetzt. Nach und nach machte es sich einer nach dem anderen auf dem Wagenboden bequem. Die meisten standen bald wieder auf, denn die Erschütterungen des Wagens ließen sich im Stehen besser ertragen.
„Du, Karl, wie alt bist Du eigentlich?"
„Wer? Icke? Neunzehn Lenze, mein Lieber", antwortete Karl ahnungslos,
„Und da kannst Du noch nich mal auf Deine eigenen Füße stehen? Meine Güte, so ein fettes Vieh, wie Du bist!"
„Entschuldige! Ich dachte, es wäre ein Brett. So ungefähr steht es sich nämlich auf Deine Plattfüße."
„Kinder, los, singen wir doch eins!" schlug Karl vor. Und drei, vier Jungens, die immer zusammenhielten, sangen mit vollen Stimmen:
„Junge, wenn du willst,
Junge, wenn du willst,
spiel auf meine Geige!
Junge, wenn du willst,
spiel auf mein Klavier!
Im Rheinland wächst der Sauerkohl,
die Welt ist kugelrund,
da sah ich mal ein Mägdlein steh'n
von hundertachtzig Pfund.
So nehme, was du nehmen kannst,
du holder Abendstern,
und hau die Olle mit der Pfanne vorn Kopp,
das ist der Tag des Herrn!
Freut eu-euch des Lebens!
Großmutter wird mit der Sense rasiert,
Freut euch des Lebens,
ehe das Unglück passiert!
Zwei Schwiegermütter gingen ins Wasser
au, au, au!
Sie wurden nass und immer nasser,
au, au, au!
Die eine, die wer bald ersoffen..."
„Aufhörn! Aufhörn!" protestierten die Mädels und machten einen solchen Lärm, dass man die drei Sänger nicht mehr hören konnte. Einer packte Trude und hielt ihr den Mund zu. „Willst Du stille sein!"
Mit einem lauten Aufschrei zog er die Hand wieder weg. „Das Biest beißt ja, die Kröte!"
„Siehste, vergreif Dir nich an andrer Leute Kinder!"
Weiter ging die Fahrt. Rascher, immer rascher. Von hinten drangen dicke Staubwolken in den Wagen, bedeckten die Gesichter mit einer grauen Puderschicht. Das Auto musste halten, ein Zug fuhr gemächlich über die Chaussee. Karl sprang als erster vom Wagen und brüllte: „Absteigen! Pinkelpause!"
Die Jungens blieben gleich am Wagen stehen. „Meine Herren, det wurde ooch Zeit. Junge, hat mir die Blase jedrückt!" Die Mädels schlichen sich abseits in ein kleines Gehölz.
Nachdem der Zug vorübergekeucht war, ging es weiter.
Die Kleine stand wieder auf, sie wurde im Sitzen doch zu sehr durchgeschüttelt. Teddy, der hinter ihr stand, zog sie kameradschaftlich an sich: „Weine nich, Du armes Kind, komm an meinen Busen!" Sie legte ihren Kopf an seine Brust. So war die Fahrt auszuhalten.
Die Räder schleuderten kleine Kieselsteine an die Schutzbleche. Die Chausseebäume rasten vorüber, von vorn schrie einer: „Kinder, sechzig Sachen die Stunde!"
„Sag ma dem Chauffeur, Trude is schwindlig jeworden, sie will lieber mit ein Roller fahren."
„Ach Du! Wejen mir kanns noch schneller jehn", erwiderte Trude behäbig, sie bekam den Mund beim Sprechen nicht mehr auseinander. Den ganzen Tag hatte sie an der Schreibmaschine gesessen und war jetzt schrecklich müde. Aber die andern waren noch lustig, unterhielten sich leise, rauchten oder machten Witze
„... Sagt der Olle: ,nu hau doch zu, Peter' — Peter lief langsam um sie herum, wie ein kleiner Köter, und sagte: ,wer mich schwer hüten, kost mich ja sechzig Taler!'...."
„Fangt Ihr schon wieder mit die ollen Schweinereien an?"
„Sind doch keine Schweinereien, Mädel. Das hat sich wirklich zugetragen, ich hab doch die Lampe gehalten."
Erich stand neben Elly. Ihr Kopf reichte gerade ein kleines Stück über seine Schulter. Er spürte ihren Körper durch die Windjacke und merkte, dass sie sich ganz ungeniert an ihn anlehnte. Sie rauchten beide.
„Ist gut, so eine Zigarette, nich Erich?"
„Ja. — Aber warum Du rauchst, verstehe ich nicht. Hast Da denn etwas davon?"
„Hm. Warum soll ich nicht rauchen? Ich habe wahrscheinlich den gleichen Genuss wie Du."
Darauf wusste er nichts zu antworten. Bei jedem Zug, den sie an der Zigarette machte, glomm ein roter Schein über ihr Gesicht. Die scharfen Konturen traten dann deutlich hervor, und sie erschien schöner als sonst. Umständlich zerdrückte sie den Stummel.
„Frierst Du nicht', nur in dem Hemd, Erich?"
„Doch, aber nicht sehr."
Sie zog ihre Windjacke aus. „So. Damit decken wir uns beide die Schultern zu." Mollig war es unter der Windjacke, Er merkte, wie sie ihren Arm um ihn legte, und kam sich vor wie ein unbeholfener Junge. Ihm war sonderbar zumute. Eine Freude stieg in ihm hoch, die er bis dahin nie gekannt hatte. „Bist ein guter Kerl, Erich."
Hin und her, hin und her schaukelten die Körper. Erich musste an eine Szene im (Panzerkreuzer Potemkin' denken: wie der Offizier die Schaukelbewegungen der hängenden Tischplatten im Speiseraum nachahmte...
„Wie lange werden wir noch fahren?"
„Vielleicht eine halbe Stunde", antwortete Ernst.
Die Stimmung wurde immer schläfriger.
Einer kroch schimpfend auf den Knien herum und suchte seinen Brotbeutel. „Wenn ich doch bloß wüsste, wo mein Brotbeutel ist. — Mensch, wer hat ihn? Dem reiße ich die Gedärme aus dem Leib . . ." Der strohblonde Teddy drehte sich halb um, hinter ihm hing an der Verdeckstange ein Brotbeutel.
„... Mein Brotbeutel mein Brotbeutel! Und da sind zwei Eier drin! Ungekocht. Wenn i . doch bloß wüsste..."
„Ach, hör auf! Hier hängt er ja."
Ernst erzählte in einem fort, Glaubhaftes und Unwahrscheinliches, „. . . Ach so, Genossen, ich wollte Euch ja noch etwas erzählen. Da, wo wir jetzt hinfahren, ist in der Nähe ein großer versumpfter See. Rundherum leben in großem Elend kleine Fischer. Ein alter Mann fuhr abends allein raus, Aalschnüre legen. Dabei ist er ertrunken. Seine beiden Söhne fischten nach ihm drei Tage und fanden ihn am vierten. Aber Herrgott, wie sah der Alte aus: überall an ihm hatten' sich dicke Aale fettgefressen. So dick wie mein Arm. Da sagte der eine Sohn zu dem andern: ,Du, den Alten schmeißen wir wieder rein. Das wird ein gutes Geschäft.' Der andere war einverstanden, und sie banden dem Alten eine Leine um den Bauch. Jeden Abend zogen sie ihn ans Ufer und hatten immer zwanzig Pfund Aale... "
„Lüge doch nicht!" rief kreischend die kleine Grete.
„Doch! Ist wahr. Die Genossen aus Langendorf haben es mir selbst erzählt, Du kannst ja dort fragen. Fechter hieß der Fischer."
„Aeh, brrr. Da freß ich keene Aale mehr."
„Das ganze Essen versaut der einem."
Nach dreistündiger Fahrt hielt der Wagen plötzlich mitten auf der Chaussee. Vor dem Kühler standen sechs verwegen aussehende dunkle Burschen.
„Haut doch die Bande auf den Kopp! Los, weiterfahren!"
„Ruhe, Ruhe! Hab nich so eine große Fresse, Männe. Los, absteigen, wollt Ihr noch weiterfahren?"
„Ach, Ihr wolltet uns wohl einen Schreck einjagen. Ihr Schleimscheißer? Euch hätten wir... "
„Alles absteigen!"
Verschlafen räkelten sich die Genossen vor dem Wagen, gähnten und bewegten komisch Arme und Oberkörper.
Im Arbeitersportlokal brannte noch Licht, Leute standen vor der Tür, etwa fünfzig Mann warteten im Gastzimmer. Von den Berlinern brüllte einer: „Wir begrüßen die Langendorfer mit einem dreifachen, kräftigen..."
Eine harte Pfand legte sich auf seinen Mund, und jemand sagte: „Nicht doch, nicht doch, Mensch!"
„Mein Gott, beklecker Dir man nicht!"
„Schläft doch schon alles. Warum seid Ihr denn nicht früher gekommen?"
„Ja, unser Flugzeug war im letzten Moment kaputtgegangen, da mussten wir mit unserem Wagen fahren, hat aber durchgehalten, das gute Vieh."
Jeder Langendorfer wollte Einquartierung haben. Ein braungebrannter riesengroßer Jugendgenosse saß an einem Tisch und verteilte die Berliner.
„Mir ein Mädel und zwei Jungens!"
„Mir einen Musiker!"
„Was wollen Sie denn, Mutter Schulze, das Ist doch nicht der RFB. Musik ist nicht mit."
„Ach, schade!"
„Mir einen Genossen!"
„Mir auch einen!"
„Und mir auch!"
„Schluss, ist keiner mehr da. Also hört mal her, Berliner! Morgen früh um neun treffen wir uns hier zur Agitation."
„Wat, steht Ihr denn in det Kaff so früh uff?"
„Halt doch mal Dein Maul!" Und Karl fügte hinzu: „Die Funktionäre treffen sich gemeinsam mit den Langendorfern um acht Uhr hier zu einer Vorbesprechung. Den Genossen empfehle ich, recht früh aufzustehen, in der Nähe ist ein wunderbarer See zum Baden."
„Da, wo die Leiche rum schwimmt?"
Viele Menschen mussten ohne Einquartierung umkehren, sie waren ärgerlich darüber. Eine verhutzelte, freundliche Frau schimpfte: „Und ich habe einen Eimer voll Kartoffelsalat gemacht. Und jetzt habe ich bloß einen."
Erich kam zu Mutter Schulze. Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn wie einen Schuljungen, der vom Lande in die Großstadt zu Besuch gekommen ist. Vor einem kleinen Häuschen machte sie halt.
„So, da wohne ich. Mein Mann ist Nachtwächter, der kommt noch. Das hier sind alles Gemeindehäuser."
Im zweiten Stock schloss sie eine Tür auf. „Komisch, die Luft hier", dachte Erich, „gar nicht wie auf dem Lande." Man kam gleich in die Küche. In einer Ecke stand ein altertümlicher Herd aus rohen Backsteinen. Ein schwarzer Kater kam schnurrend geschlichen und fuhr schmeichelnd mit dem Kopf über Erichs Waden. Von der Decke war stellenweise der Kalk abgeplatzt, durch die Wände drang schimmelnde Feuchtigkeit. Die elektrische Birne brannte düster wie in einem Berliner Pissoir.
„Hast Hunger, Junge?"
„Nee, ich hab gegessen."
„Nu, nu, Du wirst doch noch was vertragen! Einen Kaffee und ein paar Wurststullen... "
Sie stellte alles vor ihm auf den Tisch. Langsam begann er zu essen. Die Wurst war gut.
„Ist selbst geschlachtet. Von meinem Bruder. Mein Mann hat sie heute geholt"
Erich wurde heiß, seine Kehle brannte, und er hörte einen Moment auf mit Kauen. Die Alte schaute ihn unentwegt an.
„Kennst Du den Otto Mirke aus der sechsten Abteilung?"
„Nee, Berlin ist ja- so groß, Frau Schulze."
„Ach, das war ein feiner Junge, der schreibt mir noch immer. Wenn Du ihn mal siehst, grüß ihn von mir. Er war Trompeter und konnte gut blasen. Was waren das für Kerls damals... "
Schwere Schritte tappten von unten herauf, ein vermummtet Mann trat ein.
„Da seid Ihr ja. Ich habe Euch gar nicht kommen hören. Hast Du Deine Trompete hier?"
„Nicht doch, Vater, die haben doch keine — Du musst nämlich wissen, Junge, mein Mann war Trompeter bei den Preußen."
Der Alte war erst ein bisschen enttäuscht, doch dann taute er auf. Sein ruhiger, fast harter Blick prüfte Erich. „Was macht Ihr denn in Berlin? Geht’s noch nicht bald los? Sind die Sozialdemokraten noch immer so stark? Und wie ist denn das mit den Kirchen, stürmen die Kommunisten immer noch rein? Das ist es eben, damit bin ich nicht einverstanden..."
„Was? Kirchen stürmen? Davon weiß ich nichts, und es stimmt auch nicht. Es wird wohl eifrig Propaganda gemacht gegen die Kirche, aber Stürmen — nee, das stimmt nicht. Wo haben sie denn das her?"
„Jo, det les ick in unsern ,Volksfreund'. Unser Sonntagsblatt. Da steht det all drin. — Also stimmt wohl nich, wat, Junge?"
„Nee, stimmt nich. Es ist doch klar, dass man die Landbevölkerung falsch unterrichtet, um kein Bündnis zwischen Stadt- und Landarbeitern Zustandekommen zu lassen."
„Das kommt zustande, Genosse. Du siehst doch, wir machen den Anfang. Wenn wir ooch noch nich so weit sind, wie Ihr. Aber es kommt zustande! Na, gute Nacht! Du wirst müde sein, und ich muss jetzt gehen."
Herrlich hatte Erich geschlafen in dem alten, molligen Bauernbett. Er streckte sich wohlig, dass die Glieder knackten, eine originelle Kuckucksuhr an der Wand schlug acht Uhr. Er sprang aus dem Bett und zog sich rasch an, Frau Schulze kam von unten mit einem Eimer Wasser heraufgekeucht. Gemeinsam tranken sie Kaffee. Erich musste unbedingt ein paar Stullen für unterwegs mitnehmen.
„Um zwölf Uhr essen wir. Dann wirst Du meinen Mann wieder sehen."
„Was, Mittagessen? Na ja, ja. Ich werde hier sein."
Die Funktionäre und zwei Mann von der Stoßbrigade saßen im Hinterzimmer des Arbeiterlokals. Der große, braune Langendorfer Kerl leitete die Sitzung. Er sprach unsicher, weil er sich einbildete, die Berliner könnten alle besser sprechen. Er gab einen kurzen Überblick über die Arbeit im Ort, alle hörten aufmerksam zu. Trude, die Kassiererin der Gruppe ,Nostizstraße' kritisierte stark die schlechte Betriebsarbeit.
„Ja, na ja, Genossin, Du hast schon recht. Aber wir haben keine Mittel. Man muss doch außer all den Broschüren lokales Material haben. Ein Genosse von Euch ist mit dem Rad nach Frankfurt gefahren und hat dort die Betriebszeitung abgezogen. Gestern morgen wurde sie verteilt. Es ist die erste in der Jutespinnerei, und sie hat eingeschlagen wie eine Bombe, in der Frühstückspause hat alles über die ,Rote Knute' diskutiert. Wir müssen die Zeitung auf alle Fälle weiter herausbringen. Aber wie?"
„Schön, dann mache ich den Vorschlag", sagte Trude, „dass der Überschuss der Broschüren und Zeitungen, die wir bei der Agitation nachher verkaufen, der Ortsgruppe zur Verfügung gestellt wird. Sie kann sich dann einen Apparat kaufen und die Zeitung herausgeben."
„Eine alte Schreibmaschine haben wir hier."
„Na, seht ihr!"
Etliche Berliner Leute protestierten, aber nur versteckt. Sie murmelten, trauten sich aber nicht, offen zu widersprechen. Trude schlug so energisch auf den Tisch und bestand so nachdrücklich auf ihre Forderung, dass sie damit jeden Widerstand brach. Die Langendorfer freuten sich, und Trude hatte sofort ihre Sympathien gewonnen.
Der Braune fuhr fort, schon etwas sicherer geworden: „Wir stellen fest, dass Eure Stoßbrigade gut gearbeitet hat. Alle unsere Genossen sind begeistert, wir haben Irischen Mut bekommen und nehmen an, dass später die Arbeit noch besser vorwärts geht. Wir versprechen Euch, jetzt wirklich zu arbeiten. Die Demonstration ist vorbereitet durch Handzettel, kleine Plakatstreifen, und auch die ,Volkswacht' hat dazu aufgerufen. Zu unserer Unterstützung kommen heute mittag fünfzig Küstriner Genossen. Es ist notwendig, dass nachher beim Materialverkaufen nochmals darauf aufmerksam gemacht wird: Heute nachmittag zwei Uhr auf dem Marktplatz! Da wir mit Überfällen auf Gruppen von Lileraturverkäufern rechnen, schlage ich vor, fünf Mann im Lokal zu lassen. Für den Fall der Fälle."
„Schön, habt Ihr einen Referenten bestellt?" „Ja, natürlich. Ist alles gemacht, Genosse Karl." Hinten am Ofen saß ein kleiner Langendorfer Genosse mit Stupsnase in einem echten Bauerngesicht. Er trat an den Tisch heran und begann umständlich, aber mit wohlklingender Stimme zu sprechen: „Hört mal her, Berliner! Ihr quatscht immer so viel vom Bündnis zwischen Stadt und Land. Schön. Ihr verlangt auch von uns, dass wir diese und jene Arbeit durchführen. Auch schön. Das tun wir ja auch. Deshalb sind wir ja Kommunisten. Aber es genügt nicht, wenn ihr alle Jubeljahre mal hier rauskommt. Ihr könnt Euch gar keinen Begriff machen, welche Schwierigkeiten, wir hier haben. Hier ist eine verflucht schwarze Ecke. Wenn die Leute auch nicht mehr so wie früher in die Kirche rennen, aber der Pfaffe ist ihnen alles. Dann die Gutsbesitzer. Sie üben den schlimmsten Terror aus. Außerdem ist unsere Position in der Jutespinnerei sehr schlecht und unsere Ortsgruppe schwach. Der Genosse Hans sitzt jetzt, das wisst Ihr ja, und seitdem er weg ist, gebt bei uns alles schief. Wir werden natürlich, wenn Ihr wieder Tort seid, mit verstärkten Kräften an die Arbeit gehen. Das ist klar. Aber zum Donnerwetter, macht uns doch mal Vorschläge! Ihr habt doch mehr Erfahrung als wir."
Die Berliner nickten Zustimmung. Karl zerpolkte langsam einen Bieruntersatz zu kleinen Fetzen, Theo überlegte. Er wollte gerade zu sprechen anfangen, da kam Trude ihm zuvor. Jeder beobachtete sie gespannt. Ihre etwas dicken Finger schlugen auf den Tisch den Takt zu ihren Worten:
„Ja, Genossen, ich habe mir folgendes überlegt: wenn wir von hier zwei bis drei Leute mit nach Berlin nehmen, ungefähr für vier Wochen, und zwei bis drei Berliner vier Wochen hier lassen könnten, das wäre eine feine Sache. Unsere Genossen könnten ihre Erfahrungen hier im Dorf sehr gut praktisch verwerten, und sie kommen als Landspezialisten zurück. Die Langendorfer machen bei uns eine gute Schule durch, wir werden sie natürlich nach Möglichkeit ausbilden und mitnehmen zu unseren Wochenendschulen. Ich glaube, das lässt sich bei guter Organisation sehr leicht durchführen. In Frage kommen natürlich nur arbeitslose Genossen. Stempeln, Geldholen, wenn sie noch etwas bekommen, ist kein Problem. Das können andere machen während dieser Zeit. Und Schlafgelegenheiten müssen eben geschaffen werden!"
Eine Weile war es still. „Die Trude ist doch ein Kerl" dachten die meisten. Stühle wurden gerückt, und der kleine Bauer steckte sich eine mächtige Tabakspfeife an. Er schmunzelte, machte ein paar Züge und platzte dann los;
„Siehst Du, das wär was. Ja, das wär was."
Der Braune meinte so leichthin: „Ich werde Euch was sagen: bei uns gibt’s keine Schwierigkeiten! Da will unsere ganze Ortsgruppe nach Berlin. Und drei Berliner verpflegen wir, und Schlafgelegenheit ist auch vorhanden."
Jetzt wurde es unruhig im Raum. Karl ging raus und kam mit einer Flasche Seiter zurück. Trude sah eindringlich von einem zum andern.
„Ja, ja, ist sehr nett. Wenn das so ginge... "
„Warum soll’s denn nicht gehen?"
„Ich meine nur so... "
Karl zuckte ein paar mal die Achseln. Er goss sein Glas voll und trank Schluck für Schluck. Er machte den Eindruck, als hätte er schwere Bedenken. „Ist gut, der Vorschlag", sagte er dann, „wirklich sehr gut. Ein Auswechseln der Kräfte. Sehr gut. Aber es ist auf alle Fälle ein Experiment. Wir haben da keine Erfahrung drin."
Da polterte Theo los: „Unsinn. Quatsch! Was heißt denn Erfahrung? So müssten wir immer reden bei der Schaffung neuer Arbeitsmethoden Hier liegt doch alles klar auf der Hand. Trude hat uns da einen guten Vorschlag gemacht und gleichzeitig gezeigt, wie man ihn durchführen kann. Ich weiß genau, dass wir mindestens drei Genossen haben, die dafür in Frage kommen. Die Langendorfer werden wir schon unterbringen, das sind wirklich keine Schwierigkeiten. Jeder Genosse muss damit unbedingt einverstanden sein."
„Sind wir ja auch alle."
„Natürlich. Da kann doch keiner was dagegen haben."
„Und Du, Karl?"
„Was denn? Ich bin natürlich prinzipiell damit einverstanden,
weiß aber nicht, ob es prinzipiell richtig ist... " „Was redest Du heute nur für einen Unsinn?" „Ja, man merkt, es ist schon wieder sehr warm." An den Fenstern zeigten sich Gesichter. Erst vereinzelt, dann
immer mehr. Schließlich wurde an die Scheiben getrommelt und
gebrüllt:
„Los, der Stab soll rauskommen!"
„Wir verlangen auch von Euch Pünktlichkeit!"
„Na los, gehn wir."
Der Kleine, der aussah wie ein Bauer, tanzte um Trude herum, schlug sie klatschend auf den Hintern und lachte dabei.
„Dufte, Mädel. Du hast von mir direkt einen Kuss verdient. Ich komm mit, ich komm mit nach Berlin... "
„Na komm, gib mir einen!"
Jetzt traute sich der Kleine auf einmal nicht...
Rasch wurde draußen das Werbematerial verteilt. Immer in Gruppen zu vier Mann ging es los. Zu jeder Gruppe gehörte ein Langendorfer als Führer. Standen auf beiden Seiten der Straße Häuser, teilten sich die Gruppen wieder. Erich lief mit Theo. Sie hatten vorwiegend kleine Bauernhöfe zu bearbeiten.
„Guten Tag. Hier ist eine Broschüre, die Sie sicher interessieren wird: ,Das Bauernhilfsprogramm der KPD.' "
„Unser Herr ist nicht zu Hause. Ich kann nicht."
„Nu, dann kaufen Sie doch!"
„Och, lesen? Nee! Haben Sie nicht etwas, wo Bilder drin sind", sagte die große, starke Dienstmagd.
„Ja, natürlich. Hier haben Sie die ,AIZ.' Und kommen Sie heute um zwei Uhr auf den Marktplatz!"
„Was ist denn da los?"
„Versammlung und Demonstration."
„Tanz is woll nich?"
„Nee", sagte Theo lachend, „dazu sind wir nicht hergekommen, hübsches Fräulein."
Sie stießen überall auf Misstrauen. Ein alter Bauer schrie sie an:
„Raus hier! Raus hier! Ihr habt uns genug verraten mit Euren Notverordnungen, ihr Sozis!"
„Die sind wir doch gar nicht. Wir sind Kommunisten."
„Das ist doch alles dasselbe, die machen doch alles zusammen mit den Sozialdemokraten."
„Ach wo!"
Theo debattierte mindestens eine Viertelstunde mit dem Bauern, schließlich kaufte er eine Broschüre und versprach zum Marktplatz zu kommen.
In einem kleinen Häuschen kamen sie gleich vom Vorgarten in die Küche. Eine Frau rührte geschäftig im Kochtopf herum und rief: „Karl, komm doch mal her, die Kommunisten sind da." Karl kam in Filzpantoffeln, er lächelte und kaufte gleich eine Broschüre und ein Exemplar der „Jungen Garde".
Nach ungefähr zwei Stunden hatten die beiden alles verkauft bis auf eine Zeitung. Die bezahlte Theo aus seiner eigenen Tasche und schenkte sie einem jungen Melker.
Die Genossen waren schon alle zurück. Trude saß im Garten an einem Tisch und nahm das Geld in Empfang, neugierig standen die anderen um sie herum. Nach einer Weile sprang sie auf:
„Wir haben alles verkauft. Es ist viel zu wenig mitgenommen worden. 215 Broschüren, 50 ,AIZ' und 175 ,Junge Garden'. Die Stoßbrigade hat auch gut verkauft: 180 Broschüren, 30 ,AIZ' und 85 ,Junge Garden."
Die Genossen zerstreuten sich allmählich, froh über diesen schönen Erfolg
Trude rechnete weiter: „Wir haben einen Überschuss von 21 Mark. Also können wir der Ortsgruppe 20 Mark geben. Die eine Mark behalten wir für unsere Kasse."
„Schön!" sagten Theo und Karl gleichzeitig, dann schoben die drei untergefasst los.
Um ein Uhr trafen sich die Genossen zur Demonstration. In aller Eile waren große rote Transparente gemalt worden, für die Spitze des Zuges die Losung der russischen Bolschewiken: ,Alles Land den kleinen Bauern! Aufteilung der großen Güter, Kampfbündnis zwischen Stadt und Land!', für das Ende: ,Der Kommunismus will nicht den Reichtum abschaffen, sondern die Armut.'
Die Küstriner kamen mit Gesang anmarschiert, der Zug begann sich zu formieren. Eine riesige rote Fahne flatterte hoch über den Demonstranten, schloss sie zur Einheit zusammen.
„Links, links, links und links,
Die Trommeln werden gerührt.
Links, links, links und links.
Der rote Kreuzberg marschiert!"
Kurz hinter der Spitze des Zuges marschierte Erich. Er drückte Karls Arm.
„Du, das ist ein komisches Gefühl, das Marschieren."
„Ja, Erich, ein herrliches Gefühl."
Der Zug zog durch das ganze Dorf. Aus den Fenstern der Arbeiterwohnungen grüßten kernige Fäuste und Kinderhändchen. Immer mehr Menschen schlossen sich den Demonstrierenden an. Von vorn kam der braune Genosse gerannt und meinte: „Das hat Langendorf noch nicht gesehen!"
Hin und wieder im Chor ein Ruf:
„Nieder mit der Regierung Brüning!"
„Bauern aufgepasst! Junge Kommunisten sagen: Nur der Sozialismus kann Euch retten!"
Immer weiter. Die Sonne brannte, Staub wirbelte auf. Immer weiter: „Links, links, links und links...."
Plötzlich kam der Gendarm angerannt. Er stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor den Zug und schrie mit heiserer Stimme: „Halt! Halt! Die Demonstration ist nicht angemeldet! Halt! Halt!"
Jemand packte ihn unter den Armen und stellte ihn beiseite.
Weiter wogte der Zug. Der Gendarm staunte viel trauriger als sonst hing sein Bart nach unten. Sein Hund wedelte mit dem Schwanz, bellte und lief in eiligen Sprüngen neben dem Zug her Die Berliner und die Küstriner sangen abwechselnd.
„Wir sind die erste Reihe,
Wir gehen drauf und dran!
Wir sind die junge Garde,
Wir greifen, greifen an!"
Am Marktplatz machten die Demonstranten Halt. Viele Leute standen da, neugierig und unschlüssig. Zögernd kamen sie näher, scharten sich um den schnell aufgebauten Rednertisch. Aufgeregt kam der Braune gerannt: „Mensch, ich finde den Referenten doch nicht!"
„Der wird noch jarnich da sein!"
„Helft doch suchen!"
„Wir wissen ja nicht, wie er überhaupt aussieht."
„Ist es nicht der da mit dem Hut?"
„Wer? Der Pausbäckige da? — Das ist doch der Inspektor von dem Gut."
Unschlüssig standen sie eine Weile da. Die Leute brachten in großen Eimern Trinkwasser.
„Karl, Du musst sprechen!"
„Ich, Theo? Ich kann nicht, ich bin heiser..."
„Ach Gott, Du Schlappschwanz! Schön, dann gehe ich..."
Theo sprang auf den Tisch. Er begrüßte die Massen:
„Wir Jungkommunisten aus der Stadt begrüßen die Arbeiter, Bauern und Landarbeiter mit einem kräftigen Rot Front!"
Dreimal schallte der Kampfruf über den Platz. Dann sprach Theo weiter, erst stockend, dann immer lebhafter, seine Stimme wurde klarer. Er sprach über das Bauernhilfsprogramm der KPD., über Russland und den Sozialismus. Oft wurde er von erregten Zurufen unterbrochen. „Jawohl, schlagt endlich zu, wir machen mit!"
Auch der Gendarm hatte sich wieder eingefunden und kreiste in großem Bogen um die Menge.
Nach Theos Rede sprach der Braune in seiner harten, bäuerischen Sprache:
„...Jawohl, gerade bei uns in Langendorf kommt alle Wochen der Gerichtsvollzieher und holt manchem die letzte Kuh aus dem Stall. Die Sozialdemokraten haben Euch verraten. Ihr habt Hitler gewählt, Hitler hat Euch die Revolution versprochen, Hitler denkt heute nicht mehr daran. Hitler braucht keine Revolution zu machen, um den Faschismus einzuführen, denn was heute ist, das ist der brutale Faschismus. Schluss damit! Es gibt nur eins: Kampf, Kampf und nochmals Kampf! Der Kleinbauer gemeinsam mit dem Industriearbeiter, dem Erwerbslosen. Kein Kampf, kein Widerstand, das bedeutete noch mehr Elend, hieße Untergang in Barbarei!"
„Bravo, bravo!"
Lange noch, nachdem die ,Internationale' verklungen war, standen die Genossen in kleinen Gruppen mit der Bevölkerung zusammen und debattierten. Drei junge Landarbeiter füllten Aufnahmescheine für den Jugendverband aus.
„Die wollten schön lange kommen. Heute endlich kamen sie; War gut der Aufmarsch, sehr gut."
Als die Berliner abfuhren, war der Wagen von vielen Menschen umringt. Frau Schulze brachte Erich noch ein paar Stullen und einen großer. Strauß roter Nelken. „Und seh zu, dass Du den Otto Mirke triffst." ..
„Kommt bald wieder, Berliner!"
„Ja, aber feste. Hauptsache: Ihr lasst nicht nach, bei uns ist alles in Butter."
Drei Genossen aus Langendorf fuhren mit, der kleine Bauer mit der großen Tabakspfeife und noch zwei starke Burschen mit gebräunten Gesichtern.
Leise surrte der Motor, endlich sprang der Wagen an. Der Gendarm atmete auf und lief zum Telefon...
„Rot Front Genossen!" — „Rot Front! Rot Front!" Auf der Fahrt wurde wenig gesprochen. Der Bauer machte mit seinem Tabaksqualm die Bude blau und wurde ganz nach hinten geschoben. Erich hatte die Nelken hochgehangen. „War aber schon ziemlich alt, Deine Braut."
„Ja, aber wie sollte sie anders ihre Freude ausdrucken..."
Kurz hinter Kaulsdorf stand ein Radfahrer quer auf der Chaussee. Mit einem Ruck hielt der Wagen.
„Was ist denn los?"
„Seid Ihr KJ.?"
„Ja, warum denn?"
„An der Friedrichsfelder Brücke steht ein Überfall, die wollen Euch abfangen."
„So, dann fahren wir eben links über Karlshorst. Danke schön!"
„Rot Front, Genossen!" Der Radfahrer verschwand wieder.
Leise und vorsichtig schlichen um elf Uhr abends die dunklen Gestalten aus der Garage heraus. Die Straßen waren wenig belebt.
Erich lief mit Elly gemeinsam nach Hause. Vor ihrer Haustür blieben sie stehen, fest und warm sahen sie sich an. Er nahm ihre Hand. „Du, Du — Elly, ich muss Dir was sagen." — „Quatsch, ich weiß schon. Komm mit rauf, ich habe ein eigenes Zimmer." Erich liebte das Leben wieder.
Es war wieder ein sehr warmer, drückender Abend. Über der Stadt Gewitterstimmung. Die Nostizstraße lag lauernd da, wartete auf Regen und ihre Häuser verschmolzen mit dem Himmel zu einem einzigen, grau-trüben Ton. Im schwermütigen Licht der hereinbrechenden Nacht brach sich hoffnungslos der Schein trüber Gasfunzeln. Es gab keine Laternenanzünder mehr. Die meisten von ihnen moderten wohl schon auf den Friedhöfen, und nachts leuchteten Glühwürmchen auf ihren armseligen Grabhügeln. Mit einem kleinen, ganz stillen — Peng — entzündeten sich die Laternen automatisch. Man musste dicht daran stehen, um es zu hören.
Vor vier Tagen war der kleine Karl Danna gestorben. Er sah ganz weiß aus und seine Mutter hatte sich über ihn geworfen. „KALLI, Karlchen! Bleib doch hier ... Geh doch nicht in den Himmel! Bleib bei Muttern... . Du bist jetzt ein Engel... "
Und dann hatte sie gebrüllt. Ihre Augen klammerten sich an den toten Körper des kleinen Karl und sahen nicht die langsam hereinschleichenden Frauen. Die kamen ganz leise die vier Treppenstufen zur Kellerwohnung herab, brachten einen warmen Geruch mit, den der Moder auseinandertrieb, wie eine Seifenblase. Alle pressten den Mund zusammen und dachten nach. Einige legten die Hand unters Kinn, als ob sich da ein Spitzbart befände. Manche waren auch neugierig, wie sieht ein in der Kellerwohnung verrecktes Proletenkind aus? Natürlich, wie ein Engel. Aber darum stritten sie nicht sehr laut. Eine schwangere Frau, verkümmert und mit toten Augen, drückte ihm eine rote Rose in die Hand, früher hatte diese kleine, durchsichtige Hand mit Murmeln zwischen Müllkästen gespielt. Karl Danna starb. — Aber es gab ja noch mehr kleine Kinder. Noch viel, viel mehr spielen auf den düsteren Höfen der Nostizstraße. Die Frau trug ein Kind im Leib. Noch viel mehr Frauen der Nostizstraße tragen Kinder im Leib. Und alle sterben nicht so früh. Sie kommen zur Schule, werden zum ,Ja' sagen erzogen. Manche bekommen dann Arbeit, manche nicht Und dann stehen sie vor den Haustüren und warten. Sie warten immer auf irgend etwas. Und ihre Sehnsüchte zerfressen die Seele, stiften Verwirrung und schwächen den zermürbten Organismus. Es kommen immer mehr und mit ihnen kommen neue Winde.
Vom Tod des kleinen Karl sprach man in vielen Häusern. Die Stimmen senkten sich, waren ängstlich und traurig. Die Frau mit dem Wuschelkopf lief mit dummem Gesicht in der Küche umher. Ihre Nachbarin war bei ihr.
„...Ich kann das immer noch nicht begreifen. Die Mutter eine so starke Frau. Wischt die Treppe, scheuert und macht... Und dann ist sie noch vom Lande. Hat immer kräftig gearbeitet. Hat Muskeln die Frau... "
„...Ja, sie ist stark. Hat viel gearbeitet. Aber eben deshalb. Als sie mit dem Karl ging, zwei Tage vorher, hat sie Schnee gefegt. Da ist sie umgefallen morgens um fünf... "
Frau Mädicke strich sich die fettigen Finger an ihrem Busen ab und tanzte vor ihrem Mann hysterisch auf und ab. Der Mann war ja so schwach, er dachte nie. Alles musste so sein, bloß seine Frau konnte er nicht begreifen. Und dabei war das alles so einfach. Bloß im Bett war er der Schwächere, schlief immer gleich ein. Und das zahlte sie ihm zurück mit böser Zunge.
„Ist ja kein Wunder. Kein Mensch passt auf das Kind auf. Den ganzen Tag alleine. Den ganzen Tag... '
„Ach, hör auf. Ich will nicht hören, was in der Straße vorgeht. Meinetwegen können sie alle krepieren... "
„Soo! — Und wer hat mir denn hergebracht in die Straße, hä? Du bist's doch gewesen, hast Männchen gemacht, eine Blume im Knopfloch gehabt. Ja. Und denn; kommen Sie man, Fräulein. Himmel, was hat der Mensch einem alles vorgeschwindelt. Und nu haust man hier in so ein dreckiges Loch. Er will aber nischt wissen, von dem Dreck. Soo!"
„Ach!"
Seine Brust hob sich einen Moment und fiel dann wieder schwach zusammen. „Hör auf. Ich kann nicht dafür. — Was gehen mich anderer Leute tote oder lebende Kinder an? Wir haben keine."
„Nee. Gott sei Dank. Wir haben keine. Von Dir nicht, von Dir nicht, Du, Du, Du . . ,"
Und oben vier Treppen bei Schades unterhielt sich die Mutter mit ihrem Sohne.
„Der arme Bengel Jetzt wird er nicht mehr heulen. Schade um ihn. Aber vielleicht ist es ganz gut, dass er weg ist. Wer weiß, was er alles durchmachen müsste ... . Ist aber doch traurig. Jeden Tag trifft man ihn auf dem Hof. Und nun sieht man ihn einfach nicht mehr. Jetzt liegt er da irgendwo... "
Theo hatte es wieder eilig. Aber er blieb doch länger sitzen und sagte ganz ruhig:
„Ach Mutter, werde doch nicht sentimental. Der Tod ist doch eine Selbstverständlichkeit." Genau so wie eine Geburt. Warum soll man da trauern? Eins ist morsch, wird irgendwie zerschlagen, und das andere frische, ist wieder da, kräftiger und besser. Das ist so wie mit der Gesellschaft... Aber die Wut kann einen packen, wenn man sieht, unter welch erbärmlichen Umständen der arme Deibel krepiert ist. Nicht weil er alt war, weil seine Zeit ran war, sondern einfach, weil seine Mutter kein Geld hatte für seine Kleidung. Weil der Junge nie Milch und immer nur ein Stück verkrüppelter Sonne gesehen hat. Und dann da unten in der Kellerwohnung. Das geht vielen so. Millionen Proleten krepieren in den Hinterhöfen der Großstädte an Tuberkulose, an Krebs, vor Hunger, einfach weil sie kein Geld haben zu ihrer Gesundung. Und im kapitalistischen Staat ist das Geld notwendig dazu... Wenn einer so verreckt, wie der kleine Karl da unten, dann ist das keine Selbstverständlichkeit, sondern einfach die brutale Tatsache, dass die bürgerliche Gesellschaft nicht in der Lage ist, zu helfen. Für uns ein Grund mehr zum Hass... Das bisschen Säuglingspflege und Mutterschutz ist doch bloß Schwindel. Nicht etwa aus christlicher Nächstenliebe oder Menschlichkeit heraus ist sie geschaffen, nein, weil man doch später einen Teil gesunder Arbeitstiere braucht. Alles lassen sie nicht verrecken. Soviel, um die Produktion in Gang zu halten, müssen immer da sein. Und dazu können sie keine Krüppel gebrauchen... "
„Hast wieder mal recht, Theo. Aber es ist doch komisch. So ein sonderbares Gefühl... Uns Alten wird es ja schwer fallen, das so zu betrachten, wie Du. Aber Ihr, Ihr, Theo. Du und Deine Genossen..."
Und während die Mutter des toten Kindes zwischen bleichen Lippen, mit irrer Stimme wütende Gebete murmelte — Gebete, die so ungläubig klangen und gar keinen Trost bringen wollten —, stand drei Haustüren weiter die größere Jugend: Franz, Kater, Spinne, Gustav und die anderen. Auch Frieda war dabei. Sie hatte den Vorfall mit Gustav längst vergessen. Neben ihr stand ein verschmitztes rotblondes Mädchen. Sie standen da und wussten nicht, was sie anfangen sollten. Mit schelmischem Gesicht erzählte die rotblonde Edith ein kleines Rummelerlebnis.
„Kommt da so ein Otto mit Schülermütze und will mit mir angeben. Ob ick mit nachn Kreuzberg komme und ob wir Sonntag nach Wannsee fahrn wolln. Junge, hab ick den hochjenomm. Ick hab jesacht, er soll man erst seine Schularbeiten machen. Un dann hat er ne Fresse jezohjen un is jetürmt."
Sie zeigte beim Sprechen weiße Zähne wie eine Hündin. Kaum spürbare, hungrige Neugier auf das andere Leben klang aus ihren Worten. Gustav sagte mit einer gutmütigen Grobheit in der Stimme:
„Na, na. Wirst wohl doch verrückt gewesen sein auf den Pieper. Die Jungs haben Taschengeld, meine Liebe , . ."
Verstohlen kicherten die Jungen und Kater flüsterte Spinne etwas ins Ohr. Sie waren alle irgendwie verbunden. Alles schien so einfach bei ihnen. Einfach, grob und ehrlich. Ihre Gesichter waren alle aus einem Holz. Und das war früh gealtert. War stellenweise grün, und wenn man die Hand darüber hielt, leuchtete mattes, phosphorartiges Licht. Innen war es hart, kernig und unverbraucht. Nur die Herzen schmolzen bei dem geringsten warmen Atem. Aber das merkte man nicht so leicht: Die Brutalität verbarg alles Sanftmütige.
„Was wollen wir anfangen?"
Das wusste niemand. Was war denn auch groß anzufangen? Gustav war wütend auf Erich.
„Das Schweineaast lässt sich bei uns überhaupt nich mehr 6ehn... "
„Ist bei die Kommunisten, verstehste; oller Leunakämpfer geworden... "
„Alle Abend rennt er rum. Alle Abend, Mensch, mir würde det keen Spaß machen. Da ist man so gebunden."
Franz schüttelte eine Last von seinen Schultern. Mit einem Ruck war. es unten. Aber er spürte keine Erleichterung. Er dachte ganz anders. Aber das bisschen Halt konnte er nicht preisgeben. Wenn er jetzt bei denen nicht mehr der starke Franz war, dessen Wort das letzte und entscheidende ist, so war er verloren. Er spuckte aus und sagte giftig:
„Lasst doch die Affen. Rennen sich die Hacken ab. Wenn’s mal so weit ist, dann sind wir ja auch da. Wär mir schwer hüten, von so einem Scheißer, wie der Karl Langscheidt, befehlen lassen. —"
„Na ja, der Theo ist ooch da. Und der ist bestimmt anders."
„Wat heißt det? Natürlich. Ist ein knorker Bengel. Aber alle sind sie doch nich so... "
„Haben da ooch ein paar affige Mädels in ihre Gruppe. Deswegen wird er wohl bloß hingegangen sein... "
„Na, lass ihm. Gründen uns einfach ooch een Verein!"
Da. Bums! Natürlich fehlte bloß der Name. Jedem Deutschen einen eigenen Verein. Und Franz warf sich in die Brust. Jetzt war er dran, jetzt konnte er zeigen, dass nur er bis jetzt gefehlt hatte, um den Laden in Schwung zu bringen. „Schön, machen wir eine Klicke auf. Fahne: grün-weiß. Jeden Sonnabend gehts los. Alle Woche eine Sitzung und wir wissen gleich, was wir anfangen sollen . "
„Dufte, dufte", rief Spinne und tanzte von einem Bein auf das andere. Man muss doch irgendwie Kraft verbrauchen. Und in einer Klicke braucht man nicht einmal große Leistungen zu vollbringen. Da ist es so schön gemütlich. Viel gemütlicher werden sie es haben als die Bürger in ihren Kegelklubs oder Skatvereinen. Viel gemütlicher als die Bürger, die ihre Geilheit in einem Bordell am nackten Fleisch billiger Proletenmädels aufpeitschen. Viel gemütlicher wird es sein als in den billigen Cafes, wo Warenhausmädels mit 100 Mark Monatsgehalt schlechten Kaffee schlürfen und Konfektionsjünglingen, mit vom Chef geklauten Briefmarken in der Tasche, gurrende, alberne Blicke zuwerfen.
„Ja, gründen wir eine Klicke."
Warum sollten sie denn keinen Verein haben? Irgend etwas braucht doch der Mensch. Und da die Romantik den Flaum ihrer Seelen zerfressen hatte, tauchten tolle Namen auf. „Wie soll det Ding heißen?"
Da, die erste große Tat.
„Der Schrecken der Oase... .?"
„Wat, Du bist wohl blödsinnig? Det is doch keen richtiger Name."
„Na, denn... na denn... der blutige Speer?!"
„Ach, Quatsch."
„Recht schweinisch, aber gut muss er sein. Gut... "
„Klicke Aftersausen... ?"
„Lass Dir man nich eene anhauen, Du Aftersauser. Wenn Du Aftersausen hast, jeh ein paar Häuser weiter."
„Wat denn, solln da ooch Mädels bei sein?" fragte Gustav. Frieda wurde rot. Die andere lächelte nur und tat schnippisch. Sie spitzte den Mund.
„Na, denn nich."
„Warte doch mal. Ja, natürlich. Warum denn nich. Det wird doch überall so gemacht."
„Denn hätt ick nämlich een feinen Namen gehabt: Klicke Weiberschreck!"
„Gibs ja schon. Im Osten. Aber warum solln keene Weiber bei sein?" fragte erstaunt Kater und blinzelte Edith zu. Edith hatte, wie fast alle rotblonden Frauen, ein milchiges Gesicht. Aber wunderschöne, reine, beinahe durchsichtige Haut. Man möchte sie nicht küssen, aber ganz leicht mit dem Mund darüber fahren. Ganz leicht. Und dann die Haare ins Maul nehmen . . Jetzt hatte sie kleine, rote Flecken auf den Backen. Und unter der Unterlippe zeigte sich auf einmal ein lustiges Grübchen. So aufgeregt und eifrig war sie.
Franz tat ernst und senkte den Kopf wie ein böser Stier. Über seiner Nasenwurzel versuchten ein paar kümmerliche Fältchen Eindruck zu schinden. Alle warteten jetzt auf ihn.
„Passt mal auf: Edelsau! Klicke Edelsau. Ganz einfach. Ist nicht so säuisch und doch interessant. Sonntag machen wir die erste Fahrt. Sonnabend abend fahren wir los... '
„Wohin denn? Und bis dahin haben wir doch noch keine Fahne... .?"
„Muss mir noch überlegen, wohin. Die Fahne hat auch noch Zeit."
Ü ber den Namen waren die wenigsten erfreut und Gustav gab ganz offen seiner Enttäuschung Ausdruck.
„Ooch, Edelsau. Nee. Det jefällt mir nich, mein Lieber. Warum nich Apachenblut oder so ein Indianername?"
„Jibs schon. Allet schon da. Wir können doch nich so heißen, wie andere Klicken."
„Ja, aber Edelsau jefällt mir nich."
„Halts Maul. Wenn’s Dir nich jefällt, dann jeh, Du oller Stänkerkopp. Oder sag einen anderen Namen."
„Ich weiß keinen. Meinetwegen sagt Toppsau. Mir auch egal. Der Name spielt ja auch keine Rolle."
So unterhielten sie sich noch eine ganze Weile. In ihnen schmorte der Groll, der Überdruss, die Liebe, von der sie selbst nichts wussten und der Hass, fürchterlicher Hass gegen alles, was nicht um sie war. Ihre Gesichter verrieten stummes Genießen und sie freuten sich.
Ein helles Trompetensignal drang vom Hof auf die Straße. Hinterher hörte man jemand laut und kurz sprechen. Die Worte schlingerten sich durch den langen Hausflur und brachen ab, ehe sie die Straße erreichten. Auf beiden Seiten liefen eilig junge Arbeiter. Die Gruppe Nostizstraße protestierte gegen das Verbot der ,Jungen Garde'. Die Genossen sprangen die Treppen hinauf und herunter. Rasch ging das alles. An den Türen wurde geklopft, fast gleichzeitig an allen auf einem Flur. Die Nachbarn kamen angeschlürft. Manche schnell und rissen mit einem Ruck die Tür auf.
„Was ist denn los?'
„,Junge Garde', die Zeitung der werktätigen Jugend verboten. Macht Krach. Protestiert mit uns."
Ein anderer kam hinterher und bot Zeitungen an.
„Hier, die letzten Nummern der ,Jungen Garde'. Die ,Rote Faust', die illegale Kampfzeitung der werktätigen Jugend."
Unten stand Theo und sprach. Man hörte nur Bruchstücke und die Wände warten die Worte hin und her...
„Die Reaktion wird immer frecher... Der Faschismus tobt in Deutschland... Notverordnungen und nochmals Notverordnungen... Der Hooverplan, eine bessere Methode der Ausbeutung... Ihr Arbeiter, Jungproleten, Ihr Mittelständler, Ihr seid diejenigen... Ihr müsst kämpfen! Mit uns, mit dem Kommunistischen Jugendverband, mit der KPD.!"
Zu der neugegründeten Klicke kam Erich Schmidt. Er drückte jedem ein auf einem Abziehapparat hergestelltes Flugblatt in die Hand.
„Na. Du?"
„Na, Ihr? Kommt, macht mit... "
„Ach, wat. Bei die Hitze. Rennt Ihr man."
Franz riss ihm das Flugblatt aus der Hand und wollte es zerknüllen. Aber dann besann er sich und las:
„Die ,Junge Garde' verboten !!!! Verbotsseuche über Deutschland!
Der Berliner Polizeipräsident hat die unendliche Kette der Verbote der revolutionären Presse um ein neues Glied erweitert. Betrachtet man nur die Verbote der letzten vier Wochen, so kommt es einem fast vor, als ob die herrschende Klasse ihr System nur noch durch Verbote der Arbeiterpresse und revolutionären Veranstaltungen vor dem endgültigen Zusammenbruch bewahren will. Die kläglichen Rollen, die hierbei die sozialdemokratischen Minister und Polizeipräsidenten spielen, gibt wirklich allen Arbeitern bis weit ins sozialdemokratische Lager hinein zu denken. Die Nazi-Presse wird auf vier Wochen verboten und dies dann schnell auf zwei Wochen reduziert. Unser Polizeipräsident darf ja auch seinen Nazi-Lieblingen nicht wehe tun. Wie anders bei den Kommunisten, dort jagt ein Verbot das andere und ,Vergehen' gegen diese Verbote werden mit hohen Gefängnisstrafen belegt. Wie dem auch sei, Grzesinski müsste doch bald merken, dass uns seine Verbote einen Dreck kümmern und nur dazu führen, dass wir unsere Arbeit unter den Jungarbeitermassen verdoppeln. Die ,Junge Garde', die Zeitung der werktätigen Jugend, wird bei ihrem Wiedererscheinen von einer verdoppelten Leserzahl erwartet und begrüßt. Das ist die beste Antwort, gerichtet an alle Feinde der Arbeiterklasse mitsamt ihren sozialdemokratischen Helfern in Form von Polizeipräsidenten und Ministern.
Werktätige Jugend Berlins! In Betrieb und auf der Stempelstelle! Hört den Ruf der jungen Kommunisten, reiht Euch ein in den Kommunistischen Jugendverband! Kämpft mit uns gegen Arbeitsdienstpflicht und Jugendausbeutung! Für Jugendschutz und Jugendrecht! Für ein Sowjetdeutschland!
Lest und abonniert die ,Junge Garde', die Zeitung der Jugend in Stadt und Land."
„Ja, wat soll man dazu sagen. Möcht sie abonnieren, hab aber keen Geld ... "
„Haben recht, Mensch, wenn man sich det so bedenkt. Da kann een wirklich die Wut packen. Die Nazis, die Lausewänste, könn sich allet erlauben. Mensch, wenn’s doch bloß erst losjehn würde", sagte erbittert Gustav. Es war so, als hätte er jetzt schon die Klicke Edelsau vergessen.
„Da ist man so gebunden bei die, sonst würd ick auch mitmachen. Die rennen, rennen. — Wenn wir alle mithelfen würden, würde es schneller gehn... "
Franz schnauzte ihn an;
„Renn doch mit, Mensch!"
Und Kater sagte beruhigend:
„Wat Du ooch bloß immer hast, Justav... "
Erich war längst weiter gelaufen und Theo sprach schon auf einem Hof an der Ecke Bergmannstraße Ein Überfallwagen raste vorüber. Er stoppte kurz, es roch nach Gummi. Die Grünen sprangen herunter und rannten in die Häuser. Nach einer Weile mussten sie erfolglos abfahren.
Die Mitglieder der Klicke Edelsau fingen an, sich zu langweilen. Edith gähnte, warf den Haarschopf nach hinten und meinte müde:
„Ich geh schlafen... "
„Ja, was soll man denn anfangen. Gute Nacht."
„.... Also Sonnabend!"
Die Mitglieder der Klicke Edelsau liefen vom Bahnhof Königswusterhausen zu den Tonkuten hinter Körbiskrug, Franz als Klickenbulle vorne weg und hinterher acht Jungens und zwei Mädels. Auf ihren Tornistern thronten klappernde Kochgeschirre. Sie trugen alle fast gleichmäßige Kleidung: kurze Hosen und bunte Hemden. Gustav war als Wanderlehrling bestimmt worden, weil er vom Wandern die wenigste Ahnung hatte. Darüber war er sehr wütend, denn Kater und Spinne waren viel jünger. Die Jungens nannten ihn jetzt ,Blaubacke'. Warum, wussten sie selber nicht. Seine Backe war gar nicht blau, aber besetzt mit einigen Leberflecken, die wie braune Dreckspritzer1 aussahen. Er trug eine zusammengerollte Pferdedecke unter dem Arm und sah gar nicht zunftmäßig aus. Jeder hänselte ihn.
„Musst noch viel lernen, Blaubacke. Siehst aus, als wenn Dir jemand aus die Dörfer gejagt hat. Find ein paar Stullen, rennt über die Stoppeln und kommt nach Berlin... "
„Halt die Fresse, Mensch. Und hör mit den Namen off, vastehste!"
An einer Bahnschranke mussten sie warten. Jungen und Mädels in blauen Hemden standen schon davor und sangen Lieder von der romantischen, alten Zeit, wo noch die Postkutschen durchs Land fuhren:
„Vorn auf dem gelben Wa-agen,
sitz ich beim Schwager vorn.
Vorwärts die Ro-osse traben,
Lustig ertönet das Horn.
Wiesen und Felder und Auen,
leuchtendes Aehrengold.
Möchte so gerne noch schau-auen,
Aber der Wa-agen rollt!"
Die Burschen trugen saubere Rucksäcke und manch einer hielt ein verschüchtertes, unschuldig tuendes Mädel im Arm. Über ihren Haarschnecken und Bubiköpfen lagen glänzende Metallringe mit altgriechischen Verzierungen. In der Mitte der Gruppe stand ein langer Bursche und zupfte an einer Guitarre. Seine dünnen, behaarten Beine staken in Sandalen. Kater klatschte in die Hände und vollbrachte irgendetwas, wie einen Volkstanz. Dabei sang er mit verstellter Stimme:
„Was kümmert uns die Politik?
Wir tanzen uns die Waden dick!"
Dann lief er zu Spinne „Halalala", sang er weiter. „Freundschaft, Spinne! Kommst Du auch mit zur SAJ.?"
Man warf ihm böse Blicke zu. Die Mädels schlugen die Zungen an die Gaumen, dass es sich so anhörte, wie wenn ein Bäuerin Schweine lockt und der Lange mit den behaarten Beinen murmelte: „Lausejungs."
Aber die Lausejungs hörten nichts. Der endlos lange Güterzug fuhr vorüber und die Klicke marschierte weiter. Links lag ein kleiner See, an den Ufern große Flächen mit Schilf bewachsen. Ein schmaler, blasser Bursche, Peikbeens Bruder, rief: „Mensch, is det aber romantisch!" „Wat weest Du denn von die Romantik, Orje?" Vorn begann man zu singen. Helle und tiefe Stimmen stritten miteinander. Franz brummte nur und Gustav spielte auf einer Mundharmonika:
„Als die goldne Abendsonne sandte ihren letzten Schein, Zogen einst zwei Tippelbrüder in ein kleines Dörfchen ein. Und in diesem kleinen Dörfchen steht ein Häuschen ganz allein, Und die beiden Tippelbrüder, sie kehrten bei dem Bauern ein. Und der Bauer hat ne Tochter, die war so schön, Und die beiden Tippelbrüder, sie wollten mit dem Mädel geh'n. Da sprach der erste: Schönste Blume, Du, Schenk mir doch ein bisschen Liebe und Dein kleines Herz dazu!
Da sprach der zweite: Schönste auf der Welt.
Schenk mir doch ein bisschen Liebe und dazu Dein ganzes Geld!"
Da sprach das Mädel: höret zu, Ihr zwei!
Meidet Alkohol und Weiber, sie reißen Euch das Herz entweil
Als die goldne Morgensonne, sandte ihren ersten Schein,
Zogen einst zwei Tippelbrüder, weiter in die Welt hinein!"
Es wurde dunkler. Die Bäume warfen keine Schatten mehr und die Gräser wurden taufeucht. Franz lief immer schneller. Die Hintersten mussten sich ranhalten, um mitzukommen. Edith schimpfte:
„Ist das ne Looferei. Det is doch keene Erholung. —"
„Mensch, Franz! Schalt mal den anderen Gang ein."
„Komm man, komm man, Du rothaarige Hexe."
Kater versuchte, ihr Mut zu machen. Er nahm ihr den Rucksack ab und hängte ihn an den Arm. Dann sah er auf ihre Haare und sagte:
„Hast Du früher mal in die Nagelkiste geschlafen, oder hast Du Dir früher die Haare nicht abgetrocknet? Die sind ja ganz rostig."
„Quatsch nich so dämlich. Na, warte, Du kommst mir ja noch mal, Bursche ... "
Die beiden Tonkuten waren tief und angefüllt mit grünlichem, klarem Wasser. Hier hatte früher eine nahe Ziegelei ihr Material für die Ziegelsteine geholt. Von der Ostseite waren sie von einem Wald begrenzt. Schnell hatte die Klicke Zelte aufgebaut. Ärmliche Zelte, aus Decken und zerrissenen Militärplanen. Frieda stand unschlüssig da. Sie legte ihr Gepäck auf die Erde und setzte sich daneben. Auf einmal hatte sie Angst bekommen. Das war so ruhig hier. Ruhig und unheimlich zwischen den brutalen Burschen. Gustav kam an sie heran. Er sah grob aus und meinte gutmütig:
„Komm zu mir ins Zelt. Wenn Du nicht allein willst — schön — nimm Edith mit . . ,"
Sie sah ihn an. Aber er schlug den Blick zu Boden und umfasste mit den Augen ihre Schenkel, die der hochgerutschte Rock freigelegt hatte.
„Na, was ist?"
„Ja, ich — ich möchte schon. Aber Du musst vernünftig sein, Gustav, ja?"
„Was heißt vernünftig sein? Quatsch nich und sage, was Du willst."
„Na ja. Draußen kann ich ja nicht bleiben. Und bei den anderen, die sind genau so... ."
Edith und Kater liefen in den Wald Holz suchen. Er strich schmeichelnd um sie herum und war wieder freundlich.
„War nicht so gemeint vorhin, Edith. Deine Haare sind nämlich schön... ."
„Ja, aber nicht für Dich... "
„Ach, Du alte Henne. Für wen denn? Was verlangst Du denn überhaupt?"
Etwas abseits von den Zelten wurde ein Lagerfeuer angezündet. Das trockene Reisig prasselte und ohne viel Qualm schlugen die Flammen hoch. Alle setzten sich heran. Ein Stück Mond kam hinter zerrissenen Wolken vor. Von fern her tönten die schwermütigen Klänge einer Ziehharmonika, und von der nahen Chaussee hörte man die Autos hupen. Alle waren still und starrten in das Feuer. In ihnen war eine karge Freude und sie fühlten, dass einer dem anderen gut war. Sie lehnten sich aneinander und Gustav schlich sich zu Frieda, legte seinen Kopf in ihren Schoß.
„Krabbel mir ein bisschen die Haare... ."
Das klang bittend. Frieda verzog traurig den Mund. Ihre Augen wurden plötzlich warm und sie küsste Gustav auf die Stirn. Der staunte... .
„Spiel ein bisschen, Gustav."
Gustav spielte und sie sangen wie alte Krieger im Schützengraben, die wehmütig an die ferne, ferne Heimat dachten.
„Auf der Insel zu Samoa, lag ein Kuli da und starb.
Inmitten seinen Kameraden, den die Feindeskugel tödlich traf
Kamrad, siehst Du die Heimat wieder,
Kamrad, siehst Du dann mein Weib.
Sag, ich lass sie herzlich grüßen
Sag, dass ich ihr ewig treu verbleib.
Nimm den Ring von meinem Finger,
Nimm den Ring von meiner Hand.
Drück auf ihre lockige Stirne
einen Kuss von mir als Abschiedspfand."
Eine Melodie folgte der anderen. Die sentimentalen Lieder wühlten die rohen Burschen bis ins Innerste auf. Sie schämten sich auf einmal vor einander. Da war irgend etwas, was sie nicht ausdrücken konnten. Einige krochen weiter vom Feuer weg, die anderen bogen sich weit zurück. Frieda sang nicht mit. Sie schwieg, schwieg mit aller Kraft und hätte am liebsten geheult. Und in ihren Gedanken stritt sich die stille, plötzliche Freude mit ihrem armseligen Leben. Orje rauchte eine kurze Pfeife und sah dem ringelnden Rauch nach. Er kniff die Augen zusammen und blinzelte den anderen zu. Neben ihm, auf dem Rücken, lag Franz und starrte in den Himmel. Er hatte einen Grashalm im Mund. Sein Denken war verwirrt
„Kinder, können wir nicht immer so dufte zusammen sein... ?"
„Ach ja."
„Jeht nicht. Immer nicht. Dauert nicht lange und die Stänkerei jeht wieder von vorne los."
„Und warum? He, warum? Wegen die Weiber und weil eener immer allet besser als der andere wissen will, vastehste!"
Edith lächelte. Ihre Haare glänzten, und das Gesicht sah matt aus, wie Marmor. Sie mischte sich ins Gespräch.
„Lasst doch, ein bisschen Stänkerei muss sein. Sonst macht doch das ganze Leben keinen Spaß."
„Ja, und vor allem Jungs, werde ich Euch mal eins sagen; die Stänkereien sind ja gar nicht so gemeint. Im Grunde genommen sind es meistens versteckte Freundlichkeiten. Ärger haben wir alle. Herrgott und den muss man doch irgendwo loswerden... ." „Hast recht, Orje. Aber manchmal ist das schon gemein." Das Feuer war langsam abgebrannt, Große Holzstücke glühten weiter und knisterten. Vom Ufer strich ein leichter Wind. Im Walde schrie ein Nachtvogel und die Ziehharmonika setzte wieder mit einem Schlager ein.
„Die dämlichen Schlager. Wie sich das anhört.' „Erika, Erika, brauchst du nicht einen Freund?" So ein Quatsch. Und denn von wejen Auto schickt. Wer hat denn von uns ein Auto? Der Mist geht uns doch gar nichts an. So eine olle Plärrerei."
Diese Worte schufen eine stumpfe Verwirrung. Sie legte sich wie ein nebelhafter Streifen unbekannten Denkens in ihre Hirne. Am Himmel glommen zaghaft einige Sterne. Der bleiche Mondschimmer warf schwache Schatten der Bäume, Spinne lag mit dem Bauch auf der Erde und kaute an einem Grashalm. Er sagte, ohne aufzublicken: „Singt doch mal ein paar Kommunistenlieder.".
Traurig klang das Lied vom „kleinen Trompeter" durch die Nacht:
„Schlaf wohl, Du kleiner Trompeter
Wir waren Dir alle so gut.
Schlaf wohl, Du kleiner Trompeter,
Du lustiges Rotgardistenblut."
Franz hatte die ganze Zeit nicht gesprochen. Er durchbrach plötzlich die Stille und kam auf Peikbeen zu sprechen, der das Lied so oft gesungen hatte.
„Was mag Peikbeen jetzt machen...?"
Die Jungen horchten auf. Ach ja, Peikbeen. — Vergessen hatten sie ihn nicht.
„Jetzt ist es elf Uhr. Der hat längst seinen Kanten Brot weg und liegt jetzt auf der Pritsche."
„Wo sitzt er denn überhaupt?"
„Lehrter Straße, Zellengefängnis. Soll schlimm sein da. Zille hat jetzt seine acht Monate da abgemacht Sah blass aus, wie er raus kam."
„Schweinerei, eine verfluchte Schweinerei ist das", brüllte Orje und sprang erregt auf. „Wegen einem Stück Wurst — wegen einem Stück Wurst. Er hatte wirklich Hunger gehabt."
Orje lief um das Feuer herum. Er wurde immer wütender.
„Und dann gleich vier Monate! Vier Monate. Was kriegen die großen Strolche, die das Volk bestehlen? Hier — hier", er holte eine Nummer der „Roten Fahne" aus der Tasche, „hier habe ich einen Artikel. Ihr kennt doch alle Achtenberg und Hoffmann aus der Nostizstraße Mit Achtenberg sind wir in eine Schule gegangen, die haben vier Monate in Untersuchung gesessen. Gestern sind sie verurteilt worden. Passt auf, ich lese vor:
„Antifaschistische Gesinnung mit Zuchthaus bestraft. Neues Schreckensurteil in Moabit. — 9 Jahre 9 Monate Zuchthaus und 9 Monate Gefängnis für vier Jungarbeiter.
Der Zuschauerraum war überfüllt, als das Urteil gegen die sechs Arbeiter, die des Überfalls auf Nationalsozialisten in Wilhelmsaue angeklagt waren, gesprochen wurde Mit tiefer Erbitterung, voller Abscheu gegen die Klassenjustiz nahmen die Arbeiter das furchtbare Urteil entgegen. Den Kurs, den Landgerichtsdirektor Ohnesorge gegen Kommunisten eingeschlagen hat, fortsetzend, verurteilte das Schwurgericht die Arbeiter Achtenberg und Hoffmann wegen versuchten Totschlags in drei Fällen (!) zu vier Jahren Zuchthaus, Steinhäuer zu einem Jahr 9 Monaten Gefängnis. Die Angeklagten Schmidt und Petzold mussten freigesprochen werden. — Das, was sich am 13. März in Wilhelmsaue nach einer Versammlung der Nationalsozialisten im Viktoriagarten abspielte, ist nichts weiter als eine natürliche Folge der ungeheuren faschistischen Terrorwelle, die seit Monaten und Jahren durch alle Städte und Dörfer Deutschlands geht und immer wieder wehrlosen Arbeitern das Leben kostet. Die gesamte Pressemeute vom ,Vorwärts' bis zum Nazi-,Angriff mag toben und schreien über ,Rot-Mord-Gesindel' und dergleichen, soviel sie mögen. Die Schmierfinken ihrer Redaktionsstuben wissen sehr gut, dass alle Bluttaten auf Konto der Hakenkreuzler fallen. — Der angeklagte Jungarbeiter Achtenberg sagte am ersten Verhandlungstag auf eine entsprechende Frage des Gerichts: „...das ist doch allerhand, wenn unsere Arbeiter niedergeschossen werden, dann wird man doch Rache nehmen dürfen.' — Der Vorsitzende glaubte in der Urteilsbegründung feststellen zu können, dass die angeklagten Arbeiter den Überfall planmäßig vorbereitet hatten. Wenn er damit den glühenden Hass gegen die faschistische Mordpest, die in jedem Werktätigen lebendig ist, meint, dann haben die Angeklagten ,planmäßig' gehandelt. Mit diesem Urteil hat das Klassengericht erneut bewiesen, dass das ,Dritte Reich' in Moabit seinen Einzug gehalten hat."
„Wat? Vier Jahre?"
„Vier Jahre!! Vier Jahre
Es trat Ruhe ein. Eine fürchterliche Ruhe. Alle waren aufgesprungen. Sie bissen die Zähne zusammen. Sie rissen die Augen auf in maßloser Wut. Sie waren erregt, alle Romantik war futsch.
„Vier Jahre", wiederholte einer. „Vier — Jahre . . ."
„Und die Nazis? Und die! Die können alles machen. Hab ich eine Wut! Hab ich eine Wut! Was waren das für Kerle: Hoffmann und Achtenberg, Mensch... ."
Sie wollten schreien. Dann setzten sie sich wieder, legten frisches Holz auf und wurden ruhiger. Franz begann wieder, langsam und stockend:
„Eigentlich müsste man doch... "
Er beendete den Satz nicht. Irgend etwas hielt ihn davon zurück. Prüfend betrachtete er seine Freunde. Sie hatten nichts bemerkt.
Vielleicht dachten sie so wie er. So wie sein unausgesprochener Satz: „Eigentlich müsste man doch was dagegen machen. Das kann sich doch niemand gefallen lassen. Im vorigen Jahr haben die Nazis unseren Freund Waller Neumann erschossen. Die Mörder wurden freigesprochen. Da muss man doch gegen ankämpfen. Unsere Klicke ist ein Dreck. Ich will nichts mehr davon wissen... "
Langsam kroch einer nach dem anderen ins Zelt. Unheimlich lag die Ruhe über dem Platz. Die Jungens und Mädels lagen lange da mit offenen Augen. Frieda saß im Zelt und hielt die Knie gegen die Brust gedrückt. Von Gustav wurde sie überhaupt nicht beachtet. In der anderen Ecke lag Edith und versuchte einzuschlafen. Der Junge gab ihr seine Decke und kroch auf den Knien aus dem Zelt Draußen rannte er unruhig auf und ab. Er stieß auf Orje. Leise schlichen sie sich fort, wie nach einer stummen Verabredung. „Na", fragte Orje. „Ja, ich kann nicht schlafen."
„Mir gehts genau so." Und nach einer Weile: „Eigentlich sind wir doch Feiglinge."
„Ja, eben daran denke ich ja. Wir schimpfen auf die Latscher, auf die SAJ.; sind ja selbst welche. Andere rennen, arbeiten, kommen ins Zuchthaus und wir gründen eine Klicke. Ist das ein Mist, ist das ein Mist... " Sie liefen immer weiter von den Zelten weg und setzten sich am Waldrand ins taufrische Gras, Keiner hatte mehr recht Lust zum sprechen.
„Orje, Mensch. Seh Dir doch das alles an. Unsere Straße. Alle haben Hunger. Und wir... Unsere besten Freunde sind Kommunisten, kriegen Staatsferien oder werden erschossen. — Aber was kann man denn mit unseren Jungen schon anfangen ... ."
„Die denken jetzt genau wir wir, mein Lieber."
„Ich bin ja so ein Schwein, so ein Schwein, Mensch."
„Was? Wie meinst Du denn das?"
„Ach, hör uff. Da gibs nichts zu reden."
Langsam und schweigend liefen sie zurück.
Am andern Morgen krochen Kater und Spinne als erste aus den Zelten und gingen baden. Man musste schwimmen können; denn es ging gleich steil ab. Verschlafen torkelten die andern hoch und sprangen ins Wasser. Gustav machte Feuer an und kochte Kaffee. Der Himmel war bewölkt. Leichter Nebel stieg auf. Im Westen sah man die hohen Funktürme von Königswusterhausen. Die Zelte sahen jetzt noch ärmlicher aus und waren schlaff Spinne gab Edith einen Stoß. Sie fiel ins Wasser Kater gab ihm daraufhin eine saftige Ohrfeige. Dann schlugen sie sich und die anderen bildeten einen Kreis, Sie rollten sich auf der Erde, sprangen wieder auf, packten sich in den Haaren. Spinne blutete aus der Nase. Edith gab ihm ihr Taschentuch.
„Da, so bin ich zu Dir. Wie eine Mutter, und Du Aast schmeißt mir ins Wasser "
„Ach Du, Du... "
Leute kamen vorüber. Klickenbrüder wie sie. Sie grüßten: ,Wildfrei' und sahen verwegen aus.
„Wo seid Ihr her? Wie heißt Eure Klicke?" „Vom Kreuzberg, Klicke Edelsau."
Die anderen lachten. „Edelsau, hä, Edelsau. Dufte wat, Atze? Wo habt Ihr denn Eure Säue? Die Beeden da?"
Sie deuteten auf die beiden Mädels. Kater wollte auf sie zuspringen, besann sich aber im letzten Moment, denn sie trugen alle einen Spaten. Einer war dabei, hatte einen Zylinder ohne Krempe auf dem runden Kopf und in der Hand eine große Keule. Das war deren Klickenbulle ,Onkel' nannten ihn die anderen. Onkel trat ein paar Schritte gravitätisch wie ein Indianerhäuptling vor und hielt eine kurze Rede: „Also, dass Ihrs wisst: hier ist unser Stammplatz. Wir wollen hier keine Jannoven herhaben . . , ,"
„Hoho, von wegen Jannoven!"
„Halt die Fresse, jetzt rede icke, vastehste! — Ihr könnt natürlich ruhig hierbleiben. Bestimmen tun wir hier. Da drüben liegt ,Fichte'. Das ist ihr Gelände. Vor die müsst Ihr Euch vorsehn, die machen um jeden Dreck Krach und wollen von Klicken nischt wissen. Manchmal kommt auch die ,Rote Jungfront' her. Das sind unsere Freunde. Mit die dürft Ihr nicht angeben, die haun Euch zu Puppendreck. Wer ist denn Euer Klickenbulle?"
Franz war wütend. „Nu halt mal einen Moment die Luft an. Du kannst uns viel erzählen. Was .Fichte' ist und die ,Rote Jungfront', das wissen wir alleene. Ihr habt uns gar nichts vorzuschreiben... "
„Jawohl, richtig", riefen seine Freunde, und Spinne hatte die blutende Nase schon wieder vergessen. „Wir bleiben und damit basta. Und wenn Ihr zehnmal mehr seid wie wir."
„Schön", sagte Onkel und warf sich in die Brust, „bleibt hier. Wenn Ihr affig werdet, reißen wir Euch die Zelte über dem Kopf ab. So. Nu jehn wir wieder. Tarzan, Du passt uff die Leute uff."
Tarzan, ein sehniger, braungebrannter Bursche mit behaarter Brust, sah prüfend von einem zum anderen. Er deutete erst auf Gustav, dann auf Franz. ,.Den zum Frühstück, den brech ick in der Mitte auseinander und die anderen atme ick ein."
Damit zog er mit seinen Kumpanen los. Still, mit erhobenem Kopf und von dem Gedanken durchdrungen; denen haben wir es aber tüchtig gegeben. Klicke Edelsau schäumte vor Wut, Nur Edith lächelte und sah unbeobachtet lange dem haarigen Tarzan nach.
„Die Schweinebandel Kommen hierher und befehlen," — „Lasst sie doch. Brauchen uns ja nicht um sie bekümmern."
Die Sonne stieg höher und brannte durch die Wolken. Fünf Mann liefen ins Dorf und holten Wasser. Gustav begann Frieda lauernd zu betrachten. Sie merkte es und wurde unsicher. Ab und zu sah sie zu ihrer Freundin. Die tat so ungeniert mit Kater, dass man annehmen konnte, beide wären ein restlos glückliches Liebespärchen. Ein Liebespärchen, das sich etwas Schönes vorgaukelte. So wie Schulkinder. Und die dann feststellen, dass doch alles nur Unsinn ist und nur aus Spaß gesagt wurde. So herzig waren die beiden miteinander. Unbemerkt von den anderen lief Frieda in den Wald. Sie hatte nur ihren
Badeanzug an. Ihre spärlichen Brüste legten sich prall an und sahen größer, fester aus. Ihr schien alles so unsinnig. Ihre Pulse tobten. In ihrer Brust lag Zorn. Kiefernadeln stachen sie in die nackten Fußsohlen. Das Unterholz knackte. Sie warf sich auf den trockenen Waldboden und dachte lange nach: an Gustav, warum der so ist und an die anderen und ihr Verhalten. Sie kam sich so verlassen vor. Niemand war gut zu ihr. Und wenn es die Jungens eine Zeitlang waren, dann wollten sie eben nur das Eine. Keinen Menschen hatte sie. Zu Hause war man froh, wenn man sie eine Weile nicht sah. Ihre Mutter war auf beiden Ohren taub, schimpfte deshalb viel, weil sie annahm, alle Gespräche drehten sich um sie und man mache sich über sie lustig. Die Schwester war schon drei Jahre lang fort. Ihr ging es schlecht. Vor vier Monaten hatte sie aus Hamburg geschrieben. Der Vater arbeitete den ganzen Tag. Wenn er nachmittags kam, war er hundemüde, wollte nichts hören und nichts sehen. Sie wurde in ihren wirren Betrachtungen unterbrochen. Gustav kam plötzlich mit rotem Gesicht auf sie zugesprungen. „Ach, da bist Du ja..."
Sie erschrak und bekam Angst. Eine grässliche Angst vor Gustav, die ihr die Kehle zuschnürte. Sie kroch zurück. Er kam näher und fasste sie um. Fest presste er sie an sich, stammelte hilflos. Sie riss die Augen auf.
Gustav keuchte: „Frieda, liebe Frieda, sei doch vernünftig. Ich habe Dich ja trotzdem so lieb... Frieda!"
„Gustav! Nicht doch, Gustav! Wenn was passiert, ich kann doch nicht. Lass das jetzt!!"
In ihre Augen trat ein sonderbarer Glanz. „Sei ruhig, Gustav. Sei doch gut ... "
„Ich kann nicht! Du machst mich verrückt. Das ist ja nicht zum aushalten! Du — Du... ."
Er warf sich über sie, drückte ihre Arme zusammen. Da bekam sie eine unbändige Kraft und brüllte: „Hilfe! Hilfe!"
Gustav ließ sie jäh los. Dann senkte er den Kopf. „Ich kann doch nichts dafür", sagte er mit leiser Stimme und rannte in den Wald.
Kater und Edith kamen atemlos angerannt. „Was ist denn los? Warum schreist Du denn?"
„Ach, nichts. Ich dachte, hier wäre ein Tier. Es ist wirklich nichts — wartet, ich komme gleich mit zurück."
Sie glaubten nicht daran und dachten sich ihr Teil. So kann kein Mensch brüllen, der in einem Walde bei Berlin ein Tier sieht.
Am Lagerplatz warteten die anderen. Das Wasser hatten sie schon ausgetrunken. Gustav lag schlafend neben seinem Zelt. Frieda legte sich neben ihn und nahm seine Hand. Er ließ es geschehen, sah sie aber nicht an.
Schnell verging der Tag. Die Sonne hatte die Rücken der Klickenmitglieder rot gebrannt, und das Gepäck scheuerte. Franz schimpfte. Er hatte den schwersten Tornister zu tragen. Als erster lief er wieder los. Spinne begann zu singen, laut und ausgelassen:
„Zwei Freunde stiegen auf einen Turm
au, au, au.
Der eine hat einen Bandenwurm,
au, au, au.
Da lässt sich ja der andre munter,
au, au, au,
An dem Freund sein Bandwurm rauf und runter,
au, au, au.
Ja, wenn man so eine Musik hört,
dann ist alles wieder gut, dann ist alles wieder gut.
Ja, wenn man so einen Eierkuchen bäckt,
dann geht alles wie genudelt, wie geleckt!"
„Ach, hör doch auf. Immer den gleichen Mist."
„Nu loof doch man schon. Ick trete Dir ja dauernd in die Hacken!"
Durchgeschwitzt und mit brennenden Rücken kamen sie nach Königswusterhausen. Die Züge waren mit Menschen und Gepäck vollgepackt. Einer fluchte auf den anderen. Kinder schrieen und jammerten. Ein Hund jaulte unter den Füßen der Menschen. Am Görlitzer Bahnhof suchten sich die Klickenbrüder Fahrscheine für die Straßenbahn. Nur Kater, Edith und Frieda liefen gemeinsam zur Nostizstraße.
Der ,Junge Wühler' war fertiggestellt worden. Ernst brachte 300 Nummern angeschleppt. Das Papier war schlecht, die Schritt stellenweise verwischt und unklar. Aber der Inhalt war gut. Trude, Theo, Karl und Doktor saßen zusammen, als Ernst kam. Jeder nahm sich eine Zeitung und begann zu lesen. Ernst stellte sich ein paar Schritte abseits und betrachtete die Genossen lauernd. Doktor nickte ihm ein paar Mal verstohlen zu und deutete auf Theo. Die anderen lasen alle. Besonders der Artikel auf der ersten Seite interessierte sie lebhaft.
„Werktätige Jugend — Vorwärts!
In allen Städten, auf allen Straßen, in allen Dörfern Deutschlands herrschen Hunger und Not. Millionen Unterdrückte sammeln sich zur Volksrevolution gegen den Faschismus, für den Sozialismus unter Führung der Kommunisten. Das Volk kennt keine Gesetze mehr, das Volk meutert. Das Volk hat keine Angst vor den Pistolenläufen der Bourgeoisie. Das herrschende System klappert in seinen Fugen. Der Bolschewismus ist im siegreichen Vormarsch. Deshalb flehen die Machthaber in Deutschland um die Hilfe ihrer imperialistischen Freunde in Amerika und Frankreich. Deshalb der Hooverplan. Nicht deshalb, weil Hoover mit dem werktätigen deutschen Volke Mitleid hat, sondern weil in Deutschland Milliarden amerikanischen Kapitals stecken. Das droht, ihnen verloren zu gehen: der Bolschewismus wird keinerlei Schulden der bürgerlichen Gesellschaft anerkennen. Der Hooverplan bedeutet die Schaffung einer antibolschewistischen Kriegsfront gegen die Volksrevolution, gegen die siegreiche Sowjetunion.
Der Hooverplan bringt keine Erleichterung. Brüning erklärte: an der Notverordnung wird nicht gerüttelt. Die Machtgier der Kapitalisten ist unersättlich. Die Angst vor dem Bolschewismus zu groß. Deshalb scheitern alle Pläne zur Liquidierung des räuberischen Youngplans. Deshalb werden alle Schulden, die die herrschende Klasse gemacht hat, aus den Knochen des gesamten werktätigen Volkes gepresst.
Junge Arbeiter, deshalb kommt man Euch heute mit der faschistischen Arbeitsdienstpflicht. Mit Zuckerbrot und Peitsche werdet Ihr erzogen. Für die lausigen paar Mark Unterstützung sollt Ihr Zwangsarbeit leisten. Und weil die Arbeitsdienstpflicht beschleunigt eingeführt werden soll, weil der Widerstand der jungen Arbeiter wächst, weil nach dem sozialdemokratischen Parteitag Hunderte junger Sozialdemokraten zu uns kommen hat der sozialdemokratische Polizeipräsident Euer Kampforgan, die ,Junge Garde' verboten. Diese Zeitung hier ist die Antwort der Gruppe Nostizstraße des KJV. Wir lassen den ,Jungen Wühler' jetzt regelmäßig erscheinen. Er wird in Eurer Sprache zu Euch sprechen, wird Euch den Weg zeigen aus dem Elend, den Weg unserer russischen Brüder, den Weg der russischen Jugend und ihrer heroischen Kämpfe: den Weg zum Sozialismus! Abonniert die ,Junge Garde'! Protestiert, kämpft mit uns! Sozialdemokratischer Jungarbeiter, her zu uns! Hinein in den Kommunistischen Jugendverband!"
Einer nach dem andern legte die vier Seiten starke Zeitung wieder hin. Alle machten furchtbar ernste Gesichter. Nur Trude freute sich. Karl faltete die Zeitung zusammen und trommelte damit auf den Tisch. Dann begann er langsam zu sprechen:
„Hm, ja, ganz gut. Muss aber noch viel, viel besser werden Der erste Artikel ist ausgezeichnet. Hinten die gehen auch. Habt Euch Mühe gegeben "
Ernst tat liebenswürdig, als ob ihm ein Lehrer unter seine Arbeit ,lobenswert' geschrieben hat und platzte dann plötzlich los:
„Genosse Karl, den nächsten Leitartikel schreibst Du Fass alles, was in den nächsten Tagen passiert, zusammen und stell ihn mir in acht Tagen zu, verstanden?'
„Was? Ich? Mensch, ich bin so mit Arbeit überlastet. Das geht nicht. Aber ja. — Ich werde sehen. Du bist ja ziemlich energisch, mein Lieber Du sollst doch die Zeitung machen."
„Genosse Gruppenleiter, zusammensetzen soll ich sie und las Material verwalten. — Hab gar nicht vorher dran gedacht.
Dann machte er eine ulkige Verbeugung, schnippte neckisch mit dem Finger und wiederholte buchstabierend:
„Zu—sam—men—set—zen. Ge—nos—se Grup—pen—lei—ter."
Die Genossen lachten, Trude schlug Ernst lustig auf die Schulter wie ein Rollkutscher und schließlich begann auch Karl zu grienen. Sie saßen bei Frau Schade in der Stube. Frau Schade war zum Zellenabend der Partei gegangen. Hier konnten sie ungestört alle Arbeiten besprechen. Doktor kramte in Theos Bücherregal und legte ein Buch nach dem anderen auf den Fußboden.
„Kiekt Euch den Bücherwurm an."
„Du hast wohl gar keine Romane, Theo", rief Doktor, „hier liegen Broschüren, Broschüren und nochmals Broschüren. Und ein paar Gorki-Bähde."
„Die genügen vollständig. Hab keine Zeit zum Lesen, Mensch, wenn man alles lesen sollte, was heute so rauskommt."
Doktor stand auf und vergaß, die Bücher zurückzulegen. Er war aufgeregt, sah seine Genossen an, räusperte sich mehrere Male und es sah aus, als wenn er jetzt eine große Rede halten wollte.
„Das ist Unsinn! Zum Lesen muss man einfach Zeit haben. Man muss sich auch mit seinem eigenen Ich beschäftigen Das ist überhaupt noch ein Problem bei uns im Jugendverband, jawohl! Man muss einen Ersatz, sozusagen einen Ersatz für die Religion finden. Man muss die Genossen zum organisierten Denken erziehen. Diese Frage steht vor allem auch später in der Aufbauperiode des Sozialismus. Diese ganzen persönlichen Schwierigkeiten unserer Genossen kommen doch nur daher, weil sie Arbeitsmaschinen sind. Ich sehe, Ihr lacht und versteht mich sicher wieder mal falsch. Aber es ist so, Genossen."
Trude schüttelte den Kopf hin und her und die Haare fielen Ihr ins Gesicht. „Das sind doch mal wieder Theorien. Was heißt Ersatz für die Religion? Was meinst Du überhaupt? Und wenn wir jetzt Arbeitsmaschinen sind, zäh und dauerhaft, ununterbrochen an unserem Platz stehen, so kann doch das nicht schaden. Und wenn eine Maschine, oder ein Teil von ihr, verbraucht ist, dann wird sie eben abmontiert, mein Lieber. Das ist. bolschewistisch. In der Jetzigen Situation brauchen wir nur Kämpfer, Arbeiter, die wissen, wo ihr Platz ist. Und die werden sich nicht mit ihrem Ich beschäftigen, sondern nur mit dem Kampf ihrer Klasse. Ersatz für Religion — nenne das Ding meinetwegen so, wie Du willst, ist der Kommunismus und der Fünfjahrplan. Und wenn der Fünfjahrplan beendet ist, dann kommt ein neuer. Genossen, die politisch klar denken, haben keine Schwierigkeiten. Alle persönlichen Probleme werden so gelöst, wie es eben möglich ist. Und wenn er dazu viel Zeit verbraucht, ist er eben kein guter Kommunist."
„Sehr richtig!"
„Ja, aber wenn jetzt die Reaktion eintritt? Auf dem einzelnen ist doch die Kollektive aufgebaut. Unsere Genossen sind durchweg alle sexuell unbefriedigt."
„Das kann ich gerade nicht behaupten", warf Ernst lachend ein.
Trude lehnte sich auf dem alten Plüschsofa weit zurück.
Ü ber ihrem Kopf lächelte das Leninbild.
„Ach, Doktor. Darüber gibt es soviel Theorien in Russland heute noch. Speziell über die sexuelle Frage. Da ist die Glas Wasser-Theorie, die Zehnmänner-Theorie, da sind die schwarzen Mucker, die Askese predigen; und während sie ihre Theorien aufstellen, löst die proletarische Jugend diese Fragen unter sich. Eben weil sie viel realer zum Leben eingestellt ist. Das sind sekundäre Fragen. Vielleicht muss man sich später damit beschäftigen. Aber das Grundlegende ist doch: Schaffung von gesunden ökonomischen Verhältnissen. Damit ist auch die sexuelle Frage gelöst. Die Schwierigkeiten, von denen Du sprichst, sind doch nur technischer Natur. Angst vor Empfängnis, wo sollen wir hingehen und so weiter."
„Jawohl. Im Park, im Hausflur. Da müssen sie sich herumdrücken. Gebt ihnen eine Bude und ein anständiges Bett, dann wird vieles besser", sagte Theo, als ob er aus eigener Erfahrung spreche.
Doktor war immer noch nicht beruhigt: diese Heuochsen, sie verstehen mich nicht. Karl stierte nach der Decke und dachte nach. Doktor fing wieder an, hartnäckig seinen Standpunkt zu vertreten.
„Sieh mal, Trude, ich meine jetzt nicht nur das rein sexuelle. Es muss doch in der Liebe auch etwas Psychologisches geben. Man kann doch da nicht einfach immer mitmachen. Ich brauche jedenfalls einen geistigen Kontakt und eine fördernde Umgebung... "
„Ja, natürlich... da kann man sich doch nicht einfach so hinlegen... Mensch, hör doch bloß uff! Unsere Parole ist: alles für die proletarische Klasse. Auch die Liebe. Dient sie dem Klassenkampf, fördert sie, gibt sie neue Kraft, dann ist es gut, egal, wie es die Menschen fertig gebracht haben. Stiftet sie aber Verwirrung und schafft sie Fesseln, dann fort mit ihr, dann ist sie kleinbürgerlich, sentimental und rückständig. Erst im freien sozialistischen Staat werden wir lieben können, wie wir wollen. So wie es jedem passt. Da gibt es nur Kameradschaftlichkeit und Sexualität. Das ist die Liebe, die nicht mehr abhängig ist von der Moral degenerierter Bürger und des Kapitals. Alles was im Dienste des Klassenkampfes steht, ist für uns gut und wichtig. Das andere geht uns nichts an. Und wer diese Fragen in den Mittelpunkt stellen will, stiftet Verwirrung in den unklarsten Köpfen und ist auch kein guter Kommunist."
Doktor sah sie betroffen an und setzte sich auf einen Stuhl.
„Jetzt hört aber mit dem Gequatsche auf", sagte Theo. „Ist gar nicht wichtig."
Es klopfte und Elli kam, Sie kam fast immer zu spät.
„Wo kommst Du jetzt her?"
„Musste Überstunden machen. Ein paar sind auf Ferien, aber jeden Tag geht die gleiche Post raus wie sonst. Da muss man doppelt arbeiten. Kein Vergnügen ... ."
Doktor sprang auf: warum war sie nicht früher gekommen? Vielleicht hätte ich eine Hilfe gehabt. Er gab ihr die Hand. Aber sie sah ihn ganz knapp an. Ihre Backen waren von einem leichten Rot überzogen und ihre Augen glänzten. Die anderen Genossen blieben sitzen. Als Gruß schlugen sie die Faust auf den Tisch, dass er wackelte. Alle setzten sich zurecht und Karl begann:
„Genossen, wir unterhalten uns jetzt ganz kurz über ein paar wichtige organisatorische Arbeiten. Wir können ruhig sagen, dass unsere Landagitation ein voller Erfolg war. Die Genossen, die wir mitgenommen haben, schlafen dort, wo unsere Genossen geschlafen haben, die jetzt nach Langendorf gefahren sind ... "
„Na siehste. Und Du hast erst so große Angst gehabt." „Der ,Junge Wühler' ist auch fertig. Bis auf einige Mängel kann man damit zufrieden sein. Man muss jetzt mit den Fünferführern den Vertrieb organisieren. Die Zeitung ist gerade jetzt zum Verbot der ,Jungen Garde' zur rechten Zeit erschienen. Aber der Hauptpunkt unserer Zusammenkunft bildet der schwächste Punkt unserer Arbeit: die Betriebsarbeit. Wir haben einen schweren Rüffel bekommen. Und das mit Recht. Uns nützt die Entschuldigung nichts mehr, wir haben keine Großbetriebe. Der Betrieb „Deutsche Telefunken-Werke" liegt in unserem Bereich und da muss jetzt mit aller Kraft vorgestoßen werden. Wie Ihr wisst, bestand dort eine Betriebszelle, die wieder eingegangen ist, weil man dort alle unsere Genossen und Sympathisierenden entlassen hat. Wir müssen einige Genossen bestimmen, die gleich mit den Vorarbeiten beginnen und dann alle Kräfte unserer Gruppe darauf konzentrieren. Ich glaube, dass alle Genossen von dieser Notwendigkeit überzeugt sind. Wir brauchen die Betriebsarbeiterjugend. Und dieser Betrieb gehört zur Metallbranche. Wir können dort die Frage eines siegreichen Metallarbeiterstreiks nicht stellen, wenn keine Betriebsgruppe vorhanden ist. Und sie wird geschaffen werden. Es muss einfach möglich sein. In einigen großen Metallbetrieben hat der Lohnraub unter den Jugendlichen schon eingesetzt. Die Jugendlichen werden ihre Forderungen neben denen der Erwachsenen stellen. Die Jugend der RGO. wird den Kampf organisieren. Wir haben noch nichts getan, Genossen; das muss sofort nachgeholt werden."
Trude saß da, ernst und nachdenkend. In ihr brodelte eine ansteckende Kraft. Doktor malte auf einem Stück Papier. Theo sprach:
„Richtig, Genossen. Ich werde mich nach Feierabend zur Verfügung stellen, trotzdem ich ja schon in einer Betriebszelle im Südosten bin. Aber das geht nicht mehr so weiter. Vor uns stehen entscheidende Fragen. Ich konnte mich um diese Frage weniger kümmern. Aber zum Donnerwetter, wir haben doch noch mehr
Genossen!-------Doktor! Was ist mit Dir? Willst Du die Arbeit nicht
ü bernehmen?"
Doktor schreckte auf. „Was? Ich hab gar nicht richtig hingehört."
„Das ist doch allerhand! Hört einfach nicht hin. Also, Doktor bekommt jetzt den Auftrag, die Vorarbeiten zur Gründung einer Jugendbetriebszelle bei ,Telefunken', Tempelhofer Ufer, zu organisieren. Die Genossen, die er dazu braucht, soll er sich aussuchen. Ich empfehle den kleinen Genossen aus Langendorf — den mit der Pfeife — und den neuen Genossen Erich Schmidt, der sich gut eingearbeitet hat."
„Also, Ruhe. Doktor und ich werden die Sache erledigen. Das ist besser so", meinte Karl.
Doktor pustete sich beleidigt auf. Er sagte in derselben Tonstärke wie Theo: „Ja, ich bin einverstanden. Natürlich. Brüll mich aber gefälligst nicht immer so an. Ich höre nicht schlecht!"
„Na. Du hast doch eben geschlafen", erinnerte ihn Elly.
Donnerwetter, von Elly hatte er das nun gerade nicht erwartet. Was war da los? Sie war doch sonst anders. — Der Mensch bleibt eben nicht stehen. Er geht weiter, wird klarer. — Noch dazu im Kommunistischen Jugendverband. Und Elly war einen großen Schritt weitergegangen. — Ihm wurde ganz heiß zumute, er verspürte aber keinen Zorn. Nur so ein ganz kleiner Wurm nagte in seinem Kopf und fraß raspelnd an seiner Ahnungslosigkeit.
Karl sprach weiter. „Die Antwort auf das Verbot der ,Jungen Garde' ist ungenügend. Man muss die Jungarbeiterschaft der umliegenden Straßen mobilisieren. Man muss eine Demonstration organisieren. Legal dazu einladen und illegal organisieren. Die beste Möglichkeit bietet sich beim Verkauf des ,Jungen Wühlers'... "
Theo richtete sich auf. Er hatte sich eifrig Notizen gemacht und hatte schon einen Plan.
„Ich schlage vor, gleich morgen eine Haus- und Hofagitation durchzuführen. Dabei können Zeitungen und Material verkauft und gleichzeitig auf die Demonstration aufmerksam gemacht werden."
„Jawohl, einverstanden. Will ein Genosse noch sprechen?"
Keiner meldete sich.
„Schön, gehn wir jetzt nach Hause. Doktor, Du musst Dich sofort an die Arbeit machen. Heute ist Montag und spätestens Freitag verlangen wir einen positiven Bericht. Besprich alles mit Karl."
„Mal sehn, ich werde es jedenfalls versuchen. Wird schon gehn."
Die Genossen standen auf und wollten gehen. Da besann sich Theo. „Wartet mal einen Moment, Genossen. Einige junge Arbeiter aus der Nostizstraße haben sich zu einer Klicke zusammengefunden. Man muss diesen Leuten zeigen, wie falsch sie handeln. Ich weiß, wann sie ihre nächste Sitzung haben und werde hingehen und mit ihnen sprechen. Weiter: Ihr kennt ja die Artikel, die der ,Angriff' über die Nostizstraße schreibt, von wegen ,rotes Chicago' und so weiter. Diese Artikel verfehlen auf die verbohrten SA.-Männer nicht ihre Wirkung. Der Nachrichtendienst meldet uns heute, dass die Nazis einen Sturm auf die Nostizstraße und auf das Lokal hier planen... ."
„Oho! Lass sie man kommen!"
„...darauf müssten wir eigentlich alle Tage vorbereitet sein. Man muss sofort alle Abwehrmaßnahmen treffen. Vor allem gilt es, die Bevölkerung darauf aufmerksam zu machen. Sie sollen ruhig ein paar Blumentöpfe mehr auf die Fensterbretter stellen... Die ,Rote Jungfront' werde ich benachrichtigen. Die haben ja darin mehr Erfahrung als wir und sie sollen die Leitung übernehmen. Weiter wird uns mitgeteilt, dass die Brüder Viktor und Hermann Rhoden bei den Nazis gelandet sind... ."
„Das hab ich mir gedacht."
„Ach, die armen, irren Freunde!"
„Wir werden mit ihnen sprechen müssen. Und wenn wir es geschickt anfangen, werden wir sie loslösen können. Stellen wir fest, dass sie sich an Überfällen auf Arbeiter beteiligen, werden sie als Faschisten behandelt. Solche haben in der roten Nostizstraße nichts zu suchen. So. das wäre alles."
Leise liefen sie die Treppen hinab Im Hausflur standen Edith und Kater. Sie taten harmlos, und Edith schüttelte ihr rotblondes Köpfchen, als ob sie sagen wollte: ist nichts gewesen, meine Lieben.
Die Straße war menschenleer. Nur an der nächsten Ecke stand wuchtig und sinnlos die allnächtliche Schupopalrouille. Ernst lachte und stieß Theo an.
„Du, da würde ich um die herum Plakate kleben. Die würden nichts merken Tun mir leid, die armen Kerls. Jede Nacht müssen die auf die Nostizstraße aufpassen."
„Na, ja", gab Theo schläfrig zurück, „irgendwie muss doch der Hass gegen die Kommunisten in ihnen organisiert werden,"
Doktor wollte mit Elly nach Hause gehen. Aber sie war auf einmal verschwunden. Er hatte das gar nicht bemerkt. Sonst sprach sie immer nach Sitzungen gern mit ihm und ließ sich die Seele waschen. Aber heute haute sie einfach ab. Er lief daher noch ein Stück mit Trude und legte seine altbekannte Platte auf.
„Sieh mal, Genossin Trude, ich meinte ja vorhin gar nicht nur die Liebe Es gibt doch Dinge im menschlichen Leben, die augenblicklich mit dem Kampf nichts zu tun haben. Die einfach... "
Sie unterbrach ihn auf eine grobe Art. Das tat sie sonst nie. Ihm ging heute auch alles gegen den Strich.
„Doktor, verschon mich bitte mit dem Gewäsch. Ich habe jetzt andere Gedanken. Komisch, darüber möchtest Du Dich gern unterhalten. Warum sprichst Du nicht über die anderen Fraßen, die wir behandelt haben. Über die Betriebszelle? Wenn Du Dich darüber mit mir unterhalten willst, bitte."
„Nein, eben das ist es ja. Das macht uns alle kaputt."
Er lief los. Unterwegs murmelte er: „Ach, diese Weiber..."
Am andern Abend hatte die „Klicke Edelsau"' ihre Sitzung. Vor einem Lokal in der Bergmannstraße standen Franz und Kater.
„Wer weeß, ob die Olle Lichtgeld verlangt?"
„Ach wat. Ick hab ihr doch gesagt, wir machen später großes Eisbeinessen."
Langsam kam einer nach dem anderen. Sie kamen gleichgültig, ohne Neugier.
„Na, wat steht Ihr hier?"
„Jeht man rin! Wir warten auf die andern, damit sie wissen, wo es ist."
Hinter dem Schanktisch stand eine fette Wirtin. Unter ihren Augen lagen ein paar ausgedörrte Tränensäcke. Als die Gäste kamen strich sie sich übers spärliche Haar.
„Wünschen die Herren etwas?"
Ihre Stimme war die einer Greisin. Sie piepste, überschlug sich und war lauernd. In ihren Backen schob sie etwas hin und her. Vielleicht einen Bonbon, vielleicht auch einen Priem. Nein, die Herren wünschten nichts. Sie hatten kein Geld Nur Franz kaufte sich einen Recher und sah die anderen knurrend an.
„Mensch, een Becher könnt Ihr Euch doch bestelln. Wat is denn det... ." flüsterte er.
„Bestell doch, wenn Du willst. Hauptsache, Du bezahlst", gab Spinne ebenso knurrend zurück.
Im Schaufenster stand ein großes Vogelbauer. Da sprang eine alte, sehr alte Dohle drin herum. Hinter dem altklugen Köpfchen hatte sie eine rote Stelle. Sie krächzte erbärmlich, legte den Kopf weit auf die Seite und sah frech und herausfordernd die Gäste an. An der Tür zum Vereinszimmer hing ein kleines Pappschild: „Das Fangen von Schmetterlingen und Vögeln ist in meinem Lokal verboten. Der Wirt." In der ganzen Bude roch es nach kaltem Rauch und abgestandenem Bier. Der Geruch setzte sich sofort in die Kleider. In einer Ecke stand ein eiserner Kanonenofen und daneben ein schmutziges, graues Plüschsofa. Verschüchtert räkelten sich die Jungens. Die Wirtin legte eine Platte auf, und das Grammophon quakte: „Auch Du wirst mich einmal betrügen, wirst mich nicht immer lieben!" Kater feixte sich eins und sagte schmalzig, als ob ihm das Herz auseinander reißen wollte: „Ach, ja." — Edith und Frieda kamen. Frieda war scheu, sie sah sich ständig um und setzte sich dann auf einen Stuhl. Edith lächelte, ihr Haar leuchtete, und sie trat gleich wie ein verschwitzter Bauarbeiter an die Theke. Jeder dachte, sie bestellt sich jetzt einen großen Korn und 10 Juno. Sie sagte aber nur mit leiser Stimme:
„Ein Glas Himbeerwasser."
Die Wirtin nahm die Bürste, fuhrwerkte damit in einem Glase herum und warf es ein paar Mal im Spülbecken ärgerlich hin und her.
„Los, woll'n wir anfangen."
Sie gingen in das kleine Vereinszimmer. Die elektrische Lampe war für den kläglichen Raum viel zu hell und blendete die Augen An der Wand hingen Bilder in verschnörkelten Bilderrahmen. „Der Ausflug des Sparvereins ,Goldene 7' am 14. Februar 1909." Und darüber eins mit dicken, nackten Männern. Sie hatten Brüste beinahe wie Weiber, und vor ihnen standen Zentnergewichte. Die Wirtin kam hereingefegt und nahm die Decken von den Tischen. Sie knüllte sie unter dem Arm zusammen und brummelte dann: „Ist wohl nicht nötig, wa?"
„Nee, is bei uns janich nötig", echote Kater zurück.
Franz setzte sich hin wie ein kleiner Bonze. Sogar ein kleines blaues Heft hatte er vor sich auf den Tisch gelegt. Der Ordnung halber. Dann machte er ein furchtbar ernstes Gesicht, und die anderen mussten grinsen.
„Wat lacht Ihr denn, Ihr Affenköppe?" Wieder kicherten sie, und Edith platzte laut los.
„Du alte, rothaarige Hexe! Hör uff zu lachen. Wir machen jetzt unsere Sitzung ... "
Komisch, die anderen lachten trotzdem weiter, und Spinne konnte sich nicht mehr halten.
„Halt mir feste, Mensch, ick muss wiehern. Junge, ick muss wiehern."
Franz wurde wütend, lieber die Nasenwurzel legten sich wieder die kleinen, ärgerlichen Falten. Er sprang auf und schlug die Faust auf den Tisch.
„Zum Donnerwetter — was ist denn los? Wenn Ihr nicht ruhig seid, machen wir eben keine Sitzung!"
Langsam wurde es ruhiger. Die Wirtin kam noch einmal schwer fällig und bissig herein.
„Wenn Sie wat bestellen wolln, da is die Klingel. Da brauchen Se bloß ruff zu drücken."
„Na, passt mal uff", sagte Orje, „zu einer Sitzung gehört vorher ein Lied Denn wird ooch die Stimmung anders."
Auf die Stimmung kam es an, und sie sangen dann auch ein romantisches Lied.
Die anderen Lieder singen sie lieber draußen, damit es die Leute hören und sich ärgern. Sie zeigen sich nicht so öffentlich in ihren Stimmungen. Kein Mensch wird die Psyche des jungen Proleten erkennen. Es sei denn, ein junger Arbeiter packt sie vor ihm auf den Tisch, so wie sie ist.
„Als schon der Vollmond hintern Hügel trat,
Saßen beim Feuerschein
Einsam ein Cowboy und sein Kam'rad;
Kam'rad schaute traurig drein.
Drauf spricht der andre:
Komm, Jim, und wandre,
Wandre mit mir zur Stadt.
Schlag dir das Mädel wohl aus dem Schädel,
Das dich betrogen hat.
Wo weilt sie jetzt... ?"
Statt ,Mädel aus dem Schädel schlagen sang Kater: „Schlag doch der Dirne eins auf die Birne." Und Edith knallte ihren zierlichen Schuh gegen sein Schienbein. Jetzt waren alle vernünftig. Stolz begann Franz: „Wir machen heute unsere erste Sitzung. Zuerst müssen wir festlegen, wie viel Beitrag jeder zahlen soll... "
„Wat, Beitrag?"
„Du bist wohl verrückt geworden!"
„Haltet doch Eure Fressen! Beitrag muss doch gezahlt werden, das ist doch überall so."
„Von was soll denn die Fahne bezahlt werden? Und dazu ist es auch ganz gut, wenn wir eine Kasse haben... "
„Jawohl, janz richtig!"
„Wenn jeder zehn Pfennig Wochenbeitrag bezahlt, denn ist das nicht zu viel. Dann brauchen wir auch einen Kassierer, Wer soll den Kassierer machen?"
„Orje! Orje!"
„Nee, een Mädel. Edith. Ick schlage Edith vor."
„Ach, die versauft det ganze Geld."
Edith pustete sich auf; sie ließ sich nicht alles gefallen.
„Rutscht mir mal den Buckel runter mit Eure dämliche Kasse."
„... Also, Edith, willst Du Kassiererin werden?"
„Wie sich det anhört: ,Willst Du Kassiererin werden?' Klar. Mensch, erst muss aber mal eine Kasse da sein, Ihr Idioten."
„Na, na. Pust Dir man nich so uff, Fräulein. Bei uns herrscht Bildung, vastehste!'
„... Schön, Edith ist Kassiererin. Jetzt wegen der Fahne. Alle Klicken sind grün-weiß, wir natürlich auch. Also machen wir eine grün-weiße Fahne."
„Na, hört mal her", sagte Gustav, „grün-weiß, schön. Aber wat rotet muss doch auch bei sein. Machen wir eine grün-weiße Fahne und oben in der Ecke eine rote Gösch!"
„Unsinn", donnerte ihn Franz an. „kommt nicht in Frage. Bei uns wird keine Politik getrieben."
Was sollte man dazu sagen? Franz setzte ja doch immer seinen Kopf durch.
Gustav wagte trotzdem noch einen schüchternen Einwand:
„Wenn da ein bisschen Rot zwischen ist, so ist das doch noch keine Politik. Das schadet doch nichts. Schließlich sind wir doch alle... "
Die Tür ging auf, und lächelnd kam Theo ins Zimmer. Erst staunten die Leute, dann wurden sie auf einmal alle unruhig. Franz Knirschte hörbar mit den. Zähnen und senkte angriffslustig den Kopf wie ein anspringender Boxer. „Hoho! Du hast Dir wohl verloofen, wat? Kommt hier einfach so rin, der Mensch."
„N'abend, Jungens! Ihr habt Euch verloofen, wie ich sehe. Was ist denn das hier für eine Zusammenkunft? Ku-Klux-Klan — oder die blutige Hand?"
Franz ging seelenruhig auf ihn zu.
„Hör mal, mein Lieber, Du kommst hier reingeschneit und fängst gleich an zu flaxen. Wir sind jetzt eine Klicke, verstehst Du?"
Franz wusste, dass es sich in dieser Situation dumm angehört hätte, wenn er den Namen der Klicke nannte Den wusste ja auch Theo längst Und verstanden hatte er auch. Jeder, außer Franz, kam und gab ihm die Hand.
„Willst Du bei uns eintreten?"
„Komm man, wir brauchen noch einen Wanderlehrling."
„Ruhe jetzt! Setzt Euch wieder hin und lasst Euch von dem da nicht verrückt machen."
Theo stand da, mit einem seltsamen Lächeln. Er warf seine blaue Mütze mit dem Fliegerabzeichen geschickt auf einen Kleiderhaken. Seine grauen Augen glänzten freundlich. Er setzte sich hin und schlug die Beine übereinander. Seine Gamaschen waren blank geputzt, und die Lampe spiegelte sich darin Eine unruhige Pause trat ein. Die meisten schämten sich ein bisschen vor Theo. Warum, wussten sie nicht. Der war immer so offen. Und nicht so grob wie der Franz. Er war viel, viel klüger und hatte für alles Verständnis. Die meisten hatten mit ihm gemeinsam die Schulbank in der Gneisenaustraße gedrückt. Jedenfalls hatte Theo viel Sympathie.
„Was ist los, was willst Du?" fragte ärgerlich Franz.
„Ich will Euch was erzählen, damit Euch die Zeit nicht lang wird "
„Haste gehört, Spinne?" sagte Kater fröhlich, „er will uns was erzählen, die süße Sau. Ach, komm, Theo, nimm mich in Dein Nachthemd."
Wieder setzte schallendes Gelächter ein. Franz wurde immer ohnmächtiger Er fühlte den Beginn eines Zersetzungsprozesses. Die Klicke, seine Klicke war gefährdet.
„Hör mal, mein Lieber. Erst hast Du mir danach zu fragen. Ich bin hier Klickenbulle."
„Natürlich, Fränzchen. Du bist der Klickenbulle Das ist doch ganz klar. Ich will Dir ja auch Deinen Posten nicht wegnehmen."
„Ja doch, Mensch, lass ihn doch erzählen, Franz. Die anderen Sachen haben ja noch Zeit."
„Die haben eben keine Zeit!"
„Ach, natürlich. Hab Dir man nich so."
„Los, Theo, erzähle."
Vorsichtig und tastend begann Theo zu reden. In seiner Stimme lag so viel wahre Freundschaft und dann wieder ein bisschen Zorn. Viele der Jungens verzogen nachdenklich die Lippen, während er sprach. Von Franz her schob sich eine wachsende Kühle heran. Theo zeigte keinen Groll. Er bedauerte sie auch nicht in ihrer erbärmlichen Hoffnungslosigkeit. Er sagte einfach das, was da war, Und in ihrer Sprache.
„Hört her, Jungens. Ihr habt jetzt eine Klicke gegründet. Mich wundert nur, dass Ihr es nicht schon früher getan habt. Das macht doch viel mehr Spaß: so alle zusammen. Ihr wollt eben irgendwie mal den ganzen Dreck vergessen. Aber darauf kommt es nicht an! Ihr dürft nicht vergessen, dass man Euch verkommen lässt! Ihr seid jung, steht mitten im Leben. Aber wie sieht Euer Leben aus. Was soll ich Euch da einen großen Salm vormachen Wie Ihr zu leben gezwungen werdet, wisst Ihr ja am besten, das spürt Ihr ja selber. Was ist der Sinn Eurer Klicke? Ist das ein Weg zur Verbesserung Eurer Lage? Keiner wird ja sagen können. Nur der oder jener wird etwas von Unterhaltung quatschen. Ihr braucht diese Unterhaltung nicht. Ihr spielt herum und wandert genau so wie die Latscher. Zwischen Euch und ihnen besteht kein Unterschied. Ihr schwindelt Euch alle etwas vor. Ihr wollt einfach nicht ständig an Eure Lage erinnert sein. Das ist falsch. Gott sei Dank seid Ihr alle miteinander noch knorke Kerls. Euch hat die bürgerliche Gesellschaft noch nicht zu Lumpenproletariern gemacht. Aber dorthin führt Euer Weg, meine Lieben. Und wenn Ihr dort seid, taugt Ihr nichts mehr für Eure Klasse, dann seid Ihr verloren. Und das wollen meine Genossen und ich verhindern, deshalb komme ich her und spreche mit Euch ganz kameradschaftlich. Alle seid Ihr aus der Nostizstraße. Und die ist rot. Aber auch Euch brauchen wir. Gerade jetzt in diesem Moment brauchen wir Euch, Jungens: wo die Arbeitsdienstpflicht auf der Tagesordnung steht, wo immer neue Notverordnungen geschaffen werden, wo Euch immer mehr an der Unterstützung abgebaut wird, wo die Faschisten immer frecher werden, wo die Klassenjustiz unsere Freunde Hoffmann und Achtenberg zu 8 Jahren Zuchthaus verurteilt hat. Wollt Ihr Euch das gefallen lassen, Jungens? Ihr müsst kämpfen. Ihr müsst raus aus Eurer Gleichgültigkeit, müsst Stellung nehmen. Und Widerstand leisten. Wenn Ihr andere für Euch verbluten lasst und in die Zuchthäuser stecken lasst, dann gut, landet auf dem Misthaufen des Lumpenproletariats oder der Kleinbürger, nehmt alles geduldig hin, haltet Eure Schnauzen und kuscht. Immer haben wir gekuscht. Besinnt Euch nur. Aber dann wollen wir mit Euch nichts mehr zu tun haben."
Theo hatte sie aufgerüttelt. Leichter Schrecken stand in ihren Augen, und die Gesichter wurden ernst. Keiner sprach oder sah den
anderen an. Niemand hatte Lust zu reden. Ihre letzte Freude war ihnen genommen: die Freude an der Klicke. Sie wussten nicht, wie lange. Aber jetzt war alles aus. Ihnen war wie einem, der tagsüber in der Bude sich auf den Feierabend freut und dann abends feststellt, dass er ein Dreck ist. Ein Dreck mit Ärger und Hass und Stunk. Edith seufzte, Kater, Gustav, alle seufzten. Still und beklommen saßen sie da. Alles war erstarrt, und erst nach einer geraumen Weile löste sich die dumpfe Beklemmung, Sie löste sich ab wie Schalen, blieb aber ganz dicht neben ihnen liegen. Greifbar, mit kichernder, höhnischer Fratze... Einer begann:
„Na, ja, Du hast recht. Aber... " Weiter sagte er nichts mehr. Kater meinte kleinmütig: „Du hast gut reden, Theo." Edith begann wieder zu lächeln. Sie war ja so ahnungslos. Spinne kratzte sich den Kopf, und Gustav wäre am liebsten getürmt. Plötzlich sprang Orje auf und schlug mit der Faust auf den Tisch.
„Natürlich hat er recht! Natürlich hat er recht. Aber wir sind Feiglinge. Wir haben sogar Peikbeen im Stich gelassen. Kein Schwein fragt sich auch nur einmal: warum ist er verhaftet worden; warum muss er vier Monate sitzen?" Ihm ging die Puste aus. Er schwitzte, wischte sich mit einem schmutzigen Taschentuch das Gesicht ab und sank dann auf seinem Stuhl zusammen.
Die Klicke versprach, an der nächsten Demonstration teilzunehmen. Das andere wollten sie sich alle überlegen. Sie trotteten nach Hause. In ihre Stumpfheit war ein kleines Loch gerissen worden. Das prickelte im Kopf, wenn sie nachts im Bett lagen, warf sie hin und her und stimmte nachdenklich.
Theo traf am gleichen Abend Trude bei Othello. Sie war aufgeregt und ärgerlich. Sie schlug Krach und berichtete: in der Gneisenaustraße gibt es eine Lederfabrik, Dort arbeiteten 25 junge Arbeiterinnen. Beim letzten Lohntag hat man ihnen kurzerhand zehn Prozent vom Lohn abgezogen. Keine von ihnen war irgendwie organisiert. Einmütig traten sie in den Streik. Sie stellten Streikposten, jagten die Mädels, die der Nachweis geschickt hatte, zum Teufel Zwei von ihnen wurden von der Polizei verhattet, zum Polizeipräsidium gebracht und wegen Hausfriedensbruchs zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt. Sie konnten sich nicht länger halten; gestern wurde der Streik abgebrochen. Über die Hälfte der Arbeiterinnen wurde nicht mehr eingestellt. Heute erhielt Trude von einer den Bericht. Theo staunte, und Trude lief aufgeregt hin und her.
„Und wir Ochsen wissen von nichts. Wir hätten den Streik führen müssen. Wir hätten die Mädels zusammenfassen müssen. Keiner hat sie unterstützt. Die Partei weiß von nichts, die RGO. weiß von nichts, und wir wissen von nichts."
„Ja, ein verfluchter Dreck! Da sieht man, wie wir gearbeitet haben. Na, das muss endlich anders werden. Jetzt heißt es: Betriebsarbeit und nochmals Betriebsarbeit."
Trude konnte sich immer noch nicht beruhigen. Sie sagte so etwas, wie „die Gruppenleitung zur Verantwortung ziehen" und „die Haare könnt' ich mir ausraufen". Karl kam hinzu. An dem ließ sie ihre Wut aus. Der arme Knabe kam sich mit Recht geprügelt vor und ließ den Kopf hängen. Er machte sich Notizen und schob ohne Gruß gleich wieder ab.
Das Radio spielte. Man hörte die ersten Klänge des Deutschlandliedes. Othello sprang zum Apparat und drehte an den Schrauben. Auf einmal war es still im Laden. Die Gäste waren befriedigt, und Othello fluchte. Ein paar stramme Burschen saßen am Tisch und rauchten. Sie schienen gleichgültig und waren ruhig. Keiner von ihnen trank Bier. Ein langer, mit Tabakspfeife und Schiebermütze, stand auf und polterte die Treppen hinunter. Er sah aus wie Nat Pinkerton. Ganz in der Ecke, am Ofen, saß Erich Schmidt. Vor ihm lag „Die Rote Fahne". Theo setzte sich zu ihm und schlug ihm auf den Rücken.
„Na, liest Du?"
„Ja, früher hab ich das Zeug nicht verdauen können. Aber heute komme ich ohne „Rote Fahne" nicht mehr aus. Nur die verfluchten Fremdwörter."
„Ja, die sind schlimm, mein Lieber. Kannst nichts machen gegen. Es gibt auch bei uns Leute, die alles in hochtrabende Worte kleiden müssen. Aber ist nicht weiter schlimm. Wirst sie schon lernen."
Theo war schläfrig Er bestellte zwei Mollen Halb und Halb. Othello kam schwerfällig und stellte sie auf den Tisch.
„Na, Jungs, was Neues?"
„Nee."
Theo brachte das Gespräch auf Elly.
„Ist eine bessere Genossin geworden, als ich dachte. Hat sich in der letzten Zeit sehr gut entwickelt."
Erich wurde rot und sah verlegen zur Seite.
„Wie viel ,Wühler' hast Du verkauft?"
„Heute 35 Stück", sagte Erich und fuhr flüsternd fort: „Du, die beiden Rhodens wollen mich werben. Ich soll mal einen Ausmarsch mitmachen."
„Dufte. Wann?"
„Sonnabendnacht bis Sonntagfrüh. Ich hab gesagt, ich werde es mir überlegen."
„Ist gut. Schadet auch gar nichts, wenn Du mitfährst und einen Bericht anfertigst."
Sie rauchten und plauderten nebensächliches Zeug. Was sollten sie sich auch groß erzählen? Jeder wusste, was er zu tun hatte.
Erich traf sich mit Hermann und Viktor in der Yorkstraße; von da aus gingen sie zum Sammelplatz am Halleschen Tor. Erich begrüßte die andern mit „Guten Abend!" Viktor puffte ihn in die Seite. „Du, das gibt es bei uns nicht, hier musst Du ,Heil' sagen. Das ist unser Gruß."
Bald hatten sich zwanzig bis fünfundzwanzig Leute versammelt; gutmütig aussehende Burschen, Kerle mit der Fresse der Fememörder und ahnungslose Kleinbürgersöhne. Ein etwas dicker Herr war darunter, die Mundwinkel blasiert herabgezogen. Fast alle trugen die graue Kleidung des alten Heeres, nur wenige hatten Windjacken. An den Beinen sah man Wickelgamaschen und Bärenstiefel. Ein langer Kerl kam stolz gelaufen, knallte die Hacken zusammen, rief übermäßig laut „Heil" und verschwand in einem Lokal am Landwehrkanal. Nach einer Weile kam er wieder heraus, auf den Kopf die Mütze des Kronprinzenregiments gestülpt, stolzierte mit Offiziersgesten auf und ab und ließ sich bewundern. Der Kopf war für den langen Kerl viel zu klein, die Mütze passte ihm nicht recht. Einer war da, der musterte jeden der Anwesenden, dann gab er leise Befehl, auf die Straßenbahnlinie 96 zu steigen und bis Machnow zu fahren, „ohne Aufsehen zu erregen".
Die Jungens waren stabil gebaut, sie versuchten, sich proletarisch zu benehmen. Ein Bursche plapperte in der Straßenbahn davon, dass er früher auch mal beim RFB. gewesen sei und die Fahnenspitze mit einem wollenen Lappen geputzt habe. Erich fragte ihn, wo er denn damals gewohnt habe. „In der Nostizstraße, mein Lieber. War in der Kameradschaft Kreuzberg.“ Erich hatte ihn noch nie gesehen. Aber der Kerl wurde ja auch von seinen Kameraden als „Angeber" bezeichnet. An vielen Haltestellen stiegen, einzeln oder in Gruppen, neue Sturmabteilungsleute ein. „Wer weiß, wird’s regnen?"
„Ach wo! Wenn wir rausfahren, nicht! Frontsoldaten fragen auch nicht danach, wie das Wetter wird, Du Muttersöhnchen."
In der Ecke neben Erich unterhielten sich die beiden Rhoden mit etlichen unbefriedigt dreinschauenden Jünglingen:
„Ja, sollten wir nun mit Schulterriemen kommen oder nicht? Ich bin der Meinung ... "
„Uns hat der Stuf erklärt, der Schulterriemen bleibt zu Hause." „Ich bin aber anders informiert. Mit Euch zu debattieren, hat ja gar keinen Zweck."
Der Sturmführer erschien, warf böse Blicke umher und beendete den Streit.
An Erich schob sich der lange Kerl mit der Kronprinzenregimentsmütze heran. Er schnarrte: „Sitzt falsch. Uff die andere Seite. Wie siehste denn aus?" Dabei deutete er auf Erichs Brotbeutel, der an der rechten Seite hing, während ihn die Nazis auf der linken Seite trugen.
Eine Dame stieg ein; sie wollte wahrscheinlich nach Teltow zum Vergnügen und hatte sich dementsprechend aufgetakelt. Die Rauhbeine im Wagen markierten Kavaliere, rückten zusammen und nahmen sie in ihre Mitte. Nach einer Weile sagte jemand eine Schweinerei, die Jüngsten kicherten, andere wieder grienten nur verstohlen. Als die Dame an einer der nächsten Haltestellen ausgestiegen war, schimpfte der Gruppenführer: „Wenn Leute dabei sind, lasst gefälligst die Sauereien, verstanden! Was sollen die Leute sonst von unserer Bewegung denken? Auf die fällt es doch letzten Endes zurück. Also, kommt nicht wieder vor."
Die Gerüffelten schwiegen und senkten den Kopf. Die Straßenbahn schaukelte jetzt durch Rieselfelder; es war neun Uhr abends. Die Machnower Schleuse war der allgemeine Treffpunkt. Es ging über eine Brücke hinein in den Wald. Überall Flüstern und glimmende Zigaretten. Alle waren gespannt in Erwartung.
Nach einer halben Stunde pfiff jemand. Viktor nahm Erich an der Hand und rannte mit ihm los. Hermann fiel fluchend über einen Baumstubben. Ein Mann, den niemand sehen konnte, gab Befehle.
„Achtung! Au—gen ke—ra—de aus!! Links — um! Rechts — um! Alle, die nicht versichert sind, vortreten!"
Erich trat vor die Front, zugleich mit ihm ein dicker Junge in Halbschuhen und Mantel
„Sie machen die Übung auf eigene Gefahr und Risiko mit. Sie scheinen noch nicht zu wissen, dass wir eine SA.-Versicherung haben! Kehrt — Marsch!"
Für diejenigen, die sich verlaufen oder „blind" gehen sollten, wurde das Marschziel angegeben.
„Achtung! Uhren stellen: es ist jetzt genau neun Uhr achtunddreißig. Fertigmachen! Im Gleichschritt — Maarsch! Links, zwei, drei, vier, links, zwei, drei, vier!"
Ungefähr zweihundert Mann marschierten los, eingeteilt in Stürme, Trupps und Scharen. Die Nacht war still und schön. Manchmal flüsterte einer, dann brüllten die andern los: „Maul halten! Schmeißt doch den Kerl raus, der versaut ja alles!"
Der vorn brüllte wieder und kam nach hinten gerannt: „Vordermann halten! Was ist denn da schon wieder?! Oh Gittigittigit!"
Erich dachte: schade um die Jungens. Manche sind ganz sympathisch. Das macht denen nun Spaß, sich hier so dressieren zu lassen... Irgendwas brauchen sie doch...
Um Mitternacht kamen sie müde und abgehetzt in ein Dorf. Der Führer ließ halten und sagte flüsternd: „Hier sind zwei Lokale. In dem einen sitzt die Kommune, in dem andern das Reichsbanner. Also mosert nicht, wir sind in der Minderzahl, und unsere Schutzstaffel ist nicht hier. Wegtreten!"
Erich lief mit Viktor los. Im Lokal waren alte und junge Arbeiter. Die hatten alle braungebrannte Gesichter und harte Fäuste, die meisten rauchten Pfeife. Am Billard war Betrieb. Viktor bestellte großzügig drei Glas Bier und holte Äpfel aus dem Brotbeutel. „Da, die gibt uns der Alte immer mit. Früher gab’s das nicht, aber jetzt ist er schon viel vernünftiger geworden."
Hermann lehnte sich lässig zurück. Er war ärgerlich. „Was soll denn das dämliche Marschieren nun bedeuten? Man wird bloß müde; und dann die alte Großschnauze."
„Hör doch auf, Du verstehst eben nichts vom Gemeinschaftsgefühl. Das ist doch herrlich, so mit den Kameraden durch den Wald marschieren! Und kein einziger Jude ist dabei. Herrlich ist das! Bald werden wir den Marsch ins ,Dritte Reich' antreten."
Er sagte das so feierlich, beinahe zürnend, dass sich Erich zusammennehmen musste, um nicht laut loszulachen. Er dachte nur: armer, irrer Freund.
Wieder wurde eine Stunde marschiert. Dann ertönte das Kommando: „Marschordnung! Jetzt darf geraucht werden!" Die Gruppenführer liefen nach vorn.
Jedes Mal bei ,.Marschordnung" oder „Pause" wurde hinzugefügt: „Jetzt darf geraucht werden!" Das fiel Erich auf; er fragte Hermann, was das zu bedeuten habe. „Ach, gar nichts. Aber wir rauchen alle ,Sturm', das ist die Zigarette nationalsozialistischer Produktion, vollständig trust- und konzernfrei. Kein Jude ist daran beteiligt Aber ich rauche sie nicht mal gern, die schmecken lange nicht so gut wie eine ,Juno' und kosten fünf Pfennig. Hier hast du eine. Aber mach sie nicht schlecht, wenn Viktor dabei ist."
Immer weiter ging’s. Zoten wurden gerissen. Sie kicherten, wenn einer solche Worte im Munde zerkaute, waren wie die Kinder.
„Achtung! Die ganze Scheiße wegtreten!" Alles sprang in die Büsche und pinkelte. Zu Erich kam der lange Kerl, er knöpfte sich gerade den Hosenstall zu und sagte mit verstellter Stimme: „Tag, Kamrad! Sag mal, woher kennen wir uns bloß? Hab ich Dir nicht bei Verdun einen Granatsplitter aus der Brust gezogen?"
Erich antwortete: „Verschwinde hier!" und dachte: Natürlich, den trägst Du jetzt mit Dir im Kopf herum, Du langes Gelumpe. Der Lange war einen Moment verwundert, sah Erich knapp an und lief dann weiter. Er haute einen andern an: „Donnerwetter! Da treffen wir uns wieder! Wir waren doch zusammen am Isonzo, stimmts?"
„Ja, Du bist der Lange, der immer so gestunken hat, wenn die Granaten platzten, Siehste, jetzt kenn ich Dich."
„Ach, Du Affe! Versau doch nicht alles! — Nicht wahr das war ne Sache. Drei Meter unter Schnee gelegen und geladen und geschossen und geladen und geschossen, und zum Schluss haben wir überhaupt nur noch geschossen. Bin doch damals Offizier geworden, hab das Eiserne Kreuz erster Klasse, teurer Kamerad!"
Es liefen noch viele andere herum und unterhielten sich in dieser Art, auch Viktor. „Was? Woher wir uns kennen? Ich war bei Immelmann. Hatte mit meinem Fokker gerade zwei Franzosen abgeschossen, da kamst Du angesurrt. Dein ganzer Apparat hat gebrannt, und ich habe Dich gerettet. Mensch, das war ne Sache, wat, Kamerad?"
„Ja, ja, bloß mir gehts schlecht, ich habe eine alte Brandwunde, die ich damals abbekommen habe, bricht immer auf. Das juckt wie die Pest. Aber lass ma, bald fliegen wir wieder über Frankreich . . "
Es wurde schon schummrig, als sie an die Kemmelberge kamen. Ein anderer Trupp, der zu ihnen stoßen sollte, hatte sich verspätet, und sie mussten in die Büsche kriechen. Nach einer Weile großes Geschrei: „Ah, da sind sie ja! Da sind sie ja! Hurra! Hurra!"
„Da! da krauchen sie in die Büsche rum!" — „Haltet die Schnauze!" brüllte sie der Führer an. „Wir warten hier auf Euch." — „Ach so."
Jetzt war der oberste Standartenchef nicht zu finden, und sie mussten gemeinsam Grüßen und Ausrichten üben, Scheinwerfer tasteten sich zaghaft von weither an den Baumreihen entlang, bald polterten zwei elegante Autos über die holprige Chaussee. Erich dachte, dass es eine Parade geben würde, aber sie mussten durch einen feuchten Grund und auf lehmigen Wegen zu einer Lichtung im Walde krauchen. Hier wurden Fackeln angezündet, und die Trupps stellten sich im Kreise auf. Dann sprach der Osaf. Er knöpfte sich jede Gruppe vor. Viele wurden gelobt, andere getadelt. Er sagte auch, väterlich herablassend wie ein freundlicher Feldherr: „Euch muss man die Jacke vollhauen, wenn Eure Gruppe nicht in Ordnung ist!"
Seine Stimme wurde plötzlich feierlich: „Einer unserer Kameraden hat Hand an sich gelegt. Ich betone ausdrücklich, dass es eine Schande für unsere Bewegung ist. Wir haben alle den Glauben an unseren herrlichen Führer Adolf Hitler!"
„Eben deshalb hat er es ja getan", murmelte jemand ganz leise; manche hatten es gehört, sagten aber nichts.
„Das ,Dritte Reich' ist nicht mehr fern. Wir dürfen jetzt nicht verzweifeln! — Jede Gruppe hat einen kräftigen Mann zu stellen für eine Ehrenwache. Wir singen jetzt die erste Strophe von ,Die Fahne hoch!'
Dann zogen sie weiter. Der Weg wurde immer schlechter, Links und rechts Lehmlöcher. Der Dreck blieb zäh an den Schuhen kleben. Hermann knurrte ab und zu ärgerlich. Viktor träumte von seinem Flieger. Knappe Kommandos vorn, die man hinten nicht verstehen konnte. Der Zug hielt, und der Plan des Geländespiels wurde bekannt gegeben: das Gros wurde eingeteilt in drei Trupps; der eine Trupp soll verhindern, dass die beiden anderen in das Dorf gelangen. Das Dorf A hat zwei Zugangsstraßen und eine stark kommunistisch verseuchte Bevölkerung. Die Verteidiger waren die Rote Armee, während die Armee des ,Dritten Reiches' angriff. Erich und auch die beiden Rhoden gehörten zum Lehrkorps der Roten, das einen kleinen Weg bewachte, der von der Schule aufs freie Feld hinausführte, Patrouillen wurden ausgeschickt.
Es war kühl geworden, die Leute vom Lehrkorps froren und krochen eng an einer Mauer zusammen. Sie flüsterten. Einer ließ einen Furz, und ein anderer trat ihn dafür in den Hintern. Sie kamen sich wichtig vor und benahmen sich wie alte Frontkrieger. Ein Ostpreuße erzählte schaurige Geschichten von toten Russen, die des Nachts auf weißen Pferden über Felder reiten sollen und ohne Köpfe auf den Äckern herumsitzen. Er wurde ausgelacht, dann wurden die Jungens nachdenklich und still.
Einer von den Vorgesetzten kam: „Los, hin zum Dorfplatz! Hier beherrschen wir alles mit unserem schwerem MG. Dalli, dalli!"
Dort mussten sie wieder endlos lange warten. Das machte alles keinen Spaß mehr, sie wurden ungeduldig. Aber das gehörte auch zum Kriegspielen.
Plötzlich stürmte aus einer Straße ein dunkler Haufen Menschen. Sie rannten alles um, hatten gesiegt, und die Roten mussten sich ergeben. Erich wurde angerufen: „Halt! Bleib doch stehen! Du bist ja längst tot, rennst ja immer in der Feuerlinie herum!" Aber er kümmerte sich nicht darum, er hatte die Schnauze voll. Die SA.-Leute waren enttäuscht, das Spiel hatte irgendwie nicht geklappt. Aber da der Osaf geäußert hatte, dass er nur die Marschleistungen der Leute prüfen wolle, beruhigten sie sich bald wieder.
Der Marsch ging weiter. Die meisten hatten nasse Füße. Gesungen wurde nicht und gesprochen sehr wenig, es kam nicht mehr die richtige Stimmung auf. Um neun Uhr morgens gab es Mehlsuppe ohne Salz und Zucker. Nur wenige aßen mit Heißhunger, die meisten hatten gut belegte Stullen mit.
Viktor und Hermann wollten mit ihrem Sturm noch etwas unternehmen, aber Erich verdrückte sich und ging nach Stahnsdorf zur Straßenbahn.
Die Bahn war überfüllt. Mit Erich stiegen noch ungefähr zehn SA.-Leute ein. Sie waren alle in Stimmung und sangen Landsknechtlieder. Einige unterhielten sich laut über das Geländespiel: „. . . die ganze Kommune zusammengehaun, Kamrad! Dorf umzingelt, und dann auf sie!... ."
Die Leute staunten, ein alter Arbeiter sagte laut: „Ihr Arschlöcher!" Aber die Nazis waren so fröhlich, dass sie nichts hörten. Der lange Kerl war auch wieder dabei und gab schaurig an: „Kommt da so eine Granate rübergebrummt, die platzt, alles kaputt. Ich, mein Monokel ins Auge geklemmt, Monokel in Kakao gefallen, Monokel ganz geblieben, Kakao voll—stän—dig zertrümmert. Ne Sache, was Kamerad?"
Es wurde leerer im Wagen, und sie setzten sich. Einer schlief gleich ein und legte seinen Kopf schwer auf die Schulter des Nachbarn. Die Straßenbahn holperte und er rülpste dazu im Schlaf. Eine steinalte Frau stieg ein. Sie sah sich um, kein Mensch stand auf. Erich hatte keinen Sitzplatz. Die Frau war armselig gekleidet. Um die Schultern hing ihr ein zerfranstes Umschlagtuch. Aber die Rauhbeine saßen da, als wenn sie auf einer Tonne weichen Kaugummis hockten, die meisten starrten aus dem Fenster und zählten die Pflastersteine, die übrigen stellten sich schlafend Sie waren ja auch müde, die ganze Nacht marschiert und gekämpft. Die Frau schob die Tür auf und ging auf den Vorderperron. Nach einer Weile kam sie zurück, es war zu windig draußen. Ein Mann mit Hornbrille, der ein kleines Kind auf dem Schoß hatte, stand auf: „Setzen Sie sich! Hier im Wagen befinden sich anscheinend ein paar betrunkene Lümmels." — „Erlauben Sie mal! Meinen Sie etwa uns damit?!"
An der Gneisenaustraße stieg Erich ab und lief nach Hause.
Am Abend traf er Theo zusammen mit Trude.
„Na, wie war’s?"
„Aus den Übungen bin ich nicht recht schlau geworden, die waren alle versaut. Aber ich. habe andere Beobachtungen gemacht. Ist ganz interessant, da mal so mitmachen."
„Mach einen Bericht für den Gegnerobmann, Erich! Vielleicht kann er was brauchen davon. Mal sehn, wenn’s geht, werden wir auch was in unsere Zeitung setzen. Bist Du müde?"
„Au, saumäßig. Jetzt hau ich ab, ich schlaf erst ein paar Stunden. Rot Front!"
Am Montagabend saßen Hermann und Viktor in ihrer Stube beisammen. Sie bekamen jetzt regelmäßig eine Zeitung zugeschickt, die von oppositionellen SA.-Leuten zusammengestellt wurde. Auf der Titelseite war das Bild eines stämmigen SA-Mannes in Uniform, der eine Fahne in den Fäusten hielt. ,Sprachrohr' war der Titel der Zeitung, ,herausgegeben von den aufrechten Soldaten der deutschen Revolution'. Viktor brachte die Nummern jedes Mal seinem Gruppenführer, aber Hermann hob sie sorgfältig auf.
Er hatte Nr. 4 vor sich liegen und las aufmerksam einen Artikels
„Ein Ablenkungsmanöver! Wie unser Wahrheitsverkünder, der ,Angriff, Euch beinahe täglich erzählt, klaut uns die Kommune unsere Parolen und geht damit hausieren. Russland hat bekanntlich den Fünfjahrplan. Was lag näher, als die Praxis, die wir seit Jahren verfolgen, fortzusetzen und die Arbeitsmethoden der Kommune nachzuahmen, wie üblich im Westentaschenformat. So entstand also unser so genannter Zweimonatsplan, der eine ziemlich jämmerliche Nachäffung des Fünfjahrplans darstellt. Was will der Zweimonatsplan? Innerhalb dieser Zeitspanne soll der Mitgliederbestand unseres Gaues verdoppelt werden. Ganz im Gegenteil zu dem sonst immer betonten Auslesebetrieb wird man wohl dazu übergehen müssen, alles, was nicht gerade polizeiwidrig dof ist, in die Partei zu pressen. Insbesondere wird man wohl in Anbetracht der katastrophalen Finanzlage des Berliner Gaues Wert darauf legen, kapitalkräftige Revoluzzer zu gewinnen, die dann in den vordersten Reihen der Stoßtruppen für das ,Dritte Reich' kämpfen sollen. Das kann eine schöne Entwicklung geben! Seht Euch doch heute schon einmal in Euren Sektionen um, Ihr werdet kaum einen Arbeiter finden. Was Ihr seht, sind Spießbürger, Konjunkturritter und ähnliche Dunkelmänner, die aus opportunistischen Gründen sich in die Partei aufnehmen ließen. Und wo noch Arbeiter stecken, stellt man fest, dass sie nur noch passive Mitglieder sind, von ernsten Zweifeln an der Parteileitung befallen. Im Grunde genommen will man sie auch gar nicht mehr haben. Hoffen die paar revolutionär eingestellten, ehrlichen Sozialisten, die es bei uns immer noch- gibt, wirklich, mit solchen Mitteln die innere und äußere Befreiung Deutschlands erringen zu können? Das Gegenteil wird der Fall sein. Wir paar ehrliche Sozialisten werden von den neu Hinzukommenden ganz an die Wand gedrückt und kalt gestellt werden. Nicht der Arbeiter kommt zu uns, sondern derjenige, der glaubt, bei uns Pfründe erobern zu können. Die sechshundert Bewerbungsschreiben an den ,Angriff sprechen eine deutliche Sprache. Seht Euch unseren Gau an. Wo findet Ihr da noch Arbeiter? Offiziere und Akademiker sind dort tonangebend. Wo waren die Leute, die heute das Heft in der Hand haben, in den Anfängen der Partei, als wir, gejagt von der Kommune, unsere Schädel hinhielten im Kampf um das ,Dritte Reich', an das wir alle einmal inbrünstig geglaubt haben?" Hermann presste die Lippen aufeinander. Er sah starr auf den Fußboden. Seine Hände zitterten nervös. Er wusste: Das war kein Judenschwindel, das war die Sprache eines ehrlichen, nationalsozialistischen Arbeiters, der noch an die Revolution Hitlers glaubt. Dann las er weiter: „Wir sind betrogen! Die Partei ist heute ein hohler Koloss auf tönernen Füßen, den ein gar nicht zu kräftiger Windstoß zu Fall bringen wird. Der Zweimonatsplan zerstört noch mehr das Fundament. Der Koloss aber wird sich vergrößern, um dann umso eher zusammenzukrachen. Denkt an alles, was innerhalb des letzten Jahres geschehen ist, welchen Weg die Partei gegangen und welchen sie noch gehen wird. Den Weg in die Koalition mit den Brüning-Jesuiten und Kohlenbaronen, den Chemiekönigen und Bankfürsten, den Weg des Abbaues der Sozialfürsorge und des Arbeitslohnes. Das ist der Weg der finstersten Reaktion! SA.-Mann, Parteigenosse, willst Du diesen Weg gehen? Nein! Steuer herum und fest in die Hand genommen! Unser Ziel sieht anders aus!"
Das war eine harte, bittere Sprache. Hermann ließ das Blatt sinken und staunte. „Das ist so, Viktor. Ich hab doch auch meine Augen offen gehabt."
„Du bist ja wahnsinnig! Du hast keinen Glauben an die Idee, Du bist ein Nörgler. Alles, was andere sagen, glaubst Du. Aber unsere Schriften lässt Du links liegen!"
Hermann stand auf und sagte laut: „Weil die mir nichts bieten! Ich habe doch das Programm von Feder gelesen, das ist so kahl, so kahl und hohl sage ich Dir, ich lese schon, mein Lieber. Und das hier haben nicht andere geschrieben."
„Das glaubst Du, aber ich nicht. Das bringt nur so ein jüdischer Schmierfinke fertig."
„Ach so! So tust Du alle sachlichen Argumente ab: alles ist Schwindel. Aber hier — die Leute sind doch genau informiert: hier ist ein Bericht vom Parteitag, hier ist der Bericht eines SS.-Mannes, wie sich Hitler in Berlin bewachen ließ, hier schreiben sie über die Verhältnisse im Gaubüro, wo man Friedrichstadtnutten Karten zum Sportpalast schenkt und einfach mit Bleistift die Preise ändert. Das müssen doch Leute von uns sein. Vielleicht ist einiges übertrieben. Ich will jedenfalls nicht nur gehorchen, wie Hitler sagte, ich will überzeugt sein, will wissen, wofür ich kämpfe. Die erste Zeit ging das ja. Aber ich finde nicht das Wissen, das ich brauche. Unsere Gegner können uns alles widerlegen. Vor allem die Sache mit Leutnant Scheringer hat mir zu denken gegeben, hier liegt eine Broschüre von ihm, seine Briefe aus der Festung."
Viktor verzweifelte daran, seinen Bruder zu überzeugen. Er brüllte darum seinen Bruder an: „Alles Schwindel! Alles Schwindel! Scheringer ist von jeher ein Schwindler gewesen!"
„Ach so. Und damals hatte ihm die Partei ihre großen Erfolge zu danken. Denke nur an den Prozess der Ulmer Offiziere, da war er für uns der Mustertyp des deutschen Offiziers. Genau so, wie es mit den Bombenlegern von Schleswig war. Zuerst waren sie unsere Bauern, wir haben sie für unsere Propaganda ausgenützt, und heute laufen die zur Kommunistischen Partei. Die kümmert sich als einzige Partei um Klaus Hein, und der Bauernführer Salomon gibt die Erklärung ab, dass er mit dem Bauernhilfsprogramm der KPD. einverstanden ist."
„Ja, weil er ebenso wenig Glauben an die Idee hat, wie Du, nicht etwa, weil er da einen ,Schwindel durchschaut' hat. Ich habe Vertrauen zu unseren Führern."
„Hm. Ja. Das Sprengstoffattentat auf Goebbels kommt mir auch recht komisch vor. Und... "
„Halt' Deine Schnauze, Mensch! Mach unsere Führer nicht schlecht, oder ich breche mit Dir!"
Viktor schlug die Tür hinter sich zu. Das hatte er ja kommen sehen. Diese verfluchten Zeitungen, wenn er nur den Kerl erwischen könnte, der sie in den Kasten steckte!
Hermann setzte sich wieder. Ihm tat Viktor leid. Mit seinem Bruder hatte er sich immer gut gestanden — aber er konnte nicht anders handeln. Müde nahm er das Blatt wieder zur Hand.
,Wenn Goebbels schnorren geht', hieß ein Artikel, in dem ein SA.-Mann eine Versammlung beschrieb, die zum Zwecke der Kassenstärkung veranstaltet worden war. Er hatte als Arbeiter versehentlich eine Einladung bekommen. „... Ich glaubte in eine Versammlung von Mitgliedern der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei zu kommen. Zu meinem riesengroßen Erstaunen fand ich dort nur Leute vor, die in einer Arbeiterpartei nichts zu suchen haben. Es waren dort Akademiker, Hoffräuleins, Offiziere und sonstige Monokelträger, nur keine Arbeiter... Für mich war es sehr aufschlussreich festzustellen, dass zirka fünf bis zehn Prozent von den Anwesenden verdammt nach Kanaan aussahen, ob das bloß die Wesensverwandtschaft mit dem Doktor gemacht hat?... Scheinbar ist ein neuer Mercedes fällig... Wie lange noch?"
Unter dem Artikel befand sich ein Bild, wie Goebbels sich vor einem dicken Herrn verbeugt, der eine Zigarre im Maul hält und seine Brieftasche zieht; daneben als Text: „Mein Krampf! Ein Gewinnen des bürgerlichen Wahlstimmviehs aber darf niemals das Ziel dieser Bewegung sein."
Hermann warf die Zeitung zu Boden und sagte laut:. „Ach, was? soll man da bloß machen..."
An diesem Abend traf sich die Gruppe ,Nostizstraße', die Genossen steckten sich die Taschen voll Material und gingen zu vieren oder fünfen in die Häuser. Ernst, der kleine Bauer aus Langendorf und noch zwei andere Genossen bildeten einen Trupp. „Nu los, wollen mal den anderen was vormachen! Wir müssen das meiste verkaufen."
Öde lag die Nostizstraße da. Vereinzelt kamen Leute, verschwanden in den Haustüren. Ein kleiner Genosse mit frechem Gesicht und Stupsnase fuhr auf dem Fahrrad die umliegenden Straßen auf und ab. Es war still, wie eine dunkle Wolke legte sich das Schweigen auf die Erde und brachte graue Träume mit. Da und dort brannten schon zaghaft die Lampen in den Häusern. Überall tauchten kleine Gruppen der Genossen auf. Zurufe flogen hin und her.
„Du nimmst den Vorderaufgang mit Peter. Wir bleiben hinten. Los, die Häuser werden bald zugemacht."
Herr und Frau Mädicke saßen in der Stube, beide hatten den Kopfhörer um, er rauchte eine abgeknabberte Pfeife, sie stickte etwas Undefinierbares, Ab und zu knackte es im Radio, dann verzog sie knurrend das Gesicht, und er sprang auf und drehte an allen möglichen Schrauben. Eine böse Behaglichkeit lag im Zimmer. Die Fenster waren fest geschlossen. Manchmal lächelte Frau Mädicke leise, dann wurden ein paar Zahnstumpen sichtbar, und ihr Gesicht sah noch hässlicher aus als sonst. Ihre Augen bekamen einen fernen, sehnsüchtigen Glanz, mit weicher Stimme sagte sie: „Ah, die singt aber schön!"
Der Mann hörte nicht, sie wurde wütend und brüllte ihn an: „Hast Du Dreck in den Ohren?!"
Umständlich nahm er den Hörer vom Kopf. „Was sagst Du?"
„Ach Gott, der Mann! Der Mann macht mich noch verrückt! — Jetz rutsch mir den Buckel runter!"
Eine Weile war es wieder still im Zimmer, dann klingelte es schrill. Erstaunt sahen sich die beiden Mädickes an. „Wer kann das noch sein, so spät?"
„Herrgott, frag doch nicht so lange, geh hin und mach auf!"
Er humpelte in seinen grünen, bestickten Filzpantoffeln los. Vor der Tür standen Ernst und noch einer.
„Guten Abend! Ihnen kommen wir auch mal besuchen, Herr Mädicke. Sehen Sie mal, unsere Zeitung, die ,Junge Garde', ist von Grzeszinski verboten worden. Da haben wir 'ne neue herausgegeben, ,Der junge Wühler'. Die ist dufte, Sie, kostet nur fünf Pfennige."
„Ja, ja, ich — ich, warten Sie mal, meine Frau... "
Da brüllte sie auch schon hinter ihm, keifend und giftig: „Mach doch die Türe zu! Wat unterhältst Du Dir denn so lange!"
Er trat schüchtern zur Tür und gab ihr mit dem Fuß einen Tritt. Die beiden Genossen grienten sich eins. „So ein Pantoffelheld! Die Frau ist eine Hexe."
Frau Mädicke war ganz aufgeregt, sie schimpfte auf ihren Mann und er sagte ein paar mal leise vor sich hin: „Wenn ich doch bloß erst tot wäre...."
Sie rannte zum Fenster, riss es auf, dass die Scheiben klirrten und sah auf die Straße. „Du — Du, da unten sind ein paar Grüne. Jeh rasch runter und sag Bescheid! Die Burschen, die Burschen, das sind die, die uns die Müllkästen und det Pferdebeen vor die Türe gepackt haben, Det sind die. Los, geh runter!"
„Ach, lass doch! Ich soll nun gehen, und bei Gelegenheit hauen die mir mal die Jacke voll. Die vergreifen sich womöglich noch an einen alten Mann. Nee, nee, da mach ich nicht mit." Böse sah sie ihn an:
„Ach, Du Memme, Du! Du Feigling! Da denkt man, man hat eenen Kerl im Haus, Du Hosenscheißer!" Leise öffnete sie die Tür und schlich vorsichtig die Treppe hinab.
„Herr Wachtmeister, Herr Wachtmeister! Hören Sie doch mal, bleiben Sie doch mal stehen!"
„Was haben Sie denn, Frau? Sie sind ja ganz außer Atem?"
„Herr Wachtmeister, da — da sind Kommunisten in unser Haus und vakoofen verbotene Zeitungen. Bei mir waren sie ooch. Ick hab aber keene genommen. Mein Mann... ."
Im Hinteraufgang hatten die Genossen elf ,Junge Wühler' verkauft, fröhlich pfeifend kamen sie über den Hof. Die anderen beiden waren noch im Quergebäude. Da standen plötzlich drohend und massiv zwei Schupos vor ihnen. „Halt! Wer verkauft hier Zeitungen? Zeigen Sie mal Ihre Taschen!"
Bei Ernst fanden sie noch zwei Zeitungen, der kleine Bauer spielte den Ahnungslosen.
„Den lassen Sie man gehen, der ist eben per Zufall mit mir die Treppe runtergekommen, nicht wahr, Herr Lutze?"
Der Herr Lutze nickte so erschrocken mit dem Kopf und sah so ungefährlich aus, dass ihn die beiden Grünen laufen ließen.
„Aber Sie, Bursche, Sie kommen mit zur Wache. Das wäre ja noch schöner. Na, los!"
„Was wäre noch schöner?"
Erstaunt sahen sich die Grünen an, als ob sie sagen wollten: So was, hat obendrein noch eine große Schnauze! Frech sind die Lümmels... ."
„Sind Sie stille! Los, los Bürschchen. Auf Sie haben wir gerade gelauert."
Der eine Polizist stieß Ernst vor sich her, der andere sagte nichts, es hatte den Anschein, als ob er das Verhalten seines Kollegen nicht billigte.
Auf der Straße hatten sich Menschen angesammelt.
„Wen habt Ihr denn da gefangen, einen Raubmörder?"
„Machen Sie Platz da! Das geht Sie gar nichts an."
„Ach wo, die haben sich wieder mal stark gefühlt und haben einen jungen Kommunisten verhaftet."
„Nee, det is doch allerhand! Wat hat er denn jemacht?"
„Zeitungen verkauft, nur Zeitungen verkauft."
„Wat, deswegen wird man heute schon verhaftet? Junge, Junge, sind wir weit!"
Der erste Schupo sagte ruhig zu den Leuten: „Gehn Sie doch auseinander. Wir müssen doch unsere Pflicht erfüllen." In seinen Worten klang eine leichte Ironie, die aber keiner bemerkte. Es war eben ein Grüner, und die Grünen in Uniform hatten bei der Nostizstraße keinen Stein im Brett. Dazu hatten die Leute in den letzten Jahren, und vor allem in den letzten Monaten schon zuviel erlebt
Straßenbesetzung!
„Ach Sie, wat is denn Ihre Pflicht? Det wissen Sie ja alleene nich mehr vor lauter Notverordnungen."
Ernst hatte Adressen von Genossen in der Tasche, er hätte sich backpfeifen mögen. Sie waren auf Seidenpapier geschrieben. An der Ecke Bergmannstraße hatten sich etliche Genossen versammelt, die Polizisten mussten den Gummiknüppel ziehen. Diesen Moment nutzte Ernst aus: er holte mit unauffälliger Handbewegung das Papier aus der Seitentasche und steckte es in den Mund. Ein paar Kaubewegungen, und ohne große Schwierigkeiten war es heruntergeschluckt.
Ein Überfallwagen kam angerast und schaffte Ordnung in der Nostizstraße.
Die Genossen trafen sich auf der Gneisenaupromenade. Dass einer verhaftet wurde, kam ja fast alle Tage vor, sie verloren darum nicht gleich den Kopf. Im Gegenteil.
„So eine Gemeinheit!" sagte ärgerlich der Bauer aus Langendorf. „Mir hätten sie auch bald gehabt, aber der Ernst ist ein feiner Genosse, wenn der sich nich so geschickt verhalten hätte, dann wäre ich jetzt ooch mit. Ich bin jetzt Herr Lutze!"
„Wie viel Zeitungen habt Ihr verkauft?"
„36 Stück, 14 haben wir noch, die nehme ich morgen mit zum Nachweis."
„Dufte! Und Ihr? He, passt doch ein bisschen auf!" „Wat denn, wat denn? Mensch, hier haste Geld, 60 Stück off eenen Schlag, mein lieber Scholli."
Einer nach dem anderen ging nach Hause. Theo, Elly und Erich setzten sich noch auf eine Bank.
„Wird er wiederkommen?" fragte Elly.
„Natürlich. Den lassen sie frei. Vielleicht kriegt er einen Prozess."
Erich atmete schwer. Er war ganz gelassen und selbst darüber etwas erstaunt. Dann sagte er einfach: „Ja, da wird man immer härter, wenn man das erlebt. Und jetzt weiß ich auch, dass wir nicht umsonst arbeiten."
Doktor lief nachdenklich am Landwehrkanal auf und ab. Er schwitzte und hatte die Mütze zurückgeschoben. Auf der andern Seite des Kanals fuhren in regelmäßigen Abständen Hochbahnzüge. Der Kanal war schmutzig und roch nach warmem Teer. Der Himmel spiegelte sich blau in dem trägen Wasser, auf dem stellenweise buntschimmernde Ölflecke sanft schaukelten. Ein Schleppdampfer mit vier großen Kähnen fuhr leise vorüber. Sie waren mit Sand beladen und ragten nur ein ganz kleines Stück über dem Wasserspiegel, es sah so aus, als ob sie jeden Augenblick untergehen wollten. Ganz kleine Wellen schlug die Schraube des Dampfers. Unwillig und kraftlos plätscherten sie gegen die Kanalwand und fielen müde wieder zurück. Auf dem letzten Kahn saß eine alte Frau und schälte Kartoffeln, gleichgültig blinzelte sie Doktor zu. Der wischte sich sorgfältig und ärgerlich den Schweiß von der Stirn. Er erweckte den Eindruck eines arbeitslosen Kaufmanns, der die Zeit totschlägt.
Es war kurz vor Feierabend. Einige Mädels liefen schwatzend an ihm vorbei, eins von ihnen sagte kichernd: „Da unten die Frau möchte ick nich sin." Doktor, der sowieso schon gereizt war, ärgerte sich über diese Worte. Lange dachte er über diese Mädels nach: sie kümmern sich um nichts, werden da im Kaufhaus Tietz an der Ecke hin und her gejagt, müssen springen und höflich sein. Sie grinsen ständig, fühlen sich wichtig und tun so, als wären sie weiß Gott was für Schönheiten, auf die ein jeder gleich hereinfallen muss. Und dabei sind sie doch so armselig. Bald sind sie verbraucht, noch einige wenige Jahre, und ihre Sehnsüchte versacken in einer lausigen Bude, zwischen schmutzigen Kindern und immerwährendem Elend.
Doktor lief ärgerlich weiter. Gerade ihm, der doch gar nicht wusste, wie man da vorgehen sollte, hatte die Gruppe den Auftrag gegeben. Dann lächelte er und sagte halb ironisch, halb gutmütig zu sich selber: „lass doch, Doktorchen, die lieben Leute wollen Dich erziehen. Sie wollen Dich verproletarisieren. Nu gut. An mir soll es nicht liegen... "
Aus dem dunklen, großen Torweg des Telefunkenhauses kämen eilig Arbeiter. Alles ältere Männer. Viele hatten Fahrräder. Manche kamen mit Stehkragen und Aktentasche, andere im offenen Hemd, mit blauen Kaffeeflaschen. Zuletzt verließen die Lehrlinge das Gebäude.
Ein Arbeiter mit feinem Gesicht und schmalen, kümmerlichen Lippen grüßte: „Was suchst Du denn hier, Genosse Doktor?"
Doktor drehte sich erstaunt um, überlegte einen Moment. „Ach, Du bist es! Ja, was ich hier will? Wir wollen eine Jugendbetriebszelle gründen, und ich soll den Laden schmeißen. Ausgerechnet ich. Ich habe da so viel Ahnung von wie vom Gänsebeschlagen. — Was ist denn hier los im Betrieb?" Und dann setzte er in kläglichem Tonfall hinzu: „Kannst Du mir nicht irgendwie helfen?"
Der Genosse zog Doktor ein paar Schritte weiter. „Ist gut, dass Ihr Euch darum kümmert. Aber es ist schwer, mein Lieber. Die besten Jungens sind entlassen worden. Von unserer Parteizelle haben sie auch welche rausgefeuert. Die Schweine passen ja so auf! Überall stecken Spitzel. — Was soll ich Dir helfen. Drei, vier junge Kerls kenne ich, die Ihr bearbeiten könnt. Warte mal, ich werde Dir einen zeigen, mit dem sprichst Du dann. Musst aber sehr geschickt vorgehen, Doktor! — Da, dieser lange Lümmel da. Der hat eine freche Schnauze, lässt sich von keinem zu nahe kommen und sympathisiert stark mit uns. Den wollten sie schon früher kappen. Machs gut, ich muss zur Zelle."
Der lange Lümmel kam mit noch einem jungen Arbeiter. Er trug die Jacke unter dem Arm und spuckte am Haustor kräftig aus. Er hatte ein gutmütiges, kluges Gesicht.
„So, wieder mal ein Tag rum. Haste jesehn, Fritze, heute mittag die dofe Sau von Kühne? Mensch, wat der sich so einbildet! Bei mir aber nicht, mein Lieber, Der kann auf ne Wäscheleine pennen und sich hinterm Feuerhaken ausziehen, das schmale Gehopse! Bloß die verfluchte Fresse!"
Der andere sah zu seinem langen Kollegen auf, gab ihm fröhlich einen Rippenstoß und sagte grinsend: „Hau ihn doch mal aufs Maul, den Angeber! So ganz aus Spaß."
„Na ja. Bei Gelegenheit mal."
Am Halleschen Tor standen Zeitungshändler und riefen die Abendzeitungen aus: ,Tempo!', ,Die Welt — am Abend!', ,Der Angriff!!'... .
Ein Mann mit auffallend hervorstehendem Unterkiefer verkaufte den ,Angriff. Ein paar Gymnasiasten standen neben ihm, schwatzten laut, lachten blöd und musterten die Vorübergehenden. Der Zeitungshändler schien sie gar nicht zu beachten, obwohl sie zu seinem Schutze da standen. Vielleicht dachte er- sich: was ist mit die albernen Bengels schon los! Die kriegen eins auf die Fresse und rennen zum Schutzmann.
Ein großer Herr kam eilig heran, knallte die Hacken zusammen, hob den rechten Arm weit in die Luft und brüllte: „Heil!" Die Gymnasiasten kamen sich auf einmal wichtig vor, der Herr kaufte eine Zeitung. Es war ein echt preußischer Offizierstypus, ein paar Narben am Kinn, um die Mundwinkel ein zynisches Lächeln. Hastig ging er weiter.
Die beiden Burschen von ,Telefunken' gingen langsam über Hie Brücke. Der Lange spuckte wieder aus, las laut mit verstellter Stimme die Überschrift eines ,Angriffs' vor: „Rot Mord wütet! Ins Zuchthaus mit dem Gesindel!" Dann lachte er breit und höhnisch! Die Gymnasiasten sahen ihn böse an und schlichen zum Rücken des Zeitungsverkäufers. Dieser tat, als ginge ihn die ganze Geschichte nichts an.
Am Hochbahnhof blieben die beiden Burschen stehen. Doktor lief um sie herum, er überlegt, ob er sie mit Du oder mit Sie ansprechen sollte. Er fühlte sich überhaupt recht unbeholfen, ab und zu lief um seinen Mund ein nervöses Zucken, dann zeigte er einen Moment die Zähne, sah mutig aus und blieb wieder stehen. „Eigentlich ist doch alles so einfach, bloß ich bin nicht der richtige Kerl zu dieser Aufgabe", dachte Doktor.
Der Kleine rannte plötzlich die Treppen zur Hochbahn hinauf. Doktor gab sich einen Stoß und stand vor dem Langen. Der kniff die Augen zusammen, griente ein wenig und sagte freundlich: „Na, wat schieiste denn, Du oller Brillenkönig?"
Doktor atmete erleichtert auf. „Kann ich Sie — kann ich Dich mal sprechen, Kollege?"
Bei dem Wort Kollege griente der andere wieder und meinte gutgelaunt: „Nu mal los, wat haste denn?"
„Ach, es ist nur wegen Eurem Betrieb. Ich bin Mitglied im Kommunistischen Jugendverband. Wenn es Dir recht ist, gehn wir hier ein Stück am Kanal entlang."
Dem Langen schien es recht zu sein. „Meinetwegen. Aber lange habe ich nicht Zeit, verstehste!"
Sie liefen längs des Kanals auf und ab. Schon nach ganz kurzer Zeit hatte Doktor den richtigen Kontakt gefunden. Emil hieß der Lange und wohnte an der Kottbuser Brücke. „Vastehste, da unten im Topplappenviertel."
Sie unterhielten sich lange. Doktor redete immer mehr, und Emil hörte ihm gespannt zu.
„Ja, ja. Hast Du schon ganz recht", unterbrach er ihn, „aber det is nich so einfach, mein Lieber. Die besten Leute haben sie rausgefeuert. Wir sind nur noch ein paar Mann, die stieke sind. — Seh ma, mir brauchste det ja nich so lange auseinanderzuposamentieren. Ich weeß doch ooch Bescheed, war damals in die Rote Jungfront, 6. Abteilung, 2. Zug. Fummel hieß unser Zugführer, kennste den?"
Doktor kannte Fummel nicht, mit der Roten Jungfront hatte er nicht viel zu tun gehabt, die Jungens waren ihm zu grob gewesen, sie hatten ihn immer verkohlt,
„Pass mal auf, Emil. Man kann natürlich nicht verlangen, dass Du wegen so einfacher Arbeiten aus dem Betrieb fliegst. Das muss alles gut organisiert werden. Du sollst uns nur unterstützen, zusammen mit den stieken Jungens, die noch da sind. Wir von der Straßenzelle fertigen Material an und verteilen es vor dem Betrieb. Die Unterlagen für das Material sollst Du besorgen. Die Jungens, von denen Du annimmst, dass sie gut sind, informiere vorsichtig und lade sie zu einer Sitzung ein. Ich hole Dich dann wieder ab. Und auf der; Sitzung werden wir schon sehen. Hauptsache, es sind Leute da."
„Für fünfe, sechse garantiere ick. Rot Front, Du olle Brillenschlange!"
Emil lief unter der Hochbahn weiter nach dem Kottbuser Tor zu. Er pfiff ein Lied und schlenkerte mit den langen Armen hin und her. Etwas schwerfällig sah er aus, schwerfällig und dabei wie ein kleiner Junge. Aber Knochen hatte er wie ein junger Stier. Doktor war froh, seine Gedanken waren leicht, als er zur Nostizstraße zurückging.
Auf einer Holzbarriere neben der Straßenbahn, Ecke Nostiz- und Gneisenaustraße, saßen junge Arbeiter und ließen die Beine herunterhängen. Andere standen im Kreis herum, in ihrer Mitte zappelten unruhig zwei Schutzpolizisten, Einer von ihnen war mürrisch und wäre am liebsten fortgelaufen; der andere debattierte und fuchtelte dabei aufgeregt mit den Armen in der Luft herum. Theo sprach unablässig. Auch Ernst war wieder bei seinen Genossen, man hatte ihn freigelassen und einen Prozess in Aussicht gestellt.
„Ja, Herrschaften, ich sehe, Sie sind gar nicht so dumm", sagte der aufgeregte Schupo, „aber Ordnung muss sein. Soviel verstehe ich auch schon von Politik."
„Wat is denn Eure Ordnung? He? Wie sieht denn diese Ordnung aus?"
„Hören Sie mal, wo sollten wir denn hinkommen, wenn jeder machen könnte, was er wollte? Das würde doch ein Chaos werden. Hier, die Nostizstraße ist schon schlimm genug. Gott sei Dank, sie gehört nicht mehr zu unserem Revier. Wir sind von der Gneisenauwache."
„Ach Herrje! Die Nostizstraße. Warum denn die Nostizstraße? Warum denn? Weil hier die Leute hungern, weil sie auf die Gesetze pfeifen? Gehl man dort hin, wo die Festessen stattfinden, dann seid Ihr richtig."
„Stellen Sie sich das mal vor, Herr Wachtmeister, Ihre Ordnung", sagte Ernst und trat einen Schritt vor, „Ordnung ist, wenn die einen krepieren, in den Wohlfahrtsämtern angebrüllt werden und wenn sich auf der anderen Seite die Reichtümer häufen. Wenn hier schwangere Proletenfrauen nicht wissen, wie sie ihre Kinder satt machen sollen, und auf der andern Seite die Frauen der herrschenden Klasse in die Berge ins Sanatorium fahren, ihre Kleider zeigen, die Fressen anmalen und — Abtreibungen vornehmen lassen. Da kräht kein Staatsanwalt danach. Natürlich braucht der Bürger die Ordnung. Das haben die sozialdemokratischen Führer 1918 auch gesagt. Ruhe und Ordnung. Dann kam Noske. Dann kamen die faschistischen Freikorps, die er geschaffen hatte. Da hatte der Bürger die Ruhe, aber das Proletariat hat seine Besten bei dieser ,Ordnung' verloren und hat die Schnauze gehalten. Aber heute nicht mehr. Und nun haben sie alle die Schnauze voll. Was gehen mich die Gesetze an, wenn ich Hunger habe? Einen Dreck! Und stellen Sie sich vor, was für eine Situation Sie als Polizist kommen: ich gehe mit ander auf die Straße und fordere Arbeit und Brot, trotzdem Demonstrieren verboten ist, und der Bürger seine dreckige Ruhe braucht. Sie als Polizist haben mit ihren Kollegen den Auftrag, den Demonstrationszug mit allen Mitteln auseinander zuschlagen. Wir gehen nicht. Sie greifen zur Waffe, stehen vor mir. Ich habe Ihnen nie etwas getan, wir kennen uns gar nicht. Ich bin ein Prolet, Sie sind ein Prolet. Stellen Sie sich das einmal vor! Sie schießen mich über den Haufen und schützen den Staat. Den Staat, der uns gar nichts angeht, der uns verrecken lässt, den die herrschende Klasse braucht, um das Proletariat zu unterdrücken. Und Sie gehören auch zum Proletariat."
„Na, na, so schnell wird ja nun doch nicht geschossen... "
„Oho! Eure Pusten sitzen ziemlich locker. Ihr lasst Euch ja von den faschistischen Polizeioffizieren verrückt machen!"
„...Und dann ist es auch nicht nötig zu demonstrieren. Wenn ich Hunger, habe, brauche ich ja keinen Krach zu machen, davon wird es ja auch nicht besser... "
„Der Krach ist dazu da, das Volk zu mobilisieren! Wir werden Krach machen, immer stärker! Bis Eure Pistolen und Maschinengewehre nichts mehr nutzen."
„Ja, aber, was soll denn das werden, wie soll denn das enden . . ?"
„Ein Sowjetdeutschland!"
... ..Eine Obrigkeit muss doch da sein. Und wir leben doch in
einer Demokratie. Das Volk hat sich doch diese Obrigkeit gewählt. Wir haben doch eine Demokratie, das können Sie doch nicht abstreiten."
Der andere Schupo zupfte seinen Kollegen ärgerlich am Ärmel. Fünf Schritte entfernt stand die zwei Mann starke Schupopatrouille der Nostizstraße von der Heimwache. Sie waren verblüfft, schüttelten leicht die Köpfe und machten kehrt. Verwundert sahen sie sich an: wie können sich unsere Kollegen mit diesen Lausebengels unterhalten! Das ging ihnen nicht in den Kopf. Sie wussten doch, wo der Feind stand, es wurde ihnen ja so oft und so oft in die Schädel gehämmert. Da ist die Nostizstraße, in der wohnen Kommunisten, vor allem Jugendliche. Das ist ein Aufruhrherd; also tun Sie Ihre Pflicht.
Doktor war zu der debattierenden Gruppe getreten und hatte die letzten Sätze über die Demokratie gerade noch gehört. Und als sich die Grünen davonmachen wollten, meinte er so nebenbei: „Ja, vor dem Gesetz sind alle gleich. Es ist den Armen wie den Reichen verboten, unter Brückenbogen zu schlafen und Brot zu stehlen. Das ist Ordnung, das ist Demokratie... "
Die Jungens lachten, auch der eine Schupo griente: „Natürlich, das verstehe ich schon, aber... "
Ein Herr mit Spitzbart kam langsam heran; er musterte, ohne fein Wort zu sagen, die Umstehenden. Die beiden Grünen zottelten los in Richtung Gneisenauwache. Da sagte einer von den Jungens zu den übrigen: „Mensch, merkt Ihr denn nichts? Hier riechts doch nach Bullenfleisch!"
„Ja, hast recht. Wer hat acht Groschen da? Hol doch mal eener acht Groschen aus der Tasche... "
Dann Hefen sie weiter, in die Nostizstraße hinein; der Herr mit dem Spitzbart sah ihnen aus trüben Augen nach, drehte sich ärgerlich um und schob ab, als ginge ihn die ganze Sache nichts an.
Vor den Haustüren standen Leute. Ein zottiger Köter spielte mit einem kleinen, niedlichen Hund; der kleine legte sich auf den Rücken, streckte die vier Pfoten lächerlich in die Luft, und der große leckte ihn ab. Eine Frau kam mit einem quietschenden Kinderwagen. Vier Kinder liefen über den Damm, das jüngste fiel hin und blutete aus der Nase, fürchterlich fing es an zu brüllen.
Das Nachtgespenst schlich durch die Straße, mit vornübergebeugtem Kopf, es suchte Stummel. Während es im Zickzack den Bürgersteig entlang lief, murmelte es unverständliche Worte vor sich hin. Seine tränenden, kranken Augen waren müde und klein, wie die eines neugeborenen Hundes, der zum ersten Male die Augen aufschlägt. Das spöttische Grinsen um den Mund machte das runzlige Gesicht noch hässlicher. Die Augenbrauen waren verfilzt und weiß wie ein Bausch Watte. Eine junge Frau kicherte und rief einem etwa dreijährigen Kinde zu: „Du, Gustav, seh' mal, der alte Mann, der holt Dich, wenn Du nicht artig bist und hörst, was Mutti sagt!" Das Kind verzog die Lippen, kämpfte vergebens gegen das Weinen an, plärrte los. „Willst Du mal stille sein! Du verdammtet Balg! Heult den janzen Tach. Den janzen Tach! Hergott, wenn hat man denn mal Ruhe...."
Obwohl die Sonne die Häuser nur noch ganz oben an den Dachrinnen beschien, blieb es immer noch furchtbar drückend.
Franz stand ärgerlich neben Frieda, Gustav und Orje.
„Wat machen wir heute? He?"
„Jarnischt. Ziehn uns nackend aus und passen auf die Sachen auf. Ick schwitze wie ein Affe."
„Ach, mit Euch ist ja nischt anzufangen!" sagte Franz. „Ihr versaut ja alles! Was soll man denn mit Euch machen, blödes Volk?"
„Ach, ja. Blödes Volk! Mensch, hör off, oder ick haue Dir doch noch mal uffs Maul. Dir hab ick so richtig gefressen."
Gustav war aufgeregt. Frieda sah ihn warm an.
„Na, komm, stoßen wir uns eene aus! Mir schon recht... "
„Ja, los, komm in Hausflur!"
Orje fuhr gutmütig dazwischen: „Macht doch keen Unsinn, Kinder!", und Frieda packte mit aller Kraft Gustavs Arm. Er riss sich grob los, mit den Zähnen knirschend. In Friedas Augen standen Tränen, kullerten rasch die Wange hinab.
„Zu was denn bloß, Kinder? Immer müsst Ihr stänkern. Ist doch gar kein Grund da, zu was denn bloß?... "
Franz presste mit heißer, ärgerlicher Stimme hervor: „Eine Wut hab ick, eine Wut!" Er sah aus, als wollte er mit dem Schädel gegen die Wand rennen. Nach einer Weile drehte er sich um, stützte sich an ein Fenstersims und begann zu grübeln.
Vier Häuser weiter standen Peter Simon von der Gruppe ,Nostizstraße' und der Bauer aus Langendorf. Peter erzählte wichtigtuerisch, der andere kaute unentwegt an seinem Pfeifenstück. Derb und lustig schlug er Peter auf den Rücken, so dass Peter einen Moment einknickte wie ein abgestochenes Kalb. Dann erzählte Peter weiter:
„Musst sie erst richtig scharf machen, verstehste? Is ja nun je nachdem, wie's Dir gerade passt. Bei der eenen kommste so weiter und bei der anderen so. Mensch, det is ne feine Sache, wenn man den Bogen so richtig spitz hat. Und warum soll man sich nicht amüsieren he? Det steht doch nirgends. Hauptsache, det Mädel hat ooch wat davon. Lange offhalten kann man sich ja sowieso nicht dabei. Hast ja nie Zeit. Wenn de nich auf dem Kien bist, wirste durch die Parteiarbeit zum Eunuchen. Und det liegt mir jarnicht... "
„Ja, ick habe da ja weniger Erfahrung, bei uns auf dem Dorf is das einfacher. Da sind fremde Schnitterinnen. Von Liebe kann natürlich gar keene Rede sein. Gehst mit ihr los und legst ihr einen Bund Stroh auf den Kopf, dann braucht man sie nicht zu sehen."
„Sind da polnische Weiber? Die soll'n doch so feurig sind?"
„Ach ja, feurig. Stinken tun se, wenn se den ganzen Tag offs Feld geschwitzt haben. Nee, macht keen Spaß, mein Lieber."
Plötzlich stand Trude neben den beiden. Das Gespräch verstummte jäh, obwohl Peter gern mehr von den polnischen Weibern gehört hätte. Er war gar nicht verlegen; und damit nicht ein zu dummer Eindruck bei Trude entstünde, erzählte er weiter: „... Vastehste! Wir um die Ecke, und die Grünen in die Häuser. Denn sind wir nachhause gegangen. Nachher zuhause det Essen: Peter, stech zu, sind Linsen!"
Der Bauer lachte und spuckte in großem Bogen braunen Tabakspeichel. Trude sah von einem zum andern, sie hatte die Verlegenheit der Jungens bemerkt. Das hatte sie ja bei Jungens schon öfter erlebt: sie waren einfach zu feige, weiterzusprechen. Und dabei hatten Mädels doch auch Interesse für derartige Themen, hätten vielleicht sogar mit guten Ratschlägen aufzuwarten.
Sie sagte: „Gehn wir!"
„Is denn schon so weit? Mensch, wat wollen wir paar Mann denn machen?!"
„Egal. Es wird eben gemacht."
Ü berall in den Straßen standen Gruppen junger Arbeiter. Ältere kamen hinzu und unterhielten sich.
„Wird’s denn noch lange so weiter gehen? Ich meene, jetzt muss doch endlich Schluss sein!"
„Liegt doch an Euch! Nur an Euch!"
„Ja, was sollen wir denn machen!? Die Kommunisten machen doch ooch nischt. Sollen sagen: so, jetzt gehts los! Denn bin ick ooch mit bei."
Plötzlich sprangen acht, zehn Mann auf den Fahrdamm und begannen zu singen; „Wir sind die erste Reihe, wir gehen drauf und dran!"
Immer mehr schlossen sich" an, auch Ältere. Kater und Spinne, etwas später Gustav und Frieda. Der Herr mit dem Spitzbart rannte los. Der Zug marschierte die Nostizstraße hoch, bog in die Arndtstraße ein.
Fenster wurden geöffnet. „Rot Front!"
Weiter. Immer weiter.
Eine rote Fahne schwang sich über den Zug, ein fünfzackiger Messingstern glänzte an ihrer Spitze,
Kinder liefen dem Zug hinterher und Frauen.
„Was ist denn los? Warum rennt Ihr denn so?!'"
„Die Jugend marschiert!"
Die Marschierenden hielten fest zusammen, erst gegen Ende wurden die Reihen etwas lockerer. Aber immer mehr schlossen sich an. Aus den Haustüren kamen sie gerannt. „Da, Demonstration! Los, Atze, mit!"
Kleinbürgerfrauen blieben ängstlich stehen und tuschelten. „Na, wenn det man gut geht. Det is doch verboten, ne wahr?" — „Ach wat, verboten! Hungern ist doch auch nicht verboten. Lass die man ruhig. Es muss doch mal anders werden!"
Links, links, links! Der Zug marschierte in Richtung Chamissoplatz.
Die Körper der Jungen zuckten, alle Muskeln waren gespannt.
„Ach wat! Lass sie doch kommen. Ob wir so oder so krepieren!"
„Nieder mit dem Demonstrationsverbot! Wir wollen Arbeit und Brot!"
„Was haben die Erwerbslosen?"
„Hunger! Hunger! Hunger!"
„Es lebe Sowjetrussland, denn wir maschieren schon.
Wir stürmen in dem Zeichen der Völkerrevolution!"
Kater lief neben Spinne, eine Reihe vor ihnen Erich Schmidt. Er lächelte und betrachtete die Reihen strahlend: „Na Jungs? Los, weiter! Immer mit! Immer mit!"
Am Platz rannten die Leute zusammen, sprangen von den Bänken auf. Vor dem Reichsbannerlokal standen vier Männer in Windjacken. Einer sagte: „Da marschiert der Auswurf der Menschheit!"' Sein dicker Bauch wippte wabblig auf und nieder wie eine Biertonne im Landwehrkanal, die Speckfalte im Nacken quoll glänzend über den Jackenkragen. Ein jüngerer Kamerad, mit ernstem Gesicht tippte mit dem Zeigefinger an die Stirn und sagte: „Hast einen Vogel! Pass auf, die machen uns noch was vor." Verärgert gingen sie wieder ins Lokal zurück. „Herr Wirt! Vier Mollen!" Dann droschen sie weiter Skat. Draußen drängte die dunkle Masse vorwärts. Ein Lastwagen fuhr polternd an dem Zug vorbei, der Fahrer reckte seine ölige Faust aus dem Führerkasten: „Nieder mit dem Verbot der ,Jungen Garde'! Nieder mit der Hungerregierung!" Ein einziger Schrei, wild und entschlossen antwortete: „Nieder!"
Radfahrer fuhren dem Zug voraus. Einer kam zurückgerast: „Achtung! Schupo von vorn!" Ein Beben lief durch die Menge, einen Augenblick lang schreckte sie zurück, aber die Vordersten gingen weiter, rissen alles mit. „Vorwärts!" Zwei Schupos kamen von vorn gerannt, sie stutzten einen Moment, dann schlugen sie mit den Gummiknüppeln in die Spitze des Zuges. Ein Knäuel von Armen packte zu und stellte sie wie Puppen auf den Bürgersteig. „Gebt den Weg frei, wir haben Hunger!" Die beiden waren sprachlos. Einer sagte: „Nee so was! Na lass sie, ick wer mir nich die Knochen kaputtschlagen lassen."
Das Signalhorn eines Überfallwagens schrillte, er kam von der Friesenstraße her. Er holperte über einen Prellstein. Eine Frau fiel in Ohnmacht. Die Grünen sprangen vom Wagen und hieben mit harten Gummiknüppeln auf wehrlose Körper. „Stehen bleiben! Ruhig auseinandergehen! Nicht rennen!" Ein Kind fiel zu Boden und brüllte. Kater und Spinne drückten sich an eine Hauswand. „Seh ma, seh ma, wie die mangdreschen!"
„Weitergehen! Weitergehen! Los! Los!" brüllte sie ein baumlanger Schupo mit Embryogesicht an. Kater bekam einen Hieb über den Kopf, dass er lang hinfiel. „Ah! Was hab ich denn gemacht! Ihr Hunde! Ihr Hunde!"
Der Schupo wollte ihn verhaften, ein Menschenknäuel schob sich dazwischen. Kater sprang mit letzter Kraft auf und rannte in ein Haus. Eine alte Frau öffnete eine Tür: „Hier, kommen Sie rasch rein! Die hausen ja wie die Vandalen!"
Sie wischte ihm das Blut vom Gesicht, sein Kopf schmerzte fürchterlich.
Die Grünen standen, Gummiknüppel in der Hand, breit und lauernd auf dem Fahrdamm. Von der Arndtstraße her drangen wieder Schreie: „Nieder mit der Hungerregierung!" Die Polizisten sprangen auf den Wagen, fuhren mit offener Wagenklappe los. Ein Schupo hing halb aus dem Wagen. An der Arndtstraße sprangen sie wieder ab und schlugen dazwischen. „Los! Weitergehen!"
Bis in die späte Nacht hinein fuhr der Überfallwagen die Nostizstraße auf und ab.
Und dennoch klebten am anderen Morgen kleine Plakate an den Wänden:
„An die Bewohner des Kreuzbergs!
Gestern kam es in verschiedenen Straßen des Kreuzbergs zu Protestdemonstrationen gegen die Notverordnung und Brüning-Regierung. Auch in der Nostizstraße und der angrenzenden Arndtstraße kam es zu Protestdemonstrationen junger Arbeiter, die sich immer in friedlichen Maßen hielten und die Grenzen der disziplinierten Agitation nicht überschritten. Erst nach Erscheinen der Polizei und der willkürlichen Verhaftung einzelner Jungarbeiter kam es zu Zusammenstößen, wobei auch viele unbeteiligte Passanten den Ordnungsknüppel dieser ,freien Republik' zu spüren bekamen. Alle Augenzeugen, die die Vorgänge von ihren Wohnungsfenstern beobachteten, gaben ihrer Empörung bei den Diskussionen mit den Jungarbeitern offenen Ausdruck.
Über den Transport der Festgenommenen berichten Augenzeugen folgende, empörende Einzelheiten: mit Schimpfworten, wie ,Sauhunde', ,Kommunistenschweine' und ,rotes Gesindel', wurden sie mit Fußtritten der Polizeibeamten auf den Wagen befördert. Die Fahrt bis zur Wache war für die Verhafteten mit dauernden Quälereien und Schikanen seitens der Polizisten verbunden. Als die Verhafteten den Wagen verließen, ereignete sich folgende brutale Misshandlung: als ein Festgenommener die Treppe zur Wache hinaufrannte, um sich den Schlägen der Polizisten zu entziehen, wurde er von hinten gepackt, die Treppe heruntergerissen und besinnungslos geschlagen. Er wurde daraufhin, weil er nicht laufen konnte, von den Beamten die Treppe hinauf in die Wache geschleift. Oben wurden im Beisein der Revierbeamten die Misshandlungen fortgesetzt Dabei tat sich besonders ein ,Zeuge' namens Richter hervor, der einem der Festgenommenen mit den Worten: ,Du Schweinehund wagst es, einen pflichttreuen Beamten anzugreifen?' einen kräftigen Schlag ins Gesicht versetzte. Wir werden auf diesen Kommunistenfresser noch besonders zurückkommen. Diese Jungarbeitermisshandlungen zeigen jedem Menschen, wie weit wir in Brüning-Deutschland gekommen sind. Die Bewohner des Kreuzbergs müssen aus diesen Vorgängen die Lehren ziehen. Sie müssen erkennen, dass die Demonstrationen der Arbeiterschaft nur die Folgen der Brüningschen Notverordnungspoltik sind. Vielen, die bisher abseits standen, geht jetzt ein Licht auf, weil sie die Auswirkungen der Notverordnungen am eigenen Leibe verspüren. Ihr Wille, nicht freiwillig zu verhungern, gibt ihnen die Überzeugung, dass sie kämpfen müssen unter der Führung der Kommunistischen Partei, An die Arbeiterschaft des Kreuzbergs richten wir deshalb den Kampfappell: wenn unsere Genossen zu Euch in die Wohnungen kommen und Euch auffordern, der KPD, beizutreten, so sagt nicht nein, sondern denkt daran, um den Kampf bis zum Sieg zu führen, brauchen wir auch Dich! Du fehlst in den Reihen Deiner kämpfenden Genossen! Wenn wir alle zusammenstehen, wird es uns ein leichtes sein, aus diesem morschen kapitalistischen System ein freies sozialistisches Deutschland zu schaffen. Ein Deutschland ohne Notverordnungen und ohne Gummiknüppel. Ein Deutschland der Arbeit und des Wohlstandes für alle Werktätigen. Darum hinein in die KPD.! Jungwerktätige, hinein in den Kommunistischen Jugendverband!
Mit kräftigem Rot Front!
Die Jungarbeiter des Kreuzbergs."
Kater und Orje standen in der Nostizstraße vor einem Plakat und lasen.
„Na, die haben ja wieder ganz schön gehaust!" sagte Orje, Die eine Ecke des Flugblattes hing lose, Orje spuckte sich in die Finger und klebte die Ecke fest. Kater stand neben ihm, er hatte eine eigroße Beule auf dem Kopf und eine furchtbare Wut im Leib. „Der Grüne, weeste, so ein langes Aast, Mensch, ick kann Dir sahren... " Er presste die Zähne aufeinander und atmete schwer.
„Tuts denn weh, Kater?"
„Affenkopp! Lass Dir doch mal mit det Ding vorn Schädel haun! Da denkste, Du bist im siehmten Himmel."
Sie liefen nebeneinander her. Die Straße und auch die Menschen waren eintönig wie an all den anderen Abenden. Aber dennoch war Ha irgend etwas, versteckt, sprungbereit. Vor allem Kater und Orje merkten das. Sie fühlten die Veränderung in sich, staunten erst, jeder versuchte zu erraten, ob der andere das gleiche fühlte wie er selbst.
An der Holzbarriere war niemand. Sie setzten sich darauf, Kater baumelte gleichgültig mit den Beinen, ab und zu sah er in den Himmel. Ein böser Druck lag auf seinem Herzen,
„Na, Du. Was macht denn Edith?"
„Ach, lass die rothaarige Hexe!" Kater hob die leere Hand und warf Unsichtbares weit fort. „Die will doch wat anderet, Mit Proletenjungs hat die nischt im Sinn. Wat soll ick ihr denn auch? Arbeitslos, zerrissen, keen Geld . . ," Seine Stimme war kalt.
Er sprang von der Barriere herab. Wäre jetzt Gras um ihn gewesen, und Blumen, dann hätte er sich vielleicht hingeworfen und gewimmert. Aber da drüben war die Nostizstraße.
Kater schlug mit der Faust auf den Balken. „Mensch, wie lange Soll denn det noch so gehen?! Man kommt ja aus dem Dreck janich mehr raus. So ein verfluchter Mist!"
„Ja, Kater, wie lange... Bald, bald muss das aufhören. Wir leben doch wie die Hunde. Aber es muss bald losgehen. Es muss! Alles muss kaputtgeschlagen werden! Alles! Du, wenn das soweit ist, dann... ach, Kater."
Eine Straßenbahn fuhr vorüber. Orje brannte sich eine Zigarette an, die Hand, in der er das Streichholz hielt, zitterte. Sein Gesicht zuckte und war sonderbar bleich. Nervös sah er Kater an. Lange sahen sich beide fest an. Nachher schämten sie sich, redeten aneinander vorbei. Es wurde schnell dunkel. Der Mond verkroch sich blass hinter zerrissenen Wolken. Eine Gruppe Jungens kam vom Baden im Landwehrkanal zurück. Frau Mädicke schaukelte mit ihrem Gatten über die Gneisenaupromenade. Er ging ein Stückchen hinter ihr und besah sich lüstern ihren wippenden Hintern.
Im Ecklokal lärmten Betrunkene, die Tür ging auf, ein alter Mann torkelte die Treppen herunter. Weißer Speichel klebte ihm um den Mund. Verzweifelt fasste er sich an den Kopf und fuchtelte kläglich mit den Armen in der Luft herum. Plötzlich schimpfte er los: „Da hat man nu! Da ist — da geht man nu — bei dir — hup — een — hup — hab ick — mein — janzet Vermögen va—soffen!" Er fiel hin, stand wieder auf und lief dann an der Wand lang schaukelnd nach Hause.
„Warst Du schon mal besoffen, Orje?" fragte gedehnt Kater.
„Nee, eigentlich noch nicht. Eenmal, Silvester. Da bin ick nachmittags bei Tietz gewesen und hab Kostproben getrunken. Franz war auch mit. Jeder sechs, sieben Gläser. Nachher haben wir ganz schön geschaukelt. Ick hab ja doch wieder alles ausgekotzt. Wenn Du nischt im Magen hast... ."
„Is doch eijentlich komisch: die Alten saufen, aber von unsere Jungens hab ick noch keen besoffen jesehn. Jewiß, wenn eener ne Molle kooft, trinken se mit, aber besaufen — nee."
„Hast recht. Ist aber gut so. Wir müssen viel, viel besser sein. Mensch, wenn wir ooch so saufen wollten, wie der Alte da, dann
würden sie uns schon helfen. Dann wäre alles aus. Für immer. Ist ganz gut so. — Wir sind alle feige. Peikbeen schreibt, wenn er rauskommt, ist er Kommunist. Wir sind feige, sage ich Dir. Hab ich nicht recht?"
„Ja", sagte Kater und ließ den Kopf sinken. Er träumte. Orje setzte sich zurecht und beobachtete ihn.
In der Straße war es stiller geworden. Es war kurz vor elf Uhr. Nur wenig Leute standen vor den Haustüren. Frieda und Gustav hatten sich am Nachmittag einen Fahrschein gesucht und waren mit der Untergrund zum Grunewald gefahren. Unten, an der Arndtstraße, schlichen ein paar Männer umher und verschwanden dann wieder. Ein Motorrad fuhr knatternd durch die Straße, hielt einen Moment vor Othellos Lokal und raste dann weiter. Auf dem Soziussitz saß ein Bursche mit zerhacktem Gesicht. Die rechte Hand hatte er in der Hosentasche vergraben. Die Schupopatrouille war nirgends zu sehen. Jetzt kam von der Belle-Alliance-Straße her ein Trupp von ungefähr dreißig Männern hintereinander in losen Gruppen. Sie schwiegen und verteilten sich in den Hausfluren und Lokalen der Gneisenaustraße. Ein langer Kerl rannte hin und her. In der Nostizstraße blieb er stehen, sah von Haus zu Haus und lief dann wieder zurück. Am Bürgersteig, nicht weit von Kater und Orje, hielten zwei elegante Privatautos. Die Motore waren nicht abgestellt. Orje stutzte. Er merkte sich die Autonummer und riss Kater aus seinem Dösen. „Du, seh mal." Kater sah sich um. Er tat erst verwundert. Dann sagte er leise: „Nazis. Los, hin zu Othello.; Die wollen die Straße überfallen. Da, da drüben der, det is Nazithiele, Los, jehn wir."
Othello stand behäbig hinter dem Schanktisch. Im Hinterzimmer brannte kein Licht. Vorn saßen Theo und zirka fünfzehn stramme Jungs. Auch Erich war dabei und Ernst. Der kleine Bauer aus Langendorf paffte unentwegt aus seiner Tabakspfeife.
„Wat roochst Du denn da? Stinkt wie Seegras, vermischt mit Grunewald."
„Ja, früher hab ick ooch bessern Tabak geraucht. Aber heute... "
Am Ofen saßen Trude und Elly mit den anderen Mädels. Sie flüsterten und kümmerten sich nicht um die Burschen. Ein paar ältere Parteigenossen standen umher und schimpften auf ihre schlappe Zellenleitung. „Nichts wird gemacht", beklagte sich einer bitter. „Alle arbeiten. Die Situation ist so günstig und unsere Zelle schläft weiter."
„Ach, mecker doch nicht! Das liegt doch nicht nur an der Leitung. Das liegt auch an den Genossen selbst. Da muss mal frisches Blut rein. Da, von der Jugend ein paar."
„Ooch nich richtig, mein Lieber. Da Leute rausziehen, ist sehr einfach ... "
Orje und Kater kamen ganz außer Atem ins Lokal.
Orje trat an Theo heran. Kater setzte sich zu den anderen und wartete die Dinge ab. Ina Hinterzimmer standen die Stühle auf den Tischen.
„Was ist denn los?"
„Nazis in der Gneisenaustraße! Planen wahrscheinlich Überfall. Zwei Privatwagen stehen an der Ecke. Die Nummern schreib ich Dir noch auf. Vorhin ist eine Harley-Davidson durch die Straße gefahren."
„Schön von Dir, mein Lieber. Deswegen liegen wir ja in Alarm. Heute, vor einer halben Stunde, haben wir das vom Nachrichtendienst erfahren. Wir haben Leute rausgeschickt, die sind aber noch nicht zurück."
Die Tür ging auf und Doktor stürzte herein. „Du, Achtung! Die Bergmannstraße ist frei. Aber vom Berg her kommen jetzt hintereinander mindestens hundert Mann. Thiele ist bei. Auch die Gneisenaustraße ist besetzt."
„Ruhe, Ruhe. Nur keine Aufregung. Los, die Hintertür auf! Drei Mann im Hausflur. Die Mädels sollen auch gehen. Sollen nachsehen, ob die Leute kochendes Wasser haben. Und dann immer von oben runter!"
An den Tischen draußen blieb alles ruhig. Nur Erich zitterte vor lauter Aufregung. „Mensch, lass sie nur kommen. Ich greif mir gleich einen Stuhl."
„Aber die haben doch Pistolen."
„Ach, lass sie doch schießen. Hier kommt keiner rein, das sag ich Dir!"
Trude wollte vorn im Schankraum bleiben. Sie schmollte und reckte ihre braunen Arme. „Meint Ihr denn, ich bin feige?"
„Nee, nee, Trude. Das wissen wir ja. Aber Du musst da mitgehen. Das ist auch eine Aufgabe. Ihr müsst die Leute Bescheid sagen, sie sollen Blumentöpfe bereithalten. Los, los!"
Theo gab ihr einen leichten Stoß und schob sie mit den andern zur Hintertür hinaus. Auf der Straße war noch alles ruhig. Alle Genossen waren gespannt und auf dem Posten. Die Ruhe im Lokal war quälend.
„Ick jeh raus. Los, kommt mit! Die Schweine schlagen wir zu Puppendreck!" brüllte plötzlich ein untersetzter Bursche los. Seine Hände umklammerten die Tischkante. Er zitterte am ganzen Körper. Man beruhigte ihn. „Mach keen Quatsch! Die schießen Dir über den Haufen. Im Nu ist Schupo da, wenn wir rausgehen. Und dass die auf uns losgehen, ist doch klar, das haben wir doch schon oft erlebt."
„Verfluchter Mist! Mensch, wenn ick doch bloß ne Pistole hätte, Kinder nee."
„Ja leider. Dafür kommt unsereens zwee Jahre ins Zuchthaus."
Der Genosse konnte sich immer noch nicht beruhigen. Er rannte
hin und her und suchte einen Gegenstand zum Schlagen. „Gib mir
mal einen Gummischlauch, Othello." „Nee, jeht nich. Nachher heißt
es, ich verteile Waffen und mir wird die Konzession entzogen."
„Ach, so ein Mist, ach, so ein Mist. Jetzt sitzen wir hier drinne fest. Draußen auf der Straße, in den Häusern müssten wir stehen Die ganze Bevölkerung müsste bereit sein. Jeder müsste einen anständigen Knüppel in der Hand haben. Und die Leute kommen, sag ich Euch. Wir hätten nur vorher das Maul aufmachen sollen. — Was sollen wir paar Mann anfangen." „Hast schon recht. Aber es ist zu spät organisiert worden", entschuldigte sich Theo. „Ach ja. Das muss klappen! Sonst werden wir nie Revolution machen." „Wie viel sind’s denn überhaupt?"
„Hundertfünfzig Mann. Alle werden sie ja nicht angreifen. Die anderen decken ab." „Ach herrje, soviel? Müssen die aber eine Angst vor der Nostizstraße haben. Mensch... "
Ein lustiger Genosse mit ewig lächelndem Gesicht stand an der Tür. Er schob einen Tisch davor und legte die Hand darauf, als wenn er ein Gewehr in Anschlag brachte, „Da seht mal her. Nur so einen ganz kleinen Revolver möcht ich haben. Und dann lass sie kommen. Der erste: Peng! Der zweite: Peng! Das wär ne dufte Sache. Dann könntet ihr alle nach Hause gehen."
Der aufgeregte Genosse schob ihn ärgerlich zur Seite. „Jeh los hier. Die kommen jeden Moment und Du erzählst hier Märchen."
Er hatte sich eine Bierflasche besorgt und wog sie prüfend in der Hand. Dann nahm er sie beim Hals wie eine Handgranate und sagte schon etwas fröhlicher: „So siehste. Det jeht ooch ohne Revolver. Haust ihm eenfach mit de Pulle vorm Kopp Da, bautz! Und wenn er fragt, warum, haust Du nochmal. Und immer nochmal. Aber ick hab keen Schwein, mir looft keener vor de Pulle."
Er stellte sie ärgerlich auf den Tisch und fluchte: „Passt mal off, die kommen janich. Uns haben sie wieder einen Bären aufgebunden."
Plötzlich horchte er auf und nahm die Flasche wieder in die Hand. Breitbeinig stellte er sich in die Tür. Draußen gellte langgezogen ein schriller Signalpfiff.
„Achtung, vorwärts!"
Die Nostizstraße, von Süden her, zog im Trab ein dunkler Haufen Menschen. Vor dem Lokal blieben sie einen Moment stehen und gröhlten.
„Nieder mit der Kommune! Wo seid ihr feigen Hunde denn!"
Ein Pflasterstein flog gegen das Fensterkreuz und prallte ab. Verschlafen kamen Leute an die Fenster. Sie staunten und rieben sich den Schlaf aus den Augen. Fenster wurden geöffnet. „Was ist denn bloß los?" Von oben rief eine laute Stimme: „Achtung, faschistischer Überfall!!!"
Auch Herr Rhoden sah aus dem Fenster. Sein langes Nachthemd reichte ihm beinahe bis an die Füße. Seine beiden Jungens waren bei da unten. Sie waren der Rückendeckung zugeteilt und standen in einem Hausflur der Gneisenaustraße. Hermann war besorgt um Viktor. „Komm, wir gehen."
„Nein, ich bleibe. Ich bin nicht feige."
„Weißt Du, was wir machen?"
„Natürlich, wir wischen der Kommune eins aus!"
Die anderen lachten und einer tippte Hermann mit dem Finger an die Stirn. „Bist ja plem, plem. Das macht doch Spaß, Mensch. Ich komme mir so vor, wie damals bei Langemarck, Kamrad."
Der Sprecher war ein nicht überaus kluger Student im dritten Semester. Seine Augen waren schlitzförmig und die Nase stand wie eine durstige Knolle nach oben. Hermann spuckte ihm vor die Füße.
„Du Schwein! Alle miteinander seid Ihr Schweine. Sind denn das die Finanzjuden, die ihr totschlagen wollt? Das sind Proleten, genau wie Ihr. Schade, dass Ihr bewaffnet seid. Windelweich hätten sie Euch sonst geschlagen."
Er rannte los. Die anderen sahen sich verdutzt um. Viktor rief ihm leise nach: „Hermann, Hermann..." Dann entsicherte er seine Dreysepistole, Kaliber 7,65.
Hermann lief zur Nostizstraße und versuchte an das Lokal heranzukommen. Er sah Gustav in einem Hausflur stehen. „Du, Du, die haben Schusswaffen, seh Dich vor", rief er ihm von weitem zu. „Wo ist denn einer von den Kommunisten? Wo — ich muss, ich habe was zu sagen..."
„Ja, da kommst Du jetzt schlecht rein. Geh mal auf den Hof, da liegen Knüppel. Wirst ihn noch gebrauchen." Aber Hermann lief weiter. Sein Vater hatte ihn nicht beobachtet und griente unentwegt weiter.
Kochendes Wasser plätscherte aus den Fenstern auf die Straße. Die Mädels kochten es mit den Frauen eimerweise.. Unten brüllten welche auf: „Au, verflucht! Kochendes Wasser! Den ganzen Arm hab ich mir verbrüht, den ganzen Arm..."
„Faschistenhunde! Nieder mit den Arbeitermördern!"
Blumentöpfe sausten herab. Und Steine und Kohlenstücken. Die Nostizstraße schlief nicht mehr. Im Lokal stand Theo und hielt die Genossen zurück. „Wir haben die Aufgabe, das Lokal zu verteidigen. Keiner geht raus." Da fiel ein Schuss. Noch einer und noch einer. Dreimal hintereinander: Peng! Peng! Peng! Der Genosse rannte mit der Flasche in der Hand zurück und kam mit einer Axt wieder. Jetzt war niemand mehr da, der ihn zurückhielt. Er sprang über Theo hinweg und zur Tür heraus. Theo lag mit dem Kopf auf die Erde. Man hob ihn auf. Othello holte eilig eine Decke. „Was ist denn los?" „Verflucht! Theo ist getroffen!"
Er schlug die Augen auf und versuchte zu lächeln. Dann presste er die Zähne fest aufeinander und drückte die Fäuste gegen den Leib.
„Theo! Theo, wo hats denn getroffen? Sag doch Theo... . Mein Gott..."
„Hier, hier — ist aber nicht so schlimm, Ge—nos—sen. Ich, Ich
Erich stand neben ihn. Er drückte seine Hand.
„Du — Erich. Du musst jetzt meine Funktion übernehmen. Ich —> kann vor—läu—fig nicht mehr . . ." Er hob seine blutige Hand bleich in die Luft. Blass war sein Gesicht. Dann schien er nichts mehr zu spüren. Man trug ihn fort.
„Mit der Taxe gleich weg! — Bauchschuß, hm, Glückssache."
Erich stand einen Moment still, und seine Augen starrten auf die Stelle, wo Theo gelegen hatte. Eine kleine Blutlache versickerte langsam in die morschen Dielen. Dann sprang er auf und rannte hinaus.
„Nieder mit den Arbeitermördern!" schallte es ihm auf der Straße entgegen. Vor dem Lokal lagen Steine und zerbrochene Blumentöpfe. Die Faschisten waren abgezogen. Die beiden Privatwagen hatten ihre Verwundeten fortgeschafft. Von der Geneisenaustraße kamen eilig Genossen und Arbeiter zurück. Kurze Zeit hinterher fuhr langsam ein Überfallwagen durch die Straße. Der Genosse mit dem Beil saß oben und winkte: „Rot Front, Genossen!" Ein Schupo schnauzte ihn an. „Rot Front", echote es zurück. Eine halbe Stunde später kam Verstärkung. „Alles vorbei, liebe Freunde. Habens auch ohne Euch geschafft. Bloß einen Mann mit Bauchschuß haben wir weggetragen."
„So ein Mist! Verflucht, wärn wir doch bloß ein bisschen mehr gerannt..." Die Straße beruhigte sich bald wieder. Sie hatte gelernt, sie war jetzt bereit. Alle Hoffnungslosigkeit war verschwunden.
Doktor traf sich am anderen Tag mit Karl. In der Nostizstraße war es unheimlich ruhig. Fast keine Menschen standen vor den Haustüren. Ein Überfallkommando fuhr hin und her. Ab und zu ein Ruf: „Fenster zu!" Oder „Weitergehen!"
Die beiden gingen zu Doktor in der Solmsstraße. Das Lokal wurde ständig von der Polizei bewacht. Wenig Gäste saßen da und Othello fluchte. Kriminalbeamte liefen schwitzend herum. Einige hatten Hunde mitgebracht.
„Was sagst Du zu gestern abend, Karl?"
„Was soll man sagen, war schlecht organisiert. Eins steht fest: Die kommen wieder. Auch die Polizei kommt wieder. Die Aufgabe der Nazis ist ja, durch solche Überfälle die Arbeiterschaft zu verwirren. Alle anderen Straßen sind nicht so gut wie unsere. Alles Kleinbürger und Sozialdemokraten. Da haben sie es leichter. Und die Polizei — na, Du weißt ja."
„Aber, Herrgott, das geht doch nicht. Wir können doch nicht von unseren Genossen verlangen, dass sie tagtäglich auf den Beinen sind. Sie haben keine vernünftige Kleidung, nichts Rechtes im Magen, das geht doch nicht."
„Es ist schon so, Doktor: Wir allein sind augenblicklich zu schwach, um die Faschisten zu schlagen. Und wenn wir auch zahlenmäßig stärker sind. Kampf gegen Faschismus heißt nicht nur Überfälle der SA. abwehren. Da gehört viel mehr zu. Lies doch heute abend die Zeitungen. Fast alle bringen verlogene Berichte. Die Kommunisten haben angegriffen, die Kommunisten haben geschossen. Vor allem das „Tempo". Wenn ich das so lese... "
Karl knurrte beim Sprechen und biss dann die Zähne aufeinander.
„Das ist doch die beste Unterstützung für die Nazis. Dass die Polizei immer gegen uns vorgehen wird, ist ja klar. Dann die Justiz. Wehren wir uns, bekommen die Nazis Keile und ein Genosse wird verhaftet, dann sehen wir ihn lange Zeit nicht wieder. Passiert das einem von den anderen, wird er meistens freigesprochen. Das macht doch den Leuten Mut, deshalb werden sie Immer frecher und rennen ungehindert mit ihren Pistolen herum. Uns nützt nur die Massenaktion. Mobilisierung der gesamten Bevölkerung. An ihrem geschlossenen Widerstand müssen solche Überfälle scheitern."
Doktors Wirtin klopfte schüchtern an die Tür.
„Darf ich mal reinkommen?"
„Bitte, bitte."
Sie war aufgeregt und sagte rasch: „Was sagen Sie denn bloß zu den Schießereien? Mein Gott, so lange, wie ich hier wohne, war so was noch nicht vorgekommen. So eine ruhige Gegend. Das ist ja Mord und Totschlag, das ist ja Bürgerkrieg. Bis hierher hab ich die Schüsse gehört."
Sie redete immer aufgeregter. Doktor hatte keine Lust zum Sprechen. Ihn bedrückte irgend etwas. Immer musste er an gestern denken. Und an Theo. Karl sagte langsam: „Ja, Bürgerkrieg. Den wird’s geben. Und er wird sich in der Hauptsache nicht nur in der Nostizstraße abspielen, sondern ganz wo anders. Aber Ihnen wird ja nichts passieren."
Die Frau lächelte. Sie sah Karl freundlich und prüfend an.
„Versteh das nicht. Sie sind doch auch Kommunist. Und Sie — Sie sehen doch gar nicht so aus. Wenn man die Zeitungen liest. — Versteh das nicht", murmelte sie. Langsam lief sie zur Küche zurück. Doktor saß nachdenklich auf einem Stuhl.
„Hat ja keinen Zweck, mit der alten Frau zu diskutieren. Wir brauchen andere Leute. Die stirbt ja doch bald", sagte Karl hart und wandte sich erstaunt Doktor zu.
„Was hast Du denn bloß, Mensch?"
„Ach, nichts. Ich weiß nicht. Ich denk zu viel darüber nach. Und überhaupt, ich bin nicht so wie Ihr. Ich hab alles viel schwerer und Ihr alle habt gegen mich eine falsche Einstellung. Alles ist so geschäftsmäßig, persönlich kennt man keinen. Und dann das andere... "
Karl war verwundert. Ein starkes Kameradschaftsgefühl für Doktor, stark und etwas weichlich, durchdrang ihn plötzlich. Er sah kurz auf. Doktor verzog den Mund. Seine Unterlippe war blass und hing wulstig nach unten.
„Ach, lass doch, Doktor. Ist doch nicht so schlimm. Hauptsache die Arbeit. — Mir gehts ja auch manchmal so. Vor allem, wenn ich verliebt bin. Da gibt’s dann so dumme Stimmungen. Man kann nicht einschlafen, denkt sinnloses Zeug und bildet sich ein, man müsste mehr Zeit für persönliche Dinge haben. Aber dann ist die Arbeit wieder da und alles wird besser."
Er stockte einen Moment. Seine Stimme war weich und er schämte sich. Dann begann er wieder: „Unseren anderen Genossen gehts doch oft auch so. Manchem so und manchem so Wenn man sie
sprechen hört, meint man, sie wären roh und einseitig. Aber na __
lass man. Unterhalten uns lieber über ,Telefunken', nicht, Doktor?"
„Ja, glaube auch. Ist wichtiger."
Es wurde dunkel im Zimmer. Auf der Straße kreischte ein junges Mädel. Von der Küche her drang das Klappern von Kochtöpfen. Die beiden schwiegen wie auf Verabredung. So, als ob der Eindruck des Gespräches erst richtig verschwinden sollte. Sie saßen da und streckten die Beine von sich. Doktor putzte die Brillengläser und kniff die Augen zusammen, als schmerzten sie leicht. Er holte mit den Armen weit aus und sagte: „Eine Verbindung hab ich schon "
„So, ist gut. Und, was ist?"
„Ja, wird schwer sein. Betriebsarbeit, mein Lieber, da ist viel versäumt worden. Die besten Kräfte müssen da eingesetzt werden. Ist schwer, da ranzukommen. Aber wir müssen. Machen wir die Vorarbeiten, später muss die ganze Gruppe eingesetzt werden. Überhaupt muss von vornherein für eine gute Verbindung von der Straßenzelle zur Betriebszelle gesorgt werden. Auf unserem Abziehapparat ziehen wir Einladungen zu einer Jugendversammlung ab. Ich hab einen knorken Kerl, der wird im Betrieb auch ein paar verteilen, die anderen wir."
„Gut, dufte, Doktor. Da haste ja direkt schon wat jemacht. Los, wir gehn gleich zu Ernst abziehen. Hoffentlich ist der Hund zu Hause."
Sie liefen beide Jos und waren fröhlich Die anderen Genossen hatten heute nichts zu tun. Elly und Erich saßen auf einer Bank in der Gneisenaustraße. „Rot Front, Ihr beiden", rief Karl. Erich wollte erst den Nacken einziehen, dann grüßte er zurück. Doktor nickte mit dem Kopf und musste lachen.
Der lange Emil traf sich mit Karl und Doktor sofort nach Betriebsschluss.
In einer halben Stunde sollte die Versammlung beginnen.
Emil lachte breit und schlug Doktor auf die Schultern. „Mensch, ick sage Dir. Bei uns wat machen. Die Jungs wolln alle. Aber sie traun sich nich. Na, Ihr werdet ja sehn."
Sie saßen in einem Lokal in der Lankwitzstraße am Halleschen Tor. Emils Freund, Fritz, kam mit einem blassen Burschen. „Is hier richtig?"
„Jawohl, komm ma her. Kommt Ihr alleene", fragte Emil.
„Na, vielmehr werden nicht kommen. Ihr wisst ja. Der olle Kühne steht an de Ecke Tempelhofer Ufer un passt uff. Die janz. neuen Stifte traun sich erst recht nicht her."
„Ma, wolln ma sehn. Wird schon werden."
An der Theke standen Kohlenkutscher und tranken ihre Mollen. Doktor rauchte eine Zigarette nach der anderen. Es kamen noch vier junge Arbeiter. Einige schüchtern, andere frech. Ein schwerfälliger Bursche blieb an der Tür stehen und sah noch einmal die Straße hinunter. Dann fluchte er:
„Der Kühne ist der reinste Betriebsspitzel. Uffs Maul haun, den Lumpen. Steht immer noch an de Ecke un passt uff."
„Weiter wird wohl keener kommen. Los, jehn wa nach hinten", meinte Emil. Karl hatte sich eine lange Rede zurechtgelegt. Aber er sprach nur kurz. Und Emil unterbrach ihn auch öfter. „Hör mal, det wissen wir ia schon allet. Son bisschen klassenbewußt sin wir ja ooch. Lass Dir doch von de Jungs aus den Betrieb berichten."
Der Blasse stand auf. Sein Gesicht war schmutzig und die Finger unheimlich lang. Beim Sprechen hustete er öfter und machte lange Pausen.
„Ja, Kollegen. Damit sind wir wohl alle einverstanden. Äber die technischen Schwierigkeiten, die sind schlimm. Unsere Jugendlichen im Betrieb sind verängstigt. Sie getraun sich nicht mehr, eine eigene Meinung zu haben. Und gerade ein Teil der älteren Verbandsmitglieder haben dafür gesorgt! Überall Spitzel im Betrieb. Vor allem der Kühne. Sagst Du was, Bumms: hier hast Du Deine Papiere, Wir hatten ja mal einen roten Jugendvertrauensmann, den Alex. Auch entlassen. Wir paar konnten allein keinen Krach machen. Und von außerhalb des Betriebes wurden wir nicht unterstützt, also — Ihr wart ja schon mal bei uns, wisst ja Bescheid. Wir hatten sogar zum Jugendtag in Leipzig eine Delegation, Die Teilnehmer wurden alle entlassen. Vor drei bis vier Wochen hatte sich Alex wieder eine Verbindung mit dem Betrieb gesucht. Ist ja gut, der Junge, muss man schon sagen. Er war auch beliebt bei den Kollegen. Wie gesagt, er traf sich mit einem Arbeitsburschen vor dem Betrieb. Der Arbeitsbursche wurde von Kühne gesehen und am nächsten Freitag hatte er die Papiere. Ihr seht, wie schwer das ist...."
„Ja, das ist schon eine Scheiße."
„Ach wat", polterte der lange Emil los. „Kühne haun wir mal vors Maul. Der wird bald die Schnauze halten. Habt doch man bloß nich so viel Angst, Mensch. Jedenfalls kann . man die Schwierigkeiten ganz gut beseitigen. Das ist doch alles Quatsch. Wir sin doch keene Hampelmänner."
„Sagst Du so. Aber heute aus dem Betrieb fliegen, das ist allerhand."
„Ja, das muss auf alle Fälle vermieden werden", sagte Karl. „Wir brauchen Betriebsarbeiter. Die sind wichtig. Ihr sollt auch nicht offen auftreten bei der Kleinarbeit, Gewiss, manchmal ist das notwendig. Aber wir von der Straßenzelle sind ja auch da. Wir werden Euch mit allen Mitteln unterstützen. Erst mal eine Zeitung fertig stellen. Ihr liefert das Material dazu. Wie: was ist im Betrieb los, wer sind die größten Schinder, Werkpolizei, Lehrlingsfragen, Faschisten, immer in Verbindung mit tagespolitischen und grundsätzlichen Fragen. Weiter, was wird im Betrieb produziert... ."
„Oho, das ist ja eben das Wichtige", rief der Blasse dazwischen. „Fast alle Funkeinrichtungen, auch für Panzerkreuzer. Der Großsender Nauen stammt von ,Telefunken'. Das ist sehr wichtig, meine Lieben."
Karl war verwundert. Der weiß ja allerhand, dachte er.
„... wir werden also zwei, drei Nummern von der Zeitung verteilen und dann eine große öffentliche Jugendbetriebsversammlung organisieren. Und zwar so, dass es keinem Spitzel möglich ist, die Jugendlichen zu überwachen. Das wird schon möglich sein. Ein Vertreter der RGO. wird eingeladen und auch welche von der Parteibetriebszelle. Einverstanden?"
„Ja, es muss gehen. Aber wie gesagt, von außen gut unterstützen."
„Ja, ja, könnt beruhigt sein."
Nur ein junger Arbeiter war ängstlich. Er stand das erste Jahr in der Lehre und hatte große Angst vor seinem Vater, einem Sozialdemokraten. Nun, Karl wusste ja Bescheid. Er verschwand dann auch bald stillschweigend. Der Blasse lachte, als er raus war. „Um, den hatte ich ja die meiste Angst, Genossen. Na, lass man."
„Bist Du denn auch Genosse?"
„Icke? Klar. Ich bin aus Moabit."
„Ach! Seh mal an. Det is doch eine Schweinerei. Und davon wissen wir gar nichts. Seh mal an", sagte ärgerlich Karl. Alle anderen, außer Emil, traten in den Jugendverband ein, mit dem Versprechen, im Betrieb zu arbeiten und die Zelle weiter auszubauen. Zwei von ihnen waren damals schon im Jugendverband, und als die Zelle aufflog, kümmerten sie sich um nichts mehr. Emil wollte nicht.
„Ach, da ist man doch dauernd gebunden. Ick hab da soone kleene Brumme. Uff die muss ick uffpassen, sonst looft se mir weg. Später mal, wenn ick verheiratet bin. Aber ick arbeete mit. Mensch, ick als oller Klassenkämpfer...." Er reckte seine große Faust,
Vergnügt trotteten Karl und Doktor nach Hause.
Von nun an trafen sie sich oft mit den Jungens aus ,Telefunken'. Sie hatten schon viele Artikel aus dem Betrieb erhalten. In der; nächsten Woche sollte die erste Betriebszeitung fertiggestellt werden. Jetzt galt es, die Genossen aus der Gruppe Nostizstraße zu mobilisieren.
Einen Tag später hatte die Gruppe ,Nostizstraße' Versammlung. Die Sitzung hatte noch nicht begonnen. Kater, Gustav, Orje und Frieda waren gemeinsam gekommen. Sie saßen vor Trude an einem Tisch und füllten Aufnahmescheine aus. Alle Genossen waren da. Ernst hatte die neueste Nummer des ,Jungen Wühler' gebracht. Nur Erich fehlte noch. Karl stand von seinem Stuhl auf und sprach: „Genossen! Wir haben in den letzten Wochen trotz allem Terror eine gute Arbeit geleistet. Heute abend sind vier junge Arbeiter, die Ihr alle gut kennt, zu uns gekommen. In ganz kurzer Zeit eine. Betriebsgruppe bei ,Telefunken' aufgebaut. Darüber werden wir noch später sprechen müssen. Einer unserer Genossen ist von Faschisten verwundet worden. Theo hat einen schweren Bauchschuß und liegt im Urbankrankenhaus. Er wird lange nicht bei uns sein können. Er lässt Euch alle grüßen und verlangt von der Gruppe verstärkte Arbeit. Und wir werden verstärkt arbeiten. Wir müssen einfach, Genossen!"' Die Genossen saßen da mit verbissenen Gesichtern. Alle dachten an Theo. Nur Doktor lächelte still vor sich hin. Er hatte in der letzten Woche viel gearbeitet. Die Betriebszelle von ,Telefunken' war jedenfalls geschaffen. Jetzt galt es nachzustoßen.
Eine kurze Pause trat ein. Die Körper waren gespannt. Man hörte stoßweises atmen. Jemand sagte: „Jawohl, wir müssen! Jetzt heißt es nicht nachlassen. Und wenn wir wirklich Komsomolzen sein wollen, dann schaffen wir es auch."
Die Tür ging auf. Nur wenige sahen sich um. Dann erhob sich eine brodelnde Unruhe: „Sssssssss — Ru—he!" Erich war eingetreten und schob Hermann Rhoden vor sich her. „Hier, ein neuer Genosse. Er traut sich nicht so recht... ."
„Bravo", riefen welche. Ein paar Stimmen murrten: „Der hat sich doch an dem Überfall beteiligt... ." „Nein, stimmt nicht." Auch Gustav stand auf und sagte verlegen: „Ich weiß es genau. Er stand bei mir, Nur sein Bruder...." Langsam kam Hermann näher. „Wenn Ihr erlaubt...."
„Bitte, bitte! Du ja, aber Dein Bruder niemals."
„Also Erich, Du bist vorgeschlagen an Theos Stelle. Wie denkt Ihr darüber, Genossen?" „Dufte, jawoll, Erich, Erich!" Der wurde bis über die Ohren rot. Aber am meisten freute sich Elly. Langsam begann der neue organisatorische Leiter zu sprechen. Seine Stimme wurde einen Moment unsicher, doch dann sprach er sicher weiter. „Ja, was soll ich dazu sagen. Ich kann nicht gut reden. Das wisst Ihr ja. Ich habe den Marxismus auch nicht mit dem Löffel gefressen. Aber arbeiten will ich, das verspreche ich Euch, Genossen. Und wir haben noch viel, viel Arbeit. Ich bin noch nicht lange Mitglied der Organisation. Aber das weiß ich heute: Kampf und nochmals Kampf. Um jeden Jungarbeiter müssen wir kämpfen. Um jeden in Betrieb und Straßenzelle. Um jeden in den gegnerischen Organisationen. Ich habe Theo versprochen, dass ich jetzt doppelt arbeiten werde. Und das verspreche ich Euch auch. Und so werde ich meine Funktion antreten, wenn ich auch nicht so gut sprechen kann...."