Am Abend des ersten Tages kam die gnädige Frau zu ihr in die Küche. Am Abend  jenes ersten Tages, an dem Anna mit einer Pappschachtel, in der sich ihre  Ausstattung befand, auf dem Bahnhof der Hauptstadt eingetroffen war und sich  mühsam — wie ein verlaufener junger Hund durch die lärmvollen, unbekannten  Straßen irrend — zum Wenzelsplatz und zum Haus Nummer 33 durchgefragt hatte.  Die „Gnädige" kam zu ihr, nachdem sie Anna fünf Stunden mit den sieben  Zimmern und zwei Ausgängen der Wohnung bekannt gemacht hatte; fünf Stunden,  nachdem Anna belehrt worden war, wie man einen Gasofen anheizen, wie man auf dem  Abort das Wasser herunterlassen und wie man die Kette an der Wohnungstür  vorlegen müsse.
  Die gnädige Frau hatte ein Bündel Zeitungsausschnitte in der Hand. Sie pflanzte  sich in der vollbusigen Würde ihrer fünfzig Jahre vor dem kleinen rotblonden  Dienstmädchen auf und sagte: „Anna, Sie sind ein unerfahrenes Mädchen vom Lande  und wissen nicht, was eine Stadt wie Prag ist. Ich stelle aus Prinzip keine  Prager Dienstmädchen an, weil sie alle verdorben sind. Es erwarten Sie hier  große Gefahren, auf die ich Sie in Vertretung Ihrer Mutter aufmerksam machen  will. Wenn ich sie Ihnen alle schildern wollte, würden Sie mir vielleicht gar  nicht glauben, — aber lesen Sie sich mal dies hier durch!" Die gnädige  Frau legte das Bündel Zeitungsausschnitte auf den Küchentisch. „Lesen Sie es  gut durch!" sagte sie beinahe drohend, und fuhr fort: „Jetzt wird Ihnen  das Fräulein beibringen, wie man die Betten macht, dann werden Sie das Geschirr  vom Abendbrot abwaschen und dann können Sie schlafen gehen. Die Türkette wird  heute nicht vorgelegt, der gnädige Herr hat eine Konferenz und kommt spät heim.  Kommen Sie!"
  Fräulein Dadla, eine siebzehnjährige schwarze Schöne, lehrte Anna im  Schlafzimmer die Betten machen.
  „Schauen Sie her, Mädchen vom Lande! So...  und so...  und so...  und das  Kissen, bums, hierher! Das Nachthemd wird so, bis zur Hälfte, umgekrempelt und  mit der Brust aufs Oberbett gelegt, damit man hübsch in die Ärmel schlüpfen  kann. So! Mama müssen Sie jeden Abend ein Glas Wasser auf den Nachttisch  stellen, hier dieses, sehen Sie...  warten Sie, jetzt nicht, das Füllen hat  später Zeit! — Und wenn Sie vielleicht im Glas etwas sehen sollten, das  ausschaut wie Zähne, so erschrecken Sie nicht davor, — es werden wirklich Zähne  sein. Da werden Sie in Prag noch ganz andere Wunder zu Gesicht bekommen."  Hierauf gingen sie in das Zimmer von Fräulein Dadla. Das war ganz rosa. Es war  rosa ausgemalt, die Möbel waren rosa, die Schleifen auf den Decken, Polstern,  Kissen und auf der Wäsche waren rosa, und der große Bär aus braunem Plüsch, der  in der Ecke auf einem rosa Lehnstuhl saß, hatte ein rosa Band um den Hals. Das  ganze Zimmer duftete nach Parfüm.
  „In der ganzen übrigen Wohnung regiert Mama. Aber das hier ist mein Zimmerchen,  hier kommandiere ich und das ist viel schlimmer. Augen in die Hand! Die  Federbetten müssen so aufgeschüttelt werden! So, hübsch! Das Nachthemd gehört  hierher, das Häubchen daneben, auf dem Nachttisch hat immer der Spiegel und die  Maniküre zu stehen. Das ist dies hier! Dies hier, Mädchen vom Lande, ist der  Toilettentisch und das dort der Waschtisch. Merken Sie sich sehr gut, wie die  Fläschchen und Tiegel dort stehen. Morgen studieren Sie es mal, heute sind Sie  zu sehr aus dem Häuschen, — und wenn dann nicht alles in Ordnung ist, setzt es  einen Heidenkrach. Jetzt können Sie in Gottes Namen gehen...  Anna heißen Sie,  nicht wahr?"
  „Ja, bitte!"
  „Hat Ihnen Mama die Prachtlektüre von Kis und Landru gegeben?"
  Anna verstand nicht. Das Fräulein benahm sich so, dass Anna nicht wusste, ob  sie etwas Ernstes sage, oder sie zum Narren halte. Es wurde ihr ganz ängstlich  zumute.
  „Na, natürlich hat Sie Ihnen das Zeug zum Lesen gegeben", sagte Fräulein  Dadla, „Sie haben es dort in der Küche auf dem Tisch liegen; das bekommt bei  uns jede. Lesen Sie sich das durch, Mädel, das ist was Feines; nachher tut jede  wenigstens vierzehn Tage gut. Wenn Sie davon vielleicht Bauchweh bekommen  sollten, so kommen Sie nur morgen früh, — ich gebe Ihnen dann eine Tafel  Schokolade."
  In den schwarzen Augen des Fräuleins tanzten lustige Fünkchen und in den Mundwinkeln  saß das Lachen. Es bereitete ihr offenbar viel Vergnügen, das ratlose,  rotbezopfte Landmädchen in dem Barchentkleidchen mit emporgekrempelten Ärmeln  anzuschauen, das arme Dienstmädchen mit den verängstigten Augen, das so wenig  von dem verstand, was mit ihm geschah.
  Fräulein Dadla lachte auf. Lustig und nett. Fast so nett, wie Anna mit ihren  Mitschülerinnen in der Schule gelacht hatte.
  „Willst du?" sagte sie und wieder klang es, als ob das eine Kameradin aus  der Dorfschule sagte. Sie öffnete die Schublade des Nachttisches und zog eine  Tafel Schokolade hervor. Sie brach ein Stück ab und gab es Anna: „Da hast du,  lass es dir königlich schmecken!"
  „Vergelt's Gott! Küss die Hand!" stotterte die überraschte Anna dankbar  hervor.
  „Na, Sie können gehen, Anna!" Aber das war nicht mehr die Kameradin aus  der anderen Klasse, sondern das gnädige Fräulein, das gewohnt ist, zu befehlen.
  Anna wusch in der Küche das Geschirr, stellte es auf den Bord, — und Frau  Baumeistersgattin Rubesch kam noch dreimal, um sich sie anzusehen. Dann ging  Anna schlafen. In die Kammer neben dem Badezimmer, deren langes, schmales  Fenster mit dem Gitterwerk auf den Gang hinausging. Die Kammer war klein,  viereinhalb Schritt im Geviert, aber sie war frisch geweißt und hatte oben an  der Decke eine elektrische Lampe. Wenn Anna nicht durch die Eindrücke des Tages  so erschöpft gewesen wäre, hätte es ihr sicherlich hier gefallen. Aber ihre  Leiden waren noch nicht zu Ende.
  Sie setzte sich auf den Bettrand und begann gehorsam die Zeitungsausschnitte zu  lesen, die ihr Frau Rubesch gebracht hatte. Diese Zeitungsausschnitte waren  voller Schrecken, Gespenster und Blut. Und in allen wurden Dienstmädchen  betrogen, beraubt, ermordet, — Graus über Graus!
  In Paris lebte Landru, oh, ein leibhaftiger Teufel mit dem Gesicht eines  hübschen Mannes. Der lockte Mädchen in seine Villa, um sie dort zu ermorden und  ihre zerschnittenen Leichen im Ofen zu verbrennen. Anna sah diese nackten  Leichen, sie sah die Blutlachen in den Rinnen zwischen den Dielen bis unter die  Tür laufen, und sie sah Landru, wie er mit blutunterlaufenen Augen und  gebleckten Zähnen ein Messer schliff. Das Messer kreischte und quietschte auf  dem trockenen Schleifstein, dass einem der Rücken juckte! Sie sah den  furchtbaren Mörder vor dem Ofen knien, wie er — die Ärmel hochgekrempelt, von  der Glut rot beleuchtet — Füße und Hände und Brüste und Köpfe in den Ofen  steckte. Die Frauenköpfe hatten brennende Haare und schmorende Wangen, und sie  bleckten die Zähne auf den, den sie lieben wollten.
  In Ungarn lebte ein Mann namens Kis. Er war Klempner im Orte Czinkot und gefiel  den Frauen wegen seiner Bildung und seiner angenehmen Umgangsformen. Aber wehe  der, die sich dadurch bezaubern ließ und die Schwelle seiner Wohnung  überschritt. Denn dort verwandelte sich der Klempner in einen höllischen  Schlächter, der das Mädchen zwischen die Knie nahm wie einen Ziegenbock und ihr  den Hals durchschnitt. Die Leichen der Mädchen, deren blaue Augen noch im Tode  vorwurfsvoll dreinblickten, presste er in blecherne Fässer, die er verlötete  und in den Keller hinunterschaffte, der sich in einen grauenvollen
  Friedhof verwandelte.
  Auch in der Hauptstadt gab es solche Landrus und Kis'. Sie lauerten den Mädchen  auf den Bahnhöfen, auf dem Wenzelsplatz und in allen Straßen auf. Sie näherten  sich ihnen freundlich, mit lächelnden Gesichtern, machten den Mädchen  Liebeserklärungen und versprachen ihnen die Ehe, — alles nur, um die armen  Geschöpfe besser ausplündern, ihre Postsparkassenbücher stehlen und die  unschuldigen Dinger fürs ganze Leben unglücklich machen
  zu können.
  Anna saß auf dem Rande ihres Bettes, in die Ausschnitte des  „Generalanzeigers" vertieft, und ihre blauen Augen blickten ebenso  entsetzt wie die der Opfer des Klempners Kis. Die Glühbirne hoch oben an der  Zimmerdecke warf ihr Licht auf die kleine, weiß gemalte Stube und verlieh ihr  ein kühles, blutleeres Aussehen, wie es die Opfer des Landru besessen hatten.
  An diesem Tage begriff Anna das volle Grauen ihres Schicksals. Zwar hatten die  erregten Nerven, die Atembeklemmungen ihr schon am Nachmittag eine Vorahnung  dessen gegeben, was sie erwartete. Als sie in der Hauptstadt ankam, und der  schwarze Strom der eilenden Menschen sie aufnahm und mitriss, als sie, mit der  Pappschachtel unter dem Arm, sich durch den Lärm der Straßen durchwand, fraß  die Angst vor der Zukunft an ihr.
  Aber die ganze Öde und Trostlosigkeit ihres Schicksals erfasste sie erst jetzt.  Und plötzlich sehnt sie sich nach ihrer Hütte, ihrer warmen Hütte mit dem  eingebogenen Dach, das sie stets mit Kisten und Reklameschildern von  Zichoriefabriken und Feuerversicherungen ausgebessert hatten. Ihr bangte nach  der fröhlichen Wiese, wo sie Mutters Ziege und die Kühe des Bauern geweidet  hatte, ihr bangte nach dem Pappelwäldchen, nach den Mitternachtsfeuern, an  denen sie mit den Hirten und Gänsehüterinnen gesessen hatte. Ihr bangte nach  der Mutter und dem betrunkenen Vater, nach den fünf kleinen Schwestern. Der  Schmerz der Bangigkeit nahm von ihr Besitz. Sie schnürte ihre Schuhe auf und  weinte. Sie kleidete sich aus und jedes einzelne Stück ihrer ländlichen  Kleidung war von Tränen benetzt. Sie rollte sich im Bett zusammen, zog die  Decke über den Kopf und schluchzte und schluchzte. Sie fürchtete sich  entsetzlich und ihr war schrecklich bange. Sie schlief bis zum Morgen nicht ein.
  „Na, Anna, haben Sie die Zeitungen gelesen?" fragte sie die gnädige Frau  am nächsten Morgen. „Jawohl", flüsterte die bleiche Anna.
  Die Frau Baumeistersgattin machte ihren Rundgang durch die Küche. Ihr großer  Busen bewegte sich unter dem weiten Schlafrock. Sie streifte mit dem  Zeigefinger das gestern von Anna gewaschene Geschirr und sah, ob sich nicht  Fett- oder Staubflecken absetzten; sie hob und senkte die Topfdeckel; sie  prüfte die Gashähne und Gasflammen.
  „Sauberkeit ist die Hauptsache, Anna! Und immer alles fest verschließen, wir  sind nicht auf dem Lande, hier gibt es viel Staub und Ruß. In wenigen Minuten  müssen Sie dem Herrn das Frühstück bringen, ich will Ihnen zeigen, wie er es  wünscht. Um neun Uhr fragen, wann das Fräulein frühstücken will. Wenn sie noch  schläft, wecken Sie sie nicht und seien Sie leise!"
  Dann kam die gnädige Frau zur Hauptsache.
  „Sie haben von diesen Verführern unerfahrener Mädchen gelesen?!" Die Augen  der Frau Rubesch bekamen einen mütterlichen, besorgten Ausdruck.
  „Geben Sie acht, liebes Annchen, seien Sie vorsichtig! Sie sind jung und ich  bin es Ihrer Mutter schuldig, Sie zu warnen. Gerade nebenan im Hause ist etwas  Ähnliches passiert. Das Mädchen hat sich in seiner Verzweiflung ertränkt. Ihn  haben sie auf zwei Jahre eingesperrt. Es war sein achtes Verbrechen. — Mit den  Mädchen im Hause gibt es keine Kameradschaft! Das ist immer der Anfang alles  Bösen. Überhaupt mit niemandem! Wenn Sie sonntags nachmittags zur Kirche  wollen, können Sie gerne gehen. Wir haben sehr viele Bücher, falls Sie lesen  wollen. Halten Sie sich immer an uns. Dann kann Ihnen nichts geschehen! Es wird  nur zu Ihrem Vorteil sein, bei mir können Sie viel lernen. Nicht nur im  Haushalt, das ist selbstverständlich, aber ich will auch sonst für Sie sorgen.  Sie sollen lernen, wie man sich benimmt. Eine solche Stelle wie bei uns können  Sie lange suchen. Der gnädige Herr ist ein berühmter Baumeister und ich bin aus  einer hohen Beamtenfamilie. Mein seliger Vater war Regierungspräsident. Ich  sage es nicht, weil ich stolz darauf bin; Sie sollen bloß wissen, bei wem Sie  sind. Sie werden mich bald kennen. Ich bin Vizepräsidentin des Vereins ,Weißes  Herz'. Ich kenne keine größere Freude, als Leuten Wohltaten zu erweisen. Ich  liebe die Menschen, und ich bin stolz darauf, dass die Menschen auch mich  lieben. Auch Sie werde ich gerne haben, wenn Sie brav sind. Sie sind für mich  ein Familienmitglied und Sie sollen es gut bei uns haben. Ich wechsle die  Mädchen nicht gerne und wenn Sie gehorsam und fleißig sind, haben Sie eine  Versorgung für immer bei uns."
  Auf die ängstliche, unausgeschlafene Anna wirkten die Worte wie kühlender  Balsam. Schon einmal in ihrem Leben hatte sie dieses Gefühl von Kühlung und  Linderung gehabt. Daheim, bei der Predigt in der Dorfkirche, als der Herr  Pfarrer den Vorhang über den Schrecken der Hölle schloss und die Schleier des  Himmels öffnete, hinter denen der Jubel und Gesang der Erzengel erklang. So  erfuhr Anna auch jetzt, dass es nicht bloß eine Hölle der Dienstmädchen gibt,  in deren Blechfässern und rostigen Öfen die neugierigen und ungehorsamen  Dienstmädchen schmorten, sondern auch das ewige Paradies, das alle erwartet,  die fleißig sind und gehorchen.
  „Sie haben mich doch verstanden, liebe Anna?" sagte die gnädige Frau  freundlich. Und sie setzte streng hinzu: „Gehorsam sein und keine  Kameradschaft! Mit der Portiersfrau keine Tratschereien!"
  „Nein, gnädige Frau, gewiss nicht!" versicherte Anna dankbar und  aufrichtig.
  „Na also! Es ist sieben Uhr, der gnädige Herr wird aufstehen. Holen Sie  Brötchen. Nebenan im Hause! Und sagen Sie nur, dass Sie von uns kommen. Der  Bäcker weiß Bescheid."
  Die Warnung der Frau Bauunternehmersgattin Rubesch war sehr berechtigt. Anna  hatte im Laufe der nächsten Tage Gelegenheit, sich davon zu überzeugen. Die  Hauptstadt ist eine Mühle, irgendeine Teufelsmühle, in der alles brodelt und  sich mischt, alles dröhnt und brüllt. Niemand kennt sich aus und alle Lockungen  sind nur dazu da, um einem nachher Unannehmlichkeiten zu bereiten. Da siehst du  dir auf dem Wenzelsplatz einen Umzug von Reklameflaschen an, denen unten die  Beine und ein Stück Hosen hervorschauen. Kaum lachst du, weil das so lustig  aussieht, schon stößt dich jemand an, dass du taumelst.
  Du träumst vor einem Auslagefenster, in dem eine wunderbare Dame steht, beinahe  lebendig, mit einem herrlichen Mieder, das bis zu den Knien reicht. Da stößt  dir jemand die Einkaufstasche mit den Kartoffeln aus der Hand und du musst sie  dir auf dem Gehsteig zwischen den Beinen der Passanten erst wieder mühselig  erjagen. Und auf der Straße, wenn du vor der Straßenbahn zur Seite springst,  hupt sicherlich hinter dir ein Auto und erschreckt dich so, dass du nur durch  ein Wunder nicht in den Handwagen hineinrennst, den einer auf dich zusteuert.  Wenn dich einer anschreit: „Hast du keine Augen, blöde Gans?" kannst du  noch froh sein, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist. Nein, die gnädige  Frau hat recht: Es war besser, sich ans Haus zu halten.
  Warum auch weggehen, wenn's zu Hause Sicherheit, Wohlergehen und eine gute  Herrschaft gab. Sie aß bis zur Sattheit und bekam beinahe dasselbe Essen wie  die Herrschaft. Arbeit, schwere Arbeit, war Anna vom Elternhaus, vom Bauern her  gewohnt. Die gnädige Frau war streng, aber gutherzig. Sie war Mitglied eines  Wohltätigkeitsvereins und kein Bettler klingelte an der Türe, der nicht eine  Tasse Kaffee und ein Stück Brot oder gar Reste vom Mittagessen bekam. Der  Anblick der Armen rührte Frau Rubesch. Er rührte sie wirklich tief.
  „Es gibt soviel Elend auf dieser Welt", sagte sie aufseufzend. „Soviel  bitteres Elend, liebe Anna. Und es ist schön, wenn wir es auch nur ein wenig  lindern und wohltätig sein können. Ich bin glücklich, dass es mir unsere  Verhältnisse gestatten. Das ist meine einzige Freude. Sie sehen doch selbst,  wie wenig ich sonst vom Leben habe. Wenn ich nur könnte, ich würde gerne mehr  geben. Jetzt wird ja wohl alles besser werden, sobald nur die furchtbaren  Wunden des Krieges verheilt sind."
  Anna hörte gesenkten Auges zu. Eine Welle von Dankbarkeit durchströmte sie. Sie  dankte dem Schicksal, das sie zu einer so guten Herrin geführt hatte.
  Mit dem Herrn gab's überhaupt keine Schwierigkeit. Viermal täglich passierte er  die Diele. Sein grauer Schädel war kahl geschoren, sein Spitzbart kurz  geschnitten. Er trug ein Vereinsabzeichen im Knopfloch. Er gab Anna keine direkten  Befehle, er ließ ihr alles durch seine Frau bestellen. Frühmorgens verließ er  das Haus und kehrte erst spät abends zurück. Er hielt sich nur ein Stündchen  nach dem Mittagessen auf, las die Zeitungen und liebkoste Dadla ein wenig. Man  merkte deutlich, wie sehr er sie liebte. Aber auch diese Zärtlichkeiten waren  nur wie von ungefähr, als ob er sich bewusst wäre, dass er dazu wenig Zeit habe  und dass Wichtigeres zu bedenken sei.
  Er fasste sie um die Hüfte, blickte ihr in die Augen und klopfte ihr auf die Schulter.  Genau so, wie man Pferde streichelt. „Na, kleines Füllen, wie geht's  denn?"
  Er brachte ihr Parfüms, Spitzen, Strümpfe und Seide. Doch vergaß er die Sachen  oft in der Tasche und Anna fand sie morgens im Pelz. Manchmal erinnerte er sich  beim Mittagessen, blickte das Fräulein lächelnd an und sagte leichthin: „Heute  hat Vater ein paar Groschen verdient. Was soll er dir denn kaufen?"
  Oder, während er ihr den Rücken streichelte: „Du bist doch mein Mädel, nicht?  Sei man ganz stille, ich besorge dir einen Prinzen. Einen richtigen Prinzen.  Aber du musst noch zwei Jahre warten!"
  Mit dem Fräulein war nicht so leicht auszukommen wie mit dem Herrn. Sie  quengelte wegen der Wäsche. Sie liebte ihre Sachen, liebkoste sie. Wenn sie von  ihrer Wäsche sprach, sagte sie stets Höschen, Hemdchen, Leibchen, Spitzchen.  Sie drapierte sich vor dem Spiegel ihre Wäschestücke um die Schulter, schmiegte  sie zärtlich an die Brust, legte sie an die Wange, als ob sie lebendig wären.  Sie erlaubte nie, dass jemand ihre Sachen schlecht oder nicht genug ehrerbietig  behandelte. Aber auch das Fräulein war gutmütig. Eine Stunde, nachdem sie Anna  ein schlecht gebügeltes Hemd nachgeworfen hatte, kam sie, alles vergessend, mit  Schokolade oder Pralinen an.
  „Willst du?" Sie sah dabei aus wie eine Schulkameradin. „Aber du darfst  Mama nichts erzählen!...  Nein, sagen Sie Mama nichts, Anna, sie glaubt, ich  verderbe Sie!"
  Im übrigen hatte das Fräulein allen Grund, Anna zu schonen. Manchmal, des  Abends, wenn Frau Rubesch zur Vereinsversammlung ging, kam das Fräulein in die  Küche. Sie trug dann ihr bestes Kleid, Lackschuhe und ihren schönsten Hut.
  „Ich gehe auf einen Sprung zu meiner Freundin. Erzählen Sie Mama nichts davon,  Annchen", sagte sie so nebenbei. Aber wenn sie eine halbe Stunde vor Mamas  Rückkehr nach Hause kam, leuchteten ihre Augen. „Kein Wort, Anna! Vater würde  mich erschlagen!" Und an der Tür ihres Zimmerchens: „Ich schenke Ihnen  einen wunderschönen Schlüpfer."
  Fräulein Dadla war nicht das einzige Kind der Baumeistersfamilie. Ein Zimmer  der Wohnung, vor kurzem noch bewohnt, stand nun unbenutzt. Als Anna ihren  Dienst antrat, roch es noch nach Zigaretten, Haarpomade und dem Körper eines  jungen Mannes. Auf dem Nachttisch lagen noch Spuren von Asche, die Zeitschrift  „Sport und Spiel" und eine aufgeschnittene Nummer von „La vie  parisienne". Dieses Zimmer übte auf Anna durch den Schleier des  Geheimnisvollen, der über ihm lag, eine besondere Anziehungskraft aus.
  „Wessen Zimmer ist das neben dem Salon?" fragte Anna die gnädige Frau, als  sie beide das Mittagessen kochten.
  Die gnädige Frau betrachtete Anna forschend. „Ein wohlerzogener Mensch fragt  nicht, Anna, merken Sie sich das! Er wartet, bis wir ihm selbst sagen, was uns  notwendig scheint...  Doch warum soll ich's Ihnen nicht sagen: Es ist das Zimmer  unseres Sohnes Ehrenfried. Er ist verreist...  nach Paris."
  Frau Rubesch spickte einen Hasen auf dem Küchentisch. Nach einer Weile ließ sie  die Arbeit liegen und ging in der Küche auf und ab. Sie nahm sichtlich ohne  Grund bald dies, bald das in die Hand, und wandte Anna ständig den Rücken zu.  Sie blieb am Küchenfenster stehen und blickte in den Hof. Sie nahm ihr  Taschentuch und schnäuzte sich. Dann kehrte sie zu ihrem Hasen zurück.
  Als Anna ihre Augen vom Kloßteig erhob, sah sie, dass die gnädige Frau weinte.  Die Tränen liefen ihr die Wangen hinab.
  Anna erschrak heftig. Frau Rubesch bemerkte, dass das Mädchen sie beobachtete.
  „Ich hatte zwei Söhne, Anna", erzählte sie. „Der Ältere ist im Kriege  umgekommen. Mein Mann hatte ihn mit großer Mühe im Ministerium untergebracht  und ich dankte Gott, dass er nicht an die Front musste. Ich dachte, Gott weiß,  welches Glück erlebt zu haben. — Er starb dort an Lungenentzündung...  Jetzt  wäre er schon Architekt." Dicke Tränen rollten über die Wangen der Frau  Baumeistersgattin. Sie fielen auf den Hasenrücken und ihre Hand legte die  Spicknadel weg, um nochmals nach dem Taschentuch zu greifen.
  „Das Leben ist grausam und Sie haben es gut, Anna...  Mein Mann kennt nur seine  Arbeit und Dadla will ich nicht ihr junges Leben verbittern. Ich kann mich mit  niemandem aussprechen. Das ist von allem das Schwerste."
  Anna dauerte die gnädige Frau. Sie war selbst nahe am Weinen. Sie konnte  freilich nicht wissen, dass ihre Herrin nicht allein um den verstorbenen Sohn,  dass sie auch Ehrenfrieds wegen weinte. Niemand hatte Anna erzählt, dass der  junge Herr in einem Vierteljahr mit einer russischen Emigrantin, der Fürstin  Kovalevska, ein Vermögen durchgebracht hatte, das genügt hätte, um Annas Vater  und der siebenköpfigen Familie für immer ein gutes Leben zu bereiten. Dass  Ehrenfried auf des Vaters Namen für 25 000 Mark Wechsel gefälscht hatte und nun  mit Warvara Nikolajewa nach Frankreich durchgebrannt war, wo ihn der Vater von  Privatdetektiven suchen ließ. Anna wusste nicht, dass die Tränen der Frau nicht  nur ihren beiden Söhnen galten, sondern auch ihrer ältesten Tochter. Dieses  Kind aus gutbürgerlichem Hause hatte sich auf einem Ball in einen lungenkranken  Studenten verliebt, und als der Baumeister sein unwiderrufliches „Nein"  ausgesprochen hatte, stellte sie diesem „Nein" ihr gleich hartes „Ja"  entgegen. Sie nahm seine Schläge ohne eine Träne hin. Am nächsten Morgen fuhr  sie mit ihren Juwelen und ihren Sparkassenbüchern zu ihrem Geliebten in das  Häuschen seiner Eltern, die als Bäcker auf dem Lande lebten. — Sie war  großjährig. Die einflussreichen Bekannten in den Ämtern, an die sich der  Baumeister wandte, bedauerten, ihm nicht behilflich sein zu können. Mit Gewalt  sei da nichts zu machen. Als er bei der Postsparkasse die Auszahlungen an seine  Tochter sperren und beweisen wollte, dass das Geld ihm zustehe, da stellten die  klugen Bäckersleute die reiche Erbin unter den Schutz des sozialdemokratischen  Kreisblattes und des Vertrauensmannes dieser Partei. Die hauptstädtischen  Zeitungen taten ein übriges. Der Baumeister raste. Jetzt siechte der  Schwiegersohn im schweizerischen Kurort Davos dahin und seine Frau war bei ihm.  Dies alles erfuhr
  Anna erst viel später. Sie konnte nicht ahnen, dass die gnädige Frau des  Morgens beim Aufstehen sich zuerst zum Nachttisch ihres Mannes hintappte, wo  die Brieflasche lag. Sie nahm ihm 10, manchmal auch nur 5 Mark weg, die sie  aufsparte, um sie nach Davos dem Schwiegersohn zu schicken, den sie nur einmal  gesehen hatte: auf jenem Ball.
  Annas Herrin war nicht glücklich, und ihre einzige Freude, ihr gutes Herz,  funktionierte auch nicht reibungslos. Anna erinnerte sich eines Auftritts, der  sie zutiefst erschütterte.
  Sie kochte damals gerade das Mittagessen und die gnädige Frau arbeitete irgend  etwas im Salon.
  Es klingelte und Anna ging öffnen.
  Vor der Türe stand eine arme Frau mit einem Paket. „Ist Frau Rubesch zu  Hause?" fragte sie und ihre Stimme zitterte leise. „Jawohl, soll ich etwas  bestellen?"
  Die fremde Frau stemmte sich gegen die Türe, öffnete sie und ging an Anna vorbei  zur Diele. Sie schloss hastig eine Tür nach der andern auf und blickte in jedes  Zimmer. Anna eilte hinter ihr her.
  „Das dürfen Sie nicht machen, liebe Frau! Das dürfen Sie nicht tun",  flüsterte sie und zupfte sie am Ärmel.
  Doch die Fremde stand schon im Salon vor der gnädigen Frau.
  „Was wünschen Sie, was suchen Sie hier?" fragte die gnädige Frau streng  und herrisch.
  „Ich werde Ihnen gleich erzählen, was ich wünsche und was ich hier suche."  Die Stimme der Frau, die sich vergeblich zur Ruhe und Gleichgültigkeit zwang,  ließ große Erregung merken.
  „Sie schickten mir da aus dem Verein ,Weißes Herz' diese Hosen und diese beiden  Kohlköpfe und ich bringe sie zurück!" Die Frau legte ein Paket auf den  Tisch und öffnete es. Eine alte Hose des gnädigen Herrn und zwei Kohlköpfe  kamen zum Vorschein. Sie schob diese Sachen näher an die Frau Baumeistersgattin  heran: „Ich will Ihnen noch folgendes sagen: ,Ich pfeife auf Ihre  Wohltätigkeit!'" Die Stimme der Frau bebte leidenschaftlich. Die gnädige  Frau wurde weiß wie eine Wand. Sie wich den glühenden Augen aus, der  vorgestreckten Stirn, die jederzeit bereit war, vorzustoßen. „Wir wollen keine  Wohltätigkeit, wir wollen unser Recht!" schrie die Frau. „Wissen Sie, wer  mein Mann ist? Er war fünfunddreißig Jahre lang Maurer bei Ihrem Mann und bei  Ihrem Schwiegervater, und jetzt hat ihn Ihr Mann auf die Straße geworfen, weil  er alt ist, abgeplagt, rheumatisch und lahm. Weil man ihn jetzt nicht mehr  ausbeuten kann! Die Unfallversicherung hat seine Ansprüche abgelehnt, und als er  vorige Woche hinter Ihrem Mann auf den Bau kletterte, ließ er ihn vom  Schutzmann abführen. Da schauen Sie mal her, Sie Wohltäterin!" Die Frau  öffnete ihr verwaschenes Kleid, zog es über die Schultern herunter, zeigte das  nackte Gerippe, ohne Muskeln: „Das hat auch alles euer Bau auf dem Gewissen.  Jetzt zahlen Sie mir dafür vier Mark monatlich Rente. Was kann ich denn noch  verdienen? Wir krepieren vor Hunger und Sie denken sich, dass Sie das mit ein  paar alten Hosen und mit zwei Kohlköpfen wieder gutmachen können? Ihr habt euch  das gut verteilt, Sie und Ihr Mann. Er schindet uns die Haut vom Leibe und Sie  schicken uns alte Hosen, damit man unsere Nacktheit nicht sieht! Wir husten auf  eure Wohltätigkeit."
  „Was wollen Sie von mir?" stotterte die gnädige Frau. „Ich kenne Sie ja  überhaupt nicht. Nicht ich habe Ihnen das geschickt, sondern das ,Weiße Herz'.  Warum erzählen Sie mir das alles. Ich weiß, dass das furchtbar ist, aber ich  bin doch nicht schuld daran." Die Frau Baumeistersgattin kämpfte mit  Tränen.
  „Sie sind nicht schuld daran?" Die Frau schrie diese Worte heraus. Auf  ihren eingefallenen Wangen malten sich rote Flecken. „Wer hat denn für diese  herrlichen Salons hier geschuftet? Für diese Parfüms, nach denen Ihre ganze  Wohnung stinkt. Von wem haben Ihre Jungens das Geld, das sie mit Huren  verprassen? Ja, Sie sind unschuldig!" Die Frau lachte wütend auf.  „Selbstverständlich, Sie sind ganz unschuldig. Warum schindet uns denn Ihr  Mann? Um seinetwillen? Wir kennen ihn schon fünfunddreißig Jahre, liebe Frau,  und wir wissen, wie er lebt, wie er sich kleidet, was er isst und trinkt. Die  Mädels haben ihn auch nicht viel Geld gekostet. Er führt sie ja direkt vom Bau,  von der Maurerarbeit aufs Büro und zahlt ihnen dann fünf Pfennige mehr für die  Stunde. Nein, nur Ihretwegen schindet er uns!" Die Frau ließ ihre Augen im  Salon umherwandern und sie verwandelten sich in zwei Flammenwerfer, die alles  verbrannten, was sie berührten. „Und alles nur wegen dem Dreck da", schrie  sie und wies mit dem Zeigefinger auf die Lehnstühle, Fauteuils, Bilder,  Skulpturen und Vitrinen. „Für diesen Dreck. Und für Sie, für Sie!" Sie  schritt auf die Frau des Architekten zu. Frau Rubesch, bleich und verängstigt,  wich Schritt um Schritt zurück, in die Ecke, in der auf einem Ebenholzsockel die  Alabasterbüste eines Maurers stand. „Wer hat das alles für euch geschafft? Ich  und mein Mann. Das ist unser Geld. Das ist das Blut meines Mannes. Das ist  meine Milch!" Die Frau, deren Kleid noch offen stand, schlug sich gegen  die nackte Brust. „Diese Brust, diese Milch, die ich meinen Kindern gestohlen  habe, damit ihr dick und fett werden könnt!"
  „Aber liebe Frau, ich bitte Sie", flüsterte Frau Rubesch. „Ich bin  wirklich nicht schuld daran. Ich kenne Sie ja gar nicht."
  Ein Hustenanfall schüttelte die Frau des Maurers.
  Anna, entsetzt und halb betäubt, zog sie sanft am Ärmel: „Liebe Frau, ich bitte  Sie... "
  „Es ärgert mich selbst, dass ich so dick bin", entschuldigte sich Frau  Rubesch. „Ich tue dagegen, was ich kann. Ich esse sehr wenig, Das wird Ihnen  Anna hier bestätigen."
  Die Stimme der Frau überschlug sich in ein krampfhaftes Lachen. Aber das Lachen  verwandelte sich wieder in Husten, in einen reißenden und tödlichen Husten.
  Anna zupfte sie unentwegt am Ärmel. „Du hast recht, Mädchen", sagte die  fremde Frau müde. „Sie ist doch dumm, sie versteht kein Wort von dem, was ich  ihr sage. Sie glaubt selbst, dass sie unschuldig ist. Sie heilt ihr Fett in  Karlsbad...  Sie hat ein gutes Herz...  Fein haben sie sich das eingeteilt, sie  und ihr Mann."
  Sie ging zum Tisch und zog das Tuch weg, auf dem die Hosen und der Kohl lagen.  Die Hosen blieben auf dem Tisch liegen, aber die Kohlköpfe rollten auf den  Teppich und gruben sich in seine dicke Wolle ein.
  Sie ging. An der Türe wandte sie sieh nochmals um. Sie hob die magere Faust  gegen die Frau des Baumeisters und ihre Stimme gewann an Festigkeit.
  „Ich habe einen fünfzehnjährigen Sohn zu Hause. Der wird uns rächen!"
  Anna sagte unermüdlich: „Liebe, liebe Frau, ich bitte Sie... "
  Die erschöpfte Maurersfrau verließ die Wohnung. Anna schloss die Tür hinter  ihr, dann kehrte sie in den Salon zurück, um Hosen und Kohl wegzuräumen. In der  Mitte des Zimmers stand Frau Rubesch, weiß wie die Büste des Maurers. Ihre  Augen waren gesenkt. Leid war in ihnen, Erniedrigung, Scham und gerechter Zorn.
  Anna ging in die Küche. Auch Anna war bleich, zitterte. Sie war dem Weinen  nahe. „Welche Ungerechtigkeit", sagte sie sich, „welches Unrecht an der  gnädigen Frau." Anna schämte sich für die fremde Frau, aber als sie ihr  noch ein hartes Wort nachwerfen wollte, gelang ihr dies nicht, wusste sie denn,  nicht, wie es bei einem Maurer aussieht, wenn es keine Arbeit gibt und der  Kaufmann auch nicht einmal mehr ein viertel Pfund Bruchreis pumpen will? Aber  was konnte denn ihre gnädige Frau dafür, dass es auf der Welt Elend gab,  verkrüppelte Maurer und verzweifelte Frauen? Wie schwer ist alles, wie  furchtbar schwer in diesem Babylon, das man Prag nennt, und wie ist daheim in  der Hütte alles leichter und einfacher.
  Im Vorzimmer ging das Schloss, die Tür öffnete und schloss sich und Fräulein  Dadla blickte im Vorbeigehen in die Küche. Sie kam vom englischen Unterricht  zurück.
  „Wo ist Mama?"
  „Im Salon, Fräulein", sagte Anna. Das Herz blieb ihr stehen.
  Das Fräulein ging in den Salon, aber als sie von der Mutter kein Wort erfahren  konnte, zog sie wieder in die Küche.
  „Was ist denn wieder bei uns passiert?" brach sie aus.
  „Um Gottes willen, Fräulein... " Anna fasste sich, fand erst jetzt Worte,  dem Fräulein alles zu erzählen. Das Fräulein lief aus der Küche in den Salon.
  „Pfeif doch endlich auf diese blöde Humanität", schrie sie die Mutter an,  „hundertmal hab ich dir das schon gesagt. Was hast du davon, nur Ärger und  Undank. Warum habt ihr sie nicht hinausgeworfen, warum hast du die Polizei  nicht holen lassen? Ich werde dem Vater telefonieren, dass er sie sofort  verhaften lässt. Vater wird schon wissen, wer es war. Hundertmal habe ich dir  gesagt, dass du dir eine Zofe nehmen sollst. Was konntest du denn anderes  erwarten von diesem Dorfmädchen? Wir leben wie die Krämer, unsere Wohnung ist  wie eine Passage und in unseren Salon kommt jede Maurersfrau. Da hast du deine  beschissene Humanität, da hast du deine blöde Sparsamkeit."
  Fräulein Dadla warf die Salontüre zu, dass die Wände
  krachten. Sie ging ins Arbeitszimmer des Herrn, telefonierte mit dem Vater und  zog sich dann auf ihr rosa
  Zimmerchen zurück; auch da schlug sie die Tür ins Schloss.
  Aus Annas Augen sprach Verwunderung.
  „Sie haben doch gesehen, Anna", sagte am nächsten Tag die gnädige Frau in  der Küche, „welchen Undank ich für meinen guten Willen ernte, und der Herr  dafür, dass er sie ernährt."
  Sie sagte das bitter, man merkte, dass es ihr weh tat. „Und was das  Frauenzimmer erzählte, war überhaupt nicht wahr. Wenn wir etwas besitzen, kommt  das nicht von ihrer Arbeit, bei der setzen wir nur zu. Wir verdienen bloß an  den Lieferungen, die der Herr eben zugeteilt erhält."
  Anna schwieg.
  „Sprechen Sie öfter mit Frau Dworak?"
  „Nein, gnädige Frau."
  „Und mit der Marie vom dritten Stock auch nicht?"
  „Auch nicht, gnädige Frau."
  Frau Dworak war die Portiersfrau. Marie war beim Oberinspektor bedienstet. Anna  kannte sie vom Sehen, sie begegnete ihr im Hause und einige Male traf sie mit  ihr beim Bäcker zusammen. Diese Marie war ein lustiges und ausgelassenes Mädel.  Beim Bäcker band sie den Mädchen die Schürzen zusammen, kitzelte sie mit dem  Kuchenheber am Halse und steckte zum Schluss mit ihrem Lachen den ganzen Laden  an. Anna hörte sie eigentlich früher als sie sie sah. Wenn sie des Morgens  sauber machte und das Fenster offen stand, da war auch Marie zwei Treppen über  ihr beim Aufräumen und öffnete die Fenster. Marie sang bei der Arbeit, und ihr  „Ich küsse Ihre Hand, Madame", „Ausgerechnet Bananen" und „Aus weiter  Ferne den Ring zurück" klang hell durch den Hof. Sie sang ihre Lieder für  das ganze Haus und man merkte, dass sie am liebsten über die Dächer der  Zinshäuser für den ganzen Wenzelsplatz und über den Häuserblock hinweg der  ganzen Stadt gesungen hätte. Anna blieb am Fenster stehen, versteckte sich  hinter der Gardine und lauschte. Es war ihr fröhlich zumute und sie lächelte.  „Aus weiter Ferne den Ring zurück" konnte sie schon ein wenig mitsummen.  Marie nahm beim Hinuntergehen immer drei Stufen auf einmal, und wenn sie mit  jemandem ging, klang das ganze Treppenhaus von ihrem Lachen.
  „Das ist schon wieder dieser Narr aus dem dritten Stock. Die scheint mir die  Richtige", pflegte die gnädige Frau zu sagen, wenn Marie wie ein Gewitter  an der Tür der Wohnung vorbeischoss.
  Und Frau Dworak, die Portiersfrau, vom Lärm erzürnt, lief aus der Loge heraus:
  „Was ist denn schon wieder für ein Krach hier?" Aber wenn sie Marie sah,  schwand der Zorn und sie schimpfte nur noch der Form wegen.
  „Du unordentliches Luder, du elendes, ich muss dir doch eins mit dem Besen  langen."
  Sie holte schnell den Besen und versetzte Marie einen Schlag auf den Rücken.  Marie kreischte auf, hielt sich am Geländer fest und zog dann mit Gekicher aus  dem Hause auf den Wenzelsplatz.
  Eines Morgens, als Anna einkaufen ging, und eben die Wohnungstür hinter sich  geschlossen hatte, stieß sie mit Marie zusammen. Die lachte.
  „Na, du hübsche Blondine, warum versitzt du deine ganze Zeit bei deiner Alten?  Komm, wir lachen uns ein paar Jungens an und gehen irgendwohin."
  Anna errötete und senkte die Augen.
  Marie lächelte.
  „Euern Ehrenfried habt ihr nicht gefunden, na, Mädel, das ist ein richtiger  Freier."
  Anna wusste vor Verlegenheit nicht, wohin sie schauen sollte.
  „Na, was hat denn deine Alte gesagt, als ihr da unlängst Frau Nechleba so fein  aufgespielt hat? Na weißt du denn nicht, wer die alte Nechleba ist, das ist  doch die mit den Kohlköpfen und den Hosen vom Herrn. Da siehst du, meine Liebe,  die Portiersfrau und ich, wir wissen alles!'"
  Anna stand wie auf glühenden Kohlen, und je mehr die andere lachte, um so mehr  errötete sie. Marie lief, die Antwort nicht mehr abwartend, die Treppe  hinunter. Auf dem Podest hielt sie und lachte Anna, die wie festgewachsen  stand, ins Gesicht.
  „Du scheinst mir noch richtig grün zu sein."
  Sie kicherte und verschwand.
  Nein, Anna sprach mit niemandem und traf sich mit niemandem. In der Kneipe, wo  sie vor dem Abendbrot zwei Dunkle holte, sagten sie ihr „Gott, haben Sie  schönes Haar, Fräulein". Sie senkte errötend die Augen und schwieg  verbissen auf alle Fragen. Der Kellermeister im weißen Rock lachte sie an, wenn  er ihr die Gläser abnahm, um einzuschenken. „Na ja, die ist stolz." Und  als sie in der Durchfahrt ein junger Mann mit einem hoffnungsfrohen „Wohin  denn, Fräulein", ansprach, vergrub sie den Kopf tief in die Schultern und  rannte, bis ihr der Schaum vom Bier auf die Schürze flog. Sie ging nur aus, um  einzukaufen. Es lohnte auch gar nicht; denn wenn man von 6 Uhr morgens bis 9  Uhr abends oder gar, wenn man sich nicht beeilt hatte, bis 10 Uhr arbeitete,  war man froh, bis zum Morgen schlafen zu können, wo die gnädige Frau ihr lautes  „Anna" in die Kammer rief. Frau Rubesch hatte sich schon lange abgewöhnt,  vergeblich an die Tür zu klopfen, und manchmal half auch „Anna" gar nichts  und es war notwendig, die Schlafende an der Schulter zu ziehen. „He, Anna, hören  Sie denn nicht? Aufstehen!"
  Sonntag nachmittags lieh ihr die gnädige Frau ein Buch zum Lesen. Von den  Ereignissen in den Hussitenkriegen, von Sherloek Holmes, von Leon Clifton, von  Nick Carter und Wallace. Danach konnte sie dann niemals einschlafen und sie  stand noch oftmals aus dem Bette auf, um sich zu überzeugen, ob die Kette  vorgemacht war. In der Bibliothek des Herrn war noch ein wunderbares Buch.  Gedichte vom Frühling, vom Mond über dem Teich und von süßen und schmerzlichen  Gefühlen in der Brust. Die erweckten in Anna Erinnerungen an die Jugend, an die  Hütte mit dem durchlöcherten Dach und an die fünf Schwestern. Im  Zigarrengeschäft, wo sie die Zigarren für den Herrn holte, kaufte sie  Ansichtskarten mit Hainen, Sonnenuntergängen — die Sonne war von echtem Gold —  und schrieb Gedichte aus den Büchern darauf und sandte sie ihren Schwestern und  Freundinnen auf dem Lande. Ein wenig als Erinnerungszeichen und ein wenig, um  groß zu tun.
  Fräulein Dadla hatte auch Bücher. Sie verbarg sie im Schrank unter der Wäsche.
  „Lesen Sie doch nicht diesen Unsinn für kleine Kinder", sagte sie eines  Sonntags zu Anna, „ich borge Ihnen etwas Besseres, aber vor Mama keinen Ton und  nur lesen, wenn sie nicht zu Hause ist."
  Die Bücher des Fräuleins waren ganz anders. Man fand darin viele Bilder  eleganter Herren und halbnackter oder nackter Damen, und als Anna sie zum  ersten Mal sah, errötete sie. Aber als sie zu lesen begann, merkte sie, dass  sie viel interessanter waren als die Schilderungen der Hussitenkriege und die  Heldentaten berühmter Detektive. Manchmal waren sie so, dass sich einem der  Kopf drehte und man musste mit der Hand die erhitzte Wange streicheln, ein  bisschen in der Küche auf und ab gehen, das Fenster öffnen und die kühle Luft  tief einatmen. In einem Buch war ein herrliches Bild. Ein elegant gekleideter  Herr hielt eine Dame in den Armen. Das war der Sohn des Stahlkönigs und sie war  die Gattin eines verlebten Herzogs. Die Frau hatte nur eine Spitzenkombination  an, von der linken Schulter war das Band heruntergerutscht, so dass die Brust  zu sehen war. Das Bild hatte die Unterschrift: „Ich liebe dich, ich liebe dich,  stöhnte Joe und drückte sie an seine männliche Brust". Anna schaute sich  dieses Bild oft und lange an und in ihre Augen trat ein ungewöhnlich weicher  Ausdruck. Wird auch sie, Anna, jemand an die männliche Brust drücken und  stöhnen: „Ich liebe dich, ich liebe dich?"
  Sie saß auf einem niedrigen Schemel zwischen Abwaschtisch und Küchenschrank  unter der Lampe, die an einer Schnur hängend bis zu ihrer Stirn herabreichte, und  ihre Augen schweiften in die Weite. Dieses Bild duftete wie das Zimmer des  jungen Herrn, es duftete nach Haarpomade, nach Zigarettentabak und nach  Geheimnis. Kommt der junge Herr, kommt Joe? Sie hebte ihn. Er kam wirklich. Es  war also kein Traum und er klingelte in Wirklichkeit an ihrer Tür.
  Anna stockte der Atem. Sie erkannte ihn sofort. Er stand vor ihr auf der Matte  vor der Wohnungstür. Er trug einen grauen Mantel, weichen Hut, amerikanische  Handschuhe und moderne Schuhe. Er war jung, interessant, bleich. Unter den  wunderbaren, tiefen Augen zogen sich blaue Schatten. Hinter ihm standen zwei  ältere Herren in ehrerbietiger Haltung.
  „Ist Mama zu Hause? Ich bin Ehrenfried Rubesch. Sie sind das neue  Dienstmädchen?" Seine Stimme war fest und hell.
  „Es ist niemand zu Hause, der Herr und das Fräulein sind in die Stadt  gegangen", stotterte Anna.
  „S'il vous plait?" sagte er zu den beiden Herren und schritt selbstbewusst  durch das Vorzimmer, durch die Diele direkt in sein Zimmer. Die beiden Herren  hinter ihm.
  „Wenn Mama zurückkommt", sagte er zu Anna, ohne sie anzusehen, „sagen Sie  ihr, dass ich gekommen bin." Er verschwand in seinem Zimmer. Anna stand  auf der Diele. Es war wie ein Wunder. Wie eine plötzliche Feuersbrunst. Anna  blickte auf den roten Läufer, auf dem er ging, und es schien ihr, als zöge sich  hier ein silberleuchtender Faden, der im Türschloss seines Zimmers mündete. In  der Küche wartete der Abwaschtrog mit warmem, fettem Wasser und Geschirr. Sie  musste an die Arbeit gehen. Aber diese halbe oder dreiviertel Stunde, die sie  noch allein zu Hause war, war zerrissen, und einige Male ging sie nach der  Diele, um nachzusehen, ob sich nicht die Türe zum Zimmer des jungen Herrn  öffnen und er ihr irgend etwas befehlen würde. Und ihr Herz schlug immer  stärker. Dann ging das Schloss und Fräulein Dadla kam mit einigen Paketen  beladen. Anna ging ihr entgegen.
  „Fräulein, der junge Herr ist gekommen", flüsterte sie.
  „Welcher junge Herr?"
  „Herr Ehrenfried."
  Das Fräulein blinzelte mit den Augen und schaute zur Seite. Sie sagte nichts  und ging ins rosa Zimmer. Einige Minuten später kam die gnädige Frau.
  „Gnädige Frau, Herr Ehrenfried ist gekommen", meldete Anna und ihre Stimme  zitterte in leisem Lachen.
  „Wo, wo?" fragte die gnädige Frau erregt. Ihre Augen weiteten sich und ihr  welkes Gesicht verjüngte und verschönte sich von der Röte, die ihr in die  Wangen schoss.
  „In seinem Zimmer, gnädige Frau, er ist dort mit irgendwelchen Herren",  antwortete Anna.
  Frau Rubesch warf Anna ihre Pakete zu und eilte nach dem Zimmer ihres Sohnes.  Sie drückte die Klinke. Es war zugeschlossen. Sie klopfte.
  „Ehrenfried, mach auf, ich bin es, Mama." Ihre Stimme klang jung wie die  einer Liebenden. Die Tür öffnete sich und die gnädige Frau fiel auf der  Schwelle dem Sohn in die Arme.
  „Friedel", jubelte sie.
  Nach kurzer Zeit ging das Fräulein durch die Küche. Sie hatte sich inzwischen  umgezogen und frisiert. Auch sie klopfte beim jungen Herrn.
  „He, Alter, öffne doch mal die Tür", rief sie mit einer Heiterkeit, der  man anmerkte, dass sie gemacht war. Sie hielt sich beim Bruder nicht länger auf  als notwendig war, ihn zu begrüßen. Sie ging dann wieder in das Arbeitszimmer  des Herrn und telefonierte mit dem Vater. Die gnädige Frau kam aufgeregt in die  Küche. Sie lief, sie, deren jede einzelne Bewegung sonst langsam und vornehm  war, lief wie ein junges Mädchen und war voll Lebensfreude und Kraft. Ihre  Augen strahlten jung.
  „Anna, er hat doch noch gar nichts gegessen", sagte sie halblaut und war  sichtlich erbost darüber, dass so etwas geschehen konnte. „Er ist seit morgens  unterwegs, aber jetzt nur schnell, ganz schnell. Er kann nicht bis zum  Abendbrot warten. Kaufen Sie beim Schlächter drei Beefsteaks, hübsch aus der  Mitte und hoch, und im Delikatessengeschäft eine Dose Hummern, der junge Herr  isst sie so gern, und Mayonnaise. Nehmen Sie einen Topf mit dafür. Dann eine  Flasche Wein, der junge Herr trinkt kein Bier. Im Delikatessengeschäft wissen  sie schon, was der Herr trinkt. Aber bitte sehr schnell, so schnell wie Sie nur  können."
  Anna flog. Als sie abgehetzt vom Einkauf heimkam, ließ die gnädige Frau Butter  aus, machte Bratkartoffeln und schnitt Zwiebeln.
  „Also, Anna, jetzt gehen Sie in das Zimmer des jungen Herrn den Tisch decken.  Drei Gedecke und dann springen Sie, schnell für die fremden Herren Bier holen."  Anna trat die Röte in die Wangen.
  „Gern, gnädige Frau."
  Sie ging klopfenden Herzens, und als sie die Klinke berührte, zitterten ihre  Knie. Im Zimmer stand blauer Rauch und helles Licht. Der junge Herr lag auf der  Ottomane; er blickte zur Decke empor und rauchte eine Zigarette. Der  chinesische Aschbecher war voll von Zigarettenresten. Er trug einen Rock aus  leichter schwarzer Seide mit Verschnürungen und hatte Pantoffeln an den Füßen.  Er nahm Annas Anwesenheit nicht zur Kenntnis. Am Tisch saß ein fremder Herr und  blätterte in irgendeinem Buch. Der andere lehnte an einem Schrank und besah  sich Anna.
  Sie deckte den Tisch und schaute dabei den jungen Herrn an.
  Gott war der schön, was der für ein bleiches trauriges Gesicht hatte. Anna  wünschte sich sehr, dass er sie anblickte. Nur für ein kleines Augenblickchen.  Sie wünschte sich das so sehr, dass sie von dem Wunsch erbebte. Aber der junge  Herr blickte unentwegt zur Decke. Seine Augen waren schwarz und schwer und man  merkte, dass er in die Ferne sah und an irgend etwas Schönes und Trauriges  dachte.
  Anna stellte die Teller, das Silbergedeck und die Servietten auf den Tisch und  dachte sich: Ob er mich wohl ansieht? Ach, wollte er mich doch nur einmal  ansehen. Aber der junge Herr blickte sie nicht an. Nur der fremde Herr am  Schrank schaute sie an und Anna bemerkte, dass er ein finsteres und  gewöhnliches Gesicht hatte.
  Dann kam die gnädige Frau ins Zimmer.
  Der Herr Baumeister kam erst am Abend zurück, etwas früher als sonst, aber er  ließ lange auf sich warten. Er ging direkt in sein Arbeitszimmer. Er hielt sich  dort eine Minute auf und klingelte dann. „Wo ist das Fräulein?" „Auf ihrem  Zimmer, Herr Baumeister." „Rufen Sie sie."
  Herr Rubesch war ernst und gesetzt wie immer.
  Fräulein Dadla kam zum Vater. Sie sprachen beide eine Zeitlang miteinander.  Dann klopfte das Fräulein an Ehrenfrieds Zimmer, rief einen der Franzosen und  führte ihn in das Arbeitszimmer des Vaters. Sie kehrte dann in ihr rosa  Zimmerdien zurück, setzte den Teddybär auf den Tisch und band ihm ein rosa Bändchen  um den Hals. Sie widmete dieser Arbeit mehr Sorgfalt, als sie verdiente. Der  Baumeister konferierte lange mit dem Fremden. Als sie zu Ende waren, rief der  Franzose seinen Gefährten in die Diele. Sie berieten dort. Dann ging einer weg,  der andere kehrte ins Zimmer des jungen Herrn zurück. Das Abendessen war  bewölkt und auffallend still. Man aß im Speisezimmer, nur der Baumeister, die  gnädige Frau und das Fräulein. Die gnädige Frau war noch rosig, vielleicht  röter als vorher, aber der freudige Glanz war aus ihren Augen verschwunden. In  Anwesenheit des Herrn gab es keinen freudigen Glanz in den Augen.
  Nach dem Abendbrot machte Anna im Zimmer des jungen Herrn das Bett. Auf dem  Sofa richtete sie ein zweites Lager. Zu dieser Zeit war die gnädige Frau auch anwesend.  Sie saß am Tisch. Ihre Hände lagen auf den schönen weichen Händen ihres Sohnes,  und sie blickte ihm liebevoll in die Augen. Sie unterbrachen das Gespräch, das  sie vor Anna nicht weiterführen konnten. Sie schwiegen. Neben ihnen saß der  Franzose über das Buch gebeugt. Er verstand das Gespräch nicht und beachtete  nichts. Auch ihn beachtete niemand. Er war Anna zuwider, und sie konnte nicht  begreifen, warum er hier blieb, wo er doch sah, dass er störte.
  Dann wusch Anna das Geschirr und ging schlafen. Sie konnte nicht einschlafen.  Dem jungen Herrn drohte irgendeine Gefahr. In diesem Hause geschah etwas Böses,  Geheimnisvolles, das sie nicht verstand. Der junge Herr braucht Hilfe. Und sie  lag im Dunkeln in ihrer Kammer und blickte zur Decke, ohne ihn zu sehen. So oft  es etwas zu tun gab, war sie stets dabei. Zu Hause und hier und jetzt rief  niemand nach ihr. Was ging hier vor? Und warum war Licht im Schlafzimmer? Ja,  es war Licht im Schlafzimmer. Anna stand des Nachts einige Male auf und öffnete  leise die Türe der Kammer. Immer wieder überzeugte sie sich davon. Und dieses  Licht, das durch das Schlüsselloch drang und einen gelben Fleck auf die  gegenüberliegende Wand der Diele warf, und dieser Fleck, lebendig und doch  unbeweglich und still wie das ganze Haus, waren böse und schlecht. Der junge  Herr brauchte Hilfe. Er brauchte Hilfe wie irgendeine ihrer kranken Schwestern,  wenn in ihrer Hütte nachts die Petroleumlampe leuchtete, und Anna kalte  Umschläge auf die erhitzte Kinderstirn legte. Heute lehnten sie ihre Hilfe ab.  Warum denn? Die Augen des jungen Herrn sahen traurig und ängstlich nach ihr.  Auch ihr war traurig und ängstlich zumute, denn sie liebte ihn. Am Morgen hörte  sie das erste Knarren der Tür und stand auf. Wie sah die gnädige Frau bloß  heute aus. Sie war bleich und verwelkt und ihre ausgelöschten Augen waren rot.  Sie wich Annas Blick aus. „Holen Sie in der Wassergasse bei Berger  Mandelhörnchen", sagte sie und sah das Mädchen dabei nicht an. Anna tat  die gnädige Frau leid. Warum blickte sie sie nicht an? Auch die gnädige Frau  litt um den jungen Herrn.
  Anna ging. Unten am Durchgang vor der Portiersloge standen Frau Dworak und  Marie mit der Einholetasche. Als Marie Anna erblickte, schloss sie sich ihr  sogleich an. Sie hatte offenbar auf sie gewartet.
  „Euer Ehrenfried ist gekommen, nicht?" fiel sie mit der Tür ins Schloss.
  „Ja", wunderte sich Anna.
  „Und die zwei, das sind Pariser Detektive."
  Anna zuckte erschreckt die Achseln. Sie erinnerte sich an Leon Clifton, Nick  Carter und Sherlock Holmes.
  „Selbstverständlich", sagte Marie, „das sind zwei Pariser Detektive, die  sehen aus wie Hundehetzer."
  „Detektive?" flüsterte Anna.
  „Na ja, weißt du denn nicht, dass sie den Jungen schon vier Monate suchen,  nein? Weißt du denn nicht, dass Ehrenfried seinen Vater um fünfundzwanzigtausend  Mark geblitzt hat, nein?"
  „Pfuit!" pfiff sie, „du weißt ja überhaupt nichts, du armes Hascherl. Wie  war es denn gestern bei euch?"
  Anna erzählte das Wenige, das sie wusste und Marie unterbrach sie mit zehnerlei  Fragen. Das wollte sie noch wissen und dieses und jenes. „Na ja", sagte  Marie, „das ist mal so", und dann verwunderte sie sich: „Weißt du denn gar  nichts von diesen Rubesch-Jungens? Die kennt doch die ganze Stadt. Die  Zeitungen haben davon geschrieben und sie weiß nichts. Das waren zwei  Lausejungs, der Ehrenfried und der Ferdinand. Die konnten die Stadt auf den  Kopf stellen. Der Ehrenfried hatte schon mit sechzehn Jahren mit einer ein  Kind. Die Jungs wogen nicht soviel wie das Geld, das sie kosteten. Aber der  Ehrenfried ist ein fescher Kerl. Von mir hat er mal eine auf der Treppe  gefangen."
  Marie lachte. „Komm, ich begleite dich ein Stückchen." Anna ging wie im  Halbschlaf mit, und Marie begeisterte sich an der sensationellen Neuigkeit.
  „Unser Haus gehört deiner Alten. Solange sie konnte, hat sie sich Geld darauf  geliehen. Aber dann hat ihr's der Baumeister vermasselt. Hat einen Riesenkrach  gemacht und für den Ehrenfried war's vorbei. Der Ferdinand hat von dem Haus  wenigstens noch etwas gehabt, der hat sich in Wien mit den Offizieren ganz  schön ausgebummelt. Euer Ehrenfried hat Schulden gemacht; damals hat er gerade  eine russische Fürstin geliebt, du weißt doch, Mensch, das kennen wir doch, das  ist ja hier jede. Ach, war das eine angemalte Schachtel. Ich habe sie mir mal  angesehen, als sie vor dem Seidenhaus aus dem Auto stiegen. Kannst dir denken,  was die Geld gekostet hat. Na, und als die Mutter nichts mehr hatte, da hat er  die Unterschrift vom Vater gefälscht und ist geflitzt. Euer Alter hat das  Detektivbüro Argus auf ihn gehetzt und als sie feststellten, dass er mit der  Fürstin nach Frankreich gefahren ist, ließ er in Paris nachforschen."
  Marie und Anna kamen zur Bäckerei in der Wassergasse. An der Schwelle blieben  sie noch stehen.
  „Haben sie ihn verhaftet?" fragte Anna entsetzt.
  „Woher denn, ein Privatdetektiv kann niemand verhaften, das darf doch nur die  Staatspolizei."
  „Na warum ist er denn mit ihnen gegangen?"
  „Was redest du bloß für Unsinn? Warum er mitgegangen ist? Weiß ich denn, was da  los war? Wahrscheinlich sind sie eines Morgens, als er mit seiner Fürstin noch  im Bett lag, zu ihm gekommen und haben ihm gesagt: Junger Mann, wollen Sie mal  mit uns nach der Heimat fliegen? Wir haben sonst Auftrag, die Polizei zu  verständigen, dass Sie den Vater um Fünfundzwanzigtausend geblitzt haben. Was  konnte er tun? Na und die Fürstin, mein Gott, hast du Sorgen, wahrscheinlich  hat sie furchtbar geweint, dass das Geld alle ist und dass sie wieder als  Animiermädel gehen muss." „Was wird jetzt sein, Mariechen?" „Was  jetzt sein wird?"
  Marie zog die Buchstaben. „Das ist eine sehr schwierige Sache. Kannst dir wohl  denken, dass sie ihn nicht einlochen lassen. Aber vielleicht ist das richtig,  was ich mir denke."
  Marie senkte die Stimme geheimnisvoll und zog die Hüfte hoch. „Den Ehrenfried  schicken sie nach Amerika. Das machen die Schieber immer mit ihren Söhnen, wenn  sie nicht gut tun. Wenn die beiden Spitzel noch heute bei euch bleiben, kannst  du Gift drauf nehmen, dass er nach Amerika fährt. Sie bringen ihn nach Hamburg,  kaufen ihm eine Karte, führen ihn bis zum Schiff und adio lieber Sohn. Grüß  alle und ernähr dich selbst. Ganz bestimmt werden sie das so machen."
  Anna stand auf dem Gehsteig und hielt die Augen gesenkt. Passanten stießen sie  an, aber sie fühlte es nicht. Da sagte Marie: „Du holst jetzt für den  Ehrenfried Süßes, nicht, na geh, Kleine, sonst gibt's Umschlag, ich muss auch  schon weg. Servus. Morgen warte ich auf dich."
  Anna kaufte Mandelhörnchen und lief nach Hause, was der Atem hielt. Der  Baumeister war noch zu Hause, und sie servierte ihm im Speisezimmer das  Frühstück. Dann trug sie zwei Tassen Kaffee und Mandelhörnchen in das Zimmer  des jungen Herrn. Der lag noch im Bett. Der Detektiv saß auf einem Stuhl. Nicht  der Lesende, der hier geschlafen hatte, der war auf die Diele hinausgegangen, um  zu rauchen, aber jener zweite, der gestern Anna so unangenehm angesehen hatte.  Der junge Herr rauchte im Bett Zigaretten. Er war mit einem seidenen Pyjama  gekleidet. Er sah gut aus und blickte wieder traurig zur Decke. Anna stellte  ihm das Frühstück auf den Nachttisch. Sie blickte ihn an. „Er denkt sicher  wieder an seine russische Fürstin", dachte sie, und er tat ihr leid. Und  sie überlegte: Warum verbieten sie ihm das? Warum geben sie ihm nichts, wenn  sie soviel Geld haben? Wie war das alles leicht und einfach. Armer, junger  Herr. Da blickte sie der junge Herr an. Der Blick seiner großen Augen ruhte  eine Sekunde auf ihren rötlichen Haaren, von da glitt er zum Busen ab. Ein  leichtes Lächeln huschte über seine Lippen, ein kaum sichtbares Lächeln, einem  Winken der Hand, einem Seufzer gleich.
  Annas Herz begann zu schlagen. Das Blut stieg ihr zu Kopf. Sie fühlte, wie der  Herr ihre Haare und Brüste streichelte. Sie fühlte das so klar, so körperlich,  dass ihr zarte Wellen über den Rücken liefen. Der junge Herr lächelte, ja er  lächelte, und Anna war es, als müsste sie zu seinem Bett springen, seine Hände  in die ihren nehmen und sagen: „Ach, junger Herr, was kann ich tun, damit sie  lustig werden, sprechen Sie doch, und ich will alles machen, was Sie sich  wünschen."
  Aber der junge Herr blickte schon wieder zur Decke, und Annas Herz beruhigte  sich. Als sie dem Detektiv den Kaffee reichte, sagte sie sich: „Du ekelhafter  Kerl, du", und sie dachte, ob das etwas helfen könnte, wenn sie jetzt in  die Küche ginge, ein schwarzes Messer holte und es ihm in den Hals stieße.
  Sie ging ungern aus dem Zimmer, und noch als sie die Tür schloss, schielte sie  nach dem jungen Herrn. Doch der sah sie nicht mehr an. Seine weiße Hand mit den  langen Fingern klopfte die Zigarettenasche in den chinesischen Aschbecher. Anna  machte die Wohnung sauber. Das Bild des jungen Herrn war mit ihr. Sie öffnete  die Fenster, und der leise Wind bewegte die Gardinen. Sie hörte, wie Marie im  dritten Stock über ihr „Aus weiter Ferne... " blökte.
  Anna war allein. Der Baumeister war fortgegangen, aber, und das war sonderbar,  auch die gnädige Frau war nicht zu Hause, und Anna überlegte vergeblich, wohin  sie so früh am Morgen gegangen sein könnte. Als sie den Salon aufräumte, fuhr  sie zusammen. Es schien ihr, als ob aus dem Fremdenzimmer im entlegensten Teil  der Wohnung merkwürdige Laute kämen. Sie öffnete die Tür und erschrak heftig.  Die gnädige Frau lag an der Erde, mit dem Gesicht zu Boden. Der Kopf wackelte,  so dass sie stets mit der Stirn den Teppich berührte. Sie stieß krampfhafte  Laute aus, die aus einem Grab zu kommen schienen: „Hu, Hu--------"
  Die erschreckte Anna kniete neben ihr nieder. „Um Gottes willen, gnädige Frau,  was ist denn los?"
  Frau Rubesch wandte die aufgerissenen Augen zu ihr, und ihr bleiches Gesicht  war entstellt und hässlich wie das einer Leiche. Ihr ergrautes Haar, zerrauft  und glanzlos, glich dem Abfall im Mülleimer.
  „Wie ein Stein, wie ein Stein... ", kam es schwer aus ihr.
  „Uh, uh", und sie starrte Anna an.
  „Um Gottes willen, gnädige Frau, besinnen Sie sich doch nur ein Weilchen, bevor  ich das Fräulein hole."
  Da schien es, als ob die gnädige Frau verstanden hätte. Sie hob schwerfällig  ihren dicken Leib und richtete sich langsam auf.
  „Nein, Dadla nicht."
  Sie wankte zur Chaiselongue und fiel mit ihrem ganzen Gewicht so schwer darauf,  dass die Federn knirschten.
  „Wie ein Stein, er ist ja wie ein Stein, Anna." Anna verstand, dass vom  Herrn die Rede war. Ihr war ängstlich zumute. Sie stand über die gnädige Frau  gebeugt und wusste keinen Rat.
  „Gehen Sie an Ihre Arbeit", murmelte Frau Rubesch erschöpft. „Kümmern Sie  sich um mich nicht, Sie sind ein freundliches Mädchen." Anna ging.
  An diesem Vormittag war ungewöhnlicher Betrieb in der Wohnung, aber ein so  schwerer und düsterer Betrieb, wie vor dem Wegtragen einer Leiche. Marie hatte  wahrscheinlich recht. Zwei Reisekoffer wurden gebracht, und die Detektive  gingen und kamen abwechselnd. Die gnädige Frau wanderte wie ein Gespenst  zwischen dem Zimmer des jungen Herrn und der übrigen Wohnung hin und her. Zeitweise  hielt sie sich in der Küche auf, um irgend etwas anzuordnen und hob wie tot die  Topfdeckel an.
  „Ein bisschen mehr Majoran, Anna", sagte sie. Die Worte kamen wie aus der  Ferne, und man sah, dass sie weder mit Majoran noch mit dem Hammelfleisch etwas  zu tun hatten. Vielleicht mit etwas anderem. Als ob sie auf etwas wartete, auf  etwas, das kommen musste, um sie zu erdrücken. Vielleicht konnte sie dagegen  ankämpfen, aber es fiel ihr nicht ein, dass sie das konnte. Vielleicht konnte  sie weglaufen. Aber sie versuchte es nicht. Sie wartete nur mit entsetzten  Augen auf das, was Schritt um Schritt sich näherte. Ihr Sohn fuhr ab, ihr  Leben, und niemand war da, der ihr helfen konnte. Und ihre Bewegungen im Zimmer  des Sohnes und ihre Hilfeleistungen beim Packen der Koffer, das waren die  Vorbereitungen für das Begräbnis und der Abschied vor dem Zuschlagen des  Sargdeckels.
  Das Mittagessen war traurig. Der Baumeister aß mit der Tochter im Speisezimmer.  Die gnädige Frau blieb beim jungen Herrn und bediente ihn selbst. Die Detektive  aßen irgendwo außer dem Haas. Nach dem Essen kleideten sich die gnädige Frau  und das Fräulein an, und Frau Rubesch weinte dabei ruhige Tränen, die ihr in  dichten Strömen über die bleichen Wangen liefen. Der Baumeister saß im  Speisezimmer vor dem noch nicht abgeräumten Tisch. Er rauchte eine Zigarre und  tat, als ob er Zeitung las. Dann kam ein Chauffeur mit dem Detektiv die Koffer  holen, und die gnädige Frau trat mit dem Sohn und der Tochter aus dem Zimmer  des jungen Herrn. Anna stand in der Diele, um ihn zum letzten Male zu sehen. Er  ging mit der Mutter über den roten Läufer der Diele. An der Tür des  Speisezimmers machte Frau Rubesch halt.
  „Geh, Ehrenfried, verabschiede dich vom Vater, geh, mein Kind."
  Der junge Herr zögerte.
  „Geh, Liebling, es würde dir einmal sehr leid tun, dass du der Mutter nicht die  letzte Bitte erfüllt hast."
  Da öffnete der junge Herr die Türe und sagte von der Schwelle aus höflich und  konventionell: „Adio, Herr Baumeister."
  Aus dem Speisezimmer kam keine Antwort. Die drei gingen fort. Die Tür hinter  ihnen fiel ins Schloss und dieser Ton, kurz und stumpf, traf Anna ins Herz. Sie  stand in der dunklen Diele. Lange verweilte sie so, und es schien ihr, als sei  die ganze Welt leer und öde und außer ihr nichts mehr da. Dann ging sie in ihre  Kammer. Sie kniete beim Bett nieder, barg den Kopf in das Laken und weinte.  Denn sie liebte den jungen Herrn.
  Sie hörte die Schritte des Baumeisters, der wegging, und sie hörte die Rückkehr  der gnädigen Frau und des Fräuleins. Da stand sie schnell auf, trocknete die  Tränen, strich den Staub von den Knien und eilte an ihre Arbeit. An diesem und  an den folgenden Tagen schien ihr das Haus wie nach einem Begräbnis zu sein,  leer, öde und still. Niemand sprach, die Blicke wichen einander aus, und man  ging auf Fußspitzen, damit kein lauter Ton den störte, dessen Geist noch hier  weilte.
  Die gnädige Frau lag meistenteils hinten im Fremdenzimmer auf der Ottomane, und  das Fräulein kam aus ihrem Zimmerchen nicht heraus. Mittags wurde streng darauf  geachtet, dass alles auf seinem Platz und ordentlich sei, das Salzfass, die  Servietten und die Bestecke. Die gnädige Frau und das Fräulein überzeugten sich  selbst davon, dass die Suppe entsprechend heiß auf den Tisch kam; denn das  fühlten sie alle, nur der Baumeister konnte die Stille unterbrechen, und sie  wussten, wenn eine Explosion käme, würde sie furchtbar sein.
  Und dann kam am dritten Tag dieses schreckliche Telegramm. Als die gnädige Frau  es in der Küche öffnete und las, schwankte sie zweimal vor- und rückwärts, dann  hielt sie sich am Küchenschrank fest, um nicht umzufallen. Anna und das  Fräulein führten sie in das Schlafzimmer und Dadla telefonierte nach dem Arzt  und dem Vater.
  Der junge Herr hatte sich erschossen.
  Nach zwei Tagen kam ein Brief für die Mutter. Ein Brief, von jener Hand  geschrieben, die nicht mehr lebte, und der Frau Rubesch nicht übergeben werden  konnte, weil sie schwer erkrankt war. Der junge Herr hatte sich in Hamburg in  einem Zimmerchen eines drittrangigen Hotels erschossen; des Nachts im Bett  durch einen Schuss in die Augenhöhlen, in Gegenwart der beiden Detektive, die  ihn bewachten. Er starb, den Namen seiner russischen Fürstin und den seiner  Mutter auf den Lippen.
  Das Fräulein trug Trauerkleidung und auch der Baumeister trug an Ärmel und Hut  eine schwarze Binde. Nur von Annas Schmerz durfte niemand etwas erfahren.
  Als sie der gnädigen Frau Brom reichte und die Jalousien im Zimmer  herunterließ, damit das Licht die Kranke nicht störe, da war es Anna, als  müsste sie der bleichen Frau in die Arme sinken, an ihrer Brust weinen und  rufen: „Gnädige Frau, teure gnädige Frau, ein furchtbares Unglück hat uns  getroffen."
  Frau Rubesch lag mit starr gesenkten Augen von allem abgewendet und nahm Anna  überhaupt nicht wahr.
  Eines Morgens kam der Geist des jungen Herrn zu Anna. Anna räumte auf. Alle  Fenster der Wohnung standen offen, und in die Zimmer strömte frische Luft. Als  Anna in den Salon trat und die Tür öffnete, da bewegten sich die Glaskugeln der  Lampe sanft und begannen leise, ganz leise zu klingen.
  So kam der junge Herr zu Anna, zu ihr allein. Sie fühlte gleich, dass er da war  und war glücklich.
  Dann kamen und gingen die Tage, deren einer dem anderen glich. Als sich die  gnädige Frau ein wenig erholt hatte, ließ sie ihr Bett und ihren Toilettentisch  ins Fremdenzimmer tragen, in der festen Absicht, nie mehr in das Schlafzimmer  ihres Mannes zurückzukehren.
Der Roman und der Tod des jungen Herrn brachten Anna der Marie vom dritten  Stock näher. Marie hatte viel Verständnis für die Ereignisse und erwartete Anna  vor der Portierloge, um ja nicht die Fortsetzung eines einzigen Tages zu  versäumen. Marie war ein liebes Mädchen und wusste viel. Sie öffnete Anna die  Türen zu allen Wohnungen im Hause Wenzelsplatz 33 und sie öffnete ihr die Türe  zur ganzen Welt.
  „Euer Baumeister ist der größte Dieb der Stadt", sagte sie. „Er hat den  Staat beim Einkauf der alten Kriegsmaterialien betrogen und die Stadt beim  Kanalisationsbau. Er hat sieben Zinshäuser und zu den Arbeitern ist er wie ein  Hund. Kennst du denn nicht das Lied, das sie von ihm singen?"
  Anna kannte das Lied nicht, und Marie begann auf der Stelle, als sie mit den  Einholetaschen auf dem Hofe standen, zu singen:
  Baumeister Rubesch heiß ich,
  Was Verdienen und Schröpfen heißt, weiß ich,
  Wer nicht pariert, den schmeiß' ich, Auf die Gesetze......
  „Marie, Mariechen, ich bitte dich, die Fenster stehen offen", erschrak  Anna.
  „Na, und was haben sie von ihren Kindern? Einen Dreck. Die Söhne sind gestorben  und aus dem Mädchen wird eine Nutte. Eure Alte läuft herum und ringt die Hände.  Glaubst du, dass sie auch nur ein einziger Mensch bedauert? Weißt du, wie viele  Menschen der Baumeister auf dem Gewissen hat? Und die hatten auch Mütter und  Kinder. Eure Alte, — so einen Drachen musst du dir suchen. Millionen, sieben  Zimmer und ein Mädchen. Und du alter Esel lässt dich aussaugen, schindest dich  vom Morgen bis zur Nacht und besorgst auch noch die Wäsche. Was sie an dir  erspart, schickt sie der Tochter in die Schweiz, damit die mit ihrem Mann im  Kurort leben kann und nicht arbeiten muss. Du dummes Ding, du, außer zum  Einkaufen kommst du nicht aus dem Haus und hockst am Sonntag noch in der Küche.  Weißt du nicht, dass sie dir nach den Gesetzen am Sonntag Ausgang geben muss?  An diesem Sonntag kommst du mit und wenn du kein Kleid hast, leih' ich dir  eins. Ich habe zwei. Was meckerst du da?"
  „Ich bin doch noch so dumm, Marie. Ich fürchte mich."
  „Was fürchten, wovor denn?"
  „Na, ich kenn' mich doch noch nicht in der Stadt aus. Ich bin doch nicht so  erfahren wie du."
  Anna erzählte Marie von Landru und Kis. Marie starrte sie mit ihren großen  grauen Augen erstaunt an und schrie auf:
  „Um Gottes willen!"
  Sie bog sich, bis ihr am Hals die Adern zu sehen waren, und ihr Lachen schallte  über den Hof:
  „Mensch, da halt dich fest. Mein Oller ist ein Klempner, das muss ich ihm heute  erzählen, damit er mich auch zulötet. Menschenskind, bist du aber blöd."  „Marie, um Gottes willen, die Fenster sind offen."
  Als sich Marie satt gelacht hatte, wurde sie ernst und ihre Augen blitzten.
  „Siehst du, dieses unverschämte Luder, sie redet den Mädchen vom Lande solchen  Unsinn ein, damit sie sie besser ausbeuten kann. Höre nichts und denke nichts  und bleib schön dumm, und wenn du dich krank geplagt hast, werfen sie dich auf  die Straße, dort kannst du dann vor Hunger krepieren."
  „Die denkt bestimmt nicht so", verteidigte Anna ihre gnädige Frau.
  „Ob sie denkt oder nicht denkt. Sie tut es, und alle tun es, auch ihr Mann. Sie  sind alle gleich. Sie beutet eine aus und er tausend. Das bleibt sich egal."
  Durch den Hof erschallte ein lauter Ruf. Und es war so, als ob Blechgeschirr  zur Erde fiele.
  „Anna, wie lange wollen Sie sich noch unterhalten?"
  Das Fenster im ersten Stock war offen und umrahmte die mächtige Gestalt der  Frau Rubesch. Anna schoss das Blut in die Wangen, sie ließ Marie stehen und  lief nach Hause.
  „Na, Anna, zerreiß dich nur. Idiot!" schrie Marie hinter ihr her.
  Frau Rubesch blickte in die Küche.
  „Na, die Marie, das ist gerade die richtige für Sie", sagte sie, und mit  dem Finger drohend, „geben Sie acht, Anna!"
  Am nächsten Sonntag nach dem Mittagessen nahm sich Anna ein Herz und bat die  gnädige Frau um Ausgang. Sie kämpfte mit diesem Entschluss den ganzen Sonnabend  und Sonntag Vormittag, und an diesen beiden Tagen musste Marie ihr viel böse Namen  geben, bevor Anna den Mut fand, zu sagen:
  „Gnädige Frau, darf ich heute Nachmittag ausgehen?" Frau Rubesch sah sie  an:
  „Aha, es fängt schon an", sagte sie unfreundlich. „Na, gehen Sie in Gottes  Namen, wenn Sie das Geschirr abgewaschen haben. Aber geben Sie bloß acht,  Anna."
  An diesem Nachmittag gingen die beiden Mädchen aus. Marie hatte Anna fein  herausgeputzt. Ihre Herrschaft war mit dem Vorortzug hinausgefahren, und Marie  nahm Anna zu sich in die Küche. Sie borgte ihr ein schwarz-weiß-kariertes Kleid.  Sie probierte den Strohhut mit der blauen Blume solange, bis er richtig saß.  Sie selbst zog ein rosa Kleidchen mit blassblauem Einsatz an und setzte eine  karierte Mütze auf. Beide sahen sehr gut aus, und Anna konnte sich im kleinen  Spiegel an der Wand nicht satt sehen. Sie hatte ein feierliches Gefühl. Wenn  man sich Hals und Achseln und die Beine bis zu den Knien so sorgfältig wäscht,  wie Anna heute nach dem Geschirrabwaschen, wenn man außerdem so schöne, weiße  Wäsche, die noch nach dem Plätteisen riecht, und ein wunderschönes Kleid an  hat, muss man das Gefühl eines göttlichen Nachmittags haben.
  „So und jetzt gehen wir auf den Graben", sagte Marie, als sie angekleidet  waren. Es war eine Freude mit Marie zu gehen. Es war ein schöner Nachmittag,  die halbe Stadt war hinausgepilgert, und auf den Straßen waren weniger Menschen  als sonst. Trotzdem war für Anna hier mehr Gefahr als für gewöhnlich. Aber  Marie führte sie zwischen Straßenbahnen und Automobilen so sicher und glatt  durch, als ob sie auf weichen Wiesen gingen.
  Unten am Wenzelsplatz verstellte ihnen ein junger glatthaariger Mann, mit einer  schwarzen flatternden Krawatte den Weg und breitete die Arme aus:
  „Wohin denn, schöne Frauen, wohin Goldene und Schwarze?"
  Marie blickte ihn verächtlich an, mit vorgebeugtem Kopf und ein wenig  schielend: „Hau ab, Mensch!"
  Anna erschrak heftig, aber Marie sagte das so ruhig, ohne Zorn und mit solch  vollendetem, gassenbübischem Ernst, dass der Jüngling in ein lautes Gelächter  ausbrach. Marie kicherte gleichfalls, dann hob sie den Kopf und lief, Anna bei  der Hand fassend, davon. Sie lachte noch, als sie schon um die Ecke waren, und  ihr Gelächter sprang auf Anna über. Hinter einem blauen Briefkasten versteckt  lachten sie beide lange. Dann beguckten sie sich auf der Nationalstraße und auf  dem Graben sehr eingehend die Schaufenster der Seidengeschäfte, in der  Zeltnergasse Pelze und Hüte und auf dem Altstädter-Ring die altertümlichen  Bauten.
  Dann trieben sie sich vor dem Schaufenster eines Spielwarengeschäftes herum,  worauf eine Fachbelehrung über das Schließen von Spangen, Riemen, Knöpfen an  Leibchen und Damenwäsche folgte. Als es dämmerte, schlugen sie den Weg nach der  Hybernerstraße, zum Volkshause, ein. Denn dort veranstaltete die Vereinigung  „Karl Marx" einen geselligen Nachmittag, und dort wurde Marie von dem  Klempner Bode erwartet. Der Theatersaal des Volkshauses befindet sich in dessen  innerem Hof, den sie einiger verstaubter Bäume wegen Garten nennen. Er besitzt  eine Glaswand und sieht überhaupt, mit Ausnahme seines Pappdaches, eher wie ein  Treibhaus aus. Wenn er beleuchtet ist, kann man hineinsehen wie in eine  Laterne. Schon der erste Anblick, vom Durchgang aus, machte Anna diesen Raum,  der bis zur Decke von blauem Rauch erfüllt und bis auf den letzten Platz  besetzt war, lieb. Die Menschen, die dicht gedrängt an runden Tischen mit  karierten Tischtüchern saßen, waren ihr in Gesichtsausdruck und in der Kleidung  nahe, und es gab unter ihnen viele Mädchen, wie sie beide waren. Es sah hier  viel heimatlicher aus als in den Restaurants, die sie nur von der Straße aus  kannte, wo an weißgedeckten Tischen, die mit einer künstlichen Blume geschmückt  sind, jeder für sich allein sitzt, um zu zeigen, dass er nicht belästigt zu  werden wünscht. Hier war es lebhaft und warm. Der Klempner der Marie kam ihnen  bis zur Tür entgegen. Es war ein Junge mit welligen Haaren, lustig und die  Zähne bleckend.
  „Tag'chen Marie", sagte er und reichte ihnen die Hände.
  „Das ist die Anna aus dem ersten Stock, von der du mir erzählt hast,  nicht?"
  „Ja, ja, das ist unser kleines Paket", und Marie klopfte Anna auf die  Schulter.
  Bode besorgte ihnen zwei Stühle an einem runden Tisch, und sie nahmen inmitten  von Arbeitern und Arbeiterinnen hinter Biergläsern, Selterwasserflaschen und  vielen Aschbechern Platz.
  Im Saal war eine kleine Bühne, auf der Jünglinge und Mädchen allein und im Chor  auftraten, Gedichte vortrugen und Lieder sangen. Ein Trommlerorchester spielte  dazu. Die Musik und der Gesang gefielen Anna sehr. Von den Gedichten verstand  sie nur wenig.
  Neben Anna saß ein junger Metallarbeiter. Als die Musik und der Gesang  aufhörten und das Publikum in Beifall ausbrach, wandte er sich zu ihr.
  „Du bist wohl das erste Mal bei uns, Genossin?" Das Wort „Genossin"  und das Duzen brachten Anna in Verlegenheit und sie errötete. Marie stieß sie  unter dem Tisch mit dem Fuß an, kicherte und — dies war schon Mariens Schicksal  — steckte die ganze Umgebung so an, dass jeder mitlachte, mochte er wissen,  worum es sich handelte oder nicht. Aber Marie war gutmütig und half Anna. Sie schilderte  dem jungen Arbeiter, woher Anna käme, dass sie erst seit kurzem in Prag sei,  bei Rubesch in Dienst stehe und eine Furie von Herrin hätte, die sie  nirgendwohin weglassen wollte. Schon waren sie im Gespräch. Annas  Gesellschafter kannte Pilgram. Er war einige Male auf einer  Gewerkschaftsversammlung dort gewesen. Er war auch durch Annas Dorf  durchgekommen. Vielleicht konnte er sich sogar an ihr Häuschen erinnern, dessen  Lage Anna ihm schilderte. Den Architekten Rubesch kannte er zur Genüge. Das sei  einer der gewissenlosesten Ausbeuter der ganzen Stadt. Das Wort Ausbeuter hörte  Anna zum ersten Mal, aber es gefiel ihr und schien ihr interessant zu sein.
  Anna war wohl zumute. Alle Leute ringsherum waren ihr nahe und es schien ihr,  als wäre sie mit ihnen bereits einmal zusammengekommen und hätte mit ihnen  gesprochen und nur vergessen, wo das gewesen war. Der junge Metallarbeiter  erzählte Anna vom Architekten Rubesch und von dem letzten Streik der  Bauarbeiter. Marie saß neben ihnen. Sie legte die halbgeschlossene Hand auf das  rote Tischtuch neben die Bierflaschen und Gläser. Die Faust Bodes umklammerte  die Hand Maries, und Bodes Faust war so mächtig, dass Maries Hand sich in ihr  verlor. Beide blickten sich an und lächelten. Die Trommler spielten einen  lustigen Marsch.
  „Das ist die Marseillaise, das französische Revolutionslied", erklärte  Annas Gesellschafter.
  „So", wunderte sich Anna und ließ ihren Blick eine Sekunde auf seinen  Augen ruhen. Doch diese Sekunde genügte, um ihr zu zeigen, dass sie blau und  schön waren. Annas Begleiter hieß Toni. So nannte ihn Bode. .
  An einem anderen Tisch, schräg gegenüber und etwas weiter zur Tür zu, saß, Anna  mit dem Profil zugekehrt, ein junger rothaariger Bursche. Er war besser  gekleidet als die andern; sein Gesicht war beinahe mädchenhaft. Schon vorher  hatte er sich einige Male nach Anna umgesehen. Jetzt sah er sie mit vollen  Augen und einem langen Blick an, den sie nicht unbemerkt lassen konnte. Aber in  den großen Augen des Burschen war keine Zudringlichkeit, nur Wohlgefallen und  Bewunderung, vielleicht auch ein bisschen Neugierde. Anna wurde verlegen. Doch  auch Marie sah die Blicke des Jungen.
  „Na, und du, Albert", rief sie dem Jungen zu. „Unsere Anna gefällt dir,  was?" — Der Jüngling lachte ruhig und liebenswürdig und Anna errötete.
  „Das ist Albert Jandak, ein Student, der Sohn des Abgeordneten Jandak",  rief Marie und drohte Albert.
  „Du hübscher Kerl, du." Der Abgeordnete Jandak blickte gleichfalls  herüber. Er saß neben dem Sohn. Ein hübscher Mann mit einem glatten fröhlichen  Gesicht und geringelten Haaren. Er sah eher aus wie ein älterer Bruder des  Studenten und nicht wie sein Vater. Er belächelte den Erfolg seines Sohnes und  zeigte dabei gesunde, weiße Zähne.
  „Na, ihr Mädels, wird was aus ihm werden?" sagte er und nahm den Sohn um  die Schulter.
  „Natürlich", rief Marie.
  „Sei doch ruhig, Alter", brummte Albert und errötete. Sie lachten. Am  herzlichsten der Abgeordnete. Bloß der Metallarbeiter Toni blickte kalt und  unfreundlich drein. Vom Tisch der beiden Jandaks wandte sich jetzt ein Dritter  um, der bei ihnen gesessen hatte. Die Augen dieses Dritten waren schwarz, hart  und scharf wie eines Messers Schneide. Sie beunruhigten, und wenn er einen  anblickte, war es unmöglich, wegzusehen. Der Dritte hatte dunkles Haar und  einen dunklen Vollbart und über die ganze Wange zog sich eine Narbe, die den  Bart teilte und als weiße Rinne durch die rechte Hälfte des Bartes lief. Durch  die Lücken zwischen den einzelnen Tischen schlängelte sich irgendein alter  Arbeiter, und als er an dem schwarzen Genossen vorbeikam, legte er ihm die  Faust auf die Schulter.
  „Genosse Plecity, wie gefällt es dir bei uns?"
  „Was soll mir an euren Alfanzereien gefallen", antwortete Plecity ohne  Lachen und erhob seine harten Augen zu ihm. „Ihr glaubt wohl, dass Ihr die Bourgeoisie  mit Gedichten besiegen werdet?"
  Anna missfiel diese Antwort außerordentlich. Auf der Bühne traten jetzt Mädchen  und Jünglinge auf und begannen mit den ersten charakteristischen Sätzen eines  Sprechchorwerkes. Toni beugte sich zu Anna und sagte ihr:
  „Das ist ein sehr interessanter Genosse. Er ist erst unlängst aus Russland  zurückgekehrt. Er hat in der Roten Armee gekämpft, wurde von Denikin gefangen  genommen und entging nur durch Zufall der Hinrichtung. Ich werde dir noch von  ihm erzählen, wenn wir uns wieder sehen."
  Anna blickte wieder in Tonis Augen und antwortete „Ja". Zum Schluss  spielte das Trommlerorchester die Internationale. Alle standen auf und sangen  mit. Auch Anna erhob sich, aber singen konnte sie nicht. Gegen 10 Uhr  begleiteten Toni und Bode die beiden Mädchen nach Hause. Auf den Straßen ging  es noch lebhaft zu und Mariens Gelächter zitterte zwischen den Schaufenstern  der Geschäfte und dem farbigen Licht der Lichtreklamen. Die eleganten Paare,  die eben aus den Dancings oder vom Theater nach Hause gingen, drehten sich  indigniert nach ihnen um.
  Im Düster des Hauseingangs auf dem Wenzelsplatz blieben sie noch eine Zeitlang  stehen. Marie scherzte mit
  Bode, und Anna senkte die Lider vor den ernsten Blicken Tonis. Marie lieh sich  von Anna ein Taschentuch. Sie verknotete es mit ihrem eigenen und band sich mit  den beiden Taschentüchern den Rock oberhalb des Knies fest.
  „Na, ihr Jungs", schrie sie wie eine Zirkusreiterin, und bevor sie  begriffen, was geschah, stand sie vor dem Hauseingang auf den Händen, ließ die  Füße in der Luft baumeln und trommelte mit den Absätzen gegen die Tür. Dann  schüttelte sie sich vor Lachen, und alle lachten mit.
  „Gehst du auch manchmal aus, Genossin?" fragte Toni. Anna schüttelte den  Kopf.
  „Um sieben Uhr, abends, Bier holen", sagte Marie bereitwillig. Als Anna  und Toni sich die Hände zum Abschied reichten, und als sich beide Hände  aneinanderpressten, die ihren von der Wäsche aufgerauht und aufgesprungen und  seine hart vom Eisen, war Anna sehr wohl. Das Wort „Genossin", das Toni  ihr nach dem Gute-Nacht-Gruß noch nachrief, klang hell und freundschaftlich,  und Anna war warm. Sie schämte sich nicht mehr und errötete nicht mehr.
  Es war ein schöner Abend, und Anna dachte den ganzen Montag daran. Im  Souterrain, in der Waschküche, während sie über dem Seifenschaum sang und der  Waschkessel summte. Sie dachte noch Dienstag daran, als sie die Wäsche rollte  und zusammenlegte. Dienstag abend wurde sie von Toni erwartet. Sie erschrak ein  wenig, als sie, zwei Biergläser in der Hand, durch das Haustor schritt und ihn  erblickte. Er begleitete sie zur Kneipe und durch den Hof zurück bis zur  Treppe. Mittwoch kam er wieder. Sie blieb mit ihm einen Augenblick stehen, und  Frau Dworak kam in dieser Zeit zweimal lächelnd aus der Portierloge, um die  beiden anzusehen. Oben warf die gnädige Frau einen ungläubigen Blick auf das  schaumlose Bier. Beim dritten Mal ging Anna bereits nach dem Abendbrot für 10  Minuten hinunter und dann bat sie, die Augen senkend, Frau Rubesch, abends  nochmals ausgehen zu dürfen.
  „Aha", sagte die gnädige Frau. „Da hat Ihnen sicher jemand erzählt, dass  Sie ein Recht darauf hätten. Aber geben Sie gut acht. Ich bemerke schon seit  längerer Zeit, dass mit Ihnen etwas vorgeht. Ich will Ihnen nur sagen, liebe  Anna, Ihr Recht nimmt Ihnen kein Mensch. Aber wenn Sie nur das tun werden, wozu  Sie verpflichtet sind, dann werde auch ich nur das tun, was ich muss." Als  die gnädige Frau aus der Küche hinausging und die Tür hinter sich zuschlug,  nicht sehr stark, aber doch stärker als gewöhnlich, erschien Fräulein Dadla.  Sie lächelte, schaute sich im Küchenspiegel an und richtete sich die Haare an  den Schläfen.
  „Verlieben Sie sich nur, Anna. Wenn wir mal heiraten, ist der Spaß ohnehin zu  Ende. Mama ist noch aus der alten Schule, da haben sie immer zu Hause gesessen  und haben den Großvätern Hosenträger und Paradepantoffeln gestickt."
  Die bösen Worte der gnädigen Frau berührten Anna seltsamerweise nicht  erheblich. Das war das Kaufgeld und sie wusste aus ihrer Jugend, dass nichts  umsonst ist. Es war auch wirklich nicht teuer, denn unten wartete Toni. Es war  Sommer und die Abende waren lang. Sie fuhren mit der Straßenbahn nach der  Vorstadt zu den Judenöfen. Die Judenöfen, das ist das Nizza und das  Scheveningen der Proletarier und auch ihr Hotel garni. Diese Ebene am Rande der  Stadt, mit kleinen Hügelchen, farblosem und zertretenem Gras, sieht aus wie ein  hässlicher Kahlkopf, und dennoch hat man unter den Palmen von Capri und den  Oliven von Brioni nie heißer geliebt als hier. Es gibt hier viele Mulden, kleine  und große, von denen niemand weiß, ob sie durch Menschenhand entstanden sind  oder ob die Natur sie geschaffen hat. Es liegen hier viel löchrige Töpfe und  Waschnäpfe und viele Bauabfälle herum. Der unaufhörliche Angriff der Stadt  schreitet in rascher Bewegung auch bis hierher vor. Die Stadt hat die Judenöfen  bereits von zwei Stellen umklammert, und die ersten Pioniere der städtischen  Bauten sind schon bis zur Ebene vorgedrungen. Bald wird es keine Judenöfen mehr  geben. Aber jetzt weitet sich noch der blaue Himmel über den Judenöfen, und der  schmutzige Dunst, der über der Stadt steht, hat sich mit dessen reinem Blau  noch nicht vermengt. Die Frauen der Vorstadt sitzen hier an warmen Tagen im  ausgerupften Gras. Sie öffnen die Knöpfe und mit weit ausgebreiteten Knien ihre  Röcke lüftend, stricken sie Strümpfe und beobachten ihre Kinder, damit sie  nicht die farbigen Aufdrucke der Flaschen an den Mund führen. Hier spielt die  Jugend bei Tag Fußball und Murmeln. Hier vergraben die Einbrecher nachts ihre  Beute. Hier umarmen sich die Liebenden der Vorstadt, und dann verwandeln sich  die Sandmulden in süße Hotelzimmerchen. Sie liegen nahe beieinander, aber von  einer Mulde zur anderen ist nicht zu sehen. Der Sternenhimmel ersetzt die  Deckenbeleuchtung der Hotels. Die alten Arbeiter stehen am Abend nach dem  Tagewerk nur in Hemdsärmeln, Zigarren rauchend, in den Straßen der Vorstadt an  den Schwellen der Zinshäuser und beobachten die jungen Paare, die ungeduldig zu  den Judenöfen eilen. Die Mädchen tragen geplättete Kattunldeider. Die Männer  haben sich eben gewaschen und einen frischen Kragen angezogen. Die alten  Arbeiter nehmen die Pfeife aus dem Mund, lächeln einer längst vergangenen  Erinnerung nach und sagen: „Na ja, er führt sie zur Hinrichtung." Des  Nachts patrouilliert die Polizei in den Judenöfen und beleuchtet die Gesichter  der Liebenden mit Taschenlampen.
  Hierher ging Anna mit Toni. Und wenn sie sich in einer Kaule zurechtgekuschelt  hatten und bei der Hand hielten, erzählten sie sich vieles; sie schwiegen auch  viel. Die Judenöfen sind nicht minder verlockend als die Boudoirs der schönen  Damen und die Uferhaine in den Büchern des Fräulein Dadla Rubesch.
  Hier küsste Toni Anna zum ersten Mal mit einem festen langen Kuss. Als sie  seine Lippen fühlte, schwindelte ihr und sie drückte sich an den Geliebten, sie  presste sich ganz an ihn und erzitterte.
  In diesem Augenblick dachte sie an die Liebespaare in den Romanen des Fräulein  Dadla.
  Nein, Toni stöhnte nicht, sprach kein Wort, nur Anna seufzte leise:  „Toni!" Hier erzählten sie sich aus dem Leben, und das war sehr schön. Es  war so, als ob Viola und Cello oder Oboe und Waldhorn sich dieselbe Melodie  reichten. Oder vielleicht eher noch, als ob zwei Kinder sich einen Ball  zuwarfen, jetzt mit beiden Händen, jetzt mit der Rechten, jetzt mit der Linken,  und der Ball fliegt, und man klatscht in die Hände und kniet nieder. Toni  erzählte von seiner Jugend, vom halbzerstörten Haus, in dem die Eltern mit  vielen Kindern ewig stritten, und in dem es nach altem Brei, Abwässern und  Abfällen roch. Von seinem Vater, einem Weber in der Leuteschinderanstalt der  Brüder Perutz; man sah den Vater nur des Abends und am Sonntag. Er war ein  vierzigjähriger Mann, dessen Kleidung und Lungen von einer Baumwollstaubschicht  bedeckt waren. Er war von unverdautem Zorn über Lohnabzüge und von der Angst  vor der Arbeitslosigkeit ständig betäubt. Er erzählte von zwei Brüdern, von  denen der eine an Skrofulose starb, und der andere Bäcker wurde, und von der  Schwester, die schon vom zehnten Lebensjahre an der Mutter bei der Bedienung  half. Die Mutter war Bedienerin, Wäscherin, Sacknäherin, Korbträgerin auf den  Märkten, Tagelöhnerin bei einem Gärtner, Aufwartefrau in Wirtshäusern, wo sie  die Treppen und Aborte wusch. Kurz, sie machte alles, was eine Hoffnung auf  einen ärmlichen Verdienst bot. Toni reichte Anna seine Erinnerung, und sie gab  ihm die ihre sogleich zurück. Ihre Hütte hatte ein Loch im Dach. Das war mit  einer Reklametafel einer Kaffee-Ersatz-Firma repariert, und auf dieser Tafel  war eine Taube zu sehen, die im Schnabel ein Paket Zichorie trug. Es sah so  aus, als ob sie jeden Augenblick vom Dache wegfliegen wollte. Das war reizend.  Der Vater war ein wenig Maurer, ein bisschen Hüttenbesitzer und ein wenig  Landarbeiter. Die ewige Sorge, wie er das Futter für die Kuh und die fünf Mark  Zinsen für die Hütte besorgen würde, hatte ihn zum Trinker und Familientyrann  gemacht. Die Mutter plagte sich zu Hause und bei fremden Leuten. Sie schleppte  Körbe voll Pilze, Himbeeren, Preiselbeeren, Stachelbeeren und Schwarzbeeren,  Ranzen voll Butter und weißem Käse nach Pilgram. Auch Anna hatte Schwestern. Es  waren ihrer fünf, und eine von ihnen hatte immer Kopf- und Magenschmerzen.  Diese Kleine nahm Anna im Rückenkorb auf die Weide mit, und diejenigen, die  schon zur Schule gingen, waren Gänsehüterinnen bei den Bauern,  Obstpflückerinnen oder auch Büschelklauberinnen, die hinter den Schnittern  einhergingen. Alles für ein Stück Brot und einen halben Pfennig die Stunde.  „Jetzt müssen wir das alles zurückzahlen, für uns und für die, die vor uns  waren", sagte Toni hart. „Müssen wir?" fragte Anna.
  Wenn Toni morgens zur Schule ging, blieb er bei den Neubauten stehen. Er fand  dort Unternehmer, die bereit waren, seine Arbeit zu bezahlen. Und diese  Kutscher, selbst ausgebeutet, waren keineswegs kleinere Ausbeuter als die  anderen; denn sie selbst bekamen für hundert aufgeschichtete Ziegel 1 1/2  Pfennig, und sie zahlten ihm dafür einen halben Pfennig. Wenn man beim Bau Geld  verdient, kann man natürlich nicht rechtzeitig zur Schule kommen. Außerdem hat  man dicke Staubschichten an den Beinen und bloßen Füßen. Der Lehrer, der keine  Ahnung hat, wie gut es tut, zu verdienen, und wie verflucht fein ein Stückchen  blutige Presswurst mit Speck riecht, wenn man sie zum Munde führt, der Lehrer  schimpfte dann, stellte einen in die Ecke und gab im Betragen eine Drei. Toni  rächte sich dafür an den reichen Jungen, die schöne Kleider hatten und  Schinkenbrot mit zur Schule brachten. Er liebte von den Lehrern nur einen, den,  der zu allen gleich böse war. Mit dem erlebte er einmal eine lustige Sache. Er  und Pohl und Braun verkleideten sich eines Tages als die drei Könige aus dem  Morgenland. Unter den Röcken trugen sie die Hemden der Mütter, die Kronen,  einen Blumenstock, den sie auf Stricken aufgezogen hatten und gebrannten Kork,  damit sich der Negerdarsteller schwarz anmalen könnte.
  Aber erst im Hauseingang, wo sie singen wollten, richteten sie sich her. Dort  mussten sie sich auch wieder umkleiden und ein wenig reinigen, weil sie auf der  Straße von Schutzleuten verfolgt wurden. Sie gingen die Stockwerke ab und  plötzlich, als sie an einer Wohnung klingelten, erschien in der halbgeöffneten  Tür das Gesicht ihres bösen Lehrers.
  „Na, ihr Gesindel", schrie er wie in der Schulklasse. „In welche Schule  geht ihr denn?"
  Ihre Überraschung dauerte genau zwei Sekunden. Dann rasten sie die Treppe  hinunter. Toni war im Leben noch nicht so gelaufen. Pohl glitt aus und rollte  ein ganzes Stockwerk auf dem Hintern hinunter. Unten, als sie sich gefasst  hatten und sahen, dass nur ein Blumenstock und ein Weihwedel zerbrochen waren,  brachen sie in ein Indianergeheul aus. Sie freuten sich, dass ihr Lehrer sie  nicht erkannt hatte, sie kleideten sich um und liefen auf die Straße. Dort  brüllten sie noch vor Lachen, freilich nur mehr aus Lausbüberei. Sie brüllten  so, dass die braven Bürger sie beschimpften.
  Anna fing seine Erklärung mit beiden Händen. Auch sie hatte Geld verdient. Im  Sommer wachsen in den Pilgramer Wäldern Pilze. Aber man muss das Geheimnis  kennen, um sie zu finden. Die Jungen pfeifen bei der Pilzsuche, weil der Pilz  neugierig ist und den Kopf herausstreckt. Die Mädels, die nicht pfeifen können,  versuchen es mit Schmeicheln, küssen den Pilz und sagen: „Vergelt's Gott und  bescher uns, lieber Gott, noch hundertmal soviel." Herrenpilze,  Pfifferling und andere verwandte man zu Hause für die Kartoffelsuppe,  Champignons werden gereinigt, in einen irdenen Topf getan, der Topf wird in ein  zweimal geknotetes Tuch geschlagen, und dann geht es nach Pilgram auf den  Markt. Wenn es keine Pilze gibt, dann wachsen in den Wäldern andere Dinge, und  wenn nichts wächst, dann holt man Reisig.
  Aber man musste auf den Flurwächter Acht geben. Der war nicht zu erweichen,  weder durch Bitten noch durch Weinen, der nahm jeden Sack mit. Wenn Anna und  ihre Schwestern mit vollen Säcken heimkehrten und durchs Dorf gingen, schrieen  ihnen die Bauernmädchen „Kra, kra" zu. Das sollte bedeuten, dass sie im  Walde die Nester der Krähen ausgeplündert hätten. Das Weiden ist im Herbst auch  keine leichte Sache. Wenn das Vieh ruhig die Stoppeln benagt, kann man die  Beine am Feuer wärmen, singen und über die Jungen lachen, die Peitschenkämpfe  und Feuersprünge veranstalten. Aber wenn sich der Reif auf die Felder legt, da  heißt es im Kartoffelacker herumjagen, und du freust dich, wenn ein frischer  Kuhfladen fällt, in dem du dir die Füße wärmen kannst. Ja, glaubte denn Toni,  sie wäre noch nie mit einem roten Ränzel vor der Türe gestanden und hätte noch  nie ihr Liedchen gesungen? Ihr Schuldirektor war ein braver Mann, er war  Feuerwehrhauptmann, hatte 22 Bienenstöcke, und er kümmerte sich um nichts  anderes. Trotzdem hatte Anna eine Drei im Fleiß, weil sie vieles vergaß. Der  Vater war einmal 12 Stunden eingesperrt, weil er die Kinder nicht zur Schule  schickte.
  Toni erzählte vom Hunger seiner Lehrjahre. Essen, essen! Über Mittag, wenn die  Fabriksirenen heulten, lief er wie ein wilder Junge aus dem Gießersaal und  gerade in das Geschäft gegenüber, wo eine dicke Krämersfrau war. Er kniete am  Korb nieder, in dem harte Brötchen waren und 'wühlte bis zum Grund, von wo er  sich in der schmutzigen Mütze die zerbrochenen und zerbröckelten Brötchen  hervorholte, weil sie ihm die Krämersfrau billig überließ. „Wie dieser  verfluchte Junge bloß die Stückchen findet", lachte sie gutmütig. Aber als  sie sich einmal unbeobachtet hinter ihn stellte und sah, dass der Junge am  Roden des Korbes heimlich die Brötchen zerbrach, gab sie ihm ein paar  Kopfnüsse, und er ging nicht mehr in dieses Geschäft. Die Vorstellung, dass er  sich einmal mit Abfällen beim Schlächter voll stopfen könnte, mit  Wurststückchen, Schinkenabfällen und verdorbenen Speckstücken, die man für  Katzen kauft, erregte ihn bis zur Raserei. Der Anblick eines Gurkenfasses vor  einem Geschäft trieb ihm den Speichel in die Mundwinkel. Weiß denn die Anna, wie  man Katzen tötet? Pfui Teufel! Man lockt das Tier mit einem Stückchen Wurst in  die Stube, und wenn es durch die Tür kommt, schließt einer die Tür, klemmt die  Katze ein und hält sie. Der andere erschlägt sie mit Stockhieben auf den Kopf.  Pfui, welche Gemeinheit! Die Katze hat ein zähes Leben und heult unerträglich.  Er hat das einmal in der Wohnung des Freundes gemacht, aber er konnte das  Fleisch nicht essen. Nein, nicht dass es schlecht gewesen wäre, aber wegen des  Totschlagens und wegen der Augen der Katze.
  Anna gab ihm die Erinnerung gleich zurück. Butterbrot, das war die Sehnsucht  ihrer Jugend. Sie hatten daheim eine Kuh, und dass die lebte, war das Verdienst  der Kinder, die des Nachts bei den Bauern Heu stahlen; aber keines von ihnen  bekam je ein bisschen Butter zu kosten. Denn, was sie im Körbchen nach Pilgram  zum Verkauf trugen, ging für Zinsen drauf.
  Das war eigentlich die erste große Erinnerung ihres Lebens. Die Mutter schlug  Butter, und Anna, ein kleines Mädchen, sehnte sich so stark nach einem Stückchen  Butterbrot, dass sie heulte und schrie, sich zu Boden warf und mit den Beinen  stampfte. Als weder Schreien noch Schläge halfen, strich ihr die Mutter ein  Butterbrot. Aber das Mädchen mit dem roten Zopf hatte nicht einmal Zeit, den  ersten Bissen zu schlucken. In der Tür zeigte sich der Vater und sein erster  Blick ließ ihr und der Mutter das Blut erstarren. Das Mädelchen ließ das Brot  fallen und lief zur Tür hinaus. Es rannte zum Bach hinunter und die Schritte  ihres Vaters klangen hinter ihm; irgendwo weit hinten weinte die Mutter. Nahe  am Bach erreichte er sie, erwischte sie am Kleid, packte sie, hob sie hoch und  warf sie weit weg. Das Kind flog, und in dem kleinen Seelchen leuchtete ein  Ahnen der letzten Stunde. Es fiel in weiches Moos, ins Geäst der Bäume auf dem  anderen Ufer des Baches. Dort öffnete es die krampfhaft geschlossenen Augen,  und von dort holte es die entsetzte Mutter. Bis hierher konnte Anna mit Toni  Schritt halten, aber
  weiter nicht mehr; denn dann kamen die Trommeln der Mobilisation und die  schwere Melodie der Kriegsmärsche. Das wilde Orchester der Front mit der  Grundmelodie des Artilleriefeuers, den hohen Tönen der pfeifenden Geschosse und  dem dumpfen Widerhall in den Kasernen. Der langgezogene, beängstigende Gesang  der Gefangenschaft. Zum Schluss das Lied der Heimkehr, das nur fröhlich begann.  Toni war Metallarbeiter. Gießer in einem Eisenwerk.
  „Wie sieht es denn bei euch aus?" fragte sie, „erzähl mir doch, was du  dort machst."
  Er erzählte ihr von den großen Gießereisälen, von ihrem Sand und Eisen, von den  hunderten Arbeitern, die dort arbeiteten, von Martinsöfen, in denen das Eisen  zur Weißglut erhitzt, sich glucksend auflöst. Vom Schmelzen des Eisens, wenn  sich die schwarzen Gießereisäle mit einem weißen, surrenden Licht erfüllen, und  wenn die Arbeiter mit Trögen und Stangen herbeieilen, um die Glut wegzutragen  und in Formen zu gießen. Er erzählte von Sandbauten, die in die Erde getrieben  werden und von beweglichen Kränen zu Häupten der Gießer, die in Riesenbottichen  das flüssige Eisen wegfahren. Von den Gefahren der Arbeit, von den Arbeitern,  die von Stahlplatten zertrümmert wurden, und von den Verbrennungen, von kleinen  Explosionen in den Formen. Er erzählte, wie das flüssige Eisen sich in der Luft  in glühende Brocken verwandelt, die den Arbeitern hinter das Hemd und in die  Haare fallen. Er sprach von dem Büro, von den Ingenieuren und Meistern, von den  Streitigkeiten mit ihnen bei der Verteilung der Arbeit und der Festsetzung des  Akkordlohnes. Er gab ihr einen Begriff von den Arbeitern, Genossen und ihren  Organisationen. Anna verstand nur halb, sie hatte den Eindruck von etwas Großem  und Schwarzem, das zeitweise in weißem Licht erglüht, von etwas Wildlebendigem,  das zu besiegen gleich schön und gefährlich war. Alles dies beherrschte Toni.  Denn ihr Toni war stark und ehrenhaft. Toni war stark. Wenn er sie umarmte, so  oft sie nebeneinander in den Mulden der Judenöfen saßen, dann konnte man sich  ruhig auf den teuren Arm stützen, und er gab nie nach. Auch seine Lippen waren  so wie seine Worte, sein Ja und Nein.
  „Liebst du mich, Toni?" schmiegte sie sich an ihn.
  „Ja", und er blickte ihr fest in die Augen.
  „Und es geht uns gut, nicht?"
  „Wie meinst du das?"
  „So, ich meine, es geht uns besser als früher."
  „Besser wohl, aber gut noch nicht." Als ob er nachdachte:
  „Und warum denkst du, Anna, dass es uns besser geht?"
  „So im allgemeinen, weil wir uns lieb haben, und weil wir es uns einrichten  konnten."
  Aber Tonis Gedanken waren eine andere Richtung gewohnt, und sein „wir"  hatte einen weiteren Umkreis als das von Anna.
  „Nein", sagte er, „wenn es uns besser geht, so haben das die Genossen für  uns erkämpft, die vor uns waren, und ein wenig auch wir selbst. Aber wir müssen  für uns und für die, die nach uns kommen, weiterkämpfen."
  „Ja", wunderte sich Anna, drückte sich enger an ihn und blickte mit großen  Augen zu ihm auf. Wenn sie in der Dämmerung oder schon im Dunkel im leichten  Schritt der Liebenden von den Judenöfen zurückkehrten, konnten sie sich nicht  voneinander trennen. Sie hielten sich immer eng umschlungen. Sie kamen an den  Schachbrettern der Familiengärten mit ihren lächerlich kleinen Zäunen vorbei,  hinter denen die Familien der Briefträger und Bankdiener leidenschaftlich das  Spiel von Land und Wirtschaft spielen. Sie kamen an riesigen Müllhaufen vorbei,  wo des Morgens Ketten von Wagen hinfahren, um die Asche, die Küchenabfälle und  die ausgekämmten Haare ganzer Stadtteile auszuschütten, die an irgendeinem Ende  immer von einem giftigdichten Rauch dampfen. Hier begegneten sie eines Tages  dem schönen, vollbärtigen Mann mit der Narbe, den Anna an dem Abend im  Volkshause kennen gelernt hatte. Er ging mit dem Studenten Jandak, dem Sohn des  Abgeordneten. Toni und Anna erkannten die beiden in der Dämmerung nicht und  kamen Arm in Arm bis zu ihnen. Da wollte Anna rasch von Toni wegspringen. Aber  er hielt sie erst recht fest, als ob er ihr zurufen wollte: „Warum denn,  glaubst du, ich schäme mich unserer Liebe?"
  „Der Arbeit alle Ehre", sagte der rote Soldat, und in seinem bohrenden  Blick zeigte sich etwas Hässliches und Spöttisches. „Du hast in diesen Tagen  noch soviel Zeit zur Liebe?" fragte dieses ironische Lächeln. Tonis  Gesicht verfinsterte sich, und das Blut stieg ihm zu Kopf. „Der Arbeit alle  Ehre", sagte der junge Jandak weich, und seine blauen Augen wandten sich  nicht mehr von ihrem Gesicht, bis er vorbeigegangen war. Auch Anna errötete,  denn sie fühlte, wie Jandak ihr die Wange und die Haare gestreichelt hatte, mit  einer Zärtlichkeit, in der ebensoviel stille Bewunderung wie Schüchternheit  lagen. Annas Nerven packte eine ferne, ferne Erinnerung an das Zimmer des  jungen Herrn.
  Die Liebenden schwiegen noch lange nachher, als die beiden Genossen schon  längst in der Dämmerung verschwunden waren. Tonis Hand glitt von Annas Hüfte  ab. Er machte ein zorniges Gesicht. Mit welchem Recht verurteilte ihn Plecity?  Hatte er seine Pflichten vernachlässigt? Wie oft in der Woche sah er denn Anna!  Es gab selten einen Abschied an der Haustüre auf dem Wenzelsplatz, wo er nicht  sagen musste: „Morgen kann ich nicht. Ich habe Vertrauensmännersitzung und  übermorgen Genossenschaft. Ich werde Donnerstag auf dich warten, Annchen. Ach  nein, da habe ich ja Gewerkschaft."
  Annas und Tonis Hände fanden sich erst wieder im Licht der Vorstadtstraßen, an  der Endstation der Straßenbahn, und im Wagen auf der vordersten Plattform  hinter dem Rücken des Wagenführers blickten sie sich wieder in die Augen,  schmiegten sich Hüfte an Hüfte aneinander und pressten die Hände. „Toni",  Anna öffnete die Lippen, ohne einen Laut zu geben. Sie freute sich über die  Leere der abendlichen Straßenbahn und ihre dröhnende Fahrt durch die leeren  Gassen, und sie freute sich der Heimlichkeit ihrer Zärtlichkeiten. Aber auch  heute sagte ihr Toni an der Haustüre zwischen dem ersten und zweiten Kuss zum  Abschied: „Morgen ist Vollversammlung. Übermorgen ist Sonnabend, da ist Sitzung  der Vereinigung Karl Marx. Sag doch mal, willst du nicht mitkommen? Es gibt  eine sehr interessante Debatte. Es ist im Gartensaal des Volkshauses." —  Natürlich wollte sie. Sie werde es sich schon einrichten. Sie kehrte sich schon  lange nicht mehr an die kalten Blicke, mit denen Frau Rubesch sie ansah.
  „Ich komme. Gute Nacht, Toni." Sie warf sich ihm an den Hals, presste sich  an seine Brust und sie verstärkte die Festigkeit ihrer Küsse, bis ihre Zähne die  seinen berührten und leicht knirschten.
  „Gute Nacht, Annerl. Komm, komm bestimmt." Aber sonnabends konnte Anna  nicht zur Versammlung der marxistischen Vereinigung kommen. Aus Czernowitz kam  irgendein rumänischer Herr nach Prag, der Schwager des Baumeisters mit seiner  Frau. Sie wohnten im „Schwarzen Ross", und man sah, dass dem Herrn viel an  ihnen gelegen war. Sie waren zum Abendessen bei der Familie Rubesch. Fräulein  Dadla kaufte Anna zu dieser Gelegenheit ein schwarzes Servierkleid und eine  weiße Schürze, und sie setzte ihr auch ein weißes Häubchen auf. Sie quälte sie  an diesem Tage sehr damit, wie sie bei Tisch servieren sollte. Heute, wieder am  Sonnabend, lud das Ehepaar Herrn und Frau Rubesch zum Abendbrot ins „Schwarze  Ross" ein. Frau Rubesch bereitete sich auf diesen Besuch sehr vor und  beriet sehr lange mit dem Fräulein, wie sie sich festlich kleiden und dabei  doch die Trauer wahren sollte. Nachmittags schickte sie Anna mit einem Auftrag  zu ihrer Schwester, von der Anna irgendein Paket holen sollte. Als sie in der  Küche die Ärmel herunterstreifte und die Schürze aufband, um wegzugehen, lief  Fräulein Dadla herbei. Das Fräulein war sehr erregt und ließ sogar die Tür zur  Diele ein wenig geöffnet, um zu hören, ob Mama käme. Als die gnädige Frau  hereinguckte, stellte sich Fräulein Dadla zum Küchenspiegel, ordnete sich die  Haare und sagte, als ob sie mit Anna von der Wäsche gesprochen hätte: „Ja, und  die Manschetten waschen Sie mir auch in Seifenschaum." Als die gnädige  Frau wieder weggegangen war, setzte das Fräulein die Reihe ihrer erregten  Befehle fort. Sie gab Anna ein Briefchen und Geld für die Straßenbahn. Vom  Bahnhof sollte sie schnell in den dritten Bezirk fahren. Die Adresse steht auf  dem Briefumschlag. Aber schnell und sofort. Im zweiten Stock, gleich die zweite  Tür rechts war der Brief Herrn Ingenieur Rudolf Fabian abzugeben. Das stand  auch auf dem Umschlag. Und hier ist noch ein Zettelchen. Die Sachen sollte sie  auf dem Rückweg im Delikatessengeschäft kaufen. Drei Flaschen Haut-Sautemes,  feinen Aufschnitt, Butter und Käse. Das Päckchen aus dem Delikatessengeschäft  sollte sie vor Mama im Winkel neben dem Keller verstecken.
  „Aber nur schnell, nur schnell, damit niemand die Verspätung bemerkt."  Anna ging zur Stadt. Sie hatte den besten Willen, alles so zu erledigen, wie es  ihr aufgetragen worden war. An den Herrn Ingenieur glaubte sie nicht, weil ihr  Marie erzählt hatte, das sei kein Ingenieur, sondern ein Kabarettsänger und ein  altes Schwein dazu, und dass da mal eine schöne Schweinerei entstehen würde.  Aber das interessierte Anna wenig. Sie war glücklich, dass sich abends niemand  zu Hause aufhalten würde, und dass sie lange mit Toni zusammenbleiben konnte.  Sie erledigte ihren Auftrag bei der Schwester der Frau Baumeister. Mit einer  großen Pappschachtel in der Hand bestieg sie den Straßenbahnwagen und fuhr in  den dritten Bezirk. Als der Wagen von der dritten Haltestelle abfuhr, erlebte  Anna eine freudige Überraschung. Sie sah Toni auf der Straße. „Toni",  schrie sie, und als es schien, dass er sie nicht hörte, beugte sie sich ganz  aufgeregt von der Plattform und schrie und winkte mit der Hand, „Toni!  Toni!" Er wandte sich um, und sein Gesicht erhellte sich. Er war noch im  Arbeitskleid. Unter dem Rock trug er ein blaues Hemd, und auf dem Kopf saß seine  schmutzige Mütze. Es war Sonnabend, und er hatte schon um 4 Uhr nachmittags  Arbeitsschluss. Er lief gleich hinter dem Wagen der elektrischen Bahn her. So  lange sie sich beide sahen, blickten sie sich mit verliebten Augen an. Auf der  nächsten Station stieg sie aus und lief ihm entgegen. Sie begrüßten sich und  leuchteten sich mit Augen und Zähnen an. Als Anna erzählt hatte, was zu  erledigen war, las Toni die Adresse des Briefes und entschloss sich, Anna zu  begleiten. Sie bestiegen von neuem die Straßenbahn und stiegen am Ziel aus. Sie  gingen durch die Balbinstraße. Das ist eine stille, stark ansteigende Straße  ohne Wagenverkehr. Fünfzig Schritte vor ihnen zog ein Kaufmannslehrling, ein  zarter, glatthaariger Junge in einem weißen Mantel, einen Handwagen mit leeren Kisten.  In solchen Kisten werden Bücklinge transportiert. Die Kisten waren hoch  geschichtet, mit einem Strick zusammengebunden und reichten über des Knaben  Kopf. Die Räder des Wagens donnerten langsam über das Pflaster, sie schoben  sich nur mühsam vorwärts. Man sah, dass der Junge seine Last nur schwer  bewältigte.
  „Das ist eine kapitalistische Gewissenlosigkeit", fluchte Toni.
  „Wart ein bisschen, ich werde ihm ein wenig helfen."
  Toni ging schnell vorwärts. Da verließen den Burschen die Kräfte. Vielleicht war  er auch gestolpert. Er ließ die Lenkstange fahren. Der Vorderteil des Wagens  senkte sich und die Last schwankte. Die Kisten fielen mit Krachen zu Boden.  Zwei Herren und eine Dame, die am Gehsteig vorbeikamen, brachen in Lachen aus.  Der Junge, von Anstrengung und Schrecken gerötet, wandte sich nach ihnen um und  lachte gleichfalls. Man sah, dass er nur aus Verlegenheit lachte. Aber aus dem  nahen Krämerladen lief ein kräftiger Mann im schwarzen Mantel heraus, eilte zu  dem Burschen hin, hob die Hände und ohrfeigte ihn, immer noch eine. Der  Lehrling sprang halb zur Seite, halb wurde er zum Rad des Wagens getrieben. Er  duckte sich dahinter und versteckte das Gesicht hinter den Armen. Der Herr  stieß ihn mit dem Fuß in die Schenkel. „Du Lausejunge", brüllte er ihn an,  dass die Straße schallte. Das war für Toni, der zehn Schritte vor Anna ging,  das Zeichen. Er machte einen langen Satz. Im Augenblick stand er neben dem Mann  und schlug ihn ins Gesicht und noch einmal, bums, ins Gesicht. „Du Hund,  du."
  Lippe und Kinn des Kaufmanns färbten sich blutig rot. Tonis Faust war Eisen  gewohnt. Der Kaufmann blickte vollkommen verstört drein, und man sah deutlich,  dass er mehr von Überraschung als von Schmerz gepackt war.
  Zwei Herren und eine Dame, die vorher den Laufjungen verlacht hatten, traten  näher. Vom gegenüberliegenden Gehsteig eilten auch zwei Menschen herbei, und  dann trat noch von rückwärts einer hinzu.
  Bevor sich Anna vom Schreck erholt hatte, sammelte sich ein Haufen Menschen um  den Wagen. Man vernahm Stimmen, darunter auch die Tonis. Der Kaufmann hielt das  blutige Taschentuch an die Nase, bückte sich nach dem Bleistift, der ihm  heruntergefallen war und steckte ihn wieder hinters Ohr.
  Als Anna herbeilief, war es ihr unmöglich, bis zu Toni vorzudringen. Sie sah  nur, dass ein älterer Herr vor ihm stand, ein glattrasierter Herr in lichtem,  kariertem Anzug und mit einer Hornbrille.
  „Gut, mein Herr", erklärte er Toni, „aber das darf kein Grund sein, dass  Sie die Rohheit durch eine noch größere Rohheit überbieten. Sehen Sie nur, wie  Sie ihn blutig geschlagen haben. So werden wir in unserer Republik nicht  weiterkommen. Demokratie verpflichtet."
  „Ich pfeif auf Ihre Demokratie, in der sie arbeitende Kinder quälen  lassen!" schrie Toni auf.
  Bei dieser Antwort veränderte sich die Situation, die bisher ruhig gewesen war,  mit einem Schlage.
  „Das ist eine unerhörte Frechheit", rief ein junger Mann mit einer  Aktentasche zornig aus.
  „Also so ist das", sagte der rasierte Herr im lichten Anzug, „Sie sind  scheinbar ein Bolschewik!"
  „Natürlich bin ich ein Bolschewik", antwortete Toni herausfordernd.
  Irgend jemand inmitten der Menge lachte spöttisch auf.
  „Aha", schrie einer hasserfüllt und die Frau, die vorher auf dem Gehsteig  gelacht hatte, kreischte mit hoher Stimme:
  „Das ist ein Bolschewik, seht ihn euch an, das ist ein Bolschewik."
  Aus den Menschen um Toni wurde eine Masse, und dieser Masse bemächtigte sich  Erregung. Beim Anblick des ersten Bolschewiken aus Fleisch und Blut erwachten  in ihrem Unterbewusstsein alle Schrecken der russischen Revolution, welche die  Zeitungslektüre dort angehäuft hatte.
  Erschießen im Keller durch einen Schuss von hinten, lebende Menschen, die im  Müllhaufen vergraben werden, Gräfinnen mit hochgeschürzten Röcken, die man auf  glühende Öfen setzt, Handschuhe aus Menschenhaut, die man von den Händen junger  Kadetten abgezogen hatte, eine Horde wahnsinnig gewordener Kommissare, die sich  zum Mittagessen die gebratenen Säuglinge der Stationsvorsteher servieren  lassen, die Herrschaft der Juden, Kommunisierung der Frauen, die Flucht aus  dieser Hölle, Fürstinnen in Lumpen, der Untergang aller Kultur, die Plünderung  der Kirchen und Museen, die Bilder von Tizian, Correggio, die man als  Maurerschürzen verwendet, der Tod aller ehrbaren Menschen, alle guten Sachen  den Mördern, Lumpen, Dieben und Juden.
  Ein Handwerker aus der Balbinstraße, ein Tischler, den das Leben handeln  gelehrt hatte, rief aus dem Kreise, der Toni immer enger umschloss:
  „Haltet ihn, ruft die Polizei."
  Und plötzlich wiederholte die ganze Menge: „Haltet ihn, lasst ihn nicht los,  Polizei, Polizei!"
  Zwei Jünglinge, von einer wilden Sehnsucht nach Tatendrang ergriffen,  entwirrten sich dem Gedränge und rasten die Straße herunter, als ob es ums  Leben ginge. Sie liefen, um die Polizei zu holen. Ein Dritter riss sich gleichfalls  los und flog hinter ihnen her. Seine Absätze klapperten auf dem Gehsteig.
  Die Angst entfesselte alle Nerven. Es war die Angst um die amerikanischen Öfen,  die man nach dreijähriger Sparsamkeit im Vorjahr im Speisezimmer aufgestellt  hatte; die Angst um die kirschfarbene Seidenkombination der Frau und um die  Kaninchenfelle, die man zu Weihnachten den Kindern gekauft hatte, die Angst um  die 100 Mark mit Zinsen, die auf der Sparkasse der Hauptstadt lagen. Die Juden  und die Republik, Schüsse und aufgesprungene Lackschuhe, die mit Zuckerspagat  verschnürt waren.
  „Nur nicht laufen lassen, nur nicht laufen lassen", brüllte die erregte  Menge, und die Frau, die zuerst gelacht hatte, kreischte, als ob jemand ihr  Gewalt antun würde.
  „Haltet ihn, nur nicht laufen lassen." Als der Sturm sich legte, besann  sie sich von neuem, drängte die Menge mit den Ellbogen auseinander und schob  sich vorwärts.
  „Untersucht ihn, untersucht ihn, ob er irgend etwas bei sich hat."
  Zwei junge Leute waren tatsächlich bereit, der Aufforderung zu folgen und  traten näher an Toni heran, aber der legte die rechte Faust an die linke  Schulter und schob den Ellbogen vor. Seine Augen funkelten.
  „Haut ab", brüllte er sie an, und sie rührten sich nicht mehr.
  Toni benahm sich nicht so, als ob er davonlaufen würde. Er stand, durch seine  bloße Existenz die Menschen aufreizend, und hielt sie mit seinen gefährlichen  Augen in gebührender Entfernung. Er war bereit zu warten, ebenso wie die Meng©  warten wollte, die das Schlagwort des Augenblicks „Polizei" beruhigt  hatte.
  Die Menge wuchs ungeheuerlich, nur um den Wagen herum war freier Platz, wie  eine Luftblase in einer Sirupflasche. Dort standen Toni, der Kaufmann, der  entsetzt blickende Laufbursche, der rasierte Herr im lichten Anzug mit der  Hornbrille, der hier sichtlich Autorität genoss. Der Kaufmann schnäuzte sich  und erklärte dem rasierten Herrn:
  „Wissen Sie, was mich die Bücklinge kosten? Ich habe sie noch nicht bezahlt und  der Kopf raucht mir, wenn ich dran denke, wo ich das Geld hernehmen soll.  Gestern hat er mir eine Ölflasche zerbrochen."
  „Nein, nein," winkte der Herr ab, „den Burschen dürfen Sie nicht schlagen,  das geht nicht."
  Der Kaufmann beugte sich zum Lehrling herab, zog ihn an der Schulter näher  heran und zeigte auf den Herrn:
  „Bitte, sage diesem Herrn da, hast du es schlecht bei mir?"
  Der Junge schüttelte den Kopf.
  „Gebe ich dir genug zu essen?" Der Junge nickte.
  „Schlage ich dich?" Der Junge schüttelte wieder den Kopf.
  „Das haben wir eben gesehen," lachte Toni höhnisch.
  „Was haben Sie gesehen? Nichts haben Sie gesehen," erregte sich der  Kaufmann.
  „Bitte, er bat mich ,Hund' genannt, mich, lieber Herr, ich bin ein größerer  Proletarier als Sie, Mann. Ich kann mir bei niemandem am Sonnabend meinen Lohn  holen, ich habe keinen Achtstundentag, ich schufte wie ein Hund von sechs Uhr  morgens bis zehn Uhr abends."
  „Und der Lehrling mit Ihnen, bloß dass Sie etwas davon haben und er  Maulschellen", schrie Toni.
  „Ich habe etwas davon? Wissen Sie denn nicht, was Steuern sind?" ereiferte  sich der Kaufmann, und die nervöse Frau kreischte wütend dazwischen:
  „Er zahlt sie nicht."
  „Selbstverständlich zahlt er sie nicht, gnädige Frau", wunderte sich der  Kaufmann. Und sie aufgeputscht:
  „Die Bolschewiken zahlen keine Steuern, die müssen wir zahlen, verstehen Sie,  Sie... "
  „Wissen Sie, mein Herr," fuhr der Kaufmann fort, „wie viel Miete ich für  diesen Laden zahle? Danach fragt auch keiner."
  „Man merkt es Ihnen an, dass es Ihnen sehr schlecht geht", provozierte  Toni.
  „Ihnen merkt man es auch an", kreischte die Frau und ballte die Fäuste,  „eben Ihnen merkt man es an."
  Der Kaufmann bückte sich und schob mit dem Arm achtungsvoll und höflich die  Knie der umstehenden Leute beiseite.
  „Erlauben Sie bitte, erlauben Sie bitte, nicht auf die Kisten treten," und  brummte zum Jungen: „Sammel das auf."
  Anna war im Menschenauflauf eingezwängt, nahe dem Wagen. Sie stand entsetzt mit  der großen Pappschachtel in der Hand. Bis jetzt hatte sie die Augen auf Toni  geheftet, aber nun, als es schien, dass ihm keine unmittelbare Gefahr drohte,  schaute sie sich die Leute ringsumher an. Sie stellte fest, dass ihrer immer  mehr wurden, und dass nicht einer unter ihnen war, der sich Tonis angenommen  hätte. In dieser stillen Straße wohnten nur Kaufleute, Handwerker und Herren.  Arbeiter gab's hier nicht. Da fühlte Anna, dass es ihre Pflicht sei, zu  handeln. Ängstlich jemanden suchend, der sie verstehen konnte, heftete sie ihre  Hoffnung an den Herrn im hellen karierten Anzug. Dieser mochte vielleicht  ehrenhaft sein.
  Sie drängte sich bis zu ihm durch und zog ihn sanft am Rock:
  „Mein Herr", sagte sie bescheiden, „der Kaufmann hat diesen Jungen  geschlagen."
  „Ja, das weiß ich schon", antwortete er streng, und durch die Hornbrille  blickten sie ein paar kalte Augen an: „Mischen Sie sich bloß nicht  herein." Sie trat wieder ängstlich zurück.
  Toni erblickte sie und lächelte sie an. Ohne Aufregung, fröhlich und angenehm.
  Da sah sie, wie schön er war. Sie blickte ihn an und konnte die Augen nicht von  ihm lassen. Sie vergaß die Gefahr, die ihm drohte und sah nur, wie schön er  war.
  „Na, Anna, fürchte dich nicht." Seine Stimme war hell.
  „Sie werden mich nicht beißen, sie würden sich die Zähne zerbrechen, und  außerdem sind sie zu feige. Die Bourgeoisie kämpft nicht selbst, sie ist  gewöhnt, andere für sich kämpfen zu lassen."
  Wiederum lachte jemand verächtlich.
  „Wir werden uns nicht mit dir beschmutzen. Wir werden dir schon zum  Bolschewismus verhelfen, wir werden dir schon die Bourgeoisie zeigen."
  Und die Frau begann sich wieder zu erregen:
  „Wo ist denn die Polizei, das ist ein Skandal, das ist wirklich ein  Skandal!"
  Irgendwo an der Peripherie des Menschenkreises zeigten sich zwei Stöcke und man  hörte Schimpfworte. Tonis Geduld riss. Er setzte sich in Bewegung.
  „Was soll ich mich hier mit euch unterhalten", brummte er, setzte irgendeinem  die Faust unter die Nase und schob ihn beiseite. Mit dem linken Ellbogen stieß  er jemand vor die Brust. Er ging, und nicht einer von denen, die ihn umstanden,  wartete, bis er ihn anstieß.
  „Lasst ihn nicht laufen", schrie irgend jemand auf, aber sichtlich nur  deshalb, weil er es nicht selbst tun mochte. Toni warf rechts und links noch  ein paar wütende Blicke. Anna ging hinter ihm her, und sie bekam von rückwärts  einige Stöße.
  „Komm", sagte er ihr, als sie aus dem Kreis gelangt waren und nahm sie an  der Hand. Sie schritten die Straße aufwärts. Es folgte ihnen nur ein kleiner  Haufen von Feiglingen. Die erregte Frau war dabei, und die allein hatte den  Mut, den Versuch zu machen, die beiden aufzuhalten.
  Sie jagte mit erhobenem Regenschirm hinter ihnen her. Toni wandte sich um und  spannte die Arme.
  „Hören Sie mal, ich habe noch nie eine Frau geschlagen, aber wenn Sie keine  Ruh' geben, knall' ich Ihnen eine." Die beiden Begleiter der Frau hielten  sie zurück und zogen sie fort.
  Mit einemmal erhob der zerrissene Haufen ein jähes Geschrei und die paar  Menschen, die ihnen gefolgt waren, fielen mit hellem Jubel ein:
  „Hierher, hierher, haltet ihn, lasst ihn nicht, hierher, hierher", schrie  die ganze Straße wie von Sinnen.
  Toni und Anna wandten sich um. Zwei Schutzleute liefen die Straße hinauf, und  vor ihnen jagten in wildem Galopp drei Jünglinge. „Dort, dort!"
  Toni lachte auf. „Warte mal", sagte er zu Anna, „wir wollen doch nicht  weglaufen." Er blieb stehen und wartete.
  Die Schutzleute und die Menge waren im Augenblick da. Der rasierte Herr im  lichten karierten Anzug übernahm wieder die Führerrolle.
  „Ich heiße Dr. Kettner und erstatte gegen diesen Mann die Anzeige wegen  Körperverletzung und Beleidigung des Staates."
  Sie gingen wieder die Straße hinunter. Die Schutzleute, Toni, der Herr mit der  Hornbrille und der Kaufmann. Der ging sichtlich ungern und suchte nach einer  Ausrede, die amtlich nicht zur Kenntnis genommen wurde. Er wischte sich immer  noch die Nase, aufmerksam forschend, ob noch Blut floss. Die große Menschenmenge  zerstreute sich, und die Eskorte zog nur ein paar Neugierige nach sich.
  Anna lief neben den Polizisten. Sie führten ihren Liebsten ab. An ihrem Arm  baumelte die Pappschachtel, und im Rücken saß ihr die Angst. Es war die Angst  ihres vom Alter ergrauten Dorfes, die Angst, die den Dorfmenschen erfasst, wenn  er etwas von Gendarmerie, Patrouillen, Bajonetten und den Ungeheuerlichkeiten  der Gerichtsszenen hört.
  Es gehörte schon große Tapferkeit dazu, dass Anna wagte, den Polizeiärmel zu  streifen:
  „Herr Wachtmeister, der Herr hat den Jungen geschlagen."
  „Mischen Sie sich nicht in Amtsahngelegenheiten ein", brüllte sie die  grüne Uniform an, „und verschwinden Sie so schnell als möglich, es könnte ihnen  schlecht bekommen." „Geh, Anna, misch dich nicht herein", sagte Toni.
  Dann stand sie vor irgendeinem Haus. In diesem Haus war ein Tor und über diesem  Tor eine schwarze Tafel und auf dieser Tafel stand mit weißen Buchstaben  „Polizeirevier".
  Dort war Toni.
  Die Straße führte vorbei. Auf dem Gehsteig gingen Menschen an ihr vorüber. Über  den Fahrdamm bullerten die Fuhrwerke und hupten die Automobile, aber das alles  war wie von Nebel bedeckt. Und das einzige, was verzweifelt hell blieb, war die  schwarze Tafel mit den weißen Buchstaben „Polizeirevier".
  Aus dem Tor vor ihr kamen einige Leute und wieder einige. Aber Toni war nicht  dabei. Dann kam der Kaufmann heraus, dann wieder einige Fremde, der rasierte  Herr, der sie gleichgültig anschaute.
  Endlich!
  Toni stand auf der Schwelle. „Toni!"
  Sie rief es aus und fiel ihm um den Hals.
  „Toni."
  „Sei nicht kindisch, Anna, komm' wir wollen gehen." Er stieß sie sanft von  sich. „Werden sie dir etwas tun, Toni?" „Was können sie mir tun, diese  Schweine, komm." Sie gingen.
  Anna drückte Tonis Hand. „Sie werden dir nichts tun, Toni?"
  „Na, sie werden mich ein paar Tage einlochen, das ist keine Sache."
  Anna zerdrückte Tonis Finger in den ihren. „Liebling."
  Er führte sie zur Haltestelle der Straßenbahn. Und sie ging gehorsam, bereit,  ihm zu folgen und nicht zu fragen. Sie hielt seine Hand in der ihren.
  „Fahr, Anna, du wirst zu Hause einen mächtigen Krach haben. Ich habe  Versammlung und muss noch zu Hause vorbeigehen. Wenn du kannst, komm."
  Es dämmerte bereits. Er wartete, bis der Wagen abfuhr, blickte ihr nach und  lächelte.
  Als Anna Toni aus den Augen verloren hatte, und von der Plattform in das Innere  des Wagens gehen wollte, standen Plecity, der Mann mit der Narbe über dem  Schnurrbart, und der Student Jandak vor ihr.
  „Hallo, Kollegin, was ist dir?" fragte der Student und hielt sie lange an  der Hand fest. Seine Hand war freundschaftlich warm und seine Augen  mitleidvoll. Anna kämpfte lange mit den Tränen, bevor sie antwortete. „Konnte  er nicht flitzen?" fragte Plecity, und seine Stimme war sonderbar  gleichgültig.
  „Er wollte nicht", antwortete Anna.
  Da blickte der rote Soldat Jandak an, er blickte ihn so sonderbar an und sagte  ausdruckslos, als ob er etwas ganz Bedeutungsloses zu sagen hätte:
  „Eine Eselei, warum agitiert er nicht lieber bei den Arbeitern im Betrieb. Was  hat denn das für einen Sinn, mit den Kleinbürgern auf der Straße zu streiten  und sich zuletzt noch fassen zu lassen."
  Plecity interessierte sich nicht für die Schicksale der Menschen, bloß für die  Revolution. Anna schaute ihn verwundert an. Sie verstand das nicht. Er sprach  doch nicht etwa von Toni?
  „Ach nein", sagte der Student, doch Anna begriff, dass er es ihretwegen  tat. „Toni agitiert sicher in den Betrieben, das ist ein braver Kerl."
  Anna fuhr mit den beiden Freunden bis zur übernächsten Haltestelle, aber sie  blickte während der Fahrt keinen der beiden an. Sie wusste, dass sie Plecity  bis zum Tode hassen musste.
  Auf dem Wenzelsplatz stieg sie aus. Der Händedruck Jandaks war wieder weich und  warm, aber nicht so lange, wie er sein sollte. Anna entzog dem Studenten die  Hand und sprang noch vom Wagen ab, ehe er hielt.
  „Zu Hause wird's mächtigen Krach geben", hatte ihr Toni zum Abschied  gesagt, — und es gab Krach.
  Kaum hatte sie die Diele betreten und die Tür hinter sich geschlossen, schoss  die gnädige Frau aus dem Zimmer. „Wo waren Sie", kreischte sie mit voller  Stimme.
  Anna war vor Angst außerstande, zu antworten. „Wo waren Sie?" fragte die  Baumeistersgattin, sie mit den Augen durchbohrend. Sie war schon im schwarzen  Abendkleid, mit Spitzen und Juwelen geschmückt, frisiert und gepudert.
  „Sie Luder, Sie!"
  Die Tür zum Zimmer öffnete sich, und der Herr war zu sehen.
  „Reg dich nicht auf, komm, beschmutz dich nicht mit dem Mädchen. Am Ersten geht  sie. Hat sie die Sachen mitgebracht?"
  „Die hat sie mitgebracht. Selbstverständlich geht sie zum Ersten", schrie  die gnädige Frau nochmal auf, entriss Anna die Schachtel und ging ins Zimmer.  In der Diele tauchte Fräulein Dadla auf.
  „Haben Sie mir alles besorgt?" flüsterte sie liebenswürdig, als sie an ihr  vorbeiging. Sie tat, als ob sie zur Toilette wollte.
  „Nein, Fräulein."
  Dadla blieb stehen. Sie erbleichte, dann blickte sie Anna mit großen Augen  erstaunt an. Als sie keine Antwort erhielt, knirschte sie mit den Zähnen und  fuhr sich mit einer heftigen Bewegung durch die Haare, als ob sie sich die Haare  raufen wollte. Plötzlich besann sie sich, dass sie sich hier nicht aufhalten  durfte und die Eltern täuschen musste.
  „Verfluchtes Luder", zischte sie, und es schien, als ob sie mit diesem  Wort gleichzeitig ein Stück Lunge ausgespuckt hätte. Sie verschwand in der  Toilette. Sie konnte sich nicht einmal dadurch erleichtern, dass sie die Tür  hinter sich zuwarf. Anna stand in der Diele noch immer wie festgefroren, als  Dadla zurückkehrte. Das Fräulein spuckte aus, und in diesem Ausspucken war  dieselbe Verachtung wie vorher im Schimpfwort.
  Anna ging in die Küche. Sie sank in einen Stuhl am Küchentisch, legte den Kopf  auf die Tischplatte und bedeckte die Augen mit den Händen. Was immer auch  geschehen mochte, sie war entschlossen, nichts zu sehen, nichts zu hören. Aber  sie hörte trotzdem, wie die Herrschaft wegging, und wie das Automobil auf dem  Hof ansprang. Dann war Stille. Nach einer Viertelstunde etwa kam Fräulein Dadla  in die Küche. Anna hob zwar den Kopf nicht, doch es konnte nur das Fräulein  sein. Die Küche erfüllte sich plötzlich mit Geschrei.
  „Warum haben Sie den Brief nicht hingebracht?" und das Fräulein brüllte,  bis ihr die Stimme versagte.
  „Verfluchtes Luder, Bestie, Hure." Das Fräulein häufte Schimpfwort auf  Schimpfwort, eine lange Reihe, vielleicht alle, die sie im Leben gehört hatte,  wahllos hintereinander.
  „Ich könnte Sie umbringen."
  Sie warf die Küchentür ins Schloss, dass das Geschirr im Küchenschrank klirrte.  Jetzt hielt sich Dadla für die Selbstaufopferung schadlos, mit der sie vorhin  die Tür des Klosetts leise geschlossen hatte. Sie jagte durch die sieben Zimmer  und warf die Türen ins Schloss, dass Mauerstücke rieselten, die Lampen  wackelten und das Haus zitterte.
  Anna hatte noch nichts Ähnliches erlebt. Der Vater hatte ihr mit der Faust  Kopfnüsse versetzt, und seine Hand war hart wie ein Ziegelstein, aber so rasend  hatte sie ihn nie gesehen. Über kurz war das Fräulein wieder in der Küche.
  „Was haben Sie mir da angerichtet. Um Himmelswillen, was haben Sie mir da  angerichtet." Es war ein verzweifeltes Weinen.
  „Sie haben mich doch erschlagen, um Gotteswillen, Sie haben mich  erschlagen."
  Das Fräulein schlug mit dem Kopf gegen die Kacheln des Ofens.
  „Fräulein, was machen Sie da, besinnen Sie sich doch." Das Fräulein wandte  sich vom Ofen weg und fasste sich an den Kopf.
  „Anna, um Himmelswillen, ich habe doch auf diese Soiree vierzehn Tage gewartet,  wie auf die Auferstehung Gottes. Sie wissen ja nicht, was Sie mir angetan  haben, Sie haben mich umgebracht."
  Das Fräulein raste durch die Küche. Es war helle Verzweiflung.
  „Um Gotteswillen, um Gotteswillen!"
  „Fräulein", flüsterte Anna ängstlich, „vielleicht könnte ich noch  hingehen."
  Das Fräulein sprang zu ihr und bohrte ihr die Nägel in die Schultern.
  „Gehen Sie, Annchen, laufen Sie. Ich schenke Ihnen ein schönes Batisthemd mit  Spitzen. Gehen Sie, Rudi wird wohl nicht mehr zu Hause sein, aber fahren Sie  ins Metropol, und wenn er da nicht ist, ins Cafe König, oder zum Zoo oder ins  Café Wien. Es ist möglich, dass er auch in den Weinstuben im Rokoko sitzt, und  wenn er nicht da ist, dann vielleicht bei Rumpelmayer. Wissen Sie, wo das  Metropol ist?"
  „Nein, Fräulein."
  „Sie wissen auch gar nichts", seufzte Dadla.
  Das Fräulein suchte Papier und Bleistift, schrieb Anna die Namen der  Cafehäuser, die Straßen und die Nummern der Straßenbahnen auf. Sie stampfte mit  dem Fuß auf, wenn Anna nicht sofort begriff.
  „Laufen Sie, Anna, laufen Sie, meine Liebe. Sie müssen ihn um jeden Preis  finden. Ich werde mich revanchieren. Ich schenke Ihnen auch Spitzenhöschen,  wenn Sie ihn finden. Mit der „Eins" fahren Sie zu Rumpelmayer. Man wird  Ihnen schon Bescheid sagen. Sie brauchen nichts mehr einkaufen und brauchen  nicht zurückkommen. Papa und Mama kommen nicht vor Mitternacht. Nehmen Sie sich  von dem Geld, das ich Ihnen gegeben habe, eine Mark, setzen Sie sich ins Cafe  und sehen Sie sich die illustrierten Zeitungen an. Laufen Sie und nehmen Sie  sich den Schlüssel."
  „Sofort, ich muss nur das Bett machen."
  „Das Bett mach' ich selber."
  Anna gehorchte und ging. Das war ein furchtbarer Tag heute. Es musste ihn wohl  jemand verflucht oder verzaubert haben. Oder sollte sie heute alle ihre Sünden  abbüßen.
  Die Herrschaft gibt Befehle und kümmert sich gar nicht darum, ob sie  durchführbar sind, das Fräulein ordnet an, laufen Sie und finden Sie ihn, so wie  man sagt, holen Sie Brötchen. Die Herren wollen immer nur mit ihrem Willen  durchdringen.
  Anna vertauschte die Fußsteige mit den Plattformen der Straßenbahn und das  Zwielicht der Straßen mit der Helligkeit der Cafés und Weinstuben. Die Leute  stießen sie an, berührten sie in den Drehtüren, und als sie auf Holz und Glas  stoßend zweimal herumlief, spie sie die Tür in die beängstigende Helligkeit der  Lüster, Spiegel und weißen Tischtücher. Sie stand betäubt in der Türe und  wusste nicht, was sie tun sollte. Wer beachtet ein Dienstmädchen im  Barchentkleidchen, das sich an der Portiere herumdrückt, ein Mädchen, zu gesund  und sauber gekleidet, um für eine Bettlerin gehalten zu werden und zu  bedeutungslos, als dass man sich mit ihr beschäftigen müsste. Die Kellner mit  ihren Tabletts voll Kaffeegeschirr, mit ihren Silberkübeln, in denen Weingläser  stehen, mit dem Abendessen, das auf Porzellangeschirr serviert wird, haben  keine Zeit, und die Pagen sind zu stolz auf ihre Uniform, um sich zu einem  Gespräch herabzulassen.
  Nur die Herren an den nahen Tischen bemerkten, dass Anna schön war und dass sie  prachtvolles rotes Haar hatte.
  Viele Male wiederholte sie bei ihrer Jagd ihr: „Ach bitte, bitte", bevor  man ihr erlaubte, zu Ende zu reden und viele Male musste sie die ganze Frage  wiederholen, bevor man ihr antwortete: „Nein" oder, was schlimmer war:  „Wir wissen nicht, oder wir kennen ihn nicht."
  Das ging über ihre Kraft, und als sie in einem Cafehaus vier Kellner ansprach,  und nicht einer ihr antwortete, und als ein Herr am Ecktisch ihr zublinzelte  und winkte, hatte sie nur den Wunsch, wegzulaufen und sich ins Wasser zu  werfen.
  Doch es geschah etwas Unerwartetes. Und es kam so einfach, als ob es nicht die  Erlösung, sondern irgendeine alltägliche Sache wäre.
  Anna fand den Ingenieur Fabian tatsächlich gegen 10 Uhr in den unteren Räumen  der Weinstuben Rokoko. Sie stand an den Garderoben auf dem Teppich, der so rot  war, wie rohes Rindfleisch. Ein netter Kellner gab ihr auf ihre Frage  liebenswürdig Auskunft und rief den Ingenieur hinaus.
  Das war ein junger, eleganter Herr. Vielleicht ein bisschen zu elegant, schien  es Anna, und ihr fiel auf, dass er stark parfümiert und gepudert war, dass er  weiße Gamaschen, eine herrliche Krawatte, ein goldenes Armband und auf dem  Mittelfinger einen Ring mit einem riesigen grünen Stein trug. „Was wünschen  Sie", fragte er obenhin.
  Es sollte herablassend klingen, aber es war nicht herablassend. Es war nicht  diese Selbstverständlichkeit wie in der Sprache des Fräuleins und der  Herrschaft, und Anna fühlte irgendeinen unsicheren Unterton. „Ich soll diesen  Brief überbringen." „Geben Sie her", sagte der Ingenieur, griff  hastig nach dem Briefumschlag, zerriss ihn und überflog das Schreiben.
  In seinen Mundwinkeln spielte ein Lächeln. „Es ist gut", sagte er zufrieden,  fasste in die Tasche seiner Weste und gab Anna 30 Pfennige. Anna errötete, aber  sie nahm das Geld. Der Ingenieur zog in der Garderobe einen hellen Mantel an  und richtete vor dem Spiegel lange den bunten Schal. Anna, mit den 30 Pfennigen  in der Hand, trippelte auf dem roten Teppich die Stufen herauf zur Straße. Sie  war frei, der Kreuzweg war beendet.
  Sie eilte durch die nächtlichen Straßen zum Volkshaus und hoffte, Toni noch  anzutreffen. Er war nicht mehr da.
  Die Versammlung war zu Ende, und die Genossen hatten sich zerstreut. Sie  schaute vom Garten aus durch die Glaswand in den Saal. Es brannte nur eine  Birne, bloß zwei Tische waren besetzt. An einem Tisch spielten sie Skat, an  einem zweiten debattierten drei Genossen und ein vierter las den „Holzarbeiter".
  „Was nun", dachte sie, als sie wieder auf die Straße kam. Der Einfall des  Fräulein Dadla, dass sie in einem Cafehaus illustrierte Zeitungen lesen sollte,  war aufgelegter Wahnsinn. Sie hatte genug von diesen Cafes und Weinstuben,  diesen gleichgültigen und zudringlichen Gesichtern der Männer, zur Verzweiflung  genug, und sie war entschlossen, lieber zwei Stunden durch die Straßen zu  wandern, ehe sie noch einmal in diese Schande zurückkehrte.
  Da erinnerte sie sich ihrer Freundin Marie.
  Sie lief dem Wenzelsplatz zu bis zum Hause 33. Sie öffnete das Haus und ging  durch den dunklen Treppenaufgang bis zum dritten Stock. Das vergitterte Fenster  von Maries Kammer ging auf den Flur hinaus. Anna klopfte. Sie klopfte zuerst  leise und dann stärker, immer stärker. Aber Marie rührte sich nicht. Da klopfte  Anna ganz hart mit der Faust.
  „Wer ist da?" erklang eine schläfrige Stimme in der Kammer, „wer ist  da?" „Ich, die Anna von unten."
  Das Fenster erleuchtete sich, wurde dann geöffnet, und Maries Kopf erschien.  Als sie Annas verquältes Gesicht sah, fragte sie mit teilnahmsvollem Erstaunen:  „Was ist denn, mein Kind?"
  „Marie, ich bitte dich, lass mich zu dir."
  „Aber gern."
  Marie öffnete leise die Tür der Wohnung und führte Anna an der Hand in ihr  Kämmerchen.
  Sie saßen nebeneinander auf dem Rand des Bettes. Als Anna die neugierigen  Fragen, die aus Maries Augen leuchteten, beantworten wollte, brachte sie nicht  mehr hervor als:
  „Mariechen, ich bin so unglücklich", denn die Kehle zog sich ihr zusammen,  und an Stelle der Worte kamen ihr Tränen. Marie begriff und drängte nicht. Sie  saßen lange nebeneinander Hand in Hand, die eine rot, die andere schwarz, die  eine angekleidet und die zweite im Hemd. Die Rothaarige weinte, und die  Schwarze blickte sie mitleidvoll an, streichelte ihr Haar und sagte:
  „Na, na —" und streichelte ihre Knie und sagte:
  „Na, na, Annchen", und schmiegte die Wange an ihre. Dann kamen doch Worte.
  „Na, sag doch."
  Anna schilderte den Verlauf dieses ganzen schrecklichen Tages, den vollen  Verlauf von Beginn, von dem Augenblick an, wo sie von der gnädigen Frau mit dem  Paket zum Bahnhof geschickt wurde. Von den Beleidigungen, die Toni für seine  Tapferkeit vom Rotarmisten widerfahren waren, erwähnte sie nicht ein Wort. Als  sie in ihrer Erzählung bei den Wachleuten und bei Tonis Verhaftung angelangt  war, zog sich ihr wieder die Kehle zusammen, und sie bedeckte die Augen mit den  Händen.
  Aber da rollte sie Marie, die sich vom ersten Schrecken um die Freundin erholt  hatte, und deren erste Neugierde befriedigt war, in das Bett, zog ihr die Hände  von den Augen und zupfte sie, um sie zu erheitern, an den Haaren und  streichelte ihr Brüste und Bauch.
  „Aber kleines Mädchen, das ist doch nichts. Du bist ja so dumm, das ist doch  überhaupt gar nichts, rein gar nichts. An solche Sachen muss man sich in der  Stadt gewöhnen. Hier ist das nicht so wie bei euch daheim."
  Sie zog Anna Kleid, Schuhe und Strümpfe aus, legte sie ins Bett, deckte sie bis  zum Kinn zu und küsste sie auf die Wange: „Nacht, mein Dummchen."
  Dann machte sie das Licht aus und legte sich zu Anna ins Bett. In dieser Nacht  erzählten sie sich im Flüsterton noch viele Dinge. Marie interessierte sich  besonders für den Auftritt mit Herrn und Frau Rubesch, und als Anna den  Tobsuchtsanfall des Fräulein Dadla geschildert hatte, kam Marie die  Erleuchtung. Sie setzte sich im Bett auf und hob den Zeigefinger. „Pfffd",  pfiff sie lange. Sie saß eine Zeitlang so, dann sagte sie: „Und jetzt erzähl  mir das noch einmal." Denn sie wollte das jetzt genauer und im Sitzen  auskosten. Anna erzählte den Zwischenfall mit Fräulein Dadla noch einmal, und  als sie geendet hatte, sprach Marie das Urteil:
  „Die schöne Dadla sitzt in der Tinte, das ist so sicher wie die Steuer, und  jetzt hat sie Angst. Warte nur, wir werden noch viele schöne Dinge erleben, das  ist bloß der Anfang. Das muss ich morgen früh der Portiersfrau erzählen."
  Und zum Schluss pfiff Marie noch einmal. Diesmal ganz kurz, als ob sie einen  Punkt machen wollte. Pfffd!
  In dieser Nacht schliefen zwei Mädchen, eine Rothaarige und eine Schwarze  nebeneinander. Sie kehrten einander die Hinterteile zu und hatten die Beine  angezogen.
  „Wir sehen aus wie der alte österreichische Doppeladler", sagte Marie, als  sie einschliefen, und das waren ihre letzten Worte.
Die Kämpfe, die Mitteleuropa im Jahre 1919 erschütterten, waren die Wehen  vor der Geburt einer neuen Zeit.
  In der bescheidenen Kammer, wo Toni in Untermiete wohnte, schlief in seinem  Bett etwa zehn Tage ein Flüchtling der ungarischen Revolution bis zu der Zeit,  wo ihm die Genossen falsche Papiere und eine Stellung als Zeitungsverkäufer  besorgten. Er war schwer lungenkrank, hatte glühende schwarze Augen und einen  eigenartigen Mund, in dem es nur drei Schneidezähne gab, zwei oben und einen  unten. Drei weiße und gesunde Zähne in der schwarzen Leere der Mundhöhle. Der  Flüchtling hieß Kerekes Sandor und war Eisendreher.
  Gegen Ende August kam er in das „Volkshaus", ins Sekretariat des  Metallarbeiterverbandes, ausgehungert wie ein Wolf, abgerissen, ohne Dokumente  und ohne Geld. In dieser Zeit kamen viele falsche Revolutionäre zu den  Arbeiterorganisationen und baten um Unterstützung. Die kleinen Betrüger sind in  der Erschließung von Quellen sehr erfinderisch. Sie kamen mit Legitimationen  von der ungarischen sozialistischen Partei. Auch Polizeikonfidenten kamen mit  Legitimationen der ungarischen Partei. Aber Kerekes Sandor genoss Vertrauen,  und Toni nahm ihn bei sich auf.
  Sie verständigten sich ganz gut. Mehr durch Zeichensprache, Blicke und durch  Zeichnungen, die sie auf dem Rande ihrer Zeitung aufzeichneten, als mit Hilfe  der 30 deutschen Worte, die Kerekes kannte. Es dauerte oft lange  Viertelstunden, bevor sie einander begriffen, aber sie waren Arbeiter, denen  ihre Arbeit die Ungeduld abgewöhnt hatte. Sie hatte sie gelehrt, alle Schwierigkeiten  aus dem Weg zu räumen, und sie verstanden einander am Ende stets.
  „Verstehst du? Einsperren, fesseln, Kriminal, so klein." Kerekes Sandor  erklärte die Größe am Umfang des Zimmers, und dann berührte er die einzelnen  Einrichtungsgegenstände.
  „Nix Bett, nix Tisch, nix Stuhl. Ich da zehn, zwanzig und noch drei Tage, jeden  Tag, heute, gestern, morgen öffnet sich die Türe und es kommt ein  Honved-Oberleutnant, ein Honved-Kadett und zwei Soldaten. Der Oberleutnant Graf  Belaffy Imre und der Kadett Baron Czengery Taszilo. Kleider herunter, weg, weg,  weg, alles von mir weg, bin ganz nackt. Sie legen mich auf die Erde, Mund zur  Erde so — und halten fest. Der Kadett hat eine Flasche, so wie die, die auf dem  Koffer steht, Säure! Weißt du, was das ist, kennst du H zwei SO vier?"
  „So, wie ich es dir auf den Rand der Zeitung schreibe."
  „Aha, du kennst das. In der Säure steckt ein Gänsekiel.
  Das muss ich dir aufmalen. Siehst du, eine Gans und da zupf aus einem Flügel  heraus, — so, eine Feder. Und der Kadett taucht diese Feder in die Flasche mit  der Säure H zwei SO vier und steckt sie mir dann in den Hintern. Ich brülle —  ah — ich brülle schrecklich vor Schmerz. Jeden Tag, weißt du, heute, gestern,  morgen, zehn, zwanzig und noch drei Tage. Der Oberleutnant und der Kadett stehen  über mir und rollen die Augen: ,Sprich.' Ich: ,Nein.' Sie: .Sprich Bestie.'  Ich: ,Nein.' Sie: ,Wo ist Acz Aladar, wo ist Feher, wo ist Szabo?' Ich: ,Nein.'  Sie haben Peitschen, sie peitschen mich, bis ich die Besinnung verliere, dann  bringen sie einen Eimer und begießen mich, bis ich die Augen öffne. ,Sprich.'
  Ich: .Nein.'
  Sie rauchen Zigaretten. Legen sie mir mit dem glühenden Ende auf die Brust. Ich  brülle entsetzlich, ich schüttle mich.
  Sie: ,Wo ist Szabo, wo ist Acz, wo ist Guttmann Wilmos, wo ist Lakatos?'
  Ich: ,Nein.' Sie ohrfeigen mich — klatsch — klatsch — klatsch — siehst  du?"
  Sandor zeigt die ausgeschlagenen Zähne. Er zieht Rock und Hemd aus. Sein Rücken  ist eine einzige Narbe und seine Brust besät mit verheilten Brandwunden.
  „Den Koracs Pal haben sie erschlagen mit einem Sandsack. Das muss ich dir  aufzeichnen. — Siehst du, ein Sack. Den füllen sie mit Sand, verstehst du?  Damit schlagen sie auf den Kopf. Man fällt um und stirbt. Das ist sehr gut. Es  kommt der Arzt, untersucht, klopft ab, zuckt die Achseln, findet nichts. Das  Gesicht ist hübsch und glatt, auf dem ganzen Körper nichts, keine Wunde, kein  Blut. ,Na, was', sagt der Arzt, ,der ist gestorben, tragt ihn weg.' Der  Oberleutnant und der Kadett lachen und reiben sich die Hände. Er hat nichts  erkannt. So haben sie viele erschlagen. Hundert, hundert, hundert, viele  hundert, und niemand hat etwas gesehen. Mit dem Sandsack ist sehr gut. Ich  werde auch sterben, mich werden sie auch erschlagen. Ich sitze und denke nach.  Immer sitze ich und denke nach. Was soll ich tun? Es ist der dreiundzwanzigste  Tag. Der Kerkermeister kommt! Nein—nicht der Oberleutnant, nicht der Kadett,  verstehst du? Der, der hier am Gürtel die klirrenden Schlüssel trägt, auf- und  zuschließt und das Essen bringt. Er war schon älter und ganz anständig. Ich war  schon sehr schwach. Die Knie verbogen, fiel immer wieder hin! Aber hier  ermannte ich mich. Ich richtete mich auf und spannte die Muskeln und los auf  ihn. Ich habe ihm die Kehle durchgebissen. Wir wälzten uns auf der Erde, aber  ich hielt die Zahne zu und ließ nicht locker. Siehst du — hier, mit den drei  Schneidezähnen, die mir nach den Schlägen ins Gesicht noch übrig blieben. Du  hast doch beobachtet, dass sie wie die Sägezähne des Eichhörnchens aussehen.  Tot! — Hier aus den Mundwinkeln
  rann mir das Blut. Es war mir entsetzlich zumute.-----
  Weg mit der Erinnerung, es wird mir jetzt noch schlecht, wenn ich daran denke.  Der Kerkermeister war unschuldig. Das war der Graf Belaffy Imre und der Baron  Taszilo. — Diese Bestien, diese blutigen Hyänen. Ich erschlage sie, wenn ich  ihnen jemals im Leben begegne." Und er begann ungarisch zu fluchen: „Az  anya bitang kapcabetyar Mariajat!" Dann fuhr er fort: „Was ich dir jetzt,  Genosse, von meinem Schmerz und meiner Rache erzähle, und wie ich jetzt auch  brülle mit brennenden Augen, das ist alles zu wenig. Ich muss das alles  ungarisch schreien, denn nur meine Muttersprache kennt die entsetzlichen Worte,  die den Schoß der Mutter und den Samen des Vaters verfluchen, die diesen beiden  Hunden Hortys das Leben gaben. Ich erschlage sie. — Gott, habe ich Husten — ich  bin lungenkrank, ich weiß — aber ich erschlage sie.-------Verzeih-----ich werde  fortfahren.
  Ich nahm dem toten Kerkermeister die Kleider und zog sie an und weg, schnell  weg, weg, weg, weg. Leere Taschen, immer zu Fuß. Ich musste mich verstecken,  ich aß, was ich auf den Feldern fand, oder wenn ich ein Kuhn fing und ihm den  Hals umdrehte. Ich habe nur wenig gebettelt, das war gefährlich. Einmal  verneigte ich mich vor einem Herrn und bat ihn um Streichhölzer. Er gab
  sie mir. Das Huhn,-----Feuer,-----warm, — — ein
  Feuerchen angemacht, das Huhn über Feuer gehalten.----
  Und dann bei euch. Die Brust frei, Organisation, Proletariat, — Genossen, —  gute Kameraden. Begreifst du, Genosse, dass ich ,danke' zu dir sagen will, wenn  ich mit beiden Fäusten deine Hand drücke und dir mit einem hellen Blick in die  Augen sehe?! Verstehst du mich?"
  Das war im Jahre 1919. Noch waren die Erschütterungen nach dem Entstehen der  neuen mitteleuropäischen Staaten nicht verklungen, als schon wieder neue  Schatten am Horizont aufstiegen.
  Die Menschen zogen in Riesenmassen durch die Straßen. Sie hatten aber nicht  diese fröhlichen Augen und den Tanzschritt, mit dem sie, beglückt vom Ende des
  Krieges und bezaubert vom Anblick der Freiheit, dem Tag ihren Gruß zuriefen. Es  waren dieselben dunklen und finsteren Gesichter wie vor einem Jahr, als noch  auf vier Teilen der Welt der Schrei der Kanonen und Gräber gellte; dieselben  Gestalten, die damals die Straßen entlangzogen und „Nieder mit dem Krieg!"  brüllten.
  Heute kamen sie wieder. Sie trafen sich auf den Versammlungsplätzen zum Marsche  in die Stadt. Die demobilisierten Soldaten, die in dem halben Jahr der  „Freiheit" gelernt hatten, dass der Hunger in den Vorstadthäusern um  nichts erträglicher sei, als der im Schützengraben und im Gefangenenlager, wo  man wenigstens die schlechtgelaunten Frauen und die hungrigen Kinder nicht  sehen musste, und wo niemand Schinken, Pökelzungen und Rauchfleisch und  Pyramiden von Weinflaschen ins Schaufenster gestellt hatte.
  Es kamen die Männer, die sich im Krieg in den Wäldern verborgen hatten. Das  Waldversteck, der Hunger und die Aufopferung hatten sie klug gemacht. „Schütze  dich selbst! Willst du nicht getötet werden, so töte selbst!"
  Es kamen die Kriegsfreiwilligen von einstmals, und unter die Massen, die sich  gesammelt hatten, mischten sich kleine Haufen, ein paar Dutzend Leute, die im  Feuer der russischen Revolution gehärtet waren, die keiner Phantasterei  nachgingen, die wussten, worum es geht, und ihre Pflichten kannten.
  Es kamen die gemarterten Frauen, die noch nicht Gelegenheit gefunden hatten,  ihren rasenden Racheschwur gegen die Mehlschieber zu erfüllen, denen sie für  eine Handvoll Mehlabfälle das Letzte hergegeben hatten.
  Und es kamen die Mütter der gefallenen Söhne und die Witwen der getöteten  Männer; jene Frauen, die das Vaterland nicht bedauerte, weil es keine Zeit dazu  hatte, und weil es ihrer zu viele gab. Ihnen liefen schon lange keine Tränen  mehr über die Wangen, weil sie im Innern versteinten.
  Und es kamen die Frauen der Kriegskrüppel, für die der Frieden nur einen Bauch  mehr bedeutete, der gesättigt werden musste....
  Und es schlossen sich die alten Diebe und Gauner und Zuhälter an, die sich an  diesem Maitag entschieden und ein für allemal klarmachten, dass es sich unter  einem republikanischen Regime ebenso gut stehlen lasse wie unter dem  Kaiseradler. Sie schnupperten mit geblähten Nüstern die angenehme Atmosphäre  und begrüßten sich:
  „Tag, Franz! Heute gibt's, glaube ich, billige Blusen und Strümpfe für dein  Mädel."
  Es waren auch sozialdemokratische Ordner mit roten Binden am Arm anwesend, die  von ihrem Exekutivausschuss über den politischen Zweck dieser Demonstration  belehrt worden waren und genaue Befehle hatten, wie weit man die Leidenschaft  der Massen treiben dürfte, die genau wussten, durch welche Straßen man den Zug  führen musste, und um welche Zeit sie auf dem Hauptplatz eintreffen sollten, wo  die sozialdemokratischen Minister eine große Volksversammlung abhalten wollten.
  In den Seitenstraßen war die Polizei versammelt zur Unterstützung der  Ordnerschaft--------und auch für den Fall, dass die roten Streifen am Arm  versagen sollten.
  Die Massen, in der Vergangenheit verraten und um die Zukunft betrogen, wälzten  sich durch die Straßen der Hauptstadt und der anderen Städte und Städtchen des  Landes. In den Straßen schallte es: „Fort mit den Tyrannen und allen  Verrätern!" Wenn die Jugend dabei war, sang man Spottlieder auf die  Schieber und Ausbeuter.
  Manche Abteilungen trugen einen funkelnagelneuen Galgen mit einer festen Rahe,  von dem ein Hanfseil, das eine Schlinge hatte, herunterbaumelte. Vor dem Galgen  wurde ein Plakat getragen, auf dem war eine große, rote Aufschrift: „Letzte  Warnung für die Schieber!"
  Man machte vor den Kaufläden der bekanntesten Preistreiber Halt, jagte sie  durch die Büros und holte sie — fahl und mit schweißbedeckter Stirn — aus den  Verstecken, hinter den Kisten und Säcken hervor. Man stellte sie auf der Straße  unter die Rahe des Galgens und legte ihnen die Hanfschlinge um den Hals. Dann  befahl man ihnen, feierlich zu schwören, dass sie die Preise nie mehr in die  Höhe treiben, nie mehr die Armen ausplündern, kurz, dass sie anständige Bürger  der jungen Republik werden würden. Und die Schlächter, die Müller, die Bäcker,  die Bierbrauer, die Kolonialwarenhändler, die Schnittwarenhändler, die  Schuhmacher schwuren unter dem Galgen, bibbernd und zitternd, was ihnen  befohlen wurde, und die Massen schwiegen drohend dazu. Dann wurden die  Geschäftsleute wie Gefangene inmitten der Massen geführt, und die Frauen mit  harten Augen pflasterten ihnen den Kopf mit ihren Schimpfworten, die Jugend  sang ihnen Spottlieder in die Ohren, und sie dachten verzweifelt an die  Verschlimmerung ihrer Zuckerkrankheit, ihres Nierenleidens und ihrer Herzfehler  und an die hysterischen Wutanfälle ihrer Frauen und Kinder. Sie wurden durch  die Straßen geschleift und zur Freude aller Augen bis zu den Rathäusern  geschleppt, vor denen die Versammlungen stattfanden, und wo die Volksredner  ihnen noch manches in die Seele donnerten von Ehrbarkeit, von demokratischer  Republik und von letzter Warnung.
  In den Provinzstädten ging alles nach den Weisungen des Exekutivausschusses,  aber in der Hauptstadt wurde an jenem Maitag zum ersten Male darüber  entschieden, ob es im neuen Staate zulässig sei, die bewaffnete Macht gegen die  befreite Nation antreten zu lassen und ihr Blut zu vergießen oder nicht.
  Die sozialdemokratischen Minister erregten sich mächtig bei dem bloßen Gedanken  daran. Diese Demonstrationen waren zur Unterstützung ihrer Politik veranstaltet  worden, sie sollten einen Druck auf die unnachgiebigen bürgerlichen Minister  ausüben.
  Die bürgerlichen Minister waren jedoch anderer Ansicht. Galgen eignen sich  nicht als Spielzeug für das Volk. Besitz und Sicherheit ehrbarer Kaufleute und  Handwerker mussten um jeden Preis geschützt werden.
  Die sozialdemokratischen Minister verloren ihre Ruhe erst am Nachmittag. Vom  Polizeipräsidenten und den Deputationen kamen Nachrichten, dass das vorgesehene  Programm nicht eingehalten würde. Die Massen gingen nach den Versammlungen auf  den Hauptplätzen nicht auseinander. Es rotteten sich Haufen und Häufchen  zusammen. Der Polizeipräsident hing am Telefon in ständiger Verbindung mit dem  Ministerrat, und seine Mitteilungen waren alarmierend. Die demobilisierten  Soldaten stellten sich hinter die Verkaufspulte der Schuh- und  Lebensmittelgeschäfte, bestimmten selbst den Preis und verkauften vor den Augen  der ohnmächtigen Kaufleute in einigen Minuten den ganzen Laden aus. Hier wurde  noch irgendwie die Ordnung gewahrt. Die Soldaten schritten gegen jeden  Plünderungsversuch energisch ein und führten das gelöste Geld an die  Geschäftsleute ab. Aber es seien Elemente am Werk, berichtete der  Polizeipräsident, die schrieen, dass die Preistreiber schon tausendmal mehr aus  dem Volk geschunden hätten, als sie heute verlören. Diese Elemente drangen in  die Wäsche- und Tuchgeschäfte ein, erkletterten die Regale, warfen die Ballen  herunter, die unten von zehn Händen aufgefangen und über die Köpfe der Menge  hinweg auf die Straße weitergeworfen wurden. Sie fielen denjenigen zur Beute,  die sie brauchten oder wollten. In den Kneipen der Vorstädte könne man für eine  halbe Mark Seidenstrümpfe, Halbschuhe und Lackschuhe kaufen. In den Straßen  werde agitiert. Der Abgeordnete Jandak fahre im Auto herum und halte Reden. Der  Polizeipräsident wage nicht, die Ausführungen des Abgeordneten zu  qualifizieren, aber er halte sich verpflichtet, mitzuteilen, dass sie im  Hinblick auf die Situation äußerst gefährlich seien und ein böses Beispiel  geben müssten. Dem Abgeordneten folgten eine Reihe von Individuen, die man  direkt als Bolschewiken bezeichnen könnte. Sie sprängen auf die Wagen und  Denkmäler hinauf und hielten von da aufrührerische, das Volk verhetzende Reden.  Sie forderten zur Bewaffnung auf, sprächen vom russischen Beispiel und  behaupteten, dass es in der Macht des Volkes liege, die Galgenkomödie in  Wirklichkeit zu verwandeln. Das Volk verjage sie nicht, sondern höre ihnen  aufmerksam zu. Stellenweise komme es geradezu zu gefährlichen  Zustimmungskundgebungen und Hochrufen auf die russische Revolution. Die  Polizei, der die Waffenbenutzung verboten war, sei ohnmächtig und der  Polizeipräsident bitte um Widerrufung des Waffenverbotes. Einige Schutzleute  seien geschlagen worden, eine Anzahl von ihnen entwaffnet, die Gefahr sei groß  und schnelles Einschreiten notwendig.
  Am Nachmittag ließen sich auch die sozialdemokratischen Minister davon  überzeugen, dass es notwendig war, die staatliche Ordnung zu erhalten, ebenso  wie die Sicherheit des Besitzes und Lebens. Militär wurde in die Straßen der  Hauptstadt entsandt; nicht gegen das Volk, denn dieses hatte sich nach der  Beendigung der Versammlung gemäß dem aufgestellten Programm in Ruhe entfernt,  aber gegen die „unverantwortlichen Elemente".
  Jener Freitag im Mai vernichtete die Illusionen. Die „letzte Warnung allen  Schiebern" verfehlte ihren Zweck, die Kaufleute schwuren unter der Hanf  schlinge, was man von ihnen wollte, aber der Laib Brot und der Liter Milch  wurden nicht billiger. Es stieg der Verdacht auf, dass nicht bloß die Habgier  der Geschäftsleute im Spiele sei, dass es vielmehr noch anderes geben müsse.
  In den Fabriken war lebhafte Bewegung. Die Arbeiter kamen bereits wohl  informiert zur Arbeit. Schon beim Frühstück hatten ihre Augen in den Zeitungen  gesucht, und während die Rechte abwechselnd nach der Kaffeetasse und nach der  Brotschnitte griff, hielt die Linke die Zeitung fest. „Mach doch, du kommst zu  spät", sagten die Frauen ärgerlich, und die Männer steckten die Zeitung in  die Tasche und liefen auf die Straße, wo sie in die überfüllte Straßenbahn  sprangen. Sie versuchten noch hier zwischen drängenden Schultern, mit dem Kinn  die Zeitung festhaltend, zu lesen.
  Die Welt war in Bewegung.
  Diese Bewegung bestimmten nicht irgendwelche rätselhaften Diplomaten und  Generale mit goldenen Kragen, sondern die Arbeitermassen. Ungarn, München, ganz  Deutschland, Finnland, Estland, Italien, Russland, hauptsächlich Russland!
  Man debattierte im Gedränge der Straßenbahn und der Morgenzüge, man tauschte  die Nachrichten auf dem kurzen Wege von der Haltestelle bis zum Fabriktor aus,  den man im leichten Laufschritt zurücklegte, man debattierte beim Umziehen vor  den Schränken, in denen die Arbeitskleider hingen. Und zwischen den  Gießereiformen, Fabriksälen und ihren Ambossen, zwischen den Siemensöfen und  den Kohlenlagern gingen die Meinungen der Begeisterten und der Zweifler, ging  Belehrung und Unwissenheit hin und her. An den Drehbänken, Sägen, an den  Färbereitischen, an den Bohrern, an den Öfen, an den Bottichen besuchten sich  die Arbeiter, um zu debattieren, zu verspotten und zuzustimmen. Ingenieure und  Meister blieben stehen, um ein paar Worte mitzureden. Die Weber schrieen sich  beim Gebrüll der Webstühle neue Nachrichten ins Ohr, und die Mädchen in den  Expeditionen und Packräumen, die mit flinken Fingern Papier und Stanniol  ballten, kümmerten sich mehr darum, welcher Partei Rosas neuer Freund angehörte  und fragten weniger danach, ob er brünett oder blond war.
  Die Revolution ging durch die Welt.
  Die Versammlungen waren in dieser Zeit lebhaft und voll Bewegtheit. Toni war  bei allen bedeutenderen Versammlungen. Bei vielen war auch Anna mit, denn sie  verließ zum Monatsersten ihre Stellung nicht und erkämpfte sich in einem harten  Wortgefecht das Recht, an jedem Abend auszugehen.
  Sie saßen miteinander in den Vorstadtkneipen an Tischen mit karierten  Tischtüchern und blickten gespannt auf den Mund des Redners, der sich vom Strom  treiben ließ, von dem die Arbeiterschaft ständig vorwärtsgetrieben wurde. Ihre  Hände ruhten nicht ineinander wie in ruhigen Stunden, denn Toni war zu sehr  beschäftigt mit dem Pulsschlag der Welt, um den Pulsschlag Annas fühlen zu  können. Es gab nur wenig Versammlungen, in denen Toni nicht selbst eingriff:  „Genossen... !"
  Wie war er in solchen Stunden schön, wie war Anna auf ihn stolz, seine Gestalt  richtete sich auf, und die Bläue seiner Augen zog mit einem Male wie ein Magnet  alle Augen auf sich, und der Klang des Wortes „Genossen" ertönte wie ein  Schlag gegen den Amboss, von welchem der Hammer noch zweimal abspringt. Es war  ein anderer als der, den Anna in der Beleuchtung des Werktags kannte, ein  Wesen, das nur in feierlichen Augenblicken aus dem Innern Tonis aufstieg, ein  Etwas, das seine Augen befeuerte und seine Wangen wie in den Augenblicken der  Umarmungen färbte.
  „Genossen... !"
  Im Volkshause erklangen jetzt die drei Silben dieses Wortes von der Bühne des  Sommersaales. Der Saal mit den Glaswänden war bis nachts erleuchtet, und vom  Garten konnte man hineinsehen wie in eine Laterne. Er war überfüllt von  Zuhörern, von Genossen und Genossinnen. Sie saßen hier an runden Tischen,  Schulter gegen Schulter gedrängt, und Knie gegen Knie. Sie standen an die Wände  gelehnt, füllten den freien Raum vor der Bühne, und in ihren Köpfen zeichneten  sich im Tabakrauch Fetzen der Ereignisse und Hoffnungen.
  „Genossen, wir wurden betrogen. Wir haben gekämpft, sind gestorben und haben  gehungert; während das Bürgertum sich verdrückte, durch Schiebungen reich wurde  und für einen Korb Kartoffeln unseren Frauen das letzte Hemd wegnahm. Und wer  regiert jetzt in der Republik? Sie, — und wir sind alle Sklaven. Was hat sich  geändert? Schaut eure Hände an, Metallarbeiter, sind sie weicher als in der  Monarchie? Und in eurer Brust, Textilarbeiter, ist da weniger Baumwollstaub als  während der Kaiserzeit? Und ihr, Erdarbeiter, sind eure Rücken weniger  gekrümmt? Gibt's weniger Bettler auf der Straße? Sterben weniger an  Lungenschwindsucht? Arbeiterfrauen, schaut euch eure Kinder an, sind sie satter  und weniger mager als im alten Staat?"
  „Auf dem ,Graben' (Anm.: Graben heißt die Hauptstraße Prags.) gibt's genug  dicke Kinder!" schrie eine Frau hasserfüllt aus dem hinteren Teil des  Saales. Toni fuhr leidenschaftlich fort:
  „Sie versprechen uns goldene Berge, aber auch die Kaiser verstanden es, zu  versprechen und nicht zu halten. Früher hieß das kaiserliche Verordnung, jetzt  hat es einen anderen Namen. Wo ist die versprochene Sozialisierung der Kohle  und der Schwerindustrie?"
  „Sie haben uns betrogen!" erscholl es scharf in die Stille des Saales. Der  Sekretär der Landarbeiter, ein magerer, aristokratisch aussehender Mann, hatte  es ausgerufen. Seine schwarzen Augen erglühten wie Feuer, und der Steinmetz  Ober, dessen scharfe Gesichtszüge wie von Säure gezeichnet waren, legte die  Faust auf den Tisch, und sprach langsam in die Stille:
  „Sie wollen uns einschläfern und Zeit gewinnen, um sich die Republik nach ihren  Vorstellungen auszubauen!"
  „Wo bleibt die Aufteilung des Großgrundbesitzes, wo bleibt die Einziehung der  Kriegs gewinne?"
  Toni warf diese kurzen Sätze in die Versammlung wie Feuerbrände. Dann fuhr er  fort:
  „Wo ist die Trennung von Kirche und Staat?" Der Saal brach in Lachen aus.
  „Vergangene Woche", schrie eine Frau, aber weil sie den Sturm nicht  übertönen konnte, wartete sie zwei Sekunden, und dann rief sie von neuem:  „Vergangene Woche verhafteten sie in der Vorstadt einen Bankdiener, weil er den  Hut nicht abnahm, als der Pfarrer die Hostie vorbeitrug!"
  „Wir wurden getäuscht", fuhr Toni fort, „von allen; man sagt uns immer,  wir sollen warten, so wie sie es uns auch im Kriege vier Jahre lang gesagt  haben. Wie lange denn noch? Ich will euch sagen, wie lange. Bis das Bürgertum  die Wirtschaft wieder in Gang gebracht hat, bis es sein Heer, seine Gendarmen,  seine Polizei, seine Spitzel organisiert hat, solange sollen wir warten. Wenn  sie soweit sind, springen sie uns an den Hals und drücken zu. Genug, Arbeiter,  vorbei die Komödie, vorbei die Freiheitsspielerei und die Demokratie, her mit  den höheren Löhnen, her mit dem Achtstundentag! Her damit, jetzt werdet ihr  tanzen, wie wir pfeifen!"
  Anna ließ Toni nicht aus den Augen. Er stand schön und stark da. Seine Wangen  hatten sich gefärbt, und das stahlblaue Augenpaar fing die Blicke der Massen  auf wie eine Zielscheibe. Tonis Augen zogen die Augen der Genossen an und mit  ihnen den Zorn, den Schmerz und die Sehnsucht.
  Wie ist er doch schön, dachte Anna, so schön, als ob er mich küsste.
  Sie trachtete danach, seinen Blick zu erhaschen, umsonst, seine Augen waren zu  sehr damit beschäftigt, die Blicke der anderen aufzufangen, als dass sie sich  einem Augenpaar hätten widmen können. Sie verstand Tonis Worte nicht mehr, sie  vernahm nur seine Stimme, die ihr Entzücken verursachte.
  Sie fühlte, wie aus seinen emporgehobenen Händen ihr und den anderen Kraft  zuströmte und noch etwas Unnennbares, das die Glieder mit einem feinen Zittern  erfüllte und Tränen in die Augen trieb. Sie liebte ihn, oh, wie liebte sie ihn,  und wie war sie auf ihn stolz.
  Toni endete. Er spannte die Hand wie zum Kugelstoß, und die Augen brannten: „In  Russland kämpfen sie einen ungeheuren Kampf für uns — in Russland fließt  Proletarierblut für uns — in Russland baut man eine neue Welt für die Arbeiter  der ganzen Erde. Können wir bloße Zuschauer bleiben? Zeigen wir uns diesem  Kampf gewachsen."
  Toni schloss: „Es lebe die russische Revolution!"
  Der Gartensaal erbebte in begeistertem und leidenschaftlichem Beifall. Toni  drang bis an die Rampe vor: „Es lebe die Weltrevolution!"
  Im Saale tobten sie: „Es lebe die Weltrevolution!"
  Und in diesem Sturm bewegten sich schwielige Fäuste, raue Stimmen, Tabakqualm,  rote Fahnen, brennende Augen.
  Toni, hochrot im Gesicht, rief von der Rampe: „Es lebe die Revolution!"
  Die Glaswand des Gartensaales drohte zu zerspringen. Alles war im Wirbel der  Bewegung, die Waldkulissen der Bühne, der Vorstandstisch, die Gläser, die  überfüllten Aschbecher, die gewürfelten Tischtücher, die Birnen an der Decke:  „Allem zum Trotz, es lebe die Weltrevolution!"
  Es war die Leidenschaft alten Hasses und die Sehnsucht nach der freudigen  Zukunft, die Hoffnung auf Befreiung. Es war das Getöse der zukünftigen  Straßenkämpfe, der Rache und des Sieges.
  Die Menschen erhoben sich von den Tischen, und über ihren Köpfen bewegten sich  Hände: „Es lebe die Internationale, es lebe die Internationale!"
  Toni kam hochrot über die Treppe von der Bühne herunter. Er bahnte sich seinen  Weg zwischen den Tischen, und während der Saal noch donnerte und brüllte,  setzte er sich zu Anna. Er begrüßte sie mit einem Blick und einem leisen, kaum  merkbaren Lächeln.
  Sie gab sich ihm ganz, mit Leib und Seele. Wie sie ihn liebte.
  Der Rotarmist Plecity sprang auf die Bühne zum Vorstandstisch. Anna erbleichte.  Sie hasste diesen Menschen. „Genossen!"
  Seine Stimme war anders als die Tonis, scharf und hässlich wie ein  geschliffenes Messer. Sie jagte Anna Furcht und Hass ein.
  „Beifall und Geschrei werden's nicht schaffen", sagte Plecity.
  Anna fühlte, dass ein Messer auch eiskalt ist. „Durch Reden auch nicht, das  überlasst den Quatschköpfen."
  Vom Vorstandstisch erhob sich der Vorsitzende, ein alter Holzarbeiter.
  „Genosse", sagte er maßvoll und zupfte den Redner am Ärmel.
  „Geh zum Teufel!" sagte der Rotarmist zu ihm, und er rief: „Das Reden  lasst den Quatschköpfen. Ihr aber handelt! Verschafft euch Waffen, Waffen,  Waffen!" Der Vorsitzende erhob sich:
  „Genosse", sagte er ernst und streng. Aber er konnte nicht zu Ende  sprechen. Das Geschrei übertönte seine Stimme: „Er soll sprechen — sprechen —  sprechen —, lasst ihn
  reden."
  Es entstand Verwirrung. Die Zuhörer erhoben sich von den Plätzen, der Vorsitzende  rief irgend etwas. Vom Tisch bei der Bühne, wo eine Anzahl Abgeordneter saß,  stand einer auf und betrachtete die Menge mit kalten Blicken, offensichtlich,  um die Stärke der Opposition abzuwägen.
  „Ruhe", brüllte irgendwer mit ungeheurer Stimme aus der Mitte des Saales,  aber niemand hörte ihm zu.
  „Er soll reden, er hat recht, er soll reden!" schrie eine Arbeiterin mit  grauen Haaren, und auf ihren Wangen bildeten sich rote Flecke.
  „Reden — reden", brüllte es wild im Saal. Die Mehrzahl der Zuhörer war bereits  aufgestanden. Aus dem Tumult kristallisierten sich Gruppen. Es war klar, dass  es hier zwei Lager gab, Faust gegen Faust, dass die Einheit der Partei, um die  sie alle so besorgt waren, nicht mehr bestand, und das erfüllte die einen gegen  die anderen mit Wut.
  Sie standen gegeneinander — Köpfe und Augen. Sie schrieen gegeneinander von  Tisch zu Tisch und versuchten, näher aneinander heranzukommen.
  Auf der linken Seite des Saales sprang ein junger Mann auf einen Stuhl und  schrie, gelb im Gesicht:
  „Ruhe, Ruhe!" Aber er verstärkte den Lärm nur. Sie zogen ihn vom Stuhl und  die Frauen beschimpften ihn.
  Der Tisch der Abgeordneten war von einer Mauer von Leibern umgeben. Man schrie  und schob sich durcheinander. An der Bühnenrampe zwängten sich einige Männer  durch. Hier war das dichteste Gedränge, Leib an Leib, und immer neue drängten  heran, welche die in der Nähe sitzenden Menschen gegen die Tische schoben, ohne  deren Proteste und das Geschrei der Weiber zu beachten. Der Haufen fuchtelte  mit den Händen zum Vorstandstisch herauf und schrie:
  „Lasst ihn reden. Wir erlauben nicht, dass ihr ihm das Wort entzieht. Wir  wollen nur ihn hören, euch haben wir schon hundertmal gehört."
  Der Vorsitzende sagte Plecity irgend etwas, aber der winkte bloß mit der Hand  ab, als ob es gar nicht lohnte, zu antworten.
  Anna verfolgte dies alles, sie war unsagbar erregt. Auch sie wollte sich für  eine Partei entscheiden, für die, zu der auch Toni sich bekannt hatte.  Andererseits aber auch für die Partei, die gegen Plecity war. Sie hasste ihn.  Warum stiftete er überall Unfrieden, wo er hinkam.
  Hinten, ganz im Winkel, saß Kerekes Sandor. Der Schweiß des Lungenkranken  perlte ihm von der Stirn, und seine Augen leuchteten.
  An der rechten Wand stand der junge Jandak und vergaß ganz, Annas Augen zu suchen,  die er vorher schon für eine Sekunde gefunden hatte.
  Toni war vorne beim Haufen an der Rampe. Der Saal brüllte und tobte.
  Jetzt kam Plecity an den Rand der Rampe. Er rief irgend etwas. Man sah nur den  sich bewegenden Mund, von den Worten war nichts zu verstehen. Er hatte die Arme  ausgebreitet, und dirigierte die Menge vor der Bühne mit seinen Handbewegungen  in den hinteren Teil des Saales. Der Haufen strömte zurück und verzog sich.
  Man konnte also annehmen, dass die Versammlungsleitung gezwungen sein würde,  zurückzutreten, und dass der Redner sprechen würde. Ein Siegeslachen erscholl.
  Ein paar junge Menschen klatschten, und dann begann der ganze Saal zu klatschen  und zu jubeln. Auf der Bühne stand der Rotarmist und gab mit erhobener Hand das  Zeichen, dass er fortfahren wolle. Der Sturm ebbte ab, und die Tische an der  Bühne wurden zurechtgerückt. Eine Frau, deren Kleider man begossen hatte,  trocknete sie mit einem Taschentuch ab und warf wütende Blicke auf die Menge.
  Plecity sprach:
  „Wenn ihr keine Waffen habt, müsst ihr zugrunde gehen. Die Bourgeoisie hat auch  Waffen. Wenn ihr dem Bürgertum gestattet, früher zu kommen als ihr, ist euer  Schicksal besiegelt. Es ist möglich, dass ihr umkommt, auch wenn ein jeder  bewaffnet ist. Bleibt ihr mit bloßen Händen und unbewaffnet, sterbt ihr sicher.  Das Bürgertum kennt keine Sentimentalität."
  Die weiße Narbe in Plecitys schwarzem Schnurrbart zuckte.
  „Denkt ihr wirklich, dass es in diesem Lande ohne Sterben gehen wird? Glaubt  das nicht. Humanität ist bürgerlicher Betrug. Vielleicht ohne Blut, ohne  Sterben bestimmt nicht. Vielleicht gebt ihr dem Tod durch Lungenschwindsucht  den Vorzug vor dem Kampf auf der Straße. Es ist möglich, dass ihr eure Kinder  lieber an Skrofulose oder englischer Krankheit sterben lasst, als dass ihr sie  der Gefahr aussetzt, den Vater zu verlieren. Aber vergesst eines nicht, dieses  Land kann uns bei dem heutigen System der Erzeugung und Verteilung nicht alle  ernähren, und ihr habt keine Möglichkeit zur Auswanderung. Ihr seht selbst, wie  Arbeitslosigkeit und Not wachsen. Ihr werdet vor Hunger sterben."
  Der rote Soldat bückte sich wie zum Sprunge. Seine Augen leuchteten:
  „Versteht ihr, was das für die ganze Welt, für die Arbeiterklasse und für jeden  einzelnen von uns bedeuten würde, wenn die Zehntausende, die schon heute zum  Tode verurteilt sind, aber noch leben, wenn diese Zehntausende begreifen  wollten, wenn sie sich erheben und zuschlagen würden? Wenn ein Bürger mit  durchlöchertem Kopf an der Mauer liegt, sieht dies die ganze Welt, und die  Zeitungen in allen Teilen der Erde heulen vor Schreck. Euer Sterben  interessiert keinen Menschen. Ihr könnt zu Millionen auf den Schlachtfeldern,  zu Tausenden in den Bergwerken, in den Eisenwerken, auf Operationstischen in  den Krankenhäusern sterben, und kein Hahn kräht danach. Den toten Arbeiter  bemerkt man. nur, wenn er im Straßenkampf vom Polizeirevolver niedergeknallt  wurde, aber nicht, weil er gestorben ist, sondern weil er kämpfte. Dann ist das  Bürgertum voll gerechten Zorns gegen die unverantwortlichen Hetzer, die das  arme, verführte Volk gegen die Polizeirevolver jagten. Ach, dieses gute  bürgerliche Herz! Sie ertragen den Anblick nicht, weil er den Auslandskredit  stört, und weil ihnen viel lieber ist, wenn ihr unauffällig sterbt und man euch  in Holzsärgen auf die Friedhöfe hinausschafft. Aber gerade diese paar  Revolutionäre, die in den Straßen fallen, eben diese befreiten das Leben von  Millionen."
  „Waffen", schrie er leidenschaftlich, „wenn ihr Waffen habt, ist es  möglich, dass ihr nicht siegt? Seht euch an, wie viele ihr seid, und wie wenige  sie sind. Ein Tigersprung, und ihr habt die Macht in den Händen. Ihr enteignet  die Reichen, bestraft die Verräter und richtet euch Leben und Wirtschaft so  ein, wie es euch, nur euch gefällt. Dann wird, wer arbeitet, der Herr sein, und  wer nicht arbeitet, wird auch nicht essen. Noch ist es Zeit, aber nicht mehr  lange. Die Bourgeoisie baut sich mit Hilfe eurer Führer neue Positionen. Der  Bau ist noch nicht zu Ende, und noch ist es Zeit; wenn ihr ihnen Zeit lasst,  sich zu befestigen, werden sie euch umbringen."
  Im Saal war gespannte Stimmung, eine andere Stille als während der Rede Tonis.  Es war nicht der einige, kraftvolle Strom menschlicher Blicke, die im Auge des  Redners zusammenliefen und in einem neuen Strom von Kraft wegstrebten. Das  waren Ausbrüche, Blitze, die von Auge zu Auge gingen, sich kreuzten und  schlugen. Es war eine neue Kraft, ein neuer Mensch, der nicht einer von ihnen  war. Er zeichnete Bilder, die durch ihre Schönheit und ihre Schrecklichkeit  furchterweckend waren.
  „Kampf, nur im Kampf liegt euer Hoffen. Dazu braucht es zweierlei, zuerst  Waffen und dann die verjagen, die euch zurückhalten und den Kampf unterbinden,  die euch einschläfern. Jagt sie davon."
  Und er nannte einige Namen von Arbeiterführern:
  „Das sind eure schlimmsten Feinde." Der Vorsitzende sprang auf, er war  blass.
  „Ich kann nicht gestatten, dass du die Partei und verdiente Arbeiterführer  beleidigst. Ich entziehe dir das Wort." Er schrie dies, und seine Stimme  überschlug sich vor Erregung. Es entstand ein ungeheurer Sturm. Die Masse  sprang auf, die Gläser und Kaffeetassen klirrten, aber Plecity legte die Hände  an den Mund und brüllte, dass es den Sturm übertönte:
  „Ich bin zu Ende, ich habe nichts mehr zu sagen. Zwei Dinge sind nötig: Die  Führer wegjagen und sich bewaffnen."
  Er lief die Treppe von der Bühne hinunter und bahnte sich durch die Haufen der  Menschen seinen Weg. Im Saal erscholl Beifall. Am Abgeordnetentisch, der von  Menschen umringt war, stiegen die Leidenschaften wieder auf. Die alten Führerautoritäten  wankten. Der Vorsitzende der Versammlung stand tiefgebeugt am Rande der Bühne,  fuchtelte mit den Händen und versuchte denen unten irgend etwas zu beweisen.
  Plecity suchte einen Platz, um sich niederzusetzen. Sein Blick fiel auf die  beiden Stühle an Tonis Tisch, und er nahm seinen Weg dorthin. Anna erbleichte  vor Hass, aber Plecity begrüßte sie schon mit einem Lächeln: „Ach, die  Liebenden."
  Er sagte das heiter, als ob er von einem Spaziergang käme. Zu gleicher Zeit  setzte sich ein Mann auf den zweiten Stuhl, den Toni vorher nie gesehen hatte.  Klein, mager, im ganzen schäbig, mit einer Brille. Er sah aus wie ein  Geschäftsdiener oder ein armer, untergeordneter Beamter.
  „Ausgezeichnet, Genosse", sagte er mit schmeichlerischem Lächeln, „das  haben Sie ihnen sehr gut gesagt."
  Der Rotarmist warf einen Seitenblick auf ihn. Toni blickte den Mann mit der  Brille misstrauisch an. Der Mann lachte. Er lachte irgendwie anders als sonst  die Genossen lachten.
  Der Saal war noch in heller Bewegung. „Die Versammlung dauert fort",  schrie der Vorsitzende. „Das Wort hat der Genosse Ouhrabek."
  Nur die vorderen Tische hörten es. Der Zorn hatte sich noch nicht gelegt, aber  der Knäuel an der Bühne entwirrte sich wieder und schob sich nach rückwärts.  Der bleiche Vorsitzende wartete. Aber auch der alte Ouhrabek wartete, ein  Veteran der Partei, ein 70jähriger Textilarbeiter. Er stand auf der Bühne an  der Waldkulisse, und von ihrem schreienden Grün stach seine Gesichtsfarbe  merklich ab, die gelb war wie ungebleichtes Baumwollgewebe.
  Seine Beine hatten O-Form. Er hatte in den Textilfabriken der Firma Porges das  Licht der Welt erblickt; auf rohen Baumwollballen wurde er geboren. Vom  siebenten Lebensjahre hatte er dort gearbeitet, indem er für 25 Pfg. täglich  Spulen einfädelte. Die Fenster waren blind von Baumwollstaub, man konnte nicht  durchblicken. Baumwollgeruch setzte sich auch ein für allemal auf dem alten  Ouhrabek fest.
  Jetzt stand er auf der Bühne und bemühte sich auch nicht mit einer Bewegung,  der Versammlung seine Existenz zum Bewusstsein zu bringen. Er wartete geduldig,  bis sich alle gesetzt hatten.
  „Ruhe, das Wort hat Genosse Ouhrabek", rief der Vorsitzende, und der Saal  beruhigte sich. Dieser Pionier des Sozialismus schwankte auf runden Beinen an  die Rampe.
  „Genossen und Genossinnen. Ich will euch nicht lange aufhalten, aber eines muss  ich konstatieren." Seine Stimme war trocken und farblos, auch sie war  gesättigt vom Baumwollstaub, aber trotzdem fest und verriet keineswegs die 70  Jahre. Sie war in tausend Versammlungen und Polemiken mit  nationalsozialistischen Arbeitern, Klerikalen, Anarchisten und Agrariern  geschult.
  „Ich muss euch soviel sagen. Es ist schmerzlich, dass es auf unseren  Versammlungen zu so traurigen Kundgebungen kommt wie zu der heutigen, und dass  wir sozialistischen Arbeiter uns untereinander nicht verständigen können. Ich  muss euch aufs neue sagen, dass es nur die Solidarität war, die den Arbeitern  zum mindesten ein bisschen menschliches Leben erkämpfte. Ihr seid jünger als  ich, und kaum einer von euch erinnert sich an die schweren Anfänge."
  Die Hörer wappneten sich mit Geduld. Ihre Augen nahmen einen Schein von  Teilnahme an, und sie zwangen ihre Körper, sich nicht von der Bühne abzuwenden.  Sie wussten wortwörtlich, was kommen würde. Wie oft hatten sie das alles schon  von dem alten Ouhrabek, diesem Märtyrer des Sozialistengesetzes, gehört.
  Der Mann mit der Brille, der aussah wie ein Bürodiener, neigte sich an Tonis  Tisch noch einmal zu Plecity:
  „Du hast das sehr schön gesagt, ausgezeichnet."
  „Meinst du", lachte der Rotarmist.
  „Bestimmt. Es ist auch meine Ansicht, dass wir Waffen haben müssen. Anders  können wir es nicht schaffen."
  „Glaubst du, dass ich welche besorgen soll?"
  Toni, der neben Plecity saß, stieß ihn mit dem Knie an, aber der schob die Hand  unter den Tisch und Tonis Knie beiseite.
  „Selbstverständlich, glaube ich, das wäre wunderbar", sagte der Mann mit  der Brille.
  „Na gut, ich werde also welche besorgen." Da mischte sich Toni, entsetzt  über die Unerfahrenheit des Genossen, in das Gespräch:
  „Es ist bloß, Genosse, dass wir dich nicht kennen. Ich habe dich hier noch nie  gesehen."
  „Misstraust du mir vielleicht?" sagte der Unbekannte schnell, und er sagte  dies so laut, dass sich jemand am Nachbartisch mit einem wütenden „Psst"  umdrehte.
  Und ebenso schnell zog er ein Mitgliedsbuch aus der Tasche und reichte es Toni.
  Auf der Bühne entrollte der alte Ouhrabek das düstere Bild des Arbeiterlebens  vor fünfzig Jahren. Es gäbe Säle, wo man sieben Tage in der Woche dreizehn und  vierzehn Stunden täglich für 25 bis 50 Pfg. arbeiten musste, wo man aß und auch  manchmal schlief, gebar und oft starb. Wo die Meister alte Männer schlugen und  die Kinder mit Seilen bearbeiteten und die Polizei häufig Gast war und immer  nur wegen eines Stückchens gestohlenen Stoffes oder wegen eines Wortes der  Verteidigung. Wo unaufhörlich der Aufschrei der Weberinnen ertönte, die der  Meister mit einem Griff unter die Röcke beehrte, oder die der Herr Buchhalter  ins Büro, auf das mit Wachstuch bezogene Sofa eingeladen hatte. Und der  stumpfe, lange Zug, der in der Abenddämmerung die Fabrik verließ, und dem die  Bevölkerung in großem Halbkreis auswich, weil er nach Maschinenöl, Jute und  Branntwein stank und Beschimpfungen ausstieß.
  Der Saal im Volkshause hörte dem alten Veteran mit undankbarer Gleichgültigkeit  zu, die sich nur schwer hinter geheucheltem Interesse verbarg. Was halfen ihnen  heute die Erzählungen, die schon längst nicht mehr wahr waren. Die trockene  Stimme des alten Ouhrabek würde sich in einigen Minuten ein wenig färben, in  die glanzlosen Augen würde ein Fünkchen Licht treten, er würde von den ersten  Versammlungen der sozialistischen Pioniere erzählen, von den ersten  Geheimorganisationen und Zeitungen, von der ersten Morgenröte der Freiheit. Wie  gern hätten sie ihm alle gesagt: „Wir schätzen dich, alter Pionier, und wenn  dir jemand nur mit einem einzigen Wort zu nahe treten sollte, würden wir ihn  zermalmen, aber begreife doch, dass dies nicht hierher gehört und komm von  dieser Bühne herunter. Wir haben dich heb; wenn du stirbst, werden wir deinen  Sarg mit roten Blumen überschütten, wir werden dich nie vergessen, aber wir  bitten dich, lass das, du bist die Vergangenheit, und vor uns öffnet sich heute  die Zukunft."
  Aber die Vergangenheit ließ sich nicht verjagen. Toni gab dem Unbekannten das  Mitgliedsbuch zurück.
  „Genosse Marek, zwölfter Bezirk."
  „Dass wir uns nicht kennen!"
  „Ich habe im Ausland gelebt, bin erst einen Monat hier." Plecity lachte.
  „Hier sind sie zu vorsichtig, sie haben Angst. Na und du, Genosse Marek, wärst  du bereit, Waffen hierher zu schaffen?"
  „Ohne weiteres!"
  „Na, dann gut!"
  „Wo wohnst du, Genosse?"
  Toni stieß den Rotarmisten verzweifelt an die Knöchel, aber der schob seinen  Fuß wieder beiseite.
  „In der Königstraße sechs, zwei Treppen, bei Frau Schlager. Aber dort würdest  du mich wahrscheinlich nicht erreichen, ich fahre in drei Tagen nach Hamburg.  Dort sind die Waffen auf einem Schiff im Hafen. Würdest du hinkommen?"
  „Ohne weiteres!"
  „Sicher?"
  „Ehrenwort!"
  „Fahre ich nicht umsonst?"
  „Nein, Ehrenwort. Wann?"
  „Von heute in einer Woche. Hamburg St. Pauli, Alter Damm siebenundzwanzig, in  Westermanns Kneipe. Ich gebe dir ein Kistchen Handgranaten und ein  Maschinengewehr. Den Grenzübergang sichern wir dir. Topp?"
  „Topp", sagte der Mann mit der Brille ein wenig verdutzt und reichte dem  Rotarmisten die Hand.
  „Und jetzt wollen wir zuhören. Sie schauen schon alle nach uns her",  beendete Plecity die Unterhaltung. Aber doch wandte er sich noch einmal zu  Toni:
  „Dieser Mummelgreis auf der Bühne, ist das ein Zufall, oder hat ihn der Vorstand  hingestellt?"
  „Nein", sagte Toni, und Anna war wütend, dass er mit diesem ekelhaften  Menschen überhaupt sprach.
  „Der Genosse Ouhrabek ist bei jeder wichtigeren Versammlung."
  „Mir hat diese Verbindung mit dem Bürgertum auch nie behagt", klang von  der Bühne die verstaubte Stimme, „und ich erinnere mich stets an den Genossen  Bebel, der sagte: solange uns die Bürger beschimpfen, sind wir auf dem  richtigen Weg. Wenn sie anfangen, uns zu loben, ist es schon vorbei."
  Der Redner war bereits bei der Gegenwart. Der Fremde mit der Brille zog ein  Notizbuch hervor, ein dickes und ganz neues Notizbuch, und trug sich dort die  Privatadresse Plecitys ein und fragte nochmals nach der Hamburger Adresse.
  „Ich komme bestimmt", sagte er.
  „Komm nur, verlass dich auf mich, ich werde dich erwarten."
  Der alte Ouhrabek sprach noch lange. Er erzählte von der Solidarität. Sie hatte  die Arbeiterschaft aus der Not der Vergangenheit geführt, und sie allein  vermochte, sie zu einer besseren Zukunft zu führen.
  „Die Partei muss stark und einig sein, jeder innere Hader kommt nur den Feinden  zugute." Der alte Pionier schloss: „Ja, Genossen, wir müssen uns von den  Bürgerlichen trennen, das ist auch meine Meinung. Unsere Führer müssen sich dem  Willen der Arbeiterschaft unterordnen. Zur Spaltung der Partei darf es nicht  kommen. Das wäre das Schlimmste, was geschehen könnte. Wenn wir auseinander  gehen, wenn die Versammlungen beendet sind, wollen wir die Arbeiterschaft  belehren, und wenn unsere Führer nicht selbst einsehen, wie notwendig es ist, sich  von den Bürgerlichen zu trennen, werden sie sich sicherlich dem Befehl der  ganzen Arbeiterschaft fügen. Damit beende ich meine Rede." Sie klatschten  ihm Beifall aus Pflichtgefühl, und Ouhrabek stieg klein und farblos wie  ungebleichtes Leinen die Treppe von der Bühne hinunter.
  „Der Alte irrt", sagte Plecity zu Toni, „er erfasst die Situation nicht,  es kommt zur Spaltung, und die Führer werden sich nicht unterordnen. Sie können  das gar nicht."
  Er wandte sich an den Mann mit der Brille.
  „Was denkst du darüber?"
  „Was soll ich sagen?" antwortete Marek, von der Frage überrascht, hastig.
  Die Bühne betrat Anton Deutsch, Abgeordneter und Vorsitzender des  Exekutivausschusses der Partei. Ein ruhiger Sechziger, mit einer rosigen Glatze  und einer goldenen Brille. Er wurde mit größter Stille empfangen. Von einer ein  wenig zornigen und ein bisschen gespannten, erwartungsvollen Stille;
  „Genossen und Genossinnen", begann er langsam, „die Vorredner haben uns  viel Wahres gesagt. Es sieht bei uns lange nicht so aus, dass wir Arbeiter  zufrieden sein können." Der Redner wiederholte nun gemessen und würdevoll  Punkt für Punkt die Anklagen, die Toni und der schwarze Genosse gegen das  System erhoben hatten, und stimmte ihnen zu.
  „Ich meinerseits werde der Kritik meiner Vorredner noch weitere und nicht  minder wichtige Punkte hinzufügen. In der Industrie beginnt eine neue Krise,  und die Kapitalisten sind verantwortungslos genug, ihre Last auf uns Arbeiter  abwälzen zu wollen. Sie weigern sich, etwas von ihrem Verdienst abzugeben. Sie  wehren sich dagegen, einen Teil der unangemessenen Kriegsgewinne  abzuführen."
  Der Rotarmist schaute den Redner lächelnd an. Plötzlich rief er ihm zu:
  „Du machst das ausgezeichnet, ich warte nur, wann dein ,Aber' und dein  ,Trotzdem' kommt."
  Gelächter wurde laut. Dann erklang es „Ruhe", „Psst" und „Ruhe!"
  Der Zwischenruf brachte den erfahrenen Redner nicht aus dem Gleichgewicht. Er  fasste mit den Fingern nach dem Rand seiner goldenen Brille und blickte eine  Zeitlang würdig nach dem Platz, wo der rote Soldat saß.
  „Verzeihung, Bürger", sagte er dann mit erhöhter Ruhe, und Wort für Wort  betonend, „ich glaube, ich habe Sie nicht unterbrochen, und ich will hoffen,  dass Sie auch mich zu. Worte kommen lassen werden. Ich nenne Sie bloß Bürger,  denn ob Sie Genosse sind, müsste erst festgestellt werden."
  „Du kennst dich gut in Versammlungskunststücken aus", lachte der  Rotarmist, „kein Wunder nach so vieljähriger Praxis!"
  „Wir kennen ihn", klang es von der linken Seite des Saales, „wir kennen  ihn alle", riefen sie, „das ist der Genosse Plecity. Wir kannten ihn schon  vor dem Kriege."
  „Aber der Herr Abgeordnete kennt mich doch auch", lachte der Rotarmist.
  „Ich glaube euch, dass ihr ihn kennt", fuhr der Abgeordnete Deutsch  unverdrossen fort, „aber wir kannten vor dem Kriege viele Leute, die wir dann  aus den Augen verloren, und die als andere zurückkehrten. Ich tue ungern  Unrecht, und wenn ihr ihm vertraut, werdet ihr sicher allen Grund dazu haben,  aber ich" — und er klopfte sich mit dem Zeigefinger auf die Brust — „ich für  meine Person habe wenig Vertrauen zu Leuten, die in öffentlichen Versammlungen  von Dynamit und Höllenmaschinen sprechen."
  Anna freute sich. Ihre Freude war so groß, dass sie gern gelacht hätte, und es  drängte sie, zumindest mit fröhlichen Augen Toni anzusehen.
  Toni sagte: „Selbstverständlich ist das nicht wahr."
  Plecity lächelte:
  „Aber wenn du das dem Abgeordneten sagst, wird er antworten, er habe doch nicht  behauptet, dass auf der heutigen Sitzung davon die Rede war."
  Marelc, sichtlich unerfahren, brach in herzliches Lachen aus. „Psst",  schrieen sie ihm zu, und er hörte augenblicklich auf.
  „Wir wollen fortfahren", sprach Anton Deutsch, „ja, unserer Republik droht  eine schwere wirtschaftliche Krise."
  Das „Aber" des Abgeordneten kam nicht so bald, wie Plecity erwartet hatte.  Die Situation war in dieser Versammlung für die Parteileitung gefährlich, und  es war notwendig, dass nach Anton Deutsch keiner der Oppositionellen mehr zu  Worte kam. Die Arbeiterversammlungen dauern selten länger als bis zehn Uhr  abends, und wenn es einmal später wird, verdrückt sich die Mehrzahl noch vor  dem Ende. Jetzt war es neun Uhr, und man musste
  mit der Zeit sparen. Das „Aber" des Redners kam erst nach einer  Viertelstunde. Anton Deutsch unterbrach sich. Er blickte mit ruhigem  Selbstbewusstsein wieder durch die goldene Brille auf den Platz, wo der rote  Soldat saß, und er sagte:
  „Jetzt kommt Ihr ,Aber', Bürger Plecity. Bitte, geben Sie freundlichst acht:  Aber — man muss sich fragen, wie sind diese schweren Verhältnisse zu  überwinden?" — und jetzt erhob der Redner die Stimme am heutigen Abend zum  ersten Mal und donnerte dann: „Damit, Bürger Plecity, dass Sie die Arbeiter  gegen Bajonette, Maschinengewehre und Kanonen treiben, damit, Bürger Plecity,  dass Sie die hauptstädtischen Straßen mit edlem Proletarierblut überschwemmen,  damit, Bürger Plecity, dass Sie tausend neue Witwen und zehntausend neue Waisen  schaffen?"
  Von verschiedenen Plätzen des Saales erklang Beifall, stürmisch und  provozierend. War es ein Fünftel der Versammlung, war es ein Sechstel? Das  interessierte alle, und die Köpfe wandten sich den applaudierenden Inseln zu.  Am meisten interessierte es den Redner selbst, und seine Augen glitten durch  den Saal. Als sich der Sturm gelegt hatte, stand Plecity auf und schrie mit  mächtiger, aber ruhiger Stimme:
  „Wir gehen nicht auf die Straße, um zu sterben, wir werden gehen, um zu  siegen!"
  Eine Beifallssalve antwortete ihm. Es donnerte im ganzen Saal. Auf der Bühne  stand der Abgeordnete Deutsch völlig ruhig. Auf seinen Lippen lag ein leichtes Lächeln,  und der Zeigefinger seiner rechten Hand pendelte vor dem Kinn nach rechts und  links. Mit dieser Geste erweckte er Neugierde.
  „Nein, nein, Bürger Plecity", — und der dicke Finger Deutschs bewegte sich  wie ein Pendel:
  „Wir sind uns zu sehr unserer Verantwortung gegenüber dem Proletariat und  unserem Gewissen gegenüber bewusst, und wir werden nicht nur ein ähnliches  Verbrechen" — und dieses Wort schrie Deutsch mit lauter Stimme und beugte  den Körper dabei stark nach vorn — „niemals zulassen, wir werden auch alle  unsere Kräfte darauf konzentrieren, um ein solches Verbrechen  unverantwortlicher, leichtsinniger oder abenteuerlicher Menschen zu verhindern.  Sie sehen, Bürger Plecity, dass ich maßvolle Worte gebrauche, denn auch ich  will an Ihre ehrliche, wenn auch irrige und gefährliche Überzeugung glauben,  und ich bin weit davon entfernt, Sie einen Provokateur zu nennen. Auch uns,  Genosse, ist die russische Revolution heilig, auch uns ist der heroische Kampf  unserer russischen Brüder heilig, aber die Verhältnisse sind bei uns anders als  in Russland. Und darum müssen wir auch einen anderen Weg gehen!"
  „Mit den Bürgerlichen sich verbinden", schrie jemand.
  „Wir verbinden uns nicht mit der Bourgeoisie, und wenn wir mit ihr in der  Regierung sitzen, geschieht dies aus ganz anderen Gründen. Die Teilnahme an der  Regierung gibt den Arbeitern nicht nur die Möglichkeit der Kontrolle... "
  Es erscholl lautes Lachen: „Ja, wäre es euch denn lieber, wenn die Bourgeoisie  allein regierte?"
  „Nein, aber wir wollen allein regieren!" Aus der Mitte des Saales erscholl  eine feste und energische Stimme:
  „Wir wollen die Diktatur des Proletariats."
  „Sicher" — der Abgeordnete nickte gutmütig, „sicher, Genosse, die  Regierung der Arbeiter und die Diktatur des Proletariats ist ein altes Programm  der Partei, sie muss unser Ziel sein, und ich habe nie daran gezweifelt, dass  wir es erreichen," Er lachte liebevoll: „Aber ich befürchte in  Wahrheit", sagte er in nettem Ton der Unterhaltung, „dass wir uns mit  diesem gegenseitigen Zurufen kaum verständigen werden. Lasst mich, Genossen,  eine Weile ruhig reden, wer anderer Meinung ist, erhält nachher das Wort."
  „Also" — Plecity lief zum Vorstandstisch und sah sich die Rednerliste an.  Er kehrte zu Toni zurück:
  „Nach ihm ist der Abgeordnete Havel und dann der Direktor des Konsumvereins,  Hummelhans, gemeldet. Aber die kommen nicht mehr zu Worte, die stehen bloß als  Reserve da. Ich gehe. Na, und ihr, ihr Liebenden, bleibt noch?"
  „Wir gehen auch", sagte Toni, „Anna muss nach Hause."
  „Na, und du, Genosse Marek, du bleibst wohl noch?" wandte sich Plecity an  den Mann mit der Brille. Der Mann wand sich.
  „Nein, nein, bleib nur, es würde auffallen, wenn wir alle auf einmal gingen. Du  kommst bestimmt? Ich werde dir alles vorbereiten. Kann ich mich darauf  verlassen?"
  „Ganz bestimmt."
  Sie gingen. — Anna, der Rotarmist und Toni. Anna ungern und entschlossen,  Plecity nicht anzusehen. Sie kamen in den nächtlichen Garten. Durch die  Glaswand drang das Licht des Saales bis zu dem Kastanienbaum, und in den Saal  sah man hinein wie in eine erleuchtete Laterne. Sie gingen durch das Tor in den  Vorderhof. Dort holte sie der Student Jandak ein. Er rannte.
  „Warum gehst du denn schon, ich wollte mit dir sprechen", sagte er zu  Plecity. Aber Anna wusste, dass der Student ihr nachgekommen war.
  „Mein Zug geht um zehn Uhr dreißig, und ich muss noch zu Hause vorbeigehen. Der  alte Deutsch wird die Versammlung Fertigmachen, das geht in einer Viertelstunde  auseinander und — vorbei. Ihr macht das ja entsetzlich falsch. Welche Eselei,  den anderen den Vorsitz zu überlassen." Sie durchschritten die beiden Höfe  des Volkshauses und kamen zum rückwärtigen Ausgang. In der Druckerei begannen  eben die Rotationsmaschinen zu laufen, im dritten Stock waren die Fenster der  Redaktion erleuchtet.
  „Wohin fährst du?" fragte Jandak.
  „Nach Wien. Die hiesige Polizei ist schon hinter mir her, und ich habe jetzt  keine Zeit, im Kühlen zu faulenzen. Was soll ich denn hier? Wenn es hier etwas  zu tun gäbe, bliebe ich, aber ihr seid ja erst im reinen Anfang. Bei euch wird  ja bloß debattiert."
  „Genosse Plecity, hast du diesem Marek vertraut?" erinnerte sich Toni. Der  Rotarmist lachte.
  „Es ist unglaublich, was ihr für blöde Spitzel hier habt", sagte er, „ein  funkelnagelneues Notizbuch, eine Mitgliedskarte und gleich bereit, Bomben und  Minenwerfer über die Grenze zu bringen. Aber ich bin in einer Woche wirklich in  Hamburg."
  „Warum hast du ihn dann hinbestellt?"
  „Ich wäre froh, wenn er käme, aber er kommt nicht. Der Polizeipräsident wird  das mit der Hamburger Polizei schriftlich erledigen. Wir haben dort im Hafen  einen sehr schönen Ozeandampfer, wo es gute Kameraden gibt. Und so eine Bestie  wird unter Deck geführt in die Mannschaftskajüte. Dort kriegt sie eins über den  Schädel und dann wirft man sie ins fette Hafenwasser. Das blunkert nochmal, und  der Mond blinzelt ein bisschen. Dann ist's vorbei. Wenn wir solche Nattern  nicht unschädlich machen, vernichten sie Hunderte unserer Genossen." Anna,  das Mädchen vom Lande, erschauerte. Sie kamen aus dem Hof des Volkshauses in  das Licht und den Lärm der Wagen und Menschen, der hauptstädtischen Straßen.  Plecity sah sich um, ob er verfolgt würde. Dann reichte er beiden Männern die  Hand. Sein Händedruck war kurz und kräftig. Er sprang auf die Straßenbahn.
  Jandak, der vorher behauptet hatte, dass er noch mit ihm sprechen wollte,  begleitete Anna und Toni bis zum Wenzelsplatz. Anna entging dies nicht, aber es  war ihr nicht unangenehm, als sie Toni vor dem Hause zum Abschied umarmte und  küsste. Ihr Kuss war noch inniger als sonst, und dann reichte sie, hochrot im  Gesicht, dem verdatterten Studenten die Hand. Ihre Blicke wichen einander aus,  aber ihr Händedruck sagte ihm freundschaftlich, warm und mitleidvoll: „Lieber  Freund, ich habe schon einen Gehebten."
  Der Student und Toni blieben allein vor dem Hause.
  „Ich hätte noch gern mit dir gesprochen", sagte der Student, seine  Erschütterung überwindend, „gehen wir noch ein bisschen ins Kaffeehaus."
  „Gern."
  Das Kaffeehaus „Passage" ist gleich nebenan; ein schönes Gebäude mit  goldenen Lüstern und Marmorsäulen.
  Die Lichter des Cafes blickten auf den erleuchteten Platz. Sentimentale Musik  klang gedämpft. Der Student ging auf das Haus zu.
  „Da hinein?" fragte Toni, „da gehe ich nicht hin."
  „Warum?"
  „Ich gehe nicht."
  „Warum?" wunderte sich der Student, „fürchtest du dich vor sauberem  Geschirr und vor Silberlöffeln? Auch das Proletariat wird einmal von  Porzellantellern essen."
  „Ach, das sind Redensarten", sagte Toni wütend, „ich gehe nicht in  bürgerliche Lokale. Wenn du willst, komm in eine Vorstadtkneipe, sonst gehe ich  heim."
  „Na, gehen wir."
  Sie gingen der Vorstadt zu, durch die Heinrichsgasse und über den Heuwagsplatz.  Sie schwiegen. Tonis Verstimmung ging vorbei, und er dachte an die heutige  Versammlung. Er erlebte aufs neue ihre Bewegung, stellte die Fehler fest,  schätzte die taktischen Möglichkeiten ab. Plecity war hart wie eine Hacke, aber  er hatte immer recht. Tatsächlich, welche Dummheit, den anderen die Leitung zu  überlassen und zuzugeben, dass sie die Versammlung versanden ließen. Der alte  Ouhrabek war in Wirklichkeit, ohne es zu wissen, vorgeschoben, um die Stimmung  vorzubereiten.
  Der Student war von Sehnsucht nach Anna erfüllt, — und voll Trauer. Der Kuss  auf dem Wenzelsplatz hatte ihn tief geschmerzt. Er fühlte noch jetzt Annas  warme Hand, und er begriff die Aussichtslosigkeit seiner Wünsche. Es war ihm  traurig zumute, und er schämte sich. Er überlegte: dieser gereizte Ton vor dem  Kaffeehaus „Passage" — war der zwischen einem Arbeiter und einem  Intellektuellen oder zwischen zwei Männern ausgebrochen?
  Die nächtlichen Straßen waren öde. Toni fragte plötzlich: „Glaubst du, dass es  zur Spaltung der Partei kommt?"
  Der Student hatte vergessen, dass irgendeine Partei existierte, aber er  erinnerte sich in dieser Sekunde daran. In seinem Gehirn entstand das Bild des  Volkshaussaales, die Glühbirnen über den Köpfen, der Rauch, in dem sich Waffen,  Parolen und rote Fahnen mengten. Er begann von der Revolution zu reden, er  betäubte sich mit Worten, er fühlte eine Erleichterung darüber, dass er die  Glut, die in ihm war, und die einer Frau galt, nun auf andere Dinge richten  konnte. Er sprach von der russischen Revolution, von Lenin, von der Eroberung  der Macht, vom Tigersprung. Er erhitzte sich:
  „Es ist gleichgültig, ob es zur Spaltung kommt, das ist nicht wichtig. Die Revolution  ist da und niemand kann sie aufhalten. Das ist elementar, eine Feuersbrunst,  eine Überschwemmung."
  „Ich weiß nicht", sagte Toni, und seine kalte Stimme stach merklich von  der Glut des Studenten ab, „möglich, aber eine Revolution muss man führen und dazu  muss man Waffen haben. Plecity hat recht."
  Der Student sprach von seinem Vater und Kameraden, dem Abgeordneten Jandak. Er  entwickelte dessen Ansichten über die Einheit der Partei. Ein Teil der Führer  würde die Revolution nicht mitmachen. Sie waren schon zu sehr am Gängelband der  Bourgeoisie. Es werde auch nicht gelingen, die ganze Partei herüberzuführen.  Der Riss ist unabwendbar, die Arbeiterschaft muss eine neue Partei gründen,  eine eigene Partei. Man muss das gleich und um jeden Preis tun.
  Sie nähersten sich der Vorstadt. Toni schwieg. Der Student wiederholte die  Ansichten seines Vaters. „Der Vater steht auf der äußersten Linken. Er hat  Verbindung mit Wien, Berlin und durch deren Vermittlung mit Moskau. Heute hat  er eine Versammlung im Kohlenrevier. Das Revier ist revolutionärer als die  Hauptstadt. Dort werden die ersten Flammen hochschlagen." Der Student  sprach mit Begeisterung. Toni antwortete nicht.
  „Mein Vater geht sicher mit, und wenn niemand mitginge, er geht, und sein Wort  gilt in den Organisationen." Da merkte der Student, dass das Schweigen des  Arbeiters kalt und absichtlich war.
  „Warum schweigst du?" fragte er ungehalten. Toni zuckte die Achseln.
  „Warum schweigst du?" fragte der Student gereizt.
  „Dein Vater geht nicht mit", sagte Toni, und man merkte, dass er es ungern  sagte.
  Sie waren zu einem Eisenbahnviadukt gelangt. Der Student versperrte Toni den  Weg, und beide standen. Drei Meter über ihren Häuptern dröhnte ein Zug, an der  Wand hing ein schreiendes Filmplakat: Chaplin. Der Student fasste den Arbeiter  an der Schulter.
  „Bist du verrückt?" Toni blickte ihm gerade in die Augen und schüttelte
  den Kopf. „Weißt du etwas Ehrenrühriges von meinem Vater?"
  „Nein, nichts."
  „Mit welchem Recht sprichst du dann so?"
  Toni antwortete nicht.
  „Das lässt sich nicht mit Schweigen erledigen. Es ist deine Pflicht als  Genosse, mir zu antworten."
  „Lass das, Jandak, ich sag's nicht gern."
  „Du musst", schrie der Student.
  „Na gut, dann will ich dir's sagen," meinte Toni ruhig. „Ich sah deine  Mutter mit weißen Handschuhen und Lackschuhen, und deine Schwester trägt  Seidenkleider," Der Student ließ Tonis Schulter los und fasste sich an
  den Kopf. „Bist du verrückt?"
  „Nein."
  „Und deswegen kann mein Vater kein Kommunist
  sein?" „Eben deswegen... "
  Der Student lachte halb wütend, halb schmerzlich. Sie gingen durch die  nächtlichen Vorstadtstraßen und sprachen kein Wort mehr. Dann betraten sie  irgendein Kaffeehaus dritten Ranges. Es saßen ein paar Handwerker da und eine  magere Frau. An einem Tisch spielten sie Karten. Zwei Zuhälter, kaum der Schule  entwachsen, warteten auf das Geld ihrer Geliebten, und weil sie sich  langweilten, warfen sie ein Geldstück in den Musikapparat und ließen sich den  Toreromarsch aus Carmen vorspielen.
  Das Orchestrion trug das Bild einer alten Landschaft mit einer Mühle. Toni und  der Student ließen sich an einem Blechtisch nieder, dessen Zeichnungen Marmor  vortäuschen sollten. Die Besitzerin brachte ihnen zwei Tassen Kaffee. Der  Student saß mit aufgestütztem Arm da und blickte Toni unverwandt an. Toni wich  seinem Blick nicht aus. Das Schweigen dauerte lange. Der Toreromarsch dröhnte,  und die Karten der Spieler klatschten auf den Tisch.
  „Es ist entsetzlich," sagte der Student traurig, „es ist furchtbar, dieses  Misstrauen zwischen Arbeitern und Intelligenz."
  Toni schluckte den Kaffee.
  „Also — weiße Handschuhe, Lackschuhe und seidene Kleider. Ich verstehe — das  stinkt zu sehr nach Bourgeoisie, wie das saubere Geschirr und die Silberlöffel  im .Passage'. Wenn sich Anna ein Seidenfähnchen kaufen würde, hättest du sie  nicht mehr lieb?"
  „Ich würde ihr selbst eins kaufen, wenn ich das Geld hätte."
  „Na, siehst du."
  „Bloß, — dass ich es nie haben werde."
  „Ach so, also wer das Geld hat, der darf kein Revolutionär sein. Oder glaubst  du denn, dass... " Das Gesicht des Studenten verfinsterte sich...  „dass  mein Vater das Geld von der Bourgeoisie gekriegt hat?"
  „Ach, lassen wir das. Ich sagte dir doch, dass ich von deinem Vater nichts  weiß. Aber er wird doch nicht mit uns gehen!"
  „Mir vertraust du wohl auch nicht? Ich habe doch ein goldenes Kettchen. Würde  dir das Freude machen, wenn ich es den beiden Louis da drüben schenkte?"
  „Unsinn!"
  „Morgen verkaufe ich es und gebe das der Organisation."
  „Unsinn, ich glaube dir auch schon heute. Aber wenn du vor der Entscheidung  zwischen uns und deinem Vater stündest, würdest du dich für deinen Vater  entscheiden. Was sollst du denn auch anderes machen? Du musst studieren,  Arbeiter kannst du nicht sein, und wenn du dich auch auf diesen Standpunkt  stelltest und die Hacke nähmst, das wäre der größte Unsinn, wem würdest du  damit dienen? Wir sprechen uns in einem Jahr, vielleicht schon früher."
  Der Student hielt den Kopf mit beiden Händen fest und bewegte ihn hin und her.  War dies eine Diskussion zwischen einem Arbeiter und einem Intellektuellen?  Seine Stellung war schwach. War es vielleicht doch der Streit zwischen zwei  eifersüchtigen Männern? Wie unvorteilhaft war seine Lage in diesem Falle! —  Seine Augen waren traurig.
  „Es ist entsetzlich, Toni, und es ist das furchtbarste Unrecht. Dreißig Jahre  hat der Vater für euch gearbeitet. Er hat keine anderen Gedanken als euch, und  wie er euch dienen könnte, und ihr könnt ihm nicht verzeihen, dass er ein  Intellektueller ist! Wir sind im Sozialismus erzogen worden, sind unter euch  aufgewachsen, und ihr habt uns noch nicht in eure Arbeiterfamilie aufgenommen.  . Das ist furchtbar." „Worin, — worin?" fragte der Student  leidenschaftlich.
  „Weiß ich es denn? Es ist eine Dummheit mit dem Kaffeehaus. Aber schau mal, du  quatschst da etwas von Silberlöffeln und sauberem Geschirr. Es fällt dir gar  nicht ein, daran zu denken, was der Arbeiter für eine Wut haben muss, wenn er  die alle beisammensieht, die ihn aussaugen. Wenn er anders gekleidet ist als  sie, wenn er sich nicht zu benehmen versteht, und wenn er nicht weiß, wie man  all die Sachen in die Hand nimmt. Du bist in allem anders. So bist du. Und  jetzt sieh dir mal alle Parteiführer, Abgeordneten, Direktoren, Sekretäre und  Redakteure an. Vergiss keinen und zeig mir einen, dessen Sohn oder Tochter du  bei uns gesehen hättest. Wunderst du dich da über unser Misstrauen? Das war  doch schon in ,Friedenszeiten' so, und jetzt geht's in den Krieg."
  Der Student sah ihn lange mit traurigen Augen an, und es schien, als ob sie  sich bald mit Tränen füllen würden.
  „Wie stellst du dir denn sonst die Zusammenarbeit zwischen Arbeitern und  Intellektuellen vor?" fragte er.
  „Ich habe keine Vorstellung davon. Wer mit uns kämpfen geht, wird zu uns  gehören. Die Intelligenz allein macht's nicht aus. Die Sache auf dem Hamburger  Schiff, dieser Schlag auf den Kopf, das gehört dazu, aber das allein schafft's  auch nicht. Die Arbeitermassen müssen es selber schaffen.
Anna war schon Tonis Weib geworden. Es geschah nicht im Boudoir beim Duft  der Tuberosen, auch nicht im Palmenhain am Meeresufer, aber es war auch nicht  unter dem stillen Himmel des schwindenden Sommers. Es war in einem heißen  Augenblick auf den nächtlichen Stiegen des Hauses Nr. 33, Wenzelsplatz, als er  sie in den Hausflur begleitete, um auf dem Weg zum ersten Stock noch ein paar  Küsse zu tauschen. So eine glühende Minute am Treppengeländer, als sie sich  nicht voneinander losreißen und sich nicht einmal trennen konnten, als sie  schon eine ganze Zeitlang auf der letzten Stiege gesessen hatten. Warum schrieb  man von den Wundern dieser Umarmung so viel Bücher, ein Kuss war schöner, sagte  sich Anna, und wenn es an dieser Minute etwas Schönes gab, war es das  Bewusstsein, dass Toni es gewollt, und dass sie sich ihm gegeben hatte. Dieses  Bewusstsein bewegte Anna, als sie sich in dieser Nacht nicht entschließen  konnte, das Licht auszumachen, und als sie ihre glücklichen Augen auf die weiße  Decke ihres Kämmerchens richtete.
  Trotzdem war es die Grenze des Lebens. „Teufel, Teufel!" Marie kratzte  sich am Kopf, als ihr Anna ihre Beschwerden anvertraute. Nach einigen Tagen,  als sich Marie auf dem Wege zum Morgeneinkauf von neuem erkundigte, zog sie die  Nase hoch: „Na also, das ist richtig. Willst du dir ,helfen'?" Anna  verstand nicht und Marie erklärte es ihr. Nein, Anna wollte sich nicht  „helfen". — Aber was tun? Toni stand Schlange vor den Wohnungsämtern.
  Kaum hatte er das Eisentor der Fabrik verlassen, war er hinter den Abgeordneten  und Sekretären her, und wo er einen Bekannten hatte, wandte er sich an ihn. Er,  der vom letzten Tage seiner Kindheit an das Wort „Bitte!" nicht mehr  gebraucht hatte, erzählte und erklärte. Es war ihm zumute, als ob er Ohrfeigen  bekäme. Die Fragen, die man ihm stellte, waren alle gleich und alle  überflüssig. Und die Schultern der Beamten und ihre Finger, die auf den  Schreibtisch trommelten, sagten ihm: „Ja, lieber Freund, das ist eine schwere  Sache."
  Die Abgeordneten gaben ihm Empfehlungen, die Bekannten schickten ihn zu anderen  Bekannten, und er saß wieder in den Büros der Wohnungsämter. Dies alles trieb  ihn beinahe zur Raserei. Es kostete ihm auch viel entgangenen Lohn.
  Aber alles vergeblich! In der Stadt gab's keine Wohnungen. Die Hauptstadt der  neuen Republik war vom Zustrom der Menschen überfüllt. Die reichen Leute hatten  freilich alle Wohnungen. Und es gab auch keinen Abgeordneten, keinen Sekretär  oder Redakteur der Partei, der nicht irgendwo seine Wohnung hatte. Aber für den
  Arbeiter der Kolbenschen Fabrik, für seine Geliebte und ihrer beiden Kinder gab  es in der Stadt kein Dach.
  Was wird bloß sein, dachte Anna, und das Herz zog sich ihr zusammen. Es wird  sich nicht mehr lange verbergen lassen, die Entdeckung kann jeden Augenblick  kommen. Sie war bereits im vierten Monat, und die Schwangerschaft war ihr  anzumerken. Des Morgens, wenn sie mit der Hand über den Bauch strich und den  Schirting des Hemdes spannte und glatt legte, und wenn sie dann, bereits  angezogen, den Spiegel von der Wand nahm und au das Kissen angelehnt ins Bett  stellte, um ihren Leib besser betrachten zu können, wunderte sie sich, dass weder  die gnädige Frau noch Fräulein Dadla, die doch für solche Sachen ein besonders  scharfes Auge hatte, ihr Unglück bemerkt hatten.
  Ja, was nun, sie wird in die überfüllte Wohnung irgendeiner Arbeiterfamilie  ziehen, es ist doch möglich, dass sie die Schwangere irgendwo aufnehmen, wird  das bisschen Geld, das sie sich für die Ausstattung gespart hat, verbrauchen,  wird Toni in Schulden stürzen. Und wenn sie sie nirgendwo aufnehmen?
  Anna erwachte in der Nacht plötzlich von diesem Gedanken in Schweiß gebadet, der  ihr in Tropfen über die
  Stirn lief.
  In die Hütte zum Vater? Nie! Damals erschien ihr irgendein Brückengeländer, der  Fluss mit dem Lichterschein, ein Rad im Wasser und darin ein Frauenrock. „Toni,  Toni, hilf!"
  Frau Baumeister und Fräulein Dadla hatten andere Sorgen, als Anna zu  beobachten. Das Fräulein war krank.
  Eines Nachmittags, als der Herr nicht zu Hause war, brachte sie die gnädige  Frau im Auto heim. Sie half ihr mit einem fremden Herrn die Treppe hinauf und  brachte sie zu Bett. Die gnädige Frau war dabei schrecklich aufgeregt und sehr  bleich. Als der fremde Herr gegangen war, pflanzte sich Frau Rubesch vor Anna  auf. Ihr Kinn zitterte, und ihre Augen brannten in einem Feuer.
  „Anna," schrie sie sie an. „Fräulein Dadla hat sich den Fuß verrenkt und  muss ein paar Tage liegen, sie braucht sorgsamste Pflege, wehe Ihnen, Anna,  wehe Ihnen."
  Die gnädige Frau hielt Anna die geballte Faust unter die Nase. Anna verstand  diesen Tobsuchtsanfall einer Mutter nicht, die um ihr letztes Kind kämpfte.
  Was will denn die gnädige Frau von mir, dachte sie, tu ich denn dem Fräulein  etwas?
  Des Abends kam der Architekt. Er war schlechter Laune, das sah man ihm von  weitem an. Aber als er sich an des Fräuleins Bett setzte, erheiterte sich sein  Gesicht.
  „Was ist dir, mein Vögelchen? Was hast du denn da angestellt? Diese verfluchten  hohe Absätze. Na, schweig. Die Ärzte werden das wieder in Ordnung bringen und  dann lassen wir dich massieren. Ich habe das auch einmal gehabt. Tut verteufelt  weh, ich weiß," er klopfte ihr auf die Schulter, „bleib nur schön liegen,  ich bring dir etwas sehr Hübsches mit."
  Das Fräulein ließ sich den Toilettentisch zum Bett rücken, kämmte und puderte  sich und zog sich ein rotes Bändchen durch das Häubchen. Sie betrachtete im  dreiteiligen Spiegel, wie ihr das Spitzenhemd stand. Es konnte nicht so schlimm  sein. Sie, die bei ein bisschen Schmerzen das ganze Haus quälte, scherzte mit  Anna:
  „Das ist ein Hundeleben, Anna," lachte sie und streckte sich, als ihr Anna  auf einem Tablett das Frühstück brachte, „es ist zum Junge-kriegen", und  als sie sich bewusst wurde, was sie da eben gesagt hatte, lachte sie noch mehr,  ein volles Lachen, in dem viel Heiterkeit und nur ein kleines bisschen Zorn  war. Dann erinnerte sie sich:
  „Hören Sie, Annchen, der Vater sagt, dass Ihr Geliebter ein Bolschewik  ist." Anna schwieg.
  „Leugnen Sie es nicht, wir wissen es. Sie sollen ihm etwas bestellen. Sagen Sie  ihm," — das Fräulein lachte wieder los — aber jetzt war in ihrem Lachen  nur wenig Heiterkeit und viel Wut — „sagen Sie ihm, er soll doch alles  zerschlagen, alles, bis zum Letzten. Er soll bloß dieses verfluchte Haus nicht  vergessen." Das Fräulein sah in den Spiegel.
  „Sie haben ein wunderschönes Leben, Anna." Anna erbleichte.
  Ja, Anna hatte ein schönes Leben. Dass sich das Fräulein bei diesem Wort nicht  verschluckt.
  „Was schauen Sie denn so entsetzt. Ich brauche Sie nicht mehr, Sie können  gehen, Anna. Wollen Sie ein Stückchen Schokolade?"
  „Nein, danke, Fräulein", sagte sie bockig.
  „Na, dann lassen Sie es bleiben."
  Die Krankheit des Fräuleins war nicht das Ärgste, was den Rubeschs passierte.  Mit dem Herrn war es viel schlimmer. Ein Krach nach dem anderen. Die Wohnung  war immer von Explosionen erfüllt, von denen niemand wusste, wann sie losgehen  würden. Es ging um einige Tausend.
  Die Brüder der gnädigen Frau waren in die Sache verwickelt. Dann ging es noch  um irgendwelches Geld, das sich die gnädige Frau von der Schwester ausgeliehen  hatte. Die Schwester hat es den Brüdern berechnet und die wieder dem  Baumeister. Es war eine verwickelte Geschichte.
  Die Herrschaften sprechen vor fremden Menschen nicht von diesen Dingen, Wenn  das Mädchen das Essen bringt oder den Tisch abräumt, bleiben ihnen nach den  letzten Sätzen, die sie halb verschluckt haben, nur zornfunkelnde Augen. Aber  wenn das so eine Woche dauert und in der ganzen Zeit von nichts anderem  gesprochen wird, kann man aus abgerissenen Sätzen viel erfahren. Und wenn die  Herrschaft manchmal brüllt, dass das Haus zittert, hört das Mädchen alles.
  „Glaubt ihr denn, dass ich stehle?" brüllte der Herr beim Mittagessen. Er  sprang auf, und lief im Speisezimmer mit der zerdrückten Serviette in der Hand  herum:
  „Das sind ja Gauner, deine Brüder, Lumpen, die ins Zuchthaus gehören. Ins  Zuchthaus, verstehst du?"
  Er warf die Serviette auf den Teppich:
  „Fünfzehntausend, ja, glaubt ihr denn, dass ich mich mein ganzes Leben wie ein  Tier geschunden habe, damit ich alles in euch hineinstopfe? Das sind ja ganz  hundsgemeine Diebe, sie glauben, ich muss schweigen und zahlen. Da irren sie  sich aber schwer. Das Geschäft war meinerseits vollkommen korrekt, meinerseits  völlig korrekt und gesetzmäßig, verstehst du, ich werde deine Brüder ins  Zuchthaus bringen."
  Eines Tages kam er nachmittags zu ungewohnter Stunde und ging in sein  Arbeitszimmer. Er klingelte Anna und befahl ihr, die gnädige Frau zu rufen. Als  Anna das bestellt hatte, erbleichte die gnädige Frau, aber sie kam. Die  Herrschaft sprach im Arbeitszimmer irgend etwas. Der Herr versuchte einige Male  zu schreien, aber kaum hatte er ein paar Worte herausgebrüllt, senkte er die  Stimme wieder sichtlich, weil er sich erinnert hatte, dass in der Küche alles  zu hören war. Vielleicht auch auf die Bitte der gnädigen Frau hin. Aber  plötzlich brüllte er los: „Ich frage dich zum letzten Male, wo hast du die  tausend Mark hingegeben? Erzähle mir keine Märchen. Ich bin hinter dieses  Wunder gekommen. Du hast dir's von deiner Schwester geben lassen, und sie hat's  auf Rechnung deiner Brüder geschrieben. Wohin hast du das Geld getan?"
  Die gnädige Frau weinte und begann verzweifelt etwas zu erklären.
  „Halt's Maul. Ich bitte dich, schweig," schrie der Herr. „Ich werde dir  sagen, wo du's hingegeben hast. Du hast es der Kanaille nach Davos und ihrem  Nichtstuer geschickt."
  Da begann auch die gnädige Frau mit einer hohen hysterischen Stimme zu  schreien:
  „Ich schwöre dir, dass ich nichts nach Davos geschickt habe, ich schwöre es dir  beim Leben meiner beiden Kinder, die du mir noch gelassen hast. Verstehst du,  meine Tochter ist keine Kanaille, du Mörder du."
  Dann hörte man lange verzweifeltes Weinen. Nach einiger Zeit waren die Schritte  des gnädigen Herrn hörbar. Dann wieder irgendein gedämpftes Gespräch.  „Anna!"
  Es war wieder ein wütender Aufschrei, diesmal aus dem Zimmer von Fräulein  Dadla. Anna öffnete die Tür: „Was wünschen Sie, Fräulein?"
  Aus der Flut der Kissen und Spitzen leuchteten die Augen des Fräuleins. Sie  hielt ein Buch in der Hand: „Die streiten schon wieder unten, nicht?"
  Anna nickte schweigend mit dem Kopf. „Herrgott," knirschte das Fräulein  mit den Zähnen, „ein verfluchtes Leben."
  Sie warf das Buch in die Ecke des Zimmers, drehte sich im Bett um und begann  wütend in die Kissen zu weinen.
  So sah es bei Rubeschs aus. Streit und Lärm, Geld, Geld und Geld.
  Sie stritten noch des Abends im Bett. Die gnädige Frau schlief wieder beim Baumeister.  Ihr Vorsatz, den sie nach dem Tode des jungen Herrn gefasst hatte, nie mehr in  das gemeinsame Schlafzimmer zurückzukehren, und ihre Einsamkeit im  Fremdenzimmer hatten nur einen Monat gedauert. Eines Nachmittags, nachdem sie  einen Brief mit einer Schweizer Marke gelesen hatte, kam sie bleich in die  Küche. „Kommen Sie, Anna, helfen Sie mir", und sie trugen das Bettzeug der  gnädigen Frau und den Toilettentisch in das Schlafzimmer. Die Tochter in Davos  wollte leben, und sie konnte dies nicht ohne die Fünf- und Zehn-Mark-Stücke,  welche die gnädige Frau täglich beim ersten Morgendämmer aus ihres Mannes  Brieftasche stahl. Sie hatte ihren Kindern schon viele vergebliche Opfer  gebracht. Dies war das schwerste. Frau Baumeister weinte, wo sie stand und  ging.
  „Fräulein Anna, auf ein Wort", rief des Morgens die Portiersfrau halblaut  und stellte sich zum Haustor, dass sie von der Baumeisterwohnung aus nicht zu  sehen war.
  „Wie geht es Fräulein Dadla? Ist der Fuß schon in Ordnung?" Ein Lächeln  spielte um die Mundwinkel der Portiersfrau.
  „Hören Sie, Fräulein Anna, dieser Herr im lichten Anzug, der da unlängst abends  drei Stunden auf- und abgegangen ist, ist der nicht bei euch oben  gewesen?" Marie aus dem dritten Stock wartete jeden Morgen.
  „Na ja, sie hat sich den Knöchel ausgerenkt", sagte sie, als sie mit den  Einkaufstaschen am Arm über den Wenzelsplatz gingen.
  „Wen wollen die dumm machen? Die Portiersfrau und ich, wir wissen's genau.  Dadla war in der Tinte. So ist es mein Lieb, Dadla war in der Tinte. Am Ende  musste die Mutter helfen. Rudi fand irgendeinen Arzt und für fünfhundert Mark  war alles gemacht. Aber das sind bloß fünfhundert Mark und euer Alter, der  brüllt doch nach tausend. Das ist nämlich so. Der Rudi ist ein alter Gauner,  der will sich jetzt eine Lebensversicherung schaffen. Hast du nicht gesehen?  Ich traf ihn gestern abend. Er hat einen neuen Anzug und einen Stock mit  goldenem Griff. Der saugt eurer Alten das Geld heraus. Der erzählt ihr wohl,  dass der Assistent des Arztes ihm mit Skandal und Gericht droht. So eine  Blödheit. Ein Assistent und anzeigen. Eure Alte ist ganz verängstigt, zahlt und  macht bei der Schwester Schulden. So ist es, mein Kind. Habe ich dir nicht  gleich damals gesagt, dass das noch eine schöne Sache geben wird. Sie hüten das  Fräulein wie einen Edelstein. Auf die Straße darf sie nicht allein gehen, ins  Theater darf sie nicht allein gehen, einmal reißt sie sich fünf Minuten von der  Kette los, schon ist's passiert."
  Marie besann sich, blieb vor einem Laden stehen und fragte:
  „Hör mal, Anna, hat sie einen Verband um den Fuß?"
  „Ja, sie hat einen Verband!"
  „So einen Gipsverband oder einen gewöhnlichen?"
  „Nein, einen gewöhnlichen."
  „Hat ihr den der Arzt gemacht?"
  „Die gnädige Frau verbindet sie selbst."
  „Das sind Luder, das sind ausgewichste Luder, nur um den Baumeister dumm zu  machen."
  Anna antwortete nur zerstreut. Ihre Gedanken waren ganz wo anders. Das Fräulein  hatte sich geholfen. Annas große Augen irrten auf dem Wenzelsplatz umher. Die  Bewegung auf dem Platz schien ihr fremd und sonderbar. Das Fräulein hatte sich  geholfen. Das war der einzige Gedanke, der ihr Hirn erfüllte, und für alles  andere gab es keinen Platz.
  Marie, mit der Einkaufstasche auf dem Arm, erzählte irgend etwas von den  Brüdern der gnädigen Frau. Der eine war Beamter im Arbeitsministerium, der  zweite Magistratsrat. Sie machten mit dem Baumeister irgendwelche Geschäfte.  Sie besorgten ihm Aufträge, er teilte mit ihnen den Gewinn. Rubesch hatte in  einem Bezirk die Kanalisation gebaut und den Magistrat dabei um eine halbe Million  betrogen.
  Anna hörte mit halbem Ohr zu. Am Wenzelsplatz schien ihr alles drunter und  drüber zu gehen. Die Menschen waren bleich wie die Leinwand im Kino. Ja, das  Fräulein hatte sich geholfen, es war nichts passiert. Man bleibt ein paar Tage  liegen, dann ist alles wie vorher. Wie einfach ist es doch. Anna wandte ihre  Blicke vom Wenzelsplatz, richtete sie vor sich auf den Damm und sagte zu sich  selbst: „Nein, dazu braucht man Geld. Viel Geld. Nein, ich kann mir nicht so  helfen."
  Marie sprach von den Betrügereien bei der Vergabe öffentlicher Bauten. Von 25  000 Mark, über die sich der Architekt mit seinen Schwägern nicht einigen  konnte. Von 10 000, auf die sie sich geeinigt hatten, von 25 000, derentwegen  sie noch stritten.
  Aber Anna dachte bloß, was wird sein, keine Wohnung, Toni läuft vergeblich auf  den Ämtern herum, und gestern hatte Fräulein Dadla Annas Bauch viel länger  angesehen als sonst. Ich gehe zur „Schwarzen Hand", hatte ihr Toni in der  vergangenen Woche düster gesagt, und Anna fühlte einen ähnlichen Schauer wie  beim Lesen der Sherlock-Holmes-Bücher. Die „Schwarze Hand" war ein  geheimer Verein, der Schrecken der Hauswirte. Näheres wusste Toni nicht. Nein,  nein, nichts davon. Anna hatte ein unangenehmes Gefühl. Marie sprach von 10000  und 50000 Mark, rollte die Augen und ihre Stimme war geheimnisvoll überzeugend.  Über den Platz zogen die roten Wagen der Straßenbahn, und hupten die  Automobile. Anna nahm sie gar nicht wahr. Was konnte die „Schwarze Hand"  helfen?
  Frau Rubesch sah nicht mehr nach der Küchenuhr, wie lange Anna bei dem Einkauf  wegblieb. Sie bemerkte die Verspätung gar nicht. Als Anna mit der  Einkaufstasche zurückkam, stand die gnädige Frau am Küchentisch und machte für  das Fräulein zum zweiten Frühstück ein Beefsteak zurecht. Mit der rechten Hand  hielt sie den Fleischklopfer, mit der linken nahm sie Salz und Pfeffer. Tränen  fielen auf das Fleisch:
  „Ach, Anna", Frau Rubesch bemühte sich gar nicht mehr, vor Anna ihr  Unglück zu verbergen. Ihre geschwollenen Augen weinten, die Rechte klopfte, und  die Linke nahm gedankenlos Salz und Pfeffer aus den Porzellantiegeln. Das  Beefsteak war schon schwarz und weiß.
  „Ach, Anna", die gnädige Frau klopfte und würzte, „ach mein Gott,  Anna", die gnädige Frau seufzte, „was haben die unteren Klassen für ein  schönes Leben, wie gern würde ich mit ihnen tauschen."
  Anna hörte diese Worte nicht zum ersten Mal. Das Fräulein sagte ihr täglich das  gleiche. Merkwürdig, das Fräulein und die gnädige Frau beneideten sie. Die  Tochter und die Frau eines Millionärs beneideten sie, ein Dienstmädchen, das  nicht einmal wusste, wo es mit einem Kinde unterschlüpfen würde. Würden sie  auch mit ihr tauschen wollen, wenn sie alles wüssten? Anna dachte darüber nach,  aber sie wusste vorerst keine Antwort auf diese Frage.
  Es kam der Tag, an dem sie sich sagte, sie würden sie auch beneiden, wenn sie  alles wüssten, denn sie waren allein und verlassen. Anna war nicht verlassen  und einsam. Sie gehörte einer großen Familie an, sie hatte Genossen und  Genossinnen. Als es Anna am schlimmsten ging, waren sie zur Stelle.
  Eines Nachmittags, als sie allein zu Hause war und in der Küche das Geschirr  abwusch, klingelte es draußen. Sie ging öffnen. Franz Sauer lachte sie, die  gelben Zähne weit entblößend, an. Der Heizer Franz Sauer, ein bisschen  Arbeiter, ein klein wenig Agent, ein bisschen Genosse, ein wenig Bummelant, im  ganzen ein vierzigjähriges Kind mit einer kindlichen Stimme und unendlich guten  Augen. Neben ihm stand ein jüngerer Arbeiter, den Anna schon auf Versammlungen  gesehen hatte, dessen Namen sie aber nicht kannte.
  „Hören Sie mal, wir sind die ,Schwarze Hand', und wir kommen Sie holen",  sagte Franz Sauer.
  Anna erstarrte. Sie erschrak ein wenig. „Schwarze Hand." Das war doch  nicht die „Schwarze Hand", welche die Reichen aus den Wohnungen vertrieb  und die Arbeiter drin festsetzte. Das war doch Franz Sauer! Oder war das ein  Witz?
  „Na, wollen Sie uns denn gar nicht hereinlassen, Anna? Das ist Alois Kotrba.  Kennen Sie ihn nicht?"
  Anna trat in die Stube zurück, und beide folgten ihr.
  „Wir haben eine Wohnung für dich, Genossin", sagte Kotrba. „Pack schnell  deine Sachen und komm."
  Sie führte sie in die Küche. Es war also wahr. Sie erschrak noch mehr. Sie  stand da und wusste nichts Besonderes zu sagen. Sie war allein zu Hause, hatte  nicht gekündigt und der Frau nicht einen Ton gesagt. Sie schwankte.
  „Ich bin... "
  „Keine langen Erklärungen", sagte Kotrba. „Soviel Zeit haben wir gar  nicht. Um dreiviertel Vier müssen wir da sein, und es ist sehr weit. Wo hast du  deinen Koffer?"
  Anna sah, dass es ernst war.
  „Ich soll also gehen, ja?"
  Sie führte sie in ihre Kammer, zeigte ihnen ihren Koffer. Sie warfen  schleunigst Annas Sachen hinein, wie sie ihnen in die Hände kamen, verdrückt  und unordentlich, wie Männer eben packen. Es dauerte kaum eine Minute.
  „Haben Sie noch etwas?"
  „Nein, nein, aber ich möchte noch... "
  Ehe sie noch sagen konnte, dass sie sich umziehen wollte, hoben die beiden  Genossen den Koffer an den Henkeln hoch und schoben zur Tür hinaus. Schon  klapperten ihre Absätze die Stiege hinunter. Anna folgte ihnen. Sie begriff  noch immer nichts, war vor Erwartung erregt und in einiger Besorgnis wegen der  Wohnung, die sie verließ. Aber dann besann sie sich eines Besseren. Sie schloss  die Tür hinter sich und ging. Sie holte die Genossen beim Haustor ein, als sie  auf die Straße traten. Sie gingen über den Wenzelsplatz zum Graben. Anna immer  hinter ihnen her. Sie sprachen kein Wort. Franz Sauer blickte sich vielleicht  zweimal nach ihr um und lachte ausgelassen. Sie hätte gern gefragt. Das ging  für ihr armes Gehirn so unglaublich schnell. Aber erst beim Pulverturm fasste  sie den Mut dazu. Sie machte noch einige schnelle Schritte, wich der  Straßenbahn aus und gelangte an die Seite des alten Genossen.
  „Wohin gehen wir denn?" sagte sie schüchtern. „Und wie wird es sein?"
  „In die Jesseniusgasse, Anna. Es wird einen großen Krach mit dem Hauswirt  geben. Da werden wir was erleben. Aber die Wohnung ist sehr nett, für ein  Kanarienvogelpaar wie geschaffen. Der Abgeordnete Jandak hat uns gesagt, wir  sollen euch was besorgen, und wir halten etwas auf den Mann. Das wissen Sie  doch."
  Anna blickte erschrocken nach dem jüngeren Genossen, bei ihm Erklärung suchend.  Der war ernst und schweigsam, aber als er Annas Augen sah, die auf ihn  gerichtet waren, entschloss er sich doch, ein Wort zu sagen. „Sei ohne Sorge,  es wird schon irgendwie gehen." Anna wartete, dass er ihr sagen würde, wie  es gehen sollte. Aber sie erfuhr nichts. Sie stapfte eine Zeitlang neben ihnen  her, immer erwartend, dass sie ihr etwas sagen würden. Als Kotrba sein ernstes  Aussehen beibehielt, verlangsamte sie ihre Schritte. So gingen sie durch die  Straßen. Zwei Arbeiter, die den schweren Koffer an den eisernen Henkeln trugen  und zwei Schritte hinter ihnen eine Frau in einem blaubedruckten Kleid mit  niedrigen Schuhen, so wie sie vom Abwaschtrog weggegangen war. Sie wichen der  Straßenbahn, den Automobilen, den schweren Fuhrwerken, den Handwagen aus und  standen um 3/4 4 Uhr in der Jesseniusgasse vor einem Zinshaus. Ein Schutzmann  stand vor dem Tor. Anna stockte der Atem, und das Herz schlug ihr schnell. Sie  waren an Ort und Stelle. Sie erkannte dies an einem zweirädrigen Wagen, der an  den Bürgersteig angelehnt stand. Auf dem Wagen war Tonis ganzes Vermögen  verstaut. Das zusammenlegbare Eisenbett, Strohmatratze, das Bettzeug mit rotgestreiftem  Überzug, ein Tisch, zwei Stühle, alles mit einem festen Strick  zusammengebunden. Ganz zu oberst, unter den Strick gesteckt, lagen zwei  gerahmte Buntdruckbilder von Marx und Engels. Dies alles bewies Anna, dass der  Umzug mit Tonis Wissen vor sich ging, und dass er in der Nähe sein musste. Das  beruhigte sie ein wenig. Auf dem Bürgersteig stand ein etwa zwölfjähriger  Junge. Der Genosse stellte den Koffer auf den Wagen, und Sauer fragte den  Knaben:
  „Na, Joseph, was ist?"
  „Sie streiten drin mit dem Hauswirt wegen des Schlüssels. Sie waren beim  Polizeikommissariat, der Kommissar kam mit ihnen, da der Grüne auch, und einer  ist noch
  drin."
  „Es ist noch zehn Minuten Zeit", sagte Franz Sauer zu dem ernsten  Genossen. „Wart hier, ich will mir die Sache mal bekieken."
  Er ging ins Haus, an dem Schutzmann vorbei, der amtlich und unzugänglich vor  sich hinstarrte.
  „Ich hole mir nur Zigaretten", sagte Kotrba und verschwand gleichfalls.  Anna stand mit dem zwölfjährigen Jungen allein auf der Straße. So war das also.  Sie hatten noch keine Wohnung. Es wird deswegen erst verhandelt. Sie haben  nichts. Das blieb also übrig von 'der ganzen Hoffnung mit der „Schwarzen  Hand" und von der Überraschung des heutigen Nachmittags. Und Polizei ist  auch dabei. Anna schaute durch den Nebel ihrer getrübten Augen auf Tonis  Vermögen. Wo kamen denn bloß der Tisch und die zwei Stühle, diese  funkelnagelneuen Stühle her? Glaubte er denn wirklich, dass sie da einziehen  würden? Anna sah die Bilder von Marx und Engels an und musste alle Kräfte  zusammennehmen, um nicht laut zu weinen. Marx und Engels, zwei bekannte Alte,  zwei Genossen, die Väter aller Arbeiter, blickten in die Höhe, ganz hoch nach  oben in den schmutzigweißen Himmel. Anna schienen ihre Gesichter in diesem  Augenblick besonders klug zu sein. Aber konnten sie ihr denn helfen? Vom Turm  schlug es 5 Uhr. Kotrba kehrte aus dem Zigarettenladen zurück und blieb  ungerührt neben dem Wagen stehen. Anna standen die Tränen in den Augen.
  Im Hause, im ersten Stock, in der Wohnung des Hauswirts, verhandelten sie  unterdessen. Diese Unterhandlung dauerte jetzt beinahe schon zweieinhalb  Stunden. Vor 3 Uhr waren sie hergekommen: Franz Sauer, Czermak, der Zinkograph  Wick, der Hilfsarbeiter Kotrba und der Tischler Hans Kolar. Toni war bei ihnen.  „Was wollt ihr denn?" brummte sie der Hauswirt, der ihnen den Weg  verstellte, gleich an der Tür an. Es war ein rundlicher Vierziger, ein  rotwangiger blonder Mann, ein reichgewordener Agent, der den Landesämtern  Nahrungsmittel lieferte.
  „Eine sehr wichtige Sache", antwortete Sauer. Sie drängten den Hauswirt in  das Vorzimmer und dann direkt in die Stube.
  „Na also, was ist los?" fuhr sie der Hauswirt an. „Euer Wohlgeboren",  sagte Sauer, „Sie haben da im zweiten Stock eine leere Wohnung, Küche und  Zimmer, und wir ersuchen Sie höflichst, sie dem Genossen Krousky zu vermieten.  Aber gestatten Sie, dass ich vorstelle. Das ist der Genosse Anton Krousky,  Gießer in den Kolbenschen Fabriken. Ein sehr anständiger Mensch. Dieser Herr  ist der Hausbesitzer Koslieb. Ich bin Franz Sauer." „Ich habe keine  Wohnung zu vermieten", knurrte der Hauswirt.
  „Aber ja, na, was denn", sagte Franz Sauer.
  „Nein", sagte der Hauswirt energisch. „Die Wohnung ist schon  vermietet."
  „Wissen wir ja,'— als Lager. Aber das ist sehr unschön, irgendwelchen Schiebern  Wohnungen als Lagerräume zu vermieten, wo in der Stadt so viele Leute keine  Wohnung haben. Und außerdem ist es gegen das Wohnungsgesetz", fügte der  alte Czermak verdrossen hinzu.
  „Ja, ja, es ist gegen das Wohnungsgesetz", wiederholte Franz Sauer. „Aber  der Hauswirt hier ist ein netter Herr. Seht mal an, er hat doch ein so gutes  Gesicht, der wird uns auch ohne Gesetz helfen, nicht?" Der Hauswirt wurde  feuerrot.
  „Ich will mich nicht mit Ihnen unterhalten. Ich habe schon gesagt, dass ich  keine Wohnung zu vermieten habe und damit basta."
  „So, ,basta'? Wer hätte das gedacht", sagte Franz Sauer.
  „Ich bitte Sie, die Wohnung augenblicklich zu verlassen und mich nicht zu  belästigen."
  „Aber woher, wir sind doch die ,Schwarze Hand', und wir rühren uns nicht früher  von hier, als bis der Genosse Krousky mit seiner Frau in der netten Wohnung im  zweiten Stock ist."
  „Wie stellen Sie sich denn das vor?" erregte sich der Hauswirt. Da trat  Toni vor, dessen Augen brannten.
  „Wissen Sie, wie die Leute in der Stadt hier wohnen?" schrie er und seine  Fäuste schlossen sich. „Und Sie verschieben die Wohnung hier als  Lagerraum."
  „Wart mal, Toni, wart mal", und die ungeheure rechte Hand Sauers legte  sich auf Tonis Schulter. „Warum denn so hitzig, das muss alles fachmännisch  geregelt werden. Du wirst doch auch den Hauswirt nicht aufregen wollen. Sieh  mal, es könnte ihm doch dabei etwas passieren. Das kannst du nicht  verantworten. Wart mal, Toni, wart nur."
  „Wie wir uns das vorstellen?" wandte er sich an den Hausherrn. „Sehr  einfach, wir sind doch keine Anfänger. Das haben wir schon dreißigmal gemacht.  Der Genosse Krousky zieht hier mit seiner Frau in die Wohnung im zweiten Stock,  und wir empfehlen uns. Das ist doch eine einfache Sache."
  „Wollen wir ernstlich miteinander reden oder nicht", donnerte der  Hauswirt.
  „Ach, du lieber Gott, warum denn nicht." Sie begannen zu verhandeln. Der  Hauswirt sprach von der Anzahlung, der Rechtsverbindlichkeit, von den Steuern,  von den Gesetzen, von der Ordnung. Die Arbeiter von der Wohnungsnot und von der  demokratischen Republik. Der Hauswirt war aufgeregt und rot wie ein Krebs und  lief zwischen Blumentisch, Fenster und Chaiselongue hin und her. Die Arbeiter  waren ruhig, weil sie wussten, wie es ausgehen würde. Nur Toni war empört. Es  kostete ihn Überwindung, nicht nach diesem rosigen Bürger hinzuspringen. Aber  er hatte geschworen, dass er sich in die Verhandlung nicht einmischen würde.  Die Verhandlung führte zu keinem Resultat.
  „Gut", sagte der Hauswirt und hielt in seinem Marsch drohend inne. „Mit  euch lässt sich nicht reden." Er sah sie mit einem Blick an, der sie  erschrecken sollte und brüllte einen Satz, der sie klein machen sollte:
  „Ich werde die Polizei rufen, die wird die Sache schon regeln."
  „Du mein Gott", Sauer klatschte in die Hände, „das ist eine Idee. Dass das  noch keinem von uns eingefallen ist. Wir wollen mal zum Revier gehen. Ich war  noch nie da." Der Hauswirt sprang zum Telefon. Bei solchen erregten Szenen  geschieht es sehr oft, dass man keine telephonische Verbindung bekommt, und  wenn sie endlich kommt, ist sie falsch. Herr Koslieb hatte eine zu energische  Maske aufgesetzt, als dass er sie die ganze Zeit hätte beibehalten können. Das  wirkte komisch. Der Hauswirt zitterte vor Wut. Endlich bekam er die Verbindung.  Aber er hatte nicht mehr die natürliche Kraft.
  „Es sind sechs Menschen hier, die einen gesetzlich unerlaubten Zwang auf mich  ausüben, damit ich ihnen eine Wohnung vermiete. Ich brauche den Schutz der  Polizei." Irgend jemand antwortete ihm.
  „Ja", sagte der Hauswirt drohend ins Telefon und legte den Hörer ab.
  „Mein letztes Wort, wollen Sie meine Wohnung verlassen und mich nicht  belästigen?"
  „Nein", schrie Toni und ging einen Schritt vor.
  „Wart mal, Toni." Franz Sauer hielt ihn zurück. „Immer fachmännisch, du  weißt, was du mir versprochen hast."
  „Nein", knurrte der alte Czermak ruhig. „Wir würden ja gerne gehen, aber  es lässt sich nicht machen. Die Ehre der ,Schwarzen Hand' steht auf dem  Spiel."
  „Na, gehen wir zur Polizei", donnerte der Hauswirt.
  „Gehen wir, Freunde", lächelte Franz Sauer. „Wir werden uns noch ganz gut  einigen. Bis fünf Uhrist Zeit genug."
  Sie gingen. Der Hauswirt mit ihnen. „Entschuldigen Sie", sagte Franz Sauer  zum Hauswirt auf der Straße. „Ich habe etwas vergessen. Ich kann nicht  mitkommen. Ich muss Fräulein Anna, die Braut des Genossen Krousky, abholen und  ihre Sachen tragen helfen, damit sie umziehen kann."
  „Komm, Alois", wandte er sich an Kotrba. „Wir wollen ihr den Koffer tragen  helfen."
  In diesem Augenblick erschien auf der Straße ein Handwagen, auf dem Tonis Möbel  aufgeladen waren. Ein jüngerer Arbeiter zog ihn. Neben dem Wagen ging ein  zwölfjähriger Junge.
  „Aha", warf Franz Sauer ein, „da besorgen sie auch schon den Umzug von dem  Genossen Krousky."
  Es schien, als ob den Hauswirt der Schlag treffen würde. Franz Sauer und Kotrba  gingen zur Haltestelle der Straßenbahn, um Anna abzuholen. Der Hauswirt, Toni  und Czermak, Wick und Kolar zum Polizeirevier. Der Polizeikommissar betrachtete  sie durchdringend. Er erkannte die Arbeiter gleich. Es war schon der zehnte  Fall in seinem Revier, wo die „Schwarze Hand" eingegriffen hatte, und er  wusste, dass alles, was nun folgen würde, zwecklos war und wie es ausgehen  würde.
  „Schwarze Hand", wandte er sich an sie.
  „Ja", sagte der alte Czermak verdrossen.
  Der Kommissar legte sein Gesicht in amtliche Falten.
  „Hört mal, Kinder, das wird aber nun ein bisschen wild", und er verstärkte  den Ausdruck seines Gesichts. „Spaßt nicht zu sehr, das kann mal schlecht  ausgehen und ihr könnt euch mächtig verbrennen." - „Was ist, Herr  Koslieb", wandte er sich an den Hauswirt.
  Im Büro, das nach Kleidern und Papier roch, wiederholte sich die alte  Geschichte. Der Hauswirt erklärte alles. Er gestikulierte mit den Händen und  bewies, dass er durch einen Vertrag und eine Anzahlung bereits gebunden sei. Er  habe Toni nie gesehen, er ginge ihn auch nichts an, und wenn er mit seiner  Familie keine Wohnung habe, dann müsste er sich eben an ein Wohnungsamt wenden.  Das sei Tonis Sache und nicht die des Hauswirts. Das war auch der amtliche  Standpunkt des Kommissars, der, nachdem er ihnen das auseinandergesetzt hatte,  und als sein strenger Blick vollkommen wirkungslos verpufft war, den Ausbrüchen  des Hauseigentümers und Ordnungsfanatikers schlechtgelaunt folgte. Er wusste,  wie ohnmächtig alle Instanzen der Wohnungsämter waren. Er kannte in seinem  Revier Wäschereien, Keller, Scheunen und sogar Aborte, wo man wohnte, und  konnte von vornherein die Argumente erraten, welche die Arbeiter vorbringen  würden, wenn er sich mit ihnen in eine Debatte einließ. Jedes Wort war umsonst.  Da gab es nur ein Mittel, um die Ordnung aufrechtzuerhalten: Polizeirevolver —  wie in der Monarchie. Das war eine unfehlbare Arznei. Aber der Herr Kommissar  wagte nicht, von sich aus dazu zu greifen, und er wusste, dass ihm das  Polizeipräsidium die Erlaubnis nicht erteilen würde. Ja, die Entwicklung zur  alten Ordnung schritt Woche um Woche hübsch und langsam vorwärts, und es war  leicht möglich, dass dies der Beginn seiner Karriere sein konnte, wenn er sich  auf eigene Faust zu einem Vorgehen entschließen würde. Aber es war auch nicht  ausgeschlossen, dass ihm das die Stellung kosten konnte. Das war das Ungemach  der Zeit. Ein anständiger Mensch wusste nicht, wem er eigentlich diente. Und so  entschloss sich der Herr Kommissar, nachdem er die ganze Geschichte angehört  hatte, bloß zu dem Ausruf:
  „Ich will mir die Sache ansehen." Er setzte die Dienstmütze auf, nahm zwei  Schutzleute mit und ging. In der Jesseniusgasse ließ der Kommissar einen  Schutzmann vor dem Hause, und mit dem zweiten, den vier Arbeitern und mit dem  Hausherrn ging er hinauf. Sie sahen sich die Wohnung im zweiten Stock an, das  Zimmerchen, in dem zwei Kisten voll alter Wein-, Kognak- und  Mineralwasserflaschen standen, und die lange Küche mit dem vergitterten  Fenster, das auf den halbdunklen Flur hinausblickte. Der Hausherr wurde immer  aufgeregter, die Arbeiter immer ruhiger. Sie sagten immer wieder nur boshaft  den Satz, dass sie den Schlüssel haben wollten.
  Jetzt also, um 5 Uhr nachmittags, stand Anna mit dem zwölfjährigen Jungen und  dem unfreundlichen Kotrba in der öden Jesseniusgasse. Und im Mietshaus  unterhielten sich die Genossen, zu denen noch Franz Sauer gestoßen war, mit dem  Hausherrn und dem Polizeikommissar. Auch sie hörten die Turmuhr schlagen und  der alte Czermak und Wick zogen die Uhren heraus, um die Zeit zu vergleichen.  Zwei Arbeiter standen an der Tür, drei am Ofen, mit dem Rücken darangelehnt.  Sie sagten ihren Spruch mit der Konsequenz einer Grammophonplatte. Dass es  ungesetzlich sei, eine Wohnung als Lagerraum zu vermieten und außerdem gemein,  wo so viele Leute kein Dach über dem Kopf hätten, dass dies der Kommissar  einsehen müsste, und dass alles vergeblich sei, dass sie nicht von hier  weggehen würden, bevor sie nicht den Schlüssel erhielten. Toni machte ein  finsteres Gesicht und schwieg. Aber Franz Sauer brachte mit seinen gutmütigen  Augen den Hausherrn zur Raserei. Sauer zündete sich eine Zigarette an und  klopfte die Asche auf dem Ofen ab.
  „Rauchen Sie hier nicht", brüllte ihn der Hausherr an. „Glauben Sie, dass  Sie in einem Stall sind?"
  Sauer zeigte bloß die Zähne, tat noch einen tiefen Zug und blies den Rauch aus.
  „Na, es muss ja nicht sein", sagte er freundlich und drückte den glühenden  Tabak ab. Er barg den Rest der Zigarette in der Westentasche. Der Hauswirt lief  auf dem Teppich zwischen der Anrichte und dem Plüschsofa auf und ab. Sein  breites Gesicht, sein starker Hals waren rot. Es bestand Gefahr, dass ihn der  Schlag treffen würde. Das Bewusstsein, dass er, der reiche Vermittler, Hauswirt  und Mann mit einflussreichen Bekanntschaften, diesen drei schmutzigen und  stinkenden Kerlen gegenüber ohnmächtig war, dass er ihnen gegenüber machtlos  war, trotz seines unzweifelhaften Eigentümerrechts, trotz Vertrags,  Rechtsverbindlichkeit und trotz dreier Polizisten, deren amtliche Verpflichtung  es war, ihn zu schützen, dieses Bewusstsein brachte ihn zur Raserei. Er werde  den Schlüssel nicht hergeben. Und wenn er auf der Stelle krepieren sollte, den  Schlüssel gebe er nicht her.
  „Ja, bin ich denn kein Steuerzahler?" schrie er. „Herr Kommissar, schützen  Sie mich, gilt denn das Gesetz nicht mehr?"
  Der Kommissar saß ungerührt auf dem roten Plüschsofa.
  „Vielleicht könnten Sie sich, meine Herren, doch in Güte einigen", sagte  er zeitweise; aber es klang ganz hoffnungslos. Auf der Straße wartete Anna. Welchen  Sinn hat das, dachte sie. Wir haben keine Wohnung und wir werden keine haben.  Warum haben sie ihr Hoffnungen gemacht, wo doch alles vergeblich ist. Tränen  traten ihr in die Augen, und sie drückte das Taschentuch ans Gesicht.
  „Wein' nicht, Genossin, in zehn Minuten bist du in der Wohnung", sagte der  unhöfliche Kotrba, und Anna fühlte zum ersten Mal Weichheit und Teilnahme. Es  klang überzeugend. Es war ein Fünkchen Hoffnung, das in Anna aufstieg. Als sie  mit tränenden Augen die Bilder ansah, schien es ihr, dass Marx das linke Auge  schloss. Vielleicht das Auge, in dem er das seltsame Glas trug, das ihm zur  Weste herunterhing. Es schien, als ob er klug lächelte und sagen wollte: „Weine  nicht, Genossin, in zehn Minuten bist du in der Wohnung."
  Es war 5 Uhr und 5 Minuten. Das war der kritische Zeitpunkt, auf welchen die  „Schwarze Hand" gewartet hatte. Sowohl die Genossen, die draußen mit Anna  warteten, als auch die anderen, die oben mit dem Hauswirt verhandelten, wussten  dies. Fünfhundert Schritte von hier, in der Richtung zur Peripherie der Stadt,  füllte sich die Straße, bislang halb leer, immer mehr mit Menschen. Es waren  Arbeiter und Arbeiterinnen, die nach beendigter Arbeit herbeizogen. Sie liefen  durcheinander, verstreuten sich über die ganze Straßenbreite und rückten in der  Richtung auf Anna vor. Gleich darauf spie die Fabrik neue Massen aus. Sie  vereinigten sich mit den vorhergehenden, und der Vortrupp der Arbeiter schritt  schnell die Jesseniusgasse herauf. In der Straße wurde das Gewühl immer dichter.  Dieser Menschenstrom, der vorwärts rollte, trieb schwer dem zweirädrigen Wagen  mit den Möbeln entgegen. Die Spitze erreichte Anna. Es waren drei Burschen, die  ihren Rock über ein blaues Hemd gezogen hatten. Sie hatten schmutzige  Gesichter, waren aber trotzdem hübsch und lachten.
  „Was ist los? Umzug? Will er euch nicht hereinlassen?" fragten sie beinahe  gleichzeitig.
  „Der Hauswirt, der Lump, hat die Wohnung als Lagerraum verschoben, will den  Schlüssel nicht herausgeben, und nun muss die Arme hier auf der Straße stehen,  seht sie euch mal an", erklärte der Genosse Kotrba, in den plötzlich Leben  gefahren zu sein schien. Die Burschen lachten halb verständnisvoll, halb  lustig. Der mittlere, ein Blondkopf, wandte sich an die marschierende Vorhut,  steckte Zeige- und Mittelfinger in den Mund und stieß einen Räuberpfiff aus, so  stark, dass die Ohren dröhnten.
  Der Kleinste und Schmutzigste von ihnen legte die Hände an den Mund und schrie  in die Straßen hinein:
  „Hier gibt's einen Umzug, kommt mal ran."
  Der Schutzmann, der das Tor bewachte, verschwand im Innern des Hauses und  schloss die Tür hinter sich zu.
  Es bedurfte nur einiger schnellerer Schritte, damit die ersten Häufchen Anna  erreichten und sie umringten. Aus der schwarzen Arbeitermasse im Hintergrund  lösten sich kleine Trupps, liefen vor und aus ihrer Mitte ertönte ein hoher  Pfiff, ein Kampfsignal, das durch die Straße gellte. Anna und der Wagen  befanden sich im Nu inmitten einer lebendigen und treibenden Masse.
  „Was ist?"
  „Was ist?"
  „Umzug?"
  „Schwarze Hand?"
  Der Genosse Kotrba erklärte, als ob er eine Agitationsrede auf einer  Versammlung hielte:
  „Das Pack hat die Wohnung als Lagerraum verschoben. Der Kerl hat selbst fünf  Zimmer und ist fett wie ein Schwein. Diese armen Leute will er nicht  hineinlassen. Sie warten schon zwei Stunden darauf, und dieser Schieber hat  einen Kommissar und zwei Grüne bei sich."
  Es ertönte wieder ein Pfiff, ein, zwei, fünf und zehn. Die Straße pfiff und  schrie.
  „Wir wollen's dem Schieber besorgen", rief jemand. „Dort, hoppla."
  Die Masse rollte dem Haustor entgegen. An die Türklinke hängte sich eine Traube  von Leibern. Das Tor war von innen verschlossen. Ein Aufschrei ertönte, kurz  und drohend. Die Klinke dröhnte, weil zwei Fäuste auf sie losschlugen. Das Holz  erdröhnte, weil sechs Paar Stiefel darauf losschlugen. Aber die Tür war massiv  und fest.
  In diesem Augenblick verwandelten sich 150 Arbeiter der Vorstadtfabrik in eine  Kampfschar. Dieses dröhnende und tönende Hindernis von einer Eschenholztür, die  sich ihrem Willen entgegenstellte, vertrieb das Wesen des einzelnen Individuums  aus ihnen, erweckte in ihnen allen die ererbte Kraft des menschlichen  Geschlechts und schmiedete sie zu einer Masse zusammen. Es war eine  wutentbrannte Schar prähistorischer Männer, Frauen und Kinder. In Bärenhäute gekleidet  standen sie am Rande einer großen Grube, in der sich der Riesenleib eines  Mammuts gefangen hatte, eine Schar, die über die Nähe des Sieges jubelte und  vom letzten Hindernis wildgemacht wurde, sich vor Glück und Hunger schüttelte,  Steinblöcke auf das lebendige Tier warf und ihm den Bauch mit gefällten Birken  durchbohrte. Es war die leidenschaftlich gerechte Schar von Gotteskämpfern und  Gotteskämpferinnen, die aus den gotischen Fenstern des Prager Rathauses die  verräterischen Schöffen auf die Spieße des Hussitenvolkes warf, die tapfere  Schar von Bürgern und Bürgerinnen, die unter dem Losungswort der Freiheit,  Gleichheit und Brüderlichkeit geeint jeden zerrissen hätten, der gewagt hätte,  ihnen einzureden, dass die Granitmauern und Türme der Bastille ein  unüberwindliches Hindernis wären. Es war die zum Tode begeisterte Schar von  Genossen und Genossinnen, die an jenem Oktobertag aus Windbüchsen auf die roten  Mauern des Moskauer Kremls schossen, hinter denen die Junker standen.
  Jetzt wurde sie vor dem Hause der Vorstadtstraße von neuem geboren, und es war  eine tausendjährige Erbschaft in dieser Schar, die Leidenschaft, der Wille, die  Wildheit und der Hunger, der Opfermut und das schönste Gut, welches das  Menschengeschlecht besitzt, die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, nach ihrer  Gerechtigkeit, denn über diese geht keine.
  Die Klinke dröhnte und das Eschenholz brummte. Der ganze Fabrikstrom war  nunmehr bis hierher gelangt. Der freie Raum war ausgefüllt, und in den Fenstern  der Nachbarhäuser, hinter Blumentöpfen, auf Kissen zeigten sich Menschen.  Einige lachten, andere waren ernst und streng. „Reicht uns diesen Kerl mal her,  damit wir ihn besehen!" „Pfui, pfui", brüllte die Straße.
  Eine alte Arbeiterfrau in dem Knäuel, in dessen Mitte der Wagen mit den Möbeln  stand, erkannte Annas Zustand. Sie sprang auf ein Rad des Wagens, hielt sich an  den Schultern der Nächststehenden und schrie über den Kopf der Menge hinweg,  und rote Flecken traten in die eingefallenen Wangen:
  „Die Ärmste ist ja schwanger. Sie ist im neunten Monat, und der Hund hat sie  auf die Straße gejagt." „Pfui, pfui", brüllte die Straße.
  „Wir wollen es ihm besorgen", klang es in den Sturm, und das war die  Parole. Die Schar verlangte danach, geführt zu werden. Der Ruf wurde mit  Geschrei und Pfeifen aufgenommen:
  „Besorgen — besorgen — besorgen", kreischte und rief es mit drohendem  Signal. Die Nachbarfenster wurden geschlossen.
  Plötzlich öffnete sich das Tor der feindlichen Festung. Drei Genossen  erschienen, und einer von ihnen hielt der Masse die erhobene Hand entgegen. Die  Schar verstummte auf einen Schlag. So war es schon immer, seit Tausenden von  Jahren, wenn auf den Zinnen der feindlichen Festung die weiße Fahne aufgezogen  wurde. Diesmal wurde die rechte Hand des Genossen zur Fahne.
  „Wählt eine Delegation, Genossen, die mit dem Hauswirt verhandeln soll",  rief der alte Czermak mit lauter Stimme. Hinter den Genossen im Tor erschien  der Polizeikommissar und trat vor sie:
  „Meine Herren, es ist eine rein privatrechtliche Angelegenheit. Die Polizei hat  kein Interesse daran und hat sich bemüht, die Sache auszugleichen. Die  Angelegenheit wird erledigt. Sie wird in Ruhe erledigt." Irgendwer lachte:
  „Selbstverständlich wird sie erledigt, das hatten wir und auch der Herr  Kommissar von allem Anfang an gewusst." Der Kommissar fuhr fort:
  „Aber die Ruhe muss auf jeden Fall gewahrt werden, Zusammenrottungen kann ich  keinesfalls dulden, und es hat wohl niemand Interesse daran, dass ich zu  schärfsten Maßnahmen genötigt werde."
  Falls es wirklich die Absicht des Kommissars war, die Angelegenheit in Ruhe zu  ordnen, beging er einen schweren taktischen Fehler; — er rührte an die  Souveränität der Masse.
  „Mach dich man nicht so wichtig", rief ihm jemand zu. Die Schar lachte  halb fröhlich, halb wütend.
  „Ist bei uns nicht zu machen."
  „Pusten Sie sich man nicht auf."
  Ein Häufchen angeschmuddelter Arbeiterlehrlinge und einige Mädchen aus der  Packerei, die auf dem gegenüberliegenden Gehsteig standen, lachten. Der  Kommissar war bleich, und sein Kinn erzitterte leicht.
  „Eine Deputation", donnerte aufs neue die mächtige Stimme vom Tor, so  befehlend, dass neben ihr kein Platz zu etwas anderem war. Durch die Gasse  bahnte sich bereits eine sechsköpfige Deputation ernster Arbeiter den Weg.
  „Wozu denn eine Deputation?" schrie ein junger Blondkopf mit  leidenschaftlichen Augen, „schmeißt den Kerl auf die Straße."
  „Gebt uns den Erpresser her", schrie ein Nachbar. Aber es waren nur  vereinzelte Stimmen, die durch irgendeine Unordnung die allgemeine Disziplin  durchbrachen, und sie wurden deshalb mit Lachen empfangen. Die Deputation  verschwand in der Haustür. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Es trat Ruhe  ein, die Wellen glätteten sich.
  Die Masse stand wie aus Erz gegossen. Alles war in Erwartung. Doch eine leere  Stille in der Brust lässt sich nicht lange ertragen, und sie dauerte auch nur  einige Minuten. Plötzlich brüllte die Straße los. In der Haustür standen Toni,  Czermak und Wick und hinter ihnen die Arbeiterdeputation. Alle lachten, und der  strahlende Czermak hielt den Schlüssel in der erhobenen Hand. Kein Schauspieler  auf der Bühne, kein Führer auf der Tribüne wurden je mit diesem Beifallssturm,  diesem Jubel und Gelächter begrüßt. Dieser Siegesschrei und dieses Gelächter  schallte durch alle Tore und Fenster der Jesseniusgasse, erfüllte die Wohnungen  und stieg in großen Wellen über die Dächer zum trüben Himmel. Die Bastille war  gefallen. Jetzt flogen fünf, zehn und fünfzehn Mützen in die Luft. Gelächter  über Gelächter. Es galt dem Sieg, und es galt dem besiegten Bourgeois und der  besiegten Polizei.
  Anna war weiß wie das Leinentuch auf dem zweirädrigen Wagen. Beim Wagen und um  Anna herum entstand eine Jagd. Zwanzig, dreißig und vierzig Hände griffen nach  den Möbeln. Der Strick war im Nu gelöst. Vierzig Hände fassten nach den Sachen,  vierzig Schultern bahnten sich einen Weg durch das Gedränge auf dem Gehsteig,  vierzig Beine fielen in das Haus ein und liefen über die Stiegen hinauf ins  erste, zweite Stockwerk. Sie trampelten schwer und nahmen immer zwei Stufen auf  einmal. In zwei Minuten war die Wohnung im zweiten Stock als Heim für Toni und  Anna eingerichtet. Alle jagten wieder herunter, und vierzig Absätze stürmten  über das Treppenhaus. Ihre hastenden Schritte dröhnten dem Hauswirt in seinem  Zimmer ins Ohr.
  Es gab nicht viel zu danken. Ein paar Händedrücke und ein Lächeln, bei dem  Tränen in den Augen glänzten. Und während Anna und Toni die Treppen zu ihrer  neuen Zuflucht hinaufstiegen, gingen auf der Straße zweitausend Arbeiter  auseinander. Eine lebende Masse, die in den nächsten Minuten in den  Seitengassen, in den Zinshäusern, in den Stockwerken, in den Arbeiterwohnungen  verstreut und verschwunden sein wird. Aber auch dann, wenn es nur mehr  zweitausend einzelne Männer sein werden, die bis zu den Hüften nackt vor dem  Waschgeschirr mit warmem Wasser stehen, einzelne Weiber, die Feuer machen, um  den Kaffee und die Kartoffeln vom Mittagessen zu wärmen, Arbeiter, Burschen und  Mädchen, die sich vor dem Spiegel saubere Kragen und Kleider anziehen, um den  kurzen Frühlingsabend zu genießen, auch dann wird noch jedem einzelnen ein  Lächeln auf den Lippen stehen, und im Herzen wird er ein angenehmes Gefühl  haben. Und wenn sie heute abend schlafen gehen werden, dann werden sie  vielleicht noch im Bett plötzlich laut auflachen und werden sich sagen, dass  das heute ein Riesenspaß war in der Jesseniusgasse.
  Anna stand in der Mitte der neuen Wohnung und weinte an Tonis Brust. Es war ein  Spätnachmittag im Vorfrühling, und die untergehende Sonne warf eine Handvoll  goldenen Staubes in das Zimmer, der sich im Winkel festsetzte. Die Möbel und  der Koffer mit Annas Kleidern standen unordentlich durcheinander. Auf dem Tisch  lagen Marx und Engels, mit dem Gesicht zur Decke, zwei bärtige Alte, die Väter  aller Sozialisten und Genossen. Sie schauten wieder ernst, gelehrt und unnahbar  drein. Anna weinte, und auch Tonis stählernes Herz schlug.
  „Wie ist es nun, Toni, dürfen wir wahrhaftig hier bleiben?"
  „Ach, es war ganz einfach", antwortete Toni, „wir sagten ihm: Die  Schlüssel, oder wir öffnen uns allein, und er überlegte keine Minute.  Selbstverständlich bleiben wir hier."
  Wie spät war es denn eigentlich? Anna überfiel plötzlich ein unangenehmes  Gefühl. Der Kopf drehte sich ihr. Sollte sie, sollte sie nicht?
  „Toni, soll ich nochmal zurückgehen?" Tonis Gesicht verfinsterte sich.
  „Ach wo."
  Aber dann erinnerte er sich:
  „Hast du das Dienstbuch? Hast du es nicht? Sie würden dich auf der Polizei  melden. Fahr hin."
  „Ja?"
  „Ja, ja, fahr hin."
  Sie richtete mit zitternden Händen Frisur und Kleidung. Toni begleitete sie und  schloss hinter sich die Türe. Das Schloss schnappte mit einem neuen Ton, den  Anna weder vorher gehört hatte noch nachher jemals hörte. Toni brachte sie zur  Straßenbahn, und sie fuhr in ihr früheres Heim.
  Die gnädige Frau öffnete ihr und durchbohrte sie mit den Blicken. In der Küche  pflanzte sie sich vor ihr auf, maß sie mit eiskalten Augen und sagte mit  trockenem, scharfem Ton, der ein Gewitter ankündigte:
  „Wo waren Sie?"
  „Wir haben eine Wohnung gefunden. Ich werde heiraten." Das Herz schlug ihr  bis zum Halse, aber sie sagte es ruhig und selbstbewusst und weinte nicht. Die  Farbe und das Gewicht der Worte schlugen der Frau Baumeister die Waffen aus der  Hand. Nur ihre Augen funkelten zornig. Sie drehte sich um und sagte nichts. Sie  ging aus der Küche und schlug die Türe hinter sich zu.
  Anna beendigte in der Küche schleunigst die vernachlässigte Arbeit, trug das  Essen auf, machte im Schlafzimmer die Betten, und in dieser ganzen Zeit sprach  niemand ein Wort mit ihr, als ob sie nicht vorhanden wäre. Aber die Verachtung  der Herrschaft machte heute keinen Eindruck auf sie. Wie hätte sie auch! An  einem solchen Tag, wo Toni und sie Mann und Frau wurden. Der Tag ihrer Trauung  war nicht der, an dem sie sich erkannten; es wird auch nicht jener sein, an dem  sie auf dem Amt irgendein Stückchen Papier unterschreiben werden. Der heutige  Tag war es, wo sie sich eine Zuflucht erkämpft hatten. Konnten denn die gnädige  Frau und das Fräulein nicht alles verstehen? Der Architekt hat acht Häuser. Sie  werden das Fräulein am Hochzeitstage in weiße Seide kleiden, ihr einen  Myrtenkranz geben und sie, deren Leib von Ärzten zerkratzt ist, wird mit dem  Prinzen Bräutigam in einem Auto sitzen, und vor ihnen und hinter ihnen werden  Autos fahren, und in der Mitte der Kirche wird ein roter Teppich liegen. Wie  viel Gäste werden Sie, Fräulein, auf der Hochzeit haben? Dreißig, vierzig —  bestimmt nicht mehr als fünfzig. Wissen Sie, Fräulein, wie viel ich gehabt  habe? Zweitausend, die Straße war knüppeldicke voll von Genossen aus den  umliegenden Fabriken, und glauben Sie, Fräulein, dass auf Ihrer Hochzeit  solcher Jubel und solche Freude sein wird wie auf der meinen? Anna erzitterte  vom Gefühle des Stolzes und Entzückens. Anna räumte das rosa Zimmerchen von  Fräulein Dadla auf. Sie rückte die Batistpolster und Spitzen zurecht und  dachte, ach, wie stinkt doch ihr Bett, Fräulein, nach Parfüm, Puder und  Toilettenwassern. Mein Bett wird duften. Es wird nach Toni duften, Fräulein. Es  wird nach dem Stahl der Kolbenschen Fabriken duften.
  Abends, bevor die Herrschaft zur Ruhe ging, kam Fräulein Dadla in die Küche, um  zu verhandeln. Sie tat, als ob sie sich ein Glas Wasser holte. Sie trank, und  dann zupfte sie vor dem Küchenspiegel die Haare zurecht: „Sie werden heiraten,  Anna?"
  Anna wusch das Geschirr und stand mit dem Rücken Dadla zugekehrt.
  „Ja, Fräulein, wir haben schon eine Wohnung."
  „Wo denn?"
  „In der Jesseniusgasse." Hinter Annas Rücken war es eine Zeitlang still.
  „Anna, wissen Sie, das ist nicht sehr dankbar von Ihnen. Wir waren doch immer  sehr nett zu Ihnen. Sie hätten auch ein Wort sagen können. Wollen Sie denn die  Mama jetzt so aufsitzen lassen?"
  Anna antwortete nicht. Das Schweigen dauerte quälend lange. Aber sie nahm sich  vor, überhaupt nicht zu antworten.
  Hinter ihrem Rücken schrie das Fräulein wütend:
  „Na, in den Hintern werde ich Ihnen nicht hineinreden." Anna richtete sich  auf, wandte sich um, und trocknete die Hände an der Schürze.
  „Ich konnte nicht, es war niemand daheim, und die Wohnung wäre uns durch die  Lappen gegangen. Und wenn die gnädige Frau glaubt, dass ich noch bleiben soll,  bis sie ein neues Mädchen gefunden hat, bleibe ich noch. Jetzt, wo wir die  Wohnung haben, kommt es auf ein paar Tage nicht an."
  „Machen Sie keine Dummheiten, Anna, und einigen Sie sich mit Mama. Aber das  eine muss ich Ihnen noch sagen, es zeugt von großer Undankbarkeit, was Sie  heute getan haben."
  An diese Undankbarkeit dachte Anna noch, als sie schon in ihrem Kämmerchen im  Bett lag und wartete, bis die Herrschaft im Schlafzimmer das Licht ausmachen  würde. Diese Worte bereiteten ihr einige Unruhe, und es lag darin ein wenig von  diesem entfernten, weit entfernten und unerklärbaren Duft des Schulzimmers und  der Hand des Herrn Pfarrers, die sie immer geküsst hatte, und die nach Zigarren  und Männerschweiß roch. Aber das dauerte nur einen Augenblick, und dann kamen  der Stolz und die Ruhe des heutigen Tages wieder. Nein, sagte sie sich, ich war  nicht undankbar. Warum, wusste sie nicht. Ihr Hirn verstand noch nicht klar zu  denken. Aber auch wenn sie es verstanden hätte, würde sie sich gesagt haben,  ja, es war nicht so schlimm bei euch, meine Herrschaften, es war viel besser  bei euch als "zu Hause in der Hütte, und vielleicht hatte ich es auch ein  wenig besser als die anderen Mädchen im Hause. Die gnädige Frau hat mir zwei  Hemden geschenkt, die nur ein ganz klein wenig zerrissen waren, und die man  leicht flicken konnte, und das Fräulein schenkte mir einen Schlüpfer, den jede  Gräfin tragen konnte. Zu Weihnachten bekam ich Stoff für ein Kleid. Ja, aber  habt ihr mich denn aus meiner Hütte nur meinetwegen herausgeholt? Und habt ihr  mir die Geschenke nur aus christlicher Nächstenliebe gemacht? Ach, geht zum  Teufel mit eurer Dankbarkeit, Herr und Frau Rubesch. Ihr habt heute nicht die  Menge in der Jesseniusgasse gesehen, und ihr wisst nicht, was sie mir dort  gegeben haben. Ihr werdet das nie begreifen, dass die Masse mir Toni geschenkt  hat, dass sie es war, die mir die Wohnung gab, dass alles von ihr kommt, was  ich besitze. Ich habe nicht einmal euer widerwärtiges „Danke schön" dafür  gesagt, das ihr von mir für jeden Topf Kaffee verlangt. Wisst ihr, dass ich in  diesem Augenblick vor Liebe und Dankbarkeit am ganzen Körper zittere, dass mir  zum Weinen und zum Lachen ist? Wenn ich jemandem „Danke schön" sagen  wollte, nicht euer höfliches „Danke schön", nein, das meine, ich würde keinen  finden, der das von mir annähme. Das waren nicht Genossen, Männer und Frauen,  Mädchen und Knaben, Genossen mit Namen und Gesichtern, das war das Proletariat.  Das war ich, ich, das dumme Dienstmädchen aus dem ersten Stock mit roten Haaren  und blauen Augen, die noch ein bisschen erschreckt sind. Ich mit meinem blauen  Kattunkleid und meinen Pantoffeln. Ich wuchs millionenfach über die  Fabrikschlote, über die Antennen der Radiotelegraphen, über die Mastbäume der  Dampfer und die Wolkenkratzer der ganzen Welt. Was geht ihr mich an, ihr, die  Architekten Rubesch, ich gehe zu den Meinen. Was kümmern mich eure Sorgen, eure  Schmerzen, euer Zorn, eure Kinder. Ich gehöre nicht hierher.
  Als Anna sah, dass die Herrschaften im Schlafzimmer das Licht ausmachten,  schlich sie über den Flur zum dritten Stock hinauf. Sie musste Marie von ihrem  Glück erzählen. Sie klopfte an das vergitterte Fensterchen. Marie führte sie in  ihre Kammer. Als sie ihr vom heutigen Tage erzählte, küsste sie Marie ab, war  beglückt vor Freude und weinte auch ein paar Tränen. Marie musste alles wissen  von A bis Z, und weil ihre Herrschaft im Theater war und die Kinder schliefen,  zog sie schnell irgend etwas an, machte in der Küche Licht und nahm Anna mit.  Dort an der Ofenbank musste Anna von Anfang an und mit allen Einzelheiten alles  erzählen, und als es nichts mehr, aber auch rein nichts mehr zu erzählen gab,  bat Anna ihre Kameradin um eine Postkarte. Sie hatte das Bedürfnis, noch  jemandem von ihrem Glück zu erzählen. Sie erhielt eine herrliche Ansichtskarte  und schrieb mit ihrer großen Kinderhandschrift:
  „Liebe Eltern! Ich grüße Euch herzlich. Ich teile Euch mit, dass ich heiraten  werde, denn ich habe eine Wohnung. Mein Liebster heißt Toni, und wir haben uns  sehr lieb. Er ist Gießer bei Kolben, das ist eine gute Stellung. Ich werde  Krousky heißen. Schreibt mir an die Adresse: Anna Krousky, Jesseniusgasse  Nr....
  Die Nummer wusste Anna nicht und sie musste auf der Karte einen Zwischenraum  lassen. Weil sie mit zu großer Schrift begonnen hatte, blieb ihr jetzt kein  Raum mehr, und sie drückte kleine Buchstaben in einige enge Zeilen:
  „Ich grüße alle Schwestern herzlich. Sie sollen mich doch in Prag besuchen.  Wenn es Toni und mir gut geht, schicke ich ihnen Geld für die Rei..."
  Die Worte „für die Reise" fanden keinen Platz mehr, das „Rei... " lag  wie ein zerdrückter Floh in der Ecke der Karte.
Anna blieb noch vier Wochen in ihrer Stellung, denn die gnädige Frau suchte  eine Provinzlerin. Die Einrichtung einer Wohnung kostet unerhörtes Geld, selbst  wenn man die Möbel beim Trödler kauft und die Kommis Annas schönem Haar zuliebe  bereitwilligst in den Ecken der Lagerräume nachsehen, ob dort nicht im Stroh  irgendwelches angeschlagenes Geschirr herumliegt. Der Lohn, den Anna noch zu bekommen  hat, wird ihnen sehr willkommen sein. Toni wohnt schon in der Jesseniusgasse.
  „Na, Herr Krousky, wir sind miteinander noch nicht am Ende", sagte der  Hauswirt eisig, als er die Miete entgegennahm. Aber es war zu merken, dass er  dies nur deshalb sagte, um sich nicht vollkommen geschlagen zu geben. Auch er  wusste, dass der Amtsweg bei der Kündigung genau so unendlich und lang ist wie  bei der Wohnungssuche.
  Die Nächte vom Sonnabend zum Sonntag verbrachte Anna mit Toni im neuen Heim.  Sie kehrte erst Sonntag Vormittag in das Haus am Wenzelsplatz zurück. Das hatte  sie mit Frau Rubesch vereinbart. Diese Nächte waren wunderschön, um so schöner,  als sie sich nicht in ununterbrochener Reihenfolge aneinander schlossen,  sondern wie eine goldene Kugel in die Stahlkette der Wochentage eingeflochten  waren. Jede siebente Kugel von Gold.
  Es gibt auf der Welt nichts Süßeres, als beim Erwachen ein Gesicht neben sich  zu sehen, das einem teuer ist. „Liebst du mich, Toni?"
  Sie weckte ihn mit einem hauchleisen Flüstern und einem Kuss auf das  Ohrläppchen. Aber erst, wenn sie sich an ihm sattgesehen hatte. Er antwortete  im Halbschlaf, die Augen noch geschlossen: „Du weißt doch."
  Solch ein überspanntes Wort wie „Ich Hebe dich" hätte Toni nicht über die  Lippen gebracht. Aber in seinen Augen, die sich eben öffneten, erglomm ein  stählernes Feuer und sein Gesicht, vom Schlaf ausgeglichen, entzündete sich am  Glück dieses Morgens. Seine eisernen Finger fassten Anna an der nackten  Schulter, er drückte sie an sich, bis sie leise aufstöhnte und im Trieb  zukünftiger Mutterschaft ihren Leib mit den Fäusten schützte. „Es ist  wunderschön, es ist wunderschön", flüsterte sie, „ist es nicht herrlich,  Toni?"
  Aber Toni kannte nur das Wörterbuch des Arbeitstages und des  Revolutionskampfes. Für seine Sehnsucht zeugte seine Umarmung, für seine Liebe  die Arbeit. Es gab keinen Sonnabend, an dem Anna in der Wohnung nicht etwas  Neues gefunden hätte, das ihr Freude bereitete. Der Ofen war umgestellt, beide  Räume waren ausgemalt, ein Loch im Fußboden mit Kistenbrettern ausgebessert,  ein Küchenschemel eigenhändig angefertigt und weiß lackiert. Das war mehr als  Liebesworte.
  An diesen vier Wochenabenden sagte er ihr dreimal: „Schlaf nicht ein, ich habe  eine Versammlung, ich komme um zehn zurück."
  Seine Augen sprachen zum Abschied sehr viel, aber er fügte niemals hinzu:  „Schade." Niemand hätte ihm dieses Wort entrissen. Er war ein Soldat, und  in den Kasernen bliesen die Trompeten.
  Anna war glücklich. Auch wenn sie allein war. Wenn sie sich in ihrem neuen Heim  umsah, dachte sie sich: nur noch ein Sofa und einen Schrank. Wir werden sehr  sparen. Wenn wir Sofa und Schrank haben, dann wird es vollkommen schön sein.  Und Blumen ins Fenster, wie sie zu Hause in der Hütte waren.
  Ach, wenn nur Toni bald von der Versammlung zurückkommen wollte.
  An einem dieser Sonnabende kam Marie, und als sie das Papierpaket geöffnet  hatte, erschien eine wunderschöne Bronzelampe mit einem neuen Docht und einem  Zylinder, der noch vom Ladenstaub umdunkelt war.
  „Du lieber Gott, Marie."
  „Ach, bei uns hat dies auf der Bodenkammer herumgelegen, das braucht doch kein  Mensch."
  Dieser Docht und der Zylinder haben bestimmt nicht auf dem Boden herumgelegen.
  Der Weg am Sonntagvormittag von der Jesseniusgasse zum Wenzelsplatz war für  Anna sehr schwer. Sie ging stets allein; denn auch Sonntag Vormittag hatte Toni  Versammlungen. Der Abschied war leidenschaftlich. Sie standen beide bereits  angezogen in der Stube, in inniger Umarmung. Sie sehnte sich danach, ihm viele  schöne Worte zu sagen. Sie zitterte vor Liebe, aber sie wusste nichts anderes,  als ihm Wange, Augen und Hals zu küssen und zu seufzen: „Toni, Toni!" Und  dann noch ein langer Kuss auf den
  Mund:
  „Liebster Toni."
  Er drückte sie noch wortlos an sich, und seine Stahlfäuste waren ihr Glück und  Schmerz.
  Wenn sie die Tür hinter sich schlossen, standen Frau Endler und die Frau des  Mahlmeisters Klaban in einem gestreiften Schlafrock auf dem Flur. Fräulein  Kutscherer hielt ihr Brüderchen im Arm, und alle drei beguckten sich die neuen  Mieter neugierig.
  Vor dem Haus sahen sich Anna und Toni zum letzten Mal in die Augen. „Auf  Wiedersehen, Toni."
  „Der Arbeit alle Ehre, Anna", sagte er, seine Hand drückte die ihre, bis  die Gelenke knackten. Jeder ging nach einer anderen Richtung. An solchen  Vormittagen, wenn eine Frau durch die Vorstadtstraßen geht, den Kopf voller  Erinnerungen und die Seele voll heißer Liebe, und den Schoß voll Süße der  vergangenen Nacht, wenn ihre Schritte auf dem Sonntagspflaster klappern, und  das Heim bleibt mit jedem Schritt weiter hinter ihr, und das Haus am  Wenzelsplatz 33, die Küche bei Rubesch und das unaufgeräumte Schlafzimmer  kommen mit jedem Schritt näher, — an solchen Sonntagvormittagen lernt der  Mensch hassen.
  Und wenn man sich nach Tonis Gesellschaft 24 Stunden mit der gnädigen Frau,  Fräulein Dadla und mit dem Herrn Architekten Rubesch befassen muss, lernt man  verachten.
  Dadla wandert wieder von einem Spiegel zum anderen, dreht das Köpfchen und  zupft die Haare an den Schläfen. Sie liegt wieder auf dem Sofa, zieht die Beine  hoch und betrachtet mit Bewunderung ihre schönen Knie. Wieder kommt der Herr zu  ihr, setzt sich neben sie und streichelt ihr die Haare:
  „Na, Füllen, was machst du?" Und sie schaut ihn kokett an:
  „Papa, lässt du mich in diesem Jahr ins Eden gehen?"
  „Nein, mein Kind, um keinen Preis, dort ist viel schlechte Gesellschaft. Aber  du kannst mit der Mama in den Baumgarten gehen."
  „Und Bälle darf ich in diesem Jahr auch nicht besuchen?"
  „Im nächsten, mein Pusselchen. Die Mädchen, die zu früh anfangen, werden bald  schäbig."
  „Aber du kaufst mir neue Kleider?"
  „Die kauf ich dir, du kannst sie dir morgen mit Mama aussuchen."
  Dadla erhebt sich ein wenig von der Chaiselongue, blickt den Vater verliebt an  und küsst ihn. Aber dann lässt sie sich wieder auf das Sofa fallen, wirft sich  wie ein Fisch auf die Seite, mit dem Kopf zur Wand.
  „Hm", brummt sie, „was habe ich von den Seidenkleidern, wenn du mich  nirgendwo hingehen lässt?"
  „Pst", der Architekt droht mit dem Finger, „sei nicht undankbar, das  verstehst du noch alles nicht. Spiel lieber ein bisschen Klavier."
  Dadla nimmt den Vater um den Hals, wetzt ihr Kinn an seiner rasierten Wange,  fährt ihm missmutig durchs Haar und rümpft die Nase. „Hm, ja, wenn du mich  nirgendwo hingehen lässt!"
  Montag Vormittag, als Anna das Speisezimmer aufräumte, lag das Fräulein auf dem  Sofa. Anna wischte
  Staub.
  Als sie auf den Stuhl stieg und die Hände über den Kopf erhob, um eine Vase auf  das Büfett zu stellen, spannte sich ihr Leib. Da fühlt sie, dass das Fräulein  sie gespannt beobachtete. Plötzlich sprang Dadla vom Sofa auf. Sie stellte sich  vor Anna auf und durchbohrte sie mit den Blicken.
  „Anna", rief sie, — sie schrie wie ein Polizeikommissar, der eben einen  Einbrecher ertappt hatte, „Anna, Sie sind in anderen Umständen."
  Anna stellte die Vase schnell hin, ließ die Hände hinabgleiten und stieg den  Stuhl hinunter. Sie errötete bis in die Haarwurzeln. Dieses Erröten war ein zu  deutliches Geständnis.
  Dadla brach in ein tolles Gelächter aus, in ein wütendes Gelächter, in dem  nichts von Heiterkeit war. Ihre Augen funkelten, und sie bleckte die Zähne wie  eine gereizte Katze. Dann lief sie aus dem Zimmer hinaus. Anna, rot wie die  Klavierdecke, fuhr fort aufzuräumen. Sie war überrascht, aber trotzdem ärgerte  sie diese Entdeckung, vor der sie vier Monate gezittert hatte, nicht mehr. Was  geht sie die Familie Rubesch an, was geht sie Fräulein Dadla an?"
  Das Fräulein kehrte nach kurzer Zeit zurück, stellte sich vor den Spiegel und  richtete ihr Haar und den Kragen an ihrer Bluse. Dann drehte sie sich schnell  um und trat zu Anna. Rote Flecken traten ihr in die Wangen, und ihre Augen  blitzten:
  „Glauben Sie, dass ich hier bleibe?" schrie sie, „ich laufe mit dem ersten  Kerl davon, dem ich auf der Straße begegne!"
  Anna erschrak über solche Leidenschaft. Sie erschrak auch vor diesem Unmaß von  Wut, aber sie zuckte nur kaum merklich mit den Schultern. Was kümmerte sie das  Fräulein? In der Jesseniusgasse wartet das Heim und Toni. Die Tage, die sie  noch bleiben muss, sind bald vorbei. Das Fräulein stürzte wieder aus dem  Speisezimmer. Durch die Sieben-Zimmer-Wohnung schleppte die Frau Baumeister  ihren blassen Kummer, befahl und kontrollierte, weinte heimlich über den Brief  aus Davos, stahl im Morgendämmer zehn Mark und seufzte in der Küche beim  Kochen:
  „Ach, Anna, ja, wie habt ihr's doch viel besser auf der Welt!"
  Es war der Neid der Kranken auf die Gesunden, es war der Neid des Alters auf  die Jugend.
  Die vier Wochen, die Anna noch bleiben musste, vergingen. Frau Rubesch fand  endlich ein Mädchen, das ihr geeignet schien. Vorher waren schon zwei dagewesen  und hatten mit Anna einen Tag lang gearbeitet. Aber die eine von ihnen war ein  so verschreckter Niemand, und die andere eine Sozialistin. Die gnädige Frau  hörte des Abends hinter der Tür, wie sie und Anna sich von reichen und armen  Leuten unterhielten, und so wurde nichts daraus. Die dritte hieß Mathilde, war  irgendwo vom Lande, ging in die Kirche, stand um 4.30 Uhr morgens auf und  küsste der gnädigen Frau und Fräulein Dadla zum Guten-Morgen-Gruß die Hand.
  „Lassen Sie doch", sagte die Frau Rubesch, aber sie ließ es sich ruhig  gefallen. Und Fräulein Dadla wehrte sich: „Was machen Sie da, Sie Narr, wer  will sich denn von Ihnen ablecken lassen?"
  Aber Mathilde kämpfte um des Fräuleins Hand, und das Fräulein lachte:
  „Gott, ist die blöd. Hat Ihnen Mama schon von Kis und Landru erzählt?"
  Anna schied im guten. Die gnädige Frau reichte ihr zum Abschied zwei dicke  Finger, und das Fräulein wühlte aus ihren alten Sachen ein Paar abgetragene  Schuhe, drei Paar Strümpfe mit heruntergelaufenen Maschen, ein rosa  Seidentüchlein mit einem Monogramm „D" und drei Stück parfümierte Seife.  Anna dachte: Diese Sachen werde ich verstecken. Toni würde sie sicher zum  Fenster hinauswerfen und es wäre schade darum.
  Auf Wiedersehen, Familie Rubesch!
  Heim. — Das war ein neues, ein feierliches Gefühl. Es wurde auch nicht zuletzt  hervorgerufen durch das herrliche Geschirr, das sie sich von ihrem letzten Lohn  gekauft hatte.
  Dieses herrliche Gefühl wuchs beim ersten gemeinsamen Mittagessen, das sie  unter Ängsten zubereitet hatte, weil sie die Zuverlässigkeit des neuen Herdes  bezweifelte. Das Mittagessen bestand aus Hackbraten, der feierlich auf dem  Teller des Mannes zurechtgemacht war, aus Klößen und Kohl, mit dessen Duft sich  oben an der Wand Marx und Engels, die Väter aller Sozialisten, zufrieden geben  mussten.
  Das zweite Stockwerk des alten Miethauses in der Jesseniusgasse und der Flur  mit den fünf Wohnungen wurde zum neuen Heim Annas. Alle fünf Wohnungen sind  gleich.
  Sie haben ein Zimmerchen mit zwei Fenstern, die auf den Hof hinausgehen, und in  die manchmal nachmittags die Sonne scheint. Sie haben ein Loch von Küche mit  einem vergitterten Fenster, das auf den Flur führt. Der Flur ist dunkel. Das  Licht, zweimal gebrochen, dringt hier durch zwei Milchglasfenster auf die  Podeste. Das eine Fenster ist ein Stockwerk tiefer, und man teilt sein Licht  mit den Bewohnern des ersten Stockes. Das andere ist ein Stockwerk höher, und  auch die Bewohner des dritten Stocks leben von seinem Licht. Der Flur atmet  einen fauligen Geruch, einen süßlichen gemischten Geruch nach gerösteten  Zwiebeln, Kartoffelbrei, Seife und Petroleumlampen, mit denen man am Nachmittag  die Küchen erleuchten muss. In den Wohnungen dieser Vorstadthäuser wohnen bei  Tage nur Frauen. Die Männer sind zur Arbeit, die Kinder in der Schule oder auf  der Straße beim Ball- oder Murmelspiel, und wenn irgendein Mannsbild zu Hause  ist, das nachts arbeiten muss, dann schaut aus den gestreiften Bettbezügen nur  sein Haarschopf hervor, und alles andere ist in Betten eingehüllt.
  Die Frauen kennen sich bis auf den Boden der Kochtöpfe, bis in alle Abteilungen  der Brieftaschen, und bis zum letzten Flicken Wäsche. Hier gibt's nicht, wie in  bürgerlichen Wohnungen, Patentschlösser, die ebenso wenig zu öffnen sind wie  feuersichere Geldschränke. Hier sind die Wohnungstüren geöffnet, damit der  Dampf von Waschtrögen und Töpfen herauszieht, und wenn sie mal geschlossen  sind, kann man jederzeit durch das Fenster sehen, ob die Nachbarin zu Hause  ist, kann jederzeit die Tür öffnen, guten Morgen wünschen, ein Reibeisen, ein  bisschen Kümmel ausleihen, oder vielleicht bis zum nächsten Tage auch eine  Mark. Alle haben sie eine gemeinsame Wasserleitung auf dem Flur, und je zwei  haben den Abort gemeinsam, was zu vielen Verdrießlichkeiten Anlass gibt. Die  Frauen des Hauses sind in ständigem Kontakt. Sie sprechen hauptsächlich von  Geld und vom Frauengeschlecht. Das sind zwei Begriffe, von denen die Welt lebt.  Begegnet man ihnen anderswo, in Formeln volkswirtschaftlicher Systeme gegossen,  zu Programmen politischer Parteien geformt, zu Richtungen von Künstlerschulen  emporgestiegen, zu gesellschaftlichen Prinzipien und Institutionen  zusammengefasst, so zeigen sich die Begriffe hier in ihrer nacktesten  Tatsächlichkeit. Geld ist Geld und Geschlecht ist Geschlecht. Es gibt keine  wichtigere Sache, als am Sonnabend eine Mark mehr oder weniger in der Hand zu  haben. Es ist nichts interessanter, als ob der Kaufmann für ein Kilo Fett 10  Pfennige mehr oder weniger nimmt. Es gibt kein schicksalhafteres Ereignis als  die Schwangerschaft einer Frau. Beim Geld geht es darum, wie man sich dazu  verhilft, beim Geschlecht, wie man den Folgen abhilft. Die übrigen Gespräche  beschäftigen sich mit Männern und mit Rindern, mit den Nachbarn. Die Tage sind  ausgefüllt von kleinen Diensten, die man sich leistet, von dem Interesse, das  man an Unglücksfällen und an der Polizeichronik hat, von kleinen  Eifersüchteleien, von Streitigkeiten um die Reihenfolge des Flur- und  Abortwaschens. So ist es wochentags. Sonntags ist alles anders. Da sind die  Väter daheim, und vom Sonnabend an, wo sie sich bis zum Gürtel in einer  Schüssel mit warmem Wasser gewaschen und ein frisches Hemd angezogen haben,  gewinnt das Haus ein neues, ein beinahe festliches Aussehen. Die Gardinen am  Küchenfenster sind zugezogen, und jede Wohnung wird zu einer Festung. Die  Nachbarinnen gehen schnell und fremd aneinander vorüber, jede hat jetzt den  ihren, den besten. Trotz aller seiner Fehler. Und sie ist auf jeden  eifersüchtig, auf sein Hemd eifersüchtig, das am weißesten von allen sein muss,  auf seinen Kragen, auf jeden Knopf, auf jeden Topf Kaffee, den sie ihm zum  Abendbrot gibt. Und wehe der, die ihn herausfordernd ansehen würde.
  Anna lernte neue Menschen kennen. Nebenan wohnte die Frau Wachtmeister Klabau.  Sie hatte Zwillinge, lange Beine und eine spitze Nase. Die trug sie ein wenig  nach oben. Sicherlich deshalb, weil ihr Mann kein Lohn-, sondern  Gehaltsempfänger war, weil sie eine Wohnung für sich hatten und wohl auch  deshalb, weil sie den ganzen Tag in roten Pantoffeln und in einem Schlafrock  aus gestreiftem Cloth herumlief.
  Eine Tür weiter wohnte die Familie des Hilfsarbeiters und Genossen Kutscherer  mit sieben Kindern. Er suchte seine Arbeit bei Bauten und Kanalisationen. Sie  war in einer Wäscherei beschäftigt. Wenn sie beide verdienten, ging es  irgendwie. War die Wirtschaft nur auf den Lohn der Mutter angewiesen, herrschte  Verzweiflung. Sie hatten zwei, manchmal auch drei Untermieter. Aber im Winter  des vorvorigen Jahres, als Kutscherer fünf Monate arbeitslos gewesen war,  hatten sie die Strohsäcke und Deckbetten verkauft, und jetzt fehlten sie ihnen.  Wenn die Mutter auch keine Arbeit hatte, gingen die drei Jüngsten von Wohnung  zu Wohnung betteln. Sie kamen in die Küche, standen an der Tür, hielten sich an  den Händen, sprachen kein Wort und beantworteten keine Fragen und kein Lachen.  Sie blickten die Menschen mit vertrauenden Augen an, bis sie etwas zu essen  bekamen. In der Straße kannte man sie schon, und nur selten sagte ihnen  irgendeine Hausfrau, die selbst nicht besser dran war: „Geht heute anderswo  hin, Rotzlöffel, ich habe nichts."
  Die Hauswirtschaft bei Kutscherers führte die 17jährige Dora, ein mageres,  sommersprossiges Mädchen, das in einem rotgestreiften Unterrock und einem Hemd  mit kurzen Ärmeln herumlief, unter dem sich kleine, spitze Brüste zeichneten.
  Nebenan wohnte die Witwe Endler, Garderobiere im Staatstheater, die mit einem  Mann zweifelhaften Alters und Berufs lebte. Im Vorjahre hatte er mit  parfümierten Seifen zugunsten der Kriegsblinden hausiert, in diesem Jahr mit  Losen des Mütter- und Säuglingsvereins. Er bekam vom Unternehmer 20 Prozent  Provision. Aber weil diese Betrügereien nicht lange vorhielten, warf er sich  auf den Verkauf garantiert handgemalter Bilder. Frau Endler hatte jedes Jahr  ein Kind von ihm, dem immer nach einigen Wochen die Fersen abfaulten, und das  dann starb. Sie hatte einen Chauffeur, einen Kerl mit Ledermantel und ein  Straßenmädchen als Untermieter. Die beiden schliefen in einem Bett. Der  Chauffeur nachts, wenn sie auf Arbeit war, die Hure bei Tag, wenn er  beschäftigt war.
  Die Bezeichnung Hure ist hier keine Beleidigung. Und wenn man beispielsweise  die Frau des Zuschneiders im dritten Stockwerk, Frau Kratochvil, fragte: „Was  machen Ihre Töchter?"
  So antwortete sie:
  „Marie arbeitet in der Schokoladenfabrik, die Kleine lernt Nähen, und die  Emilie hurt."
  Das ist eine Beschäftigung wie jede andere. Nachts, wenn der Vater oder die  Mutter, Marie oder die Kleine austreten müssen, gehen sie seelenruhig durch die  Küche, wo eben Emilie verdient.
  Rechts von Anna wohnten Tinschmanns.
  Genossen!
  Genossen?
  Toni zweifelte an ihrer Parteizugehörigkeit. Sie arbeiteten und sparten. Die  Nachbarinnen erzählten sich vielerlei von den Sparkassenbüchern der  Tinschmanns, und auch in Annas Herz schlich ein wenig Neid. Das Dorf sprach aus  ihr und die künftige Mutterschaft. Toni merkte dies. „Sparen ist eine große  Dummheit. Mit Sparpfennigen kann der Kampf gegen die Bourgeoisie nicht gewonnen  werden."
  Anna sah Tinschmanns bei einigen Versammlungen. Sie fielen ihr wegen ihres  sonderbaren Namens und auch, weil sie anders waren als die übrigen Genossen,  auf. Sie ließen nie Zustimmung oder Ablehnung merken, und der alte Tinschmann  meldete sich nie zum Wort. Sie tranken Bier, aber immer nur eins zusammen. Er  rauchte Pfeife, aber nur eine und dann steckte er sie ein. Bei den Sammlungen,  die auf Versammlungen gemacht werden, gibt der Arbeiter, was er kann. Hat er  nichts, so gibt er nichts, und kein Mensch spricht davon. Der alte Tinschmann  gab stets. Er gab nie sehr viel und nie sehr wenig. Er war anders. Er war  Ofensetzer und arbeitete in einer Fabrik. Aber wenn er abends nach Hause kam,  zog er sich nicht um, nahm einen Rückenkorb voll Lehm und ging in den Häusern  herum, um Öfen zu setzen und zu reparieren. Auch des Sonntags. Anna sah die alte  Tinschmann nie anders als mit hochgeschürzten Ärmeln und nasser Schürze, immer  am Herd oder am Waschtrog. Sie arbeitete für sich und auch für andere. An  schönen Sonntagnachmittagen, wenn auch die ärmste Frau mit ihrem Mann  spazierenging, stand sie in der Küche beim Plättbrett, und der Mann wühlte  irgendwo im Lehm. Sie hatten vier Kinder, zwei Jungen und zwei Mädchen. Der  älteste, Josef, war Jurist, der zweite ging in die dritte Realschulklasse, Else  lernte bei einer Putzmacherin, und Fanny ging noch zur Schule. Bei Tinschmanns  aß man nur Pferdefleisch, und alle schliefen aneinandergezwängt in der Küche.  Denn das Zimmer war an drei Ladenmädchen vermietet. Jeden Abend wurden drei  Strohsäcke in die Küche geschleift, die dann am nächsten Morgen den Mieterinnen  mit ins Bett hineingebettet wurden. Sie schliefen zu zwei und zwei. Zwei  Jungen, zwei Mädchen und die alten Tinschmanns. In Tinschmanns Küche brannte  das Licht noch lange, wenn schon das ganze Haus schlief. Die Mädchen und der  Alte lagen bereits. Frau Tinschmann plättete oder wusch, und am Küchentisch  lernten die Jungen bei der Petroleumlampe. Wenn der Sextaner über dem Buch  einduselte, klebte ihm die Tinschmann eine und machte Krach. Sie war groß,  breitschultrig und ein bisschen dick. Sie war Herr im Hause, und der bärtige  kleine Ofensetzer erschien gegen sie wie ein Zwerg.
  Geld, Geld!
  Die Tinschmanns kannten seinen Wert. Sie kannten ihn um so eher, als man bei  Tinschmanns immer satt zu essen bekam. Ihnen stand das Beispiel des  Nachbarhauses vor Augen, wo man nur Kaffee kannte, und beide Jungen, als sie  das Studium beinahe beendet hatten, an Lungenschwindsucht starben.
  Geld, Geld!
  Als Frau Tinschmann von den Nachbarn erfuhr, dass die Tischler im Hofe die  sechzehnjährige rotblonde Else in die Werkstätte eingeladen und sie gefragt  hätten, ob sie am ganzen Körper so rot sei, und ihr jeder 10 Pfennige  versprachen, wenn sie sich ihnen nackt zeige, beschränkte sie sich nur darauf,  die Tochter zu fragen: „Was hast du mit dem Geld getan?"
  Frau Tinschmann hatte kalte und strenge Augen, vor denen sich Anna fürchtete.
  „Wir kennen das", sagte sie zu Anna, als sie einander zum ersten Male auf  der Treppe begegneten. Aber sie sagte es streng und ohne freundliches Lächeln.  Sie reichte ihr die Hand, deren Fläche vom Waschen weiß wie Papier war. Aber  ihre Hand drückte Annas Hand kein bisschen.
  Frau Tinschmann hasste die ganze Umwelt, weil sie, um ihre Kinder erziehen zu  können, sich wie ein Zugtier schinden musste, während alle anderen angenehm und  bequem durchs Leben tanzten.
  Im dritten Stockwerk lebte eine geschiedene Frau. Sie hatte falbes Haar und  malte sich die Lippen. Irgendein Kaufmann hielt sie aus, der sie stets montags  und donnerstags zwischen 10 und 12 Uhr besuchte. Sie aß im Restaurant und hatte  eine Bedienerin.
  Dieser geschiedenen Frau wartete die Tinschmann eines Nachmittags auf. Als sie  die Blondine die Treppe herunterkommen sah, trat sie aus der Küche:
  „Auf ein Wörtchen, gnädige Frau!"
  „Bitte, Frau Tinschmann", erwiderte diese.
  „Josef", schrie die Tinschmann. An der Küchenschwelle erschien der  20jährige Jurist. Er war feuerrot, und seine Augen waren ängstlich auf die  Mutter gerichtet.
  „Komm nur näher", schrie die Tinschmann, und der Rechtshörer trat gehorsam  näher. Frau Tinschmann stemmte die Fäuste in die Hüften:
  „Was denken Sie sich eigentlich, gnädige Frau? Dass ich diesen Jungen für Sie  großgezogen habe?"
  „Aber Frau Tinschmann!"
  „Wollen Sie noch leugnen? Dieser dumme Junge war bei Ihnen, er war dreimal bei  Ihnen. Er hat es mir gestanden, den werden Sie mir nicht entführen, Sie gnädige  Frau, Sie angestrichene Ziege Sie."
  „Mutter, um Gottes willen, ich bitte dich... "
  „Schweig", schrie die Tinschmann und hob die Hand gegen den Sohn:
  „Das ist mein Junge, gnädige Frau. Mit diesen Händen habe ich ihn großgezogen.  Sehen Sie, mit diesen Händen, schauen Sie nur, wie sie nach zwanzig Jahren  Schinderei aussehen. Glauben Sie, dass ich alles getan habe, damit Sie ihn  kriegen. Den würden Sie nehmen, das glaube ich, aber es ist mein Kind, und wenn  Sie ihn nicht zufrieden lassen, gnädige Frau, wenn Sie ihm keine Ruhe geben, so  zeige ich Ihnen, dass diese Hände... " — und die Hände näherten sich ihren  Haaren — „auch noch was anderes zuwege bringen als sich schinden. Merken Sie  sich das. Marsch, ins Zimmer, dummer Junge. Ich werde dir den Kopf schon  zurechtsetzen."
  Der Jurist verschwand.
  Die geschiedene Frau ging die Treppe hinunter und zuckte verächtlich mit Lippen  und Schultern. Frau Tinschmann drohte ihr noch mit der Faust nach: „Alte  Nutte."
  Die Bezeichnung Hure ist keine Beleidigung, aber das Wort Nutte ist eine  tödliche Beleidigung, die sich keine ehrbare Frau der Vorstadt gefallen lassen  würde. Das hieß soviel wie: Du Abart, du elendige, bist ja kein Straßenmädchen.  Ein Straßenmädchen muss sich sein Geld schwer verdienen, friert und regnet auf  der Straße ein. Der Polizeiarzt saugt sie aus, der Lude und die Hauswirtin. An  jedem Nachmittag, wenn so ein Straßenmädchen aufsteht, stellt sie den Fuß auf  das Fensterbrett und untersucht mit dem Spiegel in der Hand, ob das Unglück  schon da ist, das kommen muss. Und du, du wälzt dich ohne polizeiliche  Genehmigung, ohne Risiko im Bett, bist eine unlautere Konkurrenz für die armen  Mädchen, und du willst dich größer machen als wir, und die Fürstin spielen? Als  die Tinschmann ihre Angelegenheit mit der Blonden erledigte, stand die Frau  Wachtmeister Klabau in der einen Tür und die Tochter Kutscherers in der  anderen. Sie trug den jüngsten Bruder im Arm. Ihr fünfjähriges Schwesterchen  hielt sich am roten Unterrock fest.
  Anna hörte alles in ihrer Küche. Abends erzählte sie es Toni. Toni lachte:
  „Das versteht sich bei der Tinschmann von selbst. Nein, nein, nein. Aber",  — und das bezog sich schon auf die Blondine, „der ist ganz recht  geschehen."
  In der Jesseniusgasse lernte Anna auch Kerekes Sandor kennen, den Märtyrer der  ungarischen Revolution. Sie begegneten ihm, als sie und Toni spazierengingen.  Der Tod blickte aus den Augen des Genossen Kerekes, sein Händedruck war heiß.
  „Was treibst du, Genosse Kerekes?"
  „Ich sterbe." Er sagte dies ganz einfach.
  „Du hast schon Schlimmeres ertragen."
  „Jetzt ertrag' ich nichts mehr."
  Kerekes Sandor hatte von einem Genossen Ausweispapiere erhalten und blieb in  der Hauptstadt. Er war unter fremdem Namen als Eisendreher beschäftigt. Aber er  war der schweren Arbeit nicht mehr gewachsen, und der Kassenarzt hatte ihm auf  einen Zettel geschrieben »I. P. T.". Diese drei Buchstaben bedeuten  „infiltratio pectoris tuberculosa".
  Die Ärzte irren selten. Jetzt lebte Kerekes als Zeitungsverkäufer. Kerekes  Sandor begleitete Anna und Toni bis zu ihrer Haustür. Er erzählte von der  Partei, von der ungarischen Revolution, von der weißen Schreckensherrschaft in  Ungarn. Und Kerekes sagte mit der trockenen Stimme des Lungenkranken:
  „Ich komme nicht mehr nach Hause zurück, ich erlebe das nicht mehr. Ihr seid  hier erst in den Anfängen. Ich würde viel dafür geben, wenn ich für die  Bewegung, für die Revolution noch etwas tun könnte."
  Sie standen vor dem Hause, in dem Anna und Toni wohnten. Kerekes Sandor starrte  in die Luft, sichtlich deswegen, damit man ihm nicht in die Augen sehen konnte.  Er fragte:
  „Wohnst du jetzt hier?"
  Aber als Anna nickte, sah er es nicht, Toni unterbrach das Schweigen:
  „Hast du Nachrichten aus der Heimat?" Kerekes schüttelte den Kopf:
  „Meinen Bruder haben sie erhängt. Von der Frau und den Kindern habe ich nichts  mehr gehört."
  Er reichte den beiden schnell die heiße Hand. Sie blickten ihm nach. Er ging  durch die Straße, ohne sich umzusehen. Sie fühlten seinen bangen Blick noch,  als er längst verschwunden war. Es war ihnen traurig zumute. Nicht wegen eines  sterbenden Menschen. Zu viele starben rings herum. Aber wegen eines fehlenden  Kämpfers.
Ein großer Kampf bereitete sich vor. Der Abgeordnete Jandak war es, der als  erster die Massen aufrief. Er scheute sich nicht, die Parole in die Welt zu  schreien, welche die anderen sich erst zuzuflüstern begannen: „Eine neue  Partei, die das Proletariat in die Revolution führt! Weg mit der überlebten  alten Partei!" Das mittelböhmische Kohlenrevier wurde gewonnen. Der Kampf  um die Fabriken der Hauptstadt endete siegreich. Jetzt ging es um die Bergleute  und Metallarbeiter des Ostrauer Gebietes, um die Weber, Spinner und  Holzarbeiter, um die Eisenbahnarbeiter, um die Arbeiter der Pilsener  Waffenfabrik. Jandak führte. Er war immer informiert. Er wusste in jeder Lage  Rat. Er war immer bereit, die Argumente seines Gegners zu zerpflücken. Er war  scharf wie ein Messer, tapfer wie ein Stier und beweglich wie eine Forelle. Es  gab keinen Tag, an dem er nicht in einer Arbeiterversammlung gesprochen hätte,  keine Woche, wo nicht im „Volksrecht" einer seiner Artikel erschienen  wäre, die vor Witz sprühten und sich mit einem Satz des zu behandelnden Stoffes  bemächtigten. Jandak war der populärste Name der Zeit. Man nannte ihn in allen  Fabriken und Arbeiterversammlungen. Tausende von Hoffnungen knüpften sich an  ihn, und Hunderte harter Hände klatschten Jandak entgegen, wenn er, immer ein  bisschen vorgeneigt und die Stirn zum Angriff vorbereitet, die Tribüne bestieg.  Die Herrscher der Partei entfesselten eine wilde Zeitungshetze gegen ihn. In  den Aufsätzen kam alles vor: Judengeld, Verrat an die Hohenzollem,  pathologische Neigungen, die Schuld am Tode von Frontsoldaten, auch die  Seidenkleider seiner Frau und Lackschuhe seiner Tochter, um einige Brillanten,  goldene Ketten und ein Automobil vermehrt. Abgeordneter Jandak war ein schöner,  fünfundvierzigjähriger Mann mit wundervoll vorgewölbter Stirn, sinnlichem Munde  und mächtigem Kinn, eine interessante Mischung zwischen Muskel-, Gehirn- und  Lebemenschen. Ein seltsames Gemisch von proletarischer Zähigkeit,  intellektueller Schärfe und — Raubtier. „Abgeordneter Jandak", das war das  Schlagwort des Tages.
  Toni hatte einst dem jungen Jandak unter dem Vorstadtviadukt gesagt: „Dein  Vater wird nicht mit uns gehen."
  Das war der proletarische Verstand im Arbeiter, der ihn so sprechen ließ. Aber  auch dieser war nicht unfehlbar. Toni hatte seit dieser Zeit oft Gelegenheit,  sich zu überzeugen, dass der Vater und Gatte eleganter Frauen ein guter Führer  der revolutionären Arbeiter sein konnte. Das Wort „Verzeih" hatte in Tonis  Wörterschatz keinen Platz.
  Niemand hätte es je von ihm hören können. Aber die Unterredung unter dem  Viadukt tat ihm leid, und er verzieh sie sich nicht.
  Auf einer Versammlung im Volkshaus, in einer begeisterten Versammlung zeigte  sich der Sieg der linken Richtung in der Arbeiterschaft deutlich. Jandak  schritt nach Beendigung seiner Rede unter dem Beifallsbrausen der Anwesenden  von der Treppe der Bühne herunter und setzte sich an den Tisch von Toni und  Anna. Damals blickte ihn Toni lange und scharf an. Er kämpfte in seinem Innern  einen heftigen Kampf. Dann sagte er zu dem Abgeordneten mit finsterer Miene:
  „Ich habe dir lange nicht getraut, Jandak, weil ich deine Frau in  Seidenkleidern gesehen habe und deine Tochter Lackschuhe trägt. Aber jetzt  glaube ich dir."
  Dies war für Toni sehr viel. Beide Männer erröteten bei diesen Worten. Auch  Anna errötete.
  „Na, lass man", sagte Jandak überrascht. „Man muss sich erst kennen  lernen, bevor man miteinander auf Tod und Leben geht."
  Dieser Tag wurde für Toni auch anderer Dinge wegen unvergesslich. Als er und  Anna gegen 10 Uhr von der Versammlung zurückkehrten, stand Kerekes Sandor unter  der Straßenlaterne in der Jesseniusgasse.
  „Ich hätte gerne mit dir gesprochen", sagte er zu Toni, und Anna bemerkte,  dass seine ausgetrocknete Stimme sehr erregt klang. Sie beunruhigte sich  deswegen. Sie führten ihn hinauf. Anna brühte in der Küche Kaffee auf, und die  Männer setzten sich in der Stube hin.
  „Sind wir allein?" fragte Kerekes.
  Toni bejahte und schloss die Türe, die in die Küche führte.
  „Graf Belaffi Imre ist in Prag!"
  Kerekes Sandor war blasser als je. Seine Wangen machten den Eindruck von altem  Papier.
  „Wer ist das?"
  „Erinnerst du dich nicht? Mein Peiniger im Kerker. Der Honved-Oberleutnant Graf  Belaffi Imre. Er wohnt im Hotel, Blauer Stern', Zimmer sechzehn. Ich bin ihm  gefolgt. Niemand hat mich bemerkt. Er hat mich nicht erkannt."
  „Was will er hier?"
  „Er will den Terror gegen die kommunistische Bewegung organisieren und sie im  Keime ersticken. Dies für den Anfang. Später will er die magyarischen  Flüchtlinge ausfindig machen und sie von der hiesigen Regierung für die  ungarischen Galgen anfordern. Er ist Mitglied des internationalen Verbandes zur  Bekämpfung des Kommunismus."
  Auf der Pergamenthaut bildeten sich rote Flecken.
  „Weißt du das sicher? Oder vermutest du es nur?"
  „Ich habe keine Beweise, aber die ganze Sache ist sonnenklar."
  Toni dachte nach.
  „Man muss die Partei benachrichtigen." Kerekes Sandor winkte ab.
  „Die Partei?"
  „Die Linke!" Kerekes Sandor winkte nochmals müde mit der Hand.
  „Ich werde das selbst besorgen."
  „Was willst du tun?"
  „Ich erschlage ihn." Toni antwortete nicht.
  „Das wird die Krönung meines Lebens sein. Belaffi Imre ist eine Bestie, und der  revolutionären Bewegung entstellt unwiederbringlicher Schaden, falls er am  Leben bleibt. Ich habe nur noch Wochen zu leben und werde die Revolution nicht  mehr erleben. So werde ich den Genossen meinen Dank abstatten für die Aufnahme,  die sie mir bereitet haben, und meinen ungarischen Freunden einen Dienst  erweisen."
  Anna brachte zwei Tassen Kaffee. Sie blickte ihren Mann und den Gast an. Ihre  mütterlichen Triebe erwachten und erkannten augenblicklich die Gefahr. Ihr Herz  zog sich zusammen. Was geschieht? In ihrem Leib machte sich das Kind mit einem  energischen Ruck bemerkbar. Die Männer verstummten und sie blieb stehen, weil  sie sich nicht entschließen konnte, wegzugehen.
  „Geh, Anna, wir haben etwas zu besprechen." Sie ging.
  „Wir müssen die Partei verständigen", sagte Toni nochmals.
  „Hast du persönliche Bedenken gegen den individuellen Terror?"
  „Nein, wenn er organisiert und revolutionsförderlich ist, dann nicht! Es kann  aber doch nicht jeder von uns tun, was ihm einfällt. Die revolutionäre  Notwendigkeit deiner Tat ohne Kenntnis der allgemeinen Situation können wir  nicht selbst beurteilen." Kerekes lachte bitter.
  „Merkwürdig, wie die Genossen nicht erkennen wollen, was Konterrevolution ist  und wie sich die Arbeiterschaft eines jeden Landes erst davon überzeugen muss,  bevor sie sie erkennt. Wem in der Partei willst du es mitteilen? Der  Abgeordnetenfraktion, dem Sekretariat? Lass es sein, du würdest die Sache  unnötig komplizieren und der Polizei die Suche erleichtern. Belaffi muss  sterben. Er ist der gefährlichste Feind. Falls er am Leben bleibt, kostet das  vielen Genossen das Leben."
  „Horthy schickt zehn neue, wenn du ihn erschlägst."
  „Keiner von ihnen wird ein Belaffi sein. Ihr kennt ihn nicht. Ich kenne  ihn."
  So verabschiedete er sich. In der Nacht, als Anna sich neben Toni legte, fragte  sie unruhigen Herzens, tat aber doch so, als ob dies eine ganz gewöhnliche  Frage wäre:
  „Was wollte er denn?"
  „Frag nicht", sagte Toni, und seine Stimme war ernst. Das Herz schlug ihr,  und wieder machte sich das Kind durch zwei Bewegungen bemerkbar. Es fiel ihr  ein, dass auch das Kind sich gegen die Gefahr wehrte, die auch seine Gefahr  war. Es kostete sie Anstrengung, ein Weinen zu unterdrücken. Morgens erst  schlief Toni mit der Überzeugung ein, dass wirklich niemand da sei, mit dem man  sich beraten könnte. Mag er ihn drum erschlagen.
  Frühmorgens, als Toni sich ankleidete und Anna Milch holte, kam Kerekes wieder.
  „Diese Kleider habe ich von einem ungarischen Studenten und Emigranten  bekommen. Ich sehe darin aus wie ein heruntergekommener Intelligenzler und das  erweckt im Hotel Misstrauen. Borg mir deine Arbeiterkleidung."
  Toni gab sie ihm.
  „Gehst du?" fragte er.
  „Ja."
  „Gleich?"
  „Ja."
  Tonis Herz klopfte. Er wollte den Genossen auf den Flur begleiten.
  „Komm nicht mit, es darf uns niemand sehen. Wenn sie mich fangen, will ich  einen Prozess gegen die magyarische Konterrevolution inszenieren, dass der Welt  der Atem stockt. Diese Kleider habe ich dir heut morgen gestohlen, als niemand  von euch zu Hause war. Ich habe den Augenblick abgewartet, als deine Frau Milch  holen gegangen ist und du austreten warst. Merk dir das und vergiss es nicht.  Wenn sie mich nicht fangen, werf ich dir heute die Kleider durch das  Flurfenster in die Küche."
  Dann ging Kerekes Sandor, den Grafen Belaffi umzubringen.
  Im Alteisenlager, wo er für gewöhnlich übernachtete, kleidete er sich um, und  in das Futter von Tonis Rock nähte er eine Schlaufe ein, um eine Axt mit kurzem  Griff einhängen zu können. Er ging in die Stadt und kam kurz nach 7 Uhr in das  Hotel „Blauer Stern". Der Portier sah ihn die Treppe hinaufsteigen,  blickte sich nach ihm um, aber schenkte ihm keine besondere Aufmerksamkeit.  Kerekes kam bis zum ersten Stock. Er klopfte an die Tür von Nr. 16. Niemand  antwortete. Er klopfte nochmals.
  „Wer ist da?" klang es verschlafen in deutscher Sprache.
  „Ö ffnen Sie", sagte Kerekes ungarisch. Er hörte Schritte, die sich der  Tür näherten.
  „Wer ist da?" klang es nochmals deutsch.
  „Ö ffnen Sie, Graf, ich habe wichtige Nachrichten", antwortete Kerekes  ungarisch. Die Tür öffnete sich. Graf Belaffi Imre stand im Pyjama und  Pantoffeln vor ihm.
  Kerekes zog die Axt unter dem Rock hervor und schlug ihn nieder.
  Die Mittagszeitungen brachten bereits die Nachricht von dem Verbrechen. Die  Händlersfrau Endler und die Wachtmeistersfrau Klaban fragten Anna auf dem Flur,  als sie Wasser holen ging:
  „Haben Sie schon von dem Mord im ,Blauen Stern' gehört?"
  Frau Endler, die im Begriff war, ins Theater zu gehen, richtete sich das  Strumpfband und sagte:
  „Sie schreiben, dass er hierher gekommen ist, um ein Ding zu drehen. Es handelt  sich sicher um Falschgeld."
  „Nein", sagte die Wachtmeistersfrau mit Bestimmtheit. „Das ist sicher  Spionage. Sie können mir das glauben."
  Toni las die „Nationalpolitik" in der Mittagspause, als. er in der Kantine  saß. Das Herz zog sich ihm zusammen. Jetzt war es 4 Uhr. Das Gedröhn der Arbeit  ging weiter. Es kostete Toni viel Anstrengung, seine Bewegungen so zu kontrollieren,  dass keinem der Kollegen auffiel, wie erregt er war. Die Nachricht des  Mittagsblattes war sehr merkwürdig.
Mord im Hotel „Blauer Stern"
    Vor Schluss des Blattes erhalten wir folgende Meldung: Heute morgen wurde im  Hotel „Blauer Stern , auf dem Graben, ein furchtbarer Mord verübt. Der  32jährige Industrielle Gustav Breuer aus Hannover wurde auf die schrecklichste  Weise umgebracht. Als das Zimmermädchen nach 9 Uhr morgens, nachdem sie  vergeblich geklopft hatte, in sein Zimmer trat, fand sie ihn auf dem Boden  inmitten einer Blutlache liegen. Das Mordinstrument, eine kleine Axt mit kurzem  Stiel, lag neben ihm. Der Kopf Gustav Breuers ist bis zur Unkenntlichkeit  zerschmettert. Das Gehirn ist ausgelaufen. Der Mord geschah nach dem Gutachten  der Ärzte gegen 1/2 8 Uhr morgens. Sein Motiv ist rätselhaft. Alle  Wertgegenstände Breuers blieben unberührt. Trotzdem ist die Polizei dem Mörder  oder den Mördern auf der Spur. Ihre Nachforschung wird durch die Aussage des  Hotelportiers Josef Müller erleichtert, der den Mörder gesehen hat und ihn  genau beschreibt. Beim Durchsuchen des Zimmers wurden Beweise dafür gefunden,  dass Breuer aus unlauteren Motiven eingereist war. Vielleicht ergibt sich hier  eine Spur zur Aufklärung des rätselhaften Mordes."
Es war nicht sehr viel, was die Mittagsausgabe der „Nationalpolitik"  berichtete. Zum Nachdenken allerdings war es genug. Gustav Breuer, Kaufmann aus  Hannover — welcher Unsinn. Wie war das zu erklären? Hat sich Kerekes geirrt und  jemand anders umgebracht? War das doppelte Opfer überflüssig, und was noch mehr  hieß, dumm und unsinnig? Oder war der Name Gustav Breuer von Belaffi Imre nur  angenommen worden? Der Hotelportier hatte den Genossen Kerekes gesehen und  genau beschrieben. Die Polizei ist dem Genossen Kerekes auf der Spur. Toni  dachte an seinen Arbeitsanzug und an Anna. „Du bist heute so blass, Krousky,  fehlt dir was?"
  Der alte Blaschek, ein Hilfsarbeiter, hatte dies gesagt, als er ihm eine Kanne  Wasser zum Anfeuchten des Sandes mitgebracht hatte. Toni antwortete nicht.
  Die Erlösung nahte. In der Gießerei nebenan mussten nur noch die Siemens-Öfen  geöffnet werden, dann würde die Sirene heulen. Auch dieser Augenblick kam. Toni  sprang zu seinem Kleiderschrank. Er zog schnell den Rock über das blaue Hemd,  wusch sich gar nicht. Er eilte aus der Fabrik, um von keinem aufgehalten zu  werden. Er lief zum Zeitungsstand und kaufte alle Abendblätter. Im Gehen las  er:
  „Der Mörder aus dem ,Blauen Stern' verhaftet!"
  Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Der Mörder war verhaftet. Toni durchflog die  Spalten des Blattes, suchte den Namen Kerekes Sandor. „Die Verhaftung des  Mörders." So lautete der Untertitel. Toni verschlang den Artikel:...   Milan Iwanowitsch...  Hotelportier gibt an...  Oberkellner und Bardamen...  den  Mörder verhaften...  Polizeikommissar Bubnik... den 29jährigen Iwanowitsch.
  Tonis Augen durchflogen das Blatt mit fieberhafter Schnelligkeit. „Das Verhör  des Mörders", las er in Fettdruck.
  „... Iwanowitsch behauptet, Gustav Breuer nie gesehen und nie von ihm  gehört... in der Wohnung einer unbekannten Dirne...  das Gepäck des Iwanowitsch ... "
  Nein, das ist es nicht, was er sucht.
  „... Milan Iwanowitsch mit neuen Zeugen... "
  Zum Teufel, was mischt sich denn immer ein gewisser Milan Iwanowitsch hinein.  Er las bis zu Ende... „beharrt darauf...  In der Untersuchung wird  fortgeschritten. Die genauen Berichte von dieser sensationellen und in der  Geschichte der Kriminalistik einzig dastehenden Mordtat bringen wir in der  Morgenausgabe unseres Blattes."
  Genug. Genug.
  Der Name Kerekes war nicht zu finden. Er kehrte nochmals zum Untertitel „Die  Verhaftung des Mörders" zurück und las wieder:
  „Der verhaftete Mörder entpuppte sich als der 29jährige Milan Iwanowitsch aus  Agram, welcher der Polizei gut bekannt und ein internationaler, vielfach  vorbestrafter Betrüger ist."
  Was ist das? Milan Iwanowitsch? Er stürzte sich nochmals auf den Satz. Es war  kein Zweifel. Hier stand Milan Iwanowitsch. Toni blieb mitten auf der Straße  stehen und richtete seine Augen wieder ins Leere. Dann stopfte er mit einer ruhigen  Bewegung die Abendblätter in die Tasche und eilte weiter. In einem Park setzte  er sich und las nochmals. Zuerst die Verhaftung des Mörders. Es war so, wie er  auf der Straße gelesen hatte. Dann las er alles der Reihe nach. Zuerst  wiederholte sich die Nachricht aus dem Mittagsblatt. Das vergebliche Klopfen  des Zimmermädchens, ihr Eintritt in das Zimmer, der furchtbare, die Nerven  erschütternde Anblick. Die Verständigung der Polizeikommission, das ärztliche  Gutachten, über zwanzig furchtbare Schläge mit der Axt, deren jeder einzelne  tödlich war, und dann:
„In der Höhle des internationalen Räubers."
    Schon die oberflächliche Untersuchung im Zimmer des Gustav Breuer brachte  eine sensationelle Überraschung. Das erste, was den Detektiven in die Hände  fiel, war ein Handkoffer, in dem unter anderen verdächtigen Dingen ein Paket  ungestempelter Banknoten im Gesamtwert von etwa 1500 Mark gefunden wurde, die  der Serie nach zu schließen aus Ungarn oder Österreich hereingeschleppt worden  waren. Es zeigte sich bald, dass sich die Polizei im Zimmer eines höchst  gefährlichen internationalen Taschendiebes, Betrügers und Mädchenhändlers  befand. Das Zimmer Nr. 16 im Hotel zum. „Blauen Stern" war ein  Räuberlager. Man fand hier verschiedene fremde Geldsorten im Werte von 23 000 Mark,  fünf goldene Herren- und zwei Damenuhren, darunter einige sehr wertvolle, zwei  goldene Zigarettenetuis, fünf Brillanten von bedeutendem Wert, eine silberne  Damenhandtasche. Diese Gegenstände rührten unzweifelhaft von Taschendiebstählen  her. Der Besitzer einer Uhr wurde bereits festgestellt. Die Bestohlenen werden  aufgefordert, sich auf dem Polizeipräsidium zu melden. Außerdem fand man in  Breuers Zimmer eine ganze Kollektion unanständiger Photographien, einige von  ihnen waren von einer geradezu provozierenden Obszönität. Eine ausgedehnte  Korrespondenz zeugte davon, dass Breuer ein Mädchenhändler großen Stils war. Es  kann kein Zweifel darüber bestehen, dass der Ermordete einer der gefährlichsten  internationalen Verbrecher war. Überraschend ist, dass die Papiere des  Ermordeten in vollkommener Ordnung zu sein schienen, und dass seine  Photographie im Verbrecheralbum nicht vorhanden war. Die Polizei ist mit den  Behörden von Hannover bereits in Verbindung getreten.
Die Verhaftung des Mörders 
  „Wie wir bereits berichteten, wurde als Mörder oder als einer der Mörder ein  Mann namens Milan Iwanowitsch bereits in den Vormittagsstunden verhaftet. Das  Hauptverdienst hieran gebührt dem Hotelportier des ,Blauen Stern', Josef  Müller. Er war nach der Zimmerfrau der erste Zeuge, der nach der Feststellung  des Mordes von der Untersuchungskommission vernommen wurde. Er gab folgendes  an:
„Sieben Minuten nach halb acht sah ich, wie vom ersten Stockwerk ein Mann  über die Stiege herunterkam, den ich vor fünf Minuten hatte hinaufgehen sehen.  Er trug einen grauen Sportanzug, braune Gamaschen und eine karierte Mütze. Er  war etwa dreißig Jahre alt, hatte einen schwarzen Backenbart und schwarze  Augen. Er war eine typisch semitische Erscheinung (Milan Iwanowitsch ist  Jugoslawe! D. Red.) Ich prägte mir die Zeit genau ein, denn der Mann war mir  verdächtig. Seine Wangen waren aschfahl. Seine Augen spiegelten Entsetzen. Sein  Gang war eilig. Es schien, dass er fliehen wollte. Ich grüßte ihn, dies schien  ihn zu überraschen, und ich sah, dass es ihm Überwindung kostete, mir höflich  zu danken. Er grüßte mit einem unnatürlichen Lachen und führte nur die Hand zur  Mütze. Der Mann war mir bekannt. Am Donnerstag der vergangenen Woche, als ich  meinen Ausgang hatte, besuchte ich mit meinem Freund Joseph Koudelka,  Oberkellner im Ratskeller, und mit den Damen Paula Schütz und Josepha Mala den  ,Seklpavillon . Wir kamen gegen drei Uhr morgens hin. In einer Loge saß eine  Gesellschaft von vier Herren und einigen Halbweltdamen. Die Gesellschaft fiel  durch ihre laute Unterhaltung und durch die große Zeche auf. Sie tranken  ,Pommery' und bewirteten die Zigeunerkapelle, die sich zum Ärger der anderen  Gäste nur ihnen widmete. Ihre Zeche muss sehr hoch gewesen sein. Meiner  Schätzung nach an die tausend Mark. Der ermordete Gustav Breuer befand sich in  jener Gesellschaft. Er wohnte schon damals in unserem Hotel, und auch der Herr,  den ich heute morgen gesehen habe, war damals im ,Sektpavillon in der gleichen  Gesellschaft. Ein Irrtum ist ausgeschlossen. In der Zeit gegen halb acht Uhr  morgens ist keiner der Gäste zum ersten Stock hinaufgegangen, noch aus dem  ersten Stock heruntergekommen. Nur jener vorerwähnte Herr. Es gingen nur  Hotelpersonal und Arbeiter, die auf dem Dachboden arbeiteten, die Treppe hinauf  und hinunter. Ich kann nicht genau sagen, wann der Herr, dessen semitisches  Aussehen mir besonders auffiel, zum ersten Stockwerk hinaufging, denn ich habe  in dem Augenblick, als ich ihn sah, zwei Damen Auskunft erteilt und deshalb  nicht auf die Uhr gesehen. Meiner Schätzung nach kann er vier bis fünf Minuten  oben gewesen sein. Ich beharre nicht auf dieser Zeitangabe von vier bis fünf  Minuten, aber ich behaupte, dass er keineswegs länger als eine Viertelstunde  oben gewesen ist."
  Nach dieser überaus wertvollen Information trat sofort der ganze Polizeiapparat  in Tätigkeit. Allen Polizeirevieren und den Gendarmeriestationen der Umgebung  wurde eine genaue Beschreibung des Mörders mitgeteilt, so wie sie Herr Müller  angegeben hatte. Die Hauptbahnhöfe standen unter erhöhter Bewachung. Um 11 Uhr  kam auch tatsächlich aus Radotin die Nachricht, dass es der Gendarmerie  gelungen war, den Mörder auf der Bahnstation zu verhaften. Er hatte sich eine  Fahrkarte nach Marienbad gekauft und auf den Vormittagszug gewartet. Der  Polizeikommissar Bubnik fuhr sofort nach Radotin und ließ den Mörder in die  Hauptstadt überführen, wo er gleich einem eingehenden Verhör unterzogen wurde.  Der Verhaftete wurde als der neunundzwanzigjährige Milan Iwanowitsch  identifiziert, der bei der Polizei gut bekannt und ein vielfach vorbestrafter  internationaler Hochstapler ist."
Letzte Nachrichten
    „Kurz vor Schluss des Blattes wird uns gemeldet: Heute Nachmittag wurde der  verhaftete Milan Iwanowitsch mit einigen Zeugen konfrontiert. Der Portier des  Hotels ,Blauer Stern erkannte ihn mit aller Bestimmtheit. Er wurde außerdem vom  Kellner Koudelka, von der Privaten Paula Schütz und von der Prostituierten  Josepha Mala sowie vom Oberkellner des ,Sektpavillons', Nowak, als Teilnehmer  jener Orgie erkannt, die sich Donnerstag im ,Sektpavillon abgespielt hatte.
      Alle Zeugen erklärten Irrtum für ausgeschlossen. Iwanowitsch beharrte trotz  dieser vernichtenden Beweise bei seinem Leugnen. In der Untersuchung wird  fortgefahren. Wir bringen im Morgenblatt genaue Nachrichten von diesem sensationellen  und in der Geschichte der Kriminalistik vereinzelt dastehenden Mord."
Toni war von dieser Nachricht ganz verwirrt. Er saß auf einer Bank, die Arme  hingen ihm am Körper herab, die Augen blickten starr ins Leere. Milan  Iwanowitsch, Gustav Breuer? Was war geschehen, und was geht vor? Kein Wort von  dem Genossen Kerekes, kein Wort vom Grafen Belaffi? Was geht vor? Er las noch  einige Abendblätter, überall das gleiche. Ihm schwindelte. Dann erhob er sich,  langsam, wie von schwerer Arbeit ermüdet, und ging zur Straßenbahnstation. Die  Abenddämmerung senkte sich herab. Er fuhr in die Stadt an die Straßenecke, wo  Kerekes Sandor Zeitungen zu verkaufen pflegte. Kerekes war nicht zu sehen. Toni  wusste nicht, wo er wohnte. Toni kam nach Hause. Anna begrüßte ihn vom  Plättbrett aus freundlich.
  „Du warst schon einmal zu Hause, nicht?"
  „Nein, nein."
  „Wer hat denn dann deinen anderen Anzug aus dem Schrank genommen?"
  Sie blickte ihn fragend an. Toni errötete.
  „Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen. Ich war doch beinahe den ganzen  Nachmittag daheim, und jetzt fand ich ihn auf dem Küchentisch. Ich habe zuerst  an Diebe gedacht. Aber es fehlt nichts."
  „Lass das sein."
  Anna wunderte sich aufs neue. Auch sie errötete, weil er ihren  freundschaftlichen Blick zurückwies.
  Toni zwang sich, die Kartoffelsuppe herunterzulöffeln. Er hätte sich gerne  überwunden, aber das Essen blieb ihm im Halse stecken. Er legte den Löffel auf  den Tisch.
  „Die Suppe ist gut. Ärgere dich nicht." Anna blickte ihn besorgt an.
  „Fehlt dir irgend etwas?"
  „Nein", sagte er abweisend. Er setzte sich an den Tisch, um.  Schreibarbeiten für seine Organisation zu verrichten, und es gelang ihm, sich  in die Arbeit zu vertiefen. Dann wusch er sich und ging schlafen. Als Anna das  Bett machte, fand sie auf der Bettdecke die Abendausgabe vom „Volksrecht".  Das Blatt war auf der Seite aufgeschlagen, auf der ein Artikel über den Mord im  Hotel „Blauer Stern" mit einer auffälligen Überschrift stand. Toni  erschrak. Wie konnte er glauben, oder besser gesagt, nicht daran denken, dass  das Parteiblatt auch Nachrichten über den Fall bringen würde, und was konnte  ihn glauben machen, dass Anna nichts erfahren würde. Tonis Verlegenheit war  Anna nicht entgangen. Als sie im Bett eine Zeitlang schweigend nebeneinander  gelegen hatten, streichelte Anna ihrem Mann mütterlich die Haare und küsste ihn  auf die Stirn. Sie hatte noch keinen Verdacht, nur eine große Sorge. Toni  rührte sich nicht.
  Er schlief auch dann nicht ein, als sie schon lange neben ihm ruhig atmete. Ein  wildes Karussell von Menschen und Geschehnissen drehte sich in seinem Hirn. Der  Kaufmann aus Hannover, Milan Iwanowitsch, Kerekes, der Hotelportier, die  Kellner, Dirnen und die Zigeunermusik. Er sank nur für Minuten in bleiernen  Schlaf, aus dem er immer wieder auffuhr. Des Morgens lag er mit geschlossenen  Augen und tat so, als ob er schliefe. Er wartete auf den Augenblick, wo Anna  Milch holen ging. Dann sprang er auf, zog nur das Notwendigste an und lief zum  Kiosk, um eine Zeitung zu kaufen. Im Hinaufgehen und später am Kaffeetisch las  er folgendes:
„Sensationelle Wendung in der Mordaffäre"
  Teilgeständnis des Mörders. — Der ermordete Breuer ist mit dem Grafen Belaffi  Imre identisch. — Eine Bande internationaler Verbrecher und Mädchenhändler  verhaftet.
„Gestern abend ergab sich in der Mordaffäre Hotel ,Blauer Stern eine  sensationelle Wendung. Der verhaftete Iwanowitsch legte ein Teilgeständnis ab.  Er bestreitet zwar jede Beteiligung an der Mordtat, aber es ist sicher, und die  Polizei zweifelt auch nicht daran, dass er der tatsächliche Mörder ist. Auf  Grund der Aussagen des Iwanowitsch wurden gestern eine Reihe von Verhaftungen  vorgenommen. Ein großer Teil einer internationalen Bande von Räubern,  Taschendieben, Mädchenhändlern und Falschspielern ist hinter Schloss und Riegel  gebracht. Dem Rest der Bande wird nachgeforscht. Die Aussagen des Iwanowitsch  haben auch das Geheimnis um die Person des Ermordeten gelüftet. Es ist der  Honved-Offizier Graf Emmerich Belaffi (ungarisch Belaffi Imre). Er entstammt  einer bekannten ungarischen Adelsfamilie.
  Die Mitglieder der Bande haben falsche Namen und Papiere benutzt, auch der Name  Gustav Breuer war falsch. Auf der Polizei haben sich schon eine Reihe  Geschädigter gemeldet. Auch das Gepäck des Mörders mit kompromittierendem  Inhalt wurde gefunden. Der Portier des ,Hotel garni' hat es zur Polizei  gebracht. Er las in der Zeitung die Beschreibung des Mörders und erklärte, dass  dies der gleiche Mann war, der in dem Hotel unter dem Namen Haniewski wohnte  und gestern morgen bei ihm sein Gepäck deponiert hatte. Von dem Gewicht dieser  neuen Beweismittel erdrückt, hat der Verhaftete wenigstens ein Teilgeständnis  abgelegt.
Der Bericht des Mörders
    Iwanowitsch will der Polizei folgendes Märchen glaubhaft machen: Gestern  morgen wollte er dem vermeintlichen Breuer (Emmerich Belaffi) den Ertrag eines  Taschendiebstahls übergeben. Es war dies eine goldene Uhr und eine Brieftasche  mit dem Inhalt von 700 Mark. Auch wollte er ihm eine Nachricht von einer  gewissen „Dame" überbringen, die sich mit Mädchenhandel befasst. Die Mitglieder  der Bande hatten zwar das strikte Verbot, Belaffi im Hotel zu besuchen, aber  Iwanowitsch wagte es trotzdem, weil er eine Mitteilung erhalten hatte, die eine  sofortige Unterredung mit dem Grafen notwendig machte. Als Iwanowitsch das  Zimmer betrat, fand er den Grafen tot, inmitten einer Blutlache liegend. Er  wollte zuerst die Hotelleitung verständigen, aber er besann sich beizeiten, in  welche Gefahr er dadurch sich und die anderen Mitglieder der Bande bringen  würde. Er versuchte deshalb, so schnell und unauffällig als möglich zu  verschwinden.
      Abgesehen von der geringen Wahrscheinlichkeit dieser Erzählung steht ihr die  Aussage des Hotelportiers Müller entgegen, der in der Zeit, als die Tat  begangen wurde, außer dem Hotelpersonal und den Arbeitern, die auf dem  Dachboden arbeiteten, und allerdings auch außer Iwanowitsch niemanden die  Treppe hinauf- oder heruntergehen sah. Iwanowitsch wurde dem gesamten  Hotelpersonal und neun Arbeitern gegenübergestellt und gefragt, ob sich nicht  unter ihnen der Mörder befände. Nach langem Zögern zeigte Iwanowitsch auf den  54jährigen Dachdecker F. B., mit der Angabe, dass dieser vielleicht der Mörder  sein könnte. F. B. gab zu, dass er im Laufe des Morgens einige Male vom  Dachboden zum Erdgeschoß heruntergegangen sei. Er war auch vom Portier Müller  gesehen worden, aber er verrichtete die Wege lediglich auf Anweisung des  Meisters und hielt sich nicht eine Minute länger als notwendig auf. Er konnte  sich nicht erinnern, ob er bei seinen Gängen jemandem begegnet war. Die Richtigkeit  seiner Angaben wurde vom Meister, den Dachdeckergehilfen und anderen Personen  vollkommen bestätigt. F. B., ein anständiger und untadeliger Mann, ist über  jeden Verdacht erhaben und wurde auch nicht in Untersuchungshaft genommen.
Ein feiner Edelmann
    Iwanowitsch erzählte von dem ermordeten Grafen Emmerich Belaffi folgendes:  Emmerich Belaffi entstammt einer angesehenen magyarischen Familie. Er war in  Budapest wegen seines ausschweifenden Lebenswandels berüchtigt und hatte  deswegen auch häufig Auseinandersetzungen mit seiner Familie. Im Kriege war er  Honved-Offizier, während des kommunistischen Umsturzes floh er nach Rumänien.  Unter Horthy trat er wieder in militärische Dienste. Iwanowitsch kannte ihn  noch aus seiner aktiven Militärdienstzeit. Belaffi war ein genialer  Falschspieler, und da auch lwanowitsch dem Falschspiel huldigte, wurden sie  bald Bundesgenossen. Im Herbst des vergangenen Jahres hatte die  Militärverwaltung eine Unterschlagung entdeckt, die Belaffi begangen hatte und  die gegen 10000 Dollars betrug. Es kam zu keinem Prozess, weil die Familie das  defraudierte Geld ersetzte. Die Angelegenheit wurde totgeschwiegen. Belaffi  musste den Militärdienst und Ungarn verlassen. Er blieb in dieser Zeit mit  Iwanowitsch in Verbindung. Sie reisten nach Warschau, lebten zum Teil vom  Falschspiel, zum Teil vom Mädchenhandel. Im Laufe der Zeit lernten sie einige  Leute gleicher Gesinnung kennen und gründeten eine Gesellschaft. Sie arbeiteten  in Paris, Bukarest, Wien, Prag und den westböhmischen Bädern. Belaffi war der  Organisator dieser Gesellschaft und ihr Bankier und genoss allgemeine  Autorität."
Als Toni bis hierher gelesen hatte, nahm er den Mund voll Speichel und  spuckte in hohem Bogen aus. Seine Stirn verfinsterte sich. „So eine Dummheit,  eine solche Blödheit!"
  In diesem Augenblick kehrte Anna vom Milcheinkauf zurück. Toni ging in der  Stube auf und ab.
  „So eine Schweinerei, eine solche Schweinerei, einen Menschen so zu  überschätzen!"
  „Was ist, Toni?" fragte sie, froh, dass er nunmehr zornig und nicht  traurig war. Er antwortete nicht. Er frühstückte und ging zur Arbeit. Die  Zeitung nahm er mit sich.
  Gegen 7 Uhr vormittags kam die Zeitungsausträgerin mit dem „Volksrecht".  Anna räumte die Wohnung auf, machte ihren Morgenschwatz mit den Nachbarinnen  und nahm dann die Zeitung zur Hand. Sie kam bis zu den Nachrichten vom Mord im  Hotel „Blauer Stern". Beim Namen Belaffi stockte sie. Gleichzeitig kam ihr  der Name des Genossen Kerekes in Erinnerung. Ein wenig von jener vorgestrigen  Beklommenheit legte sich wieder über sie. Die Lebensbeschreibung des Grafen  Belaffi erklärte ihr alles. Auch das Rätsel um Tonis Arbeitskleidung. Seine  Erregung und alles andere. Es war der längste Tag ihres Lebens. Toni, der Vater  ihres Kindes, war in Gefahr. Sie lief in den beiden Käfigen ihrer Wohnung auf  und ab. Immer wieder stieß sie gegen das Gitter. Alle ihre Versuche, sich auf  die Arbeit zu konzentrieren, waren vergeblich. Die Pergamenthaut des Genossen  Kerekes und deren rote Flecken verfolgten sie. Seine glühenden und glänzenden  Augen erschienen ihr immer1 wieder. Am schrecklichsten von allem war die  Unsicherheit. Dieser Vormittag dauerte fünf Stunden. Auf dem Flur gingen die  Nachbarinnen hin und her. Ihre Pantoffeln klapperten. Das Wasser zischte aus  der Wasserleitung in die Töpfe. Die älteste Tochter des Kutscherer schrie und  mahnte die weinenden Kinder zur Ruhe. Anna kamen diese Laute schärfer vor als  sonst. Wird plötzlich mitten unter diesen Geräuschen das Klappern von festen  Kommissschuhen zu hören sein? Wird nicht irgendeine harte Faust an ihre Tür  klopfen? Sie wagte sich nicht zu den Nachbarinnen hinaus. Sicherlich spaziert  die Wachtmeistersfrau Klaban in ihrem gestreiften Morgenrock herum und erzählt  Neuigkeiten vom Mord. Oder die Frauen sprechen vom „Blauen Stern".  Möglicherweise erzählen sie auch: „Warum hat sich denn heute Vormittag Frau  Krousky noch nicht gezeigt? Vielleicht ist es schon so weit. Wir wollen  nachsehen." — Anna fürchtete sich davor. Doch sie kamen nicht. Dann  erlosch plötzlich der Lärm im Hause Jesseniusgasse. Anna bemerkte diese  tödliche Stille heute zum ersten Mal. Das Haus war beim Mittagessen. Auch Anna  versuchte, auf dem Kohlenkübel sitzend, einige Löffel zu essen. Es gelang ihr  nicht. Ein unendlicher Nachmittag erwartete sie. Sie kaufte sich nachmittags  Zeitungen und war glücklich, als sie der Genossin Tinschmann begegnete und ihr  sagen konnte, dass nichts los sei. In den Zeitungen war nichts Neues. Ein  Verzeichnis der Verhafteten, eine Aufzählung des gefundenen Diebesgutes. Der  Mörder leugnete weiter. Die Stunden schleppten sich hin. Noch sechs, noch fünf  Stunden, jede dieser schwarzen Zahlen auf dem Zifferblatt des Weckers, die eine  Stunde bedeutete, hatte zwölf schwarze Fünf-Minuten-Striche.
  Toni kam erst spät gegen 10 Uhr abends zurück. Nach Arbeitsschluss war er die  Ecken der Stadt und die Bahnhöfe abgelaufen, wo die Zeitungsverkäufer stehen,  und hatte den Genossen Kerekes gesucht. Er fand ihn nicht.
  Dann hatte er eine Versammlung gehabt. Die erschöpften Nerven Annas erzitterten  aufs neue. Toni bemerkte im Nachtdämmer ihre Erregung nicht. Er kam ruhig,  umarmte und küsste sie und fragte freundschaftlich:
  „Wie geht es dir, Anna, ist was Neues?" Er machte Licht und aß mit gutem  Appetit. Angesichts der Selbstverständlichkeit seiner Ruhe verlor Anna den Mut,  die Frage zu stellen, die sie dreizehn Stunden gequält hatte. Dann setzte sich  Toni an seine Arbeit, bei der er sich nicht gerne stören ließ. Anna sank der  Mut vollends. Erst des Nachts, als sie nebeneinander lagen, wagte sie es. Sie  kämpfte mit sich und schreckte einige Male davor zurück. Aber dann setzte sie  sich ein wenig auf, beugte sich über ihn und flüsterte:
  „Du hast ihn nicht umgebracht, bestimmt nicht, Toni?" Der Schrecken Tonis  dauerte vielleicht zwei, vielleicht drei Sekunden; dann fuhr er sie an:
  „Tut es dir vielleicht leid?"
  Sie erschrak. Sie legte sich wieder zurück. Das Herz trommelte. Es war dunkel.  Der Wecker tickte wild. Erst nach einer langen Zeit sagte Toni sanft:
  „Ich habe ihn nicht umgebracht." Das Herz beruhigte sich.
  „Aber wenn ich ihn umgebracht hätte, hättest du aufgehört, mich zu  lieben?"
  Sie legte ihren Kopf auf seine Brust. So blieben sie eine Weile liegen. Dann  küsste sie ihn zart auf den Hals und flüsterte:
  „Nein, aber ich glaube, dass ich mich ein wenig gefürchtet hätte. Aber es droht  dir doch keine Gefahr?"
  Sie fühlte, dass er den Kopf schüttelte.
  Es war wieder still.
  Nur der Wecker tickte. Aber viel langsamer und ruhiger als zuvor.
  Zwei Augenpaare blickten wieder zur Decke hinauf. „Eine solche Dummheit, Anna,  solch ein Stück Mensch so zu überschätzen!"
Toni suchte Kerekes Sandor in der ganzen Stadt. Er fragte die  Zeitungsverkäufer, forschte in den Vorstädten und Ziegeleien, in den  Lagerräumen, in den Holzhütten, wo Kerekes Sandor den letzten Nachrichten  zufolge geschlafen hatte. Er war nicht zu finden. Kerekes war verschwunden, und  in Toni wuchsen Zweifel und die Schwere der Verantwortung. Was geschieht, wenn  Kerekes Sandor aus der Schule schwatzt? Wenn er es schon getan hat? Es ging um  die Existenz der Partei, es ging um eine zu wichtige Angelegenheit, als dass er  das Geheimnis hätte für sich behalten können.
  Er entschied sich für Jandak. Er erreichte ihn weder in der Redaktion noch im  Sekretariat und ging darum in die Wohnung. Das Arbeitszimmer des Abgeordneten  war für Toni eine Überraschung. Ein helles Zimmer voll erträglicher Eleganz mit  einer großen Bücherei. Über dem Schreibtisch hing das Bild Lenins. Der  Metallarbeiter hatte ein natürliches Misstrauen gegen den Besitz. Jandak ließ  ihn in einem Ledersessel Platz nehmen und bot ihm Zigaretten an. Toni rauchte  nicht.
  „Ich habe eine große Dummheit gemacht", sagte er. Er konnte sich nur  schwer dazu entschließen, in dieser Umgebung zu sprechen, und seine Stirn zog  sich in Falten.
  „Der Genosse Krousky, eine Dummheit? Erzähle." Als Toni den Fall Kerekes  Sandor berichtet hatte, kratzte sich Jandak mit der rechten Hand hinter dem  linken Ohr und zog die Nase hoch.
  „Verflucht nochmal, na, vielleicht geht es gut aus." Toni hatte etwas  anderes erwartet. Dieser leichtsinnige Ton war ihm unangenehm. Beide Männer  blickten sich lange in die Augen. Toni hart und finster, der Abgeordnete  nachdenklich.
  „Hast du einen Vorschlag, was man tun könnte?" fragte Jandak endlich.
  „Ja, schließt mich aus der Partei aus." Toni erbleichte dabei. Jandak  dachte nach, zwinkerte mit den Augen.
  „Weshalb?"
  „Das ist doch klar, weshalb", fuhr ihn Toni an. Er war weiß wie Papier,  und die Stimme überschlug sich vor Aufregung.
  „Falls sie mich finden, werden sie keinen Prozess gegen mich, sondern gegen die  Partei führen. Dass sie daraus einen Raubmord machen, ist sicher. Sie werden  dann damit gegen die Partei agitieren. Schließt mich aus, solange noch niemand  etwas weiß. Wenn sie mich fassen, will ich nicht mehr Genosse sein."
  Der Abgeordnete blickte den bleichen Mann, seine flammenden Augen an. Er  blickte ihn mit Bewunderung an, ja noch mehr, liebevoll. Er wusste> was ihm  proletarische Ehre bedeutete, und was er opfern wollte. Er war ergriffen und  nahe daran, Toni zu umarmen.
  „Wir haben keinen Anlass, dich auszuschließen", sagte er weich.
  „Auch daran dachte ich", antwortete Toni hart, „ich bin Bezirkskassierer.  Ich werde Geld unterschlagen." Er schluckte schwer.
  Jandak blickte dem Arbeiter freundschaftlich in die Augen und schüttelte  ablehnend den Kopf.
  „Nein, Toni, in einigen Wochen gibt es Kampf. Die Bourgeoisie hat von so  genannten Arbeiterführern die Erlaubnis erhalten, die Löhne herabzusetzen.  Schon deshalb darf die Partei ihren Kongress nicht abhalten, der für den Herbst  einberufen ist. Es ist heute schon klar, dass wir eine fünfundachtzigprozentige  Mehrheit hätten, und dass ihnen nur ein Teil der Parteibürokratie zur Seite  steht. Sie werden diesmal die Spaltung herbeiführen, und der Kampf wird hart  sein. Du stehst zu sehr im Vordergrund. Ein linker Vertrauensmann, der Geld  unterschlägt, das ist in dieser Situation schlimmer, als wenn dem Genossen  Krousky die entfernte Mittäterschaft an der Ermordung magyarischer  Konterrevolutionäre nachgewiesen wird. Dass ein Vertrauensmann in einer so  großen Fabrik am Vorabend entscheidender Kämpfe freiwillig aus der Partei  austritt, können wir gleichfalls nicht zulassen. Es bleibt uns nichts anderes  übrig, als Kerekes einem glücklichen Zufall zu überlassen. Erwähne zu niemandem  ein Wort, auch ich werde schweigen."
  Toni verließ unbefriedigt die Wohnung des Abgeordneten.
  Der Prozess gegen Milan Iwanowitsch und gegen die ganze Räuberbande fand früher  statt als angenommen worden war. Die Regierung war in Ungelegenheiten. Die  Blätter der Opposition begannen, sich mit einer hässlichen Korruptionsaffäre zu  befassen, die sich bei staatlichen Kohlenlieferungen ereignet hatte.
  Einflussreiche Abgeordnete der Majorität waren kompromittiert, die Fäden  führten bis in die Ministerien. Es war darum ratsam, die Aufmerksamkeit der  Öffentlichkeit abzulenken und inzwischen die Korruptionsaffäre im stillen zu  erledigen.
  Der Prozess dauerte fünf Tage. Es waren achtzig Zeugen geladen. Es gab neun  Angeklagte, sieben Männer und zwei Frauen. Ihre blonde Kurorteleganz hatte in  der Untersuchungshaft stark gelitten. Im ganzen war es eine bunte Gesellschaft  ungarischen, slowakischen, rumänischen, jüdischen und Zigeunergeblüts, je nach  Bedarf weltmännisch höflich oder diebesfrech, aber ständig in Bewegung, und der  schöne Baron Czengery Tassilo, der ehemalige Honvedkadett, der zweite von  Kerekes Sandors Peinigern, war auch darunter.
  Milan Iwanowitsch gab die ihm zur Last gelegten Diebstähle zum Teil zu. Den  Mord leugnete er mit verzweifelter Entschiedenheit. Es erweckte einige  Überraschung, als dieser große schwarze Mann sich in einer erregten Phase des  Prozesses erhob und mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern ausrief:
  „Ich habe ein leichtsinniges Leben geführt, aber ich bin kein Mörder. Nie habe  ich etwas Ähnliches getan, ich bin viel zu feige dazu."
  Er verfiel in hysterisches Weinen, und man wusste nicht, ob es als Aufschrei  eines Unschuldigen oder als Ausbruch eines südlichen Schauspielertemperaments  zu werten sei... 
  Alle übrigen Angeklagten leugneten die ihnen zur Last gelegten Verbrechen mit  der Zähigkeit erfahrener Fachleute, die nicht mehr an die mildernden Umstände  eines vollen Geständnisses glauben und entschlossen sind, sich nur dafür  verurteilen zu lassen, was man ihnen nachweisen konnte.
  Milan Iwanowitsch verriet einen nach dem anderen, indem er Beweise über Beweise  aus Prag, Karlsbad, Marienbad, Wien, Warschau, Budapest und Bukarest  zusammentrug. Er spielte den Kronzeugen und erwartete hierfür die  Barmherzigkeit der Geschworenen. Die Mitangeklagten hassten ihn darum. Ihre  Blicke waren Gift und Messer. Und zwischen ihnen und ihm musste ein  Justizsoldat sitzen, um ihn zu schützen. Die schöne Frau Maria Florescu spie  ihm eine Flut rumänischer Schimpfworte ins Gesicht, die er zwar nicht verstand,  die aber ihren funkelnden Augen nach zu schließen sicher schrecklich waren.
  Der Abgeordnete Jandak verfolgte die Prozessnachrichten mit großem Interesse.  Er war zufrieden. Alles ging gut, und soweit es um Iwanowitsch ging, kam er zu  der Überzeugung, dass dieser Mann ein Schuft sei, für den der Galgen kein Unrecht  bedeutete. Der Abgeordnete Jandak war zu beschäftigt, als dass er bei der  ganzen Verhandlung hätte anwesend sein können. Aber am Tage der Urteilsfällung  war er nachmittags im Gerichtssaal — nur auf einen Sprung. Er hatte keine Zeit.  Um 4 1/2 Uhr war er in das Schulministerium bestellt, und abends hatte er eine  Versammlung.
  Der Gerichtssaal war zum Platzen voll. Es herrschte größte Aufregung. Die  Pressebank war bis auf den letzten Platz besetzt. Die Luft war trotz geöffneter  Fenster dumpf.
  Der Vorsitzende verhörte eben den Hotelportier des „Blauen Stern", namens  Müller. Der Portier war bereits am zweiten Tag des Prozesses eingehend  vernommen worden, aber es hatten sich so viele Widersprüche ergeben, dass die  Geschworenen den Wunsch ausgesprochen hatten, vor der Urteilsfällung den Zeugen  nochmals zu vernehmen. Herr Müller war Hauptbelastungszeuge, und von seinen  vier bis fünf Minuten hing vieles ab. Er hatte bereits bei der  Polizeivernehmung über die Zeit, während der sich der Angeklagte im ersten Stock  des Hotels aufhielt, folgende Angaben gemacht:
  „Meiner Schätzung nach war er vier bis fünf Minuten oben. Ich lege mich nicht  auf vier bis fünf Minuten fest, aber ich behaupte trotzdem, dass er nicht  länger als eine Viertelstunde oben gewesen ist."
  Der Zeuge beharrte auf dieser Aussage auch beim Verhör. Diese Minuten waren der  Brennpunkt des Prozesses:
  Ist es möglich, in einer Zeitspanne von vier bis höchstens fünfzehn Minuten  jemanden durch zwanzig Axtschläge zu töten, das Zimmer zu durchsuchen, die  gesuchten Wertgegenstände und das gesuchte Dokument zu finden, das Zimmer  wieder in Ordnung zu bringen, Wasser in die Waschschüssel einzulassen, sich mit  Schwamm und Seife die blutigen Hände abzuwaschen und wegzugehen?
  Der Staatanwalt behauptete, dass für die Suche nach Geld, Dokumenten oder  Geheimnissen keinerlei Beweis vorliege, und dass alles übrige sich bequem in  einer Viertelstunde erledigen lasse, gegebenenfalls auch in fünf Minuten, wobei  davon abzusehen sei, dass man nicht kontrollieren könne, ob der Zeuge Müller  die Zeit richtig abgeschätzt habe. Der Verteidiger bezeichnete es als absurde,  unhaltbare Behauptung, dass eine solche Folge verschiedener Handlungen in  weniger als einer halben Stunde zu vollbringen sei. Der Portier vom „Blauen  Stern" wurde vom Präsidenten, vom Staatsanwalt, vom Verteidiger und von  den Geschworenen ins Kreuzverhör genommen. Wie viel Minuten waren es eigentlich  gewesen?
  Jeder einzelne wiederholte diese Frage aufs neue und jeder in einer anderen  Form.
  Der Angeklagte blickte aus schwarzen Augen ängstlich auf den Mund des Zeugen,  wohl wissend, dass von dessen Antwort sein Leben abhing.
  Herr Müller schwankte nicht ein einziges Mal. „An die fünf Minuten, — sicher  nicht mehr als eine Viertelstunde."
  Er verharrte eigensinnig bei dieser Aussage.
  Der Vorsitzende legte seine Uhr auf den Tisch und fragte den Zeugen, wie lange  er wohl nun verhört worden sei.
  „Etwas über eine halbe Stunde", antwortete der Portier, und der  Vorsitzende konstatierte, dass das Verhör 26 Minuten gedauert hatte. Diese Schätzung  war in Anbetracht der im Gerichtssaal herrschenden Erregung sehr genau.
  Aber der Staatsanwalt war entschlossen, sich nicht zu ergeben und kämpfte um  jede Minute.
  „Herr Müller", sagte er, „war es vielleicht nicht doch länger als eine  Viertelstunde, vielleicht achtzehn oder zwanzig Minuten?"
  „Nein", antwortete der Portier ärgerlich. „Sie sagen nein",  parodierte ihn ein wenig der Staatsanwalt, „aber woher kommt Ihre Sicherheit?  Ist dieses, Ihr ,nein', nicht eher eine Charakterfrage? Ich kenne viele Leute,  die sich lieber zerschneiden lassen würden, nur um nicht ,ja' sagen zu müssen,  wenn sie schon einmal ,nein' gesagt haben. Sie halten es für ausgeschlossen,  dass es länger als eine Viertelstunde gedauert hat?"
  „Ja, ich bin überzeugt, dass es nicht einmal fünf Minuten waren."
  „Bitte, erklären Sie mir Ihre Sicherheit, wenn Sie selbst zugeben, dass Sie  nicht auf die Uhr geschaut haben." „Ich habe Erfahrung."
  „Ach", der Staatsanwalt winkte mit der Hand ab, „wir glauben Ihrer  Portiererfahrung nicht mehr, Herr Zeuge. Sie haben mit der gleichen Sicherheit  den Angeklagten Iwanowitsch als Juden bezeichnet, sogar als auffälligen Juden.  Wenn jeder schwarzhaarige Mensch bei Ihnen ein Jude ist, erscheint es mir sehr  wahrscheinlich, dass selbst eine längere Zeitspanne bei Ihnen nur fünf Minuten  dauert. Im übrigen — entschuldigen Sie bitte, Ihr Beruf bringt das ja auch mit  sich — Sie sagen den Gästen ,in einer Minute, in einer Minute bitte', und dann  dauert es vielleicht auch mal eine Stunde."
  Dieser Witz rief auf der Geschworenenbank Lachen hervor. Der Protest des  Verteidigers fiel ins Leere.
  Nach dem Plädoyer des Staatsanwalts und des Verteidigers begaben sich die  Geschworenen zur Beratung. Der Staatsanwalt hatte schon während des Studiums  der Akten gezweifelt, ob nach diesen vier oder fünf Minuten Müllers und den  beiden vollkommen unerklärlichen Motiven dieses Verbrechens sich acht  Geschworene finden würden, die bereit wären, Iwanowitsch dem Galgen  auszuliefern. Er beschuldigte deshalb zur Sicherheit den internationalen  Verbrecher aller Raubtaten, Diebstähle und Einbrüche, die in letzter Zeit in  der ganzen Republik geschehen waren. Er klagte ihn auch solcher Verbrechen an,  für die es keinen anderen Beweis gab, als dass sie eben geschehen waren.
  Die Beratung der Geschworenen dauerte eine Dreiviertelstunde, und der  Abgeordnete Jandak, der gewohnt war, seine Versammlungen pünktlich abzuhalten,  zog schon mehrere Male ungeduldig die Uhr.
  Als die Volksrichter im Gänsemarsch auf ihre Plätze zurückgekehrt, verstummte  mit einemmal jeder Laut. Der ganze Saal lauschte mit äußerster Spannung dem  Verdikt, das der Obmann der Geschworenen, ein Gutsverwalter, feierlich verlas:
  „Die Geschworenen haben die Fragen wie folgt beantwortet:
  Erste Hauptfrage: Ist Milan Iwanowitsch schuldig, am achtundzwanzigsten Mai  dieses Jahres gegen einhalb acht Uhr morgens in einem Zimmer des Hotels ,Blauer  Stern' den ungarischen Grafen Emmerich Belaffi gefesselt und ihm in feindlicher  Absicht und, um ihn zu töten, mit einer Axt mehr als zwanzig Schläge gegen den  Kopf versetzt und solcherart gehandelt zu haben, dass daraus der Tod des Grafen  folgte?
  Antwort: Fünf ,Ja', sieben ,Nein'."
  In den Augen des Angeklagten, die verzweifelt auf den Mund des Lesenden  gerichtet waren, ließ die Spannung nach, und der fiebrige Ausdruck in ihnen  erlosch. Der Abgeordnete Jandak lachte befriedigt.
  Der Vorsitzende legte den Kneifer auf den Tisch, und es war so still im Saal,  dass diese Bewegung zu hören war. Die Tür war von Stenotypistinnen und  Referendaren umstellt, die gekommen waren, um das Urteil zu hören.
  In der dumpfen Stille las der Obmann weiter: „Zweite Hauptfrage: Ist Milan  Iwanowitsch schuldig?"
  Und nun folgten einunddreißig Fragen wegen Raubes, Diebstahls, Betruges,  Urkundenfälschung, Falschspiels, Einbruchs, Kuppelei, falscher Anmeldung,  Überschreitung des Waffenverbots, Hasardspiels usw.
  Die einstimmige Antwort war: Ja.
  Die Geschworenen hatten die Absicht des Staatsanwalts vollauf begriffen; auch  sie kamen zu der Überzeugung, dass Iwanowitsch, selbst wenn man ihn des Raubmordes  nicht überfuhren konnte, ein gefährliches Individuum sei, dem man auf der  andern Seite zulegen musste, was auf der einen nicht reichte.
  Zwölf Stimmen Ja.
  Zwölf Stimmen Ja.
  Zwölf Stimmen Ja.
  Iwanowitsch verstand die Verhandlungssprache soweit zur Genüge. Sein Kopf sank  tiefer und tiefer, und seine Augen blickten tot vor sich hin.
  Den Urteilsspruch wartete Jandak nicht mehr ab. Er stellte fest, dass es ein  Viertel nach vier war, und dass er höchste Eile hatte. Er lief aus dem  Gerichtssaal hinaus. Das Strafmaß erfuhr er erst am nächsten Tage aus den  Zeitungen. Iwanowitsch wurde zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt, die übrigen  Angeklagten von einem bis zu fünf Jahren. Von den Angeklagten ging nur einer  straflos aus, der ehemalige Honvedkadett Czengery Tassilo.
  Unter den Geschworenen waren zwei Frauen, und der Baron Czengery Tassilo war  ein schöner Jüngling, dessen ungezwungenes Wesen ihn sympathisch machte. Seine  rabenschwarzen Haare, seine feurigen Augen waren zu schön — und überdies sprach  er als einziger fließend die Landessprache, während die anderen sie nur  radebrechten.
  Der Abgeordnete Jandak eilte aus dem Gerichtsgebäude hinaus und sprang auf eine  Straßenbahn, die eben vorbeifuhr. Er fuhr zum Unterrichtsministerium. Das  Lächeln nach dem Urteil der Geschworenen saß noch auf seinen Lippen, aber er  hatte keine Zeit mehr, an den Prozess zu denken. Es kam häufig vor, — und darin  lag die Annehmlichkeit seines Lebens, dass Eindruck auf Eindruck folgte, und  dass er erst daheim, im Bett, Zeit hatte, zu ordnen und zu vergleichen.
  Der Minister, ein Parteigenosse, hatte ihn zu sich gebeten. Das war sehr  sonderbar. Was konnte der Minister ihm, dem Revolutionär Jandak, sagen, wo sie  sich doch morgen trennen würden?
  Der Abgeordnete hatte seinen Augen nicht getraut, als er des Morgens den Brief  des Ministers erhalten hatte, der mit kleinen kräftigen Buchstaben geschrieben  war, in denen noch die ursprüngliche Schwerfälligkeit des Arbeiters gewahrt  blieb, die aber in letzter Zeit seltsame Schnörkel ansetzten. Der Brief sagte  nichts über den Zweck des Besuches, er enthielt nur eine freundschaftliche  Bitte um eine Unterredung in „dringender Angelegenheit".
  Es war kein Anlass, nicht hinzugehen.
  Der Minister altert. Seine neue Würde macht ihn gesprächig, und wenn der Besuch  sonst keinen Zweck hat, wird vom Minister doch einiges zu erfahren sein.
  Der Portier des Barockpalastes in der Kannelitergasse war orientiert, der  Amtsdiener gleichfalls. Der Minister begrüßte den Abgeordneten herzlich, und  sein Händedruck war freundschaftlich.
  „Verzeih, bitte", sagte er aufrichtig und warm, „ich hätte dich selbst  aufgesucht, aber ich bin von morgens bis abends eingespannt, es ist zum  Verzweifeln, wie viel Arbeit ich habe, und wenn ich nur für kurze Zeit in den  Exekutivausschuss der Partei gehe, muss ich gleich in der Nacht  nacharbeiten."
  Jandak lachte ein wenig boshaft. Er wusste das. Man überhäufte die  Arbeiterminister mit einer Flut unnötiger Arbeit, damit sie die Verbindung und  den Zusammenhang mit dem Proletariat verlören.
  „Du warst noch nie hier", erinnerte sich der Minister.
  „Nein, du hast es sehr nett hier." Jandak blickte umher, und das Lächeln,  mit dem er eingetreten war, verließ ihn nicht.
  „Komm, ich zeige dir, wie wir uns eingerichtet haben." Der Minister führte  den Gast durch die Säulen- und Karyatidenpracht des Palastes, durch weiße Gänge  und Säle, die in Büroräume des „Ministeriums für Kultus und Unterricht"  umgewandelt waren. Er zeigte ihm die Teppiche, Gobelins, Bibliotheken, die  Bilder mittelalterlicher und moderner Meister, und seine zufriedene Stimme und  seine Augen, die vor Freude glimmten, sprachen:
  „Sieh, Genosse Jandak, das ist die Demokratie! Hier fanden früher die  Beratungen der feudalen Tyrannen statt, hier berieten sie, wie man das Volk  noch besser knechten und ausbeuten könnte. — Und nun kennen wir hier keinen  anderen Gedanken als den, wie man dem Volk am besten dienen kann. Hier  herrschte noch vor zwei Jahren mittelalterliches Dunkel, jetzt ist das  Ministerium für Unterricht hier untergebracht. Hier regierten noch vor kurzem  fremde Fürsten, die Fürsten Kamil und Alaine Rohan. Jetzt befehle ich hier,  Gustav Habrmann, ehemaliger Drechsler, der in den achtziger Jahren vier Jahre  Zuchthaus wegen Komplotts gegen die Sicherheit des Staates absitzen  musste!"
  Und als er die Holzschnitte eines modernen Zeichners zeigte, fragten seine  Augen:
  „Siehst du, wie ich die moderne Kunst fördere? Unsere Künstler werden nicht  mehr wie in der Monarchie hungern müssen, die Kunst wird unter unserer  Arbeiterhand aufblühen."
  Und der bange, traurig-ernste Blick, den er im Gobelinsaal auf Jandak heftete,  bedeutete: Ist es tatsächlich möglich, dass sich in unserem Land ein Verbrecher  oder Irrsinniger findet, der diese schwer errungene Freiheit vernichten wollte?  Ist es möglich, dass er sich in den Reihen der Arbeiter finden würde, denen  unser Herz und unsere ganze Arbeit gehört?
  Jandak ging durch Gänge und Säle, nickte mit dem Kopf und lächelte geduldig, so  wie ein Erwachsener einem Kind zulächelt. Er kannte zu genau den Ursprung und  den Zweck dieser Pracht.
  Der Abgeordnete und der Minister kehrten in das Arbeitszimmer zurück und saßen  einander in Ledersesseln gegenüber. Die Füße ruhten auf Perserteppichen. Der  ernste Ausdruck Habrmanns bezeugte, dass nun der eigentliche Zweck des Besuches  folgen würde, die politische Aussprache.
  Der Minister blickte mit seinen traurig-schönen Augen auf Jandak. Der  Abgeordnete hatte Habrmann schon lange nicht so aus der Nähe gesehen. Der  ehemalige Arbeiter und Provinzjournalist hatte sich in einen eleganten amerikanischen  Gentleman verwandelt. Er war glatt rasiert und gekämmt. Kleider, Wäsche und  Schuhe schienen erst gestern in einem ersten Geschäft auf dem Broadway gekauft  zu sein. Bloß die Augen waren unverändert geblieben. Sie waren schön und weich  und hatten jenen eigenartig leuchtenden Glanz, der immer aufs neue fesselte.  Jandak kannte den Ursprung dieses Glanzes. Er wurde im Gefängnis geboren.  Solche Augen verblieben den traurigen Gefangenen für ihr Leben, den Gefangenen,  die vier Jahre aus einer Entfernung von viereinhalb Schritten auf die Wand  ihrer Zelle geblickt und ihre ganze weiße Enge eingeatmet hatten.
  Der Minister sah nicht gut aus, man merkte, dass er ermüdet und überarbeitet  war, und dass sich das Alter meldete.
  Habrmann beugte sich nach langem Schweigen ganz nahe zu Jandak. Der Abgeordnete  hatte seine Hände auf die Knie gelegt, und der Minister legte die seinigen auf  sie.
  „Jandak", Habrmanns Stimme klang traurig, „Jandak, alter Kamerad",  die Augen Habrmanns waren trauriger als je zuvor. „Was macht ihr nur?"
  „Na, was machen wir?" lachte der Abgeordnete.
  „Eine falsche Politik, Karl, eine furchtbare Politik." Der Minister fasste  mit den Händen an die ergrauenden Schläfen.
  „Begreif mich doch, Freund, begreif mich doch."
  „Ich höre", sagte der Abgeordnete. Was nun kam, war schon viel weniger  überzeugend als die Augen Habrmanns und die Wärme seiner Hände, denn Habrmann  war nur in Gefühlen groß.
  „Revolution, jawohl, Revolution. Ist denn Habrmann kein Revolutionär, hat er  denn nicht sein ganzes Leben dafür gearbeitet und gelitten? Aber es geht nicht  darum, dass die Arbeiterschaft in der Revolution geschlagen werde, es geht  darum, dass sie siege! Die Revolutionszeit ist vorbei! Es ist ein furchtbarer  Irrtum, sich an die Russen anlehnen zu wollen. In Russland ist keine soziale  Revolution im Marxistischen Sinne, es ist eine verspätete Form der Lösung des  Agrarproblems, das bei uns schon seit achtundvierzig gelöst ist."
  Der heroische Kampf des russischen Proletariats ergreift auch Habrmann tief,  aber:
  „Glaubst du denn, dass der westliche Kapitalismus gestatten wird, dass die  Arbeiter ein Sechstel der Welt beherrschen. Die kapitalistische Bestie ist zu  groß, die kapitalistische Bestie wird sie ersticken."
  „Sieh mal", sagte Jandak zu sich, „die Terminologie ist unverändert  geblieben, sie bleibt dieselbe auch bei der Propagierung kapitalistischer  Ansichten." Und er fragte:
  „Was für euch ein Grund ist, den Sozialismus zu verraten und sich gegen ihn in  den Dienst der kapitalistischen Bestie zu stellen... ?"
  „Sprich nicht so aufgeregt, Karl! Hör auf mich! Von heute in einem halben Jahr  gibt's keine Sowjets mehr in Russland. Was dort kommen wird, wissen wir nicht.  Gebe es das Schicksal, dass die Demokratie kommt, aber es ist höchste Gefahr,  dass die Reaktion in ihrer furchtbarsten Gestalt kommt. Was macht ihr dann,  wenn ihr das Schicksal der Arbeiterschaft auf diese einzige Karte gesetzt  habt?"
  » Vor einem Jahr habt ihr mit der gleichen Bestimmtheit behauptet, dass die  Sowjets in drei Monaten zu Ende sein würden", antwortete Jandak ein wenig  boshaft.
  „Ja, wir glaubten dies, und wir haben uns geirrt. Aber waren Koltschak, Denikin  und der polnische Krieg Kleinigkeiten? Das waren die letzten Schläge, die das  russische Proletariat noch ertragen hat. Aber jetzt nähert sich das Ende der  Revolution sehr schnell. Das Land ist verwüstet, die Eisenbahnen fahren nicht,  die Industrie feiert, Hunger und Elend sind ungeheuer. Der Staat hat keine  Finanzen. Das ist das Ende, trotz aller Opfer und Heldentaten!"
  Der Minister versank in Schweigen. Dann setzte er sich auf den Rand des  Sessels, noch näher zum Abgeordneten heran, und fuhr fort:
  „Ich sollte dir dies nicht verraten. Aber es geht um wichtige Dinge, und dann,  welches Staatsgeheimnis könnte zwischen uns stehen, Genosse?"
  Dann sagte er Wort für Wort eindringlichst und mit Betonung, so dass sich  Jandak der Verkündung des Geschworenenurteils erinnern musste.
  „Es wird eine furchtbare Intervention gegen Russland vorbereitet, eine  furchtbare und großzügige Intervention, ein riesiger Angriff von außen, der mit  einem Aufstand im Innern verbunden sein wird. Das ist der letzte Schlag. Das  erschütterte Russland wird ihn nicht mehr ertragen. Nach einem halben Jahre ist  es mit den Sowjets vorbei, das ist die letzte Frist, Genosse Jandak."
  Diese Nachricht machte auf den Abgeordneten nicht den Eindruck, den der  Minister erhofft hatte. Jandak lachte sogar bei dieser Mitteilung, und diese  „Frivolität" tat Habrmann weh.
  „Glaubst du, dass der russische Bauer den Großgrundbesitzern den Boden  zurückgeben wird?" fragte
  Jandak.
  „Nein, er wird ihn nicht hergeben, er wird sich bis zum letzten Blutstropfen  wehren, aber sie werden den armen Muschik erschlagen."
  „Ich habe andere Informationen von der inneren Kraft
  Russlands."
  „Deine Informationen sind einseitig und falsch, Karl. Wir haben größere  Möglichkeiten, uns zu informieren, und wenn Russland noch so stark wäre, kann  es gegen die ganze Welt bestehen?"
  Jandak zuckte die Achseln. Es hatte keinen Sinn zu streiten. Er kannte diese  Gründe alle zu gut, die Gründe und Gegengründe. Es hatte keinen Sinn. Alles,  was von beiden Seiten gesagt werden konnte, war auf Hunderten von  Arbeiterversammlungen bereits gesagt worden. Habrmann wusste dies nicht. Er  wusste zwar, dass Versammlungen über Versammlungen stattfanden, dass dort „unverantwortliche  Elemente" gegen die Regierung und den Staat schürten, und dass sie die  kleinen Schwierigkeiten und Kinderkrankheiten der demokratischen Republik dazu  benutzten, um das Proletariat „zu verhetzen". Er wusste dies aus den  Zeitungen und aus dem Ministerrat. Aber wie die Arbeiter wirklich dachten,  wusste er nicht. Er hatte keine Zeit, er war Minister.
  „Genosse Jandak, ich sage dir Dinge, die ich dir nicht sagen dürfte",  sagte er ernst, erhob sich aus seinem Sessel, stellte sich neben den Abgeordneten  und blickte ihn an:
  „Wir haben Nachrichten, dass ihr einen Putsch vorbereitet."
  Die Augen des Ministers bekamen einen traurigen Ausdruck, er atmete tief, und  es war zu sehen, dass ihm die Bangigkeit die Brust zusammenschnürte.
  „Jandak, was wollt ihr machen gegen die kapitalistischen Kanonen?"
  Es klang tragisch.
  „Der Ministerpräsident ist Parteigenosse", antwortete Jandak, sich zur  Ruhe zwingend, „ihr entscheidet. Ohne euren direkten Befehl darf man die  Kanonen nicht gegen die Arbeiter verwenden. Oder seid ihr der Bourgeoisie schon  so verfallen, dass ihr auch dazu bereit seid?"
  Aus den Augen des Abgeordneten schlug Feuer, und der Minister senkte die seinen  vor ihnen.
  „Jandak", sagte er väterlich, „höre mich an, wir wollen unterstellen, dass  ihr euch der Regierungsgewalt bemächtigt und einige Wochen unter furchtbaren  Opfern regieren könnt. Aber was geschieht in einem halben Jahr, wenn Russland  zusammenbricht? Denk doch bis ans Ende, Genosse, Kamerad Jandak."
  Der Minister faltete die Hände zu einer flehentlichen Bitte.
  „Weißt du, wer dann regieren wird? Nicht die Arbeiter wie heute, aber die  äußerste Reaktion, Großindustrie, Banken, der Klerus und die Soldateska.  Jandak, erbarmt euch der Arbeiterschaft!" Der Minister weinte.
  „Bewahrt sie vor einem Blutbad, nehmt den Arbeitern nicht das, was wir für sie  erobert haben."
  Die Tränen liefen aus den Augen des Ministers. Sie liefen über die glatten  Wangen eines amerikanischen Gentlemans. Jandak erschrak. Das Lächeln, mit dem  er eingetreten war, verging ihm. Habrmann glaubte an das, was er sagte.
  Seine Tränen sind ehrlich!
  Der Minister setzte sich von neuem in den Sessel. Er nahm ein Batisttuch aus  der Brusttasche und trocknete sich die Augen. Sie schwiegen eine Zeitlang, dann  wollte Habrmann fortfahren:
  „Sieh mal, Jandak, du sprichst von euren Informationen über Russland... "
  Aber in dem Augenblick, als der Minister zum väterlichen Ton zurückfand,  erfasste Jandak ein wilder Hass gegen ihn, ein unerbittlicher Hass, der ihn  ganz erfüllte. Er konnte sich nicht länger beherrschen und sprang auf.
  „Was erzählst du mir da dauernd von vergossenem Arbeiterblut, kapitalistischen  Kanonen? Was für kapitalistische Kanonen? Das sind eure Kanonen. Ihr habt die  Macht in der Hand. Eure soziale Pflicht ist es, sie gegen die Bourgeoisie zu  kehren. Das wirst du allerdings nicht machen! Im Gegenteil, du weißt, dass du  sie gegen uns wenden wirst, weil es die Bourgeoisie befiehlt. Aber dann jammere  nicht! Gesteh, dass du der Bourgeoisie verfallen bist und markiere nicht den  Beschützer des Proletariats."
  Sie standen einander gegenüber, und Jandak schrie dies in die Ohren des  Ministers. Plötzlich sah er, dass diese Augen ihn weitgeöffnet anblickten, und  dass in diesen Augen Kummer und Schmerz war ob des unerhörten Unrechts.
  „Ich?" sagte Habrmann.
  „Du!" war die wütende Antwort.
  „Ich will Arbeiterblut vergießen, das sagst du mir, Karl?"
  „Keinem anderen."
  „Ich?"
  Dem Minister kamen von neuem die Tränen. Jandak winkle mit der Hand ab. Er  machte einige Schritte durch das Arbeitszimmer.
  Dabei fiel es ihm ein, dass er hier nichts mehr zu suchen hatte, und wie  sinnlos dies alles sei. Er trat schnell an Habrmann heran.
  „Leb wohl!" Habrmann fasste ihn ängstlich an der Schulter:
  „Nein, Karl, du darfst nicht gehen. So wollen wir nicht auseinander gehen. Es ist  ausgeschlossen, du musst mich noch anhören."
  Der Minister begann von neuem. Er sprach lange. Jandak hörte verdrossen zu und  war ärgerlich, dass er sich hatte aufhalten lassen.
  „Versprich mir, Genosse Jandak, dass ihr vor einem halben Jahr nichts unternehmen  werdet."
  „Ich verspreche nichts. Ein halbes Jahr und noch ein halbes Jahr und noch ein  halbes Jahr, nur solange, bis die Bourgeoisie gegen uns gerüstet ist. Wenn sie  soweit ist, dann jagt sie euch einfach davon, weil sie euch dann nicht mehr  brauchen wird!" Der Minister war traurig.
  „Versprich mir wenigstens, dass du über meine Worte nachdenken wirst."
  „Na, das kann ich dir ja versprechen." „So, — nun das genügt mir  einstweilen."
  Jandak hielt die Unterredung für beendet. Er erhob sich, der Minister auch.
  Er begleitete ihn zur Tür. „Was macht dein Junge?"
  „Er geht jetzt ins Kittchen", lachte der Abgeordnete ironisch: „Ihr habt  ihn ja für vierzehn Tage eingelocht." Die Augen des Ministers leuchteten  auf, er fasste die Hand des Abgeordneten warm:
  „Das ist gut, dort wird er hassen lernen. Der Junge hat mir stets gefallen.  Leiden ist eine schöne Sache, das macht den Menschen hart. Grüß ihn herzlich  von mir und bestelle ihm, dass er sich meiner erinnern soll, wenn sich hinter  ihm die Türe schließt und er merkt, dass sie von innen keine Klinke hat. Er  wird begreifen, warum ich ihm das sagen lasse, das ist ein Eindruck, den der  Mensch nie vergisst. Bestelle ihm, dass er dort erst hassen lernen wird."  Jandak erbebte. Er dachte sich: „Begreifst du denn nicht, Gustav Habrmann, dass  er dich hassen lernen wird?"
  Er kam aus dem Arbeitszimmer des Ministers in das Wartezimmer.
  Zwei Jahre leben diese Menschen in Palästen, nicht ganze zwei Jahre, und schon  sind sie tot.
  Mit dieser Feststellung war Jandaks Tag noch nicht beendet. Die Tage Jandaks  waren immer inhaltsreich, aber dies sollte der ereignisreichste von allen  werden.
  Im Wartezimmer saß der Ministerialdirektor Podhradsky. Als er Jandak erblickte,  sprang er auf und eilte zu ihm.
  „Ach, der Herr Abgeordnete Jandak. Meine Hochachtung!"
  Er reichte ihm die Hand: „Wie geht es Ihnen, was machen Sie?"
  Podhradsky verkehrte seit langen Jahren in der Gesellschaft von Politikern. Das  ursprüngliche Misstrauen gegen ihn, der damals noch Beamter des  österreichischen Innenministeriums war, hatte er durch seine ehrliche  Überzeugung, seine Informiertheit und seine persönliche Liebenswürdigkeit  verscheucht.
  Er war ein großer und mächtiger 35jähriger Mann mit einem roten, englisch  geschnittenen Schnurrbart, stets mit äußerster Sorgfalt gekleidet. Er war  fröhlich und hatte die Manieren eines Mannes von großer Welt. Er kannte Jandak  schon lange, und nach dem Sturz Österreichs hatten sie einige Nächte  miteinander gefeiert. Podhradsky war in das Innenministerium der jungen  tschechischen Republik eingetreten. Damals begannen sie sich auch zu duzen.  Aber jetzt, wo die Spannung zwischen Arbeiterschaft und Regierung wuchs, war es  nicht ratsam, mit dem Ministerialdirektor des Innenministeriums  zusammenzukommen.
  Podhradsky war im übrigen korrekt. Auf der Straße grüßte er nur höflich, und  auch jetzt duzte er den Abgeordneten nicht.
  „Kommen Sie doch zu mir herüber, Herr Abgeordneter! Sie bereiten mir eine große  Freude. Mein Zimmer ist hier über den Flur, ein paar Schritte nur."
  Jandak suchte eine Ausrede und zog die Uhr.
  „Ach, lassen Sie die Uhr, nur ein paar Worte, Herr Abgeordneter. Ich wollte  schon lange mit Ihnen sprechen, und ich bitte, mir nicht zu sagen, dass wir  nichts zu erzählen hätten. Sie werden sehen, wir haben einander viel zu  erzählen. Und wenn uns nun dieser glückliche Zufall zusammengeführt hat, — ich  bitte Sie herzlich darum."
  Jandak dachte sich: „Wenn ich schon hier bin, also gut... "
  „Ich danke Ihnen."
  Sie gingen über den Flur. Der Ministerialdirektor schloss eines der leeren  Büros auf, und sie traten ein, und als er Jandak zum Sessel geführt hatte,  stellte er sich neben ihn und blickte ihn mit freudig-freundschaftlichern  Ausdruck an:
  „Wie geht es Ihnen?"
  Er schob ihm Zigarettenschachtel, Aschenbecher und Streichhölzer hin.
  „Ich bitte!"
  „Ich rauche keine Regierungszigaretten." Podhradsky zog sofort sein  eigenes Zigarettenetui aus der Tasche und öffnete es.
  „Hier sind meine, Herr Abgeordneter."
  Er sagte dies so freundlich und nett, dass man nicht ablehnen konnte.
  „Erzählen Sie mir doch etwas von sich. Gehen Sie noch zur ,Goldenen  Spinne'?"
  Sein Gesicht erglänzte wie bei einer angenehmen Erinnerung.
  Jandak war die Erinnerung an die „Goldene Spinne" weniger angenehm. Das  war der Ort, wo er mit Podhradsky am Ende des Jahres 1918 einige Nächte durchgebummelt  hatte.
  „Das waren verrückte Zeiten damals", lachte der Ministerialdirektor.
  „Das waren sie auch. Wir waren alle besoffen von der vermeintlichen  Freiheit."
  „Warum vermeintlich?"
  „Ach, wir wollen die Politik heute lassen."
  „Es war doch sehr schön. Ich erinnere mich oft daran, wie lustig Sie waren, und  welche Lieder Sie sangen; — na, an die Erna mit dem schönen Haar erinnere ich  mich auch. Und im übrigen... "
  Plötzlich besann er sich und lachte:
  „Ich muss Ihnen etwas zeigen. Ich habe es beim Studium der Akten  gefunden."
  Er trat zum Schreibtisch, auf dem zwei Aktenbündel lagen. Er öffnete eines von  ihnen und blätterte darin:
  „Da haben wir's."
  Es war eine Photographie. Er schaute sie belustigt an und reichte sie Jandak.
  „Sehen Sie mal."
  Auf der Photographie war ein Chambre separee der „Goldenen Spinne"  abgebildet. Im Vordergrund der silberne Kübel mit der Sektflasche, dahinter ein  Tisch mit Gläsern, belegten Broten und zerdrückten Servietten. In der linken  Ecke deutlich erkennbar der Abgeordnete Jandak mit einer halbnackten Bardame  auf den Knien. Im Hintergrund die schönhaarige Erna. An ihrer linken Seite saß  der Abgeordnete Petak und führte ein Glas zum Mund. Zu ihrer Rechten der  Ministerialdirektor Podhradsky. Dieses Bild musste nur ein wenig vergrößert  werden, und es konnte in irgendeinem Arbeiterblatt als Satire auf die  Bourgeoisie erscheinen. Jandak errötete.
  „Was ist das?"
  „Was das ist?" lachte Podhradsky. „Das ist die ,Goldene Spinne' von Anno  neunzehnhundertneunzehn. Mit solchen Dingen unterhält sich die Staatspolizei.  Sie glaubt sich Gott weiß wie verdient zu machen, wenn sie uns diese  Photographie der ,Goldenen Spinne' bringt. Das ist doch eine Sensation! Der  Abgeordnete Jandak, der Abgeordnete Petak, der Ministerialdirektor Podhradsky  beim Sektgelage! Provinzialismus! Ich habe erst später erfahren, dass der  Kellner, der uns bediente, Polizeispitzel war. Der hat uns ganz schön  eingefangen. Das Objekt saß in der Krawattennadel. Ein gescheiter Bengel. Diese  Photographie allerdings ist stark vergrößert."
  Jandak flog ein Gedanke durch den Kopf: so ist das also! Er war auf Bitten  Podhradskys hierher gekommen, aus Höflichkeit, um den Kameraden nicht zu  beleidigen, und jetzt sah er, dass ihn der Kamerad in die Falle gelockt hatte,  um ihm die Schlinge um den Hals zu legen. So ist das! Er wurde erregt.
  „Hören Sie, Herr Ministerialdirektor", sagte er feierlich und Wort für  Wort betonend: „Es scheint, Sie haben mich nur hierher gebeten, um mir die  Photographie zu zeigen."
  „Was fällt Ihnen ein, aber ich habe mich erinnert, dass sie Sie interessieren  könnte", antwortete Podhradsky freundlich.
  „Um mir mit ihrer Veröffentlichung zu drohen?!"
  „Herr Abgeordneter", rief Podhradsky bestürzt, „was sagen Sie da."
  „Um mich politisch zu missbrauchen!"
  „Jetzt hätte ich ein Recht, wirklich ein Recht, beleidigt zu sein. Haben Sie  mich erst heute kennen gelernt, dass Sie mich einer solchen Sache für fähig  halten?! Bitte, nehmen Sie die Photographie."
  „Sie haben das Negativ."
  „Wie könnte es mir einfallen, Ihnen mit der Veröffentlichung zu drohen. Sie  könnten mir ja sagen, dass ich selbst darauf photographiert bin und in einer  unangenehmeren Situation als Sie, bitte überzeugen Sie sich!"
  Und der Ministerialdirektor lachte: „Glauben Sie, dass ich mich der Politik  wegen von meiner Frau scheiden lassen und meine Kinder verlieren will?"
  „Ihr Gesicht kann bei der Reproduktion verkratzt werden."
  Podhradsky schwieg.
  „Ihr Gesicht kann auf dem Negativ bis zur Unkenntlichkeit retuschiert  werden", wiederholte Jandak bedeutungsvoll.
  „Das hat man mir auch gesagt", antwortete der Ministerialdirektor. Er  sagte es ernst, und er unterstrich diese Worte durch einen noch ernsteren  Blick. Jandak sprang auf:
  „Ach, hat man Ihnen das gesagt?" Er trat zu Podhradsky.
  „Sie irren sich, glauben Sie nicht, dass ich Sie fürchte. Veröffentlichen Sie  es! Meine Frau ist vernünftig genug, das alles zu verstehen, wenn ich es ihr  erkläre."
  „Herr Abgeordneter!" antwortete der Ministerialdirektor ruhig und wich  nicht einen Schritt vor Jandak zurück.
  „Die Photographie wird nicht veröffentlicht, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort. Sie  werden mir jetzt glauben. Ich habe Ihnen nie einen Grund gegeben, mich für  wortbrüchig zu halten. Aber wenn Sie mich schon für hinterlistig halten,  gestatten Sie, dass ich Ihnen folgendes sage: Als von der Möglichkeit  gesprochen wurde, diese Photographie zu veröffentlichen, habe ich mich, ich  versichere Ihnen das auf mein Wort, mit aller Entschiedenheit dagegen gewandt.  Nicht die Rücksicht auf meine Familie war das Ausschlaggebende, sondern lediglich  die Wirkung, die es auf die Arbeiterschaft haben würde." Jandak war sehr  erregt.
  Welche Gemeinheit, rein persönliche Angelegenheiten zu politischen Zwecken  auszubeuten! Und welche Frechheit zugleich, in einem Satz zu versprechen, dass  die Photographie nicht veröffentlicht würde und zu drohen, dass man ihn vor der  Arbeiterschaft bloßstellen wollte!
  „Bitte", sagte er, „veröffentlichen Sie sie nur, ich habe nichts  dagegen."
  „Wir werden sie nicht veröffentlichen, Herr Abgeordneter." Podhradsky  sagte dies mit förmlicher Höflichkeit. Jandak durchmaß das Büro einige Male,  dann blieb er vor dem Ministerialdirektor stehen und betrachtete ihn.
  „Ihr seid Lumpen, ihr seid Lumpen, und du bist einer der schlimmsten, und ich  alter Esel habe euch geglaubt.
  Es geschieht mir recht, aber glaubst du denn, du Dummkopf, dass ich mich mit  eurer Photographie kaufen lasse?" „Karl, schrei nicht, nebenan könnten  noch Leute sein." Jandak senkte die Stimme.
  „Ich weiß, was ihr wollt. Ich soll die Arbeiterschaft auf eure Seite führen und  der Bourgeoisie ausliefern. Ihr zittert vor der Revolution, und in dieser Angst  ist euch kein Mittel zu schlecht. Wie dumm seid ihr. Ihr glaubt, dass ihr mit  Photographien siegen werdet! Vor einer Weile hat Habrmann auf mich  eingeredet..."
  Plötzlich kam ihm die Erleuchtung, als ob der Name Habrmann ihm die Augen  geöffnet hätte.
  Er schlug mit der Faust gegen die Stirn, er trat noch einen halben Schritt  näher zu Podhradsky:
  „Hören Sie, Herr Ministerialdirektor, Sie sind doch im Innenministerium."
  Podhradsky blickte ihn schweigend an, es war der Blick des Beamten, den der  Vorgesetzte tadelt.
  „Ihr Amtszimmer kann doch nicht in diesem Gebäude sein."
  Der Ministerialdirektor schwieg.
  „Das ist nicht Ihr Büro. Sie haben sich's für eine Stunde ausgeliehen, und die  Photographie haben Sie sich mitgebracht. Unser Zusammentreffen war kein Zufall,  Sie haben auf mich gewartet, Habrmann hat Ihnen telefoniert."
  Podhradsky blickte ihm in die Augen. „Ist es so oder nicht", brüllte  Jandak. „Nicht ganz, Herr Abgeordneter. Herr Minister Habrmann hat mir nicht  telefoniert. Der Minister — ich weiß
  nicht, wie ich das ausdrücken soll, ohne die vorgeschriebene Achtung gegen ihn  zu verletzen —, entschuldigen Sie, Herr Abgeordneter, ich sage es ohne  Umschweife, Herr Minister Habrmann ist nicht gewandt genug in diesen Sachen.  Wir wussten, dass Sie hier sind."
  „Du Komödiant", Jandak sagte dies, und Verachtung lag in seiner Stimme und  Abscheu in seiner Gebärde. „Du alter Komödiant. Ihr seid eine feine  Gesellschaft, höchste Zeit, euch zu verjagen!"
  Und nach einer Weile: „Was willst du eigentlich von mir?"
  Der Ministerialdirektor war jederzeit bereit, auf das „Duzen" oder  „Siezen" einzugehen, je nach Wunsch des Abgeordneten:
  „Mit dir sprechen."
  „Warum gerade mit mir?"
  „Du kennst die Verhältnisse ebenso wie ich. Der Abgeordnete Deutsch und der  Abgeordnete Soukup haben kaum noch Einfluss auf die Arbeiterschaft, den hat  jetzt Doktor Schmeral, und den hast du."
  „Warum sprichst du nicht mit Schmeral? Ihr habt wohl keine Photographie von  ihm?"
  „Lass die Photographie, der Herr Doktor Schmeral will sich nichts sagen  lassen." Jandak lachte:
  „Und ihr denkt euch, ich lasse mir was sagen?"
  „Ja." Jandak lachte nochmal:
  „Sicher?"
  „Sicher, Karl", es klang vollkommen überzeugt.
  Jandak setzte sich. Er ließ seinen ironischen Blick auf dem Ministerialdirektor  ruhen.
  „Wie du siehst, sitze ich schon, du kannst in deinen Drohungen  fortfahren."
  „Ich würde dich zuerst gern über einige Dinge informieren, von denen du  vielleicht nichts weißt."
  „Hm... "
  „Zum Beispiel darüber... "
  Der Ministerialdirektor ging zum Schreibtisch, machte ein zweites Fach auf.
  Er nahm eine Liste heraus und reichte sie Jandak. Jandak sah sie an, dann brach  er in ein Lachen aus. Nicht in jenes wütende Lachen, das er zuerst gelacht  hatte, nein, in ein fröhliches Gelächter.
  „Da hast du das Zeug zurück, Mensch, um Gotteswillen, heb es sorgfältig auf,  dass es dir niemand stiehlt. Da lachen ja schon die Hühner drüber. Ein  Verzeichnis der Personen, die durch die Bolschewiken hingerichtet werden  sollen. In erster Linie der Präsident, als zweiter Deutsch, dann Soukup. Ich  weiß das auswendig, muss nicht einmal nachsehen. Ja, glaubst du denn, dass ich  dir auf diesen Leim gehe? Ich soll auch hingerichtet werden." Er lachte.
  „Ich habe dich nicht in Verdacht, dass du an dieses Dokument glaubst, aber eins  wüsste ich gern: schämst du dich denn gar nicht?"
  „Es ist ein Dokument wie irgendein anderes, es ist nicht meine Sache, seine  Echtheit zu prüfen. Wenn es bei dir den Zweck verfehlt, kann man nichts machen,  aber zum Teil hat es seine Aufgabe schon erfüllt, sei es nun echt
  oder gefälscht. Ich hab gar keinen Anlass, mich zu schämen. Die Zeiten sind zu  ernst. Wir zittern. Nicht um unsere Existenz, nicht um unsere Reichtümer, wie  ihr sagt, du weißt genau, dass ich nichts besitze und gegen dich ein Bettler  bin. Aber wir fürchten den Bürgerkrieg, den ihr entfesseln wollt. Wir zittern  um Tausende von Leuten, die uns anvertraut sind, wir fürchten um den Bestand  der Republik, und in solcher Zeit ist jedes Mittel heilig, das die Heimat vor  dem Abgrund bewahrt."
  Jandak dachte: Ach, eine Tirade, die Anspruch erhebt auf Gefühlsechtheit. Wie  widerwärtig, niedrige Regungen hinter idealistischen Motiven zu verbergen!
  Er fühlte die Notwendigkeit, den Beamten zu kränken. Nicht durch irgendein  Schimpfwort, deren einige Podhradsky heute schon ertragen hatte, nein, durch  eine Beleidigung, die tief gehen würde. Er sagte:
  „Hör mal, als du vor dem Krieg als Beamter des kaiserlichen Innenministeriums  in unsere Gesellschaft kamst, waren wir uns alle einig, dass du ein Spitzel  bist. Aber dann haben wir den ersten Eindruck vergessen, und das war ein  Fehler. Jetzt bin ich fest davon überzeugt, dass du für Seine Majestät  schmutzige Arbeit verrichtet hast, dass du die Arbeit für Seine Majestät mit derselben  Begeisterung und dem gleichen Raffinement verrichtet hast, wie du es jetzt für  die Republik tust."
  Er sagte dies mit einer bösartigen Ruhe. Zum ersten Mal senkte der  Ministerialdirektor bei diesem ungleichen Zweikampfe vor dem Angriff Jandaks  die Augen. Er errötete sogar. Nur ein kleines bisschen, und nur für einen  kurzen Augenblick, so, als ob er sich klarmachen wollte, dass er kein Recht  habe, sich zu erregen, kein Recht, die Wunde mit einer anderen, schärferen zu  vergelten, dass er nicht einmal das Recht habe, das Tempo seines Angriffs zu  verschärfen, und dass es seine Pflicht sei, mit ruhigem, vorherberechnetem  Schritt dem Ziel zuzustreben, das er erreichen musste.
  „Es ist ein Irrtum, wenn du meinst, dass ich gespitzelt habe", sagte er,  „aber es ist keine Unehre für mich, dass ich auch damals ein gewissenhafter  Beamter war. Ich schäme mich dessen nicht, dass wir auch damals für die Ruhe  und für die Sicherheit der Bürger gesorgt haben." Jandak lachte herzlich.
  „Na ja, ich sage ja auch nichts anderes, und du hast sehr gut dafür gesorgt! Du  hast bis zum Weltkriege dafür gesorgt. Im übrigen scheint's, dass wir zu Ende  sind. Ich glaube, ich kann jetzt gehen."
  „Ich bitte dich noch um einen Augenblick."
  „Was gibt's denn noch?"
  „Ich würde gern mit dir ein wenig politisch sprechen."
  „Politisch? Das hat schon Habrmann getan."
  „Er hat nicht alles gesagt."
  „Bitte! Es beginnt sogar mich zu interessieren. Ihr fürchtet den Bürgerkrieg.  Das ist begreiflich, denn ihr werdet dabei alles verlieren. Ich könnte dir sagen,  dass es gegen den Bürgerkrieg nur ein Mittel gibt. Das wäre, dass ihr euch  freiwillig eurer politischen und eurer Eigentumsprivilegien begebt. Du wirst  mir darauf antworten, dass dies unmöglich ist, und wir werden wieder da stehen,  wo wir jetzt sind. Ihr fürchtet euch, also gut, aber was weiter?"
  „Die gegenwärtige Ordnung lässt die Enteignung nicht zu, und wir wollen auch  die jetzige Ordnung nicht ändern, weil wir überzeugt sind, dass sie der  Mehrheit der Bevölkerung am besten entspricht... "
  „Dass sie euch am besten entspricht!"
  „Jawohl, ich gehöre auch zu jener Mehrheit. Wir wollen uns allerdings anders  schützen. Wir wollen eine größtmögliche Anzahl zufriedener Leute schaffen, auf  die wir uns stützen können. Man kann nicht alle befriedigen."
  „Das bedeutet, dass man die Arbeiterschaft nicht befriedigen kann."
  „Ihre breitesten Schichten vorläufig nicht; du weißt, dass viele Versuche in  dieser Richtung unternommen wurden, dass der gute Wille vorhanden war, dass ihr  eure besten Leute in der Regierung habt. Die Wirtschaftslage lässt mehr nicht  zu."
  „Sprichst du aufrichtig?"
  „Mit unserer Bodenreform, unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik verfolgen wir  das Ziel, in allen Schichten der Bevölkerung selbständige, vermögende,  zufriedene und dem Staate ergebene Bürger zu schaffen."
  „Nur unter der Arbeiterschaft nicht und alles auf Kosten der Arbeiter. Darin  liegt ja eben die Gemeinheit, die man bekämpfen muss."
  „Auch unter der Arbeiterschaft wollen wir eine Schicht Zufriedener  schaffen."
  „Das höre ich zum ersten Mal."
  „Wir können nicht die Wünsche der ganzen Klasse befriedigen, aber ihre Führer,  die besten Männer der Arbeiterschaft, können wir nach den Gesetzen der  natürlichen Auswahl zu wohlhabenden und zufriedenen Menschen machen. Eine ganze  Anzahl eurer Leute ist zu Aufsichtsräten von Banken und  Wirtschaftsunternehmungen ernannt worden. Wir haben ihnen hohe Einkommen aus  politischen, kulturellen und humanistischen Institutionen besorgt. Warum haben  wir dies getan? Aus persönlicher Sympathie? Nein, um sie von den Launen der  Straße unabhängig zu machen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, eine  staatserhaltende und reelle Politik zu machen, die alles in allem auch für die  Arbeiterschaft die allein richtige ist.
  Jandak lachte ironisch.
  „Willst du auch mich korrumpieren?"
  Der Ministerialdirektor überging die Frage und fuhr fort:
  „Ü berdies, und warum sollte ich das leugnen, haben wir es auch getan, um sie  uns zu verpflichten. Wir haben vielen Arbeiterpolitikern noch auf andere Weise  Geld zu verdienen gegeben, zum Beispiel auf dem Wege des Geschäfts, und sie  zeigten sich hierbei... ", der Ministerialdirektor lächelte kaum merklich,  „... sehr talentiert."
  Und jetzt fuhr er etwas langsamer als vorher und um einen Grad eindringlicher  als vorher fort. Sein Ton blieb jedoch immer der eines Weltmannes,
  „Ihre Frauen und Töchter waren uns ausgezeichnete Helferinnen. Das ist  schließlich nur menschlich und ganz begreiflich. Warum sollte die Frau eines  sozialistischen Politikers nicht anständig wohnen, im Auto fahren, Seidenwäsche  und Pelze tragen und eine Loge im Theater besitzen? Frauen sind beweglicher als  Männer, die man schwer vom harten Prinzip zur praktischen Arbeit bringen kann.  Also kurz gesagt, das Geschäft hat uns gleichfalls gute Dienste geleistet, und  wenn sich ein Arbeiterpolitiker bei Lieferungen, die wir ihm anvertraut haben,  nicht so korrekt benahm, wie wir es von einem Berufskaufmann verlangen würden,  musste man eben ein Auge zudrücken. Ich spreche heute ganz aufrichtig, wir  waren froh, wenn er ein bisschen inkorrekt war. Auch Inkorrektheit verbindet.  Wer einmal ein nicht ganz reelles Geschäft mit uns getätigt hat, muss sich  dessen bewusst sein, dass wir immer die Möglichkeit haben, dies seinen Wählern  mitzuteilen."
  „Hm... ", sagte der Abgeordnete Jandak und versuchte zu lachen. Aber das  Lachen blieb ihm in der Kehle stecken. „Du erzählst sehr interessante Dinge von  der Korruption, willst du mich vielleicht auch korrumpieren? Hast du vielleicht  die Vollmacht, mir eine Aufsichtsratsstelle anzubieten?"
  „Es besteht kein Zweifel, dass sich mit der Zeit auch über einen  Aufsichtsratsposten sprechen ließe, heute kann ich dir freilich keinen  anbieten."
  „Womit willst du mich also bestechen?" Es sollte ironisch klingen, aber  die Ironie versagte.
  „Bestechen?"
  Der Ministerialdirektor zuckte kaum merklich die Achseln, neigte den Kopf  unmerklich zur Seite und zog das Wort in die Länge. Er blickte den Abgeordneten  von der Seite an:
  „Das ist nicht mehr nötig."
  Der Abgeordnete Jandak wurde weiß wie das Kanzleipapier vor ihm.
  „Wie meinst du das?" fragte er mit einer Stimme, die sich vergeblich  bemühte, ruhig zu erscheinen. „Das ist schon geschehen."
  Der entsetzte Abgeordnete sprang auf: „Das ist schon geschehen?" schrie  er.
  Der Ministerialdirektor blickte ihm ruhig und ohne Antwort in die Augen. „Was  ist schon geschehen?"
  Die Augen des Abgeordneten funkelten leidenschaftlich. „Setz dich, Karl. Reg  dich nicht auf!" „Nein, nein", schrie Jandak, „was ist  geschehen?"
  Seine Stimme überschlug sich: „Denkst du an die Feuerlöschgeräte?"  „Ja!" antwortete Podhradsky ruhig. „Was gehen sie mich an?"
  Es war ein wilder Aufschrei.
  „Was gehen mich eure Feuerlöschgeräte an, und was geht ihr alle mich an?"  „Setz dich, Karl, und höre mich an!" „Damit werdet ihr mich nicht  erledigen, meine Herren!"
  Seine Stimme zischte.
  „Setz dich, Karl, du wirst sehen, dass wir uns einigen." „Ich fürchte mich  nicht."
  Seine Stimme wurde aber dabei schwächer. „Ich bitte dich, höre mich an."
  „Bitte!" sagte Jandak mit großer Geste und setzte sich, „bitte, fahr fort.  Also die Feuerlöschgeräte, — ich bin sehr neugierig." Er setzte sich.
  Auch der Ministerialdirektor setzte sich. Er saß dem Abgeordneten gegenüber,  heftete die Augen auf ihn und war entschlossen, ihn nicht mehr aufspringen zu  lassen.
  „Ich spreche nicht gern davon. Wie du siehst, verwende ich dies nur als letztes  Mittel. Die Zeiten sind zu ernst, als dass ein Mittel unverwendet bleiben  könnte. Du bist ein zu gefährlicher Feind, du musst die Propagierung des  Bolschewismus unterlassen. Es gibt keinen Ausweg, du musst, und ich lasse dich  nicht früher fort, bevor du mir nicht Garantien dafür gegeben hast!"
  „Ich bin neugierig, wie du mich dazu zwingen willst." „Ich werde den  Bericht über die Feuerlöschgeräte veröffentlichen."
  Jandaks Augen blitzten aufs neue auf. „Hör mal, das war doch ein Geschäft  meines Bruders!" „Gestatte, dass ich dich mit der Wiederholung des ganzen  Falles belästige, nicht wie d u ihn siehst, sondern wie wir ihn  betrachten", sagte der Ministerialdirektor. „Dein Bruder ist Bäcker, nicht  wahr. Was ging uns dein Bruder an? Was ist er schon? Ein anständiger Bürger,  der sich nicht mit Politik befasst, auf alle Fälle ein staatsbejahender Wähler.  Uns lag an deiner Person, am Abgeordneten Jandak, an dem Arbeiterführer und  Mann mit der gefährlichen Phantasie. Es war voriges Jahr im Frühling. Hunderte  von Staatsgebäuden wurden eingerichtet. Das gab eine wunderbare Gelegenheit für  Lieferantengeschäfte. Dein Herr Bruder ist ein kluger Mann und hat das gleich  erfasst. Eines Tages kamst du mit der Anfrage zu uns, ob er nicht die  Feuerlöschgeräte für eine Gewerbeschule liefern könnte, die dort irgendwo in  eurer Gegend gebaut wurde. Du hast dir das wahrscheinlich so vorgestellt, dass  dein Bruder ein paar hundert Mark verdienen könnte, die er gut gebrauchen kann.  Bei dieser unschuldigen Protektion gab's keine Gefahr, nicht wahr? Die Nation  war in schönster Harmonie. Wir kamen gesellschaftlich zusammen. Es war so, als  ob überhaupt keine politischen Parteien existierten. Wir waren von der Freiheit  besoffen, wie du es vorhin ausgedrückt hast. Konnte damals jemand daran denken,  dass wir uns in einem Jahr auf Leben und Tod gegenüberstehen würden? Siehst du,  ich muss dir gestehen, wir dachten schon damals daran! Unsere Diplomatie hat  uns besser informiert als du informiert wurdest. Wir sahen, wohin die Dinge  führten, und wir konnten uns vorstellen, auf welche Seite der Abgeordnete  Jandak sich seinem ganzen Temperament nach schlagen würde. Es lag uns sehr viel  an diesem Arbeiterführer, und wenn er schon mit einer Bitte um eine  bedeutungslose Protektion zu uns kam, dachten wir nicht daran, ihn mit einem  Verdienst von ein paar hundert Mark für seinen Bruder abziehen zu lassen.
  Wir mussten uns des Abgeordneten Jandak für Gegenwart und Zukunft versichern.  Wir verführten dich, — ich bin aufrichtig zu dir und bekenne es — wir  verführten dich ganz wissentlich und planmäßig! Wir taten so, als ob wir den  Fall der Gewerbeschule nicht richtig verstanden und forderten deinen Bruder  auf, ein Angebot auf zwanzigtausend Stück Feuerlöschapparate für Staatsgebäude  zu machen. Es klingt ein bisschen ungewöhnlich, dass ein Bäckermeister die  Minimaxe für den ganzen Staat liefert, aber solche Fälle gab es mehr als du  ahnst. Dein Bruder hat sich wohl über die Zahl sehr gewundert und hat im ersten  Augenblick nicht gewusst, was er damit anfangen sollte. Aber es ging. Ihr habt  schnell eine Gesellschaft für den Handel mit Feuerlöschapparaten gegründet und  sie ,Feuerschutz' genannt. Du, dein Bruder, ein Apotheker, namens Rehak, und  der Architekt Weigel. Die beiden letzteren haben das Geld gegeben, — du warst  stiller Gesellschafter. Ihr habt in Deutschland große Bestellungen gemacht und  habt das Stück zu fünfundsechzig Mark geliefert. Um sechs Mark fünfzig teurer  als die Konkurrenz. Sie waren besser, ich zweifle nicht daran, aus besserem  Material gemacht und von größerer Haltbarkeit. Wir wollen annehmen, dass diese  sechs Mark fünfzig den Reinverdienst darstellten. Wenn du diesen Betrag mit  zwanzigtausend multiplizierst, kommst du auf weit über hunderttausend Mark. Die  Summe musste durch vier geteilt wer- . den, also rund dreißigtausend Mark für  jeden Teilhaber. Das ist zwar kein Reichtum, aber es ist ein kleines Vermögen,  das zur wirtschaftlichen Zufriedenheit, oder wie wir Politiker sagen, zur  ,Staatsbejahung' langt. Der Abgeordnete Jandak war uns dieses Geld wert. Wenn  der Feuerlöschapparat noch um zwei Mark fünfzig teurer gewesen wäre, wir hätten  ihn trotzdem gekauft. Aber damit hat der Abgeordnete Jandak eine Verpflichtung  auf sich genommen, zumindest die Verpflichtung, uns nicht zu schaden. Erfüllt  er sie, so sind wir bis zum Tode gute Freunde, erfüllt er sie nicht, bleibt nur  der Kampf."
  Der Ministerialdirektor schwieg eine Zeitlang, dann fuhr er fort:
  „Sieh mal, Karl, du sagst, dass eure Apparate besser waren. Ich glaube es." 
  Er trat zum Schreibtisch, nahm einen Bogen Papier aus der Mappe, setzte sich  wieder und las:
  „Wir haben über die Feuerlöschapparate ein Gutachten eingeholt. Ich will dir  die Wahrheit sagen, vor vierzehn Tagen, als der Kampf mit dir unausbleiblich  schien. Ich verrate dir noch mehr. Wir haben dem Sachverständigen zu verstehen  gegeben, dass es uns lieb sein würde, wenn sein Urteil so ungünstig wie möglich  wäre. Hier ist es. Es fängt folgendermaßen an:
  .Die Feuerlöschapparate ,Feuerschutz', die uns vorgelegt wurden, sind von  schlechtester Qualität, und, falls sie nicht ganz wertlos sind, zumindest  erheblich weniger wert als andere Fabrikate.' Dann kommt Materialprüfung,  chemische Zusammensetzung usw., du verstehst jedenfalls ebenso wenig davon wie  ich. Der Schluss lautet:
  ,Falls für den Feuerlöschapparat im Vorjahre fünfundsechzig Mark bezahlt  wurden, dann ist er mindestens mit dreißig Mark überzahlt worden.' Dann wäre  euer Verdienst allerdings noch größer gewesen."
  „Das ist eine Lüge, eine gemeine Lüge!" schrie Jandak.
  „Ich bin auch überzeugt, dass das Gutachten tendenziös ist, aber zwei  Sachverständige haben es unterschrieben, die dafür bürgen. Weißt du, was es  bedeutet, wenn wir das veröffentlichen würden?"
  Der Abgeordnete rauchte schon die dritte Zigarette aus der Dose, die vor ihm  stand. Er hatte längst vergessen, dass es Regierungszigaretten waren.
  „Das ist unerhört, ich werde sie verklagen."
  „Du wirst sie nicht verklagen, ich brauche dir wohl nicht zu sagen, wie der  Prozess politisch für dich enden würde, auch wenn du ihn juristisch  gewinnst!" Jandak sprang auf. Er war bleich.
  „Ihr seid Bestien, ihr seid menschliche Bestien."
  „Wir sind es nicht, Karl. Wir verfechten nur die Sache der Republik, und die  ist uns heilig.
  „Was wollt ihr denn von mir?" brüllte Jandak.
  „Setz dich, Karl!" Der Ministerialdirektor drückte ihn auf den Stuhl  zurück.
  „Was wollt ihr von mir?"
  Der Ministerialdirektor stand eine Weile schweigend da, dann sagte er ernst und  gemessen:
  „Wir verlangen, dass du innerhalb einer Woche im ,Volksrecht' einen von dir  unterschriebenen Artikel gegen den Bolschewismus erscheinen lässt."
  „Lieber erschieß ich mich!" Der Ministerialdirektor zuckte die Achseln:
  „Dann veröffentlichen wir das Gutachten und die Photographie aus der ,Goldenen  Spinne'. Sie hängen zwar nicht miteinander zusammen, aber die öffentliche  Meinung wird sich den Zusammenhang schon konstruieren. Falls es notwendig ist,  werden wir gegen die Gesellschaft Feuerschutz' Strafanzeige wegen Betruges  erstatten."
  Vor den Augen des Abgeordneten erschien plötzlich der Gerichtssaal mit seinem  neugierigen Publikum, dem kleinbürgerlichen Aussehen der Geschworenen und dem  herausfordernden Lachen des Staatsanwaltes; nur für den Bruchteil einer  Sekunde, denn über ihm standen zwei Augen, die ihn unaufhörlich ansahen; die  Augen des Ministerialdirektors Podhradsky blieben kalt und ruhig.
  „Also doch die Photographie", lachte er auf, „auf dein Ehrenwort kann man  sich verlassen!"
  Die kalten, blauen Augen antworteten: Ich wäre ein schlechter Diener des  Staates, würde mir mein Ehrenwort mehr bedeuten als sein Wohl. Im übrigen habe  ich mein Wort im besten Glauben gegeben und bleibe dabei. Die Photographie wird  nicht veröffentlicht, und zwar deshalb, weil du keinen anderen Ausweg hast, als  dich zu unterwerfen!" „Nein, ich erschieße mich!"
  Der Abgeordnete Jandak sagte es ruhig, und er stand ruhig auf. Im Zimmer wurde  es still. Im ganzen Palais war es still. Die Amtsstunden waren beendet, und  außer ihnen und dem Portier war niemand im Hause.
  Die Fenster führten in den Garten des Fürsten Rohan. Der Garten war leer. Der  Ministerialdirektor saß am Schreibtisch und blickte vor sich hin.
  Der Abgeordnete Jandak ging ruhigen Schrittes auf dem Teppich auf und ab. Dann  blieb er vor dem Beamten stehen:
  „Ich erschieße mich!" sagte er. Es klang fest und überzeugend.
  Der Ministerialdirektor blickte dem Abgeordneten in die Augen, die nicht zur  Seite wichen. Er antwortete erst nach einer Zeit. Dann sagte er mit seiner  ruhigen, höflichen Stimme:
  „Ich habe eben über diese Möglichkeit nachgedacht. Auch in diesem Falle wird  der Zweck erreicht. Es geht um den Bürgerkrieg, Auge um Auge. In solcher Gefahr  darf man vor dem Leben des einzelnen nicht zurückschrecken. Wem wird dein Tod  nützen? Niemandem, außer uns, deinen politischen Gegnern. Du wirst die Familie  unglücklich machen, und die Arbeiterschaft wird einen Helfer verlieren, wie sie  wenige hat. Wir schlagen dir den einzig möglichen Weg vor. Du wirst den Artikel  schreiben."
  „Nein!"
  „Nicht innerhalb einer Woche. Diese Bedingung war zu hart, ich habe es mir  überlegt. Der Umschwung käme zu schnell. Du wirst ihn in einem Monat schreiben.  In dieser Zeit wirst du nichts gegen uns unternehmen und die Arbeiter nicht  aufhetzen, das lässt sich leicht durchführen. Du bist krank, überarbeitet,  brauchst Ruhe, du kannst in einer kulturellen oder genossenschaftlichen  Organisation arbeiten. Wir schätzen, wie du weißt, die Kultur sehr hoch, und  die Arbeitergenossenschaften werden von uns unterstützt. In einem Monat können  wir weiterreden — von erfreulicheren Dingen. Ich bin überzeugt, dass sich in  Kürze die Verhältnisse so geändert haben werden, dass es bis zu unserm Tode  nicht mehr notwendig sein wird, von diesen unangenehmen Dingen zu sprechen.  Bist du damit einverstanden?"
  Es war wieder still, beklemmend still.
  Es war keine Uhr im Zimmer, deren Ticken und Schlagen sie gestört hätte, und  das Getöse der Straßenbahn drang nicht in diesen stillen Winkel der Hauptstadt.
  Jandak saß mit gesenktem Kopf im Ledersessel. Der Ministerialdirektor stand am  geöffneten Fenster.
  Die Spannung des Kampfes wich, der Nebel senkte sich auf das Schlachtfeld. Er  kam durchs Fenster aus dem Garten der Fürsten Rohan.
  „Eine fürchterliche Strafe", flüsterte der Abgeordnete. Nichts weiter, und  erst nach einer Minute:
  „Eine fürchterliche Strafe für drei Monate Freundschaft mit der Bourgeoisie.  Ihr seid klug wie Schlangen und niederträchtig wie Ratten."
  Der Ministerialdirektor antwortete nicht.
  Er bewegte weder Lippen noch Augen, Die waren kalt, korrekt und blau. Das  Schweigen wurde quälend.
  „Na", sagte Jandak plötzlich und erhob sich. Er trat zu dem Beamten hin  und reichte ihm die Hand: „Auf Wiedersehen!"
  „Leb wohl, Jandak", sagte Podhradsky herzlich, ergriff die gebotene Rechte  und verneigte sich höflich. Er geleitete den Abgeordneten zur Tür.
  Dort sagte er, als ob der Vertrag schon abgeschlossen wäre, als ob nichts mehr  zu sagen sei, und als ob er sich eben an etwas anderes erinnere:
  „Halt deinen jungen Herrn ein bisschen im Zaun. Der erzählt auf den  Versammlungen Sachen, dass einem die Haare zu Berge stehen. Bestell ihm doch,  dass die vierzehn Tage nur eine sanfte Erinnerung sind, aber dass wir ihn mal  richtig einsperren lassen, und feste."
  Jandak winkte mit der Hand ab.
  Er fuhr nach Hause. Ein Spieler, der den Sonnabendlohn verspielt hat, ein  Boxer, der von der Weltmeisterschaft geträumt hatte und nun im Ring von einem  Anfänger k. o. geschlagen wurde, von einem Anfänger, den er vorher gar nicht  beachtet hat. Ein Bergsteiger, dem
  dreihundert Meter vor dem Gipfel des Gaurisankar das Eis unter den Füßen  zusammenbricht, und der in den Abgrund stürzt, ein Soldat auf dem Vormarsch,  der vor vier Sekunden den kleinen Schlag ins Kreuz kaum beachtet hat, und der  nun feststellt, dass ihn die Füße nicht mehr tragen, und dass er sterben muss.
  Der Abgeordnete Jandak ging die Treppen zu seiner Wohnung hinauf.
  Es war niemand daheim. Er begab sich in sein Arbeitszimmer, warf sich auf die  Chaiselongue. Er heftete seinen Blick auf das Bild Lenins, das über seinem  Schreibtisch hing; auf die Augen des Bildes, die hohe Stirn, die Jandak halb im  Scherz gern mit der seinen verglich.
  Er war vom verlorenen Kampf erschöpft und dachte an nichts, Hirn und  Nervensystem waren nur irgendein riesenhaftes, heißes und aschgraues Knäuel von  Entsetzen. Die Gedanken begannen sich aus diesem Knäuel erst nach geraumer Zeit  zu entwirren.
  Sollte er sich erschießen? Das war der ernsthafteste Ausweg. Dort am Fenster  beim Schreibtisch konnte er es tun.
  Er würde auf dem Stuhl sitzen, in der Schläfe ein kleines Loch, die Hand  ohnmächtig am Körper entlanghängend. Der Browning würde auf dem Boden liegen.  Die Frau würde in Ohnmacht fallen, und die Kinder weinen. Er dachte noch an  jemand, an die Genossin Elfriede, eine kleine Näherin, und an ihr Zimmerchen in  der Vorstadt.
  Aber würde Podhradsky vor seiner Leiche Halt machen? Nein! Zwei Tage nach  seinem Tode würde in einem der Regierungsblätter eine Notiz zu lesen sein:
  „Zum Selbstmord des Abgeordneten Jandak erfahren wir -... "
  Der Abgeordnete sieht die fetten Überschriften, sieht den Artikel in den  „Tagesnachrichten" und weiß, was darin steht. Podhradsky würde  triumphieren. Seine Aufgabe ist es, die Arbeitermassen in Unsicherheit zu  bringen. Er ist ein Henker.
  Es hat keinen Sinn, sich zu erschießen.
  Vielleicht Podhradsky hereinlegen? Jandak denkt an einen Diebstahl der  Dokumente, an Bestechung der Beamten im Innenministerium, an die Organisation  einer nächtlichen Raubexpedition, doch jeder dieser romanhaften, unsinnigen  Gedanken muss fallen. Die Augen des Bildes blicken den Mann auf der Chaiselongue  an. Sie sind von einem hellseherischen Spott erfüllt. Das Ende? Nein. Das ganze  Innere Jandaks wehrt sich dagegen. Es gibt einen Ausweg, es muss einen Ausweg  geben! Der Ausweg fällt ihm plötzlich und unerwartet ein, und er wundert sich  darüber, dass er nicht schon früher darauf gekommen ist.
  Er wird zu den Arbeitern gehen und ihnen die Wahrheit sagen. Es ist nicht  einzusehen, warum nicht auch ein Arbeiterführer die bürgerliche Gesellschaft  ein wenig expropriieren soll, wo die Reichtümer der bürgerlichen, staatlichen  Lieferanten ins Ungeheure wuchsen.
  Er sieht den Versammlungsraum. Ein düsterer Saal, kleine Fenster, die  Glühbirnen hängen an Schnüren von der Decke herab. Turngeräte, Reck und Ringe  sind an kleinen Balkon hochgezogen. Die Gipsbüsten von Marx und Lassalle stehen  an den Seitenwänden. Der Abgeordnete Jandak steht auf dem Podium. Er spricht  zur Versammlung, ein feuriger, immer mitreißender Redner:
  „Ja, Genossen, warum soll ich nicht auch einmal am bürgerlichen Staat  verdienen, ich bin ein Arbeiter, der sich in Ruhe seiner Arbeit für die Sache  des Proletariats und für die Revolution widmen will?"
  Jandak blickt sich in der Versammlung um, aber die Worte bleiben ihm in der  Kehle stecken. Zweitausend Augen sind auf ihn gerichtet, und in diesen Augen nistet  die Kälte. Aus allen Körpern strömt eisige Verachtung. Über den Köpfen der  Masse steht frostiger Reif. Der Frost füllt den ganzen Saal, und nun fühlt ihn  auch der Abgeordnete Jandak beim Atmen. Er zittert vor Kälte. Er will sich den  Rock zuknöpfen, da ruft jemand aus der Mitte des Saales: „Verräter!", und  alle schreien auf einmal „Verräter". Ein eisiger Sturm wird entfesselt,  ein furchtbarer Orkan, und Eisstücke „Verräter, Verräter" schlagen ihm ins  Gesicht. Er schützt die Augen mit den Händen. Der Sturm treibt ihn durch die  Wand aus dem Saal und schleppt ihn über Dächer und Telegraphendrähte.
  Jandak springt auf.
  Er fasst sich an die Stirn.
  Es ist kalt.
  Er blickt ins Leere. Was nun? Es gibt doch einen Ausweg! Er wird das Geld  zurückgeben bis zum letzten Pfennig. Es waren keine Hunderttausend, nicht  einmal Fünfzigtausend. Er wird es ihnen vor die Füße werfen.
  Ja, aber hat er denn das Geld? Er hat es nicht. Die Frauen sind an das bequeme  Leben gewöhnt, der Sohn kauft eine Unmenge sozialistischer Literatur, und auch  er hat viel verbraucht. Elfriede will leben, und ihr Wochenlohn von zwölf Mark  bedeutet Tuberkulose. Gestern war der Architekt hier. Nächste Woche soll in der  Umgebung der Baugrund für ein Familienhäuschen abgesteckt werden. Die Frau ist  schon jetzt verliebt in den Gedanken und träumt jede Nacht davon.
  Er hat das Geld nicht mehr. Diese Hunde, sie haben ihn gefangen. Er sitzt im  Netz. Wie er sich auch windet,
  wie er um sich herumschlägt, er sitzt fest.----- Diese Gauner!
  An der Wand hängt ein russisches Revolutionsplakat, ein Bild von wilder Schärfe  und Hass. Die kapitalistische Sphinx windet sich auf diesem Bild in  Todeskrämpfen. Sie ruht auf einem hohen Steinsockel. Einer ihrer drei Köpfe ist  abgeschlagen, und aus der Wunde strömt ein Bach von Blut. Unter ihr sind die  Massen des Proletariats versammelt. Sie setzen den Hebel ans Gestein, sie  arbeiten mit Hacken und Äxten. Sie klimmen an den Quadern hoch und klettern auf  den Schultern der unter ihnen Stehenden hinauf, Messer in der Hand, Messer im Mund,  ebenso entsetzt wie die Sphinx über ihnen. Sie klettern bis zu ihr hinauf,  bedecken ihren Leib mit ihren Körpern, stoßen ihre Waffen hinein, und sie  zerdrückt die Menschen mit ihren Klauen, zerreißt sie mit den Zähnen, würgt sie  mit den Fängen. Über das Postament fließen Bäche von Blut, und auf die Häupter  der Kämpfenden fallen Leichen. Aber die Kleinen hören in ihrer Wildheit nicht  auf. Tausend Kleine gegen ein Ungetüm.
  Der Abgeordnete Jandak bewundert die Wildheit dieses Bildes. Sein Blick bleibt  an einer Figur haften. Das Ungeheuer hat das Ende des Schwanzes um sie gerollt  und zerdrückt ihr die Knochen. Das Gesicht des Gefangenen ist todfahl. Wenn das  Untier die Umschlingung lockert, wird eine Leiche herunterfallen. Jandak  glaubt, seine eigenen Gesichtszüge zu erkennen. Ja, das ist er selbst, der  Abgeordnete Jandak, das tragische Opfer im Kampf mit der Sphinx. Das Untier hat  ihn eingezwängt und lässt nicht locker. Er muss umkommen, — das ist das  Schicksal des Kämpfers.
  Jandak glaubt es, und seine Augen füllen sich mit Tränen der Wehmut. Er wirft  sich auf die Seite, vergräbt seinen Kopf in die Seidenkissen. Es sind Geschenke  seiner Tochter. Armes Mädchen! Armer Vater!
  Welche Melodie geht durch Jandaks Kopf, welche dumme Coupletmelodie?! Jandak  weiß es plötzlich. Die Melodie hat einen Refrain, und er erkennt ihn entsetzt.
  „Jandak dreht sich!" Die Melodie wurde ursprünglich zu einem Lied gegen  den Chefredakteur des „Volksrechts", Stiwin, komponiert. Er war einer der  ersten Bolschewiken im Lande. Er schrieb Artikel, schlug sich in Versammlungen  herum und gewann die Bergarbeiter. Die Arbeiterschaft liebte ihn, die  Bourgeoisie hasste ihn auf den Tod. Eines Tages erschien im „Volksrecht"  ein konterrevolutionärer Artikel, den Stiwin geschrieben hatte. In einer Nacht  fiel er ins wahre Gegenteil um. Niemand wusste, warum. Josef Stiwin machte  Karriere. Er ließ sich von seiner Frau scheiden und heiratete eine junge  Schönheit, die immer wunderbar gekleidet war. Er zog aus seiner  Zweizimmerwohnung in einen Palast und ließ sich von einem gefeierten Maler  malen. Und damals sang ein berühmter Kabarettsänger ein Couplet mit dem  Refrain: „Stiwin dreht sich!"
  Und jetzt hatte das Liedchen einen anderen Refrain: „Jandak dreht sich!"
  Der Abgeordnete bohrte seinen Kopf noch tiefer in die Kissen. „Jandak dreht  sich, Jandak dreht sich, Jandak dreht sich nach rechts!"
  Die Melodie wurde immer stärker. Er mochte sich anstrengen, soviel er wollte,  das Lied war nicht zu verjagen. Vielleicht deswegen, weil dieses Couplet, so  dumm, aufdringlich und unabwendbar es auch sein mochte, die einzige ehrliche  Sache des heutigen Tages war.
  Jandak wird sich drehen, Jandak wird den Artikel schreiben, Jandak wird nicht  einmal mehr in die heutige Versammlung gehen. Er wird telefonieren, dass er  ernstlich krank sei. Jandak war nie ein proletarischer Revolutionär, er war ein  Genießer, ein ehrgeiziger Schauspieler.
  In der Diele klirrte das Schloss. Der Abgeordnete Jandak sprang auf. Er lief  zum Spiegel und strich sich das Haar glatt. Der Sohn stürzte ins Zimmer und mit  ihm die Frische seiner zwanzig Jahre.
  „Alter!" rief er freudig und kameradschaftlich, „ich bin zu dir gelaufen,  weil ich wunderbare Nachrichten habe. In Mitteldeutschland ist alles  vorbereitet. Sie warten bloß auf den Befehl."
  Der Vater blickte den Sohn an; das Bild des Sohnes, wie er vor ihm stand, die  Wangen vor Begeisterung gerötet, verschwamm im Nebel.
  Der Abgeordnete fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Er hatte das Bedürfnis, sich  hinzusetzen. „Was ist dir, Vater?" Der Vater antwortete nicht. „Was ist  dir?" wiederholte der Student verwundert.
  Da nahm der Abgeordnete Jandak seinen ganzen Willen zusammen:
  „Meine Nachrichten lauten anders", stotterte er. Dann gewann seine Stimme  eine unnatürliche Festigkeit:
  „Meine Informationen sind ganz anders. Jede Aktion, die wir unternehmen, ist  zum Misserfolg verurteilt."
  Der Student sprang zu ihm hin und fasste ihn am Rock. Aus den Augen des  Jünglings sprach Verzweiflung. „Bist du wahnsinnig geworden?" schrie er.
Am gleichen Abend ging Anna spät abends vor der Kolbenschen Fabrik auf und  ab.
  Die Fabrikuhr ist schwarz, die Zeiger sind von Gold. Sie bewegen sich mit  unglaublicher Faulheit. Toni modellierte in dieser Woche das Kugellager einer  großen Drehbank und musste Überstunden machen.
  Anna erwartete ihre schwere Stunde, und das machte sie unruhig. Sicher, es war  nicht viel dabei. Alle Arbeiterfrauen im Hause hatten Kinder. Geburten,  Fehlgeburten und Beerdigungen mit kleinen Särgen waren in der Jesseniusgasse an  der Tagesordnung.
  Sie sagte sich das alles vergeblich. Es war ihr zu eng zu Hause, und sie sehnte  sich nach Toni. Das durfte sie niemandem sagen. Die Nachbarinnen würden lachen,  und die Genossin Tinschmann würde ihr sagen: „Na, feine Gräfin, wollen Sie sich  vielleicht jetzt schon ins Bett legen? Ich habe elf Kinder, neun lebende und  zwei tote, die vielen Abtreibungen nicht gerechnet. Aber am zweiten Tag nach  jeder Geburt habe ich immer schon am Herd oder am Waschtrog gestanden!"
  Aber Annas Herz war wie ein Vogel vor dem Gewitter.
  Die goldenen Zeiger rührten sich nicht. Der Fabrikhof hinter dem Gittertor war  leer.
  Endlich sah sie ihn. Er kam als erster mit einem Trupp von Arbeitern aus dem  Tor der Gießerei und eilte zur Kontrolluhr an der Portierloge. Da erblickte er  sie, wie sie sich mit beiden Händen am Gitter des Tores festhielt und ihn  flehentlich ansah. Er grüßte sie mit einem Blick, und sein Gesicht erhellte  sich. Er trat ins Freie. Sie drückten sich fest die Hand. Ihre großen blauen  Augen sagten ihm: Ich habe Sehnsucht nach dir, Toni, und ich hatte große Angst.
  Und sein fester Blick antwortete: Auch ich ängstige mich um dich, Anna, wir  werden alles tun, was wir können, es wird gut ablaufen, fürchte dich nicht. Ich  bin froh, dass du gekommen bist, mein Lieb.
  Sein letzter Blick setzte noch hinzu: Meine Liebe, Teure.
  Der Mund sprach kein Wort.
  Sie gingen, die Schultern leicht aneinandergelehnt, die Straßen hinab.
  „Ich werde dich nach Hause begleiten, Anna", sagte er, „ich muss dann noch  in die Versammlung. Jandak spricht, und ich werde mich mit ihm beraten. Ich  werde nicht bis zu Ende bleiben, ich komme bald."
  „Komm!"
  Sie drängte sich näher an ihn.
  An der nächsten Ecke stießen sie unerwartet auf den jungen Jandak. Er blieb vor  ihnen stehen, als ob er erschrocken wäre. Er war bleich, und sein Anblick war mitleiderregend.  Auch sie blieben stehen. „Was ist denn geschehen?" dachte Anna. „Ich war  bei euch", sagte er unsicher, „die Tinschmann sagte mir, dass du  Überstunden machst."
  Sie blickten ihn fragend an.
  „Ich bitte dich, Genossin, lasst mich ein paar Tage bei euch wohnen."
  „Aber gern", antwortete Toni. „Kommen Sie nur!" sagte Anna. Doch das  war keine Erklärung. Sie warteten. „Ich gehe nicht mehr nach Hause. Ich ziehe  zum Onkel, es ist irgendein Bourgeois, aber ich habe keine andere Möglichkeit.  Er ist jetzt verreist und kommt erst in drei Tagen zurück."
  Die Augen der beiden fragten ihn weiter. „Der Vater hat uns verraten",  stöhnte er. Es war wie eine Explosion.
  Auch Toni erbleichte. Aus des Studenten Gesicht sprach unendliche Verzweiflung.  Er wollte weinen, nichts als weinen. Neben ihm stand Anna, den Blick mitleidig  auf ihn geheftet. „Komm und erzähl", sagt Toni hart.
  Sie gingen. Es war nicht viel zu erklären. Der Vater hatte über Nacht die  Überzeugung gewechselt, er war für die Einhaltung der bisherigen politischen  Linie und gegen die Gründung einer neuen Partei. Jede Aktion sei von vornherein  verloren. Etwas sei mit dem Vater heute geschehen.
  „Weiß schon jemand davon?" fragte Toni.
  „Nein, du bist der erste."
  Toni hielt nach einer Telefonzelle Ausschau. Als er sie fand, warf er das  Geldstück in den Automaten und suchte eine Verbindung mit den Führern der  Opposition. Endlich erreichte er sie.
  „Der Abgeordnete Jandak, diese Bestie, hat uns verraten", schrie er in den  Apparat und erzählte den entsetzten Genossen, was er wusste. „Er hat heute  Versammlung und will wahrscheinlich dort mit seinen Versuchen beginnen. Jemand  muss schnell zur Versammlung hin und diesen Hund erledigen."
  „Wir fahren hin", antwortete eine Stimme, „wir haben zwar heute andere  Sitzungen, aber die Sache ist zu wichtig. Du musst auch hinkommen, du bist der  einzige Zeuge. Die revolutionäre Disziplin würde zwar verlangen, dass der Sohn  den Verräter enthüllt, aber das kann man von ihm jetzt nicht fordern. Jandak  muss vernichtet werden."
  „Gut, ich komme, der Hund soll sich freuen."
  Er hängte das Telefon an. Anna und der Student warteten vor dem  Telefonhäuschen. Er war noch bleicher als vorher.
  „Ich muss zur Versammlung, Anna, ich komme wohl sehr spät. Leb wohl."
  Sein Händedruck und der schnelle Blick, in dem für den Bruchteil einer Sekunde  Herzlichkeit aufleuchtete, fügte hinzu:
  „Ich muss dir doch nicht erklären, wie gern ich bei dir bleiben würde."
  „Geh mit Anna, sie wird dir das Bett richten. Es kann bei ihr jeden Augenblick  losgehen. Wenn's schlimm kommt, weck die Genossin Tinschmann und hol die  Hebamme... "
  Und er lief schon die Schienen entlang, um die Haltestelle gleichzeitig mit der  Straßenbahn zu erreichen, die bereits neben ihm bullerte.
  Er sprang auf. Anna! Kerekes Sandor! Die Gedanken eilten ihm durch den Kopf.  Jetzt ging's um die Sache! Er wird den Verräter vernichten. Sie blickten ihm  nach. Der Abend kam in die Jesseniusgasse. Die Petroleumlampe stand auf dem  Tisch mit der billigen Decke. Anna und der Student saßen einander gegenüber. Die  Lampe hatte einen Papierschirm. Ihr gelbes Licht fiel auf den Tisch.
  Die Gesichter blieben im Halbdunkel. Anna flickte Wäsche. Keiner sprach ein  Wort. Anna blickte ihn einige Male mitleidig an. Dann riss er seine Augen von  der Tischdecke los und dankte ihr für die Liebe, die er so sehr brauchte. Annas  Augen waren blau, und ihr Gesicht war von der Erwartung der Mutterschaft  verschönt. Als die Zwiesprache der Blicke schon zu lange gedauert hatte und  ohne Erröten nicht mehr fortgesetzt werden konnte, sagte Anna weich:
  „Wie ist das bloß geschehen?" „Eine furchtbare Sache, Genossin Anna."  Sonderbar, wie dieses Zimmer einer Luftpumpe glich.
  Sie waren beide in ihr eingeschlossen. Das Haus war voll Bewegung. Hier schien  ein Mittelpunkt zu sein, und der war tot. Lärm durchtönte das Haus. Über  Treppen und Flur klangen ständig Schritte. Türen öffneten sich, und am Ende des  Flurs lief die Wasserleitung. Bei Kutscherers bekam der vierjährige Franz  Prügel und heulte. Nebenan sang die Frau Wachtmeister den Zwillingen ein Couplet  im Rhythmus eines Wiegenliedes vor. Dieser ganze Lärm machte vor der Luftpumpe  halt, brach an deren Glasglocke entzwei, glitt an ihr ab und fiel zu Boden.
  Anna hatte blaue Augen wie große Saphire. Ihre Hand bewegte sich weich, und die  Spitzen ihrer Finger liebkosten die Nadel. Irgendwo in der Versammlung mordeten  sie inzwischen seinen Vater.
  „Was werden Sie jetzt tun?"
  Sie konnte sich nicht daran gewöhnen, den Jüngling zu duzen.
  „Ich weiß es nicht, Genossin Anna." Jemand ging langsam und schwer über den  Flur, als ob er eine Last trüge.
  „Lern, und spiel nicht dauernd, Lausbub!" schrie die Tinschmann nebenan.
  Toni ist ein guter Genosse. Er wird den Vater durch Kopfschüsse erledigen. Er  wird die Arbeit gut verrichten, da ist kein Zweifel. Toni und Anna, das sind  ganze Kerle. Alles in ihnen ist klar, sie wanken nie. Sie wussten immer, was  sie tun sollten. Sie sind nicht tragisch, niemand von den Genossen ist  tragisch, nur er, der junge Jandak, wankt, nur er ist zerbrochen und traurig.  Niemand wird ihn verstehen, und niemand wird ihm helfen. Er ist ihnen fremd.  Sie nehmen ihn auf, beraten sich mit ihm und glauben ihm. Aber sie halten ihn  nicht für einen der ihren. Anna, die heilige Anna, die er heimlich liebt, wird  ihn bedauern, ihm den Kopf mit so weichen Blicken streicheln, wie keine  Geliebte es könnte. Aber sie hat noch nie freiwillig „du" zu ihm gesagt,  wie es sonst unter Genossen selbstverständlich ist. Das ist das Furchtbarste  von allem. Die, die er liebt, denen er das Leben weiht, denen er heute den Vater  ausgeliefert hat, nehmen ihn nicht als den ihren auf.
  Auf dem Flur tönen Schritte zur Wasserleitung hin. Das Wasser schlägt gegen den  Boden des Blechtopfes. Bei Klabans hat sich die Tür geöffnet. „Komm her",  ruft die Genossin Tinschmann mit hoher Stimme. Die Geräusche brechen sich an  der Glasglocke der Luftpumpe.
  Der Student ist aufgestanden und geht an Tonis Bücherregal. Er zieht ein Buch  hervor, setzt sich und versucht zu lesen.
  „Sie sagen mir, wenn Sie schlafen gehen wollen?" „Ich warte auf  Toni."
  Der junge Jandak nickt. Er versucht zu lesen. Es ist unmöglich. Aber es ist  weniger quälend, ruhig zu sitzen und so zu tun, als ob man ins Buch vertieft  sei, als vor sich hinzustieren und Sätze auszudenken, die unwahr sind. Von Zeit  zu Zeit muss man allerdings umblättern, und das macht die Komödie so  erniedrigend.
  Was will er eigentlich hier? Ist es ihm denn eine Erleichterung, dass Anna in  greifbarer Nähe sitzt, dass er seine Augen auf dem Heiligenschein über ihrem  Haupte ruhen lassen kann und ihre rosigen Finger betrachten darf, die mit der  Nadel spielen? Die Nadel entbrennt von Zeit zu Zeit wie von einem Feuer, das  aus Annas Herzblut in sie gedrungen ist.
  Ja, es ist ihm eine Erleichterung.
  Toni kommt zurück. Viel früher, als sie ihn erwartet haben.
  „Toni", ruft Anna, und ein Strahl der Freude dringt in ihre Wangen. Dem  Studenten schlägt das Herz, und er heftet einen angstvollen Blick auf den Mund  des Genossen.
  „Er ist nicht gekommen", sagte Toni.
  „Er ist nicht gekommen?"
  Diese Worte erfüllten das Innere des Studenten. Das Herz schlägt ihm heftig,  aber anders als vor einer Sekunde. Es schlägt vor Erleichterung, weil die  Hinrichtung um einige Stunden verschoben wurde.
  „Gibt's was zu essen, Anna?" fragte Toni.
  „Dort ist Kaffee."
  „Gibt's kein Brot?"
  Anna schaut den Mann wehmütig an. Nein, es gibt kein Brot. In aller  Herrgottsfrühe, bevor Toni zur Arbeit ging, war ein arbeitsloser Genosse hier,  und Toni hatte ihm den letzten Viertel Laib Brot und den letzten Speck gegeben.  Geld gibt's auch keins. Toni hatte sich die letzte Mark von Anna gestern  ausgeliehen, weil für eine Zeitschrift gesammelt wurde. Was er übrig behalten  hat, das hat er vorhin in den Telefonautomaten geworfen. Vorgestern hat man für  das Begräbnis des Genossen Kreihaus gesammelt, den eine Eisenplatte erschlagen  hat und morgen ist erst Lohntag. Es gibt auch nicht mehr viel Kaffee. Jandak  hat schon eine große Tasse bekommen. Er wäre froh gewesen, wenn er sie hätte  stehen lassen können. Ihm war nicht nach essen zumute. Der Kaffee war schlecht.  Aber er wollte Anna nicht beleidigen.
  Toni trank Kaffee.
  „Was war in der Versammlung", fragte der Student zaghaft.
  „Man hat über die allgemeine Lage gesprochen, — nichts Besonderes."
  Dann gingen sie schlafen. Toni und Anna ins Bett, der Student schlief auf einem  Strohsack auf der Erde.
  In dieser Nacht wurde ein junger Proletarier geboren.
  Der junge Jandak schlief erst im Morgengrauen ein. Ein Geräusch und das Licht  der Lampe weckten ihn aus dem ersten Schlaf. Toni zog eilig die Hosen an. Anna  lag auf dem Bett. Ihre blauen Augen waren zur Decke gerichtet, die Zähne in die  Lippen verbissen. Sie atmete schwer, Speichel lief ihr zum Kinn herab.
  „Bleib eine Weile bei ihr", sagte Toni und lief davon. Der Jüngling zog  sich schnell an. Er stahl sich bloß barfuss auf den Fußspitzen zu Annas Bett,  so still, ganz still, als ob jeder Lärm und jeder unehrerbietige Schritt eine  Entweihung wäre. Er blieb zu ihren Füßen stehen und blickte sie mit andächtiger  Angst an. Anna litt. Ihre Augen waren geschlossen, und die Oberzähne gruben sich  immer tiefer in die Lippen. Die Hände krallten sich in das Bettzeug, und jeder  Atemzug war ein leiser Seufzer, der nicht gehört werden sollte. Ahnte Anna,  dass er bei ihr war? Es war gut, dass sie es nicht ahnte. Annas Leiden, die  sich mit den seinen vereinten, erfüllten ihn mit großem Schmerz. Er wollte an  ihrem Bett niederknien und seinen Kopf in die Kissen vergraben. Aber Anna bat  mit leiser Stimme und ohne die Augen zu öffnen: „Bitte, gehen Sie hinaus, ich  schäme mich vor Ihnen."
  Scham erfüllte ihn, und er schlich in die Küche. Hier, im dunklen Winkel beim  Ofen, überkam ihn der Schmerz. Was will er denn hier, wozu ist er gut, und wem  ist er nützlich? Er sehnte sich wieder stark nach jemand, dem er in die Arme  sinken könnte, und nach einer Schulter, an die er seinen Kopf lehnen könnte. Es  gab keine solchen Hände auf der Welt. Er bedeckte die Augen mit den Fäusten.
  Aus dem Nebenzimmer drang das laute Stöhnen Annas. Toni kehrte zurück. Die  Hebamme kam. In der Wohnung entstand Bewegung. Toni zündete in der Küche eine  Kerze an, er machte Feuer an, trug aus dem Flur in großen Töpfen Wasser,  stellte kleine Töpfe auf den Ofen, wusch den Waschtrog aus. Er tat alles mit  einer fachmännischen Sicherheit und wortlos. Sein großer Schatten ging über die  Wände und kroch bis zur Decke. Die Hebamme tat irgend etwas sehr Wichtiges im  Zimmer. Die Genossin Tinschmann eilte, vom Lärm geweckt, herbei. Sie war im  Unterrock und hatte die nackten Schultern mit einem blumigen Tuch bedeckt.
  „Das ist nichts", schrie sie an Annas Bett, „das muss sein, das haben wir  alle durchgemacht, nur nicht jammern. Das Oberbett weg, und wenn Sie es nicht  aushalten können, dann brüllen Sie, das ist gesund. Gestatten Sie, Sie erlauben  doch, Frau Hebamme. Das ist aber nobel, Wachstuch, ich habe nur Säcke  gehabt."
  Annas Stöhnen steigerte sich, es ging in Schreien über.
  „So ist's richtig", versicherte die Genossin Tinschmann, „das ist  goldrichtig."
  Toni verrichtete seine Arbeit gewissenhaft und stahl sich nur für Sekunden in  das Zimmer, um gleich wieder zur Arbeit zurückzukehren. Er wusste, wie immer,  was zu tun war. Seine Liebe äußerte sich nicht in Worten und nicht in Hingabe  an Gefühle.
  „Toni!", ein Aufschrei kam aus dem Zimmer, ein verzweifelter und hoher  Aufschrei.
  Toni lief. Der Student stand im Winkel der Küche, barfuss, halb angekleidet,  für niemand notwendig, fremd, überflüssig, niemand.
  Die Genossin Tinschmann lief in ihre Wohnung, um etwas zu holen. Sie sah ihn in  der Küche.
  „Was wollen Sie hier, junger Herr? Gehen Sie, das ist nichts für Sie, gehen Sie  ins Kaffeehaus."
  Der Jüngling schlich in das Zimmer, wo er seine Sachen hatte. Hier sah er mit  einem Blick Anna, nackt, blutig, mit hervorstehenden Augen und goldenem Haar,  die geliebte Anna, von schrecklichem Schmerz gequält. Toni stand an ihrem Bett,  und sie presste ihm die Hände. Den Jüngling packte die Verzweiflung, Anna sah  ihn diesmal nicht. Er nahm die Kleider unter den Arm und stahl sich hinaus.  Niemand bemerkte ihn. Er kleidete sich im Dunkel des Flurs an. Er lehnte in  seinem Schmerz die Stirn an die kalte Mauer und verharrte lange so.
  Als ihm die Portiersfrau aufschloss, erhellte sich die Straße im ersten  Morgenstrahl. Er war entschlossen, hier zu warten, gleichgültig, wie lange. Er  wollte warten, bis jemand von Tmschmanns herauskäme, er wollte etwas von der  armen Anna hören.
Die Dächer der Kolbenschen Fabrik sind nicht viel höher als der Turm, der  nachts im roten Schein leuchtet und von Zeit zu Zeit einen feurigen Strahl  gegen den Himmel sendet; der Turm, der die Aufmerksamkeit der Passanten auf  sich zieht. Das ist der Hochofen, der nach unten in die graue Gießerei führt,  in der Toni beschäftigt ist.
  Oben arbeitet neben dem alten Litochleb der Edi Worrel, ein breitschultriger  Junge mit welligen Haaren. Die Ärmel sind hochgeschürzt, das Hemd über der  Brust geöffnet. Es ist immer schwarz von Kohle und Ruß.
  Die Wagen mit Alteisen werden im Aufzug in den Turm hinaufbefördert. Das  Alteisen ist in allen Ecken der Stadt aufgelesen, von den Lagerräumen,  Müllhaufen und Höfen geholt, ein sonderbares Material, vom zerbrochenen Tiegel  und bartlosen Schlüsseln bis zum Wagenrad, vom Eisenring und Irrigator bis zur  Schrapnell- und Granathülse.
  Acht Stunden täglich wirft Edi Worrel all dies mit der Schaufel in den Schlund  des Ofens. Immer abwechselnd Eisen, Koks und Kalk. Der Schmelzofen frisst  Metall und Brennstoff, schluckt unersättlich. Seine Glut steigt bis zu 1200  Grad Celsius.
  Unten im Saal ist der Ofen eine glatte Walze. Er sieht grau und nackt aus wie  ein geplünderter Baum und ist nur durch eine Luke unterbrochen, die nicht  größer ist als die einer Gefängniszelle. Durch die Luke kann man sehen, wie  einfach der Organismus dieses Ofens Nahrung und Blut verarbeitet. Genau wie die  Verdauungsorgane eines Regenwurms. Über Koks und Kalk, die in weißes Eis mit  leicht rosigem Schimmer verwandelt sind, laufen rosige Tropfen und dünne Fäden  dessen, was vor einer Viertelstunde rostiges Zeug war und in einer Stunde  Maschinenbestandteile sein werden. Das Blut wird ausgelassen. Es gehört dem  Kapital, ebenso wie das Blut der Arbeiter. Man gibt weder den Menschen noch dem  Ofen umsonst zu essen. Das Blut wird durch eine Öffnung ausgelassen, welches  die Größe einer menschlichen Faust hat, und die jetzt mit Töpferlehm  verschmiert und darum unsichtbar ist.
  Um 4 Uhr nachmittags kommt der Gießmeister mit einer langen Stahlstange und  sticht den Ofen wie ein Schlachttier. Das Blut schießt hervor, dickes,  weißrosafarbiges Blut, läuft in den Trog und erleuchtet den Saal und die  Gesichter der Arbeiter mit einem weißen Schein. Am Trog stehen die Arbeiter  immer zwei und zwei mit Eimern, die auf Stangen aufgezogen sind. Sie fangen das  Blut und eilen zu den Sandformen, um es einzugießen. Dann erhellt sich der Saal  der grauen Gießerei von vielen roten Blumen. Die Luft erwärmt sich, der Saal  füllt sich mit einem beißend-sauren Geruch. Wenn die Sandformen nicht gut  getrocknet sind, springt die glühende Masse bis zur Decke und fällt den Gießern  in glühenden Brocken auf den Kopf und hinter den Hals.
  Dann ist das Werk des Gießers beendet.
  Edi Worrel wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn, zündet sich  eine Zigarette an. Der alte Litochleb setzt sich auf einen Eisenhaufen und  schaut tot vor sich hin.
  Edi arbeitet oben, Toni unten.
  Unten ist ein großer rechteckiger Saal, in dem sich Sandhaufen und Eisenhalden  befinden, grauer Sand und schwarzes Eisen. Geruch des Stahls, feuchter  Erdgeruch.
  Der Gießer arbeitet in der Erde, er baut in den Sandboden Kunstbauten ein. Hier  wird das Eisen eingegossen, um zu Maschinen zu werden. Aber die künftige  Maschine kann nur lebendig werden, wenn ihr eine Seele eingehaucht worden ist.  Die Menschen geben ihr die Seele. Die Maschinen erhalten ihr Leben davon, dass  die Arbeiter mit zehn Fingern die Intelligenz ihres Hirns, die Empfindsamkeit  ihrer Nerven, die Stärke ihrer Muskeln übertragen, dass sie den Maschinen die  Wärme ihres Blutes, und mit ihr ein Stück ihres Lebens geben. Wenn das Gerippe  eines Turbogenerators, den Toni modelliert, zur Maschine wird, wird sie sich,  sei es wann immer in der Zukunft, durch Tonis Energie bewegen, und die  Maschinen, die der Turbogenerator in Gang bringen wird, seien es nun Webstühle,  Waschmaschinen, seien es Kräne oder Werktonnen, werden alle im Rhythmus von  Tonis Herzen schlagen. Im Saal der „Graugießerei" arbeiten 100 Genossen  mit Toni, deren Gesichter durch die Arbeit und den Kampf mit Eisen und Feuer  scharf geworden und deren Hände von Graphit geschwärzt sind, mit dem die  Formmaschine angestrichen wird. Zehn Meter über Tonis Kopf fährt sein zweiter  Freund und Genosse Peter Malina. Er ist das Hirn des fahrbaren Krans. Der ist  auf Traversen an der Decke angebracht und hat einen eisernen Käfig, in dem  Peter sitzt, und von dem aus er die Maschine lenkt. Der Kran fährt mit Dröhnen  hin und her und lässt Ketten herab, die massive Haken haben, an denen die  Gusseisenblöcke, Maschinenbestandteile oder Trockenöfen befestigt werden, damit  sie, schwankend und ewig die Umgebung bedrohend, nach dem anderen Ende der  Graugießerei befördert werden. Beim Guss großer Maschinen fährt der Kran bis  zum Kuppelsaal und greift mit seinen Kettenfängen die riesigen Gussformen, die  mit 50 Zentnern flüssigen Metalls gefüllt sind. Er hebt sie einen halben Meter  über die Sandform und fährt mit ihnen zur Stelle, wo sie in den Sandbau  hinuntergelassen werden. Dieser Weg macht den Eindruck eines festlichen  Brauchs, ein Zug von Arbeitern mit Siegermienen begleitet die Gussform auf  ihrer langsamen Fahrt und hält sie mit Stangen im Gleichgewicht. Kein  religiöser Ritus kann erhabener sein, als die dröhnende Musik des Krans und der  Ketten und als die feierliche Illumination ringsherum. Wenn der Zug an der Form  der künftigen Maschine stehen bleibt und die Arbeiter die Form mit  Gewindebohrern nach vorne neigen, und wenn das glühende Eisen laut zischt und leuchtet,  dann sind Sand und Eisen, die Arbeitergesichter und -hände und der Kran von  roter Glut überschwemmt. Dann fasst sich Peter Malina mit seinen schwarzen  Fingern an die Nase, die voll sauren Gasgeruchs ist, neigt sich aus seinem  Käfig und sucht Toni mit den Augen. Denn seine Arbeit ist für diesen Tag  beendet.
  Auf der einen Seite der „Graugießerei" ist der Saal der  „Weißgießerei", wo Tag und Nacht eine Reihe von Martinsöfen glüht, in  deren Kesseln reines Eisen zischt wie siedendes Wasser. Auf der andern Seite  sind die Säle der Stahlgießerei, wo man mit kleinen Formen arbeitet, die wie  Kinderspielzeug aussehen. Auf den Höfen sind Sandmühlen, Schlossereien,  Tischlereien, Expeditionen, die Kohlen- und Eisenlager sind hier und die  Büroräume. Es ist eine Stadt der Schlöte und Gebäude, und überall ist eine  Kette von Menschenhänden an der Arbeit, die sich ihr Werk reichen. 2940  Menschenhände, 1470 Genossen und Genossinnen sind an der Arbeit. 1470 moderne  Industriearbeiter. Das sind nicht mehr die proletarisierten Handwerker  vergangener Geschlechter, die durch die Konkurrenz der Fabriken an den  Bettelstab gebracht wurden, und die, aufs Haupt geschlagen, eines Tages durch  das Joch der Fabriktore gingen, ohne je das Handwerk mit dem goldenen Boden zu  vergessen, und ohne je den Traum vom Rächer, von der Vernichtung der Maschinen  und ihrer Feinde aufgegeben zu haben. Das sind nicht mehr die Sklaven der  dreizehnstündigen Arbeitszeit, die einem vergangenen Geschlecht angehörten und  unter dem Dröhnen der Maschinen auf Juteballen und Sackhaufen geboren wurden,  stumpf, hungrig, vom ersten Glas Branntwein, das sie nach der Lohnzahlung  tranken, betrunken, unter denen sich nur einzelne erhoben, um Kämpfer, Märtyrer  und Zeugen zu werden. Die Organisationen, in Gefängnissen und Vorstadtkneipen  errichtet, haben die Arbeiterschaft zur Klasse gemacht.
  Der Begriff Klasse ist das größte Pfand der neuen Zeit, denn er hat die Lehre  der ungeheuren Massen mit einem Inhalt gefüllt, hat ungezählten Massen die  Möglichkeiten zur Liebe und zum Kampf gegeben, zur Liebe bis zum Tode, zum  Kampf bis zum Sieg. Er ist schon lange ins Mark und Blut des Toni Krousky und  seiner Genossen übergegangen. Es wurde ihnen klar, dass sie die Schöpfer aller  Dinge und ihre Erben sind. Der Hass gegen das Werk, gegen die Maschine, gegen  die Fabrik war geschwunden. Sie sahen ihre Herrscher nicht mehr in Equipagen  durch die Fabriktore fahren, sie brachten ihnen nicht mehr am Vorabend von  Festtagen für ein Fass Bier und einen Topf Wurstzeug Ständchen. Das Herrentum hatte  sich in Aktien verflüchtigt, die man in den Fächern der Schreibtische  aufbewahrte, und in Kleider der Frau verwandelte.
  Am 9. Dezember 1920, um 4 Uhr nachmittags, in der Zeit, wo die Gussformen ihren  glühendroten, sprühenden Inhalt in die Sandform gossen, erscholl der Kampfruf.  Der Heizer Nedela lief von der Weißgießerei in die Graugießerei zu Toni.
  „Krousky, das Volkshaus ist von der Polizei besetzt worden!"
  Tonis Gestalt richtete sich auf. Das Herz begann ihm zu schlagen. Die Finger  bogen sich, als ob sie nach dem Gewehr griffen. „Was weißt du weiter?"  „Nichts — die Kolbenfabrik soll zu Hilfe kommen."
  Toni lief durch den Saal der Graugießerei, sprang über Werkzeuge und glühende  Eisenstücke hinweg und eilte die Wendeltreppe hinauf.
  „Edi, die Polizei hat das Volkshaus besetzt. Wir müssen zu Hilfe kommen.  Alarmiere die Höfe, ich nehme die Säle auf mich."
  Er flog die Treppe hinunter in den Saal zum Kran. „Peter, Peter", rief er  hinauf.
  Aber Peter verstand im Eisengetöse nicht und neigte sich, die Hände ans Ohr  legend, aus dem Käfig. Da sprang Toni auf die Form und brüllte, den Arbeitslärm  übertönend:
  „Arbeit einstellen, Genossen! Das Volkshaus ist von der Polizei besetzt worden.  Niemand geht nach Haus. Wir ziehen hin."
  Die Arbeiter liefen zusammen. Auch diejenigen, welche die Sache nichts anging,  unterbrachen die Arbeit, um zu hören, was los war. Der Meister eilte hochroten  Gesichts herbei und brüllte Toni an:
  „Menschenskind, sind Sie verrückt geworden, jetzt aufhören?"
  Peter Malina verstand erst jetzt, worum es ging. Er stoppte den Kran, und im  Saal war es auf einmal still. „Was ist, Toni? Sollen wir zu Hilfe kommen?"  „Ja." Da stellte sich Peter Malina in seinem Käfig auf und schrie, dass es  durchs Eisen der Graugießerei hindurchklang und durchs Tor in die Weißgießerei  und in die Stahlgießerei hinüberschallte:
  „Arbeit einstellen, das Volkshaus ist von der Polizei besetzt."
  Der Ingenieur schoss herbei, der Meister brüllte zu Peter hinauf und fuchtelte  mit den Händen. „Menschenskinder, seid ihr verrückt geworden?" Ein großer  schwarzer Gießer drängte sich bis zu ihm durch und brüllte: „Was mischen Sie  sich denn in unsere Sachen?"
  Er wandte sich energisch um. „Arbeit einstellen!"
  Toni sprang von der Gussform herunter. Er eilte in die Weißgießerei und schrie  schon in der Tür seinen Schlachtruf. Dann weiter, in die Stahlgießerei.
  „Arbeit einstellen, wir kommen dem Volkshaus zu Hilfe."
  Indes rannte Edi Worrel von einem Hof zum andern, zu den Sandmühlen, nach den  Lagerräumen, in die Handwerker-Werkstätten. Er hielt sich überall nur eine  Sekunde auf, um Alarm zu schlagen.
  Das Volkshaus war von der Polizei besetzt. Die Dinge waren im Laufe des  Herbstes gereift. Die Partei wurde zu 80 Prozent von der Opposition gewonnen,  und als sich ihr Zentralorgan, das „Volksrecht", auf einen anderen  Standpunkt stellte, zog eines Abends, nach einer stürmischen Sitzung, ein Trupp  von Vertrauensleuten herbei und besetzte die Redaktion.
  Die Polizei benachrichtigte Anton Deutsch, der in der Redaktion saß. „Ein  Haufen von ungefähr zweihundert Menschen zieht zum Volkshaus. Wünschen Sie  Hilfe?"
  Das Herz des alten Anton Deutsch schlug ängstlich. Es war doch ein  Arbeiterherz. So weit sind die Dinge gediehen? Die Arbeiter gegen ihn!
  „Nein, wir danken Ihnen", antwortete er der Polizei und verließ mit Josef  Stiwin das Blatt, an dessen Wiege er gestanden hatte.
  Die Arbeiter eroberten das Volkshaus und die Redaktion. Es war ihr Eigentum.  Sie waren es gewesen, die sich das Abendbrot, ein Glas Bier und Zigaretten  versagt hatten, um dem Vertrauensmann eine Marke abzukaufen, die einen  Ziegelstein des künftigen Volkshauses bedeutete. Sie hatten, als das Blatt in  schwerster Not war, Sammlungen veranstaltet. Sie hatten von Tür zu Tür  agitiert. Sie opferten den Morgenschlaf vor Arbeitsbeginn für die Zeitungskolportage.  Sie nahmen nun von neuem von ihrem Eigentum Besitz.
  Zwei Monate hielten sie es, zwei Monate dauerten die Verhandlungen mit den  Advokaten, Direktoren, Ministern, Abgeordneten und der Regierung, die  verlangten, dass das Eigentum der Partei den Arbeitern wiedergenommen und in  ihre Hände zurückgelegt würde.
  Es war klar, dass dies nur mit bewaffneter Macht erzwungen werden konnte.
  Es kam der 9. Dezember. Das Volkshaus wurde von der Polizei besetzt.
  Alles ging den Amtsweg. Um 1/2 4 Uhr kam ein Magistratsbeamter in das halbleere  Gebäude des Volkshauses und überreichte dem Direktor der Druckerei einen Bogen  Papier, der mit Amtsstempeln versehen war und den Auftrag enthielt, die  Druckerei zu versiegeln.
  Eine geräuschlose Amtshandlung, zu der auch die Tageszeit passend gewählt war.  Die Abendausgabe des Blattes ist bereits erschienen, mit der Morgenausgabe ist  noch nicht begonnen. Die Maschinen schlafen, die Räume sind halbleer. Auf den  Straßen erhellen sich die ersten Schaufenster. Nur wenig Passanten sind zu sehen.  In den Fabriken eilt die Arbeit in scharfem Tempo dem Ende zu, und es ist keine  Zeit, an etwas anderes zu denken.
  Auch die Jahreszeit war günstig. Zu Weihnachten spricht man in den  Arbeiterfamilien viel mehr von Weihnachtskuchen und von den Geschenken für die  Kinder als von der Revolution, und die Gedanken der Mütter sind von  Sentimentalität durchwirkt.
  Die einstigen Arbeiterführer kannten genau die Schwäche der Festung, gegen die  sie den Sturmangriff unternahmen, und sie kannten ihre Besatzung. Dennoch  brachte die Amtshandlung eines armseligen Beamten, die an einem ruhigen  Nachmittag vollzogen wurde, den ganzen Staatsapparat in Erschütterung. Das  Militär hatte Bereitschaft. Polizei war aus der ganzen Umgegend  zusammengezogen. Das Polizeipräsidium war von frühmorgens in Tätigkeit. Die  Telefonleitungen des Volkshauses wurden überwacht. Schon am frühen Nachmittag  statteten Detektive dem Volkshaus einen Besuch ab; stiegen bis zu den Kellern  hinunter und bis zu den Dachböden hinauf und forschten nach, ob keine Waffen  verborgen seien.
  Wenn ein Detektiv einem Arbeiter verdächtig erschien, so fragte er sofort, ob  hier nicht Herr Glos arbeite.
  In der Minute, als der Magistratsbeamte dem Direktor den Befehl zur  Versiegelung überreichte, saß der Ministerpräsident in einem Sessel in seinem  Arbeitszimmer. Ihm zur Seite stand sein treuer Helfer, Ministerialdirektor  Podhradsky. Beide, erfahrene Beamte des alten kaiserlichen Regimes, gaben sich,  die Zigarre im Munde, noch ruhiger, als sie in Wirklichkeit waren, und erwarteten  die ersten Berichte.
  Nach einer kurzen Zeit klingelte das Telefon im Büro des Volkshauses. Es  meldete sich das Innenministerium. Es empfahl, einen Versuch zu unternehmen,  die Angelegenheit im Vergleichswege zu ordnen. Es erklärte, dass es keineswegs wünsche,  dass es zu irgendwelchen politischen Kämpfen käme, und nahm zur Kenntnis, dass  für 6 Uhr eine Versammlung der Vertrauensleute nach dem Volkshaus einberufen  sei, die über die Angelegenheit beraten und entscheiden sollte.
  Es war der Ministerialdirektor Podhradsky, der gesprochen hatte. Der  Ministerpräsident saß mit gekreuzten Beinen im Ledersessel, hielt den Hörer in  der Hand und nickte bei den fragenden Blicken Podhradskys kurz mit dem Kopf.
  Während dieser unfruchtbaren Verhandlungen besetzten 300 Mann Polizei das  halbleere Volkshaus. Sie pflanzten sich in Reihen auf den Höfen auf und  sperrten die Durchfahrten nach den Straßen ab. Die halbleere Festung, in einem  Zeitpunkt überrascht, wo sie es am wenigsten erwartet hatte, wurde von der Welt  abgeschnitten und luftdicht abgeschlossen. Keine Lebewesen konnten hinein oder  heraus, nur das Telefon funktionierte noch.
  Es war von einigen Funktionären besetzt, die zufällig im Hause waren, und die  nach der ganzen Stadt telefonierten und versuchten, soweit es ging, mit den  Fabriken in Verbindung zu treten.
  „Das Volkshaus ist von der Polizei besetzt. Verständigt die Fabriken, Danek,  Kolben, Ringhofer und die anderen. Für sechs Uhr abends ist in dem Gartensaal  des Volkshauses eine Sitzung der Fabrikvertrauensleute einberufen. Schnell nach  den Betrieben, alles verständigen!"
  Als die Polizei, die das Telefon überwachte, merkte, welche Parole aus dem  Volkshaus kam, wurden die Gespräche unterbrochen, und das Telefon verstummte.  Das Volkshaus war von der übrigen Welt vollkommen abgeschnitten. Es stand  inmitten des Dezemberabends allein wie ein Fremdkörper, der zwischen die Häuser  der Stadt eingezwängt wurde, anders als diese und außerhalb ihrer Gesetze.
  Um 5 Uhr nachmittags traf der erste organisierte Zug ein. 150 Arbeiter  marschierten im schnellen Schritt durch die Straße, und die vielköpfige  Menschenmenge trat vor ihnen gerne zurück, lieber als vor den Straßenbahnwagen.  Als der Zug vor dem Eingang zum Volkshaus stand und nur eine kleine Spanne von  der Brust der Schutzleute entfernt war, da wich er unwillkürlich zurück und  schwankte.
  In der Gasse vor dem Volkshaus ballten sich kleine Haufen von Fußgängern  zusammen, und die Reisenden, die vom Bahnhof gegenüber kamen, blieben stehen,  um zu sehen, warum das Tor des Volkshauses von der Polizei abgeriegelt war, und  warum so viele Schutzleute auf der Straße standen.
  „Weitergehen! Nicht stehen bleiben! Weitergehen!" schrieen die  Schutzleute.
  „Zurück!" brüllte der Polizeioffizier aus dem halberleuchteten Eingang.
  Der Polizeioffizier stand hinter dem vierfachen Kordon der Schutzleute. „Ich  mache sonst von der Waffe Gebrauch."
  Ein Sturm von Entrüstung antwortete ihm. Die Polizeimannschaften hielten die  Hände fester, die sich zu vierfacher Kette geschlossen hatten.
  Geschrei, Geschrei.
  Der Vertrauensmann des Zuges brüllte den Polizeioffizier an, dass für 6 Uhr  nachmittags im Volkshaus auf Wunsch des Innenministeriums eine Sitzung  einberufen sei, und dass man ihn hereinlassen müsse.
  Der Offizier antwortete irgend etwas.
  Die erregten Arbeiter erklärten den Schutzleuten leidenschaftlich, dass auch  sie Proletarier seien, und dass die Uniform ihre Familien nicht vor Hunger und  Not schütze. Die eisigen Gesichter der Schutzleute waren bleich. Ihre Hände  schlossen sich krampfhaft. Dann toste wieder der Lärm.
  Ein Aufschrei.
  Ruckzuck. Von rückwärts kam ein kurzer mächtiger Ruck, Körper stieß gegen  Körper, erhobene Arme schützten die Augen. Der vierfache Kordon ist  durchbrochen, die Vordersten stolpern und laufen, die Masse treibt vorwärts,  die Einfahrt dröhnt von eilenden Schritten. Die Masse ergießt sich in den  Vorhof des Volkshauses. Wer mitkommen wollte, wurde mitgerissen.
  „Hurra, Hurra!"
  Die Gesichter der Schutzleute waren aschgrau. Irgend jemand verhöhnte sie. Das  Konfektionshaus gegenüber ließ eilig die Jalousien vor den erleuchteten  Schaufenstern niedergehen.
  Die Straße verdunkelte sich dadurch ein wenig.
  Der zweite Durchbruch gelang kurz darauf den Metallarbeitern von Danek.
  Danach kam die Kolbenfabrik. 150 Metallarbeiter, die sich auf dem Wege noch mit  anderen vereint hatten. An der Spitze gingen Toni, Peter und Edi Worrel.
  Man hörte sie schon von weitem.
  Sie sangen ein Marschlied, 200 Männerkehlen sangen das rote Lied, und ihre  Stimmen und ihre Schritte ließen das Glas der Straßenlaternen erzittern. „Fort  mit Tyrannen und Verrätern!" erklang es zwischen den Häuserblöcken, und  das Wort „Verräter" hatte eine wilde rote Farbe.
  „Es kommt der Tag, da wir uns rächen!" erscholl es zum Abendhimmel. Der  Gesang näherte sich, die Neugierigen traten in ängstlicher Achtung vor dieser  organisierten Kraft schweigend zurück.
  Der Zug von 200 Metallarbeitern mit schwarzen Händen und Augen, aus denen  Entschlossenheit blitzte, trieb sie mit derselben Selbstverständlichkeit  auseinander, mit der das Messer ins Brot dringt.
  Der Polizeioffizier in der Einfahrt schrie wieder irgend etwas.
  Aus den dichtgedrängten Gruppen der Neugierigen arbeitete sich mit Händen und  Füßen ein junger Student heraus, der junge Jandak. Er lief den Marschierenden  entgegen, sprang zu Toni. Seine Augen leuchteten.
  „Wir stoßen durch. Nehmt mich mit!" schrie er, neben Toni marschierend.
  „Komm!" antwortete Toni ruhig, ohne den Schritt zu verlangsamen.
  „Wir beide gehen als erste, Toni!" Die Stimme des jungen Jandak zitterte.  „Wir müssen den Genossen drinnen eine wichtige Nachricht bringen. Die Polizei  hat das Kino in der Seitenstraße besetzt und will nach der Vorstellung durch  das rückwärtige Tor in das Volkshaus eindringen."
  Sie waren bis auf 20 Schritte an den Polizeikordon herangekommen. In diesem  Augenblick sprang der junge Jandak zwei Schritte vor, hob die Rechte und  brüllte „Hurra". Mit hervorquellenden Augen, mit geöffnetem Munde und  gehobenen Händen flog er vorwärts. In der Masse hinter ihm ging das letzte Wort  des Liedes in ein betäubendes „Hurra" über. 400 Beine machten 15 wilde  Schritte. Es gab kaum einen Zusammenprall, die vierfache Kette der Schutzleute  wankte und riss. Durch die enge Einfahrt jagten die Arbeiter der Kolbenfabrik  in den halbdunklen Hof des Volkshauses, wie Wein aus dem Fass hervorbricht. Sie  kümmerten sich nicht um die Schutzleute, die gegen die Wand gedrängt und vom  Strom mitgerissen wurden.
  „Hurra", klang es ihnen begeistert vom Hof entgegen. Ein mächtiger Choral,  das „Lied der Arbeit" erscholl. Seine Melodie war voll Vertrauen und voll  Siegesgewissheit.
  Unter diesen Umständen konnte die Versiegelung der Druckerei nicht durchgeführt  werden. Der Magistratsbeamte ging unter den schwarzen Menschenmassen auf und ab  und bemühte sich, möglichst unauffällig zu bleiben. Die Arbeiter bauten  Barrikaden.
  Sie schleppten Wägelchen und Kisten in den Garten und schleiften ein altes  unbenutztes Tor hin.
  Aus Kisten und Papierrollen bauten sie an beiden Durchfahrten Barrikaden.  Niemand nahm zur Kenntnis, dass eine Kette von Schutzpolizei die Straße  absperrte. Die Schutzpolizei belächelte den Bau der Barrikaden und zwang sich,  angesichts der Übermacht nicht feindlich zu erscheinen. Nachdem der  Polizeioffizier alle Reserven aufgebraucht hatte, entsandte er einen  Zivilbeamten, der um Verstärkung Telefonieren sollte.
  Dann kam die Parole. Auf dem Balkon erschien die Silhouette eines Mannes, der  den Massen, die sofort verstummten, folgendes zurief:
  „Genossen, Vertrauensleute! Kommt sofort in den Gartensaal, wo die Beratungen  stattfinden werden. Aber nur die Vertrauensleute."
  Das Holzgebäude mit den Glaswänden war sofort überfüllt. Toni war anwesend.
  Der Saal leuchtete wie immer, einer Laterne gleich, in die Nacht.
  Im Garten waren unter der Menge viele Neugierige, die mitgerissen worden waren,  und nun in den Saal blickten. Die Versammlung der Vertrauensleute war die erste  organisierte Tat des heutigen Tages. Sie sollte Führung und Parole bringen.
  Der Vorsitzende der Fabrikvertrauensleute, Dominik Hanlin, Arbeiter in einer  Chemikalienfabrik, betrat die Bühne. Er eröffnete die Beratung und gab einen  kurzen Überblick über die Ereignisse des heutigen Tages.
  Dann ergriff der Direktor der Druckerei das Wort.
  Kaum hatte er den ersten Satz beendet, öffnete sich die Tür und ein Häufchen  Menschen mit einem dicken glatzköpfigen Mann an der Spitze betrat den Saal.
  Toni wandte unwillkürlich den Kopf, und sein Blick ruhte auf dem kleinen,  dicken Mann mit einer Brille, der den Eindruck eines schlecht bezahlten  Schreibers machte.
  Woher kenne ich diesen Menschen, blitzte es durch Tonis Kopf. Das war der  Spitzel, der sich damals, als er mit Anna und Plecety hier gewesen war, so  auffällig angeboten hatte, Bomben und Minenwerfer aus Hamburg über die Grenze  zu schaffen. In dem Augenblick, als er sich das klarmachte, schrie auch schon  von der rechten Seite des Saales jemand anders: „Achtung! Acht-Groschen-Jungs  sind da!"
  Alles wandte die Augen zu den Ankömmlingen. Noch ein Ruf: „Den Dicken mit der  Glatze kenne ich."
  Die Detektive versuchten zu verschwinden. Sie wurden aufgehalten, bekamen  mächtige Hiebe und wurden durch die Türe in den Garten gejagt.
  Dieser Zwischenfall, der sonst kurz erledigt und mit einem Lachen abgeschlossen  worden wäre, griff diesmal die Nerven heftig an. Es dauerte lange, bevor sich  der Saal wieder beruhigte und der Direktor des Unternehmens sprechen konnte.
  Er sagte etwa zwanzig Sätze.
  Von draußen, irgendwo vom ersten Hof her, kam ein erstickter Schrei.
  Die Köpfe flogen herum, die Körper stemmten sich nach. Das Geschrei klang  verdächtig. Gendarmerie hatte die Barrikaden durchbrochen, die in der Einfahrt  aufgestellt waren, und stürmte in den Hof.
  Die Vertrauensleute erhoben sich von ihren Sitzen. Die Sessel und Stühle  knarrten. Ein neuer Aufschrei ertönte aus der Menge im Garten. Ein kurzer,  hoher und warnender Schrei. Toni sprang auf und lief zur Tür. Da erklang ein  seltsamer Schlag gegen Holz und Glas. Die Glasscheiben, welche die Gartenwände  des Saales bildeten, fielen mit kurzem betäubenden Klirren in den Raum. Die  Gendarmerie war in einer Schützenkette vom Garten aus gegen den Saal  vorgestürmt und hatte mit einem einzigen disziplinierten Stoß von 50  Gewehrkolben das Glas und die dünnen Holzverbindungen zertrümmert. Die  Gendarmen sprangen in den Saal. Gleichzeitig drang die Polizei durch die Tür  ein. Die ersten Schläge ihrer Knüppel fielen auf die Köpfe der Nächststehenden.  Die Versammlung brüllte auf. Toni warf sich mit einem Sprung den Gendarmen  entgegen. Er erfasste einen von ihnen, wich dem Bajonett aus, fasste den  Gendarmen an der Kehle und warf ihn gegen die zertrümmerte Glaswand. Der  Gendarm stieß mit der Wade gegen die Verschalung, kippte um und blieb mit dem  Oberkörper in den Splittern im Garten, mit den Beinen im Saal liegen. Jemand  traf Toni mit einem dumpfen Schlag in die Seite. Irgendeiner warf ihn zurück.  Er erfasste den Stuhl, drang
  von neuem vor und schlug zu. Der Stuhl zerbrach, wie es schien, an irgendeinem  Gewehrschaft, vielleicht auch an einem Gewehrlauf, vielleicht an beiden.
  Ein Stück Lehne blieb in Tonis Hand. Mit dem schlug er weiter. Er sah  verschwommen die Gendarmen, er sah wütende Augen, geöffnete Münder. Er sah  Bajonette blitzen und schlug wild und ohne jede Besinnung zu. Er hörte Brüllen.  Er hatte das unbestimmte Gefühl, Körper von Genossen zu sehen, die ihm zur  Seite standen. Dann sah er für den Bruchteil einer Sekunde einen riesigen  Gewehrschaft und verspürte einen schweren Schlag auf den Kopf. Er wankte, und  es wurde ihm schwarz vor den Augen. Die Hand sank ihm herab, und er rollte  mitten unter umgeworfene Stühle auf das Gestell eines umgefallenen Tisches. Der  Kampf jagte über ihn hinweg. Die Gendarmen schlugen mit den Gewehrschäften, die  Polizeimannschaften mit den Knüppeln. Im Saal herrschte größte Verwirrung. Ein  Strom von Flüchtenden trieb dem engen Eingang des Restaurants zu. Ein zweiter  zur Bühnentür. Einzelne sprangen durch die zerschlagenen Glaswände hindurch und  zerschnitten sich Hände und Gesichter. Verwundete lagen auf dem Boden, und  neben der umgeworfenen Einrichtung waren viele Blutlachen. Zwei Genossen, die  sich durch das Gewirr durchzwängten, retteten einige Verwundete vor dem  Zertretenwerden und trugen sie auf die Bühne. Aber zuviel Menschen scharten  sich auf diesem sicheren Inselchen zusammen, und die Bühne stürzte ein. Die  Gendarmen und die Polizisten, welche über die umgeworfenen  Einrichtungsgegenstände wegsprangen, schlugen, wen sie erreichten, mitten auf  den Kopf. Jeder floh, wohin er konnte. Der schmale Gang zum Restaurant war  überfüllt. Eine zweite Abteilung von Gendarmerie führte die Befehle des  Innenministeriums in den Höfen des Volkshauses aus. Die Hyberner- und  Havlitschekgasse wurden geräumt. Überall sausten Gewehrkolben und Knüppel  nieder, überall waren Gebrüll und verzweifelte Aufschreie von geschlagenen und  getretenen Frauen, und überall floss Blut.
  Die Ohnmacht Tonis dauerte nicht lange. Als er wieder zu sich kam, lag er quer  über dem Gestell eines umgefallenen Tisches und hatte einen umgeworfenen Stuhl  auf den Knien. Das erste, was er erblickte, war das verschwommene Bild einer  Glühlampe. Er konnte sich lange nicht besinnen und noch länger nicht sehen.  Erst nach einer Weile begriff er, warum. Ex hatte die Augenhöhlen voll Blut.
  Er erhob sich mit Mühe, indem er sich mit den Fäusten auf das Gestell stützte.  Ringsherum war Verwüstung. Verwundete lagen auf der Erde. Ein paar Menschen  liefen herum. Toni sah alles in einem leichten Nebel. Irgendwo von fern her,  wahrscheinlich von der Straße, drang ein gedämpfter Lärm, und er erschien in  diesem plötzlichen Schweigen hier ganz sonderbar. Im Garten und auf den Höfen  war es ruhig. Wir sind geschlagen! Das war der erste Gedanke, der langsam sein  Gehirn durchzog, und hier ringsherum das sind tote Genossen. Er wollte die  Augen aufs neue schließen, aber da kam ihm ein Gedanke, klarer als der  vorherige. Was nun? Unter der Schärfe dieses Gedankens richtete er sich auf.  Das tat entsetzlich weh, aber er stand. Jemand stützte ihn.
  „Toni, ich such dich."
  Das war der junge Jandak. Toni sah, dass sein Antlitz fahl war. Er führte Toni  durch den Garten und die Höfe, die leer und öde waren. Einige Schutzleute  standen an der Wand.
  „Welcher Verrat!" sagte der junge Jandak. „Welch' ein unerhörter Verrat.  Die Regierung fordert die Vertrauensleute der Arbeiterschaft auf, sich zu  versammeln und zu beraten, und dann werden sie überfallen."
  Er führte Toni in die Setzerei. Irgend jemand verband den Verwundeten dort über  einem Waschtisch, der voll Blut war. Drei andere standen daneben und warteten  gleichfalls auf den Verband. Einer von ihnen hielt ein Tuch vor dem Auge, er  war ganz mit Blut befleckt. Der Mann, der die Verbände machte, schien ein Arzt  zu sein, denn er verrichtete seine Arbeit fachmännisch. Irgendein Setzer  leuchtete ihm mit einer Glühbirne.
  „Na, Sie sind ja ganz schön zerfetzt", sagte der Fachmann zu Toni, und  nähte ihm die Haut auf dem Kopf.
  „Sie müssen noch zum Arzt gehen!" Toni vergrub die Zähne in den Lippen.  Neue Verwundete kamen in die Setzerei. Die Schärfe des Schmerzes machte Tonis  Kopf klar.
  „Ist jemand vom Vollzugsausschuss hier?" fragte der junge Jandak.
  „Ja, sie sind in der Redaktion."
  „Wie ist dir, Toni?"
  „Gut, wie du siehst. Was wird morgen sein?" Der junge Jandak zuckte die  Achseln. Sie gingen drei Treppen hoch in die Redaktion. Bei dem Gang tat Toni  das Bein sehr weh, aber er ließ es nicht erkennen, denn er fürchtete, dass der  junge Jandak ihn stützen würde. Er ärgerte sich, dass er sich so gehen ließ.  Auf dem Flur begegneten sie dem Abgeordneten Schmeral, dem Führer der  Opposition. Als er den Verwundeten sah, blieb er stehen, und seine Augen nahmen  einen gütigen Ausdruck an.
  „Was wird morgen sein, Schmeral?" fragte Toni.
  „Du bist doch der Genosse Krousky, nicht? Was haben sie dir getan?"
  „Ach nichts, was ist morgen?"
  „Ja", sagte Schmeral zum Studenten und blickte dabei nach dem bleichen  Gesicht Tonis. „Führ den Genossen Krousky gleich nach Hause, den Verband muss  er unter der Mütze verstecken, damit sie ihn beim Verlassen des Hauses nicht  verhaften."
  „Was ist morgen?" wiederholte Toni nachdrücklich.
  „Kümmere dich nicht darum, was morgen sein wird. Leg dich ins Bett", sagte  Schmeral streng. „Und geh mir hier nicht auf den Treppen herum. Du hörst doch,  was ich sage. Du musst sofort nach Hause gehen!"
  Die Worte sollten hart klingen, aber Schmerais Augen waren fast mütterlich  weich, und dieser mitleidige Blick erfüllte Toni mit Wut und trieb ihm das Blut  in die Wangen.
  „Red keinen Blödsinn", schrie er auf. „Was ist morgen? Ich bin der  Vertrauensmann der Kolbenfabrik."
  Das wurde mit dem gleichen Stolz gesagt, wie man früher zu sagen pflegte: „Ich  bin Kommandeur des zweiten Bataillons."
  Dieser stolzen Berufung auf das Recht des Kämpfers musste der andere nachgeben.
  „Du weißt, dass wir die Befehle keine Minute früher erlassen können als  notwendig ist. Sie werden ernst sein. Du wirst sie morgen in der Zeitung lesen.  Wir treffen uns morgen vor dem Parlament. Jetzt geh nach Hause,  verstanden?" „Jawohl."
  Sie kamen unbehindert an den Schutzleuten am Tor vorbei und schritten durch die  Dezembernacht. Die Straße war kalt, und über der Stadt hing ein unfreundlicher,  sternenloser Himmel. Die Umgebung des Volkshauses war öde.  Gendarmeriepatrouillen kamen vorbei. Toni und der junge Jandak gingen der  Vorstadt zu. Sie wollten die Straßenbahn nicht benutzen, wo Tonis Verband  gefährlich werden konnte. Toni schwieg. Sein Gesicht war finster. Er verwendete  viel Willenskraft darauf, seinem Schritt nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihm  die Hüfte wehtat. Im Kopf des jungen Jandak jagten zwei Worte durcheinander,  die vom eben vergossenen Blut gerötet waren. „Verrat, Verrat" und „Der  Vater, der Vater, Verräter!"
  In dieser Stunde, als sie sich der hellerleuchteten Jesseniusgasse näherten, um  11 1/2 Uhr nachts, zogen die Führer der Partei durch die Toreinfahrt des  Volkshauses in die eroberte Festung ein. Die Polizeimannschaft trat zur Seite  und nahm Achtungstellung ein, um ihnen die vorschriftsmäßige Ehrung zu  erweisen. Als erster kam Franz Soukups, dann der alte Anton Deutsch, Habrmann,  Stivin, Binowetz und Koudelka. Sie gingen durch die öden und schweigsamen Höfe  und über das Pflaster, das mit Arbeiterblut getränkt war, ein wenig  unschlüssig, ein wenig verwirrt durch die neue Situation, ein wenig erregt und  ein wenig stolz, dass sie es schon so weit gebracht hatten, Geschichte zu  machen. Trotz jenes unvermeidlichen Anteils, den das Menschenblut daran hat.
  Hinter den Führern schritt ein Häufchen von Redakteuren und Vertrauensleuten  und hinter diesen fünfzehn Detektive, darunter fünf von jenen, die vor vier  Stunden im Gartensaal geprügelt worden waren. Sie wurden wiederum von jenem  dicken Mann mit der Glatze und dem mageren mit der Brille angeführt. Die  Fünfzehn spielten heute Nacht die Komparsenrolle erregter Arbeiter. Sie  spielten sie gut. Eine Viertelstunde nach dem Einzug ins Volkshaus gingen sie  gemeinsam mit ihrem Führer in die Redaktion, warfen die Redakteure hinaus,  warfen den ausgehöhlten Körper des alten Dichters Anton Mazek gegen die Wand  und schleiften Schmeral über die Stiegen, wobei sie ihm Weste und Hemd  zerfetzten. Am ärgsten betätigte sich der Kleine mit der Brille, den Toni  einmal im Gartensaal kennen gelernt hatte.
  Um Mitternacht war das Volkshaus wieder im Besitz seiner „gesetzlichen  Eigentümer".
  Der Ministerpräsident und der Ministerialdirektor Podhradsky weilten noch im  Arbeitszimmer des Innenministeriums. Sie tranken schwarzen Kaffee und rauchten  Zigarren. Jetzt, nachdem ihnen telephonisch das Endresultat bekannt gegeben  worden war, nickte der Ministerpräsident zufrieden mit dem Kopf und ließ sich  mit dem Präsidenten der Republik verbinden.
  Als er sein kurzes Referat gehalten hatte, legte er den Hörer ab, erhob sich  und richtete sich im Kreuz auf.
  „Und morgen?" fragte er, indem er den Ministerialdirektor Podhradsky  anblickte.
  „Wahrscheinlich ein heißer Tag. Sind noch irgendwelche Befehle zu  erteilen?" „Ich glaube nicht." „Erwarten Sie den Generalstreik?"  „Jawohl."
  Darauf ließen sich die beiden Herren ihre Wintermäntel bringen und gingen die  Treppe hinunter zu ihren Automobilen.
  Auch ihre Arbeit war für den heutigen Tag beendet.
  Toni kleidete sich in der dunklen Wohnung vorsichtig aus, um Anna nicht zu  wecken. Aber sie fühlte ihn. „Bist du's, Toni?" sagte sie im Halbschlaf.  „Ja, schlaf nur."
  „Es riecht hier so nach Krankenhaus." „Es ist nichts, Anna, ich war in der  Redaktion. Schlaf, ich bin auch müde."
  Er legte sich auf das Sofa, wo sein Bett gemacht war. Er konnte aber nicht  einschlafen. Morgen, morgen, morgen...  die Kolbenfabrik...  vor dem Parlament.  Was wird sein? Wird der Kampf losgehen?
  Jetzt, beim Liegen, verspürte er Schmerz in der Hüfte. Der Schmerz wurde  heftiger, wenn er sich bewegte. Auf dem Bett atmet die schlafende Anna ruhig.  Auf dem Boden neben ihr im Waschkorb schläft sein Sohn. Kein Kämpfer mehr wie  der Vater, aber ein Baumeister, er heißt Wladimir, nach dem großen Führer  Wladimir Iljitsch.
  Fieber stellt sich ein. Tonis Wangen brennen, und er wälzt sich im Bett.  Morgen, morgen, die Szenen des heutigen Tages hetzen an ihm vorbei, entsetzlich  klar und scharf. „Arbeit einstellen!" ruft Edi Worrel auf den Höfen der  Kolbenfabrik. Die Arbeiterkompanien marschieren auf das Volkshaus zu, und ihre  Schritte Hingen in den abendlichen Straßen wie wirkliche Schüsse. In der  Einfahrt bauen die Genossen hinter dem Rücken der Polizei Barrikaden. Die  Gendarmen haben mit einem Kolbenschlag die Glaswände des Gartensaales  zertrümmert. Kling, wie scharf das klingt, sie springen in den Raum. Die  Befehle werden ernst sein, sagt Schmeral. Du wirst es in der Zeitung lesen.  Morgen, morgen gibt es Kampf. Die Nacht fliegt.
  „Toni!" In irgendeinem seiner verwirrten Träume klingt eine entsetzte  Stimme.
  Er erwachte jählings, öffnete die Augen. Es war Tag. Anna stand über ihn  gebeugt, und ihre blauen Augen waren erschrocken.
  „Was ist dir, Toni?" Er sprang auf, die Hüfte tat ihm weh, er schrie:
  „Wie spät ist es?"
  „Was ist dir geschehen, Toni?" Das Kind weinte, eigensinnig und  ausdauernd.
  „Wie spät ist es?"
  „Noch früh, du hast noch genug Zeit, sprich, ich bitte dich."
  Annas Hände fassten ihn.
  „Nichts, ein Gendarm hat mich gestern im Volkshaus geschlagen. Irgendein Doktor  hat mich verbunden. Siehst doch selbst, dass es nichts ist. Es gibt Kampf,  Anna!" Toni zog sich schnell an. Es schmerzte.
  „Was für einen Kampf, Toni?" Das Kind weinte. Er sah sie erstaunt an.
  „Weißt du denn nicht?"
  „Nein, Toni", sagte sie entsetzt. Er kleidete sich an. Er erzählte ihr,  was gestern geschehen war.
  „Es gibt Kampf, Anna!"
  Doch welch ein Wunder, Tonis innere Glut übertrug sich nicht auf Anna. Das Kind  im Korb schrie mit jener wilden Ausdauer, die nur hungrige Säuglinge haben, und  Annas entsetzte Augen bewegten sich unschlüssig zwischen ihm und Tonis Verband.
  „Du gehst doch zum Arzt, nicht? Ich habe noch nichts hergerichtet. Du hast noch  Zeit. Ich mache gleich das Frühstück, sobald ich das Kind genährt habe."
  Er blickte sie wieder ganz erstaunt an. Zum Arzt? Ihre Augen wechselten zwei  Fragen. Vielleicht nicht? fragten die blauen ängstlichen und die stahlharten:  Wie meinst du das?
  „Du wirst doch nicht in die Fabrik gehen", brach sie aus, als sie endlich  begriffen hatte. „Du gehst nicht." Die Energie in ihr erwachte. Sie trat  an seine Seite.
  „Du glaubst doch nicht, dass ich dich in die Fabrik gehen lasse!"
  „Du hast mich nicht verstanden. Der Kampf beginnt, wir stehen mitten in der  Revolution."
  Sie umfing ihn mit beiden Armen, und ihre Augen saugten sich an seinem Gesicht  fest. „Und du, du willst auf die Straße gehen?" „Das ist doch  selbstverständlich", antwortete er ruhig. Sie ließ ihn los, trat zur Tür  und deckte sie mit dem Rücken. Sie sagte nur ein Wort: „Nein!"
  Aber dieses Wort war die Entschlossenheit einer Frau, die den Geliebten  schützt, und die Leidenschaft einer Mutter, die ihr Junges schirmt. Ihr Wort  war hart wie Tonis „Ja" und „Nein". Hart wie Kolbenstahl. „Mach keine  Dummheiten, Anna." Es klang noch sehr sanft.
  Wenn du kein Kind hättest, wäre es deine Pflicht, mit mir zu gehen."
  „Nein!", auch ihre Augen wurden hart. „Bist du verrückt geworden? Hältst  du mich für einen Feigling?"
  Dieses Wort trieb ihm ein böses Feuer in die Augen und färbte seine Rede  scharf. Er trat zu ihr.
  „Lass mich durch!"
  „Nein!" rief sie leidenschaftlich, und ihr Aufschrei übertönte das Weinen  des hungrigen Kindes.
  Er nahm sie mit seiner Metallarbeiterhand am Gelenk, drückte zu, und es  bedurfte keiner großen Anstrengung, sie von der Türe wegzureißen. Aber sie  hatte sich in ihrem Eifer doch genug Frauenklugheit bewahrt und noch vorher den  Schlüssel aus dem Schloss gezogen.
  „Wo ist der Schlüssel?" schrie er, als er vergeblich an der Klinke gezerrt  hatte.
  „Ich weiß nicht." In ihm kochte helle Wut.
  „Gib den Schlüssel her!"
  „Ich gebe ihn nicht", flüsterte sie. Er fasste ihre Bluse, zerknüllte den  Stoff in der Faust und zog die Frau bis auf zwei Zoll an sich heran. Seine  Augen waren glühend vor Wut. Anna hatte solche Augen niemals bei Toni gesehen.  Sie merkte entsetzt, dass er sie nicht kannte, dass ein fremder Mensch vor ihr  stand. Dass er mit ihr umgehen würde wie mit einem Feind. Dass er sie zu Boden  werfen, dass er sie gegen die Wand schmettern würde. Je nachdem, was er für  seine Sache für richtiger halten würde.
  „Jetzt, jetzt wird er es tun", dachte sie.
  „Treib mich nicht zum äußersten; weißt du, was Verrat heißt?"
  Von diesen furchtbaren Worten aufs neue aufgepeitscht, brüllte er:
  „Den Schlüssel."
  „Nein", flüsterte sie. Sie war entschlossen, sich nicht zu ergeben.
  „Jetzt, jetzt erschlägt er mich bestimmt", dachte sie und blickte ihm in  die Augen. Er tat es nicht.
  Er ließ sie los. Setzte die Mütze auf den Kopf und sprang zur Türe. Er fasste  die Klinke mit beiden Händen und stemmte sich mit gespreizten Beinen gegen die  Tür. Er riss einmal vergeblich. Die Tür knackte. Er riss zum zweiten Mal, und  die Tür wich mit Krachen, so dass er zurücktaumelte. Er lief hinaus.
  Sie stand einen Augenblick wie versteinert. Dann lief sie in den Flur:
  „Liebling", schrie sie verzweifelt. Tonis schnelle Schritte verhallten  schon unten im ersten Stock. Sie eilte ihm nach. „Toni."
  Sie kam nur bis zur fünften Stufe. Dann blieb sie stehen, schwankte nach vorne,  nach rückwärts. Da unten ging ihr Geliebter fort, und sie musste ihm nach.  Hinter ihr schrie das hungrige Kind, und sie musste zu ihm.
  Sie konnte sich in dieser Sekunde des Leidens nicht entscheiden. Sie tat weder  das eine noch das andere. Die Knie wankten ihr. Sie setzte sich auf die dritte  Stufe, legte den Kopf auf die erste und weinte. Die Brust hob und senkte sich,  die Stufe kühlte ihr die Stirne.
  Da erklang hinter ihr eine verächtliche Stimme: „Na, na, Gräfin, schämen Sie  sich!"
  Sie ermannte sich und stand auf. Über ihr standen die kalten Augen der Genossin  Tinschmann und die Genossin Tinschmann selbst, die Arme bis zum Ellenbogen  entblößt und in die Hüften gestemmt. Die Hände und Arme waren vom ewigen  Waschen ausgebleicht wie Papier.
  „Pfui, schämen Sie sich", sagte sie, und in diesen Worten war ein Eimer  kalten Spülichts.
  Anna lief heim.
  Sie nahm das Kind aus dem Körbchen, setzte sich an den Rand des Bettes und  reichte ihm die Brust. Das Kind ergriff sie hungrig, sein wildes Geschrei brach  sich und verwandelte sich in Schmatzen. Aber schon im nächsten Augenblick  vergaß Anna, dass sie den Sohn im Arm hielt. Ihre Augen stierten ins Leere.
  „Toni, Toni." Sie begriff, dass sie zu ihm gehörte, und dass sie ihm  nachgehen müsste. Dass sie ihn niemanden überlassen dürfte und dass sie ihn für  sich und für ihr Kind erhalten musste. Das Dorf mit den Feldern und den Pappeln  sprach aus ihr, wo jeder leidenschaftlich festzuhalten verstand, was er  erworben hatte.
  „Toni, Toni."
  Ihr Körper folgte ihm nicht auf die Straße, denn er war durch den saugenden  Mund und die warme strömende Milch an die Stube gefesselt, aber ihr ganzes  übriges Wesen folgte ihm. Anna wurde durch diesen Marsch in den Straßen  unruhig, und ihre Unruhe übertrug sich auf das Kind.
  Die Tür öffnete sich ohne vorheriges Klopfen, und wieder stand die Genossin  Tinschmann vor ihr. Sie stemmte wieder die Arme in die Hüften, ihre Augen waren  kalt wie immer, und ihre Stimme klang böse wie nie zuvor.
  „Schämen Sie sich denn gar nicht? Es tut Ihnen wohl leid, dass die Jungens auf  die Straße gegangen sind, um sich ein bisschen herumzuschlagen, damit wir und  die Kinder ein größeres Stück Brot bekommen?! Meiner ist auch gegangen. Ich  habe ihn selbst geschickt. Ich würde ihm die Augen auskratzen, wenn er nicht  ginge. Was haben Sie denn das ganze Leben hindurch getan? Nichts. Wir haben uns  geschunden wie die Pferde. Wir!...  Sie allerdings nicht allzu viel!" setzte  sie böse hinzu. „Aber was haben denn die Männer getan? Der meinige hat ein  bisschen im Lehm gewühlt, und Ihrer hat mit seinen Gussformen gespielt. Jetzt  sollen sie sich nur ein bisschen mit der Polizei herumflachsen. Das hat immer  ein wenig geholfen und wird auch diesmal helfen. Und Sie, Frau Krousky, Sie  können sich schämen, ja, schämen." Anna sah sie verstört an.
  „Warum weinen Sie denn?" sagte die Tinschmann hart. „Ich weine nicht mehr,  Frau Tinschmann." Die Nachbarin ging.
  Anna nährte das Kind und ging mit ihm in der Stube auf und ab, um es  einzuschläfern. In dieser Stunde wuchs in ihr ein fester Entschluss. Er reifte  unter dem Eindruck der harten Augen und der weißen Ellenbogen von Frau  Tinschmann. Sie legte das schlafende Kind ins Körbchen, kleidete sich schnell  an und ging zur Nachbarin.
  „Frau Tinschmann", sagte sie, „der Junge schläft. Falls er weinen sollte,  schauen Sie doch bitte einmal nach." „Wohin gehen Sie?" „Zu  Toni!" antwortete Anna sanft und fest.
  Die Nachbarin blickte sie an. Nicht unfreundlich. Anna wusste nicht, wohin sie  gehen sollte. Sie fragte: „Wo sind sie hin?"
  „Ich weiß es nicht. Vielleicht zum Rathaus. Wird wohl in der Zeitung stehen.  Was wollen Sie denn dort?" Anna ging.
„An die Arbeiterschaft der Republik!"
Das war die Schlagzeile des Flugblattes, das das „Rote Volks-Recht" herausgegeben hatte, und schon diese großen und schwarzen Buchstaben erfüllten Anna mit dem Bewusstsein von dem Ernst der Stunde.
„Gestern hat die Regierung mit bewaffneter Macht das Volkshaus besetzt  und unter dem Vorwand versiegelt, dass die Druckerei die Gewerbeordnung  verletzt hätte. Bei der Versiegelung der Druckerei, die unter Assistenz von  einigen hundert Schutzleuten und Gendarmen durchgeführt wurde, ist Arbeiterblut  geflossen.
  Nach furchtbaren Ausfällen haben die Gendarmen die Arbeiter durch  Bajonettstiche verletzt, die Polizei hat mit dem Gummiknüppel gewütet. Aller  Arbeiter, die gestern Zeugen des Vorfalls waren, hat sich eine ungeheure  Erregung bemächtigt, und wie aus einem Munde wurde die leidenschaftliche  Aufforderung vorgebracht:
  „Wir antworten mit dem Generalstreik!"
  Schon gestern hat die Arbeiterschaft des mittelböhmischen Kohlenreviers, als  die Nachricht ins Revier kam, den Generalstreik für das ganze Revier und den  ganzen Bezirk proklamiert."
Anna schlug das Herz. Auch Tonis Blut war geflossen, als Arbeiterblut vergossen wurde. Ihre fiebrigen Augen überflogen den Aufruf des Aktionsausschusses bis ans Ende.
„Beantwortet diesen Gewaltstreich durch einen Protest von  außergewöhnlicher Stärke.
    Proklamiert einen allgemeinen Proteststreik in allen Teilen der  Republik!"
Anna wusste, was das bedeutete: „Generalstreik".
  Sie sprang in einen Wagen der Straßenbahn und fuhr nach dem „Altstädter  Ring". Die Menschen im Wagen lasen die Zeitung. Sie sprachen weniger als  sonst, und ihr Schweigen und ihre Stirnen, die über das Papier gebeugt waren,  zeigten die Spannung des Tages. Vor dem Altstädter Ring beugte sich Anna  vergeblich aus dem Wagen, um Arbeitermassen zu suchen. Sie stieg aus. Die  Menschen, die vorbeigingen, waren ihr fremd und feindlich. Dann lief sie zum  Parlament. Der Freiplatz vor ihm war leer. In dem kleinen Park lag der Schnee  in Haufen, die von Tannenzweigen bedeckt waren. Es war öde, still und kalt.
  „Wo ist Toni?" Die Frage war ebenso düster wie der heutige Tag. Wo soll  sie ihn suchen? Unruhe bemächtigte sich ihrer. Es schien ihr, dass sie schon  einmal im Leben irgendwann vor sehr langer Zeit so auf der Straße gestanden  hatte, ratlos und unwissend, wohin sie gehen sollte. Eine fröhliche Frauenstimme  überraschte sie.
  „Das ist doch die Anna!"
  Eine schöne, schlanke Dame im Sealskinpelz stand vor ihr und lächelte  freundlich.
  „Fräulein Dadla!" sagte Anna überrascht. In diesem Augenblick wusste sie,  wann sie vor langer, langer Zeit so ratlos auf der Straße gestanden hatte.
  „Holen Sie Rudi", hatte ihr das Fräulein damals gesagt. „Falls er nicht da  ist, gehen Sie dorthin, und dann noch dahin und dorthin."
  Wo wird Anna heute Toni suchen?
  „Wie geht es Ihnen, Anna?"
  „Danke, Fräulein, gut."
  „Ich bin kein Fräulein mehr. Haben Sie es nicht in der Zeitung gelesen?"
  „Nein."
  „Mein Mann ist der Doktor Urban, Direktor der Gewerbebank." Frau Dadla  lachte, und in ihren Augen saß Fröhlichkeit. Als ob sie im nächsten Augenblick  sagen würde: „Willst du ein Stückchen Schokolade, Anna?"
  „Er kennt Ihren Mann. Ihr Mann ist einer von den Bolschewiken, wie?"
  „Ja."
  „Na ja, ich weiß ja", lachte Dadla.
  Sie blickte Anna eine Weile an und betrachtete sie mit einem freundlichen  Interesse, das Anna unangenehm war.
  „Sie sehen nicht gut aus. Bei uns haben Sie besser ausgesehen. Haben Sie  Familie?"
  „Ja."
  „Na, jetzt gehen Sie aber nach Hause, Anna", sagte Dadla mit jener  befehlshaberischen Selbstverständlichkeit, die Anna so gut kannte. In Annas  Augen war eine Frage.
  „Gehen Sie nur!" befahl die Frau Direktor, ohne ihr Lächeln zu  unterbrechen, „und achten Sie auf Ihren Mann. Heute wollen sie auf euch  schießen."
  „Jesus Christus!"
  Das Dorf schrie in Anna auf. Wo wird sie Toni finden? Anna blickte ängstlich in  die Augen der schönen Dame, und als der ausdauernde und tiefe Blick sich nicht  abwandte, da veränderte sich die schöne Frau mit einemmal. Fräulein Dadla mit  den befehlenden Gesten, dem Lächeln auf den Lippen, mit der Tafel Schokolade in  der Hand, war verschwunden. Das war einmal vor langer Zeit. Die liebenswürdige  Dame, die Anna auch um den Preis des Verrats am eigenen Lager gewarnt hatte,  war verschwunden. In der scharfen Luft des Dezembertages sah Anna das böse  Gesicht eines Feindes vor sich. Er war zu verwöhnt, um das Gewehr zu nehmen und  selbst zu schießen; zu feige, um nicht noch jetzt den wohlmeinenden Freund und  Berater zu spielen — aber eben wegen jenes leichten Sealskinpelzes mit dem  kirschfarbenen Seidenfutter werden sie heute auf Toni schießen.
  Eben wegen dieser champagnerfarbigen Schuhe und wegen der seidenen Strümpfe  wird man heute morden. Eben wegen dieser herrlichen Mütze, wegen der  amerikanischen Handschuhe und der wunderbaren Seidenblume, welche die Frau  Bankdirektor im Knopfloch trägt, ist gestern Arbeiterblut geflossen. Jene längst  vergessene Vorstellung von der gehetzten Maurersfrau, die der Frau Architekt  die Liebesgabe des Vereins „Weißes Herz" vor die Füße warf, huschte durch  Annas Kopf.
  Anna sah, dass Frau Dadlas Augen böse waren und ihr Lächeln verlogen.
  Da veränderten sich auch Annas blaue Augen. Die Angst schwand aus ihnen, auch  sie wurden hart. Und Annas Mund sprach streng und feindlich: „Ihr werdet auf  uns schießen? Wir auf euch auch."
  Sie wandte sich um und ging.
  Alle Angst fiel von ihr ab. Sie wusste nun, wohin sie gehen musste. Sie ging  nicht Toni suchen, — sie ging zu ihresgleichen. Dort würde auch Toni sein,  gleichgültig, ob an ihrer Seite oder irgendwo hinter Mauern und Häuserblöcken.  Sie wollte zu denen gehen, die ihr Toni gegeben hatten, die ihr Heim und Kind gegeben  hatten, die immer mit ihr waren, wenn es ihr schlecht ging.
  Sie wird zur Kolbenfabrik gehen.
  Sie ging mit festen Schritten zur Haltestelle der Straßenbahn und achtete nicht  auf die elegante Frau, die, rot vor Zorn, auf dem Gehsteig stand. „Luder!"  spie Frau Dadla hinter ihr her.
  Anna fuhr zur Kolbenfabrik. In den ersten Vorstadtstraßen sah sie einen  Arbeiterzug. Sie sah von weitem, wie sich die Straße verfinsterte. Ja, das  waren sie, die Genossen.
  Anna sprang aus der fahrenden Bahn, in der die Kleinbürger sich von den Bänken  erhoben, um aus dem Fenster zu sehen. „Sie kommen!"
  Hinter einer roten Fahne marschieren die proletarischen Bezirke der Hauptstadt.  Eine tausendköpfige Menge wälzt sich durch die Stadt. Streng und schweigsam.  Eine schwarze, kämpferische Masse, aus den Webereien und Spinnereien, den  Mühlen und Bäckereien, den Holzfabriken, Sägen, den Kohlenlagern, den  Gießereien, den Waggonfabriken, den chemischen Fabriken, den Bahnhöfen,  Speditionshäusern.
  Die Masse zieht über die ganze Straßenbreite, und die Straße dröhnt unter ihren  Füßen.
  Der Tag und die Welt haben ein neues Gesicht.
  Eine Frau läuft der Masse entgegen. „Ist das die Kolbenfabrik?" ruft sie.
  Irgend jemand antwortet: „Ja."
  Anna tritt zur Häusermauer zurück. Die Menge quillt an ihr vorbei. Tausend  Köpfe sieht sie, und sie sucht den einen.
  Ein junger Bursche springt zu ihr: „Anna", ruft er und drückt ihr freudig  die Hand. „Jandak!"
  Es ist der junge Jandak. Er nennt sie heute zum ersten Mal beim Vornamen und  sagt ihr „Du".
  Sie schließen sich den Marschierenden an, und die Menge nimmt sie auf. „Wo ist  Toni?"
  „Wir haben ihn mit einigen Genossen vorgeschickt. Das Zentralkomitee der Partei  tagt seit heute morgen im Parlament. Wir ziehen zum Parlament."
  Die tausendköpfige Menge marschiert durch die Straßen, die Schritte stampfen,  und es ist nichts anderes auf der Welt als diese Masse und die rote Fahne an  ihrer Spitze, deren Tuch dort weit vorne über ihren Köpfen weht. Sie sind alle  sicher und selbstbewusst. Auf den Dächern der Häuser liegt Schnee. Die  Kaufleute lassen die Jalousien herunter.
  Die Menge erreicht den „Altstädter Ring".
  Die Nähe des Zieles erhitzt das Blut, ihr Blut, das ein einziger Fluss ist. Die  Nähe des Ziels lässt die Pulse höher schlagen. Aus tausend Kehlen quillt ein  Lied. Die Arbeiterhymne klingt wie ein furchtbar drohender Choral. Das  fünfhundert Jahre alte Gemäuer des Rathauses auf dem Altstädter Ring erzittert.  Von den gotischen Türmen des Rathauses und den Quadern der Teynkirche hallt das  Lied zurück, steigt an den Türmen empor zur Höhe und dröhnt gen Himmel.
  „Genossin", irgend jemand zupfte Anna vorsichtig am Ärmel. „Dein Mann ist  nicht hier, wo ist er denn?"
  Anna erkannte dieses magere Männchen mit der Brille sofort. Er sah aus wie ein  schlecht bezahlter Schreiber. Ein Spitzel! Sie wollte den jungen Jandak auf ihn  aufmerksam machen, aber das Männchen hatte dies gewittert und verschwand. Eine  Viertelstunde später sah ihn Anna aus der Menge hervorkommen und mit schnellen  Schritten in einer Seitenstraße verschwinden.
  Die Masse marschiert singend weiter.
  Vor dem Parlament, auf dem Platz mit dem kleinen verschneiten Park, wo Anna  heute morgen mit Frau Dadla gesprochen hatte, sammeln sich die Massen. Der Park  ist halbvoll, der Hauptkader marschiert erst aus den Arbeitervierteln heran und  ist fünfhundert Schritt von hier angelangt.
  Die Redner sprechen von der Stiege des Parlaments herab. Eben spricht ein  weißhaariger Greis. Er ist durch alle Arbeiterkämpfe und alle Gefängnisse  hindurchgegangen, er ist mit 62 Jahren ein ebenso feuriger Revolutionär, wie er  mit 20 war.
  „Generalstreik, — das muss die einzige Antwort auf das gestrige Blutvergießen  sein."
  Aus der Versammlung dröhnt ihm Beifall entgegen.
  Dann beginnt ein Eisenbahner zu reden. Auch die bewaffnete Macht ist hier  vertreten. In der Durchfahrt des Parlaments, unter dem Säulengang mit den zwei  Steinlöwen, steht eine Gendarmeriekompanie in voller Ausrüstung. Auf der  Ostseite des Platzes hat sich die Polizei formiert und wartet in ruhiger  Haltung.
  Der Mann mit der Brille tritt zum Polizeikommandeur hin, meldet irgend etwas  und verschwindet wieder.
  Eine Welle der Bewegung geht durch die Versammlung auf dem Platz. Eine leise,  kaum merkliche Welle. Sie bedeutet Erwartung, sie bedeutet gespanntes  Aufhorchen. Vom „Altstädter Ring" her klingt Gesang. Der Redner spricht  bedeutsame Worte. Aber sie fallen in die spitze Luft und verlieren sich, ohne  die Ohren der Menschen zu erreichen. Alle Köpfe wenden sich nach der Richtung,  aus welcher der Gesang, die Arbeiterhymne, ertönt.
  Und jetzt verfinstert sich die Straße, die vom „Ring" herführt in ihrer  ganzen Breite. Das Proletariat der Großstadt marschiert. Es ist ein großer  Augenblick. Der Fahnenträger fasst die Fahnenstange fester und hebt die Fahne  höher. Das Fahnentuch ist in seiner ganzen Breite gespannt und schlägt gegen  den Wind.
  Die vordersten Reihen beschleunigen den Schritt. Auch Anna und der junge  Jandak. Sie haben sich unterwegs bis zum Fahnenträger durchgedrängt.
  Auf dem Platz verlassen die Zuhörer den Redner und laufen dem Zuge entgegen.
  In diesem Augenblick stößt auch die Polizei vor. Sie kommt aus dem Versteck der  Häuser und schwärmt aus. Sie stürmt im Laufschritt gegen den Zug, die Hände  halten den Knüppel umspannt. Sie hat zweifellos im Sinn, die Vereinigung beider  Züge zu verhindern. Die Polizei ist um fünf Sekunden zu spät vorgestoßen. Noch  eine Sekunde, und sie ist von zwei Wänden aus menschlichen Körpern umschlossen.  Die Massen wälzen sich vor. Die ersten Schreie ertönen. Die ersten Stöße von  Ellenbogen und Fäusten. Die ersten Schläge fallen auf die Köpfe. Knüppel und  Stöcke sausen. Ein Ziegelstein fliegt von irgendwoher, und ein Schutzmann fasst  sich mit beiden Händen ins Gesicht.
  Und auf einmal: peng, peng, und peng, peng peng...  Die Polizei hat die  Revolver gezogen und schießt.
  Peng, peng, peng, peng und peng, peng. Es klingt nicht so, als ob man sich  fürchten müsste. Viel eher, wie irgendein kleiner Scherz. Es jagt nicht einmal  Anna Angst ein.
  Peng, peng, peng.
  Vielleicht schießen auch die unseren?
  Peng, peng, peng, peng. Die rote Fahne schwankt irgendwie sonderbar, dann fällt  sie schlaff zur Erde. Auch der Fahnenträger fällt zu Boden. Der junge Jandak  springt heran und hebt die Fahne hoch.
  Hurra!
  Da schießt ihm ein Schutzmann auf einen halben Meter Entfernung mitten ins Gesicht.  Die Masse hält den Erbleichenden noch einen Augenblick hoch. Dann fällt der  Student nieder. Mit dem Gesicht in den tauenden Schnee. Anna wird von der Masse  vorwärts getrieben, dann wieder zurückgezogen, irgendwohin gedrängt und wieder  vorwärts getrieben.
  In irgendeinem Augenblick sieht sie, wie die Gendarmerie aus dem Säulengang  vorstößt und mit aufgepflanztem Bajonett über den Platz jagt. Sie will die  Massen spalten und einen Teil zur Brücke abdrängen. Auch dort ist ein wilder  Kampf. Die Genossen reißen die Bretterzäune im Park auf und schlagen zu. Auch  dort wird geschossen. Die weiße Fläche des geräumten Platzes wird bald breiter,  bald schmaler. Verwundete wälzen sich im
  Schnee. Anna fühlte keine Angst. Sie hat das Gefühl von irgend etwas Unwirklichem  und Entferntem.
  Sie wird wieder irgendwohin getrieben. Jetzt ist sie in der Enge einer  Seitengasse mitten in einem Haufen von Menschen. Hier ist es ein bisschen  freier. In ihrem Rücken tönt Lärm und Geschrei. Einige Schüsse fallen.
  „Hier kommen wir nicht durch", ruft jemand neben ihr, „über die Brücke  nach der anderen Seite!"
  Ein Haufen Menschen jagt durch die leeren Straßen. Anna mit ihnen. Dann  verlangsamen die Ermüdeten den Schritt. Sie marschieren durch die  unempfindliche Stadt und an Menschen vorbei, die noch nichts wissen. Sie  passieren mit schnellen Schritten die Brücke und eilen am anderen Ufer entlang  zum Parlament zurück. Die Straße ist versperrt. Durch eine Menschenmenge  versperrt, die sich um drei Straßenbahnwagen drängt. Das sind die Genossen, die  von der Gendarmerie zur Brücke abgedrängt worden sind. Sie haben die Führungen  der Straßenbahn abgerissen und schleppen bleiche Schutzleute aus den Wagen, die  auf diesem Wege in den Rücken der Arbeitermassen gelangen wollen. Sie reißen  ihnen die Knüppel aus der Hand und schlagen kräftig zu. Die Polizisten  versuchen nicht einmal, sich zu wehren. Sie schützen nur die Augen und laufen  so schnell sie können. Und die Massen, die nun in vollem Galopp hierher eilen,  und in deren Mitte sich auch Anna befindet, fangen die fliehenden Schutzleute  ab und drängen sie gegen die Häuser ab.
  Anna bleibt inmitten der Straße stehen. „Toni, Genosse Toni!"
  Sie breitet die Arme aus.
  Da ist Toni! Er hält einen kleinen Mann an der Brust fest. Der kleine Mann  sieht aus wie ein schlecht bezahlter Schreiber. Toni wirft ihn beiseite.  Gleichgültig, als ob es ihm widerlich wäre, gegen diese Unsauberkeit seine  Kräfte zu verschwenden. „Genossin Anna."
  Er läuft ihr entgegen. Irgendwo aus der Vorstadt kommt der Schall von Schüssen.  Stärker als die Schüsse der Polizeipistolen und konzentrierter. Es scheint,  dass Militär eingegriffen hat.
  Irgend jemand schreit: „Bei Ringhofer wird geschossen."
  Die Masse nimmt sofort die Richtung auf. An der Spitze Toni und Anna. Sie  laufen, und ihre Schritte dröhnen durch die Straßen.
  Vorwärts, vorwärts!--------
  Sie laufen, und ihre Schultern berühren sich.
  Vorwärts, vorwärts!--------
Weit, weit ist Annas Dorf mit den lieblichen Rainen und den Pappeln.
  Weit weg ist die Küche der Frau Rubesch, das rosa Zimmerchen von Fräulein  Dadla.
  Und die Jesseniusgasse ist am anderen Ende der Stadt!
  Vorwärts!
  Vorwärts, vorwärts, Toni und Anna! — Immerzu vorwärts!