Ich war am Tage der Mobilmachung Gefreiter geworden. Zu meiner
Mutter hatte ich nicht mehr fahren können und hatte ihr
Abschiedsgrüße geschrieben. Am Tage des Ausmarsches bekam
ich ihre Antwort.
„Mein Junge! Bleibe treu und halte Dich
recht, das ist alles, was ich Dir schreiben kann. Wir haben hier sehr
zu tun. Dein Bruder ist auch eingezogen, und wir beiden Frauen müssen
alles allein machen. Mit den Enkeln ist noch nicht zu rechnen. Ich
schicke Dir ein Paar warme Socken mit.
Leb wohl!
Deine
Mutter."
Ich steckte den Brief in meine Brieftasche und ging
in die Kantine, mir noch etwas Briefpapier zu holen. Leute liefen auf
den Gängen. In der Kantine standen sie vor dem Schanktisch.
„Du,
Ludwig!" Ziesche schob mir grinsend ein Schnapsglas hin.
„Auf
den ersten Russen!" Ich stieß mit Ziesche an.
Max
Domsky, die „Perle", saß auf einem Tisch und
baumelte mit den Beinen. Er sah einen nach dem andern an und freute
sich.
Im Hintergrund hielt ein bärtiger, dicker Gefreiter
eine Rede: „Die sollen sehn, was deutsche Hiebe sind, die
Hunde!" Es stieß ihm auf. „Ich kenne das Gelichter!
- Ich war nicht umsonst drei Jahre in Paris! - Wenn nur ein deutscher
Landstürmer kommt, laufen sie schon davon!"
Ich hatte
das Briefpapier gekauft und ging hinaus. Die Perle kam mir
nachgelaufen. Ich sah ihn nicht einmal an.
„Freust du dich
nicht?" fragte er.
„Doch!" sagte ich frostig.
„Du
bist nicht unten geblieben?"
„Ich kann das Gerede nicht
leiden!"
Er schwieg. Ich merkte, dass er mir etwas sagen
wollte.
Als wir in unserer Stube waren, setzte ich mich auf einen
Schemel und fragte: „Nu, was hast du denn?"
Er setzte
sich an den Tisch und sah mich an, als erwartete er etwas von mir.
Meine Frage schien ihm gar keine Frage gewesen zu sein.
„Fürchtest
du dich vor dem Kriege?" fragte ich.
„Die freuen sich
doch alle."
Ich dachte nach. Sicher hing das, was ihn gerade
beschäftigte, mit dem Kriege und der Todesgefahr zusammen.
„Ludwig!"
Ich erschrak. Er hatte mich noch nie Ludwig
genannt.
„Ich habe keinen Vater." Er sagte das, wie
jemand ein Stück Brot hinlegt. Was sollte ich damit tun? - Ihm
die Hand geben? - Dieser Mensch war gar nicht rührselig.
„Max",
sagte ich, „du hast aber einen Bruder!" Ich schämte
mich.
Er sah mich ganz ruhig an. Er hatte mich verstanden! Und
dabei verstand er sonst oft die einfachsten Dinge nicht.
Er zeigte
keinerlei Freude. Sagte auch nichts, sondern machte sich fertig zum
Antreten. Ich nahm den schweren Tornister auf den Rücken. Ich
erwartete auch von ihm nichts mehr. Einige kamen hereingepoltert. Ich
ging noch einmal auf den Abort und dann die Treppe hinunter zum
Antreten. Ich hatte das Gefühl, dass meine Augen ganz außer
mir umhersähen, während ich selber ganz in mir war. Meine
Beine bewegten sich, das Gepäck war schwer, aber das hatte mit
mir nichts zu tun.
Wir traten auf dem Kasernenhof an. Hinter uns wurden die Wagen
bespannt. Der Leutnant Fabian kam vergnügt gegangen, einen
kleinen schwarzlackierten Tornister wie einen
Schulranzen auf
seinen breiten Schultern. Er trat vor uns hin und sagte: „Ich
brauch euch keine Rede zu halten. Wir sind ja eine Familie! Und eine
Perle haben wir, Gott sei Dank, auch in unsrer Familie!"
Wir
lachten. Das war gut, dachte ich; jetzt wissen die Reservisten auch
gleich, was unser Leutnant für einer ist. Denn fast alle liebten
die Perle, wenn er auch als Idiot galt.
„Dritte Kompanie -
stillgestanden! - Mit Gruppen rechts schwenkt - marsch! - Halt! -
Kompanie - marsch!" Die Musik setzte ein. Die Pauke dröhnte
von den Kasernenwänden. Ich marschierte in der vordersten
Gruppe. Vor dem Kasernentor war eine Menschenmenge aufgestaut und
machte uns Platz.
„Mach's gut, Emil!" rief jemand.
„Hurra!" schrieen ein paar Jungen.
„Wie 1870!"
hörte ich leise sagen und begegnete einem Altherrengesicht, aus
dem mich zwei graue Augen freundlich ansahen. „So ging ich
damals auch hinaus", sagte er zu mir, und ich war vorüber
und sah andre Menschen.
Ein Nelkenstrauß flog mir an die
Brust. Ich fing ihn gerade noch und sah mich um. Am Straßenrand
stand eine und lachte mich unter einem tief sitzenden Hut an.
Helle
Sonnenschirme waren aufgespannt, darunter Damen mit großen
Hüten. Auf einmal sah ich rechts meinen Onkel aus der Menge
ragen. Er schwenkte den Hut über seinem Kopf und lachte mich an.
Ich wusste nicht, wie ich wiedergrüssen sollte, und war
verlegen. Aber ich freute mich.
Wromm, wromm, wromm dröhnte
die Pauke unter der Eisenbahnbrücke und wurde dahinter wieder
Wumm, wumm, wumm.
Wir rückten auf den Güterbahnhof. Dort
legten wir das Gepäck ab und warteten. Ein paar Damen gingen
umher mit blumengeschmückten Körben und verteilten Brötchen
und Schokolade.
Langsam rollte der Zug heran. Es waren Güterwagen,
an deren Schiebetüren Birkenäste steckten. Für die
Offiziere war ein Wagen dritter Klasse. An die Wagenwände waren
mit Kreide Inschriften und Bilder gemalt, kleine Männer mit
großen Köpfen und Franzosenkäppis
darauf.
„Ungewöhnlich günstiges Angebot!!! Freie
Fahrt! Einziges Risiko ein paar Schüsse! Dafür direkt nach
Paris!"
Ein Signal wurde geblasen.
„Dritte Kompanie
an die Gewehre! Gepäck und Gewehre in die Hand nehmen!
Einsteigen!"
Sie drängten sich, zuerst hineinzukommen,
wegen der günstigen Plätze. Bänke ohne Lehnen standen
in den Wagen. Ich hatte gar keine Eile. Die Leutnants liefen am Zuge
entlang. Irgend jemand rief etwas aus dem Wagen. Eine Lokomotive kam
mit schwarzen Rauchballen, die sich drehten, langsam die Schienen
her. Wieder rief einer etwas. Ich fuhr in die Höhe. Hatte nicht
die Perle schon mehrmals nach mir gerufen?
Er reckte den Kopf aus
dem Wagen. „Ich hab 'n Platz für dich!" Er fuhr
zurück und hatte drin einen Streit mit einem. Sie schienen es
darauf abgesehen zu haben, den Platz immer wieder zu besetzen, sobald
er nach mir schrie.
„Na", rief der Leutnant, „wie
lange soll denn das noch dauern!"
Die Perle hatte mir einen
Platz an der linken Wand offen gehalten. Da konnte ich mich an die
Wand lehnen, aber ich konnte nicht hinaussehen.
Draußen
wurde verschiedenes gerufen. Die Lokomotive pfiff, und der Zug rollte
langsam fort. Wohin ging es? -Nach Russland, sagte man. Wie sieht
Russland aus? Hier scheint die Sonne. Russland konnte ich mir nur als
graue Öde denken.
„'s geht nach dem Westen!" rief
einer an der offenen Schiebetür. „Wir sind eben abgebogen.
Es geht nach Paris!"
„Hurra! Hurraaa!" schrieen
Kinderstimmen draußen.
An der Tür sangen sie
„Deutschland, Deutschland über alles" ins Stoßen
der Räder hinein. Der Gesang wurde allgemein. Im Nachbarwagen
sangen sie schwermütig lang-
„Marie, Marie, das ist
mein Nam', Den ich vom Regiment bekam. Ich tausch mit keiner Fürstin
nich, Sie lebt nicht glücklicher als ich."
Wieder
brüllten Kinder hurra, und wieder wurde mit einem Lied
geantwortet. Der Sonnenschein wurde auf den Gesichtern der an der Tür
Stehenden rot. Ziesche sah ich mit seinen weißen Zähnen
lachen, aus lauter Freude, dass etwas geschah.
Dann wurde es
schnell dunkel. Im Wagen war es heiß von der Sonne, die den Tag
über auf dem Dach gebrütet hatte. Wir fuhren langsamer und
hielten.
Ein Lichtschein fiel auf die rechte
Wagenwand.
„Aussteigen zum Essenempfang!"
Man regte
sich, wurde wach, stand auf. Im Dunkeln kramte man nach Kochgeschirr
und Essbesteck. Elektrische Taschenlampen gaben grelle Blitze. Wir
stiegen über die Bänke, traten draußen an und wurden
in eine große Holzbude geführt. Karbidlampen standen auf
Tischen von frischem Holz. Hinter einer Tafel gaben Damen Rindfleisch
mit Nudeln aus. Ein uralter Mann in Oberstenuniform ging auf und ab.
Unter der niedrigen Mütze hing sein weißes Haar bis auf
die dicken Achselstücke.
Die Fahrt ging weiter. Gleichmäßig
schlugen die Räder. Von der Tür her wurde es kühl. Die
Perle war ganz auf mich gesunken. Schließlich schlug sein Kopf
auf meine Knie. Davon wachte er halb auf und begann wieder zu sinken.
Ich schlief noch nicht. Ich dachte auch nicht. Aber ich war nicht
ruhig.
Ich wachte von einer Unruhe auf. Jemand drängte sich
von hinten an mich.
„Lass mich mal durch. Ich kann's Wasser
nicht mehr halten."
Ich zog die Perle an mich heran. Er
wachte nicht auf. Der andre musste einen nach dem andern wecken. Als
er zurückkehrte, waren die meisten schon wieder eingeschlafen
und mussten noch einmal geweckt werden. Es war dunkel und recht kalt.
Rings war Unruhe.
Ich wachte wieder auf. Es war Dämmerung.
Die Perle schlief noch. Er sah schmutzig und elend aus. Einige
dehnten sich gähnend.
Es wurde noch kälter, obwohl die
Sonne kam. Die Perle wachte auf und lachte mich verschlafen an.
„Ich
hab Hunger", sagte er und öffnete den Tornister unter der
Bank. Dabei stieß er mit dem Kopf an den vor ihm.
„Lass
einen doch schlafen!" knurrte der, ermunterte sich und fing auch
ah zu essen. Der Zug hielt.
„Aussteigen zum
Kaffeeholen!"
„Dann kann man doch seine Knochen wieder
sammeln!"
Wir stiegen aus, reckten uns und liefen umher. Auf
einem offenen Wagen thronte unsere rauchende Feldküche. Die
Köche in Mänteln gaben mit der Kelle den Kaffee in die
Feldkessel.
Wir fuhren wieder. Manchmal sah ich etwas von
vorbeilaufenden Bäumen oder Häusern. Ich versuchte
aufzustehen. Aber das Gepäck lag überall am Boden umher und
ließ einen nicht fest stehen.
Draußen schrieen Kinder
hurra. Wir sangen. Ein paar spielten auf den Knien Skat.
Der Abend
kam und die Nacht. Die Bänke wurden immer härter. Ich
lehnte immer links an der Wand und fühlte mich schief
gebogen.
„Da ist der Rhein!"
Man drängte sich
nach der Tür. Ich gab es nach einem kurzen Versuch auf, dahin zu
kommen. In andern Wagen sangen sie schon die „Wacht am Rhein".
- Bin ich nicht glücklich daran, einen Krieg zu erleben? Es ist
doch irgendeine Loslösung. Wie schlimm für die, deren
Jugend ohne das vergeht!
Ich zündete mir eine Zigarette an.
Die Nacht war endlos. Ich lag seitlich eingeknickt an der rüttelnden
Wagenwand und versuchte, mich besser zu setzen. Aber die Perle
rutschte bei meinem Versuch vornüber, und ich zog ihn mühsam
wieder einigermaßen zurecht. Ich wachte mehrmals von dem
Schmerz in der Seite auf. Mein Kopf schlug mit etwas zusammen. Das
war der Kopf der Perle, der mir über den Knien hing.
Am
nächsten Morgen tauschte ich meinen Platz mit der Perle, um
einmal etwas anders zu sitzen. Draußen schien wieder die
Sonne.
An der Tür sprachen sie davon, was sie sahen.
Weinberge sollten da sein und Burgruinen. Ich schlief bald wieder ein
und wachte erst zu Mittag völlig auf.
Was sahen alle
schmutzig und unrasiert aus! Aber sie waren auf ihre Weise
vergnügt...
Auf einer Station gab es Mittagessen. Dann fuhren
wir weiter. An der Tür sagten sie, wir führen durch ein
enges Waldtal.
Wir hielten.
„Aussteigen!"
Wir
kletterten über die Bänke hinaus. Ein Stationsgebäude
und mehrere kleine Häuser. Jenseits stieg ein Waldberg auf. Wir
waren steif und setzten das Gepäck zusammen.
„Wo mögen
wir sein?" fragte ich den Ziesche. Der lachte nur.
„Wir
können gleich mal nachsehen", sagte ein älterer
Unteroffizier sehr deutlich. Er war wohl Lehrer. „Da habe ich
eine Karte. - Ich denke, wir müssen hier in dieser Gegend
sein."
Seine Karte war augenscheinlich aus einem Schulatlas
gerissen und war nicht sehr genau. Aber ich sah doch, dass wir noch
weit von Frankreich entfernt waren.
Unterdessen wurden die
Feldküchen und andere Wagen losgebunden und auf den Bahnsteig
gezogen. Ohne darauf zu warten, bis sie fahrbereit wären,
marschierten wir ab. Es ging an einem Bach entlang. Die Sonne schien
noch heiß. Aber das Marschieren nach dem langen Sitzen belebte.
Nach anderthalb Stunden kamen wir in ein Dorf. Am Eingang warteten
die Quartiermacher auf uns.
„Erster Zug hier in die
Scheune!"
„Hier ist aber wenig Stroh!"
„Sie
sagen, sie hätten jetzt keins."
Wir legten das Gepäck
ab und gingen wieder auf die Straße. Wir waren vergnügt
und kauften uns Wein, der hier billig war. Ich setzte mich mit
Ziesche damit auf den Bock eines Wagens, der hinter unserer Scheune
stand. Der Mond schien schon. Eine feuchte, dünne Luft kam vom
Bach herauf. Wir gingen noch ein Stück spazieren in der hellen
Nacht. Als wir in die Scheune zurückkamen und tastend unsere
Plätze suchten, schnarchten schon alle.
Am nächsten Tage begannen die Märsche. Die Tage waren
heiß, und wir waren nicht ans Gebirge gewöhnt. In den
ersten Tagen blieben viele an der Strafte liegen, im Schatten einer
Eberesche, mit aufgerissenem Rock und dem Taschentuch auf dem Kopf.
Dann gewöhnten sie sich daran. Wir überschritten mehrere
Höhenzüge und tauchten in ein tiefes Tal. Jenseits ging es
in einem Birkengrund steil aufwärts. Schon von den Höhen,
von denen wir kamen, hatten wir gesehen, dass das Dorf, nach dem wir
sollten, auf der höchsten Kuppe lag. Die ersten Märsche
waren kurz gewesen. Heute mutete man uns schon eine große
Leistung zu.
Wir mussten mehrmals rasten. Die Sonne brannte in das
Tälchen, in dem wir uns schon seit Stunden aufwärts
schoben. Endlich wurde es flacher. Die Straße wandte sich
rechts um. Da lag das Dörfchen gedrängt auf der Kuppe.
Kanonen und Munitionswagen standen auf der Straße.
Wir bogen
auf einen Acker und schlugen Zelte auf. Noch brannte die Sonne. Wir
zogen uns ganz aus, hängten das durchschwitzte Zeug draußen
auf und legten uns ins Zelt. Ich schlief nicht. Es war zu heiß
dazu. Durch die Zeltbahn über mir drang ein braunes Licht. So
lag ich wohl eine Stunde.
„Die Feldküche ist da!"
Wir
zogen uns halb an und holten Essen und Kaffee.
Später saß
ich mit Ziesche und der Perle am Hang, wo man weit über das Tal
hin und die Bergzüge sah. Ich fühlte mich leicht und still.
Schatten krochen die Berge hinauf. Es wurde immer dunkler um uns.
Aber das Licht auf den Höhen blieb.
Da kam ein sonderbarer
murrender Ton, wie ein leiser Trommelwirbel, und wurde immer stärker.
Auf einmal hinein ein Bläserakkord! Von unsern Zelten liefen sie
nach dem Dorf. Auch Ziesche lief hin. Wahrscheinlich spielte unsere
Regimentsmusik.
Wir marschierten gegen die belgische Grenze. Ich
hatte mich seit dem Ausmarsch nicht rasiert und hatte eine Krause ums
Kinn, fast durchsichtig blond und ganz weich. Das kam mir ziemlich
schlapp vor. Einige wollten sich nicht rasieren, bis der Krieg zu
Ende wäre. Ich hätte es schon gern getan, aber ich dachte:
Vielleicht kommt man dann längere Zeit nicht dazu und muss den
Bart stehen lassen, und dann sind einem die andern mit dem Bart
voraus.
Nach einem kurzen Marsch saßen eines Nachmittags die
Offiziere unter einem breiten Baum an der Straße. Einige
spielten Skat. Unser dünner Hauptmann, der allgemein verhasst
war, saß im Grase, und der große, dicke Leutnant Fabian
hatte eine Haarschneidemaschine in der Hand und hatte dem Hauptmann
die eine Seite des Kopfes schon geschoren. Er machte alle möglichen
Schwünge mit den Armen dazu und klapperte mit der Maschine in
der Luft.
„Jetzt müssen mir Herr Hauptmann gehorsamst
parieren!" rief er. „Sonst lasse ich Herrn Hauptmann
gehorsamst so."
„Ich werd Ihnen schon helfen!"
„Ich
schere Herrn Hauptmann nur weiter, wenn mir Herr Hauptmann gehorsamst
einen Wunsch erfüllen!"
„Die Hälfte meines
Königreichs können Sie gern kriegen!"
„Ich
bitte Herrn Hauptmann gehorsamst, nicht zu spaßen!"
„Ja,
was wollen Sie denn haben?"
„Das muss ich mir erst mal
überlegen."
„Das wäre ja noch schöner!
Wenn Ihnen nichts einfällt, dann darf ich wohl so
bleiben?"
„Herr Hauptmann werden einem armen Leutnant
doch etwas Bedenkzeit gewähren!"
Da fiepten auf einmal
Querpfeifen, und Trommeln schlugen ganz in der Nähe. Der
Leutnant sprang auf und rief: „Da kommt das zweite Bataillon!"
und lief mit der Haarschneidemaschine davon. Der Hauptmann saß
im Gras und schimpfte: „Spitzbube! Sie kriegen 'ne Flasche
Sekt... Der Halunke hört nicht!"
Unser
Bataillonskommandeur saß daneben, und es stieß ihn vor
Lachen.
Wir kamen an die belgische Grenze. Da gab es einen
Aufenthalt. Sie haben die Straße aufgerissen und Sperren
gebaut, hieß es.
Wir marschierten weiter. Ein Zollhaus. Dann
ein französisch beschriebener Wegweiser.
„Wo ist denn
die Straße aufgerissen?" fragte ich ungeduldig.
„Nu,
du latschst ja eben drüber!" lachte Ziesche.
Wie, das
war alles? Ein paar Steine aus der Straßenpflasterung gerissen!
An der Straßenseite standen die Stümpfe von Bäumen,
in über ein Meter Höhe abgehackt, und die Bäume lagen
auf der Wiese, Fichten, so gleichmäßig gewachsen und so
hoch und gerade, wie ich noch nie welche gesehen hatte. Damit hatten
sie die Straße gesperrt? Es tat mir um das schöne Holz
leid.
Von den Telegrafenstangen hingen zerschnitten die Drähte,
damit wir nicht telefonieren könnten. Rechts stand ein kleines
Haus. Ein Mann lehnte an der Tür, die Mütze tief ins
Gesicht gezogen, und stierte uns an. Der Mann hasste uns.
Weshalb
muss man sich hassen, wenn man gegeneinander Krieg führt?
Etwas
entfernter von der Grenze wurden die Einwohner freundlicher. Aber
immer blieben mir die Belgier unheimlich. Wir stellten in den Nächten
sorgsam Wachen aus. Auch die Offiziere schliefen nie einzeln in
Häusern; denn man erzählte sich von nächtlichen Morden
und dass die Belgier schrecklich grausam wären.
Das Land
wurde immer bergiger. Wir marschierten durch große Laubwälder.
Dann kam ein Tal mit Landhäusern und eine Stadt. Und dahinter
ging es steil auf einen Berg, weil wir abseits der Straße
übernachten sollten.
Sonderbar war manchmal das Sonnenlicht
zu Mittag auf den kahlen Bergrücken. Nackt waren die Rücken
und das Licht darauf gelbbraun, aber nicht traurig, sondern mit einem
Schimmer, der mich fremd stimmte.
Wir näherten uns der Maas.
Dort gibt es eine Schlacht, sagte man. Eines Abends kamen wir in ein
Dorf und wussten alle: das ist das letzte Quartier vor der großen
Schlacht.
Auch am nächsten Tage blieben wir dort. Wir hatten
uns gemeinsam von dem Bauern, bei dem wir lagen, ein Schwein gekauft
und kochten es in kleinen Kochlöchern in seinem Obstgarten.
Unteroffizier Zache setzte sich zu uns. Er war
schon in den
letzten Tagen gedrückt gewesen. Jetzt saß er am Feuer und
hing zwischen seinen Knien. „Ich komme nicht zurück",
sagte er.
Was sollte ich dazu sagen? Dass Ziesche und die Perle
nichts dazu sagten, war selbstverständlich. Er erwartete nur von
mir etwas, oder erwartete er nichts?
Der Einjährige Lamm saß
auch dabei. Der sah Zache mit großen, ruhigen Augen an. Lamm
war mir vom ersten Tag an, wo ich ihn gesehen hatte, lieb gewesen.
Aber ich hatte eine Scheu vor ihm. Und er hatte, wie es schien, eine
Scheu vor allen Menschen, besonders aber vor Zache, den er, glaube
ich, hasste. Und Zache behandelte ihn auch sehr schlecht. Lamm war
nämlich sehr ungeschickt in allen körperlichen Dingen, dazu
schwächlich. In seinen, übrigens sehr ausdrucksvollen Augen
war fast immer eine Ängstlichkeit, die Zache zu ärgern
schien, mir aber gefiel. Dass Lamm aber durchaus kein Kommando
richtig abgeben konnte, das missfiel auch mir an ihm.
„Renn!"
rief der Leutnant Fabian vom Hause her. „Machen Sie eine
Patrouille mit?"
„Jawohl, Herr Leutnant!"
„Ich
will auch mit!" sagte Ziesche ruhig.
Wir gingen zu
Fabian.
„Gut!" sagte er. „Kommen Sie auch mit!
Aber jetzt beeilt euch! In weniger als einer Stunde ist es schon
dunkel. Und bis dahin müssen wir noch weit!"
Wir waren sieben Mann mit dem Leutnant. „Gewehr umhängen!
Ohne Tritt - marsch!" Die Perle kam uns nachgelaufen.
„Da
hast du ein Stück Wellfleisch!" flüsterte er. „Aber's
tropft!"
Er gab mir das warme, wabblige Stück in die
Hand. „Ich danke dir", sagte ich. „Aber was soll ich
jetzt damit tun?"
„Steck's doch in den Feldbecher!"
sagte er und blieb zurück.
Ich hakte den Feldbecher vorn
Brotbeutel ab, drückte es hinein und steckte den Becher aufrecht
in die rechte Rocktasche. Es wärmte mein rechtes Bein. Ich
lächelte in mir wegen des warmen Gefühls und auch, weil er
mir das nachgebracht hatte. Aber dann wurde ich aufmerksam.
Wir
gingen an dem vordersten Posten vorbei in den schon dämmrigen
Wald. Der Weg war steinig und ging steil abwärts in einen Grund.
Der Leutnant schritt eilig voran. Vielleicht wusste er schon
Genaueres über die Stellung der Franzosen. Wir bemühten
uns, nicht so laut zu gehen, aber es ging bei den Zweckenstiefeln
nicht anders. Dunkel standen die Fichten in der stillen, klaren
Luft.
Eine schmale, halb verfallene Brücke führte über
eine Schlucht, in deren Tiefe ein dünnes Wasser rauschte. Der
Weg ging steil aufwärts. Zwischen den Bäumen war es
unheimlich schwarz, während der Himmel in der Weglücke noch
leicht strahlte.
Der Leutnant blieb stehen und winkte mit der
Hand, still zu sein. Wir standen. Beim Atmen knirschte das neue
Lederzeug.
Es ging weiter. Wir mussten uns schon dem nächsten
Bergkamm nähern. Der Leutnant blieb öfter stehen. Kein
Geräusch war zu hören, nicht einmal ein Flügelschlag
oder ein Rascheln im gefallenen Laub. Der Wald hörte rechts auf.
Eine Höhe war vom Himmel begrenzt. Wir verließen den Weg
nach links und schlichen am Waldrand entlang. Unter uns war kurzes
Gras. Links fiel der Wald in ein dunkles, tiefes Tal. Einige hundert
Meter vor uns hing schon ein Nebelstreifen an einem Waldvorsprung.
Dort hielten wir. Es war schon ziemlich dunkel. Der Leutnant winkte
uns um sich herum.
„Jenseits der Höhe fließt die
Maas. Ob die Franzosen auf unserem Ufer sind, weiß ich nicht.
Aber wenn sie auf unserem Ufer sitzen, dann sitzen sie nicht
unmittelbar davor. Hier am Waldrand ist es gefährlich
weiterzugehen, wegen Überraschungen. Rechts auf der Höhe
läuft eine Straße, da sind wahrscheinlich Posten und
Patrouillen. Also in der Mitte. Die Leute auf der Straße müssen
wir gegen den Himmel sehen, dagegen können sie uns gegen den
Wald nicht sehen."
Wir gingen in einem Haferfeld vor. Es
hatte stark getaut. Die Halme bogen sich um die Beine und ließen
knallend los. Meine Hosen waren schon bis zum Rockschoß
durchnässt.
Zwei Spuren im Getreide! Die Halme lagen in
derselben Richtung, in der wir gingen. - War das eine Patrouille
gewesen? Zwei Mann wären dafür reichlich wenig. Es müssen
schon Zivilisten gewesen sein. Dass die durch den Hafer gegangen
sind, ist verdächtig. Die haben sicher spioniert.
Surrr!
fährt es vor uns auf! Mein Herz stockt. Wir stehen. Nur ein
Rebhuhn! Ich schämte mich. Der Leutnant lachte etwas verlegen.
Wir schritten weiter in die graue Dämmerung und kamen auf eine
flache Höhe. Auf einmal stockte der Leutnant. Er winkte mit der
Hand nach unten. Ich kniete nieder.
Ein sonderbares Geräusch
kam von vorn, wie ein Klirren von Draht.
„Was ist das?"
flüsterte der Leutnant.
Die Hufe vieler Pferde im Galopp auf
uns zu! Ich entsichere das Gewehr. Der Leutnant knackt an seiner
Pistole. Die Hufe immer näher! Ich bringe das Gewehr in
Anschlag. Jähes Halten drüben! Drähte klirren.
Durchschneiden sie jetzt den Drahtzaun? - Nichts ist zu sehen als
unbestimmtes Grau. Sie können nur fünfzig Schritt vor uns
sein. - Die Drähte klirren immer noch. Mir läuft eine
Gänsehaut über den Rücken. Was ist das nur? - Ich
setze das Gewehr ab. Der Leutnant beginnt gebückt
vorzuschleichen. Wir gehen mit, das Gewehr bereit. Er bleibt stehen
und schleicht dann weiter. Er kniet nieder und zeigt nach vorn.
Undeutlich bewegt sich etwas vor uns. Es sind Rinder. Der Leutnant
steckt die Pistole ein.
„Da haben wir uns aber nasführen
lassen! Es sind Rinder, die sich am Drahtzaun schaben, und Pferde,
die herumgerannt sind."
Wir bogen nach rechts am Drahtzaun
entlang. Ein paar Bäume und Häuser erschienen. Nirgends
Licht. Wir schlichen links an den Häusern hin. Ein kurzer Weg
zwischen Steinmauern. Dann fiel die Wiese sanft ab. Wir kamen an den
Rand, wo es steil in die Tiefe ging, in der es stark rauschte.
Dicker, weißer Nebel hing unten.
„Dort unten fährt
wohl eine Eisenbahn?" sagte ich.
„Es ist nicht gut
möglich, dass hier noch Züge fahren. Das muss die Maas
sein. Aber ich wundere mich auch, dass sie so laut rauscht. —
Jetzt müssen wir versuchen, hinunterzukommen."
Er
tastete vorwärts. Geröll war am Hang. Er kam ins Rutschen.
Ich fasste ihn am Arm. Aber er rutschte weiter. Ziesche fasste mit
an, und wir zogen ihn herauf. Er zitterte etwas, sagte aber
nichts.
Wir gingen nach links am Hang entlang, einen Pfad zu
suchen. Die Wiese hob sich wieder. Wir kamen auf eine kleine Kuppe,
von der es nach drei Seiten steil abfiel. Wir blieben an einem wilden
Rosenstrauch stehen.
„So viel ist sicher", sagte der
Leutnant, „dass man hier nicht mit Truppen hinunter kann. Das
sollten wir nämlich feststellen. - Wir werden hier rasten. Vor
Überraschungen sind wir ja sicher."
Ich breitete meine
Zeltbahn aus und setzte mich mit dem Leutnant und Ziesche darauf. Der
Becher war in der Rocktasche umgefallen. Die ganze Tasche war von der
Brühe fettig. Glücklicherweise war sonst nichts in der
Tasche gewesen.
Ich teilte das Fleisch mit dem Taschenmesser, und
wir aßen es zu dritt. Ziesche gab Brot und Fabian hartgekochte
Eier.
Es fing leise zu regnen an.
„Wir müssen bis
zum Morgen hier bleiben", sagte der Leutnant, „um uns noch
einmal bei Tage die Gegend anzusehen. Aber hier wird es elend kalt
und nass. Wir werden mal sehen, ob wir nicht im Dorf unterkommen
können."
Mir kam das Übernachten im Dorf bedenklich
vor. Die Belgier sollten ja schon mehrfach in der Nacht welche
umgebracht haben. Und zudem konnten wir nicht wissen, ob nicht im
Dorf sogar feindliche Soldaten steckten.
Wir kamen an den ersten
Gutshof. Er war von einer hohen Mauer umgeben, fast wie eine Burg.
Das Tor stand offen. Mehrere Hunde schlugen im Hause an. Fabian ließ
zwei am Tore zurück.
„Sofort, wenn Gefahr ist,
schießen!" flüsterte er.
Wir schleichen in den
Hof. Da ist es unheimlich düster, in der Mitte ein schwarzer
Misthaufen. Die Hunde bellen. Der Leutnant klinkt an der Tür.
Sie ist verschlossen. Er klopft. An einem Fenster erscheint ein Licht
und verschwindet. - Der Leutnant schlägt mit dem Pistolengriff
an die Tür, dreimal. Die Schläge dröhnen aus dem Hause
zurück. Die Hunde bellen. Ein entferntes Fenster wird
erleuchtet, dann das nächste. Jemand kommt schlürfend und
öffnet. Wir dringen hinein. Der Leutnant öffnet die Tür
gegenüber. Zwei große Männer und eine Frau stehen
drin und sehen uns stumm an.
Der Leutnant macht eine Handbewegung
nach rechts: „Nach Waffen durchsuchen!"
Ich sehe noch,
wie die Frau ihm zu Füßen fällt, und trete in die
Stube rechts. Da ist es dunkel. Ich gehe zurück, Licht zu holen.
Die Frau hat die Beine des Leutnants umfasst und schreit etwas immer
wieder.
„Haben Sie etwas gefunden?" fragt er.
„Nein,
Herr Leutnant, es ist dort dunkel."
„Dann hinaus!"
Wir
standen draußen.
„Wir müssen etwas anderes
suchen", sagte der Leutnant, noch wie unbewusst. Jetzt
vorsichtig sein! Die denken ja alle noch zurück an den
unheimlichen Hof. Und wir stehen hier auf der Dorfstraße ohne
jede Vorsicht.
„Da war was nicht in Ordnung" sagte
Fabian. „Weshalb hatte die Frau solche Angst?"
Wir
gingen langsam die Straße entlang. Das Dorf schien nur aus drei
großen Höfen zu bestehen. Links kam ein nach drei Seiten
offener Schuppen.
„Hier werden wir die Nacht zubringen",
sagte der Leutnant.
Mir erschien der Platz ziemlich sicher,- denn
links war eine Mauer, und nach den übrigen Seiten war es frei.
Wir schleppten Stroh herbei. „Renn, Sie stehen Posten."
Ich
hängte die Zeltbahn um und ging vor dem Schuppen auf und ab.
Was
die Frau entsetzt war! Was das unheimlich war, da drin! Das muss
schon irgendeinen Grund gehabt haben. Ob sie vielleicht da drin ein
paar von unseren Husaren umgebracht haben? Es sollen doch welche
verschwunden sein. - Ich stand auf einmal vor einem Gedanken: die
Pferde vorhin? Die schweren belgischen Pferde rennen doch nicht auf
einmal in der Nacht so herum. Das waren Kavalleriepferde.
Ich
hörte leise Schritte hinter mir und wandte mich um. Es war der
Leutnant.
„Hören Sie", flüsterte er, „Sie
machen mit Ihren Nagelstiefeln zuviel Lärm. Da sich das nicht
vermeiden lässt, solange ein Posten steht, kommen Sie lieber mit
unter das Dach, und wir wachen abwechselnd. Ich fange damit an; ich
kann sowieso noch nicht schlafen."
Ich legte mich, das Gewehr
im Arm, neben Ziesche hin. Unter dem Stroh waren irgendwelche
eisernen Geräte verborgen, auf denen ich liegen musste, weil
sonst kein Platz mehr war. Gerade unter meinem Kreuz lag schräg
eine Stange.
Ich lag. Der feuchte Wind strich mir übers
Gesicht und kroch auch hier und da durch die Falten der Zeltbahn. Ich
lag und konnte nicht einschlafen. Der Punkt hier war mir doch nicht
recht geheuer. Immer zog es mich, in die Gegend zu sehen. Aber der
Leutnant hätte es gemerkt.
Schritte? - Jemand berührte
mich. Ich fahre auf.
„Die andern wecken", flüstert
der Leutnant. Er hat schon die Pistole in der Hand.
Ich packe
Ziesche am Arm. Er richtet sich auf. Die Tritte sind schon nah. Über
zehn Mann, schätze ich. Einer schnarcht. Das Lederzeug knirscht
bei jedem Atemzug. Ich stoße den Schnarcher in die Seite. Er
schnarcht auf und schläft weiter. Ich höre Ziesche das
Gewehr entsichern. Vielleicht dreißig Schritt von uns stehen
sie jetzt und flüstern. Zu sehen ist nichts. Wir sind nur fünf
zur Abwehr bereit. Sie müssen uns bemerkt haben. Wenn man nur
ein Wort verstehen könnte!
„Guten Abend, Reichart!"
ruft Fabian und steht auf.
„Guten Abend", ruft es
zurück, wie erlöst. Es war eine andere Patrouille unseres
Regiments.
Die Offiziere sprachen miteinander. Dann ging die
Patrouille Reichart nach rechts weiter.
„Verflucht",
sagte Fabian. „Hier bleiben wir nicht."
Wir zogen uns
wieder nach links, wo wir vorhin versucht hatten,
hinabzuklettern.
Auf einmal war auf der dunklen Wiese ein
rötlicher Schein. Wir wandten uns um. Drüben brannte eine
Scheune, vielleicht schon jenseits der Maas, vielleicht aber auch auf
einer vorgeschobenen Höhe unseres Ufers.
Auf der Höhe
mit dem wilden Rosenstrauch, wo wir vorhin saßen, setzten wir
uns auf die Zeltbahn. Der Regen machte ein feines Geräusch im
Gras. Über die Höhe strich gleichmäßig der Nebel
in dünnen Streifen. In der Ferne knallten ein paar
Gewehrschüsse. Zwei schliefen schon wieder. Drüben schlugen
die Flammen aus dem Dach, links mit heller Flamme, rechts düster
rot und qualmig. Das Dach brach ins Innere. Funken stoben in den
schwarzen Himmel, und eine lange Flamme wurde herausgezogen, riss ab,
und unten blieben kleinere Flammen, züngelnd, unruhig. Balken
fielen funkensprühend herab. Die Glut wurde düsterer. Es
regnete nicht mehr. Nur der Nebel nässte noch. Da kam langsam
der Tag. Der Leutnant schlief nicht. Manchmal regte er sich ein klein
wenig. Einer wachte auf, dehnte sich mit den Ellbogen und strich sich
mit den Händen über die Augen. Dann wurde er lebhafter und
schnitt Brot.
„Es hat keinen Sinn, noch länger hier zu
bleiben", sagte Fabian. „Der Nebel geht in den nächsten
Stunden nicht weg, und wir müssen bis zehn Uhr hinten sein."
Wir
gingen nach dem Dorf und kamen auf die Höhe. In der Mulde
dahinter wurden Geschützstellungen geschanzt.
„Was soll
denn das heißen?" sagte Fabian. „Es sind wohl noch
viel mehr als unsere Patrouillen hier vorn gewesen? Sonst könnten
die doch hier nicht so friedlich schanzen."
Wir gingen durch
die Mulde. Auf der nächsten Höhe tauchte ein Reiter auf.
Das war unser Adjutant.
„Ihre Kompanie kommt gleich hinter
mir! - Unsere Armee greift an!"
Unsere Kompanie kam über die Höhe, voraus zu Pferd der
Hauptmann.
„Guten Morgen!" rief er. „Heute gibt's
das Eiserne Kreuz oder den Heldentod!"
Wir setzten uns an den
Anfang unseres Zuges. Die Perle sah mich an, blass und
schmutzig.
„Wie kommt ihr denn schon jetzt hierher?"
fragte ich.
„Wir sind in der Nacht alarmiert worden",
sagte er nüchtern.
Wir marschierten über ein Rübenfeld.
Die Strünke waren regennass und gingen bis an die Knie. Auf den
Rüben glitt man aus.
Wir kamen zu dem Dorf und hielten an dem
Schuppen, in dem wir in der Nacht gelegen hatten. Die Sonne begann
durchzudringen. Über uns war schon blauer Himmel.
Der
Hauptmann kam geritten, sprang vom Pferde und gab dem Pferdehalter,
der angerannt kam, die Zügel.
„Wir greifen an!"
rief er. „Der erste und der zweite Zug gehen vor, der dritte
bleibt hier zu meiner Verfügung!"
Wie sollen wir nur
über den Fluss kommen? dachte ich.
„Erster Zug
schwärmen!" kommandierte Fabian.
Wir gingen vorwärts
und auseinander. Ich musste links um den unheimlichen Hof herum. Vorn
über dem Nebel kam schon ein Bergrücken des jenseitigen
Ufers im Sonnenschein heraus. Rechts knallten ein paar Schüsse.
Wir kamen auf eine mäßig fallende Weide mit Drahtzäunen.
Rechts hatte Fabian schon den stärker fallenden Hang erreicht.
Einzelne Felsblöcke und flaches Geröll ragten aus der
Wiese. Wir stiegen über einen Stachelzaun. Vor uns standen
einige breite Bäume auf einem Vorsprung. Das war der Rand eines
Steinbruchs, in dessen Tiefe ein Haus stand, und rechts und links
noch mehrere. Links stand eine Fabrik mit rotem Schornstein an der
Straße, vor der ein Streifen Wiese lief. Dann kam der
Wasserstreifen der Maas. Drüben im Nebel, von der Morgensonne
gefärbt, hob sich das andere Ufer mit Häusern, Gärten,
Höhenrücken und einer aufwärts gebogenen Straße
mit Bäumen.
Ein paar Gewehrkugeln kamen von drüben
gezirpt.
„Der Nebel wird schon dünner", sagte
Ziesche.
„Wir teilen uns hier", sagte ich. „Ich
gehe mit denen hier rechts, geht ihr links um den Steinbruch."
Ein
Blick des Unteroffiziers Zache traf mich. Er ging, wie ich gesagt
hatte. Ich wunderte mich darüber. Ich lief mit dem Einjährigen
Lamm, Ziesche und der Perle an einem
Gebüschstreifen auf
einem schmalen Pfad abwärts. Eine Kugel zirpte hoch über
uns weg. Drüben die Franzosen mussten von der Sonne geblendet
werden, die gerade hinter uns stand. Der Pfad wurde immer
abschüssiger und hörte auf einer steilen Wiese auf.
Zwischen dem Steinbruch und dem nächsten Hause rechts kamen wir
auf die Straße.
Das andere Ufer lag friedlich im
Sonnenschein.
Da! Wir fahren herum. Aus dem Steinbruch platzt und
knallt Gewehrfeuer, so rasend - es pfeift dicht um uns. Ich reiße
das Gewehr hoch und knalle in den Steinbruch.
„Dort aus dem
Haus!" schreit Ziesche.
Das Haus hat zwei Fenster im oberen
Stock nach uns heraus. Unsere Schüsse gehen alle in die Hauswand
statt in die Fenster. Aber die Fensterscheiben müssten Löcher
haben, wenn es von dort heraus schösse!
„Hinter das
Haus hier!" schreie ich und renne in den schmalen Gang zwischen
Haus und Felsen, an den ein Kaninchenstall angebaut ist. Die andern
sind auch da. Das Gewehrgeknalle hört auf. Ich deute
hinaus.
„Wir Ochsen! Die haben doch vom andern Ufer
geschossen, und wir sind so blöde, denen den Rücken
zuzukehren und gegen eine Wand zu schießen, weil dort die
Einschläge knallen!"
Sie sahen zu Boden. Ich wusste,
dass ich jetzt auf sie rechnen konnte. Aber was nun? Über den
Fluss konnten wir nicht. Wo waren die andern vom Zuge?
Das Haus im
Steinbruch lag etwas zurück und hatte eine Mauer nach uns zu.
Dahinter, etwas rechts, lag ein Haus an der Straße, dahinter
die Fabrik mit der roten Esse. Zwischen den beiden Häusern
erschien einer auf der Straße und sah sich um. Drei kamen
hinterher und standen da. Rasselnd setzte das Feuer ein. Sie warfen
sich auf die Straße. Die machen's noch dümmer als wir!
Soll ich brüllen? Sie würden's ja nicht hören! Mir
zittert es in der Brust. Sie bleiben liegen. Es klatscht und platzt
von Schüssen.
„Ich muss da hinüber!" sagte
ich.
Die Perle sah mich blass an.
„Wie willst du denn da
'nüber?" fragte Ziesche.
„In den Straßengraben,
und darin entlang."
„Der ist zu flach", sagte
Ziesche trocken.
„Es muss aber sein!" sagte ich und
konnte mich doch nicht entschließen.
Da sprang einer drüben
auf und kam die Straße entlanggelaufen. „Hierher!"
schrie der Einjährige.
Der andere lief auf der Straße,
den linken Unterarm vorm Gesicht, um sich gegen die Schüsse zu
decken. Plötzlich lief der Ziesche hinaus.
„Hierher!"
schrie er aus vollem Halse und blieb stehen.
Ziesche! wollte ich
rufen, aber er zuckte zusammen und kam eilig zurück. Der andere
humpelte hinterher. Es war Lehmann.
„Ich hab eins ins Bein",
sagte er.
„Setz dich mal auf den Holzklotz", sagte
Ziesche und kniete vor ihm hin. „Was ist denn mit den
andern?"
„Die liegen dort auf der Straße. Zache
ist tot, und der Handow-Emil wollte, dass ich ihn mitnehme, aber er
konnte nicht laufen, und die schossen immer aus der Fabrik."
Aus
der Fabrik? Ich sah hinüber. Sollte das wieder so eine Täuschung
sein? Nein, kaum. Sollten dort Truppen sitzen? Ausgeschlossen! Die
hätten ja sonst den Fluss hinter sich und keine Fähre. Also
diese verfluchten Belgier! Wenn noch mehr Leute von uns da
herunterkommen?! Aber die müssen ja die Toten auf der Straße
liegen sehen.
„Renn!"
Ich war bei der plötzlichen
Anrede zusammengefahren. „Was wollen wir denn hier tun?"
fragte der Einjährige Lamm.
Habe ich mich etwa feige
benommen? dachte ich plötzlich. Ich sah dabei die
Oberschenkelwunde des Lehmann. Hätten wir dort vorn liegen
bleiben müssen und hinüberschießen? Wir waren doch
hinter das Haus ausgerissen! Und Lamm musste mich daran erinnern,
dass wir uns im Gefecht befanden und ich Pflichten hätte. Aber
was hier tun?
„Wir müssen hier ins Haus", sagte
ich. „Wir wissen ja gar nicht, was die übrige Kompanie
macht. Vielleicht können wir aus einem Fenster nach rechts
hinübersehen. - Dein Ohr blutet ja, Ziesche! Soll ich dir's
verbinden?"
Er schüttelte grinsend den Kopf. „Das
bisschen!" Er wickelte dem Lehmann ein Verbandpäckchen um
den entblößten Oberschenkel. Das Hosenbein hing
aufgeschlitzt herunter.
Die Perle stand am Kaninchenstall und
hatte einen Finger durchs Gitter gesteckt, an dem ein weißes
Kaninchen schnupperte.
Ich fuhr auf. Draußen Schritte. Ein
Offizier läuft von oben kommend vorbei, hinter ihm etwa dreißig
Mann. Wenn sie uns sehen, hier hinter dem Hause versteckt?!
„Wir
müssen mit vor!" sagte ich hastig. Ziesche war mit
Verbinden fertig.
„Lasst mich nicht hier allein!" sagte
Lehmann.
„Jetzt kommt's auf anderes an!"
Der fremde
Zug ist schon vor dem Hause im Steinbruch. Wir rennen hinaus. Lehmann
humpelt auch mit. Knallen rings! Sie werfen sich auf die Straße.
Ein paar wollen umkehren.
„Dorthin!" schreie ich und
deute um die Ecke des Steinbruchhauses. Ein Heuwagen steht quer vorm
Eingang.
„Dort aus dem Hause schießen sie!"
schreit einer. Schon wieder die Belgier! Ich reiße das Gewehr
hoch und schieße. Neben mir schießen sie auch. Welche
laufen hinter mir nach dem Steinbruchhaus, auch Lehmann. Ich drücke
wieder ab. Es knipst. Verflucht! Ich habe keine Patrone mehr im Lauf!
Es prasselt.
„Nimm mich mit, Kamerad!" schreit einer.
„Fass mich unter die Schulter!"
Ich werfe das Gewehr in
die linke Hand und packe ihn um den Leib. Ob es ihm weh tut, ist
jetzt gleich! Er ist schwer. Es knallt gegen die Hauswand. Er tritt
mit dem linken Fuß auf und sinkt wieder ein. Zwischen Haus und
Wagen ist nur ein schmaler Gang. Etwas reißt an meiner Mütze.
Der Kopf summt mir. Ich zerre ihn vorwärts. Er stöhnt. Wir
sind schon am ersten Fenster vorbei. Er beginnt mir aus dem Arm zu
rutschen. Seine Hüfte ist weich. Ich kralle mich in seinen Rock.
Der sitzt straff. Ich kann nur eine kleine Falte machen. Jemand
stürzt an uns vorbei und um die Ecke, ohne Gewehr.
Jetzt
herum! Wir sind hinter dem Haus.
Ich lehnte das Gewehr an die
Wand, fasste den Verwundeten mit beiden Armen und setzte ihn gegen
die Rückwand des Hauses neben einen, dem das Blut dick aus der
Nase lief.
„Dorthin!" hörte ich einen aufgeregt
sagen.
Ich wandte mich um. „Seid ihr verrückt? Hier
bleiben!"
Es war ein fremder Unteroffizier. Ich erschrak.
Aber er sah mich flehend an.
„Wir stellen hier Posten aus!"
sagte ich und dachte es untergeben stramm zu tun, aber es kam barsch
heraus. „He, Ziesche! Du beobachtest dahinüber! Wenn sich
was an einem Fenster zeigt, drauf schießen!"
Der
Unteroffizier fasste Mut. „Wir werden auch einen Posten
ausstellen."
Ich sah mich um. Die Sonne schien auf den Hof.
Etwa zehn Mann standen herum. Ebensoviel lagen am Boden und auf den
umherstehenden Wagen und Geräten verwundet. Das war eine
Schmiede hier.
Am Boden gerade vor mir lag Sander, der vorhin mit
Zache herunterkam, und sah ohne Regung in den Himmel.
Ich kniete
bei ihm nieder. „Wo hast du's denn?"
Er richtete seinen
Blick auf mich, ganz schwarz. „Im Bauch", und sah wieder
starr in die Höhe.
„Kann ich dir helfen?"
Er
schüttelte kaum merklich den Kopf.
Ich stand auf. Mein Blick
haftete über dem Steinbruch an den Baumkronen, die herübersahen,
und da war alles da, was geschehen war. Als ich dort oben war, war
ich noch nicht feige! Vorhin. - Feigheit ist es doch nicht! Ach, ist
denn das keine Feigheit, wenn man den Kopf verliert vor ein paar
Schüssen! Vorhin habe ich in den Steinbruch geknallt, und jetzt
wieder gegen das Haus! Obwohl ich wissen musste, dass das wieder nur
Einschläge waren! Nicht einmal habe ich in meiner Angst gemerkt,
dass ich keine Patrone mehr im Lauf hatte! - Jetzt liegt der fremde
Leutnant dort vorn tot. Der ist nicht feige gewesen, der ist ehrlich
gefallen. Und liegt dort tot! - Das war mir plötzlich so
schrecklich.
Und ich habe meine Leute von dort drüben
vorgelockt, und weshalb? Weil ich nicht feige aussehen wollte!
Aussehen, aussehen! Als ob ich nicht die Feigheit, die Angst in mir
gehabt hätte! - Die Gedanken peitschten in mir. Und ich war doch
ausgerissen; denn wir hatten gelernt, dass man nicht zurückgehen
darf, auch nicht hinter ein Haus. - Auf einmal gähnte in mir ein
Gedanke: Wären wir vorn geblieben, wären wir jetzt tot, und
wofür? Ganz nutzlos. Dann hätte ich die Perle und die
andern geopfert - Ich musste also schuldig werden, was ich auch
tat!
Ich sah, wie die Perle etwas an Lamms Feldflasche
untersuchte. Jetzt wurde mir auch bewusst, dass die Artillerie wohl
schon seit einiger Zeit schoss. Es rauschte über das Tal,
dröhnte und stampfte breit und hallte ununterbrochen aus dem
Steinbruch, ohne Unterscheidung, was von deutscher Seite kam oder den
Franzosen.
Ich trat zu den beiden.
„Du", lachte die
Perle, „ich habe eine durch den Hosenboden, und dem Lamm hat's
die Feldflasche zerlöchert."
Mir fiel ein, dass es
vorhin an meiner Mütze gezerrt hatte. Ich nahm sie ab. An der
rechten Seite war ein Stück an der Paspel aufgeschlitzt.
Die
Perle lachte meine Mütze an und betastete die zerrissene Stelle.
„Sieh mal meinen Hosenboden!" sagte er.
Ach, dachte
ich, du weißt ja nicht, was hier vor sich geht, du
Glücklicher!
„Wo ist der Lehmann?" fragte
ich.
„Dort hinter der Karre."
Ich wandte mich von
ihnen ab. Man musste doch hier irgend etwas tun! Aber wenn vorn noch
Verwundete lagen, vorschicken - dass vielleicht noch wieder welche
verwundet würden?
Die Artilleriegeschosse rauschten über
uns, barsten und stampften.
Dazwischen peitschten Gewehrschüsse,
oder ein Maschinengewehr ratterte. Auf einmal puffte es über uns
im Steinbruch und prasselte daraus. Ich duckte mich unwillkürlich.
Einer von den fremden Leuten griff sich an den Arm. Sein Ärmel
war zerfetzt. Einer machte sich um ihn zu schaffen.
„Das war
ein Schrapnell", sagte der fremde Unteroffizier.
„Herr
Unteroffizier!" sagte ich. „Sollten wir nicht das Haus
hier besetzen? Wir stehen doch ganz nutzlos dahinter."
„Aber
wenn welche drinstecken, wie drüben?"
„Aus dem
Nachbarhaus hat es nicht geschossen, das waren nur Einschläge."
Er
schüttelte den Kopf. »Der Mann dort hat einen Schuss quer
durch die Nase, und er hat mir erzählt, dass er den erst
bekommen hätte, als er schon zurückrannte."
»Jawohl,
Herr Unteroffizier, das kann sein. Vorhin sagte schon einer, dass sie
aus der Fabrik beschossen worden wären, gegen die wir hier durch
das Nachbarhaus gedeckt sind. - Wenn wir hier das Haus besetzen,
können wir wahrscheinlich alles übersehen und auch unsere
Verwundeten besser unterbringen."
»Gut", sagte der
Unteroffizier.
Ich holte Ziesche, Lamm und die Perle. Ziesche nahm
ein Eisen, das am Boden lag, und ging gegen die Tür. Er
versuchte sie aufzustemmen.
„Wir müssen erst die
Schmiede aufbrechen", sagte er.
Das Schmiedetor wich ein paar
kräftigen Tritten. Er holte ein Beil und schlug damit auf das
Türschloss los. Mir war beklommen zumut. Ich hielt das Gewehr
bereit. Die Leute des Unteroffiziers sahen nur von ferne zu.
Ein
neuer Schlag. Die Tür ging auf. Lamm trat rasch ein. Ich schämte
mich und ging nach. Wir waren auf einem Gang, der durchs Haus nach
der vorderen Tür führte, mit einer schmalen Treppe links.
Die erste Tür rechts war verschlossen. Wir gingen zur nächsten
und kamen in eine leere Küche. Ziesche machte sich an den
Herd.
»Das Haus ist bewohnt. Es ist noch Glut drin."
Im
ganzen Erdgeschoß war kein Mensch. Wir stiegen die Treppe
hinauf. Ich öffnete die erste Tür.
Eine Frau lag in
einem breiten Bett und sah mich mit alten, leeren Augen an. Eine
andere saß daneben und starrte mich an.
»Du brauchst
dich nicht zu fürchten, Mutter", sagte ich. Die neben dem
Bett - sie war wohl erst zwanzig Jahre -begann schrecklich schnell
mit Ausrufen zu plappern. „Können Sie nicht Französisch?"
fragte ich Lamm. Er brachte stockend irgend etwas heraus. Sie
antwortete und hob flehend ihre Hände. „Was sagt sie
denn?"
„Die alte Frau läge im Sterben, und wir
sollten sie in ihrer letzten Stunde in Frieden lassen."
„Sagen
Sie ihr doch, dass wir nur ein Fenster nebenan besetzen müssen."
Aus
dem Eckzimmer war nach links nur eine Ecke der Fabrik zu sehen.
Die
Perle sah nach vorn hinaus. „Dort brennt's!"
Drüben
schienen mehrere Häuser in Brand geschossen worden zu sein.
Rechts verdeckte der Steinbruch die Aussicht nach der übrigen
Kompanie. Ich ließ meine Leute oben und ging wieder hinunter.
Im Herde machte einer Feuer, um Kaffee zu kochen. Andere trugen die
Verwundeten herein. Auf dem Hofe lehnte noch Lehmann sehr blass an
der Wand. Sander lag noch so da, den Blick nach oben. Neben ihm hatte
sich eine Lache Blut gebildet. Die Sonne schien ihm ins Gesicht. Die
musste ihn blenden.
Ich ging, die andern herunterzuholen, um
unsere Verwundeten besser zu legen. Als ich wieder auf den Hof kam,
sah ich jemand die Straße entlangrennen.
„Hierher!"
schrie ich.
„Renn!" rief er vergnügt und kam auf
den Hof gelaufen. Es war Eckold, die Ordonnanz des Leutnants. »Herr
Leutnant fragt, wie's hier steht. Dort liegen doch welche auf der
Straße. Wer ist denn das?"
Ich erzählte es
ihm.
„Du", sagte er, „bei uns ist's auch nicht
zum besten gegangen. Unser Hauptmann ist aus einem Hause hinterrücks
erschossen worden. Ich kann dir sagen, die Wut, die wir hatten! Und
dabei kamen wir erst an das Haus nicht ran, weil sie so schossen, und
wir lagen unten. Aber dann haben sie's von oben her erstürmt und
die Leute an die Wand gestellt und erschossen."
»Sage
mal, hat's denn gar nicht geschossen, während du hier
herüberliefst?"
„Doch, ein paar vereinzelte
Schüsse. Aber viel schießen die von drüben nicht
mehr, so wie unsere Artillerie 'neingefunkt hat!"
Er lief
wieder davon. Wir fassten den Sander ganz vorsichtig an und trugen
ihn in die Schmiede. Er gab keinen Ton von sich. Den Lehmann setzten
wir zu ihm.
Unterdessen war das Artilleriefeuer noch stärker
geworden und dröhnte im Tal ununterbrochen.
Als wir wieder
die Treppe hinaufstiegen, plötzlich ein Krach und Prasseln
irgendwo oben. Die jüngere Frau kam aus der Tür gestürzt
und schrie irgend etwas. Wir liefen in unser Eckzimmer. Die Decke
hing zerrissen mit Binsen und Kalk herunter. Eine Fensterscheibe war
zerbrochen, und auf dem Tisch lagen Kalkstückchen und weißer
Staub.
Lamm kam. „Drüben bei den Frauen ist nichts
geschehen. Aber die Sterbende sitzt im Bett und will sich durchaus
anziehen. Sie sah grässlich aus."
Wir schwiegen. Vor dem
Dröhnen des Artilleriefeuers war nichts nebenan zu hören.
Ich beobachtete das jenseitige Ufer. Da war Rauch und Qualm, nicht zu
erkennen, ob von Artillerieeinschlägen oder den brennenden
Häusern.
Was sollten wir hier? Ich setzte mich auf einen
Stuhl. Mir war elend zumute.
Nach einer Zeit raffte ich mich auf.
Nur irgend etwas tun! Ich ging hinunter, nach den Verwundeten zu
sehen. Dem Lehmann war der Kopf vornübergesunken. Er schnarchte
unruhig und blass mit offenem Munde. Sander sah immer noch
unbeweglich in die Luft. Der stirbt, dachte ich, und wollte beten.
Aber ich konnte nicht.
Ich ging auf den Hof und sah um die
Hausecke. Da lagen die Toten auf der Straße. Wenn Verwundete
darunter wären? Jetzt könnte man helfen. Aber ich hatte
keinen Mut mehr. Der Sonnenschein tat mir weh und das
Kanonengedröhn.
Ich schlich wieder hinauf und setzte mich auf
den Stuhl. Lamm stand am Fenster und beobachtete. Wie entsetzlich
lang dieser Tag war!
„Da draußen kommen welche!"
sagte Lamm plötzlich. „Der Vizefeldwebel Ernst mit
Leuten."
Ich erhob mich. Wirklich! Dass die nur nicht zu weit
marschieren! Merkwürdig genug, dass sie noch nichts auf den Pelz
gekriegt hatten!
Ich lief hinunter. Er kam gerade mit zwei Gruppen
auf den Hof.
„Wo ist das von Franktireurs besetzte Haus?"
Er protzte gern etwas mit seiner Bildung.
Ich zeigte es ihm.
„Die
Fabrik nehmen wir! Führen Sie uns!"
Ich holte mein
Gewehr und das Beil. „Herr Feldwebel, es wäre gut, einer
hinter dem andern erst mal hinters nächste Haus."
Ich
lief hinter dem Wagen und einem kleinen Gemüsegarten in den
engen Gang zwischen Felswand und Haus. Ich sah den hinteren Flügel
der Fabrik auf nur etwa hundert Schritte vor mir. Ich klinkte an der
Tür. Sie war zu. Ich stellte das Gewehr an die Wand und schlug
mit der Rückseite des Beils gegen das eiserne Schloss.
Unterdessen kam schon Ernst mit den ersten gerannt.
„Vorsicht!"
rief ich; denn ich holte zum zweiten Schlage aus, und es war wenig
Raum auf dem Felsgang. Ich schlug mit beiden Händen. Es dröhnte.
Die Türklinke fiel auf die Steine.
Ich holte zu einem neuen
Schlage aus. Ein Schuss knallte scharf. Er musste dicht hinter mir
durchgefahren sein.
„Ihr verdammten Hunde!" schrie
Ernst.
Noch ein Schuss. Irgendein Geräusch hinter mir. Ich
schlug, aber diesmal schwach.
„Zersplittere doch die Tür!"
rief einer.
Ich drehte das Beil um. Es krachte von mehreren
Schüssen. Einer schoss mir dicht am Kopf ab, dass es in den
Ohren gellte. Ich schlug. Das Beil fasste gut, aber die Tür war
sehr stark. Ich wuchtete das Beil aus dem Holze. Schüsse!
„Dorthin!"
schrie Ernst und rannte mit mehreren nach der Fabrik zu aus dem Gang.
Ich drehte mich nicht um, sondern schlug weiter. Das Gewehrgeknalle
wurde noch häufiger. Mir schien es auch, als ob Schrapnelle
herüberkämen.
„Gib mal her!" sagte einer
hinter mir. Ich gab ihm das Beil. Es schoss gerade nicht hierher. Von
Ernst konnte ich nichts sehen.
„Stemmen!" rief der
andere. Wir lehnten uns gegen die Tür, die schon einen Riss
hatte. Sie knackte und ging auf. Ich griff nach meinem Gewehr und
rannte hinein. Auf dem Flur standen ein Mann und eine Frau mit
hochgehobenen Händen und versperrten so den Weg.
„Fort!"
schrie ich, drückte den Mann mit dem Ellbogen beiseite und lief
die Treppe hinauf. Ich riss eine
Tür auf. Zwei Kinder standen
darin und zitterten. Ich hatte keine Zeit für sie. Mehrere kamen
mir nachgerannt. Ich lief ans Fenster. Da lag die Fabrik. Aber
Obstbäume verdeckten sie zum Teil. Links hinter einem
grasbewachsenen Wall lagen einige und schossen hinüber. Das
musste Ernst sein.
„Alle Fenster besetzen!" schrie ich.
„Die verfluchten Bäume!"
Ich rannte hinaus. Die
Kinder liefen mir in ihrer Angst gerade vor die Beine. Ich riss die
nächste Tür auf.
„Hierher!" schrie ich zweien
zu, die heraufkamen. „Auf alles schießen, was sich in der
Fabrik zeigt!" Diese Leute waren alle so langsam!
Ich lief
hinunter. Der Mann und die Frau standen noch mit erhobenen Händen
und sahen mich ausdruckslos an. Ich lief unten zu den Fenstern, die
nach der Fabrik gingen. Hier störten die Bäume nicht so
sehr. Oben aus den Fenstern schoss es.
Drüben am Wall sah ich
Ernst aufstehen und zu uns zurücklaufen. Zwei folgten ihm. Aber
es lagen dort noch welche; wie viel, konnte ich nicht erkennen. Ich
lief nach der Tür.
„Verdammtes Pack!" schrie
Ernst. „Wenn wir die kriegen, dann wird ja kein Pardon
gegeben!" Er war außer Atem und keuchte vor Wut.
Die
beiden andern kamen hereingerannt, der eine mit zerschossenem Helm.
Er nahm ihn ab. Blut lief heraus, über die Stirn und rechts der
Nase nach dem Munde. Er streckte die Zunge heraus und leckte es auf.
„Seht mal nach, was es ist!" Er beugte den Kopf vor. Die
Haare waren in einer kurzen Linie mit Blut verklebt.
„Es ist
nur ein Streifschuss", sagte Ernst.
„'s kam mir auch
nicht so schlimm vor", lachte er.
„Herr Feldwebel!"
sagte einer. „Hier scheint ein Kellereingang zu sein." Er
zeigte auf ein viereckiges Brett im Boden. Der Mann und die Frau
sahen hin und hielten noch immer die Hände hoch.
Ich zog an
dem kleinen eisernen Ring die Klappe hoch. Es war eine enge Treppe
darunter.
Ernst rief dem Mann ein Wort zu. Der lief fort und kam
mit einer Kerze wieder. Ernst stieg mit noch einem hinunter. Mir
waren die Verwundeten am Erdwall wieder eingefallen. Es knirschte in
mir vor Wut der Hilflosigkeit.
Da stieg aus dem Loch ein Zivilist
böse lächelnd heraus. Ich hatte ein schlimmes Gefühl
gegen ihn.
Er drehte sich um und sah höhnisch den Mann und
die Frau mit den hochgehobenen Händen an. - Ach, ist das alles
grässlich! Weshalb hat ihnen noch niemand gesagt, dass sie die
Hände herunternehmen sollen?
Ernst kam herauf und hielt dem
lächelnden Mann ein Pack Patronen hin. Der zuckte die Achseln
und sagte etwas. Ernst verhandelte mit beiden Männern. Der Mann
aus dem Keller antwortete nur mit einem höhnischen Grinsen. Der
andere bewegte seine Hände nach Stirn und Herzen, und dazwischen
hob er immer wieder die Arme. Meine Angst stieg.
„Hier
gibt's nichts!" sagte Ernst auf einmal deutsch. „Sie
werden nach Kriegsrecht erschossen!"
Davor hatte ich mich
gefürchtet, aber jetzt war ich auf einmal ganz kühl.
»Verzeihen,
Herr Feldwebel!" sagte ich und wunderte mich über meine
Ruhe. „Das ist vielleicht Kriegsrecht, aber wäre es nicht
besser, ihnen zu sagen: Wenn ihr die Verwundeten dort drüben
holt, ist die Sache erledigt. - Auf der Straße liegen
vielleicht auch noch Verwundete. Und die Belgier werden doch nicht
auf ihre eigenen Landsleute schießen."
Ernst sah mich
überlegend an. „Verdient haben sie es ja nicht!" Er
wendete sich an die Männer, die unserer Unterhaltung gespannt
gefolgt waren, ohne doch augenscheinlich etwas davon zu
verstehen.
Ernst schickte sie fort und stellte einen an die Tür
mit der Weisung, sofort zu schießen, wenn sie einen
Fluchtversuch machten.
Ich ging zu der Frau und bedeutete ihr, die
Arme herunterzulassen. Sie tat es. Aber es kam einer aus einer Tür,
und zitternd hob sie die Arme wieder.
»Die Hunde!"
knirschte der Posten an der Tür. „Nehmt euch in acht!"
brüllte er hinüber und hob sein Gewehr. Ich sah hinter ihm
hinaus. »Die Bande", schimpfte er, „lässt
dem
Verwundeten die Beine auf dem Boden schleifen! Aber jetzt
nehmen sie sich schon mehr in acht."
Das Haus war klein für
die vielen Menschen. Draußen heulten und donnerten die
Artillerien.
Die Belgier trugen die Verwundeten in die Stube
rechts und gingen von neuem los.
Ich stieg die Treppe hinauf, um
nach dem anderen Maasufer zu sehen. Der Fluss lag still im
Sonnenschein. Es musste schon Nachmittag sein. Ich zog die Uhr. Sie
stand. Ja, ich hatte die letzte Nacht nicht geschlafen und daher das
Aufziehen vergessen.
Nach einer Weile stieg ich wieder hinunter.
Der Mann aus dem Keller hatte einen Verband um den Arm und schimpfte
leise. Jetzt lachte er nicht mehr und sah kräftig und ernst aus.
Durch eine offene Tür sah ich die Toten liegen. Da lag Zache mit
wächsernem Gesicht und Händen wie aus Holz.
„Herr
Feldwebel", sagte ich, „kann ich wieder
hinübergehen?"
„Ja", sagte er. „Hier
haben Sie einen Schnaps."
Ich trank ihn hinter. Mich
verwunderte, dass er so leutselig war; in der Garnison war er stets
unnahbar gewesen.
Drüben war alles unverändert. Ich ging
hinauf. Ziesche und die andern begrüßten mich freundlich.
Ich setzte mich auf den Stuhl in der Ecke. Es war ja gut, dass sie
von alldem nichts merkten.
Um mich waren die andern geschäftig,
aber ich wusste nicht, was sie taten. Der Kopf war mir zum Platzen.
In meinen Ohren sauste es.
Ich weiß nicht, wie lange ich so
gesessen habe. Jemand nahm mich an der Hand. Die Perle führte
mich zum Tisch. Sie hatten Mehlklöße in Fett gebraten und
gaben Brot und Kaffee dazu. Ich aß stumm und vornübergebeugt,
um mir nicht ins Gesicht sehen zu lassen.
Ich merkte, dass Lamm
mich öfters ansah, als wollte er etwas Ermunterndes sagen. Ich
sah auf und wollte abwehren. Aber als ich seine Augen sah und dass
sie freundlich waren, da drehte sich der Boden unter mir. Ich legte
mich auf den Tisch und weinte. Die Perle streichelte mir die
Schulter. Wenn sie sich nur nicht um mich kümmern wollten!
Nur
halb bewusst merkte ich, dass die Perle hereinkam. Er musste
fortgewesen sein. Er brachte seinen Tornister. Ich war nicht imstande
aufzupassen, was sie taten.
Nach einer Zeit fasste er mich am Arm
und legte mich auf den Boden, den Tornister unter dem Rücken,
und deckte mich mit seinem Mantel zu. Ich dachte irgendwo weit weg:
Darf ich denn das in der Schlacht? Aber es war zu weit weg.
Ich
wachte davon auf, dass die Perle neben mir kniete und mir Kaffee
einflößen wollte.
„Was siehst du schmutzig aus!"
rief ich.
Er lachte und sagte: „Ich habe Feuer gelöscht,
oben." Er deutete mit dem Daumen nach der Decke.
Ich stand
auf und setzte mich an den Tisch. Mir war sonderbar zumut. Ich hatte
sofort, als ich aufwachte, alles gewusst, was geschehen war, und
doch, es war anders. Die Geschehnisse waren weit weggerückt. Ich
fühlte mich wunderbar rein und leicht, wie ein Kind.
Draußen
war es still geworden. Nur im Hause hörte ich sprechen und
umhergehen.
Bald darauf kam der Befehl, nach rechts zu sammeln. Es
dämmerte schon. Die Straße war voll von marschierenden
Menschen und Wagen. Hier und da brannten Häuser, vor allem am
anderen Ufer. Dort zogen sich vor den glutroten Fensterhöhlen
Kolonnen nach rechts und erschienen unnatürlich groß. Die
jenseitigen Höhen hinauf gingen breite Schützenlinien.
Wir
hatten gesiegt.
Die Kompanie sammelte in einem Baumgarten und
sollte dort warten, bis sie übergebootet würde. Auf der
Straße daneben saß, die Stuhllehne zwischen den Beinen
und das Kinn darauf gestützt, der General Hahne, unser
Brigadekommandeur, und starrte in die Flammen eines brennenden
Hauses.
Ich setzte mich nah dem Wasser auf einen schmalen
Wiesenpfad neben den Lamm. Es wurde immer dunkler. Drüben fiel
eine geschmolzene Dachrinne auf die Straße. Ein feuchter Wind
trieb Funken über die still fließende Maas, die sonderbar
grau aussah, wie eine Schlange. Weiterhin, wo sie nach links bog,
machten die Brände einen Feuerstrom aus ihr.
„Ich hatte
gedacht", sagte Lamm, „man würde im Kriege hart. Bist
du auch so widerlich weich?" Er stand auf, etwas schwankend, und
legte sich schlafen. Hatte er mich mit Absicht du genannt?
„Kommst
du nicht auch schlafen?" fragte die Perle. „Ich hab deinen
Tornister von der Küche geholt. Sie hat euch Patrouillenleuten
das Gepäck mit vorgebracht."
Wir tasteten uns nach
unserm Platz. Der Leutnant schlief schon neben unserm neuen
Gruppenführer, Unteroffizier Pferl. Ich legte mich zwischen
Ziesche und die Perle und schlief ziemlich feucht und kühl.
Am Morgen standen wir an der Feldküche herum und tranken
Kaffee. Ich zeigte dem Eckold das Haus über dem Steinbruch. „Das
ist wohl gestern auch abgebrannt? Das haben wir noch in der Nacht
vorher durchsucht. Es war unheimlich da drin."
„Ihr
habt doch nicht darin übernachtet?" rief Eckold.
„Nein.
Weshalb fragst du denn?"
„Nu, da seid ihr ja in 'ner
hübschen Mörderhöhle gewesen! Da drin hat man die
Ausrüstungsstücke von zwei Husaren gefunden. Die Pferde
hatten sie auf die Weide getrieben. Aber sie waren mit ihren frischen
Stempeln nicht unkenntlich zu machen."
„Und was ist aus
den Leuten geworden?"
„Nu, totgeschossen, und den Hof
angezündet."
So hatte ich mir in der Nacht die Sache
gedacht. Aber gerade, dass sie genauso sein sollte, war mir zu
einfach. Ich traute dem Eckold nicht ganz, ob es auch wirklich gerade
dieser Hof gewesen ist.
Wir wurden auf Fähren von zwei
Pontons durch Pioniere übergebootet. Sie hatten schon die ganze
Nacht durch gerudert und ruderten noch immer mit Macht.
Am andern
Ufer standen gefangene Franzosen in ihren bläulichen Uniformen
und sahen stumpf drein.
Wir traten an und marschierten erst ein
Stück am Maasufer entlang. Am Bahndamm und in den Gärten
waren Barrikaden mit Schießscharten errichtet. Wir hatten
allerdings von unserm Ufer aus nichts davon sehen können.
Die
Sonne brannte uns auf den Rücken. Auf der Straße lagen
französische Tornister, Käppis und Gamaschen.
„Hier
hat einer gar seinen Rock weggeschmissen!" sagte Ziesche.
„Und
dort liegt ein Gewehr", sagte Unteroffizier Pferl. „Die
müssen doch nur gedacht haben, wie sie fortkommen. So 'ne Truppe
ist doch in der nächsten Zeit gar nicht wieder kampffähig."
Je
höher wir kamen, desto mehr lag herum: Mäntel, Hosen,
Schuhe, Gewehre, Bajonette und höckrige, blaue Feldflaschen. Das
war doch ein Sieg!
„Hier liegen Patronenpäckchen",
sagte der Leutnant. „Die hebt mal auf, dass wir sie in den
nächsten Bach schmeißen. Sonst schießen nur die
verfluchten Belgier damit, wenn sie mal einen einzelnen Mann
treffen."
„Möchten wir nicht auch die Gewehre
unbrauchbar machen, Herr Leutnant?" sagte Ernst.
Wir
versuchten den Gewehren die Kolben abzuschlagen. Aber es war zu gutes
Holz. Da versuchten wir die Korne zum Zielen abzuschlagen. Aber auch
die saßen verflucht fest.
Rechts in einer Wiesenmulde
standen vier Geschütze verlassen. Ein Munitionswagen stand auf
der Straße, und davor lagen drei Pferde in verwirrten
Strängen.
Wir wurden immer heißer vom dauernden Steigen
und Sehen. Ich sah noch, was mich hätte freuen können,
weggeworfene Artilleriemunition, ganze Gewehrhaufen, Schlafdecken.
Aber ich konnte mich nicht mehr freuen. Von hinten kamen die
Eindrücke von gestern angekrochen. War ich gestern so gewesen,
wie ich mir mein Benehmen in der ersten Schlacht geträumt hatte?
Hatte ich nicht von Heldentum geträumt, dass ich einen Offizier
aus dem Feuer zurücktrage oder in furchtbarem Kampf einen
Schwarzen niederstoße? - War denn das nötig, dass ich so
etwas Grässliches erlebte! Erst ausreißen, wenn auch nur
hinter das Haus, aber das als erste Handlung im Felde! Und dann sich
noch so lächerlich zu machen, gegen eine Steinbruchswand zu
schießen! Wie war denn das nur möglich? Wie sollten denn
hinter der Steinbruchswand Feinde sitzen?
Ich wollte nicht mehr
daran denken. Ich wollte das alles vergessen. Aber das kam immer von
unten her wieder, und jedes Mal dumpfer.
Wir marschierten durch
ein schon fast heruntergebranntes Dorf. In den Häusern glimmten
noch Balken. Dort war ein Gestank. Ich hatte einmal als Kind einen
Brand in einem Nachbardorf erlebt. Da war Vieh verbrannt. Aber das
war es hier nicht. Das waren Menschen.
„Dort liegt einer
drin", sagte Ziesche.
Als ich hinsah, waren wir schon
vorbei.
Am Abend krachte auf einmal eine Kanone dicht vor uns. Die
Marschkolonne hielt. Der Leutnant Fabian, der gerade zu Fuß
ging, rannte vor. Nach wenigen Minuten kam er zurück.
„Die
verfluchten Belgier haben aus einem Haus auf unsere Spitze
geschossen. Der Leutnant und drei Mann sind tot. Die hatten sich in
dem Haus so gut verbarrikadiert, dass eine Kanone auf der Straße
aufgefahren ist und gleich im direkten Schuss das Haus in Brand
geschossen hat."
Am nächsten Tag marschierten wir
weiter. Wieder brennende Dörfer, aus denen die Belgier
geschossen hatten. Wieder glimmende Balken, einstürzende Dächer
und Geruch von verbrannten Menschen. Dieses Land ekelte mich an. Ich
war nicht mehr wütend auf die Belgier, wenigstens meistens
nicht, sondern mich grauste vor ihnen und vorm Kriege, diesem
grässlichen Kriege mit seinem Völkerhass. Wie würde
das erst in Frankreich werden, unserem alten Feinde?
Wir näherten
uns der französischen Grenze. Ein brennendes Dorf. Plötzlich
brach ein Dach neben mir ein. Funken stoben zu meinen Füßen
hoch. Es war so heiß, dass wir anfingen zu rennen.
Dann
kamen wir in einen kleinen Wald. Fabian betrachtete die Karte. „Am
andern Waldrand ist die französische Grenze."
Wir traten
aus dem Walde. Vor uns lag im Sonnenschein ein Dorf. Wir marschierten
hinein. Die Leute standen an den Türen mit ganz freundlichen
Gesichtern. So also ist Frankreich.
Rechts lag in einiger Entfernung ein Fichtenholz, viereckig und
dürr. Sonst nur braune Fläche mit Sonnenschein, und vor uns
die Marschkolonne im Staub. So war es seit dem Morgen.
Manchmal
hielten wir. Dann ging es weiter. In der Ferne murrten Kanonen.
Der
Schweiß lief nicht, er machte nur den Staub feucht. Das Gewehr
drückte auf die Schulter. Die Hände waren dick und ohne
Falten.
Ein Haus stand an der Straße, Türen und Fenster
offen. Drin ein zerwühltes Bett. Auf dem Tisch Geschirr und
Gläser. Vor der Tür zerbrochene Flaschen und Stühle.
Die Einwohner waren vor uns geflohen.
Wir kamen in einen Wald.
Schnurgerade lief die Straße. Links kam polternd Artillerie
vorgetrabt. Rechts hielt eine Munitionskolonne. Dazwischen torkelten
wir mit heißen, weichen Füßen.
Die Artillerie
blieb stehen, und die Munitionskolonne fuhr an. Von vorn kam ein
Meldeoffizier geritten und wollte durch. Artilleriefeuer war jetzt
vor uns. Wir marschierten.
Die Sonne verschwand hinter den Bäumen.
Der Wald hatte einen schwarzen, unregelmäßigen Mantel.
Wieder trabte die Artillerie vor und dröhnte mit Eisen in unsere
stumpfen Ohren. Im Dämmerlicht wurden die Pferde bewegte
Klumpen.
Plötzlich hielt man vor uns. Wir prellten auf und
standen. Man konnte sich nicht auf den Boden setzen, weil es so eng
war zwischen den Wagen und Pferden in der Dunkelheit.
„Hast
du noch was zu trinken?" fragte die Perle mit schwerfälliger
Stimme.
Ich hakte meine Feldflasche ab und gab sie ihm. Dann trank
ich auch. Das Wasser war dick und warm.
Wir standen. Man legte und
setzte sich doch hin. Da ging es weiter.
Auf einmal rannte ich an
meinen Vordermann an. Es wurde schon wieder gehalten. Wir sanken hin
und standen auf; es ging weiter.
Mein Gesicht traf eine kühle
Luft. Ein rotes Licht schimmerte, um das es undurchdringlich schwarz
war. Die Waldmauern wichen. Wir stolperten über
Eisenbahnschienen weg. Links kam ein Haus. Dahinter bogen wir auf die
Wiese.
„Die Herren Zugführer!" rief der Leutnant
leise.
„Meine Herren, wir übernachten dicht an den
Franzosen. Vor uns stehen nur noch ein paar Posten. Wir müssen,
das Gewehr im Arm, schlafen, kein Licht und keinen Lärm!"
Unterdessen
war die Feldküche herangekommen. Auf ihrem Verdeck stand hinter
einem Brett eine Öllampe.
Wir hatten einen Gefangenen zur
Bewachung bekommen. Der saß in einem runden Strohhaufen und sah
bewundernd auf unsere Feldküche. Der Mann war über dreißig
Jahre alt, und jeder in der Kompanie wusste schon, dass er drei
Kinder hatte, aus der Nähe von Paris stammte und dass es
schrecklich wäre für die Franzosen, immer auszureißen.
-Ich dachte bei mir: Eine richtige Stadtpflanze; weiß alles,
aber versteht nichts. Ich hatte auf einmal so einen Hass auf alle
geschwätzigen Leute, auch gegen unsere, die ihn bedienten, um
nur mit ihm schwatzen zu können. Ihm gefiel das in seinem
Strohhaufen.
Der Leutnant kam zu mir. „Sie müssen noch
eine Verbindungspatrouille machen, zum Nachbarregiment rechts. Ich
möchte wissen, wo die nächsten Postierungen sind."
Ich
ging mit Ziesche und Lamm. Es war leicht neblig und nässte.
Rechts war der hohe Wald. Links fiel es nach den Franzosen zu ab. In
geringer Entfernung hallte dort ein Gewehrschuss. Das musste von
einem unsrer Posten sein.
In einiger Entfernung vor uns sahen wir
erleuchtete Fenster. Von dorther schallte Lärm. Als wir nahe
herankamen, erkannten wir Stühle und einen Tisch vor dem Haus.
Da wurde Skat gespielt. Aus dem Innern schallten laute Stimmen.
„Wo
liegt die nächste Feldwache?" fragte ich.
„Hier im
Hause", nickte einer und spielte weiter.
Ich ging hinein und
prallte auf einen Hauptmann. „Als Verbindungspatrouille. Ich
soll mich erkundigen, wo die nächsten Postierungen stehen."
„Das
weiß ich nicht. Gehen Sie mal dort ins nächste Zimmer."
Im
Nebenzimmer saßen und standen mehrere Leute, darunter ein
Vizefeldwebel, und tranken Rotwein.
„Als
Verbindungspatrouille. Ich soll mich erkundigen, wo die nächsten
Postierungen stehen."
„Unsere Posten stehen etwa
vierhundert Meter weiter vorn, wahrscheinlich anschließend an
Ihre Posten. Sie können ja selbst nachsehen." Er erzählte
weiter. Die Leute lachten. Ich ging hinaus.
„Jetzt gehen wir
zu den Posten vor." Vielleicht hätte ich mich noch vor zehn
Minuten nicht so schnell entschlossen. Wie frisch die Süddeutschen
hier den Krieg auffassten, hatte mir gefallen. Warum waren wir nur so
schrecklich schwer?
„Ssst", machte Ziesche und deutete
nach links vorn. Ein Aufblitzen und ein Schuss, der ins Tal
hinunterrollte.
Wir schlichen näher. Dort standen
zwei.
„Worauf schießt ihr denn?"
„Dort
vorn bewegt sich einer."
Ich versuchte, vorn etwas zu
erkennen. Unten im Grunde brannte ein kleines Feuer. „Ist das
eine französische Feldwache?"
„Ja, sie müssen
sehr müde gewesen sein, dass sie nicht mehr weitergekommen sind.
Und sie müssen doch Feuer machen, weil sie keine Feldküchen
haben."
Jetzt sah ich weiter links durch den Nebel noch einen
Schein, größer, aber weniger bestimmt... Ein Geschoß
von drüben zirpte über uns weg. Wir wendeten uns zur Straße
zurück. Ein großes dunkles Ding kam auf uns zu. Es brüllte
gedehnt.
„Können wir die Kuh nicht melken?"
flüsterte Lamm.
„Das geht nicht. Haben Sie nicht das
Brüllen gehört? Die hat Euterbrand, weil sie nicht gemolken
worden ist. Wenn Sie der an die Euter kommen, schlägt
sie."
„Lässt sich da nichts mehr machen?"
„Nein,
morgen oder übermorgen ist sie tot. - Das ganze Vieh geht hier
so zugrunde, weil die Leute geflohen sind." Ich meldete dem
Leutnant Fabian.
Es war stockdunkel, neblig und regnete. Bei der
Kompanie schnarchte es. Es stank. Ich tastete vorsichtig. Der hier
musste die Perle sein. Daneben fühlte ich eine Lücke, in
der eine Zeltbahn lag, auf der sich eine Pfütze gesammelt
hatte.
Wahrscheinlich hatte sie die Perle abgeschnallt, damit das
Stroh nicht nass würde. Ich drängte mich zwischen die zwei.
Unter der Zeltbahn lag auch mein Mantel. Den zog ich an und knöpfte
mich in die Zeltbahn. Das Gewehr legte ich in meinen rechten Arm.
Worauf lagen wir nur, dass es so stank?
Der Regen tropfte mir auf
die Augenlider. Eine Kuh brüllte in der Nähe. Vorn ein
Schuss. Das Tropfen ins Gesicht störte mich nicht. Wir hatten es
doch bisher gut gehabt, dass es nicht regnete.
Ich drehte mich auf
die Seite. Aber da tropfte mir der Regen ins Ohr. Ich deckte meine
Mütze darüber. Pfui, wie das stank!
Ich wachte von einem
Brüllen auf. Die Kuh musste beinah auf uns treten. Das arme Tier
hatte Schmerzen und suchte die Menschen auf.
Mehrere Schüsse
knallten kurz hintereinander.
Ein fahler Morgen mit dichtem Nebel.
Ich bewegte mich. Da lief mir Wasser auf die Hand. Es war ganz still,
und ich schlief wieder ein.
Ich wachte wieder auf. Ziesche stand
im Nebel hoch und war mit seiner Zeltbahn beschäftigt. Ich erhob
mich. In den Falten meiner Zeltbahn stand Wasser. Man sah nur
vielleicht acht Schritt weit. Meine Sachen waren steif und kalt vor
Nässe. Dort lag eine Kuh tot mit emporgerecktem Bein und
geblähtem Euter.
„Wir haben in den Scheißrinnen
der Franzosen geschlafen", sagte Ziesche nüchtern.
Wir
holten an der Feldküche Kaffee. Der Franzose saß noch in
seinem Haufen. Man mochte sich nicht setzen und trat hin und her.
Ziesche hatte in einem Hause noch Platz für uns gefunden. Ich
setzte mich in eine Ecke auf den Boden und schlief ein.
Es
krachte. Ich fuhr auf. In der Stube Hinundherrennen.
„An die
Gewehre!" schrie es draußen.
Zwei Schrapnelle platzten
über dem nächsten Hause. Pferde wollten umkehren und
brachten die Stränge durcheinander. Wir liefen zu Gewehr und
Gepäck.
„Züge ausschwärmen!" schrie der
Leutnant. Lamm sah blass und elend aus.
Wir schwärmten nach
rechts über eine Wiese, die ganz hellgrün war. Oben in den
Wolken war ein Glanz. Weit unten im Grunde hing noch etwas
Nebel.
Schrupp! Schrupp! fuhr es über uns weg.
„Hinlegen!"
schrie der Vizefeldwebel Ernst.
Wir warfen uns ins nasse Gras.
Rechts stand ein Baum, hinter dessen breiten Stamm sich Unteroffizier
Pferl, unser Gruppenführer, warf.
Ftt! Ftt! spuckten
Schrapnelle über uns weg.
Links vor uns eine kleine
Rauchwolke, vielleicht zehn Meter über der Wiese. Das Schrapnell
liegt zu weit vor uns und spuckt nur seine Bleikugeln in die
Wiese.
Da, vor uns das nächste! Etwas surrt über uns
weg. Mein Bauch und die Oberschenkel sind schon nass vom Gras.
Rechts
vorn wieder ein Wölkchen! Es macht einen Rauchring. Die Wiese
ist leicht gewölbt, dass man nicht in den Grund sehen kann, wo
die Franzosen liegen müssen.
Noch weiter rechts das vierte
Schrapnell!
Links wieder eins, aber näher! Wenn sie so
weiterschießen, von links nach rechts!
Da! Ich bekomme einen
leichten Schlag an die Brust. Mein dritter Waffenrockknopf ist leicht
eingebeult. Ich suche im Gras.
Rechts der nächste Schuss! Da
ist die Kugel. Sie ist noch heiß.
Das vierte Schrapnell ganz
rechts. Ich steckte die Kugel in meine rechte Rocktasche. - Was kommt
jetzt?
Jetzt links. Das war ganz dicht. Einer winselt. Gleich muss
es hier sein.
Bramm! Ich fühle einen heißen Hauch. Mir
hat es nichts getan. Ich sehe nach links. Der Albert sieht mich an.
„Ich bin verwundet am linken Bein. Soll ich
zurückgehen?"
Rechts das Schrapnell.
„Warte
mal, bis wir wissen, wo die nächsten Schrapnelle liegen."
Der
vierte Schuss rechts! Jetzt muss sich's entscheiden. Ich sehe nach
links. Da, hinter uns!
„Bleib lieber noch hier."
Ich
wende mich ganz zurück. Hinten auf der Straße fahren
Geschütze auf. Da saust es in die Pferde hinein. Die Leute
rennen durcheinander.
Unterdessen gehen die Schüsse hinten
nach rechts.
Wieder ein Rauch links vor uns! Wie es vorhin anfing.
Meine Angst steigt.
Vor mir Nummer zwei!
Dann drei!
Vier!
Jetzt
näher! Eins!
Zwei!
Drei!
„Zug Ernst! Auf! Marsch,
marsch!" brüllt der Vizefeldwebel.
Ich reiße mich
auf und vor. Dort ist ein Drahtzaun mit Stacheln. Ich hebe ein Bein
darüber. Am andern hakt es sich ein. Ich hinüber. Ein
Dreieck hängt herunter. Wir kommen auf den stärker
fallenden Hang.
„Hinlegen!" brüllt Ernst.
Ich
sehe mich um. Wo liegen jetzt die Schüsse? Einzelne Gewehrkugeln
schwirren aus dem Grunde.
„Geradeaus in den Büschen
Franzosen! Visier neunhundert! - Schützenfeuer!" brüllt
Ernst.
Die Büsche liegen unten noch im Nebel. Hier scheint
schon die Sonne. In den Büschen ist nichts zu erkennen. Ich
ziele auf einen besonders dichten Busch und schieße. Jetzt
knallt es ringsum.
Über mir spuckt es! Das ging über
uns.
Während ich ziele, zähle
ich:
Drei!
Vier!
„Unteroffizier Pferl!" schreit
Ernst. „Vorkommen!" Verflucht! Pferl liegt noch hinter dem
Baum und rührt sich nicht.
Eins! Es ist wieder ein Stück
vor uns. „Unteroffizier Pferl!" brüllt Ernst, so laut
er kann. Zwei!
„Gruppenweise vorgehen!" brüllt
Ernst. Drei!
„Gruppe Lamm!" ruft der Einjährige
links von mir. „Sprung! Auf! Marsch, marsch!"
Wir
rennen vor, Lamm voraus. Ein dünner Buschstreifen auf einem
Steinwall liegt vor uns.
„Stellung!" schreit Lamm.
„Visier achthundert!"
Wir werfen uns hinter die Steine.
- Das ist ja ein Kerl, der Einjährige! Und in der Garnison wurde
er nicht einmal Gefreiter, weil er kein Kommando herausbrachte.
„Auf
die zurückgehenden Franzosen!" schreit Lamm. „Visier
tausend! Schützenfeuer!"
Wirklich! Aus den Büschen
tauchen kleine Gruppen auf und schleichen zurück. Wir schießen
hastig. Aber es scheint keiner getroffen zu werden.
Die Franzosen
verschwanden in einem Walde. Unser Feuer hörte auf. Ich sah mich
um. Rechts war eine Gruppe noch weiter vorgegangen. Ziesche lag neben
mir. Wo ist die Perle?
„Marsch!" befahl Lamm.
Wir
gingen dem Grunde zu. Links lief ein steiniger Weg, an dem drei Tote
lagen. Einige waren dort mit Verwundeten beschäftigt. Die Perle
war nicht darunter.
Im Grunde trafen wir die zweite Kompanie und
schlossen uns ihr an. Wir marschierten durch verschiedene Waldstücke.
Es wurde Abend und Nacht.
Der Hauptmann der zweiten Kompanie
entließ uns, und wir suchten unsere Kompanie. Im Dunkeln kamen
wir an verschiedene Trupps heran und fragten: „Dritte
Kompanie?"
Auf einmal eine Stimme: „Ludwig?" Das
war die Perle.
Ich blieb stehen und war ganz ruhig. „Wo hast
du denn gesteckt?"
„Ich bin mit der Gruppe rechts von
euch vorgegangen", lachte er.
„Wo ist Unteroffizier
Pferl?" fragte Ernst „Ich weiß nicht, Herr
Feldwebel."
„Sie führen jetzt die erste Gruppe.
Und wenn er wiederkommt, er kriegt sie nicht wieder!"
Jemand
zog mich am Ärmel. Es war Lamm. Ich folgte ihm abseits. Ob er es
übel aufnahm, dass ich jetzt sein Vorgesetzter war?
„Verzeih",
sagte er, „dass ich heute statt deiner kommandierte."
„Ach
was!" rief ich. „Das hat mir doch furchtbar gut gefallen!
- Übrigens, nennst du mich absichtlich immer du?" Ich
schämte mich ein bisschen.
„Nein, das habe ich schon
aus Versehen getan, aber - mir gefällt's gut."
„Lamm!"
rief Fabian.
„Herr Leutnant!"
„Ach, hier sind
Sie! - Offen gestanden, ich habe Sie immer für einen in jeder
Hinsicht unbrauchbaren Menschen gehalten! Nehmen Sie mir meine
Offenheit nicht übel! Wissen Sie, dass ich Sie eben zum Eisernen
Kreuz eingegeben habe? Aber unter uns, nicht wahr? Renn hält
auch seinen Mund!" Er rannte fast fort, um seine Rührung
nicht zu zeigen.
Wir hatten seit Tagen kein Brot. Mittags und abends aßen wir
Fleisch in fetter, heißer Brühe. Wer hätte Zeit
gehabt, Gemüse zu putzen, wo wir abends und im Dunkeln in eine
Scheune krochen und früh vor Tage alarmiert wurden. Eine Nacht
blieben wir gar auf dem Straßenpflaster eines Ortes liegen,
weil man vergessen hatte, uns zu sagen, dass es unsere Nachtruhe sein
sollte. In dieser Nacht schien der Mond. Es war kalt auf den Steinen.
Dicht vor mir lag der Leutnant mit seinem schwarzen Bart und stöhnte
und redete mit sich selbst wie im Fieber.
Die Sonne ging früh
und heiter auf. Wir marschierten auf einer geschwungenen Waldstraße
in den kühlen Morgen. Endlich einmal keine von diesen
schnurgeraden, baumlosen Militärstraßen Napoleons! Auch
der Leutnant war munter. Aber er war recht mager geworden und grau im
Gesicht, vielleicht vom Schmutz.
Gegen Mittag bezogen wir
Quartiere. Wir hängten unsere Uniformen und Wäsche in die
Sonne und wuschen uns am Brunnen. Heute konnte man sogar die Füße
waschen, die wir zwei Wochen - oder noch länger - nicht aus den
Stiefeln gezogen hatten. Wir setzten uns vergnügt um den runden
Tisch des verlassenen Hauses. Ziesche kochte Kaffee.
„Alarm!"
schrie es draußen.
Wir rannten nach Röcken und
Stiefeln. In zehn Minuten stand die Kompanie abmarschbereit auf der
Straße. Vorn irgendwo wummerten die Kanonen.
„Wissen
Herr Leutnant, was es gibt?" fragte Ernst.
„Ich weiß
nicht mehr als Sie."
So standen wir eine Stunde in der
Mittagsglut auf der Straße. Dann marschierten wir mit vielen
Stockungen ab. Es wurde Abend und Nacht, bis wir ein Dorf erreichten.
Dort blieb die Kompanie, während unser Zug als Feldwache
weiterrückte.
„Sie sind mit Ihrer Gruppe
Unteroffizierposten eins, etwa fünfhundert Meter vor uns an
diesem Feldweg."
Wir marschierten an. Die Nacht war dunkel.
Ich zählte meine Schritte. Beim dreihundertsechzigsten Schritt
sah ich dicht rechts des Weges eine kleine Erhöhung. Da lagen
Feldsteine umher, und diese Wiese fiel nach vorn ab. Links stand ein
Kornfeld.
Ich stellte die beiden Posten ein paar Schritt vor uns
an den Weg. Aber wohin mit den übrigen? Im Kornfeld wären
sie unsichtbar, aber auch leicht zu überraschen. Und wenn wir
angegriffen würden, müssten sie nach rechts auf die
Erhöhung. Also lieber gleich dort lagern!
„Wie bekommen
wir denn das Essen hier vor?" fragte einer.
Ich schickte ihn
mit unseren Feldkesseln hinter und setzte mich auf den Tornister.
Gestern war der Mond erst gegen drei Uhr morgens aufgegangen, heute
also gegen vier. Dazu war der Himmel bedeckt. Es war kühl und
feucht auf der Höhe. Von links vorn kam ein leiser Wind.
Lamm
setzte sich zu mir. „Weißt du, wo die Franzosen
liegen?"
„Nein." Was sollte man weiter reden!
Nach
einer Zeit hörte ich hinter uns Blech klappern. Das Essen kam
und Kaffee. Ich begann zu löffeln. Es war Kalbfleisch in viel
Brühe.
„Warum kriegen wir nur nie Brot?" fragte
einer.
„Weil wir so schnell marschieren, dass die
Bäckereikolonne nicht nachkommt", entgegnete Ziesche.
Damit
war das Gespräch wieder zu Ende. Sie legten sich schlafen, außer
Lamm. Wir saßen schweigend nebeneinander.
Schritte hinter
uns, die rasch näher kamen. Es war Ernst. Ich meldete.
„Im
Fall eines feindlichen Angriffs", sagte er, „werde ich
Ihnen hier kaum Hilfe bringen können, weil unsere Front nach
halblinks ist."
„Wo stehen die Nachbarposten rechts?"
fragte ich.
„Ich habe eine Patrouille dorthin geschickt,
aber sie hat keine Truppen angetroffen. Wahrscheinlich hängen
wir hier rechts in der Luft."
„Wissen Herr Feldwebel
etwas von den Franzosen?"
„Nein, nichts. - Ich gehe
jetzt zu Posten zwei. Der muss jenseits des Feldes an der Straße
stehen. Gute Wache!"
Wir setzten uns wieder. Wir waren hier
auf uns allein angewiesen.
Nichts war zu hören als manchmal
ein Tritt eines der Posten und das Schnarchen hinter mir.
Ich
versuchte nach der Uhr zu sehen, konnte aber die Zeiger nicht
erkennen. Lamm sah nach seiner Leuchtuhr.
„Es ist fast
zwölf."
„Dann musst du mit Ziesche aufziehen."
Er
weckte den Ziesche. Die beiden anderen legten sich schlafen. Ich sah
in die Nacht hinaus. - Da hatte ich neben dem Einjährigen fast
zwei Stunden gesessen, und wir hatten nichts gefunden, das
sprechenswert gewesen wäre.
Ich stand auf und ging ein Stück
nach rechts. Dort stand ich eine Weile. Aber was sollte das? Ich ging
zurück und setzte mich wieder. Wenn man nur etwas Richtiges zu
denken hätte! Rauchen konnte man hier auch nicht. Der Gedanke
daran hatte das Rauchgelüst in mir wachgerufen. Ich stand wieder
auf. Ich hatte noch zwei Zigaretten. Vielleicht gab es hier einen
Fleck, wo man sie ungesehen anzünden könnte. Im Korn? Nein,
die zwei vorn könnten es merken.
Endlich waren die zwei
Stunden um. Ich weckte die nächsten Posten und erklärte
ihnen unsere Lage. Als ich zurückkam, saß Lamm wie vorhin
neben meinem Tornister.
„Bist du nicht müde?"
fragte ich.
„Ich habe das Militär unglaublich gehasst";
sagte er ganz in sich versunken. „Aber das ist ja ein Unsinn,
dass etwas gar keinen Sinn hätte."
„Und was soll
das Militär für einen Sinn haben?" fragte ich ohne
eigentliches Interesse.
„Das kann ich dir auch nicht sagen.
Aber wie soll unser Schicksal je ein Umweg sein?"
„Da
glaubst du also, dass das Leben ganz genau auf ein Ziel
losgeht?"
„Ja, so ähnlich muss es sein."
Nach
einer Weile stand er auf und legte sich schlafen. Anfangs war ich
angeregt. Dann aber wurde ich sehr müde. Ein paar Male fiel mir
der Kopf vornüber...
Um nicht einzuschlafen, stand ich auf
und ging hin und her.
Pferdegetrappel? Ich lauschte.
„Renn!"
rief leise der eine Posten. „Ja, ich hab's gehört."
Ich
fasste die Schläfer fest an, dass sie gleich richtig
erwachten.
„Hier die Kuppe besetzen! Gewehr vor! Aber nicht
schießen, bevor ich's sage!"
Ich lief zu den Posten
hinüber. Die Reiter waren schon ziemlich nah.
„Ihr
beiden hier ins Korn, dass wir sie unter Kreuzfeuer nehmen können!
Den Weg frei lassen! Ich schmeiße da Tornister hin, dass die
Pferde erschrecken."
Ich lief zurück und schleppte ein
paar Tornister und Decken auf den Weg, die da unheimlich aussahen.
Dann legte ich mich mit auf die Kuppe. Das Trappeln kam heran,
vielleicht zehn Pferde.
„Halt! Wer da?" schrie
ich.
„Patrouille Husaren", lachte einer.
„Vorsicht!"
rief ich. „Auf der Straße liegen Tornister!"
Sie
kamen im Schritt heran, vorn ein Unteroffizier.
„Haben Herr
Unteroffizier Franzosen getroffen?"
„Nein, die Dörfer
vorn sind leer, keine Maus drin."
Wir waren alle munter
geworden und schwatzten durcheinander. Ich bat den Ziesche, für
mich zu wachen, und wickelte mich in die Decke und Zeltbahn.
Als
ich aufwachte, war heller Tag.
Ein Mann kam von hinten. „Die
Posten sollen zur Feldwache zurückrücken."
Wir
rückten ab. Auf einem Stoppelacker mit Getreidepuppen lag die
Kompanie. Auf der Straße rückten Truppen vor. Wir holten
an der Feldküche Kaffee und sollten noch ein paar Stunden ruhen.
Ich legte mich in eine Kornpuppe und ließ mir die Sonne auf die
Beine scheinen.
Ich wachte auf. Die Luft war heiß und zum
Faulenzen. Vorn wummerten ununterbrochen die Kanonen.
Wir brachen
auf. Es ging mit vielen Stockungen. Die Artillerie wurde vorgezogen
und blieb wieder stehen. Wir marschierten in einer stehenden Staub-
und Schweißdunstwolke. Beim geringsten Halt legten sich alle
hin, so schwül war es. Der Kanonendonner wurde immer hörbarer.
Wieder trabte die Artillerie vor. Vor uns war eine Lücke
entstanden. Wir versuchten nachzukommen. Aber die Lücke wurde
noch größer. Vor uns ritt der Leutnant. Er hatte eine
Haselrute in der Hand und trieb sein Pferd damit an. Aber nach wenig
schnelleren Schritten schlich es wieder und fing an zu stolpern.
Schließlich stieg er ab und gab das Pferd seinem Burschen zum
Nachführen.
Wir kamen auf eine Höhe. Vor uns dehnten
sich die heißen Wiesen. Kein Baum, kein Haus. Nur ganz in der
Ferne schienen mir Schrapnellwölkchen im Dunst zu stehen. Wenn
es nur wenigstens ein Wasser hier gäbe, dass man die Feldflasche
wieder füllen könnte!
Am Straßenrand saßen
und lagen welche mit schmutzigen Taschentüchern auf dem Kopf,
die Hände und Gesichter aufgequollen. Es wurden immer mehr, die
nicht weitergekommen waren.
Schließlich kamen wir in ein
Dorf und rasteten. Wir zogen die Röcke aus und wuschen uns am
Brunnen.
„An die Gewehre! Gepäck auf!" schrie der
Leutnant.
Ich fuhr in das Hemd und den Rock und schnallte
irgendwie um.
„Was ist denn los, Herr Leutnant?" fragte
Ernst. „Die Franzosen sind uns schon fast im Rücken. Sehen
Sie dorthin 1"
Auf die Straße, die wir gekommen waren,
fuhren Schrapnelle. Die Marschkranken flohen in ein Feld hinein.
Wir
marschierten in einem Wiesengrund schräg rückwärts.
Tscht!
Tscht! sausten zwei Schrapnelle über uns weg. Links vor uns
standen zwei Feldküchen. Auf einmal stand dort eine schwarze
Wolke auf der Wiese.
Hramm! krachte es grässlich
hinterher.
Plötzlich stand daneben noch so eine Wolke.
„Das
sind Granaten", sagte der Leutnant. „Lassen Sie jetzt
Ihren Zug schwärmen! Wo die Franzosen liegen, weiß ich
auch nicht."
Wir schwärmten aus. Ich war mit meiner
Gruppe ganz links.
Es ging eine Wiese hinauf. Vor uns war blauer
Himmel. Gewehrkugeln pfiffen scharf über uns weg. „Marsch,
marsch!" befahl Ernst.
Ich rannte zwei Schritte, sah, dass
die Leute nicht mehr rennen konnten, und fiel auch wieder in Schritt.
Links tauchte ein kleiner rechteckiger Fichtenwald auf. Darin
knallten die Schüsse an die Stämme. Wir schlichen
weiter.
„Dort drin sitzen sie auf den Bäumen!"
schrie einer.
Sie rissen die Gewehre hoch und platzten sinnlos
gegen die Baumkronen. Ein paar knieten, andere hatten sich
hingeworfen.
„Da ist doch gar niemand!" schrie ich. Sie
knallten weiter. „Stopfen!" brüllte ich. „Stopfen!"
brüllte Lamm. Sie setzten ab.
„Seht nur hin",
schrie ich wütend, „ob da jemand in den Baumkronen sitzt!
Ihr solltet euch schämen, so den Kopf zu verlieren! -
Marsch!"
Sie standen auf und folgten.
Durch den Aufenthalt
war der Zug auseinander gekommen. Ich hatte jetzt die ganze linke
Hälfte. Ernst selbst mit der andern Hälfte war
verschwunden.
S! S! Ss! fuhren die Gewehrkugeln immer
näher.
Sch-pramm! Granaten hinter uns. Wir mussten gleich auf
der Höhe sein und duckten uns.
Rechts stand ein Geschütz
auf der Höhe. Kanoniere schleppten Munition, schossen.
Bramm!
Bramm! Schwarze Wolken rings darum. Ein Mann wurde wie aufrecht nach
hinten verschoben.
Vor uns schrie jemand: „Nicht
einschieben! Wir liegen schon in drei Reihen hintereinander!"
S!
S! Sch! - Preng, pamm! Rammss! krachte, zischte, zirpte es. Die
Franzosen lagen wahrscheinlich dicht hinter der Höhe.
„Hinlegen",
brüllte ich. Ich warf mich hin. Rechts und vorn lag alles voll
Menschen. Nach links konnte ich nicht sehen. Da fiel die Höhe
ab. Aber es schien mir dort ruhiger zu sein.
„Nach links
hinüberziehen!" schrie ich durch das Getöse. Ich erhob
mich halb und schlich gebückt nach links. Ziesche vor mir. Die
andern lagen noch.
„Linksum marsch!" kommandierte
ich.
Es kamen noch einige mit. Nach wenigen Schritten waren wir
aus dem tollsten Gezisch. Ich zog sie noch ein Stück weiter nach
links. Dann wendeten wir uns nach vorn. Da war eine leere Wiese,
rechts ein Dorf, in dem es brannte. Vielleicht kamen wir so den
Franzosen in die Flanke. Vor uns im Grunde schlängelte sich ein
Bach unter Weiden.
S! S! zischte es auf einmal von vorn. Auf der
nächsten Höhe lagen welche wie die Zielscheiben gegen den
Himmel.
„Stellung! Drüben auf der Höhe Schützen
- Visier sechshundert! Schützenfeuer!"
Ich schlug an.
Die Ziele drüben saßen über Korn und Kimme wie kaum
auf dem Exerzierplatz.
Ein Schuss vor mir ins Gras!
Ich drückte
ab. Das musste sitzen, wenn das Visier nicht falsch war. Um mich
schossen sie lebhaft.
Am rechten Ohr sauste es mir vorbei.
Ich
zielte wieder. Auf einmal wurde mein Gegenüber größer.
Ich schoss ab.
„Sie gehen zurück!" schrie ich.
Wir
platzten die Schüsse heraus, wie es nur ging. Drüben
verschwand einer nach dem anderen.
„Marsch!"
kommandierte ich. Wir mussten ihnen nach. Wir stiegen über einen
Viehzaun und kamen an den Bach. Da lag einer im Wasser, den roten
Hosenboden nach oben. Drüben saßen oder lagen tote und
verwundete Franzosen.
Ich sprang über den Bach. Einer hinter
mir schöpfte mit der Hand Wasser und schlürfte
es.
Gewehrschüsse von hinten. Der Hornist Kinder ging neben
mir.
„Blase", sagte ich zu ihm, „dass uns unsere
Leute nicht in den Rücken schießen!" „Was
denn?" fragte er. „Was du willst!"
Er blies den
Zapfenstreich. Ein Schuss von rechts. Dort lag ein Kornfeld, und
darin gingen Franzosen parallel zu uns zurück.
„Nach
rechts!" schrie ich. „Visier vierhundert! Schützenfeuer!"
Ich schmiss mich hin und schoss wie ein Toller. Die Franzosen waren
vielleicht hundertfünfzig Schritt entfernt. Neben mir knallten
sie. Dort fiel einer ins Korn. Einer hob das Gewehr und schoss im
Stehen nach uns. Sie kamen aus dem brennenden Dorf. Wir hatten sie in
der Flanke.
Einer nach dem andern tauchte im Korn unter. Sicher
waren nicht alle getroffen. Allmählich wurde ich ruhiger und
zielte genauer.
Rechts aus dem Dorf kam hochaufgerichtet ein
Offizier. Er sank ins Korn. Keiner war mehr zu sehen.
Ich stand
auf. Hinter uns am Bach sah ich Deutsche stehend auf die Verwundeten
schießen. Ich rannte hin. Es waren Leute der vierten
Kompanie.
„Was macht ihr denn?" schrie ich.
„Die
Hunde haben von hinten auf uns geschossen!" sagte einer
erbittert
„Und unsern Leutnant Röhle haben sie im Dorf
erstochen, wie er schon verwundet dalag!"
Ich ging zu meinen
Leuten zurück. Es waren nur noch sechs Mann, darunter zwei von
andern Kompanien. Sollten wir weiter vorgehen?
Der Hauptmann der
vierten Kompanie kam gegangen. „Besetzen Sie die Höhe hier
vorn!"
Wir schlichen die Höhe hinauf. Meine Beine waren
auf einmal schwer, und meine rechte Schulter schmerzte vom vielen
Schießen.
Auf der Höhe, von der uns vorhin die
Franzosen beschossen hatten, lag ein Schwarzer mit weißen
Pumphosen.
Vor uns dehnten sich Kornfelder. Darin stand ein Trupp
Franzosen um etwas herum.
„Der Trupp Franzosen!
Schützenfeuer!"
Drüben stoben sie auseinander. Ich
griff in die Patronentasche, um neu zu laden. Sie war leer, die
andere auch. Und die zwei Patronengurte um den Hals hatte ich schon
vorhin weggeworfen, weil sie leer waren. Also zweihundertdreißig
Patronen hatte ich heute verschossen! Ja, da konnte die Schulter weh
tun!
Die Sonne versank hinter den Höhen rechts. Es war noch
immer heiß.
Ein Mann kam. „Ihr sollt zum Biwakplatz
des Bataillons zurückkehren."
Wir hängten das
Gewehr um. Auf der Wiese lagen Verwundete. Ziesche hatte einen
untergefasst, der schwer humpelte.
Ein französischer
Offizier, klein und dick, stöhnte im Grase. Ich wollte sehen,
was ihm fehlte. Aber er winkte ab. Trotzdem knöpfte ich ihm den
Rock auf. Aus seiner rechten Hüfte quoll Blut wie aus einer
Brunnenröhre. Ich zog ein Verbandpäckchen aus der Tasche
und wickelte es ihm um den Leib. Dabei wurde mein rechter Ärmel
fast bis zum Ellbogen blutig. Vielleicht war es ein Unsinn, ihn bei
dem Blutverlust zu verbinden. Einer hielt ihm die Feldflasche hin. Er
schob sie mit der Hand weg.
„Du denkst wohl, wir wollen dich
vergiften?" sagte der Mann und setzte ihm die Flasche an den
Mund. Der Offizier trank gierig.
Unterdessen hatten die anderen
noch mehr deutsche Verwundete aufgelesen. Ich musste an einer
Zeltbahn mit anfassen, in der einer stöhnend lag.
Wir kamen
an den Bach. Die Franzosen saßen da und flehten mit Gebärden,
sie mitzunehmen. Einer schlug an seinen umgehängten Brotbeutel
und breitete die Hände aus, dass sie nichts zu essen
hätten.
„Wir haben selbst kein Brot. Und mitnehmen
können wir euch auch nicht, das müsst ihr schon
einsehen."
Es wurde immer dunkler. Nur im Dorfe flackerten
die Brände. Wir gingen den Weg durchs Dorf. Da lagen überall
Tote, hier ein Turko auf einem deutschen Offizier.
Unser
Verwundeter in der Zeltbahn stöhnte bei jedem Schritt, den wir
machten.
Wir kamen in einen Wiesengrund. Da stand unsere
Feldküche. Fabian davor mit Ernst und dem Kompaniefeldwebel. Sie
hatten Aluminiumteller vor sich auf dem Küchenverdeck und
bliesen in die heißen Löffel. Ernst sah mich. „Wie
viel bringen Sie mit?"
„Vier von der Kompanie, Herr
Feldwebel."
„Es fehlen hundert Mann", sagte
Fabian. „Aber es müssen darunter auch viele Marschkranke
sein."
Ich ging zum Zug. Es waren nur noch etwa dreißig
Mann, nach den Gewehrpyramiden gezählt.
„Hat einer die
Perle gesehen?" fragte ich.
„Der ist tot. Er hat oben
auf der Höhe einen Schuss durch den Kopf gekriegt."
„Und
Lamm?"
„Ich habe ihn nicht gesehen."
Ich
schnallte mein Kochgeschirr ab und ging zur Feldküche. „Der
Einjährige Lamm lässt Sie noch grüßen",
sagte der Feldwebel. „Ist er verwundet?"
„Ja, und
recht schwer. Er hat Schüsse durch beide Arme und Beine und dazu
noch einen Kolbenschlag auf den Kopf. Er sah grässlich aus."
Als
ich mit Essen fertig war, rief mich Ernst. Er saß auf einer
Zeltbahn im Grase und hatte eine Flasche in der Hand. Bei ihm standen
noch zwei Gruppenführer.
„Setzt euch mal hierher. Wir
müssen den Zug neu einteilen. - Haben Sie Feldbecher da? - Renn
behält die erste Gruppe."
Er goss uns Rotwein in die
Becher.
Fabian kam mit dem Feldwebel und setzte sich dazu.
„Wir
haben heute im Regiment über zwanzig Offiziere verloren",
sagte Fabian wie von ferne.
Ich nippte am Becher. Der Rotwein war
herb und kalt.
„Die Perle ist auch gefallen", sagte der
Feldwebel.
„Das war doch Ihr Freund, Renn", sagte
Fabian.
Die Flasche war ausgetrunken.
„Gute Nacht!"
sagte der Leutnant und stand auf.
Wir legten uns auch schlafen.
Nacht. Wir warten auf der Straße. Rechts Häuser, links
eine tiefer liegende Wiese.
Das dritte Bataillon soll die
französischen Vorposten überfallen. Fabian spricht leise
mit Ernst: „Sie haben entladen müssen, dass kein
vorzeitiger Schuss losgeht, und sollen in breiter Linie mit
aufgepflanztem Seitengewehr ..."
Gewehrknallen!
Klatsch!
Klatsch! fallen Geschosse auf die Straße.
„Links auf
die Wiese, und hinlegen!" ruft der Leutnant.
Von hinten ein
Reiter im Galopp auf der Straße. „Welche
Kompanie?"
„Dritte Kompanie!"
„Ausschwärmen
und vorgehen!"
„Vor uns ist noch unser ganzes
Bataillon!"
„Herrgott! Befehl der Division:
Ausschwärmen!" schnauzte die Stimme.
„Ganze
Kompanie links heraus schwärmen!" brüllte Fabian.
Ich
renne ein Stück vor.
S! S! S! S! sausen die Kugeln. Es ist
stockdunkel. Ich sehe nichts als schwarze Wiese vor mir. „Marsch,
marsch!" brüllt Fabian.
Wir rennen. Es knattert
ununterbrochen. Aber nichts ist zu sehen.
„Hinlegen!"
brüllt Fabian.
Ich werfe mich ins Gras. Es knallt und
saust.
„Marsch, marsch!" brüllt Ernst.
Was ist
denn mit dem Leutnant, dass er nicht kommandiert? Wir laufen weiter
in das unsichtbare Feuer hinein. Rechts gegen den Himmel eine
mächtige Baumkrone. Links sehe ich drei dicht hintereinander. Es
ist Ernst mit seinen Schätzern. Das Feuer hat etwas
nachgelassen.
Wir fallen in Schritt.
Vorn taucht etwas auf, ein
Wald. Leute laufen da durcheinander. Schreie, Kommandos und
Fluchen!
„Wenn die Kompaniechefs nicht da sind, dann
übernehme ich die Führung hier vorn!" schimpft ein
langer, dünner Leutnant
Fabian kam von links gegangen. „Was
ist hier zu tun? Ich komme mit der ganzen Kompanie."
„Gar
nichts vorläufig, als Ordnung halten! - So eine Schweinerei
hier! Wir kommen hier vorn an den Wald, da sitzen sie auf den Bäumen
und knallen von oben herunter! Und wir stehen unten mit entladenen
Gewehren! Lade du mal, wenn einer auf dich schießt! Das hat
jetzt der Divisionskommandeur von seiner verfluchten Vorliebe für
den Nahkampf! Wenn man diese überständig gewordenen Leute
doch abschaffen könnte! Und wo sind die ganzen Kompaniechefs?"
Er wetterte weiter.
Zu meinen Füßen lag einer
röchelnd.
Aus dem Walde schrie es: „Hilfe,
Kameraden!"
Dort half einer einem anderen aufstehen. Aber es
ging nicht.
Ernst meldete: „Mein Zug hat drei
Leichtverwundete. Und der Krankenträger Weiß fehlt. Ich
hatte ihm befohlen, hinter dem Zug herzugehen."
„Sammeln
Sie die Kompanie hier!" sagte Fabian. „Und schieben Sie
eine Gruppe vor in den Wald, in deren Schutz wir die Verwundeten
sammeln können. Der Verbandplatz ist dort hinten an dem großen
Baum."
„Renn!" sagte Ernst. „Übernehmen
Sie die Sicherung hier vorn am Wege! Wie weit Sie dazu vorgehen
müssen, kann ich von hier aus nicht beurteilen."
Wir
gingen ausgeschwärmt mit bereitgehaltenem Gewehr in den Wald
hinein. Dunkle Klumpen lagen am Boden. Dort ächzte einer.
Zwischen den Bäumen knackte es, halblaute Worte und Stöhnen.
Dort kamen welche mit einem in der Mitte. Vorn winselte einer. Wir
gingen vorsichtig weiter. Man konnte nicht wissen, ob die Franzosen
noch im Walde saßen.
Dort links musste der Winselnde liegen.
Ich ging ein paar Schritte vom Wege ab. Er lag neben einem
Fichtenstamm unbeweglich und winselte nur. Ich kniete nieder. Er
hatte Blut am rechten Ohr.
„Du!" sagte ich.
Er
winselte nur und schien ohne Bewusstsein.
Indem hörte ich
vorn wieder etwas, konnte aber nicht recht unterscheiden, was das für
ein Geräusch war. Es war wie Holz und auch wieder wie von einem
Wesen.
Ich winkte meine Leute heran. „Wir schleichen jetzt
links vom Wege weiter. Dort vorn ist etwas."
Ich ging mit
vorsichtigen Schritten weiter. An den Bäumen sah ich einen
Schein. Auf einmal blendete es mich ins Gesicht. Ich zog mich noch
weiter nach links, um nicht gerade auf das Feuer zuzugehen. Ich sah
fast nichts, obwohl das Feuer nicht hell brannte. Vor mir hörten
die Bäume auf. Drüben war ein neuer Waldsaum. Dazwischen
war ein Streifen Wiese, auf dem rechts das Feuer brannte. Einer
bewegte sich dort. Ich kniete hinter einem Baum. Zum Feuer waren es
fünfzig Schritt oder weniger. Dort saß ein Franzose, der
Scheite nachlegte, die prasselten. Das war das Geräusch von
vorhin gewesen. Mir kam die Sache so sonderbar und unheimlich vor,
mit dem einen Mann. Nein, da lag noch etwas am Boden.
Ich schlich
zu Ziesche zurück. „Bleibt mal hier! Ich schleiche das
Feuer von dorther an. Wenn was geschieht, schießt von hier aus
ins Feuer, dass ich währenddessen ausreißen kann."
Ich
zog mich nach dem Wege zu. Im Wald lag etwas quer. Ich trat von Baum
zu Baum. Der da lag, hatte ein Franzosenkäppi auf.
„Oo-ää!"
Ich war erschrocken. Der am Feuer hatte nur gegähnt.
Wieder
hinter den nächsten Baum. Da! Rechts Menschen am Boden und
Tornister. Ich stand starr. Vielleicht war das eine Feldwache, und
ich hatte mich zwischen die Posten und das Feuer geschlichen?
Aber
dann hätten uns die Posten längst bemerken müssen, und
der am Feuer säße nicht so ruhig.
Ich trat hinter den
nächsten Baum. Dabei stieß ich an etwas Blechernes. Ich
hatte keine Zeit, danach zu sehen, denn der Franzose sah plötzlich
auf.
„Bon jour, monsieur!" sagte er und hob ein
Kochgeschirr in die Höhe. Ich war mir nicht klar, ob er mich
wirklich sähe; denn augenscheinlich blendete ihn das Feuer.
Vielleicht wollte er nur auf alle Fälle freundschaftliche
Beziehungen anknüpfen. Er ließ sein Kochgeschirr sinken
und sagte etwas.
„Wo Francais?" fragte ich.
Er
deutete hinter sich und winkte, als wären sie weit weg.
Ich
ging auf ihn zu bis an den Waldrand und winkte nach meinen
Leuten.
Die tauchten so plötzlich aus dem Dunkel auf, dass es
mir dem Franzosen gegenüber Spaß machte, der mit ganz
runden Augen das sah.
Jetzt sah ich genauer: ein Stück weiter
rechts lief der Weg. An dem lagen tote Franzosen, Tornister, Gewehre.
Sie waren, wie es schien, beim Essen überrascht worden. Vor den
halb ausgegessenen Essnäpfen grauste mich.
„Du,
Hartmann", sagte ich, „du kannst doch ein bisschen
Französisch; frag mal den aus!"
Hartmann war ein
schlanker, schwarzer Kerl mit blitzenden Augen. Er setzte sich zu ihm
ans Feuer.
Ich stellte die übrigen am Waldrand auf.
„Die
haben Brot hier", sagte Hartmann. Er war mir in diesem
Augenblick unheimlich, ich weiß nicht, warum.
„Was
hast du sonst noch erfahren?"
„Hier im Walde haben zwei
Kompanien gelegen. Der eine Hauptmann ist verwundet, sie haben ihn
aber mitgenommen."
„Gut. Sieh dich mal nach Brot
um."
Er legte Tornister und Gewehr beiseite und machte sich
an das herumliegende Gepäck. Sonst war es still, nur in der
Ferne hinter uns schrie ein Vogel.
„Das ist der Totenvogel",
sagte Ziesche.
Mich schreckte diese Bemerkung.
Hartmann kam mit
zwei halben Broten und mehreren Konservenbüchsen gegangen.
Von
hinten Schritte auf dem Weg. „Ihr sollt zurückkommen."
Als
wir aus dem Walde traten, war es etwas heller geworden. Unter dem
mächtigen Baum brannte eine kleine Laterne. Da verband ein Arzt.
Rings lagen welche, einer mit aufgerissener Brust, wächsern und
tot. Andere stöhnten.
Ich meldete dem Leutnant: „Wir
haben auch zwei Brote."
„Die behaltet nur für
euch. Für die Kompanie reichen sie doch nicht."
Der Arzt
erhob sich von seiner Arbeit. Er hatte die Ärmel hochgestreift
und blutige Arme. „Ich bin fertig", sagte er ruhig. „Ich
habe kein Verbandzeug mehr und ganz unzureichende Instrumente."
Er trat ganz dicht an den Leutnant. „Morgen früh sind zwei
Drittel der Verwundeten hier tot."
Krieh! Krieh! schrie es
über uns im Baum.
Ich ging zum Zuge. Der Leutnant folgte mir.
„Mein Pferd ist natürlich nicht hier vorgekommen mit
Schlafsack und Decke. Überdies habe ich heute wieder einen
Burschen verloren, schon den zweiten. Da müssen wir schon unter
einer Decke schlafen." Seine Worte klangen unbestimmt Er musste
sich recht elend fühlen.
Auf der Wiese standen Kornpuppen.
Ich schleppte Stroh heran. Dann schnitt ich dem Leutnant eine Scheibe
Brot ab.
„Sie haben's auch nötig", sagte
er.
„Herrn Leutnant geht's nicht gut."
„Es
geht mir etwas im Kopf herum. Es gibt Dinge, die sind schlimmer als
die Leute, die hier liegen und morgen tot sind."
Ich wagte
nicht, danach zu fragen. Er schwieg auch und sah in die Sterne neben
der dunklen Baumkrone.
Wir streckten uns nebeneinander aus. Die
Decke reichte nur über meinen halben Leib.
Die Verwundeten
stöhnten. Einer gähnte, als könnte er nicht wieder
aufhören.
Krieh! Krieh! schrie der Vogel.
Der Leutnant
atmete unruhig. Was hatte er nur?
Krieh! Krieh! schrie der
Vogel.
Ich hatte vorhin einen gesehen, der lag ganz ruhig auf
einer Trage und blickte in die Sterne, wie damals der Sander in der
Schmiede. Was war aus Sander geworden?
Der Leutnant atmete im
Schlaf. Vielleicht war er wie ein Kind, das zuviel gesehen
hat.
Krieh! Krieh! schrie es im Baum.
Ich sah wieder die Augen
ruhig in die Sterne sehen. Wie lange geht das noch so weiter?
Es
war noch recht kühl und feucht. Die Sonne blinkte mit ihrem
oberen Rand über eine ferne Wolkenbank. Es war ganz still. Der
Leutnant neben mir schlief noch. So blieb ich auch liegen und sah in
den Baum, zwischen dessen dunklem Laub der Himmel dünn blau
war.
Ich fühlte mich kalt, fror aber nicht.
Rings begannen
sie aufzustehen, sich zu recken und dann ihre Decken und Zeltbahnen
zusammenzulegen.
Ich kroch aus unserer gemeinsamen Decke heraus.
Meine Hände waren noch braun vom Blut des französischen
Offiziers. Das war, glaube ich, vor einer Woche. Seitdem hatte ich
mich nicht mehr gewaschen.
Der Verbandplatz lag ruhig.
Aufgeschnittene Röcke, ein nacktes Bein. Der Mann auf der Trage
starrte mit toten Augen in den Himmel.
An der Feldküche
standen die Köche schon wieder in Hemdärmeln. Sie hatten
wahrscheinlich schon lange gearbeitet. Der eine hatte keinen
Hemdärmel mehr am rechten Arm, mit dem er Kaffee mit der
Schöpfkelle in die vorgehaltenen Feldkessel gab. Aus dem offenen
Kessel wallte weißer Rauch.
Neben uns auf der Straße
marschierten Truppen vor und verschwanden im Walde. Ob der Franzose
noch am Feuer saß?
Der Leutnant kam im Mantel zur Küche.
Er sah blass aus und hatte Schmutzstreifen auf dem Gesicht. Ich
wollte ihm wieder Brot geben, aber er wies es mit einer eckigen
Handbewegung zurück. Da nahm mir der Küchenunteroffizier
das Brot aus der Hand, strich es mit Schweinefett und reichte es
Fabian.
„Woher haben Sie denn Fett?" fragte der.
„Wozu
bin ich denn Küchenunteroffizier, Herr Leutnant?"
„Wir
haben ein Loch für die Toten gegraben", sagte Ernst. „Herr
Leutnant werden doch ein paar Worte am Grabe sprechen?"
Fabian
wandte sich ab. „Ich kann nicht."
Ich fühlte mich
auf einmal müde und elend. Die Sonne fing eben an, warm zu
scheinen. Ein paar Schritte abseits stand eine Strohfeime. Dort
machte ich mir ein Loch und legte mich hinein, dass nur die Beine
draußen lagen.
Ich wachte von einem Gespräch dicht
neben mir auf.
„Krankenträger Weiß!" sagte
Fabian. „Mir hat Ihr Zugführer gestern Abend gemeldet,
dass Sie beim Angriff nicht da waren."
Ich stand schnell auf,
um fortzugehen.
„Bleiben Sie hier, Renn! Es ist mir lieb,
wenn ein Zeuge bei der Verhandlung ist. - Haben Sie den Befehl von
Herrn Feldwebel Ernst erhalten, dem Zug zu folgen?"
Ich
wollte ihm nicht ins Gesicht sehen. Aber ich sah seine Beine
zittern.
„Jawohl, Herr Leutnant."
„Weshalb?"
Er
antwortete nicht, zitterte nur.
„Aus Angst?"
„Jawohl,
Herr Leutnant."
Fabian schwieg. „Sie sind ehrlich",
sagte er endlich. - „Ich kann das jetzt nicht entscheiden.
Warten Sie bei dem Baum!"
Weiß ging langsam fort. Seine
Arme hingen so unlebendig herab.
Der Leutnant legte sich ins Stroh
zurück.
Ich ging etwas abseits und sah dem Marschieren der
Truppen zu. Ich hatte eine furchtbare Angst um Weiß und auch um
den Leutnant. Wenn den plötzlich die Wut packte ... Nein, er war
doch ganz ruhig gewesen, aber - das war ja das Unheimliche daran -
man wusste nie, was er dachte.
Sollte ich eigentlich noch weiter
dableiben? Aber wenn ich fortlief und der Leutnant ärgerte sich
darüber und entlüde es auf den erbärmlichen Weiß...?
Meine Gedanken irrten und kamen immer wieder qualvoll an dieselben
Stellen. Und da stimmte es nicht. Konnte ich nicht etwas tun?
„Renn?"
Ich lief zurück und stand in großer Angst vor ihm.
„Gehen
Sie zu Weiß", er sah mich geistesabwesend an, „und
holen Sie ihn her!" Er legte sich wieder zurück. Dabei sah
ich seine ganze Erregung, und das gab mir etwas Hoffnung.
Weiß
trat am Baum im umhergestreuten Stroh herum und sah mich leer an.
Ich
machte nur eine Bewegung mit dem Kopfe. Er kam mit.
Ach! Das war
wieder falsch! Jetzt denkt er, ich verachte ihn, weil ich nicht mit
ihm gesprochen habe. Ich will ihm sagen - nein, ich habe ihm nichts
zu sagen.
Wir kamen zur Feime. Ich wusste nicht, wohin ich mich
stellen sollte, und blieb neben ihm stehen.
Der Leutnant blieb
sitzen und sah ihn scharf an. „Krankenträger Weiß!
Sie wissen, dass ich Tatbericht wegen Feigheit vorm Feinde gegen Sie
einreichen müsste. Sie würden vor ein Kriegsgericht
gestellt und wären für Ihr Leben geschändet. - Ich
mache mich selbst strafbar, wenn ich nicht Tatbericht einreiche.
Trotzdem tue ich es vorläufig nicht. Es widersteht mir, Sie vor
Gericht zu stellen, wo wir vielleicht schon heute wieder ins Gefecht
kommen. Ich kann nur mit ganz freien Menschen ins Gefecht gehen,
nicht mit halben Gefangenen. Wider meine dienstliche Pflicht schätze
ich Sie als Mensch und habe ein solches Vertrauen zu Ihnen, dass ich
Ihnen sage: Der Vorfall ist für mich nie geschehen. Ihre Sache
ist es, dafür zu sorgen, dass auch Ihre Kameraden ihn vergessen.
- Gehen Sie jetzt!"
Weiß machte kehrt und ging
gesenkten Hauptes fort. Er zitterte noch im Gehen.
„Renn!
Setzen Sie sich mal hierher!"
Ich setzte mich neben ihn. Aber
er sagte nichts weiter, sondern legte sich auf die Seite, den Rücken
zu mir, als wollte er schlafen.
Er hatte sich wohl erst während
seiner Worte endgültig entschlossen; denn erst sagte er: Ich
werde vorläufig keinen Tatbericht einreichen, und dann hatte er
alles ausgestrichen, was geschehen war.
So lag er lange. Ich wurde
immer aufmerksamer auf seinen Zustand, und mir wurde sehr bange. Was
brütete er nur?
Er richtete sich auf. „Ich habe Sie als
Zeugen genommen. Ich möchte nicht, dass über den Weiß
in der Kompanie geredet wird. Es ist lähmend für einen
Menschen, wenn man ihn verachtet. - Es ist fürchterlicher, einen
guten Menschen für sein Leben als Feigling zu stempeln, als ihn
totzuschießen!"
Wir marschierten ab, in den Wald
hinein. Das Feuer auf dem Wiesenstreifen glimmte noch. Aber der
Franzose war nicht mehr da.
Weiterhin lagen am Wege viele Tote
dicht beisammen, darunter ein französischer Offizier.
Gegen
sechs Uhr abends trafen wir unsere große Bagage, die rechts auf
einer Höhe hielt.
„Habt ihr Brot?"
„Mehr
als ihr braucht, um zu platzen!" „Dort ist der
Marketender! - Habt ihr Zigaretten?" Wir kamen in einer großen
Scheune unter, aßen und waren sehr vergnügt.
Am nächsten Morgen beim Kaffeeausgeben rief der Feldwebel
aus: „Heute bleiben wir hier!"
„Du, wir gehen
baden!" sagte Ziesche. „Hinter unserm Hof ist ein
Kanal."
Wir gingen gleich dahin, zogen uns aus, legten die
Sachen in die Sonne und sprangen ins Wasser. Der Kanal war tief und
floss ruhig. Wir schwammen hin und her, planschten und bespritzten
uns. Auf der Wiese jagten sich ein paar.
Dann traten wir zur
Löhnung an. Alle sahen frisch und vergnügt aus. Es gab viel
Geld; denn seit Beginn der Kämpfe hatte keine Löhnung
ausgegeben werden können.
Als wir weggetreten waren, stürmten
alle zum Marketender, der auf unserem Hof hielt. Bald gab es dort nur
noch Briefpapier und Stiefelwichse.
Im Nachbarhof lag der
Feldpostwagen. Ich legte mich ins Stroh und schrieb einen Brief an
die Mutter.
Nachmittags rückten wir auf eine Wiese außerhalb
des Ortes und stellten uns im großen Quadrat zum
Feldgottesdienst auf. Vor der Front standen die Offiziere. Der Pastor
kam angeritten im langen grauen Rock mit Militärschlapphut. Auf
der Brust hing ihm ein silbernes Kreuz an einer silbernen Kette. Er
stieg vom Pferde und trat in die Mitte.
„Wenn der Herr die
Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die
Träumenden. - Liebe Kameraden, sind nicht wir die Gefangenen?
Sind wir nicht gefangen von Angst und Schrecken und Todesfurcht?
Ringsum haben wir den Tod gesehen in tausend Gestalten täglich.
Und sind wir nicht befangen von den Eindrücken? - Wenn aber der
Herr uns Gefangene erlösen wird, dann werden wir sein wie die
Träumenden. - Denkt nur um zehn Minuten zurück: da waret
ihr noch Gefangene. Jetzt aber habt ihr euch von den Schrecknissen ab
hin zu Gott gewendet. Und ist euch nicht jetzt, als träumtet ihr
nur, dass es so etwas gibt? Und ist euch nicht zugleich, als hättet
ihr bisher geträumt, und hier erst, an der Schwelle Gottes,
finge das Leben an ...?" Das gibt es wirklich?
Ich sah Tauben
von einem Dach auffliegen und ihre Flügel in der Sonne glitzern.
Ein kleiner Hund kam mitten in das Quadrat gelaufen und schnupperte
dem Geistlichen an den Gamaschen. Später am Tag saß ich
mit Ziesche im Stroh. Sie schwatzten, und ich schwatzte mit. Aber das
war nur ganz außen. In mir war ein Glanz, dass es ein Reich
gäbe, das aus den Träumen meiner Jugend war, nur stärker.
Und in dem Reich gab es keine Gefechte und - Feldküchen. Es ist
ja auch gar nicht der Krieg, was so furchtbar ist, sondern - ja, was?
Ich ahnte wohl etwas davon, aber in die Nähe der Gedanken kam es
nicht.
Wir legten uns schlafen. Der Leutnant war vergnügt.
Braune Flächen. Baumlos lief die gerade Straße in der
Staubwolke der Marschkolonne.
Es wurde gehalten. Ich legte mich in
dem flachen Straßengraben auf den Tornister. Wie dick meine
Hände waren.
„Auf!"
Alles drehte sich um mich.
Die Felder waren in der Sonne noch düsterer geworden. - Man
sollte nicht auf dem Marsch in der Sonne schlafen! - Meine Beine
waren Klumpen. Wenn nur die Straße mal eine Ecke
machte!
Endlich kam ein Haus. Davor drängte sich ein Trupp um
einen Wassereimer. Einer hatte einen Becher geschöpft und setzte
ihn an. Er bekam einen Stoß und goss sich das Wasser in den
offenen Rock.
Eine Frau brachte einen neuen Eimer aus dem Hause.
Ein Haufen stürmte darauf los. Die Frau erschrak, setzte den
Eimer hin und lief ins Haus zurück. Der Vorderste bückte
sich. Sie drängten ihn von hinten. Er stieß den Eimer um
und fiel beinahe. Das Wasser floss glitzernd auf die Straße.
Endlich
kam eine Straßenbiegung, nach rechts in ein Dorf. Dort wurde
gehalten. Auch der Leutnant wusste noch nicht, was weiter
würde.
Hartmann war mit einigen in einen Garten gelaufen und
saß schüttelnd in einem Birnbaum. Wir hatten ja schon
wieder kein Brot mehr. An einer Mauerwand hockten welche; fast alle
hatten Durchfall. Auf der Straße lagen welche im Häuserschatten
und schliefen.
Eine Bataillonsordonnanz kam gelaufen. „Es
geht weiter!"
Schwer erhoben sie sich. Die eben noch Birnen
schüttelten, sahen auf einmal müde aus.
„Wie weit
ist's noch, Herr Leutnant?" fragte Ernst.
„Ich habe den
Ort noch nicht gefunden." Er suchte auf der Karte. „Da!"
Er zeigte es Ernst, der abgespannt aussah.
„Herr Leutnant,
so weit bringen wir die Leute nicht mehr."
„Still! Wir
müssen es versuchen. Wir marschieren am Anfang des Haupttrupps,
da können wir gleichmäßig marschieren."
„Renn,
Sie stellen die Verbindungsleute zwischen der ersten Kompanie und
uns!"
Die erste Kompanie marschierte ab. Nach einer Minute
ließ ich die ersten zwei Verbindungsleute gehen, nach einer
weiteren die zweiten, dann die dritten, ich selbst ging mit den
vierten. In einem Abstand folgte mir die Kompanie.
Wir
marschierten in einer flachen Mulde. Die Sonne ging unter, Schatten
wuchsen von rechts auf den Flächen. Es wurde dunkel. Die nächste
Verbindungsrotte konnte ich nicht mehr dauernd sehen. Nur manchmal
sah ich eine Bewegung.
Ein Dorf kam und ging vorbei. Unregelmäßige
Waldstücke lagen zu beiden Wegseiten.
Hinter uns hörte
ich: „Kompanie halt!"
„Hinten wird gehalten!"
rief ich vor und horchte. Ich hörte nicht, dass sie den Ruf
weitergaben. „Komm mal mit, Hartmann! Wir scheinen den
Anschluss verloren zu haben und müssen uns auseinander
ziehen."
Ich stellte ihn ein Stück weiter vorn auf und
lief weiter, so schnell ich noch konnte. Dort gingen sie.
„Hinten
wird gehalten!" schrie ich.
Einer rief nach: „Hinten
wird gehalten!", aber müde und leise; vorn antworteten sie
wieder nicht. „Habt ihr denn noch Anschluss?" fragte ich.
„Ich weiß nicht", sagte der eine.
„Das
müsst ihr aber wissen!" schrie ich ihn an. „Wenn ihr
nicht Verbindung halten könnt, dann muss ich's allein
machen!"
Ich rannte weiter. Wie sollte ich nur bis da
vorkommen, wenn das überall so war?
Ich rannte, fiel wieder
in Schritt und rannte wieder. Der Tornister schlug mir auf den
Rücken. Ich wurde immer wütender und verzweifelter.
Da
sah ich auf einmal zwei am Straßenrande sitzen.
„Was
soll denn das hier?" schrie ich.
„Es wird doch
gehalten", sagte Ziesche ruhig.
„Habt ihr den Ruf
weitergegeben?"
„Ja, vorn halten sie auch."
Ich
setzte mich zu ihnen. Mein Herz schlug wild.
„Wie weit ist's
denn noch?" fragte Ziesche.
„Ich weiß nicht!"
entgegnete ich heftig, ohne es zu wollen.
Nach einiger Zeit hörte
ich Schritte hinter uns. Das gab wieder ein Rufen, dass
weitermarschiert würde.
Wieder kam ein Dorf und ging vorbei.
Der Boden war sandig. Waldstücke begleiteten uns. Dann schloss
es sich zu dürrem Fichtenwald zu beiden Seiten. Es war ganz
still.
Auf einmal lag einer rechts am Wegrand. - Wenn sie schon
nachts liegen bleiben, das ist schlimm! - Ein Stück weiter lagen
wieder zwei.
Der Wald wich links zurück. Es wurde heller.
Dicht vor uns gingen die nächsten zwei.
Der Weg bog nach
links in ein Dorf hinab. Ob es das war? Es ging durchs Dorf.
Die
zwei vor uns schwankten, und wir kamen ihnen schnell näher. Ich
lief vor, um sie anzutreiben. Es waren aber Leute der ersten
Kompanie, die nicht mehr mitkamen. Vor ihnen gingen wieder drei. Wie
sollte man da überhaupt noch Verbindung halten? Am Straßenrand
lagen gleich fünf oder sechs. Und die alle nur von einer
Kompanie!
Wieder Häuser vor uns. Es wurde ein lang
gestrecktes Dorf. Und es ging durch.
Ich blieb stehen. Vielleicht
waren von meinen Leuten auch welche liegen geblieben? Ich stand.
Niemand kam. Endlich Hartmann allein, die ganze Rotte vor ihm
fehlte.
„Wo ist der andere?"
„Der hat nicht
weitergekonnt."
„Hast du Verbindung mit der
Kompanie?"
„Nein, ich höre sie schon lange nicht
mehr. Aber ich konnte doch nicht stehen bleiben."
Mich fasste
ein Schreck. Wenn sie einen falschen Weg marschiert waren bei den
vielen Weggabeln? Ich ging mit Hartmann und überlegte. Nach vorn
war der Abstand zu groß, nach hinten aber auch. Auch wenn ich
mich selbst als Verbindungsmann einschob, war die Kette nicht mehr
herzustellen. Und sollte ich zurückbleiben? Wenn die Kompanie
falsch marschiert war, nützte das auch nichts mehr. Es wurde mir
schwer zu denken. Mein Hirn war heiß und dumpf.
Vor uns
tauchten Häuser grau aus der grauen Fläche. Das musste doch
das Marschziel sein!
Das Dorf war klein. Drüben ging es
wieder hinaus. Zurückgebliebene schwankten vor uns.
Nach
kurzer Zeit hörten wir vorn Stimmen. Wieder standen Häuser.
Dort hielt die erste Kompanie.
Ich blieb stehen und lauschte, ob
unser Bataillon käme. Ein paar Nachzügler kamen
angeschlichen.
Ein breites Geräusch von vielen Stiefeln.
Reiter tauchten auf, das war das Bataillon.
Wir bekamen eine
Scheune zugewiesen. Die Leute fielen hinein. Ich breitete vorn am
Eingang die Zeltbahn aus. Einer kam hereingetorkelt und legte sich
darauf.
„Geh runter! Das ist für Herrn Leutnant."
Er
brummte etwas und blieb liegen.
„Herr Leutnant kann doch
nicht draußen schlafen! Du musst doch Vernunft haben!"
„Hier
ist doch kein Platz", murmelte er, rückte aber
beiseite.
„Wer ist hier drin?" fragte es durch die
Tür.
„Dritte Kompanie, Herr Hauptmann", sagte ich.
Er war der Führer der zweiten, der sehr grob war.
„Die
Scheune gehört uns!" rief er. „Ihr habt hier nichts
zu suchen!"
„Verzeihen, Herr Hauptmann", sagte
ich, „die Scheune ist uns vom Herrn Bataillonsadjutanten
zugewiesen worden." „Nein, die Scheune ist für uns!
Ihr müsst raus!"
Unsere Leute fingen an zu murren: „Wir
gehen nicht raus!"
Da kam unser Leutnant. „Dieses
Gehöft ist mir zugewiesen, Herr Hauptmann." „Nein!"
brüllte der.
„Ich gehe nicht hinaus, bis es das
Bataillon befiehlt!" sagte Fabian leise und scharf.
„Dann
werden Sie draus vertrieben!" tobte der Hauptmann.
„Wir
gehn nicht raus!" Sie machten sich zur Abwehr bereit.
„Dann
hauen wir euch raus!" rief einer von der zweiten Kompanie und
rückte dem Scheunentor näher.
„Ich suche Herrn
Hauptmann schon die ganze Zeit!" rief die Stimme unseres
Adjutanten. „Ich kann allerdings vergeblich suchen, wenn Herr
Hauptmann in einem falschen Hof sind!"
Die zweite Kompanie
zog ab. Der Hauptmann schimpfte vor sich hin.
„Das war doch
unwürdig eines Offiziers, so einen Streit anzufangen",
sagte ich zu Ziesche.
„Den können aber auch seine
eigenen Leute nicht leiden."
„Still!" sagte
Fabian. „Wenn wir vor der Scheune gestanden hätten, uns
hätte auch die Wut gepackt. Nach so 'nem Marsch darf man's nicht
so genau nehmen."
Der Leutnant legte sich, ich neben ihn und
deckte ihn zu. Er zitterte am ganzen Körper.
„Herr
Leutnant brauchen keine Angst zu haben. Wir sorgen schon für
Herrn Leutnant."
Er hörte sofort zu zittern auf.
Ich
wunderte mich, dass ich gewagt hatte, ihm so etwas zu sagen. Er lag
still wie ein gehorsames Kind. Auf einmal fing er wieder zu zittern
an, aber nur kurz.
„Essen holen!" rief draußen
der Küchenunteroffizier.
Ein paar standen auf. Ich schlief
wieder ein.
„Herr Leutnant!" sagte eine Stimme in der
Tür. „In einer halben Stunde stehen die Kompanien
abmarschbereit."
Ich stand auf. Es war noch Nacht. Ich fühlte
starken Hunger.
Draußen stand die Feldküche.
„Habt
ihr noch was zu essen?" fragte ich die Köche.
„Nein,
jetzt ist nichts mehr da. Weshalb habt ihr denn in der Nacht nicht
aufstehen wollen?"
„Gibt's nicht mal wieder Brot?"
fragte einer nüchtern.
„Diese Nacht ist ein Brotauto
gekommen. Aber das Brot ist schlecht."
„Gib nur her",
sagte ich.
Ich biss in das Brot hinein. Es war bitter und innen
weich wie zerlaufener Käse. Ich hielt es an die Laterne. Außen
war es grün und innen weiß. Es war völlig
verschimmelt. Ich warf es weg.
Wir marschierten ab. Vorn war
starker Kanonendonner. Die Dämmerung kam fahl und
nüchtern.
Hinter einem fichtenbestandenen Hang legten wir uns
hin. Die Sonne kam über die Höhe weg und briet Harz aus den
Nadeln.
Die Feldküche kam und machte ihren Deckel auf. Es gab
Wellfleisch mit etwas Zwiebeln daran.
Auf halber Höhe saß
Weiß an einen Fichtenstamm gelehnt. Ich stieg zu ihm hinauf und
löffelte.
„Du", sagte ich, „der Herr
Leutnant ist krank und phantasiert."
Er antwortete nicht.
„Du
musst mir helfen, wenn es mit ihm schlechter wird."
Er sah
mich mit einem großen Blick an und nickte.
Ich ging zu
meiner Gruppe zurück, legte mich an den Hang und schlief bald
ein.
Gegen Mittag marschierten wir ab. Ich fühlte mich offen
und frisch. Fabian hatte trotz der brennenden Sonne zwei Mäntel
an und schlotterte vor Frost.
Wir rückten hinter Waldstücken
gedeckt vor und legten uns seitlich der Straße wieder in den
Wald. Vorn donnerten die Kanonen. Auch links von uns im Walde mussten
Geschütze stehen.
Auf einmal kam es herangerohrt und schlug
dicht neben der Straße ein. Noch zwei schwere Granaten
folgten.
Wir rückten weiter vor.
„Wissen Herr
Leutnant, wie die Lage ist?" fragte Ernst
„Ich weiß
nur, dass wir die letzte Reserve der Armee sind. Vorn kämpfen
sie schon seit gestern."
Wir zogen uns über eine Fläche
mit einzelnen Wacholdersträuchern.
Ein Husar kam von vorn.
„In unserer rechten Flanke sind zwei französische
Schwadronen." Vorn war lebhaftes Gewehrfeuer.
Es ging in
einer Mulde weiter. Vorn an einer erhöhten Straße lagen
ein paar Offiziere.
Surr! Surr! fuhren zwei Schrapnelle über
uns hinweg.
Vorn stand ein großer dicker Offizier auf und
winkte zu Boden, blieb aber selbst stehen.
„Sie sind von der
Armeereserve?" fragte er.
Er stand hochaufgerichtet mit
flatterndem Umhang auf der Straße. Von drüben setzte ein
Maschinengewehr ein: tak tat tak.
„Wie die schießen!"
lachte er. „Ich glaube, die schießen auf mich."
Er
bewegte sich langsam von der Straße herunter.
Unsere
Kompanie lachte. Einige standen auf, knöpften sich die Hosen ab
und hockten hin.
Sch-pramm! fuhr es mitten unter sie. Eine
Rauchwolke stand zwischen ihnen. Ein paar packten ihre Hosen hoch und
liefen so zur Kompanie. Nur einer blieb sitzen, sein breites
Hinterteil uns zu. Und den Kopf wie eine Eule nach hinten verdreht,
glotzte er die Rauchwolke an.
„Max, das kam dir wohl
unerwartet?" rief einer.
Der General kam breitbeinig gegangen
und sah sich den Mann mit der Rauchwolke an.
Sch-pramm! krachte
eine Granate links vor uns. Vorn schossen mehrere Maschinengewehre.
Über die Straße kamen Sanitäter mit Krankentragen
zurück.
Links kamen welche von vorn. Sie schienen meist
verwundet zu sein. Jetzt kamen auch welche über die Straße.
Sie liefen unruhig.
„Hierher!" rief Fabian.
Pramm!
eine Granate.
„Ich bin verwundet, Herr Leutnant!" rief
einer vorwurfsvoll.
„Ich meine doch nur die
Unverwundeten!"
Es waren Leute unseres zweiten
Bataillons.
Ein Offizier - es war der Leutnant von Boehm - stürmte
auf Fabian los. „Die Schweine!"
„Was ist denn
los?" lachte Fabian.
„Die Schweine haben mir meine
Zigaretten geklaut."
„Die Leute von deiner Kompanie?
Das ist aber ruppig!"
„Ach nee, die Schweine, die
Franzosen!"
„Aber wie kommen denn die zu deinen
Zigaretten?"
„Nu, ich trug den Hesse zurück, weil
er einen Schuss in den Bauch hatte. Aber die Franzosen waren so dicht
hinterher, dass ich meinen Tornister wegschmeißen musste. Und
da waren hundert Stück Zigaretten drin! Die haben die nun, die
Schweine!"
„Aber wo ist denn Hesse?"
„Ich
hab ihn liegenlassen müssen, um nur selbst noch fortzukommen."
Pramm! vor uns. „Aber wie kam denn das alles?"
„Ach,
scheußlich! Wir gingen im Walde vor. Auf einmal kracht's von
allen Seiten. Der Hauptmann Martin kriegt eins in den Kopf. Der Major
ist auch tot und Bender auch. -Und die Schweine rauchen jetzt meine
Zigaretten!"
Er teilte die Zurückgekommenen in neue
Gruppen ein.
Vorn hatte das Gewehrfeuer fast ganz aufgehört.
Es begann zu dämmern.
Auf der Straße erschienen zwei
Offiziere. Der eine humpelte. Es war unser Regimentskommandeur. Sein
Adjutant hatte ihn untergefasst.
„Wie steht's vorn?"
fragte der General.
„Wir haben hier vorn den Waldrand
besetzt und graben uns ein. Rechts sind Franzosen gemeldet."
Wir
marschierten in der Senkung nach rechts ab. Die Mondsichel hatte
schon an Licht gewonnen.
Wir kamen auf einen Weg. Da lag lang
ausgestreckt ein Franzose.
„Sehen Sie mal, ob er tot
ist."
Ich fasste seine Hand. Sie war steif. Mir lief eine
Kälte durch den Körper.
Nicht weit davon hielten wir an
einer halboffenen Feldscheune, um die Büsche
standen.
„Zugführer!" rief der Leutnant leise. -
„Wir gehören zur rechten Flankendeckung. Vor uns liegen
zwei Kompanien. -Sie hören sie schanzen. - Wir stehen als
Reserve dahinter. Wir dürfen natürlich kein Licht machen.
Der zweite Zug stellt Posten um die Scheune."
Wir legten das
Gepäck in den großen Raum. Es lag nur wenig Stroh
verstreut am Boden. Ich raffte etwas für den Leutnant und Ernst
zusammen.
Draußen hörte ich die Feldküche kommen.
Wir gingen hin. Der Kompaniefeldwebel stand dabei und holte Papiere
aus seiner Ledertasche. „Wo ist Herr Leutnant?" fragte
er.
Ich sah mich um.
Der Pferdehalter kam mit dem
Kompanieführerpferd. „Ich bringe den Schlafsack und die
Decke. Wo soll ich's denn hinlegen?"
„Herr Leutnant ist
doch sonst immer beim Essenausgeben", sagte Ernst.
Mich
fasste eine ganz sonderbare Angst. Ich lief nach der Scheune. Niemand
war drin. Doch, dort lehnte einer im Dunkeln.
„Herr
Leutnant?" fragte ich leise.
„Ja, was gibt's?"
„Soll
ich Herrn Leutnant das Essen bringen?"
„Ja, ich kann
nicht recht gehen; ich bin so schwindlig."
Ich lief zur
Feldküche.
„Bring Herrn Leutnant die Sachen in die
Scheune", sagte ich dem Pferdehalter. Ernst sah mich an.
Ich
brachte einen Aluminiumteller, der sehr heiß war, hinein und
kniete vor ihm hin. Er aß wenig. Der Kompaniefeldwebel zündete
eine Kerze an und hatte einen Becher mit Rotwein. Fabian sah fiebrig
aus.
Ich ging zur Feldküche, um Weiß zu suchen.
„Du",
sagte ich, „wo ist unser Bataillonsarzt?"
„Ich
weiß nicht." Er sah mich ängstlich an.
Ich
überlegte. In der Nacht und in dem Waldgelände konnte ihn
auch niemand finden.
Ich ging wieder in die Scheune. Der Feldwebel
legte dem Leutnant Unterschriften vor. Dann deckte ihn Ernst zu.
„Ich
danke Ihnen", sagte er und lag ganz still.
Die Leute waren
auch ganz still. Ich legte mich hin. Was sollte nur aus uns
werden?
Durch die Scheune zog die feuchte Nachtluft. Wie
schrecklich musste das sein bei solchem Fieber! Ich erschauerte und
fühlte mich selbst krank. So hatte ich mir den Krieg nicht
vorgestellt. Da kommen einem die Menschen so schrecklich nah,
schrecklich, denn man kann sie doch nicht halten. Sie werden alle
wieder fortgerissen.
Der Leutnant schlief schon.
„Herr
Leutnant!" - Es war frühe Morgendämmerung. -„Die
Kompanie soll hier vorn das Waldstück besetzen und sich
eingraben."
Wir rückten ein paar hundert Meter vor. Das
Gelände fiel nach vorn zu unregelmäßigen Waldstücken
ab.
Ich begann mit dem kurzen Spaten zu schanzen. Unter der
obersten steinigen Schicht stieß ich auf eine harte, dunkle
Schicht. Wir hatten nur eine Beilpicke bei der Gruppe, mit der einer
links hackte. Ich versuchte in meinem Loch mit der Spatenkante tiefer
zu kommen.
Nach wenigen Minuten schon lief mir der Schweiß
über die Stirn. Unterdessen war es hell geworden, und die Sonne
beschien die Krone einer Eiche, die breit aus dem Walde
herausragte.
Die harte Tonschicht war dünn, und darunter war
gelber Sand, so dass ich bald mein Loch tief genug hatte, um halb
liegend, halb kniend daraus schießen zu können.
Hinter
uns hatte sich Fabian mit seinen Ordonnanzen und Weiß unter
eine Fichte gelegt.
Ein Gewehrschuss von vorn!
Ich fuhr herum,
konnte aber nichts bemerken. Das Schanzen hatte aufgehört. Alles
war totenstill. Noch ein Schuss!
Vor uns näherte sich ein
Waldstück wie ein Keil bis auf etwa zweihundertfünfzig
Meter. Links davon sprang der Wald zurück und kam von da schräg
bis dicht an unsere Linie heran, deren linker Flügel hinter
einer kleinen Erhöhung verborgen lag.
Links ein paar
Gewehrschüsse in einiger Entfernung. Ein deutsches
Maschinengewehr rattert Trrrrr!
Ich bin mit meiner Gruppe auf dem
äußersten rechten Flügel. Ich sehe nach rechts. Neben
mir liegt Ziesche, dann Lehmann und hinter einem Steinhaufen etwas
entfernter Hartmann. Der Kerl scheint zu schlafen!
Ich laufe
hinüber.
„Pst!" macht Hartmann und bleibt ganz
still liegen. Ich lege mich neben ihn.
„Du", flüstert
er, „da unten an der Waldecke bewegt sich was."
„An
welcher, an der rechten oder der linken?" „An der
linken."
„Du, die Franzosen dürfen auf keinen Fall
von ihrem Wald in unsern kommen. Es sind nur zwanzig Schritt von
einem Zipfel zum andern. In dem Zwischenraum müssen wir sie
abschießen. Wenn mehrere kommen, nimmst du den rechten, ich den
linken."
Hartmann nickt
„Dort!" flüstert
er und schiebt sein Gewehr vor. In der linken Waldecke bewegt sich
einer. Plötzlich rennt er mit großen Schritten nach
rechts. „Vorsicht!" sagt Hartmann.
Es muss der Leutnant
von Boehm sein. Dort kommt noch einer und ein dritter. Ein Schuss
knallt. Sie verschwinden im rechten Waldzipfel.
Von links zwei
Schüsse rasch hintereinander.
„Schützenfeuer!"
brüllt Ernst.
„Kümmere dich nur um deine
Waldlücke!" schreie ich Hartmann ins Ohr.
Von links aus
dem schrägen Waldrand sind ein paar Franzosen getreten. Einer
fällt hin, einer rennt zurück.
Aus dem Waldkeil treten
welche nach rechts. Die Franzosen sind längs unserer Stellung
angesetzt. Ich lege auf den nächsten an. Die Schüsse
platzen.
Ich drücke ab. Er fiel schon. Ich lade.
Hartmann
schießt.
Hinter uns kommen welche gerannt.
An der
Waldecke rennen zwei nach rechts. Ich halte kurz vor den
hinteren.
Neben Hartmann werfen sich zwei, neben mich der
Leutnant
Ich schieße.
Drei neue erscheinen in der Lücke.
Zwei Schüsse neben mir!
Einer läuft drüben zurück.
Ein Schuss dort! Er stürzt zusammen. Die Patrouille von Boehm
ist wahrscheinlich noch dort.
Ein Gewehrschuss von links fährt
dicht über uns weg.
„Kommen Herr Leutnant von dem
Haufen herunter!" schreie ich, es ist aber gerade still.
Indem
sehe ich den Leutnant an und er mich, leer, mit grauem Blick.
Er
sieht sich ruhig um. Ganz auf dem linken Flügel knallt noch ein
Schuss. Er steht ruhig auf: „Ordonnanzen!" und geht
langsam nach seiner Fichte.
„Der ist alle", sagte
Hartmann ohne Bewegung.
Nach einiger Zeit merkte ich, dass mein
Rücken von der Sonne unangenehm warm war.
Stunden vergingen.
Die Sonne brannte. Ein paar Mal drohte ich einzuschlafen.
Ich
hatte großen Hunger. Meine Feldflasche hakte ich ab und
schichtete einen kleinen Steinhaufen darüber, um den Kaffee zu
kühlen.
Süi-krapp! kam eine Granate und fuhr zwischen
uns und dem Leutnant in den Boden.
Sch-bra-rrr! Die Splitter
sausten.
Ich sah mich um. Die Ordonnanzen und Weiß sahen
nach den Granateinschlägen. Der Leutnant lag und schien es gar
nicht zu bemerken.
Pramm! Zwei Schritt hinter meinem früheren
Loch.
Die Einschläge wanderten nach der Mitte der Kompanie.
Alle lagen zu weit. Die meisten gingen blind in den Boden. Nur jede
dritte bis vierte Granate krepierte.
Auf einmal klang eine Granate
anders. Ich sah mich um. Wohin sie jetzt gingen, konnte ich nicht
sehen. Wahrscheinlich schlugen sie in die Nähe der Feldscheune,
in der wir übernachtet hatten.
Ich wurde stumpf. Es krachte
immer gleichmäßig.
Die Sonne stand schon schräger
und schien uns ins Gesicht. Seit einiger Zeit schlugen die Granaten
wieder in unsere Nähe.
„Sanitäter!" Das war
Lehmann im Nachbarloch. Von hinten kam Weiß gelaufen. Er sah
blass aus. Die Einschläge lagen in der Nähe des Baumes,
unter dem Fabian lag.
Kramms! Ich fuhr zusammen. Es war sehr nah.
Weiß wischte etwas Rotweißes aus dem Gesicht. Dann
wischte er die Hand im Gras ab. Lehmann schrie und wurde
undeutlicher.
„Was ist geschehen?" fragte ich.
„Es
hat mich von Lehmann bespritzt, Gehirn."
„Hat dir's
auch was getan?"
„Ich weiß nicht. Der Ärmel
ist mir aufgerissen."
Ich kroch zu ihm hinüber. Lehmann
war schon still geworden. Sein Hinterkopf war aufgefetzt, mit
schwarzen Haaren. Dem Weiß war der rechte Ärmel am Oberarm
aufgeschlitzt.
„Gib mal dein Messer her!"
Ich
schnitt ihm den Rockärmel ab. Am Hemdärmel war ein
Blutfleck. Den Ärmel schnitt ich auch weg. Er hatte auf dem
Oberarmmuskel einen blutunterlaufenen Kratzer.
„Das tut wohl
sehr weh?"
„Ich weiß nicht", entgegnete er
kläglich. Ich wickelte ihm ein Verbandpäckchen
darum.
„Hilfe, Sanitäter!" schrie es links drüben.
Weiß sah mich ängstlich an. „Hilfe! Sanitäter!"
„Geh
hinüber!" sagte ich hart. Aber ich wusste nicht, ob es
recht war. Weiß stand auf, ohne mich anzusehen, und lief
gebückt hinüber.
Ich nahm seinen Rockärmel und
steckte ihn in die Tasche. Dem Lehmann musste ich seine Wertsachen
abnehmen. Ich griff in seine Taschen. Da war nur ein Taschentuch, ein
kleiner Spiegel und die Brieftasche. Für die Erkennungsmarke und
die Uhr musste ich ihn umwenden, und das, ohne mich unnötig zu
zeigen. Ich stemmte mich gegen seine Schulter und wälzte ihn auf
den Rücken. Sein Kopf fiel mit der offenen Wunde in den
Sand.
Ich knöpfte ihm Rock und Hemd auf und schnitt das Band
der Erkennungsmarke durch. Seine Brust war noch warm. Dann zog ich
die Uhr mit der silbernen Kette vorn aus der kleinen Tasche, steckte
alles ein und kroch zu Hartmann zurück.
Eckold, die
Ordonnanz, rief von hinten: „Herr Feldwebel Ernst zu Herrn
Leutnant!"
Ernst lief gebückt hinter und kniete bei dem
Leutnant, der nur den Kopf etwas erhoben hatte. Dann kam er zu mir
vorgelaufen und legte sich neben mich. Was wollte er denn von mir? Er
sah unruhig aus.
„Herr Leutnant hat mir das Kommando der
Kompanie übertragen und mir gesagt, das hier wäre der
wichtigste Punkt der Kompanie. Seien Sie unbedingt wachsam
hier!"
„Wissen Herr Feldwebel etwas von der allgemeinen
Lage?"
„Die Franzosen haben heute früh auf breiter
Front unsere Armee angegriffen, sind aber überall abgeschlagen
worden." Er lief gebückt nach links fort.
Das Schießen
hatte aufgehört. Was sollte aus uns werden ohne den
Leutnant?
Sch-pack! in unsere Linie, aber ein Blindgänger.
S-pomm!
Wieder schrie einer. Das musste Häusler aus meiner Gruppe sein.
Ganz von drüben kam Weiß mit dem Verband um den nackten
Oberarm.
Die Sonne neigte sich. Links stand die Mondsichel über
dem Walde. Es wurde ganz still. Weiß verband links. Die Sonne
verschwand. Der Mond machte scharfe Schatten.
Ich stand auf und
ging hinüber zu Weiß. Er war aufgestanden.
„Ich
habe deinen Ärmel mitgebracht. Wie ist's denn mit deinem
Arm?"
„Er tut weh, aber das macht nichts",
entgegnete er sonderbar frei und frisch. Er sah aber sehr blass
aus.
Ich steckte ihm den Ärmel an. Eckold kam gelaufen.
„Was
gibt's?"
„Die Kompanie rückt ab." Er sah mich
nicht an und lief schnell weiter. Das war sonst nicht seine Art. -
Hieß das
Rückzug?
Ernst sammelte die Kompanie und
schied eine Nachspitze und eine Patrouille als Flankendeckung aus.
„Es geht zurück", murmelte einer. „Wo ist
Fabian?" fragte mich Liebold. „Ich weiß nicht",
sagte ich und wandte mich ab. Wir rückten zwischen Waldstücken
zurück. Rechts hörte
ich Schanzzeug klappern. Da
marschierten auch Truppen ab. Niemand sprach ein Wort.
Wir
hielten. Hier sammelte das Regiment. Einige Kompanien hatten kaum
mehr vierzig Mann.
Ernst stand stumm vor der Kompanie.
Ich
fragte ihn leise: „Wo ist Herr Leutnant, Herr Feldwebel?"
„Ins
nächste Lazarett."
„Wissen Herr Feldwebel, was ihm
fehlt?"
„Wahrscheinlich Typhus."
Wir rückten
auf der Straße weiter zurück. Ich fühlte mich so
elend und konnte nicht sprechen. Körperlich war es nicht, obwohl
ich großen Hunger hatte. Aber der Gedanke, dass es zurückging!
- Wie weit! Um mich brüteten sie.
Wir marschierten. Der Mond
ging unter. Wenn wir doch wenigstens mal die Feldküche
träfen!
Wir hielten auf einer erhöhten Straße.
„Wer
liegt denn da?" fragte Ernst und deutete auf den
Straßenhang.
„Ein Offizier", sagte ich und stieg
hinunter. Er hatte sich ganz in seinen Umhang eingewickelt. Ich
erschrak. „Herr Leutnant!"
Er wickelte sich aus dem
Umhang und sah sich um.
„Wie kommen denn Herr Leutnant auf
diese nasse Wiese?"
„Renn? - Gott sei Dank, mir ist
etwas besser."
Ich half ihm aufstehen und auf die Straße
hinauf.
„Ich wollte ins Lazarett. Aber das sollte den
Franzosen übergeben werden. Hier bin ich nicht mehr
weitergekommen."
Vor uns marschierten sie wieder ab. Wir
mussten auch antreten. Ich hatte den Leutnant untergefasst. Wenn ich
ihn ließ, kam er in Gefangenschaft. Er war sehr groß und
schwer und konnte nicht so schnell gehen wie die Truppe. Ich musste
ihn ziehen. Bald war ich in Schweiß, und mein rechter Arm, mit
dem ich immer vorwärts drückte, war schon lahm. Wie sollte
ich es nur anders machen?
„Lassen Sie mich nur liegen",
sagte er leise. „Ich kann nicht mehr so schnell, mir schwindelt
so."
„Auf keinen Fall!" sagte Ernst. „Ich
mit Renn bringe Herrn Leutnant schon in ein Quartier."
Er
fasste den Leutnant von rechts an. Er war sehr kräftig und hatte
weder Tornister noch Gewehr. Aber es wurde immer schwerer, den
Leutnant vorwärts zu bringen. Er gab manchmal einen Laut von
sich, der grässlich war. Mir lief der Schweiß schon von
der Nasenspitze.
„Hier steht die Feldküche", sagte
Hartmann auf einmal.
Wir zogen den Leutnant aus der Kolonne. Der
Kompaniefeldwebel half ihm mit dem Kutscher auf den Bock.
Wir
liefen der Kompanie nach. Ich stieß mit Brust und Stirn gegen
einen Chausseebaum und taumelte weiter. Meine Vorstellungen
verwirrten sich im Rennen.
Der Tag fing an zu dämmern.
Wir
hatten doch seit vorgestern Abend nichts mehr gegessen.
Als ich
vorn ankam, hielt die Kompanie vor dem Hofe, wo wir den Streit mit
dem Hauptmann der zweiten Kompanie gehabt hatten.
Leutnant von
Boehm gab die Befehle für die Unterkunft. Er führte wohl
jetzt die Kompanie? Er half Fabian von der Feldküche und führte
ihn ins Haus. Eckold trug ihm das Essen hinein.
„Das ist 'ne
ganz andere Art Kompanieführer", sagte
Ziesche.
„Wo
hast du denn deinen Ärmel?" fragte ich Weiß, der
kreidebleich und schmutzig an der Küche stand und löffelte.
„Der
ist mir abgegangen." Irgendeine Angst stand in seinen Augen,
aber nicht eine vorm Schießen. „Willst du nicht mal zum
Arzt gehen?" Er schüttelte den Kopf. „Weshalb denn
nicht?"
„Du musst mir helfen, dass ich bei der Bande
bleibe." Wollte er denn noch immer zeigen, dass er nicht feig
wäre? „Aber da musst du dir einen neuen Rock verschaffen.
Sonst sehen alle, was du hast."
Er nickte. Irgend etwas war
heute mit ihm nicht richtig. Ich hätte ihn gern gefragt, warum
er dableiben wolle. Aber er wollte wohl nichts sagen.
Unterdessen
war es schon heller Tag geworden. Wir legten uns in die Scheune. Ich
musste gähnen und fühlte mich
recht matt. Dazu konnte
ich nicht schlafen. Was war das alles hässlich!
Mich fror auf
einmal. Hatte mich der Leutnant angesteckt?
Ich fuhr auf. Einer
lag halb auf mir, und ich musste hinaus, und sehr eilig. Ich wälzte
ihn zurück und kroch hinaus. Draußen schien die Sonne.
Auf
dem Hof rauchte die Feldküche. Ich lief ums Haus in den
Garten.
Ich hatte starken Durchfall.
Als ich aufstand, war ich
sehr leicht, aber auch etwas schwach. Ich ging zurück.
Auf
der Straße stand jetzt ein Bauernwagen. Boehm führte
unsern Leutnant, dessen Gesicht alt und fiebrig aussah, und half ihm
in den Wagen. „Grüß die Heimat!" rief
Boehm.
Fabian gab ihm die Hand und sah mich traurig an. Der Wagen
fuhr ab.
„Fertigmachen! In einer halben Stunde steht die
Kompanie!"
Wir marschierten wieder nach vorn. Es wunderte
mich, wie gleichgültig es mir war, wohin wir marschierten. Die
Sonne brannte gerade herunter. Wir zogen uns nach links in den Wald.
Vor uns stieg eine ziemlich bedeutende Höhe an.
Boehm rief
die Zugführer.
„Wir gehören zur Nachhut und haben
den Auftrag, zusammen mit unserer Maschinengewehrkompanie und einer
Abteilung Feldartillerie die Franzosen aufzuhalten. Niemand darf sich
oben auf der Höhe zeigen außer den Posten."
„Kommt
die Feldküche vor?" fragte Ernst.
„Nein, die ist
schon mit der Gefechtsbagage abgerückt."
Ich fühlte
mich ausgezehrt und legte mich unter einen Baum. Es war wunderbar
still. Nur einige Fliegen summten. Es roch nach frischem Harz. Der
Himmel zwischen den Fichten war tiefblau und glänzend. Solchen
Himmel gab es auch zu Hause auf unserem Berge.
Wenn die Franzosen
kämen, ahnungslos die Straße entlang? Ich freute mich fast
darauf und schlief ein.
Ich wachte auf und lag im Walde. Die Sonne
schien schon schräg. Ein kräftiges Hungergefühl trieb
mich auf. Ich wunderte mich, niemand um mich zu sehen.
Sie hatten
sich etwas abseits in den Schatten einer Baumgruppe gesetzt und
hörten dem Leutnant zu.
„Das gönne ich den
Franzosen nicht, dass sie uns jetzt nachkommen können, als
hätten sie gesiegt. Die Hunde sind doch so feige, dass sie jetzt
noch nicht da sind! Sie riechen wahrscheinlich unter jeden Busch, ob
nicht ein Deutscher drunter sitzt!"
Von oben kam einer
atemlos. „Herr Leutnant, sie kommen die Strafte entlang!"
„Die
Höhen besetzen! Aber nicht schießen, bis sie nicht auf
hundert Meter heran sind!"
Wir liefen ausgeschwärmt die
Höhe hinauf. Der Wald zog sich noch zwanzig Schritt den anderen
Hang hinunter. Rechts auf der Strafte kam die französische
Spitze, ein kleiner Klumpen Menschen.
Rrrrrr! setzte jenseits der
Straße eins unserer Maschinengewehre ein.
Die Franzosen
fuhren auseinander in die Straßengräben.
Sch! Sch! Von
hinten fuhr es über uns weg und schlug irgendwo in den
Wald.
Rechts ratterten mehrere Maschinengewehre, dazwischen
unregelmäßiges Gewehrfeuer. Für uns war die Aussicht
nach weiter vorn durch eine niedrige Waldhöhe versperrt.
Rechts
hörte das Schießen auf. Nur unsere Artillerie schoss.
Wir
warteten. Rechts setzte ein Maschinengewehr ein, brach aber bald ab.
Unsere Artillerie hatte auch aufgehört zu schießen.
Sch!
S! S! S! kam es von vorn und rauschte hinter. Ram! Ra! Ramm! hinten
im Grunde. SsSsSsSs! ging es rechts hinüber. „Pst!"
machte Ziesche.
Ich sah links drei aus dem Walde kommen. Sie
gingen langsam auf unsere Höhe los.
Ramm! krachte es links
hinter uns in den Wald. Hatten sie uns doch schon
entdeckt?
Krap-parrr! Die Granate schien in einer Baumkrone
krepiert zu sein.
Aus dem Wald kamen etwa zehn Mann unregelmäßig
verstreut, immer mehr.
„Jeder einen Mann aufs Korn nehmen
und entsichern!" rief Ernst ganz leise. Wir flüsterten den
Befehl weiter.
Sch! Sch! kam wieder unsere Artillerie von hinten
vor, aber von weiter hinten, wie es mir schien.
Ich legte an auf
einen, der, das Gewehr unter dem Arm, langsam
heraufstieg.
„Schützenfeuer!" schrie Boehm
gellend.
Ich drückte ab. Das Feuer knatterte. Mein Mann lag.
Ein paar rannten noch und warfen sich hin. Ich schoss auf den
nächsten rechts.
Es waren Geräusche von schwerem
Krachen. Aber im Walde hallte es zu stark, um es zu unterscheiden.
S!
S! zirpten ein paar Kugeln über uns weg.
Unsere
Maschinengewehre ratterten. Ich sah rechts von mir Hartmann laden und
schießen und wieder laden. Er schien wie im Fieber.
„Ruhiger
schießen!" brüllte Ernst.
Das Knallen ließ
etwas nach. Mir schien es, als schössen die deutschen Batterien
nicht mehr. Maschinengewehre hörte ich auch
nicht.
„Zurückgehen!" wurde von links durch die
Linie gerufen.
Das Gewehrknallen hörte auf. Hinter uns
krachten Granaten. Wir standen auf und gingen den Hang hinab.
Kramm!
Rechts von mir flog neben einem Busch Dreck auf, und eine schwarze
Wolke stand.
Pack! fuhr es links etwas näher in den
Boden.
Krappramm! riss es in halber Höhe an einem Baum. Die
Krone kippte ab und fiel in die unteren Äste.
Zwei rannten
eilig dort vorbei. Sollte man auch rennen? Hartmann kam dicht zu
mir.
Wack! in den Boden.
„Jetzt durch!" sagte ich
und rannte los, um ein paar Bäume.
Kramm! links, und warf
Dreck umher.
Es wurde offener, nur noch einzelne Büsche.
Krapp!
rechts hinter uns.
Wir waren durch. Ich hörte zu rennen auf
und sah mich um. Sie rannten noch hinter mir. Ziesche fehlte. Nein,
dort kam er hinter einem Busche hervor, ziemlich langsam, und sah
immerfort nach rechts und links.
„Was rennt ich denn?"
rief er. „Du wärst beinah reingerannt."
Ich
wendete mich ab. Sie sahen mich an. Ein Unsinn, zu rennen! Ich hasste
mich!
„Passen Sie doch auf. Renn!" rief Ernst. Ich fuhr
zusammen, er gab das Zeichen zum Sammeln.
Die Franzosen schossen
weiter auf verschiedene Stellen im Walde. Wir marschierten zurück
und bogen auf die Straße. Im Dämmerlicht erkannte ich,
dass unser ganzes Bataillon dagewesen war, vielleicht noch mehr. Es
wurde still.
Unter Halten und Stocken kam der Marsch in Gang. Vor
uns fuhr eine Batterie. Der hinterste Wagen klapperte von Eisen. Das
Mondlicht lag auf dem dunklen Kasten, aus dem irgendwelche Stangen
ragten. Ich fühlte mich elend und erbärmlich.
Wir kamen
wieder in das Dorf, wo wir den Streit mit dem Hauptmann hatten. Das
nächste Dorf kam, das kurz dahinter lag. - Wenn wir den ganzen
Marsch zurück machen müssten, den wir damals vor
machten?
Wir hielten ein-, zweimal.
Der Mond ging unter. Es
wurde ganz dunkel.
Und dann begann es langsam hell zu werden. Der
Himmel hatte sich umzogen. Vor uns lag eine weite, kahle Fläche.
Das Gras auf den Wiesen war braun und wie tot. Es lastete schwül.
Wir
hielten. Ich legte mich auf den Tornister. Zu beiden Seiten der
Strafte hockten sie nieder. Sie hatten nichts im Magen. Bei mir
schien der Durchfall vorübergegangen zu sein. Der Himmel
blendete mich, und ich schloss die Augen.
Auf einmal zupfte mich
jemand am Ärmel. Ich sah in das fahle Gesicht von Weiß mit
ganz erschöpften Augen. Ich fuhr erschreckt empor. „Was
ist mit dir?"
„Mein Arm tut so weh, und der Tornister
drückt so."
Ja, Weiß war überhaupt
schwächlich.
„Aber wie soll ich dir helfen?"
„Ich
weiß nicht", flüsterte er kläglich.
„Warte
mal", sagte ich. Es wurde mir sauer, aufzustehen. Ich ging zu
Ernst.
„Herr Feldwebel, der Weiß hat einen Prellschuss
am Arm, aber er wollte bei der Kompanie bleiben. Aber jetzt kann er
doch nicht mehr. Könnte er nicht wenigstens ein Stück auf
einer Kanone mitfahren?"
„Ich weiß schon",
entgegnete Ernst. „Ich werde es Herrn Leutnant sagen."
Als
ich zu ihm zurückkam, saß Weiß am Straßenrand.
Er zitterte und versuchte, es mir nicht zu zeigen.
Ich sagte ihm:
„Hab keine Angst. Wir sind bald da." Aber ich glaubte es
selbst nicht. „Dann sehe ich deinen Arm mal nach." Ich
wusste aber gar nicht, was man mit so einem Arm macht.
Boehm ging
zur Artillerie vor und holte dann Weiß und einige, die nicht
mehr fortkonnten.
Wir marschierten weiter. Am Straßenrand
lagen Schanzzeug, Telefontornister, Seitengewehre, aber keine
Marschkranken. Denn wer liegen blieb, kam in Gefangenschaft.
Gegen
neun Uhr vormittags kamen wir in ein Dorf. Dort sollten wir bleiben.
Die Feldküche stand da und war hoch mit Broten beladen.
Der
Adjutant kam in scharfem Trab geritten. „Sofort abmarschieren,
in dieser Richtung!" Er deutete dahin, von wo wir eben
kamen.
„Verfluchte Scheiße!"
„Man kann
uns doch nicht hin und her zerren wie die jungen Hunde!"
„Ruhe!"
brüllte Boehm.
„Herr Leutnant!" sagte ein
Unteroffizier. „Das geht nicht mehr."
„Wir sind
im Kriege! Da lässt sich keine Rücksicht nehmen!"
Wir
marschierten wieder nach vorn und legten uns in eine flache Mulde.
Boehm nahm die Zugführer vor und bestimmte die Abschnitte. Wir
schwärmten aus und schanzten in dem Sandboden. Ich hatte bald
ein Loch gegraben, groß genug, mich hineinzulegen. Dann gab ich
meinen Spaten
dem Linke, der seinen gestern weggeworfen hatte,
weil er so schwer war und immer mit dem Stiel ans Knie schlug.
Die
Feldküche kam hinter uns in die Mulde gefahren. Sie hatten vier
Pferde vorgespannt, um sie mit der schweren Belastung in dem
Sandboden fortzubringen, und trieben die Pferde mit Hüo und
Peitschenknallen vorwärts.
Wir traten zum Essenempfang
an.
Boehm befahl, in drei bis vier Stunden noch einmal Essen
auszugeben.
Ich ging zu Weiß, obwohl es mir selbst schwer
wurde zu gehen und ich lähmend müde war. Er hatte sich
einen neuen Rock verschafft, der ihm um seinen dünnen Leib
schlotterte. Ich half ihm den Rock ausziehen. Die Binde saß
noch auf der Stelle, hatte sich aber zusammengedreht und musste
drücken. Ich wickelte sie ab. Das Päckchen war mit Blut
angeklebt. Ich versuchte, es vorsichtig abzulösen. Aber er griff
hin und riss es herunter. Die Schmarre war schon zugeheilt. Aber der
Muskel war geschwollen und sah blau aus.
„Ist das
gefährlich?" fragte ich ihn.
Er schielte hinunter. „Das
ist ganz harmlos, aber's tut lausig weh."
„Komm!"
sagte ich. „Jetzt ziehen wir wieder deinen Rock an, und dann
schlafen wir drüben in meinem Loch."
Ich hörte, wie
Boehm mit Ernst sprach: „Es ist noch die neue Nachhut vor uns.
Wir brauchen keine besonderen Vorsichtsmaßregeln."
Ich
legte die Zeltbahn unten in das Loch; denn der Sand war feucht. Unser
Loch war eng für zwei. Ich begann auf einmal zu frösteln.
Weiß zitterte, wohl vor Überanstrengung.
„Lehn
dich an mich an, dass dein Arm ganz frei liegt!"
Ich zog noch
an der Decke herum. Dann wusste ich nichts mehr.
„Kompanie
fertigmachen!" Heftiger Kanonendonner.
Pramm! schlug eine
Granate vielleicht zweihundert Meter vor uns ein. Es war mir, als
hätte es schon lange geschossen. Der Himmel sah unheimlich
schwarz aus mit einem fahlen Glanz.
Ich stand auf. Weiß
schlief noch. Wie blass er aussah! Es tat mir leid, ihn zu wecken.
Ich packte ihn am Bein.
Er schnaufte und sah sich auf einmal um.
„Wie ist dir jetzt?" fragte ich.
Er wischte die Augen
mit dem Handrücken und lächelte. „Gut." Ist das
ein Kind! dachte ich.
Eine Granate schlug ganz nah ein. Ich könnte
mich danach umsehen, aber ich tat es nicht. Die Kanonen wummerten.
Oder war das Donner? Ein Windstoß fegte Staubwolken über
die Fläche.
Wir sammelten rückwärts und
marschierten ab. Hinter uns donnerten noch die Kanonen. Von rechts
trieb uns ein Wind Staub und Hagel ins Gesicht. Die Körner
sprangen auf den Feldern.
Boehm ging vor uns mit schief gehaltenem
Kopf und sagte: „Da wird man doch wenigstens mal rein! Aber
gemein ist, dass man dabei nicht rauchen kann!"
Stoßweise
kam der Wind, bald mit dicken Wassertropfen, bald mit Hagel. Am
Gewehr lief das Wasser entlang und tropfte vom Helm in den Hals.
Ich weiß nicht, wie viele Tage wir marschierten. Ich kann
mich überhaupt der Einzelheiten dieser Märsche nicht
erinnern. Wir waren schweigsam geworden. Es regnete Tag für Tag.
In den Nächten froren wir in den durchnässten Sachen. Unser
drittes Bataillon wurde eingesetzt und kam in der Nacht mit wenigen
Mann und ohne Offiziere wieder. Ich wagte nicht zu denken: Wann geht
es uns auch so, und ich dachte es doch heimlich vor mir. Immer weiter
ging es hinter der Front nach Norden.
Eines Nachmittags hockte ich
neben Hartmann hinter einem Hause. Wir konnten nicht ganz an die Wand
gehen, weil da Brennnesseln wuchsen.
„Du", sagte
Hartmann, „kennst du meine Braut?"
„Nein."
Ich weiß nicht, wie es mir in dem Augenblick kam, ich dachte,
er ist der bestgewachsene Kerl in der Kompanie, nur sieht er zu
finster aus.
„Wenn mir was geschieht", er sah zwischen
seinen Knien auf den Boden, „musst du's ihr schreiben." Er
war erregt und wollte es nicht zeigen. „Meine Eltern wollten
nichts von ihr wissen - und ihre nichts von mir." Er zog ein
Stück Zeitung aus der Tasche, zerriss es und wischte sich ab.
Das tat er so grässlich bedächtig. Was sollte ich nur
sagen? „Sie heißt Hanna Seiler und wohnt Adolfistraße
31."
Wir standen auf und gingen ins Haus hinein. Er putzte
sein Gewehr. Ich rasierte mich, um nicht das gleiche zu tun wie
er.
Weiß hatte Rock und Hemd ausgezogen und wusch sich. Sein
Oberarmmuskel schillerte noch in allen Farben.
„Weshalb
wolltest du eigentlich damals nicht ins Lazarett?" fragte
ich.
„Ich weiß doch, wie's bei einem Lazarett auf dem
Marsche ist. Da ist es besser bei der Kompanie, wo sich welche um
einen kümmern."
„'s gibt Post!" schrie einer
vor dem Hause.
Ziesche lief hinaus.
Er brachte mir einen Brief
und legte ihn mir auf den Tornister. Es war die Schrift meiner
Mutter. Ich wollte mich erst fertig rasieren und waschen.
Ernst
sah zur Tür herein. „Sofort fertigmachen!" Er
verschwand wieder.
Wir warfen unser Zeug in die Tornister. Den
Brief legte ich auch hinein.
Auf der Straße traten sie schon
an.
„Wir werden nach Sainte-Marie vorgezogen", sagte
Boehm. „Was wir dort sollen, weiß ich auch noch
nicht!"
Wir rückten über eine weite Wiesenfläche
in Wald. Unterdessen begann es zu dunkeln.
Wir hielten und setzten
uns in den Straßengraben. Bald schliefen einige. Ich war
nüchtern. Was sollte ich mit der dummen Telegrafenstange vor
mir? Wenn es irgend etwas gäbe, was einem die Angst zudecken
könnte. Ja, saufen! -Wenn man etwas hätte. Aber nein, ich
würde nicht besoffen ins Gefecht gehen. Mir schwindelte vor dem
Gedanken. -Wenn man nur wenigstens wüsste, wie lange es noch
dauert, und wenn man die Gegend kennte, in der man angreifen
soll!
„Herr Leutnant möchte zum Bataillonsführer
vorkommen!"
Boehm stand auf und ging.
Ich wachte auf.
Meine Beine lagen mit den Stiefeln etwas zu hoch und hohl. Ich war
ganz in den Graben hineingerutscht. Die Knie taten mir weh. Mein
Gesäß war nass geworden.
Ich war zu nüchtern, um
wieder einzuschlafen. Der Gedanke, zu rauchen oder etwas zu essen,
ekelte mich. Das nützte doch nichts für den Angriff. -
Warum musste ich wieder ins Feuer hineinlaufen? Die andern, die
gingen mich ja nichts an - nein, die Kompanie schon, aber die andern
Kompanien nicht. Mögen die doch angreifen, aber wir nicht noch
einmal! Ist es nicht einmal genug?
Einer kam von vorn auf der
Straße gerannt. „Dritte Kompanie?"
Ja."
„Sofort
antreten, aber ohne Lärm!" „Auf die Straße!"
befahl Ernst leise.
Wir marschierten ab. Nach wenigen Schritten
lichtete sich der Wald. Häuser tauchten auf und eine Kirche mit
niedrigem Zeltdach. Offiziere standen auf der Straße.
„Mir
folgen!" flüsterte Boehm. „Das Bataillon greift
an."
Er ging eilig die Dorfstraße voraus. „Halt!"
flüsterte er. „Nach hinten durchsagen: die Zugführer
zu mir!"
Die Zugführer standen stramm.
„Machen
Sie sich's bequem! - Wir sollen die Franzosen aus dem Walde vor uns
vertreiben. Unsere Kompanie ist in der Mitte. Wenn wir aus dem Dorf
ins Freie kommen, zieht sich der zweite Zug rechts, der dritte links
heraus. Unsere Front ist halbrechts. Sie müssen Ihre Leute bei
der Dunkelheit zusammenhalten, und kein lautes Wort! - Jetzt
los!"
Ernst gab das Zeichen zum Antreten.
Rechts und links
stand noch je ein kleines Haus. Wir bogen von der Straße nach
rechts auf eine Wiese. Von rechts lief ein Damm herüber. Von
einem Walde war nichts zu sehen. Zu beiden Seiten hörte ich das
Schanzzeug der vormarschierenden Züge klappern.
Wir
kletterten den Eisenbahndamm hinauf. Vor uns lag der Wald auf
dreihundert Meter. Die steile Böschung hinunter.
Links ein
Gewehrschuss! Der Wald war schon nah. Ernst flüsterte:
„Schwärmen!"
Ich rannte vor meine Gruppe. Vor mir
zog Ernst die Pistole aus der Ledertasche.
Links wildes
Gewehrgeknatter!
„Marsch, marsch!" schrie der
Leutnant.
Zwei Schüsse von vorn! Noch zwanzig Schritt bis zum
Waldrand.
Gewehrschüsse peitschten. Ich sah das Aufblitzen im
Walde.
Der Leutnant warf sich hin. Ich links neben ihn.
Einer
kam rechts vorgelaufen und fiel. Mir fuhr durch den Kopf, das müsste
Ziesche sein - sollte ich schießen? Es peitschte um die Ohren.
Aufblitzen im Waldrand hier und da mit roten Flämmchen.
Dicht
über meinen Kopf weg! Mein Kinn steckte in den Grashalmen. Die
Schultern drückte ich herunter. Links schoss ein französisches
Maschinengewehr.
Boehm bewegte sich.
Ein Schuss dicht! Es
knallte. Wie spät mochte es sein? Vielleicht war die
Morgendämmerung schon nahe.
Das Feuer ließ etwas nach.
Das Maschinengewehr links tackte.
Sch! Sch! Sch! Sch! fuhr es über
uns weg und schlug hinten ins Dorf.
„Zurück!"
flüsterte Boehm.
Ich legte das Gewehr in die linke Hand und
begann mich rückwärts zu schieben.
Ein Schuss vor meinem
rechten Arm in den Boden.
Sch-parr! Sch-pang! dicht weg in den
Bahndamm.
Ich schob mich weiter. Meine Hosen streiften sich in die
Höhe. Vor uns war es still geworden. Nur rechts schoss es
lebhaft, und links tackte das Maschinengewehr mit kurzen
Unterbrechungen.
Vielleicht sehen sie uns nicht mehr, dachte ich,
und erhob mich etwas mehr vom Boden, um leichter kriechen zu
können.
Rechts lag, der vorhin hinfiel.
Ich schob mich
hinüber. Er regte sich nicht. Vielleicht war es auch Ziesche
nicht?
Ich kam dicht neben ihn. Es war Ernst. Er hatte den linken
Arm halb unter dem Körper.
Ich fasste ihn an der Schulter.
Nichts regte sich an ihm. Ich griff in seine Taschen und steckte
seine Sachen ein.
Ich sah nach vorn. Der Wald war so dunkel, dass
ich vielleicht aufstehen könnte. Ich erhob mich auf die Knie.
Ein Schuss links vorbei! - Natürlich, sie müssen mich ja
gegen den Himmel sehen.
Ich kroch weiter.
„Hilfe!"
flüsterte es links. Es war Schanze von meiner Gruppe. „Was
hast du denn?" „Meine beiden Beine!" ächzte er.
Wie sollte ich dem helfen? „Kannst du gehen?"
S-kramm!
ram! ram! ram! irgendwo hinten.
Er versuchte sich aufzurichten.
„Ich kann nicht."
„Ich will versuchen, dir von
hinten Hilfe zu bringen."
Er weinte leise. Wie sollte ich ihm
nur Hilfe bringen? Wenn ihn hier die Morgendämmerung überfiel,
so dicht an den Franzosen? Ich versuchte ihn um den Leib zu fassen
und irgendwie fortzuziehen.
„Ra!" machte er. Es war ein
ganz unterdrückter Schmerzlaut. Es ging auch nicht.
Ich stand
auf.
Ein Schuss dicht links.
Ich ging weiter.
Links lag
wieder einer.
„Wer ist das?"
Er antwortete nicht,
bewegte aber seine Arme ein wenig. Er lag auf dem Rücken.
Ich
beugte mich dicht über ihn. Hartmanns Augen, ganz schwarz!
Ich
fasste seine Hand, ob ich ihn zum Bewusstsein brächte, und
drückte sie heftig in schrecklicher Angst. Er merkte es
nicht.
Ich ließ seine Hand los und stand auf. Mir fiel ein,
dass ich ihm seine Sachen hätte abnehmen sollen. Aber ich ging
weiter. Vor mir sprachen ein paar.
„Wir müssen ihn auf
Gewehre setzen", sagte Boehm.
Das Maschinengewehr setzte
wieder ein.
„Ich kann nicht zugreifen", entgegnete
Ziesche.
Jetzt war ich so nah gekommen, dass ich sah, Ziesche
hielt seinen rechten Daumen in die Höhe.
Ich half Boehm, den
Mann auf zwei Gewehren tragen. Der hatte einen Schuss ins rechte
Fußgelenk.
„Drüben wird schon der Himmel hell",
sagte Boehm, „und wir müssen noch über den
verfluchten Bahndamm!"
Es wurde erschreckend schnell
sichtiger. Der Bahndamm zeichnete sich deutlich gegen den
aufhellenden Himmel. Ein paar kletterten ihn hinauf und kamen oben
scharf und dunkel heraus.
Tack tack tack tack tack! setzte das
Maschinengewehr ein. Ein paar Schüsse knallten.
Einer rollte
die steile Böschung herab. Die anderen sprangen wieder herunter
und kamen zu uns.
Wir wurden dadurch sieben Mann - übrigens
der mit der Roten-Kreuz-Binde ist doch Weiß. Aber er bewegt
sich so seltsam!
„Wir müssen uns eingraben", sagte
Boehm. „Vor heute Abend kommen wir nicht zurück."
Wir
setzten den mit dem Fußgelenkschuss sorgsam hin. Ziesche half
mit der linken Hand.
Boehm ordnete an: „Renn schanzt hier,
rechts davon ich und daneben die beiden von der zweiten Kompanie. -
Sie, Ziesche, geben mir Ihren Spaten und halten Wache. Sehen Sie sich
mal um, ob hier nicht welche herumlaufen, die auch nicht hinter
können."
Wir begannen zu graben. Dem Schanze konnte ich
keine Hilfe mehr bringen. Es wurde schon merklich heller.
In zwei
Handbreiten Tiefe stieß ich auf weißen Kalk.
„Hat
nicht jemand eine Beilpicke?" fragte ich.
Niemand antwortete.
Es war sinnlos, in den Kalk mit dem kurzen Spaten eindringen zu
wollen. Daher schälte ich den dunklen Boden in größerer
Breite ab und warf ihn als Wall vor mich.
Einzelne Schüsse
knallten.
Sch-pramm! fuhr es hinter den Bahndamm.
Jetzt war
mein Loch groß genug für mich. Aber ich musste darin noch
Verwundete aufnehmen. Ich sah mich um. Hinter mir lag Weiß auf
dem Rücken und atmete kaum. Erst musste ich weiterarbeiten; dann
konnte ich mich um ihn kümmern.
Ziesche hatte noch drei Mann
aufgesammelt. Einer begann links zu schanzen.
„Mach es so",
sagte ich, „dass wir nachher unsere Löcher verbinden
können."
Ich arbeitete hastig wegen der geringen Zeit.
Mein Nachbar kam auch schnell vorwärts, und wir schaufelten
schon die letzte Scheidewand zwischen den beiden Löchern weg,
als ich auf einmal auf die Helligkeit aufmerksam wurde. Ich sah nach
vorn. Der Wald lag im leichten Nebel schon recht deutlich, aber
...
„Herr Leutnant", sagte ich, „die Franzosen
können uns, wenn wir liegen, hier nur sehen, wenn sie auf die
Bäume klettern."
Boehm sah nach vorn. „Nu, da
zünde ich mir erst mal 'ne Zigarette an."
Er stand auf,
stellte sich nach dem Wind und steckte eine Zigarette in den
Mund.
Ein Schuss! Er kniete hin. „Verfluchte Bande! - Aber
ich rauche doch! - Pfui!" Er spuckte aus. „Das hat mir 'n
paar Zähne eingehauen!"
Der Schuss war ihm quer durch
den Mund gegangen. Ich rutschte zu ihm.
„Lassen Sie nur! Der
Zunge hat's nichts getan. - Da sieht man doch, wozu das Rauchen gut
ist!"
Ich sah, dass es ihm doch weh tat.
Ich kroch zu
Weiß. „Was ist denn mit dir?"
„Ich habe
einen Brustschuss."
Ich half ihm in das Loch.
Ziesche kam
herübergekrochen, auf die linke Hand und den rechten Ellbogen
gestützt. Sein Daumen war oben breit und blutig.
„Soll
ich dich verbinden?"
„Verbinde lieber die andern!"
sagte er schroff. Er musste starke Schmerzen haben.
Unterdessen
hatte der links von mir den mit dem Schuss ins Fußgelenk in
unser Loch gezogen und schnitt ihm den Stiefel auf.
Ich knöpfte
dem Weiß Rock und Hemd auf. Er hatte einen kleinen Einschuss
links unter dem Schlüsselbein. „Dreh dich mal auf die
Seite!"
Ich schnitt ihm das Hemd auf. Auch der Ausschuss war
klein und hatte nur wenig geblutet. Ich legte ihm das Verbandpäckchen
auf den Rücken.
„Hast du nicht Heftpflaster zum
Ankleben? Sonst hält's nicht."
S! fuhr ein Schuss dicht
über mich weg. Es war heller Tag, und ich hatte mich
unvorsichtig hoch erhoben.
Ich knöpfte dem Weiß den
Rock wieder zu und bedeckte ihn mit Mantel und Zeltbahn.
„Deck
mir's auch über die Augen!" bat er.
Ziesche hatte sich
schon selbst mit der linken Hand ein Verbandpäckchen um den
Daumen gewickelt und hielt mir's hin, dass ich ihm einen Knoten
machte.
„Es macht, als wollte da ein Viech auskriechen",
lachte er.
Der Leutnant war noch unverbunden. Ich hatte keine
Verbandpäckchen mehr. Seidel, mein Nebenmann, auch nicht.
„Du,
Weiß!" sagte ich und deckte ihn etwas auf. „Ich muss
nur in deine Verbandtaschen."
Er antwortete nicht und atmete
nur schwach. Wahrscheinlich tat ihm das Atmen weh.
Ich holte eine
gerollte Binde aus seiner Tasche und deckte ihn wieder zu.
Vorn
immer einzelne Gewehrschüsse. Ob sie unsere Verwundeten dort
einzeln abschossen? Vielleicht auch Schanze, dem ich versprochen
hatte, Hilfe zu bringen? Aber was sollte ich tun?
Ich kroch
hinüber zum Leutnant. Er hatte sich auf den Bauch gelegt und
spuckte von Zeit zu Zeit etwas aus. Ich nahm ihm den Helm ab.
Merkwürdig! Die Verwundeten sind alle wie die Kinder! Die Binde
wickelte ich ihm über den Scheitel und ums Kinn.
„So
muss ich doch aussehen wie eine Waschfrau!" sagte er.
„Aber
mit Bart, Herr Leutnant."
Jetzt musste ich noch zu denen
rechts. Aber da waren vier Schritte Zwischenraum. Wenn sie drüben
auf den Bäumen saßen, mussten sie mich sehen.
Ich kroch
hinüber. Ein paar Regentropfen fielen ins Gras. Dort lagen vier
dicht nebeneinander in einem Loch. Einer hatte einen Verband um den
Unterarm. Und neben ihm lag einer auf der Seite und sah mich
schrecklich an. Um Mund und Nase war alles aufgequollen und voll
Blut. Er hatte den Kopf so auf die Tornisterkante gelegt, dass es auf
den Boden tropfte. Ich erkannte an Stirn und Augen: das war Eckold.
Wie sollte man den nur verbinden? Er sah mich ununterbrochen
an.
„Kann ich dir helfen?"
Er antwortete nicht.
Wahrscheinlich konnte er nicht sprechen.
„Ihr hier",
sagte ich zu den Unverwundeten, „müsst abwechselnd wachen.
Wir machen's drüben auch so."
Der Eckold kann doch nicht
einmal essen und trinken! dachte ich. Und der Regen tropft ihm ins
Gesicht. Aber es hat keinen Sinn, dazubleiben und ihn zu betrachten
wie eine Sehenswürdigkeit. Ich kroch zurück.
„Jetzt
kannst du schlafen", sagte ich zu Seidel. „Wenn ich müde
bin, wecke ich dich."
„Mach mir doch mal meine Zeltbahn
ab und den Mantel", sagte Ziesche. Ich deckte ihn zu.
Vom
Umherkriechen war ich ganz mit aufgeweichtem Kalk und Erde
beschmiert. Es regnete immer stärker. Das gab ein leises
Geräusch im Gras. Sonst war es ganz still. Meine Zeltbahn hatte
Weiß.
„Komm mit unter meine Zeltbahn", sagte
Seidel. Es war ein ganz junger Kerl mit rundem Gesicht und runden
blauen Augen.
Wir lagen still nebeneinander. Ich machte mir einen
Einschnitt in den Wall, um nach vorn sehen und schießen zu
können. Dann lag ich, und der Regen prickelte auf die Zeltbahn.
Ich war ganz ruhig, oder ich meinte es zu sein. Allmählich kamen
allerlei Vorstellungen hervor: dass das doch nicht die Perle war
neben mir unter der Zeltbahn, sondern Weiß. Und doch, wenn ich
mich nicht besann, war es die Perle. Der Regen prickelte. Hartmann
war doch ein Sterbender gewesen. - Die Waldkronen vorn über der
Wiese bewegten sich nicht.
Gegen Abend hörte ich rechts ein
Stöhnen, das sich wiederholte. Ziesche begann sich auch unter
der Zeltbahn zu bewegen. Weiß schien zu schlafen. Aber nach
einer Weile bewegte er die Hand. Ich kroch zu ihm. In unserm Loch
stand eine Pfütze. Ich deckte ihm das Gesicht auf.
„Brauchst
du etwas?"
„Nein", lächelte er. „Mir
geht's gut."
Ich versuchte wieder zu lächeln, aber
konnte es nicht. Ich deckte ihn wieder zu. In mir krampfte es sich:
der stirbt! -Aber wenn er sich doch wohl fühlt? Man kann sich
doch nicht freuen, wenn einer auch angenehm stirbt. - Aber vielleicht
ist es wirklich nicht so schlimm?
Drüben stöhnte es
wieder.
Die Dämmerung kam. Dann wurde es dunkel. Ich stand
auf.
»Wollen wir nicht jetzt hintergehen, Herr Leutnant?"
Er
stammelte etwas. Wahrscheinlich hatte er geschlafen. »Ach, es
ist dunkel?"
Seidel und ich nahmen den mit dem
Fußgelenkschuss auf unsere Gewehre.
Weiß stand auf und
behauptete, ohne Mühe gehen zu können. Das wunderte mich.
Eckold musste getragen werden.
Wir stiegen vorsichtig den steilen
Bahndamm in die Höhe. Auf einmal rutschte ich mit dem linken
Fuß. Der auf den Gewehren heulte leise auf und fasste mich noch
fester um den Hals. Dann ging es drüben wieder hinunter und
gegen das Dorf zu.
Mehrere Menschen bewegten sich auf uns zu. Es
war eine Patrouille mit Krankenträgern. Wir übergaben ihnen
unsere Verwundeten. Ich gab Ziesche und Weiß die Hand, wusste
aber weder etwas zu sagen noch nur zu denken. Den Eckold wagte ich
nicht anzurühren.
Boehm ging noch mit uns vier Unverwundeten
weiter ins Dorf.
Wir traten in einen dunklen Flur. Boehm klopfte
an eine Tür.
„Herein!" rief es von drin.
Boehm
machte die Tür auf. Drin stand unser Bataillonskommandeur im
Mantel bei einer etwas flackernden Kerze. - Die Fensterscheibe war
zerbrochen.
„Boehm!" rief er und ergriff ihn an beiden
Händen. „Können Sie sprechen?" sagte er und sah
besorgt auf den Verband.
„Sogar noch rauchen, Herr Major!"
sagte Boehm. „Na, das ist gut. - Aber was wollen die vier da?"
„Die bringe ich gesund zurück."
„Es sind
gestern auch nicht viel mehr zurückgekommen. -Gehen Sie in den
Hof gegenüber! Wir haben nur noch eine Kompanie im Bataillon,
unter Leutnant Eger."
Drüben standen die vier Feldküchen
auf dem Hof.
„Renn!" rief der Feldwebel und gab mir die
Hand.
Aber ich konnte nicht mehr. Er fragte mich aus. Ich weiß
nicht, was ich antwortete.
Am nächsten Morgen rückten
wir hinter nach Chailly.
I.
Bisweilen will es mir scheinen, als hätte ich die zwei Wochen
in Chailly nur geträumt.
Als ich am Abend des Tages nach dem
Gefecht von Sainte-Marie im Quartier mein Gepäck abgelegt hatte
und den Tornister öffnete, lag der Brief darin, den ich vor zwei
Tagen erhalten hatte, noch ungelesen.
„Mein Junge! Pastors
Alfred ist gefallen, wo, habe ich vergessen. Ich war gestern bei
Pastors. Sie lassen Dich grüßen. Der Pastor sagte zu mir:
Ich wünsche Ihnen ein Glück, das uns bei unserem einzigen
Kinde nicht beschieden gewesen ist. Dabei rollten ihm die Tränen
herunter, und er ging bald in seine Stube. Schreibe ihnen mal. Du
kannst das so hübsch. Sonst kann ich Dir nichts erzählen,
als dass ich jeden Tag für Dich bete. Deine Mutter."
Ich
ging ins Freie. Ich traf welche von der Kompanie auf der Straße.
Eine alte Frau keifte vor ihrer Tür. Ein kleiner Hund fegte mit
eingezogenem Schwanz um eine Ecke. Ich sah das alles und sah es
nicht.
Im Quartier saßen die Kameraden und rauchten und
schwiegen. Oder sie spielten Karten, und dabei schweigt der Mensch ja
auch. Sie waren düster und wurden unwillig, wenn einer sie nach
ihren Erlebnissen befragte. Mir war das unverständlich. Wenn
mich nur mal einer fragte! dachte ich. Aber eines Nachmittags
befragte mich der Leutnant Eger, unser neuer Kompanieführer,
nach den näheren Umständen
der Verwundung Boehms. Ich
erzählte ihm, wie er sich die Zigarette anbrannte, und freute
mich, dass Eger darüber lachte; denn ich hatte auf einmal eine
Furcht, von dem übrigen zu sprechen, was da geschehen war.
II.
Ich kam gerade von einem Gang durchs Dorf nach Hause. Es war
Abenddämmerung. Im Quartier packten sie die Tornister.
„Was
packt ihr denn?"
»Weißt du denn noch nicht, es
geht wieder vor?" sagte einer mürrisch. Die andern sahen
gar nicht auf.
Ich machte mich an meinen Tornister. Meine Hände
waren mir lahm. Warum noch einmal vor? Wozu hatte man uns hier
ordentlich zu essen gegeben, wenn es wieder hineingehen sollte?
Neben
mir murmelte einer etwas von grässlicher Totenwiese. Aber ich
wusste nicht, ob ich ihn richtig verstanden hatte. - Wenn man
wenigstens wüsste, wohin es ginge! Irgendwo vor uns sollten sie
sich auf hundertfünfzig Meter und weniger sogar gegenüberliegen.
Wie kann man - und, Herrgott, wie kann ich da leben?
Wir traten
vorm Hause an. Wir waren etwa sechzig Mann, die Reste von vier
Kompanien. Der Mond schien auf den Platz. Der Kompanieführer
wird uns schon sagen, worum es sich handelt.
Die Zugführer
meldeten dem Leutnant.
»Ohne Tritt - marsch!"
Es
ging die Straße nach Sainte-Marie vor. Wir kamen in den Wald
und hielten wie damals dicht vorm Ort. Sollten wir noch einmal dort
angreifen?
Nach einer halben Stunde kam Eger aus dem Dorf
zurück.
»Ohne Tritt - marsch!"
Wie sich das
alles wiederholte, war mir unheimlich. Und dazu der schweigende
Leutnant.
Es ging durch das Dorf und auf die Wiese, auf der jetzt
ein Pfad getreten war. Vor uns der Bahndamm lag im Mondschatten. Als
wir dicht herankamen, sah ich, dass eine tiefe Rinne hinaufführte.
Die erkletterten wir, der Leutnant vorauf, einer hinter dem andern.
Oben war der Graben so tief, dass ich mich nur etwas zu bücken
brauchte, um unter den Schienen durchzukommen. Auch an der andern
Böschung war der Graben tief. Unter uns sah ich im Mondschein
einen unregelmäßigen Graben mit kreideweißen
Aufwürfen.
„Der Zug dritte Kompanie", wendete sich
der Leutnant an unsern Zugführer, „kommt am weitesten
rechts. Sie müssen selbst fragen, wo die Zugsgrenzen sind."
Wir
gingen den geschlängelten, knietiefen Graben entlang. Ich sah
mich nach der Stelle um, wo wir damals den Tag über mit den
Verwundeten gelegen hatten, konnte sie aber nicht finden.
Jetzt
kam ein anderer Graben von links her schräg auf unsern zu. Der
sah merkwürdig unordentlich aus, als läge er voll Gerümpel.
Ich bog um die letzte Ecke. Der Graben war breit und auch tief, und
darüber war rechts eine Gartentür oder so etwas gelegt und
Zeltbahnen darübergehängt. Nach vorn ragten aus dem Dach
zwei Gewehre und Helme. Das waren Posten, die zum Dach heraussahen.
Wir konnten nicht alle durch die enge Zelthütte kriechen,
stiegen nach hinten aus dem Graben und gingen da weiter.
Die
Gruppe, die ich ablösen sollte, lag in einem Grabenschlauch, der
mit Astwerk und Rasenbatzen eingedeckt war.
„Die müssen
erst mal raus, ehe wir hineinkönnen", sagte ich meinen
Leuten. Ich steckte kniend meinen Kopf in die Höhle. „Wir
kommen, euch abzulösen."
Ein Unteroffizier kam
herausgekrochen und hielt mir eine lange Rede, was wir alles tun
sollten und nicht tun dürften: Nicht laut sprechen! Nicht den
Graben verunreinigen; wir müssten's eben halten bis zur Nacht!
Vor allem größte Aufmerksamkeit auf den Feind, und der
Graben müsste unbedingt bei feindlichem Angriff gehalten
werden.
Wozu sind wir denn sonst da? dachte ich ärgerlich. Er
erzählte noch immer weiter. Ich hörte gar nicht mehr
darauf, konnte mir auch das alles gar nicht auf einmal merken.
„Das
ist, glaub ich, alles. - Ach ja, bei Nacht sollen alle wachen, bei
Tage nur die Hälfte. Links vor uns liegt auf etwa fünfzig
Schritt ein Horchposten."
„Hat die Kompanie Patrouillen
vor gemacht?" fragte ich.
„Ich meine, ob man den Toten
vorn die Erkennungsmarken und Wertsachen abgenommen hat?"
„Ja,
aber ich war nicht vorn. - Haben Sie denn damals den Sturm hier
mitgemacht?"
„Ja", sagte ich, äußerlich
kalt.
„Unsere Horchposten wollen noch in der letzten Nacht
das Schreien der Verwundeten vorn gehört haben. Bei Tage kann
man vorn nichts sehen."
Ich fühlte mich aufgewühlt.
Der Angriff war zwei Wochen her. Da konnte doch niemand mehr leben.
Aber wenn doch?
Die bisherige Gruppe rückte ab. Wir richteten
uns in der Erdhütte ein. Es war sehr eng. Dann ging ich wieder
ins Freie. Ich wollte vor, um selbst nachzusehen. Aber solange der
Mond schien, war daran nicht zu denken.
Unser Zugführer kam
und ordnete auch noch alles mögliche an. Ich sagte ihm, dass ich
vor wollte.
„Dazu müssen wir aber erst einmal den
Kompanieführer fragen."
Ich ärgerte mich
wieder.
„Sie wollen eine Patrouille machen?" fragte der
Leutnant Eger. Er warnte mich, ja nicht unvorsichtig zu sein und auf
den Boden zu achten, dass ich nicht unversehens stolpere und uns
verriete. Ich sollte zwei Mann mitnehmen, aber wir sollten nicht zu
dicht zusammen gehen. Er fand kein Ende und gab mir wohl eine halbe
Stunde gute Ratschläge. Ich hatte meinen Plan, vorzugehen, schon
gründlich satt. Sind wir Kinder? Ich mache ja nie wieder eine
Patrouille - oder heimlich!
Ich kroch aus der Höhle des
Leutnants. Draußen war die Luft frisch, und der Mond stand
schon dicht über dem Walde hinter uns. Ich besprach die
Patrouille mit Seidel und noch einem, sagte ihnen aber kein Wort von
dem, was der Leutnant gesagt hatte. Unterdessen ging der Mond
unter.
Einer unserer Posten machte: „Pst!"
„Was
gibt's denn?" flüsterte ich.
„Da vorn hat sich was
bewegt."
Ich sah scharf in die Richtung und glaubte auch
etwas Dunkles wahrzunehmen. Konnten französische Patrouillen
vorn sein?
„Schieß drauf, wenn sich's wieder bewegt!"
sagte ich.
Das machte mich etwas unruhig. Wir krochen, das Gewehr
bereit, sehr vorsichtig aus dem Graben. Das Schwarze wurde
deutlicher, aber auffallend dünn. Es war ein Holzpfahl. Daneben
waren noch mehrere eingeschlagen und mit einigen Drähten
verspannt.
Wir mussten uns halblinks halten, weil wir damals von
weiter links her angegriffen hatten. Ich entsann mich der Form einer
Baumgruppe, die ich gegen den Himmel gesehen hatte. Die wollte ich
zuerst suchen.
Wir traten leise auf. Das Gras war feucht und
raschelte nur wenig. Ich hatte den andern gesagt, keine schlenkernden
Bewegungen zu machen, weil man die im Dunkeln am leichtesten
sieht.
Am Boden etwas. Ich war unsicher: nach der Entfernung
konnten es die Horchposten sein. „Halt! Wer da?' flüsterte
es.
„Patrouille dritte Kompanie." Ich ging zu ihnen
hin. „Sagt denen, die euch ablösen, dass wir vorn sind und
sie vorsichtig sind mit Schießen."
Wir gingen weiter.
Den oberen Rand des Waldes sah ich schon deutlicher gegen den Himmel.
Deshalb duckte ich mich langsam und kroch dann auf allen vieren. Dort
schien etwas zu sein. Ich bewegte mich ganz langsam. Das Ding vor mir
war zu niedrig für einen Menschen. Ich war auf zwei Schritt
heran. Es war auffallend dunkel. Ich griff danach. Es war eine
Schlafdecke mit einem Tornister darunter.
Auf einmal roch ich
etwas. Der Wind stand von links her. Wir krochen dahin. Umrisse kamen
heraus. Es waren zwei oder drei Leichen. Während die beiden sich
mit ihnen befassten, suchte ich mit den Augen nach meiner Baumgruppe.
Sie musste noch weiter links sein. Daher zogen wir uns in dieser
Richtung und blieben in der Linie der Gefallenen. Hartmann musste
etwas weiter vorn liegen.
Ich kroch etwas nach vorn und sah einen
allein liegen. Das konnte er sein. Aber die Baumumrisse vorn waren
nicht die der Nacht.
Sollte meine Erinnerung nicht richtig
sein?
Ich raunte Seidel zu: „Ich krieche da vor. Zieht ihr
euch hier weiter."
Als ich vorkam, war es ein Franzose. Er
roch sehr. Sein
Rock war aufgerissen. Wahrscheinlich war er schon
durchsucht worden. Ich sah mich wieder um. Da lag noch einer. Das war
Hartmann. Ich durchsuchte ihm die Taschen. Sie waren leer. Aber sein
Brotbeutel und sein Tornister lagen noch da. Ich wälzte ihn auf
den Bauch, um beides abmachen zu können. Vielleicht war noch
etwas Persönliches von ihm darin.
Dann rutschte ich zurück
und zog Tornister und Brotbeutel nach.
Wir kehrten zurück.
Ich kroch zu Leutnant Eger in seine Höhle. Er hatte geschlafen.
Ich gab ihm die abgenommenen Papiere in die Hand.
„Pfui, das
stinkt aber!"
Auf einmal einige Granaten nicht weit rechts
von uns. Der Wald dort hinderte uns, etwas zu sehen. Das Feuer
wummerte und krachte ununterbrochen. Wir standen und horchten. Es war
leicht neblig. Auf einmal - ich fühlte einen Schauer mir über
die Kopfhaut rieseln - wie ein tierisches Brüllen. Oder hatte
ich mich getäuscht? Rasselndes Gewehrfeuer! Einige Kugeln
zirpten über uns hinweg.
„Ich bin verwundet",
sagte einer.
„Wo denn?"
Er griff sich an die Brust
und zog aus dem Brustbein ein Geschoß heraus, das jedenfalls
schon lahm gewesen und daher nicht tiefer eingedrungen war.
Das
Gewehrfeuer ließ nach, auch das Artillerieschießen, und
es wurde ganz still.
„Was war das?" hörte ich
einen murmeln.
Wir krochen in unsere Höhle. Ich lehnte mich
an die eine Wand. Die Beine konnte ich nicht ganz ausstrecken, weil
einer unten quer vor lag.
„Tritt mir nicht ins Zifferblatt!"
sagte einer.
„Wenn du auch dein Zifferblatt an meine Stiefel
hältst."
„Meine Nase war bisher noch ganz gut für
die Woche."
Gegen Mittag wachte ich voll auf. Vom Ausgang
her, vor dem ein Sack hing, drang etwas Tageslicht herein.
In die
Lehmwände waren Pflöcke gesteckt, auf denen Brot, Wurst,
Zigaretten lagen.
„Ihr stinkt aber", schimpfte
Seidel.
„Und bei der Kälte!"
Ich kroch hinaus.
Draußen schien die Sonne auf die Wiese. Wir machten unsern
Stall auf, um etwas frische Luft hineinkommen zu lassen, wogegen ich
Einspruch erhob: „Jetzt beginnt's gerade drin gemütlich zu
werden, und da lasst ihr's wieder 'naus!"
Wir frühstückten
gemächlich in der Sonne. Dann schrieb ich an Hartmanns Braut.
Am
Nachmittag kamen zwei Granaten über uns weggesaust und fuhren in
den Bahndamm. Sonst war nichts zu sehen und zu hören.
Nach
einiger Zeit kam der Zugführer und erzählte, heute früh
hätten die Schwarzen beim Nachbarregiment angegriffen; jetzt
lägen sie wie eine Schützenlinie tot vor unserer
Stellung.
Wir waren drei Tage in Stellung. Dann rückten wir
hinter nach Chailly und nach drei Tagen wieder vor in Stellung. Unser
Unterstand wurde immer vollkommener mit Bordbrettern für die
Feldkessel und Nägeln an der Decke, um die Wurst und das Brot so
aufzuhängen, dass die Ratten nicht daran kämen.
Da unser
Unterstand den Graben völlig versperrte, bauten wir einen
Umgehungsgraben, in dem nun der Verkehr ging. Auch mit dem Bau einer
Latrine wurde begonnen, damit man auch bei Tage austreten könnte.
III.
Unterdessen war Ersatz eingetroffen. Das waren recht stattliche
Landwehrleute, zum großen Teil Unteroffiziere und Gefreite. Da
konnte ich natürlich nicht Gruppenführer bleiben.
Der
Leutnant Eger ließ uns alle der Größe nach antreten.
Dadurch kam Seidel ganz auf den linken Flügel, und ich als
Größter kam unter lauter Landwehrleute.
Der Leutnant
ließ wegtreten, ohne uns zu sagen, wie es nun mit den
Quartieren werden sollte. Die Leute schimpften, weil die auseinander
gerissen worden waren, die sich kannten.
Der Feldwebel unserer
Kompanie kam die Straße entlang.
Ich gab ihm das Verzeichnis
unserer Gruppe, das er verlangt hatte, und sagte ihm, dass Herr
Leutnant uns durcheinander geschmissen hätte.
„Das geht
doch gar nicht!" rief er. „Die Leute der vier ehemaligen
Kompanien werden doch in Verpflegung und Löhnung und allem
getrennt geführt! Ich kann mir doch nicht aus allen Zügen
die Leute jedes Mal rauspflücken wie die Himbeeren! Ich gehe
sofort zu Herrn Leutnant"
Ich freute mich, dass der Feldwebel
dem Leutnant mal die Wahrheit sagte. Aber es nützte nichts. Eine
neue Quartiereinteilung wurde befohlen. Ich musste umziehen zu den
bärtigen Landwehrleuten. Die fanden sich schnell in die
Verhältnisse im Schützengraben und gaben aufeinander
gegenseitig acht dass die Arbeiten und der Wachdienst genau
ausgeführt wurden. Das gefiel mir anfangs ganz gut. Aber dann
wurden mir die Leute schrecklich langweilig. Sie sprachen immer mit
ernsten Mienen von ihren Frauen. Sie waren schon alle etwas im Leben.
IV.
Wir wurden abgelöst und marschierten hinter nach
Chailly.
Eines Tages verbreitete sich das Gerücht, hinten
wäre neuer Ersatz, viele Offiziere und Kriegsfreiwillige,
eingetroffen.
Diese Nacht war es recht kühl in unserer Stube.
Zwei Fensterscheiben waren zerbrochen und an ihrer Stelle Pappdeckel
notdürftig befestigt.
Am Morgen ging ich Wasser holen, in der
angebrochenen Waschschüssel, die uns allen zum Waschen und
Rasieren diente. Es war etwas neblig, aber die Sonne schien schon
warm.
Ich wusch mich.
Ich trocknete mich eilig ab und lief
hinaus. Vorm Quartier des Regimentskommandeurs standen sie, weithin
die Straße entlang, angetreten, vor der Front die Offiziere,
und der dritte war der Leutnant Fabian. Ich war erregt, ob er mich
sehen würde. Er sah blass aus, sehr ernst und abgemagert
Der
Oberst kam aus dem Hause, schritt die Front ab und ließ den
Ersatz einteilen. Dann rückten die Abteilungen auseinander.
Fabian kam mit seinen Leuten gerade auf mich zu marschiert.
„Renn!"
rief er. „Da trifft man doch noch einen von der alten Bande
wieder!" Er streckte mir die Hand hin.
„Bekommen Herr
Leutnant unsere Kompanie wieder?"
„Freuen Sie sich denn
da?"
„Da freuen sich alle, Herr Leutnant!" rief
ich.
Ich lief zu Seidel und erzählte es ihm.
„Kann
ich nicht bei eurer Kompanie bleiben?" sagte er traurig.
„Wie
meinst du denn das?"
„Nu, jetzt werden doch unsere vier
Kompanien wieder getrennt werden, und ich kenne doch von meiner
eigentlichen Kompanie gar niemand."
„Du! Bitte doch
unsern Feldwebel, dass du zu uns kommst, aber schnell; bei der
Unordnung der Neueinteilung geht das am ehesten!"
Er rannte
fort
Wir traten vor unserem Quartier an. Unsere Gruppe kam bis auf
zwei Mann zu Fabians Kompanie. Dafür bekamen wir einen
Kriegsfreiwilligen und Seidel. Der Kriegsfreiwillige war ein feiner
Junge, mit dunklem Haar und schwarzen, ängstlichen Augen.
Wir
mussten wieder in ein anderes Quartier ziehen. Der Kriegsfreiwillige
schien nicht daran zu denken, dass man sich einen Platz zum Schlafen
suchen müsste, und war sehr erstaunt, als ich ihn darauf
aufmerksam machte. Er hieß Kaiser. Was er von Beruf wäre,
war ich zu scheu zu fragen. Aber sicher kam er eben erst von der
Schule.
Auf einmal kam der Ziesche herein.
„Wo kommst du
denn auf einmal her?" fragte ich.
„Nu, ich war doch die
ganze Zeit da. Aber du hattest deine Augen wer weiß wo. Ich
kann doch nicht im Glied das Gewehr abschießen, dass du mich
bemerkst!"
Ich sah mir seinen Daumen an. Er hatte nur eine
kleine Einkerbung auf der Kuppe.
„Wie weit vor uns wird denn
gekämpft?" fragte Kaiser.
„Was?"
Ich
konnte gar nicht fassen, was er sich vorstellte. Er wurde
verlegen.
„Bist du denn blöde geworden?" sagte
Ziesche. „Du musst doch wissen, wo ihr in Stellung liegt!"
„Ach
so! Etwa drei Kilometer vor uns."
„Da muss man's doch
ein Stück vor uns schon schießen hören."
„Ach,
Sie denken, da schießt's immerfort? Nein, da gibt's gar nichts
zu schießen!" lachte ich. Er sah mich ungläubig
an.
„Wirklich! Sie sehen nichts als eine Wiese vor sich, und
die ist hell, wenn die Sonne scheint, und grün, wenn's regnet.
Man steht da Posten und fegt den Graben und baut den Unterstand aus.
Und am Tage kommen vier Granaten, immer um elf Uhr, und immer auf
dieselbe Stelle."
Kaiser schien irgendwie erschreckt. Ich
hatte eine böse Lust, es weiter zu treiben.
„Quatsch!"
sagte Ziesche und zog mich hinaus.
„Was ist denn in dich
gefahren?" sagte er. „Du warst doch sonst ein ganz guter
Kerl."
V.
Leutnant Fabian war allerdings ein anderer Führer als Eger.
Er lief überall umher, sah sich die kleinsten Dinge an und war
bald wieder gesund und dick wie früher. Er trank gern Wein und
Schnaps, aber sonst lebte er mit uns sehr einfach.
In einer Nacht
brach eine Wand seines Unterstandes auf ihn herunter. Er kroch aus
dem Schutt, zog seine Decke heraus und legte sich, ohne jemand etwas
zu sagen, in eine Grabennische, die mit einem Wellblech gegen Regen
geschützt, nach dem Graben zu aber weit offen war. Als sein
Bursche am Morgen den Kaffee brachte, fand er den Unterstand
verschüttet und grub mit den Ordonnanzen nach dem
Leutnant
Schließlich fanden sie ihn gemächlich gähnend
in seiner Nische.
„Wo sollen wir den neuen Unterstand
hinbauen, Herr Leutnant?" fragte die eine Ordonnanz.
„Ich
habe doch schon einen", antwortete er faul. Die Geschichte wurde
tagelang immer wieder in der Kompanie erzählt. Den Leuten gefiel
sie sehr. Aber sie nahmen doch Fabian zu einfach. Er war ein
merkwürdiges Gemisch von Trägheit und Betriebsamkeit. Für
ihn musste immer etwas los sein. Hinten in Chailly war aber nichts
los. Da war er dann schwermütig und betrank sich jeden
Abend.
Auch ich liebte die Tage in Ruhe nicht. Die Quartiere waren
eng und zugig. Überall lagen Tornister und Stiefel herum. An
unserem kleinen Tisch wuschen sie sich und aßen und spielten
Karten. Hätte ich etwas lesen wollen, ich hätte mich auf
mein Lager am Boden setzen müssen. Ich hatte aber auch nichts zu
lesen. Ziesche und Seidel waren stumpfsinnig. Mit Kaiser hatte ich
längst nichts mehr zu sprechen. Er wollte Theologe werden. Aber
wenn ich ihn darüber etwas fragte, sagte er immer: „Das
weiß ich noch nicht."
An Gott dachte ich nicht.
Höchstens sagte ich mir: Vielleicht gibt es ihn. Aber was wissen
wir davon?
Öfters war Gottesdienst in der Kirche von Chailly.
Der Pfarrer predigte immer schwach. Er hatte drei oder vier Fragen,
die er immer wieder aufstellte. Ich konnte sie alle nicht recht
leiden. Aber bei einer geriet ich immer in Wut. Warum hat Gott den
Krieg zugelassen? Einmal hörte ich genau darauf, wie er die
Frage lösen würde. Aber auf einmal war es zu Ende, und ich
hatte keine Antwort gehört, nur Worte.
Wenn ich aus der
Kirche kam, brauchte ich ein paar Stunden, um meine Erbitterung
wieder loszuwerden. Seidel gegenüber schimpfte ich
rücksichtslos. Er versuchte mich dann zu beruhigen.
„Du
glaubst doch selbst an nichts!" schrie ich.
„Das weiß
ich nicht."
„Weshalb wird man gezwungen, zuzuhören?
Wenn sie weiter nichts zu sagen haben, als dumme Fragen zu
stellen!"
Kaiser suchte ich diese Stimmungen zu verbergen,
weil der daran hing, und, wie ich fühlte, ehrlich.
Unterdessen
ging das Leben sehr alltäglich weiter, mit Stiefelputzen,
Schanzen und Postenstehen. Wenn man wenigstens einen Menschen hätte,
mit dem man sprechen könnte!
VI.
Nach ein paar Frösten war es wieder warm geworden. Die Sonne
beschien die eine Kreidewand des Grabens. Ich hatte mich in die Sonne
gesetzt und rasierte mich mit Kaffee - denn Wasser hatten wir nicht
im Graben.
Ein Stück weiter, an einer Schulterwehr, röstete
Seidel über einem kleinen Feuer Brotscheiben, die er auf ein
Seitengewehr gespießt hatte. Er tat das immer vor
Sonnenuntergang, weil da nie Vorgesetzte kamen, höchstens unser
Zugführer, und bei dem war immer das größte Feuer,
und daher sagte er nichts.
„Was war denn in deinem Paket?"
fragte Seidel.
„Zigarren und eine Wurst."
„Kriege
ich auch was?"
Eine Zugordonnanz kam gelaufen. „Alles
soll sich fertigmachen! Die Gruppenführer zu Herrn Feldwebel!"
„Was gibt's denn?" „Weiß nicht!"
„Vielleicht
ist der Krieg alle?" lachte Seidel.
Ich antwortete nicht und
trocknete mir das Gesicht ab.
Unser Gruppenführer kam vom
Zugführer zurück. Er sah uns nicht an. „Wir sollen
diese Nacht die Dreieckschanze nehmen. Mit Einbruch der Dunkelheit
werden wir hier durch eine vorgezogene Kompanie abgelöst werden.
- Renn, Sie gehen zum Kompanieführerunterstand, Verbandpäckchen
zu empfangen!"
Vor den Unterständen rollten sie das
Sturmgepäck.
Wo mochte die Dreieckschanze liegen?
Leutnant
Fabian stand vor seinem Unterstand und besprach etwas mit seinen
Telefonisten.
„Ist drüben auch ein Sanitätsunterstand,
Herr Leutnant?" fragte der Sanitätsunteroffizier.
„Das
müssen wir dort sehen. - Haben Sie dem Bataillon die Sache mit
den Küchen gemeldet, Esche?"
„Jawohl, Herr
Leutnant. Das Bataillon will die Küchen in Chailly zurückhalten
und ihnen telefonieren, wohin sie vorkommen sollen."
„Sind
die Verbandpäckchenempfänger da?" rief der
Sanitätsunteroffizier.
„Hier erste Gruppe erster Zug!"
rief ich.
„Wie viel Mann seid ihr?"
„Neun
Mann, Herr Unteroffizier!"
„Hier nimm die eisernen
Rationen für euren Zug mit!" fuhr Esche dazwischen.
„Ich
habe doch nichts zum Tragen mit."
„Es war euch aber
gesagt worden, ihr solltet Zeltbahnen mitbringen!'
Sie drängten
und schrieen durcheinander und um mich herum.
Ich ging zurück.
Die Dämmerung schlich in die Grabenwinkel. Eine Ratte huschte
oben die Schuttaufwürfe entlang.
Nach einer Stunde kam die
Kompanie von hinten und besetzte unsere Stellung. Wir rückten
nach rechts ab. Wir schoben uns, einer hinter dem andern, im Graben
entlang. An einer Stelle blinkte aus einem Unterstand links ein
rötliches Licht. Dann war es schwarz, kaum mehr die Grabenränder
gegen den Himmel zu sehen.
Dann stiegen wir nach vorn aus dem
Graben. Es ging über einen Acker mit Rüben, auf denen man
mit den Zwecken an den Stiefeln rutschte. Es stank auf einmal. Links
lagen zwei tote Ochsen, die übergroß aussahen. Vielleicht
waren sie sehr aufgetrieben.
Ein Gewehrschuss aus unserer rechten
Flanke, gar nicht weit, der seltsam lang hinhallte.
Wir schwenkten
nach links und zogen uns dann in großem Bogen nach rechts. Auf
einmal hörte ich Stimmen, aber wie aus der Erde herauf. Ich sah
scharf hin und gewahrte rechts etwas Weißes, Breites. Das war
ein Kreidesteinbruch, in den wir hinabbogen.
Man lief hin und her.
Elektrische Lampen blitzten auf.
„Wo soll das Schanzzeug
hingelegt werden?"
„Wo ist der
Sanitätsunterstand?"
„Seid doch still! Wir sind
nur zweihundert Meter von den Franzosen! Macht eure Taschenlampen
aus!" flüsterte einer.
Unser Zugführer kam dicht zu
mir heran. Was will der? „Sie sollen zu Herrn Leutnant kommen.
Er ist dort oben." Er deutete nach dem Steinbruchsrand.
Ich
drängte mich durch die Leute. Hier war eine Bude an die Felswand
gebaut. Daneben führten Stufen zu einem schmalen Absatz, auf dem
mehrere Offiziere standen.
„Gefreiter Renn zur Stelle!"
meldete ich leise.
„Sie sind heute meine dritte Ordonnanz.
Gehen Sie zu den Zügen! Sie sollen sich dicht hier an diese Wand
legen!"
Im Steinbruch war es stiller geworden.
Als ich
wieder zu Fabian kam, stand der Major, unser Bataillonskommandeur,
neben ihm und gab leise Anweisungen:
„... Und wenn die
Sturmzüge der drei andern Kompanien die Schanze genommen haben,
ziehe ich Ihre Kompanie vor. Es muss dann sofort eine neue Feuerlinie
gegen die Franzosen eingerichtet werden. Dazu liegen hier im
Steinbruch Stahlblenden. Dann muss auch die Schanze mit unserem
Grabensystem verbunden werden."
Er flüsterte das alles
im harten Ton kühler Überlegung. Ich hatte so noch nicht
befehlen hören. Aber so ist es richtig.
Vor uns war nichts zu
sehen als eine leicht ansteigende Wiese.
„Jetzt ist es
Zeit", flüsterte der Major. Mich überrieselte
es.
Links hörte ich leises Klirren von Schanzzeug. Da gingen
sie vor.
Weit hinten: Wamm! Ein Abschuss. Das Geschoß kam
langsam am Himmel herauf.
Pamm Pamm Pamm Pamm! rasend schnell
dicht über uns weg und schlug Ramm worr Ramm Ramm! vorn ein.
Die
schwere Granate wölbte slslsl herunter, immer schärfer.
Pra-ramm! schlug sie ein.
Hinten dumpfe Abschüsse. Es bumste,
heulte und zischte ganz wild von den verschiedensten Stellen und
schütterte vorn unregelmäßig in den Boden.
Keine
Abschüsse mehr. Was kam jetzt?
Die letzten Granaten schlugen
ein.
„Schlecht gemacht von der Artillerie!" knurrte der
Major. „Sie sollte ohne Pause weiter hinter schießen."
Vorn
ein Gewehrschuss, zwei, drei. Dann prasselte es und pfiff. Ich duckte
mich. Aber der Major stand unbeweglich. Ich richtete mich auf.
Die
Kugeln zischten um uns. Sehr vereinzelte Granaten kamen. Ich starrte
in die Dunkelheit.
Wenn der erste Sturm misslang, kamen wir dann
dran?
Von vorn kamen welche gerannt. „Hilfe,
Sanitäter!"
„Wie steht's vorn?" fragte der
Major kalt.
„Ach, die lagen da! Das Schanzzeug klapperte. Da
gingen drüben ein paar Schüsse los, und sie schmissen sich
hin und schossen wieder!"
Der Major bewegte wie kauend den
Mund. Es pfiff und knallte. „Ich muss ein paar Leute haben, die
vorgehen!"
Von vorn kamen wieder welche. „Sanitäter!"
Fabian
rief in den Steinbruch: „Wer will freiwillig eine Patrouille
machen?"
„Hier!" schrie es aufgeregt. Das war
Kaiser. Er kam die Stufen heraufgerannt mit einem andern
Kriegsfreiwilligen.
Eine frische Stimme rief von links:
„Sanitäter!"
„Hierher!" riefen einige
aus dem Steinbruch.
„Kommt vor mit Tragen!" rief
es.
„Von welcher Kompanie sind Sie?" fragte der
Major.
Der Mann kam dicht heran und stand auf einmal stramm. Er
war klein und schon älter. „Vierte, Herr Major!"
„Wie
steht's bei Ihnen?"
„Starke Verluste! Wir sind nicht
herangekommen!" Es knatterte von Schüssen.
„Gut,
gehen Sie! - Die Kriegsfreiwilligen! Sie gehen vor, in dieser
Richtung! Ich möchte wissen, was die zweite Kompanie erreicht
hat!"
Sie kletterten hinaus und rannten in die Dunkelheit.
Mir war sehr bange um sie.
„Herr Major!" rief es aus
dem Steinbruch. „Herr Oberst möchte Meldung haben, ob der
Sturm gelungen ist."
„Wozu immer das Fragen! Ich werde
melden, wenn es Zeit ist!"
Es war etwas heller geworden. Aber
man sah noch nichts Genaueres. Das Gewehrknattern der Schüsse
hielt an. Ich wunderte mich: es störte mich nicht mehr.
Von
vorn kamen zwei gerannt und stellten sich vor den Major oben hin.
„Wir haben die zweite Kompanie nicht getroffen, Herr Major!"
meldete Kaiser ganz außer Atem.
„Kommen Sie hier
herunter! Es ist unvernünftig, sich nutzlos dem Feuer
auszusetzen!"
Sie kletterten unbeholfen auf den Absatz. Da
baute sich Kaiser wieder auf. „Die erste Kompanie hat zuerst
Feuer bekommen. Herr Leutnant Albert soll tot sein."
Von
rechts kam einer. „Meldung der zweiten Kompanie: Die Kompanie
lief ins Feuer der vierten hinein und hat sich auf ihren
Ausgangspunkt zurückgezogen."
„Die Kompanie soll
dort weitere Befehle abwarten! - Der Sturm ist misslungen!"
wandte er sich bitter an Fabian. „Wenn der Brigadekommandeur
noch einen Angriff wünscht, mag er ein anderes Bataillon nehmen!
- Wenn wir lauter solche Leute hätten wie diese
Kriegsfreiwilligen, dann wären wir jetzt in der Schanze!"
Am
Boden lagen Spaten, blutige Röcke, Fetzen von Hemden,
Brotbeutel, Gewehre.
Das Schießen hatte aufgehört. Wir
rückten nach unserer Stellung zurück. Kaiser hielt sich
dicht zu mir, sagte aber kein Wort.
Langsam kam die Dämmerung.
Kaiser sah blass und schmutzig aus. Aber seine Augen waren sonderbar
hell.
VII.
Die Kompanie war auf der Straße in Chailly
angetreten.
„Stillgestanden!" kommandierte der
Feldwebel.
Fabian kam und stellte sich vor die Front. Er hatte ein
Papier in der Hand.
„Im Namen Seiner Majestät des
Kaisers hat der Kommandierende General das Eiserne Kreuz zweiter
Klasse folgenden verliehen: Vizefeldwebel Heller, Gefreiten Renn,
Ziesche, Marx, Seidel. - Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück
dazu! - Rührt euch!"
Er kam zu mir, machte ein kleines
blaues Paket auf und zog mir das schwarzweiße Band mit dem
Kreuz daran ins zweite Knopfloch. „Sie müssen's noch mit
einer Nadel feststecken. - Freuen Sie sich?" Er gab mir die
Hand.
Ich wurde verlegen, weil alle nach mir sahen.
Das Kreuz
trug ich den ganzen Tag lang. Die Sonne schien auf die verschlammte
Straße. Jeder, der mir begegnete, schien mich anzusehen. Ich
kam nicht aus dem Gefühl heraus, rot zu werden.
Offen wagte
ich nicht, mir das Kreuz genauer anzusehen. Deshalb ging ich am
Nachmittag aus dem Ort hinaus. Der blitzende silberne Rand gefiel mir
sehr. Gern hätte ich einen Spiegel dagehabt.
Am Abend
verpackte ich das Kreuz, dass es nicht blind würde, und lieft
nur das Band in meinem Knopfloch.
VIII.
Ich schlenderte als Gefreiter vom Grabendienst zwischen den
hartgefrorenen Kreidewänden. Auf seinem Auftritt stampfte ein
Alarmposten mit hochgeschlagenem Mantelkragen. Ein Stück weiter
schwenkte einer vor einem Unterstand ein Kochgeschirr, durch dessen
hineingestoßene Löcher glühende Holzkohle sah. Dann
ging er hinein und hängte den Wärmebehälter an die
Decke. Drin frühstückten sie.
Ich bog in den
Latrinengang. Ziesche saß vornübergebeugt auf der Stange
und las die Zeitung.
„Du", sagte er, „wir bauen
'nen Turm." Er deutete in die Grube. „Du musst auch
helfen. Aber gut zielen, dass es richtig drauf fällt und oben
anfriert. Die zweite Gruppe hat schon einen höheren Turm als
wir. Wir werden uns doch nicht lumpen lassen!"
Ich ging
wieder in den Hauptgang und dann den nächsten Graben vor nach
der vorderen Stellung, die neu angelegt war und daher ordentlicher
aussah. Dort standen nur wenige Posten.
Ein Papier lag am Boden.
Ich hob es auf und warf es aus dem Graben.
Seidel stand auf einem
Auftritt, das Gewehr neben sich, und sah aufmerksam auf das
Armauflagebrett vor sich. In der rechten Hand hatte er einen
Strohhalm und berührte damit ab und zu etwas, das auf dem Brett
sein musste. Ich näherte mich ihm langsam.
„Was machst
du eigentlich da?"
Er fuhr zusammen. Dann lachte er. „Komm
mal rauf!" Neben ihm lag seine Uhr.
„Ich habe da 'ne
dicke Laus gefangen und will sehen, wie weit die in zehn Minuten
kommt. Aber das Luder will nicht geradeaus laufen. Da muss ich sie
immer wieder in die alte Richtung bringen."
An der nächsten
Grabengabel war einer beschäftigt, ein Holzschild anzubringen
mit der Aufschrift:
RECHTE GRENZE R2b S-rams! eine Granate.
Ich
stieg auf einen Auftritt. Links verflog eine braune Wolke. Es musste
bei unserem zweiten Zug gewesen sein.
Ich ging hinter nach der
Hauptstellung. Dort kam der Sanitätsunteroffizier gerannt,
hinter ihm zwei Krankenträger.
„Was gibt's?"
„Einer
beim zweiten Zug ist verwundet."
Ich sah ihnen nach. Wie
schnell die zur Hand waren!
Unser Oberst kam den Graben entlang,
hinter ihm der Bataillonskommandeur, Leutnant Fabian und der
Bataillonsadjutant.
Ich meldete mich: „Als Gefreiter vom
Grabendienst, erster Zug, dritte Kompanie!" „Haben Sie
keine Signalpfeife?" Ich zog sie aus der Manteltasche.
„Die
Diensthabenden sollen die Pfeife offen herunterhängend tragen!"
sagte der Oberst zu Fabian.
Der legte die Hand an die Mütze.
„Zu Befehl, Herr Oberst!"
„Ich vermisse die
Grabenbezeichnung in Ihrem Abschnitt!" sagte der Oberst. „Wo
geht zum Beispiel dieser Gang hin?"
„Zur Latrine des
ersten Zugs, Herr Oberst!" „Haben Sie dort Chlorkalk zum
Desinfizieren?" Fabian sah mich fragend an. Ich nickte mit den
Augenlidern.
„Jawohl, Herr Oberst", sagte Fabian und
lächelte heimlich etwas.
IX.
Der Winter verging. Ich machte ein paar Patrouillen und brachte
Stücke des französischen Drahtverhaus als Beute zurück.
Ein paar Mal gab es Schießereien. Ich verwaltete jetzt die
kleine Kompaniebücherei. Im übrigen fühlte ich mich
leer und betrank mich oft.
Ziesche und Seidel spielten Karten. Ich
konnte es auch, hatte aber gar kein Verständnis dafür, wie
man das Spiel ernst nehmen könnte. Deshalb wollte auch niemand
mit mir spielen, was mich übrigens nicht kränkte.
Kaiser
zog sich auch immer mehr von den anderen zurück. Er litt unter
den Nichtigkeiten des Schützengrabenkrieges. Ich verstand sehr
wohl, dass er mit Begeisterung ins Feld gegangen und dass es für
ihn eine qualvolle Anstrengung war, sich die Begeisterung zu
erhalten, wenn er mit seinen schwachen Armen Eisenbahnschienen zum
Unterstandbau tragen und nun schon Monate hindurch an einer Stelle
Posten stehen musste, wo er nicht einmal die französischen
Gräben sah. Aber ich konnte ihm nicht helfen. Wenn ich einmal
kriegsbegeistert gewesen war, wie nach dem Übergang über
die Maas, war meine Begeisterung schnell abgestanden, und ich hatte
mich nach anderen Gefühlen gesehnt.
Eines Tages wurden wir
gegen Typhus geimpft Wir bekamen eine Flüssigkeit unter die Haut
gespritzt. Die Krankenträger hatten uns gesagt, dass wir gegen
Abend Fieber bekommen würden. Mir wurde sehr unwohl. In der
Nacht wurde ich von allerhand unheimlichen Vorstellungen gejagt, die
ich nicht recht sehen konnte.
Ich wachte auf. Es war Tag. Das
Stroh knisterte. Einer stöhnte.
„Du", sagte
Seidel, „ich habe solchen Durst."
Ich stand auf. Die
Stelle, wo ich gestern die Spritze bekommen hatte, schmerzte etwas.
Sonst fühlte ich mich ziemlich frei.
Seidel lag da und sah um
die Augen verquollen und alt aus. Ich fühlte seine Stirn. Sie
war heiß. Er hatte große Angst. Das sah ich seinen Augen
an, die mich immer suchten.
An diesem Tag war es in unserer
Kompanie wie in einem Lazarett. Aber am nächsten Morgen waren
wir auf einmal alle vergnügt. Die Sonne schien draußen.
Blumen blühten. Seidel erzählte mir lachend, er hätte
gedacht, er stürbe.
Eines Nachmittags saß ich bei
offenem Fenster in meiner Bücherstube. Draußen hörte
ich ein paar Worte, die ich nicht verstand, aber von einem Klang,
dass ich aufmerksam wurde.
Ich sah Kahle, einen älteren
verheirateten Mann unserer Kompanie, in Bettlerhaltung vor dem
Pfarrer, der mit der Gartenschaufel in der Hand vor ihm ausriss. Was
war denn da geschehen?
Kahle kam langsam nach der Haustür
geschlichen.
Es klopfte.
„Herein!"
Er kam gebückt
durch die Tür - er war sehr lang und hager - und kam mit einem
alten Lächeln zu mir herüber und fasste mich um den
Hals.
Ich schob seinen Arm zurück. „Willst du ein Buch
haben?"
„Nein", er lächelte mich verliebt an,
„dich!" Dazu drückte er seinen Bauch vor.
„Entweder
such dir ein Buch aus oder geh 'naus!"
Seine krummen Knie
zitterten.
„Geh hinaus und überleg dir draußen,
was du willst!" Er blieb unschlüssig stehen.
Ich nahm
meine Bücherliste, als hätte ich da etwas aufzuschreiben.
Er ging gebeugt zur Tür. Dort blieb er stehen und sah mich
sehnsüchtig an.
Ich blätterte.
Er kam wieder
heran.
„Was willst du noch?"
„Du ...",
lächelte er mutlos.
„Geh!" sagte ich hart.
Er
schlich hinaus. Ich hörte, dass er vor der Tür stehen
blieb. Dann ging er langsam fort.
Die Tür wurde aufgerissen,
und Seidel kam herein. „Du, hast du schon gehört, der
Kahle hat den Feldwebel Lau überfallen?"
„Wann?
Und wie denn überfallen?"
„Heute früh. Der
Feldwebel saß und schrieb. Auf einmal packt ihn einer von
hinten und will ihn küssen."
„Und was hat der
Feldwebel gemacht?"
„Nu, wie der ist: er ist
aufgesprungen und hat gelacht. -Er hat's Fabian gemeldet, dass sie
Kahle fortbringen, ich glaube, in ein Nervenkrankenlazarett."
Ich
sah durchs Fenster den Pfarrer aus dem Garten kommen, zaghaft, ob der
Feind noch da wäre.
X.
Anfang Juni wurde unser Bataillon aus der Front gezogen, und wir
marschierten etwa dreißig Kilometer hinter in die Etappe, um
wieder gerade zu werden. Wir hatten uns alle das Krummgehen
angewöhnt, durch das dauernde Bücken in den niedrigen
Unterständen und im Graben, wo hier ein Balken darüberlag,
dort Telefondrähte hingen.
Das ungewohnte Marschieren in der
Hitze mit vollem Gepäck strengte uns sehr an. Man war durch das
Nachtleben und Wohnen in dunklen und feuchten Unterständen wie
ausgenommen.
Wir kamen in ein Dorf, das sich mit einer steilen,
breiten Straße aus einem grünen Tal hinaufzog. Oben quer
vor lag ein größeres, graues Haus, das Schloss.
Unsere
Gruppe kam rechts in ein breites, niedriges Haus, zu dessen Tür
ein paar Stufen hinaufführten. Drin kam uns ein alter Herr mit
sorgsam gescheiteltem weißem Haar entgegen und lud uns mit
einer Handbewegung ein, hinter in den Hof zu kommen, der mit breiten
Steinen bepflastert war. Links an der Mauer stand eine lange Bank mit
einem Tisch und Stühlen. Er deutete darauf und führte uns
weiter in einen geräumigen Pferdestall mit eisernen Raufen und
Krippen und Schlagbäumen zwischen den Ständen. Rechts war
eine Box. Da sollten wir schlafen.
„Wenn Kahle hier wäre",
sagte Seidel, „dann müsste er dahinein, damit er uns nicht
nachts überfallen könnte."
Wir saßen an dem
Tisch zu Abend. Im hinteren Teil des Hofs war ein Garten mit
Trauerweiden, Sträuchern und Blumen und einer großen
Laube.
Wir erfuhren, dass der alte Herr der Vater des
Schlossbesitzers war und dass er in seinen jungen Jahren Rennen
geritten hatte. Von der Straße sah das Haus aus wie die
Bauernhäuser auch.
In den nächsten Tagen exerzierten wir
und machten Gefechtsübungen. Ich fühlte mich gesund. Der
Leutnant lachte schon am frühen Morgen, wenn er zum Dienst kam.
Auch die Zug- und Gruppenführer waren vergnügt, und die
Heiterkeit teilte sich der ganzen Kompanie mit. Dabei wurde stramm
exerziert, und bei den Gefechtsübungen waren alle bei der Sache,
vielleicht weil Fabian selbst dabei Gefechtsformen ausprobierte und
dann die Vorzüge und Nachteile eines Angriffsverfahrens vor
allen besprach.
An einem klaren, warmen Abend ging ich mit Seidel
spazieren. Im Unterdorf trafen wir den Vizefeldwebel Lauenstein und
zwei Unteroffiziere. Wir gingen mit ihnen im Grund an kleinen,
eingezäunten Gärten entlang. Die Sonne ging unter. Dann
wurden die Weiden und Pappeln und alle Dinge durchsichtig.
Lauenstein
redete ununterbrochen. Ich hörte nur halb zu.
„Dort",
unterbrach ihn der eine Unteroffizier, „liegt ein Haus, da sind
zwei hübsche Mädchen drin. Der Ortskommandant hat die
Fenster vergittern lassen, damit niemand zu ihnen geht."
„Die
muss ich sehen!" rief Lauenstein.
Das Haus war niedrig und
sah düster aus. Wir gingen durch den Garten, in dem wenige
ungepflegte Blumen standen, und klopften.
Niemand regte sich.
Unterdessen ging Seidel um das Haus. Lauenstein klopfte
wieder.
„Hierher!" rief Seidel leise um die Ecke.
An
der Rückwand des Hauses war ein Fenster hinter dem Maschendraht
offen. Der eine Unteroffizier riss den Draht an einer Ecke ab, und
wir krochen einer hinter dem andern hinein.
Eine Tür öffnete
sich links. Mit einem Licht kam ein alter Mann heraus, murmelte etwas
und verschwand wieder. Einer machte rechts eine Tür auf. Drinnen
brannte auf einer Kommode ein Licht. Rechts standen einander
gegenüber zwei Betten, und darin lagen zwei.
„Bonjour",
sagte einer. Die beiden sahen uns stumm an. Die Unteroffiziere gingen
zu ihnen, gaben ihnen die Hand und setzten sich auf den Bettrand. Wir
setzten uns an der
Kommode auf Stühle. Die links begann
gelangweilt ein Gespräch. So viel verstand ich, dass sie
eigentlich in Nancy wohnten und vom Krieg hier bei Verwandten
überrascht worden waren.
Der links hatte sie umfasst und
drückte ihr den Busen. Der rechts flüsterte.
„Hier
gefällt mir's!" wendete sich Lauenstein an mich. „Da
sieht man auch was!"
Da fing ein Kind im Bett rechts an zu
schreien. Das musste unter der Bettdecke stecken.
Seidel stand auf
und ging nach der Tür. Lauenstein und ich folgten. Wir krochen
wieder durch den Draht hinaus.
„Da lernt man doch mal
Französisch!" rief Lauenstein. „Hier gehen wir jeden
Abend her, den einen Tag ich mit Renn, den nächsten die
andern!"
„Und Seidel darf zusehen!" lachte
ich.
„Nu, es hat doch nicht jeder immer Lust. Da geht er
eben dann."
Seidel ging stumm vor uns her. An den ersten
Häusern des Orts verabschiedete sich Lauenstein.
Kaum war er
in seinem Haus verschwunden, da platzte Seidel los: „So ein
Schwein! Ich werde mir doch nicht befehlen lassen, wenn ich zu 'nem
Mädel gehen soll! So weit geht die Dienstgewalt nicht!" Er
schimpfte immer weiter.
Ich lachte und konnte mich nicht halten.
Das machte Seidel noch wütender, und seine Wut machte mich immer
mehr lachen. Schließlich waren wir beide erschöpft.
In
unserem Hause spielte jemand Klavier. Die Landwehrleute saßen
am Tisch auf dem gepflasterten Hof.
Wir setzten uns. Der Mond kam
über ein Dach und versilberte die Blätter der Trauerweiden.
Die Landwehrleute sahen träumerisch hinüber. Ich
betrachtete sie der Reihe nach. Der eine hatte einen Hängebart
unter Falten, die von der Nase herabhingen. Der andere hatte ein
rotes, rundes Gesicht mit kleinen, wässrigen Augen. Die konnten
wehmütig sein, und sonst sprachen sie nur vom Essen!
Akkorde
kamen aus dem Zimmer und vertönten in den fernen Himmel, der
doch viel grenzenloser war als diese Musik.
Ich sah den Mond und
die Blätter der Weiden und die Blumen, deren Farben bleich
ausgelöscht waren. Die Natur ist nicht gefühlvoll, auch
nicht, wenn man gefühlvoll ist. Sie ist ganz kalt und hart, und
das ist so schön an ihr. Das ist auch schön an den Leuten
da, dass sie bei ihrer Wehmut so hässlich sind.
Die Zeit der
Etappe ging ihrem Ende entgegen.
Wir standen auf einer Wiesenhöhe
bereit zur Besichtigung. Auf der Straße kamen Offiziere
geritten. Das Auto des Kommandierenden kam angesurrt. Er stieg aus
und aufs Pferd.
Zuerst sollte die Kompanie des Leutnants Eger
besichtigt werden. Er saß auf einem dicken Apfelschimmel und
versuchte, ihn vor die Mitte seiner Kompanie zu bringen. Der Schweiß
stand ihm auf der Stirn. Wir wussten, er konnte nicht reiten.
Unser
Bataillonskommandeur gab ihm seinen Gefechtsauftrag. Er sollte in der
Richtung halblinks vorgehen und den Gegner, der im Anmarsch gemeldet
wäre, aufhalten.
Er setzte seine Kompanie nach halblinks an
einem Waldrand entlang in Marsch und ritt selbst rechts davon vor.
Auf einmal fiel sein Pferd in Galopp und lief immer schneller quer
über die Fläche. Dort war ein kleiner Esel an einen Pfahl
gebunden. Der Esel erschrak und lief um den Pfahl herum, der dicke
Apfelschimmel mit Leutnant Eger darauf immer hinterdrein.
Die
Offiziere auf ihren Pferden lachten, nur unser Major nicht. Der sah
völlig starr hinüber. Die Pferdehalter - es waren lauter
kleine Husaren - sprangen wie die Teufelchen umher vor Freude. Ein
Offizier setzte sich über die Wiese in Galopp, Eger und den Esel
von dem Apfelschimmel zu befreien.
Das Gefecht wurde abgebrochen.
Bei den übrigen Besichtigungen schien der Kommandierende General
zwischen Lachen und Ärger zu stehen. Von unserer Kompanie
verlangte er eine Vorinstruktion durch Leutnant Fabian über
Schießlehre, worauf wir gar nicht vorbereitet waren. Aber
Fabian fragte so geschickt und bekam so flinke Antworten, dass wir
alle Mut gewannen.
„Ich habe mich gefreut", sagte der
Kommandierende, „so gute Haltung und ein so frisches, gerades
Wesen bei der dritten Kompanie gesehen zu haben. Ich spreche vor
allem dem Führer meine Anerkennung aus, dass er sich so schnell
in eine unerwartete Aufgabe hineinfand."
Wir waren stolz über
das Lob und auf unsern Leutnant und verachteten die vierte Kompanie
wegen ihres Führers Leutnant Eger.
Am übernächsten
Tage marschierten wir wieder vor und gleich in unsere alte Stellung.
XI.
Während wir hinten exerziert hatten, waren wieder neue Bücher
angekommen. Darunter war eine Geschichte der Philosophie. Ich ärgerte
mich, dass sie uns solche Sachen ins Feld schickten, freute mich aber
zugleich, weil ich mir immer so etwas gewünscht hatte, und ich
las.
Da war von der Zahl die Rede. Aber wie soll man sich nur das
vorstellen? Wie kann denn die Zahl der Urstoff sein, aus dem man
schließlich Häuser und Gedanken baut?
Ich wühlte
in mir und mühte mich. Ich ergriff auch einen Sinn an manchen
philosophischen Sätzen. Aber es war nicht der richtige, den ich
suchte.
Ich las rauchend und brütend.
Daneben schrieb ich.
Schon zum dritten Mal beschrieb ich das Gefecht von Lugny. Wenn ich
vom Schreiben aufstand, fror ich und war steif, aber dann war auch
eine Heiterkeit in mir, die alles hell machte, was ich sah. Dagegen
sah ich, wenn ich von der Philosophie aufstand, alles grau und
grämlich.
An den Schriftstellern fiel mir auf, wie
willkürlich sie die Worte setzten, obwohl es doch eine ganz
klare Notwendigkeit gab, wie man die Worte setzen muss, dass nämlich
die Worte immer in der Reihenfolge stehen, wie sie der Leser erleben
soll, zum Beispiel nicht: eine grüne, über mehrere Kuppen
ansteigende Wiese; denn zuerst muss man doch wissen, dass es eine
Wiese ist, und daher muss das Wort vorn im Satze stehen. Um mir über
das Wichtige klar zu werden, stellte ich mir stets das ganze Bild mit
allen Einzelheiten vor, mit Beleuchtung, jedem Geräusch und
jeder seelischen Regung. Dann schrieb ich erst und ließ alles
weg, was nicht unbedingt notwendig war. Aber dieses Schema nützte
für die Darstellung der wichtigsten Dinge gar nichts. Dafür
fehlten mir stets die Worte. Ich versuchte, ungewöhnliche Worte
zu gebrauchen. Es nützte nichts. Das beschäftigte mich dann
den ganzen Tag. Am Abend, wenn ich auf dem Stroh lag, kam mir dann
wohl ein Gedanke. Aber wenn ich ihn am Morgen nüchtern prüfte,
warf ich ihn wieder weg. Was fehlte, war immer im Grunde dasselbe,
und doch wusste ich nicht, was es war. Gewiss, dachte ich, fehlt es
mir nur an irgendeiner Erkenntnis. Und ich suchte weiter in der
Philosophiegeschichte. Nach zwei Monaten hatte ich das Buch
durchgequetscht und stand eines Nachmittags von der letzten Seite
auf, mit nichts. Jeder Philosoph sagt etwas anderes, und darunter die
neuesten recht gleichgültige Dinge. Eine Weltanschauung gibt es
eben nicht, weil es viele gibt und alle weder falsch noch wahr sind.
Ich gab die Hoffnung auf, weiterzukommen.
XII.
Ich war zehn Tage nach der Heimat beurlaubt. Der Feldwebel
händigte mir den Urlaubsschein aus. Ich packte meine Schilderung
des Vormarsches in einen großen Bogen Papier, um sie meiner
Mutter zur Aufbewahrung zu geben. Bis zur Marneschlacht hatte ich
geschrieben. Das Weitere schien mir zur Darstellung nicht geeignet zu
sein.
Am nächsten Morgen, unausgeschlafen, marschierte ich
die baumlose Straße im Dunkeln nach dem kleinen Bahnhof.
Der
Zug fuhr ab.
Langsam kam das Tageslicht.
Merkwürdig, dass
ich so genau jetzt mit allem fertig geworden bin, mit dem Vormarsch
und mit der Geschichte der Philosophie. Ich stand nun frei für
alles, aber wofür? Was gibt es denn noch?
Meine Mutter kam
mir aus dem Haus entgegengelaufen, umarmte und küsste mich. Wenn
sie wüsste, wie es in mir aussieht, dass ich an nichts mehr
glaube, sie würde mich nicht küssen!
Ich sagte nichts,
küsste sie auch nicht wieder, sondern ging verlegen mit ihr ins
Haus.
Meine Schwägerin stand in der Stube und gab mir die
Hand. Sie sah sofort das Band des Eisernen Kreuzes in meinem
Knopfloch. „Junge, wir haben Kaffee da. Du willst doch
welchen?"
„Ich möchte mich erst mal waschen."
Sie
führte mich in eine der beiden Stuben oben, die sonst immer
verschlossen waren. Da war für mich ein Bett gemacht Es roch
etwas unbewohnt. Die Möbel waren gut gehalten, aber leblos vom
wenigen Gebrauch.
„Mach dir's hier bequem! Wenn du
runterkommst, ist alles fertig."
Sie ging hinaus. Ich zog mir
den Rock aus. Jetzt wohnte ich im Ehrenzimmer. Ich galt etwas in der
Familie.
Auf dem Tisch mit der Plüschdecke lag ein
Photographiealbum. Ich schlug es auf. Da war mein Großvater,
dick und mit einem stolzen Gesicht voller Falten. Und dort mein Vater
als ganz junger Mann. Er saß nachlässig auf einem Stuhl,
und mit so treuherzigen Augen! Es musste damals etwas an ihm gewesen
sein, was ich an ihm nicht mehr gekannt hatte. Vielleicht hat er auch
hochfahrende Gedanken gehabt wie ich und hat es eines Tages gefunden,
dass wir nicht weiterkommen können!
Als ich hinunterkam,
waren die Kinder da, drei Mädchen und ein Junge. Meine älteste
Nichte war schon fünfzehn Jahre alt und tat zugleich nah
verwandt und unnahbar. Die kleineren waren einfacher und sahen mich
immerfort an.
„Nu, erzähl mal!" sagte meine
Mutter.
Was erzählen? Ich hatte ein Grauen davor. Aber dann
kam ich doch ins Reden, und so, dass ich gar nicht wieder
aufhörte.
In den nächsten Tagen ging ich überall
umher, zu den Bienenkörben und auf den Berg.
Von den Kindern
fasste nur der kleine Junge wirkliches Vertrauen zu mir. Er wollte
immer mit mir gehen, und ich nahm ihn gern mit. Er ging dann
schweigend und ernsthaft neben mir her. Sonst war ich unruhig und
half im Haus und auf dem Felde.
XIII.
Wir kamen in eine Reservestellung und dann wieder vor. Die
Franzosen schienen Munition zu sparen und schossen kaum mehr die
täglichen Störungsgranaten.
Die Gräben wurden
aufgeräumt und neue Unterstände gebaut. Wir trieben neben
unserm Unterstand einen Schacht in die Kreide und steiften ihn mit
Minierrahmen ab. Es wurden große unterirdische Tunnelanlagen
begonnen, damit uns eine Beschießung nichts mehr anhaben
könnte. Da arbeitete man tagsüber bei Grubenlampen unten
und schüttete nachts die Miniersäcke voll Kreide hinter den
Gräben aus.
Wir kamen nicht wieder nach Chailly in Ruhe,
sondern in ein Waldlager, wo zeltförmige Baracken von den
Pionieren gebaut wurden. Dort gefiel es mir anfangs ganz gut. Aber
dann nahmen die Läuse in den Baracken so überhand, dass man
sich vor ihnen nicht mehr zu retten wusste. Wir bekamen damals kein
Stroh mehr für die Lagerstätten, weil ja in Deutschland
alles auszugehen begann, sondern Papierstöße. Darauf lag
man sehr hart, und die Läuse saßen in dem mürben
Papier.
Vor allem hatten wir kein Wasser im Lager und mussten es
eine halbe Stunde weit von einem einsamen Gehöft herübertragen.
Der Brunnen, den die Pioniere bauten, war schon zwanzig Meter tief
und gab noch kein Wasser.
Eines Morgens ließ mich Fabian
rufen.
„Es tut mir leid", sagte er, als ich mich
meldete, „dass ich Sie abkommandieren muss, aber ich habe
keinen andern geeigneten Gefreiten. Sie müssen hinter nach
Fromentin in die Regimentswerkstätten als Tischler."
Ich
stand starr. Ich sollte von meiner Gruppe fort?
„Es wird
Ihnen schwer?" sagte Fabian. „Würden Sie es denn
vorziehen, hier vorn in der Gefahr zu bleiben, anstatt hinten in
Sicherheit zu sein?"
„Jawohl, Herr Leutnant."
„Ihnen
geht es nur wie mir", sagte er traurig. „Man reißt
mich von meiner Kompanie weg, die ich seit zwei Jahren hier im Felde
führe. Ich kenne jeden und jeder kennt mich. Und nur weil ein
Älterer da ist, der mal eine Kompanie führen möchte.
Ich bin hinter in die Etappe zum Rekrutendepot verschickt."
„Wenn
Herr Leutnant nicht da sind, will ich auch nicht dableiben!"
platzte ich heraus.
Er lächelte mich düster an und gab
mir die Hand. „Leben Sie wohl!" Er wandte sich ab und ging
hinaus.
Ich packte meinen Tornister. Den Seidel konnte ich kaum
ansehen, so bitter war ich.
Draußen war es neblig und
frostig. Krähen saßen auf den Wiesen und flogen vor mir
auf.
Ich meldete mich in Fromentin bei einem Feldwebelleutnant,
der mir einen Platz in einer freundlichen Stube bei fünf meist
älteren Handwerkern anwies.
Die Werkstatt lag gegenüber.
Ich hatte Munitionskästen, Armauflagebretter und Grabenschilder
anzufertigen.
Wenn ich zurückdenke, ist mir diese Zeit wie
eine Wiese im Winter. Was ich gedacht habe, weiß ich nicht.
Ziesche kam bald nach mir in die Schmiede. Er sah jetzt verrußt
aus. Seine Zähne und Augen standen weiß im Gesicht und die
Lippen tiefrot. Aber weiter weiß ich von ihm aus dieser Zeit
nichts.
Ein neuer Frühling kam. Kaiser war bei irgendeinem
Patrouillenunternehmen gefallen. Begann ich denn innerlich zu sterben
und fest zu werden in Gewohnheiten und Meinungen und ablehnend gegen
alles, was ich nicht verstand?
Eines Nachmittags kam unser Regimentskommandeur mit seinem
Ordonnanzoffizier in die Werkstatt. Unter einem Gespräch
öffneten sie die Tür.
„Aber denken Sie sich",
sagte der Oberst, „hundert Geschütze auf einen Kilometer
Frontbreite! Denken Sie sich das nur bei uns! Unsere Leute würden
dem Trommelfeuer auch nicht standhalten!" Sie brachen das
Gespräch ab.
Ich zeigte ihnen meine Kästchen und
Brettchen. Sie sahen kaum hin und gingen wieder.
Sie mussten von
den Kämpfen an der Somme gesprochen haben. Ich hatte die
Nachrichten darüber flüchtig in der Zeitung gelesen. Ich
wusste auch, dass unser Nachbarregiment nach der Somme abmarschiert
war. Aber ich hatte nicht darüber nachgedacht. Was hatte ich
denn das ganze letzte Jahr überhaupt gedacht? Wenn unser
Regiment auch hinkam? Uns Handwerker - würden sie uns hier
lassen? Ich wollte es glauben, um mich zu beruhigen. Aber mit Grauen
glaubte ich es nicht. Und so unvorbereitet! schrie ich in mir.
Weshalb so unvorbereitet! Weshalb hatte ich denn an nichts
gedacht?
Aber was sollte ich denn denken? Es gibt doch nichts zu
denken! Alles ist doch hohl.
An den Abenden, wenn die andern
Karten spielten, war die Angst da. Manchmal ging ich am Abend allein
hinaus. Manchmal war ich lustig und erzählte den andern
Geschichten, dass sie sich krümmten vor Lachen. Und ich lachte
mit. Aber es war nur Krampf. Ich besoff mich. Aber es nützte
nichts.
Weshalb habe ich jetzt solche Angst? Fürchte ich mich
denn vorm Tode? Nein, nicht so sehr. Oder vor einer Verwundung? Nein,
kaum. Oder vorm Gefangenwerden? Ach, ich werde ja nicht gefangen. All
das ist es also nicht? Was ist es denn?
Am 16. September 1916 kam
auch für uns der Abmarschbefehl.
Wir rückten einige
zwanzig Kilometer hinter die Front und blieben in einem Dorf.
Am
nächsten Morgen saßen wir in unsern Quartieren, rauchten
und warteten. Wir hatten Befehl, uns nicht aus den Quartieren zu
entfernen und uns alarmbereit zu halten.
Es wurde Mittag. Wir
hatten keine Feldküche und hatten nur ein halbes Brot der Mann
empfangen, dazu ein kleines Stück Kriegsfett. Und das alles war
schon am Morgen aufgegessen worden. Unser Führer, der ältliche
Feldwebelleutnant Kretzschmar, lief aufgeregt umher. Gegen drei Uhr
kam er und sagte, wir sollten an der Küche der Husaren Essen
holen.
„Wann geht's denn fort, Herr Leutnant?"
„Ich
habe noch keinen Befehl."
Dieser Tag verging, ebenso der
nächste. Ich wollte einen Brief schreiben und holte Bleistift
und Papier heraus. Aber ich kam nicht über „Liebe Mutter!"
hinaus.
Wieder ein Tag. Der Abend kam. Wir legten uns schlafen.
Am
folgenden Morgen um neun Uhr kam endlich der Befehl zum Abmarsch auf
den Bahnhof. Dort standen schon zwei Rekrutenkompanien mit blassen
Achtzehnjährigen in neuen Röcken. Sie sahen uns neugierig
an. Wir waren lauter große, kräftige Kerle, der
Regimentsbademeister mit seinem roten Gesicht, Ziesche und der andere
Schmied, sechs Meldehundführer, meist Polizisten. Auch Fiffi,
eine kleine, scharfe Rattenfängerin, hatten sie mitgebracht.
Ihren fünf Jungen hatte ich noch in Fromentin einen Kasten für
die Reise machen müssen.
Wir stiegen ein. Die großen
Wolfshunde zerrten an ihren Ketten und sprangen mit einem Satz in den
Wagen.
Der Zug fuhr langsam durch flaches, graues Land, nur
manchmal ein paar Kirschbäume und weiße Häuser.
Ziesche
holte ein kleines Schachbrett aus dem Tornister und begann mit dem
Bademeister zu spielen.
Sie redeten kein Wort.
Auf einer
Station empfingen wir Mittagessen.
Der Nachmittag wurde noch
grauer und eintöniger.
Auf einem Bahnhof hielten wir über
zwei Stunden. In der Ferne hörten wir schon gedämpft das
Brummen der Kanonen.
„Ein feindlicher Flieger ist gemeldet,
ein so genannter Doppeldecker!" rief jemand auf dem
Bahnsteig.
„Ob der denkt, dass Doppeldecker gefährlicher
sind als Eindecker?" lachte der Bademeister. „Lasst mich
mal ans Fenster! Ich will mir den weisen Mann mal ansehen!"
Der
Rufer war ein blasser Bahnbeamter. Etliche liefen nach dem
Fliegerkeller, der wenig geräumig aussah. Aus den Fenstern
unseres Zuges lehnten sie lachend und sahen sich das Gedränge am
Fliegerkeller an.
Ein deutscher Flieger nach dem andern stieg auf,
aber kein französischer zeigte sich. Allmählich kamen die
Leute vorsichtig wieder aus dem Keller.
„Erst habt ihr mich
'neingezogen in euren verdammten Fliegerkeller, und dann habt ihr mir
auch noch den Helm zertreten!" schimpfte einer. Es war ein
Frontsoldat; man sah es an seinem geflickten und zu weiten
Rock.
Schließlich fuhr der Zug langsam weiter. Leere
Güterzüge kamen uns entgegen, die vielleicht Holz und
Munition vorgebracht hatten. An einem neuen Bahnhof arbeiteten
gefangene Russen. Dann kamen wir nach Ham in der Picardie und stiegen
aus.
Regen. Ein verschlammter Platz vorm Bahnhof und in der Ferne
eine Burg mit runden Türmen. Wir standen mitten unter andern
Truppen, Verpflegungswagen, Lastautos. Verwundete mit durchbluteten
Verbänden liefen umher, von oben bis unten mit Lehm bespritzt,
darunter gefangene Franzosen in langen, blauen Röcken.
Unser
Feldwebelleutnant sah sich hilfesuchend um. „Weiß denn
keiner von euch, wo das Regiment liegt?"
Niemand
antwortete.
Er drängte sich zu den Verpflegungswagen und
fragte die Fahrer. Dann war er verschwunden.
Es regnete
gleichmäßig auf uns nieder. Wir hängten uns die
Zeltbahn um und standen. Es troff vom Helm. Beim Stehen wurde das
Gepäck noch schwerer.
Es begann zu dämmern.
Der
Feldwebelleutnant kam zurück. Seine Brille war voller
Regentropfen. Er sagte, er wäre auf der Bahnhofskommandantur
gewesen. Da hätte aber niemand von unserm Regiment gewusst. Dann
wäre er auf der Fernsprechstelle gewesen. Da hätten sie die
Division gekannt. Aber er hätte keinen Anschluss bekommen.
Es
war graue Dämmerung.
„Herr Leutnant Kretzschmar?"
rief es auf einmal, und ein Mann mit umgehängter Zeltbahn
tauchte auf. „Ich bin von Herrn Oberstleutnant geschickt, die
Abteilung vorzuführen."
„Gewehr umhängen!
Ohne Tritt marsch!"
Wir drängten uns zwischen Fuhrwerken
und Menschen durch. Die Häuser der Stadt muteten mich vornehm
an. Ich war lange in keiner Stadt gewesen. Die letzten Häuser
glitten vorbei. Draußen war Schlamm auf der Straße, leere
Äcker rechts und links, und Regen. Unser Wegführer hatte
magere, alte Züge und hastige Bewegungen.
„Wie sieht's
denn vorn aus?"
„Ach, Herr Leutnant, unser Regiment!
Wenn ich dran denke, wie wir herrückten! Und jetzt! - Bei jeder
Kompanie nur noch ein paar Mann, und Offiziere überhaupt nicht
mehr, außer zwei oder dreien! Und die sind schmutzig und
hungrig. - Ja, die Feldküchen können doch nicht vor, weil
die Franzosen immer in unsere Artillerielinie Sperre schießen.
Da liegen Leichen und tote Pferde. Wenn man aber da durch ist, dann
ist's vorn gar nicht so schlimm. - Ach, unser Regiment! Herr
Leutnant, wenn man bald jeden zweiten kennt, und man kommt um 'ne
Grabenecke, da hängt 'n Bein aus der Wand raus. Wer ist denn
das? Ach, das ist doch der Emil, weißt du, dem der Schmidt-Max
mal die Hosenbeine zugenäht hatte, und wir haben noch so
gelacht! Ja, Herr Leutnant, wenn man die alle kennt!"
Er
schluchzte.
Es regnete.
Dann kam wieder seine Stimme: „Aber
der Oberstleutnant - was unser Regimentskommandeur ist -, das ist ein
Mann! Ich bin ja bei ihm Ordonnanz, und ich weiß, wo er
rumläuft! Wenn wir an 'ne gefährliche Stelle kommen, da
sagt er: ,Bleiben Sie hier, Schendler!' Man will das natürlich
nicht zugeben; man hat doch auch seine Ehre! Aber es ist nichts zu
machen; er geht allein weiter. - Vor drei Tagen oder wann es war, man
kann's nicht mehr im Kopf behalten, als die Franzosen das dritte
Bataillon abgeschnitten hatten, da hat er die Reserven herangeführt,
und dann, nach zwei Stunden, die ganzen Gräben voller
Gefangener, siebenhundert Mann und 'n ganzes Schock Offiziere! Wir
waren wie besoffen, wie die alle kamen! - Aber dann am nächsten
Tag ...!"
Ein Schauder kroch mir über die Kopfhaut. Ich
musste gähnen und war wie ausgespreizt.
Er erzählte und
schluchzte. Der Schlamm patschte unter den Stiefeln. Vor uns in
einiger Entfernung war eine flache Höhe. Von dort müssten
wir nach vorn sehen können.
Auf einmal hörte ich: er
sprach von meiner Kompanie. „... Der Leutnant Waldtke, was der
Kompanieführer von der dritten war - es war eigentlich so 'n
Frommer -, der hat sich verteidigt! Erst hat er geschossen. Dann
wurde er am Bein verwundet. Da hat er noch Handgranaten geschmissen.
Er muss nicht mehr ganz bei sich gewesen sein. Wie sie ihn
zurückgetragen haben, hat er geflucht und hat immer
Handgranaten
schmeißen wollen. Sie haben ihn kaum festhalten können.
Und wenn Herr Leutnant den gekannt haben - das war doch so 'n sanfter
Mensch und hat's nicht für richtig gehalten, zu rauchen und was
zu trinken. Wenn der nur durchkommt! - so ein junges Blut!"
Wir
kamen auf die Höhe. Vor uns blitzte es da und dort und weit
hinten auf dem schwarzen Horizont. Kanonenschläge waren schon
deutlicher. Leuchtkugeln fuhren an verschiedenen Stellen in die Höhe
und zerfielen in gelbe Trauben. Ich wusste: gelbe Trauben waren das
Sperrfeuerzeichen. Dort wurde also angegriffen. War das dort, wo wir
hin sollten?
Wir rasteten.
Ich wachte auf. Kochgeschirre
klapperten.
Ich richtete mich auf, dehnte mich, erinnerte mich:
ich war in einem Zelt. Draußen schien heller Tag. Ich war noch
nass, fühlte mich aber warm und wohl. Was war nur die Nacht
gewesen? Es kam mir wie eine Geschichte vor, die ich gelesen hätte,
so unwahrscheinlich, mit dem weinenden Menschen.
Ich schnallte
mein Kochgeschirr ab. Ich kniete dabei und merkte auf einmal, dass
ich sehr vergnügt war. Ich musste sogar über meine
Vergnügtheit lachen. Das ist freilich ein großer Unsinn,
aber hübsch!
Die schlammige, zertretene Wiese draußen
gefiel mir, und dass es Kaffee gab.
Nach dem Kaffeetrinken traten
wir an. Der Oberstleutnant kam und schritt unsere Front ab. Er sah
grau und ernst aus. Ich lachte ihm gerade ins Gesicht, ich konnte es
nicht ändern.
Er wurde plötzlich aufmerksam. „Nanu!
Sie freuen sich wohl gar, an die Somme zu kommen?"
„Jawohl,
Herr Oberstleutnant!" rief ich.
„Soso?" lächelte
er. „Aber ich glaube doch nicht so ganz daran." Er wandte
sich an seinen Ordonnanzoffizier, der hinter ihm ging: „Aus
solchen Leuten bestand mein ganzes Regiment, als wir herkamen. - Wenn
wir zum zweiten Male eingesetzt werden, wird es nicht mehr so
sein."
Wir wurden verteilt. Ich kam mit Ziesche wieder zu
meiner alten Kompanie. Die lag nicht weit davon in einem großen
Hof.
Seidel kam gegangen. Ich lief auf ihn zu.
Er lachte.
„Merkst du denn gar nichts?"
„Nu, du bist sehr
dreckig? - Ach so!" Er war Vizefeldwebel geworden.
„Was
machst du denn auf einmal für ein Gesicht? Du denkst doch nicht
etwa, dass du vor mir strammstehen willst?"
Seidel
betrachtete mich von der Seite. „Weißt du, dass Fabian
wieder die Kompanie führt?" versuchte er neu mit mir
anzuknüpfen.
Fabian stand auf dem Hof. „Ach, da sind ja
noch Bekannte!" rief er. „Übrigens, ich brauche
Gefechtsordonnanzen. Dazu sind Sie und Ziesche mir gerade
recht."
Fabian war Oberleutnant geworden. Wir wohnten mit in
seinem Hause, mit seinem Burschen Eilitz zusammen. Der war gewaltig
groß und breit und hatte eine breite, gebogene Nase. Zum Reden
schien er nicht eingerichtet. Übrigens hatte er eine ganz hohe,
dünne Stimme. Zuerst hielt ich ihn für so einen Dummkopf
wie die Perle. Aber dann merkte ich, dass er sogar sehr gescheit war
und seinen Verstand nur unter einer fabelhaften Gutherzigkeit
verbarg.
Die Nacht träumte ich, ich sollte gekreuzigt werden.
Ich überlegte mir, dass ich dann tot wäre und mich davor
fürchten müsste. Aber davor fürchtete ich mich nicht,
sondern nur vor den Schmerzen. Vor denen aber so, dass ich
schweißgebadet aufwachte.
Es war schon Tag. Ich ging, mich
am Brunnen zu waschen. Die Sonne schien auf den Hof. Mein Traum
beschäftigte mich, und dass ich mich nicht vorm Tode gefürchtet
hatte. Es ist wohl etwas Richtiges daran.
Später ging ich mit
Ziesche zum Schießen. Wir mussten über eine flache
Wiesenhöhe. Ich wollte ihm meinen Traum erzählen, aber - es
hat keinen Sinn. - Wenn man da vorn eine Kugel vor den Kopf kriegt -
es ist auch gleichgültig; es geht nur einen selbst etwas
an.
Schon mehrmals waren Gerüchte umgegangen, wir müssten
in der kommenden Nacht vor. Aber es war nie richtig
gewesen.
Das
Wetter war trübe. Die andern spielten Karten. Ich hatte mit
meinen Sachen zu tun, und weil ich unbeschäftigt war, suchte ich
so gut zu nähen wie meine Mutter. Meine Unterhosen waren so
zerrissen, dass nur noch die Beine zusammenhingen. Der Hosenboden war
fast weg, und Knöpfe hatte ich auch nicht mehr. Es gab auch
keine zu kaufen. Ich nähte einen Strick an beiden Seiten fest,
um damit die Unterhose um den Leib zu binden. Mein einziges Paar
Strümpfe hatte schon lange keine Fersen mehr; denn ich hatte
keine Wolle zum Stopfen, und meine Mutter konnte mir auch keine
schicken, weil es keine mehr zu kaufen gab. Aber sie hatte mir ein
Paar Fußlappen geschickt, die sie aus einem Stück Flanell
geschnitten hatte.
Der nächste Morgen war strahlend schön.
Beim Antreten sagte Fabian: „Heute Abend geht's vor. Ein Teil
unseres Regiments hat schon diese Nacht die vorderste Stellung
besetzt. Wir kommen dahinter in Bereitschaft in den Wald von
Bourraine. Vorläufig ist es in unserer Stellung ruhig. Aber man
darf sich auf so was nicht verlassen."
Fabian ließ
wegtreten.
Ich hatte nichts mehr zu tun und ging ziellos im Dorf
umher, lehnte über die Brücke und sah zu, wie sich das
Schilf im Wasser bewegte, und ging wieder zurück. Die Essenszeit
kam. An diesem Tage gab es zum ersten Male die gute
Offensivverpflegung. Dann legte ich mich schlafen. Man wusste nicht,
wann man wieder dazu käme.
Um fünf Uhr nachmittags
traten wir auf dem Hofe an. Der Himmel hatte sich umzogen, und es
begann in feinen Tropfen zu regnen.
Fabian kam im Stahlhelm und
war ganz dick von Mänteln, Ledertaschen, Seitengewehr, Dolch,
Pistole und Gasmaske.
Wir rückten auf die Straße
hinaus. Da standen große Lastautos mit Planen darüber. Ich
kam vorn zum Wagenführer eines Autos.
Die Autos liefen flott
auf der breiten Landstraße. Ich sah das vorherlaufende und
manchmal auch das davor durch den strömenden Regen, der an die
klirrenden Scheiben vor uns prickelte. Es begann schon zu
dunkeln.
Plötzlich lag eine schwarze Schlange auf der Straße.
Wir bremsten. Das Auto vor uns hatte seine Kette verloren. Der
Unteroffizier neben mir beugte sich hinaus. „Wisst ihr den
Weg?" „Nee!"
„Geh du mal rüber, Ernst,
und führ sie Nacht!" Unterdessen war vor uns nur noch graue
Dunkelheit. Im schnelleren Tempo fuhren wir weiter, um die anderen
einzuholen.
Ein Dorf kam und eine Straßengabel. Wir fuhren
langsamer.
„Wie mögen die gefahren sein? Nu, 's ist
egal; wir fahren drauflos!"
Hinten war das nächste Auto
aufgelaufen. Von dort rief man etwas, der Unteroffizier sprang hinaus
und lief hinter.
Er kam wieder. „Auch hinter uns ist die
Verbindung abgerissen. Wir sind nur noch zwei Wagen zusammen.
-Los!"
Wir fuhren weiter ins Dunkle, bogen rechts und links
um. Straßenbäume tauchten auf und kamen knatternd
vorbeigerannt. Häuserschatten glitten vorüber. Zwei grelle
Lichtaugen kamen aus einem Grund herauf, näherten sich, und
vorbei!
Plötzlich bremsten wir. Ein kleiner Offizier in einem
Umhang stand an der Straßenseite mit ausgestrecktem Arm. Noch
zwei Offiziere lösten sich aus der Dunkelheit,
„Welche
Kompanie?" fragte die Stimme unseres
Bataillonskommandeurs.
„Dritte, Herr Hauptmann!"
„Gott
sei Dank! Da ist die wenigstens vollzählig!"
Wir stiegen
aus und rückten ein Stück auf einem schlammigen Wege vor.
In der Ferne waren schwere Detonationen. Auf einem Acker setzten wir
die Gewehre zusammen und hängten die Zeltbahnen um. Ich wollte
mir eine Zigarette anzünden, aber es tropfte so vom Helm, dass
sie schon pappig war, bevor ich sie in Brand hatte. Einige hatten
sich trotz des Schlamms hingesetzt.
Ich ging zum Bataillonsstab
vor. „Weshalb warten wir eigentlich hier?"
„Das
Bataillon, das wir ablösen, soll uns Leute schicken, die uns
vorführen. Aber es ist noch niemand da."
Ich patschte
durch den Schlamm zur Kompanie zurück. Ich sah einen gelben
Widerschein und wandte mich um. Leuchtkugeln fuhren vorn in die Höhe,
gerade dort, wo ich meinte, dass wir hinmüssten, und fielen als
gelber Regen nieder. Verflucht! dachte ich und patschte weiter.
Die
Batterien vor uns begannen zu bellen. An einigen Stellen sah ich das
Aufblitzen der Abschüsse. Immer mehr Leuchtkugeln fuhren auf und
platzten. In der Kompanie war es totenstill. Einer schnarchte.
Die
Leuchtzeichen wanderten nach rechts.
Und müssen wir gerade in
der Nacht vor, in der sie wieder angreifen!
Allmählich flaute
das Schießen ab, nur noch der Regen tropfte vom Helm. Ich
setzte mich zu Ziesche auf die Zeltbahn. Keiner sprach ein Wort.
Stunden vergingen. Es regnete.
„Kompanie auf! Gepäck
auf! Auf der Straße antreten!"
Ich war steif von Frost
und Nässe. Die Zeltbahn war auch steif und kalt.
Auf der
Straße standen vor uns drei ohne Gepäck.
„Wie
müssen wir marschieren?" fragte Fabian. „Wir wissen
hier nicht Bescheid, Herr Oberleutnant. Wir sind immer von woanders
vorgerückt."
„Hübsche Führer!"
Einer
von unsern Unteroffizieren sagte, er wüsste den Weg bis zu einem
Wegekreuz, wo wir uns dann wahrscheinlich links halten müssten.
Wir
bogen von der Straße ab auf einen weichen Acker, um das Dorf
vor uns zu vermeiden, in das es immer einmal schoss. Auf dem weichen
Boden kam bald unsere Marschordnung auseinander. Immer wieder kam von
hinten der Ruf: „Halten!"
Die Leute, die ja meist eben
erst aus der Heimat kamen und an das Vorrücken über Äcker
bei Nacht nicht gewöhnt waren, stapften schon in langer, dünner
Reihe durch den zähen Lehm. Die Nacht war pechschwarz, nichts zu
erkennen, weder am Boden noch am Horizont.
„Herr
Oberleutnant!" sagte der Unteroffizier. „Ich weiß
nicht mehr, wo wir sind. Es ist alles so ein gleichmäßiger
Schlamm unter den Füßen, und überall ist es
zerfahren, dass
man nicht wissen kann, ob das ein Weg ist oder
keiner. Ich denke, es ist das beste, wir machen kehrt und suchen die
große Straße."
„Gut, führen Sie
weiter!" Ich wunderte mich, dass Fabian so ruhig blieb.
Wir
bogen scharf nach links ab.
Auf einmal kam einer durch den Lehm
gerannt. „Herr Oberleutnant Fabian!"
„Ach, Sie
sind's, Schubert?"
„Ich traf das Ende Ihrer Kompanie
und dachte, Sie wissen den Weg nicht. Sie können sich an meine
Kompanie anhängen. Wir haben bis zu den Gräben den gleichen
Weg."
„Ein hübscher Sirup, durch den man
latscht!"
Es hatte zu regnen aufgehört.
Ein
Leichengestank begleitete uns ein Stück. Dann senkte sich der
Boden, ohne dass man erkennen konnte, was da war. Ich glitt aus und
fuhr auf den Hosen die nasse Lehmbahn hinunter in einen flachen
Graben. Ganz in der Nähe musste wieder eine Leiche liegen. Beim
Weitertasten stieß ich auf Schotter und dann an
Eisenbahnschienen.
Ein Stück ging es noch querfeldein. Dann
bogen wir nach links auf eine Straße.
„Bleiben Sie mal
hier, Renn, und sehen Sie, ob die Kompanie beisammen ist!"
Sie
latschten gebückt an mir vorbei. Einer nach dem andern fragte:
„Sind wir bald da? Kann nicht mal gehalten werden?"
Auf
einmal war die Reihe zu Ende. Der letzte sagte: „Die sind schon
lange zurückgeblieben." Ich blieb stehen und wartete.
Es
kam niemand. Vorn verlor sich das Geräusch der Marschierenden.
Ich lief ihnen nach.
Es war ein wenig heller geworden. Aber ich
kam schlecht vorwärts. Der feste Straßengrund war mit
glitschigem Lehm bedeckt. Dazu hinderte mich die umgehängte
Zeltbahn. Ich erreichte das Ende der Kolonne und rannte weiter.
Der
Oberleutnant sagte, ich sollte vor zu Leutnant Schubert laufen und
ihn bitten, einmal zu halten.
Ich rannte weiter. Vom Regen war
mein Zeug steif und schwer. Die Kompanie war lang auseinander
gezogen.
Schließlich kam ich vorn an. Der Schweiß lief
mir übers Gesicht. Der Leutnant knurrte etwas, ließ aber
halten.
Als die Kompanie wieder zusammen war, ging es langsam
weiter. Die Straße hob sich allmählich bis zu einer Höhe,
auf der wir nach rechts in einen Hohlweg hinabbogen.
Vor uns
schien eine Kolonne zu halten. Beim Näher kommen sah ich zwei
Wagenkolonnen nebeneinander, die den ganzen Weg versperrten. Nur
links blieb ein schmaler Raum. Da zogen wir uns, einer hinter dem
andern, vor.
Vor uns schoss es heftig, gar nicht weit.
Ein paar
Granaten fuhren dicht über uns weg und schlugen hinten auf der
Höhe ein. Die schweren Kolonnenpferde standen ruhig, als ginge
es sie gar nichts an. Leute luden dicke Granaten ab, über die
wir wegsteigen mussten.
Links am Steilhang kam ein
Grabeneinschnitt, in den wir einbogen. An einer Grabengabel stand der
Leutnant Schubert und sagte: „Ich glaube, Sie müssen jetzt
rechts gehen. Ich muss schnell meiner Kompanie nach! Es fängt
schon an, hell zu werden." Damit rannte er nach links davon. Wir
gingen rechts weiter, der Beschussstelle immer näher. Vor uns
war ein roter Schein unter den dunklen Wolken. Fabian stieg auf einen
Auftritt und sah hinaus.
„Ist das nicht Bourraine hier
vorn?"
Wir stiegen auch hinauf. Zwei- bis dreihundert Meter
vor uns brannte es in einem Dorf, über dem ununterbrochen
Schrapnelle Feuer spuckten.
„Das ist nicht Bourraine",
sagte der eine Wegführer. „Aber was es ist, weiß ich
nicht."
„Da links ist ein Wald. So muss der
Bourrainewald nach der Karte liegen."
„Nein, das ist er
nicht."
„Weiter!" sagte Fabian.
Links an einem
Unterstand trat ein Posten hin und her.
„Wie heißt das
Dorf vor uns?"
„Das weiß ich nicht."
„Wer
liegt hier im Unterstand?"
„Unser Bataillonsstab."
„Was
soll das heißen: unser Bataillonsstab? - Renn, fragen Sie mal
unten!"
Ich stolperte die enge Treppe hinunter. Bei einem
trüben Licht saß ein dünner Offizier in einem
schmutzigen Mantel. Er sagte mir, vor uns läge wirklich
Bourraine, und wir wären nur zu weit nach rechts in den nächsten
Regimentsabschnitt gekommen.
Ich rannte hinauf.
„Aus dem
Graben!" befahl Fabian.
Wir krochen neben dem Posten hinaus.
In meiner Hast kam mir die Zeltbahn unter die Beine, und ich rutschte
wieder hinunter.
Im Boden waren mannstiefe Granattrichter, einer
am andern, auf deren Kämmen wir uns rechts und links wandten. Da
war kein Grashalm mehr. Dann hörten die Trichter auf, und es kam
ebene Wiese.
Wir gingen in einer Entfernung am Walde entlang und
bogen dann scharf auf sein unteres Ende. Dort stand ein
Sanitätswagen. Zwei tote Pferde lagen davor.
Ein Mann kam aus
dem Wald. „Ich soll Herrn Oberleutnant die Unterstände
übergeben. Unsere Kompanie ist schon vor mehreren Stunden
abgerückt, um noch vor Hellwerden hinterzukommen."
Sch-p!
fuhr ein Geschoß über uns weg und in den Boden, ohne
loszugehen.
Sch-p! ein zweites.
„Vorwärts!"
rief Fabian. „Hier in den Graben hinein!" „Hier
links", sagte der Mann, „liegen Sanitätsunterstand
und Kompanieführer, die übrige Kompanie im Wald."
Irgendwo detonierte eine Granate.
Wir liefen in einen Graben, in
den Lehmstücke von den Wänden und Äste gefallen
waren.
„Sie können gehen", sagte Fabian kühl
zu den Führern.
Im Vorübergehen wurden die Unterstände
verteilt. In der Mitte des Waldes endigte der Graben mit einer
schwarzen Öffnung. Eine Treppe führte hinunter.
„Hier
ist der Tunnel", sagte der Mann. „Da kommt der Rest der
Kompanie mit einem Zugführer unter."
„Und ich?"
fragte Fabian.
„Am untern Waldende, wo die toten Pferde
liegen." „Das hätten Sie aber gleich sagen können!"
Er musste es vorhin überhört haben.
Wir standen im engen
Graben, die halbe Kompanie hinter uns. Es schoss immer heftiger.
Wir
kletterten nach vorn aus dem Graben. Der Wald war dicht und voll
abgebrochener Äste. Nach wenigen Schritten hingen wir in
Stacheldraht fest, der in dem Astgewirr nicht zu sehen war. Es
klirrte und klapperte in den Bäumen. Äste sprangen ab.
Draußen vorm Waldrand da und dort leichtes Aufblitzen auf der
Wiese und kleine Rauchwolken am Boden im grauen Dämmerlicht. Das
Krachen und Knacken hallte und rauschte im Stahlhelm, dass man kein
Geräusch bestimmen konnte. Ich sah nur, dass es Schrapnelle und
Granaten waren. Wieder kamen wir in Draht. Am Boden sah ich den
Mantel eines Maschinengewehrs und ein schmutzigbleiches Gesicht mit
Stahlhelm. Der Posten stand in einem mit Astwerk zugedeckten Erdloch.
Wir bogen aus dem Wald hinaus ins Freie, um schneller vorwärts
zu kommen. Aber da war auf einmal kniehohes Drahtverhau. Beim
Durchsteigen blieb eine der Schnuren meiner Zeltbahn hängen, und
beim Lösen riss ich mir ein Dreieck in den Ärmel. Wir
liefen am Waldrand entlang. Ich blickte mich immerfort nach allen
Seiten um, wohin es schösse. Jetzt lief der Graben, in den wir
gekommen waren, dicht am Waldrand. Wir sprangen hinein und liefen
weiter. Bald mündete er auf die Straße. Wir liefen um die
toten Pferde herum, in so kleinem Bogen, als man bei der glitschigen
Straße konnte, und fuhren ziemlich atemlos in unseren Bau. Das
war aber nur eine Treppe, ohne Unterstand unten daran. Auf der linken
Seite waren ziemlich oben ein paar Minierhölzer als Lagerstätte
waagerecht gelegt. Daneben blieb nur ein schmaler Gang nach dem
unteren Lager.
Eilitz warf einen großen Sack hin, den er
außer seinem Gepäck noch getragen hatte, und packte aus.
Er zündete eine Kerze an und klebte sie dem Oberleutnant auf die
untere Pritsche.
„Renn, Sie müssen noch einmal weg,
diese Meldung zum Bataillon bringen! Das muss auch hier wo im Walde
liegen."
Ich wollte hinauslaufen. Aber Ziesche sagte: „Ich
komme mit. Dann weiß ich auch gleich, wo 's Bataillon
liegt."
Er hängte sich die Gasmaske um, und wir liefen
hinaus. Es war schon recht hell. Die toten Pferde vor dem
Sanitäts-
wagen hatten aufgetriebene Leiber, dass ihre Beine
in die Luft standen, und stanken.
Wir liefen in den Graben
hinein.
Ramm! detonierte eine Granate dicht hinter uns. Ich bekam
einen Lehmbatzen in den Hals.
Links in einem schmalen Seitengraben
stand ein Posten. „Weißt du, wo der Stab erstes Bataillon
liegt?" „Hier drin."
Wir kamen an eine Tür
mit einer Drahtglasscheibe und klopften.
„Herein!" Drin
saß der Hauptmann mit seinem Adjutanten an einem großen
Tisch; sie aßen Brot. Ich übergab die Meldung.
Als wir
wieder in unsern Bau kamen, hatte Eilitz schon Kaffee gewärmt
und schnitt vergnügt Brot
„Wie die schießen!"
lachte er und zeigte mit dem Daumen hinaus.
„Sie denken
wohl", lachte Fabian, „das ist das Schlachtenpotpourri in
der Grünen Tanne mit Raketen und Fröschen!"
Ich
setzte mich mit Ziesche auf die Treppe und frühstückte.
Dann legten wir uns schlafen, oben Eilitz mit Ziesche, unten Fabian
an der Wand, ich neben ihm. Draußen schlugen die Granaten gegen
die Bäume.
Zu Mittag wachten wir auf. Wir aßen Brot mit
Konservenwurst. Dann ging Fabian aus, sich die Gegend anzusehen, und
nahm mich mit.
Es war leicht neblig. Kein Schuss fiel weit und
breit. Wir gingen in den Graben hinein. An einer Stelle war ein Baum
darübergefallen und ragte mit spitzen, gebrochenen Ästen
hinein, dass wir darunter durchkriechen mussten. Der Graben wurde
immer flacher und führte dann dicht am Waldrande hin. Links war
in einiger Entfernung ein zweites Waldstück zu sehen.
„Hören
Sie mal", sagte Fabian, „wenn man euch Ordonnanzen
braucht, dann habt ihr meistens keine Ahnung, wo das liegt. Ich sage
Ihnen jetzt alles, was ich selbst weiß, und Sie instruieren den
Ziesche. - Das Waldstück dort vorn ist der Türkenwald. Dort
liegen die übrigen Kompanien unseres Bataillons. Etwa
achthundert Meter davor liegt das zweite Bataillon in der vordersten
Stellung. Also prägen Sie sich das mal ein. Der
Regimentsstreifen ist noch nicht einen Kilometer breit, und darin
liegen, immer mit etwa achthundert Meter Abstand, ganz vorn zweites
Bataillon, im Türkenwald vor uns das erste Bataillon, bis auf
unsere Kompanie, hier im Bourrainewald wir, die dritte Kompanie,
dahinter das dritte Bataillon. Wozu wir hier liegen, das können
Sie sich wohl nun auch denken: als Gegenstoßkompanie, für
den Fall, dass die Franzosen vorn eingedrungen sind."
Wir
kamen an den Tunnel. Die Decke der Treppe wurde von zwei
Eisenbahnschienen getragen, die auf recht schwachen Hölzern
lagen. Unten lastete ein feuchtkühler Dunst von nassen Sachen,
Tabakrauch und Ruß, in dem die Kerzen braunrot brannten, die in
halber Höhe in Abständen an irgendwelche Gegenstände
geklebt waren. Ganz in der Ferne war ein grauer Schimmer von
Tageslicht. Das war der Tunnelausgang.
Wir mussten uns bücken,
um nicht an die Decke zu stoßen. Auf der rechten Tunnelseite
waren Betten aus Maschendraht gebaut, zwei übereinander. Daneben
war der Gang so eng, dass einer, der dastand und aß, auf sein
Bett kriechen musste, um uns durchzulassen. Nun saß er mit
großem, blondem Bart und harmlosen blauen Augen zwischen nassen
Strümpfen, Brot, Stiefeln, Zigarren und Briefpapier und lächelte
über seine Unordnung.
Links ging ein schmaler, finsterer Gang
ab.
„Wo führt denn das hin?"
„Zum Abort,
Herr Oberleutnant."
Wir tappten in den Gang hinein. Die Wände
waren ohne Holzversteifung, bloßer Lehm. Fabian knipste seine
elektrische Lampe an. Da saßen sie auf einer langen Stange, wie
die Eulen im Dunkeln, die Köpfe zu uns gedreht. Auf dem schmalen
Gang vor ihnen ragte eine Wand Handgranatenkisten.
„Guten
Morgen, Herr Oberleutnant!" sagte es auf einmal. Das war der
Leutnant der Landwehr Eisoldt, der Führer unseres ersten
Zuges.
„Empfangen Sie immer in dieser Stellung?"
„Nein,
Herr Oberleutnant, ich ..." Er zog Papier aus der Tasche und
wischte sich verlegen ab.
„Haben Sie schon nachgesehen",
sagte Fabian ärgerlich.
„wie viel Handgranaten hier
liegen und ob sie scharf gemacht sind?"
„Nein, Herr
Oberleutnant."
„Ich möchte Meldung darüber
haben! Guten Tag!"
Ich wunderte mich darüber, dass der
Eisoldt eine so offenbare Furcht vor Fabian hatte. Aber freilich, er
war wohl recht dumm, und Fabian schien ihn nicht leiden zu können.
Die Kompanie liebte den Eisoldt auch nicht.
Wir gingen zurück
nach dem Hauptgang, von dem noch mehrere Nebengänge zu
Unterständen abgingen, in denen Pioniere und
Artilleriebeobachter wohnten. Einige Gänge führten auch in
jetzt verlassene Betongeschützstände. Der ganze Tunnel war
etwa siebzig Meter lang.
Wir gingen noch im Graben ein Stück
gegen Bourraine und kehrten durch den Wald außerhalb des
Grabens zurück.
„Sehen Sie mal: da sind
Unterstandseingänge! Hier muss ein unterirdisches Munitionsdepot
explodiert sein. Der Trichter hat ja über zehn Meter
Durchmesser, und diese Tiefe! - Wenn da unten Leute waren ...?"
Im
Walde lag ein großes Bündel in einer Zeltbahn, durch die
oben ein Ast gesteckt war. Eine Leiche hockte darin.
„Wir
wollen es da hinauf auf die Wiese tragen. Dort scheint ein Friedhof
zu sein."
Wir schleppten das Bündel den Hang hinauf und
setzten es zwischen ein paar Holzkreuze. Es lagen Unbeerdigte da,
alles grau und still.
Irgendwo begann es zu wuchten. Aus dem
Türkenwald vor uns wuchsen Granatwolken.
Am nächsten
Morgen nach dem Frühstück schickte uns Fabian fort, die
Gräben, die nach vorn führten, zu erkunden. Es war ein
kalter Morgen. Der sonst so schweigsame Ziesche schwatzte alles
mögliche.
Als wir in den Türkenwald kamen, wunderte ich
mich, dass er viel weniger zerzaust war als unser Wald. Es gab da
sogar noch grüne Büsche. Daneben standen im Sonnenschein
mit Zweigen bedeckte Erdhütten. Um die sonnten sich Leute der
zweiten Kompanie. Einer rasierte sich. Ein paar spielten Skat. Der
Liebert aus unserm Nachbardorf machte sich mit seinem Gewehr zu
schaffen.
„Bei euch ist's aber hübsch!" sagte
ich.
„Aber gestern war's gar nicht hübsch. Dort drüben
hat's eine Baracke eingedrückt. Die sind ja schnell rausgewesen
!"
Wir gingen quer durch den Wald. Am jenseitigen Rand lief
ein verfallener Graben. Den gingen wir nach links und bogen dann in
einen andern, der nach vorn führte. Der Graben wurde immer
schlechter, so dass wir manchmal mit halbem Leibe herausragten.
„Du!"
sagte auf einmal Ziesche, der hinter mir ging.
„Was gibt's
denn?"
Er deutete nach unten. Da sah ich einen Ärmel mit
Hand. Die Leiche war sonst ganz in den Lehm getreten. Ich zögerte,
drüberzugehen, und sah mich um. Rings war eine flache Lehmwüste,
auf die die Sonne schien. Langsam kam am Himmel ein großer
französischer Flieger, umgeben von drei kleinen, die sich in
leichten Bögen um ihn bewegten.
„Du, das ist ein
Artillerieflieger. Da gibt's Beschuss. Wir wollen lieber zurück."
Da
kam schon die erste Granate und fuhr berstend, etwa fünfzig
Meter von uns, in den Wald.
Wir stiegen aus dem Graben und liefen
querfeldein.
An unserm Wald drehte ich mich um. Der ganze
Türkenwald war voll Rauch und Staub. Auf einmal flog ein ganzer
Baum in die Luft.
Sch-kremm! fuhr es vorbei.
Wir sprangen in
den Graben. Jetzt krachte es so dicht hinter mir, dass ich mich nach
Ziesche umsah. Er sah mich auch an und lachte.
Wir rannten um die
Pferde und polterten in den Unterstand.
„Euch hat's wohl
auch vertrieben?" lachte Fabian. „Nu, was seht ihr mich so
an! Ich hab eins in die Fresse gekriegt! Es ist aber nur Dreck."
Der
Eilitz brachte Wasser und hielt ihm dann einen kleinen Spiegel vor.
Er hatte einige blutige Abschürfungen. Die betrachtete er, dann
nickte er befriedigt.
Der Beschuss ließ bald nach. Fabian
nahm mich mit.
Vom Türkenwald her sahen wir drei Mann kommen.
Einer hatte seinen Stahlhelm in der Hand. Ein anderer jetzt erkannte
ich Liebert - hatte Rock und Hemd weit aufgerissen.
„Wohin
wollen Sie?"
„Ach, Herr Oberleutnant, wir sind vorn im
Wald verschüttet worden! Unser ganzer Zug ist verschüttet!
Wir sind nur rausgekommen, weil wir am Ausgang lagen! Dort vorn
schießt's immer noch!"
Liebert keuchte. Er erkannte
mich nicht.
Fabian schickte sie in den Tunnel. Wir kehrten um und
gingen zum Bataillonsunterstand. Ich setzte mich zu den Ordonnanzen
und beobachtete, wie die Offiziere sprachen.
„Gut!"
sagte der Hauptmann. „Bringen Sie alles, was von der zweiten
Kompanie zurückkommt, in den Tunnel! Und stellen Sie hinten an
die Grabengabel, wo ja alle durch müssen, einen Zugführer
mit einer Wache, der die Leute abfängt! Sonst laufen sie in
ihrer Angst wer weiß wohin."
Die Tür wurde
geöffnet und einer hereingeschoben. Der war ganz nackt. Er hatte
um den Hals einen Strick mit der ovalen Erkennungsmarke.
Der
Hauptmann sah ihn an. „Was bedeutet denn das?"
„Herr
Hauptmann", sagte die Ordonnanz, die ihn gebracht hatte, „ich
kann nichts aus ihm rauskriegen. Er ist von der zweiten
Kompanie."
„Gebt ihm mal einen Mantel!" Man zog
ihm einen Mantel an, und er stand da. „Sind Sie verschüttet
gewesen?" - „Die Decke kam runter." - „Und
dann?" - „Ich weiß nicht." -„Dann sind
Sie wohl rausgekrochen?" - „Ich weiß nicht" -
„Ich meine - Sie sind wohl aus dem Unterstand gekrochen?"
- Er zögerte. „Ich konnte doch nicht." - „Weshalb
denn nicht?" -„Der Fuß, der saß fest." -
„Und da haben Sie den eingeklemmten Stiefel ausgezogen?" -
Er zögerte wieder. „Es war so eng." - „Ordonnanzen!
Bringt ihn mal zum Arzt! Und gebt ihm auch heißen Kaffee - oder
haben wir keinen mehr?"
„Wir haben genug, Herr
Hauptmann."
„Wie sich nur einer ganz ausziehen kann",
wandte er sich an Fabian, „wenn ihm nur der Stiefel festsitzt!
- Ob man sich auch so dumm benehmen würde?"
„Ich
glaube nicht", überlegte Fabian. „Dazu gehört
schon ein gehöriger Mangel an Selbstbeherrschung!"
Die
ganze Nacht durch krachte es um unseren Unterstand
Manchmal
schütterte der Boden. Dazu stanken die Pferde immer
stärker.
Mitten in der Nacht polterten zwei die Treppe
herunter.
„Was ist denn los?"
„Verzeihen, Herr
Oberleutnant! Wir wussten nicht, dass hier der Kompanieführer
wohnt. Es schoss eben so. Da sind wir hier herein!"
Gegen
Morgen krachte es auf einmal näher als sonst, und jemand kroch
auf der Treppe herum.
„Wer ist das?"
„Eilitz!
- Es schoss so, da sind wir tiefer runter."
Wieder nach einer
Zeit rief es von draußen: „Ist hier
Sanitätsunterstand?"
„Der nächste Eingang,
nebenan!" riefen wir alle zu gleicher Zeit.
Dann kam jemand.
„Herr Oberleutnant, ich melde meinen Zug vom Schanzen in
vorderer Linie zurück. Wir haben drei Mann Verwundete."
Kaum
wurde es hell, da standen wir auf und tranken frierend Kaffee.
Dann
ging Fabian allein fort und kam erst nach einigen Stunden
wieder.
„Man hat den Führer der zweiten Kompanie jetzt
gefunden, natürlich tot. Wir haben jetzt als vierten Zug die
Reste der zweiten Kompanie. Leutnant Eisoldt führt sie. -Und
jetzt ziehen wir um, in den Tunnel."
Es war draußen
ruhig, so dass wir ungestört von unsern Pferden wegkamen. Eins
von ihnen war geplatzt, und die Gedärme hingen blau und rot auf
der Straße.
Im Tunnel hockten die Leute der
zusammengeschossenen zweiten Kompanie im Tabaksrauch und Dunst. „Die
schießen uns noch hier unten zusammen! - Oder die Franzosen
kommen vorn in die Gräben rein, und dann sind sie auch bald
hier!"
„Wir müssen uns noch alle zum Krüppel
schießen lassen! - Uns ziehen sie doch erst aus der Stellung,
wenn nur noch die Garnisondienstfähigen und Fahrer übrig
sind!"
Wir zogen in einen Unterstand, in dem schon zwei
Offiziere mit ihren Leuten lagen. Die mussten zusammenrücken.
Der
Abend und die Nacht waren unruhig. Der eine Feld-
küchenkoch
und der Küchenfahrer wurden beim Essenausgeben verwundet.
Immerfort kamen Boten zu den drei Offizieren, die an dem einen Tisch
saßen und schrieben. Ich musste mehrmals zu verschiedenen
Stellen laufen. Endlich gegen Morgen legten wir uns schlafen. Rings
an die Wände waren Pritschen gebaut, immer zwei übereinander.
Ich lag oben, unter mir Ziesche. Über mir war ein Loch in der
Decke, wahrscheinlich um ein Ofenrohr durchzustecken. Dadurch hörte
ich das Krachen im Walde, bald näher, bald ferner, einen hellen,
hölzernen Ton. Es waren Schrapnelle, mit denen der Wald
abgestreut wurde.
Am nächsten Tage sah ich die Leute wieder
im Tunnel hocken und rauchen. „Es geht eben nicht mehr! - Wir
kommen nicht nach Deutschland zurück! In ein paar Tagen ist man
entweder drüben bei den Franzosen gefangen, oder man liegt
irgendwo in einem Graben, und die andern latschen einem über die
Leiche weg!"
Ich begann mich über die zweite Kompanie zu
ärgern. Was nehmen sie sich nicht zusammen! So nehmen sie den
armen Rekruten, die eben erst an die Front riechen, noch den letzten
Mut!
Im Hauptgang des Tunnels hatten sie noch dritte Betten dicht
unter der Decke gebaut. Es musste ein Kunststück sein, sich da
hinein zu biegen. Bei uns war noch ein vierter Offizier
untergekommen, mit Burschen, so dass wir uns im Schlafen ablösen
mussten, ich mit Ziesche.
Draußen war warmer Sonnenschein.
Viele französische Flieger kreisten über unsern Stellungen
und flogen über uns weg nach hinten. Deutsche Flieger schien es
nicht zu geben. Wir liebten an sich die Fliegerleute nicht, wegen
ihres anmaßenden Wesens, jetzt wurde immer häufiger über
sie geschimpft.
Gegen Mittag umwölkte es sich, und es begann
stark zu regnen. Ein Artilleriebeobachtungsoffizier kam aus dem
Türkenwald als letzter, der dort ausgehalten hatte. Der musste
auch noch in unsern Unterstand. Jetzt hatte sogar der Oberleutnant
sein Bett nicht mehr für sich allein, sondern schlief
abwechselnd mit Eilitz.
Mit dem Dunkelwerden begann wieder das
Feuer ziemlich heftig in unsern Wald und das Gelände
ringsum.
Als Eilitz mit den dampfenden Feldkesseln kam, sagte er
mit seiner hohen Stimme: «In die Nähe der Küche hat
es auch mit Gasgranaten geschossen."
„Woran haben Sie
denn das gemerkt?"
„Es waren so kleine Wölkchen
da. Erst hatte ich nicht drauf geachtet. Aber wie ich's Essen kriege,
da riecht's auf einmal so süßlich - und mir wurde's für
'n Augenblick ganz wie dumm!"
Am nächsten Tage war es
wieder klar geworden. Es schoss seit dem Morgen mit schweren Granaten
in unsern Wald. Zwei Unterstände unseres zweiten Zuges wurden
zerschossen und mussten geräumt werden. Die Leute daraus mussten
auch noch in den Tunnel.
Zu Mittag auf einmal ein toller Krach
ganz nah. Die Erde zitterte. Wir liefen in den dunklen Gang, der zum
Haupttunnel führte. Aber von dort kamen welche gelaufen und
drängten uns zurück.
„Was ist denn los?"
„Es
hat eben den Tunnel eingeschossen!"
Ich roch auch schon den
Granatdunst.
Als sich die Aufregung etwas gelegt hatte, gingen wir
in den Tunnel. Die Kerzen brannten noch trüber. Aber es waren
nur zwei Deckenhölzer in der Mitte angeknickt. Sonst war nichts
geschehen.
Nachmittags musste ich mit einer Meldung zum Bataillon.
Vor dem Unterstand war Blut von einem Posten, der hier verwundet
worden war. Die dicke Glasscheibe war eingedrückt, und die
Scherben lagen am Boden. Aber der Hauptmann und sein Adjutant lachten
sehr vergnügt.
Wieder hörte ich es in der Nacht über
mir krachen und an die Bäume schlagen.
Der nächste
Morgen war klar. Die Sonne schien, und ein großer französischer
Flieger kreiste, umgeben von kleinen, über uns. Wieder stiegen
die riesigen Granatwolken aus dem Türkenwald.
Zu Mittag kam
eine Bataillonsordonnanz - mir fiel seine Blässe auf. „Herr
Oberleutnant, das Bataillon lässt mitteilen, dass die Franzosen
den Türkenwald besetzt haben. Die dritte Kompanie soll den
Waldrand hier besetzen."
Ich hatte ein Gefühl, als ob
plötzlich alles weiß geworden wäre.
„Ordonnanzen,
fertigmachen!"
Es war fünf Minuten nach zwölf
Uhr.
„Züge alarmieren! Zugführer zu mir!"
Ich
lief durch den dunklen Gang in den Tunnel und dort in die erste Tür
links. Leutnant Eisoldt saß mit zwei Pionieroffizieren beim
Skat.
„Herr Leutnant! Die Züge sollen alarmiert werden!
Die Herren Zugführer zu Herrn Oberleutnant!"
Er sah mich
mit weiten Augen an. „Was ist denn los?"
„Die
Franzosen sind im Türkenwald."
Er hatte noch die Karten
in der linken Hand und griff mit der rechten nach der Gasmaske. „Was
sollen wir tun?"
„Vorläufig nur alarmieren!"
Ich lief weiter zu Seidel.
Der rauchte seine Pfeife und sagte nur:
„Jetzt geht's los", klopfte seine Pfeife aus und stand
auf.
Ich lief zurück und fand Fabian mit dem Hauptmann oben
in einem der Betongeschützstände.
Am Rande des
Türkenwaldes sah ich die Leute umhergehen, konnte aber nicht
erkennen, ob es Franzosen waren. Wie sollte es nur möglich sein,
dass die Franzosen schon so nah waren und man keinen einzigen
Gewehrschuss gehört hatte? Es müsste doch auch ein Bote von
vorn da sein! Vielleicht stimmte alles gar nicht? Auch der Hauptmann
schien im Zweifel. „Es scheinen mir Deutsche zu sein. Schicken
Sie doch mal eine Patrouille hinüber!"
Oder waren die
Franzosen beim Nachbarregiment eingebrochen und hatten sich zwischen
uns und unsere vordere Linie geschoben?
Jenseits des Türkenwaldes
stieg eine gelbe Leuchtkugel hoch und zerfiel. Fabian zeigte es dem
Hauptmann. „Es müssen sich noch welche vorn halten, die
Leuchtzeichen abschießen. Sollte man nicht gleich zum Gegenstoß
vorgehen?"
„Nein, der Regimentskommandeur hat sich den
Entschluss dazu vorbehalten. Wir müssen seinen Befehl
abwarten."
Unterdessen kamen die Zugführer und
flüsterten in einer Ecke. Am Boden lag ein Toter, dem sie Schuh
und Strümpfe und auch die Hosen ausgezogen hatten; denn wir alle
hatten Mangel an Bekleidung.
Wir standen und warteten. Schließlich
kam der Führer der abgesandten Patrouille zurück und
meldete, sie wären aus dem Türkenwald angeschossen worden,
aber er glaubte, dass es Deutsche wären. - Einer von der
Patrouille war am Bein verwundet.
„Haben Sie denn nicht
angerufen?"
„Jawohl, Herr Hauptmann. Aber sie
antworteten nicht."
Fabian sah den Patrouillenführer
sonderbar an und schickte ihn fort. Man glaubte ihm wohl nicht.
Eine
Ordonnanz kam von der Kompanie, die halbrechts vor uns lag, und
meldete: „Der Türkenwald ist von den Franzosen besetzt.
Von den Kompanien vorderster Linie keine Nachricht."
Von
rechts kamen ein paar Artilleristen und schleppten einen zwischen
sich. Dem waren beide Beine über den Knien abgeschossen. Das
Blut troff aus den Hosenfetzen.
Unterdessen waren schon drei
Stunden seit der ersten Nachricht vergangen. Fabian schickte mich zu
den Zügen, ihnen zu sagen, dass sie Fleischbüchsen,
Hartspiritus und Selterswasser bei Eilitz empfangen sollten, weil
heute wahrscheinlich die Küche nicht vorkommen könnte.
Ich
ging im Graben entlang, in dem jetzt Posten aufgestellt waren. Einer
stand ganz geduckt da, so dass selbst sein Helm nicht aus dem Graben
sah.
Ich blieb stehen. „Wovor fürchtest du dich
denn?"
Er sah mich nicht an. Er war einer von den
Achtzehnjährigen der zweiten Kompanie.
„Sieh nur mal
raus!" lachte ich. „Es ist ja gar niemand zu sehen! Und
die Sonne scheint!"
Er regte sich nicht. Was sollte ich
tun?
Als ich zurückkam, lag in unserm Unterstand der Mann
ohne Beine am Boden und heulte. Er schien ohne Besinnung. Eilitz gab
über ihn weg die Fleischbüchsen und das andere aus.
Ich
ging wieder in den Geschützstand. Dort war aber Fabian nicht
mehr. An der Öffnung des Betonstandes stand der rothaarige
Herschel als Posten. Neben ihm lag der am Boden, der vorhin hier als
Posten stand.
„Hat es denn geschossen?" fragte
ich.
„Ja, vorhin kamen ein paar Schrapnelle hierher."
Dabei wandte er sich an mich, und ich sah: der hat gar keine Angst! -
Wenn er heute fiele? Es würde mir ehrlich leid tun; denn das ist
ein Kerl. - Ich falle ja nicht. Das stand mir ganz fest. Aber ruhig
war ich darum doch nicht. Es kam jemand die Treppe herauf.
„Renn!"
sagte Fabian ruhig und lächelte ein klein wenig. „In drei
viertel Stunden." Dann wurde er dienstlich. „Ich habe den
Ziesche schon fortgeschickt, die Züge zu holen. Eilitz bleibt
hier. Wir müssen jetzt gehen."
Wir gingen ein Stück
den Graben entlang und warteten auf die Kompanie. Der Sonnenschein
lag noch gelblich auf der Wiese draußen. Aber der Wald war
schon grau.
Es dauerte über eine halbe Stunde, bis die
Kompanie zusammen war. Fabian gab halblaut Befehle und kroch mit uns
aus dem Graben in eine völlig zerschossene Batteriestellung
dicht dabei, in der wir uns hinter Wälle in halbverschüttete
Gräben legten. Er zeigte den Zugführern einen
Gebüschstreifen, der sich nach dem Türkenwald zu vorzog,
und erklärte, wie angegriffen werden sollte.
Wir mussten
jetzt noch auf die vierte Kompanie warten, die links von uns
angreifen sollte. Schließlich kamen Leute dieser Kompanie
aufrecht durch den Wald gegangen. Sie schienen keine Ahnung zu haben,
worum es sich handelte.
„Wenn sich die Kerle doch wenigstens
hinlegen wollten!" flüsterte mir Seidel zu. „Siehst
du, dort kommt schon so ein verfluchter französischer Flieger!
Dass wir jetzt in der Dämmerung einen Gegenstoß machen,
ist doch jedem Kind klar! Und dass wir ihn aus diesem Gebüsch
heraus machen, auch! Wenn wir nur nicht noch vorher eins
abkriegen!"
Der Hauptmann kam mit seinem Adjutanten und legte
sich neben uns. Vor uns stand der Mond und begann an Licht
zuzunehmen, während rechts noch der Himmel rotgelb über die
Fläche sah.
Immer noch war die vierte Kompanie nicht
vollzählig. Endlich kam der Führer mit dem Rest der
Leute.
Fabian schickte einen Mann vor, die letzten hinderlichen
Drähte mit der Drahtschere zu zerschneiden. Er kroch auf dem
Bauch aus dem höher liegenden Walde heraus.
Da kam es
angerauscht: Krach! Der Boden flog auf, wenige Schritte vor dem mit
der Drahtschere, und warf
Lehmbatzen bis zu uns. Der Mann sprang
auf und warf sich in einen Granattrichter.
„Können wir
nicht jetzt, Herr Hauptmann?" fragte Fabian ungeduldig.
„Ja,
los!"
„Folgen!" flüsterte Fabian. Wir krochen
hinter ihm aus dem Walde. Im Gebüschstreifen stand ich auf.
Fabian lief schnell. Die Ranken des Brombeergebüschs hielten
einen sehr auf.
Bramm! dicht hinter mir. Ich bekam Lehm in den
Hals, und die Gasmaske fiel mir herunter. Ich hob sie auf und lief
weiter. Ihr Band war zerrissen. Ich sah mich plötzlich nach
Ziesche um. Hinter mir lief nur Seidel. Fabian hatte schon einen
Vorsprung, und es wurde immer dunkler. Alles verschwamm weißlich
im Zwielicht.
Fabian hielt und kniete nieder. Fünf Schritte
vor uns hörte das Brombeergestrüpp auf. Bis zu dem dunkel
ragenden Türkenwald waren es kaum hundert Meter. Dazwischen
ebene Wiese.
Fabian flüsterte mit Seidel und zeigte ihm, wie
angegriffen werden sollte. „Ich komme dann mit der
Unterstützung nach, wenn Sie im Walde sind, und helfe Ihnen, wo
sich die Franzosen etwa noch halten."
Seidels Zug war jetzt
da, aber von den anderen Zügen kein Mensch. Ziesche
fehlte.
Links klapperte Schanzzeug. Das musste die vierte Kompanie
sein. Ein paar Gewehrschüsse.
Fabian beugte sich zu Seidel.
„Die vierte Kompanie ist bemerkt worden. Greifen Sie
an!"
Seidel gab mit dem Arm das Zeichen. Sie standen auf und
liefen in die graue Dämmerung hinaus.
Jemand kam von hinten
gerannt. „Fabian! Der Hauptmann ist verschüttet, Sie
führen das Bataillon!"
Peitschendes Gewehrgeknall um uns
und leichtes Aufblitzen am Waldrand.
„Der größte
Teil Ihrer Kompanie ist auch verschüttet! Ich habe mich
herausgebuddelt und bin zu Ihnen gelaufen!"
Es pfiff um uns.
Fabian deutete mit einer erregten Bewegung vor. „Da laufen sie!
Ich kann sie nicht mehr aufhalten! Sie laufen zu weit rechts!"
Meine
Augen bohrten sich vor: Das ist ja schrecklich! Die laufen fast an
den Franzosen entlang! Dort stürzt einer, und noch einer!
Dann
sah ich niemand mehr. Am Waldrand flammten rote Feuer auf. Es
peitschte um die Ohren. Ich fühlte den Wind von einem Geschoß
am Hals.
Was ist mit Seidel? - und Ziesche!
Ein Schlag auf
meinen linken Oberarm!
„Ich bin verwundet", sagte
ich.
„Wo?" fragte Fabian.
Ich zeigte es ihm.
Der
Oberarmmuskel begann zu schmerzen, als ob er aufgedunsen wäre.
„Haben
Sie ein Messer?" fragte der Adjutant
Ich hatte es in der
linken Hosentasche und versuchte mit der rechten Hand quer über
den Leib hineinzugreifen.
Er merkte es und zog es heraus.
Es
pfiff und knallte.
Er schnitt den Ärmel ab. Wo es schmerzte,
war nichts zu sehen.
„Ein tüchtiges Loch!" sagte
der Adjutant. „Das wird ein Verbandpäckchen gar nicht
decken. Aber kommen Sie mal in den Granattrichter!"
Wir
krochen in einen breiten Trichter, in dem wir sicher waren.
„Wo
ist denn die Wunde, Herr Leutnant?" „Nahe der Schulter.
Der Schuss muss von schräg links gekommen sein!"
„Aber
ich merke gar nichts von Bluten?"
„Es blutet auch
kaum."
„Meine Leute!" knirschte Fabian.
„So,
jetzt müssen wir aber den Ärmel wieder anstecken. Ihr Arm
glänzt so weiß im Mondenschein, dass es die Franzosen
drüben sehen müssen."
Er steckte mir Hemd- und
Rockärmel mit einer Sicherheitsnadel ganz schief wieder an.
Das
Gewehrfeuer ließ etwas nach.
„Gehen Sie doch mal
hinüber", sagte Fabian, „was die vierte Kompanie
erreicht hat!"
Der Adjutant verschwand im Gebüsch.
Ich
merkte, wie verstört Fabian war, und sagte, ihn abzulenken:
„Ziesche muss auch verwundet sein."
„Alle
ordentlichen Leute sind verwundet, nur ich nicht! Wie soll ich nur
überhaupt wieder vor meine Kompanie treten? Ich bin hier vorn
gewesen und habe nicht mit angegriffen, weil ich auf die anderen Züge
wartete! Das glaubt mir doch aber kein Mensch!"
Der Adjutant
kam zurück. „Die vierte hat gar nicht erst angegriffen,
weil sie solches Feuer bekamen."
„Und wegen diesem Pack
habe ich meine Leute da vorgehetzt!"
„Na, na! Die
können nichts dafür. Wir wollen lieber froh sein; sie haben
nur drei Leichtverwundete. - Aber wollen wir nicht jetzt
hintergehen?"
Kein Schuss fiel mehr. Die roten Feuer waren
erloschen. Wir gingen langsam im Mondschein zurück, nur noch
drei.
Ich begann vor Kälte zu zittern. Der Schmerz war fast
vergangen.
Als wir an den Waldrand kamen, standen da einige.
„Sie
sind ja da!" rief der Leutnant Eisoldt den Adjutanten an. „Wir
graben die ganze Zeit nach Ihnen. Herr Hauptmann hat überall
nach Ihnen gesucht."
„Was? Ist der auch da? Ich habe
doch nach ihm gesucht!"
Ich fragte einen: „Habt ihr den
Ziesche gesehen?" „Er ist gleich hinter dir verwundet
worden. Es hat ihm die ganze eine Gesichtshälfte weggerissen."
„Lebt er noch?"
„Nee, der hat gar nichts
gemerkt."
Vorm Bataillonsunterstand drehte sich Fabian nach
mir um. „Meine besten Leute sind heute weg..." Er fand
nicht weiter und drückte mir nur die Hand.
„Auf
Wiedersehen, Herr Oberleutnant!" rief ich.
Er nickte. „Gehen
Sie in den Unterstand! Eilitz soll Sie nach dem Verbandplatz bringen.
- Man ist unsicher im Gehen mit so einem angeschossenen Arm."
Einige
Schrapnelle fuhren in den Wald und klapperten in den Ästen. Ich
ging nach dem Tunnel.
Im Unterstand lag der ohne Beine, jetzt
tot.
Eilitz fuhr in die Höhe. „Wo ist der
Oberleutnant?"
„Gesund, im Bataillonsunterstand."
Ich freute mich, dass er sich so gesorgt hatte.
„Ist der
Wald wiedergewonnen worden?"
„Nein. Es ist auch keiner
in den französischen Graben gekommen."
„Doch,
ich!" sagte es gereizt hinter mir. Ich fuhr herum: Seidel! „Ich
bin drin gewesen!" sagte er, aber gar nicht wie er selbst. „Aber
als ich mich umsah, war keiner mehr da, und der Graben war auch von
Franzosen leer. Da bin ich vorsichtig im Graben nach rechts weiter
und bin da zur ersten Kompanie gekommen. Wo ist der
Oberleutnant?"
„Im Bataillonsunterstand."
Er
lief ohne ein weiteres Wort hinaus.
Eilitz führte mich ganz
unnötig vorsichtig am rechten Arm und half mir aus dem
Graben.
Da fiel mir ein, dass meine Briefe, und was ich mir sonst
aufgeschrieben hatte, noch im Unterstand lagen. Ich hatte sie nicht
mit vor genommen, für den Fall, dass man in Gefangenschaft
geriete. Denn es standen Bemerkungen über Truppenbewegungen
darin.
„Du, warte mal hier; ich muss noch was holen!"
Ich
kletterte wieder in den Graben und tappte durch die dunkeln Gänge.
Im Unterstand brannte noch das Licht. Ich stieg über den Toten
weg, steckte die Papiere in die Rocktasche und tastete zurück.
Als
ich Eilitz nicht an der Stelle traf, wo ich ihn verlassen hatte, rief
ich leise: „Eilitz! - Paul!" Eine Angst befiel mich. Ich
kletterte mühsam aus dem Graben. - Ich sah niemand. Ich
stolperte über Äste und umgebrochene Bäume. - Da! Er
lag ausgestreckt im Astgewirr. Der Mond schien ihm ins Gesicht. Er
hatte etwas Blut über dem einen Auge. Mich fröstelte, und
ich ging weiter.
Ich ging durch den toten Wald. Silbrig und kahl standen Bäume
und Äste im Mondschein.
Ein Erdwall kam und ein öder
Platz mit Krankentragen und Zeltbahnen darübergedeckt. Das waren
Tote.
Roter Lichtschein kam aus einer Öffnung am Boden.
Über
mich weg zischte ein Schrapnell.
Ich stieg die Treppe hinunter.
Rechts waren zwei Ärzte bei hellweißen Karbidlampen mit
einem entblößten Oberschenkel beschäftigt. Oberkörper
und Kopf waren im Schatten.
Links stöhnte auf einem Schemel
der Vizefeldwebel Hornung, wie es schien, ohne Verwundung, vielleicht
verschüttet gewesen.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte,
und blieb vor ihm stehen.
Er sah auf, sagte unnatürlich:
„Guten Abend!" und begann sich wieder zu bewegen. Er war
fast gut angezogen, obwohl lehmig. Ich liebte ihn nicht; er war gern
höhnisch. „Ach, dieses Gefühl im Kopf! Alles dreht
sich herum in mir."
Ich hörte das wie von ferne. Ich
fühlte etwas herankriechen. Ein Schauder überrieselte
mich.
„Ich sollte zur Kompanie zurück? Nein, ich meine
nicht, dass ich vorn hin sollte; da war ich ja vorn." Spricht er
nur mit mir? dachte ich und konnte doch nicht zuhören. „Als
mir das kleine Brett auf dem Rücken lag, da wollte ich stürmen.
Ach nein! Ich weiß natürlich, was ich meine!" Das
klang boshaft und verächtlich. „Meine Gedanken sind immer
fortgelaufen." Er machte mit dem Kopf eine Kreisbewegung. Die
machte mein wanderndes Gefühl noch tuchiger.
Der Arzt trat zu
Hornung. „Ich habe Ihnen etwas gegeben. Jetzt nehmen Sie sich
zusammen! - Und Sie?" wandte er sich an mich. „Waren Sie
nicht Ordonnanz bei Fabian? -Kommen Sie mal gleich her!"
Man
setzte mich auf einen Schemel. Jemand machte die Sicherheitsnadel auf
meiner Schulter los und zog mir Ärmel und Rock aus. Das Hemd
wurde heruntergestreift. Ich fror.
„Ein tüchtiger
Fleischschuss! Sie können von Schwein reden! Der Splitter hat
ordentlich gefetzt - oder war es ein Schrapnell?"
„Nein,
ein Gewehrschuss."
„Das muss aber dann sehr aus der
Nähe gewesen sein." „Auf achtzig Meter, Herr
Oberarzt!" „Ach, Sie haben den Sturm mitgemacht?"
„Nicht
eigentlich. Ich wartete mit Herrn Oberleutnant auf die Reste der
Kompanie." Es war grauer Nebel um mich. „Wie haben die
Leute angegriffen?" „Vorzüglich, Herr Oberarzt! Sie
waren ganz umgewechselt gegen vorher." „So? Es sind
scheußliche Verwundungen drunter." Hinter mir murmelte
Hornung etwas, aber es war im schwarzen Nebel verschlungen. Ich hielt
mich ganz aufrecht, dass es nicht noch näher käme.
„Nun
noch die Tetanusspritze! Waschen Sie ihm hier die Haut!"
Auf
der rechten Brustseite wusch der Sanitätsunteroffizier mit etwas
Kaltem einen kleinen Fleck. Der Arzt packte dort die Haut und stach
die Spritze ein. Ich sah nichts mehr vor Schwärze und hielt mich
ganz steif.
Ich erwachte. Ein Glück rieselte in mir. Ich
hörte Stöhnen. Hornung saß über mir. Ich lag auf
einer Trage. Meine Brust war fest beim Atmen.
Da fühlte ich
einen breiten Verband.
„War ich lange bewusstlos?"
fragte ich Hornung.
„Ich weiß nichts. Die Zeit ist
ausgedehnt..."
Ich sah nach innen. Da saß es
schrecklich mit dem Wolltuch. Was ist das! - Auf meiner Brust waren
kühle Blasen. Steif tappten meine Finger darauf. Das kam heran,
zum Entsetzen nah! - Jetzt...
Das Erwachen war lächelnd. Oh,
dass alles vorüberging!
Hornung stöhnte: „Wenn ich
mich nur übergeben könnte! Der Wurm im Kopf!"
Auf
dem Verbandtisch brannten die beiden Karbidlampen. Der Oberarzt kam
und trat mir vors Licht. „Nu, wie ist's Ihnen?"
„Gut,
Herr Oberarzt!"
„Erzählen Sie noch etwas vom
Sturm! War das nicht schrecklich?"
„Nein, es war
herrlich, wie die vorstürmten, alle - die vorher im Tunnel
klagten! Einer hat gesagt - ich hörte es im Vorübergehen -,
es wäre ihm gleich, ob er gefangen würde. Und der ist
vorgerannt und hingestürzt. Wahrscheinlich ist er tot."
„Aber
das ist doch nicht herrlich!"
„Doch, Herr Oberarzt, wie
sie auf einmal alle Angst verloren hatten! Dass es sie gepackt hatte
und sie angriffen, das war unvergleichlich schön!"
Die
Angst kam wieder, aber durchleuchtet von dem Gedanken an den
herrlichen Angriff. Noch konnte sie nicht Herr werden.
„Und
wie war es denn, als Sie ohnmächtig wurden?"
„Es
kam so heran, und ich sah nur noch das Licht. Und dann packte es
mich, und ich machte mich ganz steif, um es nicht heranzulassen. Dann
wusste ich nichts mehr. Aber beim Aufwachen war es sehr schön."
„Und
fühlen Sie sonst nichts?"
„Ich habe den ganzen
Körper voller Blasen, und mein Mund ist geschwollen. Meine
Finger sind auch steif."
Er murmelte etwas, auf das ich in
dem grauen Ankriechen nicht hören konnte. Das wuchs und war so
entsetzlich, so furchtbar tuchen. Ich musste mich innen in meinem
Kopf zusammenziehen, ganz grau. Oben war noch ein Widerschein, sonst
Tuchklumpen. Die Lippen. Hooch! Das kam grässlich, noch näher
und noch grässlicher und wuchs bleiern. Aber ich wollte es
bezwingen, mich fest machen! Noch näher und grässlicher!
Nein!
Die beiden Ärzte flüsterten zusammen.
„Das
ist es nicht, Herr Kollege. Ich halte es für Wundstarrkrampf.
Haben Sie gehört, wie er von dem Angriff sprach? Das ist
gewissermaßen eine positive Ekstase, die der negativen
entspricht. Übrigens ist der Puls recht schwach. Ich werde mal
sehen, ob er wieder zu sich gekommen ist."
Er kam zu
mir.
„Ich werde Ihnen mal etwas Kognak geben." Er goss
mir ein. Es durchfeuerte mich. „Nu, wie ist's jetzt mit
Ihnen?"
„Es wird mir etwas schwer, zu sprechen, Herr
Oberarzt, weil meine Lippen so dick sind. Auch die Blasen sind noch
größer geworden. Aber sonst fühle ich mich sehr
wohl."
„Es schießt übel draußen",
sagte er. Ich merkte, dass er mich beobachtete. Er schien nicht mehr
zu wissen, was er fragen könnte, und verließ
mich.
Sonderbar, dass es mir begegnete, dass etwas an mir
beobachtenswert war.
Ich lag froh.
Hornung stöhnte. Jemand
wurde heruntergetragen, die zerrissenen Hosen zuerst. Die Ärzte
hantierten. Eine Zeit verging.
Ich wurde wieder aufmerksam. Es war
nur Atmen im Unterstand.
Der Oberarzt kam. „Wie steht es?"
„Sehr gut, Herr Oberarzt."
„Es ist schon spät.
Wir müssen sehen, dass Sie noch hinterkommen. Ich werde Ihnen
den Sanitätsunteroffizier mitgeben für den Fall, dass Sie
wieder einen Kollaps kriegen."
Ich wusste zwar nicht, was
Kollaps heißt, sagte aber: „Es passiert nichts
mehr!"
„Und Sie", wandte er sich an Hornung,
„müssen auch fort."
„Ich kann nicht, Herr
Doktor!"
„Das ist Unsinn! An der Luft werden Sie gleich
freier." Ich stand auf. Hornung bewegte sich nur auf seinem
Schemel.
„Jetzt stehn Sie auf!"
„Ich kann
nicht!" hauchte er.
„Nehmen Sie ihn mal am Arm!"
Ich
fasste ihn zögernd am Oberarm. Da stand er auf einmal leicht
auf. Was war da geschehen? An der Unterstandstreppe musste ich ihn
loslassen. Er stieg voraus. Auf einmal wankte er nach hinten. Wenn er
auf mich fiel? Ich war hilflos mit dem eingebundenen Arm! Ich packte
ihn rasch am Arm und schob ihn hinaus. Draußen schien der Mond
auf die weißlichen Äste und auf die Toten.
„Jetzt
rasch!" sagte der Sanitätsunteroffizier. „Hier
schießen sie immer mit Schrapnellen her. Dort die Wiese
hinauf!"
Wir begannen zu rennen. Hornung torkelte rechts an
mir, und links war ich fest und hilflos. Ich versuchte, mit ihm in
gleichen Schritt zu kommen, aber es ging nicht. Wir wankten den Hang
hinauf und zwischen den Kreuzen des Friedhofs und unbeerdigten Toten
durch.
Surr! ein Schrapnell dicht links.
Wir stockten vor einer
querliegenden Leiche.
Surr! wieder eins.
„Was ist denn?"
wandte sich der Sanitätsunteroffizier um und wollte Hornung am
rechten Arm über die Leiche helfen.
„Lassen Sie mich!"
sagte der gereizt.
Wir kamen an einen Graben. Ich konnte,
eingebunden, wie ich war, nicht springen, und Hornung wurde an meiner
Seite schlaff.
Der Sanitäter lief am Graben entlang.
„Hierher!" rief er.
Hier war der Graben eingeschossen.
„Jetzt weiter! Das ist die übelste Stelle!" Wir kamen
in den Hohlweg.
„Hier in einem dieser Unterstände
müssen Sie warten, bis ein Sanitätswagen kommt. - Gute
Besserung!"
Vor uns war im Steilhang ein Treppeneingang,
unten Licht. Beim Hinuntersteigen ächzte Hornung.
Unten
arbeiteten drei Pioniere an einem Gang. Es lag ein Stoß
Minierholz da, auf den sich Hornung setzte, ohne ein Wort zu
sagen.
„Können wir hier bleiben, bis ein Sanitätswagen
kommt?" fragte ich.
„'s wird euch aber zu kalt werden",
antwortete einer, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.
Hornung
begann wieder mit seinen Bewegungen und schien keine Luft zu
bekommen.
Die Feuchtigkeit des Holzes drang durch die Hosen. Mir
stieg eine Übelkeit auf, die mich ganz beschäftigte. Nach
einer Weile ließ es nach. Ich betastete auf meiner nackten
linken Brustseite die großen Blasen. Ein Frostschauer nach dem
andern überlief mich und ging bis in die Haarwurzeln.
Im
Stollen arbeiteten sie.
„Noch eine Idee höher! Der
Zapfen sitzt noch nicht. - So, jetzt!"
Plötzlich
bemerkte ich etwas an Hornung. Seine Augen lagen im Schatten. Sein
Gesicht sah merkwürdig braun und fremd aus. Er bewegte die
Lippen und die Falten um den Mund, als ob er auf der Bühne
spräche - er war ja Schauspieler. Mir fiel ein, wie unnatürlich
er im Sanitätsunterstand gesprochen hatte, wie auf der
Bühne.
„Du, trag mal die Säcke fort! Dann machen
wir 'ne Pause." Sie schleppten die Säcke mit ausgekratztem
Lehm an die
Treppe und lehnten sie an die Wand. Dann setzten sie
sich auf einen Holzstoß und begannen Brot zu schneiden.
„Ich
glaube, heute kommt kein Sanitätswagen mehr, das schießt
zu elend auf die Straßen!"
Da können wir nicht
hier bleiben, dachte ich und bewegte mich etwas. Ich fühlte mich
durchkältet und musste ganz weit gähnen. „Herr
Feldwebel!" sagte ich. „Wäre es nicht besser, wir
versuchten selbst hinterzukommen?"
»Nee, das geht
nicht", sagte einer der Pioniere. »Wisst ihr denn den Weg?
Und 's ist recht kalt draußen."
„Das ist noch
immer besser, als halb nackt hier unten sitzen."
Sie
betrachteten von der Seite meine bloße linke Seite.
„Paul!"
sagte der eine. »Musst du nicht jetzt hinter? Du könntest
sie doch mitnehmen."
Hornung saß unbeweglich da und
atmete schwer. Ich nahm ihn am Arm. Er stand schwer auf.
»Danke
für die Aufnahme", sagte ich.
»Da ist nichts zu
danken", murmelte einer.
Es war dunkel und still auf der
lehmigen Straße. Als wir auf die Höhe kamen, sah ich noch
einmal nach vorn. Weit rechts eine weiße Leuchtkugel. Ein
einzelner Gewehrschuss verlor sich.
Der Pionier führte uns
einen anderen Weg, als den wir vor einer Woche vormarschiert waren,
eigentlich keinen Weg, sondern über einen alten Acker mit nassen
Strünken. Wir kamen zu verfallenen Häusern. Aus einem
Keller drang spärliches Licht. Ich fror an meinen Blößen
neben dem Verband.
„Um das nächste Dorf", sagte
der Pionier, „steht alles voll Batterien. Da schießt es
viel hin."
Links kam ein schwarzer Graben, an dem wir auf
zehn Schritt entlanggingen. Hinter uns kam es leise: S-ch-s-ch, ganz
auf uns und wurde schärfer.
„Hinlegen!" brüllte
der Pionier und lag dunkel am Boden.
Wir beide standen ohne
Entschluss.
Sch! fuhr es herab.
Map-kremm! Ein brauner Baum
sauste auf, fünf Schritt vor uns. Hornung neigte den
Oberkörper.
Pu-pu-pu! fielen Lehmbatzen nieder. Ich bekam
nassen Lehm in den offenen Kragen.
Der Pionier stand auf. »Das
war verflucht nah!" Ein Abschuss gellte über uns weg.
„Wir
müssen in den Graben", sagte der Pionier. Wir folgten ihm.
Der Lehm rutschte mir tiefer und war kalt am Rücken.
Der
Pionier rutschte in den Graben und streckte Hornung seine Hand
hinauf. Der beugte sich und kam ungeschickt hinein. Ich fürchtete
mich mit nur einem brauchbaren Arm und legte mich auf die rechte
Seite. Der Pionier fasste mich vorsichtig an den Hüften.
Im
Graben liefen wir schnell um die runden Lehmecken. Oben kamen
Mauertrümmer. In einer Grabenerweiterung saß massig eine
Haubitze, mit runden Geschoßkörben um sie.
Hinter dem
Dorf hörte der Graben in einer Wiesenfläche auf. Hornung
ging jetzt ohne Hilfe. Ich fühlte mich frisch zum Gehen.
Wir
kamen auf eine Straße, dann durch ein wenig zerschossenes
Dorf.
Die Dämmerung begann.
„Dort ist das
Feldlazarett", sagte der Pionier und deutete auf einen großen
Hof.
Als wir hineintraten, kam ein Arzt aus einem niedrigen
Gebäude rechts. „Ich war gerade mit Verbinden fertig. Nu,
Ihr Verband ist ja gut! Haben Sie Schmerzen?"
„Nein,
Herr Doktor."
„Na, kommen Sie mal mit!" sagte er
munter. Er brachte uns in ein niedriges Gebäude. Rechts und
links lagen Verwundete dicht nebeneinander. Ich kam zwischen zwei,
von denen der links die Decke über den Kopf gezogen hatte. Der
rechts sah mich blass an. Ich ließ mich auf den rechten Arm
nieder und legte mich behutsam auf den Rücken. Ein Krankenwärter
brachte eine Decke und legte sie mir über.
„Brauchst du
sonst was?"
„Nein, danke."
Das Tageslicht durch
die Fenster störte mich. Die Wolldecke war mir an den bloßen
Stellen rau. Ich schloss die Augen. Aber ich war sehr wach. Die
Begebnisse der Nacht kamen mir in Bildern, aber unzusammenhängend
und nackt: die Straße, auf der wir zuletzt kamen; wie sie beim
Angriff hinfielen. Eilitz lag im Walde, an dessen Tod ich schuld
war.
Und der Saal hier und die Decke! Neben mir rechts, der atmete
unregelmäßig. Das quälte mich. Ich schielte nach ihm.
Er bewegte ein Knie unter der Decke. Ich machte wieder die Augen zu
und dachte: Ich müsste doch müde sein! Ich schlief ein.
Ich
fuhr auf. Jemand hatte mich gefragt, ob ich aufstehen könnte.
Ein Krankenwärter stand zu meinen Füßen und sah auf
mich herunter.
„Ja", sagte ich und richtete mich
auf.
Er zeigte nach dem Tisch rechts hinten. Dort gäbe es
Frühstück. Ich erhob mich und ging verdächtig leicht
hinüber.
An dem Tisch saßen mehrere, schmutzig und
blass. Ich setzte mich auf einen Schemel. Ein paar redeten. Mich
quälte es, zuzuhören.
Becher mit dünnem, heißem
Kaffee wurden vor uns gesetzt. Dazu gab es eine Schnitte Brot. Ich
hatte Hunger, aber es schmeckte mir an dem Tisch nicht. Ich stand
bald auf. An der Wand hing ein Spiegel. Scheu warf ich einen Blick
hinein und erschrak. Ich war wie eine weiße Fläche mit ein
paar dunkeln Augen drin.
Gegen Abend wurde ich in ein Sanitätsauto
verladen. Ich musste mich dazu auf eine Trage legen und bekam eine
dünne Decke übergelegt. Man schob mich oben in den dunkeln
Wagenraum. Unter mir lagen schon zwei. Dann kam rechts noch eine
Trage mit einem darauf hereingefahren. Die Klappe hinten wurde
zugemacht und verschlossen. Durch einen Ritz drang etwas fahles
Licht.
Der Motor wurde angekurbelt. Es ratterte. Sie stiegen vorn
auf. Plötzlich zog es an. Schwankend surrte das Auto fort. Ich
wurde auf der gespannten Leinwand der Trage leicht in die Höhe
geworfen und fiel schwer auf die Stangen der Trage, gerade mit der
Wunde. Da hob es mich schon wieder in die Höhe. Die Straße
musste sehr ausgefahren sein. Wenn wenigstens das Auto nicht so
weiche Federn hätte! Es schwankte hin und her. Ich versuchte
mich mit der freien Hand gegen die Decke zu stemmen. Dabei machte ich
mich aber steif, und es wurde nur schmerzhafter. Auf die Seite konnte
ich mich nicht legen; denn ich hätte mich nur auf den gesunden
Arm legen können. So ließ ich mich wippen und fliegen und
schloss die Augen. Da hatte ich wieder das Gefühl, ich könnte
hinunterfallen. Unter der dünnen Decke war es kühl. Meine
Blasen fühlten sich gänsehäutig an. Es ging um Ecken
und wieder geradeaus. Wagen rumpelten. Infanteriekolonnen latschten
vorbei. Ununterbrochene Stöße kamen: Steinpflaster.
Wir
hielten. Stimmen. Jemand klapperte hinten am Schloss und öffnete.
Tageslicht. Eine Trage wurde unter mir herausgezogen. Ein
Frostschauer überfiel mich.
Man zog mich heraus. Ich sah ein
Haus. Der Himmel, obwohl trübe, blendete mich. Sie trugen mich
mit den Füßen zuerst eine Treppe hinauf. Das erheiterte
mich ein wenig. Dann kam ein großes, helles Zimmer mit
Betten.
Eine Schwester lächelte mich von oben an. „Können
Sie allein aufstehen?"
Ich streifte die Decke zurück und
erhob mich. Sie führte mich an ein weißes Bett. Ich
knöpfte den Rock auf, soweit er zugeknöpft gewesen war.
Dann trat ich die lehmigen Stiefel von den Füßen. Die
waren sehr schmutzig. Ich schämte mich und deckte mich schnell
zu.
„War es schlimm da vorn?"
„Nein - oder
vielleicht doch."
Sie lächelte und ging zu dem, der eben
hereingetragen wurde.
Eine Kälte durchschauerte mich. Die
Angst kam wieder. Ein sprödes, dumpfes Ziehen und das
grauenvolle Herankriechen. Meine Blasen waren noch größer
geworden.
Nach einer Weile wich das Gefühl. Rechts im
nächsten Bett bewegte sich einer stöhnend hin und her. Sein
Gesicht war rund und rot.
Die Schwester kam zu ihm. „Nachher
werden wir Ihren Rücken noch einmal mit Äther waschen.
Jetzt gibt's zu essen - oder haben Sie keinen Appetit?"
Sie
fühlte ihm die Stirn. Dann sah sie zu mir herüber. „Haben
Sie Schmerzen?"
„Nein, aber Hunger!" Ich wurde auf
einmal sehr vergnügt.
Am nächsten Tage wurde ich wieder
in ein Auto verladen und auf den Bahnhof gefahren. Sie setzten mich
auf meine Trage und dann in einen niedrigen Eisenbahnwagen mit vielen
kleinen Fenstern.
Wir fuhren ab. Jedes Stoßen der Räder
stieß mir in die Wunde. Dazu kam wieder die Angst und das
Ziehen.
Wie viele Tage wir fuhren, weiß ich nicht. Manchmal
stand ich auf, um nur nicht immer in die Wunde gestoßen zu
werden. Ich bat, man möchte mich eine Nacht sitzen lassen. Aber
die Schwester erlaubte es nicht, und es wäre auch nicht
gegangen. Ich hatte Fieber und musste immerfort austreten. Die
Schwester schien um mich besorgt zu werden. Immer wieder kam das
Gefühl und war hässlich und spröde. Am Körper
juckte es mich. Ich musste Läuse haben. Aber ich konnte nichts
dagegen tun. Ich dachte verzweifelt: Bleibt denn das immer so, dass
dieses Gefühl wiederkommt? Wenn es aber vorbei war, dann war ich
glücklich.
Es war Nacht. Unser Zug hielt. Ich beachtete es
nicht mehr.
Krankenträger kamen herein und fassten meine
Trage. Sie trugen mich vorsichtig hinaus, aber ich hatte Angst. Jetzt
ging es über die Schienen. Wenn sie stolperten, das könnte
ich nicht mehr ertragen! Wir kamen an ein großes Gebäude
wie einen Speicher. Daran ging es entlang. Was wollten sie nur mit
mir? Es ging mehrere Treppen hinauf. Weiße Gänge.
„Hier
herein!" sagte eine alte Frauenstimme. Die Frau stand in der Tür
mit auf dem Bauch gefalteten Händen und sah mich aus weißen,
gestärkten Kopfbinden sehr gut an.
Man trug mich in einen
Saal mit zwei Reihen Betten. Die Nonne half mir sanft aufstehen. Ich
zitterte am ganzen Körper. Die Zähne schlugen mir
aufeinander.
„Ich habe Läuse", sagte ich
verzweifelt.
„Die werden wir bald los sein", lächelte
sie. „Wo es sauber ist, gefällt's denen nicht."
Sie
legte mich ins Bett und deckte mich zu. Ich zitterte und konnte es
nicht verhindern.
Die Nonne kam mit einem Becken, nahm mir die
Füße aus dem Bett und begann sie mit warmem Wasser zu
waschen.
„Sie haben Fieber?" fragte sie mit etwas
näselnder Stimme, die aber sehr gut war. „Ja, ich glaube",
stotterte ich.
„Wir werden Sie gleich Herrn Doktor
vorstellen. Wir haben hier einen sehr tüchtigen Arzt. Der ist
unermüdlich vom Morgen bis in die Nacht."
Sie steckte
meine Füße wieder unter die Decke.
Ein Wärter kam
mit einem flachen Wagen auf Gummirädern. Darauf musste ich mich
legen. Er fuhr mich hinaus in einen engen Raum. Auf einmal surrte es,
und wir fuhren hinunter.
Er schob mich in einen Saal mit Becken
und Instrumenten. Da setzte er mich auf einen weißbezogenen
Tisch und zog mir das Hemd aus. Um die Hüften legte er mir die
Decke, dass ich nicht ganz nackt dasäße. Dann wickelte er
den Verband von Brust und Schulter. Ich zitterte und klapperte mit
den Zähnen.
„Das hat aber geeitert!"
Jemand
ging unruhig hinter mir auf und ab, blieb stehen und schien mich zu
beobachten. Ein Arzt konnte es nicht sein. Der Mensch hier hatte
Angst. Er ging wieder auf und ab, blieb stehen und machte wieder ein
paar Schritte, schrecklich unruhig. Ich klappte verzweifelt mit den
Zähnen. Wenn er mich nur nicht beobachtete!
Der Wärter
hatte den Verband abgewickelt und warf ihn in einen Eimer. Fast alles
war braun durchtränkt. War das alles Eiter?
Die Tür
wurde rasch aufgemacht.
„Doktor Sand!"
„Lindkamp",
sagte eine leise, tiefe Stimme. „Sie sind nicht verwundet, Herr
Hauptmann?" „Nein, ich bin krank."
„Aber es
fehlt die Überweisung vom Feldlazarett." „Ich bin
nicht überwiesen."
„Dann dürfen wir Sie aber
nicht aufnehmen, Herr Hauptmann."
Ich fror furchtbar an Brust
und Rücken.
„Was soll ich denn tun?" murmelte der
Hauptmann.
„Wir können Sie ja hier behalten, aber immer
unter der Voraussetzung, dass wir Ihr Bett nicht anderweitig
brauchen. - Wir müssen auch darüber berichten."
„Das
ist Ihre Pflicht", murmelte der Hauptmann.
Rasche Schritte zu
mir. Ein Mann im weißen Mantel, noch jung.
„Was haben
Sie? - Wo sind die Instrumente, Schwester?" Instrumente
klapperten hinter mir. Ich zuckte zusammen.
„Tat das
weh?"
„Nein, Herr Doktor", stotterte ich. Es kamen
welche zur Tür herein.
Die Wunde wurde mit etwas Kaltem
betupft. Ich wollte mich zusammennehmen und hörte auf zu
zittern. Da schlugen mir wieder die Zähne zusammen. Selbst das
konnte ich nicht mehr! Ich fing krampfhaft an zu weinen. Es
schüttelte mich vor Frost.
„Jetzt schnell verbinden und
ins Bett!" sagte der Arzt und legte mir etwas Breites, Weiches
auf die Wunde.
Der Wärter umwickelte mir die Brust mit einer
breiten Binde und flüsterte: „Nicht Angst haben!"
Er
fuhr mich auf den Gang. Ein kleiner Offizier sah mich mitleidig an.
Ich konnte nicht sehen, was er für Abzeichen auf den
Achselstücken hatte. Aber ich ahnte, dass es der Hauptmann
war.
„Haben Sie große Schmerzen?"
„Nein.
- Herr Hauptmann. - Mich friert-nur-so." Ich brachte es nur
stockend heraus, so schüttelte mich der Frost.
Er sah weg und
machte auf einmal eine verlegene Verbeugung. „Lindkamp."
O
Gott! dachte ich, er hält mich für einen Offizier. Ich kann
mich ihm doch nicht vorstellen.
„Ich bin nur Gefreiter, Herr
Hauptmann."
Er sah mich traurig an und ging neben meinem
Wagen her.
„Wie heißen Sie?" murmelte er. „Renn,
Herr Hauptmann."
„Wenn Sie irgend etwas brauchen - ich
liege im Zimmer 209."
Er wandte sich ab und blieb stehen. Ich
wollte ihm gern etwas sagen. Aber ich war doch nur Gefreiter, und ich
zitterte vor Frost und konnte nichts finden.
Man legte mich ins
Bett. Die Nonne deckte mich zu.
„Morgen ist's schon besser",
lächelte sie. „Das macht nur die lange Bahnfahrt."
Das
machte mich wirklich ruhiger. Nur draußen fror ich und
zitterte. Ich lag weiß und sauber im Bett. Irgend etwas war in
mir sehr fröhlich.
Ich wachte auf von einem Gesang nebenan.
Da musste eine Kapelle sein, und die Nonnen sangen.
Es war Tag und
hell im Saal und ganz still. In allen Betten horchten sie.
Nach
einer Weile kam die Nonne lächelnd mit gefalteten Händen.
Sie war alt und voll Falten, aber die guten, etwas wässerigen
Augen waren mir lieb. Sie ging die Betten ab.
„Nu, wie ist's
heute?"
„Sehr gut", lachte ich.
Sie hob mich
sacht empor. Auf meinem Kissen war ein kopfgroßer brauner
Fleck.
„Es hat schon wieder den ganzen Verband
durchgeeitert! Wir müssen noch dickere Bäusche
unterlegen."
Zwei Mädchen brachten Frühstück
herein. Es schmeckte mir, nur hatte ich noch mehr Hunger.
Am
Nachmittag kam der Hauptmann und brachte mir zwei Taschentücher.
Ich war verlegen. Ob das ein Geschenk sein sollte? Er saß auf
meinem Bettrand und wurde auf einmal alt.
„Sind Sie schon
lange im Westen?"
„Seit Kriegsbeginn, Herr
Hauptmann."
„Ich war immer im Osten", sagte er
verloren. „Und da kam ich nach dem Westen, gleich vor. Ich habe
nicht einmal den Regimentskommandeur gesehen. - Mein Adjutant wollte
mich nicht gehen lassen. Aber das geht doch nicht! sagte er immer
wieder. - Aber ich konnte nicht. Ich saß immer nur im
Unterstand und wusste gar nicht, was ich machen sollte. - Das können
Sie natürlich nicht verstehen." Er sah mich sehr traurig
an.
„Doch, Herr Hauptmann", murmelte ich.
„Aber
ganz können Sie es nicht verstehen. Sie sind anders. - Ich habe
Frau und Kinder zu Hause. Die würden sich freuen, Sie kennen zu
lernen." Ein Schimmer von Freude kam in seine Züge. Wie
entsetzlich! dachte ich. Er hat jeden Maßstab verloren, für
sich und andere! Wenn es nur niemand gehört hat!
„Wenn
Sie etwas brauchen - ich habe meine Koffer da."
Er gab mir
die Hand und schlich hinaus.
Der Hauptmann kam noch ein paar Mal.
Er erschien mir immer älter und unentschlossener. Ich überlegte
wieder und wieder, was ich ihm sagen sollte, ob ich ihm vielleicht
irgend etwas erweisen könnte, was ihm wohltäte? Aber ich
fand nichts. Ich fand mich kalt und dachte, er müsste mich für
herzlos halten. Die Kameraden im Saal witzelten über ihn.
Vielleicht hatten sie recht, aber es verletzte mich. Dann blieb er
aus.
Ich fragte die Schwester. Sie sah mich ernst an. „Es
soll nicht bekannt werden; er hat sich das Leben
genommen."
Merkwürdig! Ich war nicht einmal betroffen.
Ich nahm es hin, nur als Tatsache.
Mir fiel Eilitz ein, den ich
draußen hatte stehen lassen -und er war gefallen. Ich empfand
keine Reue darüber, aber es bewegte mich.
Meine grässlichen
Zustände wurden seltener und schwächer. Die Blasen gingen
zurück. Nur die Wunde eiterte noch jede Nacht den Verband durch.
Ich durfte schon stundenweise aufstehen. Mich mit einer Hand
anzuziehen, lernte ich schnell. Es machte mir nur Schwierigkeiten,
das Hemd in die Hosen zu stecken; denn entweder hielt ich die Hose
fest, oder ich stopfte das Hemd hinein, und dabei rutschte mir die
Hose hinunter, die auch zugeknöpft noch zu weit war. Deshalb
lehnte ich mich gegen einen Bettpfosten und hielt so die Hose
fest.
Eines Morgens kam der Doktor und betrachtete die
Wunde.
„Jetzt können wir die Wunde zusammenziehen. Sie
ist ganz schön sauber geworden. Haben Sie Mut dazu?"
„Jawohl, Herr Doktor!"
„Gut! Bringen Sie ihn in
den Operationssaal!"
Ich ging mit dem Wärter in den
Raum, in dem ich in der ersten Nacht gewesen war. Man entblößte
mir die Wunde. Eine Nonne wusch mir die Wundumgebung mit Äther.
Der
Doktor kam.
„Drei Wundklammern! - Es ist kein angenehmes
Gefühl. Wollen Sie lieber eine Spritze haben?"
„Nein,
Herr Doktor. Ich fürchte mich mehr vor Spritzen als vor
richtigem Schmerz."
„Dass Sie mir aber nicht schreien!"
„Nein, Herr Doktor." Der Wärter fasste meine
Handgelenke. Der Doktor klapperte hinter mir mit Instrumenten. „Jetzt
geht's los!"
Er stach mir über der Wunde ins Fleisch.
Das war so schlimm nicht. Dann darunter. Weiter links wieder oben und
unten. Dann die dritte Klammer.
„So, jetzt kommt das
Zusammenziehen."
Ich fühlte, wie sich die Stacheln
tiefer hineinbohrten, als wollten sie das Fleisch ausreißen.
Jetzt kam die nächste, und dann ... Das war nicht angenehm.
„Gut
stillgehalten!"
Ich ging hinauf in den Saal. Die Schulter
hielt ich etwas schief, aber ich war vergnügt. Ich legte mich
ins Bett, hatte aber keine Ruhe und stand nach einer halben Stunde
wieder auf und ging auf und ab. Es war, als schwölle das Fleisch
immerfort und würde weher und weher von den Metallklammern.
Dann
kam das Essen. Es widerstand mir, und ich aß nur wenig.
Dann
legte ich mich ins Bett und schlief ein.
Ich wachte auf.
Ungreifbare Vorstellungen wie durchsichtige Balken und Drähte
waren noch quälend vom Traum da. Ich sah unruhig. Der Schmerz
war nicht so schlimm wie das. Ich trank ein wenig Kaffee und ließ
das Brot liegen.
Die Nonne kam besorgt. „Haben Sie keinen
Appetit? Wir müssen einmal das Thermometer einlegen."
Ich
lag still. Die Zeit floss zäh. Die Nonne nahm das Thermometer
heraus und sah darauf. Ihre Augen waren wohl schon etwas schwach. Sie
schüttelte es nach unten.
„Wir müssen noch einmal
messen."
Ich wusste schon, dass ich Fieber hatte.
Sie ließ
mich lange liegen. Dann zog sie es heraus und sah darauf.
„Wir
müssen Herrn Doktor rufen."
Er war nach wenigen Minuten
da und betrachtete die Wunde.
„Es ist alles in Ordnung. Aber
es kann immerhin sein.
Wenn wir die Wundklammern herausnehmen,
dann vergeht das Fieber. Aber die Heilung wird um Wochen, wenn nicht
Monate verzögert." Er sagte das wie fragend zu mir.
„Ich
will lieber das bisschen Fieber haben", sagte ich.
„Gut,
geben Sie ihm eine Spritze für die Nacht, Schwester
Brigitte!"
Zu Abend konnte ich nur einen Bissen essen und
brachte ihn kaum hinunter. Dann wusch mir der Wärter eine Stelle
am rechten Oberarm. Die Nonne kam mit einer gläsernen Spritze
mit trüber Flüssigkeit. Sie zog die Haut ab und drückte
das Zeug hinein. Es gab eine runde Erhöhung der Haut wie eine
Beule. Der Wärter klebte ein kleines Pflaster auf den
Einstich.
„Gute Nacht", sagte sie mit ihrer etwas
weinerlichen Stimme und nickte lächelnd. Ich liebte sie
sehr.
Ein Ziehen ging durch meinen Körper, als würde er
ganz lang. Das Ziehen hielt an. Der Schmerz wurde ferner, als würde
er abgelöst von der Schulter. Ich beobachtete in mir das Ziehen
und lag ganz still.
Mitten in der Nacht wachte ich auf mit einem
Begehren zu trinken. Ich hatte nichts da und wusste auch nicht, ob
ich trinken dürfte. Es ließ mir keine Ruhe. Ich lag lange,
zwar äußerlich still, aber innen peinlich bewegt. Eine
elektrische Lampe brannte im Saal. Die war mir angenehm. Einige
schnarchten. Einer bewegte sich unruhig und stöhnte.
Der
Gesang nebenan weckte mich aus einer Unruhe. Der Schmerz haftete
wieder nah und weh an der Schulter. Ein düsteres Licht war im
weißen Saal. Ich wusste nicht, woher das kam. Fern schlug eine
Tür zu. Ich hörte leise in den Doppelfenstern das Singen
des Windes und ein fernes Dröhnen wie Donner.
Die Nonne kam
herein und sah in dem fahlen Licht verwittert und gelb aus.
„Nun,
wie war die Nacht?" lächelte sie. Da war sie mir am Klang
der Stimme wieder bekannt.
„Nicht sehr schön. Ich
möchte lieber nicht wieder Morphium haben."
Das
Frühstück kam. Ich trank den Kaffee nicht aus und aß
nur wenig. Ans Fenster prickelte es. Ein gelber Aufschein von einem
Blitz. Jetzt hörte ich deutlich den Donner. Die Nonne legte mir
das Thermometer in die Achsel. Mir war gar nicht wohl. Der Doktor
kam.
Die Nonne flüsterte; ich verstand es: „Er hat fast
vierzig Grad."
„Machen Sie mal den Verband ab!"
Ich musste mich vorbeugen.
„Da ist eine leichte Rötung.
Er muss allein gelegt werden, und Sie, Schwester Brigitte, übernehmen
ihn allein, dass niemand angesteckt wird! Wir wollen hier keine
Wundrose in den Saal kriegen!"
Der Wärter kam mit dem
Wagen auf Gummirädern. Er fuhr mich einen Gang entlang nach der
anderen Seite der eingebauten Kapelle. Jetzt lag ich isoliert.
Das
Fieber stieg. Das Thermometer zeigte schon am Morgen vierzig Grad.
Meine Phantasie fing an, sich heftig zu verwirren. Das Fieber stieg
noch immer und hatte schon fast einundvierzig Grad erreicht. Zu essen
bekam ich nur hie und da ein geschlagenes Ei mit Kognak. Das
schmeckte süß und duftete. Meine Träume verwirrten
sich immer mehr. Ich war fertig.
Die Zeit rann zäh. Das
Fieber ließ langsam nach. Der Doktor fand die Wunde im besten
Heilen, die Flecke darum aber recht rot. Ich fühlte mich
schrecklich schwach. - Dann erklärte der Doktor eines Tages:
„Die Sache sieht gut aus. Wir können jetzt die
Wundklammern herausnehmen." Er griff nach dem Verbandwagen, und
mit ein paar schnellen Griffen waren die Klammern fort.
Gegen
Mittag erfuhr ich: ich war Unteroffizier geworden. Der Feldwebel
hatte es geschrieben. Ich freute mich.
Am Nachmittag ging noch mal
die Phantasie mit mir um. Aber am nächsten Morgen war ich
fieberfrei. Ich schlief noch viel und wachte jeden Tag vergnügter
auf.
Dann kam meine Versetzung ins Garnisonlazarett. Meine Wunde
war zwar noch nicht ganz geschlossen, aber ich durfte den Arm schon
etwas bewegen. Vorläufig konnte ich ihn nur zwei Handbreit von
der Hüfte seitwärts führen.
I.
Wir fuhren mit einem großen Genesenentransport ins Feld. Wo
kamen wir hin? Die Fahrt ging über Metz. Das Regiment musste
also wieder am südlichen Teil der Front liegen. Wir stiegen aus,
erstaunlich kurz hinter Metz, und marschierten in ein Waldtal ab. Der
Tag war trüb und windig. Der Wald sah unwirtlich aus.
Nach
etwa zwei Stunden Marsch lag vor uns ein runder Berg mit einem
kleinen Waldschopf darauf. Wir bogen links ab. Da lag den Berghang
hinauf ein Dorf.
Wir hielten vor einer Villa mit Garten. Einige
Leute unseres Regiments kamen herbei und betrachteten uns von
ferne.
Ich wurde mit Hänsel und einigen wieder zur dritten
Kompanie bestimmt.
Um zu melden, ging ich ins
Kompaniegeschäftszimmer. An einem kleinen Tisch, den Rücken
zu mir, saß ein Leutnant.
„Unteroffizier Renn mit
vierzehn Genesenen zur Stelle!"
Der Leutnant drehte sich
um.
„Guten Tag!" Er gab mir die Hand. Ich ergriff sie
zaghaft und sah ihn erstaunt an. War das wirklich der frühere
Einjährige Lamm?
„Habe ich mich denn so verändert,
dass du mich nicht wieder erkennst?"
„Doch, Herr
Leutnant."
„Sind wir im Dienst, dass du mich Herr
Leutnant nennst?" lachte er.
Ich war noch ganz verblüfft:
was der Lamm jetzt für eine kräftige Sprache hatte! Und er
war breit geworden und sah überhaupt ganz anders aus, so ruhig
und sicher.
Wir gingen nach unserem Quartier den Berg hinauf.
Wir
lagen weit hinter der Front in den Ardennen zum Exerzieren und zur
Vorbereitung für die zu erwartende Frühjahrsoffensive der
Franzosen.
Diesmal hatte die Heeresleitung eine ganze Armee zum
Gegenstoß bereit, und dazu gehörten wir.
Die Kompanie
hatte sich völlig verändert. Ich kannte nur zwei, drei, und
auch unter denen keinen genauer. In meiner Gruppe waren einige
blasse, dünne Jungen, die beim Exerzieren sehr ungeschickt
waren, vor allem Brand, der einen immer hilflos ansah. Hänsel
war der Kräftigste von allen. Er machte alles mit großer
Ruhe und Sicherheit, aber auch nicht mehr, als verlangt wurde. Es
schien ihm geradezu Freude zu machen, ja nichts weiter zu tun. Sonst
war noch der Gefreite Hartenstein da, ein zäher, langer Mensch
mit dunklem Gesicht, einsilbig und grob, aber tüchtig, und dann
Weickert, der beste Schütze in der Kompanie, lebhaft und etwas
geschwätzig.
II.
Es war schon April und noch recht kalt, als der Abmarschbefehl für
uns kam. Die französische Offensive sollte begonnen haben.
Wir
marschierten mehrere Tage durch waldiges Bergland. Dann kamen wir in
eine kahle Ebene und zu Mittag in eine Stadt, so klein, wie bei uns
selten ein Dorf ist. Unser Zug kam in das letzte Haus rechts am
andern Ausgang. Die Sonne schien warm wie im Sommer. Unsere Gruppe
lag oben in einer Kammer, die ein Fenster hatte mit so niedriger Bank
wie ein Fußschemel. Dahin setzte ich mich mit Hänsel.
Draußen dehnte sich eine Ebene mit einer krummen, sandigen
Straße mit vorn drei gebückten, noch kahlen Obstbäumen.
Weiterhin verlor sich die Straße in der Steppe ohne Baum und
Strauch und Hügel.
Unser Zugführer sah über uns weg
hinaus. „Hier müsste ein Dichter wohnen."
Ich sah
ihn erstaunt an. Er war ein großer, starker Mensch, noch jung.
Er sah heute fleckig rot und angestrengt aus und blickte sehnsüchtig
in die Ferne. Die Luft zitterte über der Steppe.
„Mir
ist gar nicht wohl!" sagte er.
„Was ist denn Herrn
Feldwebel?"
„Ich vertrage das Marschieren nicht."
Er
legte sich auf den Boden und sah gequält aus. Ich wunderte mich,
dass er das Marschieren nicht vertrüge; denn er war ein guter
Turner und Läufer und hatte große Kräfte.
Hänsel
fasste mich am Ärmel und zog mich hinaus. Wir gingen ein Stück
in die Ebene und setzten uns in die Sonne auf einen kleinen Wall.
„Wo
steckt ihr denn?" rief Weickert und kam angelaufen. „Wir
sind alarmiert worden. Eben sind welche von vorn gekommen und haben
gesagt, dort stünde es schlecht. Die Franzosen wären tief
in unsere Stellungen eingebrochen."
III.
Wir marschierten über die Ebene in ein dürres
Waldgelände. Vor uns rollte ununterbrochen der Kanonendonner. Am
Himmel jagten graue Wolken. Windstöße durchkälteten
uns. Wir bogen von der Straße ab in dünnen Fichtenwald.
Dort schlugen wir für die Nacht Zelte auf und legten uns hinein.
Der Wind war noch heftiger geworden. Neben mir war eine Ritze, wo
zwei Zeltbahnen zusammengeknöpft waren. Da durch pfiff der Wind
und spritzte ab und zu Regentropfen herein, mit Schneeflocken
gemischt. Wir hatten uns dicht zusammengelegt und froren doch noch. -
Werden wir morgen vorn eingesetzt?
Am Morgen krochen wir verfroren
aus den Zelten. Unsere Feldküche stand da und dampfte aus dem
Kessel in den treibenden Nebel. Unsere Pferde waren an den Fichten
angebunden und bewegten sich unlustig.
Der Kaffee machte uns nur
mäßig wärmer. Vorn donnerten die Kanonen. Wir waren
seltsam vergnügt und legten uns wieder ins Zelt, schwatzten,
aber nicht lange. Dann wurden wir zu faul zum Mundaufmachen und
schliefen.
„Zelte abbauen! Fertigmachen zum Abmarsch!"
Wir
rissen die Zelte ein und schnallten die nassen Zeltbahnen auf die
Tornister. Man stand herum, die Hände in den Hosentaschen und
die Schultern hochgezogen. Es schneite mit dicken Flocken.
„Du,
Albin, jetzt geht's los!" sagte einer.
Aber keiner
lachte.
„Dir bläst's schon noch rechtzeitig durch ein
Schussloch, wie durch 'ne Esse!"
Drei ließen sich mit
den Rücken gegeneinander nieder und standen wieder so auf.
„Wie
wär's mit 'm Spielchen, Max? 's schneit so schön."
Sie
setzten sich auf einen Baumstamm und spielten mit zerlumpten Karten.
Schneeflocken fielen ihnen darauf.
Drüben zündeten
welche ein Reisigfeuer an. Der dichte weiße Qualm mischte sich
mit dem Schneetreiben. Vor uns rollte und stampfte ununterbrochen der
Kanonendonner. An einem der Feuer sangen sie.
Stunden vergingen.
Es hörte auf zu schneien.
Gegen Abend marschierten wir ab.
Wozu sie uns sechs Stunden vorher schon die Zelte hatten abbrechen
lassen, verstand niemand.
Wir marschierten in ein Waldtal und an
einem Bach hinunter. Das Tal wurde weit. Der Wald wich zurück.
Rechts lag ein großes Dorf. Auf einer langen Holzbrücke
gingen wir über den versumpften Bach.
S-ch! kam es gesaust
und fuhr wack! neben der Brücke in den Sumpf.
Wahrscheinlich
sollten wir diese Nacht vorn ablösen.
Vor uns lagen
dichtbewaldete Berge. Wir hörten es schießen, sahen aber
nichts. Wir kamen in einen hohen Eichenwald.
„Zelte
aufschlagen!"
Es dämmerte schon. Wir scharrten mit den
Füßen den matschigen Schnee von den gelben Blättern
am Boden.
Meine Gruppe baute mit der zweiten Gruppe zusammen ein
breites, flaches Zelt, um noch Zeltbahnen übrigzubehalten, uns
daraufzulegen. Dann krochen wir hinein. Die Bäume bewegten sich
ein wenig. Auf dem Zelt raschelten ganz leise die fallenden
Schneeflocken. Wassertropfen fielen hier und dort von den Bäumen
ins Laub. In der Ferne waren noch andere Geräusche: fahrende
Wagen auf einer Straße und Granateinschläge, bald näher,
bald ferner.
Ramm! krachte es ganz nah. Ramm! weiter rechts. Die
Splitter zirpten draußen umher.
„Misthunde! Ich habe
eins in den Rücken!" fluchte Weickert.
„Hat nicht
einer 'n Hindenburgbrenner?"
Der dünne Brand hatte einen
in der Tasche und zündete den Docht an. Weickert hatte einen
Preller im Rücken, der kaum geblutet hatte und nicht einmal
verbunden zu werden brauchte.
„Da ist's nichts mit dem
Heimatschuss", sagte er. „Aber 'n Loch habe ich dafür
im Rock." Er zog sich den Rock wieder an und legte sich
schlafen. Wir löschten das Licht aus.
Ramm! Das musste vor
uns gewesen sein.
Nach einer Zeit: Ramm! etwas seitwärts.
Meine
Gedanken wanderten fort Ich hörte es noch ein paar Mal
einschlagen.
Wramm! Bewegung im Zelt.
„Was ist
denn?"
„Macht mal Licht!"
„Scheiße!"
schimpfte einer und stöhnte.
Ein Streichholz flammte auf.
Alle sahen ins Licht.
„Was ist denn mit dir. Albin?"
„Ich
habe eins in den Fuß. Schneid mir doch den Stiefel auf!"
Einer
lag und kümmerte sich nicht darum und zuckte nur mit dem rechten
Bein. Er hatte einen Kopfschuss und wusste nichts mehr. Hänsel
lief zu den Sanitätern.
Am Morgen blieben wir in den Zelten;
denn draußen war es eisig kalt, und die Feldküche war
nicht da. Das Artilleriefeuer rollte ununterbrochen. Heute geht's
aber wirklich vor, dachte ich. Mir war bange.
Gegen Abend wurden
einige vom vierten Zug verwundet. Als sie der Sanitätsunteroffizier
verband, bekam er einen Splitter ins Bein. Er kam zu Lamm gehumpelt,
der mit gekreuzten Armen ruhig dastand, und sagte, mit seinen
gutmütigen Augen lächelnd: „Jetzt hab ich selbst eins
ins Bein, Herr Leutnant!"
Unwillkürlich lächelte
ich mit.
Gegen sechs Uhr abends kam unsere Feldküche mit vier
Pferden ohne Vorderwagen mühsam die morastige Wiese herauf. Der
Deckel wurde aufgemacht.
„Essen empfangen!"
In
langer Reihe traten wir an.
Ich hatte schon Essen empfangen, da
kam ein Läufer. „Befehl vom Bataillon: Die Kompanien
marschieren sofort ab, in dieser Richtung!"
„Deckel
zu!" befahl Lamm.
„Aber das Essen hält sich nicht
bis morgen, Herr Leutnant!" sagte der eine Koch. „Wir
müssen's wegschütten!"
„Schütten Sie's
weg!" sagte Lamm kalt.
Ich versuchte einen Löffel aus
meinem Kochgeschirr zu essen. Aber es war zu heiß. Da schüttete
ich das Kochgeschirr auf die Wiese aus. In Eile packten wir unser
Zeug zusammen und traten an.
„Hier durch das Erlengebüsch!"
befahl Lamm ungeduldig. Wir drängten uns durch die dichten Äste.
Drüben war ein faltiger Wiesenhang mit Wald rechts oben. Zwei
Kompanien unseres Bataillons zogen sich schon wie Raupen vor uns über
die Wiesenfalten. Weiter links fuhr eine Batterie im Galopp vor. Die
berittenen Fahrer schlugen mit Knuten auf die Pferde.
Auf einer
Höhe stand ein General mit ein paar Offizieren und sah durchs
Fernglas nach vorn.
„Das ist doch mal was!" sagte ich
zu unserm Zugführer, der neben mir ging. „Hier sind doch
Truppen da zum Gegenstoß!"
Der Zugführer sah mich
mit leeren Augen an.
„Werden wir zurückkommen?"
„Ja",
sagte ich und sah nach vorn. Aber ich merkte, wie er an meinem
Gesicht hing. Die Furcht muss jeder mit sich selber abmachen, dachte
ich; ich kann dir nicht helfen. Ich kann mich doch nicht von dir
zurückzerren lassen.
Wir kamen in eine Kiesgrube. Lamm rief
die Zugführer zusammen. „Wir stürmen morgen früh
in der Dämmerung. Dazu gehen wir bei Anbruch der Dunkelheit in
eine Bereitschaftsstellung weiter vorn."
Die Zugführer
gingen stumm auseinander.
Wir warteten, dass es dunkel würde.
Hänsel lag neben mir am Rande der Kiesgrube auf dem Rücken.
Die Sonne schien noch, aber wärmte nicht. Zwei deutsche
Flugzeuge kamen hintereinander in mäßiger Höhe über
uns weg. Man konnte deutlich die schwarzen Kreuze unter den gelben
Flügeln sehen.
Schließlich verschwand die Sonne hinter
den Kiefern, und es begann sehr langsam dunkel zu werden.
„Züge
fertigmachen! Der erste Zug folgt mir!" sagte Lamm und ging
langsam voraus. Gleich hinter der Kiesgrube wurde der Wald lichter.
Da begann ein tiefer, breiter Graben. Wir stiegen hinein und schoben
uns langsam vorwärts. Vor uns war die vierte Kompanie, und die
schien durch irgendein Hindernis aufgehalten zu werden. An
verschiedenen Stellen schoss es.
„Ich bin verwundet, Herr
Leutnant!" sagte plötzlich unser Zugführer. Ich hatte
es nicht hier schießen hören.
„Wo denn?"
fragte Lamm.
„Am Bein." Er lehnte an der
Grabenwand.
„Gute Besserung! Unteroffizier Sander übernimmt
den ersten Zug!"
Auf einmal kam die Kompanie vor uns in Gang.
Rasch ging es um eine Ecke. Der Graben führte steil abwärts
in einen Grund. Unten schlug ein Schuss ein, und wieder einer, immer
in regelmäßigen Zeitabständen. Plötzlich war der
Graben mit zerschossenem Holz und Erde gesperrt. Lamm stieg nach
rechts hinaus. Vielleicht dreihundert Meter vor uns brannte etwas mit
roter Glut. Dorthin gingen die regelmäßigen Schüsse.
Wir
liefen hinter dem Hindernis wieder in den Graben. Das Ende der
vierten Kompanie war rennend vor uns verschwunden. Die Brandstelle
war nur noch hundert Schritt entfernt. Lamm fing an zu rennen.
Die
nächste Granate!
„Platz da!" schrie es. Eine Kette
Leute kam auf uns zugerannt, vielleicht Essenholer, und drückte
Lamm gegen die Wand. Ich bekam von einem Vorbeilaufenden in der Eile
einen Schlag an die Brust. Es waren etwa zehn Mann. Wir rannten
weiter.
Bramm! dicht vor uns.
Der Graben war hier flach. Die
Glut machte die Umgebung schwarz. Ich trat unsicher. Es war ein
Wagen, der brannte.
Daran vorbei!
Ein Schuss hinter uns!
Den
anderen Hang hinauf!
„Hierher!" sagte die Stimme
unseres Bataillonskommandeurs von außerhalb des Grabens. Wir
kletterten hinaus.
„Richten Sie sich hier für die Nacht
ein, so gut es geht!"
Es waren zwei Erdgruben da, nur
knietief, aber breit genug, um je zwei Züge aufzunehmen.
„Hier
hinein der erste und zweite Zug! Lassen Sie Platz für mich und
meine Läufer und das Sanitätspersonal!" sagte
Lamm.
Sander kam.
„Du führst den Zug", sagte
ich.
„Wird gleich angegriffen?" fragte er
erschreckt.
„Nein, erst morgen früh. Du musst jetzt
hier die Plätze für die Gruppen bestimmen." Er sah
mich hilflos an. Ich merkte, er konnte gar nicht mehr nachdenken vor
Angst.
„Soll ich's mal machen?"
Er sah mich
verständnislos an.
„Ich werde die Plätze
verteilen", sagte ich.
Nach etwa einer halben Stunde lagen
wir dicht gedrängt in Zeltbahnen, Mänteln und Decken in der
offenen Grube. Der Himmel war schwarz. Ab und zu kam ein Stern hervor
und verschwand wieder.
Die Luft war feucht und wie leer vor Kälte.
Hänsel lag neben mir und atmete. Er schlief wohl noch nicht.
Hatte er denn gar keine Angst? Er war ja ganz anders als ich und
alle, die ich kannte. Und auch Lamm schien gar keine Angst zu haben!
Sind das nur ganz andere Menschen, die das nicht kennen?
Ramm!
schlug eine Granate in der Nähe ein.
Weiter den Hang hinauf
noch eine!
Unter meinem Rücken lag ein Stein und drückte
mich. Ich fror und war unruhig. Vielleicht, wenn man erst richtig
durchgefroren ist, kommt die Ruhe, bei der man gleichgültig
wird. Morgen früh - wenn man nur wüsste, wie die Gegend
aussieht, in der wir stürmen sollen!
Bramm!
IV.
„Die Kompanien sollen sich fertigmachen, Herr Leutnant!"
Es
war stockdunkel. Alle standen auf, ohne dass sie geweckt zu werden
brauchten. Stumm schnallten wir die Zeltbahnen, Decken und Mäntel
auf.
„Zweiter Zug fertig!" „Du musst melden!"
sagte ich zu Sander. Wir standen. Der Bataillonskommandeur kam. „Ist
die dritte Kompanie fertig?" „Jawohl, Herr Major!"
„Das
zweite Bataillon greift an. Wir liegen dahinter bereit. - Es kann ein
ziemlich peinlicher Tag werden."
Wir zogen ein Stück
nach rechts an einen dunklen Steilhang.
„Hier einrichten!
Wir müssen mit Artilleriefeuer rechnen."
Wir verteilten
uns am Hang. Dort waren schon Löcher geschanzt, etwa dreißig
Zentimeter tief.
„Du, Hansel, wir richten hier das Loch für
uns zwei ein!"
Wir schnallten die Spaten ab und erweiterten
das Loch. Vor dem Steilhang ging es eine Wiesenhöhe mit jungen
Fichten hinauf. Hinter uns war es straßenbreit eben. Da wurden
Maschinengewehre nach rechts getragen. Jenseits des ebenen Streifens
schien es jäh nach dem Grunde abzufallen. Weiter war bei dem
Dämmerlicht nichts zu sehen.
Rechts ein paar
Infanterieschüsse! Ich sah durch die Bäume Leuchtkugeln wie
Trauben niederfallen.
Maschinengewehre ratterten!
Prasselndes
Gewehrfeuer!
Ramm! ramm! ramm! ramm! hinter uns in den
Grund.
Bramm! rapp! rapp! bramms! kräck! ramm! Funkensprühen
am Boden.
Ich ließ den Spaten fallen und sprang in das Loch.
Hansel krümmte sich schon links zusammen. Es war eng für
unsere Beine.
Drüben schrie einer.
Einer lief draußen
vorbei.
Die Granaten entfernten sich die Höhe hinauf. Ich hob
den Kopf.
Hinter den Bäumen wieder zerfallende Leuchtkugeln.
Bramm! ganz dicht. Es sauste mir vom Krach in den Ohren.
Ich
duckte den Kopf.
Eben war ein merkwürdiges Geräusch
nebenan, nicht ganz wie ein Zerbrechen und nicht wie eine gewöhnliche
Granatdetonation.
„Renn", sagte Hänsel. „Ja,
was ist?"
„Ich wollte nur wissen, wie es dir geht."
Ein toller Krach in der Nähe!
Ich sah eine schwarzbraune
Wolke am Steilhang stehen und forttreiben. Das hatte gesessen! Leute
rannten vorbei.
Die Granaten rückten wieder die Höhe
hinauf und wurden seltener.
Jemand kam und guckte in unser Loch.
Es war Lamm. „Ich wollte nur sehen, wie's euch geht." Er
lächelte blass im Dämmerlicht.
Ich stieg hinaus und sah
ins Nachbarloch, wo das merkwürdige Geräusch war. Eine
dunkle Decke, unter der einer winselte.
„Was ist dir
denn?"
Er antwortete nicht. Da sah ich erst: die Decke hatte
ein großes, zackiges Loch. Ich hob die Decke etwas.
Ich sah
Sanders Gesicht und zugleich rotes Fleisch, so unregelmäßig
- und ich wollte es auch nicht wissen -, er lag im Sterben.
Ich
musste mich um den Zug kümmern.
Weickert saß in seinem
Loch und sah entsetzt aus.
„Warst du hier allein?"
„Nein,
hier war noch Elsner."
„Und was ist mit dem?"
„'s
hat ihm den Schädel aufgerissen. Da lag alles offen." „Aber
er lebt noch?"
„Ich weiß nicht. Er ist ganz ruhig
fortgegangen. Das war schrecklich!"
Weickert starrte mich
noch immer mit aufgerissenen Augen an.
Ein Stück weiter wurde
verbunden. Da war eine ganze Gruppe verwundet oder tot.
Ich sah
mich um. Wieder fielen Leuchttrauben nieder.
„In die
Löcher!" schrie ich und rannte nach unserem Loch. Dort war
Hänsel nicht.
Leute kamen mir entgegengerannt.
Einer hielt
eine rote Hand in die Luft wie einen Leuchter.
Bramm! krapp!
ramms! pä-arr!
Zwei Offiziere kamen vorbei. Der eine war
unser Oberst. Er ging aufrecht. Der andere sah sich scheu um.
Ramm!
App! Ramms! Karr!
Der Angriff musste mißglückt
sein!
Steinstückchen flogen umher.
Ich duckte mich tiefer
ins Loch.
Was tut nur Hansel noch draußen?
Es krachte und
krachte, bald näher, bald ferner.
Graue Wolken von
Einschlägen trieben über uns weg.
Es roch immer stärker
nach Pulver.
Ein Schlag an mein gekrümmtes linkes Knie! Etwas
fiel herunter. Ich griff danach und zuckte zurück. Es war
glühend heiß.
Einer lief schreiend vorbei. Hänsel
war es nicht.
Dass mir der Splitter nichts tat, lag an den
Tuchfalten am Knie, die nachgaben. Man müsste sich die
Schlafdecke recht faltig überlegen.
Ich nahm Hänsels
Decke und betrachtete den Granatsplitter von vorhin. Er war von der
Größe einer Dolchklinge und mit zwei gezackten
Schneiden.
Da hörte ich einen hölzernen Ton ankommen,
immer schärfer: App!
Das war wohl ein schwerer
Blindgänger.
Ra - um - pa - pa!
Die Erde schütterte.
Nein,
das war eine ganz schwere Granate, die erst im Boden
detoniert.
Schreien an mehreren Stellen.
Ein Schlag auf meine
Decke!
Der Splitter war nur radiergummigroß.
Der
Pulvergeruch wurde immer stärker.
Ich sah nach der Uhr. Sie
schossen schon eine Stunde ununterbrochen. Soll das so den ganzen Tag
fortgehen? Und wenn man dabei... Ja, man muss sich das schon mal ganz
vorstellen.
Hö - ju! kam es an.
Erdbatzen fielen auf meine
Decke.
Wenn man verwundet wird, da kann man von hier fort. Aber -
das ist nicht richtig. Man muss durchhalten!
Wramms! Ich fuhr
zusammen.
Weshalb erschrecke ich nur! Wenn ich - aber wo ist der
Hänsel?
Es schien nachzulassen. Ich richtete mich auf.
Noch
ein paar Granaten in den Grund. Es war sehr hell. Die Sonne wollte
wohl durchkommen.
„Habt ihr Hänsel gesehen?"
fragte ich Brand. „Nein."
Ich war lähmend
erschrocken.
„Du, komm mal her!" rief Hartenstein. „Wir
haben drüben ein Lebensmitteldepot gefunden mit Selterswasser
und Feldzwieback, der ist allerdings ein bisschen muffig."
Er
hielt mir ein Säckchen Feldzwieback hin.
„Hast du was
von Hänsel gesehen?"
„Nee."
Ich nahm den
Zwieback und eine Flasche Selterswasser.
Lamm kam gegangen. „Bei
der vierten Kompanie sind üble Verluste. Unser
Bataillonskommandeur und der Führer der zweiten Kompanie sind
verwundet."
„Und wie ist es mit dem Sturm?"
„Der
ist völlig missglückt, fast alle Führer tot. Sie sind
in der Dunkelheit zu weit rechts gekommen und an den Franzosen fast
entlanggelaufen. Aber genaue Nachrichten fehlen noch. Die Reste
liegen in Granattrichtern dicht vor den Franzosen."
„Vorsicht!"
schrie ich. „Es geht wieder los!" Ich sah wieder die
Leuchtkugeln in Trauben fallen.
Wir sprangen in die
Löcher.
Granaten summten, Splitter flatschten und zirpten
über uns. Schwere Granaten kamen angeröhrt, erschütterten
die Erde und warfen Dreck um sich. Ich hatte mich ins Loch ganz tief
hineingelegt und knabberte Feldzwieback.
Ach, vielleicht wissen
die Sanitäter, was mit Hänsel ist?
Das Feuer dünkte
mich schwächer als das letzte Mal. Es dauerte bis zwölf Uhr
zehn.
Ich stieg aus dem Loch gleichzeitig mit Lamm.
Der
Vizefeldwebel Poehner vom zweiten Zug kam angeschlichen und sank vor
Lamm auf die Knie. Er hielt die Hände auf seine Brust
„Herr
Leutnant", stöhnte er - „ich ... eine Granate hat
mich auf die Brust... ich ..."
„Sprechen Sie nicht",
sagte Lamm. „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. - Renn,
führ mal Herrn Feldwebel zum Sanitätsunterstand!"
Ich
nahm ihn am Arm und brachte ihn zum unteren Steilhang. Dort stieg ich
immer ein Stück hinunter und half ihm dann. Er konnte kaum
gehen.
Ich setzte Poehner an den Eingang. Da war er ziemlich
geschützt.
„Habt ihr was von Hänsel gesehen?"
„Ja,
hier ist er. Aber", flüsterte der Krankenträger,
„sprich wenig mit ihm! Es hat ihm das halbe Gesäß
herausgerissen."
„Ist das gefährlich?"
„Das
Gelenk scheint in Ordnung zu sein, aber es ist eine schrecklich große
Wunde."
Ich ging tiefer in den Stollen. Auf einer
Holzpritsche lag er auf dem Bauch mit den Stiefeln nach
mir.
„Hänsel!" rief ich leise.
Er wendete den
Kopf und sah nach mir. „Es ist gut von dir, dass du kommst.
Aber geh lieber. Du hast zu tun und kommst auch durch."
Ich
konnte nicht antworten vor Beklemmung.
Draußen war es sehr
hell. Einige noch kahle Birken standen am Hang.
Lamm rief mich. Es
standen schon zwei bei ihm.
„Wir müssen die Kompanie
neu formieren. Drei Zugführer und ein Drittel der Kompanie sind
weg. Unteroffizier Renn übernimmt den ersten und zweiten Zug,
die die stärksten Verluste gehabt haben, als neuen Zug Renn. Den
dritten Zug behält Vizefeldwebel Trepte, den vierten übernimmt
Unteroffizier Langenohl. Aber es ist noch eine Schwierigkeit: der
Unteroffizier Busch ist dienstälter als Renn. Er ist aber erst
eben ins Feld gekommen. Ich kann ihm in solcher Lage keinen Zug
geben. Er tritt zum Zug Trepte. Ich werde es selbst mit ihm
besprechen. Im übrigen soll sich jeder hüten, deshalb übel
über Busch zu reden!"
Ich teilte meine Gruppen neu ein
und nahm als Zugsläufer Israel und Wolf in das leergewordene
Loch neben mir, um sie zu Meldungen zur Hand zu haben.
Wieder
setzte das Artilleriefeuer ein.
Granatgestank, Krachen,
herumfliegender Dreck!
Nach einer halben Stunde ließ es
nach. Decken lagen umher, Schanzzeug, Stahlhelme, Gasmasken,
Leibriemen, Gewehre, Handgranaten, Tornister und blutige Tuchfetzen.
In einem Loch war einem ein Splitter in die Handgranate am Leibriemen
gegangen, und die hatte ihm den Leib aufgerissen. Der andere, der im
Loch gewesen war, lief schreiend umher und wusste nicht, was er
wollte. Ich ließ ihn fortbringen, denn er konnte sinnlos
irgendwohin laufen.
Wieder krachten und sausten die
Granaten.
Jemand kam schreiend gerannt.
Ich sah hinaus. Es war
der Leutnant Hornung.
„Ist hier noch Platz? Dort drüben
ist's zu furchtbar!"
„Dort drüben, Herr Leutnant!"
rief ich.
In meinem Loch war allerdings auch Platz, aber ich
wollte ihn nicht dahaben.
Er saß drüben und schrie bei
jedem Schuss auf.
Der Beschuss dauerte nur kurz.
„Du,
Israel, hast du gehört", sagte Wolf mit seiner langsamen
Sprache, „wie der Leutnant von der zweiten gebrüllt hat?
So was macht doch selbst unsereins nicht, obwohl man keine
Verantwortung weiter hat!"
„Ach, sei still!" sagte
Israel.
Die Sonne ging gerade unter. Da sah ich schon wieder die
Leuchttrauben. Ich rannte zurück. Es krachte, stampfte und
schütterte. Ss! fuhr es dicht über meinen Kopf weg und in
den Grund. Ramm! karr! wramms! Ich duckte mich tiefer. In den Ohren
sauste es. Irgend etwas schlug an meinen Helm. Ich zog die Decke ganz
über mich.
Pramm! harp! Kötsch! Rum-rumm-pa! ra!
hrätsch! Parr! Mein Gott, das ist ja entsetzlich!
Ich
krampfte mich zusammen. Und wenn es einen erwischt - nichts merkt man
mehr, auch keinen Schmerz -einfach zu Ende. Was ist eigentlich daran
so schlimm?
„Wer ist denn das, der hier
schläft?"
„Unteroffizier Renn, Herr Leutnant! Der
hat die ganze Zeit während des Feuers geschlafen", sagte
Israel.
„Dabei hat er schlafen können?" sagte
Lamm.
Ich konnte unter der Decke nichts sehen. Aber ich hörte
noch andere flüstern, und alle wunderten sich.
Ich blieb so,
bis sie weggegangen waren. Dann schlug ich die Decke zurück.
Es
war Nacht. Über mir funkelten die Sterne. Es musste kalt sein.
Aber ich fühlte mich warm und wohl.
Man trug Verwundete
vorbei. Ich stand auf, noch ganz im Staunen darüber, dass ich
eingeschlafen war.
Ich hörte Israel eifrig sprechen und ging
zu ihm. „Ich habe angeordnet", sagte er, „dass die
Gruppen die Tagesverluste melden, weil du schliefst." Und auf
einmal fing er ein klein wenig zu lachen an. „Wie hast du nur
bei dem Krach schlafen können? Wir haben alle vor deinem Loch
gestanden, und die Kompanie sagt, du wärst unverwundbar."
V.
Gegen Mitternacht ließ Lamm uns Zugführer rufen.
„Die
weiter vorgeschobenen Teile des Regiments werden jetzt zurückgezogen.
Dann sind wir hier vorderste Linie. Die Züge Trepte und
Langenohl besetzen hier den Steilhang. Zug Renn setzt sich in die
Lücke zwischen hier und der Nachbardivision. Hier ist ein Mann,
der dich hinüberführt."
Wir rückten ab. Es war
völlig dunkel. Erst ging es eben nach rechts. Dann bogen wir
nach hinten in den Grund ohne Weg durch einen Wald oder ein hohes
Gebüsch voll abgebrochener Äste und mit Granattrichtern im
Boden. Ein schmaler Streifen mit Gras kam, dann halbhoher
Fichtenwald. Ich hatte das Gefühl, dass wir immerfort die
Richtung änderten. Wieder kam Wiese.
Unser Führer hielt
und sah sich nach allen Seiten um. Einzelne dunkle Stellen konnte ich
unterscheiden, aber nicht, was es war.
„Wir müssen
suchen", sagte der Führer.
Wir gingen weiter in der
Dunkelheit. Am Boden lag etwas Schwarzes. Der Führer bückte
sich.
„Es ist ein toter Franzose, aber nicht der in der Nähe
unserer Stellung."
Birken standen auf einmal dicht vor uns.
Der Boden war völlig aufgeschossen und hell.
„Vorsicht!
Hier liegt alles voller Granaten!"
Ein Geschütz mit
Protze stand da, davor tote Pferde.
Wir bogen nach links in eine
Grube.
„Hier ist der Unterstand."
Ich ging hinein.
Darin saß ein Leutnant mit sieben Mann.
„Kommen Sie,
meine Kompanie abzulösen? - Hoffentlich sind Sie stärker
als ich. Das hier ist mein Rest. Alles, was ich Ihnen zu übergeben
habe, sind fünf leichte Maschinengewehre."
„Wir
haben fast keine am Maschinengewehr ausgebildeten Leute, Herr
Leutnant!"
„Wir hatten überhaupt keine. - Noch
eins: die Nachbardivision liegt mit einer Feldwache etwa
hundertfünfzig Meter rechts rückwärts von uns in einem
Graben. Da müssen Sie Verbindung aufnehmen." Er lachte dazu
etwas seltsam. „Also, ich wünsche Ihnen mehr Glück,
als wir hier hatten. - Ja, hören Sie, seien Sie etwas vorsichtig
mit den Posten bei Tage, dass Sie keinen unnötigen Beschuss
herkriegen!"
Er zog mit seinen sieben Mann ab.
Ich
schickte Israel zu Lamm, die Ablösung zu melden. Dann stellte
ich zwei Posten auf und zog die am Maschinengewehr ausgebildeten
Leute heraus. Es waren nur vier Mann, und alle kannten nur das
schwere, nicht aber das leichte Maschinengewehr. Ich bemannte drei
Maschinengewehre mit je einem Führer und drei Mann.
Danach
behielt ich noch drei Gruppen unter Hartenstein, Weickert und
Sendig.
„Und wie wird die Unterbringung?" fragte
Hartenstein.
Der Unterstand, in dem der Leutnant gewesen war,
fasste nur zehn bis zwölf Mann. Da legte ich Hartensteins Gruppe
hinein und sah mich weiter um. Die Grube, in der wir uns befanden,
war ein großer Geschützeinschnitt. Ein schweres Geschütz
mit einem gebrochenen Rad stand schief darin.
Wir fanden noch
einen Eingang. Aber das Unterstandsdach war wie abgedeckt, und die
Balken lagen zerfetzt umher.
„Hier ist noch ein
Geschützeinschnitt", sagte Sendig.
Dort fanden wir noch
zwei Unterstände. Ich ging mit Weickert in den einen. Jemand
zündete Licht an. Vor uns in der Ecke lehnte einer. Weickert
fuhr zurück. Am Boden lag auch einer ganz krumm. Weickert sah
sie entsetzt an, und seine Leute standen starr.
»Seid nicht
dumm!" sagte ich. „Wir schaffen sie hinaus."
Einer
trat vor, um den am Boden anzufassen. Er lachte höhnisch. Ich
wollte ihm helfen. Da sagte Weickert: „Aber der Leichengeruch
bleibt doch drin!"
„Gut", sagte ich. „Dann
sucht euch selbst eine Unterkunft!" Ich wollte hinausgehen.
„Wir
haben heute noch nichts gegessen!" klagte einer.
„Ich
werde Herrn Leutnant bitten, dass wir die zweite eiserne Ration essen
dürfen!"
„Ich habe keine mehr."
„Da
kann ich dir nicht helfen. Warum hast du sie vorher gegessen!"
„Man
muss doch fressen, wenn man Hunger hat!" knurrte einer.
„Woher
soll ich euch denn was geben?" Ich ging hinaus und zu Sendig.
Der hatte sich schon in seinem Unterstand eingerichtet, mit den
Maschinengewehrleuten zusammen.
Unterdessen waren etwa zwei
Stunden seit der Ablösung vergangen. Ich fühlte mich
unruhig wegen der Gruppe Weickert.
Wolf hatte mein Gepäck zu
Hartenstein hingebracht und mir ein Lager bereitet. Mir war es noch
ungewohnt, dass ich bedient wurde.
„Ist denn Israel noch
nicht zurück?"
„Nein."
„Ich muss
jetzt Verbindung nach rechts aufnehmen. Wolf kommt mit! Du,
Hartenstein, übernimmst während der Zeit den Zug!"
Wir
nahmen unsere Gewehre. Draußen traf ich Weickert „Ich
habe noch einen Unterstand gefunden."
Ich ließ ihn mir
zeigen. Er lag am weitesten links, etwas abseits.
„Du musst
hier auch Posten aufstellen!"
„Es ist mir unheimlich
hier", sagte er. „Kann ich nicht ein Maschinengewehr
bekommen?"
„Wir müssen das erst mal bei Tage
sehen. Ich kann die Leute nicht noch einmal umziehen lassen, bevor
ich weiß, dass es nötig ist."
Ich ging mit Wolf
nach rechts rückwärts. Aber war das auch die Richtung?
Wir
kamen auf eine Wiese. Da lag wieder ein toter Franzose. Die Wiese
stieg ziemlich steil an und wurde mit jedem Schritt zerschossener.
Mein rechter Fuß verfing sich in Draht. Es schien ein
zerschossenes Drahthindernis zu sein.
Vor uns zog sich quer ein
weißer Wall.
„Halt! Wer da?"
„Verbindungspatrouille,
dritte Kompanie."
Es war ein Posten unseres Regiments, der in
einem tiefen Graben stand. Wir stiegen in den Graben. Da lagen welche
drin. Einer richtete sich auf. „Woher kommen Sie?"
Nach
der Art zu sprechen vermutete ich, dass es ein Offizier war. Er
stellte eine Menge Fragen. Ich verstand nicht recht, was er
wollte.
„Aber da müssen Sie ja vor uns liegen? Wir
hatten immer angenommen, dass wir hier vorderste Linie sind." Er
wies mich weiter nach rechts.
Hier schien es gar keine Unterstände
zu geben. Der ganze Graben lag voller Schlafender. Deshalb stiegen
wir nach hinten aus dem Graben in einen hohen Wald.
Ich stand auf
einmal still. Rechts war ein dunkler Gegenstand. Ich sah ihn
deutlich. Es war ein Wagen, aber ...
Ich ging darauf zu und konnte
es nicht feststellen. Ich konnte ihn schon mit der Hand erreichen und
wusste nicht... Ich trat noch näher. Es stank. Da sah ich: ein
Pferd hing mit Vorderbeinen und Kopf aus dem Wagen. Rings lagen
Bäume, Äste, Balken, Drahtrollen und eiserne Pfähle.
„Hier
scheint ein Förderbahnhof gewesen zu sein", sagte Wolf.
„Aber dort..."
Er deutete in einen Baum. Über
einem starken Ast hing ein Pferd, sonderbar dünn, nur wie eine
Haut. Was müssen das für Granaten gewesen sein, dass sie
ein ganzes Pferd da hinaufgeworfen haben!
Sch-kremm! in die
Trümmer. Wir gingen eilig weiter.
Die Feldwache der
Nachbardivision fanden wir dreißig Schritt vor dem Hauptgraben
in einem nach vorn führenden Graben. Mir schien da eine rechte
Unordnung zu sein. Sie lagen schon drei Tage hier, und der
Feldwachhabende wusste weder, wo wir lagen, noch, wo die Stellung
seiner Division verlief.
Wir kehrten querfeldein zurück und
sahen schon nach kurzer Zeit unseren Birkenwald.
Es begann zu
dämmern. Vor Hartensteins Unterstand standen etwa zehn Mann mit
zwei schweren Maschinengewehren.
Israel kam mir lebhaft
entgegen.
„Herr Leutnant hat dir einen Zug schwere
Maschinengewehre geschickt und lässt grüßen und
sagen, es solle eine eiserne Ration gegessen werden."
„Ja,
wo soll ich euch unterbringen? Wir haben nur noch einen Unterstand.
Da sind aber zwei Tote drin."
„Ach, die schmeißen
wir raus", sagte der Maschinengewehrführer - es war ein
Sergeant.
„Herr Leutnant kommt!" rief Israel.
„Guten
Morgen, Renn!" sagte Lamm und gab mir die Hand. „Ich muss
dich gleich mal sprechen und Sergeant Schatz."
Er nahm uns
vor und sah sich die Gegend an, die eben im Dämmerlicht
auftauchte. Wir waren auf einer kleinen Erhöhung mitten im
Grund. Rechts lag ein breiter Berg mit zwei flachen Höckern. Die
glänzten sonderbar blauweiß.
„Das ist der weiße
Berg, um den seit Tagen gekämpft wird. Dort und vorn liegt für
hier die Gefahr. Der Aufstellungspunkt ist gut, aber er ist wie eine
einsame Insel. Er ist der gefährdetste Punkt der ganzen
Division. Fühlst du dich hier stark genug?"
„Ja,
ich habe drei Gruppen, zwei schwere und fünf leichte
Maschinengewehre. Von den leichten habe ich drei bemannt."
„Aber
du hast doch gar nicht genug ausgebildete Leute." „Nein,
nur vier. Aber vielleicht kann der Sergeant die übrigen über
das Wichtigste unterrichten." Lamm sah mich überlegend
an.
„Sergeant Schatz, Sie übernehmen auch unsere
Maschinengewehre und stellen Ihre eigenen Posten! Aber ich muss Sie,
obwohl Sie dienstälter sind, fürs Gefecht dem Unteroffizier
Renn unterstellen."
Er ging mit seinem Läufer zurück.
Es
war ganz hell geworden. Ich ging in den Unterstand. Israel hatte eine
Rindfleischkonserve für sich und mich geöffnet und im
Feldkessel über Hartspiritus gewärmt. Wir warfen
Feldzwieback hinein, der aufweichte, und aßen es so.
Israel
war Violinbauer und hatte blitzende, braune Augen. Wolf war Arbeiter,
sehr bedächtig und schweigsam, mit etwas stumpfen blauen
Kuhaugen, war aber gar nicht dumm. Er pflegte in einer Ecke zu sitzen
und Israels lebhaften Reden zuzuhören und ab und zu etwas sehr
deutlich zu sagen. Er war wohl kaum neunzehn Jahre, schlank, groß,
und hielt viel auf seinen Anzug und seine Hände.
Wir legten
uns und schliefen.
VI.
Ich wachte gegen Mittag auf und fühlte mich sehr hungrig.
Übrigens war ja heute mein Geburtstag.
„Du", sagte
ich zu Hartenstein, „könnten wir nicht eine Patrouille da
hinüberschicken, wo ihr gestern den Feldzwieback gefunden
habt?"
„Ja, Kettner kann das machen mit noch einem. Der
ist sehr findig - besonders beim Läusefangen. Da greift er sich
nur in den Rock und hat sie schon."
Kettner, der dabeisaß,
lachte. „Ja, das ist was für mich! Aber ich gehe lieber
alleine."
Ich ging hinaus und sah mich um. Der Unterstand mit
abgedecktem Dach war wohl ein explodiertes Munitionsdepot. Die
Granaten, die weit umhergestreut lagen, waren etwa fünfzig
Zentimeter lang. Wenn ich nur wüsste, ob sie noch gefährlich
waren! Vorn bei dem schiefstehenden Geschütz, wo jetzt Brand als
Posten stand, lagen wenigstens keine.
„Weißt du, wo
unsere Postierungen stehen?" fragte ich ihn. „Nein."
Er sah mich ängstlich an. Er schien vom gestrigen Trommelfeuer
noch ganz verstört zu sein.
„Siehst du dort links den
Granateinschlag? Dort liegt der Kompanieführer mit den beiden
anderen Zügen. Dann kommt die große Lücke bis zu uns,
und dort rechts hinter uns liegt die nächste Feldwache der
Nachbardivision."
Ich erschrak selbst, als ich das sagte.
Wenn hier im weiten Umkreis vor uns die Franzosen angriffen, mussten
wir sie allein abwehren. Dann konnte der einzelne Posten nicht
zugleich schießen und alarmieren. Ich musste noch Alarmposten
stellen.
Ich ging nach rechts weiter. Im nächsten
Geschützeinschnitt stand nur ein schweres Maschinengewehr mit
einem Posten daran. Dabei lagen hier fünfunddreißig Mann
in zwei Unterständen. Ich ging in Sendigs Unterstand, wo auch
die leichten Maschinengewehre lagen.
„Weshalb ist denn keins
von euren Maschinengewehren draußen?"
„Es hat uns
niemand was gesagt."
„War der Sergeant Schatz nicht
hier und hat euch die Plätze gezeigt?"
Sie sahen mich
dumm an. Ich ärgerte mich.
„Du musst einen Posten
aufstellen, Sendig, gleich hier oben, zum Alarmieren der beiden
Unterstände. Wir müssen auch sehen, dass wir uns, solange
es ruhig ist, alle übers Maschinengewehr instruieren lassen.
Wozu haben wir denn die Dinger?"
„Wie wird's denn heute
mit der Verpflegung? Wir haben doch seit drei Tagen nichts
Ordentliches gekriegt, und die eisernen Rationen sind
aufgegessen."
„Ich habe schon einige abgeschickt. Ich
sage es euch, wenn ich was kriege."
Draußen krachte
eine Granate.
„Fängt der Mist wieder an!"
schimpfte Sendig.
Ich ging hinaus. Es war dicht vor den Posten
gegangen. Dort war noch der Granatrauch.
Was soll ich Schatz
sagen? Ich muss es auf einen Streit ankommen lassen. Ich ging in den
anderen Unterstand. Schatz spielte mit den beiden Gewehrführern
Skat.
„Sie haben wohl meinen leichten Maschinengewehrleuten
noch nicht gesagt, dass sie Ihnen unterstehen?"
Er sah mich
halb hochmütig, halb feige von der Seite an.
„Wir
müssen uns schon darüber einigen", sagte ich, „wie
wir das machen wollen. Wo dachten Sie denn, dass die leichten
Maschinengewehre bei einem Angriff hinkommen?"
„Gleich
hier oben", sagte er gleichgültig und gab eine Karte.
„Was?
Alle fünf Maschinengewehre auf kaum sechs Meter Breite?"
Ich hatte das Gefühl, blass zu werden vor Wut.
„Nu,
wenn Sie wollen, können Sie sie ja woanders hinstellen."
Ich
wusste darauf nichts zu antworten. Sollte ich einfach hinaufgehen und
befehlen, was ich wollte? Aber was würde Lamm dazu
sagen?
„Können Sie mir nicht jemand zur Verfügung
stellen, der meine Leute übers Maschinengewehr instruiert?"
„Ja.
- Trumpf!" Er knallte eine Karte auf den Tisch.
„Wen?"
fragte ich und fing an, in den Knien zu zittern vor Wut.
„Dort,
den Gefreiten Janetzky." „Kann ich über ihn
verfügen?" „Machen Sie, was Sie wollen."
„Ja,
das werde ich!" brüllte ich ihn an und ging mit klopfendem
Herzen hinaus. Sie lachten hinter mir her.
Ich holte meine
Gruppenführer und die Bedienungsleute der leichten
Maschinengewehre zusammen und suchte mit ihnen die Stellen aus, wo
man sie bei einem Angriff hinstellen könnte.
„Wir
stehen hier am gefährdetsten Punkt des ganzen
Divisionsabschnitts. Leider haben die schweren Maschinengewehrleute
dafür gar kein Verständnis."
„Der Schatz, das
ist 'n ganz falscher Hund", sagte Hartenstein. „Ich habe
schon erlebt, wie der von seinem Kompanieführer rausgefenstert
wurde."
„Ich hatte ihn gebeten, dass er uns jemand zum
Instruieren am Maschinengewehr gibt. Aber ich glaube, da können
wir vergeblich warten. Wir müssen aber die Dinger bedienen
können. Nehmt euch doch jeder ein leichtes Maschinengewehr in
euren Unterstand und lasst euch von den Ausgebildeten die nötigsten
Griffe zeigen!"
„Das wollte ich schon immer lernen",
sagte Weickert. Die andern nickten.
Unterdessen wuchtete es von
schweren Granaten rechts auf dem Weißen Berge. Der ganze rechte
Hang lag in einer grauweißen Wolke. Auch an dem Graben hinter
uns wuchsen Granatwolken seine ganze Breite entlang. Nach dem
Steilhang links oben, wo wir gestern lagen, schoss es auch wieder
heftig, nur sahen dort die Granatwolken dunkler aus, vielleicht vom
Waldboden.
„Wir müssen gut aufpassen", sagte ich.
„Wenn die Franzosen in den Wald vor uns kommen, dann können
sie den andern Zügen in die Flanke und den Rücken
kommen."
„Die Lücke ist lausig groß!"
sagte Weickert und sah mit großen Augen hinüber.
„Wenn
die Posten aufpassen, fürchte ich nichts", sagte
ich.
Kettner kam gebeugt mit einer Wolldecke auf dem Rücken,
in der es gläsern klapperte.
„Wir sollten uns nicht
soviel hier zeigen", sagte Hartenstein. „Die Franzosen
müssen uns vom Weißen Berg aus sehen können."
Kettner
ließ die Decke nieder. „Ich habe Indianer spielen müssen.
Wie ich ans Lebensmitteldepot kam, stand da ein Posten. Da dachte
ich: Lieber nicht fragen, sondern abwarten! Indem fing's an zu
schießen. Ich setze mich in 'nen Granattrichter und warte. Da
höre ich, wie einer dem Posten sagt, bei Beschuss käme doch
keiner klauen, und er solle jetzt weggehen. Da bin ich nachher
angeschlichen und hab das mitgebracht."
Er hatte nicht nur
Selterswasser und Zwieback, sondern auch Trockengemüse in
Würfeln. Das war allerdings etwas feucht geworden.
Ich
verteilte die Lebensmittel und schickte Israel an Lamm, ob heute
Abend die Feldküche käme und wohin. Hier vor in den Grund
konnte sie wegen der Gräben nicht kommen.
Unterdessen hatte
sich Hartenstein ein leichtes Maschinengewehr in unseren Unterstand
geholt und auf den Tisch
gestellt.
Brand, der am schweren
Maschinengewehr ausgebildet war, fingerte verlegen daran herum und
begann mit nach oben verdrehten Augen: „Das Maschinengewehr 08
ist eine Selbstladewaffe. Es besteht..."
„Lass doch den
Kotz", sagte Hartenstein, „und zeig uns, wie man mit dem
Ding schießt!"
Brand betrachtete es verlegen und wollte
den Deckel aufmachen. Aber es ging nicht.
„Geh weg!"
sagte Kettner, machte es auf und sah hinein. Alle redeten
durcheinander. Es wurde an der Waffe herumgetastet und geschraubt.
Der Lauf wurde herausgezogen.
„So können wir gar nicht
damit schießen", sagte Brand.
„Warum denn
nicht?"
„Weil kein Wasser im Mantel ist, und weil der
Dampfablassschlauch fehlt."
„Da müssen wir
Selterswasser hineingießen", meinte Kettner.
Jemand kam
die Treppe heruntergepoltert.
„Warum passt hier niemand
auf!" schrie Lamm. „Die Franzosen stellen sich am Weißen
Berg zum Angriff bereit. Wo ist Sergeant Schatz?"
„Wolf
alarmiert links, Israel rechts!" schrie ich.
„Hier
bleiben!" schrie Lamm. „Wozu sollen sich alle zeigen? Nur
die schweren Maschinengewehre!"
Er rannte hinaus, ich
hinterher.
„Wo liegt Schatz?"
„Hier, Herr
Leutnant!"
Er rannte hinein. Unten hörte ich schimpfen.
Schatz mit seiner ganzen Bande und dem zweiten Maschinengewehr kam
herausgerannt.
„Dort!" rief Lamm. „Sehen Sie denn
nicht? Am linken Hang des Berges über dem rechten Zipfel!"
Sie
sahen hinüber.
„Welches Visier?" schrie Lamm den
Schatz an. Der sah aufgeregt hinüber.
„Vierhundert?"
stotterte er.
„Neunhundert!" brüllte Lamm.
„Maschinengewehre fertig?"
„MG eins
fertig!"
„Kommandieren Sie!" schrie Lamm.
„Ein
Strich Tiefenfeuer!" sagte Schatz.
Das rechte Maschinengewehr
ratterte los. Lamm sah durchs Fernglas. Das linke Maschinengewehr
musste sich erst eine Auflage schaffen.
„Stopfen!"
brüllte Lamm. Das Rattern hörte auf. „Wohin schießen
Sie denn, Mensch? Habt ihr denn alle keine Augen? Jetzt sind sie
natürlich verschwunden!"
Er sah mich mit einem wütenden
Blick an. „Kommen Sie mit mir, Unteroffizier Renn und Sergeant
Schatz! Die unnötigen Leute sollen hier verschwinden!"
Er
ging stumm aus dem Geschützeinschnitt und blieb bei der Haubitze
mit dem toten Pferde stehen.
Wir standen stramm.
„Weshalb
passt hier niemand auf?" Er machte eine Pause und sah uns an.
„Weshalb haben Sie, Sergeant Schatz, keine Stellung für
Ihr zweites Maschinengewehr vorbereitet? Haben Sie Entfernungen
schätzen lassen? Woher weiß ich denn die Entfernung? - Sie
werden sofort die Entfernungen schätzen! Ich werde morgen Ihre
Posten abfragen, und außerdem werde ich Ihrer Kompanie
mitteilen, dass Sie unbrauchbar sind. Sie können gehen!"
Schatz
machte kehrt und ging weg. Lamm sah mich an, und ich merkte, dass ihm
die Aussprache auch schrecklich war.
„Schatz ist ein
erbärmlicher und verlogener Mensch! Ich kenne ihn schon vom
Rekrutendepot. Aber mit dir, das verstehe ich nicht! Soll ich denn
hier einen andern Zugführer herschicken? Du wirst alle Mühe
haben, mich zufrieden zu stellen! Ich sage dir's offen, ich werde
dich kontrollieren. Das hielt ich bisher für unnötig!"
Er
atmete erregt und ging langsam fort.
„Halt!" sagte er
plötzlich. „Die Küche kommt gegen Morgen. Die
Essenholer sammeln sich an meinem Unterstand. Guten Tag!"
Er
ging fort. Ich dachte: Du sollst mich kontrollieren, das ist mir
lieb! Und weh mir, wenn du mich schlapp findest!
Ich war nicht
traurig über den Vorfall. Nein, seine Vorwürfe taten mir
wohl; denn er hatte recht. Ich hätte auch Entfernungen schätzen
müssen.
Ich ging zu den Gruppen und gab meine Befehle über
die Posten und für die Essenholer, sie sollten möglichst
Wasser für die Maschinengewehre mitbringen und sehen, ob nicht
irgendwo Dampfablassschläuche herumlägen.
Unterdessen
hatte es angefangen, hierher zu schießen. Es waren schwere
Granaten, die sehr schnell da waren und große, dolchförmige
Splitter umherwarfen. Aber sie kamen wenigstens regelmäßig.
Der Posten im linken Geschützeineinschnitt wurde leicht am Ohr
verwundet.
Bis ich alles mit den Gruppen besprochen hatte,
brauchte ich fast drei Stunden, und auch dann fiel mir immer noch
Neues ein. Wussten sie, was das Sperrfeuerzeichen war, um
Artilleriefeuer anzufordern? Waren genug Leuchtpistolen da und
geeignete Munition?
Das Artilleriefeuer hörte auf. Es wurde
dunkel. Ich hatte noch keine namentliche Liste meines Zuges.
Die
Essenholer gingen fort. Ein Läufer kam von Lamm. „Herr
Leutnant lässt fragen, ob das Gerät der leichten
Maschinengewehre vollständig ist, und die Unterstände
sollen abgeblendet werden, dass nachts kein Lichtschein zu sehen ist.
- In der Morgendämmerung soll von vier bis sechs Uhr alles
wachen und sich umgeschnallt bereit halten."
Ich ging wieder
zu den Gruppen und gab alles bekannt. Dann ging ich zu den Posten und
fragte sie aus, ob sie alle wichtigen Punkte im Gelände
kannten.
Meine Leute hatten Interesse an der Handhabung der
Maschinengewehre gefunden. Sie wollten überall hineinsehen
können, wie die Sache zusammenhinge. Ich verwunderte mich über
ihren Eifer.
Es war schon nach Mitternacht. Ich fühlte meinen
Magen erbärmlich leer. Heute wieder nur Feldzwieback und dazu
einen Gemüsewürfel in Selterswasser gekocht. Die Essenholer
waren vor vier Stunden abgerückt.
Ich schweifte draußen
umher und besah mir die Gegend und wie die Posten standen.
Um halb
vier Uhr kamen endlich die Essenholer schwer bepackt. Einer trug
einen Blechtornister mit Wasser. Ein anderer hatte einen schweren
Sack mit Brot.
„Wo seid ihr denn so lange gewesen?"
„Erst
haben wir uns verlaufen", lachte Israel. „Dann war die
Küche nicht da, weil's auf die Straße schoss. Sie kommt
überhaupt nicht vor Mitternacht, weil sie nicht über die
Höhe hinten dürfen, bevor's dunkel ist. Und dann sind's
anderthalb Stunden vom Küchenhalteplatz bis hierher. -Herr
Feldwebel lässt sagen: Er möchte täglich mit der
Küche
eine Stärkemeldung von den Zügen haben, weil
er hinten nicht erfährt, wer wieder verwundet ist. Sie wussten
überhaupt noch nicht, dass wir so viele verloren haben. Daher
haben sie viel zuviel Brot vorgeschickt."
Das Essen war auf
dem Wege kalt geworden. Wir mussten Hartspiritus sparen und aßen
es so. Wir hatten auch nur noch zwei Hindenburgbrenner, und davon war
der eine schon fast heruntergebrannt.
Unterdessen war es vier Uhr
geworden. Ich ließ umschnallen und ging zu den andern Gruppen.
Sie hatten es vergessen oder waren zu faul gewesen. Sollte ich auch
zu Schatz gehen? Ja, vielleicht wusste er nicht von dem Befehl. Ich
traf sie alle schlafend. Ich weckte Schatz und sagte es ihm. Er erhob
sich widerwillig und setzte sich an den Tisch. Aber er weckte seine
Leute nicht. Das geht mich nichts an, dachte ich und ging zu den
Posten.
Es wurde langsam hell. Der Berg kam heraus mit seinen zwei
Kuppen. Unsere Artillerie bellte von hinten vor. Die Geschosse
rauschten vorüber und schlugen drüben fern ein. Die
französische Artillerie schwieg.
Mir fiel eine kleine
Erhöhung dreißig Schritt vor uns auf. Ob die sich nicht
zum Aufstellen von Maschinengewehren eignete? Ich ging dahin und
legte mich in mehrere Granattrichter, ob von da gutes Schussfeld
wäre. Auf einmal hörte ich Schritte hinter mir.
„Guten
Morgen, Renn!" sagte Lamm und hielt die Arme hinter seinem
Rücken. „Ich komme eben aus deinen Unterständen und
von den Posten. Es war alles in Ordnung. Aber den Schatz habe ich
gehörig hochgenommen. Der Mensch ist zu schlapp, seine Leute zu
wecken."
Ich wunderte mich: Lamm lächelte mich die ganze
Zeit an und hielt die Arme immer hinter dem Rücken, was doch
sonst nicht seine Gewohnheit war.
„Du", sagte er,
„gestern war nicht die rechte Gelegenheit ...", er lachte
geradeheraus und brachte auf einmal ein Paket in Zeitungspapier
hervor, „du hattest doch gestern Geburtstag?"
Ich
konnte zuerst gar nichts sagen. „Woher weißt du denn
das?"
Er bewegte lächelnd den Kopf hin und her. „Rate
nur nein, du kriegst's nicht heraus, weil's so einfach ist. Ich
blätterte neulich in der Stammrolle, und da fand ich's und
schrieb mir's auf. - Aber sieh nur nach, was es ist."
Ich
schlug es auseinander. Oben lag eine Schachtel Zigaretten und
darunter ein Buch: Simplicius Simplicissimus.
„Kennst du
das?"
„Nein, ich habe nie davon gehört."
„Das
ist was für dich. So bist du auch wie der da. - Aber jetzt ist
die Zeit zu wachen vorbei. Ich bin müde."
VII.
„Renn!" rief einer.
Ich wachte auf. Es war nur etwas
Licht von der Treppe her im Unterstand. Einer bewegte sich auf mich
zu. Draußen wuchtete es.
„Ist was passiert?"
„Wir
haben schon drei Verwundete, und es schießt immer weiter zu
uns."
Ich erhob mich rasch und lief die Treppe hinauf. Links
in Weickerts Geschützeinschnitt sprangen krapp! krapp! große
weiße Staubwolken hoch.
„Wo sind die drei verwundet
worden?"
„Der erste als Posten am Unterstand, die
anderen beiden als Posten vorn am leichten Maschinengewehr."
„Was
stehen jetzt für Posten?"
„Nur einer vorn."
„Den
soll Weickert einziehen, solange es so dahin schießt! Wir
übernehmen hier die Beobachtung für euch mit."
Der
Bote ging erst zögernd fort. Als er aber in die Höhe der
Granaten kam, rannte er, dass die Birken vor ihm vorbeisausten.
Ich
setzte mich oben in den Treppenhals. War das richtig, den Posten
einzuziehen? Doch wohl. Aber ich musste es Lamm melden.
Ich ging
hinunter, weckte Wolf und schickte ihn fort. Dann saß ich
wieder oben. Ich fühlte mich müde und angegriffen. Dann
juckte es mich am Halse. Ich zog den Rock aus und untersuchte den
Kragen. Es war nichts daran zu finden. Aber in der Halsbinde saß
eine ganze Brut junger
Läuse. Ich las sie ab und warf sie
hinaus. Wenn nur das nicht noch dazukäme! Ich zog auch das Hemd
aus. Das Bündchen war zerschlissen. In den Fäden saßen
auch noch welche.
Draußen schien die Sonne. Aber auf der
Treppe war es kalt. Ich zog mich wieder an. Es krachte und stampfte
und warf Kalkstaub in die Höhe. Ich sah zu Boden.
Ramms!
Ich
fuhr auf. Beinahe wäre ich ganz eingeschlafen. Jetzt schießen
sie wohl auch hierher? Oben in der blauen Luft surrte es. Zwei kleine
Flieger zogen da kleine Kreise. Beim Wenden blitzten sie silbern.
Weiter nach den Franzosen zu zog ein großer Flieger weite
Kreise mit breiten Flügeln und Schwanzflosse, aber ohne Leib.
Das war ein Flieger, der das französische Feuer lenkte.
Tack
- tack - tack! Maschinengewehrfeuer in der Luft. Zwei deutsche
Flieger kamen schräg hintereinander gerade auf die kleinen
Silberflieger zu. Die schwangen sich. Einer tauchte nieder und wurde
abwärts verfolgt. Weiße Schrapnellwölkchen bliesen
von den Franzosen her und blieben wie Schäfchenwolken in der
Luft.
Auf einmal sah ich, wie der eine Silberflieger stürzte,
immer schneller. Ein Flügel löste sich und schaukelte in
der Luft wie ein Blatt. Der andere Flügel löste sich. Der
Rumpf fuhr kerzengerade herunter, den Schwanz oben, über ihm
eine Qualmschnur. Es brannte und fuhr irgendwo weit drüben in
den Wald.
Kramms!
Ich bekam ein Kalkstückchen an den
linken Ärmel. Weickert kam gerannt und fuhr zu mir in die
Treppe. „Unser Unterstand ist eingeschossen!" schrie er.
„Wo sind die andern?"
„Ich weiß nicht.
Unser Maschinengewehr ist kaputt!"
Es kam wieder einer.
„Ist
jemand verwundet?"
„Ja, der Stoll-August, aber nicht
schlimm."
„Wo sind die andern?"
„Die
laufen herum."
„Hol sie hierher!"
Er lief
hinaus.
Die Leute kamen. Nur zwei hatten ihre Gewehre. Sie redeten
aufgeregt durcheinander. „Der ganze Unterstand ist
platt."
„Unsinn! Ich bin zuletzt raus. Es hingen nur 'n
paar Balken runter."
„Nee, ich hab's doch gesehen, wie
die ganze Decke runterkam!"
Was mache ich nur mit den Leuten?
dachte ich. Wolf kam von Lamm zurück.
„Herr Leutnant
lässt für die Meldung danken. Er beobachtet von oben, wie
es hier steht. Von da oben sieht's wirklich so aus, als könnte
hier niemand mehr leben."
Ich schickte Israel ab, das neue
Unglück und den Fliegerkampf zu melden.
Ich konnte mit den
aufgeregten Leuten nicht zusammenbleiben; denn ich musste überlegen,
was ich nun tun wollte. Daher rannte ich hinüber zu Sendig.
Dorthin waren bisher nur wenige Schüsse gegangen. Von seiner
Treppe aus konnte man nach dem Weißen Berg hinübersehen,
auf den es auch lebhaft schoss, aber von deutscher Artillerie. Gegen
zwei Uhr nachmittags flaute dort das Feuer ab. Auch bei uns war es
stiller geworden.
Ich ging in meinen Unterstand zurück und aß
etwas. Dann legte ich mich, um zu schlafen. Weickerts Leute hatten
ihre Ausrüstung von drüben geholt und schliefen.
„Renn!"
sagte Israel. „Herr Leutnant lässt sagen, man erwartet für
heute Abend einen französischen Angriff. Von fünf Uhr ab
soll alles alarmbereit sein."
„Gut!" sagte ich und
versuchte wieder zu schlafen. Aber musste ich nicht die Besetzung neu
einteilen? Und dann musste Weickert ein neues Maschinengewehr
bekommen. Aber er hatte ja nur noch sechs Mann.
Ich stand vor
Unruhe auf und ging hinaus. Der Weiße Berg war in eine
Staubwolke gehüllt, dass man nichts Genaues erkennen konnte.
Beide Artillerien schossen heftig. Deutsche Flieger kamen ziemlich
tief von hinten über den Grund weg. Auch zu Lamm schoss es
wieder.
Ich ging zu dem eingeschossenen Unterstand und fand dort
noch sieben Patronenkästen mit Maschinengewehrgurten. Ich nahm
zwei mit und schickte hinüber, die übrigen zu holen.
Ka-ramms!
„Das ist 'ne ganz schwere Marke", sagte
Hartenstein. Weickerts Leute kamen mit den Patronenkästen
atemlos zurück.
„Jetzt schießen sie hierher!"
Ra-ramm!
„Verflucht! Das gilt uns!"
Wir saßen
und warteten. Es war schon fünf Uhr. - Solange sie so schießen,
kommen sie nicht.
Sendig ließ melden, dass sein Posten vorn
tot wäre, er hätte den neuen Posten an einen geschützteren
Fleck gestellt.
„Uns werden sie schon hier auch noch
rausschießen!" sagte einer von Weickerts Leuten.
„Halt
's Maul!" sagte Hartenstein. „Mit dem Gequak machst du's
nicht anders!"
Das Schießen ging fort. Einmal schwankte
der Unterstand.
Nach anderthalb Stunden wurde es still. Ich ging
hinaus. Nur noch irgendwo in der Ferne rumpelten die Kanonen.
Einer
von Lamms Läufern kam.
„Mit Einbruch der Dämmerung
sollt ihr umziehn, Herr Leutnant erwartet dich dann oben - dort über
den schwarzen Fichten!"
„So weit vorn?"
„Er
hat gesagt: je weiter vorn, desto weniger Artilleriefeuer."
VIII.
Als es dunkel war, brachen wir auf, hinter uns in langer Reihe die
Maschinengewehre. Wir zogen uns über die weißgeschossene
Wiese und dann an einem Waldsaum aufwärts. Es wurde immer
steiler. Auf einmal kamen wir in Draht, von dem im Walde und bei der
Dunkelheit nichts zu sehen war. Ich dachte, es wären nur ein
paar Drähte. Aber ich trat immer weiter in Draht, der überdies
teils straff, teils in losen Schlingen gespannt war. Das Hindernis
war etwa sieben Meter breit. Ich ließ die Leute hinter mir, die
mit den
Maschinengewehren nur langsam vorwärts kamen, und
lief mit Israel und Wolf voraus.
„Renn!" rief es leise
von links. Das war Lamm. Er stand in einer verlassenen
Batteriestellung.
„Ich habe heute von oben das Feuer bei
euch gesehen", flüsterte er. „Mir war himmelangst.
Ich habe mit Herrn Oberst, der heute da war, die Stellung hier
besprochen. Der Punkt hier liegt freilich auf den ersten Blick
einfach verrückt Aber wahrscheinlich wird es nicht herschießen.
Die Franzosen dürfen aber nicht ahnen, dass wir hier liegen.
-Die Nachbardivision ist gebeten worden, ihre Feldwache weiter
vorzuschieben. Du musst mal feststellen, ob sie's getan hat. Ich
traue in solchen Sachen niemand mehr."
Unterdessen bellten
unsere Geschütze immer regelmäßig von hinten vor, und
mit singendem Ton wölbten Geschosse über uns weg. Die
Einschläge waren merkwürdig leise, obwohl nicht sehr weit
von uns.
„Was sind das für Geschosse?" fragte
ich.
„Ach so, das weißt du ja noch nicht. Das sind
Grünkreuzgranaten, sehr üble Gasgranaten. Damit wird unsere
Artillerie jetzt jeden Abend auf die vorderen französischen
Gräben schießen."
Wir verteilten die Unterstände.
Es waren vier ehemalige Artillerieunterstände da, recht eng und
schlecht gebaut. Ich nahm den am weitesten rechts.
„Es
kommen nicht alle unter!" sagte ich zu Lamm.
„Das
dachte ich mir. Die übrigen müssen im Freien
unterkommen."
„Wie meinst du das?"
„Komm
mit! Der betreffende Gruppenführer und der Führer eines
leichten Maschinengewehrs sollen auch mitgehen !"
Ich nahm
Weickert und Brand mit. „Leise sein!" flüsterte
Lamm.
Wir stiegen rechts hinunter. Auch hier war ein
Drahthindernis in halber Höhe. Wir traten vorsichtig einer
hinter dem andern hindurch. Unten war eine Schlucht mit ebener Sohle,
die nach rechts vorn führte. Es war düster da. Einzelne
Granattrichter zwischen ganz niedrigen Fichten am Boden.
„Hier
kommt die Gruppe und das leichte Maschinengewehr her."
„Aber
wenn wir einen Graben schanzen, dann wissen die Franzosen gleich, wo
wir sind."
„Ja, ihr müsst euch eben so einrichten,
dass es auf der Fliegerphotographie so aussieht wie
Granattrichter."
„Herr Leutnant", sagte Weickert,
»wir haben aber hier gar keinen Schutz nach rechts."
Ich
sah den rechten Hang an, der steil emporstieg. Man konnte nicht
zwanzig Schritte weit sehen.
„Aber verstehen Sie denn gar
nicht?" flüsterte Lamm. „Von oben, wo Renn liegt,
kann man nicht in den Grund hier sehen. Deshalb liegen Sie hier und
schützen die rechte Flanke von Renn. Und Sie können wieder
nicht nach rechts sehen, aber Renn von oben sieht alles rechts bis
zum Weißen Berge. Der stellt oben ein Maschinengewehr auf, nur
zu Ihrem Schutz. Das schießt quer über Sie weg. Und Zug
Langenohl liegt links so, dass er mit seinen Maschinengewehren die
ganze Wiese vor Renn bestreichen kann. Und bei mir liegt Zug Trepte
mit zwei schweren Maschinengewehren bereit, dahin vorzugehen, wo
Gefahr ist. Ihr müsst doch auch Vertrauen zu mir haben!"
Ich
schämte mich, dass ich das nicht gleich gesehen hatte.
Ein
großer Teil der Nacht ging mit Aufstellung der Posten und
Maschinengewehre hin. Dann ging ich mit Israel nach der
Nachbardivision. Ich fand die Feldwache nur zwanzig Meter weiter vorn
als früher. Wir lagen jetzt fünf- bis sechshundert Meter
vor ihnen. Als ich wieder vorkam, waren die Essenholer da. Israel
erzählte, dass der Zug Langenohl zwei Verwundete hätte.
Dann kam die Zeit, wo wir umgeschnallt wachen mussten. Es war noch
dunkel. Ich ging in die Schlucht und suchte nach den bewohnten
Trichtern.
„Vorsicht!" sagte auf einmal eine Stimme
unter mir.
Ich sah einen runden Stahlhelm sich in einem Busch
bewegen. Es war Brands Stimme. Ich beugte mich hinunter und sah, dass
es kein Busch war, sondern Kiefernäste über einem Loch.
Darunter war das Maschinengewehr versteckt.
„Wo sind die
andern?" fragte ich.
„Hier unten. Wir haben das Loch
unten eckig geschanzt und uns Sitze gemacht mit Holz aus der
verlassenen Batterie oben."
Ich tappte weiter. Bei Weickert
war das Loch oben etwas erweitert, aber unverdeckt. Unten hatten sie
eine Zeltbahn gespannt, dass es bei Tage aussehen sollte, als wäre
die dunkle Zeltbahn ein Schatten des Lochs.
Unterdessen wurde der
Himmel blass. Ich stieg nach der Batterie hinauf, die von der
Schlucht wie ein befestigter Berg aussah.
Unser Unterstand hatte
zwei Ausgänge, einen nach dem Weißen Berg, in dem ich mich
zu Israel und Hartenstein setzte. Beide waren mir recht lieb
geworden, besonders der muntere Israel. Er aß Brot und schnitt
mir auch etwas ab. Der Weiße Berg leuchtete bläulich wie
von innen heraus. Die Waldstücke waren noch schwarz.
„Sieht
nicht der Berg aus wie ein Kamel?" sagte Israel.
„Du
meinst wohl ein Dromedar", meinte Hartenstein. »Er hat
doch zwei Höcker."
„Hast du mal ein Dromedar
gesehen?" fragte Israel nach einer Weile.
„Ja, in
Hamburg."
„Du bist weit herumgekommen!"
Hartenstein
machte eine Bewegung mit der Hand, zu schweigen. Ein Fink hatte
angefangen zu singen. Er musste in der Birke sitzen, die fünf
Schritte hinter dem Unterstand vor schwarzen Fichten stand.
Israel
warf ein paar Brotkrumen unter den Baum.
Der Fink
sang.
Hartenstein warf ein kleines Stück Konservenwurst hin.
Ich betrachtete die Birke. Sie hatte an den Spitzen schon ein klein
wenig Grün. - Aber konnten die Posten auch bei Tage abgelöst
werden, ohne gesehen zu werden? Ich stieg in den Unterstand. Von dort
führte ein schmaler Gang in den nächsten Raum, und von dort
ging der zweite Ausgang nach hinten. Da stieg ich hinaus. Hier war
ich gegen den Weißen Berg gedeckt. Die Geschützeinschnitte
waren eng und dicht beisammen. Der Posten ragte nur mit dem Kopf
heraus und konnte nach rechts und vorn sehen, wo ein dunkler Wald die
ansteigende Wiese begrenzte. Aber der runde Stahlhelm hob sich
deutlich ab. Vielleicht wäre es gut, ihn mit Kreide
zu
beschmieren? Aber hinter uns der dunkle Wald. Dagegen müsste man
ihn dann erst recht sehen. Ich nahm einen abgeschossenen Birkenzweig
und wand ihn um seinen Helm. Der Posten lachte. Aber die auffallende,
runde Form des Helms war ziemlich verdeckt.
Die
Maschinengewehrposten im nächsten Einschnitt standen zu hoch.
Ich stellte sie tiefer und ließ die Maschinengewehre mit Geäst
bedecken, ohne erst Schatz zu fragen. An der Birke waren die
hingeworfenen Brotkrumen verschwunden.
Wir legten uns schlafen. In
mir war eine kleine Sehnsucht, aber eine ganz stille. Wenn die
Franzosen erst angegriffen haben, dann werden wir wohl abgelöst.
IX.
Ich schlief noch nicht eine Stunde, als ich geweckt wurde. „Herr
Major und Herr Leutnant sind draußen."
Der Major wollte
nur die neue Aufstellung sehen und ordnete an, dass in der Nacht
Horchposten vorgeschoben würden. Sie blieben nicht lange da.
Die
Läuse juckten mich wieder. Ich lauste und legte mich dann. Gegen
zehn Uhr weckte mich Israel. „Unten in der Schlucht scheint
einer verwundet zu sein."
Ich ging nach dem rechten Ausgang
und hörte einen winseln. Aber was sollte ich tun? Man durfte ja
bei Tage nicht hinunter.
Auf dem Weißen Berg und an dem
großen Graben hinter uns wuchsen wieder die Granatwolken wie
die Bäume.
Ich ging zum nächsten Posten vor und sagte
ihm, er sollte scharf nach dem linken Hang des Weißen Berges
beobachten und sofort melden, wenn er etwas sähe.
„Kann
ich nicht ein Fernglas bekommen?" fragte er.
„Ich werde
um eins bitten."
Ich ging am Steilhang nach links.
S-krämm!
fuhr es dicht über mich weg in den Grund. Hier war der Wald noch
ziemlich erhalten.
Rechts war eine Latrine mit schiefgeschossenem
Dach. Ich ging dahin und setzte mich. Ich hatte kein Papier mehr
außer Briefbogen und sah mich um, ob nicht etwas Geeignetes
herumläge. Da sah ich rechts einen nackten Fuß, der aus
einem Schutthaufen ragte. Er sah gelblich aus. S-parr!
Schr-kräpp!
Ich lief weiter. Der Wald wurde dünner. Hier
waren rechts die Löcher im Steilhang mit Decken, Tornistern und
Gasmasken. Links neben einem hohen Schutthaufen sah ich einen Kopf
mit Stahlhelm. Der Posten sah mich erstaunt an.
„Wo liegt
Herr Leutnant?"
„Hier!"
Ich sprang neben ihn in
einen engen Gang. Da war eine Treppe. Ramms!
Unten flüsterte
einer im Dunkeln: „Sei leise, Herr Leutnant
schläft!"
Allmählich gewöhnte ich mich an das
Dämmerlicht.
„Sag Herrn Leutnant, wenn er aufwacht, wir
hätten gern ein Fernglas, und einer in der Schlucht scheint
verwundet zu sein."
Draußen krachte es ununterbrochen.
Ich setzte mich, um ein Nachlassen des Feuers abzuwarten. Aber ich
hatte keine Ruhe. Ich hatte niemand gesagt, wo ich hingegangen war.
Ich rannte hinaus, beim Posten aus dem Gang, und den Hang entlang.
Hier war es stiller. Ich ging langsam weiter. An einer Stelle waren
ein paar Drähte gespannt. Ich stieg vorsichtig durch und sah am
Boden eine Hand liegen. Sie lag schwarz und wie aus Leder
ausgestreckt am Boden. Kleine, tiefschwarze Käfer bewegten sich
darauf. Ich beugte mich nieder: vielleicht kannte ich die Hand? Nein,
sie war mir fremd.
Vor meinem Unterstand traf ich den einen
Gewehrführer von Schatz. Er schien mich zu erwarten.
„Kannst
du uns nicht die Lage hier mal sagen? Schatz sagt uns nichts. Und wem
unterstehen wir hier eigentlich?"
„Wenn es darauf
ankommt, mir!"
„Du, besprich doch alles mit uns! Der
Schatz hat ja keine Ahnung vom Maschinengewehr. Er ist erst kürzlich
aus der Etappe gekommen, und unser Kompanieführer scheint nicht
zu wissen, was das für ein Kerl ist."
„Ich will
euch gern über alles unterrichten. Aber dazu müsst ihr zu
mir kommen. Ich kann euch nicht von Schatz holen, weil er dienstälter
ist als ich."
„Ach, dienstälter! Er ist faul und
feige. Wir wollen einen ordentlichen Führer haben, das sagen
alle!"
Ich legte mich wieder schlafen. Aber bald kamen die
beiden Gewehrführer. Ich stand wieder auf. Wenn nur die
Franzosen bald angriffen, dass wir abgelöst würden! Das war
doch auf die Dauer nicht auszuhalten.
In der Abenddämmerung
begannen unsere Geschütze zu bellen. Ich ging mit den
Horchposten vor auf die Wiese. Der Mond schien. Die Granattrichter
hatten tiefe Schatten. In einem der Trichter lag einer mit Stahlhelm,
das Gewehr im Anschlag nach vorn.
„Ist denn schon ein
Horchposten vorgeschoben?" flüsterte ich.
„Nein."
Wir
gingen nah hin. Der Mann war tot.
Ein Stück weiter saßen
zwei in einem Trichter an die Wand gelehnt, auch tot.
Ich legte
die Horchposten in Trichter und ging nach der Schlucht. Brand stand
neben seinem Loch und zitterte leise am ganzen Körper.
„Was
ist denn mit dir?"
„Ich weiß nicht. Es ist schon
seit ein paar Tagen so."
„Ist hier jemand
verwundet?"
„Im nächsten Loch, zwei. Die sind
schon hinter."
Ich kam zu Weickert. Er saß in seinem
Loch oben und sah mich mit entsetzten Augen an.
„Werden wir
nicht bald abgelöst? Ich habe den ganzen Tag hier gesessen und
nicht schlafen können."
„Willst du für den
Tag was zu lesen haben?"
„Nein, ich habe die Psalmen.
Etwas anderes kann ich nicht lesen."
Ich konnte nichts sagen.
Wie hatte sich der verändert! Seine Augäpfel standen weiß
im Gesicht.
„Wir müssen Horchposten aufstellen!"
sagte ich.
Er stieg aus dem Loch und holte zwei Mann. Wir gingen
vorsichtig in der Schlucht vor. Sie hob sich etwas und bog leicht
nach rechts. Rechts lag ein unheimlich schwarzer
Wald. Ich legte
die Posten in zwei Trichter dicht nebeneinander und ging mit Israel
und Weickert noch weiter, um zu sehen, was vor uns war.
Mehrere
Leichen lagen am Boden.
Die Schlucht wurde noch düsterer.
Hier
lagen noch mehr Tote.
Links standen drei niedrige Holzbuden. Ich
schickte Israel hinein und beobachtete nach vorn und den dunklen
Wald, der nur wenige Schritte von uns entfernt stand. Es stank
ringsum.
„Es sind lauter Leichen drin", flüsterte
Israel. „Habt ihr Mut, noch weiter mitzugehen?" „Ja",
flüsterte Israel.
Ganz langsam gingen wir, das Gewehr bereit.
Vorn lichtete es sich. Rechts stieg es zu einer Kuppe an. Die war mir
nicht recht geheuer. Ich sah mich nach Weickert um. Er hatte nur eine
Leuchtpistole.
„Geh zurück!" flüsterte
ich.
Wir beide zogen uns vorsichtig im linken Waldrand nach der
Lichtung. Vor uns hob sich eine Wiese im Mondschein mit einigen
weißen Trichtern.
„Dort!" flüsterte Israel
und deutete vorsichtig.
Ich sah zwei weiße Streifen
vielleicht vierhundert Meter vor uns, die sich rechts nach uns zu
bogen. Das mussten die französischen Gräben sein.
„Wenn
die so schräg zu uns liegen", sagte ich, „dann werden
hier links oben keine Franzosen sein. Wir kehren jetzt in einem Bogen
nach links zurück."
Wir stiegen links im Walde empor. Es
war ein dichtes Astgewirr. Zweige knackten. Es ließ sich nicht
vermeiden.
Wir kamen in Draht.
„Halt! Wer da?"
schrie es von oben.
„Patrouille Renn!" schrie ich. Es
war mir sehr unheimlich. Ich kannte die Stimme nicht. Aber ich ging
ganz langsam weiter.
„Wer ist da?" schrie es von oben.
„Renn", schrie ich, „von der dritten Kompanie!"
„Dass die uns nur nicht Handgranaten auf den Kopf schmeißen!"
flüsterte Israel. Wer ist nur hier so weit vorn? dachte ich. Ein
Deutscher
muss es sein. Ich bog die Äste auseinander. Ein
steiler Schuttkegel. Oben stand einer, die Handgranate- in der
Hand.
„Immer herankommen lassen!" flüsterte eine
andere Stimme.
„Herr Feldwebel Trepte!" sagte ich
laut
Ein zweiter trat oben an den Rand.
„Ach, Renn?
Kommen Sie nur herauf!"
Oben traf ich etwa zwölf Mann.
Trepte gab mir die Hand. „Das hätte bald ein Unglück
gegeben! Liegen Sie denn da unten?"
„Nein, in dieser
Richtung. - Aber wie kommen Herr Feldwebel hierher?"
„Ich
werde jetzt jede Nacht hier vorn in den Unterständen liegen als
Falle für französische Patrouillen. Es sind nämlich
Anzeichen da, dass die manchmal hier herkommen."
Ich sah mich
um. Es war wieder eine ehemalige Batteriestellung. Die Geschütze
waren noch da, lange und hohe Kanonen.
Wir wendeten uns zurück
und traten aus dem hohen Walde auf eine fallende Wiese. Der Mond
stand schon tief und machte noch schwärzere Schatten in den
großen Trichter am Boden. Da lag wieder ein Toter und stank.
Aber die Gegend kam mir merkwürdig unbekannt vor. Hier mussten
unsere Horchposten liegen. Wir gingen langsam und sahen in jeden
Trichter.
„Da liegt einer unserer Posten", flüsterte
ich.
Wir gingen auf den Trichter zu, in dem er lag.
„Vor
uns im Walde liegt der Zug Trepte", sagte ich dem Posten.
Er
antwortete nicht. Ich beugte mich nieder. Er stank.
Wir fanden die
Horchposten etwas weiter rechts.
Ich ging in den Unterstand und
zeichnete eine Skizze mit den Ergebnissen unserer Erkundung. Die
Schlucht rechts, in der Weickert lag, nannte ich die Leichenschlucht
und die Buden weiter vorn die Leichenbuden. Da fiel mir ein, dass
Weickerts Leute es vielleicht als eine Vorbedeutung ansehen würden,
wenn sie in der Leichenschlucht lägen. Ich strich das Wort aus
und nannte sie nach unserem Fink die Finkenschlucht
Weickert kam
herein.
„Mir ist was passiert. Als ich von vorn zurückkam,
nur mit der Leuchtpistole, und zu den Leichen komme, sehe ich auf
einmal, wie sich einer dort erhebt. Ich bleibe stehen. Er schleicht
vorsichtig nach dem Wald hinüber und verschwindet nach den
Franzosen zu."
„War er bewaffnet?"
„Wie's
schien, nicht"
„Weshalb hast du ihm nicht eine
Leuchtkugel aufgebrannt?"
„Ich habe schon dran gedacht.
Aber ich dachte, der wird nicht allein sein."
X.
Beim Morgengrauen begann es leise zu regnen. Wir warfen dem Finken
Brotkrumen hin. Eine Amsel war auch gekommen. Ich war traurig. Meine
armen Leute in den Löchern ohne Dach über sich! Dazu war es
kalt.
Der Tag war bei uns ruhig. Nur auf dem Weißen Berge
wuchtete es, der wurde täglich kahler. Das wenige Grün an
den Hängen verschwand auch noch.
Ich schlief ein paar Stunden
ungestört.
Am folgenden Tage regnete es wieder in der
Dämmerung. Dann kam die Sonne, aber auch französische
Artillerieflieger. Nach der Batterie im Grunde, in dem wir früher
gelegen hatten, schoss es heftig, ebenso in den Grund hinter uns und
auf den großen weißen Graben hinten bis zum Weißen
Berg.
Ein Läufer kam. „Herr Leutnant lässt fragen,
wie es hier steht. Auf dem linken Teil des Regimentsabschnitts liegt
schwerer Beschuss. Bei der zehnten Kompanie sind zwei Offiziere
verwundet."
„Hier ist es ruhig."
Mich plagten
die Läuse. Ich wollte wachen und nahm den Simplicius
Simplicissimus vor. Aber ich buchstabierte nur und verstand nichts.
Ich dachte an die Leute unten in der Schlucht. In einem Loch waren
nur noch zwei, und die mussten immer abwechselnd wachen, und während
des Essenholens war gar nur einer da. Und sie klagten nicht
einmal.
Das Buch quälte mich. Ich machte es zu und legte mich
auf die Pritsche. Ich wollte nicht schlafen.
„Vor Zug
Langenohl greifen sie an! Sie sind aber abgeschlagen. Herr Leutnant
kommt mit Zug Trepte hierher."
Ich sprang auf.
„Alles
fertigmachen und besetzen!" Ich ergriff Gewehr und Gasmaske und
stürzte hinaus. Der Weiße Berg war eine Staubwolke. „Alles
alarmieren und besetzen!" schrie ich in die Unterstände
hinein.
Ich rannte zu den Maschinengewehren. Links aus dem Walde
stiegen rote Leuchtkugeln. Vorn war nichts zu sehen. Unsere
Artillerie bellte und grunzte hinter den Höhen vor. Wir gingen
in die Unterstände. Alle schwatzten durcheinander.
Wieder kam
ein Läufer. „Herr Leutnant lässt sagen, dass die
Franzosen links in die Gräben eingedrungen, aber im Gegenstoß
überall wieder hinausgeworfen sind. Von der Nachbardivision
fehlt jede Nachricht. Es soll sofort nach Dunkelwerden Verbindung
dahin aufgenommen werden!"
Am Abend machte ich mich mit
Israel auf den Weg. Es war leicht neblig, dabei aber hell. Ich wollte
den Graben, der von der Nachbarfeldwache nach vorn führte, in
Höhe unserer Postierung erkunden. Wir gingen durch die Schlucht
und drüben, wo es eben war, durch einen Streifen Birken.
„Von
hier ab Vorsicht!" flüsterte ich Israel zu. „Es
sollte mich doch wundern, wenn sich nicht die Franzosen heute beim
Angriff in dem Graben so weit wie möglich vorgeschoben
hätten!"
Wir schlichen Schritt für Schritt, die
Augen vorn.
Der Graben lief nur zwanzig Schritt vom
Birkenstreifen. Nichts regte sich.
Wir kamen an den Graben und
sahen hinein.
An der Grabenwand lehnten Gewehre, deutsche Gewehre,
an die zwanzig Stück. Ist eine Feldwache in der Nähe?
Weshalb stellt sie dann ihre Gewehre hierher?
Ich zog Israel etwas
abseits.
„Das ist mir verdächtig. - Ich kann allerdings
nicht sagen, warum. - Geh du hier in den Birken entlang. Ich gehe am
Graben."
„Ich gehe mit dir", flüsterte er.
Ich fühlte mich unsicher werden.
„Nein", sagte ich
aber, „du nützt mir hier nichts. Geh drüben!"
Er
gehorchte.
Ich schlich am Graben entlang und wie vor dauerndem
Schrecken. Wenn mich mein Gefühl warnt? Nein, das ist ja
jämmerlich.
Es war zu neblig, um den weißen Graben
hinten zu sehen. Der musste aber in unserer Hand sein; sonst hätte
Lamm etwas erfahren und es mir mitgeteilt.
Der Birkenstreifen war
zu Ende. Israel kam zu mir herüber. Er schien auch unruhig zu
sein.
Wir näherten uns der Stelle, wo die Feldwache liegen
musste. Dort war niemand. Nur ein Tornister lag im Graben und einige
Handgranaten.
Wir kamen an die Stelle, wo die Feldwache vorher
gelegen hatte. Dort war gar nichts.
Wir kamen an den weißen
Graben.
„Wir gehen erst mal zum nächsten Posten unseres
Regiments."
Der Posten dort sagte, die Nachbardivision läge
nach wie vor in dem Graben. Nicht fünfzig Meter von hier würden
wir den nächsten Zugführer treffen.
Wir gingen im Graben
dahin.
Ein Vizefeldwebel mit zwei Mann begegnete uns.
„Als
Verbindungspatrouille!" meldete ich. „Wissen Herr
Feldwebel, wo die Feldwache jetzt steht, die hier links vorn lag?"
Er
sah mich misstrauisch an. „Von wo kommen Sie?"
„Von
dort, wo sie früher stand."
„Und ist sie nicht
mehr da?" fragte er bestürzt.
„Nein, wir haben nur
Gewehre gefunden."
„Haben Sie Zeit, mir das zu
zeigen?"
„Jawohl, Herr Feldwebel."
Er ging
hastig voraus. Wir kamen zu der Stelle, wo der Tornister und die
Handgranaten lagen. Er sah stumm umher.
„Wo sind die
Gewehre?" „Weiter vorn, Herr Feldwebel."
Er ging
finster vorwärts. An den Gewehren blieb er stehen und wendete
sich plötzlich an seine Leute: „Nehmen Sie soviel Gewehre,
wie jeder tragen kann! Ich komme nach!"
Er betrachtete stumm,
wie sie mit den Gewehren abzogen. „Wohin gehen Sie jetzt?"
fragte er. „Dorthin." Ich zeigte nach links vorn. „Was
wollen Sie denn dort?" „Dort liegt mein Zug."
„Ach,
Sie sind Zugführer? - Dann kann man ja ein offenes Wort reden. -
Ist der Mann sicher?" Er sah misstrauisch auf Israel.
„Unbedingt
sicher, Herr Feldwebel." Ich verstand den Sinn der Frage
nicht.
Er stieg aus dem Graben und kam ein Stück mit
uns.
„Sie müssen mir mein Misstrauen entschuldigen. Ich
bin Ostpreuße. Aber meine Leute sind meist Elsässer.
Wissen Sie, was die Gewehre bedeuten? Die Hunde sind übergelaufen!"
Er spuckte aus. „Das kann einer gar nicht verstehen, der's
nicht kennt, wenn man seinen eigenen Leuten nicht trauen kann! Die
beiden, die ich mit den Gewehren fortgeschickt habe, sind auch von
der Bande! - Ich würde am liebsten auch überlaufen! - Aber
nicht zu den Franzosen, sondern zu Ihnen. - Wenn ich jetzt zu meinem
Kompanieführer komme, muss ich sagen: Mein Zug ist fort! - Wohin
denn? Ach, Kotz!" Er spuckte wieder, hatte aber nichts mehr zum
Spucken. „Gott erhalte Deutschland!" Er wandte sich um und
ging mit großen Schritten zurück.
Seit der Dämmerung
schoss unsere Artillerie lebhaft. Der Wind stand von vorn. Wir gingen
diesmal von hinten in die Schlucht. Es roch immer stärker.
„Das
muss doch unser eigenes Gas sein?" meinte Israel.
Weickert
und seine Leute traf ich mit aufgesetzten Gasmasken, wie die Affen
anzusehen.
Oben in der Batterie roch es nur wenig.
Lamm wartete
schon auf mich. Meine Meldung von den Überläufern schien
ihn zu beunruhigen.
„Ich habe dir auch eine unangenehme
Mitteilung zu machen. Gegen Morgen soll Ersatz hier vorn
eintreffen."
„Weshalb ist das unangenehm?"
„Nu,
erstens ist es recht misslich, in einer Trichterstellung Ersatz
einzureihen. Denke dir nur, die Leute kommen heraus, hören in
der Dunkelheit nur ein paar Stimmen und werden in ein Loch gestopft.
Und ich gar - sehe sie nicht und höre sie nicht. Da ist doch gar
kein Verhältnis da. -Und zweitens: wenn wir in absehbarer Zeit
abgelöst würden, würde man mit der Einreihung warten,
bis wir hinter kommen. Verstehst du's nun?"
Ich sagte niemand
davon, auch nicht den Gruppenführern.
Unsere Artillerie hatte
aufgehört zu schießen. Trotzdem war der Gasgeruch noch
recht stark.
Der Zug Trepte schickte einen Mann: vor einer halben
Stunde hätte eine französische Patrouille Handgranaten in
die Batterie vor uns geworfen.
Die Essenholer kamen ohne Wolf. Der
war unterwegs leicht verwundet worden.
„Wer wird denn jetzt
zweiter Läufer?" fragte Israel.
„Ich will mir's
überlegen."
Ich wollte vielleicht einen vom Ersatz
nehmen.
Es wurde allmählich hell.
Ein Läufer kam. „Du
möchtest mal zu Herrn Leutnant kommen."
Unterwegs sagte
er mir: „Der Ersatz ist da. Das ist aber 'ne Bande! Ein Drittel
scheint sich unterwegs verdrückt zu haben. Und die übrigen!"
Ich
traf Lamm vor seinem Unterstand mit einem ältlichen
Vizefeldwebel, der die Lippen hängen ließ, und etwa
zwanzig Mann.
„Der Ersatz ist jetzt erst gekommen",
sagte Lamm übellaunig. „Jetzt kann ich niemand mehr vor in
die Löcher schicken. Diese hier habe ich nicht in den
Unterständen hier unterbringen können. Wie viel haben bei
dir noch Platz?"
Jetzt übernimmt der Vizefeldwebel
meinen Zug, dachte ich. Und der Mensch kann doch nichts. Das sieht
man ja.
„Sie müssen eben bei mir unterkommen." Ich
hatte keine Kraft mehr zu fragen, wie die neue Zugeinteilung
würde.
Lamm ermunterte sich. „Dann bekommst du auch
alle zu deinem Zuge. Der Vizefeldwebel Sandkorn wird dir nur zur
Verpflegung und Unterbringung zugeteilt. Ich nehme in
Aussicht,
ihn später an anderer Stelle zu verwenden, wenn er einmal die
Verhältnisse kennen gelernt hat, vielleicht als
Grabenfeldwebel."
Ich sah Lamm an und fühlte mich
klein.
„Darf ich gleich hier einteilen?" lachte ich.
„Bei mir geht's nicht gut."
„Mach's, wie du
denkst", lächelte Lamm. Er hatte wohl gemerkt, was in mir
vorgegangen war.
„Ist hier jemand am leichten oder schweren
Maschinengewehr ausgebildet?"
Drei traten vor.
„War
jemand sonst noch in einer besonderen Stellung?"
Da trat ein
Mensch vor, klein und übermäßig breit, und sagte mit
ganz langsamer, weinerlicher Stimme: „Gefreiter Funke, ich war
zwei Jahre Ordonnanz beim Kompanieführer." Dazu strahlte er
mich aus einem breiten, schmutzigen Gesicht an, und ein Tropfen hing
ihm von der Nase. Er wischte ihn mit dem Handrücken weg. Ich
wollte nicht, aber ich musste lachen, und alle lachten ringsum. Er
lächelte noch mehr. Er schien unser Lachen nur als
Freundlichkeit zu empfinden. Ich überlegte: Er ist mindestens
vierzig Jahre und muss doch auch tüchtig sein, dass er so lange
beim Kompanieführer war.
„Sie werden Läufer bei
mir."
XI.
Nachmittags saß ich mit Israel und Hartenstein im Ausgang
nach dem Weißen Berg. Nur in der Ferne schoss es irgendwo.
Vielleicht waren das die letzten Kämpfe dieser Offensive
gewesen?
Wir warfen unsern Vögeln Brocken hin. Es war trocken
und staubig. Die jungen Birkenblättchen sahen grau aus. Über
den Weißen Berg kam eine große Wolke gesegelt wie ein
grauer Sonnenschirm und ließ dicke Tropfen in den Staub
fallen.
Hartenstein beobachtete das alles schweigend mit ein paar
dunklen Falten über der Nase. Israel zog die Stirn quer in
Falten. „Die neuen Leute haben dich gern, Renn."
„Sie
kennen mich noch gar nicht."
„Doch, weil du den Vater
Funke zu deinem Läufer gemacht hast." Jemand kam die Treppe
herauf.
„Guten Tag, Renn." Lamm setzte sich zu uns. Er
sah blass, aber munter aus.
„Du musst mir mal genau zeigen,
wie es auf dem Weißen Berg steht. Ich hatte nämlich
gemeldet, die Franzosen säßen oben. Diese Meldung ist an
die Division dort gegangen, und die schreibt, meine Meldung stimme
nicht; sie hätten den Berg ganz."
„Das ist nicht
wahr! Siehst du den Graben zwischen den beiden Kuppen? - Es ist nur
eine flache Rinne. - Das ist der vorderste französische
Graben."
„Ja, so hab ich's auch beobachtet."
„Wie
können sie denn da sagen, sie hätten den Berg ganz? Das ist
doch einfach gelogen. Unsere Artillerie schießt doch auch immer
auf die linke Kuppe."
Lamm sah nachdenklich hinüber.
„Du
hast wohl nie darüber nachgedacht, wie so eine Meldung zustande
kommt? Hinten bei den höheren Stäben wissen sie doch nicht,
wie's vorn steht."
„Schicken sie denn niemand
vor?"
„Hast du schon jemand bei uns gesehen? - Und was
würde es ihnen auch nützen? Denke dir doch, hier käme
einer her. Es wären für ihn alles nur Waldstücke und
Gründe. Und wenn wir ihm etwas nicht zeigen wollten, dann würden
wir sagen: Dort ist's gefährlich, oder: Dort kann man bei Tage
nicht hin."
„Aber die Truppen müssen doch richtig
melden, wie's vorn steht!"
„Das tun sie aber
nicht."
„Das versteh ich nicht."
„Denke
dir doch mal, die Truppen dort oben hätten gemeldet, sie hätten
nur die eine Kuppe. Sofort würde von hinten befohlen, die andere
auch zu nehmen. Das wäre aber Wahnsinn; weil sich dort niemand
halten kann, weil die französische Artillerie in die Gräben
hineinschießen kann wie in die Fleischmulden."
„Das
will ich nicht verstehen!"
„Es wird dir nichts nützen.
Es ist doch so." „War das 1914 auch schon so?"
„Sicher
nicht. Damals war noch keine Feindschaft zwischen Front und
hinten."
„Aber wer ist schuld an der
Feindschaft?"
„Beide. Die hinten verstanden die Truppe
nicht mehr, als es zum Stellungskrieg kam, und die Truppe glaubte
alles besser zu wissen und wollte nicht mehr gehorchen, weil sie es
ist, die die Opfer bringt."
Er ging fort.
Diesen Tag und
den folgenden war ich düsterer Stimmung. Ich wollte nicht sehen,
was er gesagt hatte. Ich fürchtete mich, einzugestehen, dass das
Auflösungszeichen waren.
XII.
Es schoss wenig. Aber ich hatte wieder Verluste unten in der
Schlucht. Das leichte Maschinengewehr dort bekam einen Splitter in
den Mantel, so dass das Wasser ausfloss. Es musste zur Reparatur
hintergeschickt werden. Weickert war abgemagert und sah aus wie ein
Schwindsüchtiger. Brand zitterte immerfort und hatte ganz helle
Augen bekommen, aber er sagte nichts. Ich hatte den Jungen sehr lieb
gewonnen.
Eines Nachts kam Lamm und fragte schroff: „Wo
liegt Brand?"
„Unten in der Schlucht." „Führe
mich hin!"
Der Mond schien hell. Ich ging voraus. Was hatte
er nur mit Brand? Was sollte ich Lamm sagen, wenn er etwas gegen ihn
hätte? Lamm schien wütend zu sein.
„Hier!"
flüsterte ich.
Man sah nur einen Stahlhelm im Astgewirr.
„Sind Sie Brand?"
„Nein, Herr Leutnant. - Emil,
komm mal rauf! Herr Leutnant will dich sprechen."
Ein Rumoren
unten. Ein bloßer Kopf tauchte aus den Ästen auf und band
sich hastig die Halsbinde um.
„Im Namen Seiner Majestät
des Kaisers hat Ihnen der
Kommandierende General das Eiserne Kreuz
verliehen. Sie haben es redlich verdient."
Lamm reichte seine
Hand hinunter. Brand ergriff sie zaghaft und ließ sie wieder
los.
„Nehmen Sie nur auch das Eiserne Kreuz", lachte
Lamm. Brand griff danach.
Die andern im Loch wünschten ihm
ungestüm Glück.
„Ruhe! Ruhe!" lachte Lamm.
„Ihr weckt ja die Franzosen drüben!"
Lamm nahm
mich beiseite. „Jetzt zum nächsten. - Wie ich mit meinem
Spruch anfing, mitten in die Halsbinde hinein, da dachte ich, ich
hätte was sehr Dummes gemacht."
„Das vergessen dir
die Leute nie, dass du ihnen das Eiserne Kreuz hier ins Loch gebracht
hast!"
Am Morgen war es neblig. Ich ging am Hang entlang.
In
meiner Batterie sah ich Sendig auf seiner Treppe sitzen und einen
Brief schreiben.
„Du!" sagte ich und setzte mich auf
die oberste Stufe. „Du musst heute Abend den ..."
Kramm!
Es
gellte mir in den Ohren. Holzsplitter flogen umher. Die Granate war
dicht über meinem Kopf detoniert. Sendig polterte hinunter. Ich
rutschte ihm nach. Er sah nach mir herauf.
„Du musst heute
Abend ..."
„Höre mal", unterbrach mich
Sendig, „weißt du eigentlich, dass du für
unverwundbar giltst? Jetzt glaub ich's wirklich auch. Hat es dir
wirklich nichts getan?"
„Nein", ich sah an mir
hinunter. „Doch, den Schaft meines Gewehres hat es
aufgeschlitzt."
Sendig schüttelte den Kopf. „Das
ist unerhört! Das ist unerhört!"
„Jetzt lass
mich mal endlich weiterreden! Also, du löst heute Abend den
Weickert und sein Maschinengewehr ab. Du hast's besser, als er's
gehabt hat, denn jetzt ist einigermaßen warmes Wetter, und die
Trichter sind eingerichtet."
„Du brauchst dich nicht zu
entschuldigen. Ich mach's gern."
In meinem Unterstand legte
ich mich aufs Lager. Von der Granatdetonation sauste der Unterstand
um mich wie eine Muschel. Ich gähnte, und dabei sauste es noch
mehr. Ich lag und wollte schlafen. Die Läuse plagten mich. Ich
empfand es stärker als sonst. Jetzt geht es auch mit meiner
Kraft zu Ende. Drei Wochen hier vorn, in der Nacht umhergelaufen und
am Morgen stündlich aufgestört.
Ich lag überwach.
Zu Mittag stand ich auf, um etwas zu essen. Aber ich hatte keinen
Hunger.
„Was ist denn mit deinem Gewehr?" fragte
Israel. „Ach nichts! Wir müssen ein neues suchen. Draußen
liegen noch welche herum."
„Aber wie ist denn das
gekommen?" „Ach, lass mich doch!" Ich legte mich
wieder auf das Lager. Funke hatte sich eine Zigarre angebrannt - er
pflegte sie am Mundstück zu zerkauen - und erzählte: „Mein
Kompanieführer damals sagte immer: Man soll sich nicht unnötig
in Gefahr begeben. Aber wenn's drauf ankam, da war er da, und da
konnt's schießen, wie's wollte. Das war eben ein feiner Mann.
Und wie er mit unsereinem umgehen konnte! Nu, ich bin doch Tischler,
und das war 'n vornehmer Mann - allerdings nicht von Adel -, aber 'n
vornehmer Mann ..."
Ich hörte das alles, und das
langweilte mich quälend, und doch musste ich ihn gern haben
wegen seiner Herzensgüte. Schließlich schlief ich halb
ein.
Von oben schrie es: „Die Franzosen stellen sich am
Weißen Berg bereit!"
Ich fuhr in die Höhe und
hatte einen heftigen Schmerz auf der Brust.
„Alles
bereitmachen, aber unten bleiben! Israel, zu Herrn Leutnant,
melden!"
Ich hängte mir die Gasmaske um und stolperte
die Treppe hinauf, die zum Weißen Berg führte. Es
schmerzte mich zu atmen.
Ich sah nichts am Weißen Berg als
Dunst, durch den die Sonne blendete.
S-kramm! S-kramm! fuhr es
über uns hinweg in den Grund. Einzelne Gewehrschüsse
drüben. Maschinengewehre setzten ein und ratterten. Mir schien
es, als ob sie hierher schössen. Auf dem deutschen Abhang des
Berges stiegen ununterbrochen Granatwolken hoch. Es peitschte so von
den
Maschinengewehren, dass man außer ihnen nichts mehr
hören konnte.
Ich musste mir bei dem Schrecken des Alarms
etwas an der Brust gedehnt haben. Jemand kam gerannt. Israel reichte
mir das Kompaniebefehlsbuch.
„Komm herein!" schrie ich.
„Was läufst du jetzt mit dem Befehlsbuch herum!"
„Ach,
das bisschen Schießen!" lachte er.
Ramm! Ramm! in die
Schlucht.
Zwei kamen gerannt. Lamm mit einem Läufer fuhr in
unsere Treppe.
„Was gibt's hier?" schrie er mir ins
Ohr.
„Nichts bei uns!" brüllte ich zurück.
Das
Maschinengewehrfeuer ließ allmählich nach. Schwere
Geschosse rauschten über uns weg nach dem weißen Graben
hinter uns und der Höhe darüber. Unsere Artillerie bellte
und spuckte.
Dann ließ auch das nach, und es wurde sehr
still. Gegen Abend kam Sendig.
„Können nicht die andern
Gruppen heute für uns das Essen holen, damit wir gleich mit
allen Leuten in der Schlucht ablösen können?"
Ich
bestimmte, dass Hartenstein mehr Leute hinterschickte, und ließ
auch Funke und Israel hinuntergehen.
Ich ging, sobald es dunkel
war, hinaus und in die Schlucht. Weickert kam mir aufgeregt
entgegen.
„Ich habe wieder drei Mann verloren, darunter zwei
tot! Ich kann nicht mehr alle Löcher besetzen!"
„Sendig
löst dich ab. Da kommen schon die ersten Leute."
Vom
jenseitigen Schluchthang kam jemand herunter. Wer war das? Ich ging
ihm entgegen. Es war ein Leutnant.
Ich meldete. Er grüßte
höflich.
„Ich bin der Führer der Kompanie, die
rechts an Sie anschließt. Wir haben gestern die Stellung
bezogen. Ihre Kompanie hat gemeldet, dass wir zu weit hinten lägen.
Deshalb werden wir uns hier vorn neben Ihnen eingraben. Ich hoffe auf
gute Nachbarschaft und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir zeigten,
wie wir's am besten machen; denn Sie kennen die Verhältnisse
besser."
Wir stiegen den jenseitigen Hang hinauf. Oben lagen
seine Leute wie auf dem Exerzierplatz ausgeschwärmt, das Gewehr
im Anschlag. Um Gottes willen! dachte ich. Die sind wohl noch nie im
Krieg gewesen!
Ich zeigte ihm, wie wir die Trichter einrichten,
nicht in gerader Linie, sondern möglichst unregelmäßig.
„Das
darf ich nicht", sagte er. „Mein Bataillonskommandeur hat
mir strengste Anweisung gegeben, wie ich es machen soll."
Ich
war damit auch zufrieden; denn in diesem Regiment schienen energische
Führer zu sein. Man ließ mir vielleicht etwas zu viel
Freiheit.
Lamm kam gegangen und begrüßte den Leutnant.
„Es ist das erste Mal, dass die Nachbardivision Verbindung mit
uns aufnimmt!"
„Wie ist das möglich?" fragte
der Leutnant.
„Es ist so."
„Sie sollen über
uns nicht zu klagen haben." Wir gingen zurück.
„Ich
habe dir etwas mitzuteilen", sagte Lamm ernst. Habe ich wieder
etwas versäumt? dachte ich. Er blieb stehen. Es war dunkel.
„Du
bist wegen Auszeichnung vorm Feinde zum Vizefeldwebel befördert.
- Hier habe ich dir mein Portepee mitgebracht und ein paar Knöpfe
- es sind freilich nur Gefreitenknöpfe."
Ich wollte ihm
danken - aber war denn das nicht zuviel? Ich hatte doch die Stellung
hier, die wichtigste in der ganzen Division!
„Freust du dich
denn nicht?"
„Doch, doch, aber - ihr macht mich nur
eingebildet."
Er lachte und wollte etwas sagen. Aber er
lachte immer mehr und gab mir nur das Portepee in die Hand und ging
voraus.
An meinem Unterstand trafen wir Hartenstein.
„Hier,
gratulieren Sie dem Renn zum Vizefeldwebel! Hat er's
verdient?"
„Jawohl, Herr Leutnant, er hat's verdient",
sagte er gerade,
Mich peinigte das. Aber es war auch eine Freude
dabei, dass er nicht neidisch war; denn ich hielt Hartenstein für
tüchtiger als mich.
XIII.
Funke kam mit Feldkesseln. „Es hat Verluste gegeben, vier
Mann vom Zuge. Israel kommt gleich, der kann's besser
erzählen."
Israel kam aufgeregt herunter und setzte den
Wassertornister und einen Sack ab. Seine Rockschöße und
Taschen waren voll Blut.
„Dass die so wenig Kameradschaft
haben! - Wie wir bei den Küchen standen, da kam eine Gruppe
Granaten in die Leute der vierten Kompanie. Die fuhren mitten hinein.
Da kommen wieder Granaten, und eine geht in den Küchenkessel der
Vierten und spritzt die Verwundeten mit heißem Essen voll. Die
schreien. Da reißt die ganze Bande aus, statt zu helfen! Ich
habe nach ihnen gerufen, sie sollten mir helfen, aber niemand
kam!"
„Ja", sagte Funke, „Israel war der
einzige, der sich um die Verwundeten gekümmert hat."
„Einem
hatte es beide Beine abgeschossen, und es hatte ihn dazu über
und über mit Suppe beschüttet. Den hab ich allein auf einen
Wagen laden müssen, und ich wusste nicht, wie ich ihn anpacken
sollte, überall tat's ihm weh."
Sie redeten
durcheinander. Funke sagte immer wieder: „Ja, Israel ist der
einzige, der weiß, was Kameradschaft ist."
Nachdem wir
gegessen hatten, sprachen die andern wieder ruhig. Nur Israel war von
einer unerklärlichen Aufregung und Unruhe.
„Wenn mir
mal was geschieht - mir hilft niemand!" sagte er.
„Ich
helfe dir", sagte Funke.
„Du kannst mir nicht helfen!
Das war mein letzter Abend! Mir hilft niemand mehr!"
„Du
lebst noch lange", sagte Funke. „Der liebe Gott vergisst
die guten Menschen nicht."
„Ach! Ich weiß es
doch: das war mein letzter Abend! -Und ich möchte noch nicht
sterben!"
Wenn sie nur nicht jetzt merken, dass ich
Vizefeldwebel geworden bin! Ich wusste nicht, warum mir der Gedanke
so schrecklich war. Ich zog Hartenstein am Ärmel nach der
Treppe.
Es war hell draußen. Die Amsel sang in der Birke und
der Fink nicht weit davon. Hartenstein warf Brotkrumen hinaus. „Sage
ihnen nicht, dass ich Vizefeldwebel geworden bin!" „Weshalb
denn nicht?"
„Bitte sag's ihnen nicht! Ich hab so ein
Gefühl."
Nach einer Weile sagte er: „Das muss aber
schrecklich gewesen sein beim Essenholen! Der Israel erschrickt doch
nicht so leicht - und er ist ganz außer sich."
Ich sah
hinüber nach dem Weißen Berg, der sonderbar still dalag.
Es war sehr schön.
„Irgendwo muss etwas blühen",
sagte Hartenstein. „Es ist so ein Duft da."
Vor uns
lagen nackte Kreidesteine, und die Birke war zerzaust. Sie hatte noch
einmal ausgeschlagen, dann musste sie eingehen. - Aber ein Duft war
da von irgendwelchen Blüten.
Wir legten uns schlafen. Israel
schlief schon. Nur Funke saß da, in sich versunken, und rauchte
eine Zigarre.
„Befehl vom Bataillon! Alles soll die Stellung
besetzen! Die Franzosen stellen sich zum Angriff bereit!" schrie
es von oben.
Wir ergriffen Gasmasken, Gewehre, Helme und stürzten
hinaus. Im Nu waren die Geschützstände dicht besetzt. Die
Maschinengewehre waren bereit.
Die Sonne schien. Es war still. Nur
ganz in der Ferne war ein leises Wummern. Nirgends war auch nur eine
Bewegung zu sehen. Ich schickte Funke zu Lamm, ihm zu melden, wir
hätten besetzt, aber es wäre ganz still, auch kein
Anzeichen eines Angriffes. Unterdessen ordnete ich an, die Leute
sollten niederknien, damit man nicht vom Weißen Berg aus die
vielen Menschen sähe und wir Artilleriefeuer herbekämen.
Es
blieb still. Da kam Funke gerannt, so schnell, wie ihn seine kurzen
Beine trugen. „Israel ist tot!"
„Wo? - Hat es
denn geschossen?"
„Am Steilhang im Walde liegt
er."
„Und was hat der Herr Leutnant gesagt?"
„Wir
sollten wieder in die Unterstände gehen."
Ich ließ
meine Leute wegtreten und lief am Steilhang entlang. Von weitem sah
ich ihn liegen, ausgestreckt auf dem Rücken, unter einer Fichte.
Ich kniete neben ihm nieder. Er hatte das Kompaniebefehlsbuch in der
Hand, das hatte er zu Lamm zurückbringen wollen. Ich hatte es
ihm nicht gesagt. Vorn auf der Stirn hatte er ein wenig Blut, und
etwas Hirn war ihm auf den Rock gespritzt.
Ich nahm das
Befehlsbuch und trug es zu Lamm.
„Dieser Alarm war doch
unglaublich!" schimpfte er. „Ich habe dem Bataillon eine
gesalzene Meldung geschrieben, wir wüssten hier vorn besser, ob
ein Angriff bevorsteht, als sie hinten! - Wir werden gegen Morgen
durch die sechste Kompanie abgelöst. Die Küche wird uns
halbwegs zum Lager treffen."
Ich ging zurück, wieder an
Israel vorbei, und in den Unterstand. Funke kaute an einem
Zigarrenstummel und klagte um Israel: „Das war der beste
Mensch, den ich gesehen habe. Und wie er gewusst hat, dass er sterben
müsste! Das ist auch nur bei guten Menschen so."
Hartenstein
saß vornübergebeugt und zeichnete mit dem Finger auf dem
Boden, wo nichts zu zeichnen war. Ich legte mich auf mein Lager und
weinte bitterlich.
XIV.
Gegen Abend begruben wir den Israel am Steilhang, wo er gefallen
war; denn dort war es schön. Wir wollten hinten ein Kreuz für
ihn machen mit seinem Namen und seinem Todestag.
Gegen Morgen kam
die sechste Kompanie.
Ich schickte meine Leute sofort weg, damit
sie noch vor Hellwerden aus dem gefährlichsten Bereich kämen,
und blieb noch mit Funke da.
Mich löste ein energischer
Vizefeldwebel ab. Ich sagte ihm, er sollte recht vorsichtig sein,
dass er kein Artilleriefeuer herlenkte.
„Ach was!" rief
er. „Wir haben keine Angst!"
Als wir aufbrachen,
dämmerte es schon ein wenig. Wir gingen am Steilhang entlang und
kamen dann in einen Graben, der durch Wald führte und vor einer
großen Wiese aufhörte. Die war ganz grün. Das war
sehr merkwürdig, dass sie nur grün war und gar nicht
weiß.
Es hatte stark getaut. Wir kamen in die Trümmer
eines Ortes. Wir waren durstig geworden und traten in ein zerfallenes
Gehöft, dessen Wände innen rosa angemalt waren. Flieder
blühte am Brunnen. Die Sonne blitzte mit den ersten Strahlen
über den Horizont weg. Das klare Wasser glitzerte im Becher. Ich
glaubte nie dergleichen gesehen zu haben.
Dann wanderten wir
weiter. Funke erzählte von seinen Kindern. Ich hörte es,
aber nur den Ton seiner Rede. Ich war merkwürdig leicht.
Nach
einer Zeit trafen wir die Kompanie am Straßenrande sitzen. Wie
wenig das waren! Sie waren schmutzig und unrasiert, aber sie waren
heiter.
An der Straße lagen tote Pferde und zerschossene
Wagen. Ein wenig abseits wurde etwas gebaut.
Hinter einer Höhe
hielt unsere Feldküche. Wir empfingen Essen, legten uns auf den
Bauch an die Erde, aßen und ließen uns von der Sonne
bescheinen.
Lamm verkündete, das wäre erst das gestrige
Mittagessen, heute gegen Abend würde noch mal Essen ausgegeben
werden.
Sie grunzten vor Freude.
Wir marschierten durch einen
großen Wald und kamen nach einigen Stunden recht müde ins
Lager.
Zwischen Fichten wuchsen weiches Gras und wilde Rosen. Wir
schlugen Zelte auf und schliefen bis in den Nachmittag. Da war das
zweite Mittagessen fertig. Dann spielte die Regimentsmusik nicht weit
davon, und wir liefen hinüber. Aber als die Sonne unterging,
legten wir uns wieder in die Zelte und schliefen bis zum Morgen. Der
war heiter. Wir holten uns Wasser und wuschen und rasierten uns. Lamm
war am Morgen ausgeritten und kam mit einem Zweig Kirschblüten
auf dem Pferde zurück und reichte mir den Zweig.
„Was
soll ich denn damit?" fragte ich.
„Ich habe doch den
ganzen Baum gesehen, an dem er war", lachte er.
Ich war
verlegen, ja ablehnend gegen seine Vergnügtheit. Weickert war
auch schon wieder munter. Ich nahm meine Decke und ging weit abseits
an einen Hang, zog mich aus und legte mich in die Sonne. Ich wollte
niemand sehen.
XV.
Am nächsten Tage ging es wieder vor. Als ich in meine
Batterie kam, war ich erstaunt, wie schrecklich öde es da
aussah. Was wir Wiese nannten, war ein Trichtersieb mit einzelnen
Grasbüscheln. Und es roch sehr nach Granaten.
Der erste Tag
verging ruhig.
Aber ich merkte jetzt, wie angegriffen wir waren.
Gestern hatte Weickert so frisch ausgesehen, heute war er wieder grau
und verfallen. Am Abend hatten zwei auf einmal hohes Fieber und
mussten sofort hintergeschickt werden.
In der Nacht lief ich
umher. Meine Leute waren unaufmerksam. Die drei Tage Ruhe schienen
sie zerstreut zu haben, und sie wussten wieder, dass es ein anderes
Leben auch für sie gab, als Posten im Trichter zu sein.
Um
Mitternacht plagte mich der Hunger. Ich hatte aber nichts mehr zu
essen und schweifte draußen umher, nur weil ich nicht wusste,
was ich sonst tun sollte. Der Mond ging auf. Hinten im Grund hing
Nebel. Der Weiße Berg drang mit der Glatze mystisch durch die
Finsternis. Alle Dinge waren seltsam klar. Ich ging zu Israels Grab,
auf dem jetzt das Holzkreuz stand. Die Morgenkälte fasste mich
und machte mich schauern.
Als das Essen kam, widerstand es mir.
Ich aß nur mit Ekel einen Löffel. Und jetzt musste man
noch zwei Stunden wachen!
Ich zündete mir eine Zigarette an.
Ich konnte nicht rauchen. - Vielleicht hatte ich nur einen
verstimmten Magen. Wir hatten Schnaps bekommen. Ich goss etwas in
meinen Feldbecher und trank. Aber es stieg mir hoch, und ich lief
eilends hinaus, in der Meinung, ich würde mich übergeben.
„Der
Fink ist heute nicht gekommen", sagte Hartenstein. „Nur
die Amsel."
Schließlich legte ich mich schlafen. Ich
schlief aber nicht richtig; ich hörte alles, und ich verflocht
es gequält in andere Vorstellungen.
Am Nachmittag schrie es
herunter: „Die Franzosen greifen auf dem Weißen Berg
an!"
Ich stürzte hinauf. Am französischen Hang sah
ich welche hinaufklimmen und in Vertiefungen verschwinden. - Man
konnte dort nicht mehr zwischen Gräben und Trichtern
unterscheiden. - Auf dem deutschen Hang wuchsen die Granatwolken wie
Gebüsche. Rote Leuchtkugeln platzten in der Luft. Unsere
Artillerie begann zu bellen und weit hinten dumpfe Abschüsse.
Das deutsche Sperrfeuer war ungewöhnlich heftig. Auf den Kuppen
tauchten für Augenblicke Gestalten auf und verschwanden wieder -
man wusste nicht, ob Deutsche oder Franzosen.
Da kamen rechts
Infanteriekolonnen im Laufschritt den Berg hinan. Ich sah sie dunkel
gegen den hellen Himmel. Ein einzelner Mann schien Anweisungen zu
geben. Er war größer und stärker als die andern. Die
Kolonnen zerteilten sich. Ich sah nur noch den Offizier stehen. Auf
einmal tauchte auf der rechten Kuppe von rechts her ein Mann auf und
einer von links, beide, wie es schien, mit gefälltem Gewehr. Und
beide gingen nach der deutschen Seite weg.
„Hast du das
gesehen?" fragte Hartenstein.
„Ja, das war ein
Nahkampf. Den hätte ich mir allerdings auch anders vorgestellt.
Er sah recht mager aus."
Einzelne rannten von rechts über
die erste Kuppe weg. Der Zustand der letzten Zeit war
wiederhergestellt. - Weshalb bewegte man nur immer wieder die Waage?
Nur zum Zermürben?
In dieser Nacht lief ich wieder umher. Ein
Läufer kam, ich sollte zu Lamm kommen.
Er saß bei einer
Kerze vor einem schmalen Wandtisch und schrieb.
„Setz dich
mal hier neben mich auf die Bank. Ich möchte mit dir
durchsprechen, wer zur Eingabe zu Auszeichnungen in Frage kommt. Ich
bin in der Kompanie so fremd geworden, dass ich kaum einen mehr
kenne. Jetzt, wo es etwas stiller ist, hat sich das Meldungschreiben
wieder so vermehrt, dass ich in der letzten Nacht nur gerade einmal
zu Langenohl vorgekommen bin. Ich muss einfach meinen Zugführern
vertrauen, dass sie ihre Pflicht tun."
Er sprach müde.
Gegen
Morgen, als das Essen kam, war mir sehr übel. Ich zwang mich,
wenigstens etwas zu essen. Um drei Uhr morgens zu Mittag zu essen,
wenn man ein Frühfieber hat! Noch zwei Stunden zu wachen, schien
mir unmöglich.
Ich setzte mich zu Hartenstein auf die Treppe.
Wir saßen stumm nebeneinander. Er warf keine Krumen hinaus; es
war kein Vogel da und sang.
Er atmete nur. Sonst regte sich nichts
an ihm. Wir schwiegen, und das Schweigen dehnte sich und wurde eine
entsetzliche Leere. Was sollte man nur sagen? Ich hatte nichts
mehr.
Hartenstein stand auf. „Jetzt ist es aus", und
ging hinunter. Aber das war es nicht gewesen. Er hatte etwas gesagt,
und das war gut von ihm. Ich sah nach der Uhr. Wir mussten noch eine
Stunde wachen. Aber ich stand auf und legte mich schlafen. Und doch
war ich Führer und hätte ein Beispiel geben müssen.
Ich
schlief nicht ruhig. Draußen begann es zu schießen, ganz
in die Nähe. Ich hörte es und ließ es geschehen. Der
Unterstand schwankte einmal. Sand rieselte durch die Decke. Funke
sprach mit einem, der meldete, dass der Posten links verwundet
wäre.
Nach einer Weile kam Hartenstein. „Jetzt schießt
es zu Lamm. Ein französischer Aufklärungsflieger ist
oben."
Ru-rumm! kam wieder ein Schuss.
Kra-ramm!
Ich
rollte mich nach vorn.
Etwas streifte mich.
Ich fuhr nach dem
Ausgang.
Hinter mir war ein menschliches Geräusch.
Hartenstein
sah mich entsetzt an. Das war schon draußen.
Einer rannte
nach der Schlucht hinunter.
Funke lief ihm nach und kehrte
zurück.
„Der ist verrückt geworden", sagte
Hartenstein und lief nach links fort.
Ich ging wieder in den
Unterstand. Ich weiß nicht, warum; ich ging ganz langsam, nahm
meine Gasmaske, das Gewehr und den Helm. Die Decke war hinten
eingedrückt. Ein Kopf sah mich hintenüber aus dem Schutt
an. Der war tot. Ein Feldkessel lag umgefallen auf einer Schlafdecke,
mit Essen darübergeschüttet.
Ich ging hinauf.
Ra-ramm!
links.
Hartenstein und Funke waren nicht mehr hier. Kramm!
Ich
bekam Dreck ins Gesicht und fing an zu rennen am Steilhang
entlang.
Israels Grab war ein Trichter geworden, an dessen Rand
Stücke des Holzkreuzes halb verschüttet lagen.
Meine
Hast wurde immer größer. Ich hatte etwas versäumt und
konnte mich nicht erinnern, was.
Ich rannte bei Lamm die Treppe
hinunter. Ich sah nur seine Stiefel auf der Pritsche und eine
Wolldecke darüber.
„Was gibt's?" fragte er.
Ich
setzte mich auf die Holzbank.
„Herr Leutnant!" sagte
ich. „Wir sind verschüttet."
„Bist du
verwundet?"
Das hatte ich mir noch nicht überlegt
„Nein."
Er
erhob sich. Ich wagte nicht, ihn anzusehen. Er stand vor mir.
„Wie
viel Verluste habt ihr?" „Ich weiß nicht."
„Du
weißt nicht?" sagte er scharf.
Ich wusste doch selbst,
dass ich meine Pflicht nicht getan hatte!
„Wir können
das nicht so lassen", sagte er ruhig. „Ich komme mit
hinüber."
Wir gingen zusammen hinaus. Er blieb stehen.
„Sieh mich mal an."
Ich hatte das Gefühl, die
Augen ringsum zu drehen, um seinen Blick zu vermeiden.
„Komm
mal mit", sagte er ganz ruhig. „Wir werden zusammen das
Nötige anordnen. - Hast du denn keine Ahnung, wer fort
ist?"
„Doch, Bilmofsky ist fortgelaufen, er war so
schon ein Tor und scheint den Rest zu haben."
Lamm fragte
mich aus. Das Schießen hatte aufgehört. Allmählich
wurde wieder alles klarer.
„So, jetzt gib deine
Anordnungen!" sagte Lamm fröhlich. „Ich bleibe bei
dir."
Ich war verzweifelt, ordnete aber an und stellte die
Verluste fest. Zwei lagen unten verschüttet, einer war
verwundet, Bilmofsky war sinnlos fortgerannt, und fünf waren
nicht zu brauchen. Sie saßen stumpf aufgeregt in den
Unterständen.
„Ich gehe jetzt zurück", sagte
Lamm. „Ich werde dafür sorgen, dass ihr abgelöst
werdet."
Ich war in einem seltsamen Zustand. Es war, als
verlöre ich immer wieder das Denken und müsste es neu
lernen. Mich quälte das Gefühl der Schlappheit, versäumter
Pflicht. Dabei fühlte ich mich elend und wie in ständiger
Sehnsucht. Wenn ich den Wald ansah, sehnte ich mich nach ihm. Und
wenn ich an die Kameraden dachte, sehnte ich mich nach ihnen. Am
Abend kam ein Läufer. „Herr Leutnant lässt sagen,
dass die ganze Kompanie gegen Morgen abgelöst wird und hinter
ins Lager rückt."
XVI.
Am Tage nach der Ablösung kam Lamm am Abend zu mir.
„Gehst
du ein Stück mit spazieren?" Wir gingen an einem
Fichtenwäldchen entlang. „Du", sagte ich, „ich
hab ein schrecklich schlechtes Gewissen." „Weshalb
denn?"
„Als unser Unterstand eingeschossen wurde - da
habe ich mich nicht zusammengenommen. Ich kam mir sehr unehrlich vor;
denn vorher hatte ich mich hingelegt, obwohl ich nicht durfte."
Er
sah schweigend zu Boden. „Konntest du dich denn
zusammennehmen?" „Ich hätte es tun müssen."
„Aber ich frage dich, ob du es auch konntest?" „Ich
weiß nicht - aber ich glaube doch." „Hast du dir
schon einmal überlegt, was ein Nervenschock eigentlich ist?"
„Nu, eine Erschütterung."
„Damit kommst du
nicht weiter. Bei jedem Schreck wird irgendein Eindruck vors
Bewusstsein gebannt. Man starrt den Eindruck an. Aber der ist gerade
unwesentlich. Wer die
Geisteskraft hätte, sich bei einem
unerwarteten Ereignis frei umzusehen, könnte nicht erschrecken.
Du quälst dich mit irgendeiner Vorstellung. Aber die ist ganz
gleichgültig. Weshalb du dich höchstens schämen
könntest, das ist, dass du dich nicht umsehen willst. Und sieh
mal dort den blühenden Kirschbaum - deswegen hab ich dich
nämlich hergeführt -, sieh ihn dir mal an. Siehst du was
dran?" Er lachte.
„Nu, er blüht." Ich konnte
sonst nichts daran sehen. Er lachte immer mehr. Ich wurde ganz
verlegen, weil ich so gar nichts sah.
„Es ist auch nichts
weiter dran", lachte er.
Ich verstand gar nicht, was er
wollte.
„Sage mal, wo war denn eben dein Nervenschock mit
allen seinen Vorstellungen ?"
„Fort." Auf einmal
wurde es mir klar. „Aber du! Es ist doch was an dem Kirschbaum.
Er ist nämlich wirklich schön", lachte ich.
„Bravo!
Bravo!" rief er und wurde auf einmal ernst. „Aber weißt
du was? Du bist furchtbar angegriffen. Du hast hier hinten gar keine
Pflichten, und wenn wir wieder vorkommen, will uns der Major an eine
ganz ruhige Stelle tun. Er hat sehr nett mit mir gesprochen und mir
gesagt, das könnte ja auch gar niemand auf die Dauer
aushalten."
„Ich habe mich schon immer gewundert, dass
es die Leute in den Löchern so lange ausgehalten haben",
sagte ich.
„Und ich habe mich gewundert, dass niemand einen
Ton gesagt hat. Weißt du, dazu gehört schon eine
furchtbare Gutmütigkeit - oder ein entsetzlicher
Stumpfsinn."
XVII
Wir marschierten wieder vor und lösten
an einer ruhigen Stelle im Walde ab. Die Züge Trepte und
Langenohl kamen vor. Mein Zug lag mit Lamm zusammen vierhundert Meter
dahinter in einem Stollen mit neun Eingängen. Endlose Treppen
führten hinunter. Unten war ein pechfinsterer, langer Gang, von
dem kleine Wohnstollen abgingen. Dort roch es nach nasser Kreide,
eingeweichtem Holz und Moder.
Als Tisch benutzten wir
Minierholzstapel und auch als Lager; denn auf dem bloßen Boden
war es zu feucht. Der Stollen war seit Monaten unbewohnt gewesen.
Als
ich hinunterkam, schauerte mich. Wir zündeten einen
Hindenburgbrenner an. Er brannte trüb. Funke rauchte wie immer
eine Zigarre. Aber sie schmeckte ihm nicht. Auch die anderen
rauchten; ich konnte es noch nicht wieder. Binnen kurzem war eine
schreckliche Luft, als ob sie Pilze geraucht hätten. Wir legten
uns schlafen. Ab und zu fiel in einem der leeren Gänge ein
Wassertropfen von der Decke. Wie schrecklich leer es hier war! Im
übernächsten Stollen lag Lamm mit seinen Leuten, sonst war
alles rechts und links leer. Eigentlich war es ja gleichgültig,
ob noch jemand im Stollen lag, aber - ich wusste nicht, warum - es
war ängstigend.
Als wir eine Zeit, nicht sehr lange,
geschlafen hatten, wollten alle hinaus.
„Das dürfen wir
nicht", sagte ich. „Es sind schon einmal alle neun Gänge
des Stollens eingeschossen gewesen - drei sind ja noch zu. Und
deshalb soll sich kein Mensch zeigen."
„Aber wir können
uns doch wenigstens auf die Treppe setzen?"
Die Treppe ging
nach Norden. Kein Strahl Sonne drang hinein. Wir sahen nur blendend
weiß vor uns eine sonnenbeschienene Kreidewand.
Ich hatte im
Stollen so gut wie nichts zu tun, hatte aber keine Ruhe zum Lesen.
Das Licht war auch zu schlecht dazu. Ich lag die meiste Zeit in einem
Halbschlaf. Am zweiten Tage wurde mir klar, ich hatte Fieber,
besonders gegen Morgen, immer wenn das Feldküchenessen kam. Ich
glaubte, dass die Ruhe hier das beste wäre, und sagte niemand
etwas. Aber in der nächsten Nacht, als das Essen kam, fühlte
ich mich so schwindlig und es war mir so übel, dass ich
beschloss, es Lamm zu sagen. Lamm war gerade mit dem Major vorn in
der Stellung. Ich legte mich hin und deckte mich zu. Trotzdem
schlotterte ich vor Frost. Nach einer Weile wurde es besser. Ich
unterließ die Meldung. Es kam mir unglaublich kläglich
vor, sich vorn in Stellung und als Zugführer krank zu melden.
Zu
Mittag hatte ich kräftigen Hunger und aß tüchtig. Ich
glaubte, es würde schon wieder besser. Aber gegen den nächsten
Morgen war mein Zustand ganz schrecklich. Funke wollte mich zwingen,
etwas zu essen. Ich konnte aber wirklich nicht. Dazu hatte ich große
Angst, und der Frost schüttelte mich. Aber ich wollte doch noch
einen Tag warten.
Am nächsten Morgen ging ich zu Lamm. Er
ging mit mir zum Sanitätsunterstand und sprach heimlich mit dem
Arzt
Der Oberarzt ließ mich das Hemd herunterstreifen und
klopfte und horchte lange an meiner Brust.
„Der Mann muss
hinter. Aber Sie können ihn bei der Kompanie behalten. Das lässt
sich machen. - Nutzen Sie das schöne Wetter und die gute Luft im
Waldlager aus - das ist ja das reinste Sanatorium -, und wenn ich
hinterkomme, stellen Sie sich mir wieder vor! - Was kommt denn da
noch für einer?"
Einer unserer Sanitäter führte
den Brand. Der sah schrecklich aus, mit tiefen Ringen unter den
Augen, die den Arzt verängstigt ansahen.
„Die Sache
kenne ich schon", sagte der Arzt und untersuchte ihn kurz. „Die
Lunge ist in Ordnung. Der Vizefeldwebel kann Sie mit hinternehmen.
Legen Sie sich auch viel in die Sonne. Das ist nicht so gefährlich,
wie es aussieht. -Wir haben jetzt recht viel Fälle der Art",
wendete er sich an Lamm, „besonders bei Ihrer
Kompanie."
„Können die allein hintergehen?"
fragte Lamm.
„Ja, getrost."
Lamm begleitete uns
hinaus und gab mir sehr herzlich die Hand. „Erhol dich erst
einmal hinten eine Zeit. Das übrige sehen wir dann. Die
Tornister schicke ich euch mit dem Packwagen diese Nacht."
Die
Sonne war eben aufgegangen. Das Gehen war mir angenehm.
Ich wollte
Brand am Arm nehmen, aber er sagte: „Ich kann allein."
So
gingen wir still durch die Gräben, über die grüne
Wiese und kamen auf die Straße.
Wir wurden bald müde
und setzten uns in den Straßengraben. Ich hätte jetzt gern
etwas zu essen und zu trinken gehabt. Aber mein Tornister war ja noch
vorn.
Wir gingen weiter. An einem Bach stand eine verfallene
Mühle, von blühendem Flieder umgeben. Unten im Wasser
bewegten sich grüne Pflanzen wie Schlangen. Dann kamen wir in
einen Wald und gingen an einer Förderbahn entlang, an deren
Böschungen rote Erdbeeren zwischen grünen Blättern
wuchsen. Wir setzten uns, müde, aber glücklich. Wir gingen
wieder und setzten uns wieder und kamen erst zu Mittag ins Waldlager,
wie Kinder auf einem Ausflug.
I.
Ich hatte das Recht, mich gehenzulassen. Aber das konnte ich bald
nicht mehr. Ich las den Simplicius Simplicissimus.
Brand und ich
gingen jeden Morgen mit den Schlafdecken an einen Südhang mit
weichem Gras und jungen Fichten. Dort zogen wir uns aus. Ich Wickelte
mich in die Decke und legte mich darin in die Sonne. Da schwitzte
ich, dass es mir von der Nasenspitze tropfte. Darauf zog ich mich
wieder halb an und legte mich in den Schatten. Nach einiger Zeit
pflegte ich sehr munter zu werden.
Am übrigen Tage lagen wir
in den Erdbeeren. Es waren so viel da, dass man nur um sich zu
pflücken brauchte, ohne aufzustehen.
Am Tage bevor die
Kompanie von vorn zurückkam, gingen wir, für Lamm,
Hartenstein und Funke Erdbeeren zu pflücken.
Ich gewann mich
in einer Woche ganz wieder, so dass ich mich sogar nach einer
Tätigkeit sehnte. Der Oberarzt, dem ich das sagte, schüttelte
den Kopf. „Seien Sie mal geduldig!"
Aber ich glaubte
kaum mehr daran, dass ich krank wäre.
II.
Brand rückte dann mit der Kompanie wieder vor. Dafür
waren Weickert, Jauer und mehrere andere von dem plötzlichen
Fieber befallen worden und kamen zurück. Auch bei anderen
Kompanien zeigte sich dasselbe: plötzlich vierzig Grad
Fieber.
Dann wurde unser Regiment aus der Front herausgezogen und
marschierte in einem langen Marsch weit hinter in unversehrte Dörfer,
in denen die Einwohner am Abend sangen und Gitarre spielten. Mich
strengte der Marsch an. Brand, Jauer und ein paar andere mussten das
letzte Stück des Marsches auf dem Maschinengewehrwagen gefahren
werden, so erschöpft waren sie.
Hinten tat ich wieder Dienst
bei der Kompanie.
Wir exerzierten gerade auf einer Wiese, als ein
Läufer vom Bataillon kam.
„Vizefeldwebel Renn ist zum
Sturmbataillon kommandiert. Er steht heute drei Uhr nachmittags
abmarschbereit vorm Bataillonsgeschäftszimmer."
„Der
Dienst beim Sturmbataillon", sagte Lamm, „wird dir besser
sein als im Graben."
Mir leuchtete das nicht ein. Ich hatte
allerdings keinen rechten Begriff, was ein Sturmbataillon wäre.
Vorm
Bataillonsgeschäftszimmer traf ich einen jungen Leutnant und
einige Unteroffiziere und Gefreite.
„Vizefeldwebel Renn
dritte Kompanie zur Stelle!"
Der Leutnant machte eine
Verbeugung und grüßte. „Lindner."
Ich hielt
meine Gesichtsmuskeln fest, aber vielleicht verzog ich sie doch ein
wenig. Er wurde leicht rot. „Ich bin gestern erst zum Leutnant
befördert worden."
„Soll ich feststellen, ob alle
zur Stelle sind, Herr Leutnant?" fragte ich aus Verlegenheit.
Lindner konnte noch nicht zwanzig Jahre alt sein.
Wir marschierten
in ein grünes Tal.
„Was ist eigentlich ein
Sturmbataillon, Herr Leutnant?"
„Ich weiß es auch
nicht recht. Ich weiß nur, dass wir als Patrouillen- und
Stoßtruppführer ausgebildet werden sollen."
Wie
kann man denn in so was ausgebildet werden können? dachte
ich.
Unser Ausbildender war ein junger Offizier mit dem Eisernen
Kreuz erster Klasse. Er hatte einen Berliner Ton und war außer
Dienst affig und anmaßend, aber im Dienst vergaß er das.
Da war er jungenhaft natürlich und eifrig.
Die Sonne glühte
auf den Flächen. Wir mussten Maschinengewehre schleppen und
Handgranaten werfen, in Gräben vorgehen und geräuschlos
kriechen. Anfangs strengte es mich sehr an. Ich schwitzte bei jeder
Gelegenheit, und die Umgebung zerrann mir ein paar Mal vor den Augen,
doch nur für kurze Zeit. Dann wurde es mir täglich
leichter. Der Dienst ging vom Morgen bis zum Abend, nur mit zwei oder
drei Stunden Mittagspause. Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken und
fühlte mich wohl.
Lindner war immer mit mir zusammen, auch
außer Dienst.
„Ich kann mich noch nicht hineinfinden,
Offizier zu sein", sagte er mir. „Meine Familie ist
schrecklich stolz darauf; denn es hat's noch keiner so weit gebracht.
Aber ich kann nichts dafür - im Frieden wäre ich's auch nie
geworden."
III.
Es war schon gegen den Herbst, als ich zur Kompanie zurückkam.
Niemand fragte mehr nach meiner Krankheit. Ich selbst erinnerte mich
nur daran wie an etwas ganz Fremdes. Ich fühlte mich völlig
gesund und war es auch.
Ich meldete mich bei Lamm - es war im
Kompaniegeschäftszimmer. Er nahm ein Blatt vom Tisch und reichte
es mir.
„Leutnant d. R. Lamm tritt als Ordonnanzoffizier zum
Stab des ersten Bataillons. Oberleutnant Lößberg wird mit
der Führerstelle der dritten Kompanie beliehen."
„Wer
ist der neue Kompanieführer?"
„Der kommt vom
Divisionsstab. Es gibt einen Befehl, wonach die Offiziere der höheren
Stäbe ab und zu in der Front Dienst tun müssen."
„Ist
das ein Grund, uns unseren Führer zu nehmen?"
„Beruhige
dich darüber. Ich wäre auch sonst Ordonnanzoffizier
geworden."
Am nächsten Morgen versammelte Lamm die
Kompanie.
„Ich bin zum Bataillonsstab versetzt und verlasse
euch heute. Dass es mir schwer wird, werdet ihr verstehen. Aber
leichter macht mir meinen Fortgang, dass ich glaube, dass ich meinem
Nachfolger eine gute Kompanie übergebe. Auf Wiedersehen,
Kompanie!"
Wir traten weg.
„So einen kriegen wir
nicht wieder", sagte Wolf, der von seiner Verwundung geheilt
war.
Funke setzte sich in eine Ecke, kaute an seinem
Zigarrenstummel und murmelte etwas von gutem Menschen vor sich
hin.
Am Abend kam das Gerücht, der Neue wäre da. „Wie
sieht er denn aus?" „Er hat 'n Monokel und 'nen
Reitstock." „Das stinkt nach Etappe."
Ich merkte,
die ganze Kompanie lehnte ihn ab, nicht eigentlich aus sachlichen
Gründen, sondern weil er nicht Lamm war.
Am andern Morgen
beim Antreten zum Dienst kam er. Der Feldwebel ließ stillstehen
und meldete ihm.
„Ich bin unter dem heutigen Tage mit der
dritten Kompanie beliehen worden. Ich habe Gutes von der Kompanie
gehört. Ich rechne damit, dass meine Kompanie die beste im
Regiment wird. Mit Gott für König und Vaterland ist von je
unser Spruch gewesen und soll es bleiben, und damit begrüße
ich Sie! - Rührt euch! Feldwebel, kommen Sie mit und stellen Sie
mir die Unteroffiziere vor!"
„Vizefeldwebel Renn!"
„Sie
tragen Lederknie und Wickelgamaschen. Ist das beim Regiment erlaubt,
Feldwebel?"
„Er ist erst vor zwei Tagen vom
Sturmbataillon gekommen."
„Das ist gut. Wir werden
einen ganzen Stoßzug zusammenstellen. Übrigens steht, wie
ich sehe, die ganze Kompanie wie Kraut und Rüben durcheinander.
Alte neben Jungen und Riesen neben Zwergen. Hat denn niemand den
Versuch gemacht, das zu ändern?"
„Nein, Herr
Oberleutnant. Die bisherigen Kompanieführer haben die immer
zusammengelassen, die sich kannten."
„Das geht nicht
so. Das gibt doch gar kein militärisches Bild. Wir wollen sofort
umformen. Sie, Renn, kommen mit mir und bezeichnen mir die Leute, die
für den Stoßzug in Frage kommen."
Ich deutete auf
Wolf.
„Gut."
Ich zeigte auf Funke.
„Den?
Wie kommt die Kompanie überhaupt zu so alten Leuten? - Ich
wünsche, Sie das nächste Mal gewaschen und in einem
besseren Rock zu sehen!"
Wir stellten den neuen Zug zusammen
mit Unteroffizier Hauffe und dem Gefreiten Sänger als
Stoßtruppführern. Für den dritten Stoßtrupp
fehlte noch der Führer.
„Wie heißen Sie denn?"
fragte Lößberg einen vielleicht achtzehnjährigen
Burschen mit strahlenden blauen Augen, den ich noch nicht
kannte.
„Hähnel, Herr Oberleutnant!" schrie der
Junge.
Ich sah Lößberg von der Seite an.
Er sah
blass aus, etwas aufgedunsen, und hatte Lippen, deren Weichheit mir
nicht gefiel.
IV.
Lößberg hatte durch die Formierung nach der Größe
die Abneigung der Kompanie gegen sich noch verschärft,
hauptsächlich bei denen, die in den Frühlingskämpfen
zusammengewesen und nun auseinander gerissen waren. Das waren aber
die einzigen, die überhaupt eine Meinung hatten. Nur Funke trat
in seiner unglaublichen Gutmütigkeit für ihn ein, obwohl
ihn Lößberg geradezu verächtlich behandelte und
immerfort etwas an seinem Anzug oder an seiner Haltung auszusetzen
hatte.
Wir rückten am Tage nach der Umformung in den Graben.
In dieser Nacht sahen wir Lößberg nicht. Er kam erst am
nächsten Morgen, sich alles anzusehen.
Ich zeigte ihm meinen
Zugabschnitt. Ein älterer Mann fegte den Graben.
„Mir
fällt die Unsauberkeit Ihrer Leute auf. Wir müssen streng
auf Sauberkeit halten. Dieser Mann sieht ja unglaublich aus!"
„Es
wird sich das kaum erreichen lassen, bis wir nicht bessere
Unterstände haben; denn bei den meisten sind die Eingänge
so eng, dass man auf allen vieren herauskriechen muss und dabei
vollkommen schmutzig wird."
„Sich nicht erreichen
lassen, gibt's für mich nicht!" sagte er scharf. „Wir
müssen das durchdrücken, und es geht!"
Im nächsten
Unterstandseingang saß einer mit bloßem Oberkörper
und suchte Läuse. Er stand verlegen auf, konnte aber nicht
strammstehen, weil der Eingang zu niedrig war.
„Stellen Sie
sich ordentlich hin!" herrschte ihn Lößberg an.
Er
trat heraus und versperrte so den Graben. „Was hat der Mann
jetzt zu tun?" fragte mich Lößberg. „Jetzt
haben die Leute Frühstückspause, Herr Oberleutnant."
„Wie lange?"
„Das ist so genau nicht festgelegt;
denn jetzt ist auch die Zeit, zu der geschlafen wird." „Weshalb
jetzt?"
„Weil sie in der Nacht Transporte gehabt haben,
diese Nacht Eisenbahnschienen und mittlere Minen für die
Minenwerfer hinter der Elisabethhöhe."
„Wie lange
hat das gedauert?"
„Von Mitternacht bis zum
Hellwerden."
„Da müssen aber die Leute gebummelt
haben!"
„Die Minen sind sehr schwer und müssen
vorsichtig getragen werden."
Ich merkte, Lößberg
suchte danach, etwas zu verbessern, verstand aber wohl zu wenig
davon.
„Als Unteroffizier vom Grabendienst!" meldete
sich der lange Sänger.
„Haben Sie sich heute schon
gewaschen?" Sänger sah wirklich sehr schmutzig im Gesicht
aus.
„Nein, Herr Oberleutnant, wir haben kein Wasser im
Graben."
„Das ist kein Grund! Wer will, findet schon
etwas. -Mein lieber Renn, das geht nicht! Wir sind doch keine
Räuberhorde, sondern eine Kompanie Seiner Majestät!"
Dieses schöne Wort schien ihm selbst zu gefallen.
Wir kamen
zu einem Posten. Es war ein rotbäckiger, junger Kerl, der stramm
meldete.
Lößberg trat auf den Auftritt und legte ihm
den Arm um den Hals. „Nun zeigen Sie mal, was Sie hier zu
beobachten haben!"
Der Posten erklärte es. Wir gingen
weiter.
„So sollten alle Leute Ihres Zuges sein, so frisch
und gerade!"
„Hier ist die rechte Grenze meines
Zugabschnitts, Herr Oberleutnant."
„Ich spreche die
Zugführer um elf Uhr in meinem Unterstand! - Guten Morgen!"
Ich
ging mit Sänger zurück.
„Der ist gar nicht so
schwer zu behandeln", lachte er. „Wir werden ja bald
wissen, wann er seine Rundgänge macht, und da stellen wir
hübsche Leute auf Posten."
Um elf Uhr trafen wir
Zugführer uns vor seinem Unterstand. Er hielt uns fast zwei
Stunden die verschiedensten Missstände vor und gab an, wie es
geändert werden sollte.
Schließlich wurden wir
entlassen.
„Was soll man da tun, Herr Leutnant?" fragte
ich den Zugführer unseres ersten Zuges. „Das geht doch gar
nicht, und bei diesem System werden die Leute überhaupt nicht
zum Schlafen kommen."
„Man sagt: ja, und macht es, wie
man will", lachte der Leutnant. Trepte lachte auch. Mir war gar
nicht zum Lachen. Ich sorgte mich um meine Leute. Was sollte man nur
tun? Gehorchen muss man, aber doch auch für seine Untergebenen
eintreten.
V.
Ich musste zugeben, dass manche von Lößbergs
Anordnungen wirklich gut waren. Aber zugleich war eine Unehrlichkeit
in allem. Lößberg wollte nicht sehen, dass auf diese Weise
die Verbesserungen dort, wo sie, wenigstens mir, am notwendigsten
erschienen, an den Unterständen, fast völlig liegen blieben
und dass alles nur fürs Auge geschah. Hinter seinem Rücken
hintergingen wir Zugführer ihn und ebenso die Gruppenführer,
vor allem in den Stunden, zu denen er sich nicht zeigte. In der Nacht
kam er nie aus seinem Unterstand, weil er nachtblind war.
Das
merkte er wohl auch und suchte sich bei den Mannschaften einen Anhang
zu gewinnen. Hauffe, Hartenstein und Sänger waren für
liebenswürdige und große Worte ganz unempfänglich.
Aber auch der junge Hähnel zeigte sich ihm gegenüber sehr
kühl, während er sonst eher zutraulich war. Er konnte
allerdings auch sehr grob werden, wenn ihm etwas nicht passte. Er
hatte etwas in seinen großen hellblauen Augen, weshalb ihn alle
liebten und beschützen wollten, wenn es notwendig gewesen wäre.
Er war nicht im mindesten hübsch, aber niemand konnte sich dem
Zauber seiner strahlenden Augen entziehen. So ging es auch Lößberg,
der ihn bald zum Gefreiten und kurze Zeit darauf zum Unteroffizier
machte. Hähnel freute sich sehr darüber, aber er fühlte
nicht die geringste persönliche Dankbarkeit gegen Lößberg,
was der nicht begreifen konnte.
Nicht alle waren so unbestechlich.
Lößberg pflegte denen, die ihm gefielen, neue Röcke
zu verschaffen, und von diesen glaubten auch die meisten an seine
großen Worte. Aber unter seinen Günstlingen war auch nicht
ein wirklich tüchtiger Mensch.
Im übrigen schlief er
sehr wenig und war am Morgen um sechs Uhr bis häufig nach
Mitternacht tätig. Da hielt er Besprechungen - er liebte, sich
zu hören, und machte sich daran besoffen, seine eigene
Organisation zu bewundern -, schrieb große Meldungen an seine
Vorgesetzten, die er anscheinend mit seinen Läufern - oder wer
sonst bei ihm war - besprach, um zu zeigen, wie gut er so etwas
könnte, entwarf Ausbildungspläne und kümmerte sich,
kurz, um alles angelegentlich.
Ich betrachtete das ohne
Bewunderung, nur mit kühlem Staunen, wie es jemand fertig
brächte, aus bloßem kaltem Ehrgeiz so ungeheuer zu
arbeiten.
VI.
Es wurde Winter.
Der Pfarrer Schlechte war nicht mehr da. Ein
junger Hilfspfarrer war für ihn gekommen. Der war Vizefeldwebel
bei unserem Regiment, und er predigte auch in dieser Uniform. Der
peinigte uns nicht mit der Frage, weshalb Gott den Krieg zugelassen
hätte, sondern er erzählte sehr schlicht und mit großer
Frische aus der Bibel. Und damit hatte er den Erfolg, dass bisweilen
in der Baracke weiter darüber gesprochen wurde.
Dieser
Vizefeldwebel wurde aber schwer verwundet, und für ihn kam ein
anderer, der nie an der Front gewesen war. Das war ein sonderbarer
Mann.
„Der Kaiser hätte den Krieg nicht beginnen
dürfen", sagte er in einer Predigt, und kurz darauf: „Der
Kaiser hat den Krieg nicht begonnen."
Die Predigten dieses
Mannes ärgerten mich nicht, ich suchte mein Vergnügen
darin, herauszubringen, wie er eigentlich auf seine Feststellungen
kam. Einmal sagte er: „Es ist euch eine Lust, für König
und Vaterland zu sterben!"
Wusste der Pfarrer denn gar nichts
von unserm Empfinden des Krieges? Und hielt er denn den Krieg etwa
für etwas Gutes? Wozu deckte er den wunden Punkt des Krieges
gerade von der Kanzel aus auf?
Am Tage nach dieser Predigt hielt
ein Offizier, den ich nicht kannte, einen Aufklärungsunterricht,
weshalb wir Krieg führten und weshalb wir Belgien brauchten.
Was? Das verfluchte Belgien wollen wir behalten? Wegen irgendeines
äußeren Vorteils wollen wir uns mit diesem Volk belasten?
- Denken denn unsere Führer, dass sie uns damit den Krieg
schmackhafter machen, dass sie uns ihre Sorgen aufladen?
Ich
verfiel in Grübeln. Was ist denn das Vaterland? Nichts? Eine
altgewordene Redensart? Aber es ist doch etwas. Ich liebe es
vielleicht auch.
VII.
Im März gibt es eine große deutsche Offensive, sagte
man. Ich musste zugeben: Lößberg hatte die Kompanie gut
ausgebildet. Vielleicht war sie wirklich die beste im Regiment. Sie
war besser vorbereitet, als wir es 1914 beim Ausmarsch gewesen
waren.
Da hieß es auf einmal: Der Oberleutnant geht wieder
zu einem höheren Stab. Er hat sich hintergebohrt. Er war eigens
deshalb auf Urlaub. Aber er will vor seinem Abgang noch ein größeres
Patrouillenunternehmen machen, um Gefangene einzubringen. Und dann
wird das Regiment aus der Front gezogen für die
Offensive.
Lößberg ließ hinten beim Waldlager ein
Übungswerk bauen, das die feindlichen Gräben nach
Fliegeraufnahme nachbildete. Daran sollten die ausgewählten
Mannschaften üben.
Hauffe kam zu mir. „Ich mache das
Unternehmen nicht mit."
Ich war darüber erstaunt. Er war
der beste Patrouillenführer der Kompanie. „Wie kommt das
denn?"
„Der Oberleutnant zeigte mir die Pläne, und
da habe ich ihm gesagt: Der Sache traue ich nicht; es sind zu viele
Menschen dabei." Er lachte.
„Weißt du, wer sonst
mitmacht?"
„Er hat sich den Leutnant Lindner als Führer
geborgt. Sonst machen die Stoßtrupps von Hähnel und Sänger
und noch einige von den anderen Zügen mit. Es sollen auch
Pioniere dabeisein, um das französische Drahthindernis zu
sprengen, und eine Unmenge von Artillerie und Minenwerfern und
Maschinengewehren soll schießen."
Ich soll also nicht
mitmachen, dachte ich kühl.
Der Patrouillenabend kam. Eine
Leuchtkugel ging hoch, und das Schießen begann. - Ein schwerer
Fehler, dachte ich, das Schießen mit einem Leuchtzeichen von
der Stelle aus anzufordern, wo man stürmen will. Ein gescheiter
Gegner weiß sofort alles.
Es stampfte und bellte von
hinten.
Chach-chach-chach-sch! kamen die schweren Wurfminen hoch
aus der Luft gependelt und detonierten mit breitem Krachen.
Maschinengewehre ratterten von hinten, dass ich unwillkürlich
den Kopf einzog, obwohl ich wusste, dass sie absichtlich zu hoch
schossen und nur verwirren sollten. Und das ging schon seit Minuten.
- Zuviel! Viel zuviel! Das kann nicht gelingen! - Ich sah die
Stoßtrupps aus dem Graben steigen. Unterdessen schoss es
ununterbrochen weiter.
Ein Krachen nicht weit. War das die
Sprengung des Drahthindernisses oder ein französischer
Einschlag?
Ramm! Ramm! Ramm! Das französische Sperrfeuer
hatte eingesetzt, und zwar äußerst heftig.
Ich zitterte
vor Erregung. Hähnel, Sänger und der größte Teil
meines Zuges waren vorn.
Jemand kam in den Graben gesprungen und
andere hinterher.
„Was ist denn eigentlich los?" schrie
Sänger.
„Weshalb sollen wir denn zurückgehen?"
fragte Hähnel.
„Weshalb haben Sie nicht angegriffen?"
schrie Lößberg.
„Herr Leutnant Lindner schrie von
vorn: ,Zurück! zurück!" sagte Hähnel.
Lindner
sprang in den Graben. Es schoss heftig um uns.
„Ich habe
nicht ,Zurück!' gerufen, sondern die Pioniere, weil das
Hindernis noch nicht gesprengt war."
„Also dann jetzt
vor!" schrie Lößberg erregt.
„Sind die
Stoßtrupps bereit?" fragte Lindner.
„Nein, jetzt
ist alles durcheinander!" schrie Sänger, um sich
verständlich zu machen. „Ich habe nur zwei Mann
da!"
„Bringen Sie die andern her!" schrie
Lößberg.
„Herr Oberleutnant!" sagte Hähnel
ruhig. „Das ist missglückt!"
„Missglückt
gibt es nicht!" schrie Lößberg. „Herr
Oberleutnant!" sagte Sänger. „Die Sache war falsch
angelegt."
„Rücken Sie hinter!" schrie
Lößberg und ging fort. Es schoss immer noch heftig von
beiden Seiten.
Lamm kam gerannt. „Der Bataillonskommandeur
möchte wissen, wie viel Gefangene gemacht sind! Es muss doch
soweit sein?"
„Alles missglückt!"
Er sah
mich starr an. „Wie kommt das?"
Ich brüllte ihm
einiges zu, um mich verständlich zu machen. Eine Leuchtkugel
stieg hoch, das Beendigungszeichen.
„Da werden ja die
höheren Stäbe rasen vor Wut! Bis hinauf zum Armeeführer
hatte er alle für die Sache in Bewegung gesetzt."
Lamm
lief fort.
Das Feuer ließ nach. Ich hatte zwei Verwundete im
Zuge durch das französische Sperrfeuer.
VIII.
Gegen Morgen kam ein Läufer.
„Herr Feldwebel möchte
zu Herrn Oberleutnant kommen."
Ich fand ihn gebeugt auf einem
Stuhl sitzen. Er stand müde auf. „Mein lieber Renn! Ob es
möglich ist, Leute zu finden, die in der nächsten Nacht
versuchen. Gefangene zu machen?"
„Soll wieder mit
Artillerie und Minenwerfern gearbeitet werden, Herr
Oberleutnant?"
„Nein, wir müssen versuchen, es
ganz geheim zu machen."
„Dann will ich die Patrouille
machen, Herr Oberleutnant. - Kann ich Fliegeraufnahmen dazu
haben?"
„Alles, was Sie wollen, mein lieber Renn!"
Ich
machte mich zuerst an die Fliegeraufnahmen. Sie waren so scharf, dass
ich sogar die Drahthindernisse erkennen konnte. Ich fand an einer
Grabenbiegung nach vorn eine kleine Erweiterung, die ihrer Form nach
ein Postenstand sein musste. Freilich lag dieser Postenstand an einer
Stelle des feindlichen Grabensystems, die sehr weit von unserem
entfernt war, wohl siebenhundert Meter. Aber das hatte wieder den
Vorteil, dass sie dort einen Handstreich am wenigsten erwarten
würden. Ich ging zu Hauffe.
„Ich gehe nicht, wenn es
nicht befohlen wird", sagte er. Ich ging zu Hartenstein.
„Du
wirst auch nie klug werden!" sagte er. „Für Lößberg,
den Kund, rühr ich keinen Finger! Aber für dich muss ich
schon mitkommen. Ich hab hier noch einen, Leuschel, der ist zwar
nicht geübt, aber der Kerl hat Kräfte und Verstand. -Wie
hast du dir's denn gedacht?"
„Ich dachte, mit etwa zwei
Mann den Posten anzupacken und auszuheben. Dafür sind wir drei
gut. Und dann noch vier Mann zum Abriegeln der Gräben, dass wir
nicht überfallen werden. Ich habe ein paar junge Kerle, die das
können."
Als es hell geworden war, betrachtete ich die
französischen Gräben von einem höher gelegenen Graben
aus. Der Artilleriebeobachtungsoffizier lieh mir dazu sein
Scherenfernrohr. Ich musste mir die Punkte im Gelände einprägen,
nämlich einen helleren Fleck am Boden - woher es da heller war,
konnte ich nicht sehen -, dann eine Mulde, vielleicht nur ein paar
Handbreit tief. Die führte zu einer Drahthindernisecke. Von da
mussten wir zu der Stelle, wo das Hindernis dünn aussah. Dann
waren noch dreißig Schritt zu dem Posten.
Am Nachmittag
schlief ich.
Kurz vor elf Uhr brachen wir auf.
Wir waren in
Strickjacken, die Socken über die Hosen gezogen, eine kleine
Pistole und das Messer in der Hosentasche. Hartenstein und Leuschel
sahen groß und gefährlich aus.
Wir drei schritten
voraus. Die vier Kleinen mit Gewehren und Handgranaten folgten.
Der
Mond schien. Der Boden war hart gefroren, und das ausgewachsene,
gefrorene Kraut knisterte bei jeder Berührung.
Wir stiegen
einer hinter dem anderen durch unsere vier Drahthindernisstreifen.
Dort lag ein toter Franzose, wahrscheinlich noch vom vorigen
Frühling. Er roch nicht mehr.
Hier vor der Stellung sagte ich
den jungen Leuten erst, dass noch gar nicht erkundet wäre und
dass wir in einer Nacht erkunden und zugreifen müssten.
„Der
Mond geht in zwei bis drei Stunden unter. Bis dahin schleichen wir
uns ganz langsam an."
Der Mond stand uns im Gesicht. Daher
würden sie uns nicht als Schattenrisse sehen.
Wir schlichen
weiter, legten uns dann hin und krochen. Am ersten französischen
Hindernis mussten wir halten. Der Mond stand noch vor uns. Das
Hindernis war zu stark, um, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, darüber
wegzukommen. Hartenstein kroch nach rechts und fand dort eine
zerschossene Stelle. Wir ließen die andern zurück und
krochen allein weiter, sehr langsam und immer horchend. Schritte und
Reden. Nach dem Stand des Mondes war es etwa ein Uhr. Ich glaubte an
einer Stelle eine Bewegung gesehen zu haben, war aber nicht ganz
sicher. Wieder Schritte. Das musste der abgelöste Posten
sein.
Wir blieben liegen, bis der Mond untergegangen war.
Dann
kroch ich zurück und holte die andern, erst durchs erste
Drahthindernis, dann an einem zweiten Hindernis, das nach hinten
verlief, etwa fünfzig Schritte entlang. Der französische
Graben ging links wie das Hindernis nach hinten. Der Posten trat
manchmal hin und her und hustete. Es war nur ein Mann. Zu sehen war
nichts bei der großen Dunkelheit. Wir krochen ganz langsam am
Posten vorbei und trafen Hartenstein etwa zwanzig Schritt weiter.
Wir
wandten uns links um. Ich suchte die Lücke im Drahthindernis.
Das dauerte an anderthalb Stunden. Wir mussten jetzt vorsichtig sein
wegen der nächsten Ablösung. Wir krochen noch immer am
Hindernis entlang und fanden schließlich eine Stelle mit wenig
Drähten. Da lagen wir still. Zwei Mann waren zum Abriegeln nach
rechts bestimmt. Die andern beiden hatten keinen bestimmten Auftrag.
Damit waren sie überflüssig. Eigentlich müssten sie
nach links abriegeln. Aber um ihnen den Auftrag zu geben und sie
aufzustellen, hätte ich mit ihnen wieder zurückkriechen
müssen, am Posten vorbei, und dann müsste ich wieder
vorkriechen. Da konnten weitere Stunden vergehen, und dann wären
wir vielleicht nicht mehr fähig, gut draufzugehen; wir waren
jetzt schon steif vor Frost.
Schritte von mehreren Menschen im
Graben. Sie schimpften auf irgend etwas. Drei Stimmen; es konnten
aber noch mehr Menschen sein. Was wollten die? Nicht weit rechts vor
uns hielten sie an. Dort stand vielleicht ein Doppelposten. Dann
müssten wir zwischen zwei Posten in den Graben.
Wieder
Schritte. Zwei Menschen. Links war also auch ein Doppelposten? Sie
gingen an uns vorbei. Husten.
Ein Gespräch. Das war die
Ablösung.
Schritte zweier Menschen, aber nach links. Weshalb
einen andern Weg, als sie gekommen sind? Kommen sie später
zurück?
Wir lagen still. Ich steckte die Hände in die
Hosentaschen, um nicht noch steifer zu werden. Es blieb still, nur
manchmal ein Husten.
Jetzt kamen sie nicht mehr zurück.
Vielleicht mussten die beiden den Graben ein Stück abgehen und
dann in einem andern Graben zurückkehren.
Ich stieß
Hartenstein und Leuschel an. Hartenstein erhob sich, wir andern
auch.
Erst vorsichtig durch den Draht.
Ich rannte auf den
Graben zu.
Hinter mir ein Fall. Einer platzte lachend heraus.
Ich
sprang in den Graben, Hartenstein und Leuschel dicht hinter mir. Es
konnten nur fünfzehn Schritt zum Posten sein. Wir rannten.
Ein
Geräusch vor uns.
Ein Schuss von hinten.
Der Postenstand
war leer, nur eine Handgranate. Der Posten war ausgerissen. Das
verfluchte Lachen! Ich kletterte aus dem Graben nach links. Zwei
Schüsse fast zu gleicher Zeit von hinten. Wir rannten nach dem
Drahthindernis. Von links zwei Schüsse. Durch den Draht! Hinter
mir flüsterte einer kläglich. Ich war durch das Hindernis
und kniete hin. Ein Schuss!
Alle kamen nach. Eine Leuchtkugel ging
hoch. Wir warfen uns hin. Mehrere Schüsse vorbei. Sie sahen uns
wohl nicht.
Wieder eine Leuchtkugel. Noch zwei Schüsse und
lautes hastiges Reden. Wir waren noch nicht außer Gefahr. Sie
konnten uns beim vorderen Hindernis den Weg abschneiden. Aber das
wäre für uns ein Vorteil. Dann könnten wir mit unsern
sieben Mann draufstoßen in der Richtung auf unsere eigenen
Gräben.
Die Leuchtkugeln verglimmten. Wir krochen nach dem
vorderen Drahtverhau. Einer kam zu mir.
„Lesche hat einen
Beinschuss."
„Kann er mit?"
„Ja."
Wir
kamen unbelästigt durchs vordere Hindernis und gingen dann
aufrecht weiter. Lesche humpelte. Ich merkte erst jetzt, wie
verfroren ich war.
„Ich mache nie wieder 'ne Patrouille mit
solchen jungen Kerlen, die sich nicht zusammennehmen können!"
knurrte Hartenstein.
Vor unserm vordersten Graben stand Trepte.
„Nichts?"
„Nichts - nur einen Verwundeten. - Geht
in eure Unterstände! Ich muss zu Herrn Oberleutnant."
Löhberg schlief und wurde geweckt. Ich berichtete.
„Das
war die letzte Hoffnung", sagte er. „Es hilft nichts.
Morgen werden wir abgelöst."
IX.
Am nächsten Abend wurden wir abgelöst und marschierten
ins Lager. Ich war sehr müde.
Am folgenden Morgen traten wir
vor den Baracken abmarschbereit an. Die Leute der missglückten
Großpatrouille von neulich waren noch nicht aus Ménicourt
da, wo sie nach dem Unternehmen untergekommen waren.
„Unglaublich!"
sagte Lößberg. „Vor einer halben Stunde hätten
sie schon dasein müssen! - Aber wenn sie einen nicht mehr
brauchen, lassen sie einen einfach im Stich! - Feldwebel, haben Sie
auch sagen lassen, dass ich den Leutnant Lindner nicht zu sehen
wünsche?"
„Jawohl, Herr Oberleutnant."
Lößberg
hatte an uns längst seine Abschiedsrede gehalten. Wir standen
und warteten auf die Patrouillenleute. Das Gras zwischen den Fichten
war niedergetreten. Die Wagenspuren und Stiefeleindrücke waren
mit harten Kanten gefroren.
Da bog Sänger um die Waldecke,
den Kragen offen und das Gewehr übermäßig hintenüber
gelassen. Die andern wurden sichtbar. Jeder latschte, wie er wollte.
Einer hatte den Helm auf dem Kopfe, der andere in der Hand.
Ich
hatte meine Leute nie so gesehen. Das musste Absicht sein.
„Können
Sie nicht Ihre Mannschaften ordentlich herführen, wenn Ihr
Kompanieführer sich von Ihnen verabschieden will, Unteroffizier
Sänger?"
Sänger ließ halten und stellte
auf.
„Einer hat noch den Helm in der Hand, Unteroffizier
Sänger!"
„Patrouille Lindner ohne Herrn Leutnant
Lindner zur Stelle!" meldete Sänger.
Lößberg
sah ihn sprachlos an.
„Ich habe Sie herberufen", schrie
Lößberg, zitternd vor Wut, „um mich von Ihnen zu
verabschieden! Ich hatte damit gerechnet, dass Sie so auftreten
würden, wie Sie es von mir gelernt haben!" Lößberg
fasste sich auf einmal. „Sie sind allerdings - das weiß
ich - an dem Misserfolg nicht schuld. Einem guten Führer gelingt
alles! Von einem schneidigen Kerl lässt sich Unmögliches
verlangen, von einem Feigling nichts! - Ihr Führer, der heute
nicht da ist, war nicht der geeignete; sonst hätten wir heute
Gefangene, Auszeichnungen und Ruhm. Feigheit hat alles zunichte
gemacht!"
Lößberg ritt fort. In der Kompanie
murmelte es.
„Ja", hörte ich eine noch junge
Stimme, „der Leutnant Lindner ist dran schuld."
„Halt
's Maul, wenn du nichts verstehst!" sagte Sänger. „Wer
ist denn feige und verdrückt sich vor der Offensive?"
„Still
da!" sagte der Kompaniefeldwebel. „Kompanie
stillgestanden!"
Er meldete dem Bataillonskommandeur, der mit
Lamm geritten kam. „Wo ist Herr Oberleutnant Lößberg?"
„Eben fortgeritten, Herr Major."
„Haben Sie ihm
nicht übermittelt, dass ich mich hier von ihm verabschieden
wollte?"
„Jawohl, Herr Major, und ich habe Herrn
Oberleutnant eben noch einmal daran erinnert."
Der Major
wendete seinen Kopf zu Lamm, sprach etwas leise mit ihm, wendete sein
Pferd und ritt mit zusammengekniffenen Lippen davon.
„Dritte
Kompanie!" rief Lamm. „Ich übernehme wieder meine
Kompanie! Ich hoffe, ihr freut euch so darüber wie ich!"
Wir
rückten ab. Die Kompanie war vergnügt, weil wir wieder Lamm
als Führer hatten. Nach mehrstündigem Marsch kamen wir zu
der Bahnstation, auf der wir verladen werden sollten.
Lamm nahm
mich beiseite und wollte mir eben etwas sagen, als Lindner rasch
gegangen kam.
„Verzeihen Sie!" sagte er zu Lamm. „Kann
ich mal mit
Renn sprechen? - Ist das wahr, dass mich der
Oberleutnant einen Feigling genannt hat?" Ja."
„Was
soll ich tun?"
„Sprechen doch Herr Leutnant mit unserm
neuen Kompanieführer."
Lindner ging zu Lamm, Sie gingen
zusammen zum Major. Lamm kam zurück. Er war nachdenklich.
Jetzt
begriff er wohl, warum ich Lößberg so gehasst hatte. Der
Zug kam, und wir stiegen ein.
I.
Gegen Abend hielten wir in einem Waldtal, stiegen aus und
marschierten in das nächste Dorf. Dort blieben wir zwei Tage.
Uns war gesagt worden, dass wir von hier ab nach dem Versammlungsraum
unserer Offensivarmee in den Nächten marschieren würden,
damit die feindlichen Flieger das Zusammenziehen so großer
Truppenmassen nicht bemerkten.
Mich hatte das plötzliche
Aufhören aller Zucht, als die Patrouillenleute ohne Ordnung
anmarschiert kamen, nachdenklich gestimmt. Und wie frech Sänger
dem Oberleutnant geantwortet hatte nach dem Misslingen des
Unternehmens! Eine Meuterei hielt ich im deutschen Heer für
unmöglich, aber so etwas wie damals, das grenzte doch an
Meuterei. Die große Frühjahrsoffensive musste den Krieg
beendigen. Sonst? - Der Krieg konnte doch nicht zum Dauerzustand
werden. Irgendwann mussten sich doch die Völker wieder
vertragen.
Wir marschierten Nacht für Nacht und lagen am Tage
still. Da schlief man nicht viel. Und das Marschieren, ohne etwas zu
sehen, in der engen Kolonne strengte sehr an.
Wir hatten in der
Kompanie einen Erzgebirgler, einen schon älteren, hässlichen
Menschen. Wenn die Kompanie müde war, fing er an zu singen. Lamm
duldete es, dass er dazu aus der Kolonne trat und neben der Kompanie
herlief.
Er erfand kleine Verse im Singen, und die Kompanie musste
den Kehrreim singen:
„Und wenn der Kuckuck rufen tut. Wird
alles wieder gut. Wird alles, alles, alles wieder gut."
Das
sangen sie mit Begeisterung. Der Vorsänger hatte es dabei nicht
leicht; denn wenn uns ein Fuhrwerk entgegenkam, musste er hinter der
Kompanie verschwinden und dann wieder vorlaufen.
Es lag noch etwas
Besonderes in seinen Versen: sie waren nie gemein, und dazu brachte
er immer neue, und manche waren sonderbar auf unsere Gemütsstimmung
gepasst. Ich hätte ihn gern näher kennen gelernt, aber er
war nicht ein Mensch zum Kennen lernen. Sein Gesicht war immer
gleichmäßig dunkel, weder ernst noch heiter, und er
kümmerte sich um niemand als um die Leute seiner Gruppe, auf die
er ja angewiesen war.
II.
Wir kamen in ein großes Dorf in der Picardie. Dort blieben
und exerzierten wir.
Von meinen Leuten hatten zwei die Sohlen von
den Schnürschuhen geschnitten und nach der Heimat geschickt,
weil es ja dort kein Leder mehr gab. Ich meldete das Lamm. Er befahl
eine Durchsicht des ganzen Schuhwerks. Bei den anderen Zügen,
bei denen ältere Leute und mehr Familienväter waren als bei
mir, fehlte noch viel mehr.
Einige Leute sagten ganz offen, sie
würden sich nicht zu Krüppeln schießen lassen, sie
würden sich rechtzeitig verdrücken.
Ich fand, dass der
Unteroffizier Sänger, gegen den ich seit der Patrouille einiges
Misstrauen hatte, ganz harmlos war, nur etwas unbeherrscht, wenn ihn
etwas ärgerte.
Hartenstein hatte sich mit Besser, einem
kleinen, beweglichen Mann von einigen dreißig Jahren,
befreundet. Besser war Kellner und in allen Ländern Europas
gewesen, außer in Russland, und das tat mir leid; denn ich
hätte immer gern etwas von diesem Lande gehört, das mir
sehr geheimnisvoll vorkam, besonders jetzt nach der
Bolschewistenrevolution. Besser sprach auch immer von dem unsinnigen
Krieg, und man müsste einfach streiken und nicht mitmachen.
Ich
sagte einmal dem Hartenstein: „Weshalb verkehrst du nur mit
dem?"
Hartenstein lachte. „Weil das der beste Mensch
von der Welt ist. Der redet nur so, aber wenn's drauf ankommt, da
sollst du mal sehen, wie der mitmacht!"
Aber auch mir wurde
der Krieg immer verdächtiger.
III.
Wir marschierten in einer Nacht vor und kamen in einen
Industrieort. Die Truppen vor uns verließen eben die Quartiere.
Wir gingen hinein und schliefen.
Wir blieben den Tag und die Nacht
da und erfuhren nichts weiter, als dass wir vorläufig
Armeereserve wären.
Am folgenden Morgen, noch im Dunkeln, kam
der Abmarschbefehl.
Wir traten auf der engen Straße an.
Lamm
kam geritten.
„Der erste Stoß ist gelungen. Die erste
und zweite englische Stellung sind in unserer Hand. Heute wird die
dritte Stellung angegriffen. Die ist aber nach Fliegermeldungen nur
knietief."
Wir marschierten ab. Es wurde wieder ein trüber
Morgen.
Wir kamen dem Kanonendonner immer näher. Fern vor uns
standen am Himmel drei Fesselballons. Sie bewegten sich bald
aufeinander zu, bald auseinander, und wir kamen ihnen nicht näher.
Das war ein Zeichen, dass sie marschierten.
Rechts und links der
Straße auf den Äckern hielten Wagenkolonnen immer
dichter.
Ein offenes Lastauto überholte uns. „Du, he,
die Granaten!"
Es lagen vier Granaten auf dem Lastauto und
ragten zu beiden Seiten hinaus.
Wir hielten. Links in einiger
Entfernung wimmelte es schwarz von Menschen. Ab und zu krachte es
dort. Das waren die Geschütze, aus denen die Riesengranaten
geschossen wurden.
Wir blieben den Tag und die Nacht über
hier und schlugen Zelte auf. Ich hatte eine Karte der französischen
Front. Wir stießen von St. Quentin her vor. Wollten wir bis
Amiens durchstoßen und die Franzosen von den Engländern
trennen? Ob das den Krieg beendete? Er musste ja beendet werden.
Am
nächsten Tag kamen wir in das Gebiet der geräumten
Stellungen, eine weite, kahle Ebene mit Gräben.
Früher
steckte man ganz in den Gräben, heute marschierten wir oben auf
der Straße und sahen in die Gräben hinein.
Wir kreuzten
die Drahthindernisse - hier waren die Löcher der Horchposten -
und näherten uns der englischen Stellung. Es wurde an der
Wiederherstellung der Straße gearbeitet. Wir marschierten
langsam und mit Stockungen.
Die Sonne ging unter. Wir kamen in die
englische Stellung. Zwei Tote langen in einem Graben.
Wir
übernachteten in einem Grund mit einem Bach und Weiden.
Wellblechplatten lagen umher, aus denen wir uns Hütten bauten.
Nicht weit davon war ein englisches Lager mit hohen Spitzzelten. Die
Gruppe Hähnel schleppte ein Zelt her und hatte auch neue Röcke,
Schuhe und Rasierzeug gefunden. Sie wollten das Zelt behalten.
„Wenn
ihr's tragen wollt", sagte ich, „ist mir's recht."
Sie
hatten wohl gedacht, ich würde ihnen einen Platz dafür auf
unserm Maschinengewehrwagen verschaffen. Am nächsten Morgen
nahmen sie es nicht mit.
Wir gingen auf einer schmalen Notbrücke
über einen kleinen Fluss. Das jenseitige Ufer stieg steil auf.
Dort lagen tote Schotten in ihren kurzen Röckchen. Die Stiefel
und Strümpfe waren ihnen ausgezogen. Mehrere meiner Leute trugen
auch schon gute englische Schnürstiefel. Links der Straße
stand eine verlassene Batterie mit einigen toten Franzosen.
Wir
übernachteten wieder in einem Graben und spannten auf der
Windseite die Zeltbahnen doppelt.
Dieses ganze Gebiet war von uns
vor einem Jahre geräumt worden. Ich dachte, die Franzosen hätten
wieder aufgebaut. Aber kein Mensch wohnte da, und die Felder waren
nicht bestellt.
Wir kamen in das Gelände der Sommeschlacht.
Die Gräben waren überwuchert, der Draht der Hindernisse
verrostet. Nicht einmal die Straßen waren wiederhergestellt.
In
den Trümmern eines Ortes blieben wir zwei Tage lang bei eisigem
Winde. In ein bis zwei Kilometer Entfernung ragte der tote Wald von
Bourraine, vor dem ich 1916 verwundet wurde.
Am Tage darauf
marschierten wir quer durch das Grabengewirr der Sommeschlacht und
schlugen Zelte auf. Ein gefallenes Pferd lag da. Alle stürzten
sich darauf und schnitten mit dem Messer Stücke Fleisch
heraus.
Es wurde dunkel und fing an zu regnen. Ich legte mich ins
Zelt.
„Zelte abbrechen! Sofort auf der Straße
antreten!"
Draußen war es stockdunkel. Es regnete in
Strömen. Es wurde hin und her geschimpft. Wo waren meine
Gruppen? Ich rief.
Schließlich kam einer. „Gruppe
Hähnel steht auf der Straße!"
„Sind Sie
endlich fertig?" schrie mich Trepte an. „Wen meinen Sie
denn? Hier ist Renn." „Diese verfluchte Dunkelheit! Haben
Sie jemand von meinen Leuten gesehen?"
„Nein, ich suche
auch noch."
Nach drei Viertelstunden stand die Kompanie auf
der Straße. Aber es fehlten drei Mann, darunter Leiser. Die
hatten wohl die Verwirrung benutzt und waren ausgerissen.
Lamm war
nicht zu finden. Auf uns goss der Regen nieder.
„Wo ist der
Bataillonsstab?" fragten immer wieder Kompanieführer.
„So
eine verdammte Scheiße!" schimpfte irgend jemand. „Da
hat uns die Brigade mal wieder alarmiert, statt einen ruhigen Befehl
auszugeben!"
„Nu, was tut denn das?"
„Was
das tut? Jetzt können wir vier Stunden lang im Regen stehen,
statt zu schlafen!"
„Nu, wir können doch wieder
Zelte aufschlagen."
„Das wär ein hübscher
Spaß bei der Dunkelheit, und sich dann unter ein Dach legen,
und unten ist Schlamm!"
Wir standen und ließen es auf
uns regnen. Lamm kam zurück und stand bei uns.
„Greifen
wir morgen früh an?" „Ich weiß es nicht."
Wir
waren wieder still. Der Regen tropfte.
Schließlich nach
Mitternacht marschierten wir ab. Es hatte aufgehört zu regnen.
Am Himmel trieben uns große, weiße Wolken entgegen und
ließen manchmal den Mond durchblicken. Die Wolken kamen vom
Meere her. Wir marschierten durch Dörfer. Manchmal lief ein
Schein vom Mond über die Äcker. Ich träumte immerfort
vom Meer, an das wir vielleicht kämen. Wie sieht das Meer aus?
IV.
Der Tag kam trüb herauf. Wir marschierten durch ein großes
und, wie es schien, reiches Dorf. Jenseits bogen wir rechts auf einen
Acker mit hellgrünem Winterkorn. Dort schanzten wir uns flache
Löcher zum Hineinlegen und Schlafen.
„Heute greifen wir
an", sagte Lamm. „Es soll eine Führerreserve
ausgeschieden werden, damit nicht alle beim ersten Angriff weg sind,
wie sonst. Ich habe von den Zugführern Trepte bestimmt. Von
deinem Zug mag Hauffe hintergehen."
Hähnel kam. „Da
haben dir meine Leute eine Flasche Rotwein mitgebracht."
„Sauft
sie nur selbst!" sagte ich. Ich hatte gar keine Lust, vor dem
Angriff und am frühen Morgen zu trinken.
„Nee, die
haben selbst viel zuviel, und sie trinken nicht, wenn du nicht
trinkst."
„Nu gut, ich danke euch", sagte ich und
wollte sie mit Wolf und Funke teilen. Aber die hatten auch schon
Flaschen. Ich goss also in meinen Feldbecher. Der Wein war sehr
schwer, wie mir schien. Kleine französische Flieger kreisten vor
uns und schossen von oben mit Maschinengewehren, manchmal auch nach
uns. Das machte mir aber keinen gefährlichen Eindruck. Ich trank
die Flasche leer, legte den Tornister unter meinen Kopf, deckte mich
zu und schlief in meinem langen, schmalen Loch.
Ich wachte auf und
hörte: „Was willst du denn mit dem Pferd hier?"
„Der
Feldwebel hat mich vorgeschickt, weil es weitergeht."
„Ja,
es geht weiter, aber indem wir stürmen", lachte Wolf.
„Ach
so?" Er ging mit dem Kompanieführerpferd davon. Ich sah
mich um. Sie packten ihre Tornister. „Herr Feldwebel, wir
sollen in zehn Minuten stehen", sagte Funke.
Ich stand rasch
auf, zog den Mantel aus und packte meinen Tornister.
Wir rückten
zu den andern Kompanien des Bataillons. Mich drückte es heftig
auf die Blase. Das kam von dem verfluchten Wein. Ich wollte aber
nicht austreten vor dem ganzen Bataillon. Die hätten doch nur
gesagt: Seht, dem kommt schon 's Schiffen vor Angst!
Ringsum
stellten sich Truppen zum Angriff bereit, alle ohne die geringste
Vorsicht, sich zu decken. Die Sonne schien.
Links an der Straße
standen viele Geschütze in drei Reihen hintereinander, kurze
dicke und lange dünne bis zu den schweren Mörsern. Eine
dichte Menge müßiger Leute, hauptsächlich
Trainsoldaten, sah unserer Bereitstellung zu.
Unsere Kompanie war
ganz vorn, links von uns die erste Kompanie, rechts eine fremde
Division.
Lamm rief uns Zugführer zusammen.
„In der
Kompanie gliedern wir uns: rechts Renn, links Langenohl, dahinter ich
mit Sandkorn. Den Anschluss hat Renn. - Sehen Sie dort vor! Hier
kommen erst Felder mit Winterkorn und dann in etwa drei Kilometer
Entfernung sind Wald. An dem sehen Sie in der Mitte einen
Farbenwechsel: links ist der Wald mehr olivengrün und wird auf
einmal kreidiggrün. Das ist unsere Richtung. - In wenigen
Minuten geht es los!"
Ich nahm Brand mit seiner leichten
Maschinengewehrgruppe vor, dahinter ich. Die übrigen Gruppen
sollten rechts und links hinter mir folgen, in Schwänzen mit dem
Führer vorn.
„Antreten!" rief
Lamm.
„Marsch!"
Rechts und links setzten sie sich in
Bewegung, rechts in breiten Schützenlinien, bei uns in kurzen
Schwänzen, weiter links in unregelmäßigen Haufen.
Links hinter mir folgte Lamm mit seinen Läufern, Krankenträgern
und zwei Reservemaschinengewehren auf einer Karre, die der
Waffenmeistergehilfe zog. Dahinter der Zug Sandkorn, dann die vierte
Kompanie, schwere Maschinengewehre und Minenwerfer.
Das ist ja ein
ungeheurer Angriff! dachte ich. Und es sind mindestens drei
Divisionen. Aber diese ungeheure Menschenanhäufung ängstigte
mich etwas. Und weshalb schoss unsere Artillerie nicht?
Von drüben
kamen einzelne Infanterieschüsse. Die sind nervös, dachte
ich, dass sie auf solche Entfernung schon schießen.
Das
Gelände senkte sich. Vor uns lief ein mäßig tiefer
Grund quer. Im Grunde war ein flacher Graben geschanzt, aber
leer.
Wir stiegen am andern Hang hinauf. Das Gewehrfeuer nahm
plötzlich zu. Brand mit seinen Leuten und den Maschinengewehren
rannte; sie verschwanden oben. Ich sah mich rasch um.
„Wir
ziehen uns etwas nach rechts", sagte ich zu Funke und Wolf,
„damit wir nicht zu unserm Maschinengewehr kommen und dort die
Anhäufung noch größer machen."
Sie
nickten.
Schüsse knallten um mich.
Ich sah schon den
Waldrand auf vierhundert Meter oder weniger. Wir rannten.
Brands
Maschinengewehr schoss links. Ich wollte darüber hinaus
vorrennen. Es peitschte, rasselte und pfiff.
Ich warf mich hin.
Ich hatte kein Gewehr, nur die Pistole, und die nützte hier
nichts. Der Waldrand war gezackt. Gerade auf uns ragte ein Zipfel
vor. Wenn man den hätte, hätte man bald die ganze
Stellung.
Einer warf sich links vor mir hin. Es war der kleine,
runde Quellmalz.
„Ich bin verwundet. Kann ich zurück?"
Das
Blut lief ihm übers Gesicht.
„Geben Sie mir Ihr Gewehr
und Patronen!"
Er warf Patronen vor mich hin.
Ich hatte
bemerkt: einen halben Schritt vom linken Rand im Waldzipfel war
manchmal wie ein dünner Dunst. Dort schoss also einer. Ich
zielte genau. Es waren etwa dreihundert Meter. Der Mann schoss
mindestens dreißig Zentimeter über dem Erdboden.
Rechts
von mir kamen zwei vorgelaufen und warfen sich hin.
Brand mit
seinem Maschinengewehr lag viel zu weit hinten.
„MG-Gruppe
Brand vorgehen!" brüllte ich.
S! ein Schuss dicht an
meinem Ohr vorbei.
Unsinn! fuhr es mir durch den Kopf. Denen
sagen, sie sollen vorgehen? Nein, selber vorgehen!
Ich raffte mich
empor und rannte. Recht weit! dachte ich. Im Rennen merkte ich nicht
so, wie es schoss.
Einen kleinen Blick nach der Seite. Ich war
schon halbwegs zwischen unserer Schützenlinie und dem Waldrand.
Verflucht allein! dachte ich und warf mich hin.
Wie Vögel
fuhren die Geschosse über mich weg und um mich. Ich wusste
nicht, was deutsche und was feindliche wären. Wieder sah ich den
leichten Dunst an der Waldspitze.
Ich zielte. Ich hatte eine
wunderbare Ruhe dazu.
Ich lud wieder und zielte eine Handbreit
weiter rechts. Es waren nur noch hundertfünfzig Meter
Entfernung.
Knips! Ich riss die Kammer auf. Sie war leer. Ich
griff in die Tasche. Ich hatte die Patronen einzustecken
vergessen.
Ein Schuss einen halben Schritt vor mir in den
Boden!
Ich ließ meinen Kopf nach unten fallen. Schießen
konnte ich nicht, also mich tot stellen! Ich hatte den Kopf im Helm
etwas schräg nach rechts auf den Boden gelegt und sah vor mir
einige grüne Halme Winterkorn. Dahinter kam eine leichte
Senkung, in die ich nicht sehen konnte. Entfernter lagen Deutsche,
wohl über fünfhundert Meter vom Waldrand entfernt. Die
kommen nicht heran. Ist es auch schon je gelungen, eine vollbesetzte
Stellung ohne Artilleriehilfe und über die Ebene zu nehmen? -
Wann wird es dunkel? In zwei Stunden. - Und wie entsetzlich das jetzt
auf meine Blase drückt! Bis dahin kann ich es nicht halten. Ich
hob mich etwas mit dem Gesäß und wollte es hinauslassen.
Wieder ein Schuss dicht vor mich.
Ach, mag's in meine Hosen
fließen! Und es floss und floss, die ganze Flasche Wein. Meine
Beine wurden warm und kühl. So eine Kinderei!
Ich hörte
Schritte links von mir.
Ich sah hoch. Es war Hartenstein. Einer
warf sich neben mich. Das war Besser. „Geben Sie mir Patronen!"
rief ich. Er warf mir welche hin. „Schießen", schrie
ich, „dass der rankommt." Wir schossen.
Hartenstein war
fünf Schritte vom Waldrand. Da fiel er mit einer Drehung nach
uns hin und sah uns an.
Links kamen wieder welche vor.
Ich
stand auf und ging mit ihnen.
Es schoss, aber immer schwächer.
In
dem Waldzipfel sah ich einen ausreißen.
Ich riss das Gewehr
hoch und schoss. Er fiel hin. Den habe ich umgebracht, dachte ich,
aber es regte mich nicht auf.
Hartenstein hatte nur einen leichten
Schuss.
In dem Waldzipfel war ein Graben wie eine Badewanne. Da
lagen Tornister und Konserven.
Einige wollten sich Andenken
holen.
„Hier bleiben!" sagte ich. „Wir haben die
Stellung noch nicht. Scharf aufpassen! Gewehr vor! Und hier durchs
Dickicht!"
Wir gingen vorsichtig weiter.
Halblinks war
plötzlich ein Graben da. Die Franzosen hielten die Hände in
die Höhe.
„Là bas!" sagte ich und winkte
hinter.
Sie sprangen aus dem Graben und liefen nach der Seite, von
der wir kamen.
Ein Gewehrschuss ganz nah.
Wir schlichen weiter.
Besser war dicht neben mir, das Gewehr bereit.
Wir kamen an den
jenseitigen Waldrand. Da lag eine Schlucht vor uns. Drüben stieg
ein dünner Buchenwald an.
Jenseits auf der Wiesenhöhe
verschwanden zurückgehende Franzosen.
In der Schlucht ließ
ich halten. Es wäre sinnlos gewesen, mit meinen fünf Mann
weiter vorzustoßen. Einige Leute der linken Nachbardivision
kamen und eins unserer leichten Maschinengewehre mit zwei Mann. Sie
trugen mühsam das viele Gerät.
„Wo sind die andern
Maschinengewehre?"
„Alle weg. Lamm ist auch verwundet
und Langenohl tot."
Ich teilte die Leute neu ein und ging
weiter.
Ramm! Ramm! Ramm! in den Wald, in einer Linie, ganz
dicht!
„Marsch, marsch!" brüllte ich. Eine Granate
zwei Schritt rechts vor mich. Ich trat auf. Ein Stechen im Fuß.
Ich sah: das Oberleder war aufgerissen, und Blut war daran. „Soll
ich verbinden?" schrie Besser. „Nein, lauft weiter!"
Ich
versuchte mit der Ferse aufzutreten. Das ging. Ich humpelte zurück
in die Schlucht. Ein junger Kerl kam zu mir. „So trifft man
sich wieder."
„Wer sind Sie denn?"
„Ich
bin von der ersten Kompanie. Aber ich hab Herrn Feldwebel immer
gesehen." Er hatte einen Wadenschuss. „Wie ist's bei der
ersten?"
„Unser Kompanieführer ist tot. Der hatte
sich zum Maschinengewehr auf die Straße gelegt. Die sind alle
tot auf der Straße. Wer sonst noch da ist, weiß ich nicht
- nicht
viel."
Wir humpelten zusammen.
Vier Franzosen
hatten ein breites Brett auf ihre Schultern genommen, auf dem ein
verwundeter Deutscher saß, und trugen ihn vergnügt
hinter.
In einiger Entfernung rechts detonierten Granaten. Da war
auch Infanteriefeuer.
Wir kamen an den Waldrand, von dem aus
vorhin die Franzosen schossen. Vor uns lag das Feld mit Winterkorn
und darauf wie die Brustscheiben die Toten. Hartenstein war nicht
mehr da. Hähnel lag auf dem Rücken mit aufgerissenen Augen.
Er machte Bewegungen mit den Armen. Ich kniete hin und fasste seine
Hand. Er sah mich nicht an.
„Hähnel", sagte ich,
„du brauchst dich nicht zu fürchten. Ich bin da." Er
bewegte sich und starrte in die Luft. Er hatte einen Bauchschuss. -
Ach, ich konnte nicht helfen! - Um den trauert niemand; er hat keine
Angehörigen - und wenn er welche hätte, was nützte es
ihm?
Ich ging weiter.
Jauer lag da. Sandkorn mit einem Loch
vorn im Helm, sonst ordentlich auf beiden Ellbogen. Sänger lag
halb auf der Seite, einen Arm unter dem Leib vorgestreckt. Von Funke
und Wolf war nichts zu sehen.
Wir kamen gegen das Dorf hin.
Regelmäßig kam eine Granate auf einen Acker.
Noch einer
schloss sich uns an. Der hatte einen Unterarmschuss und fürchtete
sich vor den Granaten.
Wir rannten, so gut es ging, und kamen an
einen Friedhof. Dort verbanden zwei Ärzte, von Verwundeten
umringt.
„Was haben Sie?" rief der Oberarzt, der damals
meine Lunge untersucht hatte, über die Wartenden
weg.
„Fußschuss, Herr Oberarzt."
„Gleich
ins Feldlazarett!"
Die andern kamen mit mir.
Auf der
Dorfstraße kam Hauffe gerannt.
„Du bist ja da? Alle
haben gesagt, du wärst tot! - Ich zeige dir das Lazarett und
brate dir ein Huhn; wir haben welche!"
„Weißt du
was von Funke und Wolf?"
„Der gute Funke ist tot. Von
Wolf weiß ich nichts."
Es begann dunkel zu
werden.
„Hier ist das Lazarett. Ich hol dich dann wieder
hier ab."
Ich kam in einen Raum, in dem etliche standen.
Rechts um die Ecke schien bei einer Karbidlampe verbunden zu werden.
Ich sah die Leute an. Da sah ich ein ganz zerfetztes Gesicht, Nase
und Mund ein blutiger Klumpen - und das waren Wolfs Augen, die mich
traurig ansahen. - Wie kann der nur überhaupt noch leben und
aufrecht stehen? Ich sah ihn und wollte fragen. Aber er konnte ja
nicht antworten. Ich setzte mich auf eine Kiste und betastete meinen
Stiefel. Ich musste ihn aufschneiden. Beim Aufschneiden der Naht
dachte ich mit Grauen an Wolf. - Der kann doch nichts essen. Geht er
denn einfach zugrunde, in zwei, drei Tagen?
Als ich wieder aufsah,
war er verschwunden, und ich kam bald an den Arzt.
„Stark
splittriger Bruch. Der Granatsplitter scheint noch drin zu sitzen.
Das können wir hier nicht operieren. Sie müssen selbst
suchen, in ein größeres Lazarett zu kommen."
Sie
verbanden mich und gaben mir eine Spritze ins Bein.
Hauffe kam
bald wieder. Ich konnte mit der nackten Ferse besser auftreten als
vorhin im Stiefel. Er führte mich in ein großes Haus. In
einem niedrigen Raum brannte eine Petroleumlampe an der Decke. Es
hingen allerhand Gerätschaften umher. Es war wohl eine
Wollspinnerei.
Hauffe zog mich rasch vorwärts und ließ
mich los. Da saß Lamm, den rechten Arm eingebunden, und
stocherte mit der linken Hand in einem Tiegel herum an einem
Hühnerbein. Er ließ die Gabel los und gab mir die linke
Hand.
Hauffe brachte Rotwein. Trepte setzte sich dazu. Wir aßen.
Das Huhn war stark gewürzt. Ich hatte großen Durst und
trank Rotwein. Ich merkte jetzt auch: ich war sehr aufgeregt. In
meinem Fuß begann es zu ziehen. Ich legte ihn auf einen Stuhl
hoch. Aber der Schmerz wurde immer stärker.
Hauffe machte mir
ein Lager auf einem Haufen Wolle, und ich legte mich.
Mitten in
der Nacht wachte ich auf von so heftigen Schmerzen, dass ich an allen
Gliedern zitterte.
Ich streckte das Bein in die Luft.
Ich stand
auf und humpelte umher.
Ich legte mich wieder.
Schließlich
setzte ich mich auf einen Stuhl und legte das Bein auf einen andern
Stuhl. So erwartete ich in Verzweiflung den Morgen.
V.
Am nächsten Tage begann meine Wanderung mit Lamm durch das
verödete Land. Der junge Kerl mit dem Wadenschuss hatte sich
auch wieder herzugefunden. Er humpelte links, ich rechts. Meine Ferse
war natürlich nicht an das
Nacktauftreten gewöhnt. Ich
fühlte auf die Dauer selbst die Steine dieser Kalkstraße.
Es
begann ein wenig zu schneien. Gefangene Franzosen gingen ohne
Begleitung denselben Weg. Was sollten sie auch tun? Vorn war die
Front; das Land ringsum war wüst, kein Mensch darin und nichts
zu essen.
In einem Lazarett bekamen wir ein wenig Suppe und wurden
weitergeschickt. Der mit dem Wadenschuss klagte über Hunger. Ich
aß wenig und hatte nur Durst.
Wir wanderten auf einer
breiten, gepflasterten Straße. Die Steine waren sehr hart und
etwas höckrig.
Wir kamen in eine kleine Stadt. Ab und zu kam
es angerauscht und schlug irgendwo ein. Wir fragten nach einem
Lazarett. Als wir dahin kamen, sagte uns ein Krankenwärter: „Wir
können niemand aufnehmen. Es ist Befehl gekommen, das Lazarett
zu räumen, weil es immer herschießt."
„Wohin
müssen wir denn gehen?"
„Ich weiß nicht. Ich
weiß nur, dass diese Straße hinterführt."
Wir
wanderten weiter. Lamm begann es zu schwindeln, und mich strengte das
Anziehen der Fußspitze immer mehr an, und ich fühlte das
Blut an der Fußsohle klopfen.
Wir mussten uns öfter
setzen. Meine Hosen waren noch immer nicht ganz trocken.
Gegen
Abend erreichten wir ein Dorf. Lamm und ich waren so willenlos, dass
wir uns von dem jungen Kerl zu beiden Seiten eines Tores auf Steine
setzen ließen. Ich merkte wohl, dass das komisch aussehen
musste, aber ich konnte nicht lachen.
Ich kann mich an
Einzelheiten dieser Nacht nicht mehr erinnern.
Jedenfalls habe ich
die Nacht durch phantasiert.
Als das Morgenlicht kam, wurde mir
wohler. Ich trank Kaffee und brach mit den andern auf. Ich hatte
keine Fiebervorstellungen mehr, sondern ich sah die kahle Landschaft
schrecklich nüchtern und fühlte mich schwach zum
Gehen.
Einige Lastautos überholten uns. Lamm rief eins an.
Die Kraftfahrer schimpften nur und fuhren weiter.
Lamm rief wieder
eins an. Die antworteten gar nicht. Ich sah, wie es Lamm um die
Lippen zuckte. Er war nahe am Weinen vor Angegriffenheit und sah
schrecklich blass aus. Der mit dem Wadenschuss war sehr munter und
humpelte schon fast gar nicht mehr. Ich sprach leise mit ihm, er
sollte es doch noch mal versuchen.
„Ich werd's schon
machen", flüsterte er. „Setzen Sie sich nur da an den
Straßenrand!"
Als wieder ein Auto kam, stellte er sich
auf die Straße und machte die Arme breit. Die Kraftfahrer
hielten.
„Was gibt's denn?"
„Nehmt mal die
beiden dort mit!"
„Du kannst uns doch nicht einfach
anhalten!" schimpften
sie.
„Mit euch kann man ja
nicht anders verkehren!" lachte
er.
Sie schimpften, halfen
uns aber in den Laderaum. Dann fuhr der Wagen klappernd und
schnurrend an. Mein Fuß lag auf den zitternden Brettern. Ich
zog ihn an und legte ihn über mein linkes Knie. Aber die
Stellung war zu unsicher. Ich nahm den Fuß in die Hände.
Das war noch viel schlimmer.
„Warten Sie", sagte der
junge Kerl, setzte sich an die Seitenwand und nahm den Fuß in
beide Hände auf seinen Schoß. Das war wirklich wohltuend,
vielleicht mehr wegen seiner Gutherzigkeit als wegen der guten
Lage.
So kamen wir nach St. Quentin und fuhren von dort mit einem
Leichtverwundetenzug weiter. Ich kam in verschiedene Lazarette.
Überall röntgten sie meinen Fuß.
„Schwierige
Operation! Sehen Sie zu, dass Sie zu einem Spezialisten kommen!"
So
kam ich in wenigen Tagen in die Garnison. Ich wurde wieder
geröntgt.
„In den Operationssaal!"
Der Wärter
brachte mich hin. Ich wurde gewaschen und bekam eine
Betäubungsspritze in den Fuß. Das tat sehr weh. Die
nächste war schon weniger schmerzhaft.
Eine Schwester hielt
mir ein Tuch vor, dass ich nichts sehen konnte. Ich merkte, der Arzt
schnitt.
„Noch offen halten, Schwester! Alles mögliche
haben Sie da drin, einen ganz gehörigen Granatsplitter,
Knochensplitter, ein Stück Leder und Wolle oder so etwas, vom
Strumpf."
VI.
Die Heilung war langwierig. Ein Knochensplitter nach dem andern
eiterte heraus. Der Arzt fischte jeden Tag mit der Pinzette mehrere
Stückchen aus der Wunde. Dann stopfte er Watte hinein, damit sie
nicht vorzeitig zuheilte. Ich erhielt eine Holzschiene. Damit konnte
ich nur wenig und recht mühsam gehen.
„Drüben in
der Offiziersstation liegt seit gestern ein Leutnant Lamm",
sagte der Wärter. „Der fragt nach Ihnen."
Ich
humpelte hinüber.
Lamm lag blass im Bett. Es hatte sich
herausgestellt, dass in seinem Arm ein Nerv zerschossen war und dass
es nötig wäre, die Nervenenden zusammenzunähen. Er
wurde operiert. Danach hatte er arge Schmerzen.
Ich bekam Fieber.
In den nächsten Tagen lag ich immer im Bett. Beim Verbinden
sagte der Arzt auf einmal: „Jetzt haben wir den Störenfried!
Ein Splitter ist gewandert und will hier heraus."
Er tupfte
mit der Pinzette auf eine Stelle. Es tat weh.
„Wärter,
in den Operationssaal! Wir machen einen kleinen Hautschnitt. Dann
sind Sie gleich Splitter und Fieber los."
VII.
Die Wundbehandlung war schmerzhaft. Ich hatte oft Fieber und lag
meistens im Bett. Es hatte sich eine Knochenfistel gebildet, die
immer eiterte, und zudem kamen noch immer Knochensplitter heraus.
Da,
eines Nachmittags, kam Hänsel. Er setzte sich auf mein
Bett.
„Ich dachte, du wärst im Felde?" sagte
ich.
„Ich bin auf Urlaub." Er sah mich erschreckend
starr an, und sein Blick ging wie durch mich durch. „Siehst du
die Zeichen?"
„Was für Zeichen?"
„Die
alte Ordnung löst sich."
Die Schwester brachte mir ein
Päckchen. Was war das? Von meinem Regiment! - Ich wollte es
beiseite legen, aber Hänsel sagte: „Mach's nur auf!"
Es
war ein flaches Kästchen mit einem silbernen Kreuz auf dem
Deckel. Ich drückte es auf. Da lag mit glänzendem
Silberrand das Eiserne Kreuz erster Klasse. Ein Papier war dabei mit
einem kurzen Glückwunsch vom Oberst.
„Darüber freu
ich mich!" sagte Hänsel und sah auf einmal wieder kindlich
gut drein.
Nach zwei Tagen kam Hänsel wieder. Ich war
aufgestanden; denn es war bei der großen Hitze nicht gut, im
Bett zu liegen. Wir gingen in den Garten. Ich legte mein Bein auf
einer Bank lang. Er setzte sich auf einen Stuhl mir gegenüber.
Er schien noch kräftiger geworden zu sein.
„Ich muss in
zwei Tagen wieder hinaus", sagte er düster. - „Weißt
du, um mein Leben handelt es sich nicht - obwohl ich es natürlich
liebe -, sondern dass man überhaupt in den Krieg muss."
Er
beugte sich zu mir vor: „Bei der ersten Gelegenheit laufe ich
über!"
Mir ging es nicht sonderlich gut. Ich hatte fast
dauernd Schmerzen, und die Wunde eiterte.
Wenn sich die Wunde nur
einmal schlösse! dachte ich. Ich muss doch dann erst wieder
richtig gehen lernen. Meine Zehen sind ganz steif geworden.
Noch
einige Knochensplitter wurden mir aus dem Fuß gezogen. Dann
heilte die Wunde rasch.
Anfang Oktober war ich wieder
felddienstfähig und bekam einen kurzen Urlaub in meine
Heimat.
Von Hänsel hatte ich seit seinem Besuch keine
Nachricht. War er übergelaufen? Er schrieb auch sonst keine
Briefe. Aber ich war doch unruhig. Wenn man den Krieg nicht will,
nützt das Überlaufen vielleicht etwas. Aber in
Gefangenschaft gehen! Sich hinter Drahtzäunen bewachen lassen!
I.
„Wir müssen sehen, wie wir den Ersatztransport
hinauskriegen", sagte mir der Leutnant im Geschäftszimmer
des Ersatzbataillons. Mich wunderte der Ton. Das ist wahrscheinlich
einer von den ganz Ängstlichen, dachte ich.
Wir gingen auf
den Kasernenhof hinaus. Die Kompaniefeldwebel ordneten ihre Leute und
meldeten. Es fehlten noch etwa fünfzig Mann. Die da waren,
trugen große Pakete in den Händen, standen unordentlich im
Glied und schwatzten durcheinander.
Wir warteten. Von den
Fehlenden kamen nur noch drei. Das sind aber Zustände hier beim
Ersatzbataillon! dachte ich.
„Die Fehlenden werden Herrn
Major gemeldet!" sagte der Leutnant. „Wir müssen
jetzt abmarschieren."
Auf dem Bahnhof beim Einsteigen in den
Zug schimpften die Leute, es wäre zuwenig Platz.
Der Leutnant
nahm mich mit in sein Abteil. Der Zug fuhr ab.
„Unerfreulich!"
sagte er nach einer Weile. „Die Lage an der Front scheint auch
recht bedenklich zu sein."
„Ich habe die
Frontbewegungen nicht verfolgt, Herr Leutnant."
„Lesen
Sie denn keine Zeitungen?"
„Nur selten, und dann
versteht man nichts."
Er sah mich forschend an. „Da
wissen Sie wohl auch nichts von dem deutschen Friedensangebot?"
„Ich
habe gehört, dass man sich darüber aufregt. Aber ich
verstehe nicht, weshalb."
„Nu, es ist doch ein
Eingeständnis unserer Schwäche!" fuhr der Leutnant
auf.
Ich wollte mich nicht mit ihm streiten. Es war mir auch ganz
gleichgültig, was man darüber sagte, wenn nur der Krieg zu
Ende ginge! Ich hatte auch noch nie über Politik nachgedacht.
Ich hatte einen Ekel davor, wie vor etwas Schmutzigem.
II.
In einer kleinen flandrischen Stadt stiegen wir nach mehreren
Tagen Bahnfahrt aus und marschierten bei Sonnenschein auf einer
flachen Straße, rechts und links Gemüsefelder mit blauen
Kohlköpfen auf moorigschwarzer Erde.
Ich marschierte vorn,
der Leutnant hinten. Die Leute schwatzten und schimpften so laut,
dass wir es verstehen mussten.
„Jetzt ist der Kotz aus!
Wegen der paar Tage Krieg werden wir uns nicht mehr totschießen
lassen!"
„Wenn ich vor soll, sage ich einfach: Das
mache ich nicht!"
Ein paar niedrige Ziegelhäuser kamen,
neben denen vier Bäume seltsam hoch aussahen.
Wir kamen in
einen größeren Ort. Auf dem viereckigen Marktplatz
verteilte der Regimentsschreiber den Ersatz auf die Bataillone. Ich
kam zum zweiten Bataillon.
III.
Ich wartete von Tag zu Tag, was mit mir werden sollte. Das
Regiment war winzig klein geworden. An einer Stelle, irgendwo vorn,
war ein ganzes Bataillon umzingelt und abgefangen worden, anderswo
die erste und die dritte Kompanie mit dem Bataillonsstab. Offiziere
fremder Regimenter waren herversetzt worden, die niemand kannte. Zwei
der Bataillonskommandeure waren eigentlich Kavalleristen. Jetzt
sollte ein Reserveregiment aufgelöst und damit unser Regiment
aufgefüllt werden.
Die Geschäftszimmer, bei denen ich
war, lagen etwa fünfzig Kilometer hinter der Front und
verkehrten mit der Front und den Feldküchen durch Boten auf
Fahrrädern, die meist erst am nächsten Tage
zurückkamen.
Die Ersatzmannschaften, die ich mitgebracht
hatte, bummelten in den Straßen umher und gingen ins
Kino.
Endlich eines Morgens war der Regimentsadjutant gekommen und
hatte befohlen, die Ersatzmannschaften sollten mit einem um zehn Uhr
eintreffenden Bataillon zum Regiment vorrücken.
Wir traten
auf dem Marktplatz an. Die Ersatzmannschaften waren sehr still.
Vielleicht fürchteten sie sich vor dem Bataillon, das
angekündigt war, und wollten erst einmal das Weitere
abwarten.
Wir warteten. Nach anderthalb Stunden kam ein Offizier
geritten und sagte, das Bataillon hätte nicht den Umweg über
den Ort hier machen wollen. Er würde den Ersatz vorführen.
Wir
marschierten ab. Ich ging hinten. Es war schwül. Die Sonne
schien, aber zugleich war ein graues Gewitterlicht da.
Es war sehr
dunkel geworden. In der Ferne zuckte es. Große Tropfen fielen,
immer dichter.
Im nächsten Ort traten wir in eine große,
leere Scheune, die merkwürdig schwarz aussah, und warteten, dass
der Gewitterguss vorüberginge.
Gegen Abend kamen wir in eine
kleine Stadt mit engen Gassen. Es ging auf schmalen Brücken über
Kanäle mit langsam fließendem Wasser, auf dem Lastkähne
lagen.
Auf einem Platze hielten wir. Mehrere Offiziere kamen aus
einem Hause. Ich kannte keinen von ihnen.
„Vizefeldwebel
Renn zur sechsten Kompanie!"
Ich rückte mit den zwanzig
Mann für meine Kompanie ab. Ein Bataillonsläufer führte
uns.
„Hier wohnt Herr Leutnant Schubring", sagte der
Läufer.
Ich ließ halten und richtete die Leute aus.
Mich ärgerte ihre schlappe Haltung.
„Sie müssen
nun einmal stillstehen", sagte ich, „da machen Sie's auch
gut! Oder gehören Sie zu denen, die alles möglichst
schlecht machen wollen?"
Der Ton schien sie zu verwundern.
Ich ließ sie stehen und ging ins Haus.
Im ersten Stock traf
ich einen Gefreiten.
„Ich möchte zu Herrn
Leutnant."
Jemand sah aus einer Tür. „Wer ist da?"
Er trug einen spärlichen, sehr geraden Scheitel in der Mitte und
einen Klemmer darunter.
„Vizefeldwebel Renn mit zwanzig Mann
als Ersatz zur sechsten Kompanie!"
„Kommen Sie mal
herein!" Er war etwa vierzig Jahre alt und sah nervös aus.
„Was für Ersatz? Wieder so verlumptes Pack?"
„Sehr
schlapp, Herr Leutnant." „Was? - Gut, ich sehe sie mir
an." Er verteilte die Leute.
„Sie bekommen den zweiten
Zug", sagte er zu mir. „Den führt bisher der
Unteroffizier Mehling, ein gewandter Mensch, aber zu jung. Er liegt
hier nebenan."
Ich ging ins Nebenhaus. Mehling sah mich aus
offenen, braunen Augen an und erklärte mir mit wenigen Worten
alles. Er war der erste klare Mensch, seit ich wieder im Felde
war.
Der Führer des ersten Zuges war Unteroffizier Höhle,
der des dritten Leutnant Hanfstängel.
Wir blieben mehrere
Tage in der Stadt. In der Ferne hörten wir manchmal ein Murren
von Kanonen. Vor uns lag noch eine Division. Wir stellten nur einige
Posten nach rechts, weil man unserer Nachbardivision nicht traute.
Angeblich hatte sie sich mit der Bevölkerung verbrüdert.
In
der Stadt waren alle Läden offen. Da gab es Zwirn und weiße
Semmeln. Ich kaufte mir gleich welche und aß in einer
Konditorei ein Stück echten Kuchen. Das alles gab es ja seit
Jahren in Deutschland nicht mehr.
IV.
In den ersten Tagen des November kam der Befehl, nach vorn
abzumarschieren.
Zu Mittag kamen wir gegen einen kleinen Ort mit
Bäumen und niedrigen Häusern. Alle paar Minuten ging ein
Schuss nach dem Straßenkreuz. Wir liefen, eine Gruppe nach der
andern, über das Straßenkreuz weg nach einer Feldscheune,
in der wir mehrere Stunden blieben.
Gegen fünf Uhr
nachmittags trafen zwei schwere Maschinengewehre bei uns ein. Wir
nahmen auch unsere leichten Maschinengewehre vom Wagen und rückten
an einem Bahndamm entlang vor. Es begann dunkel zu werden.
Düstere
Häuser unter hohen Bäumen. Vielleicht zweihundert Meter vor
uns krachten Granaten. Rasseln von Wagen. Zwei Geschütze jagten
nach hinten an uns vorbei.
„Was bedeutet denn das, Herr
Leutnant?" fragte ich.
„In dieser Nacht wird die
Stellung hier geräumt. Wahrscheinlich gehen die Batterien schon
jetzt zurück."
Wir legten uns in einen ziemlich
verfallenen Stall, in dem einige Rinder standen.
Nach zwei oder
drei Stunden wurde der Rückmarsch befohlen. Es war
stockdunkel.
Sehr müde kamen wir nach Mitternacht in ein Dorf
und nächtigten in einer Kirche auf Stroh.
Am nächsten
Morgen rief Schubring uns Zugführer zu sich.
„Die
Verpflegungsnachfuhr soll durch Meuterer unterbunden sein. Wir müssen
daher Vieh requirieren. Wer von Ihnen versteht etwas davon?"
„Ich
bin Fleischer", sagte Unteroffizier Höhle. „Ich habe
schon ein paar gute Ochsen hier gesehen."
Vor dem Altar
hatten sich etwa zehn Mann zum Schinkenklopfen aufgestellt. Einer
musste sich in die Hände eines andern bücken. Er bekam eins
hinten drauf, dass es knallte, und erhob sich. „Du, Albin!"
Er zeigte auf einen.
„Falsch! Noch mal!"
Das
spielten sie mehrere Stunden mit viel Geschrei. Es waren meist ganz
junge Kerle in der Kompanie. Der Leutnant Hanfstängel stand
dabei und lachte. Er hätte wahrscheinlich gern mitgemacht.
V.
Zwei Tage später rückten wir wieder ein Stück vor.
Wir waren Reserve. Vor uns hatte das erste Bataillon eine Stellung
längs eines Kanals besetzt.
Bei Sonnenschein rückten wir
über eine Höhe. Die deutschen Batterien bellten uns gellend
in die Ohren. Ab und zu barsten französische Granaten.
In
einem Ort sollten wir bleiben. Dort bekamen wir ein kleines,
verlassenes Haus zugewiesen, in dem es nichts mehr gab als Wände
und teilweise auch Fensterscheiben. Die Offiziere wohnten im nächsten
Haus.
Die jungen Kerle begannen gleich wieder vorm Haus im
Sonnenschein mit Schinkenklopfen. Unteroffizier Höhle
schlachtete hinter dem Hause ein Schwein, damit es der Kompanieführer
nicht merkte. Den Leutnant Hanfstängel wollten seine Leute
nachher vom Kompanieführer weglocken und ihm auch Wellfleisch
geben. Ihn hatten die Leute, glaube ich, weniger deshalb gern, weil
er auch vergnügt blieb, wenn es schoss, als weil er so fein und
jung war.
Zu Mittag kam die Feldküche mit Rindfleisch. Eine
Stunde später gab es hinter dem Hause Höhles Schwein. Wir
waren dann kurzatmig vom vielen Essen und legten uns aufs
Stroh.
Gegen Abend rief uns der Leutnant Schubring.
„Meine
Herren, ich vermisse die nötige Zucht in der Kompanie. Wir
müssen exerzieren. Am Tage kommen zuviel Flieger her, daher
müssen wir es in der Morgendämmerung machen. Sie müssen
durchgreifen und den Leuten diese Zuchtlosigkeit austreiben. Vor
allem grüßen sie schlecht. Bestellen Sie Ihre Züge
für morgen früh um sieben. Danke!"
Er grüßte,
wir traten weg.
Am nächsten Morgen weckte ich meine Leute.
„Hinaustreten zum Exerzieren! Der Kaffee wird nachher
ausgegeben."
„In welchem Anzug, Herr Feldwebel?"
fragte Mehling.
„Patronentaschen, Gewehr, Mütze."
Kraff!
Eine Granate vors Haus.
„Hunde, verdächtige!"
schimpfte einer.
Ich trat vors Haus.
Kramm! in den nächsten
Hof.
Hanfstängel kam. „Lassen Sie trotzdem exerzieren?"
„Kommt der Kompanieführer denn nicht?" „Doch,
der kommt. Aber wir können doch nicht antreten lassen. Ich
denke, wir bleiben vorläufig, wo wir sind." Ramms! Fünfzig
Schritt weiter auf die Straße.
Wir ließen die Züge
im Hause und warteten vor der Tür.
Nach etwa zehn Minuten kam
Schubring.
Hanfstängel meldete: „Wir haben die Kompanie
nicht antreten lassen, wegen des Beschusses."
„Wegen
drei Granaten? - Da können Sie doch nicht einfach das von mir
befohlene Exerzieren absagen! - Lassen Sie heraustreten!"
Ja,
wenn man gewusst hätte, dass es bei drei Granaten bliebe!
„Was
sollen wir exerzieren?" fragte Hanfstängel.
„Ehrenbezeigungen sind das im Augenblick Notwendigste."
Ich
ließ den Zug vorm Hause antreten.
„Stillgestanden! -
Richten Sie sich besser auf! - Wenn wir überhaupt exerzieren,
muss es stramm gemacht werden! Jedem ordentlichen Menschen macht es
Spaß, sich einmal zusammenzunehmen."
Ich rückte
ein Stück die Straße entlang und überlegte immer, wie
ich ihnen sagen sollte, dass wir Ehrenbezeigungen machen müssten,
ohne dass es wie ein Hohn herauskäme.
Ich sagte ihnen gar
nichts, sondern machte ihnen ein strammes Grüßen vor und
ließ sie anfangen. Sie gaben sich Mühe. Ich hatte fast
nichts auszusetzen, und wir waren in fünf Minuten fertig. Sollte
ich es wiederholen lassen? Sie hatten es ja gut gemacht.
Ich ließ
die Gewehre in die Hand nehmen. Das übte ich ein paar Mal. Dann
konnte ich das Gewehr übernehmen lassen und das mehrmals
tun.
Schubring kam. „Weshalb machen Sie Gewehrgriffe?"
„Ich
wollte Ehrenbezeigungen mit Gewehr machen lassen, Herr Leutnant. Aber
sie nahmen das Gewehr so schlecht über, dass ich glaubte, das
erst einmal ordentlich machen lassen zu müssen."
„Das
ist ganz richtig. Fahren Sie nur fort."
So brachte ich drei
Viertelstunden herum. Dann wusste ich nichts mehr. Ich ging zu
Schubring und fragte, was ich jetzt tun sollte.
„Machen Sie
noch irgend etwas! In einer Viertelstunde rücken wir sowieso
ein."
Später erfuhr ich, dass Hanfstängel und Höhle
die ganze
Stunde durch nur hatten grüßen lassen. Die
Leute schimpften, aber nicht auf ihre Zugführer, sondern auf den
Kompanieführer, weil der bei Beschuss exerzieren ließe und
weil sie ihn auch sonst nicht leiden konnten.
„Bei den
andern Zügen", erzählte mir Mehling, „haben sie
sich verschworen, den Kompanieführer erst recht schlecht zu
grüßen." Er lachte.
Ich war unruhig und ging
hinaus, ob ich nicht einen Fleck fände, wo ich etwas für
mich lesen könnte.
Auf der Straße kam mir der
Kompaniefeldwebel entgegen.
„Guten Morgen!" sagte ich.
„Die Leute schreien nach ihrer Löhnung. Hier gibt's soviel
zu kaufen, und sie haben kein Geld mehr."
„Wie soll ich
denn das machen?" rief er erregt.
„Wieso? Sie kriegen
doch das Geld vom Zahlmeister?"
„Nein, keinen Pfennig!
In der Etappe ist ja der Teufel los. Wir Feldwebel haben vor drei
Tagen einen Boten zum Zahlmeister hintergeschickt, er ist noch nicht
wieder da. -Die Leute in der Etappe taugten ja schon immer nichts,
aber jetzt sind's die reinsten Räuberbanden geworden! Besonders
in Brüssel! Natürlich lauter Drückeberger!"
VI.
In der Nacht hatte eine Granate einen Mann und eine Frau des
Dorfes erschlagen. Am Morgen rückten wir weiter vor.
Auf ein
Straßenkreuz ging alle paar Minuten ein Schuss, aber so genau
immer auf denselben Fleck, dass wir nur auf das Feld zu biegen
brauchten und dann wieder auf die Straße.
Vorn war
ununterbrochenes Rollen und hier und da Bersten. Mir war beklommen
zumut. Ich hatte gedacht, wir würden nicht noch einmal ins Feuer
kommen; der Waffenstillstand würde früher eintreten.
Wir
sahen jetzt über eine flache Höhe die ganze Gegend vor uns.
In der Ferne lag ein großes Dorf oder eine Stadt, mit einem
kleinen dichten Wald rechts, aus dem große schwarze
Granatwolken stiegen. Über dem Dorf lag eine Dunstwolke.
Manchmal sah ich auch den Staub auffahren.
Halbwegs zu diesem Ort
lag ein kleines Dorf, in das wir marschierten. Wir erhielten drei
große Stuben in einem Haus zugewiesen. Die ganze Kompanie war
nur fünfzig Mann stark. Die Feldküche fuhr auf den Hof und
machte den Deckel auf, um das Mittagessen auszugeben.
Ramm! ramm!
ramm! Wo die Schüsse saßen, war nicht zu sehen.
„Eine
Granate ist ins Haus gegangen!" rief einer.
Die
Feldküchenpferde bäumten sich - der Fahrer war hinten am
Kessel beschäftigt - und rannten mit der Küche zum Hof
hinaus, Köche und Fahrer schreiend hinterher.
Schwapp! ein
Guss Essen auf die Straße.
Ramm! ramm!
„Mein Zug,
Zeug in die Hand! Mir folgen!" befahl ich. Sie drängten mir
nach hinaus. Nur ins Freie, wenn es schießt!
Ramm! ramm!
ramm!
Ich bog scharf um das Haus. Auf dem Feld waren lauter neue
Granattrichter dicht beisammen.
Ich ging etwa hundert Meter vom
Hause fort und blieb stehen. Hier waren wir wahrscheinlich sicher.
Meine Leute waren dicht hinter mir, Hanfstängel und Höhle
mit ihren Leuten folgten.
„Verdammte Scheiße!"
fluchte Höhle.
Das Feuer ließ nach einer halben Stunde
überall nach. Nur in den Wald krachten noch boshaft die schweren
Granaten, und links davon lag über dem Dorf die Dunstwolke.
Wir
kehrten in unsern Hof zurück. Die Feldküche kam auch. Der
Fahrer führte beide Pferde vorn am Maul und beruhigte sie. Sie
wollten nicht gern wieder auf den Hof.
Gegen Abend kam ein Läufer.
„Die Herren Zugführer möchten zu Herrn Leutnant
kommen."
Er saß auf einem geflochtenen Stuhl und stand
nicht auf, als wir uns meldeten.
„Die Franzosen haben vorn
angegriffen. Sie scheinen einen Offizier und zwei Züge
abgefangen zu haben, die vor einem Sumpf lagen. Genauere Nachrichten
fehlen noch. Jedenfalls haben sie nur wenig Boden gewonnen. - Es ist
möglich, dass wir heute Abend vorn ablösen müssen.
Dann erwarte ich, dass der Geist der Unterordnung unter
die
Fronterfahrung stärker sein wird als kleine Bedenken des
Augenblicks!"
Er entließ uns durch Neigen des Kopfes.
Wir gingen stumm hinaus. Schubring hatte also kein Vertrauen zu uns?
Das brachte mich auf. Habe ich deshalb versucht, deine saudummen
Befehle so gut wie nur irgend möglich auszuführen, dass du
mich dann beschimpfst?
VII.
Am nächsten Tag rückten wir noch ein Stück vor. Die
Franzosen sollten beim Regiment links von uns ziemlich weit
vorgekommen sein. Deshalb legten wir uns nach schräg links in
einem Felde bereit, um den Rücken unseres Regiments und die
Artillerie dahinter zu sichern. Dort schanzten wir kleine Löcher.
Ich setzte mich in einen Granattrichter. Die Sonne schien, aber es
war immerhin November. Es wurde kühl, und ich bekam Hunger,
hatte aber nichts mehr zu essen; denn die Feldküche hatte wegen
der Unordnung in der Etappe heute kein Brot mitbringen können.
Da
kamen zwei von meinen Leuten. „Herr Feldwebel, in dem
verlassenen Haus dort gibt es Kartoffeln. Können wir dahin und
für den Zug welche kochen?"
Der Kompanieführer war
allein unterwegs, seine Läufer wussten nicht, wo. Ich besprach
es mit Leutnant Hanfstängel und Unteroffizier Höhle, und
wir beschlossen, gemeinsam Kartoffeln zu kochen.
„Sehen Sie
mal dorthin!" sagte Hanfstängel. „Das sieht mir doch
recht bedenklich aus."
„Ich beobachte auch schon seit
einer Stunde, dass dort immer einzelne Leute zurückgehen."
„Ich
werde mal hinübergehen, Herr Leutnant", sagte Höhle.
„Ich habe ja der Bande dort drüben schon immer nicht
getraut! Wie die Kerle nur so 'n Maschinengewehr tragen, da weiß
man ja schon alles!"
Höhle kam zurück. „Die
Leute sagen, morgen Mittag wäre Waffenstillstand, und heute um
sechs würde die Stellung hier geräumt, da hätte's
keinen Zweck, sich noch zum Krüppel schießen zu lassen!
Ich hab die Bande gehörig angeniest.
Ich hab sie auch
gefragt, ob sie nicht Offiziere hätten. Nee, sagten sie, der
letzte wäre vorgestern Nacht in einem Haus erschlagen
worden."
Ramm! fuhr es ein Stück vor uns in den Boden.
Vorn schoss es wieder äußerst heftig.
„Was hat
das nur für einen Sinn", sagte Hanfstängel, „jetzt
noch so auf den Stellungen herumzutrommeln und gar noch anzugreifen?
Macht es denn denen da drüben Spaß, nur ja noch einige
totzumachen, solange es noch völkerrechtlich erlaubt
ist?"
„Wahrscheinlich wollen sie ihre Munition
verschießen", sagte Höhle.
„Es ist für
mich kein Grund zum Schießen, wenn es mir Spaß macht",
sagte Hanfstängel.
Die Leute hatten einen Berg Kartoffeln
gekocht. Ein junger, ganz dünner Kerl holte sich seinen ganzen
Stahlhelm voll. Ich blieb wie zufällig an seinem Loch stehen, um
zu sehen, ob er den Haufen bewältigte und ob er sie mit der
Schale äße. Er schälte sie, konnte sie aber doch
nicht alle essen. Die vielen Kartoffeln machten uns - ich merkte es
an mir selbst - zufrieden und träge. Wir saßen in unseren
Löchern. Es schoss immerfort in unserer Nähe. Aber niemand
störte das.
Es begann zu dämmern. Der Mond kam. Das
Artilleriefeuer schwieg von deutscher Seite ganz. Wahrscheinlich
waren unsere Batterien schon abgerückt, damit später die
Straßen für die Infanterie frei wären. Die
französische Artillerie schoss auch nicht mehr so heftig.
Um
sechs Uhr rückten wir ab, ausgeschwärmt über das Feld.
Freute ich mich? Ich fragte mich selbst danach. Ich fühlte mich
befreit von der ständigen Furcht der letzten Jahre. Aber sonst?
Ich wusste nicht, was der Waffenstillstand für Folgen haben
würde, und war unruhig. Aber die Nacht war schön.
VIII.
Wir waren die ganze Nacht durch marschiert und kamen bei
Morgengrauen in eine enggebaute, kleine Stadt mit düsteren
Häusern. Mein Zug lag im Hintergarten einer
Villa, in dem nur
noch einzelne Blumentöpfe mit spärlichen Gewächsen am
Boden standen. Wir schliefen bis Mittag.
Am Nachmittag standen wir
auf der Straße herum.
„Herr Feldwebel!" kam
Mehling lachend. „Hier sind Strafgefangene gewesen, mehrere
Kompanien. Die sind von ihren Bewachungsleuten freigelassen worden.
Und die Strafgefangenen haben sich auf einen Verpflegungszug, der auf
dem Bahnhof stand, gestürzt und haben die ganzen Vorräte an
die Einwohner verkauft. Eine Kompanie unseres Regiments hat
eingreifen müssen."
„Das ist gar nicht
lächerlich!"
Ich fuhr herum. Es war der
Kompaniefeldwebel, der Mehling mit wütenden Augen ansah.
„Die
Verpflegungsvorräte, die sie verkauft haben, das waren nämlich
unsere, von denen wir ein paar Wochen -oder wie lange - leben
sollten!"
„Wie kommt es denn aber, dass der Zug noch
hier steht, obwohl wir die letzten Truppen sind vor dem Feinde?"
fragte ich.
„Die Meuterer haben unsere Feldbäckereikolonne
aufgelöst und in die Heimat geschickt."
„Was?
Woher kriegen wir denn da Brot?" fragte Höhle.
„Das
müssen wir uns selbst backen. Und dazu hatte uns das
Generalkommando den Zug mit Mehl und Zucker und anderen Vorräten
hier stehen lassen."
„Wie sollen wir denn auf dem
Marsch backen?"
„Da fragen Sie nur die Leute, die uns
die Bäckereikolonne aufgelöst haben!" schimpfte der
Feldwebel.
„Ich möchte ja so 'n Kerl da haben!"
knurrte Höhle. „Früher haben sich die Etappenschweine
hinten vollgefressen, und wir haben uns totschießen lassen, und
jetzt fallen sie einem auch noch in den Rücken!"
Der
Kompanieführer kam aus einem Haus. Wir standen stramm.
„Haben
Sie Brot bekommen?" fragte er den Feldwebel. „Nein, Herr
Leutnant. Wir müssen unterwegs backen." „Das geht
doch gar nicht."
„Ich denke doch, es lässt sich
machen, wenn mir Herr Leutnant alle Bäcker der Kompanie zur
Verfügung stellen es sind fünf. Von denen müssen immer
zwei die Nacht durch backen, und in der nächsten Nacht kommen
die andern dran."
„Dass aber das Brot auch gut wird!"
sagte Schubring und ging fort. Ich ärgerte mich. Konnte er
nichts andres zu einem guten Vorschlag sagen?
„Woher haben
Herr Feldwebel denn aber Mehl?" fragte Mehling.
„Ich
habe mir rechtzeitig welches gesichert. - Nur mit dem Zucker wird es
auch bei uns knapp."
Im Laufe des Nachmittags rückten
alle übrigen Truppen aus der Stadt. Nur wir sollten als Nachhut
bis zum Morgen dableiben.
Die Stimmung in der Kompanie wurde immer
schärfer gegen die Banden hinter der Front, vor allem, als die
Nachricht kam, dass in Brüssel die Drückeberger aus den
Spelunken gekrochen wären, in denen sie sich bei den Einwohnern
verborgen gehalten hätten. Und die hätten den Offizieren
die Achselstücke von den Schultern gerissen. Der Anführer
der Bande sollte ein jüdischer Arzt, Doktor Freund - oder so
ähnlich -, sein. Darauf hätte sich die Bevölkerung von
Brüssel erhoben. Die Truppenstäbe und die deutschen
Behörden wären mit knapper Not entkommen.
IX.
Am folgenden Mittag marschierten wir als letzte Truppe aus der
stillen Stadt ab und trafen nach etwa einer Stunde mit dem übrigen
Regiment zusammen. Die fünfte Kompanie kam als neuer erster Zug
unter Leutnant Ssymank zu unserer Kompanie. Die Züge Hanfstängel
und Höhle wurden zu einem verschmolzen.
Die Offiziere hatten
lange Besprechungen. Dann kam der Kompanieführer und rief die
Kompanie um sich. „Ich habe Ihnen mitzuteilen, dass in
Deutschland die Revolution ausgebrochen ist. Seine Majestät der
Kaiser hat sich nach Holland begeben, ebenso der Kronprinz. - Die
Division hat befohlen, dass in jeder Kompanie drei Vertrauensleute zu
wählen sind. Die Züge teilen mir bis morgen je einen
mit.
Ich bemerke noch, dass diese Vertrauensleute keine
Soldatenräte sind wie in Russland, sondern dass sie lediglich
das Vertrauen zwischen Offizier und Mann noch mehr festigen
sollen."
Der Leutnant Ssymank stand vor seinem Zuge mit
zusammengezogenen Brauen. Er hob seine Hand zum Stahlhelm, den er
noch vom Marsch her aufhatte. „Wie meinen Sie, bitte: die Züge
zeigen je einen Vertrauensmann an? Gilt meine Kompanie als drei Züge
oder als ein Zug?"
„Wir können doch nicht für
jedes kleine Privatinteresse einen Vertrauensmann wählen
lassen!"
„Also einer", sagte Ssymank kalt und
deutlich.
„Ich habe weiter nichts bekannt zu geben",
sagte Schubring.
Wir traten weg.
Die Vertrauensleute wurden
ohne jede Aufregung gewählt; bei mir Mehling, bei Hanfstängel
Höhle und bei Ssymank der Gefreite Herrmann, ein etwa
Vierzigjähriger mit einem mürrischen Gesicht.
„Das
ist so 'n Organisierter!" sagte Höhle.
X.
Wir marschierten. Unsere Bäcker hatten in einer Nacht über
die Hälfte des Mehlvorrats verbacken. Aber das Brot war so
klitschig, dass man nur ganz wenig essen konnte. Schubring schimpfte
auf die Bäcker und den Feldwebel.
„Herr Leutnant",
sagte der Feldwebel, „das kann dem besten Bäcker
passieren, wenn er in einem Ofen backen muss, den er nicht
kennt."
„Aber nun haben wir kein Mehl mehr!"
„Ich
werde sehen, dass ich neues bekomme, Herr Leutnant."
Am
nächsten Tage erschien ein zweirädriger Ochsenkarren mit
Mehlsäcken.
Schubring sah ihn sich an. „Ist das auch
mit rechten Dingen beschafft?"
„Jawohl, Herr Leutnant.
Der Verpflegungsoffizier hat einen Gutschein darüber
ausgestellt"
Nach langem Marsch hatte ich in der Nacht an
einer Kanalbrücke einen Doppelposten aufzustellen. Ich selbst
lag mit meinem Zuge in einem Häuschen dicht am Kanal als
Feldwache. Der Mond schien. Ich ging auf dem Damm nach links und fand
in einiger Entfernung den nächsten Posten. Nach rechts hatte ich
eine Patrouille geschickt. Die kam erst nach geraumer Zeit zurück.
„Herr Feldwebel! Wir sind an der nächsten Brücke
gewesen. Da war aber niemand. Deshalb sind wir noch zur übernächsten
gegangen. Dort führt eine große Straße über den
Kanal. Und dort war auch niemand."
Am Morgen schickte ich
noch einmal eine Patrouille dorthin. Die kam schon nach zwanzig
Minuten wieder. „Herr Feldwebel, jetzt stehen belgische Posten
an der Brücke!"
Ich schrieb darüber sofort eine
Meldung an den Kompanieführer, schickte sie ab und saß in
Ungewissheit da. Aber ich erhielt keine Antwort.
XI.
Am nächsten Morgen marschierten wir ab. Es war kalt geworden.
Aber die Sonne schien. Die breite Straße lief gerade durch eine
flache Landschaft, die munter aussah. Am Nachmittag wurde sie
unfreundlich. Die Bäume erschienen mir grau, und der Ort, in den
wir marschierten, sah ungastlich aus. An der düstern Kirche
lehnten Maschinengewehre. Geschütze aller Art standen auf dem
Friedhof.
Eine unserer Maschinengewehrkompanien hielt davor und
schaffte ihre Maschinengewehre hinein. Das waren Waffen, die nach dem
Waffenstillstandsvertrag den Feinden auszuliefern waren. Die würden
sie im Regen stehen lassen, und bald wäre alles altes Eisen.
Wir
marschierten wohl zwei Wochen lang durch das flandrische Belgien und
kamen dann in den französisch sprechenden Teil. Wir marschierten
immer als ständige Nachhut einen Tagesmarsch vor den uns
folgenden Feinden. Vor den Häusern standen Zivilisten, sahen
voll Hass nach uns und schimpften.
Wieder sollten wir Mehl und
Zucker empfangen, und wieder hatten die Truppen vor uns alles zu
Spottpreisen an die Bevölkerung verkauft. Die Stimmung gegen die
Revolutionäre wurde noch schärfer, vor allem durch Höhle
und den Gefreiten Mann geschürt, während Herrmann, der
Sozialdemokrat, versuchte, die Stimmung lau zu erhalten. Dieser
Herrmann mit seinem immer mürrischen Gesicht war wie ein kleiner
Beamter und gegen jede entschiedene Tat.
XII.
In der Nähe von Lüttich hatten wir einen Rasttag.
Mehling ging mit mehreren nach Lüttich hinein. Ich ging nach
einem nahen Fort und sah mir die tiefen Gräben und gesprengten
Betonbauten an. Vor einem großen Gutshof stritten sich Leute
unseres Regiments mit einem Belgier.
„Herr Feldwebel!"
wendete sich einer an mich. „Wir haben einen Gutschein über
Stroh vom Verpflegungsoffizier bekommen, aber der Mann hier will
keins herausrücken."
„Weshalb denn nicht?"
„Er
sagt, dann behielte er nicht genug. Aber er hat die ganze Scheune
voll."
„Da müsst ihr euch an einen Offizier
wenden. Wenn ich dem Gutsbesitzer was sage, das macht ihm doch keinen
Eindruck."
Erst spät kam Mehling aus Lüttich zurück
und erzählte, dass die ganze Stadt beflaggt wäre.
Franzosen, Engländer und Belgier waren schon dort. In den Cafes
saßen sie. Die Marseillaise wurde gespielt und hurra
geschrieen. Mehling war noch voll Freude und Glanz davon. Aber ich
war traurig. Das verfluchte Vaterland stand mir doch nah!
XIII.
Am nächsten Morgen ging es auf einer langen Brücke über
die Maas, die hier ein recht stattlicher Fluss ist. Dann schlängelten
wir uns am andern Ufer Stunde über Stunde die Höhen hinauf.
Bei Dunkelwerden marschierten wir in ein Tal mit einem Kirchdorf
drin. Es war kalt. An einer Brücke, unter der ein Bach brauste,
hielten wir. Die Quartiermacher kamen.
„Wie ist's
hier?"
„Gute Quartiere!" riefen sie.
Wir
rückten auseinander. Ich merkte auf einmal einen Schmerz am
rechten Fuß, wo meine Wunde gewesen war. Es war nicht der
Schmerz wie von einer Blase, sondern ein dumpfer innerer Schmerz.
Wir
gingen an einem steilen Grashang mit Obstbäumen entlang und
kamen zu einem einzeln stehenden Fachwerkhaus. Die Holztreppe darin
war wie poliert und der Flur im ersten Stock rings mit dunklem Holz
ohne Verzierung verschalt. Ein paar Truhen, Brettstühle und eine
hohe Uhr standen an den Wänden.
Aus einem Zimmer kam ein
junger Mann mit seiner Frau und lud uns freundlich in eine große
Stube, in der Matratzen und Decken am Boden lagen.
Ich zog mir
sofort die Stiefel aus und betastete den Fuß. Die Narbe am
Fußballen war empfindlich. Wir marschierten ja aber schon drei
Wochen. Ich ging in die Küche und fragte nach warmem
Wasser.
„Blessé?" fragte der Mann und deutete
auf meinen Fuß.
„Oui, monsieur."
Er stand
sofort auf. Seine Frau brachte einen Kübel und einen Stuhl, dass
ich gleich bei ihnen den Fuß ins Wasser hängen könnte.
Dann saß ich auf meinem Stuhl und sie am Herd. Draußen
schien der Mond kalt auf den Wiesenhang. Es mochte schon wieder
gefroren haben. Die beiden Leute sahen gesund aus. Sie waren
schweigsam und zufrieden. Wozu soll man auch herausschwatzen, was der
andere weiß?
Ich war glücklich in dem Haus.
XIV.
Beim Antreten am nächsten Morgen schimpften Ssymank und
Hanfstängel auf die widerlichen Einwohner des Dorfes. Sie hatten
beim Pfarrer gelegen, und der hatte ihnen Wasser zum Waschen, und was
er nur konnte, verweigert. Als sie
ihn darüber zur Rede
stellten, hatte er von Barbaren und Boches gesprochen, die man
totschlagen müsste. Ssymank war so wütend geworden, dass er
auf den Pfarrer losgehen wollte. Aber Hanfstängel hatte ihn
zurückgehalten.
Darauf hatte sich Ssymank in seiner Wut an
den Pfarrer gewendet: „Sie sind ein Schwein!" und war
hinausmarschiert.
Wir marschierten flott in den trüben Tag
hinein. Mein Fuß hatte sich gut erholt. Heute sollte es über
die deutsche Grenze gehen.
Am frühen Nachmittag trat eine
Marschstockung ein. Wir schoben uns aus einem Grunde immer ein paar
Schritte gegen ein Dorf vor.
In der Kompanie waren sie guter
Laune. „Noch einmal eine Wagenlänge, einen - Jupp!"
riefen sie im Chor. Dann fingen welche an zu singen:
„Denn
dieser Feldzug Ist ja kein Schnellzug. Wisch deine Tränen ab Mit
Sandpapier."
Nach zwei bis drei Stunden erreichten wir das
Dorf und eine Wegegabel. Dort kam von links die Marschkolonne einer
fremden Division und aus dem Grunde unsere Kolonne auf dieselbe
Straße. Unser Regimentskommandeur hielt da zu Pferde und
versuchte sein Regiment vorwärts zu bringen. Von der fremden
Division war ein General da. Er stand neben seinem Auto, das auf dem
Platz vor einem Cafe hielt. Leute aller Truppengattungen standen
dort, saßen auf Prellsteinen und Stühlen und bliesen über
Kaffee, der in dem Metallbecher erst abkühlen musste, bis man
die Lippen daranbringen konnte. Andere kippten einen Schnaps hinter.
Mehling hatte sich schon durch die Menschen ins Cafe gedrängt.
Ich wusste, wir hatten noch über zehn Kilometer bis zur Grenze
und mussten auch dann noch sicher eine Strecke weit marschieren. Ich
setzte mich an den Straßenrand, um meinen Fuß zu
schonen.
Erst in der Abenddämmerung kam unsere Kolonne wieder
in Gang. Wir waren müde vom vielen Warten. Als es nach
anderthalb Stunden wieder zu stocken begann, schrieen sie wieder:
„Noch einmal eine Wagenlänge, einen - Jupp!" Dann
sangen sie:
„In Hamburg, da bin ich gewesen, In Samt und
Seide gehüllt. Meinen Namen, den darf ich nicht nennen; Denn ich
bin ja ein Mädchen für Geld."
Sie sangen es gedehnt
und schwermütig in die Nacht. Einige hatten sich gesetzt. Ein
Artillerieunteroffizier kam entlanggeritten. „Straße
frei!"
Sie standen fluchend auf.
Ein Auto kam mit einem
General.
„Der kann ooch loofen wie wir!"
Der Marsch
kam wieder in Fluss.
Wieder überholte uns ein Auto. „Straße
frei!" Darin lagen vier Fliegermannschaften mit schiefgesetzten
Mützen.
„Was haben die zu fahren!"
„Fußlatscher!"
rief einer höhnisch aus dem Auto.
„Reißt sie
heraus, das sind Etappenschweine!"
Einige drangen nach dem
Auto. Aber das sauste rücksichtslos in die Leute vor uns. Die
sprangen beiseite. „Licht aus!" schrie einer, aber nicht
mehr harmlos. Das Auto entschwand.
Stockend ging es weiter. Der
Ruf: Licht aus! wurde immer häufiger.
Wir näherten uns
einem Gedröhn fahrender Wagen. „Wir kommen an die
Grenzstraße", sagte Hanfstängel. „Wie weit ist
es noch, Herr Leutnant?" „Ich schätze: noch
anderthalb Stunden, wenn wir frei marschieren."
„Da
mach ich nicht mehr mit, Herr Leutnant", schimpfte ein
Unteroffizier.
„Wir brauchen dich auch nicht", lachte
Mehling. „Leg dich nur in den Straßengraben. Wir suchen
uns unterdessen ein besseres Quartier."
Einer lachte. Der
Unteroffizier murmelte etwas vor sich hin.
Das Dröhnen war
schon nah. Jetzt erkannte ich die Straße, die quer zu uns
verlief. Von rechts kamen in zwei Reihen nebeneinander schwere
Geschütze.
Wir kamen ganz langsam an die Straße
heran.
„Herr Leutnant!" rief jemand, der bei der
Dunkelheit und dem Gewirr von Menschen, Pferden und Wagen nicht zu
erkennen war. „Herr Major lässt sagen, die Kompanien
sollen sich hier im Straßengraben vorschnüren."
Nun
ging es, bald langsam, bald halb rennend, einer hinter dem andern auf
dem unebenen Grund des Straßengrabens. Mein Fuß begann zu
schmerzen. Ich versuchte ihn gleichmäßig und sicher
aufzusetzen, aber das machte nur mein Fußgelenk müde.
Gegen
elf Uhr, während rechts immer noch die Wagen und Geschütze
auf der Straße dröhnten, stiegen links von der Straße
düstere Fabriken auf. Wir hielten.
„Warum geht's nicht
weiter? Wir wollen ins Quartier!"
Der Leutnant Schubring
stand stocksteif da und sah auf die vorbeiratternden Wagen.
„Wir
können auch ohne Führer auskommen!"
„Haltet
doch euer Maul!" rief Höhle. „Herr Leutnant kann doch
die Quartiermacher nicht herzaubern. Wisst ihr etwa, wohin wir
müssen?"
Wir warteten. Sogar der beliebte Hanfstängel
wurde von seinen Leuten angepöbelt.
Mehling sagte mir
heimlich: „Wenn Herr Feldwebel mal mein Gewehr nehmen, geh ich
nach den Quartiermachern suchen. Die stehen sicher hier wo an der
Straße, und man braucht nur alle zwanzig Schritt zu
brüllen."
Ich trat zu meinem Zug und sagte ihnen, dass
Mehling suchte.
„So ein Kotz!"
„Das könntet
ihr aber im Krieg gelernt haben, wo man Quartiermacher
hinstellt!"
„Wann werden wir denn entlassen, Herr
Feldwebel?" fragte eine dünne Stimme.
„Das weiß
ich nicht", sagte ich.
„Du wirst überhaupt nicht
entlassen! Der Kotz geht so weiter. Wir müssen eben selbst
fortlaufen!" Es wurde recht kalt.
Endlich nach anderthalb
Stunden hatte Schubring die Quartiermacher gefunden. Er war ihnen
grob geworden, und sie hatten ihn angebrüllt: „Wenn Sie
nur Ihren Dreck ordentlich machten!"
Mehling fehlte.
Wir
marschierten bei Mondschein eine Straße seitlich ab, auf der
wir allein waren. Die Felder rechts und links sahen schwarz aus.
Wieder auf festem Straßengrund zu marschieren, tat wohl. Aber
mein Fuß tat sehr weh.
Nach Mitternacht kamen wir in ein
kleines Dorf. Da ragte ein mächtiges Gebäude. Die Tür
öffnete sich. Ein rötliches Licht drang heraus. Ein Mann
stand in der Tür.
„Wo kommen wir hin?" fragte
einer grob.
Auf einmal erschien Mehling. „Benehmt euch mal!
Der Herr Mühlenbesitzer hier hat Kaffee machen lassen, und wir
haben einen geheizten Saal."
„Kommen Sie nur herein",
sagte der Mann freundlich. „Da die Treppe hinauf! Ich kann
nicht so schnell wie ihr."
Oben in dem Saal lagen Strohsäcke.
Der Mühlenbesitzer ging unter uns umher und fragte, ob wir genug
Wasser hätten, und: „Dort ist der Abort, gleich draußen
rechts."
„Machen wir Schinkenklopfen?" fragte ein
junger Kerl.
„Du bist wohl verrückt! Ich habe ganz
genug von dem Marsch."
XV.
Unsere Feldküche und die andern Wagen trafen erst gegen
Mittag ein. Sie machten gleich den Küchendeckel auf und gaben
Kaffee aus.
„Immer auf dem Damm?" fragte Höhle.
„Wir
gehören doch nicht zu dem Gesindel wie bei den andern Wagen, das
nie an der Front war und nun sein Maul aufreißt!"
„Machen
die sich mausig?"
„Aber lausig!" sagte der andere
Koch. „Und dabei haben sie gar nicht mitzusprechen, lauter
halbe Leute, halb blind oder halb taub oder mit Herzfehler! Und ich
glaube nicht mal an die Fehler! Die haben nur nicht vorgewollt!"
„Das
sind alles Scheißer!" sagte der Küchenfahrer und
führte seine schweren Pferde in den Stall.
„Wenn die zu
frech werden", sagte Höhle, „dann sagt's nur. Denen
wollen wir schon was vorgeigen!"
„Das brauchst du
nicht", lachte der schwächere von den
beiden Köchen.
„Die Bande nehm ich schon allein auf. Und der Max, der ist doch
im Athletenklub in Dessau gewesen, und die haben gestaunt!"
Am
Nachmittag marschierten wir ab und kamen bei Anbruch der Dunkelheit
nach Aachen. Alle Häuser waren beflaggt. Unsere Musik spielte
ein Stück vor uns, und die Trommel schlug sich an den Häusern,
aus denen Menschen sahen. Menschen begleiteten unseren Marsch.
Wir
waren die letzten deutschen Truppen vor den einrückenden
Belgiern und Franzosen.
Am Tage darauf rückten wir auf den
Bahnhof und warteten da bei strömendem Regen auf den Zug. Es war
längst Nacht geworden, als er eintraf. Es waren alles Viehwagen
mit Schiebetüren. Wohin wir fuhren, wussten wir nicht, nur, dass
es noch nicht gleich nach Hause ging.