Jan Petersen - Unsere Straße (1933)
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Geschrieben im Herzen des faschistischen Deutschlands 1933/34

VORWORT DER AUSLÄNDISCHEN AUSGABEN

Dieses Buch, unter, den größten Schwierigkeiten in Deutschland geschrieben, ist eine Chronik der Ereignisse in der Wallstraße in Berlin-Charlottenburg. Sie wird trotz ihrer lokalen Begrenzung nicht nur die Geschichte einer Arbeiterstraße im faschistischen Deutschland sein. Ähnlich hat sich der Faschismus in den Arbeitervierteln aller deutschen Städte ausgewirkt. Die beigefügte Personenliste enthält die Namen der ermordeten Antifaschisten Charlottenburgs. Sie ist authentisch, jedoch sicher nicht vollständig, und dabei sind es nur die Opfer dieses einen westlichen Berliner Stadtbezirkes.
Dieses Buch soll ein Vermächtnis der Charlottenburger Toten sein. Ein Denkmal aller vom Faschismus Ermordeten. Es soll berichten von der Tapferkeit Tausender, Zehntausender namenloser Helden. Vom Henkerbeil, vom Kerker bedroht, führen sie ihren Kampf unerschrocken weiter. Den Kampf um die endliche Befreiung des deutschen Volkes. Um den Sozialismus!

VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

Die Entstehung dieses Buches kann jetzt, bei seinem Erscheinen in Deutschland, dreizehn Jahre nach der Niederschrift, erzählt werden. Diese Chronik des antifaschistischen Kampfes und der Ereignisse in der Wallstraße in Berlin-Charlottenburg beginnt wenige Tage vor dem Machtantritt der Nazis und endet Mitte des Jahres 1934. Die Aufzeichnungen dazu wurden gemacht, als die Geschehnisse sich ereigneten. Die endgültige Niederschrift des Buches erfolgte an zwei Stellen: in der Siedlung am Kleinen Werbellinsee, nahe Oranienburg, und in meinem kleinen Zimmer in Charlottenburg, Knesebeckstraße, wenige Minuten von der Wallstraße entfernt.
Die Arbeit an dem Buch - ebenso wie meine damalige Tätigkeit in der Widerstandsbewegung - musste häufig unterbrochen werden. Oft, weil Kameraden, mit denen ich eng zusammen arbeitete, verhaftet wurden, und auch, weil die Gestapo zweimal meinen Namen notiert hatte und man dann jedes Mal abwarten musste, „was kommen würde".
Mit den neu geschriebenen Manuskriptseiten im Rucksack fuhr ich wöchentlich mit dem Motorrad vom Werbellinsee nach Berlin, an den Posten des Oranienburger KZ-Lagers vorbei, um die entstandenen Seiten mit einem Schriftstellerkameraden durchzusehen und zu besprechen. Er ist seit Jahren einer unserer vielen Toten.
Ich wohnte neun Jahre in der Wallstraße und war in der antifaschistischen Bewegung Charlottenburgs tätig. Wenn der
SA-Sturm 33. unter dem Schutz der Polizei durch „Unsere Straße" marschierte, machten die Braunen das Zeichen des Hängens zu unseren Wohnungsfenstern hinauf. Nach der Machtübernahme kamen dann auch die Dreiunddreißiger in unsere Wohnung und durchsuchten danach das ganze Haus, die Revolver in den Händen. Ich war zufällig kurz vorher umgezogen. Das zuständige Polizeirevier, das an der nächsten Straßenecke lag, hätte meine neue Adresse auf Befragen angegeben. Es stellte niemand Erkundigungen an.
Vieles erscheint einem in späteren Jahren so unerklärlich, dass man es fast „Glück haben" nennen möchte. Das gilt auch für die Umstände, unter denen das fertige Buchmanuskript ins Ausland geschmuggelt wurde.
Im Herbst 1934 hatte ich das Manuskript fertig getippt, in drei Exemplaren. Zwei der Manuskripte wurden, wasserdicht verpackt, an verschiedenen Plätzen eingegraben. Eins wurde mit Hilfe illegaler Verbindungen nach Hamburg gesandt. Ein tapferer unbekannter deutscher Matrose sollte es auf seinem Schiff nach England bringen. Nach vielen Wochen kam aus Hamburg Bescheid: das Manuskript musste in letzter Minute in den Hafen geworfen werden, weil der Matrose nur so einer Entdeckung entgehen konnte. Erst nach langen Bemühungen konnte der Versuch wiederholt werden, ein Manuskript ins Ausland zu bringen. Es wurde von Gesinnungsfreunden nach Dresden gebracht und sollte von dort nach der Tschechoslowakei geschmuggelt werden. Wochen, ja Monate vergingen, doch aus Dresden war kein Bescheid über den Verbleib des Manuskripts zu erhalten. Es blieb verschollen und schien ebenfalls verloren gegangen zu sein. Das dritte und letzte Manuskript des Buches lag, unter einer gezeichneten Tanne vergraben, am Rande einer Waldschonung außerhalb Berlins. Ging es gleichfalls verloren, war alle aufgewandte Mühe vergebens gewesen, war der Versuch gescheitert, den Kampf deutscher Antifaschisten dem Ausland deutlich zu machen.
Weihnachten 1934 verwirklichte ich daher den schon lange
gefassten Plan, das letzte vorhandene Manuskript selbst ins Ausland, nach Prag, zu bringen. Ich war seit dem Machtantritt der Nazis mehrmals in Prag gewesen, um dorthin emigrierte deutsche Schriftsteller zu Besprechungen zu treffen. Ich wusste also, wie man die Grenze „blind" kreuzte, um dann auf gleiche Weise an einer anderen Grenzstelle nach Deutschland zurückzukehren.
Wir gingen diesmal zu zweit, in voller Schiausrüstung, auf eine anscheinend harmlose Weihnachtsfahrt. Das Manuskript lag, in zwei Kuchen eingebacken, in meinem Rucksack. Mein Freund Walter Stolle - er war einige Zeit vorher aus dem KZ-Lager Brandenburg entlassen worden - hatte in seinem Rucksack ein eigenes Manuskript. Wir wussten, dass Schitrupps der SS mit Karabinern bewaffnet die Grenze kontrollierten. Wir mussten eben ungesehen durch diese Streifwachen durchschlüpfen.
Am zweiten Tage unseres Aufenthaltes in Prag kam die Frau des emigrierten Schriftstellerkollegen, bei dem wir wohnten, und erzählte, dass sie gehört hätte, aus Deutschland sei heute ein antifaschistisches Romanmanuskript in Prag eingetroffen. Es war das seit Monaten in Dresden verschollene Manuskript von „Unsere Straße". Der Überbringer hatte es - ein riskanter Bluff - in einem offenen Handkörbchen, mit Stullenpaketen zugedeckt, an den Grenzbeamten eines der offiziellen Grenzübergänge vorbeigetragen. Die Grenzwachen nahmen einige der Stullenpakete prüfend in die Hände, jedoch nur die, die obenauf lagen. Die Dresdener Gesinnungsfreunde hatten, wie wir selbst, für das Unternehmen den stärkeren Weihnachtsgrenzverkehr abgewartet. Deshalb hatten sie so lange nichts von sich hören lassen. Bereits im April 1935 erschien dann in Paris ein Auszug aus „Unsere Straße". Uns in Berlin blieb dies unbekannt.
Meine ausländischen Verleger erkundigten sich vor Drucklegung des Buches, ob die darin enthaltenen realistischen Schilderungen nicht die in Nazideutschland noch tätigen Kameraden gefährden würden. Schon bei der Niederschrift war
daran gedacht worden. In einem besonderen Vorwort des Übersetzers wurde klargestellt, dass die Ereignisse und die Schicksale der Personen wahrheitsgemäß geschildert wurden, dass das Buch inhaltlich authentisch sei, jedoch nicht immer in der Form. Die Namen der Beteiligten, ihr Aussehen, ihre Familienbeziehungen mussten verändert oder vertauscht werden. Einzelne Episoden aus der unterirdischen Arbeit anderer Berliner Stadtbezirke wurden mit der Handlung des Buches verflochten. Die in der Charlottenburger Totenliste genannten Namen sind alle wirkliche Namen. Die Umstände, die zu ihrem Tode führten, sind den Tatsachen entsprechend wiedergegeben.
Es kam darauf an, ein wahrheitsgetreues Bild zu vermitteln - ohne der Gestapo Fingerzeige zu geben. Um ein Beispiel zu nennen: Heinz Preuß ist in Wirklichkeit mein Kamerad Walter Stolle, den ich jetzt wiedertraf. Einer der wenigen überlebenden Gefährten der damaligen Zeit. Er erzählte mir damals, nach seiner Entlassung, von den Misshandlungen Erich Mühsams. Er war Erich Mühsams Nachbar auf dem Strohsacklager im KZ Brandenburg.
Dieses Buch hat der Gestapo wohl keinerlei Anhaltspunkte gegeben. Hätte sie die Identität des Autors ermittelt, wären vielleicht gewisse Schlussfolgerungen möglich gewesen. Auch meine Angehörigen wären gefährdet worden. Man war sich dessen immer bewusst, auch später im Ausland. Seit meiner Rückkehr aus der erzwungenen Emigration hatte ich Gelegenheit, meine Gestapoakten einzusehen, die zufällig nicht verbrannt sind. Aus ihnen ergibt sich, dass die Gestapo bis zum Jahre 1941, also selbst während des zweiten Weltkrieges, im Ausland Nachforschungen über meinen Verbleib anstellte. Meine frühere Tätigkeit in der deutschen Widerstandsbewegung war der Anlass dazu. Alle Bemühungen der Gestapo blieben ergebnislos. Und doch trägt die umfangreiche Gestapoakte den Vermerk: „Wieder vorzulegen am 30. 10. 45. Geheime Staatspolizei, Geheimes Staatspolizeiamt, Berlin S W11, Prinz-Albrecht-Straße 8. B.-Nr. IV, Al-B., Nr. 3209/41.
Im Auftrage: gez. Seibold. Beglaubigt: von Renngarten, Kanzleiangestellte."
„Unsere Straße" erscheint nun in Deutschland, unverändert, so wie ich das Buch damals niederschrieb. Es entstand unter besonderen Umständen, und jede nachträgliche Korrektur hätte seiner Wirklichkeitsnähe in Form und Inhalt Abbruch getan. Es ist meines Wissens das einzige Antinazibuch, das in Hitlerdeutschland geschrieben wurde und im Ausland erschien. Es hat wohl schon deshalb geholfen, dem Ausland „das andere Deutschland" glaubhaft nahe zu bringen.
Wenn dieses Buch in der Heimat dazu beiträgt, dass der Faschismus nie wieder Wurzeln fassen kann und in gemeinsamer Arbeit aller deutschen Antifaschisten ein Deutschland der Freiheit und des Friedens geschaffen wird, hat es seine Aufgabe voll erfüllt.
Berlin-Charlottenburg, im Februar 1947
J.P.

 

DIE TOTENLISTE VON CHARLOTTENBURG

VOR DEM 30. JANUAR 1933
OSKAR OWEGE, 20 Jahre alt, von der Schupo erschossen
ERICH FRISCHMANN, 26 Jahre alt, von der Schupo erschossen
HANS KLAFFERT, 19 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermorde
ERICH ZIEMKE, 22 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet
OTTO GRÜNEBERG, 20 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet
MAX SCHIRMER, 32 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet
ERICH LANGE, 24 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet

NACH DEM 30. JANUAR 1933
PAUL SCHULZ, 20 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet
HANS SCHALL, 21 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet
WALTER HARNECKER, 25 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet
FRITZ KOLOSCHE, 24 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet
MARTIN MICHALLAK, 25 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet
PAUL VOSS, 29 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet
KARL MALZ, 28 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet
HANS MUELLER, 46 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet
WALTER DRESCHER, 30 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet
GEORG STOLT, 43 Jahre alt, vom SA-Sturm 33 ermordet
RICHARD HÜTTIG, 26 Jahre alt, am 14. Juni 1934 in Berlin-Plötzensee hingerichtet

 

Sonnabend, den 21. Januar 1933. Ich gehe abends mit meinen Genossen Richard Hüttig und Franz Zander durch die Wallstraße. An der Berliner Straße bleiben wir stehen. Grelle Tiefstrahlerlampen hängen über uns. Straßenbahnen und Autos fahren ununterbrochen vorbei.
„Da kommt wieder 'n Schwung", sagt Richard und stößt mich an. Drei offene verstaubte Lastwagen kommen von links. Sie rollen langsam durch den Lichtkreis der Tiefstrahler. Braune Uniformen stehen dichtgedrängt in den Wagen, Die Lichtkegel der Lampen reißen sekundenlang einige frische Gesichter heraus. Sie sehen neugierig zu uns herüber. Staunen über die große Stadt steht in den Gesichtern. Richard liest die Nummer am letzten Wagen.
„Alle von außerhalb, die fahren den letzten Mann!" sagt er.
Franz Zander nickt. „Alles Bauernjungs."
Er lehnt den Rücken gegen den Laternenpfahl.
„Ich habe bei Bauern gearbeitet - früher war's der Stahlhelm, jetzt die SA. Sonst gibt's keine Arbeit."
Ein offener Personenwagen fährt vorbei. Auf den einmontierten Klappsitzen sitzen sechs braune Uniformen.
„SA-Bereitschaftswagen!" sagt Richard.
Das Nazihauptquartier, die Hohenzollernfestsäle, liegt nur einige Querstraßen entfernt. In regelmäßigen Abständen kontrollieren ihre „Flitzer" die Straßen. Die Polizei durchsucht sie nie auf Waffen.
„Gehn wir", sagt Franz kurz und dreht sich um.
Die Wallstraße liegt mit ihren engen Häuserreihen wie eine lange, graue Schlucht vor uns. Spärliche Gaslaternen geben nur Dämmerlicht. In einer Haustornische stehen drei Schupos. Sie haben die Sturmriemen unter dem Kinn. Karabinerläufe ragen über ihre Schultern.
„Verstärkte Posten", sagt Franz.
In allen Haustüren stehen Menschen. Sie sprechen leise, als könnten sie jemand aufwecken. Wir nicken ihnen zu. Richard legt zwei Finger an den Mützenschirm, als schreite er die Front seiner Häuserschutzstaffeln ab. In der Mitte macht die Straße einen scharfen Knick. Hier ist eine große Lücke in der Häuserreihe. Ein Gerümpelplatz mit schmutziggrauem Zaun. Unsere politischen Parolen, zerfetzte Plakate eines Wanderzirkus überziehen ihn bunt. Dicht daneben steht das Charlottenburger Elektrizitätsumformerwerk. Ein großes, modernes Gebäude aus rotem Backstein. Niedrige Holzhäuser ziehen sich an der linken Seite des Werkes entlang. In allen Fenstern brennt noch Licht. Es sind Notstandsbaracken, in den Jahren größter Wohnungsnot erbaut. Sie sind Dauerwohnungen geworden. Fast alle Mieter sind arbeitslos.
Richard bleibt plötzlich stehen. Er sieht zu dem frei stehenden Giebel hinauf, der links von den Baracken steil in den Himmel wächst. Still ist es ohne unseren Schritt. Unheimlich still. Nur das dumpfe Summen der Tag und Nacht laufenden Maschinen kommt aus den riesigen Fenstern des Umformerwerkes herüber.
„Dauertransparent", sagt Richard.
Hoch oben am Giebel stehen große Buchstaben:
„Antifaschisten! Wählt Liste drei. KPD. Rot Front!"
Richard und Ede! Ede, der Kletterkünstler unseres Bezirks, nachts auf dem schwankenden Brett am Seil vom Dach heruntergelassen, um unsere Wahlparole zu malen - dort wagt sich die Polizei auch am Tage nicht hinauf, trotzdem ihr die Worte wie Pfeffer in den Augen brennen. Die beleuchteten Fensterreihen neben dem Giebel scheinen halbfrei in der Nacht zu hängen. Eine Gasexplosion rasierte vor Jahren das Vorderhaus neben dem Giebel weg. Übrig blieb als kläglicher Rest nur der Hauseingang. So wurden die abgeplatzten Wände der Hinterhöfe der Straße zugekehrt. Wir sehen die paar Möbel hinter den Fenstern; Leinen, auf denen Wäsche trocknet.
Das Lokal Werner, im Haus neben dem Giebel, ist unser Verkehrslokal. Wir gehen hinüber. Ein Doppelposten steht davor.
„Rot Front!" - „Rot Front!" In der Schaufensterscheibe sind kleine runde Löcher. Revolverschüsse des SA-Sturmes 33. In der oberen Hälfte der Scheibe stecken runde Messingknöpfe. Die Versicherungsgesellschaft hat die Scheibe schon mehrmals reparieren lassen.
„War was Besonderes?"
„Nein, Genosse Hüttig, nur der Polizeiflitzer..." Der Posten verstummt, nickt mit dem Kopf zum Knick der Straße hin. Einen Augenblick blendet uns Scheinwerferlicht. Langsam fährt das Auto vorbei. Glänzende Tschakos. Die Karabiner dazwischen.
„Sie waren inzwischen zweimal hier; Waffendurchsuchung ... bei uns!" sagt der Posten spöttisch.
Richard zieht die Tür auf. Stimmengewirr schlägt uns entgegen. Vom Schanktisch nickt uns der dicke, weißbärtige Wirt zu. Seine Frau spült mit hochrotem Gesicht Gläser. An der Decke hängen Rauchschwaden. Spannung füllt den Raum, meine Nerven reagieren sofort. Um den großen Mitteltisch steht eine erregte Gruppe.
„... morgen ist Generalprobe für die Nazis - ob die Sozialdemokraten —"
„Ich habe mit vielen gesprochen, die sind morgen bei uns, auf der Straße", sagt Franz ruhig.
„Seit dem 20. Juli, an dem die Preußenregierung gewaltsam aufgelöst wurde, begreifen viele —"
„Vom Begreifen bis zum Kämpfen ..."
Der „Konfektionär" zieht eine Zeitung aus der Tasche. Er ist Verkäufer bei der Konfektionsfirma Brenninckmeyer, muss immer „gut angezogen" gehen.
„... es ist zu hoffen, dass der Polizeipräsident noch in letzter Stunde den Ernst der Lage erkennt..." - „Ab der Bart! Meine sozialdemokratischen Kollegen haben auch darüber gelacht. Die treffen sich morgen mit mir!"
Ich sehe über seine Schulter in die Zeitung. Ein Photo des Karl-Liebknecht-Hauses, darüber in großen Buchstaben: „SA-Aufmarsch auf dem Bülowplatz! Und das soll keine Provokation sein?!" Hinter uns fliegt die Tür mit lautem Knall auf. Wir fahren herum. Ein junger Genosse lehnt sein Fahrrad gegen das Schaufenster, kommt herein.
„Zu dem Genossen Franz", sagt er.
Der nickt. „Ist richtig."
„Kurier der UBL."
Der Junge kramt einen zusammengefalteten Zettel aus der Tasche. Die Tür klappt gleich darauf wieder hinter ihm zu. Alle Gespräche sind verstummt. Aller Augen hängen an dem weißen Zettel.
Franz nickt mir und Richard zu. Er geht vor uns her, wiegt die breiten Schultern. Muskelknoten haben wir ihn mal getauft.
Wir gehen ins anstoßende Zimmer.
Franz reicht uns den Zettel.
„Anweisungen für morgen. Du hast ja für deine Häuserschutzstaffeln schon Bescheid, Richard."
„Ja. - Ich muss jetzt auch gehen." Richard drückt uns fest die Hand. Franz ruft die Genossen einzeln herein. Eine Runde ernster Gesichter. Franz sieht sie der Reihe nach an, als wollte er jeden auf seine Zuverlässigkeit prüfen. Seine Stimme ist betont ruhig.
„Ich brauche nicht viel Worte zu machen, Genossen. Wir dürfen Berlin den Faschisten nicht kampflos überlassen. Ich gebe den Gruppenführern nachher den Treffpunkt für morgen bekannt. Wir gehen von verschiedenen Punkten, in losen Gruppen. Sorgt dafür, dass alle pünktlich und vollzählig da sind. Bleibt auch heute nacht in Alarm. Schlaft zu dritt, zu fünft. Die Arbeiterbevölkerung erwartet unsern Schutz. -Alles klar?"
Ein stummes Kopfnicken reihum. Das Zimmer leert sich.
Wir verlassen als letzte das Lokal. Franz, Rothacker, der Konfektionär und ich. Unsere Schritte hallen von den Häuserwänden. Hofalarm - Verteidigungsstellung. Wenn es morgen zu blutigen Zusammenstößen kommt, müssen am Montag die Betriebe stehen. - Die Besten sind freilich längst 'rausgeflogen. Franz, Rothacker, viele.
Wir gehen in Rothackers Haus. Der geht hinauf. Vom Rathausturm kommen die Stundenschläge und ertrinken zwischen den Mauern. Der Polizeiflitzer fährt noch immer umher. Sein Scheinwerfer reißt für Sekunden die Straße auf -verschwindet. Ein Auto hupt verschlafen, ab und zu rattern Lastautos. Die Braunen rollen immer noch in die Stadt!
Rothacker ist wieder da. Er steht neben Franz. Der kleine Angestellte scheint im Zwielicht noch mehr zusammengeschrumpft zu sein, nur die Nickelbrille steht groß in seinem Gesicht. Wir hören ihn leise und stockend reden.
„Franz. Falls mir morgen etwas passiert - ich habe keine Angst..."
Er atmet tief aus.
„... um Else und das Kind kümmerst du dich - nicht wahr?"
„Mach keine Geschichten, Erich. So schlimm wird's nicht."
Wie Franz das sagt. Der glaubt selbst nicht an seine Worte......Na, falls, darauf kannst du dich verlassen!"
Ich sehe, wie ihm Rothacker die Hand drückt.
Wir gehen langsam durch die Straßen. Ich habe Käthe am Arm, mein Mädel. Sie hat ihr neues, dunkelblaues Kleid an. Franz, ihr Bruder, geht vor uns. Auch er hat Hilde eingehakt. Wir sind fast alle sonntäglich gekleidet.
Berlin ist über Nacht ein Heerlager geworden. Polizeistreifen zu sechs und acht Mann gehen an uns vorbei. Die Karabiner über den Schultern, die Sturmriemen der Tschakos unter dem Kinn. Vor jedem dritten Haus steht ein Doppelposten.
„Fünfzehntausend sind aufgeboten", sagt Rothacker leise.
Wir kommen nach Moabit. Der „kleine Tiergarten" ist eine Aufmarschstelle der SA. Der Platz ist von einer doppelten Schupokette abgeriegelt, dahinter stehen SA-Gruppen. Aus den Nebenstraßen kommen Trupps der Braunen, von Polizei flankiert. Berittene Polizei hält den Parkeingang besetzt. Überfallwagen fahren an uns vorbei. Ihre Seitenklappen sind heruntergelassen, absprungbereit. Wir tauchen in den Strom der „Passanten" unter, lassen uns langsam vorwärtsschieben. Die Bürgersteige sind schwarz vor Menschen. Bloß nicht den Zusammenhang verlieren! Doch dort sind die anderen, Franz, Ernst, Paul, Borstentolle.
Plötzlich kommt über den Platz eine Sprechsalve: „Nieder mit den braunen Mordbanditen! Nieder! Nieder! Nieder!"
Die Berittenen reißen ihre Pferde herum, die Polizei läuft in Schwarmlinien auf die Bürgersteige zu. Hart und verbissen stehen die Gesichter unter den Tschakos, die Karabiner sind umgedreht.
„Weitergehen! Auseinander! - Auseinander!"
In das Klatschen der Schläge fallen Schreie: „Pfui! - Pfui!"
Ich sehe Käthe an. Ihr Gesicht steht klein und blass im Fellkragen. Die Polizei presst die Menge auseinander. Links von uns führen zwei einen jungen Arbeiter zu einem in der Nähe haltenden Lastwagen. Er läuft tiefgebückt, sie haben ihm die Arme auf den Rücken gedreht. Und sie schlagen ihn immer noch!
„Die Hunde - dazwischengehen - dazwischen!" keuchte Rothacker.
Ich packe seinen Arm. „Hierbleiben. Darauf warten die nur!"
Von der anderen Straßenseite kommt Gesang herüber. Die Internationale! Das Lied zerflattert, geht in wildes Geschrei über. Der braune Zug setzt sich jetzt in Bewegung. Eine dop-
pelte Kette Polizei läuft neben ihm her. Die SA-Flügelmänner fallen mir auf. Durchweg stämmige Burschen! Ihre Hosentaschen stehen prall und mit spitzen Kanten ab. Waffen!
Sie singen: „Die rote Front, schlagt sie zu Brei! SA marschiert, Achtung, die Straße frei!"
Rufe decken das Lied zu: „Rot Front! Nieder! Nieder!" Ein Signalpfiff. Die Polizeikette läuft wieder auf uns zu. Mit dem Kolben schlagen sie jetzt! Wir werden an eine Hauswand gedrückt, viele flüchten in die Tore. Dort, rechts! In dem Wirrwarr läuft eine Arbeiterfrau durch die Polizeikette. Sie bleibt vor dem braunen Zug stehen, wirft die Arme in die Luft und schreit gellend: „Ein Zug Gefangener! Schickt doch mal die Polizei nach Hause - ihr Helden!"
Ich sehe noch, wie sie abgeführt wird.
Langsam nähert sich der Zug dem Stadtinnern. Die Menschen auf den Bürgersteigen werden immer mehr. Aus den Fenstern schreien sie: „Arbeitermörder! Arbeitermörder!" Ein Blumentopf fliegt plötzlich durch die Luft, in den braunen Zug hinein. Drei Schupos stürmen in das Haus. Die Polizei dreht die Karabinerläufe gegen die Wohnungen. „Fenster zu! Fenster zu!" Grelles Pfeifen kommt von dort, doch die meisten Fenster klappen zu. Plötzlich stockt unser Zug auf dem Bürgersteig. Ruckt noch ein paar Mal, wie ein anfahrendes Auto, dessen Motor sich abwürgt, steht dann endgültig. Vorn winken sie mit den Händen. Zurück! Zurück! Ich klettere auf einen Mauersims. Fünfzig Meter von uns ist die Straße in ihrer ganzen Breite mit schwarzen Tschakos gefüllt, durch die sich der braune Zug schiebt. Aus! Abgeriegelt! Da beginnt der Menschenhaufen auf dem Bürgersteig auch schon zu wanken. Die Polizei säubert die Straße! Rothacker rudert erregt mit den Armen, auf seinem Gesicht sind rote Flecken.
„Was nun? - Was nun?"
„Zurück, dann durch die Nebenstraßen weiter. Wir müssen in die Bülowplatzgegend kommen! Verständige jeden von uns, den du siehst!"
Rothacker arbeitet sich nach vorn zu Franz und dessen Gruppe.
„Hintenherum - hintenherum!" geht es flüsternd von Mund zu Mund. Die Polizei ist in unserer Höhe stehen geblieben. Sie richtet die Karabiner auf die Bürgersteige. Hinter ihrem Rücken ziehen die Braunen.
„Käthe!"
Sie sieht mich an. Kleine helle Fünkchen brennen in ihren Augen. „Wenn sie uns anhalten, wir wollen zur Untergrundbahn, verstanden? - Hast du Angst?"
Käthe schüttelt den Kopf. Wir kommen an eine Straßenkreuzung. Die Polizei hält gerade den Demonstrationszug an, lässt den Verkehr durch. Wir laufen über den Fahrdamm, biegen mit verstreuten Gruppen in eine kleine Nebenstraße ein. Wo sind Franz, Rothacker, die andern? Verdammt, die Straßensperre ist wieder aufgehoben - die sind zu spät an die Kreuzung gekommen. Wir müssen weiter! Beklemmend ruhig ist die Straße hier. In den Fenstern liegen Leute. Gruppen stehen vor den Haustüren, unterhalten sich flüsternd. Aus der rechten Straßenseite vorn kommt schwacher Gesang herüber. Plötzlich kommt eine Schupokolonne im Laufschritt um die Ecke.
„Fenster zu! Haustüren schließen!" schreien sie.
Die Menschen sind verschwunden. Fenster klappern, das eilige Schnappen vieler Schlösser springt ins Ohr.
„Ruhig bleiben, weitergehen!" flüstere ich Käthe zu.
Sie drückt meine Hand. Die Häuserwände werfen das Klappern der schweren Stiefel hell zurück - dann steht ein Gummiknüppel vor unsern Gesichtern.
„Zurück! Vorwärts! Laufen! Zurück!"
In meinem Innern wird es ganz hart.
„Wir wollen zur Untergrundbahn", sage ich ruhig.
Der Schupo sieht uns mit irren Augen an. Sein Gesicht ist schweißig und rot. Käthes scheinbare Gleichgültigkeit gibt wohl den Ausschlag.
„Da rechts - aber schnell - zur Straßenbahn - die Untergrundbahn ist gesperrt!" sagt er mit flatternder Stimme. Dann rennt er weiter. Die Straßenbahn! Dass ich daran nicht gedacht habe. An das Aufmarschgebiet heranfahren!
Die Bahn ist gestopft voll. Der Schaffner steht eingekeilt in der Wagenmitte, sieht wie wir alle durch die Scheiben. Die
Männer am Ausgang geben abgerissen Bescheid.----„Noch
frei vorn! - Ein Stück noch!" „Raus jetzt!" schreit da jemand. Der Schaffner klingelt zweimal. Im Augenblick ist der Wagen leer. Wir gehen langsam die Straße hinauf. Mit uns Hunderte. Merkwürdig, nur vereinzelte Tschakos sind hier zu sehen. „Ernst Machnow - Fahrräder", lese ich auf einem Schild der anderen Straßenseite. Der Name geht ein Stück mit mir mit. Ausgestorben scheint die Straße zu sein. Kein Mensch an den Fenstern. Vor den Schaufenstern der Läden sind die Jalousien heruntergelassen. Da ertönen Sprechchöre: „Nieder mit dem Faschismus!" und dann dreimal: „Rot Front!" Ich schreie, schreie - Käthe reißt an meinem Arm.
„Da!-Da!"
Ich höre neben uns die Schaufensterscheiben hinter den Rolläden zittern. Am Rand der Straße taucht ein graues Ungetüm auf, kommt ratternd näher. Ein Panzerwagen! Ich sehe in die Gesichter um mich. Kein neuer Ausdruck ist darin, ruhige Gelassenheit. Am Rinnstein steht ein Mann mit borstigem Schnurrbart - und lacht. Er hat die Hände in den Hosentaschen. Auch die um ihn lachen jetzt. Gellende, wie Messer schneidende Signalpfiffe - der Panzerwagen fährt vorbei. Im Turm geht das Rohr des Maschinengewehrs hin und her, hinter den Sehschlitzen stehen helle Streifen der Gesichter.
Vor uns rennen sie plötzlich. Polizeiattacken? - Wo denn? Nein! Sie formieren sich auf dem Fahrdamm. Wir laufen. Viererreihen sind in Augenblicken da, wachsen. Jetzt nimmt der Zug schon die ganze Straßenbreite ein. Wir singen die Internationale! Die enge Straße dröhnt. Neben Käthe marschiert ein Mann mit grauem Kinnbart. Er reißt den Mund weit auf, sein Körper fliegt im Takt des Liedes auf und ab. An seinem Rockaufschlag glänzt es metallen hell. Drei Pfeile! Das sozialdemokratische Abzeichen. Unsere Blicke treffen sich. Wir singen immer noch. Der alte Genosse nickt mit dem Kopf vor und zurück. Jetzt sehe ich es: In den Reihen glänzen noch mehr Pfeile! Ich freue mich, mir wird heiß, so freue ich mich. Ich stoße Käthe an. Sie versteht, lächelt. Wie lange marschieren wir schon - Minuten? Es scheint bereits eine halbe Stunde zu sein. Vorn biegen sie in die Gormannstraße ein. Verkehrt! Eine Sackgasse. Da kommt von der Zugspitze auch schon Lärm und Geschrei, dazwischen helles Peitschenknallen. Sie schießen! Wir werden zurückgestoßen. Alles flüchtet in die Haustore, über die Bürgersteige. Zurück, nur zurück! Käthe hängt schwer an meinem Arm, um Mund und Nase läuft ihr ein nervöses Zucken. Ich rüttle sie.
„Du! Du! - Keine Panik!"
Mit erzwungenen ruhigen Schritten gehen wir auf eine Haustüre zu. Die Schupokette ist bis auf fünf Meter heran, Pistolenläufe starren in die Luft, zwei, drei in die Menge. Ununterbrochen knallen die Schüsse. Der stumpfe Glanz des Metalls, die kleinen blauen Pulverwölkchen sind zum Greifen nahe. Seitwärts von uns greift ein Mann in einer blauen Jacke plötzlich in die Luft. Er dreht sich langsam auf dem Stiefelabsatz herum, schlägt lang auf den Asphalt. Dann haben wir die Haustür erreicht, werden hineingeschoben. Käthe drängt zur Treppe.
„Hierbleiben!"
Wenn die hinterherkommen, sind wir ihnen oben erst recht ausgeliefert. Wir warten, warten. Hinter der Haustürscheibe rennt Polizei vorbei. Neben uns steht eine Frau mit einem kleinen Mädel an der Hand. Sie hält sich mit der freien Hand das Ohr zu, ihr Gesicht zuckt.
„... o Gott - o Gott - was soll das werden - soll das werden —", wiederholt sie immerzu.
Draußen entfernen sich die Schüsse. Ich stelle mich vor die Haustür. Die Straße ist leer. Wir gehen.
Ein Schupoheer, mit Panzerwagen, mit Maschinengewehrnestern auf den Dächern, hält die Straßen um den Bülowplatz für den braunen Aufmarsch frei.
Am nächsten Abend. Wir sitzen bei Franz Zander in der Stube. Hilde erzählt.
„Meine Mutter sagt, Felix ist den ganzen Tag rumgelaufen. Nachmittags kam er, legte sich aufs Sofa. Da kommt ihn ein SA-Mann wieder holen. Antenne, sagt der, sofort zum Sturmlokal kommen. Es sind neue Anweisungen da, der Sturmführer wartet. - Die fühlen sich seit gestern, sage ich euch."
Franz spielt mit den Troddeln der Tischdecke. Ich kenne Hildes Familie aus ihren Gesprächen genau. Kenne auch Felix, ihren Bruder. „Antenne" nennt ihn der Sturm 33, weil er so groß ist. Er ist Truppführer. Die Trettins haben ganz in unserer Nähe, in der Berliner Straße, eine Portierstelle genommen. Hildes Vater ist jahrelang arbeitslos. Er ist ungelernter Arbeiter, hat sich nie um Politik gekümmert. „Sein Auskommen muss man haben, det ist alles", ist sein Grundsatz. Die Portierstelle sichert ihm das auch nicht. Er fährt mit dem Fahrrad in der Woche zweimal nach außerhalb, verbotenerweise Kaninchen fangen und fischen. Frau Trettin besorgt „ihr" Haus und Inge, den fünfjährigen Nachkömmling. Hilde ist Stenotypistin. Die einzige, die in der Familie Geld verdient. Denn auch Felix, der Bauschlosser, hat keine Arbeit. Er ist vor knapp einem Jahr in die SA gegangen. „Weil ich nicht immer nur Stempelbruder sein will, den jeder ungestraft anrotzen kann!" hat er Hilde einmal erklärt. „Ich habe auch genug von dem Geduldetsein hier zu Hause. In unserer Kaserne kann ich pennen, da gibt's auch zu fressen. Immer war man Mensch zweiter Klasse. In der Uniform bin ich was - wir werden sehen, was weiter kommt!"
Dem alten Trettin ist es egal, „wat der Bengel macht". Aber er knurrt ihn dauernd an, weil „die janzen Uniformen weiter nischt könn' als mir det Haus eintrampeln".
Hilde ist seit einem halben Jahr bei uns. Käthe hat sie in einer kaufmännischen Abendschule kennengelernt. Hilde hängt sehr an Franz. Sie sind Kameraden geworden. Felix weiß von alledem nichts.
Mutter Zander kommt mit einer Kanne Kaffee aus der Küche. Sie stellt sogar eine Schüssel mit Gebäck auf den Tisch. Sie rückt sich einen Stuhl unter die Gaslampe, fängt an zu stricken. Ich möchte ihr gern etwas Gutes sagen, aber mir fällt nichts ein. Warme, braune Augen hat sie. Tiefe Falten um den Mund, in der Stirn. Das Leben steht in ihrem Gesicht, hart und gut. Mir fällt ein, was Käthe damals erzählt hat, als Franz mit der Maßregelung kam, weil er im Betrieb zum Streik aufgefordert hatte. Mutter Zander war einen Augenblick still.
„Wird auch so gehen - Vater hätte genauso gehandelt", hat sie dann gesagt.
Vater, der Sozialdemokrat. In Frankreich gefallen. —
„Manchmal habe ich Mühe, ruhig zu bleiben", fährt Hilde fort. „Heute abend hat Felix erst geprahlt! Gestern haben wir es Berlin gezeigt! Unsere Bewegung marschiert, die können die nicht mehr aufhalten. Von der Kommune kommt nischt, haben wir gestern gesehen. Aus den Nebenstraßen haben sie gekräht, war alles."
Franz dreht den Löffel in der Tasse. Seine hellen Augenbrauen sind zusammengezogen.
Da sagt Hilde wieder: „Die haben wohl damit gerechnet, dass wir ..."
Franz sieht sie kurz an.
Wir sagen nichts. Auch später will keine richtige Unterhaltung in Gang kommen. Eine gedrückte Stimmung ist irgendwie da, bleibt bis zuletzt.
Drei Tage sind seit dem braunen Aufmarsch vergangen.
Heute marschieren wir. Wir marschieren: Zum Bülowplatz! Es ist eisig kalt. Die Fenster der Häuser, der Straßenbahnen sind mit dicken Eisblumen überzogen. Aus unseren Mündern kommt der Atem hellweiß. Der unerwartete, furchtbare Frost frisst sich durch die dünnen, abgetragenen Kleider. Das Gesicht, die Hände erstarren.
Der Zug biegt um eine Ecke. Ich schaue zurück. Kein Schluss ist zu sehen, endlos lange Viererreihen. Rot stehen die Fahnen darüber, die Transparente.
„So stark ist der Bezirk noch nie angetreten!" sagt Rothacker.
Seine Nase ist blaurot, er hat den Mantelkragen hochgeschlagen, sieht noch schmächtiger und kleiner als sonst aus. Vorn fangen sie an zu singen.
„Im Januar um Mitternacht, ein Spartakist stand auf der Wacht..."
Das Lied läuft den Zug entlang, springt auf uns über. Links, links, die Füße stampfen.
Ernst und hart sind die Gesichter. Seht, so marschieren wir! Ohne Panzerwagen, ohne Maschinengewehre. Wir sind Berlin selbst, das arbeitende Berlin!
In der Reihe vor mir trägt Heinz Preuß, der junge Genosse, unsere Fahne. Er ist ohne Mantel, seine Halbschuhe sind schiefgetreten. Seine Lippen ein dünner blauer Strich. Heinz ist jahrelang arbeitslos. Daneben geht Paul Teichert, der Dreher von Siemens. Er hat die Frühstückstasche unter dem Arm, die blaue Kaffeeflasche sieht heraus. Er ist direkt von der Arbeitsstelle gekommen. Links von uns fährt langsam ein Lastwagen mit Polizei. Sie haben dicke Mäntel an, sitzen aber zusammengekrochen wie Hühner. In kurzen Abständen laufen andere neben dem Zug her. Sie haben Schutzklappen an den Ohren. Wir singen, singen:
„... und donnernd dröhnt die Art'llerie, Spartakus hat nur Infantrie ..."
Ein Schupo kommt plötzlich den Zug entlanggerannt. Er hat ein Notizbuch in der Hand. Er bleibt stehen, blättert darin, hebt den Kopf. „Aufhören! - Verboten!" brüllt er mit schriller Stimme. Der Gesang bricht ab, aber vorn singen sie weiter.
„Bleibt zu Hause - wir brauchen euch nicht!" schreit jemand hinter uns zu dem Polizeilastwagen hinüber.
„Am Sonntag die SA. - ,Die rote Front, schlagt sie zu Brei!' - Nischt war verboten da!" ruft ein anderer.
„Neues Lied! - Neues Lied!"
Ich sehe, wie der Offizier auf dem Lastwagen einen Befehl gibt. Die Schupos springen herunter.
„Oho!-Oho!"
„... wir kreisen wachsam überm Sowjetstaate, die erste rote Luftarmee der Welt..."
Der Schupo mit dem Notizbuch ist schon wieder hier. Wir sind schon mitten in der Stadt. Auf den Bürgersteigen stehen dichte Menschenreihen, winken, heben Fäuste: „Rot Front! -Rot Front!"
In den Ladentüren stehen Menschen. Hinter einer Schaufensterscheibe, in deren Frostblumen eine Heizsonne ein helles Loch gefressen hat, sind Gesichter.
„... und höher, und höher, und höher, wir steigen trotz Hass und Hohn ..."
Am Refrain muss der Schupo endlich das Lied erkannt und in seinem Buch gefunden haben.
„Aufhören! Verboten! Verboten!" Seine Stimme überschlägt sich.
Wir schweigen. Vorn aber bricht der Gesang nicht ab. Sie müssen den Befehl nicht gehört haben. Eine Schupokette rennt an uns vorbei, sie haben die Gummiknüppel in der Hand. Es pfeift grell.
„... ein jeder Propeller singt surrend ..."
Der Gesang vor uns zerreißt jäh. Lärm und Schreie: „Pfui! Pfui!"
Sie schlagen dazwischen! Dennoch kommt es dünn von ganz vorn immer noch:
„... wir schützen die Sowjetunion!"
Als wir ein Stück weiter sind, sehen wir: Fünf Verhaftete sitzen auf dem Lastwagen.
Je näher wir dem Ziel kommen, desto dichter stehen die Menschen auf den Bürgersteigen. Alle winken, sie rufen uns „Rot Front!" zu.
Vor drei Tagen: Wut und Empörung. Heute: leidenschaftliche Zustimmung!
„Die SA hat goldne Tressen - und das Volk hat nichts zu fressen!"
Eine helle Stimme steht über dem Zug. Zählt dann: „Zwei! -Drei!"
Die vielen Stimmen werfen die Sätze dröhnend gegen die Häuserwände. Plötzlich stockt der Marschtritt, die Reihen schwanken.
„Sie verhaften ihn!"
„Wen?"
„Weiß nicht!"
„Borstentolle! - Borstentolle!"
Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Zwei Schupos gehen an uns vorbei. Borstentolle, wegen seiner „Igelhaare" so genannt, in ihrer Mitte. Ich sehe, wie sie ihn zu den anderen Verhafteten auf den Lastwagen stoßen.
Endlose Straßen. Wir singen, singen: Die Internationale -Brüder, zur Sonne, zur Freiheit - zehn-, zwanzigmal hintereinander. Es sind die einzigen Lieder, bei denen nicht der Ruf: „Verboten!" kommt.
„Halt! Halt! - Stehen bleiben!"
„Warum, was ist los?"
„Ein anderer Bezirk biegt vor uns ein. Die Straße ist verstopft!"
Wir warten, warten. Von der Spree kommt ein eisiger Wind, jagt mir Kälteschauer über den Rücken. Ich sehe, wie Preuß mit den Zähnen klappert. Er hält noch immer die Fahne. Er will sie nicht abgeben. Rechts vor uns schiebt sich der andere Zug um die Ecke. Wir stampfen mit den Füßen, schlagen die Arme um den Körper. Ich reibe Käthes Hände. Ihr Gesicht sieht klein und verfroren aus. Unser Zug biegt in die Kaiser-Wilhelm-Straße ein. Wir sind dicht vor dem Bülowplatz. In der breiten Straße stehen zwei Züge nebeneinander. Achterreihen. Sie warten. Wir rücken links davon langsam weiter.
„Warum steht ihr denn?"
„Gib nich an - ihr steht ooch gleich", lacht einer drüben. „Alle Straßen sind verstoppt. Sie ziehn schon stundenlang am KL-Haus vorbei, mein Junge!"
Zehn Meter noch - wir stehen. Zwölferreihen sind es jetzt. Die Straße ist in ihrer ganzen Breite mit Köpfen angefüllt. Alle singen. Der Himmel ist jetzt schon rot von den Lichtern der Stadt. Aus den Häusern, den Läden kommen plötzlich Frauen gelaufen. Sie haben Kochtöpfe, Tassen in den Händen, aus denen es dampft.
„Hier, trinkt, werdet ausgefroren sein!"
Hände reichen Pakete mit Butterbroten herüber.
„Für die Arbeitslosen! - Sie werden Hunger haben!"
Vor mir kaut Preuß mit vollem Mund. Er wärmt sich die Hände an der Tasse.
„Am vorigen Sonntag hier", sagt Käthe, „bei den Braunen !"
Wo ist eigentlich die Polizei? Nicht zu sehen. Es geht weiter. Jetzt! Der Bülowplatz - das Parteihaus! Rote Transparente ziehen sich über die ganze Häuserfront. Die Fäuste fliegen hoch, der Gesang verstummt. Auf dem Podest steht Thälmann! Einige Männer stehen bei ihm.
Hinter mir sagt einer leise: „Das Zentralkomitee."
Thälmanns Faust, sein Gesicht unter der Schirmmütze, zieht vorbei. „Der steht schon stundenlang in der eisigen Kälte", sagt Rothacker.
Seine Augen sind wie glänzende Kugeln unter der Nickelbrille. Vorbei! Klapp - klapp, machen die Stiefel. Wir marschieren schweigend.
Zwei Tage später gehe ich langsam die Wallstraße herunter. Ohne ein bestimmtes Ziel. Es ist früher Vormittag. Plötzlich schlägt mir jemand auf die Schulter.
„Servus, Ede."
Ede dreht den Kopf weit herum. Sein rechtes Auge sucht mich. An Stelle des linken ist bei ihm eine rotfleischige, feuchtglänzende Höhle. Eine zwei Finger breite rote Narbe läuft von dort bis zum Ohr. Die Ohrmuschel ist ein zusammengerollter schmaler Fleischklumpen. In dem freiliegenden Gehörgang steckt ein Wattebausch. Am linken Arm trägt er eine gelbe Blindenbinde mit den drei schwarzen Punkten.
„Fängst woll Fliegen, hä? - Haste Zeit?"
„Ja. Warum?"
„Ick jeh zur Wohle. Keene Pinke, wie immer. Mal Sprung auf marsch marsch machen, beim Vorsteher. Ich hab dett janze Jemüse bei mir!"
„Gut, ich komme mit."
Ede erzählt ununterbrochen. Mit dem Wirt hätte er Krach wegen der Miete. Er sei zwei Monate rückständig. Erst käme der Magen. Ob ich Franz heute schon gesehen hätte? Er müsse seine Sammelliste abrechnen.
Erich Hoffmann, wir nennen ihn „Dreipunktede", war Stoßtruppmann im Krieg. Das Auge und das halbe Ohr sind ihm beim Handgranatenkampf weggerissen worden. Er hat das Eiserne Kreuz Erster Klasse und das Goldene Verwundetenabzeichen. Dass er „dett Jemüse", die Kriegsauszeichnungen nämlich, bei sich hatte, dachte ich mir, als ich die Blindenbinde sah. Denn so wie jetzt geht er meist nur, wenn er mit Behörden - oder bei uns „arbeitet". Edes „Spezialität" ist: Nachts an Kaimauern, Häusergiebeln Parolen malen, auf schwankendem Brett am Seil. Aber „er schreibt auch eine gute Handschrift" - mit der Faust - bei Naziüberfällen. Auf dem rechten Auge sieht er sehr gut. Mehr als ein dutzendmal hat Ede schon vor Gericht gestanden. Immer, wenn die Nazizeugen seine Mittäterschaft bekunden sollten, begannen sie zu zweifeln, und das rettete ihn. Der Mann mit der Kriegsblindenbinde und dem einen Auge war nicht dabei! Vor dem -Richter lagen auch die Militärpapiere, das stimmte doch. Das schwere Wiedererkennen ist bei Ede begründet. Er trägt bei dieser „Arbeit" stets sein Glasauge. Wenn die Luft aber „dick" wird, wandert es in die Tasche und die Blindenbinde aus ihr heraus.
Ich sitze im Wartezimmer des Wohlfahrtsamtes. Ede ist eben zu dem Vorsteher hineingerufen worden. Die Bänke rings an den schmutziggrauen Wänden sind dicht besetzt. Auch in der Zimmermitte stehen die Menschen eng zusammen. Alle Gesichter sind blass. Alle Kleider sind voller Flicken.
An meiner rechten Seite unterhalten sich zwei Frauen.
„Fleisch? Ich hab noch nie Fleisch ins Gemüse machen könn'."
„Dann dürfen Sie aber den Kohl nur dämpfen und nicht abbrühen vorher. Sonst geht das letzte bisschen Kraft verloren."
„Dämpfen? Wird genauso teuer. Das kostet doch wieder mehr Fett!" -
Verbraucht ist die Luft. Von der Ofenecke kommen trockene Wellen, die in der Kehle brennen. Aber alle drängen dorthin, sie brauchen Wärme. Links von mir sitzt eine kleine blasse Frau. Sie hat einen Säugling auf dem Arm, wiegt ihn hin und her. Er greint leise, mit tiefem Schlucken. „Buh -buh - buh", beruhigt sie ihn.
„Die jehn noch. Neue könn' wir nich jeben. Flicken lassen könn' wir die höchstens, hat der mir vor acht Tagen jesacht!"
Ein Mann mit schütterem, angegrautem Haar zeigt seine Stiefel dem Nachbar. Das Leder ist über dem Spann und an den Seiten aufgeplatzt, die grauen Strümpfe sehen hervor.
„Aber ick jeh dem nicht von 'e Pelle! Die denken, mit uns könn' set machen, watt?" sagt er wieder.
Sein Nachbar, ein junger Bursche, lacht verächtlich.
„Adolf wird dir wohl neue jeben. Der verhandelt schon. In Köln, in de Villa von den Bankje Schröder. Watt meenste, wejen deine Stiefel ooch?" fragte er mit bissigem Hohn.
„Die Brüder!" sagt ein anderer. „Früher hat der Goebbels im ,Angriff' gegen die geschrieben: die feinen Leute, die sich in das von uns gemachte Bett legen wollen, und Papen, der leicht angedoofte Mann!"
Die Tür des Sprechzimmers fliegt krachend auf. Ich höre Edes Stimme: „Hungern soll ick, watt! Aber meine Jesundheit hab ick im Schützengraben lassen dürfen! Ick sage Ihnen noch mal: Uff Ihre Kosten jeh ick jetzt essen. Bei Aschinger. Uff Ihre Kosten!"
„Ich warne Sie! Ich warne Siel" kreischt eine Stimme aus dem Zimmer.
Ede knallt die Tür zu, kommt auf uns zu.
„Wer hat Hunga von euch?"
Schweigen. Alle sehen ihn verdutzt an.
„Wat heißt Hunga - alle schieb'n wa Kohldampf", sagt der junge Bursche.
„Kommt mit! Fünf Mann. Könnt jut essen, ick bezahle!" sagt Ede.
Keiner rührt sich.
Einige Minuten später ziehen wir aber doch los. Fünf Mann hoch. Der junge, mir unbekannte Bursche und noch zwei Genossen, die ich vorher im Zimmer nicht bemerkt hatte.
„Los, sucht euch aus!" drängte Ede, als wir im Lokal Aschinger sitzen. „Watt ihr wollt. Denkt euch, heute is Sonntach."
Ich bestelle, Kotelett. Zwei aber sind plötzlich ganz verdattert. Für sie sagt Ede dem Kellner: „Eisbeen mit Sauerkohl. Aber jröße." Wir essen. Ede redet und redet. Wir nikken, lächeln schüchtern. Auch mir ist jetzt nicht ganz wohl bei der Sache.
„Noch 'ne anständ'ge Molle und 'ne Zijarre, watt?" fragt Ede, als wir fertig sind.
Wir zucken mit den Schultern. Aber Ede bestellt. Er hat überhaupt zwei Portionen gegessen. Wir haben leise, aber bestimmt abgelehnt. Die Biergläser sind leer, die Zigarren aufgeraucht.
„Nun jeht - ick bleibe hier", erklärt Ede.
Wir mächen große Schritte. Der Kellner sieht uns nach. Ich fühle seinen Blick noch im Nacken. Draußen bleibe ich allein an der äußersten Ecke der Schaufensterscheibe stehen. Ede winkt den Kellner heran. Ich sehe, wie dem der Mund aufklappt, er läuft hastig fort - kommt mit dem Geschäftsführer wieder. Der gestikuliert mit den Armen, sein breites Gesicht wird rot. Im Lokal drehen alle die Köpfe. Warum soll ich auch noch -? Ich gehe bis zur Ecke. Ich warte. Bald darauf laufen zwei Schupos über den Fahrdamm. Sie kommen einen Augenblick später, mit Ede in der Mitte, aus dem Lokal. Bringen ihn zur Polizeiwache. Sie ist nur eine Querstraße entfernt. Ich folge ihnen in einiger Entfernung, bleibe wieder an dieser Ecke stehen. Zwanzig Minuten vergehen, eine halbe Stunde. Mir wird kalt. Endlich kommt Ede aus dem Haus. Allein! Er nickt mir zu, grinst. An der nächsten Ecke bin ich neben ihm.
„Menschenskind!"
„Watt denn, watt denn!" lacht Ede. „Ick hab dem Leutnant det Jemüse uff den Tisch jepackt. Soll ick als Frontkämpfer hungern? hab ick jesacht."
„Und bei Aschinger?"
„Der Kellner ist ooch bloß Prolet, klar", sagt Ede. „Ick hab dem Jeschäftsführa erklärt: ,Der Mann kann nich dafür. Rufen Se man bei de Wohle an, der Vorsteher weeß Bescheid.' "
„Die werden dir was einbrocken."
Ede knufft mich in die Seite.
„Watt kann dett schon bring'n? Acht, vielleicht vierzehn Tage. Die sitz ick uff eener Arschbacke ab!"
Am Mittag des 30. Januar läuft eine Nachricht durch alle Wohnungen der Wallstraße: Hitler ist Reichskanzler.
Hitler ist — Ich will das selbst lesen! Dem Zeitungshändler an der Ecke werden die Mittagsblätter aus der Hand gerissen. Die Schlagzeile der Zeitung geht mit mir die wenigen Häuser zurück, steigt die zwei Treppen hoch, liegt vor mir auf dem Tisch:
Adolf Hitler Reichskanzler!
Ich lese die Buchstabenreihe darunter, lese sie noch mal. Franz! Ich muss zu Franz! - Es klopft draußen hart an der Tür! Es ist Franz! Er gibt mir die Hand, geht langsam durch den Korridor, als suche er mein Zimmer, als sei er zum ersten Mal hier. Dann nimmt er die Mütze ab. Seine blonden Haare sind durchgeschwitzt.
Seine Lippen sind schmal. Alt sieht er aus. Mir ist, als hätte ich ihn jahrelang nicht gesehen.
„Du gehst mit Ernst Schwiebus eure Fünfergruppen benachrichtigen", sagt er.
„Um sieben ist Demonstration. Alter Sammelplatz. Sorgt dafür, dass alles blitzschnell geht!"
Seine grauen Augen glänzen. Knapp, als wiederhole er nur, was längst besprochen ist, sagt er das. Der ist schon mit der Zeitungsmeldung fertig - schon einen Schritt weiter.
„Mach's gut - ich muss weiter!"
Ich will reden, ihm alles sagen, was in mir wühlt. Aber Franz ist schon an der Tür, nickt mir noch mal zu, springt in langen Sätzen die Treppen hinunter.
Demonstrieren - schon wieder?! Es ist, als ob wir uns noch mal satt demonstrieren wollen! - Was bleibt von unserem persönlichen Leben jetzt noch übrig? Übermorgen ist der 1. Februar. Da wollte ich zu Zanders ziehen. Wir wollten heiraten, Käthe und ich. Aber vorige Woche haben sie Willi aufgenommen. Er ist illegal. Aus Mitteldeutschland geflüchtet. Sie suchen ihn. Er hat Flugblätter in eine Reichswehrkaserne geschmuggelt. So blieb alles, wie es war. Wir können doch nicht zu fünft in den zwei Zimmern wohnen.
Der Abend kommt. Wir gehen in kleinen Gruppen durch unsere Straße. Sie ist wie ein Ameisenhaufen, in den man getreten hat. Vor allen Haustüren stehen Menschen, diskutieren erregt.
Der Sammelplatz ist ein wogender Menschenhaufen. Er zieht sich aber blitzschnell auseinander, Viererreihen formieren sich. Die Luft ist geladen. Ich sehe nirgends eine Fahne. Da kommt mir die Situation wieder zum Bewusstsein. - Die beschlagnahmen sie sonst gleich! Die Demonstration ist ja nicht angemeldet - dummer Gedanke - wie kann sie es auch sein? Wo ist die Polizei? Ich sehe keine. Dort sind unsere Gruppen I
'n Abend ihr", sage ich hastig.
Käthe gibt mir die Hand. Sie freut sich.
„Ist Willi auch hier?"
Sie sieht mich erstaunt an.
„Nein. Der muss sich doch vorsehen."
„Ich marschiere mit den Häuserschutzstaffeln", sage ich schnell. Ich ärgere mich. Dass ich jetzt die blöde Frage nach Willi gestellt habe!
„Die sind vorn. Ich bleibe hier", sagt Käthe.
Das alles hat nur Augenblicke gedauert. Vorn setzt sich der Zug schon in Bewegung. Ich laufe. Eine rote Fahne steigt plötzlich links aus dem Zug - dort - noch eine! Hier ist die Polizei! In kleinen Gruppen läuft sie neben dem Zug her, mit dem Sturmriemen unter dem Kinn. Dort fährt auch ein Lastwagen! Er ist dicht mit blauen Uniformen besetzt. Wie lang der Zug ist! Straffe Reihen junger Burschen kommen. Die Häuserschutzstaffeln. An ihrer Spitze gehen Richard Hüttig und Franz Zander. Sie werfen mir einen kurzen Blick zu, als ich neben ihnen auftauche.
„Das wird unsere letzte geduldete Demonstration sein!" höre ich Franz sagen. Seine Stimme klingt hart.
In Hüttigs Gesicht zucken die Kinnladen.
„Ja - dann kommt das Parteiverbot!"
„... reinen Tisch macht mit dem Bedränger - Heer der Sklaven, wache auf ..."
Wir singen. Es ist uns plötzlich wie ein neues Lied, als ob wir es zum ersten Mal singen. Mir wird heiß unter der Jacke, mein Herz klopft.
„... erkämpft das Menschenrecht..."
Das Lied ist vorbei. Nur unsere Stiefel klappen. Wenig Polizei, sie hält sich auch abseits. Die wissen, dass sie heute nicht nur Demonstranten vor sich haben, sondern eine maßlos erregte Volksmenge, voller Hass und Entschlossenheit. Die engen, schlecht beleuchteten Straßen, die dichten Menschenreihen auch auf den Bürgersteigen, sie werden sich hüten ...
Franz sieht Richard Hüttig an.
„Is 'ne Demonstration heute! Die ganzen Straßenseiten voll. Alles dabei, viele Sozialdemokraten."
„Wenn's nur nicht schon zu spät ist!"
Eine helle, starke Stimme ruft plötzlich: „Nieder mit der Hitlerregierung! Nieder mit dem Faschismus!"
„Nieder! Nieder! Nieder!" schreit es tausendstimmig.
Auf dem Lastwagen der Polizei dreht sich der Scheinwerfer, der bisher die Straßenfenster abgesucht hat, mit einem Ruck zu der Stelle, von der der Ruf kam. In Gruppen rennen Schupos an uns vorbei. Ich sehe, wie sie dort abwartend neben dem Zug hergehen. Sie teilen sich aber bald, kommen zu uns an die Spitze, rennen auch nach hinten, wo der Zug eben als dunkle Schlange um eine Ecke biegt. Von überall kommen jetzt Rufe aus dem Zug. Jedes Mal rennen Schupos. Aber ich fühle: sie wollen uns nur einschüchtern, sind selbst verstört. Sonst haben sie immer längst dazwischengeschlagen. Der Polizeilastwagen kommt langsam den Zug entlanggefahren. Sein Scheinwerfer tastet unsere Reihen ab. Sie wollen vor Überraschungen sicher sein.
Wir ziehen an einer Fabrik vorbei. Der uniformierte Pförtner steht in der Toreinfahrt. Die Fenster der Werkhallen sind hell erleuchtet.
„Franz!"
Er sieht mich an.
„Wir müssen morgen früh vor den Betrieben sein. Wenn die weiterarbeiten ..."
„Kommst nachher mit, aber unauffällig. Schon besprochen", sagt er kurz.------
Eine Stunde später. Richard Hüttig und Franz Zander gehen zehn Meter vor mir her. Die Straßen liegen leer und verschlafen. Sie gehen in eine Kneipe. Ich folge ihnen. Sie stehen schon an der Theke und trinken Bier. Die trinken jetzt ruhig Bier! Ja, was denn, ich denke...? Da gehen sie schon wieder. Endlos lang sind die Straßen. Wir sind doch gar nicht mehr in unserem Bezirk! Sie verschwinden wieder in einer Kneipe, stehen wieder an der Theke. Was soll denn der Blödsinn! Ich will auf Franz zugehen, ihm meine Meinung sagen, da gehen sie auch schon an mir vorbei, hinaus. Sie sehen mich überhaupt nicht an. Ihre Gesichter sind so abweisend, dass mir die Worte in der Kehle steckenbleiben. Die tun, als ob sie mich überhaupt nicht kennen! Ich laufe wieder hinterher. Ist ja alles albern. Die sind verrückt, total verrückt! Eine dritte Kneipe kommt. Ich nehme mir fest vor, mich diesmal nicht wieder wie ein Trottel hinterher lotsen zu lassen. Die beiden bestellen wieder Bier. Das Lokal ist schwach besucht, nur an einem Tisch sitzt eine lärmende Skatrunde. Die Karten klatschen auf das Holz. Ich sehe, wie Franz und Richard die leeren Gläser absetzen. Wenn sie jetzt an mir vorbeigehen ... Aber sie gehen langsam durch den Raum, verschwinden hinter einer Tür.
Das Zimmer ist sehr voll. Ich setze mich still in eine Ecke. Die Gesichter ringsum sind mir fremd. Franz und Richard sitzen an der anderen Seite.
Ein großer, rotblonder Mann steht vorn an einem quergestellten Tisch. Er sieht alle der Reihe nach an, wirft jedem ein Wort an den Kopf.
„Du?"
Es ist wohl für alle wie eine lange Frage. Die Antworten kommen knapp zurück: „Rote Hilfe - Zelle 217 - IAH - Zelle
274-."
Franz nennt unsere Zellennummer. „Häuserschutzstaffeln",
sagt Hüttig.
„Du?"
Der Rotblonde sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. Sein Blick verwirrt mich......Ich ... ich ..."
„Wer kennt ihn?!" höre ich ihn scharf fragen.
„Ich - ist in Ordnung!" sagt Franz drüben.
Neben ihm hebt Richard Hüttig den Zeigefinger. Ich kenne ihn auch, soll das heißen. Und ob Richard mich kennt! Auf einmal freue ich mich sehr, dass er mich kennt, ja, ich bin sogar stolz. Wie lange kenne ich ihn eigentlich? Drei Jahre schon. Wie er vornübergebeugt dasitzt! Seine gedrungene Gestalt sieht jetzt noch kleiner aus. Er macht immer ein so ernstes Gesicht, als ob er ständig über schwere Fragen grübelt. Jetzt sind die Falten um den schmalen Mund, über den buschigen Augenbrauen in der Stirn noch tiefer. Die dunkelblonden, dichten Haare liegen wirr darüber. Wie er hier wohl reden würde? Wie immer, knappe Sätze. Rauh. Er hat immer halb gebellt. Richard!
Ich war wohl der letzte, der gefragt wurde. Der Rotblonde vorn spricht: „Genossen! Für uns kommen morgen früh folgende Betriebe in Frage: die Aronwerke, Zwietusch, das Wernerwerk und das Schaltwerk in Siemensstadt. Die Flugblätter werden heute nacht an den euch bekannten Stellen in der Laubenkolonie abgezogen. Ihr holt sie morgen ganz früh ab."
Er macht eine Pause, sein Blick geht die Reihe herum.
„Bleibt bis dahin die Nacht durch in Alarm. Ihr habt doch eure Genossen verständigt? Es wird ..."
Die Tür geht auf. Ein junger Genosse geht auf den Rotblonden zu. Sein Gesicht ist krebsrot, er sieht abgejagt aus. Sie sprechen leise, dann geht der junge Genosse.
Der Rotblonde sagt wieder: „In diesem Augenblick macht die gesamte Berliner SA einen Fackelzug durch das Regierungsviertel. Sie wird siegestrunken zurückkommen, ein Grund mehr, wachsam zu sein! Ist alles klar - oder hat noch jemand eine Frage?"
Niemand meldet sich.
Wir gehen einzeln. Die Straßen sind ausgestorben. Mich spannt das Unnatürliche dieser Ruhe. Mein Kopf schmerzt.
Vom Rathausturm schlägt es viertel zwölf. Wir stehen bei Rothacker im Hausflur. Die Haustür klappt. Es ist Paul Teichert.
„Was Neues?"
„Nein. Der Fackelzug wird noch nicht zu Ende sein!"
„Bilden wir uns vielleicht nur ein, dass die Dreiunddreißiger heute ihr Mütchen an uns kühlen wollen. Die haben sicher genug mit ihrer ,Siegesfeier' zu tun."
„Mich soll es wundern, wenn sie uns ihren ,Sieg' nicht kosten lassen. Was kann ihnen denn jetzt noch passieren? Die Polizei? Die wird sich hüten, gegen die politische Wehrorganisation des neuen Staates einzuschreiten. Er ist erst knapp zwölf Stunden alt - aber er ist der zukünftige Brotgeber! Wer bringt da noch seine Stellung, seine Pension in Gefahr?"
Franz spricht in die Ecke hinein, wo Rothackers Nickelbrille glänzt.
„Ich habe vorhin auf meinem Rundgang keinen Tschako gesehen. Die rechnen wohl auch damit - alle Augenblicke kommt doch sonst die Streife hier durch!"
Paul Teichert hat seinen Mantelkragen bis über die Ohren hochgeklappt. Er sagt halblaut: „Ist schon so. Wenn wir uns nicht selbst schützen, ist's aus. Haben wir an Braunschweig und Altona gesehen. - Die Jungs in Altona waren richtig."
„Ist Stani in Alarm?" fragt Rothacker.
Stani ist der abgekürzte Name des Lokals, in dem unser Massenselbstschutz liegt.
„Selbstverständlich. Sie haben sogar Radfahrerpatrouillen."
Franz räuspert sich, spuckt aus.
Lange fällt kein Wort.
Dann ist wieder Rothackers Stimme da, sie scheint von weit herzukommen.
„Ich habe mir das alles schon oft durch den Kopf gehen lassen, Franz. Was haben viele von uns schon hinter sich! Ich auch. Vier Jahre Dreck und Blut im Krieg. Spartakus, Neunzehn, dann Dreiundzwanzig..."
Ein Auto fährt draußen vorbei. Wir spähen hinaus. Es ist nur ein Taxi.
„... Dreiundzwanzig. Da haben wir auch gesessen und gewartet - auf unseren Anfang! Heute stehen wir in Alarm - um unser nacktes Leben."
„Die Revolution ist ein Auf und Ab", sagt Franz leise.
Teichert reckt sich. Er gähnt. Dann sagt er: „Manchmal könnte man verzweifeln. Tote, Tote, Tausende. Zuchthaus, Maßregelung, die ganzen Jahre. Die Nazis quatschen immer über ihre ,alte Garde'. Arschlöcher die! Haben immer die Kanone ungestraft in der Tasche getragen - die Justiz für sich gehabt. Schöne ,alte Garde'!"
Die Haustür fliegt auf. Wir fahren herum. Ernst Schwiebus! Er fuchtelt mit den Armen, atmet schwer.
„Die Nazis - ein Radfahrer ist hier - sie kommen!"
Wir stürzen hinaus.
„Sie müssen gleich hier sein - der ganze Sturm!" sagt der Radfahrer hastig. Es ist ein junger Bursche mit einer Ballonmütze.
„Verständige Richard und die Staffeln!" sagt Franz.
Der Radfahrer springt auf, saust los. Franz dreht sich um.
„Los! Hofalarm! Jeder nimmt ein paar Genossen. Rothacker bleibt bei mir!"
Aus unserm Lokal Werner stürzen auch schon Genossen. Rasselnd fahren die Jalousien herunter. Wir reißen die Haustüren auf, rennen auf die Höfe. Schreien in Sprechchören gegen die schwarzen Wände: „Achtung! Achtung! Die Nazis stürmen die Wallstraße!" In den Fenstern flammt Licht auf. Menschen kommen die Treppen heruntergehastet. An der Straßenfront klappen Fensterriegel. Ein Mann rennt in einem Bademantel an mir vorbei, er hat darunter nur das Nachthemd an. Unsere Straße ist wach! Vom Knick der Straße kommt plötzlich Gesang:
„... Die Straße frei den braunen Bataillonen! - Die Straße frei dem Sturmabteilungsmann!..."
Sie singen nicht, sie brüllen. Die nächsten Worte gehen in ohrenbetäubendem Pfeifen und Rufen unter.
„Nieder! Nieder! - Rot Front! Rot Front!"
Ich sehe den dunklen Menschenhaufen schnell näher kommen. Das ist kein Marsch mehr! Sie hasten, schieben sich in dichtem Knäuel vorwärts. Mitten in den Haufen hinein klatscht es plötzlich dumpf - Blumentöpfe! Ein wüstes Gebrüll steigt aus dem Knäuel, dann eine schrille Stimme: „Fenster zu! - Straße frei!"
Die wollen Polizei spielen! Sie kommen näher, ich sehe die Schnallen der Schulterriemen im Laternenschein glänzen, die Schlösser ihrer Koppel.
„Da! - Da! - ein Schupo!"
„Ja!"
Ein einzelner Schupo läuft vor dem Zug her, sein Tschako glänzt. Ein Brauner läuft neben ihm. Ich sehe, wie der Schupo erregt auf den Braunen einspricht. Der aber dreht sich um, brüllt, brüllt in den Höllenlärm:
„Ausschwärmen! - Feuer auf die Fenster!"
Rothacker packt Franz an den Rockaufschlägen, sein Gesicht ist weiß.
„Die Hunde! - - Die Hunde! - - Die Hunde!"
Der Uniformknäuel zieht sich auseinander. Ein ununterbrochenes Knattern springt gegen die Häuserwände, die dunkle Straße ist vom Mündungsfeuer der Pistolen zerrissen. Der Feuerkreis schiebt sich langsam zu uns heran. In das Knallen der Schüsse hinein klatschen immer noch Wurfgeschosse aus den Fenstern, kommen noch aus allen Häusern der Wallstraße Rufe: „Bluthunde! - Arbeitermörder!" Meine Kehle ist zugeschnürt, ich zittere, kann es nicht beherrschen. Plötzlich sehe ich, wie der Schupo vor dem Zug aufhört, zu laufen. Er reißt sich die Arme vor den Leib, dreht sich um sich selbst und stürzt. Der einzelne SA-Mann neben ihm springt herum, er will wohl dem Haufen etwas zurufen. Seine Arme fuchteln in der Luft - fallen plötzlich herunter - er sackt in die Knie.
Was ist denn - was denn?! Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Aus der vor uns liegenden Seitenstraße rennen jetzt einzelne Gestalten. Sie springen in die Häusernischen. Vereinzelte Schüsse blitzen auf.
Jetzt jagt die SA an uns vorbei. Die Schaftstiefel trappeln um die Ecke. Verschwunden sind sie wie ein Spuk. Zwei dunkle Körper liegen auf dem Asphalt.
Einige Minuten später schrillt die Sirene eines Polizeiüberfallautos. Der Wagen kommt in rasender Fahrt heran. Das Licht seiner Scheinwerfer streift den Asphalt. Er bremst kreischend. Das Scheinwerferlicht steht jetzt auf den dunklen Körpern auf dem Asphalt. Zwei von unseren Stanileuten gehen auf die Schupos zu. Die Schupos haben ihre Pistolen in den Händen.
Ich höre die Stimme des einen Genossen klar und fest: „Die Nazis haben einen Überfall auf die Wallstraße gemacht!"
Er zeigt auf die Gefallenen.
„Die gehen auf ihr Konto, Herr Wachtmeister!"
Sie helfen noch die beiden aufladen.
„Zum Krankenhaus Westend! - Schnell! — Schnell!"
In derselben Nacht. In der Laubenkolonie Siemensstadt. Wir sind nach dem SA-Überfall gleich hierhergegangen.
Franz klappt den federnden Deckel des Abziehapparates zu und gähnt. Ich wische mir die mit Farbe beschmierten Hände an einem Lappen ab.
„Wie spät ist's?"
„Kurz vor vier" sagt Strubbel. Er hält seine Taschenuhr dicht an die Petroleumlampe.
Ich biege meinen schmerzenden Rücken zurück. Mich fröstelt. Schlafen, bloß schlafen können! Im Mund habe ich einen faden, metallenen Geschmack, der die Müdigkeit bis zum Übelsein steigert.
„Bist ooch fertig, wa?" fragt Strubbel. Sein schwarzes Haar hängt ihm wirr ins Gesicht. Man hat dauernd das Gefühl, es ihm zurückstreichen zu müssen.
„Soll man nicht sein!" antwortet Rothacker für mich. Er liegt halb ausgestreckt auf dem wackligen Sofa der Laube. Er ist blass. Seine Augenränder hinter den Brillengläsern sind rot entzündet.
„Lasst man, sind auch tausendfünfhundert Blatt!" tröstet Franz. Und zu Strubbel sagt er: „Hätt'st du allein nicht nudeln könn'." - „Nee!"
Die Flugblätter liegen quer und längs gestapelt auf dem Tisch. Sie sind noch feucht.
„Wenn die andern ooch so ville ham, wird Siemens überschwemmt!" freut sich Strubbel.
Niemand antwortet. Ich habe mich in den ausgefransten Korbsessel gesetzt und döse. Franz sitzt neben Rothacker. Jetzt, da der Körper ohne Bewegung ist, wird das Schlafbedürfnis noch stärker. Ich muss die Augen krampfhaft offen halten.
An den Bretterwänden rings hängen mit Papier ausgestopfte Kaninchenfelle an Schnüren. In der linken Ecke steht ein eisernes Feldbett mit einer zerschlissenen roten Steppdecke. Hinter der danebenliegenden schmalen Tür schlafen Strubbels Frau und der dreijährige Heini. Strubbel wohnte früher bei uns in der Straße. Er ist seit drei Jahren arbeitslos. Er wurde vom Wirt exmittiert. Der ließ ihm die Möbel auf den Bürgersteig stellen. Strubbel zog damals zu Genossen. Später haben wir ihm die Laube bauen helfen. Jetzt ist er politischer Leiter unserer Zellen in der Siemensstädter Laubenkolonie. Siemensstadt ist Nazihochburg. Alles Kleinbürger. Bei den Wahlen hängen aus zehn Fenstern acht Hakenkreuzfahnen.
Jemand rüttelt an meiner Schulter, ich bin doch eingenickt.
„Los, is Zeit!"
Strubbel schlägt den Kartoffelsack, der vor der Tür hängt, zurück.
„Macht's jut. Lasst euch nich schnappen!"
In den Laubengängen riecht es nach Mist und Verfaulendem. Irgendwo schlägt ein Hund an. Ein milchiger Dunstschleier liegt über den Lauben. Es ist kalt. Wir biegen scharf rechts ein. Der hohe Bahndamm taucht vor uns auf. Ein langer Güterzug fährt polternd über die Brücke. Die Lokomotive stößt dicke weiße Wolken in die Luft. Die Bahnhofsuhr zeigt einige Minuten vor fünf. Der Schaltervorraum ist leer. Der Knipser sitzt verschlafen in seiner „Wanne". Er sieht uns fragend an.
„Wir warten draußen", sagt Franz halblaut.
Auf dem Kanalwasser hinter der Bahnüberführung zittert das Bogenlampenlicht. Ich lehne mich gegen das Geländer.
„Sie kommen!"
Ernst Schwiebus, der Konfektionär, Heinz Preuß und Ede sind da.
Ede trägt sein Glasauge. Wir schütteln uns die Hand.
„Heute nacht war in der Wallstraße Razzia, du!" sagt Schwiebus. „Um zwei Uhr haben sie die Zugangs Straßen besetzt. Paul Teichert war nicht am Treffpunkt. Wird nicht raus können, du." Das „Du" ist bei Schwiebus oft am Abschluss seiner Sätze, eine Angewohnheit von ihm.
„Weißt du Näheres? Verhaftungen?" fragt Franz.
„Nein. Ist aber möglich, du."
„Wir müssen uns überlegen, wo wir die Nacht waren!" Franz nickt mir und Rothacker zu.
Wir verteilen hastig die Flugblätter. Jeder steckt sich die Taschen voll. Ein hell erleuchteter Zug fährt über die Brücke vor uns. Franz drängt zur Eile. Er sagt: „Du sprichst bei deiner Gruppe, Schwiebus. Ich bei uns. Fangt an der Zugspitze an, wir nehmen die hinteren Wagen. Wir pendeln, kommen mit den leeren Zügen hierher zurück. Wenn eine Kolonne nicht ankommt, verlässt die andere den Bahnhof. Auf den Bahnsteigen aufpassen, ob die Luft rein ist. Los!"
„Ich kann nur bis sieben Uhr, du, mein Tretmotor wartet", sagt Schwiebus hastig. Er ist Fahrradbote in einem Parfümgeschäft.
„Sind wir längst fertig!"
Wir trennen uns. Meine Nerven sind angespannt. Die Müdigkeit ist verflogen. Nur im Kopf ist ein dumpfer Druck, und die Augen brennen. Der Bahnsteig ist voller Menschen. Ununterbrochen laufen jetzt die elektrischen Züge ein. Die Frühschicht der Siemenswerke fährt zur Arbeit. Tausende. Am ersten Morgen nach der Kanzlerernennung Hitlers.
Das Abteil riecht nach Schweiß und kaltem Rauch. Mit verschlafenen Gesichtern sitzen die Menschen auf den Bänken. Einige lassen die Köpfe hängen. Sie schlafen hier weiter, nützen die Bahnfahrt aus. Wir drücken jedem ein Flugblatt in die Hand. Ich bin benommen. Es ist alles so anders, als ich es erwartet habe. Niemand diskutiert, keine Erregung ist zu spüren. Sie nehmen uns die Flugblätter stumm ab. Einige lesen darin, die meisten stecken sie gleich in die Tasche. Franz stellt sich in die Wagenmitte. Laut fängt er an:
„Kollegen! Gestern ist Hitler Reichskanzler geworden. Der deutsche Kapitalismus hat ihn gerufen, er sieht aus seiner Krise keinen andern Ausweg als noch größere Ausbeutung der Arbeiterschaft. Hitler soll aus Deutschland ein Arbeitszuchthaus machen. Jeder Widerstand soll durch Terror erstickt werden. Gestern abend hat schon die SA begonnen, Arbeiterbezirke zu überfallen. Kollegen! Die Arbeiter der ganzen Welt blicken in diesen Stunden auf euch. Auf euch in den Betrieben wird es ankommen, ob der blutige Faschismus sein Vorhaben durchführen kann." Hinter den Wagenfenstern ödes Land. Bunte Signallichter. Franz wirft einen schnellen Blick seitwärts, spricht rascher. „Wir Kommunisten, Arbeitslose und Betriebsarbeiter, kommen zu euch, um kameradschaftlich mit euch dagegen zu kämpfen. Wir sagen euch: Rührt heute keinen Schalthebel an! Setzt keine Maschine in Gang! Macht sofort in den Garderoben, in den Speisesälen, überall, Abteilungsversammlungen! Besprecht die Lage. Wählt euch Aktionsausschüsse. Es gibt nur eine Antwort auf die Hitlerdiktatur: Politischer Massenstreik in ganz Deutschland! Es geht um euer Leben, um die Zukunft eurer Kinder, denkt daran!"
Franz spricht leidenschaftlich. Ich beobachte die Gesichter ringsum. Alle Augen hängen an ihm, aber das Abteil bleibt auch jetzt stumm. Sie müssen uns verstehen, sie müssen begreifen. Jetzt, in diesen Minuten!
„Los diskutieren!" raunt uns Franz zu.
Der Zug geht in eine steile Kurve, liegt ganz schräg.
Ich trete in eine Bankreihe. Zwei junge Arbeiter, ein älterer und eine Frau sitzen dort. Die Frau hat das Flugblatt zu einem kleinen Viereck zusammengekniffen, dreht es zwischen den Fingern. Der Alte liest darin, die beiden andern müssen es schon in die Tasche gesteckt haben.
Gelesen haben sie es dann nicht.
„Kollegen! Wir dürfen so nicht auseinander gehen. Ihr fühlt sicher wie wir, dass etwas geschehen muss. Heute noch! Die Arbeiterschaft muss sich wehren. Sprecht sofort mit euren Abteilungskollegen."
Ich stehe vornübergeneigt, der schwankende Zug schüttelt mich. Die Frau sieht mich mit kleinen, unruhigen Augen schräg an. Ihr Mund ist zusammengekniffen. Streiken! Hast einen schlauen Bauch, mein Lieber! scheint ihr Blick zu sagen. Der junge Arbeiter links zuckt mit den Schultern. „Schon richtig - ja", sagt er gedehnt. Der neben ihm nestelt verlegen an seiner Frühstückstasche. Draußen über dem Land liegt eine dünne, schmutziggraue Eisschicht.
„Wir können nichts machen. Man muss abwarten, was die Gewerkschaften beschließen", sagt da der Alte.
An seinen ruhigen, dunklen Augen finde ich endlich Halt.
„Nicht abwarten, Kollege. Irgendwie muss doch ein Anfang gemacht werden. Die andern werden dann mitgerissen!"
Der Alte schüttelt den Kopf.
„Ohne Anweisung der Gewerkschaften! Ohne Streikkassen! Einfach wild drauflos?!" Der Junge links nickt zustimmend: „Unmöglich!"
„Die Arbeit verlieren wir nur dabei, die Arbeit!" wirft die Frau spitz ein.
„Gegen die gesamte Arbeiterschaft können sie nicht..."
Der Zug bremst zischend und hält. Alle drängen zur Tür. „Wernerwerk" steht draußen auf großen Emailleschildern.
Auf dem offenen Bahnsteig pfeift ein eisiger Wind. Dicht vor uns ragen Werkgebäude. Die hellen Fenstervierecke steigen hoch in den fahlgrauen Himmel. Hinter den Glaswänden sieht man wie ein Gerippe die breite Treppe. Kleine Punkte von Menschen wimmeln. Über den Werkhof unten links ziehen dichte Reihen. Zehntausende sind in ein paar Minuten verschluckt. Wenn sie alle ...
„Dort! Vor dem Bahnhof, vor dem Werkeingang Flugblattverteiler!" sagt Rothacker.
„Die Laubenkoloniezellen."
Auf der andern Bahnsteigseite läuft ein leerer Zug ein. Schwiebus springt mit seiner Gruppe heraus.
„Was ist, du?"
„Bleibt hier oben, wir gehen zum Bahnhof Fürstenbrunn", sagt Franz.
Wir laufen hastig durch enge Straßen, in denen nur Fabrikgebäude stehen. Graue Mauern, davor ein Streifen Rasen und Eisenzäune. Ede ist jetzt bei uns. „Ick will mit", hat er gefordert. Arbeitertrupps kommen uns entgegen. Rothacker beginnt Flugblätter zu verteilen. Nirgends ist Polizei zu sehen.
„Lass, für die Brücke", sagt Franz.
Auf den Bürgersteigen liegen Flugblätter verstreut. Werfen sie einfach weg, sind die ganz Ängstlichen. Rechts bleiben die Fabriken zurück, die Fürstenbrunner Brücke taucht vor uns auf. Hier am Kanal ist der Wasseranschluss der Werke. Hinter der Brücke wölbt sich der dunkle Buckel des Bahnhofs Fürstenbrunner Weg. Er ist die zweite Bahnverbindung der Werke. Am Tage liegt er tot und still. Jetzt aber kommen Tausende hier an. In Viererreihen schieben sich die Arbeiter über die enge Brücke. Wir verteilen Flugblätter, sagen ein paar hastige Worte. Für Diskussionen ist hier nicht Zeit, alle haben es eilig. Mein Flugblattvorrat ist bald erschöpft. Auch Rothacker kommt mit leeren Händen.
„Und nicht mal Polizei!"
Franz sieht starr auf die vorbeihastende Menge.
„Hier hätte mehr sein müssen, viel mehr! Der erste Morgen nach der Hitlerkanzlerschaft, im größten Industriebezirk Berlins! Zweihundert Mann Schutz, ein Führer der Partei in der Mitte. Zwei, drei Minuten sprechen. Das wäre ein Signal für ganz Deutschland."
Wir stehen, bis der Zug der Arbeiter abbröckelt. Nachzügler rennen vorbei. Eine Sirene zerreißt die Stille, schwillt singend zu einem hellen Ton an und verröchelt winselnd. Franz ruckt mit dem Kopf. „Gehn wir!"
Unsere Stiefel klappen. Niemand spricht. Ein Gefühl der Ohnmacht füllt mich bis an die Haarwurzeln. Links ragt über das Häusermeer das breite, kantige Viereck des Siemensturmes. Dünne Rauchfahnen kriechen aus seiner Spitze. Er ist Schornstein und Uhr, das Wahrzeichen von Siemensstadt. Jede Turmseite trägt meterhohe Leuchtzeiger, um sie herum helle Vierecke, die Stundenmarkierungen. Kilometerweit kann man die Zeit ablesen. Die Zeiger scheinen mir höhnisch zu winken. „Ihr wollt Unruhe in den befohlenen Trab bringen? - Hier! - Auf die Minute genau sind alle gekommen. Hört ihr es brausen in den Hallen? Ha, ha, ha, es läuft alles weiter."
Franz sagt plötzlich rau: „Wir sind alle zur Stelle. Wir berennen die Industriefestungen. Von außen! Und das Echo drinnen?"
Sein Gesicht sieht müde und eingefallen aus. Die Mütze sitzt ihm tief im Genick. Er wiegt schwerfällig die breiten Schultern. Auch Edes und Rothackers Gesichter sehen verbissen aus. Eine furchtbare Wahrheit lag in Franzens Worten. Meine Füße sind wie Blei. Die physische Erschöpfung kommt dazu. Bloß schlafen, schlafen. Links beginnen die Laubenkolonien. Unsere Laubenkolonien. „Klein-Moskau" heißen sie hier. In einigen der niedrigen Fenster brennt gelbliches Licht. Dünner Rauch steigt senkrecht aus einem Blechschornstein. Ein Hahn kräht.
Rothacker sagt: „Wir sind alles Arbeitslose. Warum? Weil die Besten immer aus den Betrieben rausgeflogen sind! Bist du nicht selber hier rausgeflogen?! Jetzt von außen her - das ist nicht dasselbe!"
Franz dreht den Kopf. Er sieht Rothacker an, als sehe er ihn zum ersten Mal. „Unsere Gewerkschaftsarbeit —"
Er holt tief Atem.
„Du hast heute die Antworten gehört! Abwarten -"
Ede spuckt geräuschvoll aus und schlägt die Arme übereinander. „Verdammt kalt, watt?" Dann sagt er, als besinne er sich auf das Thema: „Abwarten, abwarten. Ick sage euch, darunter verbirgt manch eener watt. Der Heini Ketzel bei uns nebenan zum Beispiel. Ihr kennt ihn, Bulletenheini. Der arbeitet ooch hier, als Former. Sauschufterei, erzählt er, mit dem feuchten Sand und so. Er verdient een paar Kröten, so in die dreißiger Mark. Aber der hat Angst, die Käsearbeit zu valier'n, sage ick euch! Und dann: Für seine Kalle spart der. Die will een Koffergrammophon ham."
Er lacht verächtlich.
„Watt hab ick mit dem jeredt! Die Kleene, det Grammophon, sonntachs mit ihr int Kino - weiter interessiert den nischt. Von der Sorte jibt's 'ne Menge. Dett kommt dazu!"
Wir haben den Bahnhof Jungfernheide erreicht. Dicht besetzte Straßenbahnen fahren hintereinander vorbei. Über die Eisenbahnbrücke rollen Züge. Sie brennen noch Licht, obwohl es schon hell ist. Die Siemensangestellten fahren in die Büros.
Franz bleibt stehen.
„Trennen wir uns. Vorsicht in der Wallstraße."
Die Zeitungen bringen lange Artikel über die Vorfälle, die sich in der Nacht der Kanzlerernennung Hitlers in unserer Straße abgespielt haben. Der Schupo, den wir vor der schießenden SA plötzlich zusammenbrechen sahen, heißt Zauritz. Der SA-Mann aber ist der Sturmführer Maikowski vom Sturm 33! Sie sind beide tot.
Die Dreiunddreißiger haben mit ihren sinnlos vor Angst abgefeuerten Revolversalven einen Polizisten getötet - sie haben ihren Sturmführer erschossen! Wir haben es mit eigenen Augen gesehen - und jetzt lesen wir in den Zeitungen, dass die beiden Opfer der Kommunisten seien! In den Zeitungsartikeln steht kein Wort davon, dass die Dreiunddreißiger in unsere Straße einmarschiert sind, dass sie unsere Straße in dieser Nacht im Sturm „erobern" wollten. Die Nazizeitungen schreiben wüste Hetzartikel. Sie bezeichnen Maikowski als „neues Blutopfer der Kommune". Es scheint, als ob der Tod Maikowskis der Anlass zu einer verstärkten Terrorwelle gegen unsere von ihnen so gehasste rote Straße werden soll, denn gestern abend hat diese Pressehetze sich schon ausgewirkt. Die gesamte Standarte West der Berliner SA ist durch unsere Straße marschiert. Es war eine Rachedemonstration wegen der „Ermordung" Maikowskis. Lange vor Beginn derselben kam die Polizei in unser Verkehrslokal Werner und forderte den Wirt auf, das Lokal zu schließen. Dann besetzte sie alle Ecken, sperrte die Straße für den Verkehr. Ein Überfallauto fuhr ununterbrochen hin und her, leuchtete mit seinem Scheinwerfer zu den Fenstern der Wohnungen hinauf. Sogar die Dächer suchte die Polizei nach eventuell verborgenen „Schützen" ab. In unserer Straße brannte in den Wohnungen an der Straßenfront kein Licht. Es war, als ob alles Leben erstorben sei. Dann zogen die Braunen in langen Reihen, mit brennenden Fackeln durch die Straße. Ihr Rachegeschrei, ihre gebrüllten Lieder empfing Grabesstille. Diese erzwungene Stille sprach trotz alledem am lautesten.
Die Nervenanspannungen der letzten Tage haben einen heißen Wunsch nach Leben und Ausspannen bei mir hervorgerufen. Nie habe ich das so empfunden. Ich muss zu Käthe gehen. Ich will sie sehen, ihre Stimme hören.
Frau Zander sitzt in der Küche an der Nähmaschine.
„Ist Franz da?"
Ich schäme mich auf einmal, gleich nach Käthe zu fragen.
„Nein. Aber geh nur rein, Käthe ist da."
Sie sitzt auf dem Sofa. Ein Berg Strümpfe liegt neben ihr. Sie hat mich nicht kommen hören.
'n Abend, Käthe."
„Jan!" In ihre braunen Augen kommt ein warmer Glanz. „Setz dich."
Das weinrote Kleid mit dem geflochtenen Ledergürtel hat sie heute an. Es liegt eng an. Sieht gut aus. Eine helle Haarsträhne fällt ihr ins Gesicht, als sie sich über den Strumpf bückt. Sie pustet sie zurück.
„Bist ja so still?"
Sie sieht mich prüfend an.
„Man kann nicht immer reden."
In der Küche summt die Nähmaschine. Sie setzt aus, summt weiter.
„Ich wollte dich abholen. Wir wollen ein bisschen laufen."
Sie nickt. „Gleich, ja. Noch ein Loch."
Die Straßenlaternen brennen schon. Es ist kühles, trockenes Wetter. Ich atme die Luft tief ein. Sie ist rein um diese Jahreszeit, wie sonst nie in der Stadt. Käthe hat die Hand in meiner Manteltasche. Ich kann sie umfassen, so klein ist sie. Ich mache kurze Schritte wie Käthe. Was sie für ein buntgewürfeltes Tuch um den Hals hat! Es sieht so frisch und lustig aus. Es ist alles schön so. Mal an nichts denken, nur gehen, gehen. Wir wollen auch gar nicht reden. Das Cafe ist klein und fast leer. Käthe lehnt sich an mich. Wir freuen uns. Die heiße Tasse Kaffee wärmt uns wieder auf. Käthes Gesicht ist gerötet, ihre Augen glänzen. Ich greife nach der Illustrierten auf dem Nebentisch. Auf der zweiten Seite ist ein Bild marschierender Schupos.
„Polizei mit Hakenkreuzfahne auf der Rheinbrücke."
Also schon offiziell! Ich lege die Zeitung hin.
„Willi ist schon weg", sagt Käthe.
Sie hat das Bild auch gesehen.
„So?"
„Es war ihm nach der Razzia zu unsicher."
Plötzlich ist das alles wieder da. Richtig. Ich hätte ihn auch in der Wohnung sehen müssen.
„Komm, Käthe, gehn wir zu mir."
Ich schließe meine Haustür auf. Käthe ist dicht neben mir. Wir haben kein Wort gesprochen. Wir tappen die dunklen Treppen hoch.
„Leise - die Wirtin!"
Vor einigen Tagen schrieben die Zeitungen schon, dass Maikowski, der erschossene Sturmführer des SA-Sturmes 33, und der Polizist Zauritz Staatsbegräbnis erhalten. Heute sind die beiden im Berliner Dom aufgebahrt worden. In Anwesenheit Hitlers, der Regierung, der Spitzen von SA, SS und der Polizei hat dort eine Feier stattgefunden.
Die Abendzeitungen bringen lange Berichte mit Bildern. Wieder steht die Lüge darin, dass die beiden von Kommunisten ermordet worden seien. Der SA-Sturm 33 und eine Abteilung der Polizei sind vor dem Dom aufmarschiert.
Franz erzählte mir, dass die Feier über den ganzen deutschen Rundfunk übertragen wurde. Er war gerade bei einem Genossen und hörte, wie der Rundfunkreporter (ein Photo zeigt ihn vor dem Mikrophon auf den Stufen des Domes) die SA mit den Worten empfing: „Ha, ha, da kommt der gefürchtete ,Mordsturm' 33."
„Sie loben die Dreiunddreißiger noch öffentlich für ihren jahrelangen Terror", meinte Franz. Das könne für die nur eine Aufforderung zu neuen Gewalttaten gegen unsere Straße sein. Dieser Fall Maikowski werde sich für uns sicher noch schlimm auswirken, umsonst ziehe die Naziregierung das alles nicht so groß auf. Wir müssten allen Genossen einschärfen, jetzt doppelt vorsichtig zu sein.
Noch nie hat Franz so besorgt zu mir gesprochen.
„Deutschland ist nicht Italien", haben viele Genossen immer gesagt. - Unsere ersten Versuche, einen Generalstreik gegen die Hitlerregierung auszulösen, sind gescheitert. Hat Franz recht? Stehen wir wirklich am Beginn eines blutigen deutschen Faschismus?
Die Straße läuft einen kleinen Berg hinauf.
„Röntgenstraße. Ihr Jagdrevier."
Franz nickt über den Fahrdamm. Drüben liegt das Sturmlokal der Dreiunddreißiger. Es ist keine Uniform zu sehen. Wo die wieder stecken?
Wir haben die Höhe der Straße erreicht. Eine große Brücke überspannt die Spree. Links schwanken Bogenlampen auf der Kaimauer. Ein großer Kran fährt lautlos hin und her, steckt seinen Greifer tief in die Lastkähne. Dahinter stehen lange, erleuchtete Werkhallen. Aus ihrer Mitte stößt ein riesiger Schornstein in den Abendhimmel. Die Laufkatzen der Koksschwebebahn kreischen. Es ist das Elektrizitätswerk Charlottenburg am Spreebord.
Franz bleibt plötzlich stehen. Der Wind trägt mehrfaches Knallen über die Spree. Wir lauschen. Jetzt wieder: drei-, vier-, fünfmal!
„Klingt wie Schüsse!"
Ich nehme die Hand von der Ohrmuschel.
„Ja. Wenn das nur nicht bei Willmann ist."
Willmann ist ein Häuserschutzstaffellokal von uns. Es liegt in der an die Spree grenzenden Nebenstraße.
„Das Sturmlokal sah so verlassen aus", sagt Franz langsam.
Er spricht meinen Gedanken aus.
Wir gehen an langen Garagenwänden entlang, biegen dann links ein. Franz drückt dreimal auf eine Torklingel. Das Haus ist mir fremd. Der elektrische Türkontakt schnarrt. Im Flur erscheint am Guckfenster der Portier. Ein kleines graues Männchen mit einer Brille.
„Wir möchten eine Auskunft über die freie Zweizimmerwohnung."
„Bitte sehr. Rechts die erste Tür", sagt das Männchen mit dünner Stimme.
Es geht durch einen langen Flur, dann kommt ein spärlich beleuchtetes großes Zimmer. Drei Männer schütteln uns die Hand. Ich kenne nur einen vom Nachbarbezirk. Die andern sind ein großer kahlköpfiger Mann mit einem energischen Gesicht und ein Untersetzter mit einem kleinen dunklen Bärtchen. Das Portiermännchen lässt die Türe angelehnt. Seine Pantoffeln schlürfen den Korridor zurück.
„Wir können noch nicht anfangen", sagt der Kahlköpfige zu Franz.
„Es fehlen zwei Staffelleiter."
„Ja, gut."
Eine Standuhr tickt. Über einem Sofa hängt ein Vogelbauer. Er ist mit einem dunklen Tuch zugedeckt. Wir sitzen auf schweren, gedrechselten Stühlen. Draußen schrillt plötzlich die Klingel. Die Pantoffeln des Alten schlurfen. Wir sehen zur Tür.
Eine tiefe Stimme: „Wir möchten eine Auskunft über die freie Zweizimmerwohnung."
Die dünne Stimme des Alten antwortet. Dann tappen schwere Stiefel auf dem Korridor. Richard Hüttig! Wer ist der andre? Ich kenne ihn nicht. Hüttigs Gesicht ist düster. Um seinen Mund liegen tiefe Falten.
„Wir haben uns verspätet. Die Dreiunddreißiger haben vor einer halben Stunde einen Feuerüberfall auf Willmann gemacht."
Es ist totenstill. Hüttig sieht an uns vorbei.
„- Ein Genosse hat einen Bauchschuss - der andere Schultersteckschuss."
Ich sehe, wie sein Gesicht zuckt. Seine schweren Hände packen den Gürtel. Noch immer ist Schweigen. Endlich spricht der Kahlköpfige. „Darüber nachher. Zuerst..."
Er fährt sich über die Stirn.
„Ihr wisst, dass einige Genossen verhaftet worden sind. Wegen der Nacht vom 30. Januar. Meistens sind's Staffelleute von Stani. Die ganze Presse hat auf höheren Befehl die Vorfälle in der Nacht groß ausgeschlachtet. Aus dem erschossenen Sturmführer Maikowski soll anscheinend ein neuer Horst Wessel gemacht werden. Wir müssen der Öffentlichkeit die wahren Mörder zeigen, Genossen. Mit Zeitungen und Flugblättern."
Einen Augenblick lang hört man nur das Ticken der Standuhr.
„Wir müssen folgende Fragen aufwerfen: Was wollte der schwerbewaffnete Sturm in dieser Nacht in der Wallstraße? Sein Rückmarschweg lag entgegengesetzt. Warum nimmt man keine Obduktion der Leichen vor? Weil sie beweisen würde, dass die Schüsse aus nächster Nähe abgefeuert wurden. Weil sie beweisen würde, dass Maikowski und der Polizist Zauritz von dem hinter ihnen marschierenden Sturm erschossen worden sind."
Der Kahlköpfige sieht jeden an.
„Merkt euch vor allem: Wie wir hören, war uns dieser Schupo Zauritz nicht feindlich gesinnt. Man zwingt die Frau, jetzt den Hetzrummel mitzumachen. Man will ihr sonst die Pension streichen. Sie hat ein Kind. Die Nazipresse schreibt, dass man die Straße in Maikowskistraße umbenennen will. Eine Bronzeplakette soll an der Todesstelle eingeweiht werden. Ihr seht, sie werden alles tun, um uns als ,Mordkommune' abzustempeln."
Richard Hüttig hebt den Kopf, er will etwas sagen.
„Augenblick noch. Noch eins: Wir werden in den nächsten Tagen für den erschossenen Polizisten Zauritz an der Mordstelle einen Kranz mit roter Schleife niederlegen. Als Zeichen unserer Trauer und um öffentlich zu unterstreichen, dass wir an seinem Tod unschuldig sind. Darüber strengstes Stillschweigen. Gegen jeden!"
Richard Hüttig legt seine großen Hände auf den Tisch. Er sieht sie an. Er sagt: „Wir Häuserschutzstaffeln werden euch unterstützen wie immer. Wir sind ja verantwortlich für das Leben der Charlottenburger Proleten. Ihr wisst, wie viel Tote wir schon haben ..." Seine Stimme wird leiser. „Vielleicht ist es jetzt schon einer mehr."
Seine Hände schließen sich. Er hebt den Kopf.
„Ich muss euch im Namen meiner Jungs sagen, dass wir uns nicht länger wehrlos abschlachten lassen. Keinen individuellen Terror, jawohl. Aber wir müssen unser Leben verteidigen können. Das heute wird für die SA der Anfang sein. Wir sind Freiwild geworden!"
Hüttig schweigt. Ich bin tief erregt.
Da sagt der Kamerad neben ihm: „Jawohl. Andere Kampfbedingungen gibt es für uns nicht mehr."
Der Kahlköpfige sieht die beiden lange an.
„Wir können nichts dagegen haben, wenn ihr euer Leben verteidigt. Aber keine Provokationen. Kerle wie euch werden wir bitter nötig haben."
Er steht auf.
„Nochmals: Die Abziehapparate dürfen nicht stillstehen!"
Ich habe Franz und die Mädels abgeholt. Wir wollen in ein Kino gehen. Hilde und Käthe gehen eingehakt vor uns.
Ich freue mich, dass Franz mein Genosse und Freund ist. Dass wir beide verliebt sind. Dass unsere Mädels Kameraden sind.
Die Mädels bleiben an der Ecke vor der Litfasssäule stehen.
„Liebe, Spionage, das Übliche", sagt Hilde.
„Marmorhaus, ein Rene-Clair-Film", meint Käthe.
„Schon eher was."
Franz ist um die Säule gegangen.
„Seht euch das mal an!"
„Der Ton - was hat er denn?"
Die Litfasssäule ist von oben bis unten mit Naziplakaten zur Reichstagswahl am 5. März beklebt. Ein Zug verhungerter Gestalten, Männer, Frauen mit Kindern, ist auf dem einen abgebildet. Darunter steht groß: „Unsere letzte Hoffnung: Hitler." Darüber klebt ein Plakat mit Hitlers Kopf: „Deutsches Volk, gib mir vier Jahre Zeit, dann urteile!"
„Nur ihre! Die Berek hat Klebeverbot für andere Plakate", sagt Franz.
„Im Radio geht das den ganzen Tag. Sie winseln förmlich: Wählt Hitler, wählt Hitler", sagt Hilde.
„Sie haben doch schon erklärt, dass sie mit oder ohne Mehrheit weiterregieren. Dass sie unsere Abgeordneten nicht mehr zulassen."
Wir gehen langsam weiter.
„Unser Hausfaktotum, die Bürovorsteherin", erzählt Käthe, „hat immer deutschnational gewählt. Hugenberg vorne, Hugenberg hinten. Wir brauchen einen Mann mit starker Hand, erklärt sie jetzt. Adolf Hitler hat uns Gott gesandt."
Am Bahnhof Zoo ist wie immer dichtes Gedränge. Franz stößt mich plötzlich an. Die Schlagzeilen der Zeitungshändler:
„Das Karl-Liebknecht-Haus erneut durchsucht!" „Unterirdische Katakomben. Befehle für den bewaffneten Aufstand!" steht darunter. Wir sehen uns an. In all den Jahren dutzendmal durchsucht. Jetzt finden sie „Katakomben" -„Befehle zum bewaffneten Aufstand". Vor uns drehen die Menschen die Köpfe. Ein Schupo und ein SA-Mann kommen uns entgegen. Die braune Mütze sitzt flach auf dem Kopf, der Sturmriemen unter dem Kinn. Über der braunen Uniform trägt der SA-Mann einen blauen Schupomantel, am Koppel Gummiknüppel und Revolvertasche.
„SA-Hilfspolizei", sagt Franz leise.
Wir stehen vor dem Kino. Mir ist die Filmfreude vergangen. Aber ich will die Mädels nicht enttäuschen. Franz geht es wohl genauso. Er sagt kein Wort, seine Augenbrauen sind zusammengezogen. - Die Schallplattenmusik, die flüsternden Menschen im Raum, alles ist mir plötzlich unerträglich. Ich kann den Vorgängen auf der Leinwand nicht richtig folgen. Immer wieder sind die Zeitungsüberschriften und der SA-Hilfspolizist da.
Wir sind auf dem Heimweg. Zeitungshändler rufen die Schlagzeilen der letzten „Nachtausgabe" aus:
„Neue Funde im Karl-Liebknecht-Haus!" „Geheime Falltüren. Unterirdische Gänge."
„Sie überschlagen sich", sagt Franz. „Organisier'n vielleicht noch 'ne große Sache vor der Wahl, sieht ganz so aus. Auch Mussolini hatte bei Regierungsantritt sein Attentat."
Lautsprechermusik kommt dröhnend aus der Seitenstraße. Ein Auto der Reichsrundfunkgesellschaft. Es ist mit grellen Naziplakaten beklebt. Die Musik bricht ab.
„Am 5. März: Nur Hitler!" schreit es aus dem Lautsprecher. In mir steigt Wut hoch.
Am Eingang der Wallstraße bleiben wir stehen. Wir haben den ganzen Weg schweigend zurückgelegt. Hilde mustert den Wurstmaxen an der Ecke. Er sitzt in Decken gehüllt unter seinem Zeltpilz. Der Nickelkessel vor ihm dampft.
„Ich gebe eine Bockwurst aus. Als Abschluss", sagt Hilde.
Der Wurstmaxe freut sich. Er kennt uns gut. Ich weiß, dass ihm Franz ab und zu eine Zeitung verkauft. Er hat auch schon auf Sammellisten gezeichnet.
„Wollt ihr Brot?"
Wir danken.
„Dicke Luft, watt?"
„Kann man wohl sagen."
„Müsst eben die Ohr'n steifhalten, Jungs!"
„Werden wir besorgen", sagt Franz. 'n Abend."
'n Abend. Macht's jut."
Zwei Tage später. Franz hat mich beauftragt, zu Hinrich zu gehen. Er macht die Zeichnungen für unsere Zeitung.
Zwei Treppen, drei Treppen. August Hinrich, Lehrer, steht auf dem Messingschild. Ich läute. Einen Augenblick später wird die Klappe am Guckloch fortgezogen, dann steht Hinrich vor mir. Ein großer Mann mit rundem Gesicht. Sein schwarzes Haar ist glatt nach hinten gekämmt. Es glänzt fettig.
„Du - Jan?"
Er macht eine steife Handbewegung. „Bitte."
Was hat er denn? Sieht verstört aus und spricht so förmlich? Die Diele hat saubere, helle Tapeten, rotlackierte Garderobenhaken, ein kleines Tischchen in gleicher Farbe, ein geschliffener Spiegel darüber. Ich stülpe meinen Hut auf einen Haken.
„Entschuldige, es ist nirgends aufgeräumt - gehn wir ins Wohnzimmer."
Auf den lederbespannten Bauhausstühlen liegen durcheinander geworfen Hemden, Krawatten, zusammengerollte Strümpfe. Auf der Couch in der Ecke zwei Anzüge. Hinrich räumt einen Stuhl ab.
„Setz dich."
Er geht zu dem Tisch in der Zimmermitte, rollt einen starken Bogen Zeichenpapier zusammen. Will der verreisen? Die Neubauwohnung sieht doch sonst immer wie ein Schmuckkasten aus. Hinrich rollt den Bogen wieder auf, breitet ihn vor mir aus. „Kennst es wohl schon - habe ich selbst gemalt", sagt er langsam.
Ich fühle, eine Verlegenheitsgeste. Es ist eine Federzeichnung. Eine Zeche. Röhren und Stahlträger laufen wirr durcheinander, auf einem Förderturm weht eine Fahne mit Hammer und Sichel.
„Hing doch immer im Nebenzimmer?"
Hinrich nickt. Er rollt den Bogen zusammen, bindet eine Schnur herum.
„Weshalb ich kam. Du sollst für die Zeitung einen neuen Kopf zeichnen. Die Wachsplatte habe ich mitgebracht."
Hinrichs Kopf fährt hoch, sein Mund geht auf und zu. Was ist denn nur wieder? Der tut, als ob ich ihn um Gott weiß was bitte?
„- - Kann ich nicht - ich verlasse heute die Wohnung -verschwinde aus der Gegend ..."
„Ist mir neu."
Er wirft die Papierrolle auf den Tisch.
„Ja, weißt du denn nicht, was los ist?" schreit er; seine Stimme überschlägt sich.
Ist der verrückt geworden?! Ärger steigt in mir hoch.
„Was soll los sein?"
Ich habe Mühe, ruhig zu bleiben. Hinrich kommt ganz nah an mich heran, eine Haarsträhne ist ihm ins Gesicht gefallen.
„Der Reichstag brennt - der Reichstag ist angesteckt worden!"
Ich sehe ihn mit großen Augen an.
„Der Reichstag!" wiederholt er. „Der Rundfunk hat's angesagt. Sie geben immerzu Situationsberichte!"
Jetzt erfasse ich erst, was er sagt. Der Reichstag - die haben den Reichstag...
„Das ist ihr Reißer!" schreie ich ihn an. „Das geht gegen uns - ist ihr Reißer für die Reichstagswahl!"
Hinrich läuft nervös auf und ab, dreht die Papierrolle in der Hand.
„Ich muss fort - bin zu bekannt - jetzt geht's erst richtig gegen uns —", sagt er. Er sieht an mir vorbei. „Überhaupt -ich kann nicht mehr mitmachen."
Ich stehe auf. Alles hier widert mich an. Die verstreuten Kleider, Hinrichs Gesicht.
„Dann Servus", sage ich spöttisch.
Es ist schon spät, aber überall stehen Menschen und erzählen. Den Händlern werden die Zeitungen aus der Hand gerissen.
„Der Reichstag brennt!"
Ich springe auf einen Autobus. Zurück - zu Franz!
In der Wallstraße stehen vor allen Haustüren Gruppen und diskutieren. Unter den Gaslaternen lesen sie die ersten Zeitungsberichte. Das letzte Stück fange ich an zu laufen. Dort steht Franz, vor seinem Haus. Ein Menschenknäuel ist um ihn. Ich erkenne Rothacker, Teichert, Schwiebus, Ede.
„Mensch, Franz!"
Er zieht mich ein Stück abseits. Ernst Teichert bleibt neben ihm.
„Ist groß aufgezogen", sagt er, ohne dass ich ein Wort über den Brand gesprochen habe, „die lassen sich die Kommunistenhetze ein hübsches Stück ,Volksvermögen' kosten."
Der steht vor mir wie sonst! Er spricht ruhig wie immer!
Alles in mir ist aufgewühlt, und er sieht mich mit klaren Augen an, hat die Hände in den Hosentaschen!
„Wie können wir jetzt... wir müssen doch ..."
„Wir werden in den nächsten Tagen Einzelheiten hören", fällt mir Franz ins Wort, „darauf müssen wir reagieren. Kurze Flugblätter, Tatsachen aufzählen."
Er hat recht, ich schäme mich meiner übereilten Gedanken. Überstürzung hilft jetzt auch nicht.
Ernst Teichert spuckt im Bogen aus.
„Die Art ist neu, die Methode alt", sagt er. „Denkt an Spartakus, Neunzehn. Damals erfanden sie die Meldung von den fünfzig erschossenen Kriminalbeamten in Lichtenberg."
Ich werde wieder wild.
„Heute fabrizieren sie aber Tatsachen! Und sie haben alle Propagandamittel: Rundfunk, Kino, Presse. Wie wir gegen die Lügenhetze ankommen sollen ..."
„Es war immer schwer für uns", sagt Franz knapp.
Wir gehen zu den andern zurück. Fast hätte ich jetzt Hin-
rich vergessen!
„Hinrich ist weich geworden, macht nicht mehr mit."
Franz zieht die Augenbrauen hoch.
„Wird nicht der einzige bleiben", sagt er, als hätte er nichts anderes erwartet.
Wir bleiben noch eine Zeitlang bei den andern stehen.
„Ich gehe rauf", sagt Franz.
Ich begleite ihn und Teichert noch bis auf den Hof.
„Wenn was los ist, an die Scheibe klopfen", sagt Franz noch zu Teichert.
Sie wohnen nämlich in gleicher Stockwerkhöhe. Franz im Seitenflügel, Teichert im Quergebäude. Ihre Fenster liegen gegenüber, in der Ecke, wo die Gebäude aneinander stoßen.
Ich gehe langsam durch die Wallstraße. Hinter den hohen, geriffelten Fenstern des Umformerwerkes brennt helles Licht. Die Maschinen brummen. Auf dem Bretterzaun des Lumpenplatzes kleben unsere letzten Plakate. Dort ist Edes Dauertransparent: Der dunkle Fleck auf dem frei stehenden Giebel. Die vereinzelten ein- und zweistöckigen Häuschen sind im Laternenlicht noch kleiner und buckliger zwischen den Mietskasernen. Sie stammen aus der Gründerzeit Charlottenburgs, haben Generationen überdauert. Die Ziegel auf den Dächern sind verwittert und bemoost. Schwere Holzläden hängen im Parterre vor den Fenstern: Wallstraße. Hier war wohl früher mal der Stadtwall. Dahinter haben sicher Bäume gerauscht, Wiesen gab es. Jetzt ist nicht der kleinste grüne Zweig in der Straße. Ich bin aber doch jetzt froh. Es ist unsere Straße, meine Straße, ich gehöre hierher.
Meine Augen brennen. Ich bin müde und abgespannt.
Am nächsten Tag. Teichert hat mich heute im Morgengrauen herausgeklingelt. Ich hatte Mühe, meine Wirtin zu beruhigen. Er musste sofort wieder weg, zur Arbeit. Franz ist heute nacht geflüchtet! Teichert warnte mich, in seine Wohnung zu gehen. Ich soll auch Hilde warnen. Ich habe vorsichtig Erkundigungen eingezogen. Polizei und SA habe heute nacht in der Wallstraße Razzia gemacht.
Der Wurstmaxe erzählte mir, wie es begann. Er saß unter seinem Zeltpilz. Zwei offene Lastwagen fuhren mit abgeblendeten Lichtern und lautlos arbeitenden Motoren in die Straße. Polizei und SA-Uniformen saßen auf den Bankreihen.
Am Knick der Straße hielten die Autos. Die Uniformen sprangen herunter.
Ein SA-Mann mit Sternen auf dem Kragenspiegel gab halblaute Befehle.
„Drei Treppen rechts, Zander."
Ein kleiner Trupp ging.
„Haus achtundachtzig - Fischer - Haus fünfundachtzig -Katorek!"
„Befehl!"
Von Zanders und Teichert weiß ich das übrige.
Frau Zander hört nachts jedes Geräusch im Haus, so leicht schläft sie. Schwere Tritte kamen die Treppen herauf. Sie lief zur angrenzenden Stubentür.
„Franz!"
Franz fuhr hoch; auch Käthe war aufgewacht, sie saß aufgerichtet im Bett.
„Da kommen welche die Treppen rauf!"
Franz fuhr in Hosen und Stiefel, warf sich die Jacke über. Er hörte es jetzt selbst, sie mussten schon an ihrem Treppenabsatz sein.
Käthe drückte dem Bruder ihre Geldtasche in die Hand. Dann lief sie zu seinem Bett, strich es glatt. Franz riss das Fenster auf und spähte in den Hof. Dort war noch niemand! Er kletterte auf das Fenstersims, klopfte an Teicherts Scheibe. Hinter ihm donnerte es schon gegen die Korridortüre.
„Aufmachen! Polizei! Aufmachen!"
Käthe machte ihre Stimme verschlafen: „Einen Moment, bitte - wir müssen uns etwas überwerfen."
Hinter der Scheibe drüben tauchte Teichert auf. Er war im Hemd. Er riss das Fenster auf, streckte wortlos die Hand aus. Einen Augenblick hing Franz über dem Hof, dann stand er neben Teichert. Der schloss das Fenster. Franz sah noch, wie Käthe drüben ebenfalls zumachte.
Bei Zanders traten sie jetzt schon mit den Stiefeln gegen die Tür. Das Krachen riss das ganze Haus aus dem Schlaf. Überall horchten sie.
Käthe öffnete. Die Mutter stand hinter ihr. Sie hatten sich ihre Mäntel übergeworfen. Sie prallten zurück. Vor dem grellen Licht von elektrischen Lampen. Pistolenläufe blitzten auf. Die vorderste Uniform stieß mit dem Fuß die Tür weit auf, sie flog Käthe gegen den Arm. Sie kamen in die Küche. Es waren vier Hilfspolizisten und zwei Schupos. Ein SA-Mann, ein breitschultriger Hüne, hielt der alten Frau den Revolver vor die Brust.
„Sind Sie Frau Zander?"
Käthe sah, wie die Hände der Mutter, die den Mantel zusammenhielten, plötzlich nicht mehr zitterten. „Ja. Sie wünschen?" fragte sie ganz fest. Der Breitschultrige gab keine Antwort. Er ließ den Lichtkegel der Lampe in der Küche kreisen, stieß die Stubentür auf. Alle polterten hinter ihm her. Die leeren Zimmer brachten den SA-Mann in Wut. Er drehte sich mit einem Ruck um, beleuchtete die Frauen im Türrahmen.
„Wo ist Ihr Sohn Franz?!" Er brüllte.
„Das weiß ich nicht!" sagte die Mutter.
„Das wissen Sie nicht?!"
Jetzt ging es an Käthe.
„Und Sie? Wissen auch nichts, was?!"
„Nein!"
Die Lampen der Männer waren jetzt alle auf Käthe gerichtet. Käthe zog den Mantel fester, klappte vorn den Kragen zu.
„Machen Sie Licht!" wurde die Mutter angebrüllt.
Sie ging in die Küche, ein SA-Mann mit ihr. Als sie unter den Vorhang in der Küchenecke griff, fragte er argwöhnisch: „Was machen Sie da?"
„Den Gashahn aufdrehen."
„Ach so."
„Durchsuchen!"
Der SA-Mann mit den breiten Schultern hatte anscheinend Kommandogewalt oder übte sie einfach aus, die beiden Schupos reagierten auch sofort auf seine Befehle. Die Männer warfen die Betten auf die Erde, hoben die Matratzen hoch und ließen sie dröhnend fallen. Zwei SA-Leute gingen in die Küche. Die Frauen hörten Geschirr scheppern. Die rückten den Küchenschrank ab! Ein SA-Mann stand vor dem Bücherschrank. Er nahm jedes Buch prüfend in die Hand, warf Bücher auf den Fußboden, andere legte er vor sich auf den Tisch. Gorki- und Lenin-Bände waren dabei, sah Käthe. Der Breitschultrige hatte den Kleiderschrank aufgerissen. Er griff in alle Anzugtaschen, befühlte sogar die Kleidersäume. Er warf die kontrollierten Sachen auf Käthes Bett. Dann nahm er die Bilder herunter, klopfte die Wände ab. Ein Leninbild zerschlug er an der Tischkante. Käthe merkte, die Schupos suchten nur gezwungenermaßen. Sie sahen bloß unter die Betten, fuhren mit den Händen in die Sofapolsterung. Der Breitschultrige kletterte auf den Tisch, um auf den Ofen zu sehen.
„Sie ruinieren mir ja den Tisch. Da oben ist höchstens Staub", sagte die Mutter ruhig.
Der SA-Mann sprang herunter.
„Das überlassen Sie gefälligst uns, verstanden?! Wir kamen hauptsächlich wegen Ihres sauberen Sohns! Aber Sie wissen ja nicht, wo der ist!" Er ging plötzlich ganz dicht an die Mutter heran. „War er denn heute überhaupt schon hier?"
Die alte Frau schwieg einen Augenblick, sah Käthe an.
„Nein!" sagte sie dann fest.
Der SA-Mann sah sie durchbohrend an, auch die andern drehten die Köpfe.
„Er war wirklich noch nicht hier!" sagte Käthe in die Stille hinein.
Der Breitschultrige drehte sich zu ihr um.
„Dann werden wir ihn hier empfangen!"
„Brauchen wir das Licht?" fragte ein anderer.
„Nee. Wir werd'n den Burschen nicht noch warnen. Nachher genügen die Stablampen!"
Er drehte sich zu den Frauen um, machte eine verrenkte Handbewegung.
„Bitte, meine Damen! Sie dürfen die so roh unterbrochene Nachtruhe fortsetzen - im Nebenraum natürlich!"
Teichert hatte Franz Hut und Mantel gegeben.
„Montag nach der Wahl, um drei, Jan kennt den Treff", hatte Franz noch gesagt. Dann lief er die Treppe des Quergebäudes hinunter, kletterte im Hof über eine Mauer und flüchtete durch den Barackenweg am Umformerwerk.
Vielleicht bin ich auch schon „beschattet"? Sie wissen Namen! Die Razzia gestern war bestimmt lange organisiert. Weshalb gingen sie zu Franz? Wie ist es sonst möglich, dass sie gerade Fischer und Katoreck verhaftet haben, beide Gruppenleiter der Häuserschutzstaffeln! Der Gang mit Hüttig und Franz durch die drei Kneipen am Abend der Kanzlerernennung fällt mir ein. Damals habe ich innerlich über den „konspirativen Blödsinn" geflucht. Was haben doch die wenigen Wochen für andere Menschen aus uns gemacht! Richard Hüttig. Ob er in Sicherheit ist? Ich habe heute versucht, ihn zu erreichen. Vergeblich.
Eine einsame Haltestelle kommt. Ich warte, bis die Straßenbahn im Anfahren ist, springe auf. Die Straßenbahn ist dicht besetzt. Die meisten Gesichter sind hinter Zeitungen vergraben. Ich spüre die Spannung im Wagen, jeden bewegt jetzt nur der Reichstagsbrand. Ich sehe meinem Nachbarn über die Schulter in die Zeitung.
„Verordnung des Reichspräsidenten!"
Es ist eine der letzten Ausgaben. An einer Haltestelle winke ich vom Perron einen Zeitungshändler heran.
„----Todesstrafe für Hochverrat, Brandstiftung und Anschläge gegen die Regierung, Beschränkung der persönlichen Freiheit, Aufhebung des Brief-, Telegrafen- und Fernsprechgeheimnisses, Sanktion für Haussuchungen zu jeder Tagesund Nachtzeit —"
Hilde steht schon an der Haltestelle. Ich habe sie telefonisch hinbestellt.
Sie sieht mich angstvoll an.
„Du hast dich so komisch ausgedrückt - ist was passiert? -Mit Franz - -?"
Ich nehme ihren Arm.
„Ja, mit Franz. - Er ist heute nacht geflüchtet."
Hildes Hand packt meinen Arm. Sie bleibt stehen.
„Komm! Du musst ruhig bleiben. Wir dürfen nicht auffallen."
„Ja - ja -", würgt sie heraus - „geflüchtet — warum denn?"
Sie hängt sich schwer an meinen Arm.
„In unserer Straße war Razzia, wie überall heute nacht. Er floh im letzten Augenblick, durch Teicherts Fenster."
Sie sieht mich noch immer fassungslos an. Ich drücke ihre Hand.
„Weißt du - wo er jetzt ist?"
„Ich treffe ihn nächsten Montag."
„Kann ich ihn nicht heute noch —?"
„Du musst vernünftig sein, Hilde. Ich gebe dir später Bescheid, wo du ihn erreichst. Wir müssen vorsichtig sein. Wir anderen werden vielleicht auch schon überwacht. Deshalb traf ich dich ja hier!"
Hilde sieht lange vor sich hin. „— Ja - ja -"
Sie tut mir leid. Ich sehe sie an. Ich bin noch nie eingehakt mit ihr gegangen, sie ist etwas größer als Käthe. Käthe!
„Mir geht es doch mit Käthe genauso. Wir haben sie natürlich abhängen müssen. - Franz ist doch nicht verschüttgegangen."
Hilde schweigt lange.
„Du hast recht, Jan. Es hat mich im Moment nur so erschreckt." Es klingt wie eine Entschuldigung.
„Schon gut. Ich sage dir also Bescheid. Wir treffen uns wieder hier."
Hilde nickt.
„Wenn du mich oder Käthe in unserer Gegend siehst, darfst du uns nicht ansprechen. Wir kennen uns nicht!"
„Ja, ich verstehe ...", sagt sie leise.
Wir gehen einige Schritte schweigend.
„Also deshalb war mein Herr Bruder die Nacht nicht zu Haus!" sagt Hilde plötzlich. „Er kam erst heute morgen. Der hat wohl mitgeholfen!"
Ich antworte nicht. Hat's doppelt schwer, das Mädel.
„Komm, ich bring dich jetzt zur Bahn. Wir fahren einzeln."
An der Haltestelle kramt Hilde ihre Geldbörse aus der Handtasche. Sie gibt mir fünf Mark.
„Für Franz. Wird's brauchen. Ich hab nicht mehr bei mir."
Na also, die ist ja wieder ganz beisammen.
Kaum bin ich zu Haus, kommt Rothacker. „Wir müssen sofort versuchen, Franz zu erreichen!"
Mir geht ein dumpfer Druck aufs Herz.
„Wieso, was ist?"
„Ich komme vom Arbeitslosennachweis - war Geld holen -sie können ihn verhaften -!"
Rothacker hält mich an der Jacke fest. Seine Hand zittert, sein Atem geht stoßend. Die Gläser seiner Brille sind beschlagen. Ich kann in seinen Worten keinen Zusammenhang finden. Ich ziehe einen Stuhl heran.
„Setz dich, Erich. Erzähle genau, ich verstehe nicht!"
Seine Erregung ist auf mich übergesprungen. Es muss etwas Unerwartetes passiert sein. Rothacker lässt sich mit einem Ruck fallen, wie jemand, der nach einem plötzlichen Schreck apathisch wird. Er nimmt die Brille ab, reibt die Gläser mit dem Taschentuch und blinzelt mit den kurzsichtigen Augen.
„Also, was ist?!" dränge ich.
Rothacker setzt die Brille auf und holt tief Atem.
„Ich hatte Geldtag heute. Wir stehen in einer langen Reihe an, rücken schrittweise vor. Plötzlich recken sich vor mir die Köpfe. An der Kasse ist eine Stockung. - ,Herr Neumann?!' hören wir den Kassierer scharf fragen ..."
„Der von den Stanileuten etwa?" Ich ahne, was jetzt kommt.
Rothacker nickt. „Ja, der Neumann, ich hatte ihn sofort erkannt. ,Moment warten!' sagt der Kassierer zu ihm, und wir sehen, wie im selben Augenblick zwei Männer aufspringen. Sie saßen abseits. Der eine springt über das Holzgitter, packt Neumann am Arm." Rothackers Stimme wird leise. „Er hat sich nicht gewehrt, so überrascht war er." Er schiebt den Zeigefinger unter die Brille, fährt sich über die Augenbrauen. „Sie gingen dann an uns vorbei, hatten ihn in der Mitte und jeder eine Hand in der Tasche."
Rothacker schweigt. Mir ist plötzlich unerträglich heiß. Heute ist Sonnabend. Ich kann Franz vor Montag nicht erreichen. Unser Treff ist auf der Straße, in einem andern Stadtteil. Wir haben die Stelle lange schon festgelegt, für den Fall, dass uns etwas Unvorhergesehenes trennt. Ich grüble, finde aber keine Lösung. Halb höre ich nur zu, wie Rothacker weitererzählt. Die Arbeitslosen hätten erregt diskutiert. Den hätten sie gesucht - er sei sicher Kommunist - warum er noch herkäme, wenn er wüsste, sie seien hinter ihm her - wovon er denn leben solle!
„Weißt du, wann Franz immer stempelt und Geld holt, Erich?"
Rothacker überlegt einen Augenblick.
„Er stempelt donnerstags - holt mittwochs Geld", sagt er.
„Also geht er erst nächsten Mittwoch wieder hin? Weißt du's genau?"
Rothacker nickt energisch. „Ja, bestimmt!"
„Ich kann ihn vor Montag nicht erreichen, Erich. Das langt dann, wie?"
„Ja, langt, Jan!"
Wir schweigen. Ich überlege. Auf dem Korridor draußen fängt plötzlich der Staubsauger meiner Wirtin hell an zu summen.
„Am besten ist, du kommst mit, Erich. Er wollte in seinem neuen Bezirk eine Wohnung besorgen. Als Verbindungsstützpunkt. Die lernst du dann gleich kennen - falls mit mir mal etwas ist."
Rothacker nickt. „Ja, gut."
„Merk dir: Montag, drei Uhr. Franz steht vor einem Schaufenster des KDW, Tauentzienstraße. Du folgst uns unauffällig. Ich spreche ihn auch nicht an, gehe ihm nur nach. Verstanden?"
„Ja. Ich bin dort."
Gestern kam Ede mit einer Abendzeitung zu mir.
„Ernst Thälmann, der Führer der Kommunisten, verhaftet!"
Ich habe lange auf die Buchstaben gestarrt, konnte kein Wort herausbringen. Thälmann - verhaftet!
„Mensch, Jan! Dett kann doch nich sein - sach doch watt sach doch watt!" redete Ede auf mich ein und rüttelte an meiner Schulter.
Da habe ich ihn beruhigt. Das sei bestimmt eine falsche Meldung. Die Nazis wendeten eben alle Mittel an, um uns zu verwirren, sagte ich ihm.
Gestern abend habe ich Ede noch beruhigt - heute wissen wir, dass diese Zeitungsmeldung stimmt. Thälmann, der Führer der Partei, ist verhaftet worden! In Charlottenburg, in unserem Bezirk. Rothacker hat es mir heute bestätigt. Er sagte nicht, wie und von wem er darüber Näheres erfahren hat. Er meinte bloß, er kenne von früher sogar die Wohnung, in der Thälmann verhaftet wurde.
Die Genossen kommen in gedrückter Stimmung zu mir. Sie stellen mir alle ähnliche Fragen. Wie konnte das geschehen? War Teddy denn nicht ganz sicher untergebracht? Ich weiß ja darüber nicht mehr als sie.
Ich gehe langsam an Franz vorbei und bleibe an dem nächsten Schaufenster des Kaufhauses stehen. Ich sehe, wie er den Kopf dreht. Er hat mich schon bemerkt! Er geht in dem dichten Menschengewühl an mir vorüber, blinzelt mir zu. Ich lasse ihm einige Meter Vorsprung und folge ihm dann langsam. An der Ecke bücke ich mich, als binde ich meinen Schnürsenkel neu, und sehe schnell zurück. In Ordnung. Rothacker ist hinter uns. Franz biegt bald in eine kleine Nebenstraße ein. Ich vergrößere unsern Abstand, die Straße ist weniger belebt. Franz! Ich würde ihn aus Tausenden herausfinden, auch wenn er mir, wie jetzt, den Rücken zudreht. An seinen breiten Schultern, die sich so merkwürdig wiegen, würde ich ihn erkennen. An seinen eckigen Armbewegungen, an seinem dichten, hellblonden Haarschopf. Er läuft tapsig wie ein Bär, als taste er jeden Schritt ab. Muskelknoten haben wir ihn getauft. Seeleute müssen so gehen, die immer das Gefühl der schwankenden Planken in den Füßen spüren. Unsinn. Franz war nie auf See. Ich kenne sein Leben genau. Gewalzt ist er viel. In den letzten Kriegs)ahren. Er hat damals in vielen Provinzen und Städten gearbeitet. Immer, um wieder für einige Monate „Betriebskapital" zu haben. In den ersten Nachkriegsmonaten ist er dann in Hamburg hängengeblieben. Er trat in die neu gebildeten „Volkswehren" ein. Half „Ruhe und Ordnung" aufrechtzuerhalten. Oft hat er mir davon erzählt. „Was verstand ich schon damals von Politik, es gab gutes Essen, hohe Löhnung." Achtzehn Jahre war er damals alt. Auch seine erste Entwicklung zum „Politischen" kenne ich. Das war Dreiundzwanzig. Er war Monteur in einer Werkzeugfabrik. Die Inflation kam. Die Arbeiter wussten nicht, ob sie für ihren Wochenlohn ein Pfund Schmalz bekamen. Ein Streik jagte den andern. Damals wurde Franz zum ersten Mal verhaftet. Er war schon gewerkschaftlich organisiert. Er bekam vier Monate Gefängnis. Nach diesen vier Monaten sah Franz die Welt mit andern Augen. Brennert, sein Zellengenosse, ein alter Spartakuskämpfer, hatte dafür gesorgt. Franz las jetzt viel, er ging in theoretische Kurse. Er wurde langsam ein klassenbewusster Arbeiter und Kämpfer. -Ich schrecke aus meinen Gedanken. Franz bleibt vor einem Haus stehen. Er tut, als suche er die Hausnummer, geht dann hinein. Auf dem ersten Treppenabsatz treffe ich ihn. Er schüttelt mir die Hand, seine grauen Augen strahlen. „Altes Haus!" sagt er.
„Rothacker kommt noch, er soll die Verbindungsstelle kennen lernen, ist sicher gut für später", sage ich hastig.
„Na gut." Es klingt etwas erstaunt. „Zwei Treppen rechts, Mahlke, kommt nach."
Franz öffnet. Wir gehen durch einen Korridor. Hinter einer geschlossenen Türe links schreit ein Säugling. Eine andere Tür steht halb auf. Die Küche. Es ist aber niemand zu sehen. Dann sind wir in einem kleinen Zimmer. Ein Sofa, ein kleiner Tisch, zwei Gartenstühle. Hinter dem schmalen Fenster ist ein kahler Giebel. Wir setzen uns schweigend. Mir ist plötzlich beklommen. Wir haben nur Schlimmes zu berichten. „Du siehst nicht gut aus, Erich. Bist du krank?" fragt Franz.
Rothacker lächelt. Um seine Augen hinter den Brillengläsern liegen tiefe Schatten. Sein Gesicht sieht noch schmaler aus als sonst.
„Wir haben in den letzten Tagen nicht viel geschlafen -und dann, wir haben nur schlechte Nachrichten", sagt Rothacker.
Franz sieht mich an.
„Haben sie zu Haus jemand verhaftet - Käthe?"
„Nein, aber ..."
„Du holst Mittwoch Geld!" spricht Rothacker in meine Worte hinein.
„Ja, warum?" fragt Franz.
„Am Sonnabend haben sie einen Stanimann auf dem Nachweis verhaftet", sagt Rothacker mit schwerer Stimme.
Schweigen. Franz dreht nachdenklich den Zipfel der Tischdecke.
„Muss dann auch so weitergehn", sagt er, „ich werde es melden. Sie verwenden mich sowieso nur noch in diesem Bezirk."
Draußen klappert Geschirr. Ein Wasserkessel pfeift.
„Ihr müsst jetzt alle zusammenhalten", sagt Franz wieder. „Zieht Teichert und Schwiebus heran, die wissen, was sie wollen." Und nach einer Pause. „Ihr müsst auch für Funktionärnachwuchs sorgen, wir werden Verluste haben. Ich denke an Heinz Preuß und Ede."
Rothacker nickt stumm. Franz' einzige Sorge ist, dass die Arbeit weitergeht, über seine Schwierigkeiten spricht er kein Wort, geht es mir durch den Kopf.
„Kümmert euch um Strubbel. Ihr wisst, dass er außer Teichert unsere einzige Betriebsverbindung ist."
Strubbel! Ich sehe auf den Giebel draußen.
„Strubbel ist nicht mehr in der Laubenkolonie", sagt Rothacker langsam, als müsse er jedes Wort überlegen.
„Strubbel ist nicht mehr ... ist er verhaftet?"
Rothacker stützt die Arme schwer auf den Tisch.
„Es wäre ihm sicher schlimmer ergangen", sagt er, „er ist auch geflüchtet. Wir haben ihn bei Genossen untergebracht. Seine Frau und den Jungen bei anderen."
„Wie kam es? Polizei?"
„Nein. SA. Sie wollten ihn wohl ganz erledigen. Du weißt, sie hatten in den letzten Wochen in der Kolonie zwanzig SA-Leute einquartiert. Die bekannten Genossen konnten sich nicht rühren, ohne beobachtet zu werden."
„Ja und ..."
„Sie kamen in der Brandnacht, wie bei dir. Strubbel fährt aus dem Schlaf. Schüsse knallen. Er sieht auf dem Laubenweg einen dunklen Menschenhaufen. Sie treten gerade seinen Zaun ein. Er weckt seine Frau, reißt den Jungen aus dem Bett. Im Hemd sind sie über den Drahtzaun des Nachbars geklettert und haben sich in seinem angrenzenden Aborthäuschen versteckt —"
Franz stützt den Kopf in die Hände, sieht auf den Tisch.
„... dort haben sie vor Kälte zitternd gesessen. Strubbel mit dem Kind auf dem Schoß, er beruhigte es leise. Zwei Meter entfernt suchte die SA mit der Blendlaterne die Laube, den Schuppen ab. Da sie ihn nicht fanden, schlugen sie vor Wut alles kaputt. Zwei Dutzend Einschüsse hat die Laube."
Es klopft an unserer Tür. Eine große blonde Frau kommt mit einem Kaffeetablett herein. Sie nickt uns zu.
„Trinkt einen Schluck Kaffee", sagt sie freundlich.
Franz nimmt ihr das Tablett ab. „Dank schön, Edith", sagt er. .
Als die Frau hinaus ist, sage ich leise: „Ist noch nicht alles -Richard Hüttig ist verhaftet worden."
Franz, der in seiner Tasse rührt, lässt den Löffel fallen. Seine Lippen werden schmal. Er sieht an uns vorbei. Die Stille im Zimmer lastet schwer auf mir.
Da sagt Rothacker: „Im ,Angriff' schreiben sie schon: ,Der Charlottenburger Verbrecherführer Hüttig gefasst.' "
Franz bleibt stumm.
„Sie werden ihn in die Maikowski-Geschichte hineinziehen. Außerdem machen sie ihn für den Zusammenstoß mit der SS neulich, am 17. Februar, verantwortlich. Ein SS-Mann starb doch an einem Revolverschuss am nächsten Tag. Unsere Jungs waren ja unbewaffnet. Die SA schoss aber auch dabei."
Ich muss an Paul Schulz denken. Zwanzig Jahre alt war er. Wie er mich immer mit seinen klaren Augen dankbar angesehen hat, wenn ich ihm seine Fragen erklärte. Vor wenigen Wochen haben ihn die Dreiunddreißiger nachts auf der Straße erstochen.
Franz ist aufgestanden und starrt auf den Giebel draußen.
Mein Freund Otto Grüneberg. Ich werde nie die Nacht vergessen, als wir gegen zwei Uhr von einer Nachtveranstaltung der IAH fortgingen. „Ich habe von den Dreiunddreißigern wieder Drohbriefe bekommen", erzählte er. „Sie schreiben, dass sie mich abknallen werden. Ich kann mich nicht einmal wehren, habe keine Waffe." Ich wollte ihn begleiten. Er schlug es ab. „Du wohnst entgegengesetzt, Jan", sagte er. „Die beiden Genossen hier haben denselben Weg." Aber eine halbe Stunde später war Otto Grüneberg von Schüssen zerfetzt. Der Sturmführer der Dreiunddreißiger, Hahn, der rote Hahn wegen seiner Haarfarbe genannt, hatte mit der SA alle Ecken besetzt, wo Otto wohnte. Ein regelrechter Kurierdienst meldete ihn, als er kam. Sie ließen ihn bis in die Mitte der hell erleuchteten Straßenkreuzung gehen, gaben dann von allen Seiten Schnellfeuer. Otto lief mit sieben Schüssen noch bis vor seine Haustür, brach dann sterbend zusammen. Er war einer unserer Besten und Tapfersten. Führer der Charlottenburger Roten Jungfront. Sechzigtausend Berliner Arbeiter gaben ihm das Grabgeleit.
Franz hat sich umgedreht.
„Wo habt ihr euer Flugblatt zum Reichstagsbrand gemacht?"
„Bei dem Konfektionär, wie immer", sagt Rothacker.
Franz geht auf und ab.
„Ihr seid jetzt besonders gefährdet. Wir haben mehrere gute Abziehstellen hier. Ihr könntet zwischendurch eine benutzen."
„Wäre sehr gut", sagt Rothacker.
„Werde ich also mit Jan besprechen. Du verstehst, Erich, es kann nur einer kommen. Ist auch Prinzip jetzt. Der beste Genosse darf nichts erfahren, was er nicht für die Praxis wissen muss."
Rothacker nickt.
„Noch eins", sagt Franz. „Jeder müsste sich nach einer Möglichkeit umsehen, wo er im Notfalle einige Nächte schlafen kann. Wo er fürs erste auch untertaucht, falls er fort muss."
Er nickt mir zu.
„Für dich kann ich das hier besorgen. Ergibt sich auch aus der Arbeit. Du musst vorher ein oder zwei Nächte hier im Bezirk bleiben, damit du uns nicht eventuell Spitzel auf den Hals hetzt." -
Rothacker ist fort. Ich gebe Franz die fünf Mark von Hilde. Er freut sich. Er nennt mir einen Treff, den ich ihr angeben soll.
Ich mache auf dem Heimweg absichtlich Umwege. Vor einer Zeitungsfiliale steht ein Menschenknäuel. Ich stelle mich dazu. Die Abendzeitungen mit dem Endresultat der Reichstagswahl. Wer gelesen hat, tritt zur Seite und geht. Keine Bemerkung fällt. Auch die Gesichter der Lesenden sind ohne Bewegung. Die neue Staatsautorität verschließt die Münder, legt den Menschen Masken an. Wie wurde hier früher bei Reichstagswahlen diskutiert!
Ich gehe langsam weiter. Die Nazis haben einen Gesinnungsterror ohnegleichen ausgeübt. Sie haben wochenlang den gesamten Propagandaapparat des Staates spielen lassen. Und doch: Elf Millionen haben die Arbeiterparteien gewählt. Allein fünf Millionen Menschen haben sich zu den „Mordbrennern" bekannt. Haben Kommunisten gewählt. Alle haben mit ihren Stimmen ihr Urteil über die wahren Brandstifter abgegeben.
Einzelne Straßen fallen mir auf. Dicht hängen die schwarz-weißroten und Hakenkreuzfahnen. In anderen Straßen wieder nur wenige. Die Restaurants aber haben ausnahmslos geflaggt. Auch viele Geschäfte. Das Rennen um die „gute Gesinnung" hat begonnen.
Unser früheres Verkehrslokal Werner wurde schon polizeilich geschlossen. Heute kam SA und überstrich mit schwarzer Farbe unsere Parolen. Am Bretterzaun des Lumpenplatzes, an den Mauern neben dem Umformerwerk. Auch Edes „Dauertransparent" an dem frei stehenden Giebel wurde überstrichen. Sie haben sogar überall die Reste unserer Plakate abgekratzt.
Am nächsten Tag. Wegen der Maikowski-Affäre sind neue Verhaftungen vorgenommen worden. Auf jedem von uns liegt ein dumpfer Druck. Wen holen sie noch? Wer ist der nächste? Ein Misstrauen gegen jeden ist plötzlich da, hat auch auf uns übergegriffen. Ich spreche nur noch mit Genossen, die ich seit Jahren als zuverlässig kenne, doch auch dann nur in Andeutungen. Selbst Rothacker meinte, dass diese Verhaftungen keine Zufallsgriffe seien. Die zuerst Verhafteten müssten Namen genannt haben, oder es seien einige in der Straße, die denunzieren. Es ist für uns schwer, klar zu sehen. Fast jeden Tag werden neue verhaftet, die man scharf verhört. Wir haben vorläufig alle öffentliche Agitation eingestellt, halten nur untereinander Kontakt.
Unsere Wallstraße ist nicht wieder zu erkennen. Niemand steht mehr vor den Haustüren und diskutiert. Sobald es dunkel wird, liegt die Straße wie ausgestorben. Wer zu zweit oder dritt geht, macht sich schon verdächtig.
Zwei Tage später. Der SA-Sturm Dreiunddreißig hat sich dicht vor der Wallstraße einquartiert. Er hat das Charlottenburger Volkshaus besetzt. Es liegt nur wenig mehr als hundert Meter von unsern Häusern entfernt. Im Haus Rosinenstraße vier. Rothacker warnte mich, dort vorbeizugehen. Es sei, als ob dort plötzlich ein unsichtbares Schild: „Achtung! Gesperrtes Gebiet!" über der Straße hänge. Die Fußgänger meiden die Rosinenstraße. Abends sehen die Häuser rings wie unbewohnt aus. Fast nirgends brenne Licht. Die SA hätte abends schon Passanten angehalten, die nachweisen mussten, dass sie dort wohnen. Ich will aber trotzdem morgen vormittag vorbeigehen. Am Tage muss das doch während des Geschäftsbetriebes möglich sein.
Ich gehe langsam um den Knick der Wallstraße. Die Maschinen im Umformerwerk drüben summen. Vor Franz Zanders Haus ist niemand zu sehen. Einige Kinder spielen mit Tonmurmeln auf dem Bürgersteig. Käthe! Es ist ein strahlend schöner Tag, die Sonne wärmt schon. Einige Wochen weiter, wir werden ins Grüne fahren können, uns gefahrlos treffen und sprechen. Käthe hat mir zwar sagen lassen, dass sie trotz größter Aufmerksamkeit bisher nichts von einer Beobachtung gemerkt hat. Uns allen wird das Rausfahren neue Möglichkeiten geben. Niemand wird in Leuten mit Badehosen Funktionäre sehen, die eine Besprechung haben.
Augenblicke später bin ich an der Berliner Straße. Sie liegt als breites Verkehrsband quer zwischen der Wall- und Rosinenstraße, die drüben wie die Verlängerung der Wallstraße beginnt. Hier an der Ecke habe ich gestanden, als die Lastautos der SA in die Stadt rollten. Mit Richard Hüttig und Franz. Richard ist verhaftet, Franz geflüchtet. Auch unsere Straße hat sich verändert. Mir ist, als seien inzwischen Jahre vergangen.
Ich sehe mich vorsichtig um, gehe langsam über den Fahrdamm, in die Rosinenstraße hinein. Es sind nur wenige Schritte. Dort drüben, das Volkshaus, Nummer vier. Ein SA-Doppelposten steht vor der breiten Toreinfahrt. Die SA-Männer haben die Sturmriemen der Mützen unter dem Kinn.
Links vor mir ist ein Zigarrengeschäft.
„Eine Schachtel Juno", sage ich.
Ich sehe mir scheinbar die Schaufensterauslagen an, doch mein Blick fliegt hinüber. Autos und Motorräder stehen vor dem Gebäude in langer Reihe. Das Nickel, der Lack blitzen in der Sonne. Sind ganz neu. Die haben jetzt die Staatskassen.
Ich kann durch den Torweg ein Stück vom Hof sehen. Auch dort stehen Fahrzeuge. Links vom Tor ist eine Niederlage der Konsumgenossenschaft. Kein Käufer ist zu sehen. Ich zünde mir umständlich eine Zigarette an. - Die langen Fensterreihen des großen grauen Hauses sind geschlossen. Vor einigen hängen dichte Vorhänge. Im ersten Stock war das Heim der sozialistischen Jugend. Man sah immer die roten Transparente an den Wänden. Sie sind fort. Ein großer Wagen fährt drüben vor. Auf der Nickelstange am Kühler steht eine Standartenfahne in steifer Gazeumhüllung. Eine betresste Uniform springt aus dem Wagen. Die SA-Posten klappen die Hacken zusammen, legen die Hände an die Hosennähte. Ich gehe. Draußen ziehe ich nervös an der Zigarette. Wenn die mich anhalten? Unsinn. Nur der Posten ist zu sehen. Außerdem gehen auch andere Zivilisten vorbei. Das Volkshaus geht noch mit scharfem Knick rechts in eine kurze Sackgasse hinein. Die Räume der Ortskrankenkasse sind im Erdgeschoß, sonst wohnen in dem ganzen Haus ausschließlich sozialdemokratische Genossen. Die Parolen auf dem Hausgiebel links in der Sackgasse hat die SA auch übermalt.
Ich mache kleine Schritte. Das Charlottenburger Volkshaus - SA-Kaserne! „Dieser marxistische Schweinestall wird zuerst ausgemistet", haben die Nazis früher schon immer erklärt. Maikowski-Haus haben sie es getauft. Die vergitterten Keller im Hof sollen, mit Verhafteten gefüllt sein.
Was hat das Volkshaus schon gesehen! Lange vor dem Kriege tagten hier sozialdemokratische Parteiversammlungen. Neunzehnhundertachtzehn waren heimgekehrte Truppen einquartiert. In den Revolutionstagen standen auf dem Hof die Gewehrpyramiden der republikanischen Volks- und Einwohnerwehren - gegen Spartakus.
Nun ist das Volkshaus die Kaserne der Dreiunddreißiger!
Das Volkshaus - Maikowski-Kaserne! Heute ist unser aller Leben bedroht!
Heute wäre Rothacker beinahe verhaftet worden. Er kam zu mir. „Vielleicht schreibst du das auf, Jan." Er weiß, dass ich mir über alle Vorfälle Notizen mache.
Rothacker fuhr mit seinem Fahrrad zum Bahnhof Jungfernheide. Er hatte einen Treff mit unserem neuen Verbindungsmann aus den Siemensstädter Laubenkolonien, der für Strubbel einspringen sollte. Wir hatten dazu die Stunde gewählt, in der die Siemenswerke Betriebsschluss haben. Die Bahnhofsgegend ist dann stark belebt.
Straßenbahnen fuhren an Rothacker vorüber. Sie hatten alle zwei Anhänger und waren dicht besetzt. Vielleicht ist Teichert darin, dachte er. Teichert ist Dreher bei Siemens. Kurz vor dem Bahnhof griff Rothacker in seine Westentasche. In Ordnung. Der in Kurven zerschnittene Zeitungsabschnitt war da. Der andere hatte den dazugehörenden Teil, aneinandergelegt mussten sie zusammenpassen. Rothacker überlegte auch noch mal die weiteren Erkennungsmerkmale des Genossen. Runder grauer Filzhut, frisches Gesicht mit kleinem schwarzem Bärtchen, in der linken Hand die „Deutsche Allgemeine Zeitung".
„Können Sie mir bitte den kürzesten Weg nach Tegel sagen?" würde er ihn ansprechen.
„Leider nicht. Ich bin nur zu Besuch in Berlin", musste die Antwort lauten. Rothacker lehnte dann sein Rad an die Bahnhofsmauer und behielt die Straßenbahnhaltestelle im Auge. Die Bahnhofsuhr zeigte zwei Minuten vor voll. Der Genosse war noch nicht hier. Die Straßenbahnen brachten ununterbrochen Menschen heran, sie gingen in dichten Reihen in den Bahnhof hinein. Genau auf voll stand jetzt der große Zeiger der Uhr. Wo der Genosse nur blieb? Er konnte ihn doch unmöglich übersehen haben! Fünf Minuten nach voll. Immer noch nicht hier. Rothacker ging auf und ab. Noch fünf Minuten, dann haue ich ab. Er sah sich aufmerksam um. Drüben, an der Taxihaltestelle, standen zwei Wagen. Die Chauffeure unterhielten sich. Ein auf Räder montierter Zeitungsstand stand an der Ecke. Der Händler sah aus dem kleinen Guckfenster. Rothacker wurde unruhig, weil er als einziger hier so lange stand. Hinter dem letzten Taxi sah er plötzlich ein Motorrad, an dem zwei SA-Leute bastelten. Ob die bloß mimten! Ach was. Die haben Panne, du siehst weiße Mäuse. Den ersten Fehler machst du, wenn du ein „schlechtes Gewissen" hast und dich beobachtet fühlst. Jeder, der sich auffällig benimmt, macht so die Polizei erst auf sich aufmerksam, eine alte Erfahrung. Zehn Minuten nach voll! Rothacker schob sein Fahrrad zum Rinnstein und fuhr los. Er war ärgerlich. Der hatte den Treff nicht eingehalten. Als ob man sich diese Schlamperei heute noch leisten konnte. Tot oder verhaftet musste man sein, einen andern Grund konnte es dafür nicht geben. Dem würde er seine Meinung sagen, wenn da etwas nicht stimmte.
Rothacker bog hinter dem Bahndamm links ein, fuhr in eine stille Nebenstraße hinein. Eine Querstraße weiter hörte er Motorgeknatter hinter sich. Das Motorrad mit den beiden SA-Leuten fuhr an ihm vorbei. Der Fahrer bremste plötzlich, die Reifen kreischten auf dem Asphalt. Die Maschine wendete, stand quer zur Straße. Also doch! Der Soziusfahrer sprang ab.
„Anhalten!" schrie er.
Der andere stellte die Maschine auf den Ständer. Er war groß und breitschultrig, der vom Sozius klein und sehr jung. Rothacker sah die beiden ruhig an. „33" stand in hellen Metallziffern auf den schwarzen Spiegeln ihrer Uniformkragen. Verdammt, „unser" Sturm. Hoffentlich kennen die mich nicht!
„Durchsuchen!" sagte der Große.
„Nehmen Sie die Hände hoch!" befahl der Jüngere.
Rothacker legte das Fahrrad auf den Asphalt und gehorchte. Die Straße war leer, ein Stück weiter stand ein Mann mit seiner Frau am Arm. Sie sahen scheu herüber. Hier bin ich ihnen ausgeliefert, dachte Rothacker.
Der jüngere SA-Mann begann seine Taschen abzutasten. Als er an die hintere Hosentasche kam, zuckte er zurück.
„Was haben Sie da drin?"
„Eine Ledertasche mit Schlüsseln."
„Nehmen Sie selbst heraus!"
Die Helden! Es könnte eine entsicherte Pistole sein. Rothacker zog die Tasche heraus und schob den Reißverschluss auf.
„Hier, bitte!"
„Werden Sie nicht frech!" brüllte der SA-Mann.
„Haben Sie einen Ausweis bei sich?"
„Ja. Meinen Militärpass."
Die beiden sahen sich an.
„Sie waren im Felde?"
„Ja."
„Zeigen Sie mal her!"
Rothacker zog seine Brieftasche aus der Jacke, kramte den Pass heraus. Die SA-Leute drehten sich mit dem Rücken gegen das Licht der Straßenlaterne, lasen. Rothacker sah, wie der Große den Jüngeren anstieß.
„Sie waren verwundet?"
„Ja. Dreimal, einmal schwer."
Der Große gab ihm den Pass zurück. Pause.
„Auf wen haben Sie denn da am Bahnhof gewartet?"
„Auf einen früheren Betriebskollegen. Von Siemens. Er wollte versuchen, mir Arbeit zu besorgen."
Die beiden sahen sich wieder an. Der Große nickte.
„Nichts für ungut. - Die Zeiten sind nun mal so, da packt es manchmal auch Unschuldige." Er zuckte mit den Schultern. „Wir tun auch nur unsere Pflicht!"
„Heil Hitler!"
„Heil Hitler!"
Am nächsten Tag. Strubbel ist bei mir. Noch schneller als sonst streicht er fortwährend seine Haare aus dem Gesicht.
„Hat dir Rothacker alles erzählt?"
„Ja."
Strubbel macht eine lange Pause, stützt den Kopf in die Hände. Die strähnigen schwarzen Haare fallen drüber. Hängen ihm immer in die Stirn. Kämmt er sich nie? Ich warte, sehe ihm an, dass er irgend etwas sagen will und mit sich kämpft.
„Et wird schummrich. Ick jehe in die Kolonie, wir müssen die Verbindung haben." Die Worte kommen schwer über seine Lippen. „Edith und der Junge brauch'n ooch Kleider. - Die Schreibmaschine und der Abziehapparat sind ooch noch da. - Kommst mit?"
Die SA hat ein „Überfallkommando" in der Laubenkolonie liegen. Er ist vor vierzehn Tagen ihren Kugeln knapp entgangen. Er will... Ist ja Wahnsinn!
„Nenne uns den Namen eines anderen Genossen. Wir werden versuchen, ihn zu erreichen. Kleider könnt ihr morgen schon haben. Die Apparate holen wir später. Wir, nicht du, Strubbel!"
Strubbel schüttelt den Kopf. Fährt sich wieder und wieder durch das Haar. Redet lange. Er hätte seine „Fahnenflucht" schon lange bereut. Was denn die Kolonisten von ihm denken sollten, die er jahrelang... Ob er etwas Besonderes sei? Alle anderen Genossen wären geblieben. Überhaupt, er müsse sich um die weitere Arbeit dort kümmern. Jawohl! Um die Apparate. Er hätte einen Kolonisten beauftragt, sie zu bergen. Einen kleinen Lahmen. Der gelte dort allgemein als harmloser Blöder. Hätte auch früher nie etwas mit ihnen zu tun gehabt. Zu dem wolle er, der wohne dicht am Waldrand. Der gäbe aber den ganzen Kram nur ihm, traue sonst niemandem.
Ich versuche, ihm die Sache erneut auszureden. Er verstoße gegen die primitivsten Regeln der Konspiration. Ich drohe mit einem Beschluss wegen seiner Disziplinlosigkeit.
Strubbel steht auf.
„Ick jehe", schneidet er mir die Worte ab.
Ich kämpfe mit mir. Kann ich ihn allein gehen lassen? Was ich sagte, gilt auch für mich. Ich bin Funktionär, darf mich nicht auf Abenteuer einlassen. Aber er wird denken, ich sei feige. - Ich nehme den Hut vom Haken.
------Wir gehen über einen sumpfigen Feldweg. Die Füße
saugen sich bei jedem Schritt fest. Zehn Meter Abstand liegen zwischen uns. Strubbel bleibt oft stehen, lauscht. Der Wald kommt. Ich habe Mühe, ihn zwischen Gestrüpp und Bäumen im Auge zu behalten. Plötzlich lässt sich Strubbel fallen. Ich werfe mich hinter eine Brombeerhecke. Zwei SA-Leute fahren am Waldrand auf Rädern vorbei. Karabiner hängen quer über ihre Rücken.
„— und dann hat se mir uff eenmal..."
Sie sind schon ein Stück weiter, nur das Lachen kommt noch herüber.
Dann sind wir in engen Gängen. Verrostete, wacklige Zäune. Niedrige, verschachtelte Lauben stehen dahinter. Strubbel sieht sich um, macht einige große Sätze. Eine Türangel kreischt. -
Die Petroleumlampe wirft «einen gelben Kranz auf den Tisch, taucht den Raum in trübes Dämmerlicht. Es riecht nach Dung und etwas Säuerlichem. Der „blöde" Lahme sitzt mir gegenüber. Sein Kopf liegt tief zwischen den Schultern, die Ohren stehen wie breite Klappen darüber. Seine Arme liegen auf dem Tisch. Sie sind ungewöhnlich lang. Die Handrücken dicht behaart.
„Is alles da", sagt er, „ich warte schon zwei Tage."
Er hat eine helle, dünne Stimme wie ein Kind.
„Wir wollten jestern eenen aus der Kolonie treffen, er kam nich", sagt Strubbel.
„Wer?"
„Dumke."
„Vor drei Tagen verhaftet."
Schweigen.
„Ist die SA ...?"
„Liegt noch bei Schwenke. Zwanzig Mann. Der Schuft ist mit ihnen von Laube zu Laube gegangen. Eber hatten sie auch mitgenommen. Nach zwei Tagen war er wieder hier. Völlig zerschlagen. Sie lassen ihn als Leimrute hier, sagen die Genossen. Wollen sehen wer sich mit ihm trifft."
„Sonst?"
„Haben nichts gefunden. Nach dir haben sie überall gefragt."
Draußen tapsen Schritte vorbei, das kleine Fenster ist nur angelehnt. Wir lauschen. Es ist nichts zu erkennen, nur dass es drei Personen sind, sehen wir. Sie gehen vorbei. Der Lahme kramt in einer Ecke. Kommt wieder an den Tisch.
„Hab ich für dich hier gesammelt."
Ein Zwanzigmarkschein liegt vor Strubbel. Der nimmt zögernd den Schein, will etwas sagen ... grelles Scheinwerferlicht füllt plötzlich den Raum - verschwindet. Ein Motorrad knattert draußen vorbei.
„In der Kolonie ist keins", sagt der Lahme.
Also SA!
„Kannst du vorläufig mit uns Verbindung halten?"
„Ja."
Ich nenne ihm einen Ort, gebe die Zeit an.
„Los, kommt jetzt!"
Wir tappen um die Laube, stehen dann im Stall. Hühner sitzen auf langen Stangen, schütteln sich. Der Schein der Taschenlampe schreckt eine Ziege hoch. Sie glotzt uns an, meckert leise, ihr pralles Euter schaukelt. Der Lahme macht eine verkratzte Truhe auf. Sie ist zur Hälfte mit gelben Futterkörnern gefüllt. Er wühlt darin, zieht zwei große Pakete hervor. Die Schreibmaschine und den Abziehapparat. Wir stopfen sie in die Rucksäcke, die Kleider obenauf.
Es geht durch Beerensträucher, an dem Aborthäuschen vorbei, dann kommt der Zaun. Dahinter Wald. Der Lahme hebt das Drahtgeflecht hoch. -
Zwei Wochen danach zog Strubbel mit seiner Familie in die Gegend von Königs Wusterhausen. Er nahm Arbeit bei einem Bauern. Er konnte sich hier bei uns nicht mehr länger halten.
In den ersten Wochen nach dem Reichstagsbrand hatten wir keine Verbindung mit zentralen Parteistellen. Der ganze Apparat schien auseinandergefallen zu sein. Dazu kam die gerade auf unsere Gegend konzentrierte Terror- und Verhaftungswelle. Wir konnten keine Zeitung herausbringen, nur das Flugblatt zum Reichstagsbrand. Da kein zentrales Material und auch keine Anweisungen kamen, hatten wir uns darauf beschränkt, die zuverlässigen Genossen zusammenzuhalten. Auch unsere beiden Betriebsverbindungen, über Strubbels Laubenkolonie und über Teichert, haben wir aufrechterhalten können.
Vor acht Tagen ist nun in unserem Bezirk eine Stadtteilleitung gebildet worden. Zum ersten Mal bekamen wir gedruckte Zeitungen, die „Rote Fahne", geliefert. Franz' Vorschlag, unsere eigene nächste Zeitung in seinem neuen Bezirk herzustellen, ist von unserer Stadtteilleitung gebilligt worden, wegen der besonders großen Gefahr bei uns. Heute hat unsere neue Stadtteilleitung sogar bei uns angefragt, ob wir einen zuverlässigen Genossen hätten, der mit dem Motorrad Material in die Provinz bringen könnte. Ernst Schwiebus fährt in seinem Parfümgeschäft bei eiligen Lieferungen anstatt mit dem Dreirad mit einem Motorradgespann. Aber eben wegen seiner Arbeit kommt er nicht in Frage. Die Fahrt muss am Tage gemacht werden. Wir kommen auf Ede. Er hätte keinen Führerschein, meint Rothacker, aber er fahre gut. Er sei früher einmal mitgefahren. Es wäre nicht Edes Rad gewesen, der Teufel wisse, woher er es gehabt hätte. Ede sei eben Ede.
Am Nachmittag treffe ich Ede. Er hat Rothackers Anweisung befolgt, ist in „Zivil". Er hat einen blauen Anzug an, trägt einen weichen Hut. Das Glasauge ist eingesetzt. Er schüttelt mir kräftig die Hand.
„Der Erich hat anjejeben. Ick hab mir extra in die Sonntachsschale jeschmissen."
Ich muss lachen.
„Siehst auch wie ein guter Bürger aus."
„Ick fühl mir ooch so, Jan."
Wir biegen in einen Parkweg ein.
„Watt is denn dett für 'ne Karre?"
Ede dreht den Kopf weit herum, sein rechtes Auge sucht mich. Der scheint aufgeregt zu sein, freut sich wohl auf die Motorradfahrt.
„Haben sie nicht gesagt. Der Ort liegt fünfundsiebzig Kilometer entfernt, du sollst in spätestens drei Stunden zurück sein."
Ede verzieht die Mundwinkel, wiegt den Kopf.
„Müsste wenichstens 'ne Fünfhunderter sein." Er lacht. „Drei Stunden - und wenn ick Panne habe?"
Fünfhunderter? Ich verstehe seinen Fachausdruck nicht. Fasse ihn am Arm.
„Fährst du auch sicher? - Es ist keine Spazierfahrt. Du hast eine heiße Ladung mit, mein Lieber."
„Mensch, Jan. Kennst mir lange jenuch!" Ede schüttelt vorwurfsvoll den Kopf. „Ob ick sicher fahre? - Ick war bei's Militär een Jahr lang Motorradfahra."
Richtig, er ist ja auch Mechaniker. Wenn er mal Arbeit bekam, war es immer nur für kurze Zeit. Er kann die feine Arbeit nicht mehr vollwertig machen.
Wir gehen langsam zurück.
„Watt ick noch sagen wollte - Kurgel war bei mir."
„Na, und?"
Kurgel ist der Genosse vom Roten Frontkämpferbund, der mit uns Verbindung hält.
„Er wollte zu Franz. Weeß er denn nich, wo der is?"
„Niemand darf es wissen. Du doch auch nicht. Vereinbare was mit Kurgel und sag mir Bescheid."
„Jut", sagt Ede, und nach einer Pause, „er fragt ooch, ob wir über Dammert watt wissen."
„Nichts Genaues. Er soll im Maikowski-Haus sein."
Dammert ist vor zwei Wochen verhaftet worden. Wegen der Maikowski-Affäre, nehmen wir an.
Wir gehen eine Zeitlang schweigend. Ede lacht plötzlich vor sich hin. Ich sehe ihn fragend an.
„Kurgel hat mir 'ne Sache erzählt! Der Pfeifer-Rudi -kennst'n doch?"
Ich nicke. Es ist auch ein RFB-Genosse, der im Spielmannszug früher Querpfeife blies.
„Der ist doch zur Tarnung mit andern in die Jugend vom Deutschnationalen Kampfring geschickt worden?"
„Damit hängt dett ja zusamm'! Der jeht also vor unjefähr acht Tagen mit eenem Stahlhelmer von dett Werbelokal zu Hause. Beede war'n in Uniform, in die blauen Hemden mit de Hakenkreuzbinde am Arm. Red' der Dollbräjen Rudi den janzen Weech de Ohr'n voll. Een richtijen Kommunisten möcht er mal in'e Knochen ham. Dem würde er's jeben. De Fresse würde er ihm breitschlagen und so weita. Er red' und red'. Rudi kommt langsam in Wut. Uff eenmal holt er aus und langt dem ,Kameraden' eene, noch eene. Er hat'n richtich fertichjemacht."
Ede lacht laut, klatscht sich mit der Hand auf den Schenkel.
„Und du hältst das noch für eine große Tat?!"
Ede ist ein guter Genosse, aber er ist eben Ede. Er würde in solchen Augenblicken also genauso handeln. Eben habe ich mit ihm die Motorradfahrt vereinbart. Kann ich das überhaupt verantworten?
„War natürlich Blödsinn", sagt Ede, „sie ham ihn verhaftet, klar." Er tippt sich gegen die Brust. „Aber ick kann den Jung vastehn. Mir war ooch der Kaffee hochjekomm'!"
Ede macht eine Pause, schüttelt den Kopf.
„Nich mal die Fahne kann ick jrüßen", fängt er wieder an. „Ick jeh in een Haus, wenn so 'n Zuch kommt."
Ich sehe ihn an. Selbst das starre Glasauge scheint seinen Widerwillen auszudrücken. Seit einigen Wochen ist eine Verfügung heraus, dass die im Marschzug mitgeführten Hakenkreuzfahnen von allen „Volksgenossen" gegrüßt werden müssen. Andernfalls sie sich marxistenverdächtig machen, hieß es weiter. - „Neulich konnte ick keen Haus mehr erreichen", sagte Ede wieder, „da hab ick se den Arsch jezeicht!"
„Du bist verrückt! Gebückt hast du dich?!"
„Quatsch. Ick wer mir schnappen lassen, watt. Umjedreht hab ick mir."
Ich muss nun doch lachen.
„Watt denn, watt denn?" fragt Ede.
„Denkst du, die haben gewusst, was das bedeutet?"
„Ick hab et jewußt, dett jenücht mir!" sagt Ede beleidigt.
Ü ber das Maikowski-Haus gingen bei uns in all den Wochen Gerüchte um, dass die verhafteten Genossen dort furchtbar gefoltert würden. Wir hatten aber nie Einzelheiten gehört. Wussten nie genau, wer von den verhafteten Genossen dort war.
Gestern aber sprach ich mit X. Er hatte Ernst Schwiebus um eine Unterredung mit mir gebeten. Ich habe lange überlegt, ob ich mich mit X treffen soll, ging aber dann doch. Schwiebus versicherte mir, er hätte unbedingt den Eindruck, dass X es ehrlich meine. X war früher in einer unserer Massenorganisationen. Nach der Reichstagswahl am 5. März sahen wir ihn plötzlich in SA-Uniform herumlaufen. Wir mieden ihn, warnten alle Genossen.
X hat mir gestern erzählt, dass er von seinem Meister gezwungen wurde, in die SA einzutreten. Der Meister erklärte ihm, er könne nur noch SA-Leute beschäftigen. X ist Bäcker. Er arbeitet seit vielen Jahren in dieser Bäckerei. Er wollte seine Familie nicht in Not bringen. Seine Frau ist oft krank, er hat zwei Kinder. „Ich bin nicht im Sturm 33, gehöre nur zur Standarte West", sagt X. (Er trug auch eine andere Sturmnummer am Braunhemd, zeigte mir außerdem seinen SA-Ausweis.)
„Ich bin in der SA-Reserve, weil ich über fünfunddreißig Jahre alt bin. Ich gehe sonst nicht in die Maikowski-Kaserne. An dem Abend aber hatte man mich hinbestellt. Ich sollte eine Kassiererfunktion übernehmen —." X machte eine Pause. Ich drängte ihn nicht, ich merkte, dass alles schwer aus ihm herauskam.
„Wir saßen an den Tischen, viele spielten Karten, einige lasen Zeitung. Plötzlich flog die Tür auf.
,Der Sturmführer', schrie einer.
Da sprangen alle auf. Es war wirklich der Sturmführer. Ein paar Dreiunddreißiger waren bei ihm, sie hatten zwei Zivilisten in der Mitte.
Ein SA-Mann schrie: ,Der links ist Trompetenkarl vom RFB!' Ich sah, wie der eine Verhaftete zusammenzuckte."
X brach dann ab. Er zuckte selbst zusammen. Er fuhr fort:
„Der ganze Haufen schob sich zur Raummitte. Der Sturmführer setzte sich auf einen Tisch, er stemmte die Schaftstiefel auf die Bank. ,Nun wollen wir uns mal ein bisschen unterhalten', sagte er zu dem Burschen, den sie Trompetenkarl genannt hatten. So einen Schwarzhaarigen. Er zeigte dann auf den anderen Zivilisten.
,Den stellt in die Ecke. Wir haben ihn eben erst vor der Haustür aufgegriffen. Er soll sich den Betrieb mal ansehen -mehr wie ein Paar trockene Unterhosen wird's nicht kosten. Dabei wird ihm das Herumschnüffeln vergehen.'
Die ganze SA lachte. Es war ein kleiner dicker Mann. Er zitterte jämmerlich. Er hatte so eine steife Melone. Die drehte er in den Händen. Er sah verstört umher. Es sah aus, als ob er zu weinen anfangen wollte.
,Herr Sturmführer ... Herr ... ich wollte bloß nach Hause gehen ... Ich ...', so stotterte er.
,Maul halten!' brüllte der Sturmführer.
Ein SA-Mann zog dann den Dicken beiseite. Dann haben sie sich den Schwarzen wieder vorgenommen. Der Sturmführer schrie:
,Du bist einer der feigen Banditen, die unseren Hanne auf dem Gewissen haben - du bist aus dem Rotmordverein! Los, sag allen deinen Namen - wie heißt du?!'
Der sagte ganz ruhig: ,Kurgel.' Er sagte weiter: ,Ich war früher im RFB. Mit dem Fall Maikowski habe ich nichts zu tun - da war ich gar nicht in Berlin.'" (Ich schreckte zusammen, als ich den Namen hörte, verbiss es aber. X brauchte nicht zu merken, dass ich Kurgel kannte. Denn dass Kurgel verhaftet worden war, wussten wir. Ede hatte ihn nach unserer Besprechung nicht mehr erreicht. Die Hausbewohner hatten ihm erzählt, dass ihn die SA spätabends geholt hatte. Wo er aber war, wussten wir nicht. Auch der Verhaftungsgrund war uns rätselhaft.)
„Die ganze SA war näher an den Kurgel herangerückt, als der Name Maikowski fiel. Der Sturmführer aber schob sich dicht an ihn heran.
,Wo ist Zander? - Franz Zander?!' fragte er ihn dann plötzlich." (Wegen Franz hatten sie ihn also verhaftet. Ich verbarg meine Erregung.)
„Der Kurgel sah ihn an. Blieb aber stumm.
Der Sturmführer drohte ihm: , Wird's bald? Oder sollen wir nachhelfen?!'
Aber dieser Kurgel sagte: ,Ich kenne keinen Franz Zander.' Er sprach dabei ganz anders, so mit dunkler Stimme. Aber fest. Ich merkte ihm an, er hatte in den paar Sekunden einen Entschluss gefasst. Das Gesicht des Sturmführers wurde blaurot vor Wut. Er holte aus, schlug Kurgel die Faust ins Gesicht. Dem kam das Blut in dicken Tropfen aus der Nase, lief auf sein Hemd.
Der Sturmführer fing jetzt schon an zu brüllen: ,Du kennst keinen Zander? - Du lügst, du Lump!'
,Nein!' sagte der Kurgel noch mal.
,Der hat Mumm', sagte einer leise hinter mir.
,Dammert aus dem Koller holen!' befahl der Sturmführer."
(Hier unterbrach ich X: „Hast du richtig gehört - Dammert?") „Ja. Dammert!"
(Dammert hatte ihn also denunziert. Und zwei Tage vorher hatte Kurgel Ede noch gefragt, ob wir wüssten, wo Dammert sei.)
„Zwei SA-Leute liefen fort. Der Sturmführer war vom Tisch gesprungen, lief aufgeregt hin und her. Da kamen die SA-Leute mit dem Dammert. Sie zogen ihn halb. Er sah furchtbar aus. Sein Gesicht war vollkommen verschwollen, mit geronnenem Blut bedeckt. Die Kleider hingen ihm bedreckt und zerfetzt am Leibe.
Der Sturmführer schrie: ,Gegenüberstellen!'
Sie zerrten den Dammert in den Kreis. Der Sturmführer stellte sich vor die beiden. Er stieß den Dammert gegen das Kinn.
,He! Wach mal auf! - Ist das der Kurgel hier? Zanders Helfer?!' fragte er.
Der Dämmert hob schwer den Kopf. Sein Blick war so: Verzeih mir - ich kann nicht mehr. Der Dammert nickte dann müde mit dem Kopf.
Der Sturmführer lachte: ,Dem ist die Kur schon ganz gut bekommen, was?' Er drehte sich zu dem Kurgel um. „Willst du noch immer leugnen, du Lump! Heraus damit! Wo steckt Zander?!' schrie er."
(X fragte mich, ob ich Zander kenne. Ich habe natürlich nein gesagt.)
„Ja, ich kenne Zander - weiß aber nicht, wo er ist', sagte Kurgel dann. Es klang ganz verzweifelt. Er wusste wohl, dass sie ihm nicht mehr glauben würden, nachdem er erst angegeben hatte, er kenne ihn nicht. Der Sturmführer fuchtelte Kurgel vor Wut mit den Fäusten vor dem Gesicht herum, auch die SA war erregt geworden.
,In die Zange nehmen - Peitsche riechen lassen!' schrieen einige.
,Der Junge hat Nerven, verdammt hat der Nerven', sagte der eine wieder hinter mir. Es war ein ganz Großer, mit zusammengewachsenen Augenbrauen. Sie nannten ihn .Antenne'.
Der Kurgel aber sah immer starr geradeaus. Er blutete immer noch.
Der Sturmführer sagte: ,Du kennst ihn nun ja schon, weißt aber immer noch nicht, wo er ist?' Er knöpfte langsam seine Pistolentasche auf, nahm den Revolver heraus. Er schob die Sicherung zurück, hielt Kurgel den Revolver vor. Er schrie ihn an: ,Zwei Minuten hast du für dein Gedächtnis noch Zeit!'
Der Kurgel stand ganz still, sagte kein Wort."
(Ich musste die Zähne zusammenbeißen, um X nicht merken zu lassen, dass ich die Genossen alle kannte. Kurgel - er wusste ja wirklich nicht, wo Franz war!)
„Der Sturmführer brüllte: ,Gesicht zur Wand!'
Sie rissen den Kurgel herum. Er stand ganz ruhig, er sah die Wand an. Der Sturmführer schoss zweimal. Der Kalk spritzte. Ich war mit den andern SA-Leuten zurückgegangen. Er hatte absichtlich danebengeschossen. Sie rissen den Kurgel wieder herum.
Der Sturmführer schrie ihn wieder an: ,Hast dir's überlegt? Sonst wird's ernst! Wo steckt der Zander?!' Der Kurgel sah ihm starr ins Gesicht. Der Sturmführer rief: ,Die Streichelriemen bringen!' Dann rief er: ,Antenne!' Das war der Große, der die Bemerkungen gemacht hatte, der mit den Augenbrauen.
,Hast du gut Abendbrot gegessen?' fragte ihn der Sturmführer.
Da lachten alle.
Der SA-Mann, die »Antenne' lachte aber nicht. Der sagte: ,Besser ist aber, wenn sie sich gegenseitig »streicheln«.' Der Sturmführer sagte: ,Hast recht.' Und ich bin der Meinung, sagte X, dass die ,Antenne' nicht schlagen wollte. Er wollte einfach nicht. Es gibt doch solche unter ihnen, wenn der Verhaftete tapfer ist, dann finden sie es manchmal feige, ihn zu schlagen.
Zwei SA-Leute kamen mit dicken Lederpeitschen. Der Dammert wurde über eine Bank gelegt. Dann zogen sie ihm das Hemd über den Kopf. Sein ganzer Rücken hatte blutunterlaufene Striemen. Der Sturmführer gab dem Kurgel eine Peitsche. Und er sagte:
,Reden willst du nicht, jetzt betreu du deinen Genossen damit. Bis du dir's überlegt hast!' Er drohte ihm mit der Faust."
X stand selbst vom Stuhl auf und drohte auch so mit der Faust.
„,Wenn du nicht schlägst, kommst du dran. Also!'
Sie stießen den Kurgel zur Bank. Er stand ganz regungslos. Da wurden alle still.
Der Sturmführer fuhr ihn an: ,Na, wird's bald?!'
Und ich", sagte X, „ich hatte immerzu Angst, die andern müssten hören, wie mein Herz in mir schlägt.
Der Kurgel aber rührte sich nicht. Alle waren wieder ganz still. Und da stöhnt doch der Dammert: ,Schlag doch... schlag doch...'
Da sank dem Kurgel der Kopf auf die Brust. Plötzlich aber drehte er sich um, und er warf dem Sturmführer die Peitsche vor die Füße. Da packten sie ihn und zerrten ihn über die Bank. Der Sturmführer selbst schlug. Der Kurgel schrie so, dass ich mir die Lippen zerbissen habe, um stillzubleiben. Dann röchelte er und wurde ganz ruhig. Er war ohnmächtig geworden." -
Wir saßen lange stumm. X sagte dann schließlich, ich solle aber keinen Gebrauch von alledem machen, er befürchte dann das Schlimmste für sich. Mit uns ständig in Verbindung zu bleiben, lehnte X ab. Er sei nur in der SA-Reserve, erfahre nicht soviel. Ich brachte ihn aber doch so weit, dass er sich in großen Abständen bei Schwiebus im Parfümgeschäft melden will. -
Ich weiß, was mir geschieht, wenn ich mit diesen Aufzeichnungen in die Hände der Nazis falle. Die ganze vorige Woche schrieb ich nicht. Ich war nahe daran, alles zu verbrennen. Die Schwierigkeiten schienen mir zu groß. Ich habe versucht, mir zum Schreiben eine andere Wohnung zu besorgen. Doch es könnte nur bei Genossen sein. Sie stehen aber wie ich in der illegalen Arbeit. Auch bei ihnen kann eine plötzliche Haussuchung gemacht werden. Dann hätte ich sie auch noch damit belastet. Mein Platz, an dem ich die geschriebenen Seiten aufbewahre, ist auch nicht unbedingt sicher. - Aber in dieser Woche, in der ich nicht schrieb, kam ich innerlich auch nicht zur Ruhe. Ein seelischer Druck lastete auf mir, zwang mich, jetzt weiterzuschreiben. - Ich muss das alles aufschreiben! Es muss uns gelingen, dieses Manuskript in das Ausland zu bringen. Es muss helfen, das Gewissen der Menschen wachzurütteln.
Gestern traf ich Franz in seinem neuen Bezirk. Ich habe ihm sofort den Bericht von X erzählt. Er hörte schweigend zu.
Franz brachte mich dann dort zu Genossen, bei denen ich heute nacht schlafen soll. Wir wollen uns dann gegen Morgen treffen, um unsere Zeitung abzuziehen. Schon gestern auf dem Heimweg hatte ich den Gedanken, Käthe in ihrem Büro anzurufen. Wenn ich sie in diese Gegend bestelle? Ich könnte endlich wieder mit ihr zusammen sein. Sie hat mir ständig sagen lassen, dass sie nichts von einer Beobachtung gespürt hat. Aber darf ich sie trotz alledem mitnehmen? In eine Wohnung, die für mich Ausgangspunkt der Arbeit sein soll? Ich habe lange geschwankt, mir selbst „Verteidigungsgründe" geschaffen - einmal wird es gehen; sie sagt, dass sie keine „Beschattung" merkt -, aber immer wieder kamen die politischen Bedenken. Nun habe ich sie heute aber doch angerufen.
Ich gehe langsam durch die Straßen. Es ist schon warm. Die Sonne liegt noch auf den Fensterreihen der Häuser. Die Tage sind ja schon länger. Auf der Tauentzienstraße gehen die Fußgänger in dichten Reihen. Wie immer. Die Frauen tragen Frühjahrskleider. Die Lokale sind überfüllt, viele SS-Offiziere sitzen zwischen den Gästen. Hinter den Schaufenstern der Läden stehen Schilder: „Deutsches Geschäft!" -„Deutsche Waren! Rein deutsche Wertarbeit!" Hitler-Bilder, in schweren Gold- und Silberrahmen, teilweise grün umkränzt, stehen hinter den Schildern. Viele Ladenbesitzer grenzen sich gegen die plötzliche „Schmutzkonkurrenz" ab. Ihre Schilder sind größer:
„Altes nationalsozialistisches Geschäft seit..." In einem Schaufenster sieht Hitler ernst, mit verschränkten Armen, auf die um ihn gruppierten, seltenen (entsprechend teuren) Blumen. Hinter ihm steht eine große, rot beleuchtete Glaskugel, in der Schleierschwänze und Goldfische schwimmen. Auch dieser Ladeninhaber beteuert auf einem Schild, dass seine Blumen und Fische schon immer deutsch gewesen seien.
Käthe ist schon in dem Cafe. Ihre Augen glänzen auf. Sie wird rot vor Freude.
„Den Platz habe ich mit vieler Mühe gehalten, mein Lieber."
Sie spricht sicher nur, um etwas zu sagen. Ich bin über die Begrüßung nicht hinausgekommen. Wir haben uns so lange nicht gesehen, jetzt bringe ich aber kein Wort heraus. Ich nehme nur ihre Hand. Von vorn kommt bisweilen das schrille Klingeln der Kasse. Mädchen mit weißen Hauben laufen hin und her. Mir ist ruhig. Wenn nur die Zeit nicht so kurz wäre. Ein Zeitungshändler geht mit hoch erhobenem Arm durch die Reihen.
„Geben Sie mal."
„Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums!"
Ich fange dann doch an zu lesen. Ich lasse sogar Käthes Hand los.
„Die neue Firma verteilt die Posten", sage ich.
Wir gehen, Käthe hängt sich fest in meinen Arm. Sie trägt ein helles Frühjahrskostüm, ein buntes Dreiecktuch um den Hals. Ich freue mich.
„Nach vorn sehen, Jan. Wir rennen ja die Leute um."
„Heute geht's nicht anders - ich kenne dich doch fast nicht mehr."
„Wohin gehen wir eigentlich?"
„Wirst ja sehen."
Lange gehen wir schweigend. Ich biege in eine kleine Nebenstraße ein.
„Jan?"
Ich schrecke aus meinen Gedanken. Die Bedenken waren wieder da. Unsinn. Es ist uns niemand gefolgt, ich habe das letzte Stück Weg aufgepasst.
Die Treppe ist breit und ausgetreten. Von den Wänden ist der Kalk in großen Stücken abgeplatzt. Es riecht nach gebratenen Zwiebeln. In jedem Stockwerk liegen im Halbkreis vier Türen. Ich läute.
Die Genossin Lamprecht, eine kleine dunkle Frau, öffnet.
„Da sind wir."
„Man rein", sagt sie freundlich und lässt uns vorbei.
Wir gehen durch einen langen Korridor. In der offenen Stubentür steht ihr kleines Mädel. Das Licht der Lampe liegt hell auf dem blonden Kopf.
„Onkel Karl - Onkel Karl!"
„So heiße ich nämlich hier", sage ich leise zu Käthe.
Lamprechts essen gerade Abendbrot. Der Mann sitzt in einem blaukarierten Hemd hinter dem Tisch. Er hat die Ärmel hochgekrempelt. Er ist groß und breit gebaut, sieht sehr jung aus. Wir schütteln uns die Hände.
„Das ist also Käthe."
„Kurt - Erna", sagen die beiden.
Erna hat eine weiche, verquollene Hand.
„Ich war waschen", sagt sie.
„Und ich trage Kohlen", lacht Kurt, „bei mir gibt's also auch genug zu waschen."
Wir setzen uns.
„Wollt ihr eine Tasse Kaffee mittrinken?"
„Danke, wirklich nicht."
Das kleine Mädel steht bei der Mutter, sieht aber Käthe an.
„Wie heißt du denn?" fragt Käthe.
Sie kommt zögernd näher. Käthe nimmt sie auf den Schoß.
Wir wollen auch mal zusammen wohnen. Ein gedeckter Tisch, ein Zimmer.
„Was gibt's Neues, Kurt?"
„Auf dem Kohlenplatz? Nichts. Rudi war kurz vor euch hier, hat den Rucksack und den Anzug gebracht. Du sollst pünktlich sein, drei Uhr."
„Sonst hat er nichts gesagt?"
„Nein."
„Dann wird's ja klappen. Sind tüchtig, eure Jungs."
Kurt erzählt dann doch von seinem Kohlenplatz. Er beliefere den größten Teil der Kollegen mit illegalen Zeitungen. Die Kutscher nähmen sie dann zu den Spreekähnen mit.
Wir reden noch lange. Ich frage Kurt noch dies und jenes, aber ich höre seine Antworten nur noch halb.
„Ich werde dir noch meine vier Wände zeigen", sage ich endlich zu Käthe.
Wir gehen den Korridor ein Stück zurück. Ich klinke die Tür auf, zünde die Petroleumlampe an. Eine Kommode, auf der eine Waschschüssel steht, ein schmaler Tisch, ein Stuhl. Rechts an der Tür steht ein Feldbett. Vergilbte Bilder aus Illustrierten sind darüber mit Reißnägeln angeheftet. Ich lege mich halb auf das Feldbett, verschränke die Arme unter dem Kopf. Käthe geht schnell zum Fenster, sieht hinaus.
„Klein, was?"
Käthe nickt, setzt sich neben mich. Ich lege den Arm um sie. Sie zeigt auf den Stuhl. Ein blauer Monteuranzug. Ein Rucksack.
„Wozu braucht ihr denn das?"
Ich lege die Hände um ihren Hals, ziehe ihren Kopf herunter.
Ihr Haar hängt über unsere beiden Gesichter.
Unser Atem geht ineinander. - Aber es denkt doch immer weiter in meinem Kopf, denkt ohne mich weiter: vielleicht war's doch falsch, hier in diesem Zimmer.
Die Straßen sind menschenleer. An den hohen gußeisernen Masten hängen die Leuchtglocken rötlichgelb im Morgengrauen. Mich fröstelt. Ich mache große Schritte. Lange Taxireihen stehen an den Straßenecken. Die Chauffeure haben die Mantelkragen hochgeschlagen. Die meisten schlafen zurückgelehnt. Sie warten auf verspätete Zecher. Hier im Westen gibt es viele Tanzdielen und Barstuben. Rot und grün flammen ihre Leuchtbuchstaben. Sie haben Eingänge im Rokokostil, manche kleine dicke Butzenscheiben. Plakate hängen davor: „Kapelle Soundso spielt zum Tanz!"
Franz wartet mit Rudi und Bruno schon an der Ecke. Auch sie sind in blauen Monteuranzügen. Über Rudis Schulter hängt eine große lederne Werkzeugtasche. Die andern haben Rucksäcke. Sie schütteln mir die Hand. „Morjen, Karl."
„Los, ab geht die Post", sagt Bruno.
An der Ecke stehen zwei Schupos. Sie sehen uns nach.
„Wenn die wüssten, au Backe", sagt Rudi leise.
Bruno lacht. Seine Knollennase wird noch breiter. Er war bei den Fichteboxern, daher die Nase, hat mir Franz erzählt.
Rudi kommt an meine Seite.
„Wir sind Monteure der Firma Schindler & Co., Bülow-straße 3. Schlosserarbeiten für die Bühnendekoration. Verstanden?"
„In Ordnung."
„Wie viel ham wir denn diesmal?"
„Sechshundert."
„Die Reinemachefrauen kommen später. Schaffen wir's bis dahin?"
„Klar, allemal."
Schweigen. In Rudis Werkzeugtasche klappert Metall.
„Hier ist der Puff", sagt Bruno.
Blaue Leuchtbuchstaben sind an dem Haus: „Spanische Rose."
Links von dem Lokaleingang ist eine kleine Eisentür. Ein Messingknopf daneben. „Nachtklingel" steht schräg darüber.
„Jetzt die Klappe halten", sagt Rudi.
Der elektrische Türkontakt schnarrt. Wir gehen in einen schmalen Gang hinein. Eine matte Birne brennt an der Decke. Ein Stück weiter ist ein kleines Fenster. Es steht auf. Rudi steckt den Kopf hinein. „Heil Hitler!"
Es ist ein kleiner Raum. Eine Taschenlampe mit grünem Glasschirm brennt auf einem Schreibtisch. Ein dicker Mann steht in Hemdsärmeln vor einer Waschschüssel. Er hat schwarze Hosen an, dicke goldene Troddeln hängen an den Seiten. Die Jacke, mit ebensolchen Tressen, hängt über einem Stuhl. Der Dicke hat ein Handtuch in der Hand. Auf seinem feisten Gesicht brennen rote Flecken, seine Nase ist blauviolett.
„Heil Hitler!" sagt er mit Bassstimme. „Wieder da? Ich will gerade abrücken."
Er fährt sich mit dem Handtuch über die Glatze, sein Bauch schwabbelt in der Hose.
„Mit Verstärkung", sagt Rudi, „wir wollen heute fertig werden."
„Gut, gut, ihr kennt ja den Weg", brummt der Dicke.
Wir gehen durch eine Küche. Die weißen Fliesen leuchten, links stehen zwei große elektrische Herde, eingebaute Kühl-und Wandschränke. Durch eine geschliffene Glastür kommen wir in einen länglichen Raum. Es riecht nach kaltem Rauch. An den Wänden sind kleine Kojen. Schwere rote Samtportieren hängen davor. Ein Vorhang ist zurückgeschlagen. Zwei tiefe Klubsessel stehen um einen niedrigen runden Tisch. Eine halbe Zigarre mit dicker Bauchbinde liegt auf einem blanken Rauchservice. Die Tischdecke hat einen großen Weinfleck. Der nächste Raum ist eine Barstube. Langbeinige Hocker stehen vor dem gebogenen Mixtisch. Die Nickelhähne blitzen. In dem Spiegel der Anrichte spiegeln sich lange Reihen dickbauchiger Flaschen, einige sind mit Bastgeflecht umhüllt.
„Für die feinen Pinkels", sagt Bruno und bleibt stehen.
„Weiter zum Kabarettsaal", drängt Rudi, „jede Minute fehlt nachher."
Der Saal hat in der Mitte eine glänzende Tanzfläche. Rechts ist ein Podium. Ein Flügel, zwei Reihen Stühle und Notenständer stehen darauf. An den Saalseiten stehen silberlackierte Tische und geschweifte Stühle. An den Wänden sind gleichfarbige Beleuchtungskörper mit Kristallschalen angebracht. Sie heben sich von den mit dunkelblauem Tuch bespannten Wänden hell ab.
Bruno rückt einige Tische zusammen, legt eine Decke auf den Stuhl daneben.
„Los, die Nudelkiste uffbaun. Falls jemand kommt, schmeißt ihr die Decke über den Kram."
„Der Paradeonkel war der letzte", meint Rudi.
Bruno pfeift durch die Zähne.
„Der letzte. - Hat meine Mutter ooch jesacht - nachher war't doch wieder soweit."
Rudi zeigt auf die kleine Bühne im Vordergrund.
„Könnt ruhig poltern, wir machen schon genügend Schlosserlärm."
Er geht mit Bruno nach vorn. Ich packe mit Franz den Greif-Abziehapparat aus, nehme die Wachsplatten aus dem Rucksack. Wir hatten sie zwischen Pappe gelegt, sie sind ganz glatt geblieben. Mumm haben die Jungens, als ob nicht 'zig Jahre Zuchthaus für jeden fällig sind, wenn's schiefgeht.
Franz streicht mit der Farbentube die Gazescheibe des Sprungdeckels ein. Dann heften wir die Wachsplatte mit Reißnägeln straff auf den Apparat.
„Legst immer von der Seite an, Karl. Ich ziehe rüber. Sieh mal, so", sagt Franz. „Geht am schnellsten."
Er legt einen Bogen an, die Gummiwalze rollt.
Wie er die Namen auseinanderhält! Ich bin hier ganz selbstverständlich „Karl" für ihn.
„Es muss ruck-zuck gehen. Anlegen, rüberziehn, anlegen, rüberziehn."
Wir prüfen den ersten Abzug.
DIE ROTE FAHNE
steht groß über der Seite.
„Bißchen fett, schmiert", sage ich.
„Die nächsten werden ..." Vorn fangen die beiden an zu hämmern. Ich nicke nur.
Nach einem Dutzend Bogen habe ich das Arbeitstempo weg. Anlegen - Franz feuchtet die Gummiwalze an - zieht rüber - Sprungdeckel hoch - Abzug weg - anlegen. Die fertigen Seiten häufen sich auf dem Nachbartisch.
Die rote Fahne - die rote - die rote – Auf der Bühne hämmern sie auf einen Eisengegenstand. Der Saal dröhnt. Rechte Hand abnehmen - linke neuer Bogen - geraderücken - Klappe runter - Franz! - rechte Hand abnehmen - meine Hände gehen wie Hebel hin und her.
Was hat neulich in der Pressekorrespondenz der Berliner Bezirksleitung gestanden? „Aus einem geheimen Bericht der Gestapo: Wir müssen bei unseren Beobachtungen und Zugriffen schneller und präziser werden. Es hat sich gezeigt, dass wir hinter den ständig wechselnden Methoden der Kommunisten nachklappen..."
Vor zwei Stunden hat hier die Jazzband gespielt. In den Kojen dort hinten haben vielleicht zwei hohe SA- oder SS-Uniformen gesessen. Jetzt „nudeln" wir hier. Dutzende Abziehapparate sind vielleicht in diesem Augenblick in der Stadt in Bewegung. Göring lässt verhaften, „auf der Flucht erschießen". Flugblätter und Zeitungen sind aber immer wieder da. Rechte Hand - linke Hand - Bruno klettert von der Bühne. Er steht vor uns, wippt mit dem Hammer. Die Gummiwalze rollt, meine Hände greifen. Brunos Gesicht ist schweißig und verschmiert. Er grient. Seine Boxernase wird noch breiter.
„Flutscht, watt? Kann schon 'n Drittel sein." Er nickt zu dem fertigen Stapel hin, geht wieder.
Wir arbeiten schweigend. Der Stapel leeres Papier wird langsam kleiner. Vorn dröhnen die Hämmer. Bisweilen rufen sich die beiden etwas zu. Ich kann aber nichts verstehen. Vielleicht auch nur „Theaterlärm". Die Jungs sind richtig!
Als wir die letzten Bogen anlegen, sehe ich nach der Armbanduhr. Es ist kurz nach sieben Uhr. Meine Augen schmerzen, die Arme sind lahm. Bei jeder Bewegung zieht es in den Schulterblättern.
„Geschafft", sagt Franz.
Er fährt sich über die Stirn. Ein schwarzer Farbstreifen bleibt zurück. Er biegt den Rücken nach hinten.
„Am besten, du haust gleich ab, Karl."
„Natürlich."
Wir packen zusammen. - Draußen poltert es plötzlich. Wir fahren herum. Vorn hämmern sie weiter, sie haben nichts gehört! Franz sieht mich starr an. Sein Oberkörper ist wie zum Sprung geduckt. Ich werfe die Decke über die Tische. Wie gebannt sehen wir auf die Tür rechts. Vorn hämmern sie immer noch!
Die Tür fliegt auf. Eine Frau mit Schrubber und Wassereimer steht im Türrahmen.
„Morjen", sagt sie und nickt.
Franz stößt zischend die Luft aus. Sein Rücken entspannt sich, als sei eine Last von ihm gefallen.
„Morjen", sagt er vergnügt.
Ich nicke nur. Der Schreck ist mir doch in die Knochen gefahren. Die Frau geht wieder. Ich verschnüre meinen Rucksack.
„Hallo! Hallo!" ruft Franz.
Das Hämmern vorn bricht ab, die beiden kommen polternd herunter.
„Karl geht."
„Servus dann, ,Hilfsmonteur'", sagt Rudi. Sein rotes Haar ist verklebt, auf seinem Sommersprossengesicht stehen Schweißperlen.
„Lass zu Haus 'n schönen Gruß bestellen", sagt Franz.
„Ja, danke."
Ich sehe ihn nicht an. Beschäftige mich mit den Rucksackriemen. Ich habe ihm von meinem Zusammentreffen mit Käthe nichts erzählt. Wird er wohl doch von Lamprechts erfahren - dann ist's „verjährt".
Ich nehme einen Autobus. Beobachte, wer mit mir einsteigt. Ein junger Mann, mit einer goldenen Brille, und ein junges Mädchen. Der schmale Platz vorn im Wagen neben der Scheibe des Chauffeursitzes ist frei. Ich setze mich. Habe so den ganzen Wagen vor mir, kann die beiden im Auge behalten. Wie selbstverständlich einem diese kleinen Tricks schon sind! Bei den Transporten darauf zu achten, dass man nicht „beschattet" wird, ist auch das Wichtigste, mein Lieber. - Rechts von mir sitzt ein SA-Mann. Warum starrt der mich denn immer an? Unsinn. Der döst. Der schläft halb, hat ganz kleine Augen. Der Lange mit der Brille steigt bald aus. Einige Stationen weiter das Mädchen.
Als ich durch die Straße gehe, freue ich mich plötzlich über die gelungene „Nudelei". Die Genossen werden mit mir zufrieden sein.
Bis jetzt ist es keinem von uns gelungen, mit sozialdemokratischen Genossen eine wirklich feste Verbindung herzustellen. Zwei von uns, Teichert und Schwiebus, waren noch der Meinung, dass eine Zusammenarbeit erst möglich ist, wenn die anderen jetzt einsehen, dass unser Urteil über die Jahre „der Kleineren-Übel-Politik" richtig war. Meiner Ansicht nach muss man jetzt alles Trennende zurückstellen. Wir müssen in Diskussionen alles herausarbeiten, was uns eint. Die Nazis haben die Macht an sich gerissen, weil die Arbeiterschaft sich nicht zum gemeinsamen Kampf finden konnte.
Wir kennen aus früheren Diskussionen sozialdemokratische Genossen. Einige von ihnen sind so eingeschüchtert, dass sie sich nicht einmal in ein politisches Gespräch mit uns einlassen. Bei andern wieder wissen wir nicht, ob sie noch „echt" sind. Aber das fürchten die sozialdemokratischen Genossen wohl auch bei uns.
Ü bergelaufene gibt es bei ihnen und bei uns. Unser Genosse, der bei Brenninckmeyer Verkäufer ist, der „Konfektionär", sprach wieder mit seinen beiden Gewerkschaftskollegen. Sie erklärten ihm, dass illegale Arbeit jetzt sinnlos sei. Die sich kennen, müssten jetzt zusammenhalten, nichts weiter. Er konnte auch nur dem einen eine Zeitung verkaufen, der andere hatte Furcht.
Vor zwei Tagen habe ich nun Joachim von der Stadtteilleitung über unsere Einheitsfrontarbeit berichten müssen. Er versprach, mich mit Alex zusammenzubringen. Alex hat schon Fühlung mit einigen sozialdemokratischen Genossen, die in eurem Gebiet wohnen, sagte er. Ich habe nie mit Alex zusammen gearbeitet, ich kenne ihn aber schon lange. Er war früher Leiter einer unserer Spieltruppen.
Heute nun traf ich Alex. Ja, er habe Verbindung, sagte er. Er sei aber auch noch nicht über Gespräche hinausgekommen. Die sozialdemokratischen Genossen seien sehr misstrauisch. Ich müsste Geduld haben, es könne Wochen dauern, bis er mich mit einem von ihnen zusammenbringen könne. Diese Genossen wollten prinzipiell mit niemandem zu tun haben, den sie nicht lange kennen. Ja, Zeitungen verkaufe er ihnen schon, meinte er. Wir verabredeten dann einen regelmäßigen Treff, der immer für einen bestimmten Wochentag gilt und bei dem von einer zur andern Woche nur die Stunde wechselt. Alex erzählte mir dann folgende Geschichte:
„Ich stand auf dem Arbeitsnachweis. Es war eine lange Reihe. Hinter mir stand ein kleiner glatzköpfiger Mann. Ich merkte schon eine ganze Weile, dass er mich dauernd ansah. Kennt der mich etwa? dachte ich. Da sagte der Kleine plötzlich leise zu mir: ,Na, Herr Meyer, mit den Bühenvorträgen ist's nun ganz aus.' Er griente so. Mir wurde ganz anders, kann ich dir sagen.
,Bühnenvorträge?' sagte ich. Ich lachte. ,Sie verwechseln mich mit irgend jemandem, ich bin Schlosser.'
Der Mann griente wieder und zwinkerte mit den Augen. Mensch, weggehn kannst du doch jetzt nicht, überlegte ich. Mir war, als wenn ich mit Nadeln gepiekt würde, mein Junge.
Da sagte der Kleine wieder: ,Kennen Sie mich denn wirklich nicht mehr?'
,Nein', sagte ich, ,habe Sie nie gesehen.'
Er sagte: ,Überlegen Sie mal, ist noch nicht lange her.'
Ich konnte gar nicht richtig überlegen, sage ich dir. Dachte bloß immer: Mensch, der kann dich jetzt hopsjehn lassen. Irgendwie kam er mir nun doch bekannt vor. Der konnte sich wohl denken, was in mir vorging. Er sagte leise: ,Sie brauchen keine Angst zu haben, vor mir nicht.'
Sei still und lass den reden, ist am besten, dachte ich. Da beugte er sich dicht zu mir rüber. Er flüsterte: ,Ich war doch früher im Polizeipräsidium, Abteilung IA. Da haben Sie doch immer Ihre Veranstaltungen bei mir anmelden müssen.' Die Sache stimmte, Mensch. Jetzt erkannte ich ihn auch. Ich blieb aber still. Den haben sie rausgesäubert, dachte ich, damit für die ,alte Garde' Platz wird. Da sagte der Kleine noch leiser: ,Von Ihren Akten ist nichts mehr da. Kurz vorher haben wir eine ganze Menge verschwinden lassen.'"
Ernst Schwiebus wartet schon an der verabredeten Ecke mit einer Frau. Donnerwetter, hat die eine „Kluft" an! Ist ja eine elegante junge Dame.
Von Schwiebus bin ich schon gewohnt, dass ihm abends niemand den Lieferradfahrer ansieht. Er sieht dann immer aus wie ein junger Mann, „aus guter Familie". Er trägt tadellose Anzüge, blütenweiße Wäsche. Das lockige Haar ist gepflegt, er ist immer sauber rasiert.
'n Abend."
„Guten Abend."
Schwiebus' Begleiterin lispelt. Sie hat vorstehende Zähne. Eine Jüdin. Sie kann höchstens etwas über zwanzig Jahre alt sein. Hätte ich Schwiebus nicht zugetraut. Der macht doch immer knapp den Mund auf.
„Geht vor", sagt Schwiebus, „ich warte auf Teichert, du."
„Und Hilde?"
„Hab ich an eine andere Ecke bestellt. Etwas später. Geht, ich bringe sie, du."
Immer das „Du" als Abschluss seiner Sätze. Komische Angewohnheit.
Es ist eine vornehme Straße im Westen, grelle Lichtreklamen. Wir machen kleine Schritte, wir müssen uns durch die Passanten durchschieben.
„Ich heiße Ruth", sagt das Mädchen plötzlich.
Also richtig taxiert, Jüdin. Hat Mut. Stellt uns ihr Zimmer zur Verfügung. Die nehmen sie doppelt ran, wenn's schiefgeht.
Das schlimmste ist für uns immer, dass wir nicht genügend neutrale Wohnungen haben. Unsere Abziehwohnungen liegen ausschließlich in unserer beschatteten Arbeitergegend. Ebendeshalb kam Schwiebus mit diesem Vorschlag, als wir die Herstellung der Klebezettel besprachen. Er hatte vorher nie etwas von dem Mädel erzählt, und ich habe ihn deshalb gründlich ausgefragt. Er kenne sie schon lange aus der Parfümbranche, sagte er, habe sie langsam „politisch erzogen". Das Mädel sei prima und die ganze Sache unbedingt sicher, sonst schlüge er das doch nicht vor. Sie hätte in einer Pension im Westen ein Zimmer. Bloß eine Frau müssten wir noch mitbringen, so viel Männer würden auffallen.
Wenn man Schwiebus nicht als unbedingt zuverlässig kennen würde - diese Ruth sieht wirklich aus, als ob sie von Parfüm sehr viel und von Politik sehr wenig versteht.
„Pension Ritter" steht auf einem Leuchtschild an der Haustür.
„Wir gehen die hintere Treppe hinauf", sagt Ruth.
Ein dunkler Hof, eine schmale gewundene Treppe.
„Wenn nun die andern hier noch nachkommen?"
„Fällt gar nicht auf. Hier geht's dauernd raus und rein. Ernst hat auch einen Schlüssel."
Ein langer Korridor, von dem viele Türen abgehen. Es ist niemand zu sehen. Das Zimmer ist ganz in Rot gehalten. Eine Couch, ein Bett, zwei Stühle, ein großer Ankleideschrank, eine Frisiertoilette. Ruth zieht die Vorhänge zu.
„Setz dich."
Ich möchte ihr gern etwas Freundliches sagen, aber mir fällt nichts ein. Wie selbstverständlich für sie das „Du" ist! Und doch, hier im Zimmer wirkt sie auf mich noch fremder. Das tief ausgeschnittene Kleid, die Armringe. Sie hat rot lackierte Fingernägel, die Augenbrauen sind zwei dünne Striche. Rasiert. Der schwarze Bubikopf ist eng anliegend onduliert. Etwas später kommt Ernst Schwiebus mit Paul Teichert und Hilde.
„Wir müssen möglichst lustig sein", sagt Ruth. „Ich habe doch ,Besuch'." Sie drückt auf die Zimmerklingel. „Kaffee bestellen." Wir lachen und schwatzen durcheinander, als das Mädchen kommt. Als sie dann den Kaffee serviert, spielt Ruths Grammophon, und sie tanzt mit Schwiebus. Tarnen kann sie zumindest prima.
Teichert holt ein Päckchen aus der Tasche.
„Die Klebestreifen. Fünfhundert Stück. Sind handlich, schnell anzubringen. Diesmal schon gummiert, brauchst bloß anfeuchten."
Wir begutachten sie alle, sind zufrieden. Schwiebus packt den Kinderdruckkasten aus.
„Was macht Franz?"
Wir wissen, dass Hilde sich öfter mit ihm trifft.
„Er lässt grüßen. Ich traf ihn gestern. Er hat sich gefreut, dass mit den Zeitungen alles geklappt hat."
„Wer hat nun also Verse mit?"
„Ich nicht", sagt Hilde.
Teicherts Vers gefällt uns am besten.
„Margarine wird teurer, die Butter noch mehr: Volk ans Gewehr!"
„Den haben die Proleten bei uns im Werk erzählt", erklärt Teichert. „Du staunst bloß immer. Die Witze, die Verse, wo das alles herkommt!"
Ich sehe Teichert an. Er freut sich, fährt sich über das schüttere blonde Haar. Was er doch für schlechte Zähne hat. Sowie er den Mund aufmacht, bekommt sein Gesicht einen hässlichen Zug. Die breiten Lücken, die zwei schwarzen Zahnstummel vorn. „In Ordnung bringen lassen? Kein Geld!" hat er mir erklärt, als ich mit ihm darüber sprach.
„Der ist richtig, du. Volk ans Gewehr! - Ist doch jedem geläufig, seit der Rundfunk das aus ihrem Lied als Pausenzeichen übernommen hat", sagt Schwiebus. Ruth zieht das Grammophon neu auf.
Hilde nimmt mit der Pinzette die passenden Gummibuchstaben aus dem Kinderdruckkasten, drückt sie in die Metallfugen des Stempels. „Ich kann diesmal keine mitnehmen, da muss erst Gras drüber wachsen. Wir hetzen sie sonst auf die Betriebszelle", sagt Teichert.
Er hatte einen Teil unserer Klebezettel zum 1. Mai in den Betrieb mitgenommen. Kommunistische Parolen klebten an den Siemensmaschinen, in den Garderoben. Acht Arbeiter wurden daraufhin verhaftet. Ihre Namen standen auf einer alten Sammelliste, die den Nazis irgendwie früher in die Hände gefallen war. Es war aber kein Genosse der Betriebszelle unter den Verhafteten.
„Wie haben die Proleten überhaupt auf die Zettel reagiert, du?"
„Durch die Verhaftungen sind erst noch Abteilungen aufmerksam geworden, die nichts davon wussten", sagt Teichert.
„... Ninon, lach mir einmal zu ..." Ein Tenor. Ruth hat eine neue Schallplatte aufgelegt.
„Es traut sich natürlich niemand, ein offenes Wort zu sagen", fährt Teichert fort, „aber bei den Kollegen, die sich kennen, hörst du das doch. Die haben uns lange Jahrzehnte herausgeschmissen, wenn wir gefeiert haben, sagten sie, jetzt fliegen wir plötzlich raus, weil wir uns weigern, mit den Unternehmern zu feiern."
Das Grammophon schreit jetzt Jazzmusik in das Zimmer, wir stecken die Köpfe dicht zusammen.
„Denen ist klar, wie tief der 1. Mai in dem Bewusstsein der Proleten steckt."
Hilde ist mit dem Einsetzen der Buchstaben fertig. Wir machen einen Probestreifen.
„Ist undeutlich."
„Zu eng die Buchstaben."
„So, jetzt, schön scharf."
Schwiebus fängt an zu drucken. Ich reiche ihm die Zettel zu. Die Mädels sitzen uns gegenüber, sie lachen plötzlich hart. „Für nebenan", sagt Ruth. „Dass sie merken, wir sind lustig."
„Und bei dem Marsch am 1. Mai, du?"
Teichert legt die fertigen Zettel übereinander.
Er sagt: „Wir mussten natürlich alle mit. Die Naziobleute haben kontrolliert, ob jeder angetreten war. Aber unterwegs haben sich viele verdrückt. Manche gingen ,Zigaretten kaufen'. Andere hatten plötzlich »eine schwache Blase'. Auf dem Tempelhofer Feld verschwanden in dem Gewühl noch mehr. Dort haben überhaupt viele laut gemurrt. Weil wir stundenlang in Staub und Hitze stehen mussten. Und über die auf den Tribünen: Die sitzen ruhig auf ihren Zwanzigmarkplätzen. -Da kannste mal ordengeschmückte Uniformen und blanke Zylinderhüte sehen."
„Am nächsten Tag sagt ein Kollege enttäuscht zu mir: ,Ich dachte, Hitler gibt da sein Aufbauprogramm bekannt'. -,Hast du doch gehört', sagte ich dem: Jeder einzelne von euch hat jetzt die Pflicht, mit seinen Anschaffungen nicht zu zögern und länger zu warten!'"
Wir lachen. „Was hat der darauf geantwortet?"
„Ein verdutztes Gesicht hat er gemacht. ,Ich?' hat er gesagt, ,wovon denn?'"
Schwiebus legt den Stempel hin, reibt sich die Handballen. Sie haben rote Druckstellen.
Eine Zeitlang arbeiten wir schweigend. Die Mädels wickeln die fertigen Klebestreifen zu je dreißig Stück in Papier. Aus dem Grammophon singt wieder ein Tenor: „... denn meine Sonne, das bist nur du ..." Da sagt Teichert wieder: „Überhaupt am nächsten Tag! Die Gleichschaltung der Gewerkschaften. Alle Kollegen haben bei uns begriffen, dass das die endgültige Rechtlosmachung der Arbeiterschaft ist. Die sozialdemokratischen Genossen waren wie vor'n Kopf geschlagen, kann ich euch sagen.
Die Gewerkschaftsführer haben noch zum Maimarsch aufgerufen - jetzt besetzen sie die Gewerkschaftshäuser! So diskutieren die Kollegen heimlich."
„Die Stimmung muss man auffangen — nachstoßen."
„Natürlich. Aber ihr macht euch keinen Begriff, wie schwer das ist. Der Schlag gegen die Gewerkschaften hat viele verwirrt. Wir müssen sehr vorsichtig sein. Jeder Genosse im Betrieb zählt heute doppelt. Man kann nicht..."
Teichert bricht ab. Auf dem Korridor draußen sind plötzlich Stimmen. Schritte. Ich lege den Stempel aus der Hand, sehe zur Tür.
„Is nichts", sagt Schwiebus, „hier kommen und gehen viele. Is doch ein halber Puff hier, du."
„Deshalb wohne ich ja hier. Hier kümmert sich keiner um den andern", sagt Ruth. Es klingt wie eine Entschuldigung.
Wir arbeiten schweigend weiter. Die Gefahr ist uns doch stärker zum Bewusstsein gekommen.
Was ich jetzt immer für einen heißen Wunsch nach Zerstreuung habe! Man will möglichst viel Schönes erleben. Lieben. Man denkt immer: Einmal packt's dich auch. Morgen kann es zu Ende sein. - Sievert, Neumann, Ritter, viele andere. Ich kannte sie alle gut. Wegen der Maikowski-Affäre haben sie die geholt. Kurgel. - Richard Hüttig. Er kennt alle unsere Namen. Alle unsere Namen, die wir hier im Zimmer sitzen und Klebezettel machen.
Wie müssen sie ihn gefoltert haben, und wie tapfer muss er geblieben sein, dass wir alle noch hier sitzen und Material herstellen können!
„Das ist die Liebe der Matrosen ..."
Die Grammophonmusik geht mir plötzlich auf die Nerven. Teichert nimmt mir den Stempel aus der Hand.
„Wie denkt ihr über die Maikowski-Geschichte?"
Teichert stempelt schon, sieht nicht auf.
Er sagt: „Man kann da nicht klar sehen. An die betroffenen Familien kannst du nicht rangehen. Die werden beobachtet."
Er macht eine Pause.
„Aber neulich, bei der Geldsammlung für sie, sprach ich mit einigen Mietern aus den Häusern. Die sind der Meinung, dass von einzelnen Belastendes ausgesagt wird. Unter Zwang, oder um sich selbst zu retten. Kann man nicht wissen."
„Deshalb die neuen Verhaftungen, du?"
„Vielleicht."
„Vorgestern haben sie in einigen Häusern Fahrräder beschlagnahmt."
„Hat nichts damit zu tun. Das ist ,Sicherstellung des kommunistischen Fuhrparks'. - Kennt ihr Paul Ritzhaupt?"
„Ja, was ist denn mit dem?"
„Der war bei den Fichtemotorradfahrern. Da haben sie alle Krafträder beschlagnahmt. Er war auf dem Polizeipräsidium Alexanderplatz. Da stehen Hunderte an, die Einspruch erheben wollen. Auf jedem Gang steht dort vorn und hinten ein Polizeidoppelposten", sagt er. „Die untersuchen jeden erst auf Waffen. Müssen die Angst vor Attentaten haben!"
„Ist doch völlig unsinnig", wirft Hilde ein.
Sie hat den ganzen Abend noch nichts gesagt, fällt mir auf. Nur mit Ruth hat sie ab und zu getuschelt. Sie haben sich schnell angefreundet. Wie Hilde in dem einfachen Jumper mit den kurzen Ärmeln neben Ruth aussieht! So frischer, natürlicher. Aber die Ruth! Wie man sich doch in äußeren Dingen täuschen kann! - Da sagt Schwiebus: „Natürlich, Unsinn. Manchmal trifft man einen, der von einem Attentat auf Hitler redet. Die sind sich nicht darüber klar, dass für ihn dann ein anderer Nazibonze weitermacht, du. Vor allem, was sie für Rache nehmen würden an den Tausenden Gefangenen."
Teichert hat bald die letzten Klebestreifen unter dem Stempel.
„Wo bleibt der Kram nun?"
Er sieht mich an.
„Ich bringe sie heute noch in eine Wohnung. Dort holen wir sie morgen vormittag wieder ab. Alles muss schnell verklebt werden."
„Klebt Ede wirklich bei den Nazibonzen, du?"
„Natürlich."
Wir gehen einzeln. Schwiebus bleibt aber zurück. Er und diese Ruth gehören also wirklich zusammen. Mich wundert das.
Die Klebezettel sind unter die Genossen aufgeteilt. Nur Heinz Preuß mit seiner Gruppe fehlt noch. Ich gehe mit dem Rest zu der verabredeten Stelle. Dort ist er! Er steht vor einer Zeitungsfiliale und liest. Schon von weitem erkenne ich ihn. An der schwarzweißkarierten Sporthose. An dem blauen Polohemd mit den kurzen Ärmeln, an den langen blonden Haaren. Heinz Preuß ist ein Wandervogel. Sonnabends und sonntags ist er nie zu erreichen. Da ist er auf Wochenend. Er sieht auch immer schön braungebrannt aus. Wir uzen ihn immer „mit den langen Haaren eines freien Mannes".
„Schneid't mir meine Mutter übern Kochtopf", sagte er dann.
Ich stelle mich einen Augenblick neben ihn, gehe dann langsam weiter, in ein Haus hinein. Etwas später kommt Preuß. Wir treffen uns auf dem ersten Treppenabsatz.
„Wie viel kriegt unsere Gruppe?"
Ich ziehe den Wadenverschluss meiner Knickerbockerhose auf.
„Siebzig. Hier."
„Ganze Menge. Bin mit Emil heute allein."
Ich bringe die Hose in Ordnung. Hat keinen Zweck, jetzt darüber zu reden, es muss schnell gehen.
„Ihr nehmt die Nebenstraßen hier."
Ü ber uns klappt eine Tür. Wir lauschen, es kommt aber niemand die Treppe herunter.
„Seid vorsichtig."
„Schon gut."
Ich gehe, Preuß bleibt noch stehen.
„Schöne Matjes... deutsche Matjes... na, was soll's denn sein?"
Die Händlerin hatte den rechten Arm in die Hüfte gestemmt, in der linken Hand wippte das Fischmesser. Ihre Schürze war mit Schuppen und Blut beschmiert. Frauen mit Einholekörben und Markttaschen schoben sich zwischen den Verkaufsständen. Anpreisungen, dumpfes Klappen von Schlächterbeilen, das grelle Wiehern eines Pferdes. Von der Wallstraße bis zum Wilhelmplatz, vor das Charlottenburger Rathaus, zog sich der Wochenmarkt.
In dem Gewühl der Frauen entstand plötzlich eine Gasse. Auch die Frauen vor den Auslagen der Stände drehten die Köpfe zur Straßenmitte. Durch den Spalt ging ein Mann, der mit einem Stock den Boden vor sich abtastete. Auf seinem Jackettärmel saß eine gelbe Binde, drei schwarze Punkte waren darauf. Er sah kräftig und noch sehr jung aus. In seinem Gesicht war an Stelle des linken Auges eine rotfleischige, feuchtglänzende Höhle. Das rechte Auge sah starr geradeaus.
Der Mann steuerte mit tastenden Schritten aus dem Gewühl, ging dann an den Häuserreihen entlang, dem Wilhelmplatz zu. Sein Stock klappte in regelmäßigen Abständen richtungsuchend gegen die Häusermauern.
Ede tappte dann die großen Steinfliesen am Eingang des Charlottenburger Rathauses hoch. „Da bekam ick die Wut", erzählte er mir an dieser Stelle, „der Zeitungshändler von Ullstein, der da sitzt, schrie dauernd: ,Die Regierung garantiert Wirtschaftsruhe! Alle Eingriffe in die Wirtschaft verboten!'"
„Die Streikwaffe der Arbeeter woll'n se zerschlagen, verstehste. Damit die Unternehma in Ruhe de Profite insacken könn'!"
Ein dicker Mann mit einem Naziparteiabzeichen kam dann auf Ede zu: „Kann ich Ihnen behilflich sein?"
„Danke, jeht schon", sagte Ede.
Der Dicke hob den Arm zum Gruß und ging weiter.
„Der wusste ja janich, ob ick dett überhaupt jesehn habe", sagte Ede dabei grienend.
In den nach allen Seiten abzweigenden Gängen der unteren Etagen liefen Menschen hin und her. Zu beiden Seiten der Gänge liegen dicht hintereinander Türen. Vor einigen stehen Bänke. Wartende saßen dort. Sie redeten laut und gestikulierten, jeder erzählte dem andern wohl seinen „Fall". Weiter oben anfangen, dachte Ede. Er stieg eine Wendeltreppe hoch.
Oben war es stiller. Nur aus dem ständig auf und ab gehenden doppelten Paternosteraufzug stiegen bisweilen Leute. Beamte gingen mit dicken Aktenbündeln unter dem Arm an ihm vorbei. Einige waren in SA-Uniform. Ede tappte in den Gang hinein. Vor der dritten Tür blieb er stehen. „Regierungsrat Lehmann" stand auf einem weißen Schild. Ede griff in die Tasche, feuchtete den Klebezettel an, drückte ihn schnell auf das Schild:
„Margarine wird teurer, die Butter noch mehr: Volk ans Gewehr!"
In knapp zehn Minuten hatte er den Vers an die Türen und Wände dieses Stockwerkes geklebt. Dann fuhr er mit dem Paternoster eine Etage tiefer. Auch hier ging alles glatt. In dem nächsten Stockwerk wurde es aber schwieriger. Beamte liefen hier oft hin und her, er musste immer Augenblicke abpassen, in denen die Gänge frei waren. Ede bog gerade um eine Ecke, ging an einer Gruppe Wartender vorbei, da hörte er plötzlich erregte Stimmen hinter sich.
„Hier! Und hier!... muss jetzt erst angeklebt worden sein..."
„Baurat Lehmann hat eben angerufen, in den ganzen oberen Stockwerken kleben Zettel!"
„Rufen Sie sofort beim Pförtner an... er soll die Polizei verständigen ... vielleicht fassen wir noch welche!"
„Die Kollegen sollen sich an die Gänge stellen, niemand herauslassen!"
Türen klappten, Männer liefen die Gänge entlang. Die Wartenden sprangen auf.
„Was ist denn - was denn?" fragte ein Mann in einem altmodischen Anzug. Er zog sich aufgeregt an seinem weißen Spitzbart. Eine vollbusige Frau in seidener Bluse neben ihm sagte erregt: „Hetzblätter haben sie angeklebt... jetzt eben! An die Wände!"
Ede sah, wie einige in dem Kreis tuschelten und sich verständnisvoll zunickten.
Da sagte die Frau von vorhin wieder: „Da, sehen Sie! Es wird abgesperrt... wir werden noch alle verdächtigt werden ... Oh, die Banditen ... die Banditen!"
Der Alte mit dem Spitzbart aber fragte wieder: „Was denn? ... Banditen haben angeklebt?"
Da kreischte die Frau: „Kommunisten! Verstehen Sie denn nicht?! Ach, wir werden alle noch Ärger haben!"
Der Alte machte vor Schreck den Mund weit auf, sein Spitzbart zitterte.
- Abhauen, jetzt wird's Zeit, dachte Ede. Er tastete die Wand entlang, auf die Treppe zu. An dem Paternoster stand ein Beamter.
„Gesperrt jetzt!" sagte er zu jedem, der fahren wollte.
Vor ihm standen schon mehrere Männer und Frauen, die er angehalten hatte. Sie redeten auf den Beamten ein.
„Ich muss nach Hause... mein Mann kommt zum Essen!"
„Ich habe einen Termin vor Gericht... ich mache Sie für mein Fernbleiben verantwortlich!"
Ede tastete mit seinem Stock mitten in die Menschen hinein. Sie machten ihm Platz, auch der absperrende Beamte trat zur Seite. Langsam ging dann Ede die Treppe hinunter, ungestört ins Freie. Er tastete immerfort vorsichtig mit dem Stock vor sich her.
Gegen Abend gehe ich zu Rothacker. Um ihm Edes Streich zu erzählen.
„Komm rein!" sagt Rothacker.
Seine linke Hand steckt in einem Kinderschuh. Er hat eine blaue Schürze um. Die vierjährige Inge hält sich an seiner Hose fest, streckt den blonden Wuschelkopf vor. Der ist wohl beim Schuhbesohlen? Rothackers Frau putzt den Küchenherd. Sie reicht mir den Ellbogen zum Gruß. Inge ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Abgehärmt sieht die Frau aus. Sie ist übernatürlich schlank, ihre Brust fast verkümmert. Das helle Haar macht sie noch blasser, gibt ihrem schönen regelmäßigen Gesicht etwas beinahe Feierliches. Rothacker kramt in seinem Handwerkszeug, sieht mich nicht an. Haben die
eine Auseinandersetzung gehabt? Ich weiß, die wirtschaftlichen Sorgen sind immer der Anlass. Ich kam, um Edes Streich zu erzählen, aber ich schweige, weiß plötzlich nicht, was ich sagen soll.
„Ich habe von meinem Leben noch nichts gehabt. Immer die Sorgen", hat mir Rothackers Frau oft geklagt. Er ist fast doppelt so alt als sie. Sie war noch nicht zwanzig, als sie heirateten. Dann kam gleich das Kind. Seit Rothacker arbeitslos ist, haben sich die beiden auseinander gelebt. Die Frau ist jung, sie will „etwas vom Leben haben". Den Altersunterschied empfindet sie jetzt auch sehr.
„Hast du Emil Schmidt nicht getroffen?" fragt da Rothacker.
„Nein."
„Er war eben hier. Wollte dann zu dir gehen."
Rothacker sieht mich an. Er legt den Kinderschuh aus der Hand. Mechanisch ist die Bewegung, als wisse er nichts davon. Der Blick hinter den Brillengläsern ist so leer ... Ich erschrecke.
„Ist was passiert?"
Langsam sagt Rothacker: „Preuß war nach dem Kleben nicht an der mit Emil verabredeten Stelle."
Schweigen. Frau Rothacker hört auf zu wischen, sieht mich groß an. Das Kind spielt mit den Gummisohlen, die zum Aufkleben bereitliegen.
„Emil ging dann gleich in Preuß' Wohnung. Es machte niemand auf."
In meiner Herzgegend ist gleich wieder ein dumpfer Druck.
„Seine Mutter kommt jetzt nach Hause ... sie arbeitet doch bei der Untergrundbahn ..."
Rothacker sieht auf den Hammer in seiner Hand. Er spricht vor sich hin.
„Du meinst- es sollte einer zu ihr gehen? Mal nachfragen?"
„Ja. Unter einem Vorwand. Es müsste gleich sein. Sie waren jetzt sicher noch nicht bei ihr."
Es sollte „einer" gehen, habe ich gesagt. Die Frau sah mich dabei so merkwürdig an. Ich müsste gehen, kann ihm das doch hier nicht zumuten. Vielleicht hat er recht. Aber wenn sie doch schon bei der Mutter sind?
„Wir wüssten Bescheid. Könnten alle warnen", sagte Rothacker. Er dreht den Schusterhammer in der Hand. „Wann hast du dich von ihm getrennt?"
„Heute mittag."
„Deine Wohnung ist doch ,sauber'?"
„Ja."
Er lehnt also im Beisein seiner Frau sowieso ab, in Preuß' Wohnung zu gehen. Ist überhaupt richtig. Er hat ein Kind. Bei mir ist das alles weniger schwierig.
„Ihr hattet doch schon vereinbart, woher ihr euch kennt?"
„Natürlich."
Wir wissen, dass die Gestapo die Verhafteten meist sofort getrennt verhört. Die erste Frage ist oft: „Woher kennen Sie sich denn?"
Es ist von ausschlaggebender Wichtigkeit, dass dann gleichlautende Angaben gemacht werden. Wir haben deshalb alle etwas vereinbart. Heinz Preuß weiß, „dass er mich auf einem Grunewaldspaziergang kennengelernt hat".
„Ich gehe hin. Man muss ja klarsehen."
Frau Preuß sieht klein und zusammengefallen aus. Aus dem knochigen, gelblichen Gesicht sehen mich zwei unruhige Augen an.
„Ich wollte zu Herrn Preuß. Wegen der Schmetterlingssammlung."
Es ist eine von Preuß' Wandervogelpassionen, die ich vorschiebe.
Frau Preuß trippelt auf dem schmalen Korridor vor mir her, schiebt mir im Zimmer einen Stuhl mit klobigem Muschelaufsatz zu.
Sie wäre aufgeregter, wenn sie schon „Besuch" hätte! Also noch in Ordnung!
Ich war am Tage schon oft bei Preuß. Aber seine Mutter kennt mich nicht. Sie war dann immer auf ihrer Arbeitsstelle.
Ich weiß, wir sind in der „guten" Stube. Über den Betten hängt ein Buntdruck im Goldrahmen: „Die Bergpredigt". In der rechten Zimmerecke ein großer Holzteller mit eingebrannten Buchstaben: „Siehe! Ich bin bei euch alle Tage!"
Ich setze mich umständlich. Preuß hat mir oft von seinen ständigen weltanschaulichen Meinungsverschiedenheiten mit der Mutter erzählt.
„Sie stammt aus einer Pastorenfamilie, ist alt und nicht mehr umzukrempeln. Ich lasse sie in Ruhe - bloß sie mich nicht", hat er gesagt. Ich weiß auch, wie er darunter litt, dass er als junger Mensch ohne Arbeit war, während seine alte Mutter schwer arbeiten musste. Sie hat ihn mit vieler Mühe und Entbehrung Werkzeugmacher lernen lassen. Sein Vater ist im Krieg gefallen.
Frau Preuß reißt mich aus meinen Gedanken. Sie steht vor mir, ringt die Hände.
„Sie fragen nach Heinz... ja, wo ist er bloß...? Ich komme von der Arbeit, nichts ist besorgt, nichts eingeholt!"
Ich rücke auf dem Stuhl hin und her. Sie hat jetzt endlich jemanden, dem sie ihr Herz ausschütten kann. Wie bringe ich es ihr bloß bei? Mir ist so beklommen. „Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen!" frage ich vorsichtig. „Etwas zugestoßen? Er ist doch kein Kind!" Ihre Hände gestikulierend, fallen plötzlich schlaff herunter. „Woher kennen Sie ihn denn? Sind Sie auch so einer...?!" „Nein!" schneide ich ihr die Worte ab. Ich muss den geringsten Verdacht vermeiden. Wer weiß, wozu die Frau in ihrer Aufregung fähig ist, wenn sie wüsste... Sie jammert: „Was habe ich mit dem Jungen geredet! Du versündigst dich vor Gott... Jeden Tag habe ich ihm gesagt: Lass ab davon, du wirst dich noch ins Unglück stürzen." Sie weint. Ich sehe auf ihren gebeugten Rücken. Sie tut mir so leid. - Die beiden haben sich nie verstanden, lebten wie in anderen Welten. Sie konnte den Sohn nie begreifen. Aber sie ist eine Mutter, seine Mutter. Frau Preuß nimmt die Hände vom Gesicht.
„Ich habe es nur gut mit ihm gemeint... wollte ihn so oft zur Heilsarmee mitnehmen ... er singt so schön ..."
Sie sieht mich mit großen Augen an, als hätte sie in mir doch plötzlich den Schuldigen gefunden.
„Oh, mein Gott, mein Gott! An mich alte Frau hat er nie gedacht. Er war ja wie besessen mit seiner Politik!"
Ich muss mit ihr zu Rande kommen. Ich muss!
„Gehen Sie doch mal zur Polizei, Frau Preuß."
„Zur Polizei?"
Sie weint wieder fassungslos.
„Das auf meine alten Tage... ich habe mein Leben lang nichts mit der Polizei zu tun gehabt... die Schande!"
„Sie können doch mal nachfragen. Eventuell geben Sie eine Vermisstenanzeige auf!" sage ich energisch. Ich muss sie aufrütteln! Frau Preuß sieht mit stumpfem Blick auf die Zimmerwand. Ich kann ihr als „zufälliger" Besucher nicht länger zureden. Sie würde vielleicht darauf kommen, dass ich nur nachforschen wollte.
„Auf Wiedersehen, Frau Preuß."
Sie nickt apathisch, gibt mir die Hand. Die Adern liegen dick darauf.
Nachdenklich gehe ich durch die Wallstraße. Was können wir für sie tun? Geld sammeln. Aber sie hat ja Arbeit. Heinz hat sie auch nicht ernähren können. Wir müssen vorsichtig sein, wenn wir weitere Erkundigungen einziehen. Am besten durch Bekannte im Hause.
Heinz Preuß hat uns alles erst viel später erzählen können. Er war mit Emil Schmidt in eine stille Straße gegangen. Er hatte sich den Text auf den Klebezetteln angesehen und dachte, dass man gerade die Straßen dieser Gegend mit den Zetteln bekleben müsse. Hier wohnen meist kleine Beamte und Angestellte. Sie haben früher meistens Nazis gewählt, werden jetzt bei der Teuerung und den ständig wachsenden Gehaltsabzügen mit dem Hitlerregime unzufrieden.
„Also immer in den oberen Etagen anfangen und die Hausflure nicht vergessen", sagte er noch zu Emil Schmidt. Dann trennten sie sich. Preuß beklebte die Fenster, die Briefkästen, die stillen Portiers in den Hausfluren. Es ging ohne Zwischenfälle, nur selten traf er Leute auf der Treppe. Sein Zettelvorrat war schon sehr klein. Zehn Minuten noch, dachte er. Er hatte in einem Haus bereits die oberen beiden Etagen beklebt, als er plötzlich jemanden hastig die Treppe herunterkommen hörte. Er steckte den schon angefeuchteten Zettel in die Tasche, ging langsam die Treppe hinab. Ein großer blasser Mann mit schwarzen Haaren ging an ihm vorüber. Er sah ihn für einen Augenblick von der Seite an. Sein stechender Blick machte Preuß stutzig. Schnell das Haus verlassen, dachte er. Als er aber auf der Straße stand, verflogen seine Bedenken. Von dem Mann war nichts zu sehen. Du hast dich sicher geirrt, dachte Preuß. Deshalb aufgeben? Die paar Zettel werden noch verklebt. Er ging in das Nachbarhaus. Oben im Treppenflur machte er sich aber doch wieder Gedanken. Die wenigen Zettel rechtfertigen eigentlich das kleinste Gefahrenmoment nicht mehr. Vor allen Dingen hätte er dann schon in die nächste Querstraße gehen müssen, nicht in das Nachbarhaus. Preuß hatte die Ruhe verloren, er lief wieder die Treppe hinab. Als er aus dem Haus trat, sah er sich unauffällig um. Auf dem Bürgersteig spielten einige Kinder Kreis. Ein Gemüsewagen fuhr durch die Straße. Der Händler hatte die Hände
an den Mund gelegt, schrie: „- Tomaten----Tomaten -
schnittfeste Tomaten!"
Drüben auf der anderen Straßenseite stand ein Bollewagen. Der Kutscher, in blauer Mütze und Schürze, schenkte Milch aus. Preuß ging es wie ein elektrischer Schlag durch den Körper. Wahrhaftig! Dort stand der Kerl hinter dem Haufen kaufender Frauen! Er sah nur den schwarzen Haarschopf und die obere Gesichtshälfte. Der hatte auf seine Rückkehr gewartet, wollte ihn im Auge behalten! Nur jetzt nicht nervös werden und davonlaufen, dachte Preuß. Er schätzte die Entfernung bis zur nächsten Ecke. Dreißig Meter! Mit krampfhaft ruhigen Schritten ging er zur Ecke.
Ob der ihm folgte? Umdrehen macht dich noch verdächtiger, dachte er wieder. Er versuchte, in den Schaufensterscheiben an seiner linken Seite das Spiegelbild von drüben zu bekommen. Es war nichts zu sehen. Das Stück bis zur Ecke wurde für Preuß eine Ewigkeit, seine Füße schienen an den Steinen zu kleben. Es ist wie in einem Traum, dachte er. Wenn dich jemand verfolgt und du kommst und kommst nicht vom Fleck.
Er warf einen schnellen Blick zurück. Was er sah, traf ihn wie ein Blitz. Der Schwarzhaarige befand sich etwa zwanzig Meter von ihm entfernt, musste ihm also gefolgt sein. Er rannte gerade rufend und mit den Armen fuchtelnd über den Fahrdamm, auf zwei SA-Leute zu, die eben aus einem der gegenüberliegenden Häuser kamen. Die Leute in der Straße drehten sich erstaunt nach ihm um.
Preuß war für einen Augenblick wie gelähmt, dann rannte er mit großen Sätzen in die Nebenstraße hinein. Wohin jetzt? Sein Vorsprung war lächerlich gering. Die Straße lief vor ihm in einem kleinen Bogen rechtsherum. Bis dahin, aus ihrem Blickfeld heraus, kam er nicht mehr. Die mussten auch gleich an der Ecke sein, sahen ihn dann laufen. Sein Herz klopfte rasend.
Kurz vor ihm tauchte ein Buttergeschäft auf. Die Ladentür stand weit offen. Er sah über den Schaufensterauslagen hinweg eine Gruppe Frauen in dem Laden stehen. Preuß trat blitzschnell in das Geschäft ein. Nach ihm kam noch eine Frau. Eine der Verkäuferinnen schlug mit der Holzkelle klatschend eine Butterportion rund, nickte dabei zustimmend. Die Frau vor ihr plapperte unaufhörlich... „hauptsächlich hier, an der rechten Seite ... immer wenn ein Wetterumschlag bevorsteht ... Wie meinen Sie? ... Heizsonne? ..."
Preuß stellte sich hinter die Frauen, zwischen zwei Tonnen und den Glasaufsatz des Ladentisches, in dem verschiedene Sorten Käse standen. Er grübelte ununterbrochen. Hier konnte er die Straße im Auge behalten, wenn sie vorbeiliefen, dann würde er einen Moment warten, raus, und wieder zurücklaufen, in die alte Richtung. Plötzlich fuhr er zusammen. Draußen gingen die SA-Leute und der Schwarzhaarige vorbei. Er redete heftig auf die beiden ein, beschrieb mit den Armen einen Kreis.
„- Er kann nicht weit gekommen sein! — Wir müssen ..." Sie verschwanden aus seinem Blickfeld. Was nun? - Hierbleiben, vor allen Dingen Zeit gewinnen. Die drei draußen weitergehen lassen, jetzt würde er ihnen ja direkt in die Arme laufen. Eine Stimme redete ihn plötzlich an.
„Der Herr wünscht?"
Preuß sah sich um. Der Laden war leerer geworden. Die Frau mit den Hüftschmerzen war bereits abgefertigt, stand aber immer noch da. Sie wartete wohl auf eine Gelegenheit zum Weitererzählen. Die zweite Verkäuferin bediente eine andere Frau, und neben ihm stand die, welche nach ihm gekommen war.
„Bitte, geben Sie erst der Dame hier ... ich habe Zeit...", sagte Preuß verstört.
„Ein Viertel Edamer - aber in Scheiben", hörte er die Frau neben sich sagen.
Wie weit die drei wohl schon waren? Ob er es jetzt riskieren sollte, rauszugehen? Er ging einen Schritt auf den Schaufensteraufsatz zu, sah vorsichtig hinaus. Verflucht! Drüben gingen die drei suchend auf und ab. Geht doch in ein Haus rein! - Hinter ihm sagte die Verkäuferin wieder: „So, bitte, mein Herr."
„... Geben Sie ... Geben Sie mir ... ein Viertel Edamet in Scheiben!"
Preuß blickte auf die unter dem Messer fallenden Scheiben. Die Frau neben ihm kramte umständlich in ihrer Markttasche, die Plaudertasche drüben erzählte schon wieder.
Plötzlich kam von der Ladentür eine Männerstimme: „Fräulein, haben Sie vielleicht...?" Sie brach jäh ab, ging in gellendes Schreien über: „Hierher!... Hierher! Hier ist er — hier ist er!"
Preuß war herumgefahren. Der Schwarzhaarige stand im Türrahmen. Der Schreck fuhr Preuß zum Herzen, dann war ihm alles egal. Aus! dachte er. Den über den Haufen zu rennen, hat keinen Zweck mehr, die beiden andern kamen dahinter. Da waren sie schon! Preuß stand wie versteinert. Die Verkäuferin hatte den Mund weit offen. Sie stand mit großen, verwunderten Augen, in der rechten Hand das Messer, in der linken den Käse. Der eine SA-Mann packte Preuß am Arm. Es war ein riesiger, breitschultriger Kerl. Unter den buschigen Augenbrauen stachen die Augen. Der andere, klein und blond, stand mit der Hand an der Revolvertasche vor Preuß. Der Schwarzhaarige sprudelte: „Das ist er! Ich kenne ihn genau wieder! -An den langen Haaren! Der hat die Zettel angeklebt - ich habe es durch das Guckloch der Tür beobachtet!"
„Los, mitnehmen!" sagte der kleinere SA-Mann.
Der Starke drehte Preuß einen Arm auf den Rücken. Der Schmerz ging durch und durch.
Die Frauen drängten sich in der Ladentür. Auf der Straße blieben die Leute stehen. Eine Schar Kinder lief neben der Gruppe her.
Gestern konnte ich lange nicht einschlafen. Mir fiel plötzlich ein, dass ich auf alles, was ich schreibe, genau achten muss. Falls der Gestapo diese Niederschrift doch irgendwie in die Hände fallen sollte, darf sie daraus auf keinen Fall interne Dinge erfahren. Heute habe ich nun das ganze Manuskript aus meinem Versteck geholt und genau durchgesehen. Vieles habe ich gestrichen, manche Seiten vernichtet. Das hat kostbare Zeit gekostet. - Überhaupt, die Zeit! Ich muss mir die Stunden zum Schreiben abknapsen, denn ich muss ja meine Funktion weiter ausfüllen. Es würde den Genossen auffallen, wenn ich nicht mehr so „bei der Sache wäre". Sie wissen alle nicht, dass ich Aufzeichnungen mache. Nur Franz und Rothacker sind davon unterrichtet.
Jetzt muss es aber weitergehen. Sonst wäre die bisherige Mühe, alle Gefahren, umsonst gewesen.
Heute wird dem Maikowski in der Wallstraße eine Gedenktafel eingeweiht. Ich gehe mit Rothacker langsam die Wallstraße hinunter. Seit ich ihn abgeholt habe, haben wir kein Wort gesprochen. Rothackers Augen hinter den Brillengläsern sind zusammengekniffen, zwischen seinen Augenbrauen ist eine tiefe Falte. Sein Blick geht die Fensterreihen der Häuser entlang.
„Vogel friss oder stirb", sagt er. . Ich antworte nicht, nicke nur.
Hakenkreuzfahnen hängen in der Wallstraße!
Unsere Straße hat immer Fahnen getragen. Rote. Nie solche, die sich ihr Rot gestohlen haben.
Gestern haben die Hauswarte einiger Magistratshäuser Anweisung erhalten, die neu gelieferten Fahnen zu hissen. Dann kamen SA-Leute zu den Mietern der Vorderhäuser und boten Fahnen zum Aushang an.
„Wir haben kein Geld", sagten viele.
„Dann behalten Sie die Fahnen so hier! Wir holen sie nachher wieder ab!" sagte die SA.
Der Ton, in dem diese „Gratisangebote" gemacht wurden, machte den Mietern klar: annehmen oder... von jetzt ab vielleicht unter Beobachtung stehen. Andere Bewohner aber haben Fahnen gekauft. Dort -: die Meyers - die Radli -haben geflaggt. Sie haben früher mit uns sympathisiert oder doch gefühlsmäßig zu uns gestanden. Der monatelange Terror, die vielen Verhaftungen in der Straße haben sie mürbe gemacht. Sie haben Angst vor dem Konzentrationslager. Der Matteck auch! Der bangt um seine Arbeitsstelle. Die auch -die auch. Keiner von ihnen will „anrüchig" werden. Sie sagten den Nachbarn verschämt ihre Gründe, warum sie nicht „auffallen" dürfen. Bei manchen sind sie stichhaltig, andere haben sie sich für ihre neue Haltung konstruiert.
Wir kommen zum Knick der Straße. Drüben liegt das Umformerwerk. Die Maschinen summen. An dem frei stehenden Giebel ist die Farbe, mit der die SA Edes Parole übermalt hat, schon von der Sonne etwas ausgeblasst. Ich kann die Worte mühelos lesen, weil ich den Text genau kenne.
„Der! Selbstverständlich!" sagt Rothacker leise und macht eine Kopfbewegung zu der Kneipe neben uns hin.
„Afrikander" steht groß an der Ladenscheibe. Über der Tür hängt schlaff eine Hakenkreuzfahne. Auf der anderen Straßenseite liegt unser früheres Verkehrslokal. Die leeren Fensterscheiben sind wie Augen. Augen, in dem Gesicht der Straße. Wir verstehen in diesem Gesicht zu lesen. Uns täuscht die scheinbare Gleichgültigkeit nicht.
Hakenkreuzfahnen in der Wallstraße! Die Menschen vor den Haustüren wechseln Blicke mit uns, nicken uns zu. Kein Wort fällt über die Fahnen. Doch wir „begrüßen" und „unterhalten" uns stumm. Wir kennen uns, obwohl keiner vom andern weiß, ob er noch und wie er jetzt „arbeitet".
Je weiter wir die Straße herunterkommen, desto mehr Köpfe sehen aus den Fenstern. Das bevorstehende Ereignis liegt bereits in der Luft. Rothacker sieht mich stumm an.
An der Kreuzung Wall- und Krumme Straße bleibt Rothacker stehen. Er nickt mir zu, verzieht die Mundwinkel.
„Maikowskistraße" steht in Frakturschrift auf dem Straßenschild.
In den frühen Morgenstunden kamen Männer mit Leitern. Sie nahmen die alten verregneten Wallstraße-Schilder ab und befestigten diese neuen: Maikowskistraße! Mir ist, als ob mich die Buchstaben anschreien: „Verhindert das doch mal! Ihr könnt nichts daran ändern, nichts!"
Auf der andern Straßenseite steht neben einem breiten Torweg ein SA-Doppelposten. In dem Fahrradgeschäft links davon blitzen Nickelteile in der Sonne, auf der andern Seite ist eine Drogerie. Die SA-Leute stehen in starrer, gerader Haltung. Sie haben die Sturmriemen der flachen Mützen unter dem Kinn. Ein breites Stück der Hauswand hinter ihnen ist mit einem schwarzen Tuch verhängt. Kränze mit hellen Schleifen liegen auf dem Bürgersteig. Links und rechts von den Posten steht ein Lorbeerbaum. Wagen fahren vorbei. Noch ist normaler Verkehr in der Straße. Aber ich merke, die Fußgänger benutzen wie wir die andere Straßenseite. Sie machen große Schritte, keiner grüßt hinüber.
Die Nacht vom 30. Januar steht wieder vor mir. Dort drüben standen wir im Hausflur. Von dort hinten kam der johlende Sturm. Dann brüllte der Maikowski seinen Befehl zum Feuern, die Schüsse blitzten rot im Dunkel auf. Dutzende. Hier rannte der Schupo vor dem Zug her, Maikowski neben ihm. Wie sich der Schupo plötzlich die Arme vor den Leib riss, dann stürzte. Wie der Maikowski einen Befehl brüllte, den wir in dem Lärm nicht verstanden, gleich darauf in die Knie sackte. Hier haben beide auf dem Asphalt gelegen. Die SA flüchtete. Dann erst kamen die Genossen vom Lokal Stani angerannt. Die Stanileute haben die beiden nicht erschossen! Wären sie sonst noch zu dem eintreffenden Polizeiauto gegangen? Hätten Mörder der Polizei noch beim Aufladen der beiden geholfen? Alle hätten vor dem Eintreffen der Polizei flüchten können. Sie blieben, im Bewusstsein, daran schuldlos zu sein. - Die Jungens werden keinen Verteidiger haben. Was sie mit Hüttig machen werden? Ich sehe ihn wieder vor mir, wie er das letzte Mal auf dem Sofa saß. Die schweren Hände im Gürtel. Wie er den Feuerüberfall auf das Lokal Willmann erzählte. Mit rauer, bellender Stimme.
„Tapfer ist er geblieben - er kennt doch unsere Namen", sagt Rothacker leise.
Wir haben die nächste Ecke erreicht, bleiben stehen. Das Eckhaus hat lange, eintönige Fensterreihen. In der Nebenstraße, wenige Meter hinter der Ecke, ist der Eingang. Die Holztür klappt unaufhörlich. Blasse Männer und Frauen mit abgetragenen Kleidern gehen rein und raus.
„Fortbildungsschule für Jünglinge."
Es ist lange her, dass hier über den Segen und Nutzen der Arbeit gesprochen wurde. Das Charlottenburger Wohlfahrtsamt ist jetzt in dem Gebäude untergebracht. Wenn die Tür aufgeht, sehen wir eine lange Schlange Wartender. Sie geht über den ganzen holprigen Hof, in die Parterreräume hinein, endet am Zahlbrett des Wohlfahrtskassierers.
„Hier können wir warten. Ist unauffällig", sagt Rothacker.
Die Plakettenstelle ist knapp fünfzig Meter von uns entfernt.
Rothacker rückt an seiner Brille.
„Ich hatte Mietschulden. Die haben sie mir in kleinen Raten gegeben. Zum Zurückzahlen. Wir haben das Geld mit fürs Essen verbraucht." Er klopft mit dem Zeigefinger nachdenklich die Zigarettenasche ab. „Was soll man anfangen?! - Mit Frau und Kind!"
Ich weiß nichts Helfendes zu sagen. Frau und Kind? Und er? So klein und schmächtig ist er. Die Kleider hängen wie auf einem Bügel an ihm. Blass und spitz ist sein Gesicht. Er weiß vor Sorgen nicht ein noch aus - aber er ist immer bereit, sich für alle einzusetzen. So viele Jahre schon.
„Wenn sie dahinter kommen und mir die Summe von der Unterstützung kürzen..."
Jetzt laufen in der Straße viele Fußgänger hin und her. Bei der Plakettenstelle stehen sie in Gruppen.
„Gehen wir näher ran."
Die Menschen sehen alle gut angezogen aus. Wie Leute, die „was auf sich geben" und es auch dazu haben. Sehr viele Frauen sind dabei. Die sind alle nicht von hier!
„...Verbrechergesindel... heute noch nicht ausgerottet... ausbrennen wie die Pest!..."
Die sind also auch der Meinung, dass sie hier immer noch in „Feindesland" stehen. Ich sehe mir den Mann an, der die letzte Bemerkung gemacht hat. Er ist langaufgeschossen, Oberlehrertyp. Eine dicke goldene Kette baumelt auf seiner Weste. Du siehst nicht gerade wie ein „Alter Kämpfer" aus, der das „Ausbrennen" besorgen würde, mein Lieber. Die Frau neben ihm nickt stürmisch. Ihr dicker Dutt wippt. Auf ihrer Bluse prangt ein großes Naziparteiabzeichen. Rothacker stößt mich an.
Er sagt leise: „Wenn wir hier bleiben, müssen wir grüßen."
„Na, wenn schon", sage ich halblaut.
„Wenn sie uns aber aus den Fenstern erkennen?" raunt er.
„Gut. Komm in die Garagendurchfahrt."
Bald darauf kommen SA und Polizei und sperren die Straße für den Verkehr. Sie dirigieren die Zuschauer an der Plakettenstelle zu einem weiten Kreis. Ich sehe, wie sich plötzlich die Köpfe nach rechts drehen. Von dort kommt Gesang. Er wird deutlicher, wir verstehen den Refrain, der sich nach jeder Strophe wiederholt.
„— Wir sind die Dreiunddreiß'ger —"
Die Arme gehen in die Höhe. In den gegenüberliegenden Häusern sind nur Köpfe zu sehen, keine Arme. Doch! Da und dort einer. Sie unterstreichen nur den stummen Protest der andern an den Fenstern. Aus der Autoreparaturwerkstatt hinter uns im Hof sind Monteure mit klappernden Holzpantinen angelaufen gekommen. Zwei heben die öligen, verschmierten Arme. Der dritte steht daneben und hat die Hände in den Hosentaschen. Draußen klappt der gleichmäßige Schritt vieler Marschstiefel vorbei. Wir sehen über den Ring der Zivilisten nur die braunen Mützen auf und nieder wippen.
Ein helles, lautes Kommando zerreißt plötzlich den Gesang.
„- Abteilung — haalt! — Räächts um! -"
Es wird still. Der Besitzer der Vogelhandlung im Kellerladen rechts kommt mit einer Fußbank, klettert hinauf. Er ragt über die Köpfe.
Dann beginnt jemand zu reden.
„- Mahnung an Blutopfer - Reich der Ehre und Freiheit -Rotmord - Treue dem Führer -"
Der Redner spricht lange Minuten. Dann noch ein anderer. Stille. Sie singen schallend: „- Die Fahne hoch -"
Mir kriecht die Wut von der Brust in den Hals.
„Kam'raden, die - erschossen -"
Lasst sie hier mal aufmarschieren, unsere Genossen. In dunkler Nacht von euch abgeknallt, in euren Folterkellern totgequält. Eine endlose graue Reihe. Aber die Lebenden stehen überall, unsichtbar für euch. Sie beobachten euch jederzeit ----„Heil"-Rufe ertönten. Plötzlich zucke ich zusammen.
Ich packe Rothackers Arm, vergesse, dass Leute um uns stehen. Wir sehen uns mit aufgerissenen Augen an, Rothackers Gesicht ist verzerrt. Es scheint uns unfassbar, unmöglich - und doch - gegen das letzte hallende „Heil!" der Menge schrie eine gellende Frauenstimme: „Nieder mit dem Faschismus! -- Rot Front! ~"
Jetzt - noch eine Frauenstimme, sie muss von der andern Straßenseite kommen: „Nieder! Nieder! - Rot Front!"
Wir sind aus der Garagendurchfahrt gesprungen. Im gleichen Augenblick. Wir haben keinen Gedanken dafür, dass man uns in dieser gefährlichen Situation vielleicht erkennen kann. Wutverzerrte Gesichter sind um uns, drohend geschwungene Fäuste. Menschenklumpen, die aufeinander einreden, nein, einschreien.
Wir sehen, wie sich aus der durcheinander gelaufenen SA zwei Gruppen lösen und zu beiden Seiten der Straße in ein Haus stürmen. Eine Gruppe SA-Leute kommt bald zurück. Sie haben eine Frau in der Mitte, halten sie an den Armen fest. Ich sehe für einen Augenblick eine blaue Schürze, ein blasses Gesicht, zerzauste schwarze Haare. Der Menschenhaufen schiebt sich dazwischen. Wir laufen zwischen den erregten Menschen hin und her. Meine Nerven zerren. Die Menschen hängen fast aus den Fenstern. Die sind so aufgeregt wie wir. Wir sehen es an den Gebärden, den angespannten Gesichtern. Ihre Straße hat gesprochen. Da erschallen Kommandos. Augenblicke später marschiert die SA. Harte verbissene Gesichter, Wut und Ohnmacht. Der Ruf muss sie in diesen Minuten, bei diesem Anlass wie ein Hieb getroffen haben.
Als sich die Menge etwas verlaufen hat, gehen wir zu dem Haus Nr. 52 hinüber. An der Hauswand hängt, umrahmt von einer grünen Girlande, eine Bronzeplakette. Sie trägt ein Hakenkreuz am Kopf. Darunter steht:
„Hier fiel am 30. Januar 1933 am Tage der nationalen Erhebung der Sturmführer des SA-Sturmes 33 Hans Eberhard Maikowski. Er fiel für Deutschland!"
Als wir weitergehen, sagt Rothacker leise: „,Hier fiel' steht an der Plakette, nicht: ,Hier wurde von Kommunisten ermordet' ..."
Er sieht mich an.
„Das schreiben sie sonst immer auf Gedenktafeln. Am Landwehrkanal steht so eine. Die glauben also selbst nicht, dass ihn unsere Jungs erschossen haben." -
Als Heinz Preuß auch am zweiten Tage nicht nach Hause gekommen war, entschloss sich seine Mutter, meinen Rat zu befolgen. Sie ging zur Polizei.
An der Tür der Polizeiwache hing ein großes Schild:
„Der deutsche Gruß heißt: Heil Hitler!"
Frau Preuß schob die Tür auf, blieb auf dem hell erleuchteten Korridor zögernd stehen. Überall waren Türen. Sie ging den Korridor entlang, las die Schilder und Nummern an den Türen. Wo musste sie nach Heinz fragen? Sie wissen doch sicher alle Bescheid, ist doch die Polizei, dachte sie.
Drei Beamte saßen in dem Zimmer. Über Schreibarbeiten gebeugt. Der in der Mitte, ein dicker, gutmütig aussehender Mann, rief: „Kommen Sie man rein, Muttchen. - Was wollen Sie denn?"
Frau Preuß ging langsam zu dem Holzgeländer, das den Raum teilte.
„Guten Abend", sagte sie verschüchtert.
„Das heißt: Heil Hitler!" sagte der Dicke laut. „Na, was wollen Sie?"
„Heil Hitler!" wiederholte Frau Preuß erschrocken. „Ich wollte mich erkundigen - ich suche meinen Sohn."
Sie krümmte sich zusammen, wurde noch kleiner. Die Männer in der blauen Uniform waren ein Stück Obrigkeit, von der die Bibel sagte, dass man ihr untertänig und gehorsam sein soll.
Der dicke Schupo lachte.
„Ihren Sohn? Der dürfte doch schon ziemlich groß sein. Wie alt ist er denn?"
„Zweiundzwanzig Jahre", sagte Frau Preuß leise.
„Na, und?" sagte der Dicke.
„Er ist nicht nach Hause gekommen - gestern schon nicht", sagte Frau Preuß angstvoll.
„Kommt doch vor in dem Alter." Der Dicke griente. „Wird bei seiner Braut sein."
„Nein. Es muss ihm etwas zugestoßen sein."
Die Angst in der Stimme der alten Frau rührte den Beamten wohl.
„So? - Wo wohnen Sie denn?" fragte er.
„Wallstraße zweiundachtzig", sagte Frau Preuß.
„Maikowskistraße!" verbesserte der Dicke laut.
Er stand auf.
„Kommen Sie mal mit. Sie sind ja hier gemeldet", sagte er.
Sie gingen durch eine Verbindungstür in das Nebenzimmer.
„Ihr Name?"
„Preuß - Alwine Preuß."
Der Dicke zog einen Kartothekkasten aus dem Regal. Blätterte darin.
„Alwine Preuß - Heinz Preuß - geboren am 8. April 1911. Stimmt das?"
„Ja", sagte Frau Preuß leise, als hätte er ihr ein Register Vorstrafen vorgelesen.
Der Dicke wippte die grüne Karte in der Hand.
„Na und - was soll nun werden?"
„Ich dachte, Sie wüssten - ich habe solche Angst - er muss verunglückt sein —", sagte Frau Preuß verstört.
„Wir können doch nicht wissen, wo jeder steckt! Wollen Sie ihn als vermisst melden? - Ist eigentlich schon Büroschluss!" sagte der Dicke ungeduldig.
„Können Sie sich nicht erkundigen - ich bin so unruhig -."
Frau Preuß weinte. Der Dicke sah sie einen Augenblick an. „Na nu, na nu", sagte er. „Setzen Sie sich mal hin. Ich will's versuchen."
Frau Preuß hörte, wie er verschiedene amtliche Stellen anrief. Er nannte jedes Mal Namen und Geburtstag ihres Jungen.
„Nein? - Danke. Heil Hitler!" sagte er mehreremal.
Plötzlich wurde seine Stimme laut.
„Preuß - ja - Heinz Preuß----Wie? - General-Pape-
Straße? - So, so. - Danke. Heil Hitler!" sagte er.
Er schob schurrend den Stuhl zurück, stand auf.
„Ihr Sohn ist eingeliefert worden!" sagte er scharf.
„Eingeliefert - weshalb denn?" stammelte Frau Preuß.
Der Dicke schob den Kasten in das Fach zurück.
„Das wird er selbst am besten wissen!" sagte er barsch.
„Kann ich ihn nicht sehen — sprechen — können Sie mir nicht —?" Frau Preuß weinte wieder.
„Damit haben wir nichts zu tun. Auch gar keine Machtbefugnisse. Der ist bei der Feldpolizei!" sagte der Dicke knapp.
Da ging Frau Preuß weinend nach Hause.
Wir haben schon am ersten Tag, als Preuß nicht wiederkam, alle Genossen benachrichtigt und gewarnt. Heinz Preuß kannte auch eine unserer Stellen, an der Material lagerte. Sie wurde sofort verlegt. Wir wissen, dass Heinz Preuß ein treuer, zuverlässiger Genosse ist. Aber wir rechnen bei jedem verhafteten Genossen prinzipiell damit, dass er Aussagen machen könnte. Wir haben zwar allen Genossen klargemacht, dass sie mit Aussagen bei der Gestapo nur ihre eigene illegale Arbeit bestätigen und sich so selbst belasten. Wir können aber nicht wissen, ob jeder Genosse die physischen Martern verträgt.
Dammert ist inzwischen aus der Maikowski-Kaserne entlassen worden. Wir haben allen Genossen seinen Verrat mitgeteilt und vor ihm gewarnt. Dass er Kurgel nannte, können wir menschlich verstehen. Er konnte die Folterung nicht aushalten. Vielleicht hat er auch an seine Frau und die beiden Kinder gedacht. Unser politisches Urteil musste hart und eindeutig sein. Es würde für jeden von uns so lauten.
Ich gehe langsam durch die Straßen. Es ist strahlendes Wetter. Die Menschen tragen helle Sommerkleider. Wie ich das gern habe, das Gewühl, das Bunte!
Gestern habe ich Hilde im Büro angerufen.
„Kommst du Sonntag mit an die Havel?"
„Ja. Ich freue mich schon darauf."
Wir wechseln jedes Mal die Fragen. Ihr „Ja" bedeutet, dass Franz ihr einen Treff für uns gegeben hat. Ich treffe Hilde dann abends in ihrer Bürogegend. Franz hat diesmal eine neue Wohnung genannt. Sie haben mehr Möglichkeiten als wir und damit bessere Arbeitsbedingungen.
„------Für die Auslandsdeutschen!"
Ein Junge aus der Hitler-Jugend rasselt mit einer Sammelbüchse vor mir. Der andere hat ein Körbchen in der Hand. Blauweiße Plaketten sind darin. Ich schüttle den Kopf. Schon sind sie weiter. In Schwärmen sind die ja hier! Hitler-Jugend, ganz kleine Jungens und Mädels vom Jungvolk, auch Schulkinder, die als Sammelausweis nur eine Armbinde tragen. Jeder, aber auch jeder Passant wird angehalten. Ich sehe, wie viele die erworbenen Plaketten schon von weitem vorweisen. Warum sie die dann nicht tragen? Sie haben die zehn Pfennig nur geopfert, um endlich den Heuschreckenschwarm der Sammler loszuwerden. Wollen jetzt aber nicht für die Nazis Propaganda laufen. Ich beobachte die Gesichter. Es ist nichts von der Freude des Spenders darin, wenn sie angesprochen werden. Manche Passanten gehen an den vorgehaltenen Büchsen stumm vorbei. In ihren verschlossenen Mienen steht mehr als eine Ablehnung der Spende. Nimmt denn das auch kein Ende? Jede Woche eine neue „Spende". Das Propagandaministerium ist unerschöpflich in Schröpfideen. Die NS-Frauenschaft, die SA, die Hitler-Jugend, das Jungvolk, die Partei. Die Büchsen hören nicht auf zu rasseln.
Wer nur das äußere Bild sieht, muss annehmen, dass Deutschland nationalsozialistisch geworden ist. Braune und schwarze Uniformen überall. Fahnen, Bilder des „Führers" in fast allen Schaufenstern. Marschierende SA, marschierende SS, Hitler-Jugend, Jungvolk mit dröhnenden Landsknechtstrommeln. Auf Motorrädern: Uniformen. In neuen Autos: Uniformen.
Vor mir drehen die Passanten die Köpfe. Ein Mann geht mit schleppenden Schritten über den Fahrdamm. Er hat ergraute Schläfen, ein Einglas sitzt in seinem zerknitterten Gesicht. Er trägt eine alte Husarenuniform, weiße Schnüre baumeln auf seiner Brust. Einer aus der wilhelminischen Mottenkiste! - Meine beiden Verwandten, SA-Männer, fallen mir ein. Sie haben die vier Jahre Krieg hinter sich. Tragen ihre Auszeichnungen jetzt stolz auf dem Braunhemd. Der eine ist Angestellter, der andere Friseur. Sie haben sich immer als „was Besseres" gefühlt. Die Zeiten, da sie vom Kasernenhofdrill, vom Schützengrabendreck sprachen, sind vorbei. Die Uniform ist wieder da. Die Uniform. Wie vielen gibt sie erst Haltung! Vor den Frauen, vor allen. Ist es nicht ein Unterschied, in Arbeitslosenkleidern - oder in einer schmucken Uniform zu dem Mädel zu kommen?
X, der mir den Bericht über Kurgel gab, konnte nur noch als SA-Mann weiter Brote backen. Selbst in unserer Straße sind in der letzten Zeit braun Uniformierte aufgetaucht. Der eine ist bei einem Direktor Chauffeur. „Der Alte will nur noch mit einem SA-Mann am Steuer fahren", hat er mir erklärt. Der zweite arbeitet bei einem Klempnermeister, der zwar immer unter Tarif bezahlt, aber auch nur SA-Leute beschäftigt. Für sie gibt es tausend Gründe, weshalb sie auf keinen Fall arbeitslos werden wollen. Sie können dann nicht mehr mit ihrem Mädel ins Kino gehen. Sie können nicht mehr rauchen. Sie wollen sich nicht von ihrer Mutter den Teller Suppe hinschieben lassen. Der dritte SA-Mann in unserer Straße ist arbeitslos. Er hofft, durch die SA Arbeit zu bekommen. Trotzdem, der war immer da, wo „was los" war. Früher war er in einer unserer Wehrorganisationen.
Hier auf der Straße können die weniger Ängstlichen die Sammler noch mit einem Kopfschütteln abtun. In ihren vier Wänden aber sind sie ihnen - und den Organisationswerbern ausgeliefert. In seinem Hause muss jeder den „Volksgenossen" spielen. Vor zwei Wochen hat die Nachbarin aus persönlichem Hass einen indifferenten Arbeiter bei der Gestapo denunziert. Er wohnt einige Häuser von mir entfernt. Er komme abends immer mit großen Säcken nach Hause, hat die Frau angegeben. Eine Haussuchung wurde gemacht. Der Mann saß zwei Tage in Haft. Dann war heraus, dass er sich in den Säcken von seiner Arbeitsstelle Brennholz mitbrachte.
Wie hat sich neulich meine Gemüsefrau ausgedrückt? -Nichts weiß sie von mir, nur, dass ich kein Nazi bin. - „Was sollen wir machen?" meinte sie. „In eine Organisation muss man doch eintreten, um endlich Ruhe zu haben. Wir haben uns die mit den niedrigsten Beiträgen ausgesucht."
Und was hat die Tochter unserer Nachbarin erzählt? - Sie arbeitet in einem städtischen Betrieb. Zum zweiten Mal wurden der Belegschaft Reverse vorgelegt, die sie unterschreiben musste. - „Es ist wiederholt festgestellt worden, dass die Volksgenossen in ihrem privaten Umgang den deutschen Gruß nicht anwenden. Ich verpflichte mich hiermit, den deutschen Gruß... Es ist mir nunmehr bekannt, dass ich bei Nichtbeachtung dieser Anordnung in unserem Betrieb nicht mehr tätig sein kann." - -
Der Öffentlichkeit aber haben sie den „deutschen Gruß" mit der Drohung erpresst, „dass jeder »Volksgenosse', der die Hakenkreuzfahne nicht grüßt, sich marxistenverdächtig macht".
Ein Untergrundbahnzug kommt zischend aus dem Tunnel, fährt die steil ansteigende Überführung hoch. Nollendorfplatz. Dort ist die Telefonzelle. Sie ist leer. Ich schlage das Telefonbuch auf.
Albrecht - Krämer - Nathan - hier! Auf der ersten Seite des Buchstabens „N" ist oben links ein Bleistiftkreuz. Die neue Wohnung ist also noch in Ordnung. Franz muss das Kreuz, wie vereinbart, erst vor einer halben Stunde gemacht haben. Eine gute Idee. Sie bewahrt uns davor, eine Wohnung „anzulaufen", die nicht mehr „sauber" ist. Rothacker steht schon an der verabredeten Ecke. Ich gehe langsam an ihm vorbei, sehe in den Schaufensterscheiben, dass er mir folgt.
„Dr. W. Schönbeck" steht an der Tür. Ich läute. Eine junge, schlanke Frau öffnet.
„Wir möchten Herrn Stückert sprechen."
Die Frau nickt.
„Bitte, treten Sie näher", sagt sie freundlich.
Ein breiter Korridor, Hirschgeweihe, ein großer Garderobenständer mit geschliffenem Spiegel. Wir gehen an zwei weißlackierten Türen vorbei. Wartezimmer steht an der einen. An einer Tür mit mattierter Scheibe klopft die Frau.
„Herein!" ruft eine Männerstimme. Das ist doch nicht Franz? - Ein großer Mann mit schütterem, angegrautem Haar und einer Hornbrille kommt uns entgegen. Stimmt da was nicht? — Aber das Zeichen im Telefonbuch war doch da!
„Herr Karl?"
Der Mann sieht uns fragend an.
„Ja, bin ich."
„Bitte, nehmen Sie Platz. Franz kommt sofort."
Der Mann verlässt das Zimmer.
„Merkwürdig —", flüstert Rothacker und wiegt den Kopf.
Karl - den Namen kann er doch nur von Franz wissen. Aber mir ist doch etwas beklommen. Wir warten einige Minuten. Nichts rührt sich. Rothackers Finger trommeln nervös auf der Tischplatte.
Da kommt Franz.
„Mensch, wir dachten schon ..."
„- wir sind in der Falle!" lacht Franz.
Seine grauen Augen glänzen, er legt die Arme um uns.
„Ich hatte im Zimmer dahinten noch mit jemandem zu tun. Der brauchte euch nicht zu sehen."
Wir setzen uns um den runden Tisch.
„Wie geht's euch?"
„Uns geht's gut", sagt Rothacker.
„Und zu Haus, Jan?"
„Sie lassen dich grüßen. Ist alles in Ordnung. Vorgestern sprach ich mit Käthe."
„Grüß sie auch schön, ja? — Und was macht euer Laden?"
„Geht alles weiter. Bloß —", Rothacker stockt.
Franz legt die Arme auf den Tisch. Er sieht uns nicht an.
„Preuß ist verhaftet worden - Hilde erzählte mir —", sagt er leise.
Schweigen.
„Bei der Klebezettelaktion, sagte Hilde."
„Ja."
„Er ist in der Papestraße - in der Kaserne der Feldpolizei", sagt Rothacker. Er sieht den Fußboden an. Wie müde er spricht! Er müsste mal ausspannen.
„Dich suchen sie sicher auch noch", sagt Rothacker wieder.
Franz zuckt mit den breiten Schultern.
„Schon möglich. - Gut, dass ihr Hilde von der Sache mit Kurgel nichts erzählt habt. Sie macht sich sonst bloß Sorgen."
„Dammert haben sie laufen lassen."
„So?!"
„Wir haben selbstverständlich die Genossen vor ihm gewarnt. Er hat sich ganz zurückgezogen, macht einen bedrückten Eindruck. Sie haben ihn furchtbar geschlagen. Seine Arbeit hat er natürlich verloren."
Wieder Schweigen. Rothacker zupft an der Tischdecke.
„Kümmert ihr euch um die Angehörigen der Verhafteten?"
„Wir haben zweimal Geld gesammelt."
„Auch bei den Geschäftsleuten?"
„Ja. Bei den beiden, die wir genau kennen."
„Keine Lebensmittel?"
„Lebensmittel? - Nein."
„Müsst ihr auch versuchen." Franz tippt mit dem Zeigefinger auf den Tisch. „Wir haben hier im Bezirk schon 'ne Menge Lebensmittel gesammelt."

Rothacker dreht gleichzeitig mit mir den Kopf zur Tür. Im Gang draußen tappen Schritte, die Korridortür klappt mehreremal.
„Ist nichts", sagt Franz, „die Sprechstunde fängt an. Ist doch der beste Deckmantel für uns."
Er streicht sich über das Haar.
„Was ich noch fragen wollte - die Laubenkolonieverbindung. Habt ihr für Strubbel einen Ersatzmann?"
Die Laubenkolonie. Wir schweigen. Franz sieht mich fragend an. Rothacker stößt die Frage heraus: „Du kennst doch Herbert Ziemeck?"
„Aus Strubbels Laubenkolonie - der im Röntgenstraßenprozess von den Nazis mitbeschuldigt war? -"
„Tot", sagt Rothacker dumpf. - „Einundzwanzig Jahre alt - -."
Es wird ganz still im Zimmer. Franz stützt den Kopf in die Hände. Rothacker nimmt die Brille ab, fährt sich über die Augen. Sein Gesicht sieht zusammengefallen aus.
„Die SA hatte mit Motorrädern die Kolonie umstellt. Ziemeck floh aus der Laube, kletterte über die Zäune, rannte in Todesangst die Gänge entlang. Es war am hellen Nachmittag. Die ganze Kolonie sah die Menschenjagd —"
Franz sitzt unbewegt.
„— Sie schossen nach ihm. Trafen ihn in den Rücken. Ein Motorradgespann fuhr an. Sie packten ihn in den Beiwagen. Die Mutter lief schreiend hinterher. Beim Charlottenburger Amtsgericht, auf offener Straße, hat er sich noch einmal gewehrt. Er stieß dem Fahrer die Hände von der Lenkstange. Das Gespann stürzte um. Der Fahrer brach sich einige Rippen, liegt jetzt noch im Krankenhaus -."
Rothacker sieht auf den Tisch, nur seine Lippen bewegen sich.
„----In der Maikowski-Kaserne haben sie ihn dann totgeschlagen. Er ist der zweite von den acht Jungens, die damals in dem SA-Prozess freigesprochen werden mussten... Seine Mutter ist halb wahnsinnig geworden... sie läuft umher und erzählt überall, dass ihr Junge ermordet worden ist..."
Franz sitzt noch immer unbewegt.
Rothacker sagt wieder: „Der Hamburger Reichstagsabgeordnete Georg Stolt ist vor einigen Tagen beerdigt worden -auch aus der Maikowski-Höhle."
Draußen schrillt eine Klingel. Wir rühren uns nicht.
— Maikowski-Höhle — wie viele solcher Höhlen gibt es
in Deutschland----? Vor einigen Tagen hat Göring einen
Erlass verkündet: „Für Angriffe auf die SA und SS und den Stahlhelm - Todesstrafe." Für Angriffe? Wer sich nur wehrt -hat angegriffen.
Da hebt Franz den Kopf.
„Es ist ja bei euch —", er spricht den Satz nicht zu Ende, sieht an uns vorbei.
Ich sage: „Es ist auch, als ob sich alles gegen uns verschworen hat. Unseren Zeitungsausträger haben sie gefasst. Es war schon vorsichtshalber ein Genosse aus einer anderen Straße, weil wir doch vielleicht zu bekannt sind. Wir können uns seine Verhaftung nicht erklären. Wir haben da zum ersten Mal an Spitzelei gedacht. Jetzt werden wir alle Genossen durchgehen und beobachten. Der Genosse hatte noch fünf Zeitungen bei sich. Sie haben alle fünf Empfänger geholt. Er hat ihre Namen genannt, so lange haben sie ihn ..."
„Kenne ich —!"
„Georg Krüpel. Drei Jahre Gefängnis hat er gekriegt. In der Urteilsbegründung heißt es, er sei schon früher Funktionär gewesen, Milde sei da am falschen Platz."
Franz steht auf, geht hin und her.
Rothacker sagt: „Du überlegst jedes Mal, ob du noch nach Hause gehen sollst. Bist du zu Haus, sitzt du wie auf einer heißen Herdplatte. - Das Gefühl habe ich immer im Felde gehabt. Da hast du dich jeden Tag gewundert, dass du noch lebst - -"
Er hebt die Arme, lässt sie wieder fallen.
„Man hat Familie - kein Geld -", seine Stimme wird hart - „wir wollen auch nicht fort! Wenn's nicht zum Äußersten kommt."
Franz bleibt am Fenster stehen, sieht hinaus.
„Die beiden Frauen, die bei der Plaketteneinweihung gerufen haben -", sage ich.
Franz dreht sich um. Sieht mich fragend an.
„— die eine hat vier Wochen Gefängnis gekriegt. Die andere haben sie nicht mitgenommen, sie ist hochschwanger."
Schweigen.
Dann sagt Franz: „Wir haben eine neue Sache konstruiert. Kommt, ich zeige sie euch."
Wir gehen durch eine Verbindungstür in das Nebenzimmer. Ein schwerer Teppich liegt dort. Klubsessel stehen um einen Rauchtisch. Über einem Flügel hängt ein großes Ölgemälde. So etwas habe ich doch mal auf einer Ausstellung gesehen? -Medea! Auf dem Flur dreht sich Franz um. Es ist niemand zu sehen. Wir gehen scharf links herum. Ich höre, wie hinter uns eine Tür geöffnet wird. Eine helle Frauenstimme fragt etwas, eine Männerstimme antwortet. Metallinstrumente klappern. Franz zieht uns in eine schmale Kammer.
Regale stehen an den Wänden. Glasschalen, Blechbüchsen, Holzklammern liegen darauf. In der linken Ecke steht ein kleiner Tisch. „So, hier!" sagt Franz.
Ü ber dem Tisch hängt waagerecht eine Holzlatte. Auf der einen Seite ist daran ein kleiner Blecheimer mit Schnüren befestigt, auf der andern ein wie eine Schale zurechtgebogenes Stück Pappe. Auf der Pappschale liegt zusammengefaltetes Papier. Franz greift in den Blecheimer. Die Pappschale drüben senkt sich. „Sand, gewöhnlicher Sand", sagt Franz und öffnet die Hand. Er zeigt auf den Blecheimer. „Hier am Boden ist ein kleines Loch. Es ist jetzt mit Papier verstopft. Die ganze Geschichte wird an einem Dach befestigt, das an einer Verkehrsstraße liegt -." Er lächelt. „Ihr seid ja gespannt wie Flitzbogen!"
„Und ob, und ob", sagt Rothacker.
Ich freue mich. Rothacker ist wie ausgewechselt.
„Der Papierpfropfen wird im letzten Augenblick entfernt", erklärt Franz weiter, „der Sand läuft langsam aus dem Eimer, die Pappschale senkt sich zur Straße."
„Allerhand! Allerhand!" sagt Rothacker.
„Wir haben es lange ausprobiert. Es dauert einige Minuten, bis die Flugblätter von der Pappschale kippen. Wir nehmen dann auch ganz dünnes Papier. Das schaukelt langsam herunter und wird vielleicht noch vom Wind weitergetragen. -Das Gewicht muss natürlich am Anfang auf beiden Seiten genau ausbalanciert sein."
„Könnten wir auch machen. Wenn es bei uns ruhiger ist", sage ich.
Rothacker nickt.
„Einfach und ziemlich sicher. Sag uns durch Hilde Bescheid, wie's geklappt hat, ja?"
„Wird gemacht."
Auf dem Heimweg bleibe ich an einer Ullstein-Zeitungsfiliale stehen. Wir sind einzeln gegangen. Rothacker vor mir.
„Ergebnisse der Polizeifahndungsaktion.
,Die gestern im ganzen Reich schlagartig um zwölf Uhr mittags einsetzende Untersuchung der Autos und Eisenbahnen hat ein günstiges Resultat gezeigt, Staatsgefährliches Material gefunden — Kuriere der KPD —'"
Mit mir lesen sechs andere. Ich mustere verstohlen die Gesichter. Sie sehen gewollt gleichgültig aus. Wenn die anderen Nazis wären, würden sie nicht so krampfhaft starren, sicher hätte dann einer schon eine genugtuende Bemerkung gemacht.
Gestern war ich in einer schlimmen Situation. Ich fuhr mit dem Fahrrad zu einem Genossen, der in einem angrenzenden Bezirk wohnt. Ich sollte von ihm internes Material über die SA abholen, für unsere nächste Zeitung. Der Genosse saß mit seiner Frau gerade beim Abendbrot. Sie redeten mir so lange zu, bis ich mit ihnen aß.
Wir tauschten unsere Erfahrungen aus. Redeten lange über den bevorstehenden Reichstagsbrandprozess. Der Genosse erzählte mir, dass sie regelmäßige Rundfunkabende organisiert hätten. Sie hätten mehrere Gruppen, die ständig zu fünft oder sechst den Moskauer Sender hörten. Nachrichten aus Deutschland, hauptsächlich aber über den kommenden Reichstagsbrandprozeß. Im Ausland seien große Gegenaktionen im Gange. Bekannte ausländische Juristen hätten sich zu einem Komitee vereinigt, das in England einen Gegenprozeß machen will. Es sei auch ein Buch mit dokumentarischem Material in Vorbereitung. Das Material beweise klar, dass die Nazis die Brandstifter seien. Er erzählte mir noch, dass zwei sozialdemokratische Genossen ihre Wohnung und Apparate zur Verfügung gestellt haben. Ich sagte ihm, dass wir keine Hörerabende organisieren könnten, wir seien zu gefährdet. Er lud mich darauf für einen Abend ein. So erfuhr ich viel, viel Neues, doch als ich nach der Uhr sah, war es zehn vorbei. Ich hatte nun Bedenken. So spät, mit dem Material!? Ich ließ dann aber doch aus dem Vorderrad des Fahrrades die Luft heraus, klappte den Fahrradmantel hoch, wickelte das Material um den Schlauch, pumpte das Rad wieder auf und fuhr los.
Die Sommernacht ist still. Ich biege bald in eine einsame breite Straße ein. Das Rad rollt auf dem zementierten Radfahrweg fast von selbst - ist auch noch weit. Zu beiden Seiten der Straßen liegen Laubenkolonien. Vor manchen brennen bunte Lampions, irgendwo spielt jemand Mandoline. In der Straßenmitte - der Radfahrweg liegt dicht daneben - steht eine doppelte Baumreihe. Vereinzelte Bänke dazwischen. Unwirklich hellgrün ist das Laub im Laternenlicht. Still ist es hier. Mitten in der Stadt. Ich werde mit Käthe hinausfahren. Wir werden baden, rumtollen, es wird herrlich sein. Wie schnell das Rad läuft! Meine Füße treten mechanisch die Pedale. Auf den Bänken sitzen vereinzelte Liebespärchen, ich sehe flüchtig eine dunkle Menschengruppe rechts auf dem Bürgersteig - sonst ist alles wie ausgestorben. - Es wird ja auch mal alles anders werden. - Ich schrecke aus meinen Gedanken.
Zwei-, drei-, viermal knallt es plötzlich. Ist der Schlauch geplatzt? Das fehlte mir jetzt! Meine Füße treten immer noch - ich sehe auf den Fahrradmantel - ist doch in Ordnung?! Peng-peng-psss-psss - zischt es dicht an meinem Kopf vorbei. Da schreien doch auch welche? - Ich drehe den Kopf zurück. Dunkle Gestalten rennen über den Fahrdamm hinter mir. Gilt das etwa mir? - Da verstehe ich plötzlich aus dem Geschrei die Worte: „Halten! - Anhalten! - Halten!" Ich trete auf den Rücktritt, springe vom Rad. SA! - Die stellen dich! zuckt es mir durch den Kopf. Da kommen sie auch schon heran. Fünf, sechs, sieben Mann, registriere ich. Der Schreck liegt lähmend auf meinem Gehirn. Die beiden vordersten halten mir ihre Revolver vor das Gesicht. Meine Hände umklammern die Lenkstange des Fahrrades.
„Kannst du Schwein nicht gleich anhalten!" brüllt mich der eine SA-Mann an.
Er hält mir immer noch die Pistole vor das Gesicht, das Metall glänzt stumpf.
„— Ich wusste nicht —, dass Sie mich —"
„Wenn dich ein SA-Mann anruft, hast du zu halten, du Schwein!"
„Gleich in die Fresse haun - in die Fresse haun!" schreit der SA-Mann daneben. Er stößt mir den Revolverlauf vor die Brust.
„Erst mal durchsuchen!" sagt der erste barsch. Und zu mir: „Leg das Rad hin, du Schwein! Hände hoch!"
Ich gehorche. „Leg das Rad hin -." Sie werden nicht drauf kommen -. Mein Herz klopft wie ein Hammer, doch meine Nerven habe ich schon wieder in der Gewalt.
Sie tasten meine Knickerbockerhosen ab. Befühlen besonders den weiten Stoff an den Knien.
„Taschen leeren!" Ich tue es. - Kein Mensch ist auf der Straße - wenn die mich hier -? Und wenn sie mich fragen, wo ich wohne? - Wie komme ich in diese Gegend -? Mein Gehirn arbeitet fieberhaft.
Ich darf den Schlüsselbund, den Kamm und die beiden Taschentücher wieder einstecken. Was soll ich auch an mir verstecken? Ich habe ja nur die Knickerbockerhosen und das Polohemd an! - Am besten ist, ich spiele den Ängstlichen, da imponiert ihnen ihre „Stärke", überlege ich krampfhaft. Das In-die-Fresse-Haun haben sie wohl inzwischen vergessen? Aber die Revolver sind immer noch da - sie stehen im Halbkreis um mich herum - denken die, ich werde flüchten? -Irrsinn. Der vorne links scheint das Kommando zu führen? Aha, ein Stern am Uniformkragen - Scharführer!
Da stößt der mir den Revolverknauf in das Schulterblatt. „Wo kommst du jetzt noch her?!"
„- Ich war bei Bekannten - da hatte einer Geburtstag -", sage ich stotternd.
Einen Augenblick lang sieht er mich drohend an. Die andern? - Warten sie auf ein Kommando?
„Mach, dass du weiterkommst!" brüllt da der Scharführer. „Weißt Bescheid jetzt! Wenn dich ein SA-Mann anruft, hast du sofort zu halten, verstanden?!"
„Jawohl", sage ich, scheinbar verängstigt. Der Scharführer sieht die andern grinsend an. „Der macht sich bald in die Hosen", steht in dem Blick. Die andern grienen auch. - Lass sie grienen - die können mich mal -. Ich stehe immer noch still.
„Los! Verdufte!" brüllt er mich wieder an. Ich schiebe das Rad ein paar Schritte weiter, steige auf. Nur nicht hastig losfahren - ruhig bleiben - die sehen mir sicher nach - das Material in dem Reifen - -
Rothacker hat mich abgeholt. Wir wollen zum Arbeitsnachweis. Rothacker geht stempeln. Ich könne jetzt wieder ruhig mitkommen, meinte er. Der Nachweis sei immer noch so voll wie früher, die Beamten an den Schaltern hätten alle Hände voll zu tun, könnten sich nicht um jeden einzelnen kümmern. Rothacker hat uns in den letzten Wochen ständig berichtet, dass auch bei den Arbeitslosen die erste Furcht vor dem Terror schwindet. Dass sie bereits anfangen, zwar sehr vorsichtig, gegen die Hitlerdiktatur zu diskutieren. Auf Grund seiner Berichte haben wir schon in unserer Zeitung darüber geschrieben.
Am Umformerwerk stößt mich Rothacker an. An der schmalen Straße, die sich zwischen dem Werk und den Notstandsbaracken hinzieht und durch die Franz damals flüchtete, steht ein neuer Laternenpfahl. „Zauritzweg" steht auf dem Schild. Die Benennung ist erst seit kurzer Zeit. Es ist den Nazibehörden reichlich spät eingefallen, dass der konstruierten „Kameradschaft" des in der „Mordnacht" gefallenen Polizeibeamten Zauritz zu Maikowski auch ein äußeres „Symbol" gegeben werden müsste. Gleichzeitig mit der Wegbenennung haben sie unter der Gedenktafel Maikowskis in unserer Straße eine Bronzeplatte für den Polizisten Zauritz angebracht. Sie ist durch einen Aufmarsch der Dreiunddreißiger und einer Schupoformation eingeweiht worden.
Wir biegen in die Berliner Straße ein. Rothacker sieht mich an. „Das ist doch ...?"
Natürlich, Ede! Er hat uns schon gesehen, kommt auf uns zu.
„'Tach, ihr Rabauken", sagt er und schüttelt uns die Hand. Einen Griff hat der an sich!
„Vormittags - und schon so in Schale?"
Ede hat einen blauen Anzug an, trägt einen hellen weichen Hut. Auf dem karierten Oberhemd baumelt eine bunte Krawatte. Er trägt sein Glasauge.
„Du merkst ooch allet", lacht er.
Sein gesundes Auge blinzelt mich an.
„Hast du was Besonderes vor, für uns was zu ,arbeiten'?" fragt Rothacker.
Ede legt den Kopf schräg, sieht ihn an.
„Nee, diesmal nich. Ick jeh zu meine Kleene. Die hat heute Ausjang."
„So, so", sage ich. Ich muss lächeln. Er hat mir mal von dem Mädel erzählt, sie ist als Köchin in Stellung. Der „Stullendampfer", wie er sie in seiner drastischen Art getauft hat.
„Muss doch ooch mal sein", nickt Ede. Er tupft sich mit dem Taschentuch gegen das Glasauge. „Dett drückt mir mächtig -aber ohne det darf ick nich komm", sagt er. Und dann: „Also, macht's jut. Die Kleene wartet!"
Wir gehen schweigend weiter. Das Charlottenburger Rathaus steht auf der anderen Straßenseite. Aus den kleinen Fenstern an der Turmspitze hängen schlaff zwei riesige Hakenkreuzfahnen. An der linken Seite eine schwarzweißrote. Auf den breiten Steintreppen laufen ständig Menschen. Auch die Bürgersteige der breiten Verkehrsstraße füllt das lärmende Hin und Her des Werktages. Niemand sieht zu den Fahnen hinauf. Wir empfinden immer wieder Hass bei ihrem Anblick. Nehmen die Passanten sie schon hin? Sind sie schon etwas Alltägliches geworden, etwas, das unabänderlich zu sein scheint?
Vor uns auf dem Wilhelmplatz, dicht hinter dem Rathaus, stehen in der prallen Sonne kleine Gruppen. Arbeitslose. An der verschossenen Kleidung, den ausgetretenen Schuhen erkennt man sie. Ich freue mich plötzlich. Auf dem Platz haben früher in diesen Vormittagsstunden immer unsere Diskutiergruppen gestanden. In der Nebenstraße liegt der Arbeitsnachweis. Zu Hunderten überqueren die Arbeitslosen den Platz. Niemand hat in den ersten Monaten gewagt, sich hier hinzustellen. Er hätte sich verdächtig gemacht. Wir bleiben bei einer Gruppe stehen. Ich habe deutlich gesehen, dass mehrere Männer sprachen. Jetzt stehen sie mit den Händen in den Taschen und hören einem schlanken, schwarzhaarigen Burschen zu. Der führt in stummer Verabredung das Gespräch weiter.
„_ _ Wie ich die Angel rausreiße -", er legt die rechte Hand abschätzend auf den linken Oberarm - „so ein Hecht, sage ich euch!"-
Die andern lachen laut. Klingt für mein Ohr zu deutlich, wie bestellt. Keiner der Männer nimmt anscheinend Notiz von uns. Aber ich sehe, dass sie uns verstohlen mustern. „Wollt wohl Horchposten machen?" steht in ihren Blicken.
Wir gehen weiter.
„Die haben den Bogen weg", sagt Rothacker schmunzelnd.
In der kurzen Straße, die zur Stempelstelle führt, stehen dicht hintereinander auf dem Bürgersteig Verkaufsbuden und -stände. Laut schreien die Händler in den Zug der Arbeitslosen hinein.
Um einige Stände stehen dichte Gruppen. „Sensationelle Gebrauchsartikel" werden da vorgeführt. Hier wird nur mit Groschenware gehandelt, der Kaufkraft der Passanten angepasst. Fünf Rasierklingen für zehn Pfennig, die „echte Kalbfleischbockwurst" zu demselben Preis, „neu erfundene" Krawattenhalter für fünfzehn Pfennig, Obsthändler stehen dazwischen, sogar eine Bude, die sich stolz „Schnellbesohlanstalt" nennt. Eine Mark kostet die Ersatzgummisohle. Sie wird auf Wunsch sofort angeklebt.
„Die Dummen werden nicht alle", sagt Rothacker. Ein Wahrsager steht unter einem Zeltdach. Ein Menschenknäuel um ihn, zumeist Frauen. Er hat ein buntes Tuch als Turban um den Kopf gedreht, trägt einen Umhang mit grellen Sternenbildern. An seinen Ohren hängen lange gelbe Ringe. Er zieht ständig an einer Kette, die in einer Glassäule ein kleines Männchen auf und ab bewegt. „Der kleine Mann aus Amsterdam, der alles weiß und alles kann." - „Ein Blick in Ihre Zukunft - 10 Pfennig" steht auf dem Schild. Ein Kasten mit „Horoskopen" daneben.
Wie Pilze schießen die „Wahrsager" jetzt aus der Erde. Selbst auf dem Kurfürstendamm, in der „vornehmen" Gegend, stehen sie. „Wissenschaftler" nennen sie sich dort, und die Honorare sind entsprechend höher. Im Dritten Reich erscheinen Dutzende Hellseherzeitungen. Hanussen hat Schule gemacht.
Die Stempelstelle der Arbeitslosen ist in einer stillgelegten Fabrik untergebracht. Wir gehen über den ersten Hof. Über holpriges Pflaster. Rechts flammt in Parterreräumen grelles Licht. Eine Versuchsanstalt für Schweißapparate ist dort. Dicht daneben stehen in langer Reihe Menschen. Sie haben noch nicht den stumpfen Gesichtsausdruck der langjährig Erwerbslosen. Auch ihre Kleider sind gut erhalten. Es ist die Zahlstelle für Erwerbslose, die erst kurze Zeit ohne Arbeit sind. In einigen Wochen werden auch sie auf dem Wohlfahrtsamt landen.
Rothacker muss auf den zweiten Hof. Zur Stempelstelle für ungelernte Arbeiter. Ich weiß, dass er sich hierher umschreiben ließ. Er spart so den stundenlangen Weg zu seinem Fachnachweis in die innere Stadt. Eine kleine Treppe führt zum zweiten Hof hinunter.
Dem Stempelraum gegenüber steht eine verregnete Holzbaracke. Die Massenspeiseküche für Wohlfahrtsempfänger. „Löffelstampe" nennen sie die Arbeitslosen. Über der Tür hängt eine Hakenkreuzfahne. Hinter den Scheiben sehen wir SA-Uniformen. In einer knappen Stunde werden in Scharen die Arbeitslosen kommen. Das Wohlfahrtsamt gibt Essenkarten aus, mit denen sie für einige Groschen einen Napf Essen erhalten. Viele verschämte Kleinbürger sind dann darunter, die das Essen in Henkeltöpfen nach Hause tragen. Früher sind die Arbeitslosen oft mit den vollen Essnäpfen protestierend
zu den Stadträten ins Rathaus gezogen. Das Essen ist meist eine dunkelbraune Brühe, in der Kartoffel- und Gemüsestücke schwimmen. Es ist fettarm und halb roh. Die Protestmärsche zum Rathaus sind nicht mehr, aber das schlechte Essen ist geblieben.
„Wenn de dett im Stehn jenießt, biste bloß Durchjangsstation", hat mir Ede mal erklärt.
Die große Stempelhalle ist voller Menschen. Es ist ein schmutziggrauer Saal. Rings an den Wänden stehen in großen Buchstaben Sprüche: „Ehrlich währt am längsten" - „Wer am Wege baut, hat viele Meister".
In der Saalmitte stehen lange Reihen niedriger Bänke. Sie sind dicht besetzt. In Gruppen sitzen die Männer zusammen und diskutieren. Andere klatschen schmierige Karten auf die Bänke. Die Stimmen der Hunderte füllen den Raum mit dumpfem Brausen. Die Luft ist schwer und verraucht, es riecht nach Tabak und Schweiß. Vorn sitzen hinter einer Holzbarriere Beamte. Einer ist in SA-Uniform. Sie schreien zuweilen Namen in den Raum. Auf beiden Seiten stehen in langen Reihen Männer, die auf ihre Stempel warten. Rothacker stellt sich an.
„Ich warte hier an der Seite."
Rothacker nickt. „Gut."
Wie eine seltsame Verschwörerversammlung sieht das aus. Die niedrigen Bänke, auf denen die Männer fast hocken. Die Rauchschwaden, die halblaut geführten Gespräche, die die Luft mit Summen füllen. Manche haben noch gut erhaltene Kleider, die meisten sind blankgescheuert und geflickt. Junge Gesichter, alte, zerfurcht, mit strubbligen Bärten. Ich erkenne einige Genossen. Einer nickt mir zu. Er trägt noch die blaue Schirmmütze unserer früheren Wehrorganisation. In der Mitte über dem zusammengelegten Sturmriemen ist auf dem blauen Tuch ein runder, nicht ausgeblaßter Fleck. Dort saß früher das antifaschistische Abzeichen. Einige Gruppen stecken die Köpfe dicht zusammen, schon ihre Mienen und Gesten verraten mir, worüber sie sprechen: Politik. Dass die SA-Bonzen diese Ansammlung überhaupt dulden? - Gespräche nicht kontrollieren? Die decken sich sicher alle gut ab. Vorn rechts hängt über einem Schalter eine Tafel. Mit Kreide steht groß darauf: „Arbeiter für die Landwirtschaft gesucht." Es steht niemand vor dem Schalter.
Jemand schlägt mir auf die Schulter. Ich fahre herum.
„Mensch, Jan!"
„Kurt, du?!"
Kurt schüttelt mir die Hand, zieht mich auf eine Bank. Drei Männer sitzen neben uns. Sie unterbrechen ihr Gespräch. Einer stopft sich umständlich eine Pfeife. Ich merke, wie er Kurt fragend ansieht.
„Macht weiter", sagte Kurt, „der Kumpel ist knorke."
Die drei stecken wieder die Köpfe zusammen.
„Wie geht's ,Geschäft', Jan? Man hört von euch nichts."
„Wie soll's gehen? Mal gut, mal schlecht. Ich bin nicht der Chef, weiß auch nicht alles."
Kurt schiebt sich die Mütze aus dem Gesicht. Er lächelt verständnisvoll. Schöne Zähne hat er. Sieht immer noch so braun und gesund aus wie früher. „Hm, na ja", sagt er.
Kurt ist ein junger Genosse aus Strubbels Laubenkolonie. Wir haben früher oft nachts zusammen Parolen geklebt und gemalt. Jetzt habe ich ihn lange nicht gesehen. Unser Verbindungsmann für die Kolonie ist ja der Lahme geworden, zu dem ich damals mit Strubbel ging. Kurt weiß sicher nichts davon. Ist auch Prinzip. In unserer Straße sind wir bei Besprechungen, beim Materialherstellen auch immer nur zwei oder drei. Die anderen Genossen in den Fünfergruppen hören und sehen nur die Resultate.
„Habt ihr von Strubbel gehört?" fragt da Kurt.
„Nein. Nichts."
„Aber ich."
„So?"
„Der sitzt bei Königs Wusterhausen. Hat sich eine Lehmbude gebaut. Es geht ihm leidlich - jedenfalls hat er kein »Ungeziefer' mehr."
„Hast du ihn gesprochen?"
„Ja. Ich war mal mit dem Fahrrad draußen." Kurt lacht trocken. „Der ist sogar in ,Lohn und Brot' gebracht worden. Landhilfe. Pflichtarbeit. Muss er machen. Die zahlen dort Landarbeiterlöhne, dreizehn Mark die Woche, mit Frau und Kind. Hat er hier fast als Stütze gehabt.
Er rückt näher zu mir heran.
„Die Arbeit ist an den Haaren herbeigezogen, sage ich dir. Sie pumpen Dorfteiche aus und holen den Schlamm raus. Stampfen Feldsteine in die Wege." Er schlägt sich auf das Knie. „Soll für die Bauern sein. Die musst du mal hör'n, die haben den Bauch voll Zorn, kann ich dir sagen! Die Kosten müssen sie nämlich tragen, werden auf alle Bauern umgelegt. Die Enten schwimmen auch mit Grundschlamm auf den Pfuhlen, die Wege haben für die Bauernfuhren immer gelangt", setzt er trocken hinzu.
„Verstehen wir bloß nicht. Ist Arbeitsbeschaffung", sage ich. Vielleicht weiß er noch mehr Einzelheiten, wär was für unsere Zeitung.
Kurts Nachbar hat wohl die letzten Sätze gehört. Er dreht den Kopf. Er hat brandrotes Haar, sein Gesicht ist voller Sommersprossen.
„Ham sie den von hier hinjeschickt?"
„Er ist selber rausgezogen. Er musste. Ist hier ,krank' geworden", sagt Kurt.
Der Rotkopf zeigt auf die Tafel mit der Kreideaufschrift vorn. „Arbeiter für die Landwirtschaft gesucht", sagt er. „Hört sich jut an. Tausende ham se rausgeschickt. Sperren ja die Unterstützung, wenn du dir weijerst. Hat seinen Dreh, die Sache. Da wirst du nämlich eines Tages frischfröhlich aus Berlin ausjemeindet, mein Lieber."
„Ausgemeindet? Auch Facharbeiter?"
„Na klar. Nach kurzer Zeit biste Landarbeiter jeword'n. Hast dir bewährt. Kriegst dann Zuzugsverbot für Berlin."
Kurt macht eine Rednergeste. „Heraus mit den zugewanderten Ostjuden aus den Großstädten! - So haben sie früher gesagt - jetzt schmeißen sie die geborenen Berliner raus! -Was wird denn aus den Familien?"
Ich sehe mich unauffällig um. Die beiden reden reichlich laut. Lohnt den Einsatz nicht, wenn wir dabei - doch es kümmert sich ja niemand um uns. - Dass das schon möglich ist!
„Wichtigkeit - Familien", sagt der Rotkopf. „Ick kenne welche, die se völlich auseenanderjerissen ham. Die Kinder ham se in Heime jesteckt, die Frauen ab uffs Land. Die meisten nehm'n ja die Familie jleich mit. Is die beste Jewähr, dett se für immer drauß'n bleib'n."
„Facharbeiter?" sagt Kurt sinnend. „Is doch Blödsinn - in einem Industrieland die Spezialisten -"
„Is allet Blödsinn", fällt ihm der Rotkopf ins Wort. Er dreht sich ganz zu uns herum. „Mein Junge is im Arbeitsdienst. War neulich uff Urlaub. Die kultiviern bergiget Jelände. ,Da is nur Sand und Steene', sagt er. Wat soll denn daruff mal wachsen?"
Er streckt den Kopf vor, als warte er auf unsere Antwort.
„Mit dem Spaten schippen die den Sand und die Klamotten in Loren. Berge, vasteht ihr? Janze Berge. Wo der Spaten nich durchkommt, ham se een Bagger. Der schmeißt den Kitt nich etwa in die Loren darunter - nee, daneben! Die Hügel schippen die Jungs dann wieder in die Lor'n."
Er tippt Kurt mit dem Zeigefinger gegen die Brust.
„Diese Arbeet strecken die noch. Die wissen doch nich, wie se die Jungs beschaffen soll'n. Kosten tun se nischt! Gulaschkanonen und Holzbaracken! So ist et überall, kannste hinsehn, wo de willst. Hauptsache, die Arbeetslosenstatistik klappt!"
„Manchmal siehst du es praktisch, wie sie klappt", sagt Kurt.
„Watt kommt denn nu?", der Rotkopf grient.
Ich sehe mich nach Rothacker um. Er scheint noch nicht abgefertigt zu sein. Den Gang habe ich doch im Auge behalten!
„Hör zu, Jan."
„Ich höre, ich höre."
„Zu unserm Nachbarn kommt vor zwei Tagen ein Verwandter aus Ostpreußen. Ist Mechaniker. Will sich hier Arbeit suchen. Sei schon immer seine Sehnsucht gewesen, in Berlin zu arbeiten, alles kennen zu lernen, sagt er. Die Verwandten starren ihn wie ein Weltwunder an. Ja, Paul, weißt du denn nicht, wie viel Arbeitslose in Berlin sind?' Der versteht erst nicht. Holt dann seine Kreiszeitung aus Ostpreußen heraus. Liest vor: ,In Berlin hat die Metallindustrie in den wenigen Monaten der Aufbauregierung Adolf Hitlers wieder ihren hundertprozentigen Beschäftigungsgrad erreicht. Es werden jetzt schon wieder überall Facharbeiter der Metallbranche gesucht...'"
Der Rotkopf schlägt sich klatschend auf den Schenkel, lacht laut.
Jetzt wird es mir langsam zu sürmisch - wo Rothacker auch bleibt?!
„Ich muss gehen, Kurt."
„Servus dann. Halt dich weiter senkrecht, Jan."
„Wird besorgt."
Rothacker ist schon dicht an den Schalter vorgerückt. Drei Mann stehen nur noch vor ihm. Ich bleibe seitwärts stehen.
„Sind Sie Jude?" fragt der SA-Mann am Schalter einen blassen Burschen mit einer Schiebermütze, den er gerade abfertigt.
„Wieso - seh ick so aus" fragt der trocken zurück.
Der SA-Mann bringt sein Gesicht ganz nah an das Schalterfenster.
„Ob Sie Jude sind, habe ich Sie gefragt!" bellt er. Er fuchtelt mit der Stempelkarte des Burschen in der Luft herum. „Es handelt sich um Landhilfearbeit. Juden werden nicht rausgeschickt... !"
„Ach so, deswegen?! - Nee. Schade, dass ick denn keener bin", sagt der Bursche.
„Ü berlegen Sie sich, was Sie reden!" fährt ihn der SA-Mann an. „Zimmer zwei, erster Stock, zum Transport. Ihre Karte bleibt hier!"
Der junge Arbeitslose geht, brummt noch etwas vor sich hin, was ich nicht verstehe. Ich habe die Männer in der Reihe während der Debatte beobachtet. Sie haben sich angestoßen, leise Bemerkungen gemacht. Von den Bänken vorn sind einige aufgestanden, haben sich, auf die lauten Stimmen aufmerksam geworden, dazugestellt. Ihre Mienen und Gebärden drücken deutlich Sympathie für den jungen Burschen aus.
Dem SA-Mann kann das doch nicht entgangen sein? Rothacker hat mir lächelnd zugenickt, als wollte er sagen: Da staunst du, was?
Gleich darauf hat er seinen Stempel.
„Eine Schnauze hatte der - dass sie nicht mal zugreifen", sage ich leise.
„Könnten sie jetzt jeden Tag ein Dutzend verhaften", sagt Rothacker.
Wir gehen langsam zum Ausgang. Ich erzähle ihm mein Gespräch mit Kurt. Rothacker hört aufmerksam zu.
„Der ist in Ordnung", sagt er dann, „er weiß aber nichts Näheres über die Kolonieverbindung."
„Dacht ich mir. Hab mich auch so verhalten."
Als wir die Steintreppen am Ausgang heruntergehen, packt Rothacker plötzlich meinen Arm.
„Jan - da stimmt was nicht!" stößt er heraus. Er lässt meinen Arm los und nimmt die Treppe in großen Sätzen.
Was denn - was ist denn - Gefahr?! Mir ist, als hätte mich ein unerwarteter Schlag getroffen. Dann sehe ich, wie Rothacker über den Hof auf eine Frau zuläuft, die in dem Hin und Her der Arbeitslosen auf den Eingang zukommt. Sie dreht ständig suchend den Kopf. Jetzt hat auch die Frau Rothacker gesehen. Sie läuft auf ihn zu, fasst ihn an den Händen. Ich sehe, wie sie erregt auf ihn einredet. Rothacker zieht sie zur Seite.
Zurückbleiben - wenn da etwas ist - sind wir gleich beide -wo habe ich denn die Frau schon gesehen? Das runde Gesicht, die dunklen Haare? Ich grüble, grüble, weiß aber nicht, wo ich die Frau hinbringen soll. Sie muss von der Arbeit fortgelaufen sein, trägt ja noch ihre blaue Schürze. Sie redet immer noch. Rothacker steht ganz still vor ihr, ich sehe, dass sein Mund halb geöffnet ist. Was ist bloß - es kann doch nur ihn betreffen? Ich sehe mich vorsichtig um. Niemand achtet auf die Szene. In Gruppen kommen und gehen die Arbeitslosen. Ich warte, warte. Endlich geht die Frau, Rothacker sieht sich um, kommt auf mich zu. Es muss etwas Schreckliches passiert sein. Rothackers Gesicht ist leichenblass, die Augen unter den Brillengläsern sind unnatürlich groß und doch wie verschleiert. Er nimmt schweigend meinen Arm, zieht mich zum Straßenausgang. Seine Kinnladen mahlen. Ich möchte ihn fragen, bringe aber kein Wort heraus. Es würgt mir in der Kehle. Da fängt Rothacker leise und abgerissen an zu sprechen.
„Unsere Nachbarin - Else hat sie geschickt - sie sollte mich hier abfangen —"
Pause. Ich presse seinen Arm.
„SA ist in unserer Wohnung - sie gingen für kurze Zeit weg - Else konnte der Nachbarin Bescheid sagen. - Sie wollte dann mit dem Kind zur Polizei - im Hausflur haben sie zwei SA-Leute abgefangen - die sitzen jetzt in der Wohnung -warten."
Rothacker schweigt, sieht starr geradeaus. SA! - SA bei Rothacker?! Weshalb gerade bei ihm? - Ich ziehe ihn aus dem Gewühl der Buden in eine Seitenstraße. Er lässt sich wie ein Kind führen, merkt es wohl gar nicht.
„Else hat einen polizeilichen Ausweis verlangt - sie haben nur höhnisch gelacht. - Nur SA - Dreiunddreißiger! - Noch nicht mal Hilfspolizei!" Er sieht mich an. „Kannst du dir das -so ohne jeden direkten Anlass -?"
„Muss verspitzelt sein", sage ich würgend.
Rothacker nickt stumm. - Spitzel! Der Gedanke lässt mich nicht mehr los. Vor zwei Wochen den Zeitungsausträger verhaftet - den niemand bei uns kannte - jetzt Rothacker! Ich lasse die einzelnen Genossen an mir vorbeiziehen - wer kann? - Hat keinen Zweck, zu grübeln, jetzt muss man für Rothacker sorgen.
„Zurück kannst du natürlich nicht, Erich. Fahre in den neuen Bezirk von Franz. Wohnst vorläufig in dem Quartier, das er uns für diese Fälle besorgt hat. Bei den Lamprechts."
Rothacker antwortet lange nicht.
Dann sagt er: „Bei mir ist das alles nicht so einfach wie bei Franz. Was wird aus Else und dem Kind? - Aus der Wohnung? Die Wohlfahrt wird ihr die Unterstützung nicht zahlen!"
„Erich! Wir werden doch für sie sorgen. Wie alles kommt, wird man sehen. Jetzt musst du doch erst mal weg!"
Rothacker dreht den Kopf mit einem Ruck herum, sieht mich an.
„Und wenn sie Else verhaften? - Weil sie mich nicht finden!"
Ich lege ihm den Arm um die Schulter.
„Glaube ich nicht, Erich."
Er schweigt wieder lange. Wir biegen um eine Ecke. Die Straße hier ist menschenleer.
„Nur SA - und keinen amtlichen Ausweis?" sagt Rothacker wieder gedehnt. „Ich muss erfahren, ob die Polizei überhaupt mit im Spiel ist, davon hängt alles andere ab!"
„Aber du kannst doch jetzt nicht mehr..."
Rothacker fällt mir ins Wort. „Warum nicht? Ich gehe zu unserem Polizeirevier. Meine Wohnung ist ,sauber', ein besonderer Anlass kann nicht vorliegen - was kann mir da schon passieren?"
Ich versuche, ihm den Gedanken auszureden. Rothacker bleibt aber bei seiner Meinung.
„Gut. Dann bringe ich dich bis zur Ecke. Warte dort auf dich."
Rothacker ist drüben in der Polizeiwache verschwunden. Ich gehe langsam auf und ab. Die Polizei! Verglichen mit der SA ist sie direkt eine „harmlose" Behörde geworden. Ich kenne Fälle, wo Genossen, die von der SA gesucht wurden, sich in letzter Minute selbst der Polizei gestellt haben. Die Polizeischutzhaft rettete sie immerhin oft vor dem „auf der Flucht erschossen" —
Auf der Polizeiwache bat Rothacker, den Vorsteher sprechen zu dürfen. Der diensttuende Beamte sah ihn prüfend an.
„In welcher Angelegenheit?" fragte er.
„Ich bin Frontsoldat und habe eine persönliche Bitte, die ich nur dem Herrn Vorsteher vortragen kann", sagte Rothacker.
Der Beamte überlegte einen Augenblick. „Moment, bitte", sagte er dann. Er kam bald zurück und ließ die Tür zum Nebenzimmer angelehnt.
„So, bitte", sagte er.
Der Reviervorsteher war ein Mann mit grauem Haar. Er saß vor einem Schreibtisch, über dem ein Hitlerbild hing. Rothacker wurde nun doch unsicher. Der Vorsteher machte eine müde Handbewegung zu dem Stuhl an der Seite des Schreibtisches.
„Bitte, setzen Sie sich", sagte er. Und dann: „Sie wünschen?"
Rothacker nannte seinen Namen, gab seine Wohnung an und erzählte dann den Vorfall. Er studierte dabei aufmerksam das Gesicht des anderen. Es blieb unbewegt. Der Mann hörte ruhig zu, seine Hände spielten mit einem Brieföffner. Rothacker erwähnte wieder seine Kriegszeit, zählte seine Verwundungen auf und sagte dann: „Ich kann mir das alles nicht erklären. Wollte mich nun bei Ihnen erkundigen, ob und was gegen mich vorliegt."
Der Vorsteher sah ihn an. Er hatte ruhige Augen, weiße Augenbrauen darüber.
„Sie waren noch gar nicht zu Haus?" fragte er.
„Nein. Ich hörte unterwegs davon", sagte Rothacker.
Das hättest du nicht sagen sollen, dachte Rothacker, als der Satz heraus war. Aber wie soll ich es denn erfahren haben? Die Frage hatte der geschickt gestellt. - Der Vorsteher stand auf, ging im Raum auf und ab, dann blieb er vor Rothacker stehen.
„Bei uns liegt nichts gegen Sie vor, Herr Rothacker", sagte er. Und nach einer Pause: „Wir können auch nichts daran ändern."
Er ging wieder auf und ab, kam zu Rothacker zurück und sagte leise, als könne man es sonst draußen hören: „Wie gesagt - ich kann Ihnen da keinen Rat geben, Herr Rothacker."
Der ist noch vom alten Stamm, dachte Rothacker befriedigt. Die Polizei war gegen die SA machtlos, das wusste er. Aber er hatte nun endgültige Gewissheit, dass die Polizei nicht beteiligt war, also auch nichts über seine illegale Arbeit wusste. Er bedankte sich höflich. Der Vorsteher brachte ihn sogar noch bis zur Tür.
Als mir Rothacker dies erzählte, machte ich ihm erneut klar, dass es im Moment für ihn nur einen Ausweg gab: zu Lamprechts zu fahren. Er willigte dann auch ein. Ich sah ihm an, wie er unter dem Gedanken an Frau und Kind litt. Ich versprach ihm, alles für sie zu tun.
Die Situation blieb so. Die SA verschwand zwar aus Rothackers Wohnung, aber sie kam alle zwei Tage wieder, und wir stellten fest, dass die Wohnung ständig beobachtet wurde. Mit Hilfe der Nachbarin brachten wir nach und nach die notwendigsten Sachen heraus. In einem abgepassten Augenblick verschwand auch Else mit dem Kind. Die Wohnungseinrichtung beschlagnahmte der Hauswirt für die Mietschulden.
Aus einem schlesischen Grenzort traf ein paar Tage später ein verabredeter Brief bei uns ein. Darin schilderte eine Verwandte den diesjährigen guten Ernteertrag. Sie schrieb, dass alle noch gesund und munter seien, und berichtete dann zum Schluss über den Tod des alten Schäfers im Dorf. Wir hätten ihn ja auch gut gekannt, schrieb sie, er sei nun glücklich drüben, bei seinem Herrgott. Rothacker war mit seiner Familie emigriert.
Wir haben im Einverständnis mit der Stadtteilleitung (nur durch ihre zentralen Verbindungen konnten wir Rothacker mit seiner Familie so schnell weiterleiten) jede Zeitungs- und Flugblattpropaganda in unserer Straße eingestellt. Die Genossen der Stadtteilleitung, auch Franz, mit dem ich sprach, sind wie wir überzeugt, dass unsere letzten Verluste nicht auf Zufälle zurückzuführen sind. Unser Spitzelverdacht, den wir schon bei der Verhaftung unseres Zeitungsausträgers hatten, ist uns jetzt zur Gewissheit geworden. Wie kommt die SA auf Rothacker, auf ein Mitglied der Gruppenleitung? Ja, nach Rothackers Verschwinden sind wieder zwei Genossen verhaftet worden. Sympathisierende, die nur Zeitungsabonnenten waren. Es ist jedoch nichts bei ihnen gefunden worden.
Ich habe mit Schwiebus und Teichert die Situation gründlich durchgesprochen. Wir sind bei der Durchsicht der einzelnen Genossen auf zwei gekommen, die uns nach den letzten Vorkommnissen nicht mehr „waschecht" erscheinen. Wir haben sie vorläufig stillschweigend abgehängt und werden sie jetzt genau beobachten. Dann sind wir zu den zuverlässigen Genossen gegangen und haben sie angewiesen, sich vorläufig auf mündliche Propaganda zu beschränken. Wir haben für die Verbindung mit ihnen, ja sogar mit der Sadtteilleitung, neue Treffs vereinbart und auch die dafür bestimmten Genossen ausgewechselt. Wir haben jedem noch einmal eingeschärft, sich keinerlei Notizen zu machen. Telefonnummern, Tage und Stunden des Treffs müssen im Kopf behalten werden. Nur im äußersten Falle dürfen für Notizen schmale Seidenpapierzettel verwandt werden, die man schnell verschlucken kann.
Wir haben den Genossen Diskussionsstoff genug genannt. Die Teuerungswelle ist weiter gestiegen. Die Unzufriedenheit geht jetzt schon weit bis in die Kleinbürgerschichten hinein. Es sind sicher Tausende „Meckerer" dabei, die früher mal Hitler gewählt haben. Die in Arbeit stehen, verlieren durch die hohen Abzüge und die dauernden „freiwilligen" Spenden ein Viertel ihres Lohnes. Das macht die Teuerung noch ärger. Die Ledigen aber schimpfen noch mehr. Ihre Abzüge sind durch die hohe Ledigensteuer noch größer. Zwei Bemerkungen, die ich neulich beim Einkaufen hörte, sind dafür kennzeichnend. Eine gut angezogene Frau, sie trug ein Naziabzeichen, verlangte ein Pfund Schmalz.
„Schmalz?" fragte die Verkäuferin, die sie sicher kannte, erstaunt. „Natürlich, wer kann denn heute noch Butter essen?" sagte die Frau. Die Verkäuferin: „Aber Sie haben doch eine schöne Neubauwohnung?" - „Ja, die haben wir nun mal", sagte die Frau nur und brach das Gespräch ab. Es war ihr wohl zum Bewusstsein gekommen, dass sie schon zuviel gesagt hatte.
Der andere Fall: Ein Mann in mittleren Jahren klagte der Gemüsefrau, dass er allein neun Mark im Monat Ledigensteuer zahlen müsse. „Sie müssen eben heiraten", sagte die Gemüsefrau. „Ich danke", sagte der Mann. „Wissen Sie, dass die Monatsexistenz für ein Ehepaar mit einem Kind auf hundertzwanzig Mark festgesetzt worden ist?! Falls die Ehefrau auch noch Arbeit hat und sie verdienen zusammen mehr, gilt das als Doppelverdienertum." - „Na ja", sagte die Geschäftsfrau, „damit würden die ja auch nicht heiraten." Ich war sehr
erstaunt. Gerade die Geschäftsleute haben immer auf alle „Anzapfungen" geschwiegen. Sie fürchteten mit Recht, mehr als jeder andere, für ihre Existenz. Vor Hitlers Machtantritt haben die Nazizeitungen diese Abzüge selbst „Negersteuer" genannt.
Ja, die Genossen haben genug Diskussionsstoff. Der Maikowski-Prozeß ist in Vorbereitung. In unserer Straße ist ein Lokaltermin gemacht worden. Die Polizei hatte in weitem Kreis abgesperrt. Wir konnten die angeklagten Genossen nicht erkennen. Unsere Sorge um die Genossen wächst täglich. Was wird aus ihnen? Was wird aus Richard Hüttig - unserem Häuserschutzstaffelleiter? -
Und doch: es ist ein Ereignis eingetreten, das den bald beginnenden Maikowski-Prozeß in der Öffentlichkeit überschattet, das jeden Genossen bis ins Innerste aufwühlt. Der Reichstagsbrandprozeß hat begonnen! Wir wussten zuerst nur den Namen von Dimitroff. Nicht viel mehr. Dieser Name ist plötzlich ein Begriff geworden. Dimitroffs furchtlose, kühne Worte hallen durch ganz Deutschland - durch die ganze Welt. Wir wissen es aus ausländischen Zeitungen, aus Rundfunkmeldungen. Jedes seiner Worte wird zu einer Quelle neuer Kraft für unsere Genossen. Seine Sätze gehen von Mund zu Mund. Werden durch Straßen und Häuser getragen, werfen Echo in die kleinsten Arbeiterwohnungen. Nicht nur das -etwas Unglaubliches ist geschehen. Die tausendfach mundtot gemachte öffentliche Meinung ist über Nacht wieder da. Zum ersten Mal erlebe ich, dass die Menschen in der Straßenbahn, auf den Plätzen, in den Geschäften, überall politische Gespräche führen. „Was hat Dimitroff heute gesagt?" Überall hört man diese Frage. Die Zeitungen mit den neuesten Prozessberichten werden den Händlern aus den Händen gerissen. Wir Genossen wissen: ein Kommunist, der monatelang in Ketten gelegen hat, steht vor dem höchsten Gericht des Dritten Reiches. Ein Kommunist, der in dieser Zeit mit übermenschlicher Anstrengung die fremde Sprache, ja die fremden Gesetze studiert hat und jetzt die „Begründungen" und „Anklagen" der bestellten Richter mit messerscharfen Argumenten widerlegt. Noch mehr: Dimitroff geht zum Angriff über. Er stellt Anträge, erzwingt Zeugenverhöre, die den Nazibrandstiftern die Maske vom Gesicht reißen.
Das ist ein Revolutionär! Er gibt Tausenden deutschen Arbeitern neuen Mut, gibt ihnen den Glauben an die Kraft ihrer Klasse zurück. Hilde erzählt uns, dass Dimitroffs Worte selbst bei eingefleischten Nazis ihre Wirkung nicht verfehlen. Sie hat bei den Gesprächen ihres Bruders mit seinen SA-Leuten den Eindruck, dass viele von ihnen über die wahren Zusammenhänge des Reichstagsbrandes nachzudenken beginnen. Sie sagt, dass diese SA-Leute, die doch die politischen und praktischen Argumente Dimitroffs ablehnen, unverhüllt ihre Sympathie für ihn äußern. Sie bewundern seine Kühnheit. „Der fehlt uns - von denen bei uns ein paar", so drücken sie sich aus. Wir hören jetzt regelmäßig die Schallplattenübertragungen vom Prozess im Rundfunk. Der Rundfunkreporter versucht jedes Mal, mit gemeinen, gehässigen Worten die ohnehin verstümmelt wiedergegebenen Worte Dimitroffs zu entkräften. Und doch kann er den Eindruck selbst dieser wenigen Sätze nicht verwischen! Er erzielt mit seinem Zynismus und Spott bei uns die gegenteilige Wirkung. Jedes Mal wird uns klar: Was muss Dimitroff erst im Zusammenhang gesagt haben!
Heute erkennt die Mehrheit der deutschen Bevölkerung die wahren Brandstifter. Die Naziminister und -führer stehen am Pranger. Sie haben das sehr wohl begriffen, versuchen jetzt zu retten, was zu retten ist. Die Zeitungen dürfen seit einigen Tagen keine Gesprächsauszüge vom Prozess mehr bringen. Sie berichten nur noch über den Gesamtverlauf der Verhandlung. Im Rundfunk sind die Schallplattenübertragungen von der Prozessverhandlung immer spärlicher geworden. Seit zwei Tagen haben sie ganz aufgehört.
Wie viel doch ein einzelner Mensch manchmal machen kann!
Es ist Sonntag morgen und strahlendes Wetter. Ich stehe mit meinem Fahrrad an der Straßenecke eines Außenbezirks. In
meinem kleinen Rucksack ist nur Proviant für den Tag. Doch diese Radfahrt ins Grüne wird heute kein Privatausflug. Ich warte auf Bruno', den früheren Fichteboxer mit der „Knollennase". Ich muss an die Nacht in dem Tanzlokal denken, als Franz und ich als „Hilfsmonteure" von Rudi und Bruno unsere Zeitung abzogen. Der Rotkopf Rudi mit dem Sommersprossengesicht und Bruno sind nicht nur Arbeitskollegen, sondern auch unzertrennliche Freunde und die kühnsten Genossen im Bezirk, hat mir Franz erzählt. Passen auch gut zusammen. Für Brunos „Berliner Schnauze" und Draufgängertum sind Rudis Ruhe und genaues Abtaxieren jeder Situation der richtige Ausgleich. Als ich Anfang der Woche bei ihnen war und mit Franz über unsere neue Situation sprach, haben wir diese Fahrt verabredet. Die Genossen haben dort mit den Resten der SAJ-Gruppe Verbindung bekommen. Einer der sozialdemokratischen Jugendgenossen soll in einem Charlottenburger Betrieb beschäftigt sein. Die Fahrt heute soll uns überhaupt erst mal mit allen in direkten Kontakt bringen. Bruno und Rudi sprachen bisher nur mit zwei von diesen Genossen. Die seien schon bereit, mit uns zu arbeiten, und hätten die Fahrt vorgeschlagen. Wir sollen aber bei den anderen Genossen nicht gleich „mit der Tür ins Haus fallen", sie hätten noch „Bauchschmerzen", haben sie gesagt. Rudi musste nach außerhalb, auf Montage, und Franz wollte aus taktischen Gründen nicht gleich mit den SAJ-Genossen zusammenkommen. Sie baten mich deshalb, mitzufahren. Ich hätte aus meiner Zeit als Jugendgruppenleiter das nötige Einfühlungsvermögen für die SAJ-Genossen, meinte Franz. -
„Morjen, Karl."
Ich fahre herum. Bruno ist hier. Er ist lautlos herangerollt, stützt ein Bein auf den Asphalt, das andere steckt noch im Pedal.
Karl - kommt mir noch immer so fremd vor - doch hier kennen sie mich ja nur unter diesem Namen. Ein schönes leichtes Rennrad hat er. Der Lack, die Speichen blitzen.
„Ich dachte, du kommst von dort!"
Ich nicke in die Straßenrichtung, aus der ich ihn erwartet hatte. Bruno schüttelt mir die Hand.
„Sonst schon - aber heute..." Er lächelt verschmitzt. „Hab doch erst die knallige Sache abjeholt."
„Hast du es tatsächlich mit?!"
„Klar, wenn ick's zusage." Er klopft auf die Ledertasche, die auf dem Gepäckträger aufgeschnallt ist.,Jut verpackt."
Wir fahren los. Die „knallige Sache" hat er mit - das kleine, eng gedruckte Buch - das illegale Braunbuch über den Reichstagsbrand und Hitlerterror. Wir wissen schon lange davon. Im Reichstagsbrandprozeß griff der Senatspräsident Bünger wiederholt das „berüchtigte" Braunbuch an. Die gleichgeschaltete Presse tobt schon wochenlang über „das schmierige Hetzprodukt der Emigranten". Wir haben uns jedes Mal unbändig gefreut. Wir sind gewohnt, zwischen den Zeilen zu lesen. Ein Schlag gegen die Hitlerdiktatur musste dieses Buch sein. Genossen hörten dann im Moskauer Rundfunk Einzelheiten, hörten, welch ein Welterfolg das Buch mit seinem unwiderlegbaren Material sei. Ich erfuhr ja schon damals bei dem Genossen im Nachbarbezirk von dem Buch und dem Gegenprozeß in London. Wie jeder von uns das alles aufgenommen hat! Wir kämpfen nicht isoliert. Die Genossen im Ausland mobilisieren die Weltöffentlichkeit! Es hat in den ersten Monaten sogar einige bei uns gegeben, die alle emigrierten Genossen verächtlich als die „Getürmten" bezeichneten. Seit sie aber von ihrer wirkungsvollen Arbeit gegen Hitlerdeutschland hörten, haben sie diese falsche Meinung aufgegeben. - Bei Franz sah ich das Buch zum erstenmal. In deren Bezirk klappt es überhaupt! Sie haben sogar regelmäßig die „Arbeiter Illustrierte Zeitung" aus Prag. Feste Abonnenten haben sie dafür. Wie sich Franz immer freut, wenn ich große Augen mache. Wenn wir dieses Material auch in unsere Straße bringen könnten - aber jetzt - unmöglich.
Meine Füße treten mechanisch die Pedale. Ich sehe Bruno an. Er nickt mir zu, lächelt. Wir fahren ziemlich schnell. Die Häuser stehen nur noch vereinzelt. Vorstadtstraßen. - Er hat es also doch mitgebracht! Ich war bei Franz dagegen. Was schrieb die Presse? - Fünfzehn Jahre Zuchthaus - für den Besitz eines Exemplars. Und für die Verbreitung? Zu den SAJ-Genossen mitnehmen, draußen lesen! - habe ich Franz widersprochen. Bruno und Rudi kennen die Genossen jahrelang, sie sind alle zuverlässig, hat Franz erklärt. Es wird für sie ein Erlebnis sein. Sie werden sich eher überzeugen lassen, mitzuarbeiten, wenn sie sehen, wie wir arbeiten, was wir für Material haben. Werden wir ja heute sehen. Franz war immer verantwortungsbewusst; wenn er die Sache so beurteilt, wird's richtig sein —
Wir biegen links ein. Eine breite Chaussee. Bruno fährt jetzt vor mir. Er ist „Schrittmacher". Fährt 'ne ganz schöne Kelle, der Junge. Ich muss immer wieder zu der Ledertasche auf seinem Gepäckträger sehen. Fünfzehn Jahre - wie alt bin ich dann? Unsinn! - - Bruno sieht nach der Armbanduhr. Er dreht leicht den Kopf, seine Beine trampeln weiter. „Wird klappen - wir müss'n se pünktlich treffen!" ruft er.
Die Chausseebäume fliegen vorbei. Die Blätter färben sich schon. Herbst. Die Sonne ist noch heiß - oder ist es das Tempo? Ich schwitze. Ein Lastauto kommt uns entgegen. SA! Dicht stehen die braunen Uniformen auf dem offenen Wagen. Auf dem Dach des Chauffeurkastens sitzt einer und hält mit beiden Händen eine flatternde Hakenkreuzfahne. Wir heben den Arm. Wir fahren, fahren. Links und rechts sind immer wieder weite Felder. Bisweilen kommt eine Schonung bis an die Chaussee heran. Ich lese die Zahlen an den Kilometersteinen. Ganz schöne lange Tour. Wieder taucht eine Kirchturmspitze am Chausseerand auf. Bald darauf sind wir in dem Dorf. Bruno springt vom Rad.
„Links hinter der Kirche wollte eener warten", sagt er. Er fährt sich mit dem Handrücken über die Stirn, über die kurzgeschorenen dunklen Haare.
„Nur einer?"
„Der bringt uns zu die andern. Liegen am See."
Wir schieben die Räder langsam vor uns her. Ein alter Bauer sitzt vor seiner Hoftür in der Sonne und schmaucht seine Pfeife. Am Wirtshaus links stehen einige SA-Uniformen. Stämmige Burschen. - Die Kommunisten wollen euch enteignen - die letzte Ziege im Stall soll geteilt werden - teilen, teilen! Im Bezirk Norden haben die Genossen wieder begonnen, Landarbeit zu machen, hat mir Franz erzählt. Wird schwere Arbeit sein. Wie muss es unsern Genossen in den Dörfern, den kleinen Provinzstädten ergangen sein! Jeder kannte sie doch!
Ein Holzschild, auf einem bunt bemalten Pfahl: „Adolf-Hitler-Platz". Es ist ein breiter Grasflecken mit einem schmutzigen Pfuhl in der Mitte, auf dem Enten schwimmen. Das runde Holzgitter mit den eingelassenen Hakenkreuzen soll es wohl machen. Ein dünnes Bäumchen steht in der Mitte des Gatters. „Hitler-Eiche" verkündet ein Schild.
Da kommt ja die Dorfkirche! „Is schon da!" sagt Bruno, als wir um die Kirche herum sind. Auf einem weiß gestrichenen Stein am Chausseerand sitzt ein junger Bursche. Er springt auf, kommt uns entgegen. Er trägt kurze Kniehosen, ein blaues Hemd, das am Hals weit offensteht. Ein Militärbrotbeutel hängt über seiner linken Schulter. Ein frisches, offenes Gesicht, langes, braunes Haar. Der kann noch nicht zwanzig sein. Wandervogeltyp. Wie Heinz Preuß. Sehen alle ähnlich aus. Wo mag Heinz jetzt sein - im Konzentrationslager?
„Ahoi", sagt der junge Genosse und schüttelt uns die Hand.
„Ahoi", sagt Bruno lächelnd.
Ahoi: Adolf Hitler ohne Interesse!
„Hast lange jewartet, Alfred?"
„War gerade gekommen."
„Is noch weit?"
„Zehn Minuten."
Wir biegen bald von der Chaussee rechts ab, in einen Waldweg ein. Es geht dann an einem Seeufer entlang. Zelte stehen dort, Boote liegen am Ufer. Sicher ein Wassersportlerzeltplatz.
„Noch ein Stück. Wir liegen allein", sagt Alfred.
„Is ooch nötich!" sagt Bruno.
Alfred dreht überrascht den Kopf. „Hast du's mitgebracht?"
„Selbstverständlich."
„Wird 'ne Sache", freut sich Alfred. „Ihr müsst aber sehr taktisch diskutieren - die stehen alle noch unter Herberts Einfluss."
„Wer'n wir schon deichseln", sagt Bruno. Er macht eine Kopfbewegung zu mir hin. „Karl is Charlottenburger. Du arbeetest doch in eener Charlottenburger Bude, Alfred?"
„Ja."
„Müsst euch nachher mal unterhalten."
„Ja, gut."
Diesen Alfred meinte also Franz, mit dem wir arbeiten könnten. Scheint gut zu sein, der Junge. Sollte ja noch einer dabei sein, der schon zur Zusammenarbeit bereit ist. „Die stehen alle noch unter Herberts Einfluss -." Wird der Leiter der Gruppe sein, dieser Herbert.
Wir schieben die Räder über eine kleine Lichtung. Ein Zelt steht dicht am Schilf. Daneben liegen sie auf dem schmalen Grasstreifen des Ufers in der prallen Sonne. Zwei, drei -sechs Jungens und zwei Mädels. Wir lehnen unsere Räder an einen Baum.
Die Genossen geben uns die Hand, nennen wie wir ihre Vornamen. Alles junge, frische Gesichter. Die Mädels sehen in ihren Miederkleidern sehr nach Jugendbewegung aus. Eine trägt das blonde Haar in dicken Schnecken.
„Schöne Ecke habt ihr ausjesucht", lobt Bruno.
Er fühlt wohl wie ich das Formelle der Begrüßung, will überbrücken.
„Wie immer", sagt Alfred.
Das also ist der Herbert. Er hat seinen Namen halb geflüstert. Er ist groß und hager. Das blasse Gesicht trägt eine Brille ohne Ränder. Er ist der Älteste hier. Sein dunkles Haar ist sorgfältig gescheitelt, er hat einen Knickerbockeranzug an. Die anderen tragen nur Kniehosen. Ich setze mich zu den Genossen. Bruno spricht leise mit dem Herbert, kommt dann zu mir und gibt mir einen Klaps auf die Schulter.
„Erst unsre Sachen hol'n, könn' nich da oben bleiben."
Wir gehen zum Waldrand zurück.
Bruno sagt: „Wir leg'n unsre Klamotten 'n Stück abseits. Falls watt schief jeht, genügt's, wenn wir's alleene sind."
„Hast du diesem Herbert von dem Buch gesagt?"
„Ja. Alfred hatte ihn ooch schon daruff vorbereitet. Bei dem Herbert wirste nie warm. Wär doch für jeden 'ne Überraschung. ,Lesen wir dann später', hat er trocken jesacht."
Dass ich bei diesem Herbert gleich im ersten Augenblick dieselbe Empfindung hatte! Wird eine harte Nuss werden.
Wir legen die Räder und das Gepäck links von der Gruppe an das Schilf.
„Der da mit dem Seil is der andere, mit dem wir uns schon einich sind. Willi heißt er, Alfreds Freund", sagte Bruno leise.
Es ist ein kleiner untersetzter Bursche, der dicht am Wasser Seil springt. Seine Füße berühren kaum den Stand, seine Haare fliegen. Dann sitzen wir wieder bei den andern. Bruno erzählt, dass wir nur knapp anderthalb Stunden gefahren sind. Er sei zum ersten Mal in dieser Gegend. Ob sie sich hier auskennen, fragt er, etwas über die Stimmung der Bauern wüssten? Ich stelle auch einige Fragen. So bemühen wir uns, in stummer Verabredung, ein Gespräch in Gang zu bringen. Ohne Erfolg. Die Fragen werden beantwortet, aber ich fühle, keiner der Genossen geht aus sich heraus. Wir sind ihnen noch fremd. Das steht wie eine trennende Wand zwischen uns. Drüben am anderen Ufer wären sie schon mal gewesen, hätten hier aber noch nie bei Bauern geschlafen, sagt einer. Brunos Rennrad wäre prima, er spare selbst für ein Rad, meint ein anderer. Dann ist wieder Schweigen. Der Herbert liegt auf seiner Decke, schaut in den Himmel. Er hat kein Wort gesagt. Alfreds Vorschlag, Faustball zu spielen, findet allgemeine Zustimmung. Mit Lärm und Geschrei werden zwei Mannschaften gewählt. Nur Herbert erklärt, dass er sich weiter sonnen will.
Ich spanne mit Alfred eine Schnur zwischen zwei Bäume. Dabei bestätigt er meine Gedanken.
Er sagt: „Ihr beide müsst erst persönlichen Kontakt kriegen, sie sind alle nur aufeinander eingestellt."
„Wir beide könnten uns doch außerdem einen Tag treffen. Wo arbeitest du in Charlottenburg?" ergreife ich die Gelegenheit.
Alfred nennt einen großen Metallbetrieb. Er knotet die Schnur fest. Schweigt. Hat der seine Zusage auf dem Herweg schon bereut?
Da sagt er langsam: „Die Arbeit darf ich nicht verlier'n. Ich hab eine alte Mutter, mein Vater ist tot." Und dann: „Ich muss also im Betrieb vorsichtig sein, ich sag dir das gleich ganz offen."
Ich lege ihm die Hand auf die Schulter.
„Das verstehn wir doch, Alfred. Wenn du uns Berichte von der Stimmung im Betrieb bringst, ist das schon viel wert. -Über alles kann man in Ruhe sprechen. Hast du Dienstag nach Feierabend Zeit?"
„Dienstag? - Ja geht."
Er nennt mir die Zeit und den Bahnhof, von dem er abends nach Hause fährt. An der Ecke, bei der Konditorei, soll ich auf ihn warten.
Wir spielen lange. Es wird Mittag und sehr heiß. Mit Hallo geht es ins Wasser. Wir bilden eine Kette und schnellen die Mädels auf unseren ausgestreckten Armen in den See. Sie kreischen laut.
„Halt fest, Karl! - Jetzt hoch, Karl! -" Die Rufe, die Gebärden aller zeigen mir: jetzt gehören wir dazu, sind Kameraden. Der Herbert macht wieder nicht mit. Er steht am Ufer, sieht uns zu. Er hat immer noch dasselbe ernste Gesicht. Bruno steht plötzlich vor mir. Er lacht. Seine Nase ist noch breiter, von den Haaren läuft ihm das Wasser. - „Nachher legen wir los -", sagt er leise. Ich nicke —
Jeder kramt seine Esswaren heraus. Die beiden Mädels kochen auf zwei Spirituskochern Kaffee. Ich sehe ihnen zu.
Vorigen Sonntag war ich mit Käthe an der Havel. Abends haben wir uns schon am Stadtbahnhof getrennt. Kann man jetzt überhaupt ein Mädel haben! Ich kann nicht zu ihr, sie nicht zu mir nach Hause kommen.
„Schmeißen wir doch allet zusamm'n, is mehr Auswahl, schmeckt dann ooch besser", sagt Bruno.
In unseren Jugendgruppen haben wir uns immer kollektiv verpflegt. Bruno kennt das sicher nicht anders. Ich merke an der fröhlichen Zustimmung, dass alle seinen Vorschlag als neuen Beweis unserer Kameradschaft empfinden. Jeder kaut mit vollen Backen. Ich blinzle Bruno zu. Er nickt unmerklich mit dem Kopf.
Er sagt: „Wir müssten öfter zusammenkomm'n, Jenossen. Nich bloß uff Fahrt, ooch in der Stadt. Gerade wir jungen Jenossen müss'n jetzt zusammenhalten - uff uns wird's doch mal ankomm'n!"
„Ja, er hat recht."
„Wär knorke..."
„Die Fahrten geben uns auch nicht genug", wirft Alfred ein, „man müsste sich mal richtig unterhalten, was Vernünftiges lesen..."
Ich beobachte gespannt die Gesichter. Sind scheinbar alle damit einverstanden. Der Herbert aber? Er sagt kein Wort, sein Gesicht ist wie verhangen, nur die Augen hinter den Brillengläsern mustern jeden der Reihe nach, als wollten sie die Wirkung von Brunos Worten prüfen.
„Wat ,Vernünftiges' zu lesen könnte ick besorjen", sagt Bruno. „Am besten is, wir verabreden uns schon heute. Vielleicht kann man bei einem von euch zusammenkommen, wenn nich, würde ick..."
„Ich bin anderer Meinung!" fällt ihm da Herbert ins Wort. Er stellt den Feldbecher vor sich hin. Alle sehen ihn an. „Wir würden in eure Agitations- und Propagandaarbeit hineingezogen werden. Darauf läuft doch der Vorschlag hinaus!"
„Wieso hineinjezogen?" sagt Bruno ruhig. „Könnte sich mit der Zeit erjeben - hängt aber doch janz von eurem Willen ab -. wir würden uns natürlich mächtich freun, wenn ihr mitmacht."
„Wir wollen die sozialistischen Kader erhalten, nicht, wie ihr, sinnlos gefährden!" sagt Herbert.
Ich sehe, wie zwei der Jungens zustimmend nicken. Wenn es uns jetzt nicht gelingt, sie zu überzeugen, ist's vorbei.
Bruno sagt: „Ick gloobe, dett wir so von ,wir' und ,ihr' nich reden dürf'n, Jenossen. Die Nazis zeigen uns mit ihrem Terror täglich, dett wir für sie een Feind sind. Wir müss'n uns finden, besonders wir jungen Jenossen. Denkt an Karl Liebknecht, der die Jugend mitten im Krieg zum Widerstand jesammelt hat. Seid überzeucht, wir überlegen jeden Schritt. Niemand von uns jefährdet leichtsinnich eenen Jenossen."
Pause.
Da niemand etwas sagt, fange ich wieder an: „Glaubt ihr denn, dass der Faschismus von selbst stürzt? Wollt ihr nur immer zusammenkommen, um euch zu bestätigen, dass ihr noch die alten seid? Die Arbeiterjugend stand immer in der ersten Reihe, Genossen. So muss es auch heute sein. Wir müssen gemeinsam kämpfen!"
Eine Zeitlang ist wieder Schweigen. Die Stille bringt mir plötzlich die Möglichkeit einer Gefahr zum Bewusstsein. Ich sehe mich um. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Der See liegt still und glatt. Die Sonnenstrahlen flimmern auf dem Wasser.
Da sagt Herbert wieder: „Natürlich. Ihr habt immer .gekämpft'. Vor allem gegen unsere ,Bonzen'."
Ich sehe auf seinen zusammengekniffenen Mund. Warum nur die andern nichts sagen? Denken sie wie der Herbert?
„Jenosse Herbert, so komm'n wir doch nich weita", sagt Bruno eindringlich. „Wir hätten Jrund jenuch, über die janzen Jahre vor Hitler zu reden. Ooch darüber, dett eure Führa sojar dem Adolf in seinem ersten Reichstach zugestimmt harn. Dett sie noch zu seiner ,Maifeier' aufjefordert ham. Nich die Spur woll'n wir davon reden, sag ick dir. Dett war - jetzt aber woll'n wir weiter."
Wieder Schweigen.
„Ich für meinen Teil bin derselben Ansicht", sagt da Alfred. Er dreht den Kopf in die Runde. „Was meint ihr denn dazu?"
Endlich meldet er sich, endlich, freue ich mich.
„Hast recht", unterstützt ihn der Willi, „dass die Gruppe noch so zusammenblieb, ist Herberts Verdienst - aber das genügt jetzt nicht mehr."
„Ich mach mit", meldet sich auch der Genosse neben ihm.
„Ich auch."
Das Mädel mit den Schnecken!
„Ick werde mit Herbert und Alfred allet besprechen", sagt Bruno schnell, „die sag'n euch denn Bescheid." Er sieht Herbert an. „Lesen wir jetzt, ja? Dett wird sonst zu spät."
Das macht er gut. Den Herbert als Führer der Gruppe zu respektieren, das ist richtig. Ich merke, wie sich Herbert einen Ruck gibt. Er sagt: „Bleibt so zwanglos sitzen, es muss harmlos aussehen - die Genossen haben uns wichtiges Material mitgebracht - das Braunbuch."
Der Genosse neben mir auf der Decke richtet sich mit einem Ruck auf. Dem Mädel drüben klappt vor Überraschung der Mund auf. Die Augen glänzen, alle stoßen sich an. - „Das richtige Braunbuch -?- Das im Prozess -?"
„Ruhig! Ihr wisst, was das alles für uns hier bedeuten kann!" sagt Herbert grob. Er hat auch recht. Vieles an ihm ist doch richtig.
Es wird ganz still. Alle sehen Bruno nach, der zu unserem Gepäck hinübergeht. Als er zurück ist, recken alle die Köpfe. Jeder will das kleine Buch sehen.
„Einer muss oben am Wegrand sein - wir müssen uns vor Überraschungen sichern", sage ich.
Niemand will gehen. Alle brennen darauf, zuzuhören. Ich stehe auf. „Lösen wir uns ab. Wenn ich mich oben hinsetze, könnt ihr anfangen."
Der See liegt als breite, glitzernde Fläche unter mir. Es ist windstill. Wie herrlich kühl das Gras im Schatten ist! Sehen wirklich alle nur nach Wochenendlern aus, die dort unten.
Einige liegen ganz ausgestreckt, mit dem Gesicht zur Sonne! Bruno hat die Arme aufgestützt, den Kopf in die Hände gelegt. Ich lausche angestrengt. Bis hier herauf ist nichts zu hören - er wird auch halblaut lesen. Wie sie sich gefreut haben! Franz hatte recht, wir werden sie damit alle zur Mitarbeit anregen. Wer ruft denn da?! Ich sehe niemand. Das ist wohl bei den Zelten dort vorn. Die spielen Ball. Bisweilen kommt Tanzmusik herüber. Ein Koffergrammophon haben sie sogar —
Die dritte Ablösung ist nach oben gegangen. Bruno liest leise. Die Gesichter der Genossen sind ernst. Sie sehen aneinander vorbei. Einige liegen mit geschlossenen Augen. Plötzlich klatscht ein großer Stein vor uns in das Schilf. Brunos Stimme setzt jäh aus. Mein Kopf fliegt herum. Vom Waldrand oben kommt der junge Genosse in großen Sätzen auf uns zu. Was ist - Gefahr?! - Und dann rennt er? - Er macht sie dann erst auf uns aufmerksam!
„Sitzenbleiben! Sitzenbleiben!" sagt Herbert. Er ist ruhig geblieben.
Bruno hat das Buch bereits in seiner Trainingsjacke verschwinden lassen. Jetzt ist der Genosse heran.
- - „Da hinten — zwei SA-Leute - - ", würgt er heraus.
Sekundenlang sind wir alle wie gelähmt. Bruno fasst sich zuerst. „Herbert! Ball spiel'n. Ruhig bleiben, ruhig bleiben! Wir jehn zu unserm Jepäck!"
Herbert nickt stumm.
Wir warten, warten. Bruno hat sein Fahrrad kopfgestellt, bastelt an den Rädern herum. Drüben stehen sie im Kreis und werfen sich den Ball zu. „Besser fangen - schneller! - schneller! -" Das ist Herbert! Der hat sich gut in der Gewalt. Wenn sie wirklich kommen - wie reagieren die andern? Sind zu jung. Haben sicher noch nie so in der Klemme gesteckt. Wir hätten doch nicht - so etwas hab ich doch schon gelesen: -Razzia in der als kommunistisch bekannten Zeltstadt - wird die Polizei ihre Aufmerksamkeit richten! - Das Braunbuch! -Fünfzehn Jahre Zuchthaus -
„Die Kette ist verdammt sandich!"
Der Bruno! Wie ruhig er das sagt! Hat er gemerkt, dass ich - will er mich mit der nüchternen Feststellung zur Besinnung bringen? Ich schäme mich plötzlich. - Da sind sie! Zwei Gendarmen und zwei SA-Leute. Also doch 'ne Streife! Sie kommen langsam den Abhang herunter, gehen auf die Gruppe zu. Ein SA-Mann bleibt an dem Zelt stehen, sieht hinein. Ich sehe Bruno an. Er dreht mit der rechten Hand mechanisch die Tretkurbel weiter, sieht hinüber. Seine Lippen sind dünn. In meiner Halsschlagader klopft es. Wir können jedes Wort verstehen.
„Wem gehört das Zelt?" fragt der eine Gendarm.
Wir sehen nur seinen breiten Rücken, den gedrungenen Hals unter dem grünen Tschako.
„Das gehört mir", antwortet Herbert.
„Haben Sie einen Zeltschein?"
„Ja - Moment, bitte", sagt Herbert.
Er läuft zu dem Zelt, kriecht hinein. Die Jungen und Mädels stehen mit hängenden Armen regungslos vor den vier Uniformen. Einer hat den Ball an die Brust gepresst. Sollten weitermachen! Weitermachen! Ich sehe, wie der eine SA-Mann sich prüfend umschaut. Wie er den Gendarmen anstößt, ihm etwas zuflüstert. Der dreht flüchtig den Kopf, sieht zu uns herüber. Wenn sie auch zu uns kommen - aber sie durchsuchen ja nichts -. Da kommt Herbert zurück, reicht dem Gendarmen einen Schein.
„Haben Sie sich das mal durchgelesen? Sie wissen doch, dass Sie nur an den markierten Zeltplätzen aufbauen dürfen!" sagt der Beamte scharf.
„Ich dachte, das ist hier Staatsforst", antwortet Herbert.
„Was heißt Staatsforst! - Sie müssen sofort abbauen!"
„Jawohl."
Der Gendarm gibt ihm den Schein zurück, dreht sich zu uns um. „Gehören Sie dazu?" ruft er herüber.
Bruno richtet sich auf - doch da antwortet Herbert schon: „Ja, die gehören dazu."
Er meint es gut - will uns jetzt nicht im Stich lassen - ist aber verkehrt! Brunos Mund bleibt halb offen. Meine Hände fangen an zu zittern. Ich muss etwas tun! Das Hinterrad des Fahrrades dreht sich immer noch, ich halte es an.
„Sie wissen jetzt Bescheid! Wenn ich Sie mit dem Zelt noch mal abseits treffe, gibt's eine Anzeige!"
Wie durch einen Nebel höre ich die Sätze und dann: „Heil Hitler! - Heil Hitler!" Mein rechter Arm geht hoch, als zöge ihn jemand an einer Schnur. Die vier Uniformen verschwinden hinter den Bäumen. Mir ist unerträglich heiß, mein Mund ist ganz trocken. Bruno sieht mich mit einem langen Blick an. Er atmet tief aus. Wir warten, gehen dann hinüber. Die beiden Mädels stehen eng zusammen, als wollten sie einander Halt geben. Der Junge hält immer noch den Ball an die Brust. Es ist Alfred. Er ist blass. Niemand spricht. Bruno gibt Herbert die Hand.
Er sagt: „Dank - Herbert - Aber falsch war's - wir mussten für euch fremd sein."
Herbert antwortet nicht. Aber seine Augen hinter den Brillengläsern glänzen. Ein Schein von Freude liegt auf seinem Gesicht. Der muskulöse Bruno mit dem harten Gesicht, der angeknockten Nase - Herbert, hager und blass, ein richtiger „Bücherwurm" -
„Wir haun jetzt ab", sagt Bruno wieder. „Im Laufe der Woche dann. Ick weeß ja, wo ick euch erreiche."
„Ja", sagt Herbert nur.
Wir schütteln allen die Hand.
Langsam schieben wir die Räder den Waldweg entlang. Hinter dem Zeltplatz vorn bleibt Bruno stehen.
„Jehn wir auseinander, Karl. Is besser", sagt er. „Kennst doch jetzt den Weg?"
„Ja."
Ich drücke ihm fest die Hand.
„Grüß Franz und Rudi."
„Is jemacht."
Ich sehe ihm nach, bis er hinter den Bäumen verschwindet. Wir beobachten nun schon zwei Wochen lang die beiden, die wir wegen Spitzelverdachts stillschweigend abgehängt haben. Der eine heißt Robert und ist ein junger Schlosser. Er ist kurz vor der Machtübernahme der Faschisten vom Jugendverband in die Partei übernommen worden. Er war in der ganzen illegalen Zeit bei schwierigen Arbeiten dabei, ja, er bettelte immer darum, bei gefährlichen Aktionen mitmachen zu dürfen. Das hatten wir stets seinem jugendlichen Elan zugeschrieben. Doch schon in der Zeit, als unser Zeitungsausträger und seine fünf noch zu beliefernden Abonnenten verhaftet wurden und wir zum ersten Mal an Spitzelei dachten, waren wir auf Robert aufmerksam geworden. Obwohl wir allen Genossen eingeschärft hatten, jetzt doppelt vorsichtig zu sein, blieb er weiter ein Draufgänger. So fuhr er in dieser Zeit mit dem Fahrrad spätabends an einer Baugrube vorbei und warf blitzschnell einen Packen Flugblätter hinein. Jetzt aber, nach dem missglückten Versuch der SA, Rothacker zu fassen, macht uns Roberts Drang nach illegaler Arbeit besonders mißtrauisch. Vor allen Dingen sein Umgang. Er diskutiert nämlich viel mit SA-Leuten. Jetzt noch, stellen unsere Genossen fest. Von diesen Diskussionen wussten wir zwar immer. Robert berichtete uns jedes Mal über diese Gespräche, brachte uns manchmal wichtige Stimmungsberichte über die SA. Er kennt viele SA-Leute. Von der Lehre her, auch von der Fortbildungsschule. Sie wissen sogar, dass er früher bei den Kommunisten war. Doch die alte Bekanntschaft überbrückte das, auch erzählte Robert diesen SA-Leuten, dass ihm die Ereignisse klargemacht hätten, wie falsch und nutzlos seine Arbeit für die Kommune gewesen sei. Das klinge denen durchaus plausibel, erzählte uns Robert. Der Führer habe ja auch erklärt, dass er jedem verführten Volksgenossen zur Versöhnung die Hand reichen wolle, sagten sie. Er sei ja aus Idealismus bei der Kommune gewesen, aus solchen Kerlen wie er würden noch brauchbare Volksgenossen werden.

Jetzt aber sahen wir plötzlich Roberts SA-Gespräche in einem andern Licht. Es lag zwar gegen ihn nichts Greifbares vor, trotzdem, er wurde abgehängt. Die Beobachtung würde alles Weitere ergeben. Ich habe nun in diesen zwei Wochen Robert einige Male getroffen. Ich kann und kann das Gefühl nicht loswerden, dass wir ihm unrecht tun. Er weiß nichts Genaues über meine Arbeit, nur dass ich ein zuverlässiger Genosse bin - oder war. Denn ich habe ihm jetzt bei unserem ersten Zusammentreffen gesagt, dass ich mich um nichts mehr kümmere und mit der Politik Schluss gemacht habe. (Er fragte nämlich gleich, wieso er keine Zeitung mehr bekomme, wann wir ihn wieder mal für eine „Sache" holen.) Ich bereue jetzt die verlorenen Jahre, habe ich ihm gesagt. Die viele Mühe und Kraftanstrengung hätte ich für mein persönliches Vorwärtskommen einsetzen sollen, dann wäre ich heute weiter. Überhaupt, gegen die heutige gewaltige Staatsmacht anzukämpfen, sei völlig nutzlos, sei Wahnsinn. Robert machte ein verzweifeltes Gesicht, packte mich auf der Straße an der Schulter und schüttelte mich. Ob ich überhaupt wüsste, was ich da rede?! sagte er aufgeregt. Ich zwang mich, kühl zu bleiben. Das wüsste ich sehr wohl, die Geschichte sei über unsere Theorien hinweggegangen, sagte ich. Roberts Gesicht hatte sich verzerrt, und er redete lange auf mich ein. Ich blieb bei meiner Meinung. Jedes Wort tat mir selbst weh, doch ich bezwang mich. Es stand mehr auf dem Spiel.
Gestern habe ich Robert nun wieder getroffen. Und wieder waren in mir Zweifel an unserem Beschluss. Roberts junges Gesicht ist in den zwei Wochen direkt eingefallen. „Was ist bloß mit dir, mit den Genossen?" sagt er. Er begreife das alles nicht. Die Genossen sprächen alle ähnlich wie ich, niemand wolle mehr arbeiten. Er packte dabei meinen Arm und sah mich so verzweifelt an, dass ich vollends irre wurde. Ist das nun eine besonders raffinierte Spitzeltour? dachte ich krampfhaft. Aber so kann er doch nicht schauspielern. Du hast doch in diesen illegalen Monaten für die Beurteilung der Menschen ein Fingerspitzengefühl bekommen. Hat dich noch nie betrogen. Der ist doch echt! Dann aber kämpfte ich meine Empfindung nieder, blieb bei meiner alten Meinung. Das sei für mich ein für allemal vorbei, erklärte ich ihm wieder. Robert schluckte ein paarmal. Ich sei einer der besten Genossen gewesen, man könne verzweifeln, sagte er dann mit tonloser Stimme. Er redete dann wieder erregt auf mich ein. „Mensch, Jan, du bist zwölf Jahre in der Arbeiterbewegung, du kannst doch nicht plötzlich den Verstand verloren haben", sagte er. Ich trennte mich schnell von ihm. So grotesk es ist, Robert benimmt sich auf der Straße so aufgeregt, dass er mich noch gefährden wird. Mich, der ich vor ihm den Indifferenten spiele. Ja, gestern war ich nahe dran, mit ihm richtig zu sprechen. Dann dachte ich wieder, ein Provokateur würde genauso sprechen wie Robert. Du verstößt gegen alle Disziplin, du darfst deinem Gefühl nicht nachgeben. Der Gedanke ernüchterte mich wieder.
Drei Tage später. Die Genossen beobachten Robert weiter. Er geht und kommt allein von der Arbeit. Abends verlässt er selten das Haus. Mal muss sich die Sache mit ihm doch klären.
Der zweite Ausgeschaltete heißt Kranz. Er ist Bauarbeiter, lange arbeitslos und hat Familie. Er muss viel eher als Robert abschätzen können, welche Genossen jetzt verantwortliche Arbeit leisten. Denn er war lange Jahre in der Partei. In der illegalen Zeit hat er nur immer Zeitungen zum Vertrieb bekommen, aber auch das haben wir in den letzten zwei Monaten eingestellt. Kranz war völlig unzuverlässig geworden. Er holte die Zeitungen oft nicht ab, war stets unpünktlich und wurde so für den Genossen, der zu ihm die Verbindung hielt, zu einer Gefahrenquelle. Diesen Genossen aber habe« wir bei unserem Verdachtsmoment sofort von jeder Arbeit entbunden. Es ist ihm bis heute nichts geschehen. Wir wissen, das sagt gar nichts. Wir wissen, ist Kranz wirklich ein Spitzel, so wird die Gestapo nicht gleich seinen von uns gestellten Verbindungsmann verhaften. Sie würde Kranz dann sofort vor uns bloßstellen. Die verhafteten Genossen bleiben fast ausnahmslos bei den „Verhören" der Gestapo fest. Es liegt der Gestapo des-
halb jetzt nichts daran, einzelne Genossen zu verhaften. Vielmehr ist es ihr Prinzip geworden, wochen-, ja monatelang zu beobachten. Sie will so hinter die einzelnen Verbindungen kommen, um dann mit einem Schlag die ganze Organisation aufrollen zu können. Deshalb wenden wir auch ein Arbeitssystem an, bei dem auch der beste Genosse nur die Genossen kennen lernt, mit denen er durch praktische Arbeit in Berührung kommen muss. Andere Dinge erfährt er nicht. Ich selbst wehre mich ständig, mehr zu erfahren, als ich unbedingt wissen muss. Wir wissen, nicht alle halten physische Martern aus. So verhindern wir bei jedem einzelnen, dass er überhaupt ausführliche Aussagen machen kann. Sich damit selbst und auch uns belastet. Kranz könnte also bei uns anderen nur von unserer Tätigkeit aus der legalen Zeit Schlüsse ziehen. Kranz ist arbeitslos. Aber in den Kneipen ist sein kahler, buckliger Schädel mit den wie welke Blätter zusammengerollten Ohren (sie sind ihm in einem kalten Winter erfroren) zu jeder Tagesund Nachtzeit zu sehen. Es ist rätselhaft, woher er das viele Geld für Bier und Schnaps und zum Kartenspielen hat. Seine Familie sah zwar von seinen Unterstützungsgroschen nie viel. Die Frau ging immer mit den Kindern, das Jüngste noch auf dem Arm, an den Zahltagen zum Wohlfahrtsamt mit, wenn sie überhaupt Wirtschaftsgeld bekommen wollte.
Unsere Genossen beobachten nun auch Kranz. In seinen Stammkneipen, auf dem Arbeitsnachweis, überall. Das ist schwierig genug. Niemand darf ja dabei auffallen, wenn unser Verdacht wirklich auf Kranz zutrifft. Kranz führt sein Säuferleben weiter. Er versuchte niemals wieder, an uns Anschluss zu bekommen. Es sieht doch so aus, als sei er nur ein ausgebrannter Schwächling. Einer, der völlig indifferent geworden ist.
Gestern abend traf ich Alfred, den SAJ-Genossen von dem Sonntag. Ich hatte schon daran gezweifelt, dass er den vereinbarten Treff einhalten würde. Vielleicht hat er nur zugesagt, um dich loszuwerden, dachte ich. Dass er Furcht hat, die Arbeit zu verlieren, hatte er gesagt. (Das war mir jedoch verständlich.) Nun ist er doch gekommen, hat sein Wort gehalten, es ist ihm ernst mit unserer Zusammenarbeit. Wir gingen lange durch die Straßen. Ich verabredete dann mit ihm einen neuen Treff, doch mit einem größeren Zeitabstand. Ich habe ihm dabei angedeutet, dass bei uns augenblicklich „dicke Luft" ist. Er sagte, dass ich ihn unabhängig von dem vereinbarten Treff jeden Abend um dieselbe Zeit hier auf dem Wege zum Bahnhof treffen könnte.
Alfred hat mir wichtige Einzelheiten über die Produktion und die Stimmung der Arbeiter in seinem Betrieb erzählt. Ich werde alles an unsere Stadtteilleitung weitergeben. Gleichzeitig will ich den Genossen von der Stadtteilleitung fragen, ob wir in diesem Betrieb noch andere Genossen haben, an die man Alfred vielleicht anschließen kann. Ich hätte seinen Bericht gern für unsere Straßenzeitung verwandt, aber für unsere Straße kommt immer noch keine Zeitung heraus, wir vertreiben auch kein anderes Material.
Heute ist etwas Furchtbares geschehen. Roberts Mutter lief weinend in ihrem Haus umher und erzählte, dass ihr Junge verhaftet sei und im Polizeipräsidium Alexanderplatz sitze. Er sei gestern morgen wie immer zur Arbeit gegangen und nicht wiedergekommen. Sie sei spätabends voller Angst in die Fabrik gelaufen. Der Nachtportier konnte sich entsinnen, dass Robert die Fabrik verlassen hatte. Auf dem Polizeirevier bekam sie dann Bescheid. Robert ist gestern nacht verhaftet worden. Beim Malen kommunistischer Parolen.
Wir sind tief erschüttert. Wir haben an einem Treuen gezweifelt. Robert hat die Inaktivität nicht mehr ausgehalten. Er ist allein losgezogen, ohne abdeckenden Schutz. Wie muss er sich in den Wochen gequält haben, bis er sich dazu entschloss! Er wusste doch sicher, wie wenig Chancen er hatte, nicht verhaftet zu werden, wenn er allein ging.
Ich mache mir die schwersten Vorwürfe. Hätte ich doch damals mit Robert richtig gesprochen, als mein Gefühl mir sagte, dass er doch echt sei. Gewiss, ich habe sein Abhängen nicht
allein beschlossen. Wir sind auch nur Menschen, können irren. Die verworrene Zeit ist schuld, wir werden gejagt, keiner von uns weiß, ob er in der nächsten Minute noch sicher ist - das alles sage ich mir immer wieder. Aber das Gewissen lässt sich damit nicht beruhigen. Robert ist verhaftet - das bleibt - das ist nicht mehr gutzumachen. Jetzt nicht.
Doch was auch geschieht, wir kämpfen: um das sozialistische Deutschland. Die Braunen haben die Liebe zu Deutschland in Erbpacht genommen. Sie kämpfen für das deutsche Volk, sagen sie - und vernichten seine Besten.
Wie sollten wir Deutschland nicht lieben! Wir schaffenden Menschen. Wir haben seine Bahnen und Städte gebaut, seine Äcker kultiviert - und wir sind arm geblieben, haben nicht teil an seiner Schönheit.
Robert! Wie doppelt schwer musst du die Haft empfinden! Du sitzt jetzt in einer dunklen Zelle und glaubst, dass wir alle abtrünnig geworden sind. Dass niemand deinen Platz ausfüllt. Dass dein Opfer sinnlos war.
Immer werde ich dein eingefallenes, verzweifeltes Gesicht vor mir sehen. Deine Worte im Ohr haben: „Weißt du denn überhaupt, was du da redest, Jan! - Du warst einer unserer besten Genossen, Jan. Man kann verzweifeln ..."
Nein! Wir verzweifeln auch jetzt nicht, Robert!
Alex drückt uns die Hand und geht. Alex ist der Genosse, der früher eine unserer Spieltruppen leitete. Mit dem mich die Stadtteilleitung schon vor vielen Wochen zusammengebracht hat. Alex hatte schon damals Verbindung mit Genossen der früheren sozialdemokratischen Abteilung in unserem Bezirk. Er wollte uns mit ihnen zusammenbringen. Seitdem traf ich Alex regelmäßig, aber das klappte nie. Er sagte mir jedes Mal, dass die sozialdemokratischen Genossen jedem Neuen gegenüber mißtrauisch seien. Es wäre ein hartes Stück Arbeit, sie davon zu überzeugen, dass sie mit uns Verbindung aufnehmen müssten. Ich solle nur nicht ungeduldig werden.
Vor zwei Tagen hat mir nun Alex Bescheid sagen lassen, dass es jetzt soweit ist. Er gab einen Treffpunkt an.
Jetzt geht der sozialdemokratische Genosse neben mir. Wir gehen langsam dem Tiergarten zu. Die mächtigen Bäume am Reitweg sind schon ganz kahl. Raschelnd fahren unsere Füße durch dürres Laub. Ich muss anfangen! - Ich spüre fast greifbar die Scheu des Genossen, das erste Wort zu sprechen.
„Wir müssen zuerst vereinbaren, woher wir uns kennen."
„So? - Warum?"
„Falls doch mal etwas schief gehen sollte. Sie fragen danach meist zuerst. Wir müssen dann gleichlautende Aussagen machen."
Der Genosse sieht mich an.
„Habe ich noch nicht gewusst", sagt er ruhig.
Wir überlegen. Besprechen einige Möglichkeiten. Verwerfen sie wieder. Es muss ein plausibler „Bekanntschaftsgrund" sein.
Dann mache ich einen neuen Vorschlag, den wir beide gut finden.
Ich sage dem Genossen dann, dass ich Karl heiße. (Ist schon genug, dass unsere Genossen Jan kennen.) Er heiße Ewald, sagt der Genosse. Wir verabreden dann noch, dass wir uns bei einer eventuellen Verhaftung nur mit „Sie" anreden. (Das „Du" rieche für die Nazis von vornherein nach „Kommune", sage ich ihm.)
War das nicht schon zuviel Belastung für ihn, gleich zuerst von Gefahrenmomenten zu sprechen? - Er ist ja völlig ruhig geblieben, verwerfe ich den Gedanken sofort. Diese Vorsichtsmaßnahmen müssen auch sein.
Während wir sprachen, habe ich Ewald verstohlen gemustert. Ich kenne ihn doch schon von früher? - Das rote Gesicht, die Tränensäcke unter den Augen, die Narbe auf der linken Wange. - Aber die grauen Haare an den Schläfen -? Ewald geht wieder schweigend neben mir her, ich grüble immer noch. Plötzlich fällt mir ein, woher ich ihn kenne.
„Du warst doch oft in unseren Versammlungen, Ewald? Im Türkischen Zelt. - Wohnst du nicht —?"
„In der Rosinenstraße, im Volkshaus", fällt er mir ins Wort.
„Ich habe auch schon immerzu überlegt, wo ich dich hinbringen soll. Ja, natürlich. Wir haben oft diskutiert, Karl."
Ewald lächelt. Auch ich freue mich. Ich merke, er hat das Fremde, Abtastende jetzt abgestreift. Seine Augen haben einen wärmeren Ausdruck. - Im Volkshaus - der jetzigen Maikowski-Kaserne?!
„Du hast dich sehr verändert - etwas völlig Neues im Ausdruck -"
Ewald nimmt den Hut ab, fährt sich über das Haar.
„Ich bin grau geworden", sagt er. Er sieht sinnend geradeaus. „In der Rosinenstraße —"
Schweigen. Dann sagt Ewald mit leiser, dunkler Stimme wieder:
„Unsere Fenster gehen auf den Hof. Sie beobachten die Fenster - aber wir können durch die Gardinen in die SA-Keller hineinsehen. Fast jede Nacht schreien die Genossen. -Meine Frau kann nur noch mit Watte in den Ohren schlafen."
Wir biegen in einen Seitenweg ein. Von der Charlottenburger Chaussee kommt das Autohupen nur noch ganz leise herüber. Auf dem Wasserarm links schwimmen Enten.
„— Seit die SA-Hilfspolizei aufgelöst ist, wurde es noch schlimmer - wenn das Auto kommt, müssen sie die Genossen hineinschleifen —"
Ewald bringt sein Gesicht nahe an mich heran. Er presst die Finger um meinen Arm, ihre Spitzen werden ganz hell. Seine Stimme ist heiser vor Wut.
„- Ich habe mir die Gesichter der SA-Leute eingeprägt — wenn es soweit ist -"
Jeder unserer Genossen hat sich einige Schinder gemerkt -auch Ewald?
Er sagt wieder:
„Wir wollten den Staat friedlich erobern - die Illusionen haben sie uns ausgetrieben."
„Erst habe ich das alles in mich hineingefressen", fährt Ewald fort, „so ging es allen Genossen bei uns. Wir waren verzweifelt, völlig apathisch geworden. Von unserer Abteilung sind nur sieben treue Genossen übrig geblieben. Es war alles auseinandergefallen. Nur wir sieben blieben zusammen. - Dann brachte einer den Alex mit. - Der erzählte uns von euch. Sagte, dass wir mit euch in Verbindung treten sollten. Wir haben lange geschwankt."
„Ich weiß, er hat es mir erzählt."
„Ja, Karl. Wir haben uns immer gefragt, ob es sich überhaupt lohnt, für solch Kroppzeug das Leben zu riskieren. Viele davon sind doch früher in unsere Versammlungen gelaufen, konnten das Maul nie genug aufreißen. Jetzt hängen sie Hakenkreuzfahnen raus, rennen bei den Naziaufmärschen mit. Wir haben damals an der Menschheit gezweifelt. - Sie haben trotz unserer Aufklärung Hitler gewählt, jetzt sollen sie die Sache ausbaden, dachten wir."
Ewald atmet schwer. Ich bleibe stumm. Er sieht mich an.
„Von euch sind ja viele sogar zur SA gegangen. Einen kenne ich doch ganz genau. Wenn ich diesen Glatzkopp manchmal in die Maikowski-Kaserne gehen sehe..."
Glatzkopp? - Glatzkopp?! Sollte das...? Ich packe Ewalds Arm.
„Glatzkopp sagst du - wie sieht der aus?!"
„Wieso? Was ist denn mit dem?"
„Wie sieht der aus - beschreibe ihn genau - beschreibe ihn!"
„Es ist einer, der so vornübergebeugt geht. Er hat einen ganz kahlen, eckigen Kopf und so verschrumpelte Ohren", erklärt Ewald.
Kein Zweifel - das ist Kranz! Ich bin tief erregt. „Und der..."
„Den habe ich mehreremal mit SA-Leuten über den Hof gehen sehen", sagt Ewald. „Habt ihr das nicht gewusst?"
„Nein. - Ist ein Spitzel - verrät unsere Genossen."
Die Worte dröhnen in meinem Kopf. Daher das viele Saufgeld - Kranz - der Hund!
„Wir werden sofort alle Genossen benachrichtigen", sage ich endlich. „Ja", sagt Ewald nur.
Und dann: „Und was wird nun aus uns?"
„Wir werden uns vorerst gegenseitig Zeitungen liefern."
Pause.
„Später kann ja einer von euch an unseren Sitzungen teilnehmen. Am besten du, Ewald."
„Gut. Werde ich den Genossen sagen."
Wir besprechen noch unseren nächsten Treff. Legen ihn in einen anderen Stadtteil. Ich sage Ewald, dass er immer an demselben Tag der folgenden Woche zur gleichen Zeit dort sein soll, falls mich beim ersten Mal irgend etwas verhindert, zu kommen. Er drückt mir fest die Hand. Wir gehen in verschiedenen Richtungen weiter
17. Oktober 1933. Heute hat der Maikowski-Prozeß begonnen. Ernst Schwiebus zeigte mir gestern abend stumm den „Angriff". Er hatte in einem Artikel über den Prozess eine Stelle angekreuzt. Sie lautete: „Wenn dieser Prozess zu Ende ist, wird die Waage wieder im Gleichgewicht sein. Blut kann nur durch Blut gesühnt werden."
Wir gingen eine halbe Stunde durch die Straßen. Redeten aber kein Wort über den Prozess. Wir haben nur besprochen, dass wir über Kranz einen Handzettel herausgeben wollen. Ein furchtbarer Druck lastet auf jedem von uns. Was wird aus den angeklagten Genossen? Aus Richard Hüttig?! „Blut kann nur durch Blut..." Sie sind doch alle am Tod Maikowskis unschuldig. Ich weiß es doch - war doch in der Nacht in der Straße!
22. Oktober 1933. Einer von uns wollte zu der Prozessverhandlung gehen. Es werden aber nur eine beschränkte Anzahl Zuhörer zugelassen, und deren Namen stellt man fest. Nun kann niemand von uns in der Gerichtsverhandlung sein. Einige Zeugen, die für die angeklagten Genossen entlastend ausgesagt haben, wurden im Gerichtssaal verhaftet. „Unter dem Verdacht der Mittäterschaft." Im Gerichtssaal werden die angeklagten Genossen von SA bewacht. Neben jedem sitzt ein SA-Mann. Die Zeitungen bringen heute eine Erklärung des Staatsanwaltes: „Ich lasse es auf keinen Fall zu, dass die Protokolle der Untersuchungsrichter und der Polizeibeamten von diesen jungen Burschen als Phantasien und Hirngespinste hingestellt werden. Alle, die hier auf der Anklagebank sitzen, sind auch jetzt verkappte Bolschewiken. Aber die Faust des Dritten Reiches bleibt über ihnen. Die Zeiten sind vorbei, in denen sich jemand offen zum Bolschewismus bekennen konnte. Einwendungen seitens der Verteidigung in dieser Hinsicht lasse ich nicht zu!"
Wieder eine furchtbare Drohung. Jedem von uns wird dabei klar: Die Genossen widerrufen die Aussagen, die man ihnen in monatelanger Tortur bei der „Voruntersuchung" erpresst hat. Wie aufrecht müssen sie vor den Richtern stehen! Wie tapfer müssen sie sprechen!
Wir haben einen Handzettel hergestellt. Darauf wird der Arbeiteröffentlichkeit die Spitzeltätigkeit des Kranz mitgeteilt. Eine genaue Personalbeschreibung ist beigefügt. Diesen Zettel haben wir zuverlässigen Arbeitern auf den Arbeitsnachweisen gegeben. Sie sollen ihn weitergeben. Der Zettel ist in die Wohnungen unserer Straße gewandert. Wo es uns zu gefährlich erschien, haben wir ihn in die Briefkästen gesteckt. Die Bezirksleitung von Berlin hat den Text in ihre Spitzelbrandmarkungsliste übernommen. Alle Arbeiterbezirke werden so auf Kranz aufmerksam gemacht und vor ihm gewarnt. Die Flugblatt- und Zeitungspropaganda bleibt in unserer Straße weiter eingestellt. Wir haben allen Genossen wieder eingeschärft, sich und ihre Wohnungen „sauber" zu halten. Wir rechnen damit, dass die Entlarvung von Kranz mit plötzlichen Haussuchungen, vielleicht sogar mit weiteren Verhaftungen beantwortet wird.
Ewald traf ich wie verabredet. Ich habe ihm jetzt unsere augenblickliche Situation genau erklärt. Zuerst hatte ich wieder Bedenken, weil ich ihn nicht verängstigen wollte. Er war aber auch jetzt nicht beunruhigt. Diese Zeit hat uns eben alle härter gemacht. Ich habe ihn bisher unterschätzt. Die Belieferung der SPD-Genossen mit Material hat auf unsere Veranlassung vorläufig der Nachbarbezirk übernommen.
Die Entlarvung von Kranz hat bis jetzt in unserer Straße keinen Gegenschlag der SA ausgelöst. Entweder ist dies eine trügerische Ruhe, die unsere Wachsamkeit einschläfern soll, oder die SA hat mit der neuesten Aktion ihrer Partei alle Hände voll zu tun. Eine neue Propagandawelle überflutet ganz Deutschland.
Volksabstimmung am 12. November
Deutschland ist aus dem Völkerbund ausgetreten. Eine „Volksabstimmung" soll diesen Schritt bestätigen und Hitler für seine Außen- und Innenpolitik eine neue Blankovollmacht geben.
Ich gehe langsam durch die Straßen. Riesige Transparente hängen zwischen den Häuserfronten. Auf den Plätzen haben sie große Holzmasten aufgestellt, das gespannte Tuch dazwischen bläht sich im Wind.
„Wir wollen kein Volk minderen Rechtes sein! Für Ehre und Freiheit! Am 12. November stimmt mit Ja!"
„Die Kriegsopfer stimmen mit Ja!"
An den Häuserwänden, an den Litfasssäulen kleben mannshohe Plakate
„Lloyd George über Deutschland!"
Eine Aufzählung von Zitaten des englischen Staatsmannes über den „recht- und waffenlosen Zustand Deutschlands" folgt. Am Schluss steht in großen knalligen Buchstaben:
„Jeder Deutsche ein Lump, der nicht fordert, was ein Engländer ihm zubilligt! Alle stimmen mit Ja!"
Ich lese den Satz zwei-, dreimal. Er sagt, worum es geht. Noch nicht zwanzig Jahre sind seit dem Weltkrieg vergangen - das Heulen der Fliegerbomben, das Krachen der Geschütze kann über Nacht wieder da sein. Da, wieder ein Transparent:
„Mit Hitler für den Frieden der Welt!"
Kanonen, Flugzeuge, Tanks - für den Frieden?! Ich höre sie schon reden, wie damals: Wir haben es nicht gewollt - Der Krieg ist uns aufgezwungen worden - Wir verteidigen nur das Vaterland -. Und wieder das Transparent: „Die Kriegsopfer —"
Die Kriegsopfer sollen neue Mordmaschinen fordern?! In den Straßen humpeln noch die Krüppel und betteln, damit sie mit den Pfennigen ihrer Rente, „dem Dank des Vaterlandes", nicht verhungern. Einmal habe ich Photos aus Militärsiechenheimen gesehen. Die Gesichter halb weggerissen, Menschen ohne Arme und Beine, lebende Rümpfe. Heute liegen sie noch in den geschlossenen Anstalten. Warten auf den erlösenden Tod. Sind lebendig begraben. Die Gesunden könnten nachdenken, wenn sie die sähen!
Ich schaue mir unwillkürlich die an mir vorbeihastenden Menschen an. Gleichgültigkeit, Gehetztsein vom Alltag, nichts, nichts sonst, steht in ihren Gesichtern. Und die beiden dort? Er flüstert ihr etwas zu, sie lächelt ihn an. Vielleicht liegt er in einigen Jahren schon irgendwo verscharrt, und sie faltet ein Schreiben auseinander: „Auf dem Felde der Ehre..."
Mechanisch, wie aufgezogen, gehe ich den Weg zurück.
Sind es immer nur einige Tausende, die begreifen, was ist? Deutlich sehe ich wieder die langen Reihen der Demonstranten vor mir. So deutlich, als sei es erst vor Monaten gewesen und nicht in den ersten Nachkriegsjahren. - „Nie, nie woll'n wir Waffen tragen - sollen die Herren sich alleine schlagen" -sangen sie damals.
Ja, sangen sie nur! Dass man die „Herren", die Urheber von Kriegen, beseitigen muss, hatten sie nicht begriffen. Sie sahen vielmehr zu, wie man die erschlug, die aus der halben Revolution eine ganze machen wollten. Karl Liebknecht - Rosa Luxemburg - Tausende, Spartakus. Die Epp, die ganze faschistische Meute, die man damals rief, sind heute die Herrscher des braunen Deutschlands. Die haben immer gewusst, was sie taten.
Zwei Tage vor der Abstimmung. Die Zeitungen schreiben, dass Hitler heute vor „seinen" Arbeitern sprechen will. In den Siemens-Schuckert-Werken. Das sind die größten Industriewerke Berlins. Hitler weiß, wo das Schwergewicht in diesen entscheidenden Fragen liegt. Mir fällt ein, was Franz damals, am ersten Morgen nach der Kanzlerernennung, sagte: „Ein Führer der Partei hätte bei Siemens sprechen müssen."
In den späten Vormittagsstunden gehe ich nach Siemensstadt. Es ist von unserer Straße eine Dreiviertelstunde Weg. Ich komme am Bahnhof Jungfernheide vorbei. Hier haben wir uns an dem Morgen nach der Kanzlerernennung getroffen. Haben in den Zügen gesprochen, Flugblätter verteilt. Hier ist dann auch später Rothacker fast verhaftet worden. Rothacker. Wir haben zweimal von ihm gehört. Er ist mit seiner Familie in Prag. Es geht ihnen leidlich. Sie werden von einem Emigrantenkomitee unterstützt. Seine Frau verkauft außerdem auf der Straße Zeitungen. Weil sie hübsch ist, verkauft sie gut, erzählte uns der Genosse, der den Bericht gab. Die beiden verstanden sich doch nicht mehr so gut. Die ständigen wirtschaftlichen Sorgen, sie wollte immer „etwas vom Leben haben". Rothacker war auch fast doppelt so alt als sie. In der Emigration wird das Leben für die Frau noch schwerer sein. Besonders mit dem Kind, der vier Jahre alten Inge.
Zehn Minuten lang geht der Weg eine breite Straße, den Nonnendamm entlang. Auch hier sind Transparente gespannt. Zu beiden Seiten der Straße sind nur Laubenkolonien. Auf einigen Lauben wehen Hakenkreuzfahnen. Müssen sie zeigen, an dem Paradetag heute. Vielleicht ist auch diese oder jene davon „echt". Das sind doch Strubbels Laubenkolonien. „Klei-Moskau" nannten wir sie früher. Wie wir damals in der Dämmerung zu dem Lahmen gingen. Die Schreibmaschine, der Abziehapparat - in der Futterkiste! Strubbel ist fort, der Lahme hat ihn ersetzt, arbeitet heute noch für uns. Hier hat sich die SA ausgetobt. Wie sie Herbert Ziemeck am hellen Tag mit Motorrädern gejagt haben. Dann schleppten sie ihn in die Maikowski-Höhle - tot. Einundzwanzig Jahre alt.
„Jedem heimkehrenden Krieger sein Häuschen", hat Hin-denburg mal gesagt. Hier wohnen viele „heimgekehrte Krieger in ihrem Häuschen". Sie haben es sich selbst erbauen müssen. Mit Brettern und Dachpappe. Sind ja meist alle arbeitslos wie Strubbel. Der wohnte auch im Winter in seiner Laube. Die Miete für eine Wohnung konnte er nicht aufbringen. So geht's den meisten hier.
Eine Brücke der Siemens-Schnellbahn überspannt die Straße. Drüben links beginnen die Siemenswerke. Dreizehn Stockwerke hoch ist das neue Verwaltungsgebäude dort. Ein Riesenkasten aus Glas und Beton. Gehört nur zu diesem Gebäudekomplex. Fünf Minuten weiter steht auf der anderen Straßenseite das „alte". Auch ein Mammutbau. Die meterhohen Zeiger der Uhr an dem dicken Vierkantschornstein, der aus der Fabrikstadt wächst, zeigen zwanzig Minuten vor zwölf. Dann müssen die „Führer" bald kommen. Um zwölf Uhr will der Adolf reden. Diese neuen Industriekästen haben sie hier erst in den letzten Jahren gebaut. Sie sind für die Gesellschaft Anlagekapital. Ich sehe zu den langen Fensterreihen hinauf. Viele Räume stehen dort auch jetzt noch leer, „nach der nationalen Ankurbelung der Wirtschaft", sagt Teichert. Er arbeitet ja in einem der Werke. Ob er mit seinen Kollegen bei der Hitlerrede sein muss?
Auf der rechten Straßenseite stehen jetzt lange weiße Häuserreihen. Alles Neubauten. Moderner, sachlicher Baustil. Schon die alte Siemensstädter Wohnstadt war ein Angestellten- und Beamtennest. Die Werke wussten, warum sie ihre Angestellten hier ansiedelten. Der Schatten der Werke liegt auch in der Freizeit auf den Bewohnern, lässt sie nie „Privatmenschen" werden. Jeder kennt hier jeden. Die Neubauten rechts, größtenteils von den Werken erbaut, haben die Angestelltenstadt verdoppelt. Diese Kleinbürgerstadt musste eine Domäne der Nazis werden. Die Laubenkolonien der Arbeitslosen gehen bis an die weißen Häuser heran. Wie sie die Laubenkolonien immer gehasst haben!'Selten liegen die wirtschaftlichen und politischen Gegensätze einer Stadt so dicht beisammen. Wo die ersten Häuser beginnen, sind links und rechts von der Straße große Holzmasten eingerammt. Sie sind mit grünen Girlanden umwickelt, tragen ein riesiges Transparent:
„Siemensstadt grüßt den Führer !"
Auf den Bürgersteigen stehen Menschenschlangen. Zwei, drei Reihen hintereinander. Gerade hier hätte ich noch mehr erwartet. Zu beiden Seiten der Straße stehen lange Absperrungsreihen der SA. Die SA-Leute haben die Koppel abgeschnallt, halten sie von Mann zu Mann in den Händen. Vor einem Radiogeschäft steht eine Menschenmenge. Ich stelle mich dazu. Über der Tür ist ein Großlautsprecher angebracht. Achtzig Prozent Frauen, Schulkinder mit ihren Lehrern stehen hier. Sie haben sicher deshalb schulfrei. Die Frauen sind ausnahmslos gut gekleidet. Das schmale Gehalt wird den Monat über langgezogen. In den letzten Tagen isst man Margarinebrote. Aber auf jeden Fall muss man „anständig" aussehen.
„Dicht, ganz dicht wird er vorbeifahren", sagt eine vollbusige Blondine mit verklärter Stimme zu ihrer Nachbarin. Die lächelt ölig. Die tun, als sei dies die Verheißung ihres Lebens! Aus einem Fleischerladen kommt der Inhaber mit seinen Verkäuferinnen. Sie tragen weiße Schürzen, weiße Hauben mit eingesticktem Monogramm auf dem Haar. Der Fleischer hat einen Hängebauch. „Für die Zeit wird geschlossen. Das sehen wir nicht alle Tage", sagt er laut zu einem der Mädchen und gestikuliert mit seinen Wurstfingern. Alle sollen das hören, nicht wahr, mein Lieber. Die Viertelstunde Nationalbewusstsein ohne Kasseneinnahme wird sich dann hier später gut verzinsen.
Von vorn kommt plötzlich Bewegung. „Sie kommen... sie kommen!" geht es von Mund zu Mund. Die SA-Leute fassen ihre Koppelriemen fester, drängen die Menschen zurück. „Heil"-Rufe. Es ist nur ein Auto. Goebbels! Er hebt lässig dankend den Arm - vorbei. Einige Minuten später kommt seine Stimme aus dem Lautsprecher. Einleitende Worte über den Sinn der heutigen „Führerrede", an der Stätte „seiner deutschen Arbeiter". Während er noch spricht, drängt wieder alles zum Rinnstein. Wildes „Heil"-Geschrei setzt ein, die Arme gehen hoch, auch meiner. Hitler! Er steht aufrecht im Auto und grüßt. Nur drei Meter Hegen zwischen uns. Hitlers Gesicht ist von der Zugluft gerötet, es sieht dick und schwammig aus. Auf den „Führerbildern" sieht er verdammt „energischer" aus. Dicht hinter seinem Auto kommen zwei andere Wagen. Auf den Trittbrettern stehen SS-Leute. Absprungbereit. Sie haben die freie Hand an der aufgeklappten Revolvertasche. Schon sind sie alle vorbei. Die Rufe laufen wie eine Welle die Straße entlang. Drei Meter entfernt - deshalb reden manche von einem Attentat. Wahnsinn! Mit Hitlers Tod ändert sich nichts. Dann macht Göring, Goebbels oder irgendeiner von denen weiter. Aber in derselben Nacht sterben dann Tausende in den Konzentrationslagern. - Die hohe, verzückte Stimme der Frau neben mir reißt mich aus meinen Gedanken. Sie schlägt vor Begeisterung die Hände zusammen, ihr Dutt wackelt: „Wie der Führer aussieht - wie der Führer aussieht -den muss doch jeder gern haben —" Die Menschen drängen wieder zu dem Lautsprecher hinter uns. Es sind mehr geworden, alle rücken zusammen. Neben mir steht ein SA-Mann. Er hat den Sturmriemen der flachen Mütze unter dem Kinn. Was es für den hier Kampfmäßiges gibt? Der kommt sich so interessanter vor. Aus dem Lautsprecher kommt das Echo von „Heil"-Rufen. Dann Stille und Hitlers Stimme. - - „Vierzehn Jahre haben wir gekämpft - - marxistische Luderwirtschaft —" Immer dasselbe! Und jetzt! „Ich spreche in dieser Stunde mit Absicht gerade zu den deutschen Arbeitern, die in ihren Betrieben überall vor den Lautsprechern versammelt sind - wir wollen in diesem Kampf jedem unserer Gegner die Hand reichen, wenn er sich zur deutschen Ehre bekennt —"
Die Stimme steigt steil an, überschlägt sich fast -. „Ich weiß, dass ihr niedrige Löhne habt - ich weiß das!" - Die nächsten Sätze hallen an meinem Ohr vorbei, ohne dass ich sie aufnehme. „Jedem unserer Gegner -" Das sagt der zu „seinen" Arbeitern?! „Ich weiß das -" Davon werden die Lohntüten nicht voller - gerade jetzt hat der es mal wieder nötig, die „soziale" Karte auszuspielen. Zu zeigen, wie er mit „der Not des kleinen Mannes" fühlt. - Ich schrecke auf. Die Stimme im Lautsprecher ist erloschen. Nur ein Knacken und Summen ist noch zu hören. Schon vorbei? Die rennen ja hier jetzt alle durcheinander, gestikulieren mit den Armen!
- „Störung - Sabotage - Unerhört", rufen da einige Stimmen. Zwei SA-Leute laufen auf die Ladentür zu. Der Ladeninhaber erscheint im Türrahmen. Er wirft die Arme in die Luft, zuckt hilflos mit den Schultern. „Ist überall so - an meiner Anlage liegt es nicht", verteidigt er sich.
Einige Minuten dauert die Unterbrechung schon. Der SA-Mann neben mir zupft nervös an seinem Kinnriemen. Sein Gesicht ist verzerrt.
„Wieder Sabotage. - Die Kommune."
Ich mache ein ungläubiges Gesicht.
„Das ist doch wohl nicht möglich - heutzutage? - Die Leitungen werden doch sicher überwacht!"
„Was soll's denn sonst sein!" sagt er wütend. „Aber die werden sie schon kriegen - die werden sie schon kriegen,!"
Die Aufregung wächst. Plötzlich ist die Stimme des „Führers" wieder da, mitten in einem Satz:.....lange genug ehrlos ..."
Ich gehe langsam nach Hause. Bei der Störung war der erste Gedanke des SA-Mannes: Kommune. Überall und immer haben sie das Gefühl des unsichtbaren Todfeindes, der ihnen an die Kehle gehen könnte. -
Abends spreche ich mit Teichert. Erzähle ihm von meiner „Führerbesichtigung".
„Hast du Adolf auch gesehen, du Siemens-Dreher? Hat er vielleicht einem Proleten »symbolisch' die Hand gedrückt?"
„Denkste", sagte Teichert. „Lass dir erzählen, wie's im Dynamowerk war."
Er lacht verächtlich. Dass mir seine zwei schwarzen Zahnstummel vorn immer wieder auffallen.
„Von unserer Belegschaft war niemand dort. In allen Werken haben sie gesiebte Delegationen zusammengestellt. Alles höhere Angestellte und zuverlässige Parteifunktionäre. Die Proleten aus diesem Werk waren natürlich auch da. Aber sie standen hinter den anderen. Na, und die Lautsprecheranlage! Die war auf einem hohen Dynamostand montiert, mein Junge! Da hatten sie extra eine Holztreppe rangebaut. An der Treppe standen außerdem SS-Leute! - Weißt du jetzt, wie der Führer' zu ,seinen' Arbeitern spricht?"
Wahlsonntag. Sprechchöre der Hitler-Jugend und der SA zogen schon am frühen Morgen in den Höfen umher. Sie bliesen Fanfaren, schrien dann Wahlparolen aus. Der Rundfunk unterbricht alle halben Stunden seine Sendungen. Er stellt immer wieder dieselbe Frage: „Deutscher Mann, deutsche Frau! Hast du deine Verpflichtung bereits erfüllt? Hast du schon der Regierung Adolf Hitler deine Stimme gegeben? Wenn nicht, tue es sofort!"
Wochenlang geht das nun schon so. Rundfunk, Presse, Kino. Goebbels schüttet seine Wahlpropaganda millionenfach über das Reich. In allen Wohnungen unserer Straße haben sie heute früh Zettel abgegeben: „Dieses Haus steht unter der Kontrolle des Blockwartes Meyer, Haus Nr. 38. Stimmen Sie mit Ja'! Geben Sie diesen Zettel an der Wahlurne mit ab. Sie ersparen sich damit, dass wir Sie im Laufe des Tages kontrollieren kommen."
Teichert hat dasselbe Wahllokal wie ich. Wir haben uns verabredet, wollen uns das Stadtbild ansehen. Erst wollten wir uns in einer anderen Gegend treffen. Es wäre sicher nicht ratsam, sich nach der Sache mit Kranz hier bei uns zusammen sehen zu lassen, meinte Teichert. Unsere Wohnungen seien ja „sauber", man müsse auch „frech" sein, das täusche immer am besten, habe ich ihm gesagt. Es wäre ja auch auffällig, wenn wir uns als langjährige Bewohner der Straße nun plötzlich „nicht mehr kennen würden". (Die Entlarvung von Kranz hat für uns keine weiteren Folgen gehabt. Er sitzt nicht mehr soviel in den Kneipen herum. Wird kein Geld haben. Wir bleiben wachsam, aber wir wissen: entlarvte Spitzel sind für die Nazis wertlos geworden. Sie verachten diese Burschen innerlich auch selbst, das ist so ähnlich, wie ihnen oft der Mut unserer Genossen imponiert. Hilde hat uns von solchen Gesprächen ihres Bruders mit seinen SA-Leuten erzählt. Wer selbst feige ist - und die meisten von ihnen sind es, sie kommen ja nie allein -, empfindet die Stärke des andern immer doppelt.) So blieb es dabei, dass ich Teichert abhole.
Langsam gehen wir nun durch unsere Straße. - Sind wieder mehr Fahnen geworden. In den vereinzelten jahrhundertealten buckligen Häuschen hängen sie aus den Dachluken. Dicht unter den niedrigen bemoosten Dächern. Wir kommen an den Knick der Straße. Still ist sie am Sonntag. Drüben im Umformerwerk scheinen die Maschinen lauter, heller zu brummen. Selbst aus einem der großen geriffelten Fenster des hohen roten Backsteinbaues hängt eine Hakenkreuzfahne. Der Bretterzaun des Lumpenplatzes ist mit den großen gelben Lloyd-George-Plakaten beklebt. „Jeder Deutsche ein Lump, der nicht fordert..." Es wird bei uns eine ganze Menge „Lumpen" geben. Könnt ihr drauf warten. Teichert lächelt. Unter seiner Oberlippe kommen die beiden schwarzen Zahnstummel hervor. Er macht eine leichte Kopfbewegung zu den Fensterreihen links und rechts hinauf.
„Volksgenossen - Sonderausgabe!" sagt er spöttisch. Ich sehe zu den beiden Hakenkreuzfahnen hinauf, die er meint. Zwei Genossen wohnen dort. Wir haben ihnen selbst geraten, zu flaggen. Wir müssen in unserer augenblicklichen Situation bei jedem einzelnen Genossen auch nur den Schein eines Verdachts vermeiden. „Hat doch seine Vorteile, Paul. Unsere Hinterhauswohnung."
„Will ich meinen. Bist auch sonst nicht so im Rampenlicht."
Praktisch ist es jetzt schon so weit, dass jedes Fenster an der Straßenfront unter Kontrolle der SA steht. Besonders bei uns. Heute früh ist die SA in die schwach beflaggten Häuser gekommen und hat sich drohend erkundigt, ob die Vorderhausmieter ohne Fahnen Juden seien. Gut, dass Ede nicht im Vorderhaus wohnt. Er hat schon so genug getobt:
„Taktisch? - Watt heißt da taktisch sein! Jetzt mach'n unsre Jenossen schon für die Nazis Reklame!" hat er sich entrüstet, als wir den beiden Genossen sagten, sie sollten flaggen.
Wir biegen in die Berliner Straße ein. Da drüben wohnt Hilde. Ich müsste sie wieder mal im Büro anrufen. Sie sieht Franz öfter als ich. - Hier hängen die Fahnen noch dichter. Wohnen auch nur Kleinbürger hier. Angestellte, Beamte, Leute mit freien Berufen. Dass die Arbeitergegenden bei uns alle so in sich abgeschlossen sind! Immer nur einige Straßen. Ist eine Beamtenstadt, Charlottenburg. Die Vertreter der Arbeiterschaft in der städtischen Verwaltung, die proletarischen Organisationen selbst haben bei uns immer gegen eine Bürgermehrheit kämpfen müssen. Schon in der Vorkriegszeit. Deshalb waren die Charlottenburger Arbeiter schon immer sehr revolutionär, immer im Angriff. Ich sehe Teichert an. Die starken Backenknochen, die blasse Haut darüber, das schüttere, dunkelblonde Haar mit den tiefen Ecken. Ein Arbeitergesicht. Steht nichts Besonderes drin, wie bei uns allen. Einer geht davon aufs Dutzend.
„Was macht eigentlich deine Frau, Paul?"
„Was soll sie machen? - Sie weiß doch wenig von uns. Schon früher nicht."
Klingt, als ob er sich längst mit etwas Unabänderlichem abgefunden hätte. Klein und pusslig ist die Frau. Nicht mehr jung. Für politische Probleme hat sie sich nie „interessiert". Sie kennt nur eins: „Mein Heim, meine Welt." Sie würde ihn sicher unter Tränen beschwören, „sich nicht unglücklich zu machen", wenn sie von seiner illegalen Arbeit wüsste. Wie man so nebenherleben kann. Ich stelle mir die Ehe eines Genossen anders vor.
Teichert zieht einen Zettel aus der Tasche.
Es ist der Kontrollzettel des Blockwartes Meyer.
„Die erreichen damit ihren Zweck, sage ich dir!" Er schlägt die Faust in die andere Handfläche. „Die Nazis wollen in den Stimmlisten feststellen, wer noch nicht gewählt hat. Und die meisten glauben tatsächlich, dass die gleichzeitig feststellen, wofür sie gestimmt haben!"
Ich nicke nur. Wie muss es erst auf dem Lande aussehen! Einer kennt da den andern. Selbst hier kann unsere Agitation gegen die gewaltigen Mittel des Staatsapparates nur bedingt sein. Wir haben in unserem Bezirk kleine Zettel gestreut. Mit Hammer und Sichel und dem Aufdruck „Nein!" In allen Stadtteilen ist das geschehen. Ede hatte bei uns wieder die gefährlichsten Ecken. Er ging wieder ohne Glasauge, mit der Blindenbinde und dem tastenden Stock. In unserer Straße haben wir aber nicht gestreut, nur diskutiert. Wir wollen nach der Kranz-Affäre die SA nicht gleich wieder auf uns hetzen.
Und doch, diese Zettel werden nicht nur eine Aufforderung sein, mit „Nein" zu stimmen. Auf jeden Hitlergegner werden sie auch moralisch wirken. Werden ihm zeigen, dass wir nicht auszurotten sind. Teichert stößt mich an. Er will etwas sagen, kommt aber nicht mehr dazu: zwei SA-Leute stehen vor uns.
„Heil Hitler!"
„Heil Hitler!"
„Haben Sie schon eine Wahlplakette?"
„Wahlplakette? - Nein", sagt Teichert.
„Dann waren Sie auch noch nicht wählen?"
„Nein."
„Gehen Sie gleich, rate ich Ihnen. Sie werden sonst überall auf der Straße angehalten!"
„Die Wahlplakette bekommen Sie dort", erklärt der andere SA-Mann. Er rückt an seiner Brille. „Anstecken! Ist der Ausweis, dass Sie gewählt haben!"
Die beiden heben den Arm und gehen weiter.
„Komm, Jan!" sagt Teichert wütend, als wir ein Stück weiter sind. „Unsere Antwort können sie gleich haben!"
Wir kommen an einer Straßenbahnhaltestelle vorbei. Auch hier kontrolliert die SA die Wartenden. Wir gehen langsamer. Eine dicke Frau, zwei Koffer stehen vor ihr, lamentiert erregt. „Aber ich muss doch nach Spandau - zu meinen Verwandten!" „Erst gehen Sie in Ihr Wahllokal. Sie werden auch in Spandau kontrolliert, dann ist's zu spät!" hören wir den SA-Mann sagen. „Aber die warten doch mit dem Essen ...!" fängt die Frau wieder an. „Begreifen Sie doch! Ohne die Plakette kommen Sie heute nicht weiter!" fährt sie der SA-Mann an.
Die Frau nimmt wütend einen Koffer auf und geht. Jetzt erst sehen wir, dass ein kleiner Mann zu ihr gehört. Er trägt den anderen Koffer. Wir gehen hinter den beiden her.
„Hab's dir gleich gesagt - ich wollte mit der Eisenbahn fahr'n!" schimpft die Frau auf den Kleinen.
„Soso, Eisenbahn! Hast wohl nicht jehört, watt Fritze erzählt hat? Die lassen keenen ohne Plakette zur Sperre ruff!" verteidigt sich der Mann. „Da kontrollieren se erst | recht!"
Das Wahllokal ist in einer Kneipe. Die Menschen stehen in langer Schlange davor. Die Reihe geht durch den Ausschank- I raum in ein Nebenzimmer. Als wir im Türrahmen stehen, können wir da hineinsehen. An quergestellten Tischen sitzt der Wahlvorstand. Die Männer tragen alle nationalsozialistische Abzeichen. Gleich links, hinter der geöffneten Flügeltür, stehen auf Tischen drei Kästen. Ein grüner Vorhang hängt davor. Zwei SA-Männer, der eine hat eine Sammelbüchse, der andere einen Pappkarton mit Abstimmungsplaketten in der Hand, stehen links und rechts im Türrahmen. An einem der Tische blättert ein Mann in einer dicken Liste. Er wiederholt laut die Namen, manchmal fragt er zur Bestätigung nach dem Geburtsdatum. Neben ihm sitzt einer mit einem Naziparteiabzeichen und streicht jedes Mal in einer eigenen Liste die genannten Namen an. Die haben sich die Wahlliste des Bezirks
abgeschrieben. So kontrollieren sie also, wer nicht wählen kommt, holen ihn dann.
- „Dieses Haus - Kontrolle - Blockwart Meyer -."
Die Wähler treten mit dem empfangenen Kuvert, in dem die Abstimmungsscheine liegen, der Reihe nach an die Kästen links neben der Tür. Hinter dem Vorhang machen sie ihre Kreuze. Bei manchem bleibt er in der Eile halb zurückgeschlagen. Zwei Meter entfernt stehen die beiden SA-Leute. Sie sehen zu den Vorhangkästen hinüber, als müssten sie die vor Diebstahl schützen. Der Vorschrift ist Genüge getan. Die SA ist nicht im Abstimmungsraum - nur an der Schwelle.
Teichert blinzelt mir zu. Er hat dieselben Gedanken. Auf nicht fest entschlossene Neinsager muss auch dies einschüchternd wirken. Ich sehe mir unwillkürlich die hinter uns Stehenden an. Arbeiter, Arbeiterfrauen. Ihre Kleidung, die verarbeiteten Hände zeigen es. Ihre Gesichter sind ernst, unbewegt. Wie von einem Vorhang verdeckt.
Als wir den Raum verlassen, bietet uns der SA-Mann mit der Pappschachtel Abzeichen an. Der andere streckt die Sammelbüchse vor.
„Wir sind arbeitslos", sagt Teichert.
Sie geben uns die Plaketten umsonst. Sie sind aus Blech. Ein „Ja" ist darin eingestanzt.
Draußen sagt Teichert: „Da bleibt einem wirklich die Spucke weg bei der Frechheit! Ihre Kontrollmarke soll man ihnen auch noch bezahlen. Ich hänge mir den Eselsorden nicht an!"
„Eselsorden?
„Lies doch: J-A. Macht doch schon überall die Runde." -
Zwei Tage später. Hilde erzählt uns, dass ihr Bruder mit seinen SA-Leuten erregt diskutiert hat. Sie waren bestürzt, dass es nach mehr als einem Dreivierteljahr der Machtübernahme noch fast fünf Millionen Neinsager gibt.
„Unter den Umständen und nach ihrer Statistik", sagte Teichert darauf. „Die kann doch kein Teufel prüfen."
„Das Charlottenburger Wahlergebnis ist mit das beste", stellte ich fest. „Achtunddreißigtausend Neinsager haben wir. Selbst die viel größeren Arbeiterbezirke Friedrichshain und der Wedding haben nur einige vierzigtausend."
„Der Terror der Dreiunddreißiger; - bei uns fühlen die Arbeiter das Dritte Reich vielleicht am stärksten."
Ich konnte meine Aufzeichnungen eine Zeitlang nicht fortsetzen. In meinem Zimmer konnte ich nicht mehr weiterschreiben. Unsere Nachbarin (ihre Wohnung grenzt an meine Zimmerwand) hat meiner Wirtin gegenüber erwähnt, dass bei uns eine Schreibmaschine klappere. Meine alte Wirtin hat der Nachbarin dafür die harmlose Erklärung gegeben, die ich bei ihr vorschütze. Sie ahnte ja auch nicht, was ich tippe. Ich bin für sie ein pünktlich zahlender Mieter - außerdem „ein netter Mensch".
In den Tagen vorher waren schon einige ähnliche Zwischenfälle. Einige Male kamen beamtete Personen in unsere Wohnung, während ich schrieb. Ich konnte jedoch die geschriebenen Bogen noch schnell verstecken, aber die Schreibmaschine sahen sie. Wir wissen, dass die Nazibehörden allen Beamten, die dienstlichen Zutritt zu Wohnungen haben, einschärfen, auf die Gespräche der Mieter, überhaupt auf alles zu achten. Eine Schreibmaschine - bei einer „gewöhnlichen" Privatperson, die noch dazu in einem Arbeiterbezirk wohnt - muss auffallen!
Ich hatte mich deshalb schon lange nach einem anderen Arbeitsraum umgesehen. Ein Sympathisierender, der in einer anderen Stadtgegend wohnt, hat mir jetzt ein Zimmer zur Verfügung gestellt. Ich habe ihm angedeutet, dass ich etwas „Verbotenes" schreibe. Ihm gegenüber musste ich das tun.
Ich gehe jetzt immer auf einige Stunden dorthin. Ich habe mir in dem Zimmer eine Vorrichtung geschaffen, in der ich im äußersten Falle die geschriebenen Seiten und meine Notizen sofort verschwinden lassen kann.
Vor zwei Tagen hat Franz sein Quartier in dem neuen Bezirk wechseln müssen. Der Schlag ist auf die Familie Lamprecht gefallen. Das ist die Familie, bei der ich damals mit Käthe war. Franz hat mir alles erzählt.
Er stand vorgestern in Lamprechts Küche und rasierte sich. Die Genossin Lamprecht wollte mit ihm zu einer ihrer Abziehstellen gehen, wo sie Zeitungen abzuholen hatten. Rudi, der Monteurgenosse mit dem feuerroten Haar und dem Sommersprossengesicht, zog die Zeitungen dort mit einem anderen Genossen ab. (Mit Rudi und seinem Freund, dem „Boxer-Bruno", haben wir damals in der Tanzbar Zeitungen hergestellt.) Franz, der sich eben erst eingeseift hatte, sagte: „Wart doch, bis ich den Bart abgehackt habe, Erna."
„Ich gehe lieber schon vor", sagte die Genossen Lamprecht. „Das Mädel schläft gerade, und in knapp einer Stunde kommt Kurt schon vom Kohlenplatz. Das klappt sonst mit dem Essen nicht. Ich bringe seine Zeitungen schnell zu der Verteilungsstelle. Dann spart Kurt den Weg. Er ist abends immer todmüde." - Ich kenne diese Abziehstelle gut, denn ich war mit Franz schon dort. Es ist ein kleiner Laden. Elektrische Beleuchtungskörper hängen im Schaufenster. Gas- und Wasserleitungshähne, Glühbirnen liegen in der Auslage. Dahinter hängt an der Auslagenwand ein grün umkränztes Hitlerbild. Auf der Schaufensterscheibe steht:
„Gas- und Elektro-Installationen"
und darunter groß:
„Deutsches Geschäft!"
Der Besitzer des Ladens, der Genosse Schwante, ist schon ein alter Mann. Er trägt immer einen ausgeblaßten blauen Monteuranzug und, da er sehr kurzsichtig ist, eine schmale, altmodische Nickelbrille. Sein Gesicht ist braungebrannt und sehr faltig. Es sieht wie eine verwitterte Lederhaut aus. Jeden Sonnabend fährt er in die Provinz angeln. Das ist seine einzige Passion. Er ist Junggeselle. Im Laden stehen an den Seiten lange Regale. Kupferdraht, Zangen in allen Größen und Formen, Bleirohrstücke und anderes liegen da immer wüst durcheinander. Der alte Schwante ordnet das Zeug nie. Er hat vielleicht auch keine Zeit dazu, denn er schlägt sich mit kleinen Reparaturen geradeso durch. Der alte Strippenzieher Schwante bringt die Genossen des Bezirks auf seine Art „in Lohn und Brot", hat Franz damals scherzend zu mir gesagt. In dem hinteren Arbeitsraum steht nämlich auf einem langen Tisch ein Abziehapparat. Es ist eine große moderne Kiste. Sie legt die Bogen selbsttätig an und stapelt sie hinter den Gummiwalzen beschriftet auf. Sie hat sogar eine automatische Zählvorrichtung, an der man die Stückzahl der fertigen Bogen ablesen kann. Sie war immer groß, der Apparat arbeitet schnell. Er macht zwar Krach für drei Apparate. Das schadete dort nichts. Es war ja ein gewerblicher Betrieb.
Franz ging zehn Minuten später als Erna zu Schwantes Laden. Ein Stück davor stutzte er. Auf der anderen Bürgersteigseite hatte sich eine Menschenmenge angesammelt. War bei Schwante etwas passiert? Franz erschrak. Er stellte sich hinter die Leute, es kannte ihn ja niemand. Da sah er es. Am Rinnstein vor Schwantes Laden stand ein Überfallauto! Franz zitterte. - Die sind hoch - die sind hoch - du darfst dir nichts anmerken lassen, hat keinen Sinn, dass du auch noch - ob Erna schon drin ist? - was kann ich jetzt tun? - „Mein Kopf schmerzte, als wollte er zerspringen", erzählte Franz. Plötzlich flog drüben die Ladentür auf. Blassgrün Uniformierte kamen heraus, blanke Nickelschilder baumelten auf ihrer Brust. Görings Feldpolizei! Sie hatten drei Zivilisten in der Mitte, stießen sie auf das Auto. - Erna Lamprecht - der alte Schwante - und ein großer hagerer Genosse. Den kannte Franz nur flüchtig, er hatte ihn mal mit Rudi getroffen. Aber wo war Rudi? Sein Rotkopf war nicht dabei. Er sollte doch mit abziehen - war er vielleicht schon vorher gegangen? Und der andere da - der vierte Zivilist - das war doch? - Seifahrt! Und der spricht mit der Feldpolizei - sie werfen ihn nicht in das Auto?! Franz stand wie gelähmt. Drüben fuhr das Auto ab. Die Menschen verstreuten sich. Sie tuscheln leise. Du musst weitergehen! riss sich Franz zusammen. Er machte erzwungen ruhige Schritte. So ging er bis zur nächsten Ecke, dann rannte er. Dann plötzlich wusste er, was er zu tun hatte!
Er rannte eine Viertelstunde lang, mit keuchenden Lungen. Zum Kohlenplatz! Kurt, Ernas Mann, warnen! - Er kam zu spät. Zwanzig Minuten später erfuhr er, dass Kurt der Feldpolizei direkt in die Arme gelaufen war. Sie saß bereits in seiner Wohnung, als er kam. Lamprechts Nachbarn hatten das kleine Mädel der beiden in ihre Obhut nehmen wollen. Die Feldpolizei ließ es nicht zu. Aber eine sofortige Haussuchung hatte das Angebot den Nachbarn eingebracht.
An demselben Abend ging Franz zu Bruno. Zu Bruno, Rudis bestem Freund. Schon im Türrahmen sah Franz zu Brunos düsterem Gesicht, dass der schon alles wusste. Franz ahnte nicht, dass er noch nicht alles wußte. Bruno führte ihn schweigend in sein Zimmer. Dort ließ er sich auf einen Stuhl fallen, vergrub sein Gesicht in den Händen. Franz sah, wie Brunos Schultern unter einem trockenen Schluchzen zuckten. Bruno, der Fichteboxer, dachte er. Der starke Junge, der in der schwierigsten Situation nicht den Humor verlor. Jan hat mir doch erzählt, wie kaltblütig er blieb, als bei dem Braunbuchlesen die SA kam. Dass wir jetzt mit den SAJ-Genossen arbeiten, das ist überhaupt sein Werk. Das Schweigen im Zimmer lag wie eine Zentnerlast auf Franz.
Er sagte: „Seifahrt - der Lump - der Verräter!"
Da riss Bruno mit einem Ruck den Kopf hoch, sah Franz mit weit aufgerissenen Augen an. Sein Gesicht verzerrte sich.
Was hat er denn - weiß er das noch nicht? dachte Franz.
Er sagte langsam: „Der ging doch neben der Feldpolizei -sprach mit ihr - aber wo ist denn Rudi?! - Er war nicht dabei!"
Bruno sprang plötzlich auf, stieß polternd den Stuhl zurück. Er schrie, schrie laut, als ob in dieser Zeit nicht alle Wände Ohren hätten: „Seifahrt - der Seifahrt?! - Dann ist Seifahrt sein Mörder!" Dann ließ sich Bruno wieder auf den Stuhl fallen. Er sagte: „Rudi - Rudi - ist doch dabei erschoss'n worden..."
Franz wohnt jetzt bei Bruno. Er sagt, dass der ein anderer Mensch geworden sei. Bruno ist abgemagert. Er sitzt bei den Mahlzeiten, wenn alle diskutieren, stumm am Tisch. Er isst apathisch. Bruno ist zu keiner disziplinierten Arbeit mehr zu gebrauchen. Wie ein nimmermüder Vogel umkreist ihn Tag und Nacht nur ein Gedanke: Rache für Rudi! Er ist immer unterwegs, kommt dann spät nachts nach Hause.
Der Bezirk hatte wenige Tage nach dem Vorfall ein Flugblatt herausgegeben. Bruno hat so lange gedrängt, bis er die Gesamtauflage erhielt. Die anderen Genossen erzählen Franz, dass überall, wo Seifahrt auftaucht, die Flugblätter mit ihm gehen. Bruno folgt ihm wie sein Schatten. Seifahrt wechselte seine Wohnung. Er geht jetzt nur noch in SA-Begleitung. Trotzdem findet man ihn eines Abends in seinem Hausflur schwer verletzt auf. Bruno kommt in dieser Nacht mit einem zerkratzten Gesicht nach Hause.
Doch auch im Krankenhaus lässt Bruno dem Seifahrt keine Ruhe. Klebezettel über Seifahrts Tür tauchen dort an den Wänden auf. In der Station, auf der Seifahrt liegt. Als Seifahrt aus dem Krankenhaus entlassen wird, zieht er wieder in eine andere Straße. Die SA hat inzwischen einen regelrechten Überwachungsdienst eingerichtet. Sie kontrolliert überraschend die Taschen der Personen, die das Haus betreten. Bruno ist jedoch nicht abzuschütteln. Nach einigen Tagen stehen auf Seifahrts Treppenflur, tief in die Wand eingegraben, die Worte:
„Achtung! Der Arbeitermörder Seifahrt wohnt jetzt hier!"
So jagt Bruno, der immer gegenwärtige Ankläger, sein Opfer durch die Großstadt. So macht er Seifahrt jede weitere Spitzeltätigkeit unmöglich. Seifahrt ist wie ein gehetztes Wild, das nie weiß, wo der Feind lauert. Denn er kennt Bruno nicht.
Brunos Rachefeldzug hebt das Kraftbewusstsein der Genossen. Er zeigt ihnen, dass sie trotz Terror der SA und der Polizei auch Spitzeln gegenüber nicht wehrlos sind.
Eines Tages gab Seifahrt es endlich auf. Er verschwand unauffällig aus dem Bezirk. Auch Bruno fand seine Spur jetzt nicht mehr. Da sagte er zu Franz: „Einmal finden wir ihn -dann rettet ihn niemand mehr!"
Ich warte am Untergrundbahnhof Wittenbergplatz. Auf Käthe, mein Mädel. Ich habe sie im Büro angerufen. Wie lange habe ich Käthe nicht gesehen! - Diese Zeit hat unser persönliches Leben verschluckt. Nicht nur unser eigenes - das aller Genossen. Ob es den andern auch so geht wie mir? Immer häufiger habe ich jetzt den Wunsch, Käthe zu sehen. Zu wissen, da ist jemand, der dich versteht, mit dem du über alles sprechen kannst, über alles. Gewiss, es ist schon viel, die Genossen zu haben. Menschen, die in diesem Land, in dem jeder und alles zur braunen Schablone geworden zu sein scheint, ihren klaren Verstand behalten haben. Der Wirbel der Ereignisse, die Ungewissheit des nächsten Tages hat unsere persönliche Bindung viel, viel stärker gemacht. Ja, wir wissen heute mehr denn je, was wir aneinander zu verlieren haben. -- Am Kaufhaus drüben leuchten grell die Lichtreklamen. Die ganze Tauentzienstraße ist von rotem und blauem Licht überschüttet. Am Straßenende steht klobig und breit die Gedächtniskirche. Die Fußgänger schieben sich in dichten Reihen über die Bürgersteige, an den Auslagen der Läden vorbei. Dicht vor mir schwenken zwei Schupos ihre Arme mit den weißen Stulpen, dirigieren lange Autoreihen um den Platz inmitten der Straße, auf dem ich stehe. Aus der Untergrundbahn kommt eine Menschenmenge. Käthe! Ihre braunen Augen glänzen.
Ich nehme ihre Hand. Käthe hängt sich fest in meinen Arm. Langsam gehen wir durch das Menschengewühl. Wochenlang haben wir uns auf dieses Wiedersehen gefreut, es gäbe nun so viel zu reden. Jetzt aber bleiben wir stumm. Sehen uns nur an, drücken uns die Hand. Nein, jetzt nicht - nachher. Wir werden irgendwohin gehen, uns setzen. Käthes kleine trippelnde Schritte, denen ich mich anpasse, die Wärme ihrer Hand, mir ist, als ob wir hier nur allein gehen. Blass und abgespannt sieht sie aus. Ihr Gesicht ist schmal geworden. Oder macht es ihr hellblondes Haar, das grelle Licht hier?
An einer Ecke steht eine Heilsarmeegruppe und singt. Eine Frau streckt uns eine Sammelbüchse entgegen. Ihr rotes, volles Gesicht unter der großen Schute lächelt ölig.
In einem kleinen Cafe wählen wir einen einzelnen Tisch am Fenster. Hinter der Scheibe zieht rastlos der Strom der Fußgänger vorbei, wie dumpfes Brausen kommt der Verkehrslärm zu uns herein. Käthe rückt dicht zu mir heran. Ich spüre ihre Wärme. Schweigend rührt sie in ihrer Tasse, sieht mich immer wieder lächelnd an. Ich ziehe den Rauch meiner Zigarette tief ein. Schön so. -Käthe sieht mich wieder an.
Sie sagt: „Mutter ist krank. Liegt schon ein paar Tage." „Krank?! - Doch nichts Ernstes?" „Nein. Immer dasselbe."
„Sie fragt immerzu nach Franz", sagt Käthe wieder. „Ich habe ihm nicht erzählt, dass sie krank ist. Beunruhigt ihn bloß."
„Wann hast du ihn denn getroffen?" „Gestern. Hilde war auch dort."
„Ich sah ihn vorige Woche. - Ist bei denen alles in Ordnung?"
„Ja. Es geht ihm gut."
Ich atme auf. Hat er also den beiden Mädels von der Sache mit Rudi und Bruno nichts gesagt. Auch er wollte sie nicht beunruhigen.
Lange schweigen wir. Dann sage ich zu Käthe, dass wir Weihnachten rausfahren sollten. Irgendwo in die Provinz. Ihr Gesicht wird rot vor Freude. Sie legt ihren Arm um mich. Ihre Augen werden ganz blank. Mit dem Gefühl der Vorfreude machen wir „Reisepläne". Am liebsten möchte sie in die Mecklenburgische Schweiz, sagt Käthe. Die tiefen Wälder, die vielen Seen dort. Wir überrechnen die vermutlichen Ausgaben. Unsere „Reisekasse" würde gerade langen, freuen wir
uns. Ich bringe Käthe noch bis zur zweiten Querstraße. Dann trennen wir uns.
Langsam gehe auch ich, aus einer anderen Richtung kommend, in unsere Straße zurück. Vielleicht schneit es bis Weihnachten. Wir werden durch einsame Wälder laufen. Rumtollen. Uns schneeballen. Spaß macht es, Steine auf das Eis der Seen zu werfen. Vielleicht kann man auch die Schlittschuhe mitnehmen. Abends werden wir dann in irgendeinem Dorf sein. Wenn wir dann durch die stille, verschneite Dorfstraße gehen, ist es immer, als ob man Neuland entdeckt. Hinter den niedrigen Fenstern wird Licht sein - man sehnt sich dann nach der warmen Wirtshausstube - Käthe! Wir werden wieder zusammen sein. Tagelang - tagelang -
Der Maikowski-Prozeß läuft nun schon tagelang. Die Presse schrieb bereits, dass die Plädoyers der Staatsanwälte für Anfang Januar zu erwarten seien. Seit dem Marsch der Dreiunddreißiger durch unsere Straße, in der Nacht der Kanzlerernennung, ist nun bald ein Jahr vergangen. Das Urteil soll wohl unbedingt vor dem Jahrestag gefällt werden, als „symbolische Sühne". Aus den Zeitungsberichten über den Prozess ersehen wir klar, dass es den Staatsanwälten noch immer nicht gelungen ist, den angeklagten Genossen nachzuweisen, dass sie den Sturmführer Maikowski und den Polizisten Zauritz erschossen haben. Trotzdem ein riesiger Apparat in Bewegung gesetzt, die Vorgänge der fraglichen Nacht bis in die geringsten Einzelheiten zerlegt wurden. Die gesamte gleichgeschaltete Presse schreibt aber immer nur über den „Mordüberfall der Kommune". Damit soll in der Öffentlichkeit der Begriff „kommunistische Mörder" gezüchtet werden. Keine der Zeitungen erwähnt auch nur mit einer Zeile die Tatsache, dass die SA durch die Wallstraße marschierte, obwohl sie damals der Rückmarsch vom Fackelzug zu ihrem Sturmlokal durch Straßen hätte führen müssen, die völlig entgegengesetzt liegen. Durch ihren Einmarsch in unsere Straße hat doch die SA erst die Möglichkeit eines Zusammenstoßes herbeigeführt. Wir wissen es, sie wollte unsere Straße im ersten Siegestaumel der Machtübernahme „im Sturm nehmen". Die angeklagten Genossen müssen in der Gerichtsverhandlung zumindest auf diesen Einmarsch hinweisen; denn die Presse deutet Entkräftigungen und Widerlegungen der Angeklagten an, die „bewusste Verdrehung und Lüge" seien. Auch die Gerichtsverhandlung muss für die Genossen eine furchtbare seelische Folterung sein. (Wie müssen sie erst vorher bei den monatelangen „Vernehmungen" gelitten haben!) In den Prozessberichten der Zeitungen steht oft der nüchterne, gemeine Satz: „Die Verhandlung musste abgebrochen werden, weil eine Angeklagte wieder mal ihre Schreikrämpfe bekam ... weil ein Angeklagter, wie schon oft ausprobiert, mit Krämpfen umfiel..."
Die nationalsozialistischen Zeitungen haben aus Maikowski bereits einen „Nationalhelden" gemacht. Den SA-Sturm 33 bezeichnen sie immer nur als „den Ehrensturm Deutschlands, den Sturm der alten Kämpfer". Goebbels „weihte" unlängst auf dem Tempelhofer Feld neue Fahnen der Partei. „Durch Berühren mit der Blutfahne Maikowski." Die darüber veröffentlichten Bilder zeigen den Sturm 33 als „Ehrenspalier" vor der Rednertribüne. Es gab bisher nur die „Blutfahne vom 9. November 1923". (Die Fahne, die damals bei ihrem Putsch in München getragen wurde.) Es gab nur einen „Nationalhelden": Horst Wessel. Der von seinen eigenen SA-Leuten erschossene Maikowski ist jetzt ihr zweiter „Märtyrer". Dies alles hat unsere Sorge um die angeklagten Genossen noch größer gemacht. Um so mehr, als die Nazizeitungen jetzt schon offen nach den Köpfen der Angeklagten schreien.
Trotz alledem steht der Maikowski-Prozeß nicht im Blickfeld der Öffentlichkeit. Der Reichstagsbrandprozeß überschattet ihn immer stärker. Nach der Vernehmung von Göring und Goebbels ist die Spannung über den Ausgang dieses Prozesses in allen Kreisen der Bevölkerung auf das höchste gestiegen. Die Menschen holen sich die Berichte über den Prozess aus den ausländischen Zeitungen. Nie sind diese soviel
bei uns gelesen worden wie jetzt. Überall, in den Bahnen, in den Cafes, sitzen die Menschen und lesen in ausländischen Zeitungen. In den Cafes gehen diese Zeitungen von Hand zu Hand, jeder wartet schon darauf, dass sie der andere ausgelesen hat. Denn nicht alle haben Geld genug, ausländische Zeitungen zu kaufen.
Doch selbst die deutsche Presse hat dem Diktator Göring eine Ohrfeige geben müssen. Als Göring von der verbrecherischen Weltanschauung des Kommunismus sprach und Dimitroff ihn kühn fragte, ob ihm bekannt sei, dass diese verbrecherische Weltanschauung den sechsten Teil der Erde, nämlich die Sowjetunion, regiere, brauste Göring wieder auf. Ihm sei zunächst bekannt, dass die Russen mit Wechseln bezahlten, aber ihm sei nicht bekannt, dass diese auch eingelöst würden. Tags darauf erschien in der deutschen Presse ein amtliches Dementi, das feststellen musste, „dass die Sowjetregierung bis zum heutigen Tage ihren Verpflichtungen in Deutschland pünktlich nachgekommen ist". Die Notiz war in allen Zeitungen ganz klein gedruckt, sie wurde außerdem an versteckter Stelle gebracht, aber unsere Genossen gaben sie schmunzelnd von Hand zu Hand. Nicht nur wir haben uns darüber gefreut. In den Lebensmittelgeschäften hörte ich die Leute darüber sprechen: „Die haben es nötig, so zu reden ..."
Alle Verdrehungen und Unterschlagungen können nicht mehr verhindern, dass die Wahrheit über die wirklichen Brandstifter in immer weitere Kreise dringt. Wo unsere illegalen Flugblätter und Zeitungen nicht hinkommen, bringen die Radiowellen des Moskauer Senders Aufklärung. Überall sind Hörergemeinschaften organisiert worden, jetzt auch in unserer Straße. Jeden Abend hören wir die Prozessberichte. Sie werden dann von den Genossen mündlich weitergetragen. Hilde erzählte uns, dass sogar SA-Leute, die zu ihrem Bruder kommen, über diese Nachrichten des Moskauer Senders sprechen. Einige voller Wut, andere, um „nur Neuigkeiten mitzuteilen". Göring ist sich klar darüber, welchen Umfang dieser Radioempfang bereits angenommen hat. Er erließ eine Verfügung: „Der Radioempfang ausländischer Sender und das gemeinsame Abhören derselben wird als staatsfeindliche Versammlung betrachtet und dementsprechend bestraft."
Die Verfügung wird Druckerschwärze bleiben, zumindest für uns. Görings „Kollege" Goebbels „unterstützt" uns hierbei hilfreich. Auf seine Anweisung hat die deutsche Radioindustrie die Fabrikation von so genannten Volksempfängern aufgenommen und dieselben verhältnismäßig billig herausgebracht. Man kann diese kleinen Apparate für wenige Mark Anzahlung erwerben und zahlt dann die restliche Summe in kleinen Monatsraten ab. Mit diesen Apparaten kann man nur die deutschen Sender empfangen, das war auch der Zweck der Übung. Unsere Radioamateure hatten jedoch bald heraus, dass man die Reichweite dieser Apparate mit einem kleinen Zusatzgerät, das nur einige Mark kostet, erhöhen kann. Jetzt hören mit solchen Radios viele Genossen - die nie das Geld für einen teuren Fernempfangsapparat aufbringen konnten -Moskau.
Heute ist „Heiligabend". Ich habe mich mit Ede verabredet. Ede will zur Verteilungsstelle des Winterhilfswerkes gehen. Zu der NSV,
„Kannste ruhig mitkomm. Die stehn da imma uff der Straße an. Wenn ick drankomme, kommste eben nich mit rin, fällt janich uff", hat mir Ede auf meine Bedenken erwidert. „Da kannste aber mal hör'n, watt die Leute so reden", meinte er dann.
Aus diesem Grunde hatte ich die Sache mit ihm überhaupt nur besprochen. Wir wollen uns aber doch erst in der Nähe der Verteilungsstelle treffen. Es ist von unserer Straße knapp zehn Minuten Weg.
Winterhilfswerk. - Teichert hat mir erzählt, dass in seinem Betrieb jeder wöchentlich fünfzig Pfennig dafür „opfern" muss. Eine von den vielen „freiwilligen" Spenden. Der Nazifunktionär lässt bei ihnen am Geldtag eine Liste herumgehen, auf der schon alle Namen stehen. Dahinter ist auch meist der Geldbetrag eingesetzt, und so traut sich niemand, weniger als sein „Vorgänger" zu geben. Freiwillige Spender bekommen eine Winterhilfsplakette. Die runden, bebilderten Papierrosetten mit der Aufschrift „Wir helfen" kleben in allen Häusern, auch in meinem, an vielen Wohnungstüren. Sie haben jeden Monat eine andere Farbe. An manchen Türen ist schon eine richtige „Bilderkollektion". Für die Scharen der Sammler, die in allen Häusern mit klappernden Büchsen herumlaufen, sind sie der Ausweis, dass diese Mieter schon „geopfert" haben. Teichert erzählte, dass die Proleten für die fünfzig Pfennig, die sie auf der Sammelliste „zeichnen", noch keine Papierrosette bekommen. Das sind gewissermaßen „Pflichtgroschen". Sie müssen für die Plakette erst noch mal fünfzig Pfennig „spenden". Die meisten täten das auch, meinte er, damit sie wenigstens in ihren Wohnungen Ruhe hätten. -In der Krolloper eröffnete Hitler „feierlich" das Winterhilfswerk. Er sprach zu den Versammelten, zu Krupp, Siemens, Thyssen und anderen Großindustriellen, zu den Parteibonzen in ihren Prunkuniformen, von diesem „Sozialismus der Tat". Er feierte Goebbels als den Organisator „dieser größten sozialen Tat in der Geschichte". Unsere arbeitslosen Genossen haben mir erzählt, was sie von der NSV bekommen. Einige zehn Pfund Kartoffeln, einen Zentner Kohlen, ein Pfund Margarine, monatlich! Die Margarine nicht einmal gratis. Nur zu „verbilligten Preisen". Auch für Kohlen und Kartoffeln muss zugezahlt werden. „Dett hab ick früher vom ,System'-Wohlfahrtsamt ooch schon jekriegt, und da war die Jeldunterstützung obendrein noch jrößer", hat mir Ede dabei erklärt.
Die Bauern müssen die Kartoffeln „spenden". Die Kohlen die Kohlenhändler. Die Lebensmittel die kleinen Geschäftsleute. Pfundspenden nennen sie das. Kein Geschäftsmann kann es wagen, sie abzulehnen. Was sie von den kleinen Gewerbetreibenden erpressen, geben sie den ganz Armen und nennen das „Sozialismus". Und wo bleiben die gesammelten Barbeträge? Wird damit auch aufgerüstet? Es müssen doch in jedem Monat Millionen sein! -
Goebbels muss wissen, dass die einfache Büchsensammelei nicht mehr wirkt. Lautsprecherwagen fahren jetzt umher. Neulich zog eine ganze Werbekolonne mit Kamelen, Affen und andern exotischen Tieren durch die Straßen. In der Tau-entzienstraße, der belebtesten Straße Berlins, saß die sammelnde SA auf Pferden. Sie hatten den Pferden die Sammelbüchsen um den Hals gehängt und stellten sich damit quer über die Bürgersteige. - Wir aber in unserer Straße habe; auch wieder zweimal gesammelt. Einige zwanzig Mark. Wir haben sie der Mutter von Karl Kurgel und Heinz Preuß bringen lassen. Für Weihnachtspakete an die beiden. Preuß sitzt im Konzentrationslager Brandenburg, Kurgel in Oranienburg. Den Kurgel haben sie doch ohne jeden Anlass ins Konzentrationslager gesteckt. Die Dreiunddreißiger haben ihn doch damals nur verhaftet, weil sie von ihm wissen wollten, wo Franz ist. X aus der SA-Reserve hat es mir doch damals erzählt. In den langen Monaten haben wir nur erfahren können, dass beide im Konzentrationslager sind. Sonst nichts.
Dieser Eintopfsonntag! In keinem Haushalt soll da das Mittagessen mehr als fünfzig Pfennig kosten. Die Sammler kommen manchmal in die Wohnungen, sie kontrollieren die Kochtöpfe.
„Der Führer isst heute auch nur ein Eintopfgericht und führt das übrige Geld an das Winterhilfswerk ab", erklären sie.
Mit der Topfguckerei haben sie sich bei allen was eingebrockt. Nie habe ich die alte Frau Zieschke in unserem Hause so erregt gesehen wie an diesem Sonntag. Holt sie mich doch in ihre Küche rein, reißt den Deckel vom Kochtopf und schimpft los: „Dem Sammler habe ich Bescheid gesagt! ,Ich beziehe eine kleine Rente', habe ich gesagt. ,Mein Mittagessen darf nie fuffzig Pfennige kosten', habe ich gesagt. ,So? Der Führer isst auch so?! Na, ich bin froh, wenn ich mir zu Weihnachten ein Essen für fuffzig Pfennige leisten kann', habe ich
gesagt." Frau Zieschke schimpft und schimpft, und ich dachte, -warum holt sie dich gerade herein, sie weiß doch nichts von dir?! Da fragte sie mich plötzlich, ob ich das „Eintopflied" schon kenne. Nein, sagte ich. Da fängt sie mit ihrer dünnen Greisenstimme an zu singen:
„Wenn am Sonntagmorgen der Reichskanzler spricht: Eintopfgericht, Eintopfgericht, Grünkohl, Und der dicke Göring macht ein langes Gesicht: Eintopfgericht, Eintopfgericht, Grünkohl!"
Nach der Melodie „Wenn am Sonntagabend die Dorfmusik spielt" sang die alte Frau mit ihrer zittrigen Stimme. In der linken Hand hielt sie noch den Kochtopfdeckel. Es sah grotesk aus, ich habe gelacht, gelacht. Natürlich kannte ich das Lied schon, wir alle kennen es lange. Aber wo Frau Zieschke das bloß her hatte? -
Dort drüben steht Ede! - Er schüttelt mir kräftig die Hand. „Tach, Jan. - Denn man los. Mal sehn, watt ick die aus'n Leib reiß'n kann."
Er räuspert sich, spuckt im hohen Bogen aus.
„Ick hab dett Ordensjemüse mit. Wenn die Bonzen da nicht jenug rausrücken, wer ick se watt erzähl'n von Tuten und Blasen!"
„Hör zu: wir kennen uns natürlich nicht. Sei bei Gesprächen vorsichtig. Wir müssen immer doppelt vorsichtig sein!"
„Na klar. Weeß ick doch."
Die Lebensmittelverteilungsstelle des Winterhilfswerks ist in einem leerstehenden Laden untergebracht. Eine lange Menschenschlange steht in Viererreihen davor. Wir stellen uns an. Schon nach wenigen Minuten sind wir eingekeilt. Es kommen ständig neue Leute. Ich sehe mir die Menschen an. Es sind meist Arbeiterfrauen, arbeitslose Männer. Andern sehe ich aber an der Kleidung an, dass sie es früher besser gehabt haben. Den kleinen Mann mit dem steifen Hut und dem dunklen Mantel würde ich auf der Straße für einen Menschen mit gutem Auskommen halten. Der Mantel hat einen schönen Samtkragen, sieht ganz neu aus. Da links die ältere Frau mit der Pelzjacke? Was sie für ein hochmütiges Gesicht macht! Markiert auch hier noch stolzes Bürgertum. Ist sicher für sie „peinlich und entwürdigend", hier zu stehen. Die Frau hat bestimmt nur die äußerste Not hergetrieben.
Alle Füße treten den Bürgersteig. Es ist kalt und zugig. So war es in den Kriegsjahren. Da habe ich um ein paar Gramm Butter, um die Kohlrübenmarmelade angestanden. Vater war im Krieg, Mutter in der Granatenfabrik. Abends kam sie kaputt und hungrig nach Hause. Ihr Gesicht war immer ganz gelb. Vom Schwefel. Ein SA-Mann schließt die Ladentür auf und lässt einen Schwung Leute herein. Alles drängt nach vorn.
„Bewegt euch da drinnen mal schneller!" - „Wie lange sollen wir denn noch hier stehen!"
Die Ladentür ist schon wieder geschlossen. Ede blinzelt mir zu. Er steht jetzt ganz links von mir, an der Außenseite. Er hatte recht. Hier kann ich ungefährdet dabeistehen. Niemand wird darauf achten, ob ich überhaupt mit hineingehe. Alle drängen doch dann nach vorn. Ich habe aufgepasst, wer gerufen hat. Zwei Männer. Der eine trägt ein Abzeichen der Arbeitsfront. Die dort vorn müssen ja auch schon mindestens eine Stunde hier stehen, bei der Abfertigung! Sind doch noch ungefähr sechzig Leute vor uns, und der SA-Mann hat nur ein knappes Dutzend reingelassen. - Die Stiefel klappen weiter auf dem Bürgersteig. Es fängt plötzlich an zu schneien. Ein feines Sprühen, halb Schnee, halb Regen. Auch das noch! Wie viel stehen denn jetzt hinter uns? Ich zähle die Reihen. Sieben, acht... mehr als dreißig Menschen. Bis sie drankommen - wir beide sind doch schon zwanzig Minuten hier! Der Schub vorhin hat uns nur zwei Schritte vorwärts gebracht.
Ein junger Mann geht plötzlich am Rand der Reihen entlang. Ich sehe nur seinen Kopf, einen verbogenen Schlapphut darüber.
„Hallo! Erich!" ruft er laut.
Zwei Reihen vor mir reckt der kleine Mann mit dem steifen Hut den Kopf.
„Ja, hier!"
„Komm mal raus!"
Der Kleine drängt sich durch die Menge. Ich kann die beiden nicht mehr sehen, höre sie aber sprechen. Auch die andern drehen die Köpfe in die Richtung.
„Bist du abgefertigt?"
„Ja."
„Na und - was gibt es?"
„Kannst du in einer Hand tragen. Ein Pfund Zwiebeln, ein halbes Pfund Kistenkäse und einen Lebensmittelgutschein über eine Mark."
Es klatscht. Der junge Mann schlägt wohl auf das Paket.
„Was soll ich als Junggeselle mit Zwiebeln, frage ich dich?"
Die beiden reden noch weiter, aber ich kann nichts mehr verstehen. Links vor mir fängt eine große hagere Frau an zu schimpfen. Sie stemmt die Arme in die Seiten:
„Ein Pfund Zwiebeln - ein halbes Pfund Käse! - dafür stehen wir hier stundenlang?!"
Jetzt fuchtelt sie mit den Armen herum. Die andern fahren unwillkürlich zurück.
„Wo lassen die das alles ...?! Bei meinem Schlächter haben sie Speck abgeholt und solche Würste... solche Würste!"
Sie beugt den linken Arm als Maß, hält ihn den andern vor die Gesichter. Sie sieht alle der Reihe nach an, als fordere sie Antwort.
„Die wollen ja auch Weihnachten feiern", sagt ein Mann bissig. Er hat einen kurzen weißen Bart.
„Draußen war et ooch so. Vorne hatt'n wir nischt - aber die Etappe hat jelebt!"
Ede! Der soll doch seinen Rand halten. Vor allem nicht so deutlich werden. Ich sehe ihn starr an. Er grinst, schüttelt leicht den Kopf. Er hält wohl seine Bemerkung noch für besonders „taktisch".
„Ist eben der alte Laden. Bloß die Firma hat gewechselt", sagt einer hinter mir. Der kleine Mann mit der steifen Melone drängt sich wieder zu seinem Platz durch. Am Mantel hat der ja ein Naziparteiabzeichen. Die letzten Bemerkungen muss er gehört haben. Jetzt schiebt er sich die Melone ins Genick und sagt aufgeregt: „Ich mache einen Bericht, sage ich Ihnen! Einen Bericht über die Verteilungsstelle Lützow hier!... Direkt an den Leiter des Berliner Winterhilfswerkes... direkt an Spiewok!"
„Eine Krähe hackt der andern..." - der Mann mit dem weißen Spitzbart bricht den Satz jäh ab - „die Augen nicht aus", wollte er sagen. Aber er hat jetzt auch das Parteiabzeichen bei dem Kleinen gesehen. Das nicht beendete Sprichwort wirkt auf die Umstehenden wie ein Warnungsschuss, sehe ich. Erst haben sie den Alten verwundert angesehen, jetzt mustern sie den Kleinen prüfend. Ich mache Ede mit den Augen Zeichen zum Kleinen hin. Stelle mich auf die Zehenspitzen, damit er mich sehen kann. Unauffällig ziehe ich mit dem Zeigefinger einen kleinen Kreis auf dem Mantelkragen. Ede sieht mich lange an. Endlich! Er nickt. Hat verstanden. Jetzt wird er wohl die Klappe halten. - Der Kleine ist vielleicht hergeschickt worden - als Horchposten. Da sagt der wieder: „Eine Schweinerei, die Verteilung hier! Ich werde mich dafür einsetzen! Da muss Abhilfe geschafft werden!" Der ärgert sich wohl tatsächlich selbst über die zu erwartende magere „Spende"! Ich höre aus seiner Stimme auch deutlich Prahlen heraus. Der fühlt sich uns gegenüber als wichtige „halbamtliche" Person. Kann auch alles täuschen. Aber ich sehe, wie sich die Gesichter der andern entspannen. Vorn geht die Ladentür auf. Das Drängeln beginnt wieder. Im Türrahmen steht der SA-Mann und blickt prüfend über die Reihen.
„Keinen mehr anstellen lassen dahinten!" ruft er. „In einer Stunde machen wir Schluss!"
Seine Worte lösen einen Tumult aus.
„Stehen wir hier umsonst, was?!... In einer Stunde sind wir noch nicht dran!... Lasst andere arbeiten, wenn ihr's nicht könnt!"
Die Viererreihen verschieben sich plötzlich, schwenken nach links. Die Menschen rücken vor der Tür zusammen. Arme fuchteln mit Stempelkarten in der Luft herum. „Wenn hier nicht Ruhe wird, schließen wir gleich!" schreit der SA-Mann.
„Oho!... Wär ja noch schöner!... Aber nicht mit uns, nicht mit uns!" rufen Stimmen durcheinander.
Die Ladentür klappt zu. Der Schlüssel kreischt im Schloss. Ich bin an die Schaufensterscheibe gedrückt worden. Ein großes Plakat ist von innen angeklebt:
„Werdet Sozialisten der Tat! Hinein in die NSV!" Darunter klebt ein kleiner Zettel:
„Gebraucht werden: Ein kleiner Kanonenofen. Ein gut erhaltener Kinderwagen."
Der SA-Mann muss den hinteren Ladenausgang benutzt haben. Er kommt jetzt aus dem Hausflur, stellt sich vor den Menschenhaufen und fängt an, die Leute zurückzudrängen. Mit Zanken und Schimpfen kämpft sich jeder auf seinen alten Platz zurück. Die große hagere Frau steht jetzt neben mir. Der Kleine mit dem Parteiabzeichen vor ihr. Ede ist weiter vorn. Er hat zwei Reihen gewonnen. „Das alles, wo die so viel Geld sammeln", fängt die hagere Frau wieder an. „Mein Bruder hat Arbeit, dem ziehen sie doch gleich für die Winterhilfe vom Lohn ab!"
„Jaja", nickt eine junge Frau neben ihr, „ein Viertel vom Lohn ist weg, wenn die ganzen Abzüge ab sind!"
Sie zieht sich ihr Umschlagetuch fester. Sie hat es um den Kopf geschlungen.
Teichert hat mir doch neulich einen Vers erzählt, der in seinem Betrieb die Runde macht. Es ist eine Umdichtung des christlichen Tischgebetes:
„Komm, Herr Hitler, sei unser Gast, und erfülle die Hälfte von dem, was du uns versprochen hast."
„Ja, und die indirekten Gelder!" sagt die große hagere Frau wieder.
„Indirekten? Wie meinen sie das?" fragt die junge Frau.
Die andere holt tief Luft, sieht sich prüfend um, ob auch alle zuhören.
„Neulich im Butterladen. Eine Frau verlangt einen kleinen Käse - so einen in Stanniolpapier -", alle hören interessiert zu, auch der Kleine mit der Melone, „da sieht sie den Preis, fängt an zu schimpfen: ,Schon wieder teurer geworden.' ,Der ist nicht teurer geworden', sagt die Verkäuferin. »Selbstverständlich', sagt die Frau wütend, »können Sie mir doch nicht erzählen! Zwölf Pfennig, der hat doch immer zehn Pfennig gekostet!'"
Der Hagere weidet sich an den Blicken der Umstehenden.
„,Kaufen Sie einen', sagt die Verkäuferin, ,dann werde ich es Ihnen erklären.' - Was war? - Die zwei Pfennig Aufschlag werden an die Winterhilfe abgeführt!"
Rings nicken sie bedeutungsvoll mit den Köpfen. Der Alte mit dem weißen Spitzbart lacht trocken. Der Kleine rückt an seiner Melone. Ich merke, eine Verlegenheitsgeste. Dass sie hier schon so reden - der Kleine mit dem Parteiabzeichen sich alles ruhig mit anhört! In den Läden, auf dem Wochenmarkt habe ich Frauen oft über die Teuerung schimpfen gehört -aber hier vor der Nazistelle!
„Man erlebt schon was", sagt die junge Frau mit dem Umschlagetuch. „Wir hatten ein Ehestandsdarlehen beantragt. Sie schreiben doch soviel darüber. - Tagelang haben sie uns genau untersucht. Wegen der rassischen Eigenschaften, ob auch erbgesunder Nachwuchs zu erwarten ist" - sie zuckt mit den Schultern - „mein Mann hat sich von den Heimatbehörden Bescheinigungen über unseren Familienstammbaum besorgen müssen. Hat monatelang gedauert und Gebühren gekostet -"
„Ja, und - ja, und!" unterbricht sie die Hagere.
Die junge Frau sieht sie an. Sie hat ein spitzes Gesicht schmal, wie ein Kind. Tiefbraune Augen.
„Dann hieß es plötzlich: ,Ach, Sie sind arbeitslos? Dann bekommen sie nicht tausend, sondern bloß fünfhundert Mark. Dafür müssen Sie aber erst einen Bürgen bringen, dass Sie es auch zurückzahlen.'" Sie lacht spöttisch. „Ist natürlich nichts daraus geworden. Wenn wir in der ganzen Familie jemanden hätten, der fünfhundert Mark verborgen kann, brauchten wir die ja nicht!"
Der ganze Kreis lacht. Jeder legt seine Meinung in das Lachen hinein, spüre ich.
„Jetzt kriegen Arbeitslose auch mit Bürgen kein Darlehen mehr!" sagt die junge Frau wieder mit Nachdruck. „Da haben nun viele deshalb geheiratet - wir waren ja schon verheiratet."
Alle sehen plötzlich nach vorn, dort recken sich die Köpfe. Der SA-Mann in der Verteilungsstelle blickt durch die Scheibe der Ladentür. Ich nicke Ede zu. Er lächelt, nickt zurück. Er hat sich ganz schön vorgedrängt, kommt sicher mit dem nächsten Schub rein. Dann wird's Zeit für mich.
Der SA-Mann im Laden dreht den Schlüssel herum, öffnet. Alle drängen vorwärts. Ich rutsche unbemerkt aus der Reihe. Ede ist tatsächlich hineingekommen.
Langsam gehe ich an der Straßenecke auf und ab. Mir wird kalt. Noch fünf Minuten, wenn Ede dann nicht kommt - aus dem Seitengang kommen Leute. Ede ist nicht dabei - doch, da kommt er, als letzter. Er sieht sich suchend um, geht dann langsam die Straße herunter. Ich lasse ihn ein Stück vorgehen. Hole ihn dann ein, fasse ihn am Arm. Ede fährt erschrocken zusammen, ist dann überrascht.
„Ick dachte, du bist schon weg, Jan."
„Wollte gerade gehen, ist verdammt kalt. - Wo hast du denn deine ,Spende'?"
Ede trägt kein Paket. Er lacht, schlägt mir auf die Schulter.
„Mir ham se't schriftlich jejeben. Hier!"
Er zieht einige Zettel aus der Tasche. Ich lese: „Anweisung für ein Pfund Zucker, ein Pfund Reis, ein halbes Pfund Kakao." Außerdem ist ein Lebensmittelgutschein über eine Mark dabei.
„Wieso hast du gerade...?"
„Dett war vielleicht ooch 'n Tanz!" lacht Ede. „Bevor ick drankam, hörte ick schon, wie der Verteilungsbonze zu die Leute sacht: ,Es jibt bloß noch den Jutschein über eene Mark, die Lebensmittel sind alle.' Die Leute ham 'n bisken jemosert, aber se begnüchten sich doch damit. Ick kramte mein Ordensjemüse raus. Wie der mir nu denselben Zimt erzählt, lege ick dett Eiserne Kreuz Erster, det Joldene Verwundetenabzeichen und den Blindenausweis uff den Tisch. ,Kiek'n Se sich dett mal an', sachte ick. ,Ick war vier Jahre draußen, ick bin für't Vaterland een Krüppel jewor'n. Jetzt soll ick noch nich mal zu Weihnachten watt Anständiget zu essen ham? Meine beeden Onkels ziehn se doch jede Woche vom Lohn für die Winterhilfe ab, meiner Schwester ooch. Die ham jesacht, se woll'n mir jetzt dett Jeld selba jeb'n, da kriege ick zumindest watt!' - Ick hab janz laut jeredet, die Leute standen uff eenmal alle um mir rum."
Wir biegen um eine Ecke.
„Leiser reden, hier..."
Aber Ede ist in Fahrt.
„Watt denn, dett kann ick dir doch erzähl'n! - Also - der Bonze hat sich uffjeregt, sage ick dir. ,Sie könn' sich doch dett Jeld nich jeb'n lassen! Sie sabotier'n ja damit dett System der Winterhilfe!' Na ja, een Weihnachtsboom könnte ick ja noch krieg'n, meente er dann. ,Watt soll ick mit'n Weihnachtsboom, den kann ick nich in Topp steck'n!' hab ick wieda anjefang'n. Da steht der uff, schiebt die Klappe von dett Jeländer hoch und sacht: ,Komm' Se mal rin, nach hinten.' In dett Zimmer hinten hat er mir denn die Scheine ausjestellt. ,Dürfen Se aber draußen keen sag'n', ermahnte er mir ..." Ede lachte wieder laut. „Hab ick ooch nicht jemacht. Aber als ick rauskam, hab ick die Scheine schön deutlich in de Hand jehalten! Die andern im Laden sin' uff mir los: ,Ha'm Se watt jekriegt - ha'm Se watt jekriegt?!' Ick habe bloß immer mit die Scheine jefuchtelt, und die meisten sind mir nachjeloofen, der Laden war ganz voll. An de Ladentür hab ick denn leise jesacht:
,Klar hab ick jekriegt. Sie müss'n eben ooch Krach mach'n!' Von de Tür hab ick denn jesehn, dett die janze Meute uff den Bonzen losjing!" -
Allein gehe ich in unsere Straße zurück, mache einen Umweg.
Dicht vor mir an der Straßenecke steht ein Zeitungskiosk. Der Händler hängt gerade die „BZ am Mittag" heraus. Eine große Balkenüberschrift:
„Torgeier und die Bulgaren freigesprochen!"
Darunter steht:
„Lubbe zum Tode verurteilt!"
Mir geht es durch und durch. Nur ruhig bleiben!
„Unter atemloser Spannung verkündigte heute vormittag Senatspräsident Bünger im Reichstagsbrandprozeß das obenstehende Urteil. Es ist so ausgefallen, wie wir es alle erwartet haben, denn..."
Den weiteren Text verbirgt die gefaltete Zeitungshälfte. Soll ich eine Zeitung kaufen? Nachher, wenn ich ruhiger bin.
- Käthe! Heute abend fahren wir! - Dimitroff freigesprochen! - So ein Weihnachten! - Eine größere Freude hätte uns niemand mitgeben können.
Wir sind bei Teichert. Er hat mir durch Ernst Schwiebus Bescheid sagen lassen. Teicherts Frau kennt uns zwar vom Sehen, ahnt aber nichts von unserer illegalen Arbeit.
Nun sitzen wir um den runden Tisch unter der Gaslampe. Frau Teichert hat uns nur kurz begrüßt. Sie sitzt abseits, mit dem Rücken gegen den Ofen gelehnt, und strickt. Teichert stützt die Ellenbogen auf den Tisch, hält den Kopf in den Händen. Die heutige Abendzeitung liegt vor ihm. Wir haben sie mitgebracht. Schwiebus hat sie mir schon vorher gezeigt. Niemand spricht.
„Moralisch des Mordes schuldig! Schlusskapitel im Maikowski-Prozeß!"
In wie viel Wohnungen unserer Straße, in wie viel Straßen Charlottenburgs lesen sie das jetzt! Wenn doch jemand reden wollte! Ich sehe Schwiebus an. Der dreht an dem Zipfel der Tischdecke. Ich kann seine Augen nicht finden. Wir hätten doch nicht zu Teichert kommen sollen. Mir kommt alles hier so fremd vor, so ohne jede persönliche Beziehung. Ich beobachte verstohlen Teicherts Frau. Die Stricknadeln in ihren Händen klappern. Sie ist ganz in ihre Arbeit vertieft. Klein und rundlich ist sie, hat ein frisches rotes Gesicht. Die dunkelbraunen Haare, die in dichten Flechten um den Kopf liegen, die blütenweiße Schürze - die Frau passt in das Zimmer hier hinein. Alles ist so kalt-sauber. Die Standuhr mit dem blitzenden Messingpendel, die kleinen weißen Spitzendecken an der Plüschwand des roten Sofas. -
Teichert schiebt plötzlich den Stuhl zurück, steht auf. Er geht hin und her. Seine Frau hört auf, mit den Stricknadeln zu klappern, sieht ihn an.
Teichert setzt sich wieder, liest laut:
„... In dem fanatischen Gedanken, die Wallstraße von politischen Gegnern frei zu halten, war ein Streifen- und Patrouillendienst eingerichtet worden, der den Anmarsch der Nationalsozialisten meldete. Als dann singend die SA, der Sturmführer Maikowski an der Spitze, die Wallstraße passierte, setzte der Angriff ein..."
Einen Augenblick ist es ganz still. Frau Teichert sieht ihren Mann immer noch an.
„- - Warum werden die Angeklagten nicht beschuldigt, den Sturmführer Maikowski und den Polizeiwachtmeister Zauritz ermordet zu haben? Auf diese Frage ist leider die für viele enttäuschende Antwort zu geben: es ist durch die Ermittlungen nicht nachgewiesen, dass einer der Angeklagten die tödliche Kugel abgefeuert hat. Die zur Zeit der Tat bestehenden Strafbestimmungen geben nicht die Handhabe, die Angeklagten zum Tode zu verurteilen. Ganz anders wäre es, wenn sie die Tat nur eine halbe Stunde später, also am 31. Januar, begangen hätten. Dann hätten sie nach der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat die Todesstrafe verwirkt."
Selbst Teicherts Frau hat die offene, brutale Sprache des Staatsanwaltes gepackt.
„Ja, aber dann ...", sagt sie.
Teichert sagt: „Der stellt hier selbst fest, dass keiner der Angeklagten geschossen hat —"
„Dieser Oberstaatsanwalt Ranke bedauert auch noch, dass er Unschuldige nicht zum Tode verurteilen kann!"
„Das Dritte Reich", sagt Schwiebus finster, „Menschenleben sind ein Dreck, wenn es sich um Arbeiter handelt."
Teichert steht auf. Geht wieder auf und ab. Lange ist nur das Knarren seiner Stiefel im Zimmer.
Ohne jeden Zusammenhang sagt Schwiebus plötzlich: „Hilde hat mir gestern erzählt, dass es zwischen der SA und der SS eine Schlägerei gegeben hat, du. Bei der Silvesterfeier der SA. In der Berliner Straße, im Lokal Bamberger Hof. Ein SA-Mann ist tot. Die SA konnte ja die SS schon lange nicht mehr beriechen, du."
Niemand antwortet.
Schwiebus sagt spöttisch: „Der ,Angriff' hat gestern einen Nachruf gebracht, du. Unserem SA-Kameraden, der in Erfüllung seiner Pflicht starb."
Teichert bleibt stehen.
„So ...?" sagt er gedehnt. Er ist sicher mit seinen Gedanken ganz woanders.
„Das Urteil wird wohl bald da sein", sagt er dann.
„Im Maikowski-Prozeß?" - „Ja. Sie wollen es doch verkünden, bevor ein Jahr nach der Einmarschnacht vergangen ist."
Heinz Preuß ist aus dem Konzentrationslager entlassen worden! Heinz Preuß, der junge Genosse, der im Frühjahr bei der Klebezettelaktion verhaftet wurde. Heinz Preuß, der Wandervogel, der seine blonden Haare immer bis in den Nacken trug. Vor vier Tagen hat er mir auf Umwegen sagen lassen, dass er wieder hier sei, dass er bei der Weihnachtsamnestie mit dabeigewesen sei, dass er mich sprechen wolle. Ich habe ihm einen Treffpunkt angegeben und ihm sagen lassen, dass er genau auf seine Umgebung achten soll, wenn er kommt.
Gestern habe ich ihn nun getroffen. Bei Franz im Bezirk. Wir erschraken, als er kam. Wir haben uns aber nichts anmerken lassen. Franz sah mich nur an. Heinz Preuß ist furchtbar abgemagert. Sein Gesicht ist eingefallen, totenblass. Früher sah er immer so gesund und braungebrannt aus. Wenn wir ihn mit seinen langen Haaren neckten, sagte er immer: „Die schneid't mir meine Mutter übern Kochtopf."
Jetzt ist sein Kopf kahlgeschoren. Er sieht deshalb noch elender aus.
Er erzählt, dass die zur Entlassung kommenden Häftlinge vorher auf dem Konzentrationslagerhof antreten mussten. Der Kommandant hätte dann eine Ansprache gehalten. Sie sollten die Milde der Regierung Adolf Hitlers nicht als Schwäche auslegen, hätte er gesagt. Wer zum zweiten Mal bei „Wühlarbeit" gegen die Regierung gefasst würde, den würden sie endgültig vernichten. Trotz dieser Drohung und dem, was er alles im Konzentrationslager aushalten musste, ist Heinz Preuß ungebrochen. Er wolle wieder mitarbeiten, sagte er. Wir haben ihm erklärt, dass das höchstens erst nach drei Monaten in Frage käme. Wegen seiner und unserer Sicherheit. Er verstand das dann auch und willigte ein. Von seiner Mutter habe er ein Weihnachtspaket erhalten, erzählte er dann. Als wir ihm sagten, dass wir das Geld in unserer Straße gesammelt haben, freute er sich sehr. Das Paket hätte er den anderen Genossen gegeben. Er wäre ja gerade an dem Tag entlassen worden. Er fragte dann nach allen Genossen. Wollte genau wissen, wie es jetzt hier bei uns sei, wie wir weiterarbeiteten. Wir haben ihm nur Allgemeines erzählt. Nicht weil wir ihm misstrauten, sondern weil wir der Ansicht waren, dass er sich jetzt nicht unnötige Gedanken machen soll. Er soll sich in den nächsten Monaten nur erholen, nichts weiter.
Bis auf wenige Ausnahmen seien die Genossen im Konzen-
trationslager festgeblieben, erzählte er. Er könne aber jetzt nicht ohne jeden Kontakt mit uns sein, das halte er nicht aus. Wir haben lange überlegt, ob wir auf seinen Vorschlag eingehen sollen. Vereinbarten dann aber doch, dass er sich mit einem von uns in großen Wochenabständen treffen soll. Außerhalb Berlins und gut gesichert. Denn wir wissen aus anderen Bezirken, dass die Gestapo die entlassenen Konzentrationshäftlinge scharf beobachtet.
„Wisst ihr, mit wem ich in Brandenburg zusammen war?" fragte Heinz Preuß plötzlich. - „Mit Erich Mühsam!"
Er musste uns dann nur noch von Erich Mühsam erzählen. Sein Bericht hat uns tief erschüttert. Ich saß noch bis spät in die Nacht mit Heinz Preuß zusammen. Ich habe mir jede Einzelheit erzählen lassen. Ich habe mir von ihm Gebäudeteile des Konzentrationslagers Brandenburg bis ins kleinste aufzeichnen lassen. Alle sollen erfahren, wie Erich Mühsam gequält wurde. —
Hof drei im Konzentrationslager Brandenburg. Es war kurz nach sieben Uhr morgens. Die vierzig Mann der Station neun standen in zwei Gliedern angetreten. Unter ihnen stand Heinz Preuß. Seit dem Wecken, dem Stubenappell und dem wässerigen Kaffee waren bereits anderthalb Stunden vergangen. Doch alle standen fröstelnd, als fühlten sie noch das klamme Strohsacklager. Sie hatten auch nur ihre dünnen, zerschunde-nen Kleider an. Heinz Preuß zog den Kopf tief zwischen die Schultern. Er fror immer im Nacken, seit seine langen Haare herunter waren. Allen waren die Köpfe kahlgeschoren worden, wie bei Zuchthäuslern. Das Konzentrationslager Brandenburg war in dem früheren alten Zuchthaus untergebracht. Als Zuchthaus waren die Gebäude wegen ihres gesundheitsschädlichen Zustandes lange aufgegeben worden.
Der baumlange Wachtmeister in der schwarzen SS-Uniform ging prüfend die Reihen entlang. Er kontrollierte sein Kommando „Stillgestanden" bei jedem einzelnen. Preuß sah an seinem Gesicht vorbei, zu der vier Meter hohen roten Backsteinmauer hinüber. Der Wachtmeister machte einige Schritte rückwärts, stemmte die Arme in die Hüften.
„Abzählen - zu vier!" schnarrte sein Kommando.
Die Köpfe flogen in kurzen Rucken zur Seite. Wenn die „Turnübungen" bloß nicht wieder zu toll werden, dachte Preuß. Erich Mühsam kann sicher wieder nicht mithalten, er sieht ja jetzt schon wie zum Umfallen aus. Er hatte ihn eben noch mal beim Kopfdrehen gesehen. Erich stand als dritter Mann rechts neben ihm. Er stand zusammengekrümmt, sein Kinn lag fast auf der Brust. Ein neues Kommando:
„In Gruppen rechts schwenkt... marrrrsch!"
Erich Mühsam war jetzt der rechte Flügelmann ihrer Reihe. Heinz Preuß erwartete fieberhaft das neue Kommando. Wenn der bloß nicht wieder Laufschritt übt, Laufschritt - und Mühsam! Und man kann ihm hier gar nicht viel helfen, gar nicht viel helfen. Die neue Reiheneinteilung war kaum vollzogen, da knallte wieder ein Befehl über den Hof.
„An die Kirche... im Laufschritt... marsch - marrrsch!"
Die ganze Hoflänge lag vor ihnen. Hundertzwanzig Meter waren es von der Mauer bis zur Kirche. Hundertzwanzig Meter! Sie waren ja alle durch die monatelange Haft geschwächt, alle unterernährt, sie zitterten bei der geringsten Anstrengung.
Preuß sah im Laufen nach rechts. Erich Mühsam lief mit dem Gesicht zur Erde, als trage er einen schweren Sack im Genick. Er konnte auch die gerade Linie nicht einhalten, lag ein kleines Stück hinter ihnen. Waren die denn vorne auch verrückt! Anstatt dass sie das Tempo mäßigten! Diese Angst vor dem Wachthabenden. Der lief doch nicht mit, der hütete sich.
Die Stiefel klappten auf den Pflastersteinen. Alle atmeten keuchend. Preuß sah, dass Mühsam im Begriff war, noch mehr abzufallen. Wer lief denn überhaupt neben ihm?! Kanzow! Merkte der denn nichts - sah der denn nichts!
„Anfassen!... Anfassen!" zischte Preuß. Die beiden neben ihm gaben das Wort weiter. Der Kanzow stutzte, er zögerte.
Der dachte wohl: Mühsam mitziehen, anfassen, wo sie auf ihn dauernd achten, wo sie jedem, der ihm hilft, ebenfalls... „Kanzow!" rief Preuß da zwingend. Der zuckte zusammen, griff dann doch nach Mühsams Arm. So kamen sie bis an die Zuchthauskirche. Doch nicht ganz. Einige Meter davor kam ein neues Kommando: „In Gruppen räächts... breecht -ab!"
Zurück? Wieder zurück! Sie dachten wohl alle dasselbe. Mit fliegenden Pulsen, flatternden Herzen. Doch es blieb nie viel Zeit zum Denken. Der Wachtmeister war ihnen bis zur Hofmitte gefolgt.
„An die Mauer... im Laufschritt... marsch - marrrsch!"
Wieder Hasten und Jagen. Mitschleifen und Zerren. Es gelang.
Auch Erich Mühsam erreichte die andere Hofseite. Der Wachtmeister glaubte, sie nun wohl genügend in Atem gebracht zu haben, oder er wollte es diesmal nicht bis zum Äußersten kommen lassen. Jedenfalls verging diese „Turnstunde" von nun an in endlosen langsamen Schritt- und Gruppenmarschübungen.
Jeden Tag war es so. Alle hörten schon immer das nächste Kommando, bevor es ausgesprochen wurde.
„Links brecht ab... rechts brecht ab... in Gruppen links schwenkt... in Gruppen .. !"
An diesem Vormittag lagen sie eine halbe Stunde später auf ihren Strohsäcken. Ruhe! Bis zwölf Uhr Ruhe! Lange Vormittagsstunden, die jeder mit Persönlichem ausfüllte, wenn er nicht gerade in die Küche kommandiert wurde. Zum Kartoffelschälen. Elfhundertsechzig Mann waren im Lager. Vierzig Mann schälten täglich zehn Zentner Kartoffeln. Jeder fünfundzwanzig Pfund!
Heinz Preuß war heute nicht dabei. Auch Erich Mühsam nicht. Sie lagen auf ihren Strohsäcken. Mühsams Kopf lag auf den ausgestreckten Armen. Preuß sah, wie sein Rücken von kurzen, schnellen Atemstößen bewegt wurde.
„Kann ich irgendwas für dich tun?" fragte er leise.
Mühsam drehte den Kopf, ohne ihn aufzuheben.
„Nein, lass nur... brauche bloß Ruhe ... Ruhe ... bin so kaputt", sagte er abgerissen.
Sein Gesicht war eingefallen und sehr blass. Der schmale, ergraute Kinnbart war ihm halb ausgerissen worden. Die Augen hinter den Kneifergläsern hatte er geschlossen. Sie lagen in tiefen Höhlen. Die Schädelknochen an den Schläfen traten scharf hervor, bildeten 2wei tiefe Löcher an der Seite. Heinz Preuß wurde es heiß. Erich Mühsam. Der alte Genosse. Er ist ein körperliches Wrack. Nur sein eiserner Wille hält ihn aufrecht, dachte er. Darin ist er hier auch noch dem Jüngsten überlegen. Einige Konzentrationslager hat er schon hinter sich. Ist überall der Jude, der verhasste „jüdische Hetzjournalist", der täglich die schlimmsten Torturen ausstehen muss. Preuß kannte ihn schon viele Jahre. Er war in mancher Versammlung gewesen, in der Mühsam, der Anarchist, ihre politische Auffassung angriff. Das lag lange, lange hinter ihnen. Hier waren sie treue Kameraden geworden. Genossen in gemeinsamer Not, gemeinsamem Leid.
Starr war Mühsam auch hier in seinem Widerstand geblieben. Er wollte das Wort Taktik, soweit es hier überhaupt anwendbar war, nicht hören. Besonders in den letzten Wochen war kaum ein Tag vergangen, wo der Wille zum Widerstand, der Wille des todkranken Mannes nicht Wunder vollbrachte.
„Ich habe mit dem Leben abgeschlossen... den Tod fürchte ich nicht. Nur dieses langsame, qualvolle Hinsiechen! Die wollen mich zum Selbstmord treiben. Nie, nie gelingt ihnen das...!"
Gestern hatte das Mühsam zu ihm gesagt. Dann war sein Blick hart geworden: „Und ich beuge mich nicht... beuge mich nicht!"
Vieles wäre für Erich Mühsam weniger schlimm, wenn er sich nicht auch noch gegen die kleinsten Befehle auflehnen würde, grübelte Preuß. So wird die belangloseste Sache zu einer Strafaktion für ihn. Die Treppen der Anstalt waren sauber, die Geländer staubfrei.
„Mistjude Mühsam, Treppen wischen! Mistjude Mühsam, Geländer putzen!"
Das waren ständige Strafarbeiten für Mühsam. Preuß hatte sich deshalb mit andern Genossen schon immer freiwillig zu diesen Arbeiten gemeldet. Das ging einige Male. Dann kam „SA-Kamerad Rubach" dahinter.
„Was?! Ihr Lumpen! Trotzdem ihr Arier seid, helft ihr dem Mistjuden Mühsam!"
Maulschellen und Fußtritte unterstrichen dann die Rassenunterschiede.
Heinz Preuß sah durch den Raum. Auf die dicken Dachstuhlbalken, die kleinen schrägen Fensterluken. Die Station neun war ein kahler Raum direkt unter dem Dach. Zwanzig Meter lang, acht Meter breit. An beiden Wänden entlang lagen Strohsäcke. In der Raummitte standen hintereinander lange rohe Holztische und Bänke. Noch zwei solcher Stationen lagen unter dem Dach des großen roten Backsteinhauses. Sie waren erst seit dem Konzentrationslagerbetrieb hier „eingerichtet" worden. Die normalen Zellen mit den langen Reihen vergitterter Fenster reichten dann nicht aus.
„SA-Kamerad Franz Rubach!" Da saß der Bursche, schaukelte träge mit den Beinen und spähte in den Raum. Er saß gleich neben der Tür. Sie hatte in den Raum hinein einen Gittervorbau, der wie ein Raubtierkäfig aussah. Links und rechts davon waren in der Wand Spione angebracht, durch die man vom Gang draußen alles überlicken konnte. „Kamerad Rubach" war ihr Stubenältester. Ein wegen Unterschlagung inhaftierter SA-Mann, der sich ihnen gegenüber als „Ehrenhäftling" fühlte. Die SS wusste, warum sie ihn zum Stubenältesten gemacht hatte. Denn auf der Station neun war er bei weitem nicht der Älteste. Was die SS-Wachmannschaften an Schuftereien fehlen ließen, besorgte Rubach. Jeder, der einen Wunsch hatte, musste ihn Rubach vortragen. Haltung annehmen, Hände an die Hosennaht.
„Kamerad Rubach, ich bitte, austreten zu dürfen."
Dasselbe nachher.
„Kamerad Rubach, ein Mann von Station neun vom Austreten zurück."
Mit „Kamerad" mussten sie den Menschenschinder ansprechen. Der war sich seiner Zwischenstellung bewusst und nützte sie. Wenn die vierwöchentlichen Lebensmittelpakete kamen, dann wurde er katzenfreundlich, saß bei den Empfängern und bettelte. Die meisten gaben ihm etwas ab. Aus Angst. Mich hasst er tödlich, dachte Preuß. Bei mir gibt es nichts, überhaupt, wir kennen uns.
Was ein „richtiger" Stubenältester für sie ausmachen würde! Beim Kartoffelschälen hatten Kameraden von Station sechs Preuß erzählt, dass bei ihnen ein Genosse, ein ehemaliger Marineoffizier, die Aufsicht habe. Der hatte alle instruiert: „Vor den Wachthabenden eine stramme Haltung, knappe militärische Sprache, das macht Eindruck." Seitdem galt sechs bei der SS-Wachmannschaft als „Musterstation". Sogar die morgendliche „Turnstunde" leitete bald der „Offizier"-Genosse. Er leitete sie „straff militärisch". Alle Schinderei waren sie seitdem los. Auch bei der Essenverteilung spürten alle bald seinen Einfluss. „Musterstation sechs" wurde eine große Kommune. Sie teilten die Lebensmittelpakete auf, tauschten Kleider untereinander. Nicht nur das, sie bildeten - kleine marxistische Zirkel. „Alles streng militärisch", hatte der Genosse lächelnd gesagt.
Preuß schreckte aus seinen Gedanken. Vorn war Rubach | aufgesprungen und stand in wartender Haltung neben dem Käfigvorbau der Tür. Das war das Signal für alle. Holz- und Pappbasteisachen flogen beiseite. Alle sprangen von den Bänken, von den Strohsäcken auf und richteten sich vor den Schlafstellen in zwei langen Reihen aus. Es wurde ganz still im Raum. Jemand nieste unterdrückt. Vom Eingang kam das Tapsen schwerer Stiefel, dann Schlüsselklirren. Werden die beiden neuen Wachtmeister sein, die Zweistundenablösung, dachte Preuß. Er sah Erich Mühsam an. Der stand in loser Haltung, er hatte ein Bein vorgestellt. Sein ganzer Körper drückt Nichtachtung aus, dachte Preuß. Es war nur ein SS-Wachtmeister. Er ging achtlos an Rubach, der die Hacken zusammenschlug, vorbei, einige Meter in den Raum hinein. Dann sah er prüfend die Reihen entlang. In seiner Hand hielt er einen Stapel weißes Papier. Die Post!
Der Wachtmeister, ein schlanker Bursche mit einem roten Bauerngesicht, schlenkerte die Briefe in der Hand.
„Ja...", sagte er, „... hm... ja..."
Der benahm sich ja heute so komisch? So, als ob er etwas Besonderes auf Lager hätte? Hatte etwa jemand ein offenes Wort geschrieben? Aber die Angehörigen wussten doch, dass hier keine Zeile unkontrolliert durchging.
Den hinten im Raum Stehenden entging das sonderbare Benehmen des Wachtmeisters, aber dass es sich um Post handelte, hatten sie auch gemerkt. Erwartungsvolle Unruhe war in allen Gesichtern. Die Füße standen still, aber die Körper rückten ungeduldig hin und her. Als wollten alle damit ausdrücken: „Gib schon her... gib schon!"
„Ja... hm ...", machte der SS-Mann wieder und blätterte in den losen Briefen.
Dann begann er Namen aufzurufen. Die Aufgerufenen traten einzeln vor. Sie nahmen in strammer Haltung den Brief in Empfang, gingen einige Schritte beiseite, lasen. Die Frau, die Mutter, die Kinder schrieben.
Preuß hatte keine Post, auch Erich Mühsam nicht. Trotzdem mussten alle, die keine Post bekamen, stehen bleiben, bis der Wachtmeister hinaus war. Der hatte jetzt nur noch einen Brief in der Hand. Er blätterte den Bogen auf, las darin. Dann sah er wieder die Reihen entlang. Damit ist etwas nicht richtig, dachte Preuß. Aber warum fängt der nicht an zu toben, wenn etwas Verbotenes drin steht? Der Wachtmeister rief noch immer keinen Namen. Die sich gegenüberstehenden Reihen wurden unruhig. Die Briefempfänger aber kümmerte nichts mehr. Sie waren weit fort von hier - weit.
„Pascholke!" rief da der Wachtmeister endlich.
Pascholke trat vor, ein Mann Ende der Dreißig. Seine breiten, wuchtigen Schultern schienen auf den schmalen Unterkörper verkehrt aufgesetzt zu sein. Sein Gesicht hatte einen leidenden, gramvollen Ausdruck. Pascholke? Das war doch der Genosse, der den Urlaub beantragt hatte. Er bekam ihn aber nicht. Seine Frau lag im Krankenhaus.
„Da!" sagte der Wachtmeister und streckte den Brief vor. Pascholke nahm ihn, faltete ihn auseinander... schlug die Hände vor das Gesicht. Das Schreiben flatterte auf die Erde. Pascholke lag daneben, schluchzte und weinte wie ein Kind. Auf einmal brüllte er laut auf, sein Rücken bäumte sich, sein Kopf lag immer noch auf den großen knotigen Händen.
Die Briefleser waren herumgefahren. Der Wachtmeister drehte sich auf dem Absatz herum und ging hinaus. Heinz Preuß hob den Brief auf. „... teilen Ihnen mit, dass Ihre Frau verstorben ist."
Sie trugen Pascholke auf seinen Strohsack. Er wimmerte leise. Den Brief legte einer auf den Tisch. Es war, als ob von dem Schreiben eine eisige Welle ausging, die sich über den ganzen Raum legte. Pascholke schluchzte noch immer. Trocken, mit zitternder Stimme. Einige saßen und hielten sich die Ohren zu. — Ein anderer Tag. Sie hatten eben ihre Brotration in Empfang genommen. Ein Viertelbrot pro Tag und Mann. Einteilen hieß es da. Alle hatten immer Hunger bei dem fettlosen, nach Soda schmeckenden Essen. Preuß war an diesem Tag im Küchenkommando gewesen. Da ließ immer jeder einige Kartoffeln in den Hosentaschen verschwinden. Die wurden jetzt gekocht. In der Waschschüssel, die auf dem einzigen im Raum vorhandenen Kanonenofen stand. Zwei Mann standen dauernd auf dem Sprung, passten auf. Denn der Ofen stand dicht vor dem Gittervorbau der Tür. Dies Mittagessenstrecken ging auch nicht mehr lange. Es wurde nur noch wenige Tage geheizt. Dann war es damit vorbei. Sie konnten auch nicht alle Kartoffeln essen. Für den „Kameraden Rubach" ging immer eine Portion ab. Pellkartoffeln als Schweigegeld!
Einer der beiden Aufpasser zischte plötzlich leise und hob
tarnend den Arm. Draußen im Gang hallten Schritte. Im nächsten Augenblick waren alle bei ihren Strohsäcken. Die Pellkartoffelschüssel brodelte einsam weiter. Hoffentlich sahen die nichts. Es waren die beiden Stationswachtmeister -und die beiden andern? Neue! Es schien wieder mal im ganzen Bau Gesamtablösung zu sein. Die vier SS-Leute gingen durch die Gasse der Männer. Rubach scharwenzelte hinterher.
„Habt ihr auch Juden auf der Station?" hörte Preuß den einen der neuen Wachtmeister fragen.
„Juden? Und was für welche!"
War das derselbe SS-Mann, der Pascholke neulich den Brief brachte? Er war es! Das Stichwort war gefallen: Juden! Das rote Bauerngesicht verzerrte sich. Der wird jetzt den Neuen zeigen, was er kann!
„Die Juden mal vortreten!" brüllte da auch schon das Bauerngesicht. Vier Männer traten aus der Reihe. Unter ihnen war Erich Mühsam. Das Bauerngesicht spuckte auf den Fußboden, stieß den Vordersten der vier gegen die Brust.
„Da, leck das mal auf, du Judensau!"
Die beiden neuen Wachtmeister lachten schallend. Der Angeredete, ein kleiner schmächtiger Mann, machte ein wehleidiges Gesicht. Seine Augen gingen vom Fußboden zu dem Gesicht des SS-Mannes, von dort wieder zum Fußboden zurück. Preuß beobachtete Mühsam mit einem schrägen Seitenblick. Seine Brust wurde von tiefen Atemzügen bewegt, in seinem Gesicht arbeiteten die Kinnladen. Seine Augen hinter dem Kneifer waren klein und zusammengekniffen vor Hass. Was wurde bloß, wenn an ihn die Reihe kam... was wurde bloß?! Alle Gefangenen dachten wohl daran. Alle Gesichter waren todernst.
„Na, wird's bald!"
Der Wachtmeister hob die Faust. Sein „guter Ruf" stand vor der Ablösung auf dem Spiel. Der kleine Schmächtige zögerte immer noch, ging dann vor dem wutverzerrtem Gesicht in die Knie, brachte sein Gesicht ganz nahe an den Fußboden. Preuß sah, wie er den Speichel mit dem Jackettärmel fortwischte.
Das Bauerngesicht drehte sich triumphierend zu den neuen SS-Leuten um. „Na also!"
Dann wandte er sich an die starr ausgerichteten Männerreihen.
„Da könnt ihr wieder mal die Gesinnung dieser Dreckjuden sehen!"
Alle vier SS-Leute lachten breit.
„Man muss euch dämlichen Proleten eure Bonzen bloß mal richtig dressiert vorführen!"
Die neuen SS-Männer nickten grinsend.
„Oder hättet ihr Arier das auch gemacht?"
Das Bauerngesicht blickte fragend die Reihen entlang. Niemand antwortete. Da packte der SS-Mann den vor ihm Stehenden wütend an der Brust.
„Hättest du das als Arier auch gemacht? frage ich dich."
Der Mann zuckte ängstlich zusammen.
„Nein", sagte er dann leise.
„Na also!" Der SS-Wachtmeister lachte wieder dröhnend.
Er ging nun auf zwei von den vier vorgetretenen Männern zu und zerrte sie zu der Uniformgruppe hin. Erich Mühsam stand noch immer unberührt. Vielleicht hat er heute Glück, dachte Preuß froh.
„Los, massiert euch mal ein bisschen!"
Die beiden Männer sahen sich verstört an. Angst, nichts als Angst war in ihren Gesichtern. Einige dreißig Augenpaare starrten auf die beiden. Drückend heiß wurde allen. „Habt ihr wohl schon wieder verlernt, den Backpfeifentanz, was?!" brüllte der Wachtmeister die beiden an. Er stieß den Kleinen beiseite, pflanzte sich vor dem andern auf.
„Hier, pass auf, so wird das gemacht!"
Er schlug dem Mann klatschend ins Gesicht. Der taumelte, fiel um, richtete sich dann schwerfällig wieder auf. Aus seinen Augen liefen Tränen. Aus seiner Nase tropfte Blut.
„Los! Oder du bist dran!" schrie der Wachtmeister den Kleinen an. Da schlug der zu. Der andere stand ganz still. Der Wachtmeister stieß ihn in den Rücken, da schlug er zurück.
Die SS-Leute lachten schallend, dann fasste einer der neuen Wachtmeister das Bauerngesicht am Arm.
„Halt!"
Die beiden Männer taumelten. Sie waren blutbeschmiert. Preuß waren die Füße wie Blei. Menschennerven konnten das nicht mehr aushalten. - Wochenlang, wochenlang ging das nun schon so. Er sah wieder zu Erich Mühsam hin. Sein Kopf lag auf der Brust. Er musste schon lange nicht mehr hingesehen haben.
„Wie heißen denn eure Juden eigentlich!" fragte da einer der neuen SS-Wachtmeister.
Ruhig und etwas belustigt fragt der - als ob nichts geschehen wäre!
„He, eure Namen!" fuhr das Bauerngesicht die vier vor ihm Stehenden an.
Preuß hörte die ersten drei Namen gar nicht. Er wartete, wartete in fiebernder Angst. Jetzt ging es zu Mühsam - zu Erich - jetzt! Da hörte er schon dessen Stimme. Ruhig und klar, doch mit dunklem Ton vor Wut:
„Erich Mühsam."
Der neue SS-Mann, der die Namen wissen wollte, machte vor Überraschung einen Schritt vorwärts. Er reckte den Kopf aus dem Uniformkragen.
„Das ist Mühsam - das jüdische Journalistenschwein?! -Hier bei euch, auf Station neun?!"
Preuß würgte es in der Kehle. Jetzt geht es wieder von vorn los. Wie bei jeder neuen Ablösung. „Das ist Mühsam?... Mühsam!"
Mühsam stand mit unbeweglichem Gesicht. Er sah den Uniformierten an. Die ganze Verachtung und Entschlossenheit eines Menschen, der keine andere Waffe als seinen Willen hat, seinen stahlharten Willen, nicht weich zu werden, lag in seinem Blick.
Der andere SS-Wachtmeister pflanzte sich neben dem Neuen breit auf.
„Ja, das ist er!" sagte er gewichtig, als zeige er wie ein Sammler einen Seltenheitswert.
Der neue SS-Mann hatte sich von seiner Überraschung erholt. Er kramte in seinen Taschen, zog einen vergilbten Zeitungsabschnitt heraus, zeigte ihn den andern. „Das haben sie mir mitgegeben! Sie haben mich schon auf den Burschen aufmerksam gemacht! Das Revolutionstribunal aus der Münchner Rätezeit!" sagte er.
Er tippte mit dem Zeigefinger auf den Zeitungsabschnitt.
„Hier, da steht er! Das ist er!"
Er drehte sich mit einem Ruck herum, schwenkte den Zeitungsabschnitt vor Mühsams Gesicht.
„Du bist verantwortlich für die zwölf Geiseln, die damals von euch erschossen worden sind! Die zwölf Geiseln!"
Seine Stimme überschlug sich.
Die andern drei schwarzen Uniformen standen jetzt dicht hinter ihm. Alle hatten wutverzerrte Gesichter. Preuß kroch es kalt den Rücken hoch. Aus, aus - dachte er immer nur.
In die Stille hinein fielen Erich Mühsams Worte. Er stand hoch aufgerichtet.
„Ich hatte damit gar nichts zu tun. Zu der Zeit war ich schon lange verhaftet!"
„Darüber werden wir unten mit dir reden, du Judensau!" brüllte der neue SS-Mann.
Er packte Mühsam am Arm.
„Runter mit ihm, runter! Da muss die gesamte Ablösung dabeisein!"
Sie schleiften Erich Mühsam hinaus. Sein Kopf hing herunter, die Schuhe polterten über den Fußboden. Die Gittertür klirrte, die Außentür dröhnte. Stille. Alle Gefangenen standen starr, lauschten mit vorgebeugtem Kopf. Es war nichts mehr zu hören.
Die Stunden vergingen. Die Abendsuppe wurde gebracht. Preuß rührte sie nicht an. Sie gingen schlafen. Die Stunden vergingen. Heinz Preuß konnte nicht schlafen. Unaufhörlich quälten ihn Gedanken, sein Hirn schmerzte. Die Stunden vergingen. Erich Mühsam kam nicht zurück.
Heinz Preuß lag so stundenlang wach. Da fiel plötzlich von vorn ein Lichtstreifen in den Mittelgang. Die Tür wurde aufgerissen. Zwei Uniformierte, die blanken Schnallen ihrer Schulterriemen glänzten im Schein der Lampen, schleiften etwas Dunkles, Lebloses hinter sich her. Sie warfen es auf den Strohsack neben Preuß. Der rührte sich nicht.
Doch kaum war die Tür zu, als Preuß aufsprang. Überall waren sie wach geworden. Halblautes Flüstern, knisterndes Stroh füllten die Stille. Preuß beugte sich über den lang ausgestreckten Körper.
„Erich... Erich..."
Keine Antwort. Er tastete mit den Händen, rüttelte Mühsam. Erich Mühsam blieb stumm. Als er dessen Kopf, das Gesicht berührte, fühlte er etwas Klebriges an den Händen. Da warf ihn die Marter der langen Stunden, das Grauen dieser Minuten um. Er lehnte den Kopf an die leblose Schulter. Er weinte.
Von dieser Stunde an konnte niemand mehr mit Erich Mühsam sprechen. Sie hatten ihm das Gehör so zerschlagen, dass das innere Ohr als rot schillernde Blase heraustrat.
Heute bringen die Zeitungen das Urteil im Maikowski-Prozeß. Dreiundfünfzig Angeklagte sind zu
39 Jahren Zuchthaus und 95 Jahren Gefängnis.
verurteilt worden. Die Zeitungsberichte erwähnen, dass von den 47 Entlastungszeugen keiner vereidigt wurde! Aber keine Zeitung bringt ein einziges Wort über die Reden der bestellten „Verteidiger", über die Schlussworte der angeklagten Genossen.
Der „Völkische Beobachter" schreibt unter der großen Überschrift:
„Keine Todesstrafen gegen die roten Banditen!"
„Das Urteil im Prozess gegen die kommunistischen Mörder Maikowskis ist über alle Erwartungen milde ausgefallen. Es wird genauso wenig Verständnis finden wie das Urteil im Reichstagsbrandstifter-Prozess. Es muss das bittere Gefühl ferngehalten werden, dass ,die Feder verderben könnte, was das Schwert geschaffen hat.' Wir glauben fest, dass die maßgebenden Stellen noch entsprechende Mittel und Wege finden werden."
Der „Angriff" bringt die Schlagzeile:
„Höchststrafe nur 10 Jahre Zuchthaus!"
„Schon während der Urteilsverkündung wurden dauernd Zwischenrufe aus dem Zuschauerraum laut, die sich zum Schluss der Urteilsverkündung zu ungeheuren Lärmszenen steigerten, so dass der Vorsitzende die Sitzung unterbrechen musste.
Dieses Urteil erfüllt eine Bedingung: es entspricht dem nüchternen Buchstaben des Gesetzes. Die ungeheure Enttäuschung jedoch, die es zweifellos im Volk und besonders bei den alten Mitkämpfern Maikowskis hervorrufen wird, und die Lärmszenen, die der Urteilsverkündung folgten, beweisen mit Deutlichkeit und Schärfe, wie notwendig die Aufrichtung eines wahrhaft deutschen, dem natürlichen Volksempfinden entsprechenden Rechtes an Stelle eines kalten, lebensfeindlichen Paragraphensystems geworden ist." —
Höchststrafe nur 10 Jahre Zuchthaus!
Ich habe unlängst die Frau eines schon vor Monaten zu Zuchthaus verurteilten Genossen gesprochen. Pakete darf sie ihrem Mann nicht schicken. Auch nicht zu Weihnachten oder zu anderen Festtagen. Alle acht Wochen darf er von ihr einen zensierten Brief empfangen. Alle Vierteljahre darf sie, nur sie, ihn sehen. Zehn Minuten, unter Aufsicht. Ihr Mann ist bei der Zuchthauskost in den wenigen Monaten zum Skelett abgemagert, erzählte sie mir. Die eintönige Haft zerfrisst langsam seine Nerven. Für die meisten Gefangenen gibt es keine
Beschäftigung, aus Arbeitsmangel. Jede geistige Entspannung ist als „zu human" abgeschafft worden. —
Das „Volk" hat im Gerichtssaal gegen das Maikowski-Urteil „protestiert". Die Kumpane Maikowskis, die SA-Leute vom Sturm 33. Der Vorsitzende musste die Urteilsverkündung unterbrechen - der „Völkische Beobachter" glaubt fest, dass die maßgebenden Stellen noch entsprechende Mittel und Wege finden werden.
Diesen Vorfall, diese Drohung verstanden wir erst genau, als uns X aus der SA-Reserve am nächsten Tag darüber berichtete. Die anwesenden Dreiunddreißiger hatten eine Protestdelegation zum preußischen Justizministerium geschickt. Der Staatssekretär Freisler kam sofort. Er hielt vor den SA-Leuten im Gerichtssaal eine „Beruhigungs"-Rede. Von der Tribüne dieses „gesetzmäßigen" Gerichtes, das sich deshalb extra um eine Stunde vertagt hatte. Er sagte unter anderem:
„Wir bauen einen nationalsozialistischen Staat auf, aber das Ziel ist noch nicht erreicht, SA-Kameraden. Deshalb wollen wir das Urteil anhören, das dieser Gerichtshof des nationalsozialistischen Staates gefällt hat. Was wir über dieses Urteil zu sagen haben, wird von denen ausgesprochen werden, die das Vertrauen des Führers besitzen. Dieser Fall wird von den Ministern sehr sorgfältig geprüft werden, und auf Grund seiner Entscheidung werden künftige Schritte ergriffen werden."
Für meine Aufzeichnungen sind neue Schwierigkeiten entstanden. Das Manuskript ist schon so groß geworden, dass es an meiner alten Stelle nicht mehr sicher genug untergebracht war. Ich hatte es deshalb zu einem Sympathisierenden gebracht. Der gab es mir aber nach zwei Wochen zurück. Er fühlte sich auch nicht mehr sicher, sagte er. Darauf brachte ich es zu einem andern, der nach außen hin „ein gutsituierter Bürger" ist. Auch er hat es mir jetzt zurückgegeben. Sein Portier schaue ihn immer so merkwürdig an, der wüsste, dass er früher linke Zeitungen gelesen habe, sagte er. Es sei doch deshalb für ihn und für mich besser, wenn ich das Paket zurückbekäme.
Ich hatte beiden gesagt, dass es sich um etwas Illegales handelt. Ich musste das tun. Ich hatte das Paket gut verschnürt. Jetzt bin ich aber der festen Überzeugung, dass sie es beide doch aufgemacht haben. Sie haben gesehen, um was es sich handelt, es ist ihnen klargeworden, was es auch für sie bedeutet, wenn das Manuskript durch irgendeinen Zufall bei ihnen gefunden würde.
Wenn es so ist - jeder Mitwisser kann mich ja auch später noch irgendwie gefährden. Vielleicht dachten sie auch nur, dass ich ihnen die Gestapo auf den Hals hetzen könnte, wenn ich von Zeit zu Zeit die neuen fertigen Seiten bringe.
Ich glaube jedenfalls nicht an ihre Begründungen. Sie haben einfach Angst bekommen. Heute nacht muss ich nun das Manuskript bei mir im Zimmer behalten. Morgen muss ich es aber unbedingt fortschaffen. Es kann bei mir nicht lagern, in unserer gefährdeten Gegend. - Wie schwierig das alles ist!
Die Zeitungen schreiben:
„In den späten Abendstunden des heutigen 30. Januar, dem Jahrestag des Mordes, wird in der Maikowskistraße eine Gedenkfeier stattfinden. Die gesamte Standarte West der SA und eine Abteilung der Polizei zur besonderen Verwendung, Wecke, nimmt daran teil. Obergruppenführer Heines wird die Eltern Maikowskis begrüßen. Dann hält der Stabschef der SA, Röhm, die Gedenkrede. Es werden außerdem anwesend sein: Gruppenführer Prinz August Wilhelm, Polizeipräsident Admiral a. D. Levetzow, Polizeioberst Beck, General Göring, Polizeigeneral Daluege, der Führer des NSKK, Obergruppenführer Hühnlein, der Staatskommissar der Stadt Berlin und Standartenführer Dr. Lippert, der Chef der SS, Himmler."
Teichert steht auf, nimmt seine Mütze vom Kleiderriegel. Seine Frau steht am Herd und rührt in einem Kochtopf. Als wir schon an der Tür sind, dreht sie sich um.
Sie sagt: „Sei vorsichtig, Paul, ich bitte dich. Wo sie heute zu Tausenden herkommen."
Teichert geht nochmals zu ihr zurück. Er legt den Arm um ihre Schulter. Er sagt: „Is doch gar nichts. Den Trubel sehen sich doch heute viele an. Geh nur nachher schlafen."
Frau Teichert nickt. Sie lässt den Quirl los, kommt mit bis zur Tür.
Als wir die Treppen hinuntergehen, sieht sie uns nach.
Dass ich ihn auch wieder abgeholt habe - die Frau - ob sie sich jetzt doch etwas dabei denkt? Auf unsere Tätigkeit aufmerksam wird?
Vor der Haustür stehen drei Männer und unterhalten sich leise.
„Auch ,feiern'?" fragt einer. Er hat die Hände tief in den Taschen seiner Lederjacke vergraben.
Die beiden andern lachen spöttisch. Ich ziehe Teichert am Ärmel. Bloß nicht hier stehen bleiben, sich festreden.
„Ja, ein bisschen", sagt Teichert.
„Der Jüngere kam mir so bekannt vor", sage ich, als wir ein Stück weiter sind.
„Bernhard Rutz", sagt Teichert. „Der ist erst seit zwei Tagen hier. Von der Landhilfe ausgerückt. Ist mit dem Fahrrad von Ostpreußen gekommen - jetzt im Winter!"
Er sieht mich an.
„Ich habe ihn erst flüchtig gesprochen. Wir werden uns von ihm einen Bericht geben lassen, der erzählt Sachen!"
„Bernhard Rutz? War der nicht früher in der roten Jungfront?"
„Ja, natürlich. Wir müssen auch versuchen, den Jungen wieder aktiv zu machen. Dabei werden wir uns aber Zeit lassen. Erst muss man sich den mal genau ansehen."
Es ist längst die Zeit nach Häuserschluss. Die Straßenlaternen haben einen diesigen gelben Lichtkranz. Ihr Schein versickert nach wenigen Metern in der anbrechenden Winternacht. Nur hinter den hohen geriffelten Fenstern des Umformerwerkes brennt wie immer grelles Licht.
Bei solchem nasskalten Wetter liegt unsere Straße sonst immer wie ausgestorben. Heute aber gehen Fußgängergruppen hin und her. Wir sehen viele bekannte Gesichter. Grüßen die Genossen stumm mit den Augen. Teichert stößt mich plötzlich an. Ede kommt uns entgegen. Ich sehe, dass er sein Glasauge trägt, seinen blauen Anzug. Hat sich gut als „Passant" aufgemacht. Als er dicht vor uns ist, stutzt er. Der will uns doch nicht etwa ansprechen?! Ich sehe ihn starr an, schüttle leicht den Kopf. Er versteht, geht an uns vorbei. Ein Stück weiter sehen wir Ernst Schwiebus. Er geht mit Emil Schmidt. Die beiden benehmen sich gut, „kennen uns nicht". Heinz Preuß fällt mir ein. Emil Schmidt war doch damals mit ihm kleben, als Preuß verhaftet wurde. Jetzt ist er aus dem Konzentrationslager entlassen. Preuß wird doch heute nicht hier herumlaufen!? Wäre sträflicher Leichtsinn. Hätten wir ihn sicher schon gesehen, unsere Straße ist ja kurz, beruhige ich mich. - Es ist, als ob alle unsere Genossen eine stille Vereinbarung getroffen haben. Ihre bloße Anwesenheit gibt unserer Straße für uns alle ihr altes Aussehen. Ja, aus den Fenstern hängen dicht die Hakenkreuzfahnen. Sie sind Kulissen für uns. Die SA hat da wieder mit „altbewährter Methode" nachgeholfen.
Wir überqueren die Krumme Straße, nähern uns der Plakettenstelle. Ein dunkler Menschenhaufen steht davor, bis weit auf den Fahrdamm. Ich muss an Rothacker denken. Vor einem halben Jahr hat er mit mir hier bei der Plaketteneinweihung in der Garagendurchfahrt gestanden. Wie schnell die Monate vergangen sind! Wir haben lange nichts mehr von Rothacker gehört. Sein letzter Brief kam aus Jugoslawien. Das Emigrantenkomitee hatte die Familie dorthin geschickt.
„Gehn wir rüber", sagt Teichert.
Wir stellen uns zu dem Menschenhaufen. Niemand achtet auf uns. Das dort rötlichgelb flackernde Licht sind Ölflammen in Zinkbehältern, sehen wir. Sie stehen links und rechts von der Plakettenwand. Es stinkt nach dem verbrannten Öl. Qualm steigt auf. Vor der Wand steht regungslos ein SA-
Doppelposten. In langen braunen Wintermänteln, die Sturmriemen der flachen Mützen unter dem Kinn. Zwischen den Posten liegen auf dem Bürgersteig Kränze mit hellen Schleifen. Die beiden Bronzeplaketten sind grün umkränzt, ganz oben hängt ein Hakenkreuz aus Tannenreisern. Neben dem SA-Doppelposten steht an jeder Seite ein Lorbeerbaum.
Ich sehe, dass sich Zivilisten ohne Gruß dazustellen, wie wir es gemacht haben. Andere aber, Uniformierte, auch Zivilisten, bleiben stehen, schlagen die Haken zusammen und heben den Arm zum Hitlergruß, ehe sie näher treten. Zuschauer kommen und gehen. Die Straße füllt sich langsam mit Schaulustigen, die den bevorstehenden Aufmarsch sehen wollen.
Ich stoße Teichert an. Neben uns unterhalten sich zwei SA-Leute.
„— die meisten sind hier noch unsere Feinde, wenn sie auch die Fahne raushängen!"
„Hätte damals in der Nacht alles runtergebrannt werden müssen", sagt der andere. „Am schlimmsten ist's doch, wenn du nicht weißt, wem du trauen kannst!"
Der erste SA-Mann sagt noch etwas, aber wir verstehen nichts mehr. Die beiden SA-Männer gehen weiter. Auch wir gehen.
Dieser Maikowski! Jetzt ist er der gefeierte „Märtyrer". Der war ihnen doch auch schon unbequem geworden. Er hatte doch mit seinem Sturm den Kirchgang verweigert.
„Wir müssen in die Straße zurück. Sie werden bald absperren", reißt mich Teichert aus meinen Gedanken.
„Ja."
In unserer Straße ist das Gedränge noch dichter geworden. Ganze Gruppen gehen in der Richtung zu den Bronzeplaketten, kommen von dort zurück. Es sind ausschließlich Zivilisten, ich sehe nur vereinzelte Uniformen der Hitler-Jugend. Die SA wird sich schon irgendwo zum Aufmarsch sammeln. Sie werden bald absperren, Teichert hatte recht. Was machen wir dann? - Plötzlich fällt mir eine Lösung ein.
„Wir könnten zu Mutter Franke gehen, Paul. Sie wohnt doch bei der Plakettenstelle", sage ich leise.
Teichert sieht mich fragend an.
„Mutter Franke...?" sagt er gedehnt.
„Die alte Postschaffnerwitwe, die Zigalski für die Rote Hilfe kassiert."
„Richtig - das is 'ne Idee!" freut sich Teichert.
Wir gehen schneller. Hinter der Krummen Straße, bei den Plaketten, ist auch der Fahrdamm voller Menschen. Mutter Frankes Haustür ist noch auf. Leute, wohl Mieter aus dem Hause, stehen davor. Wenige Minuten später bin ich zurück. Teichert hat abseits auf mich gewartet.
„In Ordnung. Sie ist noch auf und ist einverstanden."
Wir gehen einzeln in das Haus. Mutter Franke freut sich.
„Dass ihr auch mal zu mir kommt... dass ihr...", sie wiederholt den Satz ein paarmal.
Es hat sie wohl doch sehr überrascht. Sie schüttelt immer noch verwundert den Kopf. Ihr Haar liegt glatt und weiß darauf. In der Mitte ist es gescheitelt. Ihre Augen glänzen vor Freude. Ihr Gesicht ist von unzähligen kleinen Falten durchzogen. Sieht aber noch sehr rüstig aus, die alte Frau. Sie muss doch schon über sechzig sein. Mutter Franke läuft mit kleinen trippelnden Schritten vor uns her, winkt uns mit der Hand.
„Kommt, kommt, in die Stube ... nach vorn."
Mutter Franke rückt zwei Stühle vom Tisch, geht dann wieder hinaus. Ich setze mich. Mir gegenüber, in einer Ecke des Plüschsofas, sitzt eine große Katze.
Teichert ist zum Fenster gegangen.
„Gute Sicht", sagt er und kommt zurück. - „Wo ist denn Mutter Franke?"
Ich stehe auf. Mutter Franke steht in der Küche und mahlt Kaffee. Auf dem Gaskocher summt der Wasserkessel.
„Doch nicht etwa für uns?"
Mutter Franke lacht.
„Gerade für euch. Geh nur wieder rein, geh nur!"
Ich protestiere erneut, aber sie schiebt mich mit dem Ellenbogen aus der Küche.
Wir trinken Kaffee. Mutter Franke stellt unaufhörlich Fragen. Sie hätte lange nicht mit Genossen gesprochen. Zigalski käme ja immer nur auf einige Minuten zu ihr. Ja, sie wäre heute sowieso aufgeblieben. Ich wundere mich immer wieder, wie rege die alte Frau erzählt, wie aufnahmebegierig sie ist. Sie lese regelmäßig Zeitungen. Wenn man etwas erfahren wolle, müsse man heute zwischen den Zeilen lesen können, meint sie. Sie blinzelt uns zu: „Zigalski bringt mir ja ab und zu was anderes." Sie lächelt verschmitzt. „Wenn das nicht wär!"
An der alten Frau können wir Jungen uns ein Beispiel nehmen, geht es mir durch den Kopf. Sie tut doch, was sie noch kann. Zahlt ihre Beiträge, gibt uns manchmal eine Mark extra. Ihr Mann war schon im Spartakusbund organisiert. Sie ist uns treu geblieben, wohl schon mit dem Gedanken an ihn. Bei der Bahnpost war er. Hat sich dort eine Lungenentzündung geholt. Ist schon viele Jahre tot. - Die Nazis entziehen der alten Frau doch die Rente, wenn sie etwas über sie erfahren. Ist tapfer, die Mutter Franke.
Teichert steht schon lange am Fenster.
„Sie räumen jetzt!... Sie räumen!..." sagt er plötzlich.
Dann stehen wir Schulter an Schulter.
Durch die Stille kommt plötzlich Glockenläuten zu uns. Da - noch eine, entfernter. Wir sehen uns stumm an. Auch das noch - gehört mit dazu - weshalb läuten sie sonst mitten in der Nacht?
Von rechts, vom Knick der Straße, wo das Umformerwerk steht, kommt plötzlich dumpfer Trommelwirbel und verschwommener Gesang. Ich beuge mich aus dem Fenster. Ganz hinten biegen sie gerade um den Knick der Straße. Ich kann keine Menschen erkennen, sehe nur zwei Reihen Fackeln. Als ich den Kopf zurücknehme, sehe ich halb rechts unter uns auf der Straße eine dunkle Menschengruppe. Die haben wir nicht kommen hören. Es sind Zivilisten. - Wahrscheinlich die Angehörigen von Maikowski.
Der Gesang in der Straße wird deutlicher:
„Die Straße frei den braunen Bataillonen, die Straße frei dem Sturmabteilungsmann ..."
Dann ist die Zugspitze heran. Der Gesang dröhnt in der engen Straße. Der einzelne Uniformierte vor dem Zug reißt plötzlich seinen rechten Arm schräg hoch. Unter uns zieht es vorbei. Lange, lange Reihen brennender Fackeln, erhobene Arme, im Marschtakt wippende Uniformrücken und Mützen.
Die Straße frei... Vor einem Jahr war sie für euch noch nicht frei. Ihr wolltet sie im Sturm nehmen. Heute tragt ihr eure Lieder, den Tritt eurer Marschstiefel durch die Straße. Aber gehört sie euch denn - nach einem Jahr blutigen Terrors? Ihr marschiert noch immer durch unsere Straße - durch Feindesland. Am Jahrestag eurer „Revolution". Am Jahrestag eures „Sieges".
Hinter dem Zug der SA kommt eine kleine Lücke und dann - lange Viererreihen grauer Stahlhelme. An den Stahlhelmen leuchten weiße Hakenkreuze, Karabinerläufe stehen daneben. Die Polizei zur besonderen Verwendung, Wecke, Görings Kerntruppe. Vor der Polizeiabteilung reitet auf tänzelndem Pferd ein Offizier. Sein Stahlhelm wippt im Takt des Pferdes auf und ab. In der rechten Hand hält er einen blanken Degen. Auf der Höhe der Plakettenwand stößt er ihn schräg in die Luft.
„Präsen-tiert... das... Ge-wäähr!"
Durch die Stahlhelmreihen geht ein Ruck. Hände klatschen gleichmäßig an die Waffen. Das ist keine Gedenkfeier mehr. Das soll ein neuer Einschüchterungsversuch sein. Die Macht des faschistischen Staates soll demonstriert werden!
„Abteilung-halt!"
„Räääächts - um!"
Die Stahlhelmpolizei steht jetzt mit der Front zur Plakettenwand. Am linken Flügel. Von rechts kommt eine einzelne SA-Abteilung heran. Wieder Befehle, kürzer, klarer. Die SA bleibt am rechten Flügel ausgerichtet stehen.
„Die Dreiunddreißiger", sagt Teichert leise. Der Parademarsch ist noch nicht beendet. Von links und rechts kommen jetzt Gruppen mit Fahnen. Sie nehmen zu beiden Seiten der Plakettenwand Aufstellung.
Es ist plötzlich ganz still. Das Pferd des Offiziers schnauft, stampft mit den Hufen. Deutlich kommt das Geräusch zu uns herauf. Durch die Stille hören wir plötzlich von links her Autosirenen. Sie brechen sofort wieder ab. Augenblicke später kommen neue Kommandos.
„SA - stillgestanden!... Augen - rechts!" Auch der Polizeioffizier kommandiert wieder. Die Kolben der Karabiner stoßen auf den Asphalt. Eine kleine Gruppe Uniformierter, im Fackelschein leuchten an den Mantelkragen und den Mützen große helle Streifen, schreitet die Front ab. An ihrer Spitze geht ein untersetzter dicker Mann. Er hebt lässig den rechten Arm. Röhm! Dahinter, die schwarze Uniform - Himmler. Der Dicke mit dem schaukelnden Gang -Göring. Dass der dem Röhm überhaupt erlaubt, an der Spitze zu gehen!
Wieder rasseln Trommeln. Dann beginnt eine Stimme die Stille zu füllen. Der Redner gestikuliert heftig mit den Armen. Es ist Heines. Er begrüßt die Eltern, die „Ehrengäste". - -
Ich schließe die Augen, lehne die Stirn gegen die kühle Fensterscheibe. Plötzlich ist eine Vision vor mir, klar und deutlich. Männer mit verblichenen feldgrauen Uniformen, in blauen Matrosenanzügen kommen unsere Straße herunter. Zivilisten mit rußigen, zerfetzten, verdreckten Kleidern. Ihre Gesichter sind mit geronnenem Blut bedeckt. Eingeschlagene Schädel, zerschossene, durchstochene Körper. Spartakuskämpfer, Arbeiter von der Roten Armee an der Ruhr, Arbeiter von Hamburgs Barrikaden, von deutschen Aufständen: Hunderte, Tausende, Zehntausende ermordeter Kämpfer. In ihrer Mitte geht eine kleine Gruppe. Ein Mann und eine kleine Frau an ihrer Spitze. Der Mann hat einen kurzgeschorenen Kopf, trägt eine Brille. Die Frau hat dichtes schwarzes Haar. Karl Liebknecht - Rosa Luxemburg.
Noch mehr bekannte Gesichter sind unter den beiden: Levine, Landauer, Sylt, viele andere. Am Schluss des lautlosen Zuges gehen die Kameraden unserer Kampfjahre, unserer Straße: Hans Klaffert, Otto Grüneberg, Paul Schulz -viele, viele. Jetzt bleibt der lautlose Zug stehen. Seine Mitte ist genau unter uns. Der Mann mit dem kurzgeschorenen Kopf und der blanken Brille hebt den Arm:
„Sind wir dafür gestorben?!"
„Nein!" antwortet es tausendstimmig. Der Mann dreht sich um, er zeigt zu uns herauf:
„Ihr aber lebt noch!"
Auf dem Podium drüben vor dem blanken Mikrophon steht jetzt der Stabschef der SA, Röhm. Er stützt die Arme in die Seiten.
„------Reich der Ehre und der Freiheit... Ihr droben als
Helden seid uns Vorkämpfer und Mahner..."
Ich sehe Teichert verstohlen von der Seite an. Als unten wieder die Arme hochgehen, wendet sich Teichert angewidert ab, macht einige Schritte in das Zimmer hinein.
Wieder ist es still im Zimmer.
Als dann draußen das Horst-Wessel-Lied beginnt, dreht sich Teichert um, geht zum Fenster und schließt es mit einem schnellen Griff.
„Da singen sie... und unsre... und unsre ...", sagt Mutter Franke.
Lange sitzen wir schweigend. Ich sehe von Zeit zu Zeit auf die Straße hinunter. Endlich ist sie leer. Mutter Franke gibt uns einen Hausschlüssel.
„Macht's gut, Jungens, macht's gut", sagt sie.
1. Februar 1934. Heute hat der Prozess gegen Richard Hüttig und die Genossen seiner Häuserschutzstaffeln begonnen. Wie ich schon früher erwähnte, werden sie beschuldigt, bei einem Zusammenstoß mit der SA und SS Mitte Februar vorigen Jahres den SS-Scharführer von der Ahe erschossen zu haben. Der Zusammenstoß erfolgte bei einer der vielen Strafexpeditionen, die die Nazis nach ihrer Machtübernahme in Charlottenburg machten. Unsere Genossen setzten sich damals zur Wehr. Sie besaßen keine Schusswaffen, aber die SA schoss. Dabei wurde von der Ahe tödlich getroffen. Wir wissen, dass wegen dieser Vorfälle vom Sturm 33 und der Polizei im Laufe der Monate vierundzwanzig Genossen verhaftet wurden. Sogar Anfang September 1933 noch sperrte die Gestapo zusammen mit der SA und SS plötzlich unsere Straße ab und machte Razzia. Dabei wurden allein fünfzehn Verhaftungen vorgenommen. Die Zeitungen schreiben jetzt aber, dass es nur achtzehn Angeklagte sind. Wir alle haben dafür nur eine Erklärung, so furchtbar sie auch ist: die übrigen sechs Genossen müssen schon ermordet worden sein, sonst hätte man sie doch bestimmt mit angeklagt.
Zwei von den verschwundenen sechs Genossen kannte ich genau. Voss und Drescher heißen sie.
Gestern habe ich mir vorgenommen, für die illegale Arbeit nie mehr das Fahrrad zu benutzen. Damals schossen SA-Leute nach mir, als ich mit dem Fahrrad Material transportierte. Gestern war die Situation auch gefährlich. Das kam so:
Ich fuhr in den Nachbarbezirk zu einer Literaturstelle, von der ich für uns Broschüren abholen sollte. Wir bekommen jetzt sehr viel gedruckte Broschüren. Sie sind äußerlich immer gut getarnt. Mal ist es ein „Reiseprospekt" mit einer schönen Frau auf dem Titelbild, dann wieder ein „Propagandaheft für den Luftschutz". Jede Broschüre hat einen anderen Umschlag, die ersten Druckseiten sind meist mit richtigem Nazitext bedruckt.
Die Literaturstelle, bei der ich nun gestern war, liegt in einer stillen Straße. Als ich in die Straße einbiege, kommt mir schon der Gedanke: Ist auffällig, hier mit dem Fahrrad zu kommen. Sind doch alles moderne verschlossene Beamtenhäuser, wer fährt hier schon Fahrrad! Plötzlich sehe ich, dass vor dem fraglichen Haus, neben der Haustür, schon ein Fahrrad angeschlossen steht. Verdammt! Nun schon zwei Räder! Sieht auch ganz so aus, als ob damit schon ein anderer zu dem Genossen gekommen ist und Material abholt. Wenn du hier aber erst lange hin und her fährst, wird die ganze Geschichte noch auffälliger, überlegte ich. Ich steige also doch ab, schließe mein Rad neben dem anderen an.
Auf das verabredete Klingelzeichen öffnet eine junge Frau. Ich sage das Erkennungswort, und sie bittet mich, näher zu treten. Gleich darauf kommt der Genosse. Ich kenne ihn schon von früher. Ich sage ihm sofort, dass ich mit dem Fahrrad gekommen bin - ob das andere Rad vor der Haustür etwa auch...? Ja, der Genosse sei hinten im Zimmer. - „Dumme Sache, hättest du mich später oder früher herbestellen sollen", sage ich ihm. Der andere Genosse sollte schon gestern kommen, es wäre nicht seine Schuld, meint der Genosse. „Können wir auch jetzt nicht mehr ändern, ich muss mich beeilen", dränge ich. Der Genosse bringt die Broschüren, ich verstaue sie am Körper und gehe. Das alles dauert nur wenige Minuten.
Als ich unten den Schlüssel für das Sicherheitsschloss aus der Tasche ziehe, sehe ich einen kleinen Zettel, der hinter die Schutzkette geklemmt ist. Ich öffne langsam das Schloss, falte mit der andern Hand den Zettel unauffällig auseinander.
„Zwei Fahrräder! Achtung - Gefahr!"
steht auf dem Zettel.
Ich drücke ihn zusammen, fahre mit der Hand wie zufällig über den Mund - verschluckt. Ich drehe das Rad herum, packe langsam die Sicherheitskette ein. Meine Gedanken arbeiten fieberhaft, meine Augen überfliegen die Straße.
Die ersten zwei Worte sind ein Vorwurf - den ich mir vorhin schon selbst gemacht habe - und die Warnung darunter? Kommt sie wirklich von Genossen - oder ist sie etwa eine Provokation?! Dann hätte ich den Zettel nicht verschlucken dürfen, einfach fallen lassen müssen. Ich war doch nur einige Minuten oben - die waren dann vorhin schon da! Die beiden Männer - die dort auf der andern Straßenseite in großem Abstand wie zufällig auf und ab gehen. Und dort rechts! An der Straßenecke steht auf jeder Seite noch einer! Also alles abgeriegelt! Die Straße ist doch sonst ganz leer, kein Fußgänger ist zu sehen. Und ich habe die Broschüren an mir - verflucht - das langt für einige Jahre Zuchthaus! Was nun?! -Quatsch, was nun - losfahren - meine Verhaftung kommt sowieso.
Ich schiebe das Fahrrad langsam an den Rinnstein, steige auf. Drüben auf dem Bürgersteig bleibt einer der Männer stehen und sieht mir nach. Der schwere Mantel, die steife Glocke, die Bullenfresse - Gestapo! Meine Füße treten mechanisch die Pedale, in meinem Kopf summt es wie ein Bienenschwarm. Fünf Meter - acht Meter - warum schreien die denn nicht: „Halt!" - Warum...?! Ich erreiche die Ecke, biege langsam rechts ein. Der Mann dort steht mit den Händen in den Manteltaschen, er hat den weichen Hut lässig ins Genick geschoben. Sekundenlang sehen wir uns an. Es ist Harry! Ein Funktionär aus diesem Bezirk, mir gut bekannt. -Harry - Harry -, dann ist der zweite an der gegenüberliegenden Ecke sicher auch ein Genosse. Sie haben also den Zettel geschrieben! - Aber die beiden hinter mir in der Straße sind Gestapobeamte. Bestimmt! Das fühlt man doch schon - wozu sonst auch der Warnungszettel?
Ich fahre, fahre, niemand hält mich an. Es dauert lange, bis ich erfasse, dass ich trotz allem wieder Glück gehabt habe. Plötzlich ist mir, als hätte mir jemand mein Leben neu geschenkt. Ich fahre noch eine Stunde lang, quer durch die ganze Stadt. Steige mehrmals ab, sehe mir Schaufenster an, fahre weiter. Erst als ich überzeugt bin, dass wirklich niemand hinter mir ist, dass ich nicht „beschattet" bin, fahre ich in unsere Straße zurück. Aber soviel ich auch darüber nachdenke, ich komme nicht auf die Zusammenhänge der ganzen Angelegenheit.
Die erfuhr ich jedoch bald. Die Genossen hatten ihre Literaturstelle immer durch Posten „abgedeckt". An diesem Tag war die Gestapo zum ersten Mal da - aber sie griff nicht zu!
Das holte sie am nächsten Tag nach - doch da kam sie in eine „saubere", gut bürgerliche Wohnung. Die Wohnung wurde vollständig kopfgestellt, aber die Haussuchung blieb ergebnislos. Der Genosse wurde nicht einmal verhaftet. Er ist sofort „abgehängt" worden. - Ich aber bin bei der illegalen Arbeit das letzte Mal mit dem Fahrrad gefahren. Die Berliner Verkehrsgesellschaft wird mich von nun an zu ihren treuen Fahrgästen zählen können. Das Fahrgeld dafür muss eben aufgebracht werden. Ich werde jetzt auch immer „gut bürgerlich" angezogen gehen. Die Nazis trauen ihren „Volksgenossen" bestimmt viel weniger „Schlechtes" zu, wenn sie „anständig" aussehen. - Es ist merkwürdig, dass ich nun schon wieder „obenauf" bin? Es ist nicht merkwürdig. Ich kann das bei allen Genossen feststellen - und das ist gut so! Wir alle sind bei der illegalen Arbeit jeden Tag in Gefahr. Wenn man aber ständig bedroht ist, verliert die Gefahr bis zu einem gewissen Grad ihre Schrecken. Ist man aber in einer gefährlichen Situation, so muss man sich zur Ruhe zwingen. Den meisten Genossen gelingt es. Sie wissen ja, dass es immer um Jahre Zuchthaus, oft um das Leben geht.
Eben war Ernst Schwiebus bei mir und brachte mir zwei heutige Zeitungen. Ich soll einen Artikel schreiben. Für ein Flugblatt zum Ahe-Prozess, das noch heute nacht abgezogen werden soll.
Wir bangen seit Monaten um Richard Hüttig und die Genossen seiner Häuserschutzstaffel. Jetzt ist es zur Gewissheit geworden: sie wollen im Abe-Prozess Todesurteile fällen!
Ich suche aus einem Stapel Altpapier Zeitungen heraus, die ich gekennzeichnet habe und die über den Prozess berichten. Nur so war es möglich, sie zu sammeln. Ausschnitte hätte ich nicht aufheben können.
24. Januar 1934. „Nachtausgabe":
„Das Ziel dieses Prozesses ist nicht nur, Sühne zu finden für ein großes Verbrechen an der Freiheitsbewegung, sondern mit allen Machtmitteln des Gesetzes den bolschewistischen Spuk in Charlottenburg restlos auszuräumen —"
10. Februar 1934. „Berliner Morgenpost":
„Schluss der Beweisaufnahme im Ahe-Prozess! - Es muss der Urteilsberatung überlassen bleiben, ob das Gericht die Möglichkeit unterstellen wird, dass es sich bei dem tödlichen Schuss auf den SS-Mann von der Ahe um eine verirrte Kugel handelte, die der Zeuge, SA-Mann Amor, abfeuerte —"
10. Februar 1934. (Am selben Tag!) „Völkischer Beobachter":
„Der Schießsachverständige konnte die Frage, aus welcher Waffe das gefundene Geschoß stammt, nicht mit Sicherheit beantworten. Die ihm vorgelegten Pistolen waren sehr angerostet und hatten keine besonderen Merkmale, die er für ein sicheres Gutachten verwerten konnte."
Ich werde solchen Zeitungsausschnitten nur einige erklärende Worte hinzufügen. Sie zeigen doch, wie der Prozess durchgeführt wurde. Dass er um jeden Preis nur ein Ziel haben soll: Todesurteile! Ich werde auch sagen, dass vierundzwanzig Genossen wegen dieses Prozesses verhaftet worden sind und nur achtzehn vor Gericht stehen. Sie müssen also schon ermordet worden sein, sonst wären sie mit angeklagt!
„...Hunderte Tote! Hunderte Tote! - In den nächsten Tagen entscheidet es sich. In den nächsten Tagen, sage ich euch!"
Teichert läuft auf und ab, gestikuliert mit den Armen.
„Muss et sich ooch! Wird et sich ooch! Denkste, die jeht's so wie uns?! Die ham Maschin'jewehre! Die ham Handgranat'n!"
Teichert bleibt vor Ede neben dem Tisch stehen. Zeitungen liegen dort. Mit großen Überschriften:
„Einige Aufstandsherde in Österreich erstickt! - der Karl-Marx-Hof von den Regierungstruppen im Sturm genommen! -Schwere Verluste der Heimwehren!"
Teichert sagt:
„Mussolini zieht Truppen an der Grenze zusammen! - Hitler bereitet vielleicht schon den Einmarsch vor! - Jeder von uns hofft, dass die österreichischen Genossen siegen, Ede. Aber es kann auch anders kommen, es..."
„Kümmert mir 'n Dreck, watt die Tintenkulis hier schreiten. Die Proleten ham losjeschlag'n, und wir sitzen hier und könn' nischt mach'n! Verrückt könnt' man wer'n!"
„Schreit doch nicht so!"
„Hört doch endlich: leiser! leiser!" Der Konfektionär fuchtelt mit den Armen.
Teichert läuft wieder hin und her. Ede stützt den Kopf in die Hände. Den ganzen Abend - überhaupt seit die ersten Meldungen über die Ereignisse in Österreich kommen - geht das nun schon. Jeder überschüttet den andern mit Fragen. Jeder hofft. Stundenlang diskutieren wir - schreien uns an -heute kommen wir zu fünft zusammen! -
„Heldenhaft kämpfen die Proleten", fängt Ernst Schwiebus wieder an, „aber macht's nur der Mut, die Maschinengewehre? Generalstreik gehört dazu, stillstehen muss alles. Hast ja gelesen: in den Betrieben arbeiten sie weiter, du!"
Ede wischt wütend die Zeitungen vom Tisch.
„Hast jelesen! Hast jelesen! Die wehr'n sich wenichstens! Wie war't denn bei uns, als Adolf kam?! Nischt hat sich jerührt - janischt. Und wenn sie nich durchkomm'! Jekämpft ham se! Jekämpft!"
„Ede hat recht. Besser eine militärische Niederlage, als die Faschisten ohne Widerstand die Macht an sich reißen lassen. Das deprimiert immer, haben wir bei uns gesehen. Die österreichischen Genossen spüren die Kraft der Arbeiterklasse, sie werden aus ihren Fehlern lernen, sie werden in späteren Kämpfen..."
„Spätre Kämpfe?! Se kämpf'n noch! Watt heißt spätre Kämpfe!"
„Wir verstehn dich doch alle, Ede. Aber nach allem, was wir schon jetzt wissen, müssen wir auch darüber reden, oder wir reden überhaupt nicht."
Ede vergräbt wieder den Kopf in den Händen.
„In einzelnen Stadtteilen sind die Läden offen. Der elektrische Strom ist wieder da - die Eisenbahn fährt - die Eisenbahn! Weißt du, was das heißt: die Dollfuß-Regierung kann mit ihren Faschistengarden - mit dem Heer operieren. Mit Kanonen beschießen sie die Wohnblocks und die Arbeiterheime!"
Teichert bleibt mit einem Ruck stehen.
„Man kann den Arbeitern nicht immer nur sagen: die Gewehre sind für den äußersten Notfall da - wenn die Faschisten die Demokratie antasten! Die ganzen Jahre haben sie eine Errungenschaft nach der anderen abgebaut! Jetzt haben die Arbeiter spontan zu den Waffen gegriffen. Weil sie sich klar waren, dass die Entscheidung kommen musste."
Edes Kopf fährt hoch.
„Na also! Na also!"
„Aber Ernst hat es doch schon vorhin gesagt! Nie darf man dabei auf halbem Wege stehen bleiben. Darüber hätte vorher Klarheit herrschen müssen!"
Ede antwortet nicht.
„Wie es ausgeht, Ede. Eins bleibt: sie geben ein heldenhaftes Beispiel. Auch den deutschen Proleten. - Du hast recht, bei uns ist es nicht mal so weit gekommen. Wir hatten die Mehrheit der Arbeiterschaft nicht hinter uns. Wir haben..."
„Ick wer dir sag'n, wat wir ham! Wir ham unsre Sozialdemokrat'n oft vor'n Kopf jestoßen!"
„Klar, wir haben auch Fehler gemacht -", wirft Schwiebus ein. „Auch wir lernen aus unsern Fehlern, Ede. Doch daran ändert sich nichts: wir wollten verhindern, dass Hitler kam! Wir konnten es nicht, allein nicht. Jetzt entsteht erst die Einheitsfront. Wir werden schwere Einzelkämpfe haben. Bei uns..."
„Schluss jetzt. Ihr fangt wieder von vorn an - ist schon nach elf!" unterbricht der Konfektionär. Wir verlassen einzeln das Haus. Unsere Straße ist menschenleer. Die Maschinen im Umformerwerk brummen.
Heute beim Friseur. - Der Nazi auf dem Stuhl neben mir: „Bruderkampf! Deutsche gegen Deutsche! Adolf Hitlers Volksgemeinschaft hat uns das alles erspart. Das vergossene Blut hat Dollfuß verschuldet. Alles nur, weil er keine freie Meinungsäußerung zulässt!"
Ich dachte immer nur: als ob das bei uns anders ist! Blut -sind die Tausende, die sie ermordet haben, kein Blut? Ist Richard Hüttig kein Blut?! Der Ahe-Prozess - Todesurteile beantragt. Vom Maikowski-Prozeß lenkte der Reichstagsbrandprozeß die Öffentlichkeit ab. Durch den österreichischen Aufstand ist es jetzt mit dem Ahe-Prozess wieder so.
Die Abendzeitung liegt vor mir auf dem Tisch. Ich starre auf das Blatt. Mir ist, als ob ich in einem Karussell sitze, das sich rasend dreht.
„Urteil im Ahe-Prozess: Kommunistenführer Hüttig zum Tode verurteilt!" Richard Hüttig wegen schweren Landfriedensbruchs in Tateinheit mit versuchtem Mord zum Tode und zum dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. Vierzehn weitere Angeklagte zu 94 Jahren Zuchthaus und 18 Jahren Gefängnis!
„... Der Prozess des Sondergerichts hatte auch das gleiche Milieu wie der Maikowski-Prozeß zum Gegenstande. Er hat aber im Gegensatz zu diesem nur sechs Tage in Anspruch genommen. Etwa 100 Zeugen konnten in dieser Zeit vernommen werden, da alles Überflüssige aus der Verhandlung ferngehalten wurde.
Staatsanwalt Dombrowski sagte unter anderem: ,Das Gericht hatte keine Bedenken, auf Grund der Erfahrung bei ähnlichen Verhandlungen und auf Grund der Tatsache, dass bei derartigen Überfällen immer wieder ein planmäßiges Vorgehen sich zeigte, Feststellungen zu treffen, die sich zwingend ergeben, ohne dass sich das Gericht allzu ängstlich an das Ergebnis der Beweisaufnahme zu halten brauchte. Dass von der Ahe durch Hüttig erschossen wurde, hat das Gericht nicht als erwiesen angesehen. Nachdem von der Ahe niedergeschlagen war, richtete er sich noch einmal auf und hat stehend auf eine nicht geklärte Weise den Todesschuss erhalten. Der Anführer verdient aber die härteste Strafe, die das Gesetz kennt. Das Gericht ist überzeugt, dass der Gesetzgeber für eine Tat wie die des Hüttig die Todesstrafe gewollt hat. Wenn andere Angeklagte Strafen von ein bis fünfzehn Jahren Zuchthaus erhalten, so hat das Sondergericht für sich in Anspruch genommen, bei diesen Angeklagten Milde walten zu lassen.'"
In der Urteilsbegründung führte dann der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Rehm, aus:
„Die Feststellungen des Gerichts wurden dadurch erschwert, dass das Gericht den belastenden Aussagen der Mitangeklagten gegen Hüttig nicht unbedingt folgen konnte. Bei den Zeugenaussagen aber war zu berücksichtigen, dass seit Begehung der Tat fast ein Jahr verflossen ist und alle Zeugen sich damals in großer Erregung befanden. Schließlich haben sich die Vorfälle in der Nacht bei schlechter Beleuchtung abgespielt. Daher gingen die Zeugenaussagen in vielen Punkten erheblich auseinander. Das Gericht ist jedoch nicht zu der Überzeugung gelangt, dass Hüttig den tödlichen Schuss auf Ahe abgegeben hat. Wer den Todesschuss abgefeuert hat, hat sich nicht einwandfrei feststellen lassen. Festgestellt sei aber, dass Hüttig schweren Landfriedensbruch begangen und gegen die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat gehandelt hat, und zwar als Rädelsführer. Daneben hat er sich des versuchten Mordes schuldig gemacht."
Kein Wort fiel über das Gutachten der Schießsachverständigen. Der Staatsanwalt erklärte einfach: „Ahe hat auf eine nicht geklärte Weise den Todesschuss erhalten."
Einer soll aber um jeden Preis sterben: Richard Hüttig.
Er ist nicht irgend jemand für sie. Er ist der verhasste Führer der Charlottenburger Häuserschutzstaffeln. Er ist für uns -seine Genossen - der Teuerste - das wissen sie. Darum wollen sie ein Exempel statuieren.
Richard Hüttig, unser Richard, zum Tode verurteilt!
„— Die Angeklagten nahmen das Urteil ruhig auf -"
Und jetzt? Wir können nicht auf die Straßen gehen, jedem ins Gesicht schreien, dass Richard unschuldig ist. Dass man einen braunen Justizmord verhindern muss. Gibt es denn wirklich kein Mittel mehr, Richard zu retten?!
17. Februar 1934.
Einen Tag später. Selbst der „Völkische Beobachter" bestätigt in seinem Bericht über den Ahe-Prozess, dass Richard Hüttig Ahe nicht erschossen hat: „Es konnte nicht einwandfrei festgestellt werden, dass Hüttig, beziehungsweise wer überhaupt den Schuss abgegeben hat. Hüttig hat jedoch die Kugel gegossen, die das Leben Ahes vernichtete, unbeschadet des Umstandes, aus welchem Lauf sie kam."
Der „Konfektionär", der Genosse, der bei Brenninckmeyer Verkäufer ist, steht schon an der vereinbarten Ecke.
„Du bist allein?"
„Ich habe die beiden ins Cafe Bumke geschickt. Alle drei konnten wir hier nicht warten."
Wir gehen langsam weiter.
In der Straße hier ist wie immer starker Verkehr. In langen Reihen fahren Autos vorbei, die Fußgänger schieben sich dicht über die Bürgersteige.
Der Konfektionär sieht aus wie ein junger Mann „aus gutem Hause". Das glattrasierte Gesicht, die dunklen, von Pomade glänzenden Haare. Den Kragen des schweren Wintermantels hat er hochgeschlagen, aber er ist ohne Hut. Der fällt nicht auf, so gehen die „besseren" jungen Leute alle hier. Aber ich?
„Zu Bumke? Teurer Laden. Können wir denn da reden?"
„Natürlich. Da ist immer Betrieb, weil sie Musik haben. -Für unsern Kaffee langt's bei mir auch noch."
„Na gut."
- Was der Max und der Erwin heute überhaupt von mir wollen? Sie sind beide Kollegen des Konfektionärs. Sie haben ihm nur gesagt, dass sie mich sprechen wollen. Sie könnten die Angelegenheit am besten mit mir regeln. Seit einigen Monaten beliefert sie der Konfektionär mit Zeitungen. Gedruckte Sachen wollen sie immer haben. Damit könnten sie besser „handeln". Sind gut, die Jungens. Sie haben einen Leserkreis, in dem jeder einige Groschen zahlen muss. Zum Schluss wird die Broschüre noch verkauft. Zwei Mark und mehr erzielen sie so für ein Exemplar. Sie rechnen über den Konfektionär ab, der strahlt jedes Mal, wenn er mir das Geld bringt. Wir haben den beiden zwischendurch auch schon theoretische Bücher gegeben zur eigenen Schulung. Der Max ist politisch schon weiter als Erwin. Bei Max waren wir ja auch schon einige Mal. Er hat sein möbliertes Zimmer für Besprechungen zur Verfügung gestellt.
Das Cafe ist dicht besetzt. Wir gehen langsam durch den langen Raum. Die Menschen schwatzen laut. An einigen Tischen sitzen Pärchen eng zusammen. Geschirr klappert. Kellnerinnen laufen hin und her. Sie tragen kleine rosa Hauben, Zierschürzen von derselben Farbe. Auf einem Podium musiziert die Kapelle. Wo stecken die beiden denn? - Dahinten - an dem runden Marmortisch in der Ecke. Haben sie gut gewählt!
'n Abend, Karl. - Ist gut der Platz, was?"
Die beiden freuen sich. (Sie kennen mich nur als „Karl".)
„Doch, doch. Ihr seid tüchtig wie immer."
Der Konfektionär bestellt zwei Tassen Kaffee. - Wer sitzt am Nebentisch? Ein älterer Herr. Er redet auf seine vollbusige Begleiterin ein. Die sind harmlos. Aber da drüben -sitzt ein SA-Sturmführer. Der hat auch mit seiner Schönen zu tun - und wenn - in dem Lärm versteht er dort drüben nichts.
„Erst mal dies. Sechs Mark. - Für die letzten Sachen."
„Dankend empfangen."
„Wann können wir wieder...?" fragt Erwin.
„Nächste Woche. Wie bisher." Ich mache eine Kopfbewegung zu dem Konfektionär hin.
„Gut." Schweigen. Max nimmt einen Schluck aus seinem Bierglas. Erwin dreht einen Bleistift in den Händen. Muss wirklich etwas Besonderes sein, die beiden brauchen eine Pause als Anlauf. - Donauwalzer, die Kapelle spielt nicht schlecht.
Max setzt das Bierglas ab, bleibt aber stumm. Ich rühre in meiner Tasse. Er sei Jude, hat mir Max neulich erzählt. - Bei dem würde der beste Nazi-„Rassenforscher" daneben tippen. Das glatte, rötlichblonde Haar - groß und schlank ist er. Hat ein kluges, regelmäßiges Gesicht. Tapferer Bursche. Dem geht es doch als Juden schlimmer als uns, wenn sie ihn mal schnappen.
„Also Karl - wir haben da noch etwas zu besprechen", sagt jetzt Max.
„Ich höre, schüttet euer Herz nur aus."
Max macht wieder eine Pause. Dann sagt er leise: „Wir wollen in die ,Familie' aufgenommen werden."
Erwin nickt. „Deswegen wollten wir mit dir sprechen."
Ich lasse vor Überraschung den Kaffeelöffel fallen, sehe beide groß an. Sie wollen in die Partei? - Alles mögliche habe ich erwartet, aber dass sie damit kommen - eine große Freude ist plötzlich in mir. Der Konfektionär ist auch verdutzt, er sieht von einem zum andern. Ich schweige noch immer. Sie wollen... der Max ja, aber Erwin? Ich mustere Erwin, als sei er mir völlig unbekannt gewesen. Der schmale Scheitel, die feinen Hände, ein richtiges Kindergesicht hat er noch, ist auch noch nicht zwanzig. Erwin müsste eigentlich in den Jugendverband. Aber er wohnt in unserem Bezirk. Die Jugend ist bei uns schwach, wird erst wieder aufgebaut. Max ist älter, klüger. Aber wissen sie überhaupt, was das heißt: jetzt in die Partei! - Man brauchte sie nicht gleich einzuspannen - sie haben sich doch schon bewährt. Wir haben Verluste - brauchen Nachwuchs. -
Die beiden sehen mich immer noch an.
Der erfordere mehr als ab und zu etwas zu verkaufen, sie hätten noch nicht genügend „Arbeits"-Erfahrung, fange ich an.
Wir freuten uns über jeden, der neu zu uns käme, gerade jetzt. Aber in der ersten Zeit könnten sie nicht gleich vollständig in die Arbeit einbezogen werden. Das sei für sie und für uns besser.
Ob sie sich aber darüber klar wären, wie schwer sich die „Familie" gerade jetzt durchbringen müsse. Ich wolle nicht unken, ob sie denn auch überlegt hätten, wie schlecht es ihnen eventuell dabei ergehen könnte!
Jawohl, das wüssten sie genau, meint Max. Sie hätten sich das alles lange überlegt. Aber der „Bilderverkauf" genüge ihnen nicht mehr, so könne es nicht weitergehen. Heute müsse jeder seine ganze Kraft einsetzen, das sei ihre Meinung.
Ich sage ihnen dann, dass ich die Sache für Erwin sofort regeln werde, weil er in unserer Gegend wohne; er bekäme dann durch den Konfektionär Bescheid. Bei Max werde es länger dauern. Er wohne in einem anderen Bezirk, ich müsste mich erst mit den dortigen „Kollegen" in Verbindung setzen. Ich mache deshalb mit Max einen Treff aus, um ihn mit den Genossen seines Wohnbezirks zusammenzubringen. Sie sind beide mit dieser Lösung einverstanden, drücken mir stumm die Hand.
Wir zahlen. Max geht mit Erwin zuerst. Der SA-Sturm-führer sitzt immer noch an dem Tisch schräg gegenüber. Er tätschelt seiner Begleiterin die Hand.
Max' Aufnahme machte mir dann Schwierigkeiten. Der zuständige Genosse in seinem Bezirk verlangte, dass ich für ihn drei Bürgen bringe. Trotzdem er mich kannte und ich ihm erklärte, dass Max schon monatelang mit uns gearbeitet habe, blieb er hartnäckig. Das sei jetzt doppelt notwendig in der Illegalität, beharrte er. Ich erfüllte dann seine Forderung.
Acht Tage später traf ich Max wieder. Da erzählte er mir freudestrahlend, dass er schon in die Arbeit einbezogen worden sei. Die Zeitungen seines Bezirkes würden nach Fertigstellung bei ihm untergebracht und dann verteilt. Die Genossen hätten also zu ihm volles Vertrauen.
Ich habe ihm nichts von meinen Bedenken gesagt. Er hätte sie sicher falsch aufgefasst und geglaubt, dass ich ihm misstraue. Aber ich werde mit dem fraglichen Genossen darüber sprechen. Erst verlangte er drei Bürgen, und wenige Tage später lagern ihre Zeitungen bei Max. So kann man nicht arbeiten. Max ist doch noch zu unerfahren in der illegalen Arbeit. Er muss aber dadurch sofort mehrere Genossen kennen lernen. Die können sich und ihre zentrale Zeitungsarbeit dabei gefährden. Ich weiß, dass Max in seinem möblierten Zimmer sicher wohnt. Er ist für die Gestapo ein „unbeschriebenes Blatt". Ich weiß auch, wie sehr unsere Arbeit durch den Mangel an „sauberen" Wohnungen leidet. Dies alles wird die dortigen Genossen zu ihrer Maßnahme bewogen haben. Doch wegen des Wohnungsmangels allein dürfen sie nicht leichtsinnig werden.
Mit zwei sozialdemokratischen Genossen von Ewalds Gruppe hat unsere Stadtteilleitung etwas Ähnliches gemacht. Auch diese Genossen waren sofort bereit, schwierige Arbeiten zu übernehmen, und bekamen sie. Über den Mut der sozialdemokratischen Genossen habe ich mich gefreut, habe aber auch gegen diese Arbeitsverteilung protestiert. Wir sind für ihre Sicherheit verantwortlich, um so mehr, als wir in der illegalen Arbeit mehr Erfahrungen haben als gerade diese beiden Genossen. Auch sie muss man erst schulen und dann langsam mit interner Arbeit vertraut machen. -
Trotz aller Fehler, ich habe wieder ein sicheres Gefühl. Man spürt, wie die Partei sich wieder aufbaut.
Heute sah ich in unseren Straßen ein Plakat:
„Blindgängersuchen der deutschen Schuljugend!"
„... Die deutsche Schuljugend muss in den Luftschutzkampf einbezogen werden... Folgende Aufgabe... angenommener feindlicher Luftangriff auf Charlottenburg... feindliche Geschwader überflogen die Häuserblocks der... Straßen, wandten sich dann zu den Straßenzügen ... Das Ziel, das Charlottenburger Elektrizitätswerk, wurde verfehlt, da
rechtzeitig eingenebelt... zahlreiche Bomben abgeworfen ... Blindgänger liegen in den Straßen... diese angenommenen Stellen sind vom Luftschutzbund markiert...
Deutsche Schuljugend heraus!
Blindgängersuche... Preise winken für die besten Blindgängersucher ... Meldungen bei..."
- Kinder als Kriegsteilnehmer im Ernstfall! - Wie oft habe ich in der Zeitung gelesen: „...fanden eine aus dem Weltkrieg stammende Granate... explodierte... drei wurden zerrissen ..." Die Schulkinder sind der braunen Erziehung ausgeliefert Alle Genossen berichten dies von ihren Kindern. Die faschistischen Lehrer drängen die Kinder täglich, in das Jungvolk - in die Hitler-Jugend einzutreten. Sie behandeln „Zivilisten" zweitrangig. Zu dem Nazischulunterricht kommen die ständigen „Ausflüge". Da „lernen" die Kinder durch Stacheldraht kriechen, „Munitionskästen" schleppen und ähnliches. Mit zerrissenen, verschmutzten Kleidern kommen sie nach Hause. Auf dem Schulhof „lernen" sie so weiter. Brennende Attrappenhäuser werden dort mit Chemikalien gelöscht. - Die Kinderfunktionäre der Naziorganisationen können jederzeit vom Schulunterricht fernbleiben, wenn sie einen „Ausmarsch" haben.
Die Kinder einzelner Genossen wünschen sich schon unter dieser Beeinflussung zum Geburtstag, zu Weihnachten: Uniformstücke. Wenn sie noch klein sind, können die Genossen nicht einmal in unserem Sinn mit ihnen sprechen. Sie müssen befürchten, dass die Kinder darüber zu andern sprechen und sie so gefährden. Ich kenne Genossen, die so gefährdet sind, dass sie nie illegales Material bei sich tragen. Aber unsere früheren Pionierbücher halten sie immer noch versteckt. Abends lesen sie mit ihren größeren Kindern darin. „Ich muss doch meinem Jungen wenigstens das geben können, er liest doch sonst nichts als den Nazischulkram", sagen sie.
Die Braunen wollen ein ganzes Volk vom Kind bis zum Greis für ihren Eroberungskrieg vorbereiten. - Die Siemenswerke arbeiten mit Hochdruck für die Aufrüstung, berichtet Teichert. Manche Abteilungen in drei Schichten. Metallspezialisten sind neu eingestellt worden, Werkzeugmacher, Dreher, Mechaniker usw. Viele werden nach außerhalb geschickt. Auf „Montage".- Neue Flugplätze! Alle werden vereidigt -schwere Strafen werden ihnen angedroht, wenn sie über ihre Arbeit sprechen. Teile der deutschen Industrie in Scheinkonjunktur - Kriegsproduktion. - Unsere Betriebszellenarbeit war früher schon darauf eingestellt. Deutschland als Heereslieferant für den Fernen Osten, dachten wir immer. Heute rüstet das Dritte Reich gegen die Sowjetunion. -
Viele unserer Genossen sind so wieder in die Betriebe gekommen. In die faschistischen Kriegsbetriebe! Wir werden sie brauchen!
Wieder hat uns ein schwerer Schlag getroffen. Franz Zander, unser Franz, ist verhaftet worden. Vorgestern abend, in unserer Straße. Franz - in unserer Straße! - Wir haben inzwischen erfahren, wie alles kam. Wir haben uns überall vorsichtig erkundigt. Wir mussten Klarheit haben, weil wir nicht wussten, ob die Dreiunddreißiger nur seinetwegen kamen oder ob nicht noch andere Genossen verhaftet werden sollten. Wir wissen jetzt: Franz war an diesem Nachmittag bei Genossen in unserem Nachbarbezirk. In Moabit. Er sprach mit ihnen über ein neues Verfahren für die Zeitungsherstellung, das die Genossen dort seit einiger Zeit anwenden. Es ist viel billiger und ermöglicht außerdem größere Auflagen. Wir wissen jetzt: Franz kam in unsere Straße, um einige Minuten bei seiner Mutter zu sein. Er hatte erfahren, dass sie schon monatelang gefährlich krank ist. Käthe, seine Schwester, hat es ihm nicht erzählt. Er erfuhr es von Hilde, seinem Mädel. - Er war im Nachbarbezirk, eine knappe halbe Stunde von unserer Straße entfernt. Da muss ihm der Gedanke gekommen sein, zu seiner Mutter zu gehen. Er wird lange mit sich gekämpft haben. Einmal wird es gehen, ich werde nur einige Minuten dableiben, es wird mich schon niemand sehen, jetzt, wo es dunkel wird. Wir wissen jetzt alles. Doch es ist für uns immer noch ein Rätsel, wie Franz, der uns alle zur äußersten Vorsicht in der illegalen Arbeit erzogen hat, in unsere Straße kommen konnte. Er wusste doch genau, dass ihn die SA seit einem Jahr hier sucht.
Im Restaurant „Afrikander", das dem Haus von Franz gegenüber liegt, schrie der Radiolautsprecher Marschmusik in das Gastzimmer. Hinter der Theke saß die dicke Wirtin und strickte. Rechts von ihr spielten an einem runden Tisch drei Männer Karten. In der anderen Ecke, ganz links, saß ein einzelner Gast. Er starrte in sein halbleeres Bierglas. Den kahlen buckligen Schädel hatte er in die Hände gestützt. Über den Daumen seiner Hände lagen die merkwürdig zusammengerollten Ohrmuscheln, Es war der Stammkunde Kranz. Die Wirtin rechnete im stillen seine Zeche aus. Drei Schnäpse, vier Mollen, zwei Zigarren.
Kranz richtete sich plötzlich auf, nahm die kalte Zigarre aus dem Mund und sah sich suchend um. Die Wirtin warf den Strickstrumpf auf den Schanktisch, ging auf ihn zu. Sie riss ein Streichholz an.
„Hier, bitte", sagte sie.
Kranz sah sie mit glasigen Augen an. Er nahm ihr das Streichholz aus der Hand, drehte den Kopf nach der Schaufensterscheibe und hielt die Flamme an die Zigarre. Plötzlich ließ er das Streichholz fallen. Auch die Zigarre fiel ihm aus dem Mund. Er saß mit offenem Mund da und starrte hinaus. Die Wirtin sah ihn verwundert an. Auch die drei Männer waren auf Kranz aufmerksam geworden. Der sprang plötzlich auf, lief zur Tür.
„Zahle nachher... komme wieder ...", sagte er stotternd. Die Wirtin ging ihm nach, wollte noch etwas sagen, aber Kranz war schon draußen, die Tür stand offen. Einer der drei Männer war inzwischen aufgestanden. Die beiden sahen, wie Kranz in Richtung Rosinenstraße davonrannte. In unserer Straße war nichts Ungewöhnliches zu sehen, und die beiden konnten sich das sonderbare Benehmen des Kranz nicht erklären. (Franz war in diesem Augenblick sicher schon in seinem Haus verschwunden. Der andere Gast an der Tür kannte ihn und sagte uns, er hätte ihn nicht gesehen.)
Die Wirtin sagte dann noch: „Der wird jeden Tag verrückter. Na, die Zeche wird er schon bezahlen."
Bald darauf liefen SA-Leute durch unsere Straße. Der braune Uniformhaufen zog sich auseinander, bildete eine Kette, die sich von den letzten beiden Eckhäusern am Knick der Straße bis weit in die enge Gasse zwischen dem Umformerwerk und den Notstandsbaracken zog. Dann ging ein Teil der SA in Franz' Haus hinein, besetzte alle Treppenaufgänge, die Zugänge zu den Höfen.
In Franz' Haus ist das alles nicht bemerkt worden. Aber die stille Straße ist in den wenigen Minuten wie aufgewühlt. In den langen Fensterreihen hängen die Köpfe dicht nebeneinander. Vor den Haustüren stehen die Menschen in Gruppen und sehen mit Hasserfüllten Blicken zu dem braunen Kordon hinüber. Sie stehen alle ein gutes Stück entfernt, doch es ist, als wächst ihr stummer Protest im Rücken der Braunen wie eine Mauer. Die SA-Leute fühlen es. Sie drehen die Köpfe, sehen die Häuser- und Fensterreihen entlang. Die Geschäftsleute sehen verschüchtert durch die Fensterscheiben, nur der Gemüsehändler steht breit in seiner Ladentür. Vor jedem stehen bange Fragen.
Wem gilt das... sie kommen so überraschend... wer ist in Gefahr? ... wer? ... wer?!...
Franz klingelte an seiner Wohnungstür. Es machte niemand auf. Käthe war noch im Büro, und die Mutter lag im Bett, konnte nicht aufstehen. Die Nachbarin, Frau Schulze, hörte ihn klingeln. Sie war überrascht, als sie Franz sah. Ja, sie hätte einen Wohnungsschlüssel, besorge doch tagsüber die Mutter, erklärte sie ihm dann. Die wolle doch nicht ins Krankenhaus, und Käthe sei den ganzen Tag fort. Käthe hätte ihm das alles längst sagen müssen, sagte Franz zu ihr. Er hätte es jetzt erst von seiner Freundin erfahren, sie hätte auch nur Andeutungen gemacht, er hätte sie aber so lange gedrängt, bis sie alles genau erzählt habe. Er wolle seine Mutter nur kurz sehen und sprechen, in einigen Minuten ginge er wieder, sagte Franz noch.
Er kam auch bald aus der Wohnung. Er sagte der Nachbarin noch, dass er seiner Mutter ebenfalls zugeredet hätte, in ein Krankenhaus zu gehen. Wäre doch das Beste für sie. Es ginge ihr ja schlimmer, als er gedacht, sie sei so furchtbar abgemagert und geschwächt. Dann sprang Franz in großen Sätzen die Treppe hinunter. Einen Augenblick später hörte die Nachbarin unten auf der Treppe Gepolter. Eine Stimme schrie, heiser vor Wut: „Jetzt haben wir dich endlich! Jetzt haben wir dich, du Bursche!"
Als die Braunen die Straße erreichen, kommt Bewegung in die Menschen vor den Haustüren, fahren die Köpfe an den Fenstern erschreckt hoch. Ein Würgen steigt allen in die Kehle. Es ist Franz Zander - ihr Franz! Alle in unserer Straße kennen ihn genau.
Die Straße bleibt stumm. Die Männer stehen vor den Haustüren. Ihre Hosentaschen stehen ab über den geballten Fäusten. Alle Fenster sind voller Köpfe. Schweigend nimmt unsere Straße Abschied von Franz Zander. Es ist, als ob sich von allen Seiten Arme ausstrecken, ihm noch einmal die Hand zu drücken.
Franz fühlt das. Sein Gesicht ist ruhig. Er lächelt sogar. Et nickt über die Straße, zu den Fenstern hinauf.
Die SA schiebt ihn mit schnellen Schritten durch die Straße. Zur Maikowski-Kaserne, nach der Rosinenstraße. Kinder laufen neben dem Zug her. Überall drehen die Menschen die Köpfe. Es war das letzte Mal, dass Franz unsere Straße - dass unsere Straße Franz sah.
An diesem Abend dachte ich sofort daran, dass Teichert gewarnt werden musste. Gerade er, denn er wohnt im selben Haus wie Franz. Wir wussten überhaupt nicht, was die Dreiunddreißiger von uns vielleicht noch fassen wollten.
Die Straßenbahnen aus Siemensstadt kommen in kurzen Abständen. Sie sind gestopft voll. Um diese Zeit, wenn die Siemenswerke Betriebsschluss haben, reichen auch die vielen Einsatzwagen knapp aus. Ich stehe und taste die Aussteigenden jedes Mal mit den Augen ab.
Wo bleibt Teichert? Ist er heute vielleicht früher ausgestiegen, irgend etwas besorgen gegangen? Ist es besser, am Eingang unserer Straße auf ihn zu warten? Ist zu auffällig; wenn er dann von der anderen Straßenseite kommt, läuft er doch unvorbereitet in seine Wohnung. Wagen auf Wagen leert sich, rollt weiter. Wieder nicht - wieder nicht. Die Minuten werden qualvoll lang, ich tappe auf und ab, stundenlang schon, scheint mir.
Eine neue Bahn kommt, mit ihr endlich - Teichert!
Er ist überrascht, rückt an seiner Frühstückstasche.
„Du hier?" sagt er aber nur.
Es klingt, als komme die Frage um das Warum gleich hinterher, doch dann geht er stumm neben mir her. Mir ist schwer ums Herz. Ich sehe ihn verstohlen an. Zwischen seinen Augenbrauen ist eine tiefe Falte. Sein Gesicht ist in den letzten Tagen nach blasser, die Backenknochen sind noch spitzer geworden. Er scheint um Jahre gealtert - seit der Verurteilung von Richard. Jetzt muss ich ihm dies noch sagen.
Da sagt Teichert: „Weshalb...? Was Gutes ist es doch sicher nicht?"
„Nein", sage ich leise.
Ich sehe ihn nicht an. Jeder Schritt geht mir wie ein harter Stoß bis in den Kopf.
„— Franz ist verhaftet." Teichert bleibt stehen.
„Franz...?" sagt er langgezogen, als hätte er den Namen nicht verstanden. - „Ist denn sein Bezirk hochgegangen-woher...?"
Er presst meinen Arm.
„Bei uns in der Straße - vor einer Stunde."
Teichert fährt sich mit der Hand über die Stirn.
„Bei uns - bei uns —", sagt er fassungslos.
Ich ziehe ihn weiter, wir dürfen nicht auffallen.
„Die Nachbarin hat ihm die Wohnung aufgeschlossen - er wollte seine Mutter besuchen, sagt sie."
Teichert antwortet nicht, starrt vor sich hin.
„Sie haben plötzlich das Haus umstellt - vielleicht -"
Ich stocke, aber Teichert hat mich schon verstanden. Er nickt apathisch.
„Deshalb fing ich dich hier ab!"
Wir gehen hin und her. Teichert bleibt stumm. Er presst die Lippen zusammen, atmet schwer.
„Wir haben der Nachbarin sagen lassen, sie soll Käthe abfangen - ist für uns zu gefährlich - die Mutter darf doch nichts erfahren - gerade jetzt..."
„Jan", sagt Teichert nur und drückt meine Hand.
Ich sehe wieder an ihm vorbei. Käthe - sie muss nun allein damit fertig werden - ich kann doch jetzt nicht -
Da sagt Teichert: „Ich gehe. Was soll auch werden. - Wenn ich auch - werde ich ja sehen."
Er drückt mir wieder die Hand. Ich sehe ihm nach, gehe dann entgegengesetzt um den Häuserblock.
Wir kommen von verschiedenen Seiten. Das rettet uns auch nicht - wenn es jetzt bei uns soweit ist.
Seit die Mutter krank war, hatte Käthe nicht viel schlafen können. Gewöhnlich schlief die alte Frau erst in den Morgenstunden ein. Damals, bevor Franz kam, hatte die Mutter schon fast eingewilligt, dass sie in ein Krankenhaus gebracht werde. Aber seit Franz hier gewesen war, weigerte sie sich wieder, die Wohnung zu verlassen. Mit dem Eigensinn von Kranken wiederholte sie immer wieder, dass sie hier auf seine weiteren Besuche warten wolle. Franz könne sie doch auch im Krankenhaus besuchen, machte Käthe der Mutter klar. Nein, sie wolle hier bleiben. Die Zeit seitdem war nicht nur eine körperliche Anstrengung, sondern auch eine seelische Qual für Käthe. Die Mutter sprach jetzt noch öfter von Franz. Wie er ausgesehen habe, dass er versprochen hätte, bald wiederzukommen. Käthe durfte sich mit keiner Miene anmerken lassen, wie es um Franz stand.
Wo mochte Franz jetzt sein - wie ging es ihm? Käthe hatte sich nach ihm erkundigt. Auf ihrem Polizeirevier. Das erklärte sich nicht zuständig. Auch die Politische Polizei im Polizeipräsidium Alexanderplatz, die Geheime Staatspolizei in der Prinz-Albrecht-Straße, im Columbiahaus, wiesen sie brüsk ab. Franz Zander? Der Name sei ihnen nicht bekannt. Nachforschungen könnten sie nicht anstellen, da hätten sie viel zu tun.
Wir konnten Käthe auch nicht helfen. Wir machten uns verdächtig, wenn wir nach Franz forschten. Auf unseren Rat hin hatte sie Hilde erzählt, Franz sei von der Polizei verhaftet worden, nicht von der SA. Sonst hätte sich Hilde noch mehr gequält, denn sie hatte ja Franz erzählt, wie es um seine Mutter stand. Hilde war seit Franz' Verhaftung völlig verzweifelt. Sie redete ständig davon, dass sie sich um Franz kümmern müsse. Jedes Mal sagte ihr Käthe, sie wüsste doch selbst nicht, wo er sei. Hilde könnte nur mit hineingezogen werden, wenn sie sich nach Franz erkundigte.
Es war klar: wenn Hilde erfahren hätte, dass die Dreiunddreißiger Franz verhaftet hatten, hätte sie versucht, durch ihren Bruder etwas über ihn zu erfahren. So hatten wir wenigstens verhindert, dass sie sich ihrem Bruder, dem SA-Truppführer, gegenüber verriet.
Die Dreiunddreißiger! Ob Franz noch in der Majakowski-Kaserne war? Der SA-Wachtposten hatte Käthe nicht in die Kaserne hineingelassen. Sie könne sich nach dem Dienst mal bei ihm persönlich melden, hatte er ihr höhnisch erklärt. Wo war Franz? Wo nur? Dieses Wo nur? ist Käthes erster Gedanke beim Aufwachen. Sie steht an diesem Morgen früh auf. Sie zieht sich hastig an. Sie holt für die Mutter Handtuch und Waschschüssel aus der Küche. Auf dem Rückweg fällt ihr Blick auf den Filzüberwurf am Briefschlitz der Wohnungstür. Etwas Weißes hängt darunter. Es ist ein Brief. Jetzt, am frühen Morgen? Der war sicher von der Abendbestellung gestern, den
hatte sie im Dunkeln übersehen. Auf dem Kuvert ist eine aufgedruckte Briefmarke. Aufgedruckt - ein amtliches Schreiben? - An Frau Elise Zander - Käthe weiß nicht warum, aber der Brief wird plötzlich bleischwer in ihrer Hand. Ein amtliches Schreiben?! Sie dreht den Brief unschlüssig hin und her, dann trennt sie den gezähnten Rand auf.
„Gestorben im Staatskrankenhaus... Todesursache Herzschwäche ... zur Beerdigung freigegeben am ..."
Käthe liest die Sätze immer wieder. Sie spricht sie vor sich hin, ohne dass sie es weiß. Gestorben - wer denn? - Gestorben ... Der Brief ist doch gar nicht für sie. Sie dreht ihn mechanisch herum. An Frau Elise Zander...
Elise Zander... Elise... für ihre Mutter. Sie starrt wieder auf das Papier... Gestorben... darüber steht - steht ein Name: Franz Zander - Franz - Franz -
Käthe taumelt in die Küche, sucht an dem Tisch dort Halt.
„Kä... the... Kä... the..."
Schwach und zittrig ruft die Mutter aus dem Zimmer. Käthe richtet sich auf. Sie steht einen Augenblick mit hängenden Armen. Das zerknitterte Schreiben hält sie immer noch in der Hand. Sie hebt den Arm, er ist schwer und steif, als gehöre er nicht zu ihr. Sie sieht auf den Brief.
„Kä... the... Kä... the - wo bist... du?"
Käthe reißt sich zusammen. Die Mutter! Sie durfte bisher nichts erfahren - dies erst recht nicht. Käthe legt den Brief in die Schublade.
Die Mutter stützt sich auf den Ellenbogen. Sie hat wohl vergeblich versucht, aufzustehen. In ihrem gelblichen Gesicht ist die Haut wie straff gespannt über den Backenknochen. Sie sieht Käthe vorwurfsvoll an.
„Ich rufe... ich rufe... du kommst nicht", sagt sie.
Sie zeigt auf die Waschschüssel, das Handtuch. Käthe bringt ihr alles an das Bett.
„Musst du nicht bald... zur Arbeit?" fragt die Mutter. Ja, sie muss ins Büro - sie wird nicht gehen, ist ihr so gleichgültig jetzt.
„Wir haben heute - wir haben heute einen freien Tag", sagt Käthe. Sie wundert sich selbst, wie sie der Mutter das sagt.
Die Mutter legt den Waschlappen hin, sieht Käthe prüfend an.
„Wie sprichst du denn?... Ist dir nicht gut?... Bist so blass", sagt sie.
„Mir ist nichts - wir haben einen freien Tag heute", sagt Käthe wieder. Sie muss das Misstrauen der Mutter zerstören!
In den Vormittagsstunden geht die Nachricht, dass Franz tot ist, wie ein Lauffeuer durch unsere Straße. Die Straße trauert. Nichts Schwarzes ist zu sehen. Aber in allen Gesichtern steht der Tod des Kameraden, in den Gesprächen ist er, in den stummen Blicken. In diesen Stunden nimmt der tote Franz Abschied von seiner Straße. Er kommt in die Häuser. Er klopft nirgends an, keine Tür öffnet sich, doch überall tritt er ein.
Eine alte Frau weint. Hat ihr oft geholfen, der Junge. Etwas für sie getragen, Kohlen geholt.
Ein Genosse denkt:
Weißt du noch? ... Neukölln-Reichstreffen? ... Friedrichshain, Saalschlacht? - Weißt du noch?... Leb wohl, Franz, warst einer der Besten.
Ü berall nehmen sie Abschied von Franz, für immer.
Unsere Straße ist lang.
Der Häuser sind viele.
Ich gehe langsam die Berliner Straße hinunter. Dort drüben wohnt Hilde - ich muss Teichert heute abend fragen, ob er etwas von ihr gehört hat. Wir müssen uns jetzt alle viel mehr um sie kümmern, seit sie Franz verloren hat...
Mein Blick fällt auf die elektrische Uhr in einem Uhrenladen. Habe ich noch reichlich Zeit, um zwölf soll ich erst dort sein. Ich setze mich auf eine Bank. Rastlos zieht der Verkehr auf der breiten Straße vorbei. Herrlich warm scheint die Sonne schon. Und die Bäume! Vor einigen Tagen saßen noch gelbliche Knospen auf den Zweigen. Jetzt sind es schon kleine Blätter. Geht jetzt rasch, fast kann man zusehen. Auf einer Wiese möchte man liegen - Käfer summen hören... Franz! Er wird das alles nicht mehr sehen - nie mehr mit uns hinausfahren. Plötzlich ist alles, was geschah, wieder da. Einmal habe ich Käthe inzwischen getroffen, draußen im Grunewald. - Zu dem Arzt der Charlottenburger SA-Standarte ist sie gelaufen. Am Kaiserdamm wohnt der, in einer prächtigen Wohnung. „An Herzschlag kann auch ein kräftiger Mann sterben", hat er ihr höhnisch erklärt. Dann hat sie Franz sehen dürfen, nur sie. Im Leichenschauhaus. Sie hat nur durch eine Scheibe sehen dürfen, er lag einige Meter von ihr entfernt, in weiße Tücher gehüllt. Nur ein kleines Stück von seinem Gesicht war frei, das war noch dick mit Puder überzogen. Sie hat ihn nicht erkannt, hat nicht gewusst, ob er es überhaupt war. Weinend hat sie mir alles erzählt. Ich konnte kein Wort herausbringen, konnte nur ihr Haar streicheln. Was sollte ich ihr auch Tröstliches sagen. Franz kam nie wieder. - Wir werden uns jetzt nach allem überhaupt nicht mehr sehen können, sie wird doch sicher überwacht. Es war neulich schon schwierig. - Plötzlich ist das alles wieder da. - Der große Waldfriedhof. Die Hunderte, die den Bahnhof überschwemmten, dann um Franz' Grab standen. Viele hatten ihren letzten Groschen für das Fahrgeld, für ein paar Blumen geopfert. Ihre vor Hass und Trauer dunklen Gesichter stehen wieder vor mir. Frauen weinen, schluchzen - sonst ist es ganz still. Eine atemlose Stille, die die lauernden Gesichter der Gestapoagenten erzwingen. Da springt plötzlich der junge Genosse vom Jugendverband an das offene Grab, spricht zwei, drei Sätze. Die Arme des Gestapoagenten reißen ihn fort - trotzdem schreit es hundertstimmig: „Rache! Rot Front!" —
Ich öffne meine Augen. Es ist heller Tag. Du bist nicht mehr bei uns, Franz, mein bester Freund und Genosse.
Ich stehe auf. Es ist zwanzig Minuten vor zwölf, in zwanzig Minuten ... An der Straßenkreuzung Knie zeigt die Verkehrsampel rotes Licht. Ich warte.
Dort drüben ist der Zoologische Garten. Vor dem großen Gittertor stehen Menschen. Sie sehen alle zu den Elefanten hinüber. Ganz vorn nimmt Jumbo, der älteste Elefant, mit dem Rüssel Zuckerstücke in Empfang. Dann streut er sich Sand über seinen massigen Körper, bläst Wasserstrahlen in die Luft. Alle neben mir freuen sich darüber. Die Erwachsenen und die Kinder.
Ich hole meine Zeitung, die „Nachtausgabe", aus der Tasche, halte sie in der rechten Hand, den Zeitungskopf deutlich nach außen. Die Bahnhofsuhr drüben zeigt genau zwölf Uhr. Muss der Genosse jeden Augenblick kommen. Er kann noch nicht hier sein. Niemand trägt außer mir eine Zeitung. Ich kenne den Genossen noch nicht, aber er ist mir genau beschrieben worden. Auch er wird eine bestimmte Zeitung in der Hand halten, außerdem wird er mich mit genau verabredeten Worten ansprechen. Ich sehe, wie alle hier, zu den spielenden Elefanten hinüber, beobachte aber auch genau meine Umgebung.
Bald darauf kommt ein kleiner blasser Mann mit einer goldgeränderten Brille die Straße herunter. Er stellt sich ebenfalls an das Gitter. Das ist er bestimmt! Ich habe doch für solche Situationen schon ein Fingerspitzengefühl bekommen. Die Beschreibung passt auf ihn - die „Berliner Börsenzeitung" hat der Kleine auch in der Hand. Ich sehe auch, wie er die Menschen hier verstohlen mustert. Aber abwarten, kann alles noch Zufall sein, er muss mich ja ansprechen. Ich betrachte weiter die Elefanten, drehe aber meine Zeitung deutlicher nach außen. Einige Minuten vergehen. Als neben mir eine Frau fortgeht, steht bald danach der Kleine auf ihrem Platz. Also richtig getippt, jetzt aufpassen!
„Wie alt kann der Bursche sein?" fragt da auch schon der Kleine mit hoher Fistelstimme.
Die Frage ist wie zufällig hingeworfen. Niemand antwortet, alle sehen weiter hinüber.
„Kann man schwer sagen. Achtzig, vielleicht auch hundert Jahre alt", sage ich ruhig.
Trotzdem! Seine Frage kann auch noch Zufall sein. Seine Antwort - die Antwort jetzt!
Der Kleine lacht. Ein Goldzahn blitzt zwischen seinen Lippen auf.
„Wenn man das genau wissen will, müsste man sich so einen Koloss schon als Haustier halten. Wie ein indischer Nabob, was?" scherzt er.
Die Frau neben mir lacht amüsiert.
Seine Antwort war richtig - besonders „indischer Nabob". Geht also in Ordnung!
Einige Minuten später treffen wir uns ein Stück abseits. Der Kleine gibt mir seine Zeitung.
„Ist alles drin!" sagt er kurz.
Er spricht mit voller tiefer Stimme, ein ganz anderer Mensch geht jetzt neben mir her.
„Hast du für uns Nachrichten aus deinem Bezirk?"
„Nein. Unsere Genossen sind etwas deprimiert nach unserem letzten Todesopfer. Es muss sich alles erst wieder einrenken." Und nach einer Pause setzte ich leise hinzu: „Es war einer unserer Besten." Der Kleine nickt ernst, drückt mir die Hand.
„Also wieder in acht Tagen, um dieselbe Zeit", sagt er dann. „Nehmen wir eine andere Stelle. Ich bin jetzt für euch bestimmt worden."
Wir legen den neuen Treffpunkt fest, trennen uns dann sofort.
Abends bin ich bei Teichert. Seine Frau besuche heute Verwandte, hatte er mich vorher verständigt.
Wir lesen den Pressedienst der Berliner Bezirksleitung durch, den ich heute mittag von dem Kleinen erhalten habe. Ein ausführlicher Bericht über die Ankunft und den Empfang von Dimitroff, Popoff und Taneff in Moskau ist darin. Wir freuen uns.
Teichert sagt auf einmal: „Jetzt kommt Thälmann dran! Den kann nur so was retten wie bei Dimitroff. Ein ganz großer Protest. Bei uns und im Ausland."
Thälmann. Bei der Bülowplatz-Demonstration sahen wir ihn alle zum letzten Mal.
Teichert sagt wieder: „Die Genossen haben auf die Ermordung von John Scheer und den drei anderen gut geantwortet. Über zwei Eisenbahnbrücken in Schöneberg haben sie nachts Transparente gespannt. ,Rache für John Scheer.' - Dort ist immer starker Verkehr. Einige hundert Arbeiter, die morgens in die Fabriken gingen, haben die Transparente gesehen. Dann kam die Feuerwehr und holte sie runter."
Schweigen.
Immer noch kommt es mir sonderbar vor, wenn Teichert mit so einer Wohnung und so einer Frau so spricht wie eben.
Er greift in seine Westentasche, holt einen kleinen Zettel heraus, reicht ihn mir herüber.
Es ist ein Zeitungsausschnitt.
„Hingerichtet!" steht groß über der Spalte, darunter klein: „sind Ihre Augen auf meine billigen Angebote!"
Ich knülle den Zettel zusammen, werfe ihn wütend auf die Erde.
„Annoncen im Dritten Reich", sagt Teichert.
Dann steht Teichert plötzlich auf. Er holt eine Nummer unserer letzten „Roten Fahne". Ich erschrecke.
„Du hast noch ... in deiner Wohnung?!"
„Gestern erst bekommen, von Hilde zurück", beruhigt mich Teichert. „Hat seinen Zweck, dass ich dir die zeige!"
Ich sehe mir die Zeitung an. Auf einigen Seiten ist der Text durchgestrichen, auf anderen wieder unterstrichen. Neben einem Artikel über den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion steht am Rand groß: „Blödsinn!" Ein Artikel über die Korruptions- und Schleuderwirtschaft der Nazibonzen trägt den Vermerk: „Sehr richtig! Schon wie unter dem Marxistensystem!"
Ich sehe Teichert fragend an. Der lacht. Dass mir seine beiden schwarzen Zahnstummel vorn immer wieder auffallen.
„Das ist die Kritik der Naziparteimitglieder!"
„Hilde gibt...?"
„Einen Teil ihrer Zeitungen an Nazis weiter!"
Teicherts Gesicht wird ernst.
„Das ist an und für sich fruchtbar, wie du siehst. Aber wie Hilde das jetzt macht!"
„Wie denn, wie?"
„Seit Franz tot ist, ist sie kopflos. Sie rettet sich in die illegale Arbeit. Bestürmt mich jedes Mal, ich soll ihr mehr Zeitungen geben, soll sie stärker beschäftigen."
Teichert beugt sich zu mir herüber.
„Zu diesen Nazis hat sie früher schon Zeitungen gebracht. Aber unauffällig. Sie hat sie in deren Briefkästen gesteckt. Die Adressen dafür hat sie sich heimlich bei ihrem Bruder abgeschrieben. Von seinen Notizen. Jetzt hat sie aber scheinbar einigen Nazis die Zeitungen ganz offen gegeben. Diese letzte Nummer jedenfalls. Sie gibt das nicht zu, aber wie soll sie die Zeitungen, mit diesen Kritiken versehen, sonst zurückbekommen haben?"
„Wir können ihr vorläufig keine mehr geben. Das kann doch nicht gut ausgehen!"
Diese Hilde. Früher hat sie so etwas auch schon gemacht -aber niemand hat mir davon etwas erzählt. Franz wusste doch sicher Bescheid.
„Ich wollte deine Zustimmung haben", sagt Teichert. „Wir müssen Hilde überhaupt eine Zeitlang abhängen. Sie ist sehr kaputt."
Teichert überlegt einen Augenblick.
„Ich werde Käthe Bescheid sagen lassen. Die beiden Mädels können sich dann ab und zu treffen. - Sie kennen sich doch von der Handelsschule her - das ist eine gute Bekanntschaft."
Hilde hätte ihm gesagt, dass ihr Bruder Felix in den letzten Wochen mit einem verbitterten Gesicht herumläuft, erzählt mir Teichert dann. In der Familie spreche er überhaupt nicht mehr über Politik. Er hätte doch früher immer laute Propagandareden gehalten. Einmal habe er aber erzählt, dass ihm sein Sturmführer Arbeit besorgen wollte. Als Gefängniswärter. Er habe abgelehnt. Er sei Bauschlosser, habe er dem Sturmführer gesagt. Hilde sei der Meinung, dass auch ihr Bruder jetzt an der Nazibewegung zweifelt. Wenn sie über ihre hohen Gehaltsabzüge rede oder die Mutter über die Teuerung schimpfe, verteidige er die Regierung mit keinem Wort. Das habe alles bestimmt dazu beigetragen, dass Hilde unvorsichtig geworden sei. - Ich bin überrascht. Felix, dieser Truppführer!
Wir besprechen noch die technischen Einzelheiten für unsere nächste Zeitung, die ich übernehme, wie immer. Teichert verpflichtet sich, den Leitartikel zu besorgen.
Es ist schon spät, als ich das Haus verlasse. Unsere Straße liegt wie ausgestorben. Die spärlichen Gaslaternen werfen auf die vereinzelten buckligen ein- und zweistöckigen Häuser nur trübes Licht. Hundert Jahre und mehr stehen die sicher schon hier. Ihre bemoosten, verwitterten Ziegeldächer hängen weit herunter. Dumpf und rastlos summen die Maschinen im Umformerwerk.
Heute gab mir ein Funktionär von der Hilfsorganisation für unsere gefangenen Genossen, von der Roten Hilfe, einige dünne Bogen Papier, die mit Schreibmaschinenschrift beschrieben sind. Es ist der Bericht eines hohen Justizbeamten über den Ahe-Prozess, in dem Richard Hüttig zum Tode verurteilt wurde. Dieser Bericht wird auch an die ausländische Presse weitergegeben werden.
„Richard Hüttig brachte es in einer bewunderungswürdigen Weise fertig, dass die Wahrheit aufgedeckt wurde, obwohl er wusste, was ihn dafür erwartete. Er beantragte eine Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit, um richtig aussagen zu können. In dieser Geheimverhandlung schilderte er die Misshandlungen, denen er und seine Genossen ausgesetzt waren. Anfangs wurde nach folgendem Prinzip vernommen: Hüttig und je einer der Mitangeklagten saßen vor dem vernehmenden Polizeikommissar. Dieser fragte zuerst Hüttig: ,Hast du geschossen?' Hüttig: ,Nein.' Daraufhin wurde der Mitangeklagte, unter anderem auch der noch nicht achtzehnjährige Herbert Carius, von den Wachtleuten in Gegenwart des Kommissars und auch Hüttigs furchtbar geschlagen, besonders mit Nilpferdpeitschen. Dann fragte der Kommissar wieder: ,Hat Hüttig geschossen?' Antwort: Ja.' Dann wurde der am gleichen Tisch sitzende Hüttig wieder gefragt, ob er geschossen habe: ,Nein.' Dann sagte der Kommissar zu dem Mitangeklagten: ,Lügt Hüttig?' - Ja.' - Kommissar: ,Nimm die Nilpferdpeitsche und schlage ihn dafür, dass er uns ins Gesicht lügt.'
Hüttig betonte, dass in diesem Augenblick sofort und immer wieder die auf diese Art vernommenen Mitangeklagten ihre Belastungen zurücknahmen und sich weigerten, ihn zu schlagen. Erst als Voss und Drescher ermordet und die Prügeleien wochenlang wiederholt worden waren, gelang es der Polizei, die gewünschten belastenden Aussagen zu erhalten. Hüttig erzählte vor Gericht, wie die SA-Leute im Columbiahaus prügelten. Der Gefangene lag am Boden, meist unfähig, sich zu rühren. Von jeder Seite schlug je ein SA-Mann mit der Nilpferdpeitsche auf seinen Rücken ein, so dass die Schläge ein V bildeten. Voss, der sich weigerte, andere zu belasten, wurde auf diese Weise buchstäblich totgeschlagen. Er starb etwa eine Stunde nach einer solchen Vernehmung.
,Als ich schon halbtot geprügelt war', sagte Hüttig vor dem Gericht aus, ,habe ich mein Hemd aufgerissen und der SA-Mannschaft zugerufen: »Hier, schießt mich tot, aber lasst meine Kameraden zufrieden!«' Daraufhin hätten die SA-Leute, denen das imponierte, etwas nachgelassen. Hüttig fügte dann hinzu: Nach dem, was er im Columbiahaus erlebt hatte, wolle er bis an sein Lebensende Kommunist bleiben.
Auf die erschütternden Feststellungen des Hüttig sagte der Staatsanwalt nur: ,Es mag sein, dass die Angeklagten nicht allzu sanft behandelt worden sind.'"
Paul Voß. Totgeschlagen - weil er Hüttig nicht belasten wollte.
Bäckervoß haben wir ihn immer genannt. Damals, im Jahre 1932, hat er mir die Narben von Messerstichen der SA gezeigt. Als er aus dem Krankenhaus kam. Sonntags wollte er bei unserer Zeitungspropaganda immer mit meiner Gruppe gehen. „Du hast so eine laute Stimme, Jan", hat er gesagt, „die hören sie immer gleich auf zwei Höfen, darum können doch bei dir mehr mitkommen." Sein blasses, breites Gesicht mit den langen schwarzen Haaren steht wieder deutlich vor mir. Wie er immer mit den Armen geschlenkert hat, wenn er ging. Er ging immer wie eingeknickt, die Beine leicht gekrümmt, vom Stehen am Backtrog. Bäckervoß. -
Richard Hüttig.
Dimitroff stand an weit sichtbarer Stelle. Nicht jeder ist ein Dimitroff. Nicht jeder kann so sprechen wie er - aber Tausende Helden wie er kämpfen in Deutschland. Unbekannte Helden.
Diesen Bericht wollen sie an Auslandszeitungen weiterleiten. Vielleicht kann Richard doch noch gerettet werden!
Stundenlang laufe ich durch die Straßen, denke immer wieder dieselben Gedanken. Erschöpft, mit schwerem Kopf, gehe ich in unsere Straße zurück. Plötzlich wird mir bewusst, dass ein Mann schon durch zwei Straßen hinter mir geht. Auch in unsere Straße biegt er mit ein. In einem dunklen Hausflur bleibe ich einen Augenblick stehen, spähe hinaus. Der Mann geht vorbei, verschwindet drüben hinter dem Knick der Straße. War wohl ein Zufall.
Halb zwei Uhr nachts ist es schon. In meinem Haus ist es totenstill. Meine Wirtin schläft lange schon. Ich ziehe mich leise aus, wühle den Kopf in die Kissen. —
... Was ist denn ...? - Was klopft denn da...? - Ich bin ja -! Ich fahre im Bett hoch. Jemand klopft an meine Zimmertür. Jetzt wieder, stärker! Mein Kopf ist dumpf und schwer. Das Hemd klebt an meinem Rücken vor Schweiß. Ich presse meine Hände gegen die Schläfen, mache mich so gewaltsam wach - stehe auf. Mein Wecker zeigt vier Uhr - und es klopft?! Haussuchung - Polizei! Ich bin vor Schreck wie gelähmt, meine Hände zittern, ich kann sie nicht richtig halten. Den Bericht habe ich noch hier - diesen Bericht!
Noch etwas anderes? - Nein - und der Bericht ist ja gut versteckt! Langsam gehe ich zur Tür, öffne. Meine Wirtin steht auf dem Korridor. Sie hat einen Bademantel übergeworfen, ihr dünner weißer Zopf baumelt über die Schulter.
„Um Gottes willen - Herr Petersen - was haben Sie denn?! Sie schreien ja so!" sagt sie verstört.
„Ich? - Nichts! - Entschuldigen Sie, bitte", sage ich mühsam.
Die alte Frau geht kopfschüttelnd in ihr Zimmer zurück. Ich aber stehe und starre auf mein Zimmerfenster. Trübes graues Licht kommt dort herein. - Wochenlang geht das nun schon so. Nachts, im Schlaf jagen mich die Braunen, am Tage belausche ich jeden Schritt auf der Treppe, jedes Klingelzeichen. Meine Nerven. Ich werde eine Zeitlang ausspannen müssen. Was habe ich vorhin nur gerufen? Ich weiß es nicht mehr genau, über Bäckervoß muss es etwas gewesen sein. Ob mich meine Wirtin schon öfter schreien gehört hat? Ich werde mich ihr gegenüber noch verraten.
Ich starre lange auf das zerwühlte Laken, auf die Betten, die am Fußboden liegen. Mich fröstelt, meine Zähne schlagen aufeinander, das Hemd klebt mir kalt am Körper.
Vor zwei Tagen hat sich X, der SA-Mann aus dem Reservesturm, wieder bei Ernst Schwiebus gemeldet. Auf dessen Arbeitsstelle im Parfümgeschäft. X, der mir damals den Bericht über Kurgels Misshandlungen in der Maikowski-Kaserne gab. (Kurgel wurde von den Dreiunddreißigern ja nur verhaftet, weil sie von ihm wissen wollten, wo Franz Zander war. Franz ist nun tot - aber Kurgel ist immer noch im Konzentrationslager Oranienburg.)
Jetzt sitzt X vor mir. Er schweigt lange, zieht an seiner Zigarette. Ich dränge ihn nicht, aber ich denke: der war doch früher in einer unserer Massenorganisationen, er ist immer der alte geblieben, kennt mich schon jahrelang, dass er trotzdem immer so schwer aus sich herausgeht!
Da sagt X: „In den Charlottenburger Stürmen sind nach und nach 120 SA-Leute verhaftet worden. Wegen ,Nörgelei und Disziplinlosigkeit'. Sie sind in der Charlottenburger Polizeikaserne, Königin-Elisabeth-Straße. - Sie werden als Ehrenhäftlinge behandelt. Können sich unterhalten, dürfen Karten spielen, auch rauchen. - Aber sie werden mehrere Stunden am Tag zurechtgeschliffen. - Exerzieren - auf dem Kasernenhof."
„Hundertzwanzig Mann, weißt du das genau?"
„Ja! Von einigen weiß ich auch genau, warum sie dort sind!"
X drückt seine Zigarette aus.
„Einer ist von der ,alten Garde'. Hat seinen Sturm mit gegründet. Der Sturm hatte ihm Arbeit besorgt - er war jahrelang arbeitslos. Nach zwei Wochen hat er in der Fabrik Krach geschlagen. - ,Einen Saulohn verdient man! Die Schufterei ist schlimmer als früher!'" (Teichert hat mir doch aus seinem Werk einen ähnlichen Fall erzählt.)
„Ein anderer. Bei dem war's umgekehrt. Der hatte gute Arbeit, wollte sie nicht verlieren und ging darum im März 1933 in die SA. Dem haben die dauernden Ausmärsche den Nerv getötet. Seine Freundin ist ihm davongelaufen, weil er sonntags für sie nie Zeit hatte. Er ist dann einfach nicht mehr angetreten. Zweimal acht Tage Haft. Alexanderplatz, Polizeipräsidium. Dann hat er den SA-Dienst wieder geschwänzt. -Den sollen sie jetzt in der Polizeikaserne als ,Märzgefallenen' besonders rannehmen."
X legt die Beine übereinander, trommelt mit den Fingern auf seinen Schaftstiefeln. „Die meisten haben sie aber verhaftet, weil sie in den Stürmen für eine zweite Revolution Propaganda gemacht haben."
„Davon haben wir schon gehört. Weißt du etwas Näheres?"
„Nur, was sie jetzt noch so unter sich reden: Die SA hat die Kastanien aus dem Feuer geholt - wir sind betrogen worden -die Bonzen haben den Sozialismus verraten - die sind auf unsern Rücken in die Ministersessel gekrochen, das ist alles, was sich in Deutschland verändert hat - und solche Reden."
X nimmt ein Stück Papier vom Tisch, reißt es in kleine Streifen.
„Habt ihr da vielleicht nachgeholfen?"
„Möglich - ich weiß nichts davon."
X dreht die Papierstreifen in der Hand. Er sieht sie an.
„Hm, na ja. - Ich hörte nämlich die folgende Geschichte: Einer von den Verhafteten kam mal mit einer abgezogenen Zeitung ins Sturmlokal. - ,Der rote SA-Mann'. Die hätte ihm jemand in den Briefkasten gesteckt. - Er las einigen daraus vor. Einen Artikel über das Schlemmerleben der SA-Führer -die Namen waren genannt. Die Roten hätten schon früher manches Richtige gesagt, äußerte er sich. Deshalb hätten sie doch aber die Kommune nicht niedergeschlagen, deshalb bestimmt nicht!"
(Natürlich kenne ich diese Zeitung. Sie wird von SA-Leuten herausgegeben, die schon mit uns sympathisieren.)
X macht eine lange Pause.
„Kennt ihr einen Direktor Thomas?" fragt er plötzlich.
„Nein - warum?"
„Der Fall hat nämlich in der SA große Erregung hervorgerufen. - Deswegen sind auch einige von der ,alten Garde' in der Polizeikaserne!"
X spielt wieder mit dem Papierstreifen. Eh der so redet!
„Direktor Thomas war ein Nazikommissar. Bei der Berliner Verkehrsgesellschaft eingesetzt. - Er verschwand plötzlich. Einige Tage später brachten die Zeitungen eine Notiz: Direktor Thomas ist in der Havel ertrunken. - Es hat sich aber bald rausgestellt, dass der die Notiz selbst in die Zeitungen lanciert hatte. Die Polizei verhaftete ihn später. In einem Überseehafen. Der hatte nämlich die Unterstützungskasse der BVGler bei sich - so einige hunderttausend Märkerchen -"
„Und die SA-Leute - weshalb wurden die verhaftet?"
„Die waren Straßenbahnschaffner und so etwas. - Auf ihrem Betriebsbahnhof erschien ein Anschlag: Direktor Thomas gestorben - Beerdigung dann und dann. - Von der Belegschaft durfte aber niemand hingehen, und die haben sich damals darüber noch gewundert. - Jeder Nazibonze wird doch sonst feierlich eingebuddelt —"
„Und weiter! - Weiter!"
„Kommt ja!" - Die Unterschlagungsgeschichte wurde irgendwie bekannt. Die SA-Leute redeten in ihrem Betrieb darüber, sie gingen sogar zu ihren Nazivorgesetzten, verlangten Aufklärung. - Die haben das als alte SA-Männer für ihre Pflicht gehalten. - Dann sind sie mundtot gemacht worden. Kritikaster - ab in die Polizeikaserne." -
X meinte dann, dass die Verhaftungen diese Vorfälle erst zum allgemeinen Gesprächsthema gemacht hätten. Es gäbe ganze SA-Gruppen, die unzufrieden seien und nur noch durch eisernen Zwang zusammengehalten würden. Die Naziführer seien sich wohl auch darüber klar.
Ich habe X gefragt, ob er nicht versuchen könne, mit solchen oppositionellen Leuten mal in unserem Sinne zu reden. Wir müssten doch diese Stimmung ausnützen, ihr ein Ziel geben. Ob er uns nicht die Namen von unzufriedenen SA-Leuten nennen könne? Wir würden denen dann unsere Zeitungen zustellen, könnten vielleicht später selbst mit ihnen sprechen. X lehnte dies ab. Es könne ihn gefährden, er habe Familie, sagte er. Er würde sicher noch mehr erfahren und es uns wieder mitteilen. Mehr könne er aber nicht tun. Ich habe ihm gesagt, wie ungeheuer wichtig diese Berichte über die Stimmung in der SA für uns sind. (Auch Preuß hat mir erzählt, dass im Konzentrationslager Brandenburg und in der Feldpolizeikaserne General-Pape-Straße verhaftete SA-Leute waren. Genossen aus anderen Bezirken berichten dasselbe.)
X ist für unsere Gruppe ein nützlicher Stützpunkt in der SA. Zum ersten Mal haben wir gestern Einzelheiten über die Zersetzung in der Charlottenburger SA gehört. Ein leitender Genosse unserer Stadtteilleitung sagte mir, dass sie noch andere Verbindungen zur Charlottenburger SA hätten.
Wir müssen X im Laufe der Zeit dazu bringen, dass er mit enttäuschten SA-Leuten deutlicher spricht, dass er uns später selbst mit ihnen zusammenbringt.
Als Frau Zander die Wohnungstür zuklappte, stand ihre Nachbarin auch schon in ihrem Türrahmen. Sie ging auf die alte Frau zu, legte ihr den Arm um die Schulter.
„Was denn, was denn! Sie wollen doch nicht etwa runtergehen, wo Sie erst vor ein paar Tagen aufgestanden sind! Sie müssen sich doch noch schonen", sagte sie vorwurfsvoll.
Sie stützte die alte Frau.
Frau Zander sah aus, als ob sie kleiner geworden wäre. Die lange Krankheit hatte ihren Rücken leicht gekrümmt. Ihr Gesicht war eingefallen.
„Sie sind so gut zu mir - ich will nur etwas einholen", sagte Frau Zander.
„Das kann doch Käthe besorgen, wenn sie nach Hause kommt. Wenn Sie es aber gleich brauchen, gehe ich!" sagte die Nachbarin.
Frau Zander schüttelte den Kopf.
„Mal muss ich doch anfangen - langsam wieder reinkommen. Wenn Franz mich so sieht!"
Franz, immer Franz, dachte die Frau Schulze. Wochenlang verschweigen wir ihr nun schon, dass Franz tot ist. Alle Mieter im Haus. Wenn die alte Frau das alles mal richtig erfährt!
Da fragte Frau Zander: „Sie haben ihn doch zuletzt gesprochen - was hat Franz gesagt - wann wollte er wiederkommen?"
Die Nachbarin sah an den unruhigen, tief in den Höhlen liegenden Augen der alten Frau vorbei.
„Er wollte bald wiederkommen", sagte sie zögernd, „bald."
„Bald - bald", wiederholte Frau Zander, „es ist doch aber schon so lange her!"
Sie ging nun doch zum Treppengeländer, stützte sich schwer darauf.
„Sie sollen doch nicht gehen!" sagte die Nachbarin wieder.
„Ich will aber - ich muss auch", sagte Frau Zander.
Die Nachbarin sah ihr noch kopfschüttelnd nach. Wie die alte Frau Stufe um Stufe nahm, mit der Hand am Treppengeländer entlangrutschte.
In dem Milchladen stand nur eine Frau mit einer Markttasche am Arm. Sie sprach mit der Milchfrau. Die schnitt dünne Scheiben von einem Stück Käse. Als die Tür aufging, legte die Milchfrau das Messer schnell aus der Hand und lief um den Ladentisch.
„Frau Zander, Sie?!" sagte sie überrascht. „Sie stehen zu früh auf - ganz bestimmt zu früh!"
Sie stützte die alte Frau, zog einen Stuhl heran.
„Setzen Sie sich, setzen Sie sich."
Frau Zander setzte sich. „Mal muss man doch", sagte sie. Sie atmete schwer. Die Milchfrau schnitt wieder Käse, die andere Kundin hatte sich neben die alte Frau gestellt.
„Sie sind Frau Zander? So - so", sagte sie nachdenklich. Und dann mitleidig: „Dann war Franz Ihr Sohn?"
„Ja. Sie kennen ihn, meinen Franz?"
„Ich kannte ihn gut. Habe ihn oft gesehen. Ich kann mich noch genau erinnern", sagte die Kundin.
„Frau Meier! Frau Meier! Wünschen Sie noch etwas?" rief da die Milchfrau vom Ladentisch. Die Frau Meier drehte sich auch um. Sie wunderte sich noch, warum die Milchfrau so schrie. Die stand hinter der Glasvitrine, in der verschiedene Lebensmittel lagen, und nickte mit dem Kopf herüber, schüttelte ihn wieder verneinend, tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Lippen. Die Frau Meier verstand aber die Zeichen nicht. Die Milchfrau nickte immer wieder herüber, tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Lippen.
„Was ist denn?" sagte die Frau Meier endlich. „Ja, geben Sie mir noch ein Viertel Salami - und ein Viertel Zungenwurst!" Sie zeigte auf die Glasvitrine.
„Sie kennen ihn?" sagte da wieder Frau Zander leise zu ihr.
„Ja, ich kannte ihn. War ein guter Mensch. Ist schade um ihn", sagte die Frau Meier.
Da rief die Milchfrau wieder: „Frau Meier! Frau Meier!"
Doch die ärgerte sich jetzt.
„Ja doch, ist ja richtig, davon!" sagte sie erbost. Die Milchfrau machte weiter ihre Gebärden, aber die Kundin kümmerte sich nicht mehr darum.
„Er war schon lange nicht mehr hier - er wollte doch bald wiederkommen", sagte da auch Frau Zander wieder zu ihr. Sie lächelte dabei noch vor sich hin.
„Wer denn?" fragte die Frau Meier unsicher.
„Franz, mein Junge", sagte die alte Frau leise, als spräche sie zu sich.
Da ging die Frau Meier ganz dicht an die alte Frau heran, sah sie groß an. Sie achtete nicht darauf, dass die Milchfrau mit dem Messerknauf auf den Ladentisch hämmerte.
„Ihr Franz?" sagte sie hastig, „der kann doch nicht mehr kommen - den haben wir ja schon vor sechs Wochen begraben!"
Es wurde totenstill im Laden. Die Milchfrau stand mit offenem Mund und hängenden Schultern, das Messer war ihr aus der Hand gefallen. Frau Zander griff sich plötzlich nach der Herzgegend, ihre Finger krallten sich in den Stoff ihrer Bluse. So saß sie sekundenlang, starr, mit weit aufgerissenen Augen. (In diesem Augenblick wurde ihr sicher vieles klar: die große Hilfsbereitschaft der Nachbarin, die mitleidigen Gesichter der Hausbewohner, das scheue Wesen von Käthe, dass sie in den letzten Wochen immer so ernst und blass gewesen war.)
Plötzlich sprang dann die alte Frau vom Stuhl auf.
Ihr Gesicht verzerrte sich, sie schrie laut.
Die andere Kundin rannte fort, um Hilfe zu holen. Als Frau Zander aus dem Laden getragen wurde, schrie sie immer noch. Auf dem Hof, auf den Treppen. Im ganzen Haus wurde es still. Mit verbissenen Gesichtern, mit zusammengepressten Lippen standen die Menschen an Türen und Fenstern.
Ich stehe vor einer Litfasssäule. Es ist eine Reklamesäule wie jede andere. Auf ihre obere Hälfte ist ein großes Plakat geklebt. Eine Frau ist darauf abgebildet. Ihr Körper wird aus einer Zigarette gebildet. „Die Berlinerin. Die große runde Juno!" steht in dicken Buchstaben darunter. Daneben stehen auf bunten Plakaten Filmtitel: „Gruß und Kuss Veronika" -„Annemarie, die Braut der Kompanie".
Das lese ich, lese ich. Ich kann doch nicht immer das gelbe Plakat in der Mitte lesen. Das kann ich nicht.
„Bekanntmachung!
Die Justizpressestelle teilt mit: Der Richard Hüttig aus Berlin, geboren am 18. März 1908 in Bottendorf, ist durch rechtskräftiges Urteil des Sondergerichts beim Landgericht Berlin vom 16. Februar 1934 zum Tode verurteilt worden. Das Urteil ist heute früh im Hofe des Strafgefängnisses zu Plötzensee vollstreckt worden.
Berlin, den 14. Juni 1934."
Ich weiß nicht, wie lange ich vor dem Plakat gestanden habe, bis ich endlich weitergehe. An jedem Fuß hängt mir eine schwere Kugel. Die Menschen laufen an mir vorbei, der Lärm der Straße braust dumpf in meinen Ohren. Den Fuß vorsetzen, wieder zurück - mechanisch geht das, ohne meinen Willen. So gehe ich langsam in unsere Straße zurück.
- März 1908 geboren - Plötzensee vollstreckt - sechsundzwanzig Jahre alt - heute früh. -
Die Sonne scheint hell. Die Fensterscheiben werfen ihre Strahlen in gleißenden Reflexen zurück. Lange Autoreihen rollen vorbei. Der Verkehrsschupo an der Ecke pendelt mit den Armen, Fußgänger gehen vorbei - alles wie sonst.
----Ich war in der Innenstadt. Nirgends kleben da diese
Plakate. Nur hier bei uns in Charlottenburg. Soll uns abschrecken —
Am Nachmittag gehe ich wieder durch unsere Straße. Hier gingen sie mit mir, hier standen wir oft. - An der Ecke Berliner Straße bleibe ich stehen, sehe zu dem blauweißen Namensschild der Straße hinauf: Maikowskistraße.
Diese Straße soll einmal Richard-Hüttig-Straße heißen. Er hat zwar nicht in unserer Straße gewohnt. Aber gekämpft hat er hier mit uns.
Langsam gehe ich weiter.
Seine rauhe, bellende Stimme, seine blonden wirren Haare, die buschigen Augenbrauen. - Sie haben Hüttig in der letzten Nacht jemanden in die Zelle geschickt. Er hat es abgelehnt, an Göring ein Gnadengesuch zu richten.
Ich gehe zu der Litfasssäule zurück. Ich ziehe einen schmalen Zettel aus der Tasche. Ich feuchte ihn schnell an. Ich klebe ihn schräg auf das Wort „Bekanntmachung". Mit dem Buchstaben eines Kinderdruckkastens sind darauf die Worte gestempelt:
„Auch Tote können zu uns sprechen! Wir kämpfen weiter, und wir werden rächen!"
Am nächsten Tag. Ede brachte mir eine Nachricht. Richard Hüttig hatte eine letzte Bitte: „Der Wagen mit meinem Sarg soll durch meine Straße fahren."
Die Braunen wollen seinen letzten Wunsch erfüllen. Warum auch nicht. Durch alle Straßen Berlins fahren täglich viele Wagen. Jetzt wissen wir es aber!
Unsere Aufforderung wird an die Genossen unserer Straße von Mund zu Mund weitergegeben: „Seid alle dort!"
Die angegebene Stunde rückt heran. Zu zweit, zu dritt gehen wir nach der kleinen Arbeiterstraße, in der Richard Hüttig gewohnt hat. Es ist eine Viertelstunde Weg.
Ede und Emil Schmidt gehen vor mir. Die anderen Genossen unserer Gruppe sind auf ihrer Arbeitsstelle. Sie wissen noch nichts davon. Auf Heinz Preuß habe ich lange einreden müssen, ehe er einsah, dass er, aus dem Konzentrationslager entlassen, nicht dabeisein darf. Wir gehen stumm. Hass und Trauer sind in unseren Gesichtern. Wir alle wissen: Richard Hüttig nimmt heute von uns Abschied. - Es ist, als gäbe er uns seinen letzten Befehl: Steht mir noch einmal gegenüber Ich will eure Front abfahren.
Wir alle wissen: jeder Schritt kann uns lauernden braunen Schergen näher bringen. Wir alle sind bereit, wie er sein Leben lang für uns bereit war. -
In der schmalen Straße gehen Polizeistreifen auf und ab. An den Ecken stehen kleine Trupps der SA. Die haben doch damit gerechnet, dass wir es erfahren könnten! Die Uniformierten sehen alle angestrengt zu den Fenstern der Häuser hinauf. Die sind geschlossen.
Aber vor den Haustüren stehen Menschen. Frauen mit Markttaschen, viele haben ihre Kinder an der Hand. Die Männer stehen regungslos daneben. Sie haben die Hände in den Hosentaschen. Die Straße ist schmal und nur kurz. Wir sind nicht die ersten. In losen Gruppen gehen „Passanten" hin und her. Immer mehr kommen aus den Seitenstraßen.
Ede und Emil Schmidt gehen jetzt auf der andern Straßenseite. Ich habe ihnen gesagt, was zu tun ist, wenn hier einer von uns verhaftet wird. Die Menschen gehen in weit auseinander gezogenen Gruppen auf den Bürgersteigen. Sie haben sich die Mützen tief ins Gesicht gezogen, die Hände in die verschossenen Kleider vergraben. „Passanten." Hunderte. Wir nicken uns unmerklich zu, sehen uns stumm an. Viele Genossen, von denen ich nicht wusste, was aus ihnen geworden war, sind darunter. Ich kenne sie aus der legalen Zeit. Otto -Albert - Willi - sind alle noch da - sind alle noch da!
Hunderte gehen auf und ab - aber es ist still in der Straße. Unheimlich still. Auf dem Asphalt treiben zwei Jungens einen Trudelreifen vor sich her. Mit hellen Stimmen rufen sie sich etwas zu. Ein Kutscher wirft Bierfässer von seinem Wagen auf die Prellkissen an der Erde. Es dröhnt jedes Mal dumpf.
Diese beiden breitschultrigen Männer? - Gestapoagenten! Helle Hüte, tadellose Sommeranzüge - die erkennt doch hier jeder! Der Jüngere hat ein kleines Bärtchen. Der andere ist glattrasiert. Das aufgeschwemmte Gesicht, der Stiernacken -eine richtige Bulldoggenfresse. Auch sie gehen hin und her, sehen im Vorbeigehen scharf in alle Gesichter. Rechts, der Schuhmacher! Er hat seine Ladentür weit offen, hat seinen Arbeitsschemel „ans Licht gerückt", schabt emsig an einem Reparaturstiefel. Der Gemüsehändler! Der hat plötzlich viel an seinen Obstkörben, an den Auslagekästen zu „dekorieren". Die Straße ist in Bewegung. Aber mir ist, als ob die Zeit hier stillsteht. Als ob alle den Atem anhalten.
Meine Nerven zerren. Die Minuten schleichen, als wären es Stunden. Jetzt! Am Straßenrand links tauchen Uniformen auf. Blaue Polizeiuniformen, dazwischen braune. Der Totenwagen. Zwei SA-Leute führen die Pferde am Zügel. Auf den Bürgersteigen erstarrt jede Bewegung. Alle Köpfe drehen sich zum Fahrdamm. In dichten Reihen stehen die Menschen an den Rinnsteinen. Aus den Haustüren kommen sie, stellen sich dazu. Plötzlich fliegen die Fenster an den Häuserfronten auf, als hätte ein Klingelsignal alle Mieter alarmiert.
Vorn links nehmen sie die Hüte, die Mützen von den Köpfen. Die Bewegung läuft durch die Menge. Stille. Atemlose Stille. Hell klappen die Pferdehufe. Der Totenwagen - die Uniformen kommen langsam näher. Hinter mir schluchzt eine Frau laut auf. Jetzt ist der Totenwagen heran. Meine Augen werden weit, meine Kinnladen mahlen.
Da fliegt ein roter Blumenstrauß durch die Luft, prallt gegen den Totenwagen, fällt auf den Asphalt.
Ich reiße den Kopf herum. Aus den Fenstern über uns -da - noch einer!
„Du bist für uns gestorben, Genosse Hüttig! Wir werden dich rächen!" ruft eine Frau mit gellender Stimme aus einem Fenster. Auf einmal sind wir alle nicht mehr einzeln hier. Auf einmal sind wir alle ein Körper, ein Mund. Hundertstimmig schreit es in der engen Straße: „Rache! Rache! Rot Front!"
Die SA-Leute reißen am Zaumzeug der Pferde. Der Totenwagen hält mit einem Ruck, steht plötzlich allein auf dem Fahrdamm. Die Uniformierten laufen auf die Bürgersteige zu. Sie schlagen zwischen die Menschen, reißen Menschen zu Boden.