Pinke zuckte mit den Schultern und grinste. Panke wackelte mit den Ohren und griente. "Der Wels wird schön stampfen, " meinte Pinke. "Der Stampfer wird sich schön wälzen, " entgegnete Panke. "Hast Du schon 'nen 'Vorwärts' hier gesehen? Jeder liest die neue Fahne."
" Jetzt sieht man wieder mal, wie knorke die Fahne ist. Det is wie mit de Weiber. Hast Du se vier Wochen nich..."
Da brach das Gespräch ab, denn Herr Schneidig, der Herr Rayonaufseher, kam gerade vorbei, und Pinke und Panke beugten sich über den Transportwagen, als ob irgend etwas in Unordnung sei.
Pinke hieß eigentlich ganz anders, und Panke war auch mit einem anderen Namen aus dem Taufwasser gerettet worden. Aber überall in dem großen Warenhaus hießen sie Pinke und Panke. Sie arbeiteten immer zusammen und waren unzertrennlich. Beide hatten immer die Waren auf einem Rollwagen durch die einzelnen Abteilungen zu schieben, wo sie gerade gebraucht wurden. So kamen sie überall herum, wussten über alles Bescheid. Und da sie knorke Jungen waren, hatten sie alle gern. Nur der Herr Rayonchef Schneidig nicht - denn wenn sie nur könnten, so ärgerten sie ihn oder halfen den Anderen, ihn reinzulegen.
Eilenden Schrittes, scheinbar ganz in ihre Arbeit vertieft, zogen und stießen sie den mit Schuhkästen vollbeladenen Wagen durch die Kleiderstoffabteilung. Von weitem schon sahen sie eine Dame, die wie ein Zwilling aussah, so dick war sie, an Kätes Tisch stehen. Haarscharf sausten sie an der Dicken vorbei, die gerade noch Zeit gehabt hatte, sich hinten dünne zu machen, wobei sie sich allerdings vorne heftig an der Kundentischkante stieß. Sie wollte gerade losschimpfen und nach dem Chef rufen, als Käte ein grünes Stoffmuster auf den Tisch legte und mit sanfter Stimme sagte:"... kann ich Ihnen sehr empfehlen, gnä' Frau. Wir haben nur noch einen kleinen Rest davon. Spottbillig. Kostet nur 2 Mark 25. Ja, das modernste, was es augenblicklich gibt. " Fünf vor sieben! Die Kundin angelt ihr Stielglas aus der Tasche. Sie mustert Karo für Karo. Aber es gefällt ihr nicht. "Da oben haben Sie doch noch so was Graugrünes. Kann ich das mal sehen? Nein, das nicht. Rechts! Aber liebes Fräulein, ich drücke mich doch ganz deutlich aus - nicht das grüngraue, sondern das graugrüne...
Na, endlich!..."
Eben läutet die Glocke. Die Türen werden geschlossen. Neue Kunden kommen heute abend nicht mehr ins Haus. Gott sei Dank, denkt Käte.
Der Tisch vor ihr ist mit Stoffen zugedeckt. Um halb acht kommt Fritz.
Der will sie abholen. Wird sie um halb acht fertig eingeräumt haben?
Fünf nach sieben. Die Frau wählt noch immer. Käte redet ihr zu wie . einem kranken Gaul. Rayonchef Schneidig schielt um die Ecke, ob Käte sich richtig Mühe gibt, oder ob sie die Kundin abwimmelt. Aber Käte wimmelt keine Kundin ab. Sie redet und redet. Sie klettert auf die Leiter, holt diesen und jenen Stoff herunter. Vergebens. Die Frau geht weg, ohne gekauft zu haben.
Da, schon ist der Rayonchef am Tisch, kaum, dass Käte mit dem Aufräumen angefangen hat. "Fräulein Freisler, Sie denken wohl, nach sieben haben wir es nicht mehr nötig, wie? " "Aber Herr Schneidig... "
" Reden Sie nicht: Die Kundin hat nicht gekauft. Unter den dreißig Mustern hätte sie bestimmt mindestens eins gefunden, wenn Sie ihr richtig zugeredet hätten. Lächerlich! Sie wollen bloß schnell raus. Was denken Sie denn, woher wir Ihr Gehalt zusammenkratzen sollen? " "Ich habe wirklich getan, was ich konnte, Herr Schneidig. 20 Minuten hat die Kundin ausgesucht... "
" Zum Donnerwetter, kommen Sie mir nicht damit!" brüllt Schneidig los. "Und wenn sie eine Stunde aussucht... Nur kaufen muss sie. Sie müssen hier bis neune stehen, wenn's drauf ankommt. Aber Ihnen ist natürlich das Bummeln wichtiger als Ihre Pflicht. Das wird noch mal ein schlimmes Ende nehmen. "
Herr Schneidig zog los, nachdem er sich vor dem Spiegel die Krawatte gerade gerückt hatte. Und noch im Weggehen murmelte er über die Schulter zurück: "Muss Sie morgen der Direktion melden... " Dann ließ er sich in seinen Mantel helfen und verkrümelte sich. Käte räumte auf, nicht gerade in rosiger Stimmung. Leise fluchte sie vor sich hin.
Die große Warenhausuhr zeigte 7. 55 Uhr, als Käte ihre Karte abstempelte. Fritz stand wartend vor der Tür. Müde hängte sie sich bei ihm ein und sie überquerten den großen Platz.
Beinahe hätten sie einen Mann umgerannt, der ihnen klein und beweglich entgegengestiefelt kam. Er entpuppte sich als Sympa-Franz. Der Franz hieß Sympa-Franz, weil er mit allem und jedem sympathisierte, mit den Nazis und mit den Sozis und mit den Kommunisten. Für jeden hatte er etwas übrig. Er arbeitete oben in der Abrechnung des Warenhauses, hatte hellblaue Augen, keine Freundin und dauernd Bauchweh. Überall drängte er sich auf, und als er eben nach Hause gehen wollte und sich noch mal umsah, bemerkte er den Fritz und die Käte und kehrte um. Mit wichtigem Gesicht begann er auch gleich loszulegen.
" Riecht Ihr nichts? "
" Nee, " meinte Fritz, "Dich kann ich schon lange nicht riechen. " Der Sympa-Franz war etwas erstaunt, aber seinen Witz wollte er auf jeden Fall anbringen: "Ich war doch im Harz bei der Nazi-Tagung. Riechst Du nicht den Harzer Käse? " Ha. . ha. . ha. . lachte der Franz als einziger.
Fritz dachte, wenn der sich nur wie'n Harzer verlaufen würde. Aber Franz lief wie ein Dackel neben Fritz und Käte her.
" Du, ich habe den Hitler gesehen, allerdings nur von hinten. Aber auch da sah er fein aus - knorrig wie ein Birkenbaum. " Fritz und Käte sagten immer noch nichts. Darum begann Franz von neuem.
" Du, den Hugenberg hab' ich auch gesehen. Den sogar von vorne. 'N bisschen klein und alt ist er. Aber in die Höhe hat er sich gereckt wie eine Lerche, die der Sonne entgegenfliegt. "
Fritz und Käte sagten immer noch nichts. Franz wurde etwas verlegen. Aber noch gab er nicht auf.
" Den Schacht hab' ich sogar reden gehört. Da hättest Du. . " "Das ist der einzige Schacht, den sie stilllegen sollten, " fuhr Fritz dazwischen.
" Sag' das nicht, " meinte Franz, der begeistert war, dass endlich eine Unterhaltung zustande kam. "Hast Du gehört, was er über die Reichsbank gesagt hat? Pleite is se! Mensch, stell Dir vor: die Reichsbank pleite! Wo die all das Gold haben, und wo sie doch jeden Tag soviel Geld drucken können, wie sie wollen. Ich versteh das nicht. "
"Ich auch nicht, " sagte Fritz, gab ihm die Hand, machte eine übertrieben tiefe Verbeugung und flüsterte mit ernster Stimme: "Leben Sie wohl, sehr verehrter Herr."
Darauf war Franz nicht gefasst und blieb verblüfft zurück. Endlich waren sie allein. Sie gingen jetzt etwas schneller. Nach einer Weile fragte Käte: "Sag mal, stimmt das mit der Reichsbank? " Fritz, immer froh und bereit, der Käte etwas zu erklären, legte los: "Ja und nein. Natürlich ist die Reichsbank nicht pleite. Denn sie kann ja Geld drucken. Aber der Kapitalismus ist ziemlich pleite. Der braucht jeden Tag mehr Geld. Denk doch an die Sparkassen neulich, wie die geschlossen haben. Warum? Weil sie kein Geld mehr zum Auszählen hatten. Nachher hat die Reichsbank ihnen wieder Geld gegeben, und da konnten sie wieder aufmachen. " "Und heute? " fragte Käte.
" Ja, heute haben sie wieder kein Geld, und wenn die Reichsbank ihnen kein Geld gibt, müssen sie wieder zumachen..." "Aber die Reichsbank gibt ihnen ja Geld, " warf Käte ein, "und die Reichsbank kann doch immer neues Geld drucken, wenn die Sparkassen Geld brauchen."
" Halt mal an!" unterbrach sie Fritz. "Weißt Du noch 1923, als immer mehr Geld gedruckt wurde? "
" Ja, aber kommt denn das jetzt wieder? Du glaubst, dass wieder eine Inflation kommt? " "Wenn das noch lange so dauert..."
" Aber das wäre doch ganz toll. Dann würden wir doch alle wieder alles verlieren. "
" Nee, ganz und gar nicht. Die Kapitalisten würden nichts verlieren. Im Gegenteil, die würden gewinnen. " "Aber was denn? ", fragte Käte etwas zweifelnd.
" Na, erstens würden sie ihre Schulden loswerden, die sie mit wertlosem Geld zurückzahlen, und dann würden sie die Löhne entwerten und die Gehälter. "
" Da wären wir, " brach Käte die Unterhaltung ab. Und beide gingen in das dunkle Treppenhaus, das zu Kätes Zimmer hinaufführte.
Da stehen sie zu Hunderten, zu Tausenden. Jeder an seiner Maschine. Eingehüllt in einen Höllenlärm rasender Maschinen. Das Ohr ist tot. Es hört nichts mehr. Das Auge ist tot. Es sieht immer wieder dasselbe. Die Hände sind zu Maschinen geworden. Sie tun immer wieder das gleiche. Der Kopf ist leer.
So stehen die Metallarbeiter Tag für Tag an ihren Maschinen. Stumm, denn das Reden ist verboten. So hat es der Rationalisierungsfachmann gewollt. Still und gebückt. Das letzte aus sich herausholend, um das Tempo durchzuhalten.
Tag für Tag das gleiche Bild. Auch heute. Eine endlose Reihe. Doch was ist das? Ganz langsam geht eine neue Bewegung durch die Körper. Sie passt nicht in den Arbeitsprozess. Was ist geschehen? Ganz hinten, da beugt sich einer zum anderen. Der hält einen Augenblick erschrocken inne. Dann beugt er sich noch tiefer über die Arbeit. Seine Bewegungen werden noch hastiger. Scheu sieht er sich um, und flüstert etwas zu seinem Nebenmann auf der anderen Seite. Wieder das gleiche. Auch dieser erstarrt für einen Moment. Auch dieser beginnt seine Arbeit von neuem, noch gebückter, noch hastiger als zuvor. Auch er sieht sich dann um, ob der Meister ihn nicht beobachtet, und sagt es weiter. Der sagt es wieder weiter. Weiter und weiter wird es gesagt. Mit unheimlicher Gleichheit vollziehen sich die Bewegungen. Man kann ganz deutlich sehen, wie weit die Nachricht gekommen ist. Als sie die Mitte der langen Reihe erreicht hat, packt es plötzlich auch die anderen. Irgend etwas Furchtbares steht bevor. Eine unruhige Bewegung ergreift sie alle, geht durch die Reihen der Nachricht voraus. Sie beginnen zu ahnen.
Endlich haben es auch die Letzten gehört. Jetzt wissen es alle. Jetzt hat sich die Reihe wieder ausgerichtet. Sie sehen alle wieder gleich aus. Nur noch gehetzter als zuvor wird gearbeitet. Nur noch zerfurchter als zuvor sind die Gesichter der Älteren. Nur noch verbissener als zuvor sind die Bewegungen der Jüngeren. Alle, alle hat es gepackt: Lohnabbau.
Der alte Knorr war Fritzens Nebenmann. Er war eigentlich noch nicht alt, knapp 47 Jahre. Aber gegenüber dem Durchschnitt der Belegschaft war er alt.
Der alte Knorr meinte immer: "Das ist das Schauderhafteste, was ich je mitgemacht habe: man will nicht mehr, aber man muss. Und dann kriegt man so ein paar Kröten in die Flosse gedrückt. Das geht noch ein Jahr und noch einen Monat und noch eine Woche, man schuftet wie verrückt, das Geld wird immer weniger. Und dann heißt es eines schönen Tages: Herr Knorr, Sie können stempeln gehen. Wir brauchen Sie nicht mehr. " Und Fritz hatte ihm ebenso oft geantwortet: "Mensch, Knorr, mit Gefühl kannst Du da auch nichts machen. Da pfeifen die Herren Unternehmer drauf. Kämpfen musst du. Ihr seid eine komische Blase: immer jammern und jammern, und wenn ihr mal das Maul aufmachen sollt, dann verkriecht ihr euch hinter die Maschine. Was sage ich - Maul aufmachen? Und was hast du vor 20 Jahren gemacht? " "Da haben wir gestreikt!" meinte der alte Knorr. "Aber das waren auch andere Zeiten... Und ich war zwanzig Jahre jünger. " fügte er leiser hinzu.
Die Maschinen lärmen. Meister Dreher geht vorbei. Alles arbeitet. Keiner sieht auf.
In der Pause angelt sich Fritz den Knorr. Sie politisieren. Und was seit Wochen nicht passiert ist, das wird wieder zur Regel: die Kollegen scharen sich um die beiden. Jeder will hören. Jeder will sein Wort mitsprechen.
Fritz nimmt das Gespräch wieder auf: "Also Knorr, du sagst, früher habt ihr gestreikt, und jetzt geht das nicht mehr. Möchtest du mir nicht freundlichst mal erklären, warum es nicht mehr geht? "
" Das will ich dir sagen: weil wir dann einfach aufs Pflaster fliegen. Du kannst dir das leisten. Aber ich habe eine Frau und zwei Kinder, die noch nicht arbeiten. "
" Aber", warf Fritz ein, "die verfluchte Angst vor der Erwerbslosigkeit. Du meinst wir fliegen raus, und ein paar Erwerbslose kommen an unsere Plätze. Lieber Freund, die Erwerbslosen sind viel weiter als wir Betriebsarbeiter. Du kannst jeden Streik nehmen in den letzten Jahren: die Erwerbslosen haben Stange gehalten. Solidarität ist bei denen kein leerer Begriff."
Kappel drängte sich vor und unterbrach Fritzens Redefluss: "Und was versprecht ihr euch eigentlich von so einem Streik? Meint ihr, dass die Krise davon besser wird? Ich sage: sie wird schlimmer. Wir müssen arbeiten, damit wir übern Berg kommen. Aber du willst natürlich immer Unordnung schaffen. So seid ihr Kommunisten. "
An verschiedenen Ecken erhob sich beifälliges Gemurmel. Der Einfluss des Gewerkschaftsreformismus war groß in dem Betrieb. Aber Fritz ließ sich von solchen Kleinigkeiten nicht klein kriegen. "Nu sei ganz ruhig", sagte er. "Jetzt arbeiten wir und arbeiten wir, und die Krise wird immer schlimmer. Ja oder nein? " Die Umstehenden mussten es zugeben.
" Und wenn wir weniger Geld kriegen, können wir weniger kaufen. Dann sinkt der Absatz. Klar? " Natürlich war es klar.
" Und wenn der Inlandabsatz sinkt, dann kann uns der schönste Export nicht wieder rausreißen. Und was haben wir denn davon, wenn die Unternehmer im Ausland verdienen? Meint ihr, dass sie dann ankommen werden und eine schöne Rede halten und sagen: Liebe Belegschaft, ihr habt uns treu gedient in der Zeit der Krise, nun wollen wir euch mal alles zurückzahlen, was wir an euch verdient haben? Nein, sie werden das auch noch einsacken. Sonst könnten sie uns ja jetzt was davon geben, was sie an der Konjunktur verdient haben. Habt ihr's nicht vorigen Sonnabend gelesen? Herr von Siemens hat in Nedlitz seinen Goldklub mit fast zwei Millionen Schulden. Da hat er jetzt wieder 300 000 Mark reingesteckt. Das stand in einem bürgerlichen Blatt. Aber uns baut er ab."
Kappel hatte noch nicht genug: "Und was willst du nun? ", fragte er. "Boxen für unser Recht", sagte Fritz. "Nicht mehr brav dabeistehen und darauf warten, dass man uns unseren Lohn kürzt und uns auf die Straße setzt. Kämpfen! Streiken! Vor zwanzig Jahren hat man gestreikt da ging es um kleinere Sachen. Heute geht es um das nackte Leben. Und da habt ihr Angst! Natürlich kommt dann das Patentparadies auch noch nicht. Aber wir sammeln uns. Jeder kleine Streik
ist ein Schritt vorwärts im Kampf gegen die herrschende Unordnung.
Und wenn die Berliner Metallbetriebe auf die Straße gehen, dann ist
das kein kleiner Kampf. Das wirkt auf die Arbeiter und auf die Unternehmer im ganzen Reich..."
Es klingelt. Die Gruppe löst sich in Grüppchen auf. Fritz geht wieder in seine Schraubenabteilung. Der alte Knorr schlurfte hinterher. Alle denken sie ihre Gedanken weiter. Sie wollen streiken - ja. Sie wollen kämpfen. Aber viele möchten die hundertprozentige Sicherheit haben, dass ihnen dabei nicht "passiert".
Als sie an die Arbeitsplätze zurückkommen, liegen kleine Zettel dort:
Dienstag alles in den "Grünen Baum".
Ein Kollege spricht über den kommenden Streik
der Berliner Metallarbeiter.
Erscheint in Massen! Roter Metallarbeiterverband.
Jeder steckte schnell und ängstlich den Zettel in die Tasche. Langsam rucken die Maschinen an. Die Bewegung beginnt. Die tote Halle ist wieder vom Lärmen der Maschinen erfüllt. Aber die Gedanken sind nicht bei der Arbeit.
Schon brennt das elektrische Licht. Draußen wird es immer dunkler. Endlich! Die Fabriksirene heult. Feierabend. Die Maschinen laufen langsam aus. Schluss.
Von überall her kommen sie - müde, gebückte Gestalten. Runter zum Waschen. Die Jacke an, und dann nach Hause.
Ein breiter Strom. In Massen kommen sie durch die weitgeöffneten Fabriktore.
Unter den ersten ist Fritz Kruse.
Man sieht, dass er's besonders eilig hat. Rauf auf die Elektrische. Im Fahren liest er seine Zeitung fertig. Dann läuft er um die Ecke, steigt schnell die vier Treppen zu seiner möblierten Bude, schließt rum und macht auf. Die Wirtin ist nicht zu Hause. Durch den Schlitz hat man ein halbes Dutzend Briefe und Zeitungen geworfen. Alles für Fritz Kruse. Er überfliegt es mit größter Eile. Dann schmeißt er die Jacke ab und geht mit dem Kopf unter die Wasserleitung. Noch einmal gründlich waschen. Dann macht er die Röhre auf und holt seine Bouletten heraus, macht noch ein bisschen Margarine an die Bratkartoffeln. Während des Essens liest er das neue Rundschreiben: "Schon wieder fünf Seiten. Wer soll denn das im Kopf behalten? ", murmelt er vor sich hin. Aber trotzdem - er liest aufmerksam. Die Sachen sind alle wichtig.
Fritz Kruse steht nämlich im Mittelpunkt der Ereignisse. Er ist einer der roten Funktionäre in dem großen Metallbetrieb, der für den kommenden Streik mit ausschlaggebend ist.
Fritz stellt die Teller weg. Er zieht sich die neue Jacke an. Dann sieht er nach der Uhr. Donnerwetter, schon bald sechs. Käte kann er heute wieder nicht abholen. Gemeinheit!
Er steckt ein paar von den Briefen in die Tasche. Ein paar Zettel zerreißt er und lässt die Stückchen langsam im Ofen zergehen. Dann geht er los. Vier Treppen runter. Rechts aus dem Haus. Zwei Ecken weiter, dann einen kurzen Bogen links. Fritz verschwindet in einem Hausflur. Fünf Minuten bleibt er im Haus. Dann kommt er mit einem dicken Paket wieder raus. Er geht weiter. Bleibt wieder in einem Haus. Das Paket ist dünner geworden, als er nach weiteren zehn Minuten herauskommt.
Dann überquert er die Münzstraße. Die Laternen brennen längst. An den Ecken stehen Mädchen, die hier ihren Körper verkaufen. Für ein paar Mark. In die Haustüren gedrückt, verkaufen Männer Mäntel und Hosen. Uhren und schlechte Schmuckstücke. Herkunft unbekannt. Alle Minute treten sie ein paar Schritte vor, um zu sehen, ob die Polizeistreife vielleicht gerade im Anzug ist. Dann türmen sie bis zum ersten Stock des Hauses, in dem sie gerade stehen und kommen als harmlose Geschäftsleute wieder heraus.
" Echte Schweizer Uhren!" flüstert einer. "Ganz billig. Kommse mal ran, junger Mann, ne Armbanduhr für das Fräulein Braut." Fritz kann seinem "Fräulein Braut" keine Armbanduhr kaufen, sei sie auch noch so billig. Dazu reichts schon lange nicht mehr.
Was ein richtiger Kommunist ist, der hat Augen und Ohren überall offen. Fritz sah im Vorbeiflitzen alles. Er sah auch das junge Mädchen. Sie stand schon seit einigen Tagen an der Ecke Kaiser-Wilhelm-Straße. Sie wollte aussehen wie Fünfzehn. Sie trug Zöpfe und einen sehr kurzen Rock. Aber sie sah aus wie Mitte Zwanzig etwa. Immer noch jung genug für die Provinzfreier, die sich abends hier herumtreiben. "Nanu", sagt Fritz, als er sie sah. "Was machst du denn hier?"
Mensch, frage doch nicht so dumm", antwortete das Mädchen, das noch nicht über die kratzbürstige Bierstimme verfügte, die die Frauen hier bekommen, wenn sie das "Geschäft" ein paar Wochen lang machen.
Was soll ich denn machen? Ausgesteuert biste, Geld haste keins. Eltern sind auch nicht da. Der Freund ist ausgesteuert. Also steilste dich an die Ecke. Und wenn alle zwei Tage ein Kunde kommt, dann kannst du sagen, dass du Schwein gehabt hast. "
"Aber Grete. Gibts denn für dich wirklich nichts anderes? Das machst du doch nicht lange."
" Wenn es was anderes gäbe, dann stände ich nicht hier", erwiderte das Mädchen mit müder Stimme. Zum Vergnügen hat das noch keine gemacht. Ja, dagegen war bei uns in der Schraubenabteilung direkt das Paradies. "
Fritz überlegte fieberhaft. Noch im Frühjahr hatte man mit dem Mädchen zusammen gearbeitet. Dann war sie mit dem großen Schwung auf die Straße geflogen. Und auf der Straße war sie dann auch geblieben wie Hunderte ihrer Leidensgefährtinnen. Ledige und Verheiratete. "Besuch mich mal gelegentlich, Grete. Oder ich komme wieder mal vorbei. Wir müssen mal zusammen sprechen."
" Gemacht Fritz. Aber vergiss es nicht. Mit mir will sowieso keiner mehr zu tun haben. Der Gustav, dem war ich früher gut genug. Jetzt bringe ich ihn so ein bisschen mit durch. Dafür quengelt er den ganzen Tag und schimpft immer, als ob ich hier zum Vergnügen stehe. Also, auf Wiedersehen, Fritz."
" Wiedersehen, Grete!" Fritz lief wieder los. Er ging über den Alexanderplatz, betrachtete über die Straße weg die Wache vor dem roten Haus, in dem Grzesinski und seine Beamten sitzen. Vor drei Wochen hat er wieder mal eine Nacht darin verbracht. Daran hat er sich schon fast gewöhnt. Das Kino gegenüber spielte gerade den großen Rührfilm: "Schön ist das Leben". Das lichtgeschmückte Plakat über dem Eingang klang wie blutiger Hohn. Und ein Haus weiter hing ein Schild im Schaufenster eines Schokoladengeschäfts: "Ausverkauf wegen Räumung - Selten billige Gelegenheit". Ein paar Kinder standen davor und suchten sich Bonbons aus. Aber kaufen konnten sie sich keine. Für sie war es schon viel, dass sie aussuchen konnten. Fritz ging weiter. Das Paket hielt er unter dem Arm geklemmt. Er kam zu dem Lokal, in dem die Genossen verkehrten. "Rot Front!" rief er zur Begrüßung. Und aus den Ecken klang es zurück! "Rot Front! - Heil Moskau! - Rot Sport!"
Fritz schmiss das Paket auf den Tisch, legte die Mütze daneben und bestellte: "Eine Molle, Karl. Aber ne große."
" Dir werden wir nächstens, mal nen Stiebel voll einkippen, du Gierschlunk ! " antwortete der Genosse Wirt. Fritz nahm seine Molle und verschwand im Hinterzimmer.
Im Hinterzimmer saßen schon drei andere Genossen. Jetzt waren alle beisammen. Und sofort waren sie bei der Arbeit. Es muss eine
wichtige und geheimnisvolle Sache sein, die besprochen wurde.
Ab und zu griff einer in die Tasche und legte einen Zettel auf den Tisch. Sie sprachen leise, so dass in dem anliegenden Zimmer nichts zu verstehen war. Selbst wenn sie verschiedener Meinung waren, wurden ihre Stimmen nicht lauter. Nur die Bewegung der Hände und das Mienenspiel wurde lebhafter. So ging das eine ganze Weile. Dann schienen sie fertig zu sein und standen auf.
Sie zahlten und gingen zu Zweien nach verschiedenen Richtungen auseinander. Ab und zu überzeugten sie sich, ob ihnen niemand folge. Fritz ging mit einem Genossen in nördlicher Richtung . Er hörte Schritte. Ein Schupo. Harmlos wie jeder Spaziergänger geht er an ihm vorbei. Er denkt: "Jetzt geschnappt zu werden, mit dem Material in der Tasche, das wäre unangenehm." Aber er sagte nichts. Der nächtliche Gang führte die Beiden durch winklige Straßen. Sie machten einen Umweg durch Gegenden, in denen sie jeden Verfolger hätten sehen müssen. Man kann in diesen Zeiten nicht vorsichtig genug sein.
Die Straßen sind vollkommen dunkel. In der Proletariergegend spart die Stadt Licht, und darum brannten die Laternen nur in weitem Abstand. Vorwärts, immer vorwärts.
Endlich hatten sie ihr Ziel erreicht. Fritz zog den Schlüssel aus der Tasche und sie traten in den dunklen Hausflur ein. Vorsichtig, um sich blickend, gingen sie über den ersten und zweiten Hof. Alles war still, nur eine Katze suchte sich Reste aus einem Mülleimer zusammen. Fritz stolperte über einen zerbrochenen Stuhl, der dort herumlag, und fluchte.
Im dritten Hof bogen sie rechts ein. Wieder zog Fritz einen Schlüssel heraus. In der Dunkelheit, die sie nun umfing, konnte man nicht die Hand vor Augen sehen, aber Fritz wusste, dass es genau acht Stufen hinunterging. Sie mussten mächtig leise sein. Einmal falsch treten, und es gibt einen gewaltigen Krawall, wenn einer die Treppe herunterfällt.
Die beiden bemühten sich, die Füße so sanft wie eine elegante Tänzerin aufzusetzen. Leise knarrten die Stufen, aber die Proletarier im Haus schliefen den bleiernen Schlaf der Ausgebeuteten. Nichts rührte sich. Sechs - sieben - acht. Fritz flüsterte: "Warte mal 'n Moment." Er tastete sich vorsichtig weiter, bis zu der Kiste, auf der eine Kerze lag. Die zündete er an. Dann machten sie die Zwischentür wieder zu und sahen nach, ob die Fenster dicht schließen.
Das war ja ein toller Salon. Man konnte eigentlich sagen, dass die alte Kiste das einzige stabile Möbelstück war. Daneben standen zwei wacklige Schemel, denen man die Beine ausziehen konnte, wie einem Vogel die Federn zur Mauserzeit. Ein ziemlich gerupfter Sessel bildete das Prunkstück. Er stammte aus der Wohnung des Genossen Alex, der im zweiten Hof wohnte.
Die Kiste diente gleichzeitig als Tisch und als Koffer. Fritz machte sich an dem Verschluss zu schaffen, sah in den Koffer hinein und schien befriedigt: "Niemand hier gewesen", bemerkte er. Der andere nickte nur.
Sie zogen ihre Jacken aus. Dann holten sie ein in Lumpen gewickeltes Bündel aus der Kiste. Sorgfältig packten sie es aus. Nachdem die Hüllen gefallen waren, entpuppte es sich als eine kleine alte Schreibmaschine. Dann folgten ein paar Blatt Papier und schließlich fischten sie eine Wachsplatte heraus. Der Rest blieb in der Kiste. Nachdem sie alles vorbereitet hatten, nahm Fritz die Schlüssel und ging weg. Aber schon nach wenigen Minuten kam er zurück und brachte eine Genossin mit, die die Kunst des Maschinenschreibens fließend beherrschte. Sie sah sich erstaunt an dem Ort um, aber die Beiden ließen ihr nicht viel Zeit dazu. Sie mussten fertig werden. Fritz machte es sich in dem zerschlissenen Lehnsessel bequem, während die Genossin einen der beiden Schemel heranzog. Der andere Genosse machte sich an Türen und Fenstern zu schaffen, um die kleine Gesellschaft vor unliebsamen Überraschungen zu schützen.
Fritz diktierte: "Metallarbeiter! Wieder wollen die Unternehmer einen Lohnraub…"
Es war die neue Betriebszeitung die sie da schrieben. Nach einer reichlichen Stunde waren sie fertig. Sorgfältig und unter Vermeidung von Lärm packten sie alles wieder zusammen. Dann schlossen sie die Kiste, löschten das Licht aus und sperrten die Kammer zu. Genau so leise wie sie gekommen waren, gingen sie über die Höfe zur Straße zurück. Erst an der Haustür wagten sie wieder ein Wort miteinander zu sprechen. "Das wäre geschafft", meinte Fritz. "Jetzt müssen wir noch abziehen. Ich denke, dass 1500 Zeitungen fürs erste reichen. "
Wiederum ging es durch die nächtlichen Straßen. Eine Kirchturmuhr schlug zwei. Die Genossen waren müde; aber sie konnten sagen, dass sie wirklich etwas geschafft hatten. Wiederum zogen sie, wie späte Spaziergänger, durch die menschenleere Gegend. An einer Ecke verabschiedeten sie sich kurz, nachdem sie sich noch leise für den nächsten Tag verabredet hatten.
Zwanzig Minuten später stand Fritz vor einem alten Hause. Er musste ein paar Minuten warten, bis ein Mann ihm öffnete. Wieder wanderten sie durch Höfe und über knarrende Treppen. Endlich waren sie da. Wieder eine Kammer. Sie unterschied sich von der vorigen durch größere Enge und reichlichere Möblierung. Auf dem Gasherd stand ein Wassertopf, daneben eine Teekanne. Die beiden Genossen, von denen sich Fritz vorhin getrennt hatte, hatten schon alles vorbereitet. Sie waren erwerbslos und konnten leicht eine Nacht aufbleiben. Fritz gab ihnen die Wachsplatten und trank schnell noch ein Glas Tee, bevor er sich todmüde auf den Heimweg machte. Die erwerbslosen Genossen fingen inzwischen an, die Wachsplatten auf den Apparat zu ziehen, und bald wanderten die ersten Bogen mit dem Aufruf und mit den Nachrichten aus dem Betrieb und der Walze hervor.
Als alle vier Seiten abgezogen waren, hatte Fritz schon zwei Stunden heruntergeschlafen. Aber die Aufgabe der beiden Nachtarbeiter war noch nicht beendet. Sie legten die Blätter zusammen und zählten die Zeitungen ab. Dann nahmen sie jeder eine Mappe in denen sie die abgezählten Stöße verstauten. Als die Uhr 1/2 6 schlug, machten sie sich auf den Weg nach der Fabrik.
Drei Minuten Freiübungen. Drei Minuten kalte Wasser auf den Kopf.
Nun war Fritz wieder munter. Es war noch ziemlich dunkel draußen.
Die Turmuhr haute gerade dreiviertel sechs.
Nun rubbelte er sich den Kopf ab. Dann zog er sich langsam an. Dabei nahm er hin und wieder einen Schluck aus der Thermosflasche, die die Wirtin ihm jeden Abend hinstellte, und dazwischen biss er einen Happen von seinen halbvertrockneten Stullen ab.
Als er schon ziemlich fertig war, da rappelte der Wecker. Fritz lachte ihn aus. Er war ohne ihn aufgewacht.
Nun los. Galopp zur Straßenbahn. Die war noch nicht sehr voll. Er konnte ausnahmsweise in aller Ruhe in der Ecke lehnen und die Zeitung lesen. "Frauen in den Sportpalast!" Da sollte das Schutzprogramm der Kommunisten für die werktätigen Frauen erläutert werden. Da muss er mit Käte hingehen.
Ja, Käte ! Die würde sicher traurig sein, dass er sich die letzten zwei Tage überhaupt nicht sehen ließ. Er selbst hatte auch Sehnsucht nach ihr. Aber er versuchte, sich selbst nichts davon merken zu lassen. In Braunschweig haben die Arbeiter Nazis verprügelt. Die Prügelei
setzte sich mehrere Tage fort. Die Nazis trauten sich nicht mehr aus dem Bau.
Es war noch allerhand los. Fritz las und las. Aber er sah öfter als sonst hinaus auf die sich langsam belebende Straße, damit er nicht übers Ziel hinausfuhr.
Er war ein bisschen gespannt, wie viel Zeitungen die Genossen schon verkauft hatten. So stieg er aus und beeilte sich, die paar hundert Meter zurückzulegen. Der Strom der Arbeiter war noch sehr dünn, denn es war noch nicht dreiviertel sieben.
Zwei Schupos patrouillierten, als hätten sie hier nichts zu tun. Als wären sie ganz zufällig hier. Vor dem Portal standen noch vier weitere. Aber von den Zeitungsverkäufern war nichts zu sehen. Natürlich, sie konnten nicht unter den Augen der hohen Obrigkeit verkaufen. Fritz lief um den Zaun herum. Nirgends hatten sich die Genossen hingestellt. Keine Zeitung war zu sehen. Nanu? Was war denn das9 Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu.
Jetzt schlug's dreiviertel. Niemand ließ sich blicken. Der Strom der Arbeiter verdoppelte sich. Kein Genosse mit Zeitungen war da. Die Schupos standen wie festgewachsen vor dem Portal. Die Ankommenden sahen sie verwundert an. Aber dann gingen sie an der Stempeluhr vorbei, hinein in den Betrieb. Keiner nahm eine Zeitung mit. Wann kamen den die Genossen endlich?
Kappel kam an, seine Mappe unter dem Arm. "Na, Kruse, willst du nicht mit reinkommen? "
" Ich komme schon", rief Fritz zurück. "Ich warte noch auf Kropp. " Aber Fritz wartete, bis es zwei Minuten vor sieben war. Dann erst ging auch er durchs Portal. Nicht eine Zeitung war verkauft worden. Tolle Sache! Waren die Genossen nicht fertig geworden? Oder war was passiert' Er wusste keine Antwort. Auch die anderen Genossen hatten nach der Zeitung und den Händlern gesucht. Vergebens. Nun musste man neun Stunden herumarbeiten in dieser elenden Ungewissheit. "Na", sagte Alex, "die sind nicht fertig geworden. Natürlich, wenn man nicht daneben steht. Zum Kotzen! Und nun kommen wir wieder einen Tag später. Wer soll dem dabei eine vernünftige Belegschaftsversammlung zusammenkriegen? "
Fritz sagte nichts mehr. Er arbeitete wie jeden Tag. Er diskutierte wie immer. Aber er war unruhig wie nie.
Kaum tutete es, da lief er schon von der Maschine weg. Drei Minuten später war er auf der Straße. Lesen konnte er nicht. Am Alex sprang er ab. Im Vorbeigehen warf er einen Blick auf das rote Polizeihaus. Ob die Genossen da drinnen saßen mit den Zeitungen?
Er ging dorthin, wo gestern abend die Blätter abgezogen worden waren. Niemand öffnete. Er klopfte und klingelte. Aber es war offensichtlich keiner zu Haus.
Also wieder los. Zehn Minuten später war er auf dem Bezirkskomitee in der Münzstraße und meldete, dass zwei Genossen spurlos verschwunden seien. Zuerst lächelten die Genossen da oben, weil zwei Mann nicht spurlos verschwinden können. Aber da man Fritz als ruhigen und nicht übertreibenden Funktionär kannte, notierte man. Er sollte am nächsten Tage noch einmal kommen und Bericht erstatten oder Bescheid abholen.
Fritz war es nicht recht, dass man die Sache so auf die leichte Schulter nahm. Es musste doch irgendwas passieren. Was? Das wusste er selbst nicht genau. Aber man konnte doch die beiden Genossen nicht einfach verschwunden sein lassen.
Und die Betriebszeitung? Sollte man sie noch einmal machen? Sollte man bis morgen warten? Er ging noch einmal an die verschlossene Wohnung. Aber wieder meldete sich niemand.
Er machte zehn Wege, um sich zu beruhigen. Nur Alex traf er zu Hause an. Der versuchte, ihn zu beruhigen. Es gelang ihm schlecht. Aber Fritz musste einsehen, dass man im Augenblick nichts unternehmen konnte.
Als er wieder über den Alexanderplatz ging, war es beinahe halb acht Uhr. So stellte er sich, schmutzig, wie er noch war, an den Personalausgang des großen Warenhauses. Es dauerte nicht lange, bis Käte kam. Sie strahlte, als sie ihn sah, aber dann sah sie an ihm herunter und meinte, er hätte sich ruhig sauber machen können. Er antwortete verstimmt: "Sei froh, dass ich überhaupt gekommen bin. Aber wenn's dir lieber ist, gehe ich gleich los".
Käte wusste nicht, was dieser Ton bedeuten sollte. Sie hatte ihn bei Fritz noch nicht gehört. Aber sie lenkte ein: "War nicht so gemeint. Komm, jetzt gehen wir erst zu dir. Dann kannst du dich umziehen und waschen. Und dann essen wir bei mir. Und dann können wir bummeln gehen. Ich habe noch acht Mark bis zum Ersten. "
Fritz brummte eine unverständliche Antwort. Käte hakte sich ein, und so gingen sie zusammen durch die Straßen. Käte war guter Stimmung. Aber Fritz war heute gar nicht bei der Sache.
Als sie sich einige Stunden später trennten, stellte Käte bei sich fest, dass Fritz heute abend ein wenig unterhaltender Gesellschafter gewesen war.
Als sie schon im Hausflur verschwunden war, erinnerte sich Fritz, dass er das Mädel doch schlecht behandelt hatte. Sie konnte gar nichts dafür, dass die Sache mit den Betriebszeitungen nicht geklappt hatte. Er zog sie wieder auf die Straße, nahm sie am Arm und schlenderte noch einmal mit ihr los. So gingen sie noch eine Viertelstunde. Am nächsten Morgen fand Kätes Wirtin, als sie wecken kam, das Zimmer leer. Sie schimpfte heidenmäßig auf diese Jugend, bis sie sich wieder in ihre Küche zurückzog, um noch einmal herum zu schlafen.
Als Fritz am nächsten Morgen auf die Arbeit ging, wusste er immer noch nicht, was mit den Genossen, die die Betriebszeitung abziehen sollten, los war. Waren sie gekappt worden? Hatte irgend jemand etwas verraten?
Eins war klar: Man musste von neuem anfangen. Die Betriebszeitung musste neu geschrieben werden. Sie musste neu abgezogen werden. Aber wo? Konnte man es am alten Platze tun? Wenn man nur wüsste, wo die Genossen sind.
Die Zeit verging und verging nicht. Dabei war doch heute Sonnabend und schon um zwei Uhr Schluss. Endlich ertönte die Sirene!
Fritz ging sofort zum Bezirkskomitee. Man hatte noch nichts gehört. Auch auf der Unterbezirksleitung war nichts gemeldet worden. Keiner wusste Bescheid. Aber man war jetzt auch dort besorgt geworden. Der Apparat wurde in Bewegung gesetzt. Man lief von einem Genossen zum anderen. Alle kannten sie. Keiner hatte sie gesehen. Im Unterbezirk begann die Erregung zu steigen. Sie konnten doch nicht einfach verschwunden sein! Aber wo waren sie?
Fritz machte sich Vorwürfe, dass er nicht durchgehalten und das Abziehen überwacht hatte. Aber man konnte doch nicht alles machen. Das UB. -Büro glich einem Hauptquartier. Von allen Seiten kamen eilige Genossen. Sie hatten herausbekommen, dass niemand in der Gegend verhaftet worden war. Das wäre noch die einzige Lösung gewesen.
Gerüchte kamen auf, dass sie niemals zuverlässige Genossen gewesen waren. Fritz bestritt das aufs hartnäckigste. Auch die anderen, die sie näher kannten, stritten das ab.
Fritz musste fort und die Fertigstellung einer neuen Betriebszeitung in die Wege leiten. Alle Stunde kam er wieder mit heran. Aber immer noch keine Nachricht.
Es wurde Abend. Draußen war es schon dunkel. Man hatte jetzt den ganzen UB. durchgefragt. Alle Arbeiterlokale waren benachrichtigt. Als Fritz um 9 Uhr wieder vorbeikam, zuckten die anderen nur die Schultern.
Die beiden blieben verschwunden.
Die Betriebszeitung war jetzt fertig. Auch die Abzüge waren gemacht. Alex versteckt sie in der leerstehenden Wohnung eines Genossen. Am Montag früh würden sie dann verteilt werden.
Fritz und Alex sammelten noch ein paar andere Genossen und gingen dann in Fritzens Wohnung. Hier sollte Kriegsrat abgehalten werden, wie man die beiden anderen Genossen finden könnte. Zuerst überlegten sie, wo die Genossen nicht sind. Sie sind nicht auf der Wache. Sie sind also nicht gekappt. Ein Auto hat sie auch nicht umgekippt, sonst hätte es in der Zeitung gestanden. Verschlafen haben sie auch nicht, denn sonst wären sie mittlerweile aufgewacht. Bei anderen Genossen sind sie auch nicht; jedenfalls nicht im UB. Wo also sind sie?
Fritz schlug vor, die beiden angrenzenden UB. s zu untersuchen. Alex fand das albern. Warum sollten sie da sein, und was wollten sie da machen? Fritz gab zu, dass seine Idee gerade keine Leuchte war. Auch die anderen wussten keinen Rat. So saßen sie eine Weile bedrückt und schweigend da.
Wo waren die beiden Genossen? "Vielleicht bei den Nazis", meinte der eine.
Alle, waren wie elektrisiert. Das ist es. Da sind sie. Aber einfach von den Nazis mitgenommen? Nein, das ist doch nicht möglich. Und freiwillig? Nee! Lächerlich!
Aber etwas konnte doch dran sein. Vielleicht niedergeschlagen und dann mitgeschleppt. Man müsste die Nazilokale untersuchen. Aber wie hereinkommen? Sie selbst waren zu gut bekannt. Sie würden gleich angegriffen werden. Und vier gegen 40 ist keine Kleinigkeit. Das musste organisiert werden. Irgendein paar "blonde" Genossen aus einem anderen Bezirk. Aber schnell. Es war schon nach 10 Uhr. Sie sprangen auf und gingen in den verschiedensten Richtungen auseinander, nachdem sie noch einen Treffpunkt verabredet hatten. Nach dreiviertel Stunden trafen sie sich bei einem anderen Genossen und hatten jeder zwei blonde, blauäugige Genossen aus anderen Bezirken mitgebracht.
Die sollten also in die Nazilokale gehen und aushorchen, ob in der letzten Nacht irgend etwas passiert war. Vielleicht würden sie eine Spur finden...
Fritz und seine UB. -Genossen warteten auf die Rückkunft der anderen. Sie vertrieben sich die Zeit mit Kontrollfragen aus irgendeinem Lehrbuch der Partei. Nach einer Stunde waren sie zu aufgeregt, um noch aufzupassen. Die anderen waren immer noch nicht zurück. Sie begannen Skat zu spielen. Wieder verging eine halbe Stunde. Sie konnten nicht mehr still sitzen bleiben. Ab und zu stand einer auf und sah auf den Hof, ob die anderen immer noch nicht kamen. Aber alles war ruhig.
Wieder eine halbe Stunde. Es war lange nach Mitternacht. Die Lokale mussten doch bald geschlossen sein. Was war nur los. Warum kamen die Genossen nicht....
Nach einer weiteren Stunde hielten sie es nicht mehr aus. Das war unheimlich. Jetzt waren die auch noch verschwunden. Das ging nicht mit
rechten Dingen zu.
Als Fritz und die anderen auf die Straße kamen, da sahen sie von weitem die anderen friedlich nebeneinander herkommen. Was war mit ihnen los gewesen?
Sie gingen alle in Fritzens Wohnung zurück, um Bericht zu hören und von neuem zu beraten. Ganz hoffnungslos war die Lage jetzt nicht mehr. Die anderen hatten herausbekommen, dass es eine Keilerei gegeben hatte. Der Franz hatte einen Nazi aufgegabelt, der nicht mehr ganz nüchtern war und ausplauderte. Aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Er wollte nur von einem Angriff von zwei Kommunisten auf eine Reihe ganz harmloser Kameraden wissen - offenbar war er noch nüchtern genug, um sich an die verabredete Ausrede, falls etwas herauskäme, zu erinnern. Der Franz blieb solange mit ihm zusammen, bis das Lokal schloss, und ging dann mit ihm zusammen auf die Straße, in der Hoffnung, noch mehr herauszubekommen. Da hatte er dann die anderen getroffen, die sich anschlossen, anstatt dass gleich einer raufging und Fritz berichtete. Aber obgleich sie den Nazi noch ein ganzes Stück begleiteten, war nicht mehr aus ihm herauszuholen. Er torkelte immer mehr und legte sich dann schließlich neben eine Laterne, um zu schlafen.
Sie wollten keinen Lärm machen, und so gaben sie es auf, noch mehr aus ihm herauszuholen und gingen zurück zu Fritz, wo sie dann die anderen getroffen hatten, als sie herunterkamen.
Also wieder nichts. Es war zwar wahrscheinlich, dass es einen Zusammenstoß mit Nazis gegeben hatte, aber seit diesem Zusammenstoß waren die Beiden dann verschwunden.
Wieder wurde ein Kriegsrat abgehalten. Alle möglichen und unmöglichen Vorschläge wurden gemacht. Aber sie kamen zu keinem Entschluss. Draußen schien schon die Sonne, während sie immer noch unschlüssig waren. Plötzlich klopfte es an die Tür. Die Polizei? Sie blieben sitzen. Dann wurde nochmal geklopft. Fritz ging zur Tür.
Da standen die beiden langgesuchten Genossen.
Große Aufregung. Alles scharte sich um sie. "Wo kommt Ihr denn her? Wo wart Ihr denn? Was habt Ihr denn gemacht? " so riefen sie durcheinander.
Wie sahen die beiden auch aus! Der eine hatte den Hinterkopf verbunden, der andere hatte mitten auf dem Kopf eine Riesenbeule.
Langsam und stockend erzählten sie.
Die Zeitungen waren richtig abgezogen worden. Als sie fertig waren, wollten sie noch auf die Bude des einen gehen, um sich etwas heißen Kaffee zu machen. Draußen war es noch stockdunkel, obgleich es schon früher Morgen war.
Als sie ein paar Schritte gegangen waren, hörten sie plötzlich eine Horde Nazis hinter sich. Ihnen ahnte nichts Gutes. Aber sie gingen ruhig weiter. Plötzlich bogen vor ihnen ein paar Nazis um die Ecke, und jetzt saßen sie in der Falle.
" Dann ist eigentlich nicht mehr viel zu erzählen", meinte der eine. "Es gab natürlich eine Keilerei, denn so einfach ließen wir uns nicht unterkriegen, aber wie sie ausging, weiß ich nicht genau. Aufgewacht bin ich im Krankenhaus, wohin wir von der Rettungswache gebracht waren. Habt Ihr nichts in der Zeitung darüber gelesen? " "Nee, da stand kein Wort drüber drin."
" Na und dann, als wir heute Nacht aufwachten, sah'n wir uns erstaunt an, und heut' früh wurden wir um 6 Uhr entlassen. Wir machten uns gleich auf den Weg, und da sind wir. "
Die Aufregungen hatten alle munter gehalten. Nun, nachdem die Spannung gelöst war, wurden sie müde. Sie gingen nach Hause. Glücklicherweise - es war Sonntag. Man konnte schlafen.
Fritz pennte sich hin, als es schon bald neun war. Er hatte kaum zwei Stunden geschlafen, da klopfte es ihn schon wieder wach. Er schloss die Zimmertür auf und ließ Käte herein. Sie hatte die Zeitung in der Hand und ein paar Briefe und Zettel. Alles für Fritz. Die Begrüßung fiel einen Schein herzlicher aus als an gewöhnlichen Wochentagen. Ja - man hatte Zeit, sich vernünftig "Guten Morgen" zu sagen.
Es war Fritz leicht ums Herz: Die Genossen waren wieder da - die neue Betriebszeitung konnte Montag verkauft werden - und - ja, und Käte war auch da. Sie hatte ihm mächtig gefehlt. Er hatte sich in den letzten Tagen oft gedacht: Du lässt das Mädel zuviel laufen. Du müsstest dich öfter mit ihr ernsthaft unterhalten. Es wäre besser, wenn man zusammen arbeiten könnte.
Er nahm sich vor, dass das besser werden sollte. Und so zeigte er ihr stillschweigend die fette Zeile über dem Kopf der "Roten Fahne": "Heute Vormittag alles in den Sportpalast. " Heute war der Tag der Frauen. Das riesige Gebäude würde widerhallen von den Forderungen der Proletarierinnen.
Käte las die Zeile. Dann fragte sie: "Na und...? " "Pass mal auf, Käte. ich tu dir einen Gefallen und du tust mir einen. Wir machen uns jetzt auf die Socken und gehen in den Sportpalast... " Käte schmollte. "... nur warte doch ab... erst in den Sportpalast. Dann fahren wir raus, irgendwo. Und abends gehen wir ins Kino, Ich lade dich ein.
Gemacht? "
" Gemacht!" sagte Käte und war wieder friedlich.
Fritz zog sich schnell seine Sachen an. Käte hatte ein paar frische Stullen bei sich. Sie legte sogar eine weiße Decke auf, die sie von der Wirtin holte, und stellte zwei Tassen hin. Das war doch was anderes, als jeden Tag die Schlucke aus der Thermosflasche.
Dann gingen sie zur Untergrundbahn und fuhren nach der Bülowstraße. Da war toller Betrieb, Ganze Abteilungen Schupo standen dort. Ein Zivilist durfte nicht stehen bleiben. Die Nebenstraßen waren vollgepropft mit Bereitschaftsautos.
Sie drängten sich noch in den übervollen Saal. Es hatte gerade begonnen.
Frauen mit roten Kopftüchern bildeten Spalier. Andere trugen rote Fahnen in den Saal und marschierten unter den Klängen der Internationale durch den Mittelgang. Alles stand auf und schaute begeistert auf den Aufmarsch, dem sich eine Reihe von Frauen anschlossen, auf deren Kopftüchern mit gelben Buchstaben gestickt stand: " EVBM." (Einheitsverband Berliner Metallarbeiter).
Käte war zum ersten Mal in ihrem Leben im Sportpalast. Zuerst war sie überwältigt von der Masse der Menschen, die sich unten und in den beiden Rängen drängten. Und dann begann sie zu fragen, Fritz merkte was er alles versäumt hatte. Er hatte ihr so gut wie nichts erzählt. So erzieht man keine Kämpferinnen, sondern höchstens stille Frauen, denen der Kochtopf die Welt bedeutet. Ja, da hatte er schwere Fehler gemacht. Aber er schwor sich, dass es besser werden sollte. Sie hatten auf der unteren Galerie einen Platz gefunden. Von dort konnten sie gut sehen. Und hören konnte man überall, weil ein Netz von Lautsprechern über den Riesensaal verteilt war. Zeitungshändler gingen herum. Fritz kaufte der Käte eine "Kämpferin". Sie musste ihm versprechen, sie aufmerksam zu lesen.
Und dann ging's los: Eine Arbeiterin von Siemens spricht. Sie schilderte die Ausbeutung im Betrieb. Käte lauscht. Geht sie das was an? Ist sie Metallarbeiterin? Sie guckt Fritz an. Der nickt ihr stumm zu: Es geht sie was an. Es ist dieselbe Sache wie im Warenhaus. Käte begreift natürlich die Zusammenhänge noch nicht. Man kann so etwas nicht auf den ersten Anhieb begreifen. Das erfordert lange Denkarbeit. So ein ganz kleines Fünkchen hat sie gefangen. Was sie nie für möglich gehalten hätte: die Reden interessieren sie. Es ist nicht so, wie wenn man die schweren Artikel lesen soll. Voll mit neuen Eindrücken hängt sich Käte in Fritzens Arm, als sie nachher mit dem großen Menschenstrom auf die Straße fließen. In die Untergrundbahn ist nicht hereinzukommen. So gehen sie ein Stück zu Fuß. Nollendorfplatz. Es ist heute leer. Die Bürger, die hier wohnen, sitzen jetzt beim Mittagessen, So pendeln sie weiter, die Kleiststraße hinauf. Die Schaufenster werden, je weiter sie sich dem Wittenbergplatz nähern, immer zahlreicher. Ein Friseurgeschäft: "Dauerwellen hier nur zehn Mark!
" Billig!" meint Knie. Aber sie hat die zehn Mark natürlich nicht. Blumen - Uhren - nochmals Blumen - Konfekt - eine kleine Konditorei. Sie bleiben gewissenhaft an allen Fenstern stehen und sehen sich die Herrlichkeiten an. An der Ecke ein Anzugladen. Feine Sache' Das billigste, was es in Berlin gibt, Pelzmäntel für 68 Mark. Ein Reklameschild: "Willst du im Leben vorwärts kommen, so muß1 du gut angezogen sein."
" Na schön," meint Fritz. "Vielleicht fallen ein paar Leute drauf rein. Ich hab schon viele Leute gesehen, die sind auch im besten Anzug nicht Fabrikdirektor geworden.
Kaufhaus des Westens. Billige Grammophone - Tassen für 12 Pfennig - Handschuhe für 35 Pfennig - billige Blusen alles da. bloß kein Geld. Schuhe dahinter und dann die Delikatessen, fein aufgebaut. Grapefruits - Stück 1,50 Mark. Salat, Viertelpfund 1,75 Mark. Es ist alles da. Und daneben bettelt ein Kriegsblinder.
Die Luft ist von Autogestank verpestet. Fritz zieht Käte weiter. "Komm raus aus dem Dreck Das ist nichts für uns. Das ist was für die Reichen. Schnell gingen sie durch die Straße der Luxuslokale hin zum Bahnhof Zoo, und für 2o Pfennig fuhren sie dann in die frische Luft. Mit ein paar hundert anderen stiegen sie aus dem Stadtbahnzug und verkrümelten sich schnei! auf kleinen Waldwegen, neben denen die hohen Kiefern standen wie preußische Grenadiere.
Kätes Kopf war noch voll von dem Gehörten. Und sie war glücklich darüber, dass Fritz mit ihr hinausgefahren war. Die Sonntage waren manchmal schauderhaft, wenn man zu Hause saß und auf Fritz wartete, bis der endlich von seinen Genossen kam. Sie nahm sich vor, in Zukunft lieber mitzugehen, dann konnte sie ihn schneller loseisen. So wie heule war es sehr schön: zuerst mit zur Parteiveranstaltung, dann zu zweien.
Sie kamen an einem kleinen See vorbei, wo sie einen geduldigen Angler beobachteten. An der Wegkreuzung stand ein Mann, der auf seiner Geige zittrige Töne hervorbrachte. Vor sich hatte er eine Mütze liegen, in die Vorübergehende ein paar Münzen geworfen hatten. Als sie schon weit weg von der Station waren, da setzten sie sich auf ein trockenes Rasenstück. Ein bisschen Herbstsonne machte es ganz gemütlich. Käte holte das Stullenpaket vor, und sie fingen an, ihr fürstliches Mittagessen zu verzehren. Sie hatte fein eingekauft. Auch eine Gurke hatte sie mitgebracht. Fritz legte sich lang und ließ es sich
schmecken. Er fand, dass er glänzend aufgehoben war. Beinahe wäre
er eingeschlafen. Da fing Käte an, zu erzählen: "Die war aber kolossal
böse!"
" Wer? " fragte Fritz und dachte, dass nun die Klage über Kätes Wirtin
wieder anfing.
" Na, die Frau, die vorhin gesprochen hat." "Welche Frau denn?" "Na, die von Siemens. "
Fritz überlegte, wo sie denn eine Frau von Siemens getroffen hatten. Schließlich ging ihm ein Licht auf, dass Kätes Gedanken sich mit den Reden im Sportpalast beschäftigten. Das freute ihn. Er sagte: "Na, haben wir denn keinen Grund dazu? " "Wieso wir? " meinte Käte.
" Wir? Die Proleten natürlich. Das ist doch überall dasselbe. Wir werden eben gedrückt, damit die anderen es fein haben." "Wieso denn? Bei uns ist das nicht so, Wir haben's ganz gut im Warenhaus. "
"Was? Gut habt ihr's? " Fritz richtete sich erschüttert auf. "Nu mach aber gefälligst nen Punkt! Gut nennst du das? Du mit deinen achtzig Mark? Wenn's nicht Sonntag wäre, würde ich jetzt laut loslachen." "Du brauchst mich gar nicht auszulachen. Im Vergleich zu den Arbeiterinnen haben wir's gut, " erwiderte Käte trotzig. "Na schön. Also morgens gehst du da in deinen Steinbaukasten rein, mittags lassen sie dich ein bisschen raus, und dann musst du bis abends wieder drin sitzen. Gnädige Frau vorne - gnädige Frau hinten. Und alles für achtzig Mark. "
" Und die anderen kriegen auch nicht viel mehr und müssen immer hinter der Maschine stehen."
Pause. Dann fragt Fritz: "Sage mal, Käte, wenn du ein bisschen Geld hättest, was würdest du dann anstellen? " "Dann - dann - dann würde ich...."
" Ich meine, würdest du dann auch Verkäuferin spielen." "Ach, du bist wohl verrückt geworden? "
" Siehste! Ganz so schön scheints doch nicht zu sein, da mit dem ollen Zeisig oder Schneidig oder wie der Kerl heißt. Wenn du dich abends sehen könntest, wenn du aus deiner Bude kommst, würdest du erst wissen, wie dich der Betrieb kaputt macht. "
Er sah sie vor sich, wie sie aus dem großen Portal abends um Halbacht herauskommt. Sie und viele tausend andere Mädchen, die achtzig Mark im Monat nach Hause trugen. Und mit dieser Vorstellung
schlief er sachte ein.
Hoch oben in der Luft zog ein Drachen weite Kreise. Fritz und Käte guckten. Immer tiefer senkte sich der gewaltige Vogel. Jetzt kreiste er direkt über Fritzens Kopf, und - ließ plötzlich etwas fallen. Fritz war so verblüfft, dass er nicht fortlaufen konnte. Mit einem gewaltigen Klatsch sauste ihm das ganze auf die Nase.
Donnerwetter nicht noch mal! Und damit wachte er auf, während Käte sich totlachte, wie der Kienapfel von Fritzens Nase abprallte und auf den Boden fiel.
Fritz war noch ganz verschlafen und fand sich immer noch nicht ganz zurecht. Als er sich aber die Augen gerieben und ein paar Mal hinter die Ohren geboxt hatte, musste er mitlachen.
Sie standen schnell auf, machten sich sauber, denn alle möglichen Tannennadeln, Ameisen und sonstiges Waldzeug hatte sich in die Kleider verirrt. Dann zogen sie los.
In einer halben Stunde waren sie am Bahnhof. Der Zug kam gerade und sie stiegen ein.
" Das klappte gut, " meinte Fritz. "Ja, und was machen wir nun?" fragte Käte. "Ins Kino natürlich. " "Aber in welches. "
" Weiß ich nicht. Das werden wir schon sehen, wenn wir da sind. " "Wenn wir wo sind? "
" Weiß ich nicht. Wir steigen am Alex aus und dann gehen wir durch die Straßen und passen auf, was gespielt wird. " Nach einer halben Stunde kamen sie am Alex an.
Sie gingen durch die Straßen und sahen sich gewissenhaft die Kinoplakate an. "Nich so'n Quatsch!" meinte Käte, als sie vor den kleinen Kinos hielten. Aber als sie das Plakat sahen "Meine Frau, die Hochstaplerin", feingemalt bei einem großen Kino, da meinte sie, das sei nun kein Quatsch, und da wollten sie reingehen.
Die Karten kosteten Stück für Stück eine Mark. Aber sie wollten sich doch auch mal was leisten.
Innen war alles voll. Die Vorstellung hatte noch nicht angefangen. Vorläufig liefen Reklamebilder: "Nach der Vorstellung ins Restaurant Lucullus! " - "Seide kauft man am besten bei Schulze & Co. " - 'Versichert euer Leben!" -"Wenn ihr fürs Leben was gewinnen wollt, dann spielt in der Preußisch-Süddeutschen Klassenlotterie!" Dann ertönte der Gong, der rote Vorhang teilte sich, Fanfaren schmetterten, und man las: Ufa-Tonwoche. Nummer 1: Karl Severing begrüßt den Oberbürgermeister von Paris. Sie sprechen ein paar höfliche Worte miteinander. Der lange Sahm steht daneben. Sie sind alle aufgebaut wie zu Kaisers Geburtstag. Witzworte fliegen im Parkett herum. Zweites Bild: Der älteste Mann von Berlin. Der alte Bendix ist gerade hundert Jahre alt geworden. Zittrig lässt er sich auf einer Bank nieder. Sein zahnloser Mund öffnet sich und er spricht zum Publikum hinunter. Warum er wohl nicht zu Hause aufgenommen wurde? Ob der alte Mann eine so hässliche ärmliche Bude hat, dass man das nicht auf die Leinewand bringen will? Bild drei: Pferderennen.
Bild vier: Reichspräsident von Hindenburg empfängt ausländischen Besuch.
Bild fünf: Heiteres Völkchen im Zoologischen Garten. Bild sechs - - nein, Bild sechs gibt es gar nicht. Bild sechs müsste den Anfang des Winters für die Erwerbslosen zeigen. Bild sechs wird unterschlagen.
Und nun Micky-Maus. Man lacht sich krank. Micky-Maus hüpft sorglos durch die Gegend. Bei den Mäusen existiert der Ernst des Lebens nicht auch nicht bei diesen angeblich vermenschlichten Mäusen. Micky-Maus singt, Micky-Maus tanzt, Micky-Maus stolpert. Alles im Programm einbegriffen.
Das Licht geht an. Alles lacht noch. Fritz lacht auch. Und nun wird's wieder dunkel. Der Kinobesitzer beehrt sich, ein paar große Stars auf die Leinewand zu schicken, die als "kleine Leute" verkleidet sind. Er ist Bankbuchhalter mit 35o Mark im Monat, was nach Aussage des Filmautors ungeheuer wenig ist. Sie ist Hausfrau im möblierten Zimmer. Sie lieben sich entsetzlich. Aber sie sind arm. Und so gehen sie beide, Arm in Arm, in ein Gartenrestaurant mit Tanz. Es kommt zur Auseinandersetzung darüber, warum man sich nicht mal eine Spazierfahrt im Auto leisten kann. Ja, warum? Der Mann sagt es: weil sie kein Geld haben. 350 Mark im Monat sind "kein Geld". Die kleine Frau, die mindestens für 700 Mark angezogen ist, während sich bei dem Mann die Armut im Tragen einer Sportmütze statt eines Hutes dokumentiert, weiß Rat. Sie hält ein elegantes Auto auf der Landstraße an. Sie klagt dem Besitzer ihr Leid: "Unser Wagen ist gestohlen worden".
Der Mann nimmt sie mit. Er fragt gar nicht, als die Frau sich als Frau Bankdirektor vorstellt. Er glaubt es. Und, wie der Himmel so spielt, er braucht Kredite für seine Wurstfabrik. Hier hofft er sie zu bekommen.
Die Sache verwirrt sich. Zur rechten Zeit tauchen die rechten Leute auf. Der Mostrichmagnat aus Amerika stützt die Wurstfabrik. Der Mann der Hochstaplerin bekommt seinen Direktorsposten und einen eleganten Wagen. Alles löst sich in Wohlgefallen auf. Käte ist begeistert. Fritz schimpft. "Das war richtiger Quatsch! Das
ist gerade gut genug, uns Proleten die Köpfe zu verkleistern!" "Wieso? " fragte Käte. "Das ist doch lustig. Darf man denn bei dir nie lachen? "
" Natürlich. Aber du musst wissen, dass das nicht stimmt. Dann darfst du sogar darüber lachen. Ist das vielleicht nicht komisch, dass da immer gerade die Millionäre kommen, um die jungen Leute glücklich zu machen? Wenn du dasselbe machst wie das Mädchen auf der Leinewand kommst du ins Zuchthaus. Wenn sie das macht, dann ist das Glück komplett. Nee, danke für Obst!"
Sie konnten sich darüber nicht einigen. Im Grunde ihres Herzens meinte Käte ja nun auch, dass in Wirklichkeit solche Sachen nicht passieren. Aber warum sollte man nicht mal den Alltag vergessen dürfen? Der war doch immer traurig genug. "Hunger!" brummte Fritz, "Ich auch!" meinte Käte.
" Wollen wir... wie viel Geld haben wir denn noch? " "Was wollen wir? Essen? Können wir doch bei mir machen." Gut. Sie gingen zu Käte. Auf dem Wege dorthin kauften sie sich eine Montagszeitung, die deshalb Montagszeitung heißt, weil sie Sonntags erscheint.
Oben zog sich Fritz erst mal die Jacke aus. Er musste die Arme frei haben, dann krämpelte er sich auch die Hemdsärmel hoch. Dann schritt er wie ein Menschenfresser auf Käte los und streckte die Hände nach ihr aus. Die hatte aber gar keine Angst und blieb stehen, ja, sie kam ihm sogar ein paar Schritte entgegen. Dann legten sie die Arme umeinander und drückten mit ziemlicher Heftigkeit ihre Münder aufeinander. Nachdem sie das hinreichend oft gemacht hatten, meinte Käte: "Genug, ich muss jetzt Abendbrot machen. Sonst verhungern wir noch beide. "
Sie ging hinaus. Fritz setzte sich schmunzelnd aufs Sofa und entfaltete die Zeitung: "Karl-Liebknecht-Haus besetzt - Polizei sucht nach Sprengstoff". Was war los? Ein paar Leute sollten je zwei Koffer mit je dreiviertel Zentner Dynamit gefunden haben, das Kommunisten mit der Bahn angefahren haben sollten. Wo? Das wurde nicht gesagt. Wer? Das wurde nicht gesagt. Aber dass es so war, das wurde behauptet, und die ganze Presse druckte es nach. Das Karl-Liebknecht-Haus war besetzt. Wie lange? Fraglich.
Fritz brummte. Er ballerte mit der Faust auf den Tisch, dass beinahe die leere Blumenvase umgeflogen wäre. Dann ging er mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Dass die Polizei ebenso wenig finden würde wie sonst, das war ihm sofort klar. Aber wozu diese dauernden Haussuchungen? Na, man konnte sich's ja denken. Morgen würde man mehr hören und sehen.. Käte kam wieder mit einem Tischtuch und ein paar Tellern auf einem Tablett. "Soll ich Tee kochen? "
" Mir egal, ob das Wasser heiß oder kalt und braun oder farblos ist. " "Aber Fritz, beleidige meinen Tee nicht. Wenn ich ihn koche, dann schmeckt er bestimmt. "
" Also dann, junge Frau, dann koch in Himmels Namen Tee. Aber bleibe nicht so lange in der Küche. Das ist keine Art und Weise, dass die Frau in der Küche sitzt, wenn der Mann den Salon bevölkert. Oder soll ich mitkommen? "
" Um Gottes Willen, in die Küche? Nicht in die Tüte! Da wirtschaftet doch die Frau Sänger dauernd rum. Die fängt bloß an zu pöbeln. Ist ja auch schrecklich, wenn ich mal ihre Teller und Messer abnutze. Kannst du ihr das verdenken? "
" Kann ich ihr, Käte. Man müsste der ollen Ziege mal den ganzen Laden ein bisschen zertöppern. "
" Nein, Fritz, das ist Quatsch. Das solltest du am wenigsten sagen. Die Frau kann sich sowieso nichts kaufen. Die verdient doch nichts mit ihrem bisschen Vermieten und Reinemachen. "
" Na, schön, dann werden wir den Laden vorläufig noch stehen lassen und keine Teller vermöbeln."
Trotzdem das ja nun eigentlich gar kein Grund war, ging Fritz wieder auf das Mädel zu und schloss sie kräftig und lange in ihre Arme. "Dadrum keine Feindschaft nicht!" meinte er in einer Atempause. Dann küssten sie sich wieder, so mit einem richtigen Sonntagnachmittagsausgehkuss. Fritz hielt sein Mädel ganz fest. Und dann fragte er: "Warum stehst du denn eigentlich noch hier rum. Mach doch, dass du in die Küche kommst, damit das Teewasser nicht anbrennt. " Schließlich dampfte der Tee auf dem Tisch. Fritz und Käte saßen auf dem Sofa nebeneinander. Wegen der Gemütlichkeit. Trotzdem dieses gichtbrüchige Möbel eigentlich viel unbequemer war als ein Stuhl. Aber auf einem Stuhl kann man schlecht nebeneinander sitzen. Auf einem Teller lag ein Ende Jagdwurst. Daneben war der Harzer, der schon richtig ins Rollen kam. Margarine und Brot, für jeden ein Ei und ein bisschen italienischer Salat mit einer Scheibe Gurke drauf. Fritz ließ sich das nicht zweimal sagen. Er langte zu. Mit vollen Backen wandte er sich an seine Nachbarin und lächelte ihr zu, was ihn aber nicht hinderte, einen neuen Bissen in die Höhle zu schieben. Dann fragte er: "Weißt du, wen ich neulich getroffen habe? " "Nein, woher soll ich denn das wissen? " "Die Grete!"
" Welche Grete? Kenn ich nicht."
" Na, die aus der Schraubenabteilung, die vor einem halben Jahr mit rausgeflogen ist".
" Keinen Dunst. Hast du mir nie erzählt." "Weißt du, die bei uns immer Langbein geheißen hat... "
" Ach die, deine alte Liebe? Na, bleib mir mit der weg. Das muss ja ein nettes Pflänzchen sein."
Fritz knabberte seine Lippen, während er sich eine neue Stulle schmierte. Dann meinte er: "Weißt du, ich brauchte es di ja gar nicht zu erzählen, wenn du gleich losschimpfst. Dem Mädel geht es sehr schlecht " "Wieso? Hat sie keine Arbeit? "
" Arbeit? Na ja, gelegentlich. Aber so lala. Die steht nämlich in der Münzstraße. "
" Mit Obst? " fragte Käte interessiert.
" Obst kann man das ja nun eigentlich nicht nennen, was sie da verkauft. Es ist ihr wohl nichts anderes übrig geblieben. Sie geht auf den Strich."
Nun war's raus. Aber Käte fuhr auf: "Was, und mit der stellst du dich auf die Straße? Na, das hätte ich von dir nicht gedacht. Ich muss mich da abschuften mit den ollen Stoffen und du liest dir inzwischen die Straßenmädchen auf. Pfui Teufel!"
Fritz versuchte, sie zu beruhigen. Er traute sich nicht mehr, zu sagen, dass er Grete sogar versprochen hatte, sich mit ihr zu treffen. Nur erst mal erklären, warum es dem Mädel so schlecht geht und dass er gar nichts von ihr will. Dass er ihr nur ein bisschen helfen will, wenn's geht Und er hatte sogar gedacht, dass Käte mitmachen würde. Na, da musste man eben die Diskussion auf später verschieben und sich damit begnügen, Schritt für Schritt ein paar Vorurteile auszumerzen. Das Essen war fertig. Nur die Teekanne und die beiden Tassen blieben auf dem Tisch. Die Uhr ging auf zehn. Fritz und Käte waren damit beschäftigt, sich gegenseitig zu versichern, dass die Tage, an denen sie ungestört Zusammensein konnten, die schönsten waren. Und da sie jung aber doch erwachsen genug waren, wollten sie wieder einmal die Konsequenzen aus der Tatsache ziehen, dass sie sich schrecklich lieb hatten. Käte streifte sich ihr Kleid herunter. Fritz half ihr dabei. Beide strahlten.
Da, als ob es so sein müsste, klopfte es an die Tür: "Fräulein Freisler, es ist zehn!"
" Wissen wir!" brüllte Fritz zurück. "Na, dann richten Sie sich gefälligst auch danach!"
Schritte schlurften in die Küche zurück. Käte saß auf dem Bettrand und weinte. "Warum weinst du denn, Kindchen? Wer hat dir denn was getan?" Käte hörte auf zu weinen. "Es ist zum Kotzen!" meinte sie wütend. "immer diese Frau Sänger. Und ist's die nicht, dann heißt sie Schulze oder Müller oder Lehmann. Nicht ein bisschen glücklich soll man sein, wenn's nach diesen Spießern ginge. Ach, wenn man doch eine Wohnung hätte, wo einem keine Wirtin dazwischenquatschen kann. " "Ja", erwiderte Fritz. "Bis zehn Uhr ist's moralisch. Nach zehn ist's zwar dasselbe, aber es ist unmoralisch. Komm, mach dir nichts draus. Zieh dich wieder an... so... auch das Mäntelchen... so und nun gehen wir ein paar Ecken weiter in das hochfeudal möblierte Gelass des Herrn Fritz Kruse, dessen Wirtin schon langsam vernünftig geworden ist." Sie tappten, eng umschlungen, die Treppen hinunter und gingen durch den kühlen Abend, zwischen müden, abamüsierten Menschen hindurch in Fritzens Bude.
Rrrrr....rrrrr....
Der Wecker rasselt vor Fritzens Ohren. Trotzdem dauerte es eine Weile, bis die Schläfer munter wurden. Käte drehte sich um. Sie wollte nichts vom Aufstehen wissen. Aber Fritz ziepte sie so lange bei den Haaren, bis sie wach war.
Dann sprang er aus dem Bett und unterzog sich der täglichen Reinigungs- und Erfrischungsprozedur. Käte musste nun auch heraus. Bald waren sie angezogen. Käte ging nach Haus. Fritz trollte sich zur Straßenbahn. Er hatte sich mit Alex an der Haltestelle verabredet. Diesmal hatten sie die Betriebszeitungen dort gelassen. Es durfte nicht wieder was damit passieren. Sie teilten sich die Blätter, und jeder hatte nun eine dicke Mappe voll zu tragen.
Fritz fragte: "Hast du was gehört? Das K.-L.-Haus ist besetzt worden!? "
" Ja, ist besetzt", antwortete Alex. "Die haben angeblich irgendwo Sprengstoff gefunden. Sprengstoff in Mengen. Lauter Dynamit in Koffern. Und jetzt wird wieder der Zusammenhang hergestellt zwischen dem Dynamit und den Kommunisten." "Haben sie denn was gefunden? "
" Ach, was sollen sie denn finden? Irgendein Mann, den sie wohl von Dreiundzwanzig her kennen, ist verhaftet worden. Bei den Abgeordneten haben sie gesucht. Immunität ist ja nichts für Kommunisten. Aber gefunden haben sie nichts."
" Na ja, wo nichts ist, da kann man auch nichts finden. Aber die Bürger und die SPD. -' die werden die Sache schon richtig aufbauschen." Sie fuhren weiter. Die Elektrische war noch ganz leer. Jetzt hielten sie die Zeitungen ganz fest.
Alex erzählte: "Ich war gestern Unter den Linden. Da fuhr der Oberfaschist vorbei - - wie heißt er doch gleich? " "Hitler?"
" Nee, der Italiener, der gerade hier zu Besuch ist bei Brüningen. . "Ach, Grandi!"
" Ja, der war's. Mensch, aber Polizei war da auf den Beinen. An jeder Haustür standen ein paar. Der muss doch bannige Angst haben. "
" Muss wohl so sein", meinte Fritz.
Inzwischen waren sie angekommen. Sie stiegen aus, und vom Vorderperron kam einer von den erwerbslosen Genossen gekrabbelt, der die Betriebszeitungen verkaufen sollte. Sie hatten sich diesmal einen richtigen Schlachtplan gemacht, damit auch alle Eingänge genügend besetzt waren. Vorläufig kam alle Nase lang ein Arbeiter. Er ließ sich Zeit, denn es war ja erst Halbsieben. Fünf Minuten später liefen die drei anderen Genossen zusammen. Sie nahmen ihre Zeitungen in Empfang, jeder 75 Stück, das Stück zu 5 Pfennig. Dann verteilten sie sich auf die Eingänge.
Mittlerweile war es dreiviertel geworden. Gerade setzte die Uhr zum Schlagen an. Da klingelte an der Ecke die Elektrische, die schon voll besetzt war mit Arbeitern. Jetzt ging's los! "Die Walze! - Heute neu!-Fünf Pfennig! - Hochinteressantes Material aus dem Betrieb! - Die Amerikareise des Generaldirektors! - Warum sollen wir streiken? -Die neue Lohnabbauwelle! - Die Walze! - Heute neu! - Fünf Pfennig! -Sechs Seiten!"
Alles kaufte. Manche sahen sich dabei vorsichtig um. Der Portier hing am Telefon. Alex machte Fritz darauf aufmerksam. "Pass auf, gleich werden sie kommen - tatütata - na, wir haben ja schon die meisten verkauft. "
" Die kommen nicht. Die haben mit Grandi alle Hände voll zu tun. " "Die Walze - fünf Pfennig - "
" Nächstesmal können wir wieder fünfzig mehr machen. " "Machen wir", sagte Fritz.
Dann gingen sie beide mit dem Glockenschlag in die Metallbude rein, zogen sich um und rückten zur Schraubenabteilung ab. Vorher bog Alex zum Walzwerk ein.
Heute würde es ja eine tolle Diskussion geben. Das war saftiges Material in der neuen Betriebszeitung. Viele sprachen schon darüber. Aber man musste vorsichtig sein.
Als sie zwei Stunden gearbeitet hatten, kam einer vom Betriebsrat vorbei: "Bei Borsig wird gestreikt!"
" Was? " Fritz drehte sich um, während die Maschine Ausschuss machte. "Was? Weswegen?"
" Pst! Bloß die Reparaturwerkstatt. Da streiken sie gegen den Abbau. Es geht schon los. Von den D-Werken hört man auch so was. Das wissen wir aber noch nicht genau!"
Fritz wollte Hurra schreien. Aber er verkniff es sich. Wieder wendete er sich seiner Maschine zu und arbeitete jetzt so mächtig drauf los, als wenn er dächte, dass so die Zeit schneller zu Ende wäre bis zur Pause, wo man mehr erfahren würde.
Also bei Borsig und in den D-Werken! Das war keine Kleinigkeit. Wenn's bloß erst Halbelf wäre !
Fritz arbeitete und arbeitete. Dazwischen flüsterte er die Neuigkeit weiter. Wieder senkte sich die fieberhafte Unruhe über die große Halle. Alles wollte mehr wissen. Aber Fritz selbst wusste ja nicht mehr.
Er dachte: Morgen die Betriebsversammlung wird bestimmt voll. Da kann man sich drauf verlassen. Endlich ist Pause.
Die ganze Belegschaft ist in Aufregung. Niemand weiß etwas Genaues. Aber alle sind von neuem Geist erfüllt. Die Müdigkeit des grauen Elends ist gewichen. Borsig und die D-Werke! Donnerwetter. Die haben's gemacht. Ob wir es auch schaffen? Ruhig Blut. Natürlich werden wir es auch schaffen. "Aber erst müssen wir beim Verband anfragen, ob der den Streik sanktioniert. "
" Was heißt Verband anfragen? Wir werden das allein entscheiden können. "
" Man muss eine einheitliche Leitung wählen. " "Einen Kampfausschuss. "
So schwirrte es durcheinander. Manche wären am liebsten schon heute in Streik getreten. Andere zögerten noch. Einige wenige wollten nichts unternehmen.
Fritz sah, wie man die Situation ausnutzen müsste. Er gab die Parole aus: Heute abend eine Betriebsversammlung.
Das war eine gewagte Sache. Alles war für morgen vorbereitet worden. Ob die Referenten heute abend kommen könnten? Aber er musste es riskieren. Wer weiß, wie morgen die Lage ist. Er wollte das Eisen schmieden solange es noch heiß ist.
Bei der großen Mittagspause musste er alles umorganisieren. Er verständigte sich mit Alex, der die anderen bearbeiten sollte. Er selbst raste zum UB. , um von der veränderten Situation zu berichten. Dort erfuhr er auch genaueres über den Streik. Er war schon beendet. Die Direktion wollte die Akkorde herabsetzen. Die Arbeiter der Reparaturwerkstatt antworteten mit Streik. Wie ein Mann standen sie geschlossen. Der ganze Betrieb kam in Unordnung. Nach einer Stunde wollte die Direktion die Akkorde nur um halb soviel kürzen wie zuerst. Aber der rote Betriebsrat sagte: wir sind keine Bonzen vom DMB., die dann der Belegschaft sagen, seht, wir haben nur eine halbe Lohnkürzung für euch erkämpft. Seid dankbar und nehmt sie an. Nein! Wir fordern: keinen Pfennig Lohnraub!
Als die Belegschaft von dem Vorschlag der Direktion hörte, billigte sie einstimmig die Haltung des Betriebsrates. Der Betrieb wurde immer unregelmäßiger. Die Arbeit kam nicht vorwärts. Überall Stockungen. Und in den übrigen Abteilungen wurde die Stimmung immer streikreifer. Da gab die Direktion nach und erklärte sich bereit, die alten Akkorde weiter zu bezahlen.
Gesang der Internationale. Und von neuem ging es an die Arbeit. Die Arbeiter waren stolz auf ihre feste Haltung. Jetzt würden sie es immer so machen. Sie hatten jetzt gesehen, dass es geht, dass Streik die einzig richtige Antwort auf die Lohnabbauoffensive der Unternehmer ist. Fritz hörte mit offenem Mund und glotzenden Augen zu. Großartig. Das wird er heute abend berichten.
" Rot Front!" Und damit zog er ab. Zurück in den Betrieb. Er kam gerade noch zurecht. Mittag hatte er keins gegessen. Aber es ging auch ohne das. Die Arbeit ging schnell vorwärts. Keine elende Langeweile bei größter Anstrengung von Körper und Nerven. Die Arbeit machte beinahe Spaß.
Das würde eine feine Versammlung heute abend werden. Nach einiger Zeit traf er Alex, dem er ein Zeichen gegeben hatte, auf dem Lokus.
Der berichtete, dass die Stimmung glänzend ist. "Da wird heute abend keiner fehlen. Das kann ich dir sagen. "
Fritz klopfte ihm auf die Schulter: "Mensch, weißt du auch, dass der Streik bei D. schon zu Ende ist? Gesiegt haben sie. In zwei Stunden hatten sie die Direktion klein. Die alten Akkorde bleiben in Kraft. " Da kam auch der Meister, der sonst wenig Bedürfnisse mit ihnen gemeinsam hatte, und sie mussten sich nun der Angelegenheit widmen, um deren sie scheinbar heruntergekommen waren.
Oben angekommen ging Fritz wieder an die Arbeit. Der alte Knorr neben ihm flüsterte ihm zu. "Mensch, ick fühl mir 20 Jahre jünger. Das is ne Stimmung. Wie damals." Fritz nickte nur, und seine Hände gingen noch mals so schnell wie sonst.
Die Sirene heulte. Arbeitsschluss.
Sie kamen in Scharen. Abteilungsweise. Keiner fehlte. Nicht einmal der Kaspar, dessen Alte heute früh "eines Knäbleins genesen war", wie Franz, der Witzbold, es ausdrückte.
Dicht gedrängt standen und saßen sie da. Die Stimmung war glänzend. Als der Referent nicht gleich erschien, wurden sie ungeduldig und wollten von sich aus beginnen.
Alex eröffnete die Versammlung und gab Fritz als erstem das Wort, damit er über die Streiklage bei Borsig und in den D-Werken berichten sollte.
Fritz begann zu erzählen. Oft wurde er von Beifall unterbrochen. Als er zum Schluss kam, und von dem Sieg erzählte, da standen sie alle auf
und klatschten und schrieen durcheinander.
Mittlerweile war auch der Referent gekommen. Fritz erzählte ihm kurz, was er eben gesprochen hatte, während Alex ein paar Worte über die Situation im Betrieb sprach.
Als Alex fertig war, gab er dem Referenten das Wort. Zuerst waren die Proleten etwas enttäuscht darüber, dass er nicht gleich auf den Streik zu sprechen kam. Denn er begann zunächst mit einem allgemeinen Referat über die Lage der Metallindustrie in Berlin. Dann aber sahen sie, dass er gute Argumente, die man später brauchen könnte, vorbrachte. 14 Prozent letzte Dividende von Siemens. Riesengehälter bei der AEG. Metallarbeiterlöhne nur 60 Prozent der amtlich berechneten Lebenshaltungskosten und anderes mehr.
Dann wurde das Referat immer konkreter. Er kam auf die Taktik der Unternehmer im gegenwärtigen Metallarbeiterkampf zu sprechen. Auf Streikstrategie und Streiktaktik im gegenwärtigen Zeitpunkt. Wie und wann soll man losschlagen? Wie betreibt man Streikvorbereitungen9 Was ist ein Kampfausschuss? Und was soll ein Kampfausschuss tun? Alle lauschten gespannt. Jetzt kam er wirklich zur Sache. Jetzt hatte jeder von ihnen etwas zu lernen. Jetzt musste jeder von ihnen aufpassen, damit der Streik später zu einem vollen Erfolg werde. Der Referent wurde immer eifriger. Und alle hörten zu, vom alten Knorr, der zugleich in Erinnerungen an vor zwanzig Jahren schwelgte, bis zu Kappel, dem Reformisten.
Er schloss die Rede mit der Aufforderung zur Bildung eines Kampfausschusses. Fritz übernahm jetzt die Versammlung und forderte zum Bei tritt in den Kampfausschuss auf. Wer wollte mitmachen? Streiken. Ja, das war was anderes. Wenn die anderen streikten, dann konnte man auch streiken. Aber als einzelner in den Kampfausschuss? Das war riskant.
Fritz hatte das nicht erwartet. Aber er versuchte die Situation zu retten. Er erklärte zuerst, dass natürlich er selber mitmachen würde. Dan sagte Alex, dass er natürlich auch mitmacht.
Der Referent wollte gerade eingreifen, als sich der alte Knorr meldete. Er sagte, er habe zwar Familie und er würde ganz sicher keine Arbeit mehr bekommen, wenn er fliegt. Aber es sei jetzt an der Zeit, loszuschlagen und nicht mehr wie bisher alles hinzunehmen, einen Lohnabbau nach dem anderen.
Die anderen waren sehr erstaunt über die Meldung von Knorr. Das schlug ein. Nach ihm meldete sich ein junger SPD-Arbeiter, dann noch einer und zwei Parteilose. Als die Wahl fertig war, sprach Alex noch ein paar Schlussworte und dann nahm die Versammlung eine Resolution an, in der beschlossen wurde, gegen jeden Pfennig Lohnraub zu streiken und dem Kampfausschuss aufzutragen, mittlerweile alle Streikvorbereitungen zu treffen. Der Kampfausschuss zog sich sogleich zu einer Beratung zurück. Als sie sich zwei Stunden später trennten, drückte Fritz die Hand des alten Knorr, denn dieser hatte die Situation gerettet, als er dem Kampfausschuss beitrat.
Fritz war müde. Fritz war vergnügt. Das wäre geschafft, schneller und besser, als man glaubte. Nun trank er - zur Belohnung, wie er sagte - mit Alex eine Molle. Dann fuhren sie nach Hause. An der Münzstraße kletterten sie runter. Die Uhr war gerade Sieben vorbei. "Pass mal auf, Alex, " sagte Fritz. "Geh du mal rauf, ich komme nach. Ich will erst noch die Käte abholen. Das arme Mädel muss sonst wieder den ganzen Abend alleine rumsitzen. Gemacht?"
Er ging schnell zum Alexanderplatz vor und stellte sich an der gewohnten Stelle auf. Bald kam Käte. Sie wollte zuerst nicht mitgehen. "Brauchst, dich nicht zu genieren", sagte Fritz. "Die fressen dich nicht auf. Wir sind alle friedlich, wenn so ein Mädel kommt wie du. " Schließlich ließ sie sich mitziehen. Im Vorraum wurde sie abgesetzt, während Fritz hineinging, um mit Alex Bericht zu geben und darüber zu sprechen, was nun gemacht werden sollte.
Käte sah sich schüchtern um. Es kamen und gingen Arbeiter und Arbeiterinnen. Sie meldeten sich an, wurden in die Zimmer geholt gingen wieder. Sie waren alle sehr eifrig. Man sah es ihnen an. Doch das Gucken wurde auf die Dauer langweilig. Sie sah sich also die Zeitungen an, die da herumhingen und herumlagen. Gewerkschaftsorgane waren es hauptsächlich. Die interessierten sie nicht. Aber dazwischen hing die "Rote Fahne". Die angelte sie sich vom Haken. "Japanischer Schritt gegen die Sowjetunion. " Na schön, dachte Käte. Das ist weit von hier.
Dann las sie: "Wahlniederlage der Sozialdemokratie in England. " Das interessierte sie auch nicht besonders.
Sie blätterte weiter. Über die Karikatur auf der zweiten Seite musste sie nun doch lachen, trotzdem sie sie nicht ganz zu verstehen glaubte. Darunter: "Lügenhetze gegen die Kommunisten. " Das war ja beinahe unglaublich. Ob das Alles stimmte? Sie wollte das doch gelegentlich mal kontrollieren.
Ü ber die Löhne der Metallarbeiter war dann ein langer Artikel drin. Das wollte sie sich lieber von Fritz erzählen lassen. Lesen - da konnte man immer viel schwerer verstehen als beim Erzählen. Wieder blätterte sie um. Da sah sie unter dem Strich den Roman. Na ja, endlich was zum Lesen für sie. "Die letzten Tage von...." Von K. Olectiv. Komischer Name! 11. Fortsetzung. Sie las: "Als sie zwei Stunden gearbeitet hatten, kam einer vom Betriebsrat vorbei: Bei Borsig wird gestreikt!
Nanu, dachte Käte. Das war doch erst gestern. Das ist ja, als wenn der Romanschreiber das schon gewusst hätte.
Sie las weiter. Die Hauptrolle spielte ein Metallarbeiter mit Namen Fritz. Der verkaufte Betriebszeitungen. Genau das, was Fritz gestern gemacht hatte. Und dann die Käte aus dem Warenhaus. Das war doch
sie selber! Erstaunliche Sache!
Da kam Fritz heraus, mitten zwischen Alex und dem Sekretär des Roten Metallarbeiterverbandes. "Komm, Käte, ich habe Hunger. " Aber Käte wollte erst fertig lesen.
" Nanu ', sagte Fritz. Auf einmal bist du so scharf aufs Lesen? Und noch dazu die "Fahne" ! Natürlich der Roman." Ein bisschen verächtlich klang das. "Ja, hast du den heute schon gelesen? " fragte Käte.
" Nee. so'n Zeug lese ich nicht. Dazu habe ich keine Zeit".
" Schade, ich wollte dich gerade was fragen." "Und das wäre? "
" Hier steht immer was von Fritz und Käte und Alex und dem Metallarbeiterstreik und Betriebszeitungen und Betriebsversammlung. Das ist so, als wenn der Mann, der das geschrieben hat, alles schon gewusst hätte, was da passieren wird, aber auf den Tag genau. " "Das müsste aber ein merkwürdiger Zufall sein!", meinte Fritz. "Zeig mal her!" Er las die ersten paar Zeilen. Dann rief er ganz erstaunt: "Herrschaften, das ist doch gestern erst passiert! Na, son Zufall!" Aber der Genosse Sekretär wusste schon Bescheid: "Das ist gar kein Zufall. Das ist Absicht. Die Zeitung soll doch nicht bloß so Vergangenheitsromane und solches falscherfundenes Zeug bringen. Entweder Schilderungen von vergangenen Ereignissen, aus denen man was lernen kann, oder warum soll man's nicht mal dass da einer jeden Tag ausgerechnet eine Fortsetzung schreibt."
Die Drei sperrten die Mäuler auf. Aber der Genosse sprach weiter: "Das ist schon oft gemacht worden, von Balzac und Dumas, den großen Franzosen. Die haben Sensationsromane auf diese Weise geschrieben. Aber wir wollen keine Sensationsromane. Wir wollten mal einen Tagesroman für unsere Zeitung. Ja, ja, die Sachen werden täglich geschrieben. Jeden Tag eine Fortsetzung. " Fritz kratzte sich den Kopf: "Denn muss man das direkt mal lesen. Das
ist ja komisch. Aber wer macht denn das? Der kann doch mal krank werden. Das kann ich mir gar nicht vorstellen, dass da Einer jeden Tag ausgerechnet eine Fortsetzung schreibt. "
" Nee, ist auch nicht Einer. Guckt euch doch mal den Namen richtig an: K. Olectiv. Das heißt, richtig gelesen, Kollektiv. Das hier ist der erste Kollektivroman außerhalb der Sowjetunion. "
" Donnerwetter!" sagte Fritz. "Das ist aber praktisch." Und Käte war begeistert. Sie als Romanfigur. Sie, eines der Tausende von Warenhausmädeln, als Hauptfigur eines Romans. Das wollte sie nun doch von Anfang an lesen. Fritz musste ihr versprechen, ihr die Nummer von Anfang an herauszusuchen.
Sie ging vorsichtshalber gleich mit zu ihm, um sie sich herauszusuchen Für den Rest des Abends war sie dann eine schlechte Gesellschafterin. Sie musste alles lesen, und zwar ganz genau. Schließlich maulte Fritz. Und dann musste sie ihm vorlesen. Sie war gerade an der Stelle, an der sie die erste Betriebszeitung machten. Sie las vor. "Quatsch!", sagte Fritz, "so war's nicht. So ähnlich - ja. Aber nicht so geheimnisvoll. Da sind sie wieder mal in die alten Romanfehler verfallen. " "Das finde ich aber nicht richtig, " meinte Käte. "Wenn man schon so einen Roman schreibt, dann müssen die Sachen stimmen. " "Na, du kannst dich ja darüber beschweren. " "Bei wem denn? "
" Bei der Redaktion! Schreibst einfach einen Brief, dass du den Roman liest, und dass da nicht alles stimmt. Damit hilfst du gleich, besser machen, nicht wahr? "
" Ja, das muss man eigentlich machen, " sagte Käte. Und dann las sie weiter.
Käte stand an ihrem Tisch. Sie hatte gerade ein paar Meter verkauft, und im Augenblick war kein Kunde da. Das Geschäft ging im ganzen jämmerlich. Aber da immer mehr Kolleginnen entlassen wurden, hatte jede einzelne mehr als vorher zu tun.
Herr Schneidig näherte sich mit dem Kollegen Goldstrom Kätes Tisch. Lässig stand er da, den rechten Ellenbogen auf die Glasplatte gestützt, die linke Hand in der Tasche.
" Ja, Goldstrom, man wird jetzt das Weihnachtsgeschäft bald vorbereiten müssen. Das wird wieder schön zu tun geben. Tausende werden wieder kommen. Aber ob einer was kaufen wird? "
" Na, so schlimm wird es ja nicht werden. Vor allem, Schneidig, müssen wir wieder gute Reklame machen. " "Sie meinen die Preisherabsetzungen? " "Ja, die meine ich. Sie wissen ja, die alten Tricks." Käte kam näher, um etwas zu suchen. De beiden schoben ab. Es waren ja keine Geheimnisse, die sie ausplauderten. Aber es war nicht nötig, dass jemand vom "unteren Personal" zuhörte, was sie sprachen.
Da kam eine Kundin, und Kate war beschäftigt. Das alte Spiel begann von neuem. Gnädige Frau... Ja, bitte schön... usw. Schneidig und Goldstrom gingen hinunter zum Essraum für das "bessere Personal" und setzten da ihre Unterhaltung fort.
Von dem Weihnachtsgeschäft kamen sie auf die notwendigen Neueinstellungen. Ob man die Frieda wieder nehmen sollte. Goldstrom war dagegen, denn sie hatte ihm beim letzten Male Schwierigkeiten gemacht. Selbst mit einem Kinobillet war sie nicht mehr zu haben. Die hatte jetzt da irgendeinen Freund. Der soll ihr nur aushelfen. "Ja, und die Hanna, " fiel Goldstrom wieder ein und machte selig verzückte Augen. "Wenn ich da an letztes Jahr denke. Die hat's in sich. " "Unsere Weihnachtsvorbereitungen", schmunzelte Schneidig. " Wir können nicht früh genug damit beginnen. Wir wollen doch morgen eine Liste der Kandidatinnen zusammenstellen. Die Kartothek ist doch noch da?"
" Natürlich, unten im Personalbüro. Wir müssen nachher mal eine erste Durchsicht machen. "
Beide schmunzelten. Man muss doch auch seine Weihnachtsfreude haben. Sie aßen noch einen Nachtisch - Grießflammerie mit Himbeersoße -und dann gingen sie wieder an ihre Arbeit.
Als Schneidig in sein Revier gekommen war, sah er Kätie halb verborgen hinter einem Riesenhaufen von Stoffen. Davor eine spindeldürre Dame mit Püffchen. Ein langes enges Kleid. Sie sah wie ein Ofenrohr aus.
Als Schneidig die beiden zusammen sah, ärgerte er sich wieder, dass er die Käte noch nicht rum hatte. Aber es würde noch alles klappen. Bis nach Weihnachten hat es ja noch Zeit. Bis dahin wird er wohl versorgt sein. Aber danach heißt es biegen oder brechen. Entweder sie gibt nach, oder sie fliegt. Irgend etwas lässt sich ihr schon nachweisen. Er wollte nicht Schneidig heißen, wenn er das nicht fertig brachte.
Aber vorläufig.... Nun wie gesagt.....
Hochgereckt ging er an ihr vorbei, sie still überprüfend. Käte war viel zu beschäftigt mit den Kunden, die sich jetzt um sie drängten, um Schneidig zu beachten. Herauf auf die Leiter und wieder herunter. Erst diesen Stoff, dann diesen. Erst Stoff für Kindermäntel, dann für ein Nachmittagskleid. So ging es unaufhörlich. Und so wird es auch bis zum Abend gehen.
Und dann. Ja dann würde Fritz unten stehen und sie abholen. Aber sie durfte nicht daran denken, sonst wurden die Kunden unzufrieden. Mit einem Ruck schüttelte sie alle Gedanken an heute abend ab und widmete sich ganz ihren Kunden, wie es die gute und solide Verkäuferin eines Warenhauses tun soll. Währenddessen durchwanderte Herr Schneidig sein Gebiet wachsamen Auges, dass alles gut funktionierte.
Und Herr Goldstrom tat genau wie Herr Schneidig eine Abteilung weiter.
Es herrschte Hochbetrieb und keiner hatte mehr viel Zeit für Nebengedanken.
Fritz kam aus dem Betrieb. Man hatte diskutiert. Man hatte fast ausschließlich über die Versammlung gesprochen. Ein paar Leute fingen vom Sechstagerennen an. Diese Kollegen sahen müde und übernächtigt aus. Sie hatten den Start mitgemacht und dafür drei Mark geopfert und sich nicht ausschlafen können. Aber sie waren begeistert. Die meisten wollten nichts davon wissen. Sie hatten allmählich gemerkt, dass es wichtigere Sachen auf dieser Erde zu diskutieren gab. Fritz hatte absichtlich groß die Zeitung auf den Tisch gelegt. Da stand drüber: "Sowjetunion erhöht die Metallarbeiterlöhne um 23, 5 Prozent!" Ein Ausrufungszeichen dahinter. Na, das war auch ein fettes Ausrufungszeichen wert. Hier rüstet man zum Abbau, immer wieder und immer wieder. Drüben erhöht man in einem fort die Löhne. Ihr könnt euch denken, wie darüber gesprochen wurde. Einer zweifelte, jener staunte, ein anderer war begeistert. Jeder beschäftigte sich mit dieser Frage. Fritz hatte heute nicht viel reden müssen. Diese Sache sprach für sich.
Andere wieder wussten, dass die Entscheidung über den neuen Lohnabbau bis um 14 Tage verschoben worden sei. Man brauche also die Streikvorbereitungen nicht sehr zu forcieren. Aber dem fuhren ein paar Kollegen übers Maul, dass die Funken sprühten. Von allen Seiten hagelte es: "Du denkst woll, nu können wir wieder einschlafen? Wie? " Ein anderer: "Und rückwirkende Lohnsenkung - davon haste wohl noch nie was gehört? " - Noch einer: "Nu, erst recht! Wenn die Unternehmer in der Verteidigung sind, dann müssen wir vorstoßen. Dann gehts noch mal so gut. "
" Recht hat er!" meinten die meisten. Und dann gingen sie wieder an die Arbeit.
Nach Betriebsschluss fuhr Fritz nach Hause, reinigte sich, zog sich eine andere Jacke an und ging zum Bezirksausschuss des Roten Metallarbeiterverbandes, um die neuen Flugblätter zu holen, die morgen verteilt werden müssen. Gegen sieben Uhr war er fertig. Langsam schlenderte er durch die Straßen, um sich die Zeit bis Halbacht, wo er Käte abholen wollte, zu vertreiben. Plötzlich wurde er angerufen:
" Na, Fritz? Auch stolz geworden? Ich konnte es mir ja denken, dass du nicht Wort halten würdest. "
Er drehte sich um und sah Grete vor sich, die Exkollegin, die sich auf der Münzstraße "geschäftlich betätigte", wie man es nannte. Wieder hingen ihr die Zöpfe um die Schultern, um bei den zugereisten Tapergreisen den Eindruck zu erwecken, dass sie hier ganz junges Fleisch kaufen könnten. Wenn man genauer hinsah, merkte man, dass von Fleisch nicht mehr groß die Rede sein konnte. Die Knochen standen dem armen Mädel zum Leibe heraus.
" Nee, Grete", erwiderte Fritz, "wenn ich sage, ich komme, dann komm ich auch. Aber du weißt ganz genau, dass ich viel zu tun habe. " "Ja, du immer mit deiner Politik. Ne Freundin dürftest du nicht haben. Die würde streiken. "
" Du wirst lachen, sie streikt nicht. Ich habe eine. " "Die muss schön dumm sein, wenn sie sich das gefallen lässt. " Sie unterhielten sich noch eine Weile so obenhin, bis das Gespräch doch ernster wurde. Sie gingen durch die Straßen, und Fritz musste von Betrieb erzählen. Grete sagte: "Hätte es nicht gedacht, dass mich der ganze Schwindel interessiert. Aber jetzt, wo du's erzählst, da kommt' mir vor, als wenn das wichtig wäre. "
" Ist es auch!" meinte Fritz. "Nicht nur für uns. Für dich auch. Diese ganze verfluchte Schinderei für die paar Kröten, - das ist ja unmenschlich. Und dann fliegen die Leute raus auf die Straße, und da bleiben sie dann. So ein junger Kerl wie du. Pfui Teufel! Dich treibt man raus, statt deine Kräfte anders und besser zu verwenden." Grete wurde sehr ernst. Sie musste es Fritz noch einmal im einzelnen erklären, wie es gekommen war. Leise begann sie zu schluchzen dabei trotzdem sie sich sehr lange beherrschte.
" Wenn man wenigstens davon leben könnte? ! Aber da läppern sich ein paar Pfennige zusammen. Da läuft man den ganzen Tag in dem Dreckwetter auf der Straße umher, musst immer ein Gesicht machen, als hätte man keine Sorgen, und dann Kannst du dich nicht mal satt essen. " Fritz überlegte. Wenn Fritz überlegte, dann nicht nur, um zu trösten, sondern um zu helfen. Und schließlich sagte er: "Hast du schon Mittagbrot gegessen?"
" Nein, nicht einen Happen!" heulte Grete jetzt los. "Na, dann komm' mit. Viel bekommst du nicht, aber mehr als gar nichts. Es wird schon reichen." Damit zog er sie herum, und sie gingen dieselbe Straße zurück, die sie gekommen waren. Sie mussten sich beeilen, denn die Uhr zeigte schon zwei Minuten vor halb acht. Gerade kamen sie noch zurecht, um Käte, die sich ärgerlich umgesehen hatte, zu erwischen. "Tag, Käte, ich habe noch jemanden zum Abendbrot mitgebracht. Hier, das ist meine Freundin Käte. Und das ist eine frühere Arbeitskollegin von mir."
Käte und Grete gaben sich die Hand. Käte war nicht sehr erfreut. Wie kam der Fritz dazu, irgend so ein Mädel mitzubringen? Und noch dazu in so einem Aufzug. Mit herunterhängenden Zöpfen. Käte lief los, um nicht von ihren Kollegen und Kolleginnen gesehen zu werden. Sonst würde sie morgen mächtig aufgezogen werden.
Bald waren sie oben angekommen. Grete setzte sich still in eine Ecke und sackte in sich zusammen. Sie verfolgte aufmerksam und ein bisschen neidisch die Begrüßung der beiden Leute, die sie hier, im geschlossenen Zimmer, ungeniert nachholten. Das heißt: nicht ganz ungeniert. Für Fritz war es allerdings nicht besonders zum Schämen, dass er seiner Genossin ein paar herzhafte Küsse gab. Aber Käte hätte lieber gesehen, wenn das ohne Zeugen vor sich gegangen wäre.
Nachdem sie sich's bequem gemacht hatte, ging sie in die Küche. Grete wollte ihr helfen, aber sie lehnte energisch ab. So setzte sich das Mädel wieder hin.
Fritz las. Grete döste vor sich hin. Draußen hörte man das Klappern von Tellern und Tassen. Der Grete war es einerseits lieb, hier so ruhig im geheizten Zimmer sitzen zu dürfen. Andererseits kam sie sich furchtbar überflüssig vor. Ja, so war es, Niemand wollte sie haben. Diese beiden Menschen, die sich lieb hatten, waren sich selbst genug. Sie verdienten beide. Nicht sehr viel, aber für Gretes augenblickliche Begriffe waren es Reichtümer.
Fritz sah über den Rand seiner Zeitung weg zu ihr hinüber: "Na, Grete, so ein unglückliches Gesicht? " Grete versuchte zu lächeln: "I bewahre. Ich bin doch ganz vergnügt."
"Na, na, das ist eine etwas übertriebene Behauptung. Aber lass nur, die Käte ist ein gutes Mädel. Sie tut nur manchmal so, als wäre sie grob. Lange kann sie das gar nicht sein.
Durch das Lächeln hindurch brachen sich ein paar Tränen Bahn: "Aber Grete, heule doch nicht. Ist doch alles nicht so schlimm. " Fritz stand auf und ging zu ihr hinüber: "Nicht doch weinen. Wir wollen doch nicht traurig sein. Davon wird's doch nicht besser.
" Besser nicht. Aber mir kommen die Tränen jetzt immer hoch. Ich kann doch nichts dafür."
" Und von dir haben wir immer gesagt, die kann uns die Stimmung verderben. Du warst die einzige, die immer gelacht hat. Nanu, hör mal auf. So - das Taschentuch - weg ist die Träne - nochmal auf der anderen Seite - auch weg - und dürfen keine mehr kommen - so - und
jetzt die Nase - tüchtig, na nochmal----"
Käte trat mit dem Tablett ins Zimmer. Sie guckte nur kurz zu Fritz und Grete hinüber. Sie glaubte, dass ihr das Herz stehen bleiben musste.
Fritz sagte lächelnd: "Hat die Grete doch tatsächlich hier geweint!" Spitz erwiderte Käte: "Du scheinst sie aber ganz nett getröstet zu haben".
" Nichts mehr als meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit war, " sagte Fritz.
" Vielleicht gehen da unsere Begriffe ein bisschen auseinander." Grete, um die sich da ein Streit zu entwickeln schien, saß wie ein verschüchtertes Kind in ihrer Ecke und wusste nicht, ob sie eingreifen sollte oder nicht. Sie wollte um Himmels willen keinen Krach zwischen den beiden. Sollte sie erklären? Sollte sie einfach gehen? Aber da standen auf dem Tisch so allerhand Sachen zum Essen, die sie mit magischer Gewalt festhielten. Unschlüssig saß sie da.
Käte sah in der hereingeschneiten Grete eine Rivalin. Die Stellung, in der sie die Beiden angetroffen hatte, war doch eindeutig genug gewesen. Sie war nicht auf Fritz böse, sondern auf das Mädel, das sich da plötzlich zwischen sie stellen wollte.
Fritz nahm sie bei der Hand und ging mit ihr hinaus. Draußen flüsterte er mit ihr. "Eine Stunde kannst du zu dem armen Mädel doch wirklich mal nett sein. Der geht's dreckig genug. Kommt in keinen Betrieb mehr rein und muss sich verkaufen, hat dabei nicht mal satt zu essen..." "Ach, das ist dies Früchtchen, " fuhr Käte dazwischen. "Und du genierst dich nicht, die mit raufzubringen. Pfui Teufel! Hast du denn nicht ein bisschen mehr Achtung vor mir? " Nun fing auch sie an zu weinen. "Straßenmädchen bringst du mit - so wenig Achtung hast du vor mir... " Fritz kratzte sich den Kopf. Nun stand die Käte draußen und weinte. Grete saß drin und tat offenbar dasselbe. Wie konnte man aus dieser Situation wieder rauskommen?
Es blieb ihm nicht viel Zeit zum Überlegen. Die Tür öffnete sich und Grete trat heraus. Sie hatte verweinte Augen und sagte: "Ich will nicht stören, Fritz. Ich gehe jetzt." Sie wischte sich die Augen. "Schade... " setzte sie noch hinzu, aber weiter kam sie nicht. Denn schon flossen die Tränen wieder.
Fritz ließ sie gehen. Was sollte er machen? Nun saß er der weinenden Käte gegenüber am gedeckten Tisch. Der Tee dampfte. Niemand aß. Er hatte sich diesen Abend verdammt anders vorgestellt. "Nu hör doch mal endlich auf zu weinen. Das ist ja zum Kotzen. " "Wenn's dir bei mir nicht passt, dann geh' doch zu deinem Stückchen runter!"
" Zum Donnerwetter, wenn du jetzt nicht bald mit deinen dummen Redensarten aufhörst, dann hau ich ab. Das hält ja der stärkste Mann nicht aus. Du bist zu dem armen Mädel so kratzbürstig wie noch nie zu einem Menschen, und dann schimpfst du mich noch aus. Und dann soll ich noch sagen, es ist alles gut und schön. " Mit langen Schritten wanderte er im Zimmer auf und ab. "Hör doch auf zu weinen, Käte.
Warum heulst du eigentlich dauernd? "
Sie hörte nicht auf. Fritz wusste nicht, was er tun sollte. Er setzte sich an den Tisch und trommelte mit den Fingern darauf herum. Schließlich goss er sich eine Tasse Tee ein. Wieder war Stille, nur von gelegentlichen Schluchzern Kätes unterbrochen. Langsam hatte sie sich ausgeweint. Fritz säbelte sich verzweifelt eine Stulle von dem Brot, schmierte sich etwas darauf und fing an zu essen. Dann holte er sich ratlos die Zeitung aus der Tasche und tat so, als ob er las. In Wirklichkeit blieben die Buchstaben nicht in seinem Auge haften. Es wurden keine Wörter daraus. Er überlegte dauernd, was er tun solle. Mal wollte er einfach aufspringen und zornig das Zimmer verlassen. Das wäre der Schluss gewesen.
Langsam richtete sich Käte auf. Sie griff ebenfalls nach der Teekanne. Traurig goss sie die Tasse voll, die vor ihr stand. Dann setzte sie ein paar Mal zum Sprechen an. Schließlich brachte sie's heraus, wie sie es wohl mal in irgendeinem Schundroman gelesen hatte. "Wir haben uns wohl nun nichts mehr zu sagen."
" Wie?" fragte Fritz. Er glaubte, nicht richtig verstanden zu haben. Sie wiederholte es ihm mit den gleichen Worten.
Da stand er auf, haute mit der Faust auf den Tisch, dass das Geschirr klirrte, nahm seine Jacke und rief, während er das Zimmer verließ. "Wenn der Mensch verrückt wird, fängt's im Kopf an. " Und gemäßigter fügte er hinzu: "Wenn du dir's überlegt hast, dann weißt du. ja, wo ich zu erreichen bin. " Dann schlug er die Tür zu und stürmte die Treppe hinunter. Spät nachts kam er polternd nach Hause. Er war zum ersten Mal nach drei Jahren richtig betrunken.
Käte tat in dieser Nacht kein Auge zu. Immer wieder überlegte sie sich, dass sie eigentlich gleich loslaufen müsste, um ihren Fritz zurückzuholen Sie hatte sich kindisch benommen. Aber ihre Ehre! So ein Strichmädchen ihr mitzubringen! Nein. Und selbst wenn sie Unrecht hätte, dürfte sie nicht einlenken. Sie nicht. So hatte sie es gelernt.
In der Mittagspause fragte Alex den Fritz: "Mensch, was ist denn mit
dir los? Brummige Laune. Grün und gelb im Gesicht. Wo hast du dich
denn rumgetrieben? "
Fritz brummelte irgendetwas vor sich hin.
Aber Alex gab nicht auf. "Irgend was mit Käte los? "
Fritz biss immer noch nicht an.
Da klopfte ihm Alex auf die Schulter: "Mensch, nu leg schon los. "
Und Fritz legte los und erzählte, was gestern Abend vorgefallen war.
Als Alex gehört hatte, kratzte er sich hinter den Ohren. "Mensch, so was kann aber nur dir passieren. Mitten zwischen zwei weinenden Frauenzimmern. Und nu mit beiden verkracht. Und selber schlechter Laune. Ich hätt der Käte ein paar drauf gegeben. Und die Grete. Na, da hättest du den Boden besser vorbereiten sollen. " "Was heißt Böden besser vorbereiten? " fuhr Fritz auf. "Sie stammt doch nicht aus Pommerellen. Und warum soll ich der Grete nicht die Nase putzen? Was da schon dabei ist!"
" Nu ja, " meinte Alex, "ich hab ja bisher nur meine eigene geputzt und auch das nur ganz selten. Aber das kommt von diesen vornehmen Modischkeiten. Wozu überhaupt die Nase putzen? Nase putzen! Als ob es anders nicht ebenso gut geht. Und dann gegenseitig die Nase putzen! Mensch, das kommt davon! Hättest du ihr nicht die Nase geputzt, dann wär das ganze nicht passiert. "
Fritz musste lachen. Aber die Karre war immer noch im Dreck. "Was soll ich nur machen? "
" Na, zuerst musst du mit der Grete sprechen. Die Käte kommt schon alleine wieder, wie ich die Weiber kenne. Du weißt ja, wo die Grete steht. Gehst heut abend hin, und dann macht ihr irgendwas zusammen." "Ja, aber was sollen wir denn zusammen machen? " "Na, eins will ich dir sagen, die Nase putzt du ihr nicht mehr. Wenn schon, dann lieber deine eigene. "
" Na ja, was ich nicht tun soll, weiß ich schon. Aber was meinst du weiter? Soll ich mit ihr irgendwo essen gehen? Und was soll ich ihr nur sagen? "
" Ganz einfach sagst du, dass die Käte noch rückstündig ist. Ist doch klar. Die Käte ist he Abweichung. 'Ne Abweichung ins moralische mit Gänsebeinchen. Ja, weißt du, jetzt hab ich's. Sag ihr doch, dass die Käte noch nicht auf ihren eigenen Beinen stehen kann und oft auf Gänsebeinchen rumläuft. "
Fritz war begeistert. "Das ist ein guter. Wenn sie nur erst mal lacht, dann wird schon alles gehen. "
" Na siehst du, komm nur immer zu mir, wenn du Sorgen hast. Ein Mensch mit meiner Lebenserfahrung wird dir schon immer raushelfen." Guter Laune ging Fritz wieder an seine Arbeit. Der Alex ist schon ganz knorke, gab er in Gedanken zu.
"Genug für heute!" sagte Fritz und zog sich an. Fuhr nach Hause, stopfte etwas Suppe und andere Nahrungsmittel in sich hinein, nachdem er sich noch einmal gründlich gewaschen hatte, und zog sich die andere Jacke an. Es war ihm ein bisschen komisch. Heute abend hatte er keine Sitzung, keine Versammlung. Nichts war für ihn zu tun. Er kam sich beinahe überflüssig vor. Soll man weinen? Soll man lachen? Was soll man tun? So fragte er sich immer wieder. Dann brummte er ein Liedchen vor sich hin, ging los und ließ sich mit dem Menschenstrom treiben. So meinte er wenigstens. In Wirklichkeit ging er den Weg, den er jeden Abend ging. Rüber über den Alexanderplatz, und dann... Ja, dann konnte er abbiegen. Wohin? Entweder zum Bezirkskomitee oder zum Warenhauseingang oder zu Gretes Ecke. Im Bezirksausschuss war heute für ihn nichts zu tun. Grete? Was sollte er eigentlich von ihr? Sollte sie ihn vielleicht trösten? Zur Abwechslung mal? Ehe er noch zu Ende gedacht hatte, stand er schon vor der Warenhaustür. Soll man da warten, bis es so weit ist? Gerade wurden die Gitter herausgefahren und vor den großen Türen festgemacht. Pinke und Panke tauchten auf. Sie begrüßten ihn kurz. Aber sie hatten's jetzt eilig. Fritz ging unschlüssig hin und her. Einmal ging er weg. Dann zog es ihn doch wieder zur Tür. Dieses Gesellschaftsspiel mit sich selbst trieb er etwa eine Viertelstunde. Dann hatte er sich entschlossen, wegzugehen. Aber er tat es nicht, weil er sah, dass es fast Halbacht war. Er redete sich ein, dass es feige wäre, jetzt vor Käte wegzulaufen. Man braucht nicht zu betonen, dass diese Einrede eine Ausrede war. Er wartete ein paar Minuten. Schon begann der Strom des Personals zu fließen. Und nun trat Käte aus der Tür. Gewohnheitsmäßig sah sie sich um. Als sie aber den sah, den ihr Blick suchte, setzte sie sich eilig in Gang.
Fritz war schon neben ihr. "Guten Tag, Käte."
Es kam keine Antwort. Sie gingen noch schneller nebeneinander her. Fritz versuchte es noch einmal: "immer noch böse? " Wieder keine Antwort. "Worüber eigentlich?"
" Das solltest du selbst am besten wissen."
Na, also, dachte Fritz, da hat sie wenigstens ein Wort gesagt. "Ja, wissen weiß ich, aber es ist dumm von dir."
" Wenn's dir zu dumm ist, dann geh zu deiner Grete, die ist bestimmt klüger, die weiß, wie man sich die Männer angelt."
Sie liefen, dass ihnen beinahe die Puste ausging. Fritz sagte: "Ich habe doch gar nichts mir ihr gehabt".
" Das ist mir piepe. Für mich bis du jedenfalls erledigt." "Na gut, wenn du dir's überlegt hast - du weißt ja, wo ich wohne. Mir wird die Sache langsam zu dumm. Zum Kotzen, diese Empfindlichkeit für nichts und wieder nichts. "
Fritz drehte sich kurz um und ging in entgegengesetzter Richtung, unfreundliche Worte vor sich hinbrummend. Käte lief bis zur Ecke weiter.
Als sie merkte, dass Fritz nicht mehr neben ihr war, blieb sie stehen. Sie sah ihn schon ganz hinten im Menschengewimmel untertauchen. Sie öffnete ihre Handtasche, nahm ein Tuch heraus und wischte sich zweimal über die Augen. Dann ging sie langsam weiter nach Hause. Ihre Ehre hatte sie wieder einmal gezwungen, Dinge zu sagen, die sie absolut nicht sagen wollte. Und nun zwang dieselbe merkwürdige, kleinbürgerliche Ehre sie dazu, nach Hause zu gehen, statt, wie Käte einen Augenblick lang wollte, umzukehren, dem Fritz nachzulaufen und einen Strich unter die dummen Dinge von gestern zu ziehen. Fritz trottete unterdessen den Weg wieder zurück, den sie gekommen waren. Hätte er jetzt irgend jemanden verprügeln können, um sich abzukühlen, er hätte es mit Begeisterung getan. Dumme Pute, diese Käte! Tut so, als ob man von gestern auf heute alles auslöschen könnte. Warum? Er wusste eigentlich schon nicht mehr recht, was da so Wichtiges vorgefallen war, das genügen sollte, zwei Menschen, die sich gerne haben, auseinanderzureißen.
Nun machte er also den zweiten Weg. Er wanderte langsam durch die Münzstraße, dabei überlegend, ob er jetzt, wo er dem gestrigen Objekt des Krachs nachlief, ein schlechtes Gewissen haben müsse oder nicht. Er hatte keins zu haben.
Er guckte sich die Frauen und Mädchen an, die dort herumstanden und -gingen. Eine zeigte ihrer Kollegin eine neue Plüschjacke, auf die sie mächtig stolz war. Die andere bewunderte mit ihrem Freund zusammen die Auslagen in einem Schuhgeschäft. Aus dem Café drangen die Töne eines armseligen "Salonorchesters". Aber von Grete war nichts zu sehen.
Sie hat Kundschaft! dachte Fritz. Und er wusste nicht, ob er sich für sie darüber freuen oder das Mädel bedauern sollte. Er ging in die Kneipe und trank eine Molle, las dabei ein bisschen. Dann ging er wieder auf die Straße, die ziemlich leer geworden war. Ein paar mal wurde er von Mädchen angesprochen. Aber Grete sah er nicht. Er lief noch etwas in der Gegend herum. Dann kam er wieder an die Stelle zurück, wo er die Grete das letzte Mal gesehen hatte. Aber sie war nicht da.
Fritz wurde noch misslauniger als er schon gewesen war. Der ganze Abend verkorkst. Was sollte er jetzt tun? Kino? Nein, so alleine dazusitzen machte keinen Spaß.
Das beste ist schon, nach Hause zu gehen und zu pennen. Also machte er sich auf den Weg.
Zu Hause war es kalt. Der Ofen war runtergebrannt. Lesen kam nicht mehr in Frage, denn ordentlich aufpassen würde er doch nicht. Also rin in die Klappe.
Licht aus, unter die Decke gekrochen und eingeschlafen. Es war noch nicht 1/2 10 Uhr.
Fritz war kaum eingeschlafen, als er von einem Pochen an der Tür geweckt wurde. Aufmachen! Aufmachen! Fritz dachte gleich an die Polizei.
Noch ein Blick auf den Tisch und ins Regal. Nein, da lag keine der Schriften, die er legal gekauft hatte und die nachher verboten waren. Da konnte ihm keiner einen Strick drehen. Denn Marx war ja wohl noch erlaubt.
Draußen wurde wieder gegen die Tür gebumst. Fritz zog sich schnell die Hosen über und machte auf. Richtig. Er hatte recht gerochen. Da stand ein Wachtmeister. "Wohnt hier ein Fritz Kruse? " "Jawohl, der bin ich."
" Sie möchten mit zur Rettungswache kommen." "Ich? Was ist denn los? "
Er dachte mit Schrecken an Käte, ob der irgend etwas passiert war. Die hat doch keinen Unsinn gemacht? ! Er hätte doch gleich vernünftig mit ihr sprechen sollen.
" Wer hat denn nach mir verlangt? " fragte er voller Aufregung. "Den Namen wollte sie nicht geben. Sie hat nur nach Ihnen verlangt." Echt Käte. Nur nicht irgend etwas mit der Polizei haben. Aber den Namen hätte sie doch sagen können. Herr Gott, was ihr nur passiert ist. So dachte Fritz blitzschnell.
" Was hat sie denn gemacht? " fragte er, während er schon die Treppe heruntersauste.
" Nicht so schnell, junger Mann. Warten sie man. Sie kommen immer noch zurecht. Ist wohl die Braut? Na, glücklich scheint sie nicht gewesen zu sein. "
" Na, nu sagen Sie endlich was los ist!" fuhr Fritz auf. "Ins Wasser ist sie gegangen. Na und da haben wir sie wieder rausgezogen. Sie war schon ganz schlapp. Die halbe Spree hat sie ausgetrunken. Nach und nach 'ner Weile kam sie wieder hoch, und da hat sie nach Ihnen gefragt. Zuerst war sie furchtbar wütend und wollte wieder zurück ins Wasser, und als wir sie dann beruhigt hatten und was Näheres wissen wollten, da hat sie uns Ihre Adresse gegeben, und da bin ich hergekommen. "
Fritz dachte: echt Käte. Ein Prachtmädel, aber so was blödes. Ins Wasser zu gehen. Na, da muss ich mal ordentlich mit ihr reden. Ein für allemal. Das hat ja noch Weile, bis die 'ne ordentliche Bolschewistin wird. Aber nur langsam. Und während er neben dem Wachtmeister herlief, dachte er an Käte, und was sie alles zusammen tun würden, und wie er ihr zureden würde, und wie wieder alles gut sein würde, und wie sich auch alles mit Grete wieder einrenken würde, wenn er mit ihr alles durchgesprochen hatte. Viel schneller als Fritz gedacht hatte, waren sie an der Rettungswache. Erst mussten noch tausend Dinge erledigt werden, bis Fritz reingelassen wurde. Er musste seinen Namen angeben, sagen, wie seine Mutter früher geheißen hat, wie alt er ist. Na, usw.
Endlich war alles erledigt. Eine Schwester kam und nahm ihn nach hinten. Da lag sie auf einem Sofa. Das Haar tropft noch von Wasser. Als er näher kam, richtete sie sich leicht auf.
Fritz blieb wie ein Stock stehen. Als ob ein Schlag ihn getroffen hatte. Er reckte den Kopf vor, um besser zu sehen. Ja, das war ganz klar. Das war ja nicht die Kälte. Fritz wusste nicht, ob er enttäuscht oder glücklich war. Statt der erwarteten Käte war es die Grete. Natürlich war es Grete. Wie hätte die Käte das auch tun sollen! Dazu lag ja gar kein Grund für sie vor. Selbstverständlich war es Grete. Dass er auch daran nicht gedacht hatte! Natürlich musste es die Grete sein. "Hallo, Grete", sagte er, "Na, wie geht's?"
Grete musste über die Frage lachen. "Ausgezeichnet", sagte sie. Damit aber war das Lachen zu Ende und sie fing an zu weinen. Fritz stand verlegen daneben. Was sollte er auch tun. Er wollte das Taschentuch vorholen, aber dann steckte er es hastig wieder ein, als ob er sich verbrüht hätte. Nie wieder! Wie hatte doch Alex gesagt: Das Taschentuch ist höchstens für den eigenen Gebrauch da und auch dann nur selten.
Er kam jetzt näher und setzte sich auf den Sofarand. Grete beruhigte sich.
" Was tun wir nun Grete? Zuerst musst du nach Hause. " "Nein! Nein! auf keinen Fall nach Hause. Nie wieder nach Hause. " "Aber sei doch vernünftig, Grete. Du musst doch irgendwohin. " "Warum muss ich irgendwohin? " fragte Grete und wollte wieder von neuem zu weinen beginnen. "Na gut", lenkte Fritz schnell ein. "Dann gehst du eben nicht nach Hause. Willst du was essen? " Grete schüttelte den Kopf. "Na, du musst aber irgend was Warmes zu Dir nehmen. "
"Ja, aber was soll ich denn anziehen. Das Zeugs hier ist doch ganz nass."
Fritz überlegte eine Weile und kam auf die glänzende Idee, die Grete zu fragen, ob sie nicht noch was anderes hat. Das wollte er holen gehen, und dann kann sie sich hier umziehen.
Grete stimmte zu.
So nahm er die nassen Sachen von der Grete in einen Haufen Zeitungspapier zusammengewickelt mit und ging los zu Gretes Wohnung, um ihr andere Sachen zu holen.
Draußen hatte es zu regnen begonnen. Die Straßen waren dunkel. Fritz lief, um möglichst bald wieder zurück zu sein.
Er überlegte sich, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, wenn niemand die Grete aus dem Wasser gezogen hätte. Was erwartete sie denn? Wieder dasselbe traurige Tagewerk. Aber er verwarf den Gedanken bald wieder. Selbstmord ist kein Ausweg für einen Proletarier. Bald war er mit den trockenen Fetzen wieder zurück. Während er draußen wartete, zog sich Grete drin um. Dann kam sie. Sie war doch viel schwächer, als er gedacht hatte. Er hakte sie ein, um sie zu stützen, und dachte dabei: wenn uns jetzt nur die Käte nicht sieht. Warum eigentlich? Die Sache war doch aus! Trotzdem...
Sie setzten sich in eine kleine Konditorei und Fritz bestellte heißen Tee und ein paar Eier für Grete. Dabei überlegte er bei sich, wie viel Geld er noch hatte. Egal, es war nicht mehr viel, aber dem Mädel musste geholfen werden.
" Was sagst du nun eigentlich zu der Sache?" fragte die Grete. "Das war der größte Unfug, den du je gemacht hast." "Was habe ich denn gemacht?"
" Frage nicht so dumm, du bis ausgekniffen. Man kneift nicht aus. Man bleibt stehen und kämpft, wenn es einem dreckig geht. " "Das hatte ich eigentlich nicht gemeint", sagte Grete. "Aber man muss ja darüber auch mal sprechen. Wenn wir schon mal dabei sind - - ich kann dir nur sagen, wie das weitergehen soll, weiß ich nicht. Früher oder später mach ich den Sprung sicher noch mal. Da gehe ich aber
weiter raus, damit mich nicht gleich jemand wieder rausholt. Nur.....
beim zweiten Mal ist's viel schwerer. Sicherlich!"
" Quatsch nicht so dämlich. Zum zweiten Male wird das nicht gemacht. Geht einfach ins Wasser. Hast du denn keine Lust mehr zum Leben? " "Zu diesem Leben nicht. Nee." "Und überhaupt? "
Grete wurde nachdenklich. "Fritz", sagte sie, "du kennst mich doch. Wenns mir besser ginge, dann würde ich nie daran gedacht haben. Das ist es doch, dass das Leben erst ekelhaft wird, wenns einem schlecht geht. Und wenn dann die Leute kommen und einen beschimpfen und verachten, dann wirds ganz schlimm. Ich hatte mich so gefreut auf das Zusammensein mit euch, hatte mir allen Dreck mal runter geweint. Und dann kam die Käte... ich will ihr ja keine Vorwürfe machen. Sie weiß es eben nicht besser. "
" Ja, sie weiß es nicht besser", antwortete Fritz. "Aber das ist kein Grund abzuhauen. Stell dir mal vor, dass alle Arbeiter, denen es schlecht geht, in die Spree laufen würden. Da würde die Spree bald nicht mehr ausreichen. Und die Unternehmer würden sich heftig freuen, dass sie die Sorge los sind. Und wenns ganz doll wird, dann... aber das ist doch Quatsch. Proleten dürfen sich nicht unterkriegen lassen, wenns ihnen schlecht geht. Einfach auf das bisschen Leben verzichten, wenn man keinen Ausweg weiß? " "Was soll man denn sonst machen? "
" Na, Grete, so dumm wie du jetzt tust, bist du doch gar nicht. " "Kommunist werden, sagst du. Und dann gehts mir besser? " "Ich hab nie gesagt, du sollst in die Partei eintreten, und dann bist du aus dem Dreck raus. Aber wir marschieren doch vorwärts. Guck doch rüber in die Sowjetunion - da geht keine Proletarierfrau mehr auf den Strich. Da arbeiten alle. Alle verdienen ihr Geld, haben ihr Essen, haben ihre Wohnung, haben Schulen und Universitäten. Wenn jemand klug ist, kriegt er Bildungsmöglichkeit wie hier ein Professor. Und hier - - na, du weißt es ja ebenso gut wie ich ... " Grete träumte vor sich hin: "Ja, wenn ich da rüber könnte... " "Nee, das ist nicht. Hier musst du kämpfen, nicht dich drüben ins gemachte Bett legen. Jeden Tag gehts einen Schritt vorwärts. Jeder neue Kämpfer ist ein Zentimeter neuer Boden für das vordringende Proletariat. Lies doch mal in der Zeitung - - drüben bereiten sie gerade den vierzehnten Jahrestag der Oktoberrevolution vor. Die haben Grund zu feiern. Männern und Frauen geht es gut. Kein Erwerbsloser, im Gegenteil: Arbeitermangel. Stell dir doch mal vor: die Kapitalisten können vor Krise und Erwerbslosen nicht aus den Augen gucken, und die Sowjets wissen nicht, wo sie die Arbeitshände herkriegen sollen, die sie noch brauchen!"
Grete dachte nach. Dann sagte sie: "Findest du es nicht ein bisschen komisch. Da sitzt du neben einer halben Leiche, die sie eben aus dem Wasser gezogen haben und diskutierst mit ihr über Politik..." "Gar nicht komisch!" meinte Fritz. "Das ist die direkte Antwort auf das, was du getan hast. Oder nicht? Überlege doch mal - hier die Moralphilister setzen die Frauen auf die Straße, und wenn sie sich nach langen Kämpfen verkaufen, um gerade so leben zu können, wenn man das Leben nennen will, dann werden sie von denselben Moralisten bespuckt. Ist das vielleicht Privatsache, oder ist das auch eine politische Frage?"
Wieder schwiegen sie eine Weile. Dann meinte Grete: "Das sieht jetzt alles so einfach aus. So einfach, dass die Sache direkt einen Haken haben muss. So einfach kann das doch gar nicht sein, sonst müssten doch alle Proleten mit euch marschieren."
" Werden sie auch, wenn erst diese Ohrenbläser weg sind. Schließlich gibt die herrschende Klasse ihre Macht nicht freiwillig aus den Pfoten. Da muss man erst drauf hauen. Und vorläufig haben sie noch ihre Leute, die den Proleten die Köpfe vernebeln. Giftgas SPD. - das ist das schlimmste. Das wird in Mengen abgeblasen. Immer noch. Und es gibt immer mehr Leute, die sich die Gasmasken aufsetzen. Aber immer noch nicht genug. Jetzt zum Beispiel wieder - sprichst du im Betrieb von der Sowjetunion, dann sagen viele: schön und gut - aber was dort geht, geht bei uns noch lange nicht. Das sind aber schon die Besten. Und wenn man ihnen dann sagt, dass die Sowjetunion dauernd in Angriffsgefahr steht, dann lachen sie dich aus. Ist ja klar, dieselben Leute, die zum Angriff rüsten, die sorgen dafür, dass sich ihre miserablen Absichten nicht zu schnell herumsprechen. "
Grete fröstelte. Einen schweren Schnupfen hatte sie die Sache doch gekostet. Der wird sie noch ein paar Tage daran erinnern, trotzdem die letzten zwei Stunden schon wie ausgelöscht schienen. Es war ihr, als säße sie schon tagelang neben Fritz und ließe sich von ihm erzählen. Die schweren Sorgen um die nächste Zukunft waren weggewischt. Sie sah deutlicher als je den Kampf vor sich, den sie in den Reihen des Proletariats mitzukämpfen hatte.
" Sieh mal", begann Fritz wieder, "gerade jetzt gehts wieder los. Da in Japan. Wenn man jemandem sagt, dass die Sache uns was angeht, dann lacht er. Japan ist so weit, noch hinter der Sowjetunion. Aber trotzdem - die Imperialisten haben ihre Finger überall. Dort gehts Jos, China heißt das Ziel in den Zeitungen. Und plötzlich überschreiten sie die Ostchinesische Bahn und drängen und drängen, damit sich die Sowjetmacht provozieren lässt. Wer weiß, wie das noch wird. " "Und warum tun ihnen die Sowjets nicht den Gefallen? Haben sie vielleicht Angst? "
" Angst? Lächerlich. Die Rote Armee kann mit Japan dreimal fertig werden. Die weiß, wofür sie kämpft. Das ist keine Armee einfach, sondern das ist ein Heer von politisch Überzeugten. Das sind Leute, die sich für ihren Arbeiterstaat das Herz aus dem Leibe reißen lassen, wenns nötig ist. Und jeder Arbeiter, jede Arbeiterin marschiert mit. Waffen haben sie. Und Mut haben sie auch. Das haben sie schon gezeigt. Wenn gekämpft werden muss - die Arbeiter und Bauern der Sowjetunion sind dabei... "
Während Fritz sprach, schüttelte sich die Grete und nieste wild drauf los, unterbrach sich: "Mensch, Grete, du musst jetzt ins Bett. Du erkältest dich ja immer mehr. Morgen hast du'n Schnupfen, wie du ihn noch nicht erlebt hast. " "Na lass man. Red nur weiter. "
" Nee du, so geht das nicht weiter. Ins Bett musst du, und warm zudecken. " "Was heißt ins Bett? Wo soll ich denn ins Bett gehn? Bei mir nicht.
Nach Hause geh ich nicht. Nein, kommt gar nicht in Frage." "Nu aber Schluss, Jetzt wirst du vernünftig sein und zu dir nach Hause gehn. Ick bring dich auch hin."
Grete gab nach. Was sollte sich auch tun. Außerdem hatte Fritz recht. Das vernünftigste war's ganz sicher. Und warum sollte man nicht auch mal das vernünftigste tun?
Fritz zahlte, und sie gingen los. Nach zehn Minuten waren sie an dem Hause angelangt, in dem Grete wohnte.
" So, jetzt aber rauf. Marsch! Morgen sehe ich dich wieder. Ich hol dich hier um sieben Uhr ab und wir sehen dann zu, was du tun kannst. Schlaf dich jetzt mal ordentlich aus. "
Grete antwortete nichts. Sie drückte Fritz die Hand und ging durch die Tür. Kaum hatte sie sie geschlossen, als sie sie noch einmal aufmachte und Fritz nachrief: "Also morgen um 7 Uhr. "
Fritz trottete nach Hause. Mit der Grete war ja nun wieder alles wenigstens einigermaßen in Ordnung. Aber mit Käte. Das war ne dumme Sache.
Schon nach Mitternacht. Da wird sie längst schlafen. Am liebsten wäre er noch mal zu ihr raufgegangen. Aber das ging kaum. Erstens würde die Wirtin wieder loskeifen. Und dann war er selber hundemüde. Und morgen musste er wieder früh bei der Arbeit sein, und abends hatte er 'ne ganze Masse zu tun.
Zu Hause angekommen, setzte er sich auf den einzigen Stuhl seiner Bude und zündete sich noch eine Pfeife an.
Da saß er und dachte über tausend Dinge nach. Über Käte und über Grete. Über die ganze jämmerliche Lage für die Proleten. Vor einem Jahr war die Grete noch ein gesundes frisches Mädel. Und was ist heute aus ihr geworden! Und dann die Käte mit all ihrer Rückständigkeit. Wie wenig Ahnung hatte sie doch von ihrer eigenen Lage. Und dann dachte er an die Kollegen im Betrieb. An den alten Knorr, an Emil mit seinen vier Gören, zu denen jetzt eine fünfte kam, und an all die anderen mitten im Elend.
Fünf Minuten vergingen, zehn Minuten, eine Viertelstunde. Dann stand er schnell auf, holte eine Broschüre von Lenin vor, suchte irgendeine Stelle und setzte sich wieder hin. Die Pfeife war schon kalt und stank. Endlich riss er sich los. Im Nu war er ausgezogen und lag im Bett. Wenige Minuten später schlief er.
Am nächsten Morgen konnte Fritz nicht aus dem Bett finden. Es war gestern so spät geworden. Immer wieder dehnte und streckte er sich. Immer wieder machte er einen Anlauf zum Aufstehen. Aber dann sah er auf die Uhr und stellte fest, dass er noch eine halbe Minute unter die Decke kriechen konnte.
Endlich war es allerhöchste Zeit geworden. Mit einem gewaltigen Satz sprang er auf. Schnell unter das kalte Wasser. In die Kleider. Etwas angewärmten Kaffee in den Leib gejagt. Schnell die Stullen zusammengesucht, und kauend lief er die Treppen runter auf die Straße.
An der Ecke holte er sich seine "Fahne". Da kam auch schon die 04-trische. Im Wettlauf mit ihr zur Haltestelle. Nein. Sogar noch ein Sitzplatz. So, jetzt konnte er Puste holten.
Als er sich verschnauft hatte, drehte er sich eine Zigarette. Verdammt, die Streichhölzer hatte er natürlich zu Hause liegen lassen. Aber neben ihm rauchte jemand und so konnte er endlich, in tiefen Zügen rauchend, seine "Fahne" lesen.
Kaum hatte er sie recht aufgeschlagen, da sah er schon das große Ereignis:
Streik bei Borsig.
Donnerwetter. Das würde wieder eine Agitation heute geben. Er freute sich schon auf die Diskussionen. Mensch - Streik bei Borsig! Was besseres konnte gar nicht passieren. So was brauchte man jetzt. Ein paar solche Beispiele und die Kumpels werden schon sehen, dass es geht.
Die Geschäftsleitung wollte den Akkordlohn halbieren. Die reformistischen Betriebsräte wollten verhandeln und eine geringere Kürzung herausholen. Dann wäre wieder die alte Sache gewesen. Der Unternehmer wollte um 50 Prozent kürzen, aber infolge der "ungewöhnlichen Klassenkampfstrategie der freien Gewerkschaftsführer gelang es, die Lohnkürzung auf soundso viel herabzusetzen". Und dann saß man da mit seinem gekürzten Lohn, der einen "Klassenkampfsieg" der Reformisten darstellte.
Diesmal aber war es anders gekommen. Die Belegschaft hatte den Reformisten überhaupt keine Zeit zu Verhandlungen gegeben. Sie antwortete sofort mit einem Ultimatum. Der zuvor gewählte Kampfausschuss trat in Funktion und erklärte der Geschäftsleitung: entweder sofortige Zurücknahme des Lohnabbaus oder Streik. Die Geschäftsleitung, die hoffte, dass die reformistischen Bonzen die Sache noch zurechtrücken würden, erklärte sich zu Verhandlungen bereit. Der Kampfausschuss erklärte, dass es nichts zu verhandeln gäbe. Entweder wird sofort erklärt, dass die alten Akkorde in Geltung bleiben, oder Streik. Die Geschäftsleitung gab nicht nach. Und die Belegschaft antwortete mit Streik.
Ja, so muss man es machen, dachte Fritz. So handelt ein revolutionärer Kampfausschuss, so handelt eine entschlossene Belegschaft. Fritz stand auf und ging raus auf die Plattform. Er konnte nicht mehr still sitzen bleiben.
Man muss sich jetzt auf alles vorbereiten. In dem Moment, wo Fritzens Unternehmer das gleiche Spiel begann, und den Lohn betrieblich drücken wollte, muss es wie auf einen Schlag losgehen. Ultimatum. Annahme oder nicht. Wenn nicht, dann Streik.
Fritz hoffte fast, dass es auch in seinem Betrieb einen Lohnraubversuch geben würde. Sie würden es schon schaffen. Er muss heute noch mit den Mitgliedern des Kampfausschusses sprechen. Die Bahn hielt. Fritz war schon vorher abgesprungen.
Er sauste heute in den Betrieb. Unten ging die die Unterhaltung schon los Woher wussten die Kollegen eigentlich schon alle von dem großen Ereignis? Merkwürdig - als wenn solche Nachricht Flügel hätte. So was macht Mut. Der Kampfausschuss war auch mächtig bei der Sache, als sie dann beisammensaßen. Es war beinahe nicht mehr so, als wenn ein anderer Betrieb streikte: hier kämpften Kollegen, die zwar in einem anderen Stadtviertel schufteten, die aber der Belegschaft so nahe waren, als säßen sie im Nebenbau.
Heute verging die Zeit schnell. Die Meister schlichen herum, die Aufpasser waren alle mobil gemacht worden. Es wurde kontrolliert, dass keine Unterhaltungen geführt wurden. Sogar während der Pause wollte man die Unterhaltung unter Druck stellen. Aber die Herrschaften rutschten ab damit. Gewiss, manche Kollegen ließen sich einschüchtern. Aber trotzdem bekamen die Aufpasser manche saftige Bemerkung zu hören, die sie veranlasste, sich unauffällig zu drücken. Fritzens erster Weg nach der Kampfausschusssitzung war nach der Münzstraße. Es war früh Schluss gewesen, denn es war Sonnabend. Und so kam er noch am hellerlichten Tage in die Gegend rund um den Alexanderplatz. Trostlos sah das aus - am Tage noch viel trostloser als in der künstlichen Abendbeleuchtung.
Fritz erstattete Bericht und holte sich Informationen über die Vorbereitungen, die überall getroffen wurden. Es war ein toller Betrieb heute. Die Genossen gaben sich die Türklinken in die Hand. Und man wollte heute auch früher fertig sein. Denn heute war Feiertag. Heute war der 14. Jahrestag der Revolution des Sowjetproletariats. Nichts so ein Tag, wie ihn die Bürger feiern, mit Bier und Wein und Festessen Dazu haben wir noch keine Zeit. Feiertage des Proletariats im Kapitalismus sind Kampftage. Nur das Sowjetproletariat feierte wirklich. Am späten Nachmittag gingen sie gemeinschaftlich los zur Kundgebung. Als sie in den großen Saal kamen, mussten sie feststellen, dass schon eine halbe Stunde vor Beginn alle Stühle besetzt waren. Berlin wollte den roten Oktober feiern. Alles wogte durch den Saal. Gespräche verdichteten sich zu einem allgemeinen Rauschen. Hier lachte man. Dort führte man ernste Gespräche. Einer erzählte, dass man am Karl-Liebknecht-Haus keine Transparente zum 14. Jahrestag anbringen durfte, "aus sicherheitspolizeilichen Gründen", trotzdem bisher die rotbezogenen Holzgestelle noch nie Jemanden auf den Kopf gefallen waren. Es handelte sich wohl auch nicht so sehr darum, die äußere Hülle der Köpfe zu schonen. Viel schlimmer fand es die herrschende Klasse, dass der Wortlaut und die Überzeugungskraft der angeschlagenen Parolen Eingang in die Köpfe des Proletariats hat.
Dann fing die Kundgebung mit Musik an. Sofort war es im Saal ganz ruhig. Nur an der Tür herrschte noch etwas Unruhe, die die Nachzügler mitbrachten.
Käte hatte sich eine "Rote Fahne" gekauft. Sie wusste selbst nicht, warum Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie sich ein kommunistisches Blatt kaufte. War es die rote Überschrift? War es die Sehnsucht nach Fritz? War es die Öde eines kommenden Sonntags, den sie allein verbringen musste? War es wirkliches Interesse? Käte hätte es selbst nicht beantworten können, wenn sie sich Gedanken darüber gemacht hätte. Nun saß sie müde und kaputt von dem arbeitsreichen Sonnabend in ihrer Bude, während draußen Menschen wie sie zum Vergnügen, zur Erholung hetzten. Sie versuchte, den Leitartikel zu lesen, in dessen Mitte die Bilder von Stalin und Molotow prangten. Sie zwang sich fast dazu. Aber sie hatte nicht viel davon. Ich bin zu dumm dazu, dachte sie. Und sie bewunderte im stillen den Fritz, der so klug war, dass er solche Artikel und noch viel schwerere lesen konnte, wie andere Leute einen Roman lesen. Die Kampfesgrüße und Telegramme überflog sie. Sie sagten ihr nicht viel. Aber die Bilder - das war schon etwas anderes. Die sah sie sich lange und aufmerksam an, las die Texte dazu. Und dann fand sie eine Gegenüberstellung über die Lage der werktätigen Bevölkerung in Deutschland und in der Sowjetunion. Drüben: Lohnerhöhung - Preissenkung - keine Arbeitslosigkeit - Aufbau von Industriewerken. In Deutschland: Lohnabbau - Preiserhöhung - Drückende und steigende Arbeitslosigkeit - Abbau von Industriewerken. Zahlen standen dabei. Diese Zahlen bekamen Leben, auch für Käte. Das waren Maßstäbe, an denen man nachmessen konnte. Das verstand sie. Das interessierte sie. Und so ging es weiter. Gegenüberstellungen von Kapitalismus und Sowjetsystem. Drüben geht's aufwärts - hier geht's abwärts. Nur eins bleibt: der Profit der Kapitalisten. Wie lange noch?
Käte stellte sich zum ersten Mal ganz deutlich die Frage selbst, wofür, für wen sie eigentlich arbeite. Sie stellte die erste grundlegende Frage ihres Lebens. Noch konnte sie sie nicht klar beantworten. Dann nahm sie die Zeitung wieder auf und las, trotzdem es schon spät war. Sie konnte nicht schnell lesen, weil sie es nicht gewohnt war. Gerade wollte sie das Blatt zusammenfalten, als ihr Blick auf den Versammlungskalender fiel.
Morgen finden folgende Kundgebungen statt.... "Thema: 14 Jahre Sowjetunion - 13 Jahre deutsche Republik". Sollte sie hingehen? Sie fürchtete die vielen fremden Menschen. Na, man brauchte sich ja nicht gleich zu entschließen.
Langsam zog sie sich aus, machte das Fenster auf, um frische Luft hereinzulassen und legte sich ins Bett. Die Gegenüberstellungen verfolgten sie. Dreiviertel war sie entschlossen, sich morgen das Referat über diese Tatsachen anzuhören. Ob sie den Fritz dabei traf? Sie versuchte sich einzureden, dass sie das nicht wolle.
Dann schlief sie ein und wachte erst auf, als Frau Sänger draußen mit dem Besen polterte. Die Sonne war herausgekommen und stand hoch am Himmel.
Herrschaften, war das ein Gefühl, ausgeschlafen zu haben! Käte war wie neu geboren. Schnell sprang sie aus dem Bett, das sie sonst nur schwer losließ. Die gewohnten Handlungen des Waschens und Anziehais gingen heute kolossal schnell. Ob Fritz da sein würde? Na, sie würde es ja sehen. Und während sie, in diesen Tagen zum ersten Mal, leise vor sich hinsummte, lief sie die Treppen hinunter. Die Straße war ziemlich leer. Die Sonne blendete auf den Neubauten am Alex. Käte schlenderte daran vorbei und guckte sich aufmerksam um, sah sich die Leute an, die da vorbeigingen und versuchte, aus ihren Gesichtern zu lesen, ob es ihnen gut oder schlecht ging. Den meisten schien es nicht besonders gut zu gehen. Aber das konnte ihr heute die Stimmung nicht verderben. Viele sahen nicht so aus, wie Sonntagsspaziergänger. Ihre Anzüge waren zerschlissen und geflickt. Ja, die Arbeitslosigkeit. In der Sowjetunion gibt es keine Arbeitslosigkeit mehr - sie sah diese Zeile vor sich, die sie gestern abend gelesen hatte. Überall gibt es große Arbeitslosigkeit, nur in der Sowjetunion nicht. Wie hatten die das wohl gemacht?
Unter dem Stadtbahnbogen stand ein Kriegsblinder mit einem Hund und bettelte. Warum musste der Mann betteln?
In dem großen Konfektionsgeschäft gab es Hosen, gestreifte Hosen, Stück für Stück 39 Pfennig. Das sind noch 38 Pfennig zu viel, dachte Käte. Einmal in den Regen damit, dann fallen sie auseinander. Trotzdem kauften sich viele Leute diese Hosen, um überhaupt eine ganze zu haben. Ein altes Mütterchen schlich hinter der Markthalle herum. Sie war wohl gewohnt, die Reste, die weggeworfen wurden, aufzusammeln und hatte vergessen, dass heute Sonntag war. Ja, Sonntag ist für die Armen nicht besser als Wochentag, für viele schlechter.
Die Kundgebung hatte noch nicht angefangen. Ob Fritz auch hinkommen würde? Es gab ja so viele Veranstaltungen. Warum sollte er gerade zu der kommen, zu der Käte gegangen war? Aber schön wäre es doch, wenn er käme.
Immer wieder drehte sich Käte zur Eingangstür um. Jetzt war der Saal schon ganz voll, und sie musste aufstehen, ob Fritz unter den Hereinkommenden war. Aber Fritz war nicht da.
Schließlich begann die Feier. Die Türen wurden zugemacht. Fritz war nicht gekommen.
Käte war furchtbar enttäuscht und wäre am liebsten wieder gegangen. Was ging sie das an, wenn Fritz nicht dabei war? Aber es war jetzt so voll, dass es Mühe machen würde, wieder herauszukommen. Und was sollte sie auch draußen tun? So blieb sie.
Zuerst wurde gesungen. Die meisten Lieder kannte sie nicht. Aber bald hatte sie die Melodie, und so konnte sie mitsummen.
Dann sprach jemand. Über den Aufbau drüben in der Sowjetunion und den Abbau hier in Deutschland. Sie dachte an das, was sie gestern abend in der Fahne gelesen hatte. Und vieles wurde ihr noch klarer. Jetzt hatte sie Fritz ganz vergessen und hörte mit leichtgeöffnetem Mund gespannt zu. Kein Wort durfte ihr entgehen. Denn die Gedankengänge waren ihr zum Teil noch neu, und sie musste aufpassen, um genau folgen zu können.
Der Redner machte nicht den Fehler vieler anderer und sprach nur kurz. Aber eindringlich und klar. Jeder verstand ihn. Jeder konnte mitkommen und behalten für späteres Überdenken, was er sagte. Dann kam eine Aufführung. Ein armer Neger war nach der Sowjetunion gekommen. Er war ein Bergarbeiter und hatte davon gehört, dass in der Sowjetunion die Neger genau so wie die Weißen leben, und dass es dort Brot und Arbeit für alle gab. Sehr viel mehr wusste er nicht, denn er hatte nicht schreiben und lesen gelernt, wie so viele Neger in Amerika. Alle lachten, wie er in Moskau ankam und sehen wollte, ob es wirklich keine Arbeitslosen gab. Er lief durch die Straßen, aber alle hatten was zu tun. Er ging vor die Fabriktore, aber da stand niemand vergeblich auf Arbeit wartend. Im Gegenteil, kaum hatte er sich dahin gestellt, als man ihn fragte, ob er nicht reinkommen wollte, arbeiten. Und keiner war unfreundlich zu ihm. Da gab es keine Extra-Sitzplätze für die Neger, da gab es keine Extra-Essräume in den Fabriken. Überall hin durfte er, ganz anders wie in Amerika. Es war wie eine neue Welt für den Neger. Zum Schluss traf er einen anderen Neger, der schon lange in der Sowjetunion arbeitete, und ihn mitnahm. Singend zogen die beiden ab, zur Arbeit in die Fabrik für den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion.
Am Ende war die Bühne ganz leer, man hörte nur noch die Schlussstrophen der "Internationale".
Käte war wie die anderen ganz dabei gewesen. Das musste schön da drüben sein. Wenn es doch nur bei uns auch so sein würde, dachte Käte. Die Revolutionsfeier war zu Ende, und man ging nach Hause. Käte fühlte sich plötzlich wieder allein ohne Fritz. Ob er sich freuen würde, dass sie zu der Feier gegangen war? Ganz sicher. Sie musste ihm bald davon erzählen. Das andere war ja alles Blödsinn, das mit der Grete. Warum sollte er der Grete nicht helfen?
Ja, sie wollte gleich zu ihm hingehen, und ihm alles sagen. Schnell eilte sie zur Wohnung von Fritz. Ohne Zögern ging sie in das Haus. Oben angekommen klingelte sie. Fritz öffnete nicht. Sie klingelte noch einmal. Aber niemand öffnete. Fritz war wohl nicht zu Hause. Käte war furchtbar enttäuscht. Sie hatte sich alles so schön vorgestellt. Die Versöhnung mit Fritz. Und nachher würden sie lange zusammen sitzen. Lange, lange. Endlich wieder zusammen. Es schien eine Ewigkeit, dass sie nicht mehr mit Fritz zusammen war.
Und jetzt war wieder nichts draus geworden.
Ob er mit der Grete ausgegangen war? Wieder regte sich die Eifersucht bei ihr. Aber schnell unterdrückte sie sie. Vielleicht hatte er auch für die Partei zu tun. Langsam ging sie die Treppen herunter.
Langsam ging sie nach Hause. Sie blieb lange vor den Läden stehen. Nachdenklich sich die Auslagen betrachtend.
Das war ein merkwürdiges Wochenende für sie gewesen. Es begann mit dem Zeitungslesen. Wie lange hatte sie keine Zeitung gelesen. Und dann nachher die Revolutionsfeier. Ganz anders als sonst. Käte war es feierlich zumute.
Zugleich war sie traurig, dass sie diesen Tag nicht mit Fritz zusammen verleben konnte.
Zu Hause angekommen, machte sie sich etwas zu essen zurecht. Dann setzte sie sich auf den Schaukelstuhl und schaukelte hin und her, hin und her, ganz in Gedanken versunken. Ähnlich wie Fritz zwei Tage zuvor.
Das Licht verschwamm vor den Augen. Da öffnete sich die Tür und Fritz kam herein. Käte war glücklich. Sie erzählte ihm von der "Roten Fahne" und dass in der Sowjetunion keine Arbeitslosigkeit mehr ist,
während es in Deutschland überall Arbeitslose gibt, dass in der Sowjetunion die Produktion immer mehr stieg, während sie hier immer mehr sank. Darauf begann sie von der Revolutionsfeier zu erzählen. Fritz hörte lächelnd zu.
Dann sagte sie ganz unvermittelt zu Fritz, dass es ihr sehr leid täte, wie sie sich gegen Grete benommen habe und dass er sie doch bald heraufbringen sollte, damit sie alle zusammen essen könnten. Fritz sah ganz glücklich aus und beugte sich über Käte, um ihr einen Kuss zu geben. Er war schon ganz nahe. Schon spürte sie seinen Mund... Da verschwand alles.
Käte, die auf dem Stuhl eingeschlafen war, war aufgewacht. Sie hatte einen unangenehmen Geschmack im Munde und einen Brummschädel. Es war ihr nicht ganz geheuer. Die Glieder waren ihr schwer. So legte sie sich angezogen aufs Bett. Aber während sie vorher auf dem Stuhl eingeschlafen war - jetzt konnte sie nicht mehr schlafen. Die Gedanken quälten sie. Eine Minute reihte sich an die andere, jede eine kleine Ewigkeit.
So stand sie wieder auf, wanderte im Zimmer herum oder sah gelegentlich auf die menschenleere Straße. Was sollte sie tun? Ausgehen? Essen? Sie hatte zu beidem keine Lust.
Auf dem Tisch lag die "Rote Fahne" von gestern. "Sozialismus besiegt den Kapitalismus". Sie begann noch einmal mit dem Leitartikel, den sie gestern abend nicht lesen konnte. Jetzt las sie ihn mit Interesse. Noch keine zwanzig Stunden war es her, dass sie sich einbildete, dass dieser Artikel nicht für sie geschrieben war. Nun verstand sie alles ganz leicht.
Dann nahm sie ihre Wanderung durchs Zimmer wieder auf. Die Gedanken zogen immer mit ihr herum. Es ging im Kreise. Man kann es ihr nicht verdenken, dass es ihr bald zuviel wurde. Mechanisch zog sie ihren Mantel an. Mechanisch setzte sie den Hut auf, nahm die Tasche in die Hand, schloss die Wohnung ab und ging weg. Wohin? Ganz egal.
Fritz war in der Abendkundgebung gewesen, hatte viele Genossen getroffen und war nachher noch mit ihnen herumgelaufen. Sie hatten faule Witze gemacht und viel gelacht. Schließlich waren sie noch in einem Mollenladen gelandet. Nicht des Trinkens wegen, sondern um sich noch ein bisschen gemütlich zu unterhalten. Fritz passte gut auf sich auf. Einmal hatte er sich einen angedudelt. Das durfte nicht wieder passieren. Es kostete Geld und war vollkommen sinnlos.
Dann war er nach Hause gegangen und hatte sich schlafen gelegt. Denn Sonntag Vormittag wollte er zu Alex gehen. Sie hatten Verschiedenes für den Betrieb zu tun, wollten auch die nächste Betriebszeitung besprechen.
Als Fritz aufwachte, zeigte die Uhr schon Elf. Ganz gemütlich zog er sich an. Manchmal dachte er an Käte. Aber dann kamen andere Gedanken dazwischen. Beim Kaffeetrinken las er die Zeitung. Dann machte er sich fertig und stiefelte gemächlich zu Alex. Der saß noch in Filzpantoffeln am Küchentisch und sah zu, wie seine Frau Gemüse putzte.
Herzliche Begrüßung. Dann sagte Alex zu seiner Frau: "Nu hau mal ab mit deinem Grünzeug. Wir müssen hier an den Tisch ran." "Na ja, " meinte die Frau, "wenn du schon mal zu Hause bist, dann musst du dich immer breit machen, damit man's auch merkt. " "Red' nicht so viel, " sagte Alex, "du hast den Tisch die ganze Woche. Sonntags kannst du mal auf dem Schemel Kartoffeln schälen." Das alles war nicht böse gemeint. Alex hatte sich inzwischen Tinte, Feder und Papier herangeholt und noch einen Stuhl für Fritz hingestellt. Nun setzten sie sich hin und notierten: Nächste Betriebsversammlung -Referenten besorgen - Handzettel machen, 500 Stück - Zelle für Dienstag einladen - Mittwoch Funktionärsitzung - neuen Litobmann wählen — So ging das eine ganze Weile. Dann waren sie fertig. Inzwischen hatten sich allerlei Düfte in der Küche breit gemacht. Fritz schnüffelte. "Ihr lebt ja nicht schlecht!" sagte er.
" Sage doch gleich, dass du mitessen willst. Brauchst doch nicht erst drumrumzureden. Ich kann mir vorstellen, dass es dir keinen besonderen Spaß macht, dich jetzt allein in irgendeiner Kneipe herumzulümmeln. " "Habt Ihr denn auch genug? " wandte sich Fritz an die Frau vom Alex. "Für dich reicht's noch allemal, " meinte die. "Und wenn du nicht satt wirst, kannst du nachher noch mal was essen. "
" Na, gut!" sagte Fritz und holte sich schon einen Stuhl heran. Während die beiden Männer den Tisch deckten, machte die Frau die Schüsseln fertig. Dann setzten sie sich hin und tauchten die Löffel in die Suppe. Feine Pilzsuppe, aus selbstgesuchten getrockneten Pilzen zubereitet. Das war doch was anderes, als das Spülwasser in den Kneipen, die Fritz normalerweise besuchen konnte. Dann gab es Fleisch mit Kartoffeln und Sauce - oder sagen wir besser: Kartoffeln mit Sauce und Fleisch. Das Gemüse rückte hinterher. Schließlich stand Apfelmus auf dem Tisch. Und dann kam eine Tasse aufgewärmter Kaffee. Das war fein. Richtiges Sonntagsessen.
Jeder steckte sich eine Zigarette an und sie unterhielten sich noch ein bisschen. Es war außerordentlich gemütlich, so gemütlich, wie es bei Menschen sein kann, die die ganze Woche geschuftet haben, die sich
eben ein Mittagessen einverleibt haben und in dem Bewusstsein zusammensitzen, dass sie über die nächsten Stunden frei verfügen können. Die Frau verzog sich ins Nebenzimmer, um noch einmal rum zu schlafen. Alex sagte zu Fritz: "Wir könnten eigentlich ein Stückchen spazieren gehen."
" Ausgezeichnete Idee!" antwortete Fritz.
Sie zogen sich die Röcke an und Fritz sagte: "Wohin gehen wir denn? " "Ins Grüne."
" Wo ist's denn hier grün? "
Ja, schwierige Frage. Alex überlegte. "Gehen wir doch mal zum Humboldthain. Zurück können wir ja fahren." "Gemacht!" sagte Fritz.
So gingen sie denn los. Den alten Weg. Wohin man wollte, immer musste ma zuerst am Polizeipräsidium vorbei. Dann kamen sie in die Münzstraße. Plötzlich blieb Fritz stehen. "Donnerwetter!" rief er, "da habe ich doch wirklich die Verabredung verschwitzt!" "Welche Verabredung? " fragte Alex.
Fritz antwortete nicht. Er überlegte. Grete hatte sicherlich auf ihn gewartet und war nun ganz verzweifelt. Was sollte er tun? Natürlich in ihre Wohnung gehen! Er war ganz erschüttert. Wenn sie bloß nicht wieder irgendwelchen Unsinn gemacht hat. Er sauste ab - Dauerlauf in Richtung von Gretes Wohnung.
Nach 10 Minuten war er angekommen. Er lief schnell die Treppen hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Oben angekommen, klingelte er - einmal, niemand öffnete, zweimal, noch immer rührte sich nichts. Als sich auch beim dritten Mal niemand meldete, kehrte er um. Das war eine dolle Geschichte. Wo die Grete jetzt wohl stecken würde? Er lief noch ein wenig durch die Straßen, sah mehrmals an der Ecke nach, wo die Grete zu stehen pflegte, aber er fand sie nicht. So ging er zu sich auf die Bude rauf und nahm sich den neuesten Band Lenin über die Oktoberrevolution vor.
Während Käte in ihrem Zimmer auf dem Schaukelstuhl schlief und von ihm träumte, während Grete mit irgendeinem ganz gleichgültigen hergelaufenen Mann auf einer Stundenbude zusammen war, saß Fritz bei sich zu Hause und las.
Immer schneller blätterte er die Seiten um, und grunzte jedes Mal verärgert, wenn er wieder zum Messer greifen musste, um weiter aufzuschneiden. Unerhört spannend, unerhört lehrreich. Unglaublich, wie sie's damals gemacht haben. Und immer wieder Lenin, Lenin und noch einmal Lenin: im entscheidenden Moment hatte er immer die entscheidende Parole.
Es war schon ganz dunkel geworden als er aufhörte zu lesen. Sollte er Licht machen und weiter lesen? Es wäre ihm das liebste gewesen. Aber er dachte an Grete, und so stellte er das Buch wieder sorgfältig in das selbstgezimmerte Regal und machte sich auf den Weg zu der Stelle, wo die Grete immer stand. Langsam ging er durch die Straßen. Plötzlich rief jemand ganz laut: Fritz! Fritz!
Das konnte nur eine Stimme sein. Fritz bekam einen freudigen Schreck. Es war Käte.
Sie sah so glücklich aus, dass sie ihn endlich getroffen hatte. Ganz fest drückte sie seinen Arm, und sagte zuerst gar nichts. Auch Fritz war restlos glücklich. Jetzt merkte er erst so ganz, wie ihm die Käte gefehlt hatte.
Aber dann wurde er nachdenklich. Sollte er jetzt mit Käte zusammen irgendetwas unternehmen? Es wäre ganz bestimmt das schönste gewesen. Er konnte sich auch gut denken, wie gerne die Käte jetzt mit ihm gegangen wäre. Aber er konnte die Grete nicht wieder im Stich lassen. Außerdem war es gut, wenn jetzt Klarheit geschaffen würde. Er sagte ihr also ganz brutal: "Weißt du auch Käte, wo ich jetzt hin will? "
Käte sah ihn erschrocken an und schüttelte ihren Kopf. "Ich will zur Grete, mit der ich mich verabredet habe." Käte sagte einen Augenblick gar nichts. Dann aber sah sie ihn an und lächelte. "Wenn es euch passt, bleiben wir alle drei zusammen. Wir gehn zu dir rauf, und ich mache nachher was zum Abendbrot. " Fritz hätte die Käte am liebsten auf offener Straße umarmt. Aber einen Kuss gab er ihr doch. Ganz schnell auf die Backe, noch ehe sie sich versehen hatte.
Untergehakt, in besserer Stimmung als je, kamen sie an die Ecke, wo die Grete immer stand. Aber sie war nicht da.
" Wollen mal in ihrer Wohnung nachsehen, ob sie da ist", meinte Käte. "Du weißt doch, wo sie wohnt."
Fritz nahm sie an der Hand, und sie gingen zu der wenige Minuten entfernten Wohnung von Grete. Käte läutete.
Drinnen rührte es sich, und eine halbe Minute später stand Grete an der Tür. Verwundert sah sie die beiden an.
Aber Käte ließ ihr nicht lange Zeit zum Wundern. "Zieh dich schnell an Grete, wir wollen zusammen irgendwas unternehmen. " Grete war verblüfft. Aber Fritz fragte: "Hast du keine Lust? Wenn nicht, dann nehmen wir dich zwangsweise mit. Im übrigen bleibe ich hier keine Minute länger auf dem Flur stehen."
Und damit drehte er die Grete an den Schultern um und schob sie in ihr Zimmer rein. Käte kam hinterher.
In fünf Minuten war Grete fertig und sie zogen zusammen los. Allen dreien war zumute, als ob sie träumten. Die Grete hatte schon geglaubt, der Fritz hätte alles vergessen und würde nicht mehr wiederkommen. Die Käte hatte nicht mehr gehofft, den Fritz heute noch zu
sehen. Und der Fritz hätte nicht gedacht, sobald wieder mit den beiden zu gleicher Zeit zusammen zu sein.
Alles war wieder eingerenkt. Aber jetzt hatte er dafür zu sorgen, dass es auch so blieb. Er hatte von dem einen Mal genug. Untergehakt, den Fritz in der Mitte, zogen die drei los nach Fritzens Bude.
Oben angekommen, begaben sich Grete und Käte an die Zubereitung des Abendessens. Es stellte sich heraus, dass noch einige Brotreste, zwei Wurstzipfel, etwas Käse und Tee vorhanden waren. Wenig, aber genug. Sie waren alle drei nicht sehr hungrig. Außerdem konnte man nachher, wenn man ausging vielleicht noch irgendwo etwas Schokolade kaufen. Als das Wasser kochte, stand alles auf dem Tisch. Käte brühte den Tee auf, während Grete die Stühle zurechtrückte. Fritz saß auf dem Bettrand und sah den beiden zu.
Eine Viertelstunde später zog Fritz seine Pfeife aus der Tasche zum Zeichen dafür, dass er fertig war. Die beiden Mädels aber, die nicht so viel auf einmal in den Mund bekamen, waren noch lange nicht fertig, wie sie erklärten, und protestierten gegen Käsebrot mit Pfeifenrauch.
Fritz musste nachgeben, aber er rächte sich dafür, indem er ihnen nachzählte, wie oft sie an jedem Bissen kauten. Da ließen sie ihn rauchen. Nach dem Essen räumten Käte und Grete ab, während Fritz wieder gleich einem Pascha sich auf seinem Bett dehnte und streckte. Als sie fertig waren, wurde Kriegsrat gehalten, was sie tun sollten. Fritz schlug Kino vor.
Käte protestierte, und Grete schloss sich Kätes Protest an. Das kostet nur elend viel Geld, Und sie hatten alle nicht viel. "Also gehen wir bummeln, und sehn, was los ist. "
Grete protestierte, und Käte schloss sich Gretes Protest an. Sie hatten alle 'beide einen langen Tag hinter sich und wollten nicht viel herumlaufen.
Gut dann bleiben wir. Trinken noch Tee und schwatzen. Grete und Käte stimmten zu.
So setzten sie sich friedlich um den Tisch und redeten zuerst von diesem und jenem.
Als Käte zufällig auf dem Fensterbrett die "Rote Fahne" liegen sah, merkte sie plötzlich, dass sie Fritz noch gar nichts von der Revolutionsfeier erzählt hatte, zu der sie gegangen war. Und nun legte sie los. Fritz und Grete hörten interessiert zu. Fritz besonders. Er freute sich mächtig, dass das Mädel allein auf den Gedanken gekommen war, zur Revolutionsfeier zu gehen. Er musste ihr noch manches erklären, was ihr nicht ganz klar geworden war. So kamen sie wieder ins schönste Politisieren. Grete kam sich manchmal ein bisschen überflüssig vor. Dann machte sie sich, trotzdem es ihr leid tat, auf, um wegzugehen. Aber Käte und Fritz hielten sie stets zurück. Und sie ließ sich gern zurückhalten. "Warte", sagte Fritz, "bis zu dran bist. Mit dir müssen wir auch noch ein paar Töne reden. Mal sehen, was wir mit dir anfangen können. " Aber heute kamen sie zu diesem Thema nicht mehr. Fritz drückte ihr noch eine Mark in die Hand. Sie sträubte sich lange, das Geld anzunehmen. "Nimm nur", sagte Fritz, "ist nicht viel. Du kannst es mir ja gelegentlich zurückgeben. Und morgen abend Halbacht treffen wir uns vor Kätes Tür."
Grete und Fritz machten sich fertig um wegzugehen. "Na und? ", fragte Fritz, zu Käte gewendet. "Was heißt: na und?" "Willst du nicht mitkommen? "
" Wohin denn jetzt noch? Wir wollten doch nicht mehr ausgehen. " "Ausgehen? Na ja, man kann's auch so nennen. Aber du könntest mir eigentlich noch einen kleinen Gegenbesuch machen. "
Aha, so war das gemeint! Eigentlich genierte sie sich vor Grete. Aber gleich kam ihr das Komische dieser Tatsache zum Bewusstsein. So langte sie sich ihre Klamotten vom Haken und hängte sich bei Fritz ein. Zu Dritt gingen sie noch ein Stückchen zusammen. Dann ließen sie Grete allein nach Hause stiefeln.
Fritz fühlte sich um mindestens 10 Jahre jünger, weil die Sache mit Käte wieder in Ordnung war.
Der regnerische Montagmorgen kam ihm vor wie der hellste Sonntag.
Er schwang sich auf die Elektrische und fuhr den gewohnten Weg. Als er ausstieg, traf er den Dreher Kaliberg. Der hatte sich mächtig in Schale geschmissen. Blauer Anzug, steifer Kragen. Sogar einen Hut hatte er auf. Und den guten Sonntagsmantel. "Na", fragte Fritz, "du
bist wohl noch vom Sonntag übrig geblieben? Wo hast du denn die Nacht rumgesoffen? "
Kaliberg reagierte sauer: "Fass dich man an deine eigene Nase. Kallberg hat nicht gesoffen. "
" Und die Kleedage? Hast du vielleicht Geburtstag? Oder willst du den Generaldirektor besuchen? "
" Quatsch, heute ist doch Revolutionstag." Er fasste an die Manteltasche, aus der der "Vorwärts" mit dicken Überschriftbuchstaben herausguckte.
" Ach - Revolutionstag - richtig. Vor dreizehn Jahren. Mann, das hat man längst vergessen. " Sie gingen an der Steckuhr vorbei. "Ist ja wohl auch nicht gerade viel übrig geblieben. "
" Ach, ihr Kommunisten. Ihr wollt bloß immer meckern. Sonst ist euch nicht wohl. "
" Meckern nennst du das? Na erlaube mal! Willst du vielleicht behaupten, dass es uns in diesen dreizehn Jahren besser geht? " Kallberg drehte sich um, ob niemand zuhörte: "Und du meinst, dass die Sozialdemokraten an der Wirtschaftskrise schuld sind? " "Das habe ich nicht gesagt. Aber daran, dass die Unternehmer alles mit uns machen können, daran seid ihr schuld. Und dann ist's immer die Wirtschaftskrise gewesen. Guck doch nach Moskau. Das sind auch erst vierzehn Jahre. Und da war's viel schwerer..."
" Geh mir weg mit Moskau. In eurem Heiligtum, da ist auch nicht alles in Butter."
" Aber eins ist in Butter: keine Unternehmer mehr und keine ausgebeuteten Arbeiter."
Unter solchen Gesprächen hatten sie den großen Fabrikhof überquert. Nun mussten sie sich trennen. Fritz drückte dem Kollegen Kallberg schnell noch eine Broschüre in die Hand "Vierzehn Jahre Sowjetherrschaft!". "Nimm mal mit!", sagte er. "Wird wohl morgen auch schon verboten sein. Von den Erfolgen in der Sowjetunion wollen deine Bonzen ja nichts hören lassen."
" Ist nicht so viel dran zum Hören!", erwiderte Kallberg. "Na, lies mal! Es wird dich interessieren", schloss Fritz und hatte damit doch das letzte Wort.,
Er sah noch ein paar Kollegen, die sich das Abzeichen der SPD zur Feier des Tages ins Knopfloch gesteckt hatten. So viel Bekennermut brachten sie immerhin auf. Aber hätte man gerade den eingefleischten sozialdemokratischen Arbeitern aus diesem Betrieb zugemutet, im Betrieb eine kommunistische Zeitung in die Finger zu nehmen, - sie weigerten sich regelmäßig. Nicht, weil es sie nicht interessierte, sondern weil sie Angst hatten, man könnte sie für revolutionär verseucht halten. Da der längste Tag einmal vorbei geht, ging auch dieser vorbei. Niemand außer einer Handvoll Sozialdemokraten dachte ernstlich daran, den Geburtstag der Republik zu feiern. Das Bewusstsein vom Wert dieses Kindes war wohl nicht allzu groß. Und als am Nachmittag einer der Reichsbannerführer es wagte, im Rundfunk eine sozialpatriotische Rede zur Feier des dreizehnten Jahrestages zu sagen, da griff der Minister ein und beanstandete diesen Vortrag. Er versuchte, die Gelegenheit den Rundfunk in noch schärfer reaktionären Kurs zu steuern, zu ergreifen. Die ganze Presse war voll davon, als ob es nichts Wichtigeres gäbe, als ob keine Erwerbslosen auf der Straße hungerten, als ob nicht die Grundfesten dieser dreizehnjährigen Republik wankten .
Ja, Kallberg war wahrscheinlich der Meinung, dass gerade dieses Wanken Grund genug sei, das kranke Kind zu stützen und zu pflegen, dieses kranke Kind, dieses kleinere Übel, wie die Bonzen es ausdrückten. Kallberg und die Hunderttausende von Kallbergs wollten nicht wissen, dass es nicht nur kleinere und größere Übel gibt, zu denen man sich nur ungern und unter Druck entschließt, sondern dass darüber hinaus eine Staatsform möglich ist, zu der sich - kamen sie erst einmal nach dreizehn Jahren wieder zu eigenem Nachdenken - immer mehr Proleten entschlossen. Kallberg war noch nicht so weit.
Als Fritz nach Hause gekommen war und schnell was runtergewürgt hatte, ging er in die Zellenversammlung eines Radiobetriebes. Der Referent war krank geworden und der UB. hatte Fritz beauftragt, dahin zu gehen.
Die Zelle war noch klein, nur elf Mann bei einer Belegschaft von über 25o. Das musste anders werden und so hatte die Zelle von Radio X. mit einer andern Zelle einen Wettbewerb abgeschlossen, wer zuerst seine Mitglieder zahl verdoppelt.
Fritz kannte nur zwei von den anwesenden Genossen. Die anderen waren ihm noch fremd. Es war nicht ganz leicht, da zu sprechen, wo er nicht wusste, wie weit die einzelnen Genossen schon waren. Als Thema hatte er natürlich das im Augenblick wichtigste von allen - den Streik. Aber er sprach nicht über den Streik ganz allgemein, sondern ging auf die kleinsten Einzelheiten ein und versuchte, soweit das möglich war, das, was er sagte, mit den besonderen betrieblichen Bedingungen von Radio X. zu verbinden.
Ganz klar und deutlich betonte er: "Ihr könnt keinen Streik alleine machen. Ohne die DMB-Mitglieder für eine Einheitsfront zu gewinnen, wird bei euch wie in fast allen anderen Berliner Betrieben ein Streik unmöglich sein. Was habt ihr bisher getan, um eine Einheitsfront zu bilden?" Betretenes Schweigen. Dann sagte einer: "Mit denen ist nichts zu machen, mit diesen Reformisten".
" Was heißt, nichts zu machen? " fragte Fritz ihn aus. "Nu, das ist doch klar. Mit den Streikbrechern vom letzten Oktober werden wir doch nicht diskutieren."
Jetzt schimpfte Fritz los. "Ja, was denkt ihr euch eigentlich? Könnt ihr denn keinen Unterschied machen zwischen den Bonzen und den einfachen DMB-Mitgliedern? Begreift ihr denn nicht, dass ihr immer und immer wieder versuchen müsst, die DMB-Mitglieder von der verräterischen Bonzenpolitik zu überzeugen? So könnt ihr die niemals überzeugen, wenn ihr sie mit den Bonzen in einen Topf werft. Das sind genau solche Proleten wie ihr. Sie haben manches noch nicht begriffen, was ihr schon wisst, sie können die Lage nicht so übersehen wie ihr. Aber das ist noch lange kein Grund, denen aus dem Wege zu gehen und hier für euch zu tagen. Wenn ihr denen die kalte Schulter zeigt, dann könnt ihr nichts erreichen. Wir sind doch keine Sekte. Wir sind eine Massenpartei und müssen es noch viel mehr werden." "Ja, aber wie denn? " warf einer dazwischen.
" Durch Diskussion mit den anderen. Diskussion, Diskussion und noch einmal Diskussion. Seht euch doch die "Fahne" an oder die "Rote Post" oder die "Nachrichten" - da ist genug und übergenug Diskussionsmaterial drin. Da könnt ihr tagelang diskutieren. Haarklein wird da der Bonzenverrat gezeigt. Haarklein wird da erzählt, wie die Bonzen mit den Unternehmern kuhhandeln und jede Streikbewegung abwürgen. " "Ja, und die Nazis? "
" Bei denen müsst ihr es genau so machen. Habt ihr nicht die Enthüllungen der "Fahne" über die Nazis gesehen? Sie selbst haben zugegeben, dass sie für Inflation sind, dass sie das Tarifrecht zertrümmern wollen, dass sie für Lohnabbau sind. Schwarz auf weiß. Habt ihrs nicht gesehn? " "Ja, das war 'ne knorke Sache!" sagte der eine. "Heut' hab' ich's auch einem Nazi auf seinen Tisch gelegt. Der hat mich nachher immer so komisch angesehn."
" Was heißt, komisch angesehn? " sagte Fritz. "Diskutieren hättest du mit ihm sollen, ihn fragen, was er dazu denkt. Ob er davon gewusst hat. Ob er weiter mit diesen Arbeiterverrätern zusammengehn will. Das wären die richtigen Fragen gewesen."
" Hab ich schon oft versucht bei den Reformisten. Aber die drücken sich immer vorm Antworten. Kaum sehen sie einen auf sich zukommen, da schließen sie sich schon ab wie 'ne Muschel. "
" Na, und wie war's beim nächsten Mal, als du wieder zu diskutieren versuchtest?" "Genau so. "
" Und beim übernächsten Mal? " "Da hab ich's dann nicht mehr versucht. "
" Na siehst du. Da hättest du's vielleicht geschafft. Vielleicht fehlte es nur noch einmal, und wärst in eine Diskussion mit ihm gekommen." "Ich hab schon öfter mit einem diskutiert", warf ein anderer dazwischen. "Na und?" fragte Fritz.
" Das will ich dir ganz genau sagen. Er hat mir alles zugegeben, was ich ihm bewiesen habe. Und zum Schluss ist er wieder auf seine vier Beine gefallen wie die Katze, wenn sie vom Dach rutscht. " "Und du hast ihn nicht festgenagelt? "
" Was heißt hier festnageln? Du redest dich dumm und dämlich bei den Kerlen, und dann gehen sie hin und lassen sich zu Streikbrechern machen."
So, in Rede und Gegenrede, diskutierten sie lange. Fritz nahm das Wort von den Streikbrechern noch einmal auf und wies ganz deutlich nach, wie man ohne die Kollegen von der SPD und dem DMB nicht streiken könne. Er wies auf die Massenausschlüsse hin, die immer ein gutes Argument sind, und auf die Frage der Bonzen. Nicht die DMB-Arbeiter sind die Verräter. Sie sind nur die Werkzeuge der Bonzen. Das muss man ihnen zum Bewusstsein bringen. Sie sind es, die die Gewerkschaften zertrümmern. Sie sind es, die die Streiks verraten. Sie untergraben die Gewerkschaftseinheit.
Langsam kamen sie alle zu dem Entschluss, dass sie sofort in eine tief greifende Diskussionskampagne eintreten müssten. Man darf sich nicht abschrecken lassen. Und wenn man neunundneunzigmal Misserfolg hat, dann muss man es zum hundertsten Mal versuchen. In der Zeitung ist es ja nicht anders. Sie stellt einmal fest, dass der Bonze Schulze im Betrieb A einen Streik abgewürgt hat. Das nimmt man zur Kenntnis. Aber es überzeugt noch niemanden, dass alle Bonzen von A bis Z alle Streiks abzuwürgen versuchen. Das wird erst durch dauernde Feststellungen überzeugend. Genauso muss man mündlich arbeiten.
Käte stand an ihrem Verkaufstisch und hatte gerade alles weggeräumt, was sie der letzten Kundin vorgelegt hätte, da kam Herr Schneidig angelaufen: "Fräulein Freisler, melden Sie sich bei Herrn Silberstein in der Spielwarenabteilung. Da muss heute noch fertig aufgebaut werden. Aber ein bisschen schnell. Lassen Sie Ihren Schatz ruhig ein bisschen warten."
Herr Schneidig war schon in Hut und Mantel. Er brauchte seinen "Schatz nicht warten zu lassen.
Käte wollte noch etwas sagen. Aber sie überlegte es sich. Wegen des einen Abends Stunk machen, das lohnte sich nicht. Sie hatte gar keinen Appetit auf Erwerbslosigkeit. So trollte sie sich denn, natürlich in nicht ganz rosiger Stimmung, in den vierten Stock. Dort hockten schon viele herum, um im Schweiße ihres Angesichts die niedlichen, kleinen, leichten Sachen, die nachher so lustig aussehen sollten, auszuzeichnen und aufzubauen.
Sie meldete sich bei Herrn Silberstein, der, die Hemdsärmel aufgekrempelt, mit der Zigarre trotz Rauchverbots im Mund, herumlief. "Was wollen Sie denn hier?" Wie? Helfen? Wer sind Sie denn? Von
Schneidig kommen Sie? Weiß ich nichts davon. Kommen Sie morgen wieder... Halt mal, helfen sollen Sie? Ja, lassen Sie sich mal da drüben zeigen, was Sie zu tun haben, bei den Puppen. Fräulein Gadebusch, hier ist ein Fräulein vom Stofflager, die will Ihnen helfen. " Nun, mit dem Wollen sah es ja nun etwas anders aus. Aber das interessierte Herrn Silberstein nicht. Der war schon wieder über alle Berge.
So machte sich Käte laut Anweisung mit den Puppen zu schaffen, während am Nebentisch die Zinnsoldaten aller Größen und Sorten vom vorigen Jahr hervorgeholt wurden. Liegende, stehende, schießende, reitende Franzosen, Deutsche, Engländer, Polen usw. Ganze Tische voll! Und daneben die Soldatenausrüstungen für die Kinder: Papphelme, Säbel, Gewehre mit und ohne Knall. Kein Wunder, dass Kinder, die mit diesen Dingen spielen, als Heranwachsende den Wunsch haben, ihr Spiel fortzusetzen. Käte musste erst an achtzig Kartons den Preis ändern. Vorher hatte drauf gestanden: 1, 85 Mark. Jetzt klebte sie einen Zettel darauf, der den Preis von 1,20 Mark trug. Dann musste sie an die linke Hand jeder Puppe ein Nummernschild befestigen. Trostlose langweilige Arbeit! Und Fräulein Gadebusch, die in der gleichen Gehaltsklasse wie Käte stand, sonst ein ganz nettes Mädel, kam sich vor wie eine Herrscherin, weil man ihr zwei Gehilfinnen zugeteilt hatte. Sie meinte vielleicht, nun sei sie Chef und war entsprechend hochfahrend.
Käte machte mechanisch ihre Arbeit. Jetzt musste Fritz unten warten. Ob er sehr böse war? Eigentlich hätte sie versuchen sollen, ihm Bescheid zu sagen. Das ging nun nicht mehr. Aber kaum hatte sie es gedacht, da kam Pinke mit einem Wagen voll kleiner Spielzeugkartons vorbeigefahren, den bat sie, er möge Fritz Bescheid sagen, sie würde ihn nachher besuchen. Pinke versprach, es zu tun.
Und da einmal selbst die langweiligste Arbeit vorbeigeht, wurde auch diese einmal fertig. Um halbzehn konnte Käte weggehen. Vor Fritzens Tür flötete sie. Fritz kam herunter und ließ sie herein. Er hatte auf seinem Tisch einen Atlas liegen. Den kannte Käte noch nicht. "Willst du wegfahren, Fritz? " "Nee, ich gucke mir bloß mal Japan an", antwortete er. "Japan? Du bist wohl größenwahnsinnig geworden? " "Wieso? Da ist doch allerhand los. Das muss man doch wissen." "Ach, Fritz, ich bin ja so dumm. Ich weiß gar nicht, was da los ist. " Fritz staunte, als ob er sich gar nicht denken könne, dass es einen Menschen gäbe, dem heute noch nicht bekannt sei, dass da die Japaner gegen die Chinesen losmarschiert waren und chinesische Städte mit Bomben belegten. Er erklärte ihr, wie der Völkerbund im ersten Ernstfall grandios versagte. Mit Papiernoten führte man Krieg gegen den Krieg. Japan antwortete fleißig und ließ seine Truppen weitermarschieren.
Und jetzt...
" Sieh mal hier. Hier ist die Ostchinesische Bahn. Die geht durch die Mongolei. Die Sowjets brauchen diese Bahn, weil sie zwei Zipfel ihres Gebiets, und zwar zwei wichtige, miteinander verbindet. Jetzt kommen die Japaner in die Stadt Tsitsikar. Siehst du - hier... " "Moment... Tsi-tsi-kar..." Käte buchstabierte. "Ja, das haben sie bombardiert. Und hier: Agantschi... " "Das habe ich noch nicht" Der Zeigefinger Kätes fuhr neben der Ostchinabahn herum. "Ah, hier - A-gant-schi- ja, und was ist damit?" "Das haben die Japaner angeblich schon besetzt. " "Na und?"
" Na und? Du bist großartig. "
" Was geht dich das an, wenn die Kerle sich da totschießen? " "Was mich das angeht? Das geht mich einen Haufen an. Weil die Japaner nämlich gar nicht die Chinesen meinen, sondern die Sowjetunion. Sie wollen bloß, dass die Rote Armee losschlägt, damit die anderen Imperialisten, die da im Völkerbund zusammensitzen, mitmachen können, um das arme unschuldige Japan zu schützen und den Friedensstörer zu vernichten. "
" Ach, Unsinn! Das sind wieder so Phantasien von euch. Wie kann denn zum Beispiel Frankreich in der Mongolei Krieg führen? " "Braucht's ja gar nicht. Du weißt doch - nee, daran kannst du dich nicht mehr erinnern - - am 28. Juni 1914 wurde irgendwo auf dem Balkan ein Mann erschossen. Ein einziger Mann, der immerhin im politischen Leben stand. Das war keine Kriegshandlung, sondern ein Attentat. Und ein paar Wochen später gab es schon mindestens vier Kriegsschauplätze."
Käte überlegte. Dann sagte sie: "Das war doch gar nicht deswegen. Hast du mir doch selbst gesagt. Da waren doch die Wirtschaftsverhältnisse dran schuld. "
" Richtig. Und im Fernen Osten sind auch die Wirtschaftsverhältnisse schuld. Den Kapitalisten wird der Markt zu eng. Sie brauchen einen kleinen Krieg. Sie sagen China und meinen die Sowjetunion..." Käte guckte sich noch einmal die Karte an. Sie sah Wladiwostock, den eisfreien Sowjethafen, der östlich von der Mongolei lag, und verfolgte die rote Linie, die ostchinesische Bahn, die in das neu erschlossene Sowjetsibirien führt. Dann fing sie wieder an zu fragen. Fritz antwortete ihr so lange und so geduldig, bis ihr klar war, warum es eine besondere Provokation darstellte, wenn die Japaner gerade die Ostchinabahn besetzten.
Dann sah sich Käte, weil die Karte von Ostasien gerade einmal aufgeschlagen war, auch einmal China an. Sie konnte in wenigen Sekunden mit dem Finger durchreisen. Aber Fritz sagte ihr, dass dieses Riesenreich zweiundzwanzigmal so groß sei wie Deutschland. Da fing sie doch an, zu staunen und zu begreifen, weshalb China so wichtig ist. Um einige Stücke war mit Rotstift eine Grenze gezogen. Das waren die chinesischen Provinzen, die rote Volksarmeen ausgerüstet und sich freigemacht hatten. Täglich mussten sie allerdings gegen die imperialistischen Generalshorden kämpfen. Der japanisch-chinesische Konflikt gab ihnen größere Bewegungsfreiheit. Die sowjetchinesischen Gebiete vergrößerten sich jetzt täglich.
Fritz erklärte: "Peinlich für die Imperialisten. Sie wollen die Sowjetunion treffen. Die steht aber fest. Und während sie dorthin ihre Kräfte konzentrieren, wächst noch ein Stück Sowjetland aus dem Boden. Die armen Kerle können machen, was sie wollen - was sie anfassen, läuft schlecht ab. Man möchte direkt Mitleid mit dem Kapitalismus kriegen. " "Ja, und was tun wir, wenn Japan wirklich direkt gegen die Sowjetunion vorgeht?" fragte Käte.
" Das wird sich schon ergeben. Im Augenblick kommt es für uns in Deutschland darauf an, die revolutionäre Bewegung immer stärker, immer mächtiger zu machen. "
" Ja, und was kann ich zum Beispiel dafür tun?", fragte Käte. "Arbeite in deinem Betriebe! Da sind doch Hunderte von Mädels, mit denen du über all diese Dinge sprechen kannst. Ich werde dir morgen mal Material für Angestellte mitbringen. Lies das ordentlich durch. Da wirst du genau sehen, mit welchen Tricks ihr ausgebeutet werdet. Tricks, von denen ihr gar nichts oder nur wenig merkt... " Auf dem Nachhausewege dachte Käte darüber nach, wie sie im Betriebe diskutieren soll und was sie überhaupt tun kann. Sie musste mal mit den Mädels sprechen, die mehr davon verstanden als sie. Da war die rote Frieda, die Parteimitglied war. Die wurde was gehetzt. Aber entlassen war sie bisher noch nicht. Ja, mit der wollte sie mal darüber sprechen.
Schon der nächste Morgen zeigte Käte einen Weg, wie sie mitarbeiten könnte.
Als sie bei Pinke und Panke vorbeikam, steckte ihr der eine einen Zettel zu. Noch war kein Kunde an ihrem Platz, und so konnte sie den Zettel schnell durchlesen. Es war eine Aufforderung, zur nächsten Betriebsversammlung zu kommen. Betriebsversammlung - bis jetzt hatte sie sich immer davor gedrückt, weil das ja doch nur Zeit wegnahm, und außerdem wollte sie nichts von Politik wissen. Das war für Männer. Wählen? Ja, das war was anderes. Aber da diskutieren? Da konnte sie ihre Zeit besser verbringen.
Als sie den Zettel genauer besah, bemerkte sie., dass da nichts von Politik stand. Da standen ganz andere Dinge drauf, die sie ganz stark angingen. Sie las eine Reihe von Forderungen, die an die Geschäftsleitung gestellt werden sollten.
Zunächst über die Sitze. Ja, da konnte sie mitmachen, ohne zu überlegen. Irgendwo hinter dem Tisch stand ja ein Stuhl. Aber nicht zum draufsitzen. Wenn Kunden kamen, war das schon unmöglich. Denn Kunden durften nicht im Sitzen bedient werden. Und wenn keine Kunden da waren. Ja, da sollte man stehen, damit die Kunden jederzeit bedient werden können. Das nannte man Kundenbereitschaft. Und außerdem traute man sich sowieso nicht, sich zu setzen. Denn wenn man sich setzte, dann konnte Herr Schneidig denken, man wolle nichts tun, oder man sei überhaupt überflüssig und könnte "eingespart" werden. Wups saß man auf der Straße.
Das mit dem Essen war auch richtig, dass das endlich ernsthaft behandelt werden sollte. Seit Monaten schon war es so, dass die dritte Schicht in der Kantine immer nur kaltes Essen bekam, wenn überhaupt noch irgend etwas da war.
Gemein war das auch mit den Fahrstühlen. Da war ein Anschlag gemacht worden, in dem es dem "Personal streng verboten war, die Fahrstühle zu benutzen. Die Fahrstühle sind für unsere werten Kunden da. Das Personal hat die Treppen zu benutzen. " So stand es in dem Anschlag. Und als eine Kollegin mit einem Haufen Pakete, die sie aus dem Keller schnell geholt hatte, den Fahrstuhl benutzte, da war sie entlassen worden, da "sie sich nicht in die Regeln des Geschäftsbetriebes einfügte."
Und dann die D-Kontrolleure. Zuerst hieß es, sie sollten die Kunden beobachten. Als Kunden verkleidet gingen sie durch die einzelnen Abteilungen. Aber einen Kundendiebstahl hatten sie bisher noch nicht festgestellt. Wohl aber hatten sie"das Personal" bespioniert. Das waren sicher D-Kontrolleure gewesen, die für die letzte Entlassungsliste die "Roten" festgestellt hatten. Das waren sicher die D-Kontrolleure, die herausbekommen hatten, dass die Erna die Handzettel für die letzte Betriebsversammlung verteilt hatte. Ja, da war sie unbedingt dafür, dass diese Denunzianten endlich aus dem Betrieb entfernt werden. Das sind wirklich vernünftige Forderungen, dachte die Käte. Da muss man hingehen. Wenn wir das durchsetzen! Am schönsten wär's, wenn wir auch den 1-Uhr-Sonnabend-Schluß durchbekommen, so wie es ja schon in den Banken ist. Gott, was kann man nicht alles an so einem Sonnabend machen. Die ganzen Flickarbeiten, so dass der Sonntag dann ganz frei ist. Oder man kann mal raus ins Freie für zwei Tage. Aus ihren schönen Träumen, wie sie mit Fritz ein Wochenende verbringen würde, wurde sie durch die spitze Stimme einer Kundin aufgeschreckt...
In der Mittagspause redete sie ihre Nachbarin am Tisch, die Dora aus der Spielwarenabteilung an: "Du kommst du heute nach Schluss in die Versammlung? " "Was für 'ne Versammlung? "
" Na Betriebsversammlung. Hast du nicht gehört? Wir wollen Forderungen aufstellen."
'Forderungen? Ach du meinst für Streik und für den Sozialismus und solche schönen Dinge. Nee, dazu hab ich keine Zeit." "Nein, nein", ereiferte sich Käte. "Richtige Forderungen für uns. Vielleicht muss man auch streiken, wenn wir sie nicht durchsetzen. Aber richtige Forderungen."
'Was heißt richtige Forderungen? Lass mich jetzt essen. Du siehst doch es ist schon wieder mal ganz kalt."
" Ja siehst du, das ist gerade eine unserer Forderungen. Wir wollen fordern, dass auch die dritte Schichte heißes Essen bekommt. " "Das ist ja ganz vernünftig", meinte die Dora. "Davon hat man wenigstens etwas. Und was fordert ihr weiter?"
" Ihr? Du meinst wohl, was wir alle zusammen fordern sollen1." "Na ja, nun sag' schon. "
" Zuerst wollen wir mal die Sitzfrage regeln, dass man nicht die ganze Zeit stehen muss, und dann die Fahrstuhlfrage, und dann die 1-Uhr-Schlußfrage und all das andere."
"Und das soll alles heute abend besprochen werden?
" Ja, natürlich, wir wollen ein Programm von Forderungen aufstellen. " "Gut, da komme ich auch!"
Käte war froh. Das ging ja ganz leicht, das Diskutieren, wenn man nur die rechten Argumente hatte.
Und mit diesen Gedanken wandte sie sich an die Kollegin an ihrer anderen Seite, während Dora das gleiche tat.
Als das- Essen zu Ende war, waren durch Käte vier Kolleginnen dazu gebracht worden, zur Betriebsversammlung zu kommen. Fünf Minuten nach sieben legte Käte den letzten Stoffballen ins Regal und machte sich fertig. So früh wie heute war sie noch nie weggegangen. Sie lief durchs Tor hinaus und zu dem Lokal, in dem die Betriebsversammlung stattfand. Es waren erst ein paar Kollegen anwesend. Aber langsam füllte sich der Raum.
Grete hatte heute erst zwei dünn mit Margarine beschmierte Stullen heruntergegessen. Abends sollte sie zu Käte kommen, dort auf sie und Fritz warten, damit sie zusammen essen konnten. Jetzt war es Halbacht. Die Menschen strömten nach Hause. Es war großer Betrieb. Die Geschäfte hatten größtenteils noch Licht, aber eins nach dem anderen wurde dunkel. Nur in den Schaufenstern blieb die Reklamebeleuchtung. Man konnte also keineswegs sagen, dass die Straßen dunkel waren.
Grete ging am Rathaus vorbei, das von starken Schupostreifen gesichert war, weil die Herren Stadtväter über den Verkehrsabbau und verschiedene andere Abbausorten berieten. Als Grete vor der Haupttür stehen blieb, um sich den fabelhaften Aufgang durch die Türscheibe anzusehen, kamen zwei Blaue mit den bekannten Worten: "Wollen Sie bitte weitergehen!"
Grete ging weiter, die beiden blieben ihr noch eine Weile auf den Fersen. Sie hatten strikten Auftrag, keine Ansammlungen zu dulden. Grete dachte darüber nach, warum die Bevölkerung, die doch den ganzen Kitt bezahlt, Stadtverordnete, Magistrat, Verkehr, Schupo und alles andere, keine Erlaubnis bekam, sich ihre eigenen Herrlichkeiten auch einmal anzusehen.
Gegenüber vom Rathaus promenierten ein paar Leute. Vor dem Kaufhaus auf der anderen Seite ebenfalls. Manche sahen aus wie Arbeiter. Andere, die zum größten Teil außerordentlich jung waren, trugen gelbbraune Jacken, den Uniformersatz der Nazis. An den Bordkanten vermischten sich die Zivilisten, Nazis und Arbeiter, wobei nicht gesagt sein soll, dass unter den Nazis keine Arbeiter waren. Grete blieb dort stehen und hörte sich die Gespräche an, die solange geführt wurden, bis die Schupos von der anderen Seite kamen und die Ansammlungen zerstreuten. Es dauerte dann immer eine Weile, bis sich eine Reihe von Diskutierenden wieder ansammelten. Jetzt standen sie hinter dem Rathaus. Von oben schienen die Lichter herunter. Auf dem Turm die Uhr zeigte genau 8 Uhr. Grete hörte zu: "Klagges? Mensch, geh weg mit dem! Was hat denn der gemacht - hat die Winterauszahlungen gestoppt. Und der nennt sich Arbeitsminister? " "Na, nu sei aber stille. In Sowjetrussland ist's ja viel schlimmer. Da werden überhaupt keine Unterstützungen gezahlt... " "....an wen sollten denn die gezahlt werden? Da gibt's ja gar nicht so viel Arbeiter, wie Arbeit da ist. Damit fangt bloß nicht an. " Die Unterhaltung zog immer mehr Leute an. Ein Nazi und ein Kommunist argumentierten gegeneinander.
" Hessenwahl? Meint ihr denn wirklich, die Leute da haben Adolf Hitler gewählt? Die haben eure große Schnauze gewählt, die ihr immer aufsperrt, um den Stehkragenproleten zu erzählen, dass ihr soziale Maßnahmen treffen werdet, wenn ihr mal an der Krippe seid. Geh doch weg. Die werden sich schon überzeugen, dass die Unterstützungen noch mehr abgebaut werden, wo Hitler oder Klagges oder sonst jemand von euren Bonzen was zu sagen haben. "
" Hau doch den Kerl in die Schnauze!" sagte so ein Nazijüngling, dem die Argumente fehlten.
Ein paar Braunjacken machten Miene dazu. Aber besonnene Arbeiter stellten sich dazwischen und sagten: "Ruhe hier, wir wollen jetzt hören, was ihr zu sagen habt. " Aber noch bevor sie etwas zu sagen hatten, fuhr der Kommunist schon fort: "Die Stimmen, die ihr kriegt - das sind Proteststimmen gegen die Bourgeoisie. Lange geht das nicht, dass ihr die Leute heranzieht, die Schluss machen wollen mit diesem System, und dann stärkt ihr mit ihnen gerade diesem System den Rücken." "Wer stärkt dem Kapital den Rücken? Wir? Wir sind gegen das Kapital. Das schaffende Kapital - ja - das ist etwas anderes. Aber die Bankjuden - die müssen weg. "
" Ach Quatsch - die Bankjuden. Katzenellenbogen und Goldtschmidt -Hitler nimmt das Geld von jedem, von dem er's bekommt. Und Goebbels kauft sich Autos dafür."
" Ach, ihr immer mit der Karre von Goebbels! Hat Thälmann vielleicht kein Auto? "
" Nee, Thälmann nich. Der kann sich das nicht leisten. Der ist bloß Führer von einer Arbeiterpartei. Aber lest doch heute in der Zeitung: Goebbels ist eins von seinen Autos in Steglitz geklaut worden. Wozu braucht der Mann die Autos, wenn "seine" Leute hungern? He?" Von hinten wurde gedrängelt. Zuerst glaubten die Leute, dass Polizei gekommen wäre. Einige fingen an zu laufen. Dann merkten sie, dass ein Rollkommando der Nazis einzugreifen begann. Immer, wenn die Diskussionen brenzlich für sie werden, schicken die Nazis diese Argumente vor.
Ein breitschultriger SA-Mann mit blauer Mütze bahnte sich einen Weg zu dem kommunistischen Sprecher. Grete schaute angestrengt hin. Sie stand ziemlich im Mittelpunkt der Ereignisse. Der Breite holte mit der Hand aus und brüllte den Kommunisten an: "Mach dich dünne hier -aber 'n bisschen plötzlich. "
Der antwortete ruhig: "Weiter habt ihr nichts zu sagen, wenn man diskutiert? "
Der Breite wollte zuschlagen. Als er seine Flosse in Bewegung setzte, sprangen drei oder vier Arbeiter hinzu und hielten den Arm fest. Sie ließen auch nicht los, als der Kerl zu brüllen begann. Er schaute nach seinen Kumpanen aus, doch die waren gerade abgedrängt worden. Die Arbeiter, keineswegs alle Kommunisten, ein paar sogar mit dem Reichsbannerabzeichen, hatten einen Kordon gebildet, um den kommunistischen Sprecher zu schützen.
Als der breite Nazimann sich allein sah, da griff er mit der Linken, als sie einen Augenblick frei war, in die Tasche und holte ein Schießeisen hervor. Gerade als er losdrückte, bekam er von einem Arbeiter einen furchtbaren Schlag auf die Hand. Bevor der Revolver zu Boden fiel, war aber schon ein Schuss gefallen. Er hatte einen der Festhaltenden leicht am Arm getroffen, war dann nach hinten gegangen und der Grete unter die linke Schulter gedrungen. Ohne einen Ton war sie zusammengesunken.
Im Nu entstand eine wütende Keilerei. Die Nazis gingen mit Messern, Dolchen, Schlagringen und ähnlichen Instrumenten gegen die Arbeiter los. Diese gebrauchten ihre Fäuste, und noch ehe die Polizei angekommen war, hatten eine ganze Reihe von Nazis geschwollene Augen und Beulen an allen möglichen Stellen. Von den Arbeitern waren bereits drei durch Stiche verwundet worden.
Als die Polizei kam, riegelte sie den ganzen Kreis der Kämpfenden ab und suchte sie auseinanderzureißen.
Endlich gelang es, die Gegner zu trennen. In zwei Gruppen getrennt standen sie sich gegenüber. Zwischen ihnen ein blutiger, zuckender Haufen Fleisch. Die Grete.
Die Rettungswache, die sofort von der Polizei alarmiert wurde, holte sie ab.
Nazis und Arbeiter wurden aufgeschrieben. Von den Uniformierten wurde keiner zur Wache mitgenommen. Von den übrigen im ganzen zehn. Grete war bewusstlos. Sie hatte viel Blut verloren und war grässlich zertreten worden. Der benagelte Schuh eines uniformierten Nazis hatte auf ihrer Brust einen scharfen Abdruck hinterlassen.
Eine Schwester kam, um den Körper zu waschen. Sie hatte schon vieles gesehen. Aber sie musste sich erst langsam an das Bild gewöhnen, das die Grete bot.
Grete wurde gewaschen, die Wunde wurde untersucht - aussichtslos. Operation lohnte gar nicht mehr. Es handelte sich um Stunden. "Wenn man nur wüsste, wer dies Mädel ist, dann könnte man wenigstens noch die Angehörigen benachrichtigen, " meinte der Arzt. "Ob sie noch mal zum Bewusstsein kommt? " fragte die Schwester? "Schon möglich, aber wir wollen hoffen, dass sie so rüber dämmert." Grete regte sich. Aber zu Bewusstsein kam sie nicht. Die Schwester hatte anderes zu tun, als bei der dreiviertel Leiche zu sitzen. Es war ja alles für sie getan, was getan werden konnte. Als die Schwester nach zehn Minuten wieder an Gretes Bett kam, flackerten ihre Augenlider. Sie kam doch noch mal zum Bewusstsein zurück.
" Schade!" dachte die mitleidige Schwester. "Das hätte ihr erspart bleiben können."
" Fritz komm zu mir!" hörte die Schwester sie flüstern. Die Schwester beugte sich ganz dicht über die Sterbende, und fragte: "Wo wohnt Fritz? "
Grete gab die Adresse, aber dann war es mit ihr vorbei. Sie versank wieder in Bewusstlosigkeit.
Die Schwester benachrichtigte sofort die von Grete gegebene Adresse. Aber Fritz war nicht zu Hause. Er war schon bei Käte, wo er auf Grete wartete.
Fritz war also nicht zu erreichen. Die Schwester ging zurück an Gretes Bett.
Es ging jetzt rapid abwärts mit ihr. Der Atem kam immer schwerer. Die Wunde blutete stärker, und der Verband wurde rot. Langsam sickerte das Blut durch. Langsam ging der Atem. Die Schwester glaubte schon, es sei endgültig aus. Da schlug die Grete noch einmal die Augen weit auf. Aber sie sah die Schwester nicht. Sie sah den Fritz. Und der Fritz wurde immer größer und stärker. Und es war nicht ein Fritz, neben ihm wuchsen immer neue Fritze, Hunderte Tausende, Hunderttausende, Millionen, die ganze Welt war voll. Und mit mächtigem Schritt zog diese Armee von Fritzen am Rathaus vorbei. Und ganz niedriges Gewürm, das auf dem Boden herumkroch, wurde von ihren Stiefeln zertreten. Aber wenn die Fritzen ihre Schuhe im Marsch wieder emporhoben, dann waren sie ganz sauber, als ob sie gar kein Gewürm zertreten hätten. Immer neue Scharen zogen vorbei. Der Zug der Marschierenden wollte kein Ende nehmen. Grete zog es immer stärker, auch mitzumarschieren. Jetzt sah sie, dass auch Frauen unter den Marschierenden waren. Da hob sie ihre Hände und bat die anderen, sie mitzunehmen. Und ganz behutsam fasste sie einer der Marschierenden und stellte sie auf die Füße mitten in die Reihen, wo gerade ein Platz frei war.
Als sie den ersten Schritt tat, um mitzumarschieren, da fühlte sie sich auf einmal ungeheuer glücklich. Sie war gar nicht mehr schwach. Sie war riesig stark wie all die anderen, die mit ihr marschierten. Sie gab ihrem ganzen Körper einen gewaltigen Ruck, und sah plötzlich, dass sie eine von vielen geworden war, groß und stark und einig. Die Schwester rief den Arzt und dieser sah, dass Grete gestorben war. Sie lag seitlich auf dem Bett. Den Kopf schief zurückgeworfen, von einer letzten ruckartigen Bewegung, die der Körper von der endgültigen Ruhe und Starrheit noch einmal versucht hatte.
" Lassen wir sie hier, bis jemand von der Adresse kommt, die sie angegeben hat. Sie haben doch die Leute benachrichtigt? " Die Schwester nickte: "Ja..."
Um 11 Uhr abend war Fritz nach Hause gekommen. Der Abend war ganz anders gewesen als er ihn sich vorgestellt hatte. Grete war nicht gekommen und Käte hatte unendlich viel von der Betriebsversammlung und ihrer Arbeit, die jetzt übernommen hat, zu erzählen. So kamen sie vom Hundertsten ins Tausendste - aber alles hatte mit Partei- und RGO-Arbeit zu tun.
Käte musste feststellen, dass sie sich noch nie so gut mit Fritz unterhalten hatte. Sie hatten sich jetzt so sehr viel mehr zu sagen und konnten einander noch viel mehr sein.
Als Fritz auf die Uhr sah, war es ein Viertel vor elf. Fritz sprang auf Ein schneller Kuss und schon ging er los, denn er wollte zu Hause noch einiges arbeiten, und morgen hieß es wieder früh an der Arbeit stehen.
Zuhause angekommen, berichtete seine Wirtin von dem Besuche des Boten vom Krankenhaus. Fritz bekam einen Schreck. Solle die Grete wieder irgendeinen Unsinn gemacht haben?
Er lief die Treppe runter, die Straße, entlang und kam ganz außer Atem an. Die Schwester führte ihn, nachdem er sich ausgewiesen hatte, an Gretes Bett.
" Tot? " fragte Fritz und wusste, dass diese Frage überflüssig war. Was war geschehen?
Die Schwester konnte ihm einige Auskunft geben. Von anderen erfuhr er mehr. Später hörte er noch weiteres von Genossen, und so hatte er bald die ganze Geschichte beisammen.
Drei Tage später lag die Grete unter der Erde. Fritz und Käte waren als einzige zur Beerdigung erschienen. Käte weinte.
Als sie nach Hause gingen, konnte sich Käte nur sehr schwer beruhigen Sie schluchzte noch leise vor sich hin. Ihr war es, als hätte sie eine Schwester verloren, trotzdem sie die Grete doch nur ganz kurz gekannt hatte. Und sie bedauerte es, dass sie anfangs so grässlich zu ihr gewesen war.
Langsam dämmerte neben dem Schmerz ein zweites Gefühl in ihr auf: das der Wut. "Sie hat doch gar nichts getan... " sagte sie zu Fritz. "Sie ist in die Hände der Nazis gekommen. Das hat schon manchem die heilen Knochen und vielen das Leben gekostet", antwortete Fritz. "Und die dürfen einfach drauf losschießen?"
" Was heißt: dürfen? Die sind doch so legal! Kannst du jetzt wieder sehen auf der Polizeiministerkonferenz. Der Polizeiminister hält eine Rede, dass er von Herrn Hitler Material über das Wüten des roten Terrors bekommen hat. Meinst du vielleicht, dass Hitler auch nur ein Wörtchen über den Naziterror darin erwähnt hat? "
Sie stampften weiter. Käte überlegte. Dann fragte sie: "Und die Arbeiter können sich gar nicht dagegen wehren? "
" Natürlich können sie sich wehren. Und sie fangen auch langsam damit an. In Braunschweig zum Beispiel haben sie Straßenschutzstaffeln gegründet. Da trauen sich die Nazis nicht mehr gegen die Arbeiterviertel. Immer sind sie bewacht. Nicht bloß von Kommunisten. Da stehen alle zusammen - SPD-Arbeiter, Kommunisten, Indifferente. - Alle." "Und hier? " fragte Käte. "Warum gibt's das hier nicht? " "Warte nur, das kommt hier auch. Schneller als du denkst. Warum macht denn die SPD wieder ihr Einheitsfrontgeschwafel...? " "Wieso? Was heißt Geschwafel? Wenn von Einheitsfront die Rede ist, das ist doch kein Geschwafel!"
" Na ja, wenn die Arbeiter davon reden, dann ist's natürlich kein Geschwafel, und viele SPD-Arbeiter reden schon davon. Aber gerade deswegen haben sich doch jetzt die SPD-Bonzen eingemischt und die Parole scheinbar aufgenommen. Haben den Kommunisten hintenrum die Einheitsfront von oben andrehen wollen..."
" Was ist denn nun das wieder - Einheitsfront von oben? " fragte Käte dazwischen.
" Das nennt man -- das ist so -- wenn sich nämlich die Spitzen der beiden Parteien zusammensetzen würden und sich gegenseitig von ihrem Programm was abhandeln würden... " "Na, das wäre doch gar nicht das Schlimmste..." "Erlaube mal, Käte! Den Kampf gegen das herrschende System kann man nicht mit Kompromissen führen. Da muss man schon durchgreifen. Bloß keine Politik des kleineren Übels. Damit stopft man auch den Nazis nicht das Maul. Höchstens, dass man den Bankrott der SPD eine Weile bremst. Daran haben wir wirklich kein Interesse!" Käte musste es erst wieder verdauen. Dann fragte sie weiter: "Und was wollt ihr nun dagegen setzen? "
" Wir wollen gar nichts dagegensetzen - wir haben schon was dagegen gesetzt: die Einheitsfront von unten. Die Arbeiter aller Richtungen zusammen gegen den Kapitalismus und seine augenblickliche Herrschaftsform, den Faschismus. Und zwar radikal. Keine Duldung von kleineren Übeln und so. Anders geht's nicht. Und weil die Einheitsfront von unten nämlich schon im Anmarsch ist, haben die SPD-Bonzen Angst gekriegt und wollen nun von oben dazwischenfunken. Nee, danke für Obst!" "Das kommt mir eigentlich beim ersten Nachdenken ganz vernünftig vor."
" Und beim zweiten wird's dir noch viel vernünftiger vorkommen", meinte Fritz. Käte ging eingehakt neben ihm her. Sie kam sich mächtig stark vor heute, als ein Glied in der großen Front der Werktätigen. Das Gefühl der Stärke - woher kam es eigentlich? Sie war so oft kleinlaut und verzagt gewesen! Ja, das kam davon, dass Käte anfing, bewusst zu leben, ihr kleines Leben nicht mehr als Einzelschicksal, nicht mehr als gottgewollt hinnahm. Sie machte sich Gedanken. Diese Gedanken suchten sich ein Ziel. Das Ziel hieß: Befreiung des Einzellebens durch Befreiung der ganzen arbeitenden Klasse. Das Ziel war so groß und schön, dass es sich wohl lohnte, dafür zu kämpfen. Fritz und Käte gingen durch die Straßen, als marschierten sie mit ihrer ganzen Klasse über die breiten Wege der Befreiung. Stumm gingen sie nebeneinander her. Aber jeder wusste, was den andern beschäftigte.
"Kollegen und Kolleginnen!...."
Stühle rückten. Stimmen summten. Nur langsam kehrte Stille ein. "Kollegen und Kolleginnen! Ich eröffne die heutige Betriebsversammlung Auf der Tagesordnung steht als erster Punkt der Krieg in der Mandschurei, Dazu erteile ich dem Kollegen Ganske das Wort." Kollege Ganske erhebt sich. Ein junger Genosse, der die Mandschurei bestimmt nicht aus eigener Anschauung kennt. Aber ist denn das unbedingt notwendig? Es geht ja doch nicht in erster Reihe um die Mandschurei. Es geht um viele Länder, es geht um viele Völker. In der Mandschurei brennt's, aber morgen schon kann es in zwei Dutzend anderen Ländern brennen. Genosse Ganske schildert noch einmal die Entwicklung des "Konflikts" zwischen Japan und China. Er erzählt von den maßlosen Provokationen der Sowjetunion durch Japan. Die Sowjetunion will nicht Krieg führen. Sie will den friedlichen Aufbau. Sie tut nichts -keine kriegerische Handlung - nur die japanische Gerüchtemacherei weist sie zurück: es ist nicht wahr, dass wir den chinesischen General Ma mit Kriegsmaterial versorgt haben.
Doch schon stürzt sich der japanische Imperialismus auf diese Äußerung der Sowjets. Unerhört! schreien sie. Niemals haben wir das" behauptet. Und im gleichen Atemzug behaupten sie diese Lüge nochmals. Und sie marschieren weiter vor, überschreiten und besetzen ein Stück der Ostchinabahn, die für die Sowjets lebenswichtig ist.
Aber der Arbeiterstaat lässt sich immer noch nicht zu kriegerischen Handlungen hinreißen.
An den Börsen von London und Paris gibt es zwischen den wahnsinnigen Kursstürzen eine fieberhafte Aufwärtsbewegung aller Papiere von Kriegslieferanten. Die Motorenwerke Rolls Royce bekommen telegraphische Aufträge auf Flugzeugmotoren für Japan. Schneider-Creuzot lässt mit zwei Schichten arbeiten. Bald wird er die dritte einlegen müssen. Amerika erklärt durch den Mund des Herrn Dawes sein Ein-
Verständnis mit den Zielen Japans. Welche sind das? Der Völkerbund tagt in Paris hinter verschlossenen Türen. China droht mit Austritt.
Der Völkerbund ist das von der Sozialdemokratie stets gepriesene Instrument des Friedens. Sozialdemokraten haben viele dieser Sitze inne. Aber der Völkerbund tut nichts gegen den Krieg in der Mandschurei. Er erwägt die Einsetzung einer autonomen Regierung in der Mandschurei. Autonom - das heißt in diesem Falle: abhängig vom japanischen, mit den großen Ländern der Welt verbündeten Imperialismus. Das heißt: Vorschieben der imperialistischen Positionen gegen die Sowjetunion. Das heißt: Abschneiden der Ostchinabahn.
Kollege Ganske schließt: "Die Antwort der Arbeiter aller Länder heißt: Hände weg von der Sowjetunion! Hände weg vom Vaterland aller Werktätigen!"
Kaum hatte der Kollege Ganske geendet, als Fritz aufspringt und loslegt:
" Kollegen und Kolleginnen! Hände weg von der Sowjetunion hat der Kollege Ganske gesagt. Jawohl: Hände weg von der Sowjetunion! Wir alle werden eine große gewaltige Front gegen die Angreifer der Sowjetunion bilden, und keiner wird diese Front durchbrechen. Aber wir müssen weit mehr tun. Wir müssen heute schon mit unserer Arbeit beginnen. Wer weiß, ob unsere Firma nicht bald Kriegsaufträge bekommt. Aufpassen Kollegen! Ihr habt gehört, dass die Aktien der Kriegslieferanten schon steigen. Und wer sind die größten Kriegslieferanten? Natürlich wir Metallproleten. "
Bald schloss die Betriebsversammlung den ersten Punkt der Tagesordnung ab. Man ging zum zweiten Punkt über: die Lage in der Metallindustrie. Alex hatte zu referieren. Zuerst sprach er allgemein und manche hörten nicht zu. Dann aber kamen die tollsten Verrätereien der Gewerkschaftsbonzen und der bisher noch nicht üblichen Unternehmermanöver zur Sprache, und alle hörten zu.
"... Mein Schwager, " sagte Alex, "der arbeitet in Frankfurt. Was haben sie da gemacht? Sie haben der ganzen Belegschaft gekündigt, und nur, wer einen Lohnraub von 15 Prozent hinnimmt, darf weiterarbeiten. In einer Woche ist Entscheidungstag. Und hier werden sie's genau so . machen. Einfach kündigen. Und wer weiterarbeiten will, dem wird das gnädig erlaubt, aber nur zum halben Lohn. Wir müssen unbedingt weiter zum Streik rüsten. Der Kampfausschuss muss noch viel tätiger werden. Jede Abteilung muss absolut streikfertig sein, um auf Abruf
lahm gelegt zu werden. Nur so werden wir's schaffen.....
Als dritter Punkt der Tagesordnung wurden noch ein paar betriebliche Fragen behandelt, und bald schloss man mit dem Gesang der Internationale. Es war inzwischen halb sechs geworden. Fritz hatte sich abends wie- der mit Käte verabredet. Bis er sie abholen konnte, waren es noch rund zwei Stunden. So ging er mit Alex mit.
Sie schlenderten die Straße entlang und blieben vor einer Bankfiliale stehen. Handels- und Grundbesitzerbank stand mit großen Buchstaben auf dem Schild. Darunter war ein gedruckter Zettel angebracht: Geschlossen.
" Natürlich geschlossen", meinte Fritz, der die Zeitung noch nicht gesehen hatte. "Um sechs Uhr ist doch keine Bank mehr auf." "Nee", meinte Alex, "die ist, glaube ich, pleite"
" Ja, pleite ist sie", sagte ein kleiner Tischler, der neben ihnen stand und ihr Gespräch gehört hatte.
" Pleite? Das scheint doch ne ganz große Bank zu sein. " "Ist sie auch. Zwanzig Filialen. 36000 Kunden. Meistens kleine Leute, wie ich, Handwerker. Ich hab auch meinen letzten Hunderter dabei verloren.... Die gehört der Wirtschaftspartei. Die wird wahrscheinlich unser Geld aufgebraucht haben. "
" Nichts da", mischt sich ein anderer, der auch stehen geblieben war, dazwischen. "Alles verspekuliert. Haben Sie die Abendzeitungen noch nicht gelesen? Der Direktor ist geflohen. Erst hat er sich zwölf Millionen gepumpt, und jetzt ist er nicht mehr aufzufinden. Nen Revolver hat er sich auch mitgenommen. Den wird er bestenfalls irgendwo verkloppen. Die Leute gehn nicht drauf. "
" Nee, nee, da haben Sie recht. Wir zahlen unser Geld ein, und die spielen damit rum. Und wenn sie Glück haben, dann werden sie Wirtschaftsführer. Und wenn sie Pech haben - na dann passiert ihnen auch nichts."
" Stimmt schon, " meinte wieder der andere. "Den Katzenellenbogen haben sie auch freigelassen. Aber wir - neulich wollten sie mich pfänden wegen 3, 50 Mark. Gott sei Dank hat mir noch jemand das Geld gepumpt, sonst säße ich heute auf der Straße. "
" Ja, ja, die Zeiten sind schwer, " seufzte der Tischler. Jetzt mischte sich Alex dazwischen: "Das ist einfach Ihre Schuld, wenn die Zeiten schwer sind. "
" Was heißt unsere Schuld?" fuhr der zuletzt Dazugekommene auf. "Nicht direkt, so meine ich das nicht, " antwortete Alex. Und Fritz fuhr dazwischen. "Natürlich, das ganze Wirtschaftssystem ist schuld daran."
" Was meinen Sie mit Wirtschaftssystem? " fragte der Tischler. Nun legte Fritz los: "Wirtschaftssystem? Ich meine den Kapitalismus. Glauben Sie, der Fall dieser Bank ist ein Einzelfall? Es gibt tausende solche Fälle und wird noch viele tausend mehr geben. Haben Sie von Schultheiß gehört? Haben Sie von Nordwolle gehört? Den ganzen Tag kann ich Ihnen solche Geschichten erzählen. Und wer ist der Betrogene? Immer die Proleten sind's. Die Arbeiter oder die kleinen Handwerker oder die Bauern. Haben Sie mal einen Unternehmer auf der
Stempelstelle gesehen, einen verkrachten Bankdirektor, oder irgendson
anderen Schieber? Ich noch nicht. Wenn die alles verlieren, haben die
noch tausendmal so viel wie wir je haben werden. "
" Na ja, das stimmt schon, " meinte der Tischler. "Aber was sollen
wir daran ändern? Ich wähle immer die Wirtschaftspartei, weil die
fürs Handwerk ist. "
" Die fürs Handwerk? Passen Sie mal auf, ob sie noch einen Pfennig
von dem rauskriegen werden, was Sie auf die Bank gebracht haben.
Keinen Pfennig werden Sie wieder sehen."
"Aber der Direktor", warf Alex dazwischen, "und der Herr Ladendorff, der doch einer der Führer der Wirtschaftspartei ist und der doch die Bank mitverwaltet hat, glauben Sie, dass der sein Geld verliert? Der wird keinen Pfennig verlieren, da können Sie sicher sein. " "Sie sind wohl von den Kommunisten? " fragte der Tischler. "Ja, das sind wir", erklärte Fritz. "Wir werden dem Handwerk helfen. Wir betrügen das Handwerk nicht wie die anderen Parteien. Wir sind für die kleinen Gewerbetreibenden."
Immer eifriger hatten sie gesprochen. Und ein paar Vorübergehende blieben schon stehen, um zuzuhören. Da kam aber auch schon ein Schupo und trieb sie auseinander. "Weitergehn, nicht stehn bleiben, keine Ansammlungen bilden."
In der Redaktion der "Roten Fahne" war Hochbetrieb. Wie immer. Genossen kamen und gingen, Arbeiterkorrespondenten, Redakteure, Setzer, Photographen, Zeichner. Es wimmelte von Menschen. Kurze Unterredungen jagten einander. Bis der täglich Ruf durch die Redaktionskorridore hallte: "Redaktionskonferenz!"
Wenn Redaktionskonferenz ist, müssen alle anderen Unterredungen und Arbeiten unterbrochen werden. Denn einmal am Tage müssen alle Redakteure zusammenkommen, um die letzte Nummer zu kritisieren, die nächste zu bestimmen.
Diesmal kam auch wieder der Roman zur Sprache, der schon manchmal Gegenstand der Aussprache gewesen war. Vor allen Dingen vor seiner Geburt. Ein Teil der Genossen Redakteure war dagegen gewesen, weil es gefährlich werden konnte, eine Roman zu drucken, dessen Manuskript am Anfang nicht zur Prüfung vorlag. Andere Skeptiker meinten, dass ein aktueller Roman, dessen Fortsetzung jeweils am Tage des Erscheinens geschrieben würde, unbedingt Menschen und Papier
und Druckerschwärze ans Tageslicht fördern müsse. Andere wieder stimmten damals für diesen Roman, weil er zum ersten Male, als kollektive Arbeit, auch unter dem Strich die brennendsten Gegenwartsfragen behandeln konnte.
Heute begannen sich die Parteien darüber einig zu werden, dass sie beide recht gehabt haben. Dass dieser Roman "Die letzten Tage von...." stellenweise doch recht fesselnd, an anderen Stellen ganz ledern geworden sei. Kritiken aus dem Leserkreis wurden zur Kenntnis gegeben. Die waren unterschiedlich, aber zum größten Teil lobend. Ein Leser hatte mit Recht angeprangert, dass die tote Grete, die von den Nazis erschossen wurde, nicht von der revolutionären Arbeiterschaft zu Grabe getragen wurde. Lediglich Käte und Fritz seien mitgegangen.
Man wurde sich darüber einig, dass der Roman ein wichtiger Versuch auf dem Gebiete der proletarisch-revolutionären Literatur sei. Aber im Hochbetrieb einer proletarischen Redaktion, die mit einem Bruchteil der Redakteurzahl einer bürgerlichen Zeitung arbeiten müsse, hätte nicht immer die notwendige Sorgfalt darauf verwendet werden können. Man solle deshalb langsam zum Schluss kommen.
" Und was wird mit Käte und Fritz? " fragte ein Genosse des Kollektivs. "Sie müssen sich doch entschließen, was sie tun wollen. Wir können doch die Käte zum Beispiel nicht einfach in politischen Halbheiten schwimmen lassen."
Ein anderer Genosse meinte: " Ich habe einen Vorschlag: wir laden die beiden einmal zur Redaktionskonferenz ein. Sie sollen selbst sagen, wie sie sich ihre Zukunft denken." Mit diesem Vorschlag waren alle einverstanden.
Der Versuch des aktuellen Kollektivromans wurde als nur halbwegs geglückt bezeichnet. Einer vom Kollektiv sagte: "Man soll den Versuch wiederholen. Wir haben jetzt gelernt, wie man's machen muss. Die Sache war sehr lehrreich. Wir müssen sie unbedingt noch einmal besser machen. "
" Nach der Machtergreifung!" entgegnete ein anderer. "Dann haben wir vielleicht ein bisschen mehr Zeit, uns alle der Geschichte liebevoll anzunehmen. "
Aber er fand nicht die ungeteilte Zustimmung.
Nun warten wir ab! Erst sollen Käte und Fritz einmal ihre Meinung sagen. Und die anderen Leser, die nicht im Roman vorkommen, haben schließlich auch ein Wörtchen mitzureden.
Käte las jetzt häufig abend, wenn sie nach Hause kam. Die "Rote Fahne" bekam sie regelmäßig, wenn sie nicht gerade verboten war. Die las sie vom ersten bis zum letzten Buchstaben durch. Sie lernte viel daraus. Aber auch Bücher las sie. Ihr war, als hätte sie erst jetzt lesen gelernt. "Mira lächelte dem Grafen freundlich zu, als wollte sie sagen; auf dich habe ich gerade gewartet... "
" Quatsch!" rief Käte und pfefferte das Buch in die Ecke. Wenn der Graf die Mira beachtet, dann hat er seine Gründe. Und zwar will er sie keineswegs heiraten. Aber auf der letzten Seite des Buches, die sie gleich zu Anfang gelesen hatte, standen Graf und Mira vor dem Traualtar. Sehr feierlich übrigens. Und Mira war in diesem Buch eine kleine Verkäuferin wie Käte selbst. Sie musste lachen über den Blödsinn. Aber Fritz hatte ganz recht. Mit dem Lachen ist es nicht geschafft. Man muss es schaffen, dass auch andere Leute über so einen Unfug lachen, ihn nicht mehr ernst nehmen, sich keineswegs ihr Weltbild daran formen. Es gab ja doch so viel proletarische Bücher. Die waren zwar nicht so bequem zu lesen, weil sie die Wirklichkeit schilderten, aber man konnte sich wenigstens für die Praxis eine Scheibe davon abschneiden, was dort gesagt wurde.
Halt! dachte Käte. Das ist doch merkwürdig: Man findet etwas, was man alle Tage sieht und deshalb gut kennt, weniger bequem als das, was in Wirklichkeit nicht vorkommt, wie die Geschichte von Mira und dem reichen Grafen. Sie überlegte. Aber sie kam nicht sofort dahinter dass nämlich die Lektüre der Wirklichkeit zum Kampf anspornt. Und ist eigentlich das Hindämmern und auf die tägliche Vertiefung des Elends warten, bequem?
Jedenfalls nahm Käte sich vor, die wenige Zeit, die sie zum Lesen hatte, nie mehr mit dem bürgerlichen Quatsch voll zu stopfen, den die herrschende Klasse in Millionenauflagen den Arbeitern in die Hand drückt: da, nimmt und lies und lass dich davon einlullen!
Also raus mit den bürgerlichen Schundbüchern aus den Proletenhäusern! Raus mit der Kleinleuteideologie aus Proletenköpfen! Sie haben nichts darin zu suchen, weil sie nur der Verdummung dienen. Käte hatte schon von Fritz gehört, dass auch in diesem Jahr wieder ein Monat des proletarischen Buches veranstaltet werden wird, und zwar im Dezember. Mehr noch als in den vergangenen Jahren soll er die politische Aufgabe der proletarisch-revolutionären Literatur zeigen. Für Käte war dieser Monat schon nicht mehr nötig. Sie war durch eigenes Nachdenken dazu gekommen, dass der Mist aus der bürgerlichen Rotationspresse keine Bildung, sondern Unbildung, Verbildung brachte.
Die Briefe von der "Roten Fahne" waren geschrieben und abgeschickt worden. Fritz und Käte hatten sie bekommen. Als sie sich abends trafen, stand dieses Thema natürlich im Vordergrund der Unterhaltung. "Hast du denn den Roman überhaupt gelesen? Ich habe ihn ausgeschnitten zu Hause, da kannst du ihn vollständig nachlesen, " meinte Fritz.
" Nicht nötig, " sagte Käte triumphierend. "Wenn mein Herr und Gebieter nicht Lust und Zeit genug hat, mir die "Rote Fahne" zu bringen -- ich habe sie seit einigen Wochen schon jeden Tag gekauft. Den Roman musste ich doch natürlich lesen. "
" Donnerwetter", Fritz staunte. "Na, desto besser. " Aber Käte hatte doch ein bisschen Bange, in die Redaktion zu gehen. Sie stellte sich das noch ein bisschen so vor, wie sie Redaktionen aus dem Film kannte: Lauter Hornbrillenjünglinge mit sehr bedeutenden Gesichtern hinter den Gläsern. Telegraphenboten geben sich die Klinke in die Hand. Boten sausten wie die Verrückten durch die Zimmer. Einige Dutzend Reporter mit Shagpfeifen und Pumphosen sind damit beschäftigt, teils ihre Beine auf den Schreibtischen herumzulümmeln, teils aus ellenlangen Notizblocks Berichte abzudiktieren. Fritz wusste es besser. "So sieht's ja nicht mal in einer bürgerlichen Redaktion aus. Und erst in unserer..."
Er erzählte ihr, wie es dort aussieht. Da sitzen Redakteure, die kommen aus der Parteiarbeit. Das sind keine Leute, die sich besonders wichtig machen. "Wenn du sie auf der Straße siehst, kannst du sie von anderen Leuten nicht unterscheiden", meinte Fritz lächelnd. "Aber was soll ich ihnen denn erzählen? Wie ich mir die Zukunft denke? " fragte Käte, leicht verzweifelt. "Ich habe mir doch noch gar keine Gedanken darüber gemacht. "
" Du musst nicht immer so schrecklich übertreiben, " neckt sie Fritz. "Hättest du dir keine Gedanken darüber gemacht, dann würdest du nicht in Betriebsversammlungen gehen, Zeitungen lesen usw. Aber wenn die Gedanken noch nicht ausreichen, so wirst du eben freundlichst noch ein bisschen nachdenken."
Käte schüttelte den Kopf. Ihr war nicht ganz ordentlich bei dem Gedanken, so über sich und ihre Pläne erzählen zu sollen. Fritz meinte: "Schreibe doch gleich ein bisschen auf. Dann hast du einen Anhaltspunkt, wenn wir hingehen."
" Ach schreiben! Ich habe doch nie was Vernünftiges geschrieben und werde auch nie was schreiben."
Fritz lachte: "Du übertreibst schon wieder. Wie kannst du denn wissen, dass du niemals wirst schreiben könne? Da haben schon ganz andere Leute schreiben gelernt. Erst haben sie's mal probiert, dann hat man ihnen freundschaftlich geholfen. So ein bisschen Kritik ist ganz gesund. Und dann ging es immer besser. Wie meinst du denn, dass die Arbeiterkorrespondentenbewegung zusammengekommen ist? " Ja, die Arbeiterkorrespondenten. Fritz erzählte davon. Da passt einem Kollegen etwas nicht im Betrieb. Er schreibt ein paar unbeholfene Zeilen an die "Rote Fahne". Die bearbeitet sie, lädt den Genossen Korrespondenten ein und zeigt ihm, wie man's machen muss. Aus diesen Kreisen sind schon bekannte Arbeiterschriftsteller hervorgegangen. Die haben nur das Handwerk lernen müssen. Den Stoff haben sie aus ihrer Alltagspraxis überreichlich zur Verfügung gehabt. "Na also, " meinte Fritz. "Da kommen jeden Tag ein paar Dutzend Arbeiterkorrespondenten und andere Leser der Fahne in die Redaktion. Bis jetzt ist noch keiner aufgefressen worden, trotzdem sie manchmal sicher nicht die reinste Weisheit von sich gegeben haben. Dich werden sie auch nicht auffressen.'
Sie verabredeten sich für Donnerstag abend. Da wollten sie hingehen. Fritz wollte sie anmelden. Er brummte: "Das hätten sie auch wissen können, dass so ein Warenhausmädchen am Nachmittag keine Zeit hat. " Aber er beruhigte sich selber: "Es geht auch abends. Da ist ja immer jemand da. " Aber trotzdem schrieb er eine Karte, dass sie Donnerstag abend gegen acht kommen wollten. Das Kollektiv sollte da sein. Und dann setzten sich beide auf seine Bude und überlegten sich, was sie sagen sollten. Das war gar nicht so einfach. Sie saßen bis tief in die Nacht hinein und waren mit ihren Gedanken keineswegs fertig, als sie sich entschlossen, zu Bett zu gehen.
In Kätes Warenhaus war jetzt viel zu tun. Nicht, dass so besonders viel Kunden gekommen wären. Aber das Weihnachtsgeschäft wurde vorbereitet. Ein großer Posten Korsetts war bei einem Konkurs billig aufgekauft worden. Jetzt wurden die Korsetts vornehm an den Eingang gepackt. Wer soll die Dinger eigentlich tragen? Die Arbeiterfrauen, die hier meist kaufen? Die alten können auch damit ihre Figur, die von Arbeit und Kinderkriegen elend verdorben ist, nicht mehr entscheidend bessern. Und die Jungen brauchen sie noch nicht. Ein Posten Frottiertücher waren auf dem gleichen Wege über den Konkurs eines Lieferanten billig hereingekommen. Sie wurden aufgestapelt und verhältnismäßig billig ausgezeichnet. Schön - das waren Sachen, die jeder brauchte und die man, wenn überhaupt noch etwas, auch bezahlen konnte.
Nun würden sich also Mutter und Vater Schulze zu Weihnachten gegenseitig Frottiertücher schenken, die sie gemeinsam benutzten. Das hat es früher zu Weihnachten nicht gegeben-. Da hat man erst einmal ein
paar Pakete Lebkuchen gekauft. Käte dachte an die vorigen Jahre. Da wurden die Lebkuchen, zu Haufen getürmt, gleich am Eingang, da, wo jetzt die Korsetts lagen, verkauft. Diesmal hatte man nur einen kleinen Stand hingebaut, und der war nicht sehr überlaufen.
Ach Weihnachten! Käte verscheuchte diesen Gedanken. Was geht uns das an. Für die Geschäftsleute ist das ein Geschäft, bis sie am so genannten Heiligen Abend zu ihrer Familie nach Hause gingen. Aber für Proleten hat das doch keinen Sinn. Wer glaubt denn noch an Jesus Christus und an die Göttliche Gnade im Diesseits?
Dann kam ein Riesenhaufen Schlüpfer dran. Rote, grüne, blaue, gelbe, schwarze. In allen erdenklichen Farben und knallig. Die würden gehen, dachte Käte. Billig und notwendig.
Als sie die Schlüpfer aufgebaut hatte, wollte sie sich verpusten. Der Rücken tat ihr weh. Die Bluse war aufgegangen, und die Haare hingen ihr wild ins Gesicht.
Aber kaum hatte sie sich etwas aufgerichtet, als von weitem Herr Schneidig herannahte, um zu sehen, ob sie auch "ordentlich bei der Arbeit war", wie er sich ausdrückte.
Schneidig war guter Laune. Er nickte ihr zu und hatte die Güte, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Aber Käte war nicht erstaunt über diesen Wandel im Charakter des Herrn Schneidig. Das war jedes Jahr so um diese Zeit. Man nannte es die Weihnachtslaune des Herrn Schneidig.
Eine ganze Reihe neuer Kräfte war für das Weihnachtsgeschäft eingestellt worden, und Schneidig hatte eine Riesenauswahl. Jeden Abend war er mit einem anderen Mädel aus, und die festangestellten Mädel hatten Ruhe vor ihm bis nach der Weihnachtszeit. Ganz ähnlich stand es mit Herrn Goldstrom aus der Nebenabteilung. Nur hatte die Wandlung seines Lebens um Weihnachten eine etwas andere Wirkung auf ihn. Er magerte ab und wurde nervös. Pinke und Panke machte es jedes Jahr um diese Zeit die größte Freude, zum Beispiel mit sausender Geschwindigkeit ganz dicht hinter Herrn Goldstrom mit ihrem Wagen dahinzusausen, oder mit einem Riesenkrach zu stolpern und dabei um ein Haar irgend etwas dicht vor Herrn Goldstrom umzukippen.
Als Schneidig Käte passiert hatte, ging es mit der Arbeit weiter. Immer neue Kleidungsstücke wurden aufgestapelt und mit Preisen versehen. Immer müder wurde sie. Aber obgleich doch acht neue Kräfte in ihrer Abteilung eingestellt waren, musste sie weiterschuften. Endlich um 10 Uhr abends war Schluss.
Müde schlich sie nach Hause. Fritz würde nicht da sein. Der hatte anderes zu tun, als auf sie zu warten.
Als sie ins Zimmer trat, war es warm und eine Broschüre über die Frau in der Sowjetunion lag auf dem Tisch. Also war Fritz doch dagewesen, hatte den Ofen angezündet und die Broschüre mitgebracht. Schade, dass er nicht geblieben war. Aber wegen der Wirtin konnte er ja nicht länger als bis 10 Uhr bleiben. Richtig, das hatte sie ganz vergessen.
Aber sie müsste ihn eigentlich sehen, denn morgen abend wollten sie doch zur Redaktion der Fahne. Nun, es muss auch so gehen.
Unten zeigte Fritz sein Parteibuch. Käte den Brief der Redaktion. Dann wurden sie reingelassen.
An der Poststelle fragte sie ein Genosse, was sie wollten, und sie erklärten, warum sie gekommen waren. Der Genosse telefonierte mit der Feuilletonredaktion, und der Feuilletonredakteur kam angesaust und holte sie in sein Redaktionszimmer.
Die Konferenz sollte erst in einer Viertelstunde beginnen, und so setzten sie sich zusammen und sprachen von diesem und jenem. Nur nicht darüber, weswegen die beiden gekommen waren, denn das sollte natürlich erst in der Redaktionskonferenz geschehen. Käte war zuerst etwas still. Sie fand die Unordnung auf den Tischen geradezu unglaublich. Hunderte von Manuskripten in scheinbar wüstem Durcheinander. Dazwischen Briefe, Theateranzeigen, Zeitungen, Bücher. Sie dachte, sie sei in einen Altpapierladen gekommen. Aber der Redakteur erklärte ihr ganz genau, wie alles angeordnet ist, und dass das gerade das gute sei, dass er sich in dieser Unordnung zurechtfinden kann.
Allmählich taute Käte auf. Sie fragte, ob man auch die anderen Redaktionsräume sehen kann, und ob da die gleiche Unordnung herrsche. Der Redakteur sagte, vielleicht sind einige Zimmer frei. Wenn jemand drinsitzt, dann können wir sie natürlich nicht stören. Schräg gegenüber war das Chefzimmer. Da der Chef nicht da war, gingen sie rein. Natürlich durfte nichts angefasst werden. Da stand ein Sofa - Käte wollte wissen, ob der Chef darauf schläft. Fritz meinte, das ist doch nur dazu da, wenn einer krank wird. Aber warum sie das dann gerade beim Chef hinstellen, fragte Käte wieder. Man erklärte ihnen, dass manche Genossen die halbe Nacht durcharbeiten müssen, oder solange arbeiten, dass sie keine Fahrverbindung mehr haben, und dass sie sich dann darauf ausruhen.
Käte war sehr erstaunt darüber, dass Redakteure so lange arbeiten müssen. Sie wollte gerade weiter fragen, was das für ein Bild an der Wand sei. Da kam der Chef in sein Zimmer. Der Redakteur sagte ihm ein paar Worte, wer Käte und Fritz sei, worauf der Chef sie begrüßte und sagte, dass er jetzt noch schnell die Konferenz vorbereiten müsse, und dass sie sich ja nachher ausführlich sprechen würden.
Vom Chefzimmer gingen sie in das Zimmer der Wirtschaftsredaktion. Das sah blitzsauber aus. Nichts lag herum. Ja, man konnte denken, das Zimmer sei überhaupt nicht bewohnt. An dem Tisch saß der Wirtschaftsredakteur und rechnete dauernd herum. Käte sah, dass der Bogen vor ihm voller Zahlen war, und dachte bei sich: Der gehörte sicher nicht zu dem Romankollektiv.
Als sie aus der Wirtschaftsredaktion kamen, ging gerade der Redaktionssekretär an ihnen vorbei und rief mit lauter Stimme: Redaktionskonferenz! - Redaktionskonferenz! Jetzt war also der Moment gekommen.
Käte dachte, dass sich jetzt alle Türen öffnen würden, und die Redakteure blitzschnell alle in einen Saal laufen würden. Aber kaum eine Türe öffnete sich.
" Sind denn die Zimmer alle leer? " fragte Fritz.
" Ach nee, aber das dauert immer ein Weilchen", sagte der Feuilletonredakteur.
Sie begaben sich in das Redaktionszimmer, das etwas größer war, als die meisten anderen, sich sonst aber nicht von den anderen Räumen unterschied. An der einen Wand standen eine Reihe Stühle, an der gegenüberliegenden Wand stand wieder ein Sofa, auf dem schon einige Genossen saßen. Links am Fenster war ein Schreibtisch, an den sich der Chef setzen würde, wenn die anderen alle gekommen sind.
Alle zwei Minuten kam ein Genosse mit einem Stapel Zeitungen unter dem Arm hereingestürmt. Man unterhielt sich, tauschte Meinungen über die neuesten Neuigkeiten aus, lachte auch hier und da. Einige begrüßten Käte und Fritz. Einer, der keine Zeit zum Abendbrot gefunden hatte, packte seine Stullen aus, vertiefte sich beim Essen in den "Angriff". Ja, natürlich muss man die gegnerische Presse mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen, wenn man sie bekämpfen will. An einem kleinen runden Tisch saß ein Genosse, dem ein paar ganz scharf gespitzte Bleistifte aus der Rocktasche guckten. Der holte ein paar Blatt Papier heraus und malte herrliche Ornamente auf. Nicht eine Sekunde ließ er sich von dieser Beschäftigung abhalten. Ein anderer hatte einen Zettel mit lauter kleinen Kästen vor sich. In jeden Kasten war ein Vorschlag für die neue Nummer der "Fahne" geschrieben.
Endlich war es soweit. Der Genosse Chef räusperte sich kräftig, um den Lärm der Unterhaltung zu dämmen, und begann ausnahmsweise
nicht mit der genauen Besprechung der nächsten Nummer. Sondern er sagte: "Genossen! Wir haben heute das seltene Vergnügen, zwei Genossen, die nicht der Redaktion angehören, begrüßen zu können. Das sind unsere beiden Romanfiguren, die Genossen Fritz und Käte. Sie wollen uns heute erzählen, was sie über ihre Zukunft denken. Wir freuen uns darüber, dass auch dadurch wieder die Verbindung mit den Massen unserer Leser enger gestaltet wird. So tragen auch Fritz und Käte zum Vormarsch der revolutionären Front in Deutschland bei. " Genossin Käte war über und über rot geworden. Sie war es nicht gewohnt, dass man über sie sprach. Sie hielt den Kopf gesenkt. Fritz warf ab und zu einen Seitenblick auf sie, sah dann den Sprecher an und blinzelte ihm lächelnd zu.
Kätes Schüchternheit war nicht leicht zu überwinden. Aber als sie hörte, wie Fritz sprach, als sie die ihr bekannte und vertraute Stimme vernahm, wurde es ihr wesentlich leichter. Fritz begann etwas stockend von seinem Betrieb. Er schilderte unter allgemeiner Aufmerksamkeit die täglichen Sorgen und Kämpfe eines Betriebszellenleitungsmitglieds. Mit bolschewistischer Offenheit gab er die Fehler der Arbeit zu. "Aber aus unseren Fehlern müssen wir lernen. Wir haben gelernt. Die Arbeit geht langsam aber gut vorwärts. Wir sind uns bewusst, dass das Schwergewicht auf den Betrieben liegt, Genossen. Aber was erzähle ich euch da. Ihr wisst es doch viel besser... "
Man überzeugte Fritz, dass kein Funktionär der Partei gut genug über die Betriebsarbeit informiert sein kann. Und so erzählte Fritz weiter. In kurzen Zügen schilderte er die Meinung der Arbeiter des Riesenbetriebes. "Sie werden schon schlau werden. Sie müssen ja schlau werden. Was wir dazu tun können, das tun wir schon. " "Habt ihr auch tüchtig für den kommunistischen Zeitüngsblock geworben? " fragte ein Genosse.
" Ja, " meinte Fritz, "langsam geht auch das vorwärts. "Rote Post" -das ging bis jetzt am besten. Mit der Fahne kommen wir ja nur sachte voran. Aber keine Bange, das schaffen wir auch noch. Bis jetzt habe ich in der Schraubenabteilung drei neue Abonnenten geholt. Einer ist wieder abgesprungen. Dafür sind bald zwei neue reif. " "Und der Abgesprungene? " fragte jemand.
" Ach, der.....An dem ist nichts verloren, " erwiderte Fritz. Und er zeigte damit, dass es auch bei ihm noch Lücken in der bolschewistischen Klarheit über unsere Arbeit gab.
Fritz sprach noch eine ganze Weile. Dann hatte er das Thema seiner Betriebsarbeit erschöpft. Er hat etwas daran gelernt, die Redaktion hat auch etwas daran gelernt. Nun müssten auch die Leser lernen. Das werden sie auch. Nur darf man, Herrn Brünings wegen, nicht alles hierher schreiben, was sich Fritz über die Zukunft seines Betriebes für Gedanken gemacht hat.
Und jetzt kam Käte an die Reihe. Ein Genosse musste ihr zuerst die Würmer aus der Nase ziehen. Über ihren Betrieb sagte sie nur sehr langsam aus. Und das meiste war aus der Vergangenheit. Und die Zukunft? Ja, Genossin Käte versprach, fleißig mitzuarbeiten und sich zu schulen. Die RGO? Ja, da muss sie noch heute eintreten. Fritz winkte schon strahlend mit einem Aufnahme schein herüber. Und die Partei? Käte schwankte. Sie konnte sich noch nicht entschließen. Und die Genossen wussten, dass das Zureden in diesem Kreise nichts nützen würde. Aber Fritz meinte: "Parteieintritt? Das zählt auch bloß noch nach Tagen. "
" Na also, dann wollen wir doch mal das private Gebiet aufsuchen, " sagte einer der Genossen vom Kollektiv. "Genossin Käte, willst du uns nicht mal erzählen, wie du dir da deine Zukunft vorstellst? " Käte stotterte ein wenig herum. Sie brachte nichts Zusammenhängendes heraus.
" Wie denkst du zum Beispiel übers Heiraten? " fragt der Genosse wieder.
" Ach, heiraten! Quatsch! Wo soll man denn die Wohnung und die Möbel hernehmen?... . Und wo wir doch gar keine Kinder haben. Das geht auch ohne heiraten. "
" Also Wohnung ist nicht!? Und wenn die Wohnungen billiger werden? Das soll doch jetzt kommen. " Diese Frage führte die gute Käte ein bisschen aufs Glatteis.
Aber Käte rutschte nicht aus: "Erst sollen sie einmal billiger sein. Und dann bleiben immer noch die Möbel.... Ach wo, " sie gab sich einen Ruck, "wir werden uns zusammen eine möblierte Bude nehmen. Das gibt's ja jetzt. Und dann muss es eben so gehen. Wo ich doch den ganzen Tag arbeiten muss. Wer soll denn da die Wohnung sauber halten? " Man merkte dem tapferen Mädel an, dass es sie doch ein wenig schmerzte, auf die Annehmlichkeit einer Wohnung zu verzichten. Aber sie hatte es sich abgewöhnt, Pläne auf blauen Dunst hin zu machen. Sie hatte sich doch schon davon überzeugt, dass die Pläne da anfangen mussten, wo der Kapitalismus aufhören würde. Privatleben gibt es im herrschendem System nur für die Reichen. Deshalb müssen die Pläne der Proleten erst einmal auf die Befreiung vom Joch gehen.
Das alles wollte Käte sagen. Aber sie brachte es nicht deutlich heraus. Immerhin verstanden die Genossen auch so, was sie meinte. Aber die Frage der Kinder - - - das war eine Klippe für Käte. Sie wehrte sich zwar tapfer dagegen, das merken zu lassen. Aber in Wirklichkeit war es ihr außerordentlich schmerzlich, dass für sie keine Möglichkeit bestand, Mutter zu werden. Mutterschaft bedeutete für sie Kündigung! Das heißt: Dauererwerbslosigkeit. Und wovon sollte sie dann ein Kind oder mehrere ernähren? Wohin sollte sie sie stecken? Ins möblierte Zimmer? Nein, damit musste sie sich abfinden: erst die Befreiung, dann das Privatleben. Es ging nicht anders. Schon oft hatte sie sich früher überlegt, sogar noch bevor sie Fritz kannte, dass es doch eigentlich ein wahnsinniger Unfug sei, mit dem Paragraphen 218 zu operieren. Wollten denn die Frauen der Arbeiter keine Kinder kriegen? Wollten die Mädchen im Betrieb nicht Mutter werden? Nein, am Willen lag es gewiss nicht, sondern an der Frage: wohin mit den Kindern, und wovon soll man sie ernähren? Solange diese Fragen nicht beantwortet sind, wird keine Frau ein Interesse daran haben, hungernd heranwachsende Erwerbslose in die schöne Welt zu setzen. Und da gab es Staatsanwälte, die den Proletarierfrauen empfehlen: "Wenn Sie keine Kinder kriegen wollen, dann halten Sie sich doch ein bisschen zurück. Niemand kann alles tun, was er möchte...." Ja, und wofür hatte die Natur eigentlich dem Menschen den Trieb eingepflanzt? Damit er ihn krampfhaft verdrängt? Aus diesen Gedanken wurde Käte durch die Frage aufgeschreckt: "Genossin Käte, hast du eigentlich eine Ahnung über die Sowjetunion? Hast du dich schon mal mit richtigen Sowjetfeinden darüber unterhalten? "
Käte konnte zuerst nicht antworten. Dann aber musste sie gestehen, dass sie sich selbst noch nicht richtig klar geworden sei, dass ihre Liebe zur Sowjetunion mehr aus dem Gefühl als aus dem wirklichen Wissen entsprang. Den Diskussionen darüber sei sie, sobald sie ernsthaft wurden, vorsichtig aus dem Weg gegangen.
Die Genossen meinten, das sei nicht richtig. Aber der Vorwurf richtete sich mehr gegen Fritz, der als bewusster Klassenkämpfer seine Genossin zuallererst hätte aufklären müssen. Fritz gab den Fehler offen zu:"Ich habe ja erst angefangen mit ihrer Bearbeitung, Genossen. Eine ganze Weile habe ich einen Strich gezogen: hier Betrieb und Partei - hier Privatleben."
Nun, Fritz hat eingesehen, dass es so nicht geht. Entweder man ist Kommunist, dann ist man es auch nach Feierabend und in jeder Minute. Oder man ist keiner, sondern man nennt sich nur so. Der Chefredakteur nahm das Wort: "Genossen, wir müssen zum Schluss kommen. Wir haben noch viel zu tun. Also, wir wollten die Genossen Fritz und Käte bitten, uns zu erzählen, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Das haben sie zum größten Teil getan. Die Zukunft: das ist der Kampf um die Befreiung aller Werktätigen vom Joch des Kapitalismus. Und dann erst fängt die Zukunft jedes einzelnen Proleten an. Das wollen wir festhalten. Und nun schlage ich vor, dass die Genossen, die dem Romankollektiv angehören, sie einmal mit unserer ganzen Arbeit, mit dem ganzen Betrieb bekannt machen, bevor sie sich an die Arbeit setzen. "
Zwei Kollektivmitglieder standen auf und nahmen Käte und Fritz mit, die anderen Redakteure blieben noch im Zimmer, um die aktuellen Fragen zu besprechen. Da war wieder eine ganze Menge los. wie alle Tage. Denn für die kommunistische Presse gibt es das nicht, was die bürgerlichen Redakteure Saure-Gurken-Zeit nennen. Gerade war die Nachricht von dem großen Nazi-Skandal aus Darmstadt gekommen. Eigentlich - - wieso Skandal? Eine Partei hatte einen Plan ausgearbeitet, wie sie regieren würde, wenn sie zur Macht kommt. Der Oberreichsanwalt kann da nichts Skandalöses entdecken. Aber wir sehen genug Skandalöses. Denn die Nazis machen erst das Terrorregiment vollständig. Diese Arbeiterpartei hat für alle, die arbeiten, die Todesstrafe parat. Den Unternehmern aber lässt sie das Eigentum. Das wurde ja in dem Darmstädter Schriftstück gesagt.
Und dann gab es noch allerlei andere Sachen. Aus der Sowjetunion, aus Japan, aus England und Frankreich. Man brauchte sich nicht den Kopf zu zerbrechen, woher man den Stoff nehmen sollte, sondern welche wichtigsten Sachen man sich herausklaubt zur Veröffentlichung.
Käte und Fritz standen einen Augenblick im Korridor, da die Genossen Redakteure noch etwas holen wollten. Käte strahlte ihren Fritz ganz glücklich an. Die Sache war gut gegangen. Man war nett zu ihnen gewesen. Was heißt: nett? Man war unter seinesgleichen gewesen. Und jetzt guckten sie sich die Rohrpost an, die die Manuskripte in die Druckerei beförderte. Lange Rohre gingen an der Decke des Korridors entlang, um sich dann durch die Decke in Untergeschoß zu schlängeln. Zwei Minuten später standen sie zu viert am Ausgang der Rohrpost. Ein Genosse war damit beschäftigt, die Rohrposthüllen zu entleeren, die Manuskripte zu kennzeichnen, zu zerschneiden und die einzelnen Stücke an die verschiedenen Setzmaschinen zu verteilen, da der Artikel zu gleicher Zeit fertig gestellt werden muss. Am gleichen Tisch nahm ein anderer Genosse den fertigen Satz in Empfang, um ihn abzuziehen und wegzubringen.
" Aber zuerst wollen wir uns mal die Setzmaschinen angucken, " sagte ein Genosse. "Hier drüben ist das beste Licht." Sie gingen nach drüben. Da tippte einer von den Setzern wie auf einer Schreibmaschine. Das heißt: er berührte die Tasten nur mit den Fingerspitzen. Es ging sehr schnell. Jedes Mal wenn er getippt hatte, fiel aus einem großen breiten Magazin ein dünner Metallstempel herunter, der sich sofort einreihte. Eine Reihe solcher Stempel wurde gefüllt, dann zog der Setzer einen Hebel, die Stempelchen verschwanden nach unten, wo, was man nicht sehen kann, ihr Schriftbild in Blei abgegossen wird. Die fertige Zeile wird selbsttätig auf ein "Schiff" geschoben, immer eine nach der anderen. Ein Riesenarm greift herunter und holt die Stempel wieder hoch, von wo sie sich auf ihre Ställchen verteilen. Das geht alles ganz automatisch, während der Setzer schon fast eine ganze Zeile wieder fertig hat.
Käte machte die Sache einen ungeheuren Spaß. Aber sie fürchtete, dass sie die Arbeit störe. Sie meinte, dass es eine große Ausnahme sei, dass Leser der "Fahne" die Druckerei besichtigten. Aber sie wurde eines besseren belehrt: "Natürlich kann nicht jeder einfach hier hereinkommen und gucken. Das würde unsere Arbeit stören. Aber wenn eine Zelle oder ein Betrieb sich verabredet und sich rechtzeitig anmeldet, dann freuen wir uns immer, wenn wir Besuch bekommen."
Nun verließen sie die Setzmaschine, als der Genosse Setzer gerade einen fertigen Artikel abliefern ging. Er stellte ihn auf den Tisch, legte das Manuskript daneben und entfernte sich mit einem neuen Manuskript an seine Maschine. Über den fertigen Satz stürzte sich sofort ein anderer Genosse, schob ihn auf ein Spaltenschiff, stellte das in die Abziehpresse und fuhr mit einer kleinen Druckerschwärzenwalze darüber, legte angefeuchtete Papierstreifen darauf und drückte dann den Satz in zwei Exemplaren roh ab. Ein Exemplar ging weiter an die Korrektoren, die die Druckfehler ausmerzen müssen, ein anderes an den Redakteur, der wissen muss, welches Material er in die Seite hineinzubauen hat.
Käte sah den Satz auf dem Tisch stehen und versuchte, ihn zu lesen. Aber alles stand irgendwie schief und auf dem Kopf. Sie buchstabierte los:
" Ob - Ober - Oberreich - Oberreichsant - Oberreichsanwalt Wr -Werner." Nee, das ging doch zu schwer.
Ein Genosse Setzer, der ihre vergeblichen Bemühungen sah, half ihr und las: "Oberreichsanwalt Werner tritt für die Nazis ein." Er las so wie in einer Zeitung. Jeden Tag musste er so lesen, dass er es fast besser konnte als die gewöhnliche Schrift.
Oben in der Redaktion hatte sich schon der Chef den Artikel gründlich angesehen: einmal, ob er politisch richtig war, und dann auch, ob nichts darin stand, wodurch ein Verbot der Zeitung kommen könnte. Denn das war in dieser Zeit der Notverordnungen, der Presseverbote und Presseunfreiheit von größter Bedeutung. Das Berliner Proletariat, das rote Berlin musste und sollte seine "Fahne" haben. Wenn die "Fahne" nicht erschien, dann hatten Hunderttausende von Proleten nicht die Zeitung, die sie wollten. Und darum musste man mit einem Maulkorb, oder, wie Lenin sagte, in der Sklavensprache schreiben.
Immerhin war alles Wesentliche gesagt.
Immer neue Artikel wurden gesetzt, und Käte begann schon etwas müde zu werden. Da geschah etwas Neues. Der Genosse, der nach den Chef die wichtigsten Funktionen zu haben schien, kam heruntergestürzt und rief: "Umbruch, Kinder. Lasst uns umbrechen!" Dabei schwenkte er eine Milchflasche herum, aus der er vermittels eines Strohhalms Kraft für die bevorstehende Arbeit sog. "Umbruch? Was ist das?" fragte Käte. Der Fritz wusste auch nicht recht, was das ist und so gingen sie an den Tisch, wo der Umbruch gemacht wurde.
Das war die zweite Seite Politik, die umbrochen werden sollte. Die Zeitung zerfällt doch in verschiedene Teile. Auf der einen Seite stehen die Auslandsnachrichten. "Die macht der Genosse, der immerfort mit dem Zigarrenstummel herumläuft", erklärte einer der Genossen Setzer. Dann gibt es die Seite Lokalnachrichten. Dann die Seiten, auf denen die politischen Sachen stehen, usw.
" Die zweite Seite Politik ist die zweite Seite von der Zeitung. Weil die Politik das Wichtigste ist, darum nehmen wir auf die erste und zweite Seite die politischen Nachrichten. "
" Was heißt aber umbrechen? " fragte Käte den Genossen. "Das wirst du gleich sehen. Siehst du, da liegen vor dem Genossen Redakteur alle die verschiedenen Artikel, die auf diese Seite sollen, und jetzt stellt er sie zusammen, damit sie alle auf die Seite passen und gut darauf aussehen. "
Das war diesmal nicht ganz leicht. Der eine Artikel war etwas zu lang, und musste um zwei Zeilen gekürzt werden. Der Redakteur sog immer heftiger an seiner Milchflasche, aber ihm fiel nicht ein, welche Zeilen er streichen solle, und wie der Artikel zu ändern sei. Immer wieder schrieb er mit krakliger Schrift auf einem Stück Papier Sätze hin - und endlich war er mit einem zufrieden. So war die zweite politische Seite endlich umbrochen, und erleichtert machte der Redakteur faule Witze mit den Setzern.
Dann aber fiel ihm ein, dass er noch etwas zu schreiben hatte, und er sauste nach oben. Fast hätte er dabei den Auslandsredakteur, der wieder mild und voller Freude an seinem Stummel sog, umgerannt. Der kam nämlich gerade runter in die Druckerei, um seine Seite zu umbrechen.
Als er sich den Raum auf dem Satzschiff ansah, in dem seine Seite hereingesetzt werden sollte, bekam er ein schmerzliches Gesicht. Es war keine Überraschung für ihn, aber es traf ihn doch wieder hart, als er es mit eigenen Augen sah. Unten auf dem Schiff war ein Metallstab aufgestellt. In das so abgeteilte Stück durften keine Zeilen kommen. Da sollte nämlich eine Anzeige hin: Wascht mit Persil, sowohl zur Sommerzeit als auch im Winter, wenn es schneit.
Das war nämlich ein Inserat. Und die Inserate werden auf die verschiedenen Seiten verteilt. Nun bekam nicht jeder Redakteur jeden Tag eine Annonce auf seine Seite, mal traf es den, mal den anderen. Jeder aber war natürlich schwer enttäuscht, wenn er eine mitbekam, denn dann konnte er natürlich weniger schreiben, und es gab doch soviel wichtige Dinge, die man unterbringen musste.
Aber wie alle anderen, so fügte sich heute natürlich auch der Auslandsredakteur. Er musste ein Bild über den chinesischen Kriegsschauplatz fortlassen. Der Genosse Chef hatte ihn damit getröstet, dass er es ja morgen bringen könne.
Käte und Fritz sahen sich noch den Umbruch der Auslandsseite an und wollten dann gehen. Als sie sich verabschiedeten und die Treppe hinaufgehen wollten, sahen sie, dass auch noch eine Treppe hinunterführt. Sie fragten erstaunt, wo das hinführt, ob es noch eine andere Druckerei gebe. Aber der Genosse, der sie wieder in die Redaktion bringen wollte, erklärte ihnen, dass das noch alles zur Druckerei gehört. Da unten werden die Platten gegossen, und die Bilder werden da unten zurecht gemacht. "Wenn ihr wollt, zeige ich euch das noch. " Aber Fritz sah, dass Käte sehr müde war, und so fragten sie, ob sie vielleicht noch einmal kommen könnten. Der Genosse sagte: "Natürlich, wir zeigen euch gern immer alles, was ihr sehen wollt".
Als sie wieder oben in der Redaktion waren, verabschiedeten sie sich von den Genossen Redakteuren. Zuletzt führte sie der Feuilletonredakteur in das Zimmer des Chefs. Der saß gerade über einem Leitartikel und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
Wie sie reinkamen, unterbrach er die Arbeit und sprach mit Fritz und Käte über alles, was sie gesehen hatten. Die beiden erzählten von der Druckerei, vom Umbruch und von allem anderen. Als der Chef aber fragte, wie es ihnen in der Propagandaabteilung und in der Geschäftsabteilung gefallen hat, da stelle sich heraus, dass sie davon überhaupt nichts gesehen hatten.
Natürlich wollten Fritz und Käte sich diese Abteilungen mal ansehen, aber nicht mehr heute. Es war ja auch niemand mehr da, denn nur die Redaktion und die Druckerei arbeiten bis spät in die Nacht hinein. So verabredeten sie denn, dass Fritz und Käte in zwei Tagen wiederkommen sollten.
Landsberger Straße 82. Fritz und Käte klettern eine Treppe rauf, nachdem sie den dunklen Hof des Hauses überquert haben. Sie gehen in eine Wohnung, deren Tür offen steht und in der schon Licht brennt, trotzdem es erst 3 Uhr ist. Sie bekommen einen Zettel mit einer Nummer ausgehändigt.
In dem ersten Zimmer stehen und sitzen schon eine ganze Menge Leute. Sie warten auf etwas. Einer sagt: "Natürlich! Hast du schon mal eine Ausstellung gesehen, die rechtzeitig fertig war? " Nun, mit Scherzen und Unterhaltungen ging noch eine Viertelstunde hin. Dann war es fertig. Was? Die Ausstellung "Das Buch des Arbeiters", die während des Monats des proletarischen Buches stehen bleibt.
Nach einer kurzen Ansprache eines Genossen wurde der Durchgang freigegeben. Käte sah sich einer großen Wand mit kleinen Broschüren gegenüber. Donnerwetter, das sind aber viel. Wenn man bedenkt, dass jede dieser Broschüren in mehreren zehntausend Exemplaren verbreitet ist, dann weiß man, weshalb die Bürgerschaft diese Produktion fürchtet.
Aber nicht nur Broschüren sind da. Bücher in Mengen. Lauter verschiedene. Wenn das einer im Bücherschrank haben soll, dann muss dieser Bücherschrank schon überirdisches Format haben. Verkäufer mit Tombolalosen gehen herum. Der erste Gewinner ist ein siebenjähriges Kind. Es hat einen Leninband bekommen, weiß wenig damit anzufangen. Aber sein Vater freut sich mächtig. Käte und Fritz kaufen auch je ein Los. Aber sie gewinnen nichts. "Schadet nichts", sagt Fritz, "das Geld ist nicht verloren." Im letzten Raum findet Käte viel Interessantes. An einer Wand sind lauter Nick-Carter-Hefte und ähnlicher Dreck angekleistert. Die sind erlaubt, sagt das Schild darüber. Aber die Sachen an der anderen Wand sind verboten. Das sind politische Bücher und Hefte. Auch Unterhaltungsliteratur ist dabei. Eins davon hat Käte mal gelesen. Sie hat nichts Schundmäßiges darin gefunden. Das war ein Tatsachenbericht. "Warum ist das eigentlich verboten? " fragt sie.
" Weil es ein Tatsachenbericht ist", erwidert Fritz. "Tatsachenberichte sind der herrschenden Klasse unangenehm. Man soll lieber weithergeholten Schund schreiben." Käte denkt sich ihr Teil, während sie wieder die Ausstellung verlassen.
Am nächsten Tag fängt Käte vormittags mit Bauchschmerzen an. Alle bedauern sie. Sie hat aber in Wirklichkeit einen ganz gesunden Bauch, ihre Bauchschmerzen kommen aus dem Kopf. Sie will nämlich abends früh gehen. Und punkt sieben packt sie ihren Kram zusammen. Herr Schneidig wünscht ihr, die sich die Hände vor den Leib hält, noch gute Besserung. Langsam geht sie zur Treppe. Als sie aber dort angekommen ist, läuft sie herunter. Fritz wartet schon. Sie gehen zum Bülowplatz, steigen die Treppen zur Redaktion hinauf und lassen sich melden.
" Na, wie hat's euch gestern in der Ausstellung gefallen? " fragt der Redakteur statt einer Begrüßung.
" Knorke war das! Da sieht man erst, was wir alle für Bücher haben, " sagt Fritz.
Sie unterhalten sich ein paar Minuten darüber. Dann steigen sie wieder die Wendeltreppe zur Druckerei herunter. Noch einmal sehen sie zu, wie so eine Seite zusammengestellt wird. Dann lassen sie sich an eine große Maschine führen. Gerade bringt ein Genosse eine fertig umbrochene Seite angeschleppt. Er stellt sie auf den Tisch der Maschine, eine schwere Eisenplatte. Der Genosse, der die Maschine bedient, holt jetzt ein paar Filzlagen, darunter, mit dem Gesicht direkt auf den Bleiguss, legt er eine große, graue Pappe. Dann schiebt er den ganzen Salat in eine niedrige Öffnung der Maschine, zieht einen Hebel. Die Maschine beginnt zu sausen und zu brummen. Das geht so ein paar Minuten. Dann wird abgestellt. Die ganze Lage wird wieder herausgeholt. Das Seitenbild ist in die Pappe eingeprägt. Käte sperrt Mund und Nase auf. Da kann man alles lesen wie nachher in der Zeitung. Doch es ist eilig. Die Pappe wird in einen Schlitz im Fußboden gesteckt. Käte und Fritz werden ein Stockwerk tiefer geführt. Dort macht sich schon jemand an der Seite zu schaffen. Er klebt hinter die Stellen, die keine Buchstaben oder Bilder tragen, filzige Papierstreifen. Dann tut er die Sache in den Bleiofen zum Trocknen. Später holt er sie wieder heraus, spannt sie in eine halbrunde Form, zieht an einer Strippe, so dass flüssiges Metall in die Form läuft. Das Blei erstarrt und wird zum halbrunden Abguss der Seite. Jetzt stehen wieder alle Buchstaben auf dem Kopf. Dann wird der Abguss gefeilt und gefräst und wandert an die Rotationsmaschine.
So was haben Käte und Fritz noch nicht gesehen. Das ist ja ein großes Wunderwerk. Riesige Papierrollen sind da aufgehängt. Die Maschine hat zwei Stockwerke. Oben und unten laufen Genossen mit Ölkannen und Schraubenschlüsseln herum. Der Seitenabguss kommt und wird eingespannt. Der Maschinenmeister muss aufpassen, dass er sie nicht an die falsche Stelle tut, sonst ist plötzlich der Zeitungskopf hinten und der Versammlungskalender auf der ersten Seite. Der Genosse hat einen Spiegel, keinen aus Glas, sondern einen aus Papier, einen geschriebenen. Da steht die Reihenfolge der Seiten drauf. Ja, Spiegel nennt man das.
Nachdem alle Abgüsse da sind, ruft der Maschinenmeister "Vorsicht!", drückt auf einen Knopf, und langsam setzt sich das Ungeheuer in Bewegung. Von den verschiedenen Rollen laufen die Papierstreifen über die Abgüsse, Walzen schmieren Farbe darauf, die Streifen treffen sich, legen sich ineinander, werden geknifft, geschnitten, herausgeworfen. Der Genosse Meister läuft wie irrsinnig um die Maschine herum, nachdem er einen flüchtigen Blick in das erste Exemplar getan hat. Dort ist zu wenig Farbe, hier zu viel. Es wird gestellt, reguliert. Und dann - endlich - rast er zu einem Schalter, dreht daran. Die Maschine wird schneller. Jetzt geht's los. Sie saust. Die Blätter fallen schneller und schneller heraus. Fein geknifft und zusammengelegt rutschen sie auf ein laufendes Band, fahren hinaus aus dem Maschinenraum, durch ein Loch in der Wand zur Expedition. Dort werden sie ergriffen, gebündelt. Genossen mit Autos, Motorrädern, Fahrrädern warten. Die "Reichsausgabe" der "Roten Fahne" ist fertig. In zehn Minuten fährt sie im D-Zug nach München, Frankfurt, Hamburg und überallhin. Einzelne Exemplare gehen durch Flugpost nach Moskau. Und während noch die Reichsausgabe läuft, kommen schon wieder neue Pappseiten zur Bearbeitung. Die Berliner Ausgabe wird vorbereitet. Käte ist begeistert. Sie kann es nicht so zeigen. Und die Genossen da unten achten gar nicht auf den Besuch. Sie dürfen sich nicht aufhalten lassen. Der Betrieb ist auf Minuten eingestellt. Die Züge warten nicht.
Und als sie lange genug zugesehen haben, mahnt der Genosse Redakteur, der sie führt: "Nun wollen wir mal wieder rauf gehen. Ihr habt noch lange nicht alles gesehen. "
Sie gingen den gleichen Weg zurück, doch diesmal nicht zur Redaktion, sondern zur Propagandaabteilung und Geschäftsleitung. Der Feuilletonredakteur, mit dem sie sich nach und nach schon befreundet hatten, führte sie durch die Sperrtür und konnte sich doch nicht verkneifen, zu bemerken: "Na, jetzt passt, mal auf, die Jungen geben ganz schön an!" Fritz war ja schon etwas informiert. Erst in der letzten Zellensitzung hatte man nochmals in Verbindung mit dem Aufgebot der 100000 Stellung genommen zum Kampfmonat gegen die Presse der Volksfeinde und einen neuen politischen Zeitungsobmann gewählt, da der bisherige den Aufgaben nicht gewachsen war. Fritz hatte seine besondere Freude über ein Material gehabt, Extraausgabe des "Politischen Zeitungsobmanns", das auf der letzten Werbeleitersitzung verteilt worden war. "Ick knall Dir glatt vor'n Latz!" so begann es, und Fritz musste schon sagen, dass diese Form der Informierung viel besser war als die trockenen Rundschreiben.
Doch jetzt war keine lange Zeit mehr zum Überlegen. Auf dem Korridor und in den Zimmern wimmelte es von Genossen. Es herrschte ein wüstes Durcheinander. Käte dachte noch bei sich: Wenn das den ganzen Tag so geht, wie wollen die denn da arbeiten. Fritz, der Kätes Gedanken erraten hatte, meinte: "Na, die haben aber Verbindung mit unten, Junge, Junge, ein toller Betrieb hier!"
Der Feuilletonredakteur war verschwunden und unsere beiden Freunde standen im Zimmer, ohne dass sie besonders auffielen. Links von ihnen
war gerade eine Diskussion im Gange: "Und ick sage dir, die größte Sache, die von uns je gedeichselt wird, das ist der erste PZO-Kongress in Berlin. Mensch der Laden wird aber wackeln! Stell dir bloß mal vor: 1000 politische Zeitungsobleute in Berlin! Det will doch wat heißen, die geben doch Gewähr dafür, dass ständig für den kommunistischen Zeitungsblock geworben wird! Und dann die fünf Stoßbrigaden!" Rechts war ein anderer Diskussionszirkel. Hier drehte es sich um folgendes: "Ick sage dir, wir kümmern uns viel zu wenig um die Provinz! In der Provinz schlummern ungeheure Kräfte! Wir waren gestern in Reppen. Da war eine prächtige Kampfstimmung. "Die "Rote Post" geht ab wie die warmen Semmeln. Ein Ort mit 800 Einwohnern hat 120 "Rote-Post-Abonnenten! Und jetzt besteht das Problem für uns darin,; so wie wir die Berliner Parteiorganisation mobilisiert haben zur Massenwerbung, und wir die Partei ideologisch umgestellt haben, so müssen wir in der Provinz vorstoßen."
Inzwischen war es wohl doch aufgefallen, dass zwei fremde Gesichter im Zimmer waren, man richtete die Frage an sie, was sie denn wollten. Fritz, der bisher ruhig zugehört hatte, um alles richtig zu verstehen, platzte heraus: "Ick knall dir glatt vor'n Latz!" Allgemeines Gelächter, und man wusste sofort, der ist vom Bau!
" Nee, nee", wehrte sich Fritz, "Ich bin kein PZO, sondern die berühmte Romanfigur!"
" Na", sagte der Genosse Leiter, "ihr kommt ja reichlich spät, aber ihr habt wohl aus den Gesprächen schon etwas über unsere Arbeit erfahren. Zu eurem Verständnis wollen wir euch noch besonders mitteilen: Wir als Propagandaabteilung sind lebendiger Teil unserer ganzen Organisation. Ohne die Organisation sind wir nichts. Diesen gewaltigen Parteiapparat hat keine andere Zeitung. Daher unsere großen Erfolge. In wenigen Wochen wurden Tausende von Abonnenten für die "Rote Fahne" und Zehntausende von Abonnenten für die "Rote Post" gewonnen. Unser organisatorisches Fundament ist der politische Zeitungsobmann in jeder Zelle und der revolutionäre Zeitungsbote. Die haben heute abend Versammlung. Und das sollt ihr aus eurem heutigen Besuch besonders mitnehmen: dass unser Verlag keine bürokratische, verkalkte und verstaubte Institution ist, sondern sehr schnell auf alle Maßnahmen des Klassenkampfes reagieren muss. Eine Abteilung ergänzt die andere, und von der Geschäftsleitung bis zur Buchhaltung und Expedition herrscht die einmütige Auffassung: "Wir sind auch an diesem Frontabschnitt-Funktionäre der Partei!"
Die Tür ging auf, herein kam der Obermanager. Trotz seines ernsten Gesichtes und seiner spärlichen Haare sah er sympathisch aus. Man machte sich bekannt "Genosse X, die Genossen Fritz und Käte." Drüben waren die Räume der Expedition, wo der Provinzversand wahrgenommen wird. Dann das Geschäftsleitungszimmer, wo der hohe "Kriegsrat tagte, die Buchhaltung und die Kasse. Eine laute Stimme dröhnte: Wollt ihr denn nicht zur Botenversammlung? Die müssen
doch schon wieder um dreie raus!"
Die Sache war geritzt. Fritz und Käte gingen mit zur Botenversammlung.
Draußen auf der Straße standen viele Leute vor den erleuchteten Aushängekästen der "Roten Fahne". Auch vor den Schaufenstern der Buchhandlung. Sie wollten auch dort schnell noch einen Blick hineinwerfen. Fritz kannte den Laden natürlich genau. Aber für Käte war er neu. So gingen sie hinein. Sahen eine Unmasse Regale, die bis zur Decke reichten. Hier waren alle Bücher aufgestapelt, die sie in der Ausstellung gesehen hatten, und noch einige mehr. Dort waren nur je ein Exemplar gewesen, hier waren es viele.
Ein paar Genossen blätterten in den Neuerscheinungen. Einer kam, um sich die neue "Internationale" mit dem großen Thälmannartikel zu holen. Aber die war noch nicht fertig gedruckt. Eine Amerikanerin verhandelte darüber, welche Bücher sie unbedingt nach Hause mitnehmen müsse. Zwei Genossen waren gerade aus der Sowjetunion gekommen und wollten sich informieren, welche Bücher und Zeitschriften während ihrer Abwesenheit herausgekommen waren.
Die Kasse klingelte. 10 Pfennig. 80 Pfennig. 5 Mark. 10 Pfennig. Die Summen waren nicht groß. Aber das ist auch kein Profitgeschäft, die Parteibuchhandlung, sondern ein Instrument der Agitation und Propaganda.
Das erklärte der Genosse Buchhändler den Beiden. Aber der Propagandaleiter drängte. Sie mussten weiter.
Sie stiebelten gemeinsam los. Durch einige stille Straßen des Ostens. Die letzten Läden ließen ihre Jalousien herunter, und bald war man angelangt. Der Saal war erst zur Hälfte gefüllt, und Fritz und Käte suchten sich einen Platz ziemlich dicht an der Bühne und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Eigentlich war die Versammlung bis jetzt schlecht besucht, und wenn der Saal voll werden sollte, mussten noch allerhand Boten kommen. Und sie kamen. Fünfzehn, zwanzig Botenfrauen und Männer auf einmal. Das sah ziemlich originell aus. Denn die Boten hatten gemeinsame Treffpunkte festgelegt und rückten speditionsweise an.
" Du kommst aber spät!" schrie eine Stimme.
" Halt die Luft an!" lautete die Antwort, "ick hab erst noch zwee Abonnenten für die "Rote Fahne" geworben!"
" Du, unser Stoßtrupp hat aber die Auflage der "Fahne" und der "Roten Post" gesteigert, meine Fresse!"
Fritz fragte einen Nachbar, wer denn die muntere Gesellschaft an einem Mitteltische sei. "Das sind die Boten von Königstor, das da ist Stoßtrupp 1. Und das da Stoßtrupp 3. Die sind knorke!" Der Saal war jetzt brechend voll. Niemandem war bekannt, was eigentlich geplant war. Der Saal wird plötzlich dunkel, und revolutionäre
Musik reißt alle Anwesenden mit. Und dann gehts los.....
" Und richten sie die Gewehre gegen die Sowjetunion Dann rüsten rote Heere zum Kampf, zur Revolution!" Bald hat sich die Melodie eingeprägt, und der Saal singt mit. In der Ansprache wurde der Zweck der Versammlung bekannt gegeben, das Zusammengehörigkeitsgefühl aller Boten zu stärken: mit aller Kraft weiter für die "Rote Fahne" und die "Rote Post" und "Nachrichten", zu werben, weiter war das Schwergewicht der Werbung auf "Rote Fahne" "Rote Post" und "Nachrichten" zu legen. Die Boten sind nicht nur technischer Vertriebsapparat, sondern Stoßbrigaden und politische Funktionäre. "Unser Aufgebot der roten 100000", führte der Redner aus, "muss auch bei unseren roten Boten den stärksten Widerhall finden. Rote Boten, hinein in die Kommunistische Partei! Rote Boten, werdet aktive Mitkämpfer für ein Sowjetdeutschland!"
Der "Rote-Post"-Schlager ertönt, und einstimmig beschloss die Botenversammlung den kollektiven Eintritt in die Kommunistische Partei. Werbekolonnen durchkreuzten den Saal, und die ersten Bekanntmachungen erfolgten: "10 Aufnahmen", "20, 40, 50!" Eine Frau wollte nicht eintreten, weil ihr Mann es nicht erlaubte. Eine andere hatte Angst vor der vielen Arbeit. Beide wurden überzeugt. Endergebnis: 6 3 Boten und Botenfrauen, die bis jetzt noch nicht der Partei angehörten, traten beim Aufgebot der 100 000 in die Partei ein.
Zum Schluss begeisterter Ausklang: "Alles für die Sowjetmacht -Und richten sie die Gewehre gegen die Sowjetunion, Dann rüsten rote Heere zum Kampf, zur Revolution! Fritz und Käte waren futsch. Das hatten sie noch nicht erlebt, einen solchen Schwung, eine solche Begeisterung. Fritz wollte heute gleich mit seiner Botenfrau mal sprechen. Unser Vertriebsapparat das hatte Fritz gemerkt, ist ein wichtiges Instrument zur Verbreitung der kommunistischen Presse. "Entrollt die "Rote Fahne" über das rote Berlin", hatte ein Redner gesagt. Fritz wollte sofort in der nächsten Zellensitzung mit seiner Zelle Rücksprache nehmen, um im Rahmen des Aufgebots der 100 000 eine Massenwerbung für die "Rote Fahne" durchzuführen.
Das war wirklich ein großer Eindruck gewesen. Käte und Fritz gingen mit ein paar Genossen durch die Straßen nach Hause. Erst langsam kam wieder ein Gespräch zwischen ihnen auf. Aber es konnte sich nicht halten. Die Versammlung wirkte nach. Leise pfiff Fritz ein Kampflied vor sich hin. Die anderen Genossen fielen ein. Und es war beinahe eine kleine Demonstration mit Musik, die da durch die Straßen ging. An der Ecke standen drei junge Leute mit hohen Schnürstiefeln. Sie drückten sich in einen Hausflur. Als die Genossen vorbei waren, hatten sie's eilig, ihnen den Weg abzuschneiden. Sie liefen zu einer Kneipe und holten noch ein halbes Dutzend von ihren Freunden heraus Dann liefen alle neun los. Bald hatten sie die pfeifenden Genossen erreicht. Ohne irgendwelchen vorhergehenden Wortwechsel stürzten sie sich von hinten auf sie. "Das ist Rotmord!" brüllte einer von den Jünglingen. Sie zogen Schlüssel und Schlagringe aus der Tasche. Im ersten Augenblick waren unsere Genossen, darunter zwei Frauen reichlich verblüfft. Aber bald gingen sie zur Gegenwehr über. Kommunisten lassen sich nicht wehrlos verprügeln. Sie waren zwar, die Frauen abgerechnet, nur sechs Personen. Aber Arbeiterfäuste sind nicht von Pappe. Ein Nazi taumelte an die Wand und sackte dann zusammen. Ein anderer lief los, um das Überfallkommando zu alarmieren. Blieben noch sieben.
Bald tutete es. Das Überfallkommando raste um die Ecke, bremste kurz. Die Beamten sprangen ab. Keiner dachte daran wegzulaufen. Die Genossen dachten nicht daran, dass es heute schon strafbar ist, wenn man sich gegen Naziüberfälle verteidigt.
Der Nazimann, der das Kommando geholt hatte, kam gerade zurecht. Er sagte, dass die armen, harmlosen Braunjacken von den bösen Kommunisten überfallen worden seien. Die Menschen, die sich angesammelt hatten, sahen nicht aus wie Nazis. Und so konnten die Jungen versichern, dass es sich um einen Haufen von zwanzig blutgierigen Kommunisten handele, von denen sie überfallen seien. Fritz und noch zwei Genossen werden als Rädelsführer bezeichnet.
Tatütata ging's zum Revier. Von dort nach einem kurzen Verhör zum Präsidium. Käte wurde bald entlassen, nachdem man ihre Personalien geprüft hatte. Fritz und die beiden anderen wurden über drei Höfe zum Polizeigewahrsam für Männer geführt. Da saßen schon ein paar "Kriminelle" in dem kalten Keller. Sie bekamen jeder zwei Decken und streckten sich auf den zusammengerückten Holzbänken aus. Am nächsten Morgen ging's zum Photographieren. Noch ein kurzes Verhör wurde angestellt, und schon wenige Stunden später standen sie vor dem Schnellrichter. Der hörte sich alles an. Dann meinte er: "Erzählen Sie doch keine Märchen. Sie können mir doch nicht weismachen, dass neun Leute zwanzig überfallen werden oder wie viel es waren. Das können Sie doch Ihrer Großmutter erzählen. " Das Urteil war schnell fertig. Denn dieses Gericht hat seinen Namen nicht umsonst. Fritz bekam, weil seine Intelligenz ihn in den Augen des Richters, wie ausdrücklich festgestellt wurde, besonders belastete, sechs Wochen, die anderen Genossen kamen mit vier Wochen davon.
Man behielt sie gleich da.
Als Käte am nächsten Abend zu Alex ging, hörte sie die Geschichte. Sie setzte sich auf den Stuhl, als hätte ihr jemand über den Kopf gehauen. Alex erwartete einen Tränenausbruch und wollte sie trösten. Käte sagte: "Nun ist's aus mit der Arbeit!" Nichts weiter sagte sie. Und sie lernte an diesem Abend das Fluchen. Diesen Zusammenstoß hatte sie miterlebt. Sie wusste, wie er in Wirklichkeit zustande gekommen war. Sie ging zu Fritzens Wirtin und vereinbarte mit ihr, dass sie am ersten in Fritzens Zimmer ziehen werde. Der würde ja Augen machen, wenn er wieder kommt. Ja, man muss jetzt sparen. Mit den paar Kröten aus dem Warenhaus und dem bisschen Stempelgeld konnte man schwer auskommen. Da kann man sich keine zwei Zimmer leisten Als Käte alles in Ordnung gebracht hatte, ging sie zum Bezirksausschuss und zur Partei, teilte mit, was geschehen war. Aber man wusste schon alles. In dem Parteisekretariat hatte sie ein längeres Gespräch mit ein paar Genossinnen. Sie verabredete sich mit ihnen für den nächsten Tag. Und der nächste Tag fand sie an einem Apparat zum Drehen, auf dem Wachsplatten laufen, unter dem Papierblätter weiß hereinfließen, um bedruckt wieder zu erscheinen. Auf den Blättern stand: "Frauen, wacht auf!" Es wurde zu einer Frauenversammlung der Kommunistischen Partei eingeladen. In der Mitte des Blattes standen die Buchstaben gemalt: "Aufgebot der Hunderttausend". Nun war Käte also ein Rädchen geworden. Ein Rädchen in der riesengroßen Maschine, die in immer schnellerem Tempo vorwärts geht. Eine lustige Genossin, die immer ihre Bemerkungen machte meinte: "Na, wie schmeckt die Arbeit? " Käte erwiderte strahlend: "Schmeckt gut."
Und als sie alle ein bisschen ausruhten, meinte sie: "Ausruhen können wir nachher im Bett. Erst müssen die Zettel fertig sein. " Ja, nun stand sie da und leierte und leierte. Die Genossinnen hatten ihre helle Freude an ihr. "Komisch" sagte eine, "da stehst du und schuftest für unser Massenaufgebot. Guck dir mal an, was da unten an den Zetteln dranhängt!"
Käte nahm das Blatt in die Hand und las: "Ich beantrage meinen Eintritt in die Kommunistische Partei Deutschlands. "Wortlos nahm sie einen Bleistift. Sie hatte den Wink verstanden. Sie malte: Käte Freisler, dann schrieb sie die Adresse und den Betrieb dahinter.
" Bravo!" riefen die Genossinnen und kassierten die zwanzig Pfennig, die Käte zuerst abliefern musste. "Siehste, wieder ein Schritt weiter. Und nun gleich noch das Abonnement für unsere Zeitung. " Käte unterschrieb auch dies. Es wäre ja auch geradezu grotesk gewesen, wenn sie hier für das Aufgebot der Hunderttausend arbeiten wollte und nicht selbst in die Partei ginge. Als sie heute nach Hause ging, ging sie nicht allein. Mit ihr marschierten die Bataillone der Arbeiterschaft. Sie hatte sich eingereiht. Und sie stellte sich vor, wie das mit Fritz werden würde, wenn er wiederkam. Der würde sich freuen! Und sie würden nun zusammen arbeiten. Sie werden alles miteinander besprechen, werden ihre Erfahrungen austauschen, sie wird von ihm lernen. Und im Betrieb wird sie jetzt mächtig arbeiten.
Käte hatte ein neues Leben angefangen. Sie wurde nicht mehr nur so mitgeschoben in dem großen Getriebe, das sich kapitalistische Ordnung nannte. Sie stemmte sich mit gegen diese Ordnung, die in Wirklichkeit eine Unordnung ist. Jede Kraft, die die Verelendungswalze der herrschenden Klasse aufhalten hilft, ist wertvoll. Das hatte Käte erkannt. Als sie am nächsten Morgen in den Betrieb ging, trug sie den Kopf ganz hoch. Wie war das gestern noch?- - - Ja, gestern noch! Da war sie, wie jeden Tag, an Herrn Schneidig vorbeigeschlichen. Heute nicht mehr. Nun, Herr Schneidig war selbst ein Kleinbürger, ein Angehöriger des Mittelstandes. Er konnte morgen schon Proletarier sein, wenn Herr Schneidig dem Warenhauskonzern überflüssig vorkam. Aber vorläufig ließ er sich noch als Werkzeug des Unternehmers gebrauchen. Täte er's nicht, - er säße schon auf der Straße und in der Stempelakademie.
Aber da waren andere. Da waren Herta, Lucie, Marie, Grete, Lotte und wie sie alle hießen. Proletariermädchen, deren Freude es war, wenn sie um Halbacht ihre neue Jacke mit der schicken Taille anziehen und Fräulein höhere Tochter spielen konnten. Für eine Tasse Kaffee und zwei Stunden Tanz. Das war Material für das Aufgebot der Hunderttausend.
Merkwürdig, dachte Käte, gestern war das noch Lotte, heute sehe ich sie mit ganz anderen Augen: als Proletariermädchen, das mitkommen muss zum Parteiaufgebot.
Käte legte sich ihren Plan zurecht. Keiner darf fehlen. Alle müssen mitgehen, mitkämpfen. Man muss sie holen. Und Käte teilte die Menschheit nach neuen Gesichtspunkten ein, nach dem Gesichtspunkt der Klasse Die Proleten, das sind ihre Brüder - die anderen, das sind ihre Feinde. Und sie sprach abends mit der lustigen Genossin darüber. Vielleicht hätte sie selbst zu Fritz nicht so aus dem offenen Herzen sprechen können. Sie entwickelte auch sofort einen ganzen Schlachtplan. Mit der RGO
wollte sie den Betrieb stürmen. Schade, dass das nicht an einem Tage geschehen könnte. Sie spürte ungeheure Kräfte. Aber die lustige Genossin bremste sie ein bisschen. "Das muss alles vorbereitet sein. Sonst fliegst du raus, und keinem ist geholfen."
Käte sah das ein. Sie wollte auch nicht rausfliegen. Aber dann sagte sie: "Und wenn wir immer feste arbeiten und das Aufgebot der Hunderttausend erfüllen und immer weiter arbeiten, dann schaffen wir's. Dann
geht's los. Dann sind sie gekommen, die letzten Tage von........"
Die lustige Genossin legte ihr schnell die Hand vor den Mund und flüsterte: "Pst, Genossin Käte! Notverordnung...."