George Orwell - Mein Katalonien (1938)
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Erstes Kapitel

Einen Tag, ehe ich in die Miliz eintrat, sah ich in der Lenin-Kaserne in Barcelona einen italienischen Milizsoldaten, der vor dem Offizierstisch stand.
Er war ein zäher Bursche, fünf- oder sechsundzwanzig Jahre alt, mit rötlichgelbem Haar und kräftigen Schultern. Seine lederne Schirmmütze hatte er grimmig über ein Auge gezogen. Ich sah von der Seite, wie er, mit dem Kinn auf der Brust und einem verwirrten Stirnrunzeln, auf eine Karte starrte, die einer der Offiziere offen auf dem Tisch liegen hatte. Etwas in diesem Gesicht rührte mich tief. Es war das Gesicht eines Mannes, der einen Mord begehen oder sein Leben für einen Freund wegwerfen würde. Es war ein Gesicht, das man bei einem Anarchisten erwartete, obwohl er sehr wahrscheinlich ein Kommunist war. Offenherzigkeit und Wildheit lagen darin und gleichzeitig auch die rührende Ehrfurcht, die des Schreibens und Lesens unkundige Menschen ihren vermeintlichen Vorgesetzten entgegenbringen. Es war klar, dass er aus der Karte nicht klug werden konnte, sicherlich hielt er Kartenlesen für ein erstaunliches intellektuelles Kunststück. Ich weiß kaum, warum, aber ich habe selten jemand gesehen - ich meine einen Mann —, für den ich eine solch unmittelbare Zuneigung empfand. Während man sich am Tisch unterhielt, verriet eine Bemerkung, dass ich ein Ausländer war. Der Italiener hob seinen Kopf und sagte schnell: »Italiano?«
Ich antwortete in meinem schlechten Spanisch: »No, ingles; y tu?«
»Italiano.«
Als wir hinausgingen, schritt er quer durch das Zimmer und packte meine Hand mit hartem Griff. Seltsam, welche Zuneigung man für einen Fremden fühlen kann! Es war so, als ob es seiner und meiner Seele für einen Augenblick gelungen sei, den Abgrund der Sprache und Tradition zu überbrücken und sich in völliger Vertrautheit zu treffen. Ich hoffte, dass er mich genauso gut leiden möge wie ich ihn. Ich wusste aber auch, dass ich ihn nie wieder sehen durfte, um an meinem ersten Eindruck von ihm festzuhalten. Es ist kaum nötig zu erwähnen, dass ich ihn wirklich nie wieder sah. In Spanien hatte man dauernd derartige Begegnungen.
Ich erwähne diesen italienischen Milizsoldaten, da er in meiner Erinnerung lebendig geblieben ist. In seiner schäbigen Uniform und mit seinem grimmigen, rührenden Gesicht ist er für mich ein typisches Bild der besonderen Atmosphäre jener Zeit. Er ist mit all meinen Erinnerungen an diesen Abschnitt des Krieges verknüpft: den roten Fahnen in Barcelona; den schlechten Zügen, die mit armselig ausgerüsteten Soldaten an die Front krochen; den grauen, vom Krieg angeschlagenen Städten hinter der Frontlinie und den schlammigen, eiskalten Schützengräben in den Bergen.
Das war Ende Dezember 1936. Kaum sieben Monate sind bis heute, während ich darüber schreibe, vergangen, und doch ist es ein Abschnitt, der schon in eine gewaltige Entfernung zurückgewichen ist. Spätere Ereignisse haben diese Zeit viel nachhaltiger verwischt als etwa meine Erinnerungen an 1935 oder sagen wir 1905. Ich war nach Spanien gekommen, um Zeitungsartikel zu schreiben. Aber ich war fast sofort in die Miliz eingetreten, denn bei der damaligen Lage schien es das einzig Denkbare zu sein, was man tun konnte. Die Anarchisten besaßen im Grunde genommen noch immer die Kontrolle über Katalonien, und die Revolution war weiter in vollem Gange. Wer von Anfang an dort gewesen war, mochte vielleicht schon im Dezember oder Januar annehmen, dass sich die Revolutionsperiode ihrem Ende näherte. Wenn man aber gerade aus England kam, hatte der Anblick von Barcelona etwas Überraschen-
des und Überwältigendes. Zum ersten Mal war ich in einer Stadt, in der die arbeitende Klasse im Sattel saß. Die Arbeiter hatten sich praktisch jedes größeren Gebäudes bemächtigt und es mit roten Fahnen oder der rot und schwarzen Fahne der Anarchisten behängt. Auf jede Wand hatte man Hammer und Sichel oder die Anfangsbuchstaben der Revolutionsparteien gekritzelt. Fast jede Kirche hatte man ausgeräumt und ihre Bilder verbrannt. Hier und dort zerstörten Arbeitstrupps systematisch die Kirchen. Jeder Laden und jedes Cafe trugen eine Inschrift, dass sie kollektiviert worden seien. Man hatte sogar die Schuhputzer kollektiviert und ihre Kästen rot und schwarz gestrichen. Kellner und Ladenaufseher schauten jedem aufrecht ins Gesicht und behandelten ihn als ebenbürtig. Unterwürfige, ja auch förmliche Redewendungen waren vorübergehend verschwunden. Niemand sagte »Senor« oder »Don« oder sogar »Usted«. Man sprach einander mit »Kamerad« und »du« an und sagte »Salud!« statt »Buenos dias«. Trinkgelder waren schon seit Primo de Riveras Zeiten verboten. Eins meiner allerersten Erlebnisse war eine Strafpredigt, die mir ein Hotelmanager hielt, als ich versuchte, dem Liftboy ein Trinkgeld zu geben. Private Autos gab es nicht mehr, sie waren alle requiriert worden. Sämtliche Straßenbahnen, Taxis und die meisten anderen Transportmittel hatte man rot und schwarz angestrichen. Überall leuchteten revolutionäre Plakate in hellem Rot und Blau von den Wänden, so dass die vereinzelt übrig gebliebenen Reklamen daneben wie Lehmkleckse aussahen. Auf der Rambla, der breiten Hauptstraße der Stadt, in der große Menschenmengen ständig auf und ab strömten, röhrten tagsüber und bis spät in die Nacht Lautsprecher revolutionäre Lieder. Das Seltsamste von allem aber war das Aussehen der Menge. Nach dem äußeren Bild zu urteilen, hatten die wohlhabenden Klassen in dieser Stadt praktisch aufgehört zu existieren. Außer wenigen Frauen und Ausländern gab es überhaupt keine »gutangezogenen« Leute. Praktisch trug jeder grobe Arbeiterkleidung, blaue Overalls oder irgendein der Milizuniform ähnliches Kleidungsstück. All das war seltsam und rührend. Es gab vieles, was ich nicht verstand. In gewisser Hinsicht gefiel es mir sogar nicht. Aber ich erkannte sofort die Situation, für die zu kämpfen sich lohnte. Außerdem glaubte ich, dass wirklich alles so sei, wie es aussah, dass dies tatsächlich ein Arbeiterstaat wäre und dass die ganze Bourgeoisie entweder geflohen, getötet worden oder freiwillig auf die Seite der Arbeiter übergetreten sei.
Ich erkannte nicht, dass sich viele wohlhabende Bürger einfach still verhielten und vorübergehend als Proletarier verkleideten.
Gleichzeitig mit diesen Eindrücken spürte man etwas vom üblen Einfluss des Krieges. Die Stadt machte einen schlechten, ungepflegten Eindruck, die Boulevards und Gebäude waren in einem dürftigen Zustand, bei Nacht waren die Straßen aus Furcht vor Luftangriffen nur schwach beleuchtet, die Läden waren meist armselig und halb leer. Fleisch war rar und Milch praktisch nicht zu erhalten, es gab kaum Kohle, Zucker oder Benzin, und Brot war wirklich sehr knapp. Schon zu dieser Zeit waren die Schlangen der Leute, die sich nach Brot anstellten, oft mehrere hundert Meter lang. Doch soweit man es beurteilen konnte, waren die Leute zufrieden und hoffnungsvoll. Es gab keine Arbeitslosigkeit, und die Lebenskosten waren immer noch äußerst niedrig. Auffallend mittellose Leute sah man nur selten und Bettler außer den Zigeunern nie. Vor allen Dingen aber glaubte man an die Revolution und die Zukunft. Man hatte das Gefühl, plötzlich in einer Ära der Gleichheit und Freiheit aufgetaucht zu sein. Menschliche Wesen versuchten, sich wie menschliche Wesen zu benehmen und nicht wie ein Rädchen in der kapitalistischen Maschine. In den Friseurläden hingen Anschläge der Anarchisten (die Friseure waren meistens Anarchisten), in denen ernsthaft erklärt wurde, die
Friseure seien nun keine Sklaven mehr. Farbige Plakate in den Straßen forderten die Prostituierten auf, sich von der Prostitution abzuwenden. Die Art, in der die idealistischen Spanier die abgedroschenen Phrasen der Revolution wörtlich nahmen, hatte für jeden Angehörigen der abgebrühten, höhnischen Welt der englisch sprechenden Völker etwas Rührendes. Man verkaufte damals in den Straßen für wenige Centimos recht naive revolutionäre Balladen über die proletarische Brüderschaft oder die Bosheit Mussolinis. Ich habe öfters gesehen, wie ein des Lesens fast unkundiger Milizsoldat eine dieser Balladen kaufte, mit viel Mühe die Worte buchstabierte und sie dann, wenn er dahinter gekommen war, zu der passenden Melodie sang.
Während der ganzen Zeit war ich in der Lenin-Kaserne, angeblich, um für die Front ausgebildet zu werden. Als ich in die Miliz eintrat, hatte man mir gesagt, dass ich am nächsten Tag zur Front geschickt werden solle. Aber in Wirklichkeit musste ich warten, bis eine neue centuria zusammengestellt wurde. Die Arbeitermiliz, in aller Eile zu Beginn des Krieges von den Gewerkschaften aufgestellt, hatte man bis jetzt noch nicht nach dem Vorbild der regulären Armee organisiert. Kommandoeinheiten waren der >Zug< (seccion) mit etwa dreißig Mann, die centuria mit etwa hundert Mann und die >Kolonne< (columna), praktisch nichts anderes als eine große Zahl Soldaten. Die Lenin-Kaserne bestand aus mehreren großartigen Steinbauten, einer Reitschule und weitläufigen, gepflasterten Höfen. Sie war früher als Kavalleriekaserne benutzt worden, die man während der Kämpfe im Juli erobert hatte. Meine centuria schlief in einem der Ställe unter den Steinkrippen, auf denen noch die Namen der Kavalleristen standen, die die Pferde zu versorgen hatten. Die Pferde hatte man erbeutet und an die Front geschickt, aber die Ställe stanken noch immer nach Pferdepisse und verfaultem Hafer. Ich blieb ungefähr eine Woche in der Kaserne. Ich erinnere mich hauptsächlich an den Pferdegeruch, die ungeschickten Trompetensignale (unsere Trompeter waren alle Amateure — ich hörte zum ersten Male die richtigen spanischen Trompetensignale, als ich vor der faschistischen Linie auf sie lauschte), das Trapp-trapp der mit Nägeln beschlagenen Stiefelsohlen auf dem Kasernenhof, die langen Morgenparaden im winterlichen Sonnenschein und die wilden Fußballspiele auf dem Kies der Reitschule mit fünfzig Mann auf jeder Seite. In der Kaserne lagen vielleicht tausend Mann und etwa zwanzig Frauen, außerdem die Frauen der Milizsoldaten, die das Essen kochten. Einige Frauen dienten immer noch in der Miliz, aber nicht mehr viele. In den ersten Schlachten hatten sie ganz selbstverständlich Seite an Seite mit den Männern gekämpft. Während einer Revolution scheint das eine natürliche Sache zu sein. Jetzt aber änderten sich die Ansichten schon. Die Milizsoldaten mussten aus der Reitschule gehalten werden, während die Frauen dort exerzierten, denn sie lachten über die Frauen und brachten sie aus dem Konzept. Ein paar Monate vorher hätte niemand etwas Komisches dabei gefunden, dass eine Frau mit einem Gewehr umging-
Die ganze Kaserne befand sich in einem schmutzigen, chaotischen Zustand, in den die Miliz jedes Gebäude versetzte, das sie bewohnte. Das war wohl eines der Nebenprodukte der Revolution. In jeder Ecke fand man haufenweise zerschlagene Möbel, zerrissene Sättel, Kavalleriehelme aus Messing, leere Säbelscheiden und verfaulende Verpflegung. Lebensmittel wurden fürchterlich vergeudet, besonders das Brot. Nach jeder Mahlzeit wurde allein aus meiner Stube ein Korb voll Brot weggeworfen, eine schimpfliche Sache, wenn gleichzeitig die Zivilbevölkerung danach darbte. Wir aßen aus ständig schmierigen kleinen Blechpfannen und saßen an langen Tischplatten, die man auf Böcke gelegt hatte. Wir tranken aus einem scheußlichen Gefäß, das man porron nannte. Ein porron ist eine Glasflasche mit einer spitzen Tülle, aus der ein dünner Strahl Wein spritzt, wenn man die Flasche kippt. So kann man aus einiger Entfernung trinken, ohne die Flasche mit den Lippen zu berühren, und sie kann von Hand zu Hand weitergereicht werden. Sobald ich einen porron in Gebrauch sah, streikte ich und verlangte einen Trinkbecher. In meinen Augen ähnelten diese Trinkflaschen allzu sehr Bettflaschen, besonders, wenn sie mit Weißwein gefüllt waren.
Nach und nach wurden Uniformen an die Rekruten ausgegeben, und da wir in Spanien waren, wurde alles einzeln verteilt, so dass niemand genau wusste, wer was erhalten hatte. Manches, was wir am nötigsten gebrauchten, wie etwa Koppel und Patronentaschen, wurde erst im letzten Augenblick ausgegeben, als der Zug, der uns an die Front bringen sollte, schon wartete. Ich habe von einer »Uniform« der Miliz gesprochen, das erweckt wahrscheinlich einen falschen Eindruck. Es war eigentlich keine Uniform, und vielleicht wäre >Multiform< der richtige Name dafür. Die Einkleidung jedes einzelnen erfolgte zwar nach demselben allgemeinen Plan, aber man erhielt nicht in zwei Fällen das gleiche. Praktisch trug jeder in der Armee Kordkniehosen, aber damit hörte die Uniformität auf. Einige trugen Wickelgamaschen, andere Kordgamaschen, wieder andere lederne Gamaschen oder hohe Stiefel. Jeder trug eine Jacke mit Reißverschluss, aber einige der Jacken waren aus Leder, andere aus Wolle und in allen erdenklichen Farben. Die Form der Mützen war genauso unterschiedlich wie die Leute, die sie trugen. Normalerweise schmückte man die Mütze vorne mit einem Parteiabzeichen, außerdem band sich fast jeder ein rotes oder rot-schwarzes Taschentuch um den Hals. Eine Milizkolonne war damals ein außergewöhnlich bunter Haufen. Aber man musste die Kleidung eben dann verteilen, wenn sie von der einen oder anderen Fabrik überstürzt geliefert wurde. In Anbetracht der ganzen Umstände war es nicht einmal eine so schlechte Kleidung. Hem-
den und Socken allerdings waren aus miserabler Baumwolle, vollständig nutzlos bei Kälte. Ich wage nicht auszudenken, was die Milizsoldaten während der ersten Monate erduldet haben müssen, als noch nichts organisiert war. Ich erinnere mich daran, dass ich einmal eine etwa zwei Monate alte Zeitung las, in der ein P.O.U.M-Führer (Anm.: Arbeiterpartei der marxistischen Einigung (Partido Obrero de Unificacion Marxista).) nach dem Besuch der Front schrieb, er wolle sich darum kümmern, dass »jeder Milizsoldat eine Decke bekommt«. Dieser Satz lässt einen schaudern, wenn man jemals in einem Schützengraben geschlafen hat.
Nachdem ich zwei Tage in der Kaserne war, begann man mit der >Instruktion<, wie man es komisch genug nannte. Anfangs gab es schreckliche Szenen des Durcheinanders. Die Rekruten waren hauptsächlich sechzehn- oder siebzehnjährige Jungen aus den Armutsvierteln Barcelonas, voll revolutionärer Begeisterung, aber vollständig ahnungslos in bezug auf die Anforderungen eines Krieges. Es war sogar unmöglich, sie in Reih und Glied aufzustellen. Disziplin existierte nicht: wenn ein Befehl einem Mann nicht gefiel, trat er aus dem Glied vor und argumentierte heftig mit dem Offizier. Der Leutnant, der uns ausbildete, war ein untersetzter, angenehmer junger Mann mit einem frischen Gesicht, der vorher als Offizier in der regulären Armee gedient hatte. Mit seiner feschen Haltung und in seiner blitzblanken Uniform sah er immer noch wie ein Armeeoffizier aus. Sonderbarerweise war er ein ernster und glühender Sozialist. Mehr noch als die Leute selbst bestand er auf vollständiger sozialer Gleichheit zwischen allen Rängen. Ich erinnere mich, wie er schmerzlich überrascht war, als ihn ein unwissender Rekrut mit »Senor« anredete. »Was! Senor! Wer ruft mich Senor? Sind wir nicht alle Kameraden?« Ich bezweifle, dass ihm diese Haltung seine Arbeit erleichterte. Unterdessen erhielten die ungeschliffenen Rekruten keinerlei militärische Ausbildung, die ihnen in irgendeiner Weise nützlich sein konnte. Man hatte mir gesagt, dass Ausländer an der Instruktion nicht teilnehmen müssten. Ich hatte bemerkt, dass die Spanier felsenfest daran glaubten, alle Ausländer wüssten mehr von militärischen Dingen als sie selbst. Aber natürlich ging ich mit den anderen zum Dienst. Ich wollte vor allem die Bedienung eines Maschinengewehrs lernen. Ich hatte noch nie Gelegenheit gehabt, damit umzugehen. Zu meiner Bestürzung erfuhr ich, dass man uns nichts über den Gebrauch dieser Waffe beibringen werde. Die so genannte Instruktion erschöpfte sich in einem völlig veralteten und geistlosen Exerzierdienst. Rechts um, links um, ganze Abteilung kehrt, Parademarsch in Dreierreihen und der ganze übrige nutzlose Unsinn, den ich schon gelernt hatte, als ich fünfzehn Jahre alt war. Das war wirklich eine unglaubliche Art, um eine Armee für den Kleinkrieg auszubilden. Wenn man nur einige Tage zur Verfügung hat, um einen Soldaten auszubilden, ist es eigentlich selbstverständlich, ihm das beizubringen, was er wirklich braucht: wie man in Deckung geht, wie man in offenem Gelände vorgeht, wie man auf Wache zieht und wie man eine Befestigung errichtet - vor allem aber, wie man seine Waffen gebraucht. Aber man zeigte diesem Haufen eifriger Kinder, die in wenigen Tagen an die Front geworfen werden sollten, nicht einmal, wie man ein Gewehr abfeuert oder den Sicherungsstift aus einer Handgranate herauszieht. Damals begriff ich noch nicht, dass dies nur geschah, weil man keine Waffen hatte. In der P.O.U.M.-Miliz war der Mangel an Gewehren so hoffnungslos, dass die frischen Truppen, wenn sie zur Front kamen, ihre Gewehre immer von den Truppen übernehmen mussten, die sie ablösten. Ich glaube, in der ganzen Lenin-Kaserne gab es nur die Gewehre, die von den Wachtposten benutzt wurden.
Obwohl wir für normale Begriffe ein noch vollständig undisziplinierter Haufen waren, glaubte man nach einigen Tagen, wir seien schon so weit, dass wir uns in der Öffentlichkeit sehen lassen könnten. So ließ man uns morgens in die öffentlichen Gärten auf dem Hügel jenseits der Plaza de Espana marschieren. Hier war der gemeinsame Übungsplatz aller Parteimilizen, außerdem der Carabineros und der ersten Einheiten der neu aufgestellten Volksarmee. In den öffentlichen Gärten bot sich ein merkwürdiges und ermutigendes Bild. Steif marschierten die Soldaten in Abteilungen und Kompanien zwischen den abgezirkelten Blumenbeeten die Wege und Alleen auf und ab. Sie warfen ihre Brust heraus und versuchten verzweifelt, wie Soldaten auszusehen. Alle waren ohne Waffen, und keiner hatte eine komplette Uniform, obwohl bei den meisten die Milizuniform wenigstens stückweise vorhanden war. Die Prozedur blieb sich meistens ziemlich gleich. Drei Stunden lang stolzierten wir auf und ab (der spanische Marschschritt ist sehr kurz und schnell), dann machten wir halt, verließen unsere Formation und strömten durstig zu einem Lebensmittelladen auf halbem Wege hügelabwärts. Dieser Laden machte ein blühendes Geschäft mit billigem Wein. Jeder war sehr freundlich zu mir. Als Engländer wurde ich wie eine Art Kuriosität betrachtet. Die Carabinero-Offiziere hielten viel von mir und luden mich zu manchem Glas Wein ein. Unterdessen ließ ich nicht locker, unseren Leutnant, sooft ich ihn erwischte, zu beschwören, mich im Gebrauch des Maschinengewehrs zu unterrichten. Ich zog mein Hugo-Wörterbuch aus der Tasche und fiel in meinem abscheulichen Spanisch über ihn her:
»Yo se manejar fusil. No se manejar ametralladora. Quiero aprender ametralladora. Cudndo vamos aprender
ametralladora?«
Die Antwort war stets ein gequältes Lächeln und das Versprechen, der Unterricht am Maschinengewehr werde manana beginnen. Selbstverständlich kam manana nie. So vergingen mehrere Tage, und die Rekruten lernten, beim Marschieren Schritt zu halten und fast elegant Haltung anzunehmen. Aber wenn sie wussten, aus welchem Ende des Gewehrs die Kugel kam, so war das schon ihr ganzes Wissen. Eines Tages gesellte sich ein bewaffneter Carabinero zu uns, als wir gerade Halt machten, und erlaubte uns, sein Gewehr zu untersuchen. Es stellte sich heraus, dass in meiner gesamten Abteilung niemand außer mir auch nur wusste, wie man ein Gewehr lädt, geschweige denn, wie man damit zielt.
Während der ganzen Zeit hatte ich die üblichen Mühen mit der spanischen Sprache. In der Kaserne gab es außer mir nur noch einen Engländer, und selbst unter den Offizieren sprach niemand ein Wort Französisch. Die Sache wurde für mich auch dadurch nicht leichter, dass meine Kameraden untereinander normalerweise katalanisch sprachen. Die einzige Art, mich überhaupt verständlich zu machen, bestand darin, überall ein kleines Lexikon mit mir herumzutragen, das ich in Krisenmomenten geschwind aus meiner Tasche hervorzauberte. Aber ich möchte dennoch eher ein Ausländer in Spanien sein als in den meisten anderen Ländern. Wie leicht ist es, in Spanien Freunde zu gewinnen! Schon nach ein oder zwei Tagen riefen mich viele Milizsoldaten bei meinem Vornamen, weihten mich in alle Tricks ein und überschütteten mich mit ihrer Gastfreundschaft. Ich schreibe kein Propagandabuch, und ich möchte auch nicht die P.O.U.M.-Miliz idealisieren. Das ganze Milizsystem hatte ernste Fehler, und die Leute selbst waren ein zusammengewürfelter Haufen, denn zu dieser Zeit ließ die freiwillige Rekrutierung nach, und viele der besten Männer waren schon an der Front oder tot. Ein bestimmter Prozentsatz unter uns war immer vollständig nutzlos. Fünfzehnjährige Jungen wurden von ihren Eltern ganz offen nur deshalb zum Eintritt in die Armee gebracht, um die zehn Peseten täglich zu verdienen, die ein Milizsoldat als Lohn erhielt; gleichzeitig aber auch wegen des Brotes, das die Milizangehörigen so reichlich bekamen und das sie nach Hause zu ihren Eltern schmuggeln konnten. Aber ich möchte den sehen, der nicht mit mir übereinstimmt, wenn er unter die spanische Arbeiterklasse gerät wie ich - ich sollte vielleicht sagen, unter die katalanische Arbeiterklasse, da ich außer mit einigen Aragoniern und Andalusiern nur mit Katalanen zusammenkam —, der dann nicht von ihrer grundsätzlichen Anständigkeit beeindruckt ist; vor allem von ihrer Aufrichtigkeit und ihrer Großzügigkeit. Die spanische Freigebigkeit, im gewöhnlichen Sinn des Wortes, kann einen manchmal fast in Verlegenheit bringen. Wenn man einen Spanier um eine Zigarette bittet, zwingt er einem das ganze Päckchen auf. Und darüber hinaus gibt es noch Großzügigkeit in einem tieferen Sinn, eine wahre Großmütigkeit der Gesinnung, der ich immer wieder unter den aussichtslosesten Umständen begegnet bin. Einige Journalisten und andere Ausländer, die während des Bürgerkrieges durch Spanien gereist sind, haben erklärt, dass die Spanier insgeheim bitter eifersüchtig auf die ausländische Hilfe waren. Ich kann nur sagen, dass ich niemals etwas Derartiges beobachtet habe. Ich entsinne mich, dass, wenige Tage bevor ich die Kaserne verließ, eine Gruppe von Männern auf Urlaub von der Front zurückkam. Sie unterhielten sich angeregt über ihre Erfahrungen und waren voller Begeisterung über französische Truppen, die bei Huesca neben ihnen gelegen hatten. Sie sagten, die Franzosen seien sehr tapfer gewesen, und fügten enthusiastisch hinzu: „Mas valientes que nosotros" -»Tapferer, als wir es sind!« Natürlich äußerte ich Bedenken, worauf sie erklärten, die Franzosen verstünden mehr von der Kriegskunst - sie könnten besser mit Bomben, Maschinengewehren und dergleichen umgehen. Gleichwohl war die Bemerkung bezeichnend. Ein Engländer würde sich eher die Hand abschneiden, als so etwas zu sagen.
Jeder Ausländer, der in der Miliz diente, verbrachte die ersten Wochen damit, die Spanier liebenzulernen und sich gleichzeitig über einige ihrer Eigenschaften zu ärgern. An der Front erreichte meine eigene Verärgerung manchmal den Gipfel der Wut. Die Spanier sind in vielen Dingen sehr geschickt, aber nicht im Kriegführen. Ohne Ausnahme sind alle Ausländer über ihre Unfähigkeit erschrocken, vor allem ihre unbeschreibliche Unpünktlichkeit. Kein Ausländer wird es vermeiden können, ein spanisches Wort zu lernen, es heißt manana - >morgen<. Wenn es nur irgendwie möglich ist, wird eine Arbeit von heute auf manana verschoben. Das ist so weltbekannt, dass sogar die Spanier selbst Witze darüber machen. In Spanien ereignet sich nichts zur angesetzten Zeit; sei es eine Mahlzeit oder eine Schlacht. In der Regel geschieht alles zu spät. Nur rein zufällig - damit man sich selbst darauf nicht verlassen kann, dass sich etwas spät ereignet - geschieht es manchmal zu früh. Ein Zug, der um acht Uhr abfahren soll, wird normalerweise irgendwann zwischen neun und zehn abfahren, aber vielleicht einmal in der Woche fährt er dank einer persönlichen Laune des Lokomotivführers um halb acht ab. So etwas kann natürlich ein wenig anstrengend sein. Theoretisch jedoch bewundere ich die Spanier, weil sie unsere nordeuropäische Zeitneurose nicht teilen; aber unglücklicherweise bin ich selbst davon befallen.
Nach endlosen Gerüchten, mananas und Verzögerungen erhielten wir plötzlich den Befehl, uns innerhalb von zwei Stunden zur Front in Marsch zu setzen, als ein großer Teil unserer Ausrüstung noch nicht ausgegeben war. Auf der Kammer gab es furchtbare Tumulte; zum Schluss musste eine große Anzahl Leute ohne ihre volle Ausrüstung abmarschieren. Die Kaserne war rasch voller Frauen, die aus dem Boden zu wachsen schienen und ihrem Mannsvolk halfen, ihre Decken zusammenzurollen und ihre Rucksäcke zu packen. Es war sehr demütigend für mich, dass mir ein spanisches Mädchen, die Frau von Williams, dem anderen englischen Milizsoldaten, zeigen musste, wie ich meine neuen ledernen Patronentaschen anzuschnallen hatte. Sie war ein liebenswürdiges, dunkeläugiges und höchst weibliches Geschöpf. Sie sah aus, als ob ihre Lebensarbeit darin bestünde, eine Wiege zu schaukeln. In Wirklichkeit aber hatte sie bei den Straßenschlachten im Juli tapfer gefochten. Augenblicklich trug sie ein Baby mit sich, das gerade zehn Monate nach Ausbruch des Krieges zur Welt gekommen und vielleicht hinter den Barrikaden gezeugt worden war.
Der Zug sollte um acht abfahren, und es war etwa zehn nach acht, als es den geplagten, schwitzenden Offizieren gelang, uns auf dem Kasernenhof aufzustellen. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an die von Fackeln erleuchtete Szene: das Getümmel und die Aufregung, die roten Fahnen, die im Fackellicht flatterten, die Reihen der Milizsoldaten mit ihren Rucksäcken auf dem Rücken und ihren gerollten Decken, die sie wie Patronengurte über der Schulter trugen; und das Geschrei und das Klappern der Stiefel und Blechessnäpfe und dann schließlich ein gewaltiges und schließlich erfolgreiches Ruhezischen; und dann ein politischer Kommissar, der unter einem riesigen, rauschenden roten Banner stand und uns eine Ansprache auf katalanisch hielt. Endlich ließ man uns zum Bahnhof marschieren, indem wir die längste Route von etwa fünf oder sechs Kilometern einschlugen, um uns der ganzen Stadt zu zeigen. In der Rambla mussten wir Halt machen, während eine herbeigeholte Kapelle irgendwelche Revolutionslieder spielte. Noch einmal Heldenrummel - Geschrei und Begeisterung, überall rote und rot-schwarze Fahnen, freundliche Volksmassen, die sich auf dem Bürgersteig drängten, um uns zu sehen, Frauen, die aus den Fenstern winkten. Wie natürlich schien damals alles; wie entfernt und unwahrscheinlich heute! Der Zug war so dicht mit Männern voll gepackt, dass selbst auf dem Fußboden kaum Platz war, geschweige denn auf den Sitzen. Im letzten Moment lief Williams' Frau am Bahnsteig entlang und gab uns eine Flasche Wein und ein drittel Meter der knallroten Wurst, die nach Seife schmeckt und Durchfall bewirkt. Der Zug kroch mit der normalen Kriegsgeschwindigkeit von weniger als zwanzig Kilometern in der Stunde aus Katalonien hinaus und auf das Plateau von Aragonien hinauf.

 

Zweites Kapitel

Barbastro sah öde und zerstört aus, obwohl es weit hinter der Front lag. In Gruppen schlenderten die Milizsoldaten mit ihren schlechten Uniformen die Straßen auf und ab und versuchten, sich warm zu halten. An einer baufälligen Wand fand ich ein Plakat aus dem Vorjahr, das ankündigte, am Soundsovielten würden »sechs stattliche Stiere« in der Arena getötet. Wie verloren sahen die verblichenen Farben aus! Wo waren die stattlichen Stiere und die stattlichen Stierkämpfer jetzt? Es schien, dass es heute selbst in Barcelona kaum noch Stierkämpfe gab; aus irgendeinem Grund waren die besten Matadore alle Faschisten.
Meine Kompanie wurde auf Lastwagen nach Sietamo geschickt, von dort weiter westlich nach Alcubierre, das gerade hinter der Front gegenüber von Saragossa lag. Dreimal hatte man um Sietamo gekämpft, ehe es im Oktober von den Anarchisten endgültig erobert wurde. Teile der Stadt waren durch Granatfeuer zertrümmert und die meisten Häuser durch die Einschläge der Gewehrkugeln wie von Pockennarben übersät.
Wir befanden uns jetzt etwa vierhundertfünfzig Meter über Meereshöhe. Es war scheußlich kalt, dazu dichter Nebel, der aus dem Nichts heraufwirbelte. Der Lastwagenfahrer verfuhr sich zwischen Sietamo und Alcubierre (das war eines der typischen Merkmale dieses Krieges), und wir irrten stundenlang durch den Nebel. Spät in der Nacht erreichten wir Alcubierre. Jemand führte uns durch schlammigen Morast in einen Maultierstall, wo wir uns in die Spreu eingruben und sofort einschliefen. Spreu ist zum Schlafen nicht schlecht, wenn sie sauber ist, nicht so gut wie Heu, aber besser als Stroh. Erst beim Morgenlicht entdeckte ich, dass die Spreu voller Brotkrusten, zerrissener Zeitungen, Knochen, toter Ratten und schartiger Milchbüchsen war.
Wir waren jetzt nahe an der Front, nahe genug, um den charakteristischen Geruch des Krieges zu riechen - nach meiner Erfahrung ein Gestank von Exkrementen und verfaulenden Lebensmitteln. Alcubierre war nie von der Artillerie beschossen worden und befand sich in einem besseren Zustand als die meisten Dörfer unmittelbar hinter der Front. Aber ich glaube, dass man selbst in Friedenszeiten nicht durch diesen Teil von Spanien reisen konnte, ohne von dem besonders armseligen Elend der aragonischen Dörfer betroffen zu sein. Sie sind wie Festungen gebaut. Eine Menge mittelmäßiger, kleiner Häuser aus Lehm und Stein drängt sich um die Kirche, und selbst im Frühling sieht man kaum irgendwo eine Blume. Die Häuser haben keine Gärten, nur Hinterhöfe, in denen magere Hühner über Haufen von Maultiermist rutschen. Es war ein widerliches Wetter, abwechselnd Nebel und Regen. Die engen Landwege hatten sich in einen See von Schlamm verwandelt, der stellenweise bis zu sechzig Zentimeter tief war. Durch diesen Schlamm wühlten sich die Lastwagen mit rasend drehenden Rädern und führten die Bauern ihre schwerfälligen Karren, die von Maultiergespannen gezogen wurden, manchmal sechs in einer Reihe und immer voreinander gespannt. Das ständige Kommen und Gehen der Truppen hatte das Dorf in einen Zustand unaussprechlichen Schmutzes versetzt. Irgendeine Toilette oder eine Art Kanalisation besaß es nicht und hatte es nie besessen, daher fand man auch nicht einen Quadratmeter, wo man gehen konnte, ohne darauf achten zu müssen, wohin man trat. Die Kirche hatte man schon seit langem als Latrine benutzt, ebenso aber auch alle Felder im Umkreis von etwa vierhundert Metern. Ich denke nie an meine ersten zwei Kriegsmonate, ohne mich an winterliche Stoppelfelder zu erinnern, deren Ränder mit Kot überkrustet waren. Zwei Tage vergingen, und immer noch wurden keine Gewehre an uns ausgegeben. Wenn man im Comite de Guerra gewesen war und eine Reihe Löcher in der Wand besichtigt hatte - Einschläge der Gewehrsalven, durch die hier Faschisten erschossen wurden -, hatte man alle Sehenswürdigkeiten gesehen, die es in Alcubierre gab. Draußen an der Front war offensichtlich alles ruhig, nur wenige Verwundete kamen ins Dorf. Die größte Aufregung rief die Ankunft faschistischer Deserteure hervor, die unter Bewachung von der Front gebracht wurden. Viele der Truppen, die uns an diesem Teil der Front gegenüberlagen, waren gar keine Faschisten, sondern nur unglückliche Dienstpflichtige, die gerade in der Armee dienten, als der Krieg ausbrach, und die nun eifrig bemüht waren zu fliehen. Gelegentlich wagten kleine Gruppen, zu unserer Linie hinüberzuschlüpfen. Ohne Zweifel wären noch mehr geflohen, wenn ihre Verwandten nicht auf faschistischem Gebiet gewohnt hätten. Diese Deserteure waren die ersten >richtigen< Faschisten, die ich je zu Gesicht bekam. Es fiel mir auf, dass sie sich in nichts von uns unterschieden, außer dass sie Khaki-Overalls trugen. Wenn sie bei uns ankamen, waren sie immer heißhungrig - eine natürliche Sache, nachdem sie sich ein oder zwei Tage im Niemandsland herumgedrückt hatten. Aber diese Tatsache wurde triumphierend als eine Bestätigung dafür angesehen, dass die faschistischen Truppen Hunger litten. Ich schaute zu, wie einer von ihnen in einem Bauernhaus gefüttert wurde. Es war ein erbarmungswürdiger Anblick. Der große zwanzigjährige Junge, vom Wetter gebräunt und die Kleider in Lumpen, duckte sich vor dem Feuer und schaufelte mit verzweifelter Eile ein Kochgeschirr voll Stew in sich hinein. Während der ganzen Zeit flogen seine Augen nervös im Kreis der Milizsoldaten umher, die dabeistanden und ihn beobachteten. Ich denke, er glaubte wohl immer noch, dass wir blutdürstige >Rote< seien und ihn erschießen würden, sobald er seine Mahlzeit beendet habe. Die bewaffneten Männer, die ihn bewachten, klopften ihm auf die Schulter und versuchten ihn zu beruhigen. An einem denkwürdigen Tag kamen fünfzehn Deserteure in einem einzigen Trupp. Man führte sie im Triumph durch das Dorf, und ein Mann ritt auf einem weißen Pferd vor ihnen her. Es gelang mir, ein ziemlich unscharfes Foto aufzunehmen, das mir später gestohlen wurde.
Am dritten Morgen unseres Aufenthaltes in Alcubierre kamen die Gewehre an. Ein Sergeant mit plumpem, dunkelgelbem Gesicht verteilte sie im Maultierstall. Ich erschrak vor Entsetzen, als ich sah, was man mir in die Hand drückte. Es war ein deutsches Mausergewehr aus dem Jahr 1896 -mehr als vierzig Jahre alt! Es war rostig, das Schloss klemmte, und der hölzerne Laufschutz war zersplittert. Ein Blick in die Mündung zeigte, dass der Lauf zerfressen und ein hoffnungsloser Fall war. Die meisten der anderen Gewehre waren genauso schlecht, einige sogar noch schlechter, und niemand machte den Versuch, die besten Waffen den Männern zu geben, die damit umzugehen wussten. Das beste Gewehr der Sammlung, nur zehn Jahre alt, gab man einem einfältigen kleinen fünfzehnjährigen Scheusal, von dem jeder wusste, dass er ein maricon (Homosexueller) war. Der Sergeant gab uns fünf Minuten »Instruktion«, die darin bestand, uns zu erklären, wie man ein Gewehr lud und wie man den Bolzen herausnahm. Viele Milizsoldaten hatten nie zuvor ein Gewehr in der Hand gehabt, und ich vermute, dass sehr wenige wussten, wozu das Visier da war. Patronen wurden ausgeteilt, jeweils fünfzig pro Mann. Dann traten wir in Reih und Glied an, schulterten unsere Ausrüstung und setzten uns zu der etwa viereinhalb Kilometer entfernten Front in Bewegung.
Die centuria, achtzig Männer und mehrere Hunde, bewegte sich in unregelmäßigen Windungen die Straße hinauf. Jede Milizkolonne hatte sich zumindest einen Hund als Maskottchen zugelegt. Einem dieser elenden Viecher, das mit uns marschierte, hatte man P.O.U.M. in großen Buchstaben aufgebrannt, und es schlich daher, als ob es wüsste, dass etwas mit seinem Aussehen nicht in Ordnung sei. An der Spitze der Kolonne auf einem schwarzen Pferd ritt Georges Kopp, der stämmige belgische Comandante, neben der roten Fahne. Etwas weiter vorne ritt ein Junge der räuberähnlichen Milizkavallerie stolz auf und ab. Jede kleine Anhöhe galoppierte er hinauf und setzte sich auf der Höhe in malerischer Haltung in Positur. Während der Revolution hatte man die vorzüglichen Pferde der spanischen Kavallerie in großer Zahl erbeutet und der Miliz übergeben, die sie natürlich fleißig zu Tode ritt.
Die Straße zog sich zwischen gelben, unfruchtbaren Feldern dahin, die seit der Ernte des letzten Jahres unberührt geblieben waren. Vor uns lag die niedrige Sierra, die sich zwischen Alcubierre und Saragossa erstreckt. Wir kamen jetzt näher an die Front, näher heran an die Bomben, die Maschinengewehre und den Schlamm. Insgeheim hatte ich Angst. Ich wusste, dass die Front zur Zeit ruhig war, aber im Gegensatz zu den meisten Männern neben mir war ich alt genug, mich an den Weltkrieg zu erinnern, wenn auch nicht so alt, um mitgekämpft zu haben. Krieg bedeutete für mich donnernde Geschosse und herumschwirrende Stahlsplitter. Vor allem bedeutete es Schlamm, Läuse, Hunger und Kälte. Es ist merkwürdig, aber ich fürchtete mich vor der Kälte mehr als vor dem Feind. Der Gedanke daran hatte mich während der ganzen Dauer meines Aufenthaltes in Barcelona heimgesucht. Ich hatte sogar nachts wach gelegen und an die Kälte in den Schützengräben gedacht, an die Alarmbereitschaft während der grässlichen Morgendämmerung, die langen Stunden des Wacheschiebens mit einem reifbedeckten Gewehr und den eisigen Schlamm, der über meine Stiefelränder laufen würde. Ich gebe auch zu, dass ich eine Art Grausen spürte, wenn ich mir die Leute ansah, mit denen ich marschierte. Man kann sich unmöglich vorstellen, welch ein elender Haufen wir waren. Wir zogen zerstreut dahin, mit weniger Zusammenhalt als eine Herde Schafe. Wir waren noch keine drei Kilometer marschiert, als man das Ende der Kolonne schon nicht mehr sehen konnte. Gut die Hälfte der so genannten Männer waren Kinder - und ich meine wörtlich Kinder, sechzehn Jahre alt, wenn es hoch kam. Doch sie waren alle glücklich und aufgeregt von der Aussicht, endlich an die Front zu kommen. Als wir uns der Kampflinie näherten, begannen die Jungen unter der roten Fahne an der Spitze zu rufen: »Visca P.O.U.M.!«, »Fascistas - maricones!« und so fort. Ein Geschrei, das kriegerisch und drohend sein sollte, da es aber aus diesen kindlichen Kehlen kam, so pathetisch klang wie die Schreie von Kätzchen. Es schien schrecklich, dass dieser Haufen zerlumpter Kinder, die abgenutzte Gewehre trugen, von denen sie nicht wussten, wie sie bedient wurden, die Verteidiger der Republik sein sollten. Ich erinnere mich, dass ich neugierig war, was geschehen würde, wenn ein faschistisches Flugzeug über uns wegflöge — ob der Flieger es überhaupt für nötig halten würde hinabzustoßen, um uns mit einer Runde seines Maschinengewehrs zu überschütten. Sicherlich konnte er sogar aus der Luft sehen, dass wir keine richtigen Soldaten waren.
Als die Straße die Sierra erreichte, zweigten wir nach rechts ab und kletterten einen schmalen Maultierpfad hoch, der sich um die Flanke des Berges herumwand. Die Hügel in diesem Teil Spaniens haben eine eigentümliche Form, nämlich die Gestalt von Hufeisen mit flachen Kuppen und sehr steilen Abhängen, die in riesige Schluchten hinabstürzen. Auf den oberen Hängen wächst nichts außer verkümmerten Stauden und Heidekraut, dazwischen lugen überall die weißen Umrisse des Kalksteins hervor. Die vorderste Stellung bestand hier nicht aus einer zusammenhängenden Linie von Schützengräben, das wäre in einem solch bergigen Gelände unmöglich gewesen. Es war einfach eine Kette befestigter Posten, die man jeweils >Stellung< nannte und die auf jeder Hügelkuppe saßen. In einiger Entfernung konnte man unsere >Stellung< auf dem Scheitelpunkt des Hufeisens sehen: eine zerfetzte Barrikade aus Sandsäcken, eine flatternde rote Fahne und der Rauch der Feuer in den Unterständen. Wenn man etwas näher kam, konnte man einen ekelerregenden, süßlichen Gestank riechen, der sich noch viele Wochen hinterher in meiner Nase hielt. Unmittelbar hinter der Stellung war der Müll vieler Monate in die Schlucht gekippt worden — eine tiefe Schwäre aus Brotkrusten, Kot und rostigen Blechdosen.
Die Kompanie, die wir ablösten, packte gerade ihre Ausrüstung zusammen. Die Leute hatten drei Monate an der Front gelegen. Schlamm backte an ihren Uniformen, ihre Stiefel fielen auseinander, und ihre Gesichter waren größtenteils von Bärten bedeckt. Der Hauptmann, der den Befehl über die Stellung hatte, kroch aus seinem Unterstand und begrüßte uns. Er hieß Levinski, aber jeder kannte ihn unter dem Namen Benjamin. Von Geburt war er ein polnischer Jude, aber seine Muttersprache war Französisch. Der kleine junge Kerl, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, hatte straffes schwarzes Haar und ein bleiches, lebhaftes Gesicht, das während dieser Periode des Krieges immer sehr schmutzig war. Einige verirrte Kugeln pfiffen hoch über unseren Köpfen. Die Stellung bestand aus einer halbkreisförmigen Einfriedigung mit einem Durchmesser von etwa fünfzig Metern und einer Brustwehr, die teilweise aus Sandsäcken und teilweise aus Kalksteinbrocken bestand. Dreißig oder vierzig Unterstände verliefen wie Rattenlöcher in den Boden. Williams, ich selbst und Williams' spanischer Schwager stürzten uns sofort auf den nächsten unbesetzten Unterstand, der bewohnbar aussah. Irgendwo vor uns knallte von Zeit zu Zeit ein Gewehr und verursachte ein merkwürdig rollendes Echo zwischen den steinigen Hügeln. Wir hatten gerade unser Gepäck hingeworfen und krochen aus dem Unterstand hinaus, als es wiederum knallte und eines der Kinder unserer Kompanie von der Brustwehr zurückstürzte, das Gesicht voll von Blut. Er hatte sein Gewehr abgefeuert und es irgendwie fertig gebracht, das Schloss herauszusprengen. Seine Kopfhaut war durch die Splitter der explodierenden Patronenhülse zerfetzt worden. Er war unser erster Verwundeter, und zwar durch eigenes Verschulden.
Am Nachmittag zogen wir zum ersten Mal auf Wache, und Benjamin zeigte uns die ganze Stellung. Vor der Brustwehr lief ein System von engen, aus dem Fels gehauenen Schützengräben mit äußerst primitiven Schießscharten, die aus Kalksteinhaufen bestanden. Zwölf Wachtposten standen an verschiedenen Punkten im Schützengraben und hinter der inneren Brustwehr. Vor dem Schützengraben lag Stacheldraht, und dann glitt der Abhang in eine anscheinend bodenlose Schlucht hinab. Gegenüber lagen nackte Hügel, stellenweise schiere Felsklippen, grau und winterlich, nirgendwo Leben, nicht einmal ein Vogel. Ich spähte vorsichtig durch eine Schießscharte und versuchte, den faschistischen Schützengraben zu finden. »Wo ist der Feind?«
Benjamin winkte ausholend mit seiner Hand. »Dort drüben.« (Benjamin sprach englisch - aber ein furchtbares Englisch.)
»Aber wo?«
Meiner Vorstellung vom Schützengrabenkrieg entsprechend sollten die Faschisten fünfzig oder hundert Meter weit entfernt liegen. Ich sah nichts - anscheinend waren ihre Schützengräben sehr gut versteckt. Dann sah ich erschrocken und entsetzt, wohin Benjamin zeigte: zur gegenüberliegenden Hügelkuppe. Jenseits der Schlucht, mindestens siebenhundert Meter weit weg, die dünnen Umrisse einer Brustwehr und eine rot-gelbe Fahne - die faschistische Stellung. Ich war unbeschreiblich enttäuscht. Wir waren ihnen nirgendwo nahe! Auf diese Entfernung waren unsere Gewehre vollständig nutzlos. In diesem Augenblick ertönte ein aufgeregtes Geschrei. Uns gegenüber krochen zwei Faschisten, graue Figuren in weiter Entfernung, den nackten Abhang hinauf. Benjamin ergriff das Gewehr des neben uns stehenden Mannes, zielte und drückte ab. Klick! Ein Versager; ich hielt es für ein schlechtes Omen.
Die neuen Wachtposten waren kaum im Schützengraben, als sie schon ein fürchterliches Gewehrfeuer ins Ungewisse abschossen. Ich konnte sehen, wie sich die Faschisten, winzig wie Ameisen, hinter ihrer Brustwehr hin und her bewegten. Manchmal stand ein schwarzer Punkt, ein Kopf, einen Moment still, unverschämt zur Schau gestellt. Es hatte augenscheinlich keinen Zweck zu schießen. Aber sogleich verließ der Wachtposten zu meiner Linken in typisch spanischer Weise seine Position, kam auf meine Seite und drängte mich zu schießen. Ich versuchte ihm zu erklären, dass man auf diese Entfernung und mit diesen Gewehren einen Mann nur durch einen Zufall treffen könnte. Aber er war eben ein Kind und zeigte weiter mit seinem Gewehr auf einen der Punkte, ungeduldig die Zähne fletschend wie ein Hund, der erwartet, dass man einen Kieselstein wirft. Schließlich stellte ich mein Visier auf siebenhundert Meter ein und feuerte. Der Punkt verschwand. Ich hoffte, der Schuss ging nahe genug, um ihn zum Springen zu bringen. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mit einem Gewehr auf ein menschliches Wesen schoss.
Nun, nachdem ich die Front gesehen hatte, war ich gründlich angeekelt. Das nannte man Krieg! Und wir hatten sogar kaum Berührung mit dem Feind! Ich versuchte nicht einmal, meinen Kopf unter dem Rand des Schützengrabens zu halten. Aber eine kurze Weile später schoss eine Kugel mit einem bösartigen Knall an meinem Ohr vorbei und schlug in die Rückenwehr hinter mir ein. Ach! Ich duckte mich. Mein Leben lang hatte ich mir geschworen, mich nicht zu ducken, wenn zum ersten Male eine Kugel über mich hinwegflöge. Aber die Bewegung scheint instinktiv zu sein, und fast jeder tut es mindestens einmal.

 

Drittes Kapitel

Im Schützengrabenkrieg sind fünf Dinge wichtig: Brennholz, Lebensmittel, Tabak, Kerzen und der Feind. Im Winter an der Saragossa-Front waren sie in dieser Reihenfolge wichtig, und der Feind war schlechterdings das letzte. Niemand kümmerte sich um den Feind, außer bei Nacht, wenn ein Überraschungsangriff jederzeit denkbar war. Die Gegner waren einfach weit entfernte schwarze Insekten, die man gelegentlich hin und her springen sah. Die eigentliche Hauptbeschäftigung beider Armeen bestand in dem Versuch, sich warm zu halten.
Ich sollte beiläufig sagen, dass ich während meines ganzen Aufenthaltes in Spanien sehr wenig richtige Kämpfe sah. Ich war von Januar bis Mai an der Front in Aragonien, und zwischen Januar und Ende März ereignete sich an dieser Front außer bei Teruel wenig oder gar nichts. Im März kam es zu heftigen Kämpfen in der Nähe von Huesca, aber ich selbst spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Später im Juni erfolgte der verhängnisvolle Angriff auf Huesca, bei dem einige tausend Mann an einem einzigen Tag getötet wurden. Aber ich war schon verwundet worden und kampfunfähig, ehe dieser Angriff stattfand. Mir selbst stießen nur selten die Dinge zu, die man sich normalerweise als die Schrecken des Krieges vorstellt.
Kein Flugzeug ließ je eine Bombe auch nur in meine Nähe fallen. Ich glaube nicht, dass eine Granate je näher als fünfzig Meter von mir entfernt explodierte, und ich geriet nur einmal in einen Kampf Mann gegen Mann (obwohl ich sagen möchte, einmal ist einmal zuviel). Natürlich lag ich oft unter schwerem Maschinengewehrfeuer, aber normalerweise auf große Entfernung. Selbst bei Huesca war man im allgemeinen sicher, wenn man Vernunft und Vorsicht walten ließ.
Hier oben in den Hügeln um Saragossa war es einfach eine Mischung von Langeweile und Unbehagen am Stellungskrieg. Das Leben war so ohne Ereignisse wie bei einem Büroangestellten in der Stadt und fast genauso regelmäßig. Wache schieben, Spähtrupps, graben - graben, Spähtrupps, Wache schieben. Auf jeder Hügelkuppe, ob faschistisch oder loyalistisch, zitterte ein Haufen zerlumpter, schmutziger Männer rund um ihre Fahne und versuchte, sich warm zu halten. Und bei Tag und Nacht wanderten sinnlose Kugeln über die leeren Täler hinweg, und nur durch irgendeinen seltenen, unwahrscheinlichen Zufall fanden sie ihr Ziel in einem menschlichen Körper.
Oft schaute ich über die Winterlandschaft hinweg und wunderte mich über die Nutzlosigkeit des Ganzen. Welche Ergebnislosigkeit einer solchen Art von Krieg! Früher, ungefähr im Oktober, hatte es wilde Kämpfe um alle diese Hügel gegeben. Dann aber wurden aus Mangel an Menschen und Waffen, besonders an Artillerie, großzügige Operationen unmöglich, und jede Armee hatte sich auf den Hügelkuppen eingegraben und festgesetzt, die sie erobert hatte. Rechts von uns war ein kleiner Vorposten, auch von der P.O.U.M. besetzt, und auf dem Vorwerk zu unserer Linken, in der Richtung sieben des Uhrzeigers, eine P.S.U.C.-Stellung, die einem größeren Vorwerk mit verschiedenen kleinen, über den Gipfel verstreuten faschistischen Positionen gegenüberlag. Die so genannte Kampflinie ging im Zickzack hin und her und formte ein Muster, das unverständlich gewesen wäre, hätte nicht jede Stellung ihre Fahne gezeigt. Die Fahnen der P.O.U.M. und P.S.U.C. waren rot, die der Anarchisten rot und schwarz. Die Faschisten zeigten gewöhnlich die monarchistische Flagge (rot-gelb-rot), aber gelegentlich führten sie auch die Fahne der Republik (rot-gelb-purpurn)(Anm.: In einer nach Orwells Tod in seinen Papieren gefundenen Druckfehler-Verbesserung steht: »Bin nun nicht ganz sicher, ob ich jemals sah, dass die Faschisten die republikanische Flagge zeigten, obwohl ich glaube, dass sie sie manchmal mit einem kleinen aufgesetzten Hakenkreuz führten.«). Die Szenerie war großartig, wenn man vergessen konnte, dass jeder Berggipfel von Truppen besetzt und deshalb mit Blechbüchsen übersät und von Kot überkrustet war. Rechts von uns bog die Sierra nach Südosten und gab Raum für das weite, gerippte Tal, das sich nach Huesca hinüberzog. In der Mitte der Ebene lagen einige winzige Kuben verstreut wie nach einem Würfelspiel. Das war die Stadt Robres, die in der Hand der Loyalisten war. Morgens war das Tal oft unter Wolkenmeeren versteckt, aus denen die Hügel sich flach und blau erhoben. Sie gaben der Landschaft eine seltsame Ähnlichkeit mit einem fotografischen Negativ. Jenseits von Huesca lagen noch mehrere Hügel von der gleichen Art wie unsere. Sie waren mit einem Schneemuster gestreift, das von Tag zu Tag wechselte. In großer Entfernung schienen die riesigen Gipfel der Pyrenäen, auf denen der Schnee niemals schmilzt, im Nichts zu schweben. Selbst unten in der Ebene sah alles tot und leer aus. Die Hügel uns gegenüber waren grau und runzelig wie die Haut von Elefanten.
Der Himmel war fast immer ohne Vögel. Ich glaube kaum, dass ich jemals ein Land gesehen habe, wo es so wenig Vögel gab. Die einzigen Vögel, die man manchmal sah, waren eine Art Elstern und Ketten von Rebhühnern, die uns nachts durch ihr plötzliches Schwirren aufschreckten, sowie sehr selten Adler, die langsam über uns hinwegsegelten, normalerweise verfolgt von Gewehrschüssen, die sie nicht zu bemerken geruhten.
Nachts und bei nebligem Wetter wurden Spähtrupps in das Tal zwischen uns und den Faschisten hinausgesandt. Diese Unternehmungen waren nicht beliebt, es war zu kalt, und man konnte zu leicht umkommen. So fand ich bald heraus, dass ich die Erlaubnis erhielt, auf Spähtrupps zu gehen, sooft ich wollte. In den riesigen zerklüfteten Schluchten gab es keinerlei Pfade oder Wege. Man konnte sich überhaupt nur zurechtfinden, wenn man mehrere aufeinanderfolgende Erkundungen unternahm und sich jedes Mal neue Markierungen merkte. In direkter Linie lag der nächste faschistische Posten siebenhundert Meter von unserem eigenen entfernt, aber auf der einzig gangbaren Route betrug die Entfernung zweieinhalb Kilometer. Es war ein ziemlicher Spaß, in den dunklen Tälern herumzustreifen, während verirrte Kugeln hoch über dem Kopf hin- und herflogen und dabei wie Schnepfen pfiffen. Besser als das Dunkel der Nacht war der dichte Nebel, der sich oft den ganzen Tag über hielt und sich um die Hügelkuppen legte, die Täler aber klar ließ. Wenn man nahe an den faschistischen Gräben war, musste man im Schneckentempo kriechen. Es war sehr schwierig, sich geräuschlos an den Abhängen zwischen knackenden Büschen und klickenden Kalksteinen ohne Geräusch zu bewegen. Erst beim dritten oder vierten Versuch gelang es mir, meinen Weg zu der faschistischen Kampflinie zu finden. Der Nebel war sehr dicht, und ich kroch an den Stacheldraht heran, um zu lauschen. Ich konnte die Faschisten in ihrem Graben sprechen und singen hören. Dann vernahm ich zu meiner Bestürzung, wie einige von ihnen den Hügel herunter auf mich zukamen. Ich duckte mich hinter einen Busch, der plötzlich sehr klein erschien, und versuchte, mein Gewehr ohne Lärm zu spannen. Aber sie bogen ab, und ich sah sie nicht einmal. Hinter dem Busch, wo ich mich verborgen hatte, fand ich verschiedene Spuren früherer Kämpfe: einen Haufen leerer Patronenhülsen, eine Lederkappe, darin das Loch einer Gewehrkugel, und eine rote Fahne, augenscheinlich eine der unseren. Ich nahm sie mit zurück zur Stellung, wo sie gefühllos zerrissen und als Putzlappen gebraucht wurde.
Sobald wir an der Front angekommen waren, hatte man mich zum Korporal oder cabo, wie es hieß, ernannt, und mir das Kommando über eine Abteilung von zwölf Mann übertragen. Das war, besonders am Anfang, kein einträgliches Amt. Die centuria war ein ungeübter Haufen und bestand hauptsächlich aus Jungen unter zwanzig. Manchmal begegnete man in der Miliz Kindern, die nicht älter als elf oder zwölf waren. Gewöhnlich handelte es sich um Flüchtlinge aus dem faschistischen Gebiet, die man zu Milizsoldaten gemacht hatte, da das der einfachste Weg war, um für sie zu sorgen. In der Regel wurden sie in der Etappe mit leichter Arbeit beschäftigt, aber gelegentlich gelang es ihnen, sich bis zur Front durchzuschleichen, wo sie zu einer öffentlichen Gefahr wurden. Ich erinnere mich an ein kleines Scheusal, das eine Handgranate »zum Spaß« in das Feuer im Unterstand warf. Am Monte Pocero war, glaube ich, niemand jünger als fünfzehn, aber das Durchschnittsalter muss gut unter zwanzig gewesen sein. Jungen in diesem Alter sollten niemals in der Kampflinie eingesetzt werden, denn sie können den Mangel an Schlaf, der mit dem Schützengrabenkrieg untrennbar verbunden ist, nicht vertragen. Zunächst war es fast unmöglich, unsere Stellung während der Nacht anständig zu bewachen. Die bejammernswerten Kinder meiner Abteilung waren nur auf die Beine zu bringen, indem man sie mit den Füßen zuerst aus ihren Unterständen zerrte. Sobald man den Rücken drehte, verließen sie ihre Posten und schlüpften wieder in den Unterstand. Oder aber sie lehnten sich trotz der fürchterlichen Kälte an die Wand des Schützengrabens und fielen sofort in Schlaf. Zum Glück war der Gegner wenig unternehmungslustig. Während mancher Nächte glaubte ich, zwanzig mit Luftgewehren bewaffnete Pfadfinder hätten unsere Stellung erstürmen können oder vielleicht auch zwanzig mit Federballschlägern bewaffnete Pfadfinderinnen.
Zu dieser Zeit und noch für eine ganze Weile baute sich die katalanische Miliz nach dem gleichen Prinzip auf wie schon zu Beginn des Krieges. In den ersten Tagen der Revolte Francos wurde die Miliz von verschiedenen Gewerkschaften und politischen Parteien schnell zusammengestellt. Jede Einheit war vor allem eine politische Organisation, die ihrer Partei den gleichen Gehorsam schuldete wie der Zentralregierung. Als die Volksarmee, eine nichtpolitische Armee, mehr oder minder nach den üblichen Vorbildern organisiert, zu Beginn des Jahres 1937 aufgestellt wurde, vereinigte man theoretisch die Parteimilizen mit ihr. Lange Zeit jedoch vollzog sich dieser Wechsel nur auf dem Papier. Die Truppen der neuen Volksarmee kamen in nennenswertem Umfang nicht vor Juni an die Front in Aragonien, und bis dahin blieb das Milizsystem unverändert. Der wesentliche Punkt dieses Systems war die soziale Gleichheit zwischen Offizieren und Soldaten. Jeder, vom General bis zum einfachen Soldaten, erhielt den gleichen Sold, aß die gleiche Verpflegung, trug die gleiche Kleidung und verkehrte mit den anderen auf der Grundlage völliger Gleichheit. Falls man den General, der die Division befehligte, auf den Rücken klopfte und ihn um eine Zigarette bitten wollte, konnte man das tun, und niemand hätte es als merkwürdig empfunden. Theoretisch war jedenfalls jede Milizeinheit eine Demokratie und nicht eine Hierarchie. Es herrschte Einigkeit darüber, dass Befehle befolgt werden mussten, aber es war ebenso selbstverständlich, dass ein Befehl von Kamerad zu Kamerad und nicht von Vorgesetzten an Untergebene erteilt wurde. Es gab Offiziere und Unteroffiziere, aber keine militärischen Ränge im normalen Sinn, keine Titel, keine Dienstabzeichen, kein Hackenzusammenschlagen und kein Grüßen. Sie hatten versucht, in den Milizen eine Art einstweiliges Arbeitsmodell der klassenlosen Gesellschaft zu schaffen. Natürlich gab es dort keine vollständige Gleichheit, aber es war die größte Annäherung daran, die ich je gesehen oder in Kriegszeiten für möglich gehalten hatte.
Aber ich gebe zu, dass mich die Verhältnisse an der Front beim ersten Eindruck sehr erschreckten. Wie war es möglich, dass der Krieg mit einer derartigen Armee gewonnen werden konnte? Das sagte damals jeder, und obwohl es stimmte, war es doch unvernünftig, denn die Milizen konnten unter den gegebenen Umständen nicht viel besser sein, als sie waren. Eine moderne, mechanisierte Armee springt nicht aus dem Boden. Wenn die Regierung gewartet hätte, bis ausgebildete Truppen zur Verfügung standen, hätte man Franco nie widerstehen können. Später gehörte es zum guten Ton, die Milizen zu beschimpfen. Deshalb tat man so, als ob die Fehler, die auf den Mangel an Ausbildung und Waffen zurückzuführen waren, das Ergebnis des Systems der Gleichheit seien. In Wirklichkeit war eine neu zusammengestellte Milizabteilung nicht etwa deshalb ein undisziplinierter Haufen, weil die Offiziere ihre Soldaten »Kameraden« nannten, sondern weil neue Truppen immer ein undisziplinierter Haufen sind. In der Praxis ist die demokratisch->revolutionäre< Art der Disziplin zuverlässiger, als man erwarten sollte. Disziplin ist in einer Arbeiterarmee theoretisch freiwillig. Sie basiert auf der Loyalität gegenüber der Klasse, während die Disziplin einer bürgerlichen, wehrpflichtigen Armee letzten Endes auf der Furcht beruht. (Die Volksarmee, die an Stelle der Milizen trat, war ein Mittelding zwischen den beiden Typen.) Drohungen und Beschimpfungen, die in einer normalen Armee üblich sind, hätte in den Milizen niemand auch nur für einen Augenblick ertragen. Es gab die normalen militärischen Strafen, sie wurden aber nur bei sehr schwerwiegenden Vergehen zu Hilfe genommen. Wenn ein Soldat sich weigerte, einen Befehl zu befolgen, war es nicht üblich, ihn sofort bestrafen zu lassen; zunächst appellierte man im Namen der Kameradschaft an seine Vernunft. Zynische Menschen, die keine Erfahrung im Umgang mit Soldaten haben, werden sofort sagen, dass es so niemals >geht<, aber tatsächlich >geht< es auf die Dauer. Mit der Zeit verbesserte sich die Disziplin selbst der schlimmsten Abteilungen in der Miliz sichtlich. Im Januar bekam ich beinahe graue Haare vor Anstrengung, um ein Dutzend roher Rekruten zu den geforderten Aufgaben anzuhalten. Im Mai befehligte ich für kurze Zeit als diensttuender Leutnant dreißig Mann, Engländer und Spanier. Wir alle hatten monatelang unter Beschuss gelegen, und ich hatte niemals die geringste Schwierigkeit, dass ein Befehl befolgt wurde oder sich die Soldaten freiwillig für eine gefährliche Aufgabe meldeten. >Revolutionäre< Disziplin ist vom politischen Bewusstsein abhängig — von dem Verständnis dafür, warum Befehle befolgt werden müssen. Es dauert einige Zeit, bis sich diese Einsicht verbreitet, aber es dauert auch einige Zeit, einen Mann auf dem Kasernenhof zu einem Automaten zu drillen. Die Journalisten, die das Milizsystem verhöhnten, dachten selten darüber nach, dass die Milizen die Front halten mussten, während die Volksarmee in der Etappe ausgebildet wurde. Es ist ein Beweis für die Stärke der revolutionären Disziplin, dass die Milizen überhaupt draußen aushielten. Denn etwa bis zum Juni 1937 hielt sie nichts an der Front als ihre Klassenloyalität. Einzelne Deserteure konnte man erschießen - sie wurden gelegentlich erschossen -, aber wenn tausend Mann sich entschieden hätten, geschlossen von der Front abzuziehen, gab es keine Macht, sie aufzuhalten. Unter den gleichen Umständen wäre eine wehrpflichtige Armee - nach Entfernung der Feldpolizei - dahingeschmolzen. Aber die Milizen hielten die Front, obwohl sie, weiß Gott, sehr wenig Siege errangen; ja selbst die individuelle Fahnenflucht war nicht alltäglich. Während vier oder fünf Monaten, hörte ich in der P.O.U.M.-Miliz nur einmal, dass vier Soldaten desertierten. Zwei von ihnen waren ziemlich wahrscheinlich Spione, die sich hatten anwerben lassen, um Informationen zu erlangen. Anfangs war ich entmutigt und aufgebracht über das offensichtliche Chaos, den allgemeinen Mangel an Ausbildung und die Tatsache, dass man oft fünf Minuten lang argumentieren musste, ehe ein Befehl befolgt wurde. Meine Ansichten stammten aus der britischen Armee, und sicherlich hatten die spanischen Milizen sehr wenig mit der britischen Armee gemeinsam. Aber in Anbetracht der Umstände waren sie bessere Truppen, als man mit Recht hätte erwarten können.
Unterdessen: Brennholz - immer Brennholz. Für diese ganze Zeit gibt es wahrscheinlich in meinem Tagebuch keine Eintragung, in der nicht Brennholz erwähnt wird oder, besser gesagt, der Mangel daran. Wir befanden uns sechshundert bis tausend Meter über Meereshöhe, es war mitten im Winter, und die Kälte war unaussprechlich. Die Temperatur war nicht besonders niedrig, während vieler Nächte fror es nicht einmal, und die winterblasse Sonne schien oft mittags eine Stunde lang. Aber ich versichere, selbst wenn es nicht richtig kalt war, dass es mir so erschien. Manchmal zerrten mir pfeifende Winde die Mütze vom Kopf und wirbelten mein Haar nach allen Seiten.
Manchmal gab es Nebel, der sich wie eine Flüssigkeit in den Schützengraben ergoss und mich bis auf die Knochen zu durchdringen schien. Es regnete häufig, und selbst eine Viertelstunde Regen genügte, die Lage unerträglich zu machen. Die dünne Erdhaut über dem Kalkgestein verwandelte sich rasch in eine schlüpfrige Schmiere, und da man sich immer am Abhang bewegte, war es unmöglich, sich fest auf den Füßen zu halten. Ich bin oft während dunkler Nächte auf eine Entfernung von zwanzig Metern ein halb Dutzend Mal hingefallen. Das aber war gefährlich, denn eine Folge war, dass sich das Schloss des Gewehres durch den Schlamm verklemmte. Tagelang waren Kleider, Stiefel, Decken und Gewehr mehr oder weniger mit Schlamm überzogen. Ich hatte so viele dicke Kleidung mitgebracht, wie ich tragen konnte, aber viele Soldaten hatten schrecklich wenig anzuziehen. Es gab nur zwölf Wachtmäntel für die ganze Garnison von etwa hundert Mann. Sie mussten von Wachtposten zu Wachtposten weitergegeben werden, und die meisten Soldaten hatten nur eine Decke. Während einer eisigen Nacht schrieb ich eine Liste aller der Kleider, die ich gerade trug, in mein Tagebuch. Sie ist interessant, da sie zeigt, welche Menge an Kleidung der menschliche Körper tragen kann. Ich war beladen mit einer dicken Weste und einer Hose, einem Flanellhemd, zwei Pullovern, einer Wolljacke, einer Jacke aus Schweinsleder, Kordreithosen, Wickelgamaschen, dicken Socken, Stiefeln, einem festen Trenchcoat, einer wollenen Halsbinde, gefütterten Handschuhen und einer wollenen Kappe. Trotzdem zitterte ich wie Espenlaub. Aber ich gebe zu, dass ich ungewöhnlich empfindlich gegen Kälte bin. Brennholz war das einzige, worauf es wirklich ankam. Die Sache mit dem Brennholz war die, dass es praktisch kein Brennholz gab. Unser elender Berg hatte selbst in seiner besten Zeit nicht viel Vegetation, und monatelang waren frierende Milizsoldaten auf ihm herumgestreift, mit dem Ergebnis, dass jedes Stück Holz, dicker als ein Finger, schon lange verbrannt worden war. Wenn wir nicht gerade aßen, schliefen, Wache schoben oder Arbeitsdienst machten, waren wir im Tal hinter der Stellung, um Brennmaterial zu stibitzen. Alle meine Erinnerungen an diese Zeit sind Erinnerungen daran, wie wir auf dem brüchigen Kalkgestein, das die Schuhe in Stücke schnitt, an fast senkrechten Abhängen hinauf und hinab kletterten und uns begierig auf jeden winzigen Holzzweig stürzten. Wenn drei Leute so zwei Stunden suchten, konnten sie genug Brennmaterial sammeln, um ein Feuer im Unterstand etwa eine Stunde lang in Brand zu halten. Der Eifer unserer Brennholzsuche verwandelte uns alle in Botaniker. Wir klassifizierten jede Pflanze, die auf dem Berg wuchs, nach ihren Brennqualitäten: die verschiedenen Heidekräuter und Kresse waren gut, um ein Feuer in Gang zu setzen, aber sie verbrannten in wenigen Minuten; der wilde Rosmarin- und der winzige Stechginsterbusch brannten nur dann, wenn das Feuer schon richtig entflammt war; der verkrüppelte Eichbaum, kleiner als ein Stachelbeerstrauch, war praktisch unbrennbar. Es gab eine Art vertrockneten Rieds, das gut war, um ein Feuer zu entflammen, aber es wuchs nur auf der Hügelkuppe zur Linken unserer Stellung, und man konnte nur unter Beschuss dorthin gehen, um es zu sammeln. Wenn die faschistischen Maschinengewehrschützen jemanden sahen, gaben sie ihm ganz allein eine Runde Beschuss. Normalerweise zielten sie hoch, und die Kugeln zwitscherten wie Vögel über unsere Köpfe. Aber manchmal prasselten und splitterten sie unangenehm nah im Kalkgestein, worauf man sich auf sein Gesicht warf. Doch dann sammelte jeder sein Ried weiter, denn im Vergleich zum Brennholz gab es nichts mehr von Bedeutung.
Neben der Kälte schienen andere Unannehmlichkeiten geringfügig zu sein. Natürlich waren wir alle ständig schmutzig. Unser Wasser kam, wie unser Essen, auf dem Rücken von Maultieren von Alcubierre, und der Anteil jedes einzelnen betrug etwas mehr als ein Liter pro Tag. Es war ein scheußliches Wasser, kaum durchsichtiger als Milch. Theoretisch war es nur zum Trinken, aber ich stahl mir immer ein Kochgeschirr voll, um mich morgens zu waschen. An einem Tag wusch ich mich, und am nächsten rasierte ich mich; für beide gab es nie genug Wasser. Die Stellung stank abscheulich, und außerhalb der kleinen Umfriedung der Befestigung lag überall Kot. Einige Milizsoldaten verrichteten ihre Notdurft gewöhnlich im Schützengraben, eine ekelhafte Sache, wenn man während der Dunkelheit herumlaufen musste. Aber der Schmutz plagte mich nie. Schmutz ist etwas, worüber sich die Leute zu sehr aufregen. Es ist erstaunlich, wie sehr man sich daran gewöhnt, ohne ein Taschentuch auszukommen und aus dem gleichen Kochgeschirr zu essen, in dem man sich auch wäscht. Nach ein oder zwei Tagen war es nicht einmal mehr schwierig, in den Kleidern zu schlafen. Es war natürlich unmöglich, während der Nacht die Kleider und besonders die Stiefel auszuziehen. Man musste
bereit sein, bei einem Angriff sofort herauszuspringen. In achtzig Nächten zog ich meine Kleider dreimal aus, obwohl es mir auch manchmal gelang, sie sogar während des Tages auszuziehen. Für Läuse war es noch zu kalt, aber Ratten und Mäuse gab es im Überfluss. Es wird oft gesagt, dass man Ratten und Mäuse nicht am gleichen Ort findet, aber sie sind doch zusammen da, wenn es genug Nahrung für sie gibt.
Im übrigen ging es uns nicht so schlecht. Das Essen war recht gut, und es gab viel Wein. Zigaretten wurden noch immer mit einem Päckchen pro Tag ausgegeben. Streichhölzer gab es jeden zweiten Tag, und wir erhielten auch Kerzen. Es waren sehr dünne Kerzen, so wie auf einem Weihnachtskuchen, und die gängige Meinung war, man habe sie in den Kirchen erbeutet. Jeder Unterstand erhielt täglich eine etwa acht Zentimeter lange Kerze, sie brannte ungefähr zwanzig Minuten lang. Zu jener Zeit war es noch möglich, Kerzen zu kaufen, und ich hatte mir einige Pfund davon mitgebracht. Später machte der Mangel an Streichhölzern und Kerzen das Leben sehr schwierig. Man versteht erst, wie wichtig diese Dinge sind, wenn man sie nicht mehr hat. So bedeutet zum Beispiel die Möglichkeit, während eines Nachtalarms ein Licht anzuzünden, wenn jeder im Unterstand nach seinem Gewehr sucht und auf das Gesicht seines Nachbarn tritt, genau den Unterschied zwischen Leben und Tod. Jeder Milizsoldat besaß ein Zunderfeuerzeug und einige Meter gelben Docht. Neben dem Gewehr war das sein wichtigster Besitz. Zunderfeuerzeuge hatten den großen Vorteil, dass man sie auch im Wind anschlagen konnte, aber sie schwelten und waren unbrauchbar, ein Feuer anzuzünden. Als der Mangel an Streichhölzern am schlimmsten war, konnte man eine Flamme nur entzünden, indem man die Kugel aus einer Patrone herauszog und das Schießpulver mit einem Zunderfeuerzeug entflammte.
Wir führten ein außergewöhnliches Leben - eine außergewöhnliche Art des Krieges, wenn man es Krieg nennen konnte. Die ganze Miliz rieb sich an der Untätigkeit auf und klagte dauernd, um zu erfahren, warum man uns nicht erlaube anzugreifen. Aber es war vollständig klar, dass es noch auf lange Zeit keine Schlacht geben würde, außer wenn der Feind sie begänne. Georges Kopp war während seiner häufigen Inspektionstouren völlig offen mit uns.
»Das ist kein Krieg«, pflegte er zu sagen, »das ist eine komische Oper mit einem Tod von Zeit zu Zeit.« Tatsächlich hatte der Stillstand an der Front in Aragonien politische Ursachen, von denen ich zu jener Zeit wenig wusste. Jedoch die rein militärischen Schwierigkeiten — ganz abgesehen vom Mangel an Reserven - waren für jeden offensichtlich.
Zunächst war es die Natur des Landes. Die Frontlinien, unsere und die der Faschisten, lagen in Stellungen von ungeheurer, natürlicher Stärke, denen man sich in der Regel nur von einer Seite nähern konnte. Sind erst ein paar Schützengräben ausgehoben, können solche Stellungen von der Infanterie, außer durch eine überwältigende Überlegenheit, nicht genommen werden. In unserer eigenen und den meisten umliegenden Stellungen konnte ein Dutzend Leute mit zwei Maschinengewehren ein ganzes Bataillon abhalten. So wie wir auf der Hügelkuppe saßen, hätten wir ein ideales Ziel für die Artillerie abgeben können. Aber es gab keine Artillerie. Manchmal schaute ich über die Landschaft und sehnte mich - oh, wie leidenschaftlich - nach ein paar Batterien Artillerie. Man hätte die feindlichen Stellungen eine nach der anderen zerstören können, so leicht, wie man Nüsse mit einem Hammer zerschmettert. Aber auf unserer Seite waren einfach keine Kanonen vorhanden. Den Faschisten gelang es von Zeit zu Zeit, ein oder zwei Kanonen aus Saragossa an die Front zu bringen und sehr wenige Granaten abzuschießen, so wenige, dass sie sich nicht einmal auf die Entfernung einschießen konnten, und harmlos stürzten die Granaten in die leeren Schluchten. Gegen Maschinengewehre und ohne Artillerie kann man nur drei Dinge tun: sich in sicherer Entfernung - sagen wir vierhundert Meter - eingraben, über die offene Fläche vorgehen und abgeschlachtet werden oder kleine nächtliche Angriffe machen, die an der allgemeinen Lage nichts ändern. Praktisch sind die Alternativen Stillstand oder Selbstmord.
Außerdem fehlte es uns vollständig an Kriegsmaterial jeder Art. Nur mit großer Mühe kann man sich vorstellen, wie schlecht die Milizen zu jener Zeit ausgerüstet waren. Jedes O.T.C. (Offiziersausbildungskorps) einer Internatsschule in England ähnelt eher einer modernen Armee, als wir es taten. Der schlechte Zustand unserer Waffen war so verblüffend, dass es sich lohnt, darüber im einzelnen zu berichten.
Die gesamte Artillerie an diesem Abschnitt der Front bestand aus vier Grabengranatwerfern mit fünfzehn Schuss für jeden einzelnen. Natürlich waren sie zu wertvoll, um abgefeuert zu werden, und so hielt man die Granatwerfer in Alcubierre. Maschinengewehre hatten wir im Verhältnis von etwa eines auf fünfzig Mann. Es waren altmodische Maschinengewehre, aber einigermaßen genau bis auf drei-oder vierhundert Meter Entfernung. Über diese Entfernung hinaus konnten wir nur Gewehre benutzen, und die meisten dieser Gewehre waren Schrott. Drei Typen Gewehre waren in Benutzung. Das erste war das lange Mausergewehr. Gewehre dieser Art waren selten weniger als zwanzig Jahre alt, und ihr Visier war so brauchbar wie ein zerbrochener Geschwindigkeitsanzeiger. Bei den meisten waren die Züge hoffnungslos verrostet, aber eins von zehn Gewehren war nicht schlecht. Dann gab es das kurze Mausergewehr oder mousqueton, in Wirklichkeit eine Kavalleriewaffe. Diese Gewehre waren beliebter als die anderen, denn man konnte sie leichter tragen, und sie waren weniger unnütz im Schützengraben, außerdem waren sie verhältnismäßig neu und sahen brauchbar aus. In Wirklichkeit waren aber auch sie fast nutzlos. Man hatte sie aus wieder zusammengebauten Teilen gemacht; kein Verschluss gehörte zu dem Gewehr, auf dem er saß. Bei Dreiviertel der Gewehre konnte man damit rechnen, dass er sich nach fünf Schüssen sperrte. Es gab auch einige Winchestergewehre. Man konnte recht gut damit schießen, aber sie waren enorm ungenau, und da die Patronen keine Patronenrahmen hatten, konnte man jeweils nur einen Schuss abfeuern. Munition war so knapp, dass jeder Soldat, der an die Front kam, nur fünfzig Schuss erhielt. Die meisten davon waren außerordentlich schlecht. Die in Spanien hergestellten Patronen waren wiedergefüllte Hülsen und klemmten selbst in den besten Gewehren. Die mexikanischen Patronen waren besser und wurden deshalb für die Maschinengewehre reserviert. Am besten war die in Deutschland hergestellte Munition, aber da sie nur von Gefangenen und Deserteuren kam, gab es nicht viel davon. Für den Notfall verwahrte ich in meiner Tasche immer einen Patronenrahmen mit deutscher oder mexikanischer Munition. In der Praxis aber schoss ich im Notfall selten mit meinem Gewehr. Ich hatte zuviel Angst, dass das scheußliche Ding klemmen würde, und außerdem wollte ich auf jeden Fall noch einige Schüsse aufheben, die wirklich losgingen.
Wir hatten keine Stahlhelme, keine Bajonette und kaum Revolver oder Pistolen und nicht mehr als eine Handgranate auf fünf oder zehn Leute. Die zu dieser Zeit gebräuchliche Handgranate war ein fürchterliches Ding, unter dem Namen >F.A.I.-Bombe< bekannt. Die Anarchisten hatten sie während der ersten Tage des Krieges hergestellt. Sie funktionierte nach dem Prinzip der Millschen Handgranate, aber der Zündhebel wurde nicht durch einen Stift, sondern durch ein Stück Klebestreifen heruntergehalten. Man zerriss den Klebestreifen und musste dann mit größtmöglicher Schnelligkeit die Handgranate wegwerfen. Es hieß von diesen Handgranaten, sie seien >unparteiisch<: sie töteten den Mann, auf den man sie warf, und den Mann, der sie warf. Es gab noch verschiedene andere Typen, die noch primitiver, aber wahrscheinlich etwas weniger gefährlich für den Werfer waren. Erst spät im März sah ich eine Handgranate, die zu werfen sich lohnte.
Außer diesen Waffen fehlten auch alle kleineren Hilfsmittel für einen Krieg. Wir hatten zum Beispiel keine Karten oder Pläne. Spanien ist nie richtig vermessen worden, und die einzigen detaillierten Karten dieser Gegend waren alte Militärkarten, die fast alle im Besitz der Faschisten waren. Wir hatten keine Entfernungsmesser, keine Fernrohre, keine Grabenspiegel, keine Feldstecher (außer solchen, die einigen von uns privat gehörten), keine Lichtsignale oder >Very<-Lichter (bunte Signalraketen), keine Drahtscheren, keine Geräte für den Waffenmeister und kaum irgendwelches Reinigungsmaterial. Die Spanier hatten anscheinend nie von einer Gewehrlauf-Reinigungskette gehört und guckten sehr überrascht, als ich eine konstruierte. Wenn man sein Gewehr säubern lassen wollte, brachte man es zum Unteroffizier, der eine lange bronzene Stange hatte, die immer verbogen war und deshalb den Lauf zerkratzte. Es gab nicht einmal Gewehröl. Man schmierte sein Gewehr mit Olivenöl ein, wenn man es auftreiben konnte. Manchmal habe ich mein Gewehr mit Vaseline, mit Cold Cream (kühlende Fettsalbe) und sogar mit Schinkenspeck eingefettet. Ferner gab es keine Laternen oder elektrische Taschenlampen. Ich glaube, zu dieser Zeit gab es an unserem ganzen Frontabschnitt nicht eine einzige elektrische Taschenlampe. Man konnte sie erst in Barcelona und selbst dort nur unter Schwierigkeiten kaufen.
Während die Zeit verging und das planlose Gewehrfeuer über die Hügel knatterte, fragte ich mich mit wachsendem Skeptizismus, ob sich jemals etwas ereignen würde, was ein wenig Leben oder besser ein bisschen Tod in diesen schielenden Krieg brächte. Wir kämpften gegen die Lungenentzündung, aber nicht gegen Soldaten. Wenn die Schützengräben mehr als fünfhundert Meter auseinander liegen, wird niemand getroffen, es sei denn durch einen Zufall. Natürlich gab es Verletzte und Tote, aber die meisten durch eigene Schuld. Wenn ich mich recht erinnere, wurden die ersten fünf Verwundeten, die ich in Spanien sah, alle durch unsere eigenen Waffen verletzt, nicht absichtlich, aber durch einen Unfall oder durch Unvorsichtigkeit. Unsere ausgeleierten Gewehre waren eine Gefahr für sich. Einige hatten die böse Angewohnheit loszugehen, wenn man mit dem Kolben auf den Boden stieß. Ich sah, wie sich so ein Mann durch die Hand schoss. In der Dunkelheit schossen die unausgebildeten Rekruten immer aufeinander. Eines Abends, als die Dämmerung kaum eingesetzt hatte, schoss ein Wachtposten aus einer Entfernung von zwanzig Meter auf mich. Er schoss etwa einen Meter vorbei, und wer weiß, wie oft die spanische Qualität der Schießkunst mein Leben gerettet hat. Ein anderes Mal war ich zur Erkundung in den Nebel hinausgegangen und hatte vorher den Wachtkommandanten sorgfältig gewarnt. Aber als ich zurückkam, stolperte ich über einen Busch, und der überraschte Wachtposten rief, die Faschisten kämen. Ich hörte voller Vergnügen, wie der Wachtkommandant befahl, jeder solle schnelles Feuer in meine Richtung eröffnen. Natürlich warf ich mich hin, und die Kugeln flogen, ohne mich zu verletzen, über mich hinweg. Nichts wird einen Spanier, zumindest einen jungen Spanier, davon überzeugen, dass Gewehre gefährlich sind. Einmal, einige Zeit nach diesem Vorfall, fotografierte ich einige Schützen mit ihrem Maschinengewehr, das direkt auf mich gerichtet war.
»Schießt nicht«, sagte ich halb im Scherz, als ich meine Kamera einstellte.
»O nein, wir werden nicht schießen.«
Im nächsten Augenblick gab es einen fürchterlichen Donner, und der Kugelregen zischte so nahe an meinem Gesicht vorbei, dass meine Wange von den Pulverkörnern verletzt wurde. Es war ohne Absicht geschehen, aber die Maschinengewehrschützen hielten es für einen großartigen Witz. Nur einige Tage früher jedoch hatten sie gesehen, wie ein Maultiertreiber aus Versehen von einem politischen Abgeordneten erschossen wurde, als er mit einer automatischen Pistole Unfug trieb und dabei fünf Kugeln in die Lunge des Maultiertreibers jagte.
Eine gewisse Gefahr waren auch die schwierigen Paroleworte, die von der Armee zu dieser Zeit gebraucht wurden. Es waren jene langweiligen doppelten Paroleworte, bei denen ein Wort das andere beantworten muss. Normalerweise waren sie erhebend und revolutionär, so wie etwa cultura — progreso oder seremos - invencibles. Oft war es unmöglich, den unwissenden Wachtposten beizubringen, diese hochtrabenden Worte zu behalten. Ich erinnere mich, dass eines Nachts die Parole hieß: Cataluna — eroica. Ein mondgesichtiger Bauernjunge mit Namen Jaime Domenech näherte sich mir sehr verwirrt und bat mich um eine Erklärung:
»Eroica — was heißt eroica?«
Ich erklärte ihm, es bedeute das gleiche wie valiente. Etwas später stolperte er in der Dunkelheit durch den Schützengraben, und der Wachtposten rief ihm zu:
»Alto! Cataluna!«
»Valiente!« rief Jaime, überzeugt, dass er das richtige Wort sage.
Peng!
Aber der Wachtposten schoss an ihm vorbei. In diesem Kriege schoss immer jeder an jedem vorbei, wenn es irgendwie menschenmöglich war.

 

Viertes Kapitel

Nachdem ich etwa drei Wochen an der Front gelegen hatte, kam eine Abteilung von zwanzig oder dreißig Mann in Alcubierre an, die von der I.L.P. (Independent Labour Party) aus England geschickt wurden. Um die Engländer an diesem Frontabschnitt zusammenzuhalten, leitete man Williams und mich zu ihnen. Unsere neue Stellung lag bei Monte Oscuro, einige Kilometer weiter westlich und in Sichtweite von Saragossa.
Die Stellung saß hoch auf dem Kalkgestein wie auf der Schneide einer Rasierklinge. Die Unterstände waren waagerecht in die Klippen gebohrt, Nester von Uferschwalben. Sie gingen über eine erstaunliche Entfernung hinweg in den Boden. Im Inneren waren sie pechschwarz und so niedrig, dass man nicht einmal darin knien, geschweige denn stehen konnte. Auf den Hügelkuppen zu unserer Linken lagen zwei weitere P.O.U.M.-Stellungen. Eine davon faszinierte jeden Soldaten in der ganzen Kampflinie, denn dort gab es drei weibliche Angehörige der Miliz, die das Essen kochten. Diese Frauen waren nicht gerade schön, aber es erwies sich als notwendig, den Soldaten anderer Kompanien den Zugang zu dieser Stellung zu verbieten. Fünfhundert Meter weiter auf unserer Rechten lag eine Stellung der P.S.U.C. an einer Kurve der Straße nach Alcubierre. Genau an dieser Stelle ging die Straße in andere Hände über. Nachts sah man die Lichter unserer Nachschub-Lastwagen, die sich aus Alcubierre herauswanden, und gleichzeitig die Lichter der faschistischen Wagen, die von Saragossa kamen. Man konnte Saragossa selbst sehen: eine dünne Lichterkette gleich den erleuchteten Bullaugen eines Schiffes, neunzehn Kilometer südwestwärts. Die Regierungstruppen hatten seit August 1936 aus der gleichen Entfernung dort hinübergestarrt, und sie starren immer noch dorthin.
Wir waren etwa dreißig Engländer, einschließlich eines Spaniers (Ramón, der Schwager von Williams), und ein Dutzend spanischer Maschinengewehrschützen. Außer den unvermeidlichen vereinzelten Abenteurern — wie jeder weiß, zieht der Krieg Rauhbeine an - waren die Engländer sowohl körperlich wie auch geistig eine außergewöhnlich gute Gruppe. Bob Smillie - der Enkel des berühmten Bergarbeiterführers - war vielleicht der beste der ganzen Meute. In Valencia fand er später einen unglücklichen und sinnlosen Tod. Es ist bezeichnend für den spanischen Charakter, dass die Engländer und Spanier trotz der Sprachschwierigkeiten immer so gut miteinander auskamen. Wir entdeckten, dass alle Spanier zwei englische Ausdrücke kannten. Einer lautete »O. K., baby«, der andere war ein Wort, das die Huren von Barcelona im Umgang mit englischen Seeleuten gebrauchten, und ich vermute, der Setzer würde es nicht drucken.
Wieder einmal ereignete sich an der ganzen Front nichts. Nur das vereinzelte Pfeifen von Kugeln und, sehr selten, das Krachen eines faschistischen Granatwerfers, worauf alle zum obersten Schützengraben stürzten, um zu sehen, auf welchem Hügel die Granaten explodierten. Der Gegner war uns hier etwas näher, vielleicht drei- oder vierhundert Meter weit weg. Seine nächste Stellung lag uns genau gegenüber, und zwar war es ein Maschinengewehrnest, dessen Sehschlitz uns dauernd in Versuchung führte, Patronen zu verschwenden. Die Faschisten machten sich selten die Mühe, mit Gewehren zu schießen, aber sie überschütteten jeden, der sich zur Schau stellte, mit einem sehr genau gezielten Maschinengewehrfeuer. Trotzdem dauerte es mehr als zehn Tage, ehe wir den ersten Verlust hatten. Die uns gegenüberliegenden Truppen waren Spanier, aber nach Aussagen von Deserteuren befanden sich unter ihnen etliche deutsche Unteroffiziere. Einige Zeit vorher waren dort auch Mauren — arme Teufel, wie müssen sie die Kälte gespürt haben -, ein toter Maure lag draußen im Niemandsland, eine der Sehenswürdigkeiten dieser Stellung. Etwa eineinhalb bis drei Kilometer links von uns endete der zusammenhängende Verlauf der Front. Dort gab es ein Stück niedrigliegendes, dichtbewaldetes Land, das weder den Faschisten noch uns gehörte. Sowohl wir als auch sie schickten am Tage Spähtrupps dorthin. Das war kein schlechter Spaß, eine Art Pfadfinderübung, obwohl ich niemals einen faschistischen Spähtrupp näher als in einer Entfernung von mehreren hundert Metern sah. Wenn man möglichst viel auf dem Bauch kroch, konnte man sich seinen Weg stellenweise durch die faschistischen Linien bahnen und sogar ein Bauernhaus sehen, auf dem eine monarchistische Fahne flatterte. Es war das örtliche faschistische Hauptquartier. Gelegentlich feuerten wir eine Gewehrsalve darauf ab und schlüpften in Deckung, ehe die Maschinengewehre uns entdecken konnten. Ich hoffe, wir zerbrachen ein paar Fenster, aber es lag gut achthundert Meter weit fort, und bei unseren Gewehren wusste man nicht einmal mit Sicherheit, ob man auf diese Entfernung ein Haus traf.
Das Wetter war meistens klar und kalt. Manchmal mittags sonnig, aber immer kalt. Hier und da fand man im Erdreich des Abhangs grüne Spitzen, wilde Krokusse oder Iris, die ans Licht drängten. Offenbar kam der Frühling, aber er kam sehr langsam. Die Nächte waren kälter denn je. Wenn wir in den frühen Morgenstunden von der Wache zurückkehrten, kratzten wir zusammen, was noch vom Feuer in der Kochstelle übrig war, und stellten uns in die rotglühende Asche. Das war schlecht für unsere Stiefel, aber sehr gut für unsere Füße. An manchem Morgen lohnte der Anblick der Morgendämmerung über den Bergspitzen fast, zu solch gottloser Stunde nicht im Bett zu sein. Ich hasse Berge, selbst wenn sie großartig aussehen. Aber manchmal war es der Mühe wert, den Anbruch des Morgengrauens hinter den Hügelspitzen in unserem Rücken, die ersten schmalen goldenen Strahlen, die wie Schwerter durch die Dunkelheit schnitten, und dann das wachsende Licht und das Meer karmesinfarbener Wolken, die sich in eine unabsehbare Ferne hinaus erstreckten, zu beobachten, selbst wenn man die ganze Nacht aufgewesen war, die Füße von den Knien abwärts kein Gefühl mehr hatten und man mürrisch darüber nachdachte, dass keine Hoffnung bestand, innerhalb der nächsten drei Stunden etwas zu essen zu bekommen. Ich sah die Morgendämmerung in diesem Feldzug öfter als in meinem ganzen übrigen Leben - oder auch während des Teils meines Lebens, der, wie ich hoffe, noch vor mir liegt.
Wir hatten hier nicht genügend Leute, und das bedeutete längere Wachen und mehr Arbeitsdienst. Ich litt ein wenig unter Mangel an Schlaf, das ist aber selbst während der ruhigsten Zeit eines Krieges unvermeidlich. Neben dem Wachdienst und den Spähtrupps gab es dauernd Nachtalarm und Schießbereitschaft. Auf jeden Fall kann man in einem abscheulichen Bodenloch nicht richtig schlafen, wenn die Füße vor Kälte schmerzen. Ich glaube aber nicht, dass ich während meiner ersten drei oder vier Monate an der Front mehr als ein dutzendmal jeweils vierundzwanzig Stunden ohne jeden Schlaf blieb. Andererseits erlebte ich sicher kein Dutzend Nächte mit ununterbrochenem Schlaf. Zwanzig bis dreißig Stunden Schlaf in einer Woche war eine ganz normale Menge. Die Auswirkungen waren nicht so schlecht, wie man vermuten möchte. Man wurde allmählich sehr abgestumpft, und es wurde immer schwieriger statt leichter, die Hügel hinauf- und hinunterzuklettern. Aber man fühlte sich wohl und war immer hungrig - Himmel, wie hungrig! Jedes Essen schien gut, selbst die ewigen Stangenbohnen, deren Anblick schließlich jeder in Spanien hassen lernte. Was wir, wenn überhaupt, an Wasser bekamen, wurde kilometerweit auf dem Rücken von Maultieren oder kleinen, geplagten Eseln herbeigebracht. Aus irgendeinem Grunde behandelten die Bauern in Aragonien ihre Maultiere sehr gut, die Esel aber abscheulich. Wenn ein Esel sich weigerte weiterzugehen, war es durchaus üblich, ihn in die Geschlechtsteile zu treten. Jetzt wurden keine Kerzen mehr ausgegeben, und auch Streichhölzer waren knapp. Die Spanier lehrten uns, wie man Lampen für Olivenöl aus Dosen für kondensierte Milch, einem Patronenrahmen und einem Stückchen Lumpen macht. Wenn man Olivenöl hatte, was nicht oft vorkam, brannten diese Dinger unter rauchigem Flackern ungefähr ein Viertel so hell wie ein Kerzenlicht, aber gerade genug, um bei diesem Licht das Gewehr zu finden.
Es gab anscheinend keine Hoffnung auf richtige Kämpfe. Als wir Monte Pocero verließen, hatte ich meine Patronen gezählt und festgestellt, dass ich während fast drei Wochen nur drei Schüsse auf den Feind abgegeben hatte. Es heißt, man brauche tausend Kugeln, um einen Mann zu töten. Bei dem Tempo würde es zwanzig Jahre dauern, bis ich meinen ersten Faschisten getötet hätte. Bei Monte Oscuro lagen sich die Kampflinien näher, und man feuerte öfter, aber ich bin ziemlich sicher, dass ich nie jemanden getroffen habe. Tatsächlich war an dieser Front und zu dieser Zeit des Krieges die wirkliche Waffe nicht das Gewehr, sondern das Megaphon. Da man den Feind nicht töten konnte, schrie man statt dessen zu ihm hinüber. Diese Methode der Kriegführung ist so außergewöhnlich, dass ich sie beschreiben muss.
Dort, wo sich die Kampflinien auf Rufweite gegenüberlagen, gab es immer allerhand Geschrei von Schützengraben zu Schützengraben. Von uns: »Fascistas - maricones!« Von den Faschisten: »Viva Espana! Viva Franco!« — oder wenn sie wussten, dass ihnen Engländer gegenüberlagen: »Geht nach Hause, ihr Engländer! Wir wollen keine Fremden hier!« Auf der Regierungsseite, in den Parteimilizen, hatte man das Propagandageschrei zur Unterminierung der geg-
nerischen Moral zu einer richtigen Technik entwickelt. In jeder günstig gelegenen Stellung wurden Soldaten, gewöhnlich Maschinengewehrschützen, als »Schreier vom Dienst« abkommandiert und mit Megaphonen ausgerüstet. Im allgemeinen verkündeten sie einen festgelegten Text voller revolutionärer Töne, worin den faschistischen Soldaten erklärt wurde, dass sie bloß Söldlinge des internationalen Kapitalismus seien, dass sie gegen ihre eigene Klasse kämpften und so fort, und man beschwor sie, auf unsere Seite zu kommen. Diese Parolen wurden von sich ununterbrochen ablösenden Propagandisten wiederholt, manchmal dauerte es fast die ganze Nacht. Es ist kaum zu bezweifeln, dass dies eine Wirkung ausübte. Jeder stimmte damit überein, dass die vereinzelt zu uns kommenden faschistischen Deserteure teilweise durch diese Parolen beeinflusst wurden. Wenn man sich vorstellt, dass irgendein armer Teufel - sehr wahrscheinlich ein sozialistisches oder anarchistisches Gewerkschaftsmitglied, gegen seinen Willen zur Wehrpflicht gezwungen - auf seinem Wachtposten fror, so musste die Parole »Kämpfe nicht gegen deine eigene Klasse!«, die dauernd durch die Nacht klang, vielleicht gerade die schmale Grenze zwischen Fahnenflucht und Aushalten bei ihm berühren. Natürlich stimmt dieses Verfahren nicht mit der englischen Anschauung vom Krieg überein. Ich gebe zu, dass ich erstaunt und empört war, als ich zum ersten Mal sah, wie es gemacht wurde. Man denke sich, ein Versuch, den Feind zu überreden, statt ihn zu erschießen! Heute jedoch bin ich der Meinung, dass es in jeder Hinsicht eine legitime Kriegslist war. Im gewöhnlichen Stellungskrieg ist es ohne Artillerie äußerst schwierig, dem Feind Verluste beizubringen, ohne sie in gleicher Höhe selbst zu erleiden. Um so besser ist es, wenn man eine bestimmte Anzahl von Gegnern ausschalten kann, indem man sie zur Fahnenflucht überredet. Deserteure sind sogar nützlicher als Leichen, denn sie können Informationen geben. Aber anfangs brachte uns das alles zur Verzweiflung. Es gab uns das Gefühl, dass die Spanier ihren Krieg nicht genügend ernst nähmen. Der Mann, der die Parolen auf dem P.S.U.C.-Posten rechts unterhalb von uns hinüberschrie, war ein Künstler in seinem Beruf. Statt revolutionäre Losungen zu verbreiten, erzählte er manchmal den Faschisten, wie viel besser als sie wir ernährt würden. Sein Bericht über die Rationen auf der Regierungsseite neigte dazu, ein bisschen phantasiereich zu sein: »Toast mit Butter!« -man konnte seine Stimme als Echo über das einsame Tal schallen hören. »Wir setzen uns hier gerade hin und essen gebutterten Toast! Liebliche Schnitten mit gebuttertem Toast!« Ich zweifle nicht, dass er während der letzten Wochen oder Monate genau wie jeder von uns Butter nicht gesehen hatte. Aber wahrscheinlich ließ in einer eiskalten Nacht die Ankündigung von gebuttertem Toast vielen Faschisten das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sogar mir lief es im Mund zusammen, obwohl ich wusste, dass er log.
Im Februar sahen wir eines Tages, wie sich uns ein faschistisches Flugzeug näherte. Wie gewöhnlich wurde ein Maschinengewehr nach draußen gezerrt und sein Lauf aufwärts gerichtet. Jeder lag auf dem Rücken, um gut zielen zu können. Unsere isolierten Stellungen waren keine Bombe wert, und in der Regel machten die wenigen faschistischen Flugzeuge, die über uns hinwegflogen, einen Bogen um uns herum, um dem Maschinengewehrfeuer zu entgehen. Dieses Mal kam das Flugzeug gerade über uns hinweg, aber zu hoch, als dass es sich gelohnt hätte, darauf zu schießen. Es fielen auch keine Bomben, sondern weiße, glitzernde Dinger heraus, die sich in der Luft dauernd überschlugen. Einige flatterten in unsere Stellung herab. Es waren faschistische Zeitungen, Nummern des Heraldo de Aragon, die den Fall von Malaga ankündigten.
Während dieser Nacht unternahmen die Faschisten einen ziemlich fruchtlosen Angriff. Ich legte mich gerade todmüde nieder, als ein dichter Kugelregen über unsere Köpfe hinwegpfiff und jemand in den Unterstand rief: »Sie greifen an!« Ich riss mein Gewehr an mich und schlitterte auf meinen Posten auf dem Gipfel der Stellung, neben dem Maschinengewehr. Es war vollständig dunkel, und draußen herrschte ein teuflischer Lärm. Ich glaube, das Feuer aus fünf Maschinengewehren richtete sich auf uns, und man hörte eine Reihe heftiger Explosionen, die davon herrührten, dass die Faschisten in idiotischer Weise Handgranaten über ihre eigene Brustwehr warfen. Es war vollständig dunkel. Links von uns unten im Tal konnte ich die grünlichen Blitze von Gewehrfeuer sehen, dort streifte eine kleine faschistische Abteilung, vermutlich ein Spähtrupp, herum. In der Dunkelheit flogen die Kugeln um uns herum, krach - zack -krach. Ein paar Granaten rauschten über uns hinweg, aber sie fielen nicht in unserer Nähe nieder, und die meisten explodierten nicht (wie es in diesem Krieg üblich war). Mir war nicht wohl zumute, als von der Hügelkuppe hinter uns noch ein weiteres Maschinengewehr das Feuer eröffnete -tatsächlich hatte man ein Maschinengewehr dorthin gebracht, um uns zu helfen. Aber damals sah es so aus, als seien wir umzingelt. In diesem Augenblick klemmte unser eigenes Maschinengewehr, so wie es immer mit diesen verfluchten Patronen klemmte, und der Ladestock war in der undurchdringlichen Finsternis unauffindbar. Anscheinend konnte man nichts tun, als stillzuhalten und auf sich schießen zu lassen. Die spanischen Maschinengewehrschützen hielten es für unter ihrer Würde, in Deckung zu gehen, ja, in der Tat stellten sie sich absichtlich heraus, und so musste ich das gleiche tun. Unbedeutend, wie es sein mochte, war doch das ganze Erlebnis sehr aufschlussreich. Es war das erste Mal, dass ich im eigentlichen Sinne unter Feuer gelegen hatte, und zu meiner Demütigung merkte ich, dass ich schreckliche Angst hatte. Man empfindet, wenn man unter heftigem Feuer liegt, immer das gleiche, nicht so sehr, dass man Angst hat, getroffen zu werden, als vielmehr Angst davor, dass man nicht weiß, wo man getroffen wird. Man fragt sich die ganze Zeit, wo einen die Kugel erwischen wird, und das gibt dem gesamten Körper eine fast unangenehme Empfindlichkeit.
Nach ein oder zwei Stunden etwa ebbte das Schießen allmählich ab und legte sich schließlich vollständig. Unterdessen hatten wir nur einen Verlust. Die Faschisten hatten ein paar Maschinengewehre ins Niemandsland vorverlegt, aber sie hatten sich in sicherer Entfernung gehalten und machten keinen Versuch, unsere Befestigung anzugreifen. Tatsächlich griffen sie überhaupt nicht an, sondern verschwendeten nur Patronen und machten einen begeisterten Lärm, um den Fall von Malaga zu feiern.
Die hauptsächliche Bedeutung dieses Vorfalls bestand darin, dass er mich lehrte, die Kriegsnachrichten in den Zeitungen mit etwas ungläubigeren Augen zu lesen. Ein oder zwei Tage später veröffentlichten die Zeitungen und der Rundfunk Berichte über einen riesigen Angriff mit Kavallerie und Tanks (einen senkrechten Abhang hinauf), der von den heroischen Engländern abgeschlagen worden sei.
Als die Faschisten uns berichteten, Malaga sei gefallen, hielten wir es für eine Lüge. Aber am nächsten Tag gab es überzeugendere Gerüchte, und es muss ein oder zwei Tage später gewesen sein, dass es offiziell zugegeben wurde. Allmählich kam die ganze schimpfliche Geschichte heraus - wie die Stadt, ohne einen Schuss abzufeuern, evakuiert wurde und wie die Wut der Italiener sich nicht auf die Truppen gerichtet hatte, die abgezogen waren, sondern auf die bejammernswerte Zivilbevölkerung, die teilweise über mehr als hundertfünfzig Kilometer verfolgt und mit Maschinengewehren niedergemacht wurde. Diese Nachricht bewirkte an der ganzen Front eine Art Abkühlung, denn was auch immer die Wahrheit gewesen sein mag, jedermann in der Miliz glaubte, dass der Verlust von Malaga die Folge von Verrat war. Damals hörte ich zum ersten Mal das Gerede von Verrat oder getrennten Zielen. Das weckte in meinem Gehirn die ersten vagen Zweifel an diesem Krieg, in dem bisher das Richtige und das Falsche auseinander zuhalten so wundervoll einfach zu sein schien.
Mitte Februar verließen wir Monte Oscuro und wurden zusammen mit allen P.O.U.M.-Truppen dieses Abschnitts der Armee einverleibt, die Huesca belagerte. Das bedeutete eine Reise von achtzig Kilometern auf dem Lastwagen über die winterliche Ebene, wo die beschnittenen Rebstöcke noch nicht ausschlugen und die Halme des Winterroggens gerade durch den bröckligen Boden sprießten. Vier Kilometer vor unseren neuen Schützengräben glitzerte Huesca klein und klar wie eine Stadt von Puppenhäusern. Vor Monaten, nach der Eroberung Sietamos, hatte der General, der die Regierungstruppen befehligte, gut aufgelegt gesagt: »Morgen werden wir in Huesca Kaffee trinken.« Es stellte sich heraus, dass er unrecht hatte. Blutige Angriffe wurden geführt, aber die Stadt fiel nicht, und der Ausspruch »Morgen werden wir in Huesca Kaffee trinken« wurde zu einem ständigen Witz in der ganzen Armee. Wenn ich jemals nach Spanien zurückgehe, werde ich darauf bestehen, eine Tasse Kaffee in Huesca zu trinken.

 

Fünftes Kapitel

Östlich von Huesca ereignete sich bis spät in den März hinein nichts - fast buchstäblich nichts. Wir lagen zwölfhundert Meter weit vom Gegner entfernt. Als die Faschisten nach Huesca zurückgetrieben wurden, hatten sich die Truppen der republikanischen Armee, die diesen Frontabschnitt hielten, bei ihrem Vormarsch nicht übereifrig gezeigt, und so formte sich die Front hier wie eine Tasche. Später musste sie vorverlegt werden - sicher unter Beschuss eine heikle Sache -, aber augenblicklich hätte der Feind ebenso gut gar nicht vorhanden sein können. Unsere einzige Beschäftigung bestand darin, uns warm zu halten und genug zu essen zu bekommen. Tatsächlich gab es einiges, was mich während dieser Zeit interessierte, und ich werde später davon berichten. Aber ich halte mich wohl enger an den Ablauf der Ereignisse, wenn ich hier zunächst versuche, eine Darstellung der innenpolitischen Situation auf der Regierungsseite zu geben.
Anfangs hatte ich mich wenig um die politische Seite des Krieges gekümmert, aber ungefähr um diese Zeit begann ich meine Aufmerksamkeit auch darauf zu richten. Wer nicht an den Wirrnissen der Parteipolitik interessiert ist, überschlägt am besten die nächsten Seiten. Aus diesem Grund bemühe ich mich auch, die politische Seite dieser Erzählung in getrennten Kapiteln zu halten. Es wäre darüber hinaus ganz unmöglich, nur unter rein militärischen Gesichtspunkten über den Spanischen Krieg zu schreiben. Es war nämlich vor allen Dingen ein politischer Krieg. Kein Ereignis, besonders aus den ersten Jahren, ist verständlich ohne eine gewisse Kenntnis von dem Kampf zwischen den Parteien, der sich hinter der Frontlinie der Regierungsseite abspielte. Als ich nach Spanien kam, und auch einige Zeit später, interessierte ich mich nicht nur nicht für die politische Situation, sondern sie kam mir nicht einmal zum Bewusstsein. Ich wusste, dass es Krieg gab, aber ich hatte keine Ahnung, was für eine Art von Krieg das war. Wenn man mich gefragt hätte, warum ich mich der Miliz angeschlossen hatte, so würde ich geantwortet haben: »Um gegen den Faschismus zu kämpfen.« Wenn man mich gefragt hätte, wofür ich kämpfte, würde ich geantwortet haben: »Für allgemeine Anständigkeit.« Ich hatte mich mit der Version von News Chronicle - New Statesman abgefunden, die diesen Krieg als die Verteidigung der Zivilisation gegen den verrückten Aufstand einer Armee von reaktionären Obristen vom Typ des Colonel Blimp (Anm.: Karikaturgestalt von David Low als Sinnbild des reaktionären Engländers.) im Solde Hitlers schilderten. Die revolutionäre Atmosphäre von Barcelona hatte mich sehr stark gefesselt, aber ich hatte keinen Versuch gemacht, sie zu verstehen.
Das Kaleidoskop der politischen Parteien und Gewerkschaften mit ihren langweiligen Namen — P.S.U.C, P.O.U.M., F.A.I., C.N.T., U.G.T., J.C.I., J.S.U., A.I.T. - brachte mich nur in Verzweiflung. Auf den ersten Blick sah es so aus, als leide ganz Spanien an einer Abkürzungspest. Ich wusste, dass die Gruppe, in der ich diente, P.O.U.M. hieß (ich hatte mich der P.O.U.M.-Miliz und keiner anderen nur deshalb angeschlossen, weil ich in Barcelona zufällig mit I.L.P.-Papieren ankam). Aber ich hatte keine Ahnung, dass es zwischen den politischen Parteien ernstliche Unterschiede gab. Wenn jemand bei Monte Pocero auf die Stellung zu unserer Linken zeigte und sagte: »Das sind die Sozialisten« (also die P.S.U.C), war ich verwirrt und sagte: »Sind wir nicht alle Sozialisten?« Ich fand es idiotisch, dass Leute, die um ihr Leben kämpften, verschiedenen Parteien angehören sollten. Meine Einstellung lautete immer: »Warum können wir nicht all diesen politischen Unsinn fallenlassen und einfach mit dem Krieg weitermachen?« Das war natürlich die richtige >antifaschistische< Haltung, die von den englischen Zeitungen sehr sorgfältig verbreitet wurde, hauptsächlich um die Leute davon abzuhalten, die wahre Natur des Kampfes zu begreifen. In Spanien jedoch, besonders in Katalonien, konnte niemand diese Ansicht lange aufrechterhalten. Jeder auch noch so Uneinsichtige musste früher oder später Partei ergreifen. Selbst wenn man für die politischen Parteien und ihre sich befehdenden Ansichten nichts übrig hatte, konnte man nicht übersehen, wie eng das eigene Schicksal damit verknüpft war. Als Milizsoldat war man ein Soldat gegen Franco, aber man war auch eine Schachfigur in dem riesigen Kampf, der zwischen zwei politischen Theorien ausgefochten wurde. Wenn ich am Berghang verzweifelt nach Brennholz suchte und mich wunderte, ob das wirklich Krieg war oder ob die News Chronicle ihn nur erfunden hätte, als ich mich vor dem Feuer der kommunistischen Maschinengewehre während des Aufruhrs in Barcelona duckte und als ich schließlich mit der Polizei auf meinen Fersen aus Spanien floh - geschah das, weil ich in der P.O.U.M.-Miliz diente und nicht in der P.S.U.C. So groß ist der Unterschied zwischen zwei Abkürzungen!
Um die verschiedenen Auffassungen auf der Regierungsseite zu verstehen, muss man sich daran erinnern, wie der Krieg ausbrach. Als die Kämpfe am 18. Juli begannen, spürte wahrscheinlich jeder Antifaschist in Europa eine erregende Hoffnung, denn hier stand anscheinend endlich die Demokratie gegen den Faschismus auf. Während der letzten Jahre hatten sich die demokratischen Staaten Schritt für Schritt dem Faschismus unterworfen. Man hatte den Japanern erlaubt, in der Mandschurei zu tun, was sie wollten. Hitler war zur Macht gekommen und fuhr fort, die politischen Gegner aller Schattierungen zu massakrieren. Mussolini hatte die Abessinier bombardiert, während dreiundfünfzig Nationen (ich glaube, es waren dreiundfünfzig) abseits standen und fromme Sprüche von sich gaben. Aber als Franco versuchte, eine gemäßigt links orientierte Regierung zu stürzen, lehnten sich entgegen allen Erwartungen die spanischen Menschen gegen ihn auf. Es schien - vielleicht war es sogar - die Wende der Flut.
Aber es gab gewisse Einzelheiten, die sich der allgemeinen Aufmerksamkeit entzogen. Zunächst einmal konnte man Franco strenggenommen nicht mit Hitler oder Mussolini vergleichen. Sein Aufstieg war eine militärische Meuterei, die von der Aristokratie und der Kirche unterstützt wurde, und vor allem war es besonders am Anfang weniger ein Versuch, den Faschismus durchzusetzen, als den Feudalismus wiederherzustellen. Das bedeutete, dass sich nicht nur die Arbeiterklasse, sondern auch verschiedene Kreise der liberalen Bourgeoisie gegen Franco stellten - gerade jene Leute, die den Faschismus in seiner moderneren Form sonst unterstützen. Noch wichtiger war, dass die spanische Arbeiterklasse Franco nicht, wie es vielleicht denkbar gewesen wäre, im Namen der Demokratie und des Status quo widerstand. Ihr Widerstand wurde begleitet, oder man könnte fast sagen, er nährte sich eigentlich aus einem kompromisslosen revolutionären Aufbegehren. Die Bauern bemächtigten sich des Grund und Bodens, viele Fabriken und der größte Teil des Transportsystems wurden von den Gewerkschaften übernommen, Kirchen wurden zerstört und die Priester weggetrieben oder getötet. Unter dem Beifall des katholischen Klerus konnte die Daily Mail Franco als einen Patrioten darstellen, der sein Land von einer Horde teuflischer »Roter« befreite.
Während der ersten Kriegsmonate waren Francos wirkliche Gegner weniger die Regierung als die Gewerkschaften. Sobald die Revolution ausbrach, antworteten die organisierten Arbeiter in den Städten mit der Ausrufung des Generalstreiks und verlangten dann Waffen aus den öffentlichen Arsenalen, die sie nach einigen Kämpfen auch erhielten. Falls sie nicht spontan und mehr oder weniger unabhängig gehandelt hätten, wäre es gut denkbar, dass niemand Franco widerstanden hätte. Natürlich gibt es darüber keine Gewissheit, aber es gibt zumindest Gründe, es anzunehmen. Die Regierung hatte wenig oder gar keine Versuche unternommen, dem Aufruhr zuvorzukommen, den man so lange Zeit vorausgesehen hatte. Als die Schwierigkeiten begannen, war ihre Haltung schwach und zögernd; ja so schwach, dass es in Spanien an einem Tag drei Premierminister gab (Anm.: Quiroga, Barrios und Giral. Die beiden ersten weigerten sich, Waffen an die Gewerkschaften zu verteilen.). Außerdem wurde die Bewaffnung der Arbeiter, vermutlich der einzige Schritt, die unmittelbare Situation zu retten, nur unwillig und als Antwort auf den ungestümen Tumult des Volkes vollzogen. Aber schließlich wurden die Waffen doch verteilt. In den großen Städten Ostspaniens wurden die Faschisten durch eine gewaltige Anstrengung zurückgeschlagen, vor allem durch die Arbeiterklasse, die von einigen bewaffneten Truppen (der Guardia de Asalto und so weiter) unterstützt wurden, die der Regierung treu geblieben waren. Es war eine Anstrengung, deren wahrscheinlich nur Menschen fähig sind, die mit einer revolutionären Absicht kämpfen, das heißt, die daran glauben, für etwas Besseres zu kämpfen als für den Status quo. Es wird angenommen, dass in den verschiedenen Zentren der Revolution an einem Tag dreitausend Menschen in den Straßen umkamen. Männer und Frauen rannten, nur mit Dynamitstäben bewaffnet, über offene Plätze und stürmten Gebäude, die von geübten Soldaten mit Maschinengewehren verteidigt wurden. Maschinengewehrnester, die die Faschisten an strategischen Stellen aufgestellt hatten, wurden zerstört, indem Taxis mit einer Geschwindigkeit von hundert Kilometern auf sie zurasten. Selbst wenn man nichts von der Landergreifung durch die Bauern gehört hatte, von der Einrichtung örtlicher Sowjets und so weiter, konnte man kaum glauben, dass die Anarchisten und Sozialisten, die das Rückgrat des Widerstandes waren, so etwas taten, um die kapitalistische Demokratie zu erhalten. Besonders nach Ansicht der Anarchisten war die Demokratie ja nichts weiter als eine zentralisierte Lügenmaschine.
Inzwischen hatten die Arbeiter Waffen in Händen und weigerten sich, sie zu diesem Zeitpunkt wieder abzugeben. (Selbst ein Jahr später wurde überschlägig festgestellt, dass die anarchistischen Syndikalisten in Katalonien dreißigtausend Gewehre besaßen.) Die Güter der großen profaschistischen Landbesitzer wurden vielerorts von den Bauern erobert. Zusammen mit der Kollektivierung der Industrie und des Transportwesens machte man den Versuch, die ersten Anfänge einer Arbeiterregierung zu bilden. Es wurden örtlich Ausschüsse eingesetzt, Arbeiterpatrouillen sollten die alte prokapitalistische Polizeimacht ersetzen, die Arbeitermiliz baute auf den Gewerkschaften auf und so weiter. Natürlich war dieser Prozess nicht einheitlich und machte in Katalonien größere Fortschritte als anderswo. Es gab Gegenden, wo die Institutionen der örtlichen Regierungsgewalt fast unberührt blieben, und andere, wo sie Seite an Seite mit den Revolutionskomitees existierten. An einigen Orten wurden unabhängige, anarchistische Kommunen errichtet; einige bestanden ein Jahr lang, bis sie mit Gewalt durch die Zentralregierung unterdrückt wurden. In Katalonien lag die tatsächliche Gewalt während der ersten Monate in den Händen der anarchistischen Syndikalisten, die die meisten Schlüsselindustrien kontrollierten. Was sich in Spanien ereignet hatte, war tatsächlich nicht nur ein Bürgerkrieg, sondern der Beginn einer Revolution. Die antifaschistische Presse außerhalb Spaniens hat sich besonders bemüht, diese Tatsache zu verschleiern. Die Streitfrage wurde auf die Formel »Faschismus gegen Demokratie« zusammengedrängt und der revolutionäre Aspekt so gut wie möglich verborgen. In England, wo die Presse zentralisierter ist und die Öffentlichkeit leichter als sonst wo betrogen werden kann, erhielten nur zwei Versionen des Spanischen Krieges irgendeine nennenswerte Publizität: die Version der Rechtsgerichteten, wonach christliche Patrioten gegen bluttriefende Bolschewisten kämpften, und die Version der Linksgerichteten, wonach republikanische Gentlemen eine militärische Revolte unterdrückten. Der Hauptstreitpunkt wurde mit Erfolg verschwiegen.
Dafür gab es verschiedene Gründe. Zunächst einmal wurden von der profaschistischen Presse erschreckende Lügen über Gräueltaten verbreitet, und wohlmeinende Propagandisten dachten ohne Zweifel, dass sie der spanischen Regierung halfen, wenn sie verschleierten, dass Spanien >rot geworden< war. Aber der Hauptgrund war folgender: Außer kleinen revolutionären Gruppen, die in allen Ländern existieren, war die ganze Welt entschlossen, eine Revolution in Spanien zu verhüten. Besonders die kommunistische Partei, mit der Sowjetunion im Rücken, hatte ihr ganzes Gewicht gegen die Revolution geworfen. Die kommunistische These lautete, eine Revolution zu diesem Zeitpunkt sei lebensgefährlich, und man dürfe nicht darauf hinwirken, in Spanien eine Kontrolle durch die Arbeiterschaft zu verwirklichen, sondern eine Bourgeoisdemokratie. Es braucht kaum erklärt zu werden, warum die Meinung der >liberalen< Kapitalisten in die gleiche Richtung zielte. Fremdes Kapital war in Spanien sehr stark investiert. So waren zum Beispiel in der Straßenbahngesellschaft Barcelona zehn Millionen britisches Kapital, inzwischen aber hatten die Gewerkschaften in Katalonien das ganze Transportwesen übernommen. Falls die Revolution fortschritt, würde es entweder gar keine Kompensation oder nur sehr wenig geben. Ging aber die kapitalistische Republik siegreich aus dem Kampf hervor, wären die ausländischen Investitionen sicher gewesen. Da die Revolution jedenfalls zertrümmert werden musste, vereinfachte es alles sehr, wenn man vorgab, dass keine Revolution stattgefunden habe. Auf diese Weise konnte die wirkliche Bedeutung jedes Ereignisses verschwiegen werden. Jeder Wechsel in der Macht von den Gewerkschaften zur Zentralregierung ließ sich als ein notwendiger Schritt zur militärischen Reorganisation darstellen. Die so geschaffene Situation war äußerst seltsam. Außerhalb Spaniens erkannten nur wenige Leute, dass es eine Revolution gab; im Inneren Spaniens zweifelte niemand daran. Selbst die Zeitungen der P.S.U.C., kontrolliert von den Kommunisten und mehr oder weniger einer antirevolutionären Politik verschrieben, sprachen über »unsere glorreiche Revolution«. Währenddessen schrieb die kommunistische Presse im Ausland, dass es nirgendwo auch nur ein Zeichen von Revolution gäbe. Die Übernahme der Fabriken, die Einsetzung von Arbeiterräten und so weiter war nicht geschehen oder war nach einer anderen Lesart geschehen, hatte aber »keine politische Bedeutung«. Nach dem Daily Worker (6. August 1936) waren diejenigen, die sagten, dass das spanische Volk für eine soziale Revolution oder irgend etwas anderes als die Bourgeoisdemokratie kämpfe, »ausgesprochen lügnerische Schufte«. Andererseits erklärte Juan Lopez, ein Mitglied der Regierung von Valencia, im Februar 1937, »das spanische Volk vergießt sein Blut nicht für die demokratische Republik und seine Verfassung auf dem Papier, sondern für... eine Revolution«. So mochte es den Anschein haben, dass die ausgesprochen lügnerischen Schufte sogar Mitglieder der Regierung waren, für die zu kämpfen man uns aufgefordert hatte. Einige der ausländischen antifaschistischen Zeitungen ließen sich sogar zu der erbarmungswürdigen Lüge herab, dass Kirchen nur dann angegriffen wurden, wenn sie als faschistische Befestigungen dienten. Tatsächlich wurden die Kirchen überall geplündert, und zwar in einer selbstverständlichen Weise, da man sehr genau verstand, dass die spanische Kirche ein Teil des kapitalistischen Theaters war. Im Verlauf von sechs Monaten sah ich in Spanien nur zwei unzerstörte Kirchen. Bis zum Juli 1937 erlaubte man nicht, dass eine Kirche geöffnet und Gottesdienste abgehalten wurden, außer ein oder zwei protestantischen Kirchen in Madrid.
Aber im Grunde genommen war es nur der Beginn einer Revolution und nicht deren Vollendung. Selbst wenn die Arbeiter, sicherlich in Katalonien und möglicherweise auch sonst wo, die Macht gehabt hätten, so etwas zu tun, stürzten oder verdrängten sie die Regierung nicht. Offensichtlich konnten sie es nicht tun, solange Franco gegen das Tor hämmerte und Teile des Mittelstandes auf seiner Seite waren. Das Land befand sich in einem Stadium des Übergangs, und es war möglich, dass es sich entweder in der Richtung des Sozialismus entwickelte oder aber zu einer normalen kapitalistischen Republik zurückkehrte. Die Bauern hatten jetzt das meiste Land, und sie würden es wahrscheinlich behalten, es sei denn, Franco erränge den Sieg. Alle großen Industrien waren kollektiviert worden. Ob sie aber kollektiviert blieben oder ob der Kapitalismus wieder eingeführt würde, hing schließlich davon ab, welche Gruppe die Kontrolle gewinnen würde. Für den Anfang konnte man sicher sagen, dass sowohl die Zentralregierung als auch die Generalidad de Catalufia (die halbautonome katalanische Landesregierung) die Arbeiterklasse repräsentierten. An der Spitze der Regierung stand Caballero, ein Sozialist des linken Flügels, die Minister waren Vertreter der U.G.T. (Sozialistische Gewerkschaften) und der C.N.T. (Syndikalistische Gewerkschaften, die von den Anarchisten kontrolliert wurden). Eine Zeitlang wurde die katalanische Generalidad praktisch von einem antifaschistischen Verteidigungskomitee ersetzt (Anm.: Comité Central de Milicias Antifascistas. Die Delegierten wurden im Verhältnis zur Mitgliedschaft ihrer Organisationen gewählt. Neun Delegierte vertraten die Gewerkschaften, drei die katalanische liberale Partei und zwei die verschiedenen marxistischen Parteien (P.O.U.M., Kommunisten und andere).), das hauptsächlich aus Delegierten der Gewerkschaften bestand. Später wurde das Verteidigungskomitee aufgelöst und die Generalidad neu gebildet, um die Gewerkschaften und die verschiedenen linksgerichteten Parteien zu vertreten. Aber jede der folgenden Umbildungen brachte die Regierung weiter nach rechts. Zunächst wurde die P.O.U.M. von der Generalidad ausgestoßen. Sechs Monate später wurde Caballero durch den rechtsgerichteten Sozialisten Negrin ersetzt. Kurze Zeit später wurde die C.N.T. aus der Zentralregierung ausgeschlossen, dann die U.G.T. Danach wurde die C.N.T. aus der Generalidad entfernt, und ein Jahr nach Ausbruch des Krieges und der Revolution gab es schließlich eine Regierung, die vollständig von rechtsgerichteten Sozialisten, Liberalen und Kommunisten gebildet wurde.
Der allgemeine Umschwung nach rechts begann ungefähr im Oktober und November 1936, als die UdSSR anfing, die Zentralregierung mit Waffen zu versorgen, und als die Macht von den Anarchisten auf die Kommunisten überging. Außer Russland und Mexiko besaß kein anderes Land den Anstand, der Zentralregierung zu Hilfe zu kommen, und Mexiko konnte aus einleuchtenden Gründen Waffen nicht in großen Mengen liefern. So waren also die Russen in der Lage, die Bedingungen zu diktieren. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass diese Bedingungen vor allem lauteten: »Verhindert die Revolution, oder ihr bekommt keine Waffen.« So wurde die erste Maßnahme gegen die revolutionären Elemente, nämlich die Verdrängung der P.O.U.M. aus der katalanischen Generalidad, nach Befehlen der UdSSR durchgeführt. Man hat abgeleugnet, dass die russische Regierung irgendeinen direkten Druck ausgeübt habe. Aber diese Tatsache ist nicht von großer Bedeutung, denn man kann annehmen, dass die kommunistischen Parteien aller Länder die russische Politik ausführen. Es wird aber nicht geleugnet, dass die kommunistische Partei die hauptsächliche Triebkraft zunächst gegen die P.O.U.M., später gegen die Anarchisten, den von Caballero geführten Flügel der Sozialisten und allgemein gegen eine revolutionäre Politik war. Nachdem sich die UdSSR einmal eingemischt hatte, war der Triumph der kommunistischen Partei gesichert. Zunächst wurde das kommunistische Prestige dadurch enorm gehoben, dass man Russland gegenüber dankbar war für die Waffen und die Tatsache, dass die kommunistische Partei besonders nach Ankunft der Internationalen Brigade den Anschein erweckte, als könnte sie den Krieg gewinnen. Zweitens wurden die russischen Waffen durch die kommunistische Partei oder die mit ihr verbündeten Parteien ausgeliefert, und sie achteten darauf, dass ihre politischen Gegner sowenig wie möglich davon erhielten (Anm.: Das war der Grund dafür, dass es an der aragonischen Front so wenig russische Waffen gab, da die Truppen dort hauptsächlich Anarchisten waren. Bis zum April 1937 sah ich als einzige russische Waffe - mit Ausnahme einiger Flugzeuge, die vielleicht russisch waren, vielleicht aber auch nicht - nur eine einzelne Maschinenpistole.). Drittens gelang es den Kommunisten durch die Verkündung einer nichtrevolutionären Politik, alle diejenigen um sich zu scharen, die von Extremisten verscheucht worden waren. Es war beispielsweise leicht, die wohlhabenderen Bauern gegen die Kollektivierungspolitik der Anarchisten zu sammeln. Die Mitgliedschaft der Partei wuchs gewaltig an, der Zufluss speiste sich hauptsächlich aus dem Mittelstand: Ladenbesitzer, Beamte, Armeeoffiziere, wohlhabende Bauern und so weiter, und so weiter. Im Grunde genommen war der Krieg ein Dreieckskampf. Das Ringen mit Franco musste fortgesetzt werden, aber gleichzeitig war es das Ziel der Zentralregierung, alle Macht zurückzugewinnen, die noch in den Händen der Gewerkschaften verblieben war. Dies geschah durch eine Reihe kleiner Manöver, es war eine Politik der Nadelstiche, wie es jemand genannt hat, und man tat es, im ganzen gesehen, sehr klug. Es gab keine allgemeine, offene Gegenrevolution, und bis zum Mai 1937 war es nicht einmal nötig, Gewalt anzuwenden. Man konnte die Arbeiter immer durch ein Argument zur Räson bringen, das fast zu augenfällig ist, um es zu nennen: »Wenn ihr dieses oder jenes nicht tut, werden wir den Krieg verlieren.« In jedem Fall natürlich verlangte anscheinend die militärische Notwendigkeit, etwas aufzugeben, das die Arbeiter 1936 für sich errungen hatten. Aber dieses Argument war immer stichhaltig, denn das letzte, was die Revolutionsparteien wünschten, war, den Krieg zu verlieren. Verlor man den Krieg, würden Demokratie und Revolution, Sozialismus und Anarchismus zu bedeutungslosen Worten. Die Anarchisten, die einzige Revolutionspartei, deren Größe von Bedeutung war, wurden gezwungen, Stück für Stück nachzugeben. Das Fortschreiten der Kollektivierung wurde angehalten, die örtlichen Ausschüsse wurden entfernt, die Arbeiterpatrouillen wurden aufgelöst, die Polizeikräfte der Vorkriegszeit wurden, weitgehend verstärkt und schwer bewaffnet, wieder eingesetzt, und verschiedene Schlüsselindustrien, die unter der Kontrolle der Gewerkschaften gestanden hatten, wurden von der Regierung übernommen. (Die Übernahme des Telefonamtes von Barcelona, die zu den Maikämpfen geführt hatte, war ein Beispiel dieser Entwicklung.) Schließlich, und das war das allerwichtigste, wurden die Milizeinheiten der Arbeiter, die sich auf die Gewerkschaften gründeten, allmählich auseinandergebrochen und in die neue Volksarmee aufgeteilt. Das war eine >unpolitische< Armee, sie hatte einen halben Bourgeoischarakter. Es gab unterschiedlichen Sold, eine privilegierte Offizierskaste und so weiter, und so weiter. Unter den besonderen Umständen war das tatsächlich ein entscheidender Schritt. In Katalonien vollzog man ihn allerdings später als an anderen Orten, denn hier waren die Revolutionsparteien am stärksten. Offensichtlich bestand die einzige Garantie für die Arbeiter, ihre Errungenschaften zu festigen, nur darin, einen Teil ihrer Streitkräfte unter ihrer eigenen Kontrolle zu haben. Wie gewöhnlich wurde auch das Auseinanderbrechen der Miliz im Namen militärischer Leistungsfähigkeit vollzogen, und niemand leugnete, dass eine gründliche militärische Reorganisation notwendig war. Es wäre aber durchaus möglich gewesen, die Miliz zu reorganisieren und leistungsfähiger zu machen und sie gleichzeitig unter der direkten Kontrolle der Gewerkschaften zu belassen. Der Hauptzweck des Wechsels lag darin, dafür zu sorgen, dass die Anarchisten keine eigenen Waffen mehr besaßen. Außerdem war der demokratische Geist der Miliz ein Brutnest für revolutionäre Ideen. Die Kommunisten wussten das sehr genau und schimpften ohne Unterlass und erbittert über die P.O.U.M. und das anarchistische Prinzip des gleichen Lohns für alle Ränge. Es fand eine allgemeine >Verbürgerlichung< statt, eine absichtliche Zerstörung des Gleichheitsgeistes aus den ersten Monaten der Revolution. Alles ereignete sich so geschwind, dass Leute, die Spanien innerhalb von wenigen Monaten mehrmals besucht hatten, erklärten, dass sie anscheinend kaum das gleiche Land besuchten. Was an der Oberfläche und für eine kurze Weile ein Arbeiterstaat zu sein schien, verwandelte sich vor den eigenen Augen in eine herkömmliche Bourgeoisrepublik mit der normalen Unterscheidung von reich und arm. Im Herbst 1937 erklärte der >Sozialist< Negrin in öffentlichen Ansprachen, dass »wir privates Eigentum respektieren«, und Mitglieder des Cortes, die zu Beginn des Krieges aus dem Land fliehen mussten, da man sie faschistischer Sympathien verdächtigte, kehrten nach Spanien zurück.
Man kann den ganzen Vorgang leicht verstehen, wenn man sich daran erinnert, dass er aus der zeitweiligen Allianz herrührt, die der Faschismus in verschiedenen Formen der Bourgeoisie und den Arbeitern aufzwingt. Dieses Bündnis, bekannt als Volksfront, ist eigentlich eine Allianz zwischen Feinden, und es erscheint als wahrscheinlich, dass es immer damit enden muss, dass ein Partner den anderen verschlingt. Das einzige unerwartete Merkmal an der spanischen Lage - und außerhalb Spaniens hat es in erheblichem Umfange Missverständnisse hervorgerufen - besteht darin, dass unter den Parteien auf der Seite der Zentralregierung die Kommunisten nicht auf der extremen Linken, sondern auf der extremen Rechten standen. In Wirklichkeit sollte das nicht überraschen, denn die Taktik der kommunistischen Partei in anderen Ländern, besonders in Frankreich, hat klar gezeigt, dass man den offiziellen Kommunismus zumindest zur Zeit als eine antirevolutionäre Kraft betrachten muss. Die ganze Kominternpolitik ist jetzt der Verteidigung der UdSSR untergeordnet (entschuldbar, wenn man die Weltsituation betrachtet), und diese Verteidigung beruht auf einem System militärischer Bündnisse. Vornehmlich hat sich die UdSSR mit Frankreich, einem kapitalistisch-imperialistischen Land, verbündet. Dieses Bündnis nützt Russland wenig, es sei denn, der französische Kapitalismus ist stark. Darum muss die kommunistische Politik in Frankreich antirevolutionär sein. Das heißt nicht nur, dass die französischen Kommunisten hinter der Trikolore hermarschieren und die Marseillaise singen, sondern, und das ist noch wichtiger, sie mussten jegliche wirksame Agitation in den französischen Kolonien fallenlassen. Vor weniger als drei Jahren erklärte Thorez, der Sekretär der französischen kommunistischen Partei, die französischen Arbeiter könnten nie zu einem Kampf gegen ihre deutschen Kameraden angestachelt werden (Anm.: In der Deputiertenkammer im März 1935.). Heute ist er in Frankreich einer der laut-halsigsten Patrioten. Der Schlüssel zum Verhalten der kommunistischen Partei in irgendeinem Lande ist die tatsächliche oder potentielle militärische Beziehung dieses Landes zur UdSSR. In England zum Beispiel ist die Lage noch ungewiss, deshalb ist die englische kommunistische Partei der Nationalregierung gegenüber immer noch feindlich eingestellt und widersetzte sich angeblich der Aufrüstung. Wenn aber Großbritannien ein Bündnis oder ein militärisches Abkommen mit der UdSSR abschließt, werden die englischen ähnlich den französischen Kommunisten keine andere Wahl haben, als gute Patrioten und Imperialisten zu werden. Dafür gibt es schon erste Anzeichen. In Spanien wurde die kommunistische >Linie< zweifellos durch die Tatsache beeinflusst, dass Frankreich als Verbündeter Russlands sich gegen einen revolutionären Nachbarn wenden und Himmel und Erde in Bewegung setzen würde, um die Befreiung Spanisch-Marokkos zu verhindern. Die Daily Mail, mit ihren Geschichten einer von Moskau finanzierten roten Revolution, hatte diesmal noch mehr unrecht als gewöhnlich. In Wirklichkeit waren es die Kommunisten, die vor allen anderen in Spanien eine Revolution verhinderten. Als die Kräfte der Rechten später im vollen Besitz der Kontrolle waren, zeigten sich die Kommunisten willig, bei der Jagd auf revolutionäre Führer noch ein gutes Stück weiter als die Liberalen zu gehen (Anm.: Der beste Bericht über das Wechselspiel zwischen den Parteien auf der Regierungsseite ist Franz Borkenaus The Spanish Cockpit. Es ist das weitaus aufschlussreichste Buch, das bis jetzt über den Spanischen Krieg erschienen ist.).
Ich habe versucht, den allgemeinen Ablauf der spanischen Revolution während des ersten Jahres zu skizzieren, denn das erleichtert das Verständnis der Situation für jeden einzelnen Augenblick. Aber ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als ob ich im Februar schon die gleichen Ansichten gehabt hätte, wie ich sie hier geschildert habe. Vor allem hatten die Ereignisse, die mir die Augen öffneten, noch nicht stattgefunden, und meine Sympathien lagen jedenfalls etwas anders als heute. Das kam zum Teil daher, weil mich die politische Seite des Krieges langweilte, und ich opponierte natürlich gegen die Ansichten, die ich am häufigsten hörte, das heißt die Ansichten der P.O.U.M.-I.L.P. Die Engländer, mit denen ich augenblicklich zusammen lebte, waren die Mitglieder der I.L.P, einige auch der KP. Die meisten von ihnen waren politisch viel besser unterrichtet als ich selbst. Während vieler Wochen dieser langweiligen Zeit, als vor Huesca nichts geschah, fand ich mich selbst mitten in einer politischen Diskussion, die praktisch niemals endete. In der zugigen, übel riechenden Scheune des Bauernhauses, in dem wir einquartiert waren, in der stickigen Dunkelheit der Unterstände und während der kalten Mitternachtsstunden hinter der Brustwehr wurde endlos über die miteinander in Konflikt liegenden Partei->Linien< debattiert. Auch die Spanier taten nichts anderes. Die meisten Zeitungen, die wir zu Gesicht bekamen, beschäftigten sich auch vorwiegend mit dem Kampf zwischen den Parteien. Man musste taub oder schwachsinnig sein, um nicht etwa zu begreifen, wofür sich die verschiedenen Parteien einsetzten.
Es gab nur drei Parteien von politisch-theoretischer Bedeutung, die P.S.U.C., die P.O.U.M. und die C.N.T.-F.A.I., ungenau als Anarchisten bezeichnet. Ich beschreibe zuerst die P.S.U.C., da sie die bedeutendste war. Es war die Partei, die zum Schluss triumphierte, und selbst zu dieser Zeit war sie schon sichtbar im Aufstieg.
Es ist notwendig zu erklären, dass in Wirklichkeit die kommunistische Parteilinie gemeint ist, wenn man von der P.S.U.C.>Linie< spricht. Die P.S.U.C. (Partido Socialista Unificado de Catalufia) war die sozialistische Partei Kataloniens. Sie war zu Beginn des Krieges durch den Zusammenschluss verschiedener marxistischer Parteien, einschließlich der katalanischen kommunistischen Partei, gegründet worden. Aber sie stand jetzt vollständig unter kommunistischer Kontrolle und gehörte zur Dritten Internationale. Nirgendwo sonst in Spanien hatte es eine formale Einigung zwischen Sozialisten und Kommunisten gegeben. Aber man konnte annehmen, dass überall der kommunistische und der rechtssozialistische Standpunkt identisch waren. Grob gesprochen war die P.S.U.C. das politische Organ der U.G.T. (Union General de Trabajadores), der sozialistischen Gewerkschaften. Die Mitgliederzahl dieser Gewerkschaften betrug jetzt in ganz Spanien etwa eineinhalb Millionen. Darunter befanden sich große Teile der Handarbeiter, aber seit dem Ausbruch des Krieges waren sie auch durch den Zustrom aus dem Mittelstand angeschwollen. Denn während der ersten Revolutionstage hatten es viele Leute als nützlich empfunden, sich entweder der U.G.T. oder der C.N.T. anzuschließen. Die beiden Gewerkschaftsblocks deckten sich zum Teil, aber unter den beiden war die C.N.T. eindeutiger eine Organisation der Arbeiterklasse. Deshalb war die P.S.U.C. teilweise eine Partei der Arbeiter und teilweise der kleinen Bourgeoisie, der Ladenbesitzer, der Beamten und der wohlhabenderen Bauern.
Die >Linie< der P.S.U.C., die in der kommunistischen und prokommunistischen Presse der ganzen Welt gepredigt wurde, lautete ungefähr so:
»Im Augenblick ist nichts von Bedeutung, als den Krieg zu gewinnen. Ohne Sieg in diesem Krieg ist alles andere bedeutungslos. Darum ist es nicht der richtige Augenblick, davon zu sprechen, die Revolution voranzutreiben. Wir können es uns nicht leisten, uns die Bauern zu entfremden, indem wir ihnen die Kollektivierung aufzwingen, und wir können es uns auch nicht leisten, die Mittelklasse abzuschrecken, die auf unserer Seite kämpft. Vor allem müssen wir um der Leistung willen das ganze revolutionäre Chaos beseitigen. An Stelle von örtlichen Ausschüssen brauchen wir eine starke Zentralregierung und eine richtig ausgebildete, voll leistungsfähige Armee unter einem einheitlichen Kommando. Es ist mehr als nutzlos, sich an die Überreste einer Kontrolle durch die Arbeiter zu halten und revolutionäre Phrasen nachzuplappern. Das ist nicht nur hinderlich, sondern sogar konterrevolutionär und führt zu Aufspaltungen, die die Faschisten gegen uns benutzen können. In diesem Stadium kämpfen wir nicht für die Diktatur des Proletariats, wir kämpfen für die parlamentarische Demokratie.
Wer versucht, den Bürgerkrieg in eine soziale Revolution zu verwandeln, spielt in die Hände der Faschisten und ist in der Wirkung, wenn nicht sogar in der Absicht, ein Verräter.«
Die Parteilinie der P.O.U.M. unterschied sich hiervon in jedem Punkt, außer der Forderung natürlich, dass es wichtig sei, den Krieg zu gewinnen. Die P.O.U.M. war eine jener sezessionistischen kommunistischen Parteien, die während der letzten Jahre in vielen Ländern als Resultat der Opposition gegen den >Stalinismus< entstanden sind, also als Antwort auf einen wirklichen oder scheinbaren Wechsel in der kommunistischen Politik. Sie bestand teilweise aus ehemaligen Kommunisten und teilweise aus einer ehemaligen anderen Partei, dem Block der Arbeiter und Bauern. Zahlenmäßig war sie eine kleine Partei (Anm.: Die Mitgliedszahlen der P.O.U.M. betrugen im Juli 1936 10 000, Dezember 1936 70000, Juni 1937 40000. Diese Zahlen stammen aber aus P.O.U.M.-Quellen. Eine gegnerisdie Schätzung würde sie wahrscheinlich durch vier teilen. Das einzige, was sich mit einiger Gewissheit über die Mitgliedszahlen der politischen Parteien Spaniens sagen lässt, ist, dass jede Partei ihre eigene Stärke überschätzt.). Sie hatte außerhalb Kataloniens nicht viel Einfluss und war hauptsächlich deshalb wichtig, weil sie eine ungewöhnlich große Anzahl politisch überzeugter Mitglieder hatte. Ihre Hochburg in Katalonien war Lerida. Sie vertrat keinen besonderen Block der Gewerkschaften.
Die Milizsoldaten der P.O.U.M. waren hauptsächlich Mitglieder der C.N.T., aber die eigentlichen Parteimitglieder gehörten meistens der U.G.T. an. Aber nur in der C.N.T. hatte die P.O.U.M. einen gewissen Einfluss. Die Parteilinie der P.O.U.M. lautete ungefähr so:
»Es ist Unsinn, davon zu sprechen, dem Faschismus durch eine Bourgeois->Demokratie< entgegenzutreten. Bourgeois->Demokratie< ist nur ein anderer Name für Kapitalismus, genauso wie der Faschismus. Im Namen der Demokratie gegen den Faschismus zu kämpfen, heißt, im Namen einer Form des Kapitalismus gegen eine zweite zu kämpfen, die sich zu jeder Zeit in die erste verwandeln kann. Die einzig wirkliche Alternative zum Faschismus ist die Ausübung der Kontrolle durch die Arbeiter. Wer sich irgendein kleineres Ziel als dieses setzt, wird entweder Franco den Sieg aushändigen oder im besten Falle den Faschismus durch die Hintertür hereinlassen. Vorläufig müssen die Arbeiter an jedem Stückchen festhalten, das sie errungen haben. Wenn sie irgend etwas wieder der halbbürgerlichen Regierung überlassen, können sie sicher sein, dass sie betrogen werden. Die Milizeinheiten und die Polizeikräfte der Arbeiter müssen in ihrer augenblicklichen Form erhalten bleiben, und jedem Versuch, sie zu verbürgerlichen, muss Widerstand geleistet werden. Wenn die Arbeiter die Streitkräfte nicht kontrollieren, werden die Streitkräfte die Arbeiter kontrollieren. Der Krieg und die Revolution sind untrennbar.«
Die anarchistische Einstellung lässt sich weniger leicht definieren. Der ungenaue Begriff Anarchisten wird jedenfalls benutzt, um eine Vielzahl von Leuten mit sehr unterschiedlichen Ansichten zu bezeichnen. Der riesige Block der Gewerkschaften der C.N.T. (Confederacion Nacional de Trabajadores) mit rund zwei Millionen Mitgliedern hatte als politisches Organ die F.A.I. (Federacion Anarquista Iberica), eine durchaus anarchistische Organisation. Aber selbst die Mitglieder der F.A.I. waren zwar, wie vielleicht die meisten Spanier, von der anarchistischen Philosophie angehaucht, aber nicht notwendigerweise Anarchisten im reinsten Sinne. Besonders seit Beginn des Krieges hatten sie sich mehr in die Richtung des gewöhnlichen Sozialismus bewegt, weil die Umstände sie gezwungen hatten, an einer zentralisierten Verwaltung teilzunehmen und sogar ihre sämtlichen Prinzipien zu brechen, indem sie in die Regierung eintraten. Trotzdem unterschieden sie sich von den Kommunisten grundsätzlich dadurch, dass sie wie die P.O.U.M. die Kontrolle durch die Arbeiter verwirklichen wollten und nicht eine parlamentarische Demokratie. Sie akzeptierten das Schlagwort der P.O.U.M.: »Der Krieg und die Revolution sind untrennbar«, obwohl sie weniger dogmatisch darüber dachten. Grob gesagt, hießen die Ziele der C.N.T.-F.A.I.:
1. Ausübung der direkten Kontrolle über die Industrie durch die Arbeiter in den einzelnen Industriezweigen, also im Transportwesen, in den Textilfabriken und so weiter;
2. Regierung in der Form örtlicher Ausschüsse und Widerstand gegen jegliche Form zentralisierter autoritärer Regierungsgewalt; 3. kompromisslose Gegnerschaft gegen die Bourgeoisie und die Kirche.
Der letzte Punkt, obwohl der am wenigsten präzise, war der bedeutendste. Die Anarchisten waren genau das Gegenteil der meisten so genannten Revolutionäre, weil ihre Prinzipien zwar ziemlich vage, ihr Hass auf Privilegien und Ungerechtigkeit dagegen vollständig echt war. Weltanschaulich sind Kommunismus und Anarchismus polare Gegensätze. In der Praxis, das heißt in bezug auf die beabsichtigte Gesellschaftsform, liegt der Unterschied hauptsächlich in der Betonung, aber er ist nicht zu überbrücken. Die Kommunisten betonen immer den Zentralismus und den Nutzeffekt, die Anarchisten Freiheit und Gleichheit. Der Anarchismus ist in Spanien tief verwurzelt und wird wahrscheinlich den Kommunismus überdauern, wenn der russische Einfluss zurückgenommen wird. Gerade die Anarchisten hatten während der ersten zwei Kriegsmonate die Lage mehr als irgend jemand gerettet, und selbst lange Zeit danach waren die Milizeinheiten der Anarchisten trotz ihrer schlechten Disziplin offenkundig die besten Kämpfer unter den rein spanischen Truppen. Ab Februar 1937 konnte man bis zu einem gewissen Grade die Anarchisten und die P.O.U.M. als eine Einheit ansehen. Hätten die Anarchisten, die P.O.U.M. und der linke Flügel der Sozialisten zu Beginn genügend Verstand gehabt, sich zusammengetan und eine realistische Politik durchgeführt, wäre der Krieg möglicherweise anders verlaufen. Das war aber zu Beginn dieses Kampfes, als die Revolutionsparteien das Spiel in Händen zu haben schienen, unmöglich. Zwischen den Anarchisten und Sozialisten standen uralte Eifersüchte. Die Anhänger der P.O.U.M. waren als Marxisten skeptisch gegenüber den Anarchisten, während vom rein anarchistischen Standpunkt aus der >Trotzkismus< der P.O.U.M. dem >Stalinismus< der Kommunisten kaum vorzuziehen war. Trotzdem bewirkte die kommunistische Taktik ein Zusammengehen der beiden Parteien.
Als die P.O.U.M. sich im Mai an den unheilvollen Kämpfen in Barcelona beteiligte, geschah dies hauptsächlich in einem Gefühl des Beistandes für die C.N.T., und als später die P.O.U.M. unterdrückt wurde, wagten es allein die Anarchisten, eine Stimme zu ihrer Verteidigung zu erheben.
Grob gesprochen hatten sich die Kräfte etwa so gegliedert: auf der einen Seite die C.N.T.-F.A.I., die P.O.U.M. und der Flügel der Sozialisten, die für die Kontrolle durch die Arbeiter waren; auf der anderen Seite der rechte Flügel der Sozialisten, die Liberalen und die Kommunisten, die sich für eine Zentralregierung und eine militarisierte Armee einsetzten.
Es ist leicht verständlich, warum ich zu dieser Zeit den kommunistischen Standpunkt dem der P.O.U.M. vorzog. Nach dem gesunden Menschenverstand, der nur die nahe Zukunft im Auge hat, besaßen die Kommunisten eine entschiedene, praktische Politik, also offensichtlich eine bessere Politik. Sicher waren außerdem die tagtägliche Politik der P.O.U.M., ihre Propaganda und so weiter unaussprechlich schlecht. Das war sicher so, denn sonst hätten sie eine größere Gefolgschaft anziehen müssen. Den Ausschlag aber gab -so schien es mir -, dass die Kommunisten in diesem Krieg vorankamen, während wir und die Anarchisten stillstanden. Dieses Gefühl hatte zu jener Zeit jeder. Die Kommunisten hatten die Macht und einen großen Zuwachs ihrer Mitgliedschaft teilweise dadurch gewonnen, weil sie sich, die Revolutionäre bekämpfend, an die Mittelklasse wandten, aber teilweise auch, weil sie die einzigen Leute waren, die aussahen, als ob sie fähig seien, den Krieg zu gewinnen. Die russischen Waffen und die großartige Verteidigung Madrids durch Truppen, die hauptsächlich unter kommunistischer Kontrolle standen, hatte die Kommunisten zu den Helden Spaniens gemacht. Jedes russische Flugzeug, das über unsere Köpfe flog, war, wie es jemand einmal ausdrückte, kommunistische Propaganda. Der revolutionäre Übereifer der P.O.U.M. erschien mir ziemlich fruchtlos, obwohl ich seine Logik einsah. Denn schließlich kam es in diesem Krieg allein auf den Sieg an.
Währenddessen aber tobte überall der teuflische Kampf zwischen den Parteien, in Zeitungen, Flugblättern, auf Plakaten und in Büchern. Ich bekam damals vor allem die P.O.U.M.-Zeitungen La Batalla und Adelante zu Gesicht. Ich fand ihre endlose Krittelei an der »konterrevolutionären« P.S.U.C. ermüdend und pedantisch. Als ich später die Presse der P.S.U.C. und der Kommunisten etwas näher studierte, erkannte ich, dass die P.O.U.M. im Vergleich zu ihren Feinden beinahe tadellos war. Außerdem waren ihre Möglichkeiten sehr beschränkt. Im Gegensatz zu den Kommunisten fanden sie in der Presse außerhalb ihres eigenen Landes keine Unterstützung, und in Spanien selbst waren sie in einem gewaltigen Nachteil, weil die Zensur der Presse hauptsächlich von Kommunisten ausgeübt wurde. Das bedeutete, dass die Zeitungen der P.O.U.M. häufig unterdrückt oder bestraft werden konnten, wenn sie etwas Schädliches sagten. Man muss außerdem fair sein und sagen, dass die P.O.U.M. sich nicht in persönlichen Angriffen erging, obwohl sie endlose Predigten über die Revolution hielt und Lenin bis zum Erbrechen zitierte. Außerdem beschränkte sie ihre Polemik vor allem auf Zeitungsartikel. Ihre großen, bunten Plakate, die für eine breitere Öffentlichkeit entworfen waren (Plakate sind in Spanien mit seiner größtenteils des Lesens unkundigen Bevölkerung wichtig), griffen nicht die gegnerischen Parteien an, sondern hatten einfach antifaschistische oder abstrakte revolutionäre Inhalte. Das galt auch für die Lieder, die die Milizsoldaten sangen. Die Anschuldigungen der Kommunisten dagegen waren eine ganz andere Sache. Ich werde mich später in diesem Buch damit noch befassen müssen. An dieser Stelle kann ich die kommunistischen Angriffe nur kurz andeuten.
Nach außen war der Streit zwischen den Kommunisten und der P.O.U.M. nur eine taktische Frage. Die P.O.U.M. setzte sich für die sofortige Revolution ein, die Kommunisten nicht. So weit, so gut, dafür konnte man auf beiden Seiten viel sagen. Darüber hinaus behaupteten die Kommunisten, die Propaganda der P.O.U.M. entzweie und schwäche die Regierungstruppen und gefährde so den Sieg in diesem Krieg. Auch dieses Argument enthält einen wahren Kern, obwohl ich letzten Endes nicht damit einverstanden bin. Aber hier zeigte sich die Eigentümlichkeit der kommunistischen Taktik. Anfangs noch vorsichtig, dann aber lauter behaupteten sie, die P.O.U.M. zersplittere die Regierungstruppen nicht allein durch ihre schlechte Urteilskraft, sondern durch wohlüberlegte Absicht. Die P.O.U.M. wurde als eine Bande verkleideter Faschisten angeprangert, die von Franco und Hitler bezahlt seien und eine pseudorevolutionäre Politik verfolgten, um so der faschistischen Sache zu helfen; die P.O.U.M. sei eine >trotzkistische< Organisation und die >Fünfte Kolonne Francos<. Das hieß also, dass Zehntausende von Arbeitern einschließlich der acht- oder zehntausend Soldaten, die in den Schützengräben froren, und Hunderte von Ausländern, die nach Spanien gekommen waren, um gegen den Faschismus zu kämpfen, und oft ihren Lebensunterhalt und ihre Nationalität aufgegeben hatten, einfach vom Feind bezahlte Verräter waren. Diese Geschichte aber wurde in ganz Spanien durch Plakate und ähnliches verbreitet und in der kommunistischen und prokommunistischen Presse der ganzen Welt ständig wiederholt. Ich könnte ein halbes Dutzend Bücher mit Zitaten füllen, wenn ich mir vorgenommen hätte, sie zu sammeln.
So sagten sie also von uns, wir seien Trotzkisten, Faschisten, Verräter, Mörder, Feiglinge, Spione und so weiter. Ich gebe zu, dass das nicht angenehm war, besonders wenn man an einige der Leute dachte, die dafür verantwortlich waren. Es ist nicht schön, wenn man sieht, wie ein fünfzehnjähriger spanischer Junge auf einer Bahre aus der Front getragen wird, mit seinem verwirrten, weißen Gesicht unter der Decke hervorschaut, und man sich dann die gewissenlosen Leute in London und Paris vorstellt, die Broschüren schreiben, um nachzuweisen, dass dieser Junge ein verkappter Faschist sei. Es ist einer der scheußlichsten Züge des Krieges, dass alle Kriegspropaganda, alles Geschrei, alle Lügen und aller Hass ständig von Leuten kommen, die nicht mitkämpfen. Die Milizsoldaten der P.S.U.C., die ich an der Front kennenlernte, oder die Kommunisten aus der Internationalen Brigade, die ich von Zeit zu Zeit traf, bezeichneten mich niemals als Trotzkisten oder Verräter; so etwas überließen sie den Journalisten hinter der Front. Die Leute, die Broschüren gegen uns schrieben und uns in den Zeitungen beschimpften, blieben wohlbehütet zu Hause. Schlimmstenfalls aber saßen sie in den Zeitungsredaktionen von Valencia, Hunderte von Kilometern von Kugelregen und Schlamm entfernt. Der Kampf zwischen den Parteien wurde mit Verleumdung geschürt, dazu kamen wie üblich die gewöhnlichen Kriegsgeschichten, man rührte die Propagandatrommeln, erzählte Heldentaten und schmähte den Feind. Das alles war das Werk von Leuten, die nicht kämpften und die in vielen Fällen lieber zweihundert Kilometer gelaufen wären, als sich am Kampf zu beteiligen. Als eine der traurigsten Wirkungen dieses Krieges erkannte ich, dass die Presse der Linken bis ins kleinste genauso falsch und unehrlich ist wie die der Rechten (Anm.: Ich möchte als einzige Ausnahme den Manchester Guardian nennen. Im Zusammenhang mit diesem Buch musste ich die Archivbände einer ganzen Anzahl englischer Zeitungen durchblättern. Allein der Manchester Guardian unter unseren größeren Zeitungen hinterlässt in mir einen wachsenden Respekt für seine Ehrlichkeit.). Ich bin ernsthaft davon überzeugt, dass sich dieser Krieg auf unserer Seite, also der Zentralregierung, von den normalen, imperialistischen Kriegen unterschied. Das hätte man jedoch nach der Art der Kriegspropaganda niemals annehmen können. Kaum hatten die Kämpfe begonnen, tauchten die Zeitungen der Rechten und der Linken gleichzeitig in dieselbe Senkgrube von Beschimpfungen. Wir alle erinnern uns an das Plakat der Daily Mail mit der Überschrift »Rote kreuzigen Nonnen«. Nach den Worten des Daily Worker hingegen setzte sich die Fremdenlegion Francos aus »Mördern, weißen Sklavenhändlern, Rauschgiftsüchtigen und dem Ausschuss jedes europäischen Landes« zusammen. Selbst noch im Oktober 1937 traktierte uns der New Statesman mit Geschichten von faschistischen Barrikaden, die man aus den Körpern lebendiger Kinder errichtet habe (ein sehr unpraktisches Material, um Barrikaden daraus zu machen). Mr. Arthur Bryant erklärte gleichzeitig, dass es im loyalistischen Spanien durchaus üblich sei, die Füße eines konservativen Geschäftsmannes einfach abzusägen. Leute, die solche Geschichten schreiben, beteiligen sich nie am Kampf. Vielleicht glauben sie, so zu schreiben sei ein Ersatz für das Kämpfen. Das ist in allen Kriegen immer das gleiche. Die Soldaten kämpfen, die Journalisten schreiben, und kein wahrer Patriot kommt je einem Schützengraben an der Front nahe, außer auf ganz kurzen Propagandatouren. Manchmal tröstete es mich zu wissen, dass das Flugzeug die Bedingungen eines Krieges ändert. Vielleicht sehen wir im nächsten Krieg etwas, was es nie zuvor in der Geschichte gegeben hat: einen Säbelrassler mit einem Kugelloch im Bauch.
Vom journalistischen Standpunkt aus war dieser Krieg wie alle anderen Kriege ein Schauspiel. Aber in Spanien gab es einen Unterschied. Wenn normalerweise die Journalisten ihre mörderischen Schmähungen für den Feind reservieren, kamen im Laufe der Zeit die Kommunisten und die P.O.U.M.-Leute dazu, erbitterter voneinander als von den Faschisten zu schreiben. Trotzdem konnte ich mich damals nicht dazu aufraffen, das alles sehr ernst zu nehmen. Der Kampf zwischen den Parteien war ärgerlich und sogar widerwärtig, aber er kam mir vor wie ein häuslicher Hader. Ich glaubte nicht, dass er irgend etwas ändern würde oder dass es wirklich unüberbrückbare Unterschiede in der Politik gebe. Es leuchtete mir ein, dass sich die Kommunisten und die Liberalen vorgenommen hatten, die Revolution nicht weiter fortschreiten zu lassen. Ich konnte jedoch nicht begreifen, dass sie fähig sein könnten, sie zurückzudrehen.
Dafür gab es gute Gründe. Während der ganzen Zeit war ich an der Front, und an der Front veränderte sich die gesellschaftliche oder politische Atmosphäre nicht. Ich hatte Barcelona Anfang Januar verlassen und trat meinen Urlaub nicht vor Ende April an. Während dieser ganzen Zeit, ja selbst später noch, blieben die Bedingungen in diesem Teil von Aragonien, der von den Anarchisten und den Truppen der P.O.U.M. kontrolliert wurde, die gleichen, zumindest nach außen hin. Die revolutionäre Atmosphäre blieb so, wie ich sie am Anfang kennen gelernt hatte. Generale und einfache Soldaten, Bauern und Milizsoldaten begegneten sich als ebenbürtig, jeder erhielt den gleichen Lohn, trug die gleiche Kleidung, aß die gleiche Nahrung und nannte jeden anderen du und Kamerad. Es gab keine Klasse der Bosse, keine Klasse der Lakaien, keine Bettler, keine Prostituierten, keine Rechtsanwälte, keine Priester, keine Speichelleckerei und keine Unterwürfigkeit. Ich atmete die Luft der Gleichheit und war einfältig genug, mir vorzustellen, dass sie in ganz Spanien existierte. Es fiel mir nicht auf, dass ich mehr oder minder zufällig unter dem revolutionärsten Teil der spanischen Arbeiterklasse isoliert war. Ich neigte dazu, über meine politisch besser unterrichteten Kameraden zu lachen, wenn sie mir erzählten, dass man dem Krieg gegenüber nicht eine rein militärische Haltung einnehmen könne oder dass es nur die Wahl zwischen Revolution und Faschismus gebe. Im großen und ganzen akzeptierte ich die kommunistische Ansicht, die man mit den Worten zusammenfassen kann: »Wir können nicht über die Revolution sprechen, ehe wir nicht den Krieg gewonnen haben.« Und ich stimmte nicht mit der Ansicht der P.O.U.M. überein, die ungefähr lautete: »Wir müssen vorwärts gehen oder wir gehen zurück.« Wenn ich mich später dazu entschloss, den Standpunkt der P.O.U.M. als den richtigen anzusehen, jedenfalls als richtiger als den der Kommunisten, geschah dies nicht aus rein theoretischen Gründen.
Auf dem Papier machte sich die Sache der Kommunisten gut aus. Leider aber erschwerten sie durch ihr tatsächliches Verhalten den Glauben daran, dass sie ihre Sache mit gutem Willen vorantrieben. Der oft wiederholte Leitspruch »Zuerst der Krieg und dann die Revolution« war leeres Geschwätz, obwohl der gewöhnliche P.S.U.C.-Milizsoldat davon überzeugt war und ehrlich meinte, die Revolution könne weitergeführt werden, wenn der Krieg gewonnen sei. Die Kommunisten bemühten sich nicht etwa, die spanische Revolution auf einen besser geeigneten Zeitpunkt zu verschieben, sondern sorgten dafür, dass sie nie stattfände. Das wurde mit der Zeit immer deutlicher, als sie die Macht in zunehmendem Maße den Händen der Arbeiterklasse entwanden und als mehr und mehr Revolutionäre aller Schattierungen ins Gefängnis geworfen wurden. Jede Maßnahme wurde im Namen der militärischen Notwendigkeit vollzogen, denn dieser Vorwand lag sozusagen griffbereit. Aber tatsächlich lief alles darauf hinaus, die Arbeiter aus einer günstigen Position zu verdrängen und sie in eine Position hineinzumanövrieren, in der es ihnen im Moment, da der Krieg vorbei war, unmöglich sein würde, der Wiedereinführung des Kapitalismus zu widerstehen. Ich möchte klarmachen, dass ich damit nichts gegen den einfachen Kommunisten sagen will, vor allem nicht gegen die vielen tausend Kommunisten, die bei Madrid so heroisch starben. Aber sie lenkten nicht die Parteipolitik. Man kann sich nicht vorstellen, dass die Männer in den oberen Rängen handelten, ohne ihre Augen offen zu haben.
Aber schließlich war es schon der Mühe wert, diesen Krieg zu gewinnen, selbst wenn die Revolution nicht erfolgreich war. Zum Schluss kamen mir Zweifel, ob auf lange Sicht die kommunistische Politik auf den Sieg abzielte. Sehr wenige Menschen scheinen darüber nachgedacht zu haben, dass in verschiedenen Abschnitten des Krieges eine unterschiedliche Politik angebracht sein könnte. Vermutlich retteten die Anarchisten während der ersten zwei Monate die Lage, aber sie waren unfähig, über eine bestimmte Zeit hinaus den Widerstand zu organisieren. Wahrscheinlich retteten im Oktober bis Dezember die Kommunisten die Lage, aber es war wieder eine ganz andere Sache, den Krieg vollständig zu gewinnen. Fraglos wurde in England die kommunistische Kriegspolitik anerkannt, denn nur sehr wenig kritische Äußerungen waren wirklich veröffentlicht worden. Die allgemeinen Grundlinien klangen außerdem so realistisch und wirkungsvoll, so etwa, dass man das revolutionäre Chaos beseitigen, die Produktion ankurbeln und die Armee nach militärischen Grundsätzen aufbauen müsse. Es lohnt sich, auf die diesen Prinzipien innewohnende Schwäche hinzuweisen.
Um jede revolutionäre Tendenz im Zaum zu halten und den Krieg soweit wie möglich zu einem normalen Krieg zu machen, wurde es notwendig, die tatsächlich existierenden strategischen Gelegenheiten vorübergehen zu lassen. Ich habe schon beschrieben, wie wir an der aragonischen Front bewaffnet oder, besser gesagt, nicht bewaffnet waren. Es bestehen wenig Zweifel, dass die Waffen absichtlich zurückgehalten wurden, damit möglichst wenig in die Hände der Anarchisten gelangten, die sie später zu revolutionären Zwecken benutzen könnten. Folglich fand die große aragonische Offensive nie statt, die Franco gezwungen hätte, sich von Bilbao, ja vielleicht sogar von Madrid zurückzuziehen. Das war aber eine verhältnismäßig kleine Angelegenheit. Viel wichtiger war, dass in dem Augenblick, da man den Krieg erst einmal auf den Begriff eines >Krieges für die Demokratie< beschränkte, es unmöglich wurde, in größerem Maßstabe an die Hilfe der Arbeiterklasse anderer Länder zu appellieren. Wenn wir den Tatsachen ins Gesicht sehen, müssen wir zugeben, dass die Arbeiterklasse der Welt den Spanischen Krieg mit einer gewissen Gleichgültigkeit betrachtet hat. Zehntausende kamen einzeln, um mitzukämpfen, aber viele Millionen blieben apathisch zurück. Man nimmt an, dass während des ersten Kriegsjahres die gesamte britische Bevölkerung etwa eine Viertelmillion Pfund für verschiedene Spanien-Hilfsfonds gestiftet hat, das ist wahrscheinlich halb soviel, wie sie in einer einzigen Woche ausgab, um ins Kino zu gehen. In Wirklichkeit hätte die Arbeiterklasse der demokratischen Länder ihren spanischen Kameraden durch industrielle Aktionen helfen können, durch Streiks und Boykotts. Dazu zeigten sich aber nicht einmal Ansätze. Die Führer der Arbeiterbewegung und der Kommunisten erklärten überall, so etwas sei undenkbar. Ohne Zweifel hatten sie recht, solange sie lauthals beteuerten, dass das >rote< Spanien nicht >rot< sei. Seit 1914-18 hat der >Krieg für die Demokratie< einen bösen Beigeschmack. Jahrelang hatten die Kommunisten selbst den militanten Arbeitern in allen Ländern beigebracht, dass Demokratie ein höflicher Name für Kapitalismus sei. Es ist keine gute Taktik, wenn man zuerst sagt: »Demokratie ist ein Schwindel« und dann: »Kämpft für die Demokratie!« Hätten sie, mit dem riesigen Ansehen Sowjetrusslands hinter sich, die Arbeiter der Welt nicht im Namen eines demokratischen Spaniens, sondern eines revolutionären Spaniens aufgerufen, kann man sich kaum vorstellen, dass eine Antwort ausgeblieben wäre.
Das Wichtigste aber ist, dass eine nichtrevolutionäre Politik es schwer, wenn nicht sogar unmöglich machte, einen Schlag gegen Francos Hinterland zu führen. Im Sommer 1937 kontrollierte Franco einen größeren Teil der Bevölkerung als die Regierung, sogar viel größer, wenn man auch die Kolonien mitzählt. Er tat das mit der gleichen Anzahl Truppen. Wie jedermann weiß, ist es unmöglich, mit einer feindlichen Bevölkerung im Rücken eine Armee im Feld zu halten, ohne eine gleich große Armee zur Bewachung der Verbindungswege und zur Unterdrückung von Sabotage und so weiter zu haben. Offensichtlich gab es also keine richtige volkstümliche Bewegung im Rücken Francos. Es war undenkbar, dass die Bevölkerung in seinem Herrschaftsbereich, jedenfalls die Arbeiter in den Städten und die ärmeren Bauern, Franco gern hatten oder sogar seine Regierung wünschten. Aber der Vorzug der Zentralregierung wurde mit jedem Schritt zur Rechten hin weniger offensichtlich - Marokko gab den Ausschlag. Warum gab es keine Revolution in Marokko? Franco versuchte, dort eine berüchtigte Diktatur einzurichten, und die Mauren zogen ihn tatsächlich der Volksfrontregierung vor! Die harte Wahrheit ist, dass kein Versuch gemacht wurde, einen Aufruhr in Marokko anzustiften, denn das hätte bedeutet, dem Krieg wieder eine revolutionäre Konstruktion zu geben. Die erste Notwendigkeit wäre gewesen, die Freiheit Marokkos zu verkünden, um die Mauren von den guten Absichten zu überzeugen. Wir können uns vorstellen, wie sich die Franzosen darüber gefreut hätten! Die beste strategische Gelegenheit des Krieges wurde weggeworfen in der vagen Hoffnung, so den französisch-britischen Kapitalismus zu besänftigen. Die gesamte Tendenz der kommunistischen Politik bestand darin, den Krieg auf einen normalen, nichtrevolutionären Krieg zu reduzieren, in dem die Zentralregierung sehr stark benachteiligt war. Denn ein Krieg dieser Art muss durch mechanische Mittel, das heißt letzten Endes durch einen unbegrenzten Waffennachschub gewonnen werden. Der Hauptwaffenlieferant der Zentralregierung, die UdSSR, hatte aber im Vergleich mit Italien und Deutschland einen großen geographischen Nachteil. Vielleicht war die Losung der P.O.U.M. und der Anarchisten »Der Krieg und die Revolution sind untrennbar« weniger visionär, als es klang.
Ich habe meine Gründe dargelegt, warum ich glaubte, die kommunistische, antirevolutionäre Politik sei falsch gewesen. Ich hoffe jedoch nicht, dass sich mein Urteil im Hinblick auf ihre Auswirkung auf den Krieg als richtig erweist. Ich hoffe tausendmal, dass mein Urteil falsch ist. Ich möchte gerne sehen, dass dieser Krieg durch jedes nur mögliche Mittel gewonnen wird, und wir können natürlich nicht sagen, was sich ereignen wird. Die Regierung wird sich vielleicht wieder der Linken zuwenden. Vielleicht revoltieren die Mauren aus eigener Initiative. England mag sich dazu entschließen, Italien aufzukaufen. Vielleicht kann der Krieg auch durch direkte militärische Maßnahmen gewonnen werden. All das kann man nicht wissen. Ich lasse die oben geschilderten Ansichten stehen, wie sie sind, und die Zukunft wird zeigen, ob ich recht oder unrecht gehabt habe. Aber im Februar 1937 sah ich die Dinge nicht ganz im gleichen Licht. Ich war des Nichtstuns an der aragonischen Front müde und war mir vor allen Dingen darüber im klaren, dass ich meinen gerechten Anteil am Kampf noch nicht geleistet hatte. Ich entsann mich des Rekrutierungsplakates in Barcelona, das die Passanten mahnend fragte: »Was hast Du für die Demokratie getan?«, und ich fühlte, dass ich nur
antworten könnte: »Ich habe meine Rationen in Empfang genommen.« Als ich mich der Miliz anschloss, hatte ich mir selbst das Versprechen gegeben, einen Faschisten zu töten. Wenn schließlich jeder von uns einen tötete, würden sie bald ausgerottet sein. Aber bisher hatte ich noch niemanden getötet, und es gab kaum eine Chance dazu. Außerdem wollte ich natürlich nach Madrid gehen. Jeder in der Armee, wie auch seine politischen Ansichten lauten mochten, wollte nach Madrid gehen. Das bedeutete für mich wahrscheinlich einen Wechsel zur Internationalen Brigade. Denn die P.O.U.M. hatte jetzt nur wenig Truppen bei Madrid, und auch die Anarchisten hatten nicht mehr soviel wie früher.
Im Augenblick musste man natürlich an der Front bleiben, aber ich sagte jedem, dass ich beim nächsten Urlaub nach Möglichkeit zur Internationalen Brigade überwechseln würde. Das hieß, ich musste mich unter kommunistische Kontrolle stellen. Verschiedene Leute versuchten, mir diesen Gedanken auszureden, aber niemand versuchte, sich in meine persönlichen Angelegenheiten einzumischen. Man muss fairerweise zugeben, dass es in der P.O.U.M. sehr wenig Gewissenszwang gab, vielleicht nicht genug, wenn man sich der besonderen Umstände erinnert. Wenn nicht jemand gerade profaschistisch war, wurde er nicht zur Rechenschaft gezogen, falls er die falschen politischen Ansichten hatte. Ich verbrachte einen Teil meiner Zeit in der Miliz damit, die Ansichten der P.O.U.M. heftig zu kritisieren, aber ich hatte deshalb niemals Schwierigkeiten. Man übte nicht einmal einen Druck auf jemand aus, politisches Mitglied der Partei zu werden, obwohl ich glaube, dass die Mehrheit der Milizsoldaten ihr beitrat. Ich selbst wurde nie Mitglied der Partei, was ich hinterher, als die P.O.U.M. unterdrückt wurde, sehr bedauerte.

 

Sechstes Kapitel

Während der ganzen Zeit absolvierten wir unsere tägliche, genauer gesagt, nächtliche Runde. Es war die übliche Beschäftigung: Wache schieben, Spähtrupps unternehmen, Schützengräben ausheben und dazu Schlamm, Regen, heulende Winde und gelegentlich Schnee. Erst spät im April wurden die Nächte spürbar wärmer. Hier auf der Hochebene waren die Märztage größtenteils wie ein englischer März, mit strahlend blauem Himmel und ständigem Wind. Die Wintergerste stand dreißig Zentimeter hoch, auf den Kirschbäumen bildeten sich rosa Knospen, denn die Front verlief hier durch verlassene Obstgärten und Gemüsegärten. Wenn man in den Wassergräben suchte, konnte man Veilchen und eine Art wilder Hyazinthen finden, die wie eine bescheidene Abart der Sternhyazinthe aussahen. Unmittelbar hinter der Front floss ein wunderschöner grüner, schäumender Bach, es war das erste klare Wasser, das ich seit meiner Ankunft an der Front gesehen hatte.
Eines Tages biss ich die Zähne zusammen und schlüpfte in den Fluss, um mein erstes Bad nach sechs Wochen zu nehmen. Es war allerdings ein kurzes Bad, denn das Wasser war vor allem Schneewasser und nur wenig über dem Gefrierpunkt.
Während dieser Zeit ereignete sich nichts, es ereignete sich überhaupt nie etwas. Die Engländer pflegten zu sagen, dies sei kein Krieg, sondern eine verdammte Pantomime. Wir lagen nur selten unter dem direkten Beschuss der Faschisten. Die einzige Gefahr drohte durch verirrte Kugeln, die aus verschiedenen Richtungen kamen, da die Front sich auf beiden Seiten nach vorne ausbuchtete. Die Verluste wurden zu dieser Zeit nur von Irrläufern verursacht. Arthur Clinton
wurde von einer geheimnisvollen Kugel getroffen, die seine linke Schulter zerschmetterte und seinen Arm, wie ich befürchtete, für immer unbrauchbar machte. Wir hatten gelegentlich Artilleriebeschuss, aber er war außergewöhnlich unwirksam. Das Heulen und Krachen der Granaten galt in Wirklichkeit als eine milde Ablenkung. Die Faschisten feuerten ihre Granaten nie auf unsere Brustwehr. Einige hundert Meter hinter uns stand ein Landhaus, La Granja genannt. Seine großen landwirtschaftlichen Gebäude dienten als Lager, Hauptquartier und Küche für diesen Frontabschnitt. Die faschistischen Artillerieschützen zielten auf diese Gebäude. Aber sie lagen fünf oder sechs Kilometer weit weg und zielten nie genau genug, um mehr als die Fenster zu zerschmettern oder die Wände anzukratzen. Man war nur dann in Gefahr, wenn man gerade die Straße hinaufkam, wenn der Beschuss anfing und die Granaten auf beiden Seiten in die Felder schlugen. Man lernte beinahe am ersten Tag die geheimnisvolle Kunst, aus dem Pfeifen der Granaten zu erkennen, wie nah sie einschlagen würden. Die Granaten, die die Faschisten damals abfeuerten, waren jämmerlich schlecht. Obwohl sie ein Kaliber von hundertfünfzig Millimeter hatten, war der Krater eines Einschlages nur etwa zwei Meter breit und eineinviertel Meter tief, unter vier Granaten explodierte mindestens eine nicht. Man erzählte sich darum die üblichen romantischen Geschichten von Sabotage in den faschistischen Fabriken und von Granaten, die nicht explodierten und statt Sprengstoff ein Stück Papier enthielten, auf dem stand: »Rotfront«. Ich habe nie etwas Derartiges gesehen. In Wirklichkeit waren die Granaten hoffnungslos alt. Jemand fand eine bronzene Zünderkappe, auf der ein Datum eingestempelt war: es war 1917. Die Kanonen der Faschisten hatten das gleiche Fabrikat und Kaliber wie unsere eigenen, und die nicht explodierten Granaten wurden oft wiederhergerichtet und zurückgeschossen. Man erzählte sich, es gebe eine alte Granate, die es schon zu einem Spitznamen gebracht habe, täglich hin- und herreise, aber nie explodiere.
Nachts wurden kleine Spähtrupps ins Niemandsland geschickt, um in den Gräben nahe der faschistischen Linie zu liegen und auf Geräusche (Hornsignale, Hupen und so weiter) zu horchen, die auf Bewegungen in Huesca schließen ließen. Wir beobachteten ein ständiges Kommen und Gehen der faschistischen Truppen und konnten ihre Zahl nach den Berichten der Lauscher einigermaßen genau feststellen. Wir waren vor allem angewiesen worden, über das Läuten der Kirchenglocken zu berichten. Es schien, dass die Faschisten jedes Mal zur Messe gingen, ehe sie in die Schlacht zogen. Zwischen den Feldern und Obstgärten lagen verlassene Lehmhütten, und es war ungefährlich, sie beim Licht eines Streichholzes zu durchforschen, nachdem man die Fenster aufgebrochen hatte. Manchmal fand man wertvolle Beutestücke, wie zum Beispiel ein Beil oder eine faschistische Wasserflasche (die besser als unsere waren und deshalb sehr gesucht wurden). Man konnte auch während des Tages die Gegend erkunden, aber das musste meistens auf allen vieren kriechend geschehen. Es war ein eigenartiges Gefühl, in diesen leeren, fruchtbaren Feldern herumzukriechen, in denen gerade zur Erntezeit jede Arbeit aufgehört hatte. Die Ernte des letzten Jahres war niemals angerührt worden. Die ungeschnittenen Reben wanden sich auf dem Boden entlang, die Maiskolben waren auf den Stengeln so hart wie Stein geworden, die Zucker- und Runkelrüben waren zu riesigen, hölzernen Klumpen verwachsen. Wie die Bauern beide Armeen verflucht haben müssen! Manchmal suchten einige Männer im Niemandsland nach Kartoffeln. Ungefähr anderthalb Kilometer auf unserer Rechten, wo die Linien näher beieinander verliefen, gab es ein Feld mit Kartoffeln, das sowohl von den Faschisten wie auch von uns besucht wurde. Wir gingen tagsüber dorthin, sie nur bei Nacht, denn es wurde von unseren Maschinengewehren beherrscht.
Eines Nachts kamen sie zu unserem Verdruss en masse heraus und räumten das ganze Feld. Ein Stück weiter weg entdeckten wir ein anderes, aber dort gab es praktisch keine Deckung, und man musste die Kartoffeln auf dem Bauch liegend ausgraben - eine ermüdende Arbeit. Wenn ihre Maschinengewehrschützen uns entdeckten, mussten wir uns flach wie eine Ratte machen, die unter einer Tür durchschlüpft, während die Kugeln die Erdklumpen wenige Meter hinter uns zerfetzten. Es schien aber damals der Mühe wert zu sein. Kartoffeln wurden sehr rar. Wenn man einen Sack voll hatte, konnte man sie zur Küche bringen und sie gegen eine Wasserflasche voll Kaffee eintauschen.
Aber es ereignete sich immer noch nichts, und es sah auch nicht so aus, als ob sich etwas ereignen würde. »Wann werden wir angreifen? Warum greifen wir nicht an?« lauteten die Fragen, die man Tag und Nacht sowohl von den Spaniern wie auch von den Engländern hörte. Wenn man weiß, was kämpfen bedeutet, klingt es eigenartig, dass Soldaten kämpfen möchten, und doch wollen sie es zweifellos. Im Schützengrabenkrieg gibt es drei Dinge, wonach sich alle Soldaten sehnen: eine Schlacht, mehr Zigaretten und einen einwöchigen Urlaub. Wir waren jetzt etwas besser als vorher bewaffnet. Jeder Soldat hatte hundertfünfzig Patronen Munition anstatt fünfzig. Nach und nach erhielten wir Bajonette, Stahlhelme und einige Handgranaten. Wir hörten das ewige Gerücht von einer bevorstehenden Schlacht. Ich glaube heute, es wurde absichtlich in Umlauf gesetzt, um die Moral der Truppe hochzuhalten. Man brauchte nicht viel militärische Kenntnisse zu haben, um zu sehen, dass es auf dieser Seite von Huesca keine größeren Kampfhandlungen geben werde, zumindest nicht zu jener Zeit. Der strategisch wichtige Punkt war die Straße nach Jaca, sie lag auf der anderen Seite.
Als die Anarchisten später ihren Angriff auf die Straße nach Jaca begannen, war es unsere Aufgabe, hinhaltende Angriffe zu unternehmen und die Faschisten zu zwingen, Truppen von der anderen Seite abzuziehen.
Während der ganzen Zeit, also etwa sechs Wochen lang, gab es nur ein Ereignis an unserem Frontabschnitt. Damals griffen unsere Stoßtruppen Manicomio an, eine nicht mehr benutzte Irrenanstalt, die die Faschisten in eine Festung umgewandelt hatten. In der P.O.U.M. dienten mehrere hundert deutsche Flüchtlinge. Man hatte sie in einem besonderen Bataillon, dem Batallon de Choque, zusammengefasst. Vom militärischen Standpunkt aus hatten sie im Vergleich mit der übrigen Miliz recht unterschiedliche Qualifikationen. Sie waren wirklich mehr als irgend jemand, den ich in Spanien sah, Soldaten, mit Ausnahme der Sturmgarde und einem Teil der Internationalen Brigade. Der Angriff wurde wie gewöhnlich verdorben. Ich frage mich, wie viele Operationen in diesem Kriege wohl auf der Regierungsseite nicht verdorben wurden? Die Stoßtruppen nahmen Manicomio im Sturm. Aber die Truppen, ich habe vergessen, zu welcher Milizeinheit sie gehörten, die sie unterstützen sollten, indem sie die benachbarten Hügel, die Manicomio beherrschten, nehmen sollten, wurden ziemlich böse zurückgeschlagen. Der Kapitän, der sie anführte, war einer jener regulären Armeeoffiziere einer etwas zweifelhaften Loyalität, auf deren weiteren Diensten die Zentralregierung bestand. Aus Furcht oder Verrat warnte er die Faschisten, indem er eine Handgranate warf, als er zweihundert Meter weit von ihnen entfernt war. Es bereitet mir eine Genugtuung zu berichten, dass seine Leute ihn auf der Stelle erschossen. Aber der Überraschungsangriff war keine Überraschung mehr, und die Milizsoldaten wurden durch heftiges Feuer niedergemäht und vom Hügel heruntergetrieben. So mussten die Stoßtruppen beim Anbruch der Nacht Manicomio wieder aufgeben. Die ganze Nacht hindurch fuhren die Ambulanzwagen die abscheuliche Straße nach Sietamo hinunter und töteten dabei die Schwerverwundeten durch die schüttelnde Fahrt.
Jetzt waren wir alle verlaust, denn trotz der Kälte war es dafür schon warm genug. Ich habe ziemliche Erfahrungen mit körperlichem Ungeziefer jeder Art gemacht, aber an absoluter Gemeinheit schlägt die Laus alles, was mir je begegnet ist. Andere Insekten, wie beispielsweise die Mücken, machen einem mehr zu schaffen, aber sie sind wenigstens keine Dauerbewohner. Die menschliche Laus gleicht etwa einem winzigen Krebs und lebt hauptsächlich in den Hosen. Es gibt kaum eine Möglichkeit, sie loszuwerden, außer dass man seine Kleidung verbrennt. Sie legt ihre glitzernd weißen Eier, die wie winzige Reiskörner aussehen, in die Hosennähte, und daraus kriechen junge Läuse aus und brüten selbst mit schrecklicher Geschwindigkeit neue Familien aus. Ich glaube, es wäre nützlich für die Pazifisten, ihre Flugblätter mit vergrößerten Fotografien von Läusen zu illustrieren. Das ist wahrhaftig die Glorie des Krieges! Im Krieg sind alle Soldaten verlaust, wenigstens wenn es warm genug ist. Die Männer, die bei Verdun, bei Waterloo, bei Flodden, bei Senlac und bei den Thermopylen kämpften -jeder von ihnen hatte Läuse, die über seine Hoden krochen. Wir kamen dem Viehzeug ein wenig bei, indem wir ihre Eier ausbrannten und so oft, wie wir den Mut dazu aufbrachten, badeten. Außer Läusen hätte mich nichts in den eiskalten Fluss treiben können.
Alles wurde knapp - Stiefel, Kleidung, Tabak, Seife, Kerzen, Streichhölzer und Olivenöl. Unsere Uniformen lösten sich in Stücke auf, und viele Männer hatten keine Stiefel mehr, sondern nur Sandalen mit Sohlen aus Stricken. Überall fand man ganze Haufen zerschlissener Stiefel. Einmal nährten wir ein Feuer im Unterstand zwei Tage lang fast nur mit Stiefeln, die kein schlechter Brennstoff sind. Zu diesem Zeitpunkt war meine Frau in Barcelona und schickte mir Tee, Schokolade, ja sogar Zigarren, wenn sie so etwas bekommen konnte. Aber selbst in Barcelona wurde alles knapp, besonders der Tabak. Tee war eine Gottesgabe, obwohl wir nie Milch und selten etwas Zucker hatten. Aus England wurden ständig Pakete an die Männer in der Truppe geschickt, aber sie kamen nie an. Nahrungsmittel, Kleidung, Zigaretten - alles wurde entweder von der Post nicht angenommen oder in Frankreich beschlagnahmt. Seltsamerweise gelang es als einziger Firma den Armee- und Marineläden, meiner Frau ein Paket mit Tee zu schicken, in einem denkwürdigen Fall sogar eine Büchse mit Keks. Die arme alte Armee und Marine! Sie taten nobel ihre Pflicht, aber vielleicht hätten sie sich besser gefühlt, wenn ihre Sachen auf Francos Seite der Barrikaden gegangen wären. Das schlimmste von allem war der Mangel an Tabak. Zu Beginn des Krieges hatte man uns täglich ein Päckchen Zigaretten gegeben, dann wurde die Ration auf acht Zigaretten am Tag vermindert, dann auf fünf. Schließlich gab es zehn mörderische Tage, an denen überhaupt kein Tabak ausgegeben wurde. Zum ersten Mal sah ich in Spanien, was man jeden Tag in London sieht, wie nämlich Leute Kippen aufsammeln.
Gegen Ende März hatte ich eine Blutvergiftung an der Hand, die geschient und in eine Schlinge gelegt werden musste. Ich musste zum Hospital gehen, aber es lohnte sich nicht, mich wegen solch einer kleinen Verletzung nach Sietamo zu schicken, und so blieb ich im so genannten Hospital von Monflorite, das nur eine Behandlungsstation für Verwundete war. Ich blieb dort etwa zehn Tage, einen Teil der Zeit verbrachte ich im Bett. Die practicantes (Krankenhelfer) stahlen praktisch jeden Wertgegenstand, den ich besaß, einschließlich meiner Kamera und aller meiner Fotografien. Jeder stahl an der Front, das war eine unvermeidbare Folge des Mangels, aber die Leute im Hospital waren immer die schlimmsten. Im Hospital in Barcelona erzählte mir später ein Amerikaner, der gekommen war, um sich der Internationalen Brigade anzuschließen, dass sein Schiff von einem italienischen Unterseeboot torpediert wurde. Als man ihn verwundet an die Küste brachte und in einen Krankenwagen hob, stahlen die Krankenträger sogar seine Armbanduhr.
Während mein Arm in einer Binde lag, verbrachte ich einige glückliche Tage damit, durch die Landschaft zu spazieren. Monflorite war das übliche Gewirr von Lehm- und Steinhütten mit engen, gewundenen Gassen, die von Lastwagen aufgewühlt worden waren, bis sie wie Mondkrater aussahen. Die Kirche war ziemlich zerstört worden, aber sie wurde jetzt als Militärlager benutzt. In der ganzen Nachbarschaft gab es nur zwei größere Bauernhäuser, Torre Lorenzo und Torre Fabian, und nur zwei wirklich große Gebäude, vermutlich die Häuser der Landbesitzer, die einst über diese Landschaft geherrscht hatten. Ihr Wohlstand spiegelte sich in den erbärmlichen Hütten der Bauern. Direkt hinter dem Fluss, ganz in der Nähe der Frontlinie, stand eine riesige Getreidemühle mit einem dazugehörigen Landhaus. Es war eine Schande zu sehen, wie die riesige, teure Maschine nun ungenutzt verrostete, die hölzernen Mehlrutschen abgerissen und als Brennholz verwandt wurden. Später schickte man einige Trupps auf Lastwagen, um das Anwesen systematisch abzureißen und Brennholz für die weiter zurückliegenden Truppen zu gewinnen. Sie zerschmetterten die Bodenbohlen eines Raumes, indem sie eine Handgranate hineinwarfen. La Granja, unser Lager und unsere Küche, war möglicherweise früher einmal ein Konvent gewesen. Es gab dort riesige Höfe und Nebengebäude, die eine Fläche von viertausend Quadratmetern bedeckten, außerdem Ställe für dreißig oder vierzig Pferde. Die Landhäuser in diesem Teil Spaniens sind vom architektonischen Standpunkt gesehen nicht interessant. Aber ihre Farmgebäude aus gekälktem Stein mit runden Bögen und großartigen Dachbalken sind prächtige Anwesen, die nach einem Plan gebaut werden, der wahrscheinlich über Jahrhunderte hinweg nicht geändert wurde. Manchmal überkam mich eine gewisse schleichende Sympathie für die ehemaligen faschistischen Besitzer, wenn ich sah, wie die Miliz die eroberten Gebäude behandelte. In La Granja war jeder unbenutzte Raum in eine Latrine verwandelt worden - ein scheußliches Schlachtfeld zerschlagener Möbel und Exkremente. In der kleinen Kirche daneben waren die Wände von Granatlöchern durchbohrt und der Boden fußhoch unter Mist begraben. Im großen Hof, wo die Köche ihre Rationen austeilten, war das Durcheinander von rostigen Büchsen, Schlamm, Maultiermist und faulenden Lebensmitteln ekelhaft. Es unterstrich das alte Armeelied:
Wir haben Ratten, Ratten in Kammern und Kasematten, Ratten so groß wie Katzen!
Die Ratten in La Granja waren wirklich so groß wie Katzen oder doch fast so groß; enorme, aufgedunsene Kreaturen, die über die Unrathaufen watschelten und so schamlos waren, dass sie nicht einmal wegliefen, es sei denn, man schoss auf sie.
Endlich war der Frühling da. Das Blau des Himmels war weicher, die Luft wurde plötzlich linde. Die Frösche paarten sich lärmend in den Wassergräben. Rund um die Trinkstellen der Maultiere des Dorfes fand ich ausgezeichnete kleine Frösche von der Größe eines Pennys, die so glänzten, dass das frische Gras neben ihnen blass wirkte. Die Bauernburschen gingen mit Eimern hinaus, um Schnecken zu jagen, die sie auf Blechen lebendig rösteten. Sobald das Wetter besser wurde, kamen die Bauern zum Frühjahrspflügen hinaus. Es ist typisch für die vollständige Ungewissheit, in die die ganze spanische Agrarrevolution gehüllt ist, dass ich niemals genau erfahren konnte, ob das Land hier kollektiviert wurde oder ob es die Bauern einfach unter sich verteilt hatten. Ich vermute, dass es theoretisch kollektiviert worden war, da diese Gegend von der P.O.U.M. und den Anarchisten beherrscht wurde. Jedenfalls waren die Landbesitzer nicht mehr da, wurden die Felder bebaut und schienen die Leute zufrieden zu sein. Ich hörte nie auf, mich über die Freundlichkeit der Bauern uns gegenüber zu wundern. Einigen der älteren unter ihnen muss der Krieg sinnlos erschienen sein, denn offensichtlich brachte er nur Mangel an allem und ein trübes, langweiliges Leben für jeden. Selbst in den besten Zeiten hassen die Bauern, wenn Truppen bei ihnen einquartiert werden. Aber sie waren unterschiedslos freundlich. Ich vermute, die Erklärung dafür war, dass wir, so unerträglich wir in mancher Hinsicht auch sein mochten, doch zwischen ihnen und ihren ehemaligen Landbesitzern standen. Ein Bürgerkrieg ist eine eigenartige Sache: Huesca war keine acht Kilometer weit weg; es war der Markt für diese Leute, sie alle hatten dort Verwandte, jede Woche ihres Lebens waren sie dorthin gegangen, um ihr Geflügel und ihre Gemüse zu verkaufen; nun aber lag seit acht Monaten eine unüberwindbare Barriere aus Stacheldraht und Maschinengewehren dazwischen. Manchmal vergaßen sie das. So sprach ich einmal zu einer alten Frau, die eine dieser winzigen eisernen Lampen trug, in denen die Spanier Olivenöl brennen. »Wo kann ich solch eine Lampe kaufen?« sagte ich. »In Huesca«, sagte sie, ohne nachzudenken, und dann lachten wir beide. Die Dorfmädchen waren prächtige, lebhafte Geschöpfe mit kohlschwarzem Haar, schwingendem Gang und aufrichtigem, direktem Benehmen, wahrscheinlich ein Nebenprodukt der Revolution.
Männer in zerlumpten blauen Hemden, schwarzen Kordhosen und breitrandigen Strohhüten pflügten die Felder mit Gespannen von Maultieren, deren Ohren rhythmisch hin und her schwangen. Ihre Pflüge waren elende Dinger, die den Boden aufwühlten, aber keine richtige Furche zogen. Sämtliche landwirtschaftlichen Maschinen waren bedauernswert veraltet, bedingt durch den hohen Preis aller aus Eisen hergestellten Gegenstände. So wurde beispielsweise eine zerbrochene Pflugschar zusammengestückelt und erneut zusammengestückelt, bis sie manchmal nur noch aus Stücken bestand. Rechen und Mistgabeln wurden aus Holz gemacht. Spaten waren diesen Leuten, die selten ein Paar Stiefel besaßen, unbekannt. Sie gruben ihre Felder mit einer schwerfälligen Hacke um, wie sie in Indien benutzt wird. Sie hatten eine Egge, die an das späte Steinzeitalter erinnerte. Sie bestand aus zusammengefügten Brettern und hatte ungefähr die Größe eines Küchentisches. In die Bretter waren Hunderte von Löchern gebrannt und in jedes Loch ein Stück Feuerstein geklemmt worden, der genauso wie von den Menschen vor zehntausend Jahren zurechtgeschlagen worden war. Ich erinnere mich, wie ich fast vor Schrecken erstarrte, als ich zum ersten Mal in einer zerschlagenen Hütte im Niemandsland ein derartiges Instrument fand. Ich musste eine Weile überlegen, ehe ich begriff, dass es eine Egge war. Es wurde mir übel, wenn ich an die Arbeit dachte, die in der Herstellung eines solchen Apparates steckte, und wenn ich mir die Armut vorstellte, die Feuerstein statt Stahl benutzen musste. Seitdem betrachte ich die Industrialisierung mit immer größerem Wohlwollen. Aber in diesem Dorf gab es auch zwei moderne landwirtschaftliche Traktoren, die zweifellos auf einem Gut eines großen Landbesitzers erbeutet worden waren.
Ein- oder zweimal wanderte ich zu dem kleinen, von Mauern eingefassten Kirchhof hinaus, der etwa zwei Kilometer außerhalb des Dorfes lag. Die an der Front Gefallenen wurden normalerweise nach Sietamo gebracht. Hier lagen die Toten des Dorfes. Er unterschied sich auf merkwürdige Weise von einem englischen Friedhof. Hier gab es keine Achtung vor den Toten. Alles war mit Büschen und hohem Gras überwachsen, überall lagen menschliche Knochen umher. Das Überraschende aber war, dass religiöse Inschriften auf den Grabsteinen fast vollständig fehlten, obwohl sie alle aus der Zeit vor der Revolution stammten. Ich glaube, ich sah nur einmal ein »Bete für die Seele des Soundso«, wie es auf katholischen Gräbern üblich ist. Die meisten Inschriften waren recht weltlich mit komischen Gedichten auf die Tugenden der Verstorbenen. Auf vielleicht einem unter vier oder fünf Gräbern stand ein kleines Kreuz oder eine formhafte Ehrerbietung für den Himmel, die dann von einem fleißigen Atheisten mit einem Meißel weggeschlagen worden war.
Es fiel mir auf, dass die Einwohner dieser Gegend Spaniens wirklich ohne religiöse Gefühle sein mussten - ich meine, religiöses Gefühl im strenggläubigen Sinne. Es ist merkwürdig, dass ich während der ganzen Zeit meines Aufenthaltes in Spanien niemals einen Menschen sah, der sich bekreuzigte, obwohl man doch annehmen sollte, dass eine derartige Bewegung, ob mit oder ohne Revolution, zur Gewohnheit wird. Sicherlich wird die spanische Kirche zurückkommen - nach dem Sprichwort: Die Nacht und die Jesuiten kommen immer wieder -, aber es besteht kein Zweifel daran, dass sie beim Ausbruch der Revolution zusammenbrach und in einem solchen Ausmaß zerschlagen wurde, wie es unter ähnlichen Umständen selbst für die todgeweihte Kirche von England undenkbar wäre. Für die spanischen Menschen, jedenfalls in Katalonien und Aragonien, war die Kirche schlicht und einfach Schwindel. Möglicherweise wurde der christliche Glaube in gewissem Umfange vom Anarchismus verdrängt, dessen Einfluss sehr weit reicht und der ohne Zweifel eine religiöse Färbung hat.
Am Tag meiner Rückkehr aus dem Hospital wurde unsere Linie zu der Stellung vorverlegt, die sie eigentlich haben sollte, etwa tausend Meter weiter vorne an einem kleinen Fluss, der etwa zweihundert Meter vor den faschistischen Linien vorbeifloß. Diese Operation hätte einige Monate früher durchgeführt werden sollen. Es wurde erst jetzt getan, weil die Anarchisten an der Straße nach Jaca angriffen. Dadurch, dass wir jetzt auf dieser Seite vorgingen, mussten die Faschisten Truppen abzweigen, um uns hier entgegenzutreten.
Sechzig oder siebzig Stunden lang schliefen wir nicht, und meine Erinnerung verliert sich im Nebelhaften oder vielmehr einer Reihe von Bildern. Horchdienst im Niemandsland, hundert Meter vor der Casa Francesca, einem befestigten Bauernhaus, das ein Stück der faschistischen Front war. Sieben Stunden lang in einem schrecklichen Sumpf liegen, in einem nach Schilf stinkenden Wasser, in dem der Körper allmählich tiefer und tiefer einsank: der Geruch der Schilfhalme, die lähmende Kälte, die unbeweglichen Sterne an einem schwarzen Himmel, das heisere Quaken der Frösche. Obwohl es schon April war, hatten wir die kälteste Nacht, an die ich mich in Spanien erinnern kann. Wenige hundert Meter hinter uns waren Bautrupps eifrig bei der Arbeit, aber hier vorne herrschte vollständiges Schweigen, außer dem Chor der Frösche. Während der ganzen Nacht hörte ich nur einmal das bekannte Geräusch, das entsteht, wenn ein Sandsack mit einem Spaten flachgeklopft wird. Es ist eigenartig, wie die Spanier dann und wann eine brillante Organisationstat durchführen können. Die ganze Vorverlegung war wundervoll geplant. In sieben Stunden bauten sechshundert Mann zwölfhundert Meter Schützengräben und Brustwehren in einer Entfernung von hundertfünfzig bis dreihundert Meter von der faschistischen Linie. Alles geschah so leise, dass die Faschisten nichts hörten, und während der ganzen Nacht gab es nur einen Verlust. Natürlich gab es am nächsten Tag mehr. Für jeden Mann war eine bestimmte Arbeit vorgesehen, selbst für die Köche, die plötzlich, als wir fertig waren, ankamen und mit Schnaps versetzten Wein in Eimern brachten.
Dann kam die Morgendämmerung, und die Faschisten entdeckten plötzlich, dass wir dort waren. Der viereckige weiße Block der Casa Francesca schien sich wie ein Turm über uns zu erheben, obwohl er zweihundert Meter weit weg war. Die Maschinengewehre in den von Sandsäcken geschützten oberen Fenstern schienen direkt auf uns in die Schützengräben hinabzuzeigen. Wir standen und schauten mit offenem Mund hin und wunderten uns, warum die Faschisten uns nicht sahen. Dann kam ein böser Kugelregen, und jeder warf sich auf die Knie und grub fieberhaft, um den Schützengraben tiefer zu machen und schmale Unterstände in die Seitenwände zu treiben. Mein Arm lag immer noch in Bandagen, so konnte ich nicht graben und verbrachte den größten Teil des Tages damit, eine Detektivgeschichte zu lesen - ihr Titel hieß: Der verlorengegangene Geldleiber. Ich kann mich an die Geschichte nicht mehr erinnern, aber ich kann mich sehr genau daran erinnern, was ich fühlte, als ich da saß und las: den feuchten Lehm auf dem Boden des Schützengrabens unter mir; das ständige Verschieben meiner Beine, um sie aus dem Wege zu nehmen, wenn ein Mann vorbeikam, der den Schützengraben entlangeilte, und das Krack, Krack, Krack der Kugeln einen halben Meter über meinem Kopf. Thomas Parker erhielt einen Durchschuss am Ende seines Oberschenkels, und er meinte, das bringe ihn näher an ein Kriegsverdienstkreuz, als ihm lieb sei. Am gesamten Abschnitt hatten wir Verluste, aber nichts im Vergleich zu dem, was uns erwartet hätte, wenn sie uns in der Nacht beim Umbau der Stellung erwischt hätten. Ein Deserteur erzählte uns später, fünf faschistische Wachtposten seien für ihre Unachtsamkeit erschossen worden. Selbst jetzt hätten sie uns massakrieren können, wenn sie sich nur entschlossen hätten, ein paar Mörser herbeizubringen. Es war eine mühselige Arbeit, die Verwundeten durch den schmalen, überfüllten Schützengraben wegzutragen. Ich sah, wie ein armer Teufel, seine Hose dunkel vom Blut, von der Tragbahre hinabgeworfen wurde und in Agonie keuchte. Man musste die Verwundeten über eine lange Entfernung hinweg tragen, etwa zwei Kilometer weit, denn selbst wo es eine Straße gab, kamen die Ambulanzwagen nie nahe an die Front heran. Wenn sie zu nah kamen, nahmen die Faschisten sie unter Artilleriebeschuss - das ist entschuldbar, denn in einem modernen Krieg hat niemand Skrupel, die Ambulanzwagen zum Transport von Munition zu benutzen.
Dann die nächste Nacht; wir warteten bei Torre Fabian auf einen Angriff, der im letzten Moment durch Funkbefehl abgeblasen wurde. Wir warteten in einer Scheune, deren Boden aus einer dünnen Schicht Häcksel bestand, das über einer tiefen Schicht Knochen lag, einer Mischung von Menschen- und Rinderknochen. Der Raum wimmelte von Ratten. Die schmutzigen Kreaturen schwärmten an allen Ecken und Enden aus dem Boden. Wenn ich etwas ganz besonders hasse, so ist es eine Ratte, die in der Dunkelheit über mich läuft. Aber ich hatte immerhin die Befriedigung, dass ich einer von ihnen einen guten Schlag gab, der sie weit wegschleuderte.
Dann das Warten fünfzig oder sechzig Meter vor der faschistischen Brustwehr auf den Befehl zum Angriff. Eine lange Kette von Männern, die sich in einen Bewässerungsgraben gehockt hatte, während ihre Bajonette über das Ende des Grabens hinausschauten und das Weiße ihrer Augen durch die Dunkelheit leuchtete. Kopp und Benjamin hatten sich hinter uns hingeduckt, zusammen mit einem Mann, der einen Funkempfänger auf seinen Schultern trug. Am westlichen Horizont der rötliche Schein von Mündungsfeuer, nach einigen Sekunden gefolgt von riesigen Explosionen. Dann hörten wir ein Piep, Piep, Piep vom Funkgerät und den geflüsterten Befehl, wir sollten uns zurückziehen, solange es noch ging. Wir folgten dem Befehl, aber nicht schnell genug. Zwölf armselige Kinder der J.C.I. (der Jugendliga der P.O.U.M., das Gegenstück der J.S.U. der P.S.U.C.), die nur vierzig Meter von der faschistischen Brustwehr entfernt lagen, wurden vom Morgengrauen überrascht und konnten nicht mehr fliehen. Sie mussten den ganzen Tag über dort liegen bleiben und hatten nur Grasbüschel als Deckung, die Faschisten aber schossen jedes Mal auf sie, wenn sie sich nur bewegten. Als die Nacht hereinbrach, waren sieben von ihnen tot, den anderen fünf gelang es dann, in der Dunkelheit wegzukriechen.
Dann, an vielen aufeinander folgenden Morgen, der Lärm der anarchistischen Angriffe auf der anderen Seite von Huesca. Immer der gleiche Lärm. Plötzlich, in den frühen Morgenstunden, das einleitende Krachen verschiedener Serien von Granaten, die gleichzeitig explodierten - selbst aus vielen Kilometern Entfernung ein teuflischer, alles erfüllender Krach. Dann der ununterbrochene Lärm von massiertem Gewehr- und Maschinengewehrfeuer, ein schwerer rollender Ton, der eigenartigerweise dem Rollen von Trommeln ähnelt. Allmählich breitete sich das Schießen in allen Schützengräben aus, die Huesca einschlossen. Wir stolperten in den Graben und lehnten schläfrig an der Brustwehr, während eine unregelmäßige, sinnlose Kanonade über unsere Köpfe hinwegfegte.
Tagsüber donnerten die Kanonen unregelmäßig. Torre Fabian, das jetzt als unsere Küche diente, wurde beschossen und teilweise zerstört. Es ist merkwürdig, dass man sich immer wünscht, wenn man Artilleriefeuer aus einer sicheren Entfernung beobachtet, der Kanonier möge sein Ziel treffen, selbst wenn in diesem Ziel das eigene Mittagessen und einige der eigenen Kameraden sind. An jenem Morgen schossen die Faschisten gut - vielleicht besorgten deutsche Kanoniere das Geschäft. Sie gabelten Torre Fabian sorgfältig ein. Eine Granate darüber hinaus, eine Granate kurz davor und dann zisch-bumm! Berstende Dachsparren flogen nach oben, und ein Stück Uralit flatterte aus der Luft herab wie ein emporgeschnelltes Paket Spielkarten. Die nächste Granate schlug die Ecke eines Gebäudes so sauber weg, wie es ein Riese mit einem Messer tun könnte. Aber die Köche lieferten das Dinner pünktlich ab - ein denkwürdiges Kunststück.
Im Verlauf der nächsten Tage nahm jede der unsichtbaren, aber hörbaren Kanonen eine ausgeprägte Persönlichkeit an. Wir hatten zwei Batterien russischer Fünfundsiebzig-Millimeter-Kanonen, die dicht hinter uns abgefeuert wurden und die in meiner Vorstellung das Bild eines fetten Mannes hervorriefen, der auf einen Golfball schlägt. Es waren die ersten russischen Kanonen, die ich damals gesehen oder, besser, gehört habe. Die Geschosse hatten eine niedrige Flugbahn und eine sehr hohe Geschwindigkeit, so dass man fast gleichzeitig die Explosion der Kartusche, das Zischen und das Bersten der Granate hörte. Hinter Monflorite standen zwei sehr schwere Kanonen, die ein paar Mal am Tag mit einem tiefen, gedämpften Donner schossen, der sich wie das Gebell eines weitentfernten, angeketteten Ungeheuers anhörte. Oben auf Monte Aragon, der mittelalterlichen Festung, die von den Regierungstruppen im vergangenen Jahr erstürmt worden war (zum ersten Mal in der Geschichte, wie man sagte) und einen der Zugänge nach Huesca bewachte, stand eine schwere Kanone, die aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts stammen musste. Ihre großen Granaten pfiffen so langsam über uns hinweg, dass man das Gefühl hatte, man könnte mit ihnen laufen und Schritt halten. Eine Granate aus dieser Kanone klang ungefähr so wie ein Mann, der auf einem Fahrrad vorbeifährt und pfeift. Die Grabenmörser machten den teuflischsten Lärm von allen, obwohl sie klein waren. Ihre Granaten sind eigentlich eine Art Torpedo mit Flügeln, sie sehen aus wie die Wurfpfeile, mit denen man in englischen Kneipen spielt, und sie haben ungefähr die Größe einer Literflasche. Sie gehen mit einem teuflischen metallischen Krachen los, so wie wenn eine riesige Kugel aus sprödem Stahl auf einem Amboss zerschmettert wird. Manchmal flogen unsere Flugzeuge hinüber und warfen Lufttorpedos ab, deren enormer Donner ein Echo hervorrief und die Erde selbst auf eine Entfernung von über drei Kilometer zum Zittern brachte. Die explodierenden Granaten aus den faschistischen Flugabwehrkanonen betupften den Himmel mit Wölkchen wie aus schlechter Wasserfarbe, aber ich sah niemals, dass sie näher als tausend Meter an ein Flugzeug herankamen. Wenn ein Flugzeug hinabstößt und aus seinem Maschinengewehr feuert, hört sich der Lärm von unten wie das Flattern von Flügeln an. An unserem Frontabschnitt ereignete sich nicht viel. Zweihundert Meter zur Rechten von uns, wo die Faschisten auf höherem Boden lagen, erwischten ihre Scharfschützen einige unserer Kameraden. Zweihundert Meter zur Linken, an der Brücke über den Fluss, spielte sich eine Art Duell ab zwischen den faschistischen Mörsern und den Männern, die eine Betonbarrikade jenseits der Brücke bauten. Die bösen kleinen Granaten zischten herüber, zwing-krach! zwingkrach!, und machten einen doppelt teuflischen Lärm, wenn sie auf der Asphaltstraße landeten. Hundert Meter weiter konnte man in vollständiger Sicherheit stehen und die Säulen aus Erde und Rauch beobachten, die wie Zauberbäume in die Luft sprangen. Die armen Teufel an der Brücke verbrachten ein gut Teil des Tages damit, sich in die kleinen Schützenlöcher zu ducken, die sie an der Seite des Grabens ausgehöhlt hatten. Aber es gab weniger Verluste, als man hätte erwarten können, und die Barrikade wuchs gleichmäßig empor: eine sechzig Zentimeter dicke Mauer aus Beton mit Schießscharten für zwei Maschinengewehre und ein kleines Feldgeschütz. Der Beton wurde mit alten Bettgestellen verstärkt, es war anscheinend das einzige Eisen, das man für diesen Zweck auftreiben konnte.

 

Siebtes Kapitel

Eines Nachmittags sagte uns Benjamin, er brauche fünfzehn Freiwillige. Der Angriff auf die faschistische Feldschanze, der bei einer früheren Gelegenheit abgeblasen worden war, sollte in dieser Nacht durchgeführt werden. Ich ölte meine zehn mexikanischen Patronen, beschmierte mein Bajonett mit Lehm (es verrät die Position, wenn es zuviel funkelt) und packte einen Kanten Brot, ein Stück rote Wurst und eine Zigarre zusammen, die mir meine Frau aus Barcelona geschickt und die ich lange Zeit aufbewahrt hatte. Jeder Mann erhielt drei Handgranaten. Endlich war es der spanischen Regierung gelungen, eine anständige Handgranate zu produzieren. Sie funktionierte nach dem Prinzip der Handgranate von Mills (Anm.: Sir William Mills, 1855-1932, Erfinder einer Eierhandgranate), aber sie hatte statt einem zwei Sicherungsstifte. Nachdem man die Stifte herausgezogen hatte, dauerte es sieben Sekunden, ehe die Bombe explodierte. Ihr Hauptnachteil bestand darin, dass einer der Stifte sehr fest und der andere sehr lose saß. Man hatte also entweder die Wahl, beide Stifte an ihrer Stelle zu belassen und im Notfall den festsitzenden nicht herausziehen zu können oder aber den festsitzenden Stift vorher herauszuziehen und in dauernder Angst zu schweben, ob das Ding in der Tasche explodieren würde. Aber es war eine handlich zu werfende, kleine Granate.
Kurz vor Mitternacht führte Benjamin uns fünfzehn zum Torre Fabian hinunter. Den ganzen Abend lang hatte es unentwegt geregnet. Die Bewässerungsgräben liefen über, und jedes Mal, wenn man in einen hineinstolperte, stand man bis zur Hüfte im Wasser. Im Hof der Farm wartete eine in der pechschwarzen Dunkelheit und dem strömenden Regen nur undeutlich erkennbare Gruppe von Männern. Kopp sprach zu uns erst auf spanisch, dann auf englisch und erklärte uns den Angriffsplan. Die faschistische Linie machte hier einen Bogen wie ein L, und die Brustwehr, die wir angreifen sollten, lag auf dem allmählich ansteigenden Boden an der Ecke des L. Ungefähr dreißig von uns, die eine Hälfte Engländer und die andere Hälfte Spanier, sollten unter dem Kommando unseres Bataillonskommandeurs Jorge Roca (ein Bataillon in der Miliz bestand aus ungefähr vierhundert Mann) und Benjamins hinaufkriechen und die faschistischen Stacheldrahtverhaue durchschneiden. Jorge sollte die erste Handgranate als Signal werfen, dann sollte der Rest von uns eine Serie von Handgranaten hinterherwerfen, die Faschisten aus ihrer Befestigung hinaustreiben und sie in Besitz nehmen, ehe sie sich sammeln konnten. Gleichzeitig sollten siebzig Leute der Stoßtruppe die benachbarte faschistische >Stellung< angreifen, die zweihundert Meter weiter rechts von ihr entfernt lag und durch einen Verbindungsgraben zu erreichen war. Um zu verhindern, dass wir uns in der Dunkelheit gegenseitig anschossen, sollten weiße Armbinden getragen werden. In diesem Augenblick kam ein Bote, der sagte, es gäbe keine weißen Armbinden. Aus der Dunkelheit heraus schlug jemand mit klagender Stimme vor: »Könnten wir nicht dafür sorgen, dass statt dessen die Faschisten weiße Armbinden tragen?« Wir hatten noch ein oder zwei Stunden Zeit. Die Scheune über dem Maultierstall war durch Artilleriebeschuss so zerstört worden, dass man sich in ihr ohne ein Licht nicht umherbewegen konnte. Die Hälfte des Bodens war durch eine herabstürzende Granate weggerissen worden, dort konnte man sechs Meter tief auf die Steine hinabfallen. Jemand fand einen Pickel und stemmte eine zerbrochene Bohle aus dem Boden. In ein paar Minuten hatten wir ein Feuer angezündet, und unsere durchnässten Kleider dampften. Ein an
derer holte ein Paket Spielkarten hervor. Ein Gerücht -eins der geheimnisvollen Gerüchte, die im Kriege wie ansteckende Krankheiten auftauchen - machte die Runde, wonach sofort heißer Kaffee mit Brandy ausgegeben werden sollte. Begierig stiegen wir die fast zusammenstürzende Treppe hinunter, tappten in dem dunklen Hof umher und fragten, wo wir den Kaffee erhalten könnten. Leider aber gab es keinen Kaffee! Statt dessen rief man uns zusammen, ordnete uns zu einer Linie hintereinander, und dann verschwanden Jorge und Benjamin schnell in der Dunkelheit, während der Rest von uns folgte.
Es regnete immer noch und war vollständig dunkel, aber der Wind hatte aufgehört. Der Schlamm war unbeschreiblich. Die Pfade durch die Rübenfelder bestanden nur aus einer Reihe von Klumpen, schlüpfrig, wie mit Fett eingeschmiert, dazwischen überall riesige Pfützen. Lange ehe wir an die Stelle kamen, wo wir unsere eigene Brustwehr verlassen sollten, war schon jeder mehrfach gefallen und waren unsere Gewehre mit Schlamm überzogen. An der Brustwehr wartete eine kleine Gruppe von Leuten, sie waren unsere Reserve, der Doktor und mehrere Tragbahren. Wir gingen in einer Reihe hintereinander durch die Lücke in der Brustwehr und wateten durch einen anderen Bewässerungsgraben. Platsch, glucks! Wieder standen wir bis zur Hälfte im Wasser, und der schmutzige, schleimige Schlamm ergoss sich über unsere Stiefelränder. Draußen auf dem Gras wartete Jorge, bis wir alle hindurch waren. Völlig niedergeduckt begann er dann, langsam vorwärts zu kriechen. Die faschistische Brustwehr lag etwa hundertfünfzig Meter weit entfernt. Unsere einzige Chance, dorthin zu kommen, bestand darin, uns ohne Lärm zu bewegen.
Ich war mit Jorge und Benjamin an der Spitze. Wir krochen tief gebückt, hielten aber unsere Gesichter hoch. So krochen wir, mit jedem Schritt langsamer werdend, in die vollständige Dunkelheit hinein. Leicht schlug der Regen in unsere Gesichter. Wenn ich zurückschaute, konnte ich die Männer in meiner Nähe sehen. Sie waren ein Haufen gekrümmter Schatten, die wie riesige schwarze Pilze langsam vorwärts glitten. Aber jedes Mal, wenn ich meinen Kopf hob, wisperte Benjamin dicht neben mir ungestüm in mein Ohr: »Den Kopf runterhalten! Den Kopf runterhalten!« Ich hätte ihm sagen können, er brauche sich nicht zu sorgen. Ich wusste aus Erfahrung, dass man in einer dunklen Nacht niemals einen Mann auf eine Entfernung von zwanzig Schritten sehen kann. Viel wichtiger war es, ohne einen Laut vorzugehen. Wenn sie uns einmal hörten, war es aus mit uns. Sie brauchten nur die Dunkelheit mit ihrem Maschinengewehrfeuer zu zerschneiden, und uns würde nichts anderes übrig bleiben, als wegzulaufen oder massakriert zu werden.
Es war fast unmöglich, auf dem durchweichten Boden ruhig voranzukommen. Wie man es auch anstellte, die Füße blieben im Schlamm stecken, und jeder Schritt, den man machte, war ein Platsch-Platsch, Platsch-Platsch. Das Teuflische aber war, dass der Wind nachgelassen hatte und trotz des Regens die Nacht sehr ruhig war. Geräusche konnten selbst über größere Entfernungen hinweg gehört werden. Ich erlebte einen schrecklichen Augenblick, als ich gegen eine Blechdose trat und dachte, jeder Faschist im Umkreis von Kilometern müsse es gehört haben. Aber nein, kein Ton, kein Schuss als Antwort, keine Bewegung in der faschistischen Linie. Wir krochen weiter, immer langsamer. Ich kann gar nicht beschreiben, wie heftig mein Wunsch war, dorthin, also bis auf Handgranaten-Wurfweite, heranzukommen, ehe sie uns hörten! In einem derartigen Augenblick hat man nicht einmal Furcht, nur den riesigen, hoffnungslosen Wunsch, über das dazwischenliegende Gelände zu kommen. Bei der Jagd auf wilde Tiere habe ich genau das gleiche gefühlt, den gleichen qualvollen Wunsch, auf Schussweite heranzukommen, die gleiche traumhafte Gewissheit, dass es unmöglich ist. Wie sich die Entfernung dehnte! Ich kannte das Gelände gut, es waren kaum hundertfünfzig Meter, und doch schienen es eher anderthalb Kilometer zu sein. Wenn man in diesem Tempo kriecht, hat man ein Gefühl, wie eine Ameise es von den riesigen Unterschieden des Bodens haben mag: ein herrliches Fleckchen weiches Gras hier; ein hässliches Stück klebrigen Schlammes dort; die hohen, raschelnden Gräser, die man vermeiden muss; den Haufen Steine, die einen fast die Hoffnung aufgeben lassen, weil es unmöglich erscheint, ohne Lärm über sie hinwegzukommen.
Wir waren so lange vorangekrochen, dass ich nahezu glaubte, wir hätten den falschen Weg eingeschlagen. Dann wurden in der Dunkelheit dünne, parallellaufende Linien aus etwas noch Schwärzerem gerade sichtbar. Es war der äußere Drahtverhau (die Faschisten hatten zwei Linien Drahtverhaue). Jorge kniete nieder und wühlte in seiner Tasche. Er hatte unsere einzige Drahtschere. Schnipp, schnipp. Die herumhängenden Drähte wurden vorsichtig zur Seite gehoben. Wir warteten auf die Männer am Schluss, damit sie aufschließen konnten. Sie schienen einen entsetzlichen Lärm zu machen. Es konnten noch fünfzig Meter bis zur faschistischen Brustwehr sein. Immer tief gebeugt vorwärts. Mit verstohlenem Schritt setzten wir unseren Fuß so sanft auf wie eine Katze, die sich einem Mauseloch nähert, dann eine Pause, um zu horchen, dann ein weiterer Schritt. Einmal hob ich meinen Kopf, schweigend legte Benjamin seine Hand hinter meinen Hals und zerrte mich heftig herunter.
Ich wusste, dass der innere Stacheldraht kaum zwanzig Meter von der Brustwehr entfernt war. Es schien mir undenkbar, dass dreißig Mann, ohne gehört zu werden, dort hinkommen könnten. Schon unser Atem genügte, um uns zu verraten, aber irgendwie schafften wir es. Man konnte die faschistische Brustwehr jetzt sehen, ein verschwommener schwarzer Erdhügel, der hoch über uns aufragte. Wieder kniete Jorge und hantierte herum. Schnipp, schnipp. Es gab keine Methode, den Draht geräuschlos durchzuschneiden.
Das war also der innere Drahtverhau. Wir krochen auf allen vieren hindurch, möglichst noch schneller als vorher. Wenn wir jetzt Zeit hatten, uns zu entfalten, war alles gut. Jorge und Benjamin krochen nach rechts hinüber. Aber die Männer hinter uns, die weiter auseinandergeschwärmt waren, mussten sich in einer Linie hintereinander ordnen, um durch die enge Lücke im Drahtverhau zu kommen. Genau in diesem Augenblick gab es am faschistischen Grabenrand einen Blitz und Knall. Der Wachtposten hatte uns schließlich doch gehört. Jorge balancierte auf einem Knie und schwang seinen Arm wie ein Kegler. Krach! Seine Handgranate platzte irgendwo jenseits der Brustwehr. Sofort, rascher als man es für möglich gehalten hätte, brach der Donner der Schüsse aus zehn oder zwanzig Gewehren der faschistischen Brustwehr los. So hatten sie also doch auf uns gewartet. Für einen Moment konnte man in dem gespenstischen Licht jeden Sandsack sehen. Viel zu weit zurück warfen die Leute hinter uns ihre Handgranaten, einige fielen vor der Brustwehr nieder. Jedes Schützenloch schien Flammenstrahlen auszuspucken. Es ist immer widerlich, wenn man in der Dunkelheit beschossen wird - jedes aufblitzende Gewehr scheint direkt auf einen selbst gerichtet zu sein -, aber die Handgranaten waren das schlimmste. Man kann das Grauen einer in nächster Nähe bei Dunkelheit explodierenden Handgranate nicht ermessen, ehe man nicht dabei war. Während des Tages hört man nur den Explosionskrach. In der Dunkelheit sieht man gleichzeitig den blendend roten Feuerschein. Bei der ersten Salve hatte ich mich niedergeworfen. Während dieser ganzen Zeit lag ich in dem schmierigen Schlamm auf der Seite und zerrte wild an dem Stift meiner Handgranate. Das verdammte Ding wollte nicht herauskommen. Schließlich merkte ich, dass ich ihn in die falsche Richtung drehte. Ich zog den Stift heraus, richtete mich auf meinen Knien auf, schleuderte die Handgranate und warf mich wieder hin. Die Granate zerplatzte zu meiner Rechten, außerhalb der Brustwehr. Die Furcht hatte meine Absicht vereitelt. Gerade in diesem Augenblick zerbarst eine andere Handgranate gerade vor mir, so dicht, dass ich die Hitze der Explosion fühlen konnte. Ich drückte mich flach auf den Boden und grub mein Gesicht so hart in den Schlamm, dass ich meinen Hals verrenkte und glaubte, ich sei verwundet. Durch das Getöse hindurch hörte ich eine englische Stimme hinter mir, die gelassen sagte: »Ich bin getroffen.« Die Handgranate hatte tatsächlich mehrere Leute um mich herum verwundet, ohne mich selbst zu berühren. Ich erhob mich auf mein Knie und schleuderte meine zweite Handgranate. Ich habe vergessen, wohin sie flog.
Die Faschisten schossen, unsere Leute hinter uns schossen, und ich war mir sehr genau bewusst, dass ich genau in der Mitte dazwischen lag. Ich fühlte den Luftdruck eines Schusses und begriff, dass ein Mann unmittelbar hinter mir schoss. Ich stand auf und schrie ihn an: »Schieß nicht auf mich, du verdammter Idiot!« In diesem Augenblick sah ich, wie Benjamin zehn oder fünfzehn Meter von mir entfernt mit seinem Arm zu mir herüberwinkte. Ich rannte zu ihm hinüber. Das heißt, ich musste das Gelände vor den spuckenden Schützenlöchern überqueren, und während ich lief, deckte ich meine linke Hand über meine Backe. Eine närrische Bewegung - als ob man mit der Hand eine Kugel aufhalten könnte! -, aber ich hatte Angst, im Gesicht getroffen zu werden. Benjamin hockte auf einem Knie, auf seinem Gesicht lag ein zufriedener, etwas teuflischer Ausdruck, und er schoss mit seiner automatischen Pistole sorgfältig auf das Mündungsfeuer. Jorge war bei der ersten Salve verwundet hingefallen und lag irgendwo, wo man ihn nicht sehen konnte. Ich kniete neben Benjamin, zog den Stift aus meiner dritten Handgranate und schleuderte sie fort. Ah! Dieses Mal gab es keinen Zweifel. Die Handgranate krachte in das Innere der Brustwehr, in die Ecke genau neben dem Maschinengewehrnest.
Das faschistische Gewehrfeuer schien sehr plötzlich nachgelassen zu haben. Benjamin sprang auf seine Füße und schrie: »Vorwärts! Angriff!« Wir stürzten den kurzen, steilen Hang empor, auf dem die Brustwehr lag. Ich sage »stürzen<, >poltern> wäre ein besseres Wort, denn man kann wirklich nicht schnell vorankommen, wenn man von Kopf bis Fuß durchweicht und voller Schlamm ist und von einem schweren Gewehr nebst Bajonett und hundertfünfzig Patronen niedergezogen wird. Ich erwartete selbstverständlich, dass ein Faschist oben auf mich warten würde. Wenn er auf diese Entfernung feuerte, konnte er mich nicht verfehlen. Doch irgendwie rechnete ich nicht damit, dass er auf mich schießen würde, sondern nur versuchen werde, mich mit seinem Bajonett anzugreifen. Ich schien schon vorher das Gefühl unserer sich kreuzenden Bajonette zu spüren, und ich fragte mich, ob sein Arm stärker sein werde als meiner. Aber kein Faschist wartete auf mich. Mit einem unbestimmten Gefühl der Erleichterung erkannte ich, dass es eine niedrige Brustwehr war und die Sandsäcke dem Fuß einen guten Halt gaben. Normalerweise kommt man schwer über sie hinweg. Innen war alles in Stücke zerschlagen. Überall waren Balken herumgeschleudert und lagen verstreut große Scherben Uralit. Unsere Handgranaten hatten alle Hütten und Unterstände zerstört. Dennoch war nicht eine Seele zu sehen. Ich dachte, sie lauerten irgendwo unter der Erde, und rief in Englisch (ich konnte im Moment nicht an irgendein spanisches Wort denken): »Kommt heraus! Ergebt euch!« Keine Antwort. Dann sprang ein Mann, eine schemenhafte Figur im Halblicht, über das Dach einer der zerstörten Hütten und stürzte nach links weg. Ich rannte ihm nach und stach mein Bajonett ohne Wirkung in die Dunkelheit. Als ich um die Ecke der Hütte kam, sah ich einen Mann - ich weiß nicht, ob es der gleiche Mann war, den ich vorher gesehen hatte -, der den Verbindungsgraben hinauf floh, der zu der anderen faschistischen Stellung führte. Ich muss ihm sehr nah gewesen sein, denn ich konnte ihn sehr deutlich sehen. Er war barhäuptig und schien nichts anzuhaben außer einer Decke, die er um seine Schultern gerafft hielt. Hätte ich geschossen, würde ich ihn in Stücke geblasen haben. Aber aus Furcht, dass wir einander erschießen könnten, war angeordnet worden, nur die Bajonette zu benutzen, wenn wir einmal innerhalb der Brustwehr seien, und jedenfalls dachte ich selbst niemals daran, zu schießen. Statt dessen sprang meine Erinnerung zwanzig Jahre zurück, und ich dachte an unseren Boxlehrer in der Schule, der mir mit einer anschaulichen Gebärde zeigte, wie er einen Türken bei den Dardanellen mit dem Bajonett erstochen hatte. Ich fasste mein Gewehr an der schmalen Stelle des Kolbens und stieß nach dem Rücken des Mannes. Er war außerhalb meiner Reichweite. Noch ein Stoß: immer noch außerhalb meiner Reichweite. Ein kleines Stück liefen wir so voran, er eilte den Graben hinauf, und ich rannte auf dem Boden oberhalb von ihm, zielte auf seine Schulterblätter und konnte ihn nie ganz erreichen - eine komische Erinnerung, wenn ich heute daran denke, obwohl ich annehme, dass es ihm weniger komisch erschien.
Natürlich kannte er das Gelände besser als ich und hatte sich bald von mir weggestohlen.
Als ich zurückkam, war die Stellung voller schreiender Männer. Der Lärm des Gewehrfeuers hatte etwas nachgelassen. Die Faschisten überschütteten uns immer noch mit heftigem Feuer von drei Seiten, aber es kam aus größerer Entfernung. Zur Zeit hatten wir sie vertrieben.
Ich erinnere mich, dass ich wie ein Orakel sagte: »Wir können diesen Graben eine halbe Stunde lang halten, nicht länger.« Ich weiß nicht, warum ich gerade eine halbe Stunde sagte. Wenn man über die Brustwehr nach rechts sah, konnte man unzählige grüne Mündungsfeuer sehen, die wie
Dolche in die Dunkelheit stachen. Aber sie lagen weit weg, etwa hundert oder zweihundert Meter. Unsere Aufgabe bestand nun darin, die Stellung zu durchsuchen und alles mitzunehmen, was wert war, erbeutet zu werden. Benjamin und einige andere scharrten schon in den Trümmern einer großen Hütte oder eines Unterstandes in der Mitte der Stellung. Benjamin stolperte aufgeregt durch das zerstörte Dach und zog am Seilgriff einer Munitionskiste.
»Kameraden! Munition! Viel Munition hier!«
»Wir wollen keine Munition!« sagte eine Stimme, »wir wollen Gewehre.«
Das war richtig. Die Hälfte unserer Gewehre war durch den Schlamm verklemmt und unbrauchbar. Sie konnten gereinigt werden, aber es war gefährlich, in der Dunkelheit den Bolzen aus einem Gewehr zu nehmen, denn man legt ihn irgendwo hin und verliert ihn dann. Ich hatte eine winzige elektrische Taschenlampe, die meine Frau in Barcelona auftreiben konnte, darüber hinaus hatten wir kein erwähnenswertes Licht bei uns. Einige Männer mit brauchbaren Gewehren begannen planlos auf das entfernte Mündungsfeuer zu schießen. Niemand wagte zu schnell zu feuern, denn selbst die besten Gewehre konnten sich verklemmen, wenn sie zu heiß wurden. Wir waren sechzehn Leute im Schützengraben, einschließlich ein oder zwei Verwundeter. Eine Anzahl Verwundeter, Engländer und Spanier, lagen draußen. Patrick O'Hara, ein Irländer aus Belfast, der etwas Ausbildung in Erster Hilfe gehabt hatte, ging mit Verbandspäckchen von einem zum anderen, verband die verwundeten Männer und wurde trotz seiner empörten Rufe »P.O.U.M.!« jedes Mal beschossen, wenn er zur Brustwehr zurückkehrte.
Wir begannen die Stellung zu durchsuchen. Einige tote Soldaten lagen herum, aber ich hielt mich nicht damit auf, sie zu untersuchen. Ich hatte es auf das Maschinengewehr abgesehen. Als wir draußen lagen, hatte ich mich während der ganzen Zeit etwas gewundert, warum das Maschinengewehr nicht feuerte. Ich leuchtete mit meiner Taschenlampe in das Maschinengewehrnest. Eine bittere Enttäuschung! Das Maschinengewehr war nicht dort. Sein Stativ war da und verschiedene Kästen mit Munition und Ersatzteilen, aber das Maschinengewehr war fort. Sie mussten es beim ersten Alarm abgeschraubt und weggetragen haben. Ohne Zweifel handelten sie auf Befehl, aber das war dumm und feige, denn wenn sie das Maschinengewehr an seiner Stelle gelassen hätten, wäre es möglich gewesen, uns alle abzuschlachten. Wir waren wütend. Wir hatten uns vorgenommen, ein Maschinengewehr zu erbeuten.
Wir stocherten hier und dort herum, fanden aber nichts von irgendwelchem Wert. Eine Menge faschistischer Handgranaten lag dort - ein sehr schlechtes Modell einer Handgranate, die man zündete, indem man eine Schnur losriss -, ich steckte ein paar davon als Souvenir in meine Tasche. Es war unmöglich, nicht von dem nackten Elend der faschistischen Unterstände betroffen zu sein. Hier gab es kein Durcheinander von zusätzlichen Uniformstücken, Büchern, Lebensmitteln und kleinen persönlichen Dingen wie in unseren eigenen Unterständen. Diese armen, unbezahlten Dienstpflichtigen schienen nichts zu besitzen außer Decken und einigen nassen Klumpen Brot. Am äußeren Ende lag ein kleiner Unterstand, der zum Teil über den Boden ragte und ein winziges Fenster hatte. Wir leuchteten mit der Lampe durch das Fenster und stießen sofort einen Freudenruf aus. Ein zylindrischer Gegenstand in einer Lederhülle, etwa hundertzwanzig Zentimeter hoch und fünfzehn Zentimeter im Durchmesser, lehnte an der Wand. Offensichtlich war es der Lauf des Maschinengewehres. Wir stürzten um die Ecke und kamen durch den Eingang hinein, um herauszufinden, dass das Ding in der Lederhülle nicht ein Maschinengewehr, sondern für unsere an Waffen arme Armee noch etwas Wertvolleres war. Es handelte sich um ein riesiges Fernrohr, wahrscheinlich mit mindestens sechzig- oder siebzigfacher Vergrößerung und einem zusammenklappbaren Stativ. Derartige Fernrohre gab es auf unserer Seite einfach nicht, und wir benötigten sie verzweifelt. Wir brachten es triumphierend hinaus und lehnten es an die Brustwehr, um es später wegzutragen.
In diesem Augenblick schrie jemand, die Faschisten näherten sich. Bestimmt war der Lärm des Gewehrfeuers viel lauter geworden. Aber es war offensichtlich, dass die Faschisten nicht von rechts zum Gegenangriff antreten würden, denn das hätte bedeutet, dass sie durch das Niemandsland kommen und ihre eigene Brustwehr angreifen müssten. Wenn sie überhaupt etwas Verstand hatten, würden sie uns von der Innenseite der Kampflinie her angreifen. Ich ging auf die andere Seite der Unterstände. Die Stellung hatte ungefähr die Form eines Hufeisens. Die Unterstände lagen in der Mitte, so dass wir eine zweite Brustwehr hatten, die uns auf der Linken schützte. Aus dieser Richtung kam ein heftiges Feuer, aber das machte nicht soviel aus. Der Gefahrenpunkt lag gerade vor uns, wo es überhaupt keinen Schutz gab. Ein Kugelregen flog direkt über uns hinweg. Dieser Beschuss musste von der anderen faschistischen Stellung weiter oben an der Kampflinie kommen. Anscheinend hatten die Stoßtrupps sie doch nicht erobert. Aber jetzt war der Lärm ohrenbetäubend. Es war der ununterbrochene, trommelartige Krach massierten Gewehrfeuers, den ich sonst aus einiger Entfernung gehört hatte. Jetzt war ich zum ersten Male mitten darin. Jetzt hatte sich natürlich die Schießerei kilometerweit entlang der ganzen Front ausgebreitet. Douglas Thompson, dessen verwundeter Arm an der Seite unbrauchbar herunterhing, lehnte sich an die Brustwehr und feuerte mit einer Hand auf die Mündungsblitze. Irgend jemand, dessen Gewehr klemmte, lud für ihn. Auf dieser Seite standen vier oder fünf von uns. Es war klar, dass wir etwas tun mussten. Wir mussten die Sandsäcke von der vorderen Brustwehr wegzerren und eine Barrikade über der ungeschützten Seite aufschlagen. Und wir mussten schnell sein. Noch lag das Feuer hoch, aber jeden Augenblick konnten sie tiefer gehen. An den Mündungsblitzen um uns herum konnte ich sehen, dass uns einhundert oder zweihundert Mann gegenüberlagen. Wir begannen die Sandsäcke loszuzerren, trugen sie zwanzig Meter vorwärts und warfen sie in einem unebenen Haufen zusammen. Das war eine gemeine Arbeit. Die großen Sandsäcke wogen jeweils hundert Pfund, und man brauchte das letzte Gramm der eigenen Kraft, um sie loszuzerren. Dann platzte die verfaulte Sackleinwand und die feuchte Erde stürzte wie eine Kaskade über den Hals hinunter und in die Ärmel. Ich erinnere mich an ein Gefühl tiefer Angst vor dem Chaos, der Dunkelheit, dem entsetzlichen Lärm, dem Hin- und Herschlittern im Schlamm und dem Kampf mit den berstenden Sandsäcken. Während der ganzen Zeit behinderte mich mein Gewehr, das ich nicht abzulegen wagte aus Furcht, es zu verlieren. Als wir mit einem Sack zwischen uns dahinstolperten, schrie ich sogar jemandem zu: »Das ist Krieg! Ist er nicht saumäßig?« Plötzlich sprang eine Reihe großer Figuren über die vordere Brustwehr. Als sie näher kamen, erkannten wir die Uniform der Stoßtruppen und begrüßten sie, weil wir glaubten, sie kämen zu unserer Verstärkung. Aber sie waren nur zu viert, drei Deutsche und ein Spanier. Wir hörten hinterher, was den Stoßtruppen passiert war. Sie kannten das Gelände nicht, und man hatte sie in der Dunkelheit an die falsche Stelle geführt, wo sie sich in den faschistischen Drähten verfingen und viele von ihnen niedergeschossen wurden. Diese vier hatten sich zu ihrem eigenen Glück verirrt. Die Deutschen sprachen kein Wort englisch, französisch oder spanisch. Mit Mühe und vielen Gesten erklärten wir ihnen, was wir taten, und brachten sie dazu, uns beim Bau der Barrikade zu helfen.
Die Faschisten hatten jetzt ein Maschinengewehr nach vorne gebracht, und man konnte sehen, wie es ein- oder
zweihundert Meter weiter weg wie eine Rakete spuckte. Die Kugeln flogen mit dauerndem, hartem Krachen über uns hinweg. Es dauerte nicht lange, bis wir genug Sandsäcke zusammengeworfen hatten, um eine niedrige Brustwehr zu schaffen, hinter der sich die wenigen Leute auf dieser Seite der Stellung hinlegen und schießen konnten. Ich kniete hinter ihnen. Eine Mörsergranate zischte herüber und zerkrachte irgendwo im Niemandsland. Das war eine neue Gefahr, aber es würde sie einige Minuten in Anspruch nehmen, unsere Entfernung zu finden. Nachdem wir unseren Ringkampf mit den abscheulichen Sandsäcken beendigt hatten, war es irgendwie nicht einmal ein schlechter Spaß: der Lärm, die Dunkelheit, die näher kommenden Mündungsfeuer und die Antwort unserer eigenen Leute auf diese Blitze. Man hatte sogar etwas Zeit, um nachzudenken. Ich erinnere mich, wie ich mich fragte, ob ich Angst hätte, und mich dazu entschloss, dass ich keine habe. Vor dem Schützengraben, wo ich wahrscheinlich in geringerer Gefahr geschwebt hatte, war ich halb krank vor Furcht gewesen. Plötzlich schrie wieder jemand, die Faschisten näherten sich. Dieses Mal gab es keinen Zweifel, die Mündungsfeuer kamen viel näher. Ich sah kaum zwanzig Meter weg einen Blitz. Wahrscheinlich arbeiteten sie sich den Verbindungsgraben herauf. Bei zwanzig Metern waren sie innerhalb der Entfernung, in der man Handgranaten werfen konnte. Wir waren acht oder neun, die sich zusammengedrängt hatten, und eine einzige wohlgezielte Handgranate konnte uns in Stücke reißen. Bob Smillie, dem das Blut von einer kleinen Wunde im Gesicht herabfloss, richtete sich auf seine Knie auf und schleuderte eine Handgranate. Wir duckten uns und warteten auf die Explosion. Der Zünder sprühte rot, während sie durch die Luft segelte, aber die Handgranate explodierte nicht. (Mindestens ein Viertel dieser Handgranaten waren Versager.) Ich hatte außer den faschistischen keine Handgranate mehr übrig und wusste nicht, wie sie funktionierten. Ich rief den übrigen zu, ob jemand eine Handgranate übrig habe. Douglas Moyle fasste in seine Tasche und reichte mir eine herüber. Ich schleuderte sie und warf mich auf mein Gesicht. Durch einen der Glücksfälle, die es jedes Jahr einmal gibt, war es mir gelungen, die Handgranate fast genau dort hinzuwerfen, wo das Gewehr aufblitzte. Wir hörten den Donner der Explosion und sofort danach ein grauenhaftes Aufschreien, Gebrüll und Stöhnen. Einen von ihnen hatten wir jedenfalls erwischt. Ich weiß nicht, ob er getötet wurde, aber sicherlich war er schwer verwundet. Armer Teufel, armer Teufel! Ich fühlte ein vages Mitleid, als ich ihn schreien hörte. Aber im gleichen Augenblick sah oder glaubte ich beim dünnen Licht der Mündungsfeuer zu sehen, wie eine Gestalt nahe der Stelle stand, wo das Gewehr aufgeblitzt hatte. Ich riss mein Gewehr hoch und feuerte. Noch ein Schrei, aber ich glaube, es war immer noch die Wirkung der Handgranate. Weitere Handgranaten wurden geworfen. Die nächsten Mündungsfeuer, die wir sahen, waren schon viel weiter weg, hundert Meter oder mehr. So hatten wir sie zumindest augenblicklich zurückgetrieben.
Jeder begann zu fluchen und meinte, warum man uns, zum Teufel, keine Verstärkung schicke. Mit einer Maschinenpistole oder zwanzig Mann mit sauberen Gewehren hätten wir diese Stellung gegen ein Bataillon halten können. In diesem Augenblick kletterte Paddy Donovan, nach Benjamin der stellvertretende Kommandeur, über die vordere Brustwehr. Er war zurückgeschickt worden, um Befehle zu empfangen.
»He! Kommt heraus! Alle Mann sofort zurückziehen!«
»Was?«
»Zurück! Kommt heraus!«
»Warum?«
»Befehl. So schnell wie möglich zurück zu unseren eigenen Linien.«
Die Leute kletterten schon über die vordere Brustwehr.
Einige von ihnen mühten sich mit einer schweren Munitionskiste ab. Meine Gedanken flogen zu dem Fernrohr zurück, das ich auf der anderen Seite der Stellung an die Brustwehr gelehnt zurückgelassen hatte. Aber in diesem Augenblick sah ich die vier Stoßtruppler den Verbindungsgraben hinauflaufen. Ich nahm an, sie befolgten irgendeinen unerklärlichen Befehl, den sie vorher erhalten hatten. Der Graben führte zu der anderen faschistischen Stellung und damit, sollten sie dorthin gelangen, in den sicheren Tod. Sie verschwanden in der Dunkelheit. Ich rannte ihnen nach und versuchte, mich an das spanische Wort für >zurückziehen< zu erinnern. Schließlich rief ich: »Atrás! Atrás«, das vielleicht den richtigen Sinn vermittelte. Der Spanier verstand es und brachte die anderen zurück. Paddy wartete an der Brustwehr.
»Kommt, los, beeilt euch!«
»Aber das Fernrohr!«
»Sch... auf das Fernrohr! Benjamin wartet draußen.«
Wir kletterten hinaus. Paddy hielt den Draht für mich zur Seite. Sobald wir aus dem Schutz der faschistischen Brustwehr wegkamen, lagen wir unter teuflischem Feuer, das sich von allen Seiten auf uns zu richten schien. Ich habe keinen Zweifel, dass es teilweise von unserer eigenen Seite kam, denn jetzt schoss jeder an der ganzen Front. Wohin wir uns auch wandten, schoss ein starker Kugelregen an uns vorbei. In der Dunkelheit wurden wir wie eine Schafherde hin und her getrieben. Das wurde nicht leichter dadurch, dass wir eine erbeutete Kiste mit Munition hinter uns herzogen -eine jener Kisten mit 1750 Rahmen, die ungefähr einen Zentner wiegen —, außerdem eine Kiste mit Handgranaten und mehrere faschistische Gewehre. Nach ein paar Minuten hatten wir uns vollständig verirrt, obwohl die Entfernung von Brustwehr zu Brustwehr nicht einmal zweihundert Meter betrug und die meisten von uns das Gelände kannten. Wir glitten in dem schlammigen Feld umher und wussten nur, dass die Kugeln von beiden Seiten kamen. Es gab keinen Mond, nach dem man sich richten konnte. Aber der Himmel wurde ein wenig heller. Unsere Linien lagen östlich von Huesca. Ich wollte an Ort und Stelle liegen bleiben, bis uns das erste Licht der Morgendämmerung zeigte, wo Osten und Westen waren. Aber die anderen waren dagegen. Wir rutschten weiter, änderten unsere Richtung verschiedene Male und wechselten uns ab, die Munitionskiste mitzuzerren. Schließlich sahen wir vor uns undeutlich die niedrige flache Linie einer Brustwehr. Es konnte unsere eigene, es konnte aber auch die faschistische sein. Niemand hatte die geringste Ahnung, wohin wir gingen. Benjamin kroch auf seinem Bauch durch hohes, weißes Unkraut, bis er zwanzig Meter vor der Brustwehr war, und er versuchte, den Wachtposten anzurufen. Der Schrei »Poum!« antwortete ihm. Wir sprangen auf unsere Füße, fanden unseren Weg an der Brustwehr entlang, tappten noch einmal durch den Bewässerungsgraben - platsch, glucks! - und waren in Sicherheit.
Kopp wartete zusammen mit einigen Spaniern innerhalb der Befestigung. Der Doktor und die Tragbahren waren fort. Es schien, dass alle Verwundeten hereingekommen waren, außer Jorge und einem unserer eigenen Leute, er hieß Hiddlestone, die fehlten. Kopp schritt sehr bleich auf und ab. Selbst die fetten Falten hinten an seinem Nacken waren bleich. Er achtete nicht auf die Kugeln, die über die niedrige Brustwehr flogen und in der Nähe seines Kopfes zerbarsten. Die meisten von uns kauerten sich hinter der Brustwehr in Deckung. Kopp murmelte: »Jorge! Cogno! Jorge!« Und dann in englisch: »Wenn Jorge weg ist, ist es fuurchtbar, fuurchtbar!« Jorge war sein persönlicher Freund und einer seiner besten Offiziere. Plötzlich wandte er sich zu uns und fragte nach fünf Freiwilligen, zwei Engländern und drei Spaniern, um nach den vermissten Leuten auszuschauen. Moyle und ich meldeten uns freiwillig mit drei Spaniern.
Als wir nach draußen kamen, murmelten die Spanier, es
werde gefährlich hell. Das war völlig richtig, der Himmel zeigte schon ein dünnes Blau. Von der faschistischen Befestigung schallte ein großer Lärm aufgeregter Stimmen herüber. Offensichtlich hatten sie die Stellung mit einer größeren Truppe als vorher wieder besetzt. Wir waren sechzig oder siebzig Meter von ihrer Brustwehr entfernt, als sie uns gesehen oder gehört haben müssen, denn sie feuerten eine schwere Salve zu uns herüber, so dass wir uns auf unsere Gesichter warfen. Einer von ihnen schleuderte eine Handgranate über die Brustwehr - ein sicheres Zeichen von Panik. Wir lagen im Gras und warteten auf eine Gelegenheit, um uns weiterzubewegen, als wir hörten oder zu hören glaubten, dass die faschistischen Stimmen jetzt viel näher waren. Ich habe keinen Zweifel, dass es pure Einbildung war, aber zu jener Zeit schien es tatsächlich so zu sein. Sie hatten die Brustwehr verlassen und kamen auf uns zu. »Lauf!« schrie ich Moyle zu und sprang auf meine Füße. Du lieber Himmel, wie ich rannte! Vorher, in der Nacht, hatte ich gedacht, man könne von Kopf bis Fuß durchweicht und mit Gewehr und Patronen beladen nicht laufen. Jetzt erlebte ich, dass man immer laufen kann, wenn man glaubt, fünfzig oder hundert bewaffnete Leute seien hinter einem her. Aber wenn ich schnell rennen konnte, so waren andere noch schneller. Während meiner Flucht schoss etwas wie ein Schwarm von Meteoren an mir vorbei. Das waren die drei Spanier, die vor mir gewesen waren. Sie hatten schon unsere Befestigung erreicht, bevor sie anhielten und ich sie einholen konnte. In Wahrheit waren wir vollständig mit unseren Nerven fertig. Ich wusste jedoch, dass in der Dämmerung ein Mann unsichtbar ist, während fünf deutlich zu sehen sind. So ging ich allein zurück. Es gelang mir, bis an den äußeren Stacheldraht zu kommen, und ich durchsuchte das Gelände, so gut ich konnte. Das war aber nicht sehr gründlich, denn ich musste auf meinem Bauch liegen. Von Jorge oder Hiddlestone war nichts zu sehen, und so kroch ich zurück. Später erfuhren wir, dass sowohl Jorge wie auch Hiddlestone schon früher zur Verbandstation gebracht worden waren. Jorge war an der Schulter leicht verwundet worden. Hiddlestone erhielt eine schreckliche Wunde - eine Kugel bohrte sich seinen linken Arm herauf und brach den Knochen an verschiedenen Stellen. Als er hilflos am Boden lag, explodierte eine Handgranate in der Nähe und verletzte verschiedene andere Teile seines Körpers. Es freut mich aber, sagen zu können, dass er sich erholte. Später erzählte er mir, dass er sich eine Strecke weit auf seinem Rücken liegend zurückarbeitete, dann hielt er sich an einem verwundeten Spanier fest, und sie halfen sich gegenseitig zurück.
Jetzt wurde es hell. Kilometerweit donnerte an der Front die unregelmäßige, sinnlose Schießerei wie der Regen, der auf einen Regensturm folgt. Ich erinnere mich an den trostlosen Anblick der ganzen Szenerie: an das schlammige Sumpfland, die triefenden Pappeln, das gelbe Wasser am Boden des Schützengrabens, die erschöpften Gesichter der Männer, unrasiert, mit Schlamm beschmutzt und rauchgeschwärzt bis zu den Augen. Als ich in meinen Unterstand zurückkam, schliefen die drei Männer, mit denen ich ihn teilte, schon fest. Sie hatten sich mit der ganzen Ausrüstung hingeworfen und hielten die schmutzigen Gewehre an sich geklammert. Im Inneren des Unterstandes wie auch draußen war alles durchweicht. Nach langer Suche gelang es mir, genug Stückchen trockenes Holz zu sammeln, um ein winziges Feuer anzuzünden. Dann rauchte ich die Zigarre, die ich aufbewahrt hatte und die zu meiner Überraschung während der Nacht nicht zerbrochen war.
Später hörten wir, dass der Angriff ein Erfolg gewesen war, wie das nun einmal so ist. Es war nur ein Überfall, um die Faschisten zu zwingen, Truppen von der anderen Seite von Huesca abzuziehen, wo die Anarchisten wieder angriffen. Ich schätzte, dass die Faschisten hundert oder zweihundert Mann in den Gegenangriff warfen, aber ein Deserteur erzählte uns später, es seien sechshundert gewesen. Ich vermute, er log - Deserteure versuchen oft aus einleuchtenden Gründen zu schmeicheln. Die Sache mit dem Fernrohr war ein Jammer. Der Gedanke, dieses wundervolle Beutestück verloren zu haben, ärgert mich heute noch.

 

Achtes Kapitel

Die Tage und selbst die Nächte wurden angenehm warm. Auf einem von Kugeln zerzausten Baum vor unserem Graben bildeten sich dicke Kirschentrauben. Das Baden im Fluss hörte auf, eine Qual zu sein, und wurde fast ein Vergnügen. Wilde Rosen mit rosa Blüten von der Größe einer Untertasse wucherten über die Granatlöcher rund um Torre Fabian. Hinter der Kampflinie traf man Bauern, die wilde Rosen hinter ihren Ohren trugen. Am Abend zogen sie mit grünen Netzen aus, um Wachteln zu jagen. Man breitet das Netz über die Spitzen der Gräser, legt sich dann auf den Boden nieder und macht ein Geschrei wie eine weibliche Wachtel. Jede männliche Wachtel, die in Hörweite ist, rennt dann herbei, und wenn sie unter dem Netz ist, wirft man einen Stein, um sie zu erschrecken. Dann springt sie in die Luft und verfängt sich im Netz. Anscheinend wurden nur männliche Wachteln gefangen, was ich für unfair hielt.
Neben uns an der Front lag jetzt eine Abteilung Andalusier. Ich weiß nicht genau, wie sie an diesen Frontabschnitt kamen. Die gängige Erklärung lautete, sie seien so schnell von Malaga fortgelaufen, dass sie vergessen hätten, in Valencia zu halten. Diese Erklärung kam natürlich von den Kataloniern, die es sich angewöhnt hatten, auf die Andalusier wie auf einen Stamm Halbwilder herabzusehen. Sicherlich waren die Andalusier sehr einfältig. Wenige, ja vielleicht niemand von ihnen konnte lesen, und sie schienen nicht einmal zu wissen, was jeder in Spanien weiß, zu welcher politischen Partei er gehört. Sie glaubten, sie seien Anarchisten, aber sie waren sich dessen nicht ganz gewiss, vielleicht waren sie Kommunisten. Diese Männer sahen knorrig und bäuerlich aus, etwa wie Schafhirten oder Arbeiter aus den Olivenhainen. Die unerbittliche Sonne weiter südlich liegender Gefilde hatte ihre Gesichter tief gezeichnet. Sie waren sehr nützlich für uns, denn sie besaßen eine außerordentliche Geschicklichkeit, den vertrockneten spanischen Tabak zu Zigaretten zu drehen. Man hatte aufgehört, Zigaretten auszugeben, aber in Monflorite konnte man gelegentlich Päckchen mit sehr billigem Tabak kaufen. In Aussehen und Textur glich er gehacktem Häcksel. Sein Aroma duftete nicht schlecht, aber er war so trocken, dass der Tabak selbst dann, wenn es einem gelungen war, eine Zigarette zu rollen, sofort wieder herausfiel und eine leere Röhre zurückblieb. Die Andalusier aber konnten wunderbare Zigaretten drehen und hatten eine besondere Technik, die Enden festzustopfen.
Zwei Engländer wurden von einem Hitzschlag getroffen. Die deutlichsten Erinnerungen an diese Zeit sind für mich die Hitze der Mittagssonne und wie wir halbnackt Sandsäcke schleppten, die unsere Schultern aufrieben, die schon von der Sonne geschunden worden waren; dann unsere lausigen Kleider und Stiefel, die buchstäblich in Fetzen auseinander fielen, und das Ringen mit den Maultieren, die unsere Rationen brachten. Das Gewehrfeuer störte sie zwar nicht, aber sie flüchteten, wenn ein Schrapnell in der Luft zerbarst. Und die Moskitos (die gerade lebendig wurden) und die Ratten, die ein öffentliches Ärgernis waren und selbst Lederriemen und Patronentaschen verschlangen. Außer einer gelegentlichen Verwundung durch die Kugel eines Scharfschützen, den sporadischen Artilleriebeschuss und die Luftangriffe auf Huesca ereignete sich nichts. Nachdem die Bäume jetzt voller Laub waren, hatten wir Anstände für Scharfschützen, ähnlich den Machans (Anm.: Hochsitz bei der Tigerjagd in Indien), in den Pappeln entlang unserer Front errichtet. Auf der anderen Seite von Huesca ließen die Angriffe nach. Die Anarchisten hatten schwere Verluste erlitten, und es war ihnen noch nicht gelungen, die Straße nach Jaca vollständig abzuschneiden. Sie hatten sich auf beiden Seiten so nahe an die Straße heranzuschieben vermocht, dass sie diese unter Maschinengewehrfeuer halten und für den Verkehr unpassierbar machen konnten. Aber die Lücke war einen Kilometer breit, und die Faschisten hatten eine Grabenstraße konstruiert, eine Art riesigen Schützengraben, durch die eine gewisse Anzahl Lastwagen kommen und gehen konnte. Deserteure berichteten, dass es in Huesca viel Munition und wenig Lebensmittel gebe. Aber die Stadt fiel offensichtlich nicht. Wahrscheinlich wäre es unmöglich gewesen, sie mit den zur Verfügung stehenden fünfzehntausend schlecht bewaffneten Soldaten zu nehmen. Später im Juni brachte die Regierung Truppen von der Front um Madrid und konzentrierte dreißigtausend Mann und eine riesige Zahl Flugzeuge auf Huesca, aber die Stadt fiel immer noch nicht.
Als wir auf Urlaub gingen, war ich hundertfünfzehn Tage an der Front gewesen, und damals schien dieser Zeitraum einer der nutzlosesten meines ganzen Lebens gewesen zu sein. Ich war in die Miliz eingetreten, um gegen den Faschismus zu kämpfen. Ich hatte jedoch kaum gekämpft, sondern nur wie ein passives Objekt existiert. Ich tat nichts als Gegenleistung für meine Rationen, außer dass ich unter der Kälte und dem Mangel an Schlaf litt. Das ist aber vielleicht in den meisten Kriegen das Schicksal der Mehrzahl der Soldaten. Wenn ich jedoch heute diese ganze Zeit rückblickend betrachte, bedauere ich sie nicht vollständig. Ich wünsche allerdings, ich hätte der spanischen Regierung etwas wirkungsvoller dienen können. Aber von meinem persönlichen Gesichtspunkt, das heißt von dem Gesichtspunkt meiner persönlichen Entwicklung her gesehen, waren die ersten drei oder vier Monate, die ich an der Front verbrachte, weniger nutzlos, als ich dachte. Sie waren eine Art Interregnum in meinem Leben, völlig unterschieden von allem, was voraus-
gegangen war und was vielleicht auch noch kommen sollte. Diese Zeit lehrte mich Dinge, die ich auf keine andere Weise hätte lernen können.
Der wesentlichste Punkt bestand darin, dass ich während dieser ganzen Zeit isoliert war - denn an der Front war man fast vollständig von der Außenwelt abgeschnitten: selbst von dem, was sich in Barcelona ereignete, hatte man nur eine verschwommene Vorstellung, und das unter Leuten, die man etwas verallgemeinert und doch nicht zu ungenau als Revolutionäre bezeichnen konnte. Das war das Ergebnis des Milizsystems, das vor 1937 an der aragonischen Front nicht grundlegend geändert wurde. Die Arbeitermiliz, die auf den Gewerkschaften aufbaute und sich aus Leuten von ungefähr der gleichen politischen Meinung zusammensetzte, bewirkte, dass an einer Stelle die intensivsten revolutionären Gefühle des ganzen Landes zusammenkamen. Ich war mehr oder weniger durch Zufall in die einzige Gemeinschaft von nennenswerter Größe in Westeuropa gekommen, wo politisches Bewusstsein und Zweifel am Kapitalismus normaler waren als das Gegenteil. Hier in Aragonien lebte man unter Zehntausenden von Menschen, die hauptsächlich, wenn auch nicht vollständig, aus der Arbeiterklasse stammten. Sie lebten alle auf dem gleichen Niveau unter den Bedingungen der Gleichheit. Theoretisch herrschte vollkommene Gleichheit, und selbst in der Praxis war man nicht weit davon entfernt. In gewisser Weise ließe sich wahrhaftig sagen, dass man hier einen Vorgeschmack des Sozialismus erlebte. Damit meine ich, dass die geistige Atmosphäre des Sozialismus vorherrschte. Viele normale Motive des zivilisierten Lebens - Snobismus, Geldschinderei, Furcht vor dem Boss und so weiter - hatten einfach aufgehört zu existieren. Die normale Klasseneinteilung der Gesellschaft war in einem Umfang verschwunden, wie man es sich in der geldgeschwängerten Luft Englands fast nicht vorstellen kann. Niemand lebte dort außer den Bauern und uns selbst, und niemand hatte einen Herrn über sich. Natürlich konnte dieser Zustand nicht andauern. Es war einfach ein zeitlich und örtlich begrenzter Abschnitt in einem gewaltigen Spiel, das augenblicklich auf der ganzen Erdoberfläche gespielt wird. Aber es dauerte lange genug, um jeden, der es erlebte, zu beeindrucken. Wie sehr damals auch geflucht wurde, später erkannte jeder, dass er mit etwas Fremdem und Wertvollem in Berührung gewesen war. Man hatte in einer Gemeinschaft gelebt, in der die Hoffnung normaler war als die Gleichgültigkeit oder der Zynismus, wo das Wort Kamerad für Kameradschaft stand und nicht, wie in den meisten Ländern, für Schwindel. Man hatte die Luft der Gleichheit eingeatmet. Ich weiß sehr genau, wie es heute zum guten Ton gehört zu verleugnen, dass der Sozialismus etwas mit Gleichheit zu tun hat. In jedem Land der Welt ist ein ungeheurer Schwarm Parteibonzen und schlauer, kleiner Professoren beschäftigt zu >beweisen<, dass Sozialismus nichts anderes bedeutet als planwirtschaftlichen Staatskapitalismus, in dem das Motiv des Raffens erhalten bleibt. Aber zum Glück gibt es daneben auch eine Vision des Sozialismus, die sich hiervon gewaltig unterscheidet. Die Idee der Gleichheit zieht den normalen Menschen zum Sozialismus hin. Diese >Mystik< des Sozialismus lässt ihn sogar seine Haut dafür riskieren. Für die große Mehrheit der Menschen bedeutet der Sozialismus die klassenlose Gesellschaft, oder er bedeutet ihnen überhaupt nichts. Unter diesem Gesichtspunkt aber waren die wenigen Monate in der Miliz wertvoll für mich. Denn solange die spanischen Milizen sich hielten, waren sie gewissermaßen der Mikrokosmos einer klassenlosen Gesellschaft. In dieser Gemeinschaft, in der keiner hinter dem Geld herrannte, wo alles knapp war, es aber keine Privilegien und kein Speichellecken mehr gab, fand man vielleicht in groben Umrissen eine Vorschau davon, wie die ersten Schritte des Sozialismus aussehen könnten. Statt mir meine Illusionen zu rauben, fesselte mich die-
ser Zustand. Die Folge war, dass ich noch viel stärker als vorher wünschte, der Sozialismus möge verwirklicht werden. Teilweise kam das daher, weil ich das Glück gehabt hatte, unter Spaniern zu leben. Mit ihrer angeborenen Anständigkeit und ihrem immer gegenwärtigen anarchistischen Gefühl würden sie selbst die ersten Stadien des Sozialismus erträglicher machen, wenn man ihnen nur eine Chance gäbe.
Natürlich war ich mir damals kaum der Veränderungen bewusst, die sich in meinen Gedanken vollzogen. Wie alle von uns dachte ich hauptsächlich an Langeweile, Hitze, Kälte, Schmutz, Läuse, Entbehrung und die gelegentliche Gefahr. Das ist heute ganz anders. Der Zeitabschnitt, der damals so nutzlos und ereignislos zu sein schien, ist heute von großer Bedeutung für mich. Er unterscheidet sich so sehr von meinem übrigen Leben, dass er schon jetzt im Licht einer zauberhaften Qualität erscheint, die sich normalerweise nur bei Erinnerungen einstellt, die viele Jahre alt sind. Die Ereignisse selbst waren abscheulich, aber heute sind sie schon eine angenehme Erinnerung, bei der meine Gedanken gerne verweilen. Ich wünschte, ich könnte die Atmosphäre jener Zeit schildern. Ich hoffe jedenfalls, dass ich ein wenig davon in den voraufgehenden Kapiteln dieses Buches vermittelt habe. In meiner Erinnerung fällt sie zusammen mit der Winterkälte, den zerlumpten Uniformen der Milizsoldaten, den ovalen spanischen Gesichtern, den Maschinengewehren, die wie Funktasten hämmerten, dem Geruch von Urin und faulendem Brot, dem Bohnenstew, das nach der Konservenbüchse schmeckte und das wir hastig aus schmutzigen Kochgeschirren hinunterschlangen.
Ich sehe die ganze Zeit in merkwürdiger Lebendigkeit vor mir. In meiner Erinnerung erlebe ich noch einmal Ereignisse, die zu unwichtig scheinen, um sie wieder wachzurufen. Ich bin wieder im Unterstand am Monte Pocero, auf dem Kalksteinbrocken, der mein Bett war, und der junge Ramon schnarcht, seine Nase zwischen meine Schulterblätter
gepresst. Ich stolpere den schmutzigen Graben entlang durch den Nebel, der wie kalter Dampf um mich herumwirbelt. Ich hocke auf halber Berghöhe in einer Felsspalte, versuche mein Gleichgewicht zu halten und die Wurzel eines wilden Rosmarinbusches aus der Erde zu zerren. Hoch über meinem Kopf pfeifen einige sinnlose Kugeln.
Ich liege zusammen mit Kopp und Bob Edwards und drei Spaniern versteckt unter den kleinen Tannenbäumen auf dem flachen Gelände westlich von Monte Oscuro. Eine Gruppe Faschisten klettert wie Ameisen den kahlen, grauen Hügel auf unserer Rechten hinauf. Nicht weit von uns ertönt ein Hornsignal von den faschistischen Linien. Kopp schaut mich an und zeigt wie ein Schuljunge mit seiner Nase in die Richtung des Klanges.
Ich stehe in dem schmutzigen Hof bei La Granja, mitten unter dem Haufen Männer, die sich mit ihren Blechkochgeschirren um den großen Kessel mit Stew drängen. Der fette und geplagte Koch scheucht sie mit seiner Kelle fort. An einem Tisch in der Nähe steht ein bärtiger Mann mit einer gewaltigen automatischen Pistole an seinem Koppel und hackt Brotlaibe in fünf Stücke. Hinter mir singt eine Cockney-Stimme (es ist Bill Chambers, mit dem ich mich erbittert stritt und der später vor Huesca getötet wurde):
Wir haben Ratten, Ratten in Kammern und Kasematten, Ratten so groß wie Katzen!
Eine Granate zischt herüber. Fünfzehnjährige Kinder werfen sich auf ihr Gesicht. Der Koch duckt sich hinter dem Kochkessel. Als die Granate etwa hundert Meter weiter niedergeht und zerknallt, stehen sie alle mit einem einfältigen Ausdruck wieder auf.
Ich gehe die Reihe der Wachtposten unter den dunklen Zweigen der Pappeln auf und ab. In dem überfluteten Graben vor der Stellung paddeln die Ratten und machen einen Lärm wie Ottern. Wenn die gelbe Morgendämmerung hinter uns hochzieht, beginnt der andalusische Wachtposten, der sich in seinen Mantel eingehüllt hat, zu singen. Hundert oder zweihundert Meter über das Niemandsland hinweg kann man auch den faschistischen Wachtposten singen hören.
Nach den üblichen mananas löste uns am 27. April eine andere Abteilung ab, und wir übergaben ihr unsere Gewehre, packten unsere Tornister und marschierten nach Monflorite zurück. Es tat mir nicht leid, die Front zu verlassen. Die Läuse vermehrten sich viel schneller in meiner Hose, als ich sie abschlachten konnte, und seit einem Monat hatte ich keine Socken mehr. Von den Sohlen meiner Stiefel war so wenig übrig geblieben, dass ich mehr oder minder barfuss marschierte. Ich wünschte mir ein heißes Bad, saubere Kleidung und eine Nacht zwischen Betttüchern leidenschaftlicher, als man sich irgend etwas wünschen kann, wenn man ein normales zivilisiertes Leben führt. Wir schliefen einige Stunden in einer Scheune in Monflorite, sprangen in den frühen Morgenstunden auf einen Lastwagen, erreichten den Fünfuhrzug in Barbastro und - da wir Glück hatten und einen Eilzug in Lerida erwischten - waren am Sechsundzwanzigsten um drei Uhr nachmittags in Barcelona. Danach aber begann der Kummer.

 

Neuntes Kapitel

Von Mandalai im oberen Burma kann man mit der Eisenbahn nach Maimio, der bedeutendsten Bergstation der Provinz am Ende des Shan-Plateaus, reisen. Es ist ein ziemlich eigenartiges Erlebnis. Man beginnt die Reise in der typischen Atmosphäre einer Stadt des Ostens - dem sengenden Sonnenlicht, den staubigen Palmen, dem Geruch von Fischen, Gewürzen und Knoblauch, den breiigen tropischen Früchten und dem Schwarm dunkelhäutiger, menschlicher Wesen. Weil man so daran gewöhnt ist, trägt man diese Atmosphäre mit, wenn man in den Eisenbahnwagen einsteigt. Wenn der Zug in Maimio zwölfhundert Meter über dem Meeresspiegel hält, ist man im Geiste immer noch in Mandalai. Aber wenn man aus dem Waggon aussteigt, tritt man in eine völlig andere Hemisphäre. Plötzlich atmet man eine kühle, süße Luft wie in England, und rundherum wachsen grünes Gras, Farnkraut und Tannenbäume, und die rotwangigen Frauen des Hügellandes verkaufen Körbe mit Erdbeeren.
Ich wurde daran erinnert, als ich nach dreieinhalb Monaten von der Front nach Barcelona zurückkam. Hier erlebte ich den gleichen jähen und erschreckenden Wechsel der Atmosphäre. Auf dem ganzen Weg nach Barcelona herrschte im Zug die Atmosphäre der Front: der Schmutz, der Lärm, die Unbequemlichkeiten, die zerlumpte Kleidung, das Gefühl der Entbehrung, der Kameradschaft und der Gleichheit. Immer mehr Bauern stiegen an jeder Station der Eisenbahnlinie in den Zug, der schon beim Verlassen von Barbastro voller Milizsoldaten war. Die Bauern brachten Bündel Gemüse, verängstigtes Geflügel, das sie mit dem Kopf nach unten trugen, und Säcke, die sich am Boden hin
und her wanden und in denen ich lebendige Kaninchen entdeckte. Zum Schluss wurde noch eine ziemlich große Schafherde in die Abteile getrieben und in jede freie Ecke gequetscht. Die Milizsoldaten schrieen Revolutionslieder, die das Rattern des Zuges übertönten. Jedem hübschen Mädchen längs der Bahnlinie warfen sie Kusshände zu oder winkten ihm mit ihren roten und schwarzen Taschentüchern. Flaschen mit Wein und Anis, dem schmutzigen aragonischen Schnaps, wanderten von Hand zu Hand. Mit einer spanischen Wasserflasche aus Ziegenhaut lässt sich ein Schuss Wein quer durch einen Eisenbahnwaggon in den Mund eines Freundes spritzen, so erspart man sich große Umstände. Neben mir erzählte ein schwarzäugiger fünfzehnjähriger Junge sensationelle und zweifellos völlig unwahre Geschichten von seinen Heldentaten an der Front. Er erzählte sie zwei alten Bauern mit lederartigen Gesichtern, die ihm mit offenem Mund zuhörten. Bald öffneten die Bauern ihre Bündel und gaben uns etwas klebrigen dunkelroten Wein. Jeder war völlig glücklich, glücklicher, als ich es beschreiben kann. Aber als der Zug durch Sabadell gerollt war und Barcelona erreichte, schritten wir in eine Atmosphäre, die uns und unseresgleichen gegenüber kaum fremder und feindseliger sein konnte, als wenn es Paris oder London gewesen wäre.
Jeder, der während des Krieges im Abstand von einigen Monaten Barcelona zweimal besuchte, hat sich zu dem außerordentlichen Wechsel geäußert, der in dieser Zeit stattfand. Ob jemand zuerst im August und dann im Januar hingekommen war oder, wie ich selbst, zuerst im Dezember und dann wieder im April, er sagte merkwürdigerweise immer das gleiche: Die Atmosphäre der Revolution war verschwunden. Zweifellos sah für jeden, der im August dagewesen war, als das Blut in den Straßen kaum getrocknet und die Miliz in den feinen Hotels einquartiert war, Barcelona im Dezember bürgerlich aus. Für mich glich es, als ich gerade frisch aus England kam, eher einer Arbeiterstadt als irgend etwas sonst, was ich mir vorgestellt hatte. Aber jetzt war die Flut zurückgerollt.
Es war wieder eine gewöhnliche Stadt, ein wenig vom Krieg gezwickt und zerstört, aber sonst ohne ein äußeres Zeichen der Vorherrschaft der Arbeiterklasse.
Der Wechsel im Aussehen der Menge war überraschend. Die Milizuniform und die blauen Overalls waren fast verschwunden. Jeder schien einen schmucken Sommeranzug zu tragen, auf den sich die spanischen Schneider spezialisiert haben. Überall gab es fette, wohlhabende Männer, elegante Frauen und rassige Autos. (Es schien so, als gäbe es noch keine Privatwagen. Aber trotzdem schien jeder, der >etwas< war, über ein Auto zu verfügen). Die Offiziere der neuen Volksarmee, ein Typ, der kaum existierte, als ich Barcelona verließ, zeigten sich in überraschender Anzahl. In der Volksarmee gab es auf je zehn Mann einen Offizier. Eine gewisse Anzahl dieser Offiziere hatte in der Miliz gedient und war zur technischen Unterweisung aus der Front gezogen worden. Aber die meisten von ihnen waren junge Leute, die die Kriegsschule besucht hatten, statt in die Miliz einzutreten. Ihr Verhältnis zu den Soldaten war nicht genau das gleiche wie in einer Bourgeoisarmee. Aber in der Volksarmee gab es entschieden soziale Unterschiede, die sich im Unterschied der Bezahlung und der Uniform ausdrückten.
Die Soldaten trugen eine Art grober brauner Overalls, die Offiziere trugen eine elegante Khakiuniform mit enger Taille. Sie sahen ungefähr wie die Uniformen der britischen Armeeoffiziere aus, nur noch übertriebener. Ich glaube nicht, dass mehr als einer von zwanzig schon an der Front gewesen war. Aber sie alle trugen automatische Pistolen, die sie an ihr Koppel geschnallt hatten, während wir an der Front weder für Geld noch für gute Worte eine Pistole bekommen konnten. Als wir die Straße hinaufgingen, be-
merkte ich, wie die Leute uns wegen unseres schmutzigen Aussehens anstarrten. Natürlich boten wir, wie alle Männer, die einige Monate in der vordersten Stellung gelegen haben, einen scheußlichen Anblick. Ich wusste, dass ich wie eine Vogelscheuche aussah. Meine Lederjacke war ganz zerfetzt, meine wollene Mütze hatte ihre Form verloren und glitt dauernd über eines meiner Augen. Meine Stiefel bestanden fast nur noch aus dem auswärtsgebogenen Oberteil. Wir alle befanden uns mehr oder weniger im gleichen Zustand, außerdem waren wir schmutzig und unrasiert, so dass es nicht verwunderlich war, dass die Leute uns anstarrten. Aber es entsetzte mich ein wenig und brachte mir zum Bewusstsein, dass während der letzten drei Monate einige eigentümliche Dinge geschehen waren.
Während der nächsten Tage entdeckte ich an zahllosen Anzeichen, dass mein erster Eindruck durchaus nicht falsch gewesen war.
Ein einschneidender Wechsel war über die Stadt gekommen. Zwei Tatsachen boten den Schlüssel für alles andere. Einmal hatten die Leute - also die Zivilbevölkerung - sehr viel von ihrem Interesse am Krieg verloren; zum zweiten behauptete sich wieder die normale Unterscheidung der Gesellschaft in reich und arm, Ober- und Unterklasse.
Die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber dem Krieg war überraschend und ziemlich widerwärtig. Das erschreckte auch die Leute, die von Madrid oder sogar von Valencia nach Barcelona kamen. Zum Teil mochte es damit zusammenhängen, dass Barcelona von den wirklichen Kämpfen so weit entfernt war. Ich beobachtete einige Monate später das gleiche in Tarragona, wo das normale Leben eines angenehmen Badeortes nahezu ungestört weitergeführt wurde. Aber es war bezeichnend, dass sich etwa seit Januar der freiwillige Zugang zur Armee in ganz Spanien verringert hatte. Im Februar erlebte Katalonien eine Welle der Begeisterung für die erste große Werbung der Volksarmee. Aber sie führte nicht zu einem großen Zuwachs bei der Rekrutierung. Der Krieg dauerte gerade ungefähr sechs Monate, als die spanische Regierung Zuflucht zur Zwangsaushebung nehmen musste. Im Krieg mit einem anderen Land mag das natürlich hingehen, aber in einem Bürgerkrieg erscheint es mir ungewöhnlich. Ohne Zweifel hing es zusammen mit der Enttäuschung der revolutionären Hoffnungen, mit denen der Krieg begonnen hatte. Während der ersten Kriegswochen hatten die Gewerkschaftsmitglieder sich vor allem deshalb zu Milizen zusammengeschlossen und die Faschisten nach Saragossa zurückgetrieben, weil sie glaubten, selbst für die Kontrolle durch die Arbeiterklasse zu kämpfen. Aber es wurde immer deutlicher, dass die Kontrolle durch die Arbeiterklasse eine verlorene Sache war. So konnte man die einfachen Leute, besonders das Proletariat in der Stadt, die in jedem Krieg, ob Bürgerkrieg oder Nationalkrieg, herhalten müssen, nicht für eine gewisse Gleichgültigkeit kritisieren. Niemand wollte den Krieg verlieren, aber die Mehrheit wünschte vor allem, dass er zu Ende gehe. Wohin man auch ging, konnte man das bemerken. Überall hörte man die gleiche oberflächliche Bemerkung: »Dieser Krieg -furchtbar, nicht wahr? Wann geht er zu Ende?« Politisch interessierte Menschen wussten weit mehr über die mörderische Auseinandersetzung zwischen Anarchisten und Kommunisten als über den Kampf gegen Franco. Für die Masse der Bevölkerung war das wichtigste der Mangel an Nahrungsmitteln. Unter >der Front< stellte man sich allmählich einen sagenhaften, weit entfernten Raum vor, wohin junge Männer entschwanden und entweder nicht oder aber nach drei oder vier Monaten mit großen Summen Geld in der Tasche zurückkehrten. (Ein Milizsoldat erhielt gewöhnlich seine ausstehende Löhnung, wenn er auf Urlaub ging.) Den Verwundeten, selbst wenn sie auf Krücken humpelten, schenkte man keine besondere Beachtung. Es war nicht mehr fein, der Miliz anzugehören. Das zeigte sich besonders deutlich in den Läden, die immer ein Barometer des öffentlichen Geschmacks sind. Als ich zum ersten Mal nach Barcelona kam, hatten sich die Läden trotz deren Armut und Schäbigkeit auf die Ausrüstung der Milizsoldaten spezialisiert. In allen Schaufenstern lagen Feldmützen, Windjacken, Sam-Browne-Koppel, Jagdmesser, Wasserflaschen und Revolverhalter. Jetzt waren die Geschäfte bedeutend vornehmer, aber der Krieg war aus den Auslagen verdrängt worden.
Als ich später meine Ausrüstung kaufte, bevor ich an die Front zurückging, entdeckte ich sogar, dass bestimmte Dinge, die an der Front dringend gebraucht wurden, nur sehr schwer zu beschaffen waren.
Inzwischen wurde eine systematische Propaganda gegen die Parteimiliz und für die Volksarmee betrieben. Die Verhältnisse waren hier recht merkwürdig. Seit Februar waren theoretisch die gesamten Streitkräfte in die Volksarmee übergeführt worden. Auf dem Papier waren die Milizen nach dem Muster der Volksarmee umgebildet worden, also mit unterschiedlichen Löhnen, amtlich veröffentlichten Dienstgraden und so weiter. Die Divisionen wurden aus >gemischten Brigaden< gebildet, die teils aus Soldaten der Volksarmee und teils aus der Miliz bestehen sollten. Aber in Wirklichkeit wurden nur die Namen geändert. So waren jetzt beispielsweise die P.O.U.M.-Truppen, die vorher Lenin-Division genannt wurden, die 29. Division. Bis zum Juni kamen nur sehr wenig Truppen der Volksarmee an die aragonische Front, folglich konnte die Miliz ihre eigene Struktur und ihren besonderen Charakter erhalten. Aber die Propagandisten der Regierung hatten schon auf jede Mauer gemalt: »Wir brauchen eine Volksarmee.« Im Rundfunk und in der kommunistischen Presse lief ununterbrochen und manchmal bösartig die Hetzkampagne gegen die Miliz, der vorgeworfen wurde, sie sei schlecht ausgebildet, undiszipliniert und so weiter. Die Volksarmee wurde immer mit dem Beiwort >heroisch< beschrieben. Auf Grund eines guten Teils dieser Propaganda musste man den Eindruck gewinnen, es sei schändlich, freiwillig an die Front gegangen zu sein, und lobenswert, zu warten, bis man eingezogen würde. Zur Zeit jedoch hielt die Miliz die Front, während die Volksarmee in der Etappe übte. Das durfte natürlich sowenig wie möglich bekannt gemacht werden. Abteilungen der Miliz, die zur Front zurückkehrten, ließ man nicht mehr mit Trommelklang und fliegenden Fahnen durch die Straßen marschieren. Sie wurden früh um fünf Uhr mit der Eisenbahn oder mit Lastwagen hinausgeschmuggelt. Einige Abteilungen der Volksarmee marschierten nun auch zur Front, sie wurden wie vorher mit allen Zeremonien durch die Straßen geschickt. Aber selbst ihnen gegenüber zeigte man infolge des schwindenden Interesses am Krieg verhältnismäßig wenig Begeisterung. In der Zeitungspropaganda wurde erfolgreich die Tatsache ausgeschlachtet, dass die Milizen zumindest auf dem Papier Truppen der Volksarmee waren.
Jedes mögliche Verdienst ging automatisch auf das Konto der Volksarmee, während jeder Tadel den Milizen angelastet wurde. Es geschah manchmal, dass dieselben Truppen in der einen Eigenschaft gelobt und in der anderen getadelt wurden.
Ü ber diese Veränderungen hinaus gab es aber einen bemerkenswerten Wechsel in der Atmosphäre der Gesellschaftsordnung - etwas, das man sich schwer vorstellen kann, es sei denn, man hat es wirklich erlebt. Als ich zum ersten Mal nach Barcelona kam, glaubte ich in einer Stadt zu sein, in der Klassenunterschiede und große Unterschiede im Wohlstand kaum existierten. So sah es tatsächlich aus. >Feine< Kleider waren etwas Ungewöhnliches, niemand war ein Kriecher oder nahm ein Trinkgeld an. Kellner und Blumenverkäuferinnen und Schuhputzer schauten jedem in die Augen und sprachen ihre Kunden mit >Kamerad< an. Ich hatte nicht begriffen, dass diese Erscheinung vor allem eine Mischung aus Hoffnung und Tarnung war. Die Arbeiterklasse glaubte an eine Revolution, die begonnen, aber nie gefestigt worden war. Die Bourgeoisie hatte Angst und verkleidete sich vorübergehend unter der Maske der Arbeiter. Während der ersten Monate der Revolution muss es viele tausend Menschen gegeben haben, die absichtlich Overalls anzogen und revolutionäre Phrasen schrieen, um auf diese Weise ihre Haut zu retten. Jetzt aber kehrte alles wieder zum Normalen zurück. Die feinen Restaurants und Hotels waren voll reicher Leute, die teure Mahlzeiten herunterschlangen, während die Lebensmittelpreise für die arbeitende Bevölkerung ohne eine entsprechende Erhöhung der Löhne phantastisch in die Höhe gesprungen waren. Außer der allgemeinen Teuerung herrschte dauernd Mangel an diesem und jenem, was natürlich die Armen härter traf als die Reichen. Die Restaurants und Hotels hatten anscheinend wenig Schwierigkeiten, zu bekommen, was sie wollten. Aber die Schlangen nach Brot, Olivenöl und anderen Notwendigkeiten in den Quartieren der Arbeiterklasse waren manchmal Hunderte von Metern lang. Zuvor hatte ich über die Abwesenheit von Bettlern in Barcelona gestaunt, jetzt sah ich sie in großen Mengen. Vor den Delikatessenläden am oberen Ende der Rambla warteten immer ganze Banden barfüßiger Kinder, um den hinaustretenden Käufern nachzulaufen und sie um ein paar Brocken Lebensmittel anzuhalten. Die revolutionärem Floskeln der Sprache wurden nicht mehr gebraucht. Fremde sprachen jetzt nur selten jemand mit tu und camarada an, normalerweise war es senor und usted. Buenos dias begann salud zu ersetzen. Die Kellner trugen wieder Frackhemden, und die Ladenaufseher machten ihre Bücklinge in der gewohnten Weise. Meine Frau und ich gingen in ein Strumpfgeschäft in der Rambla, um Strümpfe zu kaufen. Der Ladenbesitzer verbeugte sich und rieb seine Hände, wie man es heute nicht einmal mehr in England tut, obwohl es dort vor zwanzig oder dreißig Jahren noch üblich war. Die Gewohnheit, Trinkgelder zu geben, kam auf eine verstohlene, indirekte Weise wieder in Gebrauch. Die Auflösung der Arbeiterpatrouillen war angeordnet worden, und die Polizei der Vorkriegstage war wieder auf den Straßen. Eine Folge davon war, dass die Kabaretts und Bordelle der oberen Klassen, die von den Arbeiterpatrouillen geschlossen worden waren, prompt wieder öffneten (Anm.: Eine Anmerkung Orwells in der Originalausgabe lautete: »Es hieß, die Arbeiterpatrouillen hätten fünfundsiebzig Prozent der Bordelle geschlossen.« In einer nach seinem Tode gefundenen Korrekturnotiz heißt es: »Diese Bemerkung muss geändert werden. Ich habe keinen einwandfreien Beweis, dass die Prostitution in den ersten Tagen des Krieges um fünfundsiebzig Prozent zurückging, und ich glaube, die Anarchisten kollektivierten die Bordelle, unterdrückten sie aber nicht. Aber es gab eine Kampagne gegen die Prostitution (Plakate und so weiter). Es steht außerdem fest, dass die schicken Bordell- und Nacktshows der Kabaretts während der ersten Monate des Krieges geschlossen wurden und erst wieder öffneten, als der Krieg schon ein Jahr lang andauerte.«). Ein kleines, aber bezeichnendes Beispiel dafür, wie sich alles wieder zugunsten der wohlhabenden Klasse ordnete, zeigte der Mangel an Tabak. Für die Masse der Bevölkerung war die Tabakknappheit so verzweifelt, dass mit zerhackten Lakritzwurzeln gefüllte Zigaretten in den Straßen verkauft wurden. Einmal versuchte ich einige davon. (Viele Leute probierten sie einmal.) Franco beherrschte die Kanarischen Inseln, wo der ganze spanische Tabak angepflanzt wird. Folglich gab es auf der Regierungsseite nur jene Tabakvorräte, die schon vor dem Krieg dort gelagert hatten. Diese Vorräte hatten sich so verringert, dass die Tabakläden nur einmal in der Woche geöffnet wurden. Wenn man ein paar Stunden in einer Schlange gewartet und Glück hatte, konnte man ein Fünfundzwanzig-Gramm-Päckchen Tabak erhalten. Theoretisch erlaubte die Regierung nicht, dass Tabak im Ausland gekauft wurde, denn das bedeutete eine Verminderung der Goldreserven, die für Waffen und andere notwendige Güter eingeteilt werden mussten. In Wirklichkeit gab es ständig Nachschub an geschmuggelten ausländischen Zigaretten der teureren Sorten, Lucky Strike und so weiter. Das war natürlich eine großartige Gelegenheit für die Profitmacher. Man konnte die geschmuggelten Zigaretten offen in den feinen Hotels und kaum weniger offen in den Straßen kaufen, vorausgesetzt, dass man zehn Peseten für ein Päckchen bezahlen konnte (den Tagessold eines Milizsoldaten). Der Schmuggel kam den wohlhabenden Leuten zugute und wurde deshalb stillschweigend geduldet. Wenn man Geld hatte, gab es nichts, das man nicht in irgendeiner Qualität kaufen konnte, mit der einzigen Ausnahme von Brot, das ziemlich scharf rationiert wurde. Ein paar Monate früher, als die Arbeiterklasse noch an der Macht war oder es zumindest so schien, wäre dieser offene Kontrast zwischen Wohlstand und Armut unmöglich gewesen. Aber es wäre nicht fair, dies allein dem Wechsel in der politischen Gewalt zuzuschreiben. Zum Teil war es die Folge der Sicherheit des Lebens in Barcelona, wo es außer einem gelegentlichen Luftangriff wenig gab, was einen an den Krieg erinnern konnte. Jeder, der in Madrid gewesen war, sagte, dort sei es vollständig anders. In Madrid zwang die gemeinsame Gefahr Leute fast jeder Herkunft zu einer Art Kameradschaft. Es sieht abscheulich aus, wenn ein fetter Mann Wachteln isst, während Kinder um Brot betteln. Aber so etwas sieht man kaum in der Nähe des Kanonendonners. Ich erinnere mich, dass ich ein oder zwei Tage nach den Straßenkämpfen durch eine der vornehmen Straßen kam und einen Süßigkeitenladen fand, dessen Schaufenster feinstes Gebäck und Bonbons zu unglaublichen Preisen enthielt. Es war ein Laden, wie man sie in der Bond Street oder der Rue de la Paix sieht. Ich erinnere mich, wie ich einen unbestimmbaren Schrecken und Verwunderung darüber verspürte, dass man in einem hungrigen, vom Kriege heimgesuchten Land noch Geld auf solche Dinge verschwenden konnte. Aber Gott verhüte, dass ich persönliche Überheblichkeit vorschütze. Nach mehreren Monaten voll Unbequemlichkeit erfüllte mich ein heißhungriger Wunsch nach anständigem Essen und Wein, Cocktails, amerikanischen Zigaretten und so weiter. Ich gebe zu, dass ich mich in jeglichem Luxus wälzte, solange ich das Geld dazu hatte. Während dieser ersten Woche, ehe die Straßenkämpfe begannen, war ich mit verschiedenen Dingen beschäftigt, die auf seltsame Weise Einfluss aufeinander hatten. Zunächst einmal bemühte ich mich, wie schon gesagt, es mir so bequem wie möglich zu machen. Dann fühlte ich mich während der ganzen Woche wegen des vielen Essens und Trinkens nicht wohl. Ich war ein wenig benommen, legte mich einen halben Tag ins Bett, stand auf und aß ein neues, überreichliches Mahl und fühlte mich dann wieder krank. Zur gleichen Zeit führte ich geheime Verhandlungen, um einen Revolver zu kaufen. Ich wollte unbedingt einen Revolver haben - der im Grabenkampf viel nützlicher ist als ein Gewehr -, aber man konnte ihn nur sehr schwer bekommen. Die Regierung verteilte sie an Polizisten und Offiziere der Volksarmee, weigerte sich aber, sie der Miliz zu geben. Man musste sie illegal aus den geheimen Lagern der Anarchisten kaufen. Nach viel Mühen und Theater gelang es einem meiner anarchistischen Freunde, mir eine kleine, automatische 0,26-Inch-Pistole zu beschaffen; eine schlechte Waffe, die für eine Entfernung über fünf Meter nutzlos war, aber dennoch besser als nichts. Außerdem unternahm ich gleichzeitig die ersten Bemühungen, um die P.O.U.M.-Miliz zu verlassen und in eine andere Einheit einzutreten, um sicherzugehen, dass ich an die Front von Madrid geschickt würde.
Seit einiger Zeit erzählte ich jedem, ich beabsichtige, die P.O.U.M. zu verlassen. Wäre es allein um meine persönliche Vorliebe gegangen, hätte ich mich am liebsten den Anarchisten angeschlossen. Würde man ein Mitglied der C.N.T., war es möglich, in die F.A.I.-Miliz einzutreten. Aber man sagte mir, dass mich die F.A.I. eher nach Teruel als nach Madrid schicken würde. Wollte ich nach Madrid gehen, so müsste ich mich der Internationalen Brigade anschließen. Das aber hieß, ich musste die Empfehlung eines Mitgliedes der kommunistischen Partei bekommen. Ich suchte einen kommunistischen Freund auf, der in der spanischen Sanitätstruppe diente, und erklärte ihm meinen Fall. Er schien sehr darauf bedacht zu sein, mich zu rekrutieren, und fragte mich, ob ich nicht noch einige andere Engländer von der I.L.P. überreden könne, mit mir zu kommen. Wäre ich damals in einem besseren Gesundheitszustand gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich sofort entschlossen zuzustimmen. Heute ist es schwer zu sagen, welchen Unterschied es ausgemacht hätte. Möglicherweise hätte man mich nach Albacete geschickt, ehe die Kämpfe in Barcelona ausbrachen. In diesem Fall hätte ich die Kämpfe nicht aus unmittelbarer Nähe gesehen und vielleicht die offizielle Version als wahr akzeptiert. Andererseits wäre meine Lage unmöglich gewesen, wenn ich noch in Barcelona gewesen wäre. Dann hätte ich während des Kampfes unter kommunistischem Kommando gestanden und gleichzeitig das Gefühl der persönlichen Loyalität für meine Kameraden in der P.O.U.M. empfunden. Mir stand jedoch noch eine Woche Urlaub zu, und ich war sehr bemüht, bevor ich an die Front zurückkehrte, meine Gesundheit zu kräftigen. Außerdem musste ich warten - das ist eine der Kleinigkeiten, die immer das Schicksal lenken -, während der Schuhmacher mir ein neues Paar Stiefel herstellte. (Der ganzen spanischen Armee war es nicht gelungen, ein Paar Stiefel herbeizubringen, die groß genug für mich waren.) Ich sagte meinem kommunistischen Freund, dass ich einen endgültigen Entschluss später fassen würde, in der Zwischenzeit wolle ich mich ein bisschen ausruhen. Ich war sogar der Ansicht, dass wir - meine Frau und ich - für zwei oder drei Tage an die See gehen könnten. Was für eine Idee! Die politische Atmosphäre hätte mich warnen müssen, dass das nicht das Richtigste war, was man augenblicklich tun konnte. Denn hinter dem oberflächlichen Bild der Stadt, hinter dem Luxus und der wachsenden Armut, hinter der scheinbaren Fröhlichkeit der Straßen mit ihren Blumenständen, ihren vielfarbigen Fahnen, ihren Propagandaplakaten und den sich drängenden Menschenmengen gab es ein unbezweifelbares und schreckliches Gefühl politischer Rivalität und des Hasses. Menschen mit den verschiedensten Anschauungen sagten ahnungsvoll: »In Kürze wird es Ärger geben.« Die Gefahr war einfach und verständlich. Es war der Gegensatz zwischen denen, die die Revolution vorantreiben wollten, und jenen, die sie kontrollieren und verhindern wollten. Letzten Endes also zwischen den Anarchisten und den Kommunisten. Neben der P.S.U.C. und ihren liberalen Verbündeten gab es politisch keine Macht in Katalonien. Dem gegenüber stand die unbekannte Macht der C.N.T. Sie war weniger gut bewaffnet, und ihre Anhänger waren weniger eindeutig davon überzeugt, was sie wollten, als ihre Feinde. Aber sie waren mächtig durch ihre Zahl und ihre Vorherrschaft in einigen Schlüsselindustrien. Bei dieser Anordnung der Kräfte musste es zu einer Auseinandersetzung kommen. Vom Standpunkt der Generalidad, die von der P.O.U.M. kontrolliert wurde, bestand die erste Notwendigkeit darin, ihre eigene Position zu sichern und die Waffen aus den Händen der C.N.T.-Arbeiter zu nehmen. Wie ich schon vorher gezeigt habe, war im Grunde die Aktion zur Auflösung der Parteimiliz ein Manöver mit diesem Ziel. Zur gleichen Zeit waren die bewaffneten Polizeistreitkräfte aus der Vorkriegszeit, die Zivilgarde und so weiter wieder eingesetzt, verstärkt und bewaffnet worden. Das konnte nur eins bedeuten. Vor allem die Zivilgarde war eine Gendarmerie im normalen, kontinentalen Sinn, die nahezu ein Jahrhundert lang als Leibwache der besitzenden Klasse gedient hatte. In der Zwischenzeit war ein Dekret erlassen worden, wonach alle Waffen, die im Besitz von Privatpersonen waren, zurückgegeben werden mussten. Natürlich war diese Anordnung nicht befolgt worden. Es war klar, dass man die Waffen den Anarchisten nur durch Gewalt abnehmen konnte. Während der ganzen Zeit wurden recht vage und wegen der Zeitungszensur widersprüchliche Gerüchte kolportiert, wonach sich in ganz Katalonien kleinere Kämpfe abspielten. An verschiedenen Orten hatten die bewaffneten Polizeistreitkräfte Angriffe auf anarchistische Stützpunkte unternommen. Bei Puigcerda an der französischen Grenze hatte man eine Gruppe Carabineros beordert, das Zollhaus zu besetzen, das bis dahin von den Anarchisten kontrolliert wurde, und Antonio Martin, ein bekannter Anarchist, wurde dabei getötet (Anm.: Korrekturnotiz, die nach Orwells Tod gefunden wurde: »Man hat mir gesagt, dass mein Hinweis auf diesen Vorfall falsch und irreführend ist.«). Ähnliche Vorfälle hatten sich in Figueras und, so glaube ich, in Tarragona ereignet. In Barcelona hatte es eine Anzahl mehr oder weniger inoffizieller Keilereien in den Arbeitervorstädten gegeben. Schon seit einiger Zeit hatten sich Mitglieder der C.N.T. und U.G.T. gegenseitig ermordet. Aus verschiedenen Anlässen folgten große, herausfordernde Begräbnisse auf diese Morde, die ganz bewusst arrangiert wurden, um den politischen Hass zu schüren. Kurze Zeit vorher war ein Mitglied der C.N.T. ermordet worden, und die C.N.T. brachte einige hunderttausend Mitglieder auf die Beine, um dem Leichenzug zu folgen. Gegen Ende April, gerade als ich nach Barcelona gekommen war, wurde Roldan Cortada, ein prominentes Mitglied der U.G.T., ermordet, vermutlich durch einen Anhänger der C.N.T. Die Regierung ordnete an, alle Läden zu schließen, und arrangierte eine riesige Begräbnisprozession, hauptsächlich mit Truppen der Volksarmee. Diese Prozession benötigte zwei Stunden, um an einer Stelle vorbeizumarschieren. Ohne Begeisterung sah ich sie vom Hotelfenster aus. Es war offensichtlich, dass das so genannte Begräbnis nur eine Schaustellung der Macht war. Noch mehr davon, und es würde Blutvergießen geben. In der gleichen Nacht wurden meine Frau und ich durch eine Serie Schüsse aus der Richtung der Plaza de Cataluna aufgeweckt, die hundert oder zweihundert Meter entfernt lag. Am nächsten Tag erfuhren wir, dass man einen C.N.T.-Mann getötet hatte, vermutlich durch einen Anhänger der U.G.T. ES war natürlich durchaus möglich, dass alle diese Morde durch Provokateure begangen wurden. Man kann die Haltung der ausländischen, kapitalistischen Presse im kommunistisch-anarchistischen Bruderkampf daran ermessen, wie über die Ermordung Roldans groß berichtet wurde, während der andere Mord sorgfältig verschwiegen wurde.
Der 1. Mai näherte sich, und man sprach von einer großen Demonstration, an der sowohl die C.N.T. als auch die U.G.T. teilnehmen würden. Seit einiger Zeit hatten sich die C.N.T.-Führer, gemäßigter als viele ihrer Gefolgsleute, um eine Versöhnung mit der U.G.T. bemüht. Ja, der Tenor ihrer Politik bestand in dem Versuch, aus den zwei Blöcken der Gewerkschaften eine riesige Koalition zu formen. Man war der Ansicht, dass die C.N.T. und die U.G.T. zusammen marschieren und ihre Solidarität zeigen sollten. Aber im letzten Moment wurde die Demonstration abgesagt. Es war vollständig klar, dass sie nur zu einem Aufruhr führen würde. So ereignete sich am 1. Mai nichts. Es war ein seltsamer Zustand. Barcelona, die so genannte Revolutionsstadt, war wahrscheinlich an diesem Tage die einzige Stadt im nichtfaschistischen Europa, wo es keine Feiern gab. Aber ich gebe zu, dass ich sehr erleichtert war. Die I.L.P.-Gruppe sollte in der P.O.U.M.-Abteilung des Umzuges marschieren, und jeder erwartete Unruhen. In einen bedeutungslosen Straßenkampf verwickelt zu werden war das letzte, was ich mir wünschte. Hinter einer roten Fahne mit erhebenden Parolen die Straße hinaufzumarschieren und dann aus einem der oberen Fenster von einem völlig Fremden mit einer Maschinenpistole erschossen zu werden, so stelle ich mir jedenfalls einen nützlichen Tod nicht vor.

 

Zehntes Kapitel

Am 3. Mai gegen Mittag sagte ein Freund, der durch die Hotelhalle ging, beiläufig: »Am Telefonamt hat es einige Unruhen gegeben, wie ich höre.« Aus irgendeinem Grund schenkte ich ihm damals keine Beachtung.
Als ich am gleichen Nachmittag zwischen drei und vier Uhr etwa in der Mitte der Rambla war, hörte ich einige Gewehrschüsse. Ich drehte mich um und sah einige Burschen mit Gewehren in den Händen und rot-schwarzen Taschentüchern der Anarchisten um den Hals, die eine Seitenstraße entlangschlichen, welche von der Rambla nach Norden abzweigt. Sie schossen offensichtlich auf jemand in einem hohen, achteckigen Turm - ich glaube einer Kirche -, der diese Seitenstraße beherrschte. Sofort dachte ich: »Nun geht's los.« Aber ich war nicht sonderlich überrascht, denn tagelang hatte jeder erwartet, dass »es« jeden Augenblick losgehen werde. Ich war mir im klaren darüber, dass ich sofort ins Hotel zurückgehen musste, um zu sehen, ob meine Frau in Sicherheit war. Aber die Anarchisten an der Einmündung der Seitenstraße winkten die Leute zurück und schrieen, sie sollten die Schusslinie nicht überqueren. Weitere Schüsse fielen. Die Kugeln, die vom Turm kamen, flogen über die Straße, und ein Haufen Leute rannte in Panik von der Schießerei weg die Rambla hinunter. Entlang der ganzen Straße hörte man ein Schnapp, Schnapp, Schnapp, als die Ladenbesitzer die Stahljalousien vor ihren Schaufenstern herabließen. Ich sah, wie zwei Offiziere der Volksarmee, die Hand am Revolver, vorsichtig von Baum zu Baum zurücksprangen. Vor mir flutete die Menge in die U-Bahn-Station in der Mitte der Rambla, um Deckung zu suchen. Ich entschloss mich sofort, ihnen nicht zu folgen. Es konnte bedeuten, dass man stundenlang unter der Erde gefangen blieb.
In diesem Augenblick lief ein amerikanischer Arzt, der mit mir an der Front gewesen war, auf mich zu und packte mich am Arm. Er war ziemlich aufgeregt.
»Los, wir müssen zum Hotel >Falcon< hinunter.« (Das Hotel >Falcon< war ein Gästehaus der P.O.U.M. und wurde hauptsächlich von Milizsoldaten im Urlaub benutzt.) »Die P.O.U.M.-Leute werden sich dort treffen. Die Unruhen haben begonnen. Wir müssen zusammenhalten.«
»Aber, zum Teufel, worum geht es denn?« sagte ich.
Der Arzt zog mich am Arm weiter. Er war zu aufgeregt, um mir eine genaue Erklärung geben zu können. Anscheinend war er auf der Plaza de Cataluna gewesen, als einige Lastwagen mit bewaffneten Zivilgardisten (Anm.: Eine nach dem Tode Orwells gefundene Korrekturnotiz lautet: »In sämtlichen Kapiteln werden >Zivilgardisten< erwähnt. Es sollte überall >Sturmgardisten< heißen. Ich wurde getäuscht, da die Sturmgardisten in Katalonien eine andere Uniform trugen als diejenigen, die später aus Valencia geschickt wurden. Außerdem nannten die Spanier alle Verbände >la guardia<. Die unbestrittene Tatsache, dass die Zivilgardisten sich, wenn irgend möglich, Franco anschlössen (vgl. Anmerkung S. 198), wirft kein schlechtes Licht auf die Sturmgardisten, deren Verband erst nach Beginn der Zweiten Republik aufgestellt wurde. Aber die allgemeine Bemerkung über die öffentliche Feindseligkeit gegen >la guardia<, auch gegen ihre Rolle bei den Kämpfen in Barcelona, sollte stehen bleiben.«) vor dem Telefonamt auffuhren, in dem hauptsächlich C.N.T.-Arbeiter beschäftigt waren, und es überraschend angriffen. Danach waren einige Anarchisten eingetroffen, und es kam zu einem allgemeinen Handgemenge. Ich schloss, dass die Schwierigkeiten früher am Tage darin bestanden hatten, dass die Regierung verlangte, ihr das Telefonamt zu übergeben, was natürlich verweigert wurde.
Als wir die Straße hinuntergingen, raste ein Lastwagen aus der entgegengesetzten Richtung an uns vorbei. Er war voll Anarchisten, die Gewehre in ihren Händen hielten. Vorne lag ein zerlumpter Junge auf einem Haufen Matratzen hinter einem leichten Maschinengewehr. Als wir zum Hotel >Falcon< kamen, das am unteren Ende der Rambla lag, brandete eine Menschenmenge in die Empfangshalle. Es herrschte ein großes Durcheinander, und niemand schien zu wissen, was er tun sollte. Außer der Handvoll Stoßtruppen, die gewöhnlich als Wache des Gebäudes dienten, war niemand bewaffnet. Ich ging hinüber zum Komiteelokal der P.O.U.M., das fast genau gegenüberlag. In einem Zimmer im oberen Stockwerk, wo die Milizsoldaten normalerweise ihre Löhnung erhielten, drängte sich ebenfalls die Menge. Ein großer, blasser, ziemlich stattlicher, etwa dreißigjähriger Mann in Zivilkleidung versuchte, die Ordnung wiederherzustellen, und verteilte Koppel und Patronentaschen von einem Haufen in der Ecke. Es schien bis jetzt noch keine Gewehre zu geben. Der Arzt war verschwunden - ich glaube, es hatte schon Verlust gegeben und man hatte nach Ärzten gerufen -, aber ein anderer Engländer war hinzugekommen. In diesem Augenblick begannen der große Mann und einige andere damit, Gewehre aus einem inneren Büro zu bringen und zu verteilen. Als Ausländern traute man dem anderen Engländer und mir selbst nicht so recht, und niemand wollte uns zunächst ein Gewehr geben. Dann kam ein Milizsoldat, mit dem ich an der Front zusammen gewesen war, und erkannte mich, worauf man uns etwas widerwillig Gewehre und einige Patronenstreifen gab.
Aus einiger Entfernung hörte man Schüsse, und die Straßen waren von Menschen vollständig leergefegt. Jeder sagte, dass es unmöglich sei, die Rambla hinaufzugehen. Die Zivilgarde hatte Gebäude an beherrschenden Stellen besetzt und schoss auf jeden, der vorbeiging. Ich hätte riskiert, zum Hotel zurückzugehen, aber ein Gerücht wurde laut, wonach das Komiteelokal jeden Augenblick angegriffen werden könnte, so dass wir besser zur Verteidigung hier blieben. Im ganzen Gebäude, auf den Treppen und draußen auf dem Bürgersteig standen kleine Menschengruppen und redeten aufgeregt miteinander. Niemand schien genau zu wissen, was eigentlich los war. Ich konnte nur erfahren, dass die Zivilgarde das Telefonamt angegriffen und verschiedene strategische Punkte besetzt hatte, die jene Gebäude beherrschten, die den Arbeitern gehörten. Man hatte den allgemeinen Eindruck, dass die Zivilgarde es generell auf die C.N.T. und die Arbeiterklasse >abgesehen< habe. Es ist bemerkenswert, dass zu diesem Zeitpunkt niemand der Regierung die Schuld zuzuschieben schien. Die ärmeren Klassen in Barcelona hielten die Zivilgarde eher für eine Art Black-and-Tan-Truppe (Anm.: Eine militärische Einheit, die 1920 von der britischen Regierung nach Irland geschickt wurde). Man schien es für selbstverständlich zu halten, dass sie diesen Angriff aus eigener Initiative begonnen hatten. Sobald ich hörte, wie die Dinge standen, fühlte ich mich erleichtert. Der Streitfall war eindeutig. Auf der einen Seite die C.N.T., auf der anderen Seite die Polizei. Ich mache mir nichts Besonderes aus dem idealisierten >Arbeiter<, wie er sich in den Gedanken des bürgerlichen Kommunismus spiegelt. Wenn ich aber einen lebendigen Arbeiter aus Fleisch und Blut im Kampf mit seinem natürlichen Feind, dem Polizisten sehe, brauche ich mich nicht zu fragen, auf wessen Seite ich stehe.
Lange Zeit verging, und in unserem Teil der Stadt schien sich nichts zu ereignen. Ich dachte nicht daran, dass ich ja das Hotel anrufen könnte, um herauszufinden, ob es meiner Frau gut gehe. Ich hielt es für selbstverständlich, dass das Telefonamt nicht mehr arbeitete, obwohl es tatsächlich nur ein paar Stunden außer Aktion war. In den beiden Gebäuden schienen etwa dreihundert Menschen zu sein. Sie waren hauptsächlich Leute der ärmsten Klasse aus den Hinterhöfen an den Kais. Unter ihnen befand sich eine Reihe Frauen, und einige von ihnen trugen Babys, außerdem gab es noch eine Menge zerlumpter kleiner Jungen. Ich nehme an, dass die meisten von ihnen keine Ahnung davon hatten, was vor sich ging, und einfach Schutz suchend in die P.O.U.M.-Gebäude geflohen waren. Ferner waren eine Reihe Urlauber aus der Miliz und eine Handvoll Ausländer da. Soviel ich schätzen konnte, gab es nur etwa sechzig Gewehre für uns alle. Die Offiziere im oberen Stockwerk wurden unablässig von einer Menschenmenge belagert, die Gewehre verlangte und der man mitteilte, dass keine mehr übrig seien. Die jüngeren Milizburschen schienen die ganze Geschichte für eine Art Picknick zu halten. Sie streiften umher und versuchten jedem, der ein Gewehr hatte, dies abzuschmeicheln oder zu stehlen. Es dauerte nicht lange, ehe einer von ihnen mit einem Trick auch mein Gewehr wegnahm und sich sofort aus dem Staube machte. So war ich mit Ausnahme meiner winzigen Pistole, für die ich aber nur einen Rahmen Patronen hatte, wieder unbewaffnet.
Es dunkelte, und ich wurde hungrig, anscheinend gab es keine Lebensmittel im >Falcon<. Mein Freund und ich schlüpften hinaus zu seinem Hotel, das nicht weit weg lag, um etwas zum Abendessen zu bekommen. Die Straßen waren vollständig dunkel und ruhig, keine Menschenseele bewegte sich, die Stahljalousien waren vor allen Schaufenstern herabgelassen, aber man hatte noch keine Barrikaden gebaut. Ehe wir in das Hotel hineingelassen wurden, gab es große Schwierigkeiten, da es verschlossen und barrikadiert war. Als wir zurückkamen, hörte ich, das Telefonamt funktioniere, und ging an das Telefon im Büro im oberen Stockwerk, um meine Frau anzurufen. Es war typisch, dass es im ganzen Gebäude kein Telefonbuch gab, auch kannte ich die Nummer des Hotels >Continental< nicht. Nachdem ich vielleicht eine Stunde von Zimmer zu Zimmer gesucht hatte, fand ich schließlich einen Stadtführer, in dem die Nummer stand. Ich konnte keine Verbindung mit meiner Frau bekommen, aber es gelang mir, John McNair, den Vertreter der I.L.P. in Barcelona, zu erreichen. Er sagte mir, dass alles in Ordnung sei und niemand erschossen wurde. Er fragte mich, ob auch im Komiteelokal alles in Ordnung sei. Ich sagte, wir müssten zufrieden sein, wenn wir nur einige Zigaretten hätten. Ich hatte das als Witz gemeint, trotzdem erschien McNair eine halbe Stunde später mit zwei Päckchen Lucky Strike. Er hatte sich mutig durch die pechschwarzen Straßen geschlichen, die nur von anarchistischen Patrouillen durchstreift wurden, die ihn zweimal mit gezogener Pistole angehalten und seine Papiere durchsucht hatten. Ich werde diese kleine mutige Tat nicht vergessen. Wir freuten uns sehr über die Zigaretten.
An den meisten Fenstern waren bewaffnete Wachen aufgestellt worden, und unten auf der Straße hielt eine kleine Gruppe der Stoßtruppe jeden an, der vorbeiging, und untersuchte ihn. Ein waffenstarrender anarchistischer Patrouillenwagen fuhr vor. Neben dem Fahrer spielte ein hübsches, dunkelhaariges, etwa achtzehnjähriges Mädchen mit einer Maschinenpistole auf ihrem Schoß. Ich verbrachte einige Zeit damit, im Gebäude umherzuwandern. Es war ein großer, weitläufiger Platz, dessen Plan man sich unmöglich einprägen konnte. Überall lag der übliche Unrat, zerbrochene Möbel und zerrissenes Papier, die die unvermeidlichen Produkte einer Revolution zu sein scheinen. Im ganzen Gebäude schliefen Menschen. Auf einem zerbrochenen Sofa in einem Flur schnarchten friedlich zwei arme Frauen von den Kais. Dieses Gebäude war ein Kabarett-Theater gewesen, ehe es von der P.O.U.M. besetzt wurde. In verschiedenen Räumen gab es erhöhte Bühnen, auf einer stand ein einsamer Flügel. Schließlich entdeckte ich, was ich gesucht hatte -die Waffenkammer. Ich wusste nicht, wie die ganze Geschichte ausgehen würde, und ich wollte unbedingt eine Waffe besitzen. Ich hatte so oft gehört, alle rivalisierenden Parteien, die P.S.U.C., die P.O.U.M. und die C.N.T.-F.A.I, hätten Waffen in Barcelona gehamstert, dass ich nicht glauben konnte, in den zwei wichtigsten Gebäuden der P.O.U.M., die ich gesehen hatte, gebe es nur fünfzig oder sechzig Gewehre. Der als Waffenkammer dienende Raum war unbewacht und hatte eine dünne Tür. Es war für mich und einen anderen Engländer nicht schwierig, sie aufzudrücken. Als wir hineinkamen, sahen wir, dass es stimmte, was man uns gesagt hatte - es gab keine Waffen mehr. Wir fanden nur etwa zwei Dutzend uralte, kleinkalibrige Gewehre und einige Schrotbüchsen, aber ohne Patronen. Ich ging zum Büro und fragte, ob man noch zusätzliche Pistolenmunition habe; sie hatten keine. Sie hatten aber einige Kisten mit Handgranaten, die uns der anarchistische Patrouillenwagen gebracht hatte. Ich steckte ein paar in eine meiner Patronentaschen. Man zündete diese plumpe Handgranate, indem man eine Art Streichholz über die Spitze rieb, sie zündeten sehr leicht von selbst. Auf dem Boden streckten sich überall schlafende Menschen. In einem Raum weinte ein Baby, es weinte ununterbrochen. Obwohl es Mai war, wurde die Nacht kalt. Auf einer Kabarettbühne hingen noch Vorhänge; mit meinem Messer trennte ich eine Seite des Vorhanges ab, rollte mich darin ein und schlief ein paar Stunden. Ich erinnere mich, wie mein Schlaf durch den Gedanken an diese abscheulichen Handgranaten gestört wurde, die mich in die Luft sprengen würden, wenn ich zu heftig auf ihnen herumrollte. Um drei Uhr morgens weckte mich der große, stattliche Mann, der das Kommando zu führen schien, gab mir ein Gewehr und stellte mich an eins der Fenster auf Wache. Er sagte mir, dass der Polizeichef Salas, der für den Angriff auf das Telefonamt verantwortlich war, in Haft genommen worden sei. Wie wir später erfuhren, war er in Wirklichkeit nur von seinem Posten entfernt worden. Trotzdem bestätigte diese Nachricht den allgemeinen Eindruck, dass die Zivilgarde ohne Befehl gehandelt habe. Sobald es dämmerte, begannen die Leute unten, zwei Barrikaden zu bauen, eine vor dem Komiteelokal und die andere vor dem Hotel >Falcon<. Die Straßen Barcelonas sind mit viereckigen Kopfsteinen gepflastert, mit denen man leicht eine Mauer bauen kann. Unter den Pflastersteinen liegt ein grober Kies, der sich gut zum Füllen von Sandsäcken eignet. Es war ein eigenartiges und wunderbares Bild, wie diese Barrikaden gebaut wurden. Ich hätte etwas dafür gegeben, es zu fotografieren. Eine lange Reihe Männer, Frauen und ganz kleine Kinder rissen die Pflastersteine mit jener leidenschaftlichen Energie auf, welche die Spanier entfalten, wenn sie sich endgültig entschlossen haben, mit irgendeiner Arbeit zu beginnen. Sie schleppten sie in Handkarren, die sie irgendwo gefunden hatten, herbei und stolperten unter schweren Sandsäcken hin und her. Im Torweg des Komiteelokals stand ein deutschjüdisches Mädchen in Milizhosen, deren Knieknöpfe gerade ihre Knöchel bedeckten, und beobachtete alles mit einem Lächeln. In ein paar Stunden waren die Barrikaden kopfhoch. Schützen wurden an den Schießscharten postiert, hinter einer Barrikade brannte ein Feuer, und die Leute brieten Eier.
Man hatte mir mein Gewehr wieder weggenommen, und es schien keine nützliche Beschäftigung für mich zu geben. Ein anderer Engländer und ich selbst entschlossen uns, zum Hotel >Continental< zurückzugehen. Weiter weg wurde viel geschossen, aber anscheinend nicht in der Rambla. Auf unserem Wege die Straße hinauf schauten wir in den Lebensmittelmarkt hinein. Einige Stände hatten geöffnet. Sie wurden von einer Menschenmenge umlagert, es waren Arbeiter aus den Vierteln südlich der Rambla. Gerade als wir dorthin kamen, ertönte draußen das laute Krachen von Gewehrfeuer. Einige Glasscheiben im Dach zersplitterten, und die Menge flüchtete zu den rückwärtigen Ausgängen. Aber einige Stände blieben offen. Es gelang uns, für jeden eine Tasse Kaffee zu bekommen und ein Stück Ziegenmilchkäse zu kaufen, das ich zu den Handgranaten einsteckte. Ein paar Tage später freute ich mich sehr über diesen Käse.
An der Straßenecke, wo ich am Tage zuvor beobachtet hatte, wie die Anarchisten mit der Schießerei begannen, stand jetzt eine Barrikade. Der Mann hinter der Barrikade (ich stand auf der anderen Straßenseite) rief mir zu, vorsichtig zu sein. Die Zivilgardisten auf dem Kirchturm schossen unterschiedslos auf jeden, der vorbeikam. Ich wartete und überquerte dann das offene Stück im Laufschritt. Und tatsächlich pfiff eine Kugel unangenehm nahe an mir vorbei. Als ich mich immer noch auf der anderen Seite der Straße dem Amtsgebäude der P.O.U.M. näherte, hörte ich von einigen Männern der Stoßtrüppe, die im Torweg standen, neue Warnungsschreie, die ich im ersten Augenblick nicht verstand. Zwischen mir und dem Gebäude standen Bäume und ein Zeitungsstand (derartige Straßen haben in Spanien in der Mitte einen breiten Bürgersteig), und ich konnte nicht sehen, wohin sie zeigten. Ich ging zum >Continental< hinauf, überzeugte mich, dass alles in Ordnung sei, wusch mein Gesicht und ging dann zum Amtsgebäude der P.O.U.M. zurück (etwa hundert Meter weit die Straße hinunter), um nach Befehlen zu fragen. Zu diesem Zeitpunkt war der Lärm des Gewehr- und Maschinengewehrfeuers aus den verschiedenen Richtungen fast so laut wie der Lärm einer Schlacht. Ich hatte gerade Kopp gefunden und fragte ihn, was wir tun sollten, als wir von weiter unten eine Reihe schrecklicher Explosionen hörten. Der Lärm war so laut, dass ich überzeugt war, jemand feuere mit einer Kanone auf uns. In Wirklichkeit waren es nur Handgranaten, die doppelt soviel Krach machen als gewöhnlich, wenn sie zwischen Steingebäuden explodieren.
Kopp warf einen Blick aus dem Fenster, spannte seinen Stock hinter dem Rücken und sagte: »Wir wollen die Sache einmal untersuchen«, dann schlenderte er in seiner gewohnten, unbekümmerten Art die Treppe hinunter, während ich ihm folgte. Direkt vom Torweg aus rollte eine Gruppe der Stoßtruppe Handgranaten so den Bürgersteig hinunter, als ob sie Kegel spielten. Zwanzig Meter weiter explodierten die Handgranaten mit entsetzlichem, ohrenbetäubendem Krach, der sich mit dem Knallen der Gewehre mischte. In der Mitte der Straße schaute ein Kopf hinter einem Zeitungskiosk hervor - es war der Kopf eines amerikanischen Milizsoldaten, den ich gut kannte —, und er sah wie eine Kokosnuss auf der Kirmes aus. Später erst begriff ich, was hier eigentlich los war. Neben dem P.O.U.M.-Gebäude lag ein Cafe, darüber ein Hotel, es hieß Cafe >Moka<. Am Vortage waren zwanzig oder dreißig bewaffnete Zivilgardisten in das Cafe gekommen und hatten es plötzlich besetzt und sich im Gebäude verschanzt, als die Kämpfe begannen. Vermutlich hatten sie Befehl erhalten, das Cafe zu besetzen, um von hier aus später die P.O.U.M.-Büros anzugreifen. Frühmorgens hatten sie versucht hinauszukommen, es wurden Schüsse gewechselt, ein Mann der Stoßtruppe verwundet und ein Zivilgardist getötet. Die Zivilgardisten waren ins Cafe zurückgeflüchtet, aber als der Amerikaner die Straße hinunterkam, hatten sie das Feuer auf ihn eröffnet, obwohl er nicht bewaffnet war. Der Amerikaner hatte sich hinter den Kiosk in Deckung geworfen, und die Männer der Stoßtruppe warfen Handgranaten auf die Zivilgardisten, um sie wieder in das Haus hineinzutreiben.
Kopp erfasste die Situation mit einem Blick, drängte sich nach vorne und zog einen rothaarigen deutschen Mann der Stoßtruppe zurück, der gerade den Sicherheitsstift einer Handgranate mit seinen Zähnen herauszog. Er schrie allen zu, sich vom Torweg zurückzuziehen, und sagte uns in verschiedenen Sprachen, wir müssten jedes Blutvergießen vermeiden. Dann trat er in das Blickfeld der Zivilgardisten auf den Bürgersteig hinaus, schnallte großtuerisch seine Pistole ab und legte sie auf den Boden. Zwei spanische Milizoffiziere taten das gleiche, und die drei gingen langsam zu dem Torweg, in dem sich die Zivilgardisten zusammendrängten. Das hätte ich nicht einmal für zwanzig Pfund getan. Sie gingen unbewaffnet auf die Männer zu, die vor Angst fast den Verstand verloren hatten und geladene Gewehre in ihren Händen hielten. Ein Zivilgardist in Hemdsärmeln kam aschgrau vor Furcht aus der Tür heraus, um mit Kopp zu sprechen. Er zeigte ganz aufgeregt auf zwei nicht explodierte Handgranaten, die auf dem Bürgersteig lagen. Kopp kam zurück und sagte uns, dass wir besser die Handgranaten zur Explosion brächten. So wie sie dort lägen, seien sie für jeden, der vorbeikomme, eine Gefahr. Ein Mann der Stoßtruppe schoss sein Gewehr auf eine der Handgranaten ab und brachte sie zur Explosion. Dann feuerte er auf die andere und schoss vorbei. Ich bat ihn, mir sein Gewehr zu geben, kniete nieder und schoss auf die zweite Handgranate. Leider traf ich sie auch nicht. Das war der einzige Schuss, den ich während der Unruhen abfeuerte. Der Bürgersteig war mit zerbrochenem Glas des Schildes über dem Cafe >Moka< bedeckt. Zwei Wagen, die vor dem Cafe parkten, einer davon Kopps Dienstwagen, waren von Kugeln durchlöchert und ihre Windschutzscheiben von berstenden Handgranaten zertrümmert worden.
Kopp nahm mich wieder nach oben und erklärte mir die Lage. Wir mussten die P.O.U.M.-Gebäude im Falle eines Angriffes verteidigen. Aber die Anführer der P.O.U.M. hatten Anweisungen ausgegeben, dass wir in der Defensive bleiben und, wenn irgend möglich, das Feuer nicht eröffnen sollten. Uns genau gegenüber lag ein Kino, es hieß >Poliorama<. Darüber war ein Museum und oben, hoch über den Dächern, ein kleines Observatorium mit zwei Kuppeln. Die Kuppeln beherrschten die Straße, und wenn ein paar Männer dort mit Gewehren postiert wurden, konnten sie jeden Angriff auf die P.O.U.M.-Gebäude verhindern. Die Hausmeister im Kino waren Mitglieder der C.N.T. und ließen uns kommen und gehen. Was die Zivilgardisten im Cafe >Moka< anbelangte, so würden sie uns keinen Kummer bereiten. Sie wollten nicht kämpfen und würden glücklich sein, am Leben zu bleiben und andere leben zu lassen. Kopp wiederholte, unser Befehl laute, nicht zu schießen, außer wenn man auf uns schieße oder unsere Gebäude angreife.
Obwohl er es nicht sagte, vermute ich, dass die Anführer der P.O.U.M. wütend darüber waren, in diese Geschichte hineingezogen worden zu sein, aber das Gefühl hatten, der C.N.T. zur Seite stehen zu müssen.
Man hatte Wachen im Observatorium aufgestellt. Die nächsten drei Tage und Nächte verbrachte ich ununterbrochen auf dem Dach des >Poliorama< mit nur kurzen Unterbrechungen, wenn ich über die Straße zum Hotel lief, um meine Mahlzeiten einzunehmen. Ich war nicht in Gefahr und litt nur unter Hunger und Langeweile, aber dennoch war es einer der unerträglichsten Abschnitte meines ganzen Lebens. Ich glaube kaum, ein Erlebnis könnte übler sein, eine größere Enttäuschung bringen oder schließlich auch nervenaufreibender sein als jene bösen Tage des Straßenkampfes.
Ich saß auf dem Dach und wunderte mich über die Unsinnigkeit der ganzen Sache. Aus den kleinen Fenstern im Observatorium konnte man kilometerweit im Umkreis sehen: Blick über Blick auf hohe, schlanke Gebäude, Glaskuppeln und phantastisch gewellte Dächer mit leuchtend grünen, kupferfarbenen Ziegeln. Nach Osten hinüber sah man das glitzernde blassblaue Meer. Es war mein erster Blick auf das Meer seit meiner Ankunft in Spanien. Die ganze riesige Stadt mit zwei Millionen Menschen war in eine Art gewaltsamer Trägheit verfallen, einen Alpdruck unbeweglichen Lärms. Die sonnendurchfluteten Straßen waren völlig leer. Es ereignete sich nichts, nur die Kugeln schwirrten zwischen den Barrikaden und den mit Sandsäcken verstellten Fenstern umher. In den Straßen bewegte sich kein Fahrzeug. Hier und da standen die Straßenbahnen bewegungslos auf der Rambla, wo die Fahrer hinausgesprungen waren, als die Kämpfe begannen. Dauernd aber schallte der teuflische Lärm von Tausenden von Steinbauten zurück, lief im Kreise umher wie ein tropischer Regen. Krach-krach, ratt-tatt-tatt dröhnte es - manchmal starb der Lärm bis auf einzelne Schüsse ab, manchmal steigerte er sich zu einem ohrenbetäubenden Gewehrfeuer. Aber er endete nie, solange das Tageslicht anhielt, und begann wieder pünktlich mit der folgenden Morgendämmerung.
Was sich, zum Teufel, eigentlich ereignete, wer gegen wen kämpfte und wer gewann, konnte man zunächst nur schwer feststellen. Die Einwohner von Barcelona sind an Straßenkämpfe gewöhnt und kennen die örtlichen Gegebenheiten so gut, dass sie durch einen bestimmten Instinkt wissen, welche politische Partei diese oder jene Straße oder Bauten halten wird. Ein Ausländer ist hoffnungslos im Nachteil. Als ich vom Observatorium hinunterschaute, konnte ich begreifen, dass die Rambla, eine der Hauptstraßen der Stadt, gewissermaßen die Trennungslinie bildete. Die Stadtviertel der Arbeiterklasse rechts von der Rambla waren vollständig in Händen der Anarchisten. Links der Rambla spielte sich in den unübersichtlichen Nebenstraßen ein verwirrender Kampf ab, aber auf dieser Seite übten die P.S.U.C. und die Zivilgarde mehr oder weniger die Kontrolle aus. Oben, an unserem Ende der Rambla, rund um die Plaza de Cataluna war die Lage so kompliziert, dass niemand sich auskennen konnte, wenn nicht jedes Gebäude eine Parteifahne gehisst hätte. Das Hauptwahrzeichen war das Hotel >Colon<, das Hauptquartier des P.S.U.C., das die Plaza de Cataluna beherrschte. In einem Fenster in der Nähe des vorletzten O in der großen Aufschrift >Hotel Colon<, die sich über die ganze Front erstreckte, hatte man ein Maschinengewehr aufgebaut, das den ganzen Platz mit tödlicher Wirkung bestreichen konnte. Hundert Meter rechts von uns die Rambla hinunter hielt die J.S.U., der Jugendverband der P.S.U.C. (die Parallele zur Jungen Kommunistischen Liga in England), ein großes Kaufhaus besetzt, dessen von Sandsäcken geschützte Seitenfenster unserem Observatorium gegenüberlagen. Sie hatten ihre große Fahne eingeholt und die katalonische Nationalflagge aufgezogen. Auf dem Telefonamt, dem Ausgangspunkt der Unruhen, wehten die katalonische Nationalflagge und die anarchistische Flagge Seite an Seite. Man hatte dort einen zeitweiligen Kompromiss geschlossen: das Amt arbeitete ohne Unterbrechung, und aus dem Gebäude wurde nicht geschossen.
In unserer Stellung war es seltsam friedlich. Die Zivilgardisten im Cafe >Moka< hatten die Stahljalousien herabgelassen und die Möbel des Cafes aufgehäuft, um eine Barrikade zu errichten. Später kam ein halbes Dutzend von ihnen auf das Dach uns gegenüber und baute eine weitere Barrikade aus Matratzen, über die sie eine katalonische Nationalflagge hängten. Aber es war eindeutig, dass sie keinen Kampf beginnen wollten, Kopp hatte mit ihnen ein genau festgelegtes Abkommen geschlossen: Wenn sie nicht auf uns schossen, würden wir auch nicht auf sie schießen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich ziemlich weit mit den Zivilgardisten angefreundet und sie mehrere Male im Cafe >Moka< besucht. Natürlich hatten sie alles, was es an Trinkbarem im Cafe gab, geplündert, und so gaben sie Kopp fünfzehn Flaschen Bier zum Geschenk. Dafür hatte ihnen Kopp tatsächlich eines unserer Gewehre gegeben, um eins zu ersetzen, das sie am vorhergehenden Tage verloren hatten. Trotzdem war es ein seltsames Gefühl, auf diesem Dach zu sitzen. Manchmal langweilte mich die ganze Geschichte, und ich achtete gar nicht auf den höllischen Lärm. Ich verbrachte Stunden damit, eine Reihe Bücher der Penguinbooks zu lesen, die ich glücklicherweise ein paar Tage vorher gekauft hatte. Manchmal spürte ich dabei sehr bewusst die bewaffneten Männer, die mich aus fünfzig Meter Entfernung beobachteten. Es war beinahe ein wenig, als sei man wieder im Schützengraben. Manchmal erwischte ich mich dabei, wie ich aus Gewohnheit von den Zivilgardisten als »den Faschisten« sprach. Normalerweise waren wir zu sechst oben im Beobachtungsstand. Wir stellten je einen Mann als Wache in jeden der Observatoriumstürme, und der Rest saß auf dem Bleidach darunter, wo es außer einer Steinwand keinen Schutz gab. Ich war mir im klaren darüber, dass die Zivilgardisten jeden Augenblick den telefonischen Befehl erhalten könnten, das Feuer zu eröffnen. Sie hatten zugestimmt, uns zu warnen, ehe sie das täten, aber es gab keine Sicherheit, dass sie ihr Abkommen einhalten würden. Aber nur einmal sah es so aus, als gebe es Ärger. Einer der Zivilgardisten uns gegenüber kniete nieder und begann über die Barrikade zu schießen. Ich stand in diesem Augenblick im Observatorium auf Wache. Ich richtete mein Gewehr auf ihn und schrie hinüber:
»He! Schieß nur ja nicht auf uns!«
»Was?«
»Schieß nur ja nicht auf uns, oder wir schießen zurück!«
»Nein, nein! Ich habe nicht auf euch geschossen. Schau -dort unten!«
Er zeigte mit seinem Gewehr auf eine Seitenstraße, die unten an unserem Gebäude vorbeiführte. Tatsächlich drückte sich dort ein Junge im blauen Overall, mit einem Gewehr in der Hand, um die Ecke. Offenbar hatte er gerade auf die Zivilgardisten auf dem Dach geschossen.
»Ich schoss auf ihn. Er schoss zuerst.« (Ich glaube, das stimmte.)
»Wir wollen euch nicht erschießen! Wir sind Arbeiter genau wie ihr.«
Er winkte den antifaschistischen Gruß herüber, den ich erwiderte. Ich rief hinüber:
»Habt ihr noch Bier übrig?«
»Nein. Alles ist weg.«
Am gleichen Tag hob plötzlich ohne ersichtlichen Grund ein Mann im J.C.U.-Gebäude weiter unten an der Straße sein Gewehr und schoss auf mich, als ich mich aus dem Fenster hinauslehnte. Vielleicht war ich ein verlockendes Ziel. Ich schoss nicht zurück. Obwohl er nur hundert Meter weit entfernt war, ging die Kugel so weit daneben, dass sie nicht einmal das Dach des Observatoriums traf. Wie üblich hatte mich die spanische Schießkunst gerettet. Ich wurde mehrere Male von diesem Gebäude aus beschossen.
Der teuflische Unsinn dieser Schießerei ging weiter. Aber soviel ich sehen konnte und nach allem, was ich hörte, kämpfte man auf beiden Seiten defensiv. Die Männer blieben einfach in ihren Gebäuden oder hinter ihren Barrikaden und feuerten nur auf die ihnen gegenüberliegenden Leute. Ungefähr achthundert Meter von uns gab es eine Straße, wo sich die Hauptbüros der C.N.T. und der U.G.T. fast direkt gegenüberlagen. Das Ausmaß des Lärms aus dieser Richtung war phantastisch. Ich ging einen Tag nach den Kämpfen diese Straße hinab, und die Scheiben der Schaufenster waren wie Siebe durchlöchert. (Die meisten der Geschäftsinhaber in Barcelona hatten Papierstreifen kreuzweise über ihre Scheiben geklebt, damit sie nicht in tausend Stücke zersplitterten, wenn sie von einer Kugel getroffen wurden.) Manchmal wurde das Geratter des Gewehr- und Maschinengewehrfeuers noch vom Krachen der Handgranaten unterstrichen. In langen Zeitabschnitten, vielleicht insgesamt zwölfmal, gab es riesige Explosionen, die ich mir zunächst nicht erklären konnte. Sie hörten sich wie Fliegerbomben an, aber das war unmöglich, weil keine Flugzeuge da waren. Man erzählte mir später - es ist gut möglich, dass es die Wahrheit ist —, agents provocateurs hätten große Mengen Sprengstoff in die Luft gejagt, um den allgemeinen Lärm und die Panik noch zu vergrößern. Es gab jedenfalls kein Artilleriefeuer. Ich horchte darauf, denn mit Kanonenfeuer wäre die ganze Geschichte ernst geworden (Artillerie ist der entscheidende Faktor im Straßenkampf). Hinterher standen in den Zeitungen wilde Geschichten über den Straßenkampf ganzer Kanonenbatterien, aber niemand konnte ein Gebäude zeigen, das von einer Granate getroffen worden war. Jedenfalls lässt sich der Lärm von Kanonenfeuer, wenn man daran gewöhnt ist, nicht überhören.
Fast von Anfang an waren Lebensmittel sehr knapp. Unter Schwierigkeiten und im Schutz der Dunkelheit (denn die Zivilgardisten in der Rambla schossen ständig) wurde Essen vom Hotel >Falcon< für die siebzehn oder zwanzig Milizsoldaten im Amtsgebäude der P.O.U.M. herbeigebracht. Aber das reichte für alle kaum aus, und so viele von uns wie möglich gingen zum Hotel >Continental<, um dort zu essen. Das >Continental< war durch die Generalidad und nicht, wie die meisten anderen Hotels, durch die C.N.T. oder U.G.T. >kollektiviert< worden, und man behandelte es als neutrales Territorium. Kaum hatten die Kämpfe begonnen, füllte sich das Hotel bis zum Rande mit einer der außerordentlichsten Menschenansammlungen. Darunter fanden sich ausländische Journalisten, politisch Verdächtige aller Schattierungen, ein amerikanischer Flugpilot im Dienste der Regierung, verschiedene kommunistische Agenten, einschließlich eines fetten, düster aussehenden Russen, der ein Agent der Ogpu sein sollte, dessen Spitzname Charlie Chan lautete und der an seinem Gürtel einen Revolver und eine nette, kleine Handgranate trug, dann einige wohlhabende spanische Familien, die wie Mitläufer der Faschisten aussahen, zwei oder drei Verwundete der Internationalen Brigade, ein Trupp Lastwagenfahrer riesiger französischer Lastwagen, die eine Ladung Orangen nach Frankreich zurückbrachten und vom Kampf aufgehalten worden waren, und mehrere Offiziere der Volksarmee. Die Volksarmee blieb als Einheit während der ganzen Kämpfe neutral, obwohl einige Soldaten aus den Kasernen flohen und auf eigene Faust an den Kämpfen teilnahmen. Am Dienstag morgen hatte ich einige von ihnen auf den P.O.U.M.-Barrikaden gesehen. Ehe die Lebensmittelknappheit spürbar wurde und die Zeitungen den Hass schürten, hielt man anfangs allgemein die ganze Geschichte für einen Scherz. Die Leute sagten, so etwas passiere jedes Jahr in Barcelona. George Tioli, ein italienischer Journalist und großer Freund von uns, kam mit blutgetränkten Hosen zu uns herein. Er war hinausgegangen, um zu sehen, was sich ereignete. Dabei hatte er einen verwundeten Mann auf dem Bürgersteig verbunden, als jemand wie im Spiel eine Handgranate nach ihm warf, die ihn aber zum Glück nicht ernstlich verwundete. Es fällt mir ein, dass er einmal vorschlug, man solle die Pflastersteine in Barcelona nummerieren, denn damit erspare man sich beim Auf- und Abbau der Barrikaden große Mühen. Ich erinnere mich auch an ein paar Leute der Internationalen Brigade, die in meinem Hotelzimmer saßen, als ich müde, hungrig und schmutzig nach einer Nachtwache zurückkam. Sie verhielten sich vollständig neutral. Wären sie gute Parteimitglieder gewesen, meine ich, so hätten sie mich auffordern sollen, die Seite zu wechseln. Zumindest aber hätten sie mich fesseln und mir die Handgranaten, von denen meine Taschen überquollen, abnehmen müssen. Statt dessen bedauerten sie mich nur, dass ich meinen Urlaub damit verbringen müsse, auf einem Dach Wache zu schieben. Die allgemeine Einstellung lautete: »Es ist nur eine Auseinandersetzung zwischen den Anarchisten und der Polizei - sie hat überhaupt keine Bedeutung.«
Ich glaube, diese Beurteilung kam der Wahrheit trotz des Ausmaßes der Kämpfe und der vielen Toten näher als die offizielle Version, nach der es sich um einen im voraus geplanten Aufstand handelte.
Ungefähr Mittwoch (den 5. Mai) schien sich die Lage zu ändern. Wegen der verschlossenen Läden sahen die Straßen gespenstisch aus. Nur wenige Fußgänger, die aus irgendeinem Grund gezwungen waren auszugehen, schlichen hin und her und schwenkten weiße Taschentücher. An einer Stelle in der Mitte der Rambla, die vor Kugeln sicher war, riefen einige Verkäufer Zeitungen für die leere Straße aus. Am Dienstag hatte die anarchistische Zeitung Solidaridad Obrera den Angriff auf das Telefonamt als eine »ungeheure Provokation« (oder mit einem ähnlichen Wort) beschrieben.
Am Mittwoch aber änderte sie ihren Ton und beschwor alle, zur Arbeit zurückzukehren. Über den Rundfunk verbreiteten die anarchistischen Führer die gleiche Botschaft. Das Büro der P.O.U.M.-Zeitung La Batalla, das nicht verteidigt worden war, wurde von den Zivilgardisten zur gleichen Zeit wie das Telefonamt überfallen und besetzt. Die Zeitung wurde aber an einer anderen Stelle gedruckt und in wenigen Exemplaren verteilt. Ich drängte jeden, bei den Barrikaden zu bleiben. Die Leute waren geteilter Meinung und überlegten sich mit Unbehagen, wie zum Teufel die ganze Geschichte enden solle. Ich bezweifele, dass jemand die Barrikaden schon verlassen hatte. Aber alle waren des sinnlosen Kampfes überdrüssig, der wahrscheinlich zu keiner wirklichen Entscheidung führen konnte, weil niemand wünschte, dass er sich zu einem richtigen Bürgerkrieg entwickele. Das hätte die Niederlage im Krieg gegen Franco bedeutet. Ich hörte, wie diese Befürchtung auf allen Seiten ausgesprochen wurde. Soviel man aus dem Gerede der Leute entnehmen konnte, wollten alle Mitglieder der C.N.T. von Anfang an zwei Dinge erreichen: die Rückgabe des Telefonamtes und die Entwaffnung der verhassten Zivilgarde. Hätte die Generalidad diese beiden Forderungen und die Bekämpfung des Lebensmittel-Schwarzmarktes versprochen, wären ohne Zweifel die Barrikaden innerhalb von zwei Stunden abgerissen worden. Aber es war augenfällig, dass die Generalidad nicht nachgeben wollte. Hässliche Gerüchte wurden kolportiert. Man sagte, die Regierung von Valencia schicke sechstausend Mann, um Barcelona zu besetzen, und fünftausend Anarchisten und P.O.U.M.-Truppen hätten die aragonische Front verlassen, um sich ihnen entgegenzustellen. Nur der erste Teil dieser Gerüchte stimmte. Von unserem Wachtposten auf dem Observatoriumsturm sahen wir auch die langen grauen Schatten der Kriegsschiffe, die sich dem Hafen näherten. Douglas Moyle, der Marinesoldat gewesen war, sagte, sie sähen wie britische Zerstörer aus. Es waren tatsächlich britische Zerstörer, obwohl wir das erst hinterher erfuhren.
An jenem Abend hörten wir, dass vierhundert Zivilgardisten sich auf der Plaza de Espana ergeben und ihre Waffen den Anarchisten ausgeliefert hätten. Außerdem hörten wir ungenaue Berichte, wonach die Vorstädte (hauptsächlich die Viertel der Arbeiterklasse) unter der Kontrolle der C.N.T. standen. Es sah so aus, als würden wir gewinnen. Aber am gleichen Abend ließ Kopp mich zu sich kommen und sagte mir mit ernstem Gesicht, dass die Regierung nach Informationen, die er gerade bekommen habe, die P.O.U.M. für ungesetzlich erklären und den Kriegszustand gegen sie verhängen wolle. Diese Nachricht versetzte mir einen Schlag. Das war das erste Anzeichen für die Auslegung, die man später wahrscheinlich der ganzen Geschichte geben würde. Ich konnte in groben Umrissen voraussehen, dass man nach Beendigung der Kämpfe die ganze Schuld der P.O.U.M. zuschieben würde, da sie die schwächste Partei und deshalb der geeignetste Sündenbock war. Inzwischen war auch unser lokaler Neutralitätszustand zu Ende. Wenn uns die Regierung den Krieg erklärte, hatten wir keine andere Wahl, als uns zu verteidigen. Dann konnten wir hier im Amtsgebäude sicher sein, dass die Zivilgardisten nebenan den Befehl erhielten, uns anzugreifen. Kopp wartete am Telefon auf Befehle. Falls wir mit Sicherheit erfuhren, dass die P.O.U.M. geächtet worden war, mussten wir Vorbereitungen treffen, um das Cafe >Moka< sofort zu besetzen.
Ich erinnere mich an den langen Abend, der wie ein Alpdruck war und den wir damit verbrachten, das Gebäude zu befestigen. Wir ließen die Stahljalousie vor dem Haupteingang herunter und bauten dahinter eine Barrikade aus Steinplatten, die von Arbeitern zurückgelassen worden waren, die Umbauten ausgeführt hatten. Wir machten eine Bestandsaufnahme unserer Waffen. Einschließlich der sechs Gewehre auf dem Dach des >Poliorama< gegenüber besaßen
wir einundzwanzig Gewehre. Eins davon war nicht in Ordnung. Außerdem hatten wir fünfzig Rahmen Munition für jedes Gewehr und ein paar Dutzend Handgranaten. Sonst hatten wir außer einigen Pistolen und Revolvern nichts. Ungefähr ein Dutzend Männer, die meisten von ihnen Deutsche, hatten sich freiwillig für einen Angriff auf das Cafe >Moka< gemeldet, wenn es soweit wäre. Wir sollten natürlich irgendwann frühmorgens vom Dach aus angreifen und sie überraschen. Sie waren in der Übermacht, aber unsere Moral war besser, und ohne Zweifel konnten wir das Haus stürmen, obwohl Menschen dabei wahrscheinlich getötet werden würden. Wir hatten außer ein paar Tafeln Schokolade keine Lebensmittel in unserem Gebäude. Ein Gerücht machte die Runde, dass »sie« die Wasserversorgung abdrehen würden. (Niemand wusste, wer »sie« waren. Damit konnte die Regierung gemeint sein, die die Wasserwerke kontrollierte, oder die C.N.T. - niemand wusste es.) Wir verbrachten lange Zeit damit, jedes Becken in den Waschräumen, jeden Eimer, der uns in die Hände fiel und schließlich die fünfzehn Bierflaschen, die die Zivilgardisten Kopp gegeben hatten und die jetzt leer waren, mit Wasser zu füllen. Nach rund sechzig Stunden ohne viel Schlaf war ich in einer scheußlichen Gemütsverfassung und hundemüde. Es war jetzt spät in der Nacht. Hinter der Barrikade im Erdgeschoß schliefen überall auf dem Boden Leute. Oben gab es ein kleines Zimmer mit einem Sofa, das wir als Verbandstation benutzen wollten, obwohl ich kaum zu sagen brauche, dass es weder Jod noch Verbandzeug im Gebäude gab, wie wir entdeckt hatten. Meine Frau war vom Hotel heruntergekommen, falls wir eine Krankenschwester benötigten. Ich legte mich mit dem Gefühl auf das Sofa, dass ich vor dem Angriff auf das >Moka<, bei dem ich wahrscheinlich getötet werden würde, gerne eine halbe Stunde Ruhe haben möchte. Ich erinnere mich an das unerträgliche Unbehagen, das mir meine Pistole bereitete, die ich an mein Koppel gebunden hatte und die sich in meine Hüfte drückte. Als nächstes erinnere ich mich, wie ich mit einem Ruck aufwachte und meine Frau neben mir stehend fand. Es war helles Tageslicht, nichts war geschehen, die Regierung hatte der P.O.U.M. nicht den Krieg erklärt, das Wasser war nicht abgedreht worden, und außer der gelegentlichen Schießerei in den Straßen war alles normal. Meine Frau sagte, sie habe es nicht über sich gebracht, mich aufzuwecken, und habe in einem der vorderen Zimmer in einem Lehnsessel geschlafen.
Am gleichen Nachmittag gab es eine Art Waffenstillstand. Die Schießerei hörte langsam auf, und überraschend plötzlich füllten sich die Straßen mit Menschen. Einige Läden begannen die Jalousien aufzuziehen, und der Markt war mit einer riesigen Menge voll gestopft, die Lebensmittel verlangte, obwohl die Stände fast leer waren. Man konnte jedoch beobachten, dass die Straßenbahnen noch nicht wieder fuhren. Die Zivilgardisten saßen im >Moka< immer noch hinter Barrikaden. Auf keiner Seite verließ man die befestigten Gebäude. Jeder rannte los und versuchte, Lebensmittel zu kaufen. Und auf jeder Seite hörte man die gleiche, ängstliche Frage: »Denkst du, es hat aufgehört? Glaubst du, es fängt wieder an?« »Es« - das Gefecht in den Straßen - wurde jetzt wie eine Naturgewalt betrachtet, wie ein Hurrikan oder ein Erdbeben, von dem alle gleichzeitig betroffen wurden und das aufzuhalten niemand von uns die Kräfte besaß. Und richtig, fast sofort danach jagte der plötzliche Krach von Gewehrfeuer wie ein Wolkenbruch im Juni alle in die Flucht. Ich nehme zwar an, dass der Waffenstillstand einige Stunden gedauert hat, aber das schienen eher Minuten als Stunden gewesen zu sein. Die Stahljalousien rollten wieder herunter, die Straßen leerten sich wie durch einen Zauberspruch, die Barrikaden waren besetzt und »es« hatte wieder begonnen.
Ich ging mit einem Gefühl aufgestauter Wut und Abscheu zu meinem Posten auf dem Dach zurück. In gewisser Weise, vermute ich, macht man Geschichte, wenn man an solchen Ereignissen teilnimmt, und sollte sich Rechtens wie eine historische Gestalt fühlen. Aber das tut man nie, denn in diesen Augenblicken überwiegen die körperlichen Einzelheiten immer alles andere. Während der ganzen Kämpfe machte ich keine korrekte >Analyse< der Situation, wie sie so leichtfertig von Journalisten Hunderte von Kilometern entfernt gemacht wurde. Ich dachte nicht so sehr über Recht und Unrecht dieses elenden, mörderischen Streites nach, sondern einfach über das Unbehagen und die Langeweile, Tag und Nacht auf diesem unerträglichen Dach zu sitzen, während unser Hunger stärker und stärker wurde, denn niemand von uns hatte seit Montag eine anständige Mahlzeit gehabt. Ich dachte dauernd, dass ich, sobald diese Geschichte vorbei war, zur Front zurückmüsse. Ich hätte aus der Haut fahren können. Ich war hundertfünfzehn Tage an der Front gewesen und heißhungrig auf ein bisschen Ruhe und Komfort nach Barcelona zurückgekommen. Statt dessen musste ich meine Zeit damit verbringen, auf einem Dach den Zivilgardisten gegenüberzusitzen, die genauso gelangweilt waren wie ich und die von Zeit zu Zeit herüberwinkten und mir versicherten, dass sie »Arbeiter« seien. (Womit sie ihre Hoffnung ausdrückten, ich würde nicht auf sie schießen.) Sicherlich aber würden sie das Feuer eröffnen, falls sie den Befehl dazu erhielten. Wenn das Geschichte war, fühlte ich mich nicht danach. Es glich vielmehr der schlechten Zeit an der Front, wenn nicht genügend Soldaten da waren und wir zusätzliche Stunden Wache schieben mussten. Statt heroisch zu sein, musste man auf seinem Posten bleiben, voller Langeweile, vor Schlaf umfallend und vollständig desinteressiert daran, worum es eigentlich ging.
Im Hotel hatte sich unter dem heterogenen Haufen, von welchem die meisten nicht gewagt hatten, ihre Nase aus der Türe zu stecken, eine scheußliche Atmosphäre des Misstrauens gebildet. Verschiedene Leute waren von einer Spionagehysterie angesteckt worden, schlichen umher und wisperten, alle anderen seien Spione der Kommunisten oder der Trotzkisten oder der Anarchisten oder sonst irgendeiner Partei. Der fette russische Agent dagegen knöpfte sich nacheinander jeden ausländischen Flüchtling vor und erklärte ihm überzeugend, die ganze Geschichte sei eine anarchistische Verschwörung. Ich beobachtete ihn mit einigem Interesse, denn ich sah zum ersten Mal einen Menschen, dessen Beruf es war, Lügen zu erzählen - es sei denn, man zählt die Journalisten mit. Die Parodie auf das feine Hotelleben, die immer noch hinter heruntergelassenen Jalousien mitten im Rattern des Gewehrfeuers weiterging, hatte etwas Abstoßendes an sich. Man hatte den Speisesaal an der Straßenseite verlassen, nachdem eine Kugel durch das Fenster geschlagen war und eine Säule angekratzt hatte. Die Gäste drängten sich jetzt in einem dunklen Raum nach rückwärts zusammen, wo es nie genug Tische für alle gab. Die Zahl der Kellner hatte sich verringert. Einige von ihnen waren Mitglieder der C.N.T. und hatten sich dem Generalstreik angeschlossen. Sie hatten sofort ihre Frackhemden abgelegt, aber die Mahlzeiten wurden immer noch unter der Vorspiegelung eines gewissen Zeremoniells serviert. Praktisch gab es jedoch nichts zu essen. An diesem Donnerstag abend bestand der Hauptgang des Diners aus einer Sardine für jeden Gast. Tagelang hatte es im Hotel schon kein Brot mehr gegeben, und selbst der Wein wurde so knapp, dass wir immer älteren Wein zu immer höherem Preis tranken. Noch einige Tage, nachdem die Kämpfe vorbei waren, dauerte der Lebensmittelmangel an. Ich erinnere mich, dass meine Frau und ich drei Tage lang zum Frühstück nur ein kleines Stückchen Ziegenmilchkäse ohne Brot und nichts zu trinken bekamen. Nur Orangen gab es in Hülle und Fülle. Die französischen Lastwagenfahrer brachten große Mengen ihrer Orangen in das Hotel. Sie waren eine raue Bande, bei ihnen waren einige auffällige spanische Mädchen und ein riesiger Lastenträger in einer schwarzen Bluse. Zu jeder anderen Zeit hätte der ziemlich snobistische Hoteldirektor sein Bestes getan, sie zu schneiden, ja er hätte sich geweigert, sie überhaupt in das Hotel zu lassen. Aber jetzt waren sie beliebt, denn sie hatten im Gegensatz zu den übrigen von uns einen privaten Vorrat Brot, und jeder versuchte, ihnen etwas abzubetteln.
Ich verbrachte jene letzte Nacht auf dem Dach, und am nächsten Tag sah es tatsächlich so aus, als kämen die Kämpfe zu einem Ende. Ich glaube nicht, dass an jenem Tag, es war Freitag, viel geschossen wurde. Niemand schien genau zu wissen, ob die Truppen aus Valencia wirklich kämen. Tatsächlich kamen sie am gleichen Abend an. Die Regierung verbreitete teils beruhigende, teils drohende Botschaften über den Rundfunk und forderte jeden auf, nach Hause zu gehen. Sie erklärte, dass diejenigen, die man nach einer gewissen Zeit noch mit Waffen antreffe, verhaftet würden. Man schenkte den Verlautbarungen der Regierung wenig Aufmerksamkeit, aber überall entfernten sich die Leute von den Barrikaden. Ich habe keinen Zweifel, dass hauptsächlich die Lebensmittelknappheit dafür verantwortlich war. Von allen Seiten hörte man die gleiche Bemerkung: »Wir haben kein Essen mehr, wir müssen an die Arbeit zurück.« Andererseits konnten die Zivilgardisten, da sie damit rechnen konnten, ihre Rationen zu erhalten, solange es noch Lebensmittel in der Stadt gab, auf ihrem Posten bleiben. Am Nachmittag waren die Straßen fast schon normal, obwohl die verlassenen Barrikaden noch standen. Die Rambla war gedrängt voll von Menschen, nahezu alle Geschäfte hatten geöffnet, und das beruhigendste von allem war, dass die Straßenbahnen, die so lange wie eingefroren gestanden hatten, anruckten und wieder fuhren. Die Zivilgardisten hielten immer noch das Cafe >Moka< besetzt und hatten ihre Barrikaden noch nicht abgerissen. Aber einige von ihnen brachten Stühle heraus und saßen mit den Gewehren über den Knien auf dem Bürgersteig. Ich winkte einem zu, als ich vorbeiging, aber er schenkte mir nur ein unfreundliches Grinsen; natürlich erkannte er mich. Die anarchistische Flagge war auf dem Telefonamt niedergeholt worden, und nun flatterte dort nur die katalonische Flagge. Das hieß also, man hatte die Arbeiter endgültig überwältigt. Ich erkannte wegen meiner politischen Unwissenheit vielleicht nicht so klar, wie ich sollte, dass die Regierung in dem Augenblick, da sie sich sicherer fühlte, Vergeltungsmaßnahmen ergreifen würde. Aber damals interessierte ich mich für diese Seite der Geschichte noch nicht. Ich empfand nur tiefe Erleichterung darüber, dass das teuflische Getöse der Schießerei vorbei war, dass man einige Lebensmittel kaufen und sich vor der Rückkehr zur Front ein wenig Ruhe und Frieden gönnen konnte.
Es muss spät an jenem Abend gewesen sein, als die Truppen aus Valencia zum ersten Male auf der Straße erschienen. Es waren Sturmgardisten, eine weitere Truppe ähnlich den Zivilgardisten und den Carabineros (also eine Einheit, die hauptsächlich für Polizeidienste vorgesehen war). Außerdem waren sie die Elitetruppe der Republik. Sie schienen ganz plötzlich aus dem Boden zu schießen. Man sah sie überall zu Zehnergruppen durch die Straßen patrouillieren, große Männer in grauen oder blauen Uniformen, mit langen Gewehren über den Schultern und einer Maschinenpistole in jeder Gruppe. Unterdessen mussten wir noch eine heikle Aufgabe erledigen. Die sechs Gewehre, die wir bei der Wache in den Observatoriumstürmen benutzt hatten, lagen immer noch dort, und auf Biegen oder Brechen mussten wir sie in das P.O.U.M.-Gebäude zurücktransportieren. Die Frage war nur, wie man sie über die Straße bringen konnte. Sie gehörten zur regulären Ausrüstung des Gebäudes, aber es wäre gegen die Anordnung der Regierung gewesen, sie auf die Straße zu bringen. Hätte man uns mit den Waffen in der Hand erwischt, wären wir sicherlich verhaftet worden, und, schlimmer noch, man hätte die Gewehre beschlagnahmt. Wir konnten es uns nicht leisten, von nur einundzwanzig Gewehren im Haus sechs zu verlieren. Nach einer langen Diskussion über die beste Methode begannen ein rothaariger spanischer Bursche und ich selbst, sie hinauszuschmuggeln. Es war recht leicht, den Patrouillen der Sturmgardisten zu entgehen. Die Gefahr drohte von den Zivilgardisten im >Moka<, die alle wussten, dass wir Gewehre im Observatorium hatten und uns hätten verraten können, wenn sie gesehen hätten, wie wir sie hinübertrugen. Wir beide entkleideten uns zunächst halbwegs und schnallten uns den Gewehrriemen über die linke Schulter, hielten den Kolben unter der Armhöhle und den Lauf in das Hosenbein hinunter. Unglücklicherweise waren es lange Mausergewehre. Selbst ein langer Mann wie ich kann ein langes Mausergewehr im Hosenbein nicht ganz ohne Unbequemlichkeit tragen. Es war eine unausstehliche Arbeit, mit einem vollständig steifen linken Bein die Wendeltreppe des Observatoriums hinunterzusteigen. Als wir erst in der Straße waren, erkannten wir, dass die einzige Möglichkeit, sich fortzubewegen, darin bestand, äußerst langsam zu gehen, so langsam, dass man das Knie nicht zu bewegen brauchte. Vor dem Kino sah ich eine Menschengruppe, die mir mit großem Interesse nachstarrte, als ich mit der Geschwindigkeit einer Schildkröte an ihnen vorbeikroch. Ich habe mich oft gefragt, was sie wohl gedacht haben, dass mit mir los sei. Vielleicht, dass ich im Krieg verwundet worden wäre. Aber auf jeden Fall schmuggelten wir die Gewehre ohne einen Zwischenfall hinüber.
Am nächsten Tag waren die Sturmgardisten überall. Sie schlenderten wie Eroberer die Straßen entlang. Ohne Zweifel demonstrierte die Regierung einfach ihre Macht, um die Bevölkerung einzuschüchtern, von der man schon wusste, dass sie keinen Widerstand mehr leisten würde. Hätte man wirklich weitere Feindseligkeiten erwartet, wären die Sturmgardisten sicherlich in den Kasernen zurückgehalten und nicht in kleinen Gruppen in der Stadt zerstreut worden. Es waren ausgezeichnete Truppen, bei weitem die besten, die ich in Spanien gesehen habe. Obwohl sie vermutlich in einem gewissen Sinne der >Feind< waren, konnte ich mir nicht helfen, sie ein wenig zu bewundern. Aber ich betrachtete sie bei ihren Spaziergängen mit einer gewissen Verblüffung. Ich war an die zerlumpte, kaum bewaffnete Miliz der aragonischen Front gewöhnt und wusste nicht, dass die Republik über solche Truppen verfügte. Sie waren nicht nur besonders kräftige, ausgesuchte Leute, am meisten staunte ich über ihre Waffen. Alle waren mit nagelneuen Gewehren bewaffnet, mit einem Typ, den man »das russische Gewehr« nannte (diese Gewehre wurden von der UdSSR nach Spanien geschickt; ich glaube aber, sie wurden in Amerika hergestellt). Ich untersuchte eins, sicherlich war es kein perfektes Gewehr, aber sehr viel besser als die fürchterlichen, alten Donnerbüchsen, die wir an der Front hatten. Die Sturmgardisten waren mit je einer Maschinenpistole und einer Selbstladepistole auf je zehn Mann ausgerüstet. An der Front hatten wir höchstens ein Maschinengewehr für fünfzig Mann, Pistolen und Revolver konnten wir uns nur auf illegale Weise beschaffen. Tatsächlich war das in allen Einheiten das gleiche, obwohl ich es bis jetzt nicht bemerkt hatte. Die Zivilgardisten und die Carabineros, die überhaupt nicht an die Front sollten, waren besser bewaffnet und viel besser eingekleidet als wir selbst. Ich argwöhne, das ist in allen Kriegen so - immer der gleiche Kontrast zwischen der feinen Polizei in der Etappe und den zerlumpten Soldaten an der Front. Aufs Ganze gesehen, kamen die Sturmgardisten nach den ersten ein oder zwei Tagen sehr gut mit der Bevölkerung aus. Am ersten Tag gab es einen gewissen Ärger, weil einige der Sturmgardisten sich, vermutlich auf Befehl, sehr herausfordernd benahmen. Sie stiegen truppweise in die Straßenbahnen, durchsuchten die Passagiere, und wenn sie eine Mitgliedskarte der C.N.T. in ihren Taschen hatten, wurde sie zerrissen und darauf herumgetreten. Das führte zu Handgreiflichkeiten mit bewaffneten Anarchisten, und ein oder zwei Leute wurden getötet. Sehr bald aber gaben die Sturmgardisten ihre Erobererhaltung auf, und die Beziehungen wurden freundlicher. Es war beachtlich, dass die meisten von ihnen schon nach ein oder zwei Tagen ein Mädchen hatten.
Die Kämpfe in Barcelona gaben der Regierung in Valencia den lang gesuchten Vorwand, sich eine stärkere Kontrolle über Katalonien anzumaßen. Die Miliz der Arbeiter sollte zerbrochen und unter die Einheiten der Volksarmee aufgeteilt werden. Überall in Barcelona flatterte die republikanische Fahne. Hier sah ich sie vermutlich zum ersten Mal nicht über einem faschistischen Schützengraben. In den Stadtvierteln der Arbeiterklasse wurden die Barrikaden niedergerissen, allerdings nur Stück für Stück, denn es ist einfacher, eine Barrikade zu bauen, als die Steine wieder zurückzubringen. Man ließ zu, dass die Barrikaden vor den P.S.U.C.-Gebäuden stehen blieben, und tatsächlich standen einige sogar noch im Juni. Die Zivilgarde hielt die strategischen Punkte noch besetzt. In den Widerstandsnestern der C.N.T. wurden umfangreiche Waffenmengen erbeutet, obwohl ich keinen Zweifel daran habe, dass viele Waffen fortgeschmuggelt wurden. La Batalla erschien noch, aber sie wurde zensiert, bis die Titelseite fast leer war. Die P.S.U.C.-Zeitun-gen wurden nicht zensiert und veröffentlichten aufreizende Artikel, worin die Unterdrückung der P.O.U.M. gefordert wurde. Man erklärte, die P.O.U.M. sei eine getarnte faschistische Organisation, und Agenten der P.S.U.C. verteilten in der ganzen Stadt eine Karikatur, auf der die P.O.U.M. als ein Mann dargestellt wurde, der seine mit Hammer und Sichel gezeichnete Maske abnimmt und darunter ein hässliches, wahnsinniges, mit einem Hakenkreuz entstelltes Gesicht enthüllt. Offensichtlich hatte man sich auf die offizielle Version der Kämpfe in Barcelona schon geeinigt: sie sollten als der Aufstand der faschistischen >Fünften Kolonne< dargestellt werden, der nur von der P.O.U.M. bewerkstelligt worden war.
Nachdem die Kämpfe vorbei waren, hatte sich im Hotel die abscheuliche Atmosphäre des Misstrauens und der Feindseligkeit noch verschlimmert. Es war unmöglich, angesichts der Anschuldigungen, die man sich gegenseitig vorwarf, neutral zu bleiben. Die Post arbeitete wieder, und die ersten ausländischen kommunistischen Zeitungen kamen an. Ihre Berichte über die Kämpfe nahmen nicht nur ungestüm Partei, sondern waren in der Wiedergabe der Tatsachen selbstverständlich äußerst ungenau. Ich glaube, dass einige Kommunisten, die hier gesehen hatten, was sich tatsächlich ereignete, durch die Auslegung der Ereignisse erschreckt wurden, aber sie mussten natürlich zu ihrer eigenen Sache stehen. Unser kommunistischer Freund näherte sich noch einmal und fragte mich, ob ich nicht zur Internationalen Brigade überwechseln wolle.
Ich war ziemlich überrascht. »Ihre Zeitungen erklären, ich sei ein Faschist«, sagte ich. »Sicherlich sollte ich politisch verdächtig sein, wenn ich von der P.O.U.M. komme.«
»Oh, das macht nichts. Schließlich haben Sie ja nur auf Befehl gehandelt.«
Ich musste ihm sagen, dass ich mich nach diesem Vorfall nicht mehr einer kommunistisch kontrollierten Einheit anschließen könne. Denn früher oder später könne es bedeuten, dass ich gegen die spanische Arbeiterklasse eingesetzt würde. Es ließe sich nicht sagen, wann eine ähnliche Geschichte wieder ausbrechen würde. Wenn ich aber mein Gewehr in einer derartigen Auseinandersetzung überhaupt benutzen müsse, wollte ich es auf der Seite der Arbeiterklasse und nicht gegen sie tun. Er war sehr anständig in der Angelegenheit. Aber von jetzt an hatte sich die ganze Atmosphäre geändert. Man konnte nicht wie früher »übereinstimmen, dass man anderer Meinung war« und ein Glas Wein mit einem Mann trinken, der angeblich ein politischer Gegner war. In der Hotelhalle gab es einige hässliche Streitereien. Die Gefängnisse waren inzwischen schon voll und quollen über. Nachdem die Kämpfe vorbei waren, hatten die Anarchisten natürlich ihre Gefangenen entlassen. Die Zivilgardisten jedoch hatten ihre Gefangenen nicht entlassen, die meisten wurden ins Gefängnis geworfen und dort ohne Verhandlung festgehalten, in manchen Fällen sogar monatelang. Wie gewöhnlich wurden auf Grund der Ungeschicklichkeit der Polizei völlig unschuldige Menschen verhaftet. Ich habe vorher erwähnt, dass Douglas Thompson etwa Anfang April verwundet wurde. Später hatten wir die Verbindung mit ihm verloren, wie es normalerweise geht, wenn ein Mann verwundet wird, denn die Verwundeten werden häufig von einem Krankenhaus zum anderen gebracht. Tatsächlich war er, gerade als die Kämpfe begannen, in einem Hospital in Tarragona und wurde nach Barcelona zurückgeschickt. Als ich ihn am Dienstag morgen auf der Straße traf, war er von der Schießerei, die ringsum im Gange war, beträchtlich verwirrt. Er fragte mich, was jeder wissen wollte:
»Zum Teufel, worum geht es hier eigentlich?«
Ich erklärte es ihm, so gut ich konnte. Thompson erwiderte prompt:
»Ich werde mich da 'raushalten. Mein Arm ist immer noch nicht in Ordnung. Ich werde zu meinem Hotel zurückgehen und dort bleiben.«
Er ging in sein Hotel zurück, aber unglücklicherweise lag es in einem Stadtteil, der von den Zivilgardisten kontrolliert wurde (wie wichtig ist es bei Straßenkämpfen, die örtlichen Verhältnisse zu kennen!). Man machte dort eine Razzia, Thompson wurde verhaftet, ins Gefängnis geworfen und acht Tage lang in einer Zelle festgehalten, die so mit Menschen voll gestopft war, dass niemand Platz hatte, sich hinzulegen. Es gab viele ähnliche Fälle. Zahlreiche Ausländer, die eine undurchsichtige politische Vergangenheit hatten, waren auf der Flucht. Die Polizei war hinter ihnen her, und sie lebten in ständiger Furcht vor einer Denunziation. Am schlimmsten war es für die Italiener und Deutschen, die keine Pässe hatten und die meistens von der Geheimpolizei ihrer eigenen Länder gesucht wurden. Falls sie verhaftet wurden, konnte es ihnen passieren, dass man sie nach Frankreich abschob. Das hieß aber, man würde sie nach Italien oder Deutschland zurückschicken, wo Gott weiß welche Gräuel auf sie warteten. Ein oder zwei ausländische Frauen sicherten ihre Lage schleunigst ab, indem sie einen Spanier >heirateten<. Ein deutsches Mädchen, das überhaupt keine Papiere hatte, entkam der Polizei, indem es einige Tage lang die Mätresse eines Mannes spielte. Ich erinnere mich noch an den Ausdruck der Scham und der Verzweiflung auf dem Gesicht des armen Mädchens, als ich ihm zufällig über den Weg lief, während es aus dem Schlafzimmer des Mannes kam. Natürlich war sie nicht seine Mätresse, aber zweifellos dachte sie, ich glaubte es. Man hatte dauernd das hässliche Gefühl, dass ein bisheriger Freund einen jetzt bei der Geheimpolizei verraten könne. Der lange Alptraum der Kämpfe, der Lärm, der Mangel an Nahrung und Schlaf, die Mischung aus Anstrengung und Langeweile beim Wacheschieben auf dem Dach und die Ungewissheit, ob ich in der nächsten Minute selbst erschossen würde oder gezwungen sein würde, jemand anders zu erschießen, hatten meine Nerven auf das äußerste angespannt. Ich hatte den Punkt erreicht, wo ich jedes Mal nach meiner Pistole griff, wenn eine Tür knallte. Am Samstagmorgen ging draußen eine Knallerei los, und jedermann schrie: »Es geht wieder los!« Ich rannte auf die Straße und sah, dass einige Sturmgardisten nur einen verrückten Hund erschossen hatten. Niemand, der damals oder ein paar Monate später in Barcelona war, wird die abscheuliche Atmosphäre vergessen, die das Ergebnis der Furcht, des Misstrauens und des Hasses war, der zensierten Zeitungen, der überfüllten Gefängnisse, der riesigen Schlangen der nach Lebensmitteln anstehenden Leute und der herumstreifenden bewaffneten Burschen.
Ich habe versucht, einen Eindruck davon zu geben, wie man sich in der Mitte der Kämpfe in Barcelona fühlte. Aber ich glaube nicht, dass es mir gelungen ist, etwas von der Eigenartigkeit jener Zeit zu vermitteln. Wenn ich zurückschaue, erinnere ich mich beispielsweise an die zufälligen Begegnungen, die man damals hatte, die plötzlichen Blicke der Nichtkämpfer, für die die ganze Geschichte einfach ein sinnloser Aufstand war. Ich erinnere mich an die elegant gekleidete Frau, die ich mit einem Einkaufskorb am Arm und einem weißen Pudel an der Leine die Rambla hinunterspazieren sah, während ein oder zwei Straßen weiter die Gewehre krachten und knallten. Es ist denkbar, dass sie taub war. Oder der Mann, den ich über die vollständig leere Plaza de Cataluna laufen sah, wobei er in jeder Hand ein weißes Taschentuch schwenkte. Oder die große Gesellschaft schwarzgekleideter Leute, die eine Stunde lang versuchten, die Plaza de Cataluna zu überqueren, und denen es nicht gelang. Jedes Mal, wenn sie aus der Seitenstraße an der Ecke auftauchten, eröffneten die Maschinengewehrschützen der P.S.U.C. im Hotel >Colon< das Feuer und trieben sie zurück. Ich weiß nicht warum, denn sie waren offensichtlich nicht bewaffnet. Ich habe mir später gedacht, dass es vielleicht eine Beerdigung war. Oder der kleine Kerl, der Hausmeister des Museums über dem >Poliorama<, der die ganze Geschichte wie ein geselliges Ereignis zu betrachten schien. Er freute sich so, dass die Engländer ihn besuchten, er sagte, die Engländer seien so simpdtico. Er hoffte, dass wir, wenn die Unruhen vorbei wären, alle wiederkämen und ihn besuchten. Und tatsächlich ging ich wieder hin und besuchte ihn. Oder der andere kleine Mann, der im Torweg Schutz suchte, seinen Kopf vergnügt in Richtung des höllischen Gewehrfeuers auf der Plaza de Cataluna schwenkte und sagte (als ob er sich über den schönen Morgen unterhalte): »So haben wir also den neunzehnten Juni wieder zurück!« Oder die Leute in dem Schuhgeschäft, die meine Marschstiefel herstellten. Ich ging vor den Kämpfen dorthin, dann nachdem sie vorbei waren und am 5. Mai für ein paar Minuten während des kurzen Waffenstillstandes. Es war ein teures Geschäft, und die Angestellten gehörten der U.G.T. an und waren vermutlich Mitglieder der P.S.U.C. Jedenfalls waren sie politisch auf der anderen Seite, und sie wussten, dass ich in der P.O.U.M. diente. Aber sie verhielten sich vollständig neutral. »Ein wahrer Jammer diese Geschichte, nicht wahr? Und so schlecht für das Geschäft. Was für ein Jammer, dass es nicht aufhört! Als ob es nicht an der Front schon genug von diesen Geschichten gäbe!« und so weiter, und so weiter. Es muss eine Menge Leute in Barcelona gegeben haben, vielleicht war es sogar die Mehrzahl der Einwohner, die die ganze Angelegenheit ohne einen Funken Interesse betrachteten oder mit nicht mehr Interesse als einen Luftangriff.
In diesem Kapitel habe ich nur meine persönlichen Erlebnisse beschrieben. Im nächsten muss ich, so gut ich kann, die eigentlichen Streitfragen beschreiben - was sich wirklich ereignete und mit welchen Ergebnissen, wer recht oder unrecht hatte und wer, wenn überhaupt, verantwortlich war. Es ist so viel politisches Kapital aus den Kämpfen in Barcelona geschlagen worden, dass es wichtig ist, den Versuch zu machen, eine abgewogene Meinung zu gewinnen. Sehr viel ist schon über das Thema geschrieben worden, genug, um viele Bücher zu füllen. Ich nehme an, dass ich nicht übertreibe, wenn ich sage, dass neun Zehntel davon nicht wahr sind. Fast alle Zeitungsberichte, die man damals veröffentlichte, wurden fern vom Geschehen von Journalisten fabriziert. Sie waren nicht nur im Hinblick auf die Tatsachen ungenau, sondern absichtlich falsch. Wie gewöhnlich ließ man nur eine Seite der Frage in eine breitere Öffentlichkeit gelangen. Ich selbst sah, wie jeder, der damals in Barcelona war, nur das, was sich in meiner unmittelbaren Nachbarschaft ereignete. Aber ich sah und hörte genug, um in der Lage zu sein, vielen der in Umlauf gesetzten Lügen zu widersprechen. Wer nicht an politischen Kontroversen und dem Durcheinander der Parteien und Zweigparteien mit ihren verwirrenden Namen (ähnlich wie die Namen der Generäle im chinesischen Krieg) interessiert ist, sollte, wie weiter oben, die nächsten Seiten überschlagen. Es ist eine scheußliche Sache, sich mit Details innerparteilicher Auseinandersetzungen zu befassen, es ist so, als ob man in eine Senkgrube tauche. Aber es ist notwendig, den Versuch zu unternehmen, die Wahrheit soweit wie möglich festzustellen. Dieser schmutzige Streit in einer weit entfernten Stadt ist wichtiger, als es im ersten Augenblick erscheinen mag.

 

Elftes Kapitel

Es wird niemals möglich sein, eine vollständig genaue und unvoreingenommene Darstellung der Kämpfe in Barcelona zu erhalten, da die notwendigen Unterlagen nicht vorhanden sind. Zukünftige Historiker werden nichts außer einer Menge Anschuldigungen und Parteipropaganda haben, wonach sie sich richten können. Ich selbst habe zusätzlich zu dem, was ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe oder was ich von Augenzeugen erfuhr, wenig Unterlagen, die ich für glaubwürdig halte. Ich kann jedoch einige der besonders schamlosen Lügen widerlegen und dazu beitragen, die Ereignisse in das richtige Licht zu rücken.
Zunächst also, was geschah wirklich?
Schon seit einiger Zeit war es zu Spannungen in ganz Katalonien gekommen. In den vorangegangenen Kapiteln dieses Buches habe ich über die Auseinandersetzung zwischen Kommunisten und Anarchisten berichtet. Im Mai 1937 hatten die Dinge einen Punkt erreicht, an dem man einen heftigen Ausbruch als unvermeidlich ansehen musste. Der unmittelbare Anlass für die Reiberei war ein Befehl der Regierung, alle verborgenen Waffen abzuliefern. Dieser Befehl erfolgte gleichzeitig mit der Entscheidung, eine schwer bewaffnete >unpolitische< Polizeimacht aufzubauen, von der die Gewerkschaftsmitglieder ausgeschlossen werden sollten. Die Bedeutung dieser Anordnung war jedem klar. Es war ebenso einleuchtend, dass der nächste Schritt darin bestehen werde, einige von der C.N.T. kontrollierte Schlüsselindustrien zu übernehmen. Außerdem herrschte unter der Arbeiterklasse ein gewisser Verdruss über den wachsenden Gegensatz zwischen Wohlstand und Armut sowie das allgemeine, unbestimmte Gefühl, die Revolution sei sabotiert worden. Viele Leute waren angenehm überrascht, als es am 1. Mai keine Ausschreitungen gab. Am 3. Mai entschloss sich die Regierung, das Telefonamt zu übernehmen, das seit Kriegsbeginn hauptsächlich von Arbeitern der C.N.T. in Betrieb gehalten worden war. Man behauptete, es werde schlecht geleitet und amtliche Gespräche würden abgehört. Der Polizeichef Salas, der vielleicht seine Anweisungen überschritt, vielleicht aber auch nicht, entsandte drei Lastwagen mit bewaffneten Zivilgardisten, um das Gebäude zu besetzen, während die Straßen draußen von bewaffneter Polizei in Zivil gesäubert wurden. Zur gleichen Zeit etwa besetzten Trupps der Zivilgarde verschiedene andere Gebäude an strategischen Stellen. Was auch die wirklichen Absichten gewesen sein mögen, man glaubte allgemein, dies sei das Signal für einen Generalangriff der Zivilgardisten und der P.S.U.C. (Kommunisten und Sozialisten) auf die C.N.T. In der Stadt verbreitete sich in Windeseile die Nachricht, dass man die Gebäude der Arbeiter angreife. Bewaffnete Anarchisten erschienen in den Straßen, die Arbeit wurde niedergelegt, und sofort brachen Kämpfe aus. In der Nacht und am nächsten Morgen wurden in der ganzen Stadt Barrikaden errichtet, und die Kämpfe gingen ununterbrochen bis zum Morgen des 6. Mai weiter. Auf beiden Seiten waren die Kämpfe aber hauptsächlich defensiv. Die Gebäude wurden zwar belagert, aber, soviel ich weiß, nicht gestürmt, und man setzte keine Artillerie ein. Grob gesprochen hielten die Streitkräfte der C.N.T.-F.A.I. und P.O.U.M. die Vorstädte der Arbeiterklasse und die bewaffneten Polizeikräfte sowie die P.S.U.C. die zentralgelegenen Teile der Stadt und die Regierungsviertel. Am 6. Mai kam es zu einem Waffenstillstand, aber die Kämpfe brachen bald wieder aus, wahrscheinlich wegen der voreiligen Versuche der Zivilgardisten, die Arbeiter der C.N.T. ZU entwaffnen. Am nächsten Morgen aber verließen die Leute aus eigenem Antrieb die Barrikaden. Ungefähr bis zur Nacht des 5. Mai behielt die C.N.T. die Oberhand, und eine große Zahl Zivilgardisten hatte sich ergeben. Aber es gab keine allgemein anerkannte Führung und keinen festen Plan; ja, soweit man urteilen konnte, überhaupt keinen Plan außer der vagen Entschlossenheit, sich den Zivilgardisten zu widersetzen. Die Parteiführer der C.N.T. beschworen gemeinsam mit der Spitze der U.G.T. die Bevölkerung, an die Arbeit zurückzugehen; vor allem wurden die Lebensmittel knapp. Unter diesen Umständen war niemand von der Wichtigkeit der Streitpunkte genügend überzeugt, um weiterzukämpfen. Am Nachmittag des 7. Mai waren die Verhältnisse fast normal. An diesem Abend trafen sechstausend Sturmgardisten ein, die man von Valencia über das Meer geschickt hatte, und übernahmen die Kontrolle der Stadt. Die Regierung erließ den Befehl, alle Waffen abzuliefern, die sich nicht im Besitz der regulären Streitkräfte befanden, und während der nächsten Tage wurden große Waffenmengen beschlagnahmt. Offiziell wurden die Verluste während der Kämpfe mit vierhundert Toten und etwa tausend Verwundeten angegeben. Vierhundert Tote sind wahrscheinlich übertrieben, aber da es keine Möglichkeit gibt, die Wahrheit zu überprüfen, muss man diese Angabe als richtig hinnehmen.
Zweitens nun, was waren die Folgen der Kämpfe? Offensichtlich ist es unmöglich, mit einiger Sicherheit zu sagen, wozu sie führten. Es gibt keinen Beweis dafür, dass der Ausbruch der Unruhen irgendeinen direkten Einfluss auf den Verlauf des Krieges hatte, obwohl das der Fall gewesen wäre, wenn die Kämpfe noch länger gedauert hätten. Die Unruhen dienten als Entschuldigung, Katalonien unter die direkte Kontrolle Valencias zu bringen, die Auflösung der Milizeinheiten voranzutreiben, die P.O.U.M. ZU unterdrücken, und ohne Zweifel hatten sie auch einen Einfluss auf den Sturz der Regierung Caballero. Aber wir können mit Sicherheit annehmen, dass diese Dinge auf jeden Fall geschehen wären. Die eigentliche Frage lautet, ob die Arbeiter der C.N.T., als sie auf die Straße gingen, durch ihre Bereitschaft, aus diesem Anlass zu kämpfen, etwas gewannen oder verloren. Nach meiner Meinung, einer reinen Mutmaßung, gewannen sie mehr, als sie verloren. Die Besetzung des Telefonamtes von Barcelona war nicht mehr als ein Zwischenfall in einer langen Kette von Ereignissen. Seit dem vorangegangenen Jahr hatte man die direkte Macht allmählich den Händen der Syndikate entrungen. Die allgemeine Tendenz lief nicht mehr auf eine Kontrolle durch die Arbeiterklasse hinaus, sondern zielte auf die Verwirklichung einer zentralisierten Kontrolle. Das musste zum Staatskapitalismus oder möglicherweise zur Wiedereinführung des privaten Kapitalismus führen. Wahrscheinlich wurde diese Entwicklung durch den damaligen Widerstand verlangsamt. Ein Jahr nach Kriegsausbruch hatten die katalanischen Arbeiter viel von ihrer Macht verloren, aber vergleichsweise war ihre Stellung immer noch vorteilhaft. Sie wäre wahrscheinlich viel ungünstiger gewesen, hätten sie klar zu erkennen gegeben, dass sie sich auch gegenüber der größten Herausforderung ruhig verhalten würden. Es gibt Gelegenheiten, bei denen es sich besser bezahlt macht, zu kämpfen und geschlagen zu werden, als überhaupt nicht zu kämpfen.
Drittens aber, welche Absicht lag dem Ausbruch der Unruhen zugrunde, gab es überhaupt eine? War es ein coup d'Etat oder der Versuch einer Revolution? Zielte er tatsächlich auf den Sturz der Regierung? Hatte man vorher überhaupt irgendwelche Absprachen getroffen?
Nach meiner Meinung waren die Kämpfe nur insoweit vorher abgesprochen, als jeder sie erwartete. Es gab auf keiner Seite irgendein Zeichen eines sehr bestimmten Planes. Auf Seiten der Anarchisten war der Aufstand ziemlich sicher spontan, denn er entsprang hauptsächlich der Initiative der einfachen Mitglieder. Die Leute gingen auf die Straße, und ihre politischen Führer folgten ihnen zögernd, oder sie folgten ihnen überhaupt nicht. Die einzigen Leute, die sich zumindest in ihren Reden eines revolutionären Tones bedienten, waren die >Freunde Durrutis<, eine kleine extreme Gruppe innerhalb der F.A.I. und der P.O.U.M. Aber auch sie folgten den Ereignissen und führten sie nicht an. Die >Freunde Durrutis< verteilten ein revolutionäres Flugblatt, aber es kam nicht vor dem 5. Mai heraus. Man kann also nicht sagen, dass die Kämpfe dadurch ausgelöst wurden, die schon zwei Tage vorher von selbst angefangen hatten. Die Parteiführer der C.N.T. weigerten sich von Anfang an, den Aufruhr als ihre eigene Sache anzuerkennen. Dafür gab es viele Gründe. Zunächst einmal war es sicher, dass die Anführer der C.N.T. konservativer waren als ihre Gefolgsleute, weil die C.N.T. immer noch in der Regierung und der Generalidad vertreten war. Zweitens war es das Hauptziel der Anführer der C.N.T., ein Bündnis mit der U.G.T. ZU schließen. Die Kämpfe aber mussten die Spaltung zwischen der C.N.T. und der U.G.T. erweitern, zumindest in diesem Augenblick. Drittens fürchteten die anarchistischen Führer - obwohl das damals nicht allgemein bekannt war —, dass eine ausländische Intervention erfolgen könne, falls die Dinge über einen gewissen Punkt hinausgingen, wenn also etwa die Arbeiter die Macht in der Stadt an sich rissen, wie sie es vielleicht am 5. Mai hätten tun können. Ein britischer Kreuzer und zwei britische Zerstörer hatten sich vor den Hafen gelegt, und ohne Zweifel waren andere Kriegsschiffe nicht weit entfernt. Die englischen Zeitungen meldeten, diese Schiffe seien nach Barcelona gekommen, um »britische Interessen zu schützen«. In Wirklichkeit aber unternahmen sie nichts für diesen Zweck, das heißt, sie landeten keine Soldaten und nahmen keine Flüchtlinge auf. Es ist nicht sicher, aber mindestens sehr gut möglich, dass die britische Regierung, die keinen Finger gerührt hatte, um die spanische Regierung vor Franco zu retten, sehr schnell eingegriffen haben würde, um sie vor ihrer eigenen Arbeiterklasse zu retten. Die Anführer der P.O.U.M. taten nichts, um den Aufruhr zu verleugnen, sie ermutigten in der Tat ihre Gefolgsleute, auf den Barrikaden zu bleiben, und gaben in La Batalla vom 6. Mai sogar ihre Zustimmung zu dem extremen Flugblatt, das die >Freunde Durrutis< veröffentlicht hatten. (Es besteht große Ungewissheit über die Existenz dieses Flugblattes, und niemand scheint in der Lage zu sein, ein Exemplar zur Verfügung zu stellen.) In einigen ausländischen Zeitungen wurde es als ein »aufrührerisches Plakat« beschrieben, das man in der ganzen Stadt angeklebt habe. Ein derartiges Plakat gab es mit Sicherheit nicht. Wenn ich die verschiedenen Berichte vergleiche, möchte ich sagen, dass das Flugblatt die folgenden Forderungen stellte: 1. die Bildung eines Revolutionsrates (Junta); 2. die Erschießung aller derjenigen, die für den Angriff auf das Telefonamt verantwortlich waren; 3. die Entwaffnung der Zivilgardisten.
Es ist weiterhin ungewiss, wieweit La Batalla eine Übereinstimmung mit dem Flugblatt ausdrückte. Ich selbst habe weder das Flugblatt noch La Batalla von jenem Datum gesehen. Der einzige Handzettel, den ich während der Kämpfe sah, wurde am 4. Mai von einer Splittergruppe der Trotzkisten (>Bolschewistische Leninisten<) herausgegeben. Darauf stand: »Jeder auf die Barrikaden - Generalstreik aller Industrien, außer der Kriegsindustrie.« (Es wurde mit anderen Worten nur verlangt, was gerade schon geschah.) In Wirklichkeit aber nahmen die Anführer der P.O.U.M. eine zögernde Haltung ein. Sie hatten sich nie für einen Aufstand ausgesprochen, bevor der Krieg gegen Franco gewonnen war. Andererseits waren die Arbeiter auf die Straße gegangen, und darum folgten die Anführer der P.O.U.M. der ziemlich pedantischen marxistischen Interpretation, dass es die Pflicht der revolutionären Parteien ist, mit den Arbeitern solidarisch zu sein, wenn sie auf die Straße gehen. Gleichzeitig taten sie aber ihr Bestes, trotz ihrer revolutionären Schlagworte vom »Wiedererwachen des Geistes vom 19. Juli« und ähnlicher, das Eingreifen der Arbeiter auf die Verteidigung zu beschränken. Sie befahlen beispielsweise niemals einen Angriff auf irgendein Gebäude. Sie befahlen ihren Mitgliedern nur, wachsam zu sein und, wie ich im vorhergehenden Kapitel erwähnte, wenn es sich vermeiden ließe, nicht zu schießen. La Batalla veröffentlichte auch Weisungen, dass keine Truppeneinheit die Front verlassen dürfe (Anm.: Eine der jüngsten Nummern des Inprecor behauptet genau das Gegenteil, nämlich La Batalla habe den P.O.U.M.-Truppen befohlen, die Front zu verlassen! Dieses Argument kann man leicht entkräften, wenn man La Batalla von jenem Datum nachschlägt.). Soweit man alles abschätzen kann, möchte ich sagen, die Verantwortung der P.O.U.M. habe darin bestanden, alle Arbeiter aufgefordert zu haben, auf den Barrikaden zu bleiben. Wahrscheinlich überredete sie auch eine gewisse Anzahl, länger dort zu bleiben, als sie es sonst getan hätten. Diejenigen, die damals in persönlichem Kontakt mit den Anführern der P.O.U.M. standen (ich selbst hatte ihn nicht), haben mir erzählt, dass sie in Wirklichkeit über die ganze Geschichte bestürzt waren. Aber sie hatten das Gefühl, sie müssten sich damit solidarisch erklären. Hinterher wurde natürlich in der gewohnten Art politisches Kapital daraus geschlagen. Gorkin, einer der Anführer der P.O.U.M., sprach später sogar von »den glorreichen Maitagen«. Aus Propagandagründen mag diese Haltung richtig gewesen sein. Gewiss stieg die Mitgliederzahl der P.O.U.M. während der kurzen Periode vor ihrer Unterdrückung etwas an. Taktisch aber war es wahrscheinlich ein Fehler, das Flugblatt der >Freunde Durrutis< auf diese Weise zu unterstützen, denn sie waren eine kleine, der P.O.U.M. normalerweise feindlich gesinnte Organisation.
In Anbetracht der allgemeinen Aufregung und der Dinge, die man auf beiden Seiten gesagt hatte, bedeutet das Flugblatt tatsächlich nicht mehr als: »Bleibt auf den Barrikaden.« Aber dadurch, dass sich die Anführer der P.O.U.M. den Anschein gaben, diesem zuzustimmen, während die anarchistische Zeitung Solidaridad Obrera es verwarf, machten sie es der kommunistischen Presse einfach, nachher zu sagen, die Kämpfe seien nur ein von der P.O.U.M. durchgeführter Aufstand gewesen. Wir können sicher sein, dass die kommunistische Presse das auf jeden Fall gesagt hätte. Diese Vorwürfe waren nichts im Vergleich zu den Anschuldigungen, die sowohl vorher wie auch hinterher mit geringeren Beweismitteln aufgestellt wurden. Auch die Anführer der C.N.T. gewannen durch ihre vorsichtigere Haltung nicht viel. Sie wurden für ihre Loyalität gelobt, aber man drängte sie, sobald sich die Möglichkeit dazu bot, sowohl aus der Regierung als auch aus der Generalidad hinaus.
Soweit man damals die Reden aller Leute beurteilen konnte, gab es nirgendwo eine wirklich revolutionäre Absicht. Die Leute hinter den Barrikaden waren normale Arbeiter der C.N.T., wahrscheinlich waren auch ein paar Arbeiter der U.G.T. dazwischen. Sie versuchten nicht, die Regierung zu stürzen, sondern sich nur dem zu widersetzen, was sie zu Recht oder Unrecht als einen Angriff der Polizei betrachteten. Ihr Kampf war hauptsächlich defensiv, und ich bezweifle, dass man ihn einen »Aufstand« nennen sollte, wie es fast in allen ausländischen Zeitungen geschah. Zu einem Aufstand gehören Angriffshandlungen und ein bestimmter Plan. Genauer gesagt, war es ein Aufruhr - ein sehr blutiger Aufruhr -, denn beide Seiten besaßen Gewehre und waren entschlossen, sie zu benutzen.
Aber welche Absichten hatte die Gegenseite? Wenn es schon kein anarchistischer coup d'Etat war, konnte es vielleicht ein kommunistischer coup d'Etat sein - ein wohlüberlegter Versuch, die Macht der C.N.T. mit einem Schlag zu zerschlagen.
Ich glaube nicht, dass es so war, obwohl gewisse Anzeichen diese Vermutung nahe legen können. Es ist bezeichnend, dass sich etwas sehr Ähnliches zwei Tage später in Tarragona ereignete (die Eroberung des Telefonamtes durch bewaffnete Polizei, die auf Befehl aus Barcelona handelte). Auch in Barcelona war der Überfall auf das Telefonamt keine isolierte Handlung. In verschiedenen Teilen der Stadt bemächtigten sich Trupps der Zivilgarde und P.S.U.C.-Anhänger der Gebäude an strategisch wichtigen Stellen. Sie machten das mit überraschender Schnelligkeit, wenn auch vielleicht nicht, bevor die Kämpfe überhaupt anfingen. Man muss sich vergegenwärtigen, dass sich diese Dinge in Spanien und nicht in England ereigneten. Barcelona ist eine Stadt mit einer langen Geschichte voller Straßenkämpfe. An solchen Orten ereignen sich die Dinge schnell, die Parteien sind schon vorbereitet, jeder kennt die örtlichen Gegebenheiten, und wenn die Kanonen zu schießen beginnen, nehmen die Menschen ihre Plätze fast wie bei einem Feueralarm ein. Vermutlich erwarteten die für die Besetzung des Telefonamtes Verantwortlichen die Unruhen - aber sicher nicht in dem Ausmaße, wie sie sich tatsächlich abspielten. Sie hatten Gegenmaßnahmen vorbereitet, aber daraus folgert nicht, dass sie einen allgemeinen Angriff auf die C.N.T. planten. Es gibt zwei Gründe für meine Vermutung, dass keine der Parteien irgendwelche Vorbereitungen für umfangreiche Kämpfe getroffen hatte:
1. Keine der Parteien hatte vorher Truppen nach Barcelona gebracht. Die Kämpfe fanden nur zwischen den Leuten statt, die schon in Barcelona waren, hauptsächlich Zivilisten und Polizei.
2. Lebensmittel wurden fast sofort knapp. Jeder, der in Spanien gedient hat, weiß, dass die einzige Kriegshandlung, welche die Spanier wirklich gut bewerkstelligen, die Versorgung ihrer Truppen mit Lebensmitteln ist. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass eine der Parteien ein- oder zweiwöchige Straßenkämpfe und zusätzlich einen Generalstreik geplant hätte, ohne vorher genügend Lebensmittel gelagert zu haben.
Schließlich noch die Frage nach Recht oder Unrecht.
In der ausländischen antifaschistischen Presse wurde viel Staub aufgewirbelt, aber wie üblich schenkte man nur einer Seite des Falles Gehör. So wurden die Kämpfe in Barcelona als ein Aufstand illoyaler Anarchisten und Trotzkisten dargestellt, die »der spanischen Regierung in den Rücken fielen« und so weiter. So einfach war die Streitfrage aber nicht. Wenn man mit einem Todfeind Krieg führt, ist es zweifellos besser, sich nicht untereinander zu streiten. Man sollte sich jedoch daran erinnern, dass zu einem Streit zwei gehören und das Volk nicht beginnt, Barrikaden zu bauen, bevor es nicht der Ansicht ist, provoziert worden zu sein.
Natürlich hat die Aufforderung der Regierung an die Anarchisten, ihre Waffen abzuliefern, zu diesen Unruhen geführt. In der englischen Presse übersetzte man diese Tatsache in englische Begriffe. Das klang dann so: Man habe an der aragonischen Front verzweifelt Waffen benötigt und sie nicht dorthin senden können, da die unpatriotischen Anarchisten sie zurückhielten. Wer die Ereignisse so darstellt, übersieht die in Spanien tatsächlich herrschenden Zustände. Jeder wusste, dass sowohl die Anarchisten als auch die P.S.U.C. Waffen hamsterten, und als die Kämpfe in Barcelona ausbrachen, wurde das noch deutlicher, denn beide Seiten kamen nun mit großen Waffenmengen zum Vorschein. Die Anarchisten wussten sehr genau, dass, selbst wenn sie ihre Waffen ablieferten, die P.S.U.C. als wichtigste politische Macht in Katalonien immer noch ihre eigenen behalten würde. So geschah es tatsächlich, als die Kämpfe vorbei waren. Unterdessen sah man sogar in den Straßen große Waffenmengen, die an der Front bitter benötigt wurden, die aber die >nichtpolitische< Polizeimacht in der Etappe zurückgehalten wurden. Alles wurde aber beherrscht von dem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Kommunisten und Anarchisten, der früher oder später zu einer Auseinandersetzung führen musste. Die Kommunistische Partei Spaniens war seit Kriegsbeginn enorm an Zahl gewachsen und hatte den größeren Teil der politischen Macht an sich gerissen. Außerdem waren Tausende ausländischer Kommunisten nach Spanien gekommen, die offen verkündeten, sie wollten den Anarchismus »liquidieren«, sobald der Krieg gegen Franco gewonnen sei. Unter diesen Umständen konnte man kaum erwarten, dass die Anarchisten ihre Waffen ausliefern würden, die sie im Sommer 1936 in die Hände bekommen hatten.
Die Besetzung des Telefonamtes bedeutete einfach das Streichholz, das die schon vorhandene Bombe zündete. Es ließe sich vielleicht gerade noch vorstellen, dass die Verantwortlichen glaubten, das werde nicht zu Unruhen führen. Es heißt, dass der katalanische Präsident Companys einige Tage früher lachend erklärt habe, die Anarchisten würden sich mit allem abfinden (Anm.: New Statesman (vom 14. Mai).).
Sicher war das Ganze keine kluge Handlung. Während des vergangenen Monats hatte es schon eine lange Reihe bewaffneter Zwischenfälle in verschiedenen Teilen Spaniens zwischen Kommunisten und Anarchisten gegeben. Katalonien, und besonders Barcelona, befand sich in einem Zustand der Spannung, der schon zu Straßenkämpfen, Ermordungen und dergleichen geführt hatte. Plötzlich machte in der Stadt die Nachricht die Runde, dass bewaffnete Soldaten jene Gebäude angriffen, die die Arbeiter in den Julikämpfen erobert hatten und auf deren Besitz sie einen großen, gefühlsmäßigen Wert legten. Man muss sich daran erinnern, dass die Zivilgardisten von der arbeitenden Bevölkerung nicht geliebt wurden. Generationen lang war la guardia nur ein Instrument des Landherren und des Bosses gewesen. Zweifellos wurden die Zivilgardisten doppelt stark gehasst, weil sie ganz zu Recht verdächtigt wurden, eine sehr fragwürdige Loyalität gegenüber den Faschisten an den Tag gelegt zu haben (Anm.: Bei Ausbruch des Krieges hatten sich die Zivilgardisten überall auf die Seite der stärkeren Partei geschlagen. Im Verlaufe des Krieges gingen später die örtlichen Zivilgardisten bei mehreren Gelegenheiten, zum Beispiel in Santander, geschlossen zu den Faschisten über.). Es ist wahrscheinlich, dass das Volk in den ersten Stunden von den gleichen Gefühlen auf die Straße getrieben wurde, die es bei Beginn des Krieges dazu geführt hatten, den aufständischen Generälen zu widerstehen. Natürlich kann man sich darüber streiten, ob die Arbeiter der C.N.T. das Telefonamt ohne Protest hätten ausliefern sollen. Das eigene Urteil wird in diesem Falle davon beeinflusst, welche Stellung man zur Frage Zentralregierung oder Kontrolle durch die Arbeiterklasse einnimmt. Es ist vielleicht zutreffender, wenn man sagt: »Ja, mit ziemlicher Sicherheit hatte die C.N.T. gute Gründe. Aber trotzdem war Krieg, und es gab keine Entschuldigung dafür, einen Kampf hinter der Front anzufangen.« Hiermit stimme ich vollständig überein. Jede innere Unruhe musste Franco helfen. Aber was löste die Kämpfe eigentlich aus? Es mag stimmen und auch nicht stimmen, dass die Regierung ein Recht hatte, das Telefonamt zu besetzen, entscheidend ist, dass dies unter den herrschenden Umständen zum Kampf führen musste. Es war eine herausfordernde Handlung, eine Geste, die eigentlich sagte und vermutlich auch sagen sollte: »Eure Macht ist zu Ende - jetzt kommen wir an die Reihe.« Der gesunde Menschenverstand musste einem sagen, dass es darauf nur Widerstand geben könne. Mit ein wenig Gefühl für Proportionen muss man erkennen, dass die Schuld nicht vollständig auf einer Seite lag, dass sie in einer solchen Angelegenheit auch gar nicht allein dort liegen konnte. Der Grund für die Billigung dieser einseitigen Version liegt einfach darin, dass die spanischen Revolutionsparteien keine Unterstützung in der ausländischen Presse gefunden haben. Besonders in der englischen Presse müsste man lange suchen, ehe man zu irgendeiner Zeit des Krieges einen zustimmenden Hinweis auf die spanischen Anarchisten fände. Sie wurden systematisch angeschwärzt, und es ist fast unmöglich, wie ich aus meiner eigenen Erfahrung weiß, dass man irgend jemand findet, der etwas zu ihrer Verteidigung druckt.
Ich habe versucht, über die Kämpfe in Barcelona objektiv zu schreiben, obwohl offensichtlich niemand in einer derartigen Frage vollständig objektiv sein kann. Man muss praktisch Stellung nehmen, und es muss deutlich geworden sein, auf welcher Seite ich stand. Natürlich ist es unvermeidlich, dass ich Fehler in der Darstellung der Tatsachen gemacht habe, nicht nur hier, sondern auch in anderen Teilen dieser Erzählung. Wegen des Mangels an nicht propagandistisch gefärbten Dokumenten ist es sehr schwierig, fehlerfrei über den Spanischen Krieg zu schreiben. Ich warne jeden vor meinem Vorurteil, und ich warne jeden vor meinen Fehlern. Aber dennoch habe ich mein Bestes getan, um ehrlich zu sein. Es wird aber zu erkennen sein, dass meine Schilderung völlig anders ist als die, welche in der ausländischen, besonders in der kommunistischen Presse erschien. Es ist notwendig, die kommunistische Version zu untersuchen, denn sie wurde in der ganzen Welt veröffentlicht, seither in kurzen Abständen ergänzt und ist wahrscheinlich die weitestgehend akzeptierte.
In der kommunistischen und prokommunistischen Presse wurde die ganze Schuld an den Kämpfen in Barcelona der P.O.U.M. zugeschoben. Die Unruhen wurden nicht als ein spontaner Aufruhr geschildert, sondern als eine überlegte und geplante Revolution gegen die Regierung, die ausschließlich von der P.O.U.M. mit Hilfe einer Handvoll verführter Unkontrollierbarem arrangiert wurde. Mehr noch, sie war sicherlich eine faschistische Verschwörung, die unter faschistischem Befehl ausgeführt wurde, um einen Bürgerkrieg in der Etappe anzuzetteln und so die Regierung zu lähmen. Die P.O.U.M. war >Francos Fünfte Kolonne<, eine >trotzkistische< Organisation, die im Bündnis mit den Faschisten arbeitete.
Nach den Worten des Daily Worker (11. Mai):
Die deutschen und italienischen Agenten, die nach Barcelona strömten, um angeblich den berüchtigten »Kongress der 4. Internationale« vorzubereiten, hatten eine große Aufgabe. Sie lautete:
Sie sollten zusammen mit den örtlichen Trotzkisten einen Zustand der Unordnung und des Blutvergießens herbeiführen, der es der deutschen und italienischen Regierung ermöglichte zu erklären, dass sie »wegen der in Barcelona herrschenden Unordnung nicht in der Lage wären, eine wirksame Kontrolle der katalonischen Küsten durch die Kriegsmarine auszuüben« und deshalb »nichts anderes tun könnten, als Truppen in Barcelona zu landen«.
Mit anderen Worten, es wurde eine Situation vorbereitet, auf Grund deren die deutsche und die italienische Regierung ganz offen Truppen oder Marinesoldaten an der katalonischen Küste landen und dazu erklären konnten, sie täten das, »um die Ordnung aufrechtzuerhalten«...
Das Instrument hierfür lag in Gestalt der trotzkistischen Organisation, der P.O.U.M., für die Deutschen und die Italiener bereit. In Zusammenarbeit mit bekannten kriminellen Elementen und gewissen anderen, irregeführten Personen in den anarchistischen Organisationen plante, organisierte und führte die P.O.U.M. den Angriff in der Etappe, der zeitlich genauso festgelegt war, dass er mit dem Angriff an der Front von Bilbao zusammenfiel.
Im Verlauf des Artikels werden die Kämpfe in Barcelona zum »Angriff der P.O.U.M.«, und in einem anderen Artikel in der gleichen Ausgabe heißt es, dass »ohne Zweifel die Verantwortung für das Blutvergießen in Katalonien vor der Tür der P.O.U.M. liegt«. Der Inprecor (vom 29. Mai) erklärt, dass diejenigen, die die Barrikaden in Barcelona errichteten, »nur Mitglieder der P.O.U.M. waren, die von der Partei eigens für diesen Zweck zusammengebracht wurden«. Ich könnte noch viel mehr zitieren, aber das ist schon klar genug. Die P.O.U.M. war allein verantwortlich, und die P.O.U.M. handelte auf faschistischen Befehl. Ich werde noch einige andere Auszüge aus den Berichten zitieren, die in der kommunistischen Presse erschienen. Es wird sich zeigen, dass sie sich derartig selbst widersprechen, dass sie vollständig wertlos sind. Aber ehe ich das tue, lohnt es sich, auf einige Vernunftgründe hinzuweisen, wonach sie die Version, die Maikämpfe seien eine von der P.O.U.M. durchgeführte faschistische Revolution gewesen, als nahezu unglaublich erweist.
1. Die P.O.U.M. hatte nicht genügend Mitglieder oder einen entsprechend weitreichenden Einfluss, um eine Unruhe dieses Ausmaßes zu provozieren. Noch weniger war sie stark genug, einen Generalstreik auszurufen. Sie war eine politische Organisation ohne genügenden Rückhalt in den Gewerkschaften. Sie wäre genauso unfähig gewesen, einen Streik in ganz Barcelona auszulösen, wie etwa die englische kommunistische Partei einen Generalstreik in ganz Glasgow ausrufen könnte. Wie ich schon vorher sagte, mag die Haltung der Anführer der P.O.U.M. die Verlängerung der Kämpfe bis zu einem gewissen Grade unterstützt haben, aber sie hätten sie nicht anzetteln können, selbst wenn sie es gewollt hätten.
2. Die angeblich faschistische Verschwörung beruht nur auf reinen Annahmen, jeder Beweis zeigt in die andere Richtung. Es wird uns von Plänen erzählt, nach denen die deutsche und die italienische Regierung in Katalonien Truppen landen sollten, aber kein deutsches oder italienisches Truppenschiff näherte sich der Küste. Der >Kongress der Vierten International und die >deutschen und italienischen Agenten< sind eine reine Erfindung. Soviel ich weiß, hat man niemals von einem Kongress der Vierten Internationale gesprochen. Es gab gewisse Pläne für einen Kongress der P.O.U.M. und ihrer Schwesterparteien (der englischen I.L.P., der deutschen S.A.P. und so weiter). Dieses Treffen war versuchsweise irgendwann für den Juli festgelegt worden, also zwei Monate später, und noch nicht ein einziger Delegierter war bisher angekommen. Außerhalb der Seiten des Daily Worker gab es keine »deutschen und italienischen Agenten«. Jeder, der zu jener Zeit die Grenze überquerte, weiß, dass es nicht leicht war, nach Spanien hinein- oder herauszukommen.
3. Weder in Lerida, dem Hauptstützpunkt der P.O.U.M., noch an der Front ereignete sich irgend etwas. Hätten die Anführer der P.O.U.M. die Faschisten unterstützen wollen, so hätten sie natürlich ihrer Miliz befohlen, die Front zu verlassen, um die Faschisten durchzulassen. Aber nichts Derartiges ereignete sich oder wurde vorgeschlagen. Vorher wurden nicht einmal irgendwelche Soldaten von der Front zurückgebracht, obwohl es leicht gewesen wäre, sagen wir tausend oder zweitausend Leute unter verschiedenen Vorwänden nach Barcelona zurückzuschmuggeln. An der Front wurde nicht einmal der Versuch einer indirekten Sabotage unternommen. Der Transport von Nahrungsmitteln und Munition und so weiter ging wie üblich weiter. Ich fand das später durch Befragung bestätigt. Vor allem aber hätte eine vorausgeplante Revolution, so wie sie behauptet wurde, viele Monate zur Vorbereitung benötigt; zum Beispiel unterminierende Propaganda innerhalb der Miliz und so weiter. Aber dafür gab es weder ein äußeres Zeichen noch irgendein Gerücht. Die Tatsache, dass die Miliz an der Front mit dem Aufruhr nichts zu tun hatte, sollte die Frage eindeutig beantworten. Hätte die P.O.U.M. tatsächlich einen coup d'Etat geplant, ist es undenkbar, dass sie nicht die ungefähr zehntausend Soldaten eingesetzt haben würde, die ihre einzige bewaffnete Streitmacht darstellten. Aus diesen Überlegungen geht eindeutig hervor, dass es für die kommunistische These von einem >Aufstand< der P.O.U.M. auf faschistischen Befehl auch nicht den geringsten Beweis gibt. Ich möchte noch einige Auszüge aus der kommunistischen Presse hinzufügen. Die kommunistischen Berichte über den ersten Zwischenfall, den Überfall auf das Telefonamt, sind sehr aufschlussreich. Sie stimmen einzig darin überein, dass sie alle Vorwürfe auf die gegnerische Seite abladen. Es ist bemerkenswert, dass sich die Vorwürfe in den englischen kommunistischen Zeitungen zunächst gegen die Anarchisten und erst später gegen die P.O.U.M. richteten. Dafür gibt es einen ziemlich einleuchtenden Grund. Nicht jeder Leser in England hat etwas von >Trotzkismus< gehört, aber jeder Englisch sprechende Mensch zittert, wenn er das Wort >Anarchist< hört. Hat sich einmal herumgesprochen, dass >Anarchisten< beteiligt sind, ist die richtige Atmosphäre für ein Vorurteil geschaffen. Dann kann man die Schuld später mit Sicherheit auf die >Trotzkisten< abwälzen. So beginnt der Daily Worker (am 6. Mai):
Eine in der Minderheit befindliche Bande der Anarchisten eroberte am Montag und Dienstag die Gebäude des Telefon- und Telegrafenamtes, versuchte sie zu verteidigen und begann eine Schießerei in den Straßen.
Nichts ist besser, als gleich zu Beginn die Rollen zu vertauschen. Die Zivilgardisten greifen ein Gebäude an, das von der C.N.T. besetzt ist. So geht man also hin und sagt, die C.N.T. habe ihr eigenes Gebäude, also sich selbst, angegriffen. Am 11. Mai hingegen erklärte der Daily Worker:
Der linksgerichtete katalonische Minister für öffentliche Sicherheit, Aiguade, und der den Vereinigten Sozialisten angehörende Generalkommissar für öffentliche Ordnung, Rodrigue Salas, schickten die bewaffnete republikanische Polizei in das Telefonica-Gebäude, um die Angestellten dort zu entwaffnen, die zum größten Teil Mitglieder der C.N.T.-Gewerkschaft waren.
Das scheint nicht sehr gut mit der ersten Erklärung übereinzustimmen. Trotzdem enthält der Daily Worker kein Eingeständnis, dass die erste Behauptung falsch war. Der Daily Worker vom n. Mai erklärt, dass die Flugblätter der >Freunde Durrutis<, die von der C.N.T. abgelehnt wurden, während der Kämpfe am 4. und 5. Mai erschienen. Der Inprecor (vom 22. Mai) erklärt, dass sie am 3. Mai erschienen - also vor den Kämpfen -, und fügte dann hinzu, was »in Anbetracht dieser Tatsachen« (des Erscheinens verschiedener Flugblätter) geschah:
Die Polizei, die vom Polizeipräfekten persönlich geführt wurde, besetzte das zentrale Telefonamt am Nachmittag des 3. Mai. Während die Polizisten ihrer Pflicht nachgingen, wurden sie beschossen. Das war das Signal für die Provokateure, mit Schießereien und Krawallen in der ganzen Stadt zu beginnen.
Und hier der Inprecor vom 29. Mai:
Nachmittags um drei Uhr begab sich der Kommissar für die öffentliche Sicherheit, Kamerad Salas, zum Telefonamt, das in der vorhergehenden Nacht von fünfzig Mitgliedern der P.O.U.M. und anderen unkontrollierbaren Elementen besetzt worden war.
Das klingt doch recht seltsam. Man muss ja wohl die Besetzung des Telefonamtes durch fünfzig Mitglieder der P.O.U.M. als einen ziemlich auffälligen Zwischenfall bezeichnen, und man hätte erwartet, dass damals jemand etwas bemerkt hätte. Es scheint aber, dass dieser Zwischenfall erst drei oder vier Wochen später entdeckt wurde. In einer anderen Ausgabe des Inprecor werden aus den fünfzig Mitgliedern der P.O.U.M. fünfzig P.O.U.M.-Milizsoldaten. Es wäre schwierig, noch mehr Widersprüche zusammenzupacken, als schon in diesen wenigen, kurzen Passagen enthalten sind. Gerade greift die C.N.T. das Telefonamt an, und schon werden sie selbst dort angegriffen. Ein Flugblatt zirkuliert vor der Eroberung des Telefonamtes und ist die Ursache dafür oder aber genau umgekehrt, es erscheint hinterher und ist das Ergebnis davon. Abwechselnd sind die Männer im Telefonamt Mitglieder der C.N.T. oder der P.O.U.M. und so weiter. In einer noch späteren Ausgabe, des Daily Worker (vom 3. Juni) informiert uns Mr. J. R. Campbell, dass die Regierung nur deshalb das Telefonamt besetzte, weil die Barrikaden schon errichtet worden waren!
Aus Platzmangel habe ich nur die Berichte über einen Zwischenfall wiedergegeben, aber in allen Berichten der kommunistischen Presse finden sich die gleichen Widersprüche. Zusätzlich gibt es verschiedene Erklärungen, die offensichtlich reine Erfindungen sind. Hier ist zum Beispiel eine Meldung aus dem Daily Worker (vom 7. Mai), die angeblich von der spanischen Botschaft in Paris veröffentlicht wurde:
Es war ein bezeichnender Zug des Aufstandes, dass die alte monarchistische Fahne auf den Balkons verschiedener Häuser in Barcelona gezeigt wurde. Dies geschah zweifellos in dem Glauben, dass die Beteiligten schon Herren der Lage seien.
Sehr wahrscheinlich druckte der Daily Worker diese Erklärung im guten Glauben ab. Aber die Verantwortlichen für diese Meldung in der spanischen Botschaft müssen ganz absichtlich gelogen haben. Jeder Spanier musste die heimischen Verhältnisse besser kennen. Eine monarchistische Fahne in Barcelona! Das wäre das einzige gewesen, was die sich bekämpfenden Parteien augenblicklich vereinigt hätte. Selbst die Kommunisten an Ort und Stelle mussten lächeln, als sie davon lasen. Das gleiche gilt für die Berichte in verschiedenen kommunistischen Zeitungen über Waffen, die angeblich von der P.O.U.M. während des >Aufstandes< eingesetzt wurden. Diese Berichte sind nur für den glaubwürdig, der absolut gar nichts über die Tatsachen weiß. Im Daily Worker vom 17. Mai erklärt Mr. Frank Pitcairn:
Während des Aufruhrs wurden tatsächlich alle möglichen Waffen eingesetzt. Es handelte sich um Waffen, die seit Monaten gestohlen und versteckt worden waren, darunter auch Tanks, die gleich zu Beginn des Aufruhrs aus den Kasernen gestohlen wurden. Es ist klar, dass Dutzende von Maschinengewehren und einige tausend Gewehre noch immer im Besitz der Aufständischen sind.
Der Inprecor (vom 29. Mai) erklärt außerdem: Am 3. Mai standen der P.O.U.M. einige Dutzend Maschinengewehre und einige tausend Gewehre zur Verfügung. Auf der Plaza d'Espana brachten Trotzkisten >75er<-Kanonen in Stellung, die für die Front in Aragonien bestimmt waren und die die Miliz sorgfältig in ihren Kasernen versteckt gehalten hatte.
Mr. Pitcairn erzählt uns nicht, wie und wann es bekannt wurde, dass die P.O.U.M. Dutzende von Maschinengewehren und einige tausend Gewehre besaß. Nach meiner Schätzung waren, wie ich berichtet habe, etwa achtzig Gewehre, einige Handgranaten und keine Maschinengewehre in drei der wichtigsten Gebäude der P.O.U.M. Das heißt also, gerade genug für die bewaffneten Wachen, die damals alle politischen Parteien vor ihren Gebäuden aufstellten. Es scheint ungewöhnlich zu sein, dass hinterher, nachdem die P.O.U.M. unterdrückt und ihre sämtlichen Gebäude besetzt wurden, diese vielen tausend Waffen niemals ans Tageslicht kamen; besonders die Tanks und die Feldkanonen, denn das sind Gegenstände, die man nicht einfach in einem Kamin verstecken kann. In den beiden oben zitierten Erklärungen zeigt sich aber deutlich die völlige Unkenntnis der örtlichen Verhältnisse. Nach Mr. Pitcairn stahl die P.O.U.M. Tanks »aus den Kasernen«. Er sagt uns nicht, aus welchen Kasernen. Die Milizsoldaten der P.O.U.M., die in Barcelona waren (jetzt vergleichsweise wenig, da die direkte Rekrutierung für die Parteimilizen aufgehört hatte), teilten die Lenin-Kaserne mit einer beträchtlich größeren Anzahl Truppen der Volksarmee. So erzählt uns also Mr. Pitcairn, dass die P.O.U.M. die Tanks mit Einwilligung der Volksarmee stahl. Das gleiche gilt für die >Örtlichkeiten<, wo die Fünfundsiebzig-Millimeter-Kanonen verborgen wurden. Er erwähnt nicht, wo diese >Örtlichkeiten< waren. Viele Zeitungen berichteten, dass diese Artillerie-Batterien von der Plaza de Espana aus feuerten. Aber ich glaube, wir können mit Gewissheit sagen, dass sie nie existierten. Wie ich schon vorher erwähnte, hörte ich während der Kämpfe kein Artilleriefeuer, obwohl die Plaza de Espana nur etwa eineinhalb Kilometer weit entfernt lag. Einige Tage später schaute ich mir die Plaza de Espana gut an und konnte keine Gebäude finden, die Granateinschläge aufwiesen. Auch ein Augenzeuge, der während der ganzen Kämpfe in der Nachbarschaft war, erklärte, dass die Kanonen dort niemals auftauchten. (Übrigens, die Geschichte von den gestohlenen Kanonen mag von Antonov-Ovseenko, dem russischen Generalkonsul, stammen. Er hat sie jedenfalls einem bekannten englischen Journalisten erzählt, der sie hinterher in gutem Glauben in einer Wochenzeitung wiederholte. Antonov-Ovseenko ist inzwischen der >Säuberung< zum Opfer gefallen. Wie das seine Glaubwürdigkeit beeinflusst, weiß ich nicht.) In Wahrheit wurden diese Erzählungen von Tanks, Feldkanonen und so weiter nur erfunden, weil es sonst schwierig gewesen wäre, das Ausmaß der Kämpfe in Barcelona mit der geringen Anzahl der P.O.U.M.-Leute in Einklang zu bringen. Man musste behaupten, die P.O.U.M. sei alleine für die Kämpfe verantwortlich. Außerdem musste man behaupten, sie sei eine unbedeutende Partei mit wenig Anhängern und nur »einigen tausend Mitgliedern«, wie es im Inprecor stand. Die einzige Möglichkeit, beide Erklärungen glaubwürdig erscheinen zu lassen, bestand in der Behauptung, die P.O.U.M. hätte über alle Waffen einer modernen Armee verfügt.
Wenn man die Berichte in der kommunistischen Presse durchliest, ist es unmöglich, an der Tatsache vorbeizugehen, dass sie absichtlich für ein Publikum geschrieben wurden, das die Tatsachen nicht kannte. Diese Berichte hatten also keinen anderen Zweck, als Vorurteile zu erwecken. So erklären sich zum Beispiel Behauptungen wie die von Mr. Pitcairn im Daily Worker vom 11. Mai, dass der »Aufstand« von der Volksarmee unterdrückt wurde. Hiermit wurde die Absicht verfolgt, den Außenstehenden den Eindruck zu vermitteln, ganz Katalonien stehe geschlossen gegen die »Trotzkisten«. Aber während der ganzen Kämpfe blieb die Volksarmee neutral. Jeder in Barcelona wusste das, und es ist schwer zu glauben, dass Mr. Pitcairn es nicht auch wusste. Oder beispielsweise die Gaukelei mit Toten und Verwundeten in der kommunistischen Presse, die nur unternommen wurde, um das Ausmaß der Unruhen zu übertreiben. Diaz, der Generalsekretär der spanischen kommunistischen Partei, der in der kommunistischen Presse ausführlich zitiert wurde, nannte Zahlen von 900 Toten und 2 500 Verwundeten. Der katalonische Propagandaminister, der sie kaum zu niedrig schätzen würde, nannte Zahlen von 400 Toten und 1000 Verwundeten. Die kommunistische Partei verdoppelte das Angebot und fügte auf gut Glück noch einige hundert hinzu.
Im allgemeinen machten die ausländischen kapitalistischen Zeitungen die Anarchisten für die Kämpfe verantwortlich, aber es gab auch einige, die der kommunistischen Version folgten. Eine davon war die englische News Chronicle, deren Korrespondent Mr. John Langdon-Davies zu jener Zeit in Barcelona war. Ich zitiere hier Abschnitte seines Artikels »Eine trotzkistische Revolte«:
... Das war kein anarchistischer Aufruhr. Es handelt sich um den vereitelten Putsch der >trotzkistischen< P.O.U.M., die mit den von ihr kontrollierten Organisationen der >Freunde Durrutis< und der Freien Jugend arbeitete... Die Tragödie begann am Montag nachmittag, als die Regierung bewaffnete Polizei in das Telefongebäude schickte, um die dortigen Arbeiter zu entwaffnen, von denen die meisten Anhänger der C.N.T. waren. Schon seit einiger Zeit hatten schwere Unregelmäßigkeiten im Dienst zu einem Skandal geführt. Draußen auf der Plaza de Cataluna versammelte sich eine große Menge, während die Anhänger der C.N.T. Widerstand leisteten und sich von Stockwerk zu Stockwerk bis zum Dach des Gebäudes zurückzogen... Der Zwischenfall war sehr undurchsichtig, aber es hieß, die Regierung sei hinter den Anarchisten her. Die Straßen waren voller bewaffneter Männer... Bei Anbruch der Nacht war jedes Zentrum der Arbeiter und jedes Regierungsgebäude verbarrikadiert. Gegen zehn Uhr wurden die ersten Gewehrsalven gefeuert und klingelten die ersten Ambulanzen durch die Straßen. Bei Tagesanbruch wurde in ganz Barcelona geschossen... Während sich der Tag hinzog und die Zahl der Toten auf über hundert anschwoll, konnte man ahnen, was sich ereignete. Theoretisch waren die anarchistische C.N.T. und die sozialistische U.G.T. nicht »auf die Straße gegangen«. Solange sie hinter den Barrikaden blieben, warteten sie nur aufmerksam, das aber schloss das Recht ein, auf jeden zu schießen, der sich bewaffnet auf offener Straße zeigte... (die) allgemeinen Zusammenstöße wurden durch pacos noch schlimmer gemacht — dabei handelte es sich um einzelne Männer, gewöhnlich Faschisten, die sich auf den Dächern versteckten und einfach in die Gegend schossen und so die allgemeine Panik steigerten... Am Mittwoch abend aber wurde es klar, wer hinter der Revolte stand. Alle Wände waren mit aufrührerischen Plakaten beklebt worden, die die sofortige Revolution und die Erschießung aller republikanischen und sozialistischen Anführer forderten. Sie waren unterzeichnet von den >Freunden Durrutis<. Am Donnerstag morgen leugnete die anarchistische Tageszeitung jegliche Kenntnis oder Sympathie mit diesem Plakat, aber La Batalla, die Zeitung der P.O.U.M., druckte das Dokument, begleitet von höchstem Lob, ab. Als erste Stadt in Spanien wurde Barcelona durch agents provocateurs in ein Blutbad gestürzt, indem sie sich dieser umstürzlerischen Organisation bedienten.
Das stimmt nicht ganz mit den kommunistischen Ansichten überein, die ich vorher hier zitiert habe, aber man wird sehen, dass dieser Bericht in sich selbst Widersprüche enthält. Zunächst wird die Auseinandersetzung als >eine trotzkistische Revolte< beschrieben. Dann wird sie als Folge des Angriffes auf das Telefongebäude hingestellt, und gleichzeitig wird behauptet, man habe allgemein geglaubt, die Regierung habe es auf die Anarchisten abgesehen. Die Stadt ist verbarrikadiert, und sowohl die C.N.T. wie auch die U.G.T. stehen hinter den Barrikaden. Zwei Tage später erscheint das aufrührerische Plakat (in Wirklichkeit ein Flugblatt), und damit wird stillschweigend der eigentliche Grund der ganzen Geschichte erklärt - also Wirkung vor Ursache. Hier findet sich noch eine andere falsche Erklärung. Mr. Langdon-Davies beschreibt die >Freunde Durrutis< und die Freie Jugend als von der P.O.U.M. >kontrollierte Organisationen<. Beide waren anarchistische Organisationen und hatten keine Verbindung mit der P.O.U.M. Die Freie Jugend war die Jugendliga der Anarchisten und entsprach der J.S.U. in der P.S.U.C. und so weiter. Die >Freunde Durrutis< waren eine kleine Organisation in der F.A.I. und erbitterte Gegner der P.O.U.M. Soweit ich beurteilen kann, gab es niemanden, der in beiden gleichzeitig Mitglied war. Es wäre genauso richtig zu sagen, dass die Sozialistische Liga eine von der englischen liberalen Partei >kontrollierte Organisation< sei. Wusste Mr. Langdon-Davis das nicht? Wenn ja, sollte er mit größerer Vorsicht über dieses sehr komplexe Thema geschrieben haben.
Ich möchte den guten Glauben des Mr. Langdon-Davies nicht in Abrede stellen, aber er gab selbst zu, dass er, sobald die Kämpfe vorbei waren, Barcelona verließ, also in dem Augenblick, da er ernsthafte Nachforschungen hätte anstellen können. In seinem ganzen Bericht finden sich deutliche Zeichen dafür, dass er die offizielle Version von der >trotzkistischen Revolte< ohne ausreichende Beweise übernommen hat. Das wird sogar in dem von mir zitierten Auszug deutlich. Die Barrikaden werden »bei Anbruch der Nacht« gebaut, und die ersten Gewehrsalven werden »gegen zehn Uhr gefeuert«. Das sind nicht die Worte eines Augenzeugen. Hiernach würde man annehmen, dass es üblich ist zu warten, bis der Feind eine Barrikade baut, ehe man beginnt, auf ihn zu schießen. Er erweckt den Eindruck, dass zwischen dem Bau der Barrikaden und den ersten Gewehrsalven einige Stunden vergingen, während es natürlich umgekehrt war. Ich und viele andere sahen, wie die ersten Gewehrsalven am frühen Nachmittag gefeuert wurden. Wieder einmal ist die Rede von einzelnen Männern, »gewöhnlich Faschisten«, die von den Dächern schießen. Mr. Langdon-Davies erklärt nicht, woher er wusste, dass diese Männer Faschisten waren. Vermutlich kletterte er nicht auf die Dächer, um sie zu fragen. Er wiederholte einfach, was man ihm erzählt hatte, und da es mit der offiziellen Version übereinstimmte, stellte er es nicht in Frage. Ja, er deutete sogar eine wahrscheinliche Quelle seiner Informationen an, wenn er zu Beginn seines Artikels einen unvorsichtigen Hinweis auf den Propagandaminister macht. Die ausländischen Journalisten in Spanien waren dem Propagandaministerium hoffnungslos ausgeliefert, obwohl man glauben sollte, dass allein der Name dieses Ministeriums eine ausreichende Warnung gewesen wäre. Der Propagandaminister gab natürlich mit der gleichen Wahrscheinlichkeit eine objektive Darstellung der Unruhen in Barcelona, wie, sagen wir, der verstorbene Lord Carsen eine objektive Darstellung des Aufstandes von 1916 in Dublin gegeben haben würde.
Ich habe einige Gründe dafür angeführt, warum ich glaube, dass die kommunistische Version der Kämpfe in Barcelona nicht ernst genommen werden kann. Außerdem muss ich etwas gegen den allgemeinen Vorwurf sagen, dass die P.O.U.M. eine von Franco und Hitler bezahlte geheime faschistische Organisation gewesen sei.
Dieser Vorwurf wurde in der kommunistischen Presse dauernd wiederholt, besonders nach dem Beginn des Jahres 1937. Es war ein Teil der weltweiten Kampagne der kommunistischen Partei gegen den >Trotzkismus<, für dessen spanische Vertretung die P.O.U.M. gehalten wurde. Nach Frente Ro'jo (dem kommunistischen Blatt in Valencia) »ist Trotzkismus nicht eine politische Doktrin. Trotzkismus ist eine offizielle kapitalistische Organisation; eine faschistische Terrorbande, die sich nur mit Verbrechen und Sabotage gegen das Volk beschäftigt«. Die P.O.U.M. war also eine mit den Faschisten verbündete, >trotzkistische< Organisation und ein Teil der >Fünften Kolonne Francos<. Es ist bemerkenswert, dass von Anfang an kein Beweis zur Unterstützung dieser Anklage vorgebracht wurde. Man verbreitete den Vorwurf einfach mit dem Brustton voller Überzeugung, gleichzeitig wurde der Angriff mit einem Höchstmaß an persönlicher Verleumdung vorgetragen und in vollständiger Verantwortungslosigkeit gegenüber den Auswirkungen, die sie auf den Verlauf des Krieges haben könnten. Viele kommunistische Publizisten haben anscheinend den Verrat militärischer Geheimnisse im Vergleich zu der Aufgabe der Verleumdung der P.O.U.M. für unbedeutend gehalten. So erlaubte man zum Beispiel einer Journalistin (Winifred Bates), in einer Februar-Nummer des Daily Worker zu erklären, die P.O.U.M. habe an ihrem Frontabschnitt nur die Hälfte der Truppen, die sie angeblich dort eingesetzt habe. Das war nicht richtig, aber vermutlich glaubte die Journalistin, es sei wahr. So willigten sie und der Daily Worker also ein, dem Feind eine der wichtigsten Informationen zu liefern, die man ihm in den Zeilen einer Zeitung geben kann. In der New Republic schrieb Mr. Ralph Bates, die Truppen der P.O.U.M. »spielten mit den Faschisten im Niemandsland Fußball«. In Wirklichkeit aber erlitten die P.O.U.M.-Truppen zu dieser Zeit schwere Verluste, und eine Anzahl meiner persönlichen Freunde wurde getötet oder verwundet. Nun tauchte auch die verleumderische Karikatur auf, die zuerst in Madrid und später in Barcelona überall herumgereicht wurde. Sie zeigte die P.O.U.M., die eine mit Hammer und Sichel gezeichnete Maske fallenließ und darunter ein Gesicht mit dem Hakenkreuz zeigte. Hätte die Regierung nicht praktisch unter kommunistischer Kontrolle gestanden, würde sie niemals erlaubt haben, etwas Derartiges während des Krieges zu verbreiten. Es war ein vorsätzlicher Schlag nicht nur gegen die Moral der P.O.U.M.-Miliz, sondern gegen jeden anderen, der in ihrer Nähe lag. Denn es ist nicht gerade ermutigend, wenn man an der Front hört, dass die benachbarten Truppeneinheiten Verräter sind. Ich bezweifle allerdings, dass die Beschimpfungen aus dem Hinterland die Miliz der P.O.U.M. spürbar demoralisierten, aber sie waren sicherlich darauf angelegt. Jedenfalls müssen die Verantwortlichen politische Boshaftigkeit höher gewertet haben als antifaschistische Einheit.
Die Anschuldigungen gegen die P.O.U.M. liefen auf folgendes hinaus: Eine Partei von mehreren zehntausend Menschen, die sich nahezu vollständig aus Arbeitern zusammensetzte, außerdem ihre zahlreichen ausländischen Helfer und Freunde, hauptsächlich Flüchtlinge aus faschistischen Ländern, dazu noch Tausende von Milizsoldaten, sollten einfach ein riesiger, von den Faschisten bezahlter Spionagering sein. Das widersprach jedem gesunden Menschenverstand, und allein die Vorgeschichte der P.O.U.M. genügt, diesen Vorwurf unglaubwürdig zu machen. Sämtliche Anführer der P.O.U.M. konnten auf eine revolutionäre Vergangenheit zurückblicken. Einige von ihnen waren an der Revolte von 1934 beteiligt, und die meisten waren unter der Regierung Lerroux oder der Monarchie wegen sozialistischer Tätigkeit eingekerkert worden. 1936 gehörte der damalige Parteichef Joaquin Maurin zu den Abgeordneten, die im Cortes vor Francos drohender Revolte warnten. Einige Zeit nach Kriegsausbruch wurde er von den Faschisten gefangen genommen, als er versuchte, Widerstand hinter Francos Linien zu organisieren. Als die Revolte ausbrach, spielte die P.O.U.M. unter den Widerstand leistenden Kräften eine wesentliche Rolle, besonders in Madrid wurden viele ihrer Anhänger in den Straßenkämpfen getötet. Sie war eine der ersten Parteien, die Milizeinheiten in Katalonien und Madrid aufstellten. Es scheint nahezu unmöglich, diese Ereignisse als Handlungen einer von den Faschisten bezahlten Partei zu erklären. Eine von den Faschisten bezahlte Partei würde sich einfach der anderen Seite angeschlossen haben.
Auch während des Krieges gab es kein Anzeichen für eine profaschistische Tätigkeit. Man könnte einwenden - obwohl ich letztlich nicht zustimme -, die P.O.U.M. habe durch ihre Forderung einer revolutionären Politik die Kräfte der Regierung aufgespalten und damit den Faschisten geholfen. Ich gebe zu, dass jede Regierung mit reformistischen Ansichten gerechtfertigt ist, eine Partei wie die P.O.U.M. als ein Ärgernis zu betrachten. Das ist aber etwas völlig anderes als direkter Verrat. Es gibt beispielsweise keine Erklärung dafür, warum die Miliz loyal blieb, wenn die P.O.U.M. in Wirklichkeit eine faschistische Partei gewesen wäre. Hier handelte es sich um acht- oder zehntausend Soldaten, die unter den unerträglichen Bedingungen des Winters 1936/37 wichtige Abschnitte der Front hielten. Viele von ihnen lagen vier oder fünf Monate hintereinander im Schützengraben. Es ist schwer einzusehen, warum sie nicht einfach die Front verließen oder zum Feind überliefen. Sie waren jederzeit in der Lage dazu, und die Folgen hätten damals den Krieg entscheiden können. Sie setzten jedoch den Kampf fort. Kurz nach der Unterdrückung der P.O.U.M. als politischer Partei, das Ereignis war noch frisch in jedermanns Erinnerung, beteiligte sich die Miliz - die noch nicht auf die Volksarmee aufgeteilt worden war - an dem mörderischen Angriff östlich von Huesca, wo einige tausend Soldaten in ein oder zwei Tagen getötet wurden. Man hätte damals zumindest eine Verbrüderung mit dem Feind oder einen ständigen Strom von Fahnenflüchtigen erwarten können. Wie ich aber schon vorher sagte, war die Zahl der Fahnenflüchtigen sehr niedrig. Man hätte auch profaschistische Propaganda >Defätismus< und ähnliche Reaktionen erwarten können. Aber auch dafür gab es nicht das geringste Anzeichen. Sicher gab es einige faschistische Spione und agents provocateurs in der P.O.U.M., sie finden sich in allen linksgerichteten Parteien. Aber es gibt keinen Beweis dafür, dass in der P.O.U.M. mehr waren als anderswo. Es stimmt, dass in einigen kommunistischen Beschuldigungen etwas widerwillig behauptet wurde, nicht die einfachen Mitglieder, sondern nur die Anführer der P.O.U.M. würden von den Faschisten bezahlt. Dabei handelte es sich jedoch nur um den Versuch, einen Keil zwischen die einfachen Mitglieder und die Parteileitung zu treiben. Diese Art der Vorwürfe unterstellte aber in Wirklichkeit, dass alle einfachen Mitglieder, Milizsoldaten und so weiter in die Verschwörung verwickelt waren. Denn wenn Nin, Gorkin und die anderen wirklich von den Faschisten bezahlt wurden, musste es doch klar sein, dass ihre Anhänger, die mit ihnen zusammen waren, dies eher wussten als die Journalisten in London, Paris und New York. Nach der Unterdrückung der P.O.U.M. handelte die von den Kommunisten kontrollierte Geheimpolizei jedenfalls unter der Annahme, dass alle gleich schuldig waren. Sie verhaftete jeden, der mit der P.O.U.M. etwas zu tun hatte und den sie erwischen konnte, darunter auch Verwundete, Lazarettschwestern und Frauen der P.O.U.M.-Mitglieder, in einigen Fällen sogar Kinder.
Am 15./16. Juni schließlich wurde die P.O.U.M. unterdrückt und zur illegalen Organisation erklärt. Es war eine der ersten Anordnungen der Regierung Negrin, die im Mai ihr Amt antrat. Nachdem das Parteikomitee der P.O.U.M. ins Gefängnis geworfen worden war, berichtete die kommunistische Presse über die angebliche Aufdeckung einer riesigen faschistischen Verschwörung. Eine Zeitlang hallte die kommunistische Presse der ganzen Welt von diesen Geschichten wider (der Daily Worker vom 21. Juni fasste die Berichte verschiedener spanischer kommunistischer Blätter zusammen):
Verschwörung der spanischen Trotzkisten mit Franco
Nach der Verhaftung einer großen Anzahl führender Trotzkisten in Barcelona und anderen Städten... wurden am Wochenende Einzelheiten des gespenstischsten Spionageunternehmens bekannt, von dem man je in Kriegszeiten gehört hat. Es ist bis heute die hässlichste Enthüllung eines Verrates der Trotzkisten... Die Dokumente im Besitz der Polizei und die vollen Geständnisse von mehr als zweihundert verhafteten Personen beweisen... und so weiter, und so weiter.
Diese Enthüllungen >beweisen<, dass die Anführer der P.O.U.M. General Franco durch Funk militärische Geheimnisse übermittelt hatten, mit Berlin in Verbindung standen und mit der geheimen faschistischen Organisation in Madrid zusammenarbeiteten. Ferner brachte man sensationelle Einzelheiten über geheime, mit unsichtbarer Tinte geschriebene Botschaften, geheimnisvolle Dokumente, die den Buchstaben N. als Unterschrift trugen (als Abkürzung für Nin) und so weiter, und so fort.
Das endgültige Ergebnis aber lautete: Sechs Monate nach den Ereignissen, während ich diesen Bericht schreibe, sind die meisten Anführer der P.O.U.M. zwar immer noch im Gefängnis, aber keiner ist bisher vor ein Gericht gestellt worden. Die Anschuldigungen über die Funkverbindung mit Franco und so weiter sind nicht einmal zu einer Anklageschrift formuliert worden. Wären sie wirklich der Spionage schuldig gewesen, hätte man sie innerhalb einer Woche verurteilt und erschossen, wie es mit vielen faschistischen Spionen vorher geschehen war. Aber nicht ein Fetzen Beweis wurde jemals vorgewiesen, außer den unbewiesenen Erklärungen in der kommunistischen Presse. Von den zweihundert »vollen Geständnissen« aber, die, wenn sie vorhanden gewesen wären, ausgereicht hätten, jeden zu überführen, hörte man nie wieder etwas. Sie waren in Wirklichkeit nur zweihundert Hirngespinste eines Schreiberlings.
Darüber hinaus haben die meisten Mitglieder der spanischen Regierung erklärt, sie glaubten den Anschuldigungen gegen die P.O.U.M. nicht. Kürzlich hat das Kabinett mit fünf gegen zwei Stimmen entschieden, die antifaschistischen politischen Gefangenen zu entlassen, die zwei Gegenstimmen kamen von den kommunistischen Kabinettsmitgliedern. Im August reiste eine internationale Kommission unter Führung des Unterhausabgeordneten James Maxton nach Spanien, um die Anschuldigungen gegen die P.O.U.M. und das Verschwinden von Andres Nin zu untersuchen. Prieto, der Minister für Nationale Verteidigung, Irujo, der Justizminister, Zugazagoitia, der Innenminister, Ortega y Gasset, der Generalanwalt, Prat Garcia und einige andere erklärten alle, sie glaubten nicht, dass die Anführer der P.O.U.M. der Spionage schuldig seien. Irujo fügte hinzu, er habe die Dossiers des Falles gelesen, und keins der so genannten Beweisstücke könne einer Untersuchung standhalten. Das Dokument, das angeblich von Nin unterzeichnet wurde, sei »wertlos«, das heißt eine Fälschung. Prieto glaubte zwar, dass die Anführer der P.O.U.M. für die Maikämpfe in Barcelona verantwortlich waren, lehnte aber die Unterstellung ab, sie seien faschistische Spione. »Es ist besonders schwerwiegend«, fügte er hinzu, »dass die Verhaftung der P.O.U.M.-Führer nicht von der Regierung beschlossen wurde, sondern die Polizei diese Verhaftungen aus eigener Machtvollkommenheit durchführte. Die Verantwortlichen sind nicht unter den obersten Polizeichefs zu finden, sondern unter ihrem Gefolge, das von den Kommunisten entsprechend ihren üblichen Gepflogenheiten infiltriert wurde.« Er führte noch andere Fälle illegaler Verhaftung durch die Polizei an. Irujo erklärte ebenfalls, die Polizei sei »quasi unabhängig« geworden und stünde in Wirklichkeit unter der Kontrolle ausländischer kommunistischer Elemente. Prieto deutete der Delegation offen an, dass die Regierung es sich nicht leisten könne, die kommunistische Partei zu beleidigen, solange die Russen Waffen lieferten. Als eine andere Delegation unter der Führung des Unterhausabgeordneten John McGovern im Dezember nach Spanien reiste, erhielt sie ziemlich die gleiche Antwort wie zuvor. Ja, der Innenminister Zugazagoitia wiederholte Prietos Andeutungen noch klarer. »Wir erhielten Hilfe von Russland und mussten bestimmte Maßnahmen zulassen, die uns nicht gefielen.« Es mag interessant sein, zur Illustration für die Unabhängigkeit der Polizei zu erfahren, dass selbst McGovern und seine Begleiter mit einem vom Direktor der Gefängnisse und vom Justizminister unterschriebenen Befehl keinen Zutritt zu den von der kommunistischen Partei in Barcelona unterhaltenen geheimen Gefängnissen< erhielten (Anm.: Für Berichte über die zwei Delegationen vergleiche: Le Populaire (7. September), La Fleche (18. September), Bericht über die Maxton-Delegation, veröffentlicht durch Independent News (219, Rue St-Denis, Paris) und das Heft von McGovern, Terror in Spanien.).
Ich glaube, das genügt, um die Sprache zu klären. Die Anschuldigung, die P.O.U.M. habe Spionage getrieben, beruhte allein auf den Artikeln der kommunistischen Presse und der Tätigkeit der von den Kommunisten kontrollierten Geheimpolizei. Die Anführer der P.O.U.M. und Hunderte oder Tausende ihrer Anhänger sind immer noch im Gefängnis, während die kommunistische Presse seit sechs Monaten nicht aufhört, die Hinrichtung der »Verräter« zu fordern. Aber Negrin und die anderen haben sich nicht einschüchtern lassen und weigerten sich, ein generelles Massaker der Trotzkisten< durchzuführen. Man muss es ihnen hoch anrechnen, dass sie das nicht getan haben, wenn man den Druck berücksichtigt, der auf sie ausgeübt worden ist. Angesichts dessen, was ich oben zitiert habe, fällt es sehr schwer zu glauben, dass die P.O.U.M. wirklich eine faschistische Spionageorganisation war. Es sei denn, man glaubt auch, dass Maxton, McGovern, Prieto, Iruja, Zugazagoitia und alle anderen von den Faschisten bezahlt werden.
Nun noch ein Wort zu der Anschuldigung, die P.O.U.M. sei >trotzkistisch<. Das ist ein Wort, mit dem man sehr freizügig um sich wirft und das in einer Art und Weise gebraucht wird, die äußerst irreführend ist und oft irreführen soll. Es lohnt sich, ein wenig Zeit auf die Definition zu verwenden. Das Wort Trotzkist wird gebraucht, um drei voneinander verschiedene Dinge zu bezeichnen:
1. jemand, der wie Trotzki, »Weltrevolution« statt »Sozialismus in einem einzelnen Land« befürwortet, oder etwas allgemeiner, ein revolutionärer Extremist;
2. ein Mitglied der Organisation, deren Anführer Trotzki ist;
3. ein verkappter Faschist, der sich als Revolutionär ausgibt und als Saboteur in der UdSSR wirkt, der überhaupt versucht, die Kräfte der Linken zu zersplittern und unterminieren.
Nach der Definition Nummer eins könnte man wahrscheinlich die P.O.U.M. trotzkistisch nennen, genauso aber auch die englische I.L.P., die deutsche S.A.P., die Linkssozialisten in Frankreich und so weiter. Aber die P.O.U.M. hatte keine Verbindung mit Trotzki oder der trotzkistischen Organisation (»Bolschewistische Leninisten«). Als der Krieg ausbrach, unterstützten die nach Spanien gekommenen ausländischen Trotzkisten (etwa fünfzehn oder zwanzig) zunächst die P.O.U.M., ohne Parteimitglieder zu werden. Die P.O.U.M. war einfach die Partei, die ihren eigenen Ansichten am nächsten stand. Später befahl Trotzki seinen Anhängern, die Politik der P.O.U.M. anzugreifen, und die Trotzkisten wurden aus den Parteiämtern entfernt, obwohl einige in der Miliz blieben. Nin, der nach Marins Gefangennahme durch die Faschisten die Führung der P.O.U.M. übernommen hatte, war früher einmal ein Sekretär Trotzkis gewesen. Aber er hatte ihn ein paar Jahre vorher verlassen und die P.O.U.M. durch die Verschmelzung verschiedener oppositioneller, kommunistischer Gruppen mit einer ehemaligen Partei, dem Arbeiter- und Bauern-Block, gebildet. Die ehemalige Verbindung Nins mit Trotzki wurde von der kommunistischen Presse benutzt, um zu zeigen, dass die P.O.U.M. wirklich trotzkistisch sei. In der gleichen Weise könnte man beweisen, dass die englische kommunistische Partei in Wirklichkeit eine faschistische Organisation ist, weil Mr. John Strachey früher Verbindung zu Sir Oswald Mosley hatte.
Nach der Definition Nummer zwei, der einzig exakten Definition des Wortes, war die P.O.U.M. bestimmt nicht trotzkistisch. Es ist wichtig, diese Unterscheidung zu machen, da die Mehrheit der Kommunisten es als selbstverständlich annimmt, dass ein Trotzkist der zweiten Definition auch immer ein Trotzkist entsprechend der dritten Definition ist; das heißt, die ganze trotzkistische Organisation ist einfach ein faschistischer Spionageapparat. Das Wort >Trotzkismus< wurde erst zur Zeit der russischen Spionageprozesse allgemein bekannt. Seit damals ist die Bezeichnung >Trotzkist< praktisch gleichbedeutend mit der Bezeichnung >Mörder<, >agent provocateur< und so weiter. Gleichzeitig steht jeder, der die kommunistische Politik nach einem linksgerichteten Gesichtspunkt kritisiert, in Gefahr, als Trotzkist verschrien zu werden. Wird damit also behauptet, dass jeder, der dem revolutionären Extremismus huldigt, von den Faschisten bezahlt wird?
In der Praxis legt man es jedenfalls je nach den Umständen aus. Als Maxton, wie ich oben erwähnte, mit seiner Delegation nach Spanien ging, brandmarkten Verdad, Frente Rojo und andere spanische kommunistische Zeitungen ihn sofort als einen »trotzkistischen Faschisten«, einen Spion der Gestapo und so weiter. Aber die englischen Kommunisten hüteten sich, diese Anschuldigung zu wiederholen. In der englischen kommunistischen Presse ist Maxton nur ein »reaktionärer Feind der Arbeiterklasse«, das ist gerade so unbestimmt, wie man es braucht. Der Grund hierfür liegt selbstverständlich in der einfachen Tatsache, dass mehrere harte Lektionen der englischen kommunistischen Presse eine gesunde Furcht vor dem Gesetz gegen Verleumdung eingeflößt haben. Daß die Anschuldigung in einem Lande, wo man sie vielleicht beweisen muss, nicht wiederholt wurde, ist ein ausreichender Beweis dafür, dass sie eine Lüge war.
Es mag den Anschein haben, als hätte ich die Anschuldigung gegen die P.O.U.M. ausführlicher als nötig erörtert. Im Vergleich zu dem ungeheuren Elend eines Bürgerkrieges mag dieser mörderische Parteienstreit mit seinen unvermeidlichen Ungerechtigkeiten und falschen Anschuldigungen trivial erscheinen. Das ist aber in Wirklichkeit nicht so. Ich bin der Ansicht, dass derartige Verleumdungen, Pressekampagnen und die Denkgewohnheiten, die sich in ihnen manifestieren, der antifaschistischen Sache einen äußerst tödlichen Schaden zufügen können.
Wer sich mit der Materie befasst hat, weiß, dass diese kommunistische Taktik der Bekämpfung politischer Gegner mit aufgebauschten Anschuldigungen nichts Neues ist. Heute heißt die Parole »trotzkistischer Faschist«, gestern lautete sie »sozialistischer Faschist«. Es ist erst sechs oder sieben Jahre her, dass in den russischen Staatsprozessen >bewiesen< wurde, dass die Anführer der Zweiten Internationale, einschließlich Leon Blums und prominenter Mitglieder der britischen Labour-Partei, eine riesige Verschwörung zur militärischen Invasion der UdSSR ausheckten. Aber heute sind die französischen Kommunisten glücklich, Blum als Führer anzuerkennen, und setzen die englischen Kommunisten Himmel und Hölle in Bewegung, in die Labour-Partei hineinzukommen. Ich bezweifle, ob sich das auszahlt, wahrscheinlich tut es das nicht einmal für die Auseinandersetzung mit einer Splittergruppe. Es gibt jedoch keinen Zweifel darüber, wie viel Hass und Zwiespalt die Anschuldigung >trotzkistischer Faschist verursacht. Überall werden die einfachen Kommunisten verführt, eine sinnlose Hexenjagd auf >Trotzkisten< zu veranstalten. Parteien wie die P.O.U.M. werden in die völlig unfruchtbare Position zurückgetrieben, als rein antikommunistische Parteien zu gelten. Schon zeigt sich der Anfang einer gefährlichen Spaltung in der Weltarbeiterbewegung. Noch ein paar Verleumdungen überzeugter Sozialisten, noch einige Intrigen, wie die Anschuldigungen gegen die P.O.U.M., und die Spaltung wird unüberbrückbar sein. Die einzige Hoffnung besteht darin, die politische Auseinandersetzung auf einer Ebene zu halten, auf der eine erschöpfende Diskussion möglich ist. Es besteht ein echter Gegensatz zwischen den Kommunisten und denjenigen, die links von ihnen stehen oder diese Position beanspruchen. Die Kommunisten behaupten, der Faschismus könne durch ein Bündnis mit Gruppen der kapitalistischen Klasse geschlagen werden (die Volksfront). Ihre Gegner behaupten, dieses Manöver schaffe nur neue Brutstätten für den Faschismus. Diese Frage muss gelöst werden. Wenn wir die falsche Entscheidung treffen, könnten wir für Jahrhunderte in halber Sklaverei enden. Solange aber kein anderes Argument vorgebracht wird als der Schrei >trotzkistischer Faschist<, kann die Diskussion nicht einmal anfangen. Für mich wäre es zum Beispiel unmöglich, mit einem kommunistischen Parteimitglied über Recht oder Unrecht der Kämpfe in Barcelona zu debattieren. Denn kein Kommunist — das heißt kein >guter< Kommunist - könnte zugeben, dass ich eine wahrhaftige Schilderung der Ereignisse gegeben habe. Würde er pflichtgemäß seiner Partei->Linie< folgen, müsste er erklären, ich lüge, oder bestenfalls, ich sei, hoffnungslos verführt worden. Er müsste sagen, dass jeder, der, viele tausend Kilometer vom wahren Geschehen entfernt, flüchtig die Schlagzeilen des Daily Worker liest, mehr über das Geschehen in Barcelona weiß als ich. Unter diesen Umständen gibt es keine Argumente, das notwendige Minimum für ein Einverständnis lässt sich nicht erzielen. Welchen Zweck hat es zu sagen, Leute wie Maxton würden von den Faschisten bezahlt; dadurch wird jede ernsthafte Diskussion unmöglich. Das ist genauso, als ob ein Spieler mitten in einem Schachwettkampf plötzlich laut schreiend behauptete, sein Gegner sei ein Brandstifter oder Bigamist. Der eigentliche Streitpunkt bleibt dabei unberührt, durch Verleumdung kann man nichts entscheiden.

 

Zwölftes Kapitel

Etwa drei Tage nach dem Ende der Kämpfe in Barcelona kehrten wir an die Front zurück. Nach den Kämpfen - besonders nach der Verleumdungskampagne in den Zeitungen — war es schwer, diesen Krieg in der gleichen naiven, idealistischen Weise wie vorher zu betrachten. Ich glaube, es gibt niemand, der nicht in einem gewissen Umfang seine Illusionen verloren hat, wenn er länger als einige Wochen in Spanien gewesen ist. In Gedanken sah ich den Zeitungskorrespondenten, den ich am ersten Tag in Barcelona getroffen hatte und der mir sagte: »Dieser Krieg ist genau wie jeder andere ein Betrug.« Diese Bemerkung hatte mich tief erschüttert, und ich glaubte damals im Dezember nicht, dass sie richtig sei. Sie stimmte nicht einmal jetzt im Mai, aber sie kam der Wahrheit immer näher. In Wirklichkeit unterliegt jeder Krieg mit jedem Monat, den er länger dauert, einer gewissen sich steigernden Entartung. Begriffe wie individuelle Freiheit und wahrhafte Presse können einfach nicht mit dem militärischen Nutzeffekt konkurrieren.
Es war jetzt möglich, sich Gedanken darüber zu machen, was weiter geschehen würde. Man konnte leicht erkennen, dass die Regierung Caballero gestürzt und durch eine stärker rechtsgerichtete Regierung unter größerem kommunistischem Einfluss ersetzt werden würde (was tatsächlich ein oder zwei Wochen später geschah). Diese Regierung würde es sich zur Aufgabe machen, die Macht der Gewerkschaften ein für allemal zu brechen. Auch später, nach dem Sieg über Franco, würden die Aussichten nicht rosig sein, selbst wenn man einmal die gewaltigen Probleme außer acht ließ, die sich aus der Neugestaltung Spaniens ergaben. Die Darstellungen in der Zeitung vom »Krieg für die Demokratie« waren leeres Gewäsch. Kein vernünftiger Mensch nahm an, dass es in einem bei Kriegsende so geteilten und erschöpften Land wie Spanien noch eine Hoffnung für die Demokratie geben könne, selbst nicht so, wie wir sie in England oder Frankreich kennen. Eine Diktatur musste kommen, und es war klar, dass die Chancen einer Diktatur der Arbeiterklasse vorbei waren. Das hieß, dass die allgemeine Entwicklung in die Richtung einer Spielart des Faschismus gehen würde. Dieser Faschismus würde zweifellos eine höflichere Bezeichnung haben und, da es sich um Spanien handelte, menschlicher und weniger wirkungsvoll ausfallen als die deutschen und italienischen Abarten. An weiteren Alternativen gab es nur eine unendlich schlimmere Diktatur unter Franco oder die Beendigung des Krieges durch die schon immer vorhandene Möglichkeit der Aufteilung Spaniens, entweder entlang den tatsächlichen Fronten oder nach wirtschaftlichen Zonen.
Das war eine bedrückende Aussicht, wie immer man es auch sehen mochte. Aber daraus ließen sich nicht folgern, es sei nicht wert, für die Regierung gegen den offenen und weiter entwickelten Faschismus Francos und Hitlers zu kämpfen. Mochte die Nachkriegsregierung große Fehler haben, Francos Regime würde sicherlich schlimmer sein. Für die Arbeiter, das Proletariat in den Städten, mochte es am Ende wenig ausmachen, wer gewann, denn Spanien ist vor allem ein Agrarland, und die Bauern würden mit ziemlicher Gewissheit aus einem Sieg der Regierung Nutzen ziehen. Zumindest ein Teil des eroberten Landes würde in ihrem Besitz bleiben, das aber hieß, dass auch in den Gebieten, die unter Francos Herrschaft gestanden hatten, Land verteilt würde. Es war auch nicht anzunehmen, dass die tatsächlich in einigen Gebieten - Spaniens vorher vorhandene Knechtschaft wiederhergestellt würde. Jedenfalls müsste die bei Kriegsende herrschende Regierung antiklerikal und antifeudal sein. Sie würde, zumindest für eine gewisse Zeit, die Kirche unter Kontrolle halten und das Land modernisieren müssen, zum Beispiel Straßen bauen, die Erziehung und die öffentliche Gesundheit fördern. Schon während des Krieges hatte man bis zu einem gewissen Grade etwas in dieser Richtung unternommen. Franco dagegen war fest an die großen feudalen Landbesitzer gebunden und vertrat eine engstirnige klerikal-militärische Reaktion, soweit er nicht lediglich eine Marionette Italiens oder Deutschlands war. Möglicherweise war die Volksfront ein Betrug, aber Franco war ein Anachronismus. Nur Millionäre oder Romantiker konnten sich seinen Sieg wünschen.
Außerdem ging es um die Frage des internationalen Prestiges des Faschismus. Dieses Problem hatte mich seit ein oder zwei Jahren wie ein Alpdruck verfolgt. Seit 1930 hatten die Faschisten nur Siege errungen, so war es an der Zeit, dass sie einmal geschlagen wurden, und es kam kaum darauf an, von wem. Trieben wir Franco und seine ausländischen Söldner ins Meer, würde das die Weltsituation gewaltig verbessern, selbst wenn Spanien unter einer Diktatur daraus hervorginge und seine besten Leute ins Gefängnis kämen. Allein schon eine Niederlage des Faschismus war es wert, den Krieg zu gewinnen.
So sah ich die Dinge damals. Ich sollte hinzufügen, dass ich heute besser über die Regierung Negrin denke als bei seinem Amtsantritt. Sie hat den schwierigen Kampf mit prächtigem Mut durchgehalten und mehr politische Toleranz bewiesen, als irgend jemand erwartete. Aber ich glaube immer noch, dass eine Nachkriegsregierung eine faschistische Neigung haben wird, es sei denn, Spanien würde mit allen unvorhersehbaren Konsequenzen geteilt. Wieder einmal lasse ich diese Ansicht stehen, wie sie ist, und nehme das Risiko auf mich, dass die Zeit mit mir machen wird, was sie mit den meisten Propheten getan hat.
Wir waren gerade an der Front angekommen, als wir hörten, dass Bob Smillie auf seinem Weg zurück nach England an der Grenze verhaftet, nach Valencia gebracht und in ein Gefängnis geworfen worden sei. Smillie war seit dem vergangenen Oktober in Spanien gewesen. Einige Monate lang hatte er im Büro der P.O.U.M. gearbeitet. Als dann die anderen I.L.P.-Mitglieder ankamen, war er mit der Absicht in die Miliz eingetreten, drei Monate an die Front zu gehen, ehe er nach England zurückkehrte, um sich dort an einer Propagandatour zu beteiligen. Es dauerte einige Zeit, ehe wir ausfindig machen konnten, warum er verhaftet worden war. Man hielt ihn incomunicado, so dass nicht einmal ein Rechtsanwalt zu ihm konnte. In Spanien gibt es kein Habeas corpus, jedenfalls nicht in der Praxis, und man kann monatelang ununterbrochen im Gefängnis festgehalten werden, ohne dass Anklage erhoben wird, geschweige denn ein Urteil ergeht. Schließlich hörten wir von einem entlassenen Gefangenen, dass Smillie verhaftet worden sei, weil er »Waffen trug«. Wie ich zufällig wusste, waren diese »Waffen« zwei Handgranaten primitivster Art, wie sie bei Kriegsbeginn benutzt wurden. Zusammen mit Granatsplittern und anderen Souvenirs hatte er sie mit nach Hause nehmen wollen, um bei seinen Vorträgen ein wenig damit anzugeben. Die Ladung und die Zünder waren entfernt worden, so blieben nur die vollständig harmlosen Stahlzylinder übrig. Das war aber offensichtlich nur ein Vorwand, und man hatte ihn vielmehr wegen seiner bekannten Verbindung mit der P.O.U.M. verhaftet. Die Kämpfe in Barcelona waren gerade zu Ende, und die Behörden bemühten sich in diesem Augenblick sehr, niemand aus Spanien herauszulassen, der in der Lage gewesen wäre, der offiziellen Version zu widersprechen. So wurden also Menschen unter mehr oder weniger nichtigen Vorwänden an der Grenze verhaftet. Es ist sehr gut möglich, dass anfangs nur beabsichtigt war, Smillie einige Tage festzuhalten. Unglücklicherweise bleibt man aber in Spanien mit oder ohne Urteil für längere Zeit im Gefängnis, wenn man erst einmal dort ist.
Wir lagen immer noch vor Huesca, aber man hatte uns weiter nach rechts, gegenüber der faschistischen Feldschanze, aufgestellt, die wir einige Wochen vorher vorübergehend erobert hatten. Ich fungierte jetzt als teniente, das entspricht dem Leutnant der britischen Armee, soviel ich weiß. Ich führte das Kommando über dreißig Männer, Engländer und Spanier. Mein Name war zur Bestätigung einer regulären Offiziersstelle gemeldet worden. Ob ich sie erhalten würde, war ungewiss. Bisher hatten sich die Milizoffiziere geweigert, reguläre Offiziersstellen einzunehmen, da dies höheren Sold bedeutete und sie in Konflikt mit der Gleichheitsidee in der Miliz brachte. Aber sie mussten sich jetzt dazu bequemen. Benjamin war schon offiziell zum Hauptmann ernannt worden, und Kopp sollte zum Major befördert werden. Natürlich konnte die Regierung nicht auf die Milizoffiziere verzichten, aber sie bestätigte keinen von ihnen in einem höheren Rang als dem des Majors. Wahrscheinlich tat sie das, um die höheren Kommandoposten für reguläre Armeeoffiziere oder die neuen Offiziere der Kriegsschule freizuhalten. Als Ergebnis gab es in unserer 29. Division und zweifellos in vielen anderen Einheiten zeitweilig die seltsame Situation, dass der Divisionskommandeur, die Brigadekommandeure und die Bataillonskommandeure alle nur Major waren.
An der Front ereignete sich nicht viel. Die Schlacht um die Straße nach Jaca war erloschen und flammte vor Mitte Juni nicht wieder auf. Scharfschützen waren das Hauptübel in unserer Stellung. Die faschistischen Schützengräben lagen mehr als hundertfünfzig Meter entfernt, aber auf höherem Gelände und zu beiden Seiten unserer Stellung, die hier einen rechten Winkel bildete. Die Ecke des Winkels war eine gefährliche Stelle. Dort hatte es schon mehrere Verluste durch Scharfschützen gegeben. Von Zeit zu Zeit feuerten die Faschisten einen Gewehrgranatwerfer oder eine ähnliche Waffe auf uns ab. Sie machte einen schauderhaften Krach und war entnervend, denn man konnte sie nicht rechtzeitig genug hören, um ihr auszuweichen. Aber sie war in Wirklichkeit nicht gefährlich. Sie schlug nur ein Loch von der Größe eines Waschfasses in die Erde. Die Nächte waren angenehm warm, die Tage glühend heiß. Die Moskitos wurden unerträglich, und trotz der sauberen Kleidung, die wir aus Barcelona mitgebracht hatten, waren wir fast sofort wieder verlaust. In den verlassenen Obstgärten draußen im Niemandsland wurden die Kirschen schon hell. Zwei Tage lang hatten wir Regenfälle, die Unterstände wurden überflutet, und die Brustwehr sank dreißig Zentimeter ein. Danach mussten wir wieder einige Tage den klebrigen Ton mit den elenden spanischen Spaten, die sich wie Blechlöffel verbiegen, ausgraben.
Für jede Kompanie war uns ein Grabenmörser versprochen worden, und ich wartete schon mit Freude darauf. Nachts gingen wir wie gewöhnlich auf Spähtrupp, nur war es jetzt gefährlicher als früher, denn die faschistischen Schützengräben waren besser besetzt und sie waren jetzt vorsichtiger geworden. Sie hatten Blechbüchsen direkt vor die Drahtverhaue gelegt und schossen sofort mit Maschinengewehren, wenn sie nur einen Ton hörten. Während des Tages schossen wir aus einem Scharfschützennest im Niemandsland auf ihre Stellungen. Wenn man hundert Meter vorwärtskroch, kam man zu einem Graben, der hinter hohem Gras verborgen lag und eine Lücke in der faschistischen Brustwehr beherrschte. In diesem Graben hatten wir ein Gewehrnest eingerichtet. Wenn man lange genug wartete, konnte man regelmäßig eine in Khaki gekleidete Figur hinter der Lücke schnell vorbeischlüpfen sehen. Ich schoss verschiedene Male. Ich weiß nicht ob ich jemand traf; es ist sehr unwahrscheinlich, denn ich bin ein sehr schlechter Gewehrschütze. Aber es war immerhin ein ziemlicher Spaß, da die Faschisten nicht wussten, woher die Schüsse kamen, und ich war sicher, dass ich einen von ihnen früher oder später erwischen würde. Aber der Jäger wurde zum Gejagten - ein faschistischer Scharfschütze erwischte statt dessen mich. Ich war etwa zehn Tage wieder an der Front, als es geschah. Das ganze Erlebnis, von einer Kugel getroffen zu werden, ist sehr interessant, und ich glaube, dass es sich lohnt, die näheren Einzelheiten zu beschreiben.
Um fünf Uhr morgens stand ich an der Ecke der Brustwehr. Das war immer eine gefährliche Zeit, denn wir hatten die Morgendämmerung hinter unserem Rücken, und wenn man den Kopf über die Brustwehr hinaussteckte, hob er sich deutlich gegen den Himmel ab. Vor dem Wachwechsel sprach ich mit dem Wachtposten. Plötzlich, mitten im Satz, spürte ich - nun, es ist sehr schwer zu beschreiben, was ich spürte, obwohl ich mich mit äußerster Anschaulichkeit daran erinnere.
Grob gesprochen hatte ich das Gefühl, mich im Zentrum einer Explosion zu befinden. Es war wie ein lauter Knall und ein blendender Lichtblitz, der mich ganz umschloss, zugleich fühlte ich einen gewaltigen Stoß - keinen Schmerz, nur einen heftigen Schock, wie man ihn bei einem elektrischen Schlag bekommt. Dabei hatte ich ein Gefühl äußerster Schwäche, als ob ich zerschlagen werde und zu einem Nichts einschrumpfte. Die Sandsäcke vor mir traten in eine unendliche Entfernung zurück. Ich glaube, man fühlt dasselbe, wenn man von einem Blitz getroffen wird. Ich wusste sofort, dass ich getroffen worden war, aber wegen des Knalles und Blitzes dachte ich, es sei von einem Gewehr, das zufällig in der Nähe losgegangen war. Alles ereignete sich in einem Zeitraum von weniger als einer Sekunde. Im nächsten Augenblick wurden meine Knie weich und ich fiel, dabei schlug mein Kopf mit einem heftigen Schlag auf den Boden, was ich zu meiner Erleichterung aber nicht spürte. Ich hatte ein dumpfes, betäubendes Gefühl, das Bewusstsein, dass ich sehr schwer verwundet worden war, aber keinen Schmerz in normalem Sinne.
Der amerikanische Wachtposten, mit dem ich mich unterhalten hatte, stürzte auf mich zu. »Bei Gott! Bist du getroffen?« Die Männer kamen herbei. Es gab die übliche Aufregung: »Hebt ihn auf! Wo hat es ihn erwischt? Macht sein Hemd auf!« Der Amerikaner fragte nach einem Messer um mein Hemd aufzuschneiden. Ich wusste, dass ich eins in meiner Tasche hatte, und versuchte es herauszunehmen, aber dann entdeckte ich, dass mein rechter Arm gelähmt war. Ich hatte eine gewisse Genugtuung, dass ich keine Schmerzen fühlte, und ich dachte, darüber wird sich meine Frau freuen. Sie hatte sich immer gewünscht, dass ich verwundet würde, denn sie sagte, dadurch werde mir erspart, in der großen Schlacht getötet zu werden. Erst jetzt begann ich mich zu fragen, wo ich getroffen worden war und wie schlimm. Ich konnte nichts fühlen, aber ich war mir bewusst, dass die Kugel irgendwo vorne am Körper getroffen hatte. Als ich versuchte zu sprechen, merkte ich, dass ich keine Stimme hatte, nur ein schwaches Gurgeln. Aber beim zweiten Versuch gelang es mir zu fragen, wo ich getroffen worden sei. Sie sagten, am Hals. Harry Webb, der unsere Tragbahre versorgte, brachte ein Verbandspäckchen und eine kleine Flasche mit Alkohol, die man uns für die Erste Hilfe gegeben hatte. Als sie mich aufhoben, stürzte eine Menge Blut aus meinem Mund, und ich hörte, wie ein Spanier hinter mir sagte, die Kugel sei genau durch meinen Hals hindurchgegangen. Ich fühlte, wie der Alkohol, der normalerweise wie die Hölle brennen würde, mit angenehmer Kühle auf meine Wunde spritzte.
Sie legten mich wieder hin, während einige Männer die Tragbahre holten. Sobald ich wusste, dass die Kugel meinen Hals glatt durchschlagen hatte, war ich davon überzeugt, dass es mit mir zu Ende sei. Ich hatte noch nie von einem Mann oder einem Tier gehört, dem eine Kugel mitten durch den Hals geschossen wurde und der dann am Leben blieb. Aus meinem Mundwinkel tropfte Blut. Ich glaubte, die Arterie sei durchschlagen. Ich wunderte mich, wie lange man wohl noch lebt, wenn die Halsschlagader durchschnitten ist. Vermutlich nicht viele Minuten. Alles war sehr verschwommen. Zwei Minuten lang etwa muss ich angenommen haben, dass ich schon tot sei, und auch das war sehr interessant; ich meine, es ist interessant zu wissen, was für Gedanken man in solch einem Augenblick hat. Mein erster Gedanke beschäftigte sich konventionell genug mit meiner Frau. Mein zweiter Gedanke war ein leidenschaftlicher Widerspruch dagegen, dass ich die Welt verlassen sollte, die mir alles in allem ganz gut gefiel. Ich hatte Zeit genug, das sehr lebhaft zu empfinden. Dieses dumme Unglück machte mich richtig wütend. So eine sinnlose Geschichte! Wegen der Sorglosigkeit eines Augenblickes nicht einmal in der Schlacht, sondern in der muffigen Ecke eines Schützengrabens umgelegt zu werden! Ich dachte auch an den Mann, der mich erschossen hatte, und fragte mich, wie er wohl aussehen möge, ob er ein Spanier oder ein Ausländer sei und ob er wisse, dass er mich getroffen habe. Eigentlich konnte ich ihn nicht richtig hassen. Ich dachte mir, dass ich ihn, da er ja ein Faschist war, auch getötet hätte, wenn es mir möglich gewesen wäre. Und hätte man ihn gefangen und zu uns gebracht, hätte ich ihm nur zu seinem guten Schuss gratuliert. Es mag natürlich sein, dass man ganz andere Gedanken hat, wenn man wirklich stirbt.
Sie hatten mich gerade auf die Tragbahre gelegt, als mein gelähmter Arm wieder lebendig wurde und verdammt schmerzte. Zunächst aber ermutigten mich die Schmerzen, denn ich wusste, dass Gefühle nicht heftiger werden, wenn man stirbt. Ich fühlte mich wieder etwas normaler, und die vier armen Teufel taten mir leid, die unter der Tragbahre auf ihren Schultern schwitzten und ausglitten. Die Entfernung zum Ambulanzwagen betrug etwa zweieinhalb Kilometer, und es war ein ziemlich übler Weg über holprige, glitschige Pfade. Ich wusste, wie sehr man darunter schwitzt, denn ein oder zwei Tage vorher hatte ich selbst geholfen, einen verwundeten Mann hinunterzutragen. Die Blätter der Silberpappeln, die an einigen Stellen unseren Schützengraben einsäumten, wischten über mein Gesicht. Ich dachte nun, wie gut es doch sei, noch in einer Welt zu leben, in der Silberpappeln wuchsen. Während der ganzen Zeit aber hatte ich einen höllischen Schmerz in meinem Arm. Ich fluchte und versuchte dann wieder, nicht zu fluchen, denn jedes Mal, wenn ich tief atmete, schäumte das Blut aus meinem Mund.
Der Doktor verband die Wunde neu, gab mir eine Morphiumspritze und schickte mich nach Sietamo. Das Lazarett in Sietamo bestand aus schnell errichteten Holzhütten, wo man in der Regel die Verwundeten nur ein paar Stunden ließ, ehe sie nach Barbastro oder Lerida geschickt wurden. Ich war vom Morphium benommen, hatte aber noch immer große Schmerzen, konnte mich praktisch nicht bewegen und schluckte dauernd Blut. Es war typisch für die Methoden in einem spanischen Lazarett, dass die ungeübte Krankenschwester versuchte, mir in diesem Zustand das normale Lazarettessen einzutrichtern. Es bestand aus einem riesigen Teller Suppe, Eiern, einem fetten Stew und so weiter, sie schien überrascht zu sein, dass ich es nicht zu mir nahm. Ich fragte nach einer Zigarette, aber es war gerade eine jener Zeiten, in denen es keinen Tabak gab, und im ganzen Lazarett war keine einzige Zigarette aufzutreiben. Dann kamen zwei Kameraden an mein Bett, denen man erlaubt hatte, die Front einige Stunden zu verlassen.
»Hallo! Du lebst? Wie geht's? Gut. Wir möchten deine Uhr und deinen Revolver und deine elektrische Taschenlampe haben. Und dein Messer, wenn du eins hast.«
Sie machten sich mit meinem gesamten beweglichen Besitz davon. So ging es jedes Mal, wenn ein Mann verwundet wurde. Alles, was er besaß, wurde sofort aufgeteilt, und das war richtig, denn Uhren, Revolver und ähnliches waren an der Front sehr kostbar, und wenn sie im Gepäck eines Verwundeten mit zurückgingen, wurden sie ganz gewiss irgendwo am Wege gestohlen.
Am Abend waren genug Kranke und Verwundete zusammengekommen, um einige Ambulanzwagen zu füllen, und man sandte uns nach Barbastro. Was für eine Reise! Es hieß, man genese in diesem Kriege nur, wenn man an einem der äußeren Glieder verwundet wurde, man müsse aber immer sterben, wenn man eine Wunde im Inneren des Leibes habe. Ich wusste jetzt, warum. Niemand mit inneren Blutungen hätte diese kilometerlange Fahrt im holpernden Wagen über eine Schotterstraße, die durch schwere Lastwagen völlig ausgefahren und seit Kriegsbeginn nicht mehr ausgebessert worden war, überstehen können. Peng! Bum! Holterdiepolter! Diese Fahrt versetzte mich in meine frühe Kindheit zurück, und ich erinnerte mich an einen schrecklichen Apparat, das so genannte Wiggle-Woggle in der Ausstellung der >Weißen Stadt<. Man hatte vergessen, uns auf der Tragbahre festzubinden. Ich hatte noch genug Kraft in meinem linken Arm, um mich festzuhalten, aber ein armer Kerl flog auf den Boden und litt Gott weiß was für Schmerzen. Ein anderer, der noch gehen konnte, saß in der Ecke der Ambulanz und erbrach sich im ganzen Umkreis. Das Lazarett in Barbastro war überfüllt. Die Betten standen so nahe aneinander, dass sie sich fast berührten. Am nächsten Morgen wurde eine Anzahl von uns in den Lazarettzug geladen und nach Lerida hinabgeschickt.
Ich blieb fünf oder sechs Tage in Lerida. Es war ein großes Lazarett, in dem Kranke, Verwundete und normale Zivilpatienten mehr oder weniger durcheinander lagen. Einige Männer in meiner Abteilung hatten abscheuliche Wunden. Im Bett neben mir lag ein Bursche mit schwarzem Haar, der unter irgendeiner Krankheit litt und der eine Medizin bekam, die seinen Urin so grün wie Smaragd färbte. Seine Bettflasche war eine Sehenswürdigkeit in der ganzen Abtei-
lung. Ein Englisch sprechender holländischer Kommunist hatte gehört, dass ein Engländer im Lazarett liege, und brachte mir englische Zeitungen und freundete sich mit mir an. Er war in den Oktoberkämpfen schrecklich verwundet worden und hatte es irgendwie geschafft, sich im Lazarett von Lerida anzusiedeln und eine der Krankenschwestern zu heiraten. Sein Bein war durch die Wunde so eingeschrumpft, dass es nicht dicker als mein Arm war. Zwei Milizsoldaten, die ich in der ersten Woche an der Front kennenlernte, hatten Urlaub und kamen, um einen verwundeten Freund zu besuchen. Sie erkannten mich. Die Jungens waren etwa achtzehn Jahre alt. Sie standen unbeholfen an meinem Bett und versuchten, etwas zu sagen. Um zu zeigen, wie leid es ihnen tat dass ich verwundet worden war, nahmen sie plötzlich ihren ganzen Tabak aus der Tasche, gaben ihn mir und rannten davon, ehe ich ihn zurückgeben konnte. Wie typisch spanisch! Ich erfuhr später, dass man in der ganzen Stadt keinen Tabak kaufen konnte und sie mir die Ration einer vollen Woche gegeben hatten.
Nach einigen Tagen konnte ich aufstehen und mit dem Arm in der Binde umherspazieren. Wenn der Arm herabhing, schmerzte er jedoch sehr. Gleichzeitig hatte ich auch ziemlich heftige innere Schmerzen, die durch meinen Fall verursacht worden waren. Meine Stimme war fast vollkommen verschwunden. Aber nicht einen Augenblick verspürte ich Schmerzen von der Wunde selbst. Das ist anscheinend der Normalfall. Der ungeheure Schlag der Kugel verhindert ein direktes Gefühl in der Wunde. Der Splitter einer Granate oder Handgranate, der sehr ausgezackt ist und der einen normalerweise weniger schwer trifft, würde wahrscheinlich wie der Teufel schmerzen. Auf dem Lazarettgelände gab es einen netten Garten mit einem Teich mit Goldfischen und kleinen dunkelgrauen Fischen; ich glaube, es waren Ukeleie. Ich saß stundenlang und beobachtete sie. Durch die Behandlung in Lerida erhielt ich einen Einblick in das Lazarettwesen an der aragonischen Front. Ob es an anderen Fronten auch so ist, weiß ich nicht. Die Lazarette waren schon sehr gut. Die Ärzte waren fähige Leute, und es schien keinen Mangel an Medizin oder Ausrüstung zu geben. Aber man machte zwei schlimme Fehler, wodurch zweifellos Hunderte oder Tausende von Männern gestorben sind, die man hätte retten können.
Der eine Fehler bestand darin, dass alle Lazarette im weiten Umkreis hinter der Front mehr oder weniger nur als Feldlazarett und Durchgangsstation benutzt wurden. Folglich wurde man dort nur dann behandelt, wenn die Verwundung zu schwer und ein Transport unmöglich war. Theoretisch wurden die meisten Verwundeten direkt nach Barcelona oder Tarragona geschickt, aber wegen des mangelnden Transportraums dauerte es oft eine Woche oder zehn Tage, bis sie nach dort kamen. Man ließ sie in Sietamo, Barbastro, Monzon, Lerida und anderen Orten warten. Während dieser Zeit erhielten sie keine Behandlung, außer gelegentlich einem sauberen Verband, manchmal aber nicht einmal das. Männer mit abscheulichen Granatwunden und zerschmetterten Knochen wurden in eine Art Verschalung aus Verbandmull und Gips eingehüllt. Die Bezeichnung der Wunde wurde mit Bleistift außen aufgeschrieben, und normalerweise wurde die Verschalung nicht entfernt, ehe der Mann zehn Tage später in Barcelona oder Tarragona ankam. Unterwegs war es nahezu ausgeschlossen, dass die Wunden untersucht wurden. Die wenigen Ärzte konnten mit der Arbeit nicht fertig werden. Sie gingen einfach schnell an den Betten vorbei und sagten: »Ja, ja, sie werden euch in Barcelona behandeln.« Wir hörten nur jeden Tag das Gerücht, dass der Lazarettzug manana nach Barcelona abfahre. Der zweite Fehler bestand im Mangel an guten Krankenschwestern. Anscheinend gab es nicht genug ausgebildete Schwestern in Spanien, vielleicht weil diese Arbeit vor dem Kriege hauptsächlich von Nonnen getan wurde.
Ich kann mich nicht über die spanischen Schwestern beklagen, sie behandelten mich immer mit der größten Güte, aber sie waren zweifellos schrecklich unwissend. Alle konnten die Temperatur messen, und einige wussten auch, wie man einen Verband anlegt, das war aber auch alles. So geschah es, dass die Männer, die zu krank waren, um für sich selbst zu sorgen, oft in schmachvoller Weise vernachlässigt wurden. Die Krankenschwestern ließen einen Mann mit Darmverstopfung eine Woche lang liegen, ohne dass sie sich um ihn kümmerten. Nur selten wuschen sie diejenigen, die zu schwach waren, um sich selbst zu waschen. Ich erinnere mich an einen armen Teufel mit einem zerschmetterten Arm, der mir erzählte, dass er drei Wochen lang gelegen hatte, ohne dass sein Gesicht gewaschen wurde. Selbst die Betten wurden tagelang nicht gemacht. Das Essen war in allen Hospitälern gut, tatsächlich zu gut. In Spanien schien es noch mehr als anderswo eine Tradition zu sein, die Kranken mit schwerem Essen voll zu stopfen. In Lerida waren die Mahlzeiten unglaublich. Das Frühstück, ungefähr um sechs Uhr morgens, bestand aus Suppe, einem Omelette, Stew, Brot, Weißwein und Kaffee. Und das Mittagessen war noch umfangreicher. Diese Verpflegung gab es zu einer Zeit, als der größere Teil der Zivilbevölkerung ziemlich unterernährt war. Die Spanier scheinen von leichter Diät nicht viel zu halten. Sie geben Kranken wie Gesunden das gleiche Essen - die reiche, fette Küche und alles in Olivenöl getränkt.
Eines Morgens wurde bekannt gegeben, die Leute in meiner Abteilung sollten heute nach Barcelona geschickt werden. Es gelang mir, meiner Frau ein Telegramm zu senden, in dem ich ihr mitteilte, dass ich komme. Schon wurden wir in Busse gepackt und zum Bahnhof hinabgefahren. Erst als der Zug wirklich abfuhr, sagte mir ganz beiläufig der mitfahrende Sanitäter, wir führen nun doch nicht nach Barcelona, sondern nach Tarragona. Ich glaube, der Lokomotivführer hatte es sich anders überlegt. »Das ist typisch Spanien!« dachte ich. Aber es war auch typisch spanisch, dass man den Zug festhielt, bis ich noch ein zweites Telegramm abgeschickt hatte. Und es war noch typischer spanisch, dass dieses Telegramm niemals ankam.
Sie steckten uns in normale Wagen dritter Klasse mit hölzernen Bänken, obwohl viele Leute schwer verwundet und heute erst aus dem Bett gekommen waren. Es dauerte bei der Hitze und der polternden Fahrt nicht lange, bis die Hälfte einem Kollaps nahe war und viele sich auf den Boden erbrachen. Der Sanitäter stapfte mit einer großen Wasserflasche aus Ziegenfell über die wie Leichen herumliegenden Verwundeten und spritzte hier oder dort etwas Wasser in einen Mund. Es war ein scheußliches Wasser, ich habe den Geschmack immer noch auf der Zunge. Als die Sonne schon niedrig stand, kamen wir nach Tarragona. Die Eisenbahnlinie führte einen Steinwurf weit vom Meer an der Küste entlang. Als unser Zug in den Bahnhof einlief, fuhr gerade ein ganzer Zug mit Soldaten der Internationalen Brigade heraus, und eine Anzahl Leute auf der Brücke winkte ihnen zu. Es war ein sehr langer Zug, der bis zum Bersten mit Soldaten voll gepackt war. Auf offenen Güterwagen standen Feldkanonen, die dort festgebunden waren, und neben den Kanonen hockten noch weitere Soldaten. Ich erinnere mich mit besonderer Lebhaftigkeit an das Schauspiel, wie die beiden Züge im gelben Abendlicht aneinander vorbeifuhren. Fenster auf Fenster voller dunkler, lächelnder Gesichter, die langen, geneigten Rohre der Kanonen, die roten, flatternden Schals - alles glitt langsam vor der türkisfarbenen See an uns vorbei.
»Estranjeros - Ausländer«, sagte jemand. »Es sind Italiener.«
Man konnte nicht übersehen, dass sie Italiener waren. Kein anderes Volk hätte sich so anmutig gruppieren können, und niemand hätte die Grüße der Menge mit so viel Grazie beantworten können, eine Grazie, die auch dadurch nicht weniger echt wirkte, dass vielleicht die Hälfte der Soldaten auf dem Zuge aus hochgehaltenen Weinflaschen trank, Wir hörten hinterher, dass sie ein Teil der Truppen waren, die im März den großen Sieg in Guadalajara errungen hatten Sie waren auf Urlaub gewesen und wurden jetzt an die aragonische Front versetzt. Ich befürchte, dass die meisten von ihnen einige Wochen später bei Huesca getötet wurden. Die Männer, die nicht so schwer verwundet waren und stehen konnten, waren auf die andere Seite des Waggons gegangen und grüßten die Italiener, als wir an ihnen vorbeikamen. Eine Krücke winkte aus dem Fenster, bandagierte Arme grüßten mit der geballten Faust den roten Salut. Es war ein allegorisches Bild des Krieges, eine Zugladung frischer Leute glitt stolz zur Front, die Verwundeten glitten langsam zurück. Und wenn man die Kanonen auf den offenen Wagen sah, schlug einem das Herz höher, wie immer, wenn man Kanonen sieht. Wir alle unterlagen wieder einmal dem verderblichen Gefühl, von dem man sich so schwer lösen kann, dass der Krieg eben doch prächtig ist.
Das Lazarett in Tarragona war sehr groß und voll Verwundeter von allen Fronten. Was für Wunden sah man dort! Man hatte hier, vermutlich in Übereinstimmung mit der jüngsten medizinischen Praxis, eine besondere Art, die Wunden zu behandeln, die aber besonders schrecklich anzusehen war. Sie bestand darin, dass man die Wunden vollständig offen und unverbunden ließ und nur durch ein Netz aus Mull, das über Drähte gelegt wurde, vor den Fliegen schützte. Unter dem Mull konnte man die rote Gallerte der halbverheilten Wunden sehen. Ich sah einen Mann, der im Gesicht und am Hals verwundet worden war und dessen Kopf unter einem kugelförmigen Helm aus Mull steckte. Sein Mund war verschlossen, und er atmete durch eine kleine Röhre, die zwischen seinen Lippen befestigt war. Der arme Teufel schaute so verlassen aus, wenn er hin und her wanderte und jeden aus seinem Mullkäfig anguckte und doch nicht sprechen konnte. Ich lag drei oder vier Tage in Tarragona. Meine Kräfte kehrten zurück, und eines Tages gelang es mir, langsam gehend bis an den Strand zu wandern. Es war seltsam zu sehen, wie der Badebetrieb fast wie normal ablief. Die feinen Cafes an der Promenade, die plumpen Bürger der Stadt, die badeten und sich sonnten, als gäbe es im Umkreis von anderthalbtausend Kilometer keinen Krieg. Trotzdem sah ich, wie das manchmal so geschieht, dass ein Badender ertrank. Das hätte ich bei der flachen und lauwarmen See für unmöglich gehalten.
Acht oder neun Tage nachdem ich die Front verlassen hatte, wurden endlich meine Wunden untersucht. Die neuangekommenen Fälle wurden in der Chirurgie untersucht. Ärzte hackten mit großen Scheren die Brustplatten aus Gips in Stücke, in die man die Männer mit ihren zerschlagenen Rippen und Halswirbeln auf den Verbandsplätzen hinter der Front eingehüllt hatte. Da sah man zum Beispiel ein ängstliches, schmutziges Gesicht mit dem struppigen Bart einer Woche, das aus der Halsöffnung einer großen, ungefügen Brustplatte hervorlugte. Der Doktor, ein frischer, gut aussehender dreißigjähriger Mann, setzte mich auf einen Stuhl, griff meine Zunge mit einem rauen Stück Gaze, zog sie so weit, wie es ging, heraus, schob einen Zahnarztspiegel in meinen Rachen und forderte mich auf, »Ah!« zu sagen. Nachdem ich das so lange getan hatte, bis meine Zunge blutete und meine Augen überliefen, sagte er mir, eins meiner Stimmbänder sei gelähmt.
»Wann werde ich meine Stimme wiederbekommen?« sagte ich.
»Ihre Stimme? Ach, Sie werden Ihre Stimme nie zurückbekommen«, sagte er heiter.
Wie es sich später herausstellte, hatte er aber unrecht. Zwei Monate lang konnte ich kaum wispern, dann wurde meine Stimme plötzlich normal, das andere Stimmband hatte sich >angepasst<. Der Schmerz in meinem Arm wurde dadurch verursacht, dass die Kugel ein Nervenbündel hinten an meinem Hals durchschlagen hatte. Der Schmerz stach wie Neuralgie und dauerte etwa einen Monat, besonders nachts, so dass ich nicht viel Schlaf bekam. Auch die Finger meiner rechten Hand waren halb gelähmt. Selbst heute, fünf Monate später, ist mein Zeigefinger noch empfindungslos, eine seltsame Folge für eine Halswunde.
Die Wunde war gewissermaßen eine Kuriosität, und verschiedene Ärzte untersuchten sie mit viel Zungenschnalzen und »Que suerte! Que suerte!« Einer sagte mir mit dem Gefühl der Autorität, die Kugel habe die Schlagader nur »um einen Millimeter« verfehlt. Ich weiß nicht, woher er das wusste. Niemand, den ich damals traf - Ärzte, Schwestern, practicantes oder verwundete Kameraden -, unterließ es, mir zu sagen, dass ein Mann, der einen Schuss durch den Hals bekommen habe und das überlebte, die glücklichste Kreatur auf Erden sei. Mir kam es so vor, als ob man noch glücklicher ist, wenn man überhaupt nicht getroffen wird.

 

Dreizehntes Kapitel

Während der letzten Wochen, die ich in Barcelona verbrachte, lag ein eigentümliches, böses Gefühl in der Luft, es war eine Atmosphäre des Misstrauens, der Furcht, der Ungewissheit und des verhüllten Hasses. Die Maikämpfe hatten unausrottbare Folgen hinterlassen. Mit dem Fall der Regierung Caballero waren die Kommunisten endgültig an die Macht gekommen. Die Verantwortung für die innere Ordnung war kommunistischen Ministern übertragen worden, und niemand zweifelte daran, dass sie ihre politischen Rivalen zerschmettern würden, sobald sie auch nur einen Zipfel der Gelegenheit zu fassen kriegten. Bisher war noch nichts geschehen, und ich selbst hatte nicht einmal eine Idee davon, was geschehen würde. Dennoch hatte man das Gefühl ständiger, unbestimmter Gefahr, die Ahnung eines bevorstehenden, schlimmen Ereignisses. Obwohl man sich in Wirklichkeit nicht an einer Verschwörung beteiligte, zwang einen doch die Atmosphäre, sich wie ein Verschwörer zu fühlen. Es hatte den Anschein, als verbrächte man seine Zeit damit, geflüsterte Unterhaltungen in den Ecken der Cafes zu führen, während man sich gleichzeitig fragte, ob die Person am Nebentisch nicht ein Polizeispion sei.
Auf Grund der Pressezensur machten alle möglichen finsteren Gerüchte die Runde. Nach einem dieser Gerüchte plante die Regierung Negrin-Prieto, den Krieg durch einen Kompromiss beizulegen. Damals war ich geneigt, daran zu glauben, denn die Faschisten umzingelten gerade Bilbao, und offensichtlich tat die Regierung nichts, um es zu retten. In der ganzen Stadt wurden zwar baskische Fahnen gehisst, Mädchen gingen mit Sammelbüchsen in die Cafes, und man hörte die üblichen Rundfunksendungen über die »heroischen Verteidiger«, doch eine wirkliche Unterstützung gab man den Basken nicht. Man konnte fast glauben, die Regierung führe ein doppeltes Spiel. Spätere Ereignisse bewiesen, dass ich in diesem Fall völlig unrecht hatte. Aber es hat den Anschein, als wäre Bilbao zu retten gewesen, hätte man nur ein wenig mehr Energie gezeigt. Selbst eine erfolglose Offensive an der aragonischen Front hätte Franco gezwungen, einen Teil seiner Armee abzuziehen. Die Regierung jedoch startete keinerlei Offensivhandlungen, bis es viel zu spät war, ja bis Bilbao schon fiel. Die C.N.T. verteilte eine große Anzahl Flugblätter, auf denen »Seid wachsam!« stand und auf denen angedeutet wurde, dass eine gewisse Partei (also die Kommunisten) einen coup d'Etat planten. Weit verbreitet war auch die Furcht, Katalonien könnte angegriffen werden. Schon vorher, als wir an die Front zurückkehrten, hatte ich gesehen, dass viele Kilometer hinter der Front starke Befestigungen gebaut wurden und man überall in Barcelona neue, bombensichere Unterstände aushob. Es gab häufig Fliegeralarm und Warnung vor Beschießung von der See aus. Meistens aber war es ein falscher Alarm; jedes Mal wenn die Sirenen heulten, wurden jedoch die Lichter der ganzen Stadt stundenlang ausgelöscht, und die furchtsame Bevölkerung tauchte in die Keller. Überall gab es Polizeispione. Die Gefängnisse waren noch mit Gefangenen aus den Maikämpfen voll gestopft, und weitere Menschen - immer Anarchisten und P.O.U.M.-Anhänger -verschwanden einzeln oder zu zweit im Gefängnis. Soviel man erfahren konnte, wurde bisher niemand verurteilt oder angeklagt, nicht einmal eines so eindeutigen Vergehens wie des >Trotzkismus<. Man wurde einfach ins Gefängnis geworfen und dort meistens incomunicado gehalten. Bob Smillie lag immer noch in Valencia im Gefängnis. Wir konnten nichts ausfindig machen, nur dass weder dem örtlichen Vertreter der I.L.P. noch dem Rechtsanwalt, den man genommen hatte, erlaubt wurde, ihn zu sehen. Immer mehr Ausländer aus der Internationalen Brigade und anderen Milizeinheiten wurden ins Gefängnis gesteckt. Normalerweise wurden sie unter dem Vorwand der Fahnenflucht verhaftet. Es war typisch für die allgemeine Lage, dass niemand genau wusste, ob ein Milizsoldat ein Freiwilliger oder ein regulärer Soldat war. Einige Monate früher hatte man jedem gesagt, der sich der Miliz anschloss, er sei ein Freiwilliger und könne jederzeit, wenn er wolle, seine Entlassungspapiere erhalten, sobald er wieder mit Urlaub an der Reihe sei. Jetzt schien es so, als habe die Regierung ihre Meinung geändert. Ein Milizmann war ein regulärer Soldat und galt als fahnenflüchtig, wenn er versuchte, nach Hause zu gehen. Aber selbst hierüber war sich niemand sicher. An einigen Abschnitten der Front gaben die Vorgesetzten immer noch Entlassungspapiere aus. Manchmal wurden sie an der Grenze anerkannt, manchmal auch nicht. Geschah es nicht, wurde man sofort ins Gefängnis geworfen. Später schwoll die Zahl der ausländischen Fahnenflüchtigem im Gefängnis zu Hunderten an. Aber die meisten von ihnen wurden nach Hause entlassen, als man sich in ihren eigenen Ländern darüber aufregte.
Bewaffnete Sturmgardisten durchstreiften überall die Straßen, die Zivilgardisten hielten immer noch Cafes und andere Gebäude an strategisch wichtigen Stellen besetzt. Viele Gebäude der P.S.U.C. waren noch verbarrikadiert und mit Sandsäcken geschützt. An verschiedenen Stellen der Stadt hielten die Wachtposten der Zivilgardisten oder Carabineros die Vorübergehenden an und verlangten ihre Papiere. Jeder warnte mich, meine P.O.U.M.-Milizkarte zu zeigen, ich sollte nur meinen Pass und meinen Lazarettschein vorweisen. Es war nämlich sogar gefährlich, wenn sie erfuhren, dass man in der P.O.U.M.-Miliz gedient hatte. Milizsoldaten der P.O.U.M., die verwundet worden waren oder Urlaub hatten, wurden auf kleinliche Weise benachteiligt. So erschwerte man ihnen beispielsweise die Auszahlung ihrer Löhne. La Batalla erschien noch, aber sie wurde derartig zensiert, dass fast nichts mehr darin stand. Auch Solidaridad und die anderen anarchistischen Zeitungen wurden in großem Umfang zensiert. Es gab eine Vorschrift, nach der die von der Zensur beanstandeten Abschnitte einer Zeitung nicht leer bleiben durften, sondern mit anderen Meldungen gefüllt werden mussten. Deshalb war es manchmal unmöglich zu sagen, wo etwas weggelassen worden war.
Die Lebensmittelknappheit, die während des ganzen Krieges ständig wechselte, hatte eins ihrer schlimmsten Stadien erreicht. Das Brot war knapp, und die billigeren Sorten wurden mit Reis verfälscht. In den Kasernen erhielten die Soldaten ein furchtbares Brot, es war wie Kitt. Auch Milch und Zucker waren sehr knapp, und Tabak gab es fast überhaupt nicht, nur die teuren geschmuggelten Zigaretten. Olivenöl, das die Spanier für ein halbes Dutzend verschiedener Zwecke benutzen, gab es ebenfalls nur selten. Berittene Zivilgardisten kontrollierten die Schlange stehenden Frauen, die Olivenöl kaufen wollten. Manchmal machten sich die Zivilgardisten ein Vergnügen daraus, ihre Pferde rückwärts in die Schlange hineinzumanövrieren, und versuchten, sie dazu zu bringen, den Frauen auf die Füße zu treten. Ein anderes, wenn auch kleineres Übel war damals der Mangel an Kleingeld. Silber war aus dem Verkehr gezogen worden, und bisher hatte man noch keine neuen Münzen ausgeliefert. So gab es zwischen dem Zehn-Centimo-Stück und der Zweieinhalb-Peseten-Banknote kein anderes Wechselgeld, ja selbst alle Noten unter zehn Peseten waren sehr selten (Anm.: Die Kaufkraft einer Peseta betrug damals vier Pence.). Für die Ärmsten der Bevölkerung bedeutete das eine zusätzliche Verschärfung der Lebensmittelknappheit. So konnte es geschehen, dass eine Frau mit einem Zehnpesetenschein stundenlang in einer Schlange vor einem Lebensmittelgeschäft warten musste und dann nicht in der Lage war, etwas zu kaufen, weil der Händler kein Wechselgeld hatte und sie es sich nicht leisten konnte, den ganzen Geldschein auszugeben. Es ist nicht leicht, die Atmosphäre jener Zeit wiederzugeben, die wie ein Alpdruck auf uns lastete; es war eine eigentümliche Unruhe, das Ergebnis immer neuer Gerüchte, verstärkt noch durch die Zensur der Zeitungen und die dauernde Anwesenheit von Soldaten. Diese Atmosphäre lässt sich schwer schildern, weil in England auch heute eine wichtige Voraussetzung einer derartigen Situation fehlt. In England nimmt man politische Intoleranz noch nicht als selbstverständlich hin. Es gibt zwar eine kleinliche Art der politischen Verfolgung, so würde ich mich als Bergarbeiter hüten, den Boss wissen zu lassen, dass ich ein Kommunist bin. Aber der >gute Parteigänger<, das Gangster-Grammophon kontinentaler-Politik, ist bei uns immer noch eine Seltenheit. Es scheint auch nicht gerade natürlich zu sein, jeden, der mit der eigenen Meinung nicht übereinstimmt, einfach zu liquidieren oder >auszulöschen<. In Barcelona schien das nur leider allzu natürlich zu sein. Die >Stalinisten< saßen im Sattel, und darum war es eine Selbstverständlichkeit, dass jeder >Trotzkist< in Gefahr war. Nur, was jeder befürchtete, geschah nicht - der erneute Ausbruch der Straßenkämpfe, die man dann wie beim letzten Mal der P.O.U.M. oder den Anarchisten zur Last gelegt hätte. Zeitweilig ertappte ich mich dabei, wie ich auf die ersten Schüsse lauschte. Es war, als brüte ein riesiger, übler Geist über der Stadt. Jeder bemerkte es und sagte etwas darüber. Es ist seltsam, wie alle ihre Beobachtungen fast mit den gleichen Worten beschrieben: »Die Atmosphäre dieser Stadt - sie ist schrecklich. Wie in einer Irrenanstalt.« Ich sollte aber vielleicht nicht jeder sagen. Einige englische Besucher, die nur ganz kurz von Hotel zu Hotel durch Spanien huschten, scheinen nicht bemerkt zu haben, dass in der allgemeinen Situation überhaupt etwas nicht in Ordnung war. Ich bemerkte zum Beispiel, dass die Herzogin von Atholl schreibt (Sunday Express, 17. Oktober 1937):
Ich war in Valencia, Madrid und Barcelona... In allen Städten herrschte vollständige Ordnung ohne die geringste Gewaltanwendung. Alle Hotels, in denen ich wohnte, waren nicht nur »normal« und »anständig«, sondern auch äußerst bequem, trotz des Mangels an Butter und Kaffee.
Es ist charakteristisch für englische Reisende, dass sie wirklich an nichts glauben, was außerhalb der feinen Hotels existiert. Hoffentlich fand man etwas Butter für die Herzogin von Atholl.
Ich lag im Sanatorium Maurin, einem der von der P.O.U.M. unterhaltenen Sanatorien. Es lag in den Vororten in der Nähe von Tibidabo, dem eigentümlich geformten Berg, der sich gleich hinter Barcelona erhebt und den man traditionsgemäß für den Hügel hält, von dem aus Satan Jesus die Länder der Welt zeigte (daher stammt auch sein Name). Das Haus hatte früher einem reichen Bürger gehört und war während der Revolution beschlagnahmt worden. Die meisten Soldaten, die dort lagen, waren entweder als Invaliden von der Front entlassen worden oder hatten eine Wunde, die sie dauernd dienstunfähig machte, zum Beispiel amputierte Glieder. Dort lagen auch einige Engländer: Williams mit einem beschädigten Bein und Stafford Cottman, ein achtzehnjähriger Junge, der wegen Tuberkuloseverdacht aus den Schützengräben zurückgeschickt worden war, und Arthur Clinton, dessen zerschmetterter linker Arm immer noch in einer jener riesigen Drahtkonstruktionen lag, die die spanischen Lazarette benutzten und die man scherzhaft »Flugzeuge« nannte. Meine Frau wohnte noch im Hotel >Continental<, und ich kam normalerweise tagsüber nach Barcelona. Morgens ging ich gewöhnlich zum Allgemeinen Krankenhaus, um meinen Arm mit einer elektrischen Methode behandeln zu lassen. Das war eine komische Sache -durch eine Reihe prickelnder elektrischer Schocks ließ man
die einzelnen Muskelstränge auf- und abspringen -, aber es schien mir gut zu tun. Allmählich konnte ich wieder meine Finger bewegen, und der Schmerz ließ etwas nach. Wir hatten uns beide dazu entschlossen, so schnell wie möglich nach England zurückzugehen, das war das Beste, was wir tun konnten. Ich war äußerst schwach, und meine Stimme war anscheinend für immer verschwunden. Die Ärzte sagten mir, dass es selbst im günstigsten Falle mehrere Monate dauern würde, ehe ich wieder kampffähig sei. Früher oder später musste ich anfangen, wieder etwas Geld zu verdienen, und es schien wenig sinnvoll zu sein, in Spanien zu bleiben und Lebensmittel zu essen, die für andere Leute benötigt wurden. Aber meine Motive waren hauptsächlich selbstsüchtig. Ich hatte den überwältigenden Wunsch, von allem wegzukommen. Weg von der scheußlichen Atmosphäre des politischen Misstrauens und Hasses, weg von den Straßen, in denen sich bewaffnete Soldaten drängten, weg von den Fliegerangriffen, Schützengräben, Maschinengewehren, kreischenden Straßenbahnen, dem Tee ohne Milch, dem in Öl gekochten Essen und dem Zigarettenmangel, kurzum von allem, was ich irgendwie mit Spanien in Verbindung zu bringen gelernt hatte.
Die Ärzte im Allgemeinen Krankenhaus hatten mir bescheinigt, dass ich nach ärztlichem Urteil frontuntauglich sei. Um aber meine Entlassung zu erhalten, musste ich eine Ärztekommission in einem der Lazarette in der Nähe der Front aufsuchen und dann nach Sietamo gehen, damit dort meine Papiere im Hauptquartier der P.O.U.M.-Miliz abgestempelt würden. Kopp war gerade frohlockend von der Front zurückgekommen. Er war eben in der Schlacht gewesen und sagte, Huesca würde nun endlich erobert. Die Regierung hatte Truppen von der Madrider Front gebracht und konzentrierte dreißigtausend Mann und eine große Anzahl Flugzeuge an dieser Stelle. Die Italiener, die ich gesehen hatte, als sie von Tarragona zur Front gingen, hatten die Straßen nach Jaca angegriffen, dabei aber schwere Verluste erlitten und zwei Tanks verloren. Kopp sagte aber, die Stadt müsse fallen. (Leider fiel sie nicht! Der Angriff war ein scheußliches Durcheinander und führte zu nichts, nur zu einer Lügenorgie in den Zeitungen.) Nun musste Kopp zu einer Besprechung in das Kriegsministerium nach Valencia. Er hatte einen Brief von General Pozas, der jetzt die Armee am Ostabschnitt befehligte. Es war der übliche Brief, in dem Kopp als eine »Person vollsten Vertrauens« beschrieben und für eine besondere Aufgabe in der Pionierabteilung empfohlen wurde (Kopp war im Zivilleben Ingenieur gewesen). Er ging am gleichen Tage nach Valencia, als ich nach Sietamo ging - am 15. Juni.
Es dauerte fünf Tage, ehe ich nach Barcelona zurückkehrte. Auf einem Lastwagen erreichten wir mit einer Gruppe etwa gegen Mitternacht Sietamo, und als wir gerade im Hauptquartier der P.O.U.M. angekommen waren, trommelte man uns zusammen und händigte uns Gewehre und Patronen aus, bevor man überhaupt unsere Namen feststellte. Es hatte den Anschein, als ob der Angriff beginne und man jeden Augenblick Reserven anfordern könne. Ich hatte meinen Lazarettschein in der Tasche, aber ich konnte mich schlecht weigern, mit den anderen zusammen zu gehen. Ich schlief mit einem Patronenkasten als Kissen auf dem Boden und war in einer ziemlich bedrückten Stimmung. Durch die Verwundung hatte ich meinen Mut verloren - ich glaube, das ist eine normale Reaktion -, jedenfalls hatte ich schreckliche Angst, wieder unter Beschuss zu geraten. Aber schließlich gab es wie üblich ein wenig manana, und wir wurden nicht hinausgerufen. Am nächsten Morgen zeigte ich meinen Lazarettschein vor und kümmerte mich um meine Entlassung; damit waren mehrere ermüdende und verworrene Reisen verbunden. Wie gewöhnlich wurde man von Lazarett zu Lazarett hin- und hergeschickt - Sietamo, Barbastro, Monzon, dann wieder zurück nach Sietamo, damit meine kntlassungspapiere gestempelt wurden, dann über Barbastro und Lerida wieder an die Front hinunter. Die Truppenzusammenziehungen bei Huesca aber hatten alle Transportmittel in Anspruch genommen und alles durcheinander gebracht. Ich erinnere mich, wie ich an recht sonderbaren Stellen schlief, einmal in einem Bett in einem Lazarett, dann wieder in einem Graben, einmal auf einer sehr engen Bank, von der ich mitten in der Nacht herunterfiel, und dann in einer Pension der Stadtverwaltung von Barbastro. Sobald man von der Eisenbahn wegkam, gab es keine Reisemöglichkeiten. Man konnte nur einen der gelegentlich vorbeikommenden Lastwagen anhalten. Zusammen mit einem Haufen verzweifelter Bauern, die Enten und Kaninchen in Bündeln mit sich trugen, musste man stundenlang, oft drei oder vier Stunden hintereinander, am Straßenrand warten und Lastwagen um Lastwagen zuwinken. Erwischte man schließlich einen Lastwagen, der nicht zum Bersten voller Menschen, Brot oder Munitionskisten war, schlug einen die holpernde Fahrt über die elenden Straßen zu Brei. Niemals hat mich ein Pferd so hoch geworfen, wie uns die Lastwagen umherwarfen. Man konnte diese Reise nur durchhalten, wenn man sich zusammendrängte und aneinander festhielt. Es war niederschmetternd für mich, dass ich immer noch zu schwach war, um ohne Hilfe auf den Lastwagen zu klettern.
Eine Nacht schlief ich im Lazarett von Monzon, wo ich die Ärztekommission aufsuchen musste. Im Bett neben mir lag ein Sturmgardist, der über dem linken Auge verwundet worden war. Er war sehr freundlich und gab mir Zigaretten. Ich sagte: »In Barcelona hätten wir aufeinander schießen müssen«, und wir lachten darüber. Eigentümlich, wie sich die allgemeine Einstellung zu ändern schien, sobald man in die Nähe der Front kam. Der ganze oder fast der ganze böse Hass zwischen den politischen Parteien verflog. Ich kann mich aus der ganzen Zeit, die ich an der Front verbracht habe, nicht ein einziges Mal erinnern, dass sich ein Anhänger der P.S.U.C. mir gegenüber feindselig zeigte, weil ich zur P.O.U.M. gehörte. Das gab es eben nur in Barcelona oder an Orten, die noch weiter vom Kriegsschauplatz entfernt waren. In Sietamo lagen viele Sturmgardisten. Man hatte sie aus Barcelona hierhergeschickt, um am Angriff auf Huesca teilzunehmen. Die Sturmgardisten waren eigentlich nicht für den Einsatz an der Front bestimmt, und viele von ihnen hatten vorher noch nicht unter Beschuss gelegen. Unten in Barcelona waren sie die Herren der Straße, aber hier waren sie quintos (unerfahrene Rekruten), und ihre Kumpels waren die fünfzehnjährigen Milizkinder, die schon monatelang an der Front gewesen waren.
Im Lazarett von Monzon zog der Arzt wie üblich meine Zunge heraus, steckte seinen Spiegel in meinen Hals, versicherte mir in der gewohnten heiteren Weise wie seine Vorgänger, dass ich meine Stimme nie zurückbekomme, und unterschrieb meine Bescheinigung. Während ich auf diese Untersuchung wartete, wurde in der Chirurgie gerade eine schreckliche Operation ohne Betäubungsmittel durchgeführt - warum ohne Betäubungsmittel, weiß ich auch nicht. Sie dauerte endlos lange, und man hörte einen Schrei nach dem anderen. Als ich hinterher hineinging, lagen Stühle umher, und der Boden war voller Blut- und Urinlachen.
Die Einzelheiten dieser letzten Reise sind mit seltener Klarheit in meinem Gedächtnis haftengeblieben. Ich war in einer anderen Stimmung, ich beobachtete die Dinge besser, als ich es während der letzten Monate getan hatte. Ich hatte meine Entlassungspapiere mit dem Stempel der 29. Division und die Bescheinigung des Arztes, in der man mich unbrauchbar erklärt< hatte. Ich konnte frei nach England zurückgehen und fühlte mich deshalb eigentlich zum ersten Mal in der Lage, mir Spanien anzusehen. Für Barbastro blieb mir ein ganzer Tag, denn von dort fuhr der Zug nur einmal täglich. Vorher hatte ich Barbastro nur während kurzer Augenblicke gesehen, und die Stadt war mir einfach wie ein Bestandteil des Krieges vorgekommen; ein grauer, schmutziger, kalter Ort, voll lärmender Lastwagen und schäbiger Truppen. Jetzt sah es seltsam verändert aus. Als ich durch die Straßen wanderte, sah ich zum ersten Male mit Bewusstsein die freundlichen, gewundenen Straßen, die alten Steinbrücken, die Weinläden mit dicken, schlammigen Fässern, die so groß waren wie ein Mann, und die faszinierenden halb unter der Erde liegenden Werkstätten, in denen Männer Wagenräder, Dolche, hölzerne Löffel und Wasserflaschen aus Ziegenfell machten. Ich beobachtete einen Mann, wie er eine solche Flasche aus Fell herstellte, und entdeckte mit großem Interesse, was ich vorher nicht gewusst hatte. Die Flasche wird mit dem Fell nach innen hergestellt, und das Fell wird nicht entfernt, so dass man in Wirklichkeit destilliertes Ziegenhaar trinkt. Ich hatte monatelang aus solchen Flaschen getrunken, ohne das zu wissen. Hinter der Stadt strömte ein flacher jadegrüner Fluss vorbei, und aus dem Flussbett stieg ein senkrechter Felsen empor. In den Felsen aber hatte man Häuser hineingebaut, so dass man aus dem Schlafzimmerfenster direkt dreißig Meter tief hinunter ins Wasser spucken konnte. In den Löchern der Felswand lebten unzählige Tauben. In Lerida sah ich dann die alten, zerfallenen Gebäude, auf deren Mauervorsprüngen Tausende von Schwalben ihre Nester gebaut hatten, so dass das verkrustete Muster der Nester aus einiger Entfernung aussah wie Blumenornamente der Rokokozeit. Es war seltsam, wie ich beinahe sechs Monate lang kein Auge für solche Dinge gehabt hatte. Mit den Entlassungspapieren in der Tasche fühlte ich mich wieder wie ein menschliches Wesen und sogar wie ein Tourist. Eigentlich zum ersten Mal fühlte ich, dass ich wirklich in Spanien war, in einem Land, das ich mein ganzes Leben lang hatte besuchen wollen. In den ruhigen Seitenstraßen von Lerida und Barbastro schien ich in einem Augenblick das zu erfassen, was sich jeder vom Hörensagen unter Spanien vorstellt. Weiße Berge, Ziegenherden, Verliese der Inquisition, maurische Paläste, schwarze Maultierzüge, die sich den Berg hinaufwinden, graue Olivenbäume und Zitronenhaine, Mädchen in schwarzen Mantillas, der Wein von Malaga und Alicante, Kathedralen, Kardinäle, Stierkämpfe, Zigeuner, Serenaden - kurzum Spanien. In ganz Europa war es das Land, das meine Phantasie am meisten beschäftigt hatte. Nachdem ich endlich Spanien erreicht hatte, war es schade, dass ich nur diese nordöstliche Ecke sah, dazu noch mitten in einem ziemlich verworrenen Krieg und größtenteils im Winter.
Es war spät, als ich nach Barcelona zurückkam, und es fuhren keine Taxis mehr. Es hatte keinen Zweck zu versuchen, noch zum Sanatorium Maurin zu kommen, denn es lag ganz am Rande der Stadt. So machte ich mich auf den Weg zum Hotel >Continental< und aß unterwegs zu Abend. Ich erinnere mich noch an das Gespräch mit einem sehr väterlichen Kellner über die Becher aus Eichenholz, die mit Kupfer beschlagen waren und in denen der Wein aufgetragen wurde. Ich sagte, dass ich gerne einen Satz kaufen möchte, um sie mit nach England zurückzunehmen. Der Kellner hatte Verständnis dafür. Ja, sie waren schön, nicht wahr? Aber heutzutage nicht zu kaufen. Niemand fertigte sie mehr an - überhaupt stellte niemand mehr etwas her. Dieser Krieg - was für ein Elend! Wir waren uns einig, dass der Krieg ein Elend war. Wieder fühlte ich mich wie ein Tourist. Der Kellner fragte mich freundlich, ob mir Spanien gefallen habe und ob ich nach Spanien zurückkommen werde. O ja, ich würde nach Spanien zurückkommen. Die friedliche Atmosphäre dieser Unterhaltung ist in meinem Gedächtnis haftengeblieben, vor allem wegen der unmittelbar darauf folgenden Ereignisse.
Als ich in das Hotel kam, saß meine Frau in der Halle. Sie stand auf und kam in einer betont unbekümmerten Weise auf mich zu, was mir auffiel. Dann legte sie einen Arm um meinen Hals und flüsterte mit einem süßen Lächeln zu den anderen Leuten in der Halle in mein Ohr:
»Mach, dass du 'rauskommst!«
»Was?«
»Mach, dass du sofort hier 'rauskommst!«
»Was?«
»Bleib hier nicht stehen! Du musst schnell hinaus!«
»Was? Warum? Was willst du eigentlich?«
Sie fasste mich am Arm und führte mich schon zur Treppe. Auf halbem Wege trafen wir einen Franzosen. Ich will hier seinen Namen nicht nennen, denn obwohl er keine Verbindung mit der P.O.U.M. hatte, war er doch während der ganzen Unruhen ein guter Freund für uns alle. Er schaute mich mit besorgtem Gesicht an.
»Hör zu! Du musst hier nicht hereinkommen. Mach schnell, dass du hinauskommst, und verberge dich, ehe sie die Polizei anrufen!«
Und sieh da! Am Fuße der Treppe schlüpfte einer der Hotelangestellten, ein P.O.U.M.-Mitglied (wovon vermutlich die Direktion nichts wusste), schnell aus dem Lift und sagte mir in seinem gebrochenen Englisch, ich solle machen, dass ich wegkomme. Selbst jetzt begriff ich noch nicht, was geschehen war.
»Zum Teufel, was bedeutet das alles?« sagte ich, sobald wir auf dem Bürgersteig waren.
»Hast du denn nichts gehört?«
»Nein. Was gehört? Ich habe nichts gehört.«
»Die P.O.U.M. ist unterdrückt worden. Sie haben alle Gebäude beschlagnahmt. Praktisch jeder ist im Gefängnis. Und sie sollen schon Leute erschießen.«
Das war es also. Wir mussten einen Ort finden, wo wir uns unterhalten konnten. Alle großen Cafés an der Rambla steckten voller Polizisten, aber wir fanden ein ruhiges Cafe in einer Nebenstraße. Meine Frau erklärte mir, was sich ereignet hatte, als ich weg war.
Am 15. Juni hatte die Polizei plötzlich Andres Nin in seinem Büro verhaftet, am gleichen Abend noch hatten sie das Hotel >Falcon< besetzt und alle Männer verhaftet, die dort waren, hauptsächlich Milizsoldaten auf Urlaub. Das Gebäude wurde sofort in ein Gefängnis verwandelt, und in kurzer Zeit war es randvoll mit Gefangenen aller Art. Am nächsten Tage wurde die P.O.U.M. zur illegalen Organisation erklärt und ihre sämtlichen Büros, Buchläden, Sanatorien, Rote-Hilfe-Zentren und so weiter beschlagnahmt. Außerdem verhaftete die Polizei jeden, dessen sie habhaft werden konnte und von dem man wusste, dass er irgendeine Verbindung mit der P.O.U.M. hatte. Innerhalb von ein oder zwei Tagen befanden sich alle vierzig Mitglieder des Zentralkomitees im Gefängnis. Ein oder zwei entkamen möglicherweise und hielten sich versteckt, aber die Polizei bediente sich des Tricks, der in diesem Krieg auf beiden Seiten häufig gebraucht wurde.
Wenn ein Mann verschwand, hielt man seine Frau als Geisel fest.
Es ließ sich nicht genau überprüfen, wie viele Leute verhaftet worden waren. Meine Frau hatte gehört, allein in Barcelona seien es vierhundert. Ich bin inzwischen zu der Überzeugung gekommen, dass es damals viel mehr gewesen sein müssen. Man hatte ziemlich sinnlos Leute verhaftet. In einigen Fällen hatte sich die Polizei sogar dazu hinreißen lassen, verwundete Milizsoldaten aus den Lazaretten herauszuzerren.
Das Ganze war zutiefst erschreckend. Was zum Teufel sollte es bedeuten? Ich konnte verstehen, dass sie die P.O.U.M. unterdrückten, aber warum verhafteten sie die Leute? Soviel man entdecken konnte, wegen nichts. Wahrscheinlich hatte die Unterdrückung der P.O.U.M. einen rückwirkenden Effekt. Jetzt war die P.O.U.M. illegal, und deshalb hatte man das Gesetz gebrochen, wenn man ihr vorher angehört hatte. Wie üblich, hatte man gegen keinen der Verhafteten Anklage erhoben. Die kommunistischen Zeitungen von Valencia jedoch waren nun voll mit Geschichten über eine riesige »faschistische Verschwörung«, Funkverbindungen mit dem Feind, mit unsichtbarer Tinte unterschriebene Dokumente. Ich habe diese Geschichte schon vorher beschrieben. Es war bemerkenswert, dass diese Anschuldigungen nur in den Zeitungen von Valencia erschienen. Ich glaube, es stimmt, wenn ich sage, dass sowohl in den kommunistischen wie auch in den anarchistischen oder republikanischen Zeitungen von Barcelona nicht ein einziges Wort über die Unterdrückung der P.O.U.M. oder die Verhaftungen stand. Die genauen Einzelheiten der Anschuldigungen gegen die Anführer der P.O.U.M. erfuhren wir überhaupt nicht aus den spanischen Zeitungen, sondern aus den englischen Zeitungen, die ein oder zwei Tage später nach Barcelona kamen. Damals konnten wir noch nicht wissen, dass die Regierung für die Beschuldigungen wegen Verrats und Spionage nicht verantwortlich war und die Mitglieder der Regierung sie später zurückweisen würden. Wir wussten nur ungenau, dass den Anführern der P.O.U.M. und wahrscheinlich uns allen vorgeworfen wurde, wir ständen in faschistischer Bezahlung. Schon machten Gerüchte die Runde, im Gefängnis würden Leute insgeheim erschossen. Natürlich wurde gewaltig übertrieben, aber sicherlich geschah es in einigen Fällen, und es gibt wenig Zweifel, dass es im Fall von Nin geschah. Nin wurde verhaftet, dann nach Valencia gebracht und von dort nach Madrid. Schon am 21. Juni erreichte ein Gerücht Barcelona, wonach er erschossen worden war. Später nahm das Gerücht festere Formen an. Nin war im Gefängnis von der Geheimpolizei erschossen worden, und man hatte seine Leiche auf die Straße geworfen. Diese Geschichte kam von verschiedenen Quellen, auch von Federica Montsenys, einem ehemaligen Regierungsmitglied. Von damals bis heute hat man nicht mehr gehört, dass Nin noch am Leben ist. Als die Regierung später von Delegationen verschiedener Länder befragt wurde, zögerte sie mit der Antwort, und man sagte nur dass Nin verschwunden sei, man aber nichts über seinen Aufenthaltsort wisse. Einige Zeitungen berichteten, er sei in faschistisches Gebiet entkommen. Dafür gab es aber keinen Beweis, und Irujo, der Justizminister, erklärte später, die Nachrichtenagentur >Espagne< habe sein offizielles communique (Anm.: Vgl. die Berichte der Maxton-Delegation, auf die ich schon im elften Kapitel hingewiesen habe.) verfälscht. Jedenfalls ist sehr unwahrscheinlich, dass man einem politischen Gefangenen von der Bedeutung Nins erlaubt hätte zu entfliehen. Wenn er in Zukunft nicht wieder lebend zum Vorschein kommt, müssen wir annehmen, dass er im Gefängnis ermordet wurde.
Die Verhaftungen wurden monatelang fortgesetzt, bis die Zahl der politischen Gefangenen ohne die Faschisten auf einige tausend angeschwollen war. Es war besonders bemerkenswert, wie unabhängig die unteren Ränge der Polizei dabei handelten. Viele Verhaftungen waren zugegebenermaßen illegal, und verschiedene Leute, deren Entlassung der Polizeichef angeordnet hatte, wurden am Tor des Gefängnisses wieder verhaftet und in eins der >Geheimgefängnisse< gebracht. Das Beispiel von Kurt Landau und seiner Frau ist typisch dafür. Sie wurden am 17. Juni verhaftet, und Landau >verschwand< sofort. Fünf Monate später war seine Frau immer noch ohne Gerichtsprozess und ohne Nachrichten von ihrem Mann im Gefängnis. Sie unternahm einen Hungerstreik, worauf der Justizminister ihr mitteilte, ihr Mann sei tot. Kurz darauf wurde sie entlassen, um fast sofort wieder verhaftet und in ein Gefängnis geworfen zu werden. Es ist außerdem bemerkenswert, dass die Polizei zumindest am Anfang gar keine Rücksicht darauf zu nehmen schien, welche Folgen diese Verhaftungen auf den Kriegsverlauf haben könnten. Sie machten sich nichts daraus, selbst Offiziere auf wichtigen Posten ohne vorherige Erlaubnis zu verhaften. Etwa gegen Ende Juni wurde José Rovira, der Kommandierende General der 29. Division, in der Nähe der Front von einer Gruppe Polizisten verhaftet, die man aus Barcelona geschickt hatte. Seine Leute schickten eine Protestdelegation zum Kriegsministerium. Hier entdeckte man, dass weder der Kriegsminister noch Ortega, der Polizeichef, jemals von Roviras Arrest informiert worden waren. Eine Einzelheit der ganzen Geschichte aber regte mich am meisten auf, obwohl sie vielleicht nicht so wichtig ist. Damit meine ich, dass die Nachricht von den Ereignissen den Truppen an der Front vorenthalten wurde. Wie man gesehen hat, hörte weder ich noch sonst jemand an der Front irgend etwas über die Unterdrückung der P.O.U.M. Alle Hauptquartiere der P.O.U.M.-Miliz, die Zentren der Roten Hilfe funktionierten wie üblich, und selbst noch am 20. Juni wusste niemand, selbst so weit hinter der Front wie in Lerida, nur hundertsechzig Kilometer von Barcelona entfernt, was geschehen war. In den Zeitungen von Barcelona wurde nicht ein Wort über die ganze Geschichte erwähnt. (Die Zeitungen aus Valencia, in denen die Spionagegeschichten standen, kamen nicht an die aragonische Front.) Ohne Zweifel war ein Grund für die Verhaftung der Urlauber der P.O.U.M.-Miliz in Barcelona, zu verhindern, dass sie mit der Nachricht an die Front zurückkehrten. Die Abteilung, mit der ich am 15. Juni zur Front fuhr, muss ungefähr die letzte gewesen sein. Ich wundere mich immer noch darüber, wie geheim die ganze Angelegenheit gehalten wurde, denn die Nachschublastwagen, und was dazu gehört, gingen immer noch hin und her. Aber es gibt keinen Zweifel, dass man es tatsächlich geheim hielt, und wie ich später von vielen anderen erfuhr, erfuhren die Soldaten an der Front selbst mehrere Tage später nichts davon. Das Motiv hierfür ist ganz klar. Der Angriff auf Huesca begann gerade, und die P.O.U.M.-Miliz war noch eine selbständige Einheit. So befürchtete man vermutlich, dass die Männer sich weigern würden zu kämpfen, wenn sie wüssten, was geschehen war. Tatsächlich geschah nichts dergleichen, als die Nachricht schließlich doch an die Front gelangte. In der Zwischenzeit müssen viele Soldaten getötet worden sein, ohne zu wissen, dass die Zeitungen in der Etappe sie Faschisten nannten. So etwas ist unverzeihlich. Ich weiß, dass es üblich ist, schlechte Nachrichten von der Truppe fernzuhalten, und das ist in der Regel wohl auch richtig. Aber es ist etwas ganz anderes, Soldaten in die Schlacht zu schicken und ihnen nicht einmal zu sagen, dass ihre Partei hinter ihrem Rücken unterdrückt wird, ihre Anführer des Verrates beschuldigt und ihre Freunde und Verwandte ins Gefängnis geworfen werden.
Meine Frau erzählte mir, was mit unseren verschiedenen Freunden geschehen war. Einige der Engländer und der anderen Ausländer waren über die Grenze entkommen. Williams und Stafford Cottman waren nicht verhaftet worden, als man das Sanatorium Maurin besetzte, und versteckten sich in der Stadt. Dort hielt sich auch John McNair auf, der in Frankreich gewesen war und nach Spanien zurückkam, als man die P.O.U.M. für ungesetzlich erklärt hatte. Das war natürlich übereilt gewesen, aber er wollte nicht in Sicherheit sein, während seine Kameraden in Gefahr waren. Der Rest war einfach eine Aufzählung: »Sie haben den und den erwischt«, und »sie haben den und jenen bekommen«. Es schien, als hätten sie nahezu jeden erwischt. Es gab mir allerdings einen ziemlichen Schock, als ich hörte, dass sie auch George Kopp erwischt hatten.
»Was! Kopp? Ich dachte, er sei in Valencia.« Anscheinend war Kopp nach Barcelona zurückgekommen. Er hatte einen Brief des Kriegsministeriums für den Oberst der gesamten Pionierunternehmungen an der Ostfront. Er wusste, dass man die P.O.U.M. unterdrückt hatte. Aber wahrscheinlich dachte er nicht, dass die Polizei so dumm sein könne, ihn zu verhaften, wenn er sich in einer dringenden militärischen Mission auf dem Wege zur Front befand. Er war zum Hotel >Continental< gekommen, um seine Seesäcke zu holen. Meine Frau war gerade ausgegangen, und die Hotelleute hatten es fertig gebracht, ihn mit einer Lügengeschichte aufzuhalten, während sie die Polizei anriefen. Ich muss zugeben, dass ich außer mir war, als ich von der Gefangennahme Kopps hörte. Er war mein persönlicher Freund, ich hatte monatelang unter ihm gedient, ich hatte zusammen mit ihm unter Beschuss gelegen, und ich kannte sein persönliches Geschick. Er war ein Mann, der alles geopfert hatte - Familie, Nationalität und Lebensunterhalt -, und das nur, um nach Spanien zu kommen und gegen den Faschismus zu kämpfen. Sollte er jemals in sein eigenes Land zurückkehren, würde er viele Jahre Gefängnis erhalten, denn er hatte Belgien verlassen und war einer fremden Armee beigetreten, obwohl er noch belgischer Armeereservist war. Außerdem hatte er geholfen, illegal Munition für die spanische Regierung herzustellen. Seit Oktober 1936 hatte er an der Front gelegen und sich vom Milizsoldaten zum Major hinaufgedient. Ich weiß nicht, wie oft er an einer Schlacht teilgenommen hatte, einmal war er auch verwundet worden. Ich hatte selbst gesehen, wie er während der Maiunruhen örtliche Kämpfe verhütet und vermutlich zehn oder zwanzig Menschenleben gerettet hatte. Zum Dank für alles fand man nichts Besseres, als ihn ins Gefängnis zu werfen. Natürlich war es verlorene Zeit, wütend zu sein, aber die dumme Bosheit dieser Geschichte stellte wirklich meine Geduld auf die Probe.
Meine Frau hatten sie allerdings nicht >verhaftet<. Obwohl sie im >Continental< geblieben war, hatte die Polizei nichts unternommen, um sie festzusetzen. Offensichtlich wurde sie als Lockvogel benutzt. Ein paar Nächte vorher jedoch waren sechs Polizisten in Zivil frühmorgens in ihr Hotelzimmer gekommen und hatten es durchsucht. Sie hatten jedes Stückchen Papier, das wir besaßen, beschlagnahmt, zum Glück nur nicht unsere Pässe und unser Scheckbuch. Sie hatten meine Tagebücher, alle Bücher und sämtliche Zeitungsausschnitte, die ich monatelang aufbewahrt hatte, mitgenommen. (Ich habe mich oft gefragt, was sie mit den vielen Zeitungsausschnitten angefangen haben.) Sie hatten auch meine Kriegssouvenirs und meine Briefe mitgenommen. (Zufällig war darunter auch eine Reihe von Briefen, die ich von meinen Lesern erhalten hatte. Einige hatte ich noch nicht beantwortet, und ich habe natürlich die Adressen nicht mehr. Sollte mir jemand über mein letztes Buch geschrieben und keine Antwort erhalten haben und zufällig diese Zeilen lesen, möge er bitte auf diese Weise meine Entschuldigung entgegennehmen.) Hinterher erfuhr ich auch, dass die Polizei einige Habseligkeiten beschlagnahmte, die ich im Sanatorium Maurin gelassen hatte. Sie schleppten sogar ein Bündel meiner schmutzigen Wäsche weg. Vielleicht dachten sie, darauf stünden geheime Botschaften in unsichtbarer Tinte. Offensichtlich war es für meine Frau im Augenblick sicherer, im Hotel zu bleiben. Falls sie versuchte zu verschwinden, würde man ihr sofort nachspüren. Ich selbst aber musste direkt untertauchen. Der Gedanke daran empörte mich. Trotz der unzähligen Verhaftungen konnte ich eigentlich nicht glauben, dass ich in Gefahr war. Die ganze Angelegenheit schien so sinnlos zu sein. Ebenso weigerte ich mich, diesen idiotischen Zufall ernst zu nehmen, der Kopp ins Gefängnis gebracht hatte. Ich überlegte dauernd, warum sollte mich denn jemand verhaften? Was hatte ich getan! Ich war nicht einmal Parteimitglied der P.O.U.M. Natürlich hatte ich während der Maikämpfe Waffen geführt, aber das hatten schätzungsweise vierzig- oder fünfzigtausend Leute getan. Außerdem brauchte ich dringend eine Nacht anständigen Schlafes. Ich wollte es riskieren und zum Hotel zurückgehen, aber meine Frau wollte nichts davon hören. Geduldig erklärte sie mir die ganzen Umstände. Es kam nicht darauf an, was ich getan oder nicht getan hatte. Es handelte sich nicht um eine Jagd auf Kriminelle, es war nur die Herrschaft des Terrors. Ich hatte mich nicht eines bestimmten Vergehens schuldig gemacht, sondern meine Schuld bestand darin, ein >Trotzkist< zu sein. Die Tatsache, dass ich in der Miliz der P.O.U.M. gedient hatte, war genug, um mich ins Gefängnis zu bringen. Es hatte keinen Zweck, sich an die englische Auffassung zu klammern, wonach man sicher ist, solange man die Gesetze eingehalten hat. Praktisch gab es nur das Gesetz, das sich die Polizei ausgedacht hatte. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich zu verbergen und geheim zu halten, dass ich irgend etwas mit der P.O.U.M. ZU tun hatte. Wir gingen die Papiere durch, die ich in der Tasche hatte. Meine Frau ließ mich den Milizausweis, auf dem in großen Buchstaben P.O.U.M. stand, zerreißen, außerdem auch ein Foto einer Gruppe Milizsoldaten, auf dem im Hintergrund eine P.O.U.M.-Flagge zu sehen war. Wegen so etwas wurde man jetzt verhaftet. Meine Entlassungspapiere allerdings musste ich behalten. Aber selbst sie waren gefährlich, denn sie trugen das Siegel der 29. Division, und die Polizei wusste sicher, dass die 29. Division zur P.O.U.M. gehörte. Aber ohne diese Papiere konnte ich wegen Fahnenflucht verhaftet werden.
Wir mussten uns nun überlegen, wie wir aus Spanien herauskamen. Es hatte keinen Zweck mehr, hier zu bleiben, wo man mit Sicherheit früher oder später verhaftet würde. Tatsächlich wären wir beide noch gerne hier geblieben, um zu sehen, was geschah. Aber ich konnte mir vorstellen, wie lausig die spanischen Gefängnisse sein würden (sie waren tatsächlich noch schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte). Wenn man aber erst einmal im Gefängnis saß, wusste man nicht, wann man wieder herauskam. Außerdem befand ich mich in einem scheußlichen Gesundheitszustand, von den Schmerzen in meinem Arm ganz zu schweigen. Wir verabredeten, uns am nächsten Tag im britischen Konsulat zu treffen, wohin auch Cottman und McNair kommen wollten.
Es würde wahrscheinlich einige Tage dauern, ehe unsere Pässe in Ordnung waren. Bevor man Spanien verließ, mussten die Pässe an drei verschiedenen Stellen abgestempelt werden - vom Polizeichef, vom französischen Konsul und von den katalonischen Einwanderungsbehörden. Natürlich war der Polizeichef eine Gefahr. Aber vielleicht konnte der britische Konsul die Sache so darstellen, dass man von meiner Verbindung mit der P.O.U.M. nichts erfuhr. Natürlich musste es eine Liste verdächtiger ausländischer >Trotzkisten< geben, und sehr wahrscheinlich enthielt sie auch unsere Namen. Mit etwas Glück konnten wir aber vor dieser Liste an die Grenze kommen. Sicherlich herrschten ein ziemlich großes Durcheinander und manana. Zum Glück waren wir in Spanien und nicht in Deutschland. Die spanische Geheimpolizei hatte zwar etwas vom Geist der Gestapo, aber nicht viel von ihrer Geschicklichkeit.
So trennten wir uns. Meine Frau ging zum Hotel zurück, und ich wanderte in die Dunkelheit, um ein Plätzchen zum Schlafen zu finden. Ich erinnere mich, wie gelangweilt und mürrisch ich mich fühlte. Ich hatte mich so auf eine Nacht in einem Bett gefreut! Nirgends gab es etwas, wohin ich gehen konnte, kein Haus, wo ich unterschlüpfen konnte. Die P.O.U.M. hatte praktisch keine Untergrundorganisation. Ohne Zweifel hatten die Anführer erkannt, dass die Partei wahrscheinlich unterdrückt werden würde, aber sie hatten niemals mit einer derartig umfangreichen Hexenjagd gerechnet. Das hatten sie tatsächlich so wenig erwartet, dass sie die Umbauten an dem P.O.U.M.-Gebäude bis zu dem Tag fortsetzten, an dem die P.O.U.M. unterdrückt wurde (unter anderem errichteten sie ein Kino in ihrem Amtsgebäude, das vorher eine Bank gewesen war). So gab es keine Treffpunkte und Verstecke, die jede revolutionäre Partei selbstverständlich haben sollte. Gott weiß, wie viele Leute - Leute, deren Haus von der Polizei besetzt worden war - diese Nacht in den Straßen schliefen. Ich hatte fünf Tage einer ermüdenden Reise hinter mir, ich hatte an den unmöglichsten Orten geschlafen, mein Arm schmerzte sehr stark, und jetzt jagten mich diese Dummköpfe hin und her, und ich musste wieder auf der Erde schlafen. So weit ungefähr reichten meine Gedanken. Ich stellte keine korrekten politischen Überlegungen an. So etwas tue ich nie, während etwas geschieht. Wenn ich in einen Krieg oder in politische Auseinandersetzungen verwickelt bin, geht es mir anscheinend immer so. Ich weiß von nichts, außer den physischen Unannehmlichkeiten und dem tiefen Wunsch, dass dieser verdammte Unsinn bald vorbeigehen möge. Hinterher sehe ich die Bedeutung der Ereignisse, aber während sie geschehen, habe ich nur den Wunsch, daraus wegzukommen - vielleicht ist das ein gemeiner Charakterzug.
Ich legte einen langen Weg zurück und kam schließlich in die Nähe des Allgemeinen Krankenhauses. Ich suchte nach einem Ort, wo ich mich hinlegen konnte, ohne dass mich ein neugieriger Polizist fand und nach meinen Papieren fragte. Ich versuchte es in einem Luftschutzbunker, aber er war gerade frisch ausgehoben worden und tropfte vor Feuchtigkeit. Dann fand ich die Ruine einer Kirche, die während der Revolution geplündert und in Brand gesteckt worden war. Sie war nur noch ein Skelett, vier Wände ohne Dach, die einen Haufen Schutt umgaben. Ich stöberte in der grauen Finsternis herum und fand eine Art Mulde, in die ich mich hinlegen konnte. Brocken von zerbrochenem Mauerwerk sind nicht gerade gut, um sich draufzulegen, aber glücklicherweise war es eine warme Nacht, und es gelang mir, einige Stunden zu schlafen.

 

Vierzehntes Kapitel

Wenn man in einer Stadt wie Barcelona von der Polizei gesucht wird, ist das schlimmste, dass überall so spät geöffnet wird. Wenn man im Freien schläft, wacht man immer mit dem Morgengrauen auf. In Barcelona öffnete aber keines der Cafes vor neun Uhr, so musste ich also Stunden warten, ehe ich mich rasieren lassen konnte oder eine Tasse Kaffee bekam. Es war recht eigenartig, im Friseurladen noch die anarchistische Bekanntmachung an der Wand zu finden, auf der erklärt wurde, dass Trinkgelder verboten seien. Auf der Ankündigung stand: »Die Revolution hat unsere Ketten zerschlagen.« Ich hätte den Friseuren am liebsten gesagt, dass sie bald wieder Ketten haben würden, für den Fall, dass sie nicht gut aufpassten.
Ich wanderte zum Zentrum der Stadt zurück. Die roten Flaggen über dem P.O.U.M.-Gebäude waren heruntergerissen worden, an ihrer Stelle wehten republikanische Fahnen. Ganze Gruppen bewaffneter Zivilgardisten drückten sich in den Torwegen herum. Die Polizei hatte sich ein Vergnügen daraus gemacht, die meisten Fensterscheiben des Zentrums der Roten Hilfe an der Plaza de Catalufia zu zerschlagen. Man hatte den Buchladen der P.O.U.M. leergeräumt; und das Anschlagbrett weiter unten an der Rambla war mit P.O.U.M.-feindlichen Karikaturen beklebt worden - der Karikatur mit der Maske und dem faschistischen Gesicht darunter. Am Ende der Rambla, in der Nähe der Kais, sah ich etwas Seltsames. Dort saß eine Reihe Milizsoldaten, noch zerlumpt und schmutzig von der Front, erschöpft auf den Stühlen der Schuhputzer. Ich wusste, wer sie waren - ja, ich erkannte sogar einen von ihnen. Sie waren Milizsoldaten der P.O.U.M., die am Tage vorher von der Front gekommen waren, um nun zu sehen, dass die P.O.U.M. unterdrückt wurde. Sie hatten die Nacht auf der Straße verbringen müssen, da man ihre Häuser besetzt hatte. Jeder Milizsoldat der P.O.U.M., der in diesem Augenblick nach Barcelona kam, hatte die Wahl, sich entweder sofort zu verstecken oder ins Gefängnis zu gehen. Das ist nach drei oder vier Monaten an der Front nicht gerade ein sehr angenehmer Empfang.
Wir waren in einer seltsamen Lage. Nachts wurde man wie ein Flüchtling gejagt, aber tagsüber konnte man fast ein normales Leben führen. Jedes Haus, von dem man wusste, dass in ihm Anhänger der P.O.U.M. wohnten, wurde sicher oder doch mit ziemlicher Sicherheit bewacht. Es war unmöglich, in ein Hotel oder in eine Pension zu gehen, denn es bestand eine Anordnung, wonach der Hotelbesitzer die Ankunft jedes Fremden sofort der Polizei mitteilen musste. Das hieß praktisch, dass man die Nacht auf der Straße verbringen musste. Tagsüber jedoch war man in einer Stadt von der Größe Barcelonas ziemlich sicher. Die Straßen waren voller Zivilgardisten, Sturmgardisten, Carabineros und normaler Polizei, daneben Gott weiß welche Spione in Zivil. Aber trotzdem konnten sie nicht jeden anhalten, der an ihnen vorbeiging, und wenn man normal aussah, konnte man ihrer Aufmerksamkeit entgehen. Man musste vor allen Dingen vermeiden, sich in der Nähe der P.O.U.M.-Gebäude aufzuhalten, und durfte nicht in jene Cafes und Restaurants gehen, wo einen die Kellner von Angesicht kannten. An diesem und dem nächsten Tag verbrachte ich ziemlich viel Zeit mit einem Bad in einer der öffentlichen Badeanstalten. Das erschien mir damals als eine gute Möglichkeit, mich verborgen zu halten. Leider hatten viele andere die gleiche Idee, und ein paar Tage nachdem ich Barcelona verlassen hatte, besetzte die Polizei eine der öffentlichen Badeanstalten und verhaftete eine Anzahl völlig nackter >Trotzkisten<.
In der Mitte der Rambla begegnete ich einem Verwundeten aus dem Sanatorium Maurin. Wir wechselten einen jener unsichtbaren Blicke, mit denen sich die Leute damals grüßten, und wir trafen uns unauffällig in einem der Cafes etwas weiter oben an der Straße. Er war der Verhaftung entgangen, als das Maurin besetzt wurde, war aber wie viele andere auf die Straße getrieben worden. Er war nur in Hemdsärmeln, denn er musste ohne Jacke fliehen und hatte kein Geld. Er schilderte mir, wie einer der Zivilgardisten das große farbige Porträt Maurins von der Wand herabgerissen und in Stücke getreten habe. Maurin, einer der Gründer der P.O.U.M., war Gefangener in den Händen der Faschisten, und man vermutete damals schon, dass er von ihnen erschossen worden sei.
Um zehn Uhr traf ich meine Frau auf dem britischen Konsulat. McNair und Cottman kamen kurze Zeit später auch dorthin. Als erstes erzählten sie mir, Bob Smillie sei tot. Er war in Valencia im Gefängnis gestorben, aber niemand wusste mit Sicherheit, wie. Man hatte ihn sofort beerdigt, und man hatte David Murray, dem örtlichen Vertreter der I.L.P., die Erlaubnis verweigert, seine Leiche zu sehen.
Natürlich vermutete ich sofort, Smillie sei erschossen worden. Das glaubte damals jeder, aber inzwischen bin ich zu der Überzeugung gelangt, ich könne unrecht gehabt haben. Später wurde eine Blinddarmentzündung als Todesursache angegeben, und wir hörten hinterher von einem anderen, entlassenen Gefangenen, Smillie sei tatsächlich im Gefängnis krank gewesen. So war vielleicht die Geschichte von der Blinddarmentzündung richtig. Vielleicht verweigerte man Murray aus Bosheit, die Leiche zu sehen. Ich muss jedoch etwas hinzufügen. Bob Smillie war nur zweiundzwanzig Jahre alt und körperlich einer der zähesten Leute, die ich je getroffen habe. Er war, glaube ich, der einzige Engländer oder Spanier unter meinen Bekannten, der drei Monate in den Schützengräben gelegen hatte und nicht ein einziges Mal krank gewesen war. So zähe Leute sterben normalerweise nicht an Blinddarmentzündung, wenn man sich um sie kümmert. Wenn man aber erfuhr, wie die spanischen Gefängnisse aussahen - die behelfsmäßigen Gefängnisse für politische Gefangene -, wusste man, wie wenig Aussichten ein Kranker hatte, dort anständig behandelt zu werden. Man kann die Gefängnisse nur als Verliese bezeichnen. In England müsste man bis ins achtzehnte Jahrhundert zurückgehen, um etwas Vergleichbares zu finden. Die Menschen wurden in kleinen Räumen zusammengepfercht, wo es für sie kaum genug Platz gab, um sich hinzulegen. Oft wurden sie auch in Kellern und anderen dunklen Orten festgehalten. Das war nicht nur eine vorübergehende Maßnahme, denn es gab Fälle, in denen Menschen vier oder fünf Monate gefangen gehalten wurden, ohne das Tageslicht gesehen zu haben. Man ernährte sie mit einer schmutzigen, unzureichenden Kost, die aus zwei Tellern Suppe und zwei Stücken Brot pro Tag bestand. (Einige Monate später scheint sich jedoch die Ernährung ein wenig gebessert zu haben.) Ich übertreibe wirklich nicht, man frage nur einen politisch Verdächtigen, der in Spanien im Gefängnis gewesen ist. Ich habe aus einer Reihe verschiedener Quellen Berichte über die spanischen Gefängnisse, und sie stimmen so sehr miteinander überein, dass es schwer fällt, ihnen nicht zu glauben. Außerdem habe ich selbst einige Male in ein spanisches Gefängnis hineingeschaut. Einer meiner anderen englischen Freunde, der später verhaftet wurde, schreibt, seine Erfahrungen im Gefängnis »machten Smillies Fall leichter verständlich«. Smillies Tod kann man nicht so leicht vergeben. Er war ein tapferer und fähiger Bursche, der seine Laufbahn an der Universität von Glasgow aufgegeben hatte, um gegen den Faschismus zu kämpfen. Wie ich selbst gesehen hatte, tat er an der Front seine Pflicht mit untadeligem Mut und mit Bereitwilligkeit. Das einzige aber, was sie sich ausdenken konnten, bestand darin, ihn in ein Gefängnis zu werfen und wie ein verlassenes Tier sterben zu lassen. Ich weiß, dass es keinen Zweck hat, mitten in einem großen, blutigen Krieg viel Aufhebens über einen einzelnen Tod zu machen. Eine Fliegerbombe, die in einer Straße voller Menschen explodiert, verursacht mehr Leiden als eine ganze Serie politischer Verfolgungen. Aber ich war wütend über die völlige Sinnlosigkeit dieses Todes. In der Schlacht getötet zu werden - ja, das erwartet man. Aber nicht einmal wegen irgendeiner eingebildeten Anschuldigung, sondern einfach aus dummer blinder Bosheit ins Gefängnis geworfen zu werden und dann in der Einsamkeit zu sterben, das ist etwas ganz anderes. Ich kann mir nicht vorstellen, wie so etwas den Sieg näher brachte; es ist auch nicht so, dass Smillies Fall eine Ausnahme gebildet hätte.
Am gleichen Nachmittag besuchten meine Frau und ich Kopp. Man durfte Gefangene besuchen, die nicht incomunicado gehalten wurden, obwohl es nicht gefahrlos war, mehr als ein- oder zweimal hinzugehen. Die Polizei beobachtete alle Leute, die kamen und gingen, und wenn man die Gefängnisse zu oft besuchte, wurde man selbst als >Trotzkisten<-Freund abgestempelt und kam wahrscheinlich am Ende selbst ins Gefängnis. Das war schon einer Reihe von Leuten passiert. Kopp wurde nicht incomunicado gehalten, und wir erhielten ohne Schwierigkeiten die Erlaubnis, ihn zu sehen. Als sie uns durch die Stahltore ins Gefängnis hineinließen, wurde ein spanischer Milizsoldat, den ich von der Front kannte, zwischen zwei Zivilgardisten hinausgeführt. Sein Auge traf meins, wieder dieses gespenstische Zwinkern. Der erste, den wir drinnen sahen, war ein amerikanischer Milizsoldat, der einige Tage vorher nach Hause abgereist war. Seine Papiere waren vollständig in Ordnung, aber trotzdem hatte man ihn an der Front verhaftet, wahrscheinlich weil er noch immer die Kordkniehosen trug und man ihn deshalb als Milizsoldaten identifizieren konnte. Wir gingen aneinander vorbei, als seien wir uns völlig fremd. Das war furchtbar. Ich kannte ihn seit Monaten, ich hatte einen Unterstand mit ihm geteilt, er hatte geholfen, mich nach meiner Verwundung aus der Front zu tragen, und doch war es das einzige, was man tun konnte. Die blauuniformierten Wächter schnüffelten überall herum. Es wäre fatal gewesen, zu viele Leute zu begrüßen.
Das so genannte Gefängnis war in Wirklichkeit das Erdgeschoß eines Geschäftes. Man hatte an die hundert Leute in zwei Räume hineingepfercht, von denen jeder etwa sechs mal sechs Meter groß war. Das Gefängnis sah aus wie das Newgate-Gefängnis auf einem Kalenderbild aus dem achtzehnten Jahrhundert, vor allem der abstoßende Schmutz, die zusammengedrängten menschlichen Körper, die Räume ohne Möbel, nur mit blankem Steinboden, einer Bank, einigen zerlumpten Decken und in fahles Licht getaucht, da man die verrosteten Stahljalousien vor den Fenstern herabgelassen hatte. Auf den nackten Wänden standen revolutionäre Parolen: »Visca P.O.U.M.!«, »Viva la Revolución!« und so weiter. In den letzten Monaten hatte man dieses Gebäude als Abladeplatz für politische Gefangene benutzt. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm von Stimmen, denn es war Besuchsstunde, und das Gebäude war so voller Menschen, dass man sich nur schwer fortbewegen konnte. Fast alle gehörten der ärmsten Arbeiterschicht der Bevölkerung an. Man sah, wie Frauen erbärmliche Lebensmittelpakete öffneten, die sie für ihre gefangenen Männer mitgebracht hatten. Unter den Gefangenen waren auch einige Verwundete aus dem Sanatorium Maurin. Zwei von ihnen hatten amputierte Beine, einen hatte man ohne Krücken in das Gefängnis gebracht, und er hüpfte auf einem Fuß herum. Ich sah auch einen Jungen, der nicht älter als zwölf war; anscheinend verhafteten sie auch Kinder. Im Gebäude herrschte ein bestialischer Gestank, den man immer dort bemerkt, wo eine große Menschenmenge ohne anständige hygienische Verhältnisse zusammengepfercht wird.
Kopp bahnte sich einen Weg durch die Menge, um uns zu begrüßen. Sein plumpes, frisches Gesicht sah nicht anders als sonst aus, und er hatte seine Uniform selbst in diesem schmutzigen Gebäude sauber gehalten und es sogar bewerkstelligt, sich zu rasieren. Außer ihm war noch ein zweiter Offizier in der Uniform der Volksarmee unter den Gefangenen. Als sie sich in der Menge aneinander vorbeidrückten, grüßten er und Kopp sich. Die Geste war irgendwie pathetisch. Kopp schien in glänzender Verfassung zu sein. »Nun, ich vermute, wir werden alle erschossen!« sagte er gut gelaunt. Das Wort »erschießen« gab mir einen inneren Schauder. Es war noch nicht lange her, dass mein Körper von einer Kugel getroffen wurde, und ich erinnerte mich sehr lebhaft daran. Der Gedanke, dass es jemand passieren könne, den man gut kennt, ist nicht schön. Damals hielt ich es für selbstverständlich, dass alle wichtigen Leute in der P.O.U.M. erschossen würden, unter ihnen natürlich auch Kopp. Die ersten Gerüchte vom Tode Nins sickerten durch, und wir wussten, dass die P.O.U.M. des Verrates und der Spionage beschuldigt wurde. Alles deutete auf einen großen Schauprozess hin, dem ein Gemetzel der führenden >Trotzkisten< folgen würde. Es ist schrecklich, wenn man einen Freund im Gefängnis sieht und weiß, dass man selbst keine Macht hat, ihm zu helfen. Denn es gab nichts, was man tun konnte. Es war sogar nutzlos, sich an die belgischen Behörden zu wenden, denn Kopp hatte die Gesetze seines eigenen Landes gebrochen, als er hierherkam. Das Sprechen musste ich vor allem meiner Frau überlassen. Mit meiner krächzenden Stimme konnte ich mich bei dem großen Lärm nicht verständlich machen. Kopp erzählte, dass er sich mit einigen anderen Gefangenen angefreundet habe. Er sagte uns, dass einige der Wachtposten gute Kerle seien, andere aber schlügen und misshandelten die schüchterneren Gefangenen. Die Verpflegung, meinte er, sei nur ein >Schweinefraß<. Zum Glück hatten wir daran gedacht, ihm ein Paket Lebensmittel und auch Zigaretten mitzubringen. Dann erzählte uns Kopp von den Papieren, die man ihm abgenommen hatte, als er verhaftet wurde. Darunter war auch ein Brief des Kriegsministers an den Kommandierenden Oberst der Pioniereinheiten der Ostarmee. Die Polizei hatte den Brief beschlagnahmt und sich geweigert, ihn zurückzugeben. Angeblich sollte er im Büro des Polizeichefs liegen. Vielleicht würde es sehr wichtig sein, den Brief zurückzubekommen.
Ich erkannte sofort, wie wichtig das sein könnte. Vielleicht würde ein offizieller Brief dieser Art, mit einer Empfehlung des Kriegsministeriums und General Pozas, Kopps Ehrlichkeit bezeugen. Die Schwierigkeit bestand nur darin, die Existenz dieses Briefes zu beweisen. Wurde er im Büro des Polizeichefs geöffnet, konnte man sicher sein, dass irgendein Schuft ihn vernichten würde. Es gab nur einen Menschen, der ihn vielleicht zurückbekommen konnte. Das war der Offizier, an den der Brief adressiert war. Kopp hatte schon daran gedacht und einen Brief geschrieben, den ich aus dem Gefängnis schmuggeln und zur Post geben sollte. Aber es war offensichtlich schneller und sicherer, persönlich hinzugehen. Ich ließ meine Frau bei Kopp zurück, stürzte hinaus und fand nach langem Suchen ein Taxi. Ich wusste, dass Zeit alles war. Es war jetzt ungefähr halb sechs, der Oberst würde wahrscheinlich sein Büro um sechs Uhr verlassen, und morgen könnte der Brief Gott weiß wo sein. Vielleicht wäre er dann schon vernichtet oder unter einem Haufen anderer Dokumente verloren, die sich vermutlich zu Bergen häuften, während ein Verdächtiger nach dem anderen verhaftet wurde. Das Büro des Obersten lag in der Heereskommandantur unten am Kai. Als ich die Treppe hinaufstürzte, versperrte der wachhabende Sturmgardist am Tor den Weg mit seinem langen Bajonett und verlangte »Papiere«. Ich hielt ihm meinen Entlassungsschein vor die Nase. Offenbar konnte er nicht lesen und ließ mich passieren, beeindruckt von dem geheimnisvollen Wert der »Papiere«. Im Innern war das Gebäude ein riesiges, verschlungenes Gehege, das sich rund um einen zentralen Hof fügte. Auf jedem Stockwerk gab es Hunderte von Büros. Niemand hatte, da es in Spanien war, die leiseste Ahnung, wo das Büro lag, das ich suchte. Ich wiederholte dauernd: »El coronel - jefe de ingenieros, Ejercito de Este!»Die Leute lächelten und zuckten elegant mit ihren Schultern. Jeder, der irgendeine Vorstellung hatte, schickte mich in eine andere Richtung, diese Treppe hinauf, jene hinunter, durch endlose Gänge, die sich als Sackgassen erwiesen. Die Zeit aber wurde immer kürzer. Ich hatte das eigenartige Gefühl, unter einem Alpdruck zu stehen: Ich lief Treppen hinauf und hinab; ich sah geheimnisvolle Leute, die kamen und gingen; ich blickte durch offene Türen in chaotische Büros, in denen überall Papier umherlag und Schreibmaschinen ratterten; die Zeit verrann, und vielleicht lag ein Leben auf der Waagschale. Schließlich aber kam ich noch rechtzeitig an mein Ziel und wurde, ein wenig zu meiner Überraschung, sogar angehört. Ich sah den Oberst nicht, aber sein Adjutant oder Sekretär, ein kleiner Offizier mit großen und schielenden Augen in einer feinen Uniform, kam heraus, um mich im Vorzimmer zu befragen. Ich stieß meine Geschichte hervor. Ich sei wegen meines mir vorgesetzten Offiziers, Major Jorge Kopp, gekommen, der eine dringende Mission an der Front habe und der irrtümlich verhaftet worden sei. Der Brief an den Oberst sei vertraulicher Natur und müsse ohne Verzögerung wieder herbeigeschafft werden. Ich hätte monatelang unter Kopp gedient, er sei ein äußerst anständiger Offizier, offensichtlich sei seine Verhaftung ein Irrtum, die Polizei habe ihn mit irgend jemand verwechselt. Ich wiederholte und betonte die Dringlichkeit der Mission Kopps an der Front, denn ich wusste, dass dies das kräftigste Argument war. Aber es muss sich in meinem abscheulichen Spanisch, das jedes Mal in einem kritischen Moment in Französisch umschlug, wie eine recht sonderbare Geschichte angehört haben. Das schlimmste aber war, dass meine Stimme nahezu sofort aussetzte und ich nur mit größter Anstrengung ein Krächzen hervorbringen konnte. Ich befürchtete, dass sie vollständig verschwinden könnte und es dem kleinen Offizier überdrüssig würde, mir zuzuhören. Ich habe mich oft gefragt, was er sich wohl gedacht hat, wieso meine Stimme nicht in Ordnung sei. Ob er glaubte, ich sei betrunken, oder ich litte nur unter einem schlechten Gewissen. Aber er hörte mir geduldig zu, nickte häufig mit seinem Kopf und stimmte dem, was ich sagte, vorsichtig zu. Ja, es klänge so, als sei ein Irrtum unterlaufen. Natürlich solle man die Sache untersuchen. Manana -. Ich protestierte. Nicht manana! Die Sache war dringend; Kopp sollte schon an der Front sein. Wieder schien der Offizier zuzustimmen. Dann kam die Frage, die ich gefürchtet hatte:
»Dieser Major Kopp - in welcher Einheit dient er?« Das schreckliche Wort musste gesagt werden: »In der P.O.U.M.-Miliz.«
»P.O.U.M.!«
Könnte ich dem Leser nur die erschrockene Bestürzung in seiner Stimme vermitteln. Man muss sich vor Augen halten, was man in diesem Augenblick von der P.O.U.M. hielt. Die Furcht vor Spionen hatte ihren Höhepunkt erreicht. Vermutlich glaubten alle guten Republikaner ein oder zwei Tage lang, dass die P.O.U.M. wirklich eine riesige, von den Deutschen bezahlte Spionageorganisation sei. Wenn man so etwas also einem Offizier der Volksarmee sagte, war es genauso, als ob jemand nach dem Schrecken der Roten-Brief-Affäre in den Kavallerieklub gekommen wäre und sich als Kommunist bezeichnet hätte. Seine dunklen Augen musterten versteckt mein Gesicht. Nach einer weiteren langen Pause sagte er langsam:
»Und Sie sagten, dass Sie mit ihm an der Front zusammen waren. Dann haben Sie selbst also auch in der P.O.U.M.-Miliz gedient?«
»Ja.«
Er drehte sich um und verschwand im Büro des Obersten. Ich konnte ein erregtes Gespräch hören. »Jetzt ist alles vorbei« dachte ich. Wir würden Kopps Brief niemals zurückbekommen. Außerdem musste ich bekennen, dass ich selbst der
P.O.U.M. angehörte, und zweifellos würden sie die Polizei anrufen, damit sie mich verhafte, um so noch einen Trotzkisten zur Strecke zu bringen. Da kam der Offizier aber schon wieder heraus, setzte sich seine Mütze auf und bedeutete mir finster, ich solle ihm folgen. Wir gingen zum Amt des Polizeichefs. Es war ein langer Weg, wir mussten zwanzig Minuten gehen. Der kleine Offizier marschierte steif mit militärischem Schritt vor mir her. Auf dem ganzen Weg wechselten wir nicht ein einziges Wort. Als wir am Amt des Polizeichefs ankamen, drückte sich vor dem Tor ein Haufen recht abscheulich aussehender Halunken herum, vermutlich Polizeispitzel, Informanten und alle möglichen Spione. Der kleine Offizier ging hinein, ich hörte ein langes, erregtes Gespräch. Man konnte laute, wütende Stimmen hören, und man konnte sich heftige Gesten vorstellen, Achselzucken und auf den Tisch geschlagene Fäuste. Offenbar weigerte sich die Polizei, den Brief herauszugeben. Schließlich aber kam der Offizier wieder heraus, er war ganz rot im Gesicht, aber er hatte einen großen, offiziellen Umschlag in der Hand. Es war Kopps Brief. Wir hatten einen winzigen Sieg errungen, der aber nicht die geringste Bedeutung hatte, wie sich später herausstellte. Der Brief wurde pflichtgemäß abgeliefert, aber die militärischen Vorgesetzten konnten Kopp keinesfalls aus dem Gefängnis befreien.
Der Offizier versprach mir, den Brief dem Obersten auszuhändigen. Was aber sollte mit Kopp geschehen? sagte ich. Konnten wir ihn nicht frei bekommen? Er zuckte mit der Schulter. Das war eine ganz andere Sache. Sie wussten nicht, warum Kopp verhaftet worden war. Er sagte mir nur, dass die geeigneten Untersuchungen durchgeführt würden. Es gab nichts mehr zu sagen, wir mussten uns trennen. Wir bei-
de verbeugten uns leicht. Und dann geschah etwas sehr Seltsames und Erregendes. Der kleine Offizier zögerte einen Augenblick, dann trat er auf mich zu und schüttelte mir die Hand.
Ich weiß nicht, ob ich überzeugend genug schildern kann, wie sehr mich diese Geste ergriff. Es hört sich so unwichtig an. Aber das war es keinesfalls. Man muss sich vorstellen, welche Gefühle man damals hatte - die schreckliche Atmosphäre des Misstrauens und des Hasses, der Lügen und Gerüchte, die überall die Runde machten, die Plakate auf den Litfasssäulen, die laut verkündeten, dass ich und jeder, der der gleichen Gruppe angehörte, ein faschistischer Spion sei. Man muss sich auch vergegenwärtigen, dass wir vor dem Amt des Polizeichefs standen, genau vor dem schmutzigen Gesindel der Kolporteure und agents provocateurs. Jeder einzelne von ihnen konnte vielleicht wissen, dass ich von der Polizei >gesucht< wurde. Es war das gleiche, als ob man während des Ersten Weltkrieges in der Öffentlichkeit einem Deutschen die Hand geschüttelt hätte. Ich vermute, dass er sich wohl dazu durchgerungen hatte, dass ich wirklich kein faschistischer Spion sei. Aber es war dennoch sehr anständig von ihm, meine Hand zu schütteln.
Ich beschreibe diese Szene, so trivial sie auch klingen mag, denn sie ist etwas typisch Spanisches - sie zeigt einen jener Augenblicke der Großzügigkeit, die einem die Spanier unter den schlimmsten Umständen entgegenbringen. Ich habe die übelsten Erinnerungen an Spanien, aber ich habe nur wenige schlechte Erinnerungen an die Spanier. Ich kann mich nur an zwei Gelegenheiten erinnern, bei denen ich mit einem Spanier ernstlich böse war. Beide Male aber hatte ich vermutlich selbst unrecht, wenn ich heute darüber nachdenke. Die Spanier sind ohne Zweifel großzügig, sie haben einen gewissen Adel, der eigentlich nicht in das zwanzigste Jahrhundert gehört. Diese Haltung gibt uns die Hoffnung, dass in Spanien selbst der Faschismus eine verhältnismäßig lockere und erträgliche Form annehmen mag. Nur wenige Spanier besitzen die verdammenswerte Tüchtigkeit und Beständigkeit, die ein moderner totalitärer Staat benötigt. Als die Polizei einige Nächte vorher das Zimmer meiner Frau durchsuchte, hatte sie dafür eine eigentümliche kleine Illustration geliefert. Diese Durchsuchung war tatsächlich eine sehr interessante Sache, und ich hätte sie gerne gesehen, obwohl es vielleicht genauso gut ist, dass ich sie nicht sah, denn ich hätte mich wahrscheinlich nicht beherrschen können.
Die Polizei führte die Durchsuchung im bekannten Stil der Ogpu oder Gestapo durch. In den frühen Morgenstunden klopften sie an die Tür, und sechs Männer marschierten herein, schalteten das Licht an und postierten sich sofort in verschiedenen Ecken des Zimmers, worüber sie sich offensichtlich schon vorher geeinigt hatten. Dann durchsuchten sie beide Zimmer mit unfassbarer Gründlichkeit (nebenan war ein Badezimmer). Sie klopften die Wände ab, hoben die Läufer auf, untersuchten den Boden, befühlten die Vorhänge, stocherten unter die Badewanne und die Heizungskörper, leerten jede Schublade und jeden Koffer, betasteten alle Kleidungsstücke und hielten sie gegen das Licht. Sie beschlagnahmten alle Papiere, einschließlich dessen, was im Papierkorb lag, und obendrein unsere sämtlichen Bücher. Sie gerieten in eine Ekstase des Misstrauens, als sie herausfanden, dass wir eine französische Übersetzung von Hitlers Mein Kampf besaßen. Das hätte unser Schicksal besiegelt, wenn es das einzige Buch gewesen wäre, das sie bei uns fanden. Es ist eindeutig, dass ein Mensch, der Mein Kampf liest, ein Faschist sein muss. Im nächsten Augenblick jedoch fanden sie eine Ausgabe von Stalins Heft Wie man Trotzkisten liquidiert und mit anderen Verrätern umspringen muss. Das brachte sie etwas zur Beruhigung. In einer Schublade lag eine Anzahl Päckchen Zigarettenpapier. Sie nahmen jedes Päckchen auseinander und untersuchten jedes Stückchen Papier für sich, ob vielleicht eine Botschaft daraufgeschrie-
ben sei. Insgesamt durchsuchten sie unsere Sachen fast zwei Stunden lang. Aber während der ganzen Zeit durchsuchten sie das Bett nicht. Während der ganzen Zeit lag meine Frau im Bett, und es hätte bestimmt ein halbes Dutzend Maschinenpistolen unter der Matratze liegen können, gar nicht zu sprechen von einer Bibliothek trotzkistischer Dokumente unter dem Kissen. Aber die Geheimpolizisten dachten nicht daran, das Bett zu berühren, ja, sie sahen nicht einmal darunter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies zur normalen Routine der Ogpu gehört. Man muss sich vorstellen, dass die Polizei fast vollständig unter kommunistischer Kontrolle stand und dass diese Leute wahrscheinlich kommunistische Parteimitglieder waren. Aber sie waren auch Spanier, und es wäre ein bisschen zu viel für sie gewesen, eine Frau aus dem Bett zu zerren. So wurde dieser Teil ihrer Aufgabe schweigend übergangen, und damit war die ganze Durchsuchung sinnlos.
In dieser Nacht schliefen McNair, Cottman und ich in hohem Gras am Rande eines verlassenen Baugeländes. Die Nacht war für die Jahreszeit sehr kalt, und keiner von uns schlief sehr viel. Ich erinnere mich noch an die langen trostlosen Stunden, die wir herumlungerten, ehe wir eine Tasse Kaffee bekommen konnten. Zum ersten Mal, seit ich nach Barcelona gekommen war, sah ich mir die Kathedrale an. Es war eine moderne Kathedrale, aber gleichzeitig eines der hässlichsten Gebäude der Welt. Sie hat vier mit Zinnen versehene Türme, die genau wie Rheinweinflaschen aussehen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kirchen in Barcelona war sie während der Revolution nicht beschädigt worden. Die Leute sagten, man hätte sie wegen ihres künstlerischen Wertes< verschont. Ich bin der Ansicht, dass die Anarchisten schlechten Geschmack bewiesen, als sie die Kirche nicht in die Luft sprengten, solange sie die Gelegenheit dazu hatten, obwohl sie ein rot-schwarzes Banner zwischen die Türme hängten. An diesem Nachmittag besuchten meine Frau und ich Kopp zum letzten Mal. Wir konnten nichts, aber wirklich nichts für ihn tun, nur auf Wiedersehen sagen und etwas Geld bei spanischen Freunden lassen, die ihm Nahrung und Zigaretten bringen würden. Etwas später aber, wir hatten schon Barcelona verlassen, wurde er auch incomunicado gehalten, und man konnte ihm nicht einmal mehr Lebensmittel schicken. Als wir an diesem Abend die Rambla hinuntergingen, kamen wir am Cafe >Moka< vorbei, das immer noch von den Zivilgardisten besetzt gehalten wurde. Spontan ging ich hinein und sprach zwei von ihnen an, die an der Theke lehnten und ihre Gewehre über dem Rücken trugen. Ich fragte sie, ob sie wüssten, wer von ihren Kameraden hier während der Maikämpfe Dienst getan hätte. Sie wussten es nicht und konnten mit der üblichen spanischen Ungenauigkeit auch niemanden ausfindig machen, der es wusste. Ich sagte ihnen, mein Freund Jorge Kopp läge im Gefängnis und würde vielleicht für etwas, was mit den Maikämpfen zusammenhing, vor Gericht gestellt. Die Leute aber, die hier Dienst getan hätten, wüssten, dass er die Kämpfe aufgehalten habe und einigen Leuten das Leben gerettet hätte. Sie sollten sich vielleicht überwinden und Zeugnis dafür ablegen. Einer der Leute, mit denen ich sprach, war ein stumpfer, schwerfälliger Mann, der dauernd seinen Kopf schüttelte, weil er durch den Verkehrslärm meine Stimme nicht hören konnte. Aber der zweite war anders. Er sagte, er hätte durch seine Kameraden von Kopps Aktion gehört; Kopp sei ein buen chico (ein guter Kerl). Aber selbst damals wusste ich schon, dass alles nutzlos war. Sollte Kopp wirklich vor Gericht gestellt werden, würde das wie in allen gleichartigen Prozessen auf Grund falscher Beweise geschehen. Wenn er inzwischen erschossen worden ist (ich befürchte, das ist ziemlich sicher), so wird dies sein Nachruf sein: das buen chico des einfachen Zivilgardisten, selbst ein Teil des schmutzigen Systems, aber noch menschlich genug, um eine anständige Handlung als solche zu erkennen.
Wir führten ein außergewöhnliches, verrücktes Dasein. Während der Nacht waren wir Verbrecher, während des Tages waren wir wohlhabende, englische Besucher - so gaben wir uns jedenfalls. Selbst wenn man eine Nacht draußen verbracht hat, bewirken eine Rasur, ein Bad und frisch geputzte Schuhe ein Wunder in bezug auf das Äußere. Augenblicklich war es das sicherste für uns, so bürgerlich wie möglich auszusehen. Wir hielten uns in den vornehmen Wohnvierteln der Stadt auf, wo man unsere Gesichter nicht kannte, gingen in teure Restaurants und behandelten die Kellner auf eine typisch englische Art. Zum ersten Mal in meinem Leben schrieb ich auch etwas auf die Wände. In den Eingängen verschiedener feiner Restaurants kritzelte ich »Visca P.O.U.M.!« so groß, wie ich es schreiben konnte, an die Wand. Während der ganzen Zeit war ich technisch auf der Flucht, fühlte mich aber nicht in Gefahr. Das Ganze erschien so absurd. Ich hatte den unausrottbaren englischen Glauben, dass >sie< mich nicht verhaften könnten, es sei denn, ich hätte ein Gesetz gebrochen. Das ist die gefährlichste Illusion, die man während eines politischen Pogroms haben kann. Der Befehl für die Verhaftung McNairs war erlassen worden, und es war durchaus möglich, dass auch der Rest von uns auf der Liste stand. Die Verhaftungen, Überfälle und Durchsuchungen gingen pausenlos weiter. Zu dieser Zeit war praktisch jeder, den wir kannten, im Gefängnis, mit Ausnahme derjenigen, die an der Front waren. Die Polizei ging sogar auf die französischen Schiffe, die von Zeit zu Zeit Flüchtlinge wegbrachten, und verhaftete verdächtige >Trotzkisten<.
Wir verdanken es der Gefälligkeit des britischen Konsuls, dass es uns gelang, unsere Pässe in Ordnung zu bringen. Er muss in dieser Woche eine recht anstrengende Zeit verbracht haben. Je eher wir abreisten, desto besser. Der Zug nach Port Bou sollte um halb acht Uhr abends fahren, und man hätte normalerweise erwarten können, dass er etwa um halb neun abfahren würde. Wir hatten verabredet, dass meine Frau vorher ein Taxi bestellen und ihre Koffer packen solle. Dann sollte sie im allerletzten Augenblick ihre Rechnung bezahlen und das Hotel verlassen. Erregte sie im Hotel zu viel Aufsehen, würde die Direktion sicherlich die Polizei benachrichtigen. Ich ging gegen sieben Uhr zum Bahnhof und erfuhr, dass der Zug schon abgefahren war. Er hatte um zehn vor sieben Barcelona verlassen. Wie üblich, hatte es sich der Lokomotivführer anders überlegt. Glücklicherweise konnten wir meine Frau noch rechtzeitig warnen. Der nächste Zug fuhr früh am nächsten Morgen. McNair, Cottman und ich aßen in einem kleinen Restaurant in der Nähe des Bahnhofs zu Abend und entdeckten durch vorsichtiges Fragen, dass der Besitzer des Restaurants Mitglied der C.N.T. und uns wohlgesinnt war. Er vermietete uns ein Dreibettzimmer und vergaß, die Polizei zu benachrichtigen. Es war das erste Mal seit fünf Nächten, dass ich ohne meine Kleider schlafen konnte.
Am nächsten Morgen gelang es meiner Frau, ohne Aufsehen zu erregen, aus dem Hotel zu entwischen. Der Zug fuhr mit einer Stunde Verspätung ab. Ich benutzte die Zeit, um einen langen Brief an das Kriegsministerium zu schreiben. Ich schilderte darin den Fall Kopps, wie er zweifellos irrtümlicherweise verhaftet worden sei, wie dringend er an der Front benötigt würde und wie viele Leute bescheinigen könnten, dass er sich nichts habe zuschulden kommen lassen. Ich weiß nicht, ob irgend jemand diesen Brief gelesen hat, den ich mit einer zittrigen Handschrift und einem noch unbeholfeneren Spanisch auf Blätter schrieb, die ich aus meinem Notizbuch herausgerissen hatte; meine Finger waren immer noch halb gelähmt. Jedenfalls hat weder dieser Brief noch sonst etwas eine Wirkung gehabt. Während ich heute, sechs Monate nach den Ereignissen, schreibe, ist Kopp (wenn er nicht erschossen worden ist) immer noch ohne Anklage und ohne Gerichtsurteil im Gefängnis. Anfangs erhielten wir ein oder zwei Briefe von ihm, die von entlassenen Gefangenen hinausgeschmuggelt und in Frankreich aufgegeben worden waren. Alle berichteten uns das gleiche - Gefangenschaft in schmutzigen, dunklen Verliesen, schlechte und unzureichende Ernährung, ernste Erkrankung infolge der Verhältnisse im Gefängnis und der Verweigerung ärztlicher Pflege. Diese Angaben wurden mir von verschiedenen anderen englischen und französischen Quellen bestätigt. Kürzlich verschwand er in einem der >Geheimgefängnisse<, mit denen anscheinend überhaupt keine Verbindung möglich ist. Sein Fall ist ein typisches Beispiel für Dutzende oder Hunderte von Ausländern und wer weiß wie viele Tausende von Spaniern.
Schließlich überschritten wir die Grenze ohne jeden Zwischenfall. Der Zug führte die erste Klasse und hatte einen Speisewagen, den ersten, den ich in Spanien gesehen hatte. Bis vor kurzem gab es in Katalonien nur Züge mit einer Klasse. Zwei Polizisten gingen durch den Zug und notierten die Namen der Ausländer, aber als sie uns im Speisewagen sahen, schienen sie von unserer Anständigkeit überzeugt zu sein. Es war eigenartig, wie sich alles verändert hatte. Noch sechs Monate vorher, als die Anarchisten an der Regierung waren, galt man dann als anständig, wenn man wie ein Proletarier aussah. Auf dem Wege von Perpignan nach Cerberes hatte ein französischer Kaufmann in meinem Eisenbahnwagen in vollem Ernst zu mir gesagt: »Sie müssen nicht so, wie Sie aussehen, nach Spanien gehen. Legen Sie Ihren Kragen und Ihre Krawatte ab. In Barcelona wird man sie Ihnen abreißen.« Er übertrieb, aber seine Bemerkung illustrierte, wie man über Katalonien dachte. An der Grenze hatten die anarchistischen Wachtposten einen vornehm gekleideten Franzosen und seine Frau zurückgeschickt. Ich vermute, sie taten es nur deshalb, weil sie zu bürgerlich aussahen. Jetzt war es genau umgekehrt; bürgerlich auszusehen war die einzige Rettung. Im Passbüro prüften sie, ob wir im Verzeichnis der Verdächtigen standen, aber dank der Nachlässigkeit der Polizei waren unsere Namen dort nicht vermerkt, nicht einmal der von McNair. Man durchsuchte uns von Kopf bis Fuß, aber wir besaßen außer meinen Entlassungspapieren nichts, was uns in Verdacht bringen konnte. Die Carabineros, die mich durchsuchten, wussten aber nicht, dass die 29. Division zur P.O.U.M. gehörte. So entwischten wir durch den Schlagbaum, und nach sechs Monaten war ich wieder auf französischem Boden. Meine einzigen Souvenirs aus Spanien waren eine Wasserflasche aus Ziegenfell und eine der winzigen Eisenlampen, in denen die Bauern in Aragonien ihr Olivenöl brennen. Diese Lampen haben fast die gleiche Form wie die kleinen Terrakottalampen, die die Römer vor zweitausend Jahren benutzten. Ich hatte sie in einer zerstörten Hütte gefunden, und sie war in meinem Gepäck geblieben.
Schließlich stellte sich aber heraus, dass wir keine Minute zu früh entkommen waren. Im ersten Zeitungsblatt, das wir in die Hände bekamen, lasen wir, dass McNair wegen Spionage verhaftet worden sei. Die spanischen Behörden hatten diese Verhaftung ein wenig zu früh angekündigt. Glücklicherweise lässt sich >Trotzkismus< nicht ausliefern.
Ich frage mich, was wohl angemessen ist, wenn man aus einem Land, in dem Krieg herrscht, kommt und seinen Fuß auf friedlichen Boden setzt. Ich rannte damals zum nächsten Tabakladen und kaufte so viel Tabak und Zigaretten, wie ich in meine Taschen stopfen konnte. Dann gingen wir alle an ein Büfett und tranken eine Tasse Tee, den ersten Tee mit frischer Milch, den wir seit Monaten bekommen hatten. Es dauerte einige Tage, ehe ich mich daran gewöhnt hatte, dass ich meine Zigaretten kaufen konnte, wann ich wollte. Ich erwartete immer noch, die Tür des Tabakladens verschlossen zu finden und ein Schild mit der Ankündigung »No hay tobaco« im Fenster zu sehen.
McNair und Cottman gingen nach Paris, meine Frau und ich verließen den Zug in Banyuls, der ersten Station an der Bahnlinie. Wir hatten das Gefühl, dass wir uns ein bisschen erholen sollten. Wir wurden nicht gerade sehr freundlich empfangen, als man Banyuls erfuhr, wir kämen aus Barcelona. Ich wurde häufig in das gleiche Gespräch verwickelt: »Sie kommen aus Spanien? Auf welcher Seite haben Sie gekämpft? Der Regierung? Oh!« - und dann kam eine spürbare Kühle. Die kleinste Stadt schien völlig für Franco eingenommen zu sein, zweifellos wegen der vielen spanischen faschistischen Flüchtlinge, die hier von Zeit zu Zeit ankamen. Der Kellner des Cafes, in das ich ging, war ein mit Franco sympathisierender Spanier und sah mich verächtlich an, als er mir einen Aperitif brachte. In Perpignan war es anders. Diese Stadt steckte voller Parteigänger der Regierung, und dort bekämpften sich die verschiedenen Gruppen fast genauso heftig wie in Barcelona. Dort gab es ein Café, wo das Wort P.O.U.M. die Freundschaft zu den Franzosen anknüpfte und ein Lächeln der Kellner hervorrief.
Ich glaube, wir blieben drei Tage in Banyuls. Es war eine eigentümlich unruhige Zeit. Wir hätten uns eigentlich in diesem ruhigen Fischerstädtchen vollständig erleichtert und dankbar fühlen sollen, da wir so weit von den Handgranaten entfernt waren, von den Maschinengewehren, den um Lebensmittel Schlange stehenden Leuten, der Propaganda und den Intrigen. Aber wir fühlten nichts dergleichen. Was wir in Spanien gesehen hatten, fiel jetzt, nachdem wir uns davon gelöst hatten, nicht zurück und verlor keinesfalls an Bedeutung. Die Erinnerung daran stürzte vielmehr erst recht auf uns ein und war viel lebhafter als vorher. Ununterbrochen dachten, sprachen und träumten wir von Spanien. Vorher hatten wir uns monatelang gesagt, dass wir an die Mittelmeerküste gehen, uns ausruhen und vielleicht ein wenig fischen würden, »wenn wir aus Spanien hinauskommen«. Nachdem wir aber jetzt hier waren, empfanden wir nur Langeweile und Enttäuschung. Das Wetter war kühl, vom Meer blies ein ständiger Wind, das Wasser war bewegt und glanzlos, am Hafenrand schwappten Asche, Korken und Fischeingeweide gegen die Steine. Es mag wahnsinnig klingen aber wir wären am liebsten wieder in Spanien gewesen. Obwohl es niemand genutzt, ja sogar ernsten Schaden angerichtet hätte, wünschten wir uns beide, mit den anderen im Gefängnis zu sein.
Ich vermute, dass es mir nicht gelungen ist, mehr als eine Spur davon zu vermitteln, was diese Monate in Spanien für mich bedeuteten. Ich habe einige äußere Ereignisse berichtet, aber ich kann nicht die Gefühle wiedergeben, die sie in mir hinterlassen haben. Sie vermischen sich unzertrennbar mit Erscheinungen, Gerüchen und Geräuschen, die man nicht mit Worten ausdrücken kann: der Geruch der Schützengräben, die Morgendämmerung in den Bergen, die sich in einer unfassbaren Entfernung verloren, das frostige Krachen der Kugeln, das Donnern und Blitzen der Handgranaten; das klare, kalte Licht der Morgenstunden in Barcelona, das Stampfen der Stiefel auf dem Kasernenhof, damals die Schlangen der Leute, die nach Lebensmitteln anstanden, die rot-schwarzen Fahnen und die Gesichter der spanischen Milizleute; vor allem die Gesichter der Milizleute, es waren Menschen, mit denen ich an der Front zusammen gewesen war und die nun Gott weiß wohin verstreut worden waren, einige waren in der Schlacht gefallen, einige zum Krüppel geschossen, einige im Gefängnis; die meisten aber, hoffe ich, sind noch in Sicherheit und gesund. Ich wünsche ihnen allen viel Glück. Ich hoffe, dass sie den Krieg gewinnen werden und alle Ausländer, ob Deutsche, Russen oder Italiener, aus Spanien vertreiben. Dieser Krieg, in dem ich eine so wirkungslose Rolle spielte, hat vor allem schlechte Erinnerungen in mir hinterlassen, und doch würde ich es bedauern, nicht daran teilgenommen zu haben. Wenn man nur einen Blick auf eine derartige Katastrophe geworfen hat, muss das Ergebnis nicht notwendigerweise Enttäuschung oder Zynismus sein. Wie auch der spanische Krieg enden mag, er wird sich jedenfalls als eine entsetzliche Katastrophe erweisen, ganz abgesehen von dem Gemetzel und den körperlichen Leiden. Seltsamerweise hat das ganze Erlebnis meinen Glauben an die Anständigkeit menschlicher Wesen nicht vermindert, sondern vermehrt. Ich hoffe deshalb, dass mein Bericht nicht zu irreführend ist. Ich nehme an, dass in einer derartigen Angelegenheit niemand vollständig wahrhaftig ist oder sein kann. Man weiß nichts mit Sicherheit, außer dem, was man mit eigenen Augen gesehen hat. Bewusst oder unbewusst schreibt jeder voreingenommen und nimmt Partei. Wenn ich es in diesem Buch nicht schon vorher gesagt habe, möchte ich es jetzt aussprechen: Der Leser hüte sich vor meiner lebhaften Parteinahme, meinen Fehlern in der Darstellung der Fakten und der Verzerrung, die unausweichlich dadurch verursacht wird, dass ich nur eine Ecke des Geschehens gesehen habe. Der Leser sollte sich vor genau den gleichen Fehlern hüten, wenn er einen anderen Bericht über diesen Abschnitt des spanischen Krieges liest.
Wir verließen Banyuls früher, als wir beabsichtigt hatten, in dem Gefühl, dass wir etwas tun sollten und es doch tatsächlich nichts gab, was wir tun konnten. Mit jedem Kilometer, den wir weiter nach Norden fuhren, wurde Frankreich grüner und sanfter. Weg von Berg und Rebe, zurück zu Wiese und Ulme. Als ich auf dem Weg nach Spanien durch Paris gekommen war, war es mir verfallen und düster erschienen, ganz anders als das Paris, das ich acht Jahre vorher gekannt hatte, als das Leben noch billig war und man noch nichts von Hitler gehört hatte. Die Hälfte aller mir bekannten Cafes hatte wegen Kundenmangels geschlossen, und jeder wurde geplagt von den hohen Lebenshaltungskosten und der Kriegsfurcht. Jetzt aber, nach der Armut Spaniens, erschien mir selbst Paris lustig und wohlhabend. Auch die Weltausstellung lief auf vollen Touren, trotzdem vermieden wir es, sie zu besuchen.
Dann kamen wir nach England - Südengland, das wahrscheinlich die einlullendste Landschaft der Welt ist. Wenn man diese Reise macht, ist es schwer zu glauben, dass überhaupt irgendwo etwas geschieht, besonders wenn man sich gerade mit den Plüschkissen im Eisenbahnwagen des Schiffszuges unter dem Hintern friedlich von der Seekrankheit erholt. Erdbeben in Japan, Hungersnöte in China, Revolution in Mexiko? Mach dir keine Sorgen, morgen früh wird die Milch auf der Türschwelle stehen, und am Freitag wird der New Statesman herauskommen. Die Industriestädte lagen weit weg, ein Schmutzfleck aus Qualm und Elend, der von der Rundung der Erdoberfläche verborgen wurde. Hier unten gab es immer noch das England, das ich in meiner Kindheit gekannt hatte: die Durchstiche der Eisenbahnlinie, die durch wilde Blumen verschönert wurden, die weitläufigen Weiden, auf denen große, glänzende Pferde grasen und meditieren, die langsam fließenden Bäche, die von Weiden gesäumt sind, die üppigen grünen Kronen der Ulmen, der Rittersporn in den Gärten; dann die riesige, friedliche Wildnis am Rande von London, die Kähne auf dem schmutzigen Fluss, die altgewohnten Straßen, die Plakate mit den Ankündigungen von Kricketspielen und königlichen Hochzeiten, die Männer mit ihren >Melonen<, die Tauben auf dem Trafalgar Square, die roten Autobusse, die blauen Polizisten - sie alle schliefen den tiefen, tiefen Schlaf Englands. Ich fürchte, wir werden nie daraus erwachen, ehe uns nicht das Krachen von Bomben daraus erweckt.