„Meine Herren", beginnt Herr Landsberg, „wir müssen uns nun trennen. Wenn der Krieg vorbei ist — lange wird die Sache ja nicht dauern —, dann hoffe ich, dass wir uns hier alle vollzählig wieder sehen. Ich kann den Betrieb nicht aufrechterhalten; Müller und Schaal sind bereits fort, und mancher von Ihnen wird in den nächsten Tagen Abschied nehmen müssen. Ich selbst bin ebenfalls noch im militärpflichtigen Alter. — Wir haben ja jetzt nur ein Ziel, ein gemeinsames Ziel, unser Vaterland zu verteidigen. Darf ich also bitten."
So nehmen wir nacheinander Papiere und den Restlohn in Empfang. Es sind nur einige Minuten nötig, um acht Mann abzufertigen. Janke schielt derweilen die fettgedruckte Heldentat der „Magdeburg" und „Augsburg" aus der auf dem Tisch liegenden Morgenzeitung an und liefert so den Übergang zur Schlussrede.
„Wirklich ganz famos", sagt unser Chef. „Die Russen werden sich schön gewundert haben, als sie so begrüßt wurden. Werden sich noch mehr wundern, wenn sie vom Süden her von den Österreichern gepackt werden."
Einige lachen und stimmen zu. Von Herzen lacht keiner.
Der Abschied ist kurz. Ich gehe zu Fuß, um allein zu sein. Die andern besteigen die Straßenbahn oder schlagen den Weg zur Vorortbahn ein.
Mich verband vordem schon nicht viel mit ihnen — und nun schon gar nichts mehr. Menschen ohne jede eigene Meinung, brave Kleinbürger, die nun etwas traurig gestimmt waren, dass ihr regelmäßiges Leben unterbrochen wurde. Sie waren alle schon Jahre dort: Schwiegervater und Sohn, der Vorarbeiter und sein Freund, ein Schlosser in den dreißiger Jahren. Der
Blechspanner mit dem steifen Bein und der alte Schmied mit der Riesenglatze und dem Riesenbart. Ich war ein Fremder, den der Zufall dorthin verschlagen hatte.
Welchen Grund mochte das wohl haben, dass der alte Schmied, der lahme Blechspanner und der einäugige „Arbeitsmann" wieder zurückgehen — und, ehe sie in die Eckkneipe verschwinden, mich zurückrufen? Und ich umkehre und auf ein paar Schoppen mitgehe? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie noch lachen konnten, und die andern nicht mehr.
„Lot se moken, wat se wüllt", sagt Schramm und trinkt seinen Koks aus. Und nachdem er ihn hinuntergeschüttet hat und noch an dem Zucker kaut: „Uns könn se an Mors klein." Schramms blindes Auge glänzt wie poliertes Horn. Die beiden andern schmunzeln beifällig, als freuten sie sich ihres Alters, oder wie der lahme Jonas, dass er ein Krüppel ist.
„Mokt gaut, oll Jung, mokt gaut!" meinten sie dann zum Abschied zu mir. „Schrieb mol und hol de Ohren stief!" — „Von de ganz Dumm'n bist ja ok keener", meinte Schramm noch zuletzt.
Ich habe in Eilbeck nichts mehr zu suchen. Es war ganz nett dort, diese kleine Fabrik war ein Idyll inmitten eines grünen Gartens. Der Kirschbaum am Fenster, das Pfeifen der Riemen, das Stampfen der Hobelmaschine, die krachend über Gussplatten ackerte, und das „Zisch-Puff" des Sauggasmotors war wie Begleitung zu dem Konzert der Vögel. Die Arbeit war erträglich. Eine Fabrik für gelochte Bleche. Auch Spezialmaschinen für diese Fabrikation, und Landsberg arbeitete unermüdlich an neuen Patenten. Es kam auf eine Stunde nicht an, sondern lediglich auf Zuverlässigkeit und Präzision. Mittags lagen wir im Garten, eineinhalb Stunden, und der Lohn — achtzig Pfennig die Stunde — lag über dem Durchschnitt. Mit fünfundzwanzig Jahren verliert sich auch langsam die Lust an dem wechselvollen Landstraßenleben. Mir war die ruhige Arbeit in dem ruhigen Eilbeck willkommen, und ich nahm auch Wohnung dort, weil ich den Weg nach Hamburg sparen wollte, und weil in der Gummifabrik unweit davon ein Mädel war, das mir gefiel.
Aber nun ist der Traum aus. Ob ich ein Feigling bin — ich weiß es nicht; jedenfalls ist es die Meinung des Mädels und ihres Vaters. Ihr Bruder ging freiwillig ins Feld, und ich war die Tage vordem in der Stadt unter denen, die gegen den Krieg demonstrierten.
„Da kommt Hans Betzoldt!" Mit diesem Schrei springt Martha Lehmann, meine Wirtin, auf, als ich an der Destillation vor dem Hause meiner Wohnung vorübergehe. Ihr Freund, ein zwei Zentner schwerer, athletisch gebauter Möbelträger, sitzt neben ihr in dem verqualmten Lokal. Der Wirt ist in Artillerieuniform und bedient in Stiefeln und Sporen. Das Groschenorchester brüllt; das Lokal ist voll. Meine Wirtin bestellt einen „Halben" und schreit mich an: „Na, Hans, ergib dich schon, sie werden dich nicht gleich totschießen!" Sie scheint guter Laune und spendiert. „Paul hat sich das auch überlegt", fährt sie fort, „bist wohl nun ganz allein als Miesmacher."
Paul Gerstacker, der eifrigste Kriegsgegner unserer Gruppe, schaut mich lauernd an und antwortet dann: „Ja, ich geh auch mit, es geht nicht anders." Neues Gelächter, Musik, hart und blechern. „Kennt ihr die Dollarprinzessin?"
Fort von hier! Ein Zettel auf dem Tisch und die Schlüssel dazu geben Kunde, dass der Vogel ausgeflogen ist.
In einer der kleinen Straßen an der Hamburg-Altonaer Grenze wohnt Genosse Mertens aus meiner früheren Gruppe. Ich klopfe; seine Frau öffnet. „Hans, du?" — Ihre Augen sind verweint, ein schwaches Lächeln kämpft gegen das niederdrückende Gefühl von Ungewissheit und erzwungener Tapferkeit. „Komm herein! Was machst du? Wo kommst du jetzt her? Arbeitest du nicht ? Musst du fort?"
„Wo ist Genosse Miertens?" frage ich. Um ihren Mund läuft ein kaum merkliches Zucken. Sie schaut zu Boden, dann sagt sie: „Er hat sich gestern gestellt."
Sie scheint eine Antwort zu erwarten; vielleicht eine abfällige Antwort. Ich jedoch bin nicht kampflustig, wenigstens nicht in dem Sinne, wie sie es erwartet. Sie scheint das auch
langsam zu begreifen. „Komm herein, Hans, komm in die Küchel" sagt sie und macht die Tür zu.
„Du staunst", beginnt sie von neuem, „aber es hätte keinen Sinn gehabt. Paul wollte wirklich nicht, aber einer nach dem andern fiel um. Ich habe es wohl von Anfang an geahnt, dass es zum Schluss so kommen wird. Mayer, Hartung und May sind ebenfalls fort. Mein Mann war zuletzt allein. Du weißt, Hartung hat drei kleine Kinder, was soll seine Frau machen? Mayers Frau ist vollkommen verhext, sie würde ihren Mann direkt verraten. May ist zusammengeklappt. Es ist kein Wunder. Lies doch das ,Echo'."
Sie weist auf die Zeitung, die den Entschluss der sozialdemokratischen Fraktion bringt, in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stiche zu lassen. Darunter die Botschaft Kaiser Wilhelms, dass er keine Parteien mehr kenne, und Martha schließt mit Nachdruck: „Das sind alles ganz gemeine Halunken und Verräter!" Ich schweige immer noch, bis sie noch einmal fragt, ob ich fort muss. Ich berichte. „Was nun?"
„Kann ich hier wohnen?"
Sie überlegt, als hätte sie Angst vor der eigenen Antwort. Dann sagt sie, etwas schüchtern: „Hans, jetzt gerade, kurz nachdem Paul fort ist — du musst verstehen — ich möchte das nicht — du weißt doch — kannst du nicht woanders wohnen?" Und als ich nicht antworte, fährt sie, wie entschuldigend, fort: „Sieh, wenn Paul das erfahren würde, dann könnte er sich doch allerhand denken, das musst du doch verstehen."
Ich bin darauf nicht vorbereitet. Wo soll ich wohnen? Ich muss versteckt, heimlich, unangemeldet irgendwo sein können. Wo soll ich das finden, wenn nicht bei Genossen? Alle sind sie umgefallen, bis auf Paul, der ging als letzter. Nun bin ich der letzte. Ich darf nicht einmal bei seiner Frau bleiben, „was sollen die Leute denken".
Ich stehe auf und gehe. „Leb wohl, Genossin Mertens, grüße Paul, wenn du ihm schreibst." „Bist du mir böse, Hans ?"
„Nein, gar nicht. Ich muss eben sehen, wo ich bleibe."
Ich gehe. Sie begleitet mich bis vor die Tür, um noch einmal zu fragen: „Hans, bist du mir wirklich nicht böse?"
„Nein, ich bin dir nicht böse!"
Sie war mir so fremd und so gleichgültig geworden, ich konnte ihr gar nicht böse sein.
Ich schaue über die Reeperbahn. Ein Zug Soldaten kommt daher, dann Geschütze, Bagage, Sanitäter. Dicht stehen die Massen, an den Seiten. Sie bewerfen die Soldaten mit Blumen. Die Soldaten singen. Die Massen singen mit, laufen neben ihnen her. Sie gehen und reiten nach dem Heiligengeistfeld. Ich gehe mit. Ich habe kein Ziel mehr an diesem Tage. Ich muss erst einmal schlafen. Ich bin müde, so furchtbar müde!
Ein Gewitterregen hat den Staub niedergeschlagen; die Sonne liegt satt und heiß über Menschen und Pferden. Kommandos ertönen: „Aufgesessen!" „Abgesessen!" „Protzt ab! „Erstes, Feuer!" „Zwotes, Feuer!" „Batterieantreten!" „Stillgestanden!" „Augen... rrrechts!!"
Ein alter Graubart mustert die ins Feld ziehenden Batterien. Die Vaterlandsverteidiger stehen wie entseelt und heften die Augen wie elektrisch dirigierte Puppen auf ihn. Keine Wimper zuckt in der uniformierten Mauer. Alles steht stumm und dumm. Der Hauptmann scheint zufrieden.„Lassen Sie rühren", befiehlt er herablassend dem Leutnant.
Ich helfe mir, weil ich doch keinen Gedanken mehr formen kann, mit einem Lächeln. Ich weiß nicht, ob die Liebenswürdigkeit der Damen, die in der Kriegsküche, unweit davon, für fünfzehn Pfennig große Portionen Essen verabreichen, Schauspielerei, Heuchelei oder nur Dummheit ist. Ich will auch nichts mehr wissen.
Nachdenken kann ich erst wieder, als ich auf dem Heiligengeistfeld einige Stunden geschlafen habe. Ich lag da nicht allein. Ein großer Teil der Gäste der Kriegsküche lag ebenfalls dort. Sie hatten wohl seit langem nicht so reichlich und gut für fünfzehn Pfennig gegessen. Die Sonne war wieder hinter den Wolken, als ich erwachte; es war schon gegen Abend und kühl. Ich muss ein Dach über dem Kopf haben für die Nacht.
Ich legitimiere mich vorschriftsmäßig im Gewerkschaftshaus und löse mir eine Schlafkarte. Dann nehme ich das vorgeschriebene Brausebad und gebe mein Hemd hin, um es nach Läusen untersuchen zu lassen. Der Stempel auf der Schlafkarte legitimiert mich als ungezieferfrei. Ich gehe ins Fremdenzimmer. Mir scheint, als spreche aus allen Gesichtern bewusste Zurückhaltung, Ablehnung. Die Stiefkinder der Gesellschaft müssen auf die Freuden dieser Gesellschaft verzichten, und sie verzichten auch auf ihre Dummheiten. Zwei an meinem Tisch, augenscheinlich Reisekollegen, unterhalten sich über die Zeitung, die sie lesen. Der eine legt sie mit einem höhnischen Lächeln fort. Ich suche die fette Notiz, der sein Lächeln galt. Es ist eine Rede des Kaisers.
„Enorme Opfer an Gut und Blut würde ein Krieg vom deutschen Volke fordern, den Gegnern aber würden wir zeigen, was es heißt, Deutschland anzugreifen. Nun empfehle ich euch Gott. Jetzt geht in die Kirche, kniet nieder vor Gott und bittet um Hilfe für unser braves Heer."
Ich lache dasselbe Lachen. Ich mag noch immer nicht nachdenken, obgleich ich einige Stunden geschlafen habe. Nur eine Freude hält den ganzen Tag vor, die ich genieße: ich habe meine patriotische Wirtin, die unten in der Kneipe Stubenlagen gab auf den kommenden großen Sieg, um die Monatsmiete betrogen und habe so noch für einige Wochen Geld. Vielleicht bin ich ein Lump. Aber wenn auch — um diesen Preis bin ich bereit, einmal ein Lump zu sein.
Ich werde wach, als einige Gäste geweckt werden. Es ist noch früh, erst sechs Uhr. Sie stehen in Arbeit. Mir fällt ein, dass ich noch keinen „Plan" fertig habe. Heute ist der Tag, an dem ich mich stellen soll.
Ich sehe keinen Ausweg und habe auch keinen Willen, keine Kraft, irgendeinen Entschluss zu fassen.
Ich denke an meinen Bruder. Er ist früh ausgewandert, ist in Südamerika. Ich habe keine Nachricht von ihm. Und mit den
Gedanken an meinen Bruder kommen die Gedanken an Kindheit und Jugend, an Vater und Mutter.
Mein Vater ging jeden Morgen fort, mit Schaufel, Steinhammer und dem Stahlbesen auf dem Schiebekarren. Um sieben schob er los, jeden Tag, von April bis Oktober. Im Winter, solange es hell war. Selbst in der größten Kälte war er unterwegs, auch wenn er infolge des Frostes nicht auf der Straße arbeiten konnte. Dann besserte er die Drahtschutzgitter an den Bäumen aus, damit hungrige Hasen nicht die Rinde abnagen konnten. Oft gingen wir ein Stück des Weges mit. Oft habe ich ihm Mittagessen nachgetragen, wenn es nicht allzu weit war. Aber sehr oft hatte er über zwei Stunden zu fahren. Er hatte eine Landstraßenstrecke von über fünf Stunden instand zu halten.
Dort saß er an der Kante des Straßengrabens und schlug die harten Steine klein, um mit ihnen die Löcher auszubessern. Wenn er die eine Seite — unser Häuschen lag in der Mitte — durchgearbeitet hatte, hätte er schon wieder von vorn beginnen können. Aber die andere Seite war auch schon wieder voll Löcher. So durften ihn auch Regentage nicht zurückhalten. Ob ihm das Wasser bis auf die Haut drang oder kalter Wind ihn schüttelte oder ob die Sonne brannte, dass die Hitze von der Erde zurücksprang und über den Staubwolken der Autos flackerte: es war keine Zeit übrig, auszuruhen oder Schutz im Schatten zu suchen. Der Posten als königlicher Straßenwärter war berechnet für Mann und Frau — und meine Mutter war schon Jahre hindurch krank.
Was muss ein Mann ertragen haben, dass ihn selbst der Tod der Frau nicht mehr sonderlich berührte! Er stand am Grabe, wie immer hochaufgerichtet; sein graumelierter Bart schien vom Straßenstaub gefärbt. Seine grauen Augen bewegten sich so ruhig, so sicher hin und her, wie der Zeiger einer Wetterwarte. Als wir zurückgekehrt waren und zum ersten Male allein saßen, strich er uns weinenden Knaben stumm über den Scheitel, als wollte er sagen: es geht nicht anders, Jungens, lasst der armen Mutter ihre Ruhe. Er wusste, dass sie sterben musste, weil sie die Schwindsucht hatte. Aber er konnte und wollte uns das nicht vorher sagen; denn ich war erst zehn, mein Bruder zwölf Jahre alt. Zwei jüngere Schwestern — ein Zwillingspaar — waren schon einige Jahre vorher, bald nach der Geburt gestorben.
Er wollte uns auch nicht sagen, warum er morgens immer so stöhnte, wenn er sich unbeobachtet wähnte; warum er sich beim Aufstehen immer mit beiden Händen um die Hüfte greifen musste, um seinen großen Körper aufzurichten. Bis alles Stöhnen nichts mehr half, bis er liegen bleiben musste, gerade als mein Bruder die Schule verließ. Der kalte Wind, die kalten Steine, der durch Zug zurückgeschlagene Schweiß griffen ihm an die Nieren. Die Karre wurde ihm zu schwer, der Weg zu lang, die Schmerzen zu groß. Die Pension war zu knapp, um leben zu können. Da gab mein Vater die Einwilligung, dass sein Bruder, der nach Amerika ausgewandert war, meinen ältesten Bruder zu sich nahm. Er reiste nach „drüben", zusammen mit Auswanderern aus den nahen Dörfern, und hat seinen Vater und mich nie wieder gesehen.
Er hat nicht mehr gesehen, wie ich dann unser Wägelchen wieder hervorholte, unseren „Bleß" ziehen lehrte und den „Brothandel" wieder aufnahm, den Mutter „begründet" hatte. Die Bauern in den nahen Dörfern aßen auch gern einmal Weißbrot; aber ein Bäcker hatte nicht genügend Kundschaft. Bekannte, regelmäßig verkehrende Fuhrwerke brachten die Brote von der Stadt mit. Mein Vater machte morgens, während ich in der Schule war, den Wagen zurecht, und am Nachmittag fuhr ich die Kundschaft ab.
Es war nicht viel, was da an „Reingewinn" übrig blieb, aber, wenn uns das Wetter keinen Strich durch die Rechnung machte, einige Mark die Woche. Und daneben gelegentlich noch ein Stück Speck, ein paar Eier für den kranken Vater. Für den Bleß öfter ein Gericht Knochen oder den Rest eines Mittagessens. Bleß kannte auch seine Kundschaft und ging nicht früher, bis auch er bedient war. Das wussten die Pfarrersköchin, die Bürgermeistersfrau, die Tochter der Wirtin ganz genau. Sie wussten auch, dass man den „Brothans" nicht vergessen darf, wenn Schlachtfest war, und dass er in diesem Fall kommen wird, trotz des denkbar schlechtesten Wetters.
Wenn ich Bleß auf dem Berg ausspannte, der sich vor unserem Häuschen erhob, lief er, laut bellend, voraus, auf meinen wartenden Vater zu, der sich fest auf seinen Stock stützen musste, wenn er nicht umgeworfen werden wollte. — Es wurde schon immer schlimmer mit ihm.
So schlimm, dass der Arzt darauf drang, dass er ins Krankenhaus überführt wurde, weil für sein schweres Nieren- und Blasenleiden sachgemäße Pflege und Behandlung notwendig wurde.
Das war nicht weit; eine halbe Stunde nur, aber nun erst begriff ich langsam das Furchtbare meines Schicksals. Niemand konnte mehr das Brot einpacken, die Ziegen, die Gänse und Hühner besorgen, während ich in der Schule war. Die kleine Wohnung war kalt und leer, und Bleß schaute verständnislos drein, als das Wägelchen wieder im Schuppen verschwand. Ich kam in einigen Monaten aus der Schule, bis dahin blieb alles beim alten.
Aber mein Vater rechnete selbst nicht mehr mit einer Besserung, und im Falle seines Todes verfiel die Wohnung dem Staat für den kommenden königlichen Straßenwärter, der bis dahin in Aushilfsstellung war. So wurden die Hühner, die Gänse, die Ziegen verkauft. Den Hausrat holte ein Onkel, der im nahen Städtchen wohnte. Ich kam in die Lehre. — Als der neue königliche Straßenwärter schon eingezogen war, kam öfter ein großer schwarzer, zottiger Hund über die Felder gejagt, pflanzte sich vor dem Häuschen auf und bellte, dass es in allen Wäldern widerhallte. Das war Bleß; er suchte mich. Er konnte sich an seine neue Heimat nicht gewöhnen.
Ich hatte meine Mutter langsam sterben, besser gesagt, absterben sehen und wusste auch, dass die immer durchsichtiger werdende Blässe meines Vaters das Zeichen des nahen Todes war. Sein Bart war fast weiß geworden. Seine Finger wurden immer länger und lagen auf der weißen Decke wie leblos. Einige hundert Mark hatte er aus dem Erlös unseres Hausrats noch gerettet für mich; das bekam mein Lehrmeister dafür, dass er mich von morgens sechs bis abends neun Uhr schwer arbeiten ließ.
Ich habe es ertragen, habe gelernt, dieses Leben ohne Klagen auf mich zu nehmen, wenn es nicht anders sein kann; ich habe es früh, vielleicht zu früh von meinem Vater gelernt. Ich klagte nicht, so wenig wie mein Vater über seine Last klagte. Ich sagte ihm stets, dass es mir gefiel.
„Bleibe gesund, halt die Augen offen, Hans 1" Er war an diesem Tage schon sehr schwach. Als ich wiederkam, war er tot.
Das ist nun dreizehn Jahre her. Was dann kam, war der Kampf gegen die Widerwärtigkeiten des proletarischen Lebens. Ich habe schwer gekämpft. Ich bin auch dem Schicksal meiner Eltern, an einer einsamen Ecke an der Landstraße langsam hinsterben zu müssen, entronnen, aber nicht dem Schicksal, in Obdachlosenasylen mit anderen Schicksalsgenossen wie Vieh zusammengetrieben zu werden. Ich bin nicht dem Schicksal entronnen, in Frost und Schnee heimatlos durch das Vaterland zu wandern, wenn jede Katze, jeder Hund seine warme Ecke, seinen Napf voll Fressen hat. Ich bin nicht dem Schicksal entronnen, im Arbeitshaus dafür zu büßen, dass ich „rückfällig" wurde, weil ein Vagabund seinen Hunger nicht stillen kann mit einer „Verwarnung". Ich bin nicht dem Schicksal entronnen, gebrandmarkt zu werden, weil ich mit Gleichgesinnten dafür kämpfte, dass die Rechtlosen dieser Erde am Ersten Mai ihre Stimme zu einem Schrei über die ganze Erde vereinigen; musste öfter als einmal Freunde und Genossen verlassen, wenn der Fluch der schwarzen Liste mich traf.
Ich sah in dem Zusammenschluss der Rechtlosen den großen Versuch, die Ohnmacht des geknechteten Individuums zu durchbrechen, das nichts zu verlieren hat als den Fluch seiner Ketten, die man verlogenerweise „Recht" nennt. Ich glaubte, dass dieser Zusammenschluß der unterdrückten Proletarier stark genug sei, den Panzer des Chauvinismus zu durchlöchern, der die Menschheit in den Abgrund reißt. — Ich habe mich geirrt! Die Sozialdemokratie und ihre Organisationen waren noch keine Gemeinschaft, die diesem Anprall standhielten. Der erste Stoß schon riss den trügerischen Schleier fort.
Hans Betzoldt, der du immer noch träumst von Vater und Mutter: lass diese Träumereien. Du siehst die Sonne am Waldabhang spielen, siehst die Ziegen im Straßengraben fressen, siehst die Gänse an der Brücke unter den Erlen schwimmen, die Hühner im Kornfeld — jetzt musst du sehen, wie du dich weiter durchschlägst, ohne dass es dich Kopf und Kragen kostet. Das ist das Wichtigste.
... Ich sehe mich um. Es wurde schon zweimal geweckt. Ich bin einer der letzten im Saal.
Ich gehe ans Fenster, sehe in die beflaggten Straßen, in ein Meer von Fahnen. In den Anlagen greift alles nach den Extrablättern. Am Bahnhof stauen sich die Menschen. Ich ziehe mich rasch an, eile hinunter in die Fremdenstube, erobere eine Zeitung.
„Lüttich im Sturm genommen!" Der fette Text der Meldung füllt fast die ganze Seite.
Walzen sie wirklich alles widerstandslos nieder? Ist es wirklich Weihnachten zu Ende? Ich käme ja nicht sofort ins Feld, müsste erst ausgebildet werden, könnte immer noch verschwinden, wenn ich an die Front abgeschoben werden soll.
Zivilisten mit ihren Pappkartons ziehen singend nach dem Bahnhof. Kirchenglocken läuten. Der Bahnhof selbst ist abgesperrt. Von der Straße aus winken die Massen den Feldgrauen zu, die Zug um Zug die Halle verlassen. „Nach Paris I" „Jeder Schuss ein Russ'." „Jeder Stoß ein Franzos'." Unzählige Aufschriften verkünden, dass die jungen Soldaten nicht wissen, was ihnen bevorsteht — oder es nicht wissen wollen.
Ich gehe zurück ins Gewerkschaftshaus, um Kaffee zu trinken. Dann mache ich mich auf den Weg zu meiner früheren Wirtin. Vielleicht weiß einer der Genossen oder sie selbst Rat. Wenn nicht, werde ich Abschied nehmen, soweit ich sie noch treffe. Fünf bis sechs wohnten immer dort. Auch Seeleute.
Anna Fidel öffnet. „Mensch, wo kommst du her?"
„Von Eilbeck."
„Keen Arbeit mehr oder is'd bi di ok so wiet? Fidel is all wech! Tetsche ok."
Tetsche? Das ist der junge Maler mit dem Mädchengesicht.
„Is ganz fein, dat du kommst, Hans! Kannst hierblieben, wenn du wüllst."
„Lang wird das wohl nicht mehr dauern", beginne ich zu erzählen. Ihr Gesicht wird immer trauriger. Sie macht die Küchentür zu, als wollte sie Lauscher fernhalten. „Wenn du hierblieben wüllst, musst du anner Papieren hebben, süs holen sie di. Tetsche haben sie auch von hier geholt. Und arbeiten kannst du ja auch nich auf deinen Namen, süs hebben sie di gliks am Flicken. Wi möt uns dat öberlegen!"
Ich spreche kurz davon, was draußen los ist. Sie steht auf, macht sich an dem Herd zu schaffen und sagt wie nebenbei: „De arm Minschen!"
Dann nimmt sie den Kaffee vom Herd, verlässt die Küche. „Klaus ist auch wieder da. Er hat Nachtschicht. Ich will ihn zum Kaffee rufen", setzt sie erklärend hinzu.
Klaus? Das ist der Steinträger mit der gedrungenen Figur, der als aktiver Soldat einem Unteroffizier mit der Faust ins Gesicht schlug, dass man ihn vom Platz tragen musste, und dem sie deswegen zwei Jahre Zuchthaus aufbrummten.
„Ist Klaus wach?" frage ich, als Anna wiederkommt.
„He treckt sich an."
Klaus kommt angeschlürft. „Morgen, Hans! Wüllst du ok wech?"
„Himmelkreuzdonnerwetter! Wisst ihr denn weiter nichts mehr als dieses ewige Wegmüssen?!"
„Brüll mi man nich so an, Hans, ick kann doch woll fragen?"
Er setzt sich auf einen Stuhl, überkreuzt die Arme. Ein Hemd mit kurzen Ärmeln lässt seine Arme bis über die Oberarmmuskeln frei; Arme wie die eines Herkules. Ein Weib stemmt auf dem Muskel des rechten Armes eine Hantel. Über seiner behaarten Brust durchbohrt ein blau eintätowierter Dolch ein rotes Herz. Er sitzt so ruhig, so sicher, so ausgeruht auf dem Küchenstuhl.
„Kannst lachen, Klaus!"
Anna zieht sich an, sie hat eine Aufwartung von zehn bis zwölf Uhr. „Kannst ja hier bleiben, Hans", sagt sie im Fortgehen. „Ich bin bald wieder zurück."
Klaus steckt sich eine Zigarette an, horcht aufmerksam zu, als ich erzähle, und antwortet: „Überall dasselbe. Auch die besten Genossen müssen in den sauren Apfel beißen. Wo sollen sie hin. Das ist es ja, man hat sich das so einfach vorgestellt. Aber nun stellt sich heraus, dass man mit den einfachsten Dingen nicht gerechnet hat. Hier war es genau so. Ich musste mich zurückziehen, die Weiber waren wie verrückt. Ich soll ihre Männer ,ins Unglück stürzen', hätte leicht reden, säße trocken. Dann kam die Haussuchung. Alles haben sie durchgeschnüffelt. Tetsche haben sie geholt, hatten ihn wohl schon auf dem Visier. Und Fidel steckte der preußische Kommiss, wie den meisten, zu tief in den Knochen. Und dass ,oben' alle umgeschwenkt sind, das hat dem Fass den Boden ausgeschlagen. Alfred versuchte alles, unsere Gruppe zusammenzuhalten, aber allein kann er nichts machen. Seine Frau kommt bald zu liegen. Wo soll er hin und was soll sie machen? Er muss dieser Tage auch weg." Klaus pustet den Qualm seiner Zigarette in die Ecke der Küche und sagt zum Schluss: „Dass die dummen Proleten sich auf die Führer verlassen haben, das war der Fehler. Sie sind alle feige. Für die Geldsäcke lassen sie sich umbringen, für sich haben sie keine Courage. Ich hätte gar nicht nötig, mich in die Nesseln zu setzen. Ich sitze warm mit meinen zwei Jahren Z. Aber ich meine doch, es geht um die Sache. Das haben sie nicht begriffen. Vorderhand ist alles aus, die Bande ist ja rein verrückt.
— Aber das dicke Ende kommt nach."
Ich schaue mir Klaus von der Seite an. Sein kräftiges Kinn sitzt auf dem muskulösen Hals wie aus Marmor gemeißelt. Die eine Seite seines schwarzen Schnurrbartes steht etwas nach oben, die andere kaum merklich nach unten. Seine massive Stirn ist in der Mitte durch eine große Falte geteilt. Die braunen Augen schauen traurig und scheinbar teilnahmslos an die Küchentür. Ein Bild urwüchsiger Kraft und Selbstlosigkeit.
— Wenn mir jemand helfen kann, so ist es Klaus!
Anna meint: „Jensen ist auf großer Fahrt, er ist Däne. Er hat seine Papiere hier gelassen, hat nur das Seemannsbuch mit. Jensen kommt vorderhand nicht zurück."
Klaus winkt ab. „Da fällt er gleich auf den ersten Hieb rein. Hans kann nicht dänisch, kann nicht einmal aus sprechen, wann er geboren ist. Das einzig mögliche sind andere Papiere mit einem Schein mit ,Z'. Der Schein mit ,Z'" — meint Klaus — „ist das sicherste. Er muss aber neuen Datums sein. Wenn er den vorzeigt, winken alle ab. Ich weiß das aus der Praxis. Und der Einfachheit halber muss Hans eben Hans bleiben, damit sich keiner verquatscht."
So war ich innerhalb einer Woche im Besitze der Bescheinigung, dass ich mit Schimpf und Schande aus dem Heer ausgestoßen bin. Der Schein war echt. Die ursprüngliche Schrift sachverständig ausgewaschen, die neue kräftig draufgemalt. Der frühere Inhaber desselben bekam von Klaus eine Bescheinigung, dass er während der besagten zwei Jahre als treuer, ehrlicher, zuverlässiger Arbeiter bei der Firma Piwket & Söhne gearbeitet und jedermann zu empfehlen sei. Das neue Datum des Scheines behob die Schwierigkeit der Beschaffung des letzten polizeilichen Abmeldescheines, auf den die Polizei so großen Wert legt. „Nun musst du", klärt mich Klaus noch auf, „zur Vorsicht ein paar Mal die Wohnung wechseln und als zweite Vorsicht nicht da wohnen, wo du gemeldet bist, und abwarten. Wenn innerhalb zweier Wochen nichts kommt, dann brummt der Laden. — Aber hier musst du fürs erste verschwinden, die Bude ist zu heiß."
„Wohnst erst mal bei meiner Schwester Lieschen", meint Anna. „Sie kommt morgen her. Ich werde mit ihr sprechen."
Ich nehme mit einem Gemisch von Freude und Scham zur Kenntnis, dass ich fürderhin Hans Kiefernholz heiße, letzter Aufenthalt Zuchthaus Eberach in Bayern. Meine alten Papiere gebe ich Anna mit der Bitte, sie gut aufzuheben. Ich habe das Gefühl, dass ich sie bald wieder brauche. Verdammtes Gefühl!
Ich hole mir am Abend eine andere Schlafkarte im Gewerkschaftshaus.
„Verbandsbuch?"
Ich, Hans Kiefernholz, suche nach dem Verbandsbuch von Hans Betzoldt. Ein Glück, dass Anna das Verbandsbuch von Hans Betzoldt in Verwahrung hatte, sonst war vielleicht der Kladderadatsch schon da. Ein Glück!
„Verloren?" fragt der Schaltermensch. Ich suche krampfhaft nach einer Lüge und sage: „Vielleicht aus Versehen im Koffer gelassen." Ich bezahle den vorschriftsmäßigen Aufschlag und schlafe als „Kiefernholz".
Morgens um sechs Uhr kommt die Kriminalpolizei.
Ich gebe die „linken Fieppen" hin und habe vorderhand nur den einen Wunsch, der Kerl möchte etwas schwerhörig sein, damit er mein Herzklopfen nicht hört. Er gibt mir jedoch nach kurzer Musterung meine Papiere zurück, ohne ein Wort zu sagen.
Kiefernholz ist ein behördlich zugelassener Name. Ich fühle, wie sich meine Sicherheit festigt. Ich komme nachmittags zu Anna und bin guter Laune.
„Alles klor gohn?" erkundigt sie sich. „Komm mal rin." Sie geht mit mir in die Küche und sagt: „Ich hab mit Lieschen gesprochen. Dort ist kein Platz. Ein junges Mädchen, das außer Stellung ist, wohnt bei ihr. Sie ist mit ihr in der Stube, wirst sie gleich sehen. Aber bei Frau Tiebig kannst du wohnen. Du wirst sie nicht kennen. Ihr Mädel ist aus der Erziehungsanstalt ausgerückt und war einige Tage hier. Sie muss sich noch verstecken, sonst fangen sie sie wieder ein. Du hast doch früher die kleine Else schon gesehen? Wenn es dir nicht gefällt, kannst ja wieder ausziehen."
„Warum wieder ausziehen?" Mir scheint, Anna will andeuten, dass das da wahrscheinlich nur ein Notbehelf sein kann.
„Ick kann di dat jo seggen", meint Anna dann. „Else hett noch 'n Schwester, die geit woll 'n betn uf'n Bummel. Aber dat geit di jo nix an. Du slöpst ja bloß doa!" — Und als ich mit der Antwort zögere, meinte Anna: „Ick meen man bloß, wenn du nich wüllst, sag ick ihr nix!"
„Vorderhand werd ich dort schlafen, wenn es geht", entschließe ich mich. „Ich muss mir ja sowieso Arbeit suchen und bin tagsüber weg."
Ich sitze nun in meinem neuen Heim und träume von Sophie Bäumlein, dem jungen Mädchen, das bei Lieschens Schwester wohnt.
Sie musste von Helgoland flüchten und versuchte in Hamburg Arbeit zu bekommen.
„Auf den Lohn müssen Sie verzichten", sagte man ihr. „Unsere tapferen Feldgrauen bringen noch größere Opfer." Ein Kommerzienrat sagt ihr das, der auf gar nichts verzichtet und den Lohn der Dienstboten auf Kosten der „tapferen Feldgrauen" in die Tasche steckt.
Und worin besteht meine Hilfe? Ich laufe mit Sophie bis nach Altona und rede das Gegenteil von dem, was ich denke. Markiere den „Weiberkenner", den „Skeptiker", tue „kühl" und lasse mich auslachen. Denn dieses Lachen war deutlich! So verstehend wie eine große Schwester, die sagen will: „Ach, du bist gar nicht so! Willst ein bisschen aufschneiden! Bist vielleicht ein ganz guter Kerl; ein bisschen albern, aber das gibt sich." Sie hat mich auch gar nicht ernst genommen. In der Bierhalle am Hafen zum Beispiel hat sie sich zu mir gesetzt, als ob sie zu mir gehöre, als müsse sie auf mich aufpassen! Und als das Gedränge zu arg, Zivilisten und Soldaten anzüglich wurden, hat sie sie mit ihrem lieben Lachen entwaffnet und dann zu mir gesagt: „Komm!" Dann bin ich wie ein Stummer neben ihr hergelaufen bis vor ihre Wohnung und habe mich verabschieden lassen: „Adieu, Herr Kiefernholz, lassen Sie sich doch einmal wieder sehen!"
„Adieu, Herr Kiefernholz!" Dieser Name ist bestimmt zu dem Zweck erfunden, mich zu verhöhnen. Ein Bild hat sie mir außerdem noch gegeben — auf meine Bitte —, sie wollte nicht unhöflich sein. Ich spiele mit dem Gedanken, es hier in meiner armseligen Stube aufzustellen.
Aber ich bin ja nicht mehr mein eigener Herr.
Schon an jenem Nachmittag, als entschieden wurde, wo ich wohnen sollte, fing es an. Else lachte über jede Bemerkung von mir, ein kindlich-fröhliches Lachen. Manchmal fragte sie geschickt dazwischen, nur, um mit mir sprechen zu können. Dann folgten, als ich schon bei ihren Eltern wohnte, eine Reihe Aufmerksamkeiten. Bis wir zwei Tage später im Kino saßen.
Als es dunkel wurde, spürte ich ihre Hand über der meinen. Dann legte sie ihren Kopf auf meine Schulter. Ich war etwas erstaunt über die Routine, mit der die siebzehnjährige Else mit mir umsprang; wehrte aber nicht ab, sondern nahm die Zuneigung hin. Als wir gingen, nahm sie wie selbstverständlich meinen Arm. Sie schläft im Zimmer ihrer Schwester, das durch eine spanische Wand von dem meinen getrennt ist, und gab mir auf dem Korridor noch einen Kuss. Als ich im Bett lag, kam sie im Hemd und legte sich zu mir.
Ich wagte einzuwenden, dass doch Martha etwas hören könne.
Sie sagte: „Mok den Mund tau, Jung!" Dann spürte ich ihren Mund auf dem meinen, spürte ihren jungen heißen Körper und dachte gar nichts mehr.
Sie wird auch heute nacht bei mir schlafen, mich immer wieder fragen, ob ich sie nicht heiraten will, damit sie von der Angst befreit wird, wieder in die Hände der Zwangserzieher zu fallen.
Wie sie dort hinkam?
„Hab eigentlich gar keine Schuld. Mit fünfzehn Jahren ging ich mit meiner Schwester öfter an den Hafen, um Körner aufzulesen, die beim Verladen am Speicher unter den Wagen fielen. Ein Mann gab mir dann öfter eine Mütze voll, auch Bonbons oder Schokolade. Dann bestellte er mich einmal abends hin. Ich ging mit ihm in den Speicher auf den Boden. Er gab mir Kirschen und Brot und fragte mich nach meiner Schwester, meinen Eltern, zog mich plötzlich auf seinen Schoß und küsste mich. Ich wollte schreien, aber er hielt mir den Mund zu."
„Was sollte ich machen?" erzählte sie weiter. „Dann gab er mir einen Beutel voll Körner und verbot mir, meinen Eltern etwas davon zu verraten, sonst käme ich in die Erziehungsanstalt. Meine Mutter freute sich über die Körner. Ich holte neue, bis ich beobachtet wurde. Dann wurde ich untersucht und kam in die Erziehungsanstalt.
Dort bin ich fast irrsinnig geworden. Wenn ich wieder dort-
hin soll, dann springe ich lieber in die Elbe. Du musst mich also wirklich heiraten", fuhr sie dann fast weinend fort, „ich will nichts von dir haben, nur meine Freiheit. Wenn du mich nicht als Frau willst, kannst du auch wieder gehen."
Als ich zögerte — ich durfte ihr ja nicht einmal sagen, dass ich nicht Kiefernholz heiße —, brauste sie auf: „Du bist auch nicht ehrlich zu mir, Hans!"
Vielleicht kann nur ein gehetzter Teufel so einen Schrei begreifen. Vielleicht hat gerade er ein Bedürfnis, den Vorwurf der Unehrlichkeit zurückzuweisen. Ich erzählte Else an jenem Abend, warum ich bei ihnen wohne. Bis dahin wussten es nur die Eltern; vielleicht auch die Schwester?
Dass diese Schwester mir so oft begegnet, im Hof, an der Ecke von Gang und Straße; dass sie oft auf ihr Zimmer kommt, wenn sie glaubt, dass ich in meinem Zimmer bin — und sich bemerkbar macht, ist mir längst aufgefallen. Auch dass sie jetzt wieder die Treppe hochkommt, wundert mich nicht. „Else!"
„Ist nicht hier."
Martha klopft an, öffnet die Tür. „Warum sitzen Sie im Dunkeln, Herr Kiefernholz, soll ich Licht machen?" „Danke! Ich werde gleich wieder gehen." Sie bleibt an der Tür stehen. „Sie sind immer so gedrückt, gefällt es Ihnen nicht bei uns?" Sie raucht. Ihre blasse Farbe hebt sich von ihrem schwarzen Kleid gespensterhaft ab. Sie scheint absichtlich schwarze Kleider zu wählen. Sie ist über mittelgroß, schlank, fünfundzwanzig Jahre alt, eine Durchschnittsschönheit der Niedernstraße.
„Entschuldigen Sie", sagt sie dann, als ich mit der Antwort zögere, „ich wollte nicht aufdringlich sein; ich störe wohl?" „Oh, Sie stören mich nicht."
Sie bleibt einen Moment unschlüssig stehen und fährt dann unvermittelt fort: „Ich habe das Gefühl, dass Sie mich meiden,
weil ich------" sie stockt------„na, Sie wissen ja."
„Ich denke gar nicht daran; ich habe meine eigenen Sorgen." „Haben Sie keine Eltern mehr, keine Geschwister?" „Nein!"
„Müssen Sie auch bald fort?"
Ich habe schon wieder das „Himmelkreuzdonnerwetter" bereit, beherrsche mich aber. „Vorderhand nicht, später vielleicht."
„Ist das nicht schrecklich mit diesem Krieg?"
„Ja, es ist schrecklich." — Ich bin nahe daran, zu erzählen, was noch schrecklicher ist.
„Ha, mich friert!" Sie schüttelt sich und sucht nach Streichhölzern. „Ich werde mir eine Tasse Kaffee machen. Wenn Sie wollen, können Sie eine Tasse mittrinken. Else wird wohl nichts dagegen haben, trotzdem man mit ihrer Eifersucht rechnen muss."
Sie macht Licht. Die Tür lässt sie offen. Als sie den Spirituskocher ansteckt, wirft sie rasch einen Blick in den hohen altmodischen Spiegel. Als ich nach dem Grund der Eifersucht ihrer Schwester frage, fährt sie fort: „Else ist ein komisches Mädel. Ich bin zwar ihre Schwester, aber wir verstehen uns nicht gut. Sie ist so unberechenbar. Aber ich will nichts weiter sagen, das könnte falsch verstanden werden. Vielleicht werden Sie ganz gut mit ihr fertig." Sie lacht kaum merkbar, etwas geziert, als wolle sie nur ihre Goldplomben zeigen.
Der winzige Teekessel über der Flamme summt bereits. Sie holt Tassen hervor, eine kleine Kanne, Zucker und Löffel und fragt: „Soll ich Ihnen eine Tasse hinbringen oder wollen Sie hierherkommen? Mir scheint, als hätten Sie Angst vor mir?"
„Warum denn Angst?" Ich versuche zu lächeln und bestätige mir von neuem, dass ich ein erbärmlicher Waschlappen bin. Dann gehe ich in Marthas Stube und setze mich an den Tisch.
Ich weiß: wenn Else kommt, gibt es eine Szene. Ich kenne das gespannte Verhältnis zwischen beiden. Ich habe beobachtet, wie Martha ihre jüngere Schwester so von oben her behandelt; sie mit ihrem überlegenen Lächeln zur Verzweiflung bringen kann; wie sich Else einmal hinreißen ließ, ihre ältere Schwester anzufauchen: „Du Fünfgroschenhure!", und Martha ganz ruhig daraufsagte: „Sei du doch ganz still, Else!"
Aber Else kommt nicht — wie sie in den letzten Tagen öfter später kam, oft erst gegen Mitternacht — „wegen die Krimchen", sagt sie immer.
Martha bedient mich, setzt neues Wasser auf — der Teekessel fasst nur drei Tassen —, bringt Teegebäck auf den Tisch und spendiert Zigaretten. Sie hat ein Bein über das andere geschlagen. Ihr weißer Unterrock schimmert hervor. Sie hat sich die Schuhe ausgezogen, zierliche Hausschuhe angezogen und einen bunten Schal über die Schultern gelegt. Ihre sonst mehlweißen Wangen sind etwas gerötet. Ich sehe sie so zum ersten Mal.
„Gehen Sie heute abend noch fort?" fragt sie dann.
„Ich gehe noch zu Fidel."
„Ich komme ein Stückchen mit, wenn es Ihnen recht ist." Sie sieht mich fragend an.
„Mir ist es recht."
Wir schlendern am Wasser entlang, es ist schon dunkel. Das Gespräch stockt. Wie aus Verlegenheit sehe ich über Wasser und Schiffe. In den Kneipen ist Lärm. Die Wellen schlagen plätschernd an die Kaimauer. Ein Hund bellt von einem Kohlenkahn herüber. Eine Ziehharmonika spielt irgendwo das Lied von dem Grenadier.
Am Bahnhof verabschieden wir uns. Martha reicht mir die Hand und sagt: „Gute Nacht, Hans! Bleibst du lange?"
„Ich weiß nicht!" Ich sage es hart und kurz und gehe.
Bei Anna ist kein Licht. Ich gehe trotzdem hinauf, aber es öffnet niemand.
Ich habe das Bedürfnis, mich selbst zu ohrfeigen. Ich hatte versprochen, bis spätestens acht Uhr zu kommen. Jetzt ist es neun Uhr. Soll ich zu Lieschen gehen? Vielleicht sind beide, Klaus und Anna, dort. Es ist dreiviertel Stunde Fahrt, lange genug, um einzutreffen, wenn sie gerade wieder fort sind. Ich möchte auch nicht in dieser jämmerlichen Verfassung vor Sophie Bäumlein stehen. So gehe ich in die erste beste Kneipe.
Gegen elf Uhr mache ich mich auf den Weg und gehe noch einmal an Annas Wohnung vorbei. Es ist nicht hell, sie sind also noch nicht zurück. Ich hätte ganz gut hinausfahren können.
Nach elf Uhr biege ich in den Gang ein und sehe schon von weitem Martha stehen. Sie kommt mir lachend, wie einem alten Bekannten, entgegen und gibt mir die Hand.
„Bist ja schon wieder da!"
„Ich habe niemanden angetroffen."
„Das ist aber schade, das sollte ich gewusst haben. Ich wäre so gern noch mit dir zusammengewesen."
Ich seufze verstohlen und sage: „Ja, schade!"
Sie freut sich über meine Antwort. „Lass uns noch ein Bier trinken, Else ist auch da." Sie nennt den Namen eines Lokals, in dem ich noch nie war.
Auf einer Art Bühne, nur in Stufenhöhe, quälen sich ausrangierte Musikanten mit Bandonien und Blechinstrumenten. Der Raum ist qualmgeschwängert, verräuchert. Papierketten verschleiern, so gut es geht, die fast schwarze Decke. Einige Paare tanzen, andere stehen an der Schenke oder sitzen an groben Tischen im Vorraum. Ein zurückgeschlagener Vorhang deutet an, wo die „Diele" beginnt; an den Wänden sind kurze, offene Nischen. In einer der Nischen kauert Else, mit dem Kopf auf dem Schoß eines Mannes. Ihre Augen scheinen unnatürlich klein, wie in einer Geschwulst versunken, aus der die Lust nach dem Mann schreit, der mit seiner Hand zwischen ihren Brüsten wühlt.
Ich bin nur einen Augenblick überrascht. Mir wird sofort klar, dass ich nichts anderes erwarten konnte.
Nur ihre Schamlosigkeit verletzt mich und der Ärger darüber, dass sie mich so täuschen konnte. Ich drehe mich um und will verschwinden.
Da stürzt sie hinter mir her — und sieht Martha; pflanzt sich vor ihr auf; die Hände in den Hüften. „Mistaas!" brüllt sie. Ehe Martha sich fassen kann, springt sie auf sie los und schlägt ihr ins Gesicht. Dann packt sie Martha in die Haare und versucht, sie gewaltsam zu Boden zu reißen.
Martha ist völlig wehrlos, nur in einem weinerlichen Schrei macht sie dem unerträglichen Schmerz Luft.
Ich greife Else von hinten am Kragen und schleudere sie an die Wand. Da packt mich ein Kerl mit blauen, aufgeschlagenen
Hosen und gestreifter Arbeitsbluse an der Brust; aber ehe es zu weiteren Handgreiflichkeiten kommt, ist Martha an meiner Seite. Der Wirt steht zwischen uns und sagt: „Dat geit nich! Dies' Krabbe hett kein wat daun un sie springt hier up de Lud los wi'n wilde Katt'. Orntlich 'n Mors vull hebben möt se, oll dumm Gör dat, kann woll de Tid nich awtäuwen, bis se wedder binnen is."
Als ich mich unter der Tür noch einmal umdrehe, sehe ich, dass Else immer noch krampfhaft versucht, sich loszureißen. „Hund!" brüllt sie mir zum Abschied zu, „Hund, feiger, täuw man, dat du verschütt geist, dat is gewiss!"
Ich darf, um meiner eigenen Sicherheit willen, in der Nacht nicht in der Stadt herumlaufen; ich kann auch unmöglich in meiner Wohnung schlafen. Und ich kann nicht damit rechnen, dass ich bei Anna noch Einlass finde. Als ich noch überlege, holt Martha mich ein. „Wo willst du hin, Hans?"
Ein letzter Rest von Selbstbeherrschung hindert mich, sie von mir zu stoßen. Da sehe ich, wie sie zittert und kaum sprechen kann.
„Du musst dich in Sicherheit bringen, Hans", stottert sie. „Ich will dir helfen, weiter nichts."
Und dann schon ruhiger: „Wir müssen irgendwo schlafen, wo wir vor den Krimchen sicher sind; ich weiß, du bist ein Deserteur. Else geht todsicher verschütt, und dann verrät sie dich!"
Martha geht mit mir durch den Gang, in dem wir wohnen, und eilt rasch nach oben, sich Mantel und Hut zu holen. In einem kleinen Logierhaus, unweit davon, klingelt sie dem Nachtportier. Er führt uns in eine Stube mit zwei Betten. Unter der Tür spricht Martha leise mit ihm, kommt zurück und sagt: „Hier ist die Luft rein. Ernst nimmt uns auf seine Kappe. Wir können ohne Sorgen sein."
Martha bestellt Brot und Kaffee. „Ich habe noch Hunger." Sie schaut mich an.
Ich denke aber an ganz etwas anderes; denke mit Schrecken daran, dieses Leben auf unbegrenzte Zeit führen zu müssen, und werfe mich auf ein Bett. Mich stört das Licht, mich stört die Teilnahme und mich stören die Gedanken an den andern Tag.
Sie schaut zögernd zu mir herüber, nähert sich aber nicht. Als sie Schritte hört, sagt sie: „Der Kellner kommt!"
Ich stehe auf, setze mich an den Tisch und rauche eine Zigarette.
Sie gießt Kaffee ein, bedient mich wie am Abend. Nach einer Weile sagt sie: „Du musst versuchen, diese hässliche Geschichte zu vergessen."
Ich mag nicht antworten, und so esse ich. Die Uhr schlägt zwölf. Es regnet stark. In den Straßen wird es still. Martha macht das Fenster auf. Die vom Regen gereinigte Luft strömt ein und vertreibt die drückende Schwüle. Martha zieht sich die Schuhe aus und die Hausschuhe an. Dann legt sie sich den bunten Schal um die Schultern, setzt sich und sagt: „Du siehst so abgespannt aus, so abgehetzt. Wenn du müde bist und schlafen gehen willst, nimm keine Rücksicht auf mich. Ich möchte noch ein bisschen wach bleiben, ich kann doch noch nicht schlafen."
„Ich bin sehr müde", sage ich, und bin froh, nicht mehr sprechen zu müssen. Aber irgendein Schuldbewusstsein nötigt mir die Worte ab: „Gute Nacht, Martha!"
„Gute Nacht, Hans!" Auf ihren mehlweißen Wangen blüht flüchtig der helle, rötliche Schimmer auf. Sie drückt meine Hand, und ich erwidere den Druck. Dann lege ich mich ins Bett und schließe die Augen, schlafe aber nicht, das Morgen hält mich noch wach, auch noch, als Martha nach einer Weile still ans Bett tritt und mir leise über das Haar streicht.
„Ist dir nun besser?" Sie sah wohl schon eine Weile zu mir herüber, als ich mich umdrehe und sie begrüße. Als ich ihr sage, dass ich mich stellen will, richtet sie sich etwas auf.
„Warum?" fragt sie dann.
„Ich habe keine Lust, von jedem Narren als Feigling beschimpft zu werden; mich wie Ungeziefer zu verkriechen. Ein solches Leben ertrage ich einfach nicht. Und auf welche Weise man Selbstmord begeht, ist schließlich gleichgültig."
Sie legt sich, ohne ein Wort zu erwidern, wieder hin. Ich stehe auf und ziehe mich an. Ich erwarte auch keine weitere Antwort, wundere mich aber trotzdem, dass sie schweigt. Als ich mich nach ihr umsehe, ist sie unter der Bettdecke verschwunden. Sie liegt in heftigen Zuckungen. Ich trete an ihr Bett und versuche, die Decke hochzunehmen; sie hält sie aber krampfhaft mit den Händen fest. Als ich ihr die Decke doch fortnehme, sehe ich, dass sie weint.
„Warum weinst du, Martna?"
Sie gibt mir keine Antwort, macht sich gewaltsam frei, steckt ihren Kopf in die Kissen und schluchzt.
Nach einer Weile richtet sie sich auf, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und sagt: „Du hast recht. Alles andere ist Unsinn. Willst du heute schon hingehen?"
Der Ton, in dem sie fragt, kommt mir ebenso unerwartet wie die Frage selbst. Ich möchte ein Missverständnis vermeiden, einen Bruch von Beziehungen, von denen ich bis zu diesem Augenblick nichts wissen wollte, und antworte: „Ich weiß es noch nicht, weiß es überhaupt noch nicht genau. Ich meine nur, es ist wohl das beste für mich. Ich möchte nachher zu Anna gehen und mit Klaus sprechen. Willst du nicht mitkommen, Martha?"
Sie bleibt stumm. Sie scheint zu merken, dass ich sie beobachte. Sie ist aufgestanden, schnürt sich die Schuhe zu und sieht nach dem Fenster, um ihr Gesicht zu verbergen.
Mir kommt langsam zum Bewusstsein, dass mein Verhalten sie verletzen muss. Ich gehe zu ihr hin, lege meine Hand auf ihre Schulter und sage: „Hör mal, Martha; darfst meine Worte nicht auf dich beziehen. Das wäre unrecht von dir. Ich bin so zerfahren und gereizt. Ich möchte dir nicht wehe tun. Du bist einer von den wenigen Menschen, vor denen ich Achtung habe."
Da setzt sie den Schuh vom Stuhl und schaut mich mit großen Augen an. Über ihre Wangen huscht wieder das flüchtige Rot. Dann sagt sie: „Hans, ich möchte dir so gern helfen."
Wir trinken Kaffee, sie bedient mich. Wir lachen und erzählen uns, wer wir sind. Ich berichte auch, dass ich nur noch zehn Mark habe, und sie antwortet mir, ich möchte bezahlen, was ich bestellt habe. Ich besinne mich, dass ich gar nichts bestellt habe. Sie lacht wieder. Wir ziehen uns an und gehen zu Anna.
Anna Fidel kann schlecht ihre Überraschung unterdrücken, als sie uns sieht. Aber sie sagt nichts. Ich frage nach Klaus. Er ist bei dem Former Alfred Maußner. Ich bin darüber etwas erstaunt. Alfred müsste doch schon lange fort sein. Ich war in den letzten zwei Wochen nur einmal bei Anna.
„Du siehst so schlecht aus", sagte Anna damals, „bist du krank, Hans?" Ihr Blick verriet, dass ich nichts vor ihr verbergen konnte, das ärgerte mich. Klaus war nicht da. Ich gab vor, nach Arbeit zu suchen, und ging wieder.
Wir setzen uns, keiner spricht. Es liegt etwas in der Luft, was auch mich am Sprechen hindert. Da fragt Anna: „Wat is denn los west bi juch die Nacht?"
Ich sehe Martha an. Sie sieht zu Boden. Ehe ich etwas sagen kann, Jährt Anna fort: „Nu ward se so rasch nich wedder rutkomm'n, dor warn se woll vör sorgen. Aber da nützt ja keen Reden, hett jo sülwst schuld."
Martha fährt vom Stuhle hoch: „Wie meinst du das?"
„Else hebben se doch de Nacht holt, wet ji dat nich, sün ji nich to Hus west?"
„Woher weißt du das?"
„Mutter war hier. Sie hat Else gesucht. Nach ihr kam ihr Bruder und erzählte, dass Else wieder eingeliefert ist."
„Das hab ich mir gedacht", meint Martha, „wenn sie besoffen ist, weiß sie nicht, was sie tut."
Anna schaut uns beide flüchtig und fragend an, dreht sich um und verlässt die Stube. „Muss mal nach dem Essen sehen", sagt sie. Kurz darauf: „Hans, komm mal 'nen Augenblick."
„Ick will di jo keen Vorschriften moken, Hans, awer die Mutter tut mir so leid. Sie sagt, du hast dir die Füße an Else abgetreten und sie dann nicht mehr angeguckt."
Ich fühle maßlosen Zorn aufsteigen. „Wenn du das glaubst, Anna, dann will ich mich nicht verteidigen. Du weißt aber nicht, was das für eine Mutter ist, und dass in Else der Teufel steckt. Sonst konntest du mich nicht dort hinschicken."
Anna stutzt. „Die Alte hat mächtig auf Martha geschimpft", sagt sie dann. „Sie soll an allem schuld haben. Ich glaube das ja auch nicht. Wir wohnten einmal auf einem Flur in Hammerbrook zusammen, daher kennen wir uns. Nun komm ich ja fast nicht mehr hin. Erzähle doch, wie das alles war. Wir wollen Martha nicht so lange allein lassen."
„Lass dir von Martha erzählen. Sie weiß, dass zwischen uns nichts sein kann, und trotzdem habe ich es ihr zu verdanken, dass ich nicht mit hochgegangen bin. Was sie sonst macht, geht mich nichts an."
Anna sieht mich ganz ruhig an, als hätte sie diese Antwort befriedigt. Sie fällt nicht mehr ins Hochdeutsch, das ist bei ihr immer ein Zeichen einer kritischen Situation. Sie deckt in der Küche. Ich sehe, dass sie vier Teller zurechtstellt und zähle insgeheim: Anna, Klaus, Martha und ich, und bin zufrieden.
„Willst du Klaus rufen?" fragt Anna nun.
Ich habe die Tür schon in der Hand, da fällt mir ein, dass Martha immer noch allein sitzt. Ich will etwas hinunterschlukken, aber es geht nicht. So gehe ich noch einmal zurück und sage: „Hör einmal, Anna, tu mir den Gefallen und rufe Martha herein. Sag ihr ein gutes Wort. Ich sage dir später, warum."
„Nu geh man schon, un mok mi nich so viel Vorschriften." Anna sagte es so laut, dass Martha es bestimmt hören musste.
Ich kenne Alfred Maußner und seine Frau nur von den Zahlabenden her. Als ich in die Stube trete, sehe ich zwei lange Wände vollständig mit Büchern verdeckt, fast alles wertvolle Bände. Genosse Maußner war immer kurz und sachlich und war deshalb auch keine allzu populäre Persönlichkeit. Bei ihm einen solchen Berg von Literatur vorzufinden, überrascht mich.
„Tag, Genosse Betzoldt!"
Mir fällt ein, dass ich momentan Kiefernholz heiße, aber ich protestiere nicht. Sie sitzen beide, Klaus und Alfred, auf dem Sofa, noch in Hemdsärmeln. Es ist Sonntag.
Alfred muss unterrichtet sein, denn er fragt: „Na, Hans, alles in Butter?"
„Wie man's nimmt." Ich frage dann, nachdem ich einige Bedenken überwunden habe, neugierig zu erscheinen, wie es kommt, dass er noch hier ist. Er wohnt doch zu Hause und konnte sich der Kontrolle nicht entziehen. Alfred erzählt, dass er als Spezialarbeiter einstweilen beurlaubt ist.
„Wie lange das geht, weiß ich auch nicht. Man darf absolut nichts verlauten lassen, dass man nicht in das patriotische Horn bläst, sonst ist man draußen. Aber nun, wo Lotte so ist, hilft eben alles nichts. Wenn alles glücklich vorüber ist, kann man sich auch wieder etwas mehr rühren."
Ich sehe zu seiner Frau hin. Sie deckt den Tisch. Ihr hoher Leib kündet die nahe Geburt an. Ihre Augen scheinen so groß vor lauter Angst. Sie ist in meinem Alter, vielleicht noch jünger. Ihr junges, schönes Gesicht ist blass, als wäre von irgendeinem Schreck die Farbe fortgeblieben. Als sie die Stube verlässt, sage ich: „Deine Frau sieht so schlecht aus, Genosse Maußner."
Er nickt ein wenig mit dem Kopf. „Ist auch kein Wunder", sagt er.
„Ich kann mir nichts Grausameres denken, als die Qual einer Mutter, die ihrer Stunde entgegensieht mit dem Gedanken, dass der Vater ihres Kindes diese Stunde nicht mehr erlebt."
Klaus sagt das knirschend vor sich hin, steht auf, steckt die Hände in die Hosentaschen, bewegt den Mund, als wollte er noch etwas sagen, ist aber still.
Alfreds Frau betritt gerade das Zimmer—sie trägt Essen auf.
Als sie wieder hinausgeht, sagt Alfred: „Das verstehen wir wohl nicht, das ist die Menschlichkeit der zivilisierten Welt. Lotte hat sich trotzdem tapfer gehalten. Ich bekam doch im letzten Moment erst Nachricht, dass ich vorläufig hierbleibe, aber die Nachricht gestern hat sie vollständig niedergeworfen."
„Welche Nachricht?" frage ich.
„Ihr Bruder ist verwundet, aber was ihm ist, wissen wir nicht."
Wir verabschieden uns. „Also um drei Uhr!" sagt Klaus im Gehen. Alfred nickt. Lotte wendet sich um und sagt leise: „Ich möchte gar nicht weggehen, ich bin so müde und das Laufen fällt mir schwer."
„Ruhen Sie vorerst ein bisschen", meint Klaus, „und kommen Sie ein wenig mit an die Luft. Sie müssen auf andere Gedanken kommen." Er sagt es wie eine Bitte, der Lotte nicht widerspricht.
„Klopft man", sagt Alfred dann. „Grüßt Anna!"
Anna und Martha essen bereits. „Ji hett ruhig noch 'n beten blieben künnt", empfängt uns Anna, „wi wörn mit dat beten Flesch ok mit twee Mann fertig worn."
„Immer eten, Hauptsak, et schmeckt", sagt Klaus. Ich sehe, dass Marthas Wangen rot sind, und freue mich.
Draußen ist heller Sonnenschein, recht heiß noch. Anna lässt die Rolläden herunter. Wir sitzen stumm am Tisch; ich höre über mir deutlich das Ticken des Regulators.
„Wat mach he woll moken?" Anna spricht die Worte vielsagend vor sich hin; sie meint ihren Mann. Keiner gibt eine Antwort. Was soll man darauf auch antworten. Brüssel war gefallen. Die deutschen Armeen hatten Belgien durchbrochen, und er ist dabei.
Dann steht sie auf und räumt langsam den Tisch ab. Martha hilft und Klaus putzt seine Schuhe. „Ihr kommt doch mit?" fragt er. „Wir fahren nach Ohlsdorf. Annas Schwester und Sophie Bäumlein kommen auch mit, sie holen uns ab. Ich soll dich übrigens grüßen und dich fragen, warum du dich gar nicht sehen lässt."
Ich kann meine Neugierde nicht unterdrücken und frage, wer denn Sehnsucht nach mir habe.
Klaus lacht und sagt: „Alle beide."
„Spaß beiseite", fährt er dann fort, „hast du dich bei Tiebig angemeldet? Du musst von dort weg. Mir hat die Sache gleich nicht gepasst. Ich wollte aber nichts sagen. Ich mag die Alte nicht. Sie weint mir zu viel."
„Ich bin schon weg, ich habe mich dort gar nicht angemeldet. Es wird auch nicht mehr nötig sein."
Klaus hört aufmerksam zu und überlegt. Dann legt er Schuh und Lappen weg und sagt: „Ich kann ein Lied davon singen, was es heißt, von der Bande gejagt zu werden, trotzdem ich meine Strafe abgemacht habe. Ich kann dir alles nachfühlen. Wenn du keine Nerven dazu hast, stell dich lieber gleich. Jetzt kommst du mit einer faulen Ausrede und einem blauen Auge davon."
Anna kommt wieder. Ich weiß nicht, ob sie errät, was wir besprochen, oder ob sie von Martha unterrichtet ist. „Slöpst also wedder hier, Hans, giwst di gefangen."
Mir wird wieder die Luft so knapp. „Wenn es dir recht ist, Anna, dann schlafe ich wieder hier. Gib mir solange meine alten Papiere wieder und steck die hier weg, damit ich keinen Unfug mache. Ich möchte einmal richtig schlafen."
Anna sieht Klaus an. Der bleibt jedoch still. Dann sagt sie: „Jo, slop di man noch mol bi mi ut, min Jung. Wenn ick dat wüßt hett, hett ick di nich wechloten. Utrücken kannst immer noch. — Nu mok di mol'n beten in de Reih'. As son ollen Penner kannst nich mitgohn. Bürst di reen un putz din Schuh, ick hol di von Georg 'n Hemd un Krogen."
Das war jener Ton, auf den es keine Widerrede gibt. Ich habe auch kein Bedürfnis zu widersprechen.
An der Zeitungsplantage stehen Menschen um einen Verwundeten, einen der ersten in der Stadt. Er trägt den Arm in der Schiene, liest die Kriegsberichte. Namur ist gefallen, Brüssel besetzt, die Maas an vielen Stellen überschritten. Ein Herr im eleganten Sommerpaletot sagt zu dem Krieger: „Das soll uns erst einmal einer nachmachen, was?"
Als der Soldat nur kurz auf ihn hört, und dann, ohne zu antworten, weiterliest, fährt der Herr fort: „Bande, die! Die müssen sie ausräuchern wie die Wanzen." Er sieht, dass der schweigsame Soldat die Berichte von den Greueln der Belgier liest, die sie an harmlosen deutschen Soldaten verübt haben sollen, von den Niedermetzelungen der braven ostpreußischen Bevölkerung durch entmenschte Kosaken. Aber der Mann bleibt stumm, obwohl aller Augen auf ihn gerichtet sind. Dann dreht er sich um, überfliegt rasch die neugierigen Zuschauer und geht fort.
„Dem ist scheinbar auch beim ersten Schuss das Herz in die Hosen gerutscht", sagt der feine Herr — aber niemand lacht.
Ich gehe hinter dem Feldgrauen her, an ihm vorbei und schaue ihm ins Gesicht.
Ich möchte mit ihm sprechen, weiß aber nicht, wie ich beginnen soll und bemerke: „Die haben gut reden."
Er mustert mich kurz und durchdringend, als wäre er in Feindesland und hätte Angst vor Spionen. „Räubergeschichten! Die Wahrheit sieht ganz anders aus. Von den Leichenhaufen der Unseren schreiben sie nicht", sagt er und biegt ohne ein weiteres Wort und ohne Gruß in eine Nebenstraße ein.
Ich denke an Georg und Tetsche, und deswegen verschweige ich vor Anna, was mich so aufwühlt, und sie wundert sich, dass ich so ganz ohne Freude bin über mein letztes „Glück".
Ich komme vom Bezirkskommando.
„Wo kommen Sie jetzt her?" fragte man mich. Da erzählte ich meinen Roman von dem Besuch in der Heimat, den gestohlenen Papieren und dass man mich in Nürnberg hinauswarf und mir sagte, dass ich zu meinem zuständigen Bezirkskommando gehen solle.
„Unverständlich, ganz unglaubhaft!" zeterte ein nervöser Feldwebel. Ich bleibe stumm und benehme mich, eingedenk der Instruktion von Klaus, blöd wie ein Soldat. Ein Schreiber notiert alle von mir gegebenen Aussagen und gibt mir eine Bescheinigung, dass ich vorschriftsmäßig gemeldet bin. „Das Weitere wird sich finden!" Ich hätte in der Tat Grund dazu, mir lachend die Hände zu reiben. Und Anna hat recht, ich bin ein rechter Trauerkloß.
Aber Anna kann eben auch nicht alles wissen: Sie hat nicht gehört, was wir „Männer" tags zuvor in Ohlsdorf besprachen, als die Frauen zurückblieben.
„Der Krieg", sagte Alfred, „wird furchtbar werden, der Einsatz ist zu groß. Die ganze Welt ist gegen Deutschland, und auf die Dauer erdrücken sie Deutschland einfach. Die ihn angezettelt haben, können ihn nicht beenden. Sie wollen doch alles bezahlt haben, und das kann ja niemand bezahlen. Und dann ist ihnen der Kamm geschwollen. Jetzt, wo sie bald ganz Belgien besetzt haben, kommt unseren Kapitalisten der Appetit auf dieses reiche Land. Und die Engländer werden alles daransetzen, dass der deutsche Militarismus nicht in den Himmel wächst. England und Frankreich bringen ihre Truppen langsam auf die Beine, aber sie bringen sie auf die Beine, und sie bringen, von den übrigen gar nicht zu reden, mehr auf die Beine. Und dann werden die Lebensmittel knapp, sie haben uns ja richtig in einem Kessel, und beherrschen die See.
Das ist es ja", meinte er dann mit Nachdruck, „das alles hat man doch kommen sehen, schon seit Jahren. Hat immer wieder betont, dass der Brand über die Erde unvermeidlich ist, wenn das internationale Proletariat den Brandstiftern das Handwerk nicht legt. Wo ist jetzt die Internationale? Die deutsche Sozialdemokratie hat ihr den Krieg erklärt. Sie ist tot. Wir müssen wieder ganz von vorn anfangen."
Klaus vergisst ganz, dass seine Zigarette zwischen den Lippen verglimmt und spuckt mit einem Male verzweifelt. Dann meint er: „Aber dat hebben die do boben doch ok wüßt, wotau hebben wi se denn wählt? Sünd dat luder Lumpen? Man könnt jo rein verzweifeln."
„Das nicht", sagt Alfred, „aber die Menschen leben sich langsam in eine ganz andere Welt. Man braucht ja, wenn man in der Partei etwas werden will, kein Sozialist zu sein. Die Hauptsache ist, man schreit recht laut davon. Und wenn man sich das überlegt: Wenn die Partei gegen den Krieg aufgerufen hätte, dann wäre sie verboten worden, aufgelöst, und alle Führer müssten gewärtig sein, kriegsgerichtlich abgeurteilt zu werden. Es gibt keinen anderen Kampf gegen den Krieg, als den Kampf auf Leben und Tod. Das ist eben der Kampf der Proletarier um den Sozialismus, das ist eben die Revolution. Und die Revolution ist für die Kleinbürger in der Partei genau so ,gefährlich' wie der Krieg. Die Revolution wird nur von denen gemacht werden, denen es sowieso an den Kragen geht. Die meisten da oben wollen keine Revolution und wollen auch keinen Krieg. Weil es aber danach nicht geht, was sie ,wollen', bewilligen sie die Mittel für den Krieg und ziehen den Kopf aus der Schlinge. Sie sitzen warm, und die Proletarier sind baff, weil sie nur Staffage waren. Ein großer Teil der Massen und auch der Führer haben natürlich gar nicht begriffen, was auf dem Spiel steht. Wir müssen wieder ganz von vorn anfangen."
Der große, herrlich angelegte Hamburger Friedhof steht im herbstlichen Schmuck; Blätter tanzen schweigend auf den Gräbern und Wegen und die halbkahlen Bäume werfen lange Schatten.
Ich drehe mich um und stoße auf Sophie. Sie war uns unauffällig gefolgt. Ihr Gesicht glüht erregt. „Wir wollen gehen", sagt sie, „es wird zu kalt für Lotte."
„Sie müssen auch fort?" fragt sie weiter. Ich sehe an ihr hoch, sie ist größer als ich. Ihr Mund ist fest geschlossen. Ihre Hände zerpflücken ein Blatt.
„Müssen muss niemand", sage ich.
Sie verzieht keine Miene, geht stumm neben mir, als erwarte sie noch eine andere Antwort. Ich fühle wieder den Ärger über mich selbst und sage: „Aber ich gehe!"
Nein, Anna konnte nicht alles wissen. Konnte nicht wissen, dass mir indessen durch den Soldaten mit dem steifen Arm Alfreds Worte so schrecklich klar wurden. Zu Leichenbergen kommen noch Leichenberge. Konnte nicht wissen, dass mit der Zertrümmerung einer letzten Illusion, der baldigen Beendigung des Krieges, an die ich mich klammerte, der Gang zum Kasernenhof mir vorkam wie die freiwillige Kapitulation eines flüchtigen Todeskandidaten, der, lückenlos umzingelt, keinen Ausweg mehr sieht und dem die Galgenfrist bis zum letzten Gang keine Freude bereiten kann.
Es ist mir schon gleichgültig geworden, warum Sophie auf dem Nachhausewege fast immer an meiner Seite ging, mit mir sprach, öfter als einmal vor sich hinsann, als wollte sie mir helfen, einen Ausweg zu suchen. Sie, die die Größe der Zeit am eigenen Leibe zu spüren bekam.
Aus dem Hotel „Zu den drei Ringen" flattern die schwarzweißroten Fahnen. „Feine Herren" stecken mit Fähnchen die Front auf großen Karten ab.
„Dort schickte man mich hin", sagte Sophie. „Ich war froh, Arbeit zu finden. Ich glaubte mich auch als Kellnerin gegen Zudringlichkeiten wehren zu können, selbst um den Preis magerer Trinkgelder, die der einzige Lohn waren. Aber meine Bescheidenheit, mich vorderhand mit einigen Mark zu der recht bescheidenen Verpflegung durchzuschlagen, befriedigte die zahlungsfähigen Herren nicht. Die Wirtin gab mir deutlich zu verstehen, dass sie nicht gewillt sei, sich von mir die Gäste ,vertreiben' zu lassen. ,Sie scheinen kein Geld zu brauchen!' sagte die Dame des Hauses kopfschüttelnd. ,Dann konnten Sie das gleich sagen. In diesen Zeiten gibt es Mädel genug, die froh sind, wenn sie etwas verdienen können und die nicht ein Essig-Gesicht mitbringen.'
Als ich fragte, ob ich für ein Bordell engagiert sei oder zur Arbeit, geiferte die Dame mit der schwarzweißroten Schleife auf ihrem aufgeschnürten Busen: ,Zum Beten habe ich Sie jedenfalls nicht engagiert, und eine Anstandsdame brauche ich auch nicht. Aber damit Sie nicht in Versuchung kommen, rate ich Ihnen, von morgen ab mein Lokal zu meiden. Ich möchte mich nicht schuldig machen an Ihrem Ruf.'"
Aber meine ohnmächtige Wut ist vollständig überflüssig. Ich bin nichts, ein Staubkorn im großen Orkan, das aufgewirbelt wird und fortgetragen.
„Ich kann dir das alles nicht sagen, Anna! Und so sage ich: Mag sein, dass ich ein Trauerkloß bin, sei mir nicht böse, vielleicht geht es wieder vorüber."
Sie mustert mich wie ein Arzt und erwidert: „Musst dich nicht so gehen lassen, Hans, bist doch noch ein junger Kerl!"
Sie hat recht. Sie hat eben so schwer, vielleicht noch schwerer zu tragen mit ihren fünfundvierzig Jahren. Sie ist für ihren um zwei Jahrzehnte jüngeren Georg mehr Mutter als Frau. Sie zittert um Tetsche wie um einen Bruder und erlebt alle meine Sorgen wie die eigenen. Sie selbst hat niemanden, der ihr, wenn ihr müder Kopf abends ins Kissen sinkt, eine liebe, kühlende Hand auf die fiebernde Stirn legt.
Ich habe Arbeit gefunden, freue mich und weiß nicht warum.
Anna macht mir alles zurecht und sagt: „Hest doch Schwein, wat wüllst du denn?" und lacht.
Ich drehe Granatkörper, das Stück eine Mark. Ich rechne: jede Schicht zehn Mark, kann ich täglich mindestens fünf Mark sparen, bis sie mich holen. Ich fühle wieder Eisen unter meinen Fingern, höre wieder das Schnalzen der Späne. Jede Granate kann ein Dutzend Menschen vernichten — ich denke keinen Gedanken mehr zu Ende.
Ich stehe regelmäßig auf, gehe zur Arbeit, komme regelmäßig zurück. Ich lebe in ständiger ängstlicher Erwartung, glaube jeden Tag den Befehl vorzufinden, mich stellen zu müssen. Zwei Tage, drei Tage, vier Tage vergehen, nichts kommt. Ich drehe weiter Granaten und werde mit dem Meister bekannt. Er fragt mich, ob ich Maschinen einrichten will, an denen Frauen arbeiten, und ich bejahe. Sie machen Zünderteile. Ich kann so Martha Arbeit besorgen, kann ihr helfen, sich einzuarbeiten.
Martha ist froh.
„Du kannst hier bleiben, Martha", sagte Anna, als Martha sagte, dass sie nicht mehr zu ihren Eltern zurück wolle, „aber du musst dir Arbeit suchen, wirst schon welche finden. Du bist noch nicht zu alt, brauchst nicht im Sumpf unterzugehen, wenn du nicht willst." So blieb Martha. Sie wohnt im „Bunker", dem kleinen Stübchen hinter dem Flur. Sie hat ihren billigen Schmuck fortgeworfen. Anna holt jeden Tag aus der Kriegsküche sechs Portionen Mittag à fünfzehn Pfennig. „Wat schall ick doa lang koken", sagt sie, „wenn wi mol Apptit up wat Schönet hebben, könn wi uns ja extra wat leisten."
Abends essen wir zusammen. Sophie war gestern hier und sagte: „Passen Sie auf, Sie haben Schwein."
Alfred und Klaus sind öfter zusammen.Kannst heute abend einmal mit herunterkommen, Hans", sagt Klaus. „Wir haben etwas zu besprechen. Die Opposition in der Partei gewinnt Fühlung untereinander. Die besten Genossen werden sich wieder finden."
Wir sind fünf Genossen. Alfred erzählt, dass die Arbeit gegen den Krieg in Gang kommen wird. Es gibt nur mündlichen Bericht. Klaus hat das Material oben bei sich.
Ich fühle mich wieder verankert in einer Idee, die über die Rauchwolken der Zerstörung und des Blutstroms hinaus der Zukunft der Menschheit dient.
Martha und ich gehen zusammen zur Arbeit. Marthas Gesicht blüht öfter flüchtig auf. Das Essen schmeckt ihr. Wir frühstücken zusammen, wie gute Kameraden. Mittags brüht sie Kaffee auf oder Kakao, und bedient mich — wie an dem Abend in ihrer Stube und in der Nacht in dem kleinen Hotel. Sie trägt keine zierlichen Hausschuhe, sondern Holzpantoffeln und eine Arbeitsjacke statt des bunten Schals. Aber sie gefällt mir so besser.
Manchmal nimmt einer Abschied; diese Woche schon zwei. Sie müssen „weg". Ich frage, wann sie Bescheid bekamen. „Gestern abend — was sollen wir noch arbeiten, wollen noch Spazierengehen, die drei Tage." Ich richte gerade neben Martha ein. Sie sieht mich so ängstlich an. Vielleicht auch bei dir, heute abend?" Sie sagt jedoch nichts, und ich arbeite weiter.
Wir bekommen Geld. Martha freut sich; ihr erstes „ehrlich" verdientes Geld nach Jahren. Sie will absolut „Einstand" geben, und ich willige ein. Eine Stunde sitzen wir schon, als Martha sagt: „Sophie könnte auch bei uns anfangen."
Ich selbst habe längst daran gedacht.
„Ich werde ihr Bescheid sagen, Hans."
Als ich nicht antworte, fährt sie fort: „Ich weiß, dass sie dich gern hat, Hans, und du hast sie auch gern, du verstellst dich nur, das ist doch nicht nötig."
Wir gehen. „Kannst ja heute abend zu ihr gehen und ihr Bescheid sagen." Ich bin froh, dass Martha diesen Gang übernimmt.
Etwas Unausgesprochenes liegt noch zwischen uns, etwas, das durch Aussprechen auch nicht anders wird. Man muss darüber hinwegkommen.
„Was mag es heute abend geben?" sagt Martha.
„Wird wohl Bohnen geben."
Wir gehen in die Stube. Der Tisch ist leer. Anna hat anscheinend kein Essen geholt. Martha geht in die Küche, aber Anna ist auch dort nicht. Als Martha ruft, kommt Anna aus der Schlafstube. Ihre schwarzen Haare sind zerwühlt, ihr Gesicht wie ohne Leben. Sie steht gebeugt, als hielte sie sich nur mit Mühe aufrecht. Sie sieht auf Martha, dann auf mich und geht wie eine Schwerkranke und ohne einen Gruß in die Küche. Wir gehen hinterher: „Anna, was hast du?"
Sie deutet auf den Tisch. Ein Brief mit ihrer Handschrift liegt dort an Georg. An der Vorderseite rechts von der Adresse ist mit Rotstift ein Kreuz gezeichnet, und darunter steht: „Zurück, fürs Vaterland gefallen."
Anderen Tages geht Anna wieder zur Arbeit. Um ihren Mund gräbt sich eine Falte. Klaus macht am Abend den Vorschlag, in die Anlagen zu gehen. Im Gewerkschaftshaus essen wir noch Abendbrot. Auch Sophie ist gekommen.
„Sieh, Anna, es ist grausam, es ist unmenschlich grausam", beginnt Klaus, „aber wenn es uns nicht erspart bleibt, dann ist es besser so, besser als ein elender Krüppel. Lass Georg ruhen. Du musst darüber hinwegkommen, darfst nicht lahm werden. Unsere Zeit kommt auch, und wir brauchen dich noch."
Dieser Klaus weiß mit Phrasen mehr anzufangen als ich — aber in seinem Munde sind diese Worte eben keine Phrasen. An ihm kann man sich aufrichten, von ihm geht soviel Kraft aus. Er will helfen, und man fühlt, dass er das will, und glaubt ihm. Wie er bedächtig anfing, zu berichten, dass doch nicht alles verloren ist, dass sich der Rausch bald legen und die Abrechnung kommen wird, dass man den Kopf hochhalten müsse, dass das die Pflicht der Genossen sei, die zurückbleiben, dass sie das den Opfern des Krieges schuldig seien, dann seine Art, sich von anfänglich kameradschaftlicher Teilnahme in ehrliche Entrüstung hineinzureden: das kann nur Klaus. Und Anna folgt ihm. Ihr starkes Kinn wird wieder hart. Sie seufzt kräftig, als wolle sie etwas abschütteln, und sagt dann: „Hoffentlich bin ick noch dorbi, wenn dat mol richtig losgeiht."
Anna hat den schwersten Schlag überstanden, und wir sind froh; was sollten wir ohne Anna machen? Aber der Schmerz überfällt sie immer wieder. Ihre Füße scheinen schwerer geworden. Sie schaut mitunter so über Menschen und Dinge fort, als suche sie eine Stütze.
Dass sie aber am andern Tag so übernervös ist, so zittert, mich anschaut, als erschrecke sie vor mir, kann ich mir trotzdem nicht erklären. Sie geht in der Stube an mir vorbei, als ertrage sie meine Gegenwart nicht; ihr Gruß klingt so überflüssig.
Martha kommt rein: „Du möchtest einmal zu Anna in die Küche kommen, Hans!"
Anna steht an den Küchentisch gelehnt, empfängt mich mit ihren guten, stumm auf mich gerichteten Augen und sagt: „Et is so wiet, Hans!"
Ich lese: „Sie haben sich am......in......mit Militärpapieren einzufinden. Zivilkleidung und Mundvorrat für einen Tag sind mitzubringen!"
Ich fühle einen Moment, wie mir der feste Halt schwindet. Dann kommt eine sonderbare Sicherheit über mich.
„Na, also, endlich", sage ich nach längerem Besinnen. „Werden sehen, was wird!"
Ich habe noch drei Tage Zeit. Sophie ist noch nicht „eingefuchst". So richte ich noch zwei Tage ein, dann schnüre ich meinen Pappkarton und nehme Abschied.
Alfred und Klaus sprechen mit mir: „Halt die Verbindung aufrecht und schreibe." Anna sagt: „Überleg dir, was du machst, Jung, kommst ja bestimmt auf Urlaub. Wir sehen uns ja noch öfter."
Ich gehe und schlage die Tür zu, ohne mich noch einmal umzusehen. Ihr gläserner Blick und ihr Lachen, das passt gar nicht zusammen, das tut mir weh.
Vorher nahm ich Abschied in der Fabrik. Martha ist nicht an ihrer Bank. Als sie kommt und mir die Hand gibt, sehe ich, dass auf ihrem weißen Gesicht, um die Augen, rote Flecke brennen.
„Ein Drehspan", sagt sie. Sie hat etwas gekühlt. „Komm gesund wieder, Hans!" sagt sie dann. Weiter nichts.
Sophie fragt mich, um welche Zeit ich mich einfinden muss. Ich sage es ihr.
Als ich um dreiviertel neun Uhr in „Kohlhöfen" einbiege, steht Sophie da. Sie ist erst etwas verlegen, fasst sich dann aber rasch und sagt: „Ich möchte Ihnen doch besonders adieu sagen. Sie haben mir soviel geholfen. Ich möchte Sie bitten, mir zu schreiben."
„Warten Sie doch noch, es sind ja soviel andere Angehörige mit. Wir können uns bestimmt noch sehen."
Sie kommt mit nach dem Bahnhof, trägt mir ein Paket, gehört zu mir, wie die anderen „Angehörigen" zu den anderen „Rekruten".
„Einsteigen!"
Ich geb ihr die Hand und drücke sie.
„Einsteigen!"
Sophie klammert sich an meine Hand, als wolle sie mich nicht fortlassen.
„Einsteigen!"
Als der Zug schon fährt, schaue ich noch einmal zurück, kann sie erst gar nicht finden! Bis ich sie doch entdecke. Sie muss, als ich sie losließ, ein ganzes Stück zurückgetaumelt sein. Dort steht sie — an die Mauer gelehnt — und winkt.
Drei Wochen liegen wir schon in dem Tanzsaal in dem kleinen Städtchen in Schleswig-Holstein. Drei Wochen haben wir die Augen gerollt, den Kopf bewegt, Kniebeuge und „Rumpf vorwärts beugt" gelernt. Grüßen können wir auch schon und dürfen zum ersten Mal Besuch empfangen und ihn abends zum Bahnhof bringen.
Um vier Uhr — als alle beim Kaffee sitzen, jeder seinen Napf voll vor sich, seine Frau, Mutter oder Liebste daneben — geht der „Unteroffizier vom Dienst" durch den Saal. Jeder springt vorschriftsmäßig auf, klatscht die Hände an die Hosennaht und setzt sich wieder. Alles klappt vorzüglich, bis die Reihe an mich kommt. Ich bleibe sitzen.
Sophie bittet mich, „vernünftig" zu sein und mir nichts „einzubrocken". Ich jedoch bin in meinem Leben noch nie „vernünftig" gewesen. Der Unteroffizier geht auch an mir vorüber, sagt aber nichts. Nachdem bleiben noch andere — fünf oder sechs — sitzen, die scheinbar auch nicht begriffen haben, was sich für einen deutschen Soldaten gehört. Der Unteroffizier geht durch die Mitte und verschwindet.
Sophie ist besorgt. Aber sie weiß eben nicht, dass ich krank bin. Ohne Scherz, ich bin kein normaler Mensch. Nicht nur, dass ich mir lieber die Zunge hätte ausreißen lassen, ehe ich — gerade vor ihr — mich so erniedrigt hätte. Nein, man müsste mir ein anderes Hirn einsetzen, um einen brauchbaren Soldaten aus mir zu machen. Das habe ich schon vom ersten Tage an gemerkt.
Als wir zum Beispiel auf die Kammer gingen. Jeder bekommt eine alte Garnitur. Wie alt? Lassen wir das! Am Hosenschlitz kann man meist einen fleckigen Streifen schimmern sehen. Der Rockkragen ist wie gewichst. Von den übrigen Schönheitsfehlern sei der Einfachheit halber abgesehen.
Jeder ernst zu nehmende Vaterlandsverteidiger nimmt die Hose, die Jacke, die Mütze mit dem Speckrand, passt sich die Sachen an, wichst sich die Quanten dazu und stellt sich vor den Spiegel, um auszuprobieren, wie man mit Daumen und Zeigefinger von der Nase nach der Kokarde balancieren muss, um so auch ohne Spiegel die Vorderfront ausrichten zu können.
Diese einfache Soldatenpflicht — so einfach doch, wie nur denkbar — stößt bei mir schon auf eine Fülle schwerster Hemmungen. Mein Hirn hat keinen Raum für Natürlichkeit und Einfachheit.
Ich beschäftige mich zum Beispiel mit folgenden Fragen: Wieviel Geschlechtskrankheiten durch diese Hosen schon verdeckt oder wie viel Furunkel durch diese Rockkragen durchgescheuert wurden. Dann grübele ich nach, ob ich jemals Menschen antraf, deren kulturelle Bedürfnisse mit denen der hier angetretenen Vaterlands Verteidiger wetteifern konnten. Ich komme zu dem Resultat, dass man hier zurückgehen muss bis zu den verkommensten Pennbrüdern. Aber ich habe noch nicht genug mit dieser völlig überflüssigen Gehirnakrobatik, sondern überlege, ob ich einen Fall kenne, dass ein Penner die dreckigen Hosen eines anderen Penners anzieht, und ich kann trotz angestrengten Nachdenkens mich auf einen solchen Fall nicht besinnen. Bei Betrachtung der Halsbinde mache ich mir Gedanken, wie wohl der Mensch ausgesehen haben mag, der das Modell für diesen Sabberlatz entwarf. Ich komme natürlich zu keinem Ergebnis, später kommt mir so etwas wie eine leise Ahnung, dass er unserem Unteroffizier ähnlich gesehen haben mag.
Ein Mensch, das bekenne ich offen, der sich mit solchen Hirngespinsten plagt, ist eigentlich unwürdig, des Königs Rock zu tragen. Aber ich musste eben diese Ehre auf mich nehmen, wie ein Zuchthäusler nichts gegen die ihm zugefügte Ehre tun kann, Uniform zu tragen.
Ich sitze also in des Königs Rock und höre mir an, wie viel Vaterländer wir haben, wie viel Truppenteile, wie viel Chargen, wie viel verschiedene Ehrenbezeigungen, wie viel Kriegsartikel, wie viel verschiedene Vergehen, Verbrechen mit wie viel verschiedenen Strafen belegt werden können. Ich sitze steif, habe mir den ganzen Körper mit Unterwäsche sorgfältig gepolstert, mich, so gut es geht, gegen die Ehre in dem königlichen Rock isoliert.
Statt nun wenigstens aufmerksam zuzuhören, sehe ich mir die Gesichter an. Es waren doch allerhand feine Leute dabei: Referendar Ehlert, Oberlehrer Weiß, Hotelbesitzer Maslovsky, um nur einige zu nennen. Ich sehe, wie diese feinen Herren sich in den Königsröcken wohlfühlen wie die Made im Speck. Ich überlege wieder: Wo hast du schon einmal einen Menschen getroffen, den der Dreck, selbst der Dreck anderer, so wenig stört, wie diese Herren.
Bei dieser meiner Phantasterei habe ich lange nicht erfasst, dass sich der Soldat nicht mit solchen ästhetischen Schrullen plagen darf, soll er seinen Zweck erfüllen. Es ist eben Krieg. Und kaum, dass sich der Knäuel in meinem Hirn zu entwirren scheint, verschwimmt schon wieder alles.
Besagte Ehrenröcke haben nämlich blanke Knöpfe. Nachdem ich glücklich soweit bin, rein intellektuell die Notwendigkeit zu begreifen, dass ästhetische Gefühle zurückstehen müssen vor dem praktischen Zweck, sehe ich, dass ich mich in einem verhängnisvollen Irrtum befinde. Die ästhetische Seite kommt nämlich zu ihrem Recht.
Die ganze Stube, die ganze Kompanie putzt abends mit fanatischem Eifer die Knöpfe an den Röcken. Morgens beim Antreten werden alle Knöpfe sorgfältig beaugapfelt, und wehe, wenn da irgendwo nicht alles glänzt. „Wir sind doch keine Schweine!" heißt es dann.
Ich frage ein bisschen herum, was die andern so über dies und jenes denken. Sie müssen sich doch etwas denken, woher sollte sonst der Eifer kommen. Einige Proletarier sind darunter, die meinen, „man macht den Stumpfsinn eben mit, weil es keinen Zweck hat, sich dagegen aufzulehnen". Aber das sind ja nicht die eifrigsten. Da sprach ich einmal mit Weiß darüber, Maslovsky stand daneben. Die beiden putzten stets mit Feuereifer, mussten also von einem sachlichen Grund angefeuert, begeistert sein?! Und ein Oberlehrer ist doch eine wichtige Stütze des Geisteslebens!
Weiß guckt mich an — er wichst gerade seine Stiefel —, lässt beide Hände sinken, und sagt: „Was redest du denn für Unsinn, Betsoldt. Wir sind eben Soldat, was gibt's denn da noch zu fragen!" Ganz ernsthaft sagt er das, als hätte er für ein weltbewegendes Problem die lösende Formel gefunden. Maslovsky bearbeitet seinen Stiefel auf der Bank, hält ob unseres Gespräches einen Augenblick inne und sagt, als ich gehe: „Was es doch für komische Käuze gibt!", schüttelt den Kopf und lacht.
Hier kommt es wohl nur auf das Körperliche an, ist die weitere Frage, die ich aufwerfe. Alles ist auf Disziplin eingestellt, alles, auch das Unsinnigste ist nur scheinbar unsinnig, dient einem Zweck, dem des reibungslosesten Einsatzes der Kräfte. Der körperlich am besten durchgebildete Soldat ist das Ziel.
Mir fällt — nebenbei bemerkt — der „Dienst" nicht allzu schwer. Ich schreibe viel an Klaus und Alfred und an die Frauen. Diese Verbindung hält mich aufrecht. In dieser Welt lebe ich. Hier bin ich nur ein Fremdkörper. Den „Dienst" mache ich mechanisch. Ich sehe die landschaftlich schöne Gegend, spüre die Wirkung der frischen Luft, das Essen schmeckt mir, und außerdem ist dieser Aufenthalt ja gefahrlos. Ich mache alles mit, wie ein notwendiges Übel.
Wir laufen um die Wette über den Exerzierplatz nach der Scheune. Weiß pustet wie ein Sauggasmotor und kommt als einer der letzten angeschnauft. Maslovsky fällt über seine eigenen Knochen. Fabian hört mittendrin überhaupt auf zu laufen, guckt nach der Scheune hinüber wie ein kranker Affe. Fabian ist Gefangenenaufseher. An seiner guten Gesinnung ist kaum ein Zweifel.
Die körperlich Tüchtigsten sind die Arbeiter. Man braucht sie nicht — wie Weiß — erst auf das Hinterteil zu treten, wenn sie im Liegen schießen. Man braucht sie nicht mit Wasser zu bespritzen oder gar heimzuschleppen, wenn man uns tagsüber im Gelände herumgejagt hat. Der Unteroffizier braucht, wenn er durch die Front schielt, nicht erst wiederholt zu rufen, dass dort ein Fettwanst vorsteht, dort einer steht, als hätte er einen Stiefelknecht auf der Schulter unterm Rock.
Aber wie kommt es nun, dass diese vermanschten Figuren mit den Unteroffizieren und Feldwebeln so intim werden?
Sie haben Geld! Mitunter auch das „Einjährige". Es dauert nicht lange, dann sind sie selbst Gefreite oder Unteroffiziere und bringen anderen Soldatentugenden bei.
Diese Idealgestalten im Königsrock waren es auch, die, als der „Spinner" zwischen den Betten im Gang sichtbar wurde, fast den Tisch umrissen und ihr „Achtung!" durch den Saal grölten. Sie schämten sich nicht vor ihren Frauen, und ihre Frauen fanden wohl auch nichts Entwürdigendes in dem Verhalten dieses Unteroffiziers. Sie gaffen an ihm hoch wie Hennen.
Sophie ist etwas bedrückt und meint, ich würde wohl nun nichts mehr zu lachen haben. Ich jedoch bin ganz ruhig geworden. Ich kam in den vierzehn Tagen zu dem Resultat: Man macht die Menschen zu solchen Idioten, damit ihnen später das Verbrecherische ihres Tuns nicht zum Bewusstsein kommt.
Ich begleite Sophie zum Bahnhof. Nun erst können wir ungeniert sprechen. Lotte hat einen Jungen und ist sonst gesund. Tetsche hat geschrieben, er liegt in Polen im Lazarett, ist leicht verwundet. Dann packt Sophie die Liebesgaben aus. Von allen ist etwas dabei. Auch eine Aufnahme der Arbeiter und Arbeiterinnen der Granatenfabrik; alle in Arbeitskleidung an den Maschinen. Auf einem Stapel Granaten im Hintergrund ist auf einem Pappschild unschwer zu entziffern: „Gott strafe England!"
„Anna lässt sagen, du sollst schreiben, wenn du Wäsche brauchst. Sie alle hoffen, dich bald auf Urlaub zu sehen. Von Klaus soll ich dir noch diesen Brief geben."
Ich freue mich über alles. Aber diese Freude schmerzt mich.
Sophie fühlt das. „Du bist so gedrückt, Hans, ich glaube, du verschweigst mir etwas."
„Nein, du musst das verstehen. Hier ist alles so neu für mich. Ich kann mich so schlecht daran gewöhnen. Ich fühle mich unfrei. Das wird sich aber legen."
Ich kann sie nicht ansehen, denn ich lüge. Sie kann nicht miterleben, was ich erlebe, und ich kann ihr das nicht mitteilen. Sie hat das „Gott strafe England!" nicht beachtet, nicht erwähnt und kennt nur eine Sorge, dass ich mir den Urlaub in acht Tagen nicht verscherze. Sie ist hilfsbereit, ein wertvoller Mensch, blühte auf vor Freude, als sie mich sah. Aber sie weiß sich rasch mit Tatsachen abzufinden. Sie ist Frau, ganz Frau, selbstlos bis zum äußersten. Aber sie erlebt nicht mit mir die tausend Qualen der Zerfleischung. Sie sieht nicht die Doppelrolle, die ich spiele. Sie spricht mehr zu dem Soldaten als zu dem, der in diesen Lumpen steckt. Mir ist das alles so gleichgültig, so unsagbar banal. Ich denke an keinen Urlaub, ich denke nicht an die Zeit, da wir verladen werden sollen an die Front, mir macht keine Sorgen, was nach der „Achtungsverletzung" am Nachmittag folgen wird. Ich denke an Klaus und Alfred. Ich möchte den Brief lesen, er ist jedoch sehr lang; ich kann es an der Einleitung sehen. Es ist politisches Material. Die Uhr ist nach sieben. Um halb acht Uhr fährt Sophie. „Wollen wir gehen?" fragt sie nun.
Ich fühle, dass eine Welt zwischen uns steht und fühle doch den Hunger nach ihr. Ich fühle, dass ich ihr alles zerstört habe, die Freude, mir Freude zu bereiten. Ich möchte sie nicht so gehen lassen und kann doch nicht das erlösende Wort finden. „Wir müssen umkehren", mahnt sie. Wir gehen nebeneinander. Ich weiß, dass wir in zehn Minuten die Straße erreichen, unter den Menschen verschwinden, „Vorgesetzte" auf den Gruß warten, dass wir zum Bahnhof kommen werden und Sophie abfahren muss. Ich werde das Letzte verlieren: das Weib, das für mich lebt, für mich denkt, sich für mich sorgt, wie ich für sie.
„Kann ich dir noch etwas helfen, Hans?" Ein letzter Versuch ist das, die Wand zwischen uns niederzureißen. Eine verzweifelte Bitte.
Ich bleibe stehen und sehe ihr ins Gesicht. Ihr Mund ist so fest geschlossen. Ich höre ihren Atem. Die Nasenflügel arbeiten. Ihre Arme hängen herab.
„Ich möchte dich nicht verlieren, Sophie. Ich bin dir so dankbar, dass du gekommen bist. Ich bin nur so übervoll, dass ich mit dir noch nicht darüber sprechen kann. Versuche zu begreifen. Ich werde dir schreiben."
Sie hört mich regungslos an, aber ihr ernstes Gesicht beginnt zu zerfließen. „Ja, schreib mir, schreib mir alles, was du denkst, Lütting", sagt sie.
Als der Zug die Halle verlässt, ist es bereits zehn Minuten vor acht Uhr. Ich muss mich beeilen, habe nur bis acht Uhr Urlaub. Ich will mit einem Male nicht „auffallen". Mir ist es nicht mehr gleichgültig, ob ich in acht Tagen auf Urlaub fahren kann.
Aber ich hatte mir bereits etwas „eingebrockt". Der beleidigte Unteroffizier achtet fanatisch darauf, dass die Disziplin nicht vor die Hunde geht, und unser Feldwebel wartet gerade darauf, dass solch grüne Rekruten den Vorgesetzten auf der Nase herumtanzen. Mittags, als die anderen auf ihren Pritschen liegen, Briefe schreiben, oder lesen, oder ihre Lumpen flicken, treten wir mit sechs Mann zum Strafexerzieren an.
In meinem Hirn wälzt sich die Frage, wie es auf Festung sein muss oder im Zuchthaus. Wie lange der Krieg dauern kann und ob es ratsam ist, hier den Plunder in den Dreck zu schmeißen und mit einer nicht mißzuverstehenden Bemerkung meine wirkliche Meinung zu äußern.
Der Gefreite führt uns auf den Kasernenhof, lässt uns an der Mauer antreten und sagt: „Hört mal zu! Wir werden die Stunde schon rumkriegen. Wenn ich euch mal gehörig anbrülle, so deswegen, weil der Alte kommen kann. Seid also vernünftig!"
Mein Vorsatz liegt wieder im Dreck. Der Ton des Gefreiten übt eine eigenartige Wirkung aus, so etwas wie Solidarität mit ihm.
Wir kloppen die Stunde ab, am nächsten Tag die zweite, und glauben, die Sache ist erledigt.
Wir sind jedoch nicht zum Vergnügen da. Eine Woche später belegt neuer Ersatz unsere Quartiere. Wir sind schon „alte Leute" und ziehen in die Kaserne. Als der erste Urlaub gegeben wird, ziehen wir „Verbrecher" auf Wache. Ich lehne es ab, Einspruch zu erheben. Ich weiß, dass ich in diesem Falle zu dem Schaden nur noch mehr Schaden und den Spott noch obendrein haben würde.
Als Sophie den Brief erhält, stehe ich schon an der Eisenbahnbrücke und passe auf, dass sie nicht in die Luft fliegt.
Wir haben scharfe Munition, aber sie wird uns zugezählt. Ich kann mir die Situation gar nicht vorstellen, dass ich hier auf einen Menschen schießen soll; noch weniger aber, dass irgend jemand auf den Gedanken kommen könnte, diese Brücke in die Luft zu sprengen. Über sie geht starker Verkehr. Auf den Telefondrähten landet gelegentlich ein Vogel. Rechts bringen Arbeiter die Ernte aus ihren Laubengärten ein; einige Hühner suchen die Böschung ab. Sie müssen durch ein Loch aus den Gärten gekommen sein. Einige Enten liegen gelangweilt vor dem Wehr, das sicher nur ihretwegen angelegt ist an den Lauben; ein anderer Zweck, das winzige Wässerlein dort abzustauen, ist nicht denkbar.
Wenn diese Enten den Kopf aus dem Wasser nehmen, schauen sie gelegentlich auch einmal zu mir herüber, als wollten sie fragen: was bist du denn für eine komische Figur?
Ich drehe mich wieder um, gehe durch die Brücke hindurch, und sehe in den Strom der Spaziergänger hinein. Ein Soldat grüßt, innerhalb zirka hundert Meter, siebenmal. Ich rechne aus, wie viel Ehrenbezeigungen täglich in Deutschland gemacht werden.
Dann stelle ich Betrachtungen darüber an, was wohl der Feldwebel sagen würde, wenn ich meine sechs Schuss auf die Enten verwenden würde, oder auf die Hühner, oder auf die Vögel, die oben auf dem Draht sitzen. Das wäre doch gar keine schlechte Idee! Ich glaube aber selbst nicht daran, das zu tun. Nicht aus Angst vor den Folgen, ein geistig gesunder Mensch ist unfähig, einen Widersinn durch einen noch ausgewachseneren Widersinn zu übertrumpfen.
An Sophie habe ich geschrieben, dass ich nächsten Sonntag bestimmt kommen werde. Bestimmt! Wenn nicht mit, dann eben ohne Urlaubsschein... und dass sie, falls wieder etwas „dazwischen" kommt, mir Zivilkleidung bringen soll.
Was dann?
— Gleichgültig, was dann! — Einmal will ich noch bei
Sophie sein, ohne Angst vor den Aufpassern mit ihr reden, vielleicht auch Abschied nehmen.
Diese Gedanken an Sophie erhalten mich aufrecht, geben mir die Kraft, die blanken Knöpfe an den blauen Lumpen zu putzen, den Affentanz auf dem Kasernenhof scheinbar ernst zu nehmen. Es wäre sonst unerträglich.
Auch unerträglich trotz des Materials von Klaus über die „Ursachen des Weltkrieges". Ich bin enttäuscht und erschüttert zugleich. Was nützt es, wenn der eine und der andere die Wahrheit über diesen Krieg erfährt und zum Schweigen gezwungen wird? Was nützt es? In spätestens vier Wochen sind wir draußen, neue kommen — und gehen wieder, und wieder kommen neue. Wo bleibt die Tat! Irgend etwas, ein Signal, ein erlösender Schrei!
Ich weiß, was du meinst, Klaus. Oh, man hat noch soviel Zeit zum Denken! Die Zahlen werden in meinem Hirn zum Bild. Die Welt zum Kampfobjekt von Räubern, die Menschen zu Knechten dieser Räuber.
Ich sehe, wie die Kapitalmassen der Großkapitalisten und Bankkonzerne in fremde Länder wandern. Ich sehe aus diesem Geld Eisenbahnen, Straßen, Bewässerungsanlagen, Goldminen, Bergwerke wachsen. Ich sehe, wie die Intelligenz dieser Länder durch dieses Geld korrumpiert wird, wie Armeen entstehen, um den ergaunerten Reichtum zu schützen und um die Proletarier niederzuhalten und auszubeuten. Ich sehe, dass der Kapitalismus diese verbrecherische Politik auf die Spitze treiben musste, weil die Gier nach Profit ihn über den ganzen Erdball jagt, und jetzt der Kampf der Räuber untereinander entbrannt ist. Ich sehe, dass Sarajewo nur Anlass, nicht Ursache war. Ich sehe, dass die „heiligsten Güter der Nation" überall die gleichen sind. Ich sehe, wie die Menschen verblendet sind; Menschen, die nichts dafür können, dass sie als Deutsche, als Engländer, als Franzosen, als Russen geboren sind, stürzen sich aufeinander, Väter auf andere Väter, Söhne auf andere Söhne, Mütter beten für ihre Söhne um den Segen Gottes und um den Fluch Gottes für die anderen. Ich sehe, dass nur das internationale Proletariat diese Hydra vernichten kann, dass allein auf der internationalen Solidarität der Proletarier die Menschheit sich emporheben kann aus der Schande des verbrecherischen Blutrausches. Ich sehe die Opfer dieses Hexensabbats vor mir: 36531 Tote, 159165 Verwundete, 55522 „Vermisste" in eineinhalb Monaten. Fünfundzwanzig bis dreißig Millionen Menschen warten darauf, übereinander herzufallen. Ich sehe das, Klaus. Aber ich sehe, wie die Menschen die Wahrheit meiden wie die Pest.
„Was fragst du noch, wir sind Soldat!"
„Lass das niemand hören, sonst geht es dir dreckig", sagt ein Arbeiter zu mir, der mir ein Bild von seinen Kindern zeigte.
„Wache raus!"
„Was machst du für ein Gesicht, Betzoldt", sagt Wetzlaff. „Denkst wohl an deine Magda, musst schon noch acht Tage warten."
„Wird ja bald vorbei sein, die ganze Schose", meint Blumer. „Wenn sie erst Antwerpen haben, ist der Husten bald aus, die Engländer sind mit unseren Zeppelinen bald ausgeräuchert. Wir werden wohl gerade noch zurechtkommen, um den Einzug in Paris mitzumachen!"
Sophie wohnt nicht mehr bei Annas Schwester — auch daran bin ich nicht unschuldig. Ihr „Kutt!" ist Schneider und erscheint regelmäßig sonnabends auf Urlaub. Er gedenkt in der Garnison — in Stade — den Krieg abzuwarten und bläht sich in seiner schön sitzenden Uniform wie ein Kater. Mögen die andern grammweise in die Luft fliegen, wenn nur ihr Karl warm sitzt. Sie sagt das nicht, aber sie steht dem herzzerreißenden Jammer kühl gegenüber. Sie hat nur Angst, dass ihr Karl von einem andern im Katzbuckeln übertroffen werden und abschwimmen könnte.
Ihr Karl glaubt, dass ihn so leicht keiner „ausstechen" kann. Gefreiter ist er schon geworden. Seine langen Haare trägt er seitdem noch länger. Sie fallen ihm wie eine verwaschene Perücke über seinen ausdruckslosen Schädel. Seine glattrasierte Fratze unter dem schmutziggelben Haargarten verrät nur zu deutlich, dass ihn an Hinterlist und Verschlagenheit so leicht keiner übertrumpfen kann. Auf allen Schränken und Tischen stehen Bilder von diesem Germanen. Ich bin sein Freund nicht mehr, und Lieschen hasst mich, weil ich ihnen ins Gesicht sagte, dass sie die Erbärmlichkeit in Person sind.
Sophie bewohnt eine separate Stube. Die Einrichtung besteht aus einer alten Chaiselongue, einem Tisch, vier Stühlen und einem gebrauchten Schrank. An der kahlen Vorderwand erhebt sich ein altarähnliches Postament. Über diesem liegt ein großer Schal.
„Ich hatte die ganze Woche keine Ruhe", sagt Sophie, „ich dachte immer daran, dass du vielleicht wieder keinen Urlaub bekommen könntest."
„Wir haben alle Urlaub bekommen." Ich sage das absichtlich mit Nachdruck. Warum soll ich verschweigen, dass dies der Generalurlaub vor der Abfahrt an die Front ist?
Sophie deckt den Tisch, während ich mich anziehe. Wir setzen uns gegenüber — wie Mann und Frau — und essen. Wir wollen noch zu Anna und Martha gehen. Ich will noch mit Klaus und Alfred sprechen.
Wir machen uns fertig und mustern uns gegenseitig. Ihre Augen liegen so tief. Ihre hohe Gestalt bewegt sich — scheint mir — unsicherer als sonst. Sie hat noch dies und das zurechtzulegen, ist so zerstreut.
Ich stehe an der Tür und warte, bis sie fertig, ist und sage: „So, jetzt können wir gehen. Hast du auch nichts vergessen?"
Sie lacht schmerzlich und abwehrend und dennoch so verlangend, dass mir scheint, als sei ein Kuss auf diesen Mund allein ein Leben wert.
So blieben wir noch. Als wir nach einer Weile gehen, wissen wir: diese Nacht ist unsere Hochzeitsnacht.
Wir werden von Anna und Klaus mit neckenden Bemerkungen empfangen und lassen uns alles gern gefallen. Anna scheint mir so gealtert; an ihren Schläfen schimmern graue Strähnen durch, aber sie freut sich. Marthahat Nachtschicht und kommt erst nachts um zwei Uhr. Sie will uns morgen besuchen.
Klaus ist wenig redselig, wie immer. Ich weiß sein Schweigen zu deuten. Ich habe ihm einen vier Seiten langen Brief geschrieben. Ich weiß, es ist Unsinn, was dort steht. Ich weiß, dass ich noch manchen Sturm ertragen muss, ehe ich so ruhig werde wie er. Aber lasst mich doch auch einmal aufschreien, ich muss schreien, sonst gehe ich zugrunde!
Als ich nach Alfred frage, sehen sich Klaus und Anna an. Dann sagt Klaus: „Alfred muss nächste Woche Mittwoch auch fort. Er hat schon Bescheid. Sie konnten ihn nicht mehr halten, sagte man ihm, weil er aktiv ist."
Ich weiß nicht, warum ich von dieser Mitteilung so erschüttert bin. Nicht nur seine junge tapfere Frau sehe ich vor mir, wie sie von der Folter der Angst von neuem gehetzt wird. Nicht der Schmerz Alfreds allein teilt sich mir mit. Ich sehe in ihm den ruhigen, unermüdlichen, nüchternen und umsichtigen Organisator der letzten Reste der Bewegung, und in Klaus die zuverlässige rechte Hand. Klaus allein wird nicht verzweifeln, aber er wird unter der Vereinzelung schwer zu tragen haben. Der Mittelpunkt der Bewegung ist Alfred. Ich sage nichts, aber Klaus scheint meine Gedanken zu erraten. „Sie wissen, wo sie hinpacken", sagt er, „ich bin überzeugt, dass sie ihn denunziert haben, aber es ist besser, Lotte bleibt in dem Glauben, dass sie ihn nicht halten konnten. Eine Frau erträgt das nicht."
Sophie sitzt wieder so gedrückt auf dem Sofa. Anna steht auf und sagt: „Wat dat woll mol förn End nimmt." Die Stimmung ist wieder da; fehlt bloß noch die Frage, wann ich fort muss.
Ich ertrage das nicht. „Lasst uns fortgehen", schlage ich vor.
Anna schaut mich etwas spöttisch an, als wollte sie sagen: Das änderst du doch nicht. Aber als ich sie bitte, mitzukommen, ihren Mantel hole und ihr mitten auf den Mund einen Kuss gebe, kann sie sich nur dadurch wehren, dass sie mir eine Ohrfeige gibt.
Wir klopfen bei Alfred, begrüßen uns. „Kommst morgen noch mal ran", sagt er. Lotte badet den Kleinen; sie ist so schlank, so überschlank.
„Wirst du noch einmal wiederkommen?" Die Wirklichkeit schüttelt uns wieder wach, die wir uns eine Nacht gefunden haben.
Wieder beginnt die Jagd nach dem rettenden Ausweg, und wieder sind alle Türen hinter mir zu. Mag sein, dass die durch Zufall erworbene ungünstige Erfahrung das Blickfeld vernebelt. Ich fühle jedoch kein Bedürfnis, noch einmal allein durch die graue Ungewissheit zu irren. Ich weiß, ich kann nicht mit Sophie zusammen sein, sonst lade ich sofort die Spitzel auf meine Spur. Und ohnedem, ich mag nicht darüber nachdenken, es ist mir zuwider. Vierzehn Tage vielleicht noch, höchstens drei Wochen ist noch Zeit zum Überlegen, zum endlosen Überlegen, zum Selbstbetrug. Es ist Anfang Oktober, Antwerpen ist gefallen, der Siegestaumel wird immer lauter, Extrablätter steigern die „Stimmung" bis zur völligen Bewusstlosigkeit.
Martha kommt gegen Mittag und isst bei uns. Dann gehen wir zusammen zu Anna. Alfred kommt herauf. „Wir dürfen die Flinte nicht ins Korn werfen", sagt er, „es geht langsam. Aber unter diesen Verhältnissen ist es schon eine ungeheure Leistung, die Propaganda zu organisieren. Wenn erst der Winter kommt, wird auch die Begeisterung für den verfluchten Krieg verfliegen."
„Wird!" meint Klaus. „Du hast doch selbst gesagt, dass der Krieg lange dauern wird. Was redest du mit einemmal? Willst dir wohl selbst blauen Dunst vormachen, Alfred?"
„Wir können es nicht wissen, und was ist überhaupt lange? Wenn ein Krieg heute vier Monate dauert, hat er soviel Menschen verschlungen wie der Siebenjährige Krieg. Wir stecken mitten drin, und können nur, so gut es geht, dagegen anrennen, oder uns aufhängen."
„Aufhängen?" Daran habe ich noch nicht gedacht. Wohl schon darüber, dass das sich an die Front abschieben lassen ebenfalls Selbstmord ist. Ich behalte aber meine Weisheit für mich.
Anna hört schweigsam zu und sagt dann: „Di hew ick ok schon anders reden hörn, Klaus, oder is dat din Ernst nich west?" Sie sieht ihn kampflustig an. Er dreht den Kopf zu ihr hin und lacht wie ein ertappter Spitzbube.
„Hast recht, Anna", sagt er, als freue er sich, dass die ruhige Sicherheit, die über Anna gekommen ist, ein Teil seiner Arbeit ist. Alfred wühlt in seinen Taschen. Dann gibt er jedem einige mit Schreibmaschine geschriebene Flugblätter, dasselbe, das Klaus mir zusandte. „Ihr müsst versuchen, das Material an den Mann zu bringen. Das wird mehr nützen als unser Rätselraten. Die Frauen müssen einspringen, wenn die Männer nicht mehr da sind." Er reicht auch Martha und Sophie einige Exemplare. Er sagt das in einem Ton, der jeden Widerspruch ausschließt. Er hat den Gestellungsbefehl in der Tasche, und unten sitzt seine Frau bei dem Säugling und wartet auf ihn. Dann steht er auf, steckt sich eine Zigarette an, gibt jedem die Hand, als ginge er zu einer Sitzung oder sonst irgendwohin. „Mach's gut, Hans", sagt er zu mir zum Abschied, „wir sind ja keine Kinder mehr, wir wissen, was uns blühen kann, aber solange wir noch da sind, muss von uns auch etwas zu merken sein."
Ich wünsche mir einen Kameraden wie Alfred oder Klaus. Aber es ist keiner dabei. Nach dem Generalurlaub wird die Stimmung nüchterner. Wir werden zwei Wochen später eingekleidet. Der Urlaub ist gesperrt. Es wird viel geschrieben, mehr als sonst. Von weit her kommt noch Besuch. Ich bin ruhig geworden. Ich werde mitgehen, wenn ich noch einmal Urlaub bekomme. Ich muss diesen Urlaub bekommen, sonst nehme ich Urlaub.
Sophie ist schwanger. Kriegstrauung ist ein „dringender" Fall.
Und ich bekam Urlaub, und durch ihn wurden die letzten Wünsche von Sophie Erfüllung. „Wenn dir etwas passieren sollte, Hans", sagt sie, „dann habe ich etwas von dir, was mir niemand nehmen kann. Kriegsunterstützung müssen sie mir auch geben. Ich werde es schon durchbringen."
Anna kocht unser Hochzeitsmahl: Schmorfleisch und Rotkohl. Klaus und Martha sind Zeugen. Martha weint, als ich, endgültig zum letzten Male, gehe. Sophie steht hochaufgerichtet, als dürfe sie durch keine Schwäche den Tag entweihen. Klaus dreht sich kurz um, als er mir die Hand gibt, er spricht so heiser, ich verstehe ihn nicht recht — der große starke Klaus! Anna gibt mir den Kuss zurück, anders, als sie ihn von mir empfangen. Wie eine Mutter, die sonst nichts mehr sagen kann. Sophie hält mich mit beiden Händen fest, um mich, wie zum letzten Male, anzusehen, und sagt als letztes Wort: „Hab Dank!"
Hinter Metz werden wir ausgeladen. Es ist später Abend. Wir marschieren feldmarschmäßig unter den Bäumen hin. Es regnet. Von ferne hören wir Gewehrfeuer, undefinierbar wie weit, nur ungefähr die Richtung. Sanitätsfuhrwerke, Autos, Lastwagen, Meldereiter begegnen uns. Ein Munitionswagen überholt uns, biegt rechts in Ackerland ein. Etwas weiter in dieser Richtung liegt unsere Artillerie mitten in einem Acker eingegraben; Badensche Grenadiere kommen uns entgegen. „Passt auf, die Franzose schieße von de Bäum", sagt einer.
„Halt!"
Die Zugführer bekommen Instruktionen. Wir schwärmen aus. Es ist dunkel, wir sehen keine Stellung, sehen vor uns Wald, links eine breite, lang hinlaufende Lichtung. Im Wald, in den Büschen vor uns sollen die Franzosen liegen. Unsere „Stellung" ist — die flache, nasse Erde.
Um uns ist es still. Es wird kalt.
Mein linker Nebenmann hat noch kein Wort mit mir gesprochen, schaut immer vor sich hin. Ich weiß nichts von ihm, als dass er Mantey heißt und Pole ist. Mein rechter Kamerad ist gedienter Soldat und spricht nicht mit Rekruten, wenigstens nicht wie ein Mensch zu einem Menschen. Nun flucht er; er liegt wie alle in der Schützenlinie, die in unregelmäßigen Punkten verläuft und verschwindet.
Die Augen starren angestrengt in die Dunkelheit, auf den aufgeregten Nerven balancieren die Gespenster.
Eigenartig ist das doch, das Gefühl, das von den frischen Gräbern in die Hirne schleicht. Sie waren so, wie man es sich vorstellte: ein einfaches Holzkreuz; ein grüner Zweig oder ein paar liegen darauf; an einem der Holzkreuze hing ein Helm.
Die sind auch so, in der Nacht vielleicht, hier angerückt. Wie viele mögen hier schon liegen? Was würde Sophie sagen, wenn sie mich morgen hier verscharren? Würde sie auch so mit offenem Munde und mit so großen Augen nach Luft schnappen wie Anna?
Wo mag Alfred jetzt sein? Ob er auch wie ich sich fest vornimmt, auszurücken, dann irgendwo über die Grenze marschiert und nicht mehr zurück kann und zwischen den Gräbern den Heldentod erwartet? Ja, ja, Hans Betzoldt, hast dir viel vorgenommen und hast dich übernommen.
Wollmers kriecht etwas vor, tuschelt dann mit dem Unteroffizier und schaut dann wieder angestrengt ins Gelände. Ich weiß nicht, was sie reden, ein „Kriegssoldat", in die Kompanie gestopft, um eine Lücke auszufüllen, hat ja keine Ahnung. Aber Wollmers muss etwas bemerkt haben. Ich sehe, wie die andern angestrengt in die Nacht schauen, die langsam zu zerfließen beginnt und den vor uns hockenden feindlichen Schützen den Schutz versagt.
Ganz primitiv nur, aber dennoch klar genug, sieht man sie in der Dämmerung. Es können keine Bäume sein, auch keine Sträucher oder Büsche. Sie stehen in gleichmäßiger Belichtung, stehen in Mannshöhe, vielleicht nur wenige, die andern hocken wohl in ihren Löchern.
Vielleicht eröffnen sie unvermittelt das Feuer. Wir liegen ohne jede Deckung.
Die Knochen zittern mir ein wenig. In meinem Innern steigt ein schmerzendes Würgen hoch. Ich muss mir über die Augen wischen, möchte etwas fortwischen, was mich am Sehen hindert. Bringe automatisch mein Gewehr in Anschlag, nehme Druckpunkt und lasse wieder los.
Mich hier niederknallen lassen, und dann auch hier liegen bleiben: Warum denn?
Ein unerbittlicher Entschluss läuft mir durch den Körper, von den Füßen bis zum Kopf, bis in die Finger. Ich bewege sie langsam, so wie man die Mechanik einer Maschine probiert, ehe man sie einschaltet.
Die Kälte entflieht. Sie funktionieren.
----------Ein Schuss schlägt die Stille auseinander. Ehe das
Echo über der Dämmerung zusammenschlagen kann, gehen andere Gewehre los. Wollmers schießt ununterbrochen auf die Schatten in der Lichtung. Die ganze Front bellt auf. Ich liege hinter einem Maulwurfshügel, das Gesicht dicht an der Erde, den Helm schräg, links über den Kopf geschoben, und nehme von den Schatten einen nach dem andern aufs Korn. Sie bewegen sich nicht, fliehen nicht, scheinen unverwundbar.
Ich muss auf alle Fälle meine Deckung ausbauen, an den Maulwurfshügel mehr Erde heranholen. Aber der Boden ist hart; nur die Erde auf dem Hügel selbst ist schlammig, mit einer schwachen Kruste bedeckt, und ringsum von hohem fettem Gras umgeben. Als ich diese Kruste durchbreche, merke ich, dass das hohe fette Gras um meine Deckung so gut gewachsen war, weil der natürliche Dünger einer Kuh nicht der schlechteste ist.
Und immer noch stehen die Schatten, die wir beschießen. Es sind die Pfähle, an die die Kühe, die hier weideten, oder vielleicht auch Pferde angebunden wurden.
Unser Feuer lässt nach. Wollmers schämt sich. Als gedienter Soldat so hereingefallen! Und als die ersten Sonnenstrahlen hinter uns über den Hügel blinzeln und wir dem mahnenden Hunger gerecht werden, kann sogar Wollmers über seine Blamage lachen. Es ist eben alles so ganz anders — im Krieg. „Ist alles Scheiße!" meint er, und dann: „Hoffentlich hat der Dreck bald ein End."
Er gibt mir eine Zigarette. Wir dürfen, da es hell geworden ist, rauchen. Es ist nicht gut, so ganz allein zu sein. Er hat sich das wohl auch überlegt in dieser Nacht, und gibt mir seine Adresse, so auf alle Fälle, und ich ihm die meine.
Mantey isst nicht und raucht nicht. Sein Gesicht ist aschfahl, als hätte er sich übergeben. Er liegt etwas abseits, in einem Loch, in dem einige Eisensplitter liegen. Ein Granatloch. Aber Patronenhülsen liegen nicht darin; er hat keinen Schuss abgegeben.
„Der braucht keine Kugel, der stirbt vor Angst", meint Wollmers. Er sagt das aber nicht mehr, wie er es am Tage zuvor gesagt haben würde. Denn von diesen Löchern tauchen nun mehrere auf. Wir sehen sie die ganze seichte Talmulde hin, den Hügel hinan; die frischen Gräber, mehr als wir tags zuvor ahnten, bedürfen keiner Erklärung mehr.
Der Tag ist schön, selten schön für den beginnenden Oktober. Die Sonne erwärmt unsere übernächtigten Körper; wir müssen gegen den Schlaf ankämpfen. Wir passen gar nicht in diese Landschaft, liegen wie Farbenkleckse hingeschmiert und warten. Sollen wir zum Sturm angesetzt werden? Es ist fast ganz ruhig geworden, so ruhig, als seien wir völlig überflüssig.
Bis diese Ruhe unterbrochen wird durch dumpfe Detonationen. Wie ein lauter, von Ferne hörbarer, verstärkter Laut eines Stickhustens ist das. Ehe die Ohren den anspringenden Nerven den Hustenlaut vermitteln können, lacht es oben in den Baumkronen. Ein hässliches, hysterisches Lachen: „Haai-ha-ha-ha-Häh! Hund! Krach!" Äste splittern, im Grase schlagen die Brocken auf. Dunkle Rauchwolken schwimmen in der Luft, als hätte der Satan gelacht und säße in diesen Wolken.
Hä-HähähÄhÄBah-haaa!!! Eine Salve nach der andern prasselt nieder, hundert Meter vor uns. Die letzten Splitter erreichen uns, die Hände krampfen sich ins Gras; die Granatlöcher sind die einzige Deckung. Wer kein Loch hat, gräbt sich ein, so gut es in dem harten Kalkboden geht. Wir denken nicht mehr daran zu schießen; wo sollen wir hinschießen? Keiner weiß etwas vom andern. Ich springe in das Loch Manteys, weil von oben nicht in die Erde zu kommen ist.
Mantey drückt sein Gesicht an die Erde und betet. „Wir armen Menschen", sagt er immer. Er ruft Jesus, Maria und alle Heiligen an, sein Gewehr liegt außerhalb des Loches, er kann es nicht mehr halten, zittert am ganzen Körper.
Hier in dem Loch kann man von der Seite graben; der Boden ist aufgelockert. Alle sind wie vom Erdboden verschwunden, liegen hinter Rasenfetzen, in Löchern, vor die wir Sand als Deckung werfen. Wie viele mögen schon getroffen sein? Keiner weiß es, keiner weiß etwas vom andern.
Nach einer Stunde lässt das Granatfeuer nach. Die Köpfe heben sich vorsichtig aus den Löchern. Zwanzig Schritte von uns erhebt sich einer, stützt sich zitternd auf sein Gewehr. Von dort her kam wohl auch der gurgelnde Schrei, wer achtet da so genau drauf. Sein Gesicht ist mit dem Päckchen verwickelt, durch das das Blut sickert. So stelzt er nach hinten.
Weiter rechts führen Sanitäter einen fort, er ist ohne Waffenrock, der nackte rechte Arm hängt heraus, als wäre er mit einer Schnur angehängt.
Sind es noch mehr? Wer ist der dort, der im Grase liegt, als schliefe er?
Mantey rührt seinen Spaten nicht an. Er ist wie gelähmt, hindert mich am Arbeiten. Er spricht nicht, hockt da, wie vom Blitz getroffen, und zittert, hat die Hände gefaltet und scheint immer noch zu beten.
Mir steigt die Wut hoch über dieses Wrack. Er nimmt mir den Platz weg, und ich muss für ihn graben. „Mensch, sieh dich vor, dass ich dir nicht den Kolben über den Schädel wichse."
Da!------Der heisere Husten hat zu viel Grauen ausgelöst,
um dieses Geräusch zu vergessen. Schon geistert das Todeslachen wieder über uns; jetzt ungleichmäßiger, gestreut über das flache Tal. Ob sie doch noch kommen?
Es wird Abend, Schuss auf Schuss, Salve auf Salve platzen über uns. Granatenbrennzünder, oft so nahe, dass der Körper erstarrt. Die Knochen schmerzen infolge des gekrümmten Liegens.
Vielleicht werden wir am Abend oder in der Nacht abgelöst. So übermüdet und schmutzig, die Füße schmerzen in den harten Stiefeln, unerträglich ist das alles. Hoffentlich hören sie auf mit ihren Granaten, damit die Ablösung herankommt. Der Hunger wühlt in den Eingeweiden. Zunge und Kehle sind ausgetrocknet. Es ist nichts zu trinken da.
Wo mag Wollmers liegen? Ich muss irgend etwas und zu irgend jemand sprechen. Mantey rührt sich nicht mehr. Er betet schon wieder, betet in seiner polnischen Muttersprache.
Drei Tage Granatenhagel. Es geht nicht vor, sondern zurück, und mancher liegt in einem der frischen Gräber; wie viel, das weiß ich nicht.
Die Franzosen kommen bis vor unsern Graben, der ausgeworfen wurde, bevor wir die Talmulde räumten. So tief wie die einer provisorischen Wasserleitung; aber unsere Artillerie ist schon „eingeschossen". Das Sperrfeuer verlegt den Angreifern den Rückweg; die zweite Linie kommt nicht durch. Sie liegen im Tal wie vereinzelte Haufen; hie und dort glänzt eine rote Hose in der Sonne. Fünfzig Meter vor uns graben sie sich ein; in der Nacht rücken sie ihre Front vor. Zwischen uns liegen die Toten, viele Franzosen in Zivilkleidern.
Es nützt nichts, jetzt geht es über Leichen. Die dort in den „feindlichen" Gräben sitzen fest wie wir. Unsere Artillerie kann sie nicht beschießen, ohne uns zu gefährden und umgekehrt. Und jetzt hast du Zeit und Muße, die Wahrheit in dich aufzunehmen von dem schönsten Tod, dem Tod fürs Vaterland.
Ein junger Mensch liegt auf seinem Gewehr, hatte es wohl mit der rechten Hand oberhalb des Schlosses umklammert, bevor er getroffen wurde. Sein Griff ist gelockert, wie durch den Schlaf; der Ringfinger liegt lose über dem Lauf, der schräg nach oben steht. Ich sehe seinen goldenen Ring jeden Tag, sehe, wie der Wind mit seinen Kraushaaren spielt, sein halber Schnurrbart dem Tod zu trotzen sucht, sich immer wieder nach oben zwirbelt. Bis der Regen diese Täuschung beseitigt und die Haare an die welke Haut klatscht. Aber immer noch glänzt, auch wenn die ersten Fröste schon die Leichname erstarren lassen, der goldene Ring am Finger.
Ob seine Frau auch Sophie heißt?
Aber der Tod ist unerbittlich. Er lässt die Finger welken, der Ring gleitet den Finger hinab, und dann, als Wind und Frost diese Hand vom Gewehrlauf nehmen, ins Gras.
Schlaf gut, lieber Junge. — Warum hast du geschossen?
Hans Betzoldt, wenn du einmal irgendwo hinsinkst: Warum hast du geschossen ?
Du brauchst nicht so zu liegen wie der vor dir. Vielleicht hängst du auch so halb in der Luft wie jener dort mit dem schwarzen Bart, den eine Granate an den Abhang nagelte. Die Beine hängen in der Luft, als überlegte er, ob er nicht doch hinabspringen soll. Oder schläft er? Der Körper liegt hintenüber, der Kopf ist durch einen hervorstehenden Stein nach vorn geschoben. Ist er betrunken ? Er sitzt dort, Tag für Tag, Wochen schon. Die Stiefel werden ihm so schwer, einer ist schon abgefallen.
Hans Betzoldt! Das ist gleichgültig, wie du einmal liegen wirst. Vielleicht fällt nichts Besonderes an dir auf, liegst auch so wie die anderen ruhig an der Erde oder mit beiden Händen im Gras, in der Erde verkrampft, oder auf dem Rücken, wie im Sonnenbad, oder hältst dir die Hände vor den Leib, der aufgerissen ist, oder bekommst gar ein Soldatengrab und deinen Namen darauf.
Wie bösartige Narren belauern wir uns von Graben zu Graben. Er wird immer „besser". Wasser ist darin, aber man schleppt Bretter heran, legt sie über die Löcher im Graben, in denen sich das Wasser sammeln kann, um es ausschöpfen zu können. Das ginge alles noch, aber auch nachts ist keine Ruhe. Die Menschen unter uns, die an den Schulterblättern kenntlich gemacht sind, sind keine Schweine wie wir Soldaten. Sie brauchen wohnliche Unterstände, brauchen Feldbäckereien für Semmeln und Kuchen. Menschen müssen menschenwürdig leben, auch im Kriege. Und der Krieg muss trotzdem gewonnen werden, daher arbeiten wir des Nachts für die Bedürfnisse unserer Offiziere, und am Tage stehen wir im Graben. Ein Soldat kennt nur Pflichten; geschlafen haben doch die Kerls in ihrem Leben verdammt schon lange genug.
Und trotzdem schlafen sie ein. Manche erwachen noch nicht einmal, wenn der Hauptmann abends, wenn nicht mehr oder selten geschossen wird, durch den Graben läuft und brüllt, so laut, dass es die Franzosen hören und darüber lachen. Manche schlafen sogar im Stehen ein. Niederträchtige Bande!
Nicht nur die eine Niederträchtigkeit. Gestern haben sie die Bretter teilweise aus dem Graben genommen, als er kam, damit er in die Löcher stolperte und hinfiel. Er hatte es eilig, denn an der vorletzten Schulterwehr lehnte ein baumlanger Kerl und — schlief.
Ob der nicht hörte oder nicht hören wollte? Der Hauptmann brüllt ihn schon von weitem an, aber der Kerl rührt sich nicht, lehnt da, als ginge ihn das alles gar nichts an.
Als der Hauptmann ihn mit seinem Stock — ohne Stock ist er nicht denkbar — anstößt und ihn an seine Soldatenpflicht erinnern will, fällt der große Kerl auf ihn zu. Der Hauptmann rennt wie wahnsinnig fort und sieht gar nicht, dass der schlafende Soldat ein toter Franzose ist, den die Grabenbesatzung nachts heranangelte, um den tapferen Hauptmann in die Flucht zu jagen.
Sophie ist krank. Sie hat das Kind nicht ausgetragen. Beinahe wäre sie verblutet, schrieben Anna und Martha. Es war kein Arzt zu finden in der Nacht. Zwei Tage habe ich ihren Tod erwartet, bis ein Brief von Sophie mich erlöste. „Es ist alles wieder gut, Hans, ängstige dich nicht! Wie geht es dir?"
Wie es mir geht, Sophie, das darf ich dir nicht schreiben, auch nicht, wenn die Zensur unserer Vorgesetzten nicht so argwöhnisch über Landesverräter wachen würde.
Die Herren hinter der Front wollen sich hier anscheinend auf Lebenszeit einrichten. Ganze Dörfer werden ausgeplündert, alles nur Denkbare herangeschleppt. Offizierskasinos entstehen, hübsche Schwestern nehmen der Etappe das männliche Einerlei.
Auch der Schützengraben bringt mancherlei Abwechslung. Für ein französisches Gewehr gibt es eine Mark Prämie. Die armen Teufel kriechen nachts im Gelände umher, unter den Leichen. Was sie den toten Franzosen sonst noch stehlen, gehört ihnen. Das Geschäft ging so gut, dass es jetzt nur noch fünfzig Pfennig gibt. Manchmal bringen sie auch Briefe mit, die in der Brieftasche verborgen sind. Die wandern ins Feuer oder sonstwohin.
Mantey brachten sie ins Lazarett. Er betete zuletzt ununterbrochen. Beinahe hätte ich ihn um Verzeihung gebeten, dass ich ihm den Schädel einschlagen wollte. Wollmers war verwundet, konnte nicht geholt werden, ist in Gefangenschaft.
„Ich hatt' einen Kameraden"? Mag sein, dass manch einer Trost darin findet, seine eigene Tragödie zu besingen. Ich gehöre nicht zu diesen Glücklichen.
Wenn die Granaten über uns krepieren, die zerschundenen Nerven den Angriff erwarten, Patrouillen nach vorn schleichen oder ein Angriff bevorsteht, dann gibt dir der Leutnant eine Zigarette, der Bauernsohn oder Gutsbesitzer ein Stück Wurst. „Nimm, Kamerad!" sagen sie dann. Was wollen sie noch damit, wenn die Kugel sie trifft? Es ist dann gut, einen Kameraden zu haben, auf den man sich verlassen kann.
Sie ist billig, diese Kameradschaft — und hört sofort auf, wenn wir etwas weiter vom Schuss sind. Dann essen die Habenichtse, die Proletarier, wieder ihr trockenes Brot.
Die Leutnants rauchen ihre Zigaretten selber. Die Bauern und Geldleute suchen mit ihrem Überfluss ebenfalls allein fertig zu werden.
Wer ihnen die dreckigen Stiefel putzt, ihre dreckigen Hemden wäscht, der kann mal einen Brocken erben, aber nicht von dem „Kameraden", der Herr bezahlt seinen Knecht.
Die Kameradschaft im Kriege ist die größte Lüge, die je erfunden wurde. Sie war niemals eine freiwillige, sondern immer nur eine Gemeinschaft von Todeskandidaten.
Und doch habe ich zwei gute Kameraden verloren. Das waren der Tischler Franz Daimler und der Landarbeiter Döring.
Daimler, Döring und ich waren gerade zum Bau von Brunnen kommandiert. Recht langsam ging die Bohrerei, zweimal haben wir das Saugersieb durch unser Würgen in dem harten Boden zerrissen. Aber wir haben Zeit. Nach fünfundzwanzig Umdrehungen sind wir immer drei Zentimeter tiefer. Da kann man schon die Tage hinbringen, wenn man acht Meter bohren muss.
Franz Daimler, der Landwehrmann, spricht nicht viel. Er denkt immer an seine Kinder in Schlesien und an seine Frau. In seinen Briefen, die er aus der Heimat empfängt, sind öfter Zeitungsausschnitte, die er sorgfältig studiert. Lange habe ich gezögert, ehe ich offen mit ihm sprach.
Den Frieden wollen zwar alle — aber wie, darüber scheinen wenige nachzudenken. Franz wird immer skeptischer. „Die Partei scheint Wege zu beschreiten, gegen die man unbedingt und konsequent Front machen muss. Die Sache mit dem ,Verteidigungskrieg' ist faul. Es gibt keinen Burgfrieden, solange es Kapitalismus gibt", meint er. Die paar Worte genügen, wir reichen uns die Hand.
Der Landarbeiter Döring half uns bei unserem Brunnen. Noch nie hat er vordem anderes von den Hetzern, den vaterlandslosen Gesellen gehört, als dass sie an den Galgen gehören. Er verstand auch jetzt nicht viel von dem, was wir besprachen — aber er ahnte, dass wir seine wirklichen Kameraden sind. Er wusste nicht recht, wie er uns seine Achtung beweisen sollte, er war der gute linkische Landproletarier. So versuchte er es mit eifriger Hilfsbereitschaft, wo immer er nur Gelegenheit hatte.
Die französische Artillerie streute schon seit Tagen in die Stellung, immer nur einige Schuss, immer um dieselbe Zeit. Eines Tages beginnt sie bereits am frühen Morgen in kurzen Unterbrechungen mit schweren Kalibern zu schießen. Alles flüchtet in die Unterstände, auch wir. Während hinter dem Graben und in der hinteren Stellung schweres Feuer aus großen Kalibern liegt, wird die Grabenbesatzung überrumpelt.
„Raus, nach vorn!"
Die Hintersten brüllen und sind froh, dass sie nicht durchkönnen und einen Grund haben, sitzen zu bleiben. Franz schaut misstrauisch durch die Tür. Dann holt er aus einer Kiste ein Paket hervor, das er tags zuvor bekam. In ein vierkantiges Klötzchen sind mit dem Zentrumsbohrer kunstgerecht drei Löcher gebohrt; in jedes Loch ist ein Fläschchen Schnaps gepresst. „Trink, Hans", sagt er, „ehe ihn vielleicht die andern aussaufen!" — „Trink, Junge", sagt er dann zu Döring, „trink, eh dir schlecht wird!"
Dann steckt er das Holz mit zwei noch fast vollen Fläschchen hinten in die Schlitztasche. Die Granaten toben um den Unterstand — ein Treffer, und wir sind erst recht erledigt in dieser erbärmlichen Bude. Wir sehen uns nur noch einmal stumm an. Daimlers roter Stoppelbart, der bis über die Schläfen läuft, lässt die Hautfarbe schlecht erkennen. Mir scheint, er ist ganz blass.
Ratsch a ha! — Ein Einschlag, ganz dicht, wirft uns auf den Bauch.
„Sprung auf, marsch, marsch!"
Wir müssen den Laufgraben erreichen. Von unserem Graben schießt schon französische Besatzung.
Neben mir schreit einer auf und stürzt vornüber.
Diese Hunde!
Schnellfeuer!
Kein Mensch kann sich ohne Deckung halten.
„Sprung auf, marsch, marsch!"
Der Unteroffizier stürzt vor, wirft sich wieder hin und krümmt sich wie in Krämpfen. Ich bin hinter ihm, sehe mich um — und sehe, dass hinter mir nichts ist. Aber ich habe Deckung, werfe mich hinter einen Haufen Sand.
Drüben im Laufgraben ist nichts zu sehen. Ob sie schon vorn sind ? Aber die Franzosen schießen wie verrückt. Rechts vor mir stürmt ein Trupp, so an zwanzig Mann vielleicht. Sie schießen ganz ohne Ziel, einer nach dem andern schreit auf und bleibt liegen. Sechs Mann haben sie schon niedergeknallt.
Himmelkreuzdonnerwetter! — Hunde!
Ganz fein, aber deutlich sehe ich einen Gewehrlauf vorkriechen, ein Käppi hinter ihm auftauchen.
Warte, du Schwein!
„Peng!" und schon wieder fällt einer der Unseren und wälzt sich; mir scheint, als wäre es immer dasselbe Gewehr.
Habe ich ihn erwischt? Sein Käppi fliegt fort.
Klatsch!
Sand spritzt mir ins Gesicht.
Ein neues Käppi taucht auf.
Patsch, er wankt hintenüber.
In drei Sprüngen bin ich im Laufgraben. Er ist vollgepfropft. Keiner will vorgehen, keiner will der erste sein, keiner als Deckung für die anderen dienen; ich bin der erste und werde geschoben.
So, schleichend, die Kugel erwarten?
Feiges Gesindel!
Eine unbeschreibliche Wut packt mich.
Hunde!
Als ich den Graben erreiche, ist er von dem stürmenden Trupp, von dem die Hälfte totgeblieben ist, von rechts her bereits aufgerollt und gesäubert. Ich springe über zwei Tote; dort brüllt einer jämmerlich, ein gurgelndes Brüllen. Er hat einen Halsschuss und kann, trotzdem ihm bei jedem Schrei das Blut aus dem Halse spritzt, nicht sterben. Neben ihm liegt ein anderer, scheinbar ganz ruhig. Ich versuche, ihn aufzuheben — da wimmert er schwach.
— Ich fasse in Blut und Därme, die nur durch den Waffenrock notdürftig verdeckt sind.
Unsere Verluste sind nicht „groß". Vielleicht so an die dreißig Mann. Die der Franzosen sind größer. Behrend hat allein sechs niedergeschossen, die aus einem Granatloch überlaufen wollten. Die jungen verschüchterten Bürschlein schleppten nichtsahnend ihre Gewehre an den Läufen mit. Jeder sah, dass sie nichts wollten, nur Behrend nicht. Er wollte — als Elsässer — jeden Verdacht abschütteln, dass er nicht zuverlässig sei. Er hätte noch mehr niedergeknallt, wenn ihm nicht einer das Gewehr aus der Hand geschlagen hätte.
Die Franzosen erreichten ihren Graben nur zum Teil, die andern hocken noch vor uns in den Löchern und müssen sich ergeben.
Ich gehe wieder zurück, an den beiden Toten vorbei. Der Kopf ist ihnen über den Augen aufgerissen.
Helm ab zum Gebet! Ein großes Massengrab nimmt sie auf. Mütter, Frauen, Bräute, Brüder oder Schwestern erhalten die Nachricht: „Fürs Vaterland gefallen!"
Der Hauptmann kommt, nimmt die Meldung entgegen, schaut in das Loch voll Menschenfleisch und sagt: „Kerls! — Ihr wisst, ihr seid mir alle ans Herz gewachsen, und jedes Aas, das ins Gras beißen muss, kann mir aufrichtig leid tun!"
Döring hat einen Schulterschuss und kann „abhauen", aber von Daimler fehlt jede Spur. Er ist vermisst. Die letzte Hoffnung schwindet, als die Gefangenenbegleiter zurückkehren, er ist nicht dabei. Ob er doch hinüber ist in den französischen Graben ? Ich werde in den Büschen nachsehen, vielleicht ist er links vom Laufgraben vorgestürzt und hat die Orientierung verloren. Nicht weit mehr nach links läuft unsere Stellung aus. Die Verbindung mit dem Nachbarbataillon ist nur ein schmaler Laufgraben, der ständig unter Gewehrfeuer liegt, weil er eine tiefliegende Waldstraße kreuzt.
Ich krieche hindurch und sehe schon von weitem die Umrisse eines Schattens an der Erde. Als ich ihn berühre — ganz vorsichtig, ich zittere noch bei dem Gedanken, wieder in warmes Menschenfleisch zu fassen —, fällt aus der Schlitztasche das Holzklötzchen mit den beiden Fläschchen heraus.
Die Nacht ist so hell und so ruhig. Der aufgehende Mond leuchtet durch die Bäume. Der Kopf Franz Daimlers ist über den Augen aufgerissen.
Die Post kommt; zitternd greife ich nach dem Paket, zitternd durchwühle ich den Inhalt, lese den Brief Sophies, esse, was sie mit ihren Fingern berührte.
Bis ich meine schmierigen, blutigen Hände sehe. Ich habe sie seit der Berührung des zerfetzten Soldaten nicht gewaschen. Ein furchtbares Brechen schüttelt mich, aber das, was mich so unbarmherzig würgt, immer würgt, bleibt unten. —
Ich werde dir nichts davon schreiben, Sophie. Ich werde dir schreiben, dass alles ausgezeichnet geschmeckt hat.
Lange kann das sowieso nicht mehr so weitergehen. Denn auch wir wissen, dass einer von den Einhundertzehn, die wir in den Reichstag sandten, unseren Schrei weitergab. Der Schrei Karl Liebknechts am 2. Dezember war unser Schrei!
Weihnachten rückt näher. Frieden muss werden — das ist
unsere Meinung. Frieden mit den „Feinden" da drüben, die auch den Frieden wollen.
Ein Kolben steigt aus ihrem Graben hoch, bewegt sich hin und her. Ein zweiter, ein dritter, die ganze Front entlang. Ein Kopf wird sichtbar. Ein französischer Soldat steigt aus dem Graben. Ein zweiter, ein dritter — die ganze Front steht vor dem Graben. Die Augen leuchten, die „Feinde" gehen aufeinander zu; ihre Hände greifen ineinander. Die ganze Front Flirey—St. Baussant „fraternisiert mit dem Feinde". Ihr Schlachtruf ist, hüben wie drüben: Friede!
Sie deuten auf die Leichen! Was ist das? Die zuckenden Schultern versuchen die Verantwortung abzuwerfen. Nichts dal Die Gebärden sind verständlich auch ohne Worte. „Wir sind Brüder!" sagen sie, wir wollen nicht mehr schießen! Statt zertrümmerter Hirnschalen tauschen wir Schokolade für Tabak und Zigaretten. Kein Offizier wagt einzuschreiten.
Zwei Tage später fällt von drüben ein Schuss. Sofort springen mehrere der Alpenjäger über den Graben und bedeuten uns, dass — sie greifen an die Schulter — ein Offizier geschossen hat.
Aber der Friede kommt nicht — wohl aber Ablösung der französischen Meuterer. Unsere Artillerie rührt sich, damit auch wir nicht „einschlafen". Liebesgaben werden verteilt, jeder bekommt sein Päckchen. Meine Spenderin ist ein fünfzehnjähriges Mädchen aus Finkenwärder, das mir ein frohes Fest wünscht. —
Die Nacht ist hell. Das „neue" Jahr wird bald beginnen. Zwischen den Fronten hocken die Raben und hacken den toten Helden die Augen aus den Schädeln.
Meine Plattfüße haben mir die Ehre erspart, aktiver Soldat zu werden; sie scheinen auch jetzt gegen die Ehre zu rebellieren, vor Verdun oder Reims oder an der Somme von den Ratten gefressen zu werden.
Das Regiment lag bis jetzt in „ruhiger Stellung". So ruhig, dass sogar die arg ramponierte Pietät wieder notdürftig zu ihrem Recht kommen kann. Die schon halb verwesten Toten werden wieder ausgegraben und — Freund und Feind fein säuberlich geschieden — in Massengräbern beigesetzt. Keine angenehme Beschäftigung. Öfter bleiben trotz größter Vorsicht die Hacke oder der Spaten in ihnen hängen. Oft läuft die schon blutleere Brühe durch die dünnen Bretter. Der bestialische Gestank ist wie ein Protest der Toten. Aber was sein muss, muss sein, vor allen Dingen Ordnung, und in erster Linie beim Militär. Es fallen noch genügend, hüben und drüben, die zwischen den Gräben liegen bleiben und denen trotz tagelangem Wimmern und Schreien keine Hilfe werden kann.
Jeder sinnt, wie er sich vor der großen Ehre, diesem Heldentod, drücken kann.
Ein bekanntes Rezept ist die Geschlechtskrankheit. Viele grübeln, wo sie einmal eine kranke Frau erwischen können.
Auch beim Gewehrreinigen passiert öfter etwas. Die Dinger gehen so leicht los; aber die Sache riecht schon verdächtig. Und eine verkrüppelte Hand? Man möchte doch möglichst billig davonkommen.
Um den Nahschuss zu verschleiern, ist ein Kommissbrot gut, das man vorhält, damit sich der Pulverdampf in ihm fängt. Eine Handgranate, hinter einem Baum oder einer Wand abgezogen, dass die Splitter nur das hingehaltene verlängerte Rückgrat erreichen können, soll auch nicht schlecht sein.
Ich wäre also dumm, wenn ich jetzt die Gelegenheit nicht beim Schopf nehmen würde, die Sache mit meinen Plattfüßen.
Der Herr Stabsarzt, dem ich vorgestellt werde, ermuntert mich: „Werden wir bald kuriert haben. Sie bekommen Einlagen." Dann werden mir die Füße bis zu den Oberschenkeln einbandagiert. Die Fersensehnen sind stark entzündet. Ich muss ins Bett.
Bayern liegen hier; doch ich hüte mich, mich als Landsmann vorzustellen. Sie sind mir zu urwüchsig in ihrer Naivität und Brutalität.
Wenn morgens die französische Arbeiterfrau kommt, um den Saal reinzumachen, ist die ganze Gesellschaft wie aus dem Häuschen. Hilflos steht die Frau mit dem blassen Gesicht unter den erregten Bauernsöhnen, die wohl ihre Sprache nicht verstehen, aber auch nicht verstehen wollen, sondern in ihren Gebärden und Gesten zu erkennen geben, dass sie in jeder Frau nur ein Geschlechtsobjekt sehen. Doch sie bleibt kühl und schweigsam, seufzt nur gelegentlich und schaut über alles hin, als suche sie durch Wände und Ferne ihren Mann, der auch sein Vaterland verteidigt.
Man spricht über die Schuld am Kriege. „Die Russen, die Engländer, die Franzosen sind schuld", sagen die Bayern.
Da geschieht, was ich nie vergesse: Die kleine Frau lässt ihren Scheuerlappen in den Eimer fallen, richtet sich an ihrem Besen hoch, macht mit der Hand eine bittende Bewegung, und sagt in gebrochenem Deutsch: „Internationaler Kapitalismus ist schuld! Internationale der Arbeiter kaputt. Alle verraten, nur einer nicht in Allemagne: Liebknecht!" Sie arbeitet dann ruhig weiter, aber sie kann ihre Tränen nicht verbergen.
Ich auch nicht.
Ich stelze auf sie zu und gebe ihr die Hand. Wir sehen uns nur an, sagen nichts zueinander. Wir hätten wohl auch nicht sprechen können, wenn wir dieselbe Sprache gesprochen hätten. Dann nimmt sie ihren Eimer und verschwindet. Sie darf ja nicht in den Verdacht kommen, ihr Vaterland zu verraten. Auch ich muss mich hüten.
Anderntags ist das provozierende „Wui, wui" der Bayern verstummt.
Jetzt komme ich dazu, mich zu sammeln, zu schreiben und zu lesen.
Das ist nicht leicht. Beim Lesen überwältigt mich der Eindruck. Beim Schreiben wächst mir der Stoff ins Uferlose; ich finde kein Ende. Und sammeln?
Warum verrosten all jene wertvollen Maschinen hier im Hof, die früher in dieser Fabrik, einer Weberei, die jetzt als Lazarett dient, gestanden haben? Warum dürfen die französischen Kinder ihre schönen Äpfel nicht an uns verkaufen? Warum müssen sich Schwerverwundete aufrichten oder zumindest, wenn sie noch bei Bewusstsein sind, „Haltung" im Liegen einnehmen, wenn der Stabsarzt zur Visite kommt? Warum müssen die Betten nach der Schnur ausgerichtet werden? Warum müssen die Pantoffeln genau drei Zentimeter vor dem Bett stehen? Warum stehen auf jede „Übertretung" vierzehn Tage Arrest?
Für Schwindsüchtige soll die frische Luft an der Front gut sein. Mein Nachbar hat ein steifes Handgelenk. Der Arzt schreibt ihn k. v. Verwundete kommen, massenweise; es muss immer wieder Platz gemacht werden.
Am Abend sitzen wir im Leseraum im Erdgeschoß. Drei Hamburger tragen unpolitische Zoten vor. Die Vaterlandsverteidiger vertreiben sich auf ihre Art die Langeweile.
Eines Abends erscheinen drei Offiziere und bleiben während der Vorträge. Aber sie gehen enttäuscht wieder. Der Schlussrefrain des Couplets lautet:
„Und weiter können wir nichts sagen, Es sind drei Maulaffen im Saal."
Das scheint den Offizieren nicht zu gefallen. Einige Tage später beginnt so eine Art vaterländischer Unterricht. Aber die gemeinen Soldaten haben kein Interesse an dieser Wissenschaft. Von dreihundert, die am Anfang abends zusammenkamen, kamen nach drei Tagen nur noch zehn.
Zeitungen ekeln mich an. Ich weiß schon so, dass wir dauernd an allen Fronten siegen. Je mehr wir siegen, desto ferner ist das Ende.
Mir graut, wenn ich sie so liegen sehe, mit zerfetzten Gesichtern, verstümmelten Gliedern. In der schweren Station liegt einer im Wasser, dem das Rückgrat tropfenweise ausläuft. Ein zweiter singt ununterbrochen das Deutschlandlied, ein dritter betet, ein vierter kommandiert in einem fort.
Da ist es schon besser, der Schädel wird durch einen Querschläger gleich abgedeckt.
Ich selber liege in einem weiß überzogenen Bett, bin meine Läuse los und kann doch nicht liegen. Abgesehen von dem unerträglichen Jucken unter der Bandage — ich verzweifle vor Langeweile, denn ich denke nur an Sophie und dann an Anna und die Genossen.
Die Geschwulst an meinen Füßen geht aber rasch zurück. Ich darf sogar ausgehen. Was sie wohl für Augen machen würden, wenn ich unverhofft käme?
Das ist jedoch nicht leicht, und das haben vor mir schon andere versucht.
Walter von den Gardegrenadieren hat eine Knieverletzung, die er hegt und pflegt, als hinge davon sein Leben ab.
Mein Knie", erzählt er mir, „wäre vielleicht längst wieder in Ordnung, wenn ich es nicht so gut behandeln würde. Vor jeder Visite wird es ,massiert': mit den Handballen bearbeitet. Ich wäre längst in Deutschland, wenn der Kerl nicht darauf versessen wäre, mich zu operieren. Seh dich bloß vor, der Schinder sucht sich unter den Soldaten seine Versuchskarnickel für seinen Privatfimmel."
„Bei mir gibt es doch nichts zu operieren."
„Das denkst du", klärt mich Walter auf. „Dem mit den Krücken, im zweiten Bett vor dem Fenster, hat er schon vor Monaten die Beine gebrochen, und bis heute kann er mit keinem Fuß auftreten. Nun sollen sie ihm zum zweiten Male gebrochen werden."
„Bei mir wird er kein Schwein haben."
„Dann wirst du bald k. v. sein!"
Wir gehen an Gärten vorbei, auf die Landstraße zu. Ein Bataillon Infanterie kommt vom Ausmarsch zurück. Die Musik spielt den Fridericus-Marsch und fällt in „Deutschland, Deutschland" über. Die Zivilbevölkerung steht stumm an der Straße und weicht schüchtern den Offizieren aus. Ein alter Mann behält seine Mütze auf dem Kopf. Der junge Oberleutnant bleibt vor ihm stehen und schaut ihn an.
Der Alte rührt sich nicht, ist ganz verblüfft, weiß nicht, was der Offizier von ihm will.
Da schlägt ihm der junge Held mit der Reitpeitsche links und rechts und mit aller Kraft ins Gesicht. Der Alte taumelt, greift aber immer noch nicht nach seiner Mütze, sondern sucht sein Gesicht mit den Armen zu schützen.
Einige weitere Hiebe über den Kopf, und die Mütze fliegt herunter.
„Gesindel!" knirscht der junge Held mit dem E. K. erster und zweiter Klasse.
„Deutschland, Deutschland über alles" endet die Kapelle.
Keinen Laut hat der alte Mann von sich gegeben. Er hebt zitternd seine Mütze wieder auf. Auf seinem Gesicht brennen die frischen Striemen und die Scham der Erniedrigung. Seine Landsleute blicken lauernd zu ihm hin, aber keiner darf offen seine Solidarität mit ihm zeigen, wenn er nicht selbst unter die Reitpeitsche geraten will.
„Wenn diese Menschen einmal Luft bekommen", sagt Walter nach einer Weile nachdenklich vor sich hin, „dann Gnade Gott dieser Bande. Man muss sich schämen, ein Deutscher zu sein. Man darf sich nirgends wieder sehen lassen. Ich habe den Vormarsch in Belgien mitgemacht. Von dort ist mir ein ähnliches Erlebnis in Erinnerung.
Die Leute in Charleroi hatten jeden Tag Einquartierung und waren schon immer auf das Schlimmste gefasst. Wir bezogen Quartier bei einer älteren Frau und ihren zwei erwachsenen Töchtern. Sie empfingen auch uns mit ängstlichen Mienen, waren aber dann froh, dass wir sie als Menschen behandelten. Mutter und Töchter mussten abends durch unser Zimmer, das einzige, das sie hatten, um in der kleinen Kabine eine halbe Treppe tiefer in dem verbauten Häuschen an der Erde zu schlafen. Wir überließen ihnen ihre Stube wieder, besorgten frisches Stroh, richteten uns unten ein und saßen abends zusammen. Die Männer der beiden Töchter standen im belgischen Heer. Ich habe mit diesen Leuten die schönsten Abende im ,Feindesland' erlebt. Sie gaben alles, was sie hatten, und wir ebenfalls. Wir konnten uns auf flämisch auch ganz gut verständigen, weil ich Platt spreche.
Bis der Offizier vom Ortsdienst kontrollierte. Wir mussten auf Befehl die gute Stube beziehen, und die drei Frauen wurden hinuntergejagt in die Kabine. Wir machten uns dann ein Lager auf dem Fußboden zurecht und brachten die Betten auf den Boden. Eine Kontrolle erinnerte uns am anderen Tage an unsere Soldatenpflicht, die Betten auf jeden Fall zu verlausen. Ehe es aber soweit kam, wurde uns ein anderes Quartier — in einem zugigen Schuppen — angewiesen. Zwei Tage später flogen wir in Stellung."
Als ich Walter frage, ob an den Berichten von den Gräueltaten der belgischen Franktireure etwas Wahres sei, erklärt er sonderbar lächelnd: „Ja, etwas Wahres ist dran. Sieh, wenn dieser alte Mann, der ganz harmlos steht und vergisst, seine Mütze vor uns Helden abzunehmen, dem Hund auch nur einen Schlag zurückgegeben hätte, und von seinen Landsleuten wären ihm einige beigesprungen, dann wäre der Überfall durch Franktireure fertig gewesen, und die ,Rädelsführer' hätten vielleicht innerhalb vierundzwanzig Stunden an irgendeiner Mauer oder auf einem Sandhaufen gelegen. Vielleicht hat der eine oder der andere, dem man die Vaterlandsliebe auch mit dem Stock schon in der Schule beigebracht hat, sogar geschossen; aber das ist nur ganz vereinzelt vorgekommen. Und wenn die Einbrecher — denn Belgien wurde doch einfach überrumpelt — mit Waffen empfangen werden, dann ist es meiner Ansicht nach immerhin ein eigenartiger Rechtsbegriff, dass die Einbrecher sich noch moralisch entrüsten und in der ,Notwehr' wahllos Greise, Frauen und Kinder, sogar Säuglinge ermorden. Der deutsche Geist wird uns noch teuer zu stehen kommen!"
Vor dem Herrn Stabsarzt geht ein etwa vierzigjähriger Mann, vielleicht das zehnte Mal, hin und her.
„Gehen Sie noch einmal auf und ab. — Noch einmal, etwas rascher!"
Der Mann ist nackend. Er hinkt mit dem linken Fuß, den er nicht durchdrücken kann, offenbar infolge einer Verwundung, die über der Kniekehle eine starke Narbe hinterließ.
Ich stehe schon zehn Minuten und wundere mich, warum die hübsche Schwester so schmunzelt und warum sie den Stabsarzt öfter verstehend anlächelt. Da sehe ich, wie sich beide an einem gemeinsamen Objekt ergötzen.
Die Geschlechtsteile des nackten Frontsoldaten reagieren in ihrer Bewegung auf den hinkenden Gang. Wer weiter keine Sorgen hat, der kann sich an der Bewegung der Geschlechtsteile dieser abgemagerten „Frontochsen" ergötzen. Die Schwester scheint weiter keine Sorgen zu haben, und der Herr Stabsarzt scheint ihr gern jeden Wunsch zu erfüllen.
Nun stehe ich vor dem Stabsarzt, drehe die Füße nach außen, nach innen, zeige ihm die Fußsohlen und lasse mir die Fesseln und Waden betasten, um zuletzt zu vernehmen: „Wir werden Ihre Füße in Ordnung bringen, aber Sie müssen sich einer Operation unterziehen." Er schaut mich durch seine goldene Brille lauernd an und ermuntert mich: „Die Sache ist völlig gefahrlos. Sind Sie damit einverstanden?"
Ich wende ein, dass meine Füße von Geburt an ohne Wölbung sind, ich jedoch in elastischen Schuhen ohne Beschwerde gehen, sogar sehr gut gehen kann, nur die steifen harten Stiefel nicht tragen könne.
„Wollen Sie also den Krieg in Filzlatschen mitmachen?"
Ich schweige. Ich würde zehn Jahre meines Lebens darum
geben, könnte ich dieser Schwester mit den gepflegten Fingern
und den hübschen Zähnen eine Ohrfeige geben. Nur eine
Ohrfeigel
„Seien Sie doch vernünftig, Sie sind doch kein Kind, es ist auf jeden Fall zu Ihrem Vorteil", fährt der Herr Stabsarzt fort. Die Schwester macht auf Zureden des Arztes Notizen. Ich befürchte, dass schon Zeit und Umstände festgelegt werden für das Experiment, zu dem ich das Karnickel sein soll, und antworte: „Ich kann meine Einwilligung zu einer Operation nicht geben, Herr Stabsarzt."
Der schien darauf gar nicht gefasst zu sein. Er dreht sich langsam um und blinzelt mich bösartig an. „Sie glauben wohl, wir haben hier einen Luftkurort", zischt er bissig. „Sie sind hier, um geheilt zu werden, nicht zum Spazierengehen.“ Du kannst mich — denke ich.
„Ü berlegen Sie sich's noch mal", entlässt er mich. „Sie sind doch keine Memme?" Ich bin aber doch eine Memme und habe mir vorgenommen, eine solche zu bleiben, trotz neuer Bandagen und trotz Entziehung des Spazierganges.
Unter denen, die klopfenden Herzens die deutsche Grenze grüßen, bin auch ich. Mir ist, als sei ich der Hölle entronnen; und nicht nur mir allein. Klopfenden Herzens fahren alle der Heimat entgegen.
Der Kriegsrausch ist ja auch längst verflogen, die Lüge vom „Verteidigungskrieg" brutal entlarvt. Deutschlands Grenzen sind frei, und doch bleibt die Faust in der Tasche!
Sie tappen im Dunkeln, die Millionen Frontsoldaten. Sie sind weiter Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über sie hat.
Wie lange noch?
Vor mir wickelt sich einer die Binde ab. Er hat am Unterarm eine breite Narbe. Der Arzt besieht sich den Arm und sagt: „Gut!" Der Soldat scheint nicht recht zu verstehen.
„Erledigt!" unterstreicht darauf der Arzt seinen Befund. „Werfen Sie die Binde in den Korb!"
Das Gesicht des Feldgrauen verrät, dass er alles verstanden hat. In höchstens vierzehn Tagen kann er wieder draußen sein. Ob es ihm noch einmal gelingt, mit einem verhältnismäßig harmlosen Heimatschuss davonzukommen?
Ein Glück, dass ich mir unterwegs die Bandagen abgerissen und die Einlagen benutzt habe. Meine Fesseln sind schön rot, prächtig entzündet. Ich stehe, ohne dass ich mich stark verstellen muss, recht jämmerlich auf meinen Plattfüßen. Nach kurzem Verhör bin ich abgefertigt. Ich bekomme neue Bandagen und muss ins Bett.
Ich muss jedoch wenigstens die Bettruhe los sein, wenn ich Aussicht auf Urlaub haben will. Und wenn ich die Bettruhe los bin, dann bin ich schon auf dem Wege nach draußen. Verteufelte Geschichte. Aber ohne Risiko ist nichts, erst recht nichts beim Militär. Nach vier Wochen bekomme ich meinen unterschriebenen Urlaubsschein zurück.
Aus Sophies Briefen leuchtet die Freude auf das Wiedersehen.
Mir ist alles so neu, so ganz anders, ich komme mir vor wie ein Fremder.
Die Menschen scheinen alles als selbstverständlich hinzunehmen : den Hunger, die verlogene Kriegsberichterstattung. Ob auch Sophie so sein wird? Wie oft habe ich von ihr phantasiert. Wie hat es mich gerüttelt,als ich um ihr Leben fürchtete. Und jetzt?
Ich warte absichtlich, bis die Drängenden das Kupee verlassen, gehe dann langsam hinaus und sehe über die sich begrüßenden Menschen hin. Ich sehe sofort ihren blonden Kopf. Sie schaut suchend über und in die Menschen. Irgend etwas hindert mich, nach ihr zu rufen. Ich gehe langsam auf sie zu und reiche ihr die Hand.
„Guten Tag, Sophie!"
„Lütting!" Kein Kuss, kein stürmisches Umfassen. Sie scheint etwas enttäuscht, schaut mit verschleierten Augen an mir herunter und sagt: „Du siehst so traurig aus, Hans, hast du etwas auf dem Herzen?"
„Nein! Manchmal kommt das so über mich."
Sie streichelt mir über die Wangen. „Komm", sagt sie dann, „Anna und Klaus warten vor der Sperre."
Klaus sagt gar nichts. Aber sein Händedruck ist fest. Anna schaut mir stumm in die Augen und sagt nach einer Weile: „Guten Tag, Jung. Nun haben wir dich ja glücklich wieder."
Sie ist älter geworden. Ihr Mund ist hart, ihr Haar von vielen weißen Fäden durchzogen. Ihre Augen sind wie früher, nur ruhiger. Wir gehen stumm zur Straßenbahn. Als Anna und Klaus aussteigen, sagen sie im Gehen: „Also heute abend, aber bestimmt!"
„Ja, bestimmt!"
Dann gehe ich mit Sophie die Treppe hoch zu ihrem Zimmer. Es ist nur wenig verändert. Einen Schrank hat sie sich zugelegt, der neben dem „Altar" steht, auf dem immer noch der bunte Schal Marthas liegt.
Sie bringt mir Zivilkleider und Wasser zum Waschen und gibt mir einen flüchtigen Kuss. Dann bereitet sie das Essen und setzt sich zu mir. Sie mustert mich.
Ich halte ihren Blick nicht aus und sehe fort. Ein Sodbrennen kriecht mir durch den Hals, wie in jener Nacht zwischen den Soldatengräbern.
Ich versuche das Sodbrennen hinunterzuschlucken, suche den Zorn zu unterdrücken. Suche den wahnsinnigen Gedanken zu bekämpfen, dass sie schuld sei, dass ich zur Bestie wurde. Aber es geht nicht. Die Brust wird mir so eng. Die Luft bleibt mir fort. Wie ein Erstickender kämpfe ich gegen die Tränen. Doch der Sturm aus meinem Innern bricht allen Widerstand und wirft mich mit dem Gesicht auf den Tisch.
Sophie ist erschrocken, fragt aber nicht, sondern wartet ruhig ab, bis ich mir die Augen trockne.
„Hans", sagt sie dann, „kannst du mir nicht sagen, was dich bedrückt?"
Aber ich bin schon wieder gefasst. „Es ist nichts Besonderes", sage ich.
Dann essen wir unser Mittagbrot. Auf die Bitte Sophies lege ich mich in ihr Bett und schlafe. Als ich erwache, sitzt Sophie immer noch — oder schon wieder — an meinem Bett. Ich sehe mich um; wo bin ich? Träume ich? Sie streckt mir die Hände entgegen. „Komm, es ist Zeit. Ich wollte dich nicht wecken, du hast gut geschlafen."
Ich nehme alle Aufmerksamkeiten und alle Fürsorge entgegen wie ein Almosen. Ein Soldat auf Urlaub ist weder Soldat noch Mensch. Er ist nichts und hat nichts und lebt von der Gnade seiner Angehörigen.
Den Kuss, den ich Sophie gebe für ihre Liebe, gebe ich ihr wie ein Bettler. Ich weiß nicht, ob sie das begreift, ihre lachenden Augen sind nicht klar.
Ich habe Sehnsucht nach Klaus. Sein Schweigen tat mir so wohl. Mit Klaus brauche ich nicht über die Dinge reden, über die ich nicht reden will. Klaus scheint alles zu verstehen.
Ich freue mich, dass er uns schon vor der Tür erwartet. Martha grüßt aus dem Fenster. An Alfreds Wohnung bleibe ich unwillkürlich stehen. Ich muss erst Lotte begrüßen.
„Ach! Hans!" Ihr von Sorgen gehärtetes junges Gesicht zerfließt einen Augenblick. In einem Waschkorb schläft schon der kleine Maußner. Ich hatte längere Zeit keine Post von Alfred. „Alfred ist doch noch wohlauf?" frage ich.
„Hoffentlich ist es nicht schlimm", antwortet sie merkwürdig ernst.
Klaus drückt verstohlen meine Hand. Ich verstehe ihn auch sofort und sage: „Wenn es schlimm wäre, würde er es Ihnen schon mitgeteilt haben. Sie dürfen sich keine unnötigen Sorgen machen. Grüßen Sie ihn, wenn Sie schreiben."
„Wie lange haben Sie Urlaub?"
„Acht Tage."
Martha steht an der Tür und reicht mir beide Hände. „Bist ja in Zivil", sagt sie. „Ich würde dich bestimmt verpasst haben, wenn du allein gekommen wärst."
„Mein Ehrenrock ist mir zu schade zum Herumlungern."
Sie schaut mich groß an, als überlege sie. Sie lehnt an der Wand, hält immer noch lose meine Hände und sagt: „Ja, du bist es, Hans Betzoldt!"
Wir essen. Mir fällt das Sprechen recht schwer. Von der Wand herab lächelt kalt der Grenadier Georg Fidel. Er ist in Feldgrau, feldmarschmäßig; so, wie er in den Tod ging.
„Du musst dich durchbeißen", sagt Klaus. Ja, wohin durchbeißen ? Ich ahne wohl, was du sagen willst, und du magst recht haben. Aber?
Aber!!
Ich weiß nicht, was in mir zerbrochen ist. Sophie ging betrübt zur Arbeit, und ich blieb beschämt und unzufrieden zurück. Auf alle Fragen, alle Andeutungen dieselbe Antwort: „Was sollen wir machen?" Die Klage hängt an den bleichen Gesichtern, wo die Anklage an allen Ecken emporzüngeln müsste.
„Für unsere tapferen Feldgrauen!" Für sie sind die besten Zigarren, Wurst, Speck, Wäsche, Gamaschen, Leibbinden, Butter, Läusesalbe, Schnaps, alle Herrlichkeiten in allen Schaufenstern. Auf einer der Ansichtskarten liegt einer der Feldgrauen im seligen Traum von dem Likör, der angepriesen wird. Zeltbahnen, Brotbeutel, Tornister, Rucksäcke, Gamaschen in großen Posten zu Tagespreisen. „Für unsere tapferen Feldgrauen." — Viel Geld musst du haben, wenn du zu den Tapferen gehören willst.
Durchhalten! In allen Zeitungen schmieren erbärmliche Schufte an den Dingen vorbei, um die es geht.
„Durchhalten!"
Der Infanterist Alfred Maußner schreibt an Klaus, weil er seine Frau nicht quälen will. „Ich lag zwei Stunden in meinem Blut. Ein Schuss durch den Mund machte mir das Schreien unmöglich. Aber ich hörte noch, wie einer sagte: ,Lasst ihn liegen, der ist fertig, deckt ihm eine Zeltbahn drüber.' Als ich aus der Ohnmacht erwache, ist mein Tornister ausgeplündert."
Nach allen Fronten schwimmt Ersatz, fahren Millionen in den Tod, ununterbrochen; und über den Frieden schwätzen und entscheiden die, die abends ihre Prozente zählen oder in ihren Diensten stehen. So wird niemals Friede werden! Zuchthäusler werden durch kaiserliche Gnade zu Ehrenmännern, wenn sie nach der Ehre gelüstet, mit einzustimmen in das Geschrei der Prozentpatrioten und für sie ihre „Pflicht" zu tun.
Tetsche, der junge Maler, schoss nicht auf die gestandrechteten Belgier und sitzt als „Ehrloser", als Soldat zweiter Klasse auf Festung.
Kriegsgewinnler demonstrieren durch eiserne Uhrketten ihre vaterländische Gesinnung. Die Wissenschaft „beweist", wie vorzüglich wertlose Surrogate für hungernde Arbeiterkinder sind, deren Väter die Kugel erwarten und deren Mütter Granaten drehen fürs Vaterland. Über der geschändeten Erde verdampft das warme Blut der Vaterlandsverteidiger aller Länder und wird eingefangen in klingender Münze von den Patrioten aller Länder, die sich in warmen Betten an ihre Weiber drücken. Die Hunde der oberen Zehntausend verzichten nicht auf ihre Milch und ihre Semmeln. Kriegs dichter streuen ihr Gift in die korrumpierte Presse, um die Millionen zu betäuben, deren Hunger mit den Aktien der Kriegslieferanten steigt. Arbeiterführer essen als kaiserliche Gäste im Hauptquartier, und Rosa Luxemburg und Genossen sitzen hinter den Gittern um der Wahrheit willen. Liebknecht wird als „irrsinnig" und als „ehrlos" erklärt, und Spitzel aller Grade lassen sich durch Orden und Ehrenzeichen ihre Ehre bescheinigen.
Des Vaterlandes Dank ist euch gewiss! Denk es, o Deutschland, dass dein ärmster Sohn auch dein treuester war.
Walter von den Gardegrenadieren stieß einen Unteroffizier zurück, der einen gefangenen Engländer vor das Schienbein stieß, weil dieser glaubte, mit Menschen sprechen zu können. Er wurde von Walter eingebracht und freute sich, dass alles Lüge war von den „Boches". Die Achselklappen hat er im Dunkeln nicht gesehen. Er bat den Leutnant um eine Zigarette. Er büßte, indem er brutal misshandelt wurde, und Walter büßt seine Achtungsverletzung am Stolleneingang. Dreimal zwei Stunden wird er mit Stricken festgebunden.
Ich erwarte Sophie vor der Fabrik. Sie kommt freudig auf mich zu. Arbeiter und Arbeiterinnen reichen mir die Hand. „Betzoldt! Hans! Macht ihr nicht bald Schluss?" Langsam schlendern wir die Straße entlang. Einer nach dem andern verabschiedet sich. Zwei Kollegen drücken mir einen Geldschein in die Hand, und ich nehme an ohne Scham und ohne besonderen Dank. Ich weiß, sie wollen keinen Dank.
Sophie verlässt mich einige Mal vor den Läden, um einzukaufen. Zuletzt kauft sie noch Äpfel, teure, schöne Äpfel, zum Nachtisch.
Einen Augenblick setzt sie sich, als wir in der Stube sind. Sie ist müde. Ich nehme ihre Hände, sehe ihr in die Augen. So hart sind diese Hände geworden, wie steifes Papier, die Haut voller Risse. Ihre Augen so glanzlos, ihr Mund so unerbittlich geschlossen. Ihre Brust eingefallen, welk. Ihr Hals dünner, die Adern treten hervor. Ich will ihr einen Kuss geben und kann nicht, will verbergen, was in mir vorgeht, falle mit dem Gesicht in ihren Schoß.
Sie streicht mir über den Kopf und sagt: „Du musst vernünftig sein, Hans. Wir haben doch alle unser Teil zu tragen. Ich kann doch nichts dafür, was du durchmachen musstest."
„Verzeih, Sophie!"
Ich muss ihr das sagen. Ich habe sie in der vergangenen Nacht abgewiesen und blieb stumm, als sie mein Bett verließ, sich in ihre Decke vergrub und weinte. Sie nimmt meinen Kopf in beide Hände und schaut mir in die Augen. Wir sind so froh, so glücklich.
Ich zeige Klaus den Brief von Walter, berichte von draußen, von allem, was ich sah und hörte. Mir scheint, Klaus ist ein ganz anderer geworden. Und er sagt es auch selbst.
„Solange Alfred hier war", bekennt er, „war es bequem, nach ,Taten' zu schreien. An ihm ist alles abgeprallt, er hat alle schreien lassen und ihnen ihre Arbeit zugeteilt. Aber nun, Hans, kann ich keinen mehr anschreien. Entweder bleibt alles liegen, oder ich muss versuchen, mit List und ruhigen Nerven zu arbeiten, so gut es geht. Das Schreien nützt nicht immer, es kann uns sogar viel schaden. In Schutzhaft sitzen schon genug. Wir müssen die Massen aufklären, hier und draußen. Oder wir sprengen uns selbst in die Luft.
Du kannst auf Sophie stolz sein", fährt er dann fort. „Sie hat sich gut eingearbeitet. Auch Martha ist ein Prachtkerl. Anna war schon zweimal verhaftet, weil man sie denunzierte, dass sie polizeilich gesuchte Personen beherberge. Einmal saß sie zwei Wochen. Bedenke, was sie schon durchgemacht hat! Hier trägt jeder sein Bündel. Wir müssen auch Lotte unter die Arme greifen, damit Alfred beruhigt ist. Auch wir müssen ,durchhalten'. Wer den längsten Atem hat, der hat gewonnen. Also sei vernünftig!"
Ich stehe vor ihm wie ein Schuljunge und sehe an ihm hoch. Er hat beide Hände auf meine Schultern gelegt und macht ein väterlich ernstes, gutes Gesicht. Dann berichtet er von den Mühseligkeiten und Schwierigkeiten der geheimen Agitation, dem Kampf mit den Schnüfflern; aber auch davon, wie nach jedem gelungenen Streich die Gesichter strahlen.
„Bei Sophie gab es Kakao", erzählt er. „Man benötigte Papier für Tüten. Eine fünfzehnjährige Jugendgenossin kommt zu Sophie, lässt sich Flugblätter geben oder ,findet' sie vielmehr und wickelt jedem den Kakao in die von den Flugblättern gedrehten Tüten ein. Auf diese Weise lesen fünfhundert Arbeiter und Arbeiterinnen das, was du für dich hinschreist. Der ganze Betrieb war aufgerüttelt. Sophie und Martha haben sich die Hände gerieben."
Mir wird so warm. Als Anna Kaffee bringt und sich zu mir setzt, so ungebeugt von allem Kummer, und mir eingießt, streiche ich ihr verstohlen über den Arm. Sie lässt mich ruhig gewähren. Nur ihr Gesicht verrät, dass sie sich freut.
Nur einmal waren wir alle zusammen, am Sonntagnachmittag in Ohlsdorf.
Wir sind, trotzdem Tetsche, Georg und Alfred fehlen, ein stattlicher Trupp. Zwei mir noch nicht bekannte Genossen schließen sich an; ein junger, hagerer Schlosser, dessen Kreuz wohl noch zu schmal ist für den Tornister, und ein Arbeiter, der für den Landsturm zu alt ist. Lottes Bruder geht noch an Krücken. Sein Stumpf ist noch nicht abgehärtet für den Holzfuß. Ein paar Arbeitskolleginnen von Martha und Sophie; ein noch junges Mädchen mit Schalkaugen, die die Kakaopackungen auf dem Gewissen hat. Der kleine Paul Maußner wandert von einem Arm zum andern.
In einem der kleinen Lokale lassen wir uns nieder und schreiben an Alfred und Tetsche eine Karte. Auch an Walter, der längst im Priesterwald sitzt, weil sein Knie trotz krampfhaftester Massage heilte, schreiben wir. Als Anna unterschreibt, zittert ihr die Hand ein wenig, ihren Georg erreicht kein Gruß mehr. Alfred geht es besser. Das macht Lotte etwas froher. Sophie kann sogar ausgelassen sein. Klaus und Martha scheinen sich recht gut zu „verstehen". Der kleine Paul Maußner hat Langeweile und wirft die Krücken von seinem Onkel um. Extrablätter verkünden einen entscheidenden Sieg der deutschen und österreichischen Truppen in Galizien.
Ich liebe die Menschen, die hier um mich sind, ich könnte alles für sie tun. Ich bin glücklich, dass Sophie so froh ist und dass sich Klaus und Martha so gut „verstehen". Ich kann so hilfsbereit zu Anna sein und scherze mit dem kleinen Maußner.
Er sitzt auf meinem Schoß, zerrt in meinen Haaren und lacht laut sein unbeschwertes Kinderlachen. Sophie sieht mich an, ihre Augen sind ganz klar geworden. Als wir uns verabschiedet haben, ärmeln wir uns dicht zusammen.
Ich bin nun weit vom Schuss, kann mich nicht mehr überwinden, meine Füße richtig zu „behandeln" — und bin in drei Wochen zum Ersatzbataillon entlassen.
Aber das Vaterland braucht sie alle. Die Munitions- und Kanonenfabriken fordern Facharbeiter an. Die Frauen, Kinder und Dienstuntauglichen allein schaffen es nicht. — Ich werde zur Firma Krupp in Essen beurlaubt.
„Letztes Arbeitszeugnis!?"
Ich lege es vor und beteure vergebens, dass ich schon etwas anderes getan hätte, als Granaten geschruppt.
„Erledigt! — Neunte mechanische Werkstatt!"
Man führt mich an eine Riesendrehbank, auf der Kurbelwellen schwersten Kalibers vorgeschruppt werden.
Die Arbeit ist lebensgefährlich. Vier elektrisch transportierte Supporte sind auf die zu bearbeitenden Flächen zu verteilen, damit alle Stähle — zwei Supporte arbeiten von oben und zwei von unten — möglichst gleichmäßig beschäftigt sind; einmal, um möglichst rationell zu arbeiten, zum andern, um durch die von unten und oben schneidenden Stähle die zu bearbeitende Welle gleichmäßig unter Druck zu halten. Eine nur einseitige Bearbeitung hat ein zu starkes Vibrieren zur Folge. Die Berechnung und Überlegung vor Beginn der Operation ist das Wichtigste.
Mein Ablöser ist über meine Hilfe nicht sehr erfreut. Solange er allein seine Kurbelwellen vorschruppte, fühlte er sich geborgen. Ist erst ein Zweiter eingearbeitet, kann der schon wieder — im Falle eines Falles — einen Dritten anlernen. Hoffentlich vermauert der so eine Welle — das mögen die geheimen Gedanken meines Kollegen sein. Die Angst vor dem Schützengraben — vor dem Heldentod — ist groß bei ihm.
Die Stähle nehmen eine Schnittfläche von zirka fünf Zentimetern mit zwei Millimetern Vorschub per Umdrehung. Die riesige Welle vibriert wie eine gestreckte Riesenschlange. Die Planscheibenkolben sind mit schweren Schlüsseln und mit Hilfe von Rohren (als Schlüsselverlängerung) aufs höchste angespannt. Die Exzenter der Welle bewegen sich drohend. Der Arbeiter, der die Späne fortschaufelt, muss gut aufpassen, dass er ihnen nicht zu nahe kommt. Die fast glühend heißen, in allen Farben schillernden Späne springen oft wie abgeschossen fort. Wenn sie ins Gesicht fliegen und sich ins Fleisch brennen: ein unsagbarer Schmerz.
Hier kann man auch den Heldentod fürs Vaterland sterben. Braucht nur ein Support unter eine Kurbel zu fahren, die Planscheiben kolben nachlassen, ein Schraubenkopf durch den unerhörten Druck ab- und dir an den Kopf fliegen oder durch irgendeine sonstige Lockerung das Gleichgewicht gestört werden — dann geht alles kopfüber.
An einem großen Bohrwerk werden riesige Turbinengehäuse ausgebohrt. Ein Dreher kroch in dieses Gehäuse, um die Späne zu entfernen, wurde erfasst und zur Unkenntlichkeit zerrissen und verstümmelt.
Mein Helfer hat eine ganz gute Meinung von mir. Wir gehen behutsam zu Werke, als wir eines Abends die erste Welle selbst aufnehmen. Nur wenige sind in der Riesenhalle zur Nachtschicht anwesend, nur die Besatzung ganz schwerer Maschinen arbeitet mit Ablösung. Sie kennen sich nicht, sind örtlich ziemlich weit voneinander entfernt, und der Meister wacht argwöhnisch darüber, dass die kostbare Zeit nicht durch unnötige Visiten vertrödelt wird. Er kriecht zwischen den rohen und fertigen Kanonenrohren umher, wie ein treuer, wachsamer Hund.
Auf uns, die wir unser Marmeladenbrot verzehren, schaut er von weitem herüber, absichtlich so lange, bis wir ihn sehen. Er ärgert sich: diese lächerliche Scheibe Brot — kann man doch verdammt nebenbei essen, mag er denken.
Mein Helfer meint: „Mit dem werden Sie noch manchen Strauß auszufechten haben. Wen der nicht riechen kann, den ekelt er bald raus. Ihr Ablöser aber ist sein Freund. Er schuftet
wie toll, nimmt sich gar keine Zeit zum Essen."—Er muss seinen Meister wohl kennen. Er ist zweiundsechzig Jahre alt, ungefähr so alt und ebensolange bei Krupp wie dieser, das heißt von Kindesbeinen an. Wenn sie Glück haben, sterben sie zwischen Kanonenrohren. Das ist bei einem ordentlichen Arbeiter nach Kruppschen Begriffen so der Brauch.
Am Morgen läuft die Welle. Alle Supporte arbeiten, alles ist in Ordnung.
Mein Ablöser kommt schon eine Viertelstunde früher — er hat wohl die Nacht gar nicht richtig schlafen können. Ich sehe ihm sofort an, dass er enttäuscht ist — oder wenigstens so tut. Er grüßt kaum, geht an den Schrank und beginnt in den Arbeitszetteln zu wühlen, zu rechnen, zu kalkulieren. Ich sehe sofort, was ich für einen Pappenheimer vor mir habe und frage ihn: „Wie ist es denn hier mit der Verrechnung? Wieviel verdient man in einer Schicht von zwölf Stunden?"
Er ist ob meiner Neugierde offensichtlich verblüfft, vielleicht auch wegen meiner „Unverschämtheit" erstaunt. „Wenn wir eine ganze Schicht mit Aufnehmen zubringen, nicht den Schichtlohn", meint er, und macht ein Gesicht, als hätte ich ihn durch meine Faulheit schon um ein Vermögen betrogen.
Ich bin schon wieder unvernünftig und sage: „Bescheiß dich man nicht. Scheinst auch so ein Allerweltskünstler zu sein, der überall sofort Bescheid weiß. Hast sicher schon in der ersten Schicht zwei Wellen heruntergehauen."
Das hat er sicher nicht erwartet. Er sieht mich an und wird ganz blass. Dann sagt er: „Ich verlange jedenfalls mein Geld."
Ich werde noch unvernünftiger und antworte: „Verlange, was du willst, nur verlange nicht von mir, dass ich mir hier leichtsinnigerweise meine Knochen verbiegen lasse."
„Ich verlange, dass du arbeitest!"
Ich kann nun nicht mehr folgen und behelfe mich in Ermangelung eigener Argumente mit einem Wort aus Goethes „Götz von Berlichingen". Mein Ablöser rennt zornentbrannt zum Meister. Dort fuchtelt er mit den Zetteln. Ich wasche mich und gehe „nach Hause". — Ich will nicht noch unvernünftiger werden.
Mein „Zuhause" ist das Hotel „Zum Muschelhaus". Zwei Tage habe ich Wohnung gesucht. Dann ergatterte ich ein teures Zimmer für zwei Personen, in das ich gegen viel Geld einziehen durfte, wenn ich noch einen Kollegen mitbringen würde. Ich fand aber keinen passenden Partner, und als ich eines Abends wiederkomme, wird mir eröffnet, dass meine Wohnung ab morgen an zwei Herren vermietet sei, da ich die Vereinbarung nicht eingehalten hätte.
Eine geschäftstüchtige Frau, bei der ich Ansichtskarten und Zigaretten kaufe, nimmt sich meiner an, als ich ihr mein Leid über die Wohnungsmisere klage, und stellt mir anheim, zu ihr zu ziehen. Auf ihr Häuschen wird ein Vorbau aufgesetzt. Fenster sind noch nicht drin, Türen auch nicht. Eine Feldbettstelle steht da, zugedeckt mit Säcken, damit nicht allzu viel Maurerdreck darauffällt. In einer Kiste steht die Waschschüssel.
Die Frau macht's billig. Vier Mark die Woche. Wenn alles fertig ist und es nicht mehr hereinregnet, kann man weiter reden. Ganz nett ist die Frau!
Aber ich bin zu verwöhnt. Draußen liegen sie im Dreck, und ich klage schon, weil ich im Neubau wohnen soll. Ich bin absolut darauf verpicht, dass ich nach zwölfstündiger Arbeit einen Platz für mich, ein Bett haben muss.
Die Zehntausend, die morgens und abends aus Dutzenden von Fabriktoren hinein- und herausströmen — das ist das Antlitz des Krieges in Zivil. Das Gespenst des Schützengrabens verfolgt sie bei Tag und bei Nacht. Sie sind vom Hunger gezeichnet. Sie gehen alle — scheint mir — als trügen sie eine schwere Last. Sie wohnen in dichten Massen in Löchern, blicken finster, wie die Farbe der Mauern. Auf ihren Gesichtern liegt es wie Kohlenstaub. Sie gehen stumm, nur hier und da murrt einer, aber so, dass es kein Unbefugter hört.
Im Restaurant „Muschelhaus" sitzen sie und warten — auf den Frieden. Sie essen Muscheln, vor Hunger, nur um den Magen zu füllen. Die gibt es noch ohne „Karten". Die Leute sind reklamiert aus allen deutschen Ländern. Ich spreche mit
diesem und jenem. Jeder sagt: „Besser als im Schützengraben!" Sie wollen sich nicht verdächtig machen, sind vorsichtig. — Wie die Bewohner des besetzten Gebiets.
Vor der Kantine stehen sie wie Bettler, wollen Marken haben, aber nur eine beschränkte Zahl kann „verpflegt" werden.
Mich würgt diese Atmosphäre von Lüge, Heldentum. Abends gehe ich zur Nachtschicht. In meinem Hirn reift ein Entschluss.
Der Meister kriecht zwischen den Kanonenrohren umher. Ich gehe auf ihn zu. „Kommen Sie, bitte, einmal mit!"
Er ist erstaunt, aber er folgt mir.
„Ich möchte einmal wissen, was ich hier verdiene", beginne ich. Er stutzt, stiert mich an und sagt: „Wenn Sie eingearbeitet sind, soviel wie Ihr Ablöser, solange das nicht der Fall ist, Schichtlohn."
„Wieviel ist das?"
„Sechs Mark die Schicht!"
„Wer bestimmt das?"
„Vorderhand ich, wenn Sie nicht einverstanden sind, gehen Sie zum Betriebsleiter!"
Mein Ablöser grinst. Ich überlege, ob ich den Meister ohrfeigen soll, beherrsche mich aber.
Der Meister trottet, schwer schleppend an seiner Autorität, von der Bank fort. Ich rücke ein. Lass laufen die Karre!
Eine halbe Stunde mag vergangen sein. Zwischen den Kanonenrohren, den Riesenlafetten, den riesigen Türmen der Schiffsgeschütze laufe ich umher. Meisterhaft ist die Maschinerie für die Zerstörung alles Zerstörbaren entwickelt und organisiert. Die Menschen opfern sich für dieses „große Werk" bis zur Selbstvernichtung.
Als ich komme, hat sich ein Stahlhalter gelockert. Die rohe Welle wurde immer stärker, der Stahlhalter gab nach, aber er stand im schrägen Winkel zur Welle und konnte rückwärts nicht abkommen, auch nicht durch die Klaue, weil diese zu stark gerippt war. Er mahlte sich in die Welle hinein, tief, einen Arm kann man hineinlegen.
Ich hole meinen Meister. Er sieht die Bescherung und—kann
nicht sprechen vor Schreck. Nur soviel höre ich, dass das sein Unglück sein kann.
Dann drehen wir hinter der Vertiefung auf Maß aus, so dass ein starker Rand daneben stehen bleibt. Mit einer hydraulischen Walze walzt er dann die Bescherung zu und jammert in einem fort, ich solle nichts verraten und ihn nicht unglücklich machen.
Morgens gehe ich zum Betriebsleiter. Der hört mich an, kratzt sich hinter den Ohren und sagt: „Vorschuss können Sie bekommen, den dritten Teil des verdienten Lohnes." Ich rechne: Abzüglich Knappschafts-, Pensions-, Invaliden-, Kranken- und sonstiger Kassen ist das soviel, dass ich einmal im „Muschelhaus" Abendbrot essen und schlafen kann.
„Meine Frau hat entbunden, große Auslagen, außerordentlicher Fall." Ich kann nicht anders zu meinem Recht kommen, als dass ich den Patrioten spiele, und bitte, meinen Fall als Ausnahme zu behandeln. Ich bekomme auch glücklich vierzig Mark Vorschuss, wasche mich und hole aus dem „Muschelhaus" meinen Koffer.
Abends, schon spät, klopfe ich bei Sophie.
„Lütting?"
„Tag, Sophl. — Die haben kein Eisen mehr bei Krupp."
Sie ist nicht sonderlich erstaunt, schüttelt den Kopf und sagt lächelnd: „Bist eben ein Zigeuner!"
Das Reden nützt bei mir nicht viel. Das weiß sie schon.
Ich sende meinen Pass zur Anmeldung ein, nachdem ich mir andere Arbeit in einer neu eingerichteten Granatenfabrik gesucht habe, bekomme natürlich — wie erwartet — den Gestellungsbefehl. Ich war ja nur für die Firma Krupp beurlaubt.
Mir kann niemand helfen, nicht Klaus, nicht Sophie, nicht Anna.
Lazarett, Gefangenschaft, Festung, Zuchthaus! Sophie ist schon froh, dass ich alles von der humoristischen Seite nehme, und verabschiedet mich: „Hals- und Beinbruch, Hans!"
Man würde mich ein wenig näher ansehen, werde ich empfangen. Aber dazu blieb keine Zeit. Sie sterben draußen wie die Fliegen. Wir haben noch lange nicht genug gesiegt.
Die sengende Sonne treibt bereits das Korn zur Reife, als wir bei Neidenburg an der Ostfront landen. Die Eisenbahnen rollen schwer beladen heran. Alle Straßen sind voll marschierender Truppen. Wir marschieren zwei Tage durch armselige Dörfer und durchweg sandiges Gelände. Die Russen liegen auf einer Höhe, festungsartig verschanzt. Weit hinten sieht man die Türme der Stadt Prasznysz.
Vierhundert Meter vor der Stellung heben wir in der Nacht — bei dauerndem Regen — einen Sturmgraben aus. Anderntags ist Appell mit „eisernen Portionen". Hauptmann Klein hält eine Ansprache:
„Wir werden diese Nacht nach vorn rücken. Bis morgen früh um drei Uhr wird die Artillerie die russische Stellung sturmreif machen, und wir stürmen dann um acht Uhr. Erst gehen alle Leute des Drahtscherenkommandos heraus, eilen so schnell sie laufen können vor und zerschneiden die russischen Drahthindernisse. Die Verfolgung der Russen beginnt sofort. Wir schanzen uns hinter dem zerschossenen Dorf Olschewice ein. Generalfeldmarschall Hindenburg ist eingetroffen und wird dem Angriff auf der ganzen Linie beiwohnen."
Das Sturmgepäck wird zurechtgemacht. Der Regen setzt stärker ein und hält an. Wir marschieren schweigend nach vorn. Die Tornister werden in der ersten Stellung zusammengelegt, und mit Sturmgepäck geht es in den Sturmgraben.
Unsere Kompanie kommt rechts vor die hohe festungsartige russische Stellung zu liegen. Durch den dauernden Regen steht in diesem Graben schon Wasser. Es vergeht Stunde auf Stunde. Da unser Hauptmann wegen seines Drills ziemlich verhasst ist, wurde er bereits vor einigen Wochen durch einen anonymen Brief davon in Kenntnis gesetzt, dass er bei dem nächsten Gefecht eine Kugel erhalten würde. Das können nur die sein — mag er denken —, die schon vom Ersatzbataillon her angekreidet sind. Man darf nicht unklug sein. So bestimmt er, dass ich und ein Danziger Hafenarbeiter bei den Tornistern Wache halten.
Pünktlich um drei Uhr morgens setzt verstärktes Artilleriefeuer ein. Der Erdboden dröhnt. Ein wahnsinniger Tumult entsteht: das Rattern der Maschinengewehre, das Wüten der Artillerie, Minen und Mörser vereinigt sich zu einem Höllenkonzert. Minen, Geschosse allen Kalibers, auch 21,5 -Mörser verwandeln die russischen Stellungen in einen Vulkan. Die Pfähle der Drahtverhaue fliegen wie Streichhölzer in die Luft. Um acht Uhr kommt der Befehl: „Die Artillerie funkt noch eine Stunde. Pünktlich um neun Uhr erfolgt der Angriff."
Drei Stunden später ist der Angriff „geglückt". Die Russen sind aus ihren Stellungen geworfen und ziehen sich zurück. Die Sturmlinie kommt in die Reserve und andere Truppen rücken vor.
Man kann nun das Schlachtfeld übersehen. Überall stehen große Trupps russischer Gefangener, überall Tote, Verwundete, Sterbende. Einem Russen ist der Kopf aufgerissen, das Gehirn tritt heraus. Unsere Kompanie hat zweiundvierzig Tote, vierundsechzig Verwundete. Nachmittags gegen vier Uhr ist das Schlachtfeld von den Verwundeten geräumt. Vierhundert Meter vor Prasznysz schanzen wir uns wieder ein und bleiben die Nacht. Ein Friedhof wird angelegt, die Toten verscharrt.
Wir marschieren durch die Stadt, dann auf der Chaussee weiter, vom Regen total durchnässt, und bleiben auf einer Wiese liegen. Dort erreicht uns der Befehl: „Anzug in Ordnung bringen, antreten!" Rote Streifen tauchen auf. Hindenburg erscheint und spricht: „Habe von der Höhe 142 den Angriff mit angesehen." Er spricht allen die größte Anerkennung aus. „Hoffen wir, dass die Verwundeten bald mit neuer Frische wieder zurückkehren können." Es gibt Beförderungen, Auszeichnungen. Für die Toten den Dank des Vaterlandes. Wir erhalten einen neuen Hauptmann mit Monokel.
Ich sehe in die aufsteigenden Rauchwolken. Die Russen setzten auf ihrem Rückzug ganze Ortschaften in Brand.
Zwei Tage später ist schon wieder dicke Luft. Vor uns liegt die Stadt Makow, sie ist noch von Russen besetzt. Wir merken es, als wir erst Schrapnell- und dann mörderisches Gewehrfeuer erhalten. Mein Nebenmann, Wendt, erhält einen Schuss ins Sturmgepäck, die Kugel bleibt in der Fleischbüchse stecken. Er wird blass, sein Mund verzieht sich für einen Augenblick zu einem unnatürlichen Lachen. Neben uns schreit einer herzzerreißend und hält sich die Hände vor den Bauch. Er hat einen Hodenschuss.
Wir lösen uns in Schützenlinie auf, gehen geduckt durch ein großes Getreidefeld. Als die ersten das Feld verlassen, pfeifen uns die Kugeln um die Ohren. Wir gehen schleunigst zurück, doch es nützt nichts mehr. Die Russen nehmen das Feld unter Maschinengewehrfeuer. Die Halme knicken wie vom dichten Hagel. Keiner kann weiter sehen als höchstens bis zu seinem Nebenmann. Die Verwundeten, die nicht mehr schreien können, können schlecht gefunden werden. Man muss ihr Gewehr mit dem Kolben nach oben in die Erde stecken, um die Sanitäter wissen zu lassen, wo sie liegen. Die vorgeschobenen Linien der Russen scheinen in guter Deckung.
----------Bum! bum! — Bum! bum! — Bum! —
Unsere Artillerie ist aufgefahren und nimmt die Stadt unter Feuer. Die Granaten platzen über den Häusern, immer zahlreicher und dichter. Dazwischen die Einschläge der schweren Haubitzen. Durch die Brennzünder werden die Bewohner in Deckung, in die Häuser gejagt. Die Aufschläge in und vor den Häusern legen alles in Trümmer.
------Bräh! — bam! — bam! — bam! —
Die russischen Schrapnells speien ihre Bleiladung vor uns auf die Wiese. Die nächste Salve kommt schon näher. Bam! bam bam! bam! — Wir sehen einander nicht, aber wir hören Schreie. Die Bleikugeln rasseln in den Halmen wie Ratten im Stroh.
Bam! bam! bam! bam! Wir stecken den Kopf in den Dreck. Man sucht immer erst den Kopf zu schützen, wühlt sich mit Ellenbogen und Armen ein.
Bam! bam!
Zurück !
Sie scheinen gute Beobachter zu haben. Ihre Kanonen stehen auf der Höhe hinter der Stadt.
Das Kornfeld, in dem wir liegen, fällt nach rückwärts steil ab und grenzt an einen Hohlweg. „Hier sitzen wir gut", sagt Wendt.
Ich möchte wissen, was er denkt, und sage: „Sie scheinen schön dazwischengepfeffert zu haben." Er sieht vorsichtig um sich und sagt dann: „Der Teufel soll die russische Artillerie holen. Die schießen wie nach der Schnur."
Das Gewehr- und Maschinengewehrfeuer der Russen lässt nach einer Weile nach, die letzte Salve Schrapnellbrennzünder liegt schon Minuten zurück. Unsere Artillerie schießt immer noch, ununterbrochen, mit Haubitzen und Feldkanonen. Rauchschwaden treiben hoch, Flammen lodern auf. — Die Stadt brennt.
„Hans!"
„Was denn?"
„Wir bleiben zusammen!"
Die Verwundeten stöhnen und wimmern. Sanitäter suchen bereits das Kornfeld ab. Einige Kolben stehen noch; man sieht, wie sie verschwinden. Die Stadt brennt lichterloh. Wir wissen, bald geht das Laufen los. Die Zugführer warten nur noch auf den Befehl.
----------„Sprung auf, marsch, marsch!"
Sie stürzen aus den Ähren und stürmen vorwärts. Wendt läuft immer langsamer, und ich bleibe bei ihm. Vor einer alten Weide an einem sumpfigen Graben bleiben wir liegen.
„Das Ekelhafteste ist die Schießerei in den Straßen", sagt Wendt. „Und der größte Blödsinn obendrein. Die Russen bleiben sowieso nicht in dem Nest, aber wir müssen ja immer stürmen, stürmen um jeden Preis!"
Die ersten haben das Dorf erreicht. Das Knattern der Gewehre wird hörbar. Neben uns wälzt sich die Artillerie vor, die Räder sinken ein, als seien es Pflugscharen. Sechzehn Pferde schleppen dampfend eine Kanone durch den Morast.
In der Dunkelheit tappen wir weiter. Die ersten Straßen sind „gesäubert". Die Bevölkerung gießt rastlos mit Eimern und Töpfen Wasser in die Flammen der brennenden Häuser. Auf dem Markt schlägt eine Granate der Russen ein, sie scheinen noch einmal abgeprotzt zu haben. Eine Frau fliegt an die Mauer, fällt um und ist tot.
Wir erreichen eine Kellertür, die nur angelehnt ist. Zwei junge Mädchen starren uns entsetzt an. Dann tauchen ein alter Mann und eine Frau auf; offenbar ihre Eltern, sie saßen im Dunkeln in der Ecke. Wir geben ihnen zu verstehen, dass ihnen nichts passiert und bitten um Wasser und etwas zu essen.
Die Nacht bricht an. Der Lärm lässt nach. Die Unseren scheinen das Schloss auf der Höhe schon besetzt zu haben. Die Russen schießen nicht mehr. — Wir fragen auch nicht mehr danach, fallen beinahe um vor Müdigkeit.
Man führt uns die Treppe empor in eine „gute" Stube. An der Wand hängen Bilder der jüdischen Zionisten, unter ihnen das Bild von Oskar Kohn. Daneben das Bild von Karl Marx. Wir zeigen auf die Bilder, wollen fragen, ob wir bei Genossen sind. Sie scheinen nicht ganz zu verstehen. „Ein großer Mann!" sagt die alte Mutter und deutet auf das Bild von Karl Marx. Wir bestätigen lebhaft, und sie verstehen, wer wir sind.
Der Eierkuchen und der Tee halten uns noch mühsam wach. Als wir gegessen haben, übermannt uns der Schlaf. Die alte Mutter deckt die Betten ab. Wir wehren ab. Sie ist fast beleidigt, bis wir sie überzeugen, dass wir voller Läuse sind. Dann willigt sie ein, dass wir uns auf dem Teppich ausstrecken. Sie bringt uns trotzdem Kissen und Decken. Der Alte und seine Töchter kommen noch und wünschen uns gute Nacht. Die Mutter deckt uns zu.
Wir fragen nicht mehr, wo die Kompanie ist. Wir sind „abgekommen".
Mitten im tiefsten Schlaf reißt mich August hoch. „Komm 1" sagt er. „Wir müssen sehen, was los ist."
Unsere Gastgeber stehen mit verzweifelten Gesichtern vor uns. Die Russen haben noch einmal versucht, ihre Brandgranaten anzubringen. Die Stadt brennt lichterloh.
Wir finden die Kompanie in. der alten Russenkaserne. Aber noch viele fehlen. Die Zugführer werden nervös. Der Hauptmann ist bleich vor Zorn. „Räuberbande!" sagt er.
Einer nach dem andern von der „Räuberbande" kommt an.
Sie muss „räubern". Der Räuberhauptmann und seine Offiziere „requirieren" selbstverständlich die besten Brocken. Außerdem steht ihnen der ganze Vorrat der Küche zur Verfügung, dazu dem Hauptmann achthundert Mark monatlich. Den Leutnants „nur" sechshundert Mark.
Unsere Verpflegung ist schwarzer Kaffee. Kein Brot kommt, noch nicht einmal Salz ist da. Wir fressen Kartoffelbrei ohne Salz und Fett. Wer nicht zusieht wo er bleibt, verhungert.
Der Hauptmann weiß das. Er weiß auch, dass er im Grunde genommen ziemlich ohnmächtig ist. Der Befehl an die Zugführer, unerbittlich „durchzugreifen", schafft kein Brot, und der Mensch lebt nicht von Brot allein.
Das brennende Rathaus erhellt die Nacht. Die zurückgebliebene Zivilbevölkerung schaut erschreckt hinter den Häusern hervor. Ein Meldereiter von der den Frontabteilungen zugeteilten Patrouille schwarzer Husaren sprengt heran und bringt eine Meldung: „Die Russen sind auf der ganzen Linie auf der Flucht."
„Wegtreten!"
Vor dem „Warenhaus" ist eine Wache postiert; es ist vom Brand verschont geblieben. Polnische Bauern und Handwerker mit ihren Kindern stehen weinend vor ihren Häusern, die jetzt ein Haufen rauchender Trümmer sind. Hunde heulen auf, wildgewordene Pferde, die sich in Todesangst losgerissen haben, jagen durch die Nacht, Es stinkt nach verbranntem Fleisch von Vieh und Menschen.
Die Offiziere begeben sich in ihre Quartiere, oben in das Schloss der Gutsherren. Wir marschieren mit hungrigem Magen und ermüdeten Knochen an dem „Warenhaus" vorbei.
Ein gemeinsamer Gedanke beherrscht alle: Dort drinnen ist vielleicht etwas zu essen!
Das Warenhaus steht und lockt. Einer geht wie in Gedanken zurück, ein anderer folgt, ein dritter sieht nach, ein vierter spricht davon. Wie die Wölfe ziehen sie sich zusammen, die Wache sieht sie kommen. Der eine Posten grinst und geht rechts um die Ecke, der andere lässt sich „überrumpeln".
Fächer werden aufgerissen, Schränke umgestülpt, Behälter erbrochen.
„Sie sind drin!" Wie ein Lauffeuer springt es durch die Zurückgebliebenen. Das Warenhaus ist voll von plündernden Feldgrauen.
„Los, Hans!" meint Wendt und greift sich einen Sandsack.
Der ganze Fußboden ist mit Waren bedeckt: Spielwaren, Kleidungsstücke, Papier, Flaschen, Haushaltungsgegenstände. Wir steigen darüber hinweg, nach den Schubfächern in den Regalen. Ich suche krampfhaft nach etwas Brauchbarem, habe aber keine Leiter und kann vom Ladentisch aus nur eine Regalreihe mühsam erreichen; die unteren sind schon alle leer. In einem finde ich Gummilutscher für Säuglinge. Dann kommt mir eine Flasche in die Hände, die aber fest verkorkt ist. Ich schlage den Hals an die Kante der Schublade. Sie zerbricht so unglücklich, dass ich mir den ganzen Inhalt über die Hose schütte. Dem Geruch nach zu urteilen ist es Maggi oder Tomatensoße.
„Raus!"
Ein Wachkommando kommt mit aufgepflanztem Bajonett. Sie kommen durch den Vordereingang, und die Plünderer gehen nach hinten durch und verschwinden.
Wir treten mittags an und marschieren weiter. Wir hätten unsern Gastgebern, die wir in der Nacht verließen, gern die Hand gedrückt, hatten aber das Haus nicht wieder finden können. Als wir hinausmarschieren, steht hinter denen, die mit verschlossenen und verbitterten Gesichtern den „Feinden" nachschauen, die alte Mutter, die uns zudeckte. Sie lacht nicht und winkt nicht, so wie wir. Wir sehen nur die Qual in ihrem Gesicht. Ich stoße August an, er sieht mich an und folgt meinem Blick. Unsere Augen begegnen sich zum Abschied. Wir liegen am Abend in einem verlassenen Dorf und schlafen den bleischweren Schlaf der Infanterie auf dem Marsch.
Ungewaschen tritt die Kompanie an, es ist keine Zeit, lange nach Wasser zu suchen. Der Dreck wird auf dem Marsch von rinnendem Schweiß abgespült. Die Wäsche klebt am Körper, und die Läuse beißen zum Verrecken. Wir marschieren durch ein noch brennendes Dorf. Einzelne Häuser sind stehen geblieben, aber die Bevölkerung scheint ebenfalls geflohen zu sein. Ungemolkenes Vieh brüllt in einigen Ställen. Rechts von der Wiese her schaut eine Kuh zu uns herüber, dahinter ein Kalb. Nach einigen Zurufen wendet sie sich kurz um und läuft wild davon, das Kalb hinterher. Aus einem Ziehbrunnen dürfen wir unsern brennenden Durst stillen. Infanterist Hagedorn trinkt zu hastig, fällt um und ist tot. Befehl: „Nicht mehr als ein Trinkbecher pro Mann." In einem Hof stehen zwei Wagen mit Korn beladen, einige Hühner picken nach den Ähren. Die Haustür ist offen. Es war anscheinend keine Zeit mehr, Haus und Wagen und Korn in Brand zu setzen.
Wir marschieren in der sengenden Hitze und im strömenden Regen Tag für Tag. Wir marschieren vorbei an toten Menschen und Pferden, an niedergebrannten Dörfern, gesprengten Brücken und Bahnen, zerstörten Straßen. Wir marschieren vorbei an versunkenen Wagen und Kanonen, durch reifes Korn, über Stoppelfeld, durch Dreck und Schlamm. Wir marschieren, marschieren ins Endlose, Tage, Wochen, Monate. Der Schweiß rinnt uns an der Haut herunter und der Regen an den Kleidern.
Wir machen Quartier in russischen Dörfern, soweit sie das Feuer nicht gefressen hat. Unter den Dielen haben die fliehenden Bewohner ihre Habseligkeiten vergraben, darum reißen wir immer erst die Dielen auf. Wir finden Fett, wir finden Mehl vergraben, aber wir finden kein Brot. Es ist keine Zeit, Brot zu backen. Wir finden in einem Stall ein Schwein, es ist — heilige Einfalt! — mit Stroh zugedeckt. Es wird geschlachtet und das fette Schweinefleisch ohne Brot gegessen. Der Magen rebelliert. Der Durchfall packt uns. Der Körper lässt sich nicht vergewaltigen. Die meisten bekommen eiternde Hautausschläge. In die Wunden vergraben sich die Läuse.
Wir marschieren den fliehenden Russen nach. — „Tak, tak, tak, tak — tak!" Wir werfen uns hin, zu spät. Ihre Nachhut ist nicht weit vor uns und kennt das Gelände. Öfter als einmal rafft ein Feuerüberfall den einen und anderen hin.
Sie haben flinke Pferde.
Wir marschieren und können nicht so rasch marschieren, wie die vor uns. Wir sind ihnen dicht auf den Fersen. Sie wissen, wo wir abends liegen, unsere Posten sehen die ihren. Die Nacht sinkt herein, wir sind abgeschnitten von Heimat und Genossen. Keine Post folgt. Todmüde strecken wir unsere müden Knochen ins feuchte Gras. Alles ist still. Nur eine Ziehharmonika schluchzt von der „feindlichen" Front herüber.
Wir marschieren durch ein großes Dorf, in dem ein religiöses Fest gefeiert wird. Ein Umzug findet statt. Vorn gehen Esel mit Papierschmuck behängt. Die Leute scheinen nichts vom Krieg zu wissen. Wir marschieren durch Flüsse und Sümpfe feldmarschmäßig, wie wir sind, weiter, immer weiter, ins Nichts. Unsere Reihen sind gelichtet. Wir warten jeden Tag auf Ruhe, Ruhe. Ich schleppe meine Füße apathisch nach. Sie sind stark geschwollen, obwohl ich sie immer in frisches Stroh bette.
Wir marschieren zurück, sind Divisionsreserve, vorbei an dem Stab mit Pfaffen und Kriegsberichterstattern. Sie essen Weißbrot und trinken Kaffee aus sauberen Tassen, die Regimentskapelle spielt ihnen schneidige Märsche vor.
Uns fallen die Brocken vom Leib, in die zerrissenen Schuhe dringt Sand und Wasser. Unsere Verluste sind drei Mann, zehn Mann, dreißig Mann täglich. Unzählbar! Auch unser Hauptmann spricht darüber. „Die Kerls können doch nicht ewig leben!" Ich notiere diesen Tag, es ist der 21. Juli 1915.
Wir marschieren feldmarschmäßig durch den Narew. Der Himmel ist rot vom Feuerschein der brennenden Dörfer und Getreidefelder. Kowno und Grodno sind gefallen, wir haben die Bahnstrecke Ostrolenko—Warschau erreicht. Es regnet. Die Zeltbahnen sind undicht. Abends holen wir Stroh zum Schlafen und werden notiert. Das Stroh ist für die Herren Offiziere bestimmt. Ich baue mit Wendt am Abend — fast jeden Abend — Latrinen. Wir sind bekannt als Aufsässige.
Oder Strafwache. Die gefallenen Russen schauen in den Mond, silbern glänzt ihr totes Gesicht. Ein Buch liegt neben einem, mit Bildern von Tolstoi, Gorki, Zola, Heine, Dostojewski, eine Photographie von Frau und Kind ist darin. — Unsere Artillerie beschießt die Festung Ostrolenko. Tag und Nacht brüllen die Kanonen. Unser Zugführer — ein Kriegsfreiwilliger Schwede — ist verrückt geworden.
Wir murren über das schlechte „Essen", Dörrgemüse in Wasser gekocht, hart — aber wir meutern nicht, finden sogar noch Objekte für unsern Humor. Kamerad Steffens trägt eine bunte Mütze, die er irgendwo requiriert hat, der Herr Hauptmann sprengt heran und schlägt ihm vom Pferd aus mit der Reitpeitsche über das Gesicht. Lässt dann die Kompanie antreten und verliest den Armeebefehl der Armee Gallwitz: „Es steht Großes auf dem Spiel, es muss schneller vorwärts gehen!"
Immer weiter der Todesmarsch. Eine Patrouille der schwarzen Husaren liegt mit ihren Pferden am Wege. Ein Rudel Vieh kommt brüllend aus dem Wald. In einem Tal grast eine Herde Schafe, die vom Stab beschlagnahmt ist. An einer russischen Stellung finden wir einen Sack Brotreste. Wie Tiere schlagen wir uns darum. Russisches Gewehrfeuer bringt uns zur Besinnung. Ein Kamerad wird getroffen, stöhnt wie ein Kind, bettelt, ihm zu helfen. Wir bringen ihn nach hinten, durch den Kugelregen hindurch, geben ihm unsern letzten Kaffee. Es ist schon gleich, wie man verreckt.
Wir kehren zurück und schlafen die dritte Nacht nicht, liegen zwischen Gräbern und Grabsteinen auf dem Friedhof Stowo Krasowoniak, sehen durch das brennende Dorf, hören das Krachen der einstürzenden Häuser und vom Pfarrhause die langgezogenen Melodien eines Harmoniums. Liegen dann am Abend wie die Toten in Reserve.
Aber es ist keine Ruhe. Wir haben die Eisenbahn Brest-Litowsk—Petersburg erreicht. Vor uns liegt Nowo-Beresowo. Einige werden beauftragt, Mehl einzukaufen, doch der Stab hat alles beschlagnahmt. Auf einer Wiese liegen dreihundert Stück Rindvieh, vergiftet. Befehl: „Niemand darf Wasser trinken, Choleragefahr!" Wir marschieren weiter, immer weiter. Statt Brot gibt es Eiserne Kreuze. Bis wir hinter Nowogrodek auf einem Gut liegen bleiben.
Am 27. September treten wir feldmarschmäßig an und vernehmen von unserm Hauptmann: „... Wir haben Großes geleistet. — Nur möglich durch eiserne Disziplin und Manneszucht. — Kein Opfer darf zu groß sein zur Verteidigung des Vaterlandes, der Heimat. — Jeder einzelne muss seine Pflicht tun. — Der Feind ist noch nicht vollständig niedergeworfen.
— An anderen Fronten wird noch schwer gekämpft. — Armeekorps wird abgelöst werden. — Hoffe, dass ihr weiteren Ruhm an die deutsche Fahne heften werdet. — Stillgestanden!"
Der Herr Hauptmann steigt vom Pferd und sieht durch die Front.
„Zum Heulen! — Rrrrricht euch!"
Der Herr Hauptmann besteigt sein Pferd wieder. „Kehrt!
— Kehrt! — Kehrt! — Kehrt! — Kehrt! — Kehrt!"
Als wir uns ein dutzendmal um unsere eigene Achse gedreht, wird ihm das Kommando zu lang. Er deutet nur noch an: „KÄ...! — KÄ. . .! — KÄ...!"
Als die Bewegungen immer langsamer werden — nicht nur durch die physische Anstrengung, es hat alles seine Grenze, und der Hauptmann weiß das sehr wohl — mustert er hoch zu Ross den Rest der schwitzenden „Frontochsen". Er sitzt schneidig auf seinem Gaul, ist glatt rasiert, gut genährt; seine gut sitzende Uniform ist prima. Seine Orden glänzen in der Sonne.
Am 28. September trete ich nicht mehr zum Appell mit an. Ich bin krank. Hinter der Scheune spreche ich mit August. „Wann gehst du ins Revier?" fragt August.
„Gleich nachher!"
„Werd dich schon noch mal sehen. Morgen werden sie uns ja wohl noch nicht verladen?"
„Wer weiß?"
„Ja, wissen kann man gar nichts!"
„Na, wenn schon! Leb wohl, August!"
Ich reiche ihm die Hand hin.
Er schaut an mir hoch, nimmt die Pfeife aus dem Mund, wischt sich, als wollte er etwas essen, die Rechte erst am Hintersten ab und reicht mir sie wortlos und zögernd, als wäre er gar nicht darauf gefasst, dass wir voneinander gehen.
„Leb wohl, Hans!"
Als ich zum Hof hinaus bin und noch einmal zu ihm hinübersehe, sitzt August Wendt wieder auf der Bank. Sein Gesicht liegt in seinen hohlen Händen, die er auf die Knie stützt. Seine Mütze liegt ihm vor den Füßen.
Ich kann mit gutem Gewissen zum Arzt gehen. Meine Füße sind angeschwollen wie die eines Wassersüchtigen. Ich bekomme Bettruhe und Überweisung ins Lazarett. „Wenn du Schwein hast, ist die Scheiße für dich zu Ende", meint der Sanitäter.
August besucht mich. „Hans", sagt er, „hoffentlich hast du Glück, grüß die Heimat, grüß die Genossen. — Wir kommen nach Frankreich."
Ich rufe den Sanitäter. Drei von den Unseren auf einem Haufen, immerhin ein Ereignis. Der Arzt ist fort, wir haben Zeit. Paul — so heißt der Sanitäter — kramt etwas Tee aus und eine eiserne Ration Zwieback.
„Man wird zuletzt doch zum Lumpen", fährt August fort und sieht über die Kranken hin. Sie liegen hier wie Aussätzige in primitiv zusammengehauenen „Betten" in der elenden Baracke, in der es aufreizend nach Lysol und Urin stinkt.
Pauls schwarze Haare fallen ihm lang über sein melancholisches Gesicht; er wird an seine Frau und sein kleines Mädchen denken. „Weißt du etwas Bestimmtes?" fragt er.
„Ich weiß es, wir kommen nach Frankreich."
Die ersten Blätter fallen schon, als ich über unser „erobertes" Gebiet zurückfahre, vorbei an den Massengräbern und toten Pferden, über deren aufgetriebenen Leibern die Schmeißfliegen zu Millionen hocken.
Die andern sind schon im Westen. Sie fuhren beide durch Berlin, vorbei an Frau und Kind, hinein in das Feuer der französischen Granaten.
Ich kann nur mit Mühe gehen, das heißt die größte Mühe ist, vorzutäuschen, dass es ohne Stock überhaupt nicht geht. Der Oberarzt jedoch wittert den Simulanten, er wittert in jedem den Simulanten, nimmt mir den Stock weg und schnauzt: „Machen Sie sich nicht kränker als Sie sind, gehen Sie einmal ohne Stock auf und ab."
Ich gehe, so gut ich „kann". Ich habe in den Kniegelenken starke Schmerzen und kann die Knie nicht durchdrücken.
Er befiehlt mir, den Fuß mit der Ferse auf den Stuhl zu legen, befiehlt dem Sanitäter, mich festzuhalten und versucht mit aller Kraft mein Knie durchzudrücken. Ich schreie auf vor Schmerzen.
„Stellen Sie sich nicht so an!"
„Ich verbitte mir eine derartige Behandlung und derartige Anspielungen, Herr Oberarzt!" Ich sage es ruhig, mit Überlegung, zu dem ausgesprochenen Zweck, statt ins „Feld" ins Gefängnis abzudampfen. Der Sanitätsgefreite kramt verdattert zwischen seinen Flaschen, die Schwester reißt vor soviel „Frechheit" den Mund auf, als wolle sie Fliegen fangen. Der Herr Oberarzt steht da und schaut über sein Bauchpolster auf mich herab, als stünde der letzte einer ausgestorbenen Rasse vor ihm.
„Sind Sie verrückt geworden?" Er brüllt das heraus ohne jede Überlegung, man merkt an seinen vor Wut zitternden Lippen, dass es ihm schon schwer fiel, diese geistreiche Frage zusammenzustöppeln.
„Nein, Herr Oberarzt!"
„Rrrrraus!"
Weiter reicht es nicht. Ich mache kehrt und gehe auf meine Stube. Ich bin etwas aufgeregt, aber sonst ausgefüllt von der Genugtuung, den Schinder richtig erwischt zu haben. Eventuelle Folgen haben bereits jeden Schrecken eingebüßt. Ich mache mich aber damit vertraut, dass zumindest einige Tage „Dicken" abfallen werden. Aber nichts dergleichen folgt.
Eine Woche später bin ich als garnisondienstfähig zum Ersatzbataillon entlassen.
Der erste Gedanke ist: Jetzt musst du fort! Ich schreibe sofort an Klaus. Ein Genosse, der in Altona arbeitet, empfiehlt mich. Dreher sind knapp. Ich unterschreibe, dass ich keinerlei Ansprüche an das Regiment zu stellen habe und werde für Heeresarbeit beurlaubt.
Wir werden nun nicht mehr gehetzt von dem Gedanken der unvermeidlichen Trennung oder der fiebernden Erwartung, nur irgendwo oder irgendwann eine Stunde zusammen sein zu können. Wir können uns ungezwungen gehören, können uns einrichten. Sophie wird sich gewiss freuen, Klaus braucht Hilfe; Anna, Martha, ganz schön wird das werden.
Sophie erwartet mich, schaut mir neugierig auf die Füße, dann ins Gesicht, dann nimmt sie meinen Kopf in beide Hände und drückt mein Gesicht an ihre Brust.
„Lütting!!"
Sie fasst mich unter, will mit mir den Bahnsteig verlassen. Ich nehme meinen Arm aus dem ihren. „Ich möchte lieber allein gehen." Die ganze Tragödie des proletarischen Krüppels schreit in mir auf. Nein, dann schon lieber tot!
Sophie hat Geduld, wie immer, schaut mich bittend an, und ich gebe ihr, wie zur Entschuldigung, meinen Koffer. Ich habe mir vorgenommen, lieb zu ihr zu sein, alles mit ihr zu besprechen. Sie ist mir aber wieder so fremd, sie bewegt sich so natürlich, wie „zu Hause". Ich habe kein „Zuhause".
Mein Zivilanzug ist mir viel zu groß. Ich kann ihn gar nicht tragen.
„Es ist ja kein Wunder, Lütting, hast ja mindestens fünfundzwanzig Pfund abgenommen", sagt Sophie, als hätte sie ohnehin damit gerechnet. Ich versuche meine Schuhe auf meine immer noch bandagierten Füße zu ziehen, aber ich bekomme sie nicht darüber. Ich kann, selbst ohne Bandagen, nicht in ihnen gehen, meine Füße sind noch geschwollen und sehr empfindlich.
„Wir kaufen ein Paar", sagt Sophie.
Wir schlafen in einem Bett, aber wir finden beide keinen Schlaf. Ich schlage um mich, phantasiere, schreie. Sophie geht morgens übernächtigt zur Arbeit.
Sophie kauft ein zweites Bett.
Ich gehe mit meinen neuen Schuhen zur Arbeit, trage aber während der Arbeit die alten Militärschuhe. Nach acht Tagen bekomme ich eine Aufforderung, sämtliche auf dem von mir unterschriebenen Verzeichnis aufgeführten Sachen bei meinem zuständigen Bezirkskommando abzuliefern. Ich spüre so etwas wie Ekel im Halse, als ich diese Aufforderung lese.
Ich schicke die Lumpen ab und kaufe mir von meinem ersten Lohn ein Paar Arbeitsstiefel.
Wir gehen sonntags spazieren. Mein Anzug hängt mir um die Knochen, als hätte ich ihn irgendwo geschenkt bekommen. Ich bin niedergeschlagen. Mich ärgert die gedankenlose Wurstigkeit dieser. Welt. Man tanzt, musiziert. „Hoch soll die Flagge wehen, die Flagge Schwarz-Weiß-Rot" wimmert es aus allen Lokalen. Die Kriegskrüppel humpeln und hocken schon überall herum. Wir gehen in Altona an einem großen Lazarett vorbei. Sie schauen aus den Fenstern, sitzen im Garten. Wieviel solcher Lazarette gibt es wohl in Deutschland und außerhalb Deutschlands? Sophie möchte mich so gerne froh wissen. Sie freut sich so, als ich meinen Lohn bringe. „Nächste Woche kaufen wir einen Anzug", sagt sie. Ich wehre ab, sie bittet mich aber darum.
Wir kaufen einen Anzug.
Sie ist so lieb, ich habe vieles an ihr gutzumachen.
Ich drehe die Kupferringe an Granatkörpern ab. Stück für Stück fünf Pfennig. Eine Fünfzehn-Zentimeter-Granate wiegt einen halben Zentner. Die großen — einundzwanzig Zentimeter — über einen Zentner. Ein Arbeiter hebt sie in die Bank und aus der Bank. Er ist zweiundsiebzig Jahre alt und freut sich, dass er soviel Geld verdient. Er hat nicht damit gerechnet, dass er jemals wieder Arbeit bekommt. Wenn es nach ihm geht, dann drehen wir, so lange er lebt, Granaten.
Der Betrieb ist gut „gesiebt". Mein Nachbar hat einen steifen Fuß. Er ging freiwillig hinaus. Er braucht nicht mehr damit zu rechnen, dass sie ihn holen. Er zeigt sein Eisernes Kreuz, ist jung und meistens besoffen. Die Frauen beherrschen den Betrieb. Immer mehr kommen und werden angelernt.
Skeptisch und höhnisch blicken die qualifizierten Arbeiter auf die billige Konkurrenz. „Blödsinn", sagen sie. „Was ist mit den Weibern schon anzufangen."
Sie irren. Die Arbeitsteilung setzt ein. Immer mehr Spezialmaschinen werden aufgestellt. Die Frauen arbeiten sich ein, sie eignen sich für jede Präzisionsarbeit. Sie sind billiger, drängen mehr Männer in den Schützengraben. Mancher, der sich so sicher, so unentbehrlich wähnte, während die andern verbluten und verfaulen, sich drückte und verkroch, wandert in den Schützengraben und schimpft nun auf die Frauen.
Der Betrieb ist militarisiert. Ein Oberfeuerwerker hat die Oberleitung. Sprechen ist verboten, Rauchen ist verboten, die Maschinen verlassen ist verboten. Erlaubt ist nur arbeiten, zehn Stunden am Tage. Runter, rauf! Runter, rauf 1 Die Granatringe tanzen mir vor den Augen. Die grelle Farbe der blanken Kupferfläche blendet. Stunde um Stunde, Tag um Tag, Woche um Woche. Ich reiße mich zusammen, ich fresse alles in mich hinein; es ist für Sophie.
Meine Füße schmerzen mich abends noch immer stark. Sophie massiert sie, bringt mich dann ins Bett und besorgt alles Notwendige. Klaus hat sich schon beschwert: Ob wir die Flitterwochen bald hinter uns hätten? Sophie lacht. „Nächsten Freitag müssen wir bestimmt hingehen", sagt sie.
An die zwanzig Genossen sind anwesend. Klaus führt den Vorsitz. Ein mir unbekannter Genosse in Soldatenuniform spricht.
Er spricht von der Forderung der deutschen Kapitalisten, Belgien und Frankreich zu annektieren, Teile der französischen Schwerindustrie zu enteignen, von der Forderung der Grenzerweiterung im Osten, von dem Schrei nach neuen Kolonien. Wenn das Proletariat nicht aufsteht, sagt er, wird der Krieg bis zum Weißbluten geführt werden. Es geht nicht um die „Verteidigung des Vaterlandes", es geht um kapitalistische Interessen mit dem Ziele der Niederhaltung der anderen Völker und der gewaltsamen Unterdrückung fremder Gebiete. Die Folge würde sein die politische Entrechtung der annektierten Gebietsteile, die Niederdrückung der Löhne und damit auch unserer Löhne und durch die Aufpeitschung nationaler Leidenschaften die weitere Zerrüttung der internationalen Klassensolidarität.
Der zweite Kriegswinter ist da mit all seinen furchtbaren Schrecken, die noch vermehrt werden durch den wachsenden Hunger. Wir dürfen nicht erlahmen. Es geht hier um weltgeschichtliche Veränderungen, um das Schicksal einer oder mehrerer Generationen, und wir, als revolutionäre, Klassenbewusste Arbeiter, sind die einzige Kraft, die in die Speichen der Geschichte fassen kann und muss — trotz alledem!
Einige Genossen sprechen in der Diskussion, geben Berichte aus den Betrieben. Frauen schreien ihr eigenes und das Leid anderer hinaus. Eine Genossin verliest Briefe eines Genossen aus dem Felde, die den „Burgfrieden" illustrieren. Prügelstrafe, Nachexerzieren, Hunger, Arbeitsdienst bis zum Zusammenbrechen. Dreizehn Briefe sind unterschlagen oder geöffnet worden.
Das XIII. Armeekorps wurde von den Franzosen mit einem Transparent empfangen: „Seid gegrüßt, XIII. Armeekorps." Ein zweites Transparent verkündet: „Marmeladenjungens, geht nach Hausei" Die Mitteilung dieser bekannten Tatsachen kostet den Genossen drei Tage und die Beschlagnahme des Briefes, weil er „militärische Geheimnisse" enthält. Ein Genosse schlägt auf den Tisch. Er ist Graveur, aber mit zwei Fingern an der rechten Hand, drei haben sie ihm weggeschossen, kann er keinen Stichel mehr halten. Er ist erledigt — und bekommt fünfunddreißig Prozent Rente.
Ich möchte am liebsten ebenfalls auspacken, doch Klaus kommt mir zuvor. „So schwer es auch fallen mag", ermahnt er, „wir müssen immer im Auge behalten, dass dem einzelnen sein Recht nur werden kann durch den Sieg des Proletariats. Diesen Sieg vorzubereiten muss daher Sache jedes einzelnen von uns sein."
Dann wird Material verteilt. Flugblätter und kleine Klebezettel. Sophie spricht kein Wort, sie nimmt ihr Teil, und sie tut das so selbstverständlich, als hätte sie es schon immer
getan.
Ich frage sie unterwegs, ob sie alles verstanden habe.
„Einzelheiten", sagt sie, „verstehe ich nicht, wo sollte ich das auch gelernt haben. Aber das große Ganze ist mir vollkommen klar, ich glaube, das muss doch jeder verstehen!"
Es ist schon recht spät. Ich kann nicht mehr viel mit Klaus sprechen, auch nicht mit Anna. Aber es liegt auch wohl nichts sonderlich Wichtiges vor, außer dem, was Klaus auch den andern sagte.
Meine Füße werden besser. Sophie ist ein besserer Arzt als einer in Uniform. Ich kann wieder ohne große Mühe gehen, bin viel mit Genossen zusammen. Es geht doch vorwärts; unterirdisch wachsen die Kräfte zusammen. Wenn sie einmal die trügerische Oberfläche sprengen, sieht die Welt etwas anders aus! Aber vorderhand müssen wir noch unterirdisch arbeiten.
Deswegen steht am Montag vor dem Betrieb, in dem ich arbeite, eine große blonde Frau und verteilt für mich die Flugblätter. „Du kannst dich da nicht hinstellen", sagt Sophie, „wozu denn den Herren vor der Nase herumtanzen."
Ein bombastischer Anschlag am Schwarzen Brett gegen „verbrecherische Elemente, die offenbar im Dienst einer feindlichen Macht stehen", ist die Antwort, aber viele Arbeiter und Arbeiterinnen schütteln ungläubig den Kopf. Anderntags klebt darunter ein kleiner Zettel:
„Hoch Liebknecht!"
„Sie haben sich am... , vormittags 10 Uhr, in... zwecks Nachmusterung einzufinden."
Ein kleiner dunkler Vorraum empfängt die Wartenden. Ich werde wieder gewogen, gemessen, betastet. Die Untersuchung dauert höchstens zwei Minuten. Urteil: k. v. Feldartillerie!
Sophie fragt nicht, als sie abends eintritt. Sie scheint nichts anderes zu erwarten. Dann setzt sie sich, als wäre sie einer Ohnmacht nahe, auf die Bettkante. Die blonden Strähnen fallen ihr wirr über das entfärbte Gesicht. Ihre Finger verschlingen sich, ihr Mund ist geöffnet.
Ich erschrecke. „Sophl, nicht doch! Ich brauch dich!" Ich weiß nicht, wozu ich das sage, nehme ihre Hände auseinander, drücke sie und setze mich zu ihr.
Sie schaut mich lange und traurig an. Dann bricht sie zusammen und schluchzt.
„Ist doch gar nicht gesagt, dass sie mich noch einmal holen, Sophie."
„Doch!" schreit sie, als wolle sie nicht belogen sein. „Alle holen sie jetzt, bei uns in der Fabrik geht das schon die ganze Woche."
Sie schaut mit verweinten Augen durchs Fenster und sagt dann ganz langsam: „Wozu — das — nun — alles ?!!"
Das „Fest der Liebe" naht zum zweiten Male. An den Bahnhöfen stehen sie in langen Fronten. Sie schreiben keine patriotischen Sprüche mehr an die Wagen, ihr Gesang ist verstummt. Die Fähnchen auf den Kriegskarten machen nicht mehr viel Arbeit, es ist oft „Nichts Neues" zu melden. Die Preise klettern, klettern; der Hunger geht um im Lande. Von den Kanzeln herab eifern die Diener Gottes, um im Namen ihres Gottes zum heiligen Mord aufzurufen. Scharen von Kriegsfreiwilligen — von Kindern — sind schon geschlachtet. Man muss auf immer jüngere Jahrgänge zurückgreifen.
Wir sind nicht überrascht, als uns drei Wochen später der „Rote Schein" von neuem zufliegt.
Als ich ihr sage: „Ich gehe, Sophie", drückt sie kaum merklich meine Hand. Mein Entschluss war längst fertig, schon an jenem Abend, als sie zusammenbrach, und sie mir, der ich um sie fürchtete, bestätigte:
„Hans, ich bin schwanger!"
Dass sie so bitterlich weinte, hatte jedoch noch einen andern Grund.
Alfred ist hier. Ich hätte ihn fast nicht wieder erkannt. Sein Mund hängt durch den abgeschossenen Unterkiefer so schräg ins Gesicht, als wäre ihm das Fundament weggerissen, als hinge diese Seite nur an dem Auge, das viel größer scheint als das andere und immer läuft. Ein ungleichmäßiger Bart versucht das Heldentum zu verdecken, das ihn zeichnet.
So kehrte er heim, will seinen Jungen auf den Schoß nehmen. Aber sein Kind fürchtet sich. „Geh fort, was willst du hier? Du bist nicht mein Papa. Ich mag dich nicht!"
Und der Vater — erzählte Lotte Sophie — steht vor seinem Kind mit unbeweglichem Gesicht. Dieses Gesicht kann kein Lachen und keine Trauer mehr ausdrücken. Alle Gesichtsmuskeln sind zerschossen.
Als ich Abschied nehme, treffe ich nur Klaus und Anna. Martha hat Nachtschicht, Klaus bestellt mir ihre Grüße. Die andern kommen noch ein Stückchen des Weges mit, noch für einen Schoppen am Abend, wie immer, wenn einer besonders schwer zu tragen hat. Es wird dadurch nicht leichter, aber was soll man machen?
Alfred bleibt zu Hause, und ich mag ihn nicht nötigen. Ich versuche mir das frühere, ruhige, bartlose, intelligente Gesicht vorzustellen, als ich ihm die Hand zum Abschied reiche, aber nur wer es gut kannte, findet an der rechten Augenpartie und der hohen Schläfe den Ausgangspunkt. Ich rufe den Kleinen, will ihm die Hand geben. Er hebt erst sein Spielzeug auf, hält es mit seiner kleinen Faust krampfhaft fest und zeigt mir stolz sein Kleinod: Das „Eiserne Kreuz" zweiter Klasse, das Alfred vor einigen Tagen von seiner Truppe nachgeschickt wurde.
Wir sitzen wieder in blauen Ehrenkleidern; verschiedene haben schon feldgraue Uniformen. An einigen dieser Felduniformen sind noch Blutspuren.
Ich philosophiere diesmal, ob den Trägern dieser Ehrenröcke der Kopf abgedeckt, der Arm abgerissen, der Bauch aufgeschlitzt wurde. Vielleicht habe ich das Ehrenkleid von Georg Fidel an oder von Alfred Maußner. Warum soll in eines Kaisers Rock nur einmal gestorben oder verkrüppelt sein?
„Zählen Sie mir die Vorgesetzten auf, Meier."
„Gefreiter, Unteroffizier, Vizewachtmeister, Wachtmeister, Feldwebelleutnant, Leutnant, Oberleutnant, Hauptmann —"
„Ist das soweit richtig, Weißdorn?"
„Jawohl, Herr Unteroffizier!"
„Sie sind ein Esel, Weißdorn, haben Sie verstanden?"
„Jawohl, Herr Unteroffizier!"
„Ist das richtig, Brachfeld?"
„Nein, Herr Unteroffizier!"
„Sagen Sie dem Weißdorn und dem Meier, was sie vergessen haben!"
„Den Sergeant, Herr Unteroffizier!"
„Serrrr rrrichtig, den Sergeanten!" Der Unteroffizier betont das „Sehr richtig" tief und breit, es ist auch wirklich allerhand!
Aber das ist ja noch nicht alles! Da sind die Kerls schon monatelang draußen gewesen und bekommen mit dem Arm den Winkel nicht heraus, der zu einem exakten Gruß notwendig ist. Ein anderer stellt wieder die Handfläche zu weit nach außen, wieder ein anderer nach innen, der dritte vergisst den Daumen an den Zeigefinger zu legen. Noch nicht einmal die „Grundstellung" sitzt. In solch unmilitärischer Haltung kann man doch keinen Feind besiegen!
Gehen, Grüßen, „Stillgestanden!", „Augen rechts!", „links!" „Rührt euch!" Von Grund auf muss man wieder anfangen.
Wie kann man zum Beispiel jemand totschießen, wenn die Griffe nicht klappen? Was muss der „Feind" denken, wenn ein deutscher Soldat die Kokarde nicht senkrecht über der Nase trägt? Der vergisst doch vor Staunen todsicher das Ausrücken !
Und uns sollen sogar Kanonen anvertraut werden?
Früher benötigte man ein volles Jahr, um den Rekruten so konfus zu machen, bis er von seinen eigenen Minderwertigkeitsgefühlen so beherrscht war, dass er im zweiten Jahr selbst mit Behagen auf den neuankommenden Rekruten herumtrampelte. Nun soll diese Leistung in sechs Wochen vollbracht und daneben noch die Kriegskunst erlernt werden.
Ich bin überzeugt, dass unser Unteroffizier verzweifeln würde, wenn er wüsste, wie grausam draußen die militärischen Regeln missachtet werden. Er lässt uns zwanzigmal auf- und absitzen, bis alles aufs Härchen klappt.
Einmal hat der Kanonier Nr. 4 den Steckschlüssel einen Knopf zu tief im Waffenrock sitzen! Das anderemal hat sich einer beim Aufspringen mit den Händen nicht vorschriftsmäßig gestützt! Dann hat Kanonier Nr. 5 nicht richtig untergeärmelt. Dann macht einer, den das gar nichts angeht, im Eifer den Protzkasten auf, um Granaten herauszuschmeißen! Dann greift wieder ein anderer beim Umdrehen des Munitionswagens die Deichsel verkehrt! Dann hat Kanonier Nr. 3 die Hände verkehrt auf dem Sporengriff! Ein anderer verliert die Mütze, setzt sie wieder auf und läuft nach „Abgesessen" wie toll hinter die Kanone, kommt auch rechtzeitig an und steht wie angenagelt — mit der Kokarde nach hinten. Unser Unteroffizier verzweifelt. Zu seiner Ehre sei gesagt: er meint es gut mit uns, so auf seine Art. Er ist nicht bösartig. Aber nun, als Meier in „Grundstellung" steht und nicht fühlt! — nicht fühlt! — wie ihm seine Mütze auf dem Kopf sitzt, ist Unteroffizier Wurm der Verzweiflung nahe.
„Meier!" sagt er nur, „Meier! 1" — in einem Ton, der schon mehr Bitte ist als Befehl.
Und als Meier seelenruhig auf ihn zustampft, sich drei Schritte vor ihm, so gut er kann, aufpflanzt und die militärische Rückantwort: „Herr Unteroffizier" hinschmettert, da muss sich unser Unteroffizier umdrehen. Er ist so vollständig fertig, dass er die Augen abwenden muss, denn dieser Meier denkt nicht daran, seine Mütze richtig zu setzen. Er muss ohne jedes Gefühl sein. Und doch — ein Glück, dass das nicht immer herauskommt, draußen wird noch ganz anders gesündigt.
Da fährt, dicht hinter Zuzel, einem polnischen Flecken, Artillerie in Stellung und muss über freies Ackerland. Einem Stangenpferd wird von einem Granatfetzen das Maul weggerissen, es bäumt sich auf, schreit so schauerlich, dass mir das Blut zu erfrieren droht, bäumt sich auf und kommt nicht los, steigt über das linke Stangenpferd. Eine zweite Granate schlägt ein, dicht davor. Ein Vorderpferd reißt sich los, das andere reißt die andern nach links herum. Ein Schlagen und Toben beginnt. Ein Knäuel Pferde wird zu Boden gerissen, ohne dass jemand helfen kann. Die Kanone ist bis an die Achse versunken. Schweres Granatfeuer liegt über dem Acker. Die Kanoniere haben keine andere Deckung als die versunkene Kanone mit dem Knäuel Pferde davor.
Ich weiß nicht, ob sie alle vorschriftsmäßig abgesprungen sind, ob einem die Mütze verrutscht ist, ob Kanonier Nr. 4 den Steckschlüssel vorschriftsmäßig zwischen dem zweiten und dritten Knopf des Waffenrockes trug. Als das Granatfeuer schwächer wurde und wir durch die Ackerfurchen krochen auf die uns winkenden Kanoniere zu, gab ihr Unteroffizier kein Kommando mehr. Er lag mit dem Gesicht auf der Erde. Als wir ihn hochnahmen, fiel sein Kopf nach vorn. Das Genick war durchschlagen. Die Erde, die auf ihm lag, war ein blutiger Brei. Einem Kanonier war der Fuß zertrümmert, vielleicht ist er ganz richtig abgesprungen. Aber er wird die „Grundstellung" nie mehr richtig lernen. Einem andern ist ein Splitter in den Rücken gesaust. Wir haben ihm den Rock heruntergerissen und ihn — ohne Helm — fortgetragen. Nichts mehr war vorschriftsmäßig, vielleicht, weil kein Unteroffizier richtige Befehle geben konnte. Das Knäuel Pferde entwirrte sich von selbst, nachdem die Stränge durchschnitten waren. Der Stangengaul erhob sich nicht mehr, er war fast völlig ausgeblutet. Er schrie nicht einmal; als er noch eine Kugel in den Kopf bekam, warf er den Kopf nur noch einmal — als wolle er einen Brummer verjagen — kurz herum, streckte sein zerfetztes Maul mit einem Ruck nach vorn und blieb liegen.
Als wir das Geschütz freischaufeln, fliegt auch ein verbeulter Helm beiseite. Die verwundeten Kanoniere ließen sich alle nach hinten schleppen, ohne sich erst richtig anzuziehen — Herr Unteroffizier Wurm!
„Betzoldt!"
„Herr Unteroffizier!"
„Wo steht Kanonier Nr. 5 in Grundstellung?"
Betzoldt spinnt wieder. Fehlt nicht viel, dann sagt er: Ist vielleicht schon tot, Herr Unteroffizier! Aber es fällt ihm rechtzeitig ein, dass er momentan auf dem Acker in Polen gar nichts zu suchen hat; er ist aber verwirrt, zerstreut, und ehe er Antwort findet, hört er: „Betzoldt! Sie sollten sich schämen!"
Ich sehe Unteroffizier Wurm an. Er sieht ganz zerknirscht aus. Er hält etwas von mir. Ein paarmal habe ich mit ihm über außerdienstliche Dinge gesprochen, und er hielt mich sicher für einen ganz vernünftigen Menschen. Nun stehe ich vor ihm, im Verdacht, seine Loyalität schmählich zu missbrauchen. Ich kann ihm nicht zürnen, könnte auch nicht über ihn lachen. Er ist zweifellos — auf seine Art — ein guter Mensch und ein noch besserer Soldat. Er ist der deutsche Militarismus ohne „Auswüchse". Er ist gut, dumm, kindisch, willenlos, ein exakt arbeitendes Rädchen in der großen Maschinerie, die die Menschen und alles, was Menschen schufen und entwickelten, zu Blut und Schutt und Dreck stampft und brennt.
Unteroffizier Brennecke ist von anderem Holz! Man merkt es schon an seinem Kommando! So an die dreißigmal lässt er uns „auf- und absitzen". Sie pusten und schwitzen und dampfen; wenn sie ihre Frau, Mutter, Kind aus den Flammen holen müssten, sie würden es nicht eiliger haben können.
Ich komme gerade immer noch früh genug, um aufzufallen und muss vortreten.
„Aufgesessen!"
„Abgesessen!"
„Aufgesessen!"
„Abgesessen!"
„Das macht Ihnen wohl keinen Spaß allein?" brüllt er jetzt, „ziehen Sie Ihre Knochen nach, sonst-----"
Ich sehe ihn an, gehe langsam auf den Munitionswagen zu, klettere in aller Gemütsruhe hoch und setze mich. Ich bin Kanonier Nr. 4, sitze in der Mitte und muss drei und fünf einhängen und natürlich auch die entsprechende Bewegung mit den Ellenbogen markieren. Da meine Ellenbogen sehr gesund sind, vielleicht auch, weil ohne die Fähigkeit, dem militärischen Stumpfsinn die humoristische Note abzugewinnen, ein gesundes Hirn einfach platzen würde, klappt diese Verärmelung in der Luft so gut, dass Herr Unteroffizier Brennecke denkt, ich will ihn foppen.
„Kommen Sie einmal her!"
„Herr Unteroffizier!"
„Sagen Sie einmal, Sie Bürschlein, Sie glauben wohl, wir werden mit Ihnen nicht fertig!?"
„Herr Unteroffizier, ich bin schon fertig, meine Knochen sind schon kaputt. Und dann bin ich für Sie kein Bürschlein, verstehen Sie?"
„Halten Sie die Schnauze! Antworten Sie, wenn Sie gefragt werden."
„Ich verbitte mir einen solchen Ton und die Ausdrücke in diesem Ton, soweit sie meine Person betreffen, und überdies haben Herr Unteroffizier mich gefragt!"
„Melden Sie sich sofort beim Herrn Wachtmeister, Sie unverschämter Lümmel!"
„Zu Befehl, Herr Unteroffizier!"
„Kanonier Betzoldt zur Stelle auf Befehl von Herrn Unteroffizier Brennecke."
„Warum?"
„Ich habe kranke Füße und kann nicht schnell genug laufen."
Der Herr Wachtmeister zupft an seinem Bart, lässt seine Schweinsaugen über mich herunterrollen und sagt: „Heute mittag, sofort nach dem Dienst, treten Sie feldmarschmäßig an!"
Ich tue wie befohlen.
Der Herr Wachtmeister reißt mir alles durcheinander, wirft mir die Ehrenkleider vor die Füße, in den Dreck, dreimal hintereinander. Dann ist die Mittagspause um. Nachmittags trete ich mit zum Fußdienst an.
Der Herr Wachtmeister kommt und beäugelt die „Rekruten!"
„Betzoldt!"
„Herr Wachtmeister!"
„Noch mal zurück! — Aber Tempo! Hierher!"
Der Herr Wachtmeister mustert mich von oben bis unten.
Mir imponiert das nicht, und das mag der Herr Wachtmeister mehr fühlen als sehen, denn er brüllt los: „Sehen Sie mich an, in die Augen! Ohne Tritt, marsch!"
Dreimal marschiere ich hin und her, mache „Kehrt", „Rechts um", „Links um", wieder „Marsch" — und alles nicht schnell genug.
„Sie wollen nicht?" Der Herr Wachtmeister singt das „wollen", hört aber sofort auf zu singen, als ich antworte: „Ich bin bereits ein Kriegskrüppel und habe keine Lust, meine Knochen völlig zu ruinieren, Herr Wachtmeister."
Eine Stunde später marschiere ich zwischen zwei aufgepflanzten Gewehren in Arrest.
Ich bin schon wieder vier Wochen Soldat, als ich mich „vom Arrest zurück" melde. Das „Aufsitzen" und „Absitzen" klappt einigermaßen, auch das „Abprotzen" auf dem Kasernenhof. Auch von dem Rundblickfernrohr, dem Teilkreis haben wir einiges läuten hören. Wir wissen außerdem, warum die „Leichte Feldhaubitze 98/09" zwei Geburtstage hat, dass sie 98 eingeführt und 09 mit Rohrrücklauf versehen wurde. Wir wissen, dass die Feldkanone 06 ein Schnellfeuergeschütz ist und dass die lateinische Inschrift, auf die wir unsere Hand beim Schwur legen, auf deutsch: „Des Königs letztes Wort" heißt. Wir kennen die Kriegsstärke einer Batterie, einer Abteilung, eines Regiments und wissen, dass wir uns nach 24 Stunden beschweren dürfen. Wir wissen auch, als wir wieder einmal, einschließlich der Verbrecher, Generalurlaub bekommen, dass unsere Tage gezählt sind.
Sonst wissen wir nichts. Mein einziger Trost ist: man kann uns unmöglich die Verteidigung des Vaterlandes anvertrauen. Wir wären eine „Wacht am Rhein", lächerlicher noch als eine Kompanie mit Tuthörnern ausgerüsteter Nachtwächter.
Aber wir werden trotzdem verladen. Als Teil einer neuen Batterie nach Altona. Von Bahrenfeld, Lübeck, Rostock kommen die andern. Wir liegen in Alarmbereitschaft, treten täglich zehnmal an, wissen nicht, ob wir in einer Stunde oder erst morgen oder in einer Woche nach dem Osten, dem Westen, dem Süden oder nach dem Balkan abdampfen. Keiner darf das Quartier verlassen.
Da ich einer der minderwertigsten Soldaten dieser minderwertigen Batterie bin, werde ich Kanonier des Lebensmittelwagens.
Mein Vorgesetzter ist der Gefreite Stangenreiter Lohmann. Das eine Ohr fehlt ihm fast ganz; über die linke Stirnhälfte läuft eine tiefe Narbe. Die Haut darauf ist noch ganz wundfarben. Er mag an die Vierzig heran sein. Die Schirmmütze, wie sie die Fahrer tragen, sitzt unmilitärisch auf seinem ramponierten Kopf. Der Bart hängt ihm ebenso unmilitärisch neben dem Pfeifenrohr herunter. Er hat so etwas von Menschen an sich, die den größten Teil ihres Lebens mit Pferden verbringen, Zwiesprache mit ihnen führen. Wer sie versteht, den mögen sie gern.
Er geht nach dem letzten Appell noch einmal in den Stall zurück und sagt dort zu mir: „Du wohnst doch hier, Betzoldt, kannst ruhig nach Hause gehen, musst nur morgen früh um sieben hier sein."
Ich bin auch ohne dieses Entgegenkommen bereit, zu verduften, aber eine solche Unterstützung ist viel wert. Ich möchte ihn mitnehmen und sage kurz entschlossen: „Komm mit, Lohmann. Meine Frau würde sich freuen."
„Ist es weit?"
„Wir sind in einer halben Stunde da."
Er antwortet nicht sofort, stopft erst den Tabak in der hohlgebrannten Pfeife zusammen und kippt die Asche aus dem Fenster, dann zieht er ein paarmal kräftig. „Wenn ich euch angenehm bin, komm ich mit."
Wir gehen hinten durch den Garten. Es ist kalt, trockener Schnee wirbelt durch die Nacht. Wir müssen die Kragen an den Mänteln hochschlagen.
Sophie kommt sofort herunter. Sie wartet schon auf den bekannten Pfiff. Es ist angenehm warm in der Stube. Sophie hat Kaffee gekocht.
„Hast Schwein gehabt, Hans, dass wir hier zusammengestellt werden."
Als Sophie — die schon mit der Kanne wartet — Lohmann von neuem eingießt, denkt er wohl erst daran, dass er bei „fremden Leuten" ist und wischt sich den Bart ab.
„Haben Sie Kinder?" fragt Sophie und setzt sich neben ihn auf die Chaiselongue.
„Fünf, alle noch schulpflichtig."
„Wie lange sind Sie schon weg?"
„Von Anfang an, immer in Frankreich. Hoffentlich kommen wir da nicht wieder hin."
„Wie lange könnt ihr bleiben?" fragt Sophie. Sie weiß nicht, dass wir ohne Urlaub sind. Lohmann sieht unentschlossen nach der Uhr. Es ist Mitternacht.
„Ich muss gehen", meint er dann.
„Bleiben Sie doch hier", bittet Sophie. „Gehen Sie morgen früh mit Hans."
Lohmann bleibt schwer sitzen, sagt nichts. Er lässt sich von Sophie die Stiefel ausziehen und zieht ein Paar Pantoffel an. Als sie seinen Mantel vom Bett fortnimmt, bittet er sie, ihn herüberzureichen, nimmt ein Stück fetten Speck heraus und sagt:
„Nehmen Sie dat, Frau Betzoldt!" Er lässt keine Widerrede zu. Man merkt ihm an, es ist ihm ein Bedürfnis, zu danken.
Sophie deckt ihn zu. Er liegt mit dem Gesicht gegen die Wand. Man sieht fast nichts von seinem Gesicht als das zerfetzte Ohr.
Wir schlafen wenig. Um fünf Uhr müssen wir zum Stalldienst sein. Um vier Uhr steht Sophie auf und macht Frühstück. Sie ist ohne Arbeit, kann dann noch schlafen.
„Kommst heute abend gegen sieben einmal hin", verabreden wir uns — „ich komme hinten über den Garten." Lohmann sagt: „Schönen Dank, Frau Betzoldt" und dann zu mir: „Bleib ruhig noch hier, Hans, um sieben ist noch Zeit, ich werde schon fertig." Ich mag ihn aber nicht allein gehen lassen. Einen Tag bleiben wir ja sicher noch; die Batterie ist noch nicht vollzählig, nicht an Menschen und Material.
Wir machen stumm unseren Stalldienst. Lohmann sagt zu mir „Hans" und ich zu ihm „Gustav".
Der Appell am Abend dauert länger als sonst. Alles ist einander fremd. Die Offiziere und Unteroffiziere und die ihnen unterstellte Mannschaft. Zwei Mann fehlen, fehlen immer noch, als schon einige Male abgezählt ist. Ein junger Leutnant fragt einen Wachtmeister verwundert: „Wo sind denn die Leute, wenn sie da waren?" Der Wachtmeister macht ein vorschriftsmäßiges Untergebenengesicht, und als der Leutnant hartnäckig auf Antwort wartet, sagt er: „Entschuldigen Herr Leutnant, einsperren kann ich die Leute nicht!"
„Mal herhören!" vernehmen wir dann. „Die Batterie kann jede Stunde abmarschieren. Es ist streng verboten, die Quartiere zu verlassen."
„Ich muss meiner Frau Bescheid sagen", teile ich Gustav mit.
„Bring se mit rin", sagt er, „draußen könnt ihr nicht stehen."
„Tag, Frau Betzoldt. So gemütlich wie bei Ihnen ist es ja nicht, aber besser als draußen." Gustav schiebt ihr eine Kiste hin und setzt sich selbst auf einen Sack. Auf einem „requirierten" Gartenstuhl nehme ich Platz.
Dann zieht Sophie unter ihrem Cape ihre Markttasche hervor. Sie hat außer einigen Schnitten ein wenig Kakao mitgebracht. Sie wollte den Speck nicht allzu billig haben. Die traurige Ölfunzel brennt verschwiegen schummrig. Die andern sitzen vorn im Lokal oder in ihren Quartieren.
Die Wärme der Pferde macht den Aufenthalt im Stall eben erträglich.
„Waren die beiden aus Rostock?" frage ich. Mich interessieren die Ausreißer.
„Ja", sagt Gustav, „sind junge Kerls, kann's keinem verdenken." Er sagt das seufzend, wie bedauernd, dass er nicht mehr „jung" ist.
„Ein paar", sage ich, „besagen nichts. Alle müssten sie zur Vernunft kommen."
Gustav lächelt schmerzlich. „Vernunft!" wiederholt er dann.
Ein Leben lang hat er geschuftet, hat sich so recht und schlecht durchgeschlagen mit seinen paar Morgen Land, seinen Kindern. Nun ist er fort von seinem Haus aus Mecklenburg. Die Frau kann es nicht schaffen. Fremde Hilfe ist teuer — und ersetzt die Sorgfalt, den Fleiß, den Vater nicht. Das Land bleibt unbebaut oder wird schlecht bebaut. Die Händler und Käufer sind gerissen. Drei Brüder hat er draußen, zwei von der Frau. Alle schreiben sie und jedem will man ein bisschen schicken, sind doch alles arme Teufel, die in der Stadt arbeiteten. Die Verpflichtungen gehen weiter. Die Kinder werden größer, zwei kennen ihren Vater fast gar nicht. Man frisst das bisschen langsam auf, kommt noch gerade zurecht zur Versteigerung — wenn's noch lange dauert.
„Vernunft", sagt er noch einmal und schüttelt den Kopf. „Ich glaube nicht an die Vernunft. Zu viele haben leicht reden. Sie predigen Durchhalten und machen sich an uns gesund."
Ich bringe Sophie über den Garten fort. Von den Dächern tropft Schneewasser.
„Halt den Kopf hoch, Sophl."
„Gute Nacht, Lütting."
Zwei Tage später wird die Batterie verladen, ganz überraschend, kein Mensch nahm die Alarmbereitschaft mehr so ernst. Sie standen schon angetreten, als ich morgens um sieben Uhr von hinten her über den Garten komme. Die Zahl der Drückeberger hat sich auf vier erhöht. Irgendeiner schnauzt auf mich los.
„Wo kommen Sie jetzt her?"
„Von meiner Frau."
Dann schüttelt er — ich weiß nicht warum — den Kopf und lässt mich in Ruh. Es ist bitter kalt geworden. Trotzdem der Wagen voller Pferde ist, hält sich an den Bolzenköpfen der glitzernde Reif.
Sophie hat keine Ruhe und macht sich auf den Weg nach Altona. Wir sind längst fort, aber sie findet uns, als wir Geschütze, Pferde und Bagage an einer offenen Rampe übernehmen. Ich mache den Wagen „wohnlich". Da kommt Gustav herein und sagt: „Sag Sophie ade, Hans, sie is buten."
Wir gehen hinter einen Güterwagen. Die Kommandos dringen durch das Schneegestöber zu uns herüber. Mir fällt ein, dass mein Tornister noch auf dem offenen Wagen liegt, auf dem die Geschütze stehen, und dass mein Karabiner dort verschneit. Die Geschütz- und Munitionswagenführer vergewissern sich bereits, ob „alles da" ist. Die Geschützbedienung ist in Personenwagen untergebracht, die Fahrer und die Bagagemannschaft sind mit den Pferden zusammen im Viehwagen. — Ich möchte nicht, dass Gustav Unannehmlichkeiten hat.
„Ich muss gehen, Sophl!" Wir stehen uns wortlos gegenüber, keiner streckt dem andern die Hand zum Gruß hin; keiner will den Anfang machen. Sophie sieht zu Boden, als beobachte sie, wie sich die Flocken tänzelnd in den Schnee setzen. Noch einmal packt es mich: soll ich sie fahren lassen mit ihren Kanonen? Noch ist es Zeit!
„Ade, Lütting!" Sie steht schon wieder aufrecht vor mir. Ich halte lose ihre rechte Hand in der meinen. Wir hätten uns noch so viel zu sagen — aber wozu erst beginnen, es ist keine Zeit mehr.
Sie zieht unter dem Regenmantel ein Paket hervor und gibt es mir. „Kannst Gustav davon abgeben." Sie lässt die Hände sinken und dreht sich um, setzt dann langsam — wie im Schlaf — einen Fuß vor den andern.
„Frau Betzoldt!" — Gustav kommt eiligen Schrittes. Sophie dreht sich um, und Gustav reicht ihr hastig beide Hände. „Hebben Sie Dank für alles, Sophie!" Er hebt wie zur Betonung ihre Hände mit den seinen und zieht sie ruckartig wieder nach unten. Als wolle er etwas abschütteln.
„Hebben Sie keen Angst, Sophie, ick werd schon uf em uppassen." Ein schwacher Trost — aber ein ehrlicher Versuch, und Sophie sieht ihn dankbar an, dann an ihm vorbei, auf mich zu und lächelt ein wenig. „Ich wünsche Ihnen alles Gute, Gustav, bin auch froh, dass Hans bei Ihnen ist, hoffentlich bleibt ihr zusammen."
„Wem dat schon maken. — Aber nu möt wi gohn. Nochmals Dank für alles."
Gustav dreht sich mit einem Ruck um. Einmal muss man ja auseinanderkommen. Sophie bleibt stehen, ihre Hände hängen herab. Der Schnee fällt dicht auf ihren bloßen Kopf. Ihr Lächeln ist verflogen. Ihr Nacken ist gebeugt. Ihre Schultern hängen, als hätte sie keine Kraft mehr, sich umzudrehen und zu gehen.
Ich kann sie nicht so zurücklassen, laufe noch einmal zurück und küsse ihren nassen Mund. Ich weiß nicht, ob es Schneewasser oder Tränen sind, und drehe sie behutsam um. „Musst lieb sein, Sophl!"
Sie ist auch „lieb". Langsam und schwer hebt sie ihre Füße über schneebedeckte Steine und Schienen zur Straße hin, ohne sich umzudrehen. Gustav kommt noch einmal zurück, klopft mir auf die Schulter und sagt: „Komm, Hans, es geht los."
Der Wachtmeister kommt und Gustav meldet: „Lebensmittelwagen: fünf Mann und vier Pferde vollzählig zur Stelle."
Wir frieren trotz der dicken Pferdedecken, in die wir uns einwickeln können. Und es ist dunkel und langweilig. Wir sind einander fremd, kennen uns kaum dem Ansehen nach. Jeder hat noch zu tun, seine „Klamotten" so unterzubringen, dass er auf dem einen Nagel, der für Mantel, Helm, Munition, Gewehr, Schuhe, Tornister und sonstiges Zubehör zur Verfügung steht, genügende Übersicht bekommt.
Eine Frage beschäftigt alle: Wo fahren wir hin? Der Wagen ist fensterlos. — Kein Zugführer meldet irgendeine Station. Wir merken nicht, dass es draußen schon dunkel ist. Bei uns im Wagen brennt Tag und Nacht ein Stearinstummel. Das Vorderpferd neben mir stampft unablässig im Takt der rollenden Räder. Es ist ein „Krippensetzer".
Wir fahren schon dem andern Morgen entgegen, warten auf Kaffee, haben schon einige Stunden Schlaf hinter uns, den sich der müde Körper auch in der ungemütlichen Situation nimmt, als wir Berlin im Rücken haben. Es geht also nicht nach Frankreich! Wilzki, der zweite Kanonier des L-Wagens, ist willens,-seine Schokolade zu opfern und einen Schnaps zu spendieren.
'n lütten Köm", sagt Gustav, „lot ick mi gern gefallen."
Es dauert ein bisschen lange, bis Wilzki seinen „Spind" findet, und als er ihn findet, wünscht er die Hölle und alle Teufel auf den stampfenden Falben.
So schön hat Wilzki alles in seinen Helm gelegt: die Schokolade, die Bonbons, die teuren Datteln, obendrauf das Fläschchen Schnaps; nur zu dicht an den Falben. Der hat sich nicht durch das zusammengezogene Lederfutter beirren lassen, hat alles sauber herausgefressen, ohne es erst auszuwickeln. Als er nichts Passendes mehr fand, hat er die Lederschnur durchgebissen, so dass der Helm herunterpurzelte auf den frischen dampfenden Pferdemist.
„So'n Schinder, verdammigter, Hund verfluchter, Mistkröte.
------Trete bloß noch meinen Helm entzwei, dann schlag ich
dir 's Kreuz in!" Wilzki ist furchtbar zornig, angelt ängstlich nach seinem Helm und schimpft in einem fort.
„Hat he den Schnaps ok utsopen?" fragt Gustav lachend. Wilzki leuchtet mit der Taschenlampe und findet die Schnapspulle unversehrt in der Streu. „Den Schnaps hat er übriggelassen", stellt Wilzki resigniert fest, bückt sich, um die Pulle aufzuheben, und fängt von neuem an zu toben. „Dem Schinder könnte ich das Messer in den Wanst rennen!"
Warum denn dat?", fragt Gustav neugierig, „hat er denn sonst noch wat utfreten?" Wilzki ist zu ärgerlich, um von dem Spott eine besondere Notiz zu nehmen. Er hat dafür seine Gründe. Der Falbe hat auch die Zigaretten probiert. Sie müssen ihm aber nicht besonders geschmeckt haben, denn sie liegen zerbissen zwischen den Pferden verstreut.
„Nu bring man rasch den Köm, eh dat he den ok noch utsup", sagt Gustav; Wilzki tut wie gewünscht. Er hätte aber noch lieber gesehen, der Gaul hätte sich die Splitter seiner Schnapsflasche in den Rachen gefressen und wäre daran erstickt. Er sagt das wie bedauernd, während Gustav die Buddel entkorkt und nach einem kräftigen „Prost" einen tüchtigen Schluck nimmt. Ich trinke als zweiter und lasse einen Rest für Wilzki. Er trinkt ihn zornig aus und wirft die Flasche in die Ecke. Gustav schließt die Episode: „Lot man, Wilzki, dat is dat größte Unglück noch nich."
Es wird Tag, wird wieder Nacht, wird wieder Tag — das heißt, außerhalb unseres Wagens. Wir fahren im Dunkeln durch die Tage und Nächte, essen die Dauerwurst auf, die wir als Verpflegung empfingen und die mit Dauerwurst lediglich die Härte gemein hat — und die „Berliner", die in dem Paket von Sophie sind. Wir haben längst die deutsche Grenze verlassen. Als wir zum ersten Mal haltmachen, sind wir schon in Brest-Litowsk. Dort gehen wir in eine große Kantine und essen Graupen, dick und blau und kleisterig.
Es wimmelt von Truppen aller Gattungen. Die große Truppenverschiebung vom Osten nach dem Westen ist in vollem Gange. Die Temperatur liegt zwanzig Grad unter Null. Unser minderwertiges Unterzeug kapituliert widerstandslos vor der schneidenden Kälte. Wir vertilgen unsere heißen Graupen — ihr Wert liegt in ihrer Temperatur, nicht in ihrem Nährwert — und gehen zurück zu unseren Gäulen. Ein Dauerskat hilft uns bis nach Kosowo, wo wir auf einer freien Rampe Kanonen, Wagen und Pferde ausladen und dann aus alten Konservenbüchsen Dörrgemüse essen.
Es ist noch früh, als die Batterie feldmarschmäßig antritt, Fahrer und Kanoniere aufsitzen und hineinfahren in die weiße weite russische Ebene. Vier Mann scheiden sofort aus, sie können den russischen Winter nicht vertragen. Sie haben Durchfall, hohes Fieber und frieren.
Es ist aber nicht nur unter der Mannschaft schon recht später und wackliger Landsturm, sondern auch unter den Pferden. Sie sind nicht gewöhnt, ohne Deichsel in den Strängen zu gehen, sind mangelhaft zugeritten, viel zu mangelhaft, um durch die verwahrlosten Straßen so zu balancieren, dass einem Abrutschen der Kanonen in den hohen Schnee vorgebeugt wird. Der Schnee selbst blendet viele, sie bleiben stehen und sind durch nichts zu bewegen, weiterzugehen. Öfter als einmal sitzen wir fest, müssen die Kanonen wieder rückwärts aus dem Schnee ziehen. Die Pferde bäumen sich, wenn sie im Schnee versinken. Das neue Lederzeug ist schon minderwertig, es reißt. Die neuen Stränge ziehen sich ungleichmäßig. Unser Hauptmann reitet wütend auf und ab und schimpft: „Zigeuner! Zigeuner, wie sie im Buche stehen. Was soll das bloß werden, wenn wir ins Gefecht kommen. — Dazwischengeschossen müsste werden, Brennzünder müssen die Herrschaften haben."
Da drängt das rechte Vorderpferd des zweiten Geschützes schon wieder so stark links auf; der Vorderreiter schlägt es über die Ohren. Es bäumt sich und springt dem Sattelpferd beinahe über den Kopf. Der Fahrer kann nicht verhindern, dass es wieder den Abhang hinuntergeht, in den tiefen Schnee, in dem die Gäule ängstlich stampfen und bäumen.
„Himmelkreuzdonnerwetter! — Kanoniere nach vorn!"
Spät abends machen wir in einer alten Scheune Quartier. Alles geht durcheinander. In der Scheune ist kaum für die Pferde Platz. Der L-Wagen soll Quartier bei der Infanterie beziehen, die in den wenigen Häusern liegt.
Es ist leidlich warm in dem engen Stall, in dem Pferd an Pferd steht. Gustav hat beim Empfang einige Flaschen Wein „erwischt". Wilzki hat bereits seinen Verlust verschmerzt; auch er sieht, wie rasch Glück und Unglück wechseln.
„Prost Hans! — Prost Werner!" sagt Gustav und schöpft den heißen Wein aus dem Kochgeschirr. „Ah, das ist schön!" Wilzki muss noch ein zweites Geschirr heißmachen. Wilzki glaubt, die ersten Läuse zu verspüren, er sagt, dass ihn — den Kellner! — was „beißt". Wir werden warm in unseren Woilachen.
„Kinder", sagt Gustav, „wir können von Glück sagen, dass wir es so gut getroffen haben. Lasst sein, wie's will, besser als in Frankreich ist es auf jeden Fall. — Hast an Sophie geschrieben, Hans? Grüß sie von mir, hast 'n feine Fru."
Wilzki schnarcht schon.
„Batterie marsch!" Infanterie saust im Trab vorbei, vierspännig, ihre flinken Russenpferde springen über Gräben und Äcker, wenn sie nicht anderen ausweichen oder sie überholen können. Vor den primitiven Lagern gefangener Russen hängen gefrorene Lappen, soll wohl Wäsche sein. Sie selbst arbeiten in der bittersten Kälte, ohne Handschuhe oft, ohne Mantel, in Fetzen von Stiefeln, an den Straßen oder Bahnen, die sie beim Rückzug zerstörten. Sie weichen schleichend aus. Die Bajonette des Landsturms glitzern über ihren Köpfen im Frost.
Truppen begegnen uns wieder und wieder. Sie sind vom Krieg und dem russischen Winter gezeichnet, ihre Gesichter von Bärten bedeckt, blau-rot verwittert, ihre Lumpen vom Vormarsch zerfressen. Wie Windeln flattern ihre Mäntel an ihren mageren Leibern — und doch glänzt ein Funken Freude in ihren Augen: sie sehen bald Menschen, Frauen, die Heimat. Nur kurze Mittagsrast unterbricht unseren Marsch, kaum Zeit, die heißen Erbsenkonserven aus den heißen Tellern hinunterzuwürgen. Am Abend liegen wir wieder in einer verlassenen Scheune, durch deren große Löcher der Wind den Schnee jagt. Wir sind die ganze Nacht auf den Füßen, müssen sie dauernd bewegen, damit sie nicht erfrieren, bleiben ohne eine Stunde Schlaf.
Es gibt kein Wasser zum Waschen. Die Feldküche kocht morgens Kaffee mit geschmolzenem Schnee. Wer sich waschen will, muss sich mit Schnee waschen. Die wenigen Räume in den Häusern reichen gerade für die Offiziere.
Die andere Nacht ist es schon „besser". Wir werden in Infanteriequartiere verteilt. Die alten Knaben sind natürlich von dem Besuch nicht sehr erbaut. Aber wir sind müde und kriechen schläfrig und rücksichtslos auf die Pritschen. Es ist warm und stickig und eng auf dem verlausten Stroh. Man muss schon todmüde und völlig ausgefroren sein, um in dieser Luft zu schlafen. Aber der Krieg „härtet" ab. Ob jemand onaniert, phantasiert, sich kratzt, als wolle er die Haut von den Knochen reißen, schnarcht, flucht oder weint: wer fragt danach?
In der Ecke steht ein verspäteter Weihnachtsbaum.
Die nächste Nacht bekommt die Bagage für die Pferde einen Stall, und einen kleineren — groß genug für eine Kuh — für uns. Wir entfernen erst den Mist—er liegt einen Meter hoch—, verstopfen die großen Löcher mit dem Stroh der alten Scheune nebenan und legen den gefrorenen Fußboden damit aus. Das ist unser Standquartier. Wir sind fünfzehn Kilometer vom Orgiensky-Kanal, an dem die Front entlang läuft. Der Frost hat sich gebrochen; es taut, das Schneewasser läuft an den Balken herunter.
Wilzki kann nicht liegen, es beißt ihn so. Er geht hinaus, zieht sein Hemd aus, breitet es auf der weißen Schneedecke aus und erschrickt: „Was ist denn das?" fragt er ganz verdattert.
„Dat sin Lüs", sagt Gustav.
„Is doch nicht die Möglichkeit", protestiert Wilzki, „die sind ja bald so groß wie die Maikäfer." Es war aber nicht so schlimm. Wilzki war nur bis dahin der Meinung, dass man Läuse mit dem bloßen Auge kaum sehen kann. Nun hat er einige aufgesammelt, die er sehr deutlich sieht, überdeutlich groß. Es scheint ihm unmöglich, ein solches Hemd wieder anzuziehen. Er hat aber schon so oft gewechselt, dass alle seine Hemden verlaust sind. Wir liegen schon eingewickelt auf dem Stroh, als Wilzki ganz verstört mit seinem Hemd wieder hereintritt.
„Der Krieg", stellt er fest, „ist eine ekelhafte Sauerei!"
Wachtmeister Kammer ist nicht unser Freund. Aber Lohmann nimmt uns stets in Schutz. Er hat sich überzeugt, dass auch Wilzki ein brauchbarer Kerl ist.
Es ist längst ausgemacht — auch für den stupidesten Sohn des Vaterlandes —, dass gleicher Lohn und gleiches Essen die Disziplin derer, die den Krieg als eine Badekur ansehen, so völlig zersetzen würde, dass der Krieg auch nicht einen Tag länger dauern würde. So ist denn überall dafür gesorgt, den hohen und weniger hohen Herren das Durchhalten zu ermöglichen.
Jede der drei Batterien stellt einen Verpflegungsoffizier. Die Abteilung stellt ihren Unteroffizier oder Offizier natürlich selbst. Im Abteilungsstab sind sehr viele der hohen Herren: der Abteilungsführer, ein Major mit Adjutanten, dem ganzen Stab von Offizieren und ihren Burschen. Ein weiterer Stab von Etappenbewohnern wird vom Abteilungswachtmeister dirigiert, dann kommen die Oberveterinäre und Veterinäre mit ihrem Anhang, die Ober- und Unterfeuerwerker. Dort wird gut gekocht, der Verpflegungsoffizier des Proviantamtes, der die Abteilung schlecht beliefert, kann bald in Differenzen mit dem Burschen des Majors geraten. Der Major kennt in bezug auf Missachtung seiner Person keinen Spaß, und der Verpflegungsoffizier des Proviantamtes ist nicht dumm genug, seinen Posten leichtsinnig aufs Spiel zu setzen. Er beliefert also vorerst die Abteilung so, dass Beschwerden ausgeschlossen sind. Dann kommen die einzelnen Batterien.
Die Batterie kommt mit ihrem Bestand bis an die Räume des Verpflegungsunteroffiziers der Batterie. Der Verpflegungsunteroffizier — Futtermeister Pock — bedient erst den Offiziersburschen der Bagage, der für zwei Leutnants, einen Revierarzt usw. zu kochen hat — und natürlich so, dass er zufrieden ist. Dann kommt die Offiziersküche der Feuerstellung: Hauptmann, zwei Leutnants, Offizierstellvertreter, Bursche. Dann ist noch der „Etatsmäßige", einige Vize und Unteroffiziere. Dann kommt die Küche der Bagage, und zuletzt bekommen die Mannschaften der Bagage den ihnen „zustehenden" Teil.
Der Rest geht in Feuerstellung.
Dort holt der Offiziersbursche sein schon bereitgestelltes Quantum ab. Dass er für alle, vom Unteroffizier aufwärts, mitkocht, ist schon berücksichtigt. Das übrige wird in die Unterstände verteilt, und zwar ohne Schiebung. Die Köche der
Unterstände müssen sich in Zweifelsfällen umdrehen, und einer der abgewandten kann bestimmen, welcher Unterstand den Teil erhalten soll, auf dem der Finger des Vizewachtmeisters liegt. Der Rest wird also „ehrlich" verteilt. — Es lohnt sich auch nicht mehr, davon zu klauen.
Die Besatzung des L-Wagens steht bei den Mannschaften schlecht angeschrieben. Sie soll alles auffressen, verschieben, trotzdem der Verpflegungsoffizier der Batterie schwarz auf weiß hat, was empfangen worden ist, und der Verpflegungsoffizier des Proviantamtes sehr knapp wiegt. Der Futtermeister der Bagage lässt sich nicht betrügen, denn jedes Pfund Butter, das vordem gestohlen ist, geht ihm aus der Nase.
Um den Kameraden reinen Wein einzuschenken, hat nun Wilzki den Verpflegungszettel an sich gebracht, damit die gemeinen Muschkoten sehen, was für sie empfangen wurde und was sie erhalten.
Es war frisches Fleisch empfangen — und sie bekamen nur Klippfische. Es war Schmalzersatz empfangen, und sie bekamen nur stinkende Rübenmarmelade. Es war viel mehr Butter empfangen als verteilt. Überhaupt: Die ganze Rechnung stimmt nicht, stimmt nie, kann nicht stimmen!
Von diesem landesverräterischen Beginnen, den betrogenen Muschkoten zu beweisen, wo die Langfinger sitzen, erfuhr der Herr Wachtmeister durch die „Einjährigen". Über zwanzig Stück von diesen Herrensöhnen hat die Batterie. Sie kennen nur eine Sorge: Beförderung. Sie fragen nicht so viel nach dem gestohlenen Fleisch und Fett, Vater schickt ja.
Futtermeister Pock macht Gustav dann darauf aufmerksam, dass seine Kanoniere ihm auf der Nase herumtanzen, dass er sich keinen Respekt zu verschaffen wüsste. Gustav sagt darauf trocken: „Ich glaube, die haben vor mir mehr Respekt als vor Ihnen, Herr Sergeant."
Der Sergeant spürt den Hieb und wird ganz Vorgesetzter: „Nehmen Sie die Knochen zusammen, wenn Sie mit mir sprechen." Gustav erlaubt sich zu antworten, dass er im Moment keine Zeit habe. Er schmiert gerade seinen Wagen für den morgigen Empfang. Wilzki und ich haben Wache.
Als wir anderntags losfahren, erzählt Gustav, was gespielt wird. Es ist wieder sehr kalt, wir gehen zu Fuß neben den Pferden. Als Begleitung und Oberaufsicht ist zum ersten Mal Unteroffizier Armbrecht dabei, ein streng katholischer Kaufmannssohn. Er bleibt auf seinem Pferd sitzen. Seine Vorgesetztenpflicht fällt ihm nicht leicht.
„Nun haben sie uns auf dem Kieker", sagt Gustav, „wir werden noch allerhand erleben, aber lass sie man kommen. Wenn sie glauben, sie können mich einschüchtern, irren sie sich. Ich hab das bis hier." Er deutet dabei an, wie weit er es hat.
Wilzki ist sprachlos. Er hat sich nicht träumen lassen, dass der Verpflegungszettel, den er klaute, soviel Staub aufwirbeln könnte. „Zum Piepen", murmelt er kopfschüttelnd.
Wir sind uns bewusst, dass unsere Tage, die wir noch zusammen sein werden, gezählt sind. Ich frage Gustav: „Meinst du nicht, dass man die ganze Schose mit dem Kriegsschwindel ganz anders anpacken müsste? Was kann man schon verlieren?"
Gustav stampft grübelnd und stolpernd weiter und schlägt sich die an die Absätze gefrorenen Schneebatzen ab. „Ich weiß, was du meinst, Hans, weiß längst, was du bist. Aber glaub mir, kein Hahn kräht danach, wenn sie ein paar wegbringen. Ich hab das oft erlebt, aber ich lass mir trotzdem nichts gefallen. Die Bande frisst und säuft hier auf unsere Kosten." Er ereifert sich zusehends. Sein zu Nebel gewordener Atem schlägt in Wolken durch seinen vereisten Bart.
Ich weiß, was er meint, kenne den letzten Brief seiner Frau. Es ist so furchtbar, schreibt sie, so schwer, alles zusammenzuhalten. Das Zweitjüngste, ein Mädel, ist immer krank. Er hat es nur einmal gesehen, vom Lazarett aus. Den Jüngsten kennt er überhaupt nicht. Seine Frau ging noch mit ihm schwanger, als er wieder fort musste.
Wilzki sagt nach jedem Satz: Man nich? „Das müsste man alles in die Zeitung bringen, man nich? So eine Bande!"
Ich muss über die Naivität des enttäuschten Kellners lachen. Er fragt entrüstet: „Etwa nich?l" Selbst Gustav wird das zuviel: „Bist du all in Krieg west, Werner?" fragt er ihn. Werner bleibt stehen und meint: „Wieso?"
„Ick mein man, du hest noch nicht viel sehn."
„Ich danke! Die Halunken!" quittiert Werner verächtlich.
Gustav sagt nach einer Weile: „Lot se moken, wat se wüllt, dat ward all nich so heit eeten, as dat kokt ward."
Der hinter uns fahrende Futterwagen überholt uns. Wir müssen aufsitzen, um zu folgen. Ein halbstündiger Abstecher in die Kantine ist eine angenehme Abwechslung.
Es geht alles glatt, wie immer; sogar Wilzki feixt wieder. Ich weiß nicht warum.
„He ward dat schon weten", meint Gustav. Recht teuer ist schon alles und schlecht. Das bayrische Bier macht trübe Augen, der Tee schmeckt uns nicht. Immer Tee!!? Werner knöpft den Trinkbecher von Gustavs Feldflasche und gießt ihn aus seiner Feldflasche voll. Dann meinen und zuletzt den seinen. Ganz schwarz ist das Zeug, wie Tinte. „Willst du uns vergiften?"
„Hast du 'ne Ahnung?! Den musst du mit Verstand trinken! Prost Gustav!"
Gustav nimmt, kostet, leckt und sagt: „Düwel ok, so'n hew ick lang nich drunken."
Es ist süß-süffiger Likör. Auch der Vorderreiter ist ganz begeistert.
„Ich werd unserm Unteroffizier auch einen einschenken", sagt Werner.
„Verfluchter Hund!" sagt Gustav und trinkt aus. Werner hält die Hand an den Mund, dass Gustav mit seinen Ohrfetzen sein Flüstern vernimmt, und meldet breit feixend: „Davon ham wa fünf Liter überzählig." Dann erhebt er sich und schleicht an den andern Tisch, an dem Unteroffizier Armbrecht sitzt.
„Dat is keen Schnaps, is prima Likör!" redet er mit fachmännisch-komischem Ernst auf Armbrecht ein. Der schaut zu Gustav hin und dann nach dem Unteroffizier des Futterwagens. Er kämpft zwischen seiner Pflicht und dem Bedürfnis, bei uns als anständiger Kerl zu gelten. Unterdessen nimmt Gustav den stehengebliebenen Rest von Werner, reicht ihn dem Unteroffizier des Futterwagens und sagt: „Trink mol en Lütten, dat wärmt!" Der trinkt aus, die andern fragen: „Habt ihr für uns kein' übrig?" So muss Werner eine zweite Feldflasche voll holen. Alles trinkt. Unterwegs wird weiter geprostet. Der „Überzählige" kann ja vertrunken werden.
Eine halbe Stunde vor Ankunft fliegt der leere Ballon vom Wagen in den Schnee. Wir singen aus vollen Kehlen das Lied von den drei Lilien und dem stolzen Reiter. Vorläufig dämpft die Kälte noch den heißen Schädel, die Wirkung zeigt sich erst später.
Die Fahrer sitzen wie Schwerverwundete auf den Gäulen. Zwei Pferde gehen über die Stränge. Der Wachtmeister steht schon vor seinem Quartier und empfängt uns. Er kann gar nicht warten, bis wir vorgefahren sind, kommt uns schon entgegengerannt und brüllt uns an: „Ihr seid wohl alle blödsinnig geworden?" Nun sieht er zum Unglück noch die Pferde über die Stränge gehen.
„Unteroffizier Armbrecht!"
Armbrecht rutscht unmilitärisch von seinem Gaul, will sich vor dem Wachtmeister aufpflanzen. Aber die Angst kämpft vergeblich gegen den Schnapsrausch. Armbrecht versucht verzweifelt, das Gleichgewicht zu erzwingen, rutscht aus und fällt dem Wachtmeister vor die Füße. Als er sich erhebt, zittert er am ganzen Körper, ist bestimmt schon wieder vollkommen nüchtern, aber er kann vor Schreck nicht sprechen.
Als der Wachtmeister ihn anbrüllt: „Sie sind besoffen, Unteroffizier Armbrecht!" bleibt der Versuch Armbrechts, etwas zu erwidern, in einem kläglichen Zucken um den Mund stecken.
„Das übrige wird sich finden", entlässt der Wachtmeister Armbrecht.
Wir spannen die Pferde aus, um möglichst rasch unser Quartier zu erreichen.
„Wilzki und Betzoldt!" „Herr Wachtmeister!"
„In einer Stunde feldmarschmäßig auf der Schreibstube!"
„Jawohl, Herr Wachtmeister!"
Dann beginnt jene unbeschreibliche Art, zu „beweisen", wie viele militärische Übertretungen und vorschriftswidrige Mängel unsere Ehrenkleider nebst Ausrüstung aufweisen. Der Futtermeister fasst mich vorn am Leib, schüttelt mich und sagt mit idiotenhaftem Lachen: „Ihr Vagabunden!" Er selbst steht in Hemdsärmeln vor uns und raucht großspurig eine gestohlene Offizierszigarre. Als ich ihm ganz ruhig sage: „Ich bin für Herrn Sergeanten Kanonier Betzoldt und verbitte mir Handgreiflichkeiten!" erstarrt sein blödes Lachen für einen Augenblick. Er steht unschlüssig lauernd vor mir, der Wachtmeister sieht mich ebenfalls „genauer" an.
Ich mache kehrt, trete drei Schritte zurück und pflanze mich wieder auf.
Der Sergeant bleibt vor Verblüffung stehen, der Wachtmeister schreit: „Was fällt Ihnen ein — Sie— Verbrecher!"
„Kanonier Betzoldt, Herr Wachtmeister! — Es ist Vorschrift, dem Vorgesetzten drei Schritte gegenüber zu stehen."
Ich stehe an der Tür, habe den Rücken frei. Wilzki ist stehen geblieben, der Wachtmeister stürzt vor und stellt sich zwischen uns.
Ich sehe ihm ruhig in die Augen. Im Notfall sind zwei gegen zwei.
„Treten Sie drei Schritte zurück", schnauzt der Wachtmeister nun Wilzki an, und dann: „Ihr meldet euch sofort bei Unteroffizier Manteuffel in der Wachtstube und tretet morgen früh um zehn Uhr wieder hier an!"
Wir ziehen auf Strafwache. Die Filzstiefel und Schaffelle schützen vor Kälte, die Wachtstube ist warm, man kann wenigstens einige Stunden schlafen und überlegen. Wilzki ist verdattert und verschüchtert und schimpft, dass die Fahrer nicht aufgepasst haben und Armbrecht sich so tollpatschig benommen hat. Er ist froh, mit einem blauen Auge davon zu kommen. Ich empfinde keine Reue. So etwas wie Genugtuung erfüllt mich: Wie soll etwas entstehen, wie die Muschkoten aufgerüttelt werden, wenn nicht einer wagt, wider den Stachel zu lecken?
Morgens um zehn Uhr treten wir wieder an und werden nach der Feuerstellung kommandiert. Auch Armbrecht ist dabei. Es ist drei Stunden Weg, ein furchtbarer Schneesturm hat alle Straßen und Wege verweht, jede Orientierung ist schon nach einer Stunde unmöglich, auch den Weg zurück finden wir nicht mehr. So stehen wir — Stunde um Stunde nach erschöpfendem Irren — unter einer Eiche und warten auf ein auftauchendes Orientierungszeichen. Der Sturm heult um uns, der Schnee wird in Wogen hin und her geschoben. Weiß ist die Erde, der Himmel, die Luft, die Bäume. Wir werden müde — und stumm. Die Nacht naht, trotzdem es erst vier Uhr nachmittags ist. Wir sind verloren, wenn wir keinen Ausweg finden.
Wir beschließen, nach zwei Seiten auszuschwärmen. Einer bleibt immer zurück, um durch Rufen die Verbindung aufrecht zu halten. Eine Taschenlampe des Zurückgebliebenen soll den Weg nach rückwärts ermöglichen.
Armbrecht und ich stapfen zuerst fort. Nach einiger Zeit höre ich den Rückruf Wilzkis. Armbrecht hat Licht entdeckt, auf das wir zuhalten wollen.
Wilzki kann jedoch mit einem Male nicht gehen. Seine Füße scheinen eingeschlafen. Wir stützen ihn, lassen ihn dann wieder los. Da fällt er vornüber in den Schnee, kommt nicht wieder hoch. Ich bleibe bei ihm, Armbrecht watet durch den Schnee auf das Licht zu und bringt auch Hilfe. Es ist ein Unterstand des Artillerie-Meßtrupps.
Wir schneiden Wilzki die ihm zu knappen Schäfte — er hatte nur ein Paar Strümpfe an, hatte keine Lappen und kein Stroh in den Stiefeln — von den Füßen, weil er so furchtbar schreit, als er warm wird.
Sie waren ihm nicht nur „eingeschlafen". Der rechte Fuß war zu einem Klumpen zusammengefroren und hinter dem Ballen durchgebrochen.
Wir bleiben die Nacht da und verabschieden uns am Morgen von Wilzki. Er sieht so alt, so verbraucht, so zerbrochen aus.
Ein Wagen bringt uns zur Feuerstellung. Armbrecht macht Meldung — wir werden dem vierten Geschütz zugeteilt. Wir sind schwarz angeschrieben. Unteroffizier Armbrecht trägt schwer daran.
Er ist entschlossen, es bei der ersten Gelegenheit wieder „gutzumachen".
Die Batterie muss gemeinsam mit der Nachtbatterie abwechselnd eine Baumbeobachtung besetzen, die dauernd mit Schrapnells befunkt wird. Die Russen sitzen in einer zerschossenen Glasfabrik, jenseits des Kanals. Der Unteroffizier vom Dienst der Beobachtung hat sich krank gemeldet.
Armbrecht meldet sich freiwillig und erwirbt sich sofort die Achtung unseres Hauptmanns.
Nach einer Stunde — zehn Minuten nach Besteigung der Eiche — meldet der Telefonist: „Unteroffizier Armbrecht ist tot."
Eine verirrte Granate explodierte in den Ästen einer Baumkrone. Ein Fetzen von ihr durchschlug Armbrecht die Halsschlagader, er stürzte vom Baum und verblutete.
Die Batterie kann die Namen ihrer ersten Helden auf ihre Fahne schreiben.
Die Erde ist metertief gefroren. Die hier vor uns liegende Batterie hat nur primitive Löcher graben können, in denen Mann an Mann in der Nacht liegen. Ist die Tiefe erreicht, in der der Boden nicht mehr gefroren ist, quillt das Grundwasser hervor, das hier in frostfreier Zeit in jedem Spatenstich auf der Erdoberfläche zusammenläuft. Wir liegen in unserem „Unterstand" auf jungen, aneinandergenagelten Baumstämmen, die bis zur Hälfte im Grundwasser liegen. Die Lumpen bleiben auf dem Körper. Feuer darf nicht angemacht werden; die Russen sollen nicht aufmerksam werden.
Die gesamte Batterie baut an dem Offiziersunterstand. Die Herren Offiziere lösen sich alle vierundzwanzig Stunden ab, um sich dann unten in der Protzenstellung in warmen Quartieren zu erholen. Hier müssen sie sich mit einer geheizten kleinen Bude begnügen, zwei Kilometer nach hinten, von wo sie telefonisch ihre Befehle durchgeben.
Innerhalb von acht Tagen scheiden weitere zehn Mann aus. Lungenentzündung, erfrorene Füße, Durchfall, Reißen sind stärker als Befehle. Es geht nicht anders, man muss auch mit Unterständen für die Mannschaften beginnen. Auch die Fahrer, die in den Ställen schlafen können, die Bagage, die etwas bessere Quartiere hat, haben Abgang. Das Menschenmaterial der Batterie ist schon Deutschlands letzte Hoffnung. Was irgend geht, wird nach dem Westen geschoben.
Die Russen konzentrieren ihre Durchbruchsversuche nur links von uns bei Baranowitschi. Von dort ist schwerer Kanonendonner zu hören. Unsere Kanonen stehen wie verlassen im Schnee. Die Batterie schießt gelegentlich irgendwohin, wie Übungsschießen, öfters auch von einer andern Stellung und kehrt wieder zurück.
Die hohen Fichten und Föhren des unendlichen Waldes stehen wie riesige Zuckerhüte. Die mondklaren Nächte sind lang, unerträglich in ihrer monotonen Kälte und in ihrer Ruhe. Man ist versucht, steht man als Posten in einer solchen Nacht, die Frage zu stellen, ob dieses stumpfsinnig-verbrecherische Beginnen, tief im Innern Russlands „das deutsche Vaterland zu verteidigen", noch überboten werden könne.
Und doch ist schließlich jeder froh, dass der mit Pferdemist gemauerte Ofen endlich angesteckt werden kann, ein Riesenfeuer die starren Finger und Füße erwärmt und den Aufenthalt des Nachts erträglich macht.
Die Befehlsgewalt der Unteroffiziere zeigt sich in ihrer ganzen Lächerlichkeit: die Elite des deutschen Heeres, die Einjährig-Kriegsfreiwilligen, laufen herum wie kranke Hasen.
Die Proletarier haben auch vor dieser Zeit oft kein Dach über dem Kopf gehabt, waren heimatlos in ihrer Heimat, aßen in Zeiten der Arbeitslosigkeit schäbige Reste. Sie sind auch hier den Strapazen besser gewachsen. Die Herrensöhnchen, die zum ersten Mal ohne Wärmflasche schlafen, zum ersten Mal nach diesem groben Sport die temperierte Stube, das warme Bett,
die Bedienung vermissen, verkörpern die trostlose Ängstlichkeit verlaufener Küken, die sich mit einem komischen Ernst paart. Sie wollen alle Helden sein und haben nicht den Mut, gegen die brutale Verhöhnung durch die Offiziere zu protestieren. Sie haben Angst, sich irgendwie mit den gewöhnlichen Muschkoten zu solidarisieren. Der Idealismus der bourgeoisen Jugend schrumpft hier zusammen zu einem kläglichen Häuflein Feigheit, Lächerlichkeit und Hilflosigkeit.
Gustav kommt alle zwei Tage mit dem Lebensmittelwagen oder -schütten. Er kümmert sich nicht darum, in „Verdacht" zu kommen, in schlechter Gesellschaft zu sein, kommt freudig auf mich zu und reicht mir die Hand. Ich weiß, dass er Werner besuchte, und frage ihn.
„He is noch schlechter fohrt as Armbrecht!"
„Wie meinst du das?"
„Se häwt em beide Feut absägt."
Wir schleppen Brot und sonstigen „Empfang" in den Unterstand. Gustav kommt noch einen Moment nach, wärmt sich die Hände und geht wieder.
„Tschüs, Gustav —"
„Tschüs, Hans — hol di munter!"
„War wi schon moken." Der Falbe, der Wilzkis Schokolade fraß, tänzelt spielerisch in den Trab hinein, Gustav dreht sich noch einmal um und winkt mit der Peitsche.
Ich lese meine Post. Sie kommt, wie ein Wunder, bis an die Rokitno-Sümpfe. Ein längerer Brief von Sophie ist dabei.
Sie arbeitete bei Blohm & Voß. Sie klagt nicht, will mich nicht beunruhigen, aber die bloße Aufzählung der Tatsachen sagt genug.
Man zwingt die Frauen, Hosen anzuziehen. „Ich bin groß" — schreibt sie — „und in den Hosen treten die Formen des Körpers schärfer hervor. Ich hätte nicht geglaubt, dass viele deutsche Arbeiter keine anderen Sorgen haben, als lüstern nach den Frauen zu schielen, ihre einzige Unterhaltung sind banale Anspielungen, und sie sehen hauptsächlich in den ,Kriegerwitwen' die Objekte, auf die man ungestraft Jagd machen darf. Ich wollte eigentlich sofort wieder gehen, aber ich arbeitete mit einem Menschen zusammen, der mir sehr viel war; er schonte mich, wo er konnte, griff das Vorhalteisen immer selbst mit einer Hand, wenn er nietete, gab mir von allem, was er von seiner Frau geschickt bekam, verdeutschte mir die Briefe, die sie ihm schrieb, schenkte mir beiliegendes Bild."
Ich besehe mir das Bild: ein noch junger Mann und seine Frau mit einem kleinen Jungen. Adresse und Text sind in französischer Sprache.
Dieser gefangene französische Arbeiter ist der einzige Mensch in diesem Betrieb, der Sophie „was sein konnte".
Bis der Betriebsleiter, der darüber wacht, dass die Ehre der deutschen Frauen nicht angetastet wird, mit der Schmach ein Ende machte, dass deutsche Frauen mit gefangenen Feinden zusammen arbeiten — und anscheinend vergessen, dass ihre vaterländische Pflicht ist, diesen ohne Schwäche ihre Verachtung zu zeigen. Dass deutsche Frauen den gefangenen Franzosen, die nie die Werft verlassen dürfen, zu ihrem eintönigen Fraß für ihr Geld einige Abwechslung mit hereinbringen, einmal eine französische Tafel Schokolade, ein Stück Weißbrot untereinander teilen, ist ein unhaltbarer Zustand.
„,Die deutschen Frauen dürfen nicht mehr mit den Gefangenen zusammen arbeiten' — bestimmte der Betriebsleiter. Aber dann hielt mich nichts mehr auf dieser Werft, auf der die Frauen unerhört ausgebeutet werden", schreibt Sophie zum Schluss. „Ich werde nun auch schon immer stärker, bin ja schon im vierten Monat, muss mir leichtere Arbeit suchen."
Ich lese den Brief beim Schein des Feuers unseres Ofens, der nach vorn offen ist, um die Riesenscheite hineinschieben zu können. Der Koch hat die Marmelade vor und verlangt Gefäße, um jedem seinen Löffel voll hineinzuklecksen. Einige öffnen Pakete und haben zu ihrem Brot Leckerbissen. Einige, die nichts erwarten, sind schon dabei, sich die Läuse abzusuchen, die letzte Arbeit nach Feierabend. Ich gehe hinaus in die schneidend kalte Nacht; kein Laut in irgendeinem Baum, kein Hund bellt irgendwo, kein Wind bewegt einen Zweig.
Nur der gefrorene Schnee glitzert heimtückisch im kalten Licht der Sterne.
Der Offiziersunterstand ist fertig, hat dicke Wände, gute Öfen, eine geräumige Küche mit gutem Herd. Nur einige Handwerker besorgen die letzte Ausschmückung. Wie eine Jägervilla steht er zwischen den weißen Birken.
Die Mannschaften können darangehen, sich für jede Geschützbedienung Blockhäuser zu bauen. Eine gesteigerte Arbeitsfreude beherrscht die Batterie.
Und doch geht es langsam. Telefonleitungen nach dem Graben müssen in die steinhart gefrorene Erde gegraben, Geschützunterstände gebaut, ein bombensicherer Telefonunterstand, Munitionsunterstände angelegt werden. Es geht langsam mit den Unterständen der Mannschaften.
Der Hauptmann ist ein eifriger Jäger und lässt die ganze Batterie sonntags regelmäßig zur Treibjagd nach Wildschweinen antreten. Wir kommen am Abend hungrig und hundemüde zurück und treten am andern Morgen zum Arbeitsdienst an. Nur einmal haben wir auch jeder eine Scheibe von hundert Gramm Wildschweinfleisch erhalten. Das liegt daran, dass die Herren von der Abteilung, die Offiziere der schweren Batterie hinter uns, die der Infanterie usw. recht guten Appetit haben und unser Hauptmann ein ausgezeichneter Gesellschafter ist. Die Feste, die er mit ihnen feiert, vereinigen ganz andere Menschen, als wir Miesmacher es sind. Die dort warm sitzen, Wein trinken, gut essen, warme Pelze tragen, auf rassigen Pferden durch den verschneiten Wald traben, sind froh — was fehlt ihnen denn?!
Die Kanoniere bauen keine Unterstände für sich, weil eine kameradschaftliche Obrigkeit mit ihnen fühlt. Sie bauen daran, weil das Kanonenfutter knapp wird, weil der Abgang an Krankheiten zu groß ist. Sie bauen und bauen, weil die hohen Herren wissen, dass ein müdes Hirn nicht mehr denken kann. „Leute bewegen!" ist die Parole.
Bis zu einem Meter sind die Bäume im Durchmesser, die wir fällen, Tag um Tag. Drei Meter sind die Wände der Unterstände über der Erde, in denen die Munition liegt. — Und doch kann eine einzige Granate einen solchen Koloss zusammenlegen wie ein Kartenhaus, denn die Wände sind nur mit fünf Millimeter dickem Draht zusammengehalten. Riesige Mengen Holz wälzen wir aus dem Wald, bei Kälte und Regen, Wind und Schnee — bis unsere Arbeit für völlig nutzlos erklärt wird. Beton und Schotter, Zement und Sand rollen heran, die Arbeit beginnt von neuem.
Das Essen ist unerträglich schlecht und knapp.
Der Frühling zieht ins Land, das Feuer an der Front lebt auf, links verstärkt sich der Kanonendonner. Unser Hauptmann ist viel auf Beobachtung. Am ersten Geschütz wird experimentiert. Unserem Hauptmann hat es das Blockhaus der Russen, in dem ihre Vorposten sitzen, angetan. Einen feinen Plan hat er ausgeknobelt.
Vier Mann brechen mit Telefongeräten überraschend aus dem Graben der Infanterie. Fünfzig Meter vor dem Graben muss man die Einschläge beobachten können. Ehe die russischen Posten richtig zur Besinnung kommen, muss die erste Salve schon sitzen. Dann wird das Blockhaus zusammengetrommelt und die Russen aus dem Graben getrieben. Die Infanterie stößt vor. Man muss mal sehen, was die da drüben machen.
Ich bin bereits Telefonist geworden, stehe mit im Graben bereit. Unser Unteroffizier soll die Patrouille führen und Feuer anfordern. Ich sehe über das freie Gelände bis nach dem Wald; es sind über hundert Meter. Dort im Walde stehen die Russen und haben auf unsere Köpfe ein ausgezeichnetes Ziel.
„Das ist heller Wahnsinn!" Ich sage das, als wir schon auf dem Sprung stehen. Unteroffizier Braun sieht mich ungläubig an und sagt: „Mach keine Faxen jetzt, Betzoldt!"
„Ich mach auch keine — ich gehe nicht mit!"
„Los!"
Mit drei Mann stürzen sie vor, zwanzig Meter kommen sie, da zwingt sie Gewehrfeuer von drüben zum Hinwerfen, aber sie sind gutes Ziel. Die beiden Einjährigen schreien wie die Kinder. Einer rutscht langsam rückwärts, er hat einen Schuss in der Schulter. Den andern holen sie nachts herein. Er hat durchlöcherte Beine und Arme, aber er lebt.
Unteroffizier Braun ist tot! Kopfschuss!
„Zum Donnerwetter! Wo ist Unteroffizier Braun?" brüllt der Hauptmann durchs Telefon, als das Kommando zum Feuern ausbleibt.
„Erkundungspatrouille liegt im feindlichen Gewehrfeuer."
„Scheißkerle", brüllt er und hängt an.
Die Infanteristen fluchen: „Des ham wer eich ja gesagt, aber ihr habt ja ke Ruh, denkt ihr denn, die schießen mit Bratkartoffeln ? — Und wir ham die Scheiße nu auszubaden."
Die Offiziere der Infanterie gönnen dem Hauptmann die Blamage von ganzem Herzen, und der Hauptmann ist überzeugt, dass es nur an den „Scheißkerlen" gelegen hat. Eine Bestätigung ist dem Hauptmann mein Verhalten. Ein Vizewachtmeister der Infanterie berichtet ihm von meiner „Feigheit" vor dem Feinde.
„Sie denken wohl, Sie sind hier bei einem Ausflug mit einer Herrenpartie!" brüllt der beleidigte Häuptling los. „Sie haben den Mund zu halten und die Befehle auszuführen — sonst holt Sie der Teufel, verstehen Sie!"
Mir bleibt das „Zu Befehl, Herr Hauptmann!" in der Kehle stecken.
Ein kalt-heißer Schauer rieselt mir über den Körper. Ich fühle, wie der Mensch in mir die Oberhand gewinnt. Meine Finger krümmen sich langsam und suchend um den Gewehrlauf. — Was kann schon sein!
„Ob Sie verstehen, frage ich Sie!"
Ich bleibe stumm, bin schon damit beschäftigt, zu überlegen, wo der Kerl nach der Bekanntschaft mit meinem Gewehrkolben liegt. Ein eigenartiger Kontrast zwischen dem Verlangen des Hauptmanns und meinem Vorhaben wird deutlich. Eine sonderbare Ruhe kommt über mich.
Ob auch dem Herrn Hauptmann die Situation etwas unheimlich wird? Er öffnet noch einmal den Mund, aber nicht zu einem dritten „Verstehen Sie!" Er ruft seinen Burschen.
Dann setzt er sich, wie erschrocken darüber, dass sein „Verstehen Sie!" trotz der lauten Wiederholung ohne Wirkung blieb, und sagt auffallend ruhig: „Sie melden sich sofort bei dem wachhabenden Unteroffizier."
„Zu Befehl, Herr Hauptmann!"
Der Unteroffizier ist schon telefonisch unterrichtet.
„Sie halten sich bereit, heute abend mit dem Lebensmittelwagen zur Schreibstube zu fahren. Zur Befehlsausgabe treten Sie feldmarschmäßig mit an."
Neben den üblichen Befehlen, Verwarnungen, Verfügungen, einigen Randbemerkungen über Mannszucht und Soldatenpflicht wird dann bekannt gegeben: „Kanonier Betzoldt erhält wegen Nichtausführung eines gegebenen Befehls acht Tage Arrest."
Sie schauen alle ein wenig neugierig her zu mir. Ein bisschen kennen sie mich schon; ganz gleichgültig bin ich den meisten nicht. Es gelingt nicht mehr, die „Verbrecher" mit der Verachtung der andern zu „strafen". Sie wissen schon oder ahnen es, dass sie eigentlich schon insgesamt „Verbrecher" sind. Es spricht wohl keiner, es lacht auch keiner, aber der Herr Wachtmeister Knauer fühlt, dass seine ganze schöne Rede für die Katz ist.
„Stillgestanden! — Wegtreten!"
Dass man beim Militär auf so einfache Art jede Diskussion schließen kann, auch wenn sie noch stumm von Hirn zu Hirn schleicht, das ist doch eine wunderbare Sache!
Ich möchte Vizewachtmeister Roggenbrot, der den „Verbrecher" zu bewachen hat, keine Unannehmlichkeiten machen und melde: „Bitte austreten zu dürfen!"
Er ist etwas verlegen. Es hat sich noch keine feste Regel herausgebildet, wie man Verbrecher von der Zeit des Urteils bis zum Antritt der Strafe behandeln muss. Ich bin ein wenig bösartig erheitert; zwischen zwei aufgepflanzten Seitengewehren auszutreten, erscheint mir eine nicht zu verachtende Abwechslung.
Roggenbrot ist von seiner Mission peinlich berührt und bezüglich der Bewältigung des Falles Betzoldt ebenfalls im unklaren.
Ich bin unerbittlich und warte.
„Gehen Sie, Betzoldt, seien Sie vernünftig, mir zuliebe!" Er sieht sich erst um, ehe er das sagt. Zwischen den Betten in dem neuen Unterstand, den wir erst bezogen, sieht niemand sein unmilitärisches Gesicht. Er ist noch jung, studierte Theologie. Man wird nicht „klug" aus ihm. — Aber dass er sich weigerte, anlässlich Armbrechts Tod die vorgeschriebene Rede zu halten, hat man ihm schwarz angekreidet. Deswegen hatte er es wohl auch noch nicht zum Leutnant gebracht.
Ich möchte ihm keine Unannehmlichkeiten bereiten, mache vorschriftsmäßig „kehrt" und gehe.
Als ich hinter mir Schritte höre und mich umdrehe, kommt Vizewachtmeister Roggenbrot hinter mir her. Ich lasse ihn herankommen und sage: „Sie haben wohl doch Angst, dass ich ausrücke?"
„Nein, ich möchte Ihnen sagen, Betzoldt, dass ich Sie auch weiter für einen anständigen Menschen halte. Wenn ich Ihnen irgendwie einmal helfen kann, denken Sie an mich!" Dann dreht er sich um und geht zurück.
Wir kennen uns schon ein wenig. Er ist Telefonunteroffizier, und bei der Auswahl der wegen Krankheit ausfallenden Telefonisten wurde auch ich einer seiner Schüler. Bei dem stumpfsinnigen Arbeitsdienst ist die Beschäftigung mit Geräten, die das hungernde Hirn in Bewegung halten, eine willkommene Abwechslung. Auch die Mechanik der Feldhaubitze kenne ich schon in allen Einzelheiten, und ich vertrete bereits den kranken Batterieschlosser.
Gustav nimmt mich mit hinunter. Ich bin etwas enttäuscht, wäre zu gern zwischen zwei Bajonetten in Arrest gefahren oder marschiert, vorbei an dem Kommando der gefangenen Russen, die Knüppeldämme legen und ebenfalls diesen „Schutz" genießen. Ich bin bar jeder Scham, habe ein masochistisches Verlangen, meine eigene Verwahrlosung mit der Gleichstellung der Feinde des Vaterlandes quittiert zu sehen, und schütte Gustav mein verbrecherisches Herz aus.
„Gott", sagt Gustav, „du mokst noch vel to vel Kram, Hans. Musst di dorbi 'n beten torög holn, süs krieg'n se di andersrum kaputt. Musst immer bedenken: die Menschen kosten nichts und die andern ducken sich. Sie hebben die Näs noch nich vull nauch."
„Was soll ich machen, ich werde doch nicht mutwillig in die Gewehre der Russen rennen!"
„Du mokst den Fehler", meint Gustav, „dass du dich soviel um den Telefonkram und die ollen Hollerbüchsen kümmerst. Du fohrst immer am besten, wenn du von gar nichts weten deist, dann fällst du am wenigsten up. Die sich vordrängeln, warn am ersten dotschoten!"
„Mensch, dann wirst du ja ganz blödsinnig, es ist ja schon so zum Verrücktwerden!"
„Dat is bloß vorübergehend, dat givt sich", fährt Gustav mit unerschütterlicher Ruhe fort. „Man mut sehen, wie man von ein Tag in annern kummt. Ewig kann der Dreck doch ok nich duern. Bist ja ganz fein wegkomm'n, Hans, is ok man gaut. Wenn ick so denk, wie dat mit Wilzki taugohn is und dann mit Armbrecht und an dien Fru denk, bist doch wie durch 'n Wunder gesund blem."
Gustav spricht immer vor sich hin, als erledige er eine Mission, ohne so recht die Worte dafür zu finden. Er bricht auch unvermittelt in seinen Ermahnungen ab und fährt dann fort: „Is übrigens gar nich so ohne in dem Bunker. Decken hest nauch, und für Freten warn wi ok sorgen."
„Was hast du für Kanoniere zum Empfang?" erkundige ich mich.
„Grothusen und Jansen. Jansen kennst du ja, er hat sich wat wegholt up de Fahrt und is wieder doa. 'n ganz fein Kerl — aber he soll in Füerstellung. Ick hew fast jeden Tag andre."
Die Pferde fallen wieder in Trab, der Mond kommt auf, vor uns liegt schon das Dorf, wie im friedlichen Abend. Aus allen Bauernhäusern scheint Licht. Der neue, weiße, hohe Zaun vor dem Offiziersquartier umschließt den schon bestellten großen Garten. Frisches Grün klettert über die Granatlöcher in den verwüsteten Äckern. Die Silhouette eines Wagens mit Pferden
taucht auf, man sieht im Dunkeln nicht, dass es ein Proviantwagen irgendeines Truppenteils ist. Vor einem Ziehbrunnen wiehert ein Pferd.
Der Wachtmeister grinst höhnisch und vermerkt zufrieden: „Schon wieder da!"
Ich quittiere sein Grinsen mit einem lauten „Jawohl, Herr Wachtmeister!", nehme mein Brot und meine Marmelade und verschwinde durch die von der Wache geöffnete Tür.
Der Raum ist eine dunkle Kammer ohne Fenster. Von der Pritsche aus ist das Strohdach von innen zu erreichen. Durch ein kleines Loch, das ich hineinarbeite durch Ausrupfen des Strohes, fällt auf die Holzpritsche ein schwacher Lichtkegel. Am Abend reicht mir Jansen etwas Schmalzersatz und einige Zigaretten, etwas später einige Decken; auch ein Buch: „Die Bräutigame der Babette Bomberling".
Ich komme auch endlich dazu, zwischen den Bajonetten der Posten austreten zu dürfen — dreimal am Tage. In der Zwischenzeit liege ich und lese oder grüble. Aber ich finde keine rechte Ruhe. Ich höre alle Geräusche aus der Schreibstube, auf dem Korridor, sogar die Telefongespräche aus der Feuerstellung.
Von der Feuerstellung her ist Gewehr- und Granatfeuer zu hören, das sich gegen Abend verstärkt. Flieger erscheinen zum ersten Male über der Stellung. Bis dahin noch nicht vernehmbare russische Batterien müssen aufgefahren sein. Die Bagage hat Befehl, sich marschbereit zu halten. Eine ungeheure Nervosität macht sich bemerkbar.
In der dritten Nacht, gegen Morgen, setzt stundenlanges verstärktes Artilleriefeuer ein. Die Batterie bekommt Befehl, dass die Stellung durch Sperrfeuer vor dem Graben um jeden Preis zu halten ist und nach Durchbruch der Russen durch Abriegelung des Knüppeldamms, der von der Batterie nach dem Graben führt, gesichert wird. Rechts und links davon ist Sumpf. Das Eis ist verschwunden, hier kann niemand durch, die russische Artillerie belegt bereits den Knüppeldamm hinter unserer Stellung, die einzige Rückzugsstraße. Einige Treffer, und der Rückzug für die Kanonen und Protzen ist unmöglich. Die erste Welle der russischen Infanterie bleibt im Gewehr und Granatfeuer hängen, gräbt sich aber fünfzig Meter vor dem deutschen Graben ein. Alte Granattrichter erleichtern ihr das.
Die Batterie schießt nach zwei Zielen, mit einem Zug nach der russischen Artilleriestellung, von wo her die Stellung der Batterie dauernd unter Feuer liegt, mit dem andern Sperrfeuer, um eine Verstärkung der vorgeschobenen russischen Infanterie zu verhindern.
Da zerspringt am ersten Geschütz die Vorholfeder. Das dritte Geschütz erhält eine Stunde später einen Treffer und fällt ebenfalls aus. Drei Kanoniere sind verwundet, der Aufsatz zertrümmert, ein Rad demoliert. Die Batterie hat keine Richtkanoniere — und keinen Batterieschlosser. Kein Mensch weiß so mit den Ersatzteilen Bescheid, dass es binnen kurzem wieder klappt. Die Russen stehen schon in unserem Graben. Die Beobachtung gibt keine Befehle mehr. Alle noch verfügbaren Mannschaften der Munitionskolonne und Fahrer sitzen rechts und links von der Batterie im Sumpf als „zweite Stellung".
„Wo ist der Batterieschlosser?"
„Im Lazarett, Herr Hauptmann!"
„Wo ist der Ersatzmann?"
„Im Arrest, Herr Hauptmann!"
„Himmeldonnerwetter! — Sind Sie verrückt? — Sofort herholen!"
Mitten in der Nacht klopft es an die Tür. Ein Pferd steht da, ein zweites für den Begleiter. Wir reiten durch den stockfinsteren Wald, zwei Stunden. Die Pferde stutzen nach jedem Einschlag, stolpern über Wurzeln und Löcher, fallen immer wieder in Schritt.
Die Batterie feuert nur mit zwei Geschützen und nach zwei Richtungen. Das erste Geschütz ist bald feuerbereit. Dann wird das dritte unterbaut und provisorisch auf die Verbindungsstraße nach der Beobachtung eingerichtet. Jansen übernimmt es.
Die Batterie hat ihre Feuerprobe zu bestehen. Die Mannschaften sind größtenteils unbrauchbar. Erst als die schwere Batterie hinter uns in Stellung gebracht ist und eingreift, taucht einer nach dem andern von denen wieder auf, die nicht vorn in der Linie lagen. Sie waren im Wald geblieben, nach rückwärts, um den Anschluss nicht zu verpassen. Müller und Brandt lagen zu dicht an der Latrine. Ein Volltreffer schüttete fast den ganzen Inhalt über sie. Aber sie blieben tapfer liegen, bis sich die Russen zurückziehen und Feuerpause befohlen wird.
Die Rohre sind noch heiß, ein Berg von Kartuschen liegt um die Kanonen. Zu den drei Verwundeten bringen sie noch zwei, mit Gewehrschüssen. Kanonier Licht stirbt. Sein Kopf ist mit feinen Splittern durchsiebt.
Niemand kennt Kanonier Licht. Er ist Pole, das weiß jeder, weiter nichts. Es fragt auch keiner danach.
Roggenbrot gibt mir die Hand und sagt: „Sie haben Nerven, Betzoldt!"
„Wie meinen?"----------
„Sie haben Nerven, alle Achtung — und dass Jansen noch zur rechten Zeit kam, das war Glück."
Jansen, der früher immer lachte, lacht aber nicht mehr. Ich kenne ihn gar nicht wieder und frage ihn.
„Meine Frau ist sehr krank", berichtet er. „Wer weiß, ob ich sie noch einmal wieder sehe." Dann zeigt er mir ein Telegramm von dem leitenden Arzt des Krankenhauses: „Lebensgefährliche Operation!''
„Ob ich's einmal versuche?"
„Natürlich!"
Abends geht Jansen in Ordonnanzanzug zum Hauptmann und bittet um Urlaub. Er ist von Anfang an im Felde.
Der Hauptmann verspricht, bei der Abteilung das Gesuch zu befürworten. Anderntags erhält Jansen Bescheid, dass der Urlaub nicht bewilligt ist.
Aus dem Lazarett war die Meldung eingelaufen, dass Jansen verdächtig sei, Flugblätter verteilt zu haben. Wachtmeister Roggenbrot verriet uns den Grund der Urlaubsverweigerung mit der Bitte, es für uns zu behalten. Kanonier Jansen setzt sich auf den Richtsitz und weint.
Einige Tage später packen vier Mann und fahren auf vier Wochen in Urlaub. Es ist schon das zweite Kommando, das auf das Gut des Herrn Hauptmanns fährt, um die Feldarbeit zu bestellen. So sorgt unser Hauptmann für die Volksernährung in Deutschlands schwerster Zeit. Die Urlauber sind meistens Einjährig-Freiwillige, die gern das Opfer bringen und auch den Opfermut des Herrn Hauptmanns zu schätzen wissen. Drei Wochen arbeiten sie auf seinem Rittergut. Eine Woche Urlaub ist für sie. Was verstehen schließlich einfältige Proletarier von der Landwirtschaft. Es gibt auch Urlaub für die, die ihre ersparten Zwanzigmarkstücke abliefern. Aber die Arbeiter haben zu ihrem Schaden nichts gespart.
An jedem Geschütz sind nur noch zwei Mann Bedienung. Ich melde mich, um meine Reststrafe abzusitzen. Der Hauptmann sagt: „Ich will noch einmal Gnade für Recht ergehen lassen und Ihnen den Rest der Strafe schenken."
Die Sonne scheint heiß von einem wolkenlosen Himmel. Unsere Oberkörper sind schon kupferbraun, wir machen in bloßen Oberkörpern Arbeitsdienst.
Heute ist Sonntag. Mit sieben Mann fahren wir nach dem kleinen See bei Bobrowitschi mit der Kleinbahn. Pflücken einen großen Strauß Blumen, die in den zerschossenen Gärten hier und da aufschießen, photographieren das Storchnest auf einem Bauernhaus, fangen auch einige Fische. Wir kommen zurück wie von einem Ausflug, freuen uns über die Blumen. Es wächst fast nichts in unserem Sumpf als Heidelbeeren und Heidekraut.
„Ist Post gekommen?"
Der Koch reicht mir den Feldpostbrief. Er ist von der Westfront, von Paul, dem Sanitäter, und enthält die Mitteilung: August Wendt ist tot.
Blumen und Fische und Sonne und Freude sind fort. Mich stört das Durcheinander, das Lachen und Reden der anderen. Ich sitze noch im Munitionsunterstand, als sie zum Essen rufen.
Knöhnagel, der Koch, hat einen der Fische aufgehoben und wundert sich, dass ich ihn kalt werden lasse.
„Ist dir nicht gut, Betzoldt?" fragt er.
„Hast wohl 'n klein' Sonnenstich?" ergänzt Schorike.
Was kann andere interessieren, dass August Wendt gefallen ist. Wen interessiert, wenn Hans Betzoldt einmal „fällt"? Sophie natürlich! Aber sie wird vergessen, ist ja noch jung. Und Klaus, Anna, Martha? Es fallen ja so viele der Genossen! Man kann ihnen nicht ewig nachtrauern. Wozu denn? Fahren am Ende nicht die am besten, die gleich zu Anfang liegen blieben?
Aber wozu überhaupt nachdenken, es ist doch alles so sinnlos, so unbeschreiblich albern. Alles wankt, schwimmt fort, entrückt! Übrig bleibt eine elende Kreatur, die sich mit allen Fasern an das blödsinnige bisschen Leben klammert, und die doch erst erlöst ist, wenn sie tot ist. Wozu sich darüber noch aufregen? Man muss das alles so laufen lassen, wie es läuft, man ändert doch nichts. Ganz leer wird mir im Kopf, und so müde bin ich, so schrecklich allein.
Roggenbrot hat wieder Dienst, winkt mich heran und sagt: „Sie sollen zum Hauptmann kommen, Betzoldt!"
„Ach so, ja! Sie packen Ihre Sachen und gehen mit dem Wagen hinunter und fahren morgen früh nach Warschau. Das übrige erfahren Sie in der Schreibstube."
Ich bin aufs äußerste gespannt, kann mir nicht denken, was ich in Warschau soll, und frage Roggenbrot.
„Sie haben Schwein", sagt er lächelnd. „Sie sollen zu einem Batterieschlosserkursus, so an sechs Wochen."
Ich möchte am liebsten schreien vor Freude, werde nicht eher ruhig, bis ich endlich auf der Kleinbahn sitze mit Papieren und allem Drum und Dran in der Tasche.
Die Kleinbahn ist voll von Urlaubern, die mit Sack und Pack nach Deutschland fahren. In Iwatzewitzi ist Station für die Nacht. Es geht die ganze Nacht ein und aus. Das Stroh ist klein wie Spreu und voller Läuse. Der Zug wird fast gestürmt. Er fährt los, obgleich sie noch massenweise an den Trittbrettern hängen, Gänge, Toiletten sind angefüllt von stehenden, hockenden, liegenden Soldaten, die alles gerne ertragen. Sie fahren auf Urlaub, das besagt alles I
Wir finden uns in Warschau auf der Kommandantur mit drei Mann zusammen, die von demselben Kommando sind. Wir haben den ganzen Tag Zeit, brauchen uns erst abends, bis elf Uhr, zu melden. Es ist lachender Sommertag.
Wir gehen durch die Markthalle; sie ist voll von Butter, Wurst, Geflügel, Fleisch, Käse. Wir kaufen und essen — und merken: die ganze Löhnung von einem Monat ist wie weggeblasen. Wir gehen ins „Soldatenheim", schlucken den schlechten „Kaffee" und beobachten das Treiben. Jeder kommt von irgendwo, geht irgendwohin, hat mit sich zu tun. Kinder und Männer, schon dem Greisenalter nahe, lassen sich müde nieder, stehen wieder auf und gehen.
Am Ausgang stehen zerlumpte Kinder, unterernährte Frauen, alte Mütter und Männer und betteln steinerweichend um einen Brocken Brot. Man ist schon daran gewöhnt; die meisten gehen teilnahmslos vorüber. Als ich meinen Brotbeutel öffne und zwei Kindern Brot gebe, stürzen mehrere auf mich zu und betteln händeringend. Ich gebe, was ich noch habe, und gehe. Meine Kameraden geben ebenfalls. Da kommt ein Posten und jagt die Kinder fort. Sie laufen ein Stück und bleiben wieder beobachtend stehen.
Wir gehen ins Lausekrematorium und ziehen die entlausten Sachen wieder an. Sie hängen uns am Leib wie zerknautschtes Papier. Wir spüren Lust zum Baden und suchen eine Badeanstalt. Volksbadeanstalten fehlen, so landen wir in einem Bad für „bessere Stände". Wir bezahlen eine Mark, werden massiert, abgerieben, mit Kübeln voll Wasser übergossen und wie hohe Herrschaften behandelt. Als wir alle Komplimente ignorieren, wird die Bedienung frostig. Wir verlassen die Anstalt als minderwertige Gäste, weil wir kein Trinkgeld geben. Wir verstehen nicht, was man uns nachmurmelt, können es uns aber denken. Auf solche Kundschaft gibt man dort nicht viel.
Wir gehen, es ist schon Abend, in ein Restaurant und essen Abendbrot. Das Unglaubliche wird Wahrheit: ich sitze vor einer Portion Schweinebraten mit Kartoffeln und einem Glas leidlich trinkbaren Bieres. So überwältigend erscheint mir der Augenblick, wo der dampfende Braten vor mir steht. Ich esse und esse, aber es will nicht schmecken. Der Magen ist voll von all dem, was wir in uns hineingegessen haben. Aber wir wollen doch den Tag festlich begehen, wollen uns etwas Besonderes leisten, sind wie Kinder.
Zwei Frauen sitzen am Nebentisch und schauen uns zu, sehen, wie ich den Teller zurückschiebe. Die jüngere lacht. Ich bin etwas verlegen, weiß nicht recht, ob ich ihr Lachen erwidern oder ignorieren soll, weiß nicht, wer sie ist, was sie will. Ahne nur, dass es ihr gleich sein mag, wen sie anlacht.
Da steht sie auf und fragt mich, ob ich fertig sei mit Essen und ob sie den Rest nehmen darf. Es kostet sie sichtlich Überwindung, noch dazu, da ich sie nicht gleich verstehe. Als ich bejahe, nimmt sie den Teller und schleicht fort. Sie teilen sich beide den Rest. Ich bin wie mit Eiswasser übergossen, so ernüchtert.
Der lange Bayer ruft sie noch einmal. Sie kommt auch, stützt beide Hände auf den Tisch und horcht. „Wollt ihr Brot haben?" fragt er. Als sie bejaht, zieht er ein halbes, hartes Kommissbrot aus seinem Brotbeutel und gibt es ihr. Sie wird etwas rot, bedankt sich und geht.
Ich zähle mein Geld, es ist schon stark zusammengeschmolzen. Aber was schadet es, Sophie habe ich zwei Pfund Schmalz und etwas Wurst geschickt, und für mich: kommt Zeit, kommt Rat.
Ich bestelle für die beiden noch zwei große Glas Bier.
Dann gehen wir.
Die zwei Frauen kommen hinter uns her.
Man fragt und antwortet: das alte Lied, man weiß schon, was man will. Mir ist das alles so unsagbar jämmerlich. Nein, hier nicht, um keinen Preis, nicht für Brot!
Ich verabschiede mich kurz. Nach einer Weile kommt nur der andere, ein Flensburger, hinter mir her, Gemüsehändler im Nebenberuf. Der Bayer ist mit der jüngeren übereingekommen und mitgegangen. Der Gemüsehändler wollte die andere nicht. Sie ist ihm zu alt.
Wir trotten nach der uns angewiesenen Kaserne und melden uns. Eine größere Stube vereint etwa sechzig Mann von unserm Kommando.
Der Bayer kommt erst am andern Morgen. Ich frage ihn nicht, verarge ihm nicht, dass er mitging. Ich verarge auch dem Weib nicht, dass sie ihren Leib für hartes Kommissbrot hinwirft, sie hungert ja nicht zum Spaß. Man zwingt sie zum Hungern.
Aber der Gemüsehändler kann sich nicht zufriedengeben. „Na, Seppel", sagt er, „hast gut geschlafen?"
Seppel sieht ihn zornig an und sagt: „Halts Maul, gscherter Hammel, geht di an Dreck a!"
Dann trinken wir Kaffee, der Bayer sitzt neben mir; mag sein, ihn freut, dass ich nicht frage und dass er gerade deswegen zu mir spricht:
„Dös is a Sünd und a Schand", sagt er, „zwei kleine Mädel sind noch da gwe'n und a alter Mann. Der alte Mann war der Vater von die beiden Frauen, die ältere ist die Mutter von die Kleinen. In ein Loch hausen s' alle z'sam, im Keller, auf Lumpen liegen s' alle dort. Der Mann von der älteren hat für Russland kämpft und ist gfallen. Koan Pfennig kriegen s', sagen sie, und i glaub's. Die Kinder und der Alte sind über das Brot hergfallen wie die Ratten. Da vergeht dir der Appetit, kann i dir sagn. Da könnt ein 's Hetz brechen."
Abends empfangen wir Brot; ein großes Brot für drei Tage. Wir essen es im Anfang nicht immer auf; einige haben noch Geld und kaufen sich Weißbrot. Der bayrische Soldat sammelt die Reste, holt auch von mir ein Stück ab. „Sie ham mi so bettelt", sagt er, „i soll ihnen a bißl Brot bringa, wenn ich eins hab, und i hab's versprochen. Warum sollen mir das net tun, scho wegen die arm klein Hascherin."
Unser „Kursus" übertrifft an Stumpfsinn alles bisher Dagewesene. In einer von der Militärverwaltung übernommenen Fabrik stehen eine Reihe Kanonen oder auf Holzböcken befestigte Kanonenrohre. Diese Rohre sind innen aufgerissen; eine häufige Erscheinung. Ist ein Rohr innen lädiert, muss der Riss bis auf das gesunde Fleisch herausgefeilt werden, damit das durchgejagte Geschoß nicht von neuem hängen bleiben kann. Vor jedem Rohr sitzt ein Soldat mit einer an einem langen Stock befestigten Feile und fiedelt. Manchmal müsste, um den Riss herauszufeilen, das Rohr von innen her fast durchgefeilt werden. Der Zweck der Übung ist aber nicht, dieses Rohr wieder brauchbar zu machen, sondern — feilen zu lernen. Da an den meisten Löchern gar nicht sichtbar ist, wie weit die Arbeit der letzten Monate fortgeschritten ist, sitzt jeder vor seinem Kanonenrohr und bewegt stumpfsinnig den Fiedelstab hin und her.
Diese Arbeit hat keinen Anfang und kein Ende. Fleiß wäre hier Irrsinn. Da eine Aufgabe, wie sie draußen vorkommt, die Ausfeilung eines Feldes in möglichst kurzer Zeit, um ein Rohr wieder gebrauchsfähig zu machen, nicht gestellt wird, ist es auch ganz gleichgültig, ob überhaupt gefeilt wird.
Der Unteroffizier von unserem Kommando sagt kein Wort, was sollte er auch sagen! Wir sind das zehnte Kommando und nach uns kommen weitere Kommandos. So fiedeln wir täglich unsere acht Stunden herunter. Vier Stunden vormittags, vier Stunden nachmittags. Die Hälfte des Kommandos ist immer unterwegs, geht im Betrieb spazieren.
Die polnischen Arbeiter verhalten sich uns gegenüber höflich, aber ablehnend. Ich suche vergebens mit dem einen oder andern in ein Gespräch zu kommen, aber sie „verstehen" nicht Deutsch. In der Dreherei versuche ich, einem jungen Dreher zu helfen; er arbeitet an zwei Bänken. Er lässt mich gewähren, aber er schweigt. In der Schmiede greife ich mir den Vorschlaghammer, als der Schmied das Eisen auf den Amboss bringt, und schlage vor. Er winkt ab, als das Eisen erkaltet, steckt es wieder ins Feuer und bleibt stumm.
Manchmal glaube ich durch ihr bedauerndes Lachen die richtige Antwort zu fühlen: wir haben keine Lust, mit euch zu sprechen. Kommt man in die Toilette, verstummt das Gespräch. Sie fühlen sich kontrolliert, werfen nach einigen hastigen Zügen die langen Mundstücke ihrer Zigaretten fort und gehen. Nicht direkt demonstrativ, aber sie gehen, und die Ankommenden halten sich nicht auf, solange deutsche Soldaten dort sind.
Und doch möchte ich gerne mit ihnen sprechen. In Berlin haben Arbeiter die rote Fahne gehisst, am Ersten Mai demonstriert, um durch alle Lüge, durch alle Not, durch alle Gemeinheit hindurchzuschreien: Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung! Karl Liebknecht, der Armierungssoldat, ist wieder auf die Schanzen gesprungen. Die proletarische Jugend hat mit ihm das Banner des revolutionären Klassenkampfes gehisst. Die patriotische Meute heult, aber sie verschweigt, was Liebknecht sagte. Sie zerren ihn ins Zuchthaus — wir müssen reden!
Ich beobachte den jungen, schlanken Dreher schon lange. Ich weiß, wie sich ein Vertrauensmann benehmen muss, noch dazu im besetzten Gebiet. Ich sehe, wie er immer um sich schaut, wenn er mit irgendeinem spricht. Abends sehe ich ihn öfter mit demselben Tischler und einem Schlosser. Sein intelligentes Gesicht, seine ruhigen Augen, seine sachliche Höflichkeit: was soll dieses Hirn anders denken als das meine?
Ich muss, selbst um den Preis, vielleicht zu unvorsichtig zu sein, alles versuchen, um diese stumme Mauer niederzureißen, und lege ihm auf seine Drehbank den Brief von Klaus und den von Sophie, nebst dem Bild des kriegsgefangenen französischen Arbeiters. Zwei Stunden später gehe ich wieder hindurch, bleibe vor seiner Drehbank stehen.
„Hast du gelesen?" frage ich. Er schaut mich ruhig und prüfend an. Ich reiche ihm kurz entschlossen die Hand, und er greift zu.
Kurz vor Feierabend steckt er mir einen Zettel zu, auf dem die Adresse eines Lokals steht, in dem ich mich einfinde. Der Zettel ist Legitimation dem Wirt gegenüber. In einer alten Küche erwarte ich ihn. Nach ihm kommen noch drei, zwei Genossen und eine Genossin.
Der Brief von Klaus ist der erste Bericht, den sie erhalten. Genovsky, der junge Dreher, liest ihn vor. Ich gebe Bericht über die revolutionäre Bewegung in Deutschland. Die vierzigste Milliarde Kriegsanleihe ist bewilligt, aber langsam zerrinnt der Nebel, der Hunger regiert. Die Sozialdemokratie ist gespalten. Für Kommissbrot kauft man auch in Deutschland schon Liebe wie in Belgien und Polen. Das besetzte Gebiet — das ist die Klasse des Proletariats in allen Ländern. Der Feind steht im eigenen Land!
Sie hören mich ruhig an und haben Vertrauen zu mir.
„Warum macht ihr es den deutschen Genossen so schwer, euch zu finden ?" erkundige ich mich dann.
Da sagt Genovsky: „Genosse, die deutschen Soldaten haben gegen das polnische Proletariat schwer gesündigt. Sie haben geplündert und geräubert und nicht danach gefragt, ob sie ihre Feinde oder ihre Klassengenossen, Proletarier, vor sich haben. Die Erbitterung unter den Arbeitern ist sehr groß. Wir werden es schwer haben, durch die Schuld der deutschen Arbeiter, den polnischen Nationalismus erfolgreich zu bekämpfen."
Ein seltsames Gefühl beschleicht mich. Ich selbst stehe als Lump vor ihnen; August Wendt hatte schon recht!
Ich erzähle lang und breit meine eigene Geschichte. Sie hören mich interessiert an und stimmen zu. „Genau wie wir", bestätigt Genovsky. „Auch wir müssen ja Kriegsmaterial, noch dazu für die deutsche Heeresleitung, herstellen."
„Dann könnt ihr die deutschen Genossen doch auch nicht verdammen!"
„Tun wir auch nicht, Genosse, aber wir müssen vorsichtig sein. Alle Spione und Spitzel versuchen, uns unter der Maske des ,Sozialisten' zu fangen. Die polnischen Arbeiter haben schlechte Erfahrungen hinter sich. Wir sind ja vollends vogelfrei. Viele von uns sind schon erschossen oder deportiert infolge Denunziation feldgrauer Spitzel."
Die Uhr rückt auf elf. Ich muss gehen. Wir reichen uns die Hände, die Genossin weint. Sie ist nicht mehr jung. Ihr Haarschopf, der hinter dem Kopftuch sichtbar ist, ist fast weiß.
Sie gehen dann, erst die beiden andern, älteren Arbeiter, dann die Genossin. Genovsky und ich sind die letzten.
„Warum weinte die Genossin?" frage ich.
„Sie hat viel durchgemacht", sagt Genovsky kurz und bitter,
„sie ist aus Deutsch-Polen, wohnt hier bei ihrer alten Mutter. Ihr Mann wurde vom deutschen Heere eingezogen und fiel in Belgien. Ihren Sohn haben die Deutschen in Warschau standrechtlich erschossen."
„Warum?"
„Er beteiligte sich an einem Streik, als die Deutschen Warschau besetzt hatten und die Löhne der Arbeiter einfach kürzten. Er war erst siebzehn Jahre alt."
Da geht die Tür noch mal auf. Einer der Genossen kommt herein und sagt etwas in polnischer Sprache.
„Los!" sagt Genovsky darauf, „die Luft ist rein. Gute Nacht, Genosse Betzoldt!"
„Wann fährst du?"
„Nächste Woche."
„Wenn wir nicht mehr zusammenkommen können — es ist vielleicht nicht ratsam —, grüße die Genossen in Deutschland!"
Von sechzig Mann aus unserm Kursus fuhr die Hälfte zurück, ohne Decken, ohne Mäntel, ohne Schnürschuhe. Sie melden, dass ihnen die Sachen gestohlen sind. Einige haben sich eine Geschlechtskrankheit zugelegt für einen Teil des Geldes, das die Sachen einbrachten. Die Drohung mit Strafe zieht nicht mehr. Sie kalkulieren schon genau so wie Gustav: von heute auf morgen.
Man spricht auch viel von Liebknecht und seiner Rede. „Der Mann ist irrsinnig, komplett irrsinnig", sagt Unteroffizier Fingerhut, „dass sie den nicht wegbringen, ein Skandal ist das."
„Wieso irrsinnig?" frage ich. Wir liegen in einem Unterstand mit Fingerhut zusammen. Es ist schon dunkel, das Licht ausgelöscht, wir müssen sparen.
„Da fragen Sie noch? Haben Sie nicht gehört, was der Mensch für einen Quatsch verzapft?"
„Nicht gehört, aber gelesen! Haben Sie gelesen, Herr Unteroffizier?"
„So einen Dreck zu lesen, müsste mir einfallen. Damit wische ich mir noch nicht einmal den Hintersten." Herr Fingerhut ist von der Durchschlagskraft seines letzten „Arguments" so überzeugt, dass er jede weitere Entgegnung für überflüssig hält, und wirft sich geräuschvoll auf die andere Seite.
Roggenbrot erscheint in der Tür. „Schon so früh im Bett? Ich dachte, wir könnten einen kleinen Skat machen."
„Haben Sie Licht?" fragt der „Einjährige" Bohne.
„Werde welches besorgen!"
Ich überlege, wie ich unserm Unteroffizier beikomme, und sage: „Ich glaube, dass die Behauptung, dass Liebknecht irrsinnig ist, nicht genügt. Man muss den Soldaten den Irrsinn nachweisen, sonst gerät man in den Verdacht, etwas zu behaupten, wofür der Beweis fehlt."
„Diskutieren Sie, mit wem Sie wollen, aber nicht mit mir und nicht in meiner Gegenwart!"
„Stören wir?" Roggenbrot kommt wieder und hört, dass man irgend etwas nicht in irgendwelcher Gegenwart tun dürfe.
„Nein", sagt Fingerhut einladend. „Betzoldt möchte wieder einen Vortrag halten. Er möchte uns zu Liebknecht bekehren. Er denkt, er hat Kinder vor sich."
„Ach so! — Na, das mein ich auch, wir sind doch alle Männer, die wissen, was sie wollen!" Roggenbrot sagt das mit einem ironischen Unterton und macht Licht.
Mau, ein etwas schwerfälliger Mecklenburger, der jedoch aus seiner „Schwerfälligkeit" schon manchen Vorteil zog, meldet sich: „Etwas Richtiges hat Liebknecht bestimmt gesagt. Die machen Krieg noch und noch, wenn nicht einer einmal dazwischenfährt. Und vor allen Dingen: Der Mann hat Mut und imponiert mir. Was uns der Kriegsbericht erzählt, daran glaubt ja schon kein Mensch mehr."
„Wir werden vorschlagen, dass Sie nächstens die Kriegsberichte schreiben, Mau", meint Fingerhut.
„Halten Sie die Kriegsberichte für Wahrheit, Herr Unteroffizier?"
„Wie können Sie bloß so dumm fragen, Sie scheinen... "
Weiter kommt Fingerhut nicht. Ein dröhnendes Gelächter schallt aus allen Betten. Selbst Roggenbrot lacht mit, aber er lacht natürlich nur, weil wir alle so „grundlos" lachen. Unteroffizier Fingerhut ist entrüstet über unser „albernes Gelächter" und schreit: „Am vielen Lachen erkennt man die Narren!" Mau ist überrascht von seinem Erfolg und antwortet: „Dann hat ja Liebknecht hier eine ganze Masse Anhänger,Herr Unteroffizier."
„Sie sind ein kompletter Idiot", ruft Fingerhut, durch die neue Lachsalve aufs höchste gereizt.
Er steht auf und geht fort.
Als er kaum von der Tür weg ist, fällt Mau in ein neues Gelächter.
Gefreiter Bohne wird zornig. „Lach doch nicht so dumm, du fällst einem wirklich auf die Nerven!"
Er macht, als Mau weiterlacht, mit dem Finger drei Kreuze in der Luft.
Es ist bekannt, dass Mau Mühe hat, seinen Namen leserlich hinzumalen. Mau sieht das und wird blass vor Wut. Der Landproletarier ist an seiner empfindlichsten Stelle getroffen.
„Weißt du auch, Bohne, dass ein Mensch, dessen Vater einen Sack voll Geld hat, trotz aller Weisheit, die man ihm eintrichterte und die er kritiklos und papageienhaft nachplappert, ein ausgemachter Dummkopf sein kann?"
„Wie meinst du das, Betzoldt?"
„Nun, ein Rittergutsbesitzer hat einen Sohn, den der Vater mit viel Geld und allen Hilfsmitteln dazu bringt, dass er glücklich das ,Einjährige' macht. Der Rittergutsbesitzer hat auch einen Tagelöhner, den er so schlecht bezahlt, dass dieser seine vielleicht sehr intelligenten Jungen so zur Arbeit antreiben muss, dass sie noch nicht einmal die Volksschule regelmäßig besuchen oder schlecht lernen, weil sie zu müde sind. Findest du nicht auch, dass die eingepäppelte Schulweisheit des reichen Söhnchens kein Maßstab sein kann für dessen Intelligenz? Oder, dass es eine Frechheit ist, sich mit der ,Bildung' zu brüsten, die man sich auf Kosten der Proletarierkinder errafft? Vielleicht siehst du daran, dass moderne ,Bildung', Frechheit und die unglaublichste Dummheit sehr gut zusammen harmonieren können?"
„Neid der besitzlosen Klasse", sagt Bohne, und haut die Karten auf den Tisch. Unteroffizier Koch, der „dritte" Mann, schreit: „Haltet endlich die Schnauze mit eurem Quatsch." Er hat ein Spiel verloren.
Ich fühle mich aber zu einer Antwort auf Bohnes letzte Bemerkung verpflichtet und sage: „Das ist allerdings eine eigenartige Moral. Der Dieb sagt zu dem Bestohlenen: ,Sei nicht so neidisch auf meinen Besitz, das ist hässlich!'"
„Ich verbitte mir jetzt diese fortgesetzten Beleidigungen,
sonst----------!" Bohne macht eine unmissverständliche Geste,
dass er sich beim Häuptling beschweren werde.
„Die Sache ist doch ganz harmlos, Bohne, Betzoldt hat doch nur ganz allgemein gesprochen. Was ziehen Sie sich die Jacke gleich an." Roggenbrot verzieht dabei keine Miene.
„Du bist also der Meinung, Bohne, dass der Dieb der Ehrenmann ist, und dass es ganz in Ordnung ist, die Bestohlenen zu bestrafen, die dieses ,Recht' anzweifeln?"
„Aber Betzoldt! Ich bitte Sie!" Roggenbrot klatscht zornig die Karten auf den Tisch, als wolle er fortfahren: Sei doch vernünftig, Mensch, bringst mich ja in eine unmögliche Lage! Unteroffizier Koch — seines Zeichens Referendar — blinzelt nervös durch seine Brille und sagt: „Kennen Sie denn gar keine Grenzen, Betzoldt? Ist doch einfach unerhört!"
„Die eigentliche Frage ist, ob Liebknecht irrsinnig ist. Hier geht es, wie bei dem Sohn des armen Tagelöhners. Die Arbeiter sind ,brav', solange ihnen nicht zum Bewusstsein kommt, dass sie nur den Reichtum anderer vermehren oder verteidigen. Sobald sie dagegen rebellieren, sind sie irrsinnig. Aber die Szene hat gründlich gewechselt. Die Helden sind nicht die, die sich feige dem Irrsinn unterwerfen, sondern die, die mutig dagegen aufstehen, auch wenn sie bespien und begeifert werden. Millionen Soldaten sind mit Liebknecht — auch ihr hier bleibt nicht freiwillig, ihr geht alle nach Hause, wenn der Zwang, die Angst vor der Strafe fällt. Ich habe keine Angst. Ich bin ein armer Teufel, dumm und ungebildet, und habe nichts zu verteidigen. Ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube und sage euch ganz ungeniert, wie ich denke. Nieder mit dem Krieg! __ Wie
Karl Liebknecht!"
Die Kartenspieler machen eine Pause und schauen mich entgeistert an. Ich gehe, etwas erregt, hinaus, um meine Wut wieder abzukühlen.
Kurz hinter mir verlässt Roggenbrot den Unterstand, ich höre noch sein typisches „Gute Nacht, meine Herren!"
Mit immer größerer Erregung warte ich auf die Nachrichten aus der Heimat. Merkwürdigerweise ist meine Post recht spärlich. Aber die Urlauber der Infanterie bringen Nachrichten mit. Die Sozialdemokratie fällt auseinander. Liebknecht verteidigt sich heldenmütig und mit unglaublicher Zähigkeit. Demonstrationen, Streik der Berliner und Braunschweiger Arbeiter sind die Antwort auf das Zuchthausurteil. Die schneidende Logik der Spartakus-Briefe hebt mich hinaus aus den furchtbaren Qualen weltabgeschiedener Isoliertheit. Die Kräfte von unten wachsen, bäumen sich gegen den dritten Kriegswinter. Die Propaganda fällt schon in hellhörige Ohren, und ich fühle mich als Teil dieser Propaganda, dieses von unten aufquellenden Lebens, das nicht mehr von Tod und Grauen und Angst erstickt werden kann.
Sophie hat zum zweiten Male entbunden, mit sieben Monaten, ein totes Kind. Immer wieder betont Martha, dass Sophie weiter nichts fehle, dass sie sich bald wieder erholen würde. Sie wissen wohl, dass es nicht leicht sein wird, mich zu „trösten".
Ihr Freund hat sie also beim Nieten doch nicht genug „schonen" können. Die spärlichen Paketchen, die ich immer noch von ihr erhielt, hätten ihren geschwächten Körper vielleicht doch um ein weniges widerstandsfähiger erhalten, so dass er nicht zwei Monate vor der Zeit versagt hätte. Man nimmt, freut sich und isst, und wird zum Mörder seines eigenen Kindes.
Einen Augenblick kommt mir der Gedanke, um Urlaub nachzusuchen — aber nur einen Augenblick. Die Leute sind knapp. Eine „Ausnahme" liegt nicht vor. Sophie ist sogar auf dem Wege der Besserung. Was sollen Sie dann noch da? würde man mich fragen.
Sie ist auch wirklich auf dem Wege der Besserung. Ich sehe es an ihren Bildern, die sie mir einige Wochen später von der Heilstätte sendet. Sie sitzt im Kreis mit anderen kranken Frauen. Die Anstaltskleider hängen ihr schlotternd um den zusammengefallenen Leib. Sie ist nur noch sehr schwach, schreibt sie, „aber nun bin ich ja über den Berg. Hoffentlich bist auch Du gesund?"
Ihre welken Wangen lassen die Backenknochen stark hervortreten. Die Hände auf den Knien, zusammengekauert, schaut sie über die Weiden am Bach, wie niedergehalten von ihrem Leid, von dem sie schweigt, um mich nicht zu „beunruhigen".
Du würdest manchmal erschrecken, Sophie, wenn du mich so sehen würdest. Ich bin nicht immer in der Batterie. Ziehe zeitweilig mit dem Feuerwerker die Front entlang, um die Geschütze der einzelnen Batterien abzunehmen. Sie sind oft schon völlig auf den Hund. Der Rücklauf so ausgeleiert, dass sie ganz unkontrollierbar streuen, oft in den eigenen Graben. Die Rohre sind zerschlissen, ganze Felder ausgerissen.
Jede Differenz wird sorgfältig mit Präzisionsinstrumenten gemessen, gebucht — und dann kommen sie, in Ermangelung von Ersatz, oft wieder in Stellung. Wir gehen von Batterie zu Batterie, überall dasselbe: zwei Mann an einem Geschütz.
Man kann oft den Fünfundzwanzig jährigen nicht vom Landsturm unterscheiden. Die Gesichter stecken in wildwuchernden Bärten.
Wir sind keine gern gesehenen Gäste. Wenn einer nicht wiederkommt, oder gar ein paar, dann kommt manchmal auf den einzelnen ein Häppchen mehr beim Empfang. Aber wir sind immer gesunder Zuwachs, immer überetatsmäßig, wo die armen Teufel schon so nicht wissen, wie sie ihren Magen beruhigen sollen.
Sie pflegen und ziehen allerlei Vögel, Spatzen, Stare usw., nur um einmal „Schlachtfest" machen zu können. Katzen gibt es auch da nicht mehr, wo früher einige Exemplare als letzte Erinnerung an ein anderes Leben zurückgeblieben sind oder irgendwo hergeholt wurden.
Vor einigen Tagen haben sie in einer von uns besuchten Batterie eine im Kochgeschirr geschmort. Erst die eine Hälfte — man muss auch an den andern Tag denken. Aber sie schmeckte — in ihrem eigenen Saft, mit Zwiebeln und Gewürz geschmort — so gut, dass man beschloss, die andere Hälfte auch noch vorzunehmen. Das war ein Fest!
Alle überlegen, wie in den eintönigen Fraß einmal eine Abwechslung zu bringen ist. Ob Maulwürfe essbar sind? Es lohnt sich doch nicht, ist doch nichts dran, sagt einer. Ein anderer meint, dass man es doch einmal mit Ratten versuchen soll, die gebe es in Hülle und Fülle, man kann sich gar nicht vor ihnen retten. So mit Zwiebeln und Pfeffer und so—man kann doch nicht wissen.
Noch ist es nicht so weit, aber Gott, wir sind doch Helden, müssen irgendwie durchhalten. Mit den Ratten würden uns auch unsere Toten noch nützen können. Letzten Endes fressen Aale doch auch Menschenfleisch. So denken sie, wenn sie von ihrer schweren Arbeit heimkehren und nichts vorfinden als schlechtes Brot und stinkende Marmelade.
Sie würgen einen Kanten hinunter zu ihrem „schwarzen Kaffee" und gehen hinaus. Man kennt jede Wurzel, jeden Stein, jeden einzelnen Baum. Der Geist ist rettungslos gefesselt — das hält keiner aus, es sei denn, er ist schon lebendig tot, wie einige von der Munitionskolonne, die immer größere Mengen von dem „Rum" trinken; im Dusel ihre Balken schleppen, schlafen, essen. Sie sind vertiert, zerbrochen.
Andere machen aus Granatsplittern Briefbeschwerer, Dolche, wer weiß, was alles. Andere lassen von Kupferringen Fingerringe, Broschen, Kunstwerke aus jungen Birkenstämmen entstehen. Andere legen den Löffel aus dem Mund und sitzen jede freie Minute beim Skat. Die Photographen photographieren die verwesenden Russen in den Drahtverhauen, das sind die „Gebildeten", die Offiziere und Einjährigen, die teure Apparate hier haben. Halbverweste Menschen im Bild als Kriegsandenken, deren Knochengerüste wie Vogelscheuchen in den spanischen Reitern hängen — ist doch mindestens originell!
Es ist so schwer, hier Abwechslung zu finden. Man weiß, dass eine Pferdelaus auf eine Menschenlaus losgeht und amüsiert sich bei diesem Ringkampf. Wenn alles nicht mehr befriedigt, statten sie sich gegenseitig Besuche ab. Machen sich Kragen und Vorhemd aus Papier, drehen den Rock ihres Ehrenkleides um und empfangen „Gäste". Sie leben sich in das Theater hinein, reiten auf ihrer Phantasie in die Heimat, greifen sich den Schnapsballon in der Ecke — an nichts ist Überfluss, außer an Schnaps — und saufen, saufen!! Saufen heißen Rum, weil kalter Rum in heißem Wasser eine zu schwache Mischung ergibt, wenn sie heiß bleiben soll. Die „Kapelle" tritt in Funktion.
Alte Gießkannen, einige Töpfe, Schlagzeug von Topfdeckeln. Über einige Bretter sind Telefondrähte gespannt, das sind die Geigen. Die Trommelstöcke wirbeln in den Gießkannen, die Paukenschlegel hauen auf die Töpfe, die Geigen quietschen, die Topfdeckel fallen krächzend ein. Auf einer Tonne wird noch getrommelt. Einer sucht den andern zu
ü berschreien: .
„Wenn das so weitergeht
im nächsten Jahr, ham wir 's Delirium, Hallelujah!"
Manchmal bringt einer auch seine „Braut" mit nach Hause. Immer onanieren ist zu eintönig. Und immer noch einen Becher heißen Rum.
Ich sitze am Ofen, schaue in die Glut, Minute auf Minute: der Wahnsinn grinst aus den verzerrten, kindischen, vertrottelten Gesichtern. Das Gehirn droht zu platzen. Ich greife nach einem Becher und trinke, trinke, saufe, bis zur Bewusstlosigkeit.
Der Posten horcht in die Nacht. Was schnarcht da so furchtbar? Sie finden mich im Zementschuppen auf den Säcken, völlig bewusstlos, bei zehn Grad Kälte.
Stellungswechsel!
Die Batterie packt, zieht fort, kein Mensch weiß, wohin. Im Westen verschlingen die Granaten täglich Zehntausende — keiner sagte nein, fragte man ihn, ob er hier fort und dorthin wolle. Sie gehen auch hier zugrunde, nur langsamer, noch qualvoller.
Aber wir ziehen nur ein wenig nach rechts oder links; heute wieder nach rechts. Die Infanterie hat schon Wochen vordem gerüstet. Minenwerfer sind in Stellung gegangen. Die alte Stellung soll wieder genommen werden.
Wir fahren in der Nacht durch einen sandigen Hohlweg, dann durch ein Dorf, dessen Häuser aus anderen Dörfern zusammengeholt und wieder aufgebaut wurden. Hinter dem Dorf deckt uns eine Allee alter Laubbäume. Die Batterie soll dann rechts über die Sanddünung auffahren, vor der ein großer Teich liegt. Unter dem Schutz der alten Bäume machen wir halt, die Munitionskolonne hält im Hohlweg.
Zweihundert Meter in der Sanddünung ist die Stellung für uns ausgeworfen, vor einer sich wellig hinziehenden Anhöhe. Dahinter erhebt sich eine etwas höhere Hügelkette, aus der es wie Steinbrüche herausleuchtet. Die Russen drücken hier dauernd auf die deutsche Infanteriestellung. Der erste Graben ist schon geräumt, er lag vor der Hügelkette. Ein weiterer erfolgreicher Durchbruch durch die Reservestellung macht das Dorf mit seinem Proviantamt, Verbandplatz und der Krankensammelstelle zum direkten Ziel der russischen Maschinengewehre. Die Hügelkette muss wieder frei von Russen sein.
Wir sollen noch in der Dunkelheit auffahren und um 4,30 Uhr feuerbereit sein. Über uns liegt ein klarer Himmel, über dem kleinen See eine Eisschicht, die schon trägt. Vorn lebt schon gleich nach Mitternacht das Gewehr- und Maschinengewehrfeuer auf, dazwischen die dröhnenden Einschläge der Minen. Das Konzert der einsetzenden Artillerie läuft von links und rechts her zusammen. Russische Granaten und Schrapnells tasten sich von links an dem See herauf, kommen näher; eine Granate explodiert auf dem Eis und wirft eine Riesenfeuersäule hoch, die klatschend auf das Eis zurückfällt.
Die Batterie sitzt auf, fährt im Trab auf die Sanddünung — bricht durch die dünne Decke, die Räder sinken ein, die Last zwingt die Pferde zum Schritt. Sie ziehen schnaubend, immer tiefer versinken die Kanonen. Die Steigung macht sich bemerkbar, das erste Geschütz sitzt schon fest, hundert Meter vor der Stellung. Munitionskörbe fliegen in den Schnee.
Wir schaufeln frei, die Pferde ziehen von neuem an. Ein Gaul wiehert laut in den dämmernden Morgen. Vor uns, hundert Meter vor der ausgeworfenen Stellung, heulen zwei Einschläge auf. Steinbrocken poltern zu Tal, Batzen gefrorener Erde springen aus dem Wald und werfen sich hart vor uns hin. Der stählern singende Ton der Brisanzgranaten kriecht warnend an unseren Ohren vorüber, über den Weiher, als schon der Abschuss der zweiten Salve aufzuckt. „Wui wui owuiee — Kramssss — Ha Summ!"
„In die Speichen!"
Am zweiten Geschütz schlägt ein Mittelpferd unausgesetzt hintenaus, steigt dann vorn hoch, springt trotz aller Hiebe über die Stränge, will zurück, fällt um und schlägt im Liegen um sich. Man schneidet es aus den Strängen; es springt schreiend auf und beißt dem Fahrer, der es halten will, den Oberarm durch. Dann stürzt es davon, überschlägt sich, springt wieder auf, kommt bis zum Weg am Weiher, überschlägt sich noch einmal. Dann kommt es nur noch mit Kopf und Vorderbeinen hoch, scheint sich dauernd auf die herabhängenden Stränge zu treten oder auf das Sattelzeug, das ihm unter dem Leib zu hängen scheint. Gibt dann seine Anstrengungen auf und fällt schwer auf die Erde.
Das erste Geschütz ist in Stellung; sämtliche Mannschaften liegen in den Speichen oder schieben. Eine neue Salve setzt einen Volltreffer zwischen die Munitionskörbe. Die Fetzen fliegen in die Luft. Es explodiert zum Glück nur eine Granate.
„Kanoniere hierher!"
Am zweiten Geschütz sammeln sie sich nicht mehr vollzählig. Einer liegt über dem Haufen zerrissener Geschoßkörbe auf dem Rücken, als ging ihn das alles gar nichts an. Einer erhebt sich langsam, wankt und schreit: „Ich verblute! Ich verblute 1" Wir haben keine Zeit zu sehen, was ihnen fehlt. Wir müssen in Deckung — um jeden Preis. Die Pferde werden ausgespannt, abgeprotzt und die Lafetten über den gefrorenen Boden geschoben. Es geht alles durcheinander, zwei Richtkanoniere fallen aus. Die Hälfte steht wie vom Schreck gebannt, immer auf dem Sprung, sich hinzuwerfen.
Die Telefonisten ziehen Drähte hinter die Stellung unter die hohen Bäume, hinter denen der Hauptmann liegt. Roggenbrot führt die Batterie und meldet „feuerbereit", nachdem er erst von Geschütz zu Geschütz gelaufen ist und sich eigenhändig überzeugt hat, dass alles stimmt.
Die Batterie feuert mit den wenigen, die weniger gute Soldaten sind, und die — nicht nur hier — den Kopf nicht verlieren.
Der Graben vorn wird wieder ausgebogen — weil es drüben nicht besser ist. Die Batterie kehrt zurück und hat neben zwei Toten fünf Verwundete verloren, unter ihnen Unteroffizier Fingerhut. Ein Granatsplitter riss ihm den rechten Oberschenkel auf, auch vorn am Fuß ist der Stiefel zerfetzt. Er schreit vor Schmerzen, das Blut quietscht im Stiefel. Ich bringe ihn nach hinten.
„Nun bin ich doch ein Krüppel —", sagt er erschöpft, „was soll ich bloß machen."
Ich blicke in ein von der Angst zerwühltes Gesicht. Die Haare hängen ihm unter der Schirmmütze hervor. So jung ist das Gesicht des Einjährigen-Unteroffiziers, ein Flaum läuft über die Oberlippe. Vielleicht denkt er an sein Mädchen und hat Angst, dass sie den jungen Krüppel nicht mit dem stattlichen Unteroffizier oder Leutnant vertauschen will.
Als ihm der Sanitäter den Stiefel herunterschneidet, ihm die Fetzen von Strümpfen aus der Wunde zieht und dann sagt: „Ist nicht so schlimm, ohne große Zehe können Sie noch länge leben, und das Loch im Oberschenkel hat nur das Fleisch erwischt!" läuft schon wieder ein Lachen über sein Gesicht.
Deutschland, die Heimat, winkt.
Ich weiß nicht, was mit den andern ist; die Batterie wechselt zurück in ihre alte Stellung. Das verendete Mittelpferd liegt noch da, man sieht nun, dass der Klumpen Geschirrfetzen, in die es sich verfing, als es immer wieder aufstehen wollte, die Därme waren, die ihm aus dem Leib quollen. Der Winter zieht ein.
Die Batterie bekommt Ersatz, der oft nicht einmal eine Woche aushält. Die Ruhr packt sie, trotz aller Impfungen, einen nach dem andern. Zahnreißen grassiert wie eine Epidemie, die Zähne werden lose, fallen aus, alle Berührungen des Gaumens mit Flüssigkeiten oder Speisen über oder unter der Bluttemperatur verursachen unheimliche Schmerzen.
Urlaub gibt es, einer nach dem andern fährt — einmal muss man sie ja fahren lassen. Sie kommen zurück, ausgehungert und stürzen sich auf das Brot. Brot haben wir — im Gegensatz zur Infanterie — genügend.
„Nehmt euch Brot auf Urlaub mit!" ermahnen sie alle, „in Deutschland müsst ihr noch mehr hungern als hier." Die Phantasie lebt auf — von Frauen und Mädchen und Liebe ist viel die Rede. Von der Treue der Liebsten daheim, der Frau. Jeder schwört und legt die Hand für die Seine ins Feuer.
Auch Berg, der neue Koch, der von der „Kolonne" zu uns kam. Knöhnagel ist fort, ist unter den Kranken. Berg hat eingereicht, sollte schon Weihnachten dran sein. Aber er saß zu Weihnachten auch hier — wie ich — und empfing mit den Pechvögeln „Liebesgaben" zum Trost. Aber nun soll es werden.
Da bekommt Berg das „Laufen". Heimlich schleicht er sich zu der Latrine; es soll ja keiner sehen, dass er krank ist. Hat noch Schwein gehabt, dass das Kommando für die Grabenkanone glücklich weg ist. Zwei waren dabei und kommen auf diese saubere Art um ihren Urlaub. Berg kann die Zeit gar nicht abwarten — er ist eifersüchtig, und die andern wissen es. „Die wird gerade warten, bist du kommst. Hast du 'ne Ahnung!"
Wie bei Menschen, die sich an der bloßen Erinnerung an eine Frau erhitzen, werden Bilder ausgemalt, in denen Bergs Frau mit Männern die Nächte durchlebt, gewissenlos, jauchzend.
„Denkst, die lötet sich das Ding so lange zu! — Vielleicht lässt sie dich gar nicht mehr heran." Berg wird stutzig und still. — Vielleicht doch?
Er fiebert in Ungewissheit, will ihr unbedingt eine Freude machen. Er buddelt die früher einmal vergrabene Wäsche aus: Hemden, Unterhosen, Strümpfe. Die Einjährigen und Unteroffiziere hatten, als die Batterie hier ankam, noch Überfluss. Sie ließen sich einfach neues Unterzeug schicken und vergruben das verlauste. Berg ist beim Umgraben des „Gartens" auf Fetzen gestoßen, hat weitergegraben, und nicht ohne Erfolg. Hat dann alles gewaschen und geflickt, und will es mitnehmen. Daheim müssen sie alles sündhaft teuer bezahlen — und bekommen es nur auf Bezugsschein.
Und gespart hat Berg, seine gesamte Löhnung, seit langer Zeit. Wenn sie dann sieht, seine Frau, was sie für einen Mann hat, wird sie es sich doch überlegen, ob sie es mit ihm verderben soll. Er sieht sie schon vor sich, wie sie strahlt, wenn er ankommt, mit den Fettigkeiten, die er in Warschau einkaufen will. Er kann die Zeit nicht mehr abwarten, ist nervös. Er ist überhaupt so herunter, auch körperlich. Ob er sich erkältet hat?
Gegen die Ruhr hilft nur „Stopfung", hat er einmal irgendwo gehört, vielleicht von dem Teufelsbraten von Offiziersburschen, der für alles Allerweltsrezepte hat und der sich nicht entgehen lässt, ihm einen Bären aufzubinden:
„Du musst Pudding essen, viel Pudding, Berg, das stopft."
„Pudding! Leicht gesagt, aber mit was?"
„Hast doch Graupen oder Grieß, oder was. Musst die Sache nur schön dick anrichten."
Berg isst einen Napf nach dem andern, geht dann hinaus und kommt kreidebleich wieder herein. Sein Magen behält nichts mehr; aber Berg ist hartnäckig, greift sich einen neuen Napf voll — er hat vorgesorgt — und isst wie ein Verzweifelter. Der Posten erwischt ihn, als er einmal in den Unterstand sieht, wie er zitternd löffelt.
„Pass auf Berg auf, der ist schon total verrückt", sagt er zu mir, als ich ihn ablöse. „Der muss weg, aber schleunigst. Ich habe ihn ins Bett geschickt."
Schon nach der ersten Runde geht die Tür des Unterstandes,
in dem Berg schläft, von neuem auf. Er sucht zur Latrine zu kommen, wankt aber, tritt auf sein langes Nachthemd, das auch aus seinem ausgegrabenen Wäscheschatz stammt, und fällt hin. Als er mich kommen sieht, bettelt er: „Verrat mich nicht, Betzoldt, es ist nichts, ich muss nur brechen, mir ist so schlecht." Dann versucht er wieder hineinzukommen, fällt aber mit den Händen gegen die Tür. So, mit dem Gesicht an die Tür gelehnt, bricht er alles wieder aus.
Ich bringe ihn hinein, decke ihm noch ein paar Decken über und sage: „Berg, mach keinen Quatsch. In der Kälte hinauslaufen, kann dein Tod sein. Morgen früh meldest du dich krank, sonst muss ich dich krank melden, und lass das Graupenfressen sein, willst dich wohl mit Gewalt kaputtmachen!"
Berg kriecht stöhnend in sein Bett, kommt auch nicht mehr zum Vorschein, meldet sich auch nicht, als ich den Rest des Graupenpuddings nehme und draußen in die Latrine kippe. Als ich ihn frage, ob er etwas braucht, bevor ich mich hinlege, sagt er: „Nein, mir fehlt jetzt gar nichts mehr, nur ein bisschen schwach, Erkältung!"
Er wartet aber nur darauf, bis ich einschlafe. Als er glaubt, dass er nicht mehr beobachtet wird, kriecht er heraus an sein Spind und greift sich eine Konservenbüchse voll „Pudding", die er dort noch verstaut hatte. Als ich die Taschenlampe anknipse, versucht er seinen Schatz schnell auf den Schemel vor dem Tisch zu bringen, damit ich nichts sehen soll, aber die Büchse fällt ihm aus den Fingern, er sinkt erschöpft in seinen Pudding hinein und stiert mich mit irren Augen an.
„Berg, mach keine Dummheiten!" Was soll ich weiter sagen zu einem Schwerkranken, den die Ruhr um den Urlaub bringt und der nun vor Eifersucht verrückt zu werden droht. Er gehorcht wie ein ertapptes Kind und tappelt stumm wieder in sein Bett.
Morgens tritt Berg mit an. Er ist weiß wie Mehl, kann sich kaum auf den Beinen halten, lässt schon Blut. Der Unteroffizier meldet ihn krank, aber Berg will nichts davon wissen. Zwei Mann bringen ihn auf einen Wagen, er muss sofort weg. „Meine Sachen!" lallt er noch, „meine Sachen!"
Man packt sie ihm auf den Wagen, auch seine Brieftasche und seine Uhr, und fährt mit ihm los. Zwei Tage später war er tot.
Viele, sehr viele erwischt die Ruhr. Sehr viele kommen nicht wieder, sterben einen unrühmlichen Heldentod. Die Alten, die von Anfang an hier sind, sind nur ein kleines Häufchen, und der neue Ersatz „bewährt" sich noch schlechter. Oft schon genügt das Gift der Riesenmückenschwärme, die im Frühling die Sümpfe bevölkern und die Menschen anfallen. Die Gesichter schwellen an, als hätten sie alle „Ziegenpeter". Bei einigen produziert der eigene Körper die Gegenkräfte, die den Körper immun machen. Viele jedoch weiden sofort krank und verschwinden wieder. Die physisch geschwächten Körper fallen dem Klima zum Opfer. Sie werden auf „humanere" Art als im Westen um die Ecke gebracht.
Ich fahre als einer der letzten der „alten Leute".
Gustav ist bereits vom Urlaub zurückgekommen; er hat Sophie besucht und sagt: „Et geit bös her in Deutschland, Hans, nimm mit, wat du an Brot erwischen deist, in Deutschland, hauptsächlich in de Stadt, verhungern de Lüd einfach. Ok Sophie sieht nich gaut ut. 'n beten hew ick ehr jo doaloten, aber dat langt nich wiet. 'n beten Geld hett se mi mitgeben, für Fettigkeiten, un sie freut sich so up di."
Wieviel kann ein Soldat nun schleppen? Er hat Tornister, Karabiner, Gasmaske, Helm, Seitengewehr, Mantel, hat mit allem Drum und Dran schon an sich zu schleppen. Ich lasse, was irgend möglich ist, zurück und verstaue die fünf Pfund Butter, den Speck, den Käse, alles, was Gustav beim Empfang aus der Kantine besorgte. Gustav kommt mit zur Kleinbahn; er trägt mir den Sack mit dem Brot, siebzehn kleine Kommissbrote sind darin. Dort wirft er mir den Sack auf die offene Lore und sagt: „Komm gaut hen, Hans! Lot juch dat gaut schmecken."
Die Kleinbahn torkelt los. Gustav winkt noch mit seiner verschrumpelten Fahrermütze wie ein alter Bauer und stampft dann davon; langsam, gebeugt geht er den Berg zurück, gar nicht wie ein Soldat.
Ich stehe müde, abgespannt neben meinem Sack auf dem offenen Wagen. Wer schläft wohl die Nacht vor der Fahrt auf Urlaub? Ein kalter Regenschauer nach dem andern geht nieder. Ich breite meine Zeltbahn über meinen Brotsack, setze mich darauf und denke: Jede Stunde bringt dich jetzt der Heimat näher; in zwei Tagen bist du da. Was innerhalb der zwei Tage ist, muss ertragen werden; Hauptsache, du kommst — wenn auch halbtot — hin.
In Swatajawolja muss ich auf eine andere Kleinbahn umsteigen. Ich nehme meinen Brotsack auf die Schultern und laufe im Trab über die Geleise. Die Bahn wartet auf die Urlauber, aber nur, bis der letzte an irgendeinem Wagen hängt. Aufspringen müssen sie im Fahren. Ich muss also, da ich erst meinen Sack hinaufbugsieren muss, soviel schneller laufen als die andern, und bin, als ich glücklich auf dem Wagen sitze, dem Umfallen nahe. Aber ich habe meinen Sack gerettet — und fahre! In Iwatzewitzi muss ich den Fernzug abwarten. Ich liege in jenem Schuppen, den ich von meiner Fahrt nach Warschau her kenne. Ich weiß, dass fünf Minuten Schlaf genügen, dass mir mein Sack mit dem Brot geklaut wird. Ich werde mich schwer hüten!
So liege ich, den Sack neben mir wie eine Liebste, und warte die Stunden der Nacht ab. Ich weiß nicht, wie ich in die Bahn kommen werde.
Ich sehe aber, wie sie schon um vier Uhr morgens — eine Stunde vor Eintreffen des Zuges — antreten, und schleppe meinen Sack ebenfalls rechtzeitig an die Bahn. Ich habe so eine geschlagene Stunde Zeit zu überlegen, wie ich meinen Sack elegant in ein Kupee bugsiere. Hoffentlich komme ich nicht gerade zwischen zwei Wagen zu stehen?
Der Zug kommt, die Tür wird aufgerissen — da fliegt mein Sack auch schon, hinein, auf Köpfe, Knie, Bäuche.
Nun kann nichts mehr schief gehen! Wenn auch zwanzig Stunden Fahrt nach zwei schlaflosen Nächten eine starke Nervenprobe sein mögen: am Ende steht Sophie vor siebzehn
Kommissbroten, einem großen Käse, zwei Pfund Speck und fünf Pfund Butter. Das ist schon einige Unannehmlichkeiten wert.
Der Zug rast durch Warschau, durch Polen. Ich sitze rittlings auf meinem Sack. Mantel, Zeltbahn, Tornister liegen darauf, dass niemand durch den Inhalt gereizt wird. Alle Augenblicke schrecke ich auf, kämpfe schon verzweifelt gegen den Schlaf.
Aber wir fahren schon über die deutsche Grenze. Feldarbeiter winken, Kinder grüßen. — Nur die Posten an den Brücken demonstrieren die „Größe" der Zeit. — Doch daran denkt jetzt niemand. Sie erheben sich vom Fußboden, packen, einige steigen schon aus.
Es ist abends, in der zehnten Stunde, als wir in Berlin eintreffen. Der Zug nach Hamburg geht um elf. Ich gehe nach einem verkehrten Bahnsteig — dem der Stadtbahnzüge —, erkundige mich noch einmal nach dem Fernbahnsteig, bleibe aber auf der Bank sitzen. Ich bin zu müde, um mich noch einmal zu erheben und meinen Sack überzunehmen.
Ich weiß nur noch, wie mir mit einem Male alles vor den Augen tanzt: die Menschen, die Züge, die Bahnhofshalle, einen närrischen, höhnischen Tanz, tausend Grimassen mich anstaunen, als wollten sie mich foppen.
Als ich unweit vom Schlesischen Bahnhof in einer Station des „Roten Kreuz" erwache, merke ich sofort, dass ich meinen Sack nicht mehr habe. Ich sehe um mich. Ich liege ganz allein auf einem Strohsack an der Erde. Soll ich schreien?
Da kommt eine Schwester auf mich zu und lächelt: „Sie suchen wohl Ihren Sack?"
„Ja." Ich fühle, wie mir das Herz stehen bleibt.
Aber sie beruhigt mich, geht mit mir in ihre Bude, zeigt mir meinen Sack und gibt mir „Kaffee".
Ich muss mich erst setzen, muss mich zusammenreißen. Dann nehme ich ein Paket Butter, schneide es durch und gebe ihr die Hälfte, und dazu ein Brot. Sie nimmt es, bedankt sich und sagt: „Sie haben Glück gehabt. Sie fielen von der Bank, sprangen dann wieder auf, wollten Ihren Sack nehmen und torkelten. Dann fielen Sie mit Ihrem Sack über den Bahnsteig, auf das Gleis.
An Ihren Papieren sind Sie erkannt und hierhergebracht worden. Hier liegen Sie und schlafen von gestern abend elf Uhr bis jetzt."
Ich sehe nach der Uhr, es ist acht Uhr abends. Ich habe also ununterbrochen zwanzig Stunden geschlafen. Zehn Tage habe ich Urlaub, drei sind schon um, ehe ich bei Sophie bin.
Sophie steht während dieser Zeit in Hamburg am Bahnhof und sieht mich nicht unter den Urlaubern, die aus den Zügen steigen. Sie steht die ganze Nacht, den ganzen Tag, und geht traurig nach Hause. So nehme ich meinen Sack auf die Schultern und gehe durch die menschenleeren Straßen. Die Schritte meiner eisenbeschlagenen Stiefel klatschen an den Mauern hoch. In zwanzig Minuten hocke ich auf meinem Sack vor der verschlossenen Haustür und warte. Als die ersten Arbeiter öffnen, stampfe ich die Treppe hinauf und klopfe. Mein Sack fällt mit einem lauten Bums auf den Flur.
„Wer ist da?"
„Ich, Sophl!"
Da fliegt auch schon die Tür auf und Sophl auf mich zu, aber sie erreicht ihr Ziel nur stolpernd, sie hat den Sack nicht gesehen.
„Was hast denn da, Hans?" fragt sie nun und mustert das Etwas, das vor ihr im Dunkeln liegt.
„Brot, Sophl."
„Bro—o—oot?"
„Ja, Brot!"
Sie tastet ungläubig durch die Leinwand, aber ich mache kurzen Prozess, nehme den Sack und schütte die Brote in die Stube, die Butter, den Speck und den Käse packe ich auf den Tisch. Sie betastet alles, sieht ungläubig auf den Reichtum, dann immer wieder auf mich, als wolle sie in meinem Gesicht lesen, weiß gar nicht, was sie sagen soll, lacht und weint zu gleicher Zeit. Es dauert eine Weile, bis wir wieder zur Besinnung kommen. Sie wird zuerst „vernünftig" und sagt: „Komm, Lütting, steh auf! Du hast doch das Brot nicht mitgebracht, damit wir uns darauf herumwälzen."
Ich taste mich langsam hinein in meine „neue" Umgebung. Es ist zuviel auf einmal. Es gibt zwanzig Gramm Butter — pro Nase — in der Woche, Kartoffeln sind knapp — statt fünf Pfund die Woche gibt es nur zwei. Für die andern drei Pfund gibt es hundert Gramm Haferflocken, alles auf besondere Karten, Kärtchen, Abschnitt soundso.
Den Kunsthonig gibt es nur dann, wenn die „Zufuhr" der regelmäßigen Portionen anderer Lebensmittel „stockt". Dann noch fünfzig Gramm Margarine. Ein Brot die Woche — klitschig und schwarz — gibt täglich drei kleine Schnitten. Wenn man die Margarine und die Butter mit dem Pinsel ganz dünn aufträgt, reicht sie für die Schnitten, dann hat man den Kunsthonig noch übrig. Auch Marmelade gibt es, dieselbe, die wir draußen auch bekommen. Sie sieht aus, als wäre sie schon einmal gegessen, und stammt von der Kohlrübe.
Diese Kohlrübe tritt in allen Variationen auf: Kohlrübe in Wasser als reguläre Kohlrübe, Kohlrübe als Quetschkartoffelersatz, Kohlrübensuppe, Kohlrübe gehobelt als Sauerkrautersatz, Kohlrübe in Scheiben als „Bratkartoffel", Kohlrübensalat, sogar als Kuchenteig findet sie Verwendung.
Aber man braucht ja nicht immer Kohlrüben zu essen. Die Graupe, auch Kälberzahn genannt, ist wohl auch schon rationiert, aber man kann „hintenherum" kaufen. Die Graupe isst man als Graupensuppe, als Graupenpudding, als Graupenwurst, je nach Geschmack.
Dann gibt es noch „sonstiges" mit und ohne Karten. „Billige Fische", „echten" Sauerkohl, Zucker, fünfzig Gramm Fleisch. Man muss nur aufpassen! Sonst steht man überall einige Stunden und kommt gerade dran, wenn ausverkauft ist.
Sophie zählt, sortiert, rechnet mit den Lebensmittelkartenabschnitten mit einer Sicherheit, als wäre das gar nichts. Heute gibt es einen Hering auf Abschnitt drei der Karte B. Sophie legt die Karte heraus.
Frau Gramer von nebenan klopft und bringt ein Töpfchen Milch.
„Morgen, Frau Betzoldt!"
„Morgen! — Warten Sie ein wenig — oder kommen Sie ruhig herein!"
„Ah, sieh! Morgen, Herr Betzoldt! Na, sind doch gekommen. Sophie war schon so niedergeschlagen."
Sophie lacht, greift dann in den Kleiderschrank, in dem das Brot aufgestapelt ist, gibt Frau Gramer ein Brot und ein halbes Paket Butter. Frau Gramer bekommt Augen wie ein Kind.
„Frau Betzoldt!" bringt sie nur hervor — und sieht auf das Brot und die Butter, als könne sie sich gar nicht mit dem Reichtum abfinden.
Sophie sagt: „Nehmen Sie nur, Sie haben mir so oft gegeben, machen Sie allen eine richtige Butterstulle." Da quetscht Mutter Gramer das Brot unter den Arm, nimmt die Butter an sich und stottert: „Vielen, vielen Dank!"
„Sie gibt mir öfter Milch", sagt Sophie, „sie hat sechs Kinder, kann die Milch, die sie bekommt, gar nicht kaufen."
„So viel?"
„Na, für die ganz kleinen einen halben, für die andern einen viertel Liter. Ihr Mann arbeitet in der Artilleriewerkstatt. Sie kann natürlich nicht alles bezahlen, was es auf Karten gibt."
„Und die Kinder?"
„Denen muss sie eben geben, was sie hat. Wenn sie nicht jede Woche ein paar Brotkarten verkaufen würde, käme sie gar nicht zurecht. Rechne dir doch aus: Acht Brote die Woche, die Milch, die Kartoffeln, die Butter und Margarine, auf acht Karten Fleisch. Dem Mann muss sie doch etwas aufs Brot legen, er ist von morgens fünf bis abends sieben Uhr unterwegs. Das muss sie hintenrum kaufen, und das ist teuer."
Mir spukt ein Zeitungsartikel, den ich in irgendeiner Gewerkschaftszeitung gelesen habe, im Kopf herum: „Sozialismus, wohin wir blicken!" Er verherrlichte die ideale Verteilung der Lebensmittel in Deutschland. Für jedes Kind ist gesorgt, amtlich registriert, auf welche Menge Milch, Fleisch, Brot usw. es Anspruch hat. Nur der kleine „Schönheitsfehler", dass der Vater bei vierzehnstündiger Schufterei die amtlich garantierten Sachen nicht kaufen kann, ist nicht berücksichtigt.
Da fängt es schon an: Wer Geld hat, kauft Milchkarten, Brotkarten. Frau Gramer kauft dafür mehr Kohlrüben. Der „Sozialismus", in den ich blicke, steht vor mir als der Gaunertrick, den Kindern das Brot aus der Hand, die Milch aus der Tasse zu nehmen, den letzten Rest menschlicher Nahrung, schon so winzig, um dabei zu verhungern.
Ich greife nach der Zeitung: „Zeichnet Kriegsanleihe!" Dann ein langer Schmus von der Friedensbereitschaft Deutschlands, dem unberücksichtigten Friedensangebot der deutschen Regierung schon 1916. „Deutschland will den Frieden, nur die Feinde wollen ihn nicht, deswegen müssen wir unbedingt
durchhalten.-------Streik ist Verbrechen am Vaterland. Die
Amerikaner werden sich schön wundern, ihre Truppen, die sie herüberschaffen wollen, werden einfach durch unsere U-Boote
versenkt.------Die Fronten stehen unerschütterlich. — Die
Stimmung der Truppen ist vorzüglich."
Ich werfe die Zeitung hin und sage: „Komm, lass uns gehen." Mir wird die Stube zu eng. Ich bin tags zuvor fast nicht fortgewesen. Vier Tage sind schon um. In drei Tagen muss ich wieder abdampfen.
Sophie räumt auf und wir gehen. Die Luft ist schon mild, der Frühling zieht nun zum dritten Mal ins Land.
An allen Läden stehen lange Reihen von Frauen, Männern, Kindern. Aus ihren hungrigen Gesichtern grinst der Krieg. Sie warten auf ihre „Gramm". Vor einem Pferdemetzgerladen ist Krach. Es soll da nicht reell zugegangen sein. Ich weiß nicht, was verschoben worden ist. Eine Frau deutet auf ihren Korb und schimpft: „Der Dreck ist ja für uns gut genug, Bande, die!" Ich sehe in ihren Korb. Sie hat Pferdeknochen darin; ein Stück Vorderfessel ist dabei, die Haare hängen noch daran.
Die ganze zum Viehhof führende Straße hinauf stehen Hunderte von Menschen. Einige haben sich Schemel oder zusammenklappbare Stühle mitgebracht, sitzen darauf, stricken, lesen oder plaudern. Sie warten hier auf „billiges" Fleisch. Deutschland spart, die Armen sind froh, für ihren sauer ver-
dienten Lohn von dem Abfall zu bekommen, einen Brocken Fleisch von krankem Vieh, das sich nicht mehr lohnt zu verschieben. Es wird schon dunkel. Als ich Sophie frage, ob heute noch verkauft wird, sagt sie: „Die stellen sich an zu morgen früh."
Anna lässt sich es nicht nehmen, uns zu bewirten. Gustav hat Sophie russischen Tee mitgebracht, den Sophie mit Anna teilte, so braucht sie mich nicht mit dem Kriegs„kaffee" zu quälen. Sie hat auch — durch Klaus — ein bisschen „Verbindung", hat ein paar Kartoffeln, die sie „brät". Als Sophie ihr ein Brot gibt und ein Stück Butter und Speck, sagt sie: „Deern, hest doch'n beten früher kommen könn, denn her ick to de Kartoffeln nich schwarten Kaffee nehmen brukt."
Klaus besohlt Schuhe. Er hat eine Zigarrenschachtel kleiner Lederschnitzel, länglich-rundlich gestanzt, vor sich und nagelt auf Marthas Schuhsohlen eines neben das andere. Martha kommt erst um halb elf Uhr. Sie hat die zweite Schicht. Als Klaus das Brot entdeckt und die Butter, legt er seinen eisernen Leisten fort, setzt sich an den Tisch und schmiert sich ein Brot. Anna legt das Brot für Martha vorsichtshalber weg. „Besser is besser", sagt sie mit komischem Ernst. Dann sitzen wir zusammen und essen.
Wie sich die Menschen doch verändern! Als wäre alle Aktivität in ihnen zerbrochen. Selbst Klaus, dessen Ruhe mir immer so wohltat, schleicht umher wie ein Gefangener. Anna ist so alt geworden, ihre Hände so welk, unter dem Kinn soviel überflüssige Haut. Nur ihre schwarzen Augen glänzen wie hinter einem Nebel.
Ich frage nach Alfred und Lotte. Die Tür war verschlossen, als wir klopften. „Alfred ist in der Heilanstalt. Er hat mit dem Kopf zu tun, schlägt mitunter alles kurz und klein. Lotte muss arbeiten, das Kind ist bei Lottes Eltern."
Ich bin erstaunt und sehe Sophie an. Sie hat nur berichtet, dass Alfred noch immer nicht auf dem Posten ist. Aber von „Kurz-und-Kleinschlagen"?
„Man muss dich ja behandeln wie ein Kind", verteidigt sie sich, als ich sie frage. „Kommst ja schon so aus der Aufregung nicht heraus!"
Klaus horcht hin, kaut den Brocken Brot erst bedächtig klein, ehe er schluckt und sagt: „Alfred ist mit den Nerven zu weit runter. Denk doch: Er kann sich nicht verständlich machen, kann ja kaum sprechen. Und wenn ein Mensch wie Alfred das mit ansehen muss und hinunterschlucken, sich vielleicht noch auslachen lassen — das erträgt so einer nicht. Als Former kann er auch nicht mehr arbeiten, und die Unterstützung reicht nicht zum Leben und nicht zum Sterben. Da muss ja ein Mensch verrückt werden."
„Und Tetsche?"
„Der ist in Gefangenschaft. Zwei Tage war er in den Argonnen, dann war er drüben."
„Der hat's am schlauesten angefangen", ergänzt Anna und schaut wie ohne Ziel über den. Tisch, „hat wenigstens was zu fressen!" Sie steht dann auf und räumt den Tisch ab. „Für die Brummochsen hier die Finger verbrennen hat ja keinen Zweck!" sagt sie kategorisch und verlässt die Stube.
„Wie sieht es denn draußen aus, haben sie die Nase noch nicht bald voll?"
Klaus hört aufmerksam zu und nickt. „Es geht zu Ende", meint er dann. „Da können sie machen, was sie wollen!"
Da drehen sich Schlüssel in der Tür. Martha kommt. Sie drückt mir freudig die Hand, legt ab und setzt sich dann. Sie isst hastig, scheint überhungert, hat vielleicht deswegen gar nicht sprechen, an nichts anderes denken können. Denn als sie mit einigen Bissen ihren Magen beruhigt hat, sagt sie: „Jetzt räumen sie aber wieder auf. Alle Vertrauensmänner holen sie in den Schützengraben, was irgendwie verdächtig ist, wird eingezogen."
„Das war vorauszusehen", sagt Klaus trocken. „Aber damit stoppen sie den Hunger nicht. Das nächste Mal wird es besser klappen."
Sophie erzählte mir schon von dem Hungerstreik, der im April 1917 durch die Fabriken in Deutschland fegte. Nun erst erfahre ich durch Klaus und Martha Einzelheiten. Ich habe mich immer gewundert über die Harmlosigkeit aller Briefe. Kein Wunder, alle Nachrichten, die auch nur etwas verdächtig aussahen, sind der Zensur zum Opfer gefallen. Die Soldaten im Felde dürfen nichts davon erfahren, dürfen nicht wissen, dass sich ihre Frauen und Kinder und Väter, vom Hunger gepeitscht, gegen den Mordpatriotismus auflehnen. Sie dürfen nur erfahren, dass der „Verbrecher" Karl Liebknecht mit einigen „unlauteren Elementen", „meist jugendlichen Burschen und Mädels", unschädlich gemacht ist.
Sonntags folgen wir einer Einladung. Sophie besucht ihre alte „Herrschaft" in Hamburg-Harvestehude. Sie war einmal wegen ihrer Entschädigung dort, musste viele ihrer Sachen in Helgoland im Stich lassen. Die Herrschaften wurden einwandfrei abgefunden — Sophie bekam nichts. Was eine Köchin schon hat, ist nicht der Rede wert. Mit solchen Kleinigkeiten gibt sich das Vaterland nicht ab.
„Kommst du mit, Hans? — Sonst sind die Leute ganz nett!"
„Gut, ich komme mit."
Ein Dienstmädchen öffnet und meldet: „Betzoldt und Frau." Madame Göricke empfängt uns: „Ist aber nett, dass Sie kommen!" Die Vorstellung beginnt: „Herr Göricke. Herr Leutnant Hohenstein und Frau — Herr Betzoldt und Frau."
„Sehr angenehm!"
„Auf Urlaub hier?" fragt der Herr Leutnant. Er ist der Schwiegersohn. Er trägt Zivil wie ich.
„Jawohl!"
„Warum haben Sie nichts davon wissen lassen, Sophie?" fragt die alte Dame vorwurfsvoll. „Herr Betzoldt hätte mir doch sicher etwas von Warschau mitbringen können?"
„Er kam so unverhofft."
„Soo — das ist schade. Wissen Sie, die Preise jetzt, nicht gutzumachen ist das. Ich zahle für Butter bereits fünfundzwanzig Mark das Pfund. Eine Gans, die uns mein ,Mann'" — sie meint damit ihren Lieferanten — „am Sonnabend brachte, kostete sechzig Mark. Das ist doch einfach toll! Für guten Holländer muss man bis fünfzehn Mark pro Pfund bezahlen. Sind die Sachen in Warschau auch so teuer?"
Wir setzen uns zu Tisch. Die Gans ist schon aufgegessen.
„Wissen Sie, mit fünf Menschen", entschuldigt sich Madame. Wir müssen uns mit Butter, Käse, Wurst, mit der kalten Platte „begnügen". „Hinterher trinken wir noch eine Tasse Kaffee", sagt Madame.
Ich esse! Der Käse wird klein und kleiner, das halbe Brot ist schon verschnitten, die Wurst wird immer hohler, bald liegt nur noch die Pelle da. Ich bin gar nicht so hungrig — ich esse aus Protest! Vielleicht können sich die Leutchen keinen hungrigen Menschen vorstellen, denke ich und pelle mir seelenruhig noch zwei Eier ab, obwohl mich Sophie ganz erschrocken ansieht. Als Madame in die Küche geht, um neues Brot zu holen, flüstert Sophie: „Lütting, du kannst doch gar nicht so hungrig sein?"
„Doch! Ich habe großen Hunger. Ich kann dir doch das bisschen Brot, das wir haben, nicht aufessen. Halt dich ran, das kostet hier nichts!"
Madame bringt noch Brot. Ich schneide mir noch eine kräftige Schnitte. Madame ist ganz erstaunt und sagt: „Hat's Ihnen tüchtig geschmeckt, wird wohl draußen auch schon knapp?" „Ja — ich bin in den letzten Jahren nie satt geworden. Wir hungern nicht, wir verhungern!"
Madame schaut mich gutmütig an und erwidert: „Ist nicht möglich, wo bleibt denn das ganze Zeug?" Dann, zu ihrer Tochter gewandt: „Da könnt ihr sehen!" Was wohl heißen soll: Und da seid ihr Gesellschaft immer noch nicht zufrieden. Ihr müsstet eure Mutter eigentlich auf den Händen tragen, die so für euch sorgt. Undankbare Geschöpfe.
Die Tochter bläst den Qualm ihrer Zigarette durch die beringten Finger und wirft den Kopf etwas zur Seite. Alte Singuhr! — mag sie denken.
Sophie ist in der Küche, bei dem Dienstmädchen, ich weiß nicht, ob nur aus Protest gegen mein Benehmen. Der Leutnant setzt sich zu Tisch. Herr Göricke rückt auch heran und verteilt Zigarren. Frau Hohenstein sieht auf ihre Armbanduhr und sagt: „Friedrich, wir müssen aufbrechen, rufe rechtzeitig nach dem Wagen!" Sie singt irgendwo in einem Theater, ich bin nicht neugierig, wo. Friedrich jedoch bleibt noch ein wenig.
Mein Bericht von der Ostfront scheint ihn zu interessieren. Er schüttelt öfter den Kopf, nickt dann wieder, als wolle er zu verstehen geben: Vorbei! „Was sind Sie von Beruf?" fragt er dann. „Dreher."
„Wollen Sie reklamiert werden?" Ich lache. „Das ist doch wohl nicht möglich." „Ich sage Ihnen, dass Sie binnen vierzehn Tagen zurück sind, wenn wir Sie persönlich vom Regiment anfordern. Nur dürfen Sie nichts von einer Unterredung mit mir verlauten lassen. Ich bin im technischen Büro bei den Rumpler-Werken in Berlin. Sollte man Sie fragen, ob Sie dort Bekannte haben, sagen Sie, dass es wohl möglich sei, dass Arbeitskollegen Ihre Adresse wussten. — Abgemacht?"
Er hält mir die Hand hin, ehe er geht, und ich schlage ein. Ungläubig noch, aber der Leutnant kommt mir gar nicht vor wie ein Leutnant, ich kann mir nicht denken, dass er nur aufschneiden will. Sophie steht ganz aufgelöst da. Als wir gehen, sagt sie: „Lütting, kannst du dir das denken?" Ich kann mir das zwar nicht gut vorstellen, aber ich bin entschlossen, meinen Urlaub nicht eigenmächtig zu verlängern, um nicht selbst einen Grund zu schaffen, meinen eingereichten Arbeitsurlaub unmöglich zu machen.
In einer Laube, weit draußen über Uhlenhorst hin, versammeln sich am Abend vor meiner Abreise so an dreißig Männer, Frauen, auch Jugend. In Soldatenzeug und in Zivil kommen sie, mit ernsten Gesichtern, einer mit einem Holzfuß, einem andern hängt der Ärmel über den Armstummel. Zur Straße hin ist die Laube mit Posten gedeckt, von hundert Metern zu hundert Metern.
Ein Genosse der „Arbeitsgemeinschaft" spricht.
„Genossen!" sagt er, „jetzt müssen wir einig sein. Jetzt müssen wir alle Gegensätze zurückstellen und für den Frieden kämpfen. Wir haben jetzt eine gute Position. Die deutschen Grenzen sind frei vom Feinde, deshalb haben unsere Genossen auch im vorigen Jahr die Kriegskredite verweigert. Jetzt darf die Opposition nicht zersplittert werden, dann werden wir die Massen auf unsere Seite bringen und die Scheidemänner entlarven. Die Arbeitsgemeinschaft ist willens, euch die Hand zu reichen."
Er spricht feurig, hinreißend. Auf einige Zurufe: „Liebknecht! Luxemburg! Warum habt ihr nicht früher Schluss gemacht!" fährt der Redner fort: „Jetzt müssen wir die Vergangenheit begraben, jetzt muss gehandelt werden. Wir dürfen jetzt nur ein Ziel kennen: die schleunigste Herbeiführung des Friedens! Wer sich dem entgegenstellt, ist ein Schädling am Proletariat, und hilft, gewollt oder ungewollt, den Scheidemännern und dem Militarismus. Schluss mit jeder Zersplitterung! Hinweg mit allen Nörglern. Es lebe der Kampf um den Frieden! Es lebe das internationale Proletariat!"
Ö fter als einmal erntet der Redner Zustimmung. „Sehr richtig!" rufen einige und klatschen auch jetzt am Schluss Beifall.
„Wünscht jemand das Wort?" fragt der Versammlungsleiter. „Sprecht euch aus, Genossen!"
„Na, man los!" — werden Stimmen laut. — „Ihr habt doch sonst dat Mul so vull — ran hier!"
Die da gemeint sind, unterscheiden sich durch ihr Verhalten deutlich von den Klatschern. Ihre Mienen verraten andere Ansichten als die des Redners. Einige schauen lächelnd auf die Siegesbewussten am Tisch. Ein Genosse, der sich während des Referats Notizen machte und Block und Bleistift noch in der Hand hält, erwidert: „Lasst sie erst mal noch deutlicher werden!"
Einige sind erregt. „Gib mir mal das Wort!" — sagt ein Junger und redet los:
„Der Referent hat hier in ganz klarer, sachlicher Weise das gesagt, was zu sagen ist. Genossen! Wer heute noch nicht begreift, was auf dem Spiele steht, dem ist nicht zu helfen. Die Massen erwachen, und die Arbeitsgemeinschaft setzt sich zur Aufgabe, die Massen für den Kampf um den Frieden zu sammeln. Wer da nicht mitmacht, den muss man glatt als Verräter am Proletariat brandmarken--------"
„Wissen wir ja alles, Franz!" antwortet ihm nun ein Zwischenrufer. Franz mustert den Störenfried wütend durch seine Brille; er sieht, dass der und einige Genossen darüber lachen, dass sie als Verräter gebrandmarkt werden, und fährt fort:
„Euer Lachen besagt nur, dass es euch gar nicht ernst ist. Was hat die Fraktion Liebknecht bisher erreicht? Sie hat sich von den Massen isoliert, hat die Kräfte zersplittert! Jetzt, wo die Arbeitsgemeinschaft die Massen zum Kampf um den Frieden führen will, sitzt ihr in der Ecke und spielt die gekränkte Leberwurst. Aber die Streiks, und wenn sie zehnmal niedergeschlagen sind, beweisen, dass die Massen erwachen und über euch hinweggehen werden! Die Fraktion Liebknecht, die uns als Unentschiedene beschimpft, muss sich ja von den ,Internationalen' dasselbe sagen lassen! — Macht endlich Schluss mit der Eigenbrötelei und reiht euch ein in die Front des klassenbewussten Proletariats. Es darf keine Fraktion Liebknecht und sonstige Fraktionen mehr geben. Wer nicht für uns ist, der ist wider uns. Der Reden sind genug — jetzt muss die Tat folgen!"
Franz setzt sich. Ein Genosse neben ihm ermähnt ihn: „Reg di doch nich so up!" Franz macht nur eine wegwerfende Geste und sagt: „Da kann einem doch der Kaffee hochkommen, verdammt noch mall"
„Wünscht sonst noch jemand das Wort?"
Da meldet sich der Genosse mit dem Bleistift und dem Block.
„Genossen! — Ich — spreche — hier — für — die— Fraktion — Liebknecht!!"
„Na ja, das alte Lied!"
„Jawohl, Genossen, wir anerkennen — darin sind wir mit Lenin einig — in Deutschland nur eine Fraktion Liebknecht!! — und haben uns mit den Anschauungen der Arbeitsgemeinschaft sachlich auseinanderzusetzen. Nur die klare Herausarbeitung der Gegensätze kann Klarheit schaffen über Weg und Ziel der Arbeiterbewegung nach diesem tiefen Fall. — Das als Vorbemerkung."
Nach einer kurzen Pause fährt er fort.
„Genossen, der Vorredner hat ganz offen und der Referent versteckt die Fraktion Liebknecht des Verrats am Proletariat beschuldigt, obgleich dafür jeder Beweis fehlt. Um Großes zu vollbringen, muss man gewiss begeistert sein — aber blinde Begeisterung, die nicht mit schärfstem Blick für die Klassenlage gepaart ist, führt in jene Zusammenbrüche, von denen der Krieg nur ein Beispiel ist. Und nun zur Sache:
Wir müssen festhalten an der alten sozialistischen Erkenntnis, dass dieser Krieg nicht nur ein Werk von bösen Männern, von Kriegsmachern ist. So richtig es ist, dass diejenigen, die die Fackel ins Pulverfass schleuderten, den Auftakt gaben für das Weltgemetzel, so richtig ist es auch, dass die Regierungen und Diplomaten der herrschenden Klassen nur ausführende Werkzeuge der herrschenden Klasse sind. Der Krieg ist nichts weiter als die Fortsetzung der kapitalistischen Politik mit anderen Mitteln!
Die kapitalistische Produktionsweise entwickelt sich nach bestimmten gesetzmäßigen Formen. Der Kleinbetrieb weicht dem Großbetrieb, der einzelne Großbetrieb der Aktiengesellschaft. Die große Industrie vermehrt die Herstellung von Waren in immer rasenderem Tempo. Der Konkurrenzkampf um den Absatz auf dem Weltmarkt, der Kampf um den ,Platz an der Sonne', die Epoche des Imperialismus beginnt.
Absatzstockungen entstehen, das Proletariat muss feiern und hungern, weil es zuviel Waren erzeugt! Die Privateigentumsordnung erreicht jene historische Stufe, wo aus der Krise die Katastrophe wächst.
Der Profitordnung droht der große Zusammenbruch. Jede nationale Kapitalmacht sucht nach dem günstigen Zeitpunkt, um durch Koalition mit andern Mächten den gordischen Knoten mit Eisen und Blei zu durchschlagen, sich durch die Niederwerfung der imperialistischen Rivalen die nötige Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Der Zeitpunkt ist da, wo das Weltproletariat der reißenden Bestie in den Arm fallen, der Sozialismus Fleisch und Blut werden muss!
Hier, Genossen", fährt der Redner fort, „wo zwei Welten zusammenstoßen, wo stinkender Patriotismus, Aufstachelung niedrigster Instinkte, Lüge und Gemeinheit doch nur Mittel sind, um das Proletariat von der Grundfrage abzulenken, tut nur der seine Pflicht dem Proletariat gegenüber, der ihm die ganze ungeschminkte, nackte Wahrheit sagt. Hier hört jede ,Taktik' auf. Hier gibt es nur ein Entweder — Oder!
Diese Pflicht haben Liebknecht und Genossen getan! Wenn sie deswegen Verräter sein sollen, dann werden sie den Vorwurf tragen wie wir, in der Erkenntnis, dass die Zeit kommen wird, in der Proletarier, die vorgeben, für den Sozialismus zu kämpfen, nicht mehr einstimmen werden in den Choral der patriotischen Meute!
Darum, Genossen — kennen — wir — nur — eine — Fraktion — Liebknecht!"
Der Redner macht eine Pause; die Stimmung scheint umzuschlagen. Eine fühlbare Spannung liegt in dem dunklen Raum. Auch Franz wird versöhnlicher: „Mach nicht so lange, Karl", sagt er in kameradschaftlichem Ton, „das ist doch gewesen, wozu olle Kamellen immer wieder aufwärmen!"
Karl scheint gefunden zu haben, was er suchte, und fährt fort:
„Nein, Genosse, das ist nicht gewesen, das ist noch! Ich habe hier eure Begründung für die Verweigerung der Kriegskredite, dass Deutschlands Grenzen nun ,frei vom Feinde' seien! Wenn das maßgebend ist, dann können wir uns darauf gefasst machen, dass ihr bei der nächsten besten Gelegenheit — wenn die deutschen Heere eine Schlappe erleiden und über die Grenzen zurückgehen müssen — wieder in die patriotische Front einschwenkt. Ihr steht — laut eurer Begründung — nicht auf dem Boden des internationalen Klassenkampfes, sondern macht eure Taktik abhängig von dem Kriegsglück der deutschen Regierung. Eure Stellung zum Krieg und Frieden ist keine proletarisch-revolutionäre, sondern eine bürgerlich-pazifistische.
Unsere Meinung aber ist, dass der kapitalistische Frieden nur auf dem Rücken des Proletariats möglich ist, genauso wie der imperialistische Krieg. Der proletarische Frieden aber ist nur möglich durch die Revolution! Torkelt das Proletariat in den Frieden hinein, wie es in den Krieg hineintorkelte, bezahlt es die Zeche dieses Friedens vielleicht mit noch gewaltigeren Opfern an Gut und Blut.
Es ist der große Irrtum des Pazifismus, dass er den untrennbaren Zusammenhang von Krieg und Kapitalismus nicht sehen will. Eine solche Taktik, die nicht von den großen historischen Zusammenhängen ausgeht, dient nicht der großen Aufgabe der Internationalisierung der proletarischen Gedankenwelt, sondern bleibt in ,nationalen Belangen' stecken und zerreißt die internationale Solidarität der Arbeiter. Sie erschöpft sich in der radikalen Phrase."
Der Vorsitzende klingelt leise; Karl versteht den Wink und bemerkt: „Ich bin gleich am Schluss; nur einige Bemerkungen zu den Ausführungen bezüglich der Meinungsverschiedenheit zwischen der Fraktion Liebknecht und der Gruppe der Internationale.
Die Tatsache, dass nicht nur die Partei, sondern auch die Gewerkschaften fast ausnahmslos und mit fliegenden Fahnen in das Lager des Imperialismus überliefen oder in pazifistischer Resignation steckenbleiben, hebt die Frage von Führer und Massen in ein neues Licht. Wir haben die Pflicht, aus den Erfahrungen zu lernen, zu begreifen, dass neuer Inhalt der proletarischen Aktion auch andere organisatorische Formen bedingt. Wo eine Welt zusammenbricht, gilt es, der Armee der proletarischen Klasse, die mühsam ihre versprengten Kräfte sammelt, mit Rat und Tat beizustehen, ihrer Aktion Inhalt und Formen zu geben, wie dies die konkreten Verhältnisse bedingen. Die alten Formen der Arbeiterbewegung sind von Hebeln des Klassenkampfes zu Fesseln geworden. Welche anderen Formen der Kampf sich schaffen wird, wird die Zukunft erweisen. Dann wird, was auch wir wünschen, die Zeit nicht mehr fern sein, wo die noch getrennt marschierenden Reihen sich finden für gemeinsame Arbeit!"
Es ist ganz dunkel geworden. Licht soll nicht gemacht werden — besser ist besser! Der Vorsitzende erhebt sich und sagt: „Ich glaube, wir müssen Schluss machen. Es ist spät geworden."
„Zur Geschäftsordnung!"
Klaus macht den Vorschlag, einem Genossen, der mit polnischen Genossen Fühlung hatte, das Wort zu einem kurzen Bericht zu geben.
Ich erzähle von der Zusammenkunft in Warschau, berichte über die polnischen Genossen, was sie sagten über die deutschen Arbeiter; von der weinenden Genossin und ihrem Schicksal; dann von der französischen Arbeiterin; ich füge hinzu: „Ich bin der Meinung, Genossen, dass jeder, der einen Stein auf Liebknecht wirft, nicht weiß, was er tut."
Dann ist es wieder still. Der Vorsitzende erhebt sich und will die Versammlung schließen.
Da springt eine Frau auf eine Kiste und ruft: „Die Zuchthäusler Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Genossen, sie leben hoch!"
Alle rufen das Hoch in die Nacht hinaus. Kein Wort fällt mehr. Die meisten gehen nach vorn über die Felder.
Der Gedanke, wieder hoffnungslos verbannt zu sein, quält mich während meiner ganzen Rückfahrt.
„Na, fein eingefädelt, was — könnte Ihnen wohl so passen ?" empfängt mich der Wachtmeister.
Ich setze mein dümmstes Gesicht auf: „Wie meinen Herr Wachtmeister ?"
„Sie gehen nachmittag in Feuerstellung, können zu Fuß gehen!"
„Jawohl, Herr Wachtmeister!"
Mau empfängt mich freudig und gibt mir die Hand. „Betzoldt, du Hund, verfluchter!"
„Was ist denn?"
„Holl din Mul — die sin schön upregt."
Roggenbrot kommt: „Sollen zum Herrn Hauptmann kommen!" dann etwas leiser: „Lassen Sie sich nicht einwickeln, Mensch!"
Der Hauptmann setzt mir auseinander, dass irgendwelche „Rumpelwerke" sich einbilden, seine besten Mannschaften holen zu können, und dass mich kein Mensch zwingen kann, wenn ich nicht will.
„Kennen Sie die Firma überhaupt?"
„Nein, Herr Hauptmann. Ich weiß nur, dass einige frühere Arbeitskollegen dort arbeiten."
„Seien Sie nicht so dumm. In sechs Wochen sind Sie vielleicht in Frankreich. Sie sind doch auch verheiratet?"
Ich bejahe, und er gibt mir den Rat, mir die Sache bis morgen früh zu überlegen.
Ich gehe anderntags wieder zu ihm und melde, dass ich mir die Sache überlegt habe. — „Ich fahre!"
„Dann scheren Sie sich zum Teufel!"
Die Batterie ist angetreten zum Arbeitsdienst.
„Auf Wiedersehen, Herr Wachtmeister Roggenbrot!"
„Wiedersehen, Betzoldt! — Von Herzen alles Gute!"
„Auf Wiedersehen, Kameraden!"
„Wiedersehen, Betzoldt! — Grüß die Heimat!"
Dann verabschiede ich mich von Gustav. „Ick gönn di dat von Herzen", sagt er, „grüß Sophie!"
Da kommt der Herr Wachtmeister und sagt: „Was suchen Sie denn noch hier? Sie sind doch schon vor einer Stunde abgefertigt!"
Sophie war ganz verzweifelt, als wir spätabends in einem kleinen Hotel in Berlin todmüde nach einem Zimmer fragten.
Zwei Tage haben wir Wohnung gesucht, aber: Ein Soldat und ein Frauenzimmer, das kennt man schon. Nein, nein, wir sind anständige Leute!
Sie sagten uns das nicht, die uns die Tür zumachten, nachdem wir uns unter Hinweis auf das angepriesene „Möblierte Zimmer mit Küchenbenutzung" vorgestellt hatten. Aber die Art, wie sie „bedauerten", war deutlich.
„Musst lieb sein, Sophl, wird schon werden!" Sie sinkt apathisch auf das steif aufgebaute Bett: „Ich weiß nicht, Lütting, ich habe das Gefühl, das hat alles keinen Zweck. Ich halte das nicht mehr aus. Muss man sich noch anstieren lassen von diesen Weibern, als wäre man sonst was. Was soll noch alles kommen, ich sehe gar kein Ende, das ist doch alles so schrecklich, so erniedrigend. In Hamburg hatte ich wenigstens mein Plätzchen für mich, nun auch das nicht mehr. — Gar nichts mehr!"
In ihren müden Augen lauert etwas Fremdes: „Verstehst eben auch nicht, was ich hinter mir habe. Immer allein gewesen, meine im Leib verhungerten Kinder allein eingegraben. Nun wieder fort, sich angaffen lassen von diesen Weibern. Wofür? — Das Ende?"
Morgens um sieben Uhr hole ich meinen Zivilanzug aus dem Koffer und lasse einen Zettel zurück: „Komm bald wieder, werde versuchen, etwas zu finden, bis Mittag bin ich zurück."
Dann versuche ich mein Glück im Osten und miete nach dreimaligem vergeblichem Anklopfen ein Zimmer 'für uns beide. Vielleicht wäre es uns auch schon tags zuvor gelungen, hätte ich nicht in meinem Ehrenkleid einen so verdammt schlechten Eindruck gemacht.
Wir bringen unsere Habseligkeiten in die neue Wohnung: das nötigste Geschirr, einige Pfund Kartoffeln, unser Brot und unser Fett. Schenken der Frau eins von diesen Broten — sieben Stück habe ich noch auf meiner zweiten Reise mitgebracht — und tauschen dafür ein strahlendes Gesicht ein.
Am andern Tag melde ich mich zur Arbeit.
„Können Sie Pittler-Bänke einrichten?" empfängt mich Meister Horn. Ich bejahe und bekomme fünf Bänke, an denen Frauen arbeiten. Hülsen, Scheiben, Schrauben, Bolzen.
Sie beobachten mich interessiert, wissen, dass der Einrichter die Preise angeben muss. Wenn die ersten Stücke durch die scharf geschliffenen Stähle laufen, die eben eingerichtete Maschine reibungslos funktioniert, stimmt das mit den Minuten für das Hundert einigermaßen. Ein „tüchtiger" Einrichter ist immer an den Preisen, die er macht, zu erkennen. Ob die Maschine so durchhält — was geht ihn das an! Er muss sich „bewähren", der Meister hat die Wahl; ein Wink an das Reklamationsbüro, und er ist wieder unter den tapferen Feldgrauen.
Der „Brotstreik" hat außerdem erst kürzlich die Spreu vom Weizen gesondert. Meine beiden Kollegen sind der alte Janke und Nachtigall. Nachtigall, zweiundzwanzig Jahre alt, kam erst vor kurzem von der Westfront. Janke ist unübertrefflich; ein alter Junggeselle, verbissen, säuft viel, hat eine Nase wie eine Glühbirne und einen Glatzkopf wie ein Kürbis. Wenn er sagt „Zweiunddreißig Pfennig pro Hundertl", dann gibt es zweiunddreißig Pfennig. Die Arbeiterin, die sich weigert, den Preis anzuerkennen, kann sich ja bei dem Meister und Herrn Zickel, dem Oberkalkulator, beschweren.
Janke hat sich in jeder Beziehung bewährt. Er hat mit keiner Wimper gezuckt, als die „Verdächtigen" nach dem Hungerstreik, einer nach dem andern, hinauskommandiert wurden. Er sieht nicht ein, warum er sich dieser Gefahr aussetzen soll — wegen der „dämlichen Weiber".
Nachtigall ist nicht so ganz firm; hat zu viel Stunden für Einrichten und soll ausscheiden, soll an eine Spitzenbank. Ich soll sein Nachfolger werden.
Die Maschinen brummen, surren. Gehetzte Augen liegen über den schälenden Stählen, gehetzt von der Uhr, die unerbittlich weiterläuft, auch wenn die Stähle stumpf werden, weil das Ersatzöl nicht schmiert. Die Maße passen schon nicht mehr, wenn der Einrichter eben erst die Maschine abgegeben hat. In der Kontrolle wird genau gemessen. Seufzend hält die Arbeiterin die Maschine an. „Herr Janke!"
Herr Janke kommt, wenn es ihm passt, brummt dann, schleift den Stahl und sagt: „Bei euch muss man immer dabeistehen, sowie man den Arsch dreht, geht's nicht." Die Arbeiterin bleibt stumm. „Der Kerl wird gleich so ausfallend, wenn man einmal etwas sagt!" entschuldigt sie sich vor mir.
Es klingelt zum Frühstück. Ich setze mich auf einen der Schemel, will aufstehen, als die kleine Erna ihn vermisst. Aber sie bittet mich, sitzenzubleiben. Scheint froh zu sein, mir einen Gefallen tun zu können.
Ich packe meine Kommissbrotschnitten aus und beiße ab. Die Einrichter sitzen an ihrem Werkzeugschrank. Dass ich bei den Arbeiterinnen sitzen bleibe, weckt Hoffnungen in ihnen.
„Kommen wohl auch aus dem Schützengraben?" fragt Zinke, die ältere „Kriegerwitwe". Sie hat zwei Kinder, ihr Mann ist schon vor zwei Jahren fürs Vaterland gefallen.
„Ja, von Russland."
„Die einen gehen, die andern kommen. — Sie können sich ja die Leute aussuchen", sagt die schwarze Ellenbogen.
Sie suchen mir irgendwie „näher zu kommen", glauben aber, auch bei mir sich in acht nehmen zu müssen.
Nur Gertrud Bartsch ist etwas dreister. „Der Schweinehund von Janke versteht die Karre zu schieben", meint sie und angelt ein Scheibchen Radieschen aus einer Tasche.
„Ja, der versteht's, der Schmarotzer!" ergänzt Ellenbogen bestätigend. „Solche können sie gebrauchen, die die Frauen piesacken bis aufs Blut."
„Wenn sie die Beine nicht vor ihm breit machen", setzt Gertrud hinzu und schielt wütend zu Janke hinüber. Die andern lachen beipflichtend und lauernd. Man darf nicht zuviel sagen, weiß nicht, was mit dem „Neuen" los ist.
Ich höre und schweige. Werde hier nicht auf Rosen gebettet sein; wer weiß, wie lange die Episode dauert? Aber ich möchte irgend etwas sagen und frage: „Wieviel verdient ihr hier?"
„Fünfzig Pfennig, wenn's hoch kommt."
Ich beobachte sie bei ihrem Frühstück. Die eine legte sich fünf Minuten lang immer eine winzige Scheibe Radieschen auf einen winzigen Bissen Brot. Die andere hat irgend etwas Grünes in einer Tasse, wie Spinat. Ihr Brot für die Woche ist schon aufgegessen. Ich gebe ihr eine halbe Schnitte ab, sie nimmt, und bemüht sich krampfhaft, die Gier zu unterdrücken. Die dritte hat Tomaten auf dünnen, schwarzen, klitschigen Schnitten. Die zwei Schnitten mit den Tomatenscheiben, die mehr Suppe als Scheiben sind, kann man zusammengedrückt in einer hohlen Hand verbergen. Bertha hat in einer Tasse weißen Käse und nimmt immer eine Messerspitze voll zu ihren Brotstückchen. Frau Zinke isst nichts. Sie kann sich nicht „einrichten". Kommt vom Norden und hat ihre Schnitten schon aufgegessen. Sie muss morgens erst ihre beiden Kinder zur Schule fertig machen, und dann der lange Weg mit der Bahn und zu Fuß. Da verliert man die Selbstbeherrschung. Sie nimmt dankbar die andere Hälfte der einen Schnitte und sagt: „Nicht doch, dann haben Sie doch nichts zu Mittag, Herr Betzoldt!" Sie selbst hat natürlich zu Mittag auch nichts.
Ich habe nichts zu trinken und nehme von dem „Kaffee", den sie mir anbieten. Eine heiße, geschmacklose Brühe ohne Milch, Zucker und erst recht, ohne Kaffee. „Kotzen Sie aber nicht nach der Plärre", meint die Bartsch, schon zutraulicher. Die kleine Erna ist darüber erbost und schimpft: „Du bist unausstehlich, Gertrud, was soll Herr Betzoldt von uns denken?"
Langsam gehen sie nach der Pause an die Arbeit. Aus den Toiletten kommen sie zu Dutzenden zurück — sie haben dort eine Kriegszigarette geraucht, das stillt zwar den Hunger nicht, aber es betäubt.
Meister Horn schielt kritisch vom Gang her; ich weiß nicht, was er denkt, ahne aber die Zusammenhänge: Lass dich nur erst mal mit den Weibern ein, dann sind wir die längste Zeit Freunde gewesen!
Sophie wird auf den „ersten Eindruck" gespannt sein.
„Hals- und Beinbruch, Hans!" sagte sie, als ich mit meinen Stullen ging, nach langer Zeit wieder auf Arbeit. So ganz neu war uns beiden das. Sie wird mich am Abend unruhig erwarten. Wird in banger Sorge fragen: „Na, Lütting, wie war's?"Möchte so gerne hören: „Ist ganz fein!" Sie weiß, dass ich in meinem Beruf kein Stümper bin, hat deswegen keine Sorge; aber sie kann ja schon ein Lied singen von meinem sonstigen „Pech".
Was soll ich ihr berichten? Ich möchte ihr so gerne sagen: „Ist ein Kinderspiel, die Arbeit; hab schon ganz etwas anderes gemacht, Sophl, brauchst dir keine Sorgen machen." Oh, wie gönne ich ihrem geschundenen und geschändeten Körper, ihren glanzlos gewordenen Augen die Ruhe, die Erholung, den Schlaf ohne Sorgen.
Aber dein Hans, Sophie, wird nie ein „ordentlicher Mensch" werden. Die Betriebe sind gesäubert von „Hoch-" und „Landesverrätern". Ein raffiniertes System gegenseitiger Selbstzerfleischung, von der Angst vor dem Heldentum in Bewegung gehalten, hält die hungernden Sklaven nieder. Ich höre die Verzweiflungsschreie in ihren harmlosen Worten, höre den
Hohn der Antreiber. Ein guter Patriot zu sein, wie billig wäre das. Ich bin es nicht und — will auch keiner sein!
Gleich nach dem Frühstück rückte Erna ein paarmal hintereinander ihre Bank aus und ging hinaus. Dann brachten sie sie herangeschleppt, trugen sie auf einer Bahre zum Sanitäter. Sie wand sich in Krämpfen, hatte ihren Spinat ausgebrochen. Man brachte sie zum Arzt und dann ins Krankenhaus. Dort stellte man Vergiftungserscheinungen fest und untersuchte ihr Töpfchen, in dem noch ein Rest für die Mittagspause war. Es waren Rhabarberblätter, die Mutter durch den Wolf gedreht hatte.
Dass ihr Mädel beinahe gestorben wäre, hat die Mutter sehr erschreckt. Ist also doch nichts mit dem schönen „Ersatz". Der Arzt sagt ungläubig: „Frau, wie können Sie bloß so etwas machen? Sie als erfahrene Hausfrau müssen doch wissen, was genießbar ist und was nicht!"
Erna nimmt nun keinen falschen Spinat mehr mit. Sie nimmt jeden Tag etwas weniger Brot, damit es „reicht". Denn Brotkarten sind teuer: Fünf Mark das Stück. Mit fünfzig Pfennig Stundenlohn kann man sich diesen Luxus nicht leisten.
Nach drei Tagen kommt sie wieder. Im Krankenhaus ist das auch so 'ne Sache: Man muss Brot-, Fleisch-, Kartoffel-, Butterund sonstige Karten abliefern, und sie durfte doch nicht einmal etwas essen. Selbst diesen einen Vorteil ihrer Krankheit, dass sie infolge ihres ausgepumpten Magens drei Tage fasten musste und so mit ihren Karten wieder etwas nachkäme, hat sie nicht wahrnehmen können.
„Sie sind ungeheuer blutarm", sagte der Arzt, als sie ging, „müssen möglichst viel Obst und Fett essen."
„Woher nehmen?"
„Das ist nicht meine Sache, ich kann Ihnen als Arzt nur den Rat geben."
Sophie hört mir erregt zu, als ich ihr das erzähle. Dann nimmt sie ein halbes Brot aus dem Spind, wickelt es in ein nasses Tuch ein und meint: „Nimm der Kleinen das morgen mit, wir haben ja noch vier Brote."
Ich nicke, kann aber nicht umhin zu erwidern: „Gewiss, auf das halbe Brot kommt es auch nicht mehr an, aber die andern hungern genauso. Selbst wenn wir den letzten Bissen hingeben, nützt das nichts."
Sophie legt das Brot auf den Tisch, setzt sich und sagt: „Dass die Menschen sich das alles gefallen lassen?!"
„Sie werden durch Angst und Hunger in immer größere Angst und zu noch größerem Hunger gezwungen, und die Rebellen werden ins Feld geschickt."
Sophie schweigt.
Meister Horn hält mir einen langen Vortrag über meine hohen Preise.
„Was Janke auf seine Zettel schreibt, ist Betrug; er ist nur auf sich bedacht und täuscht etwas vor. Wenn es nur darauf ankommt, billige Preise anzuschreiben, kann ich das vielleicht besser als Janke. Aber die unbesetzten Bänke, die halbfertige herumliegende Arbeit? Die Lohnstunden jeder neuanfangenden Dreherin?"
„An den Preisen können wir nichts ändern, Betzoldt, die werden uns von oben vorgeschrieben, weil der Akkordsatz schon erreicht worden ist."
„Durch Schiebung! Auf die eine Arbeit werden die Stunden geschoben, auf die andere der Akkord."
„Da haben die Weiber selbst schuld."
„Dann ist es ja überflüssig, noch Preise anzugeben? Ich bitte darum, als Einrichter abgelöst zu werden. Geben Sie mir eine Spitzenbank im Maschinen- oder Werkzeugbau!"
Meister Horn überlegt und meint dann: „Werde sehen, ob ich Ersatz für Sie finde."
Er gibt meinem Wunsch nach, weil er Hohenstein ein paarmal mit mir sprechen sah; wittert in mir ein untergeschobenes Kind und will es mit meinem ihm unbekannten Gönner nicht verderben.
Ich bin nun mit Versuchsarbeiten beschäftigt, bekomme meine Stunden nach dem geltenden Akkordsatz bezahlt —
aber unser Brotvorrat ist aufgebraucht; wir haben sogar immer schon das Brot der laufenden Woche auf die Karte für die nächste Woche. Wir hungern uns durch die Tage und Wochen. Einer verbirgt seine Qualen tapfer vor dem andern, schiebt ihm manchmal von dem seinen noch einen Bissen zu. Wir versuchen einander zu täuschen und wissen doch, wie der andere denkt. Wir belächeln — jeder für sich — unsere Komödie, bis es wieder über uns kommt, jeder für sich von seinen Qualen gepackt wird, wenn er den andern ansieht.
Ein Tag verläuft wie der andere.
Drei „Paar" Schnitten kann Sophie mir mitgeben, dabei setzt sie noch von ihrem Brot zu. Sie sind mit „Käse" bestrichen, man merkt das an dem Gestank. Oder mit Tomatenbrei oder mit Marmelade. Um sechs Uhr verlasse ich die Wohnung. Um sieben Uhr beginnt die Arbeit. Eine Scheibe, so groß wie eine Kinderhand, dünn wie Pappe, ist das erste „Frühstück". Eine Buchenlaubzigarette nach der schwarzen Zichorienbrühe beschließt die Mahlzeit. Aber Schlaf macht nicht satt. Nach einer Stunde Weg und Fahrt beginnt die Überlegung, ob man nicht ein „Paar" Brote vorweg isst, zum Frühstück nur ein halbes „Paar".
Ich esse nicht nur ein „Paar". Das Brot im Werkzeugschrank übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, nicht nur auf mich. Wir sitzen mit sechs Mann bei unserm Frühstück, fast keiner hat noch etwas zu essen. Wir sitzen in der Mittagspause bei unserm „Kaffee" und rauchen. Man tröstet sich; um einhalb fünf Uhr ist Feierabend. Dann noch eine Stunde Weg. Der Nachmittag wird noch zweimal unterbrochen durch je eine Zigarette. Sind also alles ganz kurze Pausen von eineinhalb bis zwei Stunden. Dann gibt es am Abend immer eine winzige Scheibe Brot vor dem Essen. Die ganze Zeit- und Pausenberechnung ist eine einzige Spekulation, um sich über einen langen Arbeitstag hinwegzutäuschen bis zu dem Augenblick, in dem ich die Tür des Zimmers öffne und die heißbegehrte, trockene Schnitte Brot schnappe.
Sophie muss unbedingt wieder ins reine kommen, sonst hat sie eine Woche kein Brot, bevor es die neuen Karten gibt. „Ich kann dir heute keine Schnitte geben, Lütting", sagt sie eines Tages, als ich nur noch mit Mühe diese Hungerkur durchhalte.
Eine unsagbare Wut packt mich — gegen wen?
„Lütting, ich kann doch nichts dafür!" Ihr aschfahles Gesicht, ihre mageren Schultern, ihr zusammengebrochener Körper sagen mir nur zu deutlich, dass sie mehr leidet, mehr hungert als ich.
Ich fliehe aus der Stube die Treppe hinunter, trete in den Bäckerladen im Hause.
„Ein Brot!"
Man reicht mir ein Brot, ich suche krampfhaft nach einer Brotkarte in meinen Taschen, überlege und sage dann: „Hab sie wohl oben gelassen, werde sie sofort bringen."
Sophie empfängt mich mit misstrauischen Blicken. „Was nützt das", sagt sie niedergeschlagen, „die Frau will doch ihre Karte haben, sie wird sie von mir verlangen."
„Das Brot ist ohne Karten!" lüge ich. „Komm, iss, Sophl. Ein halbes können wir verdrücken. Wenn wir's nicht gehabt hätten, hätte es auch gehen müssen."
„Von wo hast du das?"
„Frage bitte nicht, iss, lass dir's schmecken!"
Ich kann nichts anderes erwidern, sinne vielmehr unausgesetzt, wie ich mich mit dem Brot ohne Karte aus der Affäre ziehe. Horche immer, ob die Bäckerfrau nicht die Treppe hochkommt. Es muss doch Ladenschluss sein. Als wir schon beim Essen sitzen, höre ich sie heraufkommen, gehe hinaus und rufe: „Frau Wiesenthal! — Einen Augenblick bitte, ich möchte mit Ihnen etwas besprechen."
Sie tritt zögernd ein und setzt sich.
„Sie haben vorhin, ohne dass Sie es wollten, ein großes Unglück verhütet. Ich wäre vielleicht jetzt schon verhaftet, wenn Sie nicht gewesen wären."
Frau Wiesenthal schaut mich ganz verdutzt an; „Was Sie nicht sagen?" meint sie ungläubig. „Was haben Sie denn getan ?"
„Sie gaben mir ohne Karte ein Brot. Das mit dem ,Kartenvergessen' ist eine Lüge." — Ich erzähle ihr das Drum und Dran mit dem Brot. Sie ist auf diese Überrumpelung gar nicht gefasst, weiß nicht recht, was sie sagen soll, sieht dann, wie Sophie zwischen Verlegenheit und Zorn gegen mich kämpft und sagt: „Ja, Herr Betzoldt, es ist furchtbar! Wir werden so genau nach jeder Karte, nach jedem Pfund Mehl kontrolliert. Man möchte so gern öfter mal aushelfen. Sind auch mit zwei großen Menschen allein? Ja, das ist schlimm, wo viele Kinder sind, gleicht sich das ein bisschen aus." Sie erhebt sich seufzend und fährt dann fort: „Nun lassen Sie sich's eben schmecken. Werden schon sehen."
Sophie begleitet sie hinaus. Als sie wieder hereinkommt, lacht sie. Die Bäckerfrau hat ihr außerdem pro Woche ein halbes Brot ohne Marken versprochen.
Ein Freudentag in dieser endlos großen Zeit.
Aber unser Verpflegungsprogramm ändert sich auch so nur ganz unwesentlich. Pro Mann und Woche einen Brocken klitschiges Brot mehr — was ist das?
Sophie bemüht sich weiter, den Kohlrüben einen andern Geschmack abzugewinnen, probiert allen möglichen „Ersatz", versucht weiter, ohne Fett, ohne Fleisch, ohne Kartoffeln, ohne Gemüse, ohne Hülsenfrüchte etwas auf den Tisch zu bringen. Oft beobachtet sie mich beschämt. Sie weiß, es kann nicht schmecken. Aber der Hunger treibt alles hinein. Und oft sage ich: „Hat ganz gut geschmeckt heute!" Soll ich ihr gar nichts gönnen, sie nicht durch ein freundliches Wort zu belohnen suchen? Sie weiß, dass ich lüge, aber sie merkt den Zweck und schaut mich zweifelnd und doch dankbar an.
„War in Russland doch besser, nicht, Lütting, hattest wenigstens Brot?" Lange mag sie gekämpft haben, um das, was sie lange denken mochte, auszusprechen. Schaut mich traurig an, als wollte sie fortfahren: Brot kannst du essen, was aber kann ich dir sein?
„Sophie, was redest du!"
Und doch: Keine Stunde wahrer Freude unterbricht das Grau. Die Arbeit wird zur Qual, wenn der Mensch dauernd hungert. Die Nerven werden überempfindlich. Der Körper verlangt das andere Geschlecht nicht mehr. Aber das Hirn sucht einen Ausweg. Unerträglich ist diese bleierne Ohnmacht. Die Gedanken fallen ins kalte Nichts, das schmerzt von neuem.
Sophie sitzt hier und kann mir nicht helfen, so wenig wie ich ihr. Brot ist greifbar, essbar. Der volle Magen beruhigt das Gehirn, lässt den Augen den Schlaf. „Draußen" ist Brot, wenn auch neben dem Heldentod. Beides ist besser als das Nichts in mir und um mich.
Soll ich Sophie das sagen, ihr die Wahrheit sagen? Sie, die alles trug, alles tat, mir alles gab und alles war?
Vielleicht genügt der Schlag, um sie in die Verzweiflung zu hetzen. Habe ich dazu ein Recht?
„Nein, Sophl", sage ich, „das Letzte, was ich habe, bist du. Glaube es mir!"
Ihr Kopf sinkt schluchzend auf meine Brust, ihr magerer Körper zittert, ihre Arme suchen sich um meinen Körper. „Lütting", bekennt sie, „wenn ich dich verliere, ist alles aus, ist alles aus!"
Wir haben Abteilungsversammlung. Ein Gewerkschaftsbeamter eröffnet sie und gibt bekannt, dass die Abteilung ohne Vertrauensmann ist. Kollege Rosenthal hat sein Amt niedergelegt.
Keiner meldet sich zum Wort.
Ich zähle einundachtzig Dreher, Schlosser, Dreherinnen.
„Kollegen!" fährt der Gewerkschaftsbeamte fort, „ihr müsst doch einen Vertrauensmann haben, oder geht es euch so gut ?"
Keiner spricht, keiner macht Vorschläge, keiner will sich verdächtig machen. Der Gewerkschaftsbeamte wartet, steckt sich eine Zigarre an, spricht leise mit einigen Kollegen, die dann Vorschläge machen.
„Lehne ab!" folgt prompt die Antwort. Der Gewerkschaftsbeamte spricht von Interessen der Arbeiter, von ihren Idealen, von ihren Pflichten; sie könnten doch nicht so auseinander gehen?
In dem kleinen Saal bleibt es still und stumm. Mir ist das unheimlich, unwürdig scheint mir eine solch feige Kapitulation, und ich bin nahe daran, auf den Tisch zu springen.
Die Versammlung geht auseinander, wie sie zusammenkam. Der Gewerkschaftsbeamte verschwindet zornig mit seiner Aktenmappe. Einige lächeln ihm nach.
Einer sagt: „Diese Schleimscheißer! Sind reklamiert, damit sie das ,Durchhalten' predigen, und quatschen von Idealen. Da bleibt einem die Spucke weg!"
„Die ham wa erkannt", meint ein anderer.
„Im Brotstreik ham se sich so richtig entlarvt als Hindenburg-Knechte. Der braucht bloß 'n Vertrauensmann für Hindenburg."
Ich gehe niedergeschlagen nach Hause. Soll es gelingen, die letzte Kraft zu brechen, soll es gar keinen Ausweg geben?
Die Spitzendreher wollen für sich eine Aktion einleiten. Mit sechs Mann wollen wir vorstellig werden und mehr Lohn verlangen, oder einen „Kriegs schein". Kein anderer Betrieb darf ja ohne diesen „Kriegsschein" Arbeiter einstellen.
Langenscheid jedoch ist dagegen. „Das hat alles gar keinen Zweck! Erstens stehen wir als Bettler vor diesen Brüdern, wenn sie nicht wollen, geben sie nichts. Wir ziehen dann den Schwanz ein und schleichen davon, denn machen können wir doch nichts!
Zweitens scheiß ich auf den Groschen Zulage. Dafür kann man doch keine Butter für achtundzwanzig Mark kaufen.
Und drittens bin ich aus prinzipiellen Gründen gegen eure ganze Filzlatschentaktik. Draußen verrecken sie massenweise, und wir sind bereit, tüchtig für die Kriegstreiber zu schuften, wenn sie uns nur ein bisschen besser futtern. Man kommt sich ja vor wie ein Hund, dem es egal ist, wo er hinbeißt. Wenn er einmal knurrt, wirft man ihm eben einen Brocken hin. Wenn sie dann lustig sind, bieten sie uns den Kriegs schein an. Und ihr wisst doch, was das bedeutet. Die da oben wissen ganz genau, dass keiner gern in den Schützengraben geht, und wenn wir auf den Kriegs schein bestehen, sind wir innerhalb vierzehn Tagen reif — für einen Katzendreck."
Brunner, der die Geschichte ausgeknobelt hat, wird auf den Leipziger bös. „Wenn wir nicht einig sind", meint er wichtig, „hat es allerdings keinen Zweck." Der Vorwurf gegen Langenscheid klingt deutlich aus seinen Worten.
Langenscheid merkt das und antwortet schlagfertig: „Ich will euch mal was sagen! Wenn ihr was wollt, dann spielt endlich mit offenen Karten! Wenn's heißt: Schluss mit dem ganzen Kriegs Schwindel! bin ich dabei, da könnt ihr jederzeit auf mich rechnen. Aber so à Gramm, für'n Groschen, und mit dem Kriegsschein bluffen und jedes Grüppchen für sich: die Dreher, die Werkzeugmacher, die Tischler und die Klempner, das ist nicht gehauen und nicht gestochen, nicht Hund und nicht Sau. So, nun wisst ihr's!"
Langenscheid geht wieder an seine Bank und kümmert sich um nichts mehr. Brunner grinst verächtlich, nickt von einem zum andern, als wolle er sagen: Fauler Kunde! und erzählt von den Opfern, die er schon gebracht, wie er immer im Stich gelassen worden sei, und jetzt die Nase voll habe. Aber er stößt überall auf Schweigen — oder auf Widerstand. Sein schleimiges Getue ist mir zuwider. „Langenscheid hat vollständig recht!" sage ich.
Brunner ist beleidigt und macht seine „Aktion" allein. Er erhält die Erlaubnis, pro Stunde zehn Pfennig mehr schreiben zu dürfen wie wir; er ist schon seit Beginn des Krieges bei der Firma, dauernd reklamiert und „eingearbeitet".
Ein Suchen und Tasten ist das alles, ein Drehen im Kreise, Rückkehr zum Ausgangspunkt. Wo irgendwo ein Nacken sich steift, ein Mund sich öffnet, fassen die Häscher rasch zu. Sie wissen, die Revolution hockt im Dunkeln. Ein Schrei, noch einer, ein dritter — und die Geister des Umsturzes sind alarmiert.
In Petersburg stürmten die Massen die Brotläden. Kugeln pfiffen in die hungrigen Mägen und entfesselten den Widerstand auf der ganzen Linie! Das „Verbrechen", gegen den Hungertod zu rebellieren, wird zur Macht. Ein Massenschrei der Empörung und Erlösung eilt durch das weite Land. Das Recht der Verdammten dieser Erde bricht wie ein Vulkan durch Verbrechen und Schande. Die Gestalt Lenins wächst wie ein feuriger Schatten am Horizont auf. Arbeiter- und Soldatenräte organisieren die Aufständigen zum Sturm gegen die kapitalistischen Blutsauger. Das Rot der russischen Revolution ergießt sich über die leichenbesäte Erde.
„Helft uns, die Tyrannei dieser Welt zu brechen! Besinnt euch auf eure Pflicht! Steht auf, kämpft mit uns 1" klingt es aus den Manifesten des russischen Proletariats.
In den deutschen Parlamenten wird gefeilscht um ein „Wahlrecht". Man redet auch viel vom „Achtstundentag". Ohne alle Schmerzen und Anstrengungen sollen die Arbeiter in Deutschland zu ihren „Rechten" kommen. Die Schreckensherrschaft der Regierung entpuppt sich immer mehr als Herrschaft der Erschrockenen. Die „Räuberbande" in Russland, die „Hochverräter" sind an der Macht. Man muss das Recht der Proletarier, sich dem Wahnsinn entgegen zu stemmen, als Wahnsinn und Verbrechen brandmarken, muss die russische Revolution infamieren, muss den Arbeitern in Deutschland „entgegenkommen" durch leere Botschaften und billige Reformen, um die Entlastung an der Ostfront ummünzen zu können in einen Raubfrieden mit den „Verbrechern", zu einem militärischen Plus an anderen Fronten.
Denn die Lage wird trotz alledem bedrohlich. „Von militärischen Siegen ist ein Ende des Krieges nicht zu erwarten", verkündet Staatssekretär von Kühlmann. Der vierte Kriegswinter naht, und die Regierung muss die „Brotration" von neuem kürzen.
Flugblätter und die „Spartakusbriefe" werden in die Betriebe geschmuggelt; immer wird von neuem verkündet: „Wir sind noch da, immer noch!"
Wir sind in unserer Abteilung drei Genossen: Langenscheid, Krüger, der Fräser mit dem Glasauge, und ich. Ich bin oft bis spät in die Nacht unterwegs, teils mit Sophie, oft auch allein. Aber Sophie wartet immer auf mich. Manchmal scheint es mir, als wolle sie mir etwas verbergen, auch heute.
„Ist dir nicht gut, Sophie?"
„Warum?"
„Du siehst so gedrückt aus, so niedergeschlagen!"
„Lütting!?"
Ich sehe an ihr hoch. Was soll nun wieder sein? „Weißt du es genau?"
„Ja, ich weiß es genau. Es ist ja schon vierzehn Tage über die Zeit."
Ich nehme ihre kalten Hände in die meinen und sage lachend: „Ist doch nicht schlimm, Sophl! Ich werde schön was ranschaffen, dass du es diesmal besser hast. Nächsten Sonntag gehe ich mit ,hamstern'!"
Sie seufzt und sagt: „Ich habe solche Angst ausgestanden, dass ich dir zur Last falle. Ich bin nun so froh!"
„Ich auch!" lüge ich tapfer. Sie kann das gar nicht glauben, tritt einen Schritt zurück und mustert mich. „Du siehst aber gar nicht froh aus", sagt sie zweifelnd.
„Ich habe heute angestrengt arbeiten müssen und bin nun vier Stunden unterwegs. Wir haben die Stadtbahnzüge mit Klebezetteln bepflastert. Ich bin nur müde. Aber das ist doch morgen vorbei." Sie bringt mir zur „Belohnung" noch einen kleinen Teller Reis. Dann deckt sie mich zu.
„Schlaf schön, Lütting."
„Danke, du auch!"
„Ich werde gut schlafen", erwidert sie zärtlich.
Ich liege noch lange wach. Wie bald kann ich wieder in dem Ehrenkleid stecken? Zu der nervenfressenden Selbstdisziplin kommt noch die Sorge, dass ein drittes totes Kind ihr das Leben kosten kann.
Wie verabredet treffe ich mich mit Krüger früh um fünf Uhr zur „Hamsterfahrt". Krüger hat ein Bündel kleingeschnittener Treibriemen, einen begehrten Artikel zum Besohlen von Schuhen. Leder gibt es fast nicht mehr.
Ich habe die Absicht, meine langen Artilleriestiefel zu opfern. Sie sind mir zu schwer und — vorderhand — bin ich noch mit Schuhen versehen. Wir jagen nach Fettigkeiten.
Sie wollen umdrehen, da ist ihnen schon der Rückzug durch den Tunnel abgeschnitten. Man reißt ihnen die Rucksäcke vom Körper. Sie klammern sich an ihren Kartoffeln fest.
„Lass los, Aas verfluchtes!" brüllt ein Uniformierter, und stößt das Weib mit dem Kolben vor die Brust, dass sie rücklings stöhnend hinfällt. Dann nimmt er den Rucksack und wirft ihn auf den Haufen. Eine alte Mutter klammert sich fest an ihren Sack und jammert: „Lasst mir doch die paar Kartoffeln für meine Kinder!"
Man stößt sie beiseite und wirft ihren Rucksack auf den Haufen. „Euch werden wir schon kriegen, ihr Bande!" höre ich den Vaterlandsverteidiger brüllen.
In der Mitte rottet sich die Menge zusammen. Meist Frauen, aber auch Kinder. Verzweifelte Hände fassen die gezückten Kolben, betteln herzerweichend. Kinder schreien.
Es gibt kein Erbarmen. Der Haufen wird auseinandergeschlagen. Eine Frau taumelt wie betäubt auf eine Bank, ihre Arme suchen gar keinen Halt mehr. Sie fällt steif am Geländer entlang, mit dem Kopf auf die Lehne und aufs Pflaster. Wir packen sie und schleppen sie in den Wagen.
Die Schlacht ist beendet.
Die Sieger stehen, das scharf geladene Gewehr bei Fuß, um ihre Beute herum. Der Herr Wachtmeister verkündet: „Wer Reklamationen hat, kann sich auf der Bahnhofs wache melden!"
Der Zug fährt ab. Sie kehren mit leeren Händen heim, ausgehungert, müde, durchnässt, verprügelt, ohne Rucksack und ohne den Wochenlohn, den mancher geopfert haben mag, weil ihm der „Lieferant" die Sachen nicht ins Haus bringt. Neben mir erholt sich eine Frau langsam aus der Erstarrung.
„Habe mir meinen Rucksack noch geborgt", sagt sie, „er ist fast neu. Vierzehn Tage habe ich beim Bauern geschneidert — um zwanzig Pfund Kartoffeln und ein Pfund Butter."
„Das müssen Sie doch alles wiederbekommen?"
Die Frau bleibt stumm, verzieht nur, bitter lächelnd, den Mund.
Ihre Nachbarin sieht mich erstaunt an. „Wenn Sie noch ein paar Monate Knast haben wollen, wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt, können Sie sich ja melden", belehrt sie mich.
Gegen Mitternacht bin ich zurück. Sophie wartet noch. Ich lege das halbe Pfund Speck und das Stück Brot auf den Tisch. Sie sieht nach meinen Füßen, sieht, dass ich die Stiefel noch anhabe und auch die Schuhe wieder mitgebracht habe.
„Hast du das so bekommen?"
„Nein, das ist vom Genossen Krüger."
„Na ja! Das erste Mal! — Wenigstens nicht ganz umsonst!" Sie lacht mir ermunternd zu. „Darf ich ein Stückchen essen?"
„Aber natürlich, dazu ist es ja da!"
„Ist sonst alles gut gegangen?"
„Ja."
Was soll ich ihr sagen? Sie würde sich zu sehr aufregen. Sie soll nicht merken, wie mich diese Verantwortung hemmt und quält.
„Wenn die Massen nicht wollen", meint Langenscheid, mit dem ich darüber spreche, „dann nützt alle Bravour nichts. Dann ist es eben noch nicht soweit!"
Langenscheid hat Frau und Kinder in Leipzig, fährt jeden Sonntag hin, kommt montags wieder. Er drückt sich vor keiner propagandistischen Arbeit, aber er erledigt alles für sich. Er ist ein fleißiger, zuverlässiger Werkzeugdreher, vom Meister als erstklassige Kraft geschätzt. Fast stupid sieht er aus, so auf den ersten Blick. Sein graugesprenkelter kurzgeschorener Schädel ist wie ein primitiver Bauernkopf.
Ich gehe zu ihm, begrüße ihn. Auf seiner Bank liegt seine Brieftasche, in ihr ein Bild, eine Frau; sie hat einen Jungen und ein Mädchen an der Hand, lacht wehmütig, und die Kinder machen wichtige Gesichter.
„Ist wohl deine Frau?"
„Ja", wie aus dem verborgensten Winkel seiner behaarten Brust kommt das.
Ich weiß nicht, ob ich mich täusche, aber alles, was Langenscheid tut, wie er sich bewegt, wie er darauf bedacht ist, die Arbeit mit äußerster Exaktheit auszuführen, wie er abwägt, ob die zehn Pfennig Zulage den Einsatz lohnen, sich nicht verraten, preisgeben will, für nichts: das alles erscheint mir so klar, fließt zusammen zu einem Ganzen, einem wohldurchdachten System.
„Zu Herrn Horn bitte!"
Die Lohnschreiberin steht vor uns, geht dann, ohne Antwort abzuwarten, mit derselben Aufforderung von Bank zu Bank. Sie folgen bereits, gehen zur Meisterbude hin.
„Was ist los?" frage ich Krüger.
„Das Vaterland braucht Geld! Kannst einen Wochenlohn opfern — für Kriegsanleihe."
Brunner geht sofort, Langenscheid folgt langsam, als ginge er zur Toilette. Wir gehen hinterher. Eine ganze Reihe ist angetreten. Die meisten zeichnen. Der Meister sitzt davor und erklärt pflichtgemäß, dass die Liste von der Betriebsleitung zirkuliere für die Belegschaft. Brunner kommt an die Reihe und zeichnet. Eine Arbeiterin sagt: „Hab ja selbst nichts!" Sie bleibt unschlüssig stehen, bis Meister Horn sie beiseite schiebt und sagt: „Ist gut!"
Der Meister sieht auf Langenscheid, der jetzt an der Reihe ist.
„Ich lehne ab!" sagt Langenscheid, dreht sich um und geht. Als Horn dann noch Krüger sieht, der höhnisch lacht, winkt er rasch ab.
Ich lehne ebenfalls ab und folge den beiden.
„Dämliche Schweine", sagt Krüger während der Frühstückspause, „können vor Hunger nicht aus den Augen gucken und opfern trotzdem ihre sauer verdienten Pfennige, damit das Gemetzel frisch-fröhlich weitergeht. Aber mancher möchte dadurch noch einen Blumentopf gewinnen."
Er sagt das mit einem deutlichen Stich auf Brunner.
„Wegen die paar Kröten die Finger verbrennen, fällt mir ein", gibt der giftig zurück. „Ich habe meinen Groschen Zulage gekriegt. In einer Woche hab ich das raus, merk das gar nicht."
Langenscheid guckt über seine Kaffeepulle fort, er trinkt gerade, stellt sie dann hin und sagt: „Die wissen da oben schon, was sie machen. Auf die Pfennige kommt es ihnen gar nicht an, sondern auf die Gesinnung. Sie gucken sich auch nicht die an, die zeichnen, sondern die, die nicht zeichnen. Die jetzt noch zeichnen, sind der große Haufen Dreck. Der quietscht noch nicht einmal, wenn man drauf herumtrampelt."
Langenscheid knüllt sein Butterbrotpapier zusammen und geht schlenkernd an seine Bank. Brunner ist rot wie ein Krebs. Krüger grinst.
Langenscheid wird seiner Frau bestimmt sagen, dass er keine Kriegsanleihe gezeichnet hat und dass man ihn nun näher beobachten wird.
Auch ich muss mit Sophie darüber reden.
Ich komme aber nicht dazu. In der Stube sitzt ein Soldat und wartet auf mich. Als er mich sieht, steht er auf und streckt mir die Hand entgegen. „Tag, Hans!"
Ich suche mich zu entsinnen. Seine Stimme klingt mir vertraut, die Hakennase, die große Falte um sie beim Lachen? — „Walter! Bist auch hier in Deutschland? Urlaub? Heimatschuss?"
„So ähnlich", sagt Walter. Ich muss mich erst an ihn gewöhnen. Er ist ganz verändert, sein starker Schnurrbart ist weg.
„Hast Schwein gehabt, Hans!"
„Gott, wer weiß, wie lange es dauert, und dann — es ist auch hier genug Krieg."
Sophie brüht ein bisschen Tee auf und setzt sich dann zu uns.
„Bist du schon lange hier?"
Walter lacht vielsagend — und schweigt.
„Das hätte bös ausgehen können." Ich sehe unter seinem rechten Auge eine noch frische Narbe.
„Das war nicht schlimm", sagt Walter, „wenn es schlimm gewesen wäre, wäre ich nicht hier, die bleiben meist alle liegen."
„Geht wohl fürchterlich her draußen?"
„Da könnt ihr euch gar keinen Begriff machen. Die Menschen glauben das ja gar nicht, sonst könnte es nicht so ruhig bleiben."
„Sie meinen alle, dass bald Frieden wird!" sagt Sophie. „In der einen Hand die Peitsche, in der andern die Friedenspalme, das sieht so recht nach Frieden aus. Aber wenn die uns einmal die Rechnung präsentieren, werden wir staunen."
Walter fährt dann wie erklärend fort: „Vorigen Sommer war ich in Maubeuge. Wir bewachten die großen Industrieanlagen. Mächtige Kesselanlagen, moderne Industrie. Was haben die Deutschen mit den Maschinen gemacht? — Alles wurde vernichtet, zertrümmert, alles aus den Fundamenten gebrochen. Die Galle konnte einem überlaufen, wenn man das mit ansehen musste. An einem langen Seil war eine Riesenkugel von Eisen befestigt. Diese Kugel wurde an einem großen Flaschenzug hochgezogen, und dann sauste sie nieder auf die Maschinenteile, so lange, bis auch die stärksten Kolosse in Trümmer gingen.
Wochenlang hab ich das mit angesehen. Ein älterer Herr, der Bescheid wusste, ging immer in dem Trümmerhaufen umher, musste Auskunft geben. Ich sehe ihn heute noch in seiner kalten Verachtung. Er hat anscheinend einmal die Betriebe geleitet, sah nun diese sinnlose Vernichtung. Nur die Lokomobilen und Motoren wurden unbeschädigt fortgeschafft. So sucht man dort alles zu vernichten.
Die gefangenen Russen, die die verschrotteten schweren Brocken verladen mussten, waren schon halb verhungert. Trotzdem hat man sie mit Fußtritten zur Arbeit angetrieben. Schöne Friedensvorbereitungen. Ha-ha-ha-ha!"
Walter lacht blechern und sieht über die Stube hin. Er hätte ebenso gut sagen können: Dass ihr den Hohn dieser Friedensapostel nicht merkt, darüber überhaupt noch diskutiert
„Die werden eine schöne Rechnung aufmachen!" betont er kopfnickend noch einmal — „und bald, früher als mancher denkt!"
„Meinst du?"
„Ja", fährt Walter fort, „es ist aus. — Ich bin ein alter aktiver Soldat", erzählt er weiter, als wolle er sich eine Last vom Herzen reden — „aber auch wenn ich das nicht wäre; ich habe nie Feigheit gekannt. Es widerstrebt meiner Natur, anderen etwas vorzumachen. Wenn dicke Luft war, richteten sie sich alle nach mir, die ganze Korporalschaft. Ich hätte die Kerls gar nicht enttäuschen können. Überzulaufen, oder auszurücken, sie im Stich zu lassen: nein. — Der Gedanke schon war mir unerträglich.
Der gesunde Mensch sträubt sich, sich selbst zu verkrüppeln, weil das gegen alle Natürlichkeit ist. Ein gesunder und aktiver Kerl krepiert lieber, weil er sonst auch innerlich verkrüppeln müsste. Aber auch das schaffen sie fort, haben sie auch bei mir geschafft, das ist das schlimmste. Die nicht zerfetzt werden, werden innerlich getötet. Alle Disziplin, auch alle natürliche Disziplin geht zum Teufel. Mit den Menschen, die sich selbst vernichten, innerlich vernichten, ist kein Widerstand mehr möglich. Es fragt sich nur, wie lange es dauert, bis sie auch das noch gründlich besorgt haben."
Das klingt alles wie eine Beichte. Sophie steht seufzend auf, gießt noch Tee ein. Dann öffnet sie das Fenster, um den Qualm abziehen zu lassen, sieht mich an, wohl weil ich schweige, und sagt: „Genosse Walter kann doch hier schlafen? Er ist nicht sicher zu Hause!"
„Selbstverständlich. Er schläft auf dem Sofa." Walter schaut zu Boden, mag wohl nicht viel Wesens davon machen, dass er sich freut, und fragt: „Habt ihr hier von der Riesenexplosion gehört im Fort Douaumont, Anfang Mai dieses Jahres? Zwei Regimenter brandenburgischer Truppen sollen darin begraben sein." Und ehe wir Antwort geben, fährt er fort:
„Wir waren gerade auf dem Wege nach vorn, als wir davon hörten. Ihr könnt euch ja die Stimmung denken. Die Zivilbevölkerung sah uns stumm und verbittert nach. Jeder hat gegrübelt: Wie viele mögen dort eingemauert sein? Da machte ein französischer Junge so eine charakteristische Bewegung: mit der flachen Hand sägte er an seinem Hals, wie: Ihr werdet alle abgemurkst! Geschimpft und geflucht haben viele — aber noch mehr sind erschrocken. Sie fühlten: der Junge hat recht! Gleich am ersten Abend mussten wir antreten. Die Kompanie sollte Stollenhölzer nach vorn tragen. — Von den Offizieren kam keiner mit. Ein Feldwebel hatte das Kommando. Als wir in Reihenkolonnen aus dem Walde kommen, ist bereits die halbe Kompanie verschwunden. Ein Pionier führte uns, er kannte jeden Abschuss. Aber hier war gar keine Berechnung mehr möglich, alles lag unter Feuer. Ein Wirbel von Einschlägen, Vor uns und hinter uns brach es krachend in die Erde. Eine Wolke von Dreck und Eisen prasselte über uns nieder. Wir lagen in einem niedrigen Laufgraben, ich über einem andern wie ein Frosch. Da krachte es schon wieder links von uns, kein Mensch wusste recht, wie weit. Der Feldwebel horchte Sekunden. — ,Los!'brüllte er dann. Wir rannten mit unseren Stollenhölzern wie gehetzt durch die Nacht, stolperten, fielen hin — kamen mit dreißig Mann von der ganzen Kompanie in dem zerschossenen Wäldchen an. Dort lag Artillerie, feuerte und wurde befeuert, ununterbrochen. Vor dem Wäldchen die waldfreie Zone, zerwühlt, unter ständigem, furchtbarem Granatfeuer. — Da sollten wir durch.
Der Feldwebel drehte sich um und hatte noch zehn Mann hinter sich. ,Verdammte feige Hunde!' fluchte er verächtlich. Rannte los, wir hinterher. Rasteten Sekunden vor der Schlucht — die ,Totenschlucht' nannten wir sie. Keine Minute schwieg hier das Feuer. Die letzten hundert Meter waren die furchtbarsten. Sofort nach den Einschlägen hieß es laufen, laufen! Bis die nächste Salve einschlägt, mussten wir die waldlose Zone hinter uns haben. In wahnsinniger Hast ging es die Schlucht hinab. Wer dort liegen blieb, wurde totgetreten. Erst am jenseitigen Hang waren wir etwas sicherer.
Vor einem Stollen machten wir halt. Wir hörten dumpfe Stimmen aus der Erde. Der Feldwebel meldet: ,Sechste Kompanie achtzig Stollenhölzer abgeliefert.' An Nachzählen ist natürlich nicht zu denken.
Auf dem Rückweg war es schon dämmerig. Tote, Verwundete, Schreiende, Feldflaschen, Büchsen mit Wurst und Fett, Stollenhölzer, Stacheldrahtrollen, Wasserfässer, Brotsäcke liegen herum.
Jeden Tag war der Laufgraben zusammengeschossen oder voll Wasser. Jeden Tag blieben Kameraden liegen, keiner fragte danach. Jeden Tag gingen neue Truppen in Stellung, jeden Tag wurden neue Verbände aufgerieben. Jeden Tag kletterten wir über Tote, traten in Kaidaunen. Jeden Tag sahen wir,wie nur ein kleiner Bruchteil der Verpflegung nach vorn kam. Nach vierzehn Tagen rückten wir in die zweite Stellung und erfuhren es am eigenen Leibe. Die gläsernen Augen hingen an mir, als ich Wasser verteilte: einen Trinkbecher lauwarmes Wasser pro Mann. Unerträgliche Hitze. Die Flieger wimmelten über uns; sie wussten jedes Loch, in dem wir lagen. Feste Stellung gab es nicht mehr; nur Löcher. Oft saßen die Franzosen rechts von uns, oft links, ein Tasten, ein Belauern, auch ein stiller Waffenstillstand mitunter. Das Gemetzel geht in der Hauptsache so vor sich, dass man die Regimenter durch die Sperrfeuerzone der Artillerie jagt, hüben und drüben, immer von neuem. Denn die in den Stellungen verdursten, verhungern, haben keine Minute Ruhe, keinen Schlaf, müssen immer von neuem abgelöst werden — und müssen von neuem durch die Feuerzone und bleiben im Granatenregen.
Da erwacht in dir die Gier nach dem Leben. Du siehst die Schwerverwundeten in den Löchern, im Sand, in der Asche, in die der Boden verwandelt ist. Siehst, wie sie von den Fliegen gefressen werden. Siehst, wie die Sanitäter nur einen Bruchteil holen können, läufst selbst gehetzt vorbei, wenn dich ein Sterbender anruft.
Da packt dich das Grauen. Auch so liegen, auch so langsam zu Tode braten ? Du siehst deine Kameraden immer wieder an, siehst dich eines Tages um — und Feldwebel Dengel ist verschwunden. Du kannst das gar nicht fassen. Die letzte Illusion, dass die eisernen Nerven dich retten, ist futsch.
Dann kommt es über dich! Du grübelst und sinnst, überlegst: Einen Schuss durch die Hand? Eine Handgranatenverwundung? Du schämst dich vor den andern, die zu dir aufsehen, die du durch deine Anwesenheit noch ermunterst, — deiner Feigheit.
Du erbietest dich freiwillig, Wasser zu holen. Du weißt, dass die grünlich-schleimige Quelle am Ausgang der Schlucht stark beschossen wird, denkst aber an deinen Granatsplitter, den du schon am Tage mit dir herumträgst, mit dem du die Verwundung, die du brauchst, dir selbst beibringen willst. Du hast keinen Mut, möchtest aber auch nicht ohne Wasser zurückkehren, kriechst auf allen vieren heran, siehst die toten Wasser-holer vor dem Loch liegen, füllst die Flaschen voll mit der grünlich-schleimig-warmen Brühe und kehrst zurück als Held — weil du zu feige warst, dein Vorhaben auszuführen.
Sie erwarten dich aufgeregt. — Der Bataillonsunterstand ist zusammengetrommelt. Die Stolleneingänge sind zu. Sechzehn Mann sind noch drin, tot oder lebendig. Aber keiner kann helfen. Die Granaten zerkrachen über dem Grab, die ganze Nacht.
Da fangen die Knochen an zu tanzen, die Nerven an zu springen. Du hältst dieses Heldentum nicht aus, gehst abseits, reißt den Splitter aus der Tasche, und schreist, um deine Feigheit zu verbergen: ,Sanitäter! — Sanitäter!'
Du willst dich überzeugen, ob diese Wunde das Schreien rechtfertigt — und blutest kaum. — Gleich wird der Sanitäter hier sein — und du bist erkannt. Da hackst du noch einmal zu. Das Eisen bleibt hängen, du reißt — und reißt dir das Fleisch aus dem Gesicht, holst dir vom Arzt die Starrkrampfspritze und den Schein.
Die ,Leichtverwundeten' kommen fast alle weg, sie schlagen sich durch. Schwerverwundete bleiben viele zurück. Du siehst alles entschwinden, zuletzt den Friedhof, der die erwartet, die vor der abfahrenden Bahn sterben. Kein Mensch fragt nach ihnen. Wenn die Heimat winkt, ist alles vergessen.
Du kommst nach Deutschland und siehst, wie die Herren hier vom Frieden, vom Durchhalten, vom Heldentum reden!"
Walter stockt und schaut, wie erschrocken vor sich selbst, nach der Uhr.
Ich sehe Sophie an.
Sie hat die Hände über ihrem Schoß gefaltet und sagt im Aufstehen: „Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. — Innerlich sterben! — Wir Frauen wissen, wie das ist!"
Ihr Gesicht glüht. In ihrem mageren Körper schlägt alles.
„Wenn das mal losgeht", fährt sie fort, „geht es aber richtig los! — Es muss auch richtig losgehen!"
„Jawohl, wenn man dann krepiert, weiß man wenigstens warum!"
„Bricht ja schon alles zusammen", sagt Walter. „Wenn sie so weitermachen, sind sie bald hier! Ich habe ja den Rückzug mitgemacht, von der Somme bis St. Quentin, ich bin bloß ein bisschen rascher gelaufen."
Sophie muss sogar lachen, fragt aber dann schon wieder ganz ernst: „Das muss doch furchtbar durcheinandergehen?"
„Wie man's nimmt", meint Walter. „Oben ist scheinbar Ordnung, das heißt auf dem Papier. Denn die höheren Vorgesetzten wechseln, als wären sie alle zur Aushilfe da. — Aber ,unten' ? — ist ja auch kein Wunder."
Wir warten ohne Gegenfrage, und Walter fällt erneut ins Erzählen:
„Sie versuchten noch zu täuschen. Scheinstellungen wurden gebaut, Truppen marschierten am Tage nach vorn, in der Nacht nach hinten, am anderen Tage wieder nach vorn. Ganze Autozüge voll Kriegsmaterial fuhren sie in die Somme, teils wurde es vergraben. Alles, was über die Erde ragte, wurde dem Erdboden gleichgemacht. Ganze Wälder wurden niedergelegt.
Die Zivilbevölkerung wurde abgeschoben. Vor jedem Haus, jeder Straßenkreuzung, jeder Kirche, jeder Brücke sah man die Erdhaufen, das Zeichen, dass dort eine Sprengladung eingebaut ist. Dann wurden die entbehrlichen Gebäude niedergelegt. Zuletzt die Brunnen verschüttet, Kadaver von Hunden, Katzen usw. hineingeworfen. Die letzte Arbeit besorgten Pionierkommandos, die auch die für die deutschen Truppen noch benötigten Brunnen sprengten. Jede Truppe hatte zuletzt ihre Bude anzuzünden. Die Angreifer sollten ein verwüstetes Gelände vorfinden, unpassierbare Straßen, kein Wasser, kein Orientierungszeichen — aber sie rückten trotzdem nach. Hinter St. Quentin bin ich abgehauen. — Für mich ist der Krieg aus."
Walter sagt den letzten Satz, als konstatiere er eine unumstößliche Tatsache. Ich kann mich der komischen Wirkung dieses Tones nicht entziehen und muss lachen. Ist das derselbe Walter, der einmal seine Knie „massierte", um Tage, höchstens Wochen zu gewinnen? Ich erinnere ihn daran und sage scherzend: „Da hättest du lange massieren können!"
„Du hättest auch derweil mit deinen Einlagen um die Erde laufen können", gibt er zurück. „Damals dachten wir wunder wie schlau wir waren, heute muss man über solche Kindereien lachen. Man musste sich erst selbst kennen lernen, musste erst richtig mit der Nase darauf gestoßen werden, damit einem der Schädel klar wurde — man musste erst bis auf den Grund sehen."
Es ist schon spät. Wir gehen schlafen. Keiner spricht noch ein Wort.
Sophie erwartet im Januar ihre Niederkunft. Wir haben schon eine „eigene Wohnung", eine bis dahin leerstehende Mansarde mit „Stube und Küche".
Sophie sucht die schon zweimal zurechtgelegten Kinderhemden hervor, trifft die sonstigen Vorbereitungen. Einen Teekessel müssen wir noch haben, eine Badewanne, Betten. Wie sie aus Altem die „Aussteuer" zusammenstückelt, die paar Stückchen „Friedensseife" liebkost — ganz entrückt scheint sie dann dem grauen Jammer. Ich bringe in meinem Essköfferchen täglich etwas Holz mit, genau nach Maß hineingeschnitten, dreißig Zentimeter lang, fünfzehn Zentimeter im Quadrat. Zur Nachtschicht riskiere ich öfter stärkere Kloben, in Papier gewickelt, wie Arbeitszeug. Sophie schichtet alles sorgfältig an der Wand in der Stube auf. Diesen Winter werden wir nicht mehr so furchtbar frieren! Bis wir heizen müssen, kommt noch allerhand hinzu.
Was mich bedrückt, dass sie wieder allein daliegen könnte, behalte ich für mich. Ich bin Vertrauensmann geworden und nehme an allen Verhandlungen der Vertrauensmännerkonferenz teil. Auch in die Kommission bin ich gewählt, die mit der Betriebsleitung verhandelt.
Die Herren sind immer sehr freundlich. Sie haben nicht nötig, grob zu werden. Wenn einer dabei ist, der ihnen zu „anmaßend" wird, macht man unter seinen Namen in der Kartothek des Reklamationsbüros ein Kreuz, und die Sache ist erledigt. In „schwierigen Fällen" kann die Betriebsleitung nicht ohne die Direktion entscheiden, und wenn der Herr Direktor einmal Zeit hat, sind die Herren von der Betriebsleitung verhindert.
Die Vertrauensmännerkonferenz nimmt Kenntnis von den resultatlosen Verhandlungen.
„Wie lange soll denn das Theater noch dauern?" fragt ein Zwischenrufer höhnisch.
Er wird in die Kommission vorgeschlagen, lehnt aber ab.
„Dann red hier nicht klug, dazu brauchen wir keinen!"
„Wir haben mit der Direktion und der Betriebsleitung nicht mehr zu verhandeln", erklärt er ruhig, „wer das nicht begreift, kann mir leid tun!"
„Sehr richtig!"
„Quatsch! — hinterm Ofen sitzen und alles laufen lassen, ist sehr bequem, da lauern die Herren gerade drauf."
„Aus euch wird man verdammt nicht mehr klug, was wollt ihr eigentlich?"
„Die Kommission verdächtigen, unter der Belegschaft wühlen, und dann noch den Radikalen mimen, aber nirgends dabei sein. Ich mache das Theater nicht mehr mit!"
Alle, die die „Kommission" in Schutz nehmen, sehen mich an, als erwarteten sie eine Bestätigung. Der Obmann schlägt auf den Tisch und droht sein Amt niederzulegen. „Unerhört!" schwirrt es durch den Raum. Die Rufer stehen, gestikulieren mit den Händen. „Wenn da man nicht etwas anderes dahinter steckt?" fragt einer wichtig. Ein alter Arbeiter meldet sich zum Wort und hält eine lange Rede über die notwendige Einigkeit.
Auch ich gehöre zu den „Helfershelfern der Direktion", und fühle mich verpflichtet, mich zu verteidigen.
„Genossen, ich muss als Mitglied der Verhandlungskommission bestätigen, dass die Direktion mit uns Katz und Maus spielt. Sie kann mit jeder Kommission Katz und Maus spielen, solange die Belegschaft das duldet. Meine Meinung ist, der Belegschaft darüber klaren Wein einzuschenken!"
Die Kommissionsmitglieder — außer einem — schütteln die Köpfe und erklären dann, dass sie jede Verantwortung ablehnen. Die Minderheit bleibt ruhig und gefasst, und schickt einen Sprecher vor:
„Auch unser Betrieb ist nur ein Teil des Proletariats. Die proletarische Klasse kommt um die Frage der Stellung zum Kriege nicht herum. Diese Grundfrage verschleiern, heißt den Kopf in den Sand stecken. Wer für den Krieg ist, muss sich klar sein, dass er in einer Front steht mit den Kapitalisten und Militaristen. Warum denn mit verdeckten Karten spielen?"
„Wer ist denn für den Krieg?I"
Der Redner zieht eine Nummer des „Vorwärts" hervor und liest vor: „Sammelt Wollsachen und Winterkleidung für unsere tapferen Feldgrauen. Der vierte Winterfeldzug steht bevor!"
„Hört! Hört!"
„Wer sich zu dieser Auffassung bekennt und nicht begreift, dass keine Einigung möglich ist, ohne darüber Klarheit zu schaffen, wie man die Interessen des Proletariats vertritt, der verwechselt den Kampf um den Sozialismus mit der Tätigkeit eines Pfeifenklubs. Kein Wunder, dass die Herrschaften eine Kommission nicht ernst nehmen, von der sie wissen, dass sie in ihrer Mehrheit durch ihre eigene Taktik schachmatt gesetzt ist. Es handelt sich hier nicht um die parlamentarischen Qualitäten geschickter Unterhändler, sondern um den Bankrott der Burgfriedenspolitik der Scheidemann-Sozialdemokratie und der Gewerkschaften. Und dazu muss das Proletariat, und auch unsere Belegschaft Stellung nehmen!"
„Schon hundertmal gehört!"
„Das wollen sie bloß, Parteistreit und Zank! — Schluss!"
Der alte Obmann streicht in erzwungener Ruhe seinen schwarzen Bart und sagt: „Kollegen, so kommen wir nicht weiter! Wir müssen der Belegschaft Bericht erstatten über die Verhandlungen. Wozu den alten Streit immer wieder ausgraben.
Wir müssen trotz aller politischen Gegensätze eine gemeinsame Basis finden, um die Interessen unserer Belegschaft zu vertreten."
„Sehr richtig!"
„Sollen unter sich bleiben, wenn sie nicht praktisch arbeiten wollen!"
„Raus! — Quertreiber!"
Der Obmann will seine eigenen Kollegen beruhigen, aber es gelingt ihm nur mangelhaft.
Da steigt ein Genosse der Opposition auf eine Bank und erklärt: „Wir verlangen eine Betriebsversammlung, vor der der Obmann der Kommission Bericht erstattet. Wir selbst legen unsere Funktionen als Vertrauensleute nieder, weil unsere ehrliche Absicht, die Interessen des Proletariats zu vertreten, hier angezweifelt wurde. Die Belegschaft soll entscheiden!"
Alles steht schon, spricht, schreit. Manchen ist alles völlig unverständlich. Riedel, der Obmann, packt niedergeschlagen seine Mappe zusammen, ist blass, als wäre er krank. Der Protokollführer, der immer sorgfältige Berichte schrieb und in ihnen alle „Misstöne" ausmerzte, sitzt mitten in dem Krach wie ein Schiffbrüchiger. Er geht als einer der letzten und sagt zu Riedel: „Unsereiner sitzt die Nächte und schreibt, und die Hornochsen schlagen alles kaputt und quatschen noch von Idealismus. Ich hab die Nase voll!"
Hunderte von Arbeitern und Arbeiterinnen füllen den Saal. Riedel berichtet. Seine Stimme zittert, er klagt die Direktion an, dass sie durch ihre unsoziale Einstellung, durch ihr Unverständnis der Belegschaft gegenüber selbst Unruhe in die Belegschaft trägt. Er verwahrt sich gegen den Vorwurf des Hochverrats und ruft mit Prophetenstimme in den Saal, dass es Hochverrat sei, den Konflikt mit der Belegschaft auf die Spitze zu treiben.
Aber selbst unter den Vertrauensleuten herrsche keine Einigkeit. Ein anderer solle versuchen, ob er es besser könne. „Ich lege mein Amt als Obmann hiermit nieder."
Brunner unterstützt die Ausführungen des Obmanns. „Immer im Dunkeln hetzen, anonyme Zettel in den Betrieb schmuggeln, die berufenen Vertreter der Arbeiterschaft herunterreißen — das kann jeder dumme Junge. Damit muss Schluss gemacht werden. Ich fordere diejenigen auf, die immer feige im Hintergrund hetzen und schüren, sich hier zu verantworten. Wenn sie nicht den Mut haben, hier anzutreten, dann muss die Belegschaft kurzen Prozess machen mit diesen Elementen."
Er hat sich in Erregung hineingeredet, durch Zwischenrufe gereizt: „Großschnauze!" — „Durchhalter!" — „Möchtest wohl noch mehr in den Schützengraben bringen!" Als er endet, schreit ein jugendlicher Arbeiter von hinten: „Du Lump hast kein Recht, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu verhöhnen!"
Die Versammlung gerät in Erregung. „Runter da! Halt die Schnauze!"
Riedel redet noch einmal. Er versucht zu beschwichtigen und kann sich auch leicht Gehör verschaffen. „Ich bin weit davon entfernt, an den lauteren Absichten der andersdenkenden Kollegen zu zweifeln. Wir dürfen uns aber nicht gegenseitig zerfleischen, sonst lacht nur die Direktion." Er ermahnt zur Ruhe und Einigkeit.
Der Versammlungsleiter unterstreicht die Ermahnung Riedels und fordert auf, Ruhe zu bewahren. „Nur Einigkeit führt zum Ziel!"
Ich zittere am ganzen Leib. Wer ist denn hier feige? Ist das Feigheit, dass wir in der Wohnung eines Genossen Zettel druckten:
„Arbeiter, Arbeiterinnen!
Wollt ihr weiter dulden, dass Millionen hingeschlachtet werden: eure Väter, Brüder, Söhne! Wollt ihr euch weiter mitschuldig machen an dem langsamen Hungertod eurer Kinder? Wollt ihr noch länger dulden, dass die ,Durchhalter' jeden in den Schützengraben, ins Gefängnis schleppen können? Sollen Karl Liebknecht und Genossen noch länger von jedem Kriegsgewinnler als Spion beschimpft werden können?
Rafft euch auf 1 Stellt euch geschlossen hinter die Genossen, die mit ihrem Leben für eure Sache einstehen.
Nieder mit dem Krieg! Nieder mit den Durchhaltern! Nieder mit der Regierung!"
Ich sitze auf einer Tonne, nahe an der Bühne, schaue in die Massen der Arbeiter. Sie haben alle unsere Zettel bekommen.
Ein Schmerz würgt in der Brust. Ich kann nichts mehr unterscheiden. Die Augen der Versammelten tanzen wie Irrlichter.
Ich weiß nicht, was der folgende Diskussionsredner dort oben spricht, höre nichts, stehe neben ihm, einen Zettel in der Hand.
Der Diskussionsredner tritt ab. Ich höre meinen Namen rufen, höre die Aufforderung, weiter vorzutreten.
Ich versuche zu sprechen, aber der würgende Schmerz in der Brust legt sich wie ein Rückschlagventil auf meine Lungen, die Brust droht zu bersten, als ich in das grinsende Gesicht Brunners sehe, der auf der Bühne am Tisch sitzt.
Ein prickelndes Zucken läuft mir durch die Adern. Sein widerwärtiges Grinsen setzt meine Füße in Bewegung, hebt meine Arme. Brunner wird unsicher, sein Lachen verschwindet, er will zurückweichen, erhebt sich — aber zu spät.
Als mich viele Hände auf einen Stuhl zwingen, sehe ich ihn vor mir zwischen den ersten Stühlen im Saale liegen. Sie bringen ihn hinaus. Er flog im großen Bogen hinab.
Riedel steht vor mir. „Betzoldt! Was machst du?" Er schnauft wie ein gehetztes Pferd.
Einer wischt mir Blut aus dem Gesicht. „Ist dir schlecht?" fragt Riedel.
„Nein, ich möchte jetzt sprechen!"
Ich sehe vor mir die niedergeschlagenen Hamsterer, sehe in die Gesichter der polnischen Arbeiter. Sehe die Kameraden meiner Batterie, sehe Sophie, sehe die französische Proletarierfrau, sehe die polnische Mutter. Ich sehe die zerschundene Menschheit und ihre Feinde, sehe Walter im Granatfeld irren, fange an zu sprechen, spreche zu allen. Ganz hinten, scheint mir, sehe ich Karl Liebknecht, das unbestechliche Hirn, seine Augen, wie Lote hängen sie in den Tiefen dieser verlogenen Welt, holen die Wahrheit, die dieser harte Mund spricht. Ich sehe die Kolben der russischen Arbeiter auf die Kriegshetzer niedersausen, höre sie um Hilfe rufen. Zu ihnen allen spreche ich.
Erst an den Zwischenrufen merke ich wieder, dass ich in Berlin, auf dem Flugplatz bin. Als ich ende, bricht ein hundertfaches Hoch auf Liebknecht los.
Walter, der als „Gast" in der Versammlung ist, steht neben mir und sagt: „Du musst sofort verschwinden, Hans!"
Wir gehen. Ein Gewerkschaftsbeamter versucht noch zu sprechen, kann sich aber kein Gehör mehr verschaffen. Eine Minderheit bestätigt provisorisch die alte „Kommission" und Riedel nimmt wieder als Obmann an. Ein Trupp Arbeiter und Arbeiterinnen begleitet mich zur Bahn. Als wir aussteigen, sagt Walter: „Hans, sieh dich beizeiten um, wo du bleibst." „Werd schon sehen! Sage Sophie vorderhand nichts!" „Nein", sagt er, „ist auch besser. — Grüße sie von mir, leb wohl! — Bis Montag."
Immer wieder müssen Genossen fort oder verschwinden. Die Repressalien gegen die „Miesmacher" werden immer rücksichtsloser, es sickert durch, dass es unter den Matrosen gärt, man statuiert ein Exempel: mit Zuchthaus und Standrecht will man die „Manneszucht" retten. In den Parlamenten wird mit „Erfolg" darum gekämpft, dass die „tapferen Feldgrauen" nicht mehr an Kanonenräder oder Bäume gebunden werden. Kein „Volksvertreter" in den Parlamenten solidarisiert sich mit den standrechtlich Verurteilten. Selbst die „Radikalsten" unter ihnen entrüsten sich über den Vorwurf, dass sie die Meuterer unterstützen und rücken immer wieder von Liebknecht ab.
Es wird jedoch immer schwerer, die Arbeiter niederzuhalten. Das kommt in allen Berichten zum Ausdruck.
Wir gehen, wie in unserer Besprechung vom Montag verabredet, zu einer Branchenversammlung der Dreher. Der Saal ist überfüllt. Es ist Sonntag, schon fröstelnder Herbst. Der Vorsitzende eröffnet die Versammlung:
„Kollegen und Kolleginnen! Wir sind uns wohl der schweren Verantwortung bewusst, die auf uns allen lastet. Wir haben hier Stellung zu nehmen zu dem Ergebnis der Lohnverhandlungen. Die rasende Teuerung zwingt uns, einen Ausgleich zu suchen. Ich hoffe, dass ihr uns die Arbeit nicht unnötig erschwert mit unfruchtbaren Diskussionen. Sollte wider Erwarten der Versuch gemacht werden, nicht in eine Gewerkschaftsversammlung gehörende Reden zu halten, sieht sich die Versammlungsleitung leider gezwungen, im Interesse der Sache rücksichtslos durchzugreifen. Ich hoffe auf die Unterstützung aller vernünftigen Kollegen."
Ein ironisches „Red nicht lange!" unterbricht ihn öfter, oder ein Zuruf „Komm selbst zur Sache!" Als er sich setzt, herrscht hörbare Unruhe. „Merkt ihr was?" schreit einer durch die hohle Hand in den Saal. „Sehr richtig!" lautet die mehrstimmige Antwort.
Der Verbandsbeamte erstattet den Bericht. „Die Verhandlungen haben zu keinem positiven Resultat geführt. Die Unternehmer suchen immer wieder zu verschleppen. Der Verband wird aber die letzten friedlichen Mittel nicht unangewendet lassen. Sollte wider Erwarten auf der Gegenseite kein Entgegenkommen zu verzeichnen sein, werden wir vor dem letzten Mittel nicht zurückschrecken. — Die Schuld fällt dann auf jene, die kein Verständnis für die schwierige Lage der Arbeiterschaft haben."
„Du ahnungsloser Engel!"
Dieser Zwischenruf löst gleich schallendes Gelächter aus. Der Redner weiß nicht, ob er sich mehr über den Zwischenrufer oder über die Lacher ärgern soll und sagt: „Lass deine faulen Witze, wenn du was willst, komm hier herauf!"
„Zur Geschäftsordnung!"
„Kollegen, wir haben den Bericht gehört. Ich bin jedoch der Meinung, dass wir die Diskussion darüber zurückstellen, bis wir den zweiten Punkt: ,Der Konflikt in der Branchenleitung' entgegengenommen haben. Wir wissen doch gar nicht, ob die alte Branchenleitung das Vertrauen der Kollegen noch besitzt. Ich erhebe das zum Antrag."
Es wird für und gegen den Antrag gesprochen. Die Mehrzahl stimmt für Erledigung der vorgeschlagenen Tagesordnung. „Das Wort hat der Genosse Hünemann." „Kollegen, ich kann trotz der Abstimmung nicht umhin, den zweiten Punkt zu berühren. Wenn wir Stellung nehmen sollen, wie die Verhandlungen zu führen sind, kommen wir um die Streitfrage in der Branchenkommission nicht herum. Wir können doch nicht über ein Vertrauensvotum abstimmen, ohne über das Thema zu sprechen." „Sehr richtig!" „Zur Sache!"
„Kollegen, ich will ja eben zur Sache sprechen, aber hier soll wohl über die Sache nicht gesprochen werden, bevor die
Branchenleitung ihr Vertrauensvotum in der Tasche hat------."
Der Vorsitzende erhebt sich klingelnd und fällt dem Redner ins Wort: „Kollege, ich muss dich zur Ordnung rufen. Ich fordere dich auf, der Abstimmung Rechnung zu tragen!" „Schieber! Halunken!" „Zur Sache!!"
Einige erheben sich, werfen die Arme in die Luft, brüllen: „Verzapf deine Phrasen woanders — verstehst du! — — Runter!"
„Weiterreden! — Weiterreden!!"
Hünemann steht mit seinem Zettel und kann die Unruhe nicht überschreien.
Der Beamte des Metallarbeiterverbandes erhebt sich: „Kollegen! Ich weiß nicht, ob ihr euch überlegt, dass jedes Wort
hier öffentlich gesprochen wird.------Wer hier nicht sachlich
bleiben, nicht Maß halten kann, ist ein Dummkopf!------Kollegen! — Ich will keinen schärferen Ausdruck gebrauchen —." Er sagt das gutmütig, schauspielernd, weiß sich Ruhe zu verschaffen und fährt nach erreichter Ruhe mit geballten Fäusten fort: „Wir wissen, was vorgeht! Wir müssen auch an dieser Stelle erklären: Wir haben mit den Machenschaften von Elementen, die außerhalb des Verbandes stehen, nichts zu tun!
Wir werden nicht dulden, dass die Branchenversammlung zum Tummelplatz von Elementen wird, die — Kollegen !! — nichts danach fragen, ob die Versammlung gesprengt wird, oder der Verband zum Teufel geht. — Hier wird ganz systematisch gearbeitet-------." Er schwingt ein Flugblatt in der
Luft. „Was hat dieses Machwerk in einer Branchenversammlung zu suchen?"------
„Machwerk?"
„Jawohl!"
„Ihr seid die Verräter!"
„Ru--he!!"
„Kollegen!" — fährt der Redner fort und überschreit die Zwischenrufer. „Ich bin ein Menschenalter in der Arbeiterbewegung tätig!------Solche Zustände sind unerhört. Ich rufe
die alten Kollegen zum Zeugen an: Bin ich ein Lump? Ich fordere im Interesse der Sache Disziplin — weiter nichts. Sonst ist keine praktische Arbeit möglich."
Er setzt sich pustend. Man sieht ihm an, dass er froh ist, den Sturm mit knapper Not gemeistert zu haben.
„Kollege Hünemann, ich bitte dich von neuem, dich zur Sache zu halten", fährt nun der Versammlungsleiter fort.
Hünemann lacht achselzuckend. Als es ruhig geworden ist, sagt er: „Kollegen, ich lehne es ab zu sprechen, wenn hier nicht zur Sache gesprochen werden darf. Was hier gespielt wird, ist eine widerwärtige Komödie!" Er tritt ohne ein weiteres Wort ab. Die Folge ist sichtliche Verwirrung.
Walter sitzt neben mir und knirscht: „Sind die Hunde da
oben verrückt!------Hat der Mensch Worte?" Dann steht er
auf und gibt auf einem Zettel seine Wortmeldung ab.
Die folgenden Redner erschöpfen sich in lärmender Polemik gegen die Opposition, gegen die Zersplitterer. Aber sie reden um den Konflikt herum. Nur bei gelegentlichen Kraftworten hagelt es Proteste.
„Es ist jetzt zwölf Uhr. — Um ein Uhr muss der Saal geräumt werden."
Protestrufe und ein vielsagendes Aha! sind die Antwort auf die Mitteilung des Versammlungsleiters. Da kommt Walter zum Wort.
Er steht in seinem alten Soldatenmantel, die eine Hand auf dem Tisch, schief, er ist zu groß, um sich in gerader Haltung aufstützen zu können. Er sucht im Raum, wie nach einem Halt, scheint ihn nicht zu finden, sieht zu Boden und wieder hoch, tritt von einem Fuß auf den andern. Es ist still im Saal. Der große, unbeholfene Walter, der schon so vielen Halt war im mörderischen Granatfeuer, ist kein Redner. Die Versammlung scheint das zu merken, wartet.
„Kollegen!" kommt es ganz leise aus dem Munde des Riesen, so leise, dass prompt das „Lauter!" folgt. Walter stutzt, als wäre er erschrocken. „Kommt noch!" sagt er dann wieder, als spreche er zu einem Kameraden im Granattrichter.
„Kollegen, ich bin kein Redner. Aber ich glaube, es kommt darauf gar nicht an!"
In den letzten Satz legt er alle seine Energie. Es fällt ihm sichtlich schwerer, als zwei Zentner von der Bühne in den Saal zu schleudern. Die Versammlung scheint das zu fühlen. Das „Sehr richtig" klingt wie eine Ermunterung. Walter wird sicherer und fährt fort: „Ich weiß nicht, Kollegen, ich komme mir hier vor wie ein Fremder. Das ist doch alles so lächerlich, was ihr hier vorbringt." „Sehr richtig!" „Nanu!" „Maul halten!"
Walter zittert. Die Zwischenrufe bringen ihn sofort aus dem Konzept. Aber nur einen Augenblick.
„Jawohl, so lächerlich!"-------
„Genossen!" beginnt er dann wieder, lauter, aber ruhig: „Ihr müsst euch einmal vorstellen: ein Kollege kommt von draußen. Ist vielleicht mit fünfundzwanzig Mann zurückgekommen von einer kriegsstarken Kompanie. Die andern zweihundert liegen im Dreck, verbluten oder sind tot. Und andere Kompanien treten an, denselben Weg. Jeden Tag, jede Stunde. Und der Soldat kommt nun nach Deutschland. Er sieht seine Kinder, krumme Beine, Falten wie Greise, in Papierfetzen gewickelt, verhungern. Und er sieht die Kriegsschieber, das Pack in den Fress- und Saufpalästen, wie sie ,Deutschland, Deutschland über alles' singen."----------
Der Versammlungsleiter erhebt sich, klingelt leise, Walter wird irre, stockt.
„Ich muss dich bitten, Kollege, zur Sache zu sprechen."
Walter ist vollkommen sprachlos, ringt nach Worten, bringt aber nur ein saures Lachen zustande. — Ein Lachen, das wie Sprengpulver wirkt.
„Saubande!"
„Schnauze halten!"
„Schmeißt sie raus!"
Ein Proletarier springt auf die Bühne und fuchtelt mit der Faust vor den Nasen hinter dem Tisch. Andere suchen zu beruhigen, schieben die Erregten sanft beiseite. Ein glatzköpfiger Soldat muss mit Gewalt entfernt und an seinem Platz festgehalten werden. „Merkt euch das!" schreit er immer. „Merkt euch das ein für allemal! — Ihr Halunken!"
Der Vorsitzende ermahnt von neuem: „Kollegen, wir müssen in einer halben Stunde den Saal räumen. Wir müssen doch unsere Tagesordnung erledigen!"
„Halt jetzt endlich die Schnauze mit deiner Tagesordnung."
„Ruhe!"
Walter kommt wieder zu Wort und beginnt: „Gehört denn das nicht zur Sache, Kollegen?"
Ein vielstimmiges „Sehr richtig!" ist die Antwort.
„Geht das, wie die Kollegen draußen verrecken, euch nichts an? Geht euch das nichts an, wenn Reichpietsch und Köbes an die Wand gestellt werden?
Wenn in unserer Zeitung jeder infame Schwindel noch unterstützt wird?
Wenn eure Frauen in den Munitionsfabriken zusammenbrechen?
Wenn ihr selbst schon bald verhungert seid?
Wenn alle Kollegen, die ein Wort sagen, den Schein bekommen?"
Walter hält erregt inne. Er schrie das hinaus wie einen Protest auf die Aufforderung, zur Sache zu sprechen.
Als die Zustimmung sich legt, verfällt er wieder in seinen Ton. Erzählt leise, wie für sich: „Kollegen, ihr streitet euch hier um einen Dreck! Seht ihr denn nicht, was los ist! Man kommt hierher, aus dem Leichenfeld. Hunderttausende gehen jeden Tag hinaus und wissen nicht, was ihnen blüht. Kollegen, wir begehen ein Verbrechen an uns selbst! Sollen wir denn zu erbärmlichen Schuften werden?"
Walter fischt mit den Händen vor sich in der Luft, als wolle er das, was er besser aussprechen möchte, ausbreiten. Sein knochiges Gesicht ist blass; als rede er für seine Kameraden draußen, steht er da — und stockt wieder. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, besinnt sich, man sieht es ihm an, er möchte einen Abschluss finden.
„Wisst ihr, wer wirklich zur Sache gesprochen hat? Wisst ihr das?" schreit Walter mit einemmal. Er lauert wie nach dem aufbellenden Abschuss einer Kanone, steht da, als wolle er sich hinwerfen. Da löst sich das Echo. „Liebknecht!" ruft einer, dann bleibt es wieder still. Auch Walter sagt nichts mehr.
Der Vorsitzende erhebt sich wieder: „Kollegen! Die Versammlung ist als gewerkschaftliche Versammlung angemeldet. Wir sind dafür verantwortlich, dass der Rahmen nicht überschritten wird. Ich muss dem Kollegen das Wort entziehen." Walter steht immer noch wie vor dem Sprung und schreit dann in den Saal: „Kollegen — ich habe euch auch nichts mehr zu sagen!" Springt von der Bühne und geht rasch durch die Stühle, der Tür zu. Einige Genossen folgen ihm.
„Kollegen, wir kommen nun zum zweiten Punkt: Der Konflikt in der Branchenkommission. Das Wort hat der Kollege----------"
„Ich denke, der Saal muss geräumt werden?" „Wir haben um die Erlaubnis nachgesucht, eine Stunde länger zu tagen!" „Na, dann tagt man!" Die Versammelten erheben sich.
Eine Militärpatrouille erscheint in der Tür, begibt sich an den Tisch der Versammlungsleitung und fragt irgend etwas.
Ich laufe rasch, aber unauffällig, nach der Toilette, um nach Walter und den anderen Genossen zu suchen, aber sie sind bereits verschwunden.
Sophie war schon unruhig. „Bleibst ja so lange, Lütting!" begrüßt sie mich.
„Ja, es hat etwas länger gedauert!"
„Hast du wieder gesprochen?"
„Wieder?" Ich stutze. „Wieso wieder?"
„Hast doch in der Betriebsversammlung gesprochen!"
„Woher weißt du das?"
„Fräulein Blank, hier im Hinterhaus, ist auch bei euch. Sie war heute morgen hier. Sie ist ganz futsch in dich. ,Sie können stolz sein auf Ihren Mann', hat sie gesagt!"
„Bist du mir böse, dass ich dir das verschwieg?"
Sie steht ungezwungen vor mir, ihr starker Leib hebt sich unter der weißen Schürze prall und hoch ab.
„Nein, Lütting, ich bin dir nicht böse! Nur erzähle mir bitte immer alles. Wenn ich weiß, dass du mir etwas verschweigst, das ist dann noch schwerer."
Wir essen — es ist Sonntag — unsere Fleischration für die ganze Woche. Ich muss mir die Versammlung vom Herzen reden. Sophie hört zu, wird ernst, sieht durch das kleine Mansardenfenster über die Häuser.
„Bist du traurig, Sophl?"
„Ein bisschen, ja. — Ich möchte immer dabei sein, möchte mehr helfen können."
Ich verstehe das nicht ganz. Denkt sie nicht an die Gefahr? An ihre Stunde?
Vielleicht verstehe ich das nie.
Bleiern schleppen sich die Wochen hin, die Monate, durch den Herbst, in den Winter.
Frau Löter rennt die Treppe hinunter, als ich komme. Warum rennt sie so, grüßt so schüchtern?
„Sie hat um ein paar Körner gebeten", erzählt Sophie, „sie trinkt morgens mit ihren Kindern warmes Wasser. Möcht doch ein bisschen zu brühen haben. Sie ging rasch, als sie hörte, dass du bald kommst. Du machst immer ein so finsteres Gesicht, sagt sie."
Ich lache wieder pflichtschuldigst. Was tut der Mensch nicht alles, wenn er am Ende ist?
Sophie verfällt so. Alle Kraft im Körper scheint in den Leib zu flüchten. Sie trägt ihr Kreuz tapfer, schaut aber öfter so gequält um sich. Was nützt aller mühselige, leere Kampf? Die gegenseitige Täuschung verschlingt die letzten Energien, dann sitzt der eine am Fenster, der andere am Tisch, und jeder weiß: Ich bin nicht du, und du nicht ich. Sophies Mund kräuselt sich in stummem Trotz, fällt dann wieder zusammen. Ihr schmerzender Rücken fällt gegen die Wand.
„Was ist dir, Sophl?"
„Lütting — diesmal, glaube ich, muss ich sterben!" Ihre Arme hängen herab, ihr Kopf sinkt vornüber, ihre trüben Augen bohren sich in ihren geschwollenen Leib.
Und immer wieder dasselbe Lied: „Was redest du, Sophie? — Du machst mich so traurig. Ich bin doch bei dir!"
Ist irgendwo noch ein Stück Brot, eine Tasse Milch, ein Ei für eine magere Suppe? Nein! — Dann ist auch der ausgeblutete Körper nicht zu kräftigen, bleiben als Antwort auf den Schrei leere Worte. Was ist da schlimmer: einer verhungernden Mutter „Vernunft" zu predigen, oder selbst Schluss zu machen? Ob sie sich das überlegt? Sie sagt nichts, blickt wieder zur Seite, wie: Quäl dich doch nicht. Weißt ja selbst, was los ist. Lass mich doch. Ist schon gut!
Dieser Blick wirft mich zu Boden, das ausgepumpte Hirn kapituliert.
Das Grauen huscht durch die kalte Stube. Die altmodische kleine Wanduhr perpendikelt geschäftig die Minuten ab. — Ihre Zeit ist nicht unsere Zeit. Rücksichtslos zehrt das Kind am Mutterleib. Sophie steht seufzend auf, wischt sich über die feuchtnasse Stirn, torkelt auf mich zu, schüttelt mich von hinten:
„Lütting, du!"
Weiter nichts. Was soll sie auch sagen? Sie ist zu ehrlich — ehrlicher vielleicht als ich.
Ich gehe zu den Sitzungen, komme zurück, oft recht leer. Die Kräfte, die gegen den Strom schwimmen, sind zu vereinzelt, konstatieren immer wieder den alten Stand der Dinge. Alle möglichen Rezepte tauchen auf: „Lass sie verrecken!" sagt einer, und kommt nicht mehr.
Andere sind bei einer Einbrecherkolonne. Wieder andere leben nur noch von der Entrüstung über das Blutvergießen, ihre Energien lösen sich auf in Hysterie. Die letzten packt der tierische Selbsterhaltungstrieb. Sie schuften Tag und Nacht, sind ununterbrochen auf der Jagd nach dem Fressen. Wollen sich auf diese Art über die große Zeit retten.
Abenteurer tauchen auf, Spitzel lauern überall.
Die Massen der Arbeiter bleiben stumm, nur in den Tiefen treibt die Strömung, gelegentlich ein Ausbruch in den Versammlungen, aber nichts organisatorisch Greifbares, nur immer ein Echo.
Und doch immer wieder dieses Echo. Es fehlt der Anstoß — nur der Anstoß!
Ich grüble, was ich ohne Sophie beginnen würde.
Ich werde provozieren, in Versammlungen alles, alles sagen, werde ihnen zum Tanz aufspielen, und dann: — Krach! Dann lass sie machen, was sie wollen. Ja, das werde ich tun. Das müsste jeder tun!
Aber ich kann das nicht, wegen Sophie. Wenn sie stirbt,... dann!
Soll sie deswegen sterben? — Oder soll ich, trotz ihr, meinen Weg gehen, fort von ihr?
Ich komme wieder von der Arbeit, aus dem vollgepfropften Zug, gehe hungrig durch die Straßen, allein, zu ihr.
Sie lächelt, hat Kartoffeln bekommen, und Gustav schickte etwas Butter. Und Säuglingswäsche zeigt sie mir, von Frau Neumann, der Kartoffelfrau, in blaue Bändchen gefasst, und sagt: „Ich freue mich so!"
Und ich habe das Bild vor mir: tot, kalt, Blumen. Ich erschrecke.
„Komm gleich wieder, muss rasch gehen." Ich nehme die Toilettenschlüssel und lasse mein fieberndes Hirn verhämmern, komme zurück und bin doppelt zärtlich. Sie weiß ja nicht, warum.
Es ist Weihnachtsabend, Sophie kann kaum mehr die Treppen gehen. Ich hole den kleinen Kuchen vom Bäcker — aus grammweise erspartem Mehl, die Marmelade — „extra Qualität" — zum Fest, das Näpfchen Pferdeschmalz, das man für Sophie zurückstellte. Sie hat auch schon „Verbindungen".
Als sie mir mein Geschenk überreicht, zwanzig Zigaretten, strahlt sie.
Was soll ich ihr schenken?
Sie beruhigt mich: „Lass nur Lütting — dich kleidet das gar nicht. Gibst mir ja alles, alles, was du hast", und küsst mich, wird übermütig: „Schenk dir ja noch was Schöneres, freust du dich?" Sie steht vor mir, durchglutet von Mutterglück, unsere Körper berühren sich. Sie nimmt meine Hand, führt sie an ihren Leib und sagt: „Merkst du, wie sich das Kind bewegt?"
Ich tue nichts und sage nichts — und sie erwartet nichts. Sie streichelt mir — wie so oft — über den Kopf— und schneidet den Kuchen an.
Eine Spannung vibriert in mir, in allen Genossen, der Blick ist auf die Januartage gerichtet. Die erste große politische Kraftprobe steht bevor: Massenstreik der Munitionsarbeiter.
Ob es gelingt, durch einen kühnen Vorstoß die wirbelnde Strömung zu erfassen? Wuchtend liegt der Belagerungszustand auf den Schultern der großen Arbeitsarmee.
Sophie rechnet: „Wenn alles stimmt, komme ich dieser Tage gerade zu liegen, dann brauchst du nicht erst Urlaub zu nehmen. Vielleicht schaffen wir's überhaupt, was meinst du?"
In den Betrieben fragt man: „Was wird nun, geht es bald los?" Die Arbeiter fühlen, dass eine unterirdische Organisation den Hebel ansetzt, sie als Massen aufmarschieren zu lassen, an einem Tage, mit einem Schlag. Das „A" stand schon in allen Flugblättern. Das „B" ist unterwegs: „Montag, den 7. Januar, beginnt der Massenstreik!"
Eine ungeheure Hetze gegen die „revolutionären Obleute" setzt ein. „Unverantwortliche Elemente wollen die Arbeiter ins Unglück stürzen." — „Verbrecher am Vaterlande!" — „Jetzt, wo alles doch nur noch Wochen zusammenzustehen braucht, um den Sieg zu erringen."
Die Einschüchterungsversuche beginnen. Die Drohung mit dem Heldentod soll wieder schrecken.
Ich gehe am 7. Januar pünktlich fort. Sophie ist „wohlauf". — „Wenn du kannst" sagt sie, „komm für einen Augenblick nach Hause und sage mir, was los ist, ich bin dann ruhiger."
Die Funktionäre beschließen, dass nach der Frühstückspause die Arbeit nicht wieder aufgenommen wird. Die Vertrauensleute haben in geschlossener Kolonne und demonstrativ die Arbeit zu verlassen, zum Zeichen für die Belegschaft. Wo Abteilungen in den Streik treten, sollen sie die Tore nicht einzeln verlassen, sondern andere Abteilungen ermuntern, den ganzen Betrieb so aufrollen, der Betrieb wieder, wenn nötig, den ganzen Flugplatz.
Es klingelt nach der Pause. Die Meister, Vorarbeiter, Volontäre, Spitzel, stehen — laut Instruktionen der Betriebsleitung — inmitten des Saales um die Meisterbude angetreten, um jeden „Rädelsführer" zu erkennen. Die Arbeiter gehen verlegen an ihre Plätze, suchen zwischen den Werkzeugen, rücken die Bänke ein. Zickel — sie nennen ihn Oberammergauner — erscheint im Saal, grinst zufrieden und verschwindet wieder, läuft durch alle Abteilungen. Brunner arbeitet eifrig. Krüger steht unschlüssig, Langenscheid schaut zu mir her, geht dann an mir vorbei und sagt leise: „Komm!"
Ich folge ihm in die Toilette. „Mensch!" sagt er, „jetzt wird's brenzlich! Jetzt heißt es, den Hunden ein Schnippchen schlagen. — Hier! kleb den Zettel am Brett an; ich renne rasch in die Tischlerei, vielleicht kann ich die rüberholen."
Auf dem Zettel steht mit Bleistift geschrieben:
„Arbeiter, lasst euch nicht einschüchtern! Werdet nicht zu Streikbrechern! Legt die Arbeit nieder!"
Ich gehe in raschem Tempo am Schwarzen Brett vorbei an meine Bank, dann mit den Werkzeugmarken und einem Bohrer wieder zurück, zur Werkzeugausgabe. Auf dem Rückweg bleibe ich vor dem Schwarzen Brett stehen und lese in den Bekanntmachungen des „Oberkommandos in den Marken".
Als ich wieder an meiner Bank stehe, sammeln sich vor dem Schwarzen Brett bereits die „Neugierigen" und lesen, bleiben stehen, immer mehr kommen. Auch ich gehe wieder zurück und „lese".
Meister Horn kommt und fragt: „Was ist denn hier los?" Er steht schon mitten unter dem Haufen. Krüger bricht das Schweigen: „Den hat wohl Zickel angeklebt!"
Der Bann ist gebrochen. Die Abteilung verlässt den Betrieb.
Der Hof ist schwarz von Menschen. Riedel kommt über den Hof gestampft und gibt Auskunft: „Alles ist raus!" Langenscheid rennt rasch zurück und zieht sich um. Die Arbeiter und Arbeiterinnen gehen schweigend zum Tor hinaus, über den Flugplatz, sehen die Arbeiter der anderen Betriebe nach dem Bahnhof marschieren. Ihre Augen beginnen zu leuchten: Einer für alle, alle für einen!
Versammlungen, auch unter „freiem Himmel", sind verboten. Wir marschieren in den verschneiten Wald, versammeln uns dort. Drei Kollegen werden bestimmt, die das verbindende Glied mit der Streikleitung bilden, unter ihnen Langenscheid und Riedel. Aller Streit ist verschwunden. Riedel wird auf die Schultern zweier Kollegen gehoben und sagt:
„Kollegen und Kolleginnen 1 Ihr wisst wohl alle, um was es geht. Wenn wir in den nächsten Tagen vielleicht nicht immer zu euch sprechen können, lasst euch nicht einschüchtern. Fallt nicht auf die Schwindeleien herein, die nicht ausbleiben werden. Die Vertrauensleute werden euch immer auf dem laufenden halten. Jetzt heißt es durchhalten — für uns! Jetzt gilt es zu zeigen, dass wir zu kämpfen verstehen!"
Ein Ruck geht durch die Reihen. Die Uneinigkeit ist verschwunden. Endlich! Riedel steht mit entblößtem Kopf über den Massen, sein langer Bart flattert im Wind. Sein mageres Gesicht ist wie versteinert. Seine schwarzen Augen springen unruhig hin und her, aufrüttelnd, wie der Groll seiner abgehackten Worte.
Die Vertrauensleute geben Auskunft über das Verbindungslokal. Wir müssen eilen, um nicht von den aufgebotenen Schutzleuten oder Truppen aufgestöbert zu werden.
Der Zug marschiert nach dem Treptower Park, Die großen Plätze sind abgesperrt. Schützenketten mit scharf geladenem, entsichertem Gewehr sind darüber hingezogen. Aber immer zahlreicher werden die Massen, die um sie herum marschieren, stumm, hungrig, frierend, erbittert. Die ganze Armee der Polizeispitzel in Zivil versucht sich unter die Demonstranten zu mischen, um den zu haschen, der es wagt, ein Wort zu den Aufständigen zu sprechen, das alle erwarten. Die Stoßkraft der Rebellenarmee soll durch erzwungenes Schweigen erschüttert werden.
Die einzelnen Betriebsbelegschaften kommen auseinander, verlieren den Anschluss. Jeder fühlt: Das Schweigen muss gebrochen werden, ein trotziger Appell die Antwort auf zermürbenden Terror sein.
Am Karpfenteich unterbrechen wir unsern stummen Marsch. Alle zuverlässigen Vertrauensleute werden herangeholt. Um Langenscheid wird eine dicke Mauer gebildet aus zuverlässigen Arbeitern und Arbeiterinnen. Dann duckt er sich, stülpt einen Kopfschützer über die Ohren, einen großen schwarzen Filzhut über seinen Schädel, einen dicken Schal um den Hals und zieht sich einen ihm viel zu großen Paletot an. So heben sie ihn auf die Schultern. Aller Augen hängen an ihm, als er spricht:
„Arbeitsbrüder und -Schwestern! — Das Maß ist voll! — Wir lassen uns nicht länger wie Vieh behandeln! — Lieber für die Sache des Proletariats sterben, als für den Kapitalismus und Militarismus länger morden und hungern! — Wir ziehen in die Stadt, vereinigen uns mit unseren Brüdern zur Demonstration gegen den Krieg!-------"
Dann verschwindet Langenscheid wieder, zieht sich seine blaue Marinejacke an, setzt seine Schirmmütze auf und geht als harmloser Mitläufer mit im Zuge, die Köpenicker Landstraße entlang.
Sie wollen gemeinsam bekunden: Man kann nicht Millionen mitsamt ihren Kindern vernichten, ohne dass sie auf ihre Weise dagegen protestieren. Noch wollen sie weiter nichts! Eine Ahnung, von weither noch dämmernd, mag sie beschleichen, dass erst der Anfang gemacht ist, der Aufmarsch sich erst vollzieht zu der großen Schlacht, in der andere Kräfte in den Schützengraben ziehen. Nicht an den Grenzen der Vaterländer entlang, sondern durch sie hindurch, die Front der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter. Aber den Weg, den sie heute marschieren, hat noch nicht das klare Bewusstsein, sondern der Hunger erzwungen, es ist der Weg der friedlichen Demonstration.
Da stehen sie schon vor einem Trupp berittener Schutzleute. „Zurück!" schnauzen die bespornten Vaterlandsverteidiger dem „inneren Feind" entgegen.
Sie stutzen. „Was wollt ihr von uns! — Sollen wir willenlos verrecken?!"
„Zurück!"
Sie, die morgens mit wehem Herzen von ihren rachitischen Kindern gehen, deren Väter sterben und faulen im Eisenhagel und Gas, spüren mit einem Male die kalte, unerbittliche Verhöhnung. Ein Stück Papier fliegt einem Gaul unter den Bauch. Er tänzelt, der Reiter stutzt, zieht seine lange Plempe, reißt den Gaul herum. Die Front der berittenen Blauen formiert sich zur Attacke, die Säbel sind gezückt, die Pistolentaschen geöffnet. — Doch die Massen stehen, stumm, Hohn in den Gesichtern. „Zurück!"
Warum zurück! Sie begreifen das nicht, glauben nicht an die Vollendung der Provokation.
Bis sie heranreiten, mit den seitlich antänzelnden Gäulen die ersten zu Boden zu werfen suchen, um durch die Panik die Reihen mürbe zu machen zum Durchbruch. „Zurück!"
Doch sie halten stand! Einer fällt dem Gaul in die Zügel, der Reiter haut auf ihn nieder. — Doch ehe er sich versieht, ist er 238
vom Pferd gerissen. Die Staatsautorität liegt im Dreck, die Plempe fliegt über den Zaun in den Schnee. Wie ein Blitz fährt es durch die Reihen: Eure Macht ist nur die Kehrseite unserer Schafsgeduld.
Aber auch die Berittenen weichen nicht. Unsterbliche Schande, vor dem Pöbel zu kapitulieren. Sie kehren kurz um, wenden von neuem zur Attacke — und werden empfangen mit einem Bombardement von Steinen und Zaunlatten. Die Gäule bäumen sich. Eine niedergerittene Frau schreit — ihr Schrei peitscht die Massen zum Sturm.
Die Berittenen werden an die Straßenkreuzung gedrängt. Da entdecken die Massen das Eckhaus, dessen zweiter Ausgang hinter den Rücken der Berittenen führt. Im Nu sind die Blauen umringt. Ihre Verwirrung auf den — so unglaublich geistlosen — Gesichtern reizt zum Lachen. Sie wenden — und sprengen davon, unbehelligt.
Sie sollten die Demonstranten an der äußeren Zone aufhalten, damit der „Verkehr" nicht gestört wird. Nun stehen diese vor der herauffahrenden Straßenbahn.
„Stopp! — Schmeißt den Krempel hin!" ermuntern sie den Führer. Der schaut ungläubig aus seinem Pelz. Der Schaffner verlässt den Wagen und sagt: „Seid vernünftig. Wir machen Schluss!"
Die Fahrgäste jedoch sind erzürnt. Eine Dame im eleganten Pelz entrüstet sich: „Was ist denn hier los?" Sie stellt ihren zitternden Pintscher beiseite, schaut empört durch ihre Guckschere und fährt fort: „Fahren Sie los! Sie sehen doch, die Leute sind betrunken!" Einige steigen aus, gehen schweigend, oder verstohlen lächelnd, fort. Andere zucken die Schultern, debattieren heftig, wie: „Schöne Zustände! Sind wir denn hier in Russland?"
Der Fahrer will in die Massen fahren. — Da springen sie auf den Wagen. Er zückt die Kurbel: „Der erste, der herkommt!"
----------Da wird er schon von hinten gepackt und über die
Vorderseite der Plattform gelegt. Seine großen Filzstiefel kommen hinten hoch wie die Füße eines tauchenden Enterichs. Sie bringen ihn wieder ins Gleichgewicht und halten ihn fest.
Das Weib, das er mit der Kurbel bedrohte, reißt einem Kriegskrüppel den Stock fort und beginnt:
„Der—er—ste—der—her—kommt!" Haut ihm mit beiden Händen bei jeder Silbe eines über den Allerwertesten und sagt dann: „Lasst ihn los!" Dann zu dem Zappelnden: „Verdufte, sonst bekommst du noch eine Ladung."
Ein Gesicht taucht aus der Versenkung auf, aus dem die Augen stieren, als ginge die Welt unter. Doch er besinnt sich rasch, läuft mit seinen großen Stiefeln eilig über die Straße. Die Fahrgäste verschwinden gleichfalls. Keinem geschieht etwas. Der Zug geht weiter an dem unbeschädigten Wagen vorbei. Da taucht schon ein zweiter Wagen auf. Fäuste heben sich wie Haltesignale — doch umsonst. Aber er kann nicht auf den stehengebliebenen Wagen auffahren — das ist sein Verhängnis. Eine Wut fährt durch die Menge. Sie stürzen den Wagen um. Einige „unerschrockene" Herren protestieren: „Friedliche Bürger überfallen!" — „Kein Recht, den Verkehr zu stören." — „Die Zeit nicht gestohlen." „Wir auch nicht! — Raus!" „Wer gibt Ihnen dazu das Recht?"
„Was heißt hier Recht! Wir haben genug gehungert und geschuftet."
„Die Blauen!"
Wie ein Alarmruf pflanzt sich der Schrei fort. Von unten her knallen scharfe Schüsse. Dann tauchen die Uniformen einer im Laufschritt vorgehenden Patrouille auf, die über die ganze Straße und über die Fußsteige kommen. Sie schießen scharf über die lange gerade Chaussee. Fenster fliegen zu. Alles verschwindet in den Häusern.
Ich stehe mit noch einem Kollegen in einem Flur, in den auch ein Trupp Arbeiterinnen geflüchtet ist. Die schießenden Vaterlandsverteidiger rennen vorüber wie zum Sturm.
Keiner weiß, was draußen vorgeht. Hie und da dringt ein Schrei zu uns. Schatten huschen hin und her. Man sieht es durch die Glasfassung in der Tür. Oben im Hause werden die Türen verschlossen.
Die Arbeiterinnen stehen eine halbe Treppe höher. Wir gehen ebenfalls die halbe Treppe hinauf.
„Wir müssen jetzt ganz ruhig sein", bemerke ich.
„Wenn Sie uns von draußen gewahr werden, kommen sie, und wir sind wehrlos."
„Wir haben doch gar nichts gemacht?"
„Haltet die Schnauze, sonst rufen sie noch von oben nach ihnen. Denkt ihr, hier wohnen lauter Arbeiter?" sagt mein Kollege. Ich suche im Flüsterton zu beschwichtigen, habe das Gefühl, dass die Straßen „gesäubert" werden. Ich weiß, wie sie hausen dem „Feind" gegenüber.
„Hast wohl die Hosen schon voll?" bemerkt eine Unverbesserliche.
Nun geht das Kichern los.
„Blödsinnige Gesellschaft!" schimpft mein Kollege, muss aber selbst lachen.
Da wird die Tür aufgerissen, ein halbes Dutzend mit gezückten Säbeln stürmt herein, die Treppe hoch. Ein einziger Schrei ist die Antwort der nach oben entfliehenden Arbeiterinnen.
Als ich um mich sehe, meine Umgebung wieder erkenne, liege ich im Hausflur, auf den Steinfliesen. Ein wimmerndes Au—au—au—a — Auauau — hilft mir wieder zu begreifen, was ist. Ich liege links von der Treppe, an der Kellertür. Als ich mich auf die Hand stützen, aufstehen will, wirft mich ein Schmerz in der Schulter wieder hin, auch die Finger meiner Hand bluten durch die Lederhandschuhe.
Ich entsinne mich, dass ich ihnen entgegenspringen wollte, als sie hereinstürmten. Wahrscheinlich bin ich nach dem Schlag mit dem Kolben auf die Schulter über das Geländer getorkelt.
Ich horche. Oben ist alles ruhig. Dann höre ich wieder das Stöhnen. Ich versuche mich von neuem zu erheben und komme auch auf die Füße. Der Handschuh klebt an der blutenden Hand. Das Kreuz scheint im Knochengerüst unversehrt zu sein. Ich ziehe mich am Geländer empor, sehe nach der andern Seite. Da liegt eine Arbeiterin, ohne Kopfbedeckung, Gesicht und Mund stark geschwollen, ganz blau, blutend.
Ich schüttle sie an der Hand. Sie scheint mich zu erkennen, reicht mir auch die andere Hand und stützt ihre Füße gegen die meinen. Ich halte sie fest und lehne sie an die Wand. Sie fasst mit beiden Händen nach dem Rücken. „Ich kann nicht stehen. Hier — oh!" „Wir müssen fort. Ich werde Sie führen!" Sie antwortet nicht, lässt die Arme hängen, ihr Gesicht sieht grauenhaft aus. Ich sehe nach der Tür. Draußen ist alles ruhig, auch einzelne Fußgänger sind schon wieder zu sehen. „Bitte, versuchen Sie, fassen Sie mich unter." „Ich kann ja nicht!" Dann sinkt sie in sich zusammen. Ich ziehe meinen Soldatenmantel aus und wickle sie darin ein. Dann versuche ich sie zu tragen, eine Hand ist ja heil, und die eine Schulter auch. Es geht — leichter als ich dachte. Ein kleines Bündel Haut und Knochen. Ich gehe mit meinem Bündel in dem Soldatenmantel über die Straße, in einen Hof, von Tür zu Tür. Die nicht verschlossen hatten, schließen rasch, als sie hören, was für ein Besuch das ist. Im zweiten Hof erhalten wir dann von einem Zigarrenarbeiter Einlass.
Dort erholt sie sich langsam, kommt wieder zur Besinnung. Man hat ihr drei Zähne eingeschlagen, die Lippen sind aufgeplatzt. Der Rücken weist mehrere blutunterlaufene Striemen auf. Sie rühren von den Plempen her, von denen ich wohl eine griff, ehe sie mich traf, und die mir der Blaue durch die Hand zog. Sämtliche Finger sind innen fast bis auf den Knochen durchschnitten.
Die Arbeiterin nennt ihre Adresse. Die alte Frau des Zigarrenarbeiters will gehen. Da sagt sie: „Wenn niemand da ist, klopfen Sie bei der Nachbarin und sagen dort Bescheid." „Haben Sie keine Eltern mehr?" „Nur noch eine Mutter. Sie steht vielleicht an." „Und Ihr Vater?" „Der ist gefallen, gleich zu Anfang, in Polen."
Sophie wäscht. Sie freut sich, als sie mich sieht. „Bist schon drinnen gewesen?" fragt sie, weil ich ohne Mütze vor ihr stehe. — „Wie steht's?" „Ganz gut."
„Gehst du wieder fort? Könntest mir die großen Stücke auswringen und Wasser zulassen, wenn du Zeit hast."
Da stutzt sie. „Was hast du denn?!" Ich muss mich verdächtig gemacht haben, denn sie fragt ängstlich, erschrocken.
Meine Hand kann sie nicht sehen, sie ist mit dem Taschentuch verbunden in der Manteltasche. Aber ich spüre ein Zittern in allen Knochen.
„Hat Prügel gegeben, die Blauen haben dazwischengehauen", sage ich.
„Ist dir was passiert?"
„Hab einem die Plempe weggerissen und hab mich geschnitten, weiter nichts."
Sie geht mit mir in die Stube, wäscht mir die Hand aus und verbindet sie. Dann sinkt sie zusammen, schnappt nach Luft, schreit auf.
Ich bringe sie aufs Bett. Sie wehrt ab, als ich sie zu beruhigen suche, und sagt: „Hol die Hebamme!"
Als in den Häusern Licht wird, sitze ich neben Sophie am Bett. Sie lacht trotz ihrer Schmerzen, als ich die Puppe aus den Händen der Hebamme nehme. Ich streiche ihr die Haare aus der Stirn, bringe die Hebamme an die Tür. „Alles in Ordnung", erklärt diese. „Viel Glück, Herr Betzoldt!"
Sophie übermannt die Müdigkeit, ihr blasses Gesicht will immer zur Seite fallen. Ich lege ihr die Kissen zurecht. Sie sinkt matt hintenüber, stöhnt in Schmerz auf — und schläft.
Langsam löse ich meine Hand aus der ihren, hole mein Bettzeug und mache mir auf dem Fußboden hinter ihrem Bett mein Lager zurecht. Meine Hand hämmert, meine Schulter schmerzt bei jeder Bewegung, ich kann mich nicht entkleiden. Macht auch nichts. Hab ja so oft in den Kleidern gelegen.
Ich liege mit offenen Augen, höre die ersten Schreie des Kindes, das Stöhnen Sophies, höre, wie sie phantasiert, liege, bis die kleine Lampe ausgebrannt ist. Als ich sie füllen will, erwacht Sophie. Mein Verband ist durchblutet, meine Hand stark geschwollen. Sie erschrickt und sagt: „Mach sofort warmes Wasser!"
Ich weiche mir den Verband ab. Die Wunde ist von geronnenem Blut überkrustet. Soll ich 2um Arzt gehen? Zu welchem Arzt? Ich kann nicht verschweigen, wo ich arbeite, dass ich zu den Streikenden gehöre. Die Morgenzeitungen sind voll von verlogener Hetze gegen die Streikenden. Was liegt näher als eine Denunziation?
Dazu ist immer noch Zeit. Ich bade meine Hand täglich mehrere Male in Seifenwasser. Teile den Rest der „Friedensseife" mit der Kleinen. Die Geschwulst geht zurück, die Wunde wird besser.
Am zweiten Tag kommt Walter. In Berlin, in Hamburg, in Dresden, in vielen Städten Deutschlands stehen die Räder still.
„Wie ist die Stimmung?"
„Gut. — Hoffentlich halten sie aus!"
Ich will Sophie nicht verlassen, so lange sie liegen muss. Aber am vierten Tag gehe ich. Sie selbst will es so.
Es hagelt Gestellungsbefehle, die Betriebe werden militarisiert, die beurlaubten Soldaten erhalten durch militärische Bekanntmachungen Befehl, die Arbeit aufzunehmen oder sich ihrem Truppenteil zu stellen.
Werden sie sich schrecken lassen vor der Drohung mit der Strafe?
Ich erwarte Langenscheid. Er kommt auch. Arbeiter und Arbeiterinnen des Betriebes kommen und gehen in das Vereinszimmer. „Wie steht's", fragt ihr stummer Blick, jeden Tag.
Und jeden Tag dieselbe Antwort: „Durchhalten!"
Sie gehen wieder, den Gestellungsbefehl in der Tasche. Sie fühlen, wie sich die Krallen des Militarismus über ihnen krampfen. Wenn sie geholt werden, einzeln, mit aufgepflanztem Gewehr, was dann?
Langenscheid sagt: „Die Bewegung läuft um den toten Punkt herum, wer das nicht sieht oder nicht sehen will, ist ein naiver Trottel oder ein bewusster Saboteur. — Wir haben nachher Sitzung, kommst du mit?"
„Ja!"
„Die Bewegung steht gut", berichtet Riedel. „Die Einigkeit darf nicht wieder zerbrochen werden. Auch die Mehrheitssozialdemokratie wird sich dafür einsetzen, dass die Gestellungsbefehle rückgängig gemacht werden."
Langenscheid kämpft wie ein Löwe:
„Kollegen! Jetzt ist die Machtfrage aufgerollt. Es liegt im Wesen der Dinge, dass es hier nichts mehr ,einzusetzen', nichts mehr zu verhandeln gibt. Jetzt heißt es ,aussprechen, was ist'. Wenn die Arbeiter wieder in die Betriebe gejagt werden— durch irgendeinen Schacher —, werden wir alle nach ,Kriegs-recht' abgeurteilt. Wisst ihr denn nicht, was ihr tut? Jetzt heißt es, die Arbeiterschaft zur offenen Rebellion aufzurufen, zur Solidarität mit den Urlaubern. Der Streik wird sinnlos, wenn ihm das Ziel genommen wird. Jetzt muss der Belagerungszustand fallen. Jetzt müssen Flugblätter unter die Soldaten. Jetzt müssen wir den Arbeitern offen sagen, dass die Frage steht: Sieg oder Niederlage! Jetzt müssen wir den Widerstand mit allen Mitteln organisieren. Jetzt müssen wir die Fahne erheben gegen den Krieg. Jetzt müssen wir begreifen, dass der Streik nur ein Anfang war — sonst sind wir verloren! Der Arbeiterrat muss jetzt handeln, schnell handeln."
Langenscheid erhält die Zustimmung der Mehrheit.
Riedel erhebt sich, als hebe er eine schwere Last mit hoch.
„Kollegen! Der Kollege Langenscheid setzt alles auf eine Karte."
„Natürlich — sehr richtig!"
„Kollegen! Wenn wir zum offenen Widerstand gegen die Staatsgewalt auffordern, setzen wir uns selbst ins Unrecht. Wir können nicht nur an die Streikenden denken, sondern müssen versuchen, die öffentliche Meinung auf unsere Seite zu bringen, sonst bleiben wir isoliert. Denkt, welche Verantwortung auf uns lastet."
Die letzten Worte Riedels machen starken Eindruck — aber die Lage ist ungeklärt. Jeder fühlt das Unhaltbare der Situation.
Ein Arbeiter spricht, als wolle er die Stille verscheuchen, von Einigkeit und Zusammenhalten. Nicht wieder den alten Streit ausgraben, das bringt uns nicht weiter! Wenn wir aushalten, sind sie gezwungen, nachzugeben. Blut ist schon genug geflossen!
„Du Arschloch, verzapf deinen Quatsch woanders!"
„Kollege Krüger, ich muss diese Beleidigungen Kollegen gegenüber zurückweisen."
„Ich bitte ums Wort!"
„Kollege Krüger hat das Wort!"
„Ihr habt scheinbar nichts davon gehört, dass sie schon anfangen, die Genossen aus den Häusern zu holen. Ihr habt noch nichts gemerkt, wie sie dazwischengedroschen haben. Ihr singt hier noch die Klagelieder von Jeremias, wenn sie hier schon hereinkommen und euch mit dem Kolben über den Schädel wichsen. Himmelkreuzdonnerwetter! Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen? Ihr quatscht hier von ,Verantwortung', und oben sitzen sie schon zusammen und schieben die Kiste. Wenn es dann soweit ist, reißt ihr Mund und Ohren auf. Wenn die Streikleitung und der Arbeiterrat nicht wissen, was los ist, dann sollen sie nur gleich einpacken. An uns liegt es zu handeln. Wenn wir in die Löcher kriechen, nützt unser ganzes Gequatsche nichts!"
„Geht das schon wieder los!"
„Immer die Spartakisten und Unabhängigen."
„Lasst euch man von Ebert und Scheidemann wieder einwickeln."
„Wir wollen endlich Einigkeit!"
Riedel: „Kollegen, wir dürfen nicht so fortfahren. Es steht zuviel auf dem Spiel. Wir müssen zur Sitzung. Wenn ihr andere Vorschläge machen wollt, ich will nicht im Wege sein."
„Wünscht noch jemand das Wort? — Dann kommen wir zur Abstimmung, ob die alte Streikleitung des Betriebes weiter das Vertrauen hat."
Eine Minderheit stimmt dagegen. Langenscheid lacht bitter, Krüger schüttelt mit dem Kopf. „Da staunste!" sagt er sarkastisch, zu mir gewandt.
Die Funktionärsitzung löst sich auf. Wir gehen zusammen fort. Militärpatrouillen marschieren durch die Warschauer Straße mit geschultertem Gewehr. Wir gehen um die Ecke, sehen die streikenden Arbeiter an der Mauer auseinander gehen, als die Blauen „Weitergehen!" kommandieren. Der Kriegsbericht kündet von dem „Frieden" mit Russland und dem „heldenmütigen Widerstand" der deutschen Truppen im Westen. Am Schlesischen Bahnhof steht eine lange Menschenmauer feldmarschmäßig eingekleideter Soldaten, die auf den Zug warten, der sie hinausfährt. Wir steigen in die Vorortbahn. Krüger bricht zuerst das Schweigen:
„Was soll nun noch kommen?"
Langenscheid schaut wie gelangweilt auf das Schild im Wagen: „Seid vorsichtig bei Gesprächen, Spionengefahr!" und stellt fest: „Dass wir noch mal Wasser saufen gehen, damit musste man von vornherein rechnen."
„Die werden schön aufräumen", antwortet Krüger kopfnickend.
„Lass sie. Wir auch, wenn's soweit ist", gibt Langenscheid zurück.
Der Streik bringt die Gemüter hart aneinander. Ich gehe die Treppe hoch und höre: „Ziehen Sie sich doch Hosen an, und gehen Sie selbst hin, Sie olles dämliches Weib!" Es ist Frau Lösch, ihr Mann ist seit Beginn des Krieges in französischer Gefangenschaft. Sie sagt das zu Frau Garben. Deren Mann sitzt in Belgien, ist Offiziers Stellvertreter, im Nebenberuf Postbeamter. Frau Garben ist empört und schlägt die Tür zu. Die Treppe steht voll Frauen.
„Wenn sie's bloß schaffen!"
„Frau Betzoldt hat ganz recht: Keiner müsste mehr hingehen. Lass sie ihren Krieg allein machen."
„Frau Betzoldt?" Ich öffne — da steht Sophie angezogen in der Küche.
„Willst du sofort ins Bett!"
„Lass mich doch, war ein bisschen auf, da hörte ich den Krach. Die Frau Garben hat hier auf die Streikenden geschimpft und gesagt, sie hätten noch ganz anders dazwischenschlagen müssen. Das hat mich doch zu sehr gewurmt. Ich hab ihr ordentlich heimgeleuchtet und dadurch ist hier eine richtige Versammlung zustande gekommen. Die ganzen Frauen im Haus haben ihr gegeben, was sie braucht."
„Leg dich wieder hin, bitte, das andere mache ich schon."
„Ich muss mich doch wieder gewöhnen. Die Hebamme hat's mir erlaubt. — Wie steht's mit dem Streik?"
„Schlecht."
„Warum?"
Ich erzähle.
Ihr blutleerer Mund zittert: „Dann werden sie alle holen", sagt sie ganz erschrocken.
„Lege dich hin, Sophie. Du darfst dich nicht aufregen. Es ist noch lange nicht soweit."
Ich schaue auf die schlafende Puppe im Korb. Ich bin der Vater. Ich habe gehört, wie Väter ihre Kinder lieben, wie sie dadurch zu ganz anderen Menschen werden.
Bin ich ein anderer geworden? Ich habe kein Bedürfnis, das Kind zu nehmen, es zärtlich zu berühren. Mir ist es, als gehöre ich gar nicht hierher.
Sophie ahnt davon nichts, ich spreche auch nicht davon. Spreche auch nicht davon, als jeden Tag deutlicher wird, dass die Einigkeit der Streikenden zerbricht. Sie fragen schon: „Holen sie alle?"
Die Rädelsführer vielleicht? Es ist gut, sich zurückzuhalten. — Vielleicht macht doch die Sozialdemokratie die Maßregelungen rückgängig? Wenn nicht bei allen, so doch bei denen, die ihre Kriegspolitik nicht brandmarken.
Die Solidarität wird von individuellen Spekulationen zerfressen. Das Ende wird deutlich. Die Strömung entschwindet wieder in die Tiefe. Spartakus bleibt wieder isoliert. Die Arbeit wird aufgenommen.
Die meisten schleppen sich bereits wieder stumm in die Granatenfabriken, der Krieg geht weiter, der Hunger bleibt.
Massenweise wandern die andern hinaus auf das Feld der Ehre, von den Betrieben gezeichnet, bestimmt für die Kugel. Sie auszurotten ist eine vaterländische Pflicht.
Auch Langenscheid ist unter ihnen. Er geht wie immer, schlenkernd, durch die Bude, gibt Werkzeug ab, holt seine Papiere.
„Wiedersehn, Arthur!"
„Wiedersehn, Hans!"
Kollege Wurm von den Werkzeugmachern kommt dazu. „Auch du?"
„Ja! — Übermorgen in Schöneberg."
„Auf Wiedersehen!" sagt Langenscheid noch einmal, in klanglosem Ton, wie ihm selbst zuwider.
„Im Massengrab!" sagt Wurm und lacht noch dabei, als wolle er einen Witz machen.
Die Betriebe sind gesäubert. Die Preise werden gedrückt. Garnisondienstfähige werden an die Stelle der Rebellen kommandiert. Sie mehren sich ja, die Kriegskrüppel, wie Spreu beim Dreschen.
Die große Armee ist unterlegen, der Stiefel des Militarismus sitzt ihnen noch brutaler im Genick. Sie gehen wie Sträflinge hinaus zum Tor und lesen auf großen grellen Plakaten, die zeigen, wie tapfer „unsere Feldgrauen" auf die Feinde losstechen und schießen:
„Wer heute feiert, statt zu schaffen, Der lässt den Feind herein ins Land. Der schlägt den Brüdern Wehr und Waffen Als feiger Hundsfott aus der Hand!"
Unser Holzvorrat ist aufgezehrt. Der kalte Wind pfeift um die alten morschen, undichten Fenster. Die kleine Bertha saugt hungrig an den leeren Brüsten der Mutter. Gustav lag drei Monate in Köln, ist nun zu Hause. Er hat den rechten Fuß verloren.
Ich bin noch nicht unter denen, die hinausbefördert wurden. Jeden Tag luge ich horchend zur Tür herein, wenn ich heimkehre, suche auf Sophies Gesicht zu lesen. Jeden Tag ist die Galgenfrist verlängert — bis zum nächsten Tag.
Jeden Tag habe ich vor mir die Arbeit, knifflig und interessant, wäre sie für einen anderen Zweck bestimmt. So aber wird die Ausführung kompliziertester Mechanik zur lächerlichen Farce. Ich versuche, das Interesse in mir krampfhaft wach zu halten — bis die ganze mühsame Konstruktion in meinem Schädel wieder einstürzt. Einen Hammer müsste man nehmen, einen großen Hammer! — und Bank und Arbeit in Trümmer schlagen. Wozu den langweiligen Umweg erst wählen. Ist doch alles bestimmt, zu vernichten und vernichtet zu werden.
Ich versuche langsam zu erfassen, dass die Niederlage keine Niederlage war. Genosse Kerr setzt das ausführlich auseinander. „Das Auf und Ab der zersplitterten Streiks in Deutschland, in Österreich, in Ungarn", sagt er, „ist das Wetterleuchten des großen revolutionären Gewitters."
Wenn er so steht und spricht, selbst vertrieben von Frau und Kind, und ermahnt, den Kopf, nicht hängen zu lassen, kommt von irgendwoher ein frischer Luftzug. Er steht da wie ein Abgesandter des russischen Proletariats, ermahnt, ermuntert, erklärt, als öffne er ein Fenster, aus dem wir hinausschauen auf das gigantische Ringen im Osten, wo das Proletariat in den Arbeiter- und Soldatenräten die Tatze des Löwen zeigt. Wir sehen die abgrundtiefe Heuchelei der deutschen Militaristen, deren „Friede" im Osten zum Ziel hat, die revolutionäre Basis mit einem Ring von Vasallenstaaten zu blockieren, um die Kraft des kämpfenden Proletariats zu isolieren und zu ersticken.
Dann finden die gehetzten Nerven wieder Halt, findet das Hirn wieder Perspektiven — um vor der Frage zu landen: „Wie können wir helfen?" Und wieder sind alle Aussichten verdüstert: Wer sich rührt, wird stumm gemacht.
„Fleischlose" Wochen werden eingeführt. Im Westen beginnt die große Offensive, die die Entscheidung bringen soll.
Sophie steht Stunden, Tage, das Kind auf dem Arm, nach einem Hering, nach ein paar Bouillonwürfeln, kommt dann oft mit leeren Händen zurück, möchte mir so gern eine kleine Überraschung, eine Freude machen, knickt zusammen, erwartet mich mit leeren Augen, wie gelähmt.
Dann ist an mir wieder die Reihe, ihr zu sagen: „Wenn ich dich nicht hätte, Sophl, und unseren Schreihals, dann müsst ich verzweifeln."
„Ist das wahr, Lütting?"
„Ja, so wahr ich vor dir stehe!"
Ich habe das Bedürfnis, meine Worte durch eine Tat zu beweisen und sage: „Ich werde doch einmal zu Gustav fahren." Sie legt ihre überschlanken Hände um meinen Hals, senkt den Kopf und beichtet: „Mitunter denke ich, du hast mich nicht mehr lieb."
„Das darfst du nicht denken", sage ich mit Nachdruck.
Sie schaut hoch und ist etwas froher: „Sei mir nicht böse, Lütting!"
Die Züge sind überfüllt. Die Gesichter der Reisenden sind verschlossen. Die patriotische Propaganda hockt niederträchtig aufdringlich an allen Wänden. Truppenteile aller denkbaren Kategorien bevölkern Bahn und Bahnhöfe. Auf den Feldern arbeiten die Bauern schon.
Ich gehe zwei Stunden von der Bahnstation zu Fuß, sehe das Dorf auftauchen, frage nach der Adresse, trete in den Hof vor einem kleinen Haus. Ein Knabe kommt dicht hinter mir, strohborstig, mit schweren Holzschuhen an den Füßen.
„Bist du ein kleiner Lohmann?"
„Ja!"
„Ist dein Vater zu Hause?"
„Er kommt eben — dort!"
Ein Einspänner biegt vom Felde her ab. Auf dem Wagen ein Mann, kommt auf das Häuschen zu, fährt links um den erhöhten Hof herum, hält vor der Scheune, springt herunter, sein Stumpen steht ab beim Sprung.
Ich weiß nicht, warum ich solange zögere, ihn vorbeifahren lasse, zusammengeduckt, die alte Soldatenmütze weit über der Stirn, die Peitsche lässig in der Hand, die Ellenbogen auf den Knien, nicht rechts und links schauend. Ich sehe dann von der Straße hinauf zu ihm, wie er den Gaul ausspannt, ihm die Stränge über den Rücken wirft und mit einem einsilbigen Befehl den Gaul verabschiedet, der zum Stall trottet.
Ich habe das Wort nicht verstanden — aber den Ton. Warum folge ich dem impulsiven Verlangen nicht, zu ihm hinzugehen, ihn zu begrüßen? Warte vielmehr, bis er selbst herunterstampft zwischen Garten und Stall, an seinem Stock — und mich sieht? „Hans!" „Gustav!" „Komm rin, Jung!"
Er humpelt schwerfällig die Steinstufen hoch. Seine alte Militärhose schlenkert um das Holzbein herum. Sein Chinesenbart ist wie zwei Garben im Stoppelfeld. Seine Narbe auf der Stirn leuchtet wie Schwefel. „Mutter!"
Eine Frau, aufgekrempelte Arme, in geflickter Arbeitsschürze, erscheint auf dem abgetretenen Flur. Ihre Haare sind glatt nach hinten gekämmt, ihr Gesicht welk und knochig. „Wir haben Besuch. Hans Betzoldt!" Sie wischt ihre nasse Hand an der Schürze ab, ihr verkniffener Mund wird freier. „Guten Tag, Herr Betzoldt!"
Der Junge lugt aus der Stubentür und reicht mir schüchtern die Hand. Wir treten ein. Ein Mädchen von zwölf Jahren räumt den Tisch ab. Zwei kleinere stehen staunend links am Ofen. Sie grüßen schüchtern und huschen zur Mutter in die Küche.
„Sind das alle, Gustav?"
„Nein, der Große ist schon in der Lehre, er lernt Tischler." „Fünf— gerade genug!"
„Dat sowieso — setz dich, Hans! — Was macht Sophie?" „Danke, weißt ja selbst, wie das geht — wir haben ein kleines Mädchen!"
„Dat lot ick mi gefall'n! Möcht se gern mol sehn, mut'n fein Deern sin."
Der Tisch wird gedeckt. Es gibt Kartoffeln und weißen Käse.
„Was macht die Batterie, Gustav?"
„Die macht wohl gar nichts mehr", sagt Gustav und pustet über ein Kartoffelstück im Mund. „Die haben sie gleich richtig eingetaucht."
„Wo wart ihr?"
„An der Somme!"
„Seit wann?"
„Seit November, die Russen hebben jo Schluss mokt, die sin schlauer!"
„Seid gleich richtig in den Schlamassel hineingekommen?"
„In zwei Tagen waren wir fertig. Zwei Geschütze Volltreffer, den letzten Rest haben wir bekommen, als wir abgehauen sind. Da hab ich auch meinen Denkzettel bekommen."
Ich bin etwas überrascht. Weiß mir den trockenen Gleichmut nicht recht zu erklären und sage: „Scheinst dich abgefunden zu haben, Gustav, wer das kann, wohl dem!"
Gustav antwortet unmittelbar: „Mitgegangen, mitgefangen. Wir haben gesehen, wie die Russen herüberwinkten, wie: ,Geht nach Hause, Brüder !' Wir sind geblieben, haben ,ausgehalten'. Gefangene Russen hinter der Front wollten durchbrechen, sie wurden zurückgetrieben.
Dann begann der Vormarsch im Osten von neuem, sie wollten wohl halb Russland haben. Und nun — da die Russen nicht mehr mitmachten — kam alles an die Westfront. Nun wollen sie im Westen den ,Frieden' machen. Unsere da oben sind eben nicht eher zu belehren, bis sie völlig auf dem Kreuz liegen."
Ich muss lachen. „Gustav", sage ich, „du fühlst dich wohl selbst schuldig?"
„Gott", sagt Gustav, „ganz unschuldig sind wir alle nicht. Wenn's passiert ist, ist es zu spät. Was nützt da noch das Zähneklappern. — Nich, Mutter?"
Mutter lacht seufzend durch ihre Runzeln, als wäre sie froh über den robusten Ton ihres Mannes. Als sie den Tisch abräumt, sagt Gustav: „Muss eben zum Bürgermeister gehen, komm bald wieder, bleibst doch die Nacht hier?" Gustav stampft fort. Seine Frau melkt, macht den Kühen die Streu und erzählt mir dabei:
„Das ist noch ein Glück, dass alles so gekommen ist. Er hatte einen feinen Arzt und der schrieb mir, dass ich kommen soll. Sein Bein war ein Klumpen Fleisch und Lumpenfetzen. Es lag in einer Gazetrommel, man konnte es ja gar nicht verbinden. Der Arzt wollte ihn durch Bestrahlungen, durch Licht heilen, wollte das Bein erhalten — wenn er das aushält. Er konnte das Beste essen. Aber der Eiter floss ja nur so, nahm die ganze Kraft mit, er war nur noch Haut und Knochen. Der Arzt hat ganz genau ausgerechnet, wie lange er noch macht. Und da hat er mich gerufen und gesagt: ,Liebe Frau, Ihr Mann gibt die Einwilligung zur Operation nicht. Wenn ich noch zwei Tage warte, ist es vielleicht schon zu spät.'
Da habe ich ihn doch überreden können. ,Wenn du willst, Luise', hat er gesagt, ,wenn du einen Krüppel magst, dann lass absägen. Ich wollte nicht so zu dir kommen!'" Sie stellt den Schemel beiseite, gibt mir einen großen Becher voll Milch, trägt die frische Milch fort. Gustav kommt wieder in den Stall, hockt sich auf den Schemel, schmaucht an seiner Pfeife. „Hest ok mitstreikt?" „Ja!"
„Nützt ja nichts!" sagt er trocken. „Die Russen wissen besser, was zu tun ist, die hauen zwischen. Wenn ick nu so an denk: sind doch andere Kerls!" „Ja, das sind sie!" „Dei wet, wo se anfoten!" „Hm!"
Verdammt! — Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Mich reizt die Diskussion nicht, ehe ich Gustav den Grund meines Kommens nahe gebracht habe. Ich suche vorsichtig vorzustoßen: „Wie geht dir das sonst, Gustav?"
„Man haut sich durch! Das ist nicht leicht. Jeden Tropfen Milch stöbern sie auf, jede Kartoffel, jedes Gramm Butter. Sieben Mann brauchen was. Die Großen lassen den Gendarm gar nicht erst rin. Aber bei uns sind sie dauernd am Schnüffeln. Ich kann mich nun ein bisschen rühren, als Kriegskrüppel, da können sie nicht so recht ran. Den andern Kleinen geht das nicht gut. Sie arbeiten bloß für die andern."
„Ist deine Frau wieder auf dem Posten?"
„Danke! — Hett väl durchmokt, wenn ick sie nich hewt hett, war ick ok nich mehr froh worn." Gustav fällt wieder in sein Plattdeutsch.
„In der Stadt sieht dat woll doll ut?" fragt er weiter.
„Ja, sieht bös aus. Wird immer schlimmer. — Das verfluchte Fressen!"
„Hew di 'n beten besorgt. Mit dem Schicken is dat hier man schlecht. Sie suchen alles durch. Fleisch haben wir selbst fast keins mehr. Sie loten uns jo nix."
Als ich in dem Bauernbett liege, in der kahlen Kammer — Gustav im andern Bett mit dem Stumpen neben seiner Frau —, bin ich froh, als beide gute Nacht wünschen. Ich kann nicht mehr sprechen.
Gustav fährt mich zur Bahn, obwohl ich abwehre. Sein magerer Gaul zog auch schon Kanonen, ist nun „d. u.". Aus den Stalltüren schimmert Licht. Die Milchkannen stehen auf den Höfen. Die Hunde bellen in den frischen Morgen.
„Hewt wohl orntlich upräumt nach 'n Streik", beginnt Gustav wieder.
Ich bin froher, denke an den Augenblick, wo ich vor Sophie hintrete, berichte ausführlich.
„Die Arbeiter in der Stadt schaffen dat allein nich", sagt Gustav nachdenklich. — „Kiek mol!" — er zeigt auf große Flächen Ackerland, über die schon der Dampfpflug zieht — „wat brukt de dat all för sich. De wet, worüm Krieg is, de scheffelt. Ick hew mi dat öberlegt, hew väl lest un öberlegt: wenn dat richtig anners warn schall, möt de Herrn verschwinden. Dat kann de Allgemeinheit moken. Dann wet se, worüm. De kriegt den Hals nie vull. De gewt freiwillig kein Schaufel vull aw. De lot all Kriegskrüppel glatt verhungern!"
„Du bist wohl angesteckt von den Bolschewiki?"
„Jo, Hans — bin immer still west, aber so ganz sachteken bin ick dorhinner komm'n. Wi quäln uns doch bloß för nix.
Uns Kinner möt wi all in de Stadt schicken, wenn wi em grot hebben. Dor hebben se erst recht nix. Un wenn dat mol losgeit, richtig, denn möt se in de Stadt ok doran denken. Süs ward dat bloß'n halben Kram!"
Die Sonne kommt schon höher, als wir diskutierend den Bahnhof erreichen. Über den Wiesen verzieht sich der Nebel. Dann gibt mir Gustav meinen Rucksack voll Kartoffeln, meinen Speck, einige Eier, ein wenig Butter und Brot. Dann einen Zettel vom Bürgermeister, auf dem bescheinigt ist, dass die Dinge regelrecht verdient, abgearbeitetes Deputat sind. „De mokt dat ok so, un kannt mi doch nu ok nich awschlog'n", grient Gustav. „Seh, nu könn se di dat nich wegnehm. Nu grüß Sophie recht schön von mi und de Deern!"
Ich reiche Gustav die Hand zum Abschied. Er schüttelt meine Hand immer wieder, als ergötze er sich an meiner Unbeholfenheit, sieht mich lachend an, klopft mir dann auf die Schulter und sagt: „Nu mok man, süs verpasst du noch den Zug!"
„Vielen Dank, Gustav! — Und grüße deine Frau recht schön von mir!" Ich spreche die Bitte langsam hin, möchte, dass er das so ausrichtet, wie ich es bestelle. Er scheint das zu verstehen. Er steht vor mir, als mustere er mich, horche auf den Ton. Sein Gesicht wird weich. In seinen Augen glänzt es.
Sophie erwartet mich, obwohl ich erst gegen Mitternacht eintreffe. Ich bin froh, vor ihr auspacken zu können, gehe hastig die Treppen hoch, begrüße sie unter der Tür.
„Tag, Sophie!"
„Tag, Lütting!"
Sie steht beiseite, als ich auspacke, sieht auf die Leckerbissen, setzt sich, ist blass, als friere sie.
„Dir ist wohl nicht gut, Sophie? Sieh dich vor, dass du dich nicht erkältest. Möchtest du noch etwas essen?"
„Nein!"
Ich stutze. Nicht der Gruß von Gustav, nicht das Gefühl, sich satt essen zu können, nicht meine Rückkehr, nichts vermag sie zu erfreuen. Ich sehe genauer hin, mir scheint, sie hört gar nicht auf meine Erzählung, oder nur nebenbei. Als quäle ich sie, schaut sie über die ausgebreiteten Sachen fort.
„Sophl, du bist krank — oder ist etwas vorgekommen? — Ist die Kleine gesund?"
„Ja!"
„Aber du bist so anders 1"
Sie wird noch blässer, scheint sprechen zu wollen, oder aufzustehen — ihre Hände heben sich schwer, als suchten sie mich zu fassen, dann fällt sie mit dem Gesicht auf ihre Arme und schluchzt.
Mir wird unheimlich zumute. Ich laufe nach der Kammer, sehe nach der Kleinen — sie schläft ruhig und fest. Dann leuchte ich mit der Lampe um den Wecker, sehe einen Brief und öffne:
„Sie haben sich am... in... vormittags 10 Uhr... "
Ich stelle die Lampe in der Küche auf den Tisch, auf dem Sophie liegt, hebe langsam ihren Kopf, schaue ihr in die gequälten Augen. Sie sagt nichts und will nichts, scheint niedergebrochen von dem Schlag, dem letzten. Liegt vor mir, zertreten nach aller verzweifelter Gegenwehr.
Butter und Speck und Kartoffeln und Eier vor ihr auf dem Tisch. Was kann es weiter sein, als Hohn für den, dem man sagt: Der Mensch, der dir alles ist — wird wahrscheinlich erschossen!
Ich bin überzeugt, dass ich gemaßregelt bin, gehe aber trotzdem mit meinem Schein zum Reklamationsbüro. Herr Zickel — die rechte Hand der Direktion in allen Angelegenheiten — nimmt den Schein und sagt: „Ausgeschlossen, Herr Betzoldt! Sie bleiben bei uns. Wir haben viele unserer besten Leute schon abgeben müssen. In Ihrer Sache werden wir alles daransetzen. Sie können ganz beruhigt sein."
Ich weiß nicht, ob ich ihm ins Gesicht schlagen soll oder ob es dennoch Menschen geben könnte, bei denen sich die innere Aufrichtigkeit in derart widernatürlichen Formen äußert — und gehe. Hohenstein sieht merkwürdig ernst zu mir herüber. Er ruft nicht nach mir, obwohl er sonst immer einige Worte mit mir wechselte.
Als ich am Abend das Tor passiere, höre ich seinen Anruf. Ich bleibe stehen, gehe dann mit ihm.
„Ich wollte Ihnen sagen", berichtet er, „dass Herr Zickel weiter nichts will, als Sie bis zum letzten Tag in der Hoffnung wiegen, es würde etwas für Sie unternommen!"
Ich sehe nicht ganz klar. Ist Hohenstein kaltgestellt? Ich lasse durchblicken, dass ich meine Beurlaubung seiner Initiative zu verdanken habe und frage, ob eine Änderung eingetreten sei.
„Ja!"
„Müssen Sie auch fort?"
„Ich hatte des öfteren Differenzen, habe auf eigene Faust Maßregelungen verhindert, aber dieser Herr Zickel hat seine schmutzigen Finger in allen Dingen. Sie wären längst fort, hätte ich Ihre Notierung nicht einfach unterschlagen!"
„Müssen Sie auch wieder ins Feld?"
„Ich gehe freiwillig. Ich bin vielleicht in drei Wochen schon draußen. Wenn einmal die Rede davon sein sollte, dann wäre es mir lieb, dass die Arbeiterschaft erfährt, dass ich mich nicht von den den Werken überwiesenen Lebensmitteln bestechen ließ. Im Gegenteil: Was in meinen Kräften stand, Sie und viele andere zu halten, habe ich getan."
Drei Tage vor dem Termin gehe ich zum Reklamationsbüro. Herr Zickel empfängt mich grinsend und sagt: „Ich sage Ihnen noch einmal, Sie können ganz ohne Sorge sein!" — Dann zu der Sekretärin: „Die Sache mit Betzoldt ist doch als außergewöhnlich dringend erledigt worden?"
„Es ist alles erledigt, Herr Zickel." Sie vermeidet mich anzusehen.
Herr Zickel gafft mich von neuem an, als wolle er sagen: Gehen Siel Warum denn so misstrauisch? und dann, als ich noch zögere, verabschiedend: „Sie erhalten sofort nach Eingang Bescheid!"
Aber ich gehe noch nicht, auch nicht, als Herr Zickel sich demonstrativ anderen Dingen zuwendet. Ich lasse ihn erst fragen: „Wünschen Sie sonst noch etwas?"
„Ich wollte Ihnen sagen, Herr Zickel, dass Sie eine derart infame und dreckige Kreatur sind, dass ich mich wundere, dass Sie nicht längst mit dem E. K. erster Klasse hier sitzen!"
Herr Zickel setzt einige Male zum Reden an. Sein hässlicher Mund unter dem lächerlich dünnen Spitz- und Schnurrbart bleibt aber in einem blöden Grinsen stecken. Er möchte aufstehen, wagt es aber nicht. Er wagt noch nicht einmal zu rufen.
„Geben Sie mir bitte meinen Schein, er liegt dort in dem Kasten, so wie Sie ihn hineingelegt haben!"
Da fühle ich, wie man mich von hinten zu packen sucht. Ich bin mit einem Satz über der Barriere, fasse einen Stuhl mit beiden Händen und sage: „Meine Herren, der erste, der herankommt, riskiert seinen Kürbis. Ich verlange weiter nichts als meinen Schein, er liegt dort in dem Kasten!"
Ich bin gar nicht willens, es darauf anzulegen, mich von der leicht herbeizurufenden Wache überwältigen zu lassen, im Gegenteil: ich möchte am liebsten laut lachen. Aber man muss mich doch für einen außergewöhnlich gefährlichen Menschen halten und möchte einen Skandal vermeiden. — Deshalb rief man nach Riedel, der pustend auftaucht. Er hört, schaut unschlüssig zu mir herüber und sagt dann: „Betzoldt, mach keine Dummheiten, ich werde der Sache auf den Grund gehen!"
„Können wir gleich machen. Sieh dort den Kasten nach, darin liegt der Schein!"
Da springt Zickel, als brenne ihm der Stuhl unter dem Hinterteil, zu dem Sekretär hin und verschließt ihn. „Meine Herren!" sagt er dann, „ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie sich des Hausfriedensbruches schuldig machen. — Ich bitte nunmehr — sonst!" Er hat schon das Telefon in der Hand.
Riedel ist baff. Ich gehe lachend auf ihn zu und sage: „Komm, bist ein guter Kerl, aber dem Gauner bist du nicht gewachsen. Ich hab dir doch gesagt, wo der Schein liegt, warum langst du nicht zu!?"
Er braucht Zeit, um sich zu sammeln. Dann sagt er: „Magst recht haben, Betzoldt, aber man nimmt doch nicht immer das Schlimmste an. — Leb wohl!" Er geht über den Hof hin, lang und knickend. Wenn er hinfallen und nicht wieder aufstehen oder sich in irgendeiner Ecke verkriechen und weinen würde: ich würde mich nicht wundern.
Die letzten Tage und Stunden sind immer die schwersten. Der Händedruck der Genossen ist wortlos. Ermunterungen sind billig und lästig für den, der geht. Sie wissen das und schweigen.
Sophie weiß, dass viele schon in den Gefängnissen durch den Hunger umgebracht oder auf Festung zu Tode gehetzt wurden. Sie grübelt und schweigt auch.
Ich habe nur noch einen Wunsch: außer Sehweite zu sein. Dem, was da kommt, begegnen zu können, unbeachtet von ihren Augen. Ich bin so radikal fertig mit dem Vorsatz, nicht mehr hinauszuziehen, dass sich alle meine Gedanken auf zwei Möglichkeiten konzentrieren: Flucht oder Gefängnis. Alles andere scheidet aus.
Die Uhr geht mir zu langsam. Wenn schon, denn schon! Jeder Versuch, den andern aufzurichten, ist Täuschung — das kribbelt in den Fingern, den Zeiger mit einem Ruck hinzustoßen — Schluss!
Und dann kriecht es doch hoch, von den Zehen durch Schenkel und Brust, bleibt stecken im Hals. Ich fühle, wie die Muskeln in meinem Gesicht aus dem Spiel fallen. Ich habe mich nicht mehr in der Gewalt, darf jetzt keine Dummheit machen, nicht etwa versuchen zu lachen, wer weiß, welche Grimasse das werden könnte.
Ich nehme meinen Pappkarton, gebe Bertha und dann Sophie die Hand, drücke ihre Hand einmal, zweimal. Bertha streckt ihre Ärmchen, jauchzt auf und will Sophie vom Arm springen.
Ich versuche mich kurz umzudrehen — und es geht. Versuche den Arm zu heben, um die Tür zu öffnen. Auch das gelingt. Ich brauche mich nicht umzudrehen, um sie heranzuschlagen — und das ist gut so!
Ich bin draußen. Es ging besser, als ich dachte. Bis um die Ecke ist es nicht weit und Sophie kommt hoffentlich nicht nach. Ich möchte alles — wenn es über mich kommen sollte — allein abmachen.
Wir werden zum letzten Male aufgerufen. Fünf Mann von vierzig fehlen. Es fällt nicht mehr sonderlich auf. Wir gehen hinaus zum Hof, in ungleichmäßigen Reihen. Frauen, Kinder stehen auf den Fußsteigen, grüßen, gehen mit. Eine ragt hager über die anderen hinaus. Die Sonne scheint auf ihren blonden Scheitel, ein Kind auf ihrem Arm schaut staunend über den Bahnhof, zu den Posten, zu uns, zu seiner Mutter — zu Sophie.
Ich springe aus der Reihe, gebe ihr den Karton, nehme das Kind und sage: „Komm!" Der Unteroffizier läuft vor: „Das geht nicht, seien Sie doch vernünftig!"
„Meine Frau ist müde! Lassen Sie mich!"
Er dringt nicht weiter in mich, schüttelt nur den Kopf. Sophie geht neben mir, trägt meinen Karton, von Schöneberg bis zu einem versteckten Geleise irgendeines Bahnhofes im Innern der Stadt, von morgens zehn Uhr bis nachmittags um zwei. Wir essen an der Rampe unser vertrocknetes Brot. Mir ist es gar nicht, als nähmen wir Abschied. Ich bin der letzte, der einsteigt. Küsse Bertha noch lachend und sage zu Sophie: „Ich komme wieder!"
Sie nimmt ihr Kind und geht mit den andern Frauen von der Rampe fort, winkt, über den andern noch einmal an der Ecke, als winke sie für alle.
Der Schlussakt rollt ab.
Die Sonne brennt über die letzten Jahrgänge des Landsturms, über die Kinder, die von der Schulbank, aus den Erziehungsanstalten kommen. Ich werde wieder belehrt, warum die „Leichte Feldhaubitze 98/09" diesen Namen führt, was ein Schnellfeuergeschütz ist, was „Kanonier eins" bis „fünf" zu machen hat. Ich lerne von neuem schießen, die Gasmaske auf-und absetzen, grüßen, strammstehen und nehme Unterricht,
um mich in den Vorgesetzten, in den Fahnen und Vaterländern nicht zu irren.
Ich bin der beschränkteste Soldat des ganzen Zuges, weiß nie, ob das „mehr" oder „weniger" am Teilkreis rechts oder links bedeutet, und eigne mich nicht zum Richtkanonier. Meinen Pass scheint niemand nachzusehen.
Ich lerne den Parademarsch im Leben nicht. Wachtmeister Grund jedoch will mir auch das beibringen. Er jagt mich viermal „an die Mauer, marsch, marsch!" — und ich komme ihm dann ganz langsam entgegen. Er lässt mich drei Tage einsperren.
„So ein ruhiges Fleckchen findet man draußen nicht", sagt Schulz, der schon zweimal vor mir drei Tage abmachte. Er sagt das mit einem Gleichmut, dass mir das Lachen im Halse steckenbleibt.
Ich komme vom Arrest zurück, weiß, ich werde noch öfter kommen, wenn es noch lange dauert.
„Antreten zum Essenempfang!"
Der lange Kellergang fasst verschiedene Batterien, die da mit ihrem Napf warten. Das gefürchtete Wort „Hunger!" rollt leise von hinten her über die Köpfe.
Die Unteroffiziere quetschen sich an der Seite vorbei. „Wer hat da geschrieen?"
„Hunger!" kommt es von einer andern Ecke.
Sie drehen sich empört um — da ist der Hunger schon wieder hinter ihnen, springt hin und her, wächst an zum Chor. „Hunger! Hunger!!" Es rollt durch alle Gewölbe.
„Die Kerls müssen um jeden Preis in Räson gehalten werden!" Ein Leutnant kommt mit. Doch was ist eine schmucke Uniform gegen den Hunger? Der Leutnant kriecht wie ein Wiesel durch die Reihen, um den Missetäter zu schnappen, fragt in der verdächtigsten Nähe, droht, die ganze Ecke einsperren zu lassen. Da schreit einer:
„Haut ihn!"
Ein Gemurmel von Zustimmung, Füßescharren, Löffelkonzert auf den Näpfen setzt ein. Der Leutnant verschwindet. Die Menschen sind einfach nicht mehr bei Verstand!...
Ich fahre fast jeden Sonnabend auf Urlaub. Die Siegesberichte von der letzten großen Offensive sind verstummt. Die Arbeiter in den Betrieben rühren sich wieder.
Spartakus ist an der Arbeit!
Noch weiß niemand, wie lange sich die Tragödie noch hinzieht, aber der militärische und politische Bankrott ist vollkommen.
Der einzige „Sieg" ist im Preußischen Landtag zu verzeichnen, wo man erwog, die Arbeiter durch eine Wahlrechtsreform zu ködern. Sie wird abgelehnt.
Ich fahre nicht immer pünktlich zurück. Einmal bekomme ich auf telegrafisches Ersuchen Nachurlaub, ein zweites Mal kommt keine Antwort. Ich bleibe trotzdem. Wachtmeister Grund ist empört.
„Wo kommen Sie jetzt her?"
„Vom Urlaub, Herr Wachtmeister!"
Er grinst mich hasserfüllt an und sagt: „Warten Sie, Bürschchen! — Ihnen werden wir das anstreichen!"
Ich lache. Es ist ja alles schon so klar. Wir sind bereits eingekleidet. Er schnappt nach Luft, wird rot wie ein Krebs und brüllt: „Unverschämter Bursche!" Eine Sturzflut von Speichel springt mir ins Gesicht.
Ich nehme mein Taschentuch, wische mich ab, im „Rühren".
Er stürzt davon, als wolle er mich sofort abführen lassen — aber nichts folgt.
Mein Fall ist nichts Besonderes mehr!
Wir kommen vom Exerzierplatz. Im Hof steht einer Wache, im neuen Feldgrau, er kam vom Westen. Er sieht uns aufmarschieren, sieht, wie der Unteroffizier vor dem „Wegtreten" noch einmal die Front entlangschielt.
Da stützt sich der Posten auf seinen langen krummen Säbel und fängt an zu lachen, laut, es schallt über den ganzen Hof.
Der Unteroffizier schaut zu dem Posten hin, der lachend über seinem Säbel liegt, dann zu den andern Unteroffizieren, dann zu uns, dann nach der Kaserne, als hielte er Ausschau, ob nicht eine höhere Gewalt diesen Meuterer bändigt, der weiterlacht.
Da fangen sie schon im Glied an zu lachen, über wen?
Das „Wegtreten" unterbleibt, die ausgerichtete Front verbiegt sich, löst sich in Lachen auf, denn der Posten fängt nun erst richtig an.
Der Unteroffizier flüchtet, als fühle er den Boden wanken. Der Posten ruft ihm nach: „Ihr Hosenscheißer! Packt ein, alles ist futsch, ist ja nur noch Krampf!"
Ein Vizewachtmeister bleibt stehen und schnauzt ihn an: „Mensch, wissen Sie denn nicht, was Sie tun?"
Der Posten hat gar nichts Militärisches mehr an sich: „Wenn du dich noch totschießen lassen willst, mach, dass du hinkommst, sonst kommst du zu spät!" sagt er.
Es ist Sonnabend, der Dienst ist beendet. Ich habe von Sophie „dringend" Urlaub einreichen lassen. Grund: „Wohnungsumzug".
Der wirkliche Grund ist: Ich will ihnen Brot und Obst bringen.
Die Soldaten schwirren in ihrer Freizeit in den Dörfern hinter Minden herum und betteln von Haus zu Haus das Obst und Brot zusammen.
Ich muss es ihnen bringen, werde es ihnen bringen. Ich bekomme auch Urlaub und brauche nicht ohne Schein zu fahren.
Bertha balanciert schon von Stuhl zu Stuhl, zernagt Äpfel, kennt ihren Vater ganz genau. Und Sophie strahlt dann, hat von irgendwoher ein paar Kaffeebohnen oder eine Zigarre oder eine Fleischration von sich oder Bertha, und stellt mir das hin und sagt: „Iß nur, du bringst uns ja immer für die ganze Woche mit."
Sie ist ganz sprachlos, als sie noch die Sellerieknollen und die Mohrrüben entdeckt, die ich im Mantel habe. — Auch auf dem Felde ist nichts mehr sicher vor den hungernden Vaterlandsverteidigern.
Wenige Stunden unterbrechen die Schwüle der Ungewissheit und der nächsten Zukunft.
Noch hemmt der Schreck der letzten Niederlage die Massen.
Aber schon bewegen sich die Wasser wieder unter der Oberfläche. — Ein fünfter Winterfeldzug? Jeder weiß: „Das wird nicht sein."
Wir sind schon vier Wochen eingekleidet. Wissen sie schon nicht mehr wohin? Hinaus! Schon der Gedanke ist mir unerträglich geworden.
Ich bin nie Soldat gewesen. Aber nun fällt auch der letzte Schatten von mir ab. Die Jahre überstandener Angst, erlittenen Hungers, erlebter Schändung peitschen zu neuem Widerstand.
Und nicht nur mich.
Die Lawine rollt. In Kiel löst sich der erste Stein. Unter den Matrosen züngelt die Flamme der Rebellion. Fabriken öffnen sich. Die Kieler Arbeiter solidarisieren sich mit den Matrosen.
Die Hetze setzt wieder ein. Die Berittenen formen sich zu Attacken. Die Blauen schultern wieder die Karabiner. Die Spitzel treten in Funktion.
Es nützt nichts mehr.
Die Lawine springt nach Hamburg über, nach Bremen, nach Hannover. Der Riese Proletariat zerschlägt seine Fesseln, tritt auf die politische Bühne und fordert:
„Nieder mit dem Belagerungszustand!"
„Befreiung der politischen Gefangenen!"
„Sofortige Verbindung mit dem internationalen Proletariat!"
Eine „Volksregierung" soll retten, was noch zu retten ist. Aber schon formiert Spartakus die Massen zum Sturm.
Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verkünden:
„Solange nicht alles, was ihr selbst geschaffen habt, euch gehört, den Arbeitern, die mit ihren Hirnen und Händen die Geschenke der Erde pflücken, um die Menschen froh zu machen: solange wird blutiger Schacher derer um sie entbrennen, die Gold auf einen Haufen scheffeln. Solange die Arbeiter nicht eine Ordnung zertrümmern, in der von dem gescheffelten Gold aller Hass von Menschen gegen Menschen mobilisiert werden kann, solange watet ihr durch Grauen und Schande, mit oder ohne Krieg. Ihr seid dieser Ordnung über den Kopf gewachsen. Ihr müsst sie zertrümmern — oder ihr erstickt! —
Die Menschen hier und über den Meeren, in den Tropen und im ewigen Winter werden von den Mordpatrioten aller Länder aneinandergehetzt, um des schnöden Mammons willen. Ihnen gilt unser Krieg!
Das große Morden war kein ,Schicksal'. Menschen haben das unermessbare Verbrechen zu verantworten. — An den Pranger mit ihnen! Der Feind steht mitten unter euch!"
Mir kommt unser Wachtmeister, der uns am Abend antreten lässt, und uns mit „Kameraden" anredet, nur noch lächerlich vor. Als er sich jedoch anmaßt, uns vor dem Bolschewismus zu warnen, überlege ich, ob ich ihn nicht doch vor den Bauch treten soll.
Es kommt nicht dazu. Der Widerspruch der anderen ermuntert mich, mit dem, was ich sagen will, früher zu beginnen. Als ich ende, ist von den Vorgesetzten keiner mehr zu sehen.
In der großen Reitbahn versammeln sich zwei Stunden später die Soldaten des ganzen Regiments. Ein Offizier wagt, von der schweren Stunde des Vaterlandes zu reden. Ein Sturm fegt ihn hinweg.
Ich fahre noch am gleichen Abend mit einem Schnellzug zurück. Ich halte es für selbstverständlich, dass die, die es wagten, ihre schmutzigen Finger nach Karl Liebknecht und Genossen auszustrecken, längst hinter Schloss und Riegel sind. Ich lese von dem neuen, dem alten Menschenrecht, das das Proletariat verkündet. Mir ist das alles so selbstverständlich wie der Jubel der heimkehrenden Soldaten, der Arbeiter und Arbeiterfrauen in allen Städten, durch die wir fahren.
Ich denke an alle, die mir begegneten. Wo mögen sie sein? Wo mögen sie liegen? Was würde Paul jetzt sagen, der Sanitäter ? Was Alfred? Ich denke an die Hamburger und weiß, sie sind auf dem Posten.
Berlin ist noch immer nicht gefallen. Wir sind dreißig Deserteure. Wir wissen, dass unsere Ausweise, die uns der Arbeiter und Soldatenrat von Hannover gab, in Berlin noch keine Gültigkeit haben. Wir verlassen den Zug deswegen an einem kleinen Vorortbahnhof und: sind entschlossen, jeden Widerstand mit Gewalt zu brechen. Es kommt aber nicht dazu. Die Wache lässt uns passieren.
Eine Straßenbahn bringt mich nach dem Osten.
Ich bin in Angst, es könnte alles nur ein Traum sein, laufe in fiebernder Hast die Treppe hoch, reiße die Tür auf und sehe Sophie an. Sie steht wie festgebannt, holt hastig Atem, hebt die Arme. Ich weiß nicht, ob sie lacht oder weint. Ich möchte ihr so gern etwas sagen, ein Wort nur, es geht nicht.
Sie fällt auf mich zu. Alle Glückseligkeit liegt in dem Schrei „Lütting!"
Mein Karabiner fällt polternd zur Seite.
Am andern Morgen stehe ich vor dem Fabriktor und nenne meinen Namen.
Der Portier verlangt meine Kontrollkarte.
„Hans Betzoldt -— Sie kennen mich doch?"
„Das geht mich gar nichts an!"
„Telefonieren Sie an Riedel."
„Ich habe keine Zeit!"
Mit einem Satz bin ich durch den Eingang. Er schimpft hinterher. Ich gehe durch den Hof, sehe, dass die große Halle von Arbeitern gefüllt ist.
Das Wort hat Zickel. „Auch ich", erzählt er, „bin gezwungen worden, gegen meine Überzeugung zu handeln. Jeder einzelne stand unter dem militärischen Zwang. Die Arbeiter tun mir unrecht, wenn sie verlangen, dass ich den Betrieb verlassen soll."
Ich gehe durch den Raum. Hie und da reckt sich ein Hals, ich höre meinen Namen rufen, bleibe dann kurz vor dem Podium stehen, Riedel sieht mich, gibt mir die Hand.
Zickel wird unsicher, stockt.
Unruhe kommt auf, Zwischenrufe werden laut:
„Runter mit dir — Strolch!"
Ich gehe langsam auf Zickel zu, stehe schon dicht neben ihm, er sieht mich unsicher an, sieht auf Riedel, dann in die Versammlung. Ein Arbeiter springt auf einen Bretterhaufen und schreit: „Werft ihn hinaus, den Lumpen!"
Riedel will beruhigen, doch es gelingt ihm nicht. Als er mich an die Schulter fasst und mit mir sprechen will, läuft Zickel wie ein ertappter Dieb dem hinteren Eingang zu und verschwindet.
Riedel klingelt: „Zweiter Punkt der Tagesordnung. — Die Stunde der Entscheidung ist gekommen. In Kiel, Hamburg, Hannover, Bremen, München marschiert das Proletariat vereint mit den Soldaten! Sie warten auf die Antwort der Berliner Arbeiter. Die revolutionären Obleute haben den Generalstreik proklamiert."
Weiter kommt Riedel nicht. Beifall unterbricht ihn: „Nieder mit dem Krieg!" — „Vorwärts!" — „Marsch!"
Als wir den Betrieb verlassen, kommen schon die Arbeiter von Albatros aus den Toren. Über ihren Köpfen weht eine rote Fahne.
„Wiedersehen, Riedel." „Wo willst du hin, Betzoldt?" Schon halb über der Straße: „In die Knorrbremse." „Ist das Kraftwerk Rummelsburg stillgelegt?" Ich drehe mich noch einmal herum. „Die Lichtenberger sind da."
Riedel lächelt, lächelt noch mehr, winkt. Er deutet auf den Bahnhof. Von der andern Seite kommen schwarz und kaum übersehbar die Arbeiter aus den Großbetrieben von Schöneweide.
Im Humboldthain stehen die Arbeiter der Schwartzkopff-Werke. Tausende.
Wir marschieren.
Unser nächstes Ziel ist die AEG in der Voltastraße. Dort überwiegen die Frauen. Vor dem Demonstrationszug gehen bewaffnete Arbeiter und Soldaten. Kleinere und mittlere Betriebe schließen sich an. Der Zug schwillt in kurzer Zeit immer mehr an. Die Nachricht, dass die Arbeiter im Osten bereits marschieren, steigert die Begeisterung zum Sturm.
Zwei Offiziere schauen stumm auf die Meuterer.
Zwei gehen hin und lassen sich Revolver und Dolch aushändigen. Ein Trupp Schutzleute kommt uns schon entgegen. Sie geben ihre Waffen ohne Widerstand ab. Sie werden unter die Arbeiter verteilt.
Ein russischer Kriegsgefangener schleppt einen Sack auf einen Wagen, setzt ihn ab, lacht und grüßt. Wir winken. Einige gehen hin und schütteln ihm die Hand. Er verschwindet für einen Augenblick und kommt mit mehreren seiner Kameraden wieder zurück. Sie marschieren mit.
Der Zug nähert sich der AEG.
Eine Deputation spricht mit dem Pförtner. Er fuchtelt mit den Händen, verweigert den Einlass.
„Was gibt es da noch zu reden!"
„Hängt ihn an die nächste Laterne!"
Ein paar fassen ihn und schleudern ihn zurück. Die Arbeiter strömen hinein.
„Bewaffnete hierher!"
Ein Trupp sichert die in den Betrieb stürmenden Arbeiter von der Straße aus. Ein anderer nimmt im Hof Aufstellung. Durch alle Abteilungen schallt der Ruf: „Generalstreik!"
Auf den Maschinen und Werkbänken stehen Soldaten, Arbeiter, Frauen:
„Das Berliner Proletariat marschiert."
„Unsere Brüder in München, Kiel, Hamburg rufen nach Hilfe!"
„Einer für alle — alle für einen!"
„Nieder mit dem Krieg!"
Die Motoren bleiben stehen. Ingenieure und Meister verschwinden. Die Belegschaft zieht mit uns.
Der Demonstrationszug schwillt an. Auch die Plätze, die Fußsteige, der Rasen, die Fensterfronten sind schwarz von Menschen. Eine Frau in elegantem Mantel und Hut sagt kopfschüttelnd: „Was soll das bloß werden?"
Man zeigt ihr ein Schild: „Revolution!"
Stettiner Bahnhof, Chausseestraße:
Zur Maikäferkaserne.
Hinter den verschlossenen Fenstern stehen Soldaten.
Wir winken.
Tack! — Tack, Tack, Tack, Tack!
Frauen schreien auf. Einige wälzen sich auf dem Pflaster. Die Menschenmauer wankt. Eine Panik droht alle Disziplin zu zertrümmern.
Nur einen Augenblick.
Die Bewaffneten weichen nicht. Gehen mit entsichertem Gewehr in Deckung.
„Bluthunde!"
„Nicht zurückweichen!"
„Sturm! — Alles hinein!"
Türen krachen. Bewaffnete klettern über die Torwege. Die Kaserne ist im Nu besetzt. Die Wache gibt die Waffen ab. Die Offiziere werden entwaffnet. Die Rangabzeichen werden ihnen abgenommen.
Die Soldaten verbrüdern sich mit uns.
Von oben klatschen die Akten der Schreibstuben auf die Straße. Die Maschinengewehre werden requiriert und auf das Auto gebracht.
„Bewaffnete nach vorn!"
Auf dem Dach des Zellengefängnisses in der Lehrter Straße steht ein Schnellfeuergeschütz.
Werden sie schießen?
„In Schützenlinien, marsch, marsch, über die Tore!"
Die Gefangenenwärter müssen von Tür zu Tür gehen und öffnen. Händeschütteln, Umarmungen. Einer schreit: „Hoch die Revolution!", greift sich ein Gewehr und reiht sich ein.
Andere weinen. Einer sieht auf die Massen, die durch das Gefängnis wogen, als wüsste er nicht, wie ihm geschieht. Es ist Hauptmann von Beerfelde.
Vor der Kaserne, neben dem Zellengefängnis ist alles still geblieben. Soll wieder aus dem Hinterhalt geschossen werden? „Noch einmal zum Sturm!"
Da winkt ein Feldwebel mit einem Taschentuch. Soldaten stürzen aus dem Portal, sie ziehen mit.
Wir marschieren weiter. Jetzt sind es schon Hunderttausende. Transparente tauchen auf. Die Fahnen werden zu, einem roten Meer. Kinder mischen sich in den Zug. Straßenbahner, Feuerwehrleute, Sanitäter. Dazwischen ganze Soldatengruppen: Schützen, Jäger, Ulanen, Matrosen; Matrosen auf Lastautos, Matrosen mit Gewehren. Überall, wo sie auftauchen werden sie begrüßt, wird ihnen zugejubelt, hebt man sie auf die Schultern und lässt sie sprechen. Immer neue Nachrichten: „Der Kaiser ist geflohen!" „Auch die Gefangenen in Moabit sind frei!" Arbeiter sprechen. Von umgestülpten Wagen, aus Fenstern, kleine ausgemergelte Gestalten, Hünen, Frauen. Sie heben die Fäuste, donnern in das marschierende Heer, feuern an, jauchzen, schreien!
Unter den Linden staut sich alles. Die Massen strömen vom Brandenburger Tor bis zum Schloss. Vom Schloss wieder zurück bis zur ehemaligen Torwache. Dort, wo gestern noch Soldaten des 1. Garderegiments standen, stehen bewaffnete Arbeiter und Soldaten mit roten Kokarden.
Wir marschieren zurück nach dem Schloss. Alles ist schwarz von Menschen. Auch im Westen und Süden waren die Arbeiterbataillone siegreich.
Ganz Berlin ist zusammengeströmt. Die Millionenmassen der Arbeiter haben auch die letzten Widerstände niedergezwungen. Alles ist in unseren Händen. Aus den Seitenstraßen kommt Gesang. „Rot ist das Tuch, das wir entrollen!" Karl Liebknecht spricht. Auf dem Schloss weht die rote Fahne.