Wilhelm Nitschke – Der neue Glaube (1929)
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Was irgend gelten will und walten muss in der Welt zusammen halten.
Rückert

Der Einzug.

Ziehtag war. Ein etwa neunzehn Jahre altes Mädchen, das im linken Arm ein verkümmertes Rosenstöckchen hielt, stand am Rinnstein. Mit der rechten Hand streichelte es mechanisch den Kopf eines großen Hundes, der vor seinem vierräderigen Karren saß, während die blauen Augen des blonden Mädchens lebhaft die Bewegungen eines jungen Mannes verfolgten, der mit dem Führer des Hundefuhrwerks einen alten Tisch und zwei ebensolche Stühle aus dem Halse eines Trödelkellers heraufbrachte. Die Männer bemühten sich, die Möbel noch auf dem Wagen unterzubringen, der schon einen Kleiderschrank, eine Bettstelle, einen großen Reisekorb, einen rotgestrichenen Koffer und einen kleinen eisernen Ofen trug. Der schwarze Hund stand auf, reckte sich behaglich und rieb seinen Kopf an des Mädchens schneeweißer Schürze.
Die Blonde trat erschrocken zur Seite, als der alte Fuhrmann die Lenkstange ergriff, und der Hund, lustig bellend, mit krummgespanntem Rücken das Gefährt anzog, das nun polternd über das holprige Pflaster dahinschwankte.
Agnes Stolpe, so hieß die Blonde, schmiegte sich dicht an ihren Verlobten. Das Blut jagte ihr heut schneller und prickelnder durch die Adern als sonst, wenn sie in seiner Nähe war. Sie drückte seine Hand warm und fest. Ganz an sich ziehen hätte sie ihn mögen. Hatte sie doch jetzt ein Recht auf ihn — ja, nur sie ganz allein!
Vor ihr hin schwankte der Wagen. Es war i h r Schrank, Tisch, Bett — und alles andere gehörte ihr. Als ob für sie eine neue Welt erstünde, so war ihr. Ja, eine Welt, wie sie ihr so oft nur in Träumen erschienen, sah sie nun endlich in wenigen Stunden zur Wirklichkeit werden. O, sie hätte aufjauchzen mögen.
Ein Blick auf das Rosenstöckchen lenkte Agnes' Sinn auf ihre jüngste Vergangenheit. Ein kleines Mädchen hatte ihr die Blumen mit einem artigen Knicks durch die Küchentür gereicht. Zwischen frischgrünen Blättern und duftenden Blüten stak ein Brief von Albert Weigert, ihrem Verlobten. An sich gedrückt und mit den Lippen berührt hatte sie Brief und Rosen; es war ja von ihm, eine Botschaft seines Herzens war's, sie fühlte es, noch ehe sie den Brief geöffnet. Und darin stand: Ein paar Stunden freimachen für nächsten Sonntag möge sie sich. Die Ringe seien fertig; er wolle mit ihr hinausfahren in den Wald, und an einem trauten Plätzchen wolle er ihr den einen und sie solle ihm den anderen an den Finger stecken. Und so würden sie sich Treue geloben
— still, allein, niemand sollte Zeuge sein. Und während sie noch glücklich und traumverloren auf das Schreiben sah, fuhr sie plötzlich zusammen. In der Küche stand ihre Herrin und lachte, dass ihr voller Busen auf und nieder wippte. Roh und frostig klang das Lachen, mit dem sie Agnes' freudige Mitteilung beantwortete. Nein, das ginge nicht; auch nicht eine Stunde dürfe sie am nächsten Sonntag fort, denn es seien Gäste angemeldet. Dabei blieb es, trotz aller Bitten des Mädchens. Und so hatte sie sich denn am Sonntag heimlich hinunterstehlen müssen in den Hausflur
— auf ein paar Minuten —, hatte gezittert vor Aufregung, als Albert ihr nun dort den Ring aufsteckte und zornig ihren sofortigen Abgang aus dieser Stellung forderte.
Jäh ward die Blonde aus ihren Gedanken gerissen. Ihr Verlobter, der junge Tischler, drückte derb ihre Hand, zog sie eilig vorwärts. „Komm, komm, es geht bergan!"
Und jedes rannte auf eine Seite das Wagens, um dem Gefährt den steilen Brückenkopf hinaufzuhelfen.

*

In einer großen Mietskaserne, im Quergebäude vier Treppen hoch, lag die einfensterige Stube, in die das junge Paar einzog. Von allen Seiten äugten Dutzende Fenster in den engen Hof. Männer lehnten tabakrauchend über die Fensterbrüstung, blickten in die Wohnungen ihrer Nachbarn und sahen den Einziehenden zu.
Es stak mehr Schlüpfrigkeit als Witz in ihren Bemerkungen, die Agnes galten, als sie Teile ihres Bettgestells über den Hof trug.  Sie lächelte schweigsam.
Als alle Gegenstände in dem engen Stübchen kunterbunt durcheinander standen, huschte ein leichter Schatten über Alberts Gesicht.
Agnes sah von ihrer Hantierung auf. „Was guckst' so?" fragte sie, ihm in die Augen schauend. „Ist's dir etwa leid?"
„Leid? Ach du!" Er trat heiter auf sie zu. „Nein, ich dachte nur an die 150 Mark Schulden, die ich nun beim Klaussen abarbeiten soll. Da wird das Kostgeld wohl recht schmal ausfallen; gern gab mir der alte Geizhammel die Sachen nicht auf Kredit; den halben Lohn zieht er mir sicherlich jede Woche ab."
„Was schadet's? Desto eher sind wir damit fertig!" Agnes richtete sich auf und breitete ihre strotzenden Arme aus, um die sich die kurzen Ärmel prall spannten. „Meinst, die werd'n nun müßig im Schoß liegen, du?" — und schon hing sie am Halse ihres Geliebten. Ein Weilchen ruhten ihre Blicke glühend in den seinen, dann zog sie ihn heftig an sich. „Freue dich, freue dich!" jauchzte sie, wir sind nun allein, haben ein Heim für uns, also lass das Sorgen bis morgen." Und immer wieder betrachtete sie ihn einen Augenblick still, zog ihn aber gleich wieder desto heftiger mit neuer Lust an sich. Eine nach Kühlung begehrende Glut brodelte in ihr, die auch sein ruhiges Blut warm machte. Plötzlich fuhren beide auseinander, als vielfältiges Händeklatschen vom Hof her zum offenen Fenster hereinschallte.
Agnes stand schon auf einem Stuhl, drückte die Fensterflügel zu und breitete ein altes Tuch als Vorhang darüber.
„Ach, was kümmern uns die Leute," sagte Albert gleichgültig.
„Na, du weißt doch: noch nicht richtig verheiratet und in einer Stube beisammen —"
„Meinst du, uns kann jemand etwas?"
„Na gewiss! — Nur ein Raum, ein Bett und zwei Menschen — wenn das die Polizei erfährt!"
„Am Ende muss ich noch bis zur Hochzeit auf der Herberge schlafen."
„Brächtest du das fertig — du?", lachte sie.
„Wenn's sein müsste."
„Nein, nein! Nichts bringt uns mehr auseinander!" Sie ließ ihre Hände auf seinen Schultern ruhen, sah ihm dankbar ergeben in die Augen, und von einem seligen Gefühl durchbebt, strafften sich ihre festen, runden Arme und begannen ihn zu schütteln. „Du — du glaubst es ja nicht, wie glücklich, wie lustig ich heut bin! Singen, tanzen, springen möcht ich. Gefesselt war ich die ganzen Jahre — erst jetzt, jetzt fühl ich's. Frei bin ich, frei wie ein Vogel!" Sie ließ ab von ihm und blickte heiter um sich. „Eine eigene Stube hab' ich, in der ich machen kann, was ich will! Keine Aufsicht, kein Befehlen; ich darf arbeiten, darf ruhen, wann ich will! So, ja, so hab' ich's mir immer gewünscht! Aber es wird noch viel schöner, du — sollst sehen, wenn wir beide Geld verdienen: dahin kommt," sie zeigte auf die eine Wand, „ein Konsol mit einer kleinen Standuhr drauf, die Musik macht. Dort auf jene Seite ein Küchenrahmen mit weißen Spitzen und Geschirr mit blauen Schleifen." So spann sie den Faden ihrer Phantasie weiter.
Der Raum musste gut eingeteilt werden, sollte er zum Wohnen, Schlafen, Kochen, Essen, Arbeiten und Waschen ausreichen. Allmählich verstummte die Tanzweise, die sie lustig vor sich hinsummte. Sie hing ihr Sonntagskleid und Alberts besten Anzug in den blankpolierten Schrank, blieb davor stehen und betrachtete die Kleider im Licht der Lampe.
Albert schob Notizbuch und Bleistift beiseite und stand vom Tisch auf, wo er eben die Ausgaben und den noch übrig gebliebenen Kassenbestand festgestellt hatte. „Na, wie gefällt dir unser Hochzeitsstaat?" fragte er.
„Rein gar nicht."
„So — na, da ziehen wir etwas darüber; es ist noch kühl, da fällt es nicht auf." Dabei bückte er sich zur Seite kramte aus seiner rotgestrichenen Kiste einen hellgrauen Winterüberzieher hervor und hielt ihn neben Agnes' braunes Jackett, das auf einer Stuhllehne hing. „Sieh, wie schön es zueinander passt," lachte er.
„Euch Männern ist alles egal," gab sie etwas streng zurück. Gern hätte sie etwas Modernes für den Weg zum Standesamt gehabt, aber daran war ja nicht zu denken. Ihre Ersparnisse waren in dem Kleinkram draufgegangen Wo war nur all das Geld geblieben?
„Verdirb dir um Gotteswillen nicht heut schon deine gute Laune. Unsere Kleider waren doch bisher gut genug." Er strich sanft an den Sachen herunter, wie wenn sie eins wären. „Schau her, wie friedlich sie beieinander hängen; sie haben uns bei Wind und Wetter treu gedient und ihr gut Teil dazu beigetragen, dass wir heut beisammen sind. Wär es nicht undankbar, wenn wir sie am Hochzeitstage ver­ächtlich beiseite schöben? Und wie viel schöne Erinnerungen haften an ihnen. Was kann uns dagegen das Gerede fremder Leute sein?"
„Das ist schon wahr," sagte sie. ,Die Leute werden dann aber Schwester Emma und Schwager Wiedemann für das Brautpaar und uns für die Brautzeugen halten."
I, was schadet's; uns kann's recht sein," lachte Albert und suchte in allen Taschen. „Nein, es wird nicht mehr;" er zählte das auf dem Tisch liegende Geld noch einmal durch. „Acht Mark und dreißig Pfennig ist unser ganzes Vermögen. Verdammt noch mal! Damit sollst du nun wirtschaften. Heut ist Sonnabend, Freitag die Hochzeit — und Lohn gibt es erst wieder in acht Tagen."
„Na höre, das fängt gut an," sagte sie mit leisem Spott. ,,Da wirst du nicht nur auf der Herberge schlafen, sondern auch bis zur Hochzeit dort speisen müssen."
„Ohne Geld?"
„Tja... Und wo wollen wir den Hochzeitsbraten hernehmen? Nein, mein lieber Albert, da wollen wir das Heiraten schon lieber unterlassen; nichts anzuziehen, nichts zu essen — ach du lieber Gott, was soll denn das werden?" Sie sah nachdenklich in sein besorgtes Gesicht. Aber um ihre Mundwinkel zuckte ein Lächeln und in ihren Augen blitzte es schelmisch auf. „Jetzt hab ich's!" rief sie, „ich schreib an meinen gnäd'gen Herrn am Viehhof! Der bringt mir sicherlich eine Kalbskeule ins Haus!"
„So — na, na!" Es kroch in seiner Brust etwas hoch, obwohl er sich sträubte, ihr Reden ernst zu nehmen. Verlegen wischte er an den blanken Flächen des Kleiderschranks umher.
Nun lachte Agnes laut auf, holte aus ihrer Rocktasche ein Schächtelchen hervor, aus dem sie nach langem Wickeln ein blankes Goldstück befreite, das sie lustig hochwarf und wieder auffing. „Schau doch, schau, wie unser Hochzeitsbraten springt!" rief sie.
Lachend fiel Albert ihr in die Arme. „Potzdonner, zwanzig Mark! O, du kleiner Teufel! Jetzt können wir aber leben!" Er fasste sie, schwang sie immer wieder hoch, bis sie vor Lust jauchzte.
Dann, ein Liedchen trällernd, ging sie wieder an ihre Arbeit.
Albert baute den kleinen Kanonenofen zusammen, den er beim Trödler billig erstanden hatte. Das Rohr passte in die schon vorhandene Öffnung; nur gut verdichtet musste es noch werden. Als auch das Bett aufgestellt war, entstand ein Streit, wer nun wohl das Recht auf den angenehmeren I atz an der Wand habe. Das Los musste entscheiden. Albert war Sieger.

 

Hoffnungen schwinden.

Eigentlich sollte alles nach einem bestimmten Plane vor sich gehen bei den jungen Weigertleuten; sie hatten alles durchgesprochen, wie sich die Zukunft gestalten sollte, aber das Leben ging bald seinen eigenen Weg mit ihnen.
Albert konnte seiner Frau am Sonnabend nur acht bis neun Mark Wirtschaftsgeld auf den Tisch legen, denn zehn Mark zog sein Meister regelmäßig für Schrank und Bett ab. So ging es nun Woche um Woche; nicht einmal die paar Mark zur Anzahlung für eine Nähmaschine brachten sie zusammen.
„Immer erst einarbeiten, mein Kind," sagte Schwager Wiedemann, der Agnes' Meister war, wenn sie wegen des niedrigen Verdienstes klagte. Und übrigens zahle er ihr schon den Vorzugspreis von einer Mark achtzig Pfennig für ein Dutzend Trikottaillen, während andere Frauen bei einer Mark fünfzig sehr gut zurecht kämen.
„Nein," stieß Albert eines Abends verdrossen hervor, „ganz unsinnig ist dein Arbeiten!", als Agnes immer noch bei der Arbeit saß und am Fenster das letzte Tageslicht ausnützte. „Kein Stück fass ich mehr an!" Er blieb am Tisch sitzen. Reiner Wahnsinn ist es: „zweihundertachtunddreißig Knopflöcher anzeichnen, einschneiden und ausnähen, dazu ebenso viel Knöpfe annähen, einhundertvierundvierzig Haken und Ösen annähen, sechsunddreißig Kragen aufsetzen und zweiundsiebzig Ärmel einnähen; dazu gibst du Garn und Licht und trägst das schwere Paket her und wieder zurück, und dieses alles für fünf Mark vierzig Pfennig! Ist das eine Bezahlung? Dabei spielt sich Dein Herr Schwager noch als Wohltäter auf, dankbar sollst du ihm gar sein, dem gemeinen Blutsauger!"
Er stand auf und schritt erregt in der engen Stube auf und ab. „Kein Stück bringst du mehr ins Haus!" Die Hände in den Hosentaschen, blieb er vor Agnes stehen, die ihn erschrocken ansah.    „Ja," sagte er etwas ruhiger, „du
guckst mich ganz verzweifelt an, aber höre nur, was mich außerdem noch empört: Wir sprachen nämlich heut in der Werkstatt von der Frauenarbeit, und als da mein neuer Nachbar den Namen Wiedemann hörte, griff er in den Werkzeugrahmen und nahm einen derben Schluck aus seiner Schnapsflasche."
Betroffen ließ Agnes ihre Arbeit in den Schoß sinken und sah erwartungsvoll zu Albert auf. Der setzte sich mit einem Schenkel aufs Fensterbrett, steckte einen Zigarrenstummel in Brand und begann zu erzählen:
„Sei vorsichtig, junger Freund, sagte er, wenn deine Frau hübsch ist und für Wiedemann arbeitet. Dieser Schurke hat mein Leben vergiftet. Eine Frau hatte ich, hübsch und munter wie ein Reh. Glücklich waren wir beide; nur mein Verdienst war zu knapp, sie musste mitverdienen. Sie beklagte sich bei Wiedemann wegen der jämmerlichen Bezahlung. Geduld, Geduld, vertröstete er sie; er habe was Feines für sie in Aussicht. Ein Weib wie sie brauche nicht Maschine zu treten. Und bald ward sie als Probiermamsell bei seinem Chef eingestellt. Angeblich machte sie nun Reisen nach Paris und London in die feinsten Modesalons und brachte schweren Draht heim. Ich arbeitete nur noch, wenn ich Lust hatte. Eines Tags bummelte ich gelangweilt durch die Friedrichstraße, denn meine Frau war wiederum auf eine Woche verreist. — Ich stutze — vor mir schlüpft ein Pärchen in einen blitzenden Wagenverschlag. Ich renne neben dem Gefährt einher. An der Straßenkreuzung hatte ich Gewissheit. Ich riss den Verschlag auf und schlug drauflos in blinder Wut. Fürchterliches Geschrei, Püffe und Glassplitter.... Vier Monate bekam ich drauf. Mein Weib ist erste Abnehmerin im Modehaus von Aron Goldstein: Wiedemanns Chef. — Mein Nachbar griff wieder nach dem Zeugrahmen und goss die Flasche voll Schnaps in einem Zuge hinunter."
„Und bei solchen Geschichten sollte unser Schwager die Hand im Spiel haben?" Agnes schüttelte bedenklich den Kopf.
„Ja, dafür bekommt er auch die höchsten Preise. Unter zweihundert Mark in einer Woche macht er's nicht, sagte mein Kollege."
„Zwei — hundert — Mark?" wiederholte Agnes gedehnt. „Du mein Gott, dafür muss ich fast ein ganzes Jahr arbeiten." Sie hob die ihr vom Schoß gefallene Arbeit auf und begann wieder zu nähen.
„Schmeiß hin!" sagte Albert heftig, riss ihr die Taille fort und schmiss sie zu den anderen aufs Bett. „Verdirb dir noch die Augen für diese Kupplergesellschaft!" Er griff nach dem Milchtopf, der auf dem Tische stand, und goss eine Tasse voll. „So, trink," sagte er, und trank den letzten Rest aus dem Topfe. Agnes wehrte ab, die Milch wäre zu einer Suppe für den folgenden Mittag bestimmt. Auf ihre Ermahnungen nicht achtend, entnahm er dem Sparkästchen eine Mark. „Hier, kaufe morgen frische Milch,"
sagte er streng.
„Das ist ja die Miete, übermorgen ist sie fällig," erinnerte sie, während er die Taillen vom Bett auf den Fußboden warf und mit den Füßen in die Ecke stieß. „So, da liegen sie gut! Und der Hauswirt wartet. Sind wir auf der Welt, um Tag und Nacht zu schuften und dabei zu hungern, um nur jedermann recht brav bezahlen zu können? Ich sage dir, das hab ich gründlich satt."
„Aber so geht es doch allen Armen, die im Leben vorwärts wollen." Agnes suchte ihn zu beruhigen.
„Vorwärts wollen, ja — die aber nie vorwärts kommen! Nein, nein, mir erscheint es beinah so, als käme hier niemand durch ehrliche Arbeit vorwärts. Ich gebe auch das Meisterwerden auf; wann sollen wir denn das Geld für eine kleine Werkstatt zusammenbringen? Wir müssen uns ja bloß immer wehren, damit sie uns das Blut nicht ganz und gar aus den Adern saugen: die anderen, die vorwärts kommen."
Was ist das für eine Sprache? dachte Agnes erstaunt. Aber vielleicht hatte Albert recht, und es gab wirklich Menschen, die den Armen nur für ihre eigensüchtigen Zwecke benutzen und ihn hinderten, aus Not und Elend herauszukommen.

 

Das Arbeitsuchen.

Alles ging wider den Strich. Seit ein paar Tagen pflasterte Agnes nun schon an Alberts geschwollener Hand herum; nun musste er doch noch den Arzt aufsuchen. Der wird die Hand aufschneiden, dann gibt es Wochen ohne Verdienst, dachte sie.
Und so kam es. Tagelang saß Albert bei ihr, helfen konnte er ihr nichts bei der Arbeit.
Ein Gefühl der Beschämung überkam ihn, wenn er die Unterstützung von der Kasse abholte. Nein, er wollte nicht länger aus dem Born schöpfen, der für alle die Elenden bestimmt war, die blass und hustend auf den Bänken hockten oder, von Rheumatismus geplagt, hinkend am Kassentische lehnten. Und so drängte er den Arzt, ihm das Arbeiten zu gestatten. Bei Klaussen wollte er nicht wieder anfangen; waren ihm doch anderwärts sechs bis zehn Mark Lohn mehr wöchentlich sicher.
„Gut, ich hole dir deine Papiere," sagte Agnes eines Tages. Die weiße Schürze übers hellblaue Kleid gebunden, die Rede gut zurechtgelegt, sprang sie die Treppe hinunter. Erfreut über den kurzen Entschluss, sah Albert seinem Weibe nach.
Verstört öffnete er am darauf folgenden Morgen die Augen, fühlte nach seiner Uhr, die an der Wand tickte, und hielt sie in den Lichtstreifen, der sich aus dem Vorderhause herüberstahl. Behutsam stieg er über Agnes hinweg, die noch fest schlief. Ihr Stuhl stand in halber Wendung am Tische vor ihrer Arbeit, wie sie ihn spät nachts schläfrig verlassen hatte. Das Ganze schien auf sie zu warten.
Der Zeitungsverkäufer legte eben die verschiedenen Tagesblätter auf einer Kiste auseinander. Er belastete sie mit einem Stückchen Eisen, damit sie der Wind nicht davonjage, der den feinen Regen in die Türnische hineinpeitschte, und bespuckte das erste Fünfpfennigstück zum Segen des
Tagesgeschäfts, während er Albert viel Glück zur Arbeit wünschte.
Das Wetter war gerade recht. Da kamen die Arbeitsuchenden nicht so zahlreich aus allen Ecken der Stadt zusammengelaufen.
Vor einem Torweg blieb Albert stehen und beleuchtete mit einem Zündholz die an den Seiten angebrachten Firmenschilder.   Unsicher drückte er auf die schwere Klinke — das Tor gab nach.  Ein schlechtes Zeichen, dachte er, und trat vorsichtig ein.   Der Hof lag noch in finsterer Stille, nur das Regenwasser sickerte mit leisem Geplätscher in der Dachrinne herunter.   Zwei harte Schläge tönten in den dunklen Schacht. Albert fuhr erschrocken zusammen. Halb fünf, dachte er, als er zu dem grauen Stück Himmel aufblickte. Auf den Fußspitzen an der schwarzen Wand hintastend, fand er endlich den Fabrikeingang.   Nun schlich er, vorsichtig jedes Geräusch vermeidend, am klebrigen Treppengeländer hinauf. Nach der Zahl der Treppenabsätze musste er jetzt hoch genug sein. Er setzte sich auf das vorstehende Brett des Flurfensters.  Ein Räuspern machte ihn aufhorchen — dann war's wieder still — Aber schon wieder regte es sich, deutlich knarrten die Treppenstufen.   Von seinem Sitz gleitend, fragte er hinauf in die Finsternis, wer dort sei.
„Was geht's dich an!" kam es rau zurück.
Er leuchtete die Stufen hinauf. Da, ganz oben an die Werkstatttür gelehnt, saß ein Alter mit grauem Stoppelbart. Mit großen Augen, wie eine aufgeschreckte Katze, sah er in das verglimmende Streichholz. Höhnendes Lachen kam Albert entgegen: „Haste einen Strick mitgebracht? Gib ihn her, gib — ein paar Stufen höher liegt der Boden."
„Ich, einen Strick? Zu was?"
„Hahahaha, so'n Kickindiewelt fragt noch, zu was," lachte der Alte ingrimmig. „Jajaja, 's wär's beste — weg mit dir, alter Graukopf — Schluss! — Ach, so ein Leben! — Sechs Wochen geht's nun schon so — die halbe Nacht auf den Beinen und dann immer wieder: — zu alt — 's sind junge genug da! Und mit manch einem nehm ich's noch auf. Jawohl, mit manch einem! — Jederzeit. — Aber wartet: euer Kopf wird ja auch mal kahl und der Bart grau, und eine Brille trägt ja schon manch junger auf der Nase.
Dann werdet ihr's fühlen, wie's tut: den alten Kopf voller Sorgen, im Magen beißenden Hunger — und dann, von morgens bis abends, Tag für Tag, überall: 's tut uns leid — wir bedauern — nein, nein, keinen Bedarf — hahaha, zu alt, sagt ja keiner, dazu fehlt ihnen der Mut; sie wissen ja selber noch nicht, wie es mit ihnen mal kommt. — Schon mancher fuhr auf Gummirädern und endete auf Holzpantinen."
Albert merkte, wie der Alte an ihm vorbei die Treppe hinunterschlurfen wollte. „Wo willst du hin? Bleib hier!" Er hielt ihn fest.
„Lass mich; nur einer wird verlangt!"
„Dann geh ich; du warst zuerst hier!"
Schritte kamen von unten her, und ein schwacher Lichtschein bewegte sich die Treppe herauf.
„Siehst du's! Einen ganzen Schwarm zieht er hinter sich her," sagte der Alte, übers Geländer blickend. „Der Meister kennt mich, aber annehmen wird er mich nicht. Vor seiner Wohnung haben die ihm aufgelauert."
Albert trat dem Meister in den Weg, hielt den Alten fest und bat die andern Arbeitslosen, zugunsten des alten Kollegen auf die Stelle zu verzichten.
Der Meister hob die Laterne und leuchtete an dem Alten hinauf.   „Nee, Ziemke, nee, für dich ist das nischt."
Albert wies mit ein paar Worten auf die Not und die Verzweiflung des Alten hin.
„Na, dann wollen wir's wieder mal versuchen, Alter", sagte der Meister endlich, sich unwillig dem Mitleid fügend.
„Fein geschoben, Junge!"
„Ja, det wa dufte!"
„Det wa jewiss sein Schwiejaolla oder so wat", so redeten die Arbeitsuchenden aus Neid und Ärger hinter Albert her, als dieser schnell die Treppe hinunterlief um noch vor Arbeitsanfang auf einer andern Stelle einzutreffen.
Grau dämmerte es in den Straßen. Trübselig standen die lichtleeren Laternen an den Rinnsteinen, und der kommende Tag drängte die Finsternis an den Mauern entlang, hinein in Winkel und Ecken. Auf naßglänzendem Bürgersteig harrte Albert und sah immer wieder hinauf zu dem großen Firmenschild, das die Fabrikeinfahrt breit überspannte.  Ein leichter Stoß von hinten: „Na, hast woll keene Traute nich? Imma los, los, hier uff'n Damm bringt dir keena d' Arbeet nich!" und der Sprecher zog ihn mit sich durchs Hoftor. „Haste schonst ma uf sone Klamott'n jemimt? — Nee, haste nich? — Na, det schad nischt, komm man, komm, ick wer dir schonst untastützen. Det hat mir nämlich mächtig jefreit, wat de da eben fir den ollen Kollegen jedan hast. Aus det dämliche Jequaßle von de andern darfste dir nischt mach'n, die ham ja keen Vastand nich."
Albert stieg hinter seinem Kollegen die Stufen hinauf.
„Hat der Krauter 'ne Ahnung: det is ja een reener Liliputpreis für sone Mammutbüffetts", kam es von oben her.
„Du, det is noch frei", sagte Alberts Kollege froh; sie hörten nicht auf das Gerede der andern, die auch sie zur Umkehr bewegen wollten, gingen in die Werkstatt und wurden für den Nachmittag zur Arbeit bestellt.
„Wenn de man schruppen kannst, det andre wer ick schonst mach'n. Wir vadien unsern Draht, du, valass dir druff!", so suchte der andere Alberts Bedenken zu zerstreuen, die dieser aus Furcht vor so großer und gediegener Arbeit äußerte, als beide die Treppe hinunter und über den Hof gingen.
Sechs Uhr wars. Vielfältiges Tuten und Pfeifen erfüllte von allen Seiten her die graue, schwere Luft. Die Töne jagten und stießen sich, sie klangen schneidend scharf, dumpf und herrisch ineinander.
Albert sah ein Weilchen zur offenen Tür des Maschinenhauses hinein, sah, wie die metallenen Riesen ihre kalten, geölten Glieder von sich streckten und an sich zogen, und wie das Kreischen der Sägen und das Dröhnen der Hobelmaschinen langsam einsetzte. „Unser Untergang", sagte er, sich abwendend.
„Ach, Mumpitz!" protestierte der andere, weitergehend.
„Wieso Mumpitz? Die fressen uns doch die Arbeit weg, und wir liegen auf der Straße."
„Det se uns die schwere Arbeet wegnehm, det freit mir, und det de Arbeeter uff de Straße liegen, na, daran is bloß ihre unvazeihliche Dummheit schuld!"
„Was können die Arbeiter dafür, dass es keine Beschäftigung gibt?"
„Bist woll nich im Fachvaein, nee?"
Albert schüttelte den Kopf.
„Gut, dann kommst de Sonntag mit zur Vasammlung, da wird dir det alles auseinanderposamentiert."
Die Wege der beiden trennten sich.

*

Hei, wie sich der scharfe Stahl kreischend durch das würzigduftende Kiefernholz fraß. Albert war leicht und froh zu Mut: leis pfiff er einen Marsch nach dem Takt der Säge; seine Glieder spielten wie frischgeölte Scharniere. Sein Kollege gab ihm bereitwilligst Bescheid, wie alles am vorteilhaftesten anzufassen sei; so war ein guter Verdienst zu erhoffen. Jedoch nach einigen Stunden munterer Arbeit flog ab und zu ein schmerzhaftes Zucken über Alberts Gesicht. Er hielt an und besah und befühlte seine rechte Handfläche, wenn der Hobel knirschend über harte Äste ging. „Um Gottes willen", rief der Meister, als er Alberts Hand besah, „das ist ja rohes Fleisch! Nein, nein, hören Sie auf, Sie belasten bloß die Krankenkasse unserer Innung!" Und ehe sich Albert versah, lagen seine Papiere vor ihm auf der Hobelbank...
„Was ist dir?" fragte Agnes, nichts Gutes ahnend, den Heimkehrenden. Dieser schob sein Bündel unters Bett, wo er es am Mittag weggenommen und wies ihr stumm die kranke Hand. Sie sah erschrocken zu ihm auf; dann wandte sie sich ab und schaute still hinaus auf den trüben Hof, um die hervorquellenden Tränen zu verbergen. Und gerade heute abend wollte sie ihm als frohe Botschaft von ihrem hoffnungsvollen Zustand sagen.  Nun unterließ sie es.
Albert hatte sich bald entschieden: als Bauarbeiter wollte er es nun einmal versuchen. Beim Wasser- und Kalktragen würde die zarte Handfläche nicht so leiden, wie beim Sägen und Hobeln. Und so ging er am anderen Morgen in aller Frühe hinaus nach den Außenbezirken der Stadt, wo ganze Straßenzüge aus. der Erde wuchsen.
Aber auch dort standen viele Arbeitslose und guckten durch die Ritzen der Bauzäune. Betrat einer den Bauplatz, dann winkten die Poliere schon von ferne mit dem Maßstab, wie wenn sie lästige Fliegen verscheuchten. Und so sank auch hier, mit dem Höhersteigen der Morgensonne, Alberts Hoffnung auf Arbeit.
Er trennte sich von den andern und schritt ziellos wieder der inneren Stadt zu. — Herrgott, war das beschämend, sich so hausierend anzubieten!
Menschen, Droschken, Straßenbahnen, schwerbeladene Bier- und Rollwagen, alles, alles hastet flutend an ihm vorbei, wie ein unendlicher Strom. Auf Sekunden schien es allen anzukommen, nur er schlenderte langsam dahin, weder Ziel noch Zeit trieb ihn zur Eile. Überflüssig kam er sich vor in diesem Gewimmel....
Auf der großen Brücke schauten die Hastenden einen Augenblick ins Wasser, dann liefen sie desto schneller weiter, als hätten sie wer weiß was versäumt.
Wie von dem -wogenden Getriebe beiseitegeschwemmt, lehnte eine Gruppe Männer am anderen Ende der Brücke am Geländer. Auch er hielt an und schaute über die Sandsteinbrüstung auf das träge dahinfließende Wasser. Am Rande lagen mit Mauersteinen beladene Kähne, aus denen Schiffer schwere Karren mühsam zum Platz hinaufstemmten. Die müssigen Männer stritten sich wegen der Last auf der einzelnen Karre.
„Kommt, probierts, dann wisst Ihrs!" winkte der Schiffer.
Die Männer begannen zu zählen. Den Stein berechneten sie mit sechs Pfund. „Um Jottes willen, det sin ja sieben Zentner!" riefen sie verwundert aus. „Nee, un denn noch die Steijung. — Nich vor zehn Meta 'n Dach! Denn lieber widda uf de Klamottenkutsohe, wa?"
Unterdessen lief Albert hinunter zum Ausladeplatz. Drei Mark fünfzig Pfennig auf den Tag bei freier Kost und in der Kajüte schlafen, oder fünf Mark ohne Kost und Logis bot ihm der Schiffer.
Albert zog den Rock aus und streifte sich die Hemds­ärmel hoch. Der Sohn des Schiffers, ein untersetzter Bursche, hatte die Führung. Dahinter fuhr ein schwächlicher Mensch, der Anfang der Zwanziger sein mochte. Ihm half ein ungefähr neunzehn Jahre altes Mädchen, das sich vor seine Karre spannte. Hinter den beiden ward Albert eingereiht. Und zuletzt fuhr der Eigentümer des Kahnes, ein kleiner, knorriger Mann, Ende der Vierziger.
Der Alte half Albert bei der ersten Ladung und gab ihm die nötigen Anweisungen.  Immer drei Steine mussten zusammengefaßt und auf die Karre gestellt werden. Zu unterst bis an die Lehne kamen zwei Reihen, jede zu fünfzehn, darüber zwei Reihen die Lehne hinauf, jede zu achtundzwanzig und obenauf noch eine Reihe zu vierundzwanzig, dann war die Ladung fertig.
„So, nun achten Sie recht auf die Balance", sagte der Schiffer, als Albert hinaufstieg und mit dem Traggurt im Genick die Ladung anhob. Die Karre rollte weich auf der Diele dahin. Plötzlich stockte sie, knarrte in allen Fugen, und die Last auf der Lehne schwankte bald nach rechts, bald nach links — ein Ruck — und die ganze Ladung stürzte mit krachendem Gepolter in die Tiefe. Nur mit Mühe hielt sich Albert auf der schmalen Diele.
Von der Brücke her erscholl lautes Gelächter.
Davonlaufen hätte Albert mögen. Indes standen der Schiffer und das Mädchen unten im Kahn und reichten ihm hilfbereit die Ziegel hinauf. „Die ganze Last liegt auf dem Rade," sagte der Schiffer, „da entsteht am Querbalken eine kurze Steigung, da muss man das Fahrzeug in der Gewalt haben."
Mit Aufwendung aller Kraft und allem Geschick stemmte nun Albert Ladung um Ladung hinauf.
Oben, auf dem Steinplatz, wurden die Ziegel zu großen Blöcken aufgestapelt.
Die Schiffer arbeiteten ruhig, aber jeder Griff saß. Sie standen oft und warteten auf Albert. Da griff dann das Mädchen flink zu und im Nu war auch Alberts Karre leer. Er dankte ihr leise.
Bei jedem Zug, der sich zum Platz hinaufbewegte, hob sich das Schiff und die Steigung verringerte sich. Dafür nahm aber jede Ladung an Gewicht zu, denn die untersten Ziegel hatten sich voll Kielwasser gesogen. Höher und höher wuchs die Laufdiele mit der Karre hinauf. Sein kleiner Vordermann hatte es leichter, der stand auf einer Stufe, und seine Gehilfin reichte ihm die Steine zu. Blieb Albert gar zu weit zurück, dann kam das Mädchen unterm Querbalken hindurchgekrochen und half auch ihm in derselben Weise. Sie tat es schweigend, wie selbstverständlich, mit stillem Eifer. Nur wenn ihr der Bursche den Rücken zuwandte, blickte sie kurz unterm hellbunten Kopftuch zu Albert auf. Dieser sah ihr dankbar lächelnd ins derbe, frische Gesicht, wobei beider Blicke ein Weilchen ineinander ruhten. Dann dachte er darüber nach, in welchem Verhältnis die beiden wohl zueinander stehen mochten. Der Bursche, hager, mit frühalten Zügen, schaute mürrisch drein unterm tiefsitzenden Strohhut. Beide wechselten nur die allernotwendigsten Worte, und das geschah in sehr gereiztem Tone. Demnach könnten sie wohl miteinander verheiratet sein, dachte Albert.
Flimmernd brannte die Maisonne. Nur mit Hosen und Hemd bekleidet, tat es Albert ordentlich wohl, so in freier Luft seine vollen Kräfte spielen zu lassen. Es war ihm, als ob der Schweiß die Schwere aus den Gliedern nähme, die sich mit dem Kranksein festgesetzt hatte. Mitleidig sah er auf die dünnen, zittrigen Beine seines Vordermannes und auf dessen hübsches Vorgespann, das sich den schlanken Rücken krumm zog.
Es war Frühstückpause.
„Komm' Se mit runder, da is kühl," nötigte das Mädchen Albert. Den engen Bottsmannsraum füllte ein Bett, eine Bank und eine große, rotbraune Kiste fast ganz aus. Ein von der Wand abgeklapptes Brett stellte den Tisch dar In der Kiste war ein kleiner Raum für die Eßwaren abgeteilt, im übrigen war sie mit Kleiderwaren angefüllt. Das Mädchen schimpfte auf die gefräßigen Mäuse und schnitt eine benagte Stelle vom Brot, ehe sie es auf den Tisch legte. Der Mann warf seinen Hut aufs Bett und hob aus einer finsteren Ecke eine Flasche gegen das Licht. „Hust wull keine Zeit nich g'hoat, hä?" fragte er herausfordernd.
„Woas denn? Ach, geh ock, du broachst kinn Branntwein nich, hust no von gestern g'nung!" erwiderte das Mädchen streng.
„Biß ock still, du Sticke, du!" drohte der Kleine mit der Flasche.
„Fängste scho weder sou oa! Schamst dech wull goar nie a biß'l voar a Leut'n!"
„Scham du dech ock, du Soo, du!"
,Aich bin kein' Soo, dass d's wisst! Hie trink, dass d' zu d'r kimmst!" und sie stellte ein Glas Braunbier auf den Tisch.
„Kumm' Se, setz'n Se sich a biß'l. Oas dem Kerl derf'n Se sich nischte mach'n, dar is heut ganz drehnde." Sie wandte sich an Albert, der noch zaghaft auf der Treppe stand und sein Brot kaute. Ihm gefiel die Ruhe des jungen
Weibes; und da er aus beider Mundart vernahm, dass es seine Landsleute waren, schreckte ihn auch dieser rücksichtslose Zwist nicht weiter ab.
„Ja, dernau is ma drehnde, wenn ma soit, woas woahr is," muckierte sich der Kleine weiter.
„Du wisst g'roade, woas woahr is. — Woas is denn woahr, hee, du?"
„Na, bis ock still, sunst soi 'ch d'r 's noch! Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, Sprech 'ch bloß."
„Och du, — daudermitte konnste doch nischte bewes'n! Tu dech ock nie immer a sou besof'n, dernau wird d'r sou a tummes G'mare nie ei Kupp ne kumm." Sie schob das Deckbett zur Seite, ließ sich auf den Bettrand nieder und aß Brot mit Speck.
„Woas aich g'sahn hoa, hoa aich g'sahn!" fuhr der Bursche beharrlich fort.
„Na, woas huste denn g'sahn? — Wenn d' mech nu gar'n schlechtmach'n willst, raus dermitte!"
„Na, dass d' beng Schiffer drinne woarst! Nu wisst 's!"
„Doas is woahr. Aber aich muss 'm do die Kajüt a biß'l ufräum, wenn a mech drim bitt'n tit und wenn ber inse Arbeit behalen wull'n."
„Kajüt ufräum — war doas gleebt, du — bis ei d' Nacht im a zwölfe."
„Hoa d'ch nich goar sou affig, August! Sof ock nie d hoalbe' Nacht rim, dann siehste, woas 'ch mach. — Und aiberhaupt hätt' dich der Schiffer scho lange dervougejoit gäb 'ch nich immer a gut Wort drim."
„Aich sprech blouß: fer ander Leut's Kinder arbeet' 'ch nich!" und der Kleine schlug dabei mit der hageren Faust auf den Tisch. Das Mädchen sprang auf. „Du, dadermitte fang mer ock nich oa!" rief sie drohend, dass die weißen Zähne blitzten. „Hust' du au scho sou veel fier dei Kind g'gahn?" Dabei hielt es dem Burschen die Kleinfingerspitze scharf unter die große Nase. „Und sou a versuffnes Schwein will mech sou schlechtmach'n!"
„Woas kimmst' 'n immer hinger mer har, hee? Worim denn?" sagte der Kleine etwas gedemütigt.
„'s is mer au g'road schone leid g'nug. Aber men' Mutter docht halt, du wärscht nich immer sou lappsch bleiben und tät'st dich bessern, wenn 'ch bei der wär. Und aich tu 's au bloß weg'n Gust'l. — Nei, ch möcht's ju nie derlab'n, wenn 's mech später a moal frein tät, wou sei Voata is und 'ch wüsst nich, woas 'ch sollt soin. Dau dreber machste der kei Gewiss'n nich, du Schlechter du!"
Des Mädchens Augen erglänzten feucht. Es trat zurück und entnahm der roten Kiste eine kleine Pappschachtel. „Sahn Se ma har, Herr," sagte es mit stillem Stolz, und hielt das Bild ihres kleinen Mädchens vor Albert hin, „die is itz a Joahr gewest. — Dau will nu su a Kerl no streit'n!
— Sahn Se doas Köppel — und d' Noase und d' Aug'n —-nei, rein alles, alles. — Und jeder Mensch soits au, 's wär a rein salber."
Diese innige Mütterlichkeit berührte Albert angenehm, und er gab gern die Ähnlichkeit des Kindes mit dem Burschen zu.
In dem hasenähnlichen Gesicht des Mannes glaubte Albert bekannte Züge wahrzunehmen. „Wir sind wohl Landsleute, wie ich höre, von wo seid Ihr?" fragte er vertraut.
„Aus Neudorf," antwortete das Mädchen rasch, während sie Albert erwartungsvoll ansah. Dann wischte sie sich erst mit dem Kopftuch über die Augen, ehe sie es zu einer Haube über das dunkle Haar band. „Sie au, ja?"
„Freilich, aus dem Niederdorf," bestätigte Albert.
„Na, Herrschaften, es wird Zeit!" rief der alte Schiffer nicht gerade freundlich zur Tür hinunter.
Und sie gingen schnell hinauf an ihre Arbeit.
Nun schaffte das Mädchen mit doppelter Kraft; sie half beiden Männern beim Auf- und Abladen und benutzte jeden Augenblick, um mit Albert ein wenig über die Heimat zu plaudern. Sechs Wochen war sie schon weg von da. Auch der Bursche war nun zugänglicher geworden. Er hockte auf seiner Karre, hing die langen, hageren Arme herunter und warf ergänzende Worte dazwischen, wenn seine Berta
— so hieß seine Braut — Albert schwätzend die Steine zureichte. Sie war das uneheliche Kind der Witwe des Maurers Kümmel. Der Maurer war früh gestorben, und dann hatte zuweilen ein Bauer in ihrer Mutter Häuschen zu Gast geweilt. Als Berta stark genug war, ging sie, wie ihre Mutter, in die Ziegelei; dort arbeitete sie mit August Gellfert — so hieß ihr Bursche — zusammen.  Dessen Eltern
besaßen neben ihrer Mutter Häuschen ein kleines verschuldetes Anwesen. Die beiden Gärten stießen aneinander, und der Grenzzaun war niedrig und lückenhaft, kein Wunder also, dass sie sich näherkamen.
„Berta!" rief ihr Gellfert aufmunternd zu, wenn sie es im Eifer des Plauderns übersah, dass die Schiffer schon auf der Diele standen und sich das Tragband über den Kopf warfen. Dann schwang sie sich hinauf, dass die kurzen Röcke flogen und ihre kräftigen, bloßen Beine hervortraten. Sie legte sich den breiten Ziehgut wie ein Geschirr über die Schulter, und ihr schlanker Körper krümmte sich elastisch beim Anziehen. Beinah unnatürlich fand es Albert, dass sich ein solch fleißiges, verständiges Weib an den eckigen, zum Trunke neigenden Menschen für immer fesseln sollte. Und er dachte: wie leicht kann ihm das angenehme Geschöpf eines Tages entgleiten, sei es aufwärts, sei es abwärts,' hier im wirren Großstadtgetriebe.
Als der Schiffer „Mittag" rief, besah und befühlte Albert seine brennenden Fingerspitzen, unter dünngeschliffener Haut perlte das Blut wie durch ein feines Gewebe.
„Sein se durch?" fragte Berta und bedauerte, nicht eher an die Handleder gedacht zu haben, die noch unten in der Kajüte lagen.
Agnes sah Albert groß an, als er mit roterhitztem Gesicht eintrat. Gegen ihre Bedenken wegen der schweren Arbeit hob er den hohen Verdienst hervor, der ihm in Aussicht stand.
In lang gestreckter Reihe standen die Fahrzeuge vollbeladen auf dem Kahnrücken, als Albert vom Mittagessen zurückkehrte. Auch seine Ladung stand schon fertig da. Die Männer hockten auf dem hintersten Ende der Karren und schlummerten, wie müde Gäule, ein wenig in der Sonne. Berta saß unten auf den kühlen Steinen und strickte an einem hellblauen Jäckchen für ihr kleines Gustel.
Sie wickelte das Strickzeug schnell zusammen und legte Albert die versprochenen Handleder an. Er konnte sie dabei unbehindert anschauen, da sie den Blick gesenkt auf ihre Hantierung richtete. Wie die runden, fleischigen Arme in ein Paar wohlgeformte Hände harmonisch ausliefen. Auch da hatte die schwere Arbeit noch keine weiteren Merkmale hinterlassen; nur die nägellosen Fingerspitzen erschienen etwas abgestumpft. Ihr Gesicht war von dem bauschigen Kopftuch tief beschattet. Albert fand auch darin alles schön gestaltet. Starke Wimpern schützten zwei große Augen, über denen sich dichte Brauen spannten. Aus allem sprühte volle Lebenskraft. Seinen Dank für den Liebesdienst quittierte sie mit einem kurzen innigen Blick. Dann sprangen beide hinauf zur Diele, und der Zug bewegte sich langsam, knarrend aufwärts.
So verging Stunde um Stunde. Alberts Kraft schwand immer mehr, je flacher die Sonnenstrahlen über die Häuserdächer herüberglitten. Die Knie zitterten, sobald er stillstand; aber immer wieder raffte er seine Kräfte zusammen und stemmte noch eine Last hinauf.
Endlich war Vesperpause.
Berta wandte sich nach ihm um, ehe die beiden zur Kajüte hinunterstiegen; jedoch Albert folgte ihnen nicht. Er sah schon im Geiste in den grünlichschimmernden Augen des Burschen die Schadenfreude aufblitzen. Denn gleich am Morgen riet ihm dieser, ein Drittel Steine weniger aufzuladen, wolle er nicht vor Sonnenuntergang zusammenklappen. Mitleidig hatte Albert darüber gelächelt und gedacht: „Du Schwächling möchtest wohl deinen Vorspann damit rechtfertigen."
Unten im Kahn saß er. Es schüttelte ihn frostig. Seine Knie wippten auf und nieder, wie im Fieber. An der Kehle ward's ihm zu eng. Durch Bewegung schwand das Unbehagen ein wenig. Er begann langsam aufzuladen, das gab wieder Wärme. Doch Ladung um Ladung sog die Reste seiner Kraft auf, und bei jeder Auffahrt dachte er: „Diese soll die letzte sein," aber immer wieder trottete er im Zuge mit zum Kahn hinunter und schob mit zittrigen Beinen noch eine Last mit hinauf. Doch einmal stieß ihm sein Fahrzeug auf dem Rückwege gewaltsam nach vorn, das Laufbrett schwankte wellenartig auf und nieder und der Kahn mit allem begann einen Rundtanz. So fest er auch die Handgriffe seiner Karre umklammerte, riß es ihn doch auf die Knie und hinein in den Wirbel.
„Es geht schon wieder," wehrte er dem jungen Schiffer und Gellfert ab, als diese sich bemühten, ihm auf die Beine zu helfen.
Der Alte kam mit einem Getreidekümmel.
„Nehm'n Sie man gleich noch einen," nötigte er, als sich Albert nach dem ersten Glase schüttelte, „der erfrischt das Herze."
Etwas beschämt ging Albert über den Steinplatz der Straße zu. Der Alte hatte recht: der Branntwein gab Wärme. Und neue Kraft durchfuhr ihn. Umkehren und die Arbeit wieder aufnehmen hätte er am liebsten mögen. Aber er war schon abgelohnt. Gut ausruhen sollte er sich, damit er morgen früh beizeiten wieder auf dem Posten sei, hatte der Schiffer gesagt.

*

Agnes Platz war leer, als Albert am anderen Morgen erwachte; auch das Kaffeewasser sang schon auf dem kleinen Ofen. — Herrgott, ist's möglich — schon so spät! — Warum weckte sie mich nicht beizeiten? — Fünf Mark auf den Tag.
— Er gab sich einen Ruck, doch stöhnend sank er wieder zurück. Dumpfer, lähmender Schmerz lag in allen Gliedern.
— Ach was, das wäre ja noch schöner, bei hellem Sonnenschein im Bett liegen und sich am Ende noch von der Frau bedienen lassen! — Durchsetzen! Raus! Bewegung! — Und schon stand er auf den Beinen.
Nein, es war unmöglich: sein ganzer Körper war ein Schmerz. Er kroch wieder ins Bett. Schwermut beschlich ihn.
Ganz leise trat Agnes ein. Sie stellte die frischen Semmeln auf den Tisch und begrüßte ihn lächelnd. „Na, das Steinekarren macht wohl recht müde?"
Auch er vergaß seinen Kummer. „Ja, ein gutes Schlafmittel. Aber, sag mal, warum wecktest du mich nicht?"
Sie lachte. „Hältst du mich denn für so grausam? Wie kamst du bloß auf die Idee? Sagtest doch immer, wenn wir einmal von der Brücke aus zusahen, das Steine- und Sandausladen wäre die grausamste Schinderei. Da fehle bloß noch ein Antreiber mit einer Geissei."
„Ja, ich muss doch aber zu den Feiertagen noch etwas verdienen!"
„Kannst du auch," sagte sie heiter. „Aber trink erst mal Kaffee." Er biss die Zähne zusammen und setzte sich auf. Sie ließ sich auf dem Bettrand nieder, hielt die Kaffeetasse und tunkte ihm die Semmel ein.   „So, du bist heut mein kleines Krankes, nun beiß ab." Er folgte, um ihr das Spiel nicht zu verderben.
„Du wolltest mir doch sagen, wo ich was verdienen kann," begann er nach einer Weile ein wenig neugierig.
„Ach nein, mein Kleines muss erst tüchtig essen, damit es groß und stark wird, dann kann es Geld verdienen," fuhr sie heimlich lächelnd in ihrem Spiele fort.
Dann drückte sie ihn zurück in die Kissen und strich übers Deckbett. „So, nun hübsch artig und still zugehört: Denk an, ich erwache gestern früh, fühle, sehe — dein Platz ist leer. Ohne Kaffee auf der Suche nach Arbeit. — Die Uhr zeigt auf neun, ich warte. — Es wird zehn, ich bin ungeduldig. — Um elf plagen mich böse Gedanken — was kann dir in dieser großen Stadt nicht alles passieren. Dann bereite ich das Essen. Eh ich's denke, trittst du ein, rotgebrannt und erhitzt, sprichst von der Arbeit, vom guten Verdienst, vom Pfingstkuchen. — Ich war lustig, freute mich, denn du warst ja bei mir! — Am Abend sinkst du schlaff auf den Stuhl — isst mit Widerwillen. — Kaum im Bett, hat dich der Schlaf. — Ich horch in der Nacht einige Mal auf — dein Atem tief und gleichmäßig. — Der Schlaf ist erquickend, denk ich, und bin beruhigt.
Und heute morgen, als ich nach Semmeln geh, kauf ich schnell den Arbeitsmarkt und laufe nach einer Stelle für dich — eine Viertelstunde weit. Treffe in der Werkstatt deinen alten Kollegen, neben dem du bei Klaussen standest."
„Den Wieland?" fragte Albert.
„Richtig, Wieland. Der steht dort in Arbeit. Er führte mich zum Meister und sprach für dich. Sollst polieren, bis die Hand heil ist.  Heut Abend kommt er zu uns.
„So, nun hast du Arbeit und ich — hab dich wieder." Sie küsste ihn. „Nur nicht Gewalt anwenden, es kommt doch alles, wie es soll."
Ein Liedchen summend, ging sie an ihre Arbeit. Er war voll neuer Hoffnung und seelenfroh, dass sein Weib mit so fester Hand in sein Geschick eingegriffen hatte.

*

„Haha, weidest dich an unserer Kunst," trat Wieland an Alberts Seite. Beide ließen sich auf eine Bank im Magazin nieder und aßen ihr Frühstücksbrot. „Ja, es lockt, hier zu verweilen," fuhr der Alte fort. „Welche Ruhe in Farbe und
Linien. Ein gutes Buch da aus dem Bücherschrank und alle Tage ein Stündchen im weichen Klubsessel, dazu eine gute Zigarre. Und sieh, das Speisezimmer, wie auch die Schlafstube, wirken ebenso ihrem Zweck entsprechend. Und wenn dann erst Decke, Wand, Teppich und alles im Raume mit den Möbeln harmonisch ineinander fließt, dann braucht sich der Bewohner wohl nicht mehr nach einem gemütlichen Stündchen im Wirtshause zu sehnen."
„Wenn man bedenkt, wie unsereiner dagegen wohnen muss," bemerkte Albert.
„Ach, dächten doch erst alle darüber nach, alle die Tischler, Maurer, Zimmerer und die vielen anderen, die den Reichen schöne Häuser bauen und sie mit bequemen, kunstgerechten Einrichtungen ausstatten."
„Die meisten gedenken selbst mal reich zu werden."
„Richtig. Wenn sie man dabei bedächten, dass der Reichtum des einen die Armut des anderen bedingt."
„Demnach wäre ja Reichtum Sünde."
„Ja, richtig."
„Mein Lehrmeister sagte aber: Nur die Unfähigen, Faulen, Dummen und Feigen blieben arm; ein jeder Tüchtige könne wohlhabend werden."
„Und die Ehrlichen hat dein Lehrmeister vergessen; die keinen anderen für sich arbeiten lassen; die den Handel für Betrug halten; die alle Glückspiele als gemeine Gaunerei betrachten; die eine neue Ordnung anstreben, durch die Wahrheit, Gerechtigkeit und Gemeinschaftssinn in die Welt einziehen sollen, die bleiben auch arm."
„Danach müsste man zeitlebens als Geselle arbeiten," warf Albert ein.
„Ja, wenn du ehrlich bleiben willst."
„Wenn man nun aber durch Erbschaft reich wird?, dafür kann man doch nicht."
„Mein Freund, um sich in die hohen Ideale des Sozialismus zu vertiefen, ist leider unsere Pause zu kurz. Darum versteh meine Andeutungen nicht so, als ob man nur als Arbeiter ein ehrlicher Kerl sein kann, aber man wird eben als Sozialist gar leicht in Gewissenkonflikte geraten, wenn man Fabrikant oder Großkaufmann sein will. Und ob heut jemand selbständiger Meister werden kann, darüber entscheidet in erster Linie das Geld. Es ist ja ein Jammer, dass noch so viele Kollegen in dem Wahn dahinleben, einmal selbständig zu werden. Sitzen beim Bäcker, beim Fleischer und Hauswirt in Schulden und kommen vom Abzahlungsjuden nicht los; hoffen aber auf einen reichen Onkel, auf einen Lotteriegewinn oder auf sonst einen glücklichen Zufall. Dabei lassen sie sich geduldig von den Meistern das Fell über die Ohren ziehen. Fest vereinen müssen wir uns! Überstunden, Nacht- und Sonntagsarbeit abschaffen und menschenwürdige Bezahlung fordern. So müssen wir uns mühsam den Weg bahnen durch den Urwald des Unverstandes und der Unvernunft, um das Zukunftsland zu erreichen."
Das Glockenzeichen rief zur Arbeit.
„Heut Abend werden wir von einem gelehrten Genossen einen Vortrag darüber hören. Bring ja deine Frau mit zur Versammlung," ermahnte Wieland Albert.

 

Die erste Versammlung.

Ganz väterlich saß der Alte am Abend zwischen den fünf jungen Kollegen, die mit ihren Frauen und Bräuten seinem Rufe gefolgt waren.
Das vornehme Aussehen des Saales schien den jungen Leuten Höflichkeit abzunötigen. Als Wieland Frau Weigert vorstellte, erhoben sie sich und nannten ihre Namen, wie gut erzogene Menschen.
Aller Blicke wandten sich zur Bühne, deren mächtiger Vorhang nach beiden Seiten hin wie in ein Nichts verschwand. Ein üppig grünender Park schien sich in eine blühende Frühlingslandschaft auszuweiten. Aus seitlichem Laubwerk traten zwei Männer, die im Saal ein streitbares Flüstern hervorriefen: welcher nun wohl der berühmte Volksmann sei.
„Der neue Weg", hieß das Thema. Die Versammelten sahen sich prüfend an, ob sie am Ende auch alle zusammenstehen würden, wollte sie jemand hindern, den neuen Weg zu beschreiten. Dann saßen sie da mit halb offenem Munde, lauschten, wie Gläubige dem Latein ihres Priesters. Albert ward peinlich zumute; er konnte der Rede Sinn nicht fassen. Der Redner sprach von Agitation, Organisation und Emanzipation, von Produktion und Distribution, von Kapitalismus und Imperialismus und von idealen und realen Dingen.
Wieland folgte dem Redner aufmerksam und äußerte öfter seine Zustimmung, während Männer gelangweilt ihre Zigarrenstummel in Brand steckten und Frauen in ihre Schürzenzipfel gähnten. Als gar ein unterdrücktes Kichern heimlich um den Tisch hüpfte und die Mädchen auch die Männer bewogen hinüberzuschauen nach der Wand, wo, nur von schleierhaftem Lendentuch umflattert, sich Jünglinge und Jungfrauen in wollüstiger Begierde umtanzten, da stampfte Wieland erbost mit dem Fuß auf und die Missetäter streifte sein zorniger Blick. Wonach alle ein Weilchen achtsam dreinschauten.
Endlich fand der Redner auch den Weg zu den Herzen der ungeübten Hörer.   Es entstand rechtschaffenes Aufmerken und bannende Stille. Agnes umfasste Alberts Arm fester und rückte dicht an ihn, als ob sie Furcht beschliche. „Er hat recht," nickte Albert ihr zu. „Euer schlimmster Feind ist Arbeitslosigkeit!" rief der Redner. „Dem muss Euer Kampf zuerst gelten. Bedenkt, Ihr Frauen, Ihr Mädchen, wenn Ihr zur Fabrik eilt, zur Heimarbeit greift, verlängert Ihr die Arbeitslosigkeit Eurer Männer, Eurer Väter! Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Erholung, acht Stunden Schlaf! Erst wenn dieses Gesetz erfüllet, können wir Kraft schöpfen für den mühsamen Weg ins Land der Zukunft."
„Ja, ja, so ist es, das ist wahr," ging es durch den Saal, als der Redner geschlossen hatte. Manche spannen die Rede weiter und sprachen von der Selbstsucht ihrer Kollegen und von der Rücksichtslosigkeit ihrer Meister.
Ernste Männer eilten von Tisch zu Tisch, sprachen ein paar freundliche Worte und ließen Aufnahmescheine für den Arbeiterbildungsverein zurück.
Zaghaft griffen Männer danach, legten sie aber still wieder hin. Zehn Pfennig Aufnahmegebühr und fünfzehn Pfennig Beitrag für den Monat stand darauf. „Nein, nein," rieten die Frauen den Männern ab, „das gibt schon ein halbes Brot." Wonach die Männer den Bierrest austranken und ein frisches Glas bestellten.
Auch Wielands Kollegen ließen die Scheine unbeachtet. „Beides wird wohl zuviel mit einem Mal; so füllt man diesen zuerst aus, damit wir bald den Achtstundentag erreichen," sagte der Alte und gab jedem einen Aufnahmeschein für den Fachverein in die Hand. Verlegen blickten die Kollegen einander an, um die eigenen Gedanken in den Augen der anderen zu suchen. Zögernd griff einer nach dem andern zum Blei, als Albert seinen Schein mit Aufnahmegebühr dem Alten überreichte.
Wieland merkte es am Hutschwenken, dass die Kollegen sich nun auch vollwertig fühlten, als sie in das brausende Hoch einstimmten, das der jungen Bewegung galt. Der gemeinsame Wille ist schon da, nur an Kraft zur Tat fehlt es noch, dachte er. Mit mächtiger Wucht fielen alle ein, als er die Marsaillaise anstimmte. Es schien ihm, als wenn die gewaltige Melodie die hinauswälzende Menge ineinander verschmelze.

 

Kleinlieschen.

„Nun sind wir wohl endlich über den Berg", sagte Agnes zuversichtlich, als ihr Albert am Sonnabend acht blanke Taler auf den Tisch zählte. Sonntag für Sonntag schob sie die zehn Mark schweigend durch den Türspalt und Klaussens Kassierer reichte ihr eben so still die Quittung zu. Jeden Pfennig verwaltete sie gewissenhaft. Alberts Taschengeld erhöhte sie um eine halbe Mark, seit ihn der alte Wieland in den Fachverein hatte aufnehmen lassen. Und ein kleines Sümmchen verschwand durch den engen Schlitz des Sparkästchens. Denn in einsamen Stunden befühlte sie sich, um in süßem Schauer die Regungen des in ihr werdenden neuen Lebens zu erlauschen.
So flossen die Sommertage recht sorglos dahin.
Und auch der Herbst verging ohne besondere Ereignisse.
Nun fegte eisiger Wind den trocknen Schnee in schäumenden Schwaden von den Dächern. Albert verbarg heut sein Gesicht nicht schützend, wenn der Sturm scharf um die Straßenecken schnitt, beinah wohl tat es ihm, dagegen ankämpfen zu müssen.
Ein Gefühl erhöhter Lebenskraft war in ihm aufgestiegen, als ihm Agnes, strahlend im Mutterglück, das kleine Lieschen durch eine winzige Öffnung des Deckbettes gezeigt hatte. Eine starke Empfindung war über ihn gekommen, die ihm sein Leben und dessen Erfordernisse in ganz neuem Lichte erscheinen ließ. Nicht mehr nach eigenem Willen durfte er entscheiden; das neue Leben trat nun mitbestimmend dazwischen. Verkettet fühlte er sich nun mit der Nachwelt".
Er räumte seine Hobelbank auf, obgleich noch eine halbe Stunde bis zur Feierabendzeit fehlte. Die Gesellen ließen die Stemmeisen in den Löchern stecken und die Sägen in den Schnitten ruhen. Ans Arbeiten dachte heut keiner mehr; sie standen beisammen, tranken auf Alberts Rechnung, und ließen es nicht an Glückwünschen und allerlei anzüglichen Witzen fehlen. Nur mit Widerstreben gaben sie ihn frei, den es heute stärker als sonst zum Heimweg drängte...
„So, für dies Mal hättest du nun gesiegt. Immer gelingt es nicht so", sagte die Hebamme, als sie die Kleine an Agnes Seite bettete.
Agnes sah dankbar auf zur Wehmutter und drückte deren Rechte mit beiden Händen, als Albert eintrat. „Was ist geschehen?" fragte er verwundert.
„Ich muss eilen." Die Frau warf sich abwehrend den Mantel über, gab Albert schnell die nötigen Anweisungen für die Nacht und lief zur Tür, wobei sie an einen harten Gegenstand stieß, der vor ihr hin kollerte. „Ohje, die Gottesmutter", bedauerte sie und stellte die kopflose Figur auf den Tisch. Dann schlug sie drei Kreuze und ging eilig hinaus.
„Wie kam die von da oben auf die Erde?" fragte Albert, von der bunten Figur auf Agnes blickend, die schon mit matter Stimme zu erzählen begann:
Elend zusammengebrochen wäre sie sicherlich, hätte sie es gewagt, aus dem Bette zu springen und das Fenster aufzureißen, um Luft zu schaffen.  Denn die geringste Bewegung machte ihr schon unsägliche Schmerzen.   Da sah sie auf zur heiligen Mutter, die überm Bett an der Wand auf ihrem Konsol stand. Arg gerungen hatte sie mit sich, ehe sie eine zusammengeknotete Windel nach ihr warf.   Erst hatte sie zu ihr beten gewollt, doch es war keine Zeit zu verlieren: immer dichter wurde der Qualm. Die Kugeln auf dem Kopfende des Bettes saßen zu fest; ihre Kraft reichte nicht aus, sie abzudrehen.  Da dachte sie: Jetzt, oder nie muss uns Hilfe werden, und mit ganzer Kraft warf sie die Muttergottes gegen das Fenster.  Verzweifelt und dem Ersticken nahe war sie zurückgesunken, als das Porzellan hart ans Fensterkreuz schlug und auf den Fußboden fiel.  Dann wandte sie sich noch einmal zur Seite, befühlte des Kindes Gesicht und Hände: es atmete noch. Sie deckte es fester zu, zog das Bett auch über sich zusammen. So ließ es sich wohl noch ein Weilchen aushalten.  Indes so still da unten den Tod erwarten, das wollte sie nicht.  Bloß Kräfte sammeln, dann aus dem Bett springen und Luft machen.
Inzwischen brachte ihr die Hebamme Rettung. „Was ist denn eigentlich geschehen?" stand Albert immer noch beunruhigt, fragend über Agnes gebeugt.
„Da sieh." Agnes wies auf eine verkohlte Windel am Fußboden. „Erstickt wär's mir bald im beißenden Rauch," sprach sie, mit Tränen in den Augen, weiter, wobei sie die Decke von des Kindes Gesicht ein wenig abzog.
„Reg dich nicht auf. Nun ist ja alles wieder gut." Albert strich beruhigend über die blasse Hand der jungen Mutter.
Er stellte alles für die Nacht zurecht. Bettete Lieschen in den Wäschekorb, wie ihm die Hebamme anbefohlen hatte. Todmüde kroch er dann ins Bett dicht an die Wand. Das Deckbett war aber heut zu schmal, er stand wieder auf, holte alte Kleider und warf sie sich über... .
„War das eine Nacht," stöhnte Albert. Als sei ihm alles Blut in den Ader erstarrt, so war ihm zumute, als er sich am Morgen frostgeschüttelt erhob. Fünfmal hatte er das Zuckerwasser anwärmen müssen. So sog wohl das junge Leben das alte auf. Als aber erst das Feuer im Ofen lustig flackerte, kam auch sein Gleichgewicht wieder.
Nachdem er für alles Vorsorge getroffen hatte, so gut es ging, machte er sich auf den Weg. Die Hauswartfrau, die im Keller wohnte, bat er, hin und wieder mal hinaufzuschauen. Dann stapfte er durch den frischen Schnee zur Arbeit.

 

Der Umzug.

Überall leuchtete heut der Frühling in hellem Glanze. Alles drängte sich auf die Sonnenseite der Straße. Der Frauen und Mädchen bunte Kleider und Bänder flatterten in allen Farben und auf den Gesichtern der Vorübergehenden spiegelten sich schon die Vorfreuden des herrlichen Sonntags. Etwas nach vorn gebeugt, beinah stolz, schob Agnes den neuen Kinderwagen aus gelbem Rohr mit schwarzem Verdeck auf dem Bürgersteig vor sich hin. Tief eingemullt lag Kleinlieschen heut zum ersten Male in den blendend weißen Betten, mit rosa Bändchen verziert. Heiter lächelnd sah Agnes hinüber zu der kleinen Ziehfuhre, hinter der Albert und zwei Kollegen aus seiner Werkstatt einherschritten.
Zu einer anderen Zeit wäre es Albert sicherlich nicht entgangen, wie die Blicke seines Kollegen Waldmann auf Agnes ruhten, und wie auch sie nicht unfreundlich oft nach diesem hinschaute. Indes er ging in sich gekehrt. Ein Brief machte ihm zu schaffen. Schon an der Aufschrift hatte er den Übungsbefehl erkannt, den ihm ein Schutzmann vorhin übergeben. — Vierzehn Tage nach Prenzlau — Seine Arbeit in der Werkstatt war eilig — ein anderer wird an seinen Platz gestellt werden — „Verdammtes Pech!" entfuhr es ihm halblaut.
Recht schonend wollte er es Agnes mitteilen. Erst spät am Abend, um ihr den frohen Tag nicht zu verderben.
Immer weiter ging es über Straßen und Brücken zur Stadt hinaus, an Kirchhöfen vorbei, eine Anhöhe hinauf.
Agnes fuhr mit Kleinlieschen ein Stück Weges voraus; zu langsam ging ihr das Fuhrwerk. Tief atmete sie auf, als sie den Berg überwunden hatte. Gelbliches Grün durchleuchtete schon das graue Geäst der Linden, die zu beiden Seiten der stillen Straße standen, in der die neue Wohnung lag. Drehorgelmusik kam vom Hofe herauf, als sie mit Lieschen durch die farbenfrischen Räume schritt.  Die be-
kannte Tanzweise brachte ihr Blut in rhythmische Schwingungen, sie wippte und drehte sich nach dem Takte der Musik.
„Kommen Sie, kommen Sie, Frau Weigert, mir kribbelt es auch in den Beinen!" rief Waldmann, der soeben den Kinderwagen inmitten der Stube absetzte. Agnes sah zwar den schmucken Burschen, der so dreist war, etwas unsicher an, doch schon lag Lieschen im Wagen, den nun beide lustig umtanzten.
Wie fest sie dieser schwarze Geselle gleich in die Gewalt nahm. Die Spitzen seines flotten Schnurrbartes kitzelten sie an den Schläfen. Das erregte ein seltsames Gefühl in ihr.
„So ist's richtig! Das macht ihr fein," sagte Albert, der eben die Betten abwarf. Er lief zum Küchenfenster und warf ein Zehnpfennigstück hinunter.
Ein Walzer begann, Agnes tänzelte ihrem Manne entgegen. Er drehte sich heut noch schwerfälliger als sonst. Sein Kummer bedrückte ihn. „Was ist dir?" fragte sie, als er mitten im Stück anhielt. Sie fürchtete, ihm Ärger bereitet zu haben.
„Nichts. Tanz nur soviel du willst, wenn's dich erfreut."
Waldmann trat eben wieder ein. Schnell warf er seine Last ab und schwenkte mit Agnes im Rheinländertakt.
Ein Weilchen sah Albert zu, dann ging er still hinunter. Er gönnte ihr die Freude von Herzen. — Allerdings.... mit dem Waldmann? Ein Luftikus. Seine Frau mit zwei Kindern sollte in Hamburg oder irgendwo sitzen — das war doch gemein von dem Kerl! — Und Albert fielen die Weibergeschichten ein, die jener zu Dutzenden von sich zu erzählen wusste. Na — und wenn nur die Hälfte wahr ist — es wäre gerade schlimm genug. — Und warum sollt's nicht wahr sein? — Gesund und forsch, dazu ein geschwungener kräftiger Bart, gutmütig dreinschauende Augen, die voller Feuer saßen — das alles mochte wohl die Weiber anziehen....
Bei dieser Betrachtung stieg in Albert ein Gefühl auf, das er nur vor seiner Verheiratung kannte. Er wehrte sich dagegen.
Mit der Matratze auf dem Rücken trat er wieder ein. Agnes saß auf dem Bündel Betten und trocknete das glühende Gesicht. „Ach, wie lange sehnte ich mich danach — aber nun hab ich genug," sagte sie erschöpft. — „Du, das ist ein gar Flotter, der macht einen warm." Albert lächelte still.
Sie trat vor ihn hin, ließ beide Hände auf seinen Schultern ruhen — so, wie sie es meist tat, wenn sie recht vertraut zu ihm reden wollte, und sah ihm eindringlich in die Augen. „Nun sag, es ist dir doch wohl nicht lieb, dass ich mit dem Manne tanzte?"
„Aber, ich weiß nicht, warum du mich immer fragst — und — na und — wenn es mir schon nicht recht wäre — so konnte ich doch nicht dazwischen fahren und Skandal machen. — Gefreut hat mich deine Lustigkeit," fügte er warm hinzu.
Sie ließ von ihm ab und begann herumzuhantieren; beruhigt war sie von seiner Antwort nicht. „Ich hab's ja gemerkt, dass er ein wilder Bursche ist," begann sie wieder, „denn geschwätzt hat er in einem weg beim Tanzen —"
„Na, wenn du nun durchaus meinen Kummer wissen willst," unterbrach er sie und reichte ihr den Übungsbefehl
hin: „Hier lies!"
„Also — vierzehn Tage", sagte sie gedehnt. „Und was
wird aus deiner Arbeit?"
„Aus meiner Arbeit? Die — na, die ist futsch!" „Futsch? — Naja —.  Aber lass gut sein, Albert, wir haben wohl schon Schlimmeres überstanden", sagte sie, um ihn aufzurichten.

 

Der Verführer.

Frau Manske wohnte auf der gegenüberliegenden Seite des Treppenflurs. Sie war eine flotte Schürzennäherin und musste ihre Familie damit erhalten; denn ihr Mann vertrank, was er verdiente. Da ging Agnes zu ihr hinüber und machte ihr die Handarbeit in den Stunden, wo Lieschen schlief. Die Frau war hübsch, und man sah ihr und den beiden Mädchen von fünf und drei Jahren nicht gerade Not an. Jedoch die Wohnung machte einen schaurigen Eindruck. Jedes Stück Möbel, dass die sorgsame Frau beim Trödler erstand, schleppte ihr trunksüchtiger Mann in unbewachten Augenblicken wieder weg; er verschleuderte es für wenige Schnapsgroschen.
Da tat es Agnes besonders wohl, wenn sie am Abend in ihrer eigenen sauberen Wohnung am offenen Fenster saß und Kleinlieschen in Schlaf sang. Wenn sie dann so ganz allein war und die frischgrünen Linden, deren Zweige bis an die Fensterbrüstung strichen, sie in abendliches Dunkel hüllten, flogen ihre Gedanken hin zu Albert. Auch seine Gedanken mochten bei ihr weilen, sie fühlte es — ja sie sah ihn förmlich im dämmerigen Zimmer —, sie bewegte ihre Lippen und sprach zu ihm. So nahm sie ihn meist mit hinüber in ihre Träume.
Eines Abend schrillte plötzlich die Türglocke in ihre Gedanken hinein. Sie öffnete vorsichtig die Tür. Ein kleiner verwahrloster Mensch verbeugte sich linkisch und fragte stammelnd nach Albert Weigert. Erschreckt lief Agnes in die Küche nach Licht. Als sie mit der Lampe zurückkehrte, saß der Fremde schon in der Stube breitspurig am Tisch. Er fuhr sich über den spitzen Mund und ließ die Hand klatschend aufs Knie fallen. „Sie sein doch Albert Weigerts Frau?" fragte er dreist.
Die schlesische Mundart gab Agnes Vertrauen. „Meinen Mann können Sie heute nicht erwarten, der ist in Prenzlau zu einer Übung."
„Ach, sou, sou, er übt. Schade, schade." „Wie heißen Sie denn?"
„August Gellfert, heiß ich." Er spuckte wichtig auf den Fußboden in die Zigarrenasche, die er mit dem Fuße breittrat. „Wir kenn uns sehr gutt. Vor'ges Jahr haben wir miteinander Steine gekarrt. Hat er von mir noch gar nischt derzählt?"
„Ja, gewiss. Ich entsinne mich. „Auch von Ihrer Braut
sprach er."
„Von meiner Braut — ja?" Er schwang eins seiner dünnen Beine übers andre, so dass der große Fuß noch eine Weile nachwippte, fuhr sich mit den hageren Fingern durch sein spärliches Kopfhaar und sprach mit verhaltener Erregung weiter: „Ja, wegen der komm' ich, die such ich." „Was soll die denn hier bei uns?" „Na, ich ducht halt, weil sie Jhren Mann gutt kennt und weil ber alle aus einem Dorfe sein, wär sie am Ende mal hier gewest."
„Davon weiß ich nichts", sagte Agnes. Und an des Burschen Schicksal, teilnehmend, fragte sie: „Übrigens wohnten Sie doch schon beieinander wie Mann und Frau, und ein kleines Mädchen haben Sie doch wohl auch schon?"
„Nu freilich, 's ging ja auch alles soweit ganz gutt. Aber da kam halt der Winter, meine Arbeit wurde alle und neue fand 'ch nich; das Mädchen ging in die Fabrike, aber ihr Verdienst reichte nich hie und nich har.   Da gab's halt manchmal Krach. Und sie tat von mir wegziehn, wenn 'ch keine Arbeit fänd. Und als ich eines Abends heimkam, sitzt a Kerl bei ihr, schwarz wie a Zigeuner, kräusliges Haar und einen Schnurrbart wie a Offizier.   Sie klaubt ihre Sachen zusamm', packt sich das Deckbett und alles, alles ein und spricht: sie zieht.   Der Mann sei der Bruder von ihrer neuen Wirtin, und er solle ihr helfen.  Ich war wütend und riß ihr die Sachen weg. Da schleuderte mich der Schwarze beiseite, ich flog übers leere Bettgestell, und sie zogen beide los.  Ich schlich mich hinter ihnen her.  Berta stand mit a Sachen auf der Straße am Laternpfahl, und der Schwarze lief nach einer Droschke.   Sie winkte und bat mich, ihr nicht böse zu sein; wenn es ihr gutt ginge, werde sie an mich denken.  Ich aber wollte wissen, wer der Mann sei und wohin sie wolle.  Er sei Tischler und seine Schwester unterhalte ein Quartier für junge Mädchen, und da könne sie viel Geld verdienen. — Die Drosche kam an, ich drückte mich in den Schatten der Hauswand — und ab ging es. Ich rannte hinterher, aber der Kutscher hieb aufs Pferd ein
wie verrückt und mir ging die Puste aus. Ich--."
„Sst, still!" winkte Agnes zum Schweigen und horchte zur Tür hin. Da — es klopfte. „Es wird Frau Manske sein", dachte sie und öffnete. Ein Schreck durchfuhr sie, als ihr Waldmann flüsternd grüßend entgegentrat. „Was wollen Sie hier? Was fällt Ihnen ein?" wehrte sie ihn ängstlich leise ab, da er sie festhielt und die Tür sacht ins Schloss drückte. „Ich ruf meinen Mann!" flüsterte sie erregt, als sie der Schwarze fest an sich zog.
„Der hört nichts, das weiß ich besser, mein Täubchen. Darum komm ich ja, weil ich weiß: Du bist so allein", und er presste in wilder Leidenschaft seinen Mund auf den ihren. Als sie ein wenig Luft bekam, entfuhr ihr in ihrer Herzensangst ein Schrei. Gellfert kam polternd herausgestürzt. Waldmann ergriff die Tür und war mit ein paar Sätzen die Treppe hinunter.
„Was hutts denn da?" fragte Gellfert.
„Nichts, nichts", gab Agnes gefaßt zurück und warf die Wohnungstür zu. Sich heiterstellend sprach sie gleich weiter, um über die Verlegenheit hinwegzukommen: „Mein Gott, was die Leute besorgt sind; mein Mann wusste es ja, dass sein Platz besetzt wurde, das brauchte mir sein Meister wahrlich nicht erst sagen zu lassen." Und sie stand und besah sich im Schein der Lampe ihre rechte Hand. „Gedrückt hat mir der Mensch die Finger", klagte sie.
„Ach, deshalb schrien Sie a so", sagte Gellfert, die Stube auf und ab schreitend.
„Ja, es war ein junger Kollege von Albert, der hat eine so harte Hand", sagte sie ganz unbefangen, da ihr die Ausrede so gut zu glücken schien.
Doch Gellfert spreizte den alten Überrock auseinander und versenkte die Hände in den Hosentaschen. „Hm, hm, a Bekannter woarsch", sagte er grinsend. Dann ließ er sich schwerfällig auf seinen Stuhl nieder. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei", stöhnte er verschmitzt und trommelte wie gelangweilt auf der Tischplatte.
Agnes wusste nichts darauf zu erwidern, sah ihn unsicher in die grünlich schimmernden Augen und ging an ihm vorbei, hinaus in die Küche. Wie dreist dieser Mensch tat.   Was meinte er mit dem Bibelspruch?   Ihr Herz klopfte. — Ach, was weiß der freche Tölpel!   Sie schnitt Butterbrote für ihn zurecht. Ordentlich satt füttern wollte sie ihn, dann mochte er seiner Wege gehn.  Sie erschrak, als sie in den kleinen Wandspiegel überm Küchentisch blickte. Wie sah sie denn aus? Im verworrenen Haar stak eine rote Rose. Hastig griff sie danach und warf sie in den Abfalleimer. Das Blut stieg ihr siedendheiß ins Gesicht. Dann rückte und strich sie ihre Haare zurecht und trug Gellfert Brot und Kaffee auf.  „Greifen Sie zu", nötigte sie ihn kurz und trat zurück in die Küche.  Da lag die Rose zwischen Kartoffelschalen und Papierstückchen. „Waldmann", flüsterte sie, bückte sich und hob sacht die Rose empor. Ganz frisch war sie und erst halb entfaltet.  Und immer noch einmal sog sie deren süßen Duft ein. Ihr Atem ging kurz. Leidenschaftlich drückte sie die Blume an ihre heißen Lippen, schloss leicht die Augen und ließ die starken Wimpern ein Weilchen aufeinanderruhn.   „Nein!" sprach sie halblaut, warf die Rose zurück und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, als wenn sie erwache.
Gähnend streckte ihr Gast alle Glieder von sich, als Agnes zu ihm eintrat. Er hatte alles aufgezehrt. Nun stopfte er Zigarrenstummel in die kurze Pfeife. Mit langen Schritten durchmaß er das Zimmer und spuckte zum offenen Fenster hinaus. „'s wird Zeit, Herr Gellfert", sagte Agnes auffordernd, wobei sie ihr Bett zurechtschüttelte.
Er nahm seinen durchschwitzten Hut vom Schlüssel des Kleiderschrankes, drehte ihn verlegen in den Händen, wobei er von einem Fuß auf den andern trat. „Ach, sou a Luderleben!" stieß er verächtlich hervor. „Wenn 'ch nu bloß wüsst, wo 'ch die Nacht bleiben soll."
„Na, hier nicht, das sehn Sie wohl ein", gab Agnes
etwas hart zurück.
„Wenns draußen uf'm Korridor wär, uf'n paar alte Lumpen. Vor vierzehn Tag'n schloss mir der Wirt die Bude vor der Nase zu und behielt alles ein, für schuldige Miete."
Agnes hörte nicht mehr, wie der Kleine seine Leidensgeschichte weiter spann. Sie kam aus der Küche und reichte ihm ein Dreimarkstück. „So, dafür können Sie sich schon zur Not behelfen", sagte sie und öffnete die Tür, durch die der Kleine nach warmem Dank und Händedruck zögernd verschwand.
Befreit atmete Agnes auf, als sie ein Weilchen still am Bett stand. Langsam begann sie sich zu entkleiden. Herrgott, was war das heute? Die kühle Luft machte ihre Haut fröstelnd jucken, sie rieb sich die derben Brüste, und die Gedanken an Waldmann drängten sich gewaltsam ihr auf. Sie löschte die Lampe aus, schlich zitternd zur Küche, tastete nach dem Eimer, nahm die Rose und sog noch einmal begierig den Duft ein. Plötzlich warf sie die Blume wie im Ekel von sich. „Nein, nein, nein, ein ganz Schlechter ist er!" fuhr sie erregt auf: Braun wie ein Zigeuner war er und kräuseliges Haar hatte er — der Entführer der Braut des Kleinen."  Sie kroch ins Bett, vergrub ihr Gesicht in die Kissen, schluchzte und machte sich die bittersten Vorwürfe ob ihrer sündhaften Gedanken. Und sie bat Albert um Verzeihung ihrer Treulosigkeit wegen und schwor ihm hundertfältige Liebe.

 

Arbeit aus Gnade.

Es war stille Zeit im Holzgewerbe. Fabrikanten, die Geld hatten, reisten ins Gebirge oder ins Seebad. Viele ließen ihre Gesellen verkürzte Zeit arbeiten, andere entließen sie kurzerhand.
Albert lief nun schon zwei Wochen lang von Werkstatt zu Werkstatt, seitdem er von der Übung zurück war. — „Geben Sie Ihre Adresse ab, bei Bedarf werden wir Ihnen schreiben." — „Fragen Sie später mal an." — „Alles besetzt!" So wies man ihn ab, Tag um Tag. Dabei waren die wenigen Mark draufgegangen, die sich Agnes heimlich verwahrt hatte. Ihre letzten Groschen gab sie heute früh für ein halbes Brot aus: Der Bäcker gab nichts mehr auf Kredit, da sie mit der versprochenen Bezahlung nicht Wort gehalten hatte am letzten Sonnabend. Albert kam spät heim. Wortlos trat er an den Tisch und brachte eine Menge altbackener Semmeln aus seinen Taschen heraus. Agnes blickte bald auf ihn, bald auf das Gebäck; erst als Lieschen ungeduldig aufschrie, schob sie ihr wieder einen Löffel voll Mehlbrei in den Mund.
„Das bekam ich geschenkt", sagte Albert endlich.
„Geschenkt?" wiederholte sie. „Hast aber erst schön drum bitten müssen, nicht wahr?"
Er nickte still. Dann begann er zu lügen: wie leicht das Betteln sei und mit welch stillem Mitleid die Leute Almosen gäben.
„Bis sie dich einsperren", sagte Agnes betrübt, „dann haben wir noch obendrein die Schande."
Sie brachte das Kind zu Bett. Dann schnitt sie die Semmeln in Stückchen zu einer Suppe für den Abend, wobei sie sich hin und wieder mit der Schürze über die Augen fuhr.
„Du weinst, anstatt dich zu freuen?"
„Freuen soll's einen, wenn man Bettelbrot essen muss? Nein, Albert, ich hätt's nie gedacht, dass es mal soweit kommen würde mit uns."
„An mir liegt es doch nicht", sagte er und stützte schwermütig den Kopf auf...
Am darauffolgenden Abend saß er auf einer Bank unter grünen Bäumen am Rande eines Kirchplatzes. Kinder spielten lärmend um ihn herum, Frauen begrüßten leichthin ihre von der Arbeit heimkehrenden Männer und gingen mit ihnen plaudernd davon. Auf all dies achtete er heute nicht. Seine Augen waren starr auf den jenseits der Straße liegenden Bäckerladen gerichtet. — So, jetzt war es Zeit, nun kam die letzte Käuferin heraus. Eilig schritt er im weiten Bogen über den Fahrdamm und schlich sich am Haus entlang an die Tür. Zitternd griff er nach der blanken Klinke — doch kurz fuhr er zurück: der dicke Meister trat eben durch eine Seitentür in den Laden, und Albert rannte so schnell er konnte um die nächste Straßenecke. Dann ging er langsamer. Verdammt, war er doch feig! Aber die Angst von gestern durchfuhr ihn, wo ihn der eine Bäcker zur Tür hinausschob und nach dem Schutzmann rief. Indes die Gedanken an Frau und Kind gaben ihm neuen Mut; und schon wieder trat er über die Schwelle eines kleinen Ladens. Ganz dreist tat er, wie wenn er etwas einkaufen wollte. Plötzlich schrillte die Glocke und die junge Meisterin trat durch die Tür. Anstatt eines Grußes verzog sich ihr hübsches Gesicht unfreundlich, als sie Albert barhäuptig stehen sah. Stammelnd trug er sein Sprüchlein vor. „In einem Weg geht heute wieder die Bettelei", schalt sie, während sie aus einer Kiste am Fußboden eine angebrannte Semmel nahm und sie ihm trotzig über den Ladentisch hinschob. „So jung und schon zu faul zur Arbeit!" schimpfte sie hinter ihm her.
Froh, dass er den Anfang hinter sich hatte, steuerte er schräg über die Straße und trat dreist in ein großes Geschäft, dessen Tür offen stand. Die korpulente Dreißigerin maß ihn mit hochmütigem Blick, dann sprach sie an ihm vorbei und bediente eine Kundin mit ausgesuchter Freundlichkeit. Immer mehr Käufer kamen herein. Albert drückte sich zur Seite. Der Meister trat in Hemdsärmeln und Schürze ein und half die Käufer bedienen. „Was wollen Sie?" fragte er in scharfem Ton, als er Albert erblickte.
„Ein Bettler ist 's!" erklärte die Frau. „So eine Frechheit von dem Menschen", fügte sie boshaft lächelnd hinzu, „bleibt ruhig stehn, als ob er was zu fordern hätte!"
„Das wird ja immer toller mit der Fechterei! Ich glaub', die Bande klopft einen noch des Nachts aus dem Bett!" muckte nun auch der Mann auf. „Was sind Sie?" fragte er Albert, der sich scheu zur Tür wandte.
„Ach was!   Übergib ihn doch der Polizei!" rief die Frau gereizt dazwischen.
Bei Albert war jetzt alle Furcht gewichen; denn aus den groben Worten des Meisters klang doch ein wenig Mitgefühl. Er drehte sich um und erzählte kurz, wie er in Not
gekommen war.
„Mann, halt dich nicht mit solchem Gesindel auf! Der Mensch lügt. Ich denk, du kennst die Sorte: wenn sie Arbeit haben, leben sie in Saus und Braus und betrügen die armen Geschäftsleute!"
„Nanu, Hedwig, lass gut sein," sagte der Meister beschwichtigend. „Die Not packt auch gute Menschen. Der Mann kann mal rausgehen nach Tempelhof bei Onkel Friedrich, der klagte mir neulich seine Not, die er mit seinem Gesellen habe. Vielleicht braucht er einen. — So, geben Sie die Karte ab, ich hab' ein paar Worte daraufgeschrieben. Machen Sie mir aber keine Schande!" Dann steckte der Meister einige Brötchen In eine Tüte und reichte beides Albert zu, der ganz überrascht war.

*

In einem düsteren Keller, wo Ölfässer, Leimsäcke, große Stöße Fournier und rohe Möbel umherstanden, wo Hühner durch eine zerschlagene Fensterscheibe gackernd hereinhüpften und zwischen Polsterwerk und Seegras fette Kellerwürmer hervorscharrten, da war nun seine Werkstatt. Der alte Meister zählte ein halbes Dutzend von den aufgestapelten Kommoden ab, denen Albert Farbe und Glanz geben sollte.  Der Loh  schien dem neuen Gesellen zwar viel zu gering, jedoch er wagte nichts dagegen zu sagen, denn immer noch einmal gab ihm der Alte zu verstehen, dass er ihm mehr aus Mitleid als aus geschäftlicher Notwendigkeit Arbeit gäbe.   Und immer wieder hob er hervor, wie akkurat er die Arbeit verlange: Albert möge sich nur Zeit lassen dabei, dafür zahle er auch den hohen Preis von zwei Mark fünfzig Pfennig für das Stück.
Es war Sonnabend.  Wie Soldaten standen die sechs Kommoden in einer Reihe zur Abnahme bereit.   Albert
fand immer noch etwas daran zu bosseln und zu wischen „Machen Sie mir keine Schande," hatte doch der Bäckermeister gesagt. Der Alte sollte aber auch gewiss keinen Tadel daran finden.
Plaudernd gingen schon die zuerst abgelohnten Gesellen an seinen Fenstern vorüber. Er sah nur ihre Füße und hörte, wie sie ihren klingenden Lohn nachzählten.
Endlich trat der Meister auch bei ihm ein.
„Na, wie weit sind Sie damit?"
„Fertig."
„Was — fertig? Hm, hm." Dabei fuhr er mit seiner fettwulstigen Hand suchend über den zarten Glanz. „Tja, blank sind sie ja, aber Fläche, Fläche fehlt, mein Lieber!"
„Das liegt am frischen Holz; wenn das nachtrocknet, ist es nicht meine Schuld. Die Polierarbeit ist sauber!" erwiderte Albert erregt.
„Was Sie so sauber nennen, mein junger Freund. Sehen Sie," und der Alte fuhr mit einem großen Bimsstein über den zarten Glanz eines Blattes, „wie Berg und Tal," er wies auf die erhöhten Stellen, die der Stein abschliff und fuhr so über das zweite Blatt. „Ganz dasselbe. Mehr Knochenmehl, ja, Knochenmehl, mein Lieber, das fehlt. Dann kommt auch ein fester Grund hinein," sagte er ruhig. Dabei zählte er drei Talerstücke auf Alberts Arbeitstisch. „So, nun machen Sie nächste Woche die Arbeit fertig, dann erhalten Sie die anderen sechs Mark." Damit ging er die Treppe hinauf.
Albert fühlte kalte Blässe im Gesicht. Ein Zittern durchbebte ihn, und sein Atem stockte in der Kehle. „Gemeiner Schurke!" presste er hervor und starrte auf die drei Geldstücke, die vor seinen Augen zu tanzen begannen. Das Blut stieg ihm heiß, hämmernd in die Schläfe, die Stirn schien sich zu wölben; er ergriff den Hammer; die zerschundenen Flächen funkelten, und drauflos hieb er, dass die Fetzen flogen. „Arbeit — aus Gnade! — Arbeit — aus Gnade!" knirschte er zu jedem Schlage.
Dann schleuderte er den Hammer beiseite, nahm sein Geld und ging.
Erst als er über das stille, freie Feld schritt, wurde er ruhiger.  Jedoch die Tat bereute er nicht.  Sicher trug sie ihm eine Gefängnisstrafe ein. Doch was hatte er noch zu verlieren? Ärger als es mit ihm stand, konnte es wohl nicht mehr werden — so dachte er. Am liebsten ginge er auf und davon — weit fort — irgend wohin. Ja, wenn er noch frei wäre. Aber so, nein!
Das große Exerzierfeld mit seinen weitgedehnten Rasenflächen lag still vor ihm. Nur hier und da tauchten Schatten auf: Arbeiter, die schräg über das Feld schritten, um sich den Heimweg abzukürzen.   Für Albert war es zwar ein Umweg, aber er wählte die alte vergessene Straße, die schon ganz mit Rasen überwachsen war. Hier kam ihm allabendlich Agnes entgegen; hier in der Einsamkeit ließ sich so recht nach Herzenslust Frau und Kind umarmen. Titanenhaft zum Himmel strebende Pappeln reckten sich still und trotzig empor und warfen ihre mächtigen Schatten immer weiter über den von der Abendsonne überglänzten Rasen.   Alte Weiden mit dicken aufgeplatzten Leibern standen geduckt daneben, wie alte Pensionäre.  Tausenden von Fuhrleuten wiesen sie einst in finsteren Nächten den Weg; nun hatten sich die Menschen von ihnen gewandt, ihr Strom ergoss sich weit drüben gleichlaufend in einer abendlichen Lichtflut, die die alte Heerstraße ganz vergessen ließ.
Plötzlich fuhr Albert aus seinen Gedanken auf. Agnes trat hinter einer alten Weide hervor.   Er suchte seinen Gesichtsmuskeln einen Ruck zu geben, um seinen Gemütszustand zu verbergen. Kleinlieschen jauchzte auf, hob sich förmlich von der Mutter Arm und angelte mit beiden Händchen dem Vater entgegen. Er nahm sie, wie gewöhnlich, zu sich.   Sie bäumte sich hoch vor Lebensfreude, patschte und streichelte sein Gesicht, bis auch die letzte Faser weich und lächelnd erschien.  Agnes stand auf einer vorstehenden Baumwurzel und sah dem Spiel glückstrahlend zu. Dann schlang auch sie ihren Arm um seinen Hals. So gingen sie still weiter.
Bald begann Agnes zu plaudern: Sie habe heute ein gutes Geschäft gemacht, ein Reisender habe ihr ein funkelnagelneue Nähmaschine ohne Anzahlung verkauft, wofür sie wöchentlich nur zwei Mark abzuzahlen brauche.
„O je, eine neue Last," stöhnte Albert, der graue Schatten flog wieder über sein Gesicht.
Sie sah ihn verwundert an: „Das lass nur meine Sorge sein.  Augenblicklich geht es zwar noch schlecht mit dem Schurzennahen, aber die zwei Mark werde ich ranschaffen!
„Ja ja, wo bleibt aber alles andere?" „Alles andere? - Na, du verdienst doch!!
„Hm - verdienen - wo denn?" „Wieso? Ist es schon —?"
Still war's. Sie warf den Kopf hoch, wandte ihn zur Seite und sah in die Weite. Er sollte ihre Verzagtheit nicht merken; sollte nicht sehen, wie sie mit den Tränen kämpfte.

 

Eine Arbeitslosenversammlung.

Eine Kette von Entbehrungen, nichts weiter brachte der Sommer, auf den Agnes so schöne Hoffnungen gesetzt hatte. Bis in die lauwarmen Abende hinein saß sie und jagte die langen Schürzennähte durch die surrende Maschine."
Und Albert sah vier Wochen lang nur ein tischgroßes Fleckchen Himmel durch die Eisenstäbe seiner Zelle.
Es ging zum Herbst, als er herauskam. Zum Glück fand er gleich Arbeit. Doch ein Schreck durchfuhr ihn, als am Weihnachtsabend auch seine Entlassungspapiere neben dem Lohnbuche lagen. Vier Wochen aussetzen, hieß es.
Als er dann mit Agnes unterm leuchtenden Tannenbäumchen frohe Weihnachtslieder singen wollte, umhüllte ein grauer Schleier die brennenden Lichter; nur Kleinlieschen sah alles klar erglänzen und jauchzte in heller Freude.
Es war ein stiller Sonntagmorgen. Albert ging im Sonnenschein und las im „Volksblatt". Das Schneewasser sickerte von den Traufen und der Frost musste sich immer weiter in den Schatten zurückziehen. Aus dem tiefer liegenden Häusermeer der Großstadt kam das Glockengeläute herauf und lockte die Kirchgänger aus den Häusern. Die Alten schritten gemächlich und taten andächtig und die Jungen gingen mit gezwungenem Ernst neben ihnen her. „Sechzig- bis siebzigtausend arbeitslose Familienväter in der Hauptstadt!" las Albert immer noch einmal halblaut für sich hin. Dann rechnete er. Herrgott, das waren ja dreimalhunderttausend Männer, Frauen und Kinder, denen es ebenso erging wie ihm! Es war ein Aufruf. Diese gewaltige Masse sollte auch in ihre Tempel pilgern. Aber nicht Gott im Himmel wollte man anflehen, oder ihn gar für all das Elend verantwortlich machen, nein: die Armen sollten endlich einmal ihre Not vor aller Welt bekennen, und die Reichen und Verantwortlichen
sollten sehen, was sie durch ihre Sucht nach Geld angerichtet hatten. Und am Ende sollte auch wohl den Armen gesagt werden, inwieweit sie selber schuld trügen an ihrem Ungemach.
Es war Montag. Wie Wasser aus kleinen Rinnsälchen kamen die Arbeitslosen aus den Seitengassen der Stadt, vereinigten sich in den Hauptstraßen, und ergossen sich in die Versammlungsräume.
Albert schritt zu einem der größten Säle, der am Rande der Stadt lag. Vor dem Haupteingange des mächtigen Gebäudes staute sich die Menge, die große Steintreppe konnte sie nicht schnell genug aufnehmen. Ernst wie zur Kirche gingen die Männer zu den Saaltüren hinein, aus denen ihnen die vollen Akkorde einer Orgel entgegentönten. Still gaben sie sich dem Genusse des Wohlklanges hin.
Die Orgel verstummte. Ein Glockenzeichen ertönte. Alle Gesichter bewegten sich nach der Bühne hin, wie wenn sie von dort Hilfe und Erlösung erhofften. Ein Polizeioberst schnitt mit einer Handbewegung dem Vorsitzenden das Wort ab. Das Kopfmeer im Saal geriet in Bewegung und ein dumpf grollendes Murmeln stieg aus ihm empor. Der Oberst schnellte vom Sitz, rückte am Säbel und rief mit schmalziger Stimme: „Im Namen des Gesetzes löse ich die Versammlung auf!" Ein donnernder Widerhall stieß ihn in den Hintergrund der Bühne. Die Versammelten saßen trotzig fest da, nur einzelne erhoben sich drohend. Abermals erklang die Glocke. Der Vorsitzende verkündete: Der Redner sei verhaftet. Mit Ruhe und Besonnenheit möohten die Arbeitslosen ihr trauriges Heim wieder aufsuchen.  Bald würde man sie von neuem rufen.
Die Orgel setzte ein. Mit ihren mächtigen Bässen erzitterte sie die Luft und die Flüche auf den Lippen der erbitterten Menge erstarben.
Auf der Empore vor einer der hohen Sandsteinsäulen stand Albert und sah hinunter auf die anschwellende Masse. Nur wenige gingen durch die Parkwege der Stadt zu. Alle standen still, wie wenn sie fühlten: gleiches Leiden müsse auch gleiches Handeln zuwege bringen.
Männer stapften immer noch im breiten Zuge die Stufen hinunter. Der Wind pfiff ihnen eisig entgegen. Sie rafften ihre alten Röcke fest zusammen, schlugen die Kragen hoch und zogen ihre Köpfe tiefer zwischen die Schultern. Der Aufmarsch der stummen Menge wollte gar kein Ende nehmen. Immer dichter schob sie sich zusammen, wie wenn der einzelne in ihr Halt fände.
Da — plötzlich schnellte ein Kopf hoch, zwei Arme breiteten sich aus. „Auf, Kameraden, zum Reichstag!" donnerte es über die geduckten Köpfe, und schon war der Rufer wieder untergetaucht. Ein Beifallssturm platzte aus der Menge und verschmolz sich in den Marschgesang der Marseillaise. Pfeifentrillern erfüllte die Luft. Helme blitzten an allen Ecken auf. Säbel und Gummiknüppel sausten auf die Menge nieder, die wie Laubblätter im Wirbelwind durcheinander stob. Verkleidete Polizisten griffen unter ihre Lodenjoppen und schlugen auf ihre Umgebung ein. Die Geängstigten stürzten in dichten Scharen in die Parkwege; aber auch von da kamen Fliehende, von prügelnden Polizisten verfolgt. Die so Zusammengetriebenen sprangen über Eisengeländer und verfingen sich in Schutzdrähten. Einer stürzte über den andern. Scharen stürmten wieder die Steintreppe hinauf und drängten sich in den Saal. Aber auch da schlugen hünenhafte Gestalten auf sie ein. So musste auch Albert mit hinunter in das Kampfgewühl.
Die Bestürzung des ersten Augenblicks war gewichen und Mutige setzten sich zur Wehr. Albert war im Begriff, den ringenden Brüdern beizuspringen, aber schon zwang ihn ein wuchtiger Schlag in die Knie. Er wand sich aus dem Gewühl und lief die Straße entlang. Über die ganze Straßenbreite gezogene Schutzmannsketten kamen ihm entgegen, die gezückten Säbel unheilverkündend nach vorn gerichtet. Berittene Wachtmänner sprengten mit ihren wiehernden Gäulen in Menschenhaufen hinein. Scharenweise rannten die Gehetzten in Vorgärten und Häuser und suchten Schutz in Läden und Hausfluren. In bloßen Köpfen, aus Wunden blutend, schlichen andere an Häusern entlang.
Aus einem Parkwege traten vier Arbeiter, langsam der Stadt zu schreitend. Zwei Schutzmänner stürmten ihnen entgegen. „Ein Schwerkranker!" riefen die Männer, ihren ohnmächtigen Kameraden in der Mitte tragend.
„Auseinander!" kommandierten die Polizisten und stießen die Männer vor die Brust.    Albert sprang hinzu
und erfasste den herabhängenden Arm des Verletzten. „Lassen Sie den Kerl los, wir werden ihm schon Beine machen!" schrie ein Schutzmann und gegen Alberts Genick sauste ein Stoß, der ihn aufs Pflaster streckte.
Kurz aufgerafft, schlug Albert blitzartig den Schutzmann ins Gesicht, bis dieser taumelnd aufschrie.
Von Hufschlägen verfolgt, jagte Albert zur Stadt hinunter, den Hausschlüssel mit der Rechten fest umklammert. Schon sprengte der Berittene dicht am Bürgersteig. Wütend riss er das Pferd auf die glatten Steinfließen, dessen warmer Atem Albert ins Genick fauchte. Feuersprühendes Klirren und ein stöhnender Fluch gaben ihm Hoffnung auf Rettung. Sein Verfolger wälzte sich neben dem aufspringenden Pferde im Schnee.
Aber schon drohte neue Gefahr. Schutzleute, die Schuppenketten unterm Kinn, die Säbel stich- und schlagbereit in der Hand, versperrten die Straße, damit nicht neue Massen aus der Stadt hinaus zum Kampfplatz zogen. Einer verließ seinen Posten und kam, seinen Säbel kühn schwingend, auf Albert zugestürmt. Durch einen Seitensprung in einen offenen Torweg entging Albert dem gutgezielten Hieb. Er rannte in den Hof, sprang über Wagendeichseln und Heubündel und wand sich zwischen Pferden, erschrockenen Kutschern und Wagenwäschern hinduroh. Und ehe die Leute den Ruf des schwerfälligen Polizisten recht begriffen, war Albert ihren Blicken entschwunden.
So jagte er über drei, vier Höfe.
„Nanu, man nicht so eilig." Ein paar Arme fingen ihn förmlich auf, als Albert sich unvermutet auf offener Straße befand. Er sah sich Waldmann gegenüber, der ihn um die nächste Ecke und in eine Kneipe zog, nachdem er aus ein paar Worten, Alberts Gefahr erkannte.
Im Hinterzimmer ließen sie sich nieder „Du bist arbeitslos?" fragte Waldmann teilnehmend. „Junge, das passt sich ja großartig! Soeben traf ich den Schinder-Schulze, der hat seinen Polierer rausgeworfen, weil er jede Woche drei Tage blau machte.' Da gehst du sofort hin. Das ist was für dich. Dort wird zwar tüchtig nach Feierabend geschuftet, aber der Verdienst ist gut."
Albert wusste gar nicht, wie er das dem Kollegen danken sollte.  Er bestellte noch zwei Bier, nachdem er sein Frühstücksbrot verzehrt hatte, doch Waldmann wehrte ab: es sei keine Zeit zu verlieren, solle Albert die Arbeitsstelle nicht entgehn. Albert bezahlte die Zeche. Und machte sich auf den Weg zu Meister Schulze.
Wunderbar, das Leben hängt doch von Zufälligkeiten ab, dachte Albert auf dem Heimwege. Nun war er der Arbeit rein in die Arme gelaufen, durch die drohende Gefahr. Das stimmte ihn froh. Seine gute Laune unterdrückte die Bedenken, die in ihm aufsteigen wollten. — Was sollte den Waldmann wohl weiter bewogen haben zu dem Freundesdienst: Und den Gruß, den er ihm an Agnes aufgab, war doch auch nur Höflichkeit.

 

Die Nachtarbeit.

Kleinlieschen nusselte verdrossen in den Bettkissen und rieb sich ihr Stubsnäschen. Dann hielt es ein Weilchen an und lauschte nach Mutters Bett hin. Aber alles blieb still. Ungeduldig warf es sich von einer Seite zur andern und schrie mit kurzen Unterbrechungen laut auf. Endlich tastete Mutter Agnes nach der Wagenkante und begann langsam zu wippen. Das gab Veränderung, und das taktmäßige Knarren des Wagens war unterhaltend. Doch bald Verschwand die Hand wieder unterm warmen Deckbett. Das empörte Kleinlieschen sehr und es kreischte nun unbändig in die Finsternis hinein. Mutter Agnes erhob sich und tastete schlaftrunken hinüber zur Küche.
Bald kehrte sie mit der warmen Milchflasche zurück, das beruhigte den kleinen Schreihals.
Agnes kroch ins Bett zurück und horchte auf das behagliche Schmatzen ihres Lieblings. Sie musste sehr fest geschlafen haben: nichts wusste sie von der Heimkehr ihres Mannes. Sie streckte ihren Arm nach ihm hin. Was? Sie fühlte bis an die Wand hinüber — alles leer — kalt. Unruhe durchfuhr sie. Fünf Schläge kamen vom nahen Kirchturm. — Freitag wars gestern, besann sie sich. Ja, da wards in letzter Zeit immer spät — aber die ganze Nacht! Nein, es ist ja ganz unmöglich! — Mann, wo bleibst du? Wo schläfst du? Früh und spät nur arbeiten, immer arbeiten — ist das wohl möglich? Müde und matt kam er zwar heim, verschlief die wenigen Stunden. — Gewiss, Geld brachte er in einer Woche mehr ins Haus, als sonst in zweien. — Jedoch, war das ein Leben?
Den Kopf voll solch nagender Gedanken vergrub sie ihr heißes Gesicht in die kühlenden Kissen. Bald fuhr sie auf und hielt bei sich selber Einkehr. Da ward ihr ganz unheimlich. Ihm machte sie Vorwürfe, aber verdiente sie nicht seine Verachtung? Fühlte sie doch des Waldmanns Nähe immer wieder in langen, einsamen Nächten. Alles Beteuern und Beschwören ihrer ungeteilten Liebe zu Albert erschien ihr als Heuchelei.
Kurz entschlossen verließ sie das Bett und kleidete sich an. Auf dem Blumenbrett am Küchenfenster herauf war der Schnee hoch angeweht. Bei solch einem Unwetter blieb Albert gewiss in der Werkstatt, dachte sie nüchtern, wobei sie den tanzenden Wasserkügelchen auf dem heißen Kochherd zusah.

*

„Es wird immer toller, nun schuftet man schon die ganze Nacht durch", sagte Albert, als er mit seinem Kollegen nur noch allein war.  „Was soll bloß meine Frau denken?"
„Mein Jotte nee, hab dir doch man nich wegen die Weiber", beschwichtigte ihn der Alte, „die woll'n weiter nischt als Goldfüchse sehn am Sonnabend, denn is allens jut. Un wat soll det ganze Jequaßle: Wenn wa ebend nich von Freitag früh bis Sonnabend mittag in Zuch bleiben, denn kann der Meester nich liefern, un denn jibts ebend keen Jeld nich. Un wir Polierer sind ebend immer die letzten bei der Arbeet."
Mit leisem Gruß kamen nun auch die andern Gesellen von ihrer kurzen Nachtruhe zurück. Langgezogen gähnte es aus der Kamintür, und eine kleine bucklige Gestalt stolperte über die Schwelle, sich die Spähne aus den Haaren streichend. „Los, los, Kreuzspinne!" Ein vierschrötiger Bursche, der sich verdrossen die Mütze zurechtschob, stieß ihn vorwärts. Der Kleine ergriff eine Leiste. „Auf, faule Bagage!' rief er und stocherte zwischen Ofen und Wand, bis auch von da noch zwei Halbschlafende hervorgegrunzt kamen.
Und wie wenn sich ein altes, wackliges Mühlwerk in Bewegung setzt, so begann das Gequietsche der Schraubzwingen, das Kreischen der Sägen, das Pfeifen der Hobel und das Kratzen der Ziehklingen, vermischt mit dem Klopfen der Hämmer und Schlägel.
Endlich lagen die fertigen Möbel auf dem Wagen und Meister Schulze fuhr sie mit seinem Hund zum Händler.
Die Zeiger der alten Werkstattuhr rückten auf Sieben vor. Die Gesellen saßen gelangweilt auf den Hobelbänken. Alle blickten erwartungsvoll zur Tür, als der Altgeselle eintrat. „Kinner, der Olle telefonierte ebend an: wir sollen derweilen in Seelöwen gehn und uff seine Rechnung trinken. In zwee Stunden kommt er mits Jeld."
„Nu, det könn wir ja mach'n. Denn man los", sagten die Gesellen.
„Wir mach'n en Skat, wat?" — „Wir spielen zwei, vier, sechs, Weigert, machste mit?" So teilten sie sich auf dem Hinwege schon in Gruppen.
„Den lasst man", sagte Alberts Kollege, „der jammerte ja so schon die ganze Nacht wegen seine Olle."
„Wer hat gejammert?" erwiderte Albert. erregt. ,;Du tust ja, als ob die Zustände hier ganz ideal wären. Ich bin eben solche verrückte Wirtschaft nicht gewöhnt!"
„Möchst gern wat Bessres sind, wat? — Wirst schonst noch kleene wärn, Jungeken!" erwiderte der Alte. „Un wat de immer sagst von wegen deinem Fachvarein: bloß zehn Stunden arbeeten un denn recht vielle Jeld, na, det is ja det Varückste, wat et übahaupt jibt. Da müssten ja unse Meester überkandidelt sind. Nee, ville arbeet'n, un denn ville vadienen! so is et richtig, mein Lieber."

*

Agnes putzte und scheuerte den Abend schnell herbei. Jeden Augenblick konnte Albert eintreten. Ein Weilchen noch mochte er bleiben: nicht gerade beim Plätten der Wäsche sollte er sie stören. — Wie wird er sich freuen, wenn er alles so blitzblank findet. Sah er doch die ganze Woche weiter nichts als die schmutzige, rauchige Werkstatt. Hier und da fand sie immer noch etwas zu ordnen. Nichts soll zum Sonntag früh bleiben. Sobald sie gemeinsam gegessen haben, werden sie gehen und das Notwendigste einkaufen. — Und morgen früh schlafen bis in den Tag hinein.
Aus den so beglückenden Gedanken fuhr Agnes auf und sah nach der Uhr — halb sieben schon? — Sie horchte hinaus zur Treppe.  Nein, das war nicht sein Tritt. —
Die Kartoffeln waren gar, und das Fleisch braungebraten. Sie wartete. Trübe Schwere befiel sie. Müde hob sie Kleinlieschen aus dem Wagen. „Pa, Pap, Pappa", übte die Kleine.
„Ja, wo bleibt heut dein Pappa — der will vom Kindchen gar nichts mehr wissen. So vertrieben sich beide ein Weilchen die Zeit.
Bald schlief Kleinlieschen ein. Nun ward Agnes unheimlich in der stillen Küche. Das Feuer im Kochherd war erloschen, das Essen erstarrte; nur das Tropfen der undichten Wasserleitung unterbrach die Stille. Die Uhr zeigte auf acht. — Mein Gott, was ist geschehen? — Stieß ihm etwas zu bei dem furchtbaren Schneesturm in der Nacht? — so dachte sie, und immer peinlicher quälten sie die Gedanken, und immer gewisser erschien ihr das vermutete Unglück.
Hastig schritt sie durch den quiekenden Schnee. Sie fühlte nicht, wie ihr die Kälte ins naßgeweinte Gesicht schnitt. Es war ein Weg ins Ungewisse. Ein jeder Schatten der vor ihr auftauchte, erweckte Hoffnungen in ihr. Endlich stand sie auf dem engen Hofe und sah hinauf zu den schwarzen Fabrikfenstern. Kutscher, die noch umherhantierten, gaben ihr Bescheid, in welcher Wirtschaft Meister Schulzens Gesellen verkehrten. Schon vor zwei Stunden seien die Gesellen an seiner Tür vorübergegangen, antwortet ihr der Wirt spitz, und wahrscheinlich säßen sie im Seelöwen, denn bei ihm sei es Sonnabends den Herren nicht fein genug.
Der Seelöwe — ein Tanzlokal niedrigster Sorte — lag unweit am Schifffahrtskanal. In der Haustür stand ein junges Pärchen. Der Bursche nötigte Agnes keck zum Eintreten, als sie sich unsicher summend umschaute. Auf dem in Halbdunkel gehüllten Flur tummelte sich allerhand Jungvolk. „Nur einmal blüht — im Jahr der Mai — nur einmal im
Leben die Lie—be---" klang es langgedehnt zu der
abgedroschenen Walzermusik, die mit einem Gemisch von Rauch und Schweiß aus der Tür des Tanzsaales herausströmte.
Agnes blickte in den heißen Saal, wo alles jauchzte und sang und wildjagend wie im Nebel durcheinanderwirbelte. Zwei Soldaten, die zwischen sich ein Mädchen führten, kamen im Tanzschritt zur Tür herausgesungen, und ehe Agnes "ausweichen konnte, war sie von den Dreien eingeschlossen, die sie zur Schenke hinein drängten. Sie schlug heftig nach der Hand, die sie von hinten berührte und wollte sich die Aufdringlichkeit verbitten. Sie erschrak, als sie ihren Mann erkannte.
Albert lachte und zog sie aus dem Kreise ihrer Begleiter. „Du kommst sofort nach Hause!" fuhr sie ihn erregt an.
Keinen Augenblick wolle sie hier verweilen; nur fort, fort! Das war hier kein Ort für einen Mann, der Frau und Kind hat! Schon in der Luft lag das Betäubende; alle möglichen Gerüche wogten durcheinander. Ein verlockendes, glückzerstörendes Gift schien hier alles in Bann zu halten. Agnes fühlte: Hier herrschte der Tod des häuslichen Friedens.
„Kommst du jetzt?" rief sie mit noch mehr Nachdruck, „sonst geh ich allein!"
„Nein, ich komme nicht!" trotzte auch er nun, ließ sich beleidigt auf seinen Stuhl fallen und griff wieder nach den Spielkarten.
Eine junge Frau zog Agnes teilnehmend an sich, sprach beruhigend auf sie ein und drückte sie auf einen Stuhl neben sich. Die Männer tranken ihr freundlich zu, sie lächelte gezwungen. Die Frauen lobten die Gemütlichkeit eines solchen Bierabends und nötigten sie zum Zugreifen, als der Kellner ein Tablett mit gefüllten Likörgläsern herumreichte. Agnes griff zögernd zu. Indes jagten ihr quälende Gedanken durch den Kopf: Was war’s, das ihren Mann hier fesselte? Ging ihm das Trinken und Kartenspielen über seine Familie oder war es am Ende etwas Schlimmeres? Sie blickte sich um in dem langen Raume. In den Nischen, die sich an den Seiten hinzogen, saßen Weiber und Männer, die zärtlich miteinander taten und tranken und rauchten. Überall herrschte ein trautes Bekanntsein; alles redete sich mit Du an. Bald saßen junge Mädchen auf dem Schoß ältlicher Männer, die schon ihre Väter sein konnten, bald hingen sie am Halse kaum der Schule entwachsener Burschen. Die meisten Mädchen wären hübsch zu nennen gewesen, wenn nicht ihr ungeniertes Betragen alle Zartheiten erstickt hätte. Mit ihren Blicken und mit dem in lüsterner Bereitschaft gehaltenen Munde zogen sie die Männer förmlich an sich. Ihre seltsamen Haartrachten und vor allem die dünnen, durchsichtigen Kleider, die oben zu kurz und unten so eng waren, dass die Schenkel sichtlich hervortraten, steigerten ihre Anziehungskraft. Dazu ließ die aus dem Saal hereinströmende Musik alles im seligen Taumel schweben und schwanken.
Ein Trompetensignal schmetterte plötzlich durch die dicke Luft und schreckte Agnes aus ihren Betrachtungen auf.
Die Frauenzimmer sprangen wie elektrisiert von ihren Plätzen und zogen die Männer mit sich fort. Immer mehr buntgekleidete Mädchen kamen hüpfend aus dem Saal und forderten die Männer zum Tanz auf. Auch die Spieler hatten ihre Karten zusammengeworfen und waren den Lockungen gefolgt.
Das alles geschah so blitzschnell, dass Agnes Albert aus dem Gewühl gar nicht wieder herausfand. Sie sah nur, wie sich alles, in der Walzermusik schwebend, zum Saal hin bewegte. Nur einzelne total Betrunkene saßen in den Ecken der Nischen und schliefen oder lallten vor sich hin.
Ein erstickendes Gefühl stieg Agnes aus der Brust herauf, vor ihr begann sich alles zu drehen und durcheinander zuwälzen. Sie erhob sich, aber die Schwere in ihren Gliedern ließ sie wieder auf den Stuhl zurücktaumeln. Sie griff nach dem halbvollen Schnapsglase, das vor ihr stand und trank es aus. Nach einer Weile schritt sie hastig den anderen nach.
Im dichtgefüllten Saal, der einige Stufen tiefer lag, schwirrte alles umeinander.
Bunte Papiergewinde, die von der Mitte der Saaldecke strahlenförmig den großen Raum überspannten, zitterten über dem wellenartigen Gewoge. Die Musik ward stellenweise vom Mitsingen der Tanzenden übertönt. Suchend beobachtete Agnes die einzelnen Paare, die sich wie verworrene Knäuel umeinander schoben. Männer tanzten in Arbeitskleidung, als einzige Zier ein schmales buntseidenes Tuch um den Hals; Zimmerleute in weiten Manchesterhosen, manche sogar mit dem breiten Kalabreser auf dem Kopfe. Kohlenarbeitern zog der Schweiß helle Rinnen in ihre staubbedeckten Gesichter. Und wie alles tanzte! Manche Paare drehten sich fest aneinandergesogen, wild schwingend auf einer Stelle. Andere standen fast still und wiegten sich nur in den Hüften. Wieder andere schossen pfeilschnell an einer freien Stelle, wie Sternschnuppen durch das Gewimmel, bis sie in einer Ecke zwischen Tischen und Stühlen wippend verharrten.
Erst als die Musik verstummte und die Paare sich an den Tischen niederließen, sah Agnes, wie auch Albert von seiner Tänzerin auf ihren Platz geführt wurde. Sie zitterte. Sollte sie gleich hinstürzen, dem Frauenzimmer ins Gesicht schlagen oder hinauslaufen und es in alle Welt schreien, was hier vorging? Ein Betrunkener stieß sie taumelnd nach vorn. Da sie nun einmal in Bewegung war, schritt sie fest auf ihren Mann zu. Als sie vor dem Paare stand, brachte sie kein Wort über die Lippen. Albert lächelte und erhob sich.
„Wohin, mein Schatz?" fragte das Mädchen und drückte ihn auf den Stuhl zurück, ohne Agnes zu beachten.
„Was fällt Ihnen ein! Das ist mein Mann!" schrie Agnes förmlich, durch Alberts Verhalten ermutigt.
„Wat, Ihr Mann?" Das Mädchen sah Agnes groß an. „Na, Jott, nee!" Sie ließ Albert an sich vorbei. „Wem det so is, denn nehm' Se 'n sich man schon mit. Aber det sag ick Ihn'n: sehre stolz brauch'n Se uff den ooch nich sin!"
Fest am Ärmel gepackt, so zog Agnes Albert, unter Zurufen und Gelächter, eilig durch den Saal und hinaus ins Freie.
Im Schatten der alten Kirchhofsmauer stiegen sie die steile Straße hinan. Der Mond schien durch die frostig starren Baumkronen, die über das alte, verfallene Mauerwerk hinwegragten. Oben auf der kahlen Höhe, wo die alte Windmühle mit ihren schwarzen Riesenarmen die gefrorene Luft knarrend durchschnitt, zog Agnes den Wollschal fester um Kopf und Hals. Sie schauderte frostig zusammen; ihr war, wie wenn die Kälte auch aus ihrem Innern käme und in ihr etwas mit dem Sterben ringe.
Als Agnes den Torweg vorsichtig geschlossen hatte, umarmte Albert sie wortlos. Sie ließ ihn gewähren, ohne mit Wärme zu erwidern. Leises Gewimmer kam durch die Finsternis die Treppe herab. Albert stieß mit seinen müden Füßen an die Stufen, wonach das Weinen verstummte. Durch den schwachen Lichtschein am Flurfenster huschte ein Schatten.
„Frau Weigert", kam es flehend aus dem Dunkel. Agnes erkannte die Stimme. „Kommen Sie, Frau Manske", sagte sie mitleidig, ich kann es mir schon denken." Sie nahm das sechsjährige Mädchen, das der Mutter frierend am Schoß hing, an die Hand, während das Dreijährige
schlafend auf Frau Manskes Arm hockte. Das Schicksal der armen Frau und ihrer Kinder ging ihr gerade jetzt besonders nahe, da sie mit ihren Gedanken noch in dem Sumpf weilte, aus dem das Unglück so vieler Familien hervorschoss.
Stoßweise Fluchen und polterndes Lärmen drang aus Manskes Wohnung.
„Sie wissen es, Frau Weigert, was wir in letzter Zeit ausgestanden haben", schluchzte die Frau und ließ sich auf einen Stuhl in Weigerts Küche nieder. Nun aber sei es ganz aus. „Schlecht — schlecht bin ich — ach, so schlecht!" schrie sie weinend, so dass Agnes beruhigend auf sie einreden musste. „Aber ich tat es ja nicht für mich — der liebe Gott weiß es — nur für die — für die Kinder warf ich mich weg", schluchzte sie von neuem in die Schürze.
„Beruhigen Sie sich, liebe Frau, wenn es weiter nichts ist", Agnes stellte sich gleichgültig, „das ist hier in der Großstadt keine Schande mehr."
„Ich tat es ja doch für Geld!" stöhnte die Frau.
„Was hilfts? Um so gescheiter", sagte Agnes, hinter leichtfertigen Trotz ihr Innerstes verbergend.
Frau Manske wunderte sich, aber die Worte gaben ihr einen Halt, und sie begann zu erzählen, wie alles gekommen war.
Agnes stand am Kochherd und wärmte das erkaltete Essen. Albert mühte sich beim Stiefelausziehen ab und saß dann still, die Arme auf die Knie gestützt und lauschte müde den Worten der Frau Manske:
„Nach Weihnachten war es mit dem Schürzennähen wie abgeschnitten, nur hin und wieder gab es ein halbes Dutzend. Ihr Mann hatte Arbeit. Nachgelaufen war sie ihm die Sonnabende in die Kneipen, um ihm einige Mark abzujagen. Ah den letzten Zahltagen war es ihr nicht mehr gelungen, ihn aufzufinden. Kein Bäcker, kein Krämer borgte noch etwas, alle drohten mit Verklagen, wenn sie nicht sofort die alte Schuld tilge. Ihre letzte Hoffnung ruhte auf ihrem Schwager, dessen Frau jedoch nichts davon wissen durfte, weil da noch eine kleine ältere Verpflichtung zu begleichen war. Die Wohnung kalt, kein Krümchen Brot, die hungrigen Kinder um sich, den langen kalten Sonntag vor sich. All dieses Schreckliche hatte sie hinausgetrieben, ihren Schwager auf dem Heimwege von der Arbeit zu erwarten.
Vor der Brauerei war sie gestanden, eine viertel, eine halbe, eine ganze Stunde, ihr Schwager kam nicht. Im Lichte der Gaslaternen zogen die von der Arbeit kommenden Männer an ihr vorbei. Viele gingen hinein in die hellen, warmen Räume des großen Ausschankes. Manche winkten und versuchten sie hineinzulocken, Bier und Bockwurst wollten sie ausgeben. Die herauskamen, strichen dicht an ihr vorüber, sprachen sie an, so dass ihr warmer Atem sie berührte. Zwei Männer, einen Gassenhauer singend, kamen dreist auf sie zu und schlossen sie ungestüm in ihre Mitte. Sie sträubte sich. Die Männer schleppten sie mehr als sie ging; sie schmeichelten ihrer Schönheit und versprachen gute Bezahlung. Ihr gemeinsames Zimmer lag in einem finsteren Hofe...
— Zwei harte Geldstücke brannten in ihrer Hand. Sie ging zum Krämer und Bäcker und legte sie zitternd auf den Ladentisch.
Die beiden Mädchen waren unterdessen eingeschlafen in der kalten Küche, auf dem Kohlenkasten kauerte das eine, auf dem Fußboden lag das andere. Tränen stürzten ihr aus den Augen und fielen auf das Brot, das sie den Kindern zurechtschnitt. Gierig kauten die kleinen Mäuler, während sie Feuer in den kalten Kochherd machte. Da schlug es plötzlich polternd an die Tür. Ihr Mann stolperte über die Schwelle, starrte auf den Topf mit Milch, auf das Brot und auf die essenden Kinder. Das übrige Geld lag daneben. Er betrachtete alles und forschte nach dessen Herkunft.
„Iß, wenn du Hunger hast, aber frage nicht nach woher!" sagte sie.
Er fing an, sie zu verdächtigen, erst unsicher, dann immer bestimmter. Sie stritt nicht, gab schweigend zu; sprach ihm aber das Recht ab, sich zu entrüsten. — Er forschte weiter. Mit wem trieb sie es? Wer gab ihr das Geld? — Also, der war’s — da lag der Schürzenstoff, sie war heute wieder bei ihm. Schon lange hatte er den Judenlümmel im Verdacht. Seinen Namen wollte er von ihr hören, gestehn sollte sie, jedoch kein Wort kam aus ihr. Das bekräftigte seine Vermutung. Er tobte und fluchte, warf Brot und Milch nach ihr, riss den Kindern die Reste vom Munde und warf sie brüllend auf den Fußboden, schlug blindlings auf sie ein und stieß sie mit den Kindern zur Tür hinaus auf die finstere Treppe. — So also war es gekommen.
Nun wollte sie nie wieder zu ihrem Manne zurück; widerstandslos wäre sie dem Unhold ausgeliefert. Zwingen würde er sie, ein Gewerbe daraus zu machen; denn Geld mochte sie damit verdienen, das war ihm schon recht. Oft genug hatte er sie feig und dumm gescholten: zu was habe sie die schöne Fratze. Jedoch an einen einzelnen sollte sie sich nicht verlieren, sein sollte sie bleiben. Sie hätte ihm ja sagen können, wie es kam, aber der Trotz hinderte sie.
Die Kinder lagen mit ihren blonden Köpfchen auf ihrem Schoß und sahen mit großen übermüdeten Augen zu ihr auf. Sie strich ihnen sanft das verworrene Haar. „Ja, ja, ich bin deshalb noch eure Mutter, habe ja immer für euch sorgen müssen und werde es auch weiterhin tun. Heute schlaft ihr bei Tante Weigert, Mutter muss fort."
„Wohin musst du, Mutter?" fragte das älteste Mädchen.
„Vielleicht nimmt mich Tante Hedwig auf," sagte Frau Manske und Tränen benetzten die Kinder.
Agnes suchte alte Kleidungsstücke zusammen und richtete ein Lager auf dem Fußboden her. Die Mutter kniete nieder, deckte die Kinder sorgfältig zu und küsste sie. Noch ein Weilchen stand sie und lauschte den Atemzügen. Dann zog sie das graue Tuch fest um ihre Schultern und fuhr sich mit dem Zipfel über die nassen Augen; mit kurzem Gruß lief sie hinaus in die kalte Nacht. —
Albert und Agnes blickten ihr stumm nach, sahen sich schweigend an und suchten still ihr Lager auf.
Wochen gingen ins Land, ehe Frau Manske ein Zeichen von sich gab. Dann wünschte sie postlagernd Nachricht. Das gab Grund zu mancherlei Gedanken. Ihre Kinder wurden in Gemeindepflege untergebracht.

*

Die Nachtarbeit in Alberts Werkstatt nahm immer mehr überhand. Agnes trug ihm das Essen hin, und am Lohntage holte sie ihn von der Arbeitsstelle ab. Die Versöhnung war schneller und gründlicher vor sich gegangen, als es Agnes gedacht hatte.  Dennoch glaubte sie, den süßlichen
Duft der Frauenzimmer an ihm wahrzunehmen, wenn er spät in der Nacht heimkehrte.
Heut war wieder einmal Freitag Abend. Die Aprilluft wehte schon recht feuchtwarm durch die gelbgrünen Blätter der Lindenbäume, deren Zweige immer dichter an Weigerts Fenster heranwuchsen. Agnes schwenkte Kleinlieschen hinaus über die Brüstung in das Grüne hinein, tanzte mit ihr die Stube entlang, warf sie übermütig hoch, senkte sie zur Erde, wie ein Kraftmensch, der seine Muskeln stählt. Dann drückte sie ihren Liebling inbrünstig an sich, küsste ihn, bis er aufschrie und schwang ihn wieder lustig herum, wonach er mit tränenden Augen in ihr helles Lachen einstimmte. Mit dem Frühling brach sich in Agnes die alte Lebensfreudigkeit wieder Bahn. Es war, als ob ihr die Sonne neue Lebenssäfte in den Körper strahle, solch ein Gefühl von frisch brodelnder Kraft durchjagte ihre Adern. Ringen, tanzen mit so einem ganz Flotten — wie damals, — o, das täte ihr wohl!
Ein starkes Sehnen zog sie heut hinaus; stundenweit hätte sie ihrem Mann entgegeneilen mögen. Es begann schon zu dunkeln, als sie hinabstieg auf die Straße. Von der Arbeit heimkehrende Männer begegneten ihr; sie führten ihre Kinder an den Händen und trugen die Kleinen auf dem Rücken, ihre Frauen schritten, glücklich dreinschauend, nebenher und plauderten und lachten in den Abend hinein. Aus dem Ganzen sprach eine Vertrautheit, die ihre Sehnsucht noch steigerte.
Sie bog in eine Nebenstraße ein, deren noch unbebaute Grundstücke mit Bretterzäunen umgeben waren. Weiter hinten führte ein Fußweg schräg über das freie Feld zur Stadt. Nur ganz selten kam jemand herüber, die Menschen gingen alle den lichten Geschäftsstraßen nach, nur am Morgen kürzten die Langschläfer hier ihren Weg ab. Kleinlieschen wand und wälzte sich ungeduldig von der Mutter Arm; es kannte die Stelle, wo Agnes schon oft das Laufen mit ihm übte. Immer einige Schritte voraus, und die Kleine trippelte, wie ein junges Vögelchen, mit den Ärmchen lebhaft schlagend. Patschend fiel sie bald hinten-, bald vorn­über. Dann bog sie an der Mutter vorbei und steuerte auf ein anderes Ziel los. Agnes wendete sich um. Da hockte seitwärts hinter ihr ein Mann, der, eine Taschenuhr vor sich hinhaltend, die Kleine an sich lockte. Sie erschrak, als dieser das Kind jauchzend hochhob und es ihr in den Arm legte.
„Herr Waldmann?" fragte sie überrascht; sie erkannte ihn im Dämmerlicht nicht gleich deutlich.
„Ja gewiss, Waldmann," lachte er und strich ihr, wie zum Gruß mit der rechten Hand über die glühende Wange. „So allein?"
„Ja — mein Mann muss ja immer arbeiten." sagte sie, in die Weite sehend und die Zärtlichkeit ruhig hinnehmend.
„Na ja, heut ist es Freitag, da geht's beim Schinderschulze gleich die ganze Nacht durch; sonst gibt es morgen kein Geld — ich kenne die Bude."
Sie wandte sich zum Gehen. Er lenkte sie in den Schatten des hohen Bretterzaunes. Sie blickte zu ihm auf, indem ihr Mund abwehrend flüsterte. Er neigte sich und verschloss ihr die heißen Lippen. Sie ließ es geschehen, vergaß ihr Kind — bis dieses seinen Unwillen kundgab.
„O Gott!" — sie blickte furchtsam nach allen Seiten — niemand hatte es gesehen. Das Kind beruhigend an sich pressend, lief sie eilig davon, ihrer Wohnung zu. Und sah sich nicht um.
Sie schlüpfte zur Tür hinein, legte das müde Kind zu Bett und überließ sich ihren erregten Gedanken, Selbstvorwürfen und sehnsüchtigen Empfindungen.
Ein Gefühl von Furcht und Erwartung durchlief sie, als die Tür wie von allein sich öffnete und zurück ins Schloss fiel. Milde Vorwürfe in die Finsternis hineinflüsternd, fühlte sie sich ihm klopfenden Herzens entgegen.

 

Neuer Geist.

Wie aus dem Nichts brachten Ingenieure und Techniker eine neue Kraft zur Geltung. Welt- und Gewerbeausstellungen zeigten der Menschheit ungeanhntes Neues, Bahnen und Fahrzeuge liefen durch die Welt, wie wenn sie selber lebten. In den großen hellen Arbeitssälen gab es bald keine Treibriemen mehr; ein Druck auf einen Hebel oder Knopf brachte ein Riesenwerk in Bewegung. Die schwarzen Fenster der alten verlassenen Werkstellen gähnten wie zahnlose Mäuler leer in die dunklen Höfe. Neue Fabriken, deren Fronten einem großen Fenster glichen, wuchsen an den Außenseiten der Stadt aus der Erde. Kapitalisten borgten ihr Geld denen, die Verstand genug besaßen, es schnell zu vermehren.
Die Kleinmeister verfluchten die verrückte Welt. Die Gesellen ließen sie im Stich und liefen in hellen Scharen in die modernen Fabriken. Ein Gefühl der Stärke erwachte in ihnen, wenn sie so zu Hunderten in die weiten Tore hineinströmten. Doch die Bemessung der Löhne lag immer noch im Belieben der Meister. Da muss Ordnung und Regel hineingebracht werden, dachten die Gesellen....
Von einem Krauter, der schon selbst den Gesellen nachläuft, ist wohl nicht viel zu erwarten, dachten die Walzbrüder, als Meister Schulze auf der Herberge einen Drechslergesellen verlangte. Erst als er hervorhob: bei ihm herrsche noch kein Zwang, wie in den großen Fabriken, ein jeder könne arbeiten, solange er Lust habe und seinen Verdienst nach Belieben steigern, erst danach erhob sich ein in der Mitte der Zwanziger stehender Bursche und ging mit ihm.
Schlag sieben Uhr fegte Emil Maiwald seinen Arbeitsplatz sauber, strich sich durch sein dichtes Haar, richtete sein dunkelblondes Schnurrbärtchen zurecht und ging mit lautem Gruß aus der Werkstatt.
Albert und die anderen sahen beschämt hinter ihm her; alle waren ganz erstaunt über den Mut des Neuen.
„Der macht woll janz und jar, wat er will," sagte der Altgeselle, nahm seine Lampe vom Ständer und ging an Emils Drehbank. „Ach du mein Jott nee!" rief er und leuchtete an Emils Arbeit herum. „Nu seht doch, Kinner, nich een Dutzend Beene hat det Kind jeschafft; beim zwölften is 'm die Puste ausjejang'n, det steckt noch in de Entwicklung! Ach, un det Fason," suchte der Altgeselle die Arbeit herabzusetzen. „Wie schwangere Frauen seh'n die Dinger aus." Dann trottete er kopfschüttelnd an seinen Platz: „Nee, Meester Schulze, da biste wieder ma scheene rinjefall'n."
Der Lehrling setzte eben den mit Bier- und Schnapsflaschen gefüllten Korb ab.
Frische Wurst beim Budiker!" rief er die Werkstatt entlang.
„Mir für fünfzehn!"
„Mir für zehn!"
„Mir für zwanzig!" riefen die Gesellen durcheinander. Dann nahmen sie einen kräftigen Schluck aus der Flasche, und das Klopfen, Kreischen und Schaben ging in alter Weise weiter.
Meister Schulze trat ein. „Wo ist der hin?" fragte er Albert, auf die daneben stehende Drehbank weisend.
„Weg, hat Feierabend gemacht."
„Soo, schon Feierabend?" Der Meister besah die in einer Reihe aufgestellten Bettfüße, nahm einen und betrachtete ihn bei Licht. „Da liegt aber ein feiner Schwung drin," sagte er wohlgefällig. „Der Kerl scheint was loszuhaben." Dann besah er das Werkzeug. „Ja, tadellos! Der versteht seine Sache. Eine solche Fase brachte sein Vorgänger nicht an den Stahl. Na, wenn er man seine Arbeit rechtzeitig fertig schafft, dann ist es mir ja gleich, wann er Schluss macht."--
Wenn die Gesellen am Morgen müde und verdrossen zur Arbeit kamen, surrte schon Emils Drehbank, und die weißen Spähne pfiffen ihm lustig über die Schulter und kringelten in langen Bändern zur Erde.
Sich so gegen den Willen aller anderen durchsetzen, so unbeirrt seine Bahn gehen, Donnerwetter, das ist ein Charakter! dachte Albert.
„Wer ist von Euch im Verband?" fragte Emil eines Tages.
„Keiner," erwiderte Albert. „Auch du nicht?"
„Ich war eine Zeitlang im Fachverein." „Und hast das Weiterzahlen vergessen, wie gewöhnlich."
„Liest du denn keine Zeitung?" „Hin und wieder kauf ich mir den ,Vorwärts'." „Wem gabst du bei der letzten Wahl deine Stimme?" „Fritz Zubeil."
„Demnach wärest du Sozialdemokrat. Doch welchen Sinn hat das alles, wenn du hier die halben Nächte arbeitest, während Tausende Kollegen auf der Straße liegen?"
Albert wurde verlegen. Sich Vorwürfe gemacht und mit sich selber gerungen hatte er schon öfter. Schämen tat er sich, las er zuweilen im „Vorwärts", mit welchen Opfern die Genossen um mehr Lohn und ein wenig Freiheit rangen. Und abweisen würden sie ihn, wenn sie wüssten, wie er immerzu gegen ihre Ordnung verstieß. „Hast wohl recht," erwiderte er bedrückt, „aber mach ich es nicht, dann sitz ich draußen; und arbeitslos war ich schon ohnehin oft genug."
,Das glaub' ich gern. Hast Familie, musst für sie sorgen, doch wie sollen wir einmal zum Ziele kommen, wenn ein jeder nur auf sich bedacht ist.
Wisst Ihr denn schon, dass in den nächsten Tagen in ganz Berlin gestreikt werden soll?" fragte Emil die Werkstatt entlang. Alle horchten auf. „Na, dann lies mal;" er reichte Albert die „Holzarbeiterzeitung", „und gib sie weiter."
Der Altgeselle trat ans Fenster und buchstabierte halblaut den angezeichneten Aufruf. „Nee, nee, mein Lieber, sowat mach'n wir nich mit," sagte er aufblickend, „wat kümmert uns der Vaband; hier hab ick zu bestimm'!" und gab die Zeitung an Albert zurück.
Emil hielt seine Drehbank an. „Zum Teufel noch eins!" stieß er empört hervor, nahm das Blatt zur Hand und las den Aufruf laut vor. „Also am Sonntag früh kommt Ihr alle zur Versammlung!" schloss er mit Nachdruck.
„Auch nich eener jeht hin! Hier bestimm' ick, verstehste!" trat ihm der Altgeselle entgegen. „Überhaupt eener, der sich nich nach d' Ordnung in d' Werkstatt richten tut, will uns wat lehr'n!"
„Kollegen!" begann Emil, um sich zu verteidigen.
„Bist kein Kollege!" riefen alle. „Gib erst Einstand!"
„Gut, sollt Ihr haben, in der Versammlung."
„Nein, sofort!"
„Schön."
Und als sie alle rauchten und tranken, durfte Emil sprechen.
„Mensch, haste det noch nich intus, det unser Meester selber een Roter is?" rief der Altgeselle dazwischen. „Der weeß schon, wat er zu dune hat."
„Um so besser. Da liegt es doch nur an Euch, die Nachtarbeit zu unterlassen und die Anordnungen des Verbandes durchzuführen."
„I wat, Nachtarbeet. Wat heeßt det? Wenn der Verband die verbieten tut, denn wird er woll auch d' Meesters am Sonnabend det Kostgeld vorschießen müssen."
„Wir können doch nicht auch noch auf die Geldsorgen der Meister Rücksicht nehmen."
„Hört, hört, den Kickindiewelt.   Als ob uns det jarnischt anjinge."
„Kommst in die Versammlung," beruhigte Emil den Alten, „dann kannst du deinem Herzen Luft machen."
„Gewiss, mach ick. Denkst woll, der Verband kann schon janz und jar machen, wat er will?"
Emil wandte sich zufrieden lächelnd seiner Arbeit zu. In der Wirtschaft, in die Albert am Abend mit Emil eintrat, war reges Leben. Männer und Frauen umstanden den Kassentisch. Aus Holzrahmen von der Wand herab schauten zwei Männer. Einer Löwenmähne gleich trug der ältere sein Kopfhaar und den mächtigen Bart. Dabei sah er so gutmütig auf das Treiben nieder, wie wenn er sagen wollte: Macht nur so weiter, lieben Freunde, schichtet Stein auf Stein, bis euer Bau fertig ist. Aber weicht mir um Gottes willen nicht von der Zeichnung ab, die ich euch machte." Den jüngeren brannte Ungeduld in den Augen; er schien heruntersteigen zu wollen, um in das ganze mit einzugreifen.
Und so zog es auch Albert förmlich hin zur Mitarbeit am Aufbau der Zukunft. Wie wenn sein Name in der Weltgeschichte eingemeißelt stände, so betrachtete er sein Verbandsbuch. Ganz tief im Innern begann es zu tönen und zu jubeln, als sei etwas erlöst, zum Leben erwacht. Emporgehoben fühlte er sich in eine höhere Gemeinschaft. Und sich abwendend von all dem öden Kneipenlärm schritt er seinem Heim zu.
Wie verschüchtertes Hühnervolk bei nahendem Gewitter den schützenden Stall aufsucht, so krochen die Meister am folgenden Sonntag morgen in ihren Stammlokalen zusammen. Seit Menschengedenken hatten ihre Werkstätten am Sonntag früh nicht leergestanden. Einer klagte dem anderen sein Leid. Die großen, roten Versammlungsanzeigen an den Anschlagsäulen flößten ihnen Furcht und Schrecken ein.
Ganz verzweifelt rannte am Montag früh einer zum anderen, bald eine Treppe höher, bald eine tiefer. Aber wo sie auch anfragten, überall die gleichen Forderungen: Erhöhung des Lohnes und Verkürzung der Arbeitszeit, Abschaffung aller Überstunden und der Sonntagsarbeit.
Waren die Gesellen wirklich des Teufels? Wollten sie das Jahrhunderte alte Handwerk mit einem Schlage vernichten, oder es wenigstens zur Stadt hinausjagen? So fragten sich die Meister. Sollten sie nur einen Teil dieser Forderungen erfüllen, i dann, ja — dann mussten sie in wenigen Monaten ihre Werkstätten schließen.
Der Kampf war schnell entschieden; die größten Fabrikanten setzten ihre Betriebe schon am Dienstag früh wieder mit Volldampf in Gang. Jedes Zögern der Kleinmeister war nun zwecklos. Sie schickten ihre Frauen aus und ließen die Gesellen zu sich rufen.
In diesem kurzen Kampfe hatten die Gesellen den Glauben an ihre eigne Kraft gewonnen. Sie gaben die alten Gewohnheiten auf und achteten zunächst streng auf die vom Verband vorgeschriebene Ordnung.

*

In den großen Betrieben erhielt sich die Ordnung selbst; da ließ die üppige Saat des Verbandes kein Unkraut aufkommen. Aber dort, auf den Kleinmeisterhäfen, wo Bretter,
Kantholz, Fourniere und Leimsäcke haufenweise umherlagen, wo Hobelbänke und Werkzeuge durcheinander standen, zwischen denen schmutzige Trödeljuden hindurchkrochen, die alles auf ihre Karren packten, was sie unter dem Hammer des Gerichtsvollziehers billig geramscht hatten, dort war nun Albert sein Tätigkeitsfeld.
Kirchhofstimmung beschlich ihn zuweilen, wenn sich über die Reste einstmaligen Meisterglücks die abendliche Dämmerung breitete, und das stille Weinen der Meisterfrauen wie zwischen Gräbern hindurchzog. Die Kleinmeister sahen in Albert den wahren Todesboten, denn nur allein den Verband mit seiner neuen Ordnung machten sie für alles Unheil verantwortlich. Viele Gesellen stellten sich wie Schutzengel ihren Meistern zur Seite; sie halfen ihnen, Albert mit Püffen und Schlägen aus den Werkstätten jagen, wenn er kam, um an die Feierabendzeit zu erinnern.
Es war Sonntag. Albert saß still im Nebenzimmer einer Budike, dessen Wirt ein ehemaliger Kollege war. Er sah unverwandt durch die grünen Blätter des hochrankenden Efeu hinüber zum Eingang eines großen Industriegebäudes, wo immer einzelne Männer durch die schmale Pforte verschwanden. Ein lauter Gruß machte ihn aufschauen. Neben ihm stand Schulze, sein ehemaliger Meister, der ihm freundlich die Hand reichte. „Na, auch schon wieder im Dienst?" Albert nickte, gebot ihm aber durch eine Handbewegung Schweigen.
„Immer feste — keine Rücksicht nehmen!" ermunterte Schulze. „Was sich nur durch Unrecht erhält, hat keinen Anspruch auf Dasein, das ist jetzt mein Grundsatz", dabei setzte er sich neben Albert.
Bald stampfte der lahme Flickschuster herein, der im Keller des Nebenhauses seine Werkstatt hatte. Hinter ihm drein kam der alte Tischlermeister Lemke mit dem schwindsüchtigen Bäcker Schindler.
„He, Schulze!" rief der Schuster, während sich alle drei an einem Tisch niederließen. „Wie wär's denn mit 'm Skat?"
„Nein, nichts zu machen, — ich geh' gleich zur Versammlung!"
„Ih, lass doch den", wehrte Lemke ab, „der hält doch jetzt zu seinen Kollegen!"
Der dürre Bäcker rückte an seinem Stuhl, so, dass er Schulze den Rücken zukehrte und sagte heiser: „Pfui Teufel, erst würgen ihn die Roten ab, dann geht er mit ihnen durch Dick und Dünn!"
„Ja, wirklich!" — „Ganz unbegreiflich", sagten die anderen.
„Aber Kinder, regt euch um Gottes willen meinetwegen nicht auf!". Schulze wandte sich den Dreien zu: „Ich bin sicherlich kein Prophet, aber das will ich Euch sagen: wenn Euch der Tod nicht davor bewahrt, dann folgt Ihr mir am Ende auch noch."
„Bist woll verrückt!" schrie der graubärtige Tischler. „Mit dir wär's auch nicht soweit gekommen, wenn — wenn"
„Ja freilich, wenn", unterbrach ihn Schulze, „wenn ich auch einen Schwager hätte, der bei Wolf & Goldschmidt erster Geschäftsführer wär, dann — ja dann — könnte ich."
„Das ist eine gemeine Beleidigung!" Lemke fuhr wütend auf. „Meinst wohl gar: ich darf darum Schund liefern, was? Du!"
„Na, man kommt doch wohl leichter über den Strom, wenn der Kahn vom andern Ufer aus--"
„Nu — nu hört doch so 'ne Frechheit an!" Der hagere Bäcker fuhr von seinem Sitz auf.
Und der lahme Schuster stampfte mit dem Klotzfüß, dass die Gläser klirrten.
„Regt Euch doch nicht auf wegen dem roten Verleumder", sagte Lemke mit erzwungener Ruhe.
Albert verließ seinen Posten und ging mit Schulze hinaus.
„Na, so wollen wir der blöden Gesellschaft den Leidensweg ein wenig abkürzen helfen", sagte Schulze, Albert die Hand reichend, als sich an der Straßenecke ihre Wege trennten.
Ein Schutzmann stand gelangweilt vor einem Schaufenster und betrachtete die Warenauslagen.
Albert überlegte ein Weilchen, ehe er neben ihn trat und darauf hinwies, was er im Laufe des Morgens beobachtet hatte. Es tat ihm weh, seine Kollegen der Polizei auszuliefern, aber irgendwie musste man doch der Sonntagschändung beikommen.
„Was geht das mich an? Ich bin im Dienst, wie Sie sehn", sagte der Schutzmann kühl. Die Hände auf dem Rücken schritt er bedächtig weiter.
Auch nicht ein Wort der Verurteilung findet dieser Mensch, dachte Albert. Dabei liegt eine Gesetzesübertretung klar zu Tage! Es handelt sich doch um eine der heiligen zehn Gebote, das in allen Schulen gelehrt und in allen Kirchen gepredigt wird. So fühlte er sich ganz im Recht, als er in die Polizeistube eintrat.
Der Wachtmeister strich sich den langen Schnurrbart und sah gleichgültig zum Fenster hinaus, während Albert sein Anliegen vortrug. „Ja wissen Sie denn genau, dass die Leute arbeiten?" fragte er endlich.
„Sicherlich. Was sollten sie heut sonst in der Werkstatt tun?"
„Was heißt: sicherlich? Gesehen müssen Sie es haben!"
„Ich weiß genau!" behauptete Albert.
„Genau? genau wissen Sie gar nichts!"
Mit finsterem Blick prüfte er Alberts Ausweispapiere. „Gehen Sie! Ich werde einen Beamten rumschicken! Aber hören Sie: Stimmen Ihre Angaben nicht, werden Sie bestraft!" fügte der Gestrenge hinzu.----
„Na seh'n Se, da hab'n wirs! Wo wird denn hier gearbeitet?" sagte der Polizist, als er an der verschlossenen Werkstattür klinkte.
Albert klopfte dreist.
„Wer dort?" kam es endlich von drinnen. Dann ging die Tür langsam auf. Ein altes Männchen fuhr erschreckt zurück, als der Schutzmann ohne Gruß eintrat.
„Herr — Herr Wachtmeister, bloß een bißken für sich arbeiten die Gesellen heut", stammelte der Alte verlegen.
„Auch dieses dürfen sie nicht. Es ist bereits Kirchzeit; ich muss die Leute aufschreiben!"
„Aber, aber — Herr, Herr Wachtmeister, es ist ja heut das erste Mal, dass bei —"
„Es nützt nichts, lieber Mann, ich muss!" beteuerte der Polizist, wobei er seinen Blick auf Albert ruhen ließ. Dann schrieb er, schob das dicke Notizbuch wieder zwischen die blanken Rockknöpfe und wandte sich zum Gehen.
„Die Leute werden weiter arbeiten; dürfen sie das?" fragte Albert, in der Tür stehend.
„Nein, das dürfen sie allerdings nicht! Sofort anziehen und sich aus der Werkstatt scheren!" schnarrte der Schutzmann im Kommandoton zurück. Dann zog er seine Handschuhe wieder an und wollte die Treppe hinabsteigen.
„Wenn ich bitten darf, Herr Sergeant; da oben sind noch mehr solche Nester", sagte Albert mit einer auffordernden Bewegung.
Knurrend schritt der Schutzmann hinter Albert die Stufen hinauf.
„Na, da sehn Se 's doch! Schön reingefallen! Was wollen Se denn nun eigentlich hier?" triumphierte er hinter Albert, der die weitgeöffnete Tür in der Hand hielt und die leere Werkstatt entlang sah.
Ein Hüne mit einer reingewaschenen Schürze über dem runden Leib, kam langsam hinter der Tür hervor und fragte harmlos lächelnd nach dem Begehr der beiden.
„Hier soll gearbeitet werden, Herr Meier", sagte der Schutzmann mild, wobei leichter Spott seine Lippen umspielte.
„Ja, freilich, aber feste, mein lieber Günther, bloß heute nicht", erwiderte der Große gefasst und reichte dem Polizisten die Hand. „Nee, was jetzt alles so gemacht wird — nee, nee", der Meister schüttelte entrüstet den Kopf.
„Ja, Herr Maier, die Zeiten ändern sich!"
„Und ob! Was man früher als Fleiß schätzte, das wird heute zum Verbrechen gestempelt. Nee, die Welt steht schon reene uff'm Kopp!"
„Ja, ja — so is es wirklich bald", stimmte der Gesetzeswächter dem Meister zu.
,Heda! Was wollen Sie da? Was fällt Ihnen ein?" rief der Meister erregt die Werkstatt entlang, als Albert die eiserne Kamintür öffnete.
„Hier, bitte schön!" sagte Albert, und ein halbes Dutzend Gesellen kamen mit niedergeschlagenen Augen langsam aus dem schwarzen Versteck herausmarschiert.
„Wer ist der Mensch? Was haben Sie hier zu suchen?" schrie der Große empört.
„Ruhig, ruhig, Herr Maier, es ist mein Führer!"
„Sie nichtswürdiger Schuft! Wissen Sie, was es heut zu Tage heißt: Tischlermeister zu sein? So 'ne rote Kanaille!"
„Mäßigen Sie sich, Herr Maier!" Der Schutzmann hielt den Rasenden zurück. „Und Sie machen, dass Sie rauskommen!" befahl er Albert.
Als der Polizist auf den Flur trat, wartete Albert auf der nach oben führenden Treppe.
„Wollen Sie noch weiter hinauf?"
„Ja bitte!"
„Schöne Geschichten sind ja das", brummte  der Schutzmann widerwillig.
Hier stand die Werkstattür sperrangelweit auf. Ein Lehrling fegte zwischen den Hobelbänken Spähne zusammen und pfiff ein lustiges Liedchen dazu.
„Wo sind die Gesellen?" fragte Albert den Jungen.
„,Es sind keine hier; heute ist doch Sonntag!"
„Stecken sie etwa da im Kamin?" fragte der Schutzmann und schritt fest auf das Versteck los.
„Ach wo, da sind keine drin", beteuerte der Kleine. „Sonntags wird bei Meister Lemke nicht gearbeitet."
„Keine Maus!" kam der Beamte kopfschüttelnd zurück.
Der Junge lachte schadenfroh.
„Da müssen wir noch etwas höher gehen", drängte
Albert den Beamten.
„Höher geht’s nicht", rief der Junge, „da kommt der
Boden!"
„Ja, das wissen wir; da wollen wir auch hin!" lachte Albert.
„Verfluchte Kletterei!" schimpfte der Polizist schwitzend
hinter Albert her.
„Na, da haben Se doch den Kitt!" knurrte er, in den
dunklen Bodenraum hineinspähend.
„Überhaupt habe ich die Werkstellen zu kontrollieren und nicht die Bodenräume."
Da plötzlich — ein mächtiges Poltern — und beide standen in einer dichten Staubwolke. Mit dem Säbel nach vorn stochernd tastete der Schutzmann durch die Dunkelheit. Zwei Gesellen kamen hinter einen umgestürzten Holzstapel hervor. Von obenher schien ein Lichtstreifen, zwei Beine verschwanden durch die Dachluke.  Dumpf stampfte es übers Pappdach. In Zorn geraten, schloss der Schutzmann die Bodentür ab, schob Albert beiseite und stieg den Flüchtigen nach. Hinter Schornsteinen und Brandmauern trieb er noch vier Gesellen auf. „Sie wollten natürlich nur einen Morgenspaziergang machen, und ausgerechnet auf dem Boden und Dache des Meisters Lemke", sagte er, als die Übeltäter die Absicht zur Arbeit bestritten.
„Pfui!"  Die Gesellen spuckten aus, als sie Albert erkannten. „Nimm den Dreck!" — „Meins auch!" Sie warfen ihm die Verbandsbücher vor die Füße. „Wir pfeifen auf deinen Verband!" Schimpfend ging es die Treppe hinunter. „Schlagt den erbärmlichen Schuft nieder, wie einen Hund!" schrie der alte Lemke den wütenden Meistern und Gesellen zu, die auf dem Hofe standen.
Der Polizist sprach beruhigend auf die Erregten ein, während etliche hinter Albert hersetzten, der in eine vor­überfahrende Straßenbahn flüchtete.

 

Das Geständnis.

„Ja, ja, leider ist es so", stimmte Emil zu, als ihm Albert von all den Schwierigkeiten erzählte, die er beim Anwerben neuer Mitglieder zu überwinden hatte.
Er kam nicht dazu, sich mit den christlichen Aposteln zu vergleichen, deren Mut und Kraft stieg, je mehr sie bei der Verbreitung ihrer Heilslehre verfolgt und geächtet wurden, denn schon sprach Emil weiter: „Ja, von ferne betrachtet, da mag unsere Bewegung wohl angenehm und groß wirken; wer aber tagtäglich so mitten drin steht, den entmutigt das Rohe, Schlechte und Kleinliche, das einem immer wieder entgegentritt, schließlich doch etwas. — Ich weiß Bescheid, ich kenn das! — Ja, gewiss, aus Zeitungen und überfüllten Versammlungen strömt eine Begeisterung für unser hohes Ziel, die wie ein mächtiger Sturm die alte Gesellschaft bis auf den Grund hinwegfegen möchte! — Aber, aber — sobald man sich gründlich in unsere Reihen umschaut und sich die Genossen einzeln betrachtet — ja, das Verbandsbuch tragen sie wohl in der Tasche, aber ihr Tun und Treiben — o weh, o weh! Um Theatervereine, um Lotterie-, Skat- und Fußballklubs, und sogar um Pferderennen und Weiber dreht sich ihr Leben. — Nein, nein, es steht noch sehr schlimm!"
„Nanu, du bist ja heut mächtig hoffnungslos", sagte Albert verwundert, „du nimmst wohl den Einzelnen zu sehr unter die Lupe?"
„Verlass dich drauf, Albert, wenn man täglich Hunderte von Menschen um sich hat und keinen herausfindet, der es ernst meint mit unserer Sache und der weder unter seinen Kollegen noch in seiner Familie nach unseren Grundsätzen handelt, dann verliert man schon bald den Glauben."
Diese Zweifel nagten immer ärger an Emil, seitdem er in einer großen Maschinenfabrik, weit draußen im Norden der Stadt, als Eisendreher beschäftigt war.
„Magst schon recht haben", gab Albert zu. „Wenn du eben die schlechten Züge aus dem Leben und Treiben der einzelnen herausgreifst, dann wird wohl das Böse das Gute noch weit überwiegen. Man muss eben froh und frei die Gesamtbewegung überschauen, ja man muss sich bemühen, etwas höher zu stehen als der Durchschnitt; und ich sage dir, dann sieht man sogar die Siegesfahnen schon flattern. Wir brauchen uns wirklich nicht um die Zukunft zu bangen: denn auch im Unternehmerlager beginnen sich Kräfte zu regen, die eines Tages alle Arbeiter fest zusammentreiben werden... "
— Hergott, nun sitzen die beiden schon wieder fest bei dem prächtigen Wetter und brüten über dunklen Vermutungen und Hoffnungen, dachte Agnes, die unbemerkt ins Zimmer getreten war. Sie drehte sich vor dem Spiegel und strich sich an den runden Hüften herab. Jugendlich leicht war ihr heut in dem rosa Kleide, das sie in diesem Sommer zum ersten Mal an hatte. Es war zwar nicht mehr ganz modern, und etwas ausgebleicht war es auch schon, aber Albert sah sie so gern darin. Sie hörte auf die eifrige Unterhaltung der Männer. Manchmal schien es ihr, als ob es mit der Freundschaft der beiden aus sei, so stritten sie um ihre Meinungen. Indes die beiden lachten und scherzten im nächsten Augenblick wieder, und alles Trennende war vergessen.
Sie legte für Albert reine Oberwäsche zurecht und stellte die blanken Stiefel neben ihn hin.
„Oho, du bist schon reisefertig", er blickte zu ihr auf.
„Ja mach man auch", sie trieb ihn zur Eile an, „sonst bekommen wir wieder einen Platz, wo wir nichts hören und sehen können."
Dann bat sie Albert, er möge ihr doch eine weiße Rose von dem blütenschweren Strauch schneiden, der auf dem Fensterbrett in der hellen Sonne stand.
„Du putzt dich ja heut, wie eine Braut." Er betrachtete sie wohlgefällig, als sie die Rose am Busen befestigte.
„Vielleicht bin ich gar eine", sagte sie heiter, fügte aber gleich hinzu: „'s ist ja der erste schöne Sonntag in diesem Sommer, da darf man doch nicht so sauertöpfisch umherschleichen?"
„So ist es recht, Frau Weigert", stimmte Emil zu, „bei solch lachendem Sonnenschein sollte man sich nicht den Kopf voll schwerer Gedanken pfropfen, wie wir es eben taten."
Agnes rief Lieschen und den kleinen Bernhard herbei, putzte ihnen die Näschen und rückte noch einmal die Kleidchen und Schleifchen an ihnen zurecht.
Plötzlich erklang die Türglocke. Albert ging und öffnete. „Ein Bettler", dachte er und griff in die Tasche. Der Mann aber reichte ihm die Hand zum Gruß und trat mit einem „Guttentag ooch" gleich über die Schwelle.
„Du kennst mir woll nich mehr?" Er tapste zur Küche hinein und hing seinen Hut an den Wasserleitungshahn. „Es is heut verflucht heiß, es gibt noch was," sagte er, sich den Schweiß mit der Hand von der Stirn streichend.
Jetzt erst erkannte Albert seinen Landsmann August Gellfert wieder.   „Das trifft sich ja gut.   Komm in die Stube," nötigte er ihn, „da ist noch ein Schlesien"
„Ach herrje, wie kommt denn das Sumpfhuhn hierher!" lachte Emil, als er Gellfert erblickte, der sich bei Agnes wegen den damals entliehenen drei Mark entschuldigte und um weitere Stundung bat.
Auf Agnes' Gesicht legte sich ein trüber Schatten. Trug nicht dieser Mensch am Ende ihr ganzes Erlebnis mit Waldmann in sich? — Und gerade in den letzten Tagen war ihr, wie wenn die heilsame Wirkung der Vergessenheit dieses Geschehen endlich in das Nichts versenken wolle.
„O, Sie Ärmste," sagte Emil mit leichtem Spott, „die drei Mark schreiben Sie man mit Kohle in den Schornstein. Ob denn dieses leibhaftige Unheil nicht überall ein übles Andenken hinterlässt."
Gellfert ließ sich gleichgültig aufs Sofa nieder und lehnte sich müde in die Ecke.
„Na, greif zu, alter Frechdachs!"  Emil hielt ihm die gefüllte Zigarrentasche hin.
„Ich bin so frei," und Gellfert zog zwei Zigarren heraus. „Hoho, bist ja sehr bescheiden, immer noch wie früher," lachte Emil und zog die Tasche zurück, als Gellfert noch einmal zugreifen wollte. „Donnerwetter, 'ne gelbe Weste!" scherzte Emil weiter, als Gellfert den viel zu weiten Rock aufknöpfte und die Taschen nach Streichhölzern durchsuchte. „Hast wohl beim Gärtner die Vogelscheuchen geplündert? Helle Hose, dunklen Rock, gelbe Weste, grünen Schlips; und wie das alles sitzt! — Dazu die rote Nase und die verblühten Veilchen um die Augen — damit bist du wohl gegen eine geballte Faust gelaufen?"
„Du hast klug reden," sagte Gellfert ergeben. „Weißt viel, wie sich unsereiner durchschlagen muss."
„Durchschlagen? Meinst wohl durchfechten?"
„Ach, du!" Gellfert wurde ärgerlich.
„Woher kennt Ihr Euch so genau?" fragte Albert dazwischen.
„Er war vierzehn Tage lang mein Zuträger in der Fabrik. Später traf ich ihn oft in Versammlungen und bei seinem Nebenerwerb."
„In Versammlungen?"
„Na gewiss, er ist doch organisierter Genosse."
„Und einen Nebenberuf hat er auch?"
„Ja, das ist eine seiner Schattenseiten."
„Mach's gnädig, ja!" warf Gellfert ein. „Was soll man tun, wenn man in Not ist?"
„Gewiss, das ist zu verstehen. Es kommt aber immer auf die Ursachen der Not an, will man die Mittel zu ihrer Beseitigung rechtfertigen."
„Na, bei mir sind wohl Ursachen genug vorhanden, denk ich."
„Freilich, bloß welcher Art sind sie: Saufen, saufen und nochmals saufen!" „Bist ja verrückt!"
„So, so, meinst du etwa, du warst nüchtern, als du mir ein Gericht Gulasch auf den Leib gossest, wodurch mir ein Paar Sonntagshosen vollständig verdorben worden sind?"
„Wer soll nüchtern bleiben, wenn einem Schnaps, Schnaps und wieder Schnaps angeboten wird. Wär'st du man damals hinter mir hergekommen; nicht einmal für mich tat ich es."
„Nicht für dich?"
„Nein! Hättest dich ja überzeugen können; drüben im Torweg stand der schwindsüchtige Schlosser. Du kennst ihn, den damals deine Kollegen verpetzt hatten, weil er ihnen heimlich Flugblätter zusteckte.  Ich traf ihn, als ich von der Arbeit kam. Es war kalt und regnerisch; er hustete und jammerte und tat ganz verzweifelt vor lauter Not. Geld hatte ich keins.   Wies ihn aber auf die gefüllten Bäcker­ und Schlächterläden hin — also zum Verhungern sei es wirklich nicht, gab ich ihm zu verstehen. Er aber schüttelte bedenklich den Kopf: nein, nein, fechten könne er nicht. Das ärgerte mich eigentlich, wenn ein Mann, der für eine neue Gesellschaft kämpft, nicht einmal soviel Mut aufbringt, für die Seinen ein Stück Brot zu holen, das doch in Hülle und Fülle da ist!   Ich befahl ihm, aufzupassen, dass mich kein Blanker erwische.   Dann ging ich für ihn los. Bald hatte er alle Taschen und auch das Sacktuch voll altbackener Semmeln und Wurstenden, die ich ihm brachte. „Hör auf," sagte er ängstlich.   „Meine Frau und Kinder werden sich freuen," und er wollte davoneilen. Ich zwang ihn zum Warten.   „Von Brot und Wurst allein könnt Ihr nicht leben, sollst auch Geld haben!"  Es war ja Montag; dazu das scheußliche Wetter, und ein sauberes Verbandsbuch von einem Metallarbeiter hatte ich auch noch vom Sonnabend her in der Tasche."
„Du gehörst doch dem Verband der Bauarbeiter an, denk ich," sagte Emil.
„Dem gehör ich an, jawohl! Aber meinst du, mit meinem Buch wäre da im Norden etwas herauszuholen, wo jede Kneipe voll Metallarbeiter steckt? Da hilft man sich eben gegenseitig aus."
„Hahaa, so wird das gemacht?" „Ja, so wird's gemacht — Na, kurz und gut, es klappte großartig."
„Ja es klappte, bis der Schwindel entdeckt wurde und du im Bogen gegen meinen Tisch flogst," unterbrach ihn Emil. „Wenn du als Metalldreher fechten willst, musst du auch wissen, wie ein Gewinde berechnet wird. Warst eben mal an die Unrechten geraten. Ich weiß nämlich noch ganz genau, wie die Sache kam."
„Ach, das waren ja Geizhälse. Will man sich bei dem Geschäft erst examinieren lassen, kann man nichts dabei werden. Und in diesem Falle war erst recht keine Zeit zu verlieren. — Na, kurz und gut: als ich zu deiner Stammkneipe hinausflog, kam mir mein kranker Freund schon von der anderen Straßenseite entgegen. Ich witterte Gefahr und reichte ihm eine Handvoll Nickelgeld zu. — Ein harter Stoß ins Genick schleuderte mich nach vorn — ein fester Griff am Kragen schnürte mir die Kehle zu und ruck, ruck, ruck ging es vorwärts. Ich war verloren. Rasch noch einen Griff in die Tasche, und der Geldrest flog dem Kranken zu. Dafür sauste mir des Geheimen Faust gegen den Kopf, dass mir ganz dumm wurde. Drei Wochen kriegte ich aufgeknackt. Meine Arbeit war futsch. Nicht etwa, dass es mir leid täte. Nein! Im Gegenteil: es freut mich heute noch, dass ich den armen Kerl helfen konnte." Alle hatten still zugehört.
„Das war ein schöner Zug von dir," erkannte Emil an.
„Ja, diese Tat ehrt dich," fügte Albert hinzu.
Agnes ließ den kleinen Bernhard vom Schoß gleiten und blickte zum Fenster hinaus.
„Hast wohl keine Lust mehr zum Ausgehen?" fragte Albert, mit dem Stiefelanziehen beginnend.
„Nein, es wird zu spät. Und am Ende gibt's noch Gewitter, denn es ist so schwül," entgegnete Agnes.
Gellfert begann von Berta zu erzählen. Er fragte Albert, ob er etwa zufällig den Tischler Waldmann kenne, der sie ihm entführte und sie zu gewerbsmäßiger Unzucht anhielt.
„Ist so was möglich! Gewiss kenne ich den!" erwiderte Albert empört. „So etwas hätt' ich ihm doch nicht zugetraut! — Hörtest du, Agnes!" rief er durch die offene Tür hinüber zur Küche, wo seine Frau den Kaffee zurechtmachte.
„Ja, ich höre schon," kam es kaum vernehmbar von dort zurück.
Berta sei jetzt eine ganz Feine, erzählte Gellfert weiter, sie laufe in der Friedrichstadt. Vor langem habe er sie mal unvermutet getroffen. Sie habe sich vorbeidrücken wollen, er aber vertrat ihr kurz den Weg. Kaum begrüßt, reichte sie ihm ein Zehnmarkstück hin. Es war Lösegeld. Denn ehe er sich von der Überraschung erholt, war sie in der Menschenmenge untergetaucht.
Dieser Mensch weiß mehr, ja alles, alles weiß er, wenn er einmal mit Waldmann in Berührung gekommen ist, dächte Agnes. Sie hielt die Augen niedergeschlagen, nur auf ihre Hantierung gerichtet, als sie den Männern Kaffee und Kuchen auftrug. „Kommt, kommt, Lieschen, Bernhard!" rief sie, anscheinend heiter, zu den Kindern in die Küche hinein, die dort beim Kaffee und Kuchen saßen. „Wir gehen schnell ein wenig hinunter!"
„Magst du nicht mit uns trinken?" rief Albert ihr nach.
„Ich trinke nachher!" gab sie zurück und schloss die
Tür.
Nur Luft, Luft! Hinaus ins Freie! Es erdrückte sie rein in der Nähe dieses Menschen. Jetzt, wo sie weg war, würde er ihrem Mann alles brockenweise hinwerfen, in seiner hinterhältigen, dummdreisten Art.
Bald waren die Häuser zu beiden Seiten der Straße zu Ende. Lieschen und Bernhard jagten froh über brachliegende Felder hinter Schmetterlingen her. Erst als sie an einem hohen Roggenfeld Halt machten und angesichts der vielen Kornblumen ihrer Mutter zujubelten, erwachte Agnes aus ihren Gedanken. Sie drohte, rief und winkte. Die laue Luft fächelte ihr heißes Gesicht. Einzelne Menschenpaare strichen auf Feldrainen durch die frischgrünen Felder. Sie ließen die fruchtschwangeren Ähren kosend durch ihre Hände gleiten und führten sich wie Kinder, blickten sich heiter in die Augen und plauderten. Weit hinten über das große Exerzierfeld zuckten Blitze aus schwarzer Wolkenwand, während noch mächtiges Sonnenlicht die andere Seite des Himmels beherrschte. Aus dem im Grunde liegenden Brauereigarten tönte Musik herüber.
Auf einem Rasenhügel am Rande eines wasserlosen Grabens saß Agnes. Lieschen und Bernhard brachten ihr Kornblumen, Rittersporn und Gänseblümchen. Mechanisch legte sie Blume an Blume und wand sie zum Kranze. — Albert! Wäre er doch hier. An seine Brust werfen, sich ausweinen und gestehen wollte sie ihm alles, alles. Aus ihrem Munde sollte er erfahren, wie sie ihn betrog, wie schlecht sie war. Mochte er sie weit, weit von sich stoßen, mochte es alle Welt wissen, was für eine Schlechte sie war. Alles, alles wolle sie ertragen, nur frei, wahr wollte sie dastehen vor ihm, mit dem sie sich verbunden, der ihr vertraute wie sich selbst.
Diese Unruhe ertrug sie nicht länger. In Lieschens Blondhaar setzte sie den Blumenkranz, dann gingen sie heimwärts.
Die Männer waren heiterer Laune, als Agnes eintrat. Gellfert dehnte sich in der Sofaecke, blies gemächlich dicke Rauchwolken aus seiner Zigarre und stieß mit seinen großen Füßen gegen eine Batterie leerer Bierflaschen, dass sie klirrend umfielen. „Na, Ihr Mann bangte sich schon mächtig um Sie. Er dachte, Sie hätten sich ein Rendezvous bestellt," sagte der Bursche dreist, Agnes ins Gesicht grinsend.
Mit gezwungenem Lächeln sah sie zu Albert hin, wobei sie das Tischtuch zurechtzog.
„Nein, du, um die brauch ich mich gewiss nicht zu
bangen," entgegnete Albert heiter und zog sein Weib
leidenschaftlich an sich. „Was, du? Du bist mir ja sicherer als ich mir selber bin."
„Ähh, traut nicht den Weibern! Ihr habt es ja bei meinem gesehen: Wenn nur der richtige kommt, da sind sie nicht mehr zu halten!  Hähähähä!" lachte Gellfert.
„Darum hab' ich mir wirklich noch keine Gedanken gemacht," sagte Albert und strich weich über Agnes leicht zitternde Hand, die sie ihm entzog, um geschäftig zur Küche hinüberzueilen und das Abendbrot vorzubereiten. Ängstliches Zittern durchfuhr ihren ganzen Körper, ihr Atem ging kurz, und in ihren Schläfen hämmerte es. Beide Hände vors Gesicht gedrückt, stand sie ein Weilchen am Kochherd. Dann schnitt sie das Brot und stellte Teller und Tassen zurecht, die Lieschen behände zu den Männern hineintrug.
„Sie blühn wie eine Rose," sagte Emil, als Agnes mit einer großen Kanne Tee eintrat und mit niedergeschlagenen Blicken die Tassen füllte.
„Bitte, greifen Sie zu," forderte sie kaum vernehmbar die Männer auf, während sie sich zum Gehen wandte.
„Nanu — und wo ist dein Platz?" fragte Albert.
„In der Küche bei den Kindern, die sind hier zu laut"
Albert sah ihr besorgt nach. „Seit der Geburt des Jungen ist sie manchmal ganz sonderbar," sagte er, um ihr Verhalten zu entschuldigen.
„Äh, die Weiber haben ihre Mucken," sagte Gellfert, der dreist zu essen begann.
„Gerad' an dir hat sich Frau Weigert die gute Laune verdorben; als sie dich sah, war alle Lust zum Ausgehen hin bei ihr," scherzte Emil.
„Ach, red' doch nicht, alter Knauser; Furcht hattest du, mich freihalten zu müssen. Brauchtest nur ein Wort zu sagen: gern hätt' ich mal ein Gartenkonzert von drinnen angehört!"
Es begann schnell zu dunkeln und große Regentropfen klatschten schon auf das Schutzblech der Fensterbrüstung. „Los, los," trieb Emil Gellfert zur Eile an, „damit wir die Straßenbahn noch erreichen! Möchtest dich wohl wieder gleich auf acht Tage sattessen?"
Gellfert erhob sich. „Junge, bist du erst mal verheiratet, bin ich alle Sonntage dein Gast, verlass dich drauf!"
„Du, dann nagele ich ein paar große Hufeisen auf die Türschwelle; weißt doch, was die zu bedeuten haben!" So scherzten die beiden Freunde, als sie Albert die Treppe hinunterbegleitete.
Nach kurzem Abschied stieg Albert die Stufen wieder hinauf. Er horchte ein Weilchen am Spalt der angelehnten Wohnungstür. „Was ist los?" flüsterte er, die Tür weiter öffnend. Nun vernahm er ganz deutlich Agnes weinerliche Stimme, die aus der Küche drang. War das wirklich sein Weib, das sich hier durch furchtbare Selbstanklagen marterte? Er drückte die Küchentür geräuschlos auf, da stand sie, an den Kochherd gelehnt, den Kindern zugewandt, die im Hintergrunde von ihrem Spiel aufsahen. „Hätte ich euch nicht, meine Lieblinge — was täte ich jetzt!" keuchte sie.
„Frau — was soll das heißen? — Was ist geschehen?" fragte Albert, im Rahmen der Tür stehend.
Einen Schrei ausstoßend, sprang Agnes erschrocken nach vorn. „Du weißt es! Ja, du weißt alles!" schrie sie weinend und sah unbeweglich ihren Mann ins Gesicht. Keins wagte ein Wort. — Sekunden vergingen. — Dann, wie um Gnade flehend, die Arme ausstreckend, tat sie einen Schritt auf ihn zu, sank aber in die Knie. Albert sprang hinzu. Laut stöhnend umklammerte sie seine Füße. — „Schlag mich — werf mich auf die Straße — tritt mich in den Rinnstein! — Ich bin ja so schlecht — so schlecht wie eine Dirne!"
„Weib! Weib, was hast du denn bloß? — Was ist mit dir geschehen?"
„Betrogen! — Betrogen hab' ich dich! — Ach, ich bin ja — so schlecht — so — schlecht!" schrie sie.
„Was — mich betrogen? Du? — Wie — wer — wo? — Weib, du? — Bist ja von Sinnen! — Was red'st du?" Er fasste sie an den Schultern und suchte sie aufzurichten.
Sie hielt seine Beine umschlungen und bat flehentlich: „Glaub' es doch, glaub' es! — Schlag mich wie einen Hund! — Wochenlang trieb ich's!"
„Du? —- du, mein Weib? — j,'s ist ja unmöglich! — Dann sag' doch mit wem — mit wem triebst du es?"
Schluchzend, kaum hörbar, gestand sie. Dann ließ sie Alberts Füße frei, bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und kauerte schlaff zusammengesunken am Fußboden.
Albert sah starr und bleich auf den im Weinen zuckenden Körper. — „Also doch — mit diesem Schurken!" knirschte er. Die Hände geballt, den Fuß zum Stoß erhebend, beugte er sich nach vorn. — „Du? Du warst mein Weib?" Der Erde gleichtreten wollte er sie.
Ein kindlicher Schrei hielt ihn zurück, Lieschen war's, ihr weinendes Brüderchen loslassend, warf sie sich über die schluchzende Mutter.
Albert ließ sich schwer auf einen Stuhl nieder.
„Steh auf!" befahl er, als ein heftiger Donnerschlag die Fensterscheiben erzittern machte.
Agnes gehorchte und erhob sich mühsam.
„Dorthin setz dich!" sagte er, nach der andern Seite des Tisches weisend.
„Nun verlange ich nichts weiter von dir als die reine Wahrheit!"
Agnes ließ ihre Blicke durch alle Ecken der Küche gleiten. Auf Lieschen blieben ihre Augen haften. Lieschen hielt den kleinen Bernhard fest mit beiden Armen umschlungen und sah mit ihren großen Augen zur weinenden Mutter hin.
Agnes schüttelte den Kopf. |
„Gut," sagte Albert, ging in die Stube, suchte ein Bilderbuch hervor und rief die Kinder zu sich. Lieschen gehorchte nur widerwillig; sie blieb vor ihrer Mutter stehen und sah fragend zu ihr auf.  Erst als diese sie mit weichen Worten fortdrängte, folgte sie dem kleinen Bruder.
Erst stockend, dann immer unbefangener bekennend, legte Agnes dar, wie alles kam.  Zuerst hielt sie Alberts ruhiges Verhalten für klugberechnet; indes gestehen wollte sie ihm alles.  Wahr wollte sie vor ihm stehen; mochte er sie dann weit von sich stoßen.  Jedoch bald fühlte sie: je offener sie sich gab, desto vertraulicher klangen seine Fragen, und je tiefer er in sie drang, desto freier und erlöster ward ihr. Und endlich forderte sie seinen Entschluss: „Sag, willst du mir nun ganz verzeihen?   Kannst du es nicht, geh ich." Auch er erhob sich, erfasste sie an beiden Händen, beider Augen ruhten ineinander.  „Weib," begann er, „was fällt dir ein, jetzt wo dein Gewissen so rein ist wie das meine, solltest du mir nicht mehr gut genug sein? Gewiss, schlimm war es, sehr schlimm, was du tatest; jedoch ich, der ich selber einmal vom Wege abgewichen bin, habe kein Recht einen Stein auf dich zu werfen."
Und sie reichten einander zur Versöhnung Hand, Mund und Herz.

 

Die Aussperrung.

Mit den Jahren schwanden wohl die leidenschaftlichen Neigungen zwischen Albert und Agnes, dafür stieg aber ihr offenherziges Vertrauen zueinander. Und aus diesem erwuchs in Albert die Kraft, mit der er all die kleinen Kümmernisse überwand, die sich tagtäglich an ihn heranschlichen. Handelten seine Kameraden schlecht an ihm oder fügten sie der Arbeitersache Schaden zu, dann suchte er nach den Grundursachen ihres Tuns und vergab ihnen am Ende ihre Niedrigkeiten. So bestärkte er seinen Herzensfrieden, der ihn immer wieder erhob und ermutigte, ihm den Erfolg bei der Werbearbeit für den Verband sicherte. Trübe Erfahrungen brachten ihm zuweilen sogar innern Gewinn. Und er fand manchmal, dass das Böse nur ein unvollkommenes Gute war.
„Lassen Sie ihn doch Tischler lernen!" hieß es, wenn jemand um die Zukunft seines Jungen besorgt war. „Die sind am weitesten vor, die werden wohl einmal die ersten sein im Zukunftstaat."
Ja, die Holzarbeiter standen dicht davor, den Arbeitstag in drei Schichten zu teilen: in Arbeit, Erholung und Schlaf, immer zu je acht Stunden. In den Fabriken, wo die zuverlässigsten Verbandsmitglieder beschäftigt waren, durchbrachen diese schon den Neunstundentag und zwackten Montags eine halbe und Sonnabends sogar schon eine ganze Stunde davon ab. Früher warfen die Meister die Wortführer einfach hinaus, und ihre Rache verfolgte sie. Dem Übelstand hatten die Gesellen vorgebeugt, sie errichteten eine Geschäftsstelle ihres Verbandes und wählten einen der tüchtigsten aus ihrer Mitte, der ihre Angelegenheiten in die Hand nahm.
„Wir sind machtlos, wir haben in unseren eigenen Betrieben nicht mehr zu bestimmen!" riefen die Meister. „Komm, Regierung, hilf uns, unterstütze uns durch deine
Polizei!" Aber auch das half nichts, denn die Gesellen taten eben nichts Ungesetzliches. „Es ist zum verzweifeln," klagten die Meister: Ließen sie sich mit dem Verbandsvertreter in Verhandlungen ein, dann mussten sie immer etwas von ihrem Profit abgeben. Warfen sie den Unterhändler zur Tür hinaus, marschierten die Gesellen geschlossen hinterdrein.
So ging es Jahr um Jahr. Die Gesellen wurden immer mächtiger und der kleinste Dorfmeister musste sich den Bestimmungen des Verbandes fügen.
Die Büfett- und Schreibtischmacher streikten schon seit acht Tagen, sie forderten zwanzig Prozent Lohnzuschlag.
„O, die Herren Gesellen werden sich ja wundern!" riefen die Fabrikanten eines Morgens ihren Werkführern zu, als sie die Reihen der kahlen Hobelbänke entlangsahen, die immer noch leblos, wie erstarrte Dickhäuter dastanden. „Hier sind unsere Forderungen!" schwenkten sie triumphierend ein Rundschreiben in der Hand. „Wenn morgen nicht Mann für Mann zur Arbeit erscheinen, fliegen 20 000 Holzarbeiter glatt auf die Straße! Wer sich unseren Bedingungen fügt: sechzig Stunden Arbeitszeit die Woche und Abgabe des Verbandsbuches an den Arbeitgeber, wird wieder eingestellt. Jetzt oder nie! — Der Winter steht vor der Tür — 20 000 Mann unterstützen — in zwei Wochen sind die Geldschränke wie ausgefegt und der Verband ist fertig."...
Schneeflocken schwebten langsam zur Erde; sie machten noch eine rasche Bewegung nach oben, ehe sie im grauen Schmutz untergingen. Seit Wochen unterbrach kein Sonnenstrahl die bleierne Trübe. Die Flammen der Straßenlaternen zitterten, als ob sie frören.  Der Kampf währte nun schon bereits zehn Wochen.  In beiden Lagern war es still, als wenn ein Eingreifen etwas Mächtigeren zu erwarten stände. Und Albert schritt nun Woche um Woche auf der breiten Promenade, vor Zillner und Flatows Fabrik, auf und ab. In der ersten Zeit fiel es ihm schwer, aus den vielen Menschen, die täglich die breite Einfahrt durchschritten, die mit schlechtem Gewissen herauszufinden. Aber bald ward sein Auge geübt, und er kannte schon von ferne die auf verbotenen Wegen wandelnden Kollegen.  Der nach der Seite geneigte Kopf, die hohen, schiefen Schultern und die meist nach innengebogenen Beine waren die fast untrüglichen
Kennzeichen des Tischlers; dazu kam das suchende Umsichblicken, das alle die Treulosen an sich hatten.
Alberts Kamerad, der Pommersche Karl, kam vom anderen Ende der Straße auf ihn zu. Er zog den breiten Schlapphut etwas tiefer in sein bärtiges Gesicht und blickte seitlich hinüber zu Flatows Wohnhaus, das an der Straßenfront vor der Fabrik stand. „Du, dem seinen Groll möcht' ich heut nicht im Leibe haben," sagte er lachend, als er Albert die Hand reichte. „Dreißig Mann trieb ich seinem Agenten gestern ab."
„Hast dich anwerben lassen?"
„Ja, in Posen, die Kenntnis der polnischen Spräche machte mich zum Gehilfen des Agenten. Und da der Kerl für jeden Streikbrecher ab Bahnhof Alexanderplatz zwanzig Mark bekommen sollte, leistete er sich aus Übermut eine Reisegefährtin. Bei der gefiel es ihm besser, als bei den stinkenden Pollacken, so überließ er mir den Transport. Von den vierzig Mann bugsierte ich beim Umsteigen dreißig in den Posener anstatt in den Berliner Zug."
„Großartig hast du das gemacht!" Albert rieb sich erfreut die Hände und schlug die Füße vor Kälte aneinander.
„Warum entführtest du dem Kerl nicht auch noch die andern?  Nicht eine Maus hätte er hereinbringen dürfen!"
„Wenn ich es gestehen soll: es tat mir leid, die armen Kunden jetzt, kurz vor Weihnachten, der Landstraße auszuliefern."
„Mögen sie draußen in kleinen Städten oder auf dem Dorfe arbeiten."
„Nein, nein, Albert! Krank, alt, zerlumpt, meist dem Trunk ergeben, wie sie sind, die mag auch kein Dorfkrauter mehr. Lass sie, ich gönne ihnen die warme Werkstatt. Die können unserer Sache nur nützen."
Albert wandte sich seitwärts, zog den Hut und erwiderte den Gruß eines Vorübergehenden.
„Wer ist das?" fragte Karl.
„Der Pfarrer drüben von der Elisabethkirche. Er geht zur Abendmesse."
„Dass der dich grüßt, wundert mich."
„Er hat Verständnis für unsere Sache; er fragte mich schon öfter nach dem Stande der Aussperrung."
Sie sahen dem Geistlichen nach, der hinüber zur matterleuchteten Kirche ging, wo die hellen Steinstufen hinauf schwarze Schatten huschten und in der offenen Tür verschwanden. Dazu erklang das eintönige Bim-bam, Bim-bam des Abendglöckleins in den Straßenlärm.
Es war Feierabend. Immer massenhafter quollen die Arbeiter aus den Fabriktoren auf die breite Straße. Autohupen brüllten warnend in die Menschenmassen hinein. Ein lauter Knall: ein blitzblankes Auto hielt an, als es eben aus Zillner und Flatows Fabriktor auf die Straße bog. „Kaputt — Reifen geplatzt —." Neugierige umstanden das Gefährt. Der Führer sprang vom Sitz und aus dem Wagen stiegen acht Männer, junge und ganz alte, die zum Teil in Arbeitskleidung waren.
„Zillner-Flatow-Streikbrecher — haut die Bande!" ging es durch die Menge.   Die Rufe steigerten sich, pflanzten sich blitzartig fort, und im Nu drangen hunderte Menschen von allen Seiten drohend auf Auto und Streikbrecher ein. In ihrer Angst flüchteten die Arbeitswilligen wieder zurück ins Fahrzeug. Der Führer sprang auf den Sitz und wollte davonjagen, aber schon lag er neben seinem Gefährt. Steine, Bierflaschen, und was die wütende Menge nur erfassen konnte, flog gegen den Wagen, die Scheiben zersprangen, und die Insassen wurden auf die Straße gezerrt.   Man schlug blindlings auf die Streikbrecher ein, bespuckte sie und trat sie mit Füßen.  Albert und Karl suchten die rasende Menge zur Vernunft zu bringen.   Vergeblich.   Da — ein Ruf des Schreckens und der Empörung: Eine blinkende Schusswaffe vor sich hinstreckend, stürzte Flatow aus der Tür seines Hauses.   „Auseinander!" schrie er, „oder ich schieße Euch über den Haufen!"
Die Menge stutzte einen Augenblick, wich der gezückten Waffe aus und machte freie Bahn. Auch Schutzleute arbeiteten sich mit gezogenem Säbel der Mitte zu. Dort wälzte sich ein Menschenknäuel. — Ein Schuss krachte aus Flatows Waffe. Karl sprang vor, aber schon ging der zweite Schuss los. Ein fürchterliches Johlen und Schreien setzte wieder ein. Karl entwand Flatow die Waffe. Hundert Fäuste stürmten auf den Schützen ein, stießen und schlugen ihn zu Boden. Endlich gelang es Karl, die Rasenden von
dem besinnungslos Daliegenden abzuwehren. Er richtete ihn mit Alberts Hilfe auf und gemeinsam führten sie ihn zurück in sein Haus.
Die in der Kirche zur Andacht Versammelten durchzuckte heftiger Schreck, als das Ewigelämpchen klirrend zur Erde fiel.  Der Geistliche hielt im Verlesen der Messe I inne und sah zum Marienfenster auf, in dessen Herzseite ein strahlenförmiges Loch klaffte.  In der Nähe des Ausgangs erhoben sich einige Männer von ihren Büßerbänken und öffneten die Tür, um die Ursache der Freveltat zu ermitteln. Stimmengewirr drang in den stillen Raum.  Die Neugierde der andern stieg, langsam erhoben sich alle und drängten zur Tür hinaus.  Auch der Pfarrer folgte in seiner Amtstracht.  Er blieb auf der obersten Stufe der Kirchentreppe stehen und sah hinab auf die johlende Menge.  Die zwei Wachtmänner waren vor den Steinwürfen in ein offenes Haus geflüchtet und sahen hin und wieder durch den Türspalt.   Nun richtete sich der Steinhagel nach Flatows Fenster.   Die Geschäftsleute schlossen ihre Läden.   Der Pfarrer hob zu reden an.   Die Menge wandte sich der Kirche zu und horchte auf, bald aber erstickte sie durch höhnische Rufe und Gelächter seine Stimme.  Da trat der pommersche Karl neben den Geistlichen, den er um Haupteslänge überragte. Das von dem breiten Hut beschattete Gesicht mit dem langen, vollen Bart wirkte sichtlich auf die Menge. „Kameraden und Freunde!" rief er mit donnernder Stimme.   „Nehmt Vernunft an und hört auf den Herrn Pfarrer er meint es gut mit den Ausgesperrten!"
„Nein! — Rede du! — Kannst es besser als der!" rief man hinauf.
„Gut — dann hört auf mich! — Ich bitt' Euch, wenn ihr es ehrlich meint mit den Ausgesperten, dann geht nach Hause! Räumt die Straße, ehe die Polizei kommt! Alle Verbandskameraden fordere ich auf, mit mir für Ruhe und Ordnung zu sorgen! Zeigt der Polizei, dass wir sie nicht brauchen!"
„Recht so! Bravo, Karl! Wir helfen dir!" riefen viele Männer. „Von all den andern hoffe ich, dass sie unserer Mahnung Folge leisten!"
Karl eilte mit Albert und andern Männern bis zur nächsten Querstraße. Immer mehr kamen und stellten sich mit in eine Reihe. Dann schritten sie langsam vorwärts und trieben unter gütlichem Zureden die tausendköpfige Menge vor sich hin.  Der Pfarrer lächelte zu Karl hinüber und schien verwundert über den mächtigen Einfluss, den dieser einfache Mann auf die erregte Masse ausübte.   Auch die beiden Schutzmänner wagten sich nun aus ihrem Versteck heraus und sahen dem Zuge nach, der sich bald in den Nebenstraßen verteilte.

 

Weihnachtsbescherung.

Gar nicht schnell genug konnte der schneidende Nordwind die Schneemassen aus seinem grauen Reiche herunterschleudern. Er zerrte und stieß sie von den Dächern und jagte sie im sausenden Spiel die Straßen entlang. Immer wieder wirbelte er den trocknen Schnee auf, rieb ihn zu feinem Pulver, peitschte ihn den eilenden Menschen in die brennenden Gesichter und trieb ihn durch Ritzen und Löcher in die Wohnungen.
Auch die Posten der Ausgesperrten hatte der Schneesturm von den Straßen weggefegt; indes die Fabrikeingänge blieben nicht unbewacht: Die Wirte der Arbeiterlokale räumten den frierenden Posten gern ein Plätzchen am Fenster ein.
Die Ausgesperrten lebten sich immer mehr in die Entbehrungen hinein. Die meisten verrichteten die häuslichen Arbeiten, damit ihre Frauen in der Fabrik oder in der Heimarbeit tüchtig schaffen konnten. Andere fanden nach und nach Gefallen an dem Leben ohne Arbeit. Sie kümmerten sich wenig um Frau und Kinder, suchten sich hier und da einen kleinen Verdienst, verbrauchten einen Teil der Verbandsunterstützung für sich allein und lebten sorglos in den Tag hinein.
Agnes hatte ihre frühere Schürzenarbeit wieder aufgenommen. Die Maschine surrte bis in die Nacht hinein. Die Zwischenmeister des Bekleidungsgewerbes nutzten die Not der Tischlerfrauen aus und kürzten die Löhne.
Zu einem Tannenbäumchen hatte Agnes schon beiseite gelegt. Ohne Kinderfreude wollte sie das Christfest nicht verleben. Eine Sammlung für die Ausgesperrten sollte im Gange sein; darauf konnte man sich wohl nicht recht verlassen, denn niemand konnte wissen, wie sie ausfiel. Erst als ganz fabelhafte Summen im Volksblatt genannt wurden, erzählte Agnes den aufhorchenden Kleinen von dem großen
Weihnachtsmann, der richtig wie vom Himmel heruntergekommen sei.
Lieschen hielt beim Putzen des Kochherdes an und sah misstrauisch zur Mutter auf. „Gibt's ja gar nicht!" sagte sie mit überlegenem Lächeln.
„Gibt's doch!- Nicht wahr, Mutter?" stritt Bernhard. „Aber vom Himmel kommt er nicht!" sagte Lieschen. „Na ja," suchte Agnes den Streit zu schlichten, ohne von der Nähmaschine aufzublicken, „das Christkind wandert eben zur Weihnachtszeit unsichtbar umher und flüstert den Menschen ganz leis ins Ohr, was sie sich einander Gutes tun sollen, und der Weihnachtsmann vermittelt nur das Gute unter den Menschen."
Dagegen lässt sich wohl nichts einwenden, dachte Lieschen und putzte und scheuerte froh weiter.
Echtes Heiligabendwetter! Der eisige Sturm hatte sich zur Ruhe gelegt, und es fiel kein Schnee mehr. Der trübe Himmelsschleier spaltete und senkte sich nach allen Seiten, das dunkle Blau weitete sich immer mehr. Das dicke Schneepolster auf den Straßen dämpfte Tritte und Wagengeräusch, und eine feierliche „Stille Nacht" schien sich vorzubereiten. Lieschen und Bernhard schritten tapfer voraus, Vater und Mutter führten den vierjährigen Willi an der Hand, der immerfort sein kleines Gedicht vor sich hin sagte, das ihm Mutter Agnes für den Weihnachtsmann gelehrt hatte.
Als wären die Tannenbäume nur zur Erhöhung der Festesfreuden gewachsen, so sah es aus. Männer eilten, ein Bäumchen fest unter den Arm gedrückt, nach Hause. Kinder, deren Eltern es nicht zum Kauf reichte, erbettelten sich einige Zweiglein von einem Händler und rannten freudestrahlend davon.
Auch der Eingang zum Volkshaus war von frischem Tannengrün umrahmt. Daraus hervor glühte in roten Buchstaben: „Lasset die Kindlein zu mir kommen" den Eintretenden entgegen. Die breite Steintreppe, die zu den Sälen hinaufführte, war von beiden Seiten mit Tannenbäumen besäumt, die die Luft mit würzigem Harzgeruch erfüllten.
„Da is er ja!" rief der kleine Wille hocherfreut, als Familie Weigert in den hohen Vorraum eintrat.
Da stand er nun, der Weihnachtsmann, zwischen grünen Tannen, die er hoch überragte. Selbstbewusst wie ein Gott schaute er aus seinen milden Augen herab auf die Kinderschar, die ihn wie neugierige Zwerglein umstanden.
„'s ist ein ganz richtiger, der lebt", sagte Bernhard leise zu Lieschen. Diese stand und sah forschenden Blickes hinauf, wie der Alte seinen mächtigen, graubehaarten Kopf nach allen Seiten hin bedächtig drehte und wie er seine Augen und Hände hob und senkte. Gern wäre sie über das davorgezogene Tau gestiegen und hätte seine Hände befühlt, ob diese auch wirklich warm waren wie die ihren, aber da rüttelte und schüttelte der Alte schon wieder klappernd Sack und Spielzeug, mit dem er behangen war, und die Kinder jauchzten laut auf vor Überraschung und Freude. — Ja, er lebte wohl doch. Wenn er bloß einmal sprechen täte, dachte Lieschen.
Weiche Töne eines Harmoniums setzten ein, wunderhelles Licht strahlte, von zwei mächtigen Tannenbäumen aus. Warme Milde umfing die Herzen und stimmte sie andächtig.
Geräuschlos teilt sich eine Wand und weitet den Blick in einen mächtigen Saal. Alles strömt hinein. Stockfinster wirds----Großmütterchen sitzt bei mattem Lampenschein auf der Ofenbank, den Spinnrocken neben sich. Sie lässt die Arbeit ruhen, rückt ihren krummen Rücken am grünen Kachelofen ein wenig gerade, streicht mit der Hand die neben ihr schnurrende Katze und beginnt zu erzählen. Durch verwilderte Wälder geht es, an sprudelnden Quellen und plätschernden Bächen vorbei, über steile Berge und blühende Täler. Durch stille Dörfer, an weidenden Viehherden vorüber führt ihr Weg. Endlich gelangt sie in die große Stadt. Das Christkind habe sie aus fernem Lande hierher gesandt, um die armen Kinder der Ausgesperrten ein wenig zu erfreuen. Drei tiefe Glockenschläge ertönen. Großmütterchen erhebt sich, breitet in großem Bogen ihre Arme, und von hellem Licht umflutet tritt eine Schar feenhafter Mädchen mit buntangefüllten Körben hervor.
Zuerst zögernd, dann laut jubelnd empfangen die Kleinen aus lieblichen Händen die süßen Gaben.
In gedrängtem Zuge ging’s eine Treppe höher hinauf. Hochaufgetürmt   lagen  hier Kleidungsstücke   aller Art.
Mütter prüften und wählten, Kinder standen überrascht in neuen Mänteln und Schuhen. Berge von Weihnachtsstollen ragten auf zwischen langen Reihen von Paketen, Äpfeln und Nüssen, wovon jeder seinen Teil bekam. Und weiter ging es zu Puppen und Pferdchen, zur Welt der Kinderfreuden.
Agnes ließ sich müde auf einer Ruhebank im Vorraum nieder. Albert setzte sich zu ihr. Beide sahen still auf die reiche Masse der Gaben. „Was ist dir?" fragte Albert, als Agnes Tränen über die glühenden Wangen liefen. Sie schüttelte den Kopf: „Lass nur, ich freue mich so sehr."
Ja auch in seiner Brust drängte sich etwas Mächtiges, das nach Ausdruck rang. Umarmen hätte er sein Weib mögen und ihr die Freudentränen wegküssen, die aus so gutem Herzen kamen. Unsäglich glücklich fühlte er sich. Hinauschreien hätte er es mögen in die Ohren der Millionen, die noch zweifelnd der Arbeitervereinigung fern standen: Hier war etwas Hohes, Edles am Werke. Ein Hinweis auf die Not der ums Brot ringenden Brüder hatte dies Wunder hervorgebracht. Mochte man sich in Kirchen wegen der Gottlosigkeit der sozialdemokratischen Arbeiter bekreuzen, mochten weise Staatsmänner erhaben und machtbewusst ihre Lehren belächeln, sie waren doch die Pfadfinder zum wahren Gott. Weder himmlischer Lohn noch höllische Strafen der Frommen hatten es jemals vermocht, das zuwege zu bringen, was hier aus freiem Tun erstanden war. Alle kannten den freudigen Geber, vor dem sich kein Empfangender erniedrigen brauchte. —
Albert und Agnes warteten an der Haltestelle der Straßenbahn und sahen auf ihre Kinder, die froh im Schnee umhersprangen. Klägliches Weinen störte sie aus ihren Betrachtungen. Hinter ihnen schob ein betrunkener Mann eine Frau mit zwei kleinen Knaben zu einer Kneipentür heraus auf die Straße. Die Frau schluchzte: „Schöne organisierte Arbeiter sind das, die das Geschenk ihrer Kinder in Schnaps umsetzen."
„Was?" fragte Albert empört. Agnes Warnung überhörend, trat er schnell in die Wirtschaft ein. „Halt!" rief er, als eben ein Mann sein Weihnachtspaket dem Wirt über den Ladentisch reichte. „Bist wohl des Teufels!"
„Was geht's dich an?   Scher dich weg!".  Der Angetrunkene stieß Albert vor die Brust.
„Das ist sein Eigentum, damit kann er machen, was er will!" Andere traten gegen Albert auf.
„Wollen Sie etwa die Saufschulden bezahlen? Dann geb' ich gern die Waren heraus. Hier sehen Sie!". Der Wirt wies Albert auf einen Stoß Pakete, die hinter dem Ladentische aufgestapelt lagen. „Vierzehn Tage lang haben sie schon Schulden darauf gemacht!"
„Kollegen, seid ihr denn nicht recht gescheit!" rief Albert entrüstet, die Tatsache noch nicht recht begreifend.
Lachen und Höhnen war die Antwort.
Hier konnte er allein nichts ausrichten, das sah er. Er ging hinaus, kehrte aber bald mit zwei Ausschussmitglieder aus dem Volkshause zurück.
Diese traten sofort hinter den Schenktisch, drängten den Wirth beiseite. — „Niemand habe ein Anrecht auf die Geschenke, außer den Familien der Ausgesperrten!" sagten sie. Ein Tumult entstand. Erst als die Ordner mit der Polizei drohten, fügte sich der Wirth.
Betrunkene Männer entrissen ihren Frauen die Pakete, die Albert ihnen zureichte. Andere Frauen liefen mit den geretteten Paketen zur offenen Tür hinaus. Wütend verfolgten die Betrunkenen ihre Frauen, nahmen ihnen die Geschenke weg und warfen sie hinter den Ordnern her. „So — hier! Wir verzichten auf den Plunder! Mütter weinten, Kinder schrieen, wobei sie die im Schnee verstreuten Gegenstände zusammensuchten.
Zitternd vor Aufregung saß Agnes, dicht an Albert gedrückt, in der Straßenbahn. Stumm sahen sich beide in die Augen. Es schien ihnen, dass manche Arbeiter in ihrer Unvernunft Armut und Elend selber zur Unerträglichkeit steigern wollten. Erst daheim in der trauten Stube, im weichen Licht des kleinen Tannenbäumchens, wo der kleine Willi sein Gedicht geläufig aufsagte, von dem er vor dem großen Weihnachtsmann kein Wort mehr gewusst hatte, und wo Lieschen und Bernhard ihre Weihnachtslieder sangen, wurden auch die Herzen der Eltern wieder warm, und sie stimmten mit ein in die alten, klangvollen Weisen.

 

Das Ende des Kampfes.

Heut stand viel auf dem Spiel. Schon lange vor Beginn der Versammlung traten die Meister in hellen Scharen in den Saal. Nichts Gutes ahnend, steckten sie rasch die Köpfe noch ein wenig zusammen und fragten flüsternd, was wohl für ein Ergebnis zutage gefördert sei. Manchem fiel es schwer, das Gefühl zu unterdrücken, dass der Holzarbeiterverband sich nun als der Stärkere erweisen würde. Und sie griffen zum Bierglas, um die innere Erregung abzukühlen.
Endlich begann Obermeister Hartmann in seiner ruhigen Art, von der Bühne aus zu reden. Die Zugeständnisse an die Gesellen webte er geschickt Faden um Faden in seinen Vortrag. Bald rückten die Meister unruhig auf ihren Plätzen hin und her und begannen zu murren.
„Es nützt nichts, meine Herren!" rief der Redner mit verstärkter Stimme. „Eine halbe Million Mark haben die Arbeiter Groß-Berlins für die ausgesperrten Holzarbeiter aufgebracht! Ein Weihnachten ist diesen bereitet worden, wie es manch einer von Ihnen gewiss nicht hatte. Hunger hieß unsere Waffe! Und, wir müssen es uns leider eingestehen, die Arbeiter haben sie uns aus der Hand geschlagen! Auch die Bürger stehen auf Seiten der Ausgesperrten; die öffentliche Meinung spricht gegen uns! Und was nicht übersehen werden darf: Hunderte, ja viele Hunderte der tüchtigsten Gesellen schickt die Verbandsleitung
jede Woche hinaus ins Reich!"
„Gott sei Dank!  Lasst sie laufen, die roten Wühler!"
schrieen die Meister durcheinander.   Ihre Geduld war zu Ende, der Zweck der Rede lag offen zutage.
Kurzsichtig nannte der Obermeister die Ansicht der
Rufer und sprach weiter in die bewegte Versammlung hinein.
„Bedenken Sie, meine Herren, die Konkurrenz!   Täuschen Sie sich nicht mit Kraftworten über die Tatsachen hinweg!
Die „roten Wühler" sind jetzt draußen in der Provinz sehr
willkommen, und es sind nicht die Ungeschicktesten, die hinausgehen; diese werden unsere Fabrikationsmethoden auf die Provinzmeister übertragen, und Sie haben das Nachsehen! Und darum empfehle ich Ihnen einen Vertrag--"
„Wie sieht der aus? — Unter was für Bedingungen?" riefen die Meister wild dazwischen.
Hartmann breitete seine leeren Arme ratlos aus, ehe er den Mund auftat. Ein Ohnmachtsschatten flog über das Gesicht der Versammlung. Und als der Redner kleinlaut sagte, die Gesellen hätten allerdings eine bedeutende Arbeitszeitverkürzung und eine entsprechende Lohnerhöhung in den Vertrag hineingebracht, platzte die Empörung wie ein Gewitterschlag aus aller Munde. „Unsinn! — Blödsinn! — Verrat!" Es raste und tobte aus allen Ecken. Fäuste schlugen auf die Tischplatten, dass die Gläser hochsprangen, mit erhobenen Stühlen drangen die wütenden Meister auf den Vorstand ein. „Raus! — Runter mit den Verrätern!" Hartmann versuchte, mehr durch Bewegungen als durch Sprechen die Tobenden zu beruhigen; jedoch immer ärger ward der Tumult.
Da stieg ein hageres, grauköpfiges Männchen mühsam die Bühnentreppe hinauf. Ruhe trat ein, als es mit dünner, vibrierender Stimme zu reden begann. „Meine Herren Kollegen!" rief es, sich vor Aufregung überschreiend. „Der schwere Kampf wird geführt, um unser Handwerk vor dem Untergange zu retten und es von dem Vampyr — dem Gesellenverbande — für immer zu erlösen! Die Meister sollen wieder stolzerhobenen Hauptes in ihren Werkstellen schalten und walten, wie einst zur Zeit unserer Väter!" Brausender Beifall unterbrach den Alten. „Verstehen Sie mich nur recht, meine Herren! Dieses sagte unser Vorstand von dieser Stelle aus — freilich — vor vier Monaten! Und heut, heut will er uns mit Haut und Haaren dem roten Verbande ausliefern! Vertrag nennt er es, das Todesurteil für uns Kleinmeister —."
Pfuirufe und Drohungen gegen den Vorstand unterbrachen den Alten.
Hartmann suchte noch einmal die Versammelten zu beruhigen, aber der erregte Widerspruch drückte ihn nieder auf seinen Sitz.
Der Alte begann wieder: „Unterstützung versprachen uns der Vorstand und die großen Herren! Jedoch nur der erhalte sie, der bis zum Ende mitmacht, hieß es. Und wie rechnete man uns alles vor: der Hauswirt stundet die Miete, die Lieferanten verlängern die Wechsel — ja, meine Herren, glauben Sie mir!" rief der Alte, durch den Beifall der andern bestärkt, „ich und die Meinen haben auch unsere Magen um Stundung gebeten!  Ich glaubte fest an unsern Sieg, an die Auferstehung des Handwerks!  Heut sind mir die Augen geöffnet, jetzt sehe ich klar, wo der Weg hingeht! Die Holzjuden und Großfabrikanten haben ihre Absicht erreicht: Zur Schlachtbank führte man uns kleinen Meister, um uns  als lästige  Konkurrenten  loszuwerden!  Wie Schmetterlinge nach dem Sommer fallen Hunderte, die das Gewerbe einst großmachten, flügellahm in den Staub! Dennoch, ich will es ehrlich gestehen: als eine Genugtuung— ja, ich sag es frei heraus — als gerechte Vergeltung empfinde ich das mächtige Gedeihen des Holzarbeiterverbandes, der euch große Herren wie ein Strafgericht in Schach halten wird!  Und nicht nur das — nein: ich sehe schon, wie eines Tages die roten Fahnen auch auf Euren Fabriken flattern werden!"
Unter brausendem Beifall erhoben sich die Versammelten und bewegten sich dem Saalausgange zu, ohne auf die Ermahnungen des Vorstandes zu achten.

*

Schweigsam, wie eine stille Anklage wälzte sich ein grauer Menschenzug zu einer anderen Versammlung zwischen den üppigen Schaufensterauslagen der Straßen hin. Die frierenden Hände in den Hosentaschen blickten die Ausgesperrten nach den ausgestellten Reichtümern. Die Not hatte den meisten den schützenden Überzieher von den Schultern gezogen. Rau und grau lag der Himmel schwer über den Dächern. Nicht einmal das Kirchengeläute nahm er in sich auf, platt drückte er es auf die Straßen, wo es schrill erstarb.
Hoch oben im Zirkus fanden Emil und Albert noch ein Plätzchen. Die Glocke ertönte. Aller Blicke wendeten sich nach der Richtung, von der aus sonst die Musik das Zirkusspiel in der Arena begleitete. Tiefernste Worte des Vorsitzenden durchzitterten die Stille des großen Raumes. „Bedenkt", rief er mit erhobener Stimme, „die ganze Arbeiterschaft des Landes — ja die gesamte arbeitende Welt schaut auf uns! Sie wird Euch danken für Euer zähes Ringen; denn Euer Sieg gibt auch jenen Mut und Kraft zum Vorwärtsschreiten auf dem Wege zu freiem Menschentum!" Von innerem Stolz erfüllt, lehnten sich die Versammelten in ihren Sitzen zurück. Dann sprach der Redner von dem Erreichten.
„Ihr wisst es, Kollegen, die Fabrikanten wollten unsern Verband zertrümmern. Sie hielten uns für feig, unwissend und treulos. Sie kannten den Geist nicht, der uns mit der übrigen arbeitenden Welt wie Brüder und Schwestern verbündet. Rauben wollten sie uns die wenigen Stunden des Freiseins, der Erholung, die für uns das Licht bedeuten, das uns herausleuchten soll aus dem dunklen Sumpf der Unwissenheit. Anstatt uns aber sechs Stunden länger in ihren Dienst zu spannen, rangen wir ihnen noch zwei Stunden ab und verstärkten somit den Glanz unseres Lichtes. So bewahrheitet sich auch hier das Dichterwort: Es war ein Teil der Kraft, die nur das Böse will und doch das Gute schafft."
Hier und da im mächtigen Raum begann ein Säuseln. Wie aus der Tiefe kams, nach Worten ringend, als der Redner geendet hatte.
Bartlos, hager schoss ein Mensch hinter dem Rednerpult hervor. „Hier Kollegen!" schrie Fellert, den alle kannten, das Vertragsformular von sich streckend, das sind die Früchte unseres sechzehnwöchigen Kampfes! Und damit uns nicht der Übermut packt, sollen wir sie teelöffelweise erhalten! Mit Paragraphen will uns der Vorstand füttern! Kommissionen und Schiedsgerichte sollen uns in Zukunft zum Rechte verhelfen! Ich sage Euch: Ehe diese Wege alle durchlaufen sind, seid Ihr verhungert! Verschachert, verkauft hat uns der Vorstand an die Fabrikanten. Weg mit dem Mist, der uns das Streikrecht nehmen soll!" schrie er, riss den Vertrag in Stücken und warf sie zum Vorstandstisch hin.
„Der pommersche Karl!" ging es tuschelnd durch die Reihen. Karl warf seinen großen Schlapphut auf den Tisch. Es ward ruhig. Er strich seinen dunkeln Vollbart, ließ seinen Blick über die Versammlung gleiten und begann fest und sicher zu reden.
„Der", er wies auf Fellert, „der treibt ein ganz gewissenloses Spiel mit euch, Kollegen! Während ihr euch bei Wind und Wetter mit Polizei und Streikbrechern herumschlagen musstet, stand Fellert in warmer Werkstatt. Und während Ihr mit euren Familien vor lauter Not nicht aus noch ein wusstet, verdiente er seinen vollen Lohn." „Hört, hört!" kam es verwundert aus allen Ecken. „Ich gönne ihm das Glück; es nimmt ihm aber das Recht, eine solche Sprache gegen den Vertrag zu führen, den ihr mit so schweren Opfern erkämpft habt!"
„Sehr richtig! — Frechheit! — Gemeinheit!" riefen mehrere Stimmen.
„Auch noch etwas andres gebietet uns, für den Frieden einzutreten!" sprach Karl lebhaft weiter. „Viele von euch wissen es, welches Unheil die Aussperrung über manche Familien brachte! Von Woche zu Woche vermehrten sich die Opfer. An den Zahltagen standen sie vor unsern Geschäftsstellen, viele Frauen mit ihren Kindern, und baten flehentlich, einen Teil vom Unterstützungsgelde an sie zu zahlen; denn pflichtvergessen hätten ihre Männer in den letzten Wochen alles Geld für sich allein verbraucht. Andere Kollegen verließen die Stadt, gingen hinaus ins Land, nahmen Arbeit, aber wo? Niemand weiß es! Und die Frauen und Kinder sitzen hier im Elend. Kein Wunder, wenn das unehrliche Gewerbe mächtig um sich greift. Schande und Verderben zeugt der aufgezwungene Müßiggang! Lehnen wir den Frieden ab, machen wir uns mitschuldig vor aller Welt!"
„Wo ist unser Streikrecht?" brauste Fellert noch einmal auf.
„Das? Das können wir nach wie vor ausnützen!"
„Gelogen! — Unsinn! Eingetauscht hat es der Vorstand für ein Stück Papier!"
„Nichtswürdiger Maulheld, du! Zeihst mich der Lüge?" brauste Karl auf. „Weißt du, was es heißt, mit einer Frau und fünf Kindern sechzehn Wochen lang vom Streikgeld leben? Und meinst du etwa, der Verband sei nur ein Streikverein? — Nein, Kollegen! und abermals nein! Der Streik ist ein notwendiges Übel, er ist ein Zeichen unserer Schwäche!
Ja, einer festen, ordnenden Macht gleich muss der Verband allein durch sein Dasein wirken. Nur, wenn auf der Gegenseite alle Vernunft versagt, darf er den Streik entfesseln!"
„Ja, darin liegt Sinn!" — „Das ist wohl die Hauptsache!" — „Das Recht zum Streiken kann uns niemand nehmen", so ging es durch die Versammelten, während Fellert mit seinem Anhang lärmend hinausging.
Nach Schluss der Versammlung pflanzte sich die Siegesnachricht durch die Straßen, und in Gastwirtschaften hörte man triumphieren: „Drei Jahre Ruhe. Na, dann sollen es die Herren nicht noch einmal wagen; nicht zwei Wochen, dann sind wir in den Betrieben und die Herren sind draußen — aber für immer!"

*

„Gellfert? — Ists möglich, auch du hier?" fragte Emil, die Hand zum Gruße reichend, als die beiden Freunde in ein Bierlokal eintraten. „Lotterie gewonnen? —'ne reiche Heirat, was?" Er wies auf Gellferts Trauring.
„Setzt euch." Und all der Fragen nicht achtend, legte Gellfert einen Taler vor Albert hin: „Wirst es jetzt brauchen."
„Mensch, wie manierlich, wie nobel — sieh einer an! Wer hätte das geglaubt! — Gar nicht wieder zu erkennen", scherzte Emil weiter.
„Red nicht soviel", wehrte Gellfert ab, rief den Kellner und bestellte ein gutes Frühstück für sich und die Freunde. Nun ging das Vermuten und Raten über Gellferts Wohlstand hin und her. „Esst und trinkt!" sagte der überlegen. „Nachher kommt ihr mit in meine Wohnung."
Sie folgten ihm. In eine enge Seitengasse bogen die drei ein. Gellfert stemmte sich gegen ein knarrendes Tor, das schief in den Angeln hing. Dann ging es über einen engen Hof, eine wacklige, dunkle Treppe hinauf.
„An die Dunkelheit gewöhnt man sich bald" sagte Gellfert, als er seine Gäste durch den finsteren Korridor in ein geräumiges Zimmer führte, dessen Fenster, trotz des trüben Hoflichtes, verhangen waren. Über der gediegenen Ausstattung schien eine ordnungsliebende Hand zu walten; nur das eine Bett lag da, als sei ihm eben jemand entstiegen.
Auf dem Korridor bewegten sich schwere Tritte, denen ein sachtes Insschlossdrücken der Wohnungstür folgte. Gellfert machte ein verlegenes Gesicht. Bald trat eine frischdreinschauende Dreißigerin ein, die er als seine Frau vorstellte.   Sie begrüßte die Männer freundlich.
„Etwas spät aufgestanden", sagte sie leichthin und
ordnete das Bett.
„Ja, Manne, willst du den Herren nichts auftragen?" sagte sie mehr befehlend als fragend.
Mit dem Geschick eines Lebemannes schlug sie ein Bein über das andere und brannte sich eine Zigarette an. Währenddem trug Gellfert Gläser herbei und schenkte ein. Sie lobte den milden Geschmack des Kognaks und trank immer wieder eine neue Runde an. Gellfert saß lässig in der Sofaecke und überließ ihr die Unterhaltung der Gäste. Bald ward sie zärtlicher, rückte dichter an Albert und sah ihm nachdenklich ins Gesicht. „Ich glaube, wir kennen uns. Man kann sich zwar irren, aber Ihre Sprache und alles — waren Sie öfter im Cafe zur kleinen Fischerin?" „Noch nie."
„Oder wohnen Sie hier in der Nähe?" „Auch nicht."
„Hm — dann weiß ich wirklich nicht — und doch muss ich Sie kennen! — wo — woher bloß? — Ach — Ihr Name rollt mir ja auf der Zunge!"
„Sie haben recht, wir kennen uns", kam ihr Albert entgegen.
„Ja? Wirklich?"
„Weigert ist mein Name."
„Was — Sie — Weigert aus Britz?" schrie sie förmlich heraus. Ihre glühenden Wangen erbleichten; sie ergriff Alberts Hand, drückte und schüttelte sie bewegt: „Ihnen, o Ihnen, hab ich ja so unendlich viel zu danken! Was führt Sie hierher? — Was macht Ihre liebe, gute Frau? — Ach, die gute, wahrhaft gute Seele." In lautes Weinen brach sie aus, als sie ihrer Kinder gedachte und schluchzend lief sie hinaus.
Schweigend saßen die Männer ein Weilchen, dann machte sich Albert und Emil zum Gehen bereit.
Frau Gellfert kauerte auf dem Ruhebett in der Küche und vergrub ihr Gesicht in die Kissen. „Nein, Sie bleiben
noch!". Sie richtete sich auf. „Reden muss ich mit Ihnen, Herr Weigert!" Sie gewann ihre Fassung wieder. „Männe, beeile dich!" rief sie. „Wir gehen zum Mittagtisch! Sträuben Sie sich nicht, meine Herren, Sie sind heut meine Gäste."
Gehorsam legte ihr Gellfert Mantel und Hut zurecht. Sie trat vor den Spiegel. Der geschlossene Mantel, vereint mit der gefälligen Haartracht und dem buntgeschmückten Frühlingshut, verjüngten sie mädchenhaft.
In einer Speisewirtschaft in der inneren Stadt ließ Emmi — wie Gellfert seine Frau nannte — tüchtig auftragen. Dann beim Kaffee und einer guten Zigarette erzählte die ehemalige Frau Manske von ihrem Schicksal.
Als sie damals inmitten der Nacht zu ihrer Schwester flüchten wollte, fand sie das Haus verschlossen. Lange stand sie in schneestürmender Nacht, kein Wächter kam. Straßenmädchen liefen in dauernder Runde an ihr vorbei. Eines trat zu ihr und fragte teilnehmend. Noch ein zweites blieb stehen. „Rausgeschmissen hat se der Olle, weiter is nischt, det siehste doch," sagte diese sachkundig. „Wenn d' keene Bleibe hast, denn komm man zu uns mit. Det Haus hier, wo du rein willst, schließt keen Wächter, hier wohnt bloß 'ne Herrschaft mit ihrem Kutscher."
Da mochten die Mädchen recht haben: der Kutscher? war ja ihr Schwager.
„Komm, komm, nötigte nun auch die andere, „bei uns. kannste fein schlafen, da is heut 'n Platz freigeworden."
Die Teilnahme an ihrem Schicksal tat ihr wohl, sie folgte den Weibern. Und nach einigen Tagen stand sie hinter der Gardine eines kleinen Vorstadtcafés und wartete klopfenden Herzens auf die ersten Gäste.
Vor einem Jahr hatte sie nun den Kellnerinnenberuf aufgegeben. Ein gutzahlender Kundenkreis war ihr treugeblieben. Nur mit der selbständigen Wohnung hatte sie ihre liebe Not, und so heiratete sie Gellfert. Dem armen Kerl sei damit auch geholfen, meinte sie. Nur noch ein paar Jahre, dann gedenke sie in der inneren Stadt ein Logierhaus einzurichten. Dann seien auch ihre beiden Mädel soweit; die wolle sie dann zu sich nehmen.
„Also sehen Sie, Herr Weigert, ich bin auf dem besten Wege, wieder eine anständige Frau zu werden. Übrigens habe ich Gewissensqualen noch nicht ausgestanden. Denn was war meine Ehe anderes als die gesetzlich erlaubte Unzucht mit diesem vertierten Menschen. Ja, ja, nichts weiter wars, Herr Weigert!" beteuerte sie, als die Männer sie groß ansahen. „Heut dagegen bin ich frei, heut hab' ich die Wahl. Und gefällt mir das Treiben nicht mehr, geb' ichs auf. Und gefällt es meinem Männe nicht mehr, mag er gehen. — Aber der geht ja nicht!" Sie strich Gellfert zärtlich über seine dünnen Haare. „Was, Männe, wir verstehen uns schon?" Gellfert nickte lächelnd und hielt ihre Hand
in der seinen.
Die beiden Freunde gingen nachdenklich von dannen.

 

Ohne Obdach.

Agnes reckte sich den schmerzenden Rücken gerade und fuhr mit dem Schürzenzipfel über das schwitzende Gesicht.  Aber es war keine Zeit zu verlieren; der Frost hatte zu lange in der Erde gesessen. Sie trat gleich wieder das Grabscheit tief in den verwucherten Boden und bog und wippte mit aller Kraft, ehe sich endlich die harte Scholle wenden ließ.   Lieschen zerschlug und zerhackte die Erde und zog die vielen Quecken heraus, die dem Boden die beste Kraft entzogen.   An den Rändern wucherte wildes Strauchwerk, dem sollte Albert kommenden Sonntag zu Leibe gehen.   Kein möglicher Spatenstich durfte unterlassen werden, denn jede Schrittlänge gab ein Gericht Kartoffeln.
Die schlechte Meinung der anderen Laubenkolonisten schwand von Tag zu Tag, als sie sahen, wie Agnes sich von früh bis spät abmühte, um Ordnung in das verwilderte Anwesen zu bringen. Erst steckten die Nachbarn die Köpfe zusammen und zeigten verstohlen hinüber zu der verfallenen Bretterbude, in welche die ganze Familie gleich mit Sack und Pack einzog. „So ein Gesindel lockt uns am Ende noch die Polizei auf den Hals!" sagten sie verächtlich.
Dabei war Agnes Tag für Tag gelaufen.--Überall
kamen ihr die Wirte mit denselben Fragen entgegen: „Wie viel Kinder?... „Was ist Ihr Mann?... Tischler — so so — ausgesperrt... Nein nein! — Das tut uns leid, wir haben zu empfindliche Mieter, die können Kinderlärm nicht vertragen." Dazu peinigte Agnes die von Tag zu Tag steigende Gewissheit, dass in ihr schon wieder neues Leben zu seinem Rechte gelangte. Sie mochte es diesmal Albert gar nicht anvertrauen. Bei der Geldknappheit hatten sie die Verhinderungsmittel wieder außer acht gelassen.
Da kam eines Tages ein Brief von Wieland aus Amerika, der vor ungefähr einem Jahr hinübergereist war, um bei seinem wohlhabenden Sohne die alten Tage zu verleben.
Er hatte von der großen Holzarbeiteraussperrung gelesen; und da er nichts weiter für die Ausgesperrten tun konnte, vermachte er ihnen sein Pachtland mit dem Holzhäuschen drauf, für das er den Pachtzins auf etliche Jahre im voraus bezahlt hatte.
Albert übergab diese Angelegenheit dem Verbandsvorstand. Dieser berief nun die ärmsten und zugleich kinderreichsten Familienväter zusammen, um Wielands Vermächtnis auszulosen. Als aber die Männer hörten, wie es Albert erging, überließen sie ihm das Häuschen als Notwohnung und den Acker dazu.
Still für sich hingeweint hatte Agnes in den ersten Nächten, wenn der raue Aprilwind durch die Ritzen der dünnen Bretterwände heulte und zuweilen auch den kalten Regen hindurchpeitschte.
Sie fand es nun aber doch schöner mit jedem Tag. Wenn sie auch manchmal noch ein eisiger Hagelschauer in die Hütte trieb, so lockte die heitere Sonne sie doch bald wieder heraus. Und gar bei den Kindern schien es ihr, als ob sie mit jedem Tage fester hineinwüchsen in die freie Natur. Ais Albert endlich durch den neuen Arbeitsnachweis eine Stelle erhielt, überkam Agnes ein Lebensmut und ein Gefühl der Zufriedenheit, dass sie hätte laut singen mögen bei der Gartenarbeit.
Eines Tages kam die Nachbarin herüber an den Gartenzaun und sah Agnes zu. „Ja ja, da gehören tüchtig Kräfte dazu," begann sie. „Und diese Menge Geld, die man erst hineinstecken muss, ehe etwas herauskommt."
„Wenn mein Mann seine Arbeit behält, wird es schon gehen,", sagte Agnes, indem sie sich aufrichtete und den schmalen Laubenweg hinuntersah.
„Ihr Häufel Kinder ißt was weg, da muss der Mann schon tüchtig arbeiten."
„Herrgott, es ist doch nicht etwa schon wieder alle!" stieß Agnes, die Frau unterbrechend, ängstlich hervor, als sie Albert erkannte, der, mit dem blauen Bündel unterm Arm, den Steg heraufkam. Sie klinkte das Gartentürchen auf und nickte stumm auf seinen leisen Gruß.
„Gräm dich nur nicht schon wieder," sagte er, sich sorglos stellend, „so schlimm, wie es war, kann es nicht mehr werden; der Verband steht ja doch hinter mir."
Er erzählte, wie sehr die meisten seiner Kollegen durch den langen Kampf entnervt waren. Wie unmündige Kinder mussten sie zum Teil bewacht werden. Und da sei er für ihre Sache eingesprungen und habe dem Vertrage Geltung verschafft. So verlor er wieder mal sein Brot, während er für das der anderen eintrat.
„Wenn wir nur halbwegs zu essen haben, alles andere muss dann eben noch zurückstehen," sagte Agnes befriedigt.
Er wandte sich dem Häuschen zu und warf sein Bündel zur offenen Tür hinein. „Bloß mit Dung und Aussaat wird es Zeit."
„Zeit wird es, ja. Aber vorläufig haben wir erst noch ein böses Stück Arbeit zu bewältigen. Langeweile soll dich nicht plagen." Agnes lächelte und wies ihm die mit Blasen bedeckten Hände.
Als Albert eines Tages an der letzten Ecke herumrodete und Agnes alle Unkrautwurzeln auszog, winkte und rief die Nachbarin herüber: Vorn am Wege liege ein Haufen Kuhstalldung, Weigert möge ihn sofort abholen. Da sich Albert und Agnes verwundert ansahen, drängte die Frau zur Eile. Auch hielt ein Bauerwagen vor dem Laubensteg, und zwei Männer setzten strammgefüllte Säcke vor den einzelnen Lauben ab.  Agnes trat den Männern entgegen.
„'s ist doch Laube fünfzehn?" fragten diese.
„Das schon, aber wir haben nichts bestellt."
„'s ist uns egal," und zwei runde Säcke lagen auf dem weichen Acker.
Agnes stand da und betrachtete wohlgefällig die ovalen Knollen. „Mach und binde den Sack zu," mahnte Albert. „Wer weiß, für wen die bestimmt sind."
„Na, für Ihr Feld!" sagte die Nachbarin, die zum Türchen hereintrat und aus ihrer Schürze Tüten mit allerhand Sämereien auf eine Bank legte. „So, — nun wünsch ich, dass alles recht gut gedeihen möge." Sie wollte davoneilen. Albert vertrat ihr den Weg, er wolle wissen, woher all die nützlichen Dinge gekommen seien. „Na — Gott," begann die Frau zögernd, „im Pächterverein sprachen die Männer neulich von Ihnen; einzelne waren erst recht aufgebracht darüber, dass Sie ständig hier wohnen und in den kalten Nächten hier schlafen — na, Sie wissen ja, was alles so zusammengeredet wird. Und da mein Mann auch organisierter Metallarbeiter ist und genau weiß, wie es den Holzarbeitern erging während der langen Aussperrung, trug er den Leuten alles vor und sagte, niemand solle Ihnen das Leben schwer machen. Na — und zu guter Letzt waren alle damit einverstanden, Geld zu Saatkartoffeln und Dung für Ihr Feld aus der Vereinskasse zu bewilligen. Heute kamen die Frauen und gaben ihre Samenreste bei mir ab; sie lassen Ihnen nun alle eine recht gute Ernte wünschen."
In tiefer Dankbarkeit schüttelte Albert der Frau die Hand. Desgleichen tat Agnes, deren Augen in freudiger Erregung feucht glänzten. „Wie sollen wir das wieder gutmachen?" sagte sie mit zitternder Stimme.
„Da ist nichts gutzumachen, liebe Frau. Sie und Ihr Mann haben's verdient. Ich weiß Bescheid. Heut packt es den, morgen einen anderen, und da muss eben einer für alle und alle für einen stehen."

 

Im Arbeitsnachweis.

Wenn sich Amsel und Star am niedrigen Gartenzaun durch kurze Rufe begrüßten und den betauten Acker nach Larven und Engerlingen absuchten, erhob sich auch Agnes vom Lager und schaute ein Weilchen durchs schmale Fensterchen hinaus ins Morgenrot, gerade der aufgehenden Sonne ins Gesicht. Wenn dann das Kaffeewasser sang, beugte sie sich über Albert und weckte ihn durch einen Kuss. Glückliche Stunden stiller Freude waren es für beide, wenn sie am kühlen Morgen in taufrischer Luft Dung und Saatkorn in die der Empfängnis harrende Erde legten. Und beiden kam oft zugleich der Gedanke: Wie leicht ist es doch, glücklich zu sein! Sattessen, Gesundheit und Liebe, das gab ein heiter Gemüt. Drängten sich einem mal die Sorgen hart auf, dann sprang ihm der andere bei und half sie vertreiben; denn dazu hatten sie sich ja zusammengetan fürs Leben. Immer hoffend vorwärtsschauen, dabei aber nicht zu viel vom Leben erwarten — das hatte den Weigert-Leuten die Erfahrung nun schon gelehrt. — Mitunter freilich drückte den Arbeitslosen bange Befürchtung....
„Sorg' dich nicht, sorg' dich nicht!" tröstete dann Agnes. „Was nützt das? Es kommt doch, wie es will; und am Ende wird's von selber wieder gut."
„Von selber?"
„Gewiss! Wir haben's doch erlebt: Alles Sorgen hätt' uns weder Aussaat noch Dünger gebracht. Na, und — wie war’s Weihnachten? Es ist eben etwas unter die Arbeiter gekommen, was früher niemand kannte. Und wenn die Not den einen Teil mal gar zu arg packt, dann regt sich etwas Unwiderstehliches unter den Armen, und — ihre Hilfe ist da. Und du findest auch bald Arbeit, ja, ja," beteuerte sie. „Wirst dir auch wieder Stiefel und Hosen kaufen können. Es wird alles wieder gut, verlass dich drauf. Warum sollte es auch nicht besser werden? Haben wir denn Böses getan, wofür wir Strafe erdulden müssen?
Zum Sommer geht's auch; manches wächst uns in den Mund, und für den Winter kommt auch Rat, denk' ich."
Solch tröstliches Wesen tat Albert wohl. Als ob sich ihr Gottesglaube nun immer mehr den Menschen zuwende, schien es ihm. So schritt er leichten Herzens dem Arbeitsnachweis zu, der im Zentrum der Stadt lag. Er ging den zwei Stunden langen Weg zu Fuß.
Trödler, Versatzgeschäfte, schmutzige Branntweinläden und Speisewirtschaften, die ein Mittagbrot für 25 Pfennig ausboten, hatten sich in der alten, grauen Straße, die zum Arbeitsnachweis führte, niedergelassen und fristeten von der Armut ihr Dasein. Jung und alt, Männer und Frauen, verwetterte und bleichwangige Gesichter wogten die schmale, dunstige Gasse hin und her. Manche kamen aus der Provinz und schleppten ihre ganze Habe mit sich, die sie in Kisten oder Bündeln auf dem Rücken trugen. Dann standen sie vor dem mächtigen Backseingebäude und drängten mit der sich stauenden Menge die breite Steintreppe hinauf.
Auch Albert reihte sich in die Kette seiner arbeitslosen Kollegen ein, die sich langsam zum zweiten Stock hinaufzog.
Immer noch stieg die Zahl der arbeitslosen Holzarbeiter; über dreitausend waren es schon bei der letzten Wochenzählung.
Mächtige Lichtbalken streckte die Sonne durch die großen Saalfenster hinein in den dunstgeschwängerten Raum. Als ob sie frischen Brotgeruch witterten, so hoben die Arbeitslosen ihre Köpfe, wenn das laute Rufen von Namen und Nummern begann. Ob alt, jung, lahm, schief, schwach oder stark, allen stand hier gleiches Recht auf Arbeit zu. Zuerst ins Auge fielen die mit bleichen Gesichtern und weit vom Kopf abstehenden Ohren, die wie gelbes Wachs glänzten; daneben andere mit rotgedunsener Nase und wässerigen Augen; auch solche, die vom Alter schon gebückt und bleich waren, rangen sich mühsam durchs Gedränge. Wie Abschaum trieben diese von Not, Laster, Schicksal Zermürbten auf der Oberfläche des Arbeitsmarktes. Alle griffen sie gierig, mit zitterigen Händen nach den ausgebotenen Stellen, obwohl sie wussten, dass die Fabrikanten sie doch abweisen würden. Mit einer wehrenden Handbewegung drängte sie der alte Vermittler zurück und
zog die Brauchbaren vor. „Das ist ungerecht!" — „Eine Gemeinheit ist's!" — „Unsere Nummer ist an der Reihe, und damit basta! Alles andere geht dich gar nichts an!" So murrten die Abgewiesenen und zogen sich widerstrebend auf ihre Plätze zurück.
Nur wenige freie Stellen kamen heut zur Ausgabe. Hunderte eilten bei jedem Aufruf nach vorn.
„Fellert sucht einen tüchtigen Tischler!" rief der alle Grunert — so hieß der Vermittler.
„Was zahlt der Frühlingsmeister? — Hält er den Vertrag?"
„Nein, Vertragsgegner!"
„Keiner geht hin! Das ist der richtige!" so riefen sich alle warnend zu.
Die Vermittlung nahm ihren Fortgang.
„Ein geübter, nüchterner Tischler auf Salonmöbel! 1560!   1546!   1531!"
„Ich habe 423, mir kommt die Stelle zu!" rief ein großer, starker Mensch mit bläulichrotem Schnapsgesicht, stieß die andern zur Seite und schob sich schwankend zum Podium vor. „Das wäre ja noch schöner! Haben wir hier zu bestimmen oder die Herren Beamten?"
„Die Stelle ist vergeben an 1531! Du erhältst heut überhaupt keine Arbeit, du bist betrunken!" wies ihn Grunert zurück.
„Was geht's dich an? Du Faulenzer! Ich versaufe mein Geld!"
„Ganz recht! Bravo!" kam es vereinzelt von den anderen.
„Ihr gebt ihm noch recht, Kollegen? Die Art bringt doch den Nachweis nur in schlechten Ruf!"
„Ist uns egal!  Wir wollen Arbeit, nichts weiter!"
„Die Stelle gibst du mir!" schrie der Betrunkene und stieg zum Podium hinauf.
„Nein! Du verkaufst sie wieder für ein paar Schnapsgroschen, wie neulich!"
„Arbeit raus, sag' ich dir!"
„Nein! Komm, wenn du nüchtern bist!"
Stoßen und Balgen begann.
Die Arbeitslosen erhoben sich und drängten nach vorn. „Immer feste!" riefen sie anfeuernd.
Der Betrunkene würgte den Alten, drückte ihn an die Wand.
„Was steht Ihr und gafft! Bringt sie doch auseinander!" rief Albert und bahnte sich- einen Weg durch die Menge.
„Ach, was schadet's! Runter mit der Bande!" schrieen andere. „Von unserem Geld fressen die sich dick, und wir warten auf Arbeit und hungern!"
„Blut färbte das weiße Kopfhaar des Alten. Nun griffen auch andere zu und trennten den Betrunkenen von seinem Opfer.
Albert half Grunert auf.
„Ein andermal gibt's noch mehr!" drohte der Große wichtig.
„Pfui, schäm' dich!" sagte Albert verächtlich.
„Warte, du Schmuser, kriegst auch noch mal dein Teil, ehe du an die Futterkrippe kommst!"
„Was willst du?" wandte sich Albert an den Betrunkenen, in dem er den ehemaligen Tischlermeister Maier erkannte, dessen Gesellen er damals aus dem Kamin herausgeholt hatte.
„Nun hört doch den Spion. Tut nichts, als bringt Menschen ins Unglück, und will noch frech werden! Glaubst wohl, ich erkenn' dich nicht wieder, he?"
„Kannst dich ja hier als Polizist anstellen lassen zum Schutze unserer Herren Beamten!" riefen andere, die gern noch ein zweites Raufen veranstaltet hätten.
Aller Blicke umlauerten Albert.   Er ging.
Was bringt doch der Neid nicht alles zuwege, dachte er. Ein Menschenalter stand nun der alte Grunert in der Bewegung, hatte Not und Entbehrungen auf sich genommen, um dem Recht der Armen den Weg zu bahnen, und nun misshandelten ihn seine einstigen Leidensgefährten. Ach, nur etwas Überlegung — und die Kollegen hätten wahrnehmen müssen, wie Trübsal, Unzufriedenheit, Gleichmut und Trunksucht bis hinab zur Verwahrlosung den Alten täglich umgaben. Wie er sich bemühte, gegen diese Freudlosen mit all dem Seelenjammer gerecht zu sein, wie er suchte, sie immer wieder mit neuen Hoffnungen zu erfüllen. Dieser Mensch musste doch wohl felsenfest an das
Gute glauben. Und dieser Glaube gab ihm wohl auch die Kraft, all das Ungemach zu ertragen. —
So in Gedanken, schlenderte Albert von Straße zu Straße. Plötzlich schob sich ihm die neueste Nummer der „Holzarbeiterzeitung" vors Gesicht.
„200 000", mit Eichenlaub umrahmt, stand an deren Kopfe in mächtigen Ziffern. Und eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter.
„Was? — Haben wir schon?, fragte er den „Pommerschen Karl", der nun neben ihm ging, „das ist ja prächtig!"
„Ja, und die Metallarbeiter haben bald 500 000 erreicht. Alles in allem sind wir nahe an die drei Millionen!" triumphierte Karl.  „Mit Riesenschritten geht es vorwärts!"
„So was hört man gern," erwiderte Albert, „wenn nur der innere Gesundheitszustand bei dem schnellen Wachstum dieses mächtigen Körpers nicht leidet."
Helle Bogenlampen flammten vor den beiden auf.
„Mensch, blase nicht Trübsal! Schau, wieder ein Granitstein in unserem Bau!" Beide gingen hinüber auf die andere Straßenseite und betrachteten den neuen, blitzenden Laden, wo flinke, saubere Mädchen die andrängende Mitgliederschar bedienten. Über dem breiten Eingange an schwarzer Stirn erstrahlte in goldflammender Aufschrift: 85. Geschäft der Arbeiterkonsum-Genossenschaft,
„Ja, siehst du, so bohren wir uns dreist hinein in die alte Gesellschaft," sprach Karl weiter.
Sie waren am Verbandshause angelangt.
Nun saß Albert im Sitzungssaal still in einer Ecke unter Beschwerdeführern und Hilfesuchenden und lauschte den mannigfaltigen Verhandlungen.
Oft musste der Vorstand sein hilfbereites Herz zum Schweigen bringen, denn manche mussten abgewiesen werden; sie hatten in guten Tagen ihre Pflicht nicht erfüllt. Diese wetterten gegen die Gefühllosigkeit des Vorstandes, gingen verbittert hinaus und, säten Hass gegen den Verband,
Auch Albert wurde abgewiesen. Er habe in der Angelegenheit, die ihn arbeitslos machte, zu voreilig eingegriffen, hieß es. Karl trat für ihn ein. Da die Arbeit im Verbandsbüro von Tag zu Tag überhand nähme, könne Weigert wohl ein wenig aushelfen, empfahl er. Der Vorstand ging darauf ein.
Etwas verwirrt von der so unverhofften Aussicht auf Arbeit, entfernte sich Albert. Er entschloss sich, den letzten Groschen für eine Straßenbahn zu opfern, denn der Himmel hing schwarz und tief über den Straßen. Warme, stickige Luft presste sich zwischen die Häuser; und jeden Augenblick konnte ein schweres Wetter losbrechen.
Draußen, hinter der Stadt, bog Albert in einen Feldweg ein. Mächtige Ulmen und Eichen zu beiden Seiten des Weges machten es stockfinster; er stolperte über freiliegende Wurzeln. Spannend still war’s. Mutter Natur hielt den Atem an. Plötzliches Blitzen und Krachen von allen Seiten durchdröhnte die laufeuchte Luft, als stürze der Himmel in Stücken zur Erde.
Besorgt um die Seinen, rannte Albert durch den strömenden Regen.
Im Häuschen war mattes Licht. Er sah durch das kleine Fenster. Nur mit dem Hemd bekleidet, saß Agnes auf dem Bettrande, die Hände fest gefaltet auf den Knien, ruhte ihr Blick auf den schlafenden Kindern. Ihr blondes Haar hing lose um das gesunde Gesicht. Einem Schutzengel glich sie in dieser Verlassenheit. Unbemerkt trat Albert ein.
Erleichtert sah Agnes auf, als er, vor Nässe triefend, vor ihr stand. Sie reichte ihm die Hand und zog ihn wie zum Schutze an sich.
„Du hast gebetet?" fragte er.
„Ja - was sollte ich wohl tun so allein mit den Kindern. Und am Ende wär' dir auch was passiert; das ist ja ein Feuer und Krachen wie in der Hölle," flüsterte sie, immer noch furchtsam. Dann raffte sie sich empor. „Wirst hungrig sein." Sie trug Brot auf. „Der Kaffee ist kalt," klagte sie, „und Feuer anmachen tut nicht gut beim Gewitter."
„Lass nur gut sein, es schmeckt auch so," beruhigte er sie, am trockenen Brote kauend. Schien ihm doch die eigene Not leicht gegenüber dem Elend, von dem er heute in der Sitzung gehört. „Glaubst du es, Agnes: uns geht's noch nicht am schlechtesten!"
„Mag sein. Solange wir gesund sind und auf Besserung hoffen können, lässt es sich schon ertragen. Manchmal, wenn ich so allein bin und mir die Kinder anseh, will es mich ja schier erdrücken, aber wenn du wieder bei mir bist, wird's mir leichter," sagte sie innig.
„Denkst du, mir ergeht es anders? Darum gehört ja auch Mann und Weib zusammen. Allein wäre das Leben für uns Armen wohl unerträglich," erwiderte Albert, während er das Wasser aus seinem Rock zu wringen begann.
„Lass das," riet Agnes, „verziehst ja die Form. Ich steh morgen beizeiten auf, hänge ihn in die Sonne, und ehe du ihn brauchst, ist er trocken."
„Nach Sonnenschein sieht es nicht gerade aus, und ich brauche ihn morgen gleich in aller Frühe."
„Gleich früh?"
„Ja, gleich früh!"
Aber erst im Bett erzählte Albert die frohe Botschaft von der Arbeit, die ihm geworden war.

 

Im Verbandsbüro.

Hohl klangen Alberts Tritte, als er am anderen Morgen über die sauberen Fliesen im geräumigen Flur des Verbandshauses entlang schritt. Wartende Männer und Frauen saßen auf Bänken, die in den Fensternischen standen, andere sahen durch die Scheiben hinüber zur Verbandsdruckerei, wo mächtige Maschinen klapperten und stampften.
Etwas unsicher trat er in den langen, leeren Kassenraum ein, dessen Stille nur ab und zu durch ein kurzes Klingling unterbrochen ward. Durch die großen Fenster strahlte die Morgensonne und badete alle Gegenstände in goldene Flut. Eine mit schwarzem Leder bezogene Bank schmiegt sich wie eine Riesenschlange an der langen weißen Wand hin. Im dunklen Ton gehaltene Schreibpulte, hohe Drehsessel davor, standen wohlgeordnet an der Fensterseite. Ein schmaler Abfertigungstisch zog sich durch die ganze Länge des Raumes. Am vorderen Ende dieser langhingestreckten Tafel schloss sich ein Holzverschlag an, aus dem zwei in Mannshöhe befindliche Mattglasscheiben wie hellgraue Augen in den Raum hineinstarrten. Dahinter wiederholte sich das Klingling in kurzen Abständen.
Die Uhr über der Eingangstür schlug acht. Angestellte traten durch eine Nebentür ein. Kassierer Peinlich trat aus einer schmalen Öffnung seines Verschlages; die Schlüssel klirrten, und zur breiten Bürotür quollen die Arbeitslosen herein. Der Raum war im Nu dicht angefüllt. Fragen und Antworten flogen hin und her, stießen zuweilen hart aufeinander. Ohne Unterlass klirrte das Geld aus den Händen des Kassierers auf die Marmorplatte. Die Empfänger strichen es hastig ein, andere drängten schon ungeduldig nach.
Eine Stockung trat ein. „Soll das etwa meins sein?" presste ein älterer Mann hervor, unwillig auf das hingezählte Geld starrend.
„Ja! Nimm es man weg, damit andere herankönnen."
„Das stimmt aber nicht!"
„Es stimmt schon, zähl nur die Quittung dazu," sagte der Kassierer, wobei er auf den weißen Schein zeigte, der neben dem Gelde lag.
„Ih — Ihr seid ja gemein!" stieß der Alte bitter hervor.
„Lieber Freund, du hast sieben Jahre Zeit gehabt; da hättest du wohl mal an dein Darlehen denken können."
„Geht's dich was an? Du hast kein Recht, mir von dem Almosen etwas abzuziehen — du — du —!"
„Nicht nur ein Recht hab ich, es ist sogar meine Pflicht!" antwortete Peinlich in bestimmtem Ton.
Und weiter ging es: klingling — klirr auf der harten Marmorplatte, während der Alte sich grollend in den Hintergrund zurückzog.
Wie mit tausend Fäden umsponnen saß Albert an seinem Arbeitstisch und zählte und rechnete an Mitgliedsbüchern und vorgedruckten Tabellen herum. Die kritischen Blicke und Bemerkungen der Wartenden lähmten seine Gedanken. Immer wieder musste er den Angestellten Schweiger um Rat fragen, dem er zur Seite gegeben war.
„Hast schon wieder achtzehn Mark herausgerechnet. Der Höchstsatz beträgt siebzehn Mark fünfzig! Kannst du denn nicht zusammenzählen?" fuhr ihn dieser erregt an.
Die Wartenden horchten auf, einzelne lachten.
Albert hielt ein Weilchen an und blickte um sich. Was war das für ein Ton? Am liebsten hätte er alles hingeworfen und wäre davongegangen. Aber er blieb, zählte und rechnete in fiebernder Unruhe weiter. Er war ja im Unrecht. Indessen schob ihm Schweiger schon wieder ein falschberechnetes Buch zu. „Zwölf Mark fünfzig macht es bei 156 Beiträgen, nicht fünfzehn!"
„Du sagtest doch aber —"
„Ach was, sagtest, sagtest! Sieh doch auf die Tabelle!" unterbrach Schweiger barsch Alberts Rechtfertigung. „Ich glaub', es ist schon besser, du lässt es ganz sein, es wird ja doch nichts! Hier, schreib' Quittungen aus; abschreiben wirst du wohl können!"
So ein rücksichtsloser, ungeduldiger Mensch, dachte Albert, tat aber doch mit pochendem Herzen, wie ihm Schweiger gebot. Er sah es ein: auf Minuten kam es hier an; das Drängen und die Ungeduld der Arbeitslosen erregte eben alle und trieb den ganzen Apparat zu jagender Eile an. Immer deutlicher gaben die Wartenden ihrem Ärger Ausdruck: „Größere Räume besorgen — Kollegen zum Helfen annehmen — Zahlen schreiben könn'n wir auch für sieben Mark 'n Tag —- Hunderte stehen zur Verfügung. Aber freilich, die Arbeitslosen können warten, bis sie vor Hunger umfallen, die versäum'n ja nichts!"
So steigerte sich die Spannung immer mehr. Einige Beamte bemühten sich, durch freundliche Worte die erregten Gemüter zu beruhigen Andere fuhren heftig dazwischen. Schweigers Mund stand nicht still; er wollte es allen anderen zuvortun.
Albert wusste wohl: es war nicht leicht, den Menschen gemeinsame Pflichten aufzuerlegen, zumal hier, wo kein Gesetz die Leidenschaften der einzelnen in Grenzen hielt. Aber er meinte, nicht wie auf Polizeistuben oder Kasernenhöfen dürfe hier getadelt und zurechtgewiesen werden. Nein! Selbst die strengsten Worte mussten vom heiligen Geiste der Bewegung eingegeben sein, dann führten sie auch wohl den Verstocktesten zur Sühne, anstatt zur Erbitterung.
So dachte er, als er eben mit einer Handvoll ausgeschriebener Quittungen an den Abfertigungstisch trat und auf eine Lücke im aufgeregten Stimmengewirr wartete, um mit dem Ablesen der Namen zu beginnen.
„Lauter! Lauter!" riefen die Arbeitslosen. Er kam ins Stottern, ehe er den Namen Lawocznijewskewicz herausbrachte.
„Wenn du nicht kannst lesen richtig, scherr dich an Hobbeibank!" fuhr ihn der Träger des so langen Namens dreist an. „Bist woll Freund vom Vorstand, aber nicht rechnen und lesen kannst du!"
Diese Grobheit machte Albert verlegen. Ein inneres Zittern durchbebte ihn. Aber ehe er Zeit hatte, eine Erwiderung zu finden, durchfuhr eine neue Bewegung den Raum.
Ein Mann mit verzerrtem Gesicht schlug mit der Faust auf den Abfertigungstisch. „Ihr Betrüger, gemeinen, gebt mit mein Geld zurück, das ich in zwei Jahren einzahlte!" schrie er.
„Raus mit dir!" kreischte eine blecherne Stimme erregt dazwischen.    Der Beamte Schrepp, ein schwächliches
Kerlchen, sprang behände hinter seinem Pult hervor. „Bist nicht mehr Mitglied, hast seit drei Monaten keinen Beitrag bezahlt! Raus!" fuhr er dreist auf den Wütenden los. Der packte das dünne Männchen mit seinen schweren Fäusten. Albert und Peinlich sprangen hinzu und befreiten Schrepp, während Arbeitslose den Tobenden zurückhielten und zur Tür hinausschoben.
Unterdessen keifte Schweiger auf einen jungen Kollegen ein, bis dieser sein Verbandsbuch in Stücke riss und Schweiger vor die Füße warf, weil ein Teil seiner Unterstützung für rückständige Beiträge einbehalten werden musste.
So griff die Erregung nach und nach auf fast alle über, man schalt, stritt und drohte.   Die Beamten traten von ihren Pulten und sprachen beruhigend in den Lärm hinein — ohne Erfolg.    Da glaubte Schweiger, etwas Wirksames tun zu müssen, kündete die Schließung der Kasse an. Das steigerte die Erregung zum Skandal. Einsichtige Arbeitslose stellten sich auf die Stühle und ermahnten zur Ruhe und Vernunft, aber auch die fanden kein Gehör. — Da — was war das? — erst leise, wie aus der Ferne sich durch die Lücken des Rumors ringend, dann immer lebhafter, den rauen Wirrwarr verschlingend, zogen die lieblichen Töne einer Mandoline wie buntglitzernde Seidenfäden durch den mit Not und Leid, Hass und Neid erfüllten Raum.   Rasch gesellte sich eine Mundharmonika hinzu, und die kühne Weise der Arbeitermarseillaise unterdrückte die kleinlichen Zankstimmen des Alltags.   Beim Kehrreim setzten zuerst einzelne schüchtern ein, bald aber sangen oder summten die meisten mit.   Die Erbitterung wich, und als die Musikanten einen leichten Walzer folgen ließen, breitete sich eine fast heitere Stimmung über das Ganze, ja einige Paare drehten sich in einer Ecke sogar im Tanze.....
Die Mittagzeit war vorbei. Schläfrig strichen sich die Büroarbeiter übers Gesicht und erhoben sich von ihren Sitzen. Kassierer Peinlich stand schmerzenden Kopfes neben seinem Geldschrank. Immer noch einmal überflog er die langen Zahlenreihen im Kassabuch; dann trat er durch die schmale Tür seines Verschlages.  „Es wird von
Tag zu Tag schlimmer," begann er zu klagen. „Unter solchen Zuständen wird es mir unmöglich, die Kasse weiterzuführen."
„Ja, wenn man dabeisteht und mit den Zähnen knirscht, wie es Freund Weigert heut machte, dann hauen uns die Kollegen eines Tages zum Tempel hinaus," begann Schweiger, um zu beweisen, dass so ein Neuling von den schweren Pflichten eines Büroarbeiters keine Ahnung habe.
„Das ist wahr," nickte der magere Schrepp.
„Es stimmt, ich hätte dem Polen entgegentreten müssen." gab Albert zu. „Mir fiel aber in der Erregung nichts Vernünftiges ein, und grob wollte ich nicht werden."
„Nein, ja nicht grob werden," ahmte Schrepp ironisch nach.
„Ihr könnt's schon glauben, nur Ruhe und Besonnenheit macht das Gemeine wirkungslos," fuhr Albert fort. Und ein jeder sollte sich bemühen, sich in den Gemütszustand der Arbeitslosen hineinzufühlen."
Schrepp wehrte ab. „Lass man Weigert, deine Pastorenweisheit kennen wir schon."
Auch Schweiger lächelte überlegen: „Konntest ja heut Vormittag dein Rezept anwenden."
„Jawohl, gerade aus dem heutigen Vorgange solltet Ihr lernen! Wirkte nicht die Musik Wunder? Erstickte sie nicht alles Hässliche und Rohe? Und haben nicht die beiden aufspielenden Kollegen uns alle beschämt?"
„Du mein Gott," erwiderte Schrepp, wir können doch nicht den Kollegen immer etwas vorblasen, wenn sie anfangen zu rasen!"
Alle lachten über Schrepps Schlagfertigkeit. Von draußen trommelte es ungeduldig an die Tür. Peinlichs Schlüssel klirrten.
Fremde, durchreisende Kollegen traten ein. Zwei echte Handwerksburschentypen waren es, die sich vordrängten; sie kamen, um ihre Reiseunterstützung abzuheben. Verwundert sahen sie dem geschäftigen Treiben zu, das sich hier an der größten Zahlstelle ihres Verbandes regte. Aus ihren wetterharten Gesichtern blickten arglose Augen schelmisch blinzelnd nach dem weitgeöffneten Geldschrank hin. Dieser protzige, blankglitzernde Koloss mit dem vielen Gold und Silber im Leibe, schien auf ihre, nur zu drei-
Kerlchen, sprang behände hinter seinem Pult hervor. „Bist nicht mehr Mitglied, hast seit drei Monaten keinen Beitrag bezahlt! Raus!" fuhr er dreist auf den Wütenden los. Der packte das dünne Männchen mit seinen schweren Fäusten. Albert und Peinlich sprangen hinzu und befreiten Schrepp, während Arbeitslose den Tobenden zurückhielten und zur Tür hinausschoben.
Unterdessen keifte Schweiger auf einen jungen Kollegen ein, bis dieser sein Verbandsbuch in Stücke riss und Schweiger vor die Füße warf, weil ein Teil seiner Unterstützung für rückständige Beiträge einbehalten werden musste.
So griff die Erregung nach und nach auf fast alle über, man schalt, stritt und drohte. Die Beamten traten von ihren Pulten und sprachen beruhigend in den Lärm hinein — ohne Erfolg. Da glaubte Schweiger, etwas Wirksames tun zu müssen, kündete die Schließung der Kasse an. Das steigerte die Erregung zum Skandal. Einsichtige Arbeitslose stellten sich auf die Stühle und ermahnten zur Ruhe und Vernunft, aber auch die fanden kein Gehör. — Da — was war das? — erst leise, wie aus der Ferne sich durch die Lücken des Rumors ringend, dann immer lebhafter, den rauen Wirrwarr verschlingend, zogen die lieblichen Töne einer Mandoline wie buntglitzernde Seidenfäden durch den mit Not und Leid, Hass und Neid erfüllten Raum. Rasch gesellte sich eine Mundharmonika hinzu, und die kühne Weise der Arbeitermarseillaise unterdrückte die kleinlichen Zankstimmen des Alltags. Beim Kehrreim setzten zuerst einzelne schüchtern ein, bald aber sangen oder summten die meisten mit. Die Erbitterung wich, und als die Musikanten einen leichten Walzer folgen ließen, breitete sich eine fast heitere Stimmung über das Ganze, ja einige Paare drehten sich in einer Ecke sogar im Tanze.....
Die Mittagzeit war vorbei. Schläfrig strichen sich die Büroarbeiter übers Gesicht und erhoben sich von ihren Sitzen. Kassierer Peinlich stand schmerzenden Kopfes neben seinem Geldschrank. Immer noch einmal überflog er die langen Zahlenreihen im Kassabuch; dann trat er durch die schmale Tür seines Verschlages.  „Es wird von
Tag zu Tag schlimmer," begann er zu klagen. „Unter solchen Zuständen wird es mir unmöglich, die Kasse weiterzuführen."
„Ja, wenn man dabeisteht und mit den Zähnen knirscht, wie es Freund Weigert heut machte, dann hauen uns die Kollegen eines Tages zum Tempel hinaus," begann Schweiger, um zu beweisen, dass so ein Neuling von den schweren Pflichten eines Büroarbeiters keine Ahnung habe.
„Das ist wahr," nickte der magere Schrepp.
„Es stimmt, ich hätte dem Polen entgegentreten müssen." gab Albert zu. „Mir fiel aber in der Erregung nichts Vernünftiges ein, und grob wollte ich nicht werden."
„Nein, ja nicht grob werden," ahmte Schrepp ironisch nach.
„Ihr könnt's schon glauben, nur Ruhe und Besonnenheit macht das Gemeine wirkungslos," fuhr Albert fort. Und ein jeder sollte sich bemühen, sich in den Gemütszustand der Arbeitslosen hineinzufühlen."
Schrepp wehrte ab. „Lass man Weigert, deine Pastorenweisheit kennen wir schon."
Auch Schweiger lächelte überlegen: „Konntest ja heut Vormittag dein Rezept anwenden."
„Jawohl, gerade aus dem heutigen Vorgange solltet Ihr lernen! Wirkte nicht die Musik Wunder? Erstickte sie nicht alles Hässliche und Rohe? Und haben nicht die beiden aufspielenden Kollegen uns alle beschämt?"
„Du mein Gott," erwiderte Schrepp, wir können doch nicht den Kollegen immer etwas vorblasen, wenn sie anfangen zu rasen!"
Alle lachten über Schrepps Schlagfertigkeit.
Von draußen trommelte es ungeduldig an die Tür. Peinlichs Schlüssel klirrten.
Fremde, durchreisende Kollegen traten ein. Zwei echte Handwerksburschentypen waren es, die sich vordrängten; sie kamen, um ihre Reiseunterstützung abzuheben. Verwundert sahen sie dem geschäftigen Treiben zu, das sich hier an der größten Zahlstelle ihres Verbandes regte. Aus ihren wetterharten Gesichtern blickten arglose Augen schelmisch blinzelnd nach dem weitgeöffneten Geldschrank hin. Dieser protzige, blankglitzernde Koloss mit dem vielen Gold und Silber im Leibe, schien auf ihre, nur zu dreiviertel geöffneten Augenlider zu drücken, wie es sonst die grellen Sonnenstrahlen auf der Landstraße taten. An einer Schnur über die Schulter hing das Reisebündel.
„Dir werd' ich gleich mal ein neues Mitgliedsbuch ausstellen," sagte Peinlich, nachdem er die meist losen Blätter nach einem freien Plätzchen abgesucht hatte, um das Reisegeld eintragen zu können. Denn jedes Eckchen war mit Marken und Stempeln aus allen europäischen Ländern bunt besät. Alles Heften mit Zwirn, alles Kleben mit Leim, Siegellack und gekautem Brot konnte das spröde Papier nicht mehr zusammenhalten.
„Ach nein, Bruderherz, jetzt nicht. Sollte mich unser Herrgott wieder einmal mit Arbeit strafen, will ich gern die zwanzig Pfennig opfern. Jetzt kann ich nicht," bat der Angeredete, kniff dabei ein Auge zu und grinste verschmitzt. Hatte so 'n Geldschrankwächter 'ne Winde. Der Wert des Buches stieg mit jedem Tage. Er sollte nur einmal sehen, wie die Augen der jungen Dorf- und Kleinstadtgesellen blitzten, wenn der alte Walzbruder am Abend auf der Herberge seine Reiseabenteuer zum besten gab. Und wenn dabei manches den jungen Gemütern unglaublich vorkam, ging es, zum Zeichen der Wahrheit, an das Entziffern der Stempel und Unterschriften. Dann flossen die losen Nickel beim Abschied leicht in seine Tasche.
Am anderen Tage standen die flüggen Burschen an ihrer Hobelbank, ließen Säge und Hobel ruhen und schauten versonnen zum Fenster hinaus, den fortziehenden Wolken nach. Und wenn sie dann nach Feierabend vor das Stadttor gingen und das Abendglöcklein den sinkenden Tag in die Ewigkeit hinüberläutete, dann standen sie und sahen sehnsüchtig verträumt dem durch die Felder sausenden Eisenbahnzuge nach, bis er sich in weiter Ferne in graue Berge und dunkle Wälder hineinbohrte....
Drei junge Gesellen traten vor. Sie stellten ihre braunen Reisetaschen auf den Tisch, knöpften den dicken Sakko­überzieher auf und gaben ihre Mitgliedsbücher ab.
„Ihr reist doch sofort wieder weiter?" fragte sie Peinlich, halb auffordernd.
„Nein!" erwiderten jene entschieden. „Hier liegen aber zwanzig Prozent der Kollegen auf dem Nachweis."
„Macht nichts, wir finden schon Arbeit." „Aber nur durch den Nachweis dürft Ihr hier Arbeit annehmen, und da könnt Ihr sieben bis acht Wochen warten."
„Das lass nur unsere Sorge sein; ein jeder sucht sich Arbeit, wo er sie am besten findet," gab der eine dreist zurück.
„Was, ihr wollt den Familienvätern hier das bisschen Arbeit noch wegnehmen? Schämt ihr euch nicht? Wo ihr noch so jung seid und euch die Welt überall offen steht?!"
Lächelnd sahen sich die drei an und gingen ohne Gruß hinaus.
„Das ist ja einzig," begann der Sprecher von vorhin, als sie auf der Straße waren.
„Ja, entweder acht Wochen bummeln, oder sofort abreisen, das schreibt uns nun der Verband vor. Dafür zahlen wir Beiträge," sagte der andere höhnisch.
„Hahahaha, die können uns sonst was mit ihrem ganzen Verband," lachte der dritte und tippte sich vielsagend mit dem Zeigefinger an die Schläfe. „Lasst mich nur die Sache machen; ich sage euch: in einer Woche haben wir alle drei Arbeit. Mein Onkel ist Werkführer in einer Tischlerei, der wird uns schon unterbringen."
Im Büro ging es weiter.
„Sterbefall?" fragte Peinlich zu einer Frau hinüber, die sich mit der schwarzen Schürze über die feuchten Augen fuhr. Sie nickte und reichte dem Kassierer die Urkunden hin. Die schleichende Krankheit ihres Mannes hatte auch an ihrer Gesundheit gezehrt, und der in ihrer Nähe weilende Tod hatte ihre Wangen gestreichelt und die Dreißigerin um zehn Jahre älter gemacht. Ihr Mund zuckte noch schmerzhaft nach, wenn sie auf Peinlichs Fragen Antwort gab.
Nun stand sie verlassen da mit den vier Kindern; das Kleinste hielt die auf der Bank sitzende Freundin im Arm. Es kam etwas Leben in die matten Züge der Witwe, und ihr dankbarer Blick umfasste Peinlich, als er einen Fünfzigmarkschein und noch ein paar Goldstücke aufzählte.
Ihre Begleiterin legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter und sprach leise beim Hinausgehen: „Nu biste aba fein raus, Hede. Nee, soviele Jeld! Und een Kranz jibt et und in de Zeitung kommt et ooch noch! So'n Vaband is doch 'ne feine Sache, und jrade in de jrößte Not, wo een allet in der Welt valassen tut!"
„Es war aber auch meinem Willem sein ein und alles: der Verband!" sagte die Witwe stolz.
„Nee, und sone Zicken werd'n hier ooch nicht jemacht, wie anderswo," begann die Freundin wieder. „So, det haste zu kriegen, un denn is jut. Nee, Hede, wat hättste bloß anfangen sollen? Det Jeld von de Krankenkasse reichte doch nich hin und nich her! Hätt'st den Willem ooch reenweg fier arm bejraben lassen müssen."
„Na endlich!" sagte ein Mann ungeduldig, strich über seinen blonden Spitzbart, rückte den Kneifer zurecht und trat auf Peinlichs Ruf an die Kasse. Seine Frau trat neben ihn. Sie war in tiefe Trauer gehüllt und hielt ihr weißes Taschentuch vor den Mund, was ihr ein ganz aufgelöstes Aussehen gab.
„Wie?" fragte der Mann schon zum zweiten Mal zu Peinlich hinüber. „Ich versteh Sie weiß Gott nicht! — Ahaa, so meinen Sie das! Na, das ist ja ein netter Verband — ja, wirklich! Also, das ist die Gerechtigkeit der Sozialdemokraten?"
„Jawohl, mein lieber Herr," entgegnete Peinlich scharf, „das ist Gerechtigkeit! Für junge Leute, die bei Lebzeiten für niemand zu sorgen hatten, wird kein Sterbegeld gezahlt, wenn sie nicht mindestens drei Jahre Mitglied waren."
„Hörst du, Marianne, da hast du den Schwindel!"
Das Taschentuch der Frau verschwand blitzartig vom Munde, und die erst so trübselig dreinschauenden Augen stachen treffsicher auf Peinlich ein. „Pfui, das ist gemein!" kam es giftig durch das Trauergewebe. „Immer hab' ich dem Jungen abgeraten von dem roten Verein. Nun hat er das schöne Geld eingezahlt — und jetzt — Ach, der arme Junge wusste es ja. Aber wenn er nicht zahlte, durfte er in keiner Werkstatt arbeiten. — O, das schöne Geld — das schöne Geld!"
„Jetzt ist's aber genug!" unterbrach Peinlich die Frau heftig.
„Genug? Ja, das glaub' ich, nun Sie das Geld geschluckt haben!" giftete diese weiter.
„Bringen Sie sich doch nicht in so scharfen Gegensatz zu Ihrer Trauerhülle, liebe Frau! Ihr Bruder zahlte 65 Mark in den Verband ein, dafür bekam er 172 Mark an Unterstützungen aller Art heraus. Das ist sozialdemokratische Gerechtigkeit!" spottete Peinlich.
„Reg dich nicht auf," beruhigte der Mann seine Frau, „verklagen werd' ich diese Betrügergesellschaft!"
Dann flog die Tür hart ins Schloss.

*

Und heute war Geldtag der Kranken.   Nicht so ungestüm wie gestern drängten sich die ersten beim Öffnen der Tür in den Kassenraum. Die Rheumatischen und die mit lahmen und schwachen Beinen, denen das Sitzen wohl am meisten not tat, kamen sacht hinterdrein gehumpelt, nachdem schon alle Stühle und die lange Bank besetzt waren. Manche, die noch gesunde Beine hatten, zupften ihren Vordermann, der, auf Stöcken gestützt, zitternd dastand, und überließen ihm den Sitzplatz. Einer klagte dem andern sein Leid, als ob es sich so leichter ertragen ließe.   Die Alten sprachen von der Hausapotheke der Frau Meisterin, mit deren Hilfe in früheren Zeiten die Krankheiten der Gesellen geheilt wurden.   „Wie ganz anders ist es doch heut, wenn einen die Maschine packt," hörte man klagen. — Ja, die Maschine, die bringt auch in die Leiden des Menschen Veränderungen.  Sie bedrängt ihn immer mehr, nimmt ihm ein Stück Werkzeug nach dem andern aus der Hand und leistet das Dutzendfache an Arbeit. Dabei zwingt sie ihn in Abhängigkeit, schlägt, reißt und frisst ihm sogar die Glieder ab, sobald er sie nicht nach ihrem Willen bewegt.   Auch sein Inneres sucht sie in ihre Gewalt zu bringen:  die menschliche Stimme, das Wort schaltet sie aus, mögen sich doch die elenden Menschlein durch Gebärden verständigen. Ihr Kreischen, Pfeifen, Stoßen vereinigt sie zu einem sausenden Dröhnen und verscheucht die Milde aus ihrer Nähe. Hart und gefühllos, wie sie selbst ist, macht sie den Menschen.
Verbissen in sich gekehrt saßen sie nun da, die Opfer der Arbeit; ihre Augen mit den großen Pupillen flogen bald nach rechts, bald nach links, hin und wieder zuckte es ihnen durch eine Gesichtshälfte. Das Reden der anderen schien sie zu verdrießen; Ruhe war ihr Verlangen, denn die Nächte
brachten ihnen selten Erholung. Dazwischen saßen die Bleichen, mit den Millionen Schmarotzern im Leibe. Hin und wieder schwellte ein Hustenanfall ihre Brust, der ihnen das Blut zu Kopfe trieb. Danach schrumpften sie noch mehr in sich zusammen, schüttelten sich, als ob sie frören, und ihre wächsernen Ohren schienen durchsichtiger als zuvor.
Die Jungen taten verwundert über die Rückständigkeit der Ärzte, die ihre Lunge für angegriffen hielten. Sie richteten sich nicht nach den Vorschriften der gelehrten Doktoren, sondern suchten Kurpfuscher auf, die ihnen schnelle Besserung versprachen. So lebten sie in Hoffnung, indem sie den quälenden Husten für eine innerliche Reinigung hielten. „Wenn erst das ganze Böse herausgehustet sein wird, sind wir gesund," sagten sie mit froher Zuversicht.
Gleichgültig saßen die Alten daneben, die durch allerlei Beschwerden langsam auf das Sterben vorbereitet wurden. Welk und geduldig schlummerten sie für sich hin: Zeit hatte für sie keine Bedeutung mehr, nur das Näherrücken des Endes ihrer Unterstützung machte ihnen einige Sorgen.
Dieses ganze Jammerbild umrahmten die Frauen. Die älteren saßen abgehärmt da, sie suchten im stillen nach einem Ausweg, der auch sie dann bald aus all dem Elend hinwegführte, wenn ihnen der Tod den Mann nahm. Auf den Gesichtern der Jüngeren hatte Frau Sorge zwar auch schon ihr schändliches Mal eingebrannt, jedoch ihre Augen verrieten noch Lebenslust. Manche hielten ihre Säuglinge auf dem Schoß und mühten sich ab, sie zu beruhigen. Diese jedoch schrieen weiter in die Welt hinein. Sie erhoben ihre geballten Fäustchen, als wenn sie drohten, einst Rache zu üben für all das Ungemach, das ihren Eltern zugefügt wurde.
Karbolgeruch und allerlei Ausdünstungen sättigten die Luft im überfüllten Raume. Nur die Neueintretenden pumpten durch das Öffnen der Türflügel ein wenig Sauerstoff mit hinein. Gegen das Surren des elektrischen Absaugers beschwerten sich die Nervenschwachen, und gegen das Öffnen der Fenster erhoben die Rheumatischen und Brustkranken. Einspruch. So pressten die Kranken die verbrauchte Luft immer wieder durch ihre Lungen, was ihre Verdrossenheit noch erhöhte.
„Warum glaubt man mir nicht? Bin ich denn eine Lügnerin?" sagte eine junge Frau, halb weinend, als ein Beamter den Geburtsschein des Kindes verlangte, ehe die Wochenbettunterstützung gezahlt werden konnte. „Ich geh morgen ins Geschäft und habe weder Zeit noch Lust, mich noch einmal zu versäumen!" Sie riss das Verbandsbuch an sich und eilte dem Ausgange zu. „Behalten Sie die paar Mark; aber warten Sie, in der nächsten Versammlung wird es mein Mann Ihnen schon heimzahlen!"
„Herrgottsackrah, is dös 'n Weib!" knirschte eine tiefe Mannsstimme. Es war der böhmische Sepp, ein alter Tischler.
„Sie hat aber recht," erwiderte eine andere Frau, „mit uns Frauen machen sie überall, was sie wollen."
„A was, jeder muss sei Sach in Ordnung hab'n! Frech is dös Weib; se droht unsre Leit' mit de Versammlung, wie kleine Kinder mit'm schwarzen Mann."
Ein etwa zwölf Jahre altes Mädchen drängte sich weinend zur Tür.
„Was weinst, mein Kind?" fragte Sepp. „Ich hab kein Geld gekriegt."
„Seh'n Sie, seh'n Sie, da haben Sie's ja," fuhr die Frau von vorhin spitz dazwischen.
„Ma ruhig, ruhig!" wehrte Sepp das Weib ab.
„Warum hast' nix kriegt?"
„Weil ich Vaters Verbandsbuch nicht mit hab.   Und wir wohnen in Weißensee." „Hast' Fahrgeld?"
„Nein.   Mutter hatte keinen Pfennig mehr."
„Gemein ist das!" keifte das Weib schon wieder. „So sind die Herren da vorn — rücksichtslos — sogar gegen Kinder! Ja, gewiss, die Herren haben ja immer ihr Bestimmtes, die kennen keine Not. Ach, du mein Gott! So etwas nennt sich nun Verband, das soll den Arbeitern helfen, dabei haben diese Beamten überhaupt kein Herz im Leibe."
„A was, san Se still! Sie stecken voll Gift!" fuhr Sepp das Weib an, nahm das Mädchen an der Hand, und bahnte sich durch zur Kasse.
„So, mein Kind, nu hast Fahrgeld. Nu beeil dich, damit du vor Schluss wieder hier bist."
„O Gott, o Gott," seufzte eine Frau, die sich ihr zerschlissenes Tuch fester um die Schultern zog, „soviel Beiträge im Rückstand! Und ich? Nichts bekomm' ich raus, alles geht drauf auf Schulden! Oje, oje, was soll ich bloß machen mit den vier hungrigen Mäulern? 's ist schon 's beste, man springt ins Wasser."
Jablonski, ein ältlicher Beamter, der die Frau abfertigte, sprach ihr Mut zu, indem er ihr den Weg zur Armenkasse wies. „So: wird es sich ja notdürftig auskommen lassen mit der Unterstützung aus der Krankenkasse dazu," suchte er sie zu trösten.
„Ach, das ist es ja eben: die Kasse hat er auch verbummelt. Und hier acht Beiträge im Rest. — Was hat der Mann bloß mit dem Gelde gemacht? — Er liegt im Krankenhaus, er ist ja versorgt. Und wir? O, das gottverfluchte Saufen!"
Jablonski trat zu Peinlich. „Nach dem Statut nicht mehr Mitglied," sagte er leise.
„Lass, mach 'ne Ausnahme... ."
Warm dankend, nahm die Frau etliche Silberstücke vom Tisch, wobei ihr die Tränen über die Wangen liefen. Dann ging sie still hinaus.
Plötzlich ging eine unruhige Bewegung durch alle.
„Wasser her!" — „Nette Zustände sind das!" — „Stundenlang warten!" — „Luft zum Kauen, so dick!" — „Rücksichtslosigkeit gegen Kranke!" So riefen Stimmen wirr durcheinander. Ein Mann war hingefallen; er schlug mit den Händen um sich, so dass sein eben erhaltenes Geld umherflog. Dann zogen sich seine Arme zusammen und pressten sich krumm an die Brust. Der Kopf sprang hinten­über, der Körper bäumte und spannte sich. Aus den Augen trat das Weiße hervor, der Mund begann zu schäumen. Die Umstehenden traten erschrocken zurück, flüsterten mitleidig, wendeten aber ihre Blicke, wie aus Furcht, von dem zuckenden Körper ab.
Zaghaft griffen zwei Männer zu und halfen Peinlich, den Kranken auf eine Decke legen. Der Ventilator arbeitete jetzt mit voller Kraft.
„Schon wieder eine!" kam es von der Mitte des Zimmers, wo eine junge Frau bleich, mit geschlossenen Augen auf ihrem Sitz lehnte.
„Ohnmächtig," sagte der alte Sepp.
Eine Frau machte ihr Hals und Brust frei und benetzte sie mit kaltem Wasser. Bald öffnete die Kranke die Augen. Leise mit gebrochener Stimme erzählte sie: Zwei Wochen lang habe sie alle Nächte durchwacht, heute morgen nichts gegessen und im dritten Monat sei es auch schon wieder mit ihr.
„Warum geht Ihr Mann nit ins Krankenhaus, wann's gar so schlimm um ihn steht?" fragte Sepp, der mit einer Tasse Fleischbrühe und einem Dreierbrötchen von draußen hereinkam und es der Frau reichte.
„Er hat so'ne Angst vorm Sterben."
„So, so, Angst hat er. Und da möcht er die Reis' nit allein machen, da will er Sie allweil gleich mitnehm'."
Die Frau bedankte sich für die ihr erwiesene Wohltat. Dann aß und trank und weinte sie, während Sepp für sie die Unterstützung an der Kasse besorgte.
Die Bürouhr zeigte auf zwei. Die Beamten stöhnten auf: War das wieder eine Hetzjagd! Einzelne suchten ihr Frühstückbrot hervor. Alberts Kopf schmerzte. „Geh weg!" fuhr er Schweiger barsch an, der ihm neugierig über die Schulter auf seine Arbeit spähte.
„Auch schon nervös, Herr Kollege? Kaum zwei Tage hier. — Nur Geduld, es kommt noch ganz anders."
Albert bat den jungen Kollegen, der noch wartend auf der Bank saß, er möge den Empfang seiner Unterstützung quittieren. Jedoch trat an dessen Statt das neben ihm sitzende Mädchen vor und griff nach der Feder. „Meinen Namen?" fragte sie unsicher, sich dem Manne zuwendend.
„Das ist egal, kannst auch meinen schreiben."
„Nein, der Empfänger muss unterschreiben!" rief Schweiger hinter seinem Pult hervor.
Verlegen tat das Mädchen einen Schritt seitwärts, so dass es den Mann verdeckte, der hinzutrat.
„Kannst wohl nicht schreiben?" fragte Albert freundlich.
„Nein, noch nicht; er kommt eben aus dem Krankenhause," antwortete das Mädchen errötend. „Er ist mein Bräutigam."  Dann schrieb sie.
Bald auf das schmucke Paar, bald auf die Summe blickend, fragte Albert, ob etwas nicht stimme, da keines
Miene machte, das Geld wegzunehmen. Der Mann nickte und die Flügel seines Umhanges teilten sich auseinander, als ob die darunter verborgenen Hände nach dem Geld greifen wollten. Da schob sich das Mädchen schnell davor, drängte den Mann sanft zurück und begann, die Summe in ihr Täschchen zu zählen. „Nicht alles, Anna," sagte ihr Bräutigam.
„Kommt es dir nicht zu?" sah sie fragend zu ihm auf. „Das wohl, aber es ist zu viel mit dem, was ich schon vorher bekam."
„Wieso zu viel?" fragt Albert.
„Na hier, damit Ihr's wisst!" Und ein bläulich roter Armstumpf und eine verkrüppelte Hand schnellten unter dem Mantel hervor und lagen auf dem Tische.
„O weh!" entfuhr es Albert. „Wie kam das?"
„Die Halbmeterkreissäge packte mich. Ich bin fertig. Ich kann's nicht wieder gutmachen, was der Verband für mich tat." J
Tränen perlten über das gesunde Gesicht des Mannes. Auch des Mädchens Mund zuckte im verhaltenen Weinen.
„Lass das, Wilhelm, sei still, sorg dich nicht schon wieder," sagte sie mit leicht zitternder Stimme. „Ich hab' ja noch ein paar gesunde Hände." Sie zog seine Arme herunter und steckte sie ihm unter den Mantel, den sie fest zuknöpfte.
Freundlich dankend, eng aneinandergeschmiegt, gingen beide hinaus.

*

Es war Sonnabend; der Tag, in dem sich Arbeiter wohl selten irren. Jedoch denen, die heut im Korridor des Verbandshauses auf den Bänken saßen, war es schon seit langem ganz gleich, welcher Tag dem anderen folgte. Es waren die Überflüssigen, die Unbrauchbaren, die hier zusammenkamen. Ihre Erwerbsfähigkeit war, nach Prozenten bemessen, noch zu hoch, um Staatsrente zu beziehen. Für den Tod waren sie noch nicht reif genug. Er ließ ihnen noch einige Jährchen zum ruhigen Genuss und Rückbesinnen, damit sie eine abgeklärte Meinung vom Leben mit in die Ewigkeit hinübernähmen.
So saßen sie nun da: ihre Krücken neben sich gelehnt oder den dicken Stock zwischen die Beine gestellt, das Kinn auf den Griff gestützt, und schwatzten von der bösen Welt, die nur allerlei Kreuz und Ungemach für sie bereit hielt. Sie schmauchten ihr Pfeifchen und blickten sich hilfesuchend nach ihren Frauen um, wenn sie ihr schwaches Gedächtnis bei der Unterhaltung im Stich ließ.
Langsam, bedächtig, den Kopf hängend wie alte Gäule, traten sie in den Kassenraum ein. Die Morgensonne legte sich voll auf ihre alten Gesichter und übergoldete die abgeschabten Kleider. Erst taten sie schüchtern wie Kinder; sie sahen dem lustigen Treiben der Sonnenstäubchen zu, die der daneben lauernde Schatten verschlang. Bald aber war eine flüsternde Unterhaltung im Gange über längst verflossene Zeiten. Der mächtige Umfang des Verbandes erinnerte sie an ihr Alter. Sie sprachen von der Zeit, in der alle Geschäfte noch in einem zweifenstrigen Zimmerchen besorgt wurden. Und nun: wer nicht gut zu lesen verstand, fand sich gar nicht zurecht unter den vielen Abteilungen. Das eine Stübchen hatte sich zu einem mächtigen Granitbau ausgewachsen, der in stark in sich ruhender Größe zum Himmel aufragte, um seine werbende Kraft, einer Telefunkenstation ähnlich, hinaus ins weite Land zu senden.
Die Auszahlung ging heute schnell vor sich. Die Männer blätterten bedächtig in ihren klebrigen Verbandsbüchern und berechneten im voraus, wie viel ihnen wohl zustand.
Alle merkten gespannt auf, als eine Frau resolut aufsprang, mit den fleischigen Armen herumfuchtelte und auf Schweiger erregt einredete: „Wat, det nennen Sie 'ne Existenz? Komm'n Se, wir wer'n tauschen! Dahinten steh'n und klugreden kann ick ooch!"
„Wer einen Erwerb hat, kann nichts kriegen! Damit basta!" sagte Schweiger kurz.
„Huhu, nana, man immer sachte; uff die Tour lass ick mir nich kriegen! Erst lächeln Se mir an und wickeln mir in een Salm ein, als ob Sie mir jleich 'nen Heiratsantrag mach'n woll'n, un nu Se mir ausjehorcht ham, schnauzen Se wie 'n Schandarm: et jibt nischt, basta! Nee, ick denke doch, hier bin ick uff 'm Vaband, hier muss et doch Jerechtigkeit jeben! Mein Oller is doch total futsch; det bißken Handel jehört doch mir! Oder soll ick etwa ooch erst uff Krücken ankomm'n, wa? — Aba ob et nich übaall ejal is:
Haste noch een Paar Arme un noch een Paar Beene, na, denn brauchste nischt!"
„Hören Sie, liebe Frau," Peinlich trat dazwischen, „das Geld zu dieser Unterstützung ist groschenweise gesammelt Kranke und Arbeitslose haben beigesteuert, weil sie meinten, es sei für die Allerärmsten bestimmt, die noch weniger haben als sie selber."
„Dazu jehör doch ick un mein Mann ooch!" unterbrach die Frau den Kassierer.
„Reich sind Sie sicherlich nicht. Aber da muss doch zunächst die Armenkasse und die Landesversicherung eingreifen."
„Ach du mein Jotte, nee, det alte Lied: Nich bei uns, bei de andern musste jeh'n, die sind vapflichtet, die müssen dir helfen!"
„Gut, gut. Wir werden die Sache untersuchen, vielleicht läßt sich etwas für Sie tun," tröstete sie Peinlich.
„Nee, nee, det lassen Se man!" wehrte die Frau ab. „Ick vazichte! Wer arbeeten tut, is ja imma der Dumme! Aba noch eene Frage, da ick nu ma hier bin: Bekommt mein Oller wat, wenn er die Ojen zumacht?"
„Dann erhalten Sie Sterbegeld."
„Soo, ooch janz bestimmt?"
„Wenn sein Buch in Ordnung ist und — wenn Sie seine Frau sind."
„Aha, det wusst ick doch, det da wieda noch een paar „Wenn" dabei sin." Die Frau schlug verlegen die Augen nieder. „Ja, ebend det is et ja: Vaheirat sin wir ja nu noch nich so janz richtig. Aba ick un mein Heinrich ham uns die fufzehn Jahre sehr jut vertragen."
„Wenn Sie zusammen gelebt und Leid und Freud miteinander geteilt haben, gelten Sie bei uns als seine Frau."
„So, det is 'n Wort, det freut mir." Sie blickte auf zur Wanduhr. Dann empfahl sie sich mit geschäftsmäßiger Freundlichkeit.
An der Straßenecke knipste Heinrich ungeduldig mit der Peitsche, und der muntere Braune wandte sich nach seiner Herrn! um. Sie schwang sich auf den Wagensitz und das Gefährt trabte schnell davon und das Wasser schwippte aus den Fischbottichen.
Im Kassenraum nahm die Auszahlung ihren Fortgang. Wie das Geld klimperte! Freudig erglänzten der Alten Gesichter, wenn der Kassierer noch einen Zehnmarkschein neben etliche Silbermünzen legte. Papiergeld! Wie großartig das aussah; so etwas war ihnen schon lange nicht mehr durch die Finger gegangen. Die Frauen griffen rasch nach dem Gelde. Ein Markstück schoben sie wohlwollend dem verlangend dreinschauenden Alten zu. Das Verbandsbuch wickelten sie fest in Papier und steckten es ganz zu unterst in das am Arm hängende Körbchen.
Als Letzter trat noch ein Alter hervor, der eifrig an seinem Rock herumfühlte, dessen Vorderteil von herabgeschütteten Speisen und Getränken schmutzig glänzte.
„Du bist wohl gar nicht Mitglied bei uns?" fragte Albert zu ihm hinüber, während er ihm ungeduldig zusah.
„O gewiss!" rief der Kassierer. „Kienast ist einer unserer treuesten Kunden!"
„Jawoll, fufzehn Jahre schon," sagte der Alte wichtig und suchte mit zittrigen Händen in allen Taschen. „Halt, jetzt fällt es mir ein!" rief er froh und taperte zur Tür hinaus, so schnell es nur ging mit seinen gichtischen Beinen.
„Du, du, Nante!" Er rüttelte seinen Freund auf, der im Korridor saß und fest schlief. „Du hast noch mein Buch von jestern."
Nante dehnte sich schläfrig. „Det kann woll sin — ja — ja."
„Nanu man fix, ick brauch et!" drängte Kienast.
„Aba, du, een duftet Jeschäft war et jestern, sa ick dir. zwee Meta ha ick damit zusammenjefochten!"
„Ach, quattle nich!" Kienast riss das Buch an sich und eilte zurück ins Büro.
„Pfui Teufel!" entsetzte sich Albert, als er die losen klebrigen Blätter durchsah. „Da muss ein neues ausgestellt werden." „Schön, mein Junge, mach's. Mit 'm Alter wird ebend allet eklich," sagte Kienast ruhig, während er seine rote Nase schnäuzte und sich den Schnupftabak aus dem weißen Schnurrbart putzte.
„Nun aber nicht leichtsinnig werden, Alter!" drohte Peinlich lächelnd, als Kienast sein Geschenk im leeren Tabaksbeutel verwahrte.
„Na, selbstverständlich, mein Junge! Det is allet sauber injedeelt: Davon koof ick ma zuerst ma zwee warme Schuhe un eene warme Weste, un denn koof ick ma noch zwee Stiebein un een vanünftigen Spazierstock dazu. Un denn koof ick noch fier meine drei Enkels zu Weihnachten wat: dem ältesten zwee Schlittschuhe, dem andern eene Mundharmonika und dem kleennen, wat mein Liebling is, dem koof ick een Schaukelpferd. — Aba, Kinners, die Freide!"
Die Beamten lachten über die guten Vorsätze des Alten. „Du willst ja lauter Winter- und Weihnachtseinkäufe machen? Es geht doch aber jetzt erst zum Sommer, lieber Freund," sagte Peinlich.
„Jaso, jaja — et jeht erst zum Sommer, det stimmt, aba det macht nischt. Wat ick mir ma vorjenomm'n hab', det setz ick durch! Valasst euch druff, Kinder!" Dann trottete er hinaus, sich durch die Tür noch einmal bedankend.
Am Abend schritt Albert über die Nepomukbrücke, die die Stadt mit einem östlichen Vorort verbindet. Auf dem träge dahinfließenden Wasser lagen flachgestreckt die goldigglitzernden Strahlen der untergehenden Sonne. Einige Gondeln trieben langsam den Fluss hinab. Am Ufer entlang, über Speicher und Fabriken hin gebreitet lag schon die Ruhe des nahenden Sonntags. Von der andern Seite des Flusses kam Gesang herüber, der sich in der Entfernung ganz feierlich ausnahm. In einer Einbauchung am Ende der Brücke standen eine Gruppe Männer vor dem steingrauen Nepomuk. Albert trat hinzu und erkannte Kienast, der in der rechten Hand eine gefüllte Schnapsflasche nach dem Takte des Gesanges schwang.
Das Lied war zu Ende, die Schnapsflasche machte die Runde. Kienast schaute verzückt zum heil'gen Nepomuk empor, der strahlenden Hauptes, leicht auf seinen Hirtenstab gestützt, auf das Treiben der betrunkenen Männer herabsah. Dann nahm Kienast seinen speckigen Hut ab, faltete die Hände und sprach laut, während der kühle Abendwind seine grauen Haare durcheinanderjagte:
„Du lieber Heil'ger, dir gings schlecht: Als du bestand'st auf deinem Recht, Da packte dich des Königs Wut, Ertränkte dich in Moldaus Flut.
Nun sitzt du an Gottvaters Seit' Und bittest für die armen Leut, Dass er in diesem Jammertal Sie schützen mög' vor Not und Qual.
Drum, wenn du mal mit'm Herrgott sprichst, Vergiß uns alte Tischler nicht. Wir leiden manchmal große Not An Branntwein und am lieben Brot.
'ne große Freud' hatt's uns gemacht, Weil der Verband an uns gedacht. Drum bringen wir dir noch ein Lied, Weil ohn' dein Fürbitt' nichts geschieht."
Albert wandte sich ab von dem trunkenen Tun, das halb ernst, halb spöttisch aussah. Noch lange hörte er den Gesang nachklingen, als er immer weiter hinausschritt — bis hinter ihm Häuser und Menschen in der Dämmerung versanken.

 

Der Freund in der Not.

Ein Sonntag. Das Mittagessen war vorbei. Agnes und Lieschen standen in der schattigen Vorlaube und wuschen das Geschirr ab. Bernhard kam zum Gartentürchen hereingerannt. „Mutter, Mutter!" rief er und wies den Laubenweg hinunter, „ein feiner Herr kommt!" Mutter trocknete ihre Hände rasch an der Schürze und hielt das Mädchen zurück, das neugierig mit Teller und Tuch hinauslief. Richtig, da kam der Herr schon und bog in ihren Garten ein. Den Schirm untern Arm gekniffen, den schwarzen Gehrock fest zugeknöpft, das gab dem Manne ein recht vornehmes Aussehen. Heiter grüßte er zur Vorlaubentür hinein. Noch einmal strich Agnes mit der rechten Hand an der Schürze herunter und sah den Fremden unsicher an, ehe sie ihm die Hand zum Gruß reichte.
„Nun, wir kenn' uns doch wohl?" Er sah ihr freundlich in die Augen.
„Ja, der Stimme nach sind Sie Herr Maiwald."
„Stimmt!" nickte Emil.
Agnes räumte einen wackligen Stuhl ab und nötigte den Gast zum Hinsetzen. Ihre Ärmlichkeit machte sie verlegen. Und im Nu war sie hinaus, um Albert zu wecken, der hinter dem Häuschen, im Schatten der Sträucher, sein Mittagschläfchen hielt.
Noch einmal rief sie um die Ecke, als sie zurückkam. „Er schläft immer so fest," sagte sie halb entschuldigend. „Am Vormittag war er zur Versammlung. Und in der letzten Nacht tobte wieder ein so schweres Gewitter, da schläft es sich nicht gut unter dem dünnen Pappdach."
„Auch nachts sind Sie hier?"
„Ja, wir haben keine andre Wohnung, vorläufig," sagte sie bedrückt.
„So, so. Darum kamen auch alle meine Briefe zurück.
Eine gute Idee, alter Junge!" Emil Maiwald trat auf Albert zu, ihm die Hand reichend. „Warst ja mit einem Male wie vom Erdboden verschwunden! Bist wohl im Begriff, dir ein kleines Paradies so im stillen zurechtzumachen? — Alles grünt und blüht, Frau und Kinder gesund und frisch!  Das muss ja eine Lust sein, hier zu leben!"
Albert empfand diese oberflächliche Betrachtung seines Freundes wie eine Herausforderung zur Wahrheit. „Na ja, wenn sonst alles da wäre, ließe es sich schon leben," sagte er, Daumen und Zeigefinger aneinanderreihend. Dann erzählte er, wie alles gekommen war, seitdem sie sich nicht mehr gesehen hatten.
„Das ist freilich schlimm," bedauerte Emil. „Warum hast du aber auch gar nichts von dir hören lassen? Es hat mir ja ordentlich Mühe gekostet, dich aufzufinden."
„Tja, Not macht feige, und hat immer die Neigung, sich zu verkriechen. Bei dir scheint ja wohl Glück im Spiele zu sein," sagte Albert, verwundert wegen der äußerlichen Ver­änderung seines Freundes. An dessen ehemals so harten Händen war keine Spur von Arbeit zu entdecken; die Fingernägel waren gepflegt und blitzten weiß, und alles, was Emil an sich trug, war aus bestem Stoff und modern gearbeitet.
„O ja, danke, mir geht es gut, sehr gut sogar. Nur tut es mir aufrichtig leid, dass es bei dir so bergab ging; ich hätte gewiss schon etwas für dich tun können."
„Ich denke, es muss wohl so sein," sprach Albert, „dass sich einzelne Menschen fortwährend mit dem Elend herumschlagen müssen, damit die anderen einen Abscheu davor bekommen und sich desto energischer zu schützen suchen. Aber wir wollen heut nicht trüben Gedanken nachhängen; ich denk' immer: der Mond muss abnehmen, damit er wieder zunehmen kann. Auch haben wir uns nie ganz unterkriegen lassen, was, Mutter?" Er klopfte Agnes auf die Schulter. „Wir hatten immer noch die Kraft, auch im Elend glückliche Stunden zu erhaschen. Sieh uns an, wir sind alle gesund! Jetzt steht noch auf Wochen hinaus guter Verdienst in Aussicht, und dann — später? Na — dann —"
„Dann? Dann lass mich sorgen!" setzte Emil rasch hinzu.
Albert kannte seinen Freund zu gut: ein Wortemacher war er nie gewesen. „Bist du des Glückes schon so voll, dass du an andere etwas abgeben kannst?"
„Es kostet mich nur ein paar Worte, nichts weiter," sagte Emil sicher.
„Du machst einen wirklich neugierig!" erwiderte Albert, auf eine Erklärung wartend.
Agnes' Blick war auf Emils linken Ringfinger geheftet, auf dem ein breiter, goldener Reif saß, von dem sie die glückliche Lebenswendung des Freundes ableitete. Sie wies auch. Albert durch ein Zeichen darauf hin; und beide reichten dem Verlobten die Hand und beglückwünschten ihn.
„O, hm, ein schönes Paar," sagte Agnes, als Emil ihr eine Photographie überreichte. „Da wird es wohl bald Hochzeit geben?"
„Nach einem halben Jahr vielleicht; erst muss ich mit meiner Schule durch sein."
„Schule — was denn für Schule?" fragte Albert.
„Tja ja, mein Lieber, technischer Betriebsleiter soll ich werden! In der Schönfeldschen Möbelfabrik, die dir vielleicht bekannt ist."
„Ja — kenne ich — Innenarchitektur — eine der besten Fabriken am Ort. — Da sollst du Betriebsleiter werden?"
„Das klingt wie ein schlechter Scherz, was? Ja, bei mir verging auch einige Zeit, ehe ich mich an die Tatsache gewöhnen konnte. Ich will den Hergang kurz erzählen, wie ich zu all dem kam. — Meine Braut ist die Tochter eines Lokomotivführers. Sie hat die Mittelschule besucht, Kochen und Musizieren gelernt, und ist eben eine richtige Kleinbeamtentochter. Ihre ältere Schwester hatte Glück, sie heiratete den Architekten und Möbelfabrikanten Schönfeld. Nun stelle dir das Gesicht vor, das der königlich preußische Eisenbahnbeamte und dessen Frau machten, als sie vernahmen, ich sei Drechslergeselle und arm wie eine Kirchenmaus. Zum Glück machten sie diese Entdeckung zu spät; und so leuchtete es den Alten bald ein: setzten sie mir den Stuhl vor die Tür, so mussten sie für ihre Tochter auch gleich einen bereithalten. Da war nun guter Rat teuer: Einem so hergelaufenen Habenichts ihre Lucie geben, ging unter keinen Umständen. Wir beide wurden also an einem Sonntag zu Sohönfelds zum Kaffee eingeladen, was mir sehr peinlich war. Ich wurde aber angenehm überrascht, denn Schönfeld und seine Frau sind gar prächtige Menschen. Ein leibhaftiger Professor der Musik mit seiner jungen Frau waren zu Gaste. Der Professor fragte mich nach dutzenderlei Dingen, was mich ein wenig ängstlich machte. Bald griff der Professor zum Cello und begleitete ein kurzes Lied, das seine Frau sang. Lucie und ich wurden immer verlegener: das Lied war uns gewidmet. Am Schluss reichte Lucie beiden dankend die Hand, ich folgte ungeschickt ihrem Beispiele. Dann griff Schönfeld zur Flöte, seine Frau setzte sich ans Klavier, und Lucie und mich nötigte man in eine Nische aus feiner Holztäfelung. Weich und mild erklangen die gefühlvollen Weisen. Mit Rosenduft geschwängerte Luft durchzogen leichte Schwaden blauen Zigarettenrauches.  Ich wagte kaum zu atmen.
Als sich der hohe Besuch verabschiedet hatte, steuerten unsere Gastgeber gleich auf ihr Ziel los. Sie sprachen von unserer Zukunft. Ich ging ohne Besinnen auf Schönfelds Vorschläge ein. Erstens musste ich mich verpflichten, mich innerhalb acht Tagen mit Lucie zu verloben, was uns beiden ja keine Überwindung kostete. Dann aber: ein Jahr lang die Kunstgewerbe- und Handelsschule zu besuchen und mich nebenbei ins Geschäft hineinarbeiten; dies erschien mir schon etwas bedenklicher. Ich entschied mich aber kurzerhand für alles; fühlte ich doch: diese Menschen wollen nur das Beste für uns beide.
So gab ich nach acht Tagen meinen Beruf auf und betrat meinen neuen Lebensweg auf Kosten Schönfelds."
„Was will dieser dann tun, wenn du sein Betriebsleiter bist?" fragte Albert.
„Sich der Musik widmen, in der er es schon zu recht anerkannten Leistungen gebracht hat. Das Geschäft soll ihm nur noch als Geldquelle dienen."
Albert drückte seinem Freunde die Hand. „Hoffentlich bleibst du unserer Sache treu."
„An mir soll es nicht liegen!"
„Na, die Erfahrungen machen einen misstrauisch."
„Übrigens stehen Schönfeld und seine Frau der Arbeiterbewegung nicht unfreundlich gegenüber," sagte Emil.
„Da hast du ja keinen Widerstand zu erwarten."
„Nein, sicherlich nicht."
Die Männer saßen in der schattigen Vorlaube, an deren Holzgitter die großblätterige Winde hinauf bis aufs Dach rankte.  „Nun lass uns ein wenig von deiner Zukunft plaudern," sagte Emil, seinem Freunde die gefüllte Zigarrentasche hinreichend.
„Meine Zukunft?" lachte Albert. „O, die ist sehr wandelbar."
„Ich glaub' ich ertrüg's nicht, so vom täglichen Zufall hin und hergeworfen zu werden mit den Sorgen für Frau und Kinder," sagte Emil teilnehmend.
„Gewiss, leicht ist es nicht; aber die Gewöhnung macht es eben erträglich. Was soll man auch dagegen tun, als mutig aushalten? Na, und augenblicklich geht es uns ja nicht schlecht," erwiderte Albert, sich sorglos stellend.
„Ja, augenblicklich," wandte Emil ein. „Wenn einem aber das Leben so viele Verpflichtungen auferlegt, muss man auch suchen, ihm einen festen Halt abzuzwingen."
„Das tu ich auch!"
„So? Hast wohl gar Aussicht auf eine Anstellung im Verbandsbüro?"
„Gott bewahre! Daran habe ich noch nie ernstlich gedacht. Und stellte man mich vor die Frage, würde ich es mir noch sehr überlegen."
„Aber wieso denn? Gibt es noch etwas Besseres, als im Dienste der Bewegung zu arbeiten?"
Albert erhob sich, lief im engen Raum hin und her, als wenn er erst seine Gedanken in Bewegung bringen müsse, dann begann er ein wenig bitter: „Im Dienste unserer Sache arbeiten? O ja! Aber bei unseren Kollegen in Brot stehen, wo es ihnen so unendlich sauer gemacht wird, das ihre zu verdienen, nein, das mag ich nicht für die Dauer!"
„Gefühlssache. Auf welchem Wege gedenkst du dir sonst eine feste Grundlage fürs Leben zu schaffen?"
„Ich allein könnte es allerdings nicht! Aber wir alle, wir denkenden Arbeiter, sind doch schon tüchtig dabei, indem \ wir täglich, ja, stündlich ums Recht auf Arbeit ringen, — woraus uns doch auch das Recht auf Leben und Gesundheit erwachsen muss!"
„Ach, da willst du hinaus! Ja, dabei wird aber noch manch einer zugrunde gehen."
„Zugrunde gehen werden dabei nur die, die nicht fest an unsere Sache glauben,"
„Na ja — daran glauben —"
„Freilich gibt es noch recht viele Hemmungen!" unterbrach Albert seinen schwankenden Freund. „Da ist eine der schlimmsten: das soziale Gespenst, die Arbeitslosigkeit mit ihren Folgen. Dies gefürchtete Ungeheuer begleitet ja die Arbeiter wie ihr eigener Schatten auf Schritt und Tritt. Hinterm Schraubstock, neben der Hobelbank hockt es und lugt hervor, bis es eines Tages den einen oder den anderen triumphierend angrinst und ihn anspringt, um sein schändliches Werk an ihm zu vollziehen. Es sucht dann in seinen Opfern jedes Hoffnungsflämmchen zu ersticken und peitscht in ihnen zuweilen die niedrigsten Leidenschaften auf. Aus Vertrauen wird Misstrauen, Neid steigert es zum glühenden Hass. Es verdüstert ihnen den klaren Blick, damit sie die Quellen ihrer Leiden nicht finden, und quält sie, bis sie missmutig an ihrer eigenen Sache verzweifeln... "
Gesang unterbrach Alberts Rede. Den Mittelsteg herauf kamen zwei Männer, Arm in Arm. So schwankend sie vorwärtsschritten, so unsicher war auch ihr Gesang.
„Es ist der Tischler Göbel von drüben, der andere wird sein Logisherr sein," sagte Agnes leise, indem alle drei vor die Laube traten und nach den Sängern hinübersahen.
„Göbel? — Ja, er ist es. Der war gestern im Verbandsbüro nach Unterstützung," entsann sich Albert.
„Seine Frau klagte mir heute früh ihr Leid. Er ist arbeitslos und war noch nicht zurück mit dem Gelde. Sie suche ihn und habe auch ihren Schlafburschen nach ihm ausgeschickt," sagte sie.
„Wat kickste?" fragte Göbel seinen Begleiter so laut, dass es die drei hören mussten, und sagte weiter, als der andere ein Weilchen stehen blieb: „Allet, allet vor unser Jeld, sa ick dir! Ooch een Stücke Beamter is det nämlich von unsa Büro!"
„Aber sauber, geschmackvoll ist alles angelegt," erwiderte der andere. „Hier bei dir sieht es dagegen aus wie in Wild-West."
„Wild-West, ja. Wo is denn die Olle, det faule Stücke? Macht die denn wat? Zu Hause liegt se!" grollte Göbel und stieß wütend die Tür auf. Beide verschwanden in dem windschiefen Häuschen, um ihren Rausch auszuschlafen.
„Hörtest du, wie er herübergiftete?" unterbrach Albert das Schweigen, mehr wehmütig als erregt. „Das ist einer der schlimmsten Sorte."
Emil schüttelte den Kopf. „Nein, solche Anpöbelungen würde ich nicht einen Tag ertragen."
„Sie haben recht, Herr Maiwald," stimmte Agnes dem Freunde zu, „mein Mann muss doch für seinen Lohn arbeiten, genau wie in der Werkstatt! Da möcht ich schon lieber wieder trocken Brot essen, wenns einem nicht um die Kinder wäre."
"Es wird bald besser werden, Frau Weigert, verlassen Sie sich darauf," sagte Emil beruhigend.
Ihr dankbarer Blick streifte ihn. Dann wandte sich Agnes ab, rief Lieschen herbei, überreichte ihr das Einholekörbchen und munterte sie zur Eile auf.
Sie trat in die Laube an den kleinen Kochherd und begann den Vesperkaffee zu bereiten; Wenn ihr Mann doch vernünftig wäre und zugreifen möchte. Der Emil meint es sicherlich gut mit uns, dachte sie. Ein wenig Stolz erhob sich damals in ihrer Brust, als Albert ihr die Botschaft von der Büroarbeit heimbrachte. Denn es war doch gewiss ein Beweis seiner Tüchtigkeit, wenn er zu solch einem Posten erwählt wurde. Und nun — nun war es, als wärs eine Schande, solch Brot zu essen.
Sie deckte den Kaffeetisch draußen unterm blühenden Fliederstrauch und rief die Männer, die zwischen den grünen Beeten umherschritten.
„Sofort kannst du antreten, das Geschäft geht sehr flott," sprach Emil auf Albert ein, als sich beide am Tische niederließen.
Agnes horchte auf.
„Gut, abgemacht," erwiderte Albert und reichte dem Freunde die Hand.
Froh widmete sich Agnes nun den beiden Knaben, die am Kindertischchen im Schatten der Laube saßen. Lieschen kam mit warmgelaufenen Backen angeeilt, und Mutter begann Streusel- und Butterschnecken aus dem Körbchen zu verteilen.
Albert sollte Expedient im Schönfeldschen Betriebe werden. Wenn er Lust habe, könne er nebenbei die Schule besuchen und sich nach und nach zum Möbelzeichner ausbilden. Die schlimme Zeit solle nun ein für allemal vorüber sein, versicherte ihm sein Freund.
Gern hätte Agnes dem Freunde ein Wort des Dankes gesagt, als er sich zum Aufbruch bereitmachte, fand aber keine rechte Form für ihre Gedanken. Ihr war so leicht, so froh zumute, dass sie fürchtete, etwas ganz Unpassendes zu sagen.
Emil warf ihr einen langen Seitenblick zu, als sie leicht aufstöhnte, indem sie Unkräuter aus dem Salatbeet zog.
Das war es, was ihr in letzter Zeit immer wieder durch den Kopf ging. Was sollte werden, wenn nicht bald regelmäßiger Verdienst ins Haus kam? Die Hebamme würde einfach davonlaufen und es der Polizei melden, sobald sie die Bescherung in dem engen Raume sah. Und die Kinder! — Nein, gar nicht ausdenken mochte sie es! Lieschen sah jetzt schon manchmal so still und nachdenklich an ihr hinauf. Nun war die graue Sorgenwand mit einem Male durchgerissen, neue Hoffnung durchleuchtete ihr Gemüt und vertrieb die hartnäckigen Quälgeister.
Immer noch einmal winkte Agnes dem Freunde nach, der mit Lieschen, die ihn durchs Feld zum Bahnhof weisen sollte, schnell davonging.
„Ach, ich bin ja so froh," sagte sie tief atmend und beugte sich nieder neben Albert, der im Möhrrübenbeet zu jäten begann. Er war still. In seiner Gewissenhaftigkeit machte er sich wahrscheinlich schon wieder Sorgen, ob er auch seinem neuen Posten würde vorstehen können. Recht eigenartig war er manchmal, ihr Albert, dachte Agnes. So gut er es verstand, ihr bei der leisesten Verstimmung Mut und Frohsinn einzureden, so wenig wusste er seine eigenen Grillen zu verjagen. Heute aber sollte er nicht den Kopf hängen! Sie verfiel auf einen ganz neuen Weg, ihn schnell aufzurichten.
„Expedient sollst du werden? Was ist das für ein Posten? Der wird dir wohl recht schwer fallen," begann sie.
„Schwerfallen? O nein. — Gewiss, hineinarbeiten muss man sich erst. Expedient — was das ist? — Ein besserer Hausknecht, nichts weiter! Möbel von der Fabrik zur Kundschaft oder zur Bahn befördern. Selten pünktlichen Feierabend, das wird wohl eine der Schattenseiten sein. Aber dafür gibt es auch 180 Mark Gehalt monatlich."
„Einhundert — achtzig — Mark?" wiederholte Agnes gedehnt. In ihr jubelte es förmlich. Sie warf die Handvoll Unkraut in die Furche und trat mit dem Fuß drauf. „Da können wir wohl unser Feld nun auch mehr als Pläsier betrachten, so, wie die anderen Leute," sagte sie.
Still gingen beide zwischen den Beeten hin, jeder für sich an die bessere Zukunft denkend. Hin und wieder stand eines still, sah wohlgefällig auf das üppige Grün des heranwachsenden Gemüses, oder ihre Blicke folgten verspäteten Hummeln und Schmetterlingen, die noch fleißig von einer Blüte zur anderen flogen, ehe der Abendtau die süßen Kelche schloss. Dann lauschten sie wieder in die feuchtwarme Luft hinein und achteten der Käfer, die den süßduftenden Fliederstrauch summend umflogen. In beiden schien ein neuer Sinn zu erwachen. Ein Raum begann in ihnen frei zu werden, der sich mit neuem Singen und Klingen anfüllte. Sträucher, die am hinteren Ende ihren Garten begrenzten, boten durch eine Lichtung Ausblick auf Wiesen und Kornfelder. Dunkle Schatten wuchsen immer weiter über das frische, tiefer liegende Grün; ein linder Hauch legte sich verschleiernd darüber hin und webte sacht die Brücke vom Tage zur Nacht. Lerchen erhoben sich noch einmal mit einem Triller, schossen aber gleich wieder herab zum Nest ihrer Jungen. In der Ferne erklangen Kuckucksrufe. Agnes trat ein wenig nach vorn; die Zweige beiseite drückend, wies sie hinüber übers weite Kornfeld. Beide lauschten hinein in die untergehende Sonne, deren goldene Strahlen die milden Töne eines zweistimmigen Gesanges herübertrugen. „Emil und Lieschen," sagte Albert, seine Augen mit der flachen Hand beschattend.
„Nein. Sieh doch, bis über die Schulter reicht sie ihm. Seine Braut wird es sein, die ihm so weit entgegengekommen ist." Agnes zeigte auf die beiden, die in Brusthöhe übers Kornfeld ragten.
„Ja, hast recht," bestätigte Albert, dem jungen Paare nachschauend, bis es hinter dem Birkenwäldchen verschwand.

 

Kriegspläne.

„Sollen mit einem Schlage an hundertfünfzigtausend Holzarbeiter brotlos werden?" rief ein vielgelesenes Blatt hinaus in die Öffentlichkeit.
In dieser Frage lag die Mahnung an die Vernunft der Unternehmer. Erfahrung hatte die Kleinbürger gelehrt, dass die Wogen der Arbeiterbewegung auch ihre Existenz unterspülen. Die Angst vor der heraufziehenden Gefahr wuchs sich zu etwas Furchtbarem aus; denn diesmal lauerten ein wenig seitwärts die Gewaltigen vom Baufach, und im Hintergrunde standen die Metallkönige, um sofort einzuspringen, wenn sich die Holzindustriellen als zu schwach erwiesen.
Unglück gereicht dem Bösen zum Glück.
So spannten auch die Fabrikanten das Unglück vor ihren Hoffnungswagen: Das immer dichtere Aneinanderrücken mächtiger feindlicher Heere im fernen Morgenlande machte die Geldleute ängstlich, denn gar leicht konnte sich das europäische Pulverfass entzünden und den Kriegsbrand ins eigene Land tragen. Darum taten sie jedes Goldstückchen, das durch ihre Hände ging, in den Geldschrank und ließen es nicht wieder heraus. Danach verlor das Land täglich an Kraft wie ein Mensch, dem man fortwährend Blut abzapft. Dies gereichte aber vor allen anderen den Armen zum Unglück. Arbeitsmärkte und Arbeitslosenbörsen füllten sich immer dichter, je mehr sich die Geldschränke der Reichen mit Gold füllten.
„Hei, das ist ja eine Lust, anzusehen! Das muss diesmal gelingen!" riefen die Fabrikanten und rieben sich froh die Hände, wenn sie an den Geschäftsstellen der großen Zeitungen vorübergingen. Mit jedem Tage schwollen dort die an der Mauer entlanggezogenen Menschenketten mächtiger an. Männer und Frauen mit kaum der Schule entwachsenen Burschen und Mädchen standen durcheinander. Hei, wie alle nach Arbeit gierten; wie sie sich mit gereckten
Hälsen und in der Luft ragenden Armen nach vorn schoben, als der Verteiler einen Arm voll Zeitungsblätter einem kurz anhaltenden Auto entnahm. Hunderte Hände zugleich griffen nach dem Papier, wie Ertrinkende nach einem Strohhalm. Im Nu waren die Spalten überflogen. Die Hoffnungsvollen zerstoben nach allen Richtungen in die Straßen. Sie rannten; manche sprangen auf fahrende Straßenbahnen. Der größte Teil blieb enttäuscht zurück. Männer spuckten den letzten Priem verärgert im Bogen von sich und schlenderten gleichgültig davon. Frauen zogen ihr Tuch fester um Hals und Schultern und schritten bedrückt ihren Wohnungen zu.
Frühmorgens überflogen die Arbeiterfrauen zuerst den gewerkschaftlichen Teil ihres Blattes, um zu sehen, wie die Sache der Holzarbeiter stehe. „Vater, es sieht sehr bös' aus! Die Protzen verhandeln nicht, sie diktieren!" riefen sie ihren Männern zu.
„Wird's zum Krach kommen?" ging's auf allen Treppenfluren von einer Tür zur anderen. Wussten die, meisten Frauen doch noch zu gut, was es hieß, einen großen Kampf mit dem Unternehmertum durchzuhalten.

*

In einer stillen Nebenstraße der Friedrichstadt saßen im Hinterzimmer einer vornehmen Wirtschaft etwa zwei Dutzend Männer. Am hinteren Ende der langen, weißgedeckten Tafel stand Alexander Freudental, Vorsitzender des Holzindustriellenverbandes. Er begründete die Notwendigkeit einer allgemeinen Aussperrung.
„Meine Herren, die Zeit arbeitet für uns!" rief er am Schluss seiner Rede. „Wir wollen es diesmal den Herren vom Holzarbeiterverbande zeigen, dass der Vertrag auch uns Vorteile bringen kann! Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhung werden glatt herausgestrichen! Denn unsere Arbeiter müssen endlich von dem Wahn befreit werden: für weniger Arbeit, höheren Lohn fordern zu können."
Ein graumelierter Fünfziger, der Generalsekretär Grasse, das Sprachrohr der großen Industrieherren, nahm das Wort.
„Bedenken Sie stets, meine Herren: uns wird solche Kampfstellung leider aufgezwungen! Wessen Gefühl spräche nicht gegen die Not, die unsere Gegenmaßnahmen im Gefolge haben muss; jedoch immer und immer wieder tritt die Frage in den Vordergrund: Wer trägt die Schuld? Und mit der Antwort auf diese Frage sind wir sofort aller Verantwortung ledig. Jene gewissenlosen Elemente, die Führer unserer Arbeiter, die fortgesetzt das Feuer schüren, bis es zur hellen Flamme auflodert, laden alle Schuld auf sich. Darum, meine Herren, beachten Sie eins: Irremachen müssen wir die Arbeiter an ihren Führern, an ihrer Sache!" Und mit erhobener Stimme wandte sich Grasse an den Vorstand des Holzgewerbes: „Sperren Sie geschlossen aus, zwingen Sie Ihre Leute auf die Knie, bewilligen Sie dann, ganz wie aus sich heraus, eine Kleinigkeit, nehmen Sie die Einsichtigen im geeigneten Augenblick in Ihren Betrieben auf; und es müsste mit dem Teufel zugehen, sollten die Arbeiter nicht einsehen, dass ihnen ihr Verband gar nichts nützt!"
Die grauen Köpfe wackelten leicht, ihr Einverständnis mit der Rede bekundend. Nur Behrend, Freudentals Kollege, sagte:   „Was?   Bewilligen?   Machen wir nicht!"
Auf Behrends Widerspruch begann Grasse noch einmal:
„Täuschen wir uns doch nicht, meine Herren! Einen offenen Kampf auf Sein oder Nichtsein können wir mit unserem Gegner heute nicht mehr wagen! Sie verstehen mich doch, ich meine, mit Diplomatie ist mehr zu--"
„Ach was, Diplomatie hin, Diplomatie her!" fuhr Behrend dazwischen. „Helfen, helfen sollen Sie uns, nichts weiter!"
„Das vollen wir auch!"
„Ja, aber wie denn, Herr Grasse? Bis jetzt haben Sie es noch nicht verraten!"
„Meine Herren, Sie verlangen doch nicht etwa, dass das gesamte Unternehmertum mit seinen acht Millionen Arbeitern auf die Beine gebracht werden soll?"
„Haha!" rief Behrend und suchte aufgeregt in seiner Mappe. „Farbe bekennen, Herr Grasse! Hier, bitte, verantworten Sie, was Sie in der letzten Nummer des Fachblattes schreiben!"
„Nichts leichter als das. Bemühen Sie sich nur, Herr Behrend, zu begreifen, dass man nach außen hin-"
„Diplomatisch sein muss! Das Gegenteil von dem tun, was man schreibt!" versetzte Behrend.
„Selbstverständlich! — Aber meine Herren von der Holzindustrie, Sie sind Ihrem Gegner, dem Holzarbeiterverbande, doch nicht gewachsen!"
„Nach Ihrer Ansicht!" rief Behrend.
„O nein, bitte sehr," fuhr Grasse mit seiner rechten Hand im halben Bogen herum, „alle Herren sind meiner Ansicht. Also, ich warne Sie! Denn schon viel zu oft zeigten Sie Ihre schwache Seite. Doch fühlen Sie sich jetzt stark genug, dann zeigen Sie aber nicht wieder nur Ihre gesunden Zähne, sondern beißen Sie zu! Nehmen Sie sich die Herren vom Bau und ganz besonders die vom Metall als Beispiel, das ist Granit, das ist Diamantstahl, daran zerschellen die hohlen Phrasen der Hetzer. Kurzum, es gibt nur eins: entweder lückenlose Aussperrung, oder Sie bringen so schnell als möglich Ihre Haut in Sicherheit und kriechen unter den Vertrag der Gesellen!"
„Das dacht' ich mir," bemerkte Behrend und rückte unwirsch auf seinem Sitz umher. „Ich denk', wir haben uns zusammengeschlossen, uns gegenseitig zu schützen und zu stützen?"
„Das soll auch geschehen! Die Herren stehen alle als drohende Macht hinter Ihnen!" erwiderte Grasse und schlug wieder den halben Bogen mit seiner Rechten. Behrend legte sein glattrasiertes Gesicht in tiefe Falten. „Uhu, auwei! Von der „drohenden Macht im Hintergrunde" wird der Holzarbeiterverband schon in die Knie sinken!"
„Herr Schönfeld hat das Wort!" rief Freudental, das Zwiegespräch unterbrechend.
Schönfeld war wohl der Jüngste von den Versammelten. Er sagte gleich frei heraus, dass er grundsätzlich von seinen Vorrednern abweiche.
„Das wussten wir," nickten sich Behrend und Freudental zu.
„Ja, meine Herren, ganz unumwunden gestehe ich den Arbeitern das Recht zu, sich zu organisieren."
„Doch; wohl nur Ihren Arbeitern!" rief Grasse herausfordernd.
„Nein, nein, allen Arbeitern!"
„Unerhört!" raunte es durch die Sitzung.
„Ihr Widerspruch, meine Herren, gibt mir Anlass, mehr zu sagen, als ich ursprünglich wollte."
Protestierend regten sich alle in ihren Sesseln.
Indes, je länger, desto fesselnder ward Schönfelds Rede. „Wissenschaft und Technik schreiten mit Riesenschritten vom Alten zum Neuen; politische Umwandlungen folgen; alte Regierungssysteme stürzen, die man eben noch für unerschütterlich hielt; und die gesamten Erdenbewohner werden davon ergriffen und beunruhigt."
„Eine sozialdemokratische Agitationsrede," bemerkte Baumeister Zimmer dazwischen.
„Tut nichts, Herr Regierungsbaumeister! Nachweisen will ich, dass es Selbsttäuschung ist, wenn jemand meint, eine so gewaltige Vorwärtsbewegung, die gut dreiviertel unseres Volkes erfasst hat, aufhalten zu können. Diese Bewegung ist doch nicht von außen den Arbeitern aufgepfropft! Der Erhaltungstrieb denkender Wesen ist es, der sich ebenso wenig aufhalten lässt wie die Lust zur Fortpflanzung; denn beides ist der Wille zum Leben. Und genau wie die Sonnenstrahlen die Erde fruchtbar machen, so erwärmt und erleuchtet die Bewegung das arbeitende Volk und erweckt in ihm den höheren Menschheitssinn."
„Die reine Sonntagnachmittagpredigt", sagte Zimmer.
„Verkappter Sozialdemokrat!" rief Behrend.
„Ich spreche zu Ihnen als Mitglied vom Vorstand der Holzindustriellen; habe allerdings auch den Menschen mitgebracht, der, wie es scheint, bei Ihnen die Schwelle des Familienheims nicht überschreiten darf."
Ein Räuspern erhob sich, alle rückten unruhig in ihren Polstern. „Gemeinheit!" Unverschämtheit! Beleidigung!" begann es zu flüstern.
Jedoch Schönfeld sprach ruhig weiter: „Soweit ich Sie kenne, herrschen in Ihren Häusern fromme, vornehme Sitten, und doch scheinen Sie der Meinung zu sein: ein Recht auf Menschlichkeit beginne erst bei zwanzigtausend Mark Jahreseinkommen."
„Das ist eine freche Beleidigung, Sie junger Mann!" schrie der Regierungsbaumeister aufspringend und lief wutschnaufend hin und her. Auch die anderen erhoben sich, um ihren Herzen durch Bewegungen Luft zu machen.
„Mäßigen Sie sich!" rief Grasse dem Redner zu. Sprach beruhigend auf seine Freunde ein und bat sie: Die Rede ruhig mit anzuhören, denn es sei doch beachtenswert, wenn ein Vorstandsmitglied des Arbeitgeberschutzverbandes sozialistische Ideen entwickle. „Und die Wirkung der Rede auf diesen Kreis brauchen wir wohl nicht zu fürchten", fügte er höhnend hinzu.
„Nein, gewiss nicht, aber in helle Wut kann einen solches Geschwätz bringen!" ereiferte sich der Geheime Kommerzienrat Gräulich, Vorsitzender der Metallindustriellen, und spülte seinen Ärger mit einem Glas Wein hinunter. Ein wenig beruhigt lehnte er sich wieder im Sessel zurück und, blies dicke Rauchwolken über den Tisch gerade zu Schönfeld hinüber.
Dieser lächelte überlegen und sprach ruhig weiter: „Ja, meine Herren, leider ist es auch hier so: erst kommt der Ärger, dann das Nachdenken. Gut ist es aber für den, der es umgekehrt macht, der erspart sich den Ärger. Und deshalb will ich meinen Herren Kollegen erst einiges zu bedenken geben, ehe sie sich und andere eine zu große Enttäuschung bereiten."
„'s ist ganz überflüssig!" protestierte Behrend.
„Bei Ihnen! — Mag sein, jedoch weiß ich: Tausende Tischlermeister danken es mir, wenn sie von der Aussperrung verschont bleiben!"
Schönfeld verlieh seiner Rede immer höheren Schwung und hielt die Hörer in Bann: „Sie werden die Arbeiterbewegung am Vorwärtsschreiten nicht hindern, weil sie von Gerechtigkeit und menschlicher Vernunft getragen wird. Techniker, Ingenieure, Wissenschaftler aller Art, Männer der schönen Künste und sogar Geistliche gehen mit ihr. Und ich sehe die Zeit nahen, wo alle diese geistreichen Menschen nur dem Volksganzen dienen werden. So wächst sich die Arbeiterbewegung zu einer gewaltigen Menschheitsbewegung aus!"
„Zukunftsstaat! — Bebel! —" schwadronierten alle durcheinander.
„Zur Sache!" rief Grasse.
„Ich gebe zu, ich habe mich ein wenig von unserm Beratungsgegenstand entfernt. Dennoch gestatten Sie wohl noch ein paar Worte."
„Gibts nicht!" widersprach Behrend.
Da sonst niemand Einspruch erhob, sprach Schönfeld weiter: „Sie sind verloren, meine Herren, sobald das arbeitende Volk erst einmal die Macht des Geldes für sich ausnützt!"
„Uh, das kann ja fürchterlich werden", höhnte Grasse.
„Die Anfänge sind schon da: die Genossenschaften der Arbeiter mit ihren Banken. Da werden eben eines Tages die Milliarden der kleinen Sparer, die heute durch die Sparkassen und Banken der privaten Wirtschaft zugeführt werden, in ihren eigenen Unternehmungen zum Wohle des Ganzen arbeiten. Geld ist der Lebenssaft unserer Wirtschaft. Und fortwährend fließen Hunderte von Millionen als Lohn oder Gehalt durch die Hände der Arbeiter. Und so werden sie eines Tages fast ihren gesamten Bedarf an Waren in ihren eigenen Geschäften decken; sie werden Fabriken bauen; sie werden Ländereien erwerben und Landwirtschaft in der modernsten Art betreiben. Keine Macht der Erde wird sie daran hindern können, weil sie selber bald die gewaltigste Macht sein werden. Kurzum, ich kann nicht glauben, dass sich das arbeitende Volk noch lange mit seinem eignen Gelde ausbeuten lassen wird!"
Behrend sprang voller Wut auf. „Himmelkreuzbombensakrament, was wollen wir uns heut noch alles bieten lassen, meine Herren?! Das ist ja himmelschreiend! Vor der ganzen Welt machen wir uns lächerlich mit solchem Gequatsche!
Darauf fuhren die andern erschreckt aus ihrer Spannung auf und stimmten halb verschämt Behrend zu, als dieser weiter sprach:
„Was gehts uns an, was in fünfzig oder hundert Jahren wird! Bis dahin wird unsere Regierung den Sozialdemokraten schon noch den Zukunftsstaat versalzen! Für uns heißt es jetzt: Auf der ganzen Linie aussperren; und damit basta! Die Zeit ist günstig wie noch nie: Aufträge drängen nicht: die Gesellen sind durch die Arbeitslosigkeit schlapp, ausgehungert; ihre Weiber stehen auf unserer Seite, das weiß ich! Na, und dann haben wir doch unsere friedlichgesinnten Arbeiter; deren Verein uns ein schönes Stück Geld kostet. Und am Ende haben wir doch auch die Polizei und das Militär! — Ach, wissen Sie, Herr Schönfeld, dutzenderlei Mittel gibt es, Ihren kindlichen Traum zu zerstören."
„Herrn Schönfeld tötet ja die Lächerlichkeit. Wenn ich dennoch bitte, ihn aus Ihrem Bunde auszuschließen, so geschieht es deshalb: uns nicht dem Verdacht seiner Narrheiten auszusetzen", sagte Grasse ruhig mit gesenktem Blick.
Dann gab er noch einmal das Versprechen, dass die anderen Industrieherren dem Holzgewerbe zur Seite stehen würden, sobald 60 000 Arbeiter ausgesperrt seien, woran er nach Behrends mutiger Rede nicht mehr zweifle.
„Fenster auf! Luft, Luft!" rief Frau Klara Schönfeld, hastig ins Zimmer tretend, dessen Balkontür hinaus in den großen Garten führte. Nachdem sie Fenster und Tür weit geöffnet hatte, ließ sie sich am Klavier nieder und sang in den stillen Frühlingsabend hinein:
„Aus der Welt die Freiheit verschwunden ist, Es gibt nur noch Herren und Knechte. Die Falschheit herrschet, die Hinterlist, Bei dem feigen Menschengeschlechte... " Eine  mitsingende   Männerstimme  machte  sie   aufhorchen.   „Ach du", sagte sie, sich umwendend.
„Immer weiter, weiter, mein Kind, es passt in meine Stimmung." Schönfeld legte ihr die Hand leicht auf die Schulter.
„In meine auch, du! Trafst du nicht eben dein geliebtes Kleeblatt auf der Treppe?"
„Nein", er setzte sich zu ihr.  „Wen meinst du?"
„Na, der weibliche Vorstand des Holzindustriellenverbandes Deutschlands war hier. Die dicke Behrend, die dünne Freudenthal und dein frommes Tantchen Klingström."
„O, du heil'ge Dreieinigkeit, was wollten die? Seit meiner Mutter Tod übertraten sie ja unsere Schwelle nicht mehr."
„Na, zuerst fragten sie, in meiner Abwesenheit, das Dienstmädchen ordentlich aus, dann schnüffelten sie in allen Ecken der Wohnung umher, entrüsteten sich über unseren Wandschmuck, über unsere Lektüre, durchstöberten unser Schlaf- und Badezimmer, sogar die Küche verschonten sie nicht; und sie fanden, dass aus allem unsere heidnischrote Gesinnung schimmere. Als ich von meinem Spaziergang heimkehrte, empfingen sie mich mit ausgesuchter Höflichkeit und setzten mir folgenden Plan auseinander:  Da die Arbeiter wieder ganz unverschämte Forderungen im neuen Vertrage festgelegt haben, es aber an der Zeit sei, dass die Fabrikanten auch einmal an sich dächten, so solle kein Mittel unversucht bleiben, die Arbeiter zur Vernunft zu bringen. Zu diesem Zwecke sei eine Versammlung für die Frauen der Holzarbeiter in Aussicht genommen.   Sollte
alles dies keinen Erfolg haben, dann--"
„Dann gibt es einen Kampf auf Tod und Leben, bums, bums, bums! Ich kenne die Parole", fiel Schönfeld seiner Frau ins Wort, „O Gott, hätte ich doch ein Fünkchen Anzengruberschen Geist! Dieses gibt ja vorzüglichen Stoff zu einer neuen Kreuzelschreiberkomödie, genannt: Die klugen Angstmeier. — Für dich war die Sache recht peinlich, wie?"
„Peinlich? O nein! Laut ausgelacht hab' ich sie." „Wirklich?"
„Na, gewiss! Was soll ich weiter tun? Als sie dann vor Ärger gar nicht mehr wussten, was sie anfangen sollten, zauberten sie den Geist deiner seligen Eltern hervor: Welch frommes, sittenreines Haus hier einst war, in dem sie frohe, sowie Stunden heiliger Andacht verlebten; ein wahrer Tempel sei es gewesen. Und dieses alles habe ich nun — grausam vernichtet. Und was das schlimmste sei: Du — ständest ganz in meiner Gewalt!"
„Das ist ja wahr! — Welche Seelenkenner!"
„Das sagte ich auch. Ich sagte ihnen aber auch noch, dass sie das alles gar nichts angehe."
„Sehr recht von dir, ganz ausgezeichnet! Einmal mussten wir ja doch mit der Gesellschaft endgültig brechen. Ich hab' heute auch frei von der Leber heruntergeredet."
„Und — was nun?"
„Ausgeschlossen werd' ich."
„O bravo! Dann kannst du dich wenigstens frei bewegen."

 

Aufwärts.

Öde und still, wie ein dürres Stoppelfeld lag der große Saal da mit seinen tausenden leeren Stühlen. Die Tische waren entfernt; rechnete man doch heut mit jedem Plätzchen. Die ersten Besucher sammelten sich plaudernd in den Vorhallen. Albert stieg hinauf zur Gallerie und sicherte sich einen Platz vorn an der Brüstung. Hinter ihm an den großen Fenstern riß der Wind und klatschte schwere Regentropfen an die Scheiben. Langsam füllte sich dann der Raum mit den Vertrauensleuten. Gesprochen wurde wenig; ein kurzer Gruß und Händedruck, dann saßen sie ernst da. Allenfalls fragte einer: „Na, wirds doch noch dazu kommen?" Ein Achselzucken war die Antwort. Das letzte Wort sollte heut gesprochen werden. Von ihnen hing es ab, ob ein monatelanger Kampf oder ein auf Jahre hinausreichender Friede zustande kam.
Der Vorsitzende erhob sich. Es wurde nun ganz still. Mit der zuversichtlichen Ruhe eines Säemannes, der die Fruchtbarkeit seines Ackers kennt, begann er bedächtig Satz für Satz in das stille Kopfmeer hineinzuwerfen. In dem Sprecher vereinigte sich der Wille aller Mitgliedschaften des Reiches; in ihm vereinigte sich auch alle Kenntnis von den Absichten der Gegner. Beides zusammen gab der Rede des obersten Führers Richtung und Ziel.
Den Kopf nach vorn geschoben, sogen die Versammelten die Worte in sich auf. Ihre Zustimmung gab dem Redner immer mehr Sicherheit. Er fühlte sich mit ihnen eins in dem Bewusstsein: nicht Kampf, sondern Erfolg gäbe der Bewegung den Wert.
Nicht überlaut, aber echt war der. Beifall am Schluss. Ein jeder wusste: Das Große lag jetzt in der Festigkeit, in der stillen Besonnenheit, mit der jeder einzelne seine Willenskraft zur Anwendung bringen musste.
Niemand erhob sich zum Wort. Hatte weiteres Reden noch Sinn?   Alle schienen erfüllt vom Bewusstsein ihrer
Macht, der sich das Unternehmertum gebeugt hatte. Nur ganz unbedeutende Nebendinge waren unerfüllt geblieben. Wir kommen wirklich zum sozialen Frieden durch die Verträge, dachte Albert.
Da — plötzlich lief es durch den Saal und zur Bühne hinauf. „Fellert, Fellert", kam es von allen Enden. Wie aus der Erde war dieses Unheil hervorgeschossen. Alle waren leicht erregt.  Was wollte der hier?
„Kollegen!" begann Fellert, „damals, vor Jahren, hab' ich mich bemüht —"
„Die Einigkeit zu zerstören!" rief Albert schlagfertig dazwischen.
„Sehr richtig!" riefen viele zugleich, andere lachten.
Drohende Blicke schoss Fellert hinauf zu Albert und sprach weiter: „Ganz anderer Geist beherrschte euch damals; an einem Härchen hing es, und der Vertrag wäre dem Vorstand vor die Füße geflogen! Ich warne euch: Lasst euch nicht von dem Paradepferd einschüchtern!", wobei er auf den ersten Redner wies.
„Frechheit! Gemeinheit! Strohkopf, dummer!" schrie es ihm aus allen Ecken entgegen.
Einen Augenblick stockte er, dann winkte er mit der Hand, die Rufer abweisend: „Nennt ihr das etwa einen Erfolg? Verraten, verschachert hat euch der Vorstand, genau wie damals!"
„Quatsch! Unsinn! Schluss! Schluss! riefen die Versammelten, rückten ungeduldig mit den Stühlen und sprachen laut miteinander.
Fellert forderte Sorge für Ruhe von der Leitung. Sobald er aber zu reden begann, brach die Unruhe von neuem los.  Endlich trat er unter Gelächter ab.
Albert bat ums Wort.
„Es wäre Feigheit, sich von Fellert die Freude an unserer Kraft verderben zu lassen. Als Meister zahlte gerade er seinen Gesellen weniger als der Vertrag vorschrieb.
„Sehr wahr! Sehr richtig!" rief die Versammlung.
„Gelernt hat er in der Zeit, wo er von uns weg war, nichts. Sein Gift, seine Bosheit raubt ihm alle Vernunft. Sein Sinnen und Trachten ist nur auf Zerstörung gerichtet. Er glaubt nichts, hofft nichts, weiß nichts! Er ist unbelehrbar vor lauter Niedertracht."
„Ausschließen! Raus mit ihm aus dem Verband!" riefen einzelne.
„Nein, Kollegen, wir wollen duldsam sein! Trotz seiner schlechten Eigenschaft, kann er uns doch nützen. Betrachten Sie ihn immer nur als warnendes Beispiel, und lernen Sie von ihm, wie ein vernünftiger, gemeinnütziger Mensch nicht handeln darf."
Fellert drohte zu Albert hinauf und rief ums Wort.
Die Versammelten aber forderten stürmisch Abstimmung über den Vertrag.
Unter wüsten Drohungen gegen den Vorstand verließ Fellert mit einem Anhang von zehn Kollegen den Saal, als alle anderen die Hände erhoben für den Vertrag.
Flügellahm mit gebrochener Kraft lag nun der so kampflüsterne Schutzverband der Holzindustrie am Boden. Ein Zurückdrängen der Holzarbeiter bedeutet eine Niederlage für uns alle, sagten sich die Arbeiter im Lande. Somit standen sie wie ein Mann hinter den bedrohten Kameraden, um die Aussperrung durch einen mächtigen Generalstreik abzuwehren.
Nun ließ es sich auf Jahre hinaus friedlich arbeiten. Ganz automatisch erhöhte sich der Lohn und verkürzte sich die Arbeitszeit von Jahr zu Jahr. So war der langsame Aufstieg gesichert.
Albert schritt in Gedanken versunken dem Bahnhofe
zu.
„Hast es brav gemacht, Junge; dem Burschen musste endlich mal das Handwerk gelegt werden!" Der Pommersche Karl war es, der hinter ihm ging; seine kleine Frau hing fest angeschmiegt an des starken Mannes Arm. Karl war seit einigen Jahren Werkführer in einer großen Fabrik. Wollte er diesen Posten als ehrlicher Kerl verwalten, dann mussten die Gesellen unter guten, festgelegten Bedingungen arbeiten. „Glaubst du's: so bringen wir auch bald die technische Seite der Betriebe unter unseren Willen."
„Ja, gewiss, wir sind auf dem Wege zur Demokratie in der Fabrik. Es hängt eins am andern. Die Arbeit ist auf dem Marsche zur Freiheit."
Albert fühlte sich grob zur Seite geschoben. „Mach Platz, du, sonst trete ich dich in den Dreck!"
„Flegel, nimm dich in acht!" fuhr Karl dazwischen und wollte Fellert zu Leibe, der hastig ausschritt. Die kleine Frau aber hielt ihn resolut zurück.
„Wir sprechen uns heut noch", drohte Fellert auf Albert.
Karl nahm kurz Abschied. Alberts Zug fuhr schon in die danebenliegende Bahnhofshalle ein. Die elektrischen Bogenlampen blinkten wie müde Augen im trüben Dunst der weiten Halle. Die Fahrgäste nickten schläfrig. Auch Albert überfiel bald ein leichter Schlummer.
Er schrak auf, als der Zug das vierte Mal anhielt. Er war am Ziel. Schnell lief er die Stufen zum Ausgang hinunter, um die vor ihm huschende Gestalt zu erkennen. Ach, Unsinn, dachte er, als er sah, wie sie um die Ecke verschwand.
Ein Weilchen stand er still und sah zum Himmel. Er entschied sich für den Weg durch den Park und übers freie Feld, der an den Gärtnereien vorbei hinaus zur Genossenschaftskolonie führt. Diesen einsamen Weg wählte er meist, wenn er im Dunkeln seinem Heim zu schritt. Was ihn sonst nur als unklares Gefühl durchzog nahm hier in stiller Finsternis klare Gestalt an. So schritt er auch heut andächtig seinen Gedanken nachhängend durch die süßlich duftenden Hyazinthenwellen, die aus Blumengärten herüberwehten.
Da — aus dem tiefer liegenden Tor der Gärtnerei stürzte es plötzlich hervor und ein mächtiger Stoß schleuderte ihn auf die Mitte des Weges. Rasch hieb er mit dem Regenschirm auf die Gestalt ein, dass die Krücke zersplitterte. „Du Hund, sollst doch einen Denkzettel haben," keuchte es auf ihn los. Ein Ringen begann. Mit wütendem Gebell sprang der Wachhund am Gartentor hoch. Ein Lichtstrahl fiel auf die Ringenden. Albert erkannte jetzt deutlich Fellert, der ins tiefe Wagengeleise gestolpert unter ihm lag.
„Lassen Sie ab, oder ich lasse den Hund frei!" rief der Mann im Torrahmen.
Fellert ergab sich. Albert sprang zu dem Alten hin­über, in dem er den Gärtnereiwächter erkannte.
„Mit Messern haben Sie sich wohl bearbeitet," wies der Wächter auf Alberts Hand von der im Laternenlicht das Blut tropfte.
Albert schilderte den Überfall, wobei ihm der Alte das Taschentuch fest um die Wunde am Oberarm band.
— Die Verletzung war ungefährlich; der Stich saß in der rechten Armmuskel. „Ein paar Tage Ruhe wirst du wohl vertragen können," sagte Agnes, als Albert, gegen den Willen des Arztes, seiner Beschäftigung nachgehen wollte. „Wir leiden doch keine Not: Dein Gehalt geht weiter und Krankengeld gibt's dazu," rechnete sie.
Wenn er nun allein in der guten Stube über Büchern saß, den Arm in der Binde ruhend, kam öfter das kleine Blondköpfchen die dreijährige Agnes still hereingeschlichen. „Nein, nein, Papa, ich störe nicht, ich mach gar keinen Radau," sagte sie halblaut und trat an die Sofaecke. Dann zog sie den Fenstervorhang fest zu.
„Aber Kind, nun kann doch Papa nicht mehr lesen. Nun ist es doch ganz finster!"
„Puppi hat doch Masern! Musst auch ganz ruhig sein, Papa," sagte sie leise, den Finger warnend erhebend und auf den Fußspitzen zu ihrer Kranken schleichend.
„Hol doch mal ein Glas Wasser, hörst du, Papa?" bat die Kleine, während sie die Fußbank ans Sofa schob und sich neben ihre Puppe setzte.
„Was willst du mit dem Wasser?"
„Na, Puppi muss doch trinken; die kriegt doch Durst beim Schwitzen."
Albert, dem da Spiel gefiel, gehorchte und wandte sich der Tür zu.
„Ja ja, Vaterchen," lachte ihm Mutter Agnes entgegen, die dem Spiel ein Weilchen von der Tür aus zugeschaut hatte, „so will es die kleine Dame haben: einen Diener zu ihrer Puppi."
„Es macht aber Spaß," lachte Albert.
„Spaß? Ja, gewiss, so'n halbes Stündchen, nur nicht den ganzen Tag, und dann dabei arbeiten.
Es klopfte; und hereingepoltert kamen der elfjährige Bernhard und der siebenjährige Willi. Hei, wie die Schulranzen aufs Bücherbrett flogen! Nur schnell waschen und dann zu Tisch, und während Vaters Ausgehstunden mit ihm hinaus in die nahen Wälder und Felder!

*

Siehst du, Vater, ich steh beim alten Petrus gut angeschrieben", sagte Agnes am folgenden Sonntag morgen, beim Ankleiden durchs Fenster schauend.
„Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben," gab Albert zurück und streckte sich noch einmal wohlig in den Federn. Dann warf er beide Beine zugleich über den Bettrand und fuhr in die Hosen.
Agnes öffnete die Balkontür und trat hinaus. Er folgte ihr. Herrgott, beinah' hätt' er's ganz vergessen! Wie frisch und heiter sie heut mit ihren 36 Jahren zwischen den üppiggrünen Blumentöpfen herumhantierte. Von dem über der Straße sich weithinstreckenden Laubenland strömte ein würziger Erdhauch herüber. Sonst regte sich kein Lüftchen. Vom Osten her, hinter den Bäumen des Genossenschaftsparkes, zog die Morgensonne goldendrein hoch. „Hast recht, das ist Geburtstagswetter," sagte Albert, Agnes Rechte mit beiden Händen erfassend. „So möge dir die Sonne das ganze Jahr ins Herz scheinen, damit du immer so heiter ausschaust wie jetzt." Sie erwiderte dankbar seinen Händedruck, indem sie ihm auch ihre Linke hinreichte. Wusste sie doch, wie aufrichtig sein Wunsch gemeint war. Gern hätte sie ihn ein wenig an sich gezogen, indes sie musste aufhorchen: die Kinder begannen sich im Nebenzimmer zu regen. Aber ihm ein Weilchen so recht warm in die Augen schaun, das konnte sie.
Und während beide so standen, begann Musik sanft an ihr Ohr zu klingen. Wie aus der Ferne kam es — nein, es kam von drinnen her. „Lieschen und Bernhard sind es," sagte Albert, „die bringen dir einen frohen Gruß auf Zither und Geige."
Beide ließen sich auf die schmale Bank in der warmen Sonne nieder und lauschten den Tönen. Bald ging die Stubentür auf und alle fünf Kinder kamen heraus auf den Balkon marschiert, Bernhard voran, einen Marsch fiedelnd. Alle beglückwünschten ihre Mutter. Auch Kleinagnes reichte ihr ihr Händchen, wie es die anderen taten, hatte aber die Gratulationsworte vergessen; verlegen ergriff es den Hemdzipfel und steckte ihn in den Mund. Mutter Agnes nahm ihren Liebling hoch und küsste ihm lachend die kleine Sorge weg.
Immer wieder ging es heut Agnes durch den Kopf, wie traurig so mancher ihrer Geburtstage verlaufen war. Nun geht es wohl doch aufwärts, dachte sie. Albert hatte ja immer gesagt: Lass nur, wenn sich das ganze hebt, bleiben wir gewiss nicht unten. Und heut war sie wieder so recht voll froher Hoffnungen.
Bernhard und Willi konnten das Mittagessen gar nicht erwarten. Kaum hatten sie den Löffel weggelegt, liefen sie, die kleine Agnes an den Händen führend, unter blühenden Obstbäumen die Genossenschaftsallee hinunter. An der Haltestelle der Straßenbahn hielten sie Ausschau nach Familie Maiwald, auf deren Besuch Vater und Mutter heute bestimmt rechneten.
„Sapperlot, sind die fein!" rief Angnes ihren Leuten zu, als sie Maiwalds von weitem kommen sah." „Ja, das sind moderne Menschen: einen hübschen Buben und ein dralles Mädel dazu; und dann dieses Gehalt. — O ja, so lässt sich's schon leben."
Es war aber nicht Neid, der aus Agnes sprach; nein, diesen Menschen gönnte sie das Beste von ganzem Herzen.
„Nein, dass es dich gerade treffen musste — dieser blödsinnige Überfall, — dich unerschütterlichen Optimisten, das sieht ja beinah aus wie eine Schickung!" Mit diesen Worten reichte Emil seinem Freunde die Hand.
Der lachte: „Ja, was hilft es, mein Lieber, solange aber das Böse noch da ist, will es sich auch irgendwo äußern, und da es der Sache nichts mehr anhaben kann, rächt es sich an einzelnen Personen, die der Sache nahe stehen."
„Obwohl ich die Sache anerkenne, vermag ich doch nicht einzusehen, warum man sich so in den Strudel hineinstürzen und am Ende noch sein Leben aufs Spiel setzen muss!"
„Die Sache ist ja gar nicht so schlimm — eine glatte Fleischwunde.  In drei Tagen bin ich wieder im Geschäft."
„Na ja, bist eben noch mal glücklich davongekommen."
„So ist's recht, Herr Maiwald, sagen Sie ihm ordentlich Bescheid. Ruhe gönnt er sich schon gar nicht mehr: Versammlungen, Sitzungen und Vorträge, das reißt nicht ab. Und bleibt er mal einen Abend zu hause, sitzt er und studiert in Büchern bis in die tiefe Nacht hinein.  Wie lange soll er das aushalten; er kommt doch nun in die Jahre, wo er mehr der Ruhe bedarf." Agnes sagte es mehr mütterlich sorgend als tadelnd.
„Ich begreife Ihren Eifer sehr gut, Herr Weigert," nickte Frau Maiwald zu Albert hin. „Ich habe von Klara Bücher gelesen, die einen in die schöne Welt des Sozialismus hineinführen. Das gibt einem doch ein Ziel! Man weiß doch, für was man lebt!"
„Ja ja, aber das ist doch kein richtiges Familienleben so," erwiderte Agnes mild, aber bestimmt. „Die Kinder fragen mich immer: kommt Vater heut nach Hause? Bleibt er heut bei uns? und so. Ich denke mir, bei den vielen Kindern, kann ein Vater seine Weisheit schon anbringen. Ich weiß manchmal nicht, wohin vor allerhand Fragen, auf die ich keine Antwort finde. Er hat es ja jetzt in den paar Tagen gesehen, was einem die Kleinen schon alles zu schaffen machen. Na, und den Großen, den tut es erst recht Not, sie auf den rechten Weg zu bringen."
Emil klopfte Albert auf die Schulter, der sinnend da saß. „Hörst du, Freundchen? Also, warum in die Ferne schweifen, wo dir dein Arbeitsfeld so nahe liegt!"
„Schon gut, ich verspreche Besserung," sagte Albert.
Zither- und Geigenklänge drangen aus dem Hinterzimmer herein.
Alle horchten auf.
„O, das ist schön, das gibt andere Stimmung!" rief Lucie, der die Spannung unbequem war.
„Es verscheucht die Alltagsschwere," fügte Albert hinzu.
Still zuhörend sahen alle hinaus in den klaren Sonnenschein....
Ja, soweit fühlen  wir  uns  recht  glücklich  hier draußen," unterbrach Agnes das Schweigen. „Aber?" forschte Lucie.
„Mein Mann nimmt sich die Zukunft anderer Menschen zu sehr zu Herzen."
Lucie entgegnete: „Ich kann manchmal auch nicht recht froh werden, wenn ich über all die Ungerechtigkeit in der Welt nachdenke.  Und selbst Schönfeld sagte neulich: ein
denkender Mensch könne sein Leben heut nicht so recht genießen."
„O, das ist gut so, das freut mich," sagte Albert heiter.
Lucie sah ihn groß an: „Sie sind grausam."
„Grausam? Es mag so scheinen — oder wenn ich es gar bin, nun gut — dann ist es mir ein Genuss, so grausam zu sein, und mich zu freuen, weil andere die Ungerechtigkeit der Welt fühlen."
„Ja, sehen Sie," sagte Agnes leicht bedauernd, „so ist mein Mann: was andere für schlecht halten, hält er für gut, was andere unglücklich macht, macht ihn froh; und dieses ist es, was ich an ihm nicht verstehe."
„Aber Mutterchen, es liegt mir durchaus  fern,  heut über Dinge zu reden, die dich betrüben."
„Sprich nur, sprich — meinetwegen — ich weiß ja, dass du nur das Beste willst."
„Ich möchte auch gern eine nähere Erklärung haben," drängte Lucie.
„Kinder, dazu wollen wir uns aber hinaussetzen, das Wetter ist ja so prächtig!" sagte Agnes und trug Stühle auf den Balkon.
„Nanu bitte, los, los!" Lucie trat ungeduldig mit dem Fuß auf, als Albert noch lange an seiner schiefgebrannten Zigarre sog, und mit Emil hinuntersah zu den Leuten, die emsig auf ihrem Laubenland umherhantierten.
„Die da machen sich, glaub ich, keine Gedanken über die Leiden anderer Menschen," bemerkte Emil.
„Du irrst," entgegnete Albert und setzte sich zu den Frauen. „Das sind alles besser gestellte Arbeiter und kleine Beamten. Ich kenne sie: alle sind gut organisiert. Gehören auch alle unserer Genossenschaft an. Die halten aus innerster Überzeugung fest zur Bewegung und finden ihre Befriedigung in der Mitarbeit an ihr. Sie hätten es nicht nötig, sie haben alle ihr gutes Auskommen, aber weil sie wissen, es geht Millionen Menschen schlechter als ihnen, deshalb setzen sie ihr Mitgefühl in die Tat um. Dies Gefühl ist es ja auch, das sich bei vielen Reichen in Wohl tun äußert; mit der Zeit wird es manchen dazu treiben, mit uns die Ungerechtigkeit aus der Welt zu verjagen, denn wen dieses Gefühl einmal gepackt hat, den lässt es nimmer los.
Darum bin ich so grausam, mich der Unruhe der Wohlhabenden zu freuen."
„Sie meinen also: ein jeder, der nicht mit Hand anlegt, um die Welt sozialistisch gestalten zu helfen, versündige sich gegen sich und andere?" fragte Lucie.
„Ja, so mein ich's."
„Wir sind ja nicht reich," sagte Lucie. „In welcher Art sollten wir nun mit eingreifen?"
„Das will ich dir sagen, Lucie," kam Emil seinem Freunde zuvor: „Du musst Mitglied des Frauenwahlvereins werden und mindestens ein halbes Dutzend Versammlungen oder Sitzungen wöchentlich besuchen.  Und ich muss mich wieder der Partei und der Gewerkschaft anschließen. Dann müssen wir in die Genossenschaft eintreten und alle unsere Bedürfnisse, von den Streichhölzern bis zur Pelzgarnitur, durch sie befriedigen. Und am Ende müssen wir uns noch in die Freireligiöse Gemeinde und in die Freie Volksbühne aufnehmen lassen; dann wird sich die innere Ruhe und Zufriedenheit bei uns schon einstellen."
Dieser Ton schmerzte Albert. Er sah seinen Freund fast wehmütig an. Dass dieser in den letzten Jahren seine ganze Kraft dem Geschäft gewidmet und sich von der Bewegung abgewendet hatte, wusste Albert wohl, aber dass er auch mit seinem Innern der Sache schon soweit entrückt war, hatte er nicht geahnt. Im Geschäft achtete Albert Emil als Vorgesetzten; sie besprachen da nur geschäftlich notwendige Dinge. Albert hatte sich auch jegliche Bevorzugung verbeten, die sich etwa auf das Freundschaftsverhältnis zurückführen ließe. Oft genug hatten ihm seine Kollegen einen solchen Verdacht im Zeichensaal fühlen lassen, als er vor Jahren auf Emils Einladung ein Cafe besuchte, wo ihn ein Zeichner, in Begleitung des Betriebsleiters gesehen hatte. Seitdem schlug er auch Emils Einladungen zu häuslichen Besuchen aus; nur die Frauen besuchten sich hin und wieder. Und nur durch Alberts Kranksein war der heutige Besuch zustande gekommen.
Da Albert seinen Freund, der einst sein leuchtendes Vorbild gewesen, im Grunde des Herzens für einen guten Kerl hielt, wollte er die Gelegenheit wahrnehmen und alles versuchen, um ihn für die Bewegung wieder zu gewinnen.
„Nein, nein, Albert, verlass dich darauf," fuhr dieser fort, „du erhoffst zu viel von den Menschen."
„Zuviel erhoffe ich? Na, spürst du denn nicht, wie schon vieles anfängt sich zu erfüllen? Nur wollen, wollen müssen die Menschen!"
„Herr Weigert ist doch tiefer in das Ganze eingelebt als du," sagte Lucie, der der strenge Ton der Männer nicht gefiel.
„Lesen, beobachten, und nachdenken muss man; Gegenwart und Vergangenheit vergleichen, dann erkennt man schon den Fortschritt," sagte Albert mit Nachdruck.
„Hörst du, Lucie, alles Dinge, zu denen ich jetzt weder Zeit noch Ruhe habe."
„Zeit? Nein, mein Freund, dir fehlt mehr: dir fehlt der Glaube!"
„Gewiss, das geb ich gern zu, weil ich eben die Menschen kenne!"
„Mann, sag an," warf Lucie ein, „warum legtest du dich denn früher so ins Zeug für die Arbeitersache, wenn du nicht an eine Besserung glaubtest?"
„Weil ich hoffte, wir würden bald stark genug sein, um die kapitalistische Wirtschaft aufheben zu können!"
„Aufheben, Umstürzen, Zertrümmern! Nichts als leerer Schall," fuhr Albert fort. „Der Sozialismus kommt doch nicht etwa, weil ihn ein Marx, Engels und andere haben wollen, sondern, weil er kommen muss. Sein Anmarsch kann gehemmt werden, doch um so weiter schnellt er dann vorwärts, sobald die Hemmung überwunden ist. Die Bewegung ist nur eine Sucherin nach gangbaren Wegen, damit er beim Vorwärtsdringen nicht Nützliches zerstampft, vernichtet; und räumt Hindernisse hinweg, damit er keine Umwege machen braucht. Aber ebenso wenig lässt er sich gewaltsam vorwärtstreiben.
Es ist eben die große Kunst der Bahnsucherin, genau abzuwägen, wie viel Willenskraft die nachdrängende Volksmasse beseelt."
„Schon gut. Du klagst doch aber selbst immer: die Arbeiter wollen nicht recht mit."
„Leider, nicht wie man es wünscht. Es wird aber mit jedem Tag besser, je mehr sich ihnen der Kern der Bewegung offenbart."
„Kern der Bewegung? Was ist denn darunter zu verstehen?"
„Das will ich kurz erklären, wie ich es von einem Gelehrten hörte: Die heutige Gesellschaft ist wie ein Ei, sagte er, in dem der Keim eines Hühnchens lebt. Dieses zuerst unscheinbare Wesen zehrt täglich immer größere Mengen von dem es umgebenden Stoff auf. Es wachsen ihm Glieder, die immer stärker und stärker werden, und die es lebhaft zu regen beginnt, ganz unbekümmert um die es umgebende Schale. Und eines Tages wird die Schale von dem Druck der starken Glieder zersprengt und — das neue Leben tummelt sich vergnügt in die Welt."
„Der Vergleich ist gut," stimmte Lucie zu.
„Ist gut?" Emil blickte seine Frau kritisch an: „Wäre gut, wenn sich die uns noch fern stehende Volksmasse aufsaugen ließe, wie die Einlasse. Ich weiß doch, wie die Arbeiter über ihre eigene Sache denken: die Opfer sind ihnen zu groß. Und das Ganze bedeutet doch nichts weniger als das Aufgeben jeder Selbständigkeit. Nehmen wir doch das Leben wie es ist!"
„Gut, das wollen wir gleich tun. Wo hat ein Kulturmensch heute noch ein Recht auf absolut selbständiges Handeln? Hängt nicht eines jeden Leben von der Mithilfe vieler anderer Menschen ab? Und müssen nicht selbst unsere Gegner, die im vereinten Willen unserer Bewegung einen Zwang erblicken, auf Schritt und Tritt auf andere Menschen Rücksicht nehmen? Und seien es die Reichsten und Mächtigsten der Erde, niemand kann tun und lassen, was er gerade will. Sei es auf der Straße, auf der Reise, in Versammlungen, im Geschäft, bei der Arbeit, beim Vergnügen, sogar in der Familie steht der einzelne unter dem Zwange ihrer Glieder. Wer heut als ein anständiger Mensch gelten will, muss die Sittengesetze achten, sonst wird er ausgestoßen, und es ist gut so. Denn schweißt nicht die Entwicklung der Wirtschaft die Menschen immer mehr zu einem Gesamtkörper zusammen? Gilt nicht der, der sich den mechanischen Bewegungen der Gesellschaft entgegenstemmt, als rückschrittlich? Hält man nicht jene, die ohne Rücksicht auf andere in den Tag hineinleben, für roh, ungebildet, gefühllos?   Und nun sollen die gemeinnützigen
Bestrebungen der Arbeiterbewegung am Ende nicht zu ertragen sein?"
„Das ist richtig. Aber was du anführtest, wird den Menschen von kleinauf anerzogen, so, dass es ein anständiger Mensch nicht mehr als Zwang empfindet!"
„Das spricht nicht gegen, sondern für die Arbeitersache."
„Wieso denn? Die Arbeiter wollen doch nicht mehr Verpflichtungen — Freiheit, mehr Freiheit wollen sie haben. Unter Freiheit verstehen sie: ein Ausleben, nicht aber ein Fesseln ihrer Neigungen. Zu diesen Neigungen gehört, neben vielen anderen, die schlimmste, die übermächtigste: die Selbstsucht. Darum glaube ich nicht mehr an die Sache."
Bedächtig strich Albert die Asche von seinem Zigarrenstummel. „Es ist wohl wahr, es gibt noch recht arge Selbstlinge, die alles frühere vergessen, sobald ihnen das Glück ein wenig zulächelt. Bei näherem Zusehen lässt sich auch das begreifen. Mit dem Recht auf Arbeit, das ich für die Grundlage aller Sittlichkeit erachte, werden auch die Arbeiter bessere Menschen."
„Triffst arg daneben, lieber Freund! Du weißt doch ebenso gut wie ich, wie sie unter günstigeren Lebensbedingungen ihre einstigen Ideale meist sofort übern Haufen werfen!"
„Ja, gewiss. Aber erstens lässt das fortwährende Ringen um Arbeit und Brot gute Eigenschaften nicht so leicht aufkommen und zum andern fürchten die vom Glück Begünstigten ein Zurücksinken in ihre alten, unsicheren Lebensverhältnisse wie die Hölle und halten darum an der besseren Stellung, die ihnen andauernd Brot bietet, fest, wie ein wildes Tier an seiner Beute."
„Nun, rede was du willst, Albert! Gerade was du eben sagtest, beweist, dass die Bewegung die Arbeiter noch gar nicht gebessert hat und, dass sie das Große und Schöne, das im Sozialismus steckt, eben nicht wollen."
„O doch, alle wollen es, außer den oberen Zehntausend; nur der Weg ist den meisten zu beschwerlich; alle möchten gleich reife Früchte ernten. Das geht ebenso wenig wie beim Ackerbauer. Es kostet alles Mühe und dauert seine Zeit.  Und wenn der Bauer im Frühling den Acker bestellt, ihn mit übel riechender Jauche und mit Dünger vermischt, wenn er den Samen ausstreut, dann halten sich Vorübergehende die Nasen zu und beschleunigen ihre Schritte. Gehn sie aber im Sommer vorüber, wenn alles grünt und blüht, hemmen sie ihre Schritte, möchten Tag und Nacht dort verweilen; und wenn die Früchte reifen, greifen gern alle mit beiden Händen zu."
„Sehr gut, Herr Weigert," sagte Lucie, die aufmerksam zuhörte.
„Du sagst: sehr gut, mein liebes Frauchen," warf Emil ein. Nur fürchte ich, die meisten kehren um für immer, nachdem sie die mühsame Arbeit gesehen und den Dung gerochen haben!"
Albert sog an seiner Zigarre, als nähre er damit seine Gedanken, dann begann er wieder: „So wie der Landmann Vertrauen zu seinem Acker, zur Natur, hat, so müssen wir den Menschen vertrauen. Kurzum, wir müssen an die Erfüllung des Sozialismus fest glauben."
„Glauben, glauben, immer wieder das alte Wunderkind," warf Emil geringschätzig ein. „Wissen führt zur Erkenntnis!"
„Allem Wissen und aller Erkenntnis eilt der Glaube voraus."
„Der weiß, braucht keinen Glauben!"
„Richtiger gesagt: was man weiß, braucht man nicht glauben," ergänzte Albert. „Denn vertrauen, hoffen, glauben müssen wir alle, einer mehr, der andere weniger, sonst packt uns Verzweiflung. Und ich glaube an die Veredlung der Menschheit und damit an den Sozialismus."
„Ich kann's nicht!"
„Auch du kannst es. Nehmen wir mal an, unsere Vorfahren hielten sich vor zwei-, dreitausend Jahren für ebenso unverbesserlich, wie es leider die meisten Menschen heut noch tun. Und stellen wir nun ihre geistige Verfassung und deren Auswirkung dem heutigen Geistesleben gegen­über, so kannst auch du den Fortschritt zum Guten nicht leugnen."
„Das wohl nicht."
„Na also. Was hindert dich nun, zu glauben: es müssen sich in zehn, zwanzig, fünfzig Jahren die Menschen wieder um vieles gebessert haben?"
„Sehr richtig, Herr Weigert, bravo, bravo!" rief Frau Maiwald lachend. „Wieder mal reingefallen, mein liebes Männchen!"
„Geb ich zu," gestand Emil. „Es freut mich, dass dich unsere Unterhaltung nicht langweilt."
„Ih, im Gegenteil: mich drängt es, immer mehr zu wissen. Gerade über Sozialismus und Glauben, das ist mir ja so neu," sagte Lucie wissbegierig.
Grübelnd sprach Albert weiter: „Ja, die Gegner mögen noch mehr drehn und deuteln, es gibt eben nichts Stichhaltiges, was gegen den Sozialismus spräche. Wenn sich man erst die Arbeiter noch mehr bemühen möchten, um unsere kraftvolle Bewegung weit über den Magen hinaus zu erheben. Denn um leichter Nahrung zu erlangen, halten ja auch die Tiere zusammen in Schwärmen, Rudeln und Herden. — Da fällt mir soeben eine Geschichte ein, die ich als junger Handwerksbursche erlebte. Und wenn du ein wenig still hältst, Freund Emil, dann will ich sie rasch erzählen."
„Los, los, Herr Weigert, den halt ich schon in den Zügeln!" sagte Lucie.
„Es war auf der Hauptstraße von Liegnitz nach Breslau, wo ich an einem trüben Sommertage mit einem kleinen Flinsberger Schlosser auf Schlesiens Hauptstadt losmarschierte. Nach dem üblichen Woher und Wohin liefen wir schweigend nebeneinander und freuten uns der wogenden Kornfelder, über die der Wind den Blütenstaub dahin trieb. An einer Wegkreuzung trafen wir mit einem Gärtner und noch einem Tischler zusammen. Mein Berufskollege, der Tischler, hatte ein bewegliches Mundwerk, er fragte mehr, als wir drei beantworten konnten. Dem Schlosser merkte ich's an, er war der vielen Fragerei bald müde und hielt sich immer einige Schrittlängen voraus. Plötzlich stieß der Gärtner eine Hand seitwärts in die Luft. „Seht. Da, da!" rief er. Ein Schwarm Krähen flog und schrie wirr und erregt durcheinander. Knäuelartig ballten sie sich zusammen, Federn stoben im Winde und ein schwarzer Körper löste sich' aus dem Schwarm und plumpste zur Erde.
Wir setzten über den Straßengraben. Ein Taubenhabicht lag blutend am Boden, der noch sterbend in Kampfeswut mit den Fängen zuckte, während sich die
Krähen im Triumphgeschrei über den nahen Kiefernforst verteilten."
„Das sah ich öfter bei meiner Arbeit," sagte der Gärtner. „Gegen die schwarzen Räuber kommt der stärkste Habicht nicht auf; wenn er nicht flüchtet, kostet es sein Leben."
Wir ließen uns am Wegrand nieder, um ein Weilchen zu verschnaufen. Der Gärtner stocherte nachdenklich mit dem Stock in einem Maulwurfshaufen und sprach bedächtig weiter: „Ja, man kann so manches von den Tieren lernen. Wenn Hirsche oder Rehe am Abend in Rudeln grasen, da merkt eines auf, lässt einen dünnen Pfiff ertönen und hallo! schon sind alle im schützenden Gebüsch — und des versteckten Jägers Schuss geht in die Luft! — Eines Tages stieß ich beim Umgraben einer verasteten Hecke auf ein Hummelnest. Einzelne dieser graugelben Tierchen umsummten mich erregt, ich schlug sie mit dem flachen Spaten nieder. Ihr Honig zog mich an. Mein älterer Kollege stand ein wenig seitwärts und beobachtete mein Wagnis, ein tiefer Spatenstich und der warme Bau mit dem von Hümmein bedeckten Honigklumpen lag frei. Sie fuhren auf mich los. Ich schrie, schlug um mich und rannte in niedriges Strauchwerk, was meine Rettung war. Mein Kopf schmerzte fürchterlich und schwoll an wie ein gefüllter Mehlsack."
„Geht's dir nun auf, worin die Kraft der Schwachen liegt?" lachte mein Kollege, als er mir die Stacheln aus dem Gesicht zog.
Ich wusste nur zu gut, was er damit meinte. Oft genug hatte er uns jungen Burschen den Weg zur vereinten Abwehr gewiesen, wenn wir uns abends auf unserer dunklen Schlafkammer in allen Tonarten über die gemeine Behandlung des brutalen Gutsverwalters beklagten, und dabei allerhand Rachepläne aussannen.
Am darauffolgenden Zahltag ging ich mit meinem Kollegen zur Stadt und ward Mitglied im Fachverein.
„Herrjeh, soviel Kinkerlitzchen waren bei mir nicht nötig," brüstete sich der Tischler. „Ich bin sozusagen hineingeboren in den Gewerkverein. Mein Vater war eines der ältesten Mitglieder in Görlitz und meine Brüder waren auch drin. Da hab' ich's bald klein gekriegt, wie vorteilhaft es ist, von der Wiege bis zum Grabe unterstützt zu werden.
Wenn man nicht gerade zu ville Glück mit Arbeit hat, ist es 'ne ganz saubere Unterstützungskasse."
„Gewerkverein — Gewerkverein," sprach der Gärtner für sich hin.
„Na, was denn? Der ist besser als dein Fachverein!" fuhr der Tischler auf.
„Lass das, darum wollen wir nicht streiten," wehrte der Gärtner ab, wobei er sich erhob und zum Aufbruch mahnte.
Ein Weilchen war's still. Bald begann der Tischler wieder: „Auf reine Wäsche muss ein jeder halten. Wie steht’s denn bei dir, Katzenkopf, hast du alles in Schuss?"
Der Schlosser nickte bejahend.
„Und du, du kommst erst von Muttern, was?"
Diese Frage galt mir, ich errötete bis unter die Haare.
„Bist woll noch im Jünglingsverein, was? Da gilt ja woll die Bibel als Verbandsbuch."
„Alberne Späße sind das! Ist er darum etwa schlechter als ein anderer?" wies der Schlosser den Tischler zurecht.
„Wer erst mal den Schwarzen verfallen ist, kommt nicht so leicht wieder los, mein ich nur," sagte der Tischler.
„Eine gewöhnliche Redensart, nichts weiter. Ich bin auch sehr fromm erzogen und weiß darum alles Gute der christlichen Lehre zu schätzen," sprach der Schlosser dreist weiter. „Ich achte heut noch strenggläubige Christen viel mehr, als die gleichgültigen, glaubenslosen Freigeister, die so unfruchtbar sind, wie taube Kornähren."
„Ich sag ja, etwas von der schwarzen Lehre bleibt eben immer hängen," wiederholte der Tischler.
„Wenn es nur immer Gutes ist, was hängen bleibt," fuhr der Schlosser fort. „Zum Beispiel: Mein Lehrmeister war ein frommer Mann, und zur Wahlzeit überließ er seine Werkstatt den Sozialdemokraten zur Versammlung."
„Ein sonderbarer Heiliger muss das gewesen sein," lachte der Tischler.
„Was ist dabei sonderbar? Nichts als Gerechtigkeit war es, wo doch kein Gastwirt diese Partei aufnahm."
Der Gärtner, der so lange geschwiegen hatte, fragte etwas neugierig: „Wie kamst du denn von deinem Glauben ab, etwa durch die Versammlungen in der Werkstatt?"
„Nein. Was dort von der Religion gesagt wurde, stieß mich ab. Aber was ich von der Verbrüderung und von der
Hilfsbereitschaft zueinander vernahm, das zog mich an. Übrigens kam ich von meinem Glauben nicht ab, nur ge­ändert hab ich ihn. Und dazu trug wohl verschiedenes bei. Vor allem waren es Bücher von einem Gesellen, der in der Schweiz gearbeitet hatte. Und was ich einmal las, das saß, denn ich lese alles mit Andacht, wie ich es von der Bibel aus gewöhnt bin. Wie schlecht es in der Welt für den Armen bestellt ist, erfuhr ich aus einem Buch, das von der Gesunderhaltung des menschlichen Körpers handelte. Aus einem andern Buch erfuhr ich: wie die Erde mit allem was drauf ist, entstand. Dabei ging mir der Himmel mit den Engeln, das Jenseits und zu guter Letzt auch der Glaube an Gott verloren
Dieses beichtete ich eines Sonntags nach der Andachtsstunde, meinem Pastor, und sagte ihm gleich, dass ich diese nicht mehr besuchen werde. Als wir beide allein im Vereinszimmer zurückblieben, ergriff der Pastor meine Hand. „Mein Sohn," begann er, „du bist in deinem Wissensdrang zu weit gegangen. Nun bin auch ich nicht mehr imstande, dich zum Gott im Himmel zurückzuführen. Indes bitt' ich dich, merk es dir und vergiss es dein lebelang nie: dein Gott ist aus dem Himmel auf die Erde gestiegen. Suche ihn, rufe ihn, und du wirst ihn finden! Öffne ihm Brust und Herz, und er wird bei dir einziehn! Handle gegen deine Mitmenschen stets nach christlichen Grundsätzen! Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Tue andern das, was du wünschest, dass es dir getan werde! Sieh im Bösen und in den Schwächen anderer deine eigenen Fehler! Also: schau in deine Mitmenschen wie in einen Spiegel, in dem du dich selber erblickst. Meistere deinen Willen, unterdrücke deine Leidenschaften! Und bedenke stets: der Stärkste ist der, der sich selbst bezwingt! Achte auf dich, ob du auch immer nach den Grundsätzen lebst, die du andern als Richtschnur geben möchtest; denn die wirksamste Lehre ist das gute Beispiel! Vereinige dich mit den Leidenden und Schwachen zum Kampfe gegen das Unrecht der Mächtigen und Reichen; werde indes nie selber ungerecht! Indem du die Ärmsten aus ihrem leiblichen und geistigen Elend mit dir emporhebst, verhilfst du Gott zu seinem Recht: nach seinem Wohlgefallen unter den Menschen zu weilen und zu wirken! Und lebst und handelst du in diesem Geiste, mein Sohn, draußen in der noch recht bösen Welt, dann wird auch dir der Himmel nicht verschlossen bleiben, obwohl du nicht mehr an ihn glaubst! . . ."
„Des Pastors Worte sind mir ein Evangelium geworden. Als ich kurze Zeit darauf Flinsberg verließ und in Hirschberg Arbeit nahm, trat ich sofort dem Verband der Metallarbeiter bei."
„Da gehörst du wohl auch schon zu den Sozialdemokraten?" fragte der Tischler etwas spitz.
„Das weiß ich nicht. Soweit ich ihre Grundsätze kenne, bin ich mit ihnen einverstanden. Sicherlich erhalten sie meine Stimme, sobald ich wählen darf, und ich werde mich ihnen anschließen, sobald ich Gelegenheit dazu finde."
Albert machte eine Pause. „Weiter will ich jetzt nicht erzählen," schloss er, als er sah, wie alle drei noch still lauschten, in der Erwartung, die Geschichte gehe noch weiter.
Lucie richtete sich auf: „Das war schön." „Ja, besonders das, was der Pastor sagte," bestätigte Agnes.
Darauf kam es wohl auch unserem gottesleugnerischen Erzähler lediglich an," lächelte Emil.
„Ganz recht," erwiderte Albert. „Aber nicht, weil es ein Pastor sagte, sondern weil mir gerade der Sinn seiner Worte immer mehr zur Richtschnur in der Bewegung wird. Obwohl dieses Erlebnis damals, in meinem jungen Gemüt unter hunderterlei neuen Eindrücken vergraben wurde, schiebt es sich jetzt immer deutlicher hervor, wie es mir auch mit vielen anderen Dingen aus meiner Jugendzeit ergeht, die ich schon ganz der Vergessenheit überließ. Mein Gedächtnis erscheint mir mitunter wie eine alte Bodenkammer, in der so manch Wertvolles verstaubt und vergessen liegt. Zuweilen tut sich in meiner Gedankenbahn hie und da eine Lücke auf. Herrgott, dann geht's ans Grübeln und Suchen, und groß ist die Freude, finde ich dann solch passende Gedanken, die immer klarer und reiner unter dem Zeitenstaub hervorblinken. Manchmal kommt mich dann gar so ein wenig Stolz an, als habe ich das Gefundene; neugeschaffen, indes fällt es mir ein, dass ich zur Zeit nur noch keine Verwendung dafür hatte und es beiseite legte zu den hunderterlei anderen Dingen."
„Unter solchen Beschwerden hab' ich nicht zu leiden," sagte Emil, das brennende Streichholz an Alberts erloschene Zigarre haltend. „Bei mir spazieren derartige Gedanken einfach durch den Kopf, lassen sich allenfalls ein Weilchen nieder, wie zur Erholung, und verschwinden dann sacht, ohne eine Spur zu hinterlassen. Wenn ich von dem, was ich erlebte und früher las, auch nur den zehnten Teil wüsste, könnt ich heute Professor sein."
Die Frauen lachten.
Albert sagte: „Ja, so ist es leider. Viel zuviel lesen die meisten Menschen. Und weil sie eben nur lesen und das Gelesene nicht verarbeiten, wirft es kein Licht in die Köpfe. Denkt man die Gedanken aber selber um, so erhalten sie bald den ursprünglichen Glanz wieder, den sie hatten, als sie einst im Kopfe eines großen Denkers entstanden. Und wer sie dann in sich aufbewahrt, findet auch gelegentlich Verwendung für sie."
„Was um alles in der Welt haben denn diese philosophischen Betrachtungen mit der Arbeiterbewegung und dem Gottesglauben zu tun?" fragte Emil ungeduldig.
„Verzeihe. Das Programm, das der alte Pastor dem jungen Schlosser mit auf den Lebensweg gab, ergreift mich eben immer wieder so stark, und in einem Weg könnte ich ergänzend davon reden, so gedankenreich ist es. Und immer fester packt mich der Glaube: Eines Tags müssen sich die meisten Menschen in dem Strom der mächtigen Volksbewegung zusammenfinden. Ja, sie müssen hinein, eine Schicht nach der anderen, bis auf einen kleinen Rest ganz boshaft Verstockter. Viel innere Kraft wird in den Menschen frei, seitdem die Wissenschaft den Gottesglauben immer weiter zurückdrängt. Und sie wird immer mehr in der großen Menschheitsbewegung aufgehen, die aus der Arbeiterbewegung emporwächst. „Du hast Gott vom Himmel heruntergeholt, damit er unter den Menschen wirke," sagte der alte Geistliche zum jungen Schlosser. Als eine Erlösung, als eine Vertiefung und Bereicherung, ja als eine Beseligung des Lebens werden es die Menschen empfinden. Ihr Leben erhält Inhalt. Durch gemeinsames Fühlen, Denken und Handeln mit ihren Volksgenossen wird das Höchste, das Göttliche in ihrer Brust zu neuem Leben erweckt: die Liebe.  Aufrecht, furchtlos und im Herzen friedlich werden
alle zueinander stehen, sobald sie der Stimme ihres Gewissens folgen." Albert schwieg.
Still war's eine Weile.  In sich gekehrt saßen alle da.
„Bist du es nun innegeworden, wie es um uns steht?" fragte Lucie zu Emil gewendet.
„Ja, wir haben vieles gut zu machen."
„Wie Ihr es empfindet, so ist es", sagte Albert sicher
„Jetzt erinnere ich mich," sprach Lucie weiter: „Wie oft überkam uns schon so ein Nichtigkeitsgefühl, als ob unser Leben gar keinen Sinn habe, was uns beide immer sehr unzufrieden stimmte. Und nur die Aussicht auf's steigende Gehalt und somit auf neue Lebensgenüsse tröstete uns über die Öde hinweg."
„Und wenn ihr das Neue durchgekostet hattet, dann bereitete euch euer Gewissen wieder frischen Katzenjammer, und so ging's weiter," ergänzte Albert. „Nein, da gibt es keine andere Erlösung, als mitzuhelfen an der Entwicklung zum höheren Menschentum, dann kommt Freiheit, Freude, innere Ruhe und Seelenfrieden in uns."
Emil erhob sich, reichte seinem Freunde die Hand, während seine Worte in fröhlichen Kinderstimmen untergingen.
„Mutter, Mutter, Vater!" Willi und Bernhard kamen ins Zimmer gepoltert und riefen auf den Balkon hinaus: „feiner Besuch kommt mit einem Auto!" und schon stürmten sie wieder die Treppe hinunter.
Die Männer traten ans Geländer und schauten hinunter. Richtig, da umstanden die Kinder ein blitzblankes Fahrzeug, dessen Führer eben die Tür zuschlug.
Agnes eilte, die Fremden zu empfangen.
Zur Tür herein trat eine Frau, die Wohlhabenheit ausstrahlte und Agnes einen großen Blumentopf entgegenstreckte. Still wie ihr Schatten folgte ein kleiner, rundlicher Mann, der eine Pappschachtel trug. Beide beglückwünschten Agnes wie alte Bekannte, trockneten sich den Schweiß vom fetten Gesicht und klagten über die drückende Schwüle und das beschwerliche Treppensteigen.
Erst nach längerem Betrachten erkannte Albert die Gellfertleute wieder. Und Agnes musste lange die stattliche Vierzigerin betrachten, ehe sie eine Spur von der einstmaligen armen Frau Manske an ihr entdecken konnte.
Gestern bei der Geburtstagsfeier ihrer jüngsten Tochter Elli war es ihr eingefallen, dass tags darauf Agnes' Geburtstag sei. Und nun wollte sie, wie sie sagte, nur einmal in aller Eile heraufschauen; zur Abendzeit müsse sie wieder im Geschäft sein. Jetzt am Tage, wo nur wenig zu tun sei, versehe es Elli allein. Wenn man nicht die Müdigkeit das arme Kind übermannen möchte. Bis fünf Uhr früh hätten sie gefeiert, dann wäre Elli mit ihrem Herrn noch per Auto in den Grunewald gefahren und erst am Mittag todmüde heimgekehrt.
Agnes zog Lieschen leicht am Arm hinüber zur Küche, um den Kaffee zu bereiten. Auf des Mädchens Fragen gab sie ausweichende Antworten. Auch Lucie kam heraus und fragte. Mutter Agnes nötigte sie, mit einem Seitenblick auf Lieschen, zum Schweigen und sagte nur: „Im feinen Viertel haben sie ein Geschäft, weiter weiß ich auch nichts."
Lucie trat wieder zurück ins Zimmer und bewunderte weiter die auffällig gekleidete Frau, an der es von Gold und geschliffenen Steinchen glitzerte — auch zwischen ihren Zähnen funkelte Gold. Bald spielten die fleischigen Finger an der langen goldenen Uhrkette, bald zogen sie an dem Perlenhalsband und legten den goldenen Schmuck auf dem starken Busen zurecht, wie auf einem Kissen.
Emil aber dachte: Allewetter, was hat das Weib aus dem Kerl gemacht! Man müsste schon die Fettwulst, die sich von Gellferts Kinn bis zu den Ohren hinzog, wegdenken, wollte man sich seines früheren Aussehens erinnern. Die rotglänzende Nase saß ebenfalls zwischen Fettpolstern und schien kleiner geworden zu sein.
„Wie gemästet siehst du aus," lachte Emil.
„Ich fühle mich aber sauwohl dabei," erwiderte Gellfert, sich behäbig in die Sofaecke drückend, mit schmalziger Stimme. „Übrigens scheinst du auch nicht gerade an Abzehrung zu leiden."
„Aber ebenso wenig an Fettsucht. Wir leben ganz normal, wie es vernünftigen Menschen zukommt."
„Und wir passen unser Äußeres stets unserem jeweiligen Stande an! — Was Emmi?" fragte Gellfert zu seiner Frau hinüber, die sich mit Lucie in ein Gespräch von der neuesten Sommerkleidermode zu vertiefen begann. „Wenn man Almosen empfängt, kann man nicht wohlhabend aussehen, und wenn man Almosen gibt, darf man kein Mitleid erwecken."
„Ja, lieber Landsmann, Gottes Wege sind wunderbar," spottete Emil. „Manch einen führen sie in Stumpfheit und Leichtsinn zum Glück, und ein anderer erreicht es trotz aller Rechtschaffenheit und allem Verstande nicht."
„Na, ich denke doch, wir haben uns ehrlich durchringen müssen. Ein jeder macht eben das Seine," sagte Gellfert selbstgefällig und reichte seine gefüllte Zigarrentasche mit silbernem Bügel den Männern hin. „Greift zu. Kannst auch deine Hosen ersetzt kriegen," sagte er, zu Emil gewendet. „Ich will jetzt mit allen abrechnen, denen ich Böses getan habe, und auch mit denen, die mir Gutes erwiesen."
„Dann gib die Hosen nur jemandem, dem es eben so ergeht, wie es dir damals erging."
Aber, Kinder, lasst doch das Vergangene; wir wollen alle Gott danken, dass wir die Zeit hinter uns haben", suchte Frau Gellfert das Gespräch abzulenken. „Sie scheinen ja auch über den Berg zu sein, Herr Weigert?"
„Hoffentlich, wenn uns kein Unwetter mehr überrascht."
„Ist das ihre Älteste?" fragte sie, Lieschen beim Decken des Kaffeetisches beobachtend. „Ein Staatsmädel, ganz die Mutter."  Sie schnalzte mit der Zunge.
Lieschen stand mit glühenden Wangen da, ihre hellblauen Augen überflogen noch einmal den gedeckten Tisch, dann huschte sie leicht hinaus, nachdem sie einen Blick ihres Vaters aufgefangen hatte.
Agnes trat ein. Und als alle den anregenden Kaffeeduft einsogen, mischte sich leichte Walzermusik in das Geplauder.
„O, das ist was!" Frau Gellfert war entzückt. „Ihre Kinder? — Ihre Hauskapelle, ja? — Großartig, wirklich großartig!" Sie wiegte sich in den Hüften nach dem Takt der Musik. „Manne!" rief sie. „Wie im Cafe Rosenhain, was?"
Gellfert nickte, wobei sein fettes Kinn wie das eines abgerichteten Ebers wackelte.  Er trank Kaffee in kleinen
Schlückchen oder sog gemächlich an der großen Zigarre, deren Rauch er durch die Nasenlöcher stieß.
„Nun zeig doch mal, Männe, was du in deiner Kiste hast," sagte Frau Gellfert, nachdem der Kaffeetisch abgedeckt war.
Der Kleine stellte fünf Weinflaschen auf den Tisch und bat um Gläser.
Agnes entschuldigte sich: sie sei auf Weintrinken nicht eingerichtet und brachte für jeden ein Wasserglas.
„Ih, was macht das, die alten Deutschen tranken ja das Zeug aus Steintöpfen," lachte Frau Gellfert und goss eifrig die Gläser voll. „Da sollten Sie erst mal unsere Herren sehn, wenn sie auf ihrem Pferd sind, wie heut morgen — aus dem Nachtgeschirr haben sie ihn zu guterletzt gesoffen!  Was, Männe?"
„Guten Appetit! Was sind denn das für Schweine?" fragte Emil ernst.
„Oho, das sind —"
„Schscht!" warnte Gellfert.
„Hab' man keine Angst, ich werd' die Namen nicht verraten. Da sind —" Sie goss erst den Rest des zweiten Glases hinunter. „Kinder trinkt — bei der Hitze gibt’s Durst!" und sie schenkte sich das dritte Glas ein, während die anderen ihr zweites kaum angetrunken hatten. „Also — da sind," begann sie wieder langsam, während ihr Mann ihr scharf in die Augen sah, Grundbesitzer, Landräte, Reichstagsabgeordnete und sogar — Pfarrer sind dabei."
„Haben Sie eine Weinstube?" fragte Lucie.
,Weinstube? nein, — das sind —"
Gellfert richtete sich aus der Sofaecke auf und trat seiner Frau auf den Fuß.
„Das sind — unsere Zimmerherren."
„Ach, Sie unterhalten ein besseres Logis?"
„Ja, Chambre garnie separat, auf Tage und Stunden."
„Auch für Damen?" fragte Lucie mutig weiter.
„Na gewiss, das ist doch die Hauptsache! Kinder, Ihr wisst wohl noch gar nicht, wie es in der Welt zugeht?"
Gellfert lehnte sich resigniert zurück in die weiche Ecke. Hier war jede Warnung nutzlos.
„Tja, was meinen Sie, liebe Frau, schon manch armes Ding hat bei uns sein Glück gemacht. Ach, meine Älteste sollten Sie sehen, die Frieda — Frau Weigert, Sie kenn' sie ja — die hat vor einem Jahr einen Kerl geheiratet, dem gehören fünfzehn Häuser, dazu eine Menge Grundstücke in und um Berlin. — Tja und sie bewohnt eine pikfeine Villa in Schlachtensee. — Das ist ein Waisenmädel! Bloß nicht zach sein, sag ich immer!"
Agnes begegnete sich mit Alberts Blicken. Sie dachten an das arme misshandelte Weib, das damals Abschied nahm von den beiden unschuldigen Kindern.
Gellfert mahnte zum Aufbruch.
Der große Frühlingshut, der einem mächtigen Blumenbukett glich, machte Frau Gellfert um zehn Jahre jünger. Agnes war ihr beim Anlegen des kostbaren Mantels behilflich — alles roch nach dem süßlichen Duft, der in Agnes die Erinnerung an den „Seelöwen" für einen Augenblick wachrief.
„Musike!" rief die Halbtrunkene und mit einer Hand nach ihrem Glase greifend, mit dem andern Arm Agnes umschlingend, stimmte sie ein Hoch auf das Geburtstagskind an. Dann goss sie den Rest des fünften Glases hinunter, während Agnes noch an der Neige des ersten nippte.
Töne eines lustigen Marsches kamen aus dem Hinterzimmer. Frau Gellfert ergriff den Arm ihres kleinen, rundlichen Mannes und schwebte im Tanzschritt, die Musik mitsummend, zur Tür hinaus.
„Gott sei Dank!" sagte Agnes. Auch alle anderen atmeten befreit auf, als sie dem schnell davoneilenden Auto von obenher nachschauten.
„Das ist die alte Welt, die ihrem Untergange entgegenrast," meinte Albert.
Die Kinder kamen die Treppe heraufgestürmt und eins nach dem andern öffnete seine festzusammengekniffene Hand; in jeder lag ein blankes Markstück.
„Hu, das Sündengeld!" Agnes wandte sich angewidert
ab.
„Aber Muttchen!" rief Albert lachend, „so empfindlich wollen wir doch nicht sein.   Geht, Kinder, steckt es in eure Sparbüchsen — nun schüttelt sie tüchtig, dann kennt Mutter das Stück nicht mehr heraus.
„Die Gesellschaft hat uns um die schöne Zeit betrogen," sagte Lucie, nach der Uhr blickend. „Wir wollten uns doch heut gerne mal die Siedlung hier ansehn, von der die Zeitungen vor etlichen Wochen reine Wunderdinge berichteten."
„Da waren es gerade zehn Jahre her, dass wir uns, etwa zweihundert Mitglieder, zusammenfanden und den ersten Genossenschaftsladen aufmachten.  Dabei waren die Holzarbeiter wieder mit an erster Stelle; ich vollendete gerade das erste Viertelhundert," sagte Albert ein wenig stolz. „Und heute seid ihr?" fragte Emil. „Die dreimalhunderttausend mit sechshundert Verkaufsläden.   „Aber kommt, Kinder, ehe es dunkel wird können wir das Ganze vom Dachgarten aus noch flüchtig überschauen. Zu einem Rundgang müsst ihr euch ein andermal schon ein wenig früher einrichten."
Sie stiegen hinauf. Ein Garten auf dem Dache! An beiden Seiten des schmalen Kiesweges hatten die Bewohner kleine Lauben hergerichtet, jeder nach seiner Kunstfertigkeit. Überall kletterten Rankengewächse an dem grün- und weißgestrichenen Gitterwerk hinauf und Frühlingsblumen besäumten in allen Farben die lauschigen Plätzchen. Dies bunte Stillleben zog sich um das ganze Häusergeviert herum. Nur einmal ward es von einem freien Platz, zu dem eine Treppe hinaufführte, unterbrochen. Das Luft- und Sonnenbad. In niederen Holzverschlägen lag reingewaschener Sand, und an den Seiten zogen sich Schutzdächer hin mit Douschen zum Abkühlen der Badenden.
Von hier aus ließ sich das ganze Genossenschaftsgebiet bequem überschauen: Es bedeckte den Flächenraum einer kleinen Stadt. Zwischen jedem Häusergeviert breiteten sich frischgrüne Rasenflächen aus, um die sich Fliedersträucher mit noch nicht ganz erschlossenen Dolden, wie ein dunkelblauer Rahmen zogen. Wege und Stege waren von beiden Seiten in das Rosa blühender Rotdornbäume gebettet. Zwischen den Wohnungen Tausender froher Menschen lag, wie das Herz des Ganzen, ein umfangreicher Park in saftigem Grün. Fröhlicher Gesang und jauchzende Kinderstimmen drangen aus ihm herauf. Es war
die Jugend, die auf dem See gondelnd dahinglitt und auf freien Plätzen Geschick und Kraft bei frohem Spiel übte.
„Seht, dort unten am Fluss," Albert wies in die Ferne, „da, wo die Schornsteine emporragen, dort sind unsere Bäckereien, in denen täglich zweitausendfünfhundert Zentner Mehl verbacken werden. Rechts daneben, das sind die Kornmühlen. Der burgenartige Hochbau mit dem dicken Turm ist das Verwaltungsgebäude. Links davon, am Wasser hinauf, dehnt sich das Zentrallager aus. Die mit Schiefer bedachten Gebäude sind die Schlachthäuser und Wurstfabriken. Die Schuhmacher-, Schneider-, Schlosser- und Tischlereien ziehen sich von den Bäumen verdeckt den Berg hinan. Auch eine Limonaden- und Zigarrenfabrik, eine Kaffeebrennerei und noch vieles andere ist dort eingerichtet. Das ganze wird von Schienenwegen der Staatsbahn, wie ein Körper von Adern durchzogen. Über hundert Kraftwagen speisen die in der Stadt und ihrer Umgebung verbreiteten Verkaufsstellen täglich mit Waren. Und große Ländereien sind am Fluss entlang angekauft. Ingenieure und Techniker entwerfen dauernd neue Pläne. So wächst unser Zukunftsstaat in die alte Gesellschaft hinein."
Noch einmal nahm Emil bewundernd das Bild in sich auf: „Nein, das hätte ich nicht geglaubt... Wie eine Offenbarung von dem unaufhaltsamen Werden der neuen Gesellschaft ist mir das. Wirklich, Albert, ich sehe wie weltfremd ich in dieser Hinsicht geworden war. Aber darf ich denn an etwas anderes denken als an's Geschäft?"
„Deshalb nahm dich Schwager Schönfeld auf, damit er von allem frei wurde," sagte Lucie.
„Ja, er lebt seiner Kunst, — und ich?"
Die alte Gesellschaft führt nur einzelne in freie Höhen; die neue erhebt alle zugleich, in denen Wille und Kraft ist," sagte Albert.
„Aber mach dir nicht zu harte Vorwürfe, mein Freund. Auch du hast mitgeholfen an den Dingen der Zukunft zu bauen. Gerade dir verdanke ich mein neues Wollen."
„Lass das," wehrte Emil ab. „Um so schlimmer ist es jetzt für mich. — Aber ich hole es nach, verlass dich drauf!"
Das junge Paar verabschiedete sich.
Fernes Rollen kam vom Westen her. Die Sonne erstrahlte in doppelter Kraft. Als sie hinter der dunklen Wand versank, stiegen weiße Dampfwölkchen auf, als wenn das schwere Gewölk zu kochen begänne. Die blühenden Obstbäume erschienen wie Schneeberge, und die roten Dächer der Gärtnerhäuschen hoben sich scharf ab vor dem dunklen Grunde. Maiwalds winkten immer noch einmal hinauf zu den Weigertieuten, die ihnen Abschiedsgrüße nachsandten, ehe die Freunde unter dem Blütendach der Kastanienbäume, welche die Genossenschaftsallee besäumten, verschwanden.