Dieses Buch ist Herbert Becker gewidmet, der im Oktober 1933 an der Saar von Nationalsozialisten aufgespürt und erschossen wurde.
Ein Saarländer hat dieses Buch geschrieben, der einmal glaubte, auf den blutigen Höhen des Chemin des Dames sein Elternhaus verteidigen zu müssen. Heute ist ihm dieses Elternhaus verschlossen durch die Bilder der Mörder seiner Freunde, durch die Bilder Hitlers und Görings, die groß aus den Fenstern der väterlichen Buchhandlung drohen. Aber der Verlust ist wettgemacht: der Autor hat erkannt, wo die wahren Feinde seiner Heimat stehen, hat es erkannt, wie Herbert Becker, wie Zehntausende von Saarkumpels, deren Hütten - eine neue Heimat -dem Autor offen stehen und in denen andere Bilder hängen, Bilder, die stolz machen, zum Kampf anfeuern und die länger hängen werden, die Bilder von Thälmann und Dimitroff.
Zu deinem Andenken, Herbert Becker, Kampfgenosse!
1.2. Der deutsche Reichstag wird aufgelöst.
Hitler verspricht zwei große Vierjahrespläne.
10.2. Explosionsunglück in Neunkirchen.
24.2. Karl Liebknecht-Haus besetzt.
27.2. Göring lässt den Reichstag anzünden.
28.2. Massenverhaftungen.
Die Explosion
Durch die Schutt- und Kohlenhalden über die kahlen Wälder zwischen Elversberg und Neunkirchen blies ein kalter Abendwind. An den braun verstaubten Rohren der Ferngasleitung reifte der nächtliche Nebel.
Vögel schrieen aus hungriger Einsamkeit. Der Vollmond ging auf. Es war 17 Uhr 20 Minuten mitteleuropäischer Zeit am 10. Februar 1933.
Ein Lieferauto donnerte eben die Landstraße hinab. Leere Bierfässer tanzten unter den Seilen des Verdecks gegeneinander und klapperten ein grobes Konzert in die sterbestille Mondlandschaft.
Die Röhren der Ferngasleitung vibrierten von den Stößen des Wagens und berührten leise den Lehm der Halden, an deren Seitenwänden sie festgebunden hingen. Ein längst gestorbenes Blatt löste sich von seinem Baum und glitt in den Sumpf. Dann war wieder Stille in der Wald- und Haldenschlucht. Es war jetzt 17 Uhr 35 Minuten mitteleuropäischer Zeit.
Plötzlich hörte man aus dem Wald gen Elversberg Flüstern und eilige Schritte. Dann standen schmale Figuren am Rande der Kläranlage. Ein halbes Dutzend Männer. Einer von ihnen sackte mit seinem Bein in den Morast. Er schrie kurz auf, wurde gepufft, verstummte und ließ sich von zwei Kumpanen aus dem Schlamm auf festes Land reißen.
Da standen sie jetzt zwischen Wald und Sumpf im Mondlicht. Sie schleppten Säcke auf den Schultern, ihre Gesichter
waren verrußt; in den Händen hatten sie Haupickel, es waren heimliche Kohlengräber.
Am Wegrand hielten sie an, warfen die Säcke stöhnend von den Rücken, wischten sich umständlich den Schweiß aus den Augen, setzten sich nieder. Ein Pfiff scheuchte sie sofort wieder auf. Sie krochen schleunigst hinter die Büsche, die den Chausseegraben überhöhten.
Ein Auto näherte sich in langsamem Tempo. Die Lichtarme der Scheinwerfer tasteten den Wald ab. Im Busch schimpfte einer der Männer: »Ich mache nicht mehr mit!«
»Schnauze«, verwies ihn ein zweiter.
»Es kommt doch nichts bei raus«, flüsterte erregt ein anderer. »Und sie schnappen uns zum Schluss noch und leeren uns die Säcke!«
»Feiglinge, mit euch gehe ich zum letzten Mal, haltet das Maul, da kommt ein Auto, können Landjäger drin sein oder Grubenhüter.«
Das Auto schlich merkwürdig langsam heran.
»Ich hätte mir beinah noch die Beine zerschlagen heut«, jammerte mit unterdrückter Stimme wieder einer der Gräber. Sie waren alle erschöpft und stöhnten der Reihe nach.
»Wenn sie uns schnappen, gibt’s Kahn, es ist doch Diebstahl«, ängstigte sich einer der Anfänger.
»Diebstahl! Diebstahl!« höhnte ein letztes Mal der Führer. »Als wenn der Franzose etwas anderes macht. Der hat doch alles geklaut, wir holen uns nur die deutsche Kohle wieder zurück. Verstanden!«
Nun verstummte das Geflüster, das wie ein unfreiwilliges Krächzen heiserer Raben geklungen hatte. Das Auto war an die Abladestelle der Säcke herangekommen und hielt mit stukkerndem Motor. »Verdammt«, sagte der Führer der Schwarzschürfer und äugte durch die Büsche und wieder rückwärts, wo der Weg zur Flucht blieb.
Aus dem Auto sprang ein Mann. Er achtete nicht auf die Kohlensäcke, ging ein Stück seitwärts, breitbeinig und steif, und schlug sein Wasser ab.
Aus dem Chauffeurverschlag kam eine zornige Stimme: »Mach los, sie können doch hinter uns her sein!«
Der Andere lachte: »Mensch, ich muss, und wenn sie uns schnappen. Es ist auch kaum mehr mit zu rechnen. Wir sind doch schon fünfzehn Kilometer von der deutschen Grenze weg.«
»Mach los«, knurrte der Chauffeur. »Ich will mein Auto nicht sehen lassen. Dein verdammter Sprit ist keinen Ford wert.«
Der Mann am Wegrand schloss behaglich den Hosenlatz. Er lachte:
»Sie erwischen uns schon nicht. Die Preußen sind genau so dumm wie der Schangel. Alles eine Blase. Na denn mal weiter!« Er stieg auf.
Der Fahrer kuppelte ein und gab donnerndes Vollgas, der Wagen flog mit einem Ruck nach vorn.
Im Busch erhoben sich die Männer. »Spritschieber«, sagten sie und gingen zu ihren Säcken.
Es war jetzt 17 Uhr 50 Minuten mitteleuropäischer Zeit.
Als sie ihren versteckten Wagen aus einem Seitenweg zogen, die Säcke aufgeschmissen hatten und nach Elversberg abzogen, trafen sie auf einen Kumpel, der von Grube Heinitz aus der Schicht kam. Sie fürchteten jetzt nichts mehr. Sie grüßten den Kollegen; der antwortete freundlich: »Nabend«, und ging weiter auf Neunkirchen zu.
Es war jetzt 17 Uhr 55 mitteleuropäischer Zeit. Die Spritschmuggler fuhren schon durch die Straßen von Bildstock, die Kohlenmänner drückten sich gen Elversberg auf Waldwegen an die heimischen Häuser heran. Der Kumpel schritt Niederneunkirchen zu und dem Eisenwerk mit dem 80 Meter hohen Gasometer, der oben über der Stadt mitten unter den Zwerghäusern der Saarbrückerstraße stand. Der Kumpel rechnete sein Gdinge aus, dachte an sein letztes Gespräch mit dem Divisionär: der sieht immer so sanft aus, als wenn er nicht bis drei zählen könnte. Und heimlich schnüffelt er und legt jeden ab, der ihm nicht passt. Sind alles Schweine!
Der Kumpel fasste den Stock fester und stieß ihn wütend in den Schotter der Landstraße. Da kam der Schlag.
Gleichzeitig mit dem dumpfen Geräusch, das ein furchtbares Gesicht am Horizont schwarz und ungeheuer groß hochsteigen ließ, kam der taube Schlag ins Gesicht, wie von einer Riesenfaust gezielt. Der Kumpel wankte.
Es war jetzt 18 Uhr 7 Minuten mitteleuropäischer Zeit.
Durch das Neunkirchener Eisenwerk ging das vielfältige Geräusch der Nachmittagsschicht. Aus verlöschenden Glühkohlen stiegen zischend breite, heiße Schwaden und hüllten die Kokerei in gasigen Wasserdampf. Blutrot und bedrohlich knatternd schwelten die Feuergarben aus den Batterien der Hochöfen. Loren donnerten durch das Schienengewirr, die Kräne schwenkten kreischend über die leeren Züge und ließen aus geöffneten Krallen Schotter und Roheisen niederpoltern.
Um den Riesengasometer nah der Wohnsiedlung der Schlawerie brodelte der Dampf der Kühlerpyramiden. Der mächtige Turm stieg in drei sauber gehämmerten Etagen ruhig auf in den wirren Geräuschen. An seinem Fuß hockten ein halbes Dutzend Arbeiter; Zwerge mit winzigen Hämmern klopften am Sockel des Riesen, der in den Abend ragte, als sei er für die Ewigkeit gebaut, und es vereinigten und beruhigten sich alle aufgeregten Werkvorgänge in seinem majestätischen Zylinder.
»Es muss schon bald sechs sein«, sagte einer der Männer in der Tiefe. »Wir schaffen das so nicht mehr.«
»Ich versteh nix davon,« knurrte ein anderer. »Da kannst du hämmern, das hält wie Gift.«
»Wir werden Überstunden machen müssen -- «
»Sag das noch mal, aber pass auf, dass keine Ohren herumlaufen, die es hören.«
Der Gewarnte lachte: »Dann geh ich noch mal mit dem Schweißer dran, verstehste.«
»Von mir aus. Jedenfalls mache ich keine Überstunden mehr.« Er höhnte: »Da steht neuerdings Todesstrafe drauf. Von der Generaldirektion.«
Wenige Minuten danach zischte mit weißem Licht das wütende Feuer gegen das Stahlblech.
»Halt«, rief einer der Arbeiter, »ich schlage jetzt mal drauf.«
Ein kurzer Hammerschlag knallte in das surrende Gebläse. Der Arbeiter hob entsetzt den Kopf. »Da kommt Gas«, schrie er und sprang in die Höhe. Die Männer wichen ein paar Schritte zurück.
Eine mannshohe Flamme sengte ihre Gesichter an, stieg nach oben, knatterte in wilder Detonation in den Abend. Die Männer ließen das Gebläse und den Hammer fallen.
Miteinander liefen sie ins Werk hinein. Jeder spürte nur das Klopfen des Bluts in der Brust. Sie stolperten nebeneinander über Schienen und Schlacken. Riesengroß hob sich hinter ihren Rücken der Tod. Sie liefen um ihr Leben. »Jesusmaria«, stammelte einer. »Jesusmaria!«
An einem Fenster der kleinen Häuser gegenüber dem Gasometer stand im Dämmerlicht des Abends die Frau des Walzwerkmeisters Schlick. Die schönste Stunde des Tages war da; der kleine Hans schlief, der unermüdliche Frager und Quäler; noch ein Streicheln über seine Stirn, dann zurück den Vorhang und jetzt schlafen! Die Frau griff den Bergmannskalender vom Küchenschrank, den ihr der Bruder gestern dagelassen hatte. »Es stehn Stückchen drin und auch etwas über den Kleinen, wie man ihn großfüttert - na das wüssten wir schon, wenn wir genug in die Düte kriegten«, hatte er gesagt. Man kann das Licht noch sparen, dachte die Frau und ging ans Fenster.
Ein Photo blätterte auf; sie las die Unterschrift: Paris, die Cité, der älteste Kern der Stadt. Das ist Wasser ringsum, sah sie, und das ist sicher eine Kirche. Das ist vom Flugzeug aufgenommen. Schön muss die Stadt sein. Wenn unsereins mal dahin könnte.
Sie drehte sich um. Nie kommt man weiter als auf die nächste Kirmes. Sie sah das Bild wieder an. Das liegt wie ein Schiff da. Zu Weihnachten hat Hans auch ein Schiff gekriegt. Es ist schon kaputt. Sie blätterte um: Place de l'Etoile mit dem Triumphbogen. Wie lauter Tortenstücke ist die Stadt geteilt, dachte Frau Schlick und musste lachen. Warum das Tor da in der Mitte stand, ging ihr nicht ein. Die Wagen fuhren doch alle drum herum. Sie betrachtete das Verkehrsgewimmel um den weißen Steinbogen. In Paris gab es sicher viele Millionäre. Sie dachte an ihren Mann. Der sagte immer: sie sind reich durch unsre Knochen. Versailles hat sie reich gemacht. Politik - sie verstand nichts davon. Wenn man nur zu leben hatte. Gut, dass Schlick fleißig war und sich nicht so vorwagte mit dem Maul. Die Nachmittagsschicht musste übrigens doch bald zu Ende sein. Frau Schlick blätterte zum neuen Bild um: das Pantheon, buchstabierte sie, da fiel der rote Lichtschein über die Seite. Ganz grell traten die Hallen und die Kuppel des fremden Gebäudes in ihre Augen. Sie hob verdutzt die Augen und sah drüben den Flammenschein an der Wand des Gasometers hochlaufen. Da kam auch schon der erste Schlag.
Katharina Schlick stürzte in die Stube, griff sinnlos ein Glas vom Tisch, stieß einen Stuhl um; das Kind erwachte und rief. »Ja, mein Kleiner«, sagte sie und kniete neben seinem Bett nieder.
Das Kind begriff nicht, warum die Mutter sich so breit über
seinen Kopf legte. »Nein!« hörte es die Mutter schreien. Dann fegte zerreißend das Todesgewitter durchs geöffnete Fenster, zerschnitt das Gehör der beiden, stopfte ihre Lungen mit mörderischen Fäusten und begrub die grausam Erwürgten unter niederkrachenden Steinen und splitternden Möbeln.
Am Werkeingang drüben raste ein Stahlbrocken von Armlänge dem fliehenden Arbeiter Albert Schlick in den Rücken und streckte ihn zu Boden.
Der Gasometer war verschwunden. Auf den Hügeln um die Stadt klatschten seine Trümmer in den Boden. In den geborstenen Mauern der Arbeiterhäuser steckten sie; blutüberflossen ragten sie aus halb bedeckten Leichen am Rand der Straße. In siebzigfachen Tod hatte sich der Behälter verwandelt, achtundzwanzig Häuser hatte er rasiert. Die brennende Benzolfabrik in der Tiefe des Werks beleuchtete mit unruhigem Licht die Verwüstung. Nach dem Kohlenwald zu wankte fassungslos die dunkle Karawane der Frauen aus der Schlawerie. Man hatte sie aus den aufgerissenen Häusern holen müssen. Sie hatten am Boden gesessen neben umgestürzten Möbeln, bedeckt mit Glassplittern, überrieselt von Kalk, willenlos. Rufe weckten sie aus ihrer Lähmung.
»Es kommt noch eine Explosion!« schrie jemand, da erwachte der Rest von Leben in ihnen, und sie kamen vor die Türen. Nun gingen sie in die Nacht, begleitet von Kumpels, die ihnen Nachtlager versprachen. Weinend stapften sie durch die rötlich beleuchtete Landschaft. Autos sausten an ihnen vorbei, Wagen der Regierung, Sanitätswagen.
Bei den Schutthaufen der Schlawerie waren Kolonnen junger Arbeiter erschienen, sozialistische Jugend, junge Männer vom Roten Frontkämpferbund. Sie rissen die Trümmer auf, brachen Wände nieder, suchten nach Leichen und Verwundeten. Der zweite Alarmruf kam. Die Benzolfabrik konnte jeden Augenblick einstürzen und neue Vernichtung über die Stadt werfen. Die Neugierigen rasten die Straßen hinunter, die Landjäger warnten kurz, dann zogen sie sich ebenfalls zurück.
Der junge Werner, ein erwerbsloser Metalldreher, sah den Rückzug. Sieht euch ähnlich, dachte er. Aber meinetwegen. Jetzt können wir ungestört arbeiten. Später, wenn die Luft sauber ist, kommt ihr ja doch mit euren Vorschriften und hindert uns. Er riss eine lockere Tür aus den Angeln. Eine grenzenlose
Wut saß in seinen Fäusten. So ging man nun mit Proleten um. Sagte jahrelang, dass so ein Ding absolut sicher ist, und dann knallt es weg. Erschlägt die Frauen mitten in ihren Häusern. Und Schuld hat nachher keiner.
Er schmiss die Tür hinter sich, setzte den Spaten in den Schutt. Ein Bildrahmen stieß an die Schaufel. Er hob die Leiste hoch. Ein Herz-Jesu-Bild. War nicht vorhin ein Pfarrer da? Das steht dann morgen in der Zeitung. Aber wo ist der Mann? Da, mit den Landjägern! In drei Tagen wird er wiederkommen, wenn die Beerdigung ist. Dann wird er eine Rede halten. Man müsste einen Sprechchor auf dem Kirchhof machen. Wir müssten einen Redner haben. Mensch, warum haben wir Arbeiter so etwas nicht. Er stocherte in dem Dreck. Wieder ein Bild. Er grub weiter und stockte, seine Schaufel war auf weiches Fleisch gestoßen. Vorsichtig scharrte er Kalk und Steinbrocken auf die Seite. Ein Bein kam zum Vorschein. Er bückte sich und arbeitete mit den Händen weiter. Ein Möbelstück lag über dem Körper. Noch war Hoffnung. Werner räumte hastig, sein Kopf fieberte, seine Hände rissen in Nägel. Blut tropfte in den staubigen Schutt. Ein Mensch war dem Tod zu entreißen, die Frau eines Arbeiters, der auf dem Nachhauseweg war, den er, Werner, empfangen konnte: Haste Schwein gehabt, Kollege, wir haben ihr den Atem freigemacht, als es gerade noch langte. Mensch, und die Freude. Ich könnte vieles vergessen dann. Werner stemmte sich gegen die Bretter des fest eingeklemmten Möbels. Er hatte die Hand in der Höhle, die über dem Menschen freigeblieben. Er konnte schon nach dem Körper greifen, aber er wollte ihn erst ganz freilegen.
Die Bretter gaben nach. Werner sah in die Höhle und schrak zurück. Dann schaute er noch einmal ganz genau hin, wie ein Arzt, sachlich prüfend und als sei er nicht beteiligt. Er wollte die Bretter fallen lassen und wegtreten, wie man von einem Grab wegtritt. »Die ist hin,« sagte hinter ihm die Stimme seines Freundes. »Holen wir sie raus«, sagte er traurig.
Sie trugen die Tote über die Steinhaufen auf die Straße. An der Schwelle stolperten sie, und die Last, die beinahe aus ihren Händen glitt, schien plötzlich doppelt schwer. Sie will nicht fort, dachte Werner und überblickte noch einmal die bis auf den letzten Stein niedergerissenen Wände. »Dann geh doch schon«, forderte der Kamerad. Werner packte den Rock der Toten fester um die steifen Schenkel und ging weiter. Sie stapf-
ten die mit Trümmern besäte Straße hinauf zu den Sanitätswagen.
Die Halle der Benzolfabrik knisterte in kleinen Explosionen. Kommandorufe in der Tiefe brüllten gegen den Lärm des immer stärker werdenden Brandes. Jetzt könnt ihr schreien, dachte Werner und stapfte über die Fetzen des Gasometers. Jetzt gibt’s auf einmal Polizei und Landjäger und Feuerwehr. Jetzt sind eure Autos da. Er sah ein verchromtes Chassis aus dem rötlichen Dämmer aufblitzen. Er ging mit bitterer Entschlossenheit auf die Rote-Kreuz-Wagen zu.
So müsste man alle Toten durch die Stadt tragen, durchs ganze Saargebiet. Nicht in Särgen, nein, so öffentlich. Er ließ nicht mehr ab von dem Gedanken. Ob sie dann riskierten, den Mund aufzumachen?
Als sie ihm eine Bahre vor die Füße schoben, zögerte er einen Augenblick, seine Last abzulegen. Er sah schon die Beerdigung vor sich. Zylinder, Vereinsfahnen. Aber die Toten kriegten einen Deckel über die zerquetschten Schädel. »Aus welchem Haus ist sie«, fragte ein dicker Landjäger. Werner sah ihn von oben bis unten an. Dann drehte er sich um. Kein Händel jetzt. Außerdem gab es da hinten andere, die vielleicht noch zu retten waren.
Sie passierten einige Häuser, die nicht der ganze Stoß der Explosion getroffen hatte. Die Türen waren eingestoßen, die Fensterrahmen hingen gebrochen mit winzigen Glaszacken über die geborstenen Wände. Ziegel waren aus den Dächern gerissen, aber der Tod schien hier nicht eingekehrt. »Hör mal«, sagte der Kamerad zu Werner und blieb stehen. Aus einem der Häuser kam ein lautes schmalziges Geschrei eines Menschen, unterbrochen von einem Knattern, wie es kleinen Blitzen zu folgen pflegt. Über die schmutzige Fassade des Hauses zuckte der Feuerschein der brennenden Fabrik. In die Löcher der eingebrochenen Fenster floss das rote Licht wie in tiefe Gruben; schwarz standen sie in dem Flackern. Die Burschen stierten hinein, vorgebeugt und voller Spannung.
Die Stimme, die aus der Wohnung kam, schien ins Hundertfache übersteigert. Werner hörte sie und stellte sich einen alten Mann vor - warum, konnte er nicht sagen -, der dort am Boden saß, von allen seinen Leuten verlassen, irrsinnig geworden durch den Knall, wie ein Hund bellend, erbärmlich jaulend, sinnlos. Immer lauter wurde die Stimme, riesengroß
wurde sie, und nun unterschieden die beiden, die mit stockendem Atem still auf der Straße standen, auch schon einzelne Worte. Bis jetzt waren sie nicht sicher gewesen, aus welchem der kleinen Häuser die Stimme kam, wo der Unglückliche saß und seinen irren Fluch ausstieß, nun fiel aller Zweifel, welche Wohnung den so grausam Gestörten mit den wackligen Mauern umhüllte.
Sie gingen näher an die Fassade des Zwerghauses heran. Die Stimme war nun ganz deutlich zu verstehen. Sie war auch nicht mehr jammernd; überlaut und böse schwoll sie aus den Fenstern und durch die zersplitterte Tür. Ein Grauen beschlich sie, das natürliche Grauen vor der unbestimmten Gefahr, die von jedem Geisteskranken ausgeht. Aber sie hatten zu retten, und hatten in jedem Fall auch hier zu retten und nach dem Rechten zu sehen. Ein Irrer konnte in den halbwegs verschonten Häusern noch Brände anlegen und großen Schaden anrichten: man musste ihn herausholen.
Sie traten zögernd in den kleinen Vorflur des Hauses. »Ist hier jemand?« fragte Werner in den Lärm hinein. Die Stimme antwortete: »Daher fasste ich als ein namenloser und unbekannter Soldat den Entschluss, eine Bewegung zu bilden, die das deutsche Volk auf einer neuen Ebene vereinigen kann... «
Die beiden jungen Arbeiter standen im flackrigen Licht des Zerstörungsfeuers und sahen nun links oben auf einem Schrank einen Lautsprecher, dessen Röhren schwach aus der Dunkelheit leuchteten. Durch das Zimmer schwankte mit mattem Schimmer die Spirale der Zimmerantenne.
»Vierzehn Jahre Marxismus«, sagte die Stimme, »haben Deutschland an den Rand des Ruins gebracht, ein Jahr Bolschewismus würde es vernichten... «
»Ist das Adolf?« fragte jetzt der Freund neben Werner. Der antwortete nichts. Er hatte einen Augenblick gedacht, den Kasten zu packen und zum Fenster hinauszuwerfen. Aber das hieße, einen Proleten bestehlen. »Diese Novemberverbrecher haben vernichtet, was sie vernichten konnten. In vierzehnjähriger Arbeit, in der sie von niemand gestört worden sind... «
Werner stand mit ineinandergerungenen Händen in der von Lärm angefüllten Stube, Das war nun der wahnsinnige Greis -wahrhaftig, der war nicht wahnsinnig. Der da wusste schon, was er tat. Werner sah auf seine Hände, auf ihren kalkigen Fingern trocknete ein kleines Rinnsal von Blut. Er brüllt in tote Ohren,
dachte er, über ein Leichenfeld hinweg brüstet er sich. Der Arbeiterführer!
Ihm fiel plötzlich ein, was ihm ein kommunistischer Freund gesagt hatte vor ein paar Tagen: der Hitler hat im »Kaiserhof« erklärt, er will nicht mehr länger warten, er will jetzt Kanzler werden, er ist jetzt über vierzig, er will an die Macht.
Werner sah zu dem sprechenden Brett hinauf: jetzt hat er sie. Nun braucht er nicht mehr zu warten. Nun kann er sich an den Tisch setzen. Noch eine Wahl - nein, nein, nein. Werner stampfte mit dem Fuß auf den Boden. Es darf noch nicht soweit sein! Der Arbeiter muss es noch merken. Merken, wie ich es jetzt merke, hier in der Stube, wo der da um Stimmen bettelt mitten ins Elend hinein. Dafür kann er nichts? Woher ist denn das Geld? Hat der Wolff da drüben ihm keins gegeben? Dasselbe Geld, das er an den Arbeitern gespart hat. Werner lachte böse. Wenn er seinen Gasometer an den Wald gesetzt hätte, statt mitten unter die Arbeiterhäuser? Ganz recht, dann hätte er dem Adolf vielleicht weniger spendieren können. Dann könnte der hier nicht in die Trümmerhaufen hineinbrüllen, ohne dass jemand ihn daran hindern kann, dann könnte er nicht uns und die da, die Toten da rings um uns, verkohlen, verhöhnen.
Die Stimme des Kanzler drängte sich in seine Gedanken; sie wurde noch einen Ton stärker. Werner hörte: »Erster Programmpunkt: Wir wollen nicht lügen und wollen nicht schwindeln... «
Werner lachte auf, da machte der Freund neben ihm einen Sprung nach vorwärts und hieb in den Kasten hinein. »Du Lump«, brüllte er, »du Betrüger.« Werner konnte ihn nicht mehr zurückhalten. Wie ein Besessener schlug der Bursche auf den Kasten. Die Stimme des Kanzlers wehrte sich noch eine Weile, dann erstickte sie in dem Krachen der Bretter und dem kurzen Knallen der elektrischen Birnen. Keuchend stand der junge Arbeiter vor dem zerschlagenen Apparat. »Da draußen«, sagte er nur, »da draußen... «
Werner packte ihn plötzlich am Ärmel. »Du, komm mal mit raus!« Er drehte sich in dem nun völlig dunklen Raum um: »Hier hört schließlich doch noch jemand zu.«
Sie gingen auf der Straße stumm nebeneinander. Dann erklärte Werner die Idee, die wie ein Blitz in sein Denken gefallen war.
»Glaubst du wirklich«, sagte der Freund nach langem Nachdenken, »dass er selber zur Beerdigung kommt.«
Werner zuckte die Achseln: »Das weiß man nicht, aber - was hältst du davon?«
»Er müsste kommen«, sagte der andere. »Dann sollten sie im Reich erleben, was die Arbeiter an der Saar fertig bringen. Dann werden auch die Kommunisten staunen... «
Werner unterbrach: »Du, denen sag nichts. Die sind dagegen. Also wirklich: halt dicht!«
Sie gingen zu den Haufen der rasierten Häuser. In den Augen des Kameraden leuchtete plötzlich ein wildes Feuer. Immer wieder sah er von der Arbeit auf und streifte mit fragendem Blick den Werner.
Als das Frühlicht die zerhackten Bäume, die Häuserhäufchen und die noch immer brennenden Batterien der Benzolwascher grau zu färben begann, legte Werner gerade die elfte Leiche auf die Bahre der Sanitäter. Seine jungen Augen waren hart geworden, tiefe Schatten lagen auf seinem Gesicht.
Der Definitor Beißnagel von Neunkirchen ging unruhig in seinem Zimmer umher. Das Brevier lag aufgeschlagen auf dem Betstuhl; er hatte die Lektüre unterbrochen seit jenem furchtbaren Schlag, der über die Dächer seiner Pfarrei gefegt war. Er überlegte: Trier musste angerufen werden. Aber die Uhr war inzwischen schon fast zehn geworden. Durfte man Seine Eminenz noch wecken? Vielleicht war er ungehalten, vielleicht schlief er schon. Aber er konnte auch ebenso gut zürnen, dass man ihn nicht sofort benachrichtigt hatte. Der Definitor beschloss seinen Kaplan zu befragen.
Er fand ihn nicht in seinem Zimmer. Die Haushälterin kam auf den Ruf: »Herr Kaplan ist zum Versehen an die Unglücksstätte gegangen.«
»Gut, gut«, sagte der Definitor. Ich hätte es ganz vergessen, dachte er und ärgerte sich. »Verbinden Sie mich mit dem bischöflichen Sekretariat in Trier!« befahl er der Wirtschafterin. Die Alte nickte: »O Herr Jesus«, sagte sie, »was ist das für ein schreckliches Malheur. Der Hochwürdige Herr Bischof wird einen Schreck bekommen.«
»Gehen Sie nur! Es ist eilig.«
Schon nach fünf Minuten klingelte es. Der Definitor ging klopfenden Herzens an den Apparat. »Hier bischöfliches Sekretariat«, hörte er und verneigte sich: »Hier ist die Pfarrei Neunkirchen. Wir sind heute Abend von einem entsetzlichen Unglück heimgesucht worden. Der Gasometer des Eisenwerks... «
»Das wissen wir schon. Eminenz warten schon seit einer halben Stunde auf Euren Anruf. Ich verbinde.«
Der Definitor erschrak heftig. Da war schon die Stimme des Bischofs. »Definitor Beißnagel? Hören Sie! Alle Geistlichen des Sprengeis sind an der Unglücksstätte. Ich denke, Sie waren auch dort. Ich wünsche, dass die Herren der Nachbarpfarreien zugezogen werden. Man muss viele von Ihnen sehen. Ist eine Kirche in Mitleidenschaft gezogen? Nein? Gut! War es eine sehr katholische Straße? Sehen Sie zu, dass die Sanitäter hauptsächlich ins katholische Krankenhaus einliefern. Bezüglich Gottesdienst werden Sie wissen, was Sie zu tun haben.«
Der Bischof machte eine Pause. Der Definitor hauchte ein ergebenes Ja.
»Ich lege Wert darauf, dass in diesen nächsten Stunden besonders gut gearbeitet wird. Sie haben eine große Verantwortung. Definitor. Überall sein! Man muss den Unterschied merken. Eine solche Heimsuchung kann zu religiösen Erneuerungen führen. Ich nehme das sehr wichtig, Definitor. Das Saargebiet ist ein Schmerzenskind, besonders Neunkirchen. Tun Sie das Ihre. Sie werden meine beste Unterstützung haben; ich schicke Ihnen keinen geringeren als den Hochwürdigen Herrn Weihbischof. Er wird Ihnen das weitere erzählen. Geldmittel werden Sie auch haben. Gehen Sie vorsichtig damit um. Machen Sie etwas daraus. Es kommt jetzt auf den ersten Eindruck an; das heißt, auf jede Minute. Sie haben mich verstanden, Definitor! Gelobt sei Jesus Christus!«
»In Ewigkeit, Amen!« sagte der Definitor und blieb noch eine Weile mit dem Hörer am Ohr stehen. Der Weihbischof kommt, war sein erster Gedanke. Sind die Bücher in Ordnung, sein zweiter. Was wird man essen, sein dritter. Alle anderen gingen unter in seiner Erregung.
Am anderen Ende legte ein Kaplan den Hörer aus der Hand des Bischofs auf den Apparat. »Haben Sie den Herrn Weihbischof gebeten?«
»Er wird sofort erscheinen«, antwortete der Kaplan-Sekretär. »Schicken Sie dann ein Telegramm an den Vatikan«, befahl
der Bischof. »Warten Sie! Es ist nicht nötig, ich kann das auf mich nehmen.«
Die Tür öffnete sich; ein kräftiger Greis im Hausornat des Domkapitulars trat herein. Der Kaplan verneigte sich und ging.
Der neue Mann setzte sich gegenüber dem Schreibtisch und ordnete umständlich seinen Rock.
»Ich weiß nicht«, begann der Bischof, »ist dieser Schlag nun als Mahnung oder als Strafe zu denken?«
Listige Frage, dachte der Weihbischof ihm gegenüber. Mahnung zu besserer Arbeit oder Strafe für versäumte Kirchenwerbung? Soll ich wieder mal eine Saarbilanz ziehen? Der Weihbischof hob bedauernd die beringten Hände.
»Heimsuchung in nächster Umgebung hat mir seit Jahren immer die meisten Gedanken gemacht. Aber erst nach Jahren ahnt man, was der Unerforschliche vielleicht gemeint hat.«
Er weicht aus, erkannte der Bischof; aber ich brauche seine gute Stimmung, es ist höchste Zeit, dass wir die Saar mal wieder abtasten.
Besser, als sich wieder in Andeutungen verlieren über die alten Intrigen um ein Saarbistum.
»Ich habe«, sagte der Bischof und schmeckte seinen Speichel mit leisem Geräusch, »das ganze Kapitel zu einem Requiem in den Dom gebeten. Wir wollen aber noch kurz besprechen, wie die Reise am besten zu ordnen ist. Sie haben verstanden, Weihbischof, dass ich Sie wählte?«
Ich habe es nur zu gut verstanden, dachte der Kollege. Damit hier die Vorbereitungen zum heiligen Rock noch diskreter getrieben werden können, damit noch mehr Briefe mit Berlin gewechselt werden, von denen man nie etwas erfährt, damit die Versetzung in die bessere Pfründe unter dem neuen Regime ohne meine Einsicht geregelt werden kann.
Der Weihbischof glaubte, seinen Kollegen zu durchschauen, er ärgerte sich. Dieser nun Jahre zurückreichende Kampf um die Saar, die Schlachten zwischen Metz, Trier und Rom hatten ihm bewiesen, dass man nicht so rasch seine Politik ändern soll. Ich werde nicht widersprechen, dachte er und nickte höflich mit dem Kopf.
»Ich weiß«, sagte der Bischof, »dass Sie an dieser Pfarrei Neunkirchen sehr gehangen haben, aber Sie hängen ja auch sehr am ganzen Gebiet. Ich wollte deshalb vorschlagen, dass Sie mit der Reise eine Inspektion der Industriestädte um Saarbrücken verbinden. Prüfen Sie, wie man dort über das neue Berlin denkt. Sehen Sie besonders, ob das Zentrum nicht wandlungsfähig ist; wir müssen rechnen, dass diese Entscheidungen noch in diesem Sommer fallen. Die Saar kann da nicht zurückbleiben; ich habe das zugesagt. Die neuen Männer in Berlin sind stark, dagegen gibt es gar keine Einwendung. Das ist das eine. Das andere wäre eine Kampagne für unsere große Wallfahrt. Auch das habe ich bei den Verhandlungen mit ins Spiel geführt. Die Herren von Berlin legen wert darauf, dass die Saar den besten Eindruck von den braunen Truppen und ihrer Ordnung hat. Wir müssen also die Saarländer geschlossen herführen. Drängen Sie bei allen Pfarrherren darauf! Ich denke, dass ich Ihre Reise noch durch Telefonate ankündigen werde und unterstreiche, wie Ihr persönliches Erscheinen die Bedeutung der Stunde anzeigt.«
Er ist ein unverbesserlicher Schmeichler, dachte der Weihbischof, aber es störte ihn nicht. Die Politik ist falsch. Er setzt zuviel auf die braunen Männer. Er wirft zu rasch das Steuer um. Es kann einen Kulturkampf geben. Es wäre eine Renaissance der Kirche.
Er sah sein Gegenüber an. Sah er das nicht? War er nur ein Taktiker für den Tag?
»Und schließlich«, sagte der Bischof, »zu Neunkirchen selbst: sehen Sie zu, dass die Unterschiede der Konfessionen taktvoll gemacht werden, aber versäumen Sie nicht, auf die Regie der Trauerfeier einen Einfluss zu nehmen. Ich glaube, es wird günstig sein, wenn Sie erst hinter dem Protestanten sprechen. Das letzte Wort haftet. Außerdem kann man noch verbessern, wenn jener zu lang gesprochen hat. Das Wichtigste aber: die örtlichen Stellen müssen alles tun, um die Caritasarbeit ganz in die Hand zu bekommen. Wer zuerst da ist, hat die Seelen. Ich weiß nicht, wie die Neunkirchener sind. Ich hatte eben nicht den besten Eindruck von dem Definitor, aber zum mindesten ist er ergeben. Die katholische Caritas also muss führen. Wir brauchen das an der Saar. Mobilisieren Sie im gleichen Sinne auch die Presse. Machen Sie bekannt, dass auch der Papst eine Summe gegeben hat! Ich habe noch keine Anweisung, aber wir können nicht warten. Sie brauchen keine genaue Zahl zu nennen. Aber es muss morgen schon drinstehen. Und noch ein letztes: ich weiß, Sie werden dort auf Abneigung gegen von Papen stoßen. Das ist nicht so rasch beseitigt. Die Pressefürsten glauben, dass sie gegen ihn sein könnten. Er ist stärker als sie. Sagen Sie das vorsichtig! Papen selbst können Sie meiden. Jedenfalls nicht zuviel Zusammenhang. Man grollt ihm da unten wirklich noch. Aber vielleicht ist es auch nur Theater, das sie vor ihren Arbeitern nötig haben.«
»Auch in diesem Fall müsste man ihnen entgegenkommen«, meinte der Weihbischof. Er sprach nun ganz gegen seine Überzeugung. Niemals durfte man so weit gehen und sich ganz an die Machthaber des Tages binden, besonders nicht an diese größenwahnsinnigen, die schon ihre Volksreden mit »Amen« schlossen und volle Atheisten waren. Die wollten Götter werden, sie mussten übermorgen Feinde sein. Der Weihbischof sah die Männer vor sich, ein Schrecken befiel ihn; er wird es erleben, er soll es erleben, dachte er und starrte in seltsamer Schadenfreude auf den Siegelring des Bischofs.
Lächelnd hatte der Bischof den Zwischenruf gehört; er war glücklich, seine Politik gefiel dem Kollegen - jedenfalls nahm er sie an. »Ich vermute, dass von Papen nach Neunkirchen kommen wird. Sie können ihn hierher einladen. Ich möchte ihn gewinnen für das Fest der Ausstellung des heiligen Rocks. Vergessen Sie das nicht! Und glauben Sie mir, Weihbischof, ich weiß, dass Rom diesen Mann noch lange halten wird.«
Auch das ist nicht sicher, dachte der Weihbischof, aber er verbeugte sich schweigend.
Der Kaplan trat ein und meldete: »Es sind jetzt schon 54 Tote, sagt das Telefon.«
Die beiden schreckten aus ihren Gedanken. Tote? »Gehen wir zum Requiem«, sagte der Bischof.
Werner blätterte in der »Arbeiterzeitung«. Er las die Titelzeilen sämtlicher Artikel und fand nicht, was er suchte. Unwillig warf er das Blatt auf den Tisch. Er nahm seine Sturmkappe und ging zum »Goldenen Adler«, wo er die »Landeszeitung« fand. Er griff die Zeitung vom Haken und studierte sie bis auf die letzte Seite. Totennachrichten, nichts als Totennachrichten. Beileidskundgebungen. Immer wieder derselbe Text. Man meinte fast, sie machten sich eine Reklame. Telegramme. Telegramme. Was es alles gab: Saarvereine. Oberbürgermeister. Minister. Halt, da war auch Adolf. Er las das Telegramm des Kanzlers mit Aufmerksamkeit. Nichts von Herkommen stand drin. Wo steckte der Bursche?
Werner sah eine neue Überschrift: Die große Berliner Automobil-Ausstellung. Mitten im Bericht war eine Zeile im weißen Raum gesperrt hervorgehoben. Wieder Adolf! Werner suchte nach dem Datum des Berichts. 11. Februar. Das war Sonnabend. Also war er noch in Berlin. Abwarten, wo er morgen auftauchte.
Er las die Rede Hitlers in der Ausstellungshalle: »Als ein Mann, der selbst seit vielen Jahren im Auto ein unentbehrliches Verkehrsinstrument kennen und schätzen gelernt hat... « Schau, wie er es mit den feinen Leuten hält! Bin selbst Autobesitzer. Seit Jahren schon. Bitte schön. Sie können ruhig mit mir verkehren, wenn ich auch Anstreicher war.
Werner warf die Zeitung weg. Die Rückseite zeigte Photos. Werner beugte sich darüber. Adolf in Gala. Inmitten von blitzenden Opel- und Mercedeswagen. Dafür war also die SA marschiert! Lauter Zylinder um ihn herum. Seine erste Sorge: Autos zu besichtigen! Werner folgte ihm, wie er sich über offene Motoren beugte. Eleganter Affe! Hatte dem jemals schon einer in die Fresse geschlagen. Werner lachte: darauf ist bisher überhaupt noch keiner gekommen! Dass man den ganzen Führer mit einer Faust zusammenhauen konnte wie eine Friseurpuppe. Vierhunderttausend SA-Männer, Kerle wie Dempsey waren darunter, und hatten das alle noch nicht gemerkt. Alle Bilder-Werner hatte sich ihn jedes Mal genau angesehen - waren gleich: ein Haufen Angst ging einmal mürrisch, einmal lachend durch tausend feste Kerle. Ich möchte mal mit dem ringen. Und wie der umklappen würde!
Werner steigerte sich in seine Gedanken hinein. Er hatte etwas anderes vor mit dem Volkskanzler. Jetzt besann er sich auch darauf. Obs gelingen wird? Werner stierte auf den Tisch, sah den mürrischen Angsthasen vor sich und glaubte eine Minute, ihn schon in Gedanken zwingen zu können. Ganz deutlich hatte er aus seiner Kraft heraus plötzlich die Empfindung eines Hypnotiseurs. Er wollte, dass der Kanzler kam. Die Brandnacht stieg blutig rot in seiner Erinnerung auf. Die im Morgenlicht steif auf den Bahren liegenden Toten. Das brennende Werk des Nazifabrikanten dahinter.
Werner sah plötzlich seine Faust auf dem Tisch. Der Zeigefinger bewegte sich leise über der Hand, als läge er prüfend am Abzug seiner Pistole. Er griff danach, als müsse er die Hand
beruhigen. Morgen wird es in der Zeitung stehen, ob er kommt, dachte Werner. Ich muss warten.
Die Internationale Arbeiterhilfe Saar hatte ihre Schnellküche für die Explosionsopfer in vierundzwanzig Stunden aufgestellt. Junge Arbeiter, Erwerbslose, Pioniere und Kinder fuhren mit Karren durch die Stadt, sammelten Lebensmittel, Kleider, Strümpfe, Schuhe. »Kommst du mit?« hatte ein Kommunist zu Werner gesagt. Und wieder war Werner sofort dabei. Jede praktische Handlung mobilisierte ihn. Besuch von Kursen schlug er lachend ab, er erklärte sich für zu dumm dazu. Auch die Partei reizte ihn nicht. Er hatte Freunde im RFB. Er sagte, dass er zu Thälmann halte. Wenn er von Rosa Luxemburg sang, wurde es ihm warm ums Herz. Er fehlte bei keiner Demonstration.
Jetzt nahm er seinen Karren aus dem Stall und fuhr los. »Sie verbieten uns das doch nach ein paar Tagen«, sagten die Kameraden. »Die Geistlichen werden uns nicht in Ruhe arbeiten lassen. Sie fürchten die Konkurrenz.« »Also dann los«, sagte Werner, »eh's zu spät ist.«
Werner fuhr vom frühen Morgen an mit den Freunden. Sie machten keinen Hehl daraus, wer sie waren. Über jedem Wägelchen schwankte das rote Transparent: »Gebt für die Opfer der Katastrophe! Solidarität tut not.« Werner verhandelte freundlich und kurz mit den Krämern.
Es gab Störrische, die das rote Tuch nicht gern sahen. »Wir haben schon gegeben«, sagten sie, aber Werner sah durch die abweisenden Gesichter hindurch die Lüge. »Soviel ich weiß, kaufen hier Arbeiter«, sagte er und drehte um. »Karl, merk dir mal die Bude!« Oft half die leise Andeutung, öfter war es schon genug, dass Werner einfach stehen blieb.
Er stand, als sei er als Denkstein in den Laden gesetzt, als Schandmal für einen Geizigen: hier wo ich stehe, sagte der Denkstein, haben Arbeiter in höchster Not umsonst einen Händler um Hilfe gebeten. Werner meinte einmal: »Proleten haben ein gutes Gedächtnis, Herr!« Auch solche freundlichen Hinweise halfen. Werner sprach niemals im schroff-drohenden Ton. Man konnte seine Festigkeit genau so gut für ein väterliches Mahnen nehmen.
Gegen Mittag lieferte er den dritten Karren in der Küche ab und zog dann schleunigst los. Er ging, seine Zeitung zu lesen.
Adolf ließ ihn warten. Nichts stand von seinem Kommen in dem Journal. Wahlkämpfe. Reden. Die Nazis hatten das ganze Radio besetzt.
Er sah einen Gärtnerburschen die Straße herunterkommen, der trug einen breiten Tannenkranz, in den rote Beeren gesteckt waren.
Menschen traten aus ihren Haustüren und sahen dem Gärtner nach.
Noch lagen rings um die Neugierigen Splitter zerdrückter Scheiben auf den Trottoirs. Nebel hing in den heimgesuchten Gassen. Die kalte Melancholie des Februar schlich durch den Tag, der nicht mehr hell werden wollte.
Werner ging nun ebenfalls auf den Gärtnerburschen zu. Er sah die blutroten harten Beeren, den silbrigen Glanz der Schleife. Da hatte wieder ein Amt, ein Minister, irgend jemand Offizielles einen Reklamekranz gestiftet. Auf einmal erinnerten sie sich an die Arbeiter, auf einmal!
»Laß mal sehen«, sagte er.
Er griff nach der Schleife, aber er ließ sie sofort wieder fallen. Er meinte, er fiebere: Adolf - unserm unvergesslichen Adolf stand auf der Schleife. Es war ihm, als hätte ihn jemand im Genick gefasst. Die Schleife foppte ihn, war wie ein Steckbrief und wie Verhaftung zugleich.
Der Gärtnerbote sah in sein verstörtes Gesicht. »Das ist für einen der Eiflers«, sagte er, »da sind es direkt vier Stück geworden von der Familie.«
Werner hörte nicht mehr hin; der Gärtner ging weiter, gewichtig sein buntes Bündel vor sich tragend. Viele Leute kamen nun vor ihre Türen. Immer wieder trat einer auch auf die Straße und bat, die Schleife lesen zu dürfen. »Unserm unvergesslichen Adolf« lasen die Leute.
Werner rieb sich den Spuk von den Augen und beschloss, nun doch zum Parteilokal der Kommunisten zu gehen. Dort erfuhr man etwas Neues. Vielleicht konnte man sich doch einen Rat holen.
Das Radio schmetterte einen Marsch, als er eintrat; es war ein deutscher Sender angestellt. Werner ging zum Büfett und überschaute den kleinen Saal. Fast alle Tische waren besetzt. Viele hatten sich einen Becher Bier gekauft; sie tranken ihn sparsam und mit Vergnügen. Man hörte, dass sie von dem Unglück sprachen.
»Der Simon könnte euch darüber erzählen. Er wird mich besuchen morgen. Man muss das in die Zeitung bringen. Der Graben ist noch immer nicht überdeckt«, sagte ein Arbeiter zu den aufmerksamen Genossen.
»Das ist da oben gegen Elversberg zu. Ich kann’s euch zeigen. Er hat ein Streichholz hineingeworfen, das gab dann eine mächtige Zündflamme. Und als er’s meldete, da haben sie ihm zwei Zigarren gegeben und haben gesagt, er solle darüber nicht reden.«
Die Männer um den Tisch nickten zustimmend. »So sind sie, und hinterher schicken sie dann - Untersuchungsausschüsse.«
»Das ist ja nur ein Beispiel«, sagte der berichtende Arbeiter. »Das erzähle ich ja auch nur deshalb. Natürlich war nichts als Benzol in dem Abflussgraben, und wahrscheinlich ist auch jetzt noch welches drin.«
»Ach Mensch«, meldete sich ein anderer, dessen Stuhl dicht an Werners Schenkeln stand, »du musst doch nur hören, wo die Ingenieure waren, wie es geknallt hat. Einer saß mit einem Abnehmer im Kasino, ein anderer beim Friseur.«
»Die hatten vielleicht keinen Dienst«, meinte ein älterer Arbeiter.
»Jeje, geh weg«, protestierte die Runde. »Musst die auch noch entschuldigen! Es gehört sich auf keinen Fall, dass man Arbeiter am Gasometer Schweißarbeiten machen lässt ohne Aufsicht von einem Fachmann.«
Der ältere Arbeiter wagte noch einen Einwurf: »Die Gasfachleute haben in die Zeitung gesetzt, dass am Trockenbehälter ruhig mit Schweißern gearbeitet werden darf, das wäre polizeilich erlaubt.«
Der wild ausbrechende Hohn der Arbeiter machte den Mann verstummen: »Natürlich ist es erlaubt, uns in die Luft zu sprengen. Wir sind ja nicht mehr wert. Red du denen nur nach dem Maul! Polizeilich erlaubt? Der Gasometer ist vielleicht nicht geplatzt, was?«
Werner hörte das Gespräch nur noch mit halbem Ohr. Der Lautsprecher hatte ihn eben alarmiert: »Wir übertragen jetzt die Richard Wagner-Feier aus dem Leipziger Gewandhaus, die in Gegenwart des Herrn Reichskanzlers Hitler stattfindet...«
Werner starrte auf den Apparat. Störungsgeräusche krachten, dann kam neue Musik aus dem großen Brett; eine pathetische Musik; feierliche Choräle, übergehend in schrille Disharmonien, die nach immer wieder gelingenden Fortissimi endlich besiegt wurden durch dunkle, sakrale, breit hingezogene Posaunenchöre. Das Parsifalvorspiel.
Werner hatte die Ankündigung gehört. Er ist also in Leipzig, dachte er. Er wird also nicht kommen. Dienstag ist die Beerdigung. Heute ist Sonntag. Mit dem Flugzeug ginge es noch. Er fliegt immer. Es sind noch anderthalb Tage. Werner lachte plötzlich wieder verächtlich: Musik hörte er sich an. Das sind ihre Sorgen. Vierzehn Tage an der Regierung, und sie kaufen sich Autos und sitzen im Konzertsaal.
»Was machst du denn hier?« Werner schrak zusammen; Hermann, der politische Leiter des RFB stand vor ihm. Werner wurde rot im Gesicht, fühlte sich ertappt, lachte abweisend: »Glas Bier trinken, was sonst!« antwortete er und sah dem jungen Arbeiter fest in die Augen. Der weiß etwas, bildete er sich ein. Ja, es war auch so. Karl hatte gequatscht. Wie ich den verhaue! Übrigens hat er mir nichts zu sagen. Ich bin nicht in ihrem Verein.
»Komm mal raus!« sagte Hermann. »Muss dir was erzählen.« Er hat mir nichts zu befehlen, wiederholte Werner, aber die Autorität des Organisierten war größer. Langsam folgte der große Bursche. Mich kriegste nicht herum, dachte er trotzig.
Hermann wartete im Hof bei der kleinen Treppe, die zu einem Waschraum führte. Der strenge Geruch eines Pissoirs stand in dem verwinkelten Hofraum. Ein dünner Regen überzog die Zementplatten. Durch die Fenster kam das unechte Pathos eines Redners der Leipziger Feier.
»Was denkst du dir eigentlich dabei?« begann Hermann unvermittelt.
Werner sah, dass alle Ausflüchte umsonst waren:
»Woher hast du denn das?«
»Das kommt hier nicht in Frage, ich will nur wissen, ob du unserer Partei damit absichtlich schaden willst?«
Werner wollte lospoltern: Partei? Was hab ich mit Eurer Partei zu tun? Ich bin nicht Mitglied der Partei, ich kann tun, was ich will. Ich will losschlagen, sonst nichts. Wie es die Nazis seit Jahren machen! Die SA! Wären sie denn soweit, wenn sie nicht immer losgegangen wären?
Aber vor Hermanns ruhigem Blick verflossen ihm die Argumente.
»Ich will euch nur eins sagen... « meinte Hermann.
»Sag nicht euch,« knurrte Werner, »was heißt das: euch? Mit dem Karl will ich nichts mehr zu tun haben. Und was tut denn eure Partei?«
»Schön, reden wir allein! Du musst dich gar nicht so erhaben fühlen über unsere Partei. Da sitzen schon Leute, die weiter denken. Meinst du, die wollten nicht losschlagen, wenn die Zeit da ist.«
Werner gefiel der Ton plötzlich nicht: »Na, warum schlagen sie dann nicht los?«
»Darüber muss man sich eben hier den Deetz anstrengen«, sagte Hermann und klopfte an die Stirn. »Aber hier können wir nicht reden.«
Die Tür zum Lokal ging auf; ein Gast kam langsam aus dem Wirtssaal. Das Radio wurde wieder lauter: »Gerade mit der Stadt Leipzig war das Leben des Meisters hervorragend verbunden... « Der Mann ging in das Pissoir. Die beiden jungen Männer schwiegen; man hörte den Mann in dem Verschlag ausspucken. Sie gingen die kleine Treppe abwärts zur Waschküche.
»Das mit dem Losschlagen«, sagte Hermann, »ist nicht so einfach. Also, ich weiß, du bist so ziemlich das beste, was wir unter den Sympathisierenden haben. Nun stell dir mal vor, du hättest da übermorgen wirklich geschossen. Auf dem Kirchhof wahrscheinlich. Mitten unter den ganzen Leuten. Was glaubst du wohl, was sie aus dir gemacht hätten?«
Werner glaubte, wieder Oberwasser zu bekommen. Er lachte: »Das wär also das Wichtigste, was? Dass sie mich gelyncht hätten, was?«
Aber Hermann verbesserte sich sofort: »Nein, nein, von deiner Wichtigkeit ist gar nicht die Rede. Aber sie hätten behauptet, dass du zu den Kommunisten gehörst. Und du bist doch auch schon dicht dabei. Du denkst gar nicht daran, was dann passiert wäre?«
Werner verzog das Gesicht. Hermann fasste ihn am Knopf seiner Jacke. Es wurde ihm warm ums Herz vor diesem wilden Draufgänger. Das war guter Stoff. »Hör mal zu«, sagte er freundlich, »weißt du, dass man keinen ungünstigeren Platz aussuchen kann, als so einen Friedhof, an so einem Tag. Ich muss dir das sagen; das wäre gar keine politische Tat mehr gewesen, sondern eine Schweinerei. Eine Leiche bei all den vielen Särgen. Du kannst totensicher damit rechnen, dass am nächsten
Tag in der Zeitung gestanden hätte: die Kommunisten hätten sicher auch die Explosion hier auf dem Gewissen. Die Partei wäre verboten worden, der Sturm aufgelöst, IAH, Rote Hilfe, alles weg! Und jetzt kommt das Schlimmste! Im Reich! Hast du gar keine Ahnung, wie gut die Partei in diesem Wahlkampf steht? Meinst du, die Nazis wären freiwillig mit den Stahlhelmern gegangen? Aus Zwang sind sie gegangen, weil sie allein es nicht schaffen können... Die Partei wird mächtig wachsen. Ja, jetzt fällt endlich der Groschen. Du meinst, sie denken nicht bei uns. Und jetzt stell dir noch mal vor« - Hermann hob seine Stimme und achtete nicht mehr darauf, ob ihn noch jemand hören würde - »wenn man uns jetzt nachsagen könnte, dass wir für individuellen Terror sind. Mensch, darauf warten sie ja nur! Die werden so etwas vielleicht noch erfinden vor der Wahl, nur um unseren Wahlsieg unmöglich zu machen - -«
Werner hob den Kopf. Bis dahin war ihm alles unangenehm klar geworden, es war eine große Dummheit. Aber jetzt schlug es wieder um: wenn sie sich etwas dergleichen erfinden, dann können wirs ja auch gleich tun.
»Du meinst, dass sie ein Attentat inszenieren?« fragte Werner. »Na und dann ist es vielleicht nicht besser, wir machen’s selber und haben wenigstens was davon?«
Nun rannte ihm Hermann die Faust in die Seite. Werner sah in ein fanatisches, strenges Gesicht.
»Werner«, sagte Hermann - sein Ton war jetzt völlig verändert -, »ich frage dich als Arbeiter. Ich weiß, du bist noch nicht bei uns, aber ich frage dich trotzdem, willst du der Partei schaden oder ihr helfen? Es gibt nur eins von beiden. Die Zeit ist nicht zu Abenteuern da. Wir dürfen nicht losschlagen, wenn ihre Stellung zu stark ist. Erst recht aber keinen Einzelwahnsinn, verstehst du?«
Werner sah an Hermann vorbei auf die Eisentreppe. Ein Tropfen lief an dem Geländer abwärts, schluckte die feine Regendecke ab, lief schneller und purzelte dann über den Griff zu Boden. Natürlich muss es Zweck haben, dachte er; wenn wir keine Massen damit kriegen, hat es keinen Zweck.
»Laß mal«, sagte er und wehrte mit der Hand die allzu schroffe Frage ab. »Ich muss zuerst noch etwas wissen: seid ihr für den Kampf oder nicht?« Sofort schüttelte er den Kopf: »Quatsch, so meine ich das nicht - ich will nur wissen: wird man uns rufen oder nicht?«
Er machte eine Handbewegung zur Hintertasche und ärgerte sich, dass er sich verraten hatte.
»Wir rufen immer zum Kampf. - Heute, morgen und auch wenn’s ums Ganze geht«, sagte Hermann in unverändertem Ernst. »Aber was anderes sage ich dir: wenn du kein Zutrauen zu mir hast - oder meinst du, ich möchte nicht am liebsten die ganzen Kerle hier und dort über den Haufen knallen, dieses Gesindel, das den Arbeiter betrügt und ihn bestehlen wird, wie wir es noch nicht erlebt haben, glaubst du, ich wüsste nicht, dass mal diese Stunde kommt. Aber wir müssen vorbereitet sein. Wir müssen die Mehrheit der Arbeiter haben. Und nicht sie in Katastrophen jagen.«
Er fasste das Geländer an, als wollte er es schütteln: »Was hast du für eine Vorstellung vom Klassenkampf! Laß dir das sagen: Millionen von Arbeitern klarmachen, ihnen beweisen, dass sie nur organisiert es zu etwas bringen, dass sie alle falschen Ideen sich aus dem Schädel reißen müssen, dass sie gemeinsam marschieren müssen, in vielen Kämpfen, in vielen Niederlagen, aber immer weiter und immer zusammen, nie allein - und dann kommt der Tag, wo sie in jeder Stadt zu Zehntausenden losmarschieren in die Gaswerke, auf die Bahnhöfe, in die Rathäuser, zu den Kasernen, vor die Gefängnisse - Mensch, wenn man das so vor sich sieht und weiß, dass es nur so geht und wie schwer das ist und wie viel wir da noch zu leisten haben! Und du willst da einen Kerl umlegen? Einen Kriminalroman machen, wo man ein paar Millionen zum marschieren bringen soll? Du hast hier alle Arbeit schon gemacht? Brauchst auf uns nicht mehr zu hören? Und wenn’s mal kritisch wird, dann macht man seinen Privatladen auf? Weißt du, weil du soviel nach der Partei fragst: für mich ist sie Alles, gerade wenn’s kritisch ist, und da braucht sich keiner zu schämen, wenn er alles auf eine Karte setzt und auch Vertrauen hat und auch stirbt dafür. Aber nicht so, nicht so, nur um was gemacht zu haben. Wir sind nicht allein und wir dürfen auch nicht allein sein. Und wir werden auch nicht allein sein! Verstehst du? Glaub mir schon! So sieht’s aus!«
Werner hörte den Freund mit wachsendem Erstaunen an; nie hatte er eine solche Erregung in dieser Stimme gehört, gerade das aber brauchte er in dieser Stunde. Keinen selbstgefälligen Berater, für den alles und immer in Ordnung war, wenn’s in der Zeitung gestanden hatte.
Noch ging das alles ihm nicht ein, aber er hörte den Ton, den
Glauben, den Ernst. Er konnte nicht antworten. Es war nur die Tat, die ihn ganz wachrief. Er drehte sich um, ob niemand aus dem Fenster sah, dann fasste er in seine Gesäßtasche und zog den Revolver heraus:
»Da, steck ihn ein!« sagte er.
Der Kommunist sah ihn an und lächelte; er verstand die Geste, und sie rührte ihn. »Behalt ihn nur«, sagte er.
Als sie in die Stube traten, war der Bericht der Wagnerfeier schon abgelöst durch Tagesnachrichten: der Reporter erzählte von dem holländischen Meutererschiff »Zewen Provinzien«, das sich auf Bombenwurf ergeben habe, im Gefangenenlager an Land sei immer noch Unruhe. Dann lachte Werner plötzlich auf: der Sprecher gab bekannt, dass die Reichsregierung auf der Neunkirchener Beerdigung nicht durch den Herrn Reichskanzler, sondern durch Herrn von Papen und Herrn Seldte vertreten werde.
Werner beugte sich vor zu Hermann: »Adolf hat Angst herzukommen«, sagte er, »Angst vor der deutschen Saar.«
Werners Vernunft hatte einen Tag gedauert. Am Beerdigungstag zerbröckelte sein Entschluss. Noch war er nicht belehrt, wie es dem Problem gebührte.
Am Beerdigungstag saß er in der Küche der kleinen Wohnung, die er mit seiner Mutter teilte, und las. Ein Roman aus der russischen Revolutionsgeschichte war ihm in die Hände gefallen, ein Kamerad hatte die Teile ausgeschnitten aus der Berliner Illustrierten; es war die Geschichte vom Terroristen und Spitzel Asew. Werner las und konnte nicht aufhören. Die Stadt Neunkirchen war in wilder Aufregung, die Mutter war schon vor Stunden zu Bekannten gegangen, um einen guten Fensterplatz zu erwischen. Werner las, wie man früher gearbeitet hatte. Ja, das war gute Arbeit!
Da lagen sie, die Ministerpräsidenten; unter den Schlitten hatte man die Bomben geworfen; ein Krach riss den Kasten aus der raschen Fahrt in die Höhe, die Pferde schrieen, eine Feuerkugel brannte auf, der Kutscher sank vom hohen Bock, und dann war alles nur noch ein Trümmerhaufen; der Ministerpräsident hing an den Straßenwänden, und in der Mitte, unter dem krepierenden Pferd, lag ein blutiger Kleiderhaufen mit dunklen Brocken Mensch gefüllt, der Galakutscher. Der Zar wartete vergeblich auf seinen Minister; wunderbar! Die Höflinge zitter-
ten, bis sie Ihrer Majestät die Wahrheit zu sagen wagten. Und dann jagten schon die Ochranatiger in der Stadt herum und suchten die Bösewichter, die mal wieder gezeigt hatten, was sie konnten. Es war immer nur eine Handvoll. Siehst du, dachte Werner, man brauchte gar nicht mehr. Für die anderen schien es doch eine ganze Armee zu sein, weil sie eben nicht zu fangen war, weil man sie nie alle erwischte.
Schon während des Lesens hatte er nach seiner Pistole gegriffen, hatte sie vor sich gelegt, weitergelesen und mit der Sicherung gespielt, während die blutigen Zeilen unter seinen Augen wegliefen. Plötzlich war er aufgestanden. Glocken kamen aus dem grauen Morgen. Noch standen die Särge in den Kapellen und Krankenhäusern. »Sie brauchen gleich noch einen Sarg«, murmelte er verstört und tonlos. Einen silberbeschlagenen mit der Baronskrone drauf. Jetzt hielten sie die Totenmesse. Bimbam bum. Die Kirchen jammerten. Ein Sarg ist zu wenig. Bimbam bum. Ich hole euch noch eine Leiche. Sie vertritt eine bessere, die nicht gekommen ist. Bimbam bum.
Werner lief zum Kirchhof hinauf. Vielleicht ist alles nicht wahr, ich träume das Unglück, ich träume den Hitler, ich träume diesen Glockenlärm. Bimbam bum. Du sollst nicht töten. Jawohl, aber gerade das sollte zuerst Herr von Papen berücksichtigen.
»Was wollen Sie hier? Hier ist gesperrt!« Werner war so überrascht, dass er erschrak und keine Antwort gab. Der Landjäger war schroff aus der Kirchhoftür getreten. Hinter ihm sah man Gärtner mit Spaten laufen. Der Landjäger stellte sich breit vor die Tür. Als wenn ihr ein Verbrechen zu beschützen hättet, dachte Werner und sah in den Totenacker.
»Scheren Sie sich weiter!« brüllte jetzt der Landjäger. Bimbam bum wimmerten leise die Glocken. Spatenstiche krachten dazwischen. Sie verscharren heimlich Ermordete, dachte Werner und ging langsam weiter. An der nächsten Tür hielt ihn ein anderer Landjäger fest. »Haben Sie eine Zutrittskarte?« fragte er.
»Ich bin ja noch nirgends«, antwortete Werner und suchte den Knopf seines Rockes aus dem Griff des Uniformierten zu reißen.
»Lassen Sie sich hier nicht mehr sehen«, sagte der Landjäger und hob die Säbelscheide. »Sonst machen wir dir Beine.« Und schon schlug der Mann ihm hart den Säbel an die Knie.
Dazu müsst ihr erst Grund haben, dachte Werner, aber das Blut schoss ihm in den Kopf. So sind sie, so sind sie, heulte er und dachte an den Freund. Schwer vor Wut wandte er sich ab. Ich werde euch Grund geben, mich zu jagen.
Alle Gegengründe flogen auf wie gescheuchte Vögel. Jetzt weiß ich, dass es Sinn hat. Wie viel von euch sind denn auf Wache gestellt? Die großen Herren sorgen füreinander.
Er sah über der Kirchhofsmauer einen dritten Landjäger erscheinen. Euch allen wird es schlecht gehen, wenn ich’s geschafft habe. Jeden von euch Halunken treffe ich. Seine Wut verwirrte ihn völlig.
Langsam trottete er nach Hause. Er war so voller Gift, dass er sich hinlegen musste. Die Hand sollte ruhig bleiben zum Schuss.
Er erwachte wieder vom Geläut der Glocken. Der Trauerzug war schon im Gang. In zwei Minuten hatte er eine Straßenecke erreicht, an der sie vorbeikamen. Da standen sie schon, mussten halten, weil die Spitze nicht weiterkam. Werner drängte sich durch das Spalier der Menschen; er hatte einen Schulfreund im Zug erkannt. »Laß mich mal rein«, bat er und stellte sich neben dem Altersgenossen auf.
Entrüstet stieß ihn dieser zurück. »Warum denn nicht?« fragte Werner. Hab ich nicht oben mit aufgeräumt? wollte er fragen. War ich nicht die ganze Nacht dabei? Sechs Leichen sind von mir. Ich gehör doch dazu.
»Hier sind nur Vereine«, erklärte fast feierlich der andere; dann sah er auf Werners Rock: »Und außerdem bist du ja gar nicht angezogen.«
Das klang wie ein Todesurteil. Inzwischen setzte sich der Zug in Bewegung, und Werner blieb am Rand der Straße stehen. Ein Lachen kam ihn an. Man brauchte Eintrittskarten und einen schwarzen Anzug. Ein Vereinsabzeichen oder ein Papier, dass man Minister war. So meinte es der Prolet. Nein, kein Spießbürger, ein Arbeiter hatte es gesagt. Ein Arbeiter dachte so. Werner stand am Straßenrand und ließ den Trauerzug vorbeigehen. Der Freund fiel ihm wieder ein. Da kroch die Wahrheit heran. Die Straße hinauf schlich sie. Werner sah den Zug hinab. Tausende trotteten auf ihn zu, an ihm vorbei.
Da, die Herren vom Werk! Pfiff keiner die Mörder aus? Die stehende Menge wisperte, nannte mit Ergebenheit Direktorennamen.
Kriegervereine kamen mit dem Trauerflor um die Stange. Herr von Papen war ihr Ehrenpräsident.
Blaue Polizisten, gelbe Landjäger, weißbemützte Sanitäter, messingblanke Feuerwehrleute neben den vollgeladenen Leichenwagen. Die Menge auf den Trottoirs genehmigte die Uniformen mit Kopfnicken. Das war bunter, als wenn die Werkkameraden den Sarg begleitet hätten, die Kumpels der Hütte.
Ein Geraune ging jetzt los. Man stieß Werner an. Er sah alle Köpfe aufgeregt verdreht. Da kamen Zylinder. Werner fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Da kam die Regierung. Er erkannte Papen. So ein Gesicht vergisst man nicht.
Werner sah auf die Menschen an beiden Seiten der Straße, sah, wie sie sich auf die Zehen stellten, Arbeiterfrauen, Proleten. Werner wollte brüllen: Der da hat euch Hitler gebracht, Notverordnungen. Hunger und Terror.
Wisst ihrs wirklich noch nicht?! Plötzlich sprach er wie der Freund. Nur an die Arbeiter dachte er, glühend waren seine Backen.
Die Zylinder waren jetzt schon ganz nah. Aber Werner sah nicht mehr auf die Minister, er sah nur noch die Menschen an. An den Fenstern lagen sie und zeigten scheu mit Fingern auf die Zylindermänner. An den Schultern der Vordermänner hielten sich die hinten Stehenden fest, um einen Augenblick dem schwarzen Herrn ins Gesicht sehen zu können. Kein Pfiff, nur Staunen und stummer Respekt.
Werner beugte sich endlich der Erkenntnis: Ein Schuss ins Leere wäre dieser Schuss. Nichts würde darauf folgen. Keine hundert Mann würden sich auf meine Seite stellen. Der Prolet war noch taub. Er würde den Schuss nicht hören, würde nur erschrocken sehen, dass einer der Herren zusammensackte.
Werner nahm die Hand aus der Tasche. Papen ging vorbei mit Leichenbittermiene, als sich der junge Erwerbslose durch die Gaffenden wieder nach hinten drängte. Es war Werner, als erstickte er plötzlich in all den Menschen; er begriff jetzt, wie fremd sie waren, wie rasch man sie mit einer Feier betrog; die Mauer sah er, die einzureißen war, damit sie erst einmal sich selbst erkannten. Er stieß durch die Menschen und atmete befreit auf, als er in der leeren Seitengasse stand.
Der Zug stapfte mit langsamen, knarrenden Leichenwagen, mit Uniformen, Priestern und Ministern zum Friedhof. Werner saß zu Hause, heilsam belehrt.
Am Berg war sie ausgehoben, die weite Grube für vielfachen Tod. Neunundsechzig Särge unter grauem Februarhimmel, gefüllt mit erstickten Kindern, zerfetzten Frauen, verbrannten Männern.
Der Weihbischof Dr. Nonne hob seine Stimme über die Weihrauchwolken, die der Definitor Beißnagel, Gebete murmelnd, ausgeschwenkt hatte in die kalte Februarluft:
»Wenn ich aber das Letzte und Tiefste ergründen sollte, warum ein allwissender, ein allmächtiger, ein allgütiger Gott diese Heimsuchung über euch kommen ließ, dann werden wir warten müssen, bis die letzten Schleier von den Augen unseres Geistes gefallen sind. Die Seelen unserer geliebten heimgerufenen Brüder und Schwestern, deren Sterbliches in den Särgen liegt, haben jetzt diese Erkenntnis und sind nicht mehr im Zweifel, dass Gottes Weisheit auch bei ihrem plötzlichen Tod alles gelenkt hat... «
Vor der Reihe der protestantischen Leichen, gerade gegenüber der katholischen Grube, stand der Superintendent Dr. Boltendoff. Er ist viel politischer als ich, dachte der Protestant; er geht aufs Detail. Er wird einen besseren Eindruck machen.
An der Querseite der Saargruben stand die Regierung der drei Länder, der Franzose Paganon, der Saarpräsident Knox und die Reichsminister von Papen und Seldte. Sie hielten den Zylinder in den behandschuhten Händen. Sänger in Bratenröcken waren neben ihnen aufgepflanzt. Ein Wald von Fahnen rahmte die Särge; Feuerwehrmänner packten das Absperrseil mit frierenden Fäusten. Der Geruch der Kränze stieg betäubend in die Luft.
Ob es richtig gewirkt hat, dass wir selbst kamen, dachte der Vizekanzler von Papen. Die Pressekonferenz nachmittags in Saarbrücken wird es erweisen.
Der Arbeitsminister Seldte zählte behutsam mit den Augen die Särge. Er war glücklich, dass er keine Reden zu halten brauchte. Man müsste sich erkundigen, dachte er gelangweilt, ob ein Frontsoldat darunter war, und einen speziellen Brief vom Stahlhelm schreiben lassen.
Paganon dachte an das Unglück auf Grube Maybach: Man steht lieber am Grab, für das man nicht direkt verantwortlich ist. Hieraus wird man uns keinen Strick drehen können. Er überflog die Bänder der Kränze; man hatte sich sehr angestrengt. Eine französische Spende erscheint mir doch nötig,
dachte der fremde Arbeitsminister. Die Deutschen nehmen es ja auch auffallend wichtig. Er sah zu dem Bischof hinauf; wie fremd war diese Sprache, wie anders das Pathos des Tons! Der Fahnenwald, die Pompiers, die Vereinsmützen, die Bratenröcke, man war wahrhaftig in einem ganz anderen Land. Paganon spürte, wie weit das alles von Paris entfernt war.
Der Bischof sprach:
»Soll der vergangene Freitag nicht auch deswegen gekommen sein, damit wieder einmal in unserer Zeit des Eigennutzes und der kalten Selbstsucht die enge Verbundenheit der Menschen in helles Licht gerückt werde? Ich denke an die heldenmütige Berufstreue der Feuerwehren, der Männer vom Roten Kreuz, der Polizei, der Behörden. Ich denke an die unbedingte Bereitschaft der Ärzte, der Krankenschwestern, der Geistlichen, aller die Verwundeten pflegenden und betreuenden Kräfte.«
Wir haben die Saar nicht erobert, dachte Paganon, und wir werden sie nicht erobern. Er suchte neben sich das glatte Gesicht des Saarministers und Landsmanns Morize. Er fand das des langgewachsenen Kanadiers Knox. Paganon glaubte in dieser Minute etwas einzusehen. Vor den langen Reihen der Särge verstand er plötzlich, dass die Saar nie freiwillig sich zu Frankreich bekehren würde. Er sah die Uniformen und den Ernst der frierenden Reihen. Wie sie alle strammstanden! Die Fahne stach aus den Fäusten. Preußen, Vereinsbrüder, keine Bürger, dachte er. Der Demokrat wurde stolz. Sie waren am Grab, an diesem Grab sogar noch Soldaten.
Ein gellender Aufschrei übertönte die Predigt des Bischofs. Das wahre Leid schrie. Sanitäter zwängten sich durch die Vereine zu den Reihen der Hinterbliebenen. Eine Arbeiterfrau war zusammengebrochen; sie sah mit brechendem Auge auf all die fremden Menschen. Keinen kannte sie. Es waren ja auch keine Arbeiter. Als sie zusammensackte in den schwarzen Reihen, kam dieser einen das Bewusstsein, wie leer es um sie war trotz all dieser Tausende von redenden Männern und Priestern. Die Kameraden, mit denen der Tote zur Schicht ging. Die Jungens, die nachts aufgeräumt hatten, die ihn gefunden hatten. Wo waren die? Sie erinnerte sich an die Leiche: Für immer tot. Für immer allein. Ihre Knie brachen nach unten.
Der Bischof ließ sich nicht unterbrechen.
»Unser Glaube lehrt, dass unsere lieben Verstorbenen wegen
geringer Fehler im anderen Leben die Schuld tilgen können und wir zu helfen vermögen... «
Die Glocken der Stadt setzten eben wieder ein und füllten die feuchtkalte Luft mit ihrem jammernden Lärm. Der Bischof schloss seine Rede. Ein Kirchenchor rückte dichter zusammen mit Notenblättchen in den Händen, ein Lehrer im Cutaway trat in die Mitte der Särge und hob einen schwarzen Taktstock. Der Kirchenchor sang, umgeben von den geistlichen und weltlichen Würdenträgern, den Feuerwehrleuten, Vereinsbrüdern und schluchzenden Hinterbliebenen, ein letztes Lied. Die Chauffeure an der Kirchhofmauer warfen die Motore an. Die Neugierigen vor den Mauern drängten an den Eingang des Friedhofs, um wenigstens jetzt einen der hohen offiziellen Herren zu sehen.
Langsam kamen die Zylindermänner heraus. Sie unterhielten sich. Fast wunderte man sich, dass sie menschliche Stimmen hatten. Sie grüßten und sahen sich nach ihren Wagen um. Die Chauffeure liefen. Die Herren stiegen ein.
Drei Regierungen entfernten sich von den Särgen von siebzig Proleten. Die Leichen waren zu Grabe getragen und mit ihnen - so hofften sie alle drei - die Empörung der Arbeiter. Sie gingen zurück an ihre Arbeit. Monsieur Paganon zur Revision ins Saarbrückener Bergwerksamt. Mister Knox in sein Saarbrücker Schloss, um einen Dankbrief an den Neunkirchener Bürgermeister zu entwerfen. Herr von Papen ins Gebäude der Regierungskommission, wohin er die gesamte Saarpresse eingeladen hatte. Papen wartete. Aber nur die Redakteure der »Saarbrücker Zeitung« kamen; sie kamen, wie die Eingeweihten sagten, zu ihrem neuen Brotgeber. Alle anderen fehlten.
Der Kampf um die Saar trat in seine letzte und heftigste Phase.
Die Provokation
Der pfälzische Gauleiter der NSDAP kam überraschend mit seinem Privatauto nach Saarbrücken zu dem nationalsozialistischen Führer Vitriol. Sie standen sich gegenüber in einem kleinen Salon und betrachteten sich eine Weile mit verlegenen Blicken.
»Ist dieses Zimmer dicht?« fragte dann der Pfälzer den saarländischen Parteigenossen.
»Wir sind bei Freunden. Es ist niemand im Haus als eine Wache.«
»Gut, hören Sie. Eine unerhört wichtige Aufgabe. Der Kurier von Berlin mit höchster Weisung. Es muss vor der Wahl etwas steigen. Die Kommune rückt uns auf den Leib. Berlin will, dass die Saar an der Wahl mitarbeitet. Der Plan ist gefährlich. Wir müssen beweisen, was wir können. Um kurz zu sein -wir sind wirklich allein?« Der Pfälzer sah sein Gegenüber durchdringend an, streifte dann die Türen, die zu den Nachbarzimmern führten, mit misstrauischem Blick. Der Saarländer lachte, ging aber doch zu einer der Türen, und riss sie auf: »Hier ist ein Wintergarten. Der Zugang vom Garten ist bewacht.«
Man sah auf Zimmerpalmen, einige Geweihe an den Wänden und die beschlagenen Scheiben der Veranda. »Und hier« -der Saarländer ging durch das Zimmer und öffnete die zweite Tür - »ist mein Arbeitszimmer, das nur durch diese Tür zu erreichen ist.«
Der pfälzische Gesandte war zufrieden: »Es müssen Aufstände organisiert werden. Wir haben heute den 16. Februar. Bis zum 27. muss es hier Krawalle geben. Verstehen Sie! Vielleicht gelingt es auch drüben im Reich. Aber es ist unsicher, die Kommune hält Disziplin; und die Führung hat strenge Anweisung von Moskau, keine Terrorakte zu dulden. Sie rechnen mit großem Stimmengewinn. Berlin aber kann nicht warten. Verstehen Sie? Nein? Also etwas deutlicher: es sind sofort alle Verbindungsleute zur Kommune zu alarmieren. Man muss dem RFB einreden, dass die SA einmarschieren will. Man muss an den Reichsjammer heran. Es gibt auch da genug Kerle, die losschlagen wollen. Drittens: die christlichen Verbände. Sie sind schwach hier. Aber man kann da nachhelfen. Am 20. spricht Brüning in Kaiserslautern. Meine Leute werden angreifen. Es wird wohl nicht ganz unblutig hergehen. Das wäre dann auszunutzen, haben Sie verstanden? Nein? Also seien Sie nicht so fad! Die Saar soll ihre kleine Revolution haben. Wir glauben nicht, dass die Franzosen eingreifen werden. Die Regierungskommission ist ausreichend. Wie es ausgeht, interessiert auch vorläufig nicht. In jedem Fall denkt man sich in Berlin die Sache so: die Kommune wird einzelne Gemeindehäuser besetzen. Ein paar Landjäger werden draufgehen. In Völklingen werden sie vielleicht die Röchlingsche Villa belagern -«
Was nichts schaden könnte, dachte der saarländische Nazi, er hasste den Industriellen, aber er sagte fürs erste noch nichts.
»Wie ich die Erwerbslosen kenne«, fuhr der Pfälzer fort, »werden sie die Parolen zur Plünderung der Geschäfte gut befolgen. Man wird plündern. Es kann nichts schaden, wenn auch Attacken auf das Regierungsgebäude versucht werden. Innerhalb vierundzwanzig Stunden wird der Belagerungszustand verhängt werden. Wenn die Ereignisse in kleinen Einzelaktionen ersticken, ist nachzustoßen. Sie haben zweifellos Leute, die Sie jederzeit der Kommune zuschreiben können? Gut! Die kommen dann in Frage. Ich meine, wenn es nur nach kleinem Übergriff aussieht. Dann hat nämlich auch der Eingriff in die internationale Frage zu erfolgen. Denken Sie sich beispielsweise irgendeinen prominenten Franzosen; vom Bergwerksamt oder von der Regierung. Wenn er umgelegt würde, wäre für Frankreich der Einmarsch von Forbach aus selbstverständlich. Ich sehe, Sie staunen, verstehen Sie nicht, um was es sich handelt?«
»Warum soll ich nicht staunen? Das ist doch alles, als wenn einer einen schlechten Traum hätte. Wozu soll das führen? Wirklich, ich verstehe vorläufig noch gar nichts.«
»Was nur beweist, dass Sie noch viel lernen müssen, werter Parteigenosse. Lernen von unserem Propagandaminister, von Ihrem Ministerpräsidenten, um gar nicht vom Führer zu sprechen. Im übrigen ist dies ein Befehl. Ich bitte Sie darum, nicht zu zweifeln, dass man sich das oben gut überlegt hat. Für Sie handelt es sich nur darum, die Chose Ihren Ortskenntnissen entsprechend auszuführen.«
Der Saarländer hörte den drohenden Ton; er begriff, dass sein Amtskollege ihn zu missachten begann. Es war kein Zweifel, dass hier eine Gelegenheit gegeben war, Besonderes zu leisten. Er straffte seine Gedanken; wenn es nur so rasch zu begreifen gewesen wäre. Aber warum der Einmarsch der Franzosen, die als erstes den ganzen Bezirk nazirein machen würden? Warum eine Lynchung von Landjägern, an deren Zersetzung man nun seit Monaten gearbeitet hatte? Der Saarländer sah die Details, wie sie der Spezialist sieht; er sah seine Arbeit bedroht und ahnte zugleich die günstige Gelegenheit zum groß angelegten Husarenstreich.
»Ich staune natürlich«, sagte er dann mit gespielter Sicherheit. »Der Plan verrät den Propagandaminister. Entschuldigen Sie, werter Parteigenosse, dass ich schon in den Details bin, die Schwierigkeiten muss man doch abwägen. Das ist eine Schlacht. Und es geht um mein Gebiet.«
»Es geht um Deutschland«, erwiderte schroff der Auftraggeber. Er stieß den Landesnamen mit grober Stimme heraus.
Der Saarländer kniff die Augen zu in plötzlicher Wut. War dieser Pfälzer vielleicht mehr als er, dass er ihn so anschnauzte? Als wenn man mich an Deutschland erinnern müsste!
Er wollte zurückbrüllen, aber im letzten Augenblick fiel ihm Berlin ein. Sein Gegenüber war in diesem Augenblick wirklich mehr als er; er war Kurier des Führers; übrigens kam das alles entweder von Goebbels oder von Göring.
»Berichten Sie weiter«, sagte er ruhig. »Zuvor nur eine Frage: zu was soll es gut sein, wenn die Franzosen hier einmarschieren und die Bevölkerung von Plünderern erretten?«
Der Pfälzer spürte die Unterwerfung, denn die Frage war schon in ergebenem Ton gestellt; sie war nebenbei auch nicht dumm gestellt; man setzte viel aufs Spiel. Aber im Gesamten gesehen, lohnte sich eine Provinz. Es ging um die Macht. Hinterher konnte man weitersehen.
»Gewiss wird das alles uns an der Saar sehr schaden. Aber nur kurze Zeit. Denn inzwischen: vergessen Sie das nicht, lieber Freund, inzwischen haben wir die Macht drüben. Und nun stellen Sie sich vor, was wir dort vor der Wahl noch arbeiten können. Wir können die Kommune ausrotten. Wir können Sie völlig vernichten. Vom 27. an, oder wenn es auch früher schon losgehen wird, kann man mit Radio, mit Presse, mit allem, was wir doch schon in der Hand haben, in das ganze Volk hineinschreien: »Schaut's her! Plündern tun sie.« Und weiter: was kommt dann hinterher? Wiederum: »Schaut's her. Sie holen den Erbfeind an die deutsche Saar.« Das sind zwei Schläge mit einem Tag. Ich habe mir das alles durch den Kopf gehen lassen jetzt unterwegs: es ist ein großartiger Plan. Und wenn wirklich ein Franzose draufgegangen ist, dann können wir auch damit rechnen, dass die Franzosen sich genau so benehmen wie 1919 hier. Sie werden mehr als ein Todesurteil fällen. Sie werden nicht länger als 48 Stunden als die Retter erscheinen. Die Retter werden wir drüben sein. Wir werden die Sehnsucht werden für die Saar. Unser Führer wird das sein für sie alle, was er ja
auch ist: der Retter vom Bolschewismus. Man muss aber nachstoßen, in der Politik braucht man handgreifliche Beispiele. Und was Sie zu machen haben, das ist ein solches handgreifliches Beispiel.«
Der Pfälzer redete sich in eine immer stärker hörbare Begeisterung hinein. Der Saarländer, bedrängt von den Schwierigkeiten, die er vor sich sah, besorgt um seine politische Provinz, erschrak vor dem Befehl, der ihm jetzt ganz deutlich geworden war. Husarenstreich, schön; er hatte sich immer schon einen gewünscht. Aber dieser hatte zu weite Konsequenzen. Undeutlich spürte er, dass er sich wehren müsse; aber er wagte keinen Einwand mehr. Die Aufgabe kam wie ein Feind entgegen. Man musste sich stellen. Die Flucht brachte nichts besseres. Verloren war man in jedem Fall. Der Pfälzer verzog sein Gesicht zu vertraulichem Grinsen:
»Übrigens - ich will das nicht vergessen - brauchen Sie sich wirklich keine Sorgen zu machen um sich selbst. Oder meinen Sie, dass Sie aus diesem Gebiet nicht in ein anderes versetzt werden, wo mehr dabei herauskommt als hier. Sie stolpern die Treppe hinauf, glauben Sie mir das. Ich beneide Sie fast um die Arbeit.«
Der Saarländer fühlte sich überrascht durch die tröstende Versicherung. Aber sie erleichterte ihn wirklich.
»Hören Sie«, meinte der Abgesandte, »im Prinzip sind wir uns einig. In der Tatsache, dass es sehr schnell gehen muss, auch. Also fehlt nur noch, zu beraten, wie mein Gau Ihnen helfen kann. Setzen wir uns! Und gehen wir der Reihe nach alles durch!«
Im Büro der kommunistischen »Arbeiterzeitung« war die erste Morgenbesprechung der Redakteure. Der politische Redakteur stand am Pult und überflog den »Völkischen Beobachter«, in der Hand hielt er, eh ein Kollege sie beschlagnahmen konnte, die Frankfurter. Der Lokalredakteur, ein junger Arbeiterkorrespondent mit blondem Schopf, schnitt schon aus der »Volksstimme« ein Zitat heraus. Zwei andere Redakteure durchstöberten den »Temps« und die katholische »Landeszeitung«. Die Morgenarbeit sollte beginnen.
Einer lachte plötzlich und las: »Protest im Reichsrat - Verfassungsverletzung. Mensch, die protestieren immer noch. Die Mainlinie protestiert.« Er ließ seine Worte in Lachen ersticken.
Die anderen hörten nur kurz zu ihm hin, dann lasen sie weiter. Wer sorgte sich heute noch um eine Rettung von Weimar durch Bayern? Nur Dummköpfe oder Sozialdemokraten.
Ein scharfer Pfiff kam vom Tisch des Außenpolitischen. Ein Pfiff, wie wenn jemand die Schärfe eines Messers prüft und erschrickt.
»Admiral von Levetzow ist Polizeipräsident von Berlin«, sagte der Außenpolitische. Die anderen horchten auf aus ihrer Lektüre. »Den Burschen kenne ich«, sagte einer, »das ist so ziemlich das Brutalste an Preußen, was man sich vorstellen kann.« Der Redakteur sah ernst auf die Nachricht; »Jetzt wird's gut«, sagte er leise. Man hörte das Grauen aus dem Ton seiner Stimme.
»Post!« rief eine Stimme aus dem Nebenzimmer. Sie stürzten alle vier hinaus. Jeder griff nach neuen Zeitungen. Der Chef riss die Briefe auf; Korrespondenzen kamen aus den Umschlägen, Manuskripte mit Arbeiterhandschrift, ein Gedicht. Plötzlich rief einer: »Hört mal zu!« Seine Stimme war beglückt. »Da haben sie gestern Abend in Stuttgart dem Adolf das Rundfunkkabel zerhackt.«
»Hätten sie ihn nur selber zerhackt. Zeig her!«
Der Entdecker der Nachricht strahlte. »Was sagst du dazu«, wandte er sich zu dem Außenpolitiker. »Unsere Jungens sind unterwegs, was!«
»Gehen wir an die Arbeit«, mahnte der Chefredakteur.
Sie verteilten sich in die drei dicht nebeneinander liegenden Zimmer. Im ersten Zimmer war eine Minute Stille.
»Daraus mache ich eine knorke Sache«, sagte dann der eine Genosse zu seinem jungen Gegenüber vom Lokalteil. Es klopfte. »Mensch, das fängt ja früh an heute - herein!«
Ein mächtiger Bursche trat ins Zimmer, sah forschend hinein und ließ die Tür hinter sich offen. Der kalte Wind der Toreinfahrt schlug herein.
»Mensch, mach das Loch zu, die Fliegen erkälten sich.« »Und unsere Kohlen sind sowieso alle«, jammerte ernsthaft der junge Fachmann fürs Lokale.
»Wenn ich wieder raus komme, könnt ihr neue haben - aus meinem Stollen«, antwortete lachend der Bursche.
Die Redakteure sahen ihn fragend an. Der Bursche nahm jetzt die Mütze ab:
»Also - sie haben mich verknallt wegen der Püttlinger Sache.
Vier Wochen muss ich rin. Vom Schnellgericht. Ich habe einen Nazi gebürstet. Wenn ihr was bringen wollt.«
Das Telefon klingelte. »Ja natürlich, Genosse, wart mal.« Der ältere Redakteur ging an das Wandtelefon. Er hörte lange hinein, endlich sagte er: »Wie war noch Ihr Name? Ach so, Genosse, ja sag mal, kannst du nicht mal herkommen?« Die Gegenseite schien das zu verneinen. »Ich schreibe mir's auf, also: Reiner, Burbach, Krumme Straße 4. Ist gut, ich gebs gleich weiter.« Er hing den Hörer ein. »Eine tolle Sache«, meinte er und kratzte sich das schlecht rasierte Kinn. »Muss ich gleich drin sagen.«
»Was ist denn, du, bleib doch mal hier. Erzähl doch«, bat der Lokalredakteur. »Er diktiert schon, stör ihn jetzt lieber nicht.«
Der Redakteur vergaß völlig den Besuch. Er stierte auf den Zeitungshaufen und suchte sich in seinen Gedanken zurechtzufinden.
Der junge Kollege drängte. »Na, dann schieß doch schon los!« bat er neugierig.
»Eine tolle Sache«, murmelte er. »Ein Klempnergeselle hat die Nazis abgehorcht. Sie wollen SA einmarschieren lassen.«
Der Arbeiter an der Tür horchte auf. Die beiden Genossen diskutierten erregt. Er zählte sein Geld in der Hosentasche. Das war eine Trambahn wert. Das mussten die Genossen sofort erfahren.
»Ich geh jetzt doch rein zu ihm«, sagte der Redakteur. Der junge Arbeiter grüßte und ging. Schon im Torbogen lief er.
Der Redakteur kam bald zurück aus dem Nebenzimmer.
»Nun«, fragte der kleine vom lokalen Teil.
Der andere verzog das Gesicht: »Er hat recht, es werden jetzt Enten losgelassen. Man muss sich in Acht nehmen.« Er setzte sich nieder. »Wir sollen abwarten, bis der Klempner herkommt.«
Die »Arbeiterzeitung« schwieg über den geheimen Telefonanruf, denn der Arbeiter Reiner aus Burbach, Krumme Straße 4, meldete sich nicht mehr, und als nach seinem Dienst der Genosse sich das private Vergnügen machte nach Burbach zu gehen, um nachzuforschen, fand er in keinem Haus der Krummen Straße einen Arbeiter Reiner.
Aber am Abend nach dem Anruf gingen in zwei Dörfern oberhalb von Völklingen Patrouillen durch die Straßen. Das
Sturmband um das Kinn gelegt, schritten junge und ältere Arbeiter vor ihrem Lokal auf und ab. Am Rand der Dörfer lagen Bäume im Graben der Landstraße, frisch gefällte, die in wenigen Minuten sperrend über die Hauptwege geworfen werden konnten.
Kumpel verließen das Dorf und trotteten zur Schicht. Manche von ihnen wurden angehalten und belehrt. Sie hatten Lust, die Schicht zu versäumen. Aber man riet ihnen nicht genug zu. Die Wachen glaubten, dass diese Nacht noch ruhig bleiben würde. Morgen wären genauere Instruktionen da. Dann könne man weiter beraten. Die Kumpel stapften in die Nacht. Aus der Dunkelheit kamen ihre Stimmen, die eifrig die Nachricht berieten. Je mehr sie sich entfernten, desto drohender schlich wieder an die Wachen das Gefühl der Unsicherheit. Wie gern hätten sie dem vagen Gefühl ein Ende gemacht! Dem Angriff zuvorkommen. Aber auf welche Art? An der Grenze müsste man sein. Eines Tages war es doch bestimmt soweit. War dann die Saar gerüstet?
Die Nebel wehten über die leeren Felder. In den dichten Wolken des Himmels erschien für eine kurze Zeit das spärliche Licht des bis zum letzten Viertel abgeblendeten Monds. Eine Patrouille kam den Weg herunter. »Freiheit«, antworteten die Posten. Die Botschaft des Besuchers der »Arbeiterzeitung« hatte die beiden Dörfer alarmiert. Sie standen an den Rändern des Waldes und warteten. Im schwarzen Mantel der Nacht lagen hinter ihnen die kleinen Häuserzeilen der Kumpel. Kinder schliefen, den Daumen im Mund hundert Meter von den Wachtposten. Die Frauen lagen dort im Dunkel. Die Männer fühlten, wie sehr sie mit diesem Dorf verbunden waren. So musste es im Krieg gewesen sein, dachten die Jungen. Sie wünschten sich den Kampf. Aber gerade in dieser Nacht kam kein einziges Auto.
Aus den Talgründen schrie ein hungerndes Reh. Hoch oben im Gewölk stand bis zum Morgengrauen ein rötlich schimmernder Lichtkreis, der Widerschein der Hochöfen von Röchling. Die Nacht schlich durch die feuchten Stunden. Die Dämmerung vertrieb aus den frierenden Männern die schlimmsten Visionen.
Als die Nachtschicht der Kumpel zurückkehrte, hob man den Großalarm auf und verabredete sich zu einer Besprechung für den frühen Nachmittag.
Einige Posten blieben unterwegs, bis Ablösung geschickt wurde.
Die Losung der nächsten Nacht hieß »Karl Liebknecht«. Die jungen Sozialisten sprachen sie nach, ohne zu zögern. Am Morgen war der »Vorwärts« verboten worden. Die jungen Genossen dachten an den 20. Juli und an Severing. In diesen Dörfern diskutierten sie nicht mehr als feindliche Brüder.
Sie standen auch diese zweite Nacht bis zum Morgen. Sie hielten ein Auto an, das mit Bier aus der Saarpfalz unterwegs war. Im Nachbardorf fiel ein betrunkener Nazi der Wache in die Hände. Dann floh er. Die Wachen gingen bis zum ersten Läuten der sonntäglichen Frühmesse. Langsam fraß sich ein Zweifel in sie. Aus der Stadt war keine Bestätigung gekommen. Sie standen ihre zweite Nacht zu Ende. In jedem Fall war es eine Probe.
Der NSDAP-Führer sandte Spitzel um Spitzel aus. Die erste Nachricht hatte nichts erreicht. In einigen Ortschaften war am 18. und 19. Februar verschärfter Massenselbstschutz aufgetreten. Um so schlimmer. Das hatte nur dazu geführt, dass die Arbeiter noch mehr Respekt vor der Kommune bekamen. Die SPD? »Wissen Sie was«, sagte der Bezirksführer zu seinem Adjutanten, mit dem er nach den zwei erfolglosen Tagen die Lage besprach. »Braun wird wahrscheinlich nichts Eiligeres zu tun haben, als die Regierung zu alarmieren. Ich habe heute alle Papiere hier wegschaffen lassen, weil wir jederzeit eine Hausuntersuchung fürchten müssen nach meinen Informationen unseres Gewährsmannes in der Regierung. Das ist das Resultat. Wir müssen anders vorgehen. Ich glaube nicht, dass es auf dem Umweg über die Parteiorganisationen geht. Wir müssen einfach Leute aus dem Reich holen, die hier plündern, hier und in Burbach, in Völklingen, vielleicht noch in Neunkirchen.
Ich denke an die Stunde abends. Da sind in diesen Städten viele Erwerbslose auf der Straße. Das muss schlagartig einsetzen wie damals in Berlin in der Leipzigerstraße. Steine in die Fenster. Ein Zugreifen unserer Leute zum Schein und dann sofort alle weg. Die Erwerbslosen werden sich sofort beteiligen. Es werden genug Kommunisten darunter sein. Der Anfang ist dann gemacht. Ich erinnere mich, wie beliebt das Plündern hier war 1920. Ich glaube, das ist das beste Mittel. Alles andere geht nicht in dieser kurzen Zeit. Und die Zeit ist kurz, verdammt kurz. Ich könnte verzweifeln. Aber ich sehe ein, dass es gemacht
werden muss. Wir müssen nur sofort daran gehen, die besten Leute auszusuchen, und noch ein paar Leute durch gut gedeckte Mittelsmänner zu kaufen. Ich denke, Sie übernehmen Saarbrücken. Ich selbst fahre heute nach Völklingen. Über den Termin sprechen wir heute Abend, wenn Sie sich umgesehen haben und ich auch da unten die Lage schon etwas ausgekundschaftet habe.«
Die verbotene SA der Hauptstadt rebellierte an diesem Abend zum ersten Mal. Der Unterführer hatte vermieden, den jungen Leuten einen vollen Einblick in die Hintergründe der Provokation zu geben. Er hatte vorgeschlagen, einen Fensterscheibenprogrom zu machen. Die ganze Bahnhofstraße hinunter. Es seien ja nur Juden, sagte er, der große Weill, sicher auch das PK, wenn es dies auch bestreite. Man brauche gar nicht so ängstlich zu sein. Auf einen verfehlten Wurf käme es nicht an. Natürlich sofortige Flucht nach den Steinwürfen, möglichst kurz vorher Diskussionsgruppen mit den Erwerbslosen. Hinweis, dass gleich etwas los sei. Die Kommune sei da. Es gebe was zu holen.
Die SA-Gruppen hörten geduldig zu. Dann brach eine Diskussion aus, die der Unterführer nicht erwartet hätte.
»Haben wir das nötig«, sagte der erste Redner, ein Student. »Der Führer ist drüben an die Macht gekommen und wir wenden noch Methoden an, die vor der Machtergreifung schon das Gegenteil erreichten?«
Der zweite Diskussionsredner verstand nicht, warum man nicht zu seiner Tat stehen wolle. Er jedenfalls sage nie im Leben zu irgendeinem Arbeiter, dass er von der Kommune sei. Das ginge nicht über seine Lippen. »Ich bin ein Nationalsozialist«, schrie der SA-Mann. »Und kein Untermensch und Barackentier!«
Ein großer Arbeiterbursche erhob sich: »Ich will ja nur mal fragen, was das für Reden sind. Ich denke, wir haben das Führerprinzip. Nun also - was wird dann hier geschwätzt. Und von wegen Barackentier - also immerhin sind wir Nationalsozialisten, und sone Barackentiere gehören doch wohl auch zu dem deutschen Volk. Da sagt auch der Führer nichts anderes drüber, und da können wir also ruhig die Schniß halten und uns nicht so mopsig machen. Meine Meinung. Heil Hitler!« Er hob die Hand zum römischen Gruß. Die anderen ließen sie automatisch
ebenfalls kurz zur Schulter steigen. Aber sie schwiegen betreten. Die Angestellten überwogen unter ihnen. Der Arbeiter erinnerte sie aber alle, wie man sich gemein gemacht hatte gegen seinen Stand mit allem, was sich Pg nannte; das war nicht leicht zu schlucken. Man war leutselig, weil der Führer es wünschte. Zu weit aber ging die Sache, wenn hier von der Arbeiterseite her die Vorwürfe kamen, wenn so ein Fabrikarbeiter einen zu belehren anfing.
Auf den kann man sich verlassen, dachte der Unterführer, der fürs erste die Diskussion noch nicht zügelte, sondern die Kräfte prüfen wollte. Manchmal merkt man doch, dass so ein Arbeiterkerl zwanzigmal mehr wert ist als die ganzen Bürgersöhnchen.
»Hat vielleicht noch jemand was zu sagen?« Der Unterführer entschloss sich zu einem drohenden Ton. Keiner hob die Hand. »Ich wollte es auch meinen. Seit wann sind wir ein Diskussionsklub? Sind wir vielleicht Kommune? Wollt ihr hier Zellenabende machen? Oder sind wir die Kampftruppe der deutschen Revolution? Also, ich wiederhole den Befehl der Leitung. Zu einem Zeitpunkt, der noch bekannt gegeben wird, ist in der Bahnhofstraße ein Fensterscheibenprogrom zu organisieren, der die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf die jüdischen Geschäfte lenken soll. Da ist noch viel zu wenig hier getan. Wer das nicht versteht, wer da noch lange herummeckert, der soll seinen Kopf gar nicht erst anstrengen, sondern gefälligst parieren. Im übrigen kann ich zu der ganzen Aktion nur eine Staffel von ganz ausgezeichneten SA-Leuten gebrauchen. Eh ich sie bestimme, fordere ich zwölf Mann auf, sich freiwillig zu melden.«
Der Unterführer schien die Kraft seiner Autorität überschätzt zu haben. Als einziger stand der Arbeiterbursche auf, der kurz vorher gesprochen hatte. Das war Rebellion!
Der Unterführer sah sich einen Augenblick hilflos in der Runde um. Die großen Abzeichenteller der Partei mit dem Hakenkreuz grinsten ihn aus allen braunen Schlipsen an. Kletterwesten trugen sie. Elegant waren sie. Er brüllte plötzlich:
»Was denkt ihr euch eigentlich? Feiglinge seid ihr. Der Sturm wird aufgelöst werden. Noch heute Abend spreche ich mit dem Landesführer. Schämen sollt ihr euch -«
Ein Faustschlag unterbrach seine Rede. Ein grimmig aussehender wohl schon dreißigjähriger SA-Mann mit einem Durchzieher durch die fetten Backen hatte auf den Tisch gehauen: »Ich lasse mich hier nicht beschimpfen. Ich weiß ganz genau, was Disziplin ist. Das braucht uns keiner hier zu erzählen. Wir sind keine kleinen Jungs hier. Wir haben schon anderes mitgemacht. Wir werden uns ebenfalls beim Landesführer beschweren. Und zwar heute noch. Noch eh die Unterführung uns dort verleumden kann.«
Der Unterführer lächelte jetzt überlegen: »Soviel ich die Vorschrift kenne, hat kein SA-Mann das Recht, sich vor dem Ablauf von 24 Stunden nach einem Vorfall zu beschweren. Außerdem geht dann die Sache an den Kreisuschla. Und nicht an den Landesführer. Man sieht, dass hier noch sehr unerfahrene SA-Leute sitzen.«
Sein Wort machte Eindruck. Die Versammlung besann sich auf die große Macht des Führerapparats. Jeder war plötzlich in Gedanken in seiner Straße. Wo er sonst am Abend Gespräche hielt. Wo er von dem Tag der Macht sprechen konnte. Wo einen die Sympathisierenden beneideten, die Mädchen bewunderten. Wo man hinter sich hatte die ganze Macht des braunen Heeres und alle Achtung genoss, die bis hinauf zum Führer von der Straße gewährt wurde. Sie besannen sich auf die Blamage. Das sollte ab morgen alles verloren gehen? Wegen Gehorsamsverweigerung? Und dazu kam noch die Feme. Wer konnte wissen: jetzt meldeten sich vielleicht alle zurück und man blieb allein übrig. Dann war man vogelfrei, konnte an jeder Straßenecke auf seine Prügel rechnen. Besser man lenkte ein.
So dachten sie alle. Der Unterführer aber merkte nichts davon. Er gab seine Schlacht verloren. Jetzt erst spürte er, dass irgend etwas an diesem Räuberplan ihm von Anfang an nicht gefallen hatte. Er ärgerte sich über den Landesführer. Der hatte das wohl nach oben vorgeschlagen. Und nun zerschlug das die ganze Disziplin. Er winkte dem Arbeiterburschen zu, der noch immer aufrecht stand: »Melde dich morgen im Sturmlokal von Burbach. Das übrige wegtreten!«
Ganz schroff schloss er die Sitzung. Sie sahen ihn überrascht an. Einige versuchten, ihn zu grüßen. Sie standen auf, als er sich durch die Tische schob, klappten die Hacken zusammen, hoben die Hände und sagten »Heil Hitler«. Aber der Unterführer, obschon selbst verwirrt, kam doch noch auf einen Einfall: er glaubte, dass er sie durch Nichtachtung strafen müsse.
An ihrer Ehre muss man sie packen, dachte er und ging stumm hinaus. Sie blieben beschämt und wütend zurück.
Die Sonntagsglocken hämmerten die Luft aus allen Türmen der Stadt Burbach. Die festliche Langeweile der Straße wich dem heiligen Lärm. Die Stadt erwachte und besann sich auf alle Christenpflichten: Geputzte Kinder kamen eilig mit dicken Gesangbüchern aus den niedrigen Häusern. Ein Nonnenschwarm trippelte die Hauptstraße hinauf; die weißen Scheuklappen der Bräute Christi wippten leise um die vergilbten Gesichter. Den Berg herunter kam ein strammer Kaplan. Die Schwestern neigten grüßend die Häupter; in den Augen der jüngsten leuchtete ein glückliches Lächeln auf. Sie barg es im schamhaften Neigen der steifen, sauberen Haube. Mädchen kamen herbeigelaufen, die Hand des Geistlichen zu fassen. »Gelobt sei Jesus Christus« , sagten sie mit einem Knicks und liefen wieder davon. Der Geistliche überquerte die Straße mit niedergeschlagenen Augen. Er erschrak vom klagenden Pfiff einer Autobremse. Dicht vor ihm hielt ein braunes Cabriolet. Der Fahrer hinter der Scheibe machte wütende, fast spottende Gesten. Der Geistliche ging vor dem Kühler stumm vorbei.
»Dämlicher Kerl«, knurrte der Fahrer. »Schwarzer Bruder! Totfahren sollte man euch!« Der Mann war sehr verärgert. Es war Vitriol, der Nationalsozialist. Er schaltete den ersten Gang wieder ein und sah wütend auf die herbeiströmenden Gläubigen. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. »Da haben wir noch gar nichts versucht«, sagte er und schien sehr befriedigt von seiner Erkenntnis.
Wenige Minuten später hielt er vor einem Haus im Zentrum der Stadt. Er klingelte an einer Mietswohnung des zweiten Stocks. Eine ältere Frau öffnete ihm. Überhöflich verneigte sie sich vor dem jungen klobigen Menschen. »Zu Hause?« fragte Vitriol. Im Hintergrund klappten ein paar Militärstiefel zusammen, dann sprang aus dem Dunkel der Unterführer. »Heil Hitler«, sagte der hohe Besuch. »Ich habe mit Ihnen zu reden. Können wir allein sein«, setzte er brutal hinzu. Die ältere Dame verneigte sich noch einmal. »Ich gehe sowieso gleich in die Kirche, da sind die Herren sofort allein«, sagte sie und huschte durch den Korridor. »Es ist eine Schweinerei sondergleichen«, begann Vitriol,
als die Männer in einem altertümlichen Salon sich gegenüberstanden. »Eine Woche ist vorbei, und nichts ist geschehen. Heute morgen rief die Pfalz an. Man ist total verärgert an höchster Stelle. Wir haben versagt!« brüllte Vitriol. Der jüngere Helfer stand mit zusammengerissenen Stiefeln starr vor dem Polternden. »Lauter Nichtskönner habe ich um mich. Der Merziger, dieser Dürmel, schreibt wehleidige Briefe, weil er mit den paar Stahlhelmern nicht fertigwird. Hat Ehrbegriffe! Ich habe ihn zurückgerufen. Er wird heute hier eintreffen und sich bei Ihnen melden. Ich muss nach Neustadt rüber. Ich ermahne Sie noch ein letztes Mal. Sie haben nicht einmal Ihre Kampftruppe in Ordnung. Nichts als Stank höre ich seit Tagen. Dabei haben wir eine geschichtliche Aufgabe bekommen. Ich gebe Ihnen einen Tipp, den Sie heute noch zu nutzen haben. Es ist eine große Erregung in der katholischen Welt. Es kommt mir jetzt auf gar nichts mehr an.«
Er lief einige Schritte durch den muffigen Salon.
»Ich kann sowieso die Pfaffen nicht leiden. Also sehen Sie sich um. Sie wissen, dass es in der Pfalz Zusammenstöße gegeben hat. Sie wissen, dass die Pfaffen seit Tagen auf allen Versammlungen und heute wie wahnsinnig auch von den Kanzeln gegen den Führer hetzen. Hören Sie sich das an. Nehmen Sie sich gegen Abend ein paar Leute mit. Zum Donnerwetter, ich muss ihnen doch nicht immer alle Details auf einen Zettel schreiben. Haben Sie gefälligst Initiative.« Der Führer hob ein letztes Mal die Stimme: »Bis zum 28. muss etwas passiert sein an der Saar, es muss!«
Als der Unterführer Franz Weber zwei Stunden später vor der Kirche von St-Arnual ankam, hatte die letzte Messe bereits begonnen. Immer noch kamen Gläubige heran, um von dieser rettenden Einrichtung des späten Gottesdienstes wenigstens noch die vorgeschriebenen Minuten zu profitieren. Weber schob sich durch die Reihen der Männer, die in merkwürdiger Gleichgültigkeit bis auf den Kirchplatz standen und als einziges Zugeständnis an die heilige Handlung im Innern das Gesicht zum offenen Portal gewendet hielten. Weber blieb in den hinteren Reihen unter dem Glockenturm stecken. Man hörte aus dem Bau die Stimme des Predigers. Er las das Evangelium:
»In jener Zeit nahm Jesus die Zwölfe zu sich und sprach zu ihnen: »Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles in Erfüllung gehen, was durch die Propheten über den Menschensohn geschrieben worden ist. Er wird nämlich den Heiden ausgeliefert, verspottet, gegeißelt und angespieen werden, und nachdem sie ihn gegeißelt haben, werden sie ihn töten; und am dritten Tag wird er auferstehen.« Sie aber verstanden nichts davon; dieses Wort war ihnen dunkel, und sie begriffen das Gesagte nicht.«
Weber fürchtete, dass er die Predigt nicht ungestört von seinem Platz aus hören würde, denn man sprach rings um ihn im halblauten Ton über ganz profane Dinge. Er drängte sich energisch nach vorn und kam bis zu den Weihwasserkesseln. Um jedem Verdacht seiner Umgebung zuvorzukommen, nahm er sich Wasser aus dem kleinen Trog und bekreuzigte sich.
Der Geistliche schloss gerade seine Vorlesung, sagte: »Soweit diese heiligen Worte«, küsste das Buch, legte es beiseite und bekreuzigte sich. Die besondere Spannung des Tages war nun fühlbar in dem angespannten Schweigen, dem schweren Atmen der Menschen um Weber und den erwartungsvollen Blicken, die aus allen Bänken zu der geschnitzten Kanzel und dem Mann dort oben mit der Stola und dem weißüberworfenen Chorhemd gingen. Und schon sprach jener mit leicht vibrierender Stimme:
»Es ist fast ein Geheimnis um das Sonntagsevangelium. Sein erhabenes Wort kommt immer zur rechten Stunde. Oder ist es nicht mehr als ein Zufall, dass das heutige Evangelium spricht von den Verfolgungen, die der Herr hat erdulden müssen für seine Heiligkeit, für seine Ideen? Ist es nicht wie eine Mahnung an alle, stark zu bleiben in diesen Stunden der Versuchung?«
Die Gemeinde fühlte, dass jetzt die Sensation des Tages kam. Man gab dem Nachbar ein Zeichen, sah sich an. Weber hörte, wie neben ihm jemand sagte: »Kaiserslautern.«
»Denkt man nicht«, fuhr der Priester fort, »an die alten Bismarckzeiten, die unsere Väter erlebt, wenn man heute in die Zeitung sieht. Priester werden angegriffen von jungen verführten Burschen. Am heiligen Gewand der Gottesdiener hat man sich vergriffen. Treue und Glaube ist dem Verrat und der Verleumdung gewichen. Der Antichrist geht um. Man soll sich wappnen.«
Weber spürte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg. Dass man nicht antworten konnte, still dastehen musste und das alles anhören, biss ihn wie heiße Zangen.
»Man soll sich wappnen«, sagte der Priester, »damit man
kämpfen kann und bereit ist in dem Kulturkampf, der kommen muss. »Wachet und betet«, heißt es heute, denn man weiß weder die Zeit noch die Stunde, da der Feind kommt.«
Wie hinterlistig war das alles. Der Name Hitler fiel nicht, die Partei wurde nicht genannt. Alles klang unpolitisch und war doch nichts anderes als eine unwidersprochene Wahlrede und Wahlhetze.
Weber roch jetzt den Mief, der aus den Kleidern neben ihm stieg, der süßliche Weihrauchduft machte ihm Ekel. Er sah auf den Altar, auf den Aufbau von unverständlichen Gegenständen und teuren Symbolen, auf die Holzfiguren neben dem redenden Priester. Er hasste mit einem Mal alles, die Menschen, die Luft, das Gebäude, das gebrochene Licht, die Säulen und Schnitzereien. Sein Ärger über Vitriol verschwand. Er erinnerte sich, wie lange er auch seine protestantische Kirche nicht mehr besucht hatte, und entdeckte, wie richtig ihn sein Instinkt da geführt hatte. Die Kaiserslauterner hatte recht, die Krefelder hatten recht. Runter mit den schwarzen Lügenpelzen! Reingehauen in die feisten Stegerwaldgesichter! Sie haben sich immer nur angeschlichen an die Machthaber, rangeschmiert. Die anderen konnten kämpfen, sie kamen hinterher. Aalglatt waren die heiligen Bonzen, so fromm, dass man das Kotzen bekam. So ohne Mut. Während unsere SA den Kopf hingehalten hat, haben sie mit den Sozis sich das Fressen geteilt.
Der Priester unterbrach die Gedanken von Franz Weber:
»Man mag sich«, sagte er, und seine Stimme wurde leer und unecht, »die Epistel des vorigen Sonntags ins Gedächtnis rufen. Was da der Apostel gesagt hat: »Von den Juden habe ich fünfmal vierzig Streichen weniger einen bekommen. Dreimal wurde ich mit Ruten geschlagen; einmal wurde ich gesteinigt; dreimal litt ich Schiffbruch; einen Tag und eine Nacht brachte ich in Meerestiefen zu. Auf Reisen war ich oftmals in Gefahren auf Flüssen, Gefahren durch Räuber, Gefahren durch Volksgenossen, Gefahren durch Heiden, Gefahren in Städten, Gefahren in der Wüste, Gefahren auf dem Meer, Gefahren unter falschen Brüdern.« Soweit der Apostel. Ist dies nicht wiederum für alle Brüder gesagt, die nun verfolgt sind? Gefahren durch Volksgenossen, wer hat sie erwartet gerade für die katholischen Männer, die seit Jahr und Tag ihre beste Kraft hingeben, um des Volkes Not zu steuern, um ihm seinen Glauben zu erhalten?«
Franz Weber spürte, dass die Predigt einging in die Menschen
unter der kleinen Kanzel. Wie eine Narkose legte sich der Zauber der Kirche auf seine eigene Stirn. Er griff sich ins Gesicht, schnaubte wütend durch die Nase. Gleich würde er rufen, würde den Raum nicht mehr achten. Man konnte das nicht anhören!
Er sah den langen Schweizer mit der Messinghellebarde durch den Mittelgang kommen. Der rote Zylinder reizte ihn zu wütendem Lachen. Die Gläubigen neben ihm schauten ihn an. Er senkte den Kopf. Gehorsames Pack! Würde das jemals einen Aufstand machen? Nein, Märtyrer wollten sie werden. Brüning und Aufstand? Weber überlegte: der Geistliche hetzte, aber er glitt über alle praktischen Folgerungen hinweg. Sagte er überhaupt etwas von Widerstand? Weber fiel sein Auftrag ein: hier war nichts zu entzünden. Oder gab es ein Mittel? Er stierte in das hohe Schiff. Der Geistliche redete weiter. Der Schweizer drängte sich an Weber vorbei zu dem Eingang hin. Er roch nach Schnaps, das lange samtene Mantelhemd nach Weihrauch. Die gelb blitzende Hellebarde endete in einem Halbmond. Ein Theatersoldat. Nein, sie waren nicht zum Kampf zu rufen. Man konnte sie ohrfeigen, ihnen die Kleider vom Leib reißen. Sie blieben fromme Christen. Weber stierte durch die Säulen zu einem Seitenaltar.
An der Kerzenpyramide war ein Wachsstumpf umgefallen und hatte die Nachbarkerzen angezündet. Ein Messner lief herbei und versuchte die hochleckende Flamme auszupusten. Stinkender Qualm hüllte die kleine Kapellennische ein. Der Geistliche ließ sich nicht stören.
Das wäre das einzige, dachte plötzlich Franz Weber und sah, wie der Messner mit dem kleinen Flammenherd sich herumschlug. Man muss sie an ihrem Geiz packen. Hier wird man sie treffen. Ihr Sonntagslokal muss man ihnen nehmen, das wird sie in Wut bringen. Er stellte sich vor, wie sie ihn greifen würden, wenn er diese Gedanken jetzt hinausschreien würde. Selbst der Zylindersoldat käme in Fahrt.
»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes!«
Der Prediger hatte geendet, er schlug ein großes Kreuz, die Gläubigen rings um Weber ahmten ihm nach, die Orgel setzte ein. Weber hörte nichts mehr. Sein Plan trieb ihm das Blut in die Schläfen, er zwang sich zur Ruhe. Nachträglich machte er ebenfalls das Kreuzeszeichen, schielte nach den Seiten, ihm war, als
müssten sie seine Gedanken erraten. Dann betrachtete er mit sachlichen Blicken den heiligen Raum.
Viel Holztäfelung war da. Die Bänke, die Beichtstühle an den Seiten, das Gewölbe. Es blieb nichts übrig, wenn man es geschickt machte. Katholische Kirchen waren den ganzen Tag geöffnet. Man konnte sich einschließen lassen. Eine Kanne Benzin reichte aus.
»Werdet euch wundern«, sagte er leise durch die zusammengebissenen Zähne, da klingelte es zur Wandlung.
Vorne verneigte sich der Priester vor dem goldenen Kelch. Weber verstand nichts von der heiligen Handlung.
Neben ihm lagen die Menschen jetzt auf den Knien wie in einer Lähmung.
Der Priester bewegte sich. Franz Weber krallte die Fäuste ineinander. Eine Glocke tönte mit feinem silbernem Klang. Ein Aufatmen ging durch die Kirche. Der Priester hob, ohne sich umzudrehen, hoch über seinen Kopf den goldenen Kelch. Die Glocke klingelte noch einmal. Dann bogen sich die Menschenleiber unter Franz Weber nach oben und standen auf. Einige wischten sich die Kniee ab.
Die Orgel setzte ein, lief in jubelnden Trillern über das allgemeine Räuspern und Husten, Stimmen fielen ein, durch das Schiff schwoll ein befreites Danklied, der Priester ging an die Seite des Altars, um aus einem aufgeschlagenen Buch zu lesen.
Franz Weber sah, dass einige seiner Nachbarn ihn mit misstrauischen Blicken streiften. Er wünschte sich das Ende der unverständlichen Zeremonie. Aber erst nach einer Viertelstunde stießen ihn die Ellbogen der Nebenmänner an, und er sah, dass sie zum Ausgang strebten.
Vor der Tür schüttelte er sich. Wie ein Hund, dem unversehens Rauch in die feinnervige Nase gekommen ist, schnaubte er zweimal den Atem aus. Dann ging er um den Kirchplatz und sah sich die Kirche von außen an. Beglückend kam die Idee der Brandstiftung wieder über ihn.
Emil Biber, der ebenfalls schwer gerügte Nazifunktionär des nördlichsten Saarbezirks, hatte den Anschnauzer erst nach Stunden verwunden. Er war durch die Straßen der Hauptstadt gewandert, verwundet in seinem Stolz, knirschend vor Wut, wenn er wieder an die peitschenden Schimpfworte des Führers
dachte. Er ging über die Saarbrücke, stand mit abwesenden Gedanken, das Gesicht zu dem Kohlekanal, und sah das Eisenwerk von Burbach Feuergarben in den Sonntag werfen. Französische Laute kamen von den Schiffen unter der Brücke. »Bö, bö, bö«, höhnte er hinunter, aber die Schiffer hörten ihn nicht. Ein Hund sprang an den Rand eines Schiffes und kläffte mit wedelndem Schwanz seinen Gruß zu einem vorbeipromenierenden Artgenossen, der das Ufer abschnüffelte. Mit weißen großen Buchstaben schien der Name des Kohlenkahns herauf zu dem Leutnant der Nationalsozialistischen Reklamefront, Emil Biber. Espérance I. Biber las es mit bösen Lippen nach. Das liegt in deutschem Gewässer! Das muss man sich ansehen!
»Je crois bien, mais Daladier connait ses généraux!«
Biber warf den Kopf herum. Französische Beamte gingen in lebhaftem Gespräch mit Familie und Kinderwagen über die schmale Leiste der Fußgängerbrücke. Wie zu Hause fühlte sich das Pack! Biber drehte sich wieder dem Fluss zu. Er erinnerte sich, dass das Werk in der Tiefe der Burbacher Häuserkomplexe auch den Franzosen gehörte. Er hatte plötzlich, was er brauchte, den Brandstoff, auf den er sein Feuer übertragen konnte.
Er ging eilig über die Brücke und stieg in die Parkanlagen hinab. Deutsche Sauberkeit überall. Konnte das jemals der Changel mit so viel Akkuratesse anlegen? Biber war noch nie in Paris gewesen, aber er war überzeugt, dass es unsauber, verschlampt, nur aufgeputzt, trügerisch, ja verwirrend war, ebenso wie es natürlich so verhurt war, dass man nicht dran denken mochte. Er ging durch die rötlichen, gut gestampften Sandwege des Parks, an Lorbeerrondells vorbei, an Bänken, auf denen noch Schneereste froren, trat in knisternde Eispfützen und kam an der nächsten Brücke wieder unter Menschen.
»Mais je vous assure, les étangs de la Patte d'Oie permettent la pêche au lancer du brochet dans d'excellentes conditions. J'étais là cette année pour toute ma permission. Excellente, cette pêche là!«
Schon wieder das fremde Gesindel! Biber sah den beiden Herren nach: Trägt Pelze. Stiehlt Kohle, nimmt unsereinen die Plätze weg. Wie viele von ihren Ingenieuren waren hier in den Gruben, wie viele Beamte? Er ging den Männern einige Schritte nach. Wie auf dem Kriegspfad schlich er hinter ihnen
her, suchte Worte zu verstehen, obwohl er kein Französisch konnte, dachte: sie reden Verdächtiges, man müsste sie anzeigen, der nächste Schutzmann müsste sie verhaften.
Ganz sinnlos versteifte er sich in seine Detektividee, verwirrt durch seinen Hass, ging einmal schneller, überholte die Männer, sah ihnen, stehen bleibend, frech ins Gesicht, trappte dann wieder hinter ihnen her. Er war jetzt an der Kreuzung der Eisenbahnstraße mit der Luisestraße angelangt. Ein Polizist hielt sich in der Mitte der Trambahnschienen auf, nestelte an seinen weißen Sonntagshandschuhen und wartete auf den Verkehr, dem er seinen Weg zeigen wollte. Biber fühlte einen wuchtigen Schlag auf seinen Schultern.
»Hallo, Emil, was schleichst du denn hier herum und siehst niemand?«
Biber sah über seine Schulter in ein pockennarbiges längliches Gesicht, das die Brauen hochgezogen hatte über kalten stechenden Augen. Biber besann sich einen Augenblick, dann schüttelte er empört die Hand von seinem Mantel:
»Josef Thiel. Einmal Deutscher gewesen. Jetzt verkauft an die Franzosen. Vaterlandsverräter. Pfui.« Emil Biber stieß jedes dieser Worte mit einem lächerlichen Stakkato heraus; er trat dabei einen Schritt zurück, als habe er sonst nicht genug Abstand für seine Anwürfe, die wie ein fünfmaliges Anspucken wirken sollten.
Aber der Pockennarbige lachte. »Warum bist du denn hinter den beiden hergewesen?« fragte er und winkte mit dem Kopf den immer weiteren Abstand gewinnenden französischen Männern nach. »Kennst du die vielleicht? Es hätte sich rentiert, sie zu belauschen. Aber der Herr Propagandachef kann ja nicht mal die Sprache des >Erbfeinds<.«
Biber fühlte den Hieb; es juckte ihn, wie ein Zahnnerv vom kalten Atemzug zu brennen anfängt. Er staunte, dass der Schulkamerad so viel von ihm wusste. Der sagte spöttisch: »Dabei glaube ich, man sollte auf die Dienste von unsereinem nicht so leichtsinnig verzichten.«
»Wie viel verlangt der Herr Landesverräter für eine gute Nachricht«, sagte beißend der Nazipropagandist.
»Wenn der Schupo nicht da drüben stände, hättest du jetzt deinen Uppercut weg. Aber ihr seid doch nur komisch, ihr hundertprozentigen. Das einzige, was sympathisch ist, das ist euer Hass. Da kann man was mit euch anfangen. Gehen wir ein bisschen auf Seite. Ich rede nicht gern unter den Augen der Polizei.«
Biber merkte mit Staunen, dass er dem Mann folgte. Jeden Augenblick konnte ein Pg ihm begegnen und ihn anrempeln, dass er mit so etwas ginge, mit einem Saarländer, der sich der Bergwerkdirektion freiwillig zum Dienst angeboten hatte und früher preußischer Offizier gewesen war. Zusammenschlagen müsste man ihn, anspucken, sagte sich Biber und trottete doch neben ihm her.
Sie gingen wieder auf die Schlossbrücke zu. »Was willst du beispielsweise wissen«, begann nach einigen Schritten der Pockennarbige. »Du Straßen-Sherlok! Etwas über die Kohlenpreise, über den Raubbau, das Wahldossier oder die geheime Propaganda. Ja, jetzt guck nur! Ich schlage dir einen Besuch im Office des Mines vor. Kleines Freundschaftsgeschenk. Mit Vaterlandsverräter kannst du mich nicht locken. Frag mal deinen Adolf, wo sein deutsches Tirol ist. Und ob er nicht von den Skodatschechen auch einige Milliönchen gekriegt hat. Also da zieh Leine. Aber ich will dir etwas sagen, ich habe da eine kleine Wut im Bauch. Zur Zeit wird viel bei uns gespitzelt. Komm, wir gehen hier über die Straße.«
Sie waren schon an der Ecke der Bahnhofstraße angelangt. Lange Autoparks standen die Victoriastraße hinunter, französische Wagen, Peugeots, Citroens, Renaults mit eingebeulter Kühlernase, alle ohne Fähnchen, nur Mascottepuppen baumelten an den hinteren Fensterscheiben. Mitten drin die deutschen Wagen; Hakenkreuzwimpel steckten provokatorisch am Kühler und an den Kotflügeln. Der junge Staat machte seine erste Reklame. Josef Thiel zeigte nach links, wo das Bergwerksamt sichtbar wurde. Die Trikolore war vom Regen ausgewaschen. Ganz matt glänzte oben am First das Gold eines Grubensymbols.
Biber ärgerte sich, dass er dem Mann immer noch folgte. Nun sah er in der Portalöffnung eines Hotels die grellen Reklameplakate von Parteizeitschriften.
Unmöglich, dort vorbeizugehen mit diesem Mann. Aber sein Angebot lockte, jagte einen verbrecherischen Einfall in Biber. Seit der Schlossbrücke wusste er, dass es nur so gehen würde. Außenpolitik ist Trumpf, der Mann war ein Geschenk, mit einem Schlag war man dicht dran, an der Quelle. Biber dachte, so was kommt nicht alle Tage vor, der Mann ist Gold wert, in
einem Monat können wir ihn erschießen, vorher schon, aber jetzt führt er ins Zentrum. Wollen sehen, was er dafür verlangt. »Gehen Sie einen Moment schon vor, ich komme nach, muss mir nur hier ein paar Zeitungen kaufen.«
Josef Thiel verstand und gehorchte lächelnd. An der Treppe zum Bergwerksamt erwartete er ihn. »Viel haben Sie nicht gewonnen, man kann uns auch jetzt noch zusammen in den Franzosenbau gehen sehen.« Er lachte. »Eilen wir uns, damit noch ein paar Chancen bleiben.«
Sie gingen an dem Portier vorbei, der Thiel höflich grüßte. »Ist Monsieur Lanrezac da?« fragte Thiel. Der Portier verneinte. Monsieur Lanrezac sei in Paris, käme erst morgen Abend wieder. »Merci.«
Er ist hier wie zu Hause, dachte Biber. Ihm war nicht wohl in der Hochburg der »Räuber von Versailles«, wie er sie nannte. Hier notierten sie ihre Diebstähle, hier berechneten sie den Preis deutscher Kohle und lachten sich ins Fäustchen.
Sie stiegen die breite Freitreppe hinauf. Ihre Schritte hallten auf den kalten Steinplatten. Ob er meinen Gedanken schon erraten hat? Sie bogen am Ende des Korridors in einen halbdunklen Gang. »Hier wohnt der alte Fuchs«, sagte Thiel. Biber beugte sich vor. M. Lanrezac las er. Herein ohne anzuklopfen. Pas frapper. »Er ist fast taub, aber er hört mehr, als er soll«, erklärte Thiel. Biber merkte jetzt den Hass, den jener auf den Mann geworfen hatte, der hinter dieser Tür hauste. »Was stellt der Monsieur dar?« fragte er.
Thiel ging in den Hauptgang zurück, spähte, ob niemand käme, dann kam er eilig wieder, griff in die Tasche und steckte einen Schlüssel ins Loch. Er klinkte die Tür auf, zog Biber hinein, schloss sie wieder. »Pst, jetzt nur noch leise«, forderte er. Biber sah eine Bibliothek, Glasschränke voll mit Büchern und Broschüren. Mappen auf dem Tisch, ein wüster Haufen von Zeitungen auf dem Boden. »Hier arbeitet die Wühlmaus«, flüsterte Thiel. Seine Augen flackerten, dann ging er daran, in den Mappen zu kramen, die verstreut auf dem Schreibtisch lagen. Plötzlich stieß er einen kurzen Pfiff aus.
Biber ging dicht heran. »Dossier Thiel« stand auf der Mappe. Der andere riss den Deckel auf. Biber sah, wie er Blatt für Blatt aus der Mappe nahm und aufmerksam las. Es handelte sich also um ein Verfahren gegen Thiel. Ein Schritt weiter, und der Mann ist mein.
»Verfluchte Sau«, zischte der andere. Dann drehte er sich um zu Biber: »So nehmen Sie doch«, sagte er, plötzlich siezte er den Schulfreund. »Greifen Sie sich, was Sie wollen, es kommt niemand heute. Es gehört alles uns. Außer diesem. Das ist mein persönliches Eigentum.« Er zeigte auf die Mappe und ihren vollen Inhalt. Biber bemerkte die verengten Pupillen des Eindringlings. Der Mann war reif zum Verbrechen. Hatte er nicht eine hohe Stellung hier? Konnte man ihn selbst benutzen? Biber hatte keine Lust, leise zu sprechen, er versprach sich auch etwas davon, wenn er mit gewöhnlicher Stimme jetzt seinen Vorschlag machte:
»Ist Ihr Freund für Frankreich wichtig? Ich meine, würde man seine Ermordung zu einer Aktion benutzen?«
Thiel schwieg überrascht. Er hielt ein Blatt aus seinem Dossier in der Hand, las flüchtig noch einmal die Schreibmaschinenseiten: der Ingenieur Thiel, stand da, war zu verwenden, aber zweifellos trage er auf zwei Schultern. Man solle sich klarsein, dass er nicht in französischen Dienst nach 1935 übernommen werden könne. Man solle keinerlei dahingehenden Vertrag anbieten. Weitere Recherchen seien im Gang.
Plötzlich zerknüllte Thiel die Seite. Dafür hatte er spioniert, hatte für den Saarbund geworben, hatte sich mit den Kommunisten herumgeschlagen, zehn Jahre in Todesgefahr gestanden als einer der gefürchtetsten Beamten, dafür war er in den Dreck gegangen-!
Biber begriff nicht, wie viel in dieser Minute vorging in seinem Gegenüber. Die eigenartige Lage, der Einbruch, alles machte den Augenblick so unwirklich. Aber zäh klebte an seinen Gedanken der Wunsch, heute noch zu einem Ziel zu kommen. Er griff nach der Mappe und schlug sie zu; das lohnt nicht mehr, sagte die Geste.
»Ich brauche eine Tat mit weiten Folgen«, meinte er. »Sie können einen Mann haben, der gut schießt. Es muss aber auf die Kommune fallen. Besser gesagt, lassen Sie schießen! Ich werde dafür sorgen, dass der Verdacht in die Herbertstraße, auf die KP fällt.«
Thiel antwortete immer noch nicht.
Ich träume das alles nur, dachte Biber wieder und sah sich in dem fremden Raum um. Kalender der »Société des Amis des pays de la Sarre« lagen herum. Klebemarken für die politische Propaganda.
Biber wünschte sich, mehrere Stunden hier sein zu können. Welches Material könnte er nach Berlin liefern! Unbezahlbare Gelegenheit, dachte er. Aber der Plan behielt die Oberhand. Vielleicht konnte man später noch eine Mappe füllen und das Haus verlassen. Dieser Mann da musste kochend gehalten werden.
»Ich garantiere Ihnen, dass das Reich nicht undankbar sein wird«, sagte er. Wir werden dich an der Grenze schon stumm machen, dachte er und fühlte, wie gut er schon in den Gedanken von Berlin zu denken gelernt hatte. »Lesen Sie Clausewitz« - der Propagandist hörte den Münchener Instrukteur wieder reden - »und studieren Sie die Jesuiten dazu.« Keiner würde mir das zutrauen, dachte Biber, und eine Welle von Stolz flutete durch ihn.
Josef Thiel klappte die Mappe zu. Vorsichtig ordnete er alles Durcheinander, das er mit seinen wilden Griffen angerichtet hatte.
»Man könnte ihn ja noch viel schlimmer treffen«, sagte er. Seine Zähne bissen in die böse lächelnde Unterlippe. Er machte die Geste des Streichholzanzündens. Biber hörte, dass der Mann auf seinen Vorschlag gar nicht geachtet hatte.
»Machen Sie beides«, rief er. Ein Zittern in der Stimme verriet, wie er um seinen Plan bangte. Jetzt da er dicht davor war, entglitt ihm das Werkzeug. Blitzschnell bedachte er die Konsequenzen: dieser Verbrecher hatte ihn in der Hand. Konnte sich salvieren, indem er seinen Feind warnte. Biber sah sich verzweifelt in der unaufgeräumten Bibliothek um. War er in eine Falle gegangen? Wenn jemand im Nebenzimmer zugehört hatte? Vielleicht war alles eine List? Warum konnte Thiel so ungefragt am Sonntag ins Haus gehen? Woher hatte er den Schlüssel? Vermutlich war er der Mitarbeiter dieses Kerls - wie war der Name? Aber der Hass, der da aus dem anderen wie Funken ging? Die Einladung? Das Dossier mit dem Namen Thiel? Biber beruhigte sich wieder. Wenn man die ganze Bude ansteckte, war die Wirkung noch viel bedeutender. Vielleicht ging das ganze Amt in die Luft; die Trikolore verbrannte. Und die Forbacher marschierten wirklich ein.
Der Ingenieur bemerkte eben wieder den Gast, den er mitgeschleppt hatte. In seinem fiebernden Gehirn schwankte das Bild des Franzosen. Der Schnauzbart, der volle Mund eines alten Genießers, die misstrauisch durch eine brüchige Brille blinkenden Augen. Die ganze undurchdringliche Höflichkeit des westlichen Beamten. Er sah ihn vor sich. Und nun kam dieses andere Gesicht hinein, das junge, energische Blondgesicht, gläubig, etwas dumm, gehorsam, aber mit Kraft und Brutalität und idealistisch. Ein verlorenes Land, dachte er, aber wiederzugewinnen, am letzten Tag aufnahmebereit, weil es noch Überläufer brauchte. Er betrachtete den Jungen. Anstecken will er, erschießen will er. Wie tollkühn versteigen sie sich!
Der Ingenieur spürte, wie sich die Haut an seinen Schläfen straffte. Die Betäubung wich, das Herz beruhigte sich. Ich werde ihn korrigieren, auf Details versteht er sich noch nicht. Er will eine Provokation. Er bezahlt sie. Ich nehme die letzte Chance.
Er streckte die Hand aus. »Es ist sehr eilig?« fragte er. Der junge Nationalsozialist bejahte mit ernstem Kopfnicken.
»Dann bin ich auch für beides«, sagte Thiel. »Ich nehme den Dienstagmorgen. Kurz vor dem Dejeuner. Da sind die meisten schon unterwegs zu ihren sechs Gängen. Der Alte trottelt immer noch eine Viertelstunde länger. Sie haben nur für eins zu sorgen. Dass die »Saarfront« schon am Nachmittag ein Extrablatt herausgibt, wie Sie es sich wünschen. Ich schätze, sie wollen den Einmarsch. Also schicken Sie Ihre Leute herum und machen Sie Panik. Lassen Sie auch durch einen Spitzel im kommunistischen Parteihaus die Panik eintreten. Die Leute müssen sich auffällig benehmen. Ich gebe Ihnen gleich noch Details über bevorstehende Maßregelungen. Der Artikel muss morgen an die »Arbeiterzeitung« und am Dienstagmorgen parallel erscheinen. Der Alte muss darin erwähnt werden. Das andere überlassen Sie mir. Komisch, wie rasch wir einig werden!« Er sah sein Gegenüber noch einmal eindringlich an: »Ich will etwas wiedergutmachen«, sagte er knapp.
»Großer Fastnachtsrummel. Heute Rosenmontag, 27. Februar, großer Tanz. Damenwahl. Kapelle Schurmann spielt. Stimmung, Humor, Allotria. Eintritt frei.«
Das schwarz auf rosa gedruckte Plakat in allen Fenstern der Wirtschaft Bellermann in der Nähe des Saarbrücker Markts. Wenn die Tür aufging nach der dunstigen Straße, hörte man Kreischen von Frauenstimmen und die Paukenschläge der dankbaren Kapelle, die einem Bierspender zuprostete. Ein Bettler versuchte vergebens durch die gelben Vorhänge in das
lustige Innere der Wirtschaft zu schauen; nur die Schatten von vorbeitanzenden Köpfen huschten über die Tücher. Ein Fuß trat ihm an das Schienbein. »Mensch, geben Sie doch acht«, sagte eine brutale Stimme. »Scheren Sie sich doch nach Hause, wenn Sie kein Geld haben.« Der Bettler sah einen jungen Mann in Reitdress auf dem schmalen Trottoir stehen. Ein großes Hakenkreuz steckte in seinem Schlips, eine Reitpeitsche in den hohen Stiefelschäften. Der Mann riss die Tür zur Wirtschaft auf. Musik schwemmte auf die Straße. Eine Frauenstimme sang: »Ade, du kleiner Gardeoffizier.« Die Tür schloss die Musik wieder ein in die warme Gaststube. Der Mann im Reitdress stand in dem rauchigen Tanzsaal und suchte die Tische mit prüfenden Augen ab. Es war der Unterführer der NSDAP-Sektion Saarbrücken.
Bekannte winkten ihm zu. Gut so, dachte er. Gut für das Alibi. Er hob die Hand zum Parteigruß und blieb stehen. Der Wirt kam hinter dem Büffet an der Tänzerin vorbei geschlängelt und wies auf einen halbleeren Tisch. »Sehr voll heute, aber der Tisch wird schon wieder frei werden.« Der Unterführer dankte gnädig. Hauptsache, dass viele ihn sahen. Morgen Abend würde er sich auch noch zeigen, eh er in die Kirche sich einschließen ließ. Er hatte festgestellt, dass sie noch einen späten Abendgottesdienst auf dem Zettel der Kirchentür angekündigt hatten. Benzin war besorgt. Im weiten Lodenmantel fiel es nicht auf. Morgen. Das Herz klopfte ihm bei dem Gedanken. Möchte nur wissen, was der Merziger gemacht hat. Natürlich nichts. Hallo, da sitzt er ja!
»Heil Hitler.« Er ging auf einen Tisch in der Ecke zu, wo mehrere junge Burschen mit Emil Biber saßen. Am Büffet stieß er mit einem Mann zusammen, der einen aufgestellten Gummimann mit wütenden Boxschlägen bearbeitete; eine Frau mit wirren blonden Locken feuerte ihn an. Der Unterführer blieb stehen und holte zum Schlag aus. Eine kleine Zündplatte explodierte; er hatte einen Bravurschlag getan. Der Wirt griff eilig in den Glasschrank neben dem Bierkran. »Eine Zigarre«, rief er, »Sie haben eine Zigarre gewonnen.« Der Unterführer nahm lächelnd an. Tanzende waren stehen geblieben. »Ja, unsere SA, wo die hinschlägt,« sagte einer. »Pst«, warnte ein zweiter. Die betrunkene Frauenstimme kreischte aus der Nähe des Musikerpodiums: »Ade, und vergiss mich nicht.«
Der Unterführer erreichte den Tisch. Die Parteigenossen
sprangen wie Offiziersburschen von den Stühlen, hoben die Hand laut Vorschrift und sagten den Gruß laut Vorschrift. Dann setzten sie sich wieder mit polternden Stühlen.
»Allerhand Stimmung hier«, sagte der Unterführer. Emil Biber betrachtete ihn mit Neugier. Er erwartete Fragen über seine Arbeit, aber der Kollege betonte, dass er heute mal privat sein wolle. Wenn du wüsstest, dachte Biber und grinste in sich hinein. Morgen wirst du Augen machen. Den Vorsprung holt keiner mehr auf. Das führt geradezu in den SS-Stab. Biber hob sein Glas: »Mal einen Schluck auf den Führer«, sagte er und ließ offen, ob er damit den Kollegen meinte.
Die Tanzenden lösten sich aus ihren schwitzenden Umschlingungen. Die Kapelle legte die Lärmwerkzeuge unter sich und griff nach den Biergläsern. Hinter dem Nazitisch rasselte plötzlich ein Uhrwerk, dann ging Licht an in einem Kasten an der Decke und eine Puppenkappelle begann nach dem Taktstock eines roten Miniaturteufels eine Serenade zu spielen. Der winzige Dirigent wackelte mit seinem gehörnten Haupt in regelmäßigen Abständen. Die wächsernen Zwergmusikanten strichen über saitenleere Geigen.
»Tolles Panoptikum hier«, sagte ein Parteigenosse. »Bin zum ersten Mal hier. Haben Sie auch schon den Trompeter da gesehen?«
Der Unterführer nickte freundlich mit dem Kopf und sah zu dem bronzenen Säckinger, der mit wallendem Federbusch zum Blasen bereit vor ihm auf hohem Sockel stand.
»Gib mir einen Franc«, bettelte eine Stimme. »Er bläst so süß. - Uh, seid ihr ernst hier!«
Ein gelbseidenes Kleid stand vor dem Tisch, blickte die Tischrunde an, sah die Parteiabzeichen und lachte. »Bin ich euch blond genug, schaut, da ist noch alles da.« Sie drehte den Kopf kurz herum und zeigte in den Händen die vollen, aufgesteckten, hellen Zöpfe.
»Sind sie auch echt«, fragte einer der Nazis und stand auf. Er knöpfte sich den Rock zu und verneigte sich: »Darf ich bitten, Gnädigste?«
Sie tanzten fort. Die Kapelle hatte die automatische Konkurrenz überbrüllt, die Wachszwerge zuckten noch ein paar Mal mit den steifen Gelenken, dann ging über dem Nazitisch das Licht wieder aus.
Ein Betrunkener wankte vorbei. Säuerlicher Geruch fegte
aus den Toiletten in den Saal. Der Lärm erstickte jede Unterhaltung. Geklirr von Biergläsern, Plantschen von Wasser, Kellnerinnenorders, kreischende Frauenstimmen und über allem eine harte Posaune, ohrenzerreißend.
Der Unterführer sah in die Klumpen der sich schiebenden Paare. Er hatte dem Tisch den Rücken gedreht. Ein Grinsen lief in seinem Gesicht herum; er beherrschte mühsam seine Freude. Alles klappte. Und das Alibi stimmte. Der Brief an den Pfaffen knisterte in seiner Rocktasche, wenn er den Ärmel andrückte. In einer Stunde sollte ihn Mutter hier anrufen. Dann hörten sie alle seinen Namen. Sturmführer sollte sie sagen. Auch wenn gar nichts los wäre. Jawohl, das war Taktik!
Von der Straße kam das scharfe Knattern einer Explosion, knallte über den Lärm; einige Tanzende hielten inne. »Es sind doch nur Frösche«, sagte halb empört dicht vor dem Unterführer der Tänzer zu seiner erschrockenen Partnerin. »Es kommt doch soviel vor«, entschuldigte sich das Mädchen und legte den Arm wieder fester um den Hals des Liebhabers, stieß ihren Schenkel an ihn.
Sie haben den Artikel fest angenommen, jubelte hinter dem Unterführer Emil Biber. Das war aber auch ein Material! Zahlen, Namen, die Divisionäre wörtlich aufgezählt. Hoffentlich korrigieren sie die Drohung am Schluss nicht weg. Und du saarländischer Schafskopf wirst das Nachsehen haben, höhnte Biber den Unterführer und beugte sich in stillem Triumph gegen den breiten Rücken des Rivalen.
Vom Schanktisch kam ein vielstimmiges Grölen: einige Kaufleute standen dort mit geröteten Gesichtern und den unsicheren Bewegungen halb Betrunkener. Sie hoben jetzt die Biergläser und sangen, das Gesicht zu den Tanzenden, der Kapelle den Schlager nach: »Das ist die Liebe der Matrosen - auf die Dauer lieber Schatz - ist mein Herz kein Ankerplatz... « Ihre Mäuler glänzten feucht. Die Tanzenden johlten ihnen zu.
»Weißt du, Kleiner«, sagte die blonde Tänzerin zu ihrem strammen SA-Mann, »ich freu mich so heute Abend. Wie die Feste alle abgesagt wurden wegen dem Neunkirchener Unglück, hab ich schon gemeint, dieses Jahr käm' ich gar nicht zum Karneval. Und ich tanze ja sooo gern.« Er spürte ihre Finger in seinen Nackenhaaren und presste ihr Kreuz näher an sich. Die jungen Brüste drückten sich zart an sein Jackett. Herrlich, dass man so ein richtiges deutsches Mädchen auch hier im Arm haben kann! Ob sie ihre Eltern bei sich hat? Geht mich nichts an. Tanzt rassig, scharfe Sache. Ob sie politisch ist?
Das Mädchen flötete: »Du bist doch ein feiner Kerl. Da hat vorhin der Jude da hinten mit mir tanzen wollen. Ich zeig dir ihn nachher. Ist aber abgeblitzt. Da sitzt er! Bäh.« Er sah, dass sie den Kopf etwas abhob von seiner Brust und eine Grimasse zu einem gutgekleideten Mann in der Ecke zog. »Du, der wäre beinahe frech geworden.«
Der Nationalsozialist sagte: »Oho, das wollen wir ja mal sehen.« Sie spürte, wie er sich straffte und drückte sich noch wärmer an ihn; die Musik unterbrach schroff ihren Schlager und jodelte einen neuen hinterher: »Wenn am Sonntagabend die Dorfmusik spielt, heididel - heidideldum.«
Zimbeln klimperten, der Paukenschläger holte mit weiten Armen aus. Der Bierverein am Büffet grölte, die Männer griffen sich an und schwenkten sich plump wie die Tanzbären umeinander. »Genug«, sagte plötzlich der Nazimann. »Komm mit an unseren Tisch, magst du?«
Sie nahm sich die Papiermütze aus dem Haar, gab ihm die Hand und ließ sich durch die Tanzenden ziehen. »Erst noch mal den Trompeter«, bettelte sie, als sie an dem Sockelautomaten vorbeikamen. »Man hört jetzt doch nichts«, wehrte er ab und zog sie dicht vor den Unterführer. Dort stellte er sich auf, die Hacken zusammenschlagend und salutierte, die Papiermütze in der erhobenen Rechten. »Zur Stelle, Herr Leutnant!« meldete sie und griff sich dann den Kopf ihres Tänzers, um ihn zu küssen. Sie traf nur seine Ohren, denn er schüttelte sie vermahnend ab.
»Ich melde den werten Pgs, dass diese junge Dame, ein echtes deutsches Mädchen die Belästigungen eines Juden vorhin abgewehrt hat. Ich schlage vor - da der Herr noch anwesend ist, mal nach dem Rechten zu sehen.«
Der Unterführer sah das Paar einige Sekunden nachdenklich an. War ein Skandal gut? Machte man sich unbeliebt hier? Er hörte die Männer grölen. Wieder stand ein total Betrunkener vor dem Punchingball nah dem Büffet und schlug unter dem Gejohle der Umgebung wütend auf das klatschende Leder. Die Stimmung war weit genug. Geprügelt wurde doch bald. Er nickte dem immer noch mit erhobenen Händen dastehenden Paar zu. Es kann dem Alibi nützen, dachte er abschließend.
Der Parteigenosse zeigte in die Ecke. »Der Nebentisch ist gerade leer. Wir wollen uns mal näher heransetzen alle.«
Die Nationalsozialisten standen auf. Biber zögerte; er fürchtete Polizei. Manchmal saß man dann einen halben Tag auf der Wache. »Komm schon«, sagte sein Nachbar und sah ihn erstaunt an. Biber stand auf. Man konnte sich nicht drücken. Gut, im Notfall verschwand man rechtzeitig.
Die Horde drängte sich an den Tanzenden vorbei in die Ecke, wo der Jude saß. »Das ist unser Tisch«, rief ein Mädchen aus dem Kreis der Tanzenden.
»Es dauert nur ein paar Minuten«, beschwichtigte Biber und lächelte den Tänzer bedeutungsvoll an.
Die Parteigenossen saßen schon, als Biber ankam. Er ergriff den Stuhl und musterte den Juden in der Ecke. Ganz kräftiger Kerl; der wird nicht so leicht sich vertreiben lassen. Na, wir sind ja genug.
»Es riecht ein bisschen stark nach Knoblauch hier«, sagte einer der Burschen und rieb sich die auf dem Tisch aufgestützten Hände. »Sagten Sie etwas?« fragte er den Juden und drehte sich schroff um.
Der junge Jude wurde blass und zog nervös an seiner Zigarette. »Resi!« rief er dann und winkte mit gespielter Gleichgültigkeit der mit Bierkrügen vorbei sich quetschenden Kellnerin. »Eine Runde für die Kapelle.«
Die Horde am Tisch grölte. Biber hielt die Kellnerin fest:
»Zwei Runden von uns, aber die da« - er zeigte auf den Juden - »wird nicht angefahren, verstanden.«
Er sah sich im Kreise um; waren die anderen zufrieden?
»Macht doch keine Menkenke heute«, bat die Kellnerin und verzog missmutig das rotbackige Gesicht.
»Er hat gegrinst, das Judenschwein«, sagte einer der Parteigenossen und sprang auf.
Der Saal war inzwischen aufmerksam geworden. Einige Tänzer ließen ihre Mädchen los. Am Rand der Tische bildete sich ein neugieriger Kreis. Der junge Wirt äugte ängstlich vom Büffet durch den Rauch. Die Kapelle wechselte schnell den Schlager und blies mit aufgeregtem Humor einen schneidigen Marsch.
»Juden raus!« brüllten jetzt alle acht Parteigenossen. Im Sprechchor wiederholten sie ihren drohenden Befehl: »Juden raus! Juden raus! Juden raus!«
Die Musik gab ihre Versöhnungsmanöver auf und setzte die Instrumente ab. Zitternd und blass lief der Wirt herbei. Die Tanzenden standen still und sahen zu der gefährlichen Ecke hinüber.
»Aber meine Herren«, meinte der Wirt beschwörend, da klingelte perlend das Telefon, das neben der Spieluhr an der Wand hing. Der Wirt schob einen Stuhl beiseite und griff nach dem Hörer. »Ruhe«, rief er und horchte hinein. Die Nationalsozialisten standen jetzt dicht um den Juden. Der Unterführer gebot den anderen zu schweigen, dann sagte er scharf und für jeden in der Stube zu hören: »Sie stören hier deutsche Volksgenossen bei ihrer Abendunterhaltung. Verlassen Sie sofort das Lokal!«
Der Jude klopfte in höchster Erregung die Faust auf den Tisch.
»Herr Sturmführer Willibrandt an den Apparat!« Die Stimme des Wirts.
Sichtlich erleichtert über die Unterbrechung reichte er dem Unterführer den Hörer. Das Publikum hatte ihm bereitwillig Platz gemacht. »Einen Augenblick warten alles«, hatte Willibrandt den Kameraden zugerufen; sie standen gehorsam um ihr Opfer herum.
Mutter ist zuverlässig, dachte beglückt der Unterführer. Das hat gewirkt. Gerade der richtige Moment. Sturmführer Willibrandt. Wie das durch sie durchging! »Hier Willibrandt, ja, wer ist dort?«
Das Publikum, gewohnt den Telefonaten Stille zu gewähren, blieb fast stumm auf seinen Plätzen. Nur ein Tänzerpaar ging schmollend an seinen Tisch zurück.
»Was«, brüllte plötzlich der Unterführer. Alle merkten, dass eine besondere Nachricht durchgegeben wurde. »Ja, ja, ja«, stotterte nun mehrfach der Unterführer, »ich komme dann -sofort, ja, ich komme gleich.«
Er hing den Hörer ab und stand einen Augenblick völlig geistesabwesend an dem Apparat. Dann sah er in die Versammlung, sah die wartenden Tänzer, den Wirt, der vergeblich versuchte, den Juden zum weggehen zu bewegen, sah die Kameraden, Biber, den Studenten, die Hakenkreuze an den Reversen, den Rauch, die Kapelle mit den klingelnden Narrenmützen, die vollen Biergläser auf dem Tisch, die Konfettipünktchen auf dem Boden, die zertretenen Papierschlangen.
Zu spät gekommen, wollte er sagen, riss sich aber in letzter Sekunde zurück und sagte tonlos in den Saal:
»Meine Herren und Damen, der deutsche Reichstag ist soeben in Brand gesteckt worden.« Biber zuckte zusammen. »Von den Kommunisten«, fügte der Unterführer hinzu und starrte in den Saal.
»Macht doch endlich wieder Musik«, rief ein betrunkenes Mädchen, das mit herabhängenden Armen über einer Stuhllehne hing. »Musik«, kreischte sie noch einmal und ließ dann weinend ihren Kopf auf die Brust fallen.
Der Jude sah, dass sich der Kreis seiner Feinde lichtete. Einer nach dem anderen rückte von ihm ab und ging zu dem Unterführer, der von fragenden Gästen umringt war. Der junge Jude kniff die Augen zu und krümmte den Rücken. Sein Gesicht wurde ganz eng. Dann sprang er mit einem Satz zur Tür, riss sie auf und rief:
»Sie haben ihn angezündet!«
Sein starrer Zeigefinger stieß auf die Gruppe der Nazis zu. Hinter ihm bleichte im silbrigen Mondlicht der alte Brunnen des Markts. Der kalte Nachtwind blies hinein. Ganz schmal stand der Ankläger vor dem gespenstischen Hintergrund. Dann drehte er sich um und war weg.
4.3. Ernst Thälmann gefangen genommen.
5.3. Reichstagswahl.
9.3. Die Länder werden gleichgeschaltet.
21.3. Reichsbanner verboten -
SPD stimmt für Regierungserklärung -
Konzentrationslager in Dachau -
Folterungen von Arbeitern in SA-Kasernen -
Hunderte von Morden.
Emigranten
Der D-Zug Köln-Saarbrücken stand mit qualmender Lokomotive auf dem Trierer Bahnhof. Die Eifel lag hinter ihm, der Anstieg auf die langen Bergmassen, der die Maschine so strapazierte, die Tunnels lagen hinter ihm, die tannenbestandenen Schluchten, das Auf und Nieder, das Wechseln des Dampfdrucks, der Kampf mit der Steigung. Nun kam nur noch das Saartal, die weiten Kurven, geringes Bremsen in den schroffsten Biegungen, aber doch eine Fahrt ohne Höhen, kräftiges Losschießen. Der Lokomotivführer lehnte sich zufrieden aus dem Heizraum und wartete auf den Befehlsstab des Vorstehers. In einer Stunde war der Dienst zu Ende. Er sah zu den Weinstöcken, die von sanften Hügeln bis dicht an die Geleise herabmarschierten, starre Reihen mit leichtem Schimmer der Sträucher. Ob es gute Lagen sind? In Saarbrücken werde ich einen Becher Walsheim trinken; es geht nichts über Bier.
Der Bahnsteig war fast menschenleer. Das macht die Wahl, dachte der Lokomotivführer. Sie wählen heute. Da wird immer wenig weggefahren.
Der Lokomotivführer gab sich einen Ruck; die grüne Lampe ging in der Tiefe des Bahnsteigs hoch, die Abfahrt. Er griff nach dem Dampfhebel. Die Maschine stieß krachend eine konzentrierte Rauchsäule aus, der Zug zog an. »Gott sei Dank«, sagte ein dicker Herr im Abteil erster Klasse, zwei Waggons hinter der Lokomotive. Erschrocken sah er sich dann um, wo neben Photographien deutscher Burgen gestickte Kopfdeckchen hingen. Niemand war im Abteil als der dicke
Herr und sein lederner Handkoffer. Mit bunten Plakaten hatten sich Hotels von Venedig, Florenz und Nizza auf dem Gepäckstück zu verewigen versucht. In dem Herrn unten aber war von der Erholung, die er in jenen Hotels gefunden hatte, nicht mehr viel übrig geblieben. Er stellte zwar beruhigt fest, dass die Polsterwand hinter seinem Kopf nicht geöffnet war, aber er sah eben mit Schrecken, während der Zug langsam den Bahnsteig entlang schlich, einen Trupp blaugekleideter Polizei dicht an den Wagen entlang gehen. Bahnpolizei, stand auf den Bändern der Ärmel. Severings Einrichtung, dachte der Mann und ließ verächtlich sein Kinn abwärts.
Dann konstruierte er sich den Zusammenhang: Sie bewachten die Strecke - dieser Göring tat so, als wenn Krieg ausgebrochen wäre - Reichstagsbrand, Brückensprengungen, sonst fiel ihm nichts ein - die Polizei ginge sonst auch nicht mit, das weiß der Halunke; er muss uns erst zu Verbrechern machen, dann schießt ein Schupo; so hatten wir sie erzogen.
Der Mann schloss das Fenster nicht mehr. Von Zeit zu Zeit neigte er sich eine Kleinigkeit vor, um die Polizisten zu beobachten, die auf den Brettern des Packwagens standen mit schussbereitem Karabiner. Kurz vor Conz war plötzlich der Wagenrand leer. Der Dicke beugte sich weiter vor und hatte alle zwanzig Mann vor sich in den Schienen stehen. Sie waren abgesprungen, der Zug schien, ledig der amtlichen Last, sich nun auch zu freuen. Er lief schon schneller. Der Dicke am Fenster nach erstem Schreck sah befriedigt zu den blauen Männern mit den Karabinern, die kleiner und kleiner und dann von einem neuen Zug verdeckt wurden.
Nun noch die letzte Station, Mettlach, und alles ist gerettet. Der Dicke setzte sich schwerfällig und griff zu seinem »Völkischen Beobachter«. So oft hatte er ihn nun schon als Deckung vor die Augen gehalten seit Köln, dass er die Innenzeilen auswendig kannte; jetzt ging er an die Außenseite, die sonst den Passanten entgegengestreckt werden musste. »Jeder Deutsche gibt seine Stimme am 5. März dem Volkskanzler.« Meine hat er nicht bekommen. Das erste Mal, dass ich überhaupt nicht wähle. Ob das wirklich ein Symbol ist? Ob wir wirklich ausgespielt haben? Man wird abends in Saarbrücken die Wahlresultate hören. Die Kommunisten haben gewonnen; aber was da wegläuft, war sowieso nichts wert. Ob die Lippert mir das Konto noch rechtzeitig abhebt? Sie hat geweint, die alte. Das
hat sie nicht gedacht, dass man ihrem Direktor einen Steckbrief hinterherschickt. Weil irgend jemand den Reichstag angesteckt hat, die Kommune oder die Nazis, einerlei. Einem Direktor einer Gemeinnützigen Wohnstättengesellschaft! Der immer seine Ordnung hielt. Sein Gesicht verzog sich verächtlich: Besser werden die's auch nicht machen. Habe ich vielleicht Exmissionen gescheut? Mein Block war am Ende beinahe kommunerein. Einige hat man nicht rausgekriegt. Hat doch noch einer gedroht vor vierzehn Tagen, dass ich Kreti und Pleti gesagt habe zu seinem ewigen Besuch. »Sie nennen das Kreti und Pleti, es sind Arbeiter, Herr Direktor; vielleicht werden Sie morgen Ihren Brief in der >Roten Fahne< finden.« Schwer haben sie's einem gemacht. Und jetzt muss man flüchten. Verdient? Man war eben zu weich, hat sie hochgepäppelt. Reichstagsbrand? Lächerlich! Das wäre alles nicht, wenn die Kommunisten nicht immer der ganzen Welt Angst vor der Revolution gemacht hätten.
Die Tür rollte. »Die Fahrkarte, wenn ich bitten darf.« Höflich verneigte sich der Schaffner vor dem Fahrgast erster Klasse. Man möchte sich direkt mit ihm unterhalten, dachte der Dicke. Er ist doch freundlich, er würde sicher bestätigen, dass er nichts gegen uns hat. Oh, wenn wir mal wieder zum Volk reden könnten! Wir werden ihnen Bescheid stoßen. »Da, trinken Sie mal eins, wenn der Dienst vorbei ist.« Der Schaffner zog die Mütze. »Dank auch schön.« Wirklich ein angenehmes Volk. Ist ja nur besoffen gemacht, nichts als besoffen gemacht. Ich werde das alles schreiben von Saarbrücken her. Lasst mich mal in Freiheit sein!
Der Zug raste in die weite Kurve von Schoden Ockfen. Hoch stieg das Amphitheater der Weinberge um den hellen Bogen der Saar, an deren Ufer sich die Lokomotive vorwärts stieß. Noch zwanzig Minuten. Es darf nichts mehr passieren! Der Dicke wies seine rebellischen Gedanken zurück. Nein, er will nichts schreiben, eine Zeitlang will er überhaupt nichts hören von Politik. Wenn er gut durchkommt - er spürte jetzt, wie schnell der Zug der verhängnisvollen Grenze entgegendonnerte - will er jahrelang überhaupt nichts mehr schreiben. Er will gegen die Kommune alles sagen, was sie wollen. Hauptsache war die nächste halbe Stunde. Etwas wie Frömmigkeit stieg in ihm hoch, die kleine mickrige Frömmigkeit des Bedrohten, der bereit ist, einen Gott anzurufen aus Feigheit und ohne
Glauben. Haben wir nicht in Köln gut gearbeitet mit dem Zentrum? Er legte den »Völkischen« beiseite und sinnierte zum Fenster hinaus.
In der Ferne kam eine Burg aus dem Dämmerlicht: Saarburg. Umschmiegt von dem Kranz der Häuser, die vom Ufer aufstiegen bis an die Burgmauer, zeichnete sie an den Horizont ihre Türme mit solcher Ruhe, dass der dicke Mann wohlgefällig seine Blicke auf dem mittelalterlichen Stich haften ließ. Dort wo das Licht stand zwischen dem ersten und zweiten Turm, hatte Herr Göring schon nichts mehr zu sagen. In zehn Minuten war alles vorbei. Dann war alles, alles gleichgültig. Dann konnten sie einsperren, wen sie wollten, dachte er. Aber ihn hatten sie nicht. Und sein Geld auch nicht. Die Hälfte war schon in Metz auf der Bank.
Er griff ein Kämmchen aus der Weste und ordnete sich das Haar. Es musste gut gehen. An die erste Klasse ging ein Beamter ja schon mit ganz anderen Gefühlen heran. Die kleine Mehrausgabe würde sich sicher gelohnt haben. Da nahm er Gift drauf. »Saarburg!« Türen knallen.
Vier Waggons hinter dem ängstlichen, gepflegten Herrn, der erste Klasse im vollbesetzten Holzabteil saß, den Kopf in dem aufgehängten Mantel verbergend, ein sportlich gekleideter schlanker Bursche. Jetzt dreht er das Gesicht aus dem Mantel und beugte sich zur Fensterscheibe vor, um den Namen der Station zu lesen. Saarburg, also die Kontrolle. Die Nachbarn nestelten aus Taschen und Handkoffern ihre Papiere. Jeder kramte so öffentlich, wie es nur ging; alle zeigten das Bestreben, eine gewisse Unbefangenheit zu markieren. Eine alte Frau nur ging mit einem Paketchen fort, um es auf der Toilette in ihre Unterwäsche zu verstauen. Man lächelte sich an. Der junge Bursche begriff, dass sie alle viel mehr an Schmuggeln dachten, denn an irgend etwas anderes.
»Ein paar Zigaretten darf man doch mitnehmen«, fragte er. Seine Stimme war heiser, er suchte sie durch Husten zu reinigen und wurde plötzlich schwindlig. Das Mädchen ihm gegenüber im grauen Komplet schien etwas zu merken. Sie sah ihn flüchtig an und klappte dann ihre Handtasche auf; eine kleine Flasche mit grünem Etikett erschien: »Johann Maria Farina gegenüber dem Dom«, sagte er unhörbar mit zusammengebissenen Zähnen. Der Schwindel verflog. Gegen das Schienbein möchte ich dir treten, dachte er und lächelte. Wenn ihr wüsstet, warum
mir schlecht wird. »Danke schön, Fräulein«, sagte er laut und wies die Erfrischung zurück. »Es geht mir gut.« Er hatte sich höflich nach vorn geneigt und bog sich vorsichtig wieder zurück. Der ganze Rücken brannte; aus den Hoden lief ein messerscharfer Schmerz in die Bauchhöhle. Brechreiz würgte die Kehle. Er riss die Augen weit auf, suchte etwas zu fixieren. An den Türmen der Wartburg, dem Reklamephoto neben der Pelzmütze des Mädchens, saugte sich der Blick fest. Wenn ich aufstehen muss, werde ich schreien. Wenn sie mir Schikanen machen, werde ich zuschlagen. Wenn ein SA-Mann kommt, gehe ich ihm an die Kehle.
Das Mädchen tupfte sich ein Taschentuch mit der Flasche; süßliche Schwaden wehten in die Nasen der Passagiere. Der Bursche sog sie gierig ein. Jetzt erkannte er auch das Photo. Wartburg, Sängerkrieg, Tintenklecks, Butzenscheiben, Bibelschreiber, Bauernkrieg. Man hat sie gepfählt damals, sie an den Beinen gefasst, sie in das spitze Holz gerammt, die Eingeweide zerschlitzt. Dass sie nicht sofort tot waren, jetzt verstand ers. Wie viel hielt man aus! Meine Herren!
Starr saß er in dem Holzabteil. Draußen auf dem dämmrigen Bahnsteig hinter den Sperrgittern lümmelten Gymnasiasten auf ihren Fahrrädern, begafften den erleuchteten D-Zug, der Menschen von fremden Großstädten brachte. Im Wartesaal ließ eine alte Frau Bier in ein Glas laufen.
Er konnte sich nicht rühren, die kleinste Bewegung weckte das irrsinnige Stechen zwischen seinen Beinen. Ganz gerade hielt er sich. So wie vorgestern, fiel ihm ein; er ballte die Hände, aber sie blieben auf der Bank neben den Schenkeln liegen, schwache leere Fäuste. Ihre Kraft war an jenem Stuhl abgeflossen - sind das erst zwei Tage?
Er sah, wie sich sein Gegenüber schminkte und kämmte. Plötzlich hasste er dieses Mädchen. Sie fahren in der Welt herum und haben keine Ahnung, was sich tut. Sie hat sich geschminkt, während ich dort in der SA-Kaserne angebunden saß. In Modeblättern hat sie geblättert, als sie mir die Stecknadeln in die Hoden stachen. Fünfuhrtee hat sie getrunken, als ich den Rücken herausstrecken musste und die Lederriemen mir ins Gesäß schnitten. Ganz Deutschland hat am Kaffeetisch gesessen wie sie. Und uns haben sie die Haarbüschel ausgerissen. Die Hosen, hier in diese Hosen haben sie reingegriffen, Fräulein, und haben mir den Schwanz blau geschlagen. Und dann gestochen.
Er atmete schwer. Das Fräulein brach eine Tafel Schokolade an und hob schelmisch den Finger: »Wenn man’s anbricht, können sie einem nichts tun.«
Sie aß, glücklich über ihre List. Ihr schlanker Körper räkelte sich zurecht. Die Tasche klappte auf; die Schokolade stand mit zerrissenem Silberpapier aufrecht neben dem Pass. Der hochgewachsene Bursche saß krank und fiebernd vor ihr.
Jemand rappelte an der Glastür, suchte sie aufzuschieben. Der Bursche drehte vorsichtig den Kopf. Der dicke Herr aus der ersten Klasse stand barhäuptig in der endlich zurückrollenden Tür. »Verzeihung, ist hier noch Platz?«
Schweißtropfen perlten auf seiner Oberlippe, die Augen flackerten unter den Brauen. Das Lächeln auf dem bettelnden Mund war widerlich hündisch. Es war, wenn man zusammenrückte, noch ein Platz auf der Seite des Schokoladengirls frei. Aber so leicht gab das Abteil seine Gemütlichkeit nicht auf. Keiner rührte sich. »Nebenan muss noch viel Platz sein«, meinte mürrisch die ältere Frau in der Ecke. Der Dicke hatte es sehr eilig. Er zählte jetzt die Fahrgäste. Rechts saßen nur drei; schnell hinsetzen, nicht lang fragen, je mehr Menschen da waren, desto besser ging alles vorbei. Er schob seinen Bauch in das Abteil, lüftete die Rockschöße und setzte sich auf die Nummer 47.
Unwillig wich die eingeengte Reihe zur Seite. Der dicke Mann griff das Taschentuch aus dem Sakko, tupfte sich das Wasser vom Mund und suchte mit ängstlichen Augen einen freundlichen Blick bei seinen Mitfahrern. Schreckliche Minuten lagen hinter ihm. Plötzlich war er unruhig geworden in seinem einsamen Abteil. Ein Irrsinn war es gewesen, erster zu fahren. Vielleicht waren die Parteigenossen mit ihren Freifahrscheinen alle unterwegs in dieser Klasse. Vielleicht war die Polizei gerade auf diese Reisenden aufmerksam gemacht worden. Wer leistete sich denn heute noch die teure Karte? Er hatte gehört, wie in der Tiefe des Korridors die Stimme des Kontrolleurs rief: »Pässe bereit halten!« Jetzt diesem Mann allein gegenüberstehen? Nein, und nochmals nein! Er würde sich verraten, auch wenn jener keinen Steckbrief hatte. Er war aufgesprungen. Man musste sich unter das Volk retten. In die dritte Klasse. Unter die Vielen. Jawohl unters Volk. Er hatte die Tür aufgerissen und ohne nach links zu schauen, war er dem Ende des Zugs zu geflüchtet. Würde man sich nicht genieren, so einfach jemand vor allen Zuschauern zu verhaften? Es mussten doch auch Republikaner darunter sein, die heute noch gewählt hatten. Vage beschlich ihn die Hoffnung, dass es dahinten nicht so schlimm werden könne.
»Die Pässe bitte!« Zwei Männer in Zivil standen im Türrahmen. Der dicke Mann fuhr zusammen. Die kleine Dame reichte ihren Pass an ihm vorbei dem vordersten der Kontrolleure. Der halb Verdeckte musterte den dicken Mann, der verwirrt in seinen Rocktaschen wühlte.
Der kranke Bursche in der Ecke griff in seinen Mantel und holte einen gut erhaltenen Pass heraus, schlug ihn auf. Angesichts der Zivilisten bekam er seine Haltung wieder. Die Fleppe war gut, Stempel saßen korrekt, und zu intelligent sahen die beiden nicht aus. Er wartete, völlig erwacht.
Der erste Kontrolleur hielt jetzt den Pass des Dicken in der Hand. »Ist das Ihr richtiger Pass?« fragte er. Alle sahen, wie der dicke Mann erbleichte und an den Beamten vorbei in den Korridor sah. Der Kontrolleur reichte das Buch nach hinten. »Den haben wir drauf, schauen Sie einmal nach.« Der Dicke sprang auf.
»Machen Sie keine Geschichten«, sagte der Mann und griff nach dem Buch des Burschen. Flüchtig blätterte er die Seiten um: »Danke.« Der Bursche nahm sein Buch mit gleichgültiger Miene zurück, verstaute es in den Mantel. Dicht vor ihm hob sich der Bauch des bedrohten Mannes. Eine Uhrkette aus schwarzem Eisen, Erinnerungen an die große Zeit von 1914, saß stramm über der gewölbten Weste.
»Haben Sie ihn?« Die beiden Männer an der Tür lasen eifrig in einer Mappe. »Hier«, sagte der hintere und steckte den Finger in seine Liste.
Um den dicken Mann war plötzlich ein übler Geruch von Darmgas. Das Mädchen drehte eilig und indigniert ihren Flacon auf. Der Bursche schob den Kopf in seinen Mantel und tat, als wenn er schlafen wollte.
»Sie sind der sozialdemokratische Stadtkämmerer... « hörte der Bursche den Kriminalbeamten sagen.
»Aber das muss ein Irrtum sein«, stotterte der dicke Mann.
»Machen Sie keine Geschichten, Herr, Sie sind verhaftet.«
Der Bursche wickelte jetzt den Kopf wieder aus dem Mantel und sah die Hand des Kriminalbeamten nach der Schulter des Stadtkämmerers greifen.
Die Fahrgäste saßen erstarrt. Nur die kleine Dame gegenüber dem Burschen hatte vor Vergnügen die Augen pfiffig zugekniffen. Jetzt hast du was zu erzählen, wenn du zu deinem Papa Bankdirektor kommst, dachte der Bursche. Leise hob er sich hoch, mit aller Vorsicht Schmerz vermeidend, und stellte wie achtlos den breiten Fuß auf die Schuhe des Mädchens.
»Au, Sie, nehmen Sie sich doch in acht!« Er spürte eine kleine Faust im Kreuz und wandte sich langsam um; sein Rücken brannte. Jetzt konnte er ihr eine knallen. Aber sie sah schon nicht mehr zu ihm. Ihre von Neugier glühenden Augen folgten der Verhaftung an der Tür.
»Also, kommen Sie mit«, sagte der Beamte.
Der dicke Mann wimmerte: »Ich habe doch gar nichts verbrochen«, sagte er und trat in den Korridor, der schon mit schaulustigen Fahrgästen angefüllt war.
Der Stadtkämmerer sah über die dichten Köpfe; würden sie ihn verteidigen, wenn er ihnen jetzt etwas sagte? Herrgott, so dicht vor der Grenze! Nicht auszudenken, dass man eine Viertelstunde von der Freiheit weg war! Und jetzt würden sie ihm jede Rede nachweisen, die er gegen die Nazis gehalten hatte.
»Ich folge Ihnen ja schon«, sagte er und ärgerte sich, dass so viele Zuschauer dabei waren. Er richtete sich auf, fasste an seinen Schlips; immerhin war man ja kein hergelaufener Agitator; sie würden einen schon dem Rang nach behandeln müssen; ganz ohne Beziehung war man ja auch nicht. Plötzlich fand er die Leute in dem dicht gefüllten Korridor pöbelhaft. »Kommen Sie!« winkte der erste Kontrolleur.
Er stieß einen Fahrgast beiseite, um folgen zu können. Dann verneigte er sich nochmals in sein Abteil hinein und sagte, dass alle im Gang es hören können:
»Das wird sich ja alles als ein Versehen herausstellen.«
Der Bursche konnte spüren, wie sein Verband zwischen den Beinen sich verschoben hatte; es schien ihm, dass Blut weglief. Aber er empfand es als Erleichterung. In wenigen Minuten zog der Zug an, und man fuhr in die Freiheit. Die Luft im Abteil war zum Ersticken schlecht. Der Bonze hatte sie noch verschlechtert. Sein letzter Wind ging mir in die Nase.
»Würden Sie mal das Fenster aufmachen«, bat das Mädchen und setzte sich die Pelzmütze auf. »Ich will mal sehen, wie sie ihn wegbringen.«
Der Bursche sah sie an und imitierte mit zierlicher Geste ihren süßlichen Sadismus. Dann wurde er ernst und sah weg auf den Bahnsteig. Und wenn sie Zörgiebel vorbeibrächten, dir mache ich den Laden nicht auf.
Sie mühte sich selbst. Die Scheibe glitt abwärts; der parfümierte Körper bog sich in die Nacht.
»Da kommen sie«, sagte das Mädchen erregt ins Abteil. »Sie haben ihm Fesseln angelegt - sehen Sie doch!« Sie zitterte im Vergnügen der Sensation. Die Fahrgäste drängten sich ans Fenster. Draußen klirrten Schritte. Man vernahm die lamentierende Stimme des Stadtkämmerers.
»Das geht doch zu weit, ich bin doch kein Verbrecher!«
Der Transport schien anzuhalten. »Ich sage Ihnen nochmals, dass Sie hier nicht brüllen sollen.« Eine harte Sprache, ganz neu für den Gefangenen.
Jetzt wirst du kapieren, was du dir großgezüchtet hast, dachte der Bursche. Er kam zu keiner Freude. Ekelhaft war ihm das fette Tier gewesen, ekelhaft in seinem Anbiedern, in seiner Angst, seiner gespielten Vornehmheit. Wenn ich denke, wie sich der Reichsbannerjunge im Keller benommen hat vor zwei Tagen!
»Jetzt!« sagte halblaut die Kleine am Fenster. Sie begriff nicht, dass der Bursche sich den Anblick da draußen entgehen ließ. Man hörte wieder Schritte, ein Gitter wurde geschoben. Die Leiber am Fenster drängten sich dicht zusammen. Und nun kam die Stimme des Stadtkämmerers noch ein letztes Mal:
»Hören Sie, ich habe ja meinen Koffer und meinen Hut im Abteil gelassen.«
Die Fahrgäste wichen vom Fenster zurück. Ein grässliches Lachen erschütterte die Luft im Abteil. Die Fäuste fest zwischen die Beine gedrückt saß der Bursche in seiner Ecke und lachte aus aufgerissenem Mund. Furchtbar waren die Töne. Die Fahrgäste streiften ihn mit fremden Blicken. Ein Pfiff kam von draußen, der Zug zog an, die Lichter des Bahnhofs strichen vorbei, die Nachtluft stürzte über die Scheibe. Der Bursche achtete auf niemand. »Er sorgt sich um seine seidenen Hemden«, höhnte er. Als breche ihm der Leib auseinander, presste er die Hose zwischen den Schenkeln mit beiden Händen und lachte. Halb war es ein Schmerzgebrüll, halb unbändige, höhnische, erlöste Freude. Die Fahrgäste rückten ängstlich von ihm ab. Er merkte es nicht einmal.
Der Zug überfuhr die Saargrenze.
Um das Dorf Freiberg, nah der Saargrenze, kroch noch der märzliche Nebel. Aus dem Glockenturm der katholischen Kirche hatte das Uhrwerk vier dumpfe Schläge in die feuchte Luft geworfen. Ein Hahn hatte geantwortet, aufmerksam und pflichttreu schon zwei Sekunden nach dem frühen Schlag.
In dem Haus des Viehhändlers Sally Kahn ging ein Licht an; zwei Fenster zeichneten sich gelb aus dem milchigen Dampf, der in allen Straßen stand. Dann verschwand das Licht, die Fenster sanken wieder zurück in das Grau der Fassade. Wie ein Blinkzeichen war die Helligkeit aufgetaucht. »Komm«, sagte das Zeichen, »hier ist das Haus.« Und erlosch wieder im schläfrigen Dämmer.
»Wirst du gut hinkommen, sag!« Eine besorgte Frauenstimme flüsterte im Korridor des Hauses.
»Wenn du Licht machst!« Eine vorwurfsvolle Stimme antwortete. Dann ging die Tür auf, und ein vierzigjähriger kräftiger Mann trat behutsam auf die Treppenstiege. »Geh rein«, sagte er zu der Frau, die im Nachtrock ihm bis auf die Stiege gefolgt war. Ihre Augen glänzten von nahen Tränen. Gehorsam schloss sie die Tür. »Auf Wiedersehen«, hörte er noch, zaghaft, dass es ihm ans Herz ging. Aber er riss den Rock fester über der Brust zusammen und schüttelte die Trauer ab. Erst einmal fort sein, alles andere kommt dann schon wieder.
Seine schweren Stiefel holperten über den Hof zu den Ställen. Mitten durch Lachen und verstreute Fladen von Kot ging er und hatte keine Angst mehr vor Geräuschen, die er machte. Im Gegenteil durfte er sich nicht ängstlich zeigen, wenn zufällig einer ihn schon bei der Arbeit sah. Kahn geht zum Markt, Kahn besucht seine Kunden, Kahn macht seine Tour zu den Metzgern, warum soll Kahn heute keine Tour machen? Macht er nicht jeden Tag seine Tour!
Die Stalltür ging knirschend auf. Ein warmer Brodem schlug in die Morgenkälte. Die Kühe, drei Schecken, sauber geputzt, drehten die Köpfe. Eine hob den ausgestreckten Hals und brüllte. Er trat an alle heran, klopfte ihnen die Hälse, warf eine Hand voll Fütter hin. Nicht genug, aber die Frau sorgte schon für die anderen. »Hahe«, sagte er und griff nach dem Halfter der mittleren. Die Kuh schmiss den Kopf hoch, aber dann folgte sie unter dem fachmännischen Blick des Mannes. Sie versuchte sogar in Trapp zu fallen, aber er bändigte sie und schlug ihr den Stecken auf die harte Stirn. Er ließ die Stalltür offen. Am Küchenfenster schien die Frau zu stehen; er sah nur den Schein ihres weißen Gewandes, aber er winkte nicht mehr. Es war keine Zeit mehr, um nochmals zu winken. »Hehott«, rief er und zog die Kuh auf die Straße. Das hohle Trappeln der Klauen beruhigte ihn, seine klobigen Schuhe traten fest den Boden der Dorfstraße. Die frische Morgenluft blies ihm den letzten Schlaf aus den Augen.
Sie kamen auf den Kirchplatz. In zwei Stunden bimmelt der Turm die Bauern wach. Dann bin ich schon drüben.
Der Brunnen sprudelte aus kurzem Rohr seinen lauten Wasserstrahl. Die Kuh zog den Strick nach dem Trog. Es ist verboten hier, wollte er sagen, und hatte schon den Stock gehoben, aber dann trieb ihn plötzlich eine nie gekannte rebellische Lust: gerade heute soll sie trinken, die Gesetze gelten nicht mehr für die anderen, also gelten sie auch nicht mehr für mich. Die Kuh steckte die Nüstern tief in das helle Steingefäß. Klebriger Schaum fiel in das Wasser. Kahn sah auf das breite, gesunde Maul. Wenn ein Nazi vorbeikäme, würde er sagen, ich vergifte den Brunnen. Warum sind sie noch nicht darauf gekommen? Kinder schlachten wir? Was ist da schon der Unterschied?
Er riss die Kuh vom Trog weg, sie hatte genug und folgte dem Strick. Kahn ging jetzt voraus, das Seil hing lose zwischen ihnen, dass Tier machte dem Mann die Flucht etwas leichter. Denn wie er jetzt an den dunstigen Häusern entlang ging und die einzelnen Bauerngehöfte erkannte, flammte der Zorn in dem Mann wieder auf. Trieben sie ihn wirklich aus seiner Heimat? Waren sie hinter ihm her? Sah er das alles nicht wieder? Jeder Schritt war der letzte, sie rückten ihm nach und besetzten einen Meter nach dem anderen. Ohne die Gesetze zu achten, ohne jedes Recht, und waren nicht zu halten. Er zwang sich zu ruhigem Denken.
War er feige? Hätte er weggehen sollen aus der Wirtschaft? Er sah sich wieder in der Wirtschaft. Ewigkeiten lagen dazwischen, eine schreckliche Nacht. Ein paar Stunden waren es nur. Wenn er gar nicht hingegangen wäre gestern Abend? Nein, ein guter Engel hatte ihn hingeführt, hatte ihm gezeigt, wie es stand um die Juden. Man hätte schon früher hingehen sollen.
»Wo waren denn die Juden, als das Vaterland in Gefahr war? In der Etappe haben sie sich herumgedrückt, an den Gulaschküchen haben sie sich Druckposten verschafft, in den
Proviantämtern haben sie geschoben. In der Heimat waren sie. Schreiberlinge, weit vom Schuss, immer weit vom Schuss.«
Kahn hörte die Rede des Nationalsozialisten wieder; Sodbrennen ätzte ihm die Kehle, während er durch den Morgen stapfte und an die Versammlung dachte. Er ging schneller, die Kuh folgte im Trapp. »Das ist eine Unverschämtheit«, hörte er sich wieder sagen, und der ganze Saal drehte sich um. »Meine beiden Brüder sind im Feld gefallen, ich selbst bin zweimal verwundet worden. Ich lasse mir das nicht gefallen.«
Ohnmächtiger Protest. Der Nazi war frecher gewesen. »Juden heraus«, hatte er geschrieen, und die Versammlung war einig mit ihm. Nein, nicht das Dorf. Es waren ja nur wenige Bauern da; der Lehrer, die Angestellten der Bürgermeisterei, die jungen Erwerbslosen und die meisten aus Saarburg herkommandiert. »Juden heraus!« Jawohl, da täuscht ihr euch aber. Ich bleibe.
Kahn drehte sich nervös um, er meinte, jemand folge ihm, berühre ihn. Aber er sah nur den Kopf der Kuh, die dicht an ihn gestoßen war. Er war stehen geblieben mitten in seiner Erinnerung, hatte gemeint, der Landjäger wäre wieder auf ihn zugetreten. »Gehen Sie doch, Herr Kahn, es gibt ja nur Krawall.« -»Warum soll ich gehen, ich habe hier meinen Eintritt bezahlt, und ich lasse mich nicht beleidigen hier von solchen jungen Schnösels.«
Hatte es gewirkt? Wo war man denn schon? Glaubten die, ich hätte nicht zugeschlagen? Ich hätte zuschlagen sollen. Rascher wäre ich dann auch nicht auf diesem Weg zur Grenze.
Kahn spürte, dass er einen nicht zu verbessernden Fehler gemacht hatte. Wir machen das immer falsch. Deshalb sind sie so. Ich habe dem Landjäger den Gefallen getan und bin weggegangen, und sie haben hinterher sagen können, sie hätten mich hinausgeschmissen.
Der Mann hob den Kopf und sah in den Nebel, aus dem leere Bäume auftauchten, kotbeschmierte Leiterwagen, Misthaufen und die Giebel vorspringender Gehöfte. Die bäuerliche Welt, feindlich umschleiert, schien von ihm wegzurücken. In jeden dieser Ställe hatte Kahn mindestens eine Kuh geliefert. Hatte er jemals einen Bauern betrogen? Nein, aber sie würden es jetzt sagen. »Die Kuh war nicht so frisch, wie er sagte.« - »Nur acht Liter gab sie, nicht vierzehn.« Was ich nie behauptet habe. Miriam wird recht behalten: sie werden mir jeden Prozess jetzt
vorwerfen. Miriam geht schon morgen zu den Eltern. Alles geht auseinander. Sie sind uns auf den Fersen.
Kahn blieb stehen, die Kuh störrte. Er hörte, wie sie sich entleerte. Was ihm in all den Jahren nie in den Sinn gekommen war, das Klatschen des Kots machte ihm grimmige Freude. Scheiß nur, scheiß auf sie! Verzerrt betrachtete er den Kopf des Tiers; der offene After hatte Front auf die Hakenkreuzler, auf-ihn. Er sah das Gesicht mit dem schwarzen Bartfleck unter der Nase vor sich. Hass wollte wie Gift aufsteigen in ihm, aber er wurde schwach und traurig.
Müde setzte er den Fuß wieder vorwärts, das Gesicht blieb wie ein Schreckbild hinter ihm. Ohne umzuschauen, schlug er den Stock auf das Tier, aber er meinte das Bild. Er hatte Angst, wollte schneller vorwärts kommen. Hinter der Grenze würde der Schreckliche verschwinden. Soviel er sich aber auch anstrengte, die Lähmung legte sich um seinen Nacken. Sie werden uns vernichten, heulte es in ihm. Sie werden tausend Gründe finden, wir haben zu fest dringesessen, wir haben sie in der Hand gehabt; sie sind stärker geworden, jetzt hetzen sie uns, sie töten uns, ins rote Meer jagen sie uns.
Kahn stapfte die steile Straße hinauf. Er war nicht mehr Kahn. Schon beugte er sich dem Gesetz, dem einzigen, das galt: dem Fluch. In den Nebel sank das Dorf Freudenburg, sank der Tag und die Zeit, es war nicht mehr der 6. März 1933, der Tag nach der Wahl, nach der Niederlage der Republik. Republik? Nein! Nicht die Republikaner hatten verloren, nicht die Demokraten, nicht Deutschland, nicht Stresemann. Nur die Juden hatten abzuschließen seit gestern, nur ihre Zeit war versunken in diesem Morgen, in den Schleiern dieser Ewigkeit; ihre neue Zeit begann, die wirkliche Welt, die große, ewige Wanderung ins Ungewisse, ins Unbestimmte. Mitten in Europa begann diese Wanderung wieder, und alle würden wandern müssen, alle.
Kahn zog seine Kuh hinter sich her, das einzige, was noch mit der alten Wirklichkeit verband, die er schwinden fühlte. Die Kuh, mit der er seine Flucht verkleidete. Ein Tier, das die Feinde täuschen sollte. Sie sollten glauben, er sei noch Kahn, Kahn aus Freiberg, der kleine Kuhhändler, der jeden Morgen wie heute hier herumzog im Kreis Saarburg, Regierungsbezirk Trier, Provinz Rheinland, Preußen, der vom Bauern zum Metzger zog und vom Metzger zum Bauern. Ein Tier, was blieb
noch sonst? Wenn Kahn diesen Strick losließ, war nichts mehr übrig von Deutschland. Er war nur noch ein fliehender - Jude.
Wenige Minuten später musste er wirklich den Strick loslassen und alles mit ihm. Ein Fahrrad kam mit pfeiffender Bremse den abschüssigen Weg herabgesaust, den Kahn hinaufstieg. Aus dem grauen Meer schoss es abwärts mit einem schweren Menschen. Eine Klingel warnte. Dann sah man den Menschen deutlicher, sah Knöpfe einer Uniform. Kahn wurde zurückgerissen in seinen deutschen Freistaat Preußen, ein letztes Mal noch. Die Gefahr schmiss ihn in den harten Raum des 6. März 1933. Der Radfahrer sprang ab; es war der Landjäger des Dorfes.
Kahn ging noch zwei Schritte, dann zwang er sich stehenzubleiben.
»Na Kahn, schon so früh unterwegs?«
Der Viehhändler hörte das Misstrauen in der Stimme. Wie anders hatte der noch vor zwei Tagen in der Versammlung geredet! Republikanisch. Zum Bürger. Vernünftig. Zuredend. Wie zwei Erwachsene über einen dummen Jungen. Und jetzt sprach der neue Staat schon. Mit aufgezwirbeltem Bart. Die Diktatorfaust am Lenkrad. Ein Wahlresultat unter den Füßen zum Draufstehen. Die Tasche voll von Verhaftungsbefehlen.
Kahn drehte einen Finger in die Nase. Jawohl die Republik ist weg. Bürger untereinander, das gibt’s nicht mehr. Das alte Kleid ist ausgezogen. Geh paar Schritt weiter, Gendarm, da liegt es auf der Straße. Ich bücke mich ja schon vor Ihrer Uniform, Herr Landjäger.
»Nicht früher als Herr Wachtmeister selbst«, sagte singend Kahn und spreizte die freie Hand.
Der Beamte runzelte die Stirn. Schau nur, dachte Kahn, ich bin nicht mehr der Kahn von vorgestern. Aus mit dem Frontkämpfer! Patriot futschikato! Kleiner Jüd bin ich. Gar kein Stolz. Über die Grenze will ich. Nur noch vorbei an diesem letzten Deutschen, an der Uniform.
Der Wachtmeister umging mit verächtlichem Gesicht die Kuh. Er sagte kein Wort, schritt um das Tier, als wenn es irgendwo verborgen goldene Vliese an sich hängen hätte. Plötzlich stand er dicht neben Kahn und brüllte ihm ins Ohr:
»Der Boden wird Ihnen wohl heiß, Kahn?«
Der Viehhändler verzog keine Miene, obschon er zu tiefst erschrocken war. Jetzt hätte ich zusammenzucken sollen, dann wäre alles aus gewesen.
»Ist ein schönes Stück Vieh«, sagte er blödelnd und schob, sein eigenes Urteil anerkennend, die Unterlippe vor.
Enttäuscht ließ der Wachtmeister nun von seinem Verdacht. Kahn musste ja nicht über die Grenze wollen. Dort vor dem Wald gingen immerhin zwei Wege ab. Und mit dem Vieh kam der Kerl sowieso nicht über den Zollweg.
Der schwere Mann schwang sich aufs Rad. Unhöflich und fast nicht hörbar sagte er »Morgen« und stieß in die Tiefe.
Noch zitterten die Konturen seines Rades unsicher in den Nebelschwaden, als Kahn das Seil fallen ließ, den Stock mit beiden Händen hob und die Kuh mit grausamen Schlägen den Berg hinunter dem Dorf zu jagte.
Nach kurzem Zögern trottete das Vieh weg; er sah ihm nach und war glücklich, dass es nicht brüllte. Dann schmiss er auch den Stock weg und lief bergauf in das dämmrige Nichts.
Er lief eine halbe Stunde bis zum nächsten Dorf. Es war Orscholz im Saargebiet, ein Dorf von paar hundert Einwohnern, unter dem Schutz des Völkerbunds.
Als die ersten Häuser sich aus dem Dunst hoben, sackte Kahn in den Knieen ein und hielt mit dem Laufen an. Seine Brust zitterte wie eine Maschine, er musste husten. Er las das Schild, das den Namen des Orts ankündigte. Dann ging er weiter in das Dorf, über dem der Himmel sich schon aufhellte.
Als er um die erste Ecke einbog, lag die neue Dorfgasse schnurgerade vor ihm. Eine Wirtschaft blockierte ihr Ende; aus ihren oberen Fenstern hing eine Fahne. Kahn schritt die Straße abwärts; leise kam die Freude über die Sicherheit auf, die ihm hier gewährleistet schien. Wenige Schritte vor dem Wirtshaus erkannte er die Fahne; sie trug im weißen Kreis das Hakenkreuz.
Die Sonne brach durch den Nebel.
Werner hatte schwere Wochen hinter sich. Die Erkenntnis an jenem Beerdigungstag war wie eine Ohrfeige gewesen, die man stumm einstecken muss. Er suchte den Freund nicht mehr auf. Nur für die IAH-Küche war er noch jede freie Stunde unterwegs.
Der Wahlkampf kam. Deutschland dröhnte vom Radau des Radiokriegs. Die Nazis lärmten über alle Sender. Zeitungsverbote gingen auf alle, die noch leise hofften, nieder wie Hagel. Noch träumte Werner von einem Aufstand und von General-
streik. Aber er las, dass die SPD zur Besinnung rief statt zum Kampf.
Am 21. Februar, als von der Pfalz die Nachrichten kamen, dass die katholische »Volkswacht« ihre Priester nicht mehr vor den Nazis schützen konnte, ging Werner wieder zu seinem Freund, dem Kommunisten. Er zeigte seinen Revolver. »Sie werden auch hierher kommen«, erklärte er, »aber mich fängt keiner lebendig, das kannst du glauben.« Der Freund sah ihn an: was konnte man sagen zu soviel echtem Hass! Er betrachtete den Revolver: »Ja, man wird schießen. Aber erst wenn auch noch etwas anderes so gut geputzt ist wie das Ding da. Hier!« Hermann klopfte an seine Stirn. Werner lief wütend weg.
Noch ein letztes Mal tobte Werner, das war am 23. Februar. Da bekam er eine Illustrierte in die Hand und sah, wie die SA in Berlin als Hilfspolizei vereidigt wurde. Er prüfte die Gesichter. Mensch, da waren doch auch Proleten drunter! Ihr werdet was erleben, knirschte er, aber er war zu klug, um nicht seine Ohnmacht zu spüren. Einer der SA-Leute führte einen Polizeihund durch die Straßen, einen schönen Schäferhund. Alles bekamen die Kerle in die Hand! Jetzt ging die Hetze los. Noch ein paar Tage, dann waren sie so weit.
Werner hatte sich überzeugt, dass die Nazis in der Wahl nicht siegen konnten gegen die Kommune. Er las, er diskutierte, bis zur Polizeistunde saß er in der Wirtschaft, durch die kalten Straßen lief er mit Kameraden, machte Pläne, hörte auf jedes Gerücht, wie ein Fieber kam über ihn die Ahnung, wie wichtig diese Tage werden konnten.
Er hörte von den Aufrufen der Kommunistischen Partei. Er las, in wie vielen Orten die Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Arbeitern schon zustande gekommen war. Er freute sich, fasste neuen Mut.
Dann aber kam der 27. Februar, und alles änderte sich wie mit einem Schlag. Er hatte am Abend bei einem Freund eine Zimmerdecke frisch gekalkt und Zeitungen über die Wände geklebt. Sie hatten Möbel gerückt, die alten Tapeten abgekratzt. Zehn Stunden hintereinander hatte er gepinselt und gewirtschaftet. Er war früh zu Bett gegangen und fuhr nun, wie er dem IAH-Kameraden versprochen hatte, mit dem Leiterwagen seine Sammeltour ab.
Geruch von Fastnachtskrapfen kam aus dem Haus des Bäckers, dem er einige Brote abringen wollte. Er stand im Laden
und wollte eben seinen Spruch sagen, so langsam, wie er es gewohnt war.
Und da fauchte nun der mehlverschmierte Kerl. »Schluss!« rief er. »Ich gebe nichts an Brandstifter.«
Werner war nicht sofort gegangen, er hatte sich erst aufklären lassen und auch dann noch ein paar Worte mit dem dicken weißen Mann gewechselt. Aber am Schluss hatte er keine Lust mehr gehabt, noch um Brot für die Küche der Explosionsopfer zu betteln. Mitten in der Rede hatte er sich umgedreht und war hinausgegangen.
Warum sage ich ihm nicht kräftiger Bescheid, fragte er sich. Er schleifte seinen Wagen die steile Straße hinauf; ihm war, als käme er niemehr oben am Marktplatz an. Blei war in den Sohlen, wie in Essig gehängt brannte das Herz.
Eine Trambahn knirschte bremsend den Berg hinunter. Neben ihm mühte sich ein Arbeiter, die Höhe mit dem Fahrrad zu bezwingen. Jetzt sprang er ab: »Man schafft's doch nicht!« sagte er zu Werner; es klang wie eine Entschuldigung. Werner hörte nur die Worte. Sie passten zu gut auf seine Situation. Er riss den Karren mit einem Ruck an sich heran, die kleinen Räder stießen an seine Waden, Schmerz lief die Schenkel hinauf. »Wir schaffen es doch«, brüllte er.
Ein Krämer winkte ihm von seinem Gemüsestand aus zu: »Na willst nix haben heut?« Werner konnte nicht mehr denken. Sie höhnten ihn, auch der da mit seinen Kohlköpfen höhnte ihn. Was war man denn noch?!
Er sah Schreckensbilder vor sich, eins jagte das andere, eins war eine größere Schmach als die andere. Zu Dutzenden hatte man sie also gehetzt heute Nacht.
Der Bäcker hatte gelacht, als er es erzählte. Das Berliner Polizeipräsidium saß voll von ihnen. Das ganze Zentralkomitee der Kommunisten soll sitzen. Torgier soll schon an die Wand gestellt sein.
Er warf wütend den Kopf in den Nacken. Nein, nein, nein! Es waren alles Lügen. Er ging schneller. Er musste jetzt eine Zeitung lesen. Es konnte nicht wahr sein.
Werner fieberte, als er in die Parteiwirtschaft eintrat. Er sah sich in der Runde um und wartete auf Angreifer. Die große Diskussion seines Lebens musste jetzt kommen.
Aber die Wirtsstube war leer. In der Ecke saßen ein Viehhändler und ein Metzger, die einen Handel betranken. Die Wirtstochter stellte ihnen eben wieder zwei Becher auf die Pappteller. Keiner von den Kommunisten im ganzen Raum. »Willst du was trinken?« fragte die Wirtstochter und ging sofort wieder weg.
Werner sah ihr nach, sah die festen Beine, den Zipfel eines weißen Unterrocks. Er wollte etwas Gemeines sagen, raufen mit jemand, zu dem Metzger da drüben gehen und ihm eine reinhauen.
Aber dann stand er auf und ging traurig fort.
Einige Tage später traf ihn ein neuer Schlag.
»Wo sind denn die Führer der Kommune?« fragte ihn mit heuchlerischer Teilnahme ein Krämer, bei dem er sich Zigaretten kaufte.
Führer? Werner dachte an Thälmann, den Kommunisten. Teddy nannte er ihn, wie die Hamburger zu ihm sagten und die Kameraden vom RFB. Er hatte seine Bilder gesehen in den Illustrierten; umgeben von einem Meer von Arbeitern stand Teddy im Lustgarten von Berlin an der Rampe des Schlosses unter dem Balkon, von dem aus Wilhelm gesprochen. August 1914, am Morgen des großen Massenschlachtens.
Werner sah das Photo wieder vor sich. Wie stand der Mann da, hinausgehoben von denen da unten; Kraft war er, hatte mehr in den Knochen und im Hirn als die ganzen Generäle, als die Goebbels und Görings. Feuer war er, das sie alle heizte. Sie sahen zu ihm hinauf; der Transportarbeiter sprach, der ihre Not kannte. Blut war er von ihrem Blut, und wenn er die Faust schloss und sie über sie alle stieß in wilder Kurve, dann war es, als raffte er mit dieser Geste all ihre Kraft da unten zusammen: dann wusste man, eines Tages kommt der Tag, und man wird beginnen, alle Not zu überwinden. Werner lächelte, er griff nach den Zigaretten und zündete sich eine an: »Die Führer?« sagte er selbstbewusst, »der Teddy wird ihnen schon zeigen.«
Der Krämer wies mit dem Kopf nach hinten zu dem Lautsprecher.
»Ist vorgestern eine Nachricht durchgesagt worden. Interessiert Sie vielleicht. Der Thälmann ist nach Schweden geflohen... «
Werner stieß heftig den Rauch aus der Lunge. »Was?« Er lachte verächtlich: »Das sagen die Nazis. Das ist Schwindel. Da glaubt doch kein vernünftiger Mensch dran.«
Schon indem er sprach, wurde er unruhig. Der Krämer nickte mit dem Kopf: »Jawohl, mein Lieber. So was können sie nicht sagen, wenn's nicht wahr ist. Da würden sie sich ja selber schaden.« Er räumte das Geld weg, das Werner auf die Glasplatte gelegt hatte und sah ihn mit gespieltem Bedauern an: »Da haben sie erst zum Generalstreik geblasen, und dann lassen sie die Arbeiter sitzen.«
»Sie sind ja gar nicht im Bild«, sagte Werner: für einen Augenblick erholte er sich wieder von der plötzlichen Lähmung, die ihn befallen. »Mit dem Generalstreik hat die SPD die Kommunisten sitzen lassen. Damit sie's genau wissen. Und wenn die Kommunisten nicht so gefährlich wären, warum sitzt denn der Alex voll von Gefangenen? Warum schwindeln sie denn, der Lubbe sei von der Kommune? Warum haben sie denn einen Steckbrief auf den Teddy gemacht? - Ah, davon wissen Sie natürlich nichts. Sie horchen nur in den Kasten da rein, und alles was da raus kommt, ist so, als wenn's der Pastor von der Kanzel gesagt hätte.« Werner drehte sich herum und ging zur Tür. »Es ist noch nicht aller Tage Abend«, sagte er und verließ den Laden.
Er ging geraden Wegs zur Parteiwirtschaft, wo er Kommunisten zu treffen hoffte. Freunde begegneten ihm auf der Straße, er sah niemand. Er starrte vor sich hin; seine Stirn war von tiefen Furchen gequält. Ein Gymnasiast fuhr mit einem Fahrrad dicht an ihm vorbei, ein Hakenkreuzwimpel zitterte an den Speichen, »Heil Hitler«, rief der Schüler provokatorisch und sauste schleunigst in eine Seitengasse. Werner beachtete ihn nicht. Er sah Teddy vor sich. Die hochstehende Faust. Den festen quadratischen Schädel. Schweden. Ausgerechnet Schweden. Wie der Ludendorff. Mit blauer Brille vielleicht. Mitten aus der Schlacht heraus. Er schlug plötzlich die Faust durch die Luft. »Nein«, rief er, »der türmt nicht!«
Als er in die Wirtschaft trat, war seine Unsicherheit sofort wieder da. An allen Tischen saßen junge Erwerbslose. Fast keiner trank etwas. Sie diskutierten. Werner ging zum Schanktisch und stellte sich wie immer mit dem Gesicht zu dem kleinen Saal.
»Weil du dann einfach nichts verstehst von illegaler Arbeit«, hörte er einen jüngeren Arbeiter sagen. »Es gibt Augenblicke, wo es wichtiger ist, dass wir jemand haben, der uns noch führt, als dass er sich einfach abschlachten lässt. Und damit du's genau weißt« - der junge Kommunist beugte sich über den Tisch zu seinen Kameraden, »ich halt's für einen Fehler, dass er nicht weg
ist. Hierher an die Saar hätt er kommen sollen. Dann fings von hier aus an. Dann wüsste man, wies hier ausgehen wird. Da kannst du Gift drauf nehmen.«
Wovon reden sie, dachte Werner und sah fragend zu der Wirtstochter, die den Schaum eines frisch angestochenen Fasses in Gläser laufen ließ.
»Gib mir noch ein Bier«, sagte er mürrisch. Der Saal horchte jetzt nur noch auf die Diskussion des einen Tisches. Der Jungarbeiter war aufgestanden, er sah, wie sie alle auf seine Worte warteten. Er riss sich die Mütze tiefer ins Gesicht, sein Mund war von Bitterkeit zusammengepresst.
Werner sah ihn wütend an. Wenn der wüsste, was ich weiß, würde er nicht so groß hier angeben. Plötzlich ließ er den Zweifel in sich schießen wie ein heißes Gift. Er wandte sich nach der Wirtstochter um, die ihm das Bier hinschob:
»Weißt du schon, dass der Thälmann nach Schweden abgehauen sein soll?« Er sagte es laut und herausfordernd. Die anderen sollten es hören, sollten über ihn herfallen, jawohl, sie sollten kommen, er wollte ihnen schon was erzählen.
Aber keiner hörte auf ihn. Der junge Arbeiter hatte wieder zu sprechen angefangen. »Ich weiß jedenfalls, wie wichtig es war, was die besten Bolschewisten vom Ausland her für die Revolution taten.«
Werner drehte sich brüsk herum: »Der sollte lieber von seinem Thälmann reden!«
»Er spricht doch davon!« sagte das Mädchen. »Hast du denn keine Zeitung gelesen?« Sie griff nach dem Holz an der Wand, in das ein Journal eingespannt war. Zögernd nahm Werner das Blatt. »Lies nur«, sagte das Mädchen und zeigte auf eine fett gedruckte Nachricht auf der ersten Seite. Werner beugte sich langsam nieder über das Blatt: »Thälmann verhaftet« stand da in fetten Lettern. Als habe er einen elektrischen Draht berührt, zuckte Werner zusammen. Er las die Nachricht, sah auf das Datum. Teddy! Sie hatten geschwindelt. Er hob den Kopf, sah das Mädchen an. Sie nickte ernst: eine schlimme Sache.
Werner sah ihre vorgeschobene Lippe, die Falten auf ihrer Stirn, aber es war, als stände sie gar nicht da.
Plötzlich lachte er. Als ob es heller würde in der Stube, strahlte sein junges Gesicht. Sein Mund stand mit einem Mal froh geöffnet, die blauen Augen blinkten wie frischgewaschen. Teddy war mitten in Berlin gewesen! Während sie rings schon
herumjagten mit Autos und Fangkommandos. Während sie durchs Radio logen, er sei gleich am ersten Tag über die Grenze. Während sie die Schiffe durchsuchten in Hamburg und Stettin. Teddy war im roten Berlin geblieben.
»Den werden sie jetzt schön zurichten«, meinte das Mädchen. Werner hörte gar nicht hin. Er hatte die Zeitung wieder gepackt und las die kurze Notiz. Dreimal las er sie. Er glaubte dabei zu sein und fasste einmal schnell nach seiner Gesäßtasche, wo er den Revolver glaubte. Er sah Thälmann im Kreis der Krimis stehen.
Plötzlich sprach er über die Zeitung hinweg: »Der hat mehr Grütze im Kopf als ihr alle zusammen. Der bleibt bei uns.« Er höhnte über die Zeitung: »Bringt ihn nur in den Wagen, ihr könnt nicht mehr von Flucht schwindeln!« Werner sah die Menge von Polizisten vor dem Haus. Fünfzig Pistolen gegen einen Mann ohne Waffe. Jetzt bildeten sie sich etwas ein auf ihren Fang. Das war ein Kunststück! So, nur so können sie kämpfen! Mit Anschleichen, mit Angebern, Verrätern. Fünfzig gegen einen.
Werner ließ sein Bier stehen und verließ die Stube. Er wollte jetzt mit niemand reden. Wie konnte er erklären, dass ihm leichter geworden war vor dieser Zeitung. Thälmann war in höchster Gefahr. Jawohl, sie hatten die Macht gekriegt und sie hatten ihn, ihren schlimmsten Feind; es war scheußlich, aber das Andere, das Andere - war das nicht auch wichtig?
Er merkte, dass Trauer in ihm aufkam, dass er sich betrog. »Es ist zum Kotzen«, redete er vor sich hin, und plötzlich mitten im ernsten Grübeln lachte er wieder.
Mit heißem Kopf lief er durch die Straßen der Industriestadt. Seine Mutter fand ihn am Abend in der Küche, wie er eine Postkarte mit Thälmanns Bild als Rotfrontkämpfer an der Wand festmachte. Gegenüber seinem Platz, wo er aß. Wo er ihn gerade sehen konnte, wenn er aufschaute vom Teller. »Jetzt erst recht«, sagte er, und ein böses Lächeln flackerte über seinen Mund.
Zwei Tage später saß er bei seiner Mutter, als jemand ans Fenster klopfte. Er hatte die Füße in einer Waschschüssel und bürstete die Zehen. »Geh mal hin!« bat er die alte Frau. Sie brachte einen Neunkirchener Kommunisten und einen Fremden mit. »Rotfront«, sagte der Neunkirchener. »Rotfront«, sagte auch
der Begleiter. »Kann der hier schlafen?« fragte der Neunkirchener. Werner sah den Fremden an. »Er kommt vom Reich«, erklärte der andere, »die Sache geht ihn Ordnung.«
Werner griff nach dem Handtuch und sah auf seine Mutter.
Sie verstanden sich beide sofort. Dunkelte die Tapete nicht noch feuchter in diesem Augenblick, da man gefragt wurde, ob man einen Gast aufnehmen könnte? Roch man nicht schärfer den Geruch der Zwiebelsuppe, die immer ohne Fleisch war? Ging nicht wie von einer harten Hand geführt der Blick der Mutter zu dem Eierbecher auf dem Küchenschrank, in dem die wöchentlichen vierzig Francs schon wieder auf wenige Centimes eingeschrumpft waren.
Ich will es nicht abschlagen, sagte Werners Blick.
Hab keine Angst, beruhigten die Augen der Mutter. Ich sorg schon für deinen Kameraden.
Werner brummelte zufrieden. »Ja, wird schon gehen«, meinte er. »Na denn Rotfront!«
»Rotfront, Fritz.« Die Tür klinkte ein. Die drei Menschen standen stumm voreinander. Die Mutter betrachtete die Kleider des unbekannten Gastes. Werner hatte einen der nackten Füße auf den Stuhl gestellt und fingerte an den Zehen herum. Er spürte, wie sein Herz klopfte. Nun sollte er die Wahrheit erfahren. Da kam einer von drüben, einer der dabei gewesen war, der alles wusste, der alles sagen konnte. Wie durch einen zerreißenden Damm brach die mühsam gestaute Flut seiner Wünsche und Zweifel wieder durch. »Setz dich doch«, sagte er. Der fremde Genosse nahm den nächsten Stuhl, ließ sich nieder und legte die Mütze auf den Boden. Plötzlich stöhnte er; es schien ihm furchtbare Schmerzen zu machen, sich nach der Seite zu beugen. Werner drehte sich erschrocken um. Der Genosse wurde totenblass, hatte die Augen geschlossen und atmete hastig.
»Bring ihm ein Glas Milch«, befahl Werner der Mutter, aber die Frau hatte schon die Wasserleitung aufgedreht, eine Tasse gefüllt und stand vor dem Leidenden. Gierig schluckte er die Tasse leer und öffnete wieder die Augen.
Werner vergaß ganz, dass er ein Verhör mit dem Gast beschlossen hatte. Da kam etwas anderes ins Zimmer. Aus der Nacht, in der die Stadt schlief, über die neblige Grenze, durch die Wälder schlich das geprügelte Deutschland ins noch geschützte Gebiet. Die Genossen kamen, Zeugen der Verfolgung. Boten des Grauens, das drüben ausgebrochen war. Die Wahrheit stieß zur Tür herein, und die Wahrheit stöhnte.
Werner zog die Strümpfe über. »Hast du noch was zu essen da, Alte«, fragte er dann. Die Mutter ging stumm an den Herd und holte einen Topf aus dem Backofen. Der Fremde versuchte ein Lächeln: »Ist nur vorübergehend«, sagte er zur Entschuldigung. »Ich hätte mich gern ein bisschen gewaschen.«
Werner griff die Schüssel vom Boden und ging sie auszugießen. Sie hörten, wie sorgfältig er sie spülte. Die Mutter hob einen Kessel vom Herd: »Du kannst etwas Warmes dazu tun.« Er hielt die Schüssel hin und fühlte mit einem Finger über den Rand die Temperatur des Wassers. »Zieh ruhig das Hemd aus«, meinte er und setzte die Schüssel auf den Stuhl. »Meine Alte ist das gewöhnt.«
Die Mutter rührte in einem Topf, hob dann einen Ring aus dem Ofen, um das Feuer aufzustochern. Der Fremde hatte den Rock abgeworfen, seine Hände steckten hinter dem Gürtel, aber er zögerte, das Hemd herauszuziehen. Werner sah ihn nur flüchtig an und machte sich dann am Tisch zu schaffen. Sie drehten ihm beide nun den Rücken zu und hörten, wie er das Hemd abstreifte, nach der Seife griff und im Wasser plätscherte.
Als Werner sich umwandte, um eine Tasse seiner Mutter zu reichen, sah er die alte Frau mit entsetzt aufgerissenen Augen am Ofen stehen. Er folgte ihren Blicken, sie gingen auf den in die Waschschale niedergebeugten Rücken des Fremden. Blau unterlaufene Streifen liefen quer über die ganze gekrümmte Hautfläche. Zwischen Schulterblättern und Kreuz aber stand in schwärzlichen Punkten eingebrannt ein großes Hakenkreuz. Werner hatte das Gefühl, dass er schnell wieder wegsehen müsse, aber er sah nur noch intensiver auf den geschundenen Leib. Alle seine kritischen Gedanken stürzten herbei, er verjagte sie wütend: So hatte man also gehaust mit den Proleten! So wehrlos hatte man sie gemacht und sie verhöhnt obendrein. Nun da er ein Opfer von ihm vor sich hatte, verstand er erst den Feind. Die Wunden riefen ihn wach. Das da - er sah auf die grässliche Wunde - beantwortete man nur mit Rache.
Blitzschnell zog das alles durch den Kopf von Werner, während er noch niederstarrte auf das furchtbare Mal. Dann hob der Gast den nassen Kopf. Er sah die beiden Menschen an, als hätte er sie ganz vergessen. Das Wasser tropfte von seinem
Kinn herab. In den Augenhöhlen schäumte noch Seife. Er spürte, wie aus dem Nacken Rinnsale in die Wunden flossen. Es linderte und brannte dann schärfer. Er wollte nach dem Hemd greifen, um sich abzutrocknen, aber die Hand folgte nicht. Plötzlich begann er zu reden; als wenn er sich verantworten müsse, als wenn die beiden da ihn ertappt hätten; ganz starr hielt er den Körper, der Rücken glühte; im Zickzack lief der Schmerz um die Wirbelsäule herum.
»Darmstadt«, sagte er, es sei am 10. März gewesen, nachts seien sie gekommen. In den Keller der Polizeiwache hätten sie ihn gebracht. Ganz nackt hätten sie ihn ausgezogen und dann mit Stahlruten geschlagen. Lieder hätte er singen sollen. Die Fahne hoch. Aber er wäre lieber ohnmächtig geworden. Mit Wasser hätten sie ihn begossen, und als er die Augen wieder aufgemacht, sei er wieder über den Tisch geflogen. Fünf Mann hätten ihn gehalten, einer habe geschlagen. Und er habe noch immer nicht gesungen. An die Wand hätten sie ihn gestellt. Mit der Stirn an die Steine gestoßen, dreimal den Kopf dagegen gehauen. Überhaupt nichts mehr gewusst habe er. Und hinter ihm hätten sie gesagt, jetzt würde geschossen. Noch einer habe neben ihm gestanden, so'n Intellektueller. Der habe in den Stein gebissen. Einen Krampf habe der im Gesicht gehabt, er habe nicht lange hinsehen können und zur anderen Seite geschaut. Und dann habe jener angefangen zu singen. Aber es sei etwas ganz anderes geworden! »Wacht auf Verdammte dieser Erde.«
Der Fremde hielt jetzt an, versuchte zu singen, die Töne erstickten in der Kehle. Schmerzlich lächelte er: »Und dann habe ich mitgesungen, noch lauter als der. Und der fiel auch um. Aber mich haben sie weggerissen und wieder auf den Tisch. Eine Weile haben sie mich liegenlassen, und dann kam einer mit einem Strick.«
Er biss sich auf die Unterlippe, die Erinnerung brannte ihn; er stockte, dann hatte er sich wieder gefangen und erzählte. Was sie vorgehabt, habe er noch nicht ahnen können; er habe auf die Stahlruten gewartet. Aber sie hätten sich alle Zigaretten angezündet. Er habe das Streichholz zischen hören, und wie sie tiefe Züge machten. Und dann sei plötzlich ein Stich an der Schulter gewesen, dass er aufgebäumt sei; aber die Stricke seien dicht um den Tisch gezogen gewesen. Und dann sei ein Stich nach dem anderen gekommen, einer ganz nah an der
Wirbelsäule, der habe am meisten gebohrt. Da sei er auch wieder ohnmächtig geworden. Und wieder wach geworden. Da seien sie immer noch an ihm gewesen. »Laß mich noch mal«, hätte einer gesagt und wieder einen tiefen Zug aus der Zigarette gemacht. Und er habe auch nicht aufgehört, die Zigarette in das Fleisch zu drücken, bis es schon brenzlig gerochen habe. Es sei aber der Schlusspunkt gewesen. »Ein schönes Hakenkreuz«, habe er sie sagen hören, und einer habe die Zigarette ausgespuckt und habe pfui Teufel gesagt, sie schmecke nach Marxistenfleisch. Drei Tage später sei dann eine Revision gewesen: im Büro habe er unterschrieben, dass er keinerlei Misshandlungen erlitten habe, und einer habe ihn beiseite genommen und ihm den Revolver gezeigt: wenn er irgend jemand seine Wunde zeige oder sich photographieren lasse, sei er in vierundzwanzig Stunden zur Nachkur wieder an einer anderen Stelle.
Werner hatte sich nicht von der Stelle gerührt; die ganze Erzählung war wie aus dem Mund eines Hypnotisierten geflossen. Sie standen alle drei in der Stube, als wenn eine Lähmung über sie gekommen wäre. Werner hielt ein Handtuch in der Hand, die Mutter einen dampfenden Topf, der Gast umklammerte mit einer Faust den Stuhl und sah an ihnen vorbei. Er war jetzt fertig und griff langsam nach seinem Hemd, wischte es sich durchs Gesichts und warf es dann über den Kopf. Werner winkte seiner Mutter, dass sie das Essen auf den Tisch stellen solle. Er wollte auf den Mann zugehen, ihn anfassen, ihm die Hand geben, aber erst musste er ihm etwas sagen. Verlegen schaukelte er das Handtuch in der Faust. Wie fing man da an?
»Genosse«, sagte er, sein Hochdeutsch klang feierlich, die Stimmer zitterte, »wir haben das alles nicht so genau gewusst, und wenn wirs gewusst hätten, dann wäre auch so - allerlei nicht geprahlt worden. Aber jetzt wo wirs wissen, da kann ich dir nur sagen, was mich betrifft, so hat mir das viel geholfen. Das kann ich dir sogar garantieren. Du wirst verstehen, was ich meine. Und du ruhst dich jetzt erst mal gut aus, da gibt's nichts. Und wir - fangen jetzt neu an. Wir haben ja noch ein bisschen Zeit. Fast zwei Jahre haben wir noch, wie du vielleicht weißt. Und deshalb« - Werner stockte, als wenn er etwas ganz Großes ausdrücken wollte und nicht so rasch formulieren könnte - »deshalb sage ich dir: hier - kommen sie nicht rein. Hier - gibt's
Barrikaden. Und da wirst du dich revanchieren können, so wahr ich ein Saarprolet bin, jawohl.«
Der Genosse steckte das Hemd in die Hose und zog den Gürtel wieder zu. »Iss gleich«, sagte die Mutter und wies auf den gefüllten Teller, »eh's wieder kalt wird.«
1.4. Boykott der kleinen Juden.
7.4. Arierparagraph für Beamte und Advokaten.
22.4. Arierparagraph für Ärzte.
23.4. Arierparagraph für Universitäten und Gymnasien -
Sichtvermerk für alle deutschen Grenzen.
26.4. Göring errichtet Geheime Staatspolizei.
»Boykott«
Im Wohnzimmer der jüdischen Familie Felsenthal in Neunkirchen an der Saar.
»Ich meine, wir gingen doch ins Bett«, sagte die alte Frau Felsenthal. Niemand antwortete ihr. Der junge Felsenthal hatte den »Völkischen Beobachter« vor sich auf dem Tisch liegen und folgte mit nervöser Hand den Zeilen des feindlichen Blattes. Seine Frau, eine dunkeläugige Brünette schälte Apfelsinen und reichte sie der Schwiegermutter, die in der schwach beleuchteten Sofaecke wie zurückgezogen vom Leben saß. Am Boden schlief in unruhigen Träumen ein Schäferhund.
»Hast du gehört, was unser Sally heute dem Lehrer gesagt hat«, fragte die junge Frau lächelnd in die Stube. Sie wusste nicht, ob jemand sie anhören würde, aber sie wollte das Schweigen brechen, das nach dem Vorschlag der müden Frau aus dem Hintergrund wieder in das Zimmer niedergefallen war. »Er hat«, fuhr die junge Frau hartnäckig fort, »dem Lehrer die Geschichte von den Katzen erzählt, die Nazis waren und dann Kommunisten geworden sind, als ihnen die Augen aufgegangen waren nach acht Tagen.«
Felsenthal hob jetzt den Kopf. »Er soll keine solche Dummheiten erzählen.« Seine Stimme war ängstlich, er sah nach allen Seiten herum, streifte das Aquarium, das Vertiko, die Ecke, in der die Mutter saß, seinen Hund und den jüdischen Kalender. »Das muss man lesen«, sagte er und zeigte auf die Zeitung.
»Lies vor«, bat die junge Frau; sie schien am meisten unter der Stille zu leiden.
»Da hat ein Dr. Rosenthal aus Berlin einen Gärtner verklagt, weil er ihm für seine Villa keine schalldichten Fichten geliefert hat. Jetzt kommt die Sache wieder vor Gericht, und der »Völkische« schreibt: >Hier werden dann offensichtlich die Gründe enthüllt werden, weswegen Herr Rosenthal schalldichte Fichten um sein Grundstück zu pflanzen beabsichtigte. Aus Naturliebe bestimmt nicht!<« Felsenthal sah empört hoch: »Und das soll nun keine Hetze sein.«
Die junge Frau dachte nach: »Warum braucht der schalldichte Fichten? So was habe ich noch nie gehört.«
»Gescheiter wär's noch«, machte die Mutter sich wieder bemerkbar, »wenn du fragen tätst, warum der Mann heutzutage noch jemand verklagt.«
Felsenthal brauste auf: »Er kann doch verlangen für sein Geld, was er haben will. Aber das ist ja noch nicht alles. Hier« -er klopfte aufgeregt in die Zeitung - »geht's auf die polnischen Juden: die Händler Mayrhofer und Goldberg aus Eydtkuhnen -immer nennen sie den vollen Namen - haben Schlachtpferde nach Belgien verladen. Siebenunddreißig Pferde in einem Waggon. Da sind einige Tiere gestorben, und nun - sind wieder die Juden schuld. Ihr müsst nur zuhören: Für den Juden handelt es sich nicht um Tiere, sondern um Zahlen. Aber eine Lehre ziehen wir aus dieser Angelegenheit: vierzig Menschen oder sechs Pferde steht am Waggon; siebenunddreißig Pferde wurden hineingezwängt, also sechsmal soviel! Bei einem vielleicht einmal notwendig werdenden Abtransport dieser »Zahlenrasse« könnte man nach dem gleichen Rechenexempel verfahren.« Felsenthal stöhnte: »Ich sag euch, sie werden uns alle vertreiben!«
Die junge Frau streckte die Unterlippe vor; etwas an der Angst ihres Mannes wollte ihr nicht gefallen: »Es wird nichts so heiß gegessen werden, wie es gekocht ist. Und die da haben es übrigens nötig, von Tierquälerei zu reden. Hast du den Emigranten nicht gesprochen, der gestern bei Levys gegessen hat?«
»Pst«, warnte der Mann und sah durch die Glastür in den Laden, der im Dunkeln zwischen Zimmer und Straße lag.
»Rizinus haben sie dem eingegeben«, sagte die junge Frau, »ein Arzt war sogar dabei, in einer SA-Kaserne haben sie ihn schwarz und blau geschlagen. Schämen sollten sich die.«
Felsenthal rieb aufgeregt die Hände.
»Und das sag ich jedem, der's wissen will«, sagte die Frau verbissen.
Der junge Felsenthal schrie plötzlich: »Und dann sag ich dir, dass du uns ins Unglück reißen wirst. Dass heute einer da war und gesagt hat, wir würden morgen sehen, was passiert. Und wir wären hier an der Saar genau so wenig sicher wie drüben im Reich. Alles wegen deinem Geschwätz.«
Ein dumpfes Klopfen dröhnte von der Straßentür her in die Stube. Gleichzeitig schrillte an der Decke die Straßenklingel. Der Hund wachte auf und sprang bellend an die Türe. Die drei Menschen sahen sich an.
»Da hast du's!« meinte weinerlich Felsenthal. Die Schläge wiederholten sich.
»Mach nicht auf!« befahl die Mutter aus der Tiefe, aber Felsenthal hatte schon die Zimmertür geöffnet, durch deren Spalt der Hund tobend in den Laden jagte. Sein zorniges Bellen verriet den Herrn, den er schützen wollte, aber es gab jenem auch Mut.
»Wer wird's schon sein so spät«, sagte Felsenthal; plötzlich schien es ihm notwendig, vor seiner jungen Frau etwas männlicher dazustehen. Er ging durch den Laden, dessen Glastür durch Holzläden verdeckt war. »Wer ist da?« rief er. Die Frauen in der Stube hielten den Atem an; auch der Hund ließ sein Bellen und schnüffelte den unteren Rand der Tür ab. Eine Sekunde hörte man nur das Ticken der Wanduhr und das Knistern zerspringender Kohlen im Ofen. Dann kam von mehreren Stimmen - aber es klang wie ein Riesenchor - die brutale Losung aus der Nacht: »Juda - verrecke!«
Zweimal wiederholten die unsichtbaren Schreier ihren Spruch, dann hörte man das Laufen vieler Menschen, die der wütende Hund mit überschnappender Stimme vergeblich anfauchte.
Felsenthal blieb ganz still an seine Ladentür gelehnt. Neben ihm stand ein Schmalzfass; die Luft war voll der Gerüche eines Kolonialladens; Heringsäure gemischt mit Kaffeearoma und Seifendunst. Felsenthal hob den Arm, um nach der Mesuse zu greifen, die irgendwo hier angebracht sein musste. Wie zum Schutz griff er an der Wand hinauf, völlig vergessend, dass das fromme Amulett an der Wohnzimmertür festgenagelt war. Ein Paket Maggiwürfel stürzte von der Dekoration in den Bottich mit Marmelade.
Felsenthal trat der kalte Schweiß aus der Stirn. »Also doch«, flüsterte er; die Frauen hörten nur das Zischen seiner Lippen. Er war nun überzeugt, dass sie morgen auch zu ihm kommen würden. Pogrome würden sie machen in ganz Deutschland. Und auch hier an der Saar, auch hier in Neunkirchen.
Der Hund lief im Laden herum und verstand seinen stummen Herrn nicht. Dann sprang er ihn an und suchte ihn mit seinem Kopf zu wecken. Felsenthal griff mechanisch nach der warmen Schnauze und streichelte sie.
»Da hast du beispielsweise schon eine Gelegenheit«, sagte der Emigrant Karl zu Werner.
Karl wohnte immer noch bei dem jungen Erwerbslosen. Die Wunde auf seinem Rücken war vernarbt. Karl packte schon wieder zu. Die beiden waren gute Freunde geworden. Werner, der leicht verwirrte, konnte ohne den Rat und die Belehrung des Reichsdeutschen sich kaum den Tag denken. Schon viel zu oft ging Karl in die Nachbardörfer und blieb zwei Tage weg. Werner fragte ihn nicht, er hatte Respekt vor dem Kommunisten, den man durch nichts hatte unterkriegen können.
»Das ist der größte Schwindel, den sie bisher machten«, sagte Karl, »die Juden sind an allem schuld. Tausendmal gesagt, wirkt so etwas. Und jetzt fangen sie auch schon hier damit an.«
Die beiden Männer gingen die Hauptstraße hinunter. An einigen Läden hatten nächtliche Kolonnen mit Kalk die Fenster gezeichnet: »Deutsche wehrt euch gegen die Gräuelpropaganda, kauft nur bei Deutschen.«
Die Ladenmädchen waren dabei, die Schrift abzuwaschen. Überall standen die Wasserschüsseln auf den Trottoirs, überall plantschte man, kratzte an den Scheiben, eilte sich, den gefährlichen Spruch zu beseitigen.
»Drüben würden diese ganzen Mädchen alle miteinander verhaftet«, meinte Karl.
»Wir werden ihnen das Gegenteil zeigen«, erwiderte Werner. »Also auf bald, ich gehe hier links ein paar Häuser ab. An der Ecke treffen wir uns.«
Sie liefen viele Stunden in den Straßen herum. Die Stadt hätte vielleicht nicht viel gemerkt von diesem Manöver des Herrn Goebbels, wären die Freunde nicht unermüdlich gewesen, dem Tag die Ehre anzutun, die ihm gebührte.
»Habt ihr irgend etwas zu kaufen?« Werner lachte zur ersten Tür hinein; eine Arbeiterfrau, jung, gesund und appetitlich trat aus ihrer Küche. Sie band die Schürze um ihre Taille und lächelte neugierig zurück.
»Dann kauft heute nur bei den Juden. Wir Arbeiter müssen das heute alle tun.«
Und schon war er verschwunden.
»Ich hab's schon schwerer gehabt«, sagte Karl, den er wenige Häuser weiter traf. »Meine war schon angesteckt von dem Warenhausschwindel. Die machen den kleinen Mann kaputt, hat sie gesagt. Sie hat einen Bruder, der hat einen Laden, und der kommt nicht mehr durch. Na ich hab's geschafft. Sie geht.«
»Wir sollten versuchen, sie aus einer Straße alle auf einmal hinzuführen.«
»Da kriegen sie's mit der Angst.«
»Unsere Weiber? Mensch, da kennst du die Saar schlecht. Hier sind die Weiber besser in Fahrt als die Männer.«
»Versuch's!«
Sie trafen auf erschreckendes Elend, auf Mietsbaracken, aus deren Wohnhöhlen der Gestank der Armut schlug. Schmierige Kinder krochen am Boden. Verzweifelte, böse gewordene Gesichter starrten sie misstrauisch an. »Die Juden sind alle Gauner, man sollte sie aufknüpfen. Ich hab noch keinen arbeiten sehen«, sagte eine Frau.
Man musste ganz andere Geschütze auffahren. Werner erzählte von dem Magnaten Wolff - war er nicht Jude? - aber die Hakenkreuzfahne steckte heute an den Hochöfen. »Glaubt ihr wirklich, dass sie an einen Großen herangehen, ob er Jud ist oder Christ?« Die Frau nagte an der Lippe und hörte, wie er von dem Hüttenkönig erzählte: »Und den hat Adolf persönlich empfangen, der ist glänzend dran mit denen. Sie haben zusammen gegessen, er hat Aufträge, die in die Millionen gehen.«
Warum redet der soviel, dachte die Frau, aber ihr wurde warm dabei. Ihr trauriger Vormittag bekam eine Sensation; das Kreischen der Kinderbrut verstummte vor diesem jungen Burschen und seiner freundlichen Stimme. Er hat doch nichts davon, dachte sie, aber er kümmert sich um uns.
»Ihr geht wohl überall herum?« fragte sie schon wohlwollend.
»Nur zu Arbeitern.«
»Na das sind wir ja nicht, wir sind erwerbslos.«
»Um so eher muss man reden. Der Adolf sagt, die Juden wären schuld, dass ihr keine Arbeit hättet. Dabei macht er Jagd auf Schwarzarbeiter.«
Sie wehrte ein Kind ab, das nach ihrer Schürze griff, um sich auf den schwachen, verknorpelten Beinen hochzuziehen. Schwarzarbeiter? Was hatten die Juden mit Schwarzarbeitern zu tun? War der vielleicht doch vom Amt? Ihr Mann hatte eine Stelle zur Aushilfe bei Matratzenpolsterer Günther. Sie sah ihm jetzt voll in die Augen: »Hat euch einer geschickt, dann könnt ihr gleich wieder gehen.«
Noch war sie nicht drohend, wartete eher auf eine beruhigende Antwort, und Werner lächelte auch überzeugend:
»Ich erzähle das nur, weil die meisten es noch nicht wissen: der Adolf macht Jagd auf die Schwarzarbeiter. Die paar Proleten, die sich was suchen, die ohne Arbeit nicht leben können, die lässt er von der Polizei ausheben. Und das nennt er dann Sozialismus. Schwindel ist das. Genau wie mit den Juden. Und deshalb bin ich hier. Weil wir uns hier nicht so verkohlen lassen. Und weil heute die Neunkirchener Nazis sehen sollen, dass wir ihnen was husten, wenn sie uns schon was kommandieren. Wir sind nämlich schlauer als die. Und deshalb bin ich unterwegs. Irgend etwas habt ihr Weiber doch immer zu kaufen, und wenn's nur für zwanzig Centimes Senf ist. Da ziehen wir alle in den Laden, und die Nazis sollen schwarz und braun werden vor Ärger. Sie sind nämlich ab zehn Uhr unterwegs und schleichen um die Geschäfte von den paar Juden herum. Hier haben sie ja keine Traute. Also, mehr hab ich nicht gewollt.«
Werner hatte gesiegt. »Sauber«, sagte die Frau und griff nach einem Schal. »Sei jetzt ruhig«, schrie sie eins der Würmer an, die um sie herumkrochen und ihr Weggehen nicht ohne Protest zu genehmigen schienen. »Mama bringt euch etwas mit«, sagte sie dann, als aus allen Ecken schon Weinen die schmierigen Mäuler verzog. Sie griff ihr Portemonnaie, hielt es Werner unter die Nase. Er roch das Leder und sah nichts als einige Centimes-Stücke in den schmutzigen Falten.
»Ich hole dir aber noch bessere Kunden«, meinte die Frau. »Wart noch ein bisschen.«
Er blieb in der Stube unter den fünf Kindern zurück, die vor dem fremden Mann jetzt verstummten und sich mit scheuen
Blicken eins zum anderen zu retten suchten. Hier müsste Karl mal reinschauen. Wie Saarproleten wohnen. Mensch, in so was lässt man nun Menschen leben! Und redet von erwachter Nation! Und schiebt den eigenen Dreck ein paar tausend Juden in die Schuhe!
Die Tür ging auf; die Frau trat in den Rahmen. Hinter ihr zeigten sich zwei andere Frauen. »Sie kommen alle mit«, sagte die Frau triumphierend.
»Ich hol noch Prüms Käthchen«, rief eine der Geworbenen. Werner sah von der kleinen Treppe die Gasse hinunter. Da kam Karl mit vier Frauen um die Ecke. Eine Demonstration mit Marktkörben. Noch zwei Gassen dazu, und der ganze Judentag war geplatzt.
Der Jude Felsenthal wunderte sich, als die Frauen in seinen Laden einmarschierten. Eine Stunde hatte er sich gestritten mit seiner Mutter; er wollte nicht schließen, wie sie ihn geheißen.
»Haben wirs nötig, es ist sowieso Schabbes. Es kommt alles überhaupt nur von der Gottlosigkeit«, hat die weise Frau gemeint, aber der Sohn war nach dem Schlaf der Nacht doch wieder gestärkt worden. Der Laden wurde geöffnet, und dabei entdeckte man die Kalkzeichen der Feinde.
Felsenthal ging immer wieder vor die Tür. »Was können sie uns denn hier tun«, schrie er die Mutter an. Dann schickte er die Verkäuferin hinaus, die Zeichen abzuwaschen. Er hörte das Wasser plantschen, ihm wurde wohler bei den reinigenden Geräuschen.
»Es ist alles weg«, sagte das Mädchen.
Felsenthal merkte, wie die Gefahr noch um das Haus stand. Er sagte nichts mehr, räumte Waren zurecht, ging in die hintere Stube und holte sich seine Bücher hervor. Aber er fand keine Ruhe. Wie ein Joch lag es im Nacken und drückte. Und dann kam plötzlich die Kolonne Frauen in den Laden gepoltert. Felsenthal stürzte nach vorne.
»Womit kann ich dienen?« fragte er und verneigte sich misstrauisch und höflich.
Die Frauen kicherten und zogen kleine Zettelchen aus den Portemonnaies.
Felsenthal staunte: sie schienen ernsthaft kaufen zu wollen. Hoffentlich waren sie nicht von den Nazis geschickt und verweigerten nachher die Zahlung. Er ging hinter die Ladentheke.
»Also, was wäre gefällig, meine Damen«, fragte Felsenthal und riss eine Düte von dem Deckbalken.
»Geben Sie mir mal zwei Pfund Schmalz.«
Werner lehnte sich an den Verkaufstisch und grinste die Verkäuferin an.
Sauberes Mädchen, dachte er. Ob sie kapiert, warum ich die Frauen hergeschleppt habe?
Er sah ihre schnellen Hände bei der Arbeit, lachte ihr zu; er wollte, dass sie ihn verstand. Etwas wie Stolz saß in ihm, als er seine Frauen da kaufen sah. Sie sieht mich kaum an, merkte er und folgte jeder ihrer Bewegungen. Die Brust spannte sich unter der weißen Schürze, wenn sie nach den oberen Schubladen des Regals griff. Das wäre was für diesen Frühling, ermunterte er sich. Er ahnte nicht, wie freundlich sie schon über ihn dachte.
Zornig hatte sie die Kalkzeichen von den Fensterscheiben weggewaschen. Die Angst der Felsenthals hatte sie traurig gemacht. Wie eine Beleidigung empfand sie die Drohungen. Und nun führte der große schöne Kerl die Kunden einfach ins Haus. Sie hörte, was die Frauen sagten, sie hätte ihm gern die Hand gedrückt: dass sie absichtlich kämen, weil sie den Judenschwindel nicht mitmachten.
Beim ersten Satz, der so fiel, zeigte sich auch die Mutter Felsenthal an der Wohnzimmertür. Langsam schlich sie näher.
»Wir sind also extra deswegen gekommen«, erklärte eine Frau und steckte eine Mehltüte in ihren Korb. »Uns ist das einerlei, ob Jud oder Christ, Hauptsache, er verkauft uns etwas Reelles.«
»Und auf den Adolf, da hören wir schon sowieso nicht. Der gibt uns auch nix, wenn wir nix haben.«
Die Mutter Felsenthal schob ihre runde niedrige Figur noch etwas näher. »Und wir kennen uns doch schon, als ich noch in die Schul ging, net wahr, Frau Felsenthal.«
»Und jetzt soll auch jede der Damen eine Tafel Schokolade extra haben«, rief beglückt der junge Kolonialwarenhändler. Die Angst wich endlich aus den Räumen. Der Spuk schien gebannt.
Die Frauen murmelten zustimmend.
»Ich hab aber gar nichts gekauft«, bekannte eine der Arbeiterinnen. »Ich bin nur mitgegangen, weil ich kein Nazi bin.«
»Bist zufrieden?« fragte Werner jetzt über den Ladentisch die Verkäuferin. Er schob mit seiner Mütze die herabhängen-
den Landjägerwürste beiseite und lachte das Mädchen an: »Ich habe euch die da doch alle hergebracht.«
Sie wusste nicht, warum er es noch erklärte. Blaue Augen hat er, dachte sie und eine Stimme wie eine Glocke.
»Darf ich dich mittags abholen, dann erklär ich dir alles«, sagte er. Er hatte sich plötzlich Mut gemacht.
»Sie können mir ruhig Sie sagen«, entgegnete sie.
Werner hörte die Zustimmung in der Stimme. Er streifte den Kopf wieder zurück durch die baumelnden Tüten und Würste. »Na dann komm um zwölf.«
Er sah seine Arbeiterfrauen an: »Nun kommt es nur noch drauf an, dass uns möglichst viele gesehen haben. Alles fertig? Dann los! Wir gehen geschlossen wieder zurück. Und wenn ihr was singen wollt: Jedenfalls kein Judenblut, was vom Messer spritzt. Auf Wiedersehen, Herr Felsenthal.«
1.5. »Tag der Arbeit«.
2.5. Gewerkschaften werden besetzt.
5.5. Hitler verbietet Eingriffe in die Wirtschaft.
7.5. Oberfohren ermordet.
10.5. Bücherverbrennung auf dem Opernplatz.
Flaschenpost
An der Fähre von Clausthal standen zwei Arbeiter mit ihren Ess-Kesseln. Sie hatten eben den Schiffer gerufen, dass er sie überhole. Aus den Muscheln der Hände war ihr Ruf über die Saar gegangen und hatte sich gestoßen an der breiten Wand des Sandsteinplateaus, die fast senkrecht vom jenseitigen Flussufer aufstieg in den Abend.
»Er ist mal wieder taub«, meinte einer der Arbeiter.
»Er ist nur hier-.« Der Kollege zeigte auf die Stirn. »Seit die Grenzwache verstärkt ist, fürchtet er sich vor jeder Uniform.«
»Er wird wissen, warum.«
»Unsinn, er hat nie geschmuggelt. Eher weiß er ganz andere Sachen.«
»Was denn?«
Der Arbeiter antwortete nicht. Aus den weiten Feldern hinter ihnen war fast unbemerkt ein SA-Mann angekommen. Jetzt traten seine genagelten Schnürstiefel die Pflastersteine, die in die Landungszunge eingelassen waren. Der zweite Arbeiter erblickte die Uniform und verstand das Schweigen.
»Heil Hitler!« sagte der braune Soldat.
»Nabend«, dankte der zweite Arbeiter. Der erste aber hob wieder die Hände zum Mund: »Hol über!« brüllte er über das graue, langsam dahinziehende Wasserband. »Über«, gab die hohe Felswand zurück.
»Das Faultier schläft wohl«, meldete sich jetzt der Hitlersoldat. Prall saß die Uniform an ihm; seine Haut war rissig, hing in kleinen Fetzchen um ein bartloses Kinn, die Augenlider hatten
rötliche Wundränder. Er sprach in freundlichem Ton, überzeugt, dass er hier werben könne. Die Arbeiter schwiegen. Sie merkten, dass der junge Bursche fremden Dialekt sprach. Jederzeit hätte sie das neugierig und gesprächig gemacht, aber das braune Hemd lehrte, schweigsam zu sein. Gefahr ging aus von diesem Koppel mit dem Hakenkreuz. Sie sahen in die Luft, in der die rote Felswand aufwuchs, schimmernd an seinen oberen Rändern im Abendlicht, das aus ziehenden Wolken niederfloss. »Was steht eigentlich da oben für ein Denkmal?« fragte der SA-Mann, zeigte mit der Hand auf die Höhe der Wand und klatschte dann hinter dem Rücken die Hände wieder ineinander; er wippte dabei in den Hüften und hielt die entzündeten Augen auf die beiden Männer gerichtet wie ein hochmütiger Schulmeister.
Die Arbeiter streiften mit flüchtig erhobenem Blick die steile Felsenkanzel, die aus der waldigen Gebirgsmauer hervortrat und in schwindelnder Höhe eine scheinbar unzugängliche Kapelle trug. Nicht mal die Klause kennt er, dacht der erste Arbeiter, der nur schlecht seine Abneigung gegen den fremden braunen Soldanten verbarg. Der zweite Arbeiter fühlte sich überlegen in seiner Lokalkenntnis und beschloss, zu antworten; dem da würde ja das Königsgrab imponieren, dachte er: »Da habense einen begraben«, sagte er schließlich.
Der SA-Mann freute sich, dass der Anschluss endlich gelang. »Ein bisschen hoch«, sagte er, überzeugt, dass es sich um einen Witz handele.
Der Arbeiter rieb sich die Nase, fuhr dann um sein stoppeliges Kinn, seine dunklen Augen, umrändert vom Schatten der Müdigkeit, zwinkerten vergnügt: »Das haben sie extra gemacht, damit er besser sehen kann. Er war nämlich blind.«
Der SA-Mann hörte angestrengt zu, aber er kam auf keinen Sinn. Noch verstand er nicht die Feindseligkeit der beiden Männer.
»Ich verstehe nicht«, meinte er höflich, »von wem sprechen Sie denn?« Sein Ton war immer noch freundlich; unpolitische Arbeiter soll man leutselig behandeln, sagte der Führer.
Der Arbeiter hatte die Frage erwartet: »Von dem blinden König da oben. Der hat doch den Reichstag angesteckt.«
Nun wandte sich auch der andere Arbeiter um. Er war vorgetreten ans Wasser und hatte mit einem Stein nach einer am Rande des Flusses schaukelnden Flasche gezielt. Ein helles
Klingen antwortete, aber die Flasche torkelte unverletzt weiter. Da hörte er die Antwort des Arbeitskollegen. War der Peter verrückt geworden? Er sah zu dem SA-Mann zurück; der junge Bursche hatte die Stirn in Falten, seine höckerige Nase vibrierte; jetzt fühlte er die Provokation. Noch gemäßigt im Ton, aber mit Mühe die Erregung zurückhaltend, sagte er: »Was schwätzen Sie da für einen Unsinn!«
Der Arbeiter verzog sein Gesicht in ein seriöses Erstaunen; seine kleine Gestalt schien sich dabei zu spannen, eine jungenhafte Fröhlichkeit erhellte die arbeitsgrauen Backen, die Augen verbargen seine listigen Absichten nicht, aber der Mund war beherrscht, und ganz ernsthaft sagte Peter: »Es ist wahr! Der hat ihn angesteckt« - er zeigte auf die Grabkappelle des Böhmenkönigs - »der da und die Kommunisten.«
Der Arbeitskollege drehte sich schnell zu dem Wasser um. Das Drahtseil über seinem Kopf begann eben in der Rolle zu singen, der Fährmann stieß drüben ab. Über den Fluss hin grinste der Arbeiter: Jawohl, Peter war zu gebrauchen, der zog sie durch den Kakau, und sie konnten nicht einmal Krach schlagen. Wie der Braune still geworden war! Gegen Witz kam sone Uniform nicht an.
Der Arbeiter sah wiederum einen Flaschenhals vorbeikommen. Halloh, da kamen gleich drei auf einmal! Jetzt fiel ihm auf, dass sie alle verkorkt waren. Eine stieß an die Steine der Landungszunge, hob ihren Bauch höher aus dem Wasser und blieb plötzlich im seichten Ufersand stehen, bespült von kleinen Wellen, aber fest fußend. Der Arbeiter staunte: der Pfropfen auf der Falsche war vollkommen neu, und unter dem Glas steckte - ein langer weißlicher Knäuel wie ein Taschentuch oder eine knittrige Stange von Papier. Er wollte sich vorbeugen, dann dachte er an den Nazi hinter sich. Es war plötzlich eine Vorsicht in ihm, die ihn selbst belustigte. Das Fährschiff trieb heran, er sah das Wasser steigen, die Wellen stießen an die ruhende Flasche, sie wehrte sich vergebens, das Schiff knirschte in den Sand, die Flasche musste zur Seite springen, und schon trug sie wieder der Fluss.
»Nabend«, sagte der Fährmann. Er war ein kräftiger Greis; weiße Stoppeln schimmerten auf einer rosigen Haut, der man die Trinklust anmerkte. Die Hand, die das Seil hielt, war breit und sehnig, die andere hielt er jetzt ausgestreckt, um den Fährlohn zu empfangen. Der erste Arbeiter und Peter legten ihren
Sechser hinein. Der SA-Mann fuhr grüßend an die Mütze: »Dienst«, sagte er; es sollte der Ersatz für die Bezahlung sein.
Der Fährmann ließ ihn ins Schiff springen, aber er examinierte ihn noch einige Augenblicke von oben bis unten; die elegant um den Hintern geschnittenen Hosen, die glänzenden gelben Stiefel, geschnürt bis unter die Kniekehlen, die knappe Jacke und der steife Kragen. Sie spielen Offizier, auf unsere Kosten, dachte er, und schloss die Hand über den zwei Arbeitermünzen. Eine Flasche bullerte an den Bug des Fährkahns.
Der Greis neigte sich zur Seite, erblickte das schaukelnde Glas, sein alter Kopf stand über dem Strom, spiegelte im hellen Wasser dicht neben der angehaltenen Flasche, es war wie ein schneller Gruß, dann griff der Mann mit beiden Händen nach dem Draht und schob den Kahn in die Strömung.
Die Arbeiter saßen in der Mitte, der SA-Mann hatte sich an die Spitze gestellt. In der Pose des Kapitäns schaute er über die im Abendlicht schillernden Fluten. Der Bug des Schiffes schnitt die rötlichen Wellen zu weißem Gekräusel auf, es war ein märchenhaftes Geräusch, als striche eine zärtliche Hand mit Leidenschaft über ein seidenes Kleid. Plötzlich bumste wieder eine Flasche an die Bretter. Der Greis zog den Mund zu einem breiten Lachen auf.
»Was sind das für Flaschen?« fragte der SA-Mann.
Man sah eine größere Anzahl torkelnd wie Betrunkene den Fluss herunterkommen. Ihr aufgeregter Tanz hatte die Komik der Überhast; nicht schnell genug schien die Strömung sie zu tragen, sie stolperten nach vorn und tauchten für Sekunden dann in kleinen Wellenbergen unter.
Der Fährmann zog an seinem Seil und antwortete nicht. Meinetwegen, dachte er, sollst du selber draufkommen, aber nicht durch Matz, den Fährmann.
Der Kahn stieß jetzt an das Ufer. Der braune Soldat sprang als erster aufs Land. Vorsichtig die Kleider schonend, bückte er sich dann zu dem Wasser und ländete eine Flasche. Er zerschlug sie am Schiffspfahl, der zackige Hals blieb in seiner Faust. Die Arbeiter warteten im Schiff die Untersuchung ab. Glassplitter spritzten zu ihnen hinüber, der Fährmann stand auf seinem Brett und sagte immer noch kein Wort. Die Flasche war leer, enttäuscht warf der Soldat den Flaschenrest ins Wasser. Er hat eine Niete erwischt, dachte der Alte.
Der SA-Mann hatte sich wütend umgedreht. Ohne Gruß stieg er den Ufersaum hinauf und schlug den Saumpfad in Richtung zur saarländischen Grenze ein. Als er außer Hörweite gekommen war, schickten sich die Arbeiter an, das Schiff zu verlassen.
»Wart noch«, sagte aber der Alte, vertäute das Boot und griff mit einer jähen geschickten Bewegung ins Wasser. Zwei Flaschen zog er heraus. Er grinste, als seien es schwere Hechte, sah sich noch einmal nach dem Nazi um, der schon tapfer seiner Grenzwache zueilte, und entkorkte eine der Flaschen. Glucksend schlüpfte der Pfropfen aus dem Glashals, der Alte stieß einen Drah hinein, seine Zunge kam vor Erregung vor die lachenden Lippen.
»Da!« sagte er, und die Arbeiter sahen, dass ein graues Papier aus dem Flaschenhals stieg. Wie ein Tier, das sein Futter vor einem gefräßigen Feind zu schützen hat, deckte der Alte das Knäuel noch einmal schnell mit beiden Händen zu und äugte über die linke Schulter nach dem Hitlerrekruten. Beruhigt, den Braunen schon ganz klein in der Tiefe marschieren zu sehen, entfaltete er dann das Knäuel. Der Kopf von Goebbels wurde sichtbar, um ihn brennende Bücher, die fette Nase einer Ölkanne, hinter Goebbels die brennende Kuppel des Reichstags.
Die Arbeiter ergriffen den Rand des Kahns, stützen sich auf und lasen die Unterschrift.
»Es ist die AIZ«, sagte der alte Fährmann. Seine Stimme war leise aber nicht mehr aus Vorsicht; es war, wie wenn Jungens von Polforschern sprechen, oder Konsomolzen vom Reitergeneral Budjonny. »Nehmt sie euch mit«, fuhr in gleicher Ehrfurcht der Alte fort, »es steht drin von der Brandnacht und den Verhaftungen. Hier: Egon-Erwin Kisch - In den Kasematten von Spandau.« Der Alte wischte sorgfältig die Falten aus dem Papier. »Hier!« sagte er und reichte die antifaschistische Illustrierte über den Rand des Schiffes. Er kniff die andere Flasche unter den Arm und stand auf: »Und die ist für mich«, sagte er.
Die Arbeiter sahen ihn mit stummem Verwundern an. Dann stiegen sie die Ufertreppe hinauf. Der Abend sank aus den Wäldern. Vom Tabener Wald her jammerte ein Ave-Glöcklein. Die Männer stapften noch eine Weile der Grenze zu. Dort sitzen sie also doch, dachte Peter und sah in die Wälder der Saar. Und sie arbeiten schon wieder. Und wir sind nicht allein.
Als er den Fluss ansah, schien er ihm viel schöner und breiter,
wie etwas, das man nicht sperren und nicht vernichten konnte, ein sauberer, mächtiger Strom hier nach Deutschland herein.
Flugblätter auf Reisen
Die Aufwartefrau des D-Zuges 102 C Saarbrücken-Köln benutzte den Zollaufenthalt in Serrig, um frische Luft zu schöpfen. Es war ihr verboten im Dienst den Wagen zu verlassen, aber Frau Prüm hatte jene merkwürdige Gleichgültigkeit gegenüber Strafe und Entlassung, die aus der Nachkriegsentlohnung und der Fürsorgepraxis der eben verschiedenen Republik notwendig entspringen musste. Schlecht ging es mit Arbeit, schlecht ging es ohne Arbeit. Schuften musste man immer, und ob es jetzt zu Hause war mit Stempelgeld oder hier in den rollenden Häuschen, das war schon ganz einerlei.
Frau Prüm ging an den Ausschank auf den Bahnsteig. Sie sah dort Männer, die eilig Bier in sich gossen. Ein Becher würde nichts schaden, dachte sie. Aber das trug der Etat nicht. Zollbeamten gingen an ihr vorbei. Sie zupfte ihre graue Schürze zurecht. Der stramme Wachtmeister Fasian grüßte kollegial. »Gut aufgestanden heute«, rief sie ihm lachend nach und suchte ihre Zufriedenheit mit dem Schankmädchen zu teilen. Sie schmunzelte nach hinten zu der arbeitenden Kleinen.
»Er hat gestern eine Auszeichnung bekommen«, sagte das Mädchen und zeigte mit dem Finger dem Uniformierten nach. »Er hat einen Spion erwischt.«
Die Männer mit den Biergläsern in den Händen horchten auf bei der sensationellen Nachricht.
»Es gibt jetzt 'ne Masse hier an der Grenze«, fuhr das Mädchen fort. »Der von gestern wollte ihnen weglaufen. Er hat ihn aber gekriegt.« Sie winkte wieder mit dem Kopf nach dem Mann. »Dann ist er nochmals weg, und da haben sie ihn erschossen. Es war ein Kommunist, schon ein älterer Mann. Er liegt oben im Kirchhofshäuschen.«
Frau Prüms Gesicht verdüsterte sich plötzlich, sie sah dem redenden Mädchen in den aufgeregt schwätzenden Mund. Sie zählte die Goldzähne dort: fünf Stück und eine Krone. Das ist anscheinend die Wirtstochter, dachte sie. Bis jetzt immer vernünftig. Aber nun auf einmal eine Quatschsuse. Tut sich wichtig mit einem armen toten Kerl. Ein älterer Mann war's, dacht Frau
Prüm und erschrak. Er war vielleicht so alt wie ich. So was schießen sie gleich über den Haufen? Als wenn ein Kommunist unbedingt schlecht sein müsste.
Die Männer stellten die geleerten Gläser auf den Schanktisch. Der Zeiger der Bahnsteiguhr zuckte auf einen neuen Minutenstrich. Es ist Zeit, dachte Frau Prüm und blieb doch an dem Fenster des Ausschanks noch stehen. Die Leiche des Erschossenen sah sie liegen, hier in der Nähe in der Kapelle, um die hundert Grabkreuze standen. Ein grauer Kopf, Blut auf einer Decke, Fliegen auf den Flecken und ganz unheimliche Stille ringsum.
Frau Prüm las in ihrem kleinen Abteil viel Kriminalromane; sie wusste, dass Kommissare mit großen Photoapparaten solche Leichen aufnahmen, sobald man sie gefunden. Sie liebte die Stellen, wenn die Kommissare kamen und selbst einen Augenblick entsetzt zurückprallten. Aber hier war es doch etwas ganz anderes. Frau Prüm kaute an ihrem Zeigefinger und stierte auf den Sand des Bahnsteiges. Sie wusste nicht, warum ihr dieser Tod nicht gefiel. Sie hatte das Gefühl, ein Verwandter läge da, dicht auf der Grenze lag er. Plötzlich kam ihr zum Bewusstsein, dass hier eine Kriegsgrenze war; es war gar kein Frieden, der Bahnsteig lag in der Sonne und die Männer hatten Bier getrunken. Aber es war Krieg. Man erschießt ältere Männer, Arbeiter in meinem Alter, dachte Frau Prüm.
Sie hörte die Pfeife des Stationsvorstehers und sprang mit zwei Schritten nach vorn zu der offenen Tür des nächsten Waggons. Jetzt muss ich die Handtücher kontrollieren, dachte sie abwesend. Nach der Grenze, wenn keiner mehr den Zoll fürchtete, fingen die Leute immer wieder an, die kleinen Tücher zu klauen.
Sie griff sich an den Haltern des Waggons in die Höhe, der Zug schleifte langsam den Bahnsteig entlang, die Bude glitt vorbei, aber der Tote blieb in den Augen der Frau Prüm. Sie dachte: der Mann war ein Familienvater, und klinkte die Tür zu dem nächsten Abort auf.
Mit fachmännischem Blick erkannte sie, dass alles in Ordnung war; der Klosettdeckel war geschlossen, der Boden trocken, das Waschwasser floss, als die den Hebel drückte, und die Handtücher füllten den kleinen, weißgestrichenen Eisenkasten bis zum oberen Rand. Sie begann die Tücher zu zählen. Als sie beim vierten angekommen war, fühlte sie Papier unter den groben Mustern des gefalteten Gerstenkorntuches.
Vorbereitet wie sie war, schöpfte sie sofort Verdacht und schloss die Tür hinter sich.
Nach fünf Minuten erst verließ sie die Zelle. Ein glückliches Lachen hing um ihren Mund, aber im Korridor besann sie sich auf ein mürrisches Gesicht. Sie schlich auf den ausgetretenen Pantoffeln, das Wischtuch in der Faust, den Gang entlang, ein unfreundliches Gespenst, das keinen Blick zu haben schien, weder für die Menschen hinter den Glasscheiben, noch für die Landschaft, die rechts von ihr wegglitt. Sie stieß vorwärts wie ein Tier, das auf etwas Böses sinnt, wie ein hurmorloser alter schmutziger Rachegeist; und doch war sie glücklich mit ihrem Geheimnis, das unter ihren Handtüchern verborgen lag. So bog sie um die Wölbung am Ende des nächsten Korridors und stieß die Tür der Toilette auf. Wieder sperrte sie sich ein, wieder riss sie das Schränkchen auf und wieder knisterten die Handtücher nach Papier.
Frau Prüm zog das Fenster hoch. Saarburg näherte sich. Da kommen Braune, dachte sie; Braune, die den Alten erschossen haben und noch hundert andere. Eben hatte sie es gelesen. Eins der Flugblätter steckte in ihrer Unterhose. Dutzende der Flugblätter fuhren da mit dem Zug über die Grenze. In Saarbrücken musste man sie eingeführt haben. Keiner vermutete sie zwischen den sauberen weißen Lappen. Gewiss nahm sie jemand in Trier aus dem Zug. Frau Prüm bewunderte den unbekannten Täter. Er hatte die oberen Tücher, die bis zur Grenze eventuell gebraucht wurden, ohne Blätter gelassen. Das war geschickt, sie fühlte in sich das Knistern einer kriminellen Spannung. Ein Roman ereignete sich in ihrem Zug und sie, die Frau Prüm, spielte mit. Sie ging in ihr Dienstabteil und zog die Vorhänge vor das schmale Fenster. Eine Sekunde kam ihr der Gedanke, dass man sie verdächtigen könne, aber es war eine Verwandlung vorgegangen mit der Bedienerin. Sie saß lächelnd dort auf der Holzbank und war nicht mehr die gewöhnliche Leserin von Wallace.
Die anklagenden Blätter, die man da aus der Saar ins Reich schickte, der Tote, von dem das Mädchen so gedankenlos erzählt hatte - Frau Prüm merkte, wie sie plötzlich ganz anders über diese Geschichte dachte. Es kam ihr vor, als sei sie die Spionin, die auf einer Lokomotive ins feindliche Land fuhr. Hinter ihr, in dem Land, das der Zug verlassen hatte, war eine Armee, und die Armee schickte Botschaften an die andere jenseits der Grenze. Frau Prüm ahnte dies alles mehr, als sie es hätte ausdrücken können, aber in jedem Fall verscheuchte es ihr völlig jede Angst vor der Entdeckung. Sie war eine Illegale geworden.
Sie saß in ihrem Abteil und lachte nachdenklich vor sich hin. Der Zug bremste und stand. Die Schaffner riefen: »Saarburg!« Türen flogen krachend auf. Schlürfende Schritte. Harte Stiefel.
Die SA war im Zug. Sie hörte sie vorbeigehen und wusste, die Blätter sind nicht entdeckt.
Wohlig kam ein Gefühl der Rache in ihr auf. Noch einmal dachte sie an den erschossenen Arbeiter, der so alt war wie sie.
Mai-Andacht
Lisbeth Biesel huschte sehr eilig aus ihrem Laden. Sie hatte den linken Arm noch nicht ganz im Mantel. »Na Sie haben aber pressiert«, sagte der junge Felsenthal und empfing dafür sofort einen verwarnenden Blick der Mutter: »Sie geht doch in die Abendandacht - was kümmerst du dich.«
Lisbeth war schon auf der Straße. Kirchenglocken riefen durch die Häuserschlucht. Das Mädchen hörte sie und beschleunigte den Gang. Das versäumte sie nun auf keinen Fall, die Maiandachten vor der schönen Frau im blauen Mantel. Hell stand die Maria da, Kerzen waren wie lauter lustige Stimmen um sie herum und Blumen in Guirlanden und Sträußen. Hunderte hatten gebracht, was die Gärten schon gaben.
Lisbeth zupfte noch an ihrem kleinen Sträußchen herum; saubere weiße Osterblumen mit dem gelben Stern in der Mitte.
Lisbeth sah schon die Kirche. Viele Frauen kamen aus den Gassen herbei. Noch flimmerte der Frühlingstag in der Luft; die Kirchentür stand schwarz geöffnet, aber drinnen war das Licht, drinnen war das junge Jahr und war so bräutlich wie die Wiesen um die Stadt, wie der Krokus in den Beeten des Vorgartens am Bürgermeisteramt, war so neu wie die ersten klebrigen Blätter an den Kastanienbäumen und so ungewiss, selig ungewiss wie das andere - Lisbeth errötete, als sie soweit gekommen war mit ihren Gedanken. Dicht vor der Kirchentür hatte sich das Herz mit dem wahren Namen gemeldet, Werner trat neben das kleine Ladenmädchen. Sie fühlte, wie er bei ihr war, bis an die Treppe mitging. Und dort besann sie sich; denn Werner
folgte nicht mehr. Ihr Erröten wurde tiefer und wurde ängstlich, sie spürte, dass sie recht empfunden hatte: Werner würde nur bis zu dieser Treppe mitgehen, keinen Schritt weiter. Er war ein Roter. Er glaubte nichts. Es war schrecklich, aber deshalb musste man doch gerade beten, ihn der Mutter Gottes empfehlen. Vielleicht dass sie ein Mittel wusste. In diesem ihrem Ehrenmonat schlug sie nicht so leicht etwas ab.
Lisbeth sah nicht, dass Werner tatsächlich in der Nähe des Hauptportals stand und sie ankommen sah. Sie trippelte schnell die Treppe des Seitenportals hinauf und trat in den dunklen Raum. Bänke sperrten steif die Gänge. Aber in der Tiefe einer Seitennische flimmerte helles Licht.
Lisbeth umschritt die dunklen Hindernisse, beugte vor der roten Ampel des Mittelschiffs das Knie und ging dann auf den Zehenspitzen der Helligkeit und dem Gebet zu, das von der Seite kam.
»Gegrüßet seist du Maria«, hörte sie und betete leise mit, »du bist voll der Gnade«, Ehrfurcht ließ sie anhalten in ihrem Schleichschritt, »der Herr ist mit dir«, sie ging langsam weiter, »du bist gebenedeit unter den Weibern«, sie flüsterte die bewundernden Verse dem Priester nach, und jetzt sprach sie ungeduldig laut: »und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus!«
Der Priester setzte noch ein Gesetz hinzu: »den du zu Elisabeth getragen hast«, dann überließ er den Abschluss des Aves der frommen Versammlung; die antwortete etwas düsterer, mit vielen Stimmen des Flehens verstärkend: »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, Amen!«
Lisbeth stimmte erlöst in das Chorgebet ein; sie war jetzt um die letzte Säule gebogen und sah die Nische mit dem Bild der hohen Fürbitterin, sah den Priester im weißen Chorhemd an seinem Pult knieen, sah den Messknaben und das Räucherfass, das er mit leisen Bewegungen in Glut hielt.
Inbrünstig wiederholte sie mit den ungefähr vierzig Menschen, die da knieten, das Bittgebet, aber sie mischte schon in die ersten Worte, mit den ersten heißen Blicken, die sie zu dem Heiligenbild schickte, ihre großen und gar nicht allgemeinen Bitten hinein. Er ist ein Roter, betete sie. Er hat es mir gesagt, gleich am ersten Abend, als wir uns getroffen haben. Als er mir alles erklärte. Er hat recht gehabt. Man darf die Juden nicht
verfolgen, nicht wahr. Und er hat auch recht, dass die Nazis immerzu lügen. Weil sie die großen Warenhäuser gar nicht zugemacht haben. Und der Tietz und der Wertheim, die bleiben auch wieder groß, und keiner tut ihnen was. Nur die Kleinen schikanieren sie. Und das ist überhaupt alles gelogen. »Bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, Amen.« Und das alles will er nicht. Er will Gerechtigkeit in der Welt. Bestimmt ist er nicht schlecht. Deshalb habe ich ihn auch gern. Und ich meine, er glaubt nur an nichts, weil sie ihm gesagt haben, das wäre altmodisch und nichts für Männer.
Lisbeth hob jetzt den Blick zu dem Gnadenbild: sie hatte bis dahin gestanden und nur gefühlt, wie das Licht der hundert Kerzen ihr heißes Gesicht überflutete. Nun kniete sie nieder auf den harten Mosaikboden, als wenn es ungehörig wäre, länger so viel zu erbitten, ohne seine ganze Demut bekundet zu haben.
Sie forschte im Gesicht der weißen Figur, ging von der glitzernden Krone, die im echten Blondhaar saß, zu dem tiefen Schwarz der Augen und hinab zu dem Lächeln des blassroten Mundes. Sie dachte an den Frühling draußen. Birkenbäume müssten neben der Figur stehen. Im Freien müsste sie lachen. Die ganze Stadt müsste sehen, wie schön sie war und wie man froh wurde beim Gebet an sie.
Lisbeth schwärmte, aber es war zugleich ein Buhlen um die Gunst der heiligen Frau; je höher sie die Frau setzte, desto eher hatten die Wünsche Aussicht, erfüllt zu werden. Lisbeth musste viele Worte von Werner übertönen mit ihrem lebenden Schwall. »Aberglauben«, hörte sie ihn sagen. »Götzendienst, Fetisch«, so hatte er gesagt. Lisbeth betete lauter als alle Nachbarn.
Ihre Gedanken gingen hastig neben den zitternden Bitten. Götzendienst! Ja, das war wirklich ein Entschuldigungsgrund für Werner. Aber gegen die Nazis. Gestern am 2. Mai hatte er von Berlin erzählt, hatte von dem Götzen gesprochen. Von dem Götzen Adolf. Ob das vielleicht ein Katholik mitmachen könne? Wie er da auf dem großen Tempelhoferfeld sich eine Tribüne bauen ließ und dann eine Million Menschen hingeschickt würden und dann kämen auf einmal hundert Scheinwerfer und richteten sich alle aus der Nacht auf die Tribüne, und da wäre nichts anderes zu sehen als der eine Mann? Jawohl, sagte Lisbeth und nickte der Madonna zu. So genau passt Werner auf.
Er ist gar nicht ungläubig. Er war so böse, dass sie den einen Mann da anbeteten, und es ist doch auch eine Schande, dass sie ihn so verehren. Wo er nur Hass predigt, wie Werner sagt.
Lisbeth spürte, dass ihr Gesicht mit der Madonna einen günstigen Ausweg fand. Werner hatte recht, wenn man an diesen seinen Spruch von gestern dachte. Er war ja in Wirklichkeit fromm. Er ging nur nicht in die Kirche. Das war alles. Aber die Mutter Gottes würde ihn nun wieder zurückholen. Ich gelobe dir, betete Lisbeth, dass ich jetzt jeden Sonntag an ihm arbeiten werde, bis er mitkommt. Und wenn er’s zuerst nur mir zuliebe macht. Aber ein Roter wird er bleiben, denn das lässt er sich nicht nehmen.
Sie hob wieder die Augen über die dunklen Köpfe der Versammlung hin. Wie mild floss das Licht, wie zart deckten die Blumensträuße die Füße der Heiligen! Wie sauber war das alles, wie ein Gedicht. Und nun fiel ihr wieder der Mann vom Tempelhofer Feld ein. Das verzerrte Gesicht, die Tränensäcke unter den Augen, die Bürste über dem verbitterten Mund und die kleinen Fäuste, die er in die Nacht hinausgestreckt hatte. Wahrhaftig, es war ein Götze! Ein schreiender Bosnickel, den man fast nicht erkannte, so groß war die Tribüne um ihn herum. Und das alles im Monat Mai, im Muttergottesmonat. Wo es Blumen gibt und die Nische da. Fromm wurde man in diesem Monat, machte seinen Dienst besser, sprach freundlicher mit den Menschen. Und alles war anders. Die Nacht da in Tempelhof aber, das war nicht katholisch. Werner hatte recht. »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, Amen.«
Das Mädchen sang die Verse mit glücklicher Stimme nach. Noch wenige Gesetze, dann war die Andacht zu Ende. Dann trat sie an die Heilige heran und legte ihren kleinen Strauß zu all dem anderen Blütenduft, neigte sich noch einmal vor der hellen, lächelnden Figur und ging glücklich zum Ausgang. Die Augen voll Licht ging sie zurück durch das stille, dunkle Mittelschiff, behutsam die Schritte dämpfend, um nicht zu schnell die harte Feierlichkeit der Stunde zu zerstören.
Aber wenige Schritte vor dem Haupteingang zerriss ein Schrei von der Straße die Poesie des schwingenden Schweigens. Lisbeth achtete beim ersten Mal noch nicht darauf, dann als sie die Tür griff, um in den dämmrigen Abend zu treten, verstand sie jäh erschreckend, wer dicht vor der Kirche vorbeizog.
»Heil Hitler«, schrie ein Trupp junger Burschen im weißen Hemd. Sie streckten dabei die Hälse nach der Kirche hin. Lisbeth zog die Schultern hoch, das war zu plötzlich da und war zu fremd. Fast schmerzte es körperlich; sie sah, dass einer der Burschen jemand die Zunge herausstreckte, fast sah es aus, als wenn er sie verhöhnen wollte. Aber Lisbeth blieb nicht lange in diesem Zweifel, denn jetzt sprang eine zu gut bekannte Figur aus dem Winkel des Hauptportals, sauste auf die Gruppe zu und schlug dem billigen Spötter mitten ins Gesicht: Werner! Wollte er mich verteidigen? Meinte er, sie hätten mich gehöhnt? Aber ich war ja so weit weg, so fast bei den Heiligen.
Mit einem verzeihenden Lächeln stand das Mädchen an der Kirchentür, während der Geliebte drüben dicht bedrängt wurde. Sie merkte es erst, als das Geheul stärker wurde und sie Werner nicht mehr genau erkennen konnte. Ihr liebendes Herz alarmierte sie, heftig hämmerte plötzlich das Blut, die Wirklichkeit schrie von der Straße die himmlische Sphärenmusik nieder. Sie rührte dennoch keinen Fuß, stand mit dem noch nicht eingewickelten Rosenkranz in der sich krampfenden Rechten; das duftige Pastell der Andacht verwischte, eine graue widerliche Prügelszene trat in ihre Augen, und eine ganz simple Angst um den geliebten Jungen schob nun alle anderen Gefühle weg.
Jetzt sah sie Werner wieder; er hatte sich eine Gasse geschlagen. Menschen liefen aus allen Läden herbei. Sie sah die Szene wie ein Theater an, wie einen Spuk, mit dem der Teufel sie scheuchen wollte, und wusste doch, wie echt die Gefahr war, in der sich Werner befand. Er wird immer in Schlägereien drin stecken, kam ihr gefährlich klar zum Bewusstsein.
Die Gruppe flog auseinander. Lisbeth sah, wie einige der Nazis in die Tiefe der Straße deuteten, wo ein Landjäger heraufkam. Aber Werner war nicht gestört dadurch. Er hatte die Faust schon wieder oben und drosch nach allen Seiten. Als der Landjäger nah herankam, war er fast allein mit einem der Nazis.
Lisbeth konnte endlich sich bewegen. Die Lähmung wich, als die Uniform vor Werner stand; jetzt hatte sie zu sagen, wie man ihn provoziert hatte, mit Zungeherausstecken und so weiter. Sie lief die Treppe hinab.
Aus allen Ecken schlichen die geflüchteten Nazis wieder herbei. Die Uniform schien sie sicher zu machen.
Lisbeth näherte sich der Gruppe. Der Landjäger hatte das Buch schon aus der Gesäßtasche gezogen. »Guten Abend«, sagte Lisbeth und trat dicht an den Landjäger heran. Sie war stolz, dass sie vor Werner beweisen konnte, wie sie ihm recht gab. Von denen da brauchte er sich nichts bieten zu lassen. Ganz glücklich war sie in ihrem kühnen Entschluss:
»Ich habe alles gesehen«, sagte sie, »man hat ihn herausgefordert.«
Weiter kam sie nicht. Werners Hand hatte sie am Arm gegriffen, nicht gerade schmerzhaft, aber doch hart und erschreckend bestimmt:
»Hau ab, Betschwester, hier reden jetzt Männer.«
Sie versuchte nicht, gegen seinen Griff anzugehen: Tränen stiegen ihr in die Kehle; ganz hilflos starrten ihre Augen ihn an. Er war ihr fremd, ungeheuer fremd. Warum packte er sie wie einen unbekannten Menschen? Sie spürte, wie sie ihm das Recht gab, sie so fest anzupacken; einen Augenblick wollte sie ihm etwas Liebes sagen. Dann verstand sie wieder, dass sie noch gar nicht wusste, was das für ein Mensch war. Wie ein Fels kam das plötzlich aus der Erde, ein Fels zwischen ihr, der Kirche da, der weichen hellen Madonnenfigur und dem feisten Landjäger mit den brüllenden Jungens, ein Fels zwischen allem, und der Fels war schließlich Werner selbst, der sie so weggeschoben hatte, dass sie jetzt noch seinen Griff am Oberarm spürte.
Sie machte nur einen kleinen Schritt auf Werner zu; ich verstehe dich ja, wollte sie sagen; ganz demütig wollte sie sein. Du kannst ja rot bleiben, wollte sie ihm zugeben. Aber er hielt sie mit einem Blick aus zusammengekniffenen Augen fest; dann sagte er endgültig:
»Solang du in die Kirche läufst, wirst du nichts kapieren.«
Der Landjäger steckte sein Buch schroff in die Tasche und fasste nach der Säbelscheide.
»Ihr kommt jetzt alle mit«, bollerte er und stieß Werner an die Knie.
Warum schlägt er nur nach ihm, dachte Lisbeth und sah, wie sie ihn abführten.
7.6. Viermächtepakt.
12.6. Hugenberg verrät Kriegspläne Hitlers.
21.6. Deutschnationale Kampfringe verboten.
22.6. SPD verboten.
23.6. Christliche Gewerkschaften aufgelöst -
Emigranten-Kinderheime an der Saar-
Solidaritätsküchen -
Verstärkte illegale Arbeit.
Versammlung im Walde
Im Wald bei Ludweiler nahe dem seichten Jakobsteich lagerten sie. Sechs Männer und eine Frau. Gewürz des verwesenden Altlaubs mischte sich mit dem Honigstaub der neuen Buchenblüten. Vogelgesang umlockte brütende Meisen. Sonne durchleuchtete den jungen Blätterflaum der Kronen. Ein Specht schlug den harten Schnabel in die wurmreichen Rinden, von den Wiesen brüllten behäbig die weidenden Kühe. Die sechs Männer saßen am Boden des Waldes und hörten der jungen Frau zu, die in ihrem Kreis hockte.
»Genossen«, sagte sie, »ich habe mir das hier aufgeschrieben, also da muss ich sagen, wir wollen uns nichts vorlügen. Wir wissen ja Bescheid von drüben. Es hat gar keinen Zweck, dass wir uns belügen, ich will auch nicht hochmütig sein und sagen, dass die Genossen bisher an der Saar versagt hätten, aber mir ist da was aufgefallen zum Beispiel in X. Da hat der Genosse gesagt, eine RH-Leitung sei nicht vorhanden, das macht alles eine 60jährige Genossin. Dasselbe in F., wo der Pol-Leiter die RH macht, und der ist dabei noch Org und Kassierer. Das ist ein Hauptfehler, weil so ein Genosse gut ist, aber verbraucht wird und dann schlecht arbeitet. Wir brauchen uns da ja nichts vorzumachen. Soll ja öfters vorgekommen sein, dass einer alles und die anderen gar nichts gemacht haben. Also das war Numero 1.
»Und zum zweiten Punkt, das wäre die Betriebsarbeit. Da ist nun viel zu sagen: Also da ist D., wo so prima Ausbeuter sitzen. Da sollen kürzlich Proleten im Gaskessel umgekommen sein, nur weil man zu geizig war, während der Reparaturzeit einen
Ventilator hineinzustellen. So was kann doch ein Schlager werden, Genossen, da muss doch die ganze Stadt tagelang davon reden, und was ist geschehen. Fragezeichen?
»Dann N. Zweitausend Arbeiter, und wie funktioniert die Zelle? Ich will gleich bemerken, dass hier meine Wenigkeit errötet, denn es handelt sich in der Hauptsache um Frauen. Wisst ihr, die haben da noch Begriffe wie im Mittelalter, die Frauen betrachten den Lohn als geschenkt, weil sie alle noch 'nen Garten haben, und hier liegt sowieso der Hase im Pfeffer: die zweispaltige Wirtschaft an der Saar!
»Ehe wir das Problem nicht lösen, kriegen wir die Saarproleten nicht in unser Haus. Ich schlage vor, dass wir darüber gesondert beraten. Das ist nämlich ein sehr schwieriges Problem. Auch marxistisch gesehen: weil son Stück Garten nämlich aus dem Proleten eine Art Grundbesitzer macht und es nicht mehr das ist, was Karl Marx gefordert hat, dass er nichts zu verlieren hat, auch wenn er sich in Wirklichkeit kaputt schafft für die Pachtgroschen. Und außerdem wird er nie klassenbewußt, weil er nicht genug die Ausbeutung sieht, sondern sich über den Lohn freut, als eine angenehme Zugabe zu dem Kohl. Darüber müsste man extra reden, meine ich!«
Sie hatte während der Rede einen alten Zweig vor sich in das Laub gesteckt und die Erde gelockert, ohne sie hochzuschleudern. Die Männer waren dem Spiel ihrer Hände gefolgt, aufmerksamer noch folgten sie ihrer Kritik. Nun sahen sie auf und begegneten den festen hellen Augen.
Der Genosse Ernst hielt den Blick nicht aus. Schon bei Beginn der Konferenz unter dem offenen Himmel hatte er gemerkt, warum er sich so besonders auf dieses Treffen gefreut hatte. Mensch, war hier nicht schon Sowjetdeutschland? Die Frau hatte genau so viel zu sagen wie der Mann, es machte auch nichts aus, dass man eins auf die Nase gekriegt hatte, es ging an die Eroberung eines guten Winkels von Deutschland.
Als Grete mit dem Instrukteur Fritz in den Bäumen erschienen war, einem kräftigen jüdischen Proleten in gelbem Sweater, hatte Ernst einen Stich gespürt, da unten wo die Lungenzüge der Zigarette kitzelten. Aber dann hatte sie ihn besonders freundlich begrüßt und mit lachend geöffnetem Gesicht vor ihm gestanden: »Na dann wollen wir uns mal das Fell abziehen.« Jawohl, das Mädchen war auf dem Teppich. Da wusste man, dass man die Bruchbude doch noch schmeißen würde.
Ernst hielt das unrasierte Kinn in der breiten Hand und wartete, dass Grete weitersprach. Ich hätte mir auch den Bart schaben können, dachte er - da war Gretes Stimme wieder da.
»Ich komme dann auf einen speziellen Ort da in der Nordecke zu sprechen. Also da war ich selber. Da müssen die Mädels auch bei diesem Plättchenmacher nach der Arbeit noch die Fabrik sauber fegen, ohne dass er ein Pfennig Überstunde zahlt. Und das tun sie denn auch und denken sich gar nichts dabei. Wenn sie umfallen, wie die Fliegen, dann haben sie nur Angst, dass sie den Platz verlieren. Und sonntags laufen sie in die Kirche zu einem Pastor, der auch bei den Negern ministrieren könnte. Der verschnupft sogar seine Haute volée, auch die Bourgeois ziehen die Nase krumm über seine primitiven Predigten und sogar eine Lehrerin hab ich sagen hören, der passe zu den Bauern, aber nicht in die Stadt. Aber unsere Proletenmädchen laufen brav in die Messe, und ist eine von ihnen mal dick gemacht, dann heult sie und hat nur Angst vor dem Pfarrhaus. Ja, so sind sie da unten in der feudalen Ecke. Und die Genossen lassen ihre Gören manchmal auch noch zur Kommunion gehen, weil es so'n schönes Fest ist. Sie denken, sie sind ausgestoßen aus der Menschheit! - schöne Menschheit! -, wenn ihre Bammsen nicht im weißen Schleier durch die Stadt laufen dürfen, und da halten sie fest dran, wenn sie auch sonst schon verstanden haben, wo der Klassenfeind steht.«
Grete machte eine Pause; es schien ihr, sie hätte den Faden verloren, die Baracken in jener Stadt fielen ihr ein; Elendshütten, überall standen sie vor den Saarstädten, so aneinandergepresst, dass die Not durch die Wände von einem Loch zum anderen sich durchdrückte; dass Hass aus der Not wurde; die Leute lagen immer im Streit und vergaßen zu oft, dass sie lieber den Streit vor dem Rathaus führen sollten, dass sie lieber das Pfarrhaus mit den ungezählten Zimmern sich ansehen sollten, die Villen der Landräte, dass sie ziehen müssten vor die Villa ihrer Fabrikanten, vor das Sprechzimmer ihrer Kreisärzte, die sie nicht wegschafften aus ihren Typhushöhlen.
Grete erinnerte sich an den Kommunionschleier, den sie an einer Zimmerwand der Baracken hatte hängen sehen. Die Arbeiter wollten nicht zurückstehen hinter den Spießern, sie waren angefault von kleinbürgerlichem Ehrgeiz und ehrten den Feind, der sie betrog und verachtete.
Jetzt hatte sie den Faden wieder: »In der Gegend da unten, in
Feudal-Saarabien muss man bei der Religion anfangen. Natürlich nicht mit dem Holzhammer auf den Kopf. Aber mit der richtigen Klassenmoral. An ihren kleinen Schmerzen muss man sie kriegen. Zum Beispiel an der Ehe. Wo die Kirche sie zwiebelt und ihre Not noch vergrößert. Ich glaube, dass man da mit sexueller Aufklärung eine Masse machen kann. Da drückt sie nämlich alle der Schuh. Weil die Männer oft genug noch brutal sind, die nichts anderes im Kopf haben, und die Weiber sitzen dann da mit 'nem Haufen Würmer und haben die Arbeit damit.
»Ich könnte noch viel sagen, Genossen. Aber ihr habt ja schon beraten, dass die Zellenarbeit verschärft werden soll. Und da hab ich denn nur eins noch zu sagen. Ausdrücke wie in dem einen Bericht, also ich meine »aussichtslose Lage der Partei« sollte man gar nicht über die Lippen bringen. So was sagt kein richtiger Genosse. Das ist hier nicht rosig an der Saar. Das ist ein schweres Gebiet. Vielleicht kann man auch sagen, dass manche hier geschlafen haben oder aus der Partei einen Gesangverein gemacht haben. Aber es sind die schlechtesten Proleten nicht. Menschenskind, was sind da für Kerle drunter, und was kann man alles mit den Frauen anstellen! Ich habe die Leute in den vier Wochen richtig gerne gekriegt, und nun müssen wir rangehen und ihnen helfen. Und bei den Frauen müsst ihr mich alle sehr unterstützen - ich sage das mit guter Absicht zum Schluss: es muss nämlich aufhören, dass man die Frauen an der Saar nicht als gleichberechtigte Genossen ansieht. Drüben im Reich haben sie es genug bewiesen, ihr könnt alle ein Liedchen davon singen, auch als der Adolf schon da war, nicht wahr. Also, das wär's, was ich sagen wollte.«
Grete schwieg; ein breiter Sonnenfleck fiel aus dem Hochwald auf ihr Gesicht; sie legte den Kopf in den Nacken und blinzelte in das Licht. Ob die Männer den letzten Hieb verstanden hatten? Dann sollten sie beweisen, dass sie nicht mehr rückständig waren.
»Die Genossin«, sagte eine Stimme - Grete ließ den Kopf im Nacken und sah in das blendende Himmelsloch der Baumkrone -, »hat wichtige Fragen angeschnitten. Ick kann nur sagen, dass wir 'ne Masse von der Genossin Grete lernen können.« Mehr sagte die Stimme nicht. Man schwieg.
Das ist Franz, erkannte Grete. Der kann organisieren, dachte sie. Hat aber noch keine theoretische Übersicht.
Eine andere Stimme brach das Schweigen. Grete löste den Ellenbogen von der Erde und legte sich rückwärts.
»Ich verlese dann nochmals«, sagte die neue Stimme, »die Bezirke und denke, dass wir mit den wöchentlichen Berichten jetzt aufhören.«
Er ist auch gegen diese Überorganisation, ganz recht, dachte Grete, es genügt alle 14 Tage, wollte sie sagen, aber sie war mit einem Mal zu bequem, noch einmal einzugreifen. Sie hatte das Gefühl, ihre Gedanken gut gesagt zu haben. Die Sonne füllte ihre Augenhöhlen mit Wärme, spannte die Haut ihrer Backen und trocknete die vollen Lippen. Sie atmete tief. Sie hatte Lust plötzlich zu singen, da oben in den Wald hinein, den roten Wedding oder einen Vers von Weinert. Das einzige Gute, dachte sie, dieser Banditen-Revolution ist, dass sie im Frühling angefangen haben. Da hat man gleich alle neue Kraft, gegen sie zu kämpfen.
»Walther«, sagte die Stimme des Diskussionsleiters, »bleibt in L. Gemeinderatsarbeit mehr beeinflussen, aber auch allgemein schulen. Dazu dringend Gewerkschaftsfragen. Kinders, die CGTU muss wachsen!
Emil geht nach K. Franz bekommt W., weil der die KPO-Fragen kennt. Die Renegaten dort sind nur zu bekämpfen, wenn man zu den Proleten selber geht. Rebellion von unten her. Diese Sektierer müssen ausgemerzt werden. Heute heftiger denn je. Idiotisch! Den Proleten in dieser gefährlichen Zeit von einer neuen Partei zu reden, verbrecherisch! Übrigens Vorsicht mit dem Genossen Gemeindevorsteher. Der Mann ist willig, aber lasch; das kann leicht ein Unglück werden sonst. Energisch sein!
Alfred hat St. Wendel. Wir müssen in dem Eisenbahnausbesserungswerk noch mehr Einfluss haben. Dreitausend Mann Belegschaft, was könnte daraus alles gemacht werden! Der Kursus >Was wollen die Kommunisten ist eine prima Idee. Ich bin dafür, dass Alfred ihn selber hält. Mit dem häufigen Wechsel des Referenten ist das nichts.«
Grete ließ sich jetzt langsam ganz auf den Waldboden zurückgleiten; es war disziplinlos während des Schlussworts, aber die Umgebung, das Laub, die Stämme, das Licht machten es ihr leicht. Und hingestreckt hörte sie nun diese weiche und doch so selbstbewusste Stimme.
»Im Bezirk S. muss man sich mehr um die Massenorganisationen kümmern. Es ist richtig, was Fritz gesagt hat: Rote Hilfe und IAH haben verschiedene Arbeitsgebiete, auch wenn sie sich oft berühren. Zänkereien sind da konterrevolutionär. Wenn eine Neidkonkurrenz auftritt, so soll man sie gefälligst in einen sozialistischen Wettbewerb umwandeln.«
Wie gut er es anpackt, dachte Grete. Manchmal begreift man es nicht, dass wir nicht jetzt schon gesiegt haben, dass dieser Januar noch kommen musste.
»Wir werden die Saar erobern«, sagte die Stimme von Fritz. Grete fühlte das warme, feuchte Laub an ihrer Backe. Ich werde ihn ansprechen, dachte sie, und ihm sagen, dass ich ihn gern habe. Weiß ich was morgen ist. Im Gegenteil, besser arbeiten werde ich, wenn ich öfter mit ihm zusammen bin.
Der schüchterne Ernst saß dicht neben Grete und betrachtete ihre Beine. Ich weiß nicht, warum ich bei dem Mädel keinen Mut habe, sagte er sich, bewundernd und wehmütig.
»Die Genossin hat recht«, fuhr Fritz fort. Grete wollte sich aufrichten, da man von ihr sprach, aber eine Welle von warmem Glücksgefühl hielt sie magnetisch auf dem Laubboden fest.
»Wir müssen uns hier besonders an die Proletenfrauen wenden. Ich habe mit vielen gesprochen; sie sind kuragiert, sind gar nicht dumm, auch wenn viele aus Gewohnheit und so noch in die Kirche laufen. Sie haben auch das Maul auf dem rechten Fleck. Sie können den Männern viel Mut machen. Ob es jetzt gegen den Divisionär der Grube ist, gegen den Röchling, gegen die Nazis oder gegen den Landjäger. Wenn die Frauen und die Betriebe richtig mobilisiert werden, ist ein großes Stück geschafft. Dann wird die Saar rot.« Grete blieb am Boden liegen. Wenn’s nur schon soweit wäre, dachte sie.
Fritz sprang aus dem Sitz in die Höhe, klopfte sich das Laub von den Hosen und deutete an, dass die Konferenz zu Ende sei. Er sah nun auf Grete hinab und nickte ihr zu.
Sie verkniff sich das Lächeln, sein Winken war wie eine Antwort auf ihre stillen Gedanken.
Wenn meine Hilde aus dem Kahn wäre, dachte Fritz, könnte sie mit der Grete zusammenarbeiten. Das wäre ein gutes Gespann. Und mir wäre auch besser, schloss er seine Betrachtung. Seit dem Brief, der Hildes Verhaftung gemeldet, erinnerte ihn jede Frau schmerzlich und lähmend nur noch an Hilde.
Ich müsste ihn jetzt aufhalten und ansprechen, dachte Grete und setzte sich auf.
»Kommst du mit mir noch ein Stück durch den Wald?« fragte neben Grete eine zaghafte Stimme. Es war Ernst, der sich einen Ruck gegeben hatte. »Rotfront dann«, rief Fritz zum Abschied und drehte sich um. Er ließ alle stehen und sprang in weiten Sätzen die Mulde zum Waldrand hinab. Grete sah ihn hinter den Stämmen verschwinden; sie saß wie gelähmt und starrte ihm nach. Plötzlich war sie traurig.
»Ich gehe ganz anders«, antwortete sie abweisend und tonlos. Zum ersten Mal geschah ihr, dass sie sich ganz allein fühlte.
Verwirrte Liebe
»Warum sagst du denn nichts?«
Lisbeth Biesel ging mit Werner die Landstraße nach Ottweiler hinab. Der Schnee der Obstblüten war in die Grasbänke zu beiden Seiten der Chaussee gefallen. Aus dem tiefen Tal zur Linken schimmerte das Wasserband des Baches herauf. Heugeruch brodelte durch den hellen Tag. Das Mädchen drehte sich auf dem Absatz um, stieß den anderen Fuß trotzig auf den Boden und ging einige Schritte zurück.
Als Werner nicht folgte, hielt sie an und wandte sich wieder um. Den Kopf gesenkt, stand sie verloren auf dem Weg und war dem Weinen nahe. Durch die dichten Blätter der Bäume fiel lustiger Vogelsang über sie; die Sonne streichelte ihr rotbackiges ovales Gesicht, Geisblattduft flog aus einer Hecke. Er wird mich nie lieben, dachte sie. Er hat ein Herz von Stein, er sieht gar nicht, dass ich neue Schuhe habe.
Sie sah seine Militärstiefel weitergehen. Er redet nur von Politik, ich verstehe nichts davon. Wenn ich jetzt weggehe, wird er für immer wegbleiben - Heilige Maria, ich kann ihn nicht weggehen lassen.
Werner stapfte ruhig geradeaus. Warum lasse ich sie nicht laufen, schimpfte er. Zweimal ist das Theater jetzt schon gewesen. Er sah sie wieder an der Kirche, wo er sie weggeschoben, weil sie noch immer zu den Pfaffen hielt, er erinnerte sich an den Maiabend: Wenn ich sie nicht mit dem Gebetbuch gesehen hätte, wäre ich viel weniger wütend gewesen. Dann wären dem Nazi ein paar Backzähne stehen geblieben. Nun lachte er wieder.
Vierzehn Tage hatten sie ihn eingesperrt. Soviel waren die Backzähne schon wert gewesen. Lisbeth hatte ihm ein Paketchen geschickt, von ihrem Juden war eine halbe Wurst dabei. Sie war eine gute Seele, sie war halt dumm, hatte ein Brett vor dem Kopf, wie all die Katholiken. Plötzlich brummte er wieder. Das lag alles nur an der Kirchenlauferei. Sonst hätte man längst schon eine saubere Freundschaft. Aber mitten im Küssen, abends an der Haustür, da denkt sie dran. Das sitzt in allen Ritzen.
Sie ist kein Mädel für mich, knurrte er und höhnte sich sofort wieder: dabei ist mir das Herzklopfen in die Knie gegangen, als sie mich am Gefängnis erwartet hat mit dem Strauß. Hatte extra Urlaub genommen und eine Stunde gestanden. Der Hausvater ist ewig nicht fertig geworden mit seinem Zettelschreiben, der Analphabet.
Werner zählte die kalkbemalten Bäume. Ohne sich umzuwenden, wusste er plötzlich, dass sie ihm wieder folgte. Nun hörte er auch ihre Schritte und blieb stehen. Wenn sie schon ihren Stolz aufgab, wollte er auch nicht so sein.
Schnell war sie heran. Sein Stehen bleiben beglückte sie, und sie zeigte auch sofort ihre Freude: »Ich bin ja nicht böse«, meinte sie und lachte; er lachte zögernd zurück. »Gehen wir noch ein Stück«, schlug sie vor, »dann muss ich zurück, die Mittagspause ist kurz. Schade.« »Warum schade?«
»Weil ich mit dir bis nach Berlin so laufen könnte.« »Da hab ich gar keine Lust zu.« »Na dann bis Paris.« »Das ist mir ebenso egal.«
Sie zeigte ihre hellen Zähne: »Dann bis ans Ende der Welt.« Er hörte den glücklichen Ton in ihrer Stimme, sah, während er weiterstapfte, wie sie halb zu ihm hingewandt trippelnd Schritt zu halten suchte, aber er wagte jetzt nicht, sie anzusehen oder beim Arm zu packen. Er spürte, dass ihr Gesicht ihn völlig weich machen würde, die pechschwarzen Augen, der volle Mund - ich werde sie auf der Stelle hochnehmen und in den Graben werfen. Schau nicht hin, warnte er sich. Sie wird sich doch wehren und dann ärgere ich mich krank, weil sie auch noch Quatsch reden wird. »Jetzt wirst du aber nicht mehr zu den Roten gehen«, totensicher würde sie hinterher so anfangen. Sie sind so, die
Weiber, dachte er und war doch schon wieder schwach in seiner Liebeskrankheit.
Man soll überhaupt an keine Katholische rangehn, tobte er. Er ging noch drei Schritte geradeaus, dann sagte er schnoddrig: »Lieber ist mir schon, du gehst in die Betten mit mir.«
Er verstand nicht, wie das plötzlich aus ihm herauskam. So sprach man vielleicht in der Kneipe, aber nicht zu einem so sauberen Mädel. Er war wütend auf sich, und während ihm die Ohren rot anliefen, redete er sich schleunigst ein, dass er es gesagt, um sie endlich loszuwerden. Sie wird mir immer anhängen, wie ein Klotz am Bein, sie wird hinter mir herblöken wie ein Schaf, sie wird mich kontrollieren und fromm machen wollen. Karl wird mich anpflaumen mit ihr: du wirst nie ein richtiger Kommunist werden. Wenn man gemein zu ihr ist, vertreibt man sie am besten und hat das Blut wieder kalt.
Werner misstraute diesem aufgeworfenen Gedankenwust; sie wird mich stehen lassen jetzt und ausspucken, so seid ihr Roten, wird sie sagen, und man hat sich obendrein noch blamiert. Er erschrak, das Mädchen hatte kurz aufgelacht, und nun hörte er sie sprechen: »Dann komm«, sagte sie. Er fühlte, wie sie flüchtig sein Handgelenk berührte und leise zerrte, und sah sie dann nach links über die Chaussee laufen.
Bei den weißen Stämmen anhaltend, winkte sie ihm noch einmal zu, das schmale Gesicht war in Purpurröte getaucht, ängstlich war das Lächeln unter den tiefschwarzen Augen; er sah, wie in zitterndem Atem sich ihre Brüste unter der Bluse hoben. Hinter ihr stürzte die Wiese in scharfem Winkel in das Tal ab; vom gegenüberliegenden Waldberg flutete die Sonne über Kopf und Figur des Mädchens, fing sich in dem Gespinst der abstehenden Haare, strahlte verspielt und schien die süße Lockung unterstützen zu wollen.
»Komm«, sagte Lisbeth Biesel noch einmal und sprang den Rain hinunter. Er sah sie nicht mehr, hörte nur das Poltern ihrer Sprünge zu den Wiesen hinab. Fast schmerzlich brannte ihn jetzt die Gier.
Lisbeth Biesel flog die grünen Hügel abwärts, ihre Wangen glühten, das Herz hämmerte hart gegen die Rippen, die Füße federten in dem Samt des üppigen Grases, mit jedem Sprung konnte sie stürzen und war sicher, dass es ihr Tod wäre. Ein lachendes jähes Ende, ein wilder Sturz aus tausend Ängsten, verwirrender Helle und überwältigenden Wünschen.
Während sie fast blind den Hügel hinabraste, stellte sie sich diesen Tod vor. Das Knacken der Halswirbel, der Schmerz nur wie ein dünner Nadelstich ins Hirn - und ruhig wie im warmen See würde ihr Herz versinken.
Immer schneller wurden ihre Sprünge, ihre Schenkel zitterten, die Tiefe riss sie wie mit Fäusten an sich, sie war schon am Fuß des Hügels, der Bach glänzte in ihre Augen, und dicht an seinem Ufer tat ein niedriger Heuschober sein Maul auf. Ihre heißen Blicke irrten, als sie über die letzten Furchen des Feldes am Ufer sprang, von dem gleißenden Streifen des Baches zu dem schwarzen Loch des Schobers. Eine Sekunde dachte sie daran, in das Wasser zu springen, aber dann stürzte sie zu der Hütte, in der dämmerig die duftende Ernte der Wiesen lag. Sie warf sich in das Heu und presste ihr Gesicht in den stickigen Wohlgeruch. Da war das Bett für den Wahnwitz dieser Liebe, der sie davonlief, halsbrecherisch und überhitzt, um desto sicherer von ihr gefangen zu werden.
Kräuter stachen sie in die Backen, Schwindel leerte die geschlossenen Augen, sie konnte nicht mehr unterscheiden, ob die Lust oder die Angst größer war.
Sie blieb auf dem Bauch liegen, wie sie hineingestolpert war. Ihr Rock lag hochgeschlagen bis zur Taille, die altmodischen Spitzen ihrer Hosen wurden sichtbar und die braunen Schenkel zwischen Strumpf und Wäsche.
Wenn er jetzt einfach käme, dachte sie, und mich nehmen würde, ich will nichts mehr denken, ich lasse die Augen zu. Wenn er mich nimmt, dann ist alles gut. Ja, es ist Sünde, aber es wird alles gut dadurch. Ich werde es beichten, nur dies eine Mal soll es sein. Denn dann bleibt er ja bei mir. Jesus Maria, er kommt!
Sie hielt den Atem an, ihr schien, als näherten sich Schritte, sie wollte nach rückwärts greifen und sich die Kleider zurecht ziehen, aber sie blieb doch liegen in ihrer angenehmen Lähmung. Das Herz klopfte wie ein Riesenhammer und schien größer als der ganze Heuschober.
Draußen blieb alles ruhig. Es war nichts, dachte sie. Er wird weggegangen sein; er will mich nicht, er will eine Politische. Es nützt nichts, dachte sie, ich habe nur gemeint, das nützt vielleicht.
Ihr Körper wurde plötzlich schwer und schien tiefer ins Heu zu sinken. Kummer schnürte ihre Brust, im Hals stieg ein
Schluchzen hoch. Heilige Maria, betete sie, ich verstehe doch nichts vom Kommunismus. Der Hitler hat doch nichts zu sagen hier an der Saar. Was soll ich denn mit Politik tun? Ich liebe den Werner doch. Er kann mich haben. Was soll ich denn noch tun?
Sie merkte jetzt aufs neue, wie entblößt sie war. Das Gewürz der Gräser benebelte sie, die Hände krallten in die nachgebenden Heukissen. Ganz nackt fühlte sie sich, nutzlos hingeworfen, wie sie dalag. Er ist hart, gemein, er denkt an nichts als an Politik, schluchzte sie und hämmerte die Faust in das Heu. Und gerade in diesem Augenblick kam seine Stimme: »Ist es dir denn wirklich ernst - damit?«
Sie hörte, wie er stockte, fühlte, dass er sie jetzt ansah. Fieber glühte ihren Körper; von den halbnackten Schenkeln bis unter die Haarflechten lief es hinauf. Sie wandte sich nicht um. Tränen brachen aus ihren Augen und lösten den Krampf in ihrer Kehle, das Zittern in den Schultern schüttelte sie jetzt wohltuend. Sie lag mit heißem, lächelndem Gesicht.
Erst als er dicht neben ihr sich in das tief nachgebende Heu niederließ, warf sie sich plötzlich herum und fasste seinen Kopf. Überflossen von Tränen sah sie ihn an: »Dann nimm mich doch«, sagte sie mit zitternden Lippen. Er griff mit beiden Händen nach ihr.
Nächtliche Rebellion
Der Emigrant Erwin, Nr. 145, ging zufrieden die Landstraße nach Püttlingen hinauf.
In den Mulden links vom Weg sammelte sich der Nebel. Die Gipfel der Tannen zackten starr und schwarz aus den breiter und breiter sich dehnenden weißen Teichen. Der Bach in der Tiefe war zugedeckt vom Nebel; sein geschwätziges Fließen füllte das abendliche Tal mit beruhigendem Geräusch. Der Weg, auf dem Erwin vorwärtsstolperte, presste sich so schmal durch die hochwogenden Getreidefelder, als fürchte er, den gelben Reichtum am Weiterfluten zu hindern. Erwin streifte die Hand durch die Halme, riss eine Ähre ab und körnte sie aus. Ob Adolf eine gute Ernte kriegt? Trocken müsste es werden wie in Ägypten!
Am Himmel trieben langsam weiße Wolkenkissen. Der Feuerschein der Völklinger Hochöfen warf seine Farben hinauf und schien das Gewölk verbrennen zu wollen.
Erwin sah das immer blutiger sich färbende, ruhig ostwärts ziehende Kissen. Stahl für Frankreich, dachte er. Geld für Röchling, und wir sollen daran verbluten. Was tut die Partei dort? In der Schwerindustrie sind wir immer gut vorwärtsgekommen. Da sitzen doch eine Masse Spezialarbeiter drin, die die Herren nicht so leicht rausschieben können.
Erwin ging rascher; die Erinnerung an Rheinhausen heizte ihn, beschleunigte seine Schritte. Den Kopf gesenkt, hastete er an den still ihn begleitenden Halmwänden entlang. Wie herrlich waren wir drin bei Krupp! Wie madig hatten wir die Christlichen schon gemacht!
Sein Blick irrte über die abendliche Natur. Die Ähren, der rauschende Bach, selbst die von der nahen Industrie gefärbten Wolken, der Geruch der Bäume, die Masse von Natur war so fremd, war fast schon wie eine Bestätigung, dass man vertrieben war. Was hatte man zwischen Kornfeldern und Apfelbäumen herumzulaufen! In die Zelle gehörte man, vors Werk, unter die Stadtbahnbögen; nicht ins Grüne, nicht zu den Kühen und den Singvögeln. Erwin dachte es und scheuchte sofort den Gedanken. Aus den Hügelkurven der Chaussee traten die Häuser von Püttlingen hervor. Er wollte nicht übertreiben. Da hinten war auch allerhand zu machen.
Ein Schwarm Tauben flog aus den Feldern, kreiste mit zischendem Bogen um seinen Kopf; er schreckte nur eine Sekunde auf. Die Flügel der Tiere leuchteten im Perlmutterlicht der Abendsonne, er sah es nicht. Welche Aktionen also muss es in den nächsten Tagen geben, repetierte er. Er erinnerte sich an das Lob, das man ihm in Ludweiler bei der Konferenz gegeben hatte. Unser Püttlingen steht. Gut! Aber wenn Püttlingen steht, dann muss man es weiter treiben. Das ganze Dorf muss einmal marschieren und wie eine Lawine nach Saarbrücken rollen. Muss helfen, die fünfzigtausend Kumpels auf die Beine zu bringen, und die sechzigtausend Erwerbslosen dazu. Dann wäre die rote Armee da. Dann käme keiner hier herein, kein Adolf und kein Röhm.
Erwin schwärmte und lief seinem roten Traum nach. Er sah nichts anderes mehr. Die Nacht kam herauf. Über Püttlingen, in dessen Zwerghäuser die schwarzen Schatten fielen, hob sich mit unruhigem Glanz der Abendstern. Der schwere Schlag
laufender Schuhe klatschte durch die Stille des Talnebels. Erwin achtete erst nicht auf den Mann, der den Weg aus dem Tal heraufkeuchte, aber jetzt rief ihn der Mann: »Erwin! Bleib mal stehen, Erwin!«
Warum er dann in einer Sekunde völlig seine rote Armee vergaß, lag an der Nachricht, die der Genosse ihm brachte: Vierzig Schwarzschürfer seien im Hochwaldstollen verschüttet; er, der Peter, sei oben am Eingang Wache gewesen, als der Stollen zuging. Auch Kinder wären drin. Er sei auf dem Weg nach Cramullo, zur offiziellen Rettungswache. Er bitte Erwin, das Seine zu tun, um das Dorf an die Unglücksstelle zu bringen. Die Landjäger kämen gewiss.
Der Mann lief weiter, und Erwin tat das Seine. In einer Stunde war er mit halb Püttlingen am Eingang des Schwarzstollens.
Sie kamen durch die Bäume, eine stumme drohende Kompanie. Sie dachten daran, ihre Kameraden zu retten. Gewiss! Kameraden!
Es war für sie kein Unterschied zwischen der regulären Einfahrt in den Schacht und dem unerlaubten Graben im Schwarzschacht. Eins brachte so wenig wie das andere. Gefährlich war beides, das sah man hier wieder.
Die Stollen, die überall in den Saarwäldern bis an die Erdoberfläche vorstießen, waren aller Stützen beraubt worden, als die Grubenverwaltung sie als unrentabel aufgab. Nun hing der Berg über den Eindringlingen und drohte bei jedem Einbruch zu stürzen.
Recht bezeichnend, dachte Erwin, als er jetzt mit den Püttlingern heranzog: Kohle ist da, Tausende von Tonnen, und in den Kumpelhäusern oben frieren die Kinder. Hochentwickelte Fördertechnik, doppeltrümiger Seilausgleich, Schüttelrutschen, Schrämmaschinen, Radiostöße, aber die erwerbslosen Kumpel scharren fast mit den Händen das was sie brauchen. Barbarei dicht neben der Raffinesse. »Wir im Ruhrgebiet kennen das gar nicht«, sagte er zu seinem Nachbarn, »da kommt die Kohle nie so hoch. Wir müssen direkt an die Halden gehen.«
»Dann habt ihrs ja besser«, entgegnete der Püttlinger. »Braucht nur einzuschaufeln.«
»Kuchen, Stacheldraht ist drum, mannshoch, und seit der Adolf da ist, verschärfte Wachen mit scharfgeladenem Revolver.«
Der Püttlinger rief die Neuigkeit nach hinten. »Habt ihrs gehört?« Sie lauschten gierig. »Deshalb gehen wir ja dann auch alle gern nach Hitlerdeutschland zurück«, fügte er hinzu.
Die Kolonne lachte. Dann zeigte einer nach vorn in den Wald. »Halbe Hitlers haben wir ja auch schon dasitzen«, sagte er. Sie besannen sich auf ihre Absicht und gingen rascher. Viele hatten ihre halberwachsenen Kinder mitgenommen. Sie traten jetzt in den Wald ein. Das hohe weiche Laub federte unter ihren schweren Füßen. Die Kinder hielten die Hände der Väter fest und stapften erregt den Lichtern zu, die mitten aus dem Dunkel des Waldes einen Lichtkreis schnitten. Wie eine Versammlung von Räubern saßen Männer um die Helligkeit. Die Kinder zerrten ungeduldig ihre Väter vorwärts, sie sahen bunte Kleider, fast sah es nach Zigeunerhorden und Lagerfeuer aus. Als sie dann davor standen, sagten die Männer guten Abend und waren aus Neudorf, das Feuer kam von Stallaternen, und die bunten Kleider waren die Uniformen der Landjäger.
Die Kinder waren Proletenkinder, sie hielten nicht lange fest an ihren abenteuerlichen Bildern; sie merkten an den Reden und an den Gruppierungen, dass hier die andere, die wirkliche Abenteuerlichkeit ihres Lebens begann. Dort waren die Feinde, die dicken Gendarmes, sie standen an den Bäumen und wurden von allen gemieden; und dort in der Erde waren Arbeiter begraben, und keiner wusste, ob sie noch gesund hier aus dem Waldboden heraussteigen würden. Die Kinder hörten, dass unten auch Kinder waren, ein Pionier aus Altenkessel erzählte es ihnen. Die Rettungsmannschaft sei schon drinnen, sagte der kleine Pionier Müller und zeigte ihnen das große Loch der Walderde, vor dem ein Landjäger stand, wie ein Terrier vor dem Unterschlupf einer Ratte.
Die Kinder beugten sich vor und sahen Werkzeuge und Lampen und ganz unten einen Mann, der schweigend wegschaufelte, was ein Unsichtbarer ihm zuwarf. Dann fiel einem Püttlinger Kind auf, dass Müllers Karl mit Blechdeckeln in das Loch gezeigt hatte. »Was machst du damit?« Müller Karl sicherte nach den Uniformen hin, dann sagte er gedämpft in die Runde der zusammengesteckten Kinderköpfe: »Damit machen wir Scharivari, wenn die Landjäger sie verhaften wollen.«
Alle wussten, was Scharivari ist, die Kindergarde von 1923 hatte die Legende und auch den Brauch von Schulklasse zu Schulklasse vererbt; ein Bild davon hing im Volkshaus von Püttlingen: sechs Kumpel, Streikbrecher von 1923, treten da aus dem Stollen in den Kordon der französischen Soldaten, die mit Bajonetten die Verräter nach Hause begleiten. Das Leben wurde den Streikbrechern gesichert, aber die Schande schrie. Tagtäglich warteten am Dorfrand mit Blechdeckeln sämtliche Kinder und machten die Begleitmusik zu der Prozession der Verräter. Das nannten die Arbeiter an der Saar, die jungen und die alten, seitdem »Scharivari«.
»Wo gibt’s noch Deckel?« flüsterten die Püttlinger Kinder und schlichen mit dem Pionier Müller heimlich fort durch die Bäume.
Erwin hatte inzwischen die Zahl und Laune der Langjäger geprüft. Vier Gendarmen und drei Grubenhüter waren da. Die Gendarmen an den Bäumen stehend etwas reserviert; die Grubenhüter übereifrig vor dem Loch sitzend; aber alle sieben fühlten sich sehr unsicher. Immer neue Trupps von Kumpels kamen an und traten stumm aus der Nacht; die Uniformierten sahen immer grimmiger drein.
»Was wollen Sie denn hier«, schrie ein Grubenhüter, als Erwin an das Erdloch herantrat. »Machen Sie, dass Sie weiterkommen!«
»Oho«, johlten die Kumpels, aber Erwin ging doch langsam zurück. »Eine Verkehrsstörung bin ich ja nicht«, sagte er; die Kumpel traten nach vorn, als hätten sie nur auf das Stichwort gewartet. Wie Henkersknechte nach dem Verlesen des Urteils stießen sie aus dem Dunkel in den beleuchteten Kreis auf den sitzenden Grubenhüter zu. Die Landjäger sahen den Angriff und lösten sich von ihren Baumstämmen.
»Über den Wald habt ihr sowieso nichts zu sagen«, unterwies ein Neustädter die Bergwerksbeamten.
»Ihr habt nichts Besseres zu tun, als hier zu lauern?« rief ein Arbeiter und spuckte dicht vor den Beamten aus.
»Da unten können tote Proleten drin sein«, schrie eine Stimme.
Erwin sah, dass die Landjäger näher kamen und sich Zeichen gaben. Von zwei Seiten umgingen sie den Einbruch in die Erde, um die Kumpels wegzudrängen. Mit trotzigem Zögern wichen die Kumpels aus.
»Kohlendiebe sind drin«, höhnte ein Grubenhüter, »sonst nichts.«
Erwin jubelte, denn ein barbarisches Gebrüll toste nun von
allen Seiten durch den Wald. Die Bergleute, die schon ins Dunkle zurückgegangen waren, kamen wieder ins Helle. Sie hoben die Fäuste gegen den satt an der Erde sitzenden Hüter. »Du hasts nötig«, kreischte eine Frau. »Wenn unserem Albert was passiert ist, schlag ich dir die Fresse ein.«
»Haut ihnen doch den Pickel in den Panz!«
Ganz laut überschrie diese Stimme den Lärm. Eine merkwürdige Akustik machte glauben, sie käme von oben aus den Kronen der Bäume, aus dem schwarzen Himmel.
Die Landjäger sprangen in die dunklen Reihen.
»Wer war das?«
Fauchend wie hinter Gitter gesperrte gereizte Hunde standen sie vor den plötzlich verstummenden nächtlichen Rebellen. Fest blieben die Kumpels stehen. Erwin allein wich zur Seite, er sah, dass der Oberwachtmeister den Ortsfremden in ihm erkannt hatte. Ein billiger Sieg war möglich: der deutsche Emigrant im deutschen Land hatte Redeverbot, Parteiverbot, Demonstrationsverbot. Man konnte ihn ausweisen.
Ich muss diesem Burschen mal auf die Finger schauen, dachte der Landjäger und ging heimtückisch auf einem Umweg zu Erwin. Aber als er dann ankam, war Erwin nicht mehr da. Von dir lass ich mir noch lange nicht die Arbeit vermasseln, hatte Erwin gedacht und war einige Schritte in den Schutz der Dunkelheit zurückgegangen. Er stand an einer dicken Buche und wartete ab.
Plötzlich war ein Haufen Kinder um ihn. Er erkannte zwei Püttlinger Pioniere. Ihre Gesichter hoben sich erregt aus dem Dunkel zu ihm.
»Genosse Erwin, wir machen Scharivari«, sagten sie schnell und stürzten fort zu der großen Versammlung. Erwin drehte sich der Helligkeit zu. Böse Gespräche waren dort hinten im Gange. Die Landjäger hatten beschwichtigen wollen, aber sie fielen nach kurzen Bemühungen wieder in ihren natürlichen Ton zurück, sie brüllten, und nun klumpte sich auch um sie die empörte Masse. Erwin sah die schwarzen Figuren gegen die Mitte der Lampen vordrängen. Sie wurden kleiner in ihren Umrissen, und nun hörte er über den düsteren Kreis hinaus bereits einen Grubenhüter jammern: »Wir sind doch bezahlt dafür.«
Erwin hörte noch das bittere Lachen, das von allen Seiten der Jammererklärung folgte. Er stand an seinen Baum gelehnt und grübelte.
Er sah, dass die Kinder sich hinter den Großen an einem Baum aufgestellt hatten und sich anscheinend absichtlich im Dämmer der Lampen hielten. Ein Mann war jetzt zu den Kindern getreten und redete auf sie ein. Erwin kniff die Augen zu und erkannte, dass es ein Sozialdemokrat aus Neustadt war. Ich kann mir schon denken, was du wieder erzählst, dachte Erwin. Er sah sich in Püttlingen vor den prächtigen SAJ-Burschen, um die es sich wirklich lohnte. »Hört zu, Genossen, es ist jetzt einen Monat her, da hat man euch die Gewerkschaft gestohlen und am 10. Mai die Parteihäuser und das Vermögen, und am 17. Mai hat der Wels den >Führer< im Reichstag um gutes Wetter gebeten. Dann ist er nach Prag gegangen - nicht wahr, mit wessen Geld? - und hat gestänkert, und dann ist der Löbe in Berlin von ihm abgerückt.«
Erwin schlug die Hand durch die Luft, er sah die jungen Sozialisten vor sich. Das würde er ihnen sagen, dachte er entschlossen, da knallte aus der Tiefe der nächtlichen Versammlung ein höhnischer Ruf: »Landjäger können mich alle am Arsch lecken!« Eine Lachsalve antwortete, und die Stimme erhob sich noch einmal: »Wenn ich an denen ihrer Stelle wäre, ich schlüge euch an die Bäume, dass euch der Brägen rausspritzte.«
Erwin lachte. So sprach kein Stampfer, kein Wels, kein Breitscheid. Das war schon nicht mehr fein, aber das änderte die Welt.
Er merkte, dass der Tumult größer wurde; er musste zurück. Er ging einige Schritte vorwärts. Rechts oben stand der kleine Müller und hatte jetzt seine Deckel hochgehoben, wie ein Kapellmeister den Taktstock hebt; alle Kinder ahmten ihm nach und standen mit gezückten Instrumenten in Erwartung eines besonderen Zeichens.
Und dann gab der kleine Pionier das Zeichen. Erwin hatte den Kreis der erwachsenen Rebellen wieder erreicht. Sie waren alle ganz dicht an die Grube getreten. Die Landjäger konnten niemand mehr zurückhalten. Dicht um den dunklen Schlund drängten die Kumpels und starrten auf das noch dunklere Stollenmaul in der Tiefe. Dort flog jetzt eine Hacke heraus. Hände stiegen aus den Erdbrocken, dann zog sich ein Kopf nach oben, schwitzend und ernst; ein Rettungsmann.
Keiner oben sprach ein Wort. Man erwartete Leichen; der Tod wurde nun aus der Erde gereicht und hier in die Nacht unter sie gelegt. Der Tod, den niemand verschuldet als die Not, als
die Gier derjenigen, die ihre bezahlten Wächter auch noch herauszuschicken wagten. Vielleicht schob man auch nur ein wimmerndes Stück zerschmettertes Leben heraus, blutende Schenkel, eingedrückte Kiefer, herabhängende Splitterhand. Die Bergleute vergaßen die Landjäger und Grubenhüter, die zu den Lehmstufen des Lochs hinabgestiegen waren, eine unentrinnbare Sperre unmenschlicher Kontrolleure, die auch einem Leichnam noch sein Billett abverlangten.
Die Rettungsleute stapften die Stufen hinauf; ihre Lampen schwankten wie verwirrte Sterne vor dem dunklen Loch. Oben bekreuzigte sich eine Frau: mit solchen Lämpchen kam auch der Priester von einem Sterbenden zurück.
»Macht den Weg da frei!« rief ein Gendarm, aber keiner der Bergleute wich. Die Rettungsleute schoben die Landjäger beiseite; als seien sie Luft, teilten sie die Uniformierten. Die Bergleute ringsum bemerkten die Geste und wandten sich mit noch größerer Erregung dem Stollenloch zu.
Da kam der erste Kopf; ein Knabe griff sich hoch, ein schmutziger lachender Knabe. Schlank und sicher stand er vor dem verbotenen Eingang, sah die dunklen Köpfe über sich am Waldrand, sah einen Stern in den Kronen ganz oben, sah den breiten, prall in seiner Uniform stehenden Wachtmeister auf der obersten Stufe.
Hinter ihm scharrten die Hände und Leiber der geretteten Männer sich vorwärts, er hörte das Kratzen und Stöhnen und nun auch das Fluchen derer, die in die Senkmulde kurz vor dem Ausgang gerutscht waren. Dort stand, halb eingetrocknet, der Sumpf einer Abortgrube, die das Bergwerksamt hier eingeschüttet hatte, um die Erwerbslosen wegzuschrecken. Der Geruch hing an den Kleidern des Knaben und klebte an seinen Händen. Der Knabe achtete ihn nicht; nur den Fluch der Großen hörte er und wurde sicher, dass die Männer ihm auch folgten. Allein zu den Gendarmen hinaufzusteigen hatte er keinen Mut. Er wartete.
Die Männer krochen neben ihm hoch. Wie aus der Kaserne in den wirbelnden Alarm des Hofs die Soldaten stürzen, marionettenartig, so hoben sich immer neue Figuren aus dem engen Schlund der Erde und stellten sich in dem von stummen schwarzen Gestalten umstandenen Trichter neben dem Knaben auf. Als der Platz nicht mehr reichte, setzten sie sich in Bewegung und stiegen die Stufen hinauf. Die Menge sah, wie sie mit gesenkten Köpfen herausstiegen. Einer zog wie eine Selbstverhöhnung einen Sack Kohlen mit hinauf; er hatte sich selbst in der Todesgefahr nicht von seinem Arbeitsertrag trennen können.
Sie sind heil geblieben, erkannten die Proleten am Rand der Grube.
»Albert«, schrie weinend eine Frauenstimme. Der Krampf der Angst löste sich, in die Nacht und ihr Dunkel flüchtete der Tod, der sie hatte schrecken wollen. Und aller Augen richteten sich nun auf die Landjäger, die sich wie die Henker fühlten, zu deren Block die Verurteilten eben heranstolperten.
Die ersten Geretteten waren bis dicht an die Kette der Gendarmen herangekommen. Die Lampen der Schwarzschürfer hingen noch ruhig in den Händen; im nächsten Augenblick konnten sie durch die Luft pfeifen und zu Waffen werden; die Kumpels rings um die Grube drängten zu den Landjägern. Plötzlich fühlten sie, wie viele sie waren. Sie sahen in den bis zum Rand mit Kumpels gefüllten Stollentrichter, sie spürten die Arme, die Schenkel, die Schultern ihrer Nachbarn - und zwischen ihnen stand nichts als diese kleine Wand von Uniformierten. Ein Schubs von hinten, und man hatte sie alle sieben denen da unten in die Fäuste geworfen. Wie groß ist die Versuchung solcher Sekunden!
»Halt!« brüllte der vorderste Wachtmeister, und man sah, wie er einen der Erwerbslosen zu hindern suchte, nach der Seite auszubrechen. Der Kumpel blieb stehen, ein Bein schon auf dem Waldboden, die Hand an dem hilfsbereiten Arm eines Kumpels der hinteren Armee angeklammert.
»Wie heißen Sie?« fragte laut und allzu sicher der Wachtmeister und griff bedächtig nach seinem Buch.
Da setzten die Knaben mit ihrem Konzert ein. Ein einleitender Schlag der sämtlichen Becken rasselte durch die Bäume, dann knallten die Knaben ohne Regie, so stark sie konnten, so schnell sie nur trafen mit den Konservenbüchsen, Kochdeckeln, Blechstreifen und Zigarrenkästen gegeneinander. Aller behördliche Ernst ging zunichte, das Verhör erstickte in seiner ersten Frage und dem barbarischen Spektakel, das die teuflische Knabengruppe im Dunkeln sitzend ausübte mit allem Mut respektloser Jugend.
Es war ein voller Erfolg. Die Kumpels im Trichter sahen die Landjäger für eine Minute so verblüfft, dass sie nicht mehr zögerten, die von überall ausgestreckten Arme zu ergreifen und sich hochreißen zu lassen, um dann in den schwarzen Räumen des Waldes zu verschwinden oder sich frech und unbefangen unter das Zuschauervolk zu mischen. Nur ein knappes Dutzend fiel in die Hände der Landjäger. Aber auch die paar Gefangenen standen lachend vor den Geprellten. Aus dem Hintergrund bollerten die Knaben. Ihr Lärm war jetzt schon wie die Triumphmusik eines siegreichen Negerstammes. Erwin hörte sie mit lachendem Herzen. Er hatte allein vier Kumpels aus dem Trichter gerissen. Plötzlich war es ihm gleichgültig gewesen, ob sie ihn erwischten und auswiesen.
Als er die fünf Gefangenen vor den feisten Beamten stehen sah, bekam er die Wut. Er sah sich um nach den anderen; ein bekanntes Gesicht grüßte ihn. Edgar, der Separatist aus Püttlingen.
Erwin schnaubte den Atem durch die Nase: »Wenn wir noch mehr gewesen wären, hätten sie keinen einzigen bekommen dürfen.«
Rings standen immer noch Haufen von Menschen, unverbrauchte Empörung.
Erwin sah sie und rechnete, ob sie zum Angriff noch ausreichten.
»Das ist ja alles verkehrt«, entgegnete gedehnt und nervös Edgar, der Separatist. Erwin sah dem bebrillten Mann in das weiche, fast schöne Gesicht. Die Kinder trommelten. Der Separatist Edgar hielt sich die Finger in die Ohrmuscheln: »Was ist das für ein Affentheater!« Er schüttelte den Kopf: »Und die Kinder laufen da mitten in der Nacht herum!«
»Das ist Scharivari, mein Lieber«, erklärte Erwin. »Nun, was sagst du denn wirklich dazu, dass deine demokratischen Franzosen die Proleten hier noch am eigenen Grab aufschreiben wollen?«
Edgar zuckte unsicher die Schultern hoch. Bergleute traten aus dem Wald an die beiden heran.
»Es ist unrecht«, gestand Edgar, »natürlich ist es unrecht, und ich werde morgen noch an einflussreiche Leute schreiben, dass sie das Protokollieren einschränken - jawohl, das werde ich tun.«
Ein Kumpel beugte sich zu dem Mann mit den guten Beziehungen! »Dann werden wir lange warten können. Aber hör mal, weißt du denn, dass die euch auch nur ausnutzen.«
»Und hinterher gibt’s 'nen Tritt«, ergänzte ein anderer.
Die Knaben kamen nun mit den Becken und Blechtrommeln hinter ihrer Hecke hervor. Sie gingen im Gänsemarsch um den Rand der Grube herum. Ohne den Text zu singen, brummten sie den Refrain der Internationale: pam - pam - pam pam pam pam pam. Sie knallten die Deckel nach jedem zweiten Schritt aneinander.
Die Kumpel lachten, die Knaben schwenkten kurz vor den Landjägern wieder in den Wald zurück: - pampam pampam pampam. Der Text des Liedes war unter dem freien Saarhimmel verboten, aber die Melodie konnte man nicht greifen. Die Gendarmen vermochten auch nicht zu folgen, da sie noch ihre fünf Schwarzschürfer zu protokollieren hatten. Sie drohten deshalb nur mit wütenden Gesten. Davon zogen die Kinder.
Der Radau wurde leiser, fast schien er verstummt, aber dann kam mit einem Mal aus der Ferne der volle freie Gesang: »Wacht auf, Verdammte dieser Erde.«
Die Bäume warfen das Echo nach allen Seiten. Der nächtliche Wald erzitterte. Von allen Seiten aus den Räumen antworteten die unsichtbaren Kumpels.
Die Landjäger äugten nervös und grimmig in die Bäume. Der Gesang stieg über den Wald hinaus.
Am Rand des Trichters lag ein einziger Sack beschlagnahmter Kohle zwischen den sieben Uniformen.
14.7. 30 neue Gesetze der Nazis. Verbot aller Parteien-Hitler erklärt »Revolution« für beendet-GeneralratderWirtschaft-Sterilisationsgesetz-Schwarzarbeitverfolgt-
Katholisches Reichskonkordat, Protestantische Neuwahlen-Streik bei Röchling-SA entführt drei Saarländer.
Faschist im grünen Rock
Der Oberförster Großmann knitterte verärgert den »Völkischen Beobachter« zusammen und steckte ihn in die Schublade seines Schreibtischs. Er sah das Regierungsgebäude von Saarbrücken vor sich. Da kommen nun in Deutschland die guten alten Zeiten wieder, und man sitzt hier unter diesem Franzosenregime. Völkerbundsregime, gut. Bald zu Ende, gut. Aber besser, man wäre heute schon soweit.
Die Sonne fiel durch die gewölbten Scheiben seines Arbeitszimmers. Im Hof bellte der Schäferhund. Besuche, Gesuche, nichts als Bittsteller. Tagediebe, die frech werden. Resultat der vierzehn Jahre. Ein Segen, dass da durchgegriffen wird. Wären wir nur hier schon soweit. Der Oberförster stemmte die Faust in die Seite und sah mürrisch auf die Tischplatte. Es klopfte. Der Oberförster antwortete nicht. Er horchte hinaus. Die Schritte des Assistenten entfernten sich im Vorzimmer. »Sie müssen noch warten«, hörte er den Eleven sagen. Er griff zur Kartothek, die man ihm hineingestellt hatte, und las die Schilder: Abschätzung. Vermessung. Grundbesitz. Grenzsachen. Bausachen, Hauung. Holzabgabe. Jagd.
Er hielt im Blättern an. Wenn man das nicht hätte. Jagd! Er liebkoste die Karte, zog sie heraus. Pächter Fabrikdirektor Wennecke, las er; Wennecke wird wieder einen Ball geben dieses Jahr. Da sieht man Frauen, riecht wieder Stadtluft, kann sich mal aussprechen über alles. Die Dekolletes tun einem auch sehr gut. Hier verbauert man schließlich. Ich werde einen Wildschweinrücken hinschicken. November kann man schon schießen.
Er schob die Kartothek zurück. Die letzten Karten fielen in die Lücke der Jagdrubrik. Übereinander stießen die Titel: Forstschutz. Nebennutzung. Polizei. Berechtigungen. Er sah sie niederblättern. Dutzende von Karten über die kriminellen Delikte. Das nahm fast ein Drittel der ganzen Kartothek ein, man war schon fast so etwas wie ein Polizeiinspektor. Es klopfte wieder. Den Forsteleven hatte das Geräusch ermutigt. Er hatte Erfolg. »Herein!« rief der Oberförster.
»Einige Unterschriften bitte«, sagte der eintretende junge Mann und klappte die Stiefel aneinander. Mit ausladender Armbewegung setzte sich der Vorgesetzte zurecht und überflog die Papiere:
»Sie werden hiermit ergebenst ersucht, die umstehend verzeichneten zahlungsunfähigen Forststrafrestanten zur Ableistung der angeordneten Forstarbeit, mit Heppe versehen, auf Donnerstag, den 31. August 1933, vormittags sieben Uhr nach Forsthaus Budweiler zu bestellen, mit der Verwarnung« - der Oberförster murmelte den weiteren Text mit halblauter Stimme -, »dass sowohl gegen die Nichterschienenen als auch gegen die bei der Arbeit Unfolgsamen die festgesetzte Gefängnisstrafe vollstreckt wird.«
Er griff nach dem Tintenstift und unterzeichnete mit Schwung. »Kommen die Leute wieder besser zum Strafdienst?« fragte er.
Der Eleve verbeugte sich, eh er sprach: »Gerade in Budweiler steht es sehr schlecht.«
»Ich weiß schon«, winkte der Oberförster ab. »Aber sie sollen sich nicht einbilden, dass ich mir dadurch imponieren lasse.«
»Jawohl, Herr Oberförster«, sagte der junge Assistent.
»Ist jemand draußen?«
»Der Herr Lehrer und mehrere Arbeiter. Die Arbeiter warten schon länger.«
»Lassen Sie den Herrn Lehrer herein!«
Der Eleve ging, die Türe zu öffnen. »Bitte schön«, sagte er. Man sah die Gesichter der Arbeiter im Halbdunkel. Der Lehrer trat in den Türrahmen.
»Das ist schön, dass Sie mich mal wieder aufsuchen, Herr -Pestalozzi!«
Der Forsteleve wartete auf einen Blick, dass er entlassen sei, und schloss dann die Tür zum Wartezimmer.
Der Lehrer hob die Hand in die Höhe. »Heil Hitler«, sagte er.
»Schon recht«, meinte der Oberförster und sah besorgt zur Tür. »Man kann doch nicht so, wie man will. Sie wissen doch Bescheid. Nehmen Sie Platz. Was haben Sie Schönes? Was macht das historische Leibwerk über die Saar. Sitzen Sie dick in den Folianten? Haben Sie was gefunden gegen den Franzosen?«
Der Lehrer rückte dichter an den Tisch und zog ein Manuskript aus der Tasche.
»Ich komme gut vorwärts. Wenn es Sie interessiert, Herr Oberförster. Ich dachte mir gerade gestern, dass Sie da zwei Anekdoten gern hören würden.«
Mit Schrecken sah der Oberförster, dass der Lehrer sich anschickte, aus dem Manuskript vorzulesen. Sein Blick streifte den Siegelring des Besuchers, auf dem ein Hakenkreuz blinkte. Die Partei verlangt schon viel, dachte er; man muss sich überall anbiedern. Er lächelte verlegen; aber der Mann ist nicht unwichtig; er bringt die besten Nachrichten aus den Dörfern.
»Erzählen Sie mir doch zuerst etwas aus den Trosseiner Gefilden«, sagte der Oberförster, »um vom Wichtigsten zu sprechen: was macht die Werbung für die Hitlerjugend? Wie viel haben Sie? Geht das vorwärts?«
Der Lehrer faltete sein Manuskript: »Es geht sehr schlecht. Sie müssen wissen, wir sind hier im Warndt. Die Leute so dicht an der Grenze sind nationalen Belangen schwerer zugänglich. Die Arbeiter überhaupt stellen heutzutage die Frage ganz anders. Die denken nur materialistisch. Dann sind ja viele drüben bei Wendel auf den französischen Gruben. Die können gar nichts riskieren. Da herrscht ja ein Terror... «
Der Oberförster drehte sich schroff herum: »Ich sprach nicht von diesen Saarbündlern. Leute, die beim Erbfeind arbeiten, gehören nicht zu uns. Ich sprach auch fürs erste gar nicht von Arbeiterkindern. Sie haben doch Plakate bekommen! Sind die alle verteilt worden? In Budweiler sah ich ein einziges aushängen bei einem Metzger. Vierzehn Tage später war es schon weg. Wir dürfen uns nicht blamieren vor dem Reich!«
Der Lehrer wagte noch eine Einwendung: »Man müsste etwas mehr Druck auf die Pfarrer ausüben. Ich habe da von
einem gehört, der erklärte, dass er dem Führer nur vorbehaltlich folgen werde, wenn der nämlich mit dem Sozialismus ernst mache. Dabei war das noch ein protestantischer Seelsorger.«
»Sie machen da bestimmt etwas falsch. Setzen Sie sich mal bitte ins Nebenzimmer dort, lassen Sie die Tür geöffnet, ich werde jetzt die Arbeiter von draußen kommen lassen. Sie sollen mir mal Ihren Eindruck sagen später. Ein Vorschlag, was? Wir müssen jetzt voneinander lernen.«
Der Lehrer folgte und ging in das anstoßende Zimmer. Bald darauf trat ein Arbeiter in den Amtsraum.
Er drehte die Kappe in der Hand: »Ich wollte ergebenst gefragt haben den Herrn Oberförster, warum mir der Schein fürs Gratisholzsammeln abgeschlagen worden ist. Ich habe ihn immer gehabt. Ich bin Kriegsinvalide. Ich weiß nicht, wie das vorkommen kann. Da muss einer mich nicht leiden können... «
Der Oberförster fragte den Namen, blätterte dann in der Kartothek: »Sie sind vorbestraft, Mann. Was denken Sie sich!«
Der Arbeiter wurde feuerrot im Gesicht: »Das ist nicht wahr, Herr Oberförster. Ich habe das schon gehört. Hier ist mein Leumundszeugnis vom Gericht.«
Er reichte einen Zettel hin. Der Oberförster ergriff ihn zögernd, dann donnerte er los: »Da sieht man, wie verschlampt unsere Verwaltung ist. Dieses Völkerbundsregime. Das wird 35 alles anders. Oder glauben Sie, dass das drüben im Reich heute noch möglich wäre.«
Er hob den Blick zu dem Arbeiter. Der wich den Augen aus: »Hoffentlich«, sagte er mit halblauter Stimme.
»Zweifeln Sie nicht daran; man hat die Ehre des Arbeiters jetzt in Deutschland wiederhergestellt. Der Korruptionssumpf ist trockengelegt. Ich werde Ihnen das beweisen, verstehen Sie?«
Er zog einen Zettel aus der Schublade, schrieb einige Striche darauf: »Hier haben Sie Ihren Schein! Lassen Sie ihn draußen ausfüllen. Wir wollen der Not jetzt gemeinsam zu Leibe rücken. Sie können gehen.«
Der Arbeiter murmelte ein Danke und ging. An der Tür schob sich schon ein zweiter Arbeiter hinein.
»Ich wollte mich beschweren bei der Oberförsterei«, sagte der Arbeiter, ohne große Höflichkeit zu zeigen, »dass man meinen Kindern gestern die Pilze weggeschmissen hat. Die haben paar Stunden da gesammelt. Unsereins hat seine Zeit auch
nicht gestohlen. Und aus Vergnügen gehen wir ja nicht in den Wald.«
Das ist Kommune, dachte der Oberförster. Wie das schon frech wird! Steckt Reichstage in Brand, wildert, hetzt, beschmiert die Häuser und kommt dann hierher, sich beschweren.
»Wie heißen Sie«, sagte der Forstgewaltige.
Der Mann antwortete nicht.
»Das wird Ihnen wenig helfen. Meine Förster werden Sie doch erkennen. Sie müssen sich nicht einbilden, dass Sie mit diesem Benehmen heutzutage noch durchkommen. Sie werden obendrein noch ein Protokoll bekommen, verstanden.«
Im Gesicht des Arbeiters lief ein böses Zucken; er betrachtete den schweren, wohlgenährten Mann in dem guten grünen Stoffjackett, er drehte die schmutzige leichte Kappe in der Hand; an seine Kinder dachte er, die sich in ihrem ganzen Leben noch nie satt an Fleisch gegessen hatten; keinen einzigen Hasen habe ich dem Kerl da aus dem Wald geholt; und er knallt mich an, als wäre ich ein Haufen Mist.
»Ich bin hier nicht angestellt«, sagte er, aber dann verschlug ihm der Zorn die Rede; der Oberförster griff nach einer Klingel und schüttelte sie: »Hinaus«, rief er, ohne den Arbeiter anzusehen.
Die Tür sprang auf, der Eleve stand bereit, den Hausknecht zu machen. Unbewegt blieb der Arbeiter auf seinem Platz. Das macht euch so Spaß, dass die Preußen wiederkommen sollen. Aber heute noch holen wir uns die Pilze wieder, mein Lieber. Und ich garantiere dir dafür, dass sie nach Hase schmecken.
Er würgte den Speichel herunter; der Oberförster brüllte ein zweites Mal »Hinaus«, der Eleve trat noch näher.
»Das wirst du bleiben lassen«, sagte der Arbeiter und hob die Hand.
Einige Sekunden standen die zwei schweigend voreinander, dann drehte sich der Arbeiter um:
»Es kommt auch mal anders«, sagte er und ging aus dem Zimmer. Der Eleve folgte ihm hastig.
Zwei Stunden vom Hauptquartier der Riesenwälder erledigte einer der Sergeanten des grünen Majors sein Morgenpensum. Ein Acker bei Mauterbach. Breite Spuren der Vernichtung waren durch ein Kartoffelfeld gezogen; überall perlten die halbreifen Früchte aus dem aufgerissenen Boden. Klauen waren eingedrückt in die dunkle Erde. Herumgeschleudert von wilderndem Getier lagen die Stängel der Knollenfrucht - unentbehrliche Handhabe für die Ernte.
»Na, so schlimm ist das doch nicht«, meinte der Förster und schob mit dem Stiefel eine kleine Vertiefung begütigend zu.
Der Bauer und die Kommission der Gemeinde schwiegen. »Machen Sie ein Angebot!« Die Männer antworteten nicht.
»Ich meine, mit drei Zentnern wäre das gut bezahlt«, sagte die grüne Uniform.
Ganz leichthin hatte er es gesagt, aber wie ein Gewitter ging nun der Bauer los: der Förster habe einen Vogel im Kopf; er solle sich mal herstellen und das Feld umpflügen, dann jede Kartoffel einzeln setzen. Ob er wisse, dass die Kinder sich schon daran kaputt machten? Er solle mal die Hacke nehmen, zupflügen, häufeln, wochenlang so ein Feld pflegen und dann morgens die Bescherung hier vorfinden. »Drei Zentner?« Der Bauer suchte nach Luft. Und was da herum liege, was im Wachstum gestört, was zerschlitzt sei und beim nächsten Regen faule, das sei nichts? »Drei Zentner?« Der Bauer lachte böse. Spazierengehen und sich Sonntagsbraten schießen, das möchte ja mancher gern. Aus ihm brach der Hass des schwergequälten Bauern. »Ich rühre hier in dem Feld nichts mehr an. Aber die Flinte nehme ich aus dem Schrank; und da wird sich ja wohl niemand mehr so nah heranwagen an unsre Arbeit, keine Sau und auch sonst niemand. Und im übrigen gehe ich bis ganz nach oben.« Der Bauer keuchte.
»Da gehen Sie ruhig mal zur Landwirtschaftskammer. Da bekommen Sie ja sicher recht.« Kurz war das Lachen des Försters, aber im nächsten Augenblick flog ihm der Hut vom Kopf. Die Faust des Bauern hatte das grüne Ding vom Schädel gefegt. Zu bitter hatte der Hohn gemacht. Landwirtschaftskammer! War das nicht Selbstmord? Hatte da jemals der Kleine recht bekommen! Galt da nicht der reiche Pächter, der Oberförster als Sachverständiger, auch wenn er Partei war? Keiner im Dorf hatte den Wildschaden auch nur zur Hälfte gedeckt bekommen. Man musste sich viel gefallen lassen. Aber nicht auch noch den Hohn!
Der Förster schlug zurück. Taumelnd stürzte der Bauer. In die Verwüstung seines Ackers geworfen, aufgestützt auf die zitternden Arme, begriff er, dass er ohnmächtig war gegen den Hirschfänger da. Tränen der Wut schlichen ihm in die Augen; er
fühlte zerbrochene Kartoffeln in der glitschigen Erde; er krallte sich in den Boden. Ich kriege dich doch; eines Tages geht ihr nicht mehr hier herum; jetzt könnt ihrs noch machen; aber morgen, morgen schlag ich noch anders.
Die Gemeindekommission hatte sich zwischen die beiden Männer geworfen. Der Förster drehte jetzt um und stieg den Feldrain hinauf.
Der Oberförster saß immer noch wütend an seinem Schreibtisch. Die Kühnheit des Arbeiters wurmte ihn; und unsicher gemacht, fühlte er, dass die Herrschaft lange nicht so fest war, wie es beim Appell der Förster erschien, bei den Konferenzen im Ministerium, im Gespräch mit Untergebenen und mit seinesgleichen.
In diesem Augenblick trat der Lehrer wieder in das Amtszimmer. »Ich verstehe schon, wie Sie das meinen, Herr Oberförster. Ich bewundere Herrn Oberförster. Werde mir jetzt Mühe geben, Herr Oberförster. Man muss da scharf trennen - so wie Herr Oberförster es getan haben.«
Der Oberförster lächelte selbstgefällig: »Meinen Sie?«
»Vollauf richtig«, bestätigte der Lehrer. »Nur so kommt man vorwärts. Ich bedaure, dass ich nicht mehr Zeit habe. Sieht man Sie Sonntag im Gemeindehaus?«
»Werde nicht fehlen.«
»Heil Hitler, Herr Oberförster.«
Der Oberförster hob schnell die Hand zur Schulter.
Als er allein war, überkam ihn die Wut. Er sah den rebellischen Arbeiter langsam über den Hof gehen. Verächtlich umging der Prolet den bösartig kläffenden Hund. Man sollte sie mit einer ganzen Meute vom Hof jagen dürfen! Bricht in den Wald ein, als wenn er ihnen gehörte. Beschwert sich, wenn meine Leute ihre Pflicht ausüben. Räubern, stehlen, gehen frech mit Äxten in den Forst. Pilze sammeln. Laub holen. Das klingt alles so harmlos. Von Dank keine Rede. Es ist ihr Recht?! Recht? Recht? Haha!
Der Oberförster lachte auf. Wir sollen unseren Wald verkommen lassen? Natürliche Düngung ist Einbildung von uns? Das Laub gehört der Kommune? Die Schonungen sind unser Spleen, was? Da kann man einfach so herumtrampeln.
Der Hund schlug von neuem an. Über den Hof kam ein Förster. Der Mann am Schreibtisch beugte sich vor. Er sprang auf
und trat ans Fenster. Hinter dem Förster trippelten verängstigt zwei zehnjährige Kinder. Sie trugen Körbe in den Händen voll von Schwarzbeeren. Der Oberförster ging zu seinem Schreibtisch zurück, schlug auf die Glocke. Wie eine Kasperlefigur sprang der Forsteleve wieder zur Tür herein. »Führen Sie die Gören hierher!«
Nach einer Weile brachte der Förster die Kinder. Er erhielt einen unerwarteten Anschnauzer: »Wenn Sie nicht so jämmerlich auftreten würden, wäre dieses ganze Gesindel nicht so frech.«
Der Oberförster wandte sich zu den Kindern: »Und euch werde ich in die Erziehungsanstalt bringen. Jawohl, jetzt könnt ihr weinen. Nehmen Sie ihnen die Beeren weg!«
Der Mann nahm die Körbe aus den Händen der Kinder. Die beiden hielten die kleinen Fäuste vor die Gesichter, man hörte ihr ängstliches Schluchzen; noch immer kläffte der Hund vor der Tür; sie waren sicher, dass er hereingeholt würde, um sie zu beißen. Der große Mann würde ihn hereinrufen. Ihr Schluchzen wurde heftiger.
»Jagen Sie das Kroppzeug vom Hof«, rief der grüne Hakenkreuzler.
Die Kinder spürten die Faust des Försters, der sie an den Schultern zur Türe hinausschob. Noch hatten sie nicht begriffen, dass ihre Körbe verloren waren. Da standen sie, bedeckt mit Blättern, überquillend fast in blitzenden saftigen Beeren. Das Mädchen drehte sich noch mal um und streckte die kleine Hand aus.
»Raus«, schrie der Oberförster. Das Mädchen zog zuckend die Hand zurück und hob die Schürze zum Mund, seinen Schreck zu verdecken.
Jetzt kommt der Hund, dachten die Kinder, da war die Tür hinter ihnen zu. Mutter wird uns schlagen, dachte der Knabe. Sie haben uns die Körbe nicht wiedergegeben, fiel dem Mädchen ein.
»Kriegen wir den Korb nicht zurück«, fragte es tapfer. Dann sammeln wir auf dem Nachhauseweg doch wieder, dachte es.
»Macht, dass ihr fortkommt«, sagte der Förster und stieß sie auf den Hof. Mit überschnappender Stimme und Schaum vor dem Mund begrüßte sie der Wachhund. Seine Kette rasselte. Die Kinder traten entsetzt einen Schritt zurück.
Im Amtszimmer stand devot nach vorn geneigt der Eleve.
»Lassen Sie sofort die Waldarbeiter zusammentreten«, sagte
der Oberförster. »Holen Sie alles, was draußen ist, hier auf den Schlosshof. Heute Nachmittag werden sämtliche Distrikte von sämtlichen Beerensträuchern gereinigt. Verstanden! Ich will in drei Tagen keinen Strauch mehr sehen.«
Der Oberförster erhob sich wohlgefällig aus seinem Stuhl.
»Ich werde selbst visitieren. Damit wird man dieses Gesindel am empfindlichsten treffen. Ich danke Ihnen.«
Faschist mit Hochöfen
»Ich lasse meinen Schwiegersohn bitten, sich jetzt gleich noch vor der Direktorenkonferenz bei mir einzufinden.«
Knöchting, der saarländische Zementfabrikant, Stahlgießer und Brotherr von einhunderteinundsiebzig Meistern, sechshundertsechsundvierzig Angestellten und fünftausendsechs-hunderteinundachtzig Arbeitern ließ sich in seinen Sessel zurückfallen. Die Sekretärin schloss geräuschlos die Tür. Knöchting streichelte sein Kinn, knetete die faltige Haut und sah auf die Stahlstücke, die mit Widmungsplaketten als Plastiken und Briefbeschwerer auf seinem Tisch lagen. Museumsstücke waren es schon, dem Vater Karl von seinen ergebenen Arbeitern gewidmet in jenen guten alten Zeiten, da man noch Herr im Hause war.
Knöchting zog sich ein breites schweres Buch von einem Nachbartisch heran. Das Jubiläumswerk des Hauses. Er betrachtete den bunten Deckel, und die Lust kam ihn an, in dem Buch des Ruhmes, das sich die Familie hatte schreiben lassen, selbst zu blättern. Urkunden über den Kauf der Hütte. Photos der Väter. 1894 hatte Vater fünfzigjähriges Jubiläum. Kurz darauf bekam ich einen Hochofen.
Knöchting sah lächelnd zu den Fenstern. Jetzt steht eine Batterie da. Einundsechzig Jahre habe ich. Zehn kann ich's noch schaffen. Dann soll der Tochtermann die Zügel nehmen. Wenn er energisch bleibt, hat er dieses Volk in der Hand. Es ist gehorsam von Natur, hat auch Respekt nach oben. Er sah in das Buch, las ein paar Zeilen, blätterte weiter, stieß auf eine Urkunde: Walzwerkchef Franz D. schilderte, wie Schweißmeister Th. die Ansprache an den Vater Jubilar auswendig lernte. Das war noch eine ergebene Arbeiterschaft, treu und pflichterfüllt, einfache Menschen wie man sie brauchte. Knöchting las:
Die Rede musste ich dem braven Mann, der sich mit Feuereifer der Sache widmete, entwerfen, und er exerzierte willig nach der Schicht in meinem Büro, bis er die Rede fließend herausbekam, und er hat seine Sache auch nachher gut gemacht. Kommerzienrat Knöchting nahm die Ovation durch den Fackelzug der Hüttenbelegschaft in dem Wohnhaus seines Sohnes entgegen.
In 18 Monaten studiert vielleicht wieder einer so eine Begrüßungsrede, dachte Knöchting. Wenn Hitler mein Werk betritt. Wenn bis nach Lothringen die Sirenen gellen und ich ihm meine Drehbänke zeigen kann. An dem Tag wird eine Rechnung beglichen sein mit den Franzosen. Dann beginnt hier wieder das alte Deutschland.
Knöchting blätterte um:
Eine kernige Figur war auch Vater Scheichel, ein Ungar, der ebenso freundlich wie strenge im Knöchting-Werk regierte und seine Kesselputzjungen in Zucht hielt. Denn über den Wert einer Ohrfeige in der Ausbildung des »Jugendlichen« war man sich damals einig.
Knöchting schmunzelte. Die Sprache war verständlich. Mit Ironie gesagt und doch wie ernst.
Man hatte sie wirklich in den letzten Jahren mit Handschuhen anfassen müssen, die Lehrlinge. Eine Verwirrung war unter diesem marxistischen System entstanden! Heute verstand man es erst ganz. Aber der Kanzler räumte auch damit auf.
Knöchting träumte über das offene Buch hinweg: Deutschland besann sich auf seine soldatische Disziplin. Die Sentimentalität hatte man kultiviert mitten in einer Weltkrise! Da konnte kein Staat und kein Betrieb mehr mitkommen. Und für den nötigen Krieg kam so ein Volk schon gar nicht in Frage.
Es klopfte. Er schob das Buch beiseite. Ein Mann in mittleren Jahren mit der missmutigen Miene des preußischen Assessors trat ein. »Tag, Papa, du batest mich sofort zu kommen.«
»Tag«, sagte Knöchting und zog das Buch wieder an sich heran. Er schlug es auf und zeigte mit dem Finger auf einen Abschnitt. »Ich habe gerade etwas in unserer Werkgeschichte gestöbert und bin da zu meiner Verurteilung durch die Franzosen gekommen. Eigenartige Sache! Da ist die ganze Seite voll von Entschuldigungen, weil ich in Frankreich im Krieg Drehbänke und Conversatoren requiriert und so ein paar Maschinen als Granatschrott abgebaut habe. Weißt du, das war so typisch für die 14 Jahre Marxismus geschrieben. Da musste man sich mit
Ruten schlagen für seine guten Einfälle. Gott sei Dank, das ist nun zu Ende, endgültig zu Ende.«
Der Schwiegersohn war neben den Sechziger getreten und las über seine Schulter einige Passagen der Verteidigungsschrift. Es war die Chronik eines brutalen Raubzugs. Ganze Fabriken waren 1917 durch den Kommerzienrat in Frankreich verschrottet worden, systematisch wurde ein ausgedehntes Konkurrenzgebiet ausgeraubt, mit Vorbedacht setzte man die Werke in Frankreich nicht in Betrieb und nutzte die Nähe der Front, sondern ließ die Maschinen nach der Saar wandern, stellte sie in Herrn Knöchtings Riesenhallen auf. »Man hatte ins Auge gefasst«, las der Schwiegersohn, »sie nach siegreichem Krieg zu bezahlen.« Es waren ganz alte Maschinen, klagte das Buch. Not kannte kein Gebot, entschuldigte sich der Jubiläumsschmöker.
»Das müsste man wahrhaftig umschreiben«, schnarrte der Schwiegersohn. »Möchte gerne wissen, was der de Wendel mit unserem Werk machen würde, wenn die Franzosen hier eingedrungen wären!«
Knöchting schlug das Buch zu. »Nun, die Zeiten sind vorbei. Dafür sorgt das neue Berlin. Aber zur Tagesordnung! Ich habe heute den Befehl anschlagen lassen, dass künftig mit >Heil Hitler< im Werk zu grüßen ist. Ich möchte bis zur Direktorenkonferenz wissen, wie das gewirkt hat. Würdest du einen Rundgang durchs Walzwerk machen und später hier berichten?«
Der Schwiegersohn war überrascht. Er hielt es für eine Aufgabe der unteren Beamten, diesen Befehl zu überwachen. Knöchting spürte das Zögern. Ein Exempel ist nötig, dachte er schnell. Da ist die Klippe für diese junge Generation. Die sind zu stolz und riskieren nichts gegen ihren Stand. Knöchting erhob sich. Und deshalb sind sie auch nie ganz im Bild über das Volk und immer an der falschen Stelle brutal.
»Ich kann aber auch selbst gehen«, sagte er schroff. »Es ist sogar besser. Erwarte du hier die Direktoren!«
Der Schwiegersohn sah den plumpen schweren Greis aus der Tür gehen und wagte nicht mehr, ihm zu folgen. Die Luft zitterte vom Schrei der Dampfhämmer und dem Pfiff der Rangierer, die in dem verqualmten Sommertag draußen Waggons zusammenstellten. Der Getadelte klopfte verärgert auf den Tisch; er nahm den Fahrplan auf, den der Alte eben der französischen Eisenbahn für die Erzzüge vorgeschlagen hatte; ein Netz von Ziffern; Ersparnis von Bremserpersonal, von Anheiz-
kosten der Lokomotiven. Wartezeit für Entladung, alles genau berechnet. Um was er sich alles kümmerte, knurrte der Mann und griff einen Brief auf. Er las: »... und würde unser Kleinkaliberschützenverein es sich zur besonderen Ehre anrechnen, wenn wir bei unserem Stiftungsfest auf die Anwesenheit von Herrn Kommerzienrat rechnen dürften.« Papa hatte zugesagt, da stand die Notiz. Konnte man den Mann jemals einholen? Der so überall und seit Jahrzehnten die Finger drin hatte?
Er griff einen anderen Zettel: Programm für eine Genfer Reise. Zum wievielten Mal ging der Alte nun dorthin - dachte der Mann. Viel hatte er nicht erreicht, wenn man’s genau betrachtete.
Der Schwiegersohn fühlte ein Wohlbehagen. Vielleicht war der Vater dort in Genf sogar eine etwas komische Figur unter all den Diplomaten. Ein einziger Gang zu Luther hatte mehr gebracht - wann war’s gewesen? Der junge Mann drehte sich zu dem Familienbuch um und suchte das Datum. Sehr merkwürdiger Termin: am 1. Mai 1925 war’s gewesen. Da wurden die Millionen Zölle gestundet. Das rote Berlin hatte gelohnt! Mehr als Genf!
Er sah durchs Fenster. Ein düstres Nest war dieser Ort. Eine Hakenkreuzfahne steckte drüben an einem Gebäude. Die neue Zeit! Vor vier Wochen war Papa vor Hitler gestanden. Und es hatte wohl auch gelohnt.
Der Mann runzelte die kleine Stirn. Genaues war noch nicht aus Papa herauszuholen gewesen, aber es schien, als hätte der Werkbefehl damit zu tun und die Direktorenkonferenz ebenfalls. Der Kurs wurde eindeutig. Wollen sehen, was er alles dabei vorhat.
Papa Kommerzienrat war inzwischen in die erste Halle des Walzwerks getreten. Draht stieg in zitternden bleichen Stangen aus den breiten Pressen, lief durch die Hände des prüfenden Arbeiters und rollte sich auf bereitliegende Bäume. Stacheldraht für Japan, registrierte der Alte und trat mit schnellen, aber vorsichtigen Schritten an den nächsten Arbeiter heran. Die Walzen knarrten, donnernd fielen im Hintergrund Blechplatten auf die Lagerplätze, Dampf pfiff drohend aus dem Drehhaus des Hebekrans, »Heil Hitler«, sagte der Kommerzienrat.
Der Arbeiter sah eine Hand dicht neben sich hochsteigen, seine Fäuste hielten den angewärmten Draht. Er erinnerte sich an den Anschlag. Die Kollegen hatten sich morgens davor gestaut. Da kam also schon so ein Narr und provozierte. Bei mir habt ihr kein Glück, dachte der Arbeiter. Mich macht ihr nicht zum Nazi. Nie! Er griff nach vorn, um einen Augenblick Zeit zu bekommen und sah schnell zur Seite. Lauernd trafen ihn die Augen des Kommerzienrats. Der Alte - dachte erschrocken der Arbeiter und hob schon den rechten Arm. »Heil Hitler«, stieß er schnell heraus und griff dann wieder mit beiden Fäusten nach seinem Draht. Auf seinen Backen brannte Scham, als er sich vorbeugte. Übertölpelt hatte man ihn. Er wollte ausspucken, aber so, dass der Alte es noch sah. Aber Knöchting war schon weitergegangen. Dabei hat es mir meine Stellung gerettet, dachte der Arbeiter und zog wütend an dem Draht. Wenn das sein Gedärm wäre, stellte er sich vor.
»So liegt das also, meine Herren«, sagte Knöchting. »Der Streik in diesem Juli im Walzwerk war der letzte, der hier vorgekommen sein darf. Wir müssen uns freuen, dass eine solche Erneuerung in Deutschland stattfindet. Ich hatte den stärksten persönlichen Eindruck von Adolf Hitler. Das ist eine Energie, wie wir sie gebraucht haben. Wir können finanziell auf volle Unterstützung rechnen, aber dafür muss die Saarabstimmung auch ein voller Sieg werden. Wenn wir uns zum Führer stellen, dann können wir das ausnutzen. Ich sprach ihm schon von dem notwendigen Kanal nach Ludwigshafen und hatte den Eindruck, dass er gerade für solche riesenhaften Baupläne sehr zu haben ist. Er ist ein faustischer Mensch. Zeigen wir uns seiner würdig. Sie haben alle von meinem Anschlag gelesen, der den deutschen Gruß im Werk einführt. Diese Maßnahme ist wohl eindeutig?«
Knöchting sah sich im Kreis der Ingenieure und Direktoren um. Er merkte, dass der Schwiegersohn reden wollte. Warum ließ der nicht die anderen sich zuerst äußern? So kam man nie zum aufrichtigen Urteil. Knöchting übersah geflissentlich seinen Tochtermann.
»Ich habe Ihnen angedeutet«, fuhr er fort, »wie stark verbunden unser Werk dem neuen Deutschland ist. Das muss auch äußerlich zum Ausdruck kommen. Wir müssen das deutscheste Werk an der Saar werden. Dieser Streik aber sagt das Gegen-
teil. In einem deutschen Werk wird nicht gestreikt. Da bestimmt die Werkleitung im Bewusstsein der Verantwortlichkeit. Sie allein weiß, was dem Arbeiter und dem Werk gut tut und was nicht. Das ist nationale Betriebsführung. Und deshalb der deutsche Gruß. Wir werden so am schnellsten die Elemente herauskriegen, die von den marxistischen Wahnideen nicht lassen wollen. Ich ging vor einer halben Stunde durchs Walzwerk und kann Ihnen erzählen, dass keiner, aber auch keiner den Gruß verweigerte.«
In strengem Hochmut sah Knöchting seine Kapitäne an. Er fühlte, wie sie verstummten. Einen Augenblick wärmte ihn das Gefühl seiner tyrannischen Macht, dann weckte ihn das Misstrauen des Taktikers: »Wenn Sie einen Einwand haben, bitte!«
Einer der Direktoren räusperte sich zweimal verlegen, dann meinte er, es sei vielleicht nicht opportun, offiziell als Entlassungsgrund das Verweigern des deutschen Grußes anzugeben; noch verstoße das - leider, so müsse auch er sagen - gegen die Arbeitsgesetzgebung des Saargebiets.
Knöchting nickte befriedigt: »Der Gruß soll nur zur Entlarvung führen. Das sind ja alles Saboteure. Es wird nicht so schwer sein, nachzuweisen, dass sie in der Arbeit genausowenig tauglich sind und schädigend wie in ihrer vaterländischen Gesinnung.«
Der Schwiegersohn beherrschte sich nun nicht länger. »Ich fürchte Unannehmlichkeiten«, meinte er. »Wir haben fast jeden Monat einen unserer französischen Kunden hier, der sich auch das Werk ansehen will. Man liebt den Hitlergruß vorläufig in Frankreich noch nicht so allgemein. Was tut man in solch einem Fall?«
Damit ist mal wieder bewiesen, was du für ein Anfänger bist, dachte der Alte, aber er lächelte. »Vielleicht sprechen wir jetzt gesondert vom ausländischen Markt, aber nebenbei, mein Lieber: ich glaube, es wird ein leichtes sein, unsere französischen Klienten durchs Werk zu führen, ohne dass sie Anstoß nehmen. Es liegt an Ihnen, meine Herren, in diesem Fall die Arbeiter von dem nationalen Gruß durch ein einfaches >Guten Tag< abzubringen. Für einen Franzosen ist dieser Gruß wohl auch unpassend, um nicht zu sagen, zu schade. Das unter uns. Ich komme dann zu unserer internationalen Beziehung. Das Pariser Büro meldet gute Aufträge. Die Zementlieferungen haben nachgelassen, seit drüben die chinesische Mauer steht, aber
man interessiert sich jetzt mehr für unsere Stahle. Das Spezialrohr, das nach Diedenhofen ging, hat gefallen. Ich rechne mit großen Lieferungen, wahrscheinlich auch mit Geschützstahl. Aber es ist wichtig, dass noch geschickter getarnt wird. Meine Herren, ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, dass der Kaufmann jedes Geschäft machen muss, das reell ist und Gewinn verspricht. Wir haben jetzt mit Registermark-Erleichterungen einige Verluste wieder wettmachen können. Die französischen Aufträge werden eine weitere Belebung bringen. Aber gerade weil wir der deutscheste Betrieb werden wollen und vielleicht auch schon sind, muss ich Sie bitten, alle Sorgfalt zu verstärken, dass nichts ausspioniert wird, dass allem entgegengearbeitet wird, was uns da vor der Öffentlichkeit bloßstellen könnte.«
»Die > Arbeiterzeitung< bringt seit Wochen schon Anklagen«, unterbrach wiederum naseweis der Tochtermann.
»Wir werden sie mit Stillschweigen übergehen«, fuhr Knöchting fort. Man hörte, dass er nicht gern erinnert war. Der Boden federte unter seinem Stuhl.
Sah Knöchting einen Augenblick ein, wie verräterisch sein Fall dem System werden konnte? Dass die Großen untereinander schacherten, wussten viele, in den Ministerien gab man nichts darauf. Aber es gab Grenzen, und Knöchting überschritt sie. Er war mit Gefängnis bestraft von dem französischen Konkurrenten, dem er die Fabriken ausgeplündert. Keinen Tag hatte er abgesessen davon, aber neue Geschäfte machte er mit jenen Feinden. Er kaufte ihnen Erz ab, schmolz es um, und es wurden Geschütze daraus, die dem revanchereifen neuen Deutschland einst in die jugendlichen Visagen knallen würden. Knöchting, der Patriot, ließ sich vom braunen Deutschland die Zölle schenken, um Frankreich den Zement für jene Bastionen zu liefern, vor denen Deutschlands Arbeiter sich verbluten würden. Wer weiß wie bald? Knöchting kochte in seinen treudeutschen Hochöfen, an deren Estrade die Fahne des krummen Kreuzes steckte, das französische Erz, das eines Tages zurückraste aus den nahen französischen Panzertürmen, um die Hochöfen zu zerfetzen, in denen es gekocht worden, um den Arbeiter zu zerreißen, der für Knöchtings Magerlöhne das Feuer darunter geschürt. Wahnsinn über Wahnsinn! Aber Knöchting machte sich seine Methode dazu. Seit Hitler rechnete er nun auf Krieg; 1935 würde seine Hütte zur Waffenschmiede werden; dann wanderte das Erz nach Osten, die Zementwaggons wurden auf die Höhen des Hunsrück gefahren, und Knöchting wurde der Lieferant für den Bau der zweiten, der deutschen chinesischen Mauer. Utopie? Knöchting setzte auf das neue Deutschland, und der Eisenfabrikant wusste: Eisen ist begehrt, wenn eine Nation »erwacht«.
»Durch Herumreden wird so ein Geschwätz erst zu einem Faktor«, sagte er. »Ich bitte Sie aber ausdrücklich, im Werk für Diskretion zu sorgen. Vielleicht konstruiert man zur Abschreckung einen Werkspionagefall. Außerdem ist die Technik der falschen Frachtbriefe zu vervollkommnen. Auf dem Verladebahnhof ist das Personal zu ersetzen; jedenfalls zu sieben.«
Ich werde mir die Leute dort selbst ansehen, beschloss Knöchting. Er war überzeugt, jedem Arbeiter bis ins Herz schauen zu können. Heute werde ich schon hinuntergehen, entschied er. Plötzlich war sie riesengroß vor ihm, die Gefahr der Entlarvung. Es ist Zeit, dass der Nationalsozialismus hier einzieht. Dann ist alles zu vertuschen. Dann deckt uns Fabrikanten die Autorität, und der Hetzpresse ist das weite Maul zugestopft. Achtzehn Monate noch, eine kurze Zeit, aber man musste arbeiten, dass sie nicht noch zu skandalösen Enthüllungen führte.
Die Direktoren standen in ihren glatt gebügelten Anzügen und in der ganzen peinlichen Sauberkeit der hochbezahlten Spießbürger um den alten Despoten herum und ertrugen geduldig seine langen Sprechpausen. Nur der Tochtermann runzelte manchmal die enge Stirn; er fühlte sich verantwortlich für den Familiengreis, und der schien heute besonders zerstreut. Eben hatte er mitten im Satz aufgehört. Die Kriegsvision lenkte ihn ab. Knöchting kalkulierte. Noch anderthalb Jahre, dann war er wieder ganz Herr im Haus. Und war der Herold der deutschen Sache gewesen, hatte alles getan, und keiner konnte ihm was anhängen; nein, keiner! Dann saßen sie im Konzentrationslager, die jetzt noch Skandal machen wollten.
»Das hängt alles zusammen«, begann er wieder. »Und deshalb hören Sie zum Schluss auch noch meine Meinung zur Innenlage an der Saar. Ich denke, dass ich den Herren den Eintritt in die Nationalsozialistische Partei nicht erst zu empfehlen brauche. Damit ist aber nicht genug getan. Empfehlen Sie durch die Werkmeister den Eintritt in die NSBO. Und weiter: wir müssen aktiv das Vereinsleben vom Werk aus zu neuen Impulsen führen. Rücksichtslos vorgehen gegen alle, die es nicht
für nötig befinden, dem großen Ruf des Führers zu folgen. Weiter ist festzustellen, welche Firmen noch Aufträge vergeben an Saarländer, die nicht zum neuen Deutschland stehen. Meine Herren, Sie haben alle Beziehungen zu Bürgermeistern, zu Kreisämtem. Wir brauchen die Saarbrückener Regierung nicht, wenn wir diese unteren Instanzen in die Hand bekommen wollen. Das gleiche gilt in der Schulfrage. Die französische Domanialschule muss als Schreckenskammer hingestellt werden für jeden, der sein Kind noch hinzuschicken wagt. Drohen Sie mit Entlassung! Wir müssen uns als Führer auch außerhalb des Büros zeigen.«
Er richtete sich im Sessel auf, die Pathetik packte ihn völlig, und hohl und verlogen klang seine Stimme, als er fortfuhr: »Wir sind jetzt nicht allein Ingenieure, wir sind jetzt jeder einzelne Apostel einer großen Sache, die in den Endkampf kommt. Vergessen Sie nicht: wenn dieser Tag gekommen ist, sind wir wirklich wieder die Herren im Haus. Und erst dann wird es wieder eine Freude sein, zu leben.«
Knöchting schien zu Ende gekommen zu sein. Die Direktoren zögerten noch, ihre Verbeugung zu machen und zu gehen. Ängstlich, unselbständig hielten sie da Wache um den einen Mann, dessen Schroffheit sie erst kopierten in ihrem eignen Bürobereich. Dort waren sie gefürchtet wie er. Aber hier, vor ihm waren sie klein und hatten jetzt nur das eine verstanden: der Alte hielt ganz scharfen Kurs auf Hitler. Blitzschnell überprüften sie ihre Mitarbeiter. Gewiss würde es Umstellungen geben. Der Alte hatte zweifellos Einstellung von Pgs versprochen. Würde man auch in der Direktion zu großen Veränderungen kommen? Die Furcht ging um im Kreis der beleibten und eleganten Unterführer.
»Eh ich’s vergesse«, sagte Knöchting, »bereiten Sie Ihre Büros mit allen Mitteln auf die Saarkundgebung am 27. August in Rüdesheim vor. Ich wünsche, dass alle meine Angestellten teilnehmen. Es ist vaterländische Pflicht. Wie Sie das schaffen, ist Ihre Sache. Das ist die politische Lage. Mehr ist heute nicht zu sagen.«
Nun verneigten sich die Direktoren. Auch der Schwiegersohn verneigte sich, aber er erwartete, durch ein Wort noch eine Minute festgehalten zu werden; das gab Abstand zu den Direktoren.
Knöchting merkte es. Man muss auch da härter werden,
dachte er. Kalt sah er den Tochtermann an und entließ ihn. Einer der Direktoren drehte sich an der Tür nochmals um. »Heil Hitler«, sagte er. Knöchting hob den Arm und grüßte zurück. Schnell hoben nun auch die anderen noch den Arm, einige ohne sich in dem Gedränge der Tür erst umwenden zu können. Es war etwas lächerlich, aber es war doch der Beginn der neudeutschen Epoche im Direktionskader des Rüstungsmagnaten Knöchting.
Faschist als Bürgermeister
Ein nackter Schulsaal im Gemeindehaus. Ein einziges Bild an der hinteren Wand über den Publikumsbänken; Reproduktion des fetten Martin Luther. Keiner sah ihn an, weder die langsam um das große Hufeisen der Tische sich versammelnden Gemeindevertreter noch die jungen Burschen im Antifahemd dicht unter seinem Bild.
Noch war nur das Gemurmel einer wartenden Versammlung im Raum. Von draußen aus dem brütenden Julitag kam vereinzeltes Geknatter eines abfahrenden Motorrades. Dann schaute einer der Männer im Publikum hoch und sah mit müden Augen auf die Wälder um das Dorf, in die hohe Schlackenberge hineingefahren wurden, als noch die Schornsteine rauchten. Jetzt wehten kleine Rauchfahnen an den Mündungen der Schornsteine, und träge hing das Rad einer Zeche in dem Geäst des Fördergerüsts. Die Krise hatte ihre Kulissen um das Rathaus gestellt; verschmutzt kam selbst die Sonne durch die aus Ökonomie ungeputzten Fensterscheiben. Ein Arbeiter gähnte laut. Von den Tischen der Abgeordneten traf ihn der strafende Blick eines christlichen Ratsmitglieds. Dann knallte eine Türe, ein Mann trat eilig in den Saal, warf einen Arm Mappen auf den Tisch und schlug auf eine kleine Stehglocke.
»Die Gemeinderatssitzung ist eröffnet!« sagte er und hob die Brillengläser streng über alle Versammelten. Man rückte die Stühle zurecht. An der offenen Saaltür zeigte sich in der gelben Uniform der Völkerbundspolizei ein Landjäger. Er prüfte rasch noch sein »Schlachtfeld«.
»Meine Herren«, sagte der Vorsitzende, »der Haushaltsplan ist Ihnen zugegangen.« Seine Stimme erinnerte an die jungen Fähnriche, die zum ersten Mal vor die Korporalschaft gerufen
werden, um das Kommandieren zu lernen. Er trägt wahrhaftig das Hakenkreuz, entdeckte der junge Sozialdemokrat an der Fensterseite.
»Ich brauche Ihnen deshalb nicht mehr viel zu sagen. Sie sehen, wie sich die Lage verschlechtert hat. Wir treten in die Besprechung der einzelnen Etats ein ... «
»Zur Geschäftsordnung!« sagte eine Stimme. Ein Kommunist stand auf: die Erwerbslosen, die Kumpels und die Frauen auf den hinteren Bänken reckten die Hälse. Der Kommunist erklärte, dass er einen Dringlichkeitsantrag einbringe, der nicht weniger enthalte, als ein Misstrauensvotum gegen den stellvertretenden Bürgermeister, den er und seine Fraktion nicht für befähigt hielten, der Gemeinde in so schwerer Zeit vorzustehen: »Ich spreche nicht von seiner politischen Einstellung; darin ist er sich ja wohl mit vielen Herren hier einig, wenn sie auch noch nicht so deutlich wie der schnell bestimmte Ersatzbürgermeister das Mörderkreuz des dritten Reiches tragen - ich spreche von seinen Leistungen, er ist ein völlig unfähiger Verwaltungsbeamter, wir prangern diesen Skandal an und verlangen Abstimmung darüber.«
Der Kommunist setzte sich. Die Wilhelmsthaler schmunzelten. Die Zentrumsmänner fanden die Aktion peinlich. Der Fehdehandschuh lag vor dem stellvertretenden Bürgermeister. Der Stellvertretende biss auf die Lippen und ließ abstimmen.
Dreizehn Zentrumsmänner, zwei Nationalsozialisten, ein Deutschnationaler und zwei Bürgerbündler erklärten mit erhobenen Händen, dass die Leistungen des Vorsitzenden ihr Vertrauen verdienten - die Sozialdemokraten stimmten mit den Kommunisten dagegen.
»Wir stimmen dann ab über den Elektrizitäts-Etat. Will dazu jemand das Wort?« Die Zentrumsmänner verzichteten, die übrige Rechte sah auch keinen Grund zum Widerspruch. Ein Kommunist hob die Hand.
»Ich zweifle nicht daran, dass man sich die Arbeit hier leicht machen will. Die Herren von der Rechten sind sehr stumm geworden. Als Funktionäre ihrer Klasse sind sie wohl gezwungen dazu. Wir aber als Vertreter des werktätigen Volkes haben keinen Grund zu schweigen, wir haben nur Grund zu protestieren. Man hat die Zählermiete erhöht. Sie sprechen nicht gern davon. Wir wissen, wer Sie stumm macht, meine Herren. Sie rühmen sich, dass einer der Ihren Erfolg hat. Das Elektrizitätswerk des Herrn Direktor Michelmeyer rentiert sich. Was sind wir doch für tüchtige Bürger! Aber auf wessen Kosten, meine Herren? Sie legen sich zur Ruhe, meine Herren. Gut, aber wir schlafen nicht. Wir hören den Schrei der Not aus den Hütten um dieses Haus. Sie aber legen neue Steuern auf die Ärmsten der Armen. Sie verlangen neue Mieten für Zähler, Sie verteuern den Strom. Wollen Sie verhindern, dass der Arbeiter am Abend seine Zeitung liest? Wollen Sie auch aus dem Strom des städtischen Kraftwerks ein Sonderrecht der Villen und Bürgerhäuser machen?
»Wir wissen, welchen Etat Sie damit ausbalancieren wollen. Ihren Polizeietat, meine Herren, an dem Sie auch in diesem Katastrophenjahr keine einzige Abstreichung gemacht haben -«
Die Klingel des Vorsitzenden tönte: »Wir sprechen jetzt nur vom Elektrizitätsetat!«
Die Wilhelmsthaler murrten. Der Kommunist lachte höhnisch. »Ich beantrage im Namen meiner Fraktion die Verbilligung des Stroms für alle Erwerbslosen und die Streichung der neuen Zählermieten für alle Werktätigen und Erwerbslosen.«
Der Vorsitzende stellte mit Befriedigung fest, dass der Kommunist sich gesetzt hatte und winkte schnell einem Zentrumsmann, der sich langsam und gebrechlich erhob. Er hatte vorstehende kranke Augen, ein kummervolles Gesicht und atmete schwer. Er meinte, die Kommunisten übten Kritik von einem einseitigen Standpunkt. Der Vorredner lachte: »Jawohl, wir sind einseitig! Da sitzt unsere Seite!« sagte er und zeigte in das Publikum, das lächelnd antwortete und sich durch frohes Zunicken zu seinem Vertreter bekannte.
»Aber Sie müssen doch mit den realen Tatsachen rechnen«. jammerte der Zentrumsmann.
»Die Tatsache ist die Not.«
Der Vorsitzende klingelte: »Ich bitte die Zwischenrufe zu unterlassen!«
»Wir sind noch nicht im Dritten Reich.«
Der Vorsitzende schlug wütend auf die Klingel: »Unterlassen Sie es, mich dauernd so zu provozieren!« Gelächter antwortete.
Die Klingel knallte jetzt mehrere Male; der Vorsitzende beugte sich drohend vor. An der Tür zeigte sich der Landjäger.
Der Kommunist sah, wie der Vorsitzende und der Landjäger sich Zeichen gaben. So leicht mache ich euchs nicht, dachte er und setzte sich langsam wieder hin.
Der Landjäger zog sich zurück.
»Wir sind alle schuld, dass es soweit kam«, meinte der Zentrumsredner christlich larmoyant. »Aber wir müssen Erhöhungen bewilligen. Es muss doch eine Einnahme da sein. Ich halte es deshalb für gut, dass wir schnell über diesen Etat hinweggehen.«
Nun lachten zum ersten Mal die Wilhelmsthaler, lachten auch, als der Vorsitzende sie mit seiner Stehglocke mahnend anklingelte. Auch der wiedererscheinende Landjäger störte sie nicht. Das Volk freute sich über die Naivität des Parlamentariers. Freute sich, dass er glaubte, mit Bitten etwas zu erreichen. Das Volk fühlte sich plötzlich so sesshaft auf seinen Bänken, die die Bänke von Richtern geworden waren.
Der Vorsitzende ließ schleunigst abstimmen. Der Elektrizitätsetat wurde gegen die Kommunisten und Sozialisten angenommen. Die Rechte brauchte Einnahmen, sie achtete Tatsachen und nicht die Not. Man ging zum zweiten Punkt über: zum Haushaltsplan.
Diesmal meldete sich als erster ein Zentrumsmann. Er war gesünder als sein Fraktionskollege, trug die Haare schroff nach oben gebürstet wie Hindenburg während des Weltkrieges. Aber er sprach nicht aus einer Siegfriedstellung, es war die Brüningetappe. Mit vielen Rückendeckungen, scheinsachlich, scheinsozial, biedermännisch, ein kleinbürgerlicher Jesuit, der Stegerwald der Dorffraktion. Man hatte erfahren, dass er die Taktik des Tages in Anwesenheit der Landjäger vor einer Stunde festgelegt hatte. Man hatte ihn dann mit dem Nazivorsitzenden zusammen gesehen - warum sprach er noch?
Er fürchtete die öffentliche Meinung ebenso wie das Dritte Reich. Er war mit seiner großen Fraktion auf der Wanderschaft zwischen zwei Zeiten; hinter ihm war Brüning und die Zeit der schwarz-roten Koalition - vor ihm lag im Nebel von 1935 das Braune Reich. Und in seiner Aktenmappe war der Brief des Reichsvorstandes, der ihn zu einer geheimen Gleichschaltung aufforderte.
Aber nun im Gehen und Schwanken, im Rückwärtsschauen und Vorwärtsschielen hörte er die Rufe der Masse. Er wollte sie nicht hören, sie riefen weder Heil, noch schwenkten sie die Fahnen der Republik; es wurde ihm rot vor den Augen, aber aus
der Tür, die auf den Korridor des Rathauses führte, hörte er beruhigend die Stiefel der Landjäger. Und nun sah er noch einmal auf seinen Redezettel, las die aufgeschriebenen Mahnworte »sozial, sozial«, sagte es sich dreimal, und in der Überzeugung, dass Brünings Worte von Sparsamkeit und Opferbereitschaft aller für alle noch jetzt im Juli 1933 wirksam wären, sagte er in ernster Melancholie:
»Man könnte das Gruseln kriegen, wenn man diesen Etat liest. 325 % Gemeindeumlage. Elend und Steuerrückgang. Erwerbslosigkeit und Stillstand der heimischen Industrie. Keine Aussicht auf Besserung der Weltwirtschaftskrise, die all das verschuldet. Und wachsende Unzufriedenheit und Demoralisierung in der arbeitenden Bevölkerung.
Ja, es wäre vielleicht besser, wenn nicht da Hetzer am Werk wären, die die Unzufriedenheit noch verstärkten -«
Im Publikum saß Ernst, ein kommunistischer Funktionär. Er stellte sich jetzt hoch aus seinem Sitz, er suchte den Blick des Genossen vorn am Fraktionstisch; er wollte ihn warnen, den Redner zu überhören. Die Wilhelmsthaler neben ihm waren lebendig geworden, seit dieser Zentrumsbürger sprach. Misstrauisch, aber aufmerksam hörten sie zu. Das ist eine große Gefahr hier an der Saar, dachte Ernst: der korrekte Christliche, der vielleicht sogar mit sozialen Teilvorschlägen praktischer Art ankommt. Dem glauben sogar die Erwerbslosen, und später verkauft er sie an Adolf oder an Paris, wo es gerade am besten geht.
Ernst sah seine Genossen an den Tischen mit ihren Papieren beschäftigt. Hoffentlich passen sie doch auf, dachte er. Eigentlich wissen sie ja, worum es geht. Sie müssen alle entlarven heute. Es war die vorletzte Etatsberatung vor dem Wahlkampf; das musste anhalten für zwölf Monate. »Unterschätzt diesen Tag nicht«, hatte er ihnen gesagt. »Ran und mit Vernunft- und wenn’s nicht anders geht, dann eben ruhig Krach schlagen.«
Er machte vorsichtige Zeichen mit der Hand; zu gern hätte er den Fraktionsleiter angerufen, aber der war völlig in sein Material vertieft. Sein blonder Kopf hing über dem Stapel Papier, das der Diener jedem der Vertreter noch mal vor den Platz gelegt hatte. Abwechselnd brannte ihn der Zorn und trübte ihn der Kummer.
Seine rechte Hand tastete über die Statistik der Gemeinde. Der Stumpen des Zeigefingers stand hoch aus der Hand; lebenslängliche Erinnerung an das Hetztempo im Eisenwerk. Er las jetzt leise die Ziffern nach. 14700 Einwohner hatte die Gemeinde. Und nur 108 Ortsarme. Gut gelogen. Toll! 108 Arme nur, aber zweidrittel der Arbeiter sind erwerbslos. Was nennen die denn arm!
Er suchte die Unterstützungsanträge. Da waren sie! 1209 hatten appelliert an ihre Gemeinde. 605 waren abgewiesen worden. Der Kommunist kannte die Ablehnungen, man brachte ihm die amtlichen Zettel ins Haus. Die Proleten, dachte er, hoffen, dass wir noch einmal nachstoßen. So viel Glaube an uns ist in der Bevölkerung. Wann einmal werde ich nicht enttäuschen müssen?
Er dachte grimmig an die Jahre, die kamen. Welch eine ungeheure Arbeit würde getan werden müssen, wenn nur mal die Macht da war! Rote Kommissare waren ja keine Zauberkünstler. Sie versprachen auch keine goldenen Berge.
Aber wir werden ein Sofortprogramm haben, dachte er zufrieden. Es wird niemand mehr in diesem Dorf geben, der friert und von seiner windigen Baracke aus die Kohlenberge muss liegen sehen. Es wird keinen Beamten mehr geben, der für seine Arbeit im geheizten Büro 5000 monatliche Franken einsteckt, während die Arbeiter der Minen glücklich sein müssen, wenn sie 500 Franken in unsicheren Stollen herauskratzen können.
Seine verstümmelte Hand ging den Vergleichzahlen der Jahre 1930, 1931 und 1932 nach. Er war beim »Gesundheitsprotokoll«. Eine heilige Wut kam über ihn. Er sah die Kinder des Dorfs vor sich, wie sie mit krummen Gelenken an den Halden herumkletterten, vor zerfallenen Baracken im Schlamm der schlecht kanalisierten Straßen saßen. Vor einer Stunde noch war er in so einer Wohnung. Neun Personen in einem Zimmer von drei mal fünf Meter. Der Nachthafen mitten im Zimmer. Die verwanzten drei Betten für neun Personen nur mit verwühltem Stroh bedeckt. Und am Boden krochen die Würmer, schleppten die verknorpelten Glieder über die aufgerissenen Dielen, zankten sich um ein altes abgegriffenes Portemonnaie. Lumpenproletariat! Na, so sagt Ihr. Und Ihr habt es schon aufgegeben!
Er schrieb sich neue Ziffern auf. Die Zahl von 1930 und die Zahl von 1932. Dicht nebeneinander standen die beiden Zahlen und klagten an. Er machte ein Kreuz hinter die Zahl des
letzten Jahres. Eine schreckliche Kurve zog da vor seinen Augen abwärts, immer in der gleichen Richtung.
Mitten drin stand großspurig der »Besitz« der Gemeinde an Grund und Häusern; es las sich wie ein Sterbelied:
An Gebäuden besaß die Gemeinde ein Rathaus (in dem die Verwirrung herrschte und hochbesoldete Beamte), sechs Beamtenhäuser (in denen man sich schon auf das Dritte Reich umschaltete), zehn Schulhäuser (zu denen siebenzig von hundert Kindern ohne Frühstück kamen), elf Wohnhäuser (deren Mieten so hoch waren, dass die Barackenbewohner die Miete nicht zahlen konnten) und zum guten Ende zwei Totengräberwohnungen (hier wohnten die einzigen Beamten, deren Gehalt rentabel angelegt war; sie verscharrten Unterstützungsempfänger; sie befreiten die Gemeinde von unnützen Fressern).
Der Kommunist blieb gebannt immer wieder auf diesem düsteren Bilanzposten stehen: »Außerdem befinden sich auf dem Friedhof ein Leichenschauhaus und ein Umkleideraum.«
Er sah die Kindersärge, die ungehobelten Bretterkästen der Selbstmörder und der namenlosen Wanderburschen. Man sollte an jedes Grab die Todesursache schreiben in diesen Jahren. Man sollte die Grabsteine zu Anklagen benutzen.
Er war jetzt wieder bei den Zahlen der Tuberkulösenfürsorge. Der Zentrumsmann gegenüber redete von der hohen Verantwortung, die in der Summe für ansteckende Krankheiten ihren Ausdruck fände.
Verantwortung? Ich werde es dir beweisen. Der Kommunist strich sich die Zahlen in seinen Papieren an.
In der Tuberkulösenfürsorge befanden sich:
1930 - 331, 1932 - 344. Die Zahl ging also nach oben. Aber die Untersuchungen? Ärztliche Nachuntersuchungen fanden statt: 1930 - 1077, 1932 - 345. Das nennt man »Verantwortung«.
Hausbesuche durch die Fürsorgeschwestern fanden statt: 1930-1396,1932-770.
Laufende Desinfektionen wurden vorgenommen: 1930 -752,1932-83.
Wie ein Hohn stand über der Rubrik immer noch »Gesundheitsfürsorge«. Die Gemeinde hatte Solbäder, sie machte Reklame damit, sie nannte den eingemeindeten Nachbarort einen Luftkurort.
»Man muss natürlich auf Mittel sinnen, auch fremde Kapitalien ohne Anleihen zu uns zu ziehen. Durch Fabrikanten und Sommergäste«, sagte eben der Zentrumsmann. Sinn du nur, wir werden dir andere Gäste ins Haus bringen! Der Kommunist las unter »Kinderfürsorge«: Zahl der Kinder, die Solbäder erhielten 1930 - 84,1932 - 37. Zahl der abgegebenen Einzelbäder 1930 - 843,1932 - 316. Zahl der Einzelbestrahlungen 1930-1587,1932-250.
Der verstümmelte Finger zitterte über die Schreckensziffern. Da war auch der Etat der Landjäger! Man hatte ihnen keinen Pfennig gestrichen. Man weiß, was sie wert sind, um uns niederzuknüppeln. Er blätterte um: 233 851 Franken. Eine Erhöhung um 10000 gegenüber dem Vorjahr. Getarnt als Ausgabe »zur Bekämpfung ansteckender Krankheiten«. Der Kommunist lachte böse: wir sind die heimlichen Krankheiten.
Der Zentrumsmann war eben zu Ende gekommen. Seine kleinen Parteigänger wackelten wie Mandarine zustimmend mit dem Kopf: Was sind wir doch für eine gute Fraktion! Was haben wir doch für einen klugen Vorsitzenden!
»Meldet sich sonst noch jemand zur Diskussion? Dann hat Herr Winter das Wort.«
An der Tür zeigten sich wieder die Landjäger, orientierten sich, verschwanden: der Kommunist kam an die Reihe. Ihr Zeitpunkt war nah. Man hörte im Korridor, dass alle aus der Polizeinebenstube sich sammelten.
Der Kommunist hatte sich erhoben und sofort eine Wendung zu den Bänken des Publikums gemacht. Es ging nur um diese. Der Bürgermeister, die lange Reihe der Zentrumsherren, das war Vergangenheit, ängstlich zitternde oder brutale Vergangenheit. Da hinten saß die Zukunft, da saßen die Mitglieder des Dorfsowjets. Nur an sie wandte er sich.
Es ginge, sagte er, hier ja gar nicht um eine wirkliche Beratung. Jeder im Saal wisse, dass im ganzen Saargebiet kaum ein Etat existiere, den die Saarregierung nicht den Gemeinden aufgezwungen habe. »Warum sitzen wir also hier? Um euch, Arbeiter und Erwerbslosen, einige Zahlen zu sagen, aus denen Ihr sehen könnt, was mit euch gespielt wird. Niemals soll man aber vergessen, dass der Kampf auch noch außerhalb dieses Hauses ausgefochten wird.
Ich habe gehört, dass man sich so liebevoll eines fremden Kapitalisten hier angenommen hat. Es ist der Schuhfabrikant X. Man hat ihm die Mahlwerke in Ordnung gebracht von Gemeindegeld. 150000 Franken wurden bewilligt. 170000 sind bis jetzt verpufft. Und das Resultat: einige Monate haben unsere ärmsten Genossen mit ihrer ganzen Familie auf Heimarbeit von morgens früh bis abends spät die Opanken geleimt und geschnitten, um ganze siebzehn Franken. Es kam kein Stück Brot mehr ins Haus. Unter euch sitzen genug, die das bestätigen können. Und heute hört man, dass die Fabrik zumachen muss. Die Herren haben genug verdient. Wir haben ihnen die Fabrik gestellt, unsere Kinder haben ihnen die Ware gemacht. Die Stadt hat sich für einige Monate um einige tausend Franken Unterstützung drücken können. Und der Fabrikant macht die Bude zu, sobald es ihm passt. Das nennt man Ankurbelung der Wirtschaft. Die Zentrumsleute sind Biedermänner: zum >Besten des Volkes< soll das nun gewesen sein. Wir allein haben von Anfang an gewarnt.
Wir haben genauso gewarnt vor den Anleihen, die jetzt auf der Stadt liegen wie Blei. Man muss doch schon staunen, mit welcher Unverfrorenheit die Zentrumsleute heute über die Anleihen jammern. Dieselben Leute, die vor Jahren dafür gestimmt haben. Da kommen sie aus dem Haus heraus und schreien: es brennt. Und meinen, wir wüssten nicht, wer es angesteckt hat. Wir haben ein gutes Gedächtnis und unsere Freunde dahinten ebenfalls. Die vergessen so leicht nichts. Ihr lasst ihnen Zeit zum Nachdenken. Und wir gestatten uns, den Gedanken die Richtung zu geben. Da haben sie mal wieder vom >Hetzen< geredet: sie sagen, ihr wärt viel zufriedener, wenn wir nicht wären. Sie wollen uns weismachen, ihr kämt nicht von selbst auf den Gedanken, wer euch in das Elend hineingejagt hat. Sie wollen euch dumm machen. Aber ich erkläre hier im Namen meiner Fraktion: jawohl, wir hetzen! Denn Hetzen heißt die Augen öffnen, hetzen heißt aufklären, die Fronten zeigen. Das Wort nützt euch nichts. Wir reden deutsch. Wir nennen unser Sofortprogramm: Tariflöhne für die Pflichtarbeiter. Winterhilfe für alle Erwerbslosen. Kohlenlieferung auf Gemeindekosten. Besteuerung der Gruben. Verbilligung des Stroms. Nicht wahr, das ist wieder >Hetzen<! In Wirklichkeit ist es wahre Hilfe gegen die Not. Euer Tadel wird zum Lob vor dem wahren Wilhelmsthal. Wir sind nicht fein, wir nennen die Dinge beim Namen, wir haben nicht den Ehrgeiz, in eurer korrupten, verfallenden Welt als gottergebene, bescheidene Bürger zu gelten. Wir reden und klagen an, bis alle sehen, was für eine Affenkomödie hier und überall gespielt wird -«
Die Klingel des Nazivorsitzenden tönte: »Ich rufe Sie zur Ordnung!« Aber der Redner kümmerte sich nicht darum, er hielt die Augen auf seinem Publikum:
»Wir klagen an, weil wir nicht ruhig bleiben wollen vor diesem Schandelend, vor euren Schergen -«
Der Vorsitzende schlug zum zweiten Mal die Klingel und ließ die Hand für das letzte Mal gleich darauf liegen: »Ich rufe Sie ein zweites Mal zur Ordnung.«
Die Wilhelmsthaler hatten sich zum Teil von den Plätzen erhoben. Ernst sah, wie die Genossen neben ihm sich erhoben. Der Kampf begann. Ihre Augen hingen am Mund ihres Sprechers. Wollten sie ihn verteidigen, wenn man ihn entfernte?
»Wir klagen an«, sagte der Kommunist, »weil das Volk wissen soll, wie unsere Anträge für die Erwerbslosen abgewürgt werden, weil alle wissen sollen, dass genug Geld aus der richtigen Grubenbesteuerung herauszuholen wäre, wenn die Bürgerschaft nicht vor dieser Grubenbehörde ebenso kriechen würde, wie sie jetzt vor den Fronvögten Deutschlands schon kriecht, vor Adolf und seinen Kumpanen-«
Der Vorsitzende schlug ein drittes Mal auf die Klingel. Die Wilhelmsthaler sprangen sämtlich von ihren Sitzen. Ernst registrierte erfreut den Erfolg: jetzt entlarvte sich der Nazi, und morgen schon konnte man allen Erwerbslosen zeigen, was für eine Farce so ein Gemeinderat im Kapitalismus war. Die Landjäger erschienen an der Tür. Ängstlich und mit verlegenen Gesichtern saß die Reihe der Zentrumsmänner da. Der Vorsitzende winkte den Landjägern: »Ich fordere Sie auf, den Saal zu verlassen, Herr Winter!«
Die Landjäger kamen langsamen Schrittes um die unteren Gabeln des Hufeisens.
»Ich kümmere mich nicht um Ihre Ordnungsrufe«, sagte Winter. »Ich spreche mit dem werktätigen und erwerbslosen Volk von Wilhelmsthal. Ich verlese diesem die Anträge, die wir gegen diesen Etat und über den katastrophalen Gesundheitszustand der Arbeiter und ihrer Kinder eingebracht haben -« er hob die Stimme - »und die man hier verschweigen will!«
Ein Landjäger stand jetzt neben dem Kommunisten. Er wagte noch nicht ihn anzufassen. Zornröte färbte das Gesicht des Funktionärs. War man ohnmächtig gegen diese Uniformen? Zwei weitere Landjäger kamen. Sie tun, als wenn man
ein Schwerverbrecher wäre! Er spürte die Hand des ersten Landjägers auf seinem Arm.
»Laß die Finger da weg!« schrie er, sein Zorn verwirrte seine Gedanken. Er sah in den Saal, sah die Wilhelmsthaler - standen sie nicht bereit, mit ihm die ganze Bande aus dem Zimmer zu fegen? Er sah den Genossen Ernst unter ihnen, der ihm vor der Sitzung Rat gegeben hatte. Sollte man dazwischenschlagen? Nein, das ist undiszipliniert, das ist verpufft wirkungslos. Einmal noch richtete er die Augen in die starren, grauen Pupillen des Büttels, lachte verächtlich und verließ dann seinen Platz.
Als er, gefolgt von den drei Uniformierten, an den Bänken der Wilhelmsthaler vorbeikam, rief eine einzelne Stimme »Rotfront«.
Der Nazivorsitzende sprang auf: »Wer hat da gerufen?«
»Hier«, sagten zu gleicher Zeit drei Burschen. Sie standen grinsend auf und verließen demonstrativ den Saal. Ernst musterte seine Nachbarn; wie rasch griff so eine Bewegung um sich; sie saßen alle wie zum Sprung bereit auf ihren Bänken. Schon war es ein Duell zwischen dem Bürgermeister und den Arbeitern der Gemeinde.
Vorne erhob sich die ganze Fraktion der Kommunisten. »Wir protestieren«, sagten die Genossen am oberen Ende des Fraktionstisches.
Aber nun schlug ohne Unterbrechung die Glocke dreimal an. Verkürztes Verfahren: zwei weitere Genossen mussten den Saal verlassen. Die noch nicht ausgewiesene Fraktion erhob sich, um ihre Genossen zu begleiten.
Neue Rotfrontrufe aus dem Publikum. Der Nazivorsitzende schäumte: »Ich lasse den Saal räumen, wenn das nicht aufhört.« Seine Stimme überschlug sich; er schrie wie ein Eunuche.
Das ganze Publikum erhob sich geschlossen. Die Fraktion der Kommunisten ging eben vorbei. Die Wilhelmstahler drängten sich an sie heran: »Rotfront!« sagten die Wilhelmsthaler und gingen ruhig zum Ausgang.
Zurück blieben die Mächte der Vergangenheit. Waren sie schon ganz unter sich? Auf der linken Tafelseite erhob sich der junge Sozialdemokrat:
»Ein System, das mit diesen Mitteln arbeitet, richtet sich selbst. Wir machen die Fehler der Vergangenheit nicht mehr mit. Wir verlassen solidarisch ebenfalls den Saal.«
Die Arbeiter waren an der Tür durch die Rede festgehalten worden. Befriedigt sahen sie den jungen Kameraden an.
»Rotfront!« riefen sie ein letztes Mal. »Freiheit!« antwortete der junge Sozialist und stand schon mit seinen Kameraden neben ihnen.
Die Vergangenheit tagte weiter. Die Glocke ruhte. Die Hakenkreuzler sahen trostlos in den Saal hinein. Dann machten sie Parlamentarismus ohne Volk.
Vor dem Rathaus war eine fliegende Versammlung der Werktätigen von Wilhelmsthal mit ihren Führern.
Winter sah seine Kameraden an: »Mensch, ich hab noch eine Wut im Leib.« Er grinste: »War es übrigens richtig, was ich gesagt habe?«
»In Ordnung«, sagte Ernst; er war stolz, als er jetzt über die kleine Versammlung blickte. Eines Tages tagen wir drinnen, aber mit allen Arbeitern. Und ganz ohne diese feisten Betrüger. Ganz ohne Hakenkreuz. Ganz ohne Zentrum.
»Gehen wir ein Flugblatt machen. Es muss morgen schon heraus«, sagte Winter.
Werner als Separatist
Werner hatte im Mai einmal seinem Freund Karl gesagt: »Ich habe die Extreme gern. Das einzige, wo ich nicht reinfalle, das ist: ich werde nie ein Nazi.«
In diesen Sommertagen war wohl ein neues Extrem von Werner fällig geworden.
Karl war einige Tage in den Nachbardörfern gewesen. Als er nach Neunkirchen zurückkam, sah er Werner an einer Straßenecke der oberen Stadt stehen mit einer Zeitungstasche vor dem Bauch. Der schlanke blonde Karl, die Augenbrauen wie immer ironisch hochgezogen, die Augendeckel abwartend gesenkt, rief ihn an.
»Was ist denn mit dir los? Stehste für die Saarfront oder für die AIZ«, rief Karl.
»Für keins von beiden. Tag. Für ein ganz neues Blatt. Hier guck dir das an! Ich schenk dir's als Werbenummer.«
»Na, ihr müßt's ja dicke haben.«
»Haben wir auch. Da stehen Leute hinter, das ist eine große Sache.«
»Sie werden auch nur mit Wasser kochen. Verdienste gut?«
Werner lachte. »Ja, das ist schon in Ordnung. Ich kriege Standgeld extra. Für Abonnements ne Werbeprämie. Aber was sagste zu dem Blatt? Guck doch mal rein.«
Karl sah Werner an. Der Blick war lauernd, die Fröhlichkeit übertrieben. Er faltete sich das Blatt zusammen. Da roch etwas sauer. Der Junge war selber unsicher. »Ich sehe mir's zu Hause an.«
»Warum nicht gleich?« fragte Werner, und nun ließ er seine eigenen Ängste wie junge Hunde loslaufen: »Deine Genossen sagen, es wäre ein Separatistenblatt, und es wäre von Frankreich bezahlt. Aber ich lese es jeden Tag, und es gefällt mir. Es ist nicht nur von der Politik die Rede. Auch was in der Welt passiert. Und von Frankreich nur, was nicht auch anderswo steht. Blätter nur! Sie sind schwer gegen Hitler. Das ist ihr Hauptprogramm; dass wir nicht an Hitlerdeutschland fallen. Und das ist ja denn auch das wichtigste, was meinst du?«
Karl lachte, schlug dem Freund auf die Schulter und gab ihm die Zeitung wieder zurück.
»Warum entschuldigst du dich eigentlich? Du hast doch nach mir nix zu fragen. Bist doch dein eigener Herr?«
»Mit 'nem Freund wird man sich doch aussprechen dürfen. Ich hab die Frage genau studiert. Wir fahren am besten, wenn wir autonom sind. Der Hitler schneidet uns allen die Hälse ab. Und der Direktor hat mir gesagt: hören Sie mal zu, Herr Werner, die Saarfrage ist schon entschieden. Das können Sie an unserer Zeitung sehen. Eine Zeitung kostet Geld. Wer gibt heutzutage Geld? Wer ein Geschäft damit machen will. Also von wem kommt unser Geld? Vom sparsamen Juden kommt's nicht, von Deutschland erst recht nicht. Also: es kommt vom ausländischen Kapitalisten. Wenn so jemand aber das Geld gibt, dann weiß er, es ist sicher. Verstehen Sie, Herr Werner? Das Geld ist sicher, weil unsere Politik richtig ist, weil wir die autonome Saar bekommen. Und da brauchen Sie als Arbeitsloser sich auch nicht zu genieren. >Freie Saar< wird auch wieder Brot geben, während der Adolf euch nur die letzten Rechte nimmt. - So hat der Mann gesagt, und ich hab gefunden, er hat recht. Und deshalb steh ich da, und wenn ihr alle schimpft.«
»Wer schimpft denn«, fragte Karl. »Keiner schimpft. Nur lachen muss ich, wie schön du dir alles zurechtgelegt hast.«
Werner polterte los: »Zurechtgelegt? Wer hat sich was zurechtgelegt? Die Sozis laufen Frankreich nach. Und eure Losung, ist die vielleicht nicht zurechtgelegt? Rote Saar, gut. Aber die Wahllosung, da warte ich jetzt schon seit fünf Monaten drauf. Da wird man ungeduldig und greift anderswo zu.«
Karl schwieg; er hörte die Unsicherheit des Freundes und sah, wie Werner blind in eine Sackgasse stolperte. Gleich musste er sich den Kopf anrennen. Ob er aufwachte davon? Karl zeigte mit Bedacht ein gelangweiltes Gesicht. Mit Mühe nur unterdrückte er sein Lächeln, er wollte Werner nicht reizen; schon stand die ganze Qual der Verwirrung in dem jungen Gesicht des Freundes. Die Kapitalisten machen’s der Jugend nicht leicht, auf ihre Schliche zu kommen.
»Und außerdem ist mir die SP zuwider«, tobte Werner, »weil sie ihre Schande von Deutschland nicht eingesteht. Ob der Max Braun noch so gut redet, erst muss er den Wels und den Zörgiebel ein für allemal aus der Partei schmeißen. Siehst du, das finde ich in der >Volksstimme< überhaupt nicht mehr. Da gehts nur gegen Adolf und nirgends gegen die Bonzen von früher, die alle schuld waren.«
Karl griff jetzt wieder nach der Zeitung, die Werner ihm geschenkt.
»Dann werd ich das alles wohl hier drin finden«, sagte er in festem Ton. Werner stutzte und wollte zu einer Erklärung ansetzen, aber Karl gab ihm nun freundlich die Hand:
»Ich bin zu Hause, wenn du mich suchst.«
Eine Stunde später trat Werner in die Küche, an deren Fenster Karl lesend saß. Er warf die Mappe auf die Anrichte.
»Viel verkauft?« fragte Karl. Werner antwortete nicht. Er zog umständlich sein Taschentuch, putzte sich die Nase, wischte über die Stirn und steckte das Tuch weg. Dann wühlte er zwei Zigaretten aus der Weste und bot Karl eine an. Karl nahm; Africaine, las er auf dem knittrigen Papier. »Die ist sehr gut«, sagte Werner, »prima Tabak.«
Als er das Streichholz hinüberhielt, sah Karl seine Verlegenheit. Er senkte den Blick. Die Zeitung lag auf dem Tisch zwischen ihnen. Die inneren Seiten waren aufgeschlagen. Karl sah, wie er schnell die Titel überflog: Beschleunigte Tomatenreife. Schlechte Fahrstraße. Pilgerzüge nach Trier. Na, da findest du wohl nichts Vernünftiges? Bergmann verunglückt. Ein allzu stürmischer Liebhaber. Zur Düngung der Rosenerde. Werner drehte leise das Blatt um. Als wollte er taktvoll einen hässlichen
Fleck zudecken. Aber er kam vom Regen in die Traufe. Auf der anderen Seite erschien mit Kursen und Telegrammen die nervöse Revue des Kapitalmarkts, das Börsenblatt. Werner legte die Seite wieder zurück. Er sah, dass Karl ihn beobachtete, und versuchte diesmal, den Blick auszuhalten. Die grauen Pupillen da drüben waren weit geöffnet. Der Blick ging einem durch alle Knochen. Die Augen hatten in die Gesichter von Folterknechten gesehen; im Grabeslicht eines SA-Kellers; sie hatten abgerechnet mit dem Leben, und denen entging nun nichts; da fühlte man sich immer nackt davor.
Werner konnte den Blick nicht mehr losreißen; auch als jener den Kopf wandte und ihm nur das Profil hinhielt, starrte er noch auf das Gesicht. Der hätte Grund zum Hass und Grund, jeden Bundesgenossen anzunehmen, und war dabei misstrauisch wie ein Kettenhund. Er hat sicher wieder recht, dachte Werner; ich werde tun, was er sagt; er wird mir auf den Kopf hauen; ich muss von ihm annehmen.
Von draußen heulte die Sirene der Eisenhütte. Dreimal stieg ihr Klagen und verhauchte. Dann fiel Schweigen in die Stube, das eine Weckeruhr tickend unterstrich.
»Warum tust du es eigentlich?« fragte Karl. Er sah während des ganzen Gesprächs geradeaus auf die Anrichte, wo die Zeitungstasche lag.
Werner paffte Zigarettendampf aus, er fand keine Antwort.
»Ich habe mir eingebildet«, fuhr Karl fort, »du wärst schon bald so was wie ein Revolutionär.«
Wenn er mich jetzt ansieht, werde ich rot bis hinter die Ohren, dachte Werner und stierte geradeaus. »Das kann man auch so sein«, sagte er, »ich bin ja bei keiner Partei. Ich kann ja auch verkaufen, was ich will. Es gibt ja sogar Kommunisten, die müssen Granaten drehen.« Werner hatte viel schroffer geantwortet, als ihm lieb war.
»Was verstehst du eigentlich unter einem Revolutionär?« fragte Karl.
»Jedenfalls einen Kämpfer.«
»... der andere vom Kampf abhält mit Blumenerde, Liebesdrama, Sportbericht, Rettungsmedaille, Buntes aus aller Welt?«
Werner hatte eilig das Blatt auf dem Tisch überhastet. Nun hielt er den Finger auf eine Notiz; etwas zu eilig antwortete er und fühlte schon im Sprechen, wie schwach sein Gegengrund
war: »Da ist auch ein Bericht über eine kommunistische Demonstration in - na wo war sie noch? in Völklingen. Anlässlich der Hinrichtung der Antifaschisten. - Die Demonstration wurde vereitelt.«
»Das sind sechs Zeilen, daneben stehen achtzig für die Wallfahrt nach Trier. Achtzig.«
Ganz leidenschaftslos, als addiere er eine Zeche, gab Karl das ruinöse Rechenexempel.
Werner kratzte verlegen an der Zeitung und riss ein Loch in den Bericht. War er wirklich abgerutscht? Ging das schon an Verrat heran? Stank der Geldgeber, von dem der Alte ihm so ehrlich erzählt hatte? »Aber sie sind doch genauso gegen Hitler«, meinte er zögernd.
Karl war unerbittlich: »Gegen den ist auch Dollfuß, und der Boncour auch und vorläufig noch viele. Aber bringt das den Arbeiter einen Zentimeter vorwärts? Mensch, Werner, wenn du mich verstehen willst: Es kommt nicht darauf an, gegen etwas zu sein, man muss für etwas sein. Die SP verklitscht hier ne Broschüre, wenn der Max spricht: Revolution gegen Hitler. Aber wir Proleten sind doch schon weiter. Und nun guck dir die Blätter an, nimm sie alle! Außer dem Kommunistenblatt hat keins hier Lohnberichte aus den Hütten oder was über die Grubenunglücke. Jawohl, sie bringen die Nachricht, aber der Grund steht im Mond, da kannste ihn ablesen. Die Erwerbslosen! Hier, da erhängen sie sich dutzendweise. Jeden Monat, so hab ich mir erzählen lassen, bringen sie welche nach Merzig in die Irrenanstalt, die haben den Verstand verloren. Das steht auch drin in deinem Blatt unter Buntes Allerlei und als Einzelfall. Zum Gruseln, aber nicht zum Kämpfen. Der Grund fehlt, warum das so ist, der Grund! Und den kennen deine Redakteure genauso gut. Aber warum schreibt das keiner? Dann das Thema Krankenkasse. Milch für Kinder. Medizin für die Arbeiter. Und die Rentner? Verstehst du, so'n Industriegebiet, wie ihr hier seid, hat doch doppelt soviel Unfallrentner. Und da wird gekürzt, dass den armen Krüppeln der Schweiß das Kreuz runterläuft, wenn sie am Zahlschalter stehen. Ist was drin in deiner Zeitung? Schlafpulver verkaufste, mein Lieber. Und mit der Politik gegen Hitler - so einwandfrei ist die auch nicht. Die Werbenummer, die ich gekriegt hab von dir, also nimm die erste Seite.«
Karl blieb in seiner Stellung, sah zur Wand und wartete, bis Werner die Zeitung umgeschlagen hatte. »Also da, lies nur oben
rechts! Da klagen 20 SPD-Leute von der Saar bei Adolf ihre Gewerkschaftsgelder ein. Das soll, wenn du die Zeitung liest, was besonders Wichtiges sein. Sozusagen ein Einbruch in Adolfs Front. In Wirklichkeit kriegen die zwanzig keinen Centime zurück, keinen einzigen. Aber weiter: was steht auf der nächsten Spalte: Antifaschistischer Geheimbund droht Hitler, dass er eine Oppositionspartei gestatten soll, sonst - sind ab 31. alle SS-Leute vogelfrei. >Wir spaßen nicht<, schreiben die Brüder. Und nun guck dir mal den Kalender an! Sie haben doch -gespaßt. Na, und damit ist denn so ein Blatt halb gefüllt. Dem Adolf haben sie's gegeben, sagt der Prolet und legt sich ins Bett. Und am nächsten Tag kauft er dir die nächste Nummer ab.«
Werner spürte den Spott, aber er fand keine Entgegnung. Die KP gibt auch keine Losung, wollte er noch einmal sagen, aber was konnte man gegen die rote Saar sagen? Der separatistische Agent fiel ihm ein: Glaubt doch selber nicht, hatte er gelacht, dass ihr in neunzehn Monaten die langweiligen Saarländer aufputschen könnt. Bestenfalls wollen sie bleiben, was sie sind.
Werner hatte damals dem Agenten recht gegeben. Warum konnte er es Karl nicht sagen? Jedem anderen, nur Karl nicht. Feigling werden vor dem da? Nein, ums Verrecken nicht.
»Also du hältst nichts von Bundesgenossen?« Das letzte Argument, das ihm einfiel.
»Bundesgenossen? Von Kapitalisten ausgehaltene Organisationen sind nicht unsere Bundesgenossen. Separatisten sind keine. Das sind bezahlte oder eingeseifte Feiglinge. Und lass dir das sagen: vor dem großen Kampf können wir uns nicht drücken. Da muss auch der Saarprolet durch.«
»Ich verstehe«, sagte Karl, »ich verstehe, dass hier an der Saar viele Angst haben vor 1935 und deshalb zu den Separatisten gehen, obschon ihnen dort keine andere Aussicht geboten wird, als dass ihnen vorläufig der Kopf nicht abgeschnitten wird.«
»Ich habe keine Angst«, protestierte Werner sehr ernsthaft, »ich würde auch kämpfen. Auf jeder Barrikade. Ich habe dir das gesagt, als du damals ankamst. Aber wenn du dich erinnerst, hast du selbst gesagt, man soll sich nicht an Phantasien besaufen.«
»Das braucht keine Phantasie zu sein. Aber wenn, ich sage, wenn es Barrikaden hier gibt, was denkst du, wer sie baut? Die
Bundesgenossen vielleicht? Die Landjäger mit Mister Knox? Die Redaktion vom >Generalanzeiger< mit ihrem Geldgeber? Max Braun mit den Forbacher >demokratischen< Soldaten? Ja, nun staunste, aber denk mal fertig! Wer baut Barrikaden? Die eine schöne Zukunft vor sich sehen oder die eine Drecksgegenwart verteidigen wollen? Ja, schau sie dir alle daraufhin an! Hier kommt der Arsch aus der Hose. Kein Saarprolet hält seinen Kopf für den Laden hier hin: Baracken, Notverordnungen, Knüppelpolizei, Steuerzettel, Stempelpfennige. Schön, bei Adolf ist das noch viel beschissener geworden, da kannste nicht mal das Maul auftun, ohne dass sie dir ne blaue Bohne reinpfeffern, aber hier sollste das Maul aufmachen, dass ihnen die Ohren platzen. Was heißt blutiges Drittes Reich? Dahin geht ihr auf keinen Fall zurück. Aber lässt du dir hier von einem Landjäger in den Hintern treten und sagst: danke vielmals, bei der SA hätt ich’s Beil in den Kopf gekriegt?«
Werner lachte. Wie eine Erlösung kam die grimmige Frage von Karl. Breit und glücklich stieß das Lachen aus seinem Mund. Das war wie ein kaltes Bad gewesen. Prustend stand man drunter. Jetzt brauchte man sich nur wieder warm zu schütteln, und dann war man wieder ein richtiger Mensch.
Hinter ihm ging die Tür. Die alte Mutter trat ein. Sie ging lautlos an den Ofen und hob die Ringe ab, um Feuer zu machen. Man hörte, wie sie Holz zerkleinerte. Werner stand auf und ging an die Anrichte. Karl wusste, was er tun würde. Er sah, wie jener die Zeitungen aus der Mappe riss. Ein komisches Viech. Immer im Stolpern. Geradeaus konnte er nicht gehen. Aber er hielt wenigstens den Schritt an, wenn man ihn anrief.
»Die kannste jetzt alle verbrennen«, rief Werner und schmiss den Zeitungspacken der Mutter auf die Herdplatte. Die Hände der Frau griffen in das Papier.
»Da sind ja die Köpfe noch dran«, sagte sie vorwurfsvoll. »Das ist doch bares Geld.«
Werner lachte wieder. »Weg damit! Soviel ist mir die Sache wert.«
Nun begriff die Mutter und sah Karl an. Das kommt von dir, sagten ihre großen ruhigen Augen.
»Gib mir den Stoß her, Mutter«, meinte Karl, »ich trenne sie ab. Es ist schade um die Centimes. Man kann Africaine dafür kaufen.«
Die Mutter kniete am Herd und pustete in das Feuer.
»Gieß doch einen Schluck Petroleum zu«, rief Werner und ging in die Ecke, wo die verstaubte fette Kanne stand.
Die Mutter blies noch einmal in das knisternde Holz.
»Ihr seid alle zwei Verschwender«, sagte sie dann.
Karl riss sorgfältig einen neuen Zeitungskopf ab und schmunzelte.
»Die Africaine kosten ja kaum etwas.«
»Aber satt wird keiner von euch von den Zigaretten.«
»Aber Mutter, ich geh doch ab morgen wieder stempeln.«
»Wenn sie dirs geben.«
Die beiden Burschen schwiegen jetzt. Ich muss ihr wieder Holz machen, dachte Karl. Sie hat’s nicht leicht. Einen Fresser mehr seit vierzehn Wochen. Und Unterstützung bei dem Nazi-Stadtrat - ausgeschlossen! Können ja zurückgehen, hat der Kerl gemeckert.
Karl rief freundlich: »Ich gehe ja bald wieder ins Reich, da seid ihr einen Fresser los.«
»Ach so ist das nicht gemeint«, protestierte die Alte. »Aber es muss ja was da sein.« Gütig war ihre Stimme, du kannst nichts für die Not, du sollst bleiben, sagte die Stimme.
»Du gehst rüber?« Werner beugte sich vor, sein kindliches Gesicht war ernsthaft erschrocken.
»Ja! was meinst denn du? Hab lange genug hier herumgelegen.«
Werner hörte, dass es kein Augenblickseinfall war, das kam so fest heraus, das war schon länger beschlossen, er wagte nicht zu erwidern. Prüfend sah er dem Freund ins Gesicht. Der nickte nur.
»Ich bin der erste nicht, der wieder an die Arbeit zurückgeht.«
Von der Straße klopfte jemand ans Fenster. Karl fuhr leicht zusammen. Die Mutter ging öffnen. »Ist er zu Hause?« fragte eine Stimme.
»Ja, kommen Sie nur rein, Herr Alt«, antwortete die Mutter freundlich.
»Ah, da ist ja die ganze Gemeinde versammelt«, sagte der schmächtige bebrillte Mann, der kurz darauf eintrat. »Frei Saar.«
»Rotfront«, gab Karl zurück.
»Gut verkauft heute?« fragte Herr Alt und zeigte auf die separatistischen Blätter.
Werner räumte die Zeitungen vom Tisch. Die Mutter kam mit
einem Lappen und wischte über die Platte. Nun stolperte die Entscheidung direkt ins Haus. Aber ich bin fest, dachte Werner. »Darf man sich ein bisschen häuslich niederlassen?« fragte der Besucher. »Ich bringe nämlich eine Nachricht« - er hob gewichtig den Zeigefinger -, »die nicht zu verachten ist.«
Werner grinste: »Und ich hab eine für dich, die du dir hinter den Spiegel stecken kannst.«
»Mir ist das ja gar nicht angenehm«, meinte der kleine Mann und nahm die Brille ab, »jetzt muss ich mir ja wieder einen Ersatz suchen.« Er hauchte in die Brille und redete vor sich hin, ohne jemand anzusehen. Sichtlich genoss er die Sensation, die er auf der Zunge hatte. »Aber Verdienst ist Verdienst und Schnaps ist Schnaps, wie das Sprichwort sagt.«
Umständlich polierte er die Gläser, hob sie gegen das Licht, flüchtig streifte er den lauernd an der Fensterbank sitzenden Karl. Die Kommune wird staunen, wie mächtig wir sind.
»Also um in medias res zu gehen, wie der alte Lateiner sagt, so hat sich da ein Plätzchen für unseren Freund Werner gefunden.«
Er unterbrach seine Rede und schaute im Kreis herum. Unbewegt saß der Kommunist. Werner stand bei der Anrichte und runzelte die Stirn, nur die alte Mutter schien sofort zu verstehen. Sie schnitt ihre Kartoffeln in einen kleinen Topf, man hörte die Stücke ins Wasser plumpsen, eins fiel auf den Boden, denn Mutter Werner hatte sich schroff herumgedreht, ihre grauen Augen bekamen einen freundlichen Schimmer.
»Ja, ja, Mutter Werner«, sagte Herr Alt und setzte seine Brille wieder auf, »da kommt denn auch mal wieder etwas Speck zu den Krummbirnen dazu. Das sind eben Beziehungen, und wenn man der Vernunft folgt und nicht den höheren Weisungen der Barbarenfürsten fremder Länder... «
Er wandte sich rasch zu Karl. »Ich meine damit die Berliner«, sagte er begütigend.
»Was anderes hab ich vorläufig auch gar nicht gedacht«, erwiderte Karl.
»Also die Stelle ist frei. Ab morgen kannst du wieder richtiger Kumpel sein, Werner. Brauchst dich nur bei der Inspektion beim Divisionär zu melden. Deinen Namen kennen sie schon. Geht alles in Ordnung. Was sagst du nun?«
Werner hatte verlegen nach einer Zeitung gegriffen; er zupfte kleine Fetzen aus ihr. Wenn nur Karl zuerst reden würde!
Konnte man da nein sagen? Musste man nicht zugreifen? Da siehste, wie die zusammenhängen. Seit drei Jahren war er abgelegt. Und jetzt - paar Tage Zeitungsverkauf und du kannst bei dem Changel einfahren!
Er sah zu Karl hinüber. Der ging ins Reich. Illegal arbeiten. Und er - ließ sich kaufen. Quatsch, kaufen, er musste ja schuften. Aber ein Haken war dabei. Wenn Karl nur reden würde!
»Da biste wohl sehr überrascht, alter Schwede«, triumphierte das Männlein.
»Sag doch was!« Werner sah zum Herd, wie Mutter sich freute! Bekam kaum den Mund zusammen! Und bei der Lisbeth war’s auch ganz sauber, davon zu erzählen heut Abend. Es macht keinen Spaß, wenn nur die Weiber Arbeit haben. Werner drehte sich um und schob die Zeitung auf die Anrichte. Karls Mütze lag auf dem Brett. Die Schirmmütze vom RFB. Sechs in der Todeszelle von Altona. Tausend im SA-Keller geschunden. Teddy im Zuchthaus. Karl ging ins Reich zurück. Ich wollte eben die Zeitungen hinplacken. Vor fünf Minuten. Und jetzt? Dem Zeitungsfritzen sich verkaufen? Der Karl hält mich für einen Schleimscheißer.
Er griff nach der Mütze, wollte sie aufsetzen und dann den Kerl rausschmeißen, aber er legte sie wieder hin und drehte sich ruhig um. Kommt nicht in Frage, wollte er sagen, wie ein Hund wollte er ihn anbellen, ich geh lieber stempeln, da hab ich genau soviel davon.
Aber nun redete endlich Karl.
»Arbeit ist immer gut«, sagte er. Das Männlein, schon leicht verstimmt über so geringen Erfolg, wackelte schulmeisterlich mit dem Kopf.
»Ein Prolet gehört zu Proleten«, fuhr Karl fort. Er sah Werner jetzt mit vollem Blick an. »Und wer im Betrieb arbeiten kann, der ist sowieso an der richtigen Stelle.«
Ganz langsam kamen die Worte heraus. Werner sah nicht den dankbaren Blick der Mutter, auch den Agenten beachtete er nicht, der immer noch hochmütig zustimmte und mit dem Kopf nickte.
Sowieso an der richtigen Stelle, wiederholte Werner. Warum grinste der Karl? Wollte er ihn verkohlen? Nein, er meinte den Kleinen. Eben hatte er hinübergewinkt zu dem Männchen und die Faust auf dem Tisch geschlossen.
»Ich würde auch gern mal wieder am Stoß stehen.«
Werner sah das ironische Lächeln.
Das Männlein hob den Kopf.
»Das ist gar nicht so ausgeschlossen«, sagte er eilig, »die Verwaltung trägt sich schon lange mit der Absicht, Emigranten einzustellen.«
»Dann soll sie sich aber mal eilen«, meinte Karl lachend und stand auf. »Also Werner, wie ist das nun? Angenommen, denke ich.« Er stand dicht vor ihm und zwinkerte ihm zu. Ich versteh dich schon, sagte der Blick. Aber es ist falsch, was du denkst. Wenn du da unten arbeitest, kannst du vielleicht mehr tun als hier oben. Ich erzähl dir noch was. Wenn der raus ist.
»Nur der Prolet rettet die Saar«, sagte Karl und schlug ihm auf die Schulter.
Das Männlein hinter ihnen schnäuzte sich: »Ja, ja«, sagte er schnüffelnd, »da ist was Wahres dran.«
»Na denn Rotfront, Kumpel Werner«, sagte Karl. Er sah grinsend auf den Agenten herab.
»Frei Saar«, rief schnell und laut der Agent, schnüffelte noch einmal und steckte sein Taschentuch ein.
Die Entführung
Zwei armselige Hütten. Aus Brettern, Blechleisten und Ziegelstein zusammengestückelt lagen sie in den Wiesen zwischen der deutschen und der saarländischen Grenze. An den Schlagbäumen im Westen standen französische Zöllner, zweihundert Meter weiter wachten seit fünf Monaten die braunen Uniformen der SA. Keiner kümmerte sich um die abenteuerlich ärmlichen Wohnwürfel, wie ausgeschlossen aus den Staatsverbänden lagen sie, und ihre Bewohner hatten auch vergessen, nach dem Staat zu fragen, der sie hungern ließ. Sie gingen auf dem kleinen Stück dürrer Wiese umher, auf dem ihre Hütten standen, und wussten: ihr Pass war die Stempelkarte, ihr Vaterland war weder hüben noch drüben.
Ununterbrochen trafen Autos aus beiden Ländern ein, standen zweihundert Meter von den Hütten entfernt vor den Schlagbäumen im Glanz ihrer Karosserien; Koffer, gefüllt mit Kleidern und Wäsche, wurden geöffnet und wieder geschlossen. Lastwagenkutscher hoben den Reichtum ihrer Kisten und Säcke herunter, zeigten saftige Frucht und blütenweißes Mehl und luden wieder auf.
Die Bewohner der beiden Hütten, zwei Ehepaare mittleren Alters, lagen an den windschiefen Fenstern und hörten die Motore wieder anspringen und wegfahren in sagenhafte Länder, in Magazine, die nur die Sehnsucht des Hungers erreichte. Sie schlossen die Fenster mit Hass. Dumpf war in ihnen der Gedanke, dass dies alles sich einmal ändern würde.
Viel tat seit Beginn dieses Jahres die nahe Stadt, um für das Hakenkreuz zu werben. Die Hüttenbewohner blieben misstrauisch. Sie sahen, in der Stadt bummelnd, die Blicke der Bürger, die verächtlich das zerlumpte Gewand der Hüttenbewohner streiften; sie hörten, dass nicht jeder der Hakenkreuzler mit jedem zusammensitzen wolle; ihr Instinkt sagte ihnen, wie dies gemeint sei; sie bewahrten still ihren Hass; ja sie akzeptierten den hochmütigen Tadel, Untermenschen zu sein; sie wollten unten bleiben, bis die Stunde kam. Sie sprachen viel von dieser Stunde.
Doch vorher gingen sie alle durch die Prüfungen einer anderen Stunde. Das war in diesem Juli 1933.
Freunde wohnten in der nahen saarländischen Stadt Homburg, Elsässer, die vor Jahren zugezogen waren, geschlagen von der Not wie sie Selbst. Franzosen? Nein, Klassengenossen. Die Hüttenbewohner kannten den nationalen Unterschied nicht. Ihr Vaterland hatte andere Grenzen. Sie machten keine Worte darüber, aber sie handelten danach. Zwischen der Elendswohnung jener Franzosen und ihren Baracken war ein brüderlicher Austausch von Meinung und Gefühl.
Der Nazihäuptling im braunen Haus von Homburg tagte mit seiner Gruppe. Ein Coup sollte gelandet werden. Die Gauleitung drüben in der Pfalz wollte Taten sehen. Es genügte nicht, Zöllner anzupöbeln. Österreich hatte andere Anregungen gegeben. Irgendein Schlag gegen die Grenzbalken musste geführt werden. Die Pfälzer gewährten jeden Schutz, wenn man rechtzeitig über die Linie kam. Da saßen sie an ihrem Biertisch und spielten die Strategen. Man hatte Zeit zur Vorbereitung. Was riskierte man? Niemand würde schießen. Waffen waren da, und wenige hundert Meter auch die Hilfe, gegen die nur eine Kriegsmacht etwas vermochte.
Kennel, der Bewohner der oberen Hütte, wurde ins Reich gelockt, ein Rad abzuholen. SA stand bereit und verhaftete ihn, warf ihn ins Gefängnis. Die Frau wurde nach Tagen benachrichtigt. Man habe Flugblätter bei ihm gefunden, es könne
eine sehr schwere Sache werden. Man wisse noch gar nicht, wie das alles ausginge. Sagte der Nazi und verschwand. Die Frau schlich in die Hütte zurück. Die Kinder schliefen schon. Der alte Vater war noch wach. Sie sah ihn an; er nickte mit dem Kopf, müde vom Leben, ohne Trost, zu sehr schon geschlagen, als dass er noch einen Rat hätte geben können. Unfähig zu denken legte sich die Frau neben die Kinder. Es waren nur zwei Betten im Zimmer, zwei Betten für sechs Personen. Heute waren es fünf Personen, seit Tagen waren es fünf Personen. Für Wochen würde es so bleiben. Für Jahre vielleicht. Der Frau war der viele neue Platz nicht angenehm. Nein, es sollte voll sein wie immer! Das andere Atmen sollte da sein. Das Schnarchen, der schwere Körper. Sie sah die Schlaglichter von Autos über die Wände laufen, hörte aus den Zöllnerwohnungen Musik eines Senders. Wieder kam ein Auto an, hielt lange, dann knirschte der Schlagbaum, der Motor brummte, dann lachten viele Stimmen, und dann begann eine Melodie, entfernte sich mit den Lachern nach der deutschen Seite hin. »Die Fahne hoch...« Sie hörte die Strophe; alle Kinder sangen sie; es war der Gassenhauer dieser Tage, die Provokation dieser Tage, fast gedankenlos gesungen. Nun wurde der Gesang leiser: »marschieren im Geist in unseren Reihen mit...« Die Frau sah noch einmal auf das tote Gesicht des Großvaters, dann zog sie der Schlaf in das geräumige Bett nieder und in schreckliche Träume.
Tage lebte sie so. Sprach kaum mit den Nachbarn, die immer Genaues wissen wollten. Die >Franzosen< kamen. Die greise Genossin Lutz. Man hatte ihr auch einen Sohn drüben festgehalten. Sie konnte ihn nicht besuchen. Sie wusste nicht, ob sie zugelassen wurde, und dann war das Fahrgeld zu schade. Der Nachbar Jenny kam, ein schwerer fester Kerl. Er tröstete nicht, er fluchte und sagte, das könnten sie mit ihm nicht machen. Da hätt's einen Toten dabei gegeben.
Die Frau hörte ihm zu; sie standen im Hof vor den Kaninchenställen. Sie schüttelte das Grünzeug in die Kästen. Die Tiere fingen an zu nagen. Die Frau von Jenny kam. Ein junges Weib, die Genossin Jenny. Sie fasste ihren Mann unter, hörte seinen Reden zu. Frau Kennel hielt den Deckel des Kastens in der Hand. Sie sagte immer noch kein Wort. Sie sah nur die Nachbarin an. Die konnte unterfassen, die hatte ihren Mann behalten. Die hatte es gut. Und keiner wusste, wie lange es dauern würde mit Kennel.
Jenny sagte, das wären Barbaren, aber der Tag der Rache käme auch mal.
Frau Kennel sah auf den Busen von Genossin Jenny. Soviel wie die habe ich lange noch, dachte sie, ohne dass davon die Rede war, und reckte sich in den Schultern hoch. Ihre prallen Brüste schmerzten. Plötzlich schlug sie den Tierbehälter zu, dass es knallte; die knabbernden Hasen erschraken und versteckten sich im Laub des Hintergrunds. Frau Kennel lief mit rotem Kopf in die Hütte.
Am Abend war wieder ein Mann vor der Tür. Sie erschrak, als er mit einem Mal vor ihr stand. Sie schälte weiter ihre Kartoffeln und bröckelte sie in den Eimer.
Ob sie Frau Kennel wäre, fragte er. Sie antwortete nicht, sah ihn groß und fremd von unten an.
Er wurde gröber, wiederholte seine Frage. Sie zog den Kopf ein, wollte ihn vom Hof weisen. Das Maß war voll, sie wollte nichts mehr wissen von all dem Gerede. Sie sah auf die hohen Bärenstiefel des Mannes, sorgfältig waren die neuen Schnürsenkel von Loch zu Loch gezogen. Die abgelaufenen Turnschuhe ihrer Kinder fielen ihr ein. Die Knoten in den Schuhbändern. Warum hatte der so nagelneue Schuhe? Bis zu den Knien gingen sie herauf. Sie sah nicht höher, sah nur das stramme Bein vor ihrem Kartoffeleimer, sie wollte den Eimer umstoßen, ihm das Wasser über die Füße gießen, da sagte der Mann, er könnte den Kennel frei bekommen.
Sie erschrak. Jawohl, er sitze in Sandorf, aber man wolle Gnade für Recht ergehen lassen. Er solle zu seinen Kindern, zu ihr. Er ginge straffrei aus. Übermorgen, wenn sie wolle.
Die Frau hörte misstrauisch auf den Mann, der da über ihr redete. Sie kannte ihn nicht, keiner kannte ihn von den Freunden. Es ist einer von drüben, dachte sie, einer, der ihren Mann gesehen hat. Einer, der mit dem Gefängnis zu tun hat. Sie haben alle jetzt solche Schuhe da drüben.
»Na da lasst ihn doch frei!« sagte die Frau. »Er hat doch nichts getan, hat nie jemand was weggeholt, ist ein anständiger Mensch.« Sie wollte noch sagen, dass er auch nichts mit der Politik zu tun hatte, aber sie fürchtete, der Mann könnte ihr Beweise geben, und sie wollte ihn nicht erinnern.
Es sei eine Bedingung dabei, meinte der Mann mit den Bärenstiefeln. Sie müsse die Lutz und ihren Sohn hier ins Haus einladen. Die Franzosenköpfe. Am Abend. Wenn es
ginge, schon morgen. »Sagen wir um acht Uhr. Einverstanden?«
Langsam verstand die Frau. Einen für zwei. In ihr Haus. Die alte Lutz und den Sohn. Das war ein Hinterhalt. Ein Verrat. Die Lutz wird kommen, überlegte sie. Sie ist ja fast jeden Abend jetzt da. Sie werden sie abholen, wenn wir miteinander sprechen. Sie werden sie umbringen. Wird die Lutz merken, dass ich mit im Spiel bin? Der Kennel wird toben. Er wird mich schlagen, aber er wird zurück sein.
Sie sah ihn schon wieder herumgehen, dort unter dem Gebüsch sitzen, wo er sich die Bank gemacht hatte, wo er sich mit den Genossen unterhielt. Er würde neben ihr liegen im Bett, er würde nach ihr greifen, sie würde ihn spüren, seine starken Beine. Und die Lutz würde vielleicht doch nichts merken. Man musste es nur geschickt machen, man musste erschrecken, musste schimpfen, wenn sie in die Stube kamen. Hoffentlich taten sie ihr nicht schon hier im Haus etwas. Die Frau warf das Messer in den Korb und stand auf. »Ihr seid ja schöne Kerle«, sagte sie und zitterte davor, dass er nun aufbrausen würde und sein Angebot zurückzöge. Was macht ihr denn mit mir, wollte sie fragen, aber schon war der Wunsch, dass alles wahr würde, größer als ihre Angst vor den Folgen.
Sie ging in die Stube, stellte den Eimer auf den Herd. Die Wand war frisch beworfen. Kennel hatte es noch gemacht mit einem erwerbslosen Kollegen. Sie wollten noch streichen. Da holten sie ihn. Jetzt liegt es so da.
Sie sah die rohbeworfene Wand an. Was haben wir denn vom Leben, schrie es böse in ihr. Die Lutz hat genausowenig, meinte eine andere Stimme. Schwach pochte ein Gewissen: da draußen stand der Feind, hat Bärenstiefel von Hitler an, man sollte ihn anspucken, meinte das kleine Gewissen. Aber das macht den Kennel nicht frei. Sie sah Kennel in einer Zelle. Gitter hoch oben in der dunklen Wand. Sie hatten ihn fest. Keiner der Kameraden holte ihn heraus. Die Nazis waren zu stark. Sie würden immer so stark sein. Besser man stellte sich schon gut mit ihnen.
Die Frau fühlte ihre Ohnmacht und ihr Elend; aber es machte sie nicht stolz. Kennel müsste da sein und ihr raten. Kennel würde das richtige sagen. Aber Kennel saß. Und wenn er nicht da war, dann fehlte ihr doch alles.
»Mit uns könnt ihrs ja machen«, sagte die Frau.
Der Mann trat vorsichtig an die Tür, schaute in die Schlafstube. Er hörte die Zustimmung und prüfte die Räume, die Eingänge, die Fenster.
»Es ist gut so«, sagte er dann. »Also auf morgen Abend!«
»Wenn wir sie herkriegen - aber geht nur, ich sorg schon dafür.«
Der Mann ging in die Nacht hinaus, durch den dünnen Zaun auf den Feldweg nach Osten zu. Er mied die Grenzstation.
Als er am Bahndamm war, hörte er ein Laufen hinter sich. Er griff nach dem Revolver, da stand die Frau schon vor ihm:
»Und ich kann mich darauf verlassen, dass der Kennel frei wird?«
»Wir halten, was wir versprechen«, sagte hochmütig der SA-Mann.
Die Nacht war schwarz. Der spärliche Neumond lag noch drüben hinter den pfälzischen Wäldern, in den die Schießstände der SA wie lange Särge eingeschoben waren. Die Stadt Homburg schlief hinter Fensterläden. Gaslaternen strömten langweilig gelbes Licht über die in schwerer Dunkelheit stehenden Häuser unter dem Burghügel. Den gepflasterten steilen Weg zu den unteren Mauern der Burg keuchte eine Frau hinauf. Sie verschwand in dem Torbogen eines schweren Turms, man hörte ihre Schritte verklingen in den winkligen Kellerlöchern, die dort mit Treppen und Türen als Wohnungen sich ausgaben, dann rief eine Männerstimme laut und kurz: »Bleib bei die Kinner.« Und wieder kamen Schritte, aber von zwei Menschen; sie waren unregelmäßig, und es klatschte, als müssten weite Strecken Schlamm übersprungen werden. Der alte Torbogen, lügenhaftes kräftiges Schmuckstück vor die elendigsten Wohnungen gestellt, nahm das Geräusch der Schritte bereitwillig auf. Es war, als hinge Faliada, das sprechende Pferd, in dem dunklen Bogen; jetzt waren keine Schritte mehr zu hören, aber eine leise Menschenstimme: »Ich konnt es dir drin nicht sagen«, flüsterte es aus dem offenen Gewölbe. »Die Kennel hat ein Gesuch für Jakob geschrieben. Er soll freikommen. Sie will es uns zeigen. Du kannst gleich mitkommen.«
Die Stimme schwieg. Ein Husten erschütterte die Stille, über die eine verstopfte Gaslaterne flackerte. Aus der Tiefe des Tals rief ein Auto mit langen Schreien den Tankmeister wach.
»Du bist immer noch erkältet«, sagte die Stimme. Sie war weich geworden. Es war Mutter Lutz, die dort im nächtlichen Schatten des Turmes klagte, eine Proletenmutter. »Du musst dich mehr pflegen«, bat sie, und das Wort war schon bitter, eh es gesagt war. Seit wann konnte ein Prolet sich pflegen? Die alte Frau stand besorgt vor dem Sohn. Ihre grauen Augen suchten forschend das Gesicht des Sohnes, ihr ganz dünner Mund, in senkrechten Fältchen plissiert, blieb geöffnet, fast unmerklich zitterte ein gütiges Lächeln um die schmale Oberlippe. »Ferdinand, was ist?« fragte sie, da sprang der junge Mann fort in die Schlucht der Wohnhöhlen, fauchend wie eine Katze. Um einen Haufen Holz sprang er, riss einen Scheit hoch und schrie: »Was willst du?«
Die Frau hörte, dass niemand Antwort gab. Ferdinand hatte sich getäuscht. Alles bespitzelt uns, dachte sie. Sie schleichen uns nach. Dabei sitzen sie genauso drin wie wir. Die Nazis geben ihnen einen Dreck. Und den Ferdinand machen sie mir noch ganz verrückt. Der hat sowieso keine Nerven mehr.
Sie sah, wie der Sohn im Hintergrund den Scheit in den Schlamm warf. Er war einem Gespenst nachgesprungen. Es ging nicht mehr lange so weiter. »Sie werden alle verrückt«, flüsterte sie. Die Frau hatte die Augen weit geöffnet.
Das erlebte sie nun jeden Tag. Das Gezänk dieser Menschen. die nebeneinander wohnten und sich hassten. Die schmutzigen Kinder schlugen sich, die abgemagerten Großen riefen sich Schimpfereien zu, in die Kochtöpfe schnüffelten sie, jeden Besuch belauerten sie, der gleiche Schlamm lag vor ihren Höhlen. Bretter als Landungsstege vor allen Türen, und keiner erkannte, wer sie in diese Verliese des Elends gesperrt. Einer war gekommen und hatte angefangen, ihnen einzureden, der Adolf von drüben ändere das alles. Die Fahne mit dem großen krummen Kreuz, die bringe Fleisch und Kohlen. Und dann hing die Fahne eines Mittags oben am Burgkaffee über ihren Löchern. Sie hing wie eine höhnende lange Zunge aus dem Turmfenster der Wirtschaft, wo keiner von ihnen sich auch nur zu einem Glas Bier aufhalten konnte. Die Bürger streckten die Zunge heraus, den Elenden ins verhärmte Gesicht. Die jungen Männer in den Höhlen sahen sie einen ganzen Nachmittag an. Aber abends war sie nicht mehr da. Einer der Höhlenmenschen schlich um Mitternacht ans Fenster, als er jemand durch das Tor der Turmmauer in die Gasse hereinlaufen hörte. Aber schon
knallte eine Tür und die Gasse lag wieder in nächtlicher Stille. Aus einem der Häuser zuckte wenige Minuten später ein Feuerschein, Funken wirbelten durch einen Schlot in die Nacht zum Burgberg hinauf, der ohne Fahne war.
Geschrei am nächsten Morgen in allen Häusern. Ein Uniformierter ging durch die Gasse, eine verlorene Fahne suchen. Grinsende Burschen standen in den Türen und verstanden ihn nicht. Haßgeladen gingen die amtlichen Boten wieder fort in die Stadt. Aber einen, den Jakob Lutz, hatten sie dann im Juni festgehalten, als er im Land des Hakenkreuzes spazierengegangen war.
Die beiden traten aus dem Torbogen auf den steilen bleichen Hang, der zu der friedlichen Stadt und der gefährlichen Grenze führte.
»Ich koche dir heute Nacht noch einen Kamillentee«, sagte Mutter Lutz, »der macht frei.«
Eine halbe Stunde später saßen sie in der Hütte bei Frau Kennel. Ferdinand und Mutter Lutz. Aus dem Nebenzimmer kam das schwere Atmen des schlafenden Vaters. Der Nachbar Jenny, ein breiter, ruhiger Mann, legte ein Papier auf den Tisch. »Das Gesuch«, sagte er, »gefällt mir nicht, gar nicht.«
Mutter Lutz hörte das Misstrauen in der sicheren Männerstimme. »Kann man es denn nicht verändern?« fragte sie und sah die Kennel an.
»Ja. das wäre doch das beste.« Eilig stieß die Gefragte es hervor. Das Kerzenlicht flackerte im Windzug ihrer Worte. Aus der Nacht hörte man die Kaninchen an ihre Holzkisten klopfen: tapp - tapp, tapp. Der Vater röchelte in seinem Schlaf. »Ich will die Tinte holen«, sagte die Kennel.
»Ja, geh sie holen«, sagte die Lutz, da war jene schon in die Nacht gegangen und die Tür war fest geschlossen.
Die drei Menschen saßen stumm um den Tisch und stierten auf den knisternden Docht des Stearinlichtes. Das Fett schmolz, füllte den Tiegel der Kerze, schwappte dann über und erhärtete sich in dünnen Stängeln. Ferdinand plitzte das warme Wachs in seine Hand und knetete es. Jenny und die Mutter folgten seiner Spielerei mit abwesenden Augen. Warum sprach niemand? Die Kennel blieb lange. Wo versteckte sie denn ihre Tinte? Im Heuschober oder im Schornstein? Es war schrecklich ruhig in der Küche, seit der Kennel im Kittchen saß. Ob so ein
Gesuch wirklich nützte? Einen Stein konnte man von der Tür aus werfen und er fiel schon über die Grenze. Nachts war man noch viel näher, da rutschten die Felder im Dunklen aneinander, das kleine Haus war schon drüben, durch die Fenster blickte schwarz schon das feindliche Land - die Lutz dachte es und hatte doch keine Angst. Wenn’s so wäre, könnte man persönlich für den gefangenen Jakob reden. Wäre es nicht auch besser, warum fürchtete man sich vor diesem einen Schritt über die Grenze? Was konnten sie einem schon tun? Sie würden eine alte Mutter nicht schlagen, wenn sie für ihren Sohn bitten kam. Soviel Herz hatte doch jeder im Leibe.
Die Kennel kommt überhaupt nicht wieder, dachte die Lutz, da kreischte die Türangel, und die kräftige Blondine trat wieder ein. Sie stockte, sah auf die kleine Versammlung über dem Kerzenschein, sah das immer noch misstrauische runde Gesicht von Jenny, das scharfe Profil der alten Lutz, die nervös zuckende, gequälte Stirn des jungen Ferdinand. »Hier ist die Tinte«, sagte sie und stellte das schwarze Glas mitten auf den Tisch. Wer wird schreiben, dachte Mutter Lutz und betrachtete den lockeren Stopfen auf dem verstaubten Glas. Wer kann schreiben - überlegte sie und sah auf ihre von glasiger faltiger Haut überzogenen schmutzigen Fingerknöchel.
Da aber hörte sie das Lachen der Kennel. Ohne an den schlafenden Vater zu denken, prustete die los. Die Tür war zugefallen, gemein und unbändig knallte das Gelächter der Frau durch den stillen Raum. Die Lutz warf sich auf ihrem Stuhl herum und sah das geöffnete Menschenmaul, die gesunden Zähne und dann die zusammengekniffenen Augen. Sie lacht uns aus, erkannte mit noch leichtem Gruseln die Mutter Lutz. Was haben wir an uns - dachte sie und strich prüfend an ihrem Körper abwärts. Und dabei musste sie gebannt auf das junge Weib sehen, das sich da vor ihnen schüttelte und nicht beruhigen konnte. Es war aber kein fröhliches Lachen. Sie ist verrückt geworden, dachte die Mutter Lutz und schaute wieder auf ihre Hände.
»Ihr seid ja so sauber gewaschen heute«, sagte unverschämt die junge Kennel und platzte aufs neue in einen krampfhaften Lachhusten aus.
Alle drei waren jetzt aufgestanden, der schwere Jenny, der zappelige Ferdinand und die schlanke Greisin Lutz; sie starrten die Lachende an, als sei sie eine der gefährlichen Kranken, von denen die Judenbibel berichtet, in die plötzlich ein Teufel gefahren ist. Hinter dem hellen Kopf der Besessenen zeichnete sich in drohendem Schwarz das Fenster ab. Die drei begannen zu ahnen, dass die Frau ihren Wahnsinn von draußen aus der Nacht mitgebracht hatte. Unfassbar und berghoch wuchs eine Gefahr aus diesem Lachen, und jetzt drehte sich die Frau auch um und stürzte in die Nacht wieder zurück.
Mutter Lutz spürte zuletzt, was nun aus dem dunklen Raum kommen müsste. Sie grübelte diesem einen Satz nach und suchte ihn einzurangieren in die Welt dieses Tages. Nein, sie war nicht sehr sauber, aber sie kam doch auch gerade vom Feld. War die Kennel so genau damit? So schlimm war's doch mit ihrer Sauberkeit auch nicht. Und übrigens beim Ferdinand brauchte sie überhaupt nichts zu sagen. Der hatte sich gerade heute Nachmittag frisches Wasser gemacht und gebadet. Also, was wollte die Kennel eigentlich?
Mutter Lutz war noch unsicher, ob es sie nun beleidigen musste, das verrückte Lachen und der Ausruf, da sprangen Gestalten an dem Fenster vorbei, die Tür schlug auf, man sah zwei hochgehaltene Revolver, und mit unterdrückter Stimme riefen zwei Männer, deren Gesichter blass und erschreckt aussahen:
»Hände hoch. Und nicht schreien!«
Mutter Lutz war mit einem Satz in das Schlafzimmer gesprungen. Dort stand sie an der Wand und drückte die zitternden Knie gegen den rauen Mörtel. Ihre Augen gewöhnten sich an das Dunkel, und nun sah sie das Gesicht des erwachten Großvaters in den Kissen des Nachtlagers. Fast wurde ihr wohler vor dem alten Gesicht; wir sind die gleiche Zeit, empfand sie, uns kann man nicht mehr aufregen.
Drüben knallten Stühle auf den Boden. Jenny sagte mit würdiger Stimme seinen Namen und fügte zu: »Gut, dann gehe ich auch mit.« Dann hörte man Keuchen und das Wegschleppen eines Menschen und Klatschen von hölzernen Schlägen auf Fleisch, aber das war schon im Hof.
Mutter Lutz neigte sich jetzt zu dem blassen Gesicht des Großvaters; sie wollte ausspucken mitten auf das Leinen: und so was macht deine Tochter, wollte sie sagen: mehr als die Angst schüttelte sie der plötzliche Ekel. An die Mauer der Baracke gedrückt, fühlte sie die Hitze, die in ihre Backen strömte, es war Scham für den alten Mann und Wut, grenzenlose Wut über die Falle, in die man sie gelockt.
»Mutter!«
Ihr Herzschlag stockte. Ferdinand schrie. - Von ganz weit kam der Schrei - oder war er schon mit sterbendem Atem in die Nacht geschickt? Mutter Lutz besann sich: wie hatte sie den Jungen vergessen können? Sie löste sich aus ihrem Versteck und trat in die Stube. Die Angst war nur noch wie der letzte Wellenring einer Ebbe in ihr, sie sah sich nach Ferdinand um, die Stube war leer, einsam flackerte auf dem Tisch das Licht, übereinander gestürzt lagen die zwei Hocker und der einzige Rohrstuhl. Sie sprang zur Tür. Pechschwarz schlug ihr die Nacht vor die Stirn, kalt strich aus den sumpfigen Wiesen der Wind herbei, sie hörte schleichende Schritte und unterdrücktes Reden von dem Zaungitter her, das Kenneis Besitz umriss, und da schlug ihr jemand die Faust um das Handgelenk und riss sie in die Nacht. »Komm nur, Mädchen«, heiserte hämisch und feige eine Männerstimme, »dich hängen wir drüben an den nächsten Baum.« Sie hämmerte auf den Arm des Wegelagerers, der sie jetzt in die Knie drückte und dann wegstieß; völlig überrascht kullerte sie zwei Meter über den Boden; sie setzte sich auf und sah die schwarze Figur sich wieder nähern; sie wollte aufspringen, die Nacht war nun schon so dicht um sie wie der sichere Tod, der dort ankam; Deutschland bröckelte sich Stücke aus der Saar, die Grenze war nicht mehr da, der Mord griff über. Sie tastete nach den Seiten und fasste an ein menschliches Bein. Es fühlte sich kalt an, sie bildete sich ein, es sei glitschig und tot. Aber die schwarze Figur stand nun wieder hoch und dicht über ihr. »Jetzt geht's euch an den Kragen, ihr Marxistenschweine.«
Mutter Lutz war bisher von der Angst in die Empörung getorkelt; als sie aus dem Versteck in die Räubernacht trat, hatte sie kaum an Politik gedacht.
Jetzt hörte sie die Schimpfworte des fremden Räubers. Zur Not, zum beißenden Hunger, zum Winseln der Kinder und den ausgemergelten Knochen tat dieser unbekannte gutgekleidete Kerl auch noch die Beleidigung! Plötzlich nannte sie ihn »Hitlerschwein«. Zum Sprung bereit hockte sie vor dem SA-Mann und spie ihn an. Die geschnürten Stiefel traten nach ihr, sie wich aus und hüpfte über das löcherige Feld nach der Grenze zu. Der SA-Mann fegte hinter ihr her und griff sie wieder.
Er trat sie ins Kreuz, schlug ihr die Faust in die Zähne, dass die alten Lippen blutig aufschwollen, verdrehte ihr den Arm
im Gelenk, nannte sie mit Mörderhohn ein Mädchen, sie, die zahllose schwere Jahre das karge Brot der Proletenmutter gegessen. Und während das kleine Saarstädtchen diesseits der Grenze friedlich schlief, warteten 50 SA-Leute drüben auf deutschem Ackerfeige gedeckt durch die mondlose Finsternis auf die billige Beute von drei Ärmsten der Armen.
Mutter Lutz aber blieb plötzlich wie angewurzelt stehen.
Vor ihr lag in einem Erdloch ihr Sohn Ferdinand, ein SA-Mann kniete neben ihm und hatte den Revolver in den Mund des jungen Mannes gesteckt. Starr stand Mutter Lutz. Sie forschte im Gesicht von Ferdinand, ob er noch lebte; ein Flug von Atem hob die Nasenflügel. Gott sei Dank! Mutter Lutz zog das Knie an und dann stieß ihr Schuh dem Hitlermann in die Schulter, dass es krachte. Er schrie auf, und seine Kumpane liefen zusammen; sie ließen Jenny fallen, der sich den Fuß verstaucht hatte und den sie tragen mussten; sie stolperten herbei und halfen die Alte verprügeln. Sie schlugen auf die Greisin, wohin sie nur treffen konnten. Noch immer fürchteten die braunen Gangsters eine Störung durch die Grenzwache.
»Schnauze halten, du Franzosenkopf«, fauchten sie und knüppelten auf Mutter Lutz. »Sonst killen wir dich auf der Stelle.« Aber die Frau hob sich hoch in die niedersausenden Revolverknäufe und Gummiknüppel; in die Nacht hob sie sich und achtete nicht auf die Schmerzen und das Blut, das über ihre Lippen kam. Sie zeigte auf den ohnmächtigen Sohn am Boden: »Schämen sollt ihr euch! Er ist ein Prolet und hat vier Kinder,« rief sie und ihr war, als müssten das Tal und die ganze Stadt wachwerden. »In Grund und Boden sollt ihr euch schämen«, wiederholte sie laut.
Und als einer sie am Hals würgte und schon fester schnürte, weil jetzt die Grenze ganz nah sein musste und dabei sagte: »Und wir schlagen dich kaputt, wenn du nicht sagst, wer die Fahne gestohlen hat«, da setzte sie den mühsamen Atem zum letzten Protest ein.
Sie stolperten über Gräben und Felder. Wie zum Schafott stießen die eiligen Wegelagerer ihre Opfer vor sich her. »Wir werden dich schon zum Reden bringen, mein Mädchen«, zischte der Bursche, der die Mutter Lutz bei den Röcken am Gesäß gepackt hatte und vorwärts knuffte.
Da tauchte aus dem Dunklen eine lange Reihe von Figuren mit Fahrrädern und einem Wagen auf. Losungen wurden gewechselt. Die Schmierensteher grüßten die Diebe. Noch ein Graben war zu überspringen. Der Boden federte sumpfig. Das Dritte Reich war da.
Mutter Lutz aber rief ein letztes Mal, ihre Stimme war voller Verachtung: »Ich - euch was sagen? Da schlagt mich lieber tot!«
Vor Kohle
»Brotzeit!«
Der Hausteiger nahm die Handmuschel vom staubigen Mund und wartete auf die Stille, die seinem Ruf folgen musste. Sechshundert Meter tief war man in der Erde. Er stand in der schlammigen Grundstrecke unter dem improvisierten wilden Wald von Holzstützen, die sich den Bergmassen des stark aufsteigenden Querstollens entgegen warfen. Aus der Höhe des Querschlags ratterten noch die Schrämmer, Schaufeln kreischten in bröckelnde Kohle, die gasige schwarzpudrige Luft zitterte in den Lärmwellen. Der Hausteiger hob eben noch einmal die Hände zu seinem breiten Mund, da riss der Lärm oben ab, die Schrämmer schwiegen, weggeworfene Schaufeln knallten auf den Boden, und schwere Schritte kamen durch das Pfeilerdickicht herab.
Der Hausteiger trat zur Seite und setzte seinen Weg fort. An ihm vorbei sprang ein Kumpel in die Grundstrecke. Durch das Hemd von Staub auf seinem nackten Oberkörper rannen langsam Schweißtropfen. Er setzte sich auf die Holzstapel, ein zweiter Kumpel turnte aus dem Querstollen nieder. Die Schweißjacke und den blechernen Brotbehälter in der Hand folgten noch sieben Männer, hockten eilig nieder, schlüpften in ihre Jacken und packten Brotstücke aus. In der Tiefe der Strecke sahen sie den gebückten Rumpf des Hausteigers, der die nächste Kameradschaft zur Pause aufforderte.
Die neun Männer kauten ihr Brot. Ihre Lampen warfen feine Lichter in die nassen, geschwärzten Gesichter, aus denen die weißen Augäpfel und die zubeißenden Zahnreihen wie allzu helle Intarsien blickten.
»Wo ist denn der Trinkwasserwagen?« fragte in den schwarz glitzernden Raum einer der Kumpels. Ein jüngerer Hauer antwortete mit höhnischem Lachen: »Förderung geht vor.«
»Na, wo ist er?« brauste der Kumpel auf. Sie drehten nun alle die Köpfe zu ihm.
»Förderung geht vor«, wiederholte in nachäffendem Ton der junge Hauer. Das war also ein Wort des Fahrsteigers. Sie saßen eine Weile still. Der gefragt hatte, war der Kumpel Heinrich Müller. Er schluckte wütend seinen Mund leer.
Über ihm, eingeklemmt in den Spalt zwischen zwei Pfeilern, saß Werner. Er kannte seine Kameradschaft bereits, wusste, was sie so dachten. Der Reihe nach, wie sie da saßen, hatte er sie »abgeklopft«; mit Vergnügen verwandte er diesen Ausdruck; er ging an sie genau so heran, wie an das Hängende vor Kohle, er schlug ab, was locker war. Zwei Schichten fuhr er jetzt hier ein, aber er hielt sich schon für einen erfolgreichen Agitator. Er diskutierte mit Vorsicht. Sie waren allesamt angebohrt, hatte er gemerkt, die Sprengkapseln waren schon eingeschoben, man hatte nur die Zündschnur anzustecken.
Werner saß im Dunklen, dicht unter dem Stein, und sah wie aus einem Jagdanstand auf sie hinunter. Er sah den Kumpel zu seinen Füßen, der den Wasserwagen reklamiert hatte. Neben ihm den pockennarbigen Kollegen Schlepper, den Raufbold. Drüben auf den Schienen den Zimmermann, der zur Zeit immer so nervös war; angeschlagen, wie man sagt. Er packte eben die Hälfte seines Brotes wieder ein. Gleich wird er ein Kreuz über sich machen und sich bedanken für den Kanten Schwarzbrot. Lisbeth hätte ihre Freude an dem. Aber er hasst Hitler - Werner dachte es mit Vergnügen: bei beiden Schichten hatte es einen Zusammenstoß mit dem alten Fanta gegeben, dem Nazigläubigen. »Der Adolf bringt den Arbeiter wieder zu Ehren«, sagt der Fanta. »Er stiehlt Gewerkschaftskassen«, sagt der Zimmermann. »Das sind ja alles nur den Bonzen ihre Gelder«, sagt der Fanta. »Es sind Arbeitergroschen«, sagt der Zimmermann und ist plötzlich nicht mehr zu bändigen. »Er ist ein Dieb und er ist größenwahnsinnig, er lässt sich beweihräuchern. Er steckt Arbeiter ins Gefängnis, er zerschlägt alles, was wir uns aufgebaut haben, und du lobst ihn?« »Wir brauchen keine Gewerkschaften, wenn man uns anständig behandelt«, sagt der alte Fanta.
Werner hörte die Debatte von gestern wieder, als er die beiden nun friedlich am Boden des Stollens auf dem Holzstapel nebeneinander sitzen sah. Was soll man mit so einem Mann! Wenn man ihn ins Reich in die Grube schicken könnte. Wär rasch belehrt. Wie unsere Jungens vom Arbeitsdienst. Hier in der Grube hat
er’s jetzt noch eine Zeitlang leicht. Da schimpft er auf die Franz« sen, und das sieht dann nach was aus.
Werner schob eine Brotecke in den Mund. Sein Rücken brannte im Schmerz der Müdigkeit. Arbeiten ist Gewohnheit Ich war raus, ganz raus. Er sah auf sein Brot. Das schmeckt hier alles nach Pulver. Aber der Hunger treibts rein. Wenn nur schon was anderes drauf wär als diese Gutschenschmier. Die holte Mutter beim Jud Felsenthal. Bei Lisbeth. Heut Abend seh ich sie. Bis jetzt weiß sie noch nichts von meiner Arbeit. Wird staunen. Mensch, die Augen. Wenn man dran denkt, wir einem schon besser.
Der Kumpel vor Werner stand schroff aus dem Sitz auf. Werner konnte plötzlich keinen von den anderen mehr sehen. Er hatte diesen Schädel mit den verklebten Haaren jetzt dicht vor den Augen. Der Kopf stand auf einem gekrümmten Rücken, die Steindecke drückte schon fast auf die Schädelplatte. Mit einem Mal empfand Werner die Enge des Raums; seine Hand fasste an den Holzpfeiler neben seiner Backe, der die tödlichen Bergmassen über den neun Menschen trug. Nirgends konnte man hier grade stehen; gekrümmt schlug man in die Kohle, kriechend füllte man den Versatz in die Löcher, immer lag die Gefahr im Nacken wie ein Sack.
Werner strich sich über die Augenbrauen, ein nervöser Schmerz zerrte ihm die Stirn, er wollte Heinrich etwas von sich wegschieben, seine verstaubten Lungen sogen gierig den Wetterstrom in sich, der vorne vorbeistrich, da sagte Heinrich:
»Kollegen, wir lassen uns das heute mal nicht gefallen. Wir sind kein Vieh. Wir haben Anrecht auf frisches Trinkwasser, und da gibt’s gar nichts gegen zu sagen. Und wenn der da sagt, Förderung geht vor, so sage ich: für uns geht der Durst vor. Den Partiemannn haben sie oben bestimmt. Aber jetzt gehn wir mal auf unsere Bestimmungen. Wir wählen uns einen neuen Partiemann. Und der reklamiert uns das Wasser.« Heinrich drehte vorsichtig den Kopf herum und zeigte auf den erstaunten Werner: - »Der da soll es sein!«
»Mach doch keinen Quatsch«, murrte Werner völlig überrascht, aber einige Kumpels stimmten schon zu. »Hau ab, gehs holen. Dich hörense an und meinen, es wär Dummheit.« Die anderen lachten.
Soll das eine Falle sein, dachte Werner, aber die Gesichter verrieten nichts.
Heinrich Müller grinste zu ihm hinauf. »Hast Angst? Also das ist nur, um ihnen die Zähne zu weisen. Da passiert dir nix. Denn schwätzen tu ich. Und die Papiere können wir sowieso bei jeder Schicht kriegen.«
Werner verstand sie nicht. Sie provozierten und flogen sämtlich aus der Arbeit. Und was hatte das für einen Sinn?
Heinrich Müller stieß ihm an die Knie: »Das ist von Zeit zu Zeit nötig. Sonst werden sie zu frech.«
Eine heisere Stimme unterbrach ihn: »Kinder, ist das ein Unsinn!« Ein bedauerndes Zungenstoßen folgte dem Ausruf.
Heinrich lachte kurz: »Na also, auf dich hab ich ja gewartet.«
Werner sah, wie der andere nach Luft schnappte und hörte, wie er auch schon giftig lostobte:
»Was heißt gewartet? Ich denke an den Kollegen. Der fliegt doch morgen schon, wenn ihr ihn so bloßstellt. (Er hat recht, dachte Werner.) Und was das Wasser angeht, so kann das doch mal vorkommen. Da kann man doch mit dem Divisionär reden. Ein Wort und die Sache ist abgestellt.« (Arschkriecher, dachte Werner.)
Heinrich höhnte: »Wir betteln aber net immer. Einmal im Monat ist bei mir das Gegenteil fällig.«
Heinrich sah aus der Tiefe der Strecke ein Licht herankommen. »Na jetzt ists zu spät«, sagte er. Die Kumpels sahen nun auch das Licht; unruhig erhoben sich einige. Sie wussten, es gab jetzt einen Zusammenstoß. Da kam der Fahrsteiger an, das Gedinge zu machen, diesen komplizierten Verdienst des Bergmanns, so gerecht auf den ersten Blick, und doch eigens zum Betrug erfunden. Sie sahen erstaunt, dass Heinrich sich breitbeinig hinsetzte.
Wie aus einem Hinterhalt stolperte der Hausteiger plötzlich von oben aus dem Querstollen in die Kumpelpause. »Warum arbeitet ihr noch nicht wieder?« brüllte er und hob den eisenbeschlagenen Spazierstock in komischer Drohung an seine Schläfe.
Von rechts kam der Fahrsteiger heran und gab ihm ein Zeichen. »Schon gut«, sagte er, »wir wollen sowieso das Gedinge machen. Wo ist der Partiemann?«
Heinrich Müller zeigte hinauf ins Gebälk zu Werner. Der Hausteiger hob entsetzt die Hände: »Das ist ja der Schlepper!« rief er aus, als stürze das Gebälk neben ihm zusammen.
Die Kumpels grinsten. Mit einem Male waren sie jetzt einig. Lange duckt und schweigt gewöhnlich der Kumpel. Aber wie ein Hängendes fällt, ist dann plötzlich auch seine Minute da, und in dem splitternden Gebälk der Stollen, umwittert von Todesgasen, eingeschlossen unter die Millionen Zentner Erde, mit Pickel und Axt in der Hand schwindet die Demut, wenn man sich einmal Mut gemacht hat. Nirgends aber ist ein Prolet so nah an der Wahrheit wie hier.
Ohne mich sind die da oben ein Dreck, das versteht er dann plötzlich. Leicht wird sie ihm nicht, die Erkenntnis, wenn im harten Lederhelm einer von den bezahlten Antreibern vor ihm steht, einer, der seine Papiere in der Hand hat wie eine Pistole. Leicht aber war es jetzt dem Heinrich Müller. Seine Kehle brannte. Förderung geht vor, ging ihm gellend durch den Kopf. Er sah den Fahrsteiger. Die Grube kenn ich doch genauso wie du. Verachtung stieg ihm aus dem Magen.
»Ein Schlepper kann kein Partiemann sein«, sagte der Fahrsteiger, noch beherrscht. »Wenn wir ihn gewählt haben, doch!« Der Fahrsteiger ließ seine Benzinlampe in den Schlamm sinken.
»Ich will das Gedinge machen«, schrie er. Heinrich nickte mit dem Kopf. »Das machen wir alle zusammen.« Die Ruhe des Kumpels enervierte die beiden Feldwebel. Der Hausteiger machte einen empörten Satz auf Heinrich zu, aber er stieß sich den Kopf an einer Deckenstütze. »Hoppla«, rief Werner, der jetzt sicher war, dass dieser Zusammenstoß kein Geplauder blieb. Langsam ließ er sich aus seinem Holzverschlag zu Boden gleiten.
Der Fahrsteiger kniff die Augen zu; sein Gesicht lief feucht an, als habe er schwer gearbeitet; um seine krumm vorspringende Nase zuckte der Zorn; seit fünfundzwanzig Jahren ging er in diese Grube. Er kannte Schlägereien, hatte selbst zweimal einen Monat im Lazarett gelegen, in der Kohle fackelte man nicht. Aber seit Mai hieß die Instruktion anders.
Der Fahrsteiger stieß den Atem erregt durch die Nase und sah sich in dem Kreis der Kumpels um. Wahrhaftig, diese zahme Technik gefiel ihm nicht! Bergleute musste man anfassen wie die Kohle. Reinschlagen, grob, ohne Fisematenten. Er sah sie an, er hasste sie, wie sie dastanden; er war selber mal ein
Kumpel gewesen. Er wusste, was sie dachten. Sie gönnten einem den höheren Lohn nicht. Sie verklatschten einen, wos nur ging. Dieser Fanta da hinten war totensicher ein Nazi, dachte er. Heute noch werd ich es herauskriegen.
Er zog hochmütig die Brauen in die Stirn: »Also, das Gedinge wäre zwei Francs fünfzig pro Tonne Kohle, dazu untere Strecke achtundzwanzig Franken pro aufgeschossenen und verbauten Meter, obere Strecke achtunddreißig Franken pro aufgeschossenen und verbauten Meter. Und fünf Franken pro Meter Streckenpfeiler.«
Er nickte mit dem Kopf in die Runde und trat einen Schritt weiter zum Streckenstoß. Sein Vorschlag war ungewöhnlich gering, war provokatorisch; sie würden ihn nicht schlucken. Er wusste es, aber ihm gefiel es, seine Macht zu erproben. Zwar tat es seinem diktatorischen Auftreten einen gewissen Abbruch, dass er sich unter die tief hängende Decke bücken musste. Noch weniger aber hatte er mit dem Kumpel Heinrich Müller gerechnet, der eisern an seinem Entschluss festhielt, sich heute einmal zu rühren.
»Kollegen«, hörte der Fahrsteiger den Müller fragen, »seid ihr mit diesem Gedinge einverstanden?«
»Nein«, riefen die Kumpels; Werner wunderte sich, dass keine Stimme fehlte.
Der Fahrsteiger kam in die Männerrunde zurück. Er zeigte wirklich keine Angst. Ein Griff in die Tasche, und ein Zettel erschien: Natürlich, das Gedinge war also schon fix und fertig gewesen. Heinrich sah mit Vergnügen, wie der Beamte den Zettel hinwarf. Das sollte nun der Kriegshandschuh sein. Das Ultimatum im Stollen.
Heinrich Müller winkte den Werner herbei: »Partiemann«, sagte er ruhig, »geh mal einen Hammer holen, da hinten liegt einer.«
Als Werner wiederkam, stand der Fahrsteiger mit gezücktem Stock an die Holzwand gelehnt. Er erwartete einen Angriff. Der Hausteiger versuchte, in seine Nähe zu kommen, aber Werner versperrte ihm den Weg und reichte Heinrich Müller den Hammer.
»Dann wollen wir mal«, sagte Müller, fingerte den Zettel hoch und nagelte das schlammig gewordene Dokument an einen Pfeiler. Bedächtig trieb er den Eisenstift in Papier und Holz; wie ein freundlicher Hinrichter schlug er zu, betrachtete
den entwerteten Anschlag und drehte sich dann zu den Beamten um, den Hammer nach unten hängend.
»Was wollt ihr«, kreischte der Mann. Seine Hände krallten zitternd den eisenbeschlagenen Stock. Mit solchen Lumpen muss man nun ruhig umgehen, dachte er. Die Verwaltung wird sich noch wundern, was sie sich da heranzüchtet.
»Wir wollen drei Franken fünfzig pro Tonne, vierzig Franken untere, sechzig Franken obere Strecke, zehn für Bergversatz.« antwortete Heinrich Müller.
Der Fahrsteiger erblasste: »Ihr seid unverschämt!«
»Und du bist ein Lump«, rief der Fanta unbeherrscht dazwischen.
»Ich werde den Ingenieur schicken.«
»Davor haben wir keine Angst.«
Der Fahrsteiger wollte schon gehen, aber dann fiel ihm der Zwischenruf ein, er trat über den Schlammgraben: »Du Hakenkreuzler!« zischte er provozierend den Kumpel an. Er erreichte seine Absicht.
»Jawohl«, sagte der Fanta, »1935 rechen wir mit euch ab, ihr Franzosendiener.«
Werner sah die Einheit zerbröckeln; der Zimmermann griff nach einem Pfeilerhaken, um sich wieder an die Arbeitsstelle hoch zu ziehen. Er schüttelte den Kopf. Nichts als Parteipolitik! Der war geckisch. Mit Vorgesetzten disputierte man heutzutage nicht politisch.
Die anderen Kumpels wandten sich langsamer ab. Sie standen auf und griffen sich an den Stempeln hoch. Die Angst um den Platz verdrängte den Mut. Müller sah es. Der Fahrsteiger war dabei, zu siegen. Menschenskinder, wollte er rufen. Ein Kumpel ist ein Kumpel, auch wenn er den Nazis nachschwätzt Was ist denn hier Politik, wollte er sie anschreien, da half ihm der Fahrsteiger: der war noch einmal dicht an den Naziarbeiter herangetreten:
»Das war Ihre letzte Schicht.«
Eine alarmierende Drohung. Da geht einem auch sechshundert Meter unter der Erde das Herz wie ein heißer Schwamm zusammen. Die Arbeiter hielten im Klettern an. Jetzt war man plötzlich wieder Kollege, Prolet am Stoß. Sie sahen das lachende Maul des Fahrsteigers, des Feldwebels. Jetzt ließ er im Hohn seine Stimme überschnappen:
»Hier sind vorläufig wir noch die Faschisten!«
»Bravo«, sagte Heinrich Müller. Das Wort des Fahrsteigers war wie ein Gongschlag über das ganze Saargebiet, war wie eine Explosion, die Wände einreißt. Welch eine Belehrung für den Nazikumpel! Da sagte ihm eine amtliche Persönlichkeit, schon achtzehn Monate vor 1935: Faschismus ist keine nationale Erfindung, das ist letzte Zuflucht aller bedrohten Tyrannen des zwanzigsten Jahrhunderts. Das ist international, mein Lieber; das Schreckgespenst, das man in jedem Lande bereit hält, die Elenden noch mehr zu lähmen.
Müller lachte und lachte. »Kapierst dus jetzt?« fragte er Fanta. Der schwieg.
Müller sah, dass die Kumpels, wie von einem schlagenden Wetter geschreckt, sich umwandten. Sie stiegen herab und setzten sich wieder auf die Kohle nieder. Die Steiger gingen fort. Man hörte eine Zeitlang nur das hohle Geräusch ihrer Schritte in dem Matsch der Grundstrecke. Müller zeigte ihnen nach und sah Fanta an:
»Meinst du, der Adolf braucht die da nicht? Original solche braucht er.«
Der Fanta war niedergeschlagen. Dumpf war sein Denken. Er ließ die traurigen Augen über Müllers Gesicht gehen. Plötzlich griff er eine Blechschachtel aus der Tasche. Er klappte sie auf. Es war Priemtabak drin.
»Da«, sagte er zu Heinrich Müller und hielt ihm die Schachtel hin.
Der Überfall
Sie saß nun schon eine gute halbe Stunde unter dem Haselstrauch im Kohlenwald, wo sie jeden zweiten Abend zusammentrafen. Immer war er schon vorher dagewesen, er hatte ja auch keine Arbeit. Lisbeth Biesel strich sich das Laub von den Beinen. Ein Junikäfer setzte hart auf ihre Hand auf, sie sah ihn und hielt an. Er bringt Glück - oh, das hätt ich nötig. Sie hauchte über das feingepunktete Tierchen, es spannte die Flügel und verschwand. Wenn’s ein Marienkäfer gewesen wär, der hätt mir geholfen.
Die Abendschatten fielen schon aus den Bäumen. Der Brodem des Laubbodens hob sich in leichten Schleiern. Sie fröstelte und hielt schnell die Hände vor den Schoß. Dass sie nichts anderes mehr denken konnte! Es war ihr immer, als rühre sich
schon was. Nun saß sie starr, hatte den Mund geöffnet, und ihre großen dunklen Augen trauerten in die Dämmerung. So schnell straft einen Gott, dachte sie. So rasch kommt der Fall. Glück und Glas, wie leicht bricht das.
Sie wisperte den alten Großmutterspruch vor sich hin, bleich wurde ihr Gesicht in der sich verdichtenden Dunkelheit, wie ein drückender Rahmen lag das schwarze Geflecht ihrer Haare an Stirn und Backen. Sie nickte sanft mit dem Kopf. Ganz alle« werde ich sein, alle zu Haus werden über mich herfallen. Aber ich zahle mein Kostgeld, und es ist keine Schande, wenn er mich nur nicht sitzen lässt.
Sie sah erschrocken auf. Der weite Wald, wie eine Burg um
sie gestellt, verwandelte sich mit einem Mal in bewegte dröhnende Schatten; wie Einfallstore unfassbarer Gefahren klafften die schwarzen Räume zwischen den Baumstämmen. Nun war sie plötzlich allein, und die Minuten des Wartens dehnten sich mit beängstigender Eile zur Ewigkeit. Wie lange war sie schon hier? Natürlich kam er nicht mehr. Er wollte keine, die so schnell so war. Sie drückte die Faust in den Schoß. Nun war doch auch nichts mehr dran an ihr. Nun wurde sie immer dicker und schob ihn immer weiter von sich weg.
Ihre Hände krallten tief in das Laub und fühlten die feuchte Kühle des Moosbodens. So kalt ist's im Grab, so kalt bis ans Herz.
Ein Vogel klatschte oben im Geäst. Der Totenvogel fliegt.
Ich bleibe hier sitzen, bis ich sterbe.
Sie glaubte, jemand berühre ihren Hals, es war nur ein Luftzug, der über die Erde strich, aber sie hatte sich schnell bewegt, und nun wich auch die Lähmung aus ihrem Körper.
Er weiß doch noch gar nichts, fiel ihr ein. Sie lächelte wieder. Heute wollte ich's ihm doch erst sagen, hier am Busch, seinen blonden harten Kopf nehmen und den Mund an sein Ohr legen und ganz leise sagen: du bist nicht bös, was ich auch jetzt sagen werde. Gewiss nicht bös, nein? Und dann noch rasch einen Kuss auf die Ohrmuschel, dass er rasch dran reiben musste, aber dann wär er gut gelaunt gewesen. Ja, und dann hätte ich's gesagt: du, wir müssen heiraten.
Ein schwerer Körper brach durch die Heckenwand, hinter der sie saß. Sie fuhr auf aus ihren Gedanken. Das musste ein Hirsch sein. Das Geräusch krachte und rauschte. Sie hielt sich ganz still. Dann entfernten sich Schritte.
»Hier herum ist es«, heiserte eine menschliche Stimme, »da trifft er sich mit seinem Mensch. Am besten, wir halten uns hier hinter dem Holz.«
Sie hörte Rascheln von Laub und dann noch das grobe Ausspucken eines Menschen, der nur einen Steinwurf entfernt sitzen konnte. Aber die Unbekannten saßen in der nahen Dunkelheit wie zwei riesige Bestien.
Lisbeth war bis in die Kopfhaare hinein wach geworden.
Sie meinen uns, Werner und mich. Mensch hat er mich genannt. Das darfst du nicht sagen, du nicht. Sag das noch mal vor Werner, da kannst du was erleben. Sie stutzte. Schritte kamen. Zu wie vielen waren sie? Wenn das Werner war? Sie musste ihn anrufen, ihn warnen!
Das Laub raschelte. »Achtung«, flüsterte eine Stimme. Sie wollte schreien, aber die Erregung schnürte ihr die Kehle.
»Ja was ist denn?« schrie eine Stimme. Es war Werner. Lisbeth versuchte aufzuspringen, ihre Knie zitterten. Ein Körper fiel schwer zu Boden. Unterholz krachte.
»Jetzt kriegste deine Tracht, du roter Hund, du Saarbündler.«
»Du Vaterlandsverräter«, keuchte die zweite Stimme, und brach dann schrill mit überraschtem wieherndem Geheul ab.
»Meine Zähn'«, heulte die Stimme.
Lisbeth kniete im Moos und betete eilig.
Heilige Maria, betete sie, bitte für uns Sünder. Sie hob die Hände zum Mund, rang sie fest ineinander. Von drüben kam das klatschende Geräusch von wilden Schlägen.
»Meine Zähn'«, wimmerte die Stimme wieder. Es war nicht Werner. Lisbeth hob die gefalteten Hände von sich weg ins Dunkle, »bitt für uns Sünder«, wiederholte sie, »jetzt und in der Stunde des Todes.« Wie an einem Stamm hielt sie sich an diesem Gebet, sie hatte die Augen geschlossen, die Hilfe musste herabfließen in einem Lichtstrahl und die Nazis niederschmettern. Unaufhörlich bewegten sich ihre Lippen, schon hörte sie nur noch wie aus einer Ferne das Kämpfen der Männer, die Schläge, das Stammeln von Worten, das Knittern der zerbrechenden Äste.
Noch einmal schrie ein Mensch, Lisbeth flüsterte leidenschaftlich, dann federte der Boden von den Sprüngen eines Fliehenden. Dicht an der blass im Dunkel knienden Mädchengestalt lief der Mensch vorbei. Lisbeth ließ langsam die Hände sinken. Vor ihr teilte sich das schwarze Gebüsch, sie sah Werner.
Er wischte sich mit dem Ärmel durchs Gesicht und forschte dann ins Dunkle.
»Lisbeth«, rief er zögernd.
Nun trugen sie auch wieder ihre Füße, sie stürzte die wenigen Schritte auf ihn zu, fasste ihn um die Taille. Da waren seine Arme um ihre Schulter, seine Jacke, sein Hals. Sie wühlte ihren Kopf in seine Jacke, tastete seinen Rücken ab, glücklich und zitternd.
»Die haben für 'ne Woche genug«, sagte Werner über ihr. Sie merkte, dass er den Ärmel zum Gesicht hob und ließ ihn los.
»Haben sie dich verwundet?«
Er wehrte ab. »Das gehört dazu. Komm, wir gehen noch ein bisschen.« Er griff unter ihren Arm. »Hab mal keine Angst, die kommen kaum wieder.«
Sie traten aus den Bäumen auf die Landstraße. »Gibst mir keinen Kuss heute?«
Sie stellte sich hoch und warf die Arme um seinen Hals. Ihr heißer Atem traf den seinen. Ich kann ihm heute nichts sagen, dachte sie.
Sie schloss beglückt die Augen. Wie stark er ist! Ich kann nicht mehr leben ohne ihn.
Atemlos riss sie sich von ihm. Er lachte: »Das macht wieder gesund. Weißt du übrigens, warum ich heut so spät angetanzt bin?«
Sie sah in sein Gesicht, über das der blasse Schimmer des Mondes fiel. Er hob seine Hände: »Dann guck dir mal die an. Ach Quatsch, jetzt hab ich mir sie im Busch geritzt. Hör zu, ich hab seit zwei Tagen Arbeit. Bin Kumpel, Mädchen! Was sagste jetzt!«
Die Wahrheit könnte ich jetzt sagen. Die ganze Wahrheit. Lisbeth senkte den Kopf und griff nach seinen Händen.
»Das freut mich sehr«, sagte sie.
Als er sich eine halbe Stunde später von ihr verabschiedete, meinte sie, genug Mut zu haben. Sie hielt ihn noch einmal fest. »Du«, sagte sie, aber dann änderte sie ihre Rede, »ich freue mich so, dass du die Nazis so verbimmst hast.«
Er sah, wie sie hastig in der Tür verschwand. Aus der mach ich noch was, dachte er, die kapiert's noch, sonst nenn ich mich Matz.
Langsam stieg er die Straße zurück. Die Häuser lagen im bläulichen Dunst. Nur aus den Wirtschaften kam noch Radiogegröhl.
»Da ist er ja«, rief plötzlich hinter ihm eine Stimme.
Er wandte sich nicht um, bis er Sprünge hörte und das Aufschlagen eines schleppenden Säbels.
Ein Landjäger fegte heran. Wenn der kein Schwert bei sich hätte, würde ich sagen, er hätt Angst.
Nun erkannte er auch die beiden anderen Figuren. Die Strauchdiebe von vorhin. Und noch einen zweiten Landjäger hatten sie sich geholt.
»Keinen Schritt weiter«, brüllte der erste Landjäger und zog blank.
Werner verstand plötzlich. Sie wollten die Chose umdrehen. Er verschränkte die Arme und erwartete den schreienden Mann.
»Diesmal geht's dir nicht so einfach ab, Bürschchen«, schrie der Mann und schon sah Werner den Säbel und spürte seinen stumpfen Schlag an seiner Wade.
Wie ein gebranntes Tier schoss er vorwärts. Fort war alle Ruhe, weggeblasen alle Besinnung, aufbrüllend schlug er dem Landjäger die Faust ins Gesicht.
Die Partie war zu ungleich. Vier gegen einen ist zuviel für den einen.
Werner lag eine halbe Stunde später auf der Gefängniswache, blutend und zerschlagen. Die Staatsgewalt und ihre Helfer, die Nazis, hatten diesmal gesiegt.
1.8. Hinrichtung der Hamburger Antifaschisten.
3.8. Das Braunbuch erscheint.
8.8. Papen bietet Saarschacher an.
10.8. Kampfbund für den deutschen Mittelstand aufgelöst -
Ostpreußen meldet: Arbeitslosigkeit beseitigt.
27.8. Saarkundgebungen: NSDAP in Rüdesheim -
SP in Neunkirchen -
Roter Aufmarsch in Saarbrücken.
Richter nach Vorschrift
Als Lisbeth Biesel in den Gerichtssaal eintrat, standen die Richterstühle leer. Die Herren berieten im Nebenzimmer. Der Staatsanwalt, gelangweiltes Tier, saß links in der Tiefe des Saales auf der durch hohe Bretterwände abgesperrten Estrade, vor die man gerechte Saarländer schleifte und ungerechte; er nutzte die Pause, den nächsten Akt einzusehen. Rechts über dem langen Bürotisch lag ein breit ausladender, schnaufender Justizsekretär und kratzte die Papiere voll. Es war mäuschenstill in dem großen Raum. Man hörte die Feder des Justiziars kreischend über den Bogen gehen. Ein Arbeiter im Publikum imitierte mit gespitzten Lippen das wispernde Schreibgeräusch. Der Landjäger an der Tür zum Arrest blickte gestreng zu dem Spötter. Der Arbeiter gab sein Spiel auf.
»Er ist erst achtzehn, das Bürschchen«, sagte jemand hinter Lisbeth Biesel. »Da kann ja noch allerhand draus werden.«
Jetzt sah Lisbeth auch, wen er meinte. Einen jungen Proleten, der mit energischem Profil, bewacht von dem Polizisten geradeaus über die Rampe des Angeklagtenpferchs zu einer Frau mittleren Alters hinübernickte.
»Es ist seine Mutter«, erklärte der Mann hinter Lisbeth. »Die hält ihm noch bei. Wenn da nicht bald andere Zeiten kommen.«
»Nun hören Sie mal!« protestierte jetzt ein Nachbar. »Wer den Jungen verknallt, der soll sich was schämen. Das soll Straßenraub sein. Geht der Vater da mit einem fremden Weib, versäuft alles in den Wirtschaften, lässt seine Kinder hungern, buchstäblich drei Tage hat son Junge nichts im Leib. Ich hätte
ihr nicht nur die Handtasche weggerissen, wissen Sie. Und dann, es waren doch überhaupt nur zwei Franken drin. Das ist gar kein Straßenraub.«
Der Angegriffene wehrte sich: »Da kämen wir ja weit«, meinte er.
»Sie haben kein Herz im Leib«, tadelte der Nachbar. »Und überhaupt reden Sie schon genau so, als wie ein Nazi.«
Durch die Tür der Presse war unbemerkt der Gerichtssekretär getreten. Er hörte die halblauten, erregten Reden im Zuschauerraum und reckte sich zu seiner ganzen Wichtigkeit, übernahm sich dabei allerdings etwas.
Drohend hob er den Finger: »Hier herrscht Ruhe im Publikum, verstanden! Sonst räume ich auf, verstanden!«
Der Landjäger neben ihm erhob sich zum Zeichen des Einverständnisses. Die Diskutierenden im Publikum schwiegen sofort. O wie streng sie sind, dachte Lisbeth Biesel und wickelte sich fester in ihren Mantel.
Zwei junge Arbeiter standen auf und entfernten sich zur Tür. Einer von ihnen setzte bereits an der offenen Tür seine Mütze auf. Der inzwischen aufmerksam gewordene Staatsanwalt schrie, froh eine Ablenkung zu haben, von der Höhe des Richtertisches: »Nehmen Sie die Mütze vom Kopf!«
Alarmiert bewegten sich nun von allen Seiten die niederen Beamten auf die Tür zu. Der nächste Landjäger machte drei rasche Schritte. Der an der Tür erhob sich wieder von seinem Stuhl. Der Gerichtssekretär verzog noch finsterer seine Miene; in theatralischem Ernst ließ er die Augen auf den Übeltäter gehen, der sich unbekümmert um die Erregung, die er entfacht, in das Treppenhaus entfernte. Der Sekretär rollte seine Augen zum Ersatz über das zurückgebliebene Publikum. Jetzt trafen seine Basedow-Augen auch Lisbeth Biesel. Sie ertrug den Blick nicht und senkte den Kopf. Schnell legte sie die Hände in den Schoß; sie meinte, der Mann müsse jetzt merken, dass sie schwanger sei, und drückte die Handflächen gegen ihren Bauch. Für viele Minuten saß sie so da, ohne sich zu rühren. Vorn begann längst wieder das Justiztheater, sie saß in sich gekrochen und bewegte sich nicht.
Drei Bänke hinter ihr saß Karl der Emigrant. Ja, er war auch wegen Werner gekommen, und er saß wahrhaftig nicht zur Neugierde schon hier. Aber man hatte ihn gewarnt, dass er sich frühzeitig einen Platz sichern solle, da niemand in den Saal dürfe,
wenn die Sitzplätze alle genommen waren. Mit halbem Ohr hatte er hingehört, bis der Junge eingelassen wurde, der mit dem Straßenraub. Große Sache: Straßenraub. Wie lächerlich wird so ein Fall aufgebauscht!
Karl hatte sich an der Festigkeit gefreut, mit der der Junge geantwortet; da änderte kein Salbadern etwas; da konnte ein bezahlter Staatsanwalt noch so sehr von »verkommener Jugend« reden; der Hass, mit dem der Junge sprach, brannte im Kern und blieb; vier Monate saß der Junge schon in Untersuchung, aber seine Stimme klang, als wenn sie ihn eben von der Straße vorgeführt hätten, wo er seine kleine Rache zu nehmen versucht hatte. »Meine Mutter hungert, und die da geht aufgeputzt an mir vorbei; einen Lumpen hat sie aus meinem Vater gemacht; es war ein anständiger Arbeiter; jetzt sitzt er in Wirtschaften mit der da, und meine Mutter und wir zu Hause stecken den Finger in den Mund! Wir haben noch kleine Geschwister; ich kann nichts dafür, dass ich arbeitslos bin; als ich sie dann auf dem Markt die Gemüsestände entlang kommen sah, und alles hat sie sich angesehen, als wenn sie eine Gräfin wär, da habe ich ihr die Tasche aus der Hand gerissen und wollte sie ihr um die Ohren schlagen und dann das Geld wieder zu unserer Mutter zurückbringen, wo es hingehört, und zu meinen Geschwistern ... «
Karl sah den Richter die Hand heben: »Zeugin, sagen Sie, haben Sie sich gewehrt, als er an Ihrer Tasche riss - oder haben Sie ihm das Ding gleich gelassen, und er hat es gar nicht mit Gewalt zu nehmen brauchen.«
Die Menschen auf den Bänken warteten auf die Antwort der Zeugin. Karl hob sich hoch; eine Frau stand wenige Meter vor ihm; sie trug einen breiten amerikanischen Opossum; die Arbeiter im Publikum studierten ihre Tracht mit verächtlichen Blicken. »Der Richter will ihm gut«, meinte einer neben Karl. »Und was meinst du?« fragte Karl grob, da sagte die Zeugin in geziertem Hochdeutsch:
»Ich will ja nicht so sein, Herr Richter, also: ich hab die Tasche sofort losgelassen.«
Der Saal atmete auf, alle hatten begriffen, dass eben eine Entscheidung gefallen war; die Anklage auf Straßenraub musste nun übergangen werden; es blieb nur noch der Versuch eines Diebstahls. Der Staatsanwalt griff kurz ein und verlangte eine andere Formulierung der für seine Begriffe allzu gefälligen
Zeugin, aber er bekam sie sofort; die Pelzfrau, beglückt so ins Zentrum dieser Vorgänge gerückt zu sein, gab gern noch eine ergänzende Antwort; der Staatsanwalt war streng, die Frau blieb kokett, das Rededuell verlief in den gewünschten Formen; der Staatsanwalt sprach dann resigniert seine zehn Minuten und beantragte acht Monate Gefängnis, worauf sich das Gericht zur Beratung zurückzog.
Wieder fiel die stickige Ruhe in den Saal; wieder kratzte der Schreiber am rechten Flügel des Richtertischs hörbar über seine Bogen, wieder warnte der Justizsekretär das Publikum vor jeder lauten Unterhaltung. In trüben Streifen zitterte die Sonne durch die bleigefaßten Fensterscheiben in den Saal.
Wie abgeklappert ist dieses Theaterstück, dachte Karl. Es macht ihnen schon keinen Spaß mehr; sie suchen sich schon selber Ausreden über die Gesetze, statt zuzugeben, dass es sehr ernst gemeint ist. Straßenraub - das ist ihnen wichtig; Eigentum ist genommen worden; haltet den Dieb; er ging an die heiligsten Güter; es waren zwar - wie viel waren es? - zwei Franken, das sind 32 Pfennige. Aber trotz und alledem, man stiehlt nicht, man raubt nicht. Eigentum! Der Junge war erregt, gut! Die Geliebte des Vaters scheint eine Hure, gut! Sie hat eine Familie zerstört, gut! Aber höher als alles - ist Eigentum!
Karl lachte; da bissen sie sich nun einmal in den Schwanz. Was war also höher: Ehrbarkeit des Elternhauses oder Sicherheit des Vermögens? Peinlich, was? Sie hatten allerhand zu grübeln im Nebenzimmer, die Richter. Kratzt euch nur die Ohren! Uns sagt das doch nichts mehr. Karl sah sich um; von überall gingen freundliche Blicke zu dem jungen Burschen. Das Volk ringsum gab ihm recht; hättst sie noch obendrein verprügeln sollen!
Der Angeklagte hatte sich in seinem Verschlag niedergesetzt; er grüßte zu seiner Mutter hinüber; sie lächelte zurück. An der Gefängnistür wartete ein Landjäger. Gings zurück in den Kahn? Bald wusste man’s.
In diesem Augenblick trat der Gerichtshof wieder ein. Drei schwarze Roben mit dem Gesicht der herrschenden Klasse. Ein fetter Korpsstudent, dem der Kragen zu eng war für sein Doppelkinn; er hatte die Robe geöffnet und fläzte sich sofort über den Tisch, als sei alles doch nicht der Rede wert, hielte nur ab vom Biertisch oder der Reizwäsche seiner heimlichen Beischläferin aus dem Astoria. Der rechte Beisitzer war gepflegter; ein böser Mund kräuselte verächtliche Lippen; ein Streber - o wie viele Leute wissen, dass Richter eine Gehaltserhöhung bekommen, wenn sie einige Jahre so recht nach dem politischen Willen ihrer vorgesetzten Behörde verurteilt und gestraft haben. Drei unabhängige unantastbare deutsche Richter!
In der Mitte saß das Musterexemplar. Mit scharfer Zahnbürste unter der schneidigen Nase, die den starren Kneifer trug. Die Stirne zerwühlt von griesgrämigen Falten, und oben wieder eine Bürste, diesmal gescheitelt über einem missratenen Beulenkopf. Jetzt begann er zu sprechen. Lisbeth schauerte zusammen; Brechreiz würgte ihre Kehle; sie drückte die Faust vor den Mund und schloss die Augen; nur die Stimme hörte sie, kein Wort verstand sie von dem Urteil; aber sie wusste plötzlich, dass diese Stimme ihrem Werner in wenigen Minuten nur Schlimmes verkünden würde. Sie drückte sich hinter den Rücken ihres Vordermannes; ihr Hut stieß an sein Kreuz, sie betete.
Das Urteil war schon gesprochen, neue Zeugen wurden hereingerufen, Lisbeth bewegte immer noch die Lippen in stummen Aves; unter ihrem Mantel kroch wie ein Prickeln die Scham über ihre Haut, steifte die Brüste, jagte Glut und Kälte in wildem Wechsel in ihren Schoß und durch die Schenkel. Sie betete: und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes Jesus. Weit entfernt war der Sinn ihres Flehens; sie hob die Augen nicht mehr, denn es kam nun über sie der Gedanke, dass sie allein die Sünderin in diesem Saal sei, noch versteckt unter vielen Menschen, noch nicht erkannt von den Männern, die da vorn redeten, aber hätt' man sie aufgerufen, sie wäre nicht erschrocken und wie zum Scheiterhaufen nach vorn gegangen, ergeben und überzeugt vom Recht des Gerichts.
Der Rücken vor ihr ging hoch; ein Scharren vieler Füße berührte ihr Ohr, dann stieß sie jemand an. Sie schaute auf; alle in den Bänken standen. Von vorn kam die Stimme des Richters, die den Eid vorsprach: »- und Gewissen, die reine Wahrheit sagen werde.« - »Die reine Wahrheit sagen werde«, echote der Zeuge. Sie stellte sich schnell in die Höhe, ihre Augen entschuldigten sich hilflos bei den Nachbarn; »so wahr mir Gott helfe«, sagte jemand im Saal, dann setzten sich alle wieder hin. Lisbeth blieb stehen, einen Augenblick nur, dann stieß man sie wieder ins Kreuz. Sie setzte sich langsam. Müdigkeit kam über sie; vielleicht war alles nicht so schlimm, und sie schickten Werner sofort nach Hause.
Der, den ihre ängstlichen Gedanken umzitterten, stand regungslos wie ein Gepäckträger im Korridor vor dem Gerichtssaal und wartete. Die Treppe herauf kamen Diener mit Aktenmappen. Wenn sie die Tür zum Gerichtssaal öffneten, auf der »Schwurgericht« stand, konnte Werner die Anklagebank sehen. Der junge Mann stand noch immer dort im Verschlag neben einem sitzenden Landjäger. Eben antwortete er etwas. »Nein, Herr Präsident. Ich bestreite das.« Eine kräftige Stimme ohne Ängstlichkeit. Ob ich mich so beherrschen werde, dachte Werner, da schloss sich die Tür. Die Messingklinke ging vorsichtig noch einmal hoch, aber die Tür selbst bewegte sich nicht mehr.
Nach zehn Minuten öffnete man sie wieder. Ein Justizbeamter setzte den Fuß in den Korridor und schrie: »Die Zeugen im Fall Spät!«In der Tiefe des Flurs wurde es lebendig, dann kamen vier Menschen nach vorn. Werner bemerkte erstaunt ihre Eile, plötzlich hasste er sie. Wie eilig sie es hatten, die Wichtigtuer! Er sah, dass sie aufgeregt dem Diener ihren Namen nannten, ihr Papier zeigten und schon in den Saal drängten. Jetzt stehen sie vor dem hohen Tisch. Sie machen Verbeugungen vor den Richtern. Da sind wir, hoher Herr Gerichtshof. Danke schön, dass wir kommen durften. Wir werden alles sagen, was wir können. Wir sind für die Wahrheit .So geht das ja nicht mehr weiter! Was denkt sich dieser Angeklagte! Wir haben dicht dabeigestanden. Ganz dicht, Herr Richter. So wahr uns Gott helfe.
Werner stieß sich den Schleim aus der Kehle und spuckte ihn aus. Die Tür öffnete sich wieder. Der junge Angeklagte trat heraus mit einer älteren Frau. Freispruch also? Werner freute sich. Die Frau griff den Burschen am Arm, als wollte sie sich vergewissern, dass er es auch wirklich sei. Freundlich nahm der Entlassene die Hand von seiner Windjacke. Werner nickte ihnen zu. Ich möchte gern euren Fall wissen, aber ihr seid froh, dass ihrs hinter euch habt.
Sie stiegen die Treppe hinab. Mutter und Sohn. Wie ein Brautpaar. Vergnügt glänzte das Gesicht der Frau, ganz zart lief um den schmalen Mund des Burschen ein Lächeln. Schweigend gingen sie abwärts ins Erdgeschoß. Werner sah ihnen über die Brüstung nach. Erst vor der Tür am Saarufer würden die zwei die Sprache wieder finden.
»Hat Schwein gehabt«, sagte eine Stimme; Werner sah einen
dicken Mann neben sich über das Steingeländer gebeugt. »Vier Monate Untersuchung sind ihm angerechnet worden. Vier Monate«, murmelte der Mann, ohne sich sehr um Werner zu kümmern. Das Paar unten verschwand in dem Spalt der schweren Portaltür. Der dicke Mann hob sich hoch, er röchelte asthmatisch und sah Werner nun an. Er blubberte mit den Lippen und kniff prüfend ein Auge zu, wie man ein Kalb betrachtet, das der Händler vor den Metzgerladen geführt hat. Werner begegnete dem Blick, da ging die Tür im Hintergrund, der Mann drehte um und ging kopfschüttelnd weg.
Werner sah ihm nach. Idiot, murmelte er, aber ihm war nicht wohl zumute. Das Nilpferd hatte ihm die Illusion genommen, dass dort im Saal milde Richter säßen. Er roch den Staub, der in allen Fugen des Korridors lag; es kam ihm vor, als säße er schon in einer Zelle, könne schon nicht mehr frei weggehen. Sie warteten auf ihn: Aber das macht mich noch nicht fällig, dachte er. Plötzlich schmiss er wie eine Baukastenburg die Sätze über den Haufen, die er sich zu seiner Verteidigung aufgebaut hatte.
In diesem Augenblick riss der Justizsekretär die Tür auf und rief den »Fall Werner« auf.
Ob Karl da sein wird, dachte er und suchte ihn, durch den Türrahmen tretend, in den Bänken links in der Tiefe.
Nur fremde Gesichter sahen ihn an. aber einige saßen auch mit gesenktem Kopf.
Der Richter rief ihn: »Kommen Sie mal näher heran!«
Saß da nicht Lisbeth? Wieso hatte der Jude ihr Urlaub gegeben'.' Sie soll nicht dahinein gemengt werden, dachte er und freute sich doch.
Er folgte dem Befehl des schwarzen Mannes. Karl musste eigentlich da sein, dachte er, aber nun konnte er sich nicht mehr umsehen. Nun hatten sie ihn schon in der Zange. »Jawohl, 27 Jahre, erwerbsloser Metalldreher.« Ob es wirklich Lisbeth war? Karl konnte den Zug versäumt haben. »Arbeit in der Grube.«
»Stellen Sie sich da hin!«
Langsam trat Werner an die Anklagebank. Er konnte wieder rückwärts sehen, und nun sah er auch Karl in die Tür treten, sah die schnelle Faust, die der ihm grüßend zeigte.
Karl sah blass aus, seine Kopfhaare waren naßgeschwitzt vor Erregung. Er hatte in diesen letzten zwei Stunden eine unheimliche Lektion erhalten. Es war, als wenn jemand auf den Tisch geklopft hätte, auf den man schlafend den Kopf gelegt. Und da war man nun erschreckt aufgefahren und fand das Dritte Reich vor, das Reich, das im Herzen des deutschen Kleinbürgers immer gelebt! Der Kasernenhof in den Gerichtssaal gelegt, brutal und feierlich, aufgeblasene und auserwählte Reserveoffiziere im Talar. Das braune Preußen an der Saar. »Zackiges Recht«, hier sprach man's.
Der Vorsitzende begann das Verhör. Der Dicke kniff die Augen und überlegte, ob er weiterschlafen solle. Wie durch einen Schleier sah er den weiten Saal unter sich, die einzelnen Menschen in dem Karree, um den Zeugentisch und die vielen Köpfe in dem Publikumspferch. War etwas Niedliches darunter? Er sah Arbeiterfrauen, Grauköpfe, Bürger im Mantel, klobige Burschengesichter - ach da war etwas Rosiges, Puppiges! Er hatte Lisbeth Biesel entdeckt. Bisschen ängstlich, aber das war gerade so ein Reiz. Hatte wohl ihren Schatz hier vor unserm Tisch. Ein Mund wie 'ne süßsaure Kirsche. Kann sicher ausgezeichnet wimmern, wenn man's ihr besorgt.
Der Richter hob sich etwas von seinem Stuhl und ordnete die straffe Hose im Sitz.
Sein Atem ging rascher, er ließ Lisbeth Biesel nicht mehr aus den Augen. Wie hypnotisiert saß die Kleine. Sie meinte übrigens wirklich den Blonden, gegen den der Landjäger eben aussagte. »Es kommt nicht in Frage, dass er's unüberlegt getan hätte. Er hat ihnen aufgelauert.«
Der Dicke sah schnell in die Papiere; um Landfriedensbruch oder so etwas schien es sich zu handeln. Er las: Widerstand gegen die Staatsgewalt, schwere Schlägerei. Gut! Da war etwas zu verknacken. Trotziges Bürschchen. Strammer Brustkasten. Fräulein Braut bangte wohl um ihren Beischläfer. So im Kornfeld. Fräulein, abends wenn's recht mulmig warm ist, das hat Ihnen gefallen. Er hat was gekonnt, was? Hat dir auch erzählt, wie er dem Landjäger eine reingewichst hat, sicher hat er geprotzt damit, und jetzt wird er kneifen. Jetzt wird das alles nicht wahr gewesen sein! Jawoll. Pass auf, mein Täubchen, wie klein dein Herkules gleich ist!
»Haben Sie etwas dazu zu sagen, Angeklagter?«
Der Dicke stützte das Kinn auf die Faust und rieb sich die schwammigen Backen. Sein Kopf lag schief auf der Schulter; seine Augen blinzelten heimtückisch zu Werner hinunter.
»Sehr viel ist dazu zu sagen«, entgegnete zur Überraschung des Beisitzers der Bursche. »Der Landjäger sieht das von seinem Standpunkt, und ich sehe es von meinem. Fragt sich nur, wer richtig steht.«
»Antworten Sie nicht so umständlich«, mahnte der Vorsitzende. »Sie sollen sich äußern zu Ihrer Tat und zu den Aussagen des Zeugen! In wessen Auftrag haben Sie die Tat ausgeführt?«
Der dicke Beisitzer lehnte sich noch weiter vor. Als spreche er zu einem Saufkumpan und es sei schon die späte Stunde des vollen Rauschs, breitete er die Arme über den Tisch und grinste:
»Das können Sie wohl nicht sagen? Deshalb haben Sie wohl auch gar keine Zeugen laden lassen? Vielleicht ist aber doch jemand heute mitgekommen.«
Er lachte in kleinen Stößen, jenes minderwertige Lachen des Spießbürgers, der immer nur Rache nimmt, wenn kein Risiko dabei ist. Er hob den Blick am Schluss seiner hämischen Frage ins Publikum und sah, dass das blasse Mädchen erschrocken die Finger einer ganzen Hand in den Mund steckte.
»Schauen Sie sich mal um«, sagte er zu Werner, der mit hochgezogener Schulter und drohend herabhängenden Armen vor dem Zeugentisch stand und sich auch jetzt nicht rührte.
»Es ist immer gut, wenn man Zeugen hat. Seien Sie nicht so stolz, junger Mann. Sie scheinen zu übersehen, dass es Ihnen hier sehr an den Kragen gehen wird. Also wie wär's, wenn Sie Ihre Kumpane mal nennen würden, oder die Drahtzieher von der Sache. Oder vielleicht jemand, dem Sie gleich am Abend erzählt haben, wie die ganze Chose wirklich gedacht war.«
Der Beisitzer sprach immer noch im lauernden Spiel, fühlte, wie er jetzt beide, den Burschen und das Mädel, mit jedem Wort zu gleicher Zeit traf; jawohl, den Jungen kochte er, und das Mädchen nagelte er an ihre Bank. Noch eine halbe Minute wollte er sie zappeln lassen, dann konnte die langweilige Maschinerie wieder weiterlaufen. Der Vorsitzende wartete geduldig auf das Ende des Duells; wie eine Erleichterung kam es über ihn, von rechts endlich ein Wort zu hören: immer wieder hatte er den Kollegen heute wecken müssen, gegen Ende der
Beweisführung hatte er seine Stimme gehoben, damit der Schlafende aufwachte. Jetzt rettete er endlich sein Renommé vor dem ganzen Saal.
»Oder wollen Sie uns vielleicht erzählen, Sie hätten das alles aus eigenem Antrieb getan?«
Der dicke Mann zeigte nun sein offenes Maul; der Zungenklumpen ging nass über die Unterlippe. Jetzt wird er platzen oder er wird das Jammern anfangen. Verraten wird er! Und das Mädel wird sehen, was sie für einen Schweinkerl da hat. Der Beisitzer zog die Zunge mit Schmatzen wieder in den Mund zurück. Wer weiß, vielleicht tat's ihr auch gut, wenn er sich herausredete damit. Er suchte das Mädchen wieder im Publikum. Es wird dir nämlich wenig nützen, mein Häschen, verknallt wird er doch, und wie!
Er fand Lisbeth nicht mehr, bis er aufmerksam wurde auf einige Leute, die von den hintersten Bänken aufgestanden waren und sich zu jemand niederbeugten. Sie ist ohnmächtig geworden, dachte er und sah, dass zwei Landjäger zu den Bänken sprangen.
Aber das Mädchen war nur im hastigen Vorwärtsgehen gestolpert. Jetzt trat sie mit einem schnellen Schritt an die Schranken des Publikumsraums, stand schon in den Griffen zweier Landjäger vorgebeugt und rief in den Saal:
»Niemand hat ihn dazu gehetzt. Die anderen haben ihm aufgelauert, und wenn er sich gewehrt hat, so ist das sein gutes Recht...«
Glockenhell war die Stimme, ihr Zittern ergriff alle. Bleich sah Lisbeth zu den Richtern hinauf, aber ihr war in dem weiten Saal, als spreche sie in einer Kirche und zu tausend Menschen. All ihre Angst vor diesem hohen fremden Raum, vor der Kulisse des Gerichts, den überall hockenden Uniformen war plötzlich gewichen. Sie spürte die Gefahr, die da aufkam, und sie sah nur noch den Geliebten, seine starke Figur, den blonden Kopf. Die Landjäger rissen sie zurück, aber der Richter winkte nun, dass sie abließen von ihr.
»Sie waren also dabei?« fragte der dicke Beisitzer mit sattem Behagen.
»Jawohl«, rief Lisbeth, »und ich weiß, dass er ein guter Mensch ist. Sein kleiner Finger ist mehr wert als diese ganzen Lumpen. Er ist -« sie zögerte einen Atemzug lang - »ein Roter, aber deshalb noch lange nicht verhetzt. Und wenn er damals im
Mai schon ins Kittchen kam, so war das schon genau so ungerecht.«
Der dicke Beisitzer neigte sich jetzt flüsternd zu dem Vorsitzenden. Der nickte zustimmend mit dem Kopf.
»Sie sind ja wohl nicht geladen, Fräulein?« fragte er. Lisbeth verstand ihn falsch.
»Geladen? Ich weiß nicht, was das heißt, aber ich weiß, dass der Werner recht hat, und dass er sich nur um die Armen kümmert, obschon er selber nichts hat.«
Sie überstürzte ihre Worte. Man merkte, dass sie etwas Wichtiges auf dem Herzen hatte. Sie sah, dass der Richter wieder die Hand hob. Ein letzter ängstlicher Blick ging zu Werner, und dann rief sie auch schon:
»Und ich - werde jetzt selber eine Rote. Und das ist gar nichts Schlechtes. Schlecht ist, was die Nazis machen. Menschen schinden und Menschen auflauern. Die Roten aber wollen das Elend abschaffen, und deshalb verfolgt man sie auch. Und unsern Herrn Jesus -« ihre Stimme hob sich, als singe sie ein Lied - »würden sie auch verfolgen, wenn er jetzt ins Dritte Reich käme.«
Die Landjäger waren dicht bei dem Mädchen stehen geblieben. Hinter ihnen hatte sich das Publikum von den Bänken gehoben. Die Ordnung des Gerichts war unterbrochen. Das Mädchen schrie schon aus der Masse heraus.
Vor ihr war die Schranke, die sonst das Volk von der Amtshandlung sperrte. Aufgehoben war nun die Schranke. Überrascht standen die Sekretäre und die Landjäger, hilflos saßen die Richter.
Der Schrei schien sie alle auseinanderzufegen. Der Ausbruch des Mädchens und der heilige Name lähmte sie. Zum ersten Mal dachten sie alle, dass man das Volk beruhigen müsse, das um dieses wilde Mädchen herumstand.
Die drei schwarzen Roben steckten die Köpfe zusammen. Im Saal war Totenstille. Nur Werner ging in kurzen Schritten vor dem Zeugentisch auf und ab. Er hielt den Kopf gesenkt; sie sollten da oben sein Lachen nicht sehen. Das Glück, das ihm die Backen glühte, war nicht für sie bestimmt.
»Angeklagter«, rief ihn jetzt der Vorsitzende an. »Bleiben Sie mal gefälligst stehen!« Werner stand gehorsam still. »Sind Sie mit jenem Fräulein da verwandt.«
Der Saal horchte auf. Werner ließ sie alle einige Sekunden
warten, dann sagte er, und der Ton seiner Stimme war zärtlich und fest:
»Noch nicht.«
Man hörte die Bewegung im Publikum. Werner aber dachte nur an Lisbeth. >Ich werde jetzt selber eine Rote.< Er biss wieder auf die Lippen, die lächeln wollten. Jetzt soll sie auch das Kind austragen, dachte er.
»Legen Sie wert darauf, dass das Fräulein noch nachträglich als Zeugin geladen wird?«
Er sagt Fräulein zu ihr. Werner überlegte. Sie wird sich aufregen und wird doch nicht viel sagen. Es ist nicht gut für ihren Zustand. Ich kann mich besser ohne sie wehren. Ich hab sie doch ferngehalten von allem, seit sie mir erzählte, was los ist.
»Sie können es ruhig beantragen«, sagte mit zynischer Freundlichkeit der Dicke von oben. »Wir beraten doch noch darüber.«
Sie tun es also nur proforma, erkannte Werner. Sie wollen sich maskieren. Schön, dann sollen alle sehen, was ihr für Kerle seid.
»Ja, ich möchte«, sagte er und warf den Kopf in den Nacken. Die Richter standen auf und bedeckten sich mit ihren Baretts.
Werner ging zur Anklagebank und setzte sich. Nun nahm er sich auch den Mut, zu Lisbeth zu schauen.
Sie stand immer noch zwischen den Landjägern an dem Holzgeländer. Er nickte ihr zu und sah sie mit langem Blick an. Unbewegt erwiderte sie den Blick, ihre Hände pressten den hellen Mantel vorne zusammen. Sie gab die Stellung nicht auf, blieb wie eine Anklägerin an ihrer Stelle und erwartete den Bescheid des Tribunals. Die kriegen sie nicht so leicht los, dachte Werner stolz, da ging aber schon wieder die Tür, und die Männer traten ein.
Sie setzten sich umständlich auf ihre Stühle. Die Geräusche im Saal verstummten. Das Publikum hatte sich schnell auf die Bänke gesetzt. Werner war höflich aufgestanden.
Herausfordernd richtete sich Lisbeth Biesel an der Schranke auf. Der Richter verkündete: »Es ergeht folgender Beschluss. Das Gericht hat es nicht für nötig erachtet, dem nachträglichen Antrag des Angeklagten Werner stattzugeben und neue Zeugen zu laden. Das Gericht ist einstimmig der Meinung, dass der Tatbestand durch die Beweisaufnahme, insbesondere durch die Zeugenaussagen der beiden Landjäger hinreichend geklärt ist,
außerdem hält das Gericht genannte Zeugin wegen ihrer vermutlich sehr nahen Beziehung zu dem Angeklagten für zu befangen, um ihre Aussage bei der Urteilsbildung verwenden zu können.«
Der Vorsitzende wandte sich zu Werner:
»Sie haben nichts mehr zu sagen? Die Beweisaufnahme ist geschlossen. Herr Staatsanwalt bitte.«
Wie ein Tank lief die Maschinerie wieder vorwärts. Über alle Hindernisse hinweg wälzte sie sich. Grinsend saß oben der Dicke, mit unbewegter Fratze legte der Vorsitzende die Hände auf den Tisch. Das Publikum spürte die Walze, die übermächtige, und duckte sich anerkennend. Der Staatsanwalt links erhob sich mit einem Räuspern. Befriedigt sah der Vorsitzende den Ankläger aufstehen, seine Brillengläser funkelten kalt, geradeaus in die Tiefe ging sein Blick. Das wäre eingerenkt. Nur nicht imponieren lassen. Hier sind wir die Herren. Romanszenen vor unserer Kammer? Recht wird hier gesprochen, und zwar von uns.
Geflissentlich übersah der Amtsrichter die Urheberin des Skandals, die immer noch aufrecht an der Rampe stand.
»Hoher Gerichtshof!« begann der Staatsanwalt, »wir haben hier einen für das Saargebiet besonders typischen Fall, ich möchte sagen einen exemplarischen Fall, der denn auch ein Exempel an Strafe verlangt.«
»Ja, seid ihr denn alle verrückt? Es war doch genau umgekehrt!«
Mit überlauter Stimme schrie Lisbeth in den Saal. Sie hatte den Gerichtsbeschluss angehört, ohne ein Wort zu verstehen, hatte die schnelle Frage an Werner gehört, nun stand dieser andere auf, plötzlich hatte sie die Eile verstanden, und dann kam das schreckliche Wort exemplarisch und nun wusste sie, dass Werner verloren war. Zu stark hatte sie sich gefühlt, aufrecht stehend wie sie gesprochen hatte, unberührt von den Gendarmen und mitten unter den Leuten, deren Beifallsmurmeln sie von allen Seiten stützte. Wie aus einem Krampf hatte sie sich mit ihrem Schrei befreit, noch glaubte sie, dass jetzt alle neben ihr, hinter ihr aufspringen müssten, um mit ihr loszubrüllen und vorzugehen über dieses Geländer, da wurde sie an beiden Armen mit brutalen Griffen rückwärts gerissen, sie stolperte, fiel aber nicht, wie eine Puppe schleppten die beiden Landjäger die wehrlose Figur an den Bänken vorbei zum Hinterausgang.
Sie sah, wie die Sitzenden am Rand der Bänke erschrocken abrückten, ihr Hut rutschte ihr ins Gesicht, die Armknochen schmerzten wild, ihre Absätze schleiften hilflos über die Dielen, sie sah nichts mehr, eine Treppenstiege schlug ihr hart an die Wade und dann hörte sie Werners Stimme. Keuchend, fast weinend, brüllte er - o sie hatten ihn sicher auch schon in der Zange: »Lasst das Mädel gehen, auf der Stelle lasst ihr das Mädel gehen!«
Hinter ihr wurde eine Tür aufgerissen. Einer der Landjäger ließ Lisbeth los, sie konnte sich den Hut aus den Augen schieben und sah ganz weit weg Werner, den zwei Landjäger festhielten. Er stand vorgebeugt mit verwirrtem Haarschopf; über ihm wie Tonfiguren thronten die Richter. Die Sonne fiel eben in breiten Strahlen von hinten über sie. Lisbeth sah Werner und die drei schwarzen Männer. Hob nicht der eine die Hand? Die Landjäger neben ihr hielten still und klappten die Stiefel zusammen.
»Nehmen Sie die Personalien, Landjäger«, schnarrte die Stimme aus der Tiefe, »wir werden sie in Ordnungsstrafe nehmen.«
»Jawohl, Herr Amtsrichter«, bellte der Landjäger, und dann klammerte sein Griff schon wieder wie ein Falleisen nach ihrem Arm. Lisbeth wollte nach ihm schlagen, aber dann merkte sie, dass man sie nach draußen schleppen wollte. Schnell richtete sie sich auf und rief: »Es sind leibhaftige Teufel, Werner. Sei ruhig -mach's gut.«
Sinnlos schien ihr Schlusswort, aber es beruhigte den Burschen. Er sah, wie sie den Kopf hochwarf, stolz, mit verächtlichem Lachen auf den Lippen, sah, dass das Publikum aufstand und zur Tür hinausdrängte. Fast alle erhoben sich, langsam wie Arbeiter gehen, wenn sie ihre Gegnerschaft ausdrücken wollen. Vergeblich wartete der Staatsanwalt, dass Ruhe eintrat. Das Volk ging Lisbeth nach. Das Urteil war nicht mehr interessant. Es war schon gesprochen. Über wen war es gesprochen?
Die Landjäger ließen Werner los. Er trat an die Anklagebank zurück. Er lachte grimmig: »Teufel?« sagte er laut vor sich. »Nein, Nazis.«
»Ich nehme Sie nochmals in Ordnungsstrafe«, rief von oben der Richter.
Werner schüttelte den Kopf und winkte ab, er sah nicht hinauf: »Nehmen Sie nur! Ich sag doch: Nazis.«
»Herr Staatsanwalt, wenn ich dann bitten darf fortzufahren!« Werner saß auf der Bank und feixte vor sich hin:
»Das war viel wert«, sagte er, »viel wert.«
Als das Urteil verlesen wurde - es lautete auf mehrere Monate Gefängnis - sah er erschrocken ins Publikum. Als wenn nur von dort die Hilfe kommen könnte.
Der 27. August
Der Morgen dämmerte schon über dem Schienennetz des Saarbrückener Hauptbahnhofs. Der Rangiermeister Kewerkopf stieg die Stufen zur Stellwerkbrücke hinauf, als ein Achsenschlosser ihn von unten anrief.
»Wie ist es?« rief der von der Arbeit verschmierte Mann. »Wird noch einer rausgelassen?«
Der Rangiermeister nickte mit dem Kopf zur Seite. Auf den äußersten Geleisen polterte ein Zug nach dem Osten. Kriegsgeheul drang zu den Ohren der beiden Männer. Papierfahnen zitterten aus den fortgleitenden Wagen. Aufgeregte Kinder schrieen ihre Reisefreude, schnelle Teilnehmer suchend, über die vom Nebel feuchten Geleise. Jetzt schob an einem Fenster ein Erwachsener die Kleinen beiseite, stieß den Arm aus dem Rahmen und brüllte mit gebieterischem, halb drohendem Ton: »Heil Hitler!«
Der Schlosser sah flüchtig hinüber. Wenn du die ganze Nacht geschafft hättest, wär dir's Brüllen vergangen.
»Es ist Schluss«, sagte von der Eisentreppe der Rangiermeister. »Der da -« er zeigte auf den in weißer Rauchfahne entschwindenden Zug - »war schon nur dreiviertel voll. Morjen.«
Der Rangiermeister fasste an die Mütze und stieg die Treppe hinauf. Der Arbeiter stand etwas betroffen, dann grüßte er zurück und wandte sich dem Bahnsteig zu. Welch eine Pleite, dachte er. Sie haben achtzig Wagen bestellt, und nur die Hälfte haben wir abgelassen. Der Adolf wird sich freuen.
Er stieg aus den Schienen auf den Kai. Die Milchhalle ist schon offen. Ein Glas heiße wird gut tun.
Er trat in den kahlen Restaurationsraum. Schläfrige Erwerbslose saßen in den Bankecken. Ein Mädchen mit gefärbtem hellem Haar spülte weiße Becher.
Der Schlosser machte einen Schritt hinter die Theke und riss ein Blatt vom Kalender. »Hier Fräulein, wir haben inzwischen
schon den 27. August. Der Tag der Riesenkundgebung der Saarländer am Niederwalddenkmal.«
Er reichte ihr das Blatt. »Das können Sie sich aufheben. Zur Erinnerung.«
Der Wuschelkopf füllte dampfende Milch ein. »Oh, es war furchtbar viel zu tun heute morgen. Denken Sie nur die vielen Kinder!«
Der Schlosser nahm schlürfend einen ersten Schluck. »Ja ja, es ist so'n richtiger Schulausflug.«
Sie wusch Zuckerlöffel ab und drohte ihm: »Das darf man aber nicht sagen, Sie. Es ist doch ein großer Tag heute.«
Er sah sich in der Stube um. Das Röcheln eines Schlafenden sägte die Stille. Ein Mädchen saß nah am Tisch und stickte. Ein erwerbsloses Tabakmädchen, sie verbrachte ihre Tage hier. Für eine Bahnsteigkarte und ein Glas Milch hatte man eine Unterkunft. Und manchmal auch einen Mann, der was ausgab. Heute war sie schon um Mitternacht gekommen. Der Trubel zog sie an. Die Feinen fuhren an den Rhein und sprachen mit dem Reichskanzler Adolf Hitler. Da gehörte man nicht zu, aber es war doch sicher schön anzusehen, wenn sie da hinausfuhren.
»Ja, weiß Gott, großer Tag«, rief sie jetzt dem Schlosser zu. »Du hättst die nur hören sollen, wie die über unsereins denken.«
Das Milchmädchen wandte sich um und hantierte an ihren Krügen im Hintergrund.
»Frag die da nur«, rief die Tabakarbeiterin, »die hat's gehört, wie sie sich aufgeregt haben über die armen Deibel da.« Sie zeigte auf die Schlafenden. »Das wird ja alles bald aufhören, -aufhören!« sie äffte den vornehmen Ton der Nazidame nach, »wenn der Führer kommt - Führer!«
Der Schlosser lachte unbändig. »Na und was haben denn die Arbeiter gesagt, die mitgefahren sind?«
»Arbeiter? Arbeiter? Ich hab keine gesehen. Das waren alles nur feine Leute. Hochfein.« Sie äffte wieder die Gesten der Bürger nach.
Der Schlosser hob warnend den Finger: »Sag das nicht, Mädchen. Da waren auch Arbeiter drunter. Vom Ulanenverein. Von den 70ern. Vom Gesangverein. Hüttenkapelle. Marineverein. Saarverein. Kaninchenzuchtverein. Wenn die 'ne Schärpe um den Bauch haben und den Herrn Stadtsekretär als Vorsitzenden, dann laufen die, wohin du willst.«
»Ich fands sehr schön«, sagte das Serviermädchen, »die vielen sauberen Kinder.«
Sie redeten jetzt alle drei nebeneinander her. Der Schatten einer Rangiermaschine passierte donnernd die Fensterfront. Das Morgenlicht schoss durch die Regendächer der Bahnsteige in die kahle Stube.
»Aber zum Dreck schmeißen, da sind sie nicht zu fein«, sagte verbissen die Stickerin über ihrer Handarbeit. »Da war so ein großer, breiter, Sie haben den doch auch gesehn, Fräulein?«
Das Serviermädchen hatte sich wieder umgedreht; sie hob die filmgerecht rasierten Augenbrauen und strich die gewellten Haare an den Ohren zurück: »Ja«, sagte sie mit kaum merklichem Hochmut, »den kenn ich, das war ein Herr Amtsgerichtsrat.«
Mit Vergnügen sah der Schlosser das Duell der Blicke. Das Tabakmädchen hatte zuerst erstaunt die abweisende Miene der blonden Kellnerin gesehen, dann stieß sie wieder ihre Nadeln in die Wolle und sagte: »Also der Herr Amtsgerichtsrat hat gesagt: den Matz Braun wird sein Schicksal schon erreichen, der wird bald an einer Laterne baumeln.«
Sie lachte und warf sich in die Brust: »Eine deutsche Eiche ist zu schade für den Kerl. Was hat er noch gesagt? Ja: die Kommunisten, die werden alle aufgeschrieben heute, da kommt keiner 1935 lebend davon. Du, wo will er sie denn aufschreiben?«
Der Schlosser trank sein Glas leer: »Das musst du den fragen. Vielleicht bei dem Umzug heute Mittag. Aber da wird er sich noch Papier kaufen müssen.« Er warf einen Franc auf den Tisch, die kleine Handlampe stand brennend vor ihm auf dem Büfett. Er hob das Fenster und blies die Flamme aus.
»So«, sagte er und klappte das Lichthäuschen zu, »jetzt hat der weltberühmte 27. August angefangen.« Er griff nach seinem Schraubenschlüssel, um zu gehen.
»Sagen Sie mal«, das Serviermädel hielt ihn zurück, - »wie viel schätzen Sie denn nun die ganzen Menschen? Ich möchte es gern für meinen Großvater wissen, der ist Veteran, konnte aber nicht mehr mit. Ach der war so traurig gestern.«
Der Schlosser hörte den zuckersüßen Schmerz, aber er beherrschte sich: »Vierzig Züge sind abgelassen à tausend Passagiere, also vierzigtausend. Können Sie genau so dem Großvater erzählen. Auf Wiedersehen.« Er nickte beiden Mädchen zu: »Ich gehe jetzt heim in mein Heiabett, wo die anderen 760000 Saarländer noch drin liegen.«
Die Kumpels kommen!
»Ja so was war doch noch net da, Dunnerlittchen, so was war doch noch net da.«
Der Kumpel Heinrich Müller schlug auf den Tisch, dass die leeren Suppenteller hochhüpften.
»Ja was ist denn mit dir los?« fragte Bas Käth, die würdige Matrone, seine Schwiegermutter.
Heinrich Müller hielt einen Zettel in der Hand und wiederholte seinen aufgeregten Satz.
»Ja so was war doch noch net da, Dunnerlittchen, Dunnerlittchen.«
Die alte Frau räumte die Teller ab, scharrte ein paar Speisereste in den Katzenteller am Boden und bog sich stöhnend wieder zurück.
Der Kumpel lachte laut und böse. Dann hielt er das Blatt etwas ab von seinen weitsichtigen Augen, die feste Haut des männlichen Gesichts straffte der Spott. Er las:
»Vierter Läufer. Aus dem Prims- und Köllertal, vom Fuß des Hochwaldes kam ich herbeigeeilt. Stille trauliche Ruhe lag noch über den Dörfern heute früh, wo der Bergmann ausruht vom schweren Tagewerk. Tief unter der Erde, tagaus und tagein gräbt er die Kohle...«
Die Matrone unterbrach ihn. Sie stand jetzt auf den Tisch gestützt vor ihm. Die verschafften Hände zitterten leise. »Das ist doch schön«, sagte sie.
»Kommt noch schöner«, erwiderte der Kumpel. »Das ist die Botschaft«, - breit und höhnisch sprach er das Wort - »die der Adolf sich von uns Saarkumpels für heut bestellt hat. Damit läuft seit heute Morgen so ein gleichgeschalteter Turner nach Rüdesheim.« Er rückte das Blatt zurecht und las weiter:
»Und nach mühsamer Schicht bestellt er dann noch den dürftigen Acker. Ein schweres und sauer verdientes Brot! Da hast du recht. Keine französische Schule, keine Willkür des Chefprincipal kann seine tiefe Liebe zu Deutschland aus dem treuen Bergmannsherzen reißen. Nun hör mal genau zu:
Und lösen sich bei seinem Grab auch donnernd Felsenblöcke ab er denkt: so will es Gott! Glückauf!
Haste schon so eine Frechheit gehört! So will es Gott!« Der Kumpel schob den Tisch von sich.
»Du sollst net lästern«, sagte die Alte.
»Lästern- das da ist lästern, verstehste. Das ist: die Bergleute verkohlen. Felsenblöcke? Von denen war doch noch keiner im Schacht. Der Adolf hat vielleicht schon mal am Stoß geschafft, was? Und hat Glückauf gesagt, wenn die Brocken runtergeballert sind? So will es Gott?«
»O Heinrich«, brauste die alte Bergmannsfrau auf, »du hast aber auch gar kein Religion.«
»Religion? Die haben keine! Ich hab meinen Kumpelverstand und meinen Kampf. Das ist meine kommunistische Religion. Guck dir das doch mal an: Keiner von uns Kumpels hat den Zettel da gesehen, aber sie laufen in unserem Namen an den Rhein und kriechen dem hintenrein. Das ist doch gelogen! Gemeiner Schwindel! Als wenn die Saarkumpels den Adolf bitten würden, dass er herkommt. Als wenn wir den brauchten! Das ist Schwindelreligion.«
Die Alte hatte sich herumgedreht und schlug heimlich ein Kreuz. »Na schön habt ihr's doch auch net in der Grub«, sagte sie schüchtern.
»Davon redt keiner. Das wissen wir selber, warum die Brocken fliegen. Net vom lieben Gott. Aber erstens können wir uns da nur ganz allein helfen und zweitens - ist es denn bei denen da drüben besser? Der Adolf hat die Sicherheitsleute in der Grube abgeschafft. Die Gewerkschaften hat er zertrampelt. Garnix mehr haben die Kumpels zu sagen. Ins Konzentrationslager kommen sie. Und wir sollen den herrufen. Und dann seine Bundesbrüder! Da sind sie doch alle wieder da. Der Krupp und dem Wilhelm sein Ältester. Na da erinner dich doch mal an deinen Mann, den Vetter Krischan! Wie war's denn unter Willem? Wie habense den denn schikaniert, den königlichen Bergmann! Und die Bestechungsgelder! Und da hat's auch keine Unglücke gegeben?« Heinrich zerknüllte wütend den Zettel: »Da konnten sie genau so jeden Tag mitm Kopf unterm Arm heimkommen wie jetzt unter dem Changel - und wie erst recht unter Adolf.«
Die Alte spülte am Ausguss das Geschirr; vorsichtig stellte sie die gewaschenen Teller beiseite, um kein Wort von seiner Rede zu verlieren. Sie hörte, wie der Schwiegersohn jetzt aufstand und den Rock anzog. Jetzt ging er los nach Saarbrücken. Demonstrieren mit den Kommunisten. Ob's davon besser wurde?
»Bergleut haben's eben schwer«, sagte sie und goss neues Wasser in ihre Schüssel. »Man muss nur net verzagen.«
Der Kumpel trat an sie heran: »Damit hilft man nicht. Kämpfen muss man. Da nutzt keine Wallfahrt und kein Rüdesheim.«
Die Alte schüttelte den Kopf: »Laß mir meine Kirch. Da glaube ich dran.«
Heinrich Müller guckte über ihre Schultern in den Spiegel und rückte sich den Schlips zurecht; er hatte den besten Anzug angelegt, die Schuhe blinkten, aus den Ärmeln guckten mit sauberem Rand die frischen Manschetten.
»Nix für ungut, Bas Käth, ich nehme dir deinen Glauben net weg; von mir aus kannste dreimal nach Trier pilgern, aber wenn du heute nach Rüdesheim gefahren wärst, dann hättste mein Haus net mehr betreten.«
Er hob fast leidenschaftlich die Hand. Die Alte lächelte jetzt: »Weißt du, Heinrich«, sagte sie ohne sich umzudrehen, »wenn ich net so alt war, dann hätt ich heut den Marsch mit euch gemacht.«
Heinrich Müller war schon zur Tür gegangen. »Na denn Rotfront, Bas Käth.«
»Ja, ja«, antwortete die Frau und arbeitete weiter, da war er schon draußen.
Er ging von Haus zu Haus die niedrige Zeile der Kumpelhäuser ab. Die Kumpels wussten, dass die kommunistische Partei rief. Aber man musste immer nachstoßen. Die Sonne fiel in die gebirgige Straße. Schwere Löcher hatten die Lieferautos in den Schotter gestoßen. Wenn die Reichen hier fahren müssten, war die Straße schon längst gemacht. Die kleinen Häuser standen im Schmuck der Vorgärten. Heinrich kannte sie alle, wusste, wer Glück hatte mit Blumen und wer schlampig war, wer nicht mal sein Gartentor flickte. Jetzt sah er nicht hin. Er ging in die Häuser hinein. »Und lösen sich bei seinem Grab auch donnernd Felsenblöcke ab, er denkt: so will es Gott. Glückauf.«
Zitierend trat er in die Wohnungen. »Glückauf« antwortete man ihm, und dann legte er los. Der Stolz des Bergmanns sprach aus ihm. Der heiße Zorn des Arbeiters, der nicht gern
belogen ist. Die toten Kameraden waren neben dem Redenden, die von der Gier der Grubenbarone erschlagenen. Für das eigene Leben sprach der, der täglich im Stollen das Leben der Kameradschaft zu verteidigen hatte. Der Fachmann sprach, den der Tod belehrt hatte, misstrauisch zu sein gegen Phrasen. Holzstempel, gut verbaut, stützten besser als Gebete das Hängende ab. Nein, er dachte nicht: so will es Gott. Er sprach mit dem Chef principal und er protestierte gegen den Wanderpfeiler, gegen das Hetztempo, gegen das Sparen mit Holz. Und er rief den Kumpels, die er da aufsuchte, die tausend Gelegenheiten ins Gedächtnis, wo sie sich gemeinsam dort unten geholfen.
Sie saßen in den Wohnküchen und hörten ihm aufmerksam zu.
»Und die da drüben im Reich wollen uns wieder für dumm verkaufen.«
Keiner konnte ihm misstrauen, dass er für die französischen Brotgeber reden wollte. Zu gut bekannt waren seine täglichen Debatten mit dem Hausteiger und dem Divisionär. Sie wussten, warum er noch nicht abgelegt war; es gab keinen besseren Hauer in seinem Schacht, keinen, dem die Kameradschaft so folgte wie ihm.
»Laß sie schwätzen«, sagte ein Kumpel.
Aber Heinrich war nicht gekommen, um müde Antworten zu hören.
»Wenn ihr Kumpels seid, dann kommt mit in die Stadt.« Er sprach von dem roten Aufmarsch in Saarbrücken.
Von draußen riefen Genossen. Es sind schon mehr da, merkten die anderen und standen langsam auf.
»Macht euch fertig«, rief Heinrich. »An der Chaussee stellen wir uns auf.«
Aus vielen Häusern kamen die Kumpels. Wie ein langes Sprungbrett lag die Straße durch das Dorf bis zum Tal der Saar hinunter. Mit erhobenen Fäusten grüßten sich die Kumpels und gingen in heller Sonne den Weg, den sie im grauen Dämmer seit Jahren zur Schicht trotteten. Zur Linken sahen sie, wenn Felder die Häuserreihe unterbrachen, am Waldrand die Zechentürme. Verwittert und blass hing die Trikolore von den Grubengebäuden. Am Ende der Straße hatte eine Wirtschaft die kaiserliche Fahne gesetzt. Die niedrigen Bergmannshäuser bis zur Tiefe des Wegs waren ohne Schmuck.
In kleinen Trupps kamen die Männer. Die Mäntel über den Arm gelegt, mit schlenkernden Handtaschen gingen Frauen neben ihnen und Kinder. Wie selten ging ein Kumpel diesen Weg mit seiner Familie! Nun war es wie ein Fest. Die Frauen lachten. »Wir machen unser Rüdesheim im Land«, begrüßten sie sich.
Nun nahmen einige Reihen schon die ganze Straßenbreite ein. Schulkinder standen an den Häusern mit Gebetbüchern. Eine Glocke fing zu läuten an. Die Vesperglocke.
Scheu betrachteten die Kinder die fröhlichen Erwachsenen. Dann fassten sie Mut und gingen mit. »Wir gehen nach Saarbrücken«, erklärte ihnen ein blonder Pionier aus der Reihe. Er strengte sich an, den Schritt der Großen mitzuhalten. Die anderen Kinder liefen neben den Reihen und staunten immer noch.
Die Männer und Frauen hatten jetzt Tritt gefasst. Die abschüssige Straße trug sie wie ein federndes Brett. »Man könnte schon etwas singen«, rief eine Frau.
Heinrich Müller drehte den Kopf nach den hinteren Reihen. »Wir sind gleich da«, rief er, »spart den Atem für die Stadt.«
Sie sahen plötzlich alle die Straßen von Saarbrücken vor sich. Die breite Bahnhofstraße mit Wilhelms Fahnen und dem Hakenkreuz. Schwarzweißroter Tücherwald aus jüdischen Geschäften hängend und aus den Kneipen der Nazis. Vom Turm der Warenhäuser - die wussten, dass sie nicht umsonst schmeichelten. Eine Fahne neben der anderen. Kein Kaufmann hatte Mut gehabt zu streiken. Aber die Hälfte log. Und nun kommen wir und zeigen unser rotes Tuch. Da vorne geht es. Der junge Anton trägts.
Sie traten fester den Boden, Schon war das Lied in ihrem Schritt. Ein Kampflied wird es sein. Und wird zu euren alten und neuen Lappen wie ein Sturm hinaufblasen.
Die Straße war nun schon schwarz von Menschen. Heinrich Müller wandte sich um. Die Glocke schwieg mit einem Mal. Eine Seitengasse öffnete sich rechts. Die Kinder mit ihren Gebetbüchern lösten sich aus den Reihen und trippelten eilig zu dem nahen Heiligtum. Ein Knabe blieb stehen und sah noch einmal begehrlich auf den marschierenden Zug.
»Da kommen die Emigrantenkinder«, rief Heinrich Müller. Von der Sandgrube zur Linken der Straße lief eine Schar Kinder herbei. Blonde Mädchen, schlanke Knaben mit roten Luftballons. Am Straßenrand hielten sie atemlos an und hoben die freie Hand über die Stirn. »Seid bereit«, riefen sie durcheinander mit hellen Stimmen.
Dann zwängten sie sich in die Reihen mit ihren Begleitern.
»Die lassen wir nach Deutschland fliegen,« sagten sie zu den Pionieren und zeigten auf die Ballons. Der Hammer des Arbeiters und die Sichel des Bauern waren auf die blutroten Hüllen gemalt.
Glücklich fassten sie die Hände der Frauen und Männer und stapften mit.
Die Straße schwenkte im Bogen über eine Brücke. Glitzernd liefen die Schienenstränge der Bahn nach beiden Seiten.
»Hier geht's zum Dritten Reich, pu«, sagte ein Mädchen und rümpfte die Nase. Die Reihen lachten.
Da lag der Fluss unter ihnen. Das glitzernde träge Wasserband zwischen den Kohlenbergen. Förderräder hingen schwarz im Sonnenlicht. Halden höckerten hoch aus den Wiesen und schoben sich in Wälder ein. Durch den silbernen Horizont zogen die Gewebe der Drahtseilbahnen.
Unser Land ist das. dachten die Kumpels. Tausend Schornsteine unser. Wo wird noch so viel gearbeitet? Wo ist soviel Reichtum im Boden, soviel brauchbarer Waldbestand wie hier?
Sie sahen den Fahnenträger an der Spitze um die Straßenbiegung schwenken. Er knotete das Fahnenleder ab.
Wenn es erst wirklich einmal unser ist, dachten die Kumpels. Der Weg stieß jetzt auf die städtische Straße. Aus den Wirtshäusern und Läden hingen die Vorkriegsfahnen. Was werden wir machen aus diesem Land wenn wirs in die Hände genommen haben!
Der Fahnenträger war auf die Seite getreten und schüttelte die Stange. Wie ein warmer Blutstrom floss das Tuch nun über seine Hände. Der Zug schritt weiter. Da waren auch die Kameraden. Schon aufgestellt in Kolonnen. Soweit die Straße zu sehen war, standen die Menschen. Die Kumpels verbesserten den Tritt, links, rechts. Ihre Augen lachten.
Der Fahnenträger schwenkte sein breites Tuch weit über ihre Köpfe.
Ein Trompeter blies.
Vor die stehenden Kolonnen sprang ein baumlanger Bursche.
»Wir begrüßen die Bergarbeiter und Arbeiterfrauen aus dem Püttlinger Bezirk mit einem dreifachen kräftigen Rotfront.« Wie ein Gewitter antwortete die Salve des Kampfrufs. Die Kumpels schwenkten in die Aufstellung ein.
Ein Brief, nur ein Brief
Während sie anmarschierten aus allen Winkeln der letzten deutschen Provinz, die noch kein Konzentrationslager hatte, saß der Gefangene Werner in der Anstaltskirche auf der Lerchesflur. »Wenn Sie heute Post haben wollen, müssen Sie schon in die Kirche gehen«, hatte ihm der Geistliche geraten. Ich denke nicht dran, hatte Werner gebrummt, und eine halbe Stunde später saß er doch in dem Bretterverschlag und sah den Priester um den weißgedeckten Stein gehen und aus den dicken Büchern lesen. Demonstration ist heute, dachte er; der Priester wandte sich um und breitete die Hände über die eingekastelte Christengemeinde. Dass man sie nicht singen hören kann hier oben - dachte Werner. Er hob die Schuhsohlen und senkte sie im Takt marschierender Kolonnen. Lang bin ich nicht dabei. Aber zum Frühjahr sollt ihr euch wundern!
Am Altar klingelte man. Werner war eingehüllt in seine Gedanken. Er sah, dass der Priester den Kelch hob, sah das lang herabhängende Gewand des Priesters; ein Kreuz war darauf, Christus, der Sterbende, weitete seine blutenden Arme.
Werner konnte das Bild plötzlich nicht mehr loslassen. Er dachte an Lisbeth: »Jesus würde heute auch verfolgt im Dritten Reich.« Der Mann ging mit dem Marterbild auf dem Rücken vor ihm auf und ab. Blutsträhnen liefen aus strecklichen Quellen über das blasse Gesicht; eine Dornenkrone hockte in der Stirn. Das war genau so wie das Hakenkreuz, das sie Karl eingebrannt. Jesus wäre auch Kommunist, hatte Lisbeth gesagt; Werner sah den trinkenden Priester. Aber er hätte bestimmt kein Konkordat mit denen da gemacht, beruhigte er sich.
Als er in der Zelle war, brachte ihm der Wachtmeister einen Brief. Er erkannte die Schrift und verbarg seine Erregung nicht. Schon wollte er ihn aufreißen, aber der Wachtmeister stand noch da. Warum ging der nicht? Ich lese allein. Das geht euch alle nix an! Alle!
»Sagen Sie mal, Werner«, sagte der alte Mann, »da sind heute
die Roten, Ihre Roten in Saarbrücken. Die kommen doch nicht hier herauf?«
Der Alte rieb die Hände und wackelte mit dem Kopf; etwas lächerlich machen wollte er den Satz, noch eh er verstanden war. Aber Werner merkte die Angst. Nur wenn sie sicher sind, haben sie Mut. Schikanieren tun sie, solang die Luft rein ist. Wenn sie dick wird, dann biedert man sich an, Mensch, ihr seid ja alle Nazis.
»Na vielleicht brauchen sie mich«, sagte Werner verächtlich. »Dann werden sie mich schon herausholen.«
Was meint er nun wirklich, dachte der Wachtmeister. »Na 's wird ja nicht so schlimm werden.« Er hatte sich besonnen. »Und unsereins tut ja nichts als seine Pflicht.« Schon strammte er die Brust; im fleischigen Gesicht blieb noch etwas von der süßsauren Leutseligkeit, original abgeguckt aus den Gesichtern der Portierskönige von Wilhelm bis Adolf.
Werner hörte nicht mehr auf ihn. Ein Glücksgefühl durchströmte ihn. Würde er mich so ängstlich fragen, wenn ich Separatist wäre! Und die SP macht ihm auch keine Sorgen.
Er sah in das misstrauische Gesicht des Feldwebels. Wenn alle Arbeiter wüssten, wie feige diese ganzen Kerle sind! Ich bin richtig gegangen, jubelte es in ihm. Wir marschieren, wir!
Der Wächter wandte sich um und ging.
Die Tür schnappte langsam ins Schloss. Kein Schlüssel knarrte. Werner horchte hinaus. Er will mich beschmusen. Ach, Quatsch, da ist mein Brief. Er riss das Kuvert auf.
»Mein Allerliebster«, schrieb Lisbeth Biesel. »Ich habe große Sehnsucht nach dir und kann es manchmal nicht aushalten. Aber da denk ich, du hast es noch schlimmer und dann geht es wieder. Bleib mir nur treu und sei nicht böse auf mich. Die Mutter weiß jetzt alles, und sie hat sehr geschimpft. Weil die Leute schwätzen und weil ein Monat Gehalt ausfallen wird im Frühjahr. Aber ich habe ihr gesagt, dass du dann zurück bist und dass wir dann bestimmt durchkommen. Ich war auch beichten zu den Paters. Und da hab ich einen so guten Herrn gefunden. Mach mir keine Vorwürfe, dass ich hinging, aber ich brauche das gerade jetzt, wo du weg bist. Aber ich habe an dich denken müssen. Der Pater hat gesagt, als ich von dir erzählte: dass ihm die Kommunisten hundert mal lieber sind als die Hitler. Kannst dir denken, wie mich das gefreut hat. Und er hat auch gemeint, dass das die Katholiken drüben bald alle sehen werden, warum.
Und die Bischöfe würden das auch bald merken. Weißt du, die Mönche dort haben schon immer Streit mit dem Bischof, und die Leute sagen, die Mönche hätten recht, weil sie mehr wüssten von dem Elend hier an der Saar als der reiche Bischof in Trier. Ich war sehr erleichtert, wie ich aus der Kirche wegging und war noch eine Stunde durch den Wald gegangen. Da hat sich auch das Kleine schon geregt. Ich habe gedacht, das soll auch ein Roter werden. Und wir werden es Ernst taufen, weil du den Namen wegen eurem Führer so gern hast. Wenn du rauskommst, ist es schon da.
Und übermorgen ist hier Kirb und auch von den Sozis etwas, aber ich gehe nach Saarbrücken. Da soll großer Umzug sein von allen Roten. Der Karl geht auch mit, er hat mir eine Fahne gebracht, da sind Hammer und Sichel drauf, und hat mir erklärt, was das bedeutet. Und damit werde ich gehen. Sie gehen durch die Eisenbahnstraße, hat er mir erklärt. Aber an der Brücke, da werde ich auf Seite gehen und zum Gericht gehen, wo sie dich verurteilt haben. Und da sollen die Richter meine Fahne sehen, wenn sie aus dem Fenster gucken. Du, ich geh ganz um das Haus rum vom Ufer über den Platz und hinten wieder zurück. Ich halt sie in der Hand um das ganze Gitter herum.
Ich küsse dich viele hundert Mal, mein Allerliebster, und ich komme dich auch besuchen, sobald man darf. Der Karl lässt dir sagen, du wärst richtig, und er ging hin, wo du wüsstest. Schlagen sie dich nicht? Mach sie nicht wild, spar dir das auf. Ich küsse dich so fest, wie du mich immer geküsst hast.
Deine dich liebende Lisbeth.«
Der Aufmarsch in Saarbrücken
Die Straßen von Saarbrücken prangten im Schmuck der nationalsozialistischen Fahnen. Kein Haus der breiten Geschäftsstraßen stand schmucklos da. Wer zeigte auch so leichtsinnig den kontrollierenden Patrioten seine wahre Gesinnung? Zu rasch fiel so eine leere Fensterfassade ins Gesicht, und in Krisenzeiten erträgt selbst der große Kaufmann nicht den Boykott der kleinen Fanatiker. Saarbrücken prangte bunt, als erwarte es von Doorn den alten Kaiser mit dem Spitzbart zurück. Leer waren die Straßen, nach Rüdesheim waren Herr Studienassessor und Herr Rendant gefahren, mit Frau und mit Kindern und Rucksäcken hatte man in der Nacht das Haus verlassen. Gut
abgeschlossen hatte Pappi, die Roten werdens ja wohl nicht wagen einzubrechen. Und wieder aufschließen musste Pappi, denn das Zeissglas brauchte man doch nun wirklich! Für das Panorama vom Vater Rhein - und auch für den Führer. Denn so dicht kann man wohl doch nicht ran. Aber sehen würde man ihn ja sicher - gewiss doch, das war ja das Wichtigste, der Führer.
Am deutschen Rhein waren auch alle Pennäler, die Beieber des Straßenbilds kleiner Städte, die Flaneure der Abendstunden, heute in der Pubertät, morgen reif zur SA. Und es fehlten die mittleren Angestellten der Ämter mit der ewigen Sehnsucht nach dem Akademikergrad, gesittet nach eifrig gelerntem Kniggerkomment, voll von giftigem Hass gegen den Prolet ohne Kragen, die hoffnungslosen Streber ohne Stolz, die Dünkelhaften, Feigen, sie waren dem Ruf des Führers ihrer Schicht gefolgt, Glacehandschuhe über den abgekauten Fingernägeln.
Die Straßen waren leer, denn wer zur Haute volée des Stahlhelms sich noch zählte und noch den Misch-Maschtanz der braunen Volksgemeinschaft nicht mitmachen wollte, Herr Generaldirektor und Herr Landgerichtsrat, der hielt sich heute im Haus, um aller Neugier vorzubeugen. Der Fahnenschmuck hing über toten Straßen.
Wer aber weiterging bis an den Rand der Stadt, dorthin wo die Häuser niedriger wurden und auch schmaler ihre Fassaden, der fand die Fenster leer vom Schmuck. Man erwartete dort keinen Kaiser, aber viele standen vor den Türen und horchten zu den Landstraßen hinaus.
Gegen zwei Uhr mittags sprangen die Kinder die kleinen Treppen der einstöckigen Häuser hinauf und schlugen an die Türen. »Sie kommen!« riefen die Kinder.
Fenster wurden aufgerissen, Frauen traten vor die Türen. Und schon liefen die Kinder der Musik entgegen, die sich aus der Ferne näherte.
Aus allen Tälern zogen sie heran. Von den Hügeln stiegen sie herab. Von weit her kamen sie durch den heißen Tag. Niemand brauchte sie zu bestechen mit bezahlten Fahrbillets. Sie marschierten Stunde für Stunde. Aus den Wäldern des Warndt kamen sie, von den Kumpeldörfern um Elversberg rückten sie an, aus den Hütten des Köllertals waren sie aufgebrochen. Schon dröhnte das Pflaster der Hauptstadt von ihren Schritten.
Die Eisenbahnstraße herauf gingen im Zug der Saarbrückener Gruppen die Bezirksleiter der Kommunistischen Partei.
Die kaiserlichen Fahnen senkten sich tief in die Straßenschlucht. Die Männer sahen vor sich die kräftigen Gestalten der jungen proletarischen Schutzstaffel. Die rote Fahne zog den Berg hinan.
Eure hängen, dachten die Männer, aber unsere marschiert.
Kleinbürger blieben auf den Trottoirs stehen, überrascht und unsicher.
Wenn ihrs nur kapieren würdet, dachten die Männer. Hier kommt das wahre Saargebiet. Die Besten der siebzig Prozent Arbeiter, die euch das Brot geben.
Ein Genosse des Landesrats erkannte einen Krämer. »Na, Herr Hennrich, wollen Sie nicht mitkommen.«
Der Krämer nickte stumm. Da wusste man wirklich nicht, was man sagen sollte. So ein langer Zug. Er sah die Straße hinab. Wenn die alle Geld hätten, die gäbens auch aus. Hatten ja tausend Löcher zu stopfen.
Er suchte den Landesrat, der ihn angerufen, aber die Spitze war schon nicht mehr zu erkennen. Euch Krämer und Handwerker kann nur der Arbeiter retten, hatte der Detjen gesagt. Vielleicht hatte er recht. Kreuzsakrament, da kam schon ein neuer Zug über die Schlossbrücke! Wenn die Nazis sich doch verrechnen!
Der Krämer hängte den Spazierstock von der Schulter ab. Ich werde vielleicht wieder ein Inserat in die »Arbeiterzeitung« geben.
Die Spitze des Zugs passierte eben das Gebäude der »Saarbrücker Zeitung«. Gebrüder Hofer zeigten den Kapitalgeber. Fahne an Fahne deckte die Fassade. Auch das krumme Kreuz bleckte aus weißem Grund.
Wir werden es herunterholen, dachte Karl der Emigrant, der im Zug der Saarbrücker Genossen schritt. So ruhiger geworden war hier an der Saar und so totensicher er in vierzehn Tagen wieder im Reich an die illegale Arbeit ging, das verwand er nicht mehr. Das hatten sie ihm wirklich eingebrannt. Wenn er es sah, stieg ihm das Blut zu Kopf und es schien, dass sein Rücken glühte.
»Schaut mal: Hofer fréres«, rief einer der Männer. Die Genossen lachten. Als die Konjunktur anders stand, soll die Zeitungsfirma, die jetzt unter Goebbels stand, einmal so fremdländische Briefbogen gehabt haben: Hofer fréres. Jetzt stand am Kopf ihrer Korrespondenz die Landkarte der Saar, und ein blutiger Finger kam aus Nazideutschland und schrieb; diese Grenze muss fallen.
Vorläufig fällt sie nicht, dachten die marschierenden Genossen. Vorläufig ist sie die Grenze gegen die Barbarei, die in Folterkammern Kämpfer blutig schindet, damit in den Hotels oben die Thyssens mit den Prinzen tafeln können.
Der Zug stieg steil den Schlossberg hinan. Die Männer wandten sich im Gehen um. Und wenn sie fällt, dann nur durch diese Armee der Saararbeiter, die nach Mettlach und Homburg und Ottweiler ziehen werden, um ihre roten Brüder zu begrüßen. Die Männer sahen den Zug der Männer und Frauen mit ihnen hinaufsteigen. Sie lachten sich zu: Der Arbeiter kommt. Er wird wach. Er marschiert. Still sitzt er in den Hütten und Häusern, wenn die anderen ihre Kriegerdenkmäler einweihen »für König und Vaterland«, wie drüben auf dem Sockel der 130er steht, neu eingehauen im Sommer 1933. Stumm geht er zur Arbeit und erkennt seine wahren Feinde am Tor der Fabrik und hinter den Fenstern der Direktion. Man sieht ihn nicht, wenn die Bürger ihre schreienden Feste feiern. Aber heute ist er da. Nichts hat ihn aufgehalten. Da zieht er heran in sicheren Reihen, der das Geschick seiner Heimat entscheiden wird. Heute zu Tausenden, morgen müssen es Zehntausende sein.
Der Zug hatte den Berg erklommen und schwenkte in die Straße zum Sportplatz ein. Rechts in der Tiefe lief der Weg weiter zur französischen Grenze. Und da war auch die Völkerbundspolizei. Hoch zu Ross erwartete sie das rote Saarvolk. Zur Seite an den jenseitigen Hang waren sie geritten. Die Säbel glänzten von den Sätteln herab. Nur einen flüchtigen Blick warfen die Männer hinüber.
Die Plempen schrecken uns nicht. Aber ihr werdet erschrecken. Wenn die Reihen da nicht aufhören heraufzusteigen.
Sie betraten den Platz. Turner liefen herbei und hoben die Fäuste zum Gruß. Rotfront!
»Wird einer sprechen?« rief einer der jungen Arbeiter und lief nun fragend neben der Spitze.
»Ist alles verboten«, antworteten die Männer. Der Turner schritt weiter mit; er gab sich nicht zufrieden.
»Aber der Matz in Neunkirchen redet doch.« Die Spitze hielt an.
»Das ist auch der Matz«, sagte einer der Männer. »Regierungspartei.«
Der Bezirksleiter trat aus der Reihe:
»Genosse, keine Aufregung. Es gibt welche, die warten darauf. Die SP macht einen geschlossenen Laden und wir« - er hob die Hand über den neben der Reihe einmarschierenden neuen Zug -, »wir haben die Saararbeiter gerufen. Und ob sie kommen, das wird sich jetzt zeigen.«
Der Jungarbeiter folgte der ausgestreckten Hand.
»Das da«, sagte der große Mann, »ist die Generalprobe. Und da brauchen wir keine Reden und keine Kassensperre.«
Die Männer stiegen zur Seite die Sandtribüne hinauf.
Einer riss den Jungarbeiter auf den Hügel. Die Landstraße lag tief eingeschnitten unter dem Hügel, der den Sportplatz trug. Trompeter schmetterten zu der Höhe hinauf. Neue Züge marschierten an.
»Wir brauchen uns nämlich nicht zu verstecken«, sagte der Mann zu dem jungen Genossen, der strahlend in die Schlucht hinabsah.
»Und wir dürfen's auch gar nicht«, sagte der Bezirksleiter, »sonst werden nie Kämpfer draus.«
Sie wandten sich wieder zum Sportplatz um. Die Ortsgruppen zogen vorbei. Der rote Aufmarsch kam ans Ziel.
Verwischt war die Müdigkeit von den Gesichtern. Die Fahnenträger griffen das Holz fester. Schnell wischten sich die Frauen den Mund mit den Taschentüchern. Die Kapellen setzten mit neuer Kraft die Instrumente an den Mund.
Schon gingen die Ankommenden durch dichte Spaliere. Wie in ein Meer mündete der Strom der Kolonnen in die bewegte Masse.
Die Männer auf der Sandtribüne lasen die Schilder, die ihnen die tragenden Knaben hinüberhielten, und rissen die Fäuste hoch.
Jubelndes Geschrei kam vom Eingang des Sportplatzes.
»Da kommen die Forbacher«, rief einer der Genossen.
Durch das Tor der Fäuste und der schwenkenden Fahnen zogen die französischen Arbeiter ein.
»Front rouge!« stand auf ihrer Fahne. »Vive la solidarité internationale!« Sie sahen staunend die rote Heerschau. Wie das die Straßen heraufstieg, zu Tausenden den Hügel überschwemmte, die Sandtribüne besetzte!
Nicht weit war der Weg der Franzosen gewesen, in geradem Lauf stieg die Straße von ihrem Städtchen zu dem Grenzhügel.
Nun sahen sie auch die Polizei links am Hügel, abgesessen von den schweren Pferden. Eine Sekunde zuckte dem Fahnenträger die Hand. Musste er schleunigst zusammenrollen? Doch dann spürte er die Welle unter sich, die immer herausschlägt aus der Flut der Massen, jetzt trug sie auch ihn. Er sah die Armee, und höher hielt er die Fahne und schwenkte in den Weg nach dem Festplatz ein.
Die Bezirksleitung sah sie ankommen. »Rotfront, Genossen!« Man müsste eine Fanfare blasen lassen: Da sind die Forbacher, müsste man schreien, schaut her, Kumpels von der Saar! Die sind über die Grenze gekommen, die keine Grenze ist. Aber nur wenn ihr zusammenhaltet, Proleten. Sie sind an den Festungsbergen vorbeigekommen, nicht mit der Trikolore, nicht mit der Handgranate, nein, die Fahne versteckt im Futteral sind sie gekommen, und unter der Straße, die sie kamen, laufen heimliche Miniergänge, stecken Kanonen drin und anderes Mordzeug. Aber die Forbacher kamen trotzdem. Schaut sie euch an, die Kumpels vom Wendelschacht! Sehen aus wie ihr. Haben Wohnlöcher wie ihr. Erbärmliche Lohntüten wie ihr. Und mittendrin soll eine Grenze liegen, sagen die anderen. Sie sind drüber weggelaufen, um zu uns zu kommen. Und jetzt sind sie da, Genossen, und haben dieselbe Fahne wie wir.
Einer der Forbacher trat aus der marschierenden Reihe und kletterte den Sandhügel zu der Bezirksleitung hoch. »Ich möchte, wenn's euch recht ist, gern ein paar Worte sagen«, meinte er.
Sie lächelten in freundlichem Spott: »Rotfront Genosse, das möchten wir auch gern. Alles verboten. Aber bleib hier bei uns! Schön, dass ihr kommt.«
Unten zogen die französischen Kumpels vorbei, die Faust zum Gruß geballt. Das ist die Grenze, die fallen wird, dachten die Genossen oben und schüttelten dem Forbacher, der zu ihnen trat, die Hände. Zwischen uns gibt's keine Schlachtfelder mehr. Jeder von uns wird den Krieg für die Generale und Zechenbarone in den Krieg gegen die Herren selbst umwandeln. »Les Sowjets partout«, rief unten begeistert ein junger Turner in den hellen Tag.
Und sie werden auch die Saar retten helfen vor Hitler, dachten die Männer. Wir werden sie immer wieder rüberrufen. Je chauvinistischer die Nazis hetzen, desto öfter müssen die da
kommen und sich den Kumpels zeigen. Hier sind wir! Front rouge! Wo ist die Grenze zwischen uns?
Der Zug war vorbeigeschritten. Die Jugend kam. Im blauen Hemd mit rotem Halstuch die Pioniere. Schlanke Kumpelkinder mit intelligenten Gesichtern. Eifrig bedacht im guten Schritt zu bleiben, wandten sie die Köpfe zu der Tribüne und hoben die Hände.
»Seid bereit, Pioniere!« Die Bezirksleitung grüßte die Sowjetbürger der Zukunft. Sie würden schon aufbauen können. Jetzt sangen sie: »Wir sind die junge Garde des Proletariats... «
Selbstbewusst war ihr Blick. Das war kein Soldatspielen. Sie marschierten im Zug der Genossen. Sie wurden ernst genommen und waren ein Teil der Partei. Kein Gönnertum der Erwachsenen betätschelte sie. Erobert eure Schule, sagten die Genossen. Holt euch die Kumpelkinder! Und keine Gnade dem Lehrer, der euch dumm machen will mit Phrasen von falscher Ehre.
Sie haben sich erfolgreich gewehrt gegen das Wessellied, erinnerten sich die Männer oben.
»Es müssen noch mehr werden«, sagte einer der Genossen.
»Es sind ja schon mehr«, protestierte der Jugendleiter, »die meisten sind im Zeltlager bei Ludweiler.«
Die Bezirksleitung war nun umringt von vielen Genossen. Stolz standen die Arbeiter da und ließen den jungen Trupp vorbeiziehen. Jawohl, das waren keine Träumer. Die Kleinen da unten wussten, was ihnen bevorstand. Sie waren geschult durch den Hunger und geweckt durch ein neues Wissen. Nun hielten sie an und stauten den Zug. Ein Knabe sprang vor und gab ein Zeichen: die Kinder rezitierten:
Hört und sprecht
H.... ist Henker und Ausbeuterknecht.
Wahr bleibt wahr
Rätedeutschland! Freie rote Saar.
Sie machten eine Pause beim zweiten Vers und sprachen den Namen des Kanzlers mit leiser Stimme. Sie übertölpelten die Polizei. Man klatschte, rief: »Rotfront!« Sie hoben die Hände: »Seid bereit!« und zogen weiter.
Und zur gleichen Zeit tanzte am Rhein die Jugend der Saarbürger Volkstänze. »Ich muss grad an die Rüdesheimer denken«, sagte einer von den Genossen.
Der Nachbar zuckte die Schultern: »Die werden sich wundern, wenn sie heimkommen.« Aber der andere verglich: Da hüpften sie in Bingen mit Schleifen im Haar um bunte Schellenbäume herum, sangen vom Mai und der Nachtigall. Großmutter will tanzen, auf machet Platz, auf machet Platz!
Der Genosse grinste. Und dann warteten sie stundenlang, bis ein Mann angeflogen kam, und seine Fisage genügte ihnen. Satt und zufrieden schon als Kinder. Gehorsam ohne nachzudenken. Wie schreibt der Wotan-Schirach: »Der Hitlerjunge denkt nicht, er fühlt.« Wie klein würden sie alle werden, wenn sie sich in Diskussionen mit den Pionieren da einließen! Aber sie kniffen immer, sie mussten kneifen.
Frauentrupps zogen vorbei. Ernst die Mienen. Die Not war eingeritzt in die Gesichter, aber in den Augen saß hart der Glaube. Sie fühlten, dass sie hier unter den Augen der stehenden Frauen und Männer am Ziel der Demonstration waren. Tausende sahen sie jetzt an, Tausende nahmen als Erlebnis mit nach Hause, dass auch sie gekommen waren. Man kannte die Feinde, aber erleben musste man immer wieder, wie zahlreich die Freunde waren. Das half beim Krieg mit der Wohlfahrt, das stärkte gegen die Frechheit der Bonzen, das hielt einen hoch, wenn die Kinder schrieen und einem das Herz zerrissen, wenn der Mann abgelegt wurde. Und einmal kam der Tag!
Die Frauen sahen auf dem gegenüberliegenden Hügelhang hinter den Bäumen die lange Reihe der Polizeipferde. Dann saßen unsere Jungens auf euren Gäulen, aber nicht heimtückisch hinter dem Busch. Dann ritten sie hier mit uns im Zug, die roten Reiter der Sowjetsaar.
Da war ja auch Mutter Lutz. Einer der Männer oben erkannte sie. »Rotfront, Genossin Lutz!« Die Greisin hob die Faust. Ihre Augen strahlten, die Augen, die den Tod ganz nah vor sich gesehen. Noch klebte am zerschlagenen Mund ein Pflaster. Sie zeigte darauf im Marschieren. Mit unverdünntem Lysol hatten die Braunen damals die Wunden auswaschen wollen, direkt hinter der Grenze in Sandorf. Ein Metzger war gekommen als Sanitäter. Es war der erste Augenblick, da mir gegraust hat, erzählte Mutter Lutz. Da hab ich gemeint, rings um die Saargrenz' säßen lauter Tiere auf der Lauer. »Nix als Lumpenpack sind die Erwerbslosen«, hatte der Nazi im Gefängnis zu Sandorf gesagt und mit dem Stecken auf ihre Finger geschlagen. »Der Hitler wird sie all in die Gruben jagen an der Saar«,
hatte der Kerl gesagt. »Mit sone Ketten an den Beinen. Dass sie wieder Menschen werden.«
Die Lutz hörte den Stampfschritt der Kolonnen und musste an den Nazi denken. Sie sah über die auf- und niederwellenden Reihen der Menschen. So leicht wird der Adolf ja nicht hier einmarschieren!
Die Frauen stimmten ein Lied an. Mich hat er zurückgeben müssen. Und die anderen wissen jetzt Bescheid. Und wers nicht weiß, dem sag ich’s!
Zorn stieg hoch in ihr. Die Wunde an der Lippe brannte. Es war ihr, als flösse das Blut wieder. Lumpenpack, das denken sie wirklich von uns. Und wollen eine Arbeiterpartei sein.
Um sie war das Lied der marschierenden Frauen. Plötzlich hörte sie es und lachte. Ja doch. Hier waren alle gleich. Und der da hinten hatte sie sofort von oben wieder erkannt.
Eine Fahne wurde herangetragen: auf blutrotem Tuch zuckten drei Pfeile. Ein alter Arbeiter trug sie, starke Burschen begleiteten ihn. Frauen folgten. Nun hoben sie hoch hinaus die Fäuste: »Freiheit«, riefen sie. Es war kein Parteigruß. Sie meinten mehr. Auf der Tribüne stiegen die Fäuste. Wie ein Gewitter erlösend und stark antwortete die Masse »Rotfront«.
»Freiheit«, riefen nochmals die Marschierenden. Die rote Fahne stieg über die Köpfe. Hoch hielt sie der alte Kumpel. Seine Augen grüßten in wilder Entschlossenheit zu den Kommunisten hinauf. Wir hatten auf Wels gehört; er gab Hitler die Stimme im Mai. Auf den Generalstreik warteten wir; und sie riefen zur Ruhe und Ordnung. Da drüben brennt jetzt das Land. Das unsere darf nicht brennen! Ihr rieft uns zuerst. Hierher nach Saarbrücken rieft ihr uns. Ins Herz des Landes. Nicht zur Ruhe und Ordnung, sondern zum Kampf. Hier sind wir mit unserer Fahne. Die Einheitsfront marschiert, Freiheit!
»Das ist der Anfang«, sagten oben die Genossen. »Sie wiegen mehr als tausend Nazis.«
Der Zug musste halten. Lachend stand nun unten der Trupp. Froh und stolz kamen von der Sandtribüne die Rufe. Kein Misstrauen, nichts Fremdes war zwischen ihnen. Es erkannten sich Hüttenarbeiter vom Völklinger Werk, es begrüßten sich Kumpels vom gleichen Schacht. Ein Bursche im blauen Hemd der sozialistischen Jugend sah einen Rotfrontkämpfer seiner Dorfstraße den Zug entlang gehen. Rotfront, Matz. Freiheit, Willi. Wie viel seid ihr denn? Noch lang nicht genug.
Die Kapelle, die im Tor des Fußballfeldes stand, hob die Instrumente. Der Zug wollte sich in Bewegung setzen, aber nun blieben sie plötzlich stehen und sangen: Brüder zur Sonne zur Freiheit.
Sie rissen die Mützen von den Köpfen und hoben die Fäuste. Hoch über den Festungshängen von Forbach stand die Sonne. Das weite Land glühte im sommerlichen Brand. Sie sangen: Brüder zum Licht empor.
Wie eine Welle wälzte sich der Gesang über die Tribünen und Straßen. Vom Horizont bleichten die kalkigen Gebäude des Wendelschachts. Über die Dächer von Saarbrücken fegte der Gesang, stieg hoch an dem Fahnenmast zu dem roten Tuch der Freiheit, das triumphierend im blauen Himmel hing weit über den Gassen und Straßen, die dort unten die Tücher der Vergangenheit herabhängen ließen aus den muffigen guten Stuben.
Hell aus dem dunklen Vergangenen
leuchtet die Zukunft hervor.
Kinderstimmen sangen. Da standen sie, wohlbehütet wieder unter Tausenden, die Emigrantenkinder. Mutter geht sammeln für die Rote Hilfe, dachte Hilde. Wenn Vater dabei sein könnte! Er ist vorgestern wieder zurück ins Reich. Mein Vater! Sie sang lauter, und nun öffnete sie plötzlich die Faust und ließ ihren Ballon fliegen über das schwarze Menschenmeer. Er torkelte, sie sang und sah ihm nach. An dem Fahnenmast flog er vorbei und stieß dann im Winkel mit dem leichten Wind weit über die Stadt in der Tiefe. Sie folgte ihm mit schiefgelegtem Köpfchen.
Ein Pionier stieß sie an: »Du hast ja nichts dran gehangen!« tadelte er.
Sie sah zu dem verschwindenden fliegenden Punkt in dem Äther und sang:
Seht wie der Zug von Millionen
mächtig aus Dunklem schwillt...
Ihre kleine Faust war wieder fest geballt.
ENDE