Martin Andersen Nexø - Die Passagiere der leeren Plätze (1938)
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DIE PASSAGIERE DER LEEREN PLÄTZE

Wird unser Zeitalter etwa deshalb das eiserne genannt, weil die große Mehrheit von uns mit einer Kette ums Bein zur Welt kommen?
Ich gehörte selbst zu den unschuldig Ausgestoßenen, die, sobald sie kriechen können, den Reihen der Lebenssklaven eingekoppelt werden, deren verfluchtes Los es ist, einigen wenigen Auserwählten die Erde zu einem angenehmen Aufenthaltsort zu machen. Ab und zu wurde einer von uns ausgekoppelt und der Ewigkeit übergeben — billig und ohne Zeremonien; automatisch schloss sich die Reihe wieder, und wir anderen plackten uns zur Erde gebeugt weiter ab, während unsere ausgehungerten Seelen die Luft mit ihrem Geschrei erfüllten. Wie umherirrende Vögel kreisten sie über uns, ruhelos nach einem geschützten Brutplatz jagend. So zahlreich waren sie, dass sie die Sonne verdunkelten und selbst auf die lichtesten Gegenden der Erde Schatten warfen.
Eines Tages wurde ich als unbrauchbar ausgekoppelt — und auf freiem Felde zum Sterben zurückgelassen. Es meldete sich kein Arzt, obwohl ich noch gern ein bisschen gelebt hätte, aber ein schwarzer Pfaffe kreiste in bedenklicher Nähe um mich herum. Er wartete darauf, dass ich abkratzte, damit er meine Seele einfangen könnte. Zu seiner Entschuldigung muss gesagt werden, dass er vom Staat dazu abgerichtet worden war.
Die Beute entschlüpfte ihm aber; eine gutherzige Frau sammelte mich auf und brachte mich zu einem Arzt. „Tuberkulose!" sagte er. — „Und im übrigen verbraucht, ausgezehrt, von Geburt an unterernährt! Wie lange haben Sie gearbeitet?"
„Zwanzig Jahre."
„Und wie alt sind Sie?"
„Vierundzwanzig."
„Dann haben Sie ja eigentlich auch ausgedient." „Ist gar nichts dagegen zu tun?" fragte die warmherzige Frau. „Ein Winter im Süden könnte ihn vielleicht retten. Sonst aber krepiert er."
Das Wort „krepiert" gab mir einen Stich — im Grunde ziemlich sinnlos. Warum sich an Worte hängen, wenn die Bedeutung die gleiche ist? Und die ließ sich nicht missverstehen. In der Gesellschaft ist kein Organ vorhanden, das ein unschuldig zum Tode Verurteilter anrufen und um Begnadigung bitten kann. Verbrauchter und misshandelter Pferde nimmt die Polizei sich an, ein missbrauchter und vor der Zeit ausgenutzter Arbeiter hat nur den Himmel. Ich richtete mich ohne großes Widerstreben darauf ein, meine ausgehöhlten Lungen mit ewiger Seligkeit zu füllen.
Aber eines Tages hielt ich dann doch eine gewaltige Summe Geldes in der Hand: vierhundert Kronen, für die ich nach Italien fahren sollte; die unfassbar gutherzige Frau hatte sie herangeschafft. Es ist nicht zu sagen, wie mir zumute war; dem Tode war ich entschlüpft, und dem noch Schlimmeren — der Sklaverei — ebenfalls! Wie ein Sperling, der durch wunderbaren Zufall aus dem Rachen der Katze entkommt, flatterte ich davon, halbtot, aber froh und warm im Herzen. Ich war — im letzten Augenblick — auf die Sonnenseite des Daseins versetzt worden; jetzt war ich an der Reihe, Sonne zu schlecken!
Aber war da Platz für mich? Und würden jene, die dort schon saßen, mit mir zu tun haben wollen — oder würden sie mich hetzen wie einen fremden Köter, der dort nichts zu suchen hätte?
Es war ganz merkwürdig, ins Lager der Auserwählten versetzt zu werden, zu denen, deren Leben so viel mehr galt, dass Reisen in den Süden dafür aufgewendet wurden. Wenn ich auch nur dritter Klasse fuhr, so nahm sich vor dem Hintergrund des Zwecks der Reise doch alles ganz anders aus. Mein Leben sollte gerettet werden, während alle die anderen, meine Leidensgefährten, in ihrem Elend stecken blieben! Ich empfand zugleich ein Gefühl des Auserwähltseins und der Fahnenflucht — der Treulosigkeit gegenüber allen jenen, mit denen ich ein Schicksal gemeinsam hatte.
Und ich war aus meiner Arme-Leute-Ergebenheit herausgerissen worden. Ich entdeckte rasch, dass es auf der Sonnenseite des Daseins Platz genug gab, für mich und viele andere; überall fuhren die Züge halbleer, während jene, die hätten mit dabei sein sollen, irgendwo im Dunkel saßen und verkamen. Warum wagten sie sich nicht hervor und machten ihr Recht geltend? Und warum war ich selber so geniert und verschüchtert, als ob ich ein Schmarotzer wäre?
Schon die erste Nacht der Reise von der schleswigschen Grenze bis zur Hauptstadt wurde mir zu einer unvergesslichen Lektion, mich nicht deshalb als auserwählt zu betrachten, weil ich zufällig einem Menschen begegnet war, der in mein Schicksal eingegriffen und mich aus meinem Zusammenhang, aus dem Zusammenhang des Elends herausgerissen hatte. Auf der Station, wo ich den Zug besteigen musste, vertrauten wildfremde Menschen ein krankes altes Mütterchen meiner Obhut an. Sie hatte Krebs und musste nach Kopenhagen, um operiert zu werden; todkrank war sie wohl. Es war die erste Eisenbahnreise dieser verbrauchten Frau, und eine endlose Reihe mühseliger Tage und Nächte hindurch, während langer Jahre voller Plackerei, Kindergeschrei und Kinder-zu-Grabe-Tragen hatte sie sich auf diese Reise nach der Hauptstadt gefreut. Die Reise hatte wie eine Verheißung über ihrem Dasein geschwebt, und nun wurde sie durch den Krebs Wirklichkeit — die Verheißung wurde endlich erfüllt. Sie wusste, dass es auch ihre letzte Reise sein würde, und es war erschütternd, wie in ihren Vorstellungen die Märchenhaftigkeit der ersten Reise und die Reise in den Tod durcheinander spukten und spannende Erwartung und Todesgrauen miteinander vermischten! Ann-Mari wurde meine erste bewusste Begegnung mit den Passagieren der leeren Plätze.
In Kopenhagen musste ich mich einige Tage aufhalten, um dies und jenes zu ordnen, und wohnte in einer Dachkammer draußen auf Nörrebro. Neben mir wohnte ein vertrocknetes kleines Großmütterchen, die von Gott weiß was lebte. Verwandte oder Freunde hatte sie nicht, und um Arbeit anzunehmen, dazu war sie zu alt und verbraucht. Sie sprach mit niemand und galt für geistesschwach. Ich musste mir aber Luft machen, und ob nun meine überströmende Freude sie für mich einnahm oder meine bevorstehende Reise in die mystische Fremde an etwas in ihr rührte: mir gegenüber taute sie auf und begann, von sich zu erzählen.
Als junges Mädchen war sie von einem Ort drüben in Jütland in die Hauptstadt gekommen, arm und in dünnen Kleidern, aber mit heißem Blut und vielem Mut: eine von den unzählig vielen, die ein bisschen mehr vom Leben wollen als die nackte graue Existenz. Dann hatte sie sich mit einem ihresgleichen angefreundet, einem jungen Arbeiter, der auch über das Gewöhnliche hinaus wollte. Und auf dieser Grundlage heirateten sie, und es kamen Kinder; wenn das eine die Brust losließ, konnte sie ein neues anlegen. Und so vergingen die Jahre damit, am Tage sie alle zu versorgen und nachts, wenn sie zu Bett waren, ihre Kleider instand zu halten, damit sie am nächsten Morgen sauber und heil wären. Sich mit Dingen darüber hinaus zu beschäftigen, dazu reichte niemals die Zeit. Dann begannen die Kinder eins nach dem andern zu sterben, die einen im frühen Alter, andere erst, als sie schon herangewachsen waren und sie einem eine kleine Hilfe gewesen wären. Der Mann war einmal bei der Arbeit zu Schaden gekommen, eine Reihe von Jahren kränkelte er, und als sie so lange Gutes und Schlechtes miteinander geteilt hatten, dass sie daran denken konnten, silberne Hochzeit zu feiern, starb er. Da war endlich Zeit, die Hände eine Weile in den Schoß zu legen und nachzudenken, und Madame Jensen entdeckte, dass sie eine einsame alte Frau geworden war, und begann Sehnsucht nach der Heimat ihrer Kindheit zu verspüren. Sie fing also an, auf die Reise zu sparen, aber es wollte nie gelingen, das Geld zusammenzubringen. Jedes Mal wenn sie meinte, nun den Betrag beisammen zu haben, kam die Miete oder sonst etwas dazwischen und fraß ihr das Geld vor der Nase weg. Zweimal war das Heimweh so stark in ihr geworden, dass es sie zum Bahnhof getrieben hatte;
das eine Mal wurde sie vom Schaffner vor Abgang des Zuges angehalten; das andere Mal gelangte sie bis nach Korsör, ehe sie gefasst und zurückbefördert wurde. „Das Mal war es wirklich nahe daran, dass man bestraft worden wäre — obwohl man keiner Menschenseele den Platz weggenommen hatte", sagte die Alte und bebte noch immer bei dem Gedanken daran.
Dann hatte sie es aufgegeben. „Jetzt hat man nur noch einen einzigen Wunsch — den müden Kopf bald dahin legen zu dürfen, wo keine Wagen hinkommen. Aber schön wäre es doch, wenn der Kadaver übers Wasser geführt und auf dem Friedhof zu Hause in die Erde gesenkt werden könnte. Glaubst du, dass es so entsetzlich viel kosten kann?" Sie sah sich in ihrem armseligen Loch um, als meinte sie, dass der Plunder darin für die Kosten reichen könnte. Am Kirchhofswall gab es einen hochgelegenen Winkel mit Aussicht über die Wiesen, wo sie als Hütemädchen herumgesprungen war; dort wollte sie gern liegen!
Die Begegnungen zuerst mit Ann-Mari und dann mit diesem alten Mütterchen öffneten mir die Augen für etwas, worin ich gelebt und worunter ich viel gelitten hatte, ohne es mir doch voll bewusst gewesen zu sein: für die blutige Ungerechtigkeit des Daseins. Es war nun einmal so, weil es nicht anders sein konnte; und wenn es nicht anders sein konnte, wozu sollte man sich darüber aufregen? Ohne diesen Fatalismus würden die Armen das Leben gar nicht aushalten, sie müssten entweder Selbstmord begehen oder sich erheben und alles in Stücke schlagen. Und dazu waren ihnen die Dinge wohl zu sehr ans Herz gewachsen — sie hatten sie ja selber geschaffen! Aber jetzt kam etwas Neues hinzu, was die Dinge in ein ganz anderes Licht setzte: ich war auf die positive Seite hinübergerückt worden und konnte Vergleiche ziehen. Es könnte anders sein — Madame Jensen wurde nicht deshalb aus dem Zug hinausgesetzt, weil für sie kein Platz war. Es gab leere Plätze genug!
Auf meinem Wege nach Italien hinunter wurde mir das Auge für die leeren Plätze noch stärker geöffnet. An irgendeinem kleinen Ort in den Bergen machte der Zug Aufenthalt, wir durften aussteigen und uns die Beine vertreten. Es war eine Station, wo der Zug dem Fahrplan nach nicht halten sollte; wir liefen durcheinander und überlegten, was wohl los wäre. Plötzlich — wir mochten wohl eine halbe Stunde gewartet haben — kam ein Blitzzug herangejagt; wie einen verschwommenen Streifen sahen wir hinter einer so genannten Racer-Lokomotive drei Luxuswagen mit heruntergelassenen Gardinen vorübersausen. Nichts Lebendes war auf dem bebenden Phantom zu entdecken, das sich mit einer Reihe von teuflischen Heulstößen in den Bergtunnel vor uns stürzte und verschwand. Es war ein Millionär aus Berlin, der auf dem Wege nach Ägypten war und die ganze Bahnstrecke bis Brindisi für sich gemietet hatte. Außer ihm waren nur noch sein Diener und sein Koch in dem Zuge.
Nun, nach dieser kleinen Unterbrechung durften wir weiterfahren, wir Hunderte von Reisenden; die Bahn war wieder frei. Wir hatten reichlich Gesprächsstoff bekommen, es war ein geradezu spannendes Erlebnis, das wir da gehabt hatten — ein zeitgemäßer Ersatz für die Raubüberfälle auf Reisende früherer Zeiten. Dieser und jener nahm wohl Anstoß daran, dass ein einzelner Mensch die Macht besaß, von einer der Hauptstrecken Europas allen Verkehr zu verbannen, aber zu irgendwelcher größeren Empörung wurde es nicht. Das Geld hatte seine Allmacht offenbart, Ehrfurcht war die herrschende Stimmung.
Ich vermochte es nicht zu unterlassen, zwischen diesem Millionär und den Passagieren der leeren Plätze einen Vergleich zu ziehen. Ich musste an mich selber denken, der ich so knapp dem Müllwagen entronnen war, und an alle jene, die dalagen und langsam verfaulten — aus Mangel an allem mitten im Überfluss. Allein die mir persönlich bekannten Fälle von brutal ausgestoßenen Wesen, die sinnlos zugrunde gingen, wie viele waren das! Und wohin man kam, war von allem genug; die Hotels waren nur halb belegt — oder sie waren geschlossen, weil es für die Reichen nicht die Saison war. Die Villen auf den Abhängen die Riviera entlang standen mit verschlossenen Fensterläden da. In der fruchtbaren Campagna hinter dem Küstengebirge hungerten die Bauern, während die Nahrung aus der Erde emporquoll. Die Gutsbesitzer nahmen fast den ganzen Ertrag als Pachtzins — und vernichteten einen Teil davon, um den Rest bei Preis zu halten.
Sind einem erst einmal die Augen für die leeren Plätze geöffnet worden, ist es nicht leicht, sie wieder zu übersehen. Überall gähnen sie einem entgegen, und man kann es nicht unterlassen, sie mit all denen zu bevölkern, die zu Hause bleiben mussten — den verhängnisvollerweise Zurückgebliebenen. Der Gedanke an jene, die daheim bleiben mussten, kann einem die ganze Reisefreude nehmen; ob man will oder nicht, man schleppt sie mit sich herum und bevölkert die leeren Plätze mit ihnen. Eine Reise durch die schönsten Gegenden kann auf einen wirken, als hätte sie der Teufel selber arrangiert, wenn man an alle die denkt, die niemals irgendworan Anteil haben. Fauchend vor satanischem Übermut geht die Fahrt dahin, wohin sich alle Menschen wünschen, aber die meisten Plätze sind unbesetzt. Ist es nicht Satan selbst, der den Schaffner macht? Ausgelassen ruft er über die leeren Plätze hinweg die Stationsnamen aus — für alle die, die so sinnlos und schmerzlich im Stich gelassen wurden.
Die hier auf Erden um ihr Dasein betrogen werden, sollen ja der Heiligen Schrift zufolge in einem anderen Leben entschädigt werden. Man hat hin und her diskutiert, wo sich der Schauplatz dieses anderen Lebens befände; sicher ist wohl nur das eine: dass die Mythe von Abrahams Schoß, wo der Arme als Entgelt für das, was er hier erduldet hat, ein ewiges Leben in Herrlichkeit und Freude lebe, eine Äußerung des schlechten Gewissens der Bevorzugten ist. Ich kenne Leute, die selber niemals Entbehrung gekannt haben, denen aber trotzdem bei dem Gedanken an jene, die hungern, das Essen im Munde bitter wird. „Aber wenn euer Reich kommt", sagen sie mir, „kriegen die Armen es gut!" Es ist, als ob sie es zugleich wünschten und nicht wünschten.
Viele sind es allmählich geworden, die nicht nur die leeren Plätze sehen, sondern sie auch mit Wesen bevölkern — ja, es geradezu nicht unterlassen können. Dadurch wird ein Weg der Verständigung zu den Benachteiligten gebahnt, der an jenem Tag von Bedeutung werden mag, wo die große Umwertung stattfindet. Dem, der da unten geboren ist und nur durch einen Glückszufall auf die Sonnenseite gelangte, wird stets der Weg zurück offen stehen, überall wird er die Passagiere der leeren Plätze unsichtbar um sich haben. Und ihre Gesellschaft kann so aufdringlich werden, dass er sich wieder zurückwünscht, damit sein schlechtes Gewissen Ruhe finde.---
Ich sitze im Schnellzug und rolle in den dänischen Sommer hinaus. Es ist einer dieser grauen Nebeltage, wo die Sonne an einem verborgenen Orte sitzt und silbernes Licht über das Land ausgießt. Still ist es, alles glänzt in unbestimmtem Schimmer. Die Landschaft, die sich bei unserer Geschwindigkeit träge dreht, liegt zitternd im Dunst der Wärme.
An solchem Tage — wo die Luft mit Feuchtigkeit gesättigt ist und wie ein Schleier der Fruchtbarkeit über Wälder und Felder bebt und die Gewässer in wechselndem Glanz von Silber und Blei daliegen — muss man Dänemark sehen. Andere Länder haben scharfe Konturen gegen einen Himmel, der mit seinem heftigen Blauen in weite Fernen rückt. Hier aber klafft kein Abgrund zwischen Himmel und Erde, der Raum schmiegt sich eng an die Erde an, mildert ihre Züge und nimmt ihr beinah den stofflichen Charakter. Alle Farben der Landschaft sind von dieser Umarmung betaut, jede Linie ist wie der leise Strich einer himmlischen Liebkosung. An einem solchen Tag möchte man alle seine Landsleute auf eine Fahrt durch Dänemark mitnehmen — besonders aber alle jene, die das Vaterland selten oder nie von seiner schönen Seite zu sehen bekommen.
Es sind nicht sehr viele Reisende in dem Zug; in dem langen Durchgangswagen, wo ich meinen Platz habe, sind es im Ganzen wohl an die zwanzig. Alles in allem kann der Wagen etwa anderthalbhundert Fahrgäste aufnehmen. Umso mehr gähnen die leeren Plätze.
Meinen einzigen Mitreisenden stören sie gar nicht. Sobald sich der Zug in Bewegung setzt, schließt er die Tür unseres Abteils und zieht die Gardine vor. „Dann kommt vielleicht niemand mehr herein", sagt er.
Ich schließe die Augen, müde von dem Anblick der sich drehenden Felder da draußen, vielleicht auch von der gähnenden Leere, die mir wie eine Anklage von den unbesetzten Plätzen entgegen starrt und mein Gehirn in den gewohnten vergeblichen Rundlauf auf der Stelle stößt. Das Schnarchen meines Mitreisenden gibt mir den letzten Rest, ich schlafe ein.
Als ich die Augen wieder aufschlage, ist das Abteil voll von fremdartigen sonderbaren Wesen, die dasitzen und mit gläsernen Augen geradeaus starren, ohne etwas zu sehen — eine unheimliche, gespenstige Gesellschaft. Wie eine von Frost erstarrte Gruppe wirken sie, wie Wesen, die auf Eis gelegt worden waren. Mir am nächsten sitzt eine alte Frau, die ich eigentlich, so scheint es mir, kennen sollte. Erdfahl und zusammengesunken ist sie und lächelt doch, aber kalt und unbewegt. Sie sitzt bescheiden ganz gerade auf der äußersten Kante der Bank und macht jeden Stoß des Zuges mit — ein fremder Vogel, der bereit ist, bei der geringsten Veranlassung aufzufliegen. Frisch gebügelt wie ein Ferienkind sieht sie aus, das dünne Leinen besteht fast nur aus Stärke und hat gar keinen Fall um den Körper.
Auch die anderen machen es sich auf den Sitzen nicht bequem, sondern sitzen gerade und steif, als hätten sie einen Stock verschluckt, und starren vor sich hin. Es ist eine Familie: Mann, Frau und drei Kinder. Sie sehen aus wie Geschöpfe, die von Krieg und Krise so mitgenommen worden sind, dass selbst die spanische Grippe sie nicht hat haben wollen. Die Augen liegen ihnen tief im Kopfe, so dass es einem vorkommt, als starrten sie aus leeren Augenhöhlen; die leberfarbige Haut liegt straff um den Schädel gespannt. Aber auch sie lächeln abwesend und seltsam in die Luft. Sie scheinen hier in keiner Weise zu Hause zu sein; sie machen den Eindruck, als wäre ihnen alles fremd — sogar sie sich selber. Die Kleider liegen in steifen Falten - wie Leichenkleider.
Für einen Augenblick streift mich die Frage, wo sie wohl zugestiegen sein möchten, dem Fahrplan nach hat der Zug noch nirgends gehalten; aber vor dem Seltsamen ihrer Erscheinung entschwindet die Frage wieder.
Das alte Mütterchen neben mir hält die fleckigen Hände im Schoß und sieht mit einem Ausdruck erstarrter Verwunderung, einer gefrorenen Freude, die sehr wohl eines Kindes erster Entdeckung der Welt entstammen könnte, vor sich hin. Nichts auf der Welt ist so schön wie die müden Hände eines alten Mütterchens; ich muss diese Hand, die da voller Gichtknoten und Aderverdickungen ausruht, in die meinen nehmen. Sie ist eiskalt!
„Es ist wohl lange her, dass Ihr die dänische Landschaft gesehen habt, Mutter?"
Sie nickt: „Aber wie schön doch diesmal der Sommer ist!" „Wie lange ist es denn her?"
Sie blinzelt mit den Augen. Dann sagt sie flüsternd und von weither: „Man ist nicht auf dem Lande gewesen, seitdem man als achtzehnjähriges Mädchen in die Stadt kam. Aber jetzt bleibt man für immer hier."
„Dann wollt Ihr also zurück in die Heimat?"
„Auf dem Friedhof gibt es eine hochgelegene Stelle", nickt sie. „Sie hätten einen ja zu seinem Platz hingefahren, aber jetzt habe ich mir einmal selbst die Freiheit genommen. Zweiundachtzig Jahre lang hat man sich nun nach anderen gerichtet und seine eigenen Wünsche beiseite geschoben. In der linken Ecke ist eine hohe Stelle; von der kann man die Sonne untergehen sehen und weit über die Wiesen hinwegblicken. Da —"
Jetzt erkannte ich sie und begann zu begreifen! Das war ja das alte Mütterchen aus dem Hinterhof auf Nörrebro. Sie hatte lange ausgehalten.
„Ja, sie fährt aufs Land, um richtig in die Erde zu kommen", fiel die jüngere Frau ein — mit einer Stimme, als verbrenne sie sich an jedem Worte. „Sie hat ja alles hinter sich. Wir anderen reisen, weil wir gern leben möchten. Ja, entschuldigen Sie, dass ich so schlecht spreche; das kommt, weil sie mir mein Gebiss weggenommen haben und es verkauften. Ich brauchte es doch nie mehr, sagten sie. Aber dann--" Der Husten packte sie; jetzt
erst sah ich, wie entsetzlich mager sie war. Und wie ein Echo pflanzte sich der Husten auf Mann und Kinder fort — ein trockener Husten, der hohl dröhnte, als hätten sie keine Lungen.
„Das ist die Brustkrankheit", flüsterte sie, „wir haben sie alle. Aber jetzt wollen wir an die See und uns erholen; es soll so gesund an der See sein."
„Wenn es nur nicht zu spät ist", sagte die Alte. „Wenn wir armen Leute mit so was anfangen, ist es manchmal zu spät."
„Ja, wir haben aber nicht früher gekonnt. Der arme Kerl da war Bürstenbinder, und wir mussten alle mithelfen, damit die tägliche Nahrung dabei herauskam. Das legte sich dann auf die Brust."
„Er ist also nicht mehr Bürstenbinder?" Ein Gedanke streifte mich; vielleicht hatten sie es auch verstanden, die Konjunktur auszunutzen. Die ganze Familie fuhr an die See; es mussten Schieber sein, wenn auch wahrscheinlich von der kümmerlichsten Sorte.
„Nein, wir sind keine Bürstenbinder mehr; gleich nach dem Kriege kam doch die Teuerung, und die half uns über alle Schwierigkeiten hinweg. Wir schafften es überhaupt zu gar nichts mehr, nicht einmal zum trockenen Brot — so erbärmlich war es mit unserem kleinen Verdienst geworden. Aber dann begegneten wir dem Propheten vom leeren Raum! Der hat keinen Magen, tatsächlich nicht! Er hat uns rasch zu seiner Gemeinde bekehrt. Da nehmen sie gar keine Nahrung zu sich, aus Protest dagegen, wie teuer alles geworden ist — und dann kann es einem ja egal sein, was das Essen kostet. Und die Kleidung braucht man auch nicht auf, denn die neuen Kleider, die jeder bekommt, wenn er in die Gemeinde aufgenommen wird, sind so beschaffen, dass sie niemals erneuert zu werden brauchen. Und da außerdem alle Gemeindemitglieder Freifahrt haben, meinten wir, dass wir es uns wohl leisten könnten, alle fünf an die See zu fahren."
Freifahrt? Ich glaubte doch die Staatsbahn zu kennen. „Haben Sie denn keine Fahrkarten?" fragte ich bekümmert.
„Nein — was sollten wir denn damit? Großmutter da hat auch keine, sie gehört auch zu uns — nicht wahr, Mutter? Ja — wir erkennen einander immer an den Augen!"
In demselben Augenblick kam der Schaffner. Er weckte den schlafenden Handelsreisenden und lochte seine und meine Fahrkarte. Dann ging er weiter, ohne die sechs anderen überhaupt nur anzusehen.
Mein dicker Reisegefährte schmatzte einmal laut und schlief weiter. Und die beiden Frauen begannen ihr Gespräch von neuem — von all den Entbehrungen und Leiden, die sie durchgemacht hatten, bevor sie zu dem neuen Leben hinfanden. Der Mann und die drei Kinder saßen nach wie vor unbeweglich still; von ihm hörte man nichts als ein einförmiges Röcheln, die Kleinen schienen nicht einmal zu atmen. Aber die beiden Frauen hatte nichts unterzukriegen vermocht. Eine endlose Leidensgeschichte war es, was wie ein Wechselgesang über ihre Lippen ging: ein Lied der Art, wie es von jedem einzelnen der Zehntausende von Schicksalen gesungen werden kann.
„Ja, und sich vorzustellen", sagte die Alte und wiegte sich leise, „dass wir jetzt so bevorzugt sind! Zweimal schon, als die Sehnsucht zu stark geworden war, hatte man sich in den Zug gesetzt. Die Züge fuhren doch jeden Tag, und Platz war auch genug da, aber hinausgeschmissen haben sie einen trotzdem. Und nun -"
„Ja, alle leeren Plätze überall auf der Erde gehören uns", sagte die jüngere Frau, zu mir gewandt. „Ich habe in der Zeitung gelesen, dass sie deine Bücher wohl lesen möchten, dir aber nichts zum Leben geben wollen — und deshalb gehörst du auch zu uns. Denn bei uns gibt es keine Teuerung und haben alle gleich viel. Wir kennen keinen Unterschied zwischen hoch und niedrig, alle sind gleich vor dem Propheten vom leeren Raum."
Sie zog etwas, das wie ein Totenschein aussah, aus der Tasche, aber da pfiff der Zug, durchdringend und lange, und ich musste mich um mein Gepäck kümmern. Mein dicker Mitreisender gähnte und streckte sich, ich musste ihm seinen Koffer herunterreichen.
Und ehe ich mich noch umsehen konnte, waren die Passagiere der leeren Plätze fort.
Draußen auf dem Bahnsteig sah ich sie wieder, zusammen mit unzähligen anderen, die offenbar der gleichen Welt angehörten. Die eigentlichen Reisenden verschwanden beinahe unter ihnen, so viele waren es - kein Wunder, dass die Staatsbahn Defizit macht! Während ich mich bescheiden in der dritten Klasse niederließ und mir mit dem Ellbogen einen engen Platz verschaffte, besetzten sie das große Promenadendeck der Fähre, das zwei oder drei Luxusreisenden vorbehalten ist, und ließen sich dort nieder, als sei diese unbenutzte Luxuswelt droben im Sonnenlicht gerade ihnen reserviert.
Und damit beruhigte sich mein schlechtes Gewissen!
1916/1946

 

TREU BIS IN DEN TOD
Erinnerung vom Ufer der Kindheit

Man hört so oft sagen, dass in der heutigen Zeit ein jeder vorankommen könne, sofern er nur Talent habe; man soll sich geradezu darum reißen, die Begabungen aus ihrer Unbekanntheit ans Licht zu ziehen und sie zur Entfaltung zu bringen. Es ist beinah zur wichtigsten Rechtfertigung des Bestehenden — ja, kurz gesagt, zu ihrer Daseinsberechtigung selber — geworden, dass unsere Gesellschaft so vollkommen sei, dass jeder nach seinem Verdienst vorankomme.
Jedes Mal, wenn ich das höre, muss ich an alle die armen Menschenseelen denken, die ich bei ihrem hoffnungslosen Kampf um den Aufstieg ans Licht habe verkommen und zugrunde gehen sehen. Wenn sich nur ein Bruchteil der außergewöhnlichen Begabungen, die im Laufe der Zeit im Volke vorhanden waren, aber nie ans Tageslicht gekommen sind, voll entfaltet hätten, würde die Welt von heute anders aussehen.
Nun besteht ja das alte Wort zu Recht, das da besagt, es wäre sinnlos, über ungeborene Kinder Tränen zu vergießen, aber traurig ist es doch, wenn man ansehen muss, wie sich eine Begabung ans Licht ringt und einen heroischen Kampf kämpft, sich zu behaupten — und unter der Erbarmungslosigkeit des Alltags zusammenbricht.
Als Kind hörte ich die Erwachsenen oft von dem Musikgenie Bohn erzählen, einem Häusler oben in Nordbornholm; alle auf der Insel schienen über ihn und sein Schicksal Bescheid zu wissen. Er konnte ein Instrument spielen, sobald es ihm in die Hand fiel, ja, er vermochte sogar anscheinend toten Dingen Melodien zu entlocken: einer Tischplatte, einer Fensterscheibe, einer leeren Flasche. Die Notenschrift hatte er sich selber beigebracht, und er konnte eine Melodie ebenso rasch niederschreiben, wie sie gespielt wurde. Er komponierte viele Musikstücke und orchestrierte sie auch; er schuf und dirigierte selbst ein großes Orchester, das auf der ganzen Insel berühmt war. Und alles das, während er bei den Bauern auf Arbeit ging und seinen kleinen Besitz versorgte, eine Häuslerstelle mit einigen Kühen.
An und für sich war er ganz glücklich dabei, wollte ja aber auch gern, dass seine Arbeiten in weitere Kreise kämen; und als der Pfarrer einige seiner Kompositionen an sachverständige Leute in der Hauptstadt sandte, war er nicht gerade böse darüber. Im Gegenteil, Häusler Bohn wurde immer gespannter, als es erst einmal geschehen war; es war die große Schlacht, worauf er sich hier eingelassen hatte! Aber man hörte nichts mehr von der Sache, da mussten seine Arbeiten also doch wohl nichts Richtiges gewesen sein; allmählich fand er wieder in die Ruhe seines alltäglichen Daseins zurück.
Aber als er einmal in der Stadt war — es waren Jahr und Tag darüber hingegangen — fielen ihm einige neuerschienene Musikstücke in die Hände, und in denen erkannte er seine eingesandten Arbeiten wieder. Der angesehene Komponist hatte sie bloß „eingerahmt", ehe er sie als seine eigenen herausgab.
Bohn ging nach Hause und schlug seine und seiner Jungen Musikinstrumente in Trümmer, verbrannte alles, was an Noten und Aufzeichnungen vorhanden war, und verbot den Jungen unter schweren Drohungen, jemals ein Musikinstrument anzurühren oder an Musik zu denken. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er ihnen am liebsten das schon Erlernte wieder ausgeprügelt.
Von dem Tage an hasste er die Musik. Sein Gesicht verzerrte sich, wenn er nur einen Laut vernahm, der an einen Klang erinnerte; wenn oben auf der Landstraße musizierende Spielleute vorbeizogen, wurde er wild und suchte etwas zum Kaputtschlagen. Obwohl er sehr fromm war, ging er nicht mehr in die Kirche. Er hatte Angst vor dem Gesang und konnte wie ein kranker Hund zu heulen anfangen, wenn die Orgel einsetzte.
Acht Söhne hatte er. Wie ein Satz Orgelpfeifen waren sie tripp, trapp, Holzschuh —, der eine noch wohltönender als der andere, bis hinunter zum jüngsten, dem kleinen Janus, der mit seinen vier, fünf Jahren das reinste Wunder von einem Musikgenie war. Sie waren bereits gut aufeinander eingespielt, der Häusler Bohn und seine Jungen, und waren bei mehreren großen Festlichkeiten mit viel Erfolg aufgetreten. Sein Traum war, ein Orchester zu bilden, desgleichen die Welt womöglich noch nie gesehen hätte.
Jetzt folgte eine böse Zeit für die Jungen. Es war, als ob es die Natur nicht zulassen wollte, dass so schöne Begabungen zugrunde gingen — als ließe sie den Fehlschlag des Vaters als verstärkte Triebkraft in den Kindern wiedererstehen. In vielfältigen Formen brach das Musikalische aus ihnen heraus, aber der Vater erkannte den Teufel trotz aller Verkleidung und war unbarmherzig mit dem Stock hinter ihm her. Der kleine Janus hatte eine Flöte vor der Vernichtung gerettet, er versteckte sie draußen auf dem Weideplatz und zog sie nur hervor, wenn er sich ganz allein wusste. Er hatte sich unten in den Abhang eine Höhle gegraben; dort versteckte er sich, wenn er spielte — um ganz sicher zu sein. Aber eines Tages erwischte ihn der Vater doch; er zertrat die Flöte unter seinem Holzschuh und hätte in seinem unversöhnlichen Ausrottungskrieg beinahe auch den Jungen zuschanden geschlagen.
Er hatte zu trinken angefangen und war dem Hause nach und nach ein wahrer Teufel geworden. Nur wenn er den Punkt erreicht hatte, wo andere sinnlos betrunken sind, tauchte der frühere Mensch wieder in ihm auf; dann fing er zu prahlen an und musikalische Kunststücke zu machen.
Die Söhne rückten aus, sobald sie konnten. Und draußen fanden sie zu sich und begannen wieder Musik zu machen — mit dem Ergebnis, dass sie sich daheim nicht mehr zeigen durften; sie blieben Steinhauer oder Landarbeiter. Sobald Janus, der jüngste, herangewachsen war, bildeten sie unter seiner Leitung ein Orchester. Sie wurden bekannt, sie mussten manchmal ganz hinunter in den Süden der Insel, um bei größeren Festlichkeiten aufzuspielen. Da habe ich sie als Junge selber gesehen. Sie gingen die vier, fünf Meilen immer zu Fuß, und für den einsamen Hütejungen war es jedes Mal ein Fest, wenn das Sonnenlicht plötzlich zu tönen begann und zu Hornmusik wurde und die acht jungen Brüder mit lustig in den Tag geschmetterten Melodien anmarschiert kamen.
Eines Morgens fand man den alten Bohn im Grase vor den Saalfenstern eines großen Bauernhofes, wo die Söhne in der Nacht zu einem Fest gespielt hatten, tot auf — um sie zu hören, hatte er sich dahin geschlichen. Einige meinten, er hätte vor Zorn den Schlag gekriegt, andere hielten dafür, dass er vor Gemütsbewegung gestorben wäre.
Ich hatte alles das vergessen. Es lag wie eine geologische Schicht irgendwo tief in meinem Innern, begraben unter so viel anderem, was das Leben später darauf abgelagert hatte.
Letzten Winter war ich eines Sonntags bei einem Landsmann zu Besuch, der in der Schweiz verheiratet und ansässig ist. Wir hatten zu Mittag gegessen, dem Gast zu Ehren gute dänische Fleischbrühe mit zwei Sorten Klöße und Meerrettichsoße zum Fleisch. Jetzt saßen wir im Arbeitszimmer des Hausherrn, rauchten Schweizer Stumpen und waren so recht in gemütlicher Heimatsstimmung.
„Ein kleiner Geisteshauch von zu Hause könnte uns jetzt ganz passend kommen", meinte der Hausherr und fing an, an dem Radio zu pusseln. „Leider ist das liebe Vaterland am Tage gar nicht leicht hereinzubekommen — seltsam genug, wir Dänen sind doch sonst kein lichtscheuer Menschenschlag." Er sagte das so verdrossen, dass ich lachen musste.
„Versuch einmal die kurzen Wellen", schlug seine Frau neckend vor. „Damit kriegt man euch wahrscheinlich leichter — ihr seid ja nun einmal ein Häuslervolk!"
Er saß da und drehte den Einstellknopf probierend hin und zurück. Merkwürdige Laute schlüpften während seines Suchens aus dem Apparat: ein Stückchen Jazz aus London, einige Nasallaute aus Königswusterhausen. Ab und zu hatte er das Pech, an den Weltenraum selber zu geraten, und Heultöne drangen heraus, dass es mir kalt den Rücken herauf- und herunterlief. Da plötzlich floss ein sanfter Tanzrhythmus heraus, schmiegte sich einem zärtlich ins Gemüt — und war im selben Nu verschwunden.
„Da hatte ich tatsächlich Dänemark", sagte mein Gastgeber und wurde ganz nervös. Er suchte umständlich an der Stelle, wo die Melodie aufgetaucht war, und noch ein paar Mal fingen wir den sanften Walzer wie im Vorüberhuschen ein — zwei, drei abgerissene Takte, wiegend, gleitend. Dann war es aus, und während mein Gastgeber vergebens weiter suchte — leise fluchend, wie nur ein Däne das kann —, wurde ich von den paar Takten unmerklich in die Zeiten zurückgewiegt und landete sanft daheim, am Ufer der Kindheit.
Ich saß in der Scheune an der Wand und machte mich ganz klein — damit man den Hütejungen nicht entdeckte und ihn ins Bett schickte. Es war doch Erntefest, und die Scheune war der Tanzboden. Auf einem Tisch saß ein junger Steinhauer und spielte die Geige, und auf dem Boden tanzten sie, dass mir alles in eins verschwamm. Der Bauer tanzte mit Karoline, dem drallen kleinen Stubenmädchen, die immerzu das Gesicht voller Lachgrübchen hatte, und der Großknecht tanzte mit der jungen Frau des Bauern — dass er es wagte! Er ließ sie nicht vom Tanzboden weg, und als die Musik endlich aufhörte, zog er die Jacke vom Leibe und wrang sie aus, dass das Wasser auf die Erde troff.
„Spiel uns den Liebeswalzer", rief jemand. „Ja, deinen eigenen Walzer!" riefen sie wie aus einem Munde und klatschten in die Hände. Und der Steinhauer begann von neuem zu spielen, legte das Kinn behutsam an die Geige und wiegte sich mit geschlossenen Augen hin und her, als träumte er die zärtlich sanften Töne ins Leben. Der Bauer tanzte mit seiner jungen Hausfrau, sie legte den Kopf an seine Schulter und nahm damit eine schwere Last von meinem Jungenherzen — sie liebte ihn also doch! Und der Großknecht tanzte mit Karoline, seiner Herzallerliebsten! Es war ja der Liebeswalzer, und deshalb war alles, wie es sein sollte. Wie sie über den Boden schwebten, die beiden Paare — alle! Die Frauen mit geschlossenen Augen, selig, selig; die Männer mit herausforderndem Gestampfe auf die Dielen.
Ich bekam nicht viel Schlaf in jener Nacht, und am nächsten Tag saß ich draußen auf dem Weideplatz unter dem Dornbusch. Der Regen nieselte den ganzen Tag einförmig herab, und die Kühe hielten sich dicht bei meinem Platze auf, als suchten sie bei mir Schutz. Mit krummen Buckeln und den Schwanz in die Höhe standen sie grämlich da und käuten wieder, während ihnen die Nässe aus dem Fell troff.
Ich hatte einen alten Fahrmantel des Bauern über dem Kopf. Es tropfte von dem Dornbusch herunter, aber ich saß gut geschützt, den ganzen Tag inwendig schlafend. Durch die schwach geöffneten Augen konnte ich gerade die ausgerichtete Kuhherde wahrnehmen. In meinem Innern drehte es sich wie ein Karussell: der Tanzboden, die Paare, der süße Walzer. Der saß im Rauschen des Blutes, schlug mit in den hörbaren Schlägen des übernächtigten Herzens, pumpte, wiegte, und dazu das Stampfen, das zärtliche Kreischen der Frauen, der lichte Staubnebel rund um die Laterne. Schließlich saß es mir wie Lebensangst an der Kehle, so dass ich vor Entsetzen wiederum laut aufschreien musste — wie die Nacht zuvor, als starke Hände mich kleinen Knirps unter der Bank hervorgezogen und ins Bett gelegt hatten.
Auch jetzt war ich drauf und dran zu schreien, mit einem schweren Atemzug wachte ich auf, als mein Gastfreund sein Suchen einstellte und abdrehte — länger hatte mein Flug an den Strand der Heimat nicht gedauert. Aber wie damals war ich in Schweiß gebadet und krank vor innerer Aufregung, und im Munde hatte ich einen Geschmack wie von warmem Blut. Jetzt erinnerte ich mich! Schweden-Anders, der Tagelöhner, hatte Karolines wegen das Messer gegen den Großknecht gezückt — der Liebeswalzer hatte ihn verrückt gemacht. Das war es ja, weshalb ich damals von der Bank auf den Boden hinuntergefallen war! — Verwirrt wie nach einem schweren Traum nahm ich das Programm und schlug nach: Walzer von Häusler Janus Bohn stand da.
Der jüngste von den Söhnen des alten Bohn war also doch weitergekommen als der Vater, auf alle Fälle wurde er unter seinem eigenen Namen gespielt! Aber was war sonst aus ihm geworden? Ich ließ mir von meinem Gastfreund das Programm geben, damit ich mit ihm als Grundlage nachforschen könnte; ich musste es herausbekommen.
Im letzten Sommer erfuhr ich zu Hause auf Bornholm das Folgende über ihn:
Er war ebenso musikbegabt wie der Vater und wiederholte ihn in vielen Dingen. Er spielte wie selbstverständlich alle Instrumente, komponierte und orchestrierte seine Kompositionen selber. Aber darüber hinaus vertiefte er sich in das Wesen der Musikinstrumente und fing an, Harmoniums zu bauen und Klaviere zu stimmen. Janus Bohn war der erste auf Bornholm, der dieses Handwerk ausübte; bis dahin hatte man jedes Jahr einmal einen Klavierstimmer herüberkommen lassen. Das fiel nun weg, aber die Leute mussten sich damit abfinden, dass ihre Klaviere in der Nacht gestimmt wurden, denn am Tage ging Janus seiner Arbeit als Steinhauer nach. Für zwei Kronen ging er die vier Meilen quer über die Insel, stimmte ein Klavier und war morgens bei Arbeitsbeginn wieder zu Hause. Feilschten die Leute um den Preis mit ihm, pflegte er überhaupt kein Geld zu nehmen.
Auch darin war er dem Vater ähnlich, dass er nach und nach viele Kinder bekam — im Ganzen zwölf.
Als er hoch in den Vierzigern war, gab er die Steinhauerei auf und bekam eine Anstellung als Landbriefträger. Er konnte nun das eine tun, ohne das andere zu versäumen; er komponierte, während er über Land ging, und setzte sich auf den Grabenrand und schrieb mit der Brieftasche als Pult das Ersonnene nieder. Ein kleineres Instrument trug er stets in der Tasche bei sich, um die verschiedenen Stimmen auch mit dem äußeren Ohr ausprobieren zu können.
Um diese Zeit baut er seine erste Orgel — für seine eigene Gemeindekirche. Er spielt sie selbst, und die Filialgemeinde verlangt ebenfalls eine Orgel, so starke Wirkung übt sein Spiel. Es ist, als wäre unter dem Gottesdienst der Herrgott selber bei einem", sagt eine alte Frau. Janus Bohn spielt beide Orgeln jeden Sonn- und Feiertag und bekommt dafür fünfundzwanzig Kronen das Jahr. Er ist nun ein glücklicher Mensch, Beamter mit festem Gehalt! Die sieben Brüder sehen zu ihm, dem Benjamin, wie zu dem Ältesten der Familie auf; alle Menschen sprechen kopfschüttelnd von seinem Genie, sie bewundern ihn.
Er bleibt aber weiter dabei, an den Wochentagen die Post auszutragen, an den Sonntagen in der Kirche zu spielen und in den Nächten Orgeln zu bauen. Siebzehn hat er im Ganzen gebaut, als er sechzig Jahre alt wird. Sie stehen rundum in den Kirchen und Missionshäusern der Insel und zeugen von seinem Fleiß, seiner Treue und Geschicklichkeit. Janus Bohn ist ein glücklicher Mensch: worunter der Vater so kläglich zusammenbrach, ist ihm gelungen; im Ganzen genommen haben sie gesiegt. Und so sieht es Janus Bohn auch an.
Ja, Janus Bohn war gut daran! Als er sechzig Jahre alt geworden war, wurde sein Organistengehalt auf das Doppelte erhöht, und leise wurde davon gesprochen, dass nunmehr für ihn gesorgt werden müsste, damit er nicht mehr jeden Tag mit der schweren Posttasche auf dem Rücken seine vier, fünf Meilen zu traben brauchte, sondern sich hinsetzen und seiner Kunst in Ruhe widmen könnte. Der Reichstagsabgeordnete sollte dafür interessiert werden und sich dafür einsetzen, dass er vom Staat eine kleine Rente bekäme — irgendetwas musste getan werden!
Aber das Schicksal hatte seine eigene erhabene Absicht mit ihm und sorgte dafür, dass es zuerst an die Reihe kam. Während des Sommers war eine Zentralheizung in die Gemeindekirche eingebaut worden, und als die Anlage in Betrieb gesetzt wurde, machte Janus Bohns Orgel nicht mit und wollte ihrem eigenen Baumeister nicht gehorchen. Es wurde immer schlimmer mit ihr, und Janus kam zu dem Ergebnis, dass sie ganz und gar umgestimmt werden müsste. Der alte Musiker machte sich getrost an die Arbeit. Tagsüber trug er wie sonst auch die Post aus, und in der Nacht lag er oben auf dem kalten Dachboden der Kirche und arbeitete an seinem geliebten Instrument.
Es war ein strenger Dezember mit Schneestürmen und starkem Frost, und die Leute wurden langsam bedenklich wegen des Unterfangens des Alten — er könnte ja erfrieren da oben. Anderseits aber fiel es der Gemeinde schwer, das herrliche Orgelspiel zu entbehren, besonders jetzt, wo Weihnachten herankam; der Alte hatte versprochen, dass die Orgel zum Heiligabend fertig wäre.
Das war sie auch. Drei Wochen hintereinander lag er jede Nacht auf dem Boden und bastelte und mühte sich ab, um dann bei Tagesanbruch die Posttasche über die Schulter zu schnallen und in die Schneelandschaft hinauszuwaten. Ob ihn denn nicht fröre da oben auf dem Kirchenboden? Nein, er konnte die Wärme schon halten!
Als die Orgel aber fertig war, begann ihn zu frieren — und zwar so sehr, dass er zitterte. Er musste von der Kirche gleich nach Hause gehen und sich ins Bett legen — mit einer heftigen Lungenentzündung.
Aber seine geliebte Orgel hatte er wieder zum Spielen gebracht, schöner denn je zuvor. Man konnte ihm den Sieg aus den Augen lesen, bis der Fieberwahn ihn packte und seinen Blick verschleierte. Dann lag er da und arbeitete, weit in das Fieber hinein verfolgte ihn seine Aufgabe.
Den letzten Tag seines Lebens war er wieder klar; er wollte aufstehen und prüfen, ob sich die Stimmung gehalten hätte.
„Das brauchst du nicht, Vater", sagte die Frau, „der neue Lehrer ist drüben in der Kirche und übt. Er hat versprochen, für dich zu spielen."
Und so ging Janus Bohn beruhigt in den Tod.
um 1928

 

DER BRUDERMÖRDER

Sie hatten sich gut eingegraben. Anderthalbhundert Schritte weit weg lag der Feind und hatte sich ebenfalls in den Acker gegraben. Man konnte von da drüben Stimmen hören — eine fremde, singende Sprache — und den Klang von Spaten. Ab und zu hob sich ein Spaten über den Erdwall vor den Laufgräben und machte ihn ein wenig höher. Sobald sich etwas zeigte, wurde geschossen, und die da drüben machten sich ein Vergnügen daraus, setzten einen Sturmhelm auf einen Gewehrlauf und ließen ihn gerade über dem Erdwall hervorsehen. Dann wurde der Spaß langweilig, und man sparte sein Pulver.
Im Übrigen geschah nichts; man war sich zu nah auf dem Leibe.
Hoch über ihren Köpfen ging es los. Der Raum über ihnen war eine ungeheure klirrende Glaskuppel, Hunderttausende von Geschossen zogen ihre verderbenbringende Bahn in beide Richtungen. Man sah nichts von ihnen und glaubte sie doch zu sehen; es fühlte sich an, als ob die weißlich blaue Morgenluft eng gestrichelt, ganz schraffiert davon wäre! Sie hatten ihre Ziele auf beiden Seiten weit hinten und kamen in Schauern, die von tiefem Dröhnen der Erde begleitet waren.
Trotz des Sperrfeuers herrschte Stille hier unten, und seltsam still war es auch in jedem einzelnen, als ob er allein auf der Erde sei, nur dem Angesicht seiner eigenen Seele gegenüberstünde. Das war die Stille vor dem Sturm.
Ein herrlicher Morgen war es — der schönste, den einer noch erlebt hatte. Und jeden Augenblick konnte es losgehen; in einer Minute vielleicht würde das verkrustete wüste Gelände da draußen von lebendigem Grauen erfüllt sein, würde sich der Todesschrei aus tausend Kehlen drängen und das Blut erstarren. Dann ging die Sonne auf, rot und dampfend wie vom Grund eines gefrorenen Brunnens. Ein herrlicher Morgen!
Man sprach nicht darüber, sprach überhaupt nicht miteinander. Verstohlen behielt einer den anderen im Auge, als möchte jeder einzelne gern wissen, was der andere dächte — und wie es auf dem Grunde seiner Seele aussähe. Sie gaben sich, jeder für sich, mit gleichgültigen Dingen ab.
Landsturmmann Holz hatte Morgenwäsche gemacht und trocknete sich nun in den Rücken seiner Weste ab. Er war letzte Nacht hierher in die vorderste Linie gekommen, zusammen mit hundertfünfzig anderen, auf allen vieren kriechend, um Lücken auszufüllen. Sein Zeug war von dem Kriechen über die schlammige Erde noch jetzt eine einzige Kruste.
Was er hier sollte, war ihm unklar, er gehörte doch dem Landsturm an und durfte dem Gesetze nach nur im Heimatdienst verwendet werden. Trotzdem war er zusammen mit den anderen Landsturmleuten hinausgeschickt worden — anfangs zur Arbeit hinter der Front. Schritt für Schritt waren sie dann durch das Kampffeld nach vorn geschoben worden, bis sie sich jetzt in vorderster Linie befanden. Nun, darum sollten sich die Vorgesetzten bekümmern! Er war Gemeiner und tat, was ihm befohlen wurde - sie waren ja die Stärkeren. Befahlen sie ihm, aus dem Graben zu springen und auf die Linie des Feindes loszustürmen — er würde es tun, obwohl es den sicheren Tod bedeutete und ganz sinnlos wäre. Ja, und wenn sie verlangten, dass er eine Handgranate verschlucken und sie selber zur Explosion bringen sollte — er würde auch das ausführen. Sie könnten mit ihm machen, was sie wollten, jawohl! Denn sie waren seine Vorgesetzten, und er hatte die Pflicht, ihnen zu gehorchen. Aber sie sollten nur nicht kommen und von ihm verlangen, dass er schießen sollte; das sollten sie um ihrer selbst willen lieber sein lassen, denn damit vergingen sie sich gegen das Gesetz. Er war Landsturmmann, und dem Gesetz nach war es seine Pflicht, die Heimat zu verteidigen und die innere Front in Ordnung zu halten; hier draußen hatte er nichts zu suchen.
In die Wand des Schützengrabens war ein Stückchen Spiegel eingelassen, da hätte er sich gern ein wenig zurechtgemacht. Es standen aber schon so viele da und warteten darauf, an die Reihe zu kommen, dass es ewig lange dauern würde. Deshalb ging er in das äußerste Ende des Grabens und beugte sich dort über den Tümpel, eine flache Grube, wohinein die Feuchtigkeit absickern konnte; er stand voll von einer schlammigen Flüssigkeit — Lehmwasser und Blut. Aber Holz sah den blauen Himmel in dieser Flüssigkeit, der nur wich, um seinem eigenen Gesicht mit dem roten Vollbart Platz zu machen.
Ja, ja, für einen stattlichen Mann hatte er stets gegolten, wenn er es denn selber sagen durfte, und obgleich er nun bald an die fünfzig war, konnte er sich immer noch sehen lassen. Er war es doch gewesen, der einfach kam und zu Hause die Tochter des Dorfschulzen heiratete, sie den jungen Burschen glatt vor der Nase wegschnappte! Sie hatte alle verworfen und über alle die Nase gerümpft - niemand war ihr gut genug gewesen. Nein, sie wollte mit aller Gewalt einen Roten haben! Und da geschah es, dass er mit den neuen Ideen aus der Stadt zurückkam - oder hatte sie sich an seinem roten Vollbart versehen? Holz musste über seinen eigenen Witz lachen. Aber eine Prachtfrau war sie; es war jetzt vier Jahre her, und er hatte es nicht bereut. Und nun sollte er vielleicht sterben — sie und die kleine Lisa verlassen? Das mochte sein, wie es wollte; aber schießen - nein, dazu sollte ihn kein Teufel bringen! Danach hatte er kein Bedürfnis! Er wollte nichts davon wissen, Leute totzuschlagen, die vielleicht auch eine Frau zu Hause hatten - und so ein strahlendes kleines Dingelchen, das einem am Bart zupfte und „Wau wau" sagte! So ein kleines Sprühteufelchen, das einem die Zeitung entzweiriss, ehe man sie gelesen hatte - und dem man trotzdem nicht böse werden konnte!
Warum kam übrigens die Zeitung niemals an, obgleich sie ihm seine Frau immer und immer wieder schickte? Die Speichelleckerorgane kamen regelmäßig durch! Man sollte nicht selber denken, das war die Sache. Aber jetzt sollten sie mal abwarten - vielleicht kriegten sie bald etwas Neues zu sehen! Ihn brächten sie nicht zum Schießen, darauf könnten sie Gift nehmen! Er war Landsturmmann und war nicht verpflichtet, hier draußen herumzuliegen — und die anderen Landsturmleute, die Kameraden, waren gleicher Meinung. Nun wollen wir also abwarten und sehen, was wird! Die kleine Lisa — ob sie jetzt wohl richtig sprechen konnte? Um diese Zeit wurde sie sicher angezogen, es war gleich sechs Uhr. Was für ein Spaß wäre das, wenn man rasch einmal die Nase an die Fensterscheibe drücken und „muh" sagen könnte!
Ganz gedankenverloren stand Landsturmmann Holz über den Tümpel gebeugt, in dessen mit Blut vermischter dicker Flüssigkeit die schönsten Bilder an ihm vorüberzogen. Ein scharfer Kommandoruf weckte ihn auf; erschrocken warf er den Kamm weg und lief auf seinen Posten.
Drüben auf der anderen Seite war es unruhig geworden. Bündel — wie Säcke etwa sahen sie aus in dem glitzernden Morgennebel — kamen mit einem Satz aus dem Graben gesprungen und fielen vor der Brustwehr nieder, blieben dort ein Weilchen liegen und arbeiteten sich dann langsam vorwärts. Und auf einmal sprangen hinter den Säcken Männer auf und kamen herangestürmt, rufend und nach hinten den Kameraden zuwinkend.
Und plötzlich zerriss die Stille; auf dem schmalen Streifen Niemandsland ging eine Mine hoch. Gestalten flogen in die Luft und wälzten sich durcheinander. Rauch breitete sich über den Streifen Landes aus und blieb ein Stück über der Erde hängen, so dass man nur die Beine der Voranstürmenden sah.
Im Graben, links und rechts von Holz, schrieen sie und hatten sie es eilig. Er sah gar nicht zur Seite, wusste aber trotzdem, dass sich die Kameraden von heute Nacht — die anderen Landsturmmänner — am Kampfe beteiligten. Es waren nichts als große Worte gewesen! Übrigens merkwürdig, dass ihn die Offiziere in Ruhe ließen — aber er war ja in seinem Recht!
Er stand an der ihm angewiesenen Stelle, ein wenig über den Grabenschlamm erhöht, so dass er gerade durch den Einschnitt in dem Erdwall hinaussehen konnte; das Gewehr hielt er in der
Hand, aber er schoss nicht. „Dazu ist man nicht verpflichtet", wiederholte ständig eine eintönige Stimme in seinem Innern. Dort in seinem Innern war im Übrigen alles in Schlaf verfallen, er empfand weder Zorn auf jemand noch Angst wegen seiner selbst; alles, was hinter ihm lag, war wie ausgesperrt. Seine Gedanken waren bei denen da draußen, seine Blicke folgten besorgt den einzelnen Vorwärtsstürmenden; er zuckte zusammen, wenn sie hinfielen, aufstanden, um ein paar Schritte zu laufen, hinfielen und liegen blieben. Es war etwas daran, was ihm nicht in den Kopf wollte; er fühlte den Drang, sie warnend anzurufen.
Es war noch niemand über den schmalen Streifen Land zwischen den Linien herübergekommen, sie fielen, ehe sie so weit gelangten. Doch hinter ihnen kamen ständig neue und immer wieder neue, und es sah aus, als ließen sie sich mit Freude niederschießen, sofern es ihnen nur gelänge, vorher eine Handgranate hier in den Graben zu werfen. Jedes Mal, wenn das geglückt war, hörte er ringsumher Schreien und Jammern. „Wenn man doch so glücklich wäre, einen Splitter abzukriegen", dachte er, „dann hätte es ein Ende."
Im selben Augenblick fühlte er einen Schlag zwischen den Schultern und fiel von der Erhöhung in den Schlamm hinunter; er schloss die Augen und lächelte schwach — nun hatte es ihn erwischt! Aber da hörte er jemand neben sich böse lachen, und er rappelte sich auf die Beine; hinter ihm stand ein Offizier mit erhobenem Revolver: „Zum Teufel, schießen Sie doch, Mann! Schlafen Sie denn?"
„Ich bin Landsturmmann", murmelte Holz trotzig.
Der Offizier richtete ihm den Revolver auf das eine Auge. »Sehen Sie zu, dass Sie in Gang kommen", sagte er leise, seine Stimme war heiser: „Eins, zwei..."
Es wurde Holz plötzlich leuchtend klar, dass es sich hier gar nicht darum handelte, dass er Landsturmmann war. Das war doch so gleichgültig. Worauf es aber ankam - ja, das einem Menschen erklären zu wollen, war bestimmt hoffnungslos.
Er sah den Offizier mit schwerem Blick an, dann hob er das Gewehr und legte an. „Sie zielen ja viel zu hoch, Mensch!" brüllte der Offizier und korrigierte ihn mit harter Hand.
Holz schoss — genau in eine große Gestalt hinein, die kaum halbhundert Schritte von ihm entfernt herangestürmt kam. Der Mann breitete die Arme merkwürdig weit aus, als wollte er die ganze Welt in seine Umarmung schließen; er starrte auf Holz, drehte sich einmal um sich selbst und fiel vornüber aufs Gesicht. Holz erhaschte den Ausdruck der Augen, als der Mann hinfiel, und fühlte in dem einen Ohr einen Schlag. „Jetzt ist mir im Kopf etwas entzweigesprungen", dachte er.
Wieder bekam er einen Stoß in den Rücken: „Schießen Sie doch, zum Teufel!"
Er schloss die Augen und schoss, öffnete sie und schloss sie gleich von neuem, damit er nichts zu sehen brauchte. Sein Gesicht verzog sich bei der Bewegung, es sah aus, als weinte er mit trockenen Augen. Draußen auf dem Acker sprangen Gestalten in dem Morgennebel herum, krümmten sich zusammen und sprangen wieder hoch. Merkwürdig sah das aus, als ob da in dem weißen Rauch Bock gesprungen würde.
Holz sah das an, ohne es zu sehen; aber eines sah er mit allen seinen Sinnen — den großen Mann, der dort zwischen den Gräben auf dem Gesicht lag. „Du musst hin und ihm helfen", dachte er und arbeitete sich aus der Deckung nach oben. Jemand packte ihn an den Beinen und schleuderte ihn wieder in den Graben hinunter. „Toll, wie unternehmungslustig er mit einem mal geworden ist", hörte er jemand sagen. „Aber du wirst deine Gelüste schon noch befriedigen, alter Freund, warte nur, bis zum Sturm gepfiffen wird!"
Verwirrt stand er auf und nahm seinen Platz ein, ohne jemand anzusehen, nur von dem einen erfüllt — dem Mann! Er lag noch dort, wie vorhin auf dem Bauch. Aber er hatte das Gesicht nach oben gedreht! Und nun starrte er herüber — ja, dort! Er richtete den Blick genau auf Landsturmmann Holz!
Dann flaute es ab, es traten nicht noch mehr Menschen zum
Sturme an. Wer dazu fähig war, kroch, flach an die Erde gedrückt, zurück und ließ sich drüben in den Graben fallen.
Die Soldaten sahen ihre Gewehre nach und trockneten sich den Schweiß von der Stirn, sie konnten sich für einen Augenblick ausruhen. Darauf wurden die Gefallenen über die Brustwehr gewälzt, denn an Begraben war nicht zu denken; sobald einer den Kopf über den Grabenrand hob, war gleich eine Kugel da. Die da drüben erwarteten bestimmt einen Gegenangriff, aber dazu war man zu erschöpft.
Die Verwundeten wurden in der einen Grabenwindung behandelt, die ein wenig überdacht war. Dorthin hatte man auch den Landsturmmann gebracht, er hatte einen Strick ums Bein. Sein Leutnant kam her und fragte, wozu das wäre.
„Sonst kriecht er uns aus der Deckung", sagten sie; „er will durchaus zu einem der gefallenen Feinde hinaus."
Der Leutnant ließ ihm den Strick abnehmen und führte ihn an seinen Platz. „Nun, was ist da also zu sehen?" fragte er freundlich.
„Er hat das Gesicht nach oben", sagte Holz klagend.
„Das Gesicht nach oben — ja, das haben eine ganze Menge zu dieser schönen Morgenstunde. Beneiden Sie sie lieber, Mann; die sehen bestimmt schönere Dinge als wir."
„Ja, aber er war auf den Bauch gefallen!" Ein Kälteschauer ging über den Landsturmmann.
Der Leutnant packte ihn an den Schultern und starrte ihm in die Augen. „Mensch, sind Sie verrückt geworden? Sie wollen doch nicht etwa Tolstoische Studien über den Tod betreiben?"
„Er ist doch mein Bruder", sagte Holz leise und sah seinen Offizier traurig an.
Der Leutnant zuckte zusammen; er starrte den Landsturmmann mit einem Ausdruck an, als horchte er immer noch auf dessen Worte. Abwechselnd Mitleid und fragender Zweifel traten in seine Augen. Dann wandte er sich zu den anderen. „Weiß einer von euch, wo dieser Mann her ist?" fragte er. „Ist er Elsässer?"
Nein, er wäre aus dem Schwarzwald, meinten sie. Oben aus dem Höllental wohl — sie lachten wie über einen guten Witz.
„Aber dann ist es ja Unsinn", sagte der Leutnant und schob ihn ärgerlich von sich. „Sammeln Sie lieber Ihre Patronenhülsen auf, die werden ja ganz in den Schlamm getreten."
Der Landsturmmann stand da, ohne sich zu rühren — mit einem stumpfen Ausdruck im Gesicht.
„Na, wird es bald, Mann?" Er bekam einen Knuff.
„Herr Leutnant, darf ich — darf ich nicht erst ein Lied für den da draußen singen?"
„Ein Lied? Ich glaube, Sie sind des Teufels, Holz; wollen Sie hier Choräle singen? Na ja, in Gottes Namen denn — wenn es Sie trösten kann!"
Der Landsturmmann begann zu singen, und wie ein Besessener fuhr der Leutnant auf ihn los. „Seien Sie sofort still, Mann! Sind Sie denn ganz und gar verrückt geworden?" brüllte er außer sich. „Glauben Sie, wir können solche Lieder hier gebrauchen?"
Aber der Landsturmmann ließ sich durch nichts mehr stören. Seine Stimme klang ruhig und feierlich, unangefochten von dem Gelächter und von dem Rufen der Kameraden, die sich im Kreis um ihn versammelt hatten, und unangefochten davon, dass sein Vorgesetzter — die Finger in die Ohren gesteckt — wie ein Wilder beim Kriegstanz in dem Graben herumsprang. „Führt ihn in den Bunker hinunter", brüllte der Leutnant außer sich. „Er ist tatsächlich verrückt geworden!"
Landsturmmann Holz ließ sich ruhig binden und in den bombensicheren Raum hinunterbringen. Während sie sich mit ihm abgaben, sang er Strophe für Strophe die Internationale. Sein Gesicht trug einen seltsam ergriffenen Ausdruck, und die Kameraden, die sich hinunterschlichen und nach ihm sahen, meinten, dass er aussähe wie einer von den heiligen Märtyrern.
Den ganzen Tag klang es von da unten zu ihnen herauf — still und ergreifend: Wacht auf, Verdammte dieser Erde! Es war fast nicht mehr zum Aushalten, diese merkwürdige Stimme! Die Offiziere fluchten und schimpften „Könnt Ihr denn dem bekloppten Kerl nicht den Mund stopfen?" schalten sie.
In der Nacht wurde der verrückte Landsturmmann durch die Linien hinter die Front zurückgeführt und von da ein paar Tage später mit einem Transport von Verwundeten und Gefangenen in die Heimat gebracht. Er wurde in eine der großen Anstalten für jene eingeliefert, die der Krieg zerbrochen hatte.
1926

 

BIGUM HOLZBEIN

Eigentlich war es eine Anmaßung von ihm, mit einem Holzbein herumzulaufen, da er doch niemals im Kriege gewesen war. Aber allmählich gewöhnten sich die Leute daran und nahmen es ihm nicht länger übel; sie gaben ihm sogar seinen Namen danach. Bigum Holzbein nannten sie ihn, er selber aber nannte sich Folmer Sänger.
Bei der Musterung fragte ihn der barsche Musterungskommissar, ob er mit dem Bein geboren wäre. Bigum lächelte - er wusste einen guten Witz zu schätzen. Der Beamte aber war sich nicht bewusst, etwas Spaßhaftes gesagt zu haben, und fragte bissig: „Zum Teufel, warum lacht Er denn? Kann Er nicht antworten?" Da ging es Bigum auf, dass man über den Ursprung des Holzbeines Bescheid zu haben wünschte, und erzählte also, dass er auf einer Walfangreise den kalten Brand in den Fuß bekommen hätte, so dass er abgenommen werden musste.
Er wohnte allein draußen auf den windgepeitschten, unfruchtbaren Sanddünen im Norden der Stadt, in einer kleinen Hütte, die gerade über dem hohen Küstenhang lag. Er besaß eine Büchse und ein altes Boot, und in den frostklaren Frühlingsnächten, wenn das Meer ohne Regung blank dalag, ließ er sein Boot draußen zwischen den großen Felsen des seichten Wassers treiben. Er selbst lag im Vordersteven, die Büchse im Anschlag, und ahmte den lang gezogenen Gesang der Strandvögel nach, bis er auf Schussnähe an sie herankam. Oder er geriet unversehens über einen Seehund, der auf einem der großen Steine schnarchte, und stieß ihm seine Harpune in den Leib.
Und im weißen Winter, wenn das Meereis alles bedeckte, so weit das Auge reichte, und die Wildenten auf der Suche nach offenem Wasser durch die dicke Luft hin und her sausten, dann schlug er eine große Lücke ins Eis und baute sich aus den Eisblöcken ein Häuschen. Dort lag er dann im Hinterhalt und schoss Enten — oft drei, vier auf einen Schuss.
Aber im Laufe der Jahre fuhr ihm die Kälte dieses Lebens selber in den Leib; er wurde von der Gicht geplagt und musste zu Hause bleiben. Am schlimmsten saß ihm die Gicht in dem Glied, das er gar nicht mehr hatte, und immer wieder war es den Leuten ein Vergnügen zu sehen, wie er ans äußerste Ende seines Holzbeines fasste, Gesichter schnitt und sich beklagte, er hätte so sehr das Reißen im großen Zeh.
Deshalb nahm er die Schuhmacherei wieder auf, die sein Handwerk gewesen war, ehe er zur See fuhr. Diese Beschäftigung aber hatte er stets gehasst, und er rührte die Hand nicht mehr, als zum knappsten Lebensunterhalt eben nötig war.
Den größten Teil der Zeit dichtete, musizierte und philosophierte er.
Als Dichter lag seine Stärke in dem Sentimental-Gefühlvollen. Er dichtete von ungetreuer Liebe, von den Schrecken des Türkenkrieges und vom Untergang der Bark „Albatros". In seiner Musik hingegen war er ein Fürsprech der Lebensfreude — er spielte gern zum Tanze auf.
Auf diesen beiden Gebieten hatte er bedeutende Vorgänger gehabt, nicht so in seiner Art zu philosophieren. Hier war er absolut original. Er hatte ein ganzes philosophisches System entwickelt, aufgebaut auf die Beobachtung der Fußbekleidung des Menschen, und konnte augenblicks sagen, ob einer verschlossen war oder weitschweifig, verschwenderisch oder knickrig: alles zusammen durch Betrachtung der Schuhe des Betreffenden.
Mit solcher Beschäftigung vertrieb er sich den langen Winter, und wenn sein Magen vor Hunger knurrte, hielt er ihm eine längere Ermahnungspredigt und suchte ihn scherzend zu überzeugen, wie unvernünftig es von ihm wäre, ständig randvoll sein zu wollen: „Was, knurrst du schon wieder? Du solltest dir ein bisschen mehr Genügsamkeit zulegen, ja, das solltest du - vor allem
Genügsamkeit! Weißt du nicht, dass der Mensch nicht vom Fleisch alleine lebt? Brot ist auch gut, mein Alter — und ein halber Pahl (Anm.: Altes dänisches Flüssigkeitsmaß (34 Liter). Die Red.) dazu! Steht vielleicht nicht geschrieben, dass wir alle einen Pfahl im Fleische haben müssten?" Und nicht gar so ganz selten schlug er sich ein Pahl ins Fleisch.
Als echtes Original nahm er nicht die geringste Rücksicht darauf, ob Besuch da war oder nicht, sondern folgte unbeirrt seinen Gewohnheiten, sprach mit sich selbst oder seinem Magen, rülpste oder tat ähnliches — und zog sich manchmal aus und ging ins Bett, ehe die Leute noch gegangen waren.
Wenn aber der erste Star über das Meer geflogen kam und sich vor seinen Fenstern niederließ, wurde er närrisch — ganz und gar närrisch. Es wäre, als ob ihm alle Knochen im Leibe vereiterten, sagte er, so sehr gärte es ihm im Leibe. Und dann saß er an seinem Fenster, flickte Schuhe und starrte übers Meer hinaus, während der Frühling seinen Einzug hielt. Er sah das Eis brechen und forttreiben; die Schiffe im Hafen takelten auf und stachen eins nach dem anderen in See, der Schnee verschwand vor seinen Augen und das Gras begann zu sprießen.
Und Frühjahr um Frühjahr geschah das gleiche: mitten im Nähen warf er die Arbeit weit weg, lief in di e Stadt und kaufte sich ein Paar blaue Baumwollhosen — jedes Mal blaue Baumwollhosen. Und wenn er heimkam, schnitt er von dem einen Hosenbein — dem für das Holzbein — ein Stück ab, heftete das abgeschnittene Ende an dem einen Rande zusammen, so dass eine bequeme kleine Gardistenmütze daraus wurde, und setzte sie auf. Selig wie ein Kind zog er die neuen Baumwollhosen an, die alten aber nahm er und nähte sie oben am Bund zusammen, so dass sie einen Beutel mit zwei Niedergängen — den Beinen — bildeten. Und da hinein packte er seine Lieder, Violinsaiten, eine Schnapsflasche und was er sonst nötig haben konnte. Dann nahm er seinen Ranzen bei den Beinen und warf ihn sich über den Rücken, band die Hosenbeine vorn am Halse in einem Knoten zusammen und wanderte hinaus in den Frühling. Die Tür ließ er hinter sich
•weit offen stehen; da konnten die Leute selber kommen und sich ihre halbfertigen oder noch nicht angefangenen Schuhe abholen.
Und nun begann Bigum Holzbein eine Tournee, die bis zum nächsten Winter dauerte und die ganze Insel umfasste. Die Bauern, die beim Frühjahrspflügen mit dem Lenkseil um den Leib hinter ihren Pferden herwateten, behielten die Landstraße im Auge, und wenn sie Bigum Holzbein daherkommen und ihn die Geige streichen sahen, sagten sie: „Jetzt wird es bald Sommer!" — wie man sonst sagt, wenn man den ersten Storch sieht.
Und Bigum fiedelte sich durch die ganze Insel, die Länge und die Quere, sang seine Lieder vor Knechten und Mägden, verkaufte sie allen, die sie haben wollten, und spielte willig die Melodie, bis man sie auswendig konnte. Sie standen mitten auf dem Hof im Kreise um ihn herum und sangen mit. Manchmal waren sie schwer von Begriff, manchmal aber auch ganz gewitzt. Dann stellte Bigum den Stock unter die Hüfte, um das Holzbein darauf auszuruhen, quälte die Saiten, dass sie schrieen wie verhungerte Katzendärme, und sang wohl zum zwanzigsten Male:
„Komm her, o Mägdelein, und winde den Kranz. Ich weiß, du willst es so ge-erne, so ge-erne..."
Das Bargeld steckte er in die Tasche, und was an Esswaren abfiel, rutschte durch die leeren Hosenbeine hinab in den Ranzen. Und wenn der Holunder in Blüte stand und der Hering eingelegt werden musste, sang man Bigum Holzbeins Lieder in jedem abgelegenen Winkel. Es war ein Triumphzug der Poesie, der jeden Freund der Dichtkunst erfreuen musste.
Wenn aber der Kuckuck längst zum Habicht geworden war und die Ernte der Felder eingefahren wurde, ging Bigum auf seine zweite große Tournee. Es war die Zeit der Ernte- und Tanzfeste, und monatelang war Bigums Violine Nacht um Nacht im Gange. Es war eine Zeit, die an den Kräften zehrte; Bigum nannte sie selber seine Zeit der Drangsal. Aber stolz stand er sie durch.
Es war im Laufe der Zeit Sitte geworden, dass auf den Festen jeder Mann einzeln Bigum Holzbein zuzutrinken habe; man wollte feststellen, wie viel er aushielte. Aber es gehörten viele Männer dazu, ehe man Bigum etwas anmerkte, und so betrunken machte man ihn nie, dass er unter den Tisch fiel.
Die erste Wirkung des Alkohols war häufig die, dass er gegen den Namen Bigum Holzbein protestierte und sich laut als Folmer Sänger proklamierte. Danach hub er etwa wie rasend zu spielen an, besonders wenn er merkte, dass man ihm Schweiß abzapfen wollte. Dann hörte er auch zwischen den Tänzen nicht auf, sondern ging von dem einen Tanz in den andern über, und so begann ein wilder Wettlauf zwischen Spielmann und Tänzer. Die Männer hieben die Absätze auf den Boden und riefen ihm Herausforderungen zu, wenn sie mit ihren Mädchen an ihm vorüberjagten; und Bigum nahm den Takt noch rascher, bis sich der Bogen blitzschnell über nur den Bruchteil eines Zolles bewegte und die Musik zu einem zitternden, endlosen Kreischen wurde. Dann wirbelten Staub und Lärm der Klänge zu so wildem Hexentanz empor, dass es gewöhnlichen Sterblichen das Trommelfell gesprengt hätte und sich die Mädchen schließlich halbtot vor Müdigkeit zu Boden warfen.
Nach einer solchen Tour konnten die Männer das Wasser aus ihren Jacken wringen, dass der Fußboden davon schwamm. Bigum aber saß da und spielte während der Pause ganz langsam weiter — nicht ein Mal ließ er sich herbei, aufzuhören.
Ab und zu kam es vor, dass es Schlägerei gab, besonders wenn das Gesinde schwedisch war. Dann füllte sich Bigums Gemüt mit heimlicher Erwartung. Er wusste, dass er zu gar nichts taugte, wenn er stand — ein Kind vermochte ihn dann umzuwerfen. Dafür besaß er in den Armen große Kräfte, das Fehlen des einen Beins hatte sie stark gemacht. Er konnte mit seinem Mann sehr gut fertig werden, wenn er dabei nur sitzen durfte. Dann warf er die Geige von sich, kroch nach vorn und setzte sich auf die Kante seines Musikpodiums — eines breiten Tisches. Er schraubte eifrig das Holzbein ab, und mit dem in der Hand wartete er in gieriger Spannung darauf, dass sich die Schlägerei in seine Saalecke zöge und auch er auf seine Kosten käme.----
Aber das Laub fiel von den Bäumen, die Herbststürme jagten wieder übers Land und trieben die Schaumspritzer des Meeres bis ganz zu Bigums Hütte hinauf. Bigum selbst begann Gesichter zu schneiden und mit der Hand ans Ende seines Stelzfußes zu greifen. Und eines schönen Tages ging er ins Winterlager.
Und so verlief das eine Jahr nach dem anderen, ohne Abwechslung.
Aber einmal schickte ihn der Frühling doch in den April!
Hatte er nicht da am Fenster gesessen und ihn heransteigen sehen und ihn als Reißen in allen Gliedern gespürt? Und dann — anstatt sich neue Baumwollene zu kaufen und aus dem einen Bein eine Gardistenmütze zu schneidern und die alten Hosen zu einem Ranzen umzunähen — geht er hin und reicht dem öffentlichen Ausrufer und Trommelschläger der Stadt ein Heiratsangebot ein! Will er seiner Freiheit abschwören und den Sklavenrock anlegen und sich wie andere Sterbliche für den Unterhalt von Weib und Kind abrackern — er, der Dichter? Er muss ja irrsinnig geworden sein!
Der Trommelschläger geht durch die Längsstraße der kleinen Stadt und durch deren Querstraße und ruft die Leute an Fenster und Türen:
„Bommelomme-lom! Bom! Bom! Heiratsangebot! Eine einsame Seele, die auf einem Holzbein geht, sucht eine treue Lebensgefährtin. Auf das Äußere wird nicht gesehen, wohl aber auf ein gutes Herz. Gute Behandlung zugesichert. — Antwort kann unter den großen Stein auf den Seehügeln gelegt werden."
Die Stadt reckte den Hals nach dem Trommelschläger und war von dieser neuen Art, sich eine Frau zu suchen, so verwirrt, dass sie nicht einmal auf den Gedanken kam, darüber Witze zu machen.
Und Bigum Holzbein ging nicht auf Tournee.
Jeden Morgen ging er fieberig erregt hinaus und stellte den großen Stein auf den Kopf, um nach Briefen zu sehen, aber immer ohne Resultat. Es würde sich niemand melden, man würde schon sehen! Natürlich war es die Sache mit dem Holzbein, was abschreckte!
Anfangs hatte er daran gedacht, in der Kundmachung sein Gebrechen gar nicht zu erwähnen, aber dann hatte seine Ehrlichkeit gesiegt. In Liebesaffären muss man honett sein; und war er etwa nicht selber der Dichter und Zuchtmeister ungetreuer Liebe? Es würde sich schon zeigen, dass man mit Ehrlichkeit am weitesten kam!
Eines Morgens endlich lag ein Papier unter dem Stein: „Ich bin Witwe mit zwei begrabenen Kindern. Ich habe ein liebevolles Gemüt und etwas zum besten.
Deine Ane Peters
bei meiner Mutter in der Sackgasse."
Bigum war glücklich, so glücklich, dass er nach Hause lief und seine Büchse steil in die Luft hinauf abschoss. Dreimal schoss er, und nach gar nichts in der Welt. Hurra! Jetzt kam der Lohn seiner Ehrlichkeit. Sie nahm ihn! Trotz. Holzbein und allem nahm sie ihn! Und dazu war sie schon früher verheiratet gewesen; das war die beste Garantie, dass sie umgänglich war!
Bigum wanderte mit würdigen langen Schritten zur Stadt — einen gut und zwei gestottert. Er wollte zum Schneider und einen neuen Anzug bestellen — den Hochzeitsanzug. Nicht blaue Baumwolle, nein, echter wollener Düffel! Oder vielleicht war Kammgarn noch feiner; er wollte den Schneid er fragen. Und zum Pfarrer wollte er hinauf und gleich das Aufgebot bestellen. Erst aber musste er noch hin und sich den Taufschein des jungen Mädchens holen, da konnte er sie sich ja gleich ein wenig betrachten.
Als Bigum eintrat, saß Ane Peters groß und breit am Webstuhl und webte Grobleinen. Was für eine Frau, Donnerwetter! Bigum triumphierte in seinem Herzen, aber nach außen hin war er schwer verlegen, und sobald es sich machen ließ, schlich er wieder hinaus. Erst draußen auf der Straße richtete er eine siegesstolze Rede an sich selbst.
Bigum Holzbein war selber in der Kirche, als sie aufgeboten wurden; er wollte sicher sein, dass es ordentlich erledigt würde.
Pfarrer betrogen einen häufig um den vollen Text, wenn sie Gelegenheit dazu hatten, aber nicht ein Wort sollten sie dabei erübrigen! Und zum zweiten Aufgebot wanderte er in die Sackgasse hinaus, um die Liebste mitzunehmen; sie sollte an dem Vergnügen teilhaben.
Die Schwiegermutter traktierte ihn mit Kaffee aus frischgebranntem Roggen, und Bigum trank zwei Tassen mit Branntwein darin. Das schmeckte gut, verteufelt gut sogar, trotzdem schien es ihm, als träte Ane Peters mit dem einen Fuße so schwer auf, als sie in ihrem Staat zu ihm hereinkam. Er stutzte gleich ein wenig, vergaß es aber wieder vor Entzücken über ihre prächtige große Gestalt. Sie war wie eine Bark unter vollen Segeln, wie die „Albatros" selbst, ehe sie unterging. Was für ein Weib! Donnerwetter!
Pfeifend hinkte er auf dem guten Bein die Treppe hinab, während Ane Peters hinterherkam. Sie hob nicht den Rock, als sie die Treppe hinunterstieg — sie war ja drauf und dran, darüber zu stolpern! Allerdings, auf der letzten Stufe war sie gezwungen, den Rock aufzuheben, weil gerade davor der Rinnstein war. Und da fiel Bigums Blick auf ihren einen Fuß — und es war ein Klumpfuß.
Sprachlos zeigte er mit dem Stock auf den Fuß, und Ane Peters vergaß, den Rock darüber fallen zu lassen und lächelte verlegen. Bigum aber machte kurz kehrt und trabte heim zu seiner Hütte.
Krach!
Er konnte auf den Tod keine krüppelhaften Menschen vertragen, am allerwenigsten hinkende. Und da musste gerade ihn das Schicksal treffen! Klumpfüßig war sie, schlechthin klumpfüßig! Geprellt hatte sie ihn, betrogen hatte sie ihn und schändlich an der Nase herumgeführt!
Er lehnte an der Giebelwand seiner Hütte und grübelte und starrte vor sich hin, bis er in sich selber einen betrogenen Liebhaber mit gebrochenem Herzen erkannte. Seine Augen belebten sich, er humpelte in seine Hütte und setzte sich zum Dichten nieder. Und mit heimlicher Befriedigung fühlte er, dass er niemals
so groß und schön von ungetreuer Liebe gedichtet hatte wie gerade jetzt. Aber nun war sie ja auch Wirklichkeit geworden:
„Die Tauperle funkelt im Rosenblatt, Ein Diamant in blassrotem See. Ein Schmetterling trank von dem duftenden Bad, Gurkemee!
Berauscht er zappelt und springt in die Höh', Sein Herzblut färbt die Tauperle rot. Als die Sonne erwacht, war der Schmetterling tot. Gurkemee!"
Seine Dichtung hatte ihre schönste Blüte getrieben! Und mit diesem Ausbruch war in seinen Zorn ein Loch geschlagen, so dass er abfloss und schließlich nichts als Wohlwollen hinterließ.
Klumpfüßig, na Herrgott! Deshalb konnte sie ja eigentlich doch ein vortrefflicher Mensch sein! Ganz gewiss hatte sie ihr Gebrechen verheimlicht, aber hatte er nicht selber auch daran gedacht, es zu tun? —Es würde ein Hauptspaß sein, sich eines ihrer Stiefel zu bemächtigen, wenn sie erst verheiratet wären — und nachzusehen, was er enthielte. Hätte er nur ihre Stiefel vorher gesehen, dann hätte er mit Leichtigkeit vorausgesagt, dass sie hinkte. Aber das hatte nun einmal nicht sein sollen.
Und Bigum ging wieder umher und freute sich auf den Tag, der da kommen sollte, und träumte von seiner Liebe.
Aber am Hochzeitstag geschah etwas, wodurch beinahe alles in die Brüche gegangen wäre. Der Schneiderjunge kam mit dem blauen Düffelanzug, und Bigum zog ihn an, um in die Kirche zu gehen. Da — den Donner! — stellte es sich heraus, dass sich der Schneider geirrt und das falsche Hosenbein abgeschnitten hatte.
Aber Bigum war nicht gesonnen, sich um seine Braut narren zu lassen; resolut drehte er die Hosen um und zog sie mit dem Hinterteil nach vorne an. Besonders schön war es nicht, es sah aus, als wären sie für einen mit Hängebauch geschneidert worden, und rückwärts sah es womöglich noch schlimmer aus. Sehr praktisch war es auch nicht - aber es würde wohl gehen!
Und gehen tat es. Aber lustig muss es gewesen sein, noch lustiger als damals, wo Schweden-Anders vor dem Altare stand und auf die feierlichen Fragen des Pfarrers jedes Mal geantwortet hatte:
„Ja, zum Teufel!"
Und so war denn Bigum Holzbein verheiratet mit Ane Peters, im alltäglichen Umgang Ane Klumpfuß genannt.
Sie waren noch nicht sehr lange verheiratet — nicht länger als man braucht, um ein gutes Essen zu verdauen —, als sie aneinander gerieten. Die Sache war die, dass Ane an vieles Essen gewohnt war und Bigum sich mit wenigem behelfen konnte. Solange Ane das Essen verdaute, das sie am Hochzeitstag zu Hause bei ihrer Mutter eingenommen hatte, ging es gut. Als es sie aber nach neuer Versorgung verlangte und in Bigums Speisekammer nichts zu finden war, wurde sie kriegerisch.
Bigum schien es, dass die Frage des Essens in einem Liebesverhältnis von untergeordneter Bedeutung sei, und versuchte es mit seinem alten Universalmittel, den Reden und Ansprachen. Aber Ane war nicht so leicht zur Vernunft zu bringen wie sein Magen. Sie schnitt ihm das Wort vorm Munde ab und verlangte zu essen, und als er gar nicht hinhörte und ruhig in seinem Text fortfuhr, wurde sie wild. Zweimal fuhr sie ihm in die Haare, aber glücklicherweise saß er beide Male, so dass sie den kürzeren zog.
Nach der zweiten Niederlage versuchte sie nicht mehr, ihre Kräfte mit ihm zu messen, dafür fing sie an zu zetern und zu kreischen und ihn auszuschimpfen. Bigum gebrauchte nicht die Zunge — das war unter seiner Würde; stattdessen setzte er die Geige unters Kinn und ahmte darauf all ihr Geheul und Gekreische nach.
Eines Tages ging es besonders heiß zu. Ane weinte und machte ihm Vorwürfe, Bigum saß und strich klagend auf seiner Violine. Das erregte sie bis zur Raserei, und sie fing an zu kreischen, in den himmelhöchsten Tönen. Aber sogleich fiel Bigums Geige ein, mit akkurat den gleichen hohen Tönen.
Es war mit ihm kein Auskommen — es war nicht länger auszuhalten... Ganz außer sich stürzte sie hinaus und die Seehügel hinunter. Bigum folgte ihr mit der Violine unter dem Arm langsam nach.
Ane Peters lief über den Strand und watete hinaus, um ihren Qualen in den Wellen ein Ende zu machen; wo das Meer sich verläuft, stand Bigum und hatte das Holzbein auf seinen Stock gelegt. Es war ein sehr flacher Strand, und Ane watete und watete. Endlich reichte ihr das Wasser bis zu den Armhöhlen — zwei Schritte noch, und sie wäre aller Sorgen ledig!
Warum aber stand Bigum so unerschütterlich auf dem Strande, als ob ihn die ganze Sache gar nichts anginge? Er konnte doch mindestens den Versuch machen, sie zu retten, da sie doch nun für ewig scheiden sollten! Gelingen sollte es ihm ganz bestimmt nicht, denn sobald er käme, wollte sie die letzten paar Schritte tun und sich sinken lassen. Ein bisschen Liebe wäre trotzdem ganz schön gewesen, wenn sie jetzt für immer ihn verließe.
So stand sie da und überlegte, und das Wasser wurde immer eisiger; aber Bigum kam nicht. Es war das beste, Schluss zu machen!
Sie wollte den letzten Schritt tun, verfehlte aber die Richtung und watete dem Lande zu.
Nun aber war Bigum dran, er warf die Geige hin und watete hinaus. Ah, Gott sei Dank — da brachte er es also doch nicht übers Herz!... Ane watete ihm rasch entgegen. Aber Bigum hob seinen Stock, schlug sie damit und zwang sie Schritt für Schritt wieder hinaus, bis ihr das Wasser am Halse stand. Da bat sie um ihr armseliges Leben — und so jämmerlich, dass Bigum Gnade vor Recht ergehen ließ.
Als sie wieder auf dem Trockenen waren, ergriff Bigum die Geige. Er marschierte wie in Prozession vor seiner Frau her, strich einen Marsch auf der Violine und dichtete den Text dazu: „Meine Frau wollt' sich ertränken,
ertränken! Nun tat sie sich bedenken, bedenken!"
Bei der "Wasserpartie hatten sich alle beide erkältet und mussten sich hinlegen, und da lagen sie zwei Nächte und zwei Tage, die Rücken gegeneinander gekehrt, in dem breiten Bett. Mitten auf dem Fußboden lagen das Holzbein und der Klumpstiefel in schöner Eintracht beisammen, zwischen den beiden Ehegatten aber brütete als ein zweischneidiges scharfes Schwert der Geist der Unverträglichkeit.
Am Morgen des dritten Tages indes drehte sie den Kopf ein wenig und drehte er den Kopf ein wenig, und sie lächelten beide zu gleicher Zeit. Nach und nach drehten sie sich weiter zueinander, drehten sich und lächelten, bis sie schließlich in der höchsten ehelichen Vereinigung zusammenschmolzen.
Und als das Eis einmal gebrochen war, ging es wie von selber.
Sie wollten beide aufstehen und einer dem anderen Fliedertee kochen, und bald saßen sie auf der Bettkante und tratschten, während er ihr den Klumpstiefel zuschnürte und sie ihm das Holzbein anschnallte. Die lieben, lieben kleinen Leibesschäden! Dass sie ihm das jemals hatte vorwerfen können — oder er ihr! Das war es doch gerade, was den einen dem andern so wert machte — und weshalb sie nicht waren wie andere Leute.
Es war, als habe der Geist der Eintracht selber seine Wohnung in ihnen aufgeschlagen. Sie brauchten die Dinge gar nicht erst zu bereden — sie waren sich von vornherein darüber einig. Vor dem Frühstück wurden die blauen Baumwollenen gekauft, Ane schnitt die Mütze ab und nähte die alte Hose im Bund zusammen, und Bigum packte den Ranzen. Und als die Sonne am höchsten stand, zog das Ehepaar Bigum auf Tournee — hinaus in den Frühling. Die Bauern hielten den Pflug an, wo sie erschienen. „Jetzt wird es bald Sommer", sagten sie — wie man sonst sagt, wenn man den ersten Storch sieht.
Und niemals gab es größeren Krach zwischen den beiden Ehegatten — sie waren wie extra füreinander geschaffen. Bigum Holzbein spielte, Ane Klumpfuß sang, und sie zogen durch die Insel die Kreuz und die Quer.
Und wenn Bigum müde wurde, war es Ane, die die Hosen trug.
1898

 


DIE SCHWARZEN VÖGEL

Der alte Liebenz, Schwarzwaldbauer, war unsolide geworden!
Er saß mit einem etwas säuerlichen Zug um den Mund auf dem Mitteldeck des Bodenseedampfers und tat, als ob er die Zeitung läse. Alle Reisenden kauften Zeitungen, das war die einzige sichere Erfahrung, die er auf dem Ausflug gemacht hatte; die Zeitungen quollen ihnen förmlich aus den Ulstertaschen heraus. Und der alte Liebenz war gleichfalls ein Reisender, Tourist durfte man wohl beinahe sagen; er hatte nichts dagegen, es auch andere wissen zu lassen. Die Zeitung hatte ihm auf der ganzen Fahrt so prächtig aus der Manteltasche gehangen, dass sie deswegen schon die zehn Pfennige wert war, die sie gekostet hatte — selbst wenn man sie nicht las! Es war auch gar nicht, weil er auf seine Rechnung kommen wollte, dass er jetzt dasaß und in sie hineinstarrte, sondern eher, weil er etwas in sich betäuben wollte, ein merkwürdiges Gefühl, das sich ihm im Zwerchfell regte. Ehrlich gesagt: es drehte sich da drinnen, als ob man ein Kalb kriegen sollte!
Es ist misslich, allein auf der Welt zu sein; der alte Liebenz hatte das erkannt, und deshalb schaukelte er nun hier herum. Sein Leben lang hatte er auf seinen Äckern oben an den Hängen des Schwarzwaldes die weitgedehnte Fläche des Bodensees mit dem Riesen Säntis dahinter vor Augen gehabt. Manchmal, wenn es dem Wetter so passte, traten auch die anderen Berge hervor: die Schweizer Alpen, die norditalienischen Alpen, Vorarlberg und ganz drüben an der österreichischen Grenze die Zugspitze. Eine Kette leuchtender Zinnen über gewaltigen Bergmassen, die der Welt eine geheimnisvoll erregende Grenze setzten und den Gedanken zu tun gaben- und sich plötzlich in Alpenglühen oder Irrsinnsdunkel auflösten. Der Säntis war allerdings immer da, außer
die Welt in Nebel versank. Als ein Turm Gottes stand er da und zeigte an, was für ein Gesicht der Herrgott morgen machen würde - damit seine Gemütsstimmung den Bauern nicht ganz und gar über den Hals käme. Säntis, der einsame Riese, wusste Bescheid über kommende Dinge, über Regen und Sonnenschein und verheerendes Ungewitter; er schien in alle Launen des Herrgottes eingeweiht zu sein und fürchtete sich nicht, sie preiszugeben.
In so gewaltigem Rahmen lag der Bodensee tief unten im Lande. Sein Leben lang hatte ihn der alte Liebenz vor Augen gehabt; er war ihm eine Anspannung des Gemüts gewesen, eine Verheißung und ein Schrecken. Und jetzt hatte er sich in einem Anfall von Verzweiflung herausgewagt und schaukelte nun auf dem See herum - zum ersten Male!
Es war ein ziemlich merkwürdiges Gefühl, auf etwas so Unsolidem und Treulosem wie dem Wasser auf und ab zu wiegen und einem hohlen Eisengebilde, das allen Naturgesetzen zum Trotz auf den Wellen zu schwimmen vermochte, Leib und Leben anzuvertrauen! Darauf hätte er sich in früheren Zeiten bestimmt nicht eingelassen, aber es war geradezu, als ob für ihn das Leben seinen Wert verloren hätte. Er empfand keine rechte Freude mehr, weder am Bett noch am geräucherten Speck - es fehlte wohl die Sünde dabei! So jedenfalls fasste es der Pfarrer auf. „Du solltest zur Beichte kommen, Liebenz", sagte er stets, „dann würdest du schon wieder froh werden." - Ja, danke! Wenn er nur etwas zu beichten gehabt hätte! Etwas Handfestes, etwas, was dem Leben Schwung gegeben hätte - wie in der Jugendzeit!
So war es gekommen, dass er in seiner Pfeif-aufs-Ganze-Stimmung alles auf eine Karte setzte, dem treulosen Element Leben und Gesundheit anvertraute, das Schicksal herausforderte sozusagen. Er hatte den Bodensee der ganzen Länge nach befahren — und auf ausländischem Boden übernachtet! In Bregenz hatte er die Madonna besucht und war vor ihr hingekniet - ebenso vor der in Arbon auf der Schweizer Seite, die sich jedes Mal, wenn er zugefroren ist, über den Bodensee tragen lässt. Da dies nicht allzu häufig vorkommt, muss sie das eine Jahrhundert in Deutschland, das nächste in der Schweiz verbringen.
Wie viel er erlebt hatte! Und trotzdem war ihm noch nichts Gescheites passiert!
Aber was bedeuteten denn auch seine Erlebnisse gegenüber denen der Söhne, die jahrelang im fremden Land herumgelegen und Krieg geführt hatten und sogar über die feindlichen Linien waren! Ihnen war nun wieder ein bisschen zu viel passiert — sie waren an der Front geblieben. Das Weltengewitter hatte sie aufgesaugt und bei sich behalten; eine Uhr und ein Schlüsselbund waren alles, was von ihnen übrig geblieben war. Das hatte ihnen die Heeresleitung geschickt, zusammen mit einem rührenden Schreiben über ihre Tapferkeit und ihre Treue zum Vaterland.
Der alte Liebenz hatte allerdings gemeint, wenn ihm das Vaterland seine beiden prächtigen Söhne nähme, könnte es diesen Püttjerkram auch noch behalten. Mutter Liebenz hingegen sah es anders an; sie weinte von früh bis spät über den Kleinigkeiten und hatte sie nachts bei sich im Bett. So sind sie ja nun einmal, die Weibsleute, sie müssen immer etwas haben, was sie in die Hand nehmen und mit ihren Tränen befühlen können! Sie konnte über die Geschichte mit ihren beiden großen Jungen, die in fremder Erde ruhen mussten, durchaus nicht hinwegkommen und verlangte nach nichts anderem, als über den Reliquien zu hocken, wollte weder arbeiten noch Nahrung zu sich nehmen. Liebenz hatte den Eindruck, dass sie nur noch nach den Soldatengräbern an der Somme Sehnsucht hatte, und eines Tages trug man sie denn auch mit den Füßen voran aus dem Hause hinaus. Nun, das war zu ertragen! Jener, der so eifrig hinter denen her gewesen war, die ihm als Trost und Stütze seiner alten Tage anvertraut waren, mochte die Mutter dreist auch noch nehmen. Es war lange her, dass sie einem trostbedürftigen Gemüt Wärme gespendet hatte, und eifersüchtig war sie gewesen wie das wahre Unglück -bis ganz zum Schluss. Vielleicht hatte gerade dies ihre Kräfte aufgezehrt, denn eine tüchtige Arbeiterin war sie nie gewesen. Er hatte sich seine Suppe oft genug selber kochen müssen, auch zu der Zeit, wo sie noch hier auf Erden weilte. Der Verlust war also zu ertragen!
Dies war überhaupt sein Trost geworden: wenn das eine in die Binsen ging, mochte das andere ruhig denselben Weg gehen - bis es ihm eines Tages einfiel, dass es ein verzweifelter Trost wäre; 'e mehr man hatte abgeben müssen, desto weniger konnte man doch entbehren! Der Alte entdeckte plötzlich, dass er mutterseelenallein in der Welt stand; er ging herum und entbehrte etwas, ohne doch recht zu wissen, was er entbehrte. Und dies Gefühl der Entbehrung hatte ihn schließlich auf diesen unsoliden, schwankenden Boden getrieben. Er musste ausprobieren, wie es war, der Unsicherheit mit ihrer Entscheidungsmöglichkeit so oder so ausgeliefert zu sein. Draußen im Unbekannten wartete vielleicht etwas auf ihn — auf die eine oder andere Weise!
Er saß auf dem Mitteldeck und döste über seiner Zeitung, ermüdet von den vielen Eindrücken und innerlich schlecht zumute von der schwankenden Unsicherheit und dem Öldunst der Maschine. Mit einem plötzlichen Rudi lebte er auf, erwachte zu fast übernatürlichem Bewusstsein. Er spürte einen heißen Atem auf seinem Hals, es kitzelte ihn in den Nackenhaaren und durchfuhr ihn bis ganz hinunter in die große Zehe voll holdseliger Erinnerung an weit zurückliegende Jugendtage, da man über einen Anhauch so in Wonne geriet, dass es einem geradezu in den Haarwurzeln kribbelte.
Der alte Liebenz drehte nicht den Kopf, kroch vielmehr in sich zusammen. Aber er wusste trotzdem, dass jemand seine Zeitung mitlas! Und eine junge Frau war es, denn ihr Atem umschmeichelte ihn! Er hüllte ihn ein — wie der Frühjahrsduft der Apfelblüten auf den grünen Hängen des Schwarzwaldes.
Als sie nun merkte, dass sie entdeckt worden war, steckte sie das Gesicht ganz über seine Schulter herein und zeigte mit dem Finger eifrig auf eine kleingedruckte Notiz in der Zeitung - eine Mitteilung über vier junge Frauen, die in einem See in der Umgebung Berlins gemeinsam den Tod gesucht hatten. Das Motiv wäre unbekannt, und die Tat um so unbegreiflicher, als alle vier in guter Stellung gewesen seien, schrieb die Zeitung. Man müsste den Vorfall wahrscheinlich als Niederschlag einer Seuche auffassen, einer Selbstmordepidemie, die gerade jetzt im Lande grassiere und ihre Opfer vorzugsweise unter jungen Frauen suche.
Der alte Liebenz drehte den Kopf und sah der fremden Frau unsicher in die Augen; es war ganz merkwürdig, wieder einmal einem jungen Frauenantlitz so nahe zu sein, dass man seine Wärmeausstrahlung gleich Tau auf den Augenlidern spürte!
„Ja, das ist doch sonderbar — sich einfach so das Leben zu nehmen — in so jungen Jahren", sagte er langsam. „Ganz merkwürdig ist das — ja, das ist es wahrhaftig", wiederholte er, als wäre er nicht richtig im Bilde. „Es kann doch auch so was wie Liebeskummer gewesen sein?" sagte er endlich, voll aufgewacht.
Die junge Frau lehnte die Wange an seine Schulter, so war sie von der Notiz gepackt! Sie nickte nachdenklich.
„Es gibt viele, denen es ebenso geht: dass wir uns das, was uns zukommt, auf den Friedhöfen der Schlachtfelder im Ausland suchen müssen. Sie haben sicher zu ihren Bräutigamen gewollt, die da!" Sie sah vor sich hin, erbittert und vergrämt.
„Ist er vielleicht gefallen?" fragte der alte Liebenz und sah ihr teilnehmend gerade ins Gesicht.
Sie lachte hart: „Ja, das ist er wohl — ich habe ihn jedenfalls nie gefunden."
„Ach, so ist das zu verstehen! Ich glaubte wirklich, du wärest verlobt oder vielleicht verheiratet gewesen, und dass er dann..." Er tastete sich vor, um nicht ein Wort zu gebrauchen, das unnötigerweise Wunden aufrisse.
Die junge Frau lachte ausgelassen in die Luft hinein: „Sehe ich so alt aus? Nein, ich gehöre nicht zu denen, die erst tödliche Angst hatten, er könnte auf dem Schlachtfeld bleiben, und sich später grauten bei dem Gedanken, er könnte wiederkommen. Ich war damals erst Kind - dem Gemüte nach jedenfalls. Und als ich erwachte und auch wissen wollte, wie es ist, im Traum umherzugehen und in einen anderen vernarrt zu sein, da ging es
mir wie diesen vieren und wie uns allen — es war keiner da für
Herold: ein berühmter dänischer Opernsänger. „Na, der eine oder andere ist wohl immer zu haben — wenn man nicht allzu wählerisch ist, heißt das." Der alte Liebenz sah sie verlegen an.
Nein, ist es nicht! Wir sind drei Millionen meines Alters, die keinen anderen Ausweg haben, als sich ihren Liebsten im Niemandsland zu suchen — so wie die da!" Sie stieß an die Zeitung. Man nennt uns die geborenen Witwen; weißt du das gar nicht?"
Doch, an und für sich wusste das Liebenz wohl. „Aber man hat sich nie vorgestellt, dass es so schlimm damit wäre. Bei uns oben im Schwarzwald wohnen nicht so viele Menschen; da verteilt sich das Leid, ein wenig diesem und ein wenig dem anderen, wohin es gerade trifft. Ja, einem selbst ist übrigens noch nichts über den Hals gekommen!" Er schlug ein Galgengelächter auf. Dann saß er eine Weile und überlegte. „Es muss schlimm genug sein, sich seinen Herzallerliebsten unter Soldatengräbern suchen zu müssen. Sie sollen sich nicht gut auseinander halten lassen, wird gesagt."
„Das wollen wir auch gar nicht mehr, du! Wir haben ja den Krieg nicht erfunden."
„Na, und was wollt ihr also tun?" Der alte Liebenz sah sie freundlich an, er hatte in diesem Augenblick mehr Mitleid mit ihr als mit sich selber. Sie war mager und von grauer Haut, als ob sie von innen her nicht genug Wärme bekäme, aber sie sah keck und entschlossen, desperat beinahe drein.
„Was wir wollen?" Sie lachte unnatürlich laut und grell. „Ja, wenn du das wüsstest, Alter, säßest du nicht so ruhig hier auf der Bank! Wir wollen das Recht haben, unsere ehrliche christliche Haut abzutun und uns selber unser Recht zu nehmen — die Lebenden für die Toten entgelten lassen. Wir lehnen es ab, jung zu sterben — und wollen ebenso wenig geborene Witwen sein, die ihr Ehebett auf dem Friedhof suchen müssen. Wir wollen auch nicht unfruchtbar bleiben und alte Jungfern werden. — Aufgepasst, alter Mann, jetzt brechen wir durch den Zaun!" Sie legte ihm die Hand aufs Knie und sah ihn eigentümlich an; ihr Blick verhieß nichts Gutes.
Der alte Liebenz lächelte sie unsicher an, es war nicht ausgeschlossen, dass ihm vor ihrem Blick schwindlig wurde. Aber dann lachte er laut und ausgelassen.
„Heiliges Sakrament, Herrgott noch mal! Dann wird es hoch hergehen im Lande!" rief er und fuhr sich in die Haare, dass ihm der Hut ganz auf eine Seite rutschte. Er sah geradezu jungenhaft aus.
Aber sie spürte und hörte im Augenblick nur sich selbst. Es war, als wäre etwas lange Aufgestautem plötzlich freie Bahn gegeben worden; wie wenn das Schützentor vor einem Wehr geöffnet wird, so brach es aus ihr hervor, schneller und schneller, ein ganzer Wirbel, so dass der Alte gar nicht folgen konnte: was sie gelitten hatten, sie und alle ihre Mitschwestern; ihre Wüstenwanderung durch ein Dasein, das für alle anderen reich und üppig war, für sie aber ein abgesteckter langweiliger Pfad mit auf beiden Seiten hohen Zäunen, über die man nicht hinwegsetzen durfte — um Gottes willen nicht! Sie lachte heiser. Ihre Jahrgänge lagen ja da draußen in ihren Gräbern, ein Teil von ihnen jedenfalls; und jene, die zurückgekehrt waren, ließen ihre Bräute sitzen und nahmen sich die ganz jungen, bis zu den eben Konfirmierten hin, die schamlos die Brüste rausstreckten und sich nicht genierten, sich auszustopfen, wenn es damit haperte. Aber jetzt sollte damit Schluss sein, es musste ein Ende haben!
Es war, als ob alle Schranken in ihr niederbrächen; sie dehnte sich aus — als wäre sie explodiert, so schnell —, bis sie eins ward mit den drei Millionen Sitzen gebliebenen, mit deren Gram, deren Raserei und verzweifeltem Aufruhr. Als eine ganze Horde saß sie da — oder als himmlische Heerschar vielleicht? — und überströmte alles. Der alte Liebenz wurde aus der einen Stimmung in die andere gerissen, schwang hin und her zwischen Angst und Übermut. Sie sprach ihm ins Gesicht hinein und mit einem Blick, der ihn vor Schwindelgefühl in die Tiefe fallen ließ und dann irr empor riss — bis in seine Jugendjahre hinein. Die Hand lag immer noch auf seinem Knie und goss ihm Wärme ins Herz und alle Glieder; sein ganzer Leib hatte teil daran, und Liebenz schien es, dass sich so etwa eine Verjüngung anfühlen müsste.
Ja, und nun hatten sie es endlich satt bekommen, eiferte sie ihm ins Gesicht hinein und verbrannte ihn fast mit ihrem Atem; jetzt mochte Gesetz Gesetz und Tugend Tugend sein, jetzt setzten sie über den Zaun, geradenwegs in die Ehe hinein, schlugen die wohlgedienten alten Frauen aus dem Felde oder richteten sich als Nebenfrauen ein, krochen unter und boten über und stachen auch die ganz jungen aus — kraft der angehäuften Spannung und überströmenden Lebenslust, die von ihnen ausstrahlten. „Wir sind froh und siegesgewiss, wir haben den Schicksalsspuk von uns abgeschüttelt. Zu keiner Zeit hat die Welt so etwas erlebt! Als ein riesengroßes Herz kommen wir daher und klopfen an — ein Herz von drei Millionen! Sind wir vielleicht nicht wie der liebe Gott selbst? Wir vermögen die ganze Welt zu lieben und alles Erschaffene in die Arme zu schließen — wie Er schließen wir alles darin ein!" Sie lachte übermütig.
Und Liebenz, der erledigte alte Liebenz, lachte mit. Das Dasein war plötzlich so leicht geworden, schien es ihm; es war gar keine schwierige Sache mehr, am Leben zu sein! Es war häufig mühselig genug gewesen, alt und allein zu sein; wie oft hatte er nicht die Reichen beneidet, die hinfahren und sich neue Jugend kaufen konnten — wenn es auch nur ein Affe war, der sie hergeben musste. Was schadete es denn, das Weibervolk merkte den Unterschied ja doch nicht! Aber nun war es, als hätte ihn das Leben angehaucht und die Säfte in ihm von neuem zum Steigen gebracht — gleich wie die Lenzsonne die Säfte in den Obstbäumen daheim auf den Berghängen des Schwarzwaldes zum Steigen brachte. Er war von Herzen froh, lachte aus tiefer Kehle wie eine Amsel zur Frühlingszeit und verspürte Lust, etwas ganz Verrücktes zu tun, die junge Frau zum Abendessen in Konstanz einzuladen und hinterher mit ihr ins Kino zu gehen — irgend etwas Halsbrecherisches!
Während er dasaß und überlegte, wie es sich am besten über die Stränge schlagen ließe, war sie von ihrem Feldstuhl aufgestanden; und ehe es ihm richtig klar geworden war, stand sie in Meersburg auf dem Kai und winkte und legte das Schiff schon wieder ab. Und das war ein großes Glück, denn sonst wäre der alte Liebenz auch ausgestiegen — zu Narrenstreichen aufgelegt, wie er es im Augenblicke war. Und was hätte er dann mit dem Nachbarn daheim getan, der seine paar Kühe und die Ferkel versorgte, während er fort war? Man erwartete ihn für heute Abend bestimmt zurück, und wenn er nicht rechtzeitig nach Hause kam, könnte es ihnen sehr wohl einfallen, zur Polizei zu laufen und Nachforschungen anstellen zu lassen — so übertrieben pünktlich, wie er nach dem Mund der Leute stets gewesen war!
Der alte Liebenz fühlte den Boden unter seinen Füßen schwanken, als er dasaß und seine Morgenmahlzeit verzehrte: Suppe mit eingebrocktem Brot. Der Napf stand mitten auf dem Tisch, noch von der Zeit her, wo sie zu mehreren um die Schüssel saßen, und eine nasse Spur führte von der Schüssel über den Tisch und die Weste hinauf bis in seinen Bart, so sehr zitterte ihm die Hand bei der Schießerei. Ärgerlich warf er den Löffel hin und stolperte hinaus. Von der Hütte aus senkte sich die Landschaft abwärts, über einen Bergrücken hinter dem anderen, über weite Wiesen und waldbedeckte Wogenkämme eins unter dem anderen hinweg, bis weit draußen im Süden der Bodensee hervorblinkte. Und hinter dem wiederum stieg das grüne Schweizer Vorland zu den schneebedeckten Alpen empor, die sich unruhig in die Föhnluft pressten, als scheuerten sie den juckenden Rücken am Himmelsblau.
Schossen etwa die da drüben? Wollten die anfangen, mit uns Krieg zu spielen - das „Hirtenvolk" da drüben? Hier war nichts zu holen — da hätten sie ein bisschen früher kommen müssen! Die Söhne waren weg, seine Söhne wie die der Nachbarn — und Mutters goldener Kopfschmuck dazu! Auch die Trauringe waren eingeschmolzen und dem Weltungeheuer in den Rachen geworfen
worden — und die Sparpfennige waren durch die Inflation draufgegangen. Hier war nichts zu holen!
Nun wurde von neuem geschossen, und zwar dermaßen, dass er geradezu in die Luft ging. Wenn geschossen wurde, war es ihm unmöglich, die Herrschaft über sich zu bewahren; es hatte sich ihm in den Nerven zu fest gesetzt!
Und dabei war es nichts weiter als Böllerschießen; er musste laut lachen, als es ihm klar wurde. Es kam aus den Dörfern rundum--ja natürlich! Es war der Gedenktag für die Gefallenen!
Jetzt ging es mit einem Male erst richtig los, auch die Kirchenglocken setzten ein. Eigentlich hätte er wohl mitmachen müssen, aber er hatte keine Lust, für seine gefallenen Söhne Schießpulver abzubrennen; die hatten sicherlich an dem, was sie bekommen hatten, genug! Und hinterher den ganzen Tag im Wirtshaus herumhocken, Most und Kirschwasser trinken und über die Söhne
plärren--und den Schluckauf kriegen! In finsterer Nacht nach
Hause torkeln und frühmorgens auf der Türschwelle aufwachen — mit pochendem Kopf und weinendem Herzen! Nein, daran war ihm nichts mehr gelegen!
„Du wirst alt, Liebenz!" sagten die anderen. Alt — ja, vielleicht. Oder war er nicht eher zu jung? Er war der Jugend begegnet, das war sicher, und gleich so, dass er sich daran verbrannt hatte. Es kam ihm noch jetzt so vor, als spüre er das Blut ganz oben in den Ohren sieden!
Oder war es die Einsamkeit, die ihm wiederum ihr verzehrendes Lied sang? Er fühlte sie in sich als eine entsetzliche Leere, die kochte und wallte — und allen Dingen das Mark aussaugte, so dass alles Leben um ihn herum tot und gleichgültig wurde. War es das Reich der Toten, was die Herrschaft über ihn gewonnen hatte? Die Söhne traten jedenfalls darin auf, Mutter Liebenz jedoch erkannte er nur am Schritt. Und das war im Übrigen ganz gut so!
Er setzte sich auf einen Baumstumpf; mit dem Blick dem Lande zugewandt, saß er gedankenverloren da. Wo hing der Nebel,
draußen über der Landschaft oder in seinem eigenen Innern? In ihm ging es um — so sonderbar, als ob die Engel Gottes zu spuken begonnen hätten. Aber auch Mutter Liebenz war dabei, er hörte deutlich ihren Tritt. Genauso war sie ein langes Leben hindurch in kaltem Brodem um ihn herum gegangen und hatte getreten und geschuftet und mit bösen Augen ihren Gifttrank gebraut!
Dem alten Liebenz wurde jetzt noch schwindlig, er spürte wieder einmal wie einen Griff ums Herz die alte Angst; niemals hatte er es geschafft, sich bei Mutter Liebenz geborgen zu fühlen. Aber sie, die zu Lebzeiten so zu zaubern verstanden hatte, dass aus herzensguten schönen Frauen Teufel und die reinsten Ungeheuer wurden, musste jetzt die Dinge am falschen Ende erwischt haben, denn der große Vogel, der lange auf der Mauer drüben am Wege gesessen und zu ihm herübergestarrt hatte — so lange, bis er überzeugt gewesen war, es wäre der böse Wiedergänger der Mutter Liebenz! —, der war auf einmal gar kein Vogel. Er war eine junge Frau mit schwarzem Tuch um Kopf und Schultern — auf ihrem Weg hinunter ins Dorf, um mitzuweinen über die gefallene junge Mannschaft. Nun saß sie dort und starrte durchdringend zu ihm her, anstatt zu den anderen hinunterzugehen — sie wollte ihn haben an Stelle seiner beiden Söhne! Ja, es war die vom Schiff, er erkannte sie wieder an dem bleichen Gesicht. Sie war unterwegs, um ihr Recht zu fordern!
Und gerade, als er sie wieder erkannte, machte sie mit ihrer Drohung Ernst und ließ den Strom frei. Von seinem Sitz aus konnte er den ganzen Schwarzwald übersehen, und am besten, wenn er die Augen schloss; er war ja hier geboren und aufgewachsen. Aus allen Waldrändern lugten junge Wesen hervor, verschwanden und tauchten von neuem auf. Und auf einmal traten sie aus den Wäldern heraus und schwärmten die grünen Hänge hinab, warfen sich hin und suchten Deckung, als wären sie Soldaten bei einem Sturmangriff, und stürmten wieder weiter. Wie Fetzen von Sturmwolken fegten sie den Berghang hinunter. Nein, Vögeln waren sie zu vergleichen, die rannten anstatt zu fliegen.
Ja, ein Schwarm Vögel auf dem Zuge, so viele waren sie! Ein Zug Vögel, dessen Flügel weit nach Ost und West sich dehnten und die ganze Welt umspannten. Jetzt vernahm er auch Gesang aus der Höhe! Eine Engelshymne war es gerade nicht, dazu war er zu schrill; es klang wie Verwünschungen und Flüche! Heute aber war dem alten Liebenz ganz und gar nicht bange; es machte ihm nichts aus, einen von den schwarzen Vögeln einzufangen und in den Bauer zu setzen. Gut behandeln würde er ihn schon!
In einer endlosen Front, deren Flügel sich rascher bewegen mussten als das Zentrum, rückten die Heere der geborenen Witwen vor und nahmen alles in sich auf. Unglaublich war es, was sie alles vor sich her trieben und verschlangen! Wählerisch waren sie wahrhaftig nicht. Mit einer gewissen stillen Freude stellte es der alte Liebenz fest, zog sich aber doch vorsichtigerweise hinter die Tür der Hütte zurück; es war nicht ratsam, sich überrumpeln zu lassen. Er sah die Männer über den Berg von der Gefallenengedenkfeier zurückkehren: den Pfarrer, den Bürgermeister, den Vorsitzenden des Kriegervereins — lauter achtbare Männer. Sie wurden eingekreist und widerstandslos in den Wirbel hineingezogen. Selbst der ehrbare Dorfpfarrer konnte sich nicht aufrecht erhalten, sondern wurde gleichfalls hineingerissen. Seine dicke Figur drehte sich wie ein Kreisel, er lachte und verlor die Brille, so dass er nicht mehr Gut von Böse zu unterscheiden vermochte.
Und nun kam der schwarze Vogel über den Zaun gesetzt und stracks auf die Hütte zu! Es drehte sich um Liebenz, der alte Mann schloss die Augen und überließ sich mit gefalteten Händen seinem Schicksal.
Es folgte eine seltsame Zeit für den alten Liebenz; er lebte in einem Zustand zwischen Traum und Halbschlaf und war sich nur Mariles, seines schwarzen Vogels bewusst. Mutter Liebenz hatte immer behauptet, dass schwarze Vögel Unglücksvögel seien, aber obgleich dieser hier alle Schrecken des Weltkriegs in seinen Schwingen barg, wollte er ihn doch um alles in der Welt nicht hergeben. Vor die Hütte kam er selten; er hatte Angst, das Glück könne davonfliegen, wenn er die Tür öffnete. Die Welt draußen mochte ihren Gang gehen, ja, auch seine geliebten Äcker mochten mit sich selber fertig werden, wenn er nur seinen Glücksvogel behalten durfte. Wenn der ab und zu ins Dorf hinunterflog, um mit den schwarzen Mitschwestern zu plaudern oder etwas zum Essen einzuholen, saß er wartend am Fenster, voller Furcht, dass er nicht zurückkommen würde.
Dort unten sah es nicht zum besten aus; Marile, sein kleiner schwarzer Vogel, zwitscherte davon, wenn sie wiederkam. Der Pfarrer hatte seine ältliche Schwester, die viele Jahre als Wirtschafterin bei ihm gewesen war und seine Schwelle wie sein Zölibat treulich gehütet hatte, weggeschickt, um für die zwei schwarzen Vögel, die er eingefangen hatte, Platz zu schaffen. Beim Bürgermeister sah es nicht besser aus; überall in Hof und Haus hatten die geborenen Witwen Trauer und Verwirrung hineingetragen. Die wohlgedienten Ehefrauen gingen den ganzen Tag mit der Schürze vor den Augen schluchzend umher, die jungen Bräute schrieen und machten Szenen. Eines Tages bewaffneten sie sich mit Knüppeln, um das Unglücksheer wegzuscheuchen, hatten aber die Männer mit Pfarrer und Obrigkeit an der Spitze gegen sich. Den Vögeln Gottes musste man wohlwollend entgegentreten, wenn die Ernte nicht fehlschlagen sollte! Jeden Sonntag nannte der Pfarrer von der Kanzel herab dieses Jahr das Gnadenjahr der geborenen Witwen und eiferte gegen die Verworfenen, die mit Gott rechteten, weil er seinen Segen über das Land breitete. War es denn nicht, als ob ihm ein Wunder widerfahren sei? Greise wurden wieder jung und traten dreist in den Kreis der Männer, Taugenichtse und Idioten fanden zum Leben zurück, und eben konfirmierte Jungen bekamen raue Erwachsenenstimmen. Sie trafen sich im Krug und schlugen vor den Älteren die Faust auf den Tisch.
Marile erzählte es zwitschernd, aufrichtig gekränkt, wie viel Unglück diese Mistvögel über die Gegend brachten. Der alte Liebenz hörte dem allen verwundert zu, wie etwas weit Entferntem, das ihn nicht besonders anginge. Wenn er nur seinen schwarzen Vogel behalten durfte!
Und das durfte er — Marile wurde zahmer und zahmer. Sie aß ihm aus der Hand und trank aus seinem Becher; und wenn es die Gicht war, sie zauberte sie ihm aus dem Leibe. Es gehörte eben Sonne dazu; sie hatten recht, die neumodischen Bestrahlungspropheten — Sonne und Wärme! So gut hatte er es seit den fernen Tagen, da Mutter Liebenz mehr Lebenswärme als Barschheit besaß, mit seinem Reißen nie gehabt.
Wenn sich bloß der Nebel verziehen wollte, damit er klar erkennen könnte, wo er eigentlich war! Oftmals war es ihm, als trüge ihn sein schwarzer Vogel im Flug über die Wälder und Klüfte des Schwarzwalds. Dann erhielt das Schwindelgefühl eine geradezu handgreifliche Ursache, und die unbestimmte Angst wurde zu einer Angst, dass sie ihn fallen lassen würde.
Zum Glück war es ein lichter Nebel, worin er sich bewegte, und in dem Maße, wie er sich tiefer in ihn verirrte, verspürte er weniger das Bedürfnis, sich zu orientieren. Alles Äußere war im Grunde so gleichgültig geworden; das Dasein war auf eine frühe Entwicklungsstufe zurückgeführt, wo die Wärme das ein und alles ist. Besser als der alte Liebenz konnte das Kind im Mutterleibe nicht aufgehoben sein; selbst das Aufstehen wurde nach und nach zu etwas Umständlichem und Sinnlosem.
Eines Tages schlug er die Augen auf und war bei klarer Besinnung — zum ersten Mal seit ewig langen Zeiten, meinte er selber. Wie lange Zeit vergangen sein mochte, seitdem sich die schwarzen Vögel in der Gegend niedergelassen hatten - er hatte keine Vorstellung davon. Er sah sich unruhig um — lag er zu Bett? Ja, aber sie saß tatsächlich an seinem Bett, die Marile, saß obendrein da wie eine, die ihm näher als alle anderen stand. Dann war es doch kein Traum gewesen — Gott sei Dank!
„Es ist nur gut, dass du wieder zu dir gekommen bist", sagte sie und sah ihn mit Augen an, aus denen die Güte leuchtete. „Ich hatte schon Angst, dass ich dich zuschanden geflogen hätte. Wie geht es dir, Väterchen?"
Der alte Liebenz lächelte matt. „Mir ist, als wäre ich durch ein zerstörendes Feuer gegangen und nur noch ein Häufchen Asche", flüsterte er und bemühte sich, ihre schmale Hand zu drücken, die so lieb und selbstverständlich in der seinen lag.
„Das bist du auch — du bist für deine beiden Söhne tüchtig im Feuer gewesen! Und wie du dich mit ihnen unterhalten und nach ihnen gerufen — und phantasiert hast!"
Sie nahm die Bilder der Jungen von der Kommode und sah sie lange nachdenklich an. „Arme Burschen!" sagte sie endlich, mit einem Zittern in der Stimme, als wäre sie Mutter Liebenz selber. Dem Alten wurde es dabei ganz still ums Herz.
„Und wenn du nun noch einen Jungen bekämest?" sagte sie plötzlich und legte ihren Kopf neben ihm aufs Kissen. „Ich glaube bestimmt, ich habe heute früh den Storch gesehen." Sie lachte schelmisch.
„Dann — dann soll er den Hof hier haben", flüsterte der Alte und drehte verlegen das Gesicht weg, als genierte er sich zu zeigen, wie froh und verwirrt er war.
„Aber dann müssten wir wirklich nach Pfarrer und Bürgermeister schicken, damit ich deine richtige kleine Frau werde", sagte Marile und stand energisch auf. „Nein — sieh doch nur, da kommen sie wahrhaftig schon von selber! Das ist doch ein komischer Zufall!" Sie streckte den Hals und lugte lange durchs Fenster, mit Augen, die vor Verwunderung viel zu groß waren. „Nein, bestimmt ein komischer Zufall!" musste sie schließlich wiederholen.
Aber der alte Liebenz lächelte. Er dachte, es wäre von seinem kleinen schwarzen Vogel klug und resolut gehandelt - der Hof kam in gute Hände!
Dann traute der Bürgermeister sie, und der Pfarrer gab ihnen den kirchlichen Segen. Und es war alles beides die höchste Zeit.
„Es sind nicht viele Fälle, die wir auf so schöne Weise ordnen können", meinte der Pfarrer, als die beiden Männer wieder gehen wollten — ob er nun an seine eigenen Verhältnisse dachte oder die des Bürgermeisters oder auch nur an die Gemeinde überhaupt. Der Bürgermeister jedenfalls zwinkerte mit den Augen.
Der alte Liebenz aber ließ sich durch nichts stören, er war schon dabei, hinwegzugleiten, die Hand seiner jungen Frau in der seinen. Die Einsamkeit war aus seiner Seele gewichen und hatte der süßen Todesermattung am Leben Platz gemacht, die aus dem Unendlichen nach ihm griff und ihn an sich zog. Es war, als schöbe ihn Mariles sanfte Hand immer tiefer in dieses selige Glücksland, wo unendliche Ruhe ihn erwartete; und tief drinnen begegnete er, ohne den Übergang zu merken, Mutter Liebenz mit den rauen Händen.
Zusammen gingen sie weiter und weiter, und der Alte wusste nicht, dass es nicht mehr Mariles schmale Hand war, die ihn, führte.
1930

 

TOTENTANZ

Es ist der letzte Tag des Jahres, ein Tag, der die Wahrheit verkündet; man lügt doch nicht, wenn man mit einem Bein im Grabe steht! Die Sonne ist rot untergegangen, in einem Pfuhl von Blut, und nun kommt wie aus ewig nässender Wunde die Dunkelheit herein gesickert.
Der Tag ist peinlich genug gewesen — eine unerfreuliche, verdrießliche Aufzählung! Was hat der Kleine nicht alles an Unglück und Gram ans Licht gezogen, dreihundertfünfundsechzig Tage voller Leiden — ein durch und durch schlimmes Jahr, wohl das böseste, das die Menschheit bis jetzt erlebt hat. Nur gut, dass er nicht mehr weiter kann! Schon um vier Uhr bricht er unter der Last zusammen und schließt sich das Dunkel über ihm.
Ist aber die Dunkelheit schonsamer? Im Gegenteil, sie ist durchsichtiger als das Tageslicht! Das wenige, was Licht und Lärm den Gemütern fernhielten, vermag sie nun ebenfalls ungehindert in Besitz zu nehmen. Es ist, als ob das Dunkel die Herzen der unbarmherzigen Kälte des Weltenraumes öffnete.
Die Menschen sind während dieses Jahres noch mehr zusammengeschrumpft; es ist, als wären sie gleichsam zu klein für das, was geschieht, zu klein, es zu tragen, und zu klein, sich selbst und die Welt davon zu befreien. Tagsüber stellen sie sich, soweit es möglich ist, tot; aber jetzt, in der Dunkelheit, geistern sie herum wie Wesen, die tief unter der Erde zu Hause sind, streifen wie Ratten durch die tiefe Finsternis zwischen den Reihen der Häuser.
Irgendwo fallen Schüsse; die Wesen pfeifen und schreien, das Dunkel beginnt sich wimmernd zu beleben. Ach, Unsinn, nichts weiter als ein Galgenvogel, der ein bisschen Feuerwerk abbrannte— es ist ja Silvester! Aber hätte man ihn hier, würde er trotzdem gelyncht werden! Hat es einen Sinn, zu schießen? — das Jahr ist schlimm genug gewesen, wenn man zurückblickt! Lasst es bloß still und ruhig ins Grab sinken, so dass wir es mit Erde bedecken können. Ein neues Jahr soll eingeschossen werden? — das kommt auf eins heraus! Möchte Gott oder Satan, wer von beiden nun damit zu tun hat, den Schoß der Zeiten verfluchen, dass er niemals wieder zu gebären vermag; möchte die Erde in dieser letzten Nacht des Jahres in die Tiefe versinken und niemals wieder zu einem neuen Jahr und einem neuen Tag emporsteigen!---
Ich bin in einem der Arbeitervororte gewesen und habe zwei polnischen Alten von ihrem Sohn, der an der roten Front kämpft, Grüße bestellt, zwei zittrigen Alten, deren Gesichter der vom Krieg verwüsteten Erde glichen: erst aufgewühlt, dann erstarrt und erloschen. Sie saßen in einer öden Dachkammer unter dem Fenster und nagten an nackten Kohlstrünken, die sie auf den Feldern am Rande der Vorstadt aus dem Schnee hervor gegraben hatten. Mit Gaumen und Zahnstumpfen bemühten sie sich, von den erfrorenen Pflanzenstängeln noch ein wenig Essbares abzuknabbern; ihre Hände, verkrüppelt durch die Plackerei eines ganzen langen Lebens, lagen wie unbelebte Tatzen um die Kohlstrünke, blaugefroren und ohne festen Griff. Erst als ich den Namen des Sohnes nannte, kroch mir ihr Blick aus fleckigen Augen langsam entgegen und gaben sie sich blinzelnd Mühe, mich ganz zu erfassen. Es dauerte eine Weile, dann lebte in ihrem Blick etwas auf, nur in ihrem Blick. Alles andere war abgetötet, damit es nicht auch an den Kräften zehre.
Ich hatte ihnen ein wenig Geld mitgebracht und sollte vom Sohn bestellen, dass er bald mehr schicken würde. Ein Gespräch war aber nicht in Gang zu bringen, einen ganzen Satz aufzufassen, war keiner von den beiden fähig. „Trommelfeuer", sagten sie und zitterten mit den gebrechlichen Köpfen — „Trommelfeuer".
Eine jüngere Frau kam die Treppe herauf, zornig riss sie den beiden Alten die Kohlstrünke aus den Händen, schimpfend trocknete sie sie an ihrer Schürze ab: „Dazusitzen und alles vollzusabbern!" Von mir nahm sie gar keine Notiz.
„Soll davon Suppe gekocht werden?" fragte ich, nur um etwas zu sagen.
„Jawohl — immer noch besser als gar nichts", antwortete sie herausfordernd.
Der Gruß vom Bruder machte ihr keinen Eindruck; ich hatte das Gefühl, als hielte sie ihn für verloren. Als sie aber hörte, dass auch Geld von ihm da war, belebte sich ihr Blick. „Wenn von der Seite Geld kommt", sagte sie mit rauer Stimme, „steht die Welt bestimmt nicht mehr lange!" Erst als ich auf der Treppe stand, sah sie mich ein wenig freundlicher an. „Haben Sie sich den beiden Alten verständlich machen können?" fragte sie. „Nicht besonders. Sie sind wohl beide ziemlich schwerhörig." „Es ist der verfluchte Hunger und die Kälte, was ihnen ständig in den Köpfen spektakelt — wie uns anderen allen auch. Sie glauben, es wäre das Trommelfeuer von der Front, das man bis hierher in Leipzig hörte." Sie lachte spöttisch wie eine, die besser Bescheid weiß.
Öde ist es da draußen in den Vororten. Von dort aus wird heute der Krieg genährt wie vorher der Friede. Alle diese ausgehungerten alten und verbitterten grauen weiblichen Wesen sind es, die die Rüstungsindustrie in Gang halten und — oftmals mit Hilfe von Kinderhänden — ihre Männer, Brüder und Väter mit Material versorgen. Es ist ein eigenartiger Sprengstoff, den sie aus der Leere hier nach draußen schicken; der Rückschlag ist das einzige sichere dabei! Was nützt es, zu kämpfen, wenn jede Handgranate, die man schleudert, einen selbst ins Herze trifft, da sie doch mit dem Hunger, den Tränen und Verwünschungen der Lieben daheim gefüllt ist! Es heißt, dass die Front wackelt; es ist die Leere hier, die sie eindrückt.
Öde ist es hier - unheimlich leer! Nichts in den Läden - nicht einmal Scheiben — und nichts in den Haushaltungen, kein Essen, kaum noch Bekleidung. Vor den Ohren dieser Geschöpfe braust der leere Raum schlimmer noch als irgendein Trommelfeuer,
Hunger, Kälte und zehrende Entbehrung lärmen teuflisch im Blut, schlagen wie Brandung gegen die Trommelfelle. Es ist hier nicht auszuhalten, der Anblick der Menschen schneidet einem noch mehr ins Herz als der Kahlfrost, der das Straßenpflaster eisig trocken fegt.
Im Stadtzentrum, innerhalb des Ringes, brennt hier und da eine Bogenlampe und erwärmt die Nacht. Hier fällt es einem gleichsam leichter, in der Stadt zu sein. Die Not hat die besondere Eigenheit, alles schwerer zu machen.
Es gibt aber auch anderes, was einen in der Innenstadt aufheitert — Menschen, die mit dem Jahr neunzehnhundertsiebzehn sehr zufrieden gewesen sind! Hier und dort sprüht und knallt es zu keines Nutzen; zur Feier des Tages zeigt sich die Munitionsindustrie freigiebig — trotz des Verbots. Es gibt eben auch andere Arten, Sprengstoffe zu verwenden, als gerade die eine draußen an der Front! Ab und zu stiehlt sich aus einer Munitionsfabrik eine Rakete in die Höhe — als ein Dank an die Götter
für das gute Jahr!
Ich habe mir für die Silvesterfeier im Ratskeller eine Eintrittskarte besorgt und gehe zeitig hin; obwohl es erst sieben Uhr ist, ist alles besetzt. Meine Karte weist mich zu meinem Platz an einem großen Tisch; neben mir sitzt eine Kriegerwitwe, ganz in Schwarz. Die übrige Tischgesellschaft besteht aus der Familie eines Rauchwarenhändlers vom Brühl: Großeltern, Kinder und Kindeskinder, im Ganzen mehr als zwanzig Personen. Die Kellner tragen ihnen massenhaft zu essen auf, gutes Essen, leckeres Essen; in den Restaurants der Innenstadt herrscht kein Mangel. Nur Brot bringt man am besten selber mit. Jedes der Familienmitglieder hat seine Flasche Wein vor sich stehen, man plaudert und lacht. Auch mich und die Kriegerwitwe versuchen sie am Gespräch zu beteiligen; sie merken, dass wir einsame Vögel sind, und haben Mitleid mit uns.
An einigen Tischen beginnt die Stimmung ausgelassen zu werden, hier und dort hat sie einen Anflug von Galgenhumor. An einem großen Stammtisch unter einem der Seitengewölbe sitzen lauter junge Männer, kurzgeschoren und mit roten Köpfen; sie lärmen und singen Kriegslieder und trinken alle Augenblicke auf das Wohl des Vaterlandes. Das ist eine Gesellschaft von Drückebergern: Männer, die eigentlich an der Front sein müssten, es aber auf irgendeine Art verstanden haben, sich davor zu drücken.
Die Kriegerwitwe hat ihr mitgebrachtes Essen ausgepackt, zwei zusammengelegte Scheiben Brot mit Kartoffelmus dazwischen, und sich eine halbe Flasche Rheinwein bestellt. Sie hat sich von uns anderen halb abgewendet und kaut, während ihr eine Träne nach der anderen die spitze Nase entlang läuft und ihr in den Schoß fällt. Deutschland allein hat Millionen ihresgleichen aufzuweisen, schwarzgekleidete abgezehrte Frauen mit grauer Haut und vom Kummer roten Nasen, mit Augen, die vom Weinen entzündet sind. Sie ist hier hergekommen, um für eine kurze Weile alles zu vergessen — vielleicht aber auch, um sich zu erinnern. Vielleicht pflegten er und sie hier ihr Silvester zu feiern, und sie hat gehofft, ihm hier wiederzubegegnen — in einer schönen Erinnerung. Aber die Fröhlichkeit der anderen bedrückt sie noch mehr; ihr stilles Weinen sticht von dem fröhlichen Gelächter der anderen seltsam ab.
Dann auf einmal trocknet sie sich die Augen. Sie fasst einen heroischen Entschluss; eifrig und unverdrossen ergibt sie sich der Ausgelassenheit und dem Gesang. Ich kann ihre Stimme hoch über den anderen heraushören, wie ein flatternder Vogel steigt sie zu dem Gewölbe auf. Ihr Hals, der wie der Hals eines gerupften Huhnes ist, reckt sich in Ekstase; die mageren Arme, nackt bis zu den Ellenbogen und durch Kummer und schlechte Ernährung voller Sehnen, fechten in der Luft umher. Am Schluss einer Strophe will sie die anderen übersteigen, aber ihre Stimme schlägt um in einen Schrei; sie wird von plötzlichem lautem Weinen überwältigt und beeilt sich, hinauszukommen.
Niemand achtet auf sie — wo sollte das auch hinführen? Sie sind ja überall, diese Frauen in Schwarz: auf der Straße, im Theater, in den Zügen; überall begegnet das Auge diesen blutleeren weißen Gesichtern unter den langen Trauerschleiern — den schwarzen Vögeln. Es gibt nur ein Mittel, das Weinen zu übertäuben: singen, singen! Und der Gesang steigt gewaltig zu den Kreuzgewölben empor, als wäre er ein Dank an den ernsten Spender aller Leiden. Draußen im Alltag ist man ihm hilflos preisgegeben, da dringt das Weinen aus allen Mauern: aus gelöschten Feuerstätten, kalten Ehebetten und leeren Kinderzimmern! Der Tod hat sein Kreuz an alle Türen geheftet, durch alle Herzen hat er seinen schwarzen Strich gezogen, ein gähnendes Loch hinterlassen, aus dem die Leere herausstarrt. Lasst ihn nicht herein — zu diesem Begräbnisschmaus! Jetzt wird der Sarg mit dem schlimmen Jahr zugenagelt, mit dem schlimmsten Jahr, das die Kinder der Menschheit erlebt haben — Prosit Neujahr!
Hier soll vergessen werden, und der Gesang trägt gut dazu bei, er betäubt. Und mehr als das: er vertreibt das Jetzt und bringt eine andere Zeit ins Gedächtnis, die gute, alte Zeit, wo rastlose Arbeit und anspruchslose Freuden den gesunden Inhalt der Jahre bildeten. Und es kann geschehen, dass er noch weiter zurückführt, in Zeiten, die kein einziger erlebt hat und die doch in den Seelen vorhanden sind als ein heimliches Gerüst, das auch dem heutigen Tag Stütze ist. Ein Choral wogt unter den Gewölben hervor, aus allen Krypten kommt er herangebraust, von mehr
als tausend Stimmen empor getragen: Ein feste Burg. Er
knüpft das Gegenwärtige an die Vergangenheit und koppelt uns alle an den heutigen Tag. Auf solche Weise haben sich die ersten Christen in dem Labyrinth der Katakombengänge näher zueinander gesungen und hat das mittelalterliche Deutschland seine Herdfeuer bewahrt, in Gruben und Krypten halb unter der Erde, während sich alle Horden Europas oben auf seinen Feldern tummelten. Dort wurde der Deutsche heimisch wie kein anderer; von der Krypta unter schweren Gewölben aus muss auch die heutige Gegenwart gesehen werden. Sitzen sie nicht alle da und schwingen sich auf dem Gesang über die Grenzen des Reiches hinaus zu den Schützengräben und bombensicheren Räumen und anderen Höhlen unter der Erde, wo allein dies: zu leben, ebenfalls ein unfassbar großes Geschenk ist und deshalb die Zuversicht aus denselben Quellen rinnt wie hier? Die Burg ist überall, daheim und draußen, mit Wällen, Gräben und Gesang; man kann unter die Erde kriechen, dort wie hier, sich zusammendrängen und singen: Ein feste Burg — und sich „geborgen" fühlen. Hört, wie sie während des Gesanges an Kraft gewinnen! Der treuherzige alte Choral ist einer raschen Beendigung des Weltkrieges ein größeres Hindernis als Deutschland, Deutschland über alles!
Es ist, als hätte der alte Choral die Gemüter von allen Hemmungen befreit. An einem Tisch weiter weg wird Die Wacht am Rhein angestimmt, und im Nu flutet das Vaterlandslied aus allen Nischen des ungeheuren Kellers hervor. Kriegslieder, Kampflieder! Die Gesichter werden blutrot vor Eifer, die Stimmen heiser. Und plötzlich ist es zwölf Uhr, gewaltige Schläge auf einen Gong kündigen den Jahreswechsel an. Prosit und Hochrufe, auf den Sieg und auf den Frieden. Die Musik fällt ein, fegt das böseste aller Jahre ins Grab und bläst dem neuen den Präsentiermarsch. Sektpfropfen knallen und springen von einem Kreuzbogen zum anderen, Glückwünsche überkreuzen sich, Rufen und Gesang! Die schweren Gewölbe beben unter dem Brausen eines alles überwältigenden, irrsinnigen Optimismus.
Draußen ist die Nacht still und schwer von Schnee. Die Glocken der Thomaskirche läuten über der Stadt das neue Jahr ein, die nach dem Lärm dort unten unheimlich still wirkt — beinahe, als wäre sie ausgestorben.
Die Stille ist wohltuend, die kalte Nacht fällt einem labend aufs Gemüt. Was nützt es, mit vielen in festlicher Gesellschaft zusammen zu sein, wenn man nicht dieselbe Wellenlänge wie die anderen hat, vielleicht gar nicht darauf eingestellt werden kann? Nirgendwo ist man so einsam wie unter Menschen, deren Festrausch man nicht zu teilen vermag; ich hätte mich von dem Haus der Bürger fernhalten sollen, sowohl aus Rücksicht auf die anderen als auch aus Rücksicht auf mich, der ich keinen Tropfen Bürgertugend in den Adern habe und deshalb weder mittrinken noch mitschreien kann.
Wiederum aber ist es eine gefährliche Sache, sich der Einsamkeit allzu sehr hinzugeben; es greift das Herz an. Was kann man überhaupt tun, wenn man nun einmal so gebaut ist, dass einem nichts in der Welt so sterbenslangweilig ist wie das Bürgerheim mit seiner Atmosphäre des geistigen Wiederkäuens und seinen künstlich gemästeten, schlachtreifen Bürgertöchtern? Sich das Dienstmädchen zur Tischdame erbitten, geht ja nicht gut; man muss sich damit begnügen, ihre Hand unter dem Tablett zu berühren, wenn sie einem serviert. Das ist dann, als berühre man die Erde; die Säfte steigen in einem hoch, man ist von neuem mit dem Dasein verbunden.
Im Schatten hinter einer Straßenecke stand eine junge Frau und spähte zu dem erleuchteten Eingang des Ratskellers hinüber; ein reines Kind schien sie noch zu sein mit dem neugierigen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Die Lichter vom Rathaus her brachen sich in ihrem offenen Blick, wie sich die Lichter des Weihnachtsbaums in Kinderaugen brechen. Vor Kälte und Hoffnungslosigkeit kroch sie in sich zusammen; ihre Augen suchten fragend zu mir herüber, als ich an ihr vorbeiging. Und da war sie mir so vertraut, als wäre sie meine Schwester.
„Du frierst ja", sagte ich und blieb stehen. „Warum gehst du nicht nach Hause? Hast du gar keine Angst vor der Dunkelheit und der Nachtkälte?"
„Warum sollte ich wohl?" fragte sie halb abwesend und mit drollig angespannter Miene, als quälte sie sich ab, mich einzuschätzen und herauszufinden, was und wie viel ich wäre. „Nach Hause kommt man früh genug, wenn man von meiner Sorte ist. Da erwartet einen bloß Jammer und Elend! Ich möchte lieber irgendwohin, wo es ein bisschen festlich zugeht. Nimm mich da drüben mit hin!" Sie rückte mir dicht auf den Leib und nickte zum Rathaus hinüber.
„Das kann ich nicht, so gerne ich möchte. Wir kommen nicht
hinein."
„Warum denn nicht? Du gehörst doch zu denen da unten, und es sind auch andere von — von der Straße dort!"
„Es ist da gleich Schluss. Ich bin hier fremd, und meine Eintrittskarte habe ich schon abgegeben. Aber komm - lass uns ein bisschen zusammen gehen!" Ich hakte sie ein.
Sie lehnte sich auf mich, voller Zutrauen, und lächelte zu mir herauf — eher war es ein schüchternes Verziehen des Gesichts. Im Schein einer Laterne sah ich, dass sie schwarze Schatten unter den Augen hatte — echte Schatten! — und dass die Augenränder dunkel waren, als wären sie ganz von innen her mit Finsternis durchtränkt. Sie hatte es nicht nötig, sich anzumalen, um von sich aus zum Geheimnis der Nacht beizutragen.
„Warum ist es so ungemütlich zu Hause?" fragte ich, während wir aufs Geratewohl dahin schlenderten.
„Ach! Wenn Vater im Kriege gefallen ist und mein ältester
Bruder ist in russischer Gefangenschaft---die beiden würden
uns versorgen!" Das kam unwillig, beinah mürrisch heraus.
„Wer versorgt euch denn? Denn dieses hier — die Straße--
ich---ich meine--"
Sie lachte plötzlich, laut und glockenrein; ich hatte ihr solch ein befreites Lachen gar nicht zugetraut, so heruntergekommen, wie sie wirkte.
„Ja, es stimmt, ich versorge uns!" Sie sah mich herausfordernd an, mit einem Ausdruck, der alles Mögliche bedeuten konnte. Mit eins wurde sie ernst, todernst.
„Ich gehe in die Fabrik und verdiene sechzehn Mark die Woche; davon und von der elenden Kriegsunterstützung leben wir." Sie sagte es leise und beinahe ganz ohne Ausdruck.
„Sechzehn Mark! Kind, das ist ja gar nichts in diesen Zeiten!" Mir schauderte bei dem Gedanken an die hohen Preise, die alles kostete. Sechzehn Mark!
„Wir haben auch alle Krach gemacht und dem Fabrikanten gesagt, dass wir damit überhaupt nicht auskommen könnten. Aber er sagte: ,Seid ihr verrückt? Das sollt ihr doch auch gar nicht! Warum, zum Teufel, meint ihr denn, hat euch der liebe Gott als Weiber geschaffen? Ihr müsst dem Vaterland auch ein kleines Opfer bringen und es euren Vätern und Brüdern an der Front
nicht noch schwerer machen, indem ihr herkommt und unbillige Lohnforderungen stellt!'"
Du arbeitest in der Rüstungsindustrie? Im Allgemeinen heißt es doch, dass das allerhand abwirft."
Ursprünglich war es eine Orgelfabrik, jetzt aber machen wir Handgranatenschäfte und so 'n Zeugs. Wir jedenfalls merken nichts davon, dass das allerhand abwirft."
„Und deshalb bist du dem Rat des Fabrikanten gefolgt und verdienst dir etwas nebenbei?" Sie schüttelte den Kopf.
„Nein? Warum hast du denn da im Schatten gestanden?"
Sie sah lachend zu mir auf, antwortete aber nicht. Unbarmherzig wiederholte ich meine Frage.
„Ich habe da auf dich gewartet!" sagte sie und flammte mit einem mal auf, heiß und ausgelassen. Heftig drückte sie meinen Arm an ihre Brust.
„Gewartet hast du auf alle Fälle — und dann schickte dir die Vorsehung mich. Die Vorsehung, das ist etwas, was für einen sorgt; siehst du, Kind, du hast auch einen Versorger! Ist das nicht tröstlich zu wissen? Er hat es nur nicht übers Herz gebracht, dir einen Goldfisch zu schicken."
Sie war wieder grau und unschön geworden, ein unbarmherziger Zeuge der Wahrheit.
„Ja, natürlich habe ich gewartet", antwortete sie herausfordernd. „Was denn sonst? Das heißt, ich habe Wünsche gehabt — und die Leute beneidet; die da, die schaffen es!" schrie sie plötzlich heiser auf und zeigte auf ein paar aufgedonnerte Nachtvögel. „Die verdienen einen Haufen Geld!"
„Beneidest du sie wirklich? Du armes Wurm!"
„Sollte ich das etwa nicht? Die können sich satt essen, sooft sie wollen. Ich bin seit zwei Jahren nicht satt gewesen — nicht mal von Kartoffeln, und unser Brot haben wir immer schon einen Monat im Voraus aufgegessen. Meine kleinen Geschwister kriegen das meiste, sie können die Kohlrüben nicht vertragen. — Mutter sagt: ,Mach was du willst, wir haben kein Recht, mit Steinen zu werfen; warum sollten wir uns für irgendetwas für zu fein halten? Kommst du aber krank nach Hause, kriegst du Dresche und setze ich dich vor die Tür.' Und dann..." „Ja, und dann überlegt man es sich ja."
„Was ist dabei zu überlegen? Wenn Vater und mein Bruder das Leben riskierten, kann ich wohl auch etwas riskieren. Aber ihr Mannsleute bestimmt ja darüber, und ich bin nicht mehr hübsch; ich bin zu mager und meine Kleidung ist zu simpel. Die anderen johlten und zeigten mit Fingern auf mich, als sie an mir vorbeikamen; deshalb stellte ich mich ganz in den Schatten — und schämte mich." Ihre Stimme zitterte vor Zorn über das Verschmähtsein, sie war nahe daran, zu weinen. „Wenn du nicht gekommen wärest, dann..."; sie fasste meine Hand mit beiden ihren Händen und sah mich mit rührender, beinahe hündischer Dankbarkeit an.
„Wenn du nur nicht wieder enttäuscht wirst. Ich bin ein ebenso armer Schlucker wie du."
„Das weiß ich wohl; meinst du, ich hätte nicht gemerkt, dass du da drüben nicht hingehörst? Wenn nur Mutter keinen Krach macht."
„Und dein Freund?"
„Mein Freund?" Sie schien es gar nicht zu verstehen und sah mich forschend an.
„Ja, dein Liebster. In deinem Alter hat man doch einen Liebsten."
„Ach, du meinst einen, mit dem man geht, mit dem man sich später vielleicht verheiratet, wenn man sich immer noch mag? Mit wem sollte ich denn gehen? Alle Freunde meines Bruders sind doch im Felde. Wirf dich nicht weg, hat Vater immer geschrieben, dann kriegst du schon einen guten Mann! Das möchte ich auch gern, aber man kommt um vor Hunger und Kälte, das ist es. Für ein armes Mädchen wie mich gibt's keinen Mann zum Heiraten! Die einzigen jungen Leute, die zu Hause sind, sind ja die Feinen, und die sehen mich nicht einmal an, wenn es dunkel ist." Sie begann zu weinen, laut und hemmungslos.
Ich versuchte sie zu beruhigen; aus Angst, dass wir Aufsehen erregen könnten, zog ich sie in eine Türnische. Ich nahm ihren Kopf zwischen meine Hände und sagte ihr gute Worte, dass sie jung und schön wäre und was man sonst wohl einem unglücklichen kleinen Wesen sagen mag, das einem der Zufall in die Arme geworfen hat. Armes Kind! So jung sie war, hatte sie noch nie etwas davon gehabt.
„Nein, die feinen Herren haben mich stehen lassen", schluchzte sie. „Glaub mir, es ist kein Vergnügen, wie eine Aussätzige dazustehen und anzusehen, wie die anderen jede mit ihrem losziehen! Erst aus Verzweiflung weinen, dass man dazu gezwungen ist, und dann aus Gram, weil es fehlschlägt. Und zu Hause — die Kleinen! Das Gesicht von Mutter, wenn ich ohne wen nach Hause komme! Nein, es ist nicht zum Aushalten!" Sie schmiegte sich an
meine Brust und weinte dicke Tränen.---
Wir waren lange gegangen, auffällig lange im Verhältnis zur Entfernung von dem Stadtteil, wo sie angeblich wohnen wollte. Hier draußen, in den engen Nebenstraßen, rührte sich ein sonderbares Nachtleben. Invaliden, die der Krieg so zugerichtet hatte, dass sie sich am Tage nicht zeigen mochten — und auch nicht durften -, waren jetzt auf der Straße, um frische Luft zu schöpfen. Abgezehrte Frauen jeden Alters streiften durch die Gassen. Hamsterer mit schweren Lasten schlichen sich die Häuserwände entlang, beim geringsten Laut verschwanden sie in einen Torweg — und rannten dann wieder ein Stück weiter. „Das sind Gastwirte", sagte meine Begleiterin, „sie sind auf dem Lande gewesen und haben Esswaren gehamstert. Wenn die Polizei sie erwischt, verlieren sie alles." Sie hatte sich längst wieder beruhigt, hing schwer an meinem Arm und summte ab und zu vor sich hin. Ich spürte die Wärme ihres Leibes.
„Bist du nicht bald zu Hause?" fragte ich ungeduldig. Sie blieb stehen, streckte sich auf die Zehen, um meinen Mund mit dem ihren zu erreichen, und sah mich bittend an. „Du darfst mir nicht böse sein", flüsterte sie und legte mir mit einer entzückenden Bewegung ihre kleine Hand über die Augen. „Ich
wohne gar nicht in dieser Richtung. Aber es ist so schön, so Arm in Arm zu gehen, und so richtig weit zu gehen. Dann mache ich die Augen zu und tue, als wärst du mein Mann." Sie lachte und bohrte ihr Gesicht in meines.
Wie warm ihre dünne kleine Hand doch war — und wie lieb und zutraulich ihre Stimme! Sie hatte mich gern, das unglückliche kleine Wesen! Deshalb vielleicht, weil ich ihr erster Erfolg war und sie vor dem schmählichsten von allem, Mauerblümchen zu sein, gerettet hatte? Nein, darüber war sie hinweg; sie hatte keine Ziele mehr, die erreicht werden mussten, sie hatte alles bei sich. Sie hing an meinem Arm und erschien vollauf glücklich; keuscher als ihre Freude konnte keine andere sein.
„Du hast doch nie einem Manne angehört", sagte ich und drehte ihr Gesicht zu mir her.
Sie sah mich an, mit großen, ruhigen Augen. „Nein", antwortete sie mit einem so offenen Ausdruck, als gälte es, eine Wahrheit für das ganze Leben zu sagen. Oh, wie sie mich liebte! Es durchschauerte mich bei dem Gedanken — vor Angst und Glücksgefühl.
Hier war sie, unberührt und unschuldig, ein Kind, das bereit war, sich um etwas zu essen für sie und die Ihrigen dem erstbesten hinzugeben. Der Kriegsgewinnler hatte ja recht, das Vaterland verlangte es von ihr — das Vaterland der Armen! Weshalb, zum Teufel, hätte der liebe Gott denn sonst die Fabrikarbeiterin als Frau erschaffen!
„Du bist so merkwürdig", sagte sie plötzlich und rüttelte mich sanft am Arm. „Bist du mir böse deswegen? Magst du mich überhaupt nicht leiden?"
„Ich denke daran, dass du hungrig bist. Und dass es nicht einmal ein Lokal gibt, wo wir nachts um diese Zeit etwas essen könnten."
„Ich bin gar nicht hungrig. Ich möchte viel lieber Spazierengehen."
Mir fiel ein Lokal in einer Nebenstraße des Ringes ein, wo wir wahrscheinlich noch hineinkommen würden, ein heimliches Nachtlokal für die Halbwelt und jungen Lebemänner der Stadt. Der
Portier, ein prächtig ausstaffierter Schweizer mit goldnem Stab und die eine Hand mit Handfläche nach oben auf dem Rücken, sah meine Begleiterin scheel an und wollte uns in den Weg treten; eine Münze in die hohle Hand ließ ihn automatisch Platz machen. Meine Freundin schmiegte sich eng an mich an, eingeschüchtert von dem starken Licht, von der Stuckpracht und dem Aufsehen, das wir erregten.
Jetzt erst sah ich sie genauer. Arm sah sie aus, blutig arm, abgenutzt die Kleidung wie die ganze Gestalt — ein Kind von siebzehn Jahren, das einem abgezehrten, armen alten Weiblein glich.
Wir fanden eine Ecke, wo uns die neugierigen Blicke nicht allzu sehr belästigten, und bekamen die Speisekarte vorgelegt. Sie brauchte lange Zeit, sich zu entschließen — das Wurm; sie hatte die größte Lust auf alles zusammen. Immer wieder machte sie beim Gänsebraten halt, glitt aber gleich weiter, als hätte sie sich verbrannt. Als ich ihr vorschlug, den zu wählen, rückte sie erschreckt zurück. „Er kostet zehn Goldmark", flüsterte sie und legte ihre Hand überredend auf meine. „Sei lieb und bestell etwas anderes." Sie war meinetwegen ganz unglücklich.
Aber als die Bestellung erst aufgegeben war, war sie ganz glücklich; sie hatte sich aufgerichtet, ihr Blick glitt spähend im Lokal umher. Sie musterte die aufgedonnerten Mädchen mit einem Blick, der recht wohl bedeuten konnte: Wartet nur ab! Plötzlich fasste sie mich am Ärmel. „Man kann hier richtige Schokolade bekommen", flüsterte sie eifrig und zeigte auf ein Schild. „Ich möchte lieber Schokolade haben."
„Davon wirst du aber nicht satt", wandte ich ein. „Du brauchst etwas Solides."
„Ich bin gar nicht hungrig — und Schokolade ist viel festlicher." Sie sah mich bittend an.
Da bekam sie beides, und die Götter sollen wissen, dass sie
hungrig war!
Als wir hinauskamen, fasste ich sie um den Kopf und sagte ihr Lebewohl. Sie starrte mich aus großen schwarzen Pupillen erschrocken an. „Du magst mich also doch nicht leiden?" fragte sie leise.
Ob ich sie leiden mochte? War es wohl möglich, ein Geschöpf nicht reizend zu finden, das nach vierjährigem Hunger doch Schokolade dem Gänsebraten vorzog? Das Zusammensein mit diesem kleinen Geschöpf hatte mich bis ins Innerste erschüttert und so viel in mir zerbrochen, dass ich nicht ein noch aus wusste. Ob ich sie leiden mochte? Es war, als wollte mein Herz aus mir hervorbrechen, alles in mir strömte ihr entgegen, zitternd und anbetend. Und deshalb — vielleicht deshalb? „Es ist festlicher so", sagte ich und versuchte zu lächeln. Ich hatte das Gefühl zu taumeln, so sehr schwankte ihre Gestalt vor meinen Augen hin und her.
Sie warf sich weinend an meine Brust. Alles Junge und Schöne flammte zugleich in ihr auf — sie war unsagbar lieblich zu umfangen. Dann riss sie sich los und lief fort.
In der bergab führenden Straße konnte ich ihrer kleinen Gestalt lange hinterher sehen. Ihre Haltung während des Laufes sagte mir, dass sie heftig weinte. Ein Nachtwanderer schoss wie ein Hai aus dem Dunkel einer Seitenstraße heraus und auf sie zu; sie schrie auf und flüchtete.
Ganz unten, am Ende der Straße, sah ich schließlich meine schwer geprüfte kleine Begleiterin verschwinden--wohin?
1918

 

FLIEGENDER SOMMER

Peter und Karl waren zwei kleine Wesen, die jenen Tiefen angehörten, wohin die Sonne nicht so selbstverständlich hinabreicht. Die Welt dort unten hat sich aufs Selbstleuchten eingerichtet und führt allen Glanz selber bei sich; und daher kam es, dass sich die beiden für Schoßkinder des Glücks halten und dennoch ständig das Gefühl haben konnten, dass sie noch alles zugute hätten. Im Übrigen hausten sie mit der Mutter zusammen in einem finsteren Loch der Siedlung des Ärztevereins und waren der allgemeinen Zeitrechnung nach neun und acht Jahre alt. Dies bedeutete kurz und gut, dass so viel Zeit verflossen war, seitdem sie in den leeren Raum eingetreten waren und ihre Verantwortung zugeteilt bekommen hatten. Es lagen keine Zinnsoldaten in Schachteln und warteten auf die beiden, aber das Glück ließ sich in Form von Brotrinden erhaschen, wenn man es günstig traf; sie brauchten nicht sehr lange, sich zu orientieren. Sie erkannten von vornherein, wie zwecklos es wäre, mit Geschrei etwas einfordern zu wollen, und gingen sogleich daran, sich selber zu versorgen.
Mit der Orientierung war es sehr leicht, sie bestand aus nichts weiter als der Erkenntnis, dass es an allem mangelte, und mit dieser Erkenntnis waren sie zu einem Teil geboren. Umso stärkeren Nachdruck konnten sie auf die Versorgung legen.
Was ihren Erzeuger betrifft, so hatte er sie völlig im Stich gelassen und sich ins Rätselhafte zurückgezogen — wie ein Gott, der nur zu Besuch auf der Erde gewesen. Seine Existenz war allerdings über jeden Zweifel erhaben, er hatte sie auf Straßenjungenart durch das Erscheinen der beiden Burschen bewiesen — und war wieder in die Wolken verduftet. Andere Spuren hatte er nicht hinterlassen — nicht einmal einen Namen. Wer er auch war,
so hatte er mit göttlicher Großzügigkeit die Süße der Schöpferstunde genossen und sich der Aufrechterhaltung seiner Schöpfung entzogen; nun thronte er irgendwo außerhalb von allem in unsichtbarer Majestät und vergnügte sich damit, ihnen das Dasein unsicher zu machen. Nicht einmal, dass sich die Mutter als Witwe bezeichnete, bot Sicherheit; die Nachbarinnen lächelten bloß, und es schien, als zweifelte sie im Innern selber daran. Sie brauchte Freude wie Furcht von schicksalsschwererer Art, als die tägliche Plackerei sie ihr zu bieten vermochte, und deshalb war es der Kraft, die die Wasser ihrer kleinen Welt voneinander geschieden hatte, erlaubt, als eine dunkle Verheißung über dem Ganzen zu schweben. Bald hing es dumpf über ihnen als eine Macht, die jeden Augenblick daherkommen und ihre armseligen Brocken aufs Leihhaus schleppen konnte, bald wieder war es das Glück selber, das übers Meer zu ihnen allen dreien heimkehren würde.
Im Gegensatz zu diesem war sie den beiden Jungen die Handgreiflichkeit selbst, die einzige, worauf sie sich unter allen Umständen verlassen konnten; sie war gut und sicher wie die Erde, die sie traten. Das übrige war einstweilen Leere, die sie nach ihren Fähigkeiten ausfüllen durften.
Von Geburt an waren sie mit einem unerschöpflichen Vorrat von Geduld ausgestattet, und während die Mutter auf Arbeit war, saßen sie abgestützt jeder in seiner Ecke des alten Sofas und glotzten einander mit jenem Ausdruck bodenloser Erfahrung an, die die Armut als Wiegengabe spendet. Sie sagten ba-ba mit einer ganzen Welt von Betonungen, puhlten mit den kleinen Fingern die Polsterung aus der Sofalehne und pochten sich mit dem alten Holzlöffel, woran sie ihre Milchzähne hervorbeißen sollten, an die Stirn — und alles das, um den leeren Raum auszufüllen. Und wenn sie nicht mehr konnten, weinten sie sich in den Schlaf. Dann und wann kam die Mutter auf einen Sprung von der Arbeit nach Hause gelaufen, um nach ihnen zu sehen, und jedes Mal hatten sie diesen oder jenen Fortschritt ins Wunderbarliche getan.
Eines Tages hatte der älteste das Dasitzen und Zugucken satt;
er ließ sich über das Sofaende auf den Kopf hinunterfallen und richtete sich mit Hilfe des Tischbeines wieder auf. Als die Mutter heimkam, war sein kleiner Schädel dick wie ein Kissen — aber er konnte gehen! Und als die Zeit ein bisschen weiter fortgeschritten war, konnte er anfangen, Zeitungen auszutragen.
Jetzt waren sie, wie gesagt, acht und neun Jahre und hatten schon lange ihren Teil an der Versorgung übernommen.
Anscheinend war es ein ganz gewöhnlicher Tag. Die Sonne schien mit einer gewissen ausgelassenen Freude, die in der Spatzenschar der Siedlung ihren unbezähmbaren Widerhall fand; sonst war alles, wie es zu sein pflegte. Um fünf Uhr früh war die Mutter wie gewöhnlich zur Arbeit gegangen; um sechs Uhr klopfte die Nachbarsfrau, Madame Hygum, an die Wand, und die beiden Jungen standen auf und begannen ihren Tag mit gutem Humor. Peter machte nach verbrachter Nacht das Zimmer in Ordnung und holte dem Gemüsehändler seinen Tageseinkauf nach Hause, während Karl in die Ryesgade ging und der Zeitungsfrau die schlimmsten Treppen abnahm.
Jetzt waren die Morgenpflichten überstanden, und sie saßen in der engen Küche und aßen ihr Schmalzbrot. Mit der Frische war es vorbei, sie schwatzten nicht sorglos drauflos und traten nicht in müßigem Drang nach Beschäftigung mit den Beinen, sondern hockten träge über ihren Schmalzbroten — als hätten sie plötzlich die Sinnlosigkeit des Draufgängertums erkannt. Das Tempo war abgeflaut. Auch dies war nichts Ungewöhnliches, es wiederholte sich jeden Tag um diese Zeit; es kam als eine plötzliche allgemeine Erschlaffung über sie.
Müdigkeit war es nicht. Sie waren bereits sehr abgehärtet, die Anstrengungen des Morgens wirkten bloß als ein munterer Auftakt zum Tage. Jede Stunde des Tages ließ sich auf hunderterlei verschiedene Arten herrlich anwenden, die alle zusammen sie selbst und ihr armseliges kleines Heim zum Mittelpunkt hatten. Eine ganze kleine Welt hatten sich sie und die Mutter inmitten der Leere aufgebaut, mühselig zusammengetragen aus Abfällen des großen Sonnensystems; diese Welt war nicht dem großen Ganzen angeschlossen, sondern ging ihren eigenen Weg im Weltenraum -kraft ihrer eigenen ärmlichen Mittel; es kostete nie versiegende Anstrengung, sie aufrechtzuerhalten und vor Zusammenstößen zu bewahren. In ihren emporgestreckten kleinen Händen trugen sie bereits den Hauptanteil und fühlten sich glücklich dabei.
Aber nun hatte sich kürzlich eine große Hand von außen her nach ihnen ausgestreckt; sie durften nicht mehr frei umherstreifen, sondern sollten dem System eingefügt werden. Zum ersten Male merkten sie, dass irgend jemand für sie und ihresgleichen einen Gedanken übrig hatte; aber vorläufig äußerte sich diese Anteilnahme ausschließlich in der widerwärtigen Folter, dass sie jeden Vormittag einige Stunden lang auf einer Bank stillsitzen und den Staub all dessen einatmen mussten, was andere im Verlauf der Zeiten geleistet hatten, während ihre eigenen Angelegenheiten sämtlich ruhten. Obendrein erhob dieser Eingriff den Anspruch, als Wohltat aufgefasst zu werden. Wenn sie am Nachmittag herauskamen, hatte sich die Arbeit tüchtig angehäuft, und sie stürzten sich Hals über Kopf in sie hinein, um den Staub von sich abzuspülen.
Die beiden Jungen wussten sehr wohl, dass es etwas gab, was Gesellschaft hieß. Das hatte etwas mit all denen zu tun, die ihre Mittagsmahlzeiten für eine ganze Woche im Voraus festsetzen konnten. Sie waren sich von allem Anfang an darüber klar, dass sie selber nicht dazu gehörten — und hatten sich dementsprechend eingerichtet; ein dunkler Begriff von Gerechtigkeit sagte ihnen auch, dass man der Gesellschaft unmöglich etwas schulden könne, wenn man sich von Geburt an auf eigene Faust mit seinem Hunger und seinen Entbehrungen abgefunden hatte.
Doch hinter diesem unklaren Wissen stand ein anderes, das nicht selbst erworben war, sondern tiefer wurzelte—und für zwei kleine Bürschlein eigentlich viel zu groß und unhandlich war. Es war ebenso wenig handgreiflich wie die Furcht vor der Dunkelheit und stand wie eine Warnung vor den unsichtbaren Gefahren, die auf allen Seiten lauerten; es war dasselbe, was die Mutter und die beiden Jungen in weitem Bogen um alle Wohltätigkeitsveranstaltungen herumgehen und lieber zur Selbsthilfe greifen ließ, wenn ihnen das Messer an der Kehle saß. Unzähliges hatte dazu beigetragen, diese nebelhafte Erkenntnis zu schaffen, die sich nicht auf Erfahrung des einzelnen stützte, sondern gleichsam über ihrer Welt schwebte und selbst das Kind befähigte, die Menschenliebe in ihrer ganzen Tiefe zu durchschauen, bis auf den Grund des Netzes, wo die Spinne lauernd sitzt. Seit sie kriechen konnten, waren sie ständig auf der Hut gewesen und hatten Streicheln wie Knüffe von außen her mit genau demselben eingewurzelten Misstrauen hingenommen; und sie hatten sich lange durchzuhelfen gewusst — waren todkrank gewesen und hatten ohne Dach über dem Kopf im Faelledpark geschlafen —, ohne dass das große Ungeheuer sie gewittert hätte. Jetzt aber riss es plötzlich seinen Rachen über ihnen auf: unter dem armseligen Vorwand, dass sie über sieben Jahre alt seien!
Karl und Peter ließen sich nicht so ohne weiteres verschlucken. Sie besaßen ihre göttliche Einsicht, die ihnen sagte, dass es nicht mit Rücksicht auf ihr Bestes geschähe, wenn man es plötzlich so eilig hatte, sie an den Segnungen der Gesellschaft riechen zu lassen. Beim ersten Lockruf rissen sie aus, scheu wie zwei Füllen, die außerhalb der Hürde geboren sind; die Mutter musste eingespannt werden, um sie hineinzuführen. Für die Jungen wurde es ein fortgesetztes Schuleschwänzen mit darauf folgenden Prügeln, für die Mutter eine endlose Schererei; lange Zeit musste sie ihre Arbeit versäumen und sie zur Schule begleiten, ehe sie sich endlich fügten — in der Hauptsache aus Rücksicht auf sie.
Aber sie ergaben sich nur scheinbar; sie konnten auf die Verteidigungsmethode des Schwächeren zurückgreifen und begannen sofort, sich tot zu stellen. Alles prallte an ihrer undurchdringlichen dicken Dummheit ab. Es war eine heilige Pflicht, die an den beiden Proletarierkindern zu erfüllen war, und so wurde in keiner Hinsicht gespart; die ganze moderne Unterrichtskunst wurde aufgeboten, damit zwei elende Würmchen dem wunderbaren Weg des Lebens durch Zeit und Raum folgen könnten.
Und nicht einmal da brauchten sie haltzumachen. Sie — die von allem, was auf Erden wuchs, auf kein Roggenkörnchen rechtmäßigen Anspruch hatten — konnten, wenn sie wollten, ihre kleinen Seelen über alle Grenzen hinausgeleiten und in ein Verhältnis zur Alliebe und zu Gott selbst bringen lassen. Und es war das eine günstige Gelegenheit, sich die Begriffe vom wahren Menschenwert anzueignen.
Aber sie legten keinen besonderen Wert darauf. Es gab bei alledem immer weniger, womit den Kropf zu füllen, und einen späteren Feierabend, wenn nicht alles der Mutter aufgebürdet werden sollte; und dies beschäftigte sie ernsthaft, während sie gelangweilt die Großtaten der Menschheit mitmachten und zusammen mit der Spitze des Zeigestocks auf der Landkarte um die Erde reisten. Die beiden hatten überdies ganz andere abenteuerliche Reisen gemacht — über hohe Bretterzäune hinweg auf Kohlenplätze, an finsteren Abenden, wenn die Platzhunde los waren und in dem leeren Kachelofen zu Hause jämmerlich die Kälte heulte. Und noch schwierigere Fahrten hatten sie gemacht, ganz hinein ins dunkelste Festland: um Esswaren aufzutreiben, als Mutter krank war! Das war ihr Geheimnis, selbst Mutter kannte es nicht. Das verwies sie ein für allemal auf sich selbst und bestimmte ihr Verhältnis zu dieser neuen Autorität, die mit jeder Miene über die Selbstbehauptung zweier unbeugsamer Jungen den Stab brach und Hungers zu sterben als die höchste Rechtschaffenheit armer Leute hinstellte.
Sie hatten ihre teuer erkauften Auffassungen vom Glück wie vom Leben; davon gingen sie aus und hatten bisher Überschuss dabei gemacht. Kraft irgendeines wunderbaren Prozesses sogen sie Honig aus all der Unfruchtbarkeit um sie herum und setzten ihre bitteren Erfahrungen in einen etwas hartfäustigen Lebensmut um, der zwar mit den Geboten nicht übereinstimmte, dafür aber den Vorteil hatte, dass er ihr eigener war - und dass sich damit leben ließ.
Alles dies verbargen sie tief in ihrem Innern und setzten den anderen ihre harte Stirn entgegen. Wenn Gott der Herr den
Menschen das Gesetz überreichte oder der Engel die Geburt des Heilands verkündete, glotzten sie dumm zum Fenster hinaus, als sei das etwas, was zugunsten der anderen geschehen sei und sie nichts anginge. Aber während sie wie erloschen dasaßen, arbeitete es in ihrem Innern an Plänen zu neuen Einnahmequellen und zur Verbesserung der alten. Man musste über die Bauvorhaben der Stadt ziemlich gut orientiert sein, wenn man jederzeit Bescheid wissen wollte, welcher Zimmerplatz im Augenblick die beste Gelegenheit böte, die Säcke mit Späne zu füllen; und wiederum erforderte es eine ganze Wissenschaft, die Späne mit größtmöglichem Nutzen und ohne unnötiges Gerenne abzusetzen. Es gab genug zu tun.
Der wunderbare große Apparat funktionierte sinnlos über ihre Köpfe hinweg; sie zogen mit einem unerschütterlichen tiefen Ernst, der wie Stumpfsinn wirkte, ihr eigenes trockenes Brot dem Geruch sämtlicher Leckereien des Lebens vor. Es war nichts mit ihnen aufzustellen, sie waren zwei geistig defekte Individuen! Zwei bemitleidenswerte Hinterhofidioten, die man vergebens mit dem Abglanz aller Herrlichkeiten voll stopfte, der das Denken des armen Mannes von dem großen Leeregefühl ablenken soll.
In dieser Erkenntnis gaben die Quälgeister endlich Ruhe, und so ungefähr stand die Sache jetzt. Es war kein Grund anzunehmen, dass sich diese Stellung ändern würde, und insoweit waren die beiden Jungen dankbar deswegen. Es machte ihnen nichts aus, für weniger zu gelten als sie waren, da es die einzige Möglichkeit war, sich und das seinige zu bewahren, und sie betrachteten das Leben auch weiterhin mit vortrefflichem Humor. Nur unmittelbar vor den Schulstunden stellte sich ein kleiner Überdruss ein — bis sie den vormittäglichen Schlafzustand erreicht hatten.
Es war auch heute nicht anders. Die Morgenmahlzeit bedeutete die Schwelle zwischen den beiden Existenzformen; sie kauten sich still in das Joch hinein und glitten dann vom Küchentisch herunter. Ohne ein Wort über das Unabänderliche zu verlieren, schlossen sie die Türe ab und legten den Schlüssel unter die Matte, setzten ihr blödes Gesicht auf und machten sich widerwillig auf den Weg ins Unvermeidliche.
Als sie aus der düsteren Arbeitersiedlung auf den Strandweg hinaustraten, geschah es dem kleineren, dass er nach der falschen Seite einbog und sich dem freien Lande zu in Galopp setzte. Peter kriegte Angst und rannte ihm energisch nach, um ihn auf den richtigen Weg zurückzuführen; aber als er den kleinen schließlich einholte, hatte sich auch in ihm die Richtung festgesetzt, so dass er vergaß, was er eigentlich wollte. Die Sonne stand am Himmel, versprühte ihren Glanz wie irr nach allen Seiten und warf alle festen Vorsätze über den Haufen. Alte Prügelerinnerungen versuchten das Haupt zu erheben, fielen aber matt in sich zusammen; der morgige Tag war so weit weg, dass er auf keine Wirklichkeit Anspruch erheben konnte. Hier aber blinkte der Strandweg in weißem Staub und heißem Sonnenschein und deutete geradenwegs ins Abenteuer.
Dort war das Leben von einer anderen, üppigeren Art — die Sonntage wiesen den Weg! Da wohnten die Leute in Zauberhäusern, die ganz von grünen Gärten umgeben waren, und immer saßen Menschen in den Gärten und aßen von glänzend weißen Tischtüchern — und tranken Wein dazu, so dass es jedermann von der Straße aus sehen konnte. Vielleicht riefen sie sogar einen barfüßigen Jungen zu sich herein und stopften ihn mit feinen Sachen so voll, dass er es nachher wieder erbrechen musste — solches Wunder war schon dagewesen. Im Übrigen aber gab es Zäune mit losen Latten, durch die sich ein flinker Junge wohl hindurchzuzwängen vermochte, um selbst für seinen Anteil an den Dingen zu sorgen. Und sehr weit draußen, wo das Ungeformte begann, da lag die Welt selber als ein großer Wald voll von Tieren. Die Leute, die von daher kamen, brachten rote Schreiballons mit nach Hause und waren immer lustig.
Das alles malten sich die beiden Bürschchen gegenseitig aus, während sie dahin trabten. Der Polizist am Vibenshus merkte sich instinktiv ihr Signalement, und ein großer Wachhund kam herausgefahren und versperrte ihnen unverschämterweise den Weg,
während er sich ihren Geruch ins Gedächtnis schrieb. Mit einer etwas unwilligen Grimasse stieß er die Schnauze erst gegen ihre nackten Beine, dann gegen ihre Kleider, als wollte er damit kundgeben, dass Lumpen immer verdächtig seien, selbst wenn sie von zwei blauäugigen Jünglein getragen werden, die ohne zu blinzeln in Gottes lichten Himmel hineinsehen dürfen. Und damit durften sie für diesmal passieren.
Nun, mit den bloßen Beinen war das auch eine eigene Sache; von den losen Wegschottern hatten die Zehen Löcher bekommen und die Schenkel hinauf liefen verschiedene Schrammen. Die beiden Piraten setzten mit eigentümlichem Misstrauen den Fuß auf die Erde — als habe sie sich noch nicht recht abgekühlt. Es handelte sich aber bloß darum, dass manchmal gerade da, wohin man trat, Glasscherben lagen.
Im Übrigen trugen sie ihre Kluft in heiterer Unkenntnis der Konsequenzen; es sah beinahe aus, als seien sie bis auf weiteres stolz darauf. Sie war auch einzig in ihrer Art, zusammengeflickt aus allem, was die Mutter bei scharfem Ausguck von den Waschkellern der Herrschaften her vor dem Verschwinden im Müllkasten gerettet hatte, und aus dem, was die beiden selbst im Märchengarten der Allerärmsten, auf dem Schuttabladeplatz draußen am Lersö, zutage gefördert hatten.
Den Kopf als das Wichtigste hatte der liebe Gott selber versorgt und ihn mit einem sonnengebleichten dichten Schopf Haare bedeckt, der einen mitten im finstersten Hinterhof noch an korngelbe Äcker erinnerte. Es waren, wie gesagt, schon recht ernsthafte Erfahrungen in ihm gesammelt, einstweilen aber speisten sie nur eine spitzbübische kleine Flamme, die ihnen alle Augenblick aus den Augen züngelte. Die Gesichter waren noch jungfräuliche Erde — aber Erde, die ganz reizend lachen konnte; und mitten aus all diesem Ungeklärten leuchteten als eine überflüssige Verheißung zwei Stückchen blauen Himmels heraus.
Wie sie so im Sonnenschein dahin schlenderten und unter ihren kleinen Füßen mutwillig den Staub hervor blasen ließen, mochten sie — natürlicherweise, ehe man sie vor dem Hintergrund der bestehenden Gesellschaft sah - für zwei blutjunge Götter gelten, die sich sorglos aus nichts selber erschaffen hatten. Und da sie einmal auf der Welt waren und alles Notwendige beschlagnahmt fanden, plünderten sie das Elend selber aus und behängten sich mit der ganzen Beute. Es war kein Wunder, dass sie sich wohlhabend vorkamen. Dies war wohl ihre erste Leistung gewesen, und nun waren sie in ihren wertlosen Trophäen auf dem Weg, sich das Heute zu erobern; hier und da durchbrachen ihre nackten Leiber die Lumpen wie junge Sonne und erweckten die Vorstellung von weiter Bahn. Zwei selbstleuchtende Proletarierkinder, die anderen nicht einen Deut schuldig waren, aber selbst alles zugute hatten; zwei von den Wesen, die in Wirklichkeit niemand kennt, weil sie in großen Tiefen leben! Für eine Weile waren sie an die Oberfläche empor getaucht, um in dem Glanze mitzuspielen, und strahlten selbst von all den seltsamen Farben, die das Dunkel entwickelt.
Alles in allem waren sie reich ausgestattet; das wussten sie, und dieses Bewusstsein fand in den kleinen Körpern seinen plastischen Ausdruck. Das Leben hatte reichlich an sie vergeudet und sie in einem letzten Anfall von Verschwendungssucht auf dem Boden angebracht, vielleicht, damit sie an dem Tage, da das unterste zuoberst gekehrt wird, an die Spitze gelangten.
Sie stapften unverdrossen geradeaus, hielten sich so weit wie möglich im Straßenstaub, der den wunden Füßen wie ein weicher Umschlag war, und waren himmelhoch entzückt von allem, was sie sahen. Es war so reichlich Platz in ihrem Gemüt, jedes kleine Ding ging als ein großes Erlebnis darin ein.
Vor Hellerup entdeckten sie, dass sie hungrig waren. „Das macht die Landluft", sagte Peter großartig, und ausnahmsweise war das einmal eine treffende Erklärung dieser recht alltäglichen Erscheinung. Sie hatten doch wie gewöhnlich ihre morgendlichen zwei Schmalzbrote gegessen und pflegten nichts weiter zu bekommen, bevor sie aus der Schule nach Hause kamen.
Mit Hilfe eines Endchens Stahldraht beraubten sie einen altersschwachen Automaten zweier Tafeln Schokolade und trabten kauend weiter. Der Staub stieg in kleinen Wirbeln zwischen ihren Zehen auf. Den letzten Bissen Schokolade schmierten sie sich ins Gesicht — das war genau so gut wie ein Skalp, falls man Kameraden begegnete, und im Übrigen wirkte es wie Kriegsbemalung, als eine strotzende Herausforderung an alle Welt. Unter leichtem Geheul und die beschmierten Fratzen kühn vorgestreckt marschierten sie drauflos, die Augen begierig auf der Suche nach weiteren Erlebnissen.
Ein gewaltiger Brauereiwagen kam daher gerollt und hüllte die beiden Krieger in seinen Staubschwanz ein; unter dem Wagen tauchten sie wieder auf, ritten der Länge nach auf den Biertonnen, die an Eisenketten zwischen den schweren Rädern schaukeln. Da hingen sie und schaukelten sich halsbrecherisch wie zwei tollgewordene Waldteufel und stießen ein wildes Geheul aus, das von dem Gepolter des Wagens überdröhnt wurde. Oder sie ließen übermütig die Füße im Staube schleppen, um auszuprobieren, ob sie die mächtigen Pferde anhalten könnten. Auf diese Weise gelangten sie nach Skovshoved; dort entdeckte sie der Kutscher und verjagte sie mit der Peitsche.
Auf irgendeine Art schlüpften sie, ohne zerquetscht zu werden, zwischen den Rädern hindurch in den Straßengraben hinab, und das war ein großer Glückszufall. Denn dort fanden sie ein Paket Butterbrote, das irgendjemand — wahrscheinlich ein Schulkind — weggeworfen hatte. Es waren welche mit Käse wie auch mit Wurst dabei — hier war deutlich genug der Eingang ins Schlaraffenland! Sie ließen sich auf der Stelle nieder und genossen das Dasein. Das Butterbrot teilten sie gleich zu gleich, aber Peter, als der Erstgeborene, behielt es sich vor, das Papier abzulecken.
Es wäre unsinnig zu behaupten, dass sie satt waren, denn das waren sie in diesem Leben noch nie gewesen. Aber sie waren näher daran als gewöhnlich, als sie etwas gemächlicher weiterschlenderten.
Wie zwei richtige Vagabunden in Kleinformat sahen sie aus, als sie mit hochgezogenen Schultern dahin trotteten, Peter mit den Händen in den Hosentaschen, und Karl, der noch keine Taschen hatte, mit den kleinen Tatzen in zwei passenden Rissen in der Hosennaht. Es waren ein paar seltsame Risse; jeden Abend heftete Mutter sie zusammen und am nächsten Morgen waren sie von neuem da — als wüssten die Hosen, dass an dieser Stelle Taschen sein sollten. Das einzige, was an den beiden Landstreichern auszusetzen gewesen wäre, war die Größe; noch ließ sich keine Dame durch ihr bloßes Auftauchen auf die andere Straßenseite scheuchen — aber das konnte ja noch kommen! Im Übrigen aber waren sie ganz in ihrem Element und ließen sich von der leichten Sommerbrise treiben, wohin der Zufall es wollte.
Auf diese Weise waren sie durch diese oder jene unbegreifliche Fügung hinter den Villengärten her auf den Strand geraten. Da stand „Privat" auf einer Tafel geschrieben, und Peter machte den ehrlichen Versuch, sich hindurchzubuchstabieren, gab es aber lustigeren Dingen zuliebe wieder auf. Die einzigen Tafeln, die den beiden von wirklichem Interesse waren, waren solche, die vor losgelassenen Hunden warnten, und die hier war nicht von dieser Sorte.
In einer Fahrt hatten sie die Lumpen abgeworfen und nahmen lärmend den blauen Sund in Besitz. Auf der Veranda oben hatten die Damen der Villa ihr Vergnügen daran, die beiden Weltentdecker ausgelassen auf dem Sandgrund umher tollen zu sehen, wild und ungepflegt wie die Spatzen auf der Straße in einem Wassertümpel. Dann aber kam der Herr des Hauses dazu. Er war Stammgast in „Über dem Stall" und erkannte sogleich, dass hier die Sittlichkeit in Gefahr war; die beiden Knirpse wurden weggejagt, während die Damen des Hauses sich eiligst unsichtbar machten.
Nun, die Erde hatte sich nach und nach als über alles Erwarten groß erwiesen, und die beiden hatten nichts dagegen, einen anderen Teil in Augenschein zu nehmen. Im Flüchten zogen sie ihre Lumpen an und machten sich wieder auf den Weg. Weit draußen traten die Wälder hervor, da wollten sie hin; gerade nur so weit, dass sie die Tiere darin sahen und einen Schimmer vom Ende der Welt erhaschten.
Aber mitten im besten Traben hielt Karl plötzlich an. „Nein, sich bloß, Pedder!"
Mitten auf dem Rasenstück eines Villengartens stand ein großer Kirschbaum, zum Brechen voll von Kirschen, und zu Hunderten lärmten und randalierten die Spatzen darin. Sie flogen auf und fielen wieder in ganzen Wolken darauf nieder, zankten sich und plünderten drauflos, dass Früchte und Blätter in großen Büscheln zur Erde fielen. Es war die reine Verschwendung; man konnte deutlich erkennen, dass die sich ihr Essen nicht selber verdienen mussten.
„Die schlingen ordentlich was rein", sagte Peter und leckte sich erinnerungsvoll den Mund. Er hatte dieses Jahr selber schon Kirschen gekostet. Der Obstwagenmann zu Hause in der Siedlung kaufte auf dem Gemüsemarkt die halbfaulen — einen ganzen Handwagen voll für ein paar Kronen — und verkaufte sie auf der Straße weiter. Für eine Besorgung hatte Peter von denen, die auch auf der Straße nicht mehr abzusetzen waren, eine Mütze voll bekommen — und die hatten geschmeckt, na aber! Da war was dran! Man musste mit der Zunge schnalzen, um es richtig auszudrücken.
Karl war bei jener Gelegenheit nicht dabei gewesen und deshalb nicht fähig, die Dinge hier so großzügig zu beurteilen — er beneidete die Spatzen ganz einfach!
„Es sind richtige Schweine", sagte er gekränkt, „die fressen nicht, sie machen nur alles kaputt; die ganze Krone haben sie schon geplündert. — Ob da wohl jemand wohnt, du?"
„Das musst du doch sehen, dass da keiner wohnt, du Dussel! Die Läden sind doch vor."
Sie fanden ein kleines Loch in der Hecke und krochen hinein. Zuerst sammelten sie hübsch die Kirschen auf, die die Vögel herab gerissen hatten; sie waren gewohnt, nichts umkommen zu lassen. Dann kletterten sie auf den Baum und setzten sich bequem zurecht. Ihr behagliches Geplauder hörte rasch auf; stumm, fast feierlich gaben sie sich dem Genusse hin. Die eine Hand sammelte ein, während die andere in den Mund stopfte — ganze
Fäuste voll auf einmal. Die Kerne auszuspucken nahmen sie sich nicht die Zeit, dazu war später Gelegenheit.
Karl hielt plötzlich inne und holte tief Luft; er war noch in dem Alter, wo die Dinge in Worte gefasst werden müssen, um wirklich vorhanden zu sein.
„Das sind Kirschen!" rief er mit einem verzückten Ausdruck
der blauen Augen, „den Teufel auch!--Du, wenn uns jetzt
der Magen aufgeschnitten würde! Da wäre es wie mit dem Wolf — lauter Steine drin!"
Dann legte er von neuem los; Peter grunzte bloß. Ein Schlüssel wurde umgedreht, die Gartentür knarrte; aber sie sahen und hörten nichts, sie waren zu sehr beim Schmausen.
Der Großkaufmann, dessen Familie in diesem Jahr irgendwo in einem Badeort war, wollte nur einmal nach dem Landhaus und seinen geliebten Morellen sehen. Er fluchte erbost, als er den Spatzenfrevel erblickte, erinnerte sich aber rasch, dass er dem Tierschutzverein angehörte, und beherrschte sich. Es war nur ein unbedachter Ausbruch gewesen, seine Miene glättete sich sogleich. Du lieber Gott — die freien Vögel des Himmels, die mussten doch auch leben! Er brummte gutmütig, während er um den Baum herumging, um den Umfang des Schadens festzustellen.
Da fiel sein Auge auf die beiden Bürschchen, die da oben saßen und sich in der wahnsinnigen Hoffnung, unsichtbar zu sein, flach an den Stamm drückten. Er zog die Augenbrauen hoch und war drauf und dran, einen Schlaganfall zu kriegen.
„Ei, ei, das sind ein paar Verbrecherpflänzchen!" schrie er überlaut — „da ist man gerade im rechten Augenblick gekommen! — Herunter mit euch, und zwar sofort, ihr Diebsgesindel!" Seine Stimme klang wie eine Entladung im großen Stil.
Die Jungen rutschten vom Baum herab und machten einen missglückenden Versuch, fortzulaufen. Im Handumdrehen hatte sie der wütende Mensch beim Kragen; er legte keinen Wert darauf, mehr als höchstnotwendig mit ihren Kleidern in Berührung zu kommen; deshalb nahm er ihre Handgelenke in seine Linke
wie in eine Eisenklammer und schwang über ihnen donnernd den Stock.
Es war nicht seine Absicht, selber Gericht abzuhalten. Er war ein gesetzestreuer Mann und wollte der Gerechtigkeit die Strafe überlassen. Gerade weil er diese kleinen Diebspflanzen hasste, die Gott weiß wohin gehörten und niemals ihre Bestimmung erfüllen würden, wollte er die Strafe nicht selber vollziehen, sondern ihnen bloß auf ihrem Weg zur Obrigkeit ein menschliches Wort mitgeben und sich sozusagen der Verantwortung entledigen. Es konnte nicht schaden, wenn sie sich in der Zukunft einmal durch alle Verstocktheit dieses Augenblicks als eines wärmenden Strahls erinnerten und empfanden, dass es die Gerechtigkeit eigentlich nur ihres Wohlergehens wegen gäbe — nur züchtigte, um zu erlösen, wie das so schön lautete.
Die beiden Jungen aber wünschten brennend, dass er die Schokoladenschnauze halten und zuschlagen möge — wenn er sie doch bloß ordentlich verdreschen und nicht die Polizei rufen wollte! Die Tragweite von Prügel kannten sie einigermaßen, aber vor der Gerechtigkeit hegten sie ein unüberwindliches Grauen; deshalb eben krochen sie unter seinem Griff zitternd zusammen.
Und das trat denn wirklich ein. Das Glück hatte sich nun einmal an den beiden Bengeln versehen und ließ den Großhändler sich derart ereifern, dass er alle schönen Theorien vergaß und sich auf der Stelle Luft machen musste. Und als sie sich erst hinlänglich unter seinem Stock gewunden hatten, sah er ein, wie unvernünftig es wäre, noch mehr aus der Sache zu machen, und ließ sie laufen. Er hätte sie natürlich sehr wohl trotzdem der Obrigkeit übergeben können, aber im Grunde war er ja die Gutmütigkeit selber.
Dass er sich hinterher über seine unangebrachte Nachsicht ärgerte und meinte, sie würde die beiden einmal geradenwegs ins Zuchthaus führen, konnte ihnen völlig gleichgültig sein. Nun waren sie frei, und es sollte schon seine Zeit dauern, bis sie sich von neuem erwischen ließen.
Zu den geheimnisvollen Wäldern mit den Tieren kamen sie diesmal nicht — auch nicht ans Ende der Welt; das musste auf bessere Gelegenheit verschoben werden, sie hatten ja Zeit. Vorläufig gab es des Großen und Schicksalschwangeren genug, die Wirklichkeit damit zu würzen; sie hatten ins Bodenlose gestarrt und wären beinahe in seine Tiefen hinab gezogen worden, die Gerechtigkeit hatte ihren ungeheuren Rachen nach ihnen aufgesperrt.
Und im Schlaraffenland waren sie gewesen! Jetzt aber wollten sie heim.
Der Schreck hatte ihnen Beine gemacht, sie trabten flink nebeneinander her, wie ein Paar gut eingefahrene Pferde. Die Kirschkerne spürten sie wie eine kleine Last im Magen — eine Bestätigung dessen, dass alles Wirklichkeit gewesen war. Und irgendwo in ihnen saß die Befriedigung und ergoss sich in den ganzen Leib. Es war keine Veranlassung, die Sache in Zweifel zu ziehen — es war ein prächtiger Tag gewesen.
1908

 

DAS KIND DER LIEBE

Dies ist die Geschichte von Boline, die ein Kind der Liebe war und trotzdem zum ersten Mal auf dieser Erde einen Beweis der Liebe empfing, als sie über sechzehn Jahre alt war, überdies in einem finsteren Treppenhaus und von einem wildfremden Menschen, der es nicht weiter ernst damit meinte.
Indes, die Geschichte muss mit dem Anfang anfangen, und der liegt weit zurück — ganz weit draußen in dem großen Nichts. Von da nahm Boline ihren Ausgang und von dorther wurde sie reichlich mit allen Eigenschaften ausgestattet, die auch fernerhin die einzigen sein werden, die ihresgleichen heil durchs Leben zu führen vermögen.
Selbst die Schöpferstimme, die sie so schicksalschwer aus der grauen Öde hereinrief, damit sie ganz zur Unzeit auf eigene Faust ein kümmerliches Dasein begönne, hatte nichts von Lebenswärme an sich. Auch sie durchschritt das große Symbol am Eingang zum Leben, aber das Herz, worunter sie ruhte, um sich an die liebevolle Menschheit zu gewöhnen, war kalt aus Entsetzen vor den Folgen.
Boline hatte ihre Entstehung einem Waldfest, einer tanzglühenden Hofbesitzerstochter und einem nach oben strebenden Bauernknecht zu verdanken; sie sollte der nüchternen Absicht dienen, den Knecht in den Hofbesitzerstand zu erheben. Das misslang, und damit war alles für sie entschieden, obgleich sie noch gar nicht das Licht der Welt erblickt hatte. Das Standesgefühl war stärker als die Furcht vor der Schande, der Knecht wurde fortgejagt. Die Tochter wurde einer ergebnislosen Schwitzkur unterworfen und danach in die Hauptstadt geschickt, um den Haushalt zu erlernen. Von dorther ging nun einmal alle Verderbnis aus — auf diese oder eine andere Weise; es war also nichts weiter als gerecht, dass man es ihr heimzahlte.
Auf dem Lande nahm das Leben so gleichmäßig seinen Gang, wie das Korn wächst — Boline erhielt keinen Einfluss darauf. Die Ernte war weiterhin die natürliche Folge der Aussaat; man machte ein Kreuz in den Kalender, sooft der Grund zu einem neuen Lebewesen gelegt wurde. Die Verhältnisse wurden vom Alltäglichen bestimmt und erhielten nicht die Erlaubnis, den Menschen über den Kopf zu wachsen. Und sollte sich etwas Unerwartetes zusammenbrauen, dann setzte man den Pastor jetzt wie früher auf eine Leiter und trug ihn hinaus, damit er den Storch verjage. Der gute Mann hatte immer noch zu große Füße.
Von Boline drohte keine Gefahr. Sie hatte genug zu tun, die Stellung zu halten, und als sie sich ein wenig vor der Zeit den Eintritt ins Dasein erzwang, war alles so zurechtgelegt, dass ihr Leben von Anfang an auf das eines Schattens reduziert ward. Gegen eine einmalige Abfindung wurde sie von einer versoffenen Schneiderfamilie adoptiert, die davon lebte, dass sie Pflegekinder aufnahm; für das übrige mochte Boline selber sorgen.
Die Mutter eilte schleunigst nach Hause zurück, rot und frisch und unbefangen wie nie zuvor. Nicht eine Spur war ihr anzumerken, ausgenommen vielleicht, dass ihr Busen voller geworden war. Wenn wirklich was vorgekommen war, hatte sie jedenfalls reinen Tisch gemacht. Da gab es keine heimlichen Verbindungen nach der Hauptstadt hin; keine verdächtige Spur, wo sie gewandelt hatte; nirgends reckte sich eine kleine Kinderhand aus der Erde und zeugte wider sie. Es war also doch wohl Lüge gewesen, wie so vieles andere; der Knecht war ein Prahlhans, und man hatte auch schon früher erlebt, dass junge Mädchen in die Hauptstadt gingen, um etwas zu lernen. Im übrigen — ein jeder muss selber wissen, was er tut; und was das Ohr nicht hört und das Auge nicht sieht, auch kein Herz mit Kummer bezieht - und so weiter und so fort! Und Alleinerbin eines guten Hofes war sie nun einmal.
Ein kleiner Verdacht blieb aber doch an ihr hängen; sie sank im Preise kraft jenes Unfassbaren, das den Wert des schönsten Anzugs auf die Hälfte herabsetzt, wenn er nur ein einziges Mal bloß eben für die Fahrt zur Kirche und zurück — an einen Bräutigam ausgeliehen war. Sie bekam einen Witwer ohne Geld! Aber er war aus dem Stande, und deshalb behielt sie ihre roten Wangen und ihre stattliche Fülle. Züchtig und in Ehren bekam sie Kinder mit ihm und erzog sie liebevoll zu Fleiß und Gottesfurcht; kein fernes Kinderweinen störte ihre gerechten Tage oder raubte ihren Nächten den Schlaf. Sie hatte ein so gutes Gewissen, wie es einem nur ein Griff in den Geldbeutel verschaffen kann; wo sich manch eine mit der Tongrube begnügt, hatte man in Bargeld Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Nun, Boline schrie auch gar nicht sehr laut. Zwischen ihr und dem Leben, dem sie eigentlich angehörte, breitete sich der leere Weltenraum; es war, als ob es das Kind schon bei der Geburt gewusst und von vornherein darauf verzichtet hätte, sich geltend zu machen. Im Grunde hatte sie überhaupt kein Recht, auf der Welt zu sein, denn das einmalige Abfindungsgeld war schon nach dem ersten Jahr durchgebracht. Es war ein kleines Missverständnis von ihr, länger aushalten zu wollen als das Geld. Die Pflegeeltern fassten es schlechthin als Schikane auf und behandelten sie dementsprechend.
Sie lebte von wenig Nahrung oder gar keiner; dann und wann wurde sie auch überfüttert, und das bedeutete beinahe die größte Gefahr für ihre Existenz. Aber sie überstand es gleichfalls.
Und wie sie heranwuchs — mehr eine Verleiblichung des Elends denn ein lebendes Wesen —, wartete sie andere Pflegegeschwister, deren Geschichte der ihrigen aufs Haar entsprach. Einige von ihnen sah sie aus dem Leben gleiten, still, fast unmerklich, während sich andere mit unbegreiflicher Hartnäckigkeit ans Dasein klammerten. Der Tod bedeutete ihr kein Schrecken; vor oder nach dem Augenblick, den die Pflegeeltern für so entscheidend ansahen — an den kleinen Pflegegeschwistern war kaum ein Unterschied festzustellen. Die Farbe war dieselbe; eine
schwache Bewegung, ein leises Wimmern hie und da — das war alles.
Boline selbst aber wurde mit Mühe und Not vierzehn Jahre alt und in Dienst geschickt.
Niemand interessierte sich für ihre Eltern und deren Trauschein, auch nicht der Pfarrer, dessen Kinder sie während des ersten Halbjahrs ihres Dienstes zu warten übernahm. Um so mehr wurde nach ihren Körperkräften und namentlich nach ihrer Aufgewecktheit gefragt.
Boline war weder stark noch aufgeweckt. Sie war eine schmutziggraue Haut über marklosen dünnen Knochen, und das Blut, das sich durch ihre Adern schlich, war bläulich und dünn wie die abgerahmte Milch in der Hauptstadt — von genau jener herben Lebenswärme, die die Milch annimmt, wenn man sie mit billigstem Fusel versetzt. In dieser Flüssigkeit war nicht Kraft genug, einen selbständigen Gedanken zu erzeugen, kaum genug, eine Anweisung auszuführen; die Folge davon war, dass Boline häufig die Stellung wechselte.
Nach und nach bekam sie doch ein bisschen Fleisch auf den Leib; sie war so dankbar und nahm sogar in Stellungen, wo andere hungerten, an Gewicht zu. Aber es war keine richtige Festigkeit und Kraft darin, und in Gehirn wollte es sich nie verwandeln. Das blaugefrorene Aussehen verlor sie nie, sie war steif und ängstlich und hatte ungeschickte Hände — es ging ihr viel entzwei. Deswegen musste sie viele grobe Worte einstecken, und darüber und über ihre eigene Unfähigkeit weinte sie sehr. Und das Weinen machte sie noch unbrauchbarer.
Auf diese Weise wurde das Kind der Liebe sechzehn Jahre alt, erhielt zwölf Kronen Lohn im Monat und empfing, wie gesagt, zum ersten Mal auf dieser Erde einen Beweis der Liebe. Es überfiel sie in einem halbdunklen Treppenhaus — von einem jungen Herrn mit blondem Schnurrbart und in Ulster —, und hinterher grübelte sie viel darüber nach, ohne aber recht damit fertig zu werden. Was Schläge waren, wusste sie, auf solche Art aber hatte sie niemals jemand angerührt! Mal für Mal fühlte sie nach der
Wange, wo sie die Empfindung der sanften warmen Berührung immer noch verspürte, und ließ sich dann verwundert zu ihren Scheltworten und ihren Tränen in die Wohnung ein.
Aber es war in ihr etwas entzündet worden; an einem Abend in der Woche und jeden zweiten Sonntag von vier Uhr an schien ihr die Sonne auf den Weg — ob das Wetter so war oder anders. Menschen, denen sie niemals den geringsten Gefallen getan hatte, alte Männer und ganz junge Schlakse, sprachen sie auf der Straße an und nannten sie Fräulein, wie sie da ging und stand in ihren schlechten Kleidern. Der Kolonialwarengehilfe mit den vielen Pickeln stand in der Ladentür, wenn sie abends ausging, und sagte Dinge, dass es in ihr kribbelte vor Lachlust; feine Herren mit Angströhren auf dem Kopf traten auf der Straße an sie heran und baten, sie begleiten zu dürfen — und das gerade an dunklen Orten, wo sie sich ein wenig fürchtete, allein zu gehen.
So gut waren die Männer. Selbst ihr Dienstherr zu Hause erwies ihr ein bisschen Freundlichkeit, wenn die Gnädige nicht dabei war.
War es der Sonnenschein der Freude einen Abend in der Woche und jeden zweiten Sonntag, der so befruchtend wirkte, oder der tägliche Regen — oder etwa beides gemeinsam? Wie dem auch sei, Boline blühte auf und wurde rundlich.
Die Waschfrau riet ihr, grüne Seife zu essen und Petroleum zu trinken; die Herrschaften sahen es eine Weile an und kündigten ihr dann. Sie hatten nicht das Herz, einen Menschen in diesem Zu stand sich abrackern zu lassen.
Nun suchte sie Stellung und suchte und suchte; überall musterte man sie aufmerksam und schüttelte den Kopf. Herrgott, selbst ein reines Kind und schon auf dem Wege — sie war ja nicht einmal richtig entwickelt! Eine alte Dame holte sie in die Wohnung, und Boline musste erzählen, wie sie zu dem Unglück gekommen war. ,Hier werde ich sicher bleiben können', dachte sie; aber als sie die Neugier der alten Dame befriedigt hatte, durfte sie wieder gehen.
Die Waschfrau war die einzige, die es gut mit ihr meinte. Eigentlich hatte sie selber das Haus voll, denn ihre ganze Wohnung bestand aus einem einzigen Zimmer, und die einzige Schlafgelegenheit, über die sie verfügte, war ein einschläfriges Bett -und dazu hatte sie noch abvermietet, um die Miete bezahlen zu können! Trotzdem rückte sie das Bett des Logisherrn ein wenig von der Wand ab, so dass zur Not zwei darin liegen konnten, wenn man die Betten ein bisschen breit auflegte und sich selber dünn machte. Boline kriegte die Matratze auf dem Fußboden, wo sonst die Frau selber zu liegen pflegte, und das ging! Jeden Abend ging sie hinter Madame Rasmussens dünnem französischem Schal, der als Wandschirm über zwei Stühle hing, zu Bett, und Hansen musste sich verpflichten, im Schlaf nicht auf den Fußboden zu spucken, weil die Stube so klein war.
Aber dadurch bekam sie noch keine Stellung. Und Hansen wurde allmählich knotig, obwohl er doch nur für sich selber bezahlte; und Madame Rasmussen war auch wie gerädert von der Wand und der Bettkante, wenn sie morgens aufstand. Da machte sie kurzen Prozess und opferte einen Arbeitstag, um Boline in einer Familie unterzubringen, wo die Frau in ihrer Jugend selber allerlei ausprobiert hatte und deshalb ein weites Herz besaß — obwohl sie weiß Gott mit sich selbst genug zu tun hatte! Die Verhältnisse hier glichen auf ein Haar denen in Bolines eigenem Pflegeheim, und sie erlebte ihre ganze Kindheit aufs neue — ohne doch deswegen gefühlvoll zu werden.
Hier war Boline ein paar Monate und tat alle Reinemachearbeit, die die gute Frau ergattern konnte. Dafür hatte sie die Kost und die Erlaubnis, jede Nacht die beiden Pflegekinder bei sich zu haben.
Und in einer beschwerlichen Nacht leistete sie selber ihre erste Abschlagszahlung ans Leben, in Gestalt eines blutarmen kleinen Wurms von elenden vier Pfund Gewicht.
Als sie den Vater angeben sollte, stellte es sich heraus, dass sie es nicht konnte. Die gute Frau, die doch selbst allerhand mitgemacht hatte, war nahe daran, aus der Haut zu fahren — ein solch
großes Schaf war ihr wahrhaftig noch nie begegnet. Aber natürlich das musste die Göre ja selber am besten wissen!
Acht Kronen monatlich von zwölf im Monat gibt, wie man es auch drehen und wenden mag, nur vier als Rest. Aber Boline war es schlank und leicht zumute; sie überließ das Kind der liebevollen Pflege und nahm selber wieder eine Stellung an. Wie eine Festbeleuchtung kehrte sie ins Leben zurück, strahlend und erleichtert und reicher bei all ihrer Armut, herzlich froh über ihr blutarmes kleines Kind und die vier Kronen. Und die drehte und wendete sie, dass sie nicht allein ihre eigenen Bedürfnisse deckten, sondern auch zu Staat für das Kind reichten — und für kleine Geschenke an die Pflegeeltern, damit sie es gut behandelten.
Und das Leben wiederholte sich aus untrüglich sicherem Gedächtnis.
Die täglichen Widerwärtigkeiten stellten sich ebenso ein wie die vereinzelten kleinen Lichtblicke, und gut ein Jahr nach der ersten Begebenheit erschien Boline von neuem bei der Familie und erlegte — pünktlich wie ein Kleinhändler — ihre zweite Rate, von gleichem Gewicht und Geschlecht wie die vorige. Sie stellte sich ein mit strahlendem Lächeln, das vor Stolz auf die Leistung leuchtete, denn diesmal hatte sie sich den Vater gemerkt — ein junger Ladengehilfe. Das klang gar nicht übel, selbst die gute Frau musste zugeben, dass das etwas sei, womit man sich überall sehen lassen könnte. Als es aber ernst wurde, war er nirgends aufzufinden.
Eine Art Fortschritt war es immerhin, und da die Frau nun einmal Boline unter ihre Fittiche genommen hatte, erbot sie sich, mit den vier Kronen bar vorliebzunehmen — der Rest sollte als Naturalsteuer entrichtet werden, die den künftigen Herrschaften aufzuerlegen wäre. Überdies, in Anbetracht ihrer reicheren Erfahrung, müsste Boline nunmehr vierzehn Kronen im Monat fordern können, und die dann noch übrig bleibenden zwei Kronen sollte sie für sich behalten.
Boline kam auch mit den zwei Kronen zu Rande, das heißt,
sie versorgte die Kinder mit Kleidung dafür; für sie selbst blieb nichts. Ihre Kleider waren dünn, und sie fror mehr als je — besonders, wenn sie geweint hatte. Aber deswegen erbitterte sie sich noch lange nicht, gegen nichts und niemand; es wäre ihr niemals eingefallen, vom Leben mehr zu fordern, als es nun einmal zu bieten hatte.
Hingegen war sie grenzenlos stolz auf ihre zwei bläulichen Kinderchen, die die unglaublichsten Fortschritte machten — namentlich in der Beziehung, dass sie alles zu vertragen vermochten. Und stolz war sie auf die Pflege, die sie ihnen verschafft hatte; kostspieliger sind Kinder wohl niemals aufgezogen worden: sie kosteten sie alles, was sie heranschaffen konnte! Ihr großer Kummer war, dass weder für Kinderstaat noch für kleine Geschenke an die Pflegeeltern etwas übrig blieb. So gut das Pflegeheim auch war, so war es doch nur natürlich, dass die Kinder darunter zu leiden hatten: es wurde weniger von ihnen hergemacht, wenn sie zu Besuch kam.
In Erfüllung des Kontrakts tat sie nun kleine Griffe in Kaffee- und Zuckerdose; ein Ei ging mit weg, ein halbes Weißbrot, ein Ende Fleisch. Das meiste sparte sie ein, indem sie selber hungerte, und deshalb vermochte die gnädige Frau, die mit Genugtuung festgestellt hatte, wie wenig sie aß, nicht zu begreifen, dass trotzdem der Verbrauch nicht kleiner war. Und eines Tages kam sie dahinter, dass das Mädchen stahl.
Es schauderte Boline, als das Wort gesagt wurde. Mehr als tausend Jahre lang hat das Bürgertum die Aussprache dieses Wörtchens immer wieder geübt; die unschuldigste kleine gnädige Frau kann es heute so aussprechen, dass es einem durch Mark und Bein geht.
Boline besaß nicht die unerschrockene Fähigkeit ihrer Schicht, auf einen groben Klotz einen groben Keil zu setzen; auf dem Grunde ihrer Seele ruhte nicht das aufrührerische Gefühl, Unrecht zu erleiden, wie andere es aufnahmen und sich daran zu blindem Mut entfachten. Sic hatte nichts, worauf ich ein bisschen Selbstbehauptung stützen konnte - ihr Blut war zu verwässert.
Sie zuckte bloß zusammen und wurde feucht vor Angst - wie immer, wenn ihr jemand zu nahe kam; sie hatte keine Kraft in den Muskeln. Nun, ihre Verzagtheit war so entwaffnend, dass sie vor den schlimmsten Folgen bewahrt blieb; man begnügte sich damit, ihr zu kündigen. Und daran war sie ja gewöhnt.
In den folgenden Stellungen erging es ihr nicht schlimmer, und dann kam sie in einem großen Herrschaftshaus vier Treppen hoch zu einem Buchhalter, der gleichzeitig der Verwalter des Grundstücks war.
Sie bekam sechzehn Kronen im Monat, dafür aber war es mit der Steuererhebung vorbei. Sie war in eine jener Kopenhagener Haushaltungen geraten, die wohl Badezimmer und Wasserklosett, aber keine Speisekammer haben. Kinder waren nicht da und im Herd brannte niemals Feuer. Das Frühstück - eine Portion - wurde aus einem Restaurant gebracht; was das Ehepaar übrigließ, wurde dem Mädchen hinausgestellt. Die Mittagsmahlzeit nahmen sie - unter Freunden - in dem oder jenem Vergnügungslokal ein; ehe die gnädige Frau fortging, stellte sie Boline einen geräucherten Hering und zwei Scheiben Butterbrot hin. Jeden Tag war es geräucherter Hering und Butterbrot, und jeden Tag stand es an derselben Stelle - hinten auf dem Küchentisch, in der Ecke beim Abflussrohr - auf einer blaugeblümten Untertasse. Dieses ewig gleiche Gericht ließ jährlich zwölf Dienstmädchen aus der Haut fahren.
Boline fuhr nicht aus der Haut. Sie hätte den Hering und die beiden Scheiben Brot recht gern selber essen mögen, da es aber nichts anderes zu brandschatzen gab. packte sie es in ein Stück Papier und trug es den Pflegeeltern hin, ohne über die Sache sehr viel nachzudenken. Und ah die entrüstet fragten, ob sie sie für Armenhäusler hielte, und sie baten, mitsamt ihren Essensresten zu verschwinden, zog sie verwundert ab. An der Haustür unten setzte sie sich hin und aß Brot und Hering selber, und danach erst weinte sie ein bisschen. Das war ihre Art, eine Reihe von Begebenheiten zusammenzufassen. Hier war also nichts zu machen, und unverdrossen, wie sie im
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Grunde war, steuerte sie auf einen anderen Punkt los. An allen Küchentüren das ganze Haus hinunter war sie die Demütige; und die Mädchen, die wussten, dass sie in einem Haushalt ohne Speisekammer diente, steckten ihr allerlei zu. Alles ging zu den Pflegeeltern und stimmte sie sanfter, und Boline selber stand auch wieder im Licht; sie brauchte nicht viel zu essen.
Gebranntes Kind scheut das Feuer, sagt das Sprichwort, aber das gilt nicht von jenen, die die Kälte gebrannt hat. Boline wäre mit Vergnügen nackten Fußes mitten in die glühende Sonne hineingetanzt, so verfroren war sie. Sie verbrannte sich durchaus nicht an den vagabundierenden Strahlen, die sie dann und wann trafen — sie suchte nur zum dritten Mal die gute Familie auf.
Es bedeutete weiter nichts als noch vier Kronen zu den zwölf bisherigen — und sechzehn verdiente sie doch! Überdies stand ihr ihre alte Stellung offen, weil kein anderer dort auszuhalten vermochte; das gab immerhin Rückhalt. Und wenn sie nachts den Koks aus der Asche klaubte, die die Herrschaftsmädchen wegwarfen, und ihn dem Holzhändler verkaufte, brachte das auch einige Kronen im Monat. Die Naturalsteuer war gleichfalls heraufgesetzt worden, aber Boline suchte nun die Küchen aller Aufgänge nach Essensresten heim; dafür half sie hier und da, wenn sie mit ihrer eigenen Arbeit fertig war. Die Pflegeeltern verloren nichts von ihrem Gewicht.
Mit der Kleiderbeschaffung für die drei kleinen Weltwunder haperte es ein bisschen. Kaufen konnte sie nichts; deshalb begann sie bei sich selber und nähte Stück für Stück ihrer ärmlichen Garderobe um, bis sie alles, was sie besaß, auf dem Leibe trug und trotzdem allen anderen außer sich selbst als unbekleidet vorkam.
Durch das dünne Zeug erreichten sie die Sonnenstrahlen um so leichter. Sorglos und unbekümmert, vertrauensselig und unerfahren wie am ersten Tag flatterte sie hier und dort umher und nahm die Freundlichkeit der Männer in sich auf. Sie waren alle gut, alle zärtlich; sie vermochte keinen Unterschied festzustellen
- überhaupt keinen. Aber nachts, wenn sie sich den Schlaf abknappte, aus zusammengesuchten Lumpen etwas nähte, was ein Kinderkleid vorstellen sollte, dachte sie zuweilen an die gnädigen Frauen und wie streng sie waren. Oder sie weinte nur.
Die Fee, die an Bolines Wiege gestanden, hatte ihr die Leere geschenkt, dass sie ihren Lobgesang aufs Leben daraus schöpfe; und insofern war Boline wie Gott, als sie sich ihre Welt aus nichts erschuf und sie dennoch für sehr gut befand. Nur deshalb berührte sie nie den Grund! Ihr Leben war ein tagtägliches Zaubermärchen, worin ein Lappen Kattun von Handflächengröße, den andere in den Müllkasten warfen, sich zu dem prächtigsten Kinderkleidchen auswuchs.
Eines Tages wurde Boline festgenommen. Auf der großen Abendgesellschaft der Herrschaft ein Stock tiefer war ein silberner Löffel fortgekommen, und Boline hatte doch den beiden Mädchen den Aufwasch besorgt — dafür, dass sie von den Resten des Festmahls etwas abbekäme. Wer anders sollte es denn gewesen sein? Alle wussten doch, wie schlecht es ihr ging.
Der silberne Löffel kam von selber wieder zum Vorschein, die Festnahme erwies sich als ein Irrtum — aber als einer jener glücklichen, denen man getrost einen Haftbefehl nachfolgen lassen kann. Bei der Durchsuchung von Bolines Habseligkeiten wurden ein Haufen gestohlene Sachen entdeckt. Vier Frauen aus dem Hause wurden aufs Gericht geladen, damit sie ihr Eigentum identifizierten.
Auf einem Tisch lag das ganze Diebesgut. Da waren winzige Lappen Kattun, Keile und Streifen Baumwollstoff, Bandreste und löchriges altes Leinen. Der Untersuchungsrichter warf zärtliche Blicke auf den Haufen; die Sachen hatten durchaus keinen Wert, aber gerade in ihrer Wertlosigkeit drückte sich die höhere Gerechtigkeit aus, die nicht kleinlich nach dem Wem oder Wie viel fragt, sondern eifersüchtig über die Prinzipien wacht. Hier endlich galt kein Ansehen der Person; Boline hätte keine sorgfältigere Behandlung ihrer Angelegenheiten erwarten können, wenn sie der König aller Spitzbuben selber gewesen wäre.
Der Haufen da war durchaus nicht alles! Ihre liederliche Vergangenheit lag ebenso offen wie ihre Diebslaufbahn! Jedes Ei, jede Kaffeebohne, jedes Stück Zucker war von der Herrschaftsspeisekammer bis zu den Dunggruben auf Amager in allen Stadien der Verwandlung eingehend verfolgt worden. Alles dies waren längst überholte Zeiten, da Bolines jetzige Herrschaft keine Speisekammer unterhielt — es war sozusagen Geschichte geworden. Es ging bloß darum: festzustellen, dass sie ihren Charakter in keiner Weise geändert hatte, sondern nur durch den Zwang rein äußerer Verhältnisse zu einem anderen Tätigkeitszweig übergewechselt war.
„Erkennen Sie dieses hier?" fragte der Untersuchungsrichter in leicht konvesierendem Ton und reichte Bolines Herrschaft irgend etwas hin.
Es war eine löcherige Damastserviette, die in Bolines Welt als Windel wieder zu Ansehen und Ehren gelangt war. Die Frau kannte sie sehr gut, sie war just in dem Augenblick verschwunden gewesen, als sie ausrangiert werden sollte. Sie wollte gerade damit heraus, aber da schlug ihr aus dem reingewaschenen Lumpen ein eigentümlich säuerlicher Kleinkindergeruch entgegen und setzte sie in Verwirrung: denn hier stand ein Mädchen, an dem sie Monate hindurch mehrmals des Tages vorübergegangen war und dem sie Anweisungen gegeben hatte so kalt und gleichgültig wie einer Maschine. Und da war es mit einem mal ein armselig gedrückter Mensch, der sich draußen in der Finsternis mit einer Welt des Elends abzuplagen hatte. Ein Wesen wie sie selbst, mit verbotenen kleinen Freuden — und mit Muttersorgen, besonders Muttersorgen!
„Das Monogramm ist meines", sagte sie leise und gab die Serviette zurück, „aber ich hatte sie gerade als ausrangiert weggeworfen."
Der Untersuchungsrichter lächelte anerkennend zu so viel — allerdings schlecht angebrachter — Humanität.
„Und dies hier?" sagte er und zog aus dem Bündel ein Kinderkleidchen hervor, ursprünglich aus feinem Stoff, jetzt aber dünn vom vielen Waschen und mit vielen verschiedenen Lappen geflickt. „Kennen gnädige Frau das?"
Das gab der Frau einen Stoß, der Zorn wallte in ihr auf. Dies war Klaras Taufkleid; viele Jahre hatte sie es aufbewahrt, zur Erinnerung an ihr einziges Kind, das ihr der Tod genommen hatte. Sie war nicht gesonnen, weiterhin gut zu sein und Boline zu schonen, denn hier war ihr Mutterherz mit Füßen getreten.
„Ja", sagte sie und richtete sich entrüstet auf, hielt aber mit einem Blick auf Boline inne.
Boline stand mit ausgestreckten zitternden Händen da, ihr gejagter Blick sah nichts anderes mehr. Er hing beschützend an diesem Kinderkleidchen, das man ihr nehmen wollte, folgte jeder Bewegung, die es in den Händen der anderen nahm.
„Das ist Ediths Kleidchen", wimmerte sie, „es ist doch Ediths Sonntagskleid."
Es war ein entsetzlicher Anblick für den, der es begriff, und schmerzerfüllt opferte die Frau ihr eigenes totes Kind Bolines lebender kleinen Edith. „Ja", sagte sie mit belegter Stimme, „ich habe es ihr ja selber geschenkt. Und das meiste andere übrigens auch."
Der Untersuchungsrichter sah ärgerlich drein. Boline aber brach in Tränen aus. Ganz steif stand sie da und ließ ihren Tränen freien Lauf, und sie flossen ungehindert über ihre schlaffen Wangen und die eingefallene Brust und fielen in ihren allzu fruchtbaren Schoß.
Der Richter folgte ihrem Weg, und sein Blick blieb haften.
Einen Augenblick fühlte er sich schwach vor diesem unfasslichen Heroismus; er hatte die schwindelerregende Empfindung, ins Grenzenlose hinauszustarren. Dann aber siegte die Gerechtigkeit, er wandte sich an den Protokollführer und sagte:
„Fügen Sie der Bemerkung über die drei Kinder hinzu, dass sich die Angeklagte abermals in gesegneten Umständen befindet!"
Boline wurde trotz der Bemühungen ihrer gnädigen Frau nicht freigesprochen — und das war ein Glück Gottes. Es ging ihr wie immer den Aschenbrödeln im Märchen; sie musste erst ganz tief auf den Grund hinab, ehe ihr Königssohn kam und sie aus aller Drangsal erlöste.
Sie war eben aus der Haft entlassen worden und wollte in eine Nebenstraße Nörrebros, um nach den Kindern zu sehen. Die Strafe hatte sie nicht mehr zerrüttet, als sie es schon gewesen war, sondern bloß ihre Welt in Richtung auf das Unbegreifliche hin erweitert. Wegen ihres einzigen bewussten Wertes — wegen ihrer Liebe zu den Kindern — hatte man sie gestraft!
Sie liebte sie aber gleich innig und trug auch keinem anderen etwas nach. Sie beeilte sich nur, getrieben von einem dumpfen Schauder, was wohl in den Monaten ihrer Haft aus den Kleinen geworden wäre.
Drinnen im Gässchen stand wie gewöhnlich Idioten-Karl, die Stirn an die Mauer gedrückt und umgeben von einem Schwarm johlender Kinder. Die Pflegeeltern aber waren fort; wohin sie gezogen waren, war keinem bekannt. Immerhin wussten die Nachbarn zu erzählen, dass eines von Bolines Kindern vor dem Umzug gestorben war — das übrige wusste der liebe Gott.
„Geh zur Polizei", sagten sie.
Aber Boline wollte nicht auf die Polizei und sich noch einmal bestrafen lassen, weil sie ihre Kinder liebte. Und weitergehende Nachforschungen anzustellen fiel ihr nicht ein. Sie wusste zu genau, was aus Pflegekindern wird, wenn die Unterstützung aufhört.
Schweren und toten Herzens, elender als es sich sagen lässt, schleppte sie sich durch den Fadledpark wieder zum Blegdam hinunter. Sie hatte keinen Ort, wo sie hingehörte, und wankte aufs Geratewohl weiter. Verwöhnt würde sie niemand genannt haben, aber jetzt begriff sie nicht einmal mehr, wozu sie das Leben weiterleben sollte.
Und da geschah es, dass das Schicksalsrad sich drehte und sie ihrem Königssohn begegnete: Peter Frandsen, auch Öf-Öf genannt.
Er ging herum und schüttelte sich und erwog die Möglichkeiten eines Logis unter freiem Himmel. Es lag Gewitter in der Luft, und Öf-Öf war melancholisch; er hatte einen seiner Anfälle, wo sich ihm die Obdachlosigkeit erdrückend aufs Herz legte und ihm dauernd etwas von einem Schoß der Familie vorschwebte.
„Es ist verdammt schwül heute Abend", sagte er im Vorbeigehen.
Und Boline sah ihn an und fand, dass er sehr anständig wäre, und sagte — ja, es sei sehr schwül. Und damit war eigentlich alles gesagt.
So ging es zu, dass Boline einen Mannsmenschen zu versorgen bekam und in einer Einzimmerwohnung auf Nörrebro Hausfrau wurde. Sie war doch nicht ganz im Schlaf durchs Leben gegangen und wollte sich gern nützlich machen; und so warf sie sich auf das einzige, was sie verstand — Pflegekinder!
Aber hier ist die Geschichte aus, und eine neue beginnt — die Geschichte vom Glück, das wie ein Vogel Phönix aus der alten Asche steigt.
Boline hatte ziemlich gut erkannt, dass die Welt aus nichts weiter als aus verkommenen Pflegekindern und feisten Pflegeeltern besteht, und da brauchte es wohl keine Überlegung; Öf-Öfs Faulheit half ihr über die Schwelle. Heute ist sie eine solide Frau, die selber alles mögliche durchgemacht hat — sie kennt alle Mittel, die Aufsichtsbehörde zu täuschen. Die armseligen kleinen Kinder der Liebe werden in ihrer Obhut ebenso gut wie in jeder anderen zu Engeln verklärt, die jeden Augenblick bereit sind, sich in den Weltenraum zu schwingen, sobald die einmalige Abfindung erlegt ist. Ihre beginnende Fülle verrät, dass sie das eigentliche Geheimnis begriffen hat: das Leben zu leben und die Waagschale nach bestem Vermögen zu beschweren.
1907

 

EIN SCHULDSPRUCH

„Groß-Kopenhagen — ja ja, grinsen Sie nur! Aber hier in der Stadt können eine ganze Menge Flöhe auf einmal husten, ohne dass sie einander ins Gehege kommen. Und trotzdem ging es schief mit Kristian Gren — er platzte mit anderen Worten.
Lange her? Es war damals, als der Herrgott ein kleiner Junge war — vielleicht auch das Jahr danach; ich bin mit dem Kalender nicht so genau. Und wenn Sie es nicht glauben wollen, können Sie ja einfach Schwindel sagen. Bitte sehr — spucken Sie dreist aus!
Im übrigen möchte ich nichts weiter sagen, als dass es bloß traurig ist. Denn wenn einer drauf und dran war, sich Millionen beizubiegen, dann ist es kein Vergnügen, sagen zu müssen: ,Bitte, Kresjan, halt mich solange an den Beinen fest, wenn ich mein Hemd im Hafen spüle!' — Er wollte nur immer die Kleinen fressen, sehen Sie, und da wurde er ausnahmsweise einmal selber gefressen. Aber dort kommt er, da können Sie die Geschichte von ihm persönlich erfahren; ich werde mich der Süße des Wiedererkennens nicht in den Weg stellen."
Der schwammige kleine Stumpen dort, der mit den Beefsteakbacken, war also Kristian Gren, der vor bloß zehn Jahren aus Amerika nach Hause zurückkehrte, knisternd vor Energie, begabt und ungeheuer tüchtig, aber für hiesige Verhältnisse ein bisschen allzu grobfäustig. Ich hatte meine Gründe, ihn im Auge zu behalten, und erinnere mich deutlich, wie er mit den nackten Fäusten zupackte, dass die anderen ihre eigenen Angelegenheiten ganz vergaßen und Mund und Nase aufsperrten. Er kam mit neuer Weisheit aus den großen Weltgärtnereien hier an, stellte Gewerbe und Jahreszeiten auf den Kopf — und startete hierzulande das Wettrennen um die Erstlinge der Saison und die hohen preise. Er verstand die Kunst, die Manzen in Schlaf verfallen zu lassen und sie just dann zum Blühen aufzuwecken, wenn sie gebraucht wurden — gleichgültig, was der Kalender dazu sagte. Er war der unbestrittene Lieferant zu allen repräsentativen Festlichkeiten und leistete das Unmögliche — zu unmöglichen Preisen. Dank seiner konnte sich ein bekannter Diplomat den Luxus erlauben, mitten im strengsten Winter einen Blumenkorso zu veranstalten.
Nun, die anderen sahen ihm allmählich seine Kunst ab; tat er in diesem Jahr einen Schritt voran, machten sie ihn ihm im nächsten Jahre nach. Aber er besaß die Fähigkeit, sich zu erneuern; niemand wusste, was der nächste Schritt war. Alle mussten ein Auge auf ihn haben.
Als mit den Blumen nichts mehr zu machen war, kaufte er am Stadtrand Ländereien; mitten unter den Grundstücksspekulanten ließ er sich nieder und fing an, Gemüse anzubauen. Und sogleich saß er wie festgenagelt im Bewusstsein aller, die auf dem Gemüsemarkt Kopenhagens zu tun hatten. Polizisten, Handlanger, die tausend Grünkramhändler der Stadt und alle Gärtner der Umgebung dachten mehr an ihn als an sich selber; sie nannten seinen Namen häufiger als sie spuckten. Die Polizei in Frederiksberg kannte ihn auch; jeden zweiten Morgen wurde er wegen verkehrswidrigen Fahrens aufgeschrieben. Die Nacht hatte er dazu benutzt, das Gemüse zu „präparieren"; jetzt machte er zwischen den zwei Schlachten ein Nickerchen auf dem Bock, während der große gelbe Kastenwagen schlingernd die schlummernden Villenstraßen entlang jagte und in kurzen Bogen um die Ecken schwenkte.
Auf dem Markt wusste jeder selbst an den dunkelsten Morgen, ob Gren eingetroffen war und wo er heute seinen Standplatz hatte. Es wäre eine merkwürdige Trantute von Handelsmann gewesen, der nicht für einen Augenblick seinen eigenen Kram im Stiche gelassen hätte, um sich zu unterrichten, was Gren anzubieten hatte. Fünf Minuten nach Eröffnung des Marktes waren
Grens Überraschungen jedem bekannt, und jeder berechnete danach seine eigenen Aussichten. Im Verlauf von einer Stunde passierten sämtliche Gemüsehändler der Stadt an seinem Wagen vorbei und entführten ihm für teures Geld jeder seine Kostprobe von der Rarität der Jahreszeit.
„Du bist, ein Wucherer", sagten sie fluchend.
Aber Gren war nicht sentimental.
„Wenn ihr es woanders billiger kriegt, bitte sehr!" sagte er lächelnd.
Sie kauften murrend, aber kaufen mussten sie; jeder, selbst der geringste Grünwarenhändler im Keller der Nebenstraße, hat seine Geschäftsehre.
Eines Jahres zur Weihnachtszeit war er der einzige mit Rotkohl auf dem Markt — allen anderen war er missglückt. Mit seinem war auch nicht viel los, aber Rotkohl war es jedenfalls. Bitte sehr, vier Kronen die Stiege — für Köpfe nicht größer als die Faust! Die Gemüsehökerinnen aus den Armeleutegassen, die ihren ganzen Tagesumsatz in einem Handkorb nach Hause holen, taten sich zu drei oder vier die Stiege zusammen — damit ihnen nur keiner nachsage, sie führten nicht die Ware des Tages. In weniger als einer Stunde hatte Gren tausendmal zweiundzwanzig Stück verkauft. Die kleinen Händler hatten keinen Verdienst an dieser Ware; die meisten scheuten sich, zwanzig Öre für den Kopf zu fordern, und verkauften mit Verlust. Aber sie merkten sich das; als Sommer war, musste er alle anderen unterbieten, um überhaupt was loszuwerden.
„Na, Gren", sagten die neben ihm spöttisch, „du wartest wohl, bis wir alle ausverkauft haben, und gehst dann mit dem Preis in die Höhe?"
Gren lachte nur.
„Meine Zeit kommt früh genug", antwortete er ruhig.
Sie kam den Winter darauf. Das letzte Mal - als er der einzige mit Rotkohl gewesen war — hatte der ganze Markt in Porree geschwommen; er lag überall herum - auf dem Pflaster, in den Abfallkästen, in dem Raum unter den Gemüseständen, wo er verfaulte. Niemand wollte Porree noch sehen, er kostete fast nichts. Es brachte nichts ein, die Porrees aus der Erde zu nehmen und zu bündeln; man ließ sie in der Erde verfaulen, dann waren sie doch wenigstens als Dünger gut. Durch Schaden klug geworden, hielt man sich im Frühjahr jedem Gedanken an Porree fern; nur Kristian Gren zog keine Lehre daraus, sondern bepflanzte eine ganze Tonne Land mit Porree. Den nächsten Winter war er der einzige mit Porree auf dem Markt, hunderttausend Stangen Porree, und bestimmte selber den Preis — zwei Kronen die Stiege, bitte sehr! Und obendrein setzte er die Stiege von den gewohnten zweiundzwanzig auf zwanzig Stück herab.
Die Grünkramhändler gingen hoch und rannten weg, als sie den Preis hörten — nun wurde er ihnen doch zu amerikanisch. Aber sie kamen wieder, in großem Bogen, schielten nach den Porreestangen, befühlten sie und gingen fluchend ihres Wegs, drehten dann aber mit einem Ruck um und schalten ihm den Buckel voll — Gauner, Bluthund! Vor lauter Hohn sagten sie Sie zu ihm. Gren lächelte und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Wie viel Stiegen soll ich für dich auf die Seite legen?" fragte er. Da wurden sie ganz und gar rabiat und drohten ihm mit Prügel. Sie standen drüben auf dem Bürgersteig in Gruppen herum und schimpften auf ihn. Aber Gren ließ sie toben, wie sie wollten; er wusste ungefähr, was jeder von ihnen brauchte, und war gutmütig genug, es ihnen zurückzulegen. Und als sie dann, damit es niemand sähe, um den Wagen herum angeschlichen kamen, ihre Bestellung aufzugeben, zeigte er bloß auf den Haufen. Er hielt diese Menschen in seiner nimmer satten Hand und war nicht böse, wenn sie ein bisschen mäkelten.
In vierzehn Tagen nahm Gren zehntausend Kronen für die Porrees ein. Es war dasselbe wie mit dem Rotkohl: die kleinen Händler scheuten sich, zehn Öre für die Stange zu nehmen, und setzten lieber Geld zu, als dass sie einen Preis verlangten, der ihnen als Beutelschneiderei vorkam — selbst wenn sie das beste Gewissen dabei hatten. Aber von da an erklärten sie Kristian Gren offen den Krieg.
Gren lachte darüber und kaufte außerhalb Valbys zehn Tonnen Land zu zehntausend Kronen die Tonne. Das war ein gutes Geschäft; wenige Tage später wurden ihm fünfzehntausend für die Tonne geboten, aber er verkaufte nicht. „Es dürfte hier bald eine Straße gebaut werden", sagte er, „ich behalte es." Und dann bepflanzte er das ganze Land mit Erdbeeren.
Gren berechnete alles auf amerikanisch und gab stets von seiner Weisheit ab. Er war es, der den Gärtnern als erster begreiflich machte, dass sie die Hälfte unterpflügen müssten, wenn an einer Ware Überfluss war, damit sie für das übrige den Preis hochhielten. „Wir haben dann gleich hohen Verdienst bei halber Arbeit", sagte er. Die größeren Händler nahmen keinen Anstoß daran, höherer Preis gibt höheren Aufschlag. Aber alle die tausend Kleinhändler, die in Geschäften nicht ausgebildet sind und es sich nicht abgewöhnen können, für den kleinen Mann zu denken und zu fühlen, die empörten sich über diese neue Methode.
Ihr Hass war nun so stark, dass sie auf alles verzichteten und um seinen Wagen einen großen Bogen machten; selbst wenn er weit billiger verkaufte als andere, gingen sie nicht zu ihm hin. Eine Zeitlang lachte er darüber. „Meine Zeit kommt wieder", sagte er und versuchte mehrere Male einen Hauptschlag. Ein jeder erinnert sich zum Beispiel des Jahres, als die Stadt zum ersten Mal bereits im Februar mit einheimischen Radieschen beliefert wurde— das war eine von Grens Leistungen. Es half aber nichts — er war von den vielen gezeichnet: mit dem schweren Fluch, der darin besteht, dass gerade die Ärmsten des Lebens ihre Sachen zusammenpacken und gehen!
Die Flucht griff weiter um sich, ohne Lärm, aber unaufhaltsam wie eine Panik. Die Marktmänner wollten ihm nicht zur Hand gehen; wenn er sie rief, hörten sie nicht; sagte er sein herausforderndes Ihr könnt runtergehen und auf meine Rechnung einen Kaffeepunsch trinken!", dann schlichen sie davon wie nach einem Fußtritt. Leute, mit denen er in guter Geschäftsverbindung stand, kamen plötzlich an und verlangten Abrechnung -angesteckt von dem Unbestimmbaren, das wie eine Anklage über ihm hing, als nichts oder alles Mögliche. Und eines Tages geschah es dass eine Forderung an ihn über den ganzen Markt von Mann zu Mann ausgeboten wurde - für einen lächerlich geringen Teil ihres Wertes. Gren steckte nicht so tief in Schulden, als dass er ihnen nicht sehr wohl den ganzen Betrag gleich hätte in die Fresse hauen können; aber er wusste nichts von diesem Vorgang.
Jetzt passierte es mehr als einmal, dass er zu seinem eigenen Trick Zuflucht nehmen und eine Ware unterpflügen musste; und eines Tages blieb er ganz weg vom Markt. „Niemand will mir noch was abkaufen", sagte er missmutig. Er setzte seine schwer erworbenen Pfennige zu und musste schließlich für das erstbeste Gebot seinen Landbesitz fahrenlassen - und das gerade in dem Augenblick, als die Stadt ihre großen Pläne mit der Gegend da draußen bekannt gab. Nur ein halbes Jahr länger, und er hätte, wie gesagt, die Million in der Tasche gehabt.
Als es ihm klar wurde, wie nahe er dem Glück gewesen war, war es mit seiner Widerstandskraft vorbei. Er trat aus seiner Einsamkeit heraus, wo er auf eine weitere Chance gelauert hatte, und tauchte von neuem auf dem Gemüsemarkt auf — schon früh um sechs angedudelt, ohne des Nachts aus den Kleidern gewesen zu sein, jedem ersten besten zu Diensten, der einen Kaffeepunsch zu spendieren geneigt war. Damit die Pünsche schneller kämen, wurde er dienstwillig, und nach und nach glitt er in alle die kleinen Obliegenheiten eines regulären Märktemannes hinein: trug die Waren aus, versorgte die Pferde, holte belegte Brote für solche, die ihren Wagen nicht verlassen konnten.
Gehen Sie selbst hin und sehen Sie sich ihn an, am besten aber an einem Wintermorgen gegen sechs, wenn die Stadt noch schläft und Kälte und Dunkelheit einem das Leben verekeln. Von allen Seiten rollen die Wagen herein, und der Markt liegt da und arbeitet würgend wie eine gewaltige Speisepumpe - es ist wohl wert, das anzusehen.
Gren selbst trifft man in einer der Kellerkneipen, die auf der Nordseite des Marktes liegen und vor neun Uhr vormittags am stärksten besucht sind. Da hockt er, bis die Geschichte in Schwung
kommt; dann ist er dabei. Der ganze Markt gehört immer noch ihm; er ist überall und nimmt sich der Dinge an, als wären sie seine eigenen. Von seiner alten smartness hat er noch einige Reste übrig behalten, die anderen Marktläufer mögen ihn nicht. Wenn die Handelsleute unten sind, um sich eine Herzstärkung zu genehmigen, achtet er unaufgefordert auf die Wagen; er hat kein Vertrauen zu den Burschen, die solange den Verkauf übernommen haben, und greift oftmals ein. Hinterher verschwindet er in den Keller und erstattet Bericht.
„Es ist gut, Gren", sagen sie geistesabwesend und drücken ihm ein Fünfzigörestück in die Hand.
Er kennt alle Konjunkturschwingungen des Markts, und mitunter schließt er Geschäfte über Hunderte von Kronen ab, während der Mann selber unten im Keller sitzt und sich um nichts kümmert. Gren kriegt fünfzig Öre für seine Bemühung und ist himmelhoch begeistert — er hat es gründlich gelernt, sich dem Gemeinnützigen einzuordnen.
Höher als bis zu fünfzig Öre reichen seine Ansprüche nicht; dann steigt er in den Keller hinunter und sitzt da und träumt über sehr großen Schnäpsen und einem verschwindend kleinen Glas Bier. Dann ist mit ihm überhaupt nichts anzustellen. Er träumt sich als den alten Gren, kein Teufel bringt ihn dazu, Hand anzulegen, solange er einen Öre in der Tasche hat. Und wie er so sitzt, schlägt er mit dem Arm aus und sagt mit der Großschnauzigkeit vergangener Tage: „Bestell dir einen Punsch auf meine Rechnung, alter Junge!" Dann fällt es ihm ein, dass er selber Marktbändiger ist — und schlurft auf seinen flachgetretenen Pantinen an die Theke.
Gehen Sie hin und sehen Sie sich ihn an! So wie er ist, ist er ein Produkt der Rechtschaffenheit in „Groß-Kopenhagen", wo trotzdem alle einer den anderen kennen. Er gleicht allen aus der Tiefe: quabblig, bläulich, hündisch. Sein Äußeres verrät keinerlei Spur früherer Größe, aber jeder auf dem Markt kann Ihnen die Unterlagen zu dem Schuldspruch liefern: Ehre und Gut verwirkt!
1907

 

DAS GLÜCK VOM MÜLLABLADEPLATZ
Ein Märchen für Rotznasen

Es ist eine alte Geschichte, die von dem Glück, das dem Armen so gern die Hand gereicht hätte, ihn aber nicht finden konnte. Da fiel es ihm denn ein, einen Umweg über den Müllabladeplatz zu machen, und wer nun hübsch still sitzt, während ich erzähle, darf nachher in den Hof hinunter und riechen, was in der Kellerküche des Restaurants gebraten wird. Die kleinen Mägen müssen doch auch zu dem Ihren kommen!
Weit draußen in der großen Stadt — noch weiter draußen als wir hier — liegt eine enge Straße, die wie eine Spalte in der schwarzen Erde ist. Stets ist sie feucht und glitschig, soviel die Sonne auch anderswo scheinen mag. Wenn man vom hellen flachen Land hereinkommt, steht sie plötzlich mit zwei gewaltigen Giebeln da, dass es einem kalt über den Rücken läuft; es ist, als beträte man den Eingang zur Unterwelt. Mit jedem Schritt, den man geht, wird sie dunkler und feuchter, und weit unten mündet sie in einen großen Friedhof. Von jedem Fenster der Straße aus hat man den Friedhof vor Augen; er liegt da und versperrt einem die Aussicht und scheint eine ganz neue Welt, wo es sich die Menschen endlich so eingerichtet haben, dass sie alle gleichviel haben; aber angenehm ist er trotzdem nicht. Deshalb ist es ein größeres Vergnügen, den Kopf nach der anderen Seite zu drehen. Dort leuchten die Luft und das Land wie ein Strich von Feuer, und man könnte sich sehr wohl einbilden, der Spalt da draußen sei die enge Pforte zur himmlischen Herrlichkeit. Es ist aber nur das Leben, was dort beginnt! Unterhalb der beiden gewaltigen Giebel bricht die Straße jäh ab, so dass Bürgersteig und Rinnsteine frei in die Luft ragen; und springt man zwei Ellen tief hinunter, ist man auf dem offenen Lande.
Seht, das ist eine feine Sache! Da gehen Sonne und Wind jeden Tag spazieren, und die Erde streckt ihren nackten Hintern in die Luft — in Form eines gelben Lehmbuckels —, ohne sich auch nur mit einem Grashalm zuzudecken. Es gibt da nichts anderes als Lehm, und es ist kein Ende, was für Herrlichkeiten man daraus hervorbringen kann: Festungen und Parkanlagen — und richtige kleine Menschen, denen bloß fehlt, dass ihnen der liebe Gott ein bisschen in die Nase pustete!
Dahinter kommt dann das Grüne: große Büsche von schwankenden Nesseln und Schierling, Wermut zum Schnapsansetzen und Kamillentee, den man bei Erkältung trinkt. Hier wird wahrhaftig an nichts gespart! Blühende grüne Kränze wachsen um blaurote große Schlackenhaufen und Berge von Bauschutt, breiten sich üppig über die giftigsten Stellen und setzen die schädlichen Stoffe in bittere Arzneien um. Es gibt da eine Baugrube, die zur Hälfte voll Wasser ist; man kann auf Gerüstbrettern darauf herumsegeln und sich ganze Seeschlachten liefern. Und ein geheimnisvoller eingezäunter Platz ist da, der aufregend nach dem Pechpfuhl der Hölle riecht. Leider steht „Zutritt verboten" über der Einfahrt.
Als ob das alles gewesen wäre! Nein, um dies ganze wiederum dehnen sich die herrlichen großen Müllplätze, wo sich alles versammelt. Jeden Tag fahren Hunderte von mächtigen Wagen hierher, was nicht mehr zu gebrauchen ist — ohne Ansehen der Person. Vieles davon erkennen wir wieder und wissen, wem es gehört hat. Der Haufen Schmutz dort sind Sauf-Walde seine abgelegten Hosen; sie sind beinahe ebenso schön, wie sie immer gewesen sind, wir können richtig daran abzählen, wie oft ihn die Wachhunde an den Beinen hatten. Aber worin haben sie sich denn so verwickelt — ein gelblicher langer Darm? Das ist ein Schleier, Kinderchen — mit Pailletten dran; das hat wohl gefunkelt, bei einem Hoffest vielleicht. Jetzt ist er nicht einmal Sauf-Waldes alten Schäften zur Zier.
Nun, das soll uns egal sein — jedenfalls kann man hier alle Herrlichkeiten der Welt miterleben. Denn wenn der Inhalt verspeist ist, landen die Konservendosen hier; an den Bildern darauf kann man noch erkennen, was drin gewesen ist: die Bilder von den seltenen Früchten und Tieren sind wie eine Reise um die Welt bei Nacht. Hier fehlt gar nichts! Der Orden vom letzten Kotillon ragt aus dem Aschenhaufen hervor — hier und da sitzt noch ein wenig von der Vergoldung auf der Pappe —, und zuoberst auf einem Kehrichtberg liegt das zerbrochene Türschild irgendeines großen Mannes.
Bestimmt ist es euer eigener Spielplatz, und ihr dürft euch ruhig darüber freuen. Das Türschild des Staatsrats kann Mutter als Teller benutzen, wenn es umgedreht wird, die Sektflaschen aber will niemand kaufen. Gleich nach dem Paradies ist dies der großartigste Garten der Welt, und der liebe Gott geht selber darin herum und wühlt mit einem Haken in den Kehrichthaufen, um nachzusehen, ob mit dem Dreck nicht etwas Wertvolles herausgekommen ist. Dann schickt er es wieder zurück und lässt es diesmal von unten herauf Dienste tun — denn so ist er. Ihr lacht, ihr kleinen Schafsköpfe; ihr habt selber mit dem Haken gearbeitet und habt ihn nie gesehen? Aber Peter und seine Schwester haben in einer hochherrschaftlichen Wiege ohne Kufen gelegen, die ihr Vater da draußen gefunden hat — deshalb sind sie doch so wohlerzogen! Und woher hat denn die Mutter des kleinen Karl voriges Jahr die eiserne Bettstelle und die Matratze bekommen? — Ihr dürft die Sachen ruhig nach Hause schleppen, aber vorher hat der liebe Gott der Polizei einen kleinen Schubs gegeben und gesagt: „Seht, da sind so ein paar rotznäsige Gören. Lasst sie mir zuliebe behalten, was für Schiet sie finden!"
Auch Gold und Silber wandert nach dort hinaus. Aber darüber schweigen wir stille, damit nicht die Wohlhabenden hinauskommen und danach zu graben anfangen. Denn so sind sie, und deshalb werden die doch wohlhabend genannt. Da hat das Glück die Hand drauf: es liegt unten im Dreck und vermehrt sich zu unserem Troste. Und eines schönen Tages kommt es ans Licht — wie damals, als der Beifuss aus der Erde schoss und hatte einen goldenen Fingerring um seinen rostroten Kopf.
Und Geld — das gibt es massenhaft! Hätte man das Geld, das in Jahr und Tag mit dem Kehricht hierher herauswandert, wäre man bestimmt ein gemachter Mann. Aber Geld lässt sich so schwer von Dreck unterscheiden! —
Die ganze lange Straße gehörte bis vor ganz kurzem einem einzigen Menschen. Sie hatte die schlechtesten Wohnungen in der ganzen Stadt und warf die höchsten Mieteinnahmen ab. Deshalb zogen nur die allerärmsten hierher — jene, die sich das allerschlechteste einfach leisten müssen. Trotzdem waren alle Wohnungen stets besetzt. Die trostlosen Häuserreihen neigten sich über die enge Spalte wie zwei Vogelfelsen, wo merkwürdig zerzauste Wesen Loch an Loch in ihren Nestern brüteten, in sieben Reihen übereinander. Die Straße hatte ihre eigene Luft, die euch gut bekannt ist, und nachts wälzte sich in ihr die Finsternis dahin wie in einer Kloake. Aber es wohnten über tausend Kinder in der Straße, die sprengten das jämmerliche Dasein da unten und schoben die grauen Mauern beiseite. Es gab Zeiten, wo die Kluft ein summender Bienenkorb von lärmenden Kindern war, von Müttern, die trösteten, und Müttern, die schalten. Solange der Tag währte, war die Luft von den Freuden und Leiden der Kinder, von den Kümmernissen der Eltern brausend erfüllt.
Das war alles ganz gut, aber da fiel es eines schönen Tages dem Hauswirt ein, dass die Straße von jetzt an eine feine Straße sein müsste. Und das sollte dadurch erreicht werden, dass man allen Mietern, die Kinder hatten, kündigte - als ob es nicht gerade ihr Gören gewesen wäret, die allem den Glanz gaben! Es sollten dann neue Mieter kommen, die keine Kinder hatten, aber man kann ebenso gut nach reichen Leuten ohne Geld wie nach armen Menschen ohne Kinder suchen; deshalb fiel er schwer damit hinein.
Nun - das ist seine Sache, denn dies ist eine Geschichte vom Glück, und hier fängt sie an.
Jeden Monat fraßen sich die Kündigungen in der Straße zwei Häuser weiter, und nun waren sie bei Nummer zehn angelangt. Hier wohnten sie oben auf dem Boden. Es war Winter und noch früh am Morgen. Draußen in der Dunkelheit heulte eine Fabriksirene.
Die Finsternis drückte wie ein Alp auf die kleine Stube, und in sie hinein stießen verschiedene Atemzüge, als stünden kleine Maschinen rings in den Ecken und arbeiteten jede nach ihrer Melodie. Da waren die flötensanften Atemzüge von Kindern, die an junge Vögel beim Singen lernen erinnerten, und die eines Erwachsenen, der in langen, kräftigen Stößen die Müdigkeit vertrieb. Ein kurzes, rasches Atmen wie ein zorniges Knurren mischte sich hinein. Und aus dem Winkel unter dem schrägen Dach drang etwas hervor, was nicht nur ein Atemzug war, sondern das Leiden selbst, das geduldig die Stunden der Nacht zählte.
Plötzlich hörten die kräftigen Atemzüge auf, eine Hand tappte nach Streichhölzern und zündete eines an. Es beleuchtete ein schräges Kämmerchen mit schmutziger Tapete und eine kräftig gebaute Frau, die aufrecht im Bette saß und nach dem Fleck an der Wand hinleuchtete, wo die billige Schweizer Uhr zu hängen pflegte. In dem Bett neben ihr lag ein Mann mit eingefallenen melancholischen Wangen und starrte zu ihr hin.
„Es hat noch nicht sechs gepfiffen", flüsterte er.
Sie warf das Streichholz fluchend weg und begann, sich im Dunkeln anzuziehen.
„Willst du schon gehen?" fragte er ein wenig später. „Du hast noch Zeit."
Sie antwortete immer noch nicht. „Wie viel habt ihr für die Uhr gekriegt?" fragte sie plötzlich. „Fünfzig Öre."
Sie lachte hart auf. „Damit lässt sich wahrhaftig keine Wohnung mieten. Na ja, das Armenhaus steht uns ja immer offen, warum also sich Sorgen machen? — Will? Ob ich gehen will? Als ob man der Bewegung wegen den Leuten ihren Dreck wegbrächte. Es fragt bestimmt keiner danach, ob man will."
Sie brummte noch eine ganze Weile vor sich hin. Der Mann erwiderte nichts, er wusste, dass sie es gut mit ihnen meinte; es war nichts weiter als der letzte Rest Müdigkeit von gestern, was heraus musste. Sie war die Versorgerin der Familie, und es war recht und billig, dass sie ab und zu das Bedürfnis hatte, sich Luft zu machen! Sie musste von selber wieder aufhören.
Sie ging in die Küche und polterte dort herum und bereitete für den Tag alles vor; durch den Türspalt fiel das Licht herein und zog durch die beklemmende Dunkelheit eine dünne Haut feurigen Dampfes. Dann kam sie im Mantel wieder herein und trat zu dem Mann.
„Sei jetzt vernünftig und bleib liegen, bis es hier richtig warm ist!" sagte sie und stopfte mit ihren kräftigen Händen die Decke um ihn fest. „Und mach dir bloß keine Sorgen. Madame Petersen ist Manns genug, uns das Essen zu besorgen — und ein Dach über den Kopf dazu."
„Mutter, in der Borgergade ist im Hinterhaus eine großartige Wohnung mit Glaserker, da könnte Vater immer drinsitzen, wenn die Sonne scheint", sagte ein Junge vom Fußboden her. „Sie kostet fünfzehn Kronen, und sie wollen für einen Monat im Voraus haben."
„Ja, so einen ulkigen!" bekräftigte eine Kinderstimme. „Das ist bestimmt wahr!"
Die Mutter antwortete nicht, sondern ging zu dem alten Sofa hinüber und rüttelte an einem schnarchenden kleinen Knäuel. Das war die erwachsene Tochter Trine; sie tat bloß so, als ob sie schliefe.
„Jetzt sorgst du dafür, dass es hier schön warm ist, wenn dein Vater aufsteht! Koks haben wir doch noch? Sonst müssen die Jungen los, sobald es hell wird, und welchen sammeln. Ein paar Späne zum Feueranmachen kannst du aus der Wand zur Polterkammer herauspuhlen — wenn du vorsichtig bist und keinen Lärm machst. Zehn Öre für Milch zu heute Mittag liegen im Tellerbört; du kannst das alte Brot hineintun, das ich gestern mit nach Hause gebracht habe. Und Gnade dir Gott, wenn du ungezogen bist gegen deinen Vater oder deine kleinen Geschwister schlägst! Seid also alle drei brav, dann bringe ich euch heute Abend auch etwas Gutes mit — Bratwurst vielleicht!"
Kaum dass die Tür hinter der Mutter zugeschlagen war, streckte Trine den Kopf aus dem Bettzeug und knurrte zornig vor sich hin. Dann kroch sie wieder unter die Decke, und während der nächsten zwei Stunden brütete der Schlaf von neuem in der kleinen Wohnung.
Es begann zu dämmern. Peter, der acht, neun Jahre alt war, lag vor dem Kachelofen auf den Knien und war dabei, Feuer anzumachen, und der kleine Rasmus saß auf dem Fußboden und zog sich an. Auf dem Sofa lag Trine auf allen vieren und schimpfte mit Peter, weil er den Koks nicht zum Brennen brachte. Vor lauter Ärger war sie bis ganz an den Rand gekrochen, ihr verwachsener Rücken stand gerade in die Höhe und ihre Augen funkelten unter dem filzigen Stirnhaar. Sic glich einer wütenden Katze.
Drüben in seinem Bett lag Petersen, das hagere Gesicht nach oben gewandt und die Arme längs der Decke ausgestreckt; er hatte Pulswärmer an und um den Hals ein Tuch. Hin und wieder flüsterte er ein beruhigendes Wort ins Zimmer hinein, ohne aber den Kopf zu drehen.
Als es warm genug war, stellte er sich mühsam auf die Beine und setzte sich an seinen Arbeitstisch in der Fensternische. In seinen gesunden Tagen war er Klempner gewesen, jetzt hatte er nichts weiter als ein bisschen Püttjerarbeit zu tun: Blechringe für Kaffeebeutel zuschneiden und löten. Das wurde sonst mit der Maschine gemacht, ein Meister gab ihm die Arbeit aus purer Gnade und Barmherzigkeit. Die Arbeit war leicht, warf aber auch nichts ab; zwanzig Öre am Tage war das höchste, worauf er es bringen konnte. Die Lötdämpfe legten sich ihm auf die Brust, so dass er alle Augenblicke innehalten musste, um zu husten.
Als sie Kaffee getrunken hatten, wurde für die beiden Jungen der Tagesplan aufgestellt. Für heute war genug Koks da, auf Anweisung der Mutter aber sollten sie sammeln, soviel sie konnten, und ihn an andere Leute in der Straße verkaufen; wenn sie fleißig waren, konnten sie jederzeit fünfundzwanzig Öre dabei verdienen. Trine indes hatte einen anderen Plan, der mehr abwarf und auch den beiden Burschen besser gefiel: sie gab ihnen
einen Korb und sagte, sie sollten von Haus zu Haus gehen und „um eine Kleinigkeit bitten". Sie müssten aber den Korb an der Haustür stehen lassen, wenn sie hinaufgingen, und die Mützen sollten sie unter der Jacke verstecken, ehe sie klingelten — Kindern mit bloßem Kopf schenkten die Menschen eher eine Kleinigkeit. Was sie an der einen Tür zu essen bekämen, müssten sie natürlich auch wegstecken, ehe sie an der nächsten klingelten — vor allem aber sollten sie versuchen, Geld zu ergattern. Und zuerst und zuletzt müssten sie sich in acht nehmen, dass Mutter nichts davon erführe, denn dann wäre der Teufel los.
Petersen sagte nichts dazu. Er war des Glaubens, er hätte kein Recht, sich deswegen stolze Gedanken zu machen — ein so unnützer Mensch, wie er war —, und wollte es auch gern seiner fleißigen großen Frau etwas leichter machen. Wenn sie es nur nicht herauskriegte, dann...
Die beiden kleinen Burschen waren strahlender Laune. Es war das erste Mal, dass sie selber an die Türen anklopfen durften, aber sie wussten von anderen Jungen, was alles sich bei solchen Unternehmen erleben ließ — wenn man eben Glück hatte. Peter warf sich mit dem Bauch über das Treppengeländer und rutschte bis ganz an die Haustür hinunter, während Rasmus mit dem Korb hinterher trollte. Er hatte kurze Beine und musste jede Stufe zweifach nehmen.
Es war noch nicht viel Betrieb auf der Straße. Drüben in Nummer dreizehn waren der Leierkastenmann und seine Tochter dabei, die Drehorgel aus dem Haus zu schaffen; dabei bewegte er sein Holzbein in höchst komischen Schwüngen. Und oben im dritten Stock beugte sich eine nackte Frau weit aus dem Fenster und schimpfte ihrem Faulpelz von Mann hinterher, dass es laut schallte.
Gesenkten Kopfes schlichen die Jungen die Häuserreihe entlang; sie waren äußerst gespannt. Als sie beim Friedhof glücklich um die Ecke gekommen waren, empfanden sie das als eine richtige Leistung, und Hand in Hand trabten sie nach der Stadt zu.
Auf dem Boulevard erblickten sie Onkel Peter. Sie hatten ihn nicht mehr gesehen, seitdem ihn die Mutter vor etwa einem Jahr hinausgeworfen hatte, erkannten ihn aber sofort. Er ging schaudernd in der Morgenkühle umher und war ganz blaugefroren.
Sie wollten gerade hinüberlaufen und ihm guten Tag sagen, als er in ein Haustor schlüpfte. Auf dem Bürgersteig drüben kam ein Herr in Pelzmantel und Zylinder daher, etwas hinter ihm lief ein schöner langhaariger Hund mit einem silberbeschlagenen Halsband. Onkel Peter hatte sich hingehockt und lockte den Hund zu sich her; der machte auch halt, um ihn zu beschnuppern, und plötzlich hatte ihn der Onkel beim Genick, zog ihn zum Tor herein und schnitt ihm das Halsband ab. Die Jungen machten sich erschreckt aus dem Staube.
Sie kamen in eine stille Straße, wo sie noch niemals gewesen waren. Die Häuser waren alt, standen jedes für sich, und Gärten mit Treibhäusern waren dabei und mächtige Bäume. In einem der Gärten saß ein kleiner Affe auf einem Pfahl; er zitterte vor Kälte und machte ein Gesicht, als ob er weinte. Als die Jungen stehen blieben und über ihn lachten, schlich er durch ein Loch in der Mauer beschämt ins Haus, zog die Kette hinter sich herein und drehte die Tür zu.
Sie hatten sich noch nirgends versucht, aber dies hier war endlich eine ganz neue Welt, und sie kamen überein, ihr Glück zu probieren.
Sie gingen in eins der Häuser, versteckten Korb und Mützen sorgfältig hinter der Haustür und klingelten. Die massive Mahagonitür öffnete sich ein ganz klein wenig, und vorsichtig lugte eine junge Frau heraus. Als sie die beiden kleinen Jungen sah, machte sie die Sicherheitskette los und öffnete ganz.
„Was wollt ihr beiden Bürschlein denn?" fragte sie und nickte so freundlich, dass es Peter ganz flau wurde und er es nicht übers Herz brachte zu betteln. Ihm fiel aber auch nichts anderes zu sagen ein, und so stand er da und trat von einem Fuß auf den anderen.
Die feine Dame sah sie ein Weilchen verwundert an. Plötzlich kam ihr ein Gedanke.
„Seid ihr vielleicht hungrig?" fragte sie. Rasmus nickte eifrig. „Aber dann kommt doch herein!" rief sie und machte ihnen Platz.
Sie kamen in ein herrlich warmes Zimmer mit prächtigen Möbeln und Teppichen auf dem Fußboden. An einem Tischchen saß ein kleines Mädchen und spielte; das herrlichste Spielzeug lag haufenweise um sie herum, aber sie war böse und schob es jedes Mal vom Tisch auf die Erde, wenn es das Kindermädchen vor sie hinlegte. Es waren Straßenbahnwagen und ein Zug und Puppen — viel mehr, als die beiden Jungen jemals geglaubt hatten, dass es einem einzelnen Kind zuteil werden könnte. Aber sie war nicht entzückt davon — nur immer runter auf den Fußboden damit! Die Mutter musste dem kleinen Mädchen ihr Portemonnaie geben, damit sie endlich ruhig würde.
Der kleine „As" trat vorsichtig näher und starrte auf das Spielzeug mit Augen so groß wie Buletten. Aber dann erwachte in ihm die Lust, dagegen zu wetteifern, und er begann seine Taschen auszukramen: die Reste einer Ohrenspritze, den Schlüssel zu einer Hummerdose, ein Endchen Gummiband — lauter Dinge, die er auf dem Müllplatz gefunden hatte. Es war nur ein kleiner Teil seines Spielzeugs, und das schönste von allem war eine große rote Garnrolle! Er und sein Bruder sammelten Garnrollen, und wenn sie genug hätten, sollten sie auf Bindfaden gezogen und als Pferdeleine benutzt werden. Die große rote sollte vorn am Zaum sitzen, zusammen mit einer anderen großen roten Rolle, die sie bestimmt auch noch auftreiben würden.
Er legte beim Essen alles neben sich auf den Tisch. Es wurde ihnen ein herrliches Essen vorgesetzt, und sie fühlten sich hier in jeder Hinsicht angenehm wohl; er hätte gern gewusst, ob dies nicht das Pfefferkuchenhaus wäre. Dann war es am besten, beim Fortgehen etwas auf den Weg zu streuen, damit man es ein andermal wieder finden könnte! Das kleine Engelskind kam ihm reichlich unartig vor! Es hatte das Geld der Mutter über den ganzen Spieltisch verstreut, und jetzt streckte sie die drallen Hände
nach seinen Sachen aus und wurde ganz wütend, weil es sie nicht bekam. Schließlich mussten ihr die Erwachsenen nachgeben; das Kindermädchen wusch die rote Spule ab und überließ sie dem kleinen Mädchen; sie machte sich eifrig daran, Papier hineinzustopfen. Rasmus fühlte sich aber nicht benachteiligt deswegen; er bekam einen kleinen Omnibus mit Pferden und Kutscher dafür.
Peter hatte schon früher solch schönes Spielzeug gesehen — in Schaufenstern — und war ja überhaupt weltgewandter. Was ihn aber mehr als aller Glanz wunderte, war, dass das Kind mit Geld spielen durfte — sie konnte es ja zufällig verschlucken, so dass es nie wieder ans Tageslicht käme. Die mussten Geld haben! Es waren ein Zehnkronenschein, einige Einkronen- und Fünfzigörestücke — mehr Geld, soviel er sehen konnte, als sie brauchten, um die lächerliche Wohnung in der Borgergade zu mieten. Ob er sich wohl das Geld erbitten sollte? Sie waren doch sicherlich Millionäre.
Er überlegte, wie er es am besten vorbringen könnte — und war all des guten Essens ein bisschen überdrüssig. Jetzt, wo er satt zu werden begann, hätte er viel lieber einiges davon im Korb mit nach Hause genommen; und so lauerte er auf eine Gelegenheit, das eine oder andere in seine Bluse zu stecken.
Aber da kam ein großer, ernster Mann aus einem anderen Zimmer herein und fing an, sich mit den beiden Jungen zu unterhalten.
„Na, wo wohnt ihr denn?" fragte er. „In der Lergade."
„Das ist weit weg von hier. Und was ist euer Vater?" „Er ist krank", beeilte sich Rasmus zu antworten, um auch dabeizusein.
„Nein, er ist Klempnergeselle — aber jetzt ist er brustkrank",
verbesserte ihn Peter.
„Und da hat euch wohl die Mutter aus dem Haus geschickt,
damit ihr — hm — ein wenig bettelt?"
„Nein, das kann Mutter nicht leiden. Aber sie ist auf Arbeit, drinnen am Kongens Nytorv."
„Da hat sie einen langen Weg, die Ärmste!" sagte die Frau.
„Ja, aber jetzt sind wir gekündigt, weil wir keine Kinder haben dürfen. Der Hauswirt mag Kinder nicht leiden. Aber dann ziehen wir wohl in die Borgergade, wo so eine Art Treibhaus von Holz und Glas nach dem Hof zu ist; da kann Vater sitzen, wenn die Sonne scheint, da ist es dann warm. Wir brauchen nur noch die fünfzehn Kronen Anzahlung, aber damit wird uns schon jemand aushelfen, meint Vater!" — So, jetzt war es heraus! Peter atmete erleichtert auf.
„Hast du's gehört, kleine Gisse? Es gibt einen bösen Mann, der Kinder nicht leiden mag", sagte der Herr und beugte sich über das Kind. „Aber was ist das — ich glaube, Gisse spielt mit Geld! Das geht nun wirklich nicht."
Die Frau begann, das Geld aufzusammeln.
„Seid ihr viele Kinder?" fragte der Mann weiter.
„Ja, Trine ist noch da, aber die ist zwanzig Jahre alt."
„Und dabei ist sie so wütend, so wütend", fügte Rasmus hinzu.
Der Mann lachte. „Aber warum ist sie denn so wütend?"
„Mutter sagt, weil sie keinen Mann kriegen kann", antwortete Peter ernst.
„Nein, sie hat doch einen Buckel", fiel As eifrig ein und machte den Rücken krumm, so dass alle über ihn lachten.
„Kann sie gar nicht arbeiten, diese Schwester?" fragte der Mann weiter.
„Doch, sie hat Stühle geflochten, aber das lohnte sich nicht, sie knickte zu viel Rohr dabei. Deshalb sagte Vater, sie sollte aufhören damit, für jeden Sitz setzten wir glatte fünfzehn Öre zu."
„Wie arm sie sein müssen, Henrik!" flüsterte die junge Frau ergriffen.
Mit vollem Mund und mit Augen, die ihm vor lauter Eifer fast aus dem Kopfe quollen, fiel Rasmus ein:
„Ja, aber Vater sagt, wir kriegten es besser, wenn er tot ist. Denn dann kriegen wir viel Geld, Begräbnishilfe."
Die beiden Jungen starrten verblüfft der Frau nach, die mit
dem Taschentuch vor den Augen aus dem Zimmer lief; sie hörten sie im Zimmer nebenan schluchzen. Da krabbelten sie von ihren Stühlen herunter, wischten Nase und Mund mit dem Ärmel ab und gingen zur Tür. Als Peter sie aufmachen wollte, fiel aus seiner Bluse ein Brötchen auf die Erde.
„Ist das für die zu Hause?" fragte der Mann.
Peter nickte erschrocken.
Der ernste Mann wickelte den Rest der Mahlzeit in ein Papier und gab es ihm: „Nimm das für Vater und Schwester mit nach Hause — und kommt ein andermal wieder!" sagte er und ließ sie hinaus.
Die Frau, die wieder hereingekommen war, stand da und durchsuchte sämtliche Spielsachen ihres Kindes.
„Die kleinen Kerle", sagte der Mann vom Fenster her, von wo er den beiden Jungen nachschaute. „Sieh bloß an, Anna — jetzt haben sie einen Korb bei sich und Mützen auf. Das haben sie irgendwo versteckt gehabt."
„Ja, und weißt du, was schlimmer ist, Heinrich? Ich glaube, sie haben zehn Kronen mitgenommen. Es waren ganz bestimmt vierzehn Kronen im Portemonnaie, als ich es Gisse gab, und jetzt sind es nur vier — der Zehnkronenschein ist weg."
„Aber das ist einfach unmöglich! Sie haben sich ja nicht vom Flecke gerührt."
„Ich verstehe es auch nicht, aber weg ist er!"
Nun begann der Mann unter den Spielsachen des Kindes zu suchen.
„Was ist denn das für Zeug?" fragte er und hielt die rote Rolle hoch.
„Ach, die hat Gisse von den Jungen bekommen. Wir haben sie natürlich erst abgewaschen."
Der Mann zuckte ergeben die Achseln: „Herrgott — abgewaschen! Glaubst du wirklich, die Ansteckung lässt sich abwaschen? Womit kann so ein Ding nicht alles in Berührung gekommen sein! Ich muss sagen, es war sehr gedankenlos von dir."
„Ja, Liebster, es war auch verkehrt von mir — aber im Augenblick dachte ich wirklich nicht daran. Und Gisse war so unvernünftig."
„Die rote Farbe allein würde genügen, sie krank zu machen, wenn sie das Ding in den Mund steckte; rote Farbe ist sehr giftig, will ich dir nur sagen. — Nehmen Sie das Ding und werfen Sie es in den Mülleimer!" wandte er sich an das Kindermädchen.
Die beiden Burschen trabten der Stadt zu und besprachen dabei eifrig, was sie erlebt hatten. Sie waren weit draußen in Frederiksberg, aber was tat das? Jetzt wollten sie einen Abstecher in die Borgergade machen und nachsehen, ob die Wohnung noch frei wäre, und dann wollten sie mit dem guten Essen nach Hause, damit es der Vater zu Mittag hätte. Außerdem musste Peter um eins in der Schule sein. Es fiel ihnen nicht ein, noch in andere Häuser zu gehen — sie hatten das Gewaltige erlebt, und so etwas wiederholt sich nicht am selben Tage. An einem anderen Tag aber würden sie zum Pfefferkuchenhaus zurückfinden, darüber waren sie sich einig.
„Und dann kriegen wir vielleicht das Geld für die Wohnung", meinte Peter.
Auf dem Gamle Kongevej begegneten sie Jungen auf dem Weg zur Schule, und Peter bekam einen heißen Kopf. Im selben Augenblick aber jagte die Feuerwehr im gestreckten Galopp an ihnen vorüber und zog sie unwiderstehlich in ihr Kielwasser. In sausendem Tempo bimmelte sie sich dahin, einen Schwanz von Hunderten von Jungen hinter sich, die im Laufen sangen:
„Deck, deck, Broager deck! Noch eins drauf, die Granate ist weg!"
Die Fahrt endete draußen auf dem Lampevej, wo ein Fach Gardinen in Brand geraten war, und nun konnten sie von vorn anfangen. Peter hatte bei der Rennerei den ganzen Inhalt seines Korbes verloren, aber daran war nichts zu ändern.
Rasmus taten jetzt die kleinen Stummelbeine weh, er kam nur langsam voran, aber sie halfen sich dadurch, dass sie sich hinten an Fleischerwagen hängten und auf die Trittbretter von Omnibussen sprangen, wenn der Schaffner im Wagen war. Auf diese Weise gelangten sie allmählich zum Kongens Nytorv und standen kurz darauf vor dem spannenden Haus in der Borgergade. Ja, die Wohnung war noch zu haben! Sie schlichen durch den dunklen Hausflur in den Hof, um nur eben einmal einen Blick auf den lustigen Glasbauer zu werfen - und liefen der Mutter gerade in die Arme.
Sie war für einen Augenblick von der Arbeit fortgelaufen, um sich die Wohnung anzusehen, und da gab sie den beiden Landstreichern wohl einen Empfang! Es war ein großes Glück, dass sie nicht auch noch etwas in dem Korbe hatten!
Sie wurden nachdrücklich nach Hause geschickt, und das war keineswegs zu zeitig; als sie in die Lergade kamen, war es dunkel, und die Laternen brannten bereits. Vater war schon zu Bett gegangen; er war allein zu Hause. Trine war aus und trieb sich irgendwo an einer Straßenecke herum und wurde wütend und noch weniger umgänglich, wenn sie alle die jungen Leute sah.
Rasmus kroch zum Vater aufs Bett und zeigte ihm seinen Omnibus; der war in der Tasche entzweigebrochen, aber das ließe sich wohl leicht wieder löten. Peter schämte sich, dass sie dem Vater nichts mitgebracht hatten. Der lag da und sah einsam und verlassen vor sich hin, und Trine hatte versäumt, ihm für seine kalten Füße den Ziegelstein zu wärmen.
Peter tat das und richtete stumm allerlei für die Nacht her; er fühlte nicht das Bedürfnis, seinen Senf dazuzugeben, sondern ärgerte sich über die Quasselstrippe von As. Gehörte es sich denn, lang und breit von all dem guten Essen zu erzählen, wenn sie nichts davon mit nach Hause gebracht hatten! Er wünschte, es wäre auch ein bisschen für den Vater dagewesen, und als Rasmus von dem Kind und dem vielen Geld erzählte, rief er dazwischen: „Weißt du, was ich glaube, Vater? Ich glaube, sie bringen uns morgen die Miete."
„Ja, gewiss", sagte der Vater zögernd. Doch nun war Peter seiner Sache sicher; er hatte deutlich gesehen, wie der Mann der Frau zugeblinzelt hatte, als er ihnen von der Wohnung erzählte.
Und als As ihm das bestätigen sollte, wurde dieser noch lebhafter, er hatte mit seinen Ohren gehört, dass sie es einander zugeflüstert hatten.
Peter hatte die Seegrasmatratze unter dem Bett hervorgezogen und für den Bruder und sich zurechtgemacht. Sie schmiegten sich eng aneinander, die Decke ganz über den Kopf gezogen, und hatten sich eine richtige Hütte gebaut, worin es rasch warm wurde. In dieser lauen Finsternis erzählten sie einander seltsame Geschichten, die dem Nichts entsprangen. Sie drückten bloß auf die geschlossenen Lider und öffneten die Augen wieder; dann traten strahlende Farbenringe hervor, glitten ineinander und verschwanden, und wo sie gewesen waren, stand eine ganze Geschichte von dem, was man sich am meisten wünschte. „Was siehst du jetzt?" fragte alle Augenblicke einer den anderen, und sogleich war die Geschichte von den feinen Leuten da, die sie mit der Miete und einem großen Korb voll leckeren Essens besuchten  —und mit einer Flasche Wein für den Vater auch. Die Geschichte wurde jedes Mal, wenn sie sie hervorlockten, schöner.
Dann kam Trine nach Hause, und das Flüstern musste aufhören. Kurz danach schliefen sie alle zusammen. Es war nicht später als sieben Uhr, aber auf diese Art sparte man Licht und Feuerung.
Es war Samstagabend, und die Mutter kam spät heim, müde und abgerackert. Sie hatte Bratwurst eingekauft, wie sie es versprochen hatte, da aber alle schliefen, mochte sie sie nicht wecken. Außerdem betrog man auch noch die Mägen um eine Mahlzeit, ohne dass sie es merkten.
Am nächsten Morgen wachten die beiden Jungen davon auf, dass die Mutter zwischen Stube und Küche hin- und herging. Sie war in Unterrock und Nachtjacke und ließ sich viel Zeit. In der Stube roch es nach Kaffee, und jetzt wärmte sie altbackne Semmeln auf der Maschine auf. Den beiden Jungen war es richtig gemütlich dabei, und sie legten sich bequem zurecht, um den Sonntagmorgen zu genießen. As, der noch ein wenig mütterliche Wärme brauchte, drängte sich in Peters Arm.
Die Eltern sprachen wieder von Wohnungen und gerade von der in der Borgergade.
Wir können sie ebenso gut aufgeben und jede andere Wohnung auch!" sagte die Mutter.
„Es wird schon werden", sagte Vater leise. „In vierzehn Tagen kann vieles geschehen."
„Ja, auf alle Fälle geschieht das, dass wir auf die Straße gesetzt werden", antwortete sie von der Küche her, wo sie ihre Groschen zählte. „Eigentlich ist es lächerlich, dass eine ganze Familie bloß deshalb in die Obdachlosenabteilung muss, weil ihr acht, neun Kronen an der Anzahlung fehlen."
Die Jungen dachten an das Wunder, das sich heute ereignen würde, wagten aber nicht davon zu sprechen. Mit dem hoffnungslos kranken Vater zusammen konnten sie ans Glück glauben, in der Nähe des handfesten Charakters der Mutter aber wurden solche Vorstellungen merkwürdig blass. Umso fühlbarer machte sich die Wirklichkeit geltend.
Lärmend schickte sie sich an, den Kachelofen auszunehmen, und ihre kräftigen Schläge mit dem Feuerhaken verdarben Peter im Nu die Sonntagsstimmung. Er wusste es, noch ehe sie ein Wort gesagt hatte: es war kein Koks da. „Dann müsst ihr los - und das gleich!" sagte sie. „Euer Vater darf nicht frieren."
Peter war kein Morgenschläfer und war in einer Fahrt auf den Beinen, aber als er halb in den Hosen war, fing er zu heulen an.
„Na, was ist denn los?" fragte die Mutter ungeduldig. „Dürfen - dürfen As und ich heute nicht im Bett Kaffee trinken?" schluchzte er.
„Was soll der Unsinn, willst du Herrschaft spielen?" „Nein, aber dann ist es mehr Sonntag."
„Na, dann leg dich wieder hin, du Schöps", sagte sie lachend und warf ihm das Deckbett über den Kopf, aber der Junge zog Hosen und Strümpfe fix wieder aus und kroch richtig ins Bett. Es sollte so aussehen, als wachte er erst dadurch auf, dass Mutter mit dem Kaffee kam.
So schnell hatten die beiden Burschen noch nie einen Sack Koks zusammengeklaubt. Peter scharrte mit den Füßen in den neuen Abfallhaufen herum und arbeitete mit seinem Kratzer, dass der Staub nur so flog, und Rasmus füllte in den Sack. Sie arbeiteten wie die Hühner, und weil es Sonntag war, waren sie allein auf dem Platz.
Nach einer Stunde hatten sie den Sack voll und sogar noch Zeit übrig, verschiedene andere Dinge mitzunehmen: einige Kessel, denen der Vater neue Böden einlöten und die er dann verkaufen konnte, einen zertretenen Löffel, der sich noch richten ließ, und einiges Spielzeug — vor allem Garnrollen. Jetzt hatten sie für ihre Pferdeleine Rollen genug, und Bindfadenreste gab es auch genügend hier draußen. Das schönste von allem war aber eine große rote Garnrolle, genau wie die vorige.
„Wenn du doch bloß die andere nicht weggegeben hättest", sagte Peter vorwurfsvoll.
Aber das war nicht zu ändern, und so zogen sie mit ihrer Beute heimwärts.
Zu Hause war es warm und aufgeräumt; es war so gemütlich, wie es nur am Sonntag sein kann, wenn die Mutter selber sich um alles kümmert. Der Vater saß aufrecht im Bett und hatte reine Wäsche an; vom heftigen Waschen war er noch ganz rot im Gesicht. Trine war schon ausgegangen.
Sobald der Vater angezogen war, gingen alle drei daran, die Leine zu bauen. Rasmus machte die Rollen sauber, Peter knotete die Bindfäden aneinander und zog die Rollen auf, und der Vater verfertigte aus Stahldraht ein richtiges Stangengebiss.
Sooft jemand die Treppe heraufkam, lauschten die Jungen und nickten dem Vater triumphierend zu, sagten aber nichts, denn die Mutter war ja da und hatte schlechte Laune. Aber bei ihnen klingelte niemand, und sie machten sich wieder an die Arbeit — mit jedem Mal niedergeschlagener.
„As bringt den Dreck nicht heraus", sagte Rasmus und reichte dem Vater die große rote Garnrolle hin. Der Vater drückte einen Stahlstin hindurch, und da kam ein zusammengerolltes graues
Stück Papier zum Vorschein; er faltete es erschreckt auseinander — es war ein Zehnkronenschein. Er wollte etwas sagen, brachte es aber nicht heraus, sondern saß bloß da und schwenkte den Schein in der Luft herum und wurde vor Aufregung ganz dunkelrot im Gesicht.
I du meine Güte!" sagte die Frau und wiederholte es immer wieder — vor lauter Bestürzung.
Zu einem Hustenanfall des Vaters kam es diesmal nicht, vielleicht half ihm die Freude darüber hinweg. Er holte tief Atem und sagte:
„Siehst du, da ist doch was eingetreten!" „Ja, das tut es immer!" sagte Peter altklug. „Hat Vater den Dreck herausgekriegt?" fragte Rasmus, der
nicht recht begriffen hatte.
Die Frau zog sich auf der Stelle an, ging in die Stadt und mietete die Wohnung mit dem Glaserker. Und da wohnen sie noch. Der Mann hat dort viel in der Sonne gesessen, denn als ich ihn das letzte Mal sah, war er so gesund, dass er für einen Verein Botengänge machen konnte.
Und dies war die Geschichte von dem Glück auf dem Müllplatz. Ihr könnt selber hingehen und mit ihm sprechen.
1902

 

DIE FEE DER FREIHEIT I

Sie hieß Vera nach der Fürstin in einem deutschen Kolportageroman. Das war ein Name, der ebenso gut war wie irgendein anderes Wiegengeschenk; die Eltern hatten allen Überfluss ihrer Herzen dareingelegt. Er würde ihr nicht im Wege stehen, wenn sie je Aussicht bekäme, es im Leben zu etwas zu bringen.
Irgendwelche Verpflichtung, einen Fürsten zu heiraten, war keineswegs mit dem Namen verbunden. Sie war nur so reizend gewesen, diese Fürstin, und dann hatte sie auf der einen Seite am Halse einen Schönheitsfleck gehabt, genau wie Vera hier. Das war alles, sofern man nicht den heimlichen Traum mitrechnen will, den niemand kennt und der doch das Ganze aufrechterhält.
Etwas anderes konnte man sich vernünftigerweise nicht vorstellen, denn Vera war dazu geboren, die Mühsal anderer auf sich zu nehmen; das war eine Bestimmung, die bis ganz auf die weisen Überlegungen Gottes vor Erschaffung der Welt zurückzugehen schien. Ihre Kindheit war eine langwierige, beschwerliche Erziehung zu dem Beruf, denen auf der anderen Seite dienstbar zu sein; durch tagtägliche, unermüdliche Übung konnte man sich vielleicht der Auszeichnung würdig erweisen, den richtigen Müttern einmal Kindergeschrei und schlaflose Nächte abzunehmen. Vielleicht — denn es geht nicht so mir nichts, dir nichts, den Schmutz zu verlassen und geradenwegs in die vornehme Welt einzutreten! Das war eine Frage, die einer armen Familie wohl den Schlaf zu rauben vermochte. Schon als Vera noch in der Wiege lag, erfuhr sie Lob und Tadel gemäß der Meinung ferner Herrschaften; zu allem, was sie als Kind tat, klang es beständig: „Auf die Weise, Kind, wirst du nie eine Stellung behalten!" — oder: „Ja, so ist's recht, es wird noch mal ein tüchtiges Dienstmädchen aus dir werden!" Mit der der Armut zugehörigen großen, einfachen Erkenntnis der eigentlichen Wahrheit wurde sie geboren, und willig opferte sie von ihrem Selbst. Sogar über ihr widriges Geschick zu weinen versagte sie sich, als ihr bedeutet wurde, dass die gnädigen Frauen Flennen in der Küche nicht liebten.
Durch diese ewigen Hinweise auf die „Herrschaft" nahm ihre künftige Bestimmung beinahe die Gestalt eines schweren Schicksals an; das, worauf sie sich vorbereitete, wurde eine Aufgabe, so groß und verantwortungsvoll wie die Hütung eines Heiligtums. Es schauerte sie ein wenig bei der Vorstellung, was von ihr verlangt wurde, aber willig setzte sie alle ihre kindlichen Kräfte dafür ein. Veras Mutter hatte selber gedient, deren Mutter gleichfalls — und so wahrscheinlich in aufsteigender Linie weiter, seitdem die Welt bestand. Und noch ehe sie selber eine „Herrschaft" gesehen hatte, war sie mit allen Launen und Eigenschaften dieses göttlichen Wesens vollauf vertraut. Sie wusste auch, dass alles dies gar nicht so entsetzlich zu sein brauchte, wenn man nur schwieg und sein Bestes tat.
So ausgerüstet, vollendete sie ihr vierzehntes Lebensjahr und trat in die Welt: geläutert und fest in der Erkenntnis, dass gegenüber den Pflichten, die innerhalb ihres Horizonts auftraten, ihre eigenen Ansprüche sämtlich gleich Null seien. Um jene Zeit sind viele ihr begegnet, und sofern sie nicht mehr von ihr wissen, werden sie zugeben, dass sie trotz allem unvergleichlich war — ein herzensgutes, pflichttreues kleines Wesen, dessen Grundzug die stete Bereitschaft war, andere zu schonen und sich selbst zu belasten; ein unentwickeltes Kind, das mit der entsagenden Weisheit des Greises seine Sorgen so gründlich für sich zu behalten wusste, dass man fast den Eindruck erhielt, sie sei gefühllos. Sie sah doch stets froh und zufrieden aus — ja, und vor allem war sie zu den Kindern so gut.
Wo sie zur Welt gekommen ist, ist ohne Bedeutung; sie hatte, wie alle Armen, den Drang zum Licht in sich, und wenn sie nicht in der Hauptstadt geboren war, so fand sie jedenfalls bald den Weg dahin. Und hier entdeckte sie, dass das Leben gar nicht so
hart zugriff, wie sie darauf gefasst gewesen war. Wenn es einer von den Nächsten nicht sah, kniff die Freude das armselige Dienstmädchen in die jungen Wangen und flüsterte ihr törichte Dinge ins Ohr; die jungen Götter des Lichts ließen die für sie Bestimmten sitzen, um sich den Träumen der Einsamen zuzugesellen und das Dunkel um sie her der Familie zum Trotz mit heiligen Eheschwüren zu erfüllen.
So anstößig und so sehr im Dunkel verborgen ging es zu, dass Vera, die vom Morgen aller Zeiten an dazu ausersehen war, der andern Sklavin zu sein, schließlich das Kind der Freiheit unterm Herzen trug. Kein Wunder, dass es die Erzeuger vorzogen, sie im Stich zu lassen. Mit der Ausrede, dass sie eine freche Dirne sei, die sie verführt habe, machten sie sich unsichtbar und ließen sie selber zusehen, wie sie weiterkäme.
Kindlich wie sie war, begriff sie vorläufig nichts davon, sondern freute sich nur ihres Lebens. Sie stellte nach keiner Seite hin Ansprüche, sondern nahm dankbar auf, was ihr zuteil wurde, benommen wie ein Kind von dem Lohn, der sie ein goldner Regen in leere Hände dünkte.
Ohne eine besondere Absicht damit zu verfolgen, schaffte sie sich Stück für Stück an, was dazu gehört, um sich in den festlich gekleideten Strom zu mischen, der Paar neben Paar zum Zirkus und Scalavarieté hinaus wandert. Und eines Tages hatte sie beisammen, was dazu nötig war — nur nicht die Zeit.
Ihre ganze Kindheit hindurch hatte es unaufhörlich geklungen: Wenn du ein gutes Mädchen bist und ohne zu räsonieren alles tust, was man dir sagt, dann bekommst du vielleicht Erlaubnis, nachmittags das Haus zu hüten und deine Wäsche nachzusehen, und die Gnädige verrichtet dann selber deine Arbeit, wenn du am Sonntagvormittag in die Kirche gehst. Wir haben uns immer so aufgeführt, dass wir wie ein Glied der Familie behandelt wurden und die abgelegten Kleider der Herrschaft tragen durften.
Alles dies wusste Vera, auch ohne dass es ausdrücklich gesagt wurde; die Kreuz und die Quer war es als Hunderte von Traditionen ihrem armseligen Daheim einverwebt. Noch als sie zu Hause war, kam manchmal eine alte Dame zu Großmutter auf Besuch und redete dann per Sie mit ihr; und Großmutter knickste, so hinfällig sie auch war, und sagte Gnädige Frau. Das übergoss die Armut des Haushalts mit einem besonderen Schimmer, einem Widerschein des reichen Sonnenglanzes der Gnade. Und sie für ihr Teil hatte getreulich dazu beigetragen, es war ja nicht anders möglich, so wie ihr Los nun einmal von Grund auf geformt worden war.
Und dann geschah eines Tages das Unfassliche, dass sie alle guten Begriffe über den Haufen warf und Erbteil wie Kindheitslehre von sich abstreifte. Ein Sonnenstäubchen hatte sie befruchtend getroffen, und sie trug ihre armselige Hoffnung auf eigene Rechnung unter dem Herzen, ohne Stütze von irgendwelcher Seite, und trotzdem fröhlich. Es hatte etwas Halsstarriges an sich, das sich jeder Erklärung entzog. Da ging ein armseliges Kind, das sich stets gut aufgeführt hatte und das volle Wohlwollen der Herrschaft genoss, plötzlich hin und verdarb sich alles selber — einer fixen Idee zuliebe. Sie wollte sich selber ihr Gut und Böse zumessen; und verlieren musste sie ja dabei, wenn man die Angelegenheit nach Gesindeordnung und Abmachungen erwog.
Es ließ sich nur als ein wunderlicher Anfall von Größenwahn erklären — vielleicht durch allzu große Armut ihres Zuhause verursacht —, dass sie die selbstgekaufte dünne Jacke der von der gnädigen Frau abgelegten vorzog und sich in ihrem bescheidenen Kämmerchen lieber nach ihrem eigenen Kopf einrichtete, als dass sie sich der Familie als ihr Aschenbrödel anschloss. Aber es war ja für sie selbst am schlimmsten. Auf andere wirkte es schließlich nur drollig, wie sie die armseligen Reste ihres eigenen Ichs so pietätvoll bewahrte, als habe sie plötzlich entdeckt, dass sie von altem Adel sei.
Mit der halbkameradschaftlichen guten Umgangsweise, die das wahre Verhältnis so schön verdeckte, war es vorbei; Vera wünschte es selber und war die erste, die Wirklichkeit deutlich zu machen. Etwas Unfassbares hatte sich ihrer bemächtigt; es schien, als finde sie Befriedigung darin, dass man ihre Stellung als Dienstbote besonders betonte. Bisher hatte sie alle Güte ihrer Herrschaft hingenommen und an vielem teilgehabt, was ihr nicht zukam. Sie konnte sich für jede Zeit des Tages eine freie Stunde erbitten und durfte der Bewilligung sicher sein, wenn es nur entfernt möglich war, sie zu entbehren. Undankbarerweise verzichtete sie nun darauf — und erreichte dafür einen freien Abend in der Woche, der ganz und gar ihr gehörte, so dass kein anderer auf der Welt als sie darüber zu bestimmen vermochte. Und dies war es vor allem, worauf es ihr ankam; sie gönnte ihrer Herrschaft diesen Abend durchaus, aber sie sollten sie darum bitten als um eine Gefälligkeit. Vera, der es vorausbestimmt gewesen war, anderen dienstbar zu sein, war zum ersten Mal in der Lage, Gefälligkeiten zu erweisen; sie hatte sich das Recht erkämpft, aus eigener Machtvollkommenheit nein zu sagen. Sie war zu hilfsbereit, als dass sie es für mehr als ein Recht angesehen hätte, aber es war herrlich zu wissen, dass die Gnädige selbst dann, wenn sie an diesem Abend ein Kind bekäme, nicht ohne weiteres sagen durfte: „Vera, bleib zu Hause!", sondern es sich als eine Gefälligkeit erbitten musste. Das unantastbare eigene Recht war in Veras Dasein getreten; sie opferte ihm freudig alles und meinte, bei dem Tausch zu gewinnen.
An ihrem freien Abend schwirrte sie dahin, wo das Licht am hellsten war, am liebsten unter die Eingänge zu den großen Vergnügungslokalen. Dort stellte sie sich geduldig auf, starrte ins Licht und wartete, bis sie so glücklich wäre, ihren weichen Arm unter den des jungen Mannes zu stecken, ohne den einem Dienstmädchen die Freude ein verschlossenes Buch ist. Im Winter ist der Eingang zum Zirkus ein günstiger Ort für jemand, der ohne lange Vorbereitung ausgeht; im Sommer ist der Alleenberg am besten. Da stellt man sich in der Reihe auf und lauscht der Musik, während Soldaten und junge Burschen unter den Laternen auf und ab gehen und ihre Wahl treffen.
Es ist ein unsicheres Dasein; mehrere Male hatte Vera das Glück erwischt und wieder fahren lassen müssen. Mit nur einem einzigen freien Abend in der Woche war es beinahe unmöglich, einen Jüngling festzuhalten, der jeden Abend zu seiner Verfügung hatte; er wurde häufig müde und schenkte Zirkusbillett wie ritterlichen Schutz einer andern, die besser dran war. Gerade an solchen Tagen zog sich oft auch das Mittagessen länger hinaus, und kam sie endlich fort, war keine Zeit mehr, nach ihm zu suchen. Dann musste sie sich einem anderen Junggesellen mit Zirkusbillet anschließen, um doch ein bisschen ins Leben hinauszukommen.
Wenn sie kurz vor Tisch hinunterlief, um die letzten Zutaten zur Hauptmahlzeit einzukaufen, flatterte es vor ihren neidischen Augen von Bürodamen und Verkäuferinnen, die auf dem Weg nach Hause waren. Sie sind frei, von sechs Uhr an gehört der Abend ihnen, ihrer ist das Leben, alle vornehmen Herren sehen ihnen lange nach — für eine Weile beherrschen sie den Strög (Anm.: Hauptgeschäfts- und Hauptpromenadenstraße in Kopenhagen.) ganz und gar. Eine soll sogar dabei sein, die mit einem jungen Grafen „geht" — und sie ist nicht die Spur hübscher! Er holt sie vom Geschäft ab und begleitet sie durch die Stadt — bei helllichtem Tage!
Vera sah in den Spiegel und stellte Vergleiche an — sie wollte Verkäuferin werden. Ja, sie war der Stellung gewachsen: wenn sie nicht mehr überm Gas zu stehen brauchte, wenn das Haar nach der einen Seite gekämmt wurde und sie vom Herdwichsen keine schwarzen Hände mehr hatte. Und mit ihrem neuen Jackett! — damit wagte sie, den Strög von oben bis unten hinunterzugehen, ohne die Augen niederzuschlagen. Sie kündigte auf der Stelle, und die restliche Zeit hantierte sie zum Ärger der gnädigen Frau mit Handschuhen in der Küche. Dann bat sie um Ausgang, um sich eine neue Stellung zu suchen, machte sich fein und suchte ein altes Stickmustertuch aus ihrer Schulzeit hervor. Es waren Hexenstich, Kreuzstich, Plattstich, gotische Buchstaben und vieles andere darauf — ein ganzes schmuddliges kleines Abc der Handarbeit. Das sollte ihr helfen, in Schwung zu kommen. Vera wollte in die Handstickerei, da sie nun einmal das Mustertuch bei sich trug; sie hatte es nie recht gelernt, aber hatte sie denn nicht selber die Zacken ihres Konfirmationshemds genäht - sie mit eigener Hand über ein Zweiörestück vorgezeichnet und jeden Stich selber gemacht?
Sie ging in eines der großen Geschäfte, zum Chef. Er betrachtete das Tuch, besah sich auch ein Taschentuch, das sie gerade mit Monogramm und Hohlsaum versehen hatte, und kämpfte mit einem Lächeln. Aber er war ein gebildeter Mensch — ein bisschen zu gebildet für Veras Welt. „Aber das ist ja ausgezeichnet!" rief er, „können Sie auch zeichnen?"
Vera hauchte in heiserer Freude ihr Ja — sie dachte an das Zweiörestück und an die Zacken. Des Scheines halber ließ er sie sich an einigen Efeublättern versuchen; sie kritzelte etwas hin, das einem zerbrochenen Staubkamm glich, und lächelte ihn mit bezauberndem Selbstvertrauen an.
„Ja, das sieht ganz gut aus", sagte der Chef zögernd, „aber weshalb wollen Sie eigentlich Ihren Beruf wechseln?" Er kannte sie sehr gut, diese gebrechlichen Nachtschmetterlinge, die irgendwoher aus dem Dunkel auftauchten und hartnäckig blind gegen die Lampenkuppel stießen, bis sie tot herabfielen. Alles Gutzureden war hoffnungslos in solchem Fall, und seine Worte klangen auch eher wie ein Seufzer darüber, wie verzweifelt schwierig es allmählich geworden war, sich ein Dienstmädchen zu halten. „Man verdient doch viel mehr in Ihrer jetzigen Stellung; aber — hm — Sie haben vielleicht eine Neigung zu Handarbeiten?"
„Ja", antwortete Vera harmlos, „man ist doch so gebunden, wenn man dient!" — Nun, im Augenblick war gerade kein Bedarf für sie, aber der Chef werde an sie denken. Er notierte ihre Adresse.
Von diesem Tage an ging Vera mit Fieber und Herzklopfen umher. Sie zählte die Tage, obwohl sie nicht wusste, wie viele noch im Ungewissen lagen. Jedes Mal, wenn der Briefträger klingelte, glaubte sie, es gälte ihr, und wenn der Zweifel sich meldete, wiederholte sie sich bloß, was der Chef so freundlich versprochen hatte. Sie stand mit einem Bein schon außerhalb ihrer Arbeit, jeden Augenblick bereit aufzubrechen; sie wurde der Arbeit immer überdrüssiger und unzuverlässig dabei. Man kündigte ihr, sie schickte dem Chef ihre neue Adresse, tat die Arbeit wie im Schlaf — und wartete. Wurde zum nächsten Monat wieder gekündigt, sandte wieder die Adresse ein und wartete ab — in einem Zustand merkwürdiger Starrheit.
Und eines Tages hielt sie es nicht mehr aus — es war Frühling draußen. Sie lief aus dem Dienst, mietete ein kleines Zimmer und stürzte sich in das Gewimmel der gefeierten kleinen Jackenmädchen.
Einen Monat lang schaffte sie es, trat das Pflaster zur Zeit und Unzeit, sprach vergebens in Läden vor und war jeden Abend im Zirkus. Als der Monat um war, hatte sie sich den größten Teil ihrer Ehre bewahrt — zu viel jedenfalls, als dass sie davon hätte leben können. Ihr Erspartes aber war aufgebraucht und ein Teil der Garderobe ins Leihhaus gewandert.
Da schließlich gab sie es auf, sich mit den Verkäuferinnen zu messen, und ward sich niedergeschlagen bewusst, dass auch ein geringeres Glück möglich sei. Eine Zeitlang dachte sie daran, Stellung als Wirtschafterin eines älteren Herrn anzunehmen, und da sie gut aussah, bot sich ihr bald etwas an. Im letzten Augenblick aber kriegte sie Angst, alle mit der Stellung verbundenen Konsequenzen auf sich zu nehmen.
Vera hätte in die Vergangenheit und zu den Herrschaften zurückkehren können, aber auf ihre Freiheit wollte sie nicht verzichten. Diese Freiheit bedeutete ihr das teuer erkaufte Kind ihres armseligen Daseins, und Vera hütete sie wie eine verlassene Mutter, die für ihr Kind zu jedem Opfer bereit ist. Und eines Tages schloss sich das Fabriktor von selber hinter ihr.
In der inneren Stadt zeigte sie sich niemals mehr; das Jackett war zu abgeschlissen und zerknüllt, es mochte sehr wohl den Anschein erwecken, als ob es nachts als Bettjacke getragen würde. Das Haar war dünn und wollte nicht recht sitzen, das Gesicht war hager — in dieser Beziehung fehlte es ihr nicht an Selbstkritik. Ihren Traum von der Freiheit von sechs Uhr abends an
hatte sie jedoch verwirklicht, und von sechs bis acht Uhr abends genoss sie das lebhafte Gewimmel froher Menschen auf dem Arbeiterbummel von Dronning Louises Bro bis zum Kapelvej.
Nach acht Uhr verlegt die Jugend im Sommer ihren Bummel weiter nach draußen, vom Kapelvej die Friedhofsmauer entlang zum Rundteil und ein Stück den Jagtvej hinauf. Auch hier gibt es feingekleidete Herren mit frischgebügelten Zylinderhüten, und einer von ihnen wurde der Auserwählte. Er war gewiss kein Grafensohn, hatte aber auf einer Liebhabervorstellung im Volkshaus den Grafen gespielt. — Damals wohnte Vera auf dem Frederikssundvej in einem eigenen Zimmer unter dem Dach. Dann aber bekam sie das Kind und musste ins Hinterhaus zu einer armen Familie ziehen, die sowieso kleine Kinder zu pflegen hatte.
Der Graf entglitt ihrem Leben sehr rasch, und später verbrachte sie ihre Abende damit, dort, wo die Stadt jäh in Äcker übergeht, an den zugigen Ecken zu stehen und auf Fredrik zu warten — meist vergebens. Das letzte Mal, dass ich sie dort stehen sah, war eine Nacht vor Weihnachten. Mehrere Stunden lang stand sie gegenüber einer Kellerkneipe auf dem äußersten Nörrebro — zitternd vor Kälte und Kummer — in der Hoffnung, einen Schimmer von ihm zu erhaschen und ihn mit nach Hause zu schleppen in ihr armseliges Nest. Das Jackett existierte noch, ließ sich aber nicht mehr zuknöpfen, sie war hochschwanger. Und Fredrik war ihrer müde geworden und zog den Keller vor; ab und zu schickte er einen Späher nach oben, der feststellen sollte, ob sie denn nicht bald abzuhauen gedächte.
Das sind ihre freien Abende, und doch würde sie sie nicht um alles in der Welt aufgeben und wieder in Stellung gehen; in all ihrem Elend sieht sie voller Verachtung auf die Vergangenheit zurück. Viele haben sie bejammert und sich bemüht, sie zur Vernunft zu bringen, aber es ist schlecht an sie heranzukommen. Irgendwelches besseres Leben hat ihr die Freiheit nicht geschenkt; als ein vaterloses Kind der Liebe hat sie Vera um alles gebracht. Deshalb liebt sie die Freiheit wie wahnsinnig, mit Augen, die vor Selbstverzehrung glühen; wie eine verhungerte Wölfin steht
sie über ihrem winzigen Kind und knurrt nach allen Seiten Selbst Fredrik wagt es nicht, dies fremdartige Wesen aus dem Bau zu schleudern.
Ihre Nachkommenschaft wird nicht mit schweren Traditionen belastet sein; die soll einmal nicht Dienstbote spielen - das ist das einzige, was ihr bekannt ist. Sie wächst auf unter Verhältnissen wie sie nun einmal unehelichen Kindern zugemessen sind. Und eines Tages erwachen ihre Sprösslinge vielleicht zu der bitten Erkenntnis, dass sie ohne Vater auf die Welt gekommen sind und die eigene Mutter ausbeuten mussten, um selber voranzukommen.
1905

 

LOHNTAG
Idyll aus der Vergangenheit

Auf den Bergen steht der Wald weiß und unförmig im Schlafe, verschwenderisch in sauberen weichen Winterschnee gehüllt; nur wo ein Vogel sich gesetzt und den Schnee abgeschüttelt hat, ragt ein kahler Zweig hervor, schwarz, nackt und unheimlich. Die tiefen Klüfte sind gleichfalls zugeschneit, die ebene Heide und die nackten blauen Felsenflächen. Der zypressenhafte schlanke Wacholder beugt sich unter einem Berg weißer Kristalle, und der Schlehenstrauch bringt seine Früchte in der sanften Kälte des Polsters langsam zur Reife.
In dem tiefen Steinbruch unterhalb des Grates liegt der Schnee so hoch, dass ihn die Arbeiter in Karren schaufeln und wegfahren müssen, um an den Felsen heranzukommen, und von den Tannenwurzeln, die am oberen Rand des Steinbruches nackt hervorstechen, hängen lange Eiszapfen herab.
Auch über dem Lande liegt Schnee — so weit man sehen kann an dem Gebüsch am Fuße des Felsens vorbei, über die Wiesen, wo die Jungen Schlittschuh laufen, und über die Stadt hinweg bis ganz ans Meer hinunter, das eine halbe Meile von dem Berg entfernt und mit Treibeis bedeckt ist. Und auf das alles scheint die Sonne herab, so mild und bläulich weiß, so matt und kraftlos wie das Lächeln einer alten Frau.
In der Meeresbucht liegt ein kleines Dorf. Es verdankt dem Felsen sein Dasein, und wie wachsame Augen wenden die Häuser ihre vielen kleinen Fenster dem Steinbruch zu, wo die Ernährer am Werke sind. Der Boden ist ein magerer Boden, meist nur Stein, aber eben dieser Stein wird zu Brot und gibt einem von Woche zu Woche, was zur Erhaltung des Lebens nötig ist: manchmal weniger, niemals mehr. In der Regel reicht es gerade aus.
Die Dächer des kleinen Dorfes leuchten rot vor dem weißen Schnee. Rot und weiß — man könnte annehmen, es wäre zu Ehren der Armut die Flagge gehisst.
Tief geht die Sonne unter, das weiße Land nimmt leichten Rosenschimmer an. Von jedem Herd des Dorfes steigt Rauch, blauer Rauch säulengerade in die Luft — als hätten die launischen Götter das anspruchslose Opfer von Tang, Grassoden und Kuhdung in Gnaden aufgenommen.
Die Kuhfladen krümmen sich, der Tang knistert; das Samstagsfeuer flammt auf, bereitet in Voraussicht dessen, was der Ernährer auf dem Heimweg eingekauft haben wird. Die Kinder stecken ihre Gesichter tief in die Flammen hinein, die ihre großen Augen und tropfenden Nasen mit Glanz überziehen. Die Mütter laufen unruhig ans Küchenfenster und wieder zurück. Jetzt ist die Sonne fort, sie dürften schon unterwegs sein!
Die Windungen des Weges lassen sich bis fast ganz zum Werk hinauf übersehen, aber die wandernde Reihe, die sich sonst um diese Tageszeit den Weg herunterschlängelt — wo bleibt sie? Sie sind doch wohl nicht unterwegs irgendwo eingekehrt? Gott verhüte das!
Hier und da faltet eine Frau in jäh aufsteigender Sorge die Hände oder stößt eine erbitterte Verwünschung aus, hier und da weint ein Kind vor Hunger, dass es weit weg zu hören ist.
Die Arbeiter haben die Sonne in den Bergen verschwinden und den Rauch von ihren Hütten aufsteigen sehen. Sie haben aufgeräumt und das Werkzeug beiseite gelegt; jetzt stehen sie in kleinen Gruppen beisammen und warten auf den Steinbruchbesitzer. Dort drüben, am Ende des Grates, liegt der Haupthof, von daher muss er kommen. Zum Teufel auch, dass man seine sauer verdienten Pfennige nicht einmal zur rechten Zeit bekommt! Wenn er nur nicht verreist ist, wie neulich samstags.
Endlich kommt er, sein großer Hund hinterher. Er trägt den Lederbeutel in der Hand, also ist heut Geld auf dem Markt! In einer guten halben Stunde kann man mit dem Wochenlohn zu Hause sein; der Weg geht bergab, und mit acht Kronen in der Tasche ist man leicht zu Fuß.
Der Steinbruchbesitzer und die Arbeiter gehen herum und nehmen auf, was während der Woche gearbeitet worden ist: Pflastersteine, Schotter, Treppensteine. Der hohe Herr schilt über eine Klafter Schotter, die nicht auf ebenen Boden gelegt worden ist; das gäbe unehrliches Maß, sagt er. Schweden-Anders lässt gesenkten Hauptes die Schelte über sich ergehen und hofft, auf diese Art einigermaßen glimpflich über seinen missglückten kleinen Kniff hinwegzukommen, denn nun hat der Steinbruchbesitzer ja das Recht, nach Augenmaß zu schätzen, anstatt das ehrliche, redliche Klaftermaß anzuwenden.
Der Steinbruchbesitzer sieht ihn grübelnd an. „Na ja, für diesmal mag es hingehen! Wegen der paar Pfennige, um die du mich betrügen kannst, werde ich wohl nicht gleich pleite gehen, Anders!" sagt er gutmütig und beginnt, den Beutel zu öffnen.
Da klingt Geläute den Berg entlang, und ein kleiner Schlitten mit einem kräftigen Pferd davor kommt auf dem Weg vom Haupthof herangejagt. Ein flotter Bursche in Pelzmantel und Pelzmütze, der Sohn des Steinbruchbesitzers, springt aus dem Schlitten und kommt zu ihnen her.
„Willst du mit in die Stadt, Vater? Große Lomberpartie im Hotel!"
„Kein Geld heute Abend", antwortet der Steinbruchbesitzer.
Der Sohn deutet mit der Stiefelspitze auf den Lederbeutel, aber der Vater schüttelt den Kopf und sieht seine Arbeiter der Reihe nach an, als wolle er die Entscheidung in ihre Hände legen.
„Ach, Unsinn, Alter — die Arbeiter warten bis Montag! Heute Abend ist Geld zu verdienen, du, der Schlächtermeister — schon ein bisschen angelaufen — und ein ganz neuer Mann, Großkaufmann! Du hast doch von dem Schlächter Revanche zu fordern."
Der Steinbruchbesitzer steht einen Augenblick zweifelnd da. Dann steckt er die Hand in den Beutel, um den ersten zu entlohnen. Aber im selben Moment bemerkt er die beinahe drohende Ängstlichkeit, womit alle ihn ansehen, und plötzlich setzt er eine barsche Miene auf und sagt: „Wir warten bis Montag mit der Auszahlung, Leute!" Und er steigt in den Schlitten, der unter Geläute zum Haupthof zurückfährt.
Die lange Reihe der Arbeiter bewegt sich die Windungen der Landstraße zu den Häusern am Meer hinunter, aus denen jetzt die Lampen schimmern. Eine Gestalt hinter der anderen schleicht langsam vorwärts, müde, gebückt, und wie traurige Illustrationen des Satzes, dass das Gehen ein ständig unterbrochenes Fallen sei.
Hinter ihnen erklingt von neuem Schellengeläut, das rasch näher kommt; der große Hund des Steinbruchbesitzers jagt bellend vorüber. Einer nach dem anderen nehmen sie stumpfsinnig und langsam die Mütze ab, noch ehe der Schlitten sie erreicht hat — sie erkennen den Herrn am Hunde.
Und einer nach dem anderen richten sie sich langsam wieder auf, bedecken den Kopf und senden dem Schlitten einen müden, gleichgültigen Blick nach, während dieser wie an einem Spalier gebeugter Nacken entlangfährt. Nur der unterste in der Reihe, der als erster geht, macht keine Miene, das Haupt zu entblößen.
„Er ist ein Krakeeler", sagt der Steinbruchbesitzer zu seinem Sohn. „Er gehört zu diesen Sozialisten, von denen sie drüben so viele haben. Aber er kriegt bald seine Kündigung — sobald wir ihn entbehren können."
Der Sohn schwingt die Peitsche, knallt damit lustig über den Kopf des Arbeiters hin und reißt ihm mit der Schnur die Mütze herunter, so dass sie in den Straßengraben rollt.
1897

 


ANN-MARIS REISE

Eines Winterabends spät erreichte ich einen kleinen Bahnhof in Westjütland, wo ich den Nachtzug nach Kopenhagen nehmen wollte, um von da aus weiter in den Süden zu fahren. Es war ungemütliches Wetter, Glatteis und eine Stockfinsternis. Im Wartesaal war es gleichfalls dunkel, die Hängelampe war zur kleinsten Flamme heruntergeschraubt worden — wahrscheinlich der Sparsamkeit wegen. Aber warm war es dort.
In der Ecke mit dem rostigen Ofen hatte sich eine kleine Bauernfamilie niedergelassen: Mann, Frau und ein siebzehn-, achtzehnjähriger Bursche. Es waren kleine, untersetzte Menschen, wie sie auf den mageren Böden zwischen den Sandhügeln gedeihen, wo die Verhältnisse keinerlei überflüssiges Gepäck gestatten. Der Ausdruck ihrer Gesichter war hart und entschlossen, ihre knorrigen Gestalten hatten ein gewisses zwergenhaftes Gepräge — als ob innerhalb eines zu kleinen Raumumfangs eine große Menge zusammengepackt worden sei.
Die Frau hatte sich in die Ecke zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen und einen scharfen Zug wie von gewaltsam unterdrücktem Schmerz um den Mund; ihr Gesicht war leichengelb. Die Männer saßen vornüber gebeugt rechts und links neben ihr, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Sie blickten scheu auf, als ich hereinkam, rührten sich aber nicht; dann begannen sie miteinander zu flüstern. Die ganze Gruppe machte einen merkwürdig niedergeschlagenen Eindruck, als hätten sie eine schwere Bürde zu tragen.
Ich ging in dem Wartesaal hin und her, zum Fahrkartenschalter hinüber, der noch dunkel war, und in die gegenüberliegende Ecke. Die beiden Männer flüsterten miteinander, über die steifen, gespreizten Knie der Frau hinweg, und sahen verstohlen zu mir her. Schließlich stand der ältere auf und trat zögernd auf mich zu.
„Mit Verlaub, fährst du nach Kopenhagen?" fragte er leise mit gespanntem Gesicht. Ja, allerdings.
Sein bekümmertes Gesicht belebte sich: „Das trifft sich großartig, dann kannst du ja unsere Mutter mitnehmen; sie muss in die Klinik." Er sprach gedämpft — wahrscheinlich, um die Schlafende nicht aufzuwecken —, aber ich hörte die Erleichterung aus seiner Stimme. Dann nickte er dem Sohne zu, dass er herüberkäme.
„Du, Hans, der gute Mann hier fährt nach der Hauptstadt und will sich um Mutter kümmern. Über diesen Berg sind wir also hinweg." Er atmete förmlich auf bei der Mitteilung. Dass ich es ablehnen könnte, kam ihm gar nicht in den Sinn; ich fuhr doch denselben Weg wie die Frau — damit war die Sache klar! Ich erkannte ihn an diesem Zug; man muss gegen übermächtige Verhältnisse hart angekämpft haben, um es als eine Selbstverständlichkeit hinzunehmen, dass einer dem anderen hilft, wo er kann.
Sie waren Kleinbauern aus der Heidegegend um Vorbasse herum, wahrscheinlich von einem dieser armseligen kleinen Anwesen, die in endloser Plackerei der Heide abgerungen worden sind und wieder der Heide anheim fallen, sobald die Hände für einen Augenblick müde herabsinken. Ja, ich kannte sie gut, diese Menschenwesen, die über nichts weiter verfügten als über die bloßen Fäuste und eine unerschöpfliche Selbstaufopferung und deshalb in die Ödnis hinausgejagt wurden, um zum Besten künftiger Gutsbesitzer den Sand in Ackerkrume zu verwandeln. Sie waren ganz unglücklich, ein paar Meilen von ihrem Heim entfernt zu sein, so sehr waren ihnen die tausend Pflichten ins Blut gegangen. Krankheit konnten sie ertragen, wenn sie sie zu Hause abmachen konnten; eine Reise nach Kopenhagen aber türmte sich für sie zu einem verhängnisvollen Schicksal auf, das die Früchte jahrelanger Sparsamkeit zu vernichten drohte. Diese Reise hatten sie in ihren Gehirnen mehrere Male hin- und hergewälzt - ihre Gesichter waren davon starr geworden, ihre Münder bekümmert. Jetzt ergoss sich ein schwacher Glanz der Erleichterung über die jahrelange Sorge, denn hier war ihnen doch ein Teil wenigstens abgenommen. Nun würde Mutter die Reise machen, ohne dass dabei allzu viel in die Brüche ginge.
Übrigens musste es ernst mit ihr stehen, wenn sie sich zu etwas so Ungewöhnlichem entschlossen, wie einen Arzt in der Hauptstadt aufzusuchen. Ich fragte danach.
„Es ist Krebs", antwortete der Sohn, „sie soll in der Hauptstadt operiert werden. Der Doktor hat sie schon seit mehreren Jahren hinschicken wollen, aber sie hat sich bis eben heute widersetzt. Es geht ihr sehr schlecht, wir hätten sie für die Zeit, die ihr noch vergönnt sein mag, gern bei uns behalten; aber nun hat sie Mut gekriegt, den letzten Ausweg zu versuchen." Seine Stimme verdickte sich und schwand dahin.
„Wir haben ja niemand weiter als uns selbst, wir drei — und wir haben uns immer gut vertragen", sagte der Vater, als wollte er die Bewegung des Sohnes entschuldigen.
Inzwischen war die Frau wach geworden, und ich ging hinüber und begrüßte sie. „Hier haben wir einen feinen Kavalier für dich gefunden, Ann-Mari — er will dich nach der Hauptstadt begleiten", sagte der Mann scherzend, indem er ihr behilflich war; „sei ein bisschen freundlich zu ihm. — Es ist Mutters erste Reise", sagte er, zu mir gewendet; „da ist sie ja ein wenig gespannt darauf!"
Sie lächelte mir zu, sagte aber nichts. Ihre Augen waren märchenhaft lebendig, im übrigen aber sah sie mitgenommen aus. Die Krankheit hatte jahrelang Zeit gehabt, sie auszuhöhlen.
Im Fahrkartenschalter wurde Licht gemacht, und ich ging hin, um mir die Fahrkarte zu kaufen. Aber der Mann kam rasch hinter mir her und grub dabei in seiner einen Westentasche. „Vielleicht kannst du diese hier übernehmen", sagte er und hielt mir eine Fahrkarte dritter Klasse hin; „das ist die Fahrkarte, die wir für Hans gelöst haben. Sie hat uns fünf Kronen dreißig
gekostet, wie du selber sehen kannst, aber du brauchst mir nur runde fünf Kronen dafür zu geben. Und dann kriegst du Mutters Karte obendrein!" fügte er mit einem verschmitzten Lächeln hinzu.
Ich wunderte mich, dass sie schon Fahrkarten besaßen, aber die Erklärung dafür war recht einfach. Sie waren gleich nach dem Mittagsschläfchen von zu Hause weggefahren, um rechtzeitig zur Stelle zu sein — einen Fahrplan hatten sie ja nicht, sondern mussten eben darauf vertrauen, dass es mit dem Zug schon klappen würde. Tatsächlich kam auch ein Zug an, er fuhr aber in der falschen Richtung. „Da haben wir denn die Fahrkarten gekauft, um das hinter uns zu haben!"
Mich fror bei der Vorstellung, dass die alte Frau sechs, sieben Stunden hier im Wartesaal zugebracht hatte und nun die Nacht mit einer Reise dritter Klasse verbringen sollte, sie selbst aber schien die Umstände ganz bequem zu finden. Sie war ausgeruht und wartete ungeduldig wie ein Kind, dass der Zug, der ein wenig Verspätung hatte, käme; bei jedem Geräusch erhob sie sich und griff nach ihren Sachen. Es lag etwas Überspanntes in ihrem Wesen, das zu der ernsten Bäuerin, als die sie von außen erschien, in merkwürdigem Gegensatz stand. War es das bevorstehende neue Erlebnis, was sie so erregte? Sie hatte keine Ruhe.
Die Männer hatten wie auf Verabredung alles Bedrückende beiseite geschoben und scherzten mit ihr, als wenn sie auf Vergnügungsreise ginge und sie sie halb und halb beneideten. Bis wir im Zuge saßen, da konnten sie nicht mehr.
„Pass nun auf, dass du es gut überstehst und wieder zu uns nach Hause kommst, Mutter", sagte der Mann und reichte ihr eine zitternde Hand.
Sie nahm seine Hand in ihre beiden Hände und sah ihn lächelnd an. „Ja, da fahre ich nun allein in die Hauptstadt", sagte sie. „Du hast mir diese Lustreise versprochen, seit wir jung waren, und jetzt fahre ich allein — denn sonst würde es nie was werden!" Vielleicht fiel ihr plötzlich der Zweck der Reise ein, denn über ihr Gesicht zog ein grauer Schatten. Eine Weile saß sie mit
geschlossenen Augen da und drückte krampfhaft die Hand ihr Mannes. „Jetzt macht, dass ihr nach Hause kommt, damit dort nichts passiert", sagte sie mit eins und ließ seine Hand los. „Und du, Hans, du wirst doch wohl deiner Mutter einen Kuss geben!"
Hans schob Mutters Esskorb und ein Kissen auf die Bank und beugte sich geniert über sie. „Das will ich dir sagen", hörte ich sie flüstern, als sie ihn küsste, „wenn zwischen dir und dem Mädchen etwas ist, musst du sie heiraten."
Dann fuhr der Zug mit uns ab.
Ich meinte, dass die kranke Frau Bedürfnis nach Ruhe habe und machte ihr aus meiner Reisedecke und meinem Kopfkissen auf der Bank ein Lager zurecht, aber sie lehnte es ab, sich hinzulegen — vielleicht wagte sie es nicht. Sie saß stocksteif auf ihrem Platze, ohne sich anzulehnen, und machte alle Schwankungen des Wagens mit. „O je, o je, wie wir fliegen!" rief sie alle Augenblicke und hob sich halb von der Bank. Ihre Augen glänzten unnatürlich. Da legte ich Decke und Kissen in die Ecke des Abteils und zwang sie beinahe mit Gewalt, sich zurückzulehnen.
„Ja, bei mir muss man auftrumpfen", sagte sie kindlich, als sie zu den Wagenwänden Vertrauen gefasst hatte, „ich bin nämlich ein Hartkopf. Vater und Hans sind viel zu gut zu mir; als sie mich damals fortschicken wollten, wollte ich nicht; und jetzt, wo sie mich zu Hause behalten wollten, musste ich partout reisen. Ich will dir was sagen, ich glaube nicht an diese Operation — nicht für einen Pfifferling. Aber ich wollte mir jetzt Kopenhagen ansehen, ehe es zu spät ist. Wie weit ist es wohl bis dahin?"
„Ach — an die vierzig Meilen."
So was, so was! Und alles in einer Nacht! Und die Häuser in Kopenhagen — stimmt es, dass sie viel höher sind als die Kirche in Laeborg und dass man jetzt angefangen hat, die Leute darin hinaufzuheißen? Und die beiden Gewässer, über die man muss, wenn man in die Hauptstadt wollte — wären die schlimm? Und die Insel Fünen und Seeland — ob man die wohl bei Tage zu sehen bekäme?
Sie hatte sich in die Ecke zurückgelehnt und lauschte meinen Antworten. Der Rausch des Erlebens ließ ihre Augen leuchten und hatte über ihre buchengelben Wangen Röte ausgegossen. Wenn ich schwieg, sah sie mich aus fragenden runden Augen an, die das Wunder, das wahrhafte Wunder von mir verlangten. Ab und zu flog ein Schatten über ihr Gesicht und tauchte alles in Grau; dann presste sie den Arm fest gegen den Unterleib und saß wie versteinert da, während ihr der Schweiß auf die Stirne trat. Aber bald darnach lächelte sie wieder und wollte nichts davon hören, dass sie krank sei. „Es ist bloß eine Schande, dass du das mit ansehen musst — als Dank dafür, dass du so für mich sorgst", sagte sie mit einem rührenden Lächeln, das verriet, wie hübsch die alte Frau einst gewesen war.
Sie war noch nie mit dem Zuge gefahren, es war noch nie Gelegenheit dazu gewesen. Seitdem sie sich als junges Mädchen verheiratet hatte, war ihr Leben ein Kampf in der Wildnis an der Seite des Mannes gewesen. Die Sommer hindurch hatte sie in dem kalten Moorwasser gestanden und Torf gegraben, hatte wie unsinnig mitgeschuftet, damit sie auf dem wüsten Boden nicht zugrunde gingen, und hatte jedes Jahr ein Kind geboren. Der Herrgott musste sich der Kinder annehmen, nicht einmal um über sie zu weinen war Zeit gewesen. Nach und nach war es ein wenig besser geworden, und Hans, der letzte, blieb am Leben, wenn er auch ein bisschen kränkelte. Sieben lagen auf dem Friedhof, aber ihn hatten sie als Stütze behalten. Zwei isländische Pferde hatten sie auf dem Hof und fünf Stück Vieh. Dreißig Tonnen (Anm.:Etwa 15 Hektar. Die Red.) Heideland waren im Lauf der Jahre unter den Pflug gekommen, und jetzt waren sie so weit, dass sie bei großer Umsicht gerade hinkamen. Von der Landwirtschaftsgesellschaft hatten sie für musterhafte Bodennutzung eine Prämie bekommen, die Zeitungen hatten von ihnen geschrieben und sie Eroberer neuen Bodens genannt — ob ich es denn nicht gelesen hätte?
Ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass ich das nicht getan hätte. „Und jetzt gehen Sie auch noch auf Reisen", sagte ich.
„Ja, und ich arbeite nicht - ich darf nicht den kleinsten Finger rühren!" sagte sie und feierte ihren armseligen Triumph, indem sie sich nach hinten lehnte und unter der eingesunkenen Brust die Arme kreuzte. „Der Doktor hat gesagt, sie müssten gut auf mich Acht geben, sonst könnte es leicht passieren, dass ich ihnen wegbliebe. Sie sollen mir nicht mal widersprechen, sondern mir in allen Dingen meinen Willen lassen. Ich kann auch nur leichte Kost vertragen!" Sie lächelte mich an: begeistert, dass sie denn doch auf die Sonnenseite gekommen war. Das Leben war über ihr Kindergemüt hinweggegangen, ohne Spuren zu hinterlassen, und hatte sich als tiefer Todesschatten unter ihren brennenden Augen eingegraben.
Ich hätte sie beinahe gar nicht auf die Fähre bekommen; sie hängte sich krampfhaft an meinen Arm und wollte den Fuß nicht auf die Schiffsplanken setzen. „Es bewegt sich unter mir", wiederholte sie jammernd und fuhr bei jedem Laut der Maschine entsetzt zusammen.
Erst als wir von neuem im Zuge saßen, fühlte sie sich wieder sicher. Der Rhythmus der Fahrt hatte etwas Belebendes für sie; diese Reise hatte als eine holde Verheißung des Blutes aus der Jugendzeit hinter ihrem ganzen mühseligen Dasein gegeistert, und die sanften Luftsprünge des Zuges über die Schienenstöße erfüllten nun ihren Traum vom Fliegen. „Ich fliege, ich fliege!" Immer wieder kehrte sie zu der gleichen Redewendung zurück.
Ann-Mari flog endlich — aber allein — fort von allen beschwerlichen Anforderungen des Jahres und hinaus ins Unbekannte. Das Land Fünen huschte in der Dunkelheit an den Fenstern vorüber; der Name bekam auf ihren Lippen einen feierlichen Klang; jetzt lag das Wasser zwischen ihr und der Heimat, sie war in der Fremde! Das Land Fünen! Hier war es, wo die Erde so freigiebig war und die Frauen so weiche Hände hatten; wenn man nur einen trockenen Span in die Erde steckte, wurde ein Baum daraus. Hier pflückte man zwei Liespfund (Anm.: Etwa 16 Kilo. Die Red.) Johannisbeeren von
einem Strauch, und es wurde erzählt, dass die Frauen nichts weiter zu tun hätten, als gegen ihren Herzallerliebsten gut zu sein.
Aber Ann-Mari flog weiter, dem Zuge voraus, weg von dem Üppigen Fünen. Sie hatte schweigend, mit einem Ausdruck der Verständnislosigkeit angehört, dass ich in den Süden wollte; jetzt aber flog sie plötzlich kühn voraus. Es schmerzte mich ein wenig, dass sie so allein flog, ihre Gedanken waren nicht bei denen daheim; mit denen hatte sie sich während ihrer langen Krankheit offenbar gründlich auseinandergesetzt, hatte Abschied genommen und alles geordnet, da nicht einmal die allerkleinste Pflicht sie zurückrief.
Ihre Gedanken strebten nur hinaus, merkwürdig umherirrend nach immer lichteren Gegenden. Es schien mir, dass ihre Augen klarer und klarer glühten; bei all ihrer Lebhaftigkeit hatte ich das dumpfe Gefühl, jeden Augenblick könnte eine Katastrophe eintreten. Wir waren allein im Abteil, aber beim nächsten Halt wollte ich einen Schaffner herbeirufen, um nicht mit ihr allein zu sein, falls etwas geschähe. Im nächsten Augenblick aber verwarf ich das als töricht; in Wirklichkeit hatte ich ja gar keinen Grund, außer dass sie Krebs hatte und in die Hauptstadt fuhr, um operiert zu werden; sie hatte nicht einmal Müdigkeit gezeigt, während ich...
Ich war sehr müde und lehnte mich mit geschlossenen Augen zurück, um ein wenig Ruhe zu haben. Sie schwieg sofort, und kurz darauf spürte ich eine Hand, die mir ein Kissen unter den Nacken schob. „Du bist schläfrig", sagte sie, als ich die Augen aufschlug; „die Jugend darf auch ihre Nachtruhe nicht an ein altes Weibsbild verschwenden."
Ich erkannte an ihrem betrübten Gesicht, dass sie mit mir ihre große Reise machte und dass ich im Begriff gewesen war, sie im Stich zu lassen. Ach, sie liebte mich ja! Und seltsam genug, es stieß mich nicht ab. Sie hatte sich all die mühevollen Jahre hindurch etwas Jungfräuliches bewahrt, einen stillen Glauben an die Märchenwunder einer Reise, der aus ihren Augen leuchtete und ihr ewige Schönheit verlieh. „Wollen wir nicht die Reise in den
Süden gemeinsam machen, wir zwei?" fragte ich scherzend und fasste sie um den vom Tod gezeichneten Kopf. Und aus Furcht, der armseligen Person auch noch ihre Reise zu etwas Armseligen zu machen, erzählte ich von dem Sonnenland ohne Sorgen und stellte es noch schöner dar, als es ist — so schön, wie es einem nur in der Sehnsucht ist.
Ann-Mari lächelte, und als ich schwieg, stellte sie kindliche Fragen, die zeigten, wie grotesk sich die Fremde in ihrem Hirn gestaltete. „Es muss schön sein, so nach unbekannten Stranden auszuziehen", sagte sie schließlich mit einer volkstümlichen schönen Redewendung. „Wenn ich jung wäre — ja, da wäre ich mit dir gefahren. Und ich hätte dir bestimmt Freude geschenkt. — Aber deshalb brauchst du nicht traurig zu sein, denn jung und rot leidet keine Not — es gibt weiche Hände genug, die in weichem Haar spielen wollen."
Es war, als ob sie in ihrer Herzensreinheit die eigenen peinlichen Spuren verwischen und mich mit der Liebe der Jugend als Schmuck an diese zurücksenden wollte. „Ich glaube, am anderen Ende der Reise erwartet dich etwas Schönes — als Dank dafür, dass du ein altes Weib auf ihrem letzten Stück Weg begleitet hast!" sagte sie und sah mich auf einmal schalkhaft an, so schalkhaft, wie es ein Gesicht nur dann fertig bringt, wenn die Erschlaffung der Haut die Erfahrung des Todes darüber gebreitet hat. Die tiefen Furchen auf ihren Wangen vertieften sich, als wollten sie auch das Spiel mitmachen — sie waren einmal sanfte Lachgrübchen gewesen.
Dann fiel sie schließlich doch zusammen. Wir waren im großen Ganzen mit gutem Ertrag durch die Finsternis gereist; das Unbekannte hatte sich für sie mit Spannung erfüllt. Jetzt, da weit draußen über den Türmen der Hauptstadt die Sonne aufging, lag sie mit geschlossenen Augen still da und besaß keine Kraft, die Wirklichkeit in Besitz zu nehmen. Es war, als ob das Licht des Tages die Verzauberung löste. Man musste sie hinaustragen in den Wagen, der sie in die Klinik führen sollte, und sie erkannte mich nicht mehr.
Sie gelangte nicht auf den Operationstisch, sondern setzte ihre Reise weiter fort, tief ins Unbekannte, wie sie ging und stand. Es wunderte mich nicht, als ich in der Zeitung eine Notiz darüber las. Sie hatte sich viele Jahre auf diese Reise gefreut, und wenn sie weiter so verlief, wie sie begonnen hatte, dann macht es nicht sehr viel aus, dass es ihre einzige war.
1909

 

DER IDIOT

Am Tage nach meiner Konfirmation saß ich wieder hinter dem Strohschirm und schlug Schotter aus dem Ausschuss, während Vater etwas weiter weg stand und Blöcke zu Pflastersteinen spaltete. Heute war genau wie vorgestern, genau so. Ich spürte keinerlei Nachwirkungen, die Konfirmation war keine feierliche Einführung in eine neue Welt gewesen.
Plötzlich legte Vater den Fäustel hin und sagte:
„Das Beste ist, du gehst hin und suchst dir eine Stellung, denn von nun an musst du für dich selber sorgen."
Er nickte bedeutungsvoll zu den Worten, und obwohl ich für mich selber gesorgt hatte, fast seit ich kriechen konnte, klang es durchaus schicksalschwanger — als übertrüge er mir eine schwere, verantwortungsvolle Last und recke selber den Rücken. Ich packte das Werkzeug zusammen, legte den Schirm darüber und schlenderte aufs Geratewohl in den Herbstregen hinaus.
Weit drüben in Povlsker gelangte ich endlich zu einem Gehöft, wo man kein Aufhebens von meiner Schmächtigkeit machte, sondern mich als „Arbeitshure" dingte. Der Hof war ziemlich groß, und ich sollte für den ganzen Viehbestand sorgen und dafür das halbe Jahr zwanzig Kronen bekommen. Heutzutage braucht man erwachsene, ausgebildete Männer zu dieser Arbeit, sie gilt als besonders schwer und verantwortungsvoll und ist die bestbezahlte Arbeit in der ganzen Landwirtschaft. Es liegt eine Entwicklung zwischen damals und heute!
Ich war klein und schmächtig; mein Körper hatte sich früh darauf einrichten müssen, alles in Arbeit umzusetzen. Dafür war ich in guter Arbeitsverfassung, trainiert und zähe; ich wurde nicht leicht müde und scheute mich vor nichts. Aber dieses war mir doch zu viel! Von Wintermorgens drei, halb vier Uhr an bis gegen neun Uhr abends war ich ununterbrochen mit der Arbeit im Gange, die stets an der Grenze meiner Kräfte lag und oft weit darüber hinaus. Wenn nur eine Kleinigkeit schiefging oder ich für einen Augenblick in verzweifelter Selbstaufgabe zusammensank, häufte sich die Arbeit um mich auf wie ein Berg der Unüberwindlichkeit. Ich rackerte mich wie wahnsinnig ab, das Versäumte nachzuholen, aber die Tiere waren gestrenge Herren. Wurde ihre Essenszeit nur um fünf Minuten verspätet, erhoben sie ein anklagendes Gebrüll. Und dann verließ der Bauer seine junge Frau und sein warmes Bett und kam herbeigesprungen — halbnackt —, um Gericht zu halten.
Es war eine harte Zeit, aber ich fühlte eigentlich kein Mitleid mit mir. Ich ertrug sie, wie die Unterdrückten ihren Fluch nun einmal tragen. Die Verhältnisse lassen sich nicht sanfter machen, da muss man also versuchen, dem Leiden gegenüber gefühllos zu werden. Trotzdem erinnere ich mich an eine dumpfe Empörung dagegen: ich ging eines Tages mit einem Ende Strick im Futtergang umher und suchte nach einer Stelle, wo ich mich aufhängen könnte. Es kam etwas dazwischen — ich glaube, der Stier riss sich los; alles das hat damals keinen tieferen Eindruck auf mich gemacht — und ich musste, wie schon so oft, mein eigenes Wohl der Pflicht zum Opfer bringen.
Auf einem der Nachbarhöfe saß ein Bauer, der seine Leute nicht zu halten verstand. Er selber tat ungern einen Handschlag und liebte es desto mehr, gut zu essen und zu trinken; denen aber, die die Arbeit verrichteten, gönnte er weder Essen noch Lohn. Jetzt bewirtschaftete er den Hof mit Hilfe eines geistesschwachen armen Luders, für den ihm die Gemeinde noch ein Pflegegeld bezahlte.
Ich kannte diesen Unglücklichen recht gut; in meiner frühen Kindheit war er ein kräftiger junger Bursche gewesen, der zur See fuhr. Gelegentlich kam er zur Winterszeit nach Hause, fröhlich und übermütig, voll von der Frische des Auslands. Aber dann einmal erreichte uns nur ein Gerücht: er hatte während eines Sturms am Ruder gestanden, das Großsegel riss sich los und schlug
ihm einen Block an den Kopf. Er hätte das Rad fahren lassen und sich in Sicherheit bringen können - dann wäre wahrscheinlich das Schiff draufgegangen; er blieb auf seinem Posten und ließ sich zum Idioten schlagen! So ungefähr lautete das Gerücht, und so kam er auch aus Übersee nach Hause, wie ein Wickelkind von Ort zu Ort befördert. Er konnte nicht mehr für sich selber sorgen; deshalb gab ihn die Gemeinde an den Mindestfordernden ab.
Man sah ihm nichts Besonderes an, er glich dem gewöhnlichen abgestumpften Arbeiter. Man konnte sich auch ganz gut mit ihm unterhalten, aber er erinnerte sich an nichts aus seiner lichten Zeit vor dem Unglück und kümmerte sich um nichts weiter auf Erden als um Branntwein. Die Äcker der beiden Höfe stießen aneinander, und ich kam oft mit ihm in Berührung. „Hast du Branntwein?" fragte er jedes Mal, wenn er mich sah. Ich hätte mir für einen Schnaps seine Hilfeleistung erkaufen können, hatte damals aber gute Gründe, den Branntwein zu hassen.
Wenn er nüchtern war, gärte es in ihm boshaft und tückisch, dass einem bange wurde; selbst sein Dienstherr fürchtete sich dann vor ihm. Vielleicht regte sich eine unklare Forderung ans Dasein unter seiner Idiotie und gebrauchte er den Alkohol, um dieses Gefühl darin zu ertränken; der Bauer sorgte stets dafür, dass Schnaps für ihn vorhanden war. Sonst aber behandelte er ihn schlechter als ein Tier, gab ihm elendes Essen und ließ ihn in einem Winkel des Stalles schlafen.
Der Idiot fand sich gleichmütig darein, wenn er nur seinen Schnaps bekam. Er war ein stämmiger, breitschultriger Bursche und tat die Arbeit von zwei, drei Mann; es musste ihn nur jemand anstellen und in Gang bringen.
Eines Tages hatten wir einen jungen Stier auf dem Dampfschiff abzuliefern. Das Tier war ziemlich launenhaft, und weder der Bauer noch der Knecht hatten Lust, es zur Stadt zu bringen. Also musste ich es tun; ich war ja gewöhnt, mit dem Stier umzugehen. Der Bauer war großzügig und gab mir für den Rest des Tages frei.
Ich war noch nicht zu Hause gewesen und war über mein Glück unbändig froh. Alle meine Lieder grölte ich unterwegs, und ich hielt den Bullen in scharfem Galopp, damit er gar keine Zeit fände, auf Bosheiten zu verfallen. Ich war vor Heimweh ganz krank.
Ich lieferte den Stier ab und rannte nach Hause. Meine kleinste Schwester hing über das Ende der Bettstelle und heißte einen Schemel auf und nieder; sie starrte mich einen Augenblick an, dann verlor sie den Schemel und brüllte los. Mutter kam aus der Küche hereingestürzt.
„Herrgott, bist du es, mein lieber Junge", sagte sie — „wie mager du bist! Du siehst ja richtig böse aus. — Jaja, arme Leute müssen mit allem vorliebnehmen!" Sie ging um mich herum und befühlte mich liebkosend; ihren zarten Händen konnte ich anmerken, dass sie stolz auf mich war, und das machte mich tapfer.
Zum Feierabend kam Vater nicht nach Hause, und wir hatten es gemütlich miteinander. Mutter flickte meine Kleider und wir Kinder schnitten aus alten Spielkarten Schlitten, russische Schlitten mit feurig stürmenden Pferden davor — und mit einem Wolf, der dem Deichselpferd an die Kehle wollte. Weit hinten an der Tischkante tauchten weitere Wölfe auf, und bald würden sie den Mann im Schlitten und die Mutter mit dem kleinen Kinde auffressen. Ich hatte ganz vergessen, dass ich nur auf Besuch zu Hause war — und den Ort der Qual hatte ich vergessen, der auf mich wartete.
Plötzlich stand Mutter erschrocken auf: „Aber Kind, die Uhr geht auf neun, du hast einen weiten Weg!" Sie sah fröstelnd zum Fenster hinaus; es war stockdunkle Nacht und stürmisch, vom Strande her brüllte die See.
Die Wirklichkeit mit allen ihren Schrecken stürzte gewaltig über mir herein. „Mutter!" flüsterte ich und sah sie flehentlich an. Sie begann zu zittern.
„Herrgott! Ist es so schlimm?" sagte sie verzweifelt und sah sich ratlos um, als suche sie eine Stelle, mich zu verbergen.
„Und dein Vater, Kind?" rief sie plötzlich verzagend; „bald...« Mehr brauchte sie nicht zu sagen, ich nahm still meine Sachen und sagte Lebewohl. Sie stand am Fenster, als ich zur Straße hinaustrabte, und lächelte mir aufmunternd zu — mit verzerrtem Gesicht.
Ich hatte nicht die Absicht, auf den Hof zurückzukehren — alles andere lieber als das! Ich lief nur ins Dunkel hinaus, um Mutter zu schonen. Aber irgend etwas trieb meine Schritte dennoch auf den Weg; es war wohl das verfluchte Pflichtgefühl, das den kleinen Leuten tief im Fleische sitzt und sie veranlasst, beständig die Lasten einer Welt auf sich zu nehmen, die nicht um ihretwillen da ist. Ich wollte den Weg nicht einschlagen und lief ihn doch — aus Protest leise vor mich hin heulend.
Ich lief über eine halbe Meile, ohne irgendwelchen Eindruck aufzunehmen; mein Kindergemüt war wohl in jenen Schlummerzustand geschlüpft, der immer noch das einzige Abwehrmittel der Gequälten gegen Misshandlung ist. Den Tannenwald und die unheimliche Balkaheide passierte ich, ohne es zu wissen. Dann aber weckte mich die Nacht mit ihrer unausweichlichen Forderung; ich entdeckte die Finsternis rings um mich her und verlor allen Mut.
Es gibt Menschen, die das Dunkel lieben, glückliche Unwissende, denen es der große Besänftiger ist, der alles Widerstreitende zur Ruhe bettet. Für mich war das Dunkel stets von entsetzlichem Leben erfüllt; ich habe verzweifelt mit ihm kämpfen müssen — nicht zum mindesten damals, als mein Wissen meine Kräfte überstieg. Schon in meiner Kindheit enthüllte mir ja das Dunkel so vieles, was das Tageslicht verbarg; wie jene chinesischen Rattenfängerjungen, die in den Kloaken aufwachsen, besaß ich die unbehagliche Fähigkeit, alles zu sehen, was sich im Dunkel rührte. Und nun stürzte diese ganze böse Welt auf mich ein, ich empfand ihre Schrecken mit hellseherischer Kraft und war wehrlos. Alle die Aufregungen meiner Kinderzeit erhoben sich wie durch Hexerei aus dem Dunkel, grotesk und übergewaltig, um mich kleines Menschenkorn zu verschlingen.
Es war wie ein epileptischer Anfall; meine ganze Person war in einen Krampf zusammengeschnurrt — aber ich lief unentwegt. per Gedanke an den Hof war das einzige lebendige, warme Gefühl in mir, der Hof stand mir in diesen Augenblicken als ein behaglicher Zufluchtsort vor Augen. — Plötzlich, mitten im Laufen, spürte ich an meinem Leibe, dass ein Mensch in der Nähe sei; ich spähte im Lauf scharf ins Dunkel — und fiel, so lang ich war, über einen schweren Körper.
Es war der Idiot. Ich erkannte ihn, als ich ein Streichholz anbrannte; er war besinnungslos betrunken. Es war mir unmöglich, ihn auf die Beine zu stellen, und ich ging weiter. Jetzt hatte ich keine Spur von Angst mehr.
Etwas weiter traf ich unseren Knecht, der seine Liebste auf den Weg gebracht hatte. Er ging mit mir zurück, und gemeinsam brachten wir den Idioten auf die Beine. Aber es war nicht möglich, ihn von der Stelle zu schaffen; er stand da und machte sich stocksteif, so betrunken er auch war, und lallte etwas vor sich hin; sein Kopf hing schwer auf die Brust hinab. „Mein Branntwein", schien er mir zu lallen — „mein Branntwein." Ich begann zu suchen, während der Knecht ihn stützte, und fand am Wegrande ein Drei- bis Vier-Liter-Fässchen; es war ganz voll! Wie ich diese gemeine Flüssigkeit hasste! Ich hatte meine schwachen Kräfte schon so manches Mal dagegen eingesetzt und meine Prügel dafür bezogen — jetzt flammte der Hass von neuem auf. Ich riss den Zapfen aus dem Fässchen und ließ den Branntwein in den Graben laufen; der Gestank schlug um mich empor wie der Atem eines Betrunkenen und erinnerte mich an mancherlei. Dann hielt ich das Fässchen in den Graben und ließ es voll Wasser laufen. „Wo bleibst du?" rief der Knecht ungeduldig.
Der Idiot lebte auf, als ich mit dem Fässchen ankam, er wollte es selber tragen und umschlang es mit beiden Armen. Aber er konnte sich nicht im Gleichgewicht halten, wir mussten ihn nach Hause und in sein Loch schleifen.
Am nächsten Vormittag, als wir beim Frühstück saßen, kam der Nachbar zu uns herüber; er sah ganz verstört aus. „Es ist rein toll mit Anders", sagte er. „Er ist ganz wild, ich habe keine Gewalt über ihn."
„Dann knauserst du wohl auch mit dem Branntwein?" erwiderte mein Dienstherr und lachte.
„Nein, nein, bei Gott nicht, er hat ein ganzes Fässchen voll! Aber er will es nicht anrühren. Er geht um mich herum und macht ein Gesicht, als wolle er auf mich losspringen. Er arbeitet überhaupt nichts."
Mir wurde heiß um die Ohren. Insgeheim hatte ich mich über meine Heldentat mächtig gefreut — und war nahe daran gewesen, sie dem Knecht zu erzählen. Das wäre also schlecht für mich abgelaufen.
Mein Brotherr begleitete den Nachbarn hinüber, sie kamen aber unverrichteterdinge zurück. Sie hatten sich dem Idioten nicht zu nähern gewagt, der mit einer Mistgabel bewaffnet um den Hof herum ging. Mir graute bei dem Gedanken, der Verrückte könne darauf verfallen, dass ich es war, der ihm das Leben unerträglich gemacht hatte, und er könne herüberkommen, um mich totzuschlagen. Alle Augenblicke war ich vor dem Kuhstall und hielt Ausschau, bereit, die Beine in die Hand zu nehmen. Er ging da drüben herum und focht mit großen, unbeholfenen Bewegungen in der Luft; ich konnte ihn rufen hören.
An diesem Tage blieb der Nachbar bei uns, und es kamen andere Leute dazu und beratschlagten, was zu tun sei. Es wurde vorgeschlagen, dass man gesammelt auf den Idioten losgehen und ihn überwältigen solle. Aber die Knechte hatten für den Bauern von drüben nichts übrig und wollten nicht mitmachen, und die Bauern selber hatten Angst. Da ließ man es dabei bewenden, dass man am nächsten Morgen nach der Polizei in die Stadt schicken würde.
Aber in der Nacht legte der Idiot Feuer an den Hof; er brannte bis auf die Grundmauern nieder.
Dies ist nur ein einzelnes Kindheitserlebnis von vielen anderen. Damals kam ich mir wie ein heimlicher Verbrecher vor; lange
ging ich in ständiger Angst umher, die Behörde werde mich als den eigentlichen Urheber der Sache zur Verantwortung ziehen.
Seitdem aber hat sich mein Leben auf dem Grunde meiner Kindheitswelt geformt, und aus  vielen Gebieten summierten sich nach und nach meine Erfahrungen derart, dass mir der Idiot in einer Bedeutung erschien, die weit über den Sonderfall hinausreichte.
Später kam es mir so vor, als läge Sinn darin, dass gerade ich es war, der dem Idioten den Branntwein fortnahm und ihn dadurch dahin brachte, den Hof in Brand zu stecken und dem Missbrauch ein Ende zu machen.
1909

 

STRÖM

Ich war arbeitslos, und es war Winter. Es bestand keine Möglichkeit, sich in das Getriebe der kleinen Stadt wieder hineinzuzwängen, nachdem man erst einmal davon ausgeschlossen war. Der alte Hafen war voll von abgetakelten Schiffen, die für den Winter aufgelegt worden waren; die Arbeit am neuen Hafen war wegen des Frostes eingestellt worden. Es war nach allen Seiten hin gesperrt.
So betrieb ich die Kunst der Einschränkung. Es ist kein Ende, was alles man im Falle der Not abstoßen kann — und trotzdem am Leben bleiben. Schließlich ist man denn gar kein lebendes Wesen mehr, sondern eine Spore, die daliegt und auf den günstigen Augenblick zum Aufwachen wartet.
In jenem Winter war ich Zeuge von mancherlei Not, aber in meinem Zustand der Abgestumpftheit rührte es mich nicht weiter. Meines Mitgefühls mit den Hungernden hatte ich mich entledigt — um die Waffe nicht noch gegen mich selbst kehren zu müssen.
Das einzige, was mich zu ein bisschen menschlichem Leben aufzurütteln vermochte, war mein Nachbar, der Taucher Ström, wenn er gegen die Finsternis wütete. Er hatte sein gutes Auskommen, aber das Entsetzen selber war über ihm; durch die dünne Bretterwand hörte ich, wie er sich mit dem Fluch und den unsichtbaren Rächern wie wahnsinnig herumschlug. Die Haare standen mir zu Berge, wenn ich im Dunkel lauschend lag, und über diesem schrecklichen Grauen, das aus dem bodenlosen Unbekannten emporschlug, vergaß ich mein handgreifliches eigenes Elend.
In den Weihnachtstagen kam aus einem der kleinen Orte im Nordland mein Bruder herein. Er war entlassen worden, hatte keinen Öre in der Tasche, und deshalb meinte er, dass ich... Er lachte auf eigentümlich innerliche Art, als er meinen Zustand sah: ein Lachen, das ebenso wohl ein Weinen sein konnte.
Dann beratschlagten wir. Nach Hause zu gehen, hatte keinen 5inn; es sollte natürlich nur ein Weihnachtsbesuch sein, wenn aber der Alte erfuhr, dass wir arbeitslos wären, würde er uns aus Furcht, uns nicht wieder loszuwerden, einfach vor die Tür setzen. Wahrscheinlich war auch zu Hause Schmalhans Küchenmeister.
Wir hatten einen sehr wohlhabenden Onkel in der Stadt; er gehörte zu den Heiligen und hatte sich oft bemüht, uns für seine Sekte zu gewinnen; für unser irdisches Wohl hatte er sich nie interessiert. Ich hasste ihn beinahe, aber mein Bruder, der von weicherem, geschmeidigerem Gemüt war, scheute sich nicht, ihn zu besuchen. Wir wussten ungefähr, wann die Familie an den Feiertagen zu Mittag essen würde — die Mahlzeit musste mitten zwischen die beiden Gebetsversammlungen fallen. „Es kann dir ja nicht nützen, dass ich gleichfalls hungere", sagte mein Bruder entschuldigend, „und wenn ich dazu Gelegenheit habe, werde ich auch für dich etwas in die Tasche stecken." Er war die Gutmütigkeit selber und lächelte mir aufmunternd zu, als wir die Kleidung tauschten, so dass er meine beste und ich seine schlechteste bekam. Wir pflegten niemals mehr mit uns herumzuschleppen, als wir auf dem Leibe trugen.
Er kam mit leerem Magen zurück. Aber er hatte sie im Zimmer nebenan essen hören und wusste bestimmt, dass es Schweinebraten und Rotkohl gegeben hatte. Und sie begrüßten ihn freundlich, als sie vom Tisch aufgestanden waren, und hatten ihn in ihrer leisen Manier gemahnt, Gottes Haus aufzusuchen. Es war ja seiner Verfassung leicht anzumerken, dass er einer Handreichung bedürftig war. „Hätte ich mich bloß mit dem Dienstmädchen anfreunden können; innerhalb von fünf Minuten hätte ich dann einen Haufen Schweinebraten gehabt", sagte er niedergeschlagen. „Aber sie passten auf, die Biester — sie kennen mich ja." Es lag keine Spur von Prahlerei darin.
Es war immerhin möglich, dass ihre Aufforderung maskiert das Versprechen einer Abendmahlzeit enthielt. Und da es nicht gerade ein Vergnügen war, in der kalten Kammer zu sitzen, teilten wir die Kleidung von neuem unter uns auf, gleichmäßiger, und gingen in die Versammlung.
Das Missgeschick hatte mich isoliert. Allein im Zimmer, hielt ich eine ganze Menge aus, ohne zusammenzuklappen; aber die Wärme und alle diese verschiedenen geheimen Kräfte, die von einer Versammlung von Menschen ausstrahlen, ließen mich rasch wie einen Lappen zusammenfallen. Mehrere Male verlor ich das Bewusstsein, aber jeder Anfall dauerte nur kurze Zeit, denn mein Bruder kniff mich jedes Mal kräftig ins Bein und warf mir einen wütenden Blick zu. Doch bald darauf sank ich wieder zusammen, es war mir ganz unmöglich, mich zu behaupten. In den Augenblicken dazwischen hörte ich dumpfes Summen und sah, wie mein Bruder dasaß und zuhörte: mit offner Miene und leuchtendem, verzücktem Gesicht; und ich hatte die dunkle Empfindung, dass ich ein elendes Vieh wäre, einzig dazu geschaffen, alle Chancen zu verscherzen. Dann tauchte ich wieder in jenen Zustand der Leere unter, der nicht einmal der Andeutung eines Traumes Raum lässt. Noch nie war ich so völlig aus dem Dasein ausgelöscht gewesen, und noch nie hatte ich so gründlich ausgeruht. Als die Versammlung vorbei war, kam es mir so vor, dass alles erst jetzt beginnen werde — vom nackten Grunde auf.
Die Familie unseres Onkels kam her und begrüßte uns freundlich, und andere Heilige folgten ihrem Beispiel. Es war etwas dabei, als hätten sie uns durchschaut und gäben uns ihre Vergebung zu erkennen; Gottes Langmut mit den Spöttern leuchtete aus ihren milden, frommen Gesichtern, während sie uns hinausgeleiteten. Ich empfand deutlich, wie sehr wir zwei mageren Hunden glichen, als wir uns voller Scham über unser Pech davonmachten; ich hatte Lust, ihnen nach den Beinen zu schnappen.
Zu Hause war es kalt, und ich hatte kein Petroleum. Also krochen wir in mein Bett und unterhielten einer den anderen von gemeinsamen Erinnerungen — meist aus der Kinderzeit. Es gab genug lustige Vorfälle, bei denen man verweilen konnte, und traurige desgleichen; es war ihnen gemeinsam, dass sie alle mit Prügeln endeten. Das regte zu tieferem Nachdenken an, und plötzlich rief mein Bruder:
„Man mag nun von dem Alten sagen, was man will, aber eine gute Erziehung hat er uns gegeben. Er ist wahrhaftig vor nichts zurückgeschreckt."
Von Zeit zu Zeit jammerte Ström nebenan. Die Laute drangen durch die Bretterwand wie das kranke, flehentliche Heulen eines gewaltigen Tieres, das irgendwo im Dunkel in der Falle sitzt. Jedes Mal krümmte sich mein Bruder vor Unbehagen: „Was ist denn los mit ihm — kannst du ihn nicht veranlassen, aufzuhören?"
„Er schlägt sich mit der Erinnerung an eine Frau und ein kleines Kind herum — die er in seiner Jugend wahrscheinlich ermordet hat! Heute ist es nicht so schlimm; manchmal ist er ganz und gar wild."
Meinem Bruder gefiel es nicht, er klopfte wütend an die Wand; er hatte eine instinktive Abneigung gegen alles, was nach Gewissensbissen schmeckte. Dann fing er sein leichtes Geplauder von neuem an; er besaß die glückliche Gabe, sich alles vom Halse zu reden — auch im Verhältnis zu sich selber — und die Leere mit seiner Sorglosigkeit zu füllen. Ich hörte mit halbem Ohre zu, während unter der Oberfläche mein eigenes Hirn unangefochten weiterarbeitete; so hatte ich mich ihm schon als Kind angepasst.
Es gab nicht eine Stelle innerhalb meiner Welt, die nicht schon die hundertmal abgesucht gewesen wäre. Wie hungrige Ratten spürten meine Gedanken rastlos umher und schnupperten an allem, auch am Schmutz; jedes Mal, wenn sie hoffnungslos hinsanken, jagte sie das brennende Gefühl in meinen Eingeweiden wiederum an die müßige Arbeit. Schließlich war mein Gehirn wie aller Fähigkeit beraubt, es fuhr idiotisch alle die ausgetretenen Pfade; mein Kopf war der gequälte Tummelplatz bestimmter Vorstellungen, die mechanisch, sinnlos darin umherwirbelten — und nicht anzuhalten waren. Und mittendrin hörte ich meinen Bruder neue Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen und uns durch ein optimistisches „Wenn" mit ihnen verknüpfen. Sein heiteres Gemüt ging in pure Delirien über. Großzügig wie immer schloss er mich reichlich in sie ein, aber ich wusste aus bitterer Erfahrung, dass sie nur für ihn selber Wirklichkeit besaßen. Es war ihm angeboren, aus allem einen Ausweg zu finden. So wie er ausgestattet war, leichtfertig und gleichgültig, unter der warmherzigen Oberfläche ganz von sich selber eingenommen, verfügte er über weit mehr Hilfsquellen als ich. Er stand dem Herzen der Vorsehung näher, und es wunderte mich nicht, dass er plötzlich einen Einfall hatte, der ihn über die Schwierigkeiten erhob und mich darin zurückließ.
Es drehte sich um ein Mädchen, dem er im Sommer einmal flüchtig begegnet war und mit dem er sich halbwegs verlobt hatte. Es war sein Schicksal, dass er sich mit den Mädchen, die er kennen lernte, jedes Mal mehr oder weniger verlobte; das bedrückte ihn übrigens nicht, da sie niemals Ansprüche auf ihn geltend machten. Anderseits wäre es ihm das leichteste von der Welt gewesen, jedwede seiner Verbindungen neu zu knüpfen und auf natürliche Art fortzusetzen; für ihn gab es dort, wo er abgebrochen hatte, allemal eine Brücke. Diese hier wohnte in Aakirkeby, ihr Vater war Gastwirt und wohlhabend dazu. Was lag wohl näher, als dass mein Bruder die Weihnachtstage dazu benutzte, sich aufzumachen und sich den Schwiegereltern vorzustellen.
Ich fühlte mich in seiner Gesellschaft elendiglich verlassen und hatte nichts dagegen, ihn loszuwerden. „Als arbeitslos stellst du dich doch wohl nicht vor?" fragte ich besorgt.
Er sah mich großartig an. „Ich habe mir Ferien geleistet, du", antwortete er ruhig. „Vielleicht lasse ich mich da oben auch als Meister nieder."
Ich konnte ihn beruhigt ziehen lassen, er war in besseren Händen als meinen. Die braven Gastwirtsleute würden vor Begeisterung über ihn närrisch werden; die Geldlade würde sich ihm von selber öffnen, und er würde mit Schwiegerpapa umhertraben, um nach einer Werkstatt und einem Baugrundstück Ausschau zu halten, während das Mädchen an der Aussteuer nähte. Und dann eines Tages —! Er bekam meine Schuhe, die besser als seine waren, und was ihn sonst noch herausputzen konnte. Ich hatte ja keine Verwendung dafür, wenn ich doch zu Hause lag und an die Decke starrte, und für ihn kam es darauf an, einen guten Eindruck zu machen. Natürlich würde er so bald wie möglich nach mir schicken! Ich glaubte ihm alles, was er sagte — solange ich ihm in die Augen sah; hinterher war es mir gleichgültig. Dann drückte er mir die Hand und ging fort; und ich vergnügte mich von neuem damit, im Bett zu liegen und die Leere singen zu hören.
Ich hatte ein ganzes Jahr mit dem Taucher Tür an Tür gewohnt und war mit seinen Anfällen vertraut, nur die Ursache kannte ich nicht; ich fragte auch nicht danach. In diesen Tagen aber unterlag er ihnen heftiger denn je. Vielleicht hatte mir das Elend die Seele ausgehöhlt und sie zu einem allzu stark schallenden Resonanzboden gemacht, aber es lag auch an sich mehr darin. Es war, als ob die allgemeine Not in seine dumpfe Klage gegen die Verdammung hineinspielte, obwohl er sein gutes Auskommen hatte; so entsetzlich heult auch der Hund, wenn Seuche und Finsternis gemeinsam über das Dorf hinweggehen. Es regte mich fürchterlich auf, so dass ich mein eigenes Elend beiseitesetzen und eingreifen musste. Wenn er sein Lied von dem Geächteten abends sanft begann, wich meine Stumpfheit einem qualvollen Fieber, das in meinem Körper schmerzlich zerrte, weil es nichts gab, wo es angreifen konnte; und während sich nebenan sein Kampf steigerte, lag ich in wahnsinniger Spannung da und griff den Schrecknissen noch vor, bis ich in Schweiß gebadet zusammensank.
Eines Nachts musste ich eingreifen; ich kam gerade rechtzeitig, ihn daran zu hindern, sich auf dem Dachboden aufzuhängen. Er blickte, als wollte er mich zerschmettern; es ist unfassbar, wie ich in meinem geschwächten Zustand die Kraft fand, ihm den Strick fortzunehmen und ihn ins Zimmer zu führen. Aber gleichzeitig ging mit mir selber etwas vor: einen Durchbruch zur Mündigkeit des Mannes könnte man es nennen. Ich hatte die Verantwortung für einen anderen Menschen auf mich genommen und durfte es nicht länger dabei bewenden lassen, dass Ström dem Schicksal unterworfen war; ich musste selber Bescheid wissen.
„Warum willst du Hand an dich legen?" fragte ich zornig.
„Weil da drüben eine junge Frau und ein kleines Kind sitzen, die mir mit ihren Anklagen ständig die Ohren vollheulen", antwortete der Taucher widerwillig. Sein bärtiger hübscher Kopf hing ihm auf die Brust hinab.
„Was hast du ihnen denn getan?"
Ström hob den Kopf und sah mich unsicher an, mit einem ratlosen, flehenden Gesichtsausdruck, als suche er bei mir Hilfe, seine Gedanken zu ordnen: „Ja, was habe ich ihnen getan? Sag du es mir! Anderes als Gutes habe ich ihnen nie gewünscht, und ach, nun sitzen sie doch einsam da — eine hübsche Frau und ein kleines Kind."
Hier überwältigte ihn der Kummer, weiter kam er nicht.
An den folgenden Abenden sputete er sich vom Hafen nach Hause, ohne vorher zu trinken, und suchte bei mir vor seinen Gewissensbissen Zuflucht. Er hatte den Menschenhass überwunden und vermochte den ganzen Abend in meinem Zimmer zu sitzen; seine Anhänglichkeit hatte etwas an sich, das wie das stumme Betteln eines Hundes auf mich wirkte. Meistens schwieg er, doch dann und wann brach unverschuldet die Dankbarkeit aus ihm heraus.
„Ich freue mich über dich, du", sagte er eines Abends; „ich bin hier jahrelang herumgelaufen und habe mich nie einem Menschen anvertraut. Von dem Tage an, wo ich die beiden in der Hütte oben in Smaaland verließ, bin ich ein einsamer Mensch gewesen."
„Warum hast du sie denn sitzen lassen?"
Ström schüttelte den Kopf. „Sitzen lassen habe ich sie wohl nicht — es wäre gemein, so etwas zu sagen! Hätte ich vielleicht zwei so prächtige Geschöpfe ihr ganzes Leben lang in einer armseligen Hütte hausen und sich auf den Rittergütern abrackern lassen sollen — wenn rundum auf jeden, der seinen Pelz zu wagen Mut hat, so viel Gutes wartet? Es ist schwer, seine junge Frau und sein kleines Kind zu verlassen, du! Du wirst dir nie vorstellen, was für eine schöne Figur Mathilde hatte; wie eine Blume im Lenz war sie, obwohl wir im zweiten Jahr verheiratet waren — und ihr Haar konnte sie mir mehrere Male um den Hals flechten. Sie tat es auch, als ich damals von Hause wegging — um mich zu halten, du; aber das Kind lachte nur mit seinen blauen Augen. Da zog ich also in die Hafenstädte hinunter und verlegte mich aufs Taucherhandwerk; es gehören gute Lungen und ein zäher Leib dazu, die Luftpumperei und das kalte Wasser auszuhalten, und Ström verfügte über beides. Er war bestimmt keiner, der jammerte und sich alle Augenblick heraufziehen ließ, weil er Angst bekam! Manchmal ist es einem da unten auf dem Meeresgrund zumute, als wäre man von Gott und den Menschen verlassen und sollte nie mehr am Licht und am heiteren Tag Anteil haben. Dann geschieht es, dass man wie besessen an der Leine zerrt und hinauf will — nur hinauf, und die an der Pumpe oben glauben, es wäre ein Unglück geschehen. Aber Ström scherte sich den Teufel darum, denn er hatte eine hübsche Frau und ein blauäugiges kleines Kind bei sich, verstehst du — und es galt nichts weiter, als Geld für sie zu verdienen. Als dann der Hafen fertig ist, hat er auch ein nettes Sümmchen Geld in der Tasche, um es nach Hause zu schicken, denn es ist doch vereinbart, dass Mathilde das Geld verwalten soll. Und dann, du — dann..." Ström machte eine verzweifelte Gebärde und schwieg; er starrte hilflos vor sich hin.
„Was dann? Du, Ström!"
„Was dann?" Der Taucher biss in seine rissige Hand und lachte schluchzend. „Ja, sag du mir das! Kann einer erklären, wie man im Handumdrehen zwei so herrliche Geschöpfe vergisst? Da sitzen sie getreulich und warten, und Ström schuftet, dass ihm schwarz vor den Augen wird, und denkt immer nur an sie. Dann geht er die Straße hinunter und will auf dem Postamt das Geld einzahlen — ach, Satan, Satan, wie sonderbar ist das! — Nein, hier kommt Ström, mit anderthalbhundert Kronen in der Tasche!
Möchte jemand trinken? - Ström spendiert! Zum Teufel mit den Schillingen, die ganze Welt soll kommen und trinken - Ström kann wohl noch mehr Geld herbeischaffen! Und dann geht so ein Teufel aufrecht im Sonnenschein herum und traktiert die ganze weite Welt, je mehr, desto besser; wenn das Geld nur alle wird! Aber die zwei, die zu Hause sitzen und getreulich warten — und vielleicht hungern —, die hat er verschwitzt. Kann jemand gegen so was ankämpfen?
Hinterher? Ja, was war da wohl anders zu tun, als die Scham zu ersäufen und den Rausch am Leben zu erhalten, bis das Schlimmste überstanden war. Und dann aufs neue zugepackt! Ich zog von Hafen zu Hafen — überallhin, wo ich hörte, dass Taucherarbeit zu tun sei; und für Ström hatte man immer Verwendung. Er schonte nämlich nicht seine Haut, siehst du, sondern ging auf die Arbeit zu: er hatte doch für die beiden zu Hause zu schuften. Aber was nützte es denn, wenn er es nicht ertrug, Geld in der Tasche zu haben? Dann stieg ihm das Wonnegefühl zu Kopf, und er vergaß die in der Stille. Ich ging nach Jütland und tauchte auf Anteil nach Wracks; das brachte gutes Geld. Zwischendurch einmal waren wir unten an der holländischen Küste und gruben ein Kriegsschiff aus dem Sand. Je weiter weg, desto besser, siehst du — ich quälte mich ja immerzu! ,Schreib nach Hause', sagte der Vormann; er selber schmierte jede zweite Woche einen Brief an seine Frau zusammen. Aber ich habe seit meiner Kinderzeit keine Feder in den Fingern gehabt; und was soll man denn hinmalen, wenn von keinem Todesfall zu berichten ist? Kann das Papier ihnen erzählen, dass Ström immerzu an sie denkt und zusammenspart, wenn er kein Geld schickt?"
„Fahr zu ihnen nach Hause", sagte ich. „Das hier führt ja doch zu nichts."
„Mit ebenso leeren Händen heimkommen, wie ich weggegangen bin, und ansehen, wie Mathilde das Kind mit zur Gutsarbeit schleppt — nach allem, was ich ihnen versprochen habe? Nein, nein, du! — Jetzt fange ich von vorne an, denn jetzt geht es; am
Sonnabend habe ich fünfundzwanzig Kronen Überschuss; die kann ich abschicken, wenn du mir dabei helfen willst. Du sollst auch nichts Schlechtes von mir denken, denn jetzt ist es Ernst! Du hast ja Gewalt über mich!"
Mein Einfluss auf ihn reichte nicht so weit. Am Samstagabend erschien er nicht auf dem Postamt, wie es verabredet gewesen war; erst spät in der Nacht kam er nach Hause und hatte das ganze Geld durchgebracht. „Du, Schuster!" rief er schon auf der Treppe — „auf mit dir, du! Wir wollen einen Happen Brot und einen Schnaps zu uns nehmen. Oder bist du vielleicht nicht hungrig, was? Sag es nur, wenn du lieber schimpfen willst anstatt etwas zu fressen zu kriegen!"
Gewiss war ich hungrig. Ich hatte in den letzten Tagen ein bisschen zu tun gehabt und setzte alles Geld in Essen um, aber der Hunger war nicht so leicht zu vertreiben. Er hatte sich mehrere Male quer durch mich hindurch gefressen, hin und zurück, und saß mir wie kalte Luft in den Knochen. Ich habe noch immer nicht alle Hohlräume aufgefüllt, obwohl es einige Jahre her ist.
In Ströms Höhle sah es schlimm aus. Die Esswaren lagen Tag und Nacht auf dem blanken Tisch herum, zwischen Tabak, einer Barttasse und einem Gebetbuch; niemals machte er rein oder lüftete er, er warf sich aufs Bett, wie es von allen vorhergegangenen Nächten noch dastand, meist mit den Kleidern auf dem Leibe. Noch heute rieche ich den erstickenden, fettigen Dampf da drinnen — von Schlafstubendünsten, saurem Schweiß und billigen Esswaren; aber wie ich fraß! Und Ström stand dabei und schwankte hin und her und ermunterte mich unter albernem Gelächter; in seinem benebelten Zustand verfolgte er energisch den Gedanken, dass mir der Mund gestopft werden müsse. Er fürchtete wie ein Kind, ausgezankt zu werden.
Es wurde eine traurige Zeit, als sein Rausch vorüber war. Ström trank nicht, klammerte sich aber desto fester an mich; Abende und halbe Nächte lang mühte ich mich mit ihm, die Selbstanklagen wegen der jungen Frau und des Säuglings zu übertäuben. Wir wälzten die Sache hin und her, ohne weiterzukommen. Ström
hatte das Gefühl für die Zeitabstände seines Lebenslaufs verloren, und das hatte wohl auch auf mich Einfluss geübt. Als ich aber eines Abends, von dem ständigen Dreschen leeren Strohs erschöpft, dasaß, erkannte ich dessen Sinnlosigkeit; merkwürdig genug, dass mir nicht früher aufgefallen war, wie in seinem elenden Dasein die Zeit stille stand.
„Deine Tochter muss doch nun bald erwachsen sein; sie leidet gewiss keine Not", sagte ich bestimmt. „Du wirst es sehen. Vielleicht hat sie schon einen Liebsten."
Ström hob den Kopf und sah mich blöde an, er starrte unablässig. Der Ausdruck seines Auges wandelte sich, es kam Kraft in seinen Blick, und plötzlich verlöschte er wieder — wie bei einem Sterbenden. Dann schaffte Ström sich Luft in einem unheimlichen Gelächter: „Ach, du Teufel; du bist gut, Ström! Zwanzig Jahre hast du verschludert — weshalb machst du dir noch Gedanken? Das war ein Rausch, der es in sich hatte! Sollst du nun aus dem Berg heraustreten, du, und entdecken, dass deine Tochter silbergraues Haar hat? — Du musst mich entschuldigen, du Kinderarsch von Schuster, aber jetzt trinkt Ström einen Schnaps! Und dann wird er sich schlafen legen und von seinem kleinen Mädchen mit den blauen Augen träumen. Sie müsste erwachsen sein, sagst du? Ja, gewiss, einundzwanzig ist sie inzwischen. Na, schiete, sie soll das Geld doch kriegen — am Sonnabend, du! Sie wird wohl immer einige Schillinge für ihren Staat gebrauchen können. — Und das Weib — jesses, wie alt die geworden ist! Ob sie mir den Kopf abreißen wird, wenn ich nach Hause komme — was meinst du?"
Ström legte den Kopf auf den Arm und brach in hilfloses Schluchzen aus. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und wollte ihm gut zureden, aber er stieß mich mit der geballten Faust in die Seite: „Hau ab, du Teufel; willst du etwa Buße predigen?"
Von diesem Tage an war Ström ein anderer. Er schlug sich nicht mehr mit der Finsternis herum, sondern ging wie jeder andere werktagsmäßig zu und von seiner Arbeit. Er war auch nicht mehr so eifrig bei der Arbeit, sondern vermochte sich sehr wohl einen blauen Montag zu leisten, wenn ich ihm einen Ausflug vorschlug. „Warum soll man sich das Leben sauer machen?" sagte er. Wir haben unsere Nahrung bestimmt ebenso gut wie früher, die beiden und ich." Er war immer noch von Unruhe beherrscht, von einem Drang, in allen Einzelheiten festzustellen, dass es sich mit den beiden wirklich so verhielte. Er war des seltsamen langen Kampfes seiner Jugendzeit um der jungen Frau und des kleinen Kindes willen müde geworden und fürchtete, dass alles noch einmal wiederkehren würde. Gemeinsam besprachen wir alle Veränderungen, die mit den beiden in Smaaland drüben vorgegangen sein mussten. Nur eines fiel ihm niemals ein: dass sie tot sein könnten.
Sobald das Eis bräche, wollte er zu ihnen heimreisen. „Ich bin ein toller Esel gewesen, du", sagte er; „da bin ich herumgelaufen und habe über Dinge geflennt, die gar nicht waren. Es wird sich wohl auch zu Hause leben lassen, ohne dass man verhungert! — Wenn mir das Weibsbild nur nicht den Kopf abreißt!"
Ich fürchtete, dass er zu allzu großen Veränderungen heimkehren würde — sie konnten ja gestorben sein — und überredete ihn dazu, am Sonnabend einiges Geld abzusenden; er sah nicht recht ein, welchen Zweck das hätte. „Zum Teufel, sie sind doch bisher ohne mich fertig geworden", meinte er. Trotzdem schimmerte eine seltsam stille Freude über ihm, als diese Sache erledigt war. „Nein, dass es nicht beschwerlicher war, Ström!" murmelte er auf dem Wege vom Postamt nach Hause und pfiff leise vor sich hin. Es war eine etwas späte — und etwas armselige — Lösung seines Lebensproblems, aber ihn beschien auch weiterhin der Schimmer eines stillen inneren Glücks.
„Mathilde ist also fünfundvierzig jetzt", konnteer einem plötzlich mitteilen und dabei in Nachdenken versinken. „Ich möchte wohl wissen, ob sie sich auch ihr schönes Haar ausgekämmt hat." Sonst hatte er keine Sorgen.
In der Woche drauf empfing er einen Brief von den beiden. „Hier sollst du mal hören, du", sagte er stolz.
„Du bist uns gegenüber treulos gewesen, und wir haben uns Jahr für Jahr gefragt, was für ein Schwein du gewesen bist. Ich bin auch mager geworden, aber wessen Schuld ist es außer deiner, der du mich im Lenz meiner Jugend sitzenließest, anstatt zu Hause zu bleiben und mich in deinen Händen zu halten. Im übrigen haben wir uns mit Gottes Hilfe ohne dich ernährt; willst du aber nach Hause kommen und anständig sein, so ist auch für dich hier noch Platz. Deine Tochter hat ein Kind gekriegt, ich habe ihre Ehre nicht behüten können. —"
„Die hat Haare auf den Zähnen, was?" sagte Ström vergnügt. „Sie schreibt wie ein Pastor, und wahr ist es Wort für Wort. Und das Kind, du — kann man glauben, dass es ein Mädchen mit blauen Augen ist? Ich werde für das Kleine tüchtig Geld verdienen — noch steckt Kraft in Ström. Jetzt will ich bestimmt heim; zum Teufel mit der großen Welt, die wirbelt einen bloß herum. — Du solltest auch aufbrechen, es bekommt dir nicht, dich hier so herumzutreiben."
„Ich reise auch bald — mir fehlt bloß das Geld."
„Geld? Sieh her, du!" Ström zog einen Zehnkronenschein hervor.
„Nein, den sollst du für die zu Hause aufheben, Ström." „Die zu Hause — ach richtig, du! Verflucht, so ein kurzes Gedächtnis!"
Und dann reiste Ström mit dem Dampfer ab.
1908

 

KÖNIG FÜR EINEN TAG

Wir waren drei Mann auf dem Gerüst: Meister Olsen, der Geselle und ich. Meine Aufgabe war es, am Flaschenzug zu stehen und hinunterzurufen: „Halt! — Senken! — Anheben!" Ich musste die Stein- und Mörtellast auf das gebrechliche Gerüst hereinschwenken und sie unter die beiden anderen verteilen und im Übrigen mit meinem Kameraden am Fuß des Schornsteins schimpfen, wenn er den Fördereimer nicht rasch genug füllte. Er war lungenkrank; in kurzen Abständen überfiel ihn der Husten, und dann musste er hinter den Materialschuppen gehen und sich übergeben. Dann schimpften Geselle und Meister, weil Steine oder Mörtel fehlten, und ich beugte mich über das Gerüst hinaus und gab die Schimpfworte weiter.
Wir waren eifrig bei der Arbeit; es war das erste Mal, dass sich Bornholmer Maurer an den Bau eines so hohen und schlanken Fabrikschornsteins gewagt hatten; sie machte Spaß, die Arbeit. Wir waren an die hundert Fuß hoch; bis zum nächsten Abend sollten die hundertundzwanzig Fuß fertig gemauert, sollte der Kranz oben geschlossen und das Gerüst abgenommen sein.
Meister Olsen stand innerhalb des Ringes und mauerte die Innenseite des Schornsteins. Er war klein und ein älterer Mann, ein Dorfhandwerker alter Schule. Man merkte es ihm an, dass er sich des Abenteuerlichen mit all seiner unsicheren Spannung bewusst war; sein sonst so ruhiger Gesichtsausdruck schwang zwischen Furcht und Selbstgefühl hin und her. Noch nie hatte er sich in solche Höhe empor gemauert. „Er federt gut", rief er jedes Mal, wenn der Oktobersturm den dünnen Schornstein besonders heftig angriff. Wenn die Sonne durchkam, bewegte sich der Schatten des Schornsteins über die Felder unheimlich vor und zurück - wie ein schreibender Finger.
„Den nächsten Schornstein bauen wir ohne Gerüst", sagte Ludwig, der Geselle. „Dann gehen wir von innen her nach oben und lassen die ganze Geschichte sich selber tragen." Der Meister schüttelte den Kopf.
Alles beruhte auf Ludwig. Pfeifend beugte er sich mit seinem Lot weit nach außen und fluchtete die schlanken Linien aus. Er war ein unternehmungslustiger Bursche und in seinem Beruf von hervorragender Tüchtigkeit; er hatte drüben in der Hauptstadt ausgelernt, war vor einigen Jahren zurückgekommen und hatte dem Handwerk neuen Schwung gegeben. In gerader Mauer verlegte er seine drei- bis viertausend Steine den Tag, und die alten Pulver vergaßen ganz, überhaupt etwas zu tun, nur um ihm dabei Zuzuglotzen. Dafür hatte er auch begriffen, was ein Arbeiter wert ist, und er trat mit Vorstellungen auf, wie der Arbeiter mit den vornehmeren Leuten auf gleichen Fuß zu stellen sei. Im Augenblick war er dabei, die jungen Arbeiter in einen Diskussionsklub zu vereinigen, der das sozial-ökonomische Problem erörtern sollte. „Zuallererst müssen wir Bescheid wissen, was uns eigentlich fehlt", sagte er keck. Er besaß nicht wenig Phantasie, und alles, was er unternahm, hatte etwas vom großen Schwung an sich. Er war fest davon überzeugt, dass die Arbeiter eine Zukunft hätten. „Es kommt nur darauf an, die Hand auszustrecken und zuzugreifen", sagte er mit seinem zuversichtlichen Lächeln. „Soll ich etwa weniger als ein Beamter oder Großkaufmann lernen können, mich auf Musik und Literatur zu verstehen? Ich habe bloß weder Zeit noch Geld dazu, wie die Dinge heute liegen! Wir müssen die Arbeiter zusammenschließen, Morten!"
Ich stand auf dem schwankenden Gerüst herum und fror und sehnte mich danach, auf die Erde hinabzukommen; die beiden Männer hatten nicht genug Beschäftigung für mich.
Auf dem Feldweg kam ein Junge herangeradelt; er schwenkte einen Zettel in der Hand. „Verflucht noch mal, das ist die Lotterie!" rief Ludwig, als wäre das selbstverständlich; „da ist man denn endlich dran!" Und es war tatsächlich die Lotterie, er hatte fünfundvierzigtausend Kronen gewonnen. Das Werkzeug fiel ihm aus der Hand. „Ich glaube, ich mache sofort Schluss, Meister", sagte er geistesabwesend; Stimme und Blick weilten schon bei irgendwelchen neuen Dingen.
Meister Olsen flehte ihn an, zu bleiben. Was sollten wir zwei denn anfangen; keiner von uns verstand sich auf Schornsteinbau, Ludwig hatte uns in diese Sache hinein gelockt. Der aber war schon dabei, sich hinunterzulassen; er hatte keine Zeit, die Leiter zu benutzen. Das Rollenwerk knarrte stark unter seinem Gewicht. Am selben Abend fuhr er mit dem Dampfer nach Kopenhagen; was seine Pläne waren, wusste niemand. Der Meister und ich mussten mit dem Oberteil des Schornsteins fertig werden, so gut wir konnten.
Eine Zeitlang war er spurlos verschwunden; niemand wusste etwas von ihm. Aber dann tauchte sein Name plötzlich auf: in höchst unglaubwürdigem Zusammenhang; entschwand, tauchte von neuem auf und blieb in aller Munde. Der eine kam nach Hause und hatte ihn im Theater gesehen; er war schrecklich elegant gewesen. Der andere hatte von ihm und einer bekannten Schauspielerin erzählen hören, und ein dritter, der in der Kaserne in der Sölvgade Soldat war, hatte eine Fressliebschaft mit einem Dienstmädchen, dessen Herrschaft ihm ein ganzes Mittagessen gewidmet hatte. Kurz gesagt, er verkehrte mit den Großen, rührte keinen Finger mehr, sondern ging ständig in Handschuhen und Zylinderhut! Die Menschen bekreuzigten sich und erzählten drauflos; ihre Phantasie war in Schwung gekommen, und nun waren sie bereit, viel mehr zu glauben, als sich an Nachrichten auftreiben ließ.
Ich selbst war ein bisschen niedergeschlagen. Wir waren uns im Winter auf der Volkshochschule des Ortes begegnet und hatten - jung wie wir waren - unerschütterliche Freundschaft auf Lebenszeit geschlossen. Den ganzen Sommer über waren wir gemeinsam von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle gezogen und hatten der eine mit dem andern im selben Akkord gestanden; wenn
wir genug verdient hätten, wollten wir zusammen eine große Handwerkerschule besuchen, um uns weiter auszubilden. Und nun war er weggegangen, ohne mir auch nur ein Wort der Erklärung zu sagen! „Du musst doch Bescheid wissen", sagten die Leute immer wieder, „so befreundet, wie ihr wart!" Mit einer gewissen Beschämung musste ich gestehen, dass er mir nicht einmal geschrieben habe. Im Stillen hatte ich gehofft, dass er mir schreiben und mir Geld schicken würde, damit ich die Schule besuchen könnte — jetzt war er ja reich! Aber er hatte mich völlig vergessen.
Allmählich wurde es deutlich, dass die große Welt ihn verschluckt hatte. Er lebte drüben in Saus und Braus und dachte an nichts — das viele Geld war ihm zu Kopfe gestiegen. „Er ist behext", sagten die Leute. Es verlautete, dass er sich einen eigenen Wagen hielte und stets in Begleitung der Schauspielerin zeige; sie hatte ihn in die vornehme Welt eingeführt und ihn dazu veranlasst, seinen Namen zu ändern. Er trat als schwedischer Baron auf, wobei ihm sein Dialekt zustatten kam.
Um die Weihnachtszeit hatte ich so viel zusammengespart, dass ich auf einer Handwerkerschule auf Seeland einen Dreimonatskursus mitmachen konnte. Im Frühjahr reiste ich wieder nach Hause, um Arbeit anzunehmen. Ich hatte nicht die Mittel, mich in Kopenhagen länger aufzuhalten, so verlockend es auch war; ich ging vom Bahnhof unmittelbar zum Dampfer, um mir eine Fahrkarte zu lösen.
Ich schlenderte langsam den Strög hinunter, machte ab und zu vor einem Schaufenster halt — und gebrauchte im Übrigen fleißig die Augen. Plötzlich erblickte ich ein junges Paar vor mir; sie sahen so glücklich aus, dass ich sie nicht aus den Augen zu lassen vermochte. Der Herr war in Gehpelz und hohem Hut, sie hatte den Kopf fast ganz in Pelz- oder Federwerk — was es nun sein mochte — verborgen und glich beinah einer Kropftaube; sie gurrte und schmiegte sich dicht an ihn. Ich ging rascher, um einen Schimmer ihrer glücklichen Gesichter zu erhaschen — es war Ludwig.
Als sie in ein herrschaftliches Haustor einbogen, erkannte er mich und winkte. Ich war böse auf ihn und tat, als merkte ich es nicht; aber auf Kongens Nytorv holte er mich ein, ganz außer Atem, aber unbändig froh, mich zu sehen.
„Na, so ein Zufall!" sagte er und schüttelte mir die Hand. „Ich hatte schon Angst, du würdest mir entwischen — ich musste doch erst das Mädchen hinaufbegleiten."
„War das die Schauspielerin?" fragte ich ein bisschen spitz. „Nein, bist du verrückt! Das war meine Braut — ein prächtiges Mädchen, will ich dir nur sagen, Tochter aus einer alten Bankiersfirma mit einem Haufen Geld. Wir heiraten bald, und dann werde ich in die Firma aufgenommen; wir tun die beiden Vermögen zusammen und erweitern das Geschäft." „Dann hast du hier drüben also viel Geld verdient?" Darauf antwortete er nicht, sondern plauderte nur drauflos, ganz der alte Handwerkergeselle von früher; er schwatzte und lachte, als wollte er sich für jahrelanges Schweigen entschädigen. Währenddessen schleppte er mich in eines der vornehmsten Hotels und in dessen Cafe hinein, wo alles Gold, Stuck und
große Spiegel war.
„Findest du es hier nicht großartig!" fragte er, indem er sich
auf ein Sofa warf.
Ich musste gestehen, dass ich mich in einem gewöhnlichen Wirtshaus wohler fühlte.
„Das ist das Sklavenmal, mein Freund!" rief er lachend. „Aber jetzt sollst du etwas trinken, was dir gefallen wird!" Er rief den Kellner und bestellte ein Getränk, das ich noch nie hatte nennen hören.
Ich musste überhaupt bewundern, wie sehr er hierher gehörte. Alle Augenblicke erhob er sich und begrüßte elegante Damen; und er führte sich auf, als wäre er nie etwas anderes als Graf gewesen.
Als wir aufbrechen wollten, fasste er erschrocken nach seiner Brusttasche.
„Hör, sei nett und leih mir zehn Kronen", flüsterte er und lachte ein bisschen verlegen, „ich habe kein Kleingeld bei mir." Das war eine gute alte Redensart vom Gerüst her.
„Aber du bist doch reich", rief ich erstaunt.
„Puh, die paar Schillinge - die waren rasch um die Ecke. Jetzt lebe ich vom Schuldenmachen. Du erinnerst dich wohl: im Physikunterricht war die Rede davon, dass ein Ziegelstein, wenn man ihn vom fünften Stockwerk herunterfallen ließe, einen anderen Ziegelstein ebenso hoch hinaufheben könnte — gewissermaßen also durch die Kraft des Falles! Und so ist es auch hier, siehst du; hat man fünfundvierzigtausend verjubelt, so kann man in gleicher Höhe Schulden machen, ehe das Seil ausläuft. Und bin ich erst verheiratet, dann..."
Er musste mir versprechen, mir mein Geld umgehend wiederzuschicken; ich brauchte es doch, um davon zu leben, bis ich Arbeit bekäme. Er vergaß es natürlich, und im Übrigen fand ich auch unmittelbar, als ich nach Hause kam, Arbeit. Meister Olsen war durch unsere Schornsteinbauerei mutig geworden und hatte die Maurerarbeiten an einer Kirche übernommen; ich wurde wieder als Handlanger eingestellt.
Im Hochsommer standen wir eines Tages auf dem Gerüst beisammen und verschnauften uns, es war sehr warm. Wir hatten uns aus dem Konsum Bier geholt und tranken gerade eine Gedächtnisflasche zu Ehren des schwindsüchtigen Kameraden, der eben gestorben war. Auf der staubigen Landstraße kam ein junger Bursche heran getrabt, ein Bündel unterm Arm; er schwang seinen Stock und sang aus vollem Halse. „Der da hat keinen Staub in der Kehle!" sagte Meister Olsen, und wir anderen lachten. „Aber zum Henker — ich glaube weiß Gott..."
Es war tatsächlich Ludwig; er kletterte wie ein Waldteufel die Leitern des Gerüstes herauf, stand mit einem Sprung vor uns und warf sein Bündel auf die Bretter. „Tag, Meister — kann ich wieder anfangen?" fragte er vergnügt. Fünf Minuten später hatte er sich umgezogen und war in vollem Gange.
„Du hast dich damals also nicht verheiratet?" fragte ich ein wenig schadenfroh, als wir wieder wie früher in der Schicht zusammen waren.
„Ach, das war alles Mumpitz. — Das heißt, es mag ja ganz nett sein für jemand, der an so was Geschmack hat — ich für meine Person bedanke mich! - Und wie geht es dem Klub?" Ja, der war natürlich geplatzt.
„Wir müssen ihn wieder in Gang bringen, du — und überhaupt in der Agitation ein bisschen Dampf machen. Denn ich will dir sagen, es gibt welche, die tun gar nichts und leben auf Kosten des armen Mannes. Lebemänner, verstehst du!"
Er hatte ja selber Erfahrung darin. Aus seinem Benehmen merkte man übrigens selten etwas davon. Er verfügte über seinen alten Humor und bereute nie, dass „die paar Schillinge" daraufgegangen waren. Er war für einen Tag König gewesen, es gefiel ihm aber mindestens ebenso gut, auf dem Gerüst zu stehen und von da aus in die Zukunft zu sehen.
1910

 

DIE MAUERN

Er hätte sich auch in der eigentlichen Stadt niederlassen und Werkstatt mit Gesellen und Lehrjungen und einen kleinen Laden mit Fabrik haben können — es stand dem nichts im Wege. Er war tüchtig genug dazu, und einige Hundert, um die Geschichte in Gang zu setzen, hätten sich wohl auch auftreiben lassen. Schlimmstenfalls gab der Fabrikant das Geld her, wenn man sich ihm dafür mit Haut und Haar verkaufte.
Aber Blank hatte keine Lust, sich an wen oder was zu verkaufen. Er liebte die Freiheit, und deshalb ließ er sich am Rande der Stadt nieder, in einem jener Häuser mit zwei Stockwerken und Mansarde, die den Übergang von den Feldern zur Großstadt angenehmer machen.
Von seinem hoch liegenden Keller aus hatte er bei seiner Arbeit alles vor Augen: erst einige trostlose Lehmschollen, dann Weiden, die im Nebel tropften und zerzausten Vögeln Obdach gaben, und weiter draußen Felder, wo richtiges Getreide wuchs. Noch weiter draußen gab es — er wusste es — herrliche Wälder mit Seen und mit Blumen auf dem Waldgrund. Indes, Blank war kein Schwärmer, und das hier war ja das Eigentliche — das Land.
„Du lieber Gott! Ist das alles?" sagten die Kameraden, wenn er sie mit nach Hause nahm, damit sie sähen, wie großartig er wohne. Dann wurde er mürrisch. Verteidigen konnte er seine Herrlichkeit nicht; es war ja nicht durch den Verstand, sondern durch Herz und Atem, dass er seine Freude empfing. Aber das nächste Mal wich er diesen Menschen aus und behielt das Seinige für sich allein; wenn sie nur darauf ausgingen, ihm das Beste zu nehmen, konnte er sie entbehren.
Nach und nach fügte es sich so, dass er mit niemand mehr verkehrte. Das Misstrauen war in ihm aufgestiegen, und daran hielt er fest - als Schutz seines Besitzes. Wenn die Leute ihm Arbeit brachten und davon zu sprechen begannen, wie frei er wohne, antwortete er nicht darauf, sondern hielt sich an die Sache — und achtete darauf, dass er sie so rasch wie möglich wieder vor der Tür hatte. Über das rein Fachliche hinaus hatte er mit den Menschen nichts zu besprechen; jedes gewöhnliche Gespräch würde früher oder später ja doch auf das hinsteuern, was sein Geheimnis war. Es zeigte sich als fliehende Unruhe in seinem Blick, wenn er anderen gegenüberstand; und er richtete — ein wenig auffallend — die Werkstatt so ein, dass es den Leuten unmöglich war, ans Fenster zu treten.
Sobald er allein war, senkte sich tiefer Frieden über ihn; einsam fühlte er sich nie. Das Bewusstsein, sich das Eigentliche errungen zu haben, erfüllte ihn ganz; es war alles so, wie es sein sollte. Er grübelte nicht, aber sein Gemüt sog seltsam bunte Eindrücke aus dem Wolkenhimmel, wo der Weltenraum so unendlich abwechslungsreich vorüberzog. Und die Sonne umfasste das Ganze als ein übergewaltiges Herz!
Die meiste Zeit des Jahres standen seine Fenster offen; und wenn die Sonne schien, ging sein Pfeifen wie Flimmern über die geborstene Lehmkruste hin. Er konnte pfeifen wie ein Halbverrückter, ein Berauschter — konnte sich hinauf trillern zu ohrenbetäubendem Jubel wie ein Stubenvogel, der auf die Mauer in den Sonnenschein hinausgehängt worden ist.
Eines Herbstes fingen sie an, gerade vor seinen Fenstern den Boden auszuheben. Blank sah ihnen aus seinem Nest neugierig zu; er hatte seine Wohnung wie ein Vogel gewählt, und es war etwas Vogelähnliches darin, wie er den Hals reckte und der Erdarbeit zusah. Irgendwelche Unruhe verspürte er nicht; das war etwas, was in der Landschaft geschah, es waren neue Seiten, die sie zeigte — ihm zur Freude.
Während des Winters hatte er das Vergnügen zuzusehen, wie sich die Kinder des Viertels in der gefrorenen Ausgrabung herumtummelten, und als es Frühjahr wurde, kamen die Handwerker und begannen zu bauen. Es war recht lustig anzusehen, denn Blank saß von Anfang bis zu Ende ganz allein bei seinem Kram; in seine Arbeit sollte niemand anders seine Finger hineinstecken wollen! Und da draußen wimmelten sie wie in einem Ameisenhaufen. Dass sie aus so vieler Hände Arbeit ein Ganzes zusammenbrächten — darüber wunderte er sich am meisten.
Aber dort draußen wuchs die Arbeit von Tag zu Tag und kehrte ihm in ein paar Meter Entfernung eine kahle Brandmauer zu. Das Land wurde ausgesperrt! Eines Tages verschwand der letzte Weidenwipfel, und Blank überlegte staunend, wie viel sie wohl vom Himmel übriglassen würden.
Die Brandmauer gab keinen Klang, und Blank hörte zu singen auf; ab und zu pfiff er noch — um die Luft zu reinigen. Aber wie die Jahre vergingen, nahm die einförmige graue Mauerfläche von Feuchtigkeit und Schatten Farbe an, und große Fliegen krochen drüber hin und belebten sie — emsige Kellerasseln und der eine oder andere Tausendfuß! Sobald er morgens aus dem Bette kroch, suchte sein Blick die Mauer; aus Art und Färbung der Flecke konnte er ablesen, wie das Wetter werden würde. Einige Schritte weiter nach links erhob sich eine zweite, ebenso hohe Mauer, mit drei verzinkten Müllkästen davor; und wenn er halb zum Fenster hinauskroch und sich auf den Rücken legte, konnte er direkt in den Himmel hinaufsehen.
Das ließ sich nicht sehr häufig bewerkstelligen, es war aber auch nicht nötig. Drüben, weit rechts, ließen die Mauern einen schmalen Spalt offen, der alles in sich barg. Ganz zuoberst der Himmel, dann einige Lindenzweige, die hinter den Mauermassen hervorragten, und eine schnurrige kleine Landschaft, hochkant gestellt! Und schließlich - quer über den Boden des Spalts -ein kurzes Stück Straße mit ihrem unaufhörlichen Verkehr. Er konnte es von seinem Schemel aus nicht sehen, aber wenn er eine Spiegelscherbe aufs Fensterbrett stellte, hatte er alles darin eingefangen.
Blank richtete es sich mit seinem Stückchen Gottes freier Natur im Spiegel ganz gemütlich ein. Er brauchte nur den Kopf von der
Arbeit zu heben, um an allem teilzuhaben, an Sonne und Regen und dem kleinen Ausschnitt aus den Äckern, der in der Spalte hochkant stand und an den Schnitt durch eine Schichttorte erinnerte. Und als einige Jahre vergangen waren, hatte er ganz vergessen, dass da jemals etwas anderes als die fleckige graue Brandmauer vor ihm gewesen war.
Als er seinerzeit hier herauszog, hatte ein armseliger Ladenhändler an der Straßenecke gewohnt. Dieser war es, der das Stadtviertel baute und in die Höhe brachte; jetzt war er reich und wohlgenährt und nannte sich Großkaufmann. Schuhmacher Blank machte keinen Versuch, in die Einzelheiten der Entwicklung einzudringen; er begriff nur, dass es der Großkaufmann war, der die Aussicht versperrte, und setzte das ganz richtig mit der Leibesfülle des Mannes in Verbindung.
Er fasste die Dinge auf, wie sie lagen. Der Großkaufmann war ein sehr ordentlicher Mensch, als Hauswirt anständig und den kleinen Leuten gegenüber freundlich; sonntags lag er auf allen vieren auf dem Teppich und spielte mit seinen Kindern. Er hatte bloß den Fehler, dass er anschwoll und zu viel Platz beanspruchte, so dass er einem die Aussicht nahm!
Genauso fasste Schuhmacher Blank es auf: als ein handgreifliches Phänomen, das so einfach wie sonst was war. Wenn er seinen Hauswirt sah, bemerkte er jedes Mal dessen Fülle und stellte bei sich beunruhigt fest, dass der Mann immer dicker wurde. Er empfand das als eine dringende Gefahr für seinen Atem; es war, als wollte man ihm die Luft abschnüren.
In einem Frühling schließlich trat das Verhängnisvolle ein. Der Großkaufmann vermochte sich nicht mehr innerhalb seines alten Rahmens zu fassen, es wuchs eine hohe Herrschaftsmauer vor dem Ausguck empor. Der letzte Rest Erde verschwand, in Blanks Spiegelscherbe standen jetzt fünf Küchenfenster in einer Säule übereinander. Der Bau hatte aber die Eigenschaft, dass seine Rückwand die Vormittagssonne einfing und sie an die Spiegelscherbe weitergab, und fünf Mädchenzimmerfenster konnte er ahnen, wenn eins davon so weit zurückschlug, dass es von der Brandmauer freikam. Dann kam auch ein nackter rundlicher Arm zum Vorschein und fing das Fenster ein, kam und verschwand in einem Nu und ließ sich zur Not mit einem Sonnenstrahl verwechseln.
Alles in allem bedeutete das aber nichts. Eines Tages fiel die Spiegelscherbe um, und Blank ließ sie liegen; er hatte keine Verwendung mehr dafür. Er hatte den Zusammenhang mit den versperrenden Mauern durchschaut; jetzt behielt er die Augen bei sich und übte sich in der Kunst, durch alles hindurchzusehen.
Jetzt wusste er mehr als früher, kam auch auf bequemere Art zu seinem Wissen. Wenn die Mückenschwärme über den drei Müllkästen wie drei graue Schattentänzer auf- und niederwogten, wusste er, dass stilles Wachstumswetter war. Durch Schlafen an der feuchten Wand hatte er sich das Reißen zugezogen und spürte deutlich an sich selber, wenn der Nordwind, der gute Freund der Gicht, seinen Walzer tanzte. Und wenn die Müllkästen schlecht zu riechen begannen, war der Sommer nahe; der Geruch wurde ihm geradezu willkommen: des Sonnenscheins wegen, den er in ihm zum Leben erweckte. Er erwarb sich immer mehr Kennzeichen, so viele schließlich, dass ständig Sommer in ihm war. Er hatte zur Phantasie seine Zuflucht genommen und konnte die Sonne hervorzaubern, wann immer er wollte.
Blank pfiff niemals mehr — er hatte kein Bedürfnis danach. Die Stille hatte für ihn Bedeutung erlangt, und mit einem leeren, lauschenden Ausdruck im Gesicht saß er stumm bei der Arbeit. Aus der Leere vor seinen Augen wuchsen neue Welten hervor, so dass er nichts entbehrte. Sein Blick erfasste die äußeren Dinge merkwürdig unbeholfen, die trostlose Mauer hatte seine Sehkraft geschwächt; Menschen, die ihm in die Augen sahen, glaubten, er wäre verrückt, und machten einen Bogen um ihn. Aber er sah vortrefflich nach innen und fand alles in sich selber.
Er hatte nach und nach allerlei aufgegeben, was andere aufrechterhält. Für sich selbst verlangte er nichts und meinte trotzdem, ein gemachter Mann zu sein. Aber alle, die rings um ihn waren, taten ihm leid. „Sie sind eingemauert", sagte er bei sich und schüttelte traurig den Kopf. „Die Sonne kann sie nie bescheidenen!" Es fiel ihm nicht ein, dass er sich in der gleichen Lage befände. Er hatte alles von sich abgestreift, Wünsche wie Bedürfnisse, und hatte nur ein einziges erwärmendes Gefühl als seinen Anteil zurückbehalten: das Mitgefühl mit allen, die unter den Schatten der schweren grauen Mauern litten. Er allein wusste, woher das Übel stammte; deshalb nannten sie ihn ja verrückt, er wusste das sehr wohl. Die anderen glaubten, dass die Mauern versperrten, und schimpften auf sie. Aber Blank kannte das Geheimnis — er allein! Deshalb lächelte er immer so eigentümlich.
Wenn es ihm stark bewusst war, ließ er die Arbeit ruhen und hantierte mit dem Abziehstahl. Es haftete alter Aberglaube daran. Der Stahl hatte so manchen seiner Vorgänger im Beruf geholfen und sie geschützt; die Spitze des Abziehstahls, richtig gedreht, hielt das Böse fern und das Glück im Hause. Blank selbst glaubte nicht an solches Zeugs; er bekam den Abziehstahl sozusagen von ungefähr zwischen die Finger und wusste nicht recht, was er damit anfangen sollte; es war eine Handlung ohne Sinn. Dann machte er sich daran, den Stahl spitz zuzufeilen; das wurde allmählich die einzige Beschäftigung, die seinem Gemüt Ruhe verschaffte. Er empfand das selber als nutzlose Zeitvergeudung und schlug zornig nach dem Stahl, wenn er ihm in die Hände glitt, trotzdem konnte er es nicht unterlassen.
Eines Tages wurde Blank und den anderen Mietern in dem alten Haus am Stadtrand gekündigt. Es war nun ganz von Mietskasernen umgeben und sollte abgerissen werden, um einem modernen Mietshaus Platz zu machen.
Merkwürdigerweise hatte Blank nie an diese Möglichkeit gedacht. Wäre er eines Morgens aufgewacht und hätte entdeckt, dass die sperrenden Mauern wieder in die Erde versunken wären, würde ihn das gar nicht gewundert haben; er hätte es einfach als einen Ausfluss von Recht und Billigkeit hingenommen. Dass aber die baufällige Hütte hier abgerissen werden sollte, um einer Mietskaserne Platz zu machen, wollte ihm nicht in den Kopf. Es war, als wollte man die Welt selber wegsprengen, um Platz für noch mehr Firlefanz zu schaffen; es hieß, alle Begriffe auf den Kopf zu stellen.
Aber Blank wusste ja sehr genau, was dahintersteckte! Jetzt war der Großkaufmann so aufgebläht, dass es ihm nicht mehr genügte, die Leute von der Welt abzusperren; sie mussten aus dem Wege geräumt werden, damit Platz für ihn wäre!
Er zog seinen guten Anzug an, steckte den spitzen Abziehstahl unter die Jacke und ging hinüber und klingelte bei dem Großkaufmann. Er hatte in der letzten Zeit eine sonderbare Unruhe im Blick, die den Leuten Furcht einflößte.
„Es ist der verrückte Schuhmacher", hörte er das Mädchen drinnen in der Stube sagen.
Dann kam der Großhändler selber herausgestürzt und starrte ihn verwundert an.
„Es handelt sich bloß um die Kündigungen", stotterte Blank und trat in die Wohnung.
„Ja, zum Teufel, was ist denn damit los? Meinen Sie vielleicht, sie wären nicht rechtmäßig?"
„Doch, aber — du bist zu aufgebläht, du schwillst an, du!----
Die anderen kriegen keine Luft! — Und jetzt steche ich dich an, damit die viele Luft heraus kann — du! — du! — du!" Blank sprach in Stößen und stieß ihm den Abziehstahl in den Bauch.
Schuhmacher Blank kam ins Gefängnis, aber seine Gedankenwelt war zu seltsam, als dass man ihn dort mit einigermaßen Aussicht auf Erfolg hätte behalten können. Eine Brandmauer mit einem dicken Großkaufmann verwechseln war zu blödsinnig, als dass man ihn auf die Dauer als denkendes Wesen behandeln und an den normalen Gütern der Gesellschaft teilhaben lassen durfte. Er wurde rasch in eine Irrenanstalt gebracht.
Dort sitzt er nun und glaubt, er habe mit seinem Abziehstahl die Mauern gesprengt. Die Tiefe hat sich ihm offenbart; er sieht den großen Zusammenhang und klammert sich nicht an gleichgültige Nebensächlichkeiten. Deshalb behalten sie ihn immer noch in der Anstalt.
Manchmal hat er lichte Augenblicke, wo er seine Gedanken aus dem großen Gemeinschaftsgefäß schöpft. Dann wird davon gesprochen inwieweit er der Gesellschaft wieder übergeben werden kann. Doch zum Glück fragt er dann plötzlich, ob die Sonne jetzt auf die alte Hütte herabscheinen kann, oder ob sie meinen, dass er den Großkaufmann nochmals anzapfen müsse.
1907

 

BROT
Eine Geschichte aus Granada und von überall

An anderen Orten war es schon längst Tag, aber die Sonne steht spät auf in Granada — die Berge sind ihr im Wege. Endlich lugte sie über die Gletscher der Sierra Nevada, und La Granadina erwachte und streckte sich, kroch von dem hohen Bett auf einen Stuhl, von da auf den Fußboden — und machte sich daran, ihre Locken neu aufzudrehen und das Gesicht mit frischem Mehl zu bepudern. Und bevor die Stadt dort wieder anfing, wo sie gestern aufgehört hatte, waren die Schatten schon ganz kurz.
Als die gähnenden Frauen und unordentlich frisierten Mädchen zum Marktplatz hinaufschlenderten, um für den ganzen Tag einzukaufen, waren die Bauern mit ihren Eseln schon dagewesen und hatten den Händlerinnen die Früchte der Vega und den Schlächtern Fleisch abgeliefert und waren mit dem Frühzug aus Malaga Tintenfische, kleine Haie, Tangflöhe, die als Garnelen gelten, Flundern, Muscheln und andere „Meeresfrüchte" — alles zusammen unter dem Namen Fisch — eingetroffen. Wo die Morgensonne zwischen die Pfosten der Buden eindrang, beglänzte sie schimmernde Schuppen und Perlmuscheln, strahlte sie auf Pyramiden von gelben und grünen Melonen, purpurfarbenen Tomaten, Granatäpfeln und Pfefferschoten, auf goldne Apfelsinen und bleiche Zitronen! Und auf Trauben — manche klar wie Alabaster, andere dunkelglänzend wie ein nackter Neger.
Es war Mitte Januar, Nachtfrost, und es fror die Menschen. Die Händler waren langsam und unwillig, die wenigen Käufer gingen träge herum und fragten nach Neuigkeiten. Die Sonne war den Menschen noch nicht in den Leib gedrungen. Eine einzelne Senorita schwärmte über den großen Platz, die wachsame Mutter oder Amme dicht auf den Fersen; arme Frauen lagen die
Gassen entlang auf den Knien und fächelten das Feuer in den Kohlenbecken an.
Aber die Sonne stieg, und bald steigerte sich das Gedränge auf dem Marktplatz, und Rufe erfüllten die Luft — das Leben meldete sich. Die Verkäufer schrieen und die Käufer feilschten; man wurde geschoben und stieß und drängte einander, rief sich über die Köpfe der anderen hinweg gegenseitig zu und erhielt ebenso Antwort.
Zwei Frauen begegneten sich in dem Menschenstrom und küssten sich — nach andalusischer Sitte. „Jesus Maria!" rief ein Fischverkäufer. „Kriege ich nicht auch einen?"
„Ja, wenn du uns sagst, wie alt dein Fisch ist!" schrie die eine Frau zurück.
„Caramba! Punjeta! Nicht so alt wie deine Hässlichkeit, Weib!"
„Scher dich, du Mannsstück —und lass deinen Fisch vom Armenamt begraben. Er stinkt!"
Barfüßige Jungen liefen in dem Gewimmel herum und riefen: „Zwanzig Zwiebeln für einen kleinen Schilling!" „Drei Zitronen für einen großen!" fiel das Obstweib ein.
Sonne und blauer Himmel — und ein Reichtum von Obst: frisch, saftig, farbenprächtig! Und ein Chaos von zerlumpten Gestalten, die sich einen ganzen Tag lang wie hungrige Hunde drängen und kämpfen, um einen Groschen für ein Brot zu verdienen. Diese unglücklich in das Leben Verliebten klammern sich saugend daran fest — doch wie eine kostspielige Kokotte wendet es sich von ihnen ab; sie verfolgen sie, aber sie verschwindet unter höhnischem Gelächter. Die Mehrzahl dieser Armen sind nicht zum Kaufen hier; sie kamen, um zu sehen, ob nicht eine kleine Kleinigkeit auch für sie abfallen würde. Und sie kommen jeden Tag wieder: grau vor Kälte, knochendürr vor Hunger, aber mit demselben unsterblichen Funken im Auge — Hoffnung! Und die Hoffnung trügt.
Am Eingang zum Marktplatz steht ein Bettler und streckt den Passanten einige schlechte Zitronen hin. Er zupft eine gutgekleidete Dame am Rock. „Ach, kaufen Sie, bitte", sagt er flehentlich „dann habe ich Geld für ein Brot. Ich bin so hungrig!"
„Sie brauchen mich nicht am Rock zu zupfen", antwortet sie „Ich werde schon selber kaufen, was ich brauche!" Sie rafft beleidigt ihre Röcke zusammen und geht weiter.
Wo die Fischbuden aufhören, stand unmittelbar neben dem Tintenfischverkäufer ein Mann mit zwei großen Körben Brot. Er hatte auf dem nackten Bürgersteig einige Brote einladend zur Schau gelegt und sah vergnügt drein. In kurzen Abständen ergriff er zwei Brote, sprang ins Gedränge hinein und rief mit den Broten wie Siegesfahnen hoch über seinem Kopf: „Brot! Zwei kleine Schillinge für ein großes Brot! Wer will..."
„...Band kaufen!" fiel der Bandverkäufer oben in der Gasse ein. „Fünfzehn Ellen Band für einen Spottpreis! Hallo, Mädchen!" — an zwei alte Frauen gewendet —, „fesselt eure Liebsten mit bunten Bändern! Band ist gut!"
„Brot ist besser! Der Segen der Armen! Zwei kleine Schillinge für ein großes Brot!"
Eine Frau glitt mit dem Strom zwischen die Buden und strich direkt an dem Brotverkäufer vorbei. Er winkte mit den Broten und rief: „Hallo, Senora Beppa, Maestra!"
Sie ging zu ihm zurück: „Wie froh du heute aussiehst, Don Rafael! Hast du in der Lotterie gewonnen?"
„Ja, beinahe!" Er zeigte strahlend auf die Brotkörbe.
„Das hätte ich nicht erwartet, dich hier anzutreffen. Und die Frau — und die Kinder — geht es ihnen gut?"
„Sie werden es besser haben, wenn ich das hier verkauft habe!" Er zeigte wieder auf die Körbe.
Senora Beppa bekreuzigte sich, und der Brotverkäufer gleichfalls. Sie dachten dasselbe dabei, aber dass sie die Last nicht trug, war leicht zu erkennen. Sie besaß die Wohlbeleibtheit einer teilnahmsvollen Frau, er dagegen war spindeldürr. Es war aber ein anderes Gefühl, ebenso stark und ursprünglich wie Teilnahme — und ebenso menschlich —, das sie in diesem Augenblick beherrschte;
und er musste sich herbeilassen, ihr Aufklärung zu geben. „Ich verkaufe nicht für einen Bäcker", sagte er. „Es ist mein eigenes Brot - auf gewisse Weise, heißt das."
„Leihhaus?" warf Senora Beppa fragend ein.
Er nickte.
„Es war schwer, soweit zu kommen, aber jetzt ist man über das Schlimmste hinweg. Heute wird es sich machen!" Er lachte hoffnungsvoll ins Blaue hinein.
„So Gott will", sagte Beppa, aber sie meinte nichts damit. Es ist nur eine Redensart, die im Volke üblich ist. Sie nahm zwei Brote und reichte ihm das Geld.
„Weibsleute sind gute Menschen; es gibt keine besseren", sagte er schelmisch und warf das Geld in einen schwarzen Krug.
„Ja, nach den Mannsleuten", lachte Beppa. „Gott behüte dich", sagte sie gleich danach und ging weiter.
„Geh mit Gott!" antwortete er und stand wieder auf der Gasse mit den Broten hoch in der Luft, so dass alle sie sehen mussten: „Brot! Brot! Der Segen der Armen! Zwei kleine Schillinge für ein großes Brot!"
Seine Frau brachte ihm das Essen in einem kleinen Tontopf. Sie reichte ihm einen Blechlöffel, und er setzte sich auf den Rand des einen Brotkorbs, den Topf zwischen den Knien, und begann zu essen, Reis und Pfefferschoten zusammengekocht. Die Frau kauerte sich vor ihm hin.
Er zog aus seiner roten Schärpe ein Messer hervor, griff nach einem Brot und sah sie fragend an. Sie nickte. Er schnitt das Brot mitten durch und gab ihr die Hälfte.
„Es ist süß", sagte er. „Ich glaube, nun haben wir es geschafft."
„Ojala — Gott gebe es! Es sind schwere Zeiten." „Nicht für den, der will! Wir sind jetzt über das Schlimmste hinaus."
„Es macht Freude, sein eigenes Brot zu essen — findest du nicht auch?" fragte sie etwas später.
„Ja — und es obendrein selber gebacken zu haben. Es ist gleichsam das Brot selbst, das einem sein Brot verschafft", fügte er mit einem unsicheren Anflug von Philosophie hinzu.
Dann war er fertig. „Dank für das Essen", sagte er zu der Frau und strich das Messer auf der Handfläche ab.
„Dank Gott, der Kraft und Gesundheit gegeben hat", antwortete sie.
Und wieder war er draußen im Gedränge und rief sein: „Brot! Brot!" noch lauter als zuvor.
Zwei Polizisten kamen zu ihnen hin; der eine zog eine Waage aus der Tasche. „Hat das Brot volles Gewicht?" fragte er.
Der Brotverkäufer macht einem der Polizisten Platz, der nachlässig ein Brot auf die Waage legte. Doch plötzlich stutzte er, sah Mann und Frau scharf an — und wog das Brot aufs neue, aber diesmal ganz genau und sorgfältig. Es fehlten mehrere Quint (Anm.: 1 Quint = 5 Gramm. Die Red.). Er wog weiter, ein Brot nach dem anderen, mit einem Lächeln, das nichts Gutes verhieß.
Der Brotverkäufer starrte ihn an, erst verständnislos, dann aber wie vor Schreck gelähmt.
Die Brote hatten alle Untergewicht.
„Wie viele haben Sie verkauft?" fragte der Polizist mit einer Stimme, die die Frau zum Weinen brachte.
Der Brotverkäufer reichte ihm mit zitternden Händen den Geldkrug; der Polizist zählte den Inhalt und steckte das Geld in die Tasche. Die verkauften Brote konnte man ja nicht wieder herbeiholen, aber die Gerechtigkeit musste ihren Gang gehen. Er rief einen Eseltreiber herbei und befahl ihm, die Brotkörbe auf seinen Esel zu laden.
Der Brotverkäufer stand wehrlos dabei, wie erstarrt, und ließ alles geschehen. Er rührte sich nicht mit einem Glied, sondern stand vornübergebeugt da und starrte mit leeren, erloschenen Augen den Polizisten und dem Eseltreiber nach. Es sah aus, als wäre ihm mit dem kostbaren Brot auch seine Seele entschwunden. „Jesus Maria!" sagten die Leute und bekreuzigten sich. „Gott hat ihn angerührt und ihm zur Strafe den Verstand genommen!
Komm doch wieder zu dir, Don Rafaél!" Sie packten ihn an den Schultern und schüttelten ihn, aber er spürte es nicht, sondern starrte nur mit erloschenen Augen ins Leere.
Doch dann erreichte ihn die Klage seiner Frau, und langsam kehrte das Leben in ihn zurück. Er begann mit ihr zu klagen, leise und von Tränen unterbrochen, wie sie.
Wie ein Wechselgesang klang es, ein Trauerlied, das niemand anhörte, weil es allzu bekannt war — von Entbehrung und Hunger und Hoffnung! Lieber Gott, es war ja das alte Lied: für kräftige Arme hat niemand Verwendung — am allerwenigsten im Winter; dann hatte er gebettelt, und die Kinder hatten gebettelt — und die Frau natürlich auch. Und das war ja nichts Böses — man gab bloß nichts! Es übten zu viele diesen Beruf aus! Dann hatten sie noch eine Zeitlang weitergehungert, und diese Kunst machen ihnen viele nach — so lange, bis sie daran sterben! Diese beiden aber hatten nicht stillehalten und sich vom Tode aussaugen lassen wollen, sondern waren auf eine Idee verfallen. Sie hatten ihre letzten Brocken versetzt und dafür eine Arroba Mehl gekauft. Ganze dreiundzwanzig Pfund hatten sie gekauft und aus Mauerbrocken einen kleinen Ofen zusammengebaut, den sie mit Holz, das der Fluss ans Ufer spülte, heizten. Aber den Schwund zu berechnen hatten sie vergessen — oder vielleicht hatte es dazu nicht gelangt. Und jetzt kam die Obrigkeit und nahm ihnen alles ab. Dazu war nicht viel zu sagen!
Er machte ja auch keine große Geschichte daraus, sondern stand bloß da und weinte sich vor der Frau seine Not von der Seele. Und sie antwortete ihm, wiederholte die Klage und fügte das Ihre hinzu — aus übervollem Herzen. Es war Grund genug zur Klage!
Aber plötzlich schrie er auf, dass es über den ganzen Marktplatz ballte. Er schüttelte die geballten Fäuste in der Luft, berief sich auf seine Unschuld und seine Armut, erbot sich, das Brot nach Gewicht zu verkaufen und allen, die zu kurz gekommen waren, Ersatz zu geben — schwur, dass er die Stadt anzünden werde, wenn er sein Brot nicht wieder bekäme! Und auf einmal fiel er um - wie vom Schlage getroffen. Die Frau warf sich mit lautem
Gejammer über ihn. Die Leute liefen herbei. „Was ist denn los?"
fragten sie wieder und wieder.
„Ach, da hat einer versucht, den Armen unterwichtiges Brot
zu verkaufen, und da haben sich Polizei und Herrgott seiner ein
bisschen angenommen", wurde geantwortet.
„Ihm ist ganz recht geschehen — pfui!" rief ein altes Weib, das für einen Bäcker verkaufte. „Was muss so einer uns ins Handwerk pfuschen?" Und sie begann über den Marktplatz hinweg zu rufen: „Brot! Brot! Zwei kleine Schilling für ein großes Brot! der Segen der Armen--vollwichtiges Brot!"
1896

 


EINE BEGEGNUNG

In den Gräben rieselt das Frühlingswasser, murmelt und verschwindet in die Erde. Wo es gewesen ist, bleibt brodelnder fetter Schlamm zurück, der in der Sonnenwärme lebendig wird. Es wälzt sich durcheinander in diesem Schlamm, kriecht und zieht schleimige Pfade drüber hin; die Erde liegt da wie ein nässender Schoß. Spür selber, wie sie sich sehnt! — sie ist abwechselnd warm und kalt. Nach allem zu urteilen, bekommen wir ein gutes Jahr!
Das ist auch nötig. Die Schweine haben sich im Winter eine Zeitlang mit der halben Körnerration begnügen müssen, und die armen Leute... nun, die werden ja nicht nach Gewicht und Fettgehalt verkauft und haben es also leichter, sich durch eine knappe Zeit hindurchzubeißen. Die brauchen doch nur in Winterschlaf zu gehen, die haben es im Grunde gut! Und außerdem gibt es die Wohltätigkeit.
Aber für jene, die den ganzen Betrieb in Gang halten, ist es eine schwere Zeit gewesen, mit Stilllegung von Fabriken — und Konkursen. Was ist ihnen in diesem Winter nicht alles zerschlagen worden: Reisen nach dem Süden, Winterbälle, Bankette nach den Premieren — lauter Lebensgüter, für die der arme Hans mit seinem ewigen Gejammer nach einer Brotrinde keinen Sinn hat. Übrigens hörte er zu jammern auf, als die anderen damit anfingen — denn so ist er nun einmal.
Ein seltsamer Winter ist es gewesen — der merkwürdigste seit Menschengedenken, sagen die alten Leute. Alles, worum sich der liebe Gott selber kümmert, ist gut durchgekommen — milde, wie die Witterung gewesen ist. Schon Anfang Februar sangen die Lerchen vom Frühling; vielleicht sind sie gar nicht fort gewesen. Die Erde bat fast keine Schneedecke getragen und war überhaupt
nicht gefroren; der Maulwurf hat sich diesmal um seinen Winterschlaf gedrückt, er konnte die ganze Zeit über oben in der Erdkruste auf Jagd gehen. Als Ende Januar der große Schneefall kam, nahm er dieses Ereignis hin. Ich erlebte das Außergewöhnliche, dass er seine frischen schwarzen Erdhügel auf die Oberfläche der ellenhohen Schneedecke warf.
Für die kleinen Vögel sind es lauter gute Tage gewesen — ein gesegneter Winter für alle kleinen Geschöpfe, denen vor der Kälte graut. Ausgenommen der arme Mann, der hat es gründlich zu fühlen bekommen, dass er außerhalb des Gesetzes steht. Während alle die anderen Kleinlebewesen — die, deren Wohl und Wehe weiterhin von der Natur abhängt — gut durchgekommen sind, ist für ihn nicht das Geringste zu picken gewesen. Sonst war es immer die Natur gewesen, die die Speisekammer zusperrte — sowohl dem armen Hans wie auch dem anderen Kleinvieh des lieben Gottes; aber diesmal war ihm die Erde — und nur ihm! — unbarmherziger verschlossen, als wenn sie bis auf den Grund zugefroren gewesen wäre. Er allein war auf die Abfälle auf den Futterbrettern angewiesen, die die Gesellschaft hinaushängt. Er empfindet es als eine Schande, derartig ausgeschlossen zu sein, und wird schwermütig und nachdenklich darüber. Soll jetzt die Arbeitslosigkeit eine Erscheinung sein, die sich auch in guten Zeiten einfindet? Gibt es auch andere Kräfte als die Kälte des Winters, die die Macht haben, den Schiffsverkehr stillzulegen und Erdarbeiten zu verhindern? Es entstehen schwerwiegende Konsequenzen aus dieser neuen Erscheinung — weit in die Zukunft hinein.
Ich kann es nicht unterlassen, mich mit diesen Dingen zu beschäftigen, wenn ich meinen Morgenspaziergang über das Land mache. So hat sich uns in meiner Kindheit das Leben nie gestaltet — so entgegen der Ordnung der Natur, möchte man sagen. Etwas Neues ist hinzugekommen — damals handelten die Feinde des Armen offen im Licht des Tages.
An den Giebelwänden der baufälligen Hütten schleichen die Männer lauernd herum, mager und blass von dem langen Müßiggang. Ringsumher liegt massenhaft die Arbeit und wartet auf sie; es gibt so viel zu tun, wie wohl nie zuvor, und alle Umstände sind zum Beginnen angetan. Aber jene, die die Arbeit gnädigst an die schaffenden Hände verteilen, wollen nicht; sie sind ins Winterlager gegangen, liegen im tiefen Schlaf und halten eine schwere, leblose Pranke ausgestreckt über das Dasein des armen Mannes!
Ist es denn nicht zu entfernen, dieses tote Gewicht? Vorläufig begreifen sie von dem allen nichts, sondern starren nur verwirrt aus Augen, die von Panik gezeichnet sind. „Krise" heißt es — und in schlechten Zeiten ist wohl die eine Bezeichnung so gut wie die andere! Arbeit und willige Hände — mehr hat die Welt noch nie gebraucht, um etwas zu erschaffen; und von beiden ist reichlich vorhanden, soviel sieht ein jeder. Aber eine selbstherrliche Gewalt, die irgendwo im Verborgenen haust, hat eingegriffen und zwingt sie, trotz allem müßig zu gehen. Das nächste wird sein, dass sich die tote Zeit mitten im Sommer einstellt — und wo wird es enden?
Die meisten der Hüttenbewohner kenne ich, aber heute wollen sie nichts mit mir zu tun haben. Wenn sie mich sehen, schleichen sie auf die andere Seite der Hütte.
Oben am Kongensvej hält ein mächtiges Luxusautomobil ganz neuen Typs. Es ist niemand dabei, aber ein Stück weiter unten, auf den Feldern, die sich in langem Zug nach Tibberup und Espergaerde hinabsenken und eine prächtige Aussicht über den Sund und die schwedische Küste gewähren, geht eine in Leder gekleidete Gestalt und schreitet den Boden ab. Die Arme hängen seltsam leblos von den Schultern herab, und die ganze Person erfüllt mich mit starkem Unbehagen, bevor ich noch das Gesicht gesehen habe.
Plötzlich — so plötzlich, dass es mir einen Ruck gibt — macht der Mann kehrt und kommt rasch auf mich zu: eine unheimliche Erscheinung! Das Gesicht ist fischgrau und ohne Wärme, die Arme hören kurz unterhalb der Ellbogen auf — er hat keine Hände! Ich hatte die arbeitslosen schweren Hände allzu deutlich
vor mir gesehen, und der Anblick eines Wesens ganz ohne Hände lässt mich entsetzt zusammenschaudern.
„Ein schöner Morgen!" nickt er. „Recht das Wetter für eine Landpartie."
„Sie sind wahrscheinlich herausgekommen, um sich ein Villengrundstück auszusuchen?" sage ich scherzend; „die Aussicht hier ist ja auch prachtvoll."
„Nein, ich bin nur herausgekommen, um vor dem Frühstück ein paar Bauernhöfe zu zerschlagen — zu Villengrundstücken nämlich."
„Daran ist sowieso kein Mangel. Das halbe Seeland ist ja parzelliert und trägt Disteln — anstatt dass Getreide darauf wächst." „Was für ein Zeugs?" Er sah mich verständnislos an. „Brotkorn!" sagte ich ein wenig schroff.
„Na ja, selbstverständlich, Brotkorn natürlich — was sollte denn sonst da wachsen. Entschudligen Sie, dass ich nicht gleich im Bilde war." Seine Stimme klang spöttisch. „Brotkorn — jawohl, was denn sonst! Etwas anderes darf ja gar nicht auf der Erde wachsen. Und trotzdem hört man ewig das Geschrei nach Brot. Ehrlich gesagt, Verehrtester, begreifen Sie, wer dies ganze Viehfutter verschlingt? Ich für mein Teil bin kein Brotesser, von mir aus könnte man dreist alles Brotkorn von der Erdoberfläche vertilgen."
„Na, dann geht es Sie ja nichts an!"
„Nein, nicht wahr? Und ich muss gestehen, ich habe mir auch nie einen Gedanken gemacht, was da wächst oder nicht wächst. Die nützliche Seite des Daseins interessiert mich überhaupt nicht — ich bin kein Utilitarist. Wenn ich eine Chance sehe, greife ich ohne Bedenken zu. Zweck und derartige Albernheiten überlasse ich den Idi—, Ide—, na, nennen wir sie in Gottes Namen Idealisten; Leuten Ihres Schlages also. Die müssen ja auch leben."
„Sie sind ein unverfälschter Kapitalist!"
Der Fremde lachte höhnisch: „Kapitalist - herrje! Eines dieser Individuen, die einige lumpige Tausend oder Millionen besitzen — was? Unverfälschter - na, meinetwegen! Ich bin aber doch ein bisschen mehr, wenn Sie es mit aller Gewalt wissen wollen. Ich bin der Geist des Kapitalismus, seine Idee! Ja, sehen Sie mich nur richtig an, wenn ich Ihnen nun einmal gerade in die Arme gelaufen bin; ich habe doch Ihnen und den anderen allerhand zu denken gegeben. Es ist mein Geist, von dem alle besessen sind, die an dem Wettlauf teilnehmen; in meinem Namen frisst der Starke den Schwachen und wird er von einem noch Stärkeren selber gefressen. Erkennen Sie die Konsequenz darin? Sie ist den Vielen nicht eben günstig — Gegenseitigkeit ist ein Gefühl der Unterklasse, nur dazu geeignet, einen niederzuhalten; aber sogar beim Rettungsschwimmen besteht der wichtigste Kunstgriff darin, den Ertrinkenden von sich wegzutreten. Deshalb sind Sie auf dem falschen Wege, junger Mann! Sie wollen, dass alle an den Gütern des Lebens Anteil haben — Sie zerstreuen sie! Mein Ziel ist es, alles in einer Hand zu vereinigen — in einer einzigen, verstehen Sie! — und die gesamte übrige Welt zu Proletariern zu machen. Das ist das Ideal des Kapitalismus — seine innerste Idee; und ich bin nahe daran, sie zu realisieren.
Nein, Sie hatten sich nicht vorgestellt, dass ich so aussähe — ein armseliger Krüppel, von Ihrem erhabenen Nützlichkeitsstandpunkt aus gesehen. Enttäusche ich Sie, Verehrtester? — Apropos Nutzen; Sie sind ja bewandert in diesen Dingen: wo steht es eigentlich geschrieben, dass man Nutzen tun soll? Und was ist Nutzen, mein guter Mann? Sie nennen es vermutlich Nutzen, viele am Leben zu erhalten! Ich nenne das Verschwendung, wenn wenige den Betrieb in Gang halten können. Ich sehe nicht ein, warum man diese Sorte Individuen am Leben erhalten soll — wenn man keinen Gebrauch für sie hat." Er zeigte mit dem Armstumpf zu einer der Hütten hinüber, wo ein abgerackerter Erdarbeiter herumlungerte.
„Das ist Jakob Fröhlich", sagte ich. „Ein armer Tropf ist er, aber gut zu Frau und Kindern. Er gehört zu den vielen, die nichts tun und nach besseren Zeiten seufzen!"
„Ich fürchte, er und die übrigen seufzen vergebens.,Krise' werden Sie wahrscheinlich sagen, genau wie alle anderen; aber wissen
Sie denn auch, was das ist? Ich bin dabei, mich zu konsolidieren; das ist es, was jetzt - unter uns gesagt - vor sich geht. Der Kapitalismus ist drauf und dran, sein Gebiet einzuengen -das alles umspannende Ungeheuer zieht sich wieder zusammen. Ich habe Wehen, verstehen Sie — Krisen; und mit jeder Wehe wird eine neue Gruppe Lebewesen aus dem Dasein hinausgesetzt. Mit dem Mittelstand und den Kleingewerbetreibenden bin ich längst fertig, jetzt sind die hier an der Reihe — die schaffenden Hände! Sollte es wider Erwarten nicht glatt genug gehen, helfe ich mit einem Schuss Großaussperrung nach. Ich überlege es mir gerade. Es ist wirklich an der Zeit, sie aus dem Dasein zu entfernen, diese veralteten primitiven Wesen, die mit ihren Frauen und Kindern bloß die Produktionskosten belasten und jetzt obendrein mit einer Seele angestiegen kommen, auf die man kostspieligerweise Rücksicht nehmen soll. Der Arbeiter, dieser Urtyp der Maschine, sollte wirklich ins Industriemuseum verwiesen werden; und damit bin ich im Gange. Wenn Sie ein einigermaßen feines Ohr haben, werden Sie die Maschinen durch die Arbeitslosigkeit hindurch gleichmäßig schnurren hören; die ist nämlich keineswegs mehr gleichbedeutend mit Stillstand in den Betrieben. Was hergestellt werden muss, wird es auch, mein Bester; es sind nicht viele, die berechtigten Anspruch auf Deckung ihrer Bedürfnisse haben, und es werden noch weniger werden. Anderseits werden die Maschinen immer vollkommener. Wir nähern uns der Lösung der sozialen Frage.
Übrigens wäre sie schon gelöst, wenn nicht Staat und Kommune für eine Unzahl von Individuen, die das private Unternehmertum längst abgeschrieben hat, künstlich Schutz geschaffen hätten. Ich denke an alle diese Beamten, Schaffner und dergleichen. Wenn das Privatkapital allein zu sagen hätte, würde es sehr rasch alles automatisch erledigen lassen; Maschinen funktionieren nun einmal besser — und stellen keine albernen Forderungen. --Die schaffenden Hände — wie sich das nur anhört, mein
Lieber! Wir wollen uns doch darüber einig sein, dass alle, die mit ihren Händen arbeiten, keine Menschen sind; der Mensch braucht nur das Gehirn. - Werden Sie mir das Vergnügen machen, Sie in meinem neuen Auto ein Stückchen spazierenzufahren? Es ist wirklich ein guter Wagen."
„Ihr Schofför ist doch nicht da!"
„Ich brauche keinen Schofför. Sehen Sie die Haube an der kleinen Stange dort? Wenn ich die aufsetze, nimmt das Auto meine Befehle unmittelbar aus meinem Gehirn entgegen; die Sache ist sehr einfach. Die Maschine ist auf bestem Wege, sich selber zu lenken. Mein Ziel ist, wie gesagt, alles in einer Hand zu vereinigen, und deshalb ist es nötig, sich von allen unabhängig zu machen. Und zuallererst von diesen besabberten schaffenden Händen, die die ganze Sentimentalität der Mitwelt auf sich ziehen.
Sie sehen mich so boshaft verständnisinnig an! Jawohl, ich selbst habe keine Hände! Ich bin so geboren — vermutlich ist der Mangel aus meiner tiefen Antipathie erstanden. Ach, ich missgönne bestimmt keinem diese fünffingrigen Grabepfoten, die den Menschen daran hindern, sich freizumachen.--Sie möchten nicht
fahren? Gut, dann gehen wir. Tun Sie mir nur den Gefallen, die kleine Drahtleitung dort an meiner Mütze zu befestigen — ja, so! Danke! Ganz kann ich die Hilfe der Hände doch noch nicht entbehren; ich bin noch nicht so weit, dass ich meine Gedanken drahtlos auf das Auto übertragen kann. Aber das kommt."
Wir schlenderten langsam die Straße entlang; die schwere Maschine folgte uns getreulich auf dem Fuße, wie ein Hund an dünner Leine geführt. Der Fremde starrte geradeaus, die weißen Zähne zu scharfem Grinsen entblößt.
„Gut, warum es leugnen — ich hasse diese dummen Hände, die obendrein zu drohen wagen. Der Müßiggang lässt in seinen unfreiwilligen Dienern finstere Gedanken aufkommen, behauptet man; vielleicht stürmen sie die Fabriken und schlagen die Maschinen in Stücke, um selber dranzukommen — und schrauben die Entwicklung zurück! Ich habe aber diese Möglichkeit vorausgesehen; bei dem geringsten Murren setze ich sie auf Minimalverpflegung — Hungersnot, verstehen Sie! Die ist eine meiner besten Bundesgenossen; es gibt überhaupt keine anderen Hungersnöte als jene, die ich in die Welt setze. Ich könnte sie töten wie die Fliegen und der Natur die Schuld daran zuschreiben, könnte die Erträgnisse des Bodens vernichten, so dass sie in wenigen Tagen zugrunde gingen — unterernährt, wie sie — unter uns gesagt — sind. Aber das passt mir nicht recht, denn wer soll sie beiseite schaffen? Sie sehen, sentimental bin ich nicht, ich lasse sie bloß sich selber um die Ecke bringen, hungere sie aus, dann erledigt sich alles Übrige von selbst. Mumien stinken bekanntlich nicht. Kleine Kinder haben ja die geringste Widerstandskraft — besonders, wenn sie keine Muttermilch bekommen. Deshalb lasse ich die Arbeitslosigkeit für Frauen mit Säuglingen auch nicht gelten.
Sie meinen also, dass ich ein Teufel wäre, Verehrtester? Ich schmeichle mir jedenfalls, Satans göttlich kaltes Gehirn zu besitzen! Kann man sich eine teuflischere großartige Erfindung vorstellen als meine? Geld, das heißt: der Menschheit Blut und Schweiß und Tränen — alles, was sie erschaffen und gewünscht und erträumt hat — eingeschmolzen in kaltes Metall. Wie bitte — Wertmesser? Glauben Sie tatsächlich auch an diesen Unsinn? Das war von mir aus nur als Witz gemeint gewesen! Nein, aber ein wundervoller Speicher für alle Werte ist es schon, das Geld — ein großartig einfaches Mittel, alles zu umfassen und die Welt zu beherrschen — das einzig mögliche Mittel. Mit dem Geld vermag ich, so lächerlich es klingt, den ganzen Betrieb am Leben zu erhalten oder zu töten, ganz wie ich will. Ich kann sämtliche Lebensnotwendigkeiten der Erde in meinem feuer- und einbruchsicheren Geldschrank verschließen — ist das nicht genial?
Meine Erfindung hat eine weitere vorzügliche Eigenschaft; es haftet ihr kein moralisches Vorurteil an — Geld riecht nicht! Jeder andere Erwerb verpflichtet seine Angehörigen in Richtung auf Schönheit oder Nutzen; ich aber lege mit Vergnügen die nützlichen Berufe still und setze dafür Albernheiten in Gang — wenn ich darin meinen Vorteil sehe. Und um die Wahrheit zu sagen: eine Fehlspekulation ist mir meistens mehr wert als eine richtige; ich gedeihe am besten da, wo etwas zusammenbricht. Die Misere ist mein Element!
Das halbe Nordseeland besteht aus öden Villengrundstücken und wird nicht bebaut — Sie waren so liebenswürdig, mich vorhin darauf aufmerksam zu machen. Ich wusste es übrigens, junger Mann, ich habe selber die Hand im Spiele gehabt. Nein, Brotkorn wächst nicht darauf — dafür wachsen Taler dort! Es gibt keinen Boden, worauf das Geld so gut gedeiht wie auf dem, der mit Betrug gedüngt ist. — Jawohl, ich lebe vom Gegenteil des Lebensstroms, mein Element ist das rückläufige, unreine Blut der Venen. Die Lösung des großen Ernährungsproblems ist nie meine Sache gewesen; im Gegenteil, Wohlbefinden der Vielen ist mir nicht günstig. Na, mein Ehrgeiz liegt glücklicherweise nicht auf diesem Gebiet. Ich habe zu meiner Zeit mehr Getreideäcker abgebrannt, als ich angesät habe.
Gerade jetzt feiere ich übrigens einen Triumph. Ich habe die Kunst erprobt, mich tot zu stellen, und habe festgestellt, dass das eine neue einträgliche Erwerbsform ist — absolut die vorteilhafteste, die ich bisher ausgeübt habe. Und die idealste auch: Unkosten und Arbeit auf Null herabgesenkt. Ich habe keine Veranlassung, über schlechte Zeiten zu klagen.
Ich bin mit allem sehr zufrieden; es gibt nichts, was sich nicht zu meinem Besten gewendet hätte. Man beklagt sich, dass es nicht mehr möglich sei, die Auswirkungen eines Gesetzes zu überblicken — ich muss sagen, ich begreife das nicht. Sehen Sie mal in meine linke Westentasche! Einige dreckige Millionen, die nach Kuhstall riechen, was? Das ist der Gewinn aus der Staatsanleihe für Kleinbauernparzellen. Und so ist es überall; es ist kein Gesetz so verrückt, dass ich nicht Seide daran spönne. Sogar an den Gesetzen, die das Eigentumsrecht beschneiden sollen, verdiene ich Geld.
Mit der Kirche habe ich mich immer gut gestanden. Es besteht ja allerdings das verbrecherische Wort, dass man allen Besitz verkaufen und den Ertrag den Armen schenken solle, aber die Pfarrer sind immer die ersten gewesen, es wegzuerklären. Sie haben mir überhaupt treu gedient — demütigere Verehrer habe ich nie gehabt. Jetzt scheint es allerdings, als wollten sie ein wenig Ab-
stand von mir nehmen. Aber das kann ich ertragen; ihr Diensteifer war allmählich etwas kompromittierend für mich geworden.
Und jetzt leben Sie wohl, junger Mann! Ich muss in die Stadt und als Stütze für die schlechten Zeiten einen Brottrust auf die Beine stellen. — Und Sie selber brennen natürlich vor Verlangen, mir richtig eins zu versetzen. Bitte sehr, legen Sie nur los, Tinte ist billig! Und grüßen Sie Ihre schaffenden Hände von mir!"
Er sprang in das Auto und winkte mir zum Abschied mit beiden Armstümpfen zu. Der Messingarm an der Stange senkte die Haube über seinen Kopf, das Auto machte einen Satz vorwärts — und war im nächsten Augenblick in einer Staubwolke verschwunden. Jakob Fröhlich stand vor seiner Hütte und glotzte mit hängendem Kinn.
„Das war doch eine verteufelte Geschwindigkeit, die der Kerl da anschlug", sagte er, „man möchte wahrhaftig glauben, das ewige Gericht wäre hinter ihm her. Dem solltest du doch wirklich eine Ladung Schrot hinterherfeuern — bevor er alles niederfährt!"
1910

 

DIE ZUGVÖGEL

Peter Nikolaj Balthasar Rasmussen Kjöng — dessen Name nach unumstößlichen Lautgesetzen, die hier nicht erklärt werden sollen, im Laufe der Zeit die Form König Nebukaneser angenommen hatte — war ein Mann, der die Welt und die Menschen kannte.
Von Beruf war er Schuhmacher, von Geblüt fahrender Gesell. Er gehörte zu jenen, in denen die Umdrehung der Erde lebendig geworden ist, so dass sie partout auf eigene Rechnung rund um sie herum müssen; zu wandern und ins Unbestimmte zu wandern saß ihm als Drang in den Fußsohlen. Er kannte nichts Herrlicheres als aufzubrechen — einerlei, wovon. Auf diese Weise ließ er mehrere Male das Glück hinter sich und fühlte sich glücklicher dabei.
Auf seinen eigenen Füßen hatte er den größten Teil der zivilisierten Welt durchwandert — insofern er klar und deutlich als Zivilisation die Sitte bezeichnete, auf ledernem Schuhwerk zu gehen. Er kannte die deutschen Herbergen und die französischen Landstraßen ein und aus, hatte Alpen und Pyrenäen mehrmals überschritten und mit dem einen Bein in der Schweiz und dem andern in Frankreich gestanden und weit über die italienischen Hänge hinuntergespuckt. Auf Sizilien war er gewesen, auf Gibraltar und drüben in Kleinasien.
Auf seinen Fahrten hatte er alle Geheimnisse des modernen Transportwesens kennen gelernt; er wusste, wo es angängig war, zwischen den Rädern eines Güterwagens zu hängen, und wo es zweckmäßiger war, angeblich seine Fahrkarte verloren zu haben oder an die Gutmütigkeit der Bahnbeamten zu appellieren. Von Gibraltar schlüpfte er nach Sizilien hinüber, indem er sich im Kabelraum eines großen Dampfers verbarg; der Hunger trieb ihn schließlich aufs Deck, und die Reise kostete ihn eine tüchtige Tracht Prügel und ständige Bedrohungen, über Bord und den Haien vorgeworfen zu werden; aber hinüber kam er.
Von Sizilien wollte er mit einem anderen Dampfer gratis nach Griechenland und dafür als Heizer arbeiten. Aber es zeigte sich bald, dass er von dem Handwerk nichts verstand, und so wurde er in Brindisi an Land gesetzt. Da schmierte er sich die Füße mit Talg ein und wanderte das Adriatische Meer hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. Es dauerte Monate, aber hin kam er diesmal auch — und auf Zeit kam es ja nicht an. König Nebukaneser hatte etwas von der Geduld der wandernden Himmelskörper an sich, er wanderte, um zu wandern, suchte an und für sich nichts Bestimmtes — das Wandern selbst war ihm genug. Auf der Balkanhalbinsel erlebte er das Gaudium, von Räubern gefangen und mit größter Verachtung wieder weggeschickt zu werden, nachdem sie die Beschaffenheit seiner Kleidung untersucht hatten. „Eine Maus rettete den König der Tiere, eine Laus rettete König Nebukaneser", pflegte er mit einer großartigen Handbewegung zu sagen.
Er machte eine Spritztour nach Amerika — um ans Gold zu riechen. Aber unten in Kalifornien gelangte er rasch zu dem Ergebnis, dass Gold für einen reisenden Gesellen eine viel zu schwere Ware sei, und zwischen den Achsen eines Kohlenwagens ließ er sich schleunigst nach New York zurücktransportieren. Hierbei machte er zugleich die Erfahrung, dass die Amerikaner wirklich praktische Leute sind. In Deutschland pflegte das Bahnpersonal mit einer Laterne unter den Zug nach Vagabunden zu leuchten, und dann wurde man hervorgezogen und vor die Obrigkeit geschleppt, wo man Verhör und Urteil und feierliche Ausweisung wegen Missbrauchs von Staatseigentum über sich ergehen ließ. Aber hier lief nur ein einziger Mann mit einem Schlauch den Zug auf und ab und spritzte kaltes Wasser unter den Zug. Sobald dann der Zug mit seiner Höllengeschwindigkeit einsetzte, froren einem die Kleider auf dem Leibe zu Eis, und sein Lebtag lief man mit Gicht in der linken Schulter herum.
Von New York aus versuchte er, sich als Meisterkoch oder Leichtmatrose nach Kopenhagen anheuern zu lassen, und als keines von beiden gelang, fiel er eines Tages, vom Schlaganfall betroffen, auf der Straße um. Alles, was er sonst zu tun hatte, war nur, im rechten Augenblick ein wenig die Augen zu öffnen und das Wort „Däne" zu flüstern. Daraufhin wurde er auf das dänische Konsulat gebracht, das ihn dann nach Hause beförderte.
Ja, er hatte das Leben und die Menschen kennen gelernt! Sein Handwerk hatte ihn über die halbe Erde geführt, in allen Großstädten hatte er gearbeitet — in jeder so wenig wie möglich, um auch alles sonstige mitzunehmen — und sozusagen im Vorbeigehen seinem Fach ein neues Geheimnis abgelauscht. Er brachte nicht viel fertig, aber was er fertig brachte, war schlechthin Kunst; seine Arbeit war unter tausend anderen herauszuerkennen, solange ein Faden davon übrig war; er konnte kein Stück Leder anrühren, ohne dass eine Ausstellungsarbeit daraus wurde.
Mit einem Lächeln gedachte er der heimatlichen Pfuscherbuden; jetzt aber sollte Schwung in die Stiefel kommen, denn jetzt war es seine Absicht, sich zu Hause niederzulassen und seine Welterfahrung fruchtbringend zu verwerten, in Übereinstimmung mit dem Wort, dass man seinem Vaterland sein Bestes schuldig sei. Und das erste, was er tat, nachdem er einen Monat lang gebummelt hatte, um den Magen an die heimischen Nahrungsmittel zu gewöhnen, war, dass er in einer Werkstatt Arbeit annahm.
Aber König Nebukaneser war gewöhnt, sich in großen Räumen nach großen, einfachen Gesetzen zu bewegen. Auf seinen Wanderungen hatte er gelernt, alles Überflüssige aus seinem Gepäck auszuscheiden; das Leben hatte ihn gelehrt, dass das meiste von dem, womit sich die Heimat herumschlug, überflüssiger Ballast war - und nun stand er da mit seiner einzigartigen Begabung, alles zu vereinfachen. Der Apparat, den ein dänischer Schuhmacher in Bewegung setzt, wenn er eine Arbeit beginnen soll, musste einem Manne komisch erscheinen, der mehr als einmal im Straßengraben gesessen und erstklassige Arbeit geleistet hatte - nur mit einem Pfriem, einem Messer, ein wenig Pechdraht und einem abgebrochenen Stuhlbein zum Nachputzen ausgestattet.
Deshalb verkaufte er frischweg von dem Überfluss der Werkstätten überall, wo er arbeitete; aber obwohl ihm die Arbeit ebenso gut von der Hand ging, passte es den Meistern nicht, sondern sie zogen es ihm von seinem Tagelohn ab. Und er wurde vor die Tür gejagt und obendrein mit der Polizei bedroht.
Da fing er an, zu Hause zu arbeiten, und hier dehnte er seine Vereinfachung des Werkzeugs auch auf das Material aus. König Nebukaneser wusste aus dem Ausland, was Pappe wert ist, und von dem genau zugemessenen Leder, das ihm die Meister für eine Arbeit lieferten, verstand er eine unfassbare Menge übrigzubehalten. Das verkaufte er, und dadurch verlängerte er seinen blauen Montag bis Mittwochabend.
Unter seinen Kameraden galt er für ein Genie, und das hieß soviel wie einer, der ein hervorragend schönes Stück Arbeit in Blitzesschnelle fertig hat — und das sozusagen aus nichts, im übrigen aber Müßiggang und Hunger und kleine Klare über alles in der Welt liebt.
König Nebukaneser war sicherlich ein Genie. Wenn er arbeitete, arbeitete er; er hatte nicht mehr Finger an der Hand, als dahin gehörten. Ein Geheul und eine blaue Flamme — wuppdich! — zwei Paar Damenstiefel und Schlag fünf Feierabend! Hinterher brachte er seinen doppelten Tagelohn durch, schlief auf einem Haufen Pflastersteine oder hinter einem Bretterzaun seinen Rausch aus — und konnte am nächsten Morgen frisch an die Arbeit gehen, wenn es durchaus nötig war.
Aber das tat er höchst ungern; er haute lieber an einem Tag drei Paar hin, als dass er zwei Tage hintereinander arbeitete.
Bei der Arbeit hatte er für nichts anderes Sinn, aber wenn er den Rücken gerade machte, um saufen zu gehen, musste er oftmals entdecken, dass er allein war. Ein ums andre Mal rauchte das lächerlichste aller Phänomene vor ihm auf: dass die Leute keine Zeit hatten — Herrgott noch mal! Keine Zeit zum Bummeln! Er begriff es nicht, aber es war so.
Es war außerordentlich komisch, und es dauerte eine Weile, bis er sich ausgelacht hatte und feststellte, dass er ein einsamer Mann war. Die Kameraden hatten ihn und seine Unermüdlichkeit ganz einfach im Stich gelassen und sich — ein wenig schamhaft vielleicht — entfernt, um nicht über die Zeit zu bleiben. Sie waren Nutzgeschöpfe geworden, kleine Spießbürger mit Bäuchlein und einer gewaltigen politischen Verantwortung. Morgens Schlag sieben Uhr trabten sie zur Arbeit und gingen Schlag sechs Uhr abends wieder nach Hause — er hätte die Uhr nach ihnen stellen können, wenn er eine gehabt hätte. Den Abend benutzten sie zu politischen Versammlungen. Heiraten taten sie auch, und Sonntag nachmittags zogen sie mit Frau und Kind in den Zirkus. Und das nannten sie „der Tretmühle eins versetzen" — pfui!
Die über die Stränge schlugen, waren nicht mehr Leute seines Schlages, die es nötig hatten, die ihnen von der Arbeit beigebrachten Beulen auszuglätten; die großzügige Sauftour rutschte mehr und mehr in die Hände professioneller Bummler hinüber. Und König Nebukaneser war kein Bummler; er war bloß ein freier Mann, der zufälligerweise in der großen Welt gewesen war und sich umgesehen hatte, während die Kameraden das Sklavenjoch trugen.
Nun, das mussten sie selber wissen — wollten sie sich mit dem Glockenschlag in Fabriken und Großwerkstätten zusammentrommeln lassen, dann bitte sehr! König Nebukaneser arbeitete nach wie vor auf seinem Logis, da halfen keine Vorhaltungen — er war sein eigener Herr. Er wollte nichts von einem Werkmeister wissen, der herumging und ihm auf die Finger sah. Und Mitglied der Gewerkschaft sein und alles für sich dirigieren lassen, bis auf die Luft, die man einatmete — nein, pfui Kuckuck!
König Nebukaneser war Manns genug, seine Angelegenheiten selber zu ordnen; er wollte es sich gestatten dürfen, die Arbeit von drei Tagen an einem Tag zu erledigen — und an den beiden folgenden blauzumachen. Seinen Preistarif würde er schon selber bestimmen. Eines Tages erfuhr er zu seinem unsäglichen Hohn, dass die Gewerkschaft die Heimarbeit hatte verbieten lassen.
„Mich fressen sie nicht", sagte er und fuhr auf seine Weise fort. Und dank seiner Tüchtigkeit wussten die Meister ihn zu finden, wenn es um ein besonderes Stück Arbeit ging.
Aber sie durften ihn nur heimlich beschäftigen, und für den täglichen Gebrauch zogen sie die geordneten Verhältnisse vor. Bei König Nebukaneser wusste man nie, ob man verraten war oder verkauft; es kam vor, dass mitten in einem eiligen Stück Arbeit für die eine oder andere Hoheit der Teufel in ihn fuhr. Und König Nebukaneser konnte auch nicht von Luft leben, während die paar Nobilitäten, die Dänemark auf die Beine zu stellen vermochte, ihre Stiefelsohlen verschlissen.
Wie alle Genies kam er eines Tages zu der Erkenntnis, dass die Verhältnisse hier zu Hause zu klein seien! Es blieb nichts anderes übrig, als dem schäbigen Vaterland noch einmal den Rücken zu kehren. Er hatte die große Welt in sich bewahrt und gedachte ihrer stets mit dankbarer Freude. Und er warf die Taue los.
Aber er kam nicht so in Schwung wie in alten Tagen, wo er gleich den Vögeln Luftkanäle in den Knochen und Mühe gehabt hatte, sich auf der Stelle zu halten. Die Schleuderkraft hatte ihn verlassen, jetzt wirkte nur die Schwerkraft und fesselte ihn an die Erde. Er begriff es nicht, aber es verhielt sich so; jetzt kostete es Anstrengung, in Gang zu kommen, wie es früher Anstrengung gekostet hatte, zu verweilen.
Man flog nicht mehr aufs Geratewohl hinaus — man setzte sich hübsch hin und dachte über die Sache nach und überlegte. Die Erdumdrehung wirbelte nicht mehr Berge und Flüsse und endlose weiße Landstraßen durch das Gehirn; ob man die Fahrt aushalten würde — das war nun die Frage. Denn es wurden gewisse Anforderungen gestellt — namentlich an die Kraft der Beine, und der Magen wäre am besten etwas Ähnliches wie ein Steinbrecher gewesen. Aber mit beiden Teilen war allmählich nicht viel mehr los. Und dann dieses allgemeine Gefühl der Schwere — als ob einen die Erde an sich sauge. Nein, die große Welt mit ihrer ewigen Unruhe und Spannung lockte ihn nicht mehr, er hatte
Angst, sich in sie hinaus zu begeben. Er war müde und ruhebedürftig. So ein kleines Heim mit weichgekochtem sanftem Essen und Stuben und warmer Kleidung und einem sauberen Bett — das war, mit Schande zu vermelden, wonach ihm der Sinn stand.
Er versuchte es zu verwirklichen und schlug sich ein Jahr oder zwei durch, indem er sich von einem geistesschwachen Weibsbild versorgen ließ, die von Gelegenheitsarbeit lebte. Sie zankten sich dauernd, ausgenommen, wenn sie beide betrunken waren.
Aber dann war er auch gründlich von allem kuriert, was da häusliches Behagen und Familienschoß hieß; das mochten die anderen von ihm aus dreist für sich behalten — nun wusste er, was dahintersteckte!
Er bemühte sich, seinen Beruf wieder aufzunehmen, aber der war jetzt für einen Außenseiter wie ihn unwiderruflich gesperrt. Da endlich fasste er den Entschluss, sich gleich den Großen des Altertums auf Kosten der Öffentlichkeit ernähren zu lassen, und klopfte an das Tor des Prytaneions, das zwischen Oerstedsvej und Svineryggen auf dem Aaboulevard liegt.
Hier sperrte man ihn sogleich ein und gab ihm Pfriem und Pechdraht in die Hand. Aber König Nebukaneser war nicht hier hergekommen, um der Gesellschaft unlautere Konkurrenz zu machen; ebenso wenig hatte er sich gegen geordnete Arbeitszeit und festes Werkstattreglement aufgelehnt, um als geschorener Sklave in der Arbeitsstube der Armenhäusler zu sitzen und seine Stunde Spaziergang an der frischen Luft im Hofe zu erledigen — in abgemessenem Tempo und in Gefangenentracht. Er liebte die Freiheit noch mehr als seine Kunst, und die Gicht in seiner Schulter im Verein mit einem hässlichen Händezittern, das es ihm platterdings unmöglich machte, die Messerspitze vom Oberleder fernzuhalten, bewirkte, dass er für als Fachmann unmöglich erklärt wurde.
Es kam so weit, dass er der leichten Truppe angehörte, die, mit Besen und Schaufel bewaffnet, jeden Tag über die Brücken und
Plätze der Stadt ausschwärmt. Hier ging er nun und ließ den Besen gemächlich über die Pflastersteine gleiten, während sich die Spatzen wild in dem Kehricht tummelten und um ihn herum in rastlosem, fieberhaftem Gehetz das Leben pulsierte. Er beobachtete die wilde Jagd mit dem mild gleichmütigen Lächeln dessen, der weiß, was es gilt, aber das Seinige auf dem trockenen hat. Er hatte gelebt und war dabei gewesen wie nur einer von denen da, deshalb lockte sie ihn nicht mehr. Nur wenn er einen Straßenarbeiter über Stein- und Erdhaufen zu seiner Jacke hinsteigen und eine kleine helle Flasche hervorholen und küssen sah, durchfuhr ihn ein kleiner Stich und die Sehnsucht nach einer ähnlichen Liebkosung. Sonst aber ging es ihm gut, wirklich gut, und er beneidete niemand — nicht einen Menschen!
Als König Nebukaneser eines Nachmittags auf dem Höjbroplatz kehrte, in stilles, glückliches Wohlbehagen versunken, sah er etwas, das sein philosophisches Herz aus der Ruhe riss und es hämmern und beben machte:
Von der Köbmagergade her kam ein Frauenzimmer den Platz entlang und weiter nach der Börse zu geschlurft. Sie hatte einen schwarzlackierten Strohhut auf, dessen Rand den Kopf des Hutes verlassen hatte und wippend auf ihrem Nasenrücken ritt, so dass sie über ihn hinweglugte wie durch ein Visier; im übrigen prahlte sie mit den Resten eines alten französischen Schals, mit einem schlottrigen dünnen Rock und braunen Schuhen. Wangen und Nase ragten rund wie drei halbe rote Zwiebeln aus dem Gesicht heraus. Sie neigte sich stark vornüber und wackelte kokett mit dem Leibe. Die Schuhe hob sie nicht von der Erde, sondern schleifte sie über das Pflaster hin. Sein fachmännischer Blick sagte ihm sogleich, dass dies geschah, um sie nicht zu verlieren — an beiden war das Oberleder geplatzt.
Und sein wild hämmerndes Herz sagte ihm, dass dies Malvina sei — die Dame! —, seine letzte und einzige große, aber auch unglückliche Liebe. Sie, die ihr Lager und ihren Schnaps mit ihm geteilt hatte; sie, die er geprügelt und die ihn wieder geprügelt hatte — je nachdem, wie sie betrunken waren; sie, von der er so schmerzlichen Abschied genommen hatte, als sie an jenem Tag nach reiflicher Überlegung anklopften — sie an der weiblichen, er an der männlichen Abteilung!
Heute hatte sie also Ausgang und ging aufs Leben los - Malvina, die von ihrer Konfirmation bis zu ihrem achtzehnten Jahr die Geliebte eines abgelebten Grafen gewesen war! Malvina, die in ihrer Heiserkeit so gebildet sein konnte und ein wenig nach allem, vom Hofe bis zum Rinnstein, schmeckte! Das einzige Wesen, dem er begegnet war, das gleich ihm einiges von der großen Weltenumdrehung im Blute hatte!
Und nun ging sie aufs Leben los!
Es erwachte in ihm der unbändige Drang, noch einmal mit dabeizusein — ein einziges Mal bloß über die Stränge zu schlagen! Und er war drauf und dran, den Besen hinzuschmeißen und ihr zuzurufen, sie solle warten und ihn mitnehmen. Aber dann schoss ein Schimmer seiner alten Geistesgegenwart in ihm auf; er ließ den Besen aus der Hand fallen und wurde ganz blass, taumelte zum Aufseher Petersen hin und fragte, ob er nicht still nach Hause gehen dürfte, er hätte solche Schmerzen in der Herzgrube.
Aufseher Petersen, der wusste, dass König Nebukaneser keinen größeren Wunsch hatte, als zeitlebens im Armenhaus zu verbleiben, sah erst unschlüssig auf seine Uhr, dann auf den Polizisten, der „unter der Uhr" den Wagenverkehr regelte, und schließlich auf den Kranken. Er sah wirklich beunruhigend schlecht aus.
„Glaubst du, dass du allein nach Hause gehen kannst?" fragte er.
„Ja doch! Aber wenn man zehn Öre hätte, könnte ich bis ganz ans Tor fahren."
„Dann nimm den Omnibus dort!"
Aber König Nebukaneser erwischte den Omnibus nicht, er war zu matt, um sich zu beeilen. So wankte er zum Thorwaldsenmuseum hinüber, wo die Straßenbahn hielt. Die setzte sich inzwischen in Bewegung, und er lief ihr in mühsamem Trab nach, dem Schaffner heftig zuwinkend.
Aufseher Petersen schüttelte bedenklich den Kopf. Es musste um Nebukaneser schlecht bestellt sein, wenn er glaubte, die Elektrische einholen zu können. Nun, dann kam wohl eine andere Straßenbahn, es gab genug.
Als König Nebukanesers Berechnung ihm sagte, dass er zwischen sich und dem Aufseher Häuser habe, verlangsamte er die Geschwindigkeit und drehte von der Stormbrücke nach dem Schlosshof ein. Es kam wegen der Armenhausmontur darauf an, keinen Verdacht zu erwecken und nicht angehalten zu werden, und deshalb kaufte er hinter der Börse für drei Öre einen mächtigen gelben Briefumschlag und für zwei Öre eine Zeitung. Der Rest des Geldes ging für Kautabak drauf; er selbst kaute nicht, konnte es aber nun einmal nicht ertragen, Geld in der Tasche zu haben. Hinterher fiel ihm ein, dass er den Tabak den Kameraden schenken könne, und wieder ein wenig später kam ihm der Gedanke, dass er für das Geld einen Milchtoddy bekommen hätte. Doch er war nicht der Mann danach, geschehene Tat zu beweinen. Die Zeitung wurde in den Briefumschlag getan, um ihn zu füllen, und mit diesem behutsam unter dem Arm wanderte er weiter, stramm wie eine Ordonnanz, die dienstlich unterwegs ist. Die Polizisten auf der Knippelsbro schielten ihm nach, aber er ging seines Weges mit der Sicherheit, die Frucht eines guten Gewissens ist.
In den Nebenstraßen hinter Kristianshavns Torv irrte er ein Weilchen umher, ehe er Malvina entdeckte, die weit unten in der Dronningensgade durch eine Haustür in ein Haus mit einer Unmenge Fenstern verschwand. Er war sogleich im Bilde und ging stracks in das zweite Stockwerk hinauf und durch einen stockfinsteren langen Gang, von dem zu beiden Seiten die Türen in die Einzimmerwohnungen führten.
„Guten Tag, Dame", sagte er feierlich, als er in der Dunkelheit das Geräusch ihrer Kleider hörte. Er fasste sie bei beiden Ohren und gab ihr einen breiten Kuss.
„I, wie hast du mich erschreckt, Neserchen! Bei dieser Beleuchtung hätte es doch ebenso gut ein fremdes Mannsbild sein können", sagte sie kokett.
„Sucht man den Erbprinz, meine Dame? Du kannst versichert sein, dass sie ihn rausgesetzt haben."
„Nein, ich hörte ihn eben noch weinen. Aber es ist kein Schlüssel in der Tür."
König Nebukaneser untersuchte das Schloss mit kundigen Fingern und lugte durch das Schlüsselloch. „Einfache Sache", sagte er gedämpft, „hätte man bloß ein Ende Draht." Einen Augenblick überlegte er, dann schlich er einige Schritte den Gang hinunter an eine Türe, hinter der eine Frau schalt und einige Kinder schrieen, zog den Schlüssel heraus und kam zurück. Er passte großartig.
„Du bist ein Kerl, Neser", sagte Malvina zärtlich. „Nein, aber der Hauswirt ist eine gefräßige Laus, wenn er sich für die ganze Kaserne nur eine Sorte Schlüssel leisten kann", antwortete er bescheiden und brachte den Schlüssel ebenso lautlos zurück. „Das ist er, weiter nichts."
„Ach du", sagte Malvina und schlug ihn — es lag noch ein ferner Duft von Gräfin darin — gebildet auf die Finger, „du musst doch immer an dem Ekelhaften deinen Spaß haben. Wir auf unserer Abteilung wechseln jede Woche, will ich dir nur sagen."
König Nebukaneser verstand sie nicht; wenn sie so richtig vornehm war, wurde sie ihm mitunter schleierhaft. Aber er wusste, dass der Ursprung ihrer Bildung echt genug war. „Meine Dame!" sagte er und öffnete vor ihr feierlich die Tür.
Sie kamen in eine kleine Stube von anderthalb Fach Fenstern; das fehlende halbe Fach gehörte zur Küche; die maß in jeder Richtung zwei Ellen und war durch eine Scheidewand von der einen Zimmerdecke abgetrennt. In dem hierdurch entstandenen Alkoven hatte ein altes Holzbett gerade noch Platz; das Bett lag voll von Lumpen und der Raum unter ihm stand voll von Flaschen. An der entgegengesetzten Wand stand — auf zwei Beinen sich an sie anlehnend — die Hälfte eines Tisches, und unter dem Fenster stand eine schmutzige Korbwiege mit einem halbjährigen Kinde darin, das auf der Seite lag und schlief, einen Lutschbeutel aus Gardinenstoff im Munde. Der Lutschbeutel setzte sich in
einen langen Gardinendarm fort, der in feuchten Klumpen — beiseite getanen Lutschbeuteln - bis ganz auf den Boden hinabhing. Im Schlafe sog das Kind an dem Lutschbeutel, langsam ein und aus; dabei hob und senkte sich die ganze schwere Reihe — sie glich einem Quastenbehang. Das ungebrauchte Ende der Gardine war über einen Nagel gehängt.
Ein Junge von zwei bis drei Jahren war am Fenster auf dem einzigen Stuhl des Zimmers so angebracht, dass er auf die Straße hinabsehen konnte; er war an dem Stuhl festgebunden, auf dem Fensterbrett vor ihm lagen einige abgenagte Schmalzbrotrinden. Als sie eintraten, schlief er; der schwere Kopf hing leblos auf der Seite, sein schwaches Atmen klang wie sanftes Flöten. Er schlug ein Paar große Augen auf und sah sie groß an.
„Junge, ach du Herrgott, Junge!" rief König Nebukaneser mit hochentzückter Fistelstimme und streckte theatralisch die Hände aus. „Erkennst du deinen leiblichen Vater, was?"
Gemeinsam banden sie ihn los, und Malvina nahm ihn auf den Schoß, um ihn ein wenig zu säubern. Währenddessen trabte der glückliche Vater im Kreise um sie herum und machte seinem Entzücken in kleinen Ausbrüchen Luft: „Das kleidet dich, Mädchen! — Das kleidet dich ganz mörderisch, ihn zu bemuttern! — Du solltest nur selber sehen, wie sehr es dich kleidet!"
Ohne nennenswerte Gemütsbewegung, in einer eigentümlich starren Ruhe ließ sich der Kleine behandeln; er atmete schwer und hörbar und ließ sich nicht im geringsten anmerken, dass irgend etwas Eindruck auf ihn machte. Es schien, als hätte er ein für allemal beschlossen, für nichts und niemand auf dieser Welt Partei zu nehmen. Er hatte etwas Verschlafenes an sich, war mit keiner Bewegung behilflich, sondern atmete nur mit einem schweren, schnarchenden Laut, der sich ganz gut auffassen ließ, als ob er vor Behagen schnurre.
„Er macht sich schwer", sagte Malvina, „das ist die reine Zärtlichkeit. Und sieh mal, wie gut instand er ist, Neser!"
„Es wäre eine Lüge zu behaupten, dass er sehr redselig ist", meinte König Nebukaneser nachdenklich. „Gott mag wissen, ob er überhaupt einen Ton sagen kann? — Wie alt ist er denn jetzt?"
„Drei Jahre, Neser - drei Jahre durch! Gott, dass du das vergessen konntest!"
„Ja, was denn — Männer haben doch viel wichtigere Dinge im Kopf." Drei Jahre — na, da hatte er noch Zeit genug zu sagen, was zu sagen war, selbst wenn er Reichstagsabgeordneter werden sollte. „Da kann er immer noch dem Teufel ein Ohr abschnacken. - Hast du einmal darüber nachgedacht, was er werden soll, wenn er groß ist?"
„Gott, nein", rief Malvina erschreckt.
„Das ist doch wohl ebenso wichtig wie sonst was! Denn siehst du, es steckt doch Material in so einem kleinen Klumpen — Menschenmaterial, wie es so schön heißt. Wer weiß, vielleicht setzt er sich mitten rein in den Kuchen! Das wäre ein Vergnügen, den Tag zu erleben."
„Ja, ich meine, er wird Konditor", sagte Malvina in Anknüpfung an das Wort Kuchen; von Süßigkeiten hielt sie was.
König Nebukaneser schnitt eine verzweifelte Grimasse.
„Ich sage es nicht, um dich zu beleidigen, Dame, aber ihr Frauenzimmer habt keine Phantasie. Nein, mit der Handarbeit ist es vorbei! Oder hast du einen tüchtigeren Handwerker als König Nebukaneser gekannt? Und was hatte er davon? Jetzt kommt es auf den Kopf an — heutzutage gibt der Verstand den Ausschlag, weißt du! Und Kopf hat er wahrhaftig genug, das Balg!"
König Nebukaneser hielt mit seinen großen Händen den Kopf des Kindes umfasst. „Will es nach oben im Hefeteig — was, Junge?" sagte er und lachte unter Tränen. Der Gedanke an die große Zukunft des Kindes hatte ihn so ergriffen, dass ihm die Hände bebten. „Keinen Mucks sagt er, er blinzelt nicht einmal mit den Augen — er hat Charakter, der Bursche; und weißt du, Malvina, ich fühle es, wie es in seinem gesegneten kleinen Hirnkasten hier oben arbeitet. Das ist der Verstand, der es schon eilig hat — er wird gut, das sage ich dir! Und sieh, wie unerschütterlich er ist! Grad wie ein kleiner Herrgott, der alles auswendig weiß. Für den hängt sicher nichts zu hoch!"
König Nebukaneser schwieg und stand da und pfiff leise vor sich hin, den Blick ins Unbekannte gerichtet. In die Ferne entrückt, wie er war, hörte er nicht, dass ihn Malvina um sein Taschentuch bat — er hatte auch gar keins. Dort draußen in der Zukunft wiederholte sich sein eigenes Leben noch einmal, aber großartiger und erfolgreicher. König Nebukaneser hatte selber den Rekord geschlagen, aber auf einem Gebiet, das schon dem Tode verfallen war; er hatte Hunderte von Malen gesiegt, doch als Sieger fühlte er sich nicht. Aber wenn der Junge soweit war, würde die Sache interessant werden. Er ahnte das Sieden und die Unruhe und hatte selber oft genug in Schusslinie gestanden, um des Jungen wegen schwindlig zu werden.
Dann gab ihn die Ferne sachte wieder frei, mit einem Seufzer landete er auf der Erde und entdeckte, dass er eine trockene Kehle hatte. Er ging einige Male unruhig hin und her und sah forschend in alle Ecken. „Gott weiß, wie es mit dem Weinkeller bestellt ist?" sagte er, zog die Flaschen unter dem Bett hervor und hielt sie gegen das Licht. „Leer — leer über die ganze Linie; das ist wahrhaftig mager! Du, glaubst du nicht, dass deine Schwester hier in der Nachbarschaft Kredit hat?"
Malvina schüttelte bloß den Kopf; sie war damit beschäftigt, dem Jungen mit einem Taschentuchzipfel die Nasenlöcher zu reinigen.
„Herrgott, die sind doch fein heraus! Sie rennt herum und verdient das Essen für sie, und er hat seine sechzehn Kronen die Woche und kann sie auch bis zum letzten Öre für sich verbrauchen! Und dann sollten sie nicht für einen belämmerten Tropfen Spiritus Kredit haben?" So eine Albernheit war nicht zu begreifen. --„Junge, kannst du wohl jetzt mal Vater sagen? Jetzt
bist du ja hübsch vorn im Gesicht! — Ich glaube, Gott steh mir bei, er sieht uns allen beiden ähnlich, Dame — das kommt davon, wenn man sich in allen Dingen einig ist." Er machte einen Abstecher in die Küche hinaus, die nicht größer war als ein gewöhnlicher Tisch. „Wasser leisten sie sich immerhin, diese Schlemmer - ah!" Dann war er wieder in der Stube: „Junge, sagst du jetzt Vater? — Na, gib mir einen Kuss, Mädchen! Es steht dir gut, ein Kind auf dem Schoß zu halten — du solltest es nur selber sehen!"
Aber Malvina maulte: „Du musst immer meine Familie herunterreißen und dabei sind sie so anständig gegen den Jungen gewesen und behalten ihn für rein gar nichts bei sich."
„Na ja — an und für sich sind sie ja auch ganz ordentlich", sagte König Nebukaneser versöhnlich. „Bloß keine großen Töne, Malle!--Jungchen!" Er wühlte in der Westentasche, um für
den Jungen etwas zu finden, und erwischte den Kautabak. Zum Kuckuck auch! Da hätte er für den verteufelten Sechser doch dem Jungen etwas kaufen können — Sahne zum Beispiel! Sahne wäre nicht zu gut für solch einen Prinzen! Er schlenderte wieder in die Küche und suchte in irgendwelcher wahnwitzigen Hoffnung auf
dem Tellerbört herum.
Plötzlich erscholl ein überraschter leiser Pfiff; unter einer der Tassen lag ein Zehnörestück versteckt. König Nebukaneser kam unter feierlichen Gebärden hereingetanzt. „Ach, hör jetzt, Malvina — Himmelsmädchen! Spring hinunter und kauf für fünf Öre Sahne für den Erbprinzen und für den Rest des Geldes Fusel. Sag, es wäre für einen Kranken, dann geben sie besseres Maß."
Niemand auf der Welt konnte dafür, dass Malvina für das ganze Geld Branntwein brachte — sie selbst am allerwenigsten. Teils war nämlich die Sahne sauer um diese Tageszeit, teils hatten sie keine mehr, und schließlich gab es für weniger als zehn Öre keinen Branntwein zu kaufen! König Nebukaneser war auch nicht derjenige, der ihr nach Anhörung dieser alles in allem hinreichenden Gründe Vorwürfe machte; und der Junge war bereits so viel Mann, dass er sich durch einige kleine Tropfen auf eine Brotrinde genügend entschädigt fühlte.
Aber als König Nebukaneser den Trank genossen hatte, geschah es ihm, dass die Gemütlichkeit des Heimes verduftete; das ruhige Genügen am Verweilen im Schoß der gesammelten
Familie war nicht mehr; alle Augenblicke war er am Fenster und sah hinaus. Ein wenig von dem alten Schwung war über ihn gekommen, er fühlte noch Leben in sich und spürte das Bedürfnis, es auf eigene Rechnung ein bisschen aufzufrischen — das Dasein am gestreckten Arm zu halten, um es auf anständige Weise auszudrücken.
Es war ein selten schöner Tag, einer der wenigen Tage, wo die Sonne siegreich den Rauchdunst zersprengt, der über der Stadt ruht, und Ströme von Licht über die Straßen gießt. Zwischen den Bäumen des Walles sah man des Himmels wunderbares Blau; der Weltenraum lag in heiterster Ruhe, ohne Materie oder Grenzen; es war, als sähe man in die zartfarbigste Unendlichkeit hinein.
König Nebukaneser schüttelte sich. „Einen solchen Tag sollte man feiern", sagte er, „und nicht hier zu Hause hocken; der Junge ist auch schläfrig, du. Ich meine, ich gehe ein bisschen aus
und vertrete mir die Beine.--Wenn man bloß ein bisschen Geld
auftreiben könnte." Er sagte es mit einem Seufzer und sah sich forschend in dem leeren Zimmer um.
„Du kannst dich doch nicht in dieser Montur öffentlich sehen lassen", sagte Malvina.
„Nein, besser wäre Zivil, aber in der Garderobe ist ja zum Anziehen genug — ein Gottessegen an Kleidung!"
Sie untersuchten den Inhalt des Bettes und wählten einstimmig das am wenigsten zerlumpte Paar Hosen und die Überreste eines braunen Überziehers. König Nebukaneser zog den Staat an und warf seine Armenhaustracht verächtlich auf das Bett.
„Wenn du jetzt noch ein bisschen herausgeputzt wirst, bist du richtig elegant", sagte Malvina und strich liebkosend an ihm herunter.
„Ja, es ist gar nicht so schlecht", sagte er begeistert. „Aber um die Strümpfe sind wir betrogen."
„Du musst die Hose weiter runterlassen, Neser."
„Das hilft bloß nicht. Aber wenn schon — an Sommertagen darf man dreist mit nackten Füßen in Holzschuhen gehen."
„Dann gehe ich mit dir bestimmt nicht. Ich kann genug andere zur Begleitung kriegen."
„Glaubst du etwa, es wäre mein Ernst?" sagte er rasch. „Soweit ist es wohl mit uns noch nicht gekommen." Er sagte es großspurig genug, war aber doch ratlos.
„Du solltest es mal in den Rumpelkammern versuchen", schlug Malvina vor.
„Das habe ich auch gerade gedacht", antwortete er ruhig, um bei der Dame nicht ganz die Oberhand zu verlieren. Aber im Nu war er aus der Tür und kam kurz darauf mit einem schäbigen Zylinder und einem Paar abgetragenen Zugstiefeln zurück.
„Das sind ein Paar Trittlinge!" sagte er und hielt sie ihr triumphierend hin. „Das heißt, genäht sind sie schweinemäßig — aber sie sind immerhin anständiger als Holzschuhe. Wenn ich etwas hasse, dann sind es Holzschuhe. Sie ruinieren das Handwerk, und Klumpfüße machen sie einem auch!"
Die Kleider hingen ihm auf dem Leibe wie zerknittertes Papier, das wieder geglättet worden ist. Aber die beiden hatten nur für die Risse Augen, und Malvina suchte vergeblich nach Nadel und Zwirn.
Unterdes begann das Kind in der Wiege sich zu rühren und zu schreien, und es musste bald um die Zeit sein, wo die Schwester heimzukehren pflegte. Unter vielen Kosenamen setzten sie den Jungen wieder ans Fenster und banden ihn an den Stuhl fest, damit er nicht hinausfiele. „Ja, da darf der Junge sitzen und den Himmel ansehen und es sich gemütlich machen", sagte König Nebukaneser und streichelte dem Kleinen vorsichtig den dünnbehaarten Kopf. Aber der Bengel zog es vor zu schlafen; er ließ den Kopf schwer auf die Seite fallen und begann von neuem sein sanftes Pfeifen.
Die Kleine war zornig; sie hatte den Lutschbeutel ausgespuckt, stemmte wütend den nackten Bauch in die Höhe und schrie dabei. Ihr kleiner Leib bildete richtig eine Brücke.
„Sie ist hungrig, das arme Wurm", sagte König Nebukaneser und sah sich hilflos um; „sieh nur, wie sie mit dem Bauch herumficht. — Du möchtest wohl was in das kleine Bäuchelchen hier haben, was?" Er klopfte ihr ein wenig scheu auf die gespannte kleine Trommel. Dann nahm er die leere Flasche und hielt sie prüfend gegen das Licht, aber nicht ein Tropfen war übrig geblieben, der allerletzte war auf die Brotrinde des Jungen geflossen.
„Ja, es ist schade", sagte Malvina, „wenn es auch nicht das eigene ist, schade ist es." Sie sammelte einige Brotreste zusammen und hielt sie unter den Wasserhahn, um sie ein bisschen aufzuweichen, ehe sie sie ihrem Gaumen zu bieten wagte. Dann kaute sie die Rinden mit viel Speichel zu einem glatten Teig und knotete ihn über den anderen in den Gardinendarm. Das Kind schwieg, schloss die Augen und machte sich halb im Schlafe daran, mit ihrem kleinen Saugwerkzeug den ganzen Apparat auf und nieder zu hieven, ohne zu beachten, dass sie jetzt eine Quaste mehr in Bewegung zu setzen hatte.
König Nebukaneser stand dabei und betrachtete ihren unverdrossenen Fleiß. „Sie kann schon gewaltig zupacken", sagte er nachdenklich, „die wird mal gut, du! — Nein, ich möchte nicht das Mannsbild sein, das ihr mal in die Quere kommt. — Aber sag, sollten wir nicht den ganzen alten Kram abschneiden? Es tut einem ja weh anzusehen, wie sie sich mit der ganzen Menage abrackern muss."
„Nein, lass es lieber sein, du; vielleicht will meine Schwester die Gardine noch mal verwenden", sagte Malvina.
Sie schlenderten aufs Geratewohl die Straße hinab; Malvina hatte ihren Neser unterm Arm gefasst und trat leichtfüßig das Trottoir. „Du führst uns doch in ein anständiges Lokal — nicht in eine Spelunke, was? — Es gibt genug Lokale, wo du uns hinführen kannst." Sie sprach mit einer Überzeugung, dass König Nebukaneser sich ganz klein vorkam.
Im übrigen überließ sie ihm die Führung ganz und gar, warf nur ab und zu verliebte Blicke zu ihm empor und ging ansonsten mit sittsam niedergeschlagenen Augen neben ihm her — weil es so lange her war, als sie zuletzt mit einem Manne gegangen, dass es sehr wohl das erste Mal sein konnte. Sie war schüchtern wie ein junges Mädchen, und das war schön! Trotzdem schielte sie heimlich nach den Läden hin, wo die Leute standen und den Hals nach ihnen reckten. König Nebukaneser sah prächtig aus mit seinem Zylinderhut, und sie wusste, dass sie ein schönes Paar waren.
„Ich weiß, wo du uns hinführst", sagte sie heiter und hängte sich schwer an seinen Arm. Aber sie wusste es gar nicht und legte auch keinen Wert darauf, es zu wissen; sie sagte es bloß, um ihrem blinden Vertrauen zu ihm in Worten Ausdruck zu geben. Am allerliebsten ginge sie an seinem Arm mit geschlossenen Augen stracks ins Licht hinein und schlüge sie erst auf, wenn sie mittendrin wären; dann flutete einem das jähe Lichtmeer so schmerzhaft in die Augen, dass man schreien musste — manchmal war das Leben doch schön.
König Nebukaneser selber benahm sich ein bisschen merkwürdig. Als sie an die Brücke kamen, die in die Stadt hineinführt, bog er ab, und einen Augenblick später bog er wiederum ab. Klar, es gab Lokale genug, die ganze Stadt lag ja voll von Herrlichkeiten vor ihnen und bot sich ihnen dar! Es kam nur darauf an, das richtige zu wählen, ehe man loszog, damit man hinterher nicht dasaß und bereute. Er hatte die größte Lust, vorn anzufangen und kreuz und quer die ganze Stadt auf Tour zu gehen; leider ließ sich das in Damenbegleitung nicht machen. Vorläufig wartete er bloß auf den Gedankenblitz, auf jenes kleine Biest von einem Einfall, das den Abend retten würde — wie es doch Hunderte von Malen vorher geschehen war. Es galt also, bis dahin in Bewegung zu bleiben, und König Nebukaneser wechselte die Richtung wie ein Schiffer, der zum Vergnügen herumkreuzt, während er vor dem Hafen auf den Lotsen wartet.
Aber Malvina witterte etwas. „Mir scheint, wir gehen im Kreis herum", sagte sie verwundert.
„Man muss doch wohl vor allem erst einmal zu Nadel und Zwirn gelangen", murmelte König Nebukaneser gekränkt. „Ein Gentleman..."
Malvina drückte seinen Arm und sah treuherzig zu ihm auf — erstaunt über seinen gereizten Ton. Und Nebukaneser empfand seine ganze Verantwortung für dies Wesen, das hier neben ihm ging und sich auf einen vergnügten Abend freute, wie eine Anklage. Sie wusste sehr wohl, dass er nicht einen roten Heller besaß, aber sie glaubte einfach an ihn. Und das war nicht das Schlimmste, was sie unter normalen Verhältnissen tun konnte; König Nebukaneser war nicht derjenige, der um Auswege verlegen zu sein pflegte, wenn es einen vergnügten Abend galt. Es war nur das eine Hindernis, dass sein Genie nicht zu Hause war; er merkte keine Spur von dem Spiel der Kräfte, das sein Leben lang auf so vielfältige Weise den Mangel an Kleingeld aufgewogen hatte.
„Wir könnten schließlich in die Karaffe gehen und tanzen", sagte er verlegen, „wir kommen bloß nicht hinein." Er hatte das triste Gefühl, dass es ihm an dem Wesentlichsten gebrach. Es gab wahrhaftig Gelegenheit zu feiern genug, aber was nützte es, dass das Leben übervoll von Vergnügungen war, wenn man nicht mehr verstand, daran teilzuhaben. Er hatte den Wert des Geldes nie richtig zu begreifen vermocht, doch jetzt war er einigermaßen im Bilde; Geld war immerhin ein guter Rückhalt, wenn man selber nicht mehr verdienen konnte.
Ein wenig missmutig schlenderten sie den Wall hinauf und setzten sich auf eine Bank. Die Sonne war im Untergehen, sie ließ bereits den Tag in Purpurdämpfen über der Stadt verhauchen; es ergoss sich unter die Bäume des Walles wie satte Ausdünstungen einer glücksgesättigten warmen Welt. Etwas weiter weg sangen Kinder unter den Bäumen und tanzten Ringelreihen, und unten in der Straße strahlte das Gold vom Turm der Erlöserkirche. Es war unmöglich, schlechter Laune zu sein; nach und nach vergaßen sie ihren Zorn auf das Dasein und verfielen in harmloses Geplauder — von diesem und jenem und nichts. Der Abend schenkte auch ihnen etwas von seiner Sattheit, sie waren mild gestimmt; mit einem ganz leisen Hauch von Wehmut starrten sie in die Sonne, die unangefochten hinabsank — als sei sie viel zu erhaben, als dass man mit ihr rechten könne. Und ehe sie verschwand, strahlte sie rotglühend über die Dächer, küsste ihre leeren Gesichter und ließ sie noch einmal in seliger Erwartung aufglühen. So schön hatten ihre Augen vielleicht noch nie geleuchtet; fern über der Stadt lag festlicher Schimmer, der entzündete einen Widerschein in ihnen.
Von daher floss für eine Weile das Unsägliche in sie ein — das Glück, von dem niemand was weiß — und füllte ihre verdorrten Herzen mit Spannung.
Malvina hatte ein kleines Mädchen überredet, von zu Hause Nadel und Zwirn zu holen. Sie heftete ihren großen schönen Mannskerl eifrig überall zusammen, während eine Schar Kinder sie gaffend umstanden. König Nebukaneser musste sich auf die Bank legen, damit es schneller ginge — und sich immer so herumdrehen, dass die Risse nach oben kamen. Und da lag er und wälzte sich wie ein übermütiger junger Hund, übertrieb die Situation und sagte ungeheure Albernheiten, um die Kinder zu amüsieren. Trotz des schwindenden Lichts war Malvina mit der Nadel flink bei der Sache, im Handumdrehen war alles erledigt.
„So, Neser", sagte sie und sah ihm siegesstolz in die Augen; das letzte Hindernis war aus dem Wege geräumt!
Und er sah sie wieder an, elendig und unvermögend. Ach, nun war es also soweit — dahinter konnte man sich nicht mehr bergen. Hinter dieser sorgfältigen Flickerei hatte auch für ihn eine heimliche Hoffnung geschlummert — denn wozu machte man sich wohl schön? Es musste seinen Grund haben! Und nun platzte die Hoffnung — unmittelbar vor ihren Augen, und offenbarte die erbärmliche Armut des Mannes, wenn ihn seine Fähigkeiten verlassen.
König Nebukaneser hatte den Glauben an sich selbst lange bewahrt — er steckte als ein gigantischer Trümmerblock noch in seinem Traum vom heutigen Tag, der auf nichts Geringeres hinausging, als für einen einzigen Abend seine Jugend wieder aufleben zu lassen, im kleinen eine Reise um die Erde zu tun! Für jemand, der ohne einen roten Heller in der Tasche verwegen durch drei Weltteile getrampt war und an allem, was das Leben zu bieten pflegt, Anteil gehabt hatte, musste es doch eine Kleinigkeit sein. Und dann endete es damit, dass er hier, an der ihm natürlichsten Stelle von der Welt, wegen fünfzig Öre für die Eintrittskarte zu einer Tanzkneipe schmählich festsaß.
Selbstverständlich ließ sich jederzeit auch ohne Geld einiges unternehmen — selbst der ärmste Schlucker hatte doch immer so viele Bekannte, dass er ohne Kosten einen Abend verfeiern konnte. Malvina spielte ein wenig darauf an — es war ja auch eigentlich Weibersache, sich wem anzuhängen und freihalten zu lassen. Aber König Nebukaneser war nicht von der Sorte, die bei alten Bekanntschaften nassauert; es machte ihm mehr Vergnügen, den heimgekehrten Mann aus Amerika zu spielen. Er war auch heute nicht unterwegs, um zu schmarotzen, sondern um noch einmal die großen Jagdgründe seiner Jugend zu besuchen; wollte man sich da nicht zu ihm bekennen, konnte er immer noch „Schluss" sagen und in die Versorgung zurückkehren. Aber dabeisitzen und nach dem Fest die Teller ablecken — das vermochte er nicht, das sollten die tun, die niemals selber etwas erlebt hatten. „Man hat ja auch den Kameraden in der Anstalt gegenüber Verpflichtungen", brachte er laut hervor als etwas, was schließlich auch ein Frauenzimmer verstehen musste; „man repräsentiert sozusagen. Aber geh allein, Dame! Du findest immer noch Anschluss — mit dem Gesicht!"
Aber Malvina klammerte sich nur noch fester an ihn und erklärte, dass niemand sonst auf der Welt sie interessiere und dass sie bei ihm bleiben wolle. Zu dem andern fände sie immer noch Gelegenheit, wenn er einmal nicht dabei wäre.
„Ich erwartete nichts anderes von dir", erwiderte König Nebukaneser bewegt. „Du hast geantwortet, wie ich an deiner Stelle auch geantwortet haben würde."
Malvina empfing das Lob mit einem tapferen Lächeln — und brach plötzlich in Tränen aus. Ganz mädchenhaft überließ sie sich ihnen, als sei es das erste Mal, dass die Welt vor ihr zusammenbräche; und König Nebukaneser bemühte sich gar nicht, ihr Trost zuzusprechen, sondern legte nur still den Arm um ihren Hals. Mit dem Kopf an seiner Schulter schluchzte sie sich in Schlaf.
Es war Abend geworden, die Schatten der Nacht lagen dicht unter den Bäumen des Walls und in den Straßen unter ihnen wurden eins nach dem anderen die Lichter angezündet, als habe die Dämmerung Risse bekommen. König Nebukanesers Augen hatten einen sonderbar abwesenden Ausdruck angenommen — er saß da und starrte viel weiter hinaus, als irgend jemand zu sehen vermag. Er brachte es nicht übers Herz, sich zu rühren, um Malvina nicht zu stören, und fühlte sich schrecklich allein mit sich selbst — so allein, dass er alles fallen lassen musste, wie es wollte, und sich eingestand, dass es vorbei sei; er taugte zu nichts mehr, sondern war ein alter Mann! Es lag ein Trost darin, dies zuzugeben; man hatte es nicht mehr nötig, aufrecht zu stehen und sich mit müder Schulter dem Fallenden entgegenzustemmen. Ja, nun war es also zu Ende, das Leben ließ sich nicht mehr im Vorbeigehen erhaschen; stampfend jagte es vorüber, und wollte man aufspringen, zerschmetterte man sich bloß den Schädel auf dem Pflaster.
Aber es hatte mal etwas gegeben, er war kein gewöhnlicher Hefeteig gewesen! Ja, Tod und Teufel, wie hatte er seinerzeit die Dinge auf den Kopf gestellt! Es gab die köstlichsten Erinnerungen, auf denen er verweilen konnte; er hielt es nicht länger aus, er musste einen Mitwisser haben. Aber als Malvina erwachte und den Blick auf ihn heftete, verblasste das alles vor der Enttäuschung in ihren Augen. Vielleicht hatte sie geträumt, dass sie sich mitten in all der Herrlichkeit befände.
Sie saßen da und schmiegten sich dicht aneinander, niemand von ihnen fühlte das Bedürfnis, etwas zu sagen. König Nebukaneser wunderte sich, dass Malvina ihm keine Vorwürfe machte. Früher hatte er sich das gewünscht; dann zankten sie miteinander, und er konnte aus der ganzen Geschichte hervorgehen als ein Mann, der alles eingehalten haben würde, wenn sie es sich nicht auf Weiberart mit ihrem losen Maul selber verscherzt hätte. Jetzt aber hatte er sich der Altersschwäche anheimgegeben und war dankbar, dass sie sie ihm nicht unter die Nase rieb. Die Böschung des Walles war mit Gestrüpp bewachsen, worunter Kinder und Obdachlose schmale Pfade getreten hatten. Die Dunkelheit ruhte weich unter dem Laube, und hier und da machte sich durch das Gebüsch mit hellem Glitzern und Rascheln von Schilf das Wasser des Wallgrabens bemerkbar.
Es war etwas daran, was König Nebukaneser sanft ums Herze griff — etwas wie ein Gruß aus den großen guten Zeiten; hier vermochte er noch nach Kräften die Süße der großen Erde zu schmecken. Eine Nacht unter freiem Himmel war etwas, das er sich leisten konnte, und zugleich die Summe des Ganzen; alles, was er in seinem Leben erreicht hatte, sein ganzes Dasein wurzelte in der heimlichen Freude, die es ihm bedeutet hatte, unter den Sternen einzuschlafen und vom Morgentau durchschauert aufzuwachen — mit gleich weit nach allen Seiten! Und dazu war er wohl noch Manns genug!
Malvina aber brauste gekränkt auf; sie wollte nichts davon wissen, sich wie eine Landstreicherin unter freiem Himmel das Bett zu richten — das waren sie auf ihrer Abteilung nicht gewohnt. „Da haben wir anständige Betten, und jedes einzelne mit emaillierter Einrichtung darunter! Ich kann meinen Weg allein finden, wenn du gemein sein willst!"
König Nebukaneser sah sie ersterbend an, während sie sich ereiferte. Seinetwegen konnte sie es sich getrost ersparen, die Gräfin zu spielen; er war seiner Greiseneinsamkeit bewusst geworden und stellte sich niemand mehr zum Kampfe.
„Heute bist du den ganzen Abend hochnäsig", sagte er mit einem vergrämten Lächeln. „Man könnte glauben, einer der Vorgesetzten hätte ein Auge auf dich geworfen."
„Pfui, Neser", rief sie gekränkt. „Du weißt genau, dass ich kein Streikbrecher bin."
Na ja, was denn — wenn das eine oder andere dabei abfiel! Er fing ja selber an, die Bedeutung von kleinen Begünstigungen einzusehen, und war schon so langsam im Begriff, sich seiner ärmlicheren neuen Wirklichkeit anzupassen. Gerade das ließ ihn an den Heuboden des Fuhrmanns Jensen denken. Er war jetzt müde und sehnte sich nach Ruhe, und so ein Heuboden konnte eine großartige Sache sein — kam gleich nach einem Heuschober unter
freiem Himmel.
Mutlos kam er mit seinem Vorschlag heraus, und zu seiner Verwunderung sperrte sich Malvina gar nicht, sondern stand stillschweigend auf. Sie folgten dem Wall ein Ende weit nach Süden, stiegen hinunter und gingen über einen Platz, der ein ganzes Lager von alten Dampfkesseln, rostigen Eisenplatten und halbzerfressenen dicken Ketten war. Durch eine Öffnung im Bretterzaun gelangten sie in einen Hof, dessen eine Seite ein schwarzes, fabrikähnliches Gebäude einnahm. An den anderen Seiten standen kleinere Bauten und Holzschuppen. König Nebukaneser hatte Malvina an der Hand gefasst und zog sie hinter sich her; sie hielten sich im Schatten von Wagen und Gerümpel und strebten zu einem niedrigen Gebäude hin, aus dem man das gleichmäßige Geräusch von kauenden Pferden hörte.
König Nebukaneser steckte den Kopf durch die offene Halbtür und pfiff leise. Seine Bewegungen waren nun jugendlich gespannt, er witterte mit allen Sinnen, bereit, beim geringsten Laut davonzulaufen oder seine Taktik zu ändern. Dies hier hatte trotz allem einen herrlichen Geschmack nach früher und nach der Welt draußen; er drehte sich um und winkte mit dem Kopf, während er vorsichtig den Haken abhob. Dann ging er leichtfüßig in den Stall, und Malvina trottete hinterdrein.
„Hier ist das Hotel", flüsterte er und betrachtete entzückt die Umgebung; „ha, Pferde, du, und prächtiges Heu! Herrschaftspferde obendrein — sieh nur mal den Dung an; man riecht es sofort. Der Knecht ist in die Stadt gegangen — eine herrliche Pflanze! Los, rauf ins Heu, Dame!'" Er kletterte die Leiter zum Heuboden hinauf, und Malvina folgte ihm nach. Es ging etwas unbequem, denn sie raffte den Rock unnötig straff zusammen, gekränkt über
den Zuruf Nesers.
Diese Nacht träumte König Nebukaneser von den großen Steppen und dem Sternenhimmel. Er hatte sich auf die nächste Tageswanderung gerüstet, indem er die Füße mit Talg einrieb und den Leib gut zusammenschnürte; jetzt lag er da und ruhte sich in dem herrlichsten Heuschober aus, starrte nach den fernen Bergen und freute sich still auf das, was seiner auf der anderen Seite harrte. Über seinem Haupt wanderte in seiner ewigen Musik der Weltenraum dahin. Er vernahm den unendlichen Klang der großen Nacht, und daher wusste er, dass er allein war. Aber es machte ihm nichts aus.
Malvina war in der Karaffe und tanzte Haubenhenne. Sie hob während des Tanzes mit zierlichen Fingern auf der einen Seite den Rock hoch in die Höhe — denn darunter war gelbe Seide bis weit hinauf übers Knie.
Aufseher Petersen war mit seiner leichten Truppe heimgekehrt und erfuhr zu seiner Überraschung, dass König Nebukaneser noch nicht eingetroffen war. Es kam ja vor, dass sich der eine oder andere für einen Tag oder zwei unsichtbar machte, aber in der Regel kamen sie von selber zurück. Und in jedem Fall waren sie immer leicht aufzuspüren gewesen, so dass das Ereignis keine sonderliche Unruhe erweckte.
Dennoch setzte man sich unlustig in Bewegung, ihn zu suchen, und an einem gewissen Punkt liefen die Spuren mit denen Malvinas zusammen. Sie wurde gleichfalls vermisst, und da man der beiden früheres Verhältnis kannte, wurde die Sache sogleich etwas ernster. Ihre laufende Verbindung mit der Familie in Kristianshavn war auch bekannt, deshalb wandte man sich zuerst an sie.
Dort war der Mann nach Hause gekommen und hatte die Armenhauskleider im Bett gefunden. Er begriff sofort, wie die Dinge zusammenhingen, und da es nun doch mit der Polizei Schererei geben würde, zog er es vor, selbst aufs Revier zu gehen. Dieser Doppelalarm brachte die Polizei auf die Beine; es wurden sofort Nachforschungen eingeleitet, und alle Spuren wiesen auf den Wall von Kristianshavn. Sie von da aus weiter zu verfolgen, erwies sich als unmöglich.
Wie es auch zuging: der Ausflug der beiden Gescheiterten schlug allmählich vom Komischen ins Märchenhafte um, die schöne Sommernacht verwob sie in ihre Mystik. Vielleicht lag an diesem
Abend zuviel Liebe in der Luft. Ihr Verschwinden nahm sachte den Charakter einer Liebestragödie an. Die Zeitungen wurden unterrichtet, die Wallgräben noch im Laufe der Nacht soweit wie
möglich abgesucht.
Als es zu tagen begann, machte sich ein Polizist, der alle Schlupfwinkel Kristianshavns in- und auswendig kannte, auf, sie der Reihe nach abzusuchen. Als der Morgen eben angebrochen war, stieg die Sonne über die fernen Berge empor und kitzelte König Nebukaneser in die Nase; er rieb sich die Augen und erwachte zu dem widerlichsten aller Anblicke — dem eines rotbackigen Polizeibullen! Aber er hatte es nach und nach gelernt, mit dem Erbfeind aufs herzlichste zu verkehren, und indem er sich aus Malvinas Armen herauswand, sagte er gähnend: „Na, ist es jetzt soweit?" Der Polizist nickte.
„Ja, wir wären übrigens von selber gekommen, aber es ist ja immer anständiger, abgeholt zu werden. Sie haben doch einen Wagen?"
„Ja, es hält einer drüben auf dem Platz", antwortete der Polizist lachend.
Das tat es auch, und die drei setzten sich hinein. Malvina und König Nebukaneser waren gleichermaßen entzückt davon; sie brauchten das Verdeck nicht hochzuschlagen und saßen elegant zurückgelehnt auf dem Rücksitz. Nun fuhren sie vom Feste nach Hause — ein wenig schwindlig von all dem Erlebten; das Licht und die Klänge steckten noch in ihnen und machten sie übermütig. König Nebukaneser grüßte die Vorübergehenden herablassend mit der Hand und Malvina warf Kusshändchen. Dann lachten sie beide, und der Polizist tat, als merke er nichts.
„Das war wirklich ein würdiger Abschluss", sagte König Nebukaneser, als sie vor dem Anstaltstor hielten.
Malvina antwortete nicht mit Worten, sondern legte nur reizend den Zeigefinger auf den Mund und neigte langsam das Haupt. Und König Nebukaneser nahm es hin als das, was es war: die Art und Weise der hochvornehmen Kreise, sich für Kuchen
und Schokolade zu bedanken; und er respektierte ihr Schweig Er zog vor der Dame tief den alten Zylinder und betrat den Zwinger wie ein höchst angesehener Gast aus der Bredgade, der sich herablässt, das Essen der Armen zu kosten.
Das war ihre letzte Ausschweifung. Malvina hatte sich in der Nacht erkaltet und starb bald darauf; König Nebukaneser hatte nicht den Mut, sich auf eigene Faust mit dem Gewaltigen da draußen einzulassen. Er hatte ganz gut bestanden - ahnte aber künftige Niederlagen und zog es vor, in Erinnerungen zu leben
1902

 

DIE PUPPE

I

So schön wie der Thüringer Wald ist wohl kein anderer Wald auf dieser Erde. Wie eine Welt für sich liegt er da, hoch unter den Himmel emporgehoben, erdrückend düster oder festlich in weißen Schnee gekleidet, und scheint alles von des Himmels Zorn und des Himmels Gnade zu haben. Bergauf und bergab erstreckt er sich, und so viele Tannen sind in ihm, dass jeder Mensch auf Erden seinen eigenen Weihnachtsbaum kriegen könnte.
Ein sonderbarer Baum ist die Tanne. Keine anderen Bäume halten es aus, einander so dicht auf dem Leibe zu wachsen, und doch ist kein Baum einsamer. Man möchte beinahe glauben, die Tanne sei ein Mensch, so sehr versteht sie es, sich abzuschließen und nach allen Seiten abwehrende Nadeln zu wenden. Rührt man sie an, dann sticht sie — und erfüllt die Luft um einen her mit Wohlgeruch.
Schulter an Schulter stehen die Tannen des Thüringer Waldes und wiegen sich wie ein schlummerndes Heer: eingeschlafene, träumende Riesen, in sich selber eingehüllt. Unter ihren hohen Wipfeln ruht unerschütterlich der Ernst, als sei er die Ewigkeit, und um ihre Wipfel rauscht es jederzeit, in Sturm wie in Stille. Zu ihren Füßen aber herrscht ständig trauliches Behagen — nichts ist so weich und einladend wie das Moospolster unter Tannen.
Einmal im Jahr, auf Weihnachten zu, schwärmt der Thüringer Wald aus. Die grüne Waldesjugend zieht zu Hunderttausenden fort, hinunter, den großen und kleinen Städten des Tieflandes zu; die alten Riesen bleiben einsam zurück, wiegen ihre wolkenhohen Kronen über den Rodungen und besäen den Boden geduldig mit neuem Nachwuchs. Wenn der Berliner eines Morgens erwacht, ist seine Steinwüste über Nacht grün geworden; junge, helle Tannen füllen alle Bürgersteige und Plätze. In wenigen Stunden erobern die Weihnachtsbäume die zahllosen kleinen Balkone, und die unfruchtbare Weltstadt gleicht einer gewaltigen, strahlenden Verwirklichung des Märchens vom Walde, der den Felsen bekleidete. Das ist das große Ereignis des Jahres für den düsteren Wald.
Hier oben kann man Tage und Wochen wandern, ohne einem Menschen zu begegnen. Ab und zu erschallt der Axtschlag eines Holzfällers aus dem Dickicht, oder der einsame Weg schlängelt sich auf einen Vorsprung hinaus, und man sieht hinab über ein Tal, wo ein Dorf halsbrecherisch an der Flanke des Berges hängt. Es sieht aus, als hätten sich die Menschen vom Walde unterdrücken lassen. Es gibt ihrer genug, aber sie hauen sich keine Lichtungen, um den Boden zu bebauen. Sie verbergen sich im Waldesdunkel, lassen sich einzwängen und begnügen sich damit, stillzusitzen und die Finger zu rühren.
Aber darin sind sie auch geschickt; eine so fleißige und fingerfertige Bevölkerung wie die Thüringens kann man sicher lange suchen. Von hier werden aus dem Waldesdunkel die Zehnpfennigbasare aller Welt mit kleinen Gebrauchsartikeln und Schnurrpfeifereien versorgt; auch der Christbaumschmuck kommt hier auf die Welt. Und was noch merkwürdiger ist, in diesem düsteren Thüringer Wald wird der größte Teil des Spielzeugs hergestellt, mit dem sich jung und alt in der ganzen Welt vergnügen.
Ist vielleicht die Waldeinsamkeit daran schuld, sind es die sechzehn bis achtzehn Stunden tägliche Schufterei um eine elende Nahrung — dieses mühselige, freudlose graue Dasein, das die Menschen gefangen nimmt, sobald sie aus dem Mutterleib hervorkriechen? Hier oben entstehen die Karnevalsmasken: Pierrot, der gehörnte Teufel, der Zwerg mit seinem höckerigen Gesicht — und die gutmütige alberne Fratze des dummen August! Der Nürnberger Kram, aus dem sich die Kinder ihre erste lächelnde Welt erbauen, die barocken Phantasiegeburten von Spielsachen, die sich jedes Jahr die Weihnachtsmärkte der ganzen Welt streitig machen — hier, in dem erdrückenden Waldesdunkel hat es seinen Ursprung.
Es scheint, als kenne im Thüringer Waid groß und klein nur allzu gut die düstren Winkel des menschlichen Gemüts und habe sich zum Ziel gesetzt, Licht hineinzutragen. Mit der üppigsten Phantasie streuen die blassen Geschöpfe des schwarzen Waldes Dinge zu Freude und Spiel über den Erdball aus. Hier oben entstehen alle die Puppen, mit denen überall in der Welt die Kinder spielen; selbst die Negerkinder bekommen ihre Puppen — kraushaarig und kohlschwarz — von hier.

II

In der Gegend um Finsterbergen werden hauptsächlich Puppen hergestellt. Es bedarf großer Fingerfertigkeit, um mit dieser Arbeit einigermaßen Brot ins Haus zu schaffen; deshalb ist der Mann die am wenigsten wichtige Person des Haushalts. Die Frau bedeutet etwas mehr, aber die Kinder sind die eigentlichen Versorger. Hier bedeuten viele Kinder ausnahmsweise einmal ein gutes Auskommen.
Das Ehepaar Gessert hatte nur ein einziges Kind, einen Nachkömmling obendrein. Viele Jahre hatte es so ausgesehen, als sollten sie überhaupt keine helfenden Hände erhalten. Aber der Zwerg Coryilis plagte sich so lange mit Mutter Gessert ab — besprach sie, gab ihr wundertätige Kräuter ein und schlug die Luft durch sie —, dass sie sich schließlich ergab und einen Jungen zur Welt brachte: in einem Alter, wo sich die Frauen sonst so langsam darauf einrichten, Großmutter zu werden.
Sie wohnten hoch oben im Leinatal, an der ersten Berglehne, über welche die Leina hinweg muss; die kleine Hütte war auf allen Seiten von dichtem Tannenwald umgeben. Durch die beiden kleinen Fenster der Stube hatte man anfänglich Aussicht weit das Tal hinunter gehabt und — durch einen Einschnitt in den entfernteren Waldbergen — weiter hinaus in die Ebene mit dem Erfurter Dom in der Ferne. Aber die Tannen säten sich selber vor der Hütte aus, und Gessert ließ sie wachsen. Wenn die Frau sie beseitigen wollte, schalt er. „Was sollen wir mit der Aussicht?" sagte er, „wir bringen es ja doch nie zu was. Mag nur der schwarze Wald uns einschließen!"
Und der Wald schloss sich um sie. Wenn der kleine Junge einen Schimmer der Welt erhaschen wollte, musste er sich weiter und weiter von der Hütte entfernen. Auf diese Weise machte er sich frühzeitig mit dem Gedanken vertraut, dass es zu Glück und Freude ein weiter Weg sei.
Er hatte immer seltener Zeit, bis zu der Lichtung zu laufen und über die offene, freie Welt hinauszuspähen, denn schon von seinem vierten Jahr an musste er arbeiten für sein Brot. Er musste die halben Puppenleiber wenden, die eben aus den Steinformen herausgenommen worden waren und zum Trocknen auf den Felsplatten hinter der Hütte lagen; und bald musste er mit seinen kleinen Fingern die aufgeweichte Pappmasse in die Formen pressen, während die Mutter die Ränder sauber beschnitt und die Masse wieder vorsichtig aus der Form nahm. Dies war eine Arbeit, die ihm noch nicht anvertraut werden durfte, und darüber war er froh. Die Arbeit hatte seinen kindlichen Ehrgeiz bereits aufgezehrt; er sah mit Grauen jeder Erklärung entgegen, dass er nun zu diesem oder jenem groß genug sei.
Es ist nicht gut, einziges Kind zu sein, wenn das Auskommen von einer großen Kinderschar abhängt; und wenn sich der kleine Heinz vom Hunger verführen ließ, vom Roggenmehlkleister zu essen, bekam er vom Vater Prügel.
Er wurde schwermütig unter der Last der Arbeit. Wenn der Vater auf Waldarbeit war, schien es, als wiche ein Druck von der Mutter. Dann kam sie auf die fröhlichen Erinnerungen ihrer Mädchenzeit zurück, sang dem Jungen bei der Arbeit Tanzweisen und Liebeslieder vor oder erzählte von der Spinnstube und den anderen Freuden unten im Dorfe. Aber das ging ihn ja eigentlich nichts an.
Die Schule brachte etwas mehr Abwechslung in sein mühsalbeladenes Kinderdasein, aber auch damit war nicht viel los, wenn man so spät wie möglich von zu Hause weggelassen wurde und sich wieder nach Hause sputen musste — aus Rücksicht auf die verhasste Arbeit. Er hatte es am besten, wenn sich der weiße Winter über den Thüringer Wald legte und er auf seinem Schlitten die fünf Kilometer ins Dorf hinuntergleiten und unmittelbar bis vor die Schultür sausen konnte. Wenn er so von droben aus dem schwarzen Wald heruntergeschossen kam, über und über weiß, aber das Dunkel des Waldes lauernd in seinem unerschütterlichen finsteren Antlitz, war er der Held der Schule.
Zu Hause war es ihm am liebsten, in Ruhe bei der Arbeit zu sitzen und nachzusinnen. Dann beschäftigten sich seine Gedanken mit all den Kindern auf der ganzen Welt, die mit dem, was er herstellte, spielen würden — wie sie wohl aussähen, und ob sie außer der Erlaubnis zu spielen auch so viel zu essen bekämen, wie sie mochten. Sie hatten bestimmt auch keinen Frost in den Füßen, diese--. Er konnte sie nicht ausstehen.
Einmal in der Woche schnallte sich die Mutter einen hohen Korb mit halbfertigen Puppenleibern auf den Rücken und trabte zu der Fabrikstadt in der Ebene hinunter, um die Arbeit abzuliefern. Es waren drei Meilen bis dahin, und sie musste früh von Hause weg und kam spät zurück. Aber Heinz hielt sich wach, denn es kam vor, dass sie ihm aus der Stadt das eine oder andere mitbrachte. Blieb sie über eine bestimmte Zeit aus, dann wusste er, dass es in der Puppenfabrikation keine Arbeit mehr gab und dass sie nach einer anderen Fabrikstadt, wo hauptsächlich Fastnachtsmasken hergestellt wurden, gewandert war, um von dort Rohmaterial zu holen. Aber es geschah auch, dass sie erst am nächsten Vormittag zurückkehrte, dem Umsinken nahe unter einer Last Material, woraus Christbaumschmuck hergestellt werden sollte: Glimmerzeug, Pappschmuck, Sprühsterne und richtige Weihnachtssterne für die Baumspitze. Dann war sie auf ihrer Jagd nach Arbeit noch weiter fort gewesen und wusste merkwürdige Dinge zu erzählen. Und Heinz hob doch einmal den Kopf und hörte ihr zu.
Einige Male hatte er sie in die Fabrikstadt unten begleitet,
sonst aber war er an diesem Tag der Woche meist ganz allein und musste doppelt fleißig sein.
Dann konnten Waldeinsamkeit und kindlicher Widerwille gegen die einförmige Arbeit sich um ihn zusammenrotten und ihm auf den Leib rücken. Und in seiner Not fing er an, ganz andere Gesichter auf die Masken zu malen, vertauschte Bärte und Augenbrauen und Züge von Maske zu Maske und freute sich königlich über das Resultat, obwohl er niemals lachte. Auf diese Weise entstanden mehrere der Masken, die auf dem einen oder andern ausgelassenen Fasching, vielleicht hundert Meilen von dem schwarzen Wald entfernt, am meisten Aufsehen erregen sollten. Er versteckte die verzerrten Masken sorgfältig tief im Stapel der fertigen Arbeit — und was er nicht selbst zur Genüge außer Sicht zu bringen vermochte, darum würde sich die Mutter kümmern, wenn er zu Bett war. Es gab Schläge, wenn der Vater seine harmlosen Narrenpossen entdeckte. Heinz bemerkte, dass die Mutter unter den Prügeln, die er bezog, mehr litt als er selber. „Es muss ihr wohl irgendwo weh tun", dachte er und gab sich mit dieser Erklärung zufrieden.
Er wurde immer mehr ein schwieriger Junge, besonders der Vater klagte darüber, wenn er am Samstagabend unten in der Dorfkneipe hockte. Den Wald liebte Heinz nicht; dauernd stand er da, voll unheimlicher Drohungen, und gähnte weit in die kahlen Fenster — er hasste ihn! Und er hasste die Puppen — und alle die fremden Kinder so weit weg, die mit ihnen spielen würden.
Er steckte voll von seltsamen Launen. So klein er war, konnte er sich über die harmlosesten Dinge wütend ärgern, und das wurde sein Schicksal. Als er eines Tages allein zu Hause saß und Puppenleiber machte, wurde er plötzlich der ewigen Mädchen überdrüssig — sie waren nicht zu ertragen! Warum war nie ein ehrlicher Junge unter den vielen Puppen? Es befiel ihn die unbändige Lust, nur einen einzigen Puppenjungen zu sehen, und er fing an, mit dem Taschenmesser in dem weichen Formstein herumzubohren. Das Ergebnis machte ihm Vergnügen, und als die
Mutter nach Hause kam, lagen mehrere Dutzend halbe Jungenleiber zum Trocknen da; so gut hatte er gearbeitet.
Zu seinem Erstaunen weinte sie, vor lauter Verzweiflung knüllte sie ihren ganzen Rock vorn wie einen Scheuerlappen zusammen. Die Form war verdorben und das Material verschwendet; so ungern sie es auch tat, sie musste es dem Vater sagen. Und diesmal schlug Gessert hart zu. Es lag ein ganzer verlorener Wochenlohn in den Schlägen, und Heinz musste mehrere Tage lang das Bett hüten.
Da lag er auf seinem schmerzenden Rücken und gelangte zu einem Entschluss. Er wollte hinaus in die Welt, denselben Weg, den die Puppen gingen! Hinaus, wo keine Haselstecken wuchsen, wo die Kinder nicht dazu verurteilt waren, stillzusitzen und Spielzeug zu machen und Prügel dafür zu kriegen — sondern selber damit spielten! Es gab eine andere Kinderwelt — die ihren Frohsinn hierher, aus dem schwarzen Walde, bezog. Er hatte ihren Lichtschein lange geahnt, jetzt wollte er dahin!
Als die Mutter am Sonnabendmorgen ihre Last auf den Rücken genommen hatte und schon einige Zeit fortgegangen war, stand er auf; der Vater war auf Waldarbeit. Er steckte einen Klumpen Kartoffelbrei zu sich, nahm seinen Schlitten und setzte in Sprüngen, als werde er verfolgt, von der Hütte fort. Eine Strecke weg fiel ihm aber ein, dass die Mutter nichts zu essen vorfinden würde, wenn sie am Abend heimkäme; er kehrte um und legte den harten Breiklumpen auf den Stein vor der Tür — in die Hütte wollte er nicht mehr hinein. Und wieder ein Stück weiter fiel ihm ein, dass der Fuchs kommen und den Brei fressen könne; er kehrte noch einmal um und legte ihn oben auf den Türrahmen, wo der Schlüssel seinen Platz hatte.
Dann zog er in den Wald. Er nahm nicht den üblichen Weg talabwärts, sondern quälte sich den Berg hinauf, immer aufwärts. Um die Mittagszeit hatte er den Wald hinter sich und die freie
Aussicht erreicht.
Es war einer dieser klaren, stillen Wintertage, wo der Thüringer Wald eine Welt für sich ist, eine weiße, lichte Zauberwelt hoch unter dem Himmel. Nie hatte er sich vorgestellt, dass die Erde so festlich sein könnte. Stürme hatten den Hochwald hier oben gefällt, nur einige einsame, gewaltige Riesen standen und wiegten sich leise, als wollten sie einen Schmerz betäuben. Zu ihren Füßen lag der junge Wald im Winterschlaf; er glich einer zahllosen Herde zusammengerollter, phantastisch geformter Tiere — alle in weißem Winterpelz.
Heinz konnte weit hinaussehen, hinweg über schneeweiße Höhenzüge und walddunkle Täler, worin sich Dörfer versteckten: das alles war ihm vertraut. Aber weit draußen blaute in einem Einschnitt zwischen den Bergen das Tiefland hervor — eine Stadt in seinem Schoße und darüber ein gewaltiger Dom. Das war Gottes weite Welt, und dahin wollte er!
Er ging geradeaus weiter, bis er an einen Weg kam, der sich hinabschlängelte. Da warf er sich auf seinen Schlitten, und auf dem Bauche liegend rutschte er hinunter, Kilometer um Kilometer, das Gesicht unverwandt nach vorn gerichtet. Er machte sich keine märchenhaften Vorstellungen von dem, was ihm begegnen würde, sondern ließ sich bloß hinabgleiten — hinab ins Unbekannte. Die Flucht war an sich selbst genug — besser hatte er sich nie gefühlt.

III

Was dem kleinen Heinz begegnete von der Zeit an, wo er von zu Hause flüchtete, bis zu dem Tag, da er als erwachsener Mann in einem wildfremden Lande ein eigenes Heim und einen eigenen Wirkungskreis erhielt — ja, das ist eben das, was allgemein das Märchen des Lebens genannt wird, und darüber mag sich jeder selbst unterrichten. Etwas muss einem ja begegnen, und wenn man so wenig verwöhnt ist wie Heinz, dann gehört viel dazu, bis es ganz schlimm wird. Die Ausfahrt ergibt sich letzten Endes von selbst; ein bisschen mehr oder weniger erlebt — das kommt dabei heraus. Für die meisten Fahrenden beginnt das Erstaunliche da, wo sich die Bahn wieder heimwärts wendet. Wie so manch anderer, vergaß Heinz mit der Zeit seinen Ausgangspunkt; dass er trotzdem wieder zurückfand — das ist das Wunder seines Lebens.
Als Gessert, der die ganze Woche über auf Waldarbeit fortgewesen war, am Sonntagvormittag nach Hause kam und hörte, dass der kleine Heinz davongelaufen sei, da lachte er ausnahmsweise einmal, und das machte die Frau noch unglücklicher. Er fühlt sich nicht wohl dabei, dachte sie und eilte in die Küche, um die großen Kartoffelklöße zuzubereiten, die sein Leibgericht waren.
Aber Gessert schluckte das Essen, ohne dass ihm anzusehen war, dass er sein Leibgericht aß, und antwortete nichts, wenn die Frau ihn anredete. Er saß da und nickte kauend vor sich hin, als ob er sagen wollte, er würde es schon schaffen, die Sache sollte wohl geordnet werden! Als er gegessen hatte, ging er hinaus; mit einem soliden langen Stecken kam er wieder herein. Er schwippte damit und machte sich daran, den Rucksack zu packen.
„Musst du schon wieder fort?" fragte die Frau bekümmert. Er antwortete ihr nicht, sondern hantierte nur herum und nickte Unheil verkündend.
Gessert verließ ohne Lebewohl die Hütte und wandte sich durchs Dickicht aufwärts —den Weg, den er einzuschlagen pflegte, wenn er auf Waldarbeit ging. Doch sobald er die Hütte nicht mehr sah, nahm er die Richtung nach dem Dorfe zu. Auf dem Wege das Tal hinunter rief er öfters den Namen des Jungen, und jedes Mal schwippte er mit dem Stecken, als ob er sein Rufen mit dem Versprechen tüchtiger Prügel unterstreichen wollte.
An mehreren Stellen unten im Dorf erkundigte er sich nach dem Jungen. „Ich gab ihm ja nur seine wohlverdiente Strafe", sagte er und zog die Steinform hervor, um zu zeigen, was der Lausebengel angerichtet hatte. „Aber ich werde ihn schon dazu bringen, die Nase wieder heimwärts zu wenden!" Er schwippte mit dem Stecken.
Da ihm niemand Bescheid zu geben vermochte, ging er wieder in den Wald hinein, trat aber nicht mehr so fest auf. Er schritt über den Rennsteig hinweg und gelangte in die Täler auf der anderen Seite. Oft hielt er inne und rief. Als er merkte, dass ihm der Stecken zu keiner Antwort verhalf, warf er ihn weg. Er stellte sich auf vorspringende Stellen und zeigte die leeren Hände vor, wenn er rief. Seine Stimme hatte einen schwachen, flehenden Ton.
In den Wirtshäusern nahm man den Mann auf der Suche gut auf; man setzte ihm einen Krug Bier vor, und er wiederholte seine Geschichte von dem Jungen, der weggelaufen war. „Seht bloß her", sagte er und zeigte ihnen die Steinform, „ein begabter Bursche, was? Wahrscheinlich hatte er Angst vor Schläge und ist deshalb ausgerissen, denn so eine Form kostet ja Geld — aber schiet drauf! Solltet Ihr ihn sehen, dann sagt ihm, dass es weiter nichts ausmacht, keiner ist ihm böse deswegen." Seine Stimme klang ganz wund, er tat den Leuten leid.
Nach einigen Wochen Herumstreifens kam er nach Hause; er klagte über Schmerzen im Kopf und legte sich gleich hin. Er wäre unter einen stürzenden Baum geraten und der hätte ihn am Kopf getroffen, sagte er seiner Frau.
Mit Gessert nahm es von da an seinen eigenen Weg. Er konnte wie früher am Montag morgen fortgehen und am Ende der Woche mit dem vollen Wochenlohn heimkehren. Aber manches liebe Mal kam er mit leerer Tasche nach Hause, und dann wusste die Frau, dass er nach dem Jungen umhergestreift war. Manchmal lag er lange Zeit zu Hause auf der Bank, das Gesicht gegen die Wand gerichtet und ein Kissen über den Kopf gedrückt; und das war eigentlich das beste. Dann verschliss er nicht sein Zeug, und die Frau wusste, wo sie ihn hatte. Sie tat alles, um ihn ans Haus zu fesseln, unterhielt ihn, während sie arbeitete — über seine Kopfschmerzen und den bösen Baumriesen, der schuld daran war —, und erzählte ihm, was sie in der Nacht von dem Jungen geträumt hatte.
Für Mutter Gessert waren es schwere Jahre. Sie musste sich tüchtig plagen, um die Not von der Tür zu halten, und irgendwelche Lichtblicke sah sie nicht, wohin sie sich auch wandte. Aber sie überstand sie kraft der wunderbaren Fähigkeit der Frau aus dem Volke, an Unglück und Missgeschick zu wachsen; Mühsal und Not konnten sie nicht unterkriegen. Niemals hatte sie sich so entschlossen an die endlose Schufterei begeben wie jetzt, und nie war sie mit ihrem Jungen so sehr verbunden gewesen wie jetzt in ihren Träumen. Jede Nacht war sie mit ihm zusammen, und da lebte sie ihr Leben; am Tage wartete sie bloß. Ihr Heinz hatte sich in die Welt begeben, um seinen Eltern ein sorgenfreies Alter zu verschaffen! Er würde wiederkehren, wenn seine Zeit gekommen war.
Wenn Gessert es vor Kopfschmerzen nicht mehr aushielt, musste er sich auf der Bank aufrecht hinsetzen und die Steinform hervorholen. Dann füllte er sie mit Masse aus, nahm einen Abdruck und zeigte der Frau wohl zum hundertsten Male, wie verdammt gut die Veränderung ausgeführt worden war. Sie begriff, dass er sich in seinem Innern dauernd mit Selbstvorwürfen quälte, und sie bemühte sich, seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben. Aber von dem Jungen kam keiner von ihnen los. Ehe sie es wussten, war die Rede wieder von ihm.
Ihre Auffassung von der Sache wurde auf die Dauer der Zeit die stärkere — wahrscheinlich deshalb, weil sie freundlicher war als seine. Allmählich brachte sie ihn so weit, dass auch er glaubte, der Sohn sei fortgegangen, um für sie alle drei das Glück zu suchen. Seine Kopfschmerzen hörten auf, und sie brachte ihn wieder zum Arbeiten. Es war nicht viel damit los, aber immerhin konnte er Kleister kochen, Papiermasse aufweichen und ähnliche Dinge verrichten.
Als sie soweit gekommen war, waren sie beide alt geworden. Namentlich Gessert war es anzumerken, bei der Arbeit geriet er leicht ins Spielen. Am liebsten goss er die kassierte alte Form aus, und wenn die Gelegenheit günstig war, schmuggelte er einige der Jungenleiber in Mutter Gesserts Korb. Er wollte dem Sohn behilflich sein, sich mit seiner Erfindung durchzusetzen. Die in der Fabrik unten sagten dann: „Nun hat der verrückte Gessert oben an der Leina wieder einen seiner Anfälle gehabt."
So gut sie konnte, passte die Frau auf, dass die missgestalten Puppenleiber nicht mit in die Lieferung hineinrutschten; sie hatte Angst, die Arbeit zu verlieren. Aber Gessert überlistete sie; er war in seiner irrsinnigen, prahlerischen Einbildung so verstockt, als gelte es Leben und Seligkeit, ihnen alles zu verderben! Als ob es etwas zum Grosstun wäre, dass einmal ein kleiner Junge mit seinem Taschenmesser eine Unanständigkeit fabriziert hatte! Sie liebte ihren kleinen Heinz und erinnerte sich trotz der vielen langen Jahre an alles, was ihn betraf — auch an seinen Drang, alles umzugestalten. Aber ihn zu verstehen hatte sie nie gelernt. Viele bittere Tränen hatte er sie gekostet, und jetzt musste sie sich auf ihre alten Tage von neuem mit den Folgen dieses Dranges herumschlagen.
Und dann war es doch Gessert mit der fixen Idee, der sich auf dem rechten Wege befand — vielleicht war er ganz und gar ins Kindliche geraten und hatte dort die Spuren des kleinen Heinz wieder gefunden.
Gerade in diesem Jahre kamen die Charakterpuppen auf, und als der Fabrikbesitzer eines Tages eine von Gesserts eingeschmuggelten Puppen in die Hände bekam, sagte er: „Ja, warum eigentlich nicht? Lasst uns doch mal diesen Puppenjungen der Welt anbieten!" Die Puppe wurde nach ihrem kleinen Erzeuger Heinz getauft, und die alten Gessert erhielten Bestellung auf so viele Probestücke, als sie zu liefern vermochten. Die Puppen wurden in die malerische Bauernburschentracht gekleidet, die oben im Leinatal getragen wird, kamen jede in ihre elegant ausgestattete Schachtel und wurden in die ganze Welt an alle Geschäftsfreunde der Fabrik gesandt.

IV

Eines Frühjahrsmorgens stolperte der rot uniformierte Postbote die Hauptstraße der kleinen dänischen Provinzstadt Gammelköbing hinan. Es war Tauwetter und Sonnenschein, das Frühlingswasser rieselte zwischen den holprigen Pflastersteinen dahin. Der alte Briefträger musste von Stein zu Stein springen, so dass die Pakete auf seinem Rücken auf und ab tanzten und auf der Posttasche Trommel schlugen. Zuoberst lag ein kleines Paket, das besonders rebellisch war; jeden Augenblick fiel es ihm über den
Kopf und traf seine schwammige breite Nase, die — wahrscheinlich von Amts wegen — noch röter schimmerte als die Uniform. Dann fluchte er gutmütig vor sich hin.
Etwas weiter oben in der gewundenen schmalen Straße war eine vorspringende alte Steintreppe, sie reichte ganz bis zum Rinnstein hin. Über der Treppe hing ein schmiedeeisernes, kunstfertiges altes Schild und knarrte im Frühjahrswind; die verschnörkelten Buchstaben waren schwer zu entziffern, aber auf der Tür selber stand klar und deutlich
Heinz Gessert Puppenmagazin Puppenklinik
Herr Gessert saß mit seinem zweijährigen Jungen auf den Knien gerade beim Frühstückskaffee, als die Post kam, seine Frau war im Laden. „Heinz, Heinz, komm, sieh bloß mal!" rief sie zu ihm hinein. „Eine ganz neue Puppenart — Puppenjungen! Und er heißt genau wie du."
Heinz Gessert kam herausgesprungen, er war wie besessen, wenn es Neuheiten in Puppen galt; er machte sich sogleich an die Puppe. Seine Frau stand daneben und beobachtete ihn mit einem Ausdruck froher Verliebtheit; es machte Spaß zu sehen, wie seine Hände eine Puppe anfassten, und dann die Kennermiene, womit er die Arbeit untersuchte! Er selbst hielt es für den seltsamsten Zufall, dass gerade er Inhaber eines Puppenmagazins werden musste; alles andere läge ihm näher, meinte er. Aber das hinderte ihn nicht, dass er in seinem Fach so besonders tüchtig war. Oftmals war es ganz unbegreiflich, wie viel er aus einem Puppenleib, der sich für alle anderen von den übrigen durch nichts unterschied, herauslesen konnte.
Aber so sonderbar wie jetzt war ihr Mann noch nie mit einer Puppe umgegangen. Er drehte und wendete sie um und um, mit immer nervöseren Bewegungen. Sie stand dabei und wartete darauf, dass er mit seinen amüsanten Wahrnehmungen herausrücken solle — und sah, wie seine Hände zitterten und der Ausdruck seines Gesichts immer wieder wechselte. Und da wurde ihr angst. „Heinz!" rief sie und fasste ihn an. Aber er wandte sich von ihr ab und ging still in sein Büro, die Puppe seltsam leblos in den Händen.
Mehrere Male ging seine kleine Frau an die Tür. Sie ahnte, dass hier etwas wäre, was den dunklen Punkt seines Lebens berührte — seine früheste Kindheit, und dass er am liebsten damit allein sein wollte. Aber das Herz blutete ihr vor Verlangen, ihm jetzt nahe zu sein und ihm eine sanfte Hand auf die Stirn zu legen. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und ging leise zu ihm hinein. Er saß zusammengesunken, schlaff da - wie nach einer starken Gemütsbewegung — und starrte geistesabwesend in die Ferne; vor ihm lag der nackte Puppenleib, ganz nackt und bloß.
„Soll ich wieder gehen?" fragte sie leise und strich ihm behutsam übers Haar.
Erst jetzt kam er zu sich; er fasste die liebkosende Hand und küsste sie. „Ich habe meine Kindheit wiedererhalten", sagte er still, beinahe schamhaft. Als das erst gesagt war, holte er Luft und begann zu erzählen - dunkel und märchenhaft: von einem kleinen Jungen tief im dunklen Wald, von der Hütte an der Berglehne, von dem ewigen Eingesperrtsein bei der verhassten klebrigen Arbeit mit aufgeweichter Pappmasse und Kleister. Von dem Jungen, der deshalb zum Kobold wurde, weil er im Dunkeln eingesperrt sitzen musste, um für die Kinder draußen in der lichten Welt Spielzeug zu machen! Es war ihm alles entschwunden gewesen, aber nun trat es lebendig wieder hervor. Und das eine zog das andere nach sich: die Steinform, die die Verwandlung vom Mädchen zu dem Puppenjungen da auf dem Tisch durchmachen musste - und die Flucht, um den Folgen zu entgehen. Und während er erzählte, trat plötzlich eine neue Gestalt in seine Erinnerung ein - der Vater. Er sah ihn in einer niedrigen Tür stehen, Axt und Säge hingen ihm über dem Rücken, der Brotbeutel vorn.
„Und das hast du alles stillschweigend mit dir herumgeschleppt", sagte sie schluchzend und bedeckte den kleinen Puppenleib mit Küssen. „Warum denn, Heinz?"
„Ich hatte es doch vergessen", antwortete er bedrückt. „An Mutter habe ich immer eine Art Erinnerung gehabt — ein gütiges Gesicht, das sich über mich beugte. Alles andere aber war mir unterwegs entfallen. Ich habe wohl selber dazu beigetragen -indem ich es unterdrückte."
„Aber warum denn?"
„Aus Angst, dass man herausbekommen könnte, wo ich hingehörte, und mich dann zurückschickte, glaube ich. Und vielleicht — Kinder können auch hassen, du!"
„Dass du gerade hier landen musstest!" Ihre Augen strahlten unter Tränen. Er legte den Arm um sie.
„Ja, du, das ist das Wunderbare! - Und wie ist es denn vor sich gegangen? Ich habe nur eine dunkle Erinnerung; eine Landstraße und ein Mann, der mich an der Hand hielt - ein Wanderbursche wahrscheinlich. Wir haben uns wohl durchgebettelt, denn ich glaube mich an Türen erinnern zu können, die mir zu gewisser Zeit in meinem Leben ständig vor der Nase zugemacht wurden. Er muss mich nach Kopenhagen gebracht haben und mir dann auf irgendwelche Weise entschwunden sein; von dem Augenblick an, wo ich in dem großen Spielwarengeschäft auf dem Strög Laufbursche wurde, erinnere ich mich an alles recht deutlich, aber er tritt nirgendwo darin auf. Dort behielten sie mich - und ließen mich den Handel erlernen."
Sie nickte. „Wie ist das Leben seltsam", sagte sie weich und sah träumerisch vor sich hin, mit den Gedanken irgendwoanders weilend. Dann richtete sie sich erschauernd auf — sie dachte daran, was gewesen wäre, wenn dies alles nicht stattgefunden hätte -, ergriff den kleinen Puppenleib und küsste ihn heftig - gerade auf die verhängnisvolle Stelle.
„Und nun musst du nach Hause fahren und deine alten Eltern zu finden suchen", sagte sie entschlossen.
„Wenn es nur nicht zu spät ist", antwortete er - und brach plötzlich in heftiges Weinen aus.
Sie drückte seinen Kopf an sich und ließ ihn ausweinen. Es war all das Finstere in seinem Leben, was sich nun auflöste und wie Regen niederfiel.

V

Weg hinaus und Weg nach Haus sind gleich lang, sagt das Sprichwort; für Heinz jedenfalls war aber der Heimweg bedeutend kürzer und leichter, als es der Weg hinaus gewesen war. Zwei Tage, nachdem ihm die schicksalhafte Puppe ihren Gruß überbracht hatte, stieg er in Waltershausen aus dem Zug. In der großen Puppenfabrik erhielt er alle erforderlichen Auskünfte. Es war gerade der Tag in der Woche, wo die alte Mutter Gessert Arbeit abzuliefern pflegte; wenn er nur zwei, drei Stunden wartete, könnte er sich den Weg in die Berge ersparen, sagte man ihm. Aber der Fremdling wollte nicht warten; er machte sich stracks zu Fuß nach Finsterbergen auf.
Auf der Bergflanke, die von Friedrichroda nach Finsterbergen hinaufführt, kam ihm ein schwer bepacktes Mütterchen entgegen. Der Pfad war von dem Tauwasser des Frühlings voller Eis, die hohe Kiepe beugte sie vornüber; sie musste sich an den schleppenden langen Ästen der Tannen festhalten und sich von Baum zu Baum gleiten lassen, um nicht den Berg hinunter ins Rutschen zu geraten.
Heinz hielt sie in seinen starken Armen, noch ehe sie ihn entdeckt hatte. Er befreite sie von der Last und hob sie auf das weiche Moospolster unter den Tannen, während sein Herz vor Freude und Jammer weinte. Ach, wie klein und leicht sie war! Die schwere Hand des Lebens hatte sie fast wieder in die Erde hineingezwungen, aber in dem runzligen gütigen Gesicht leuchteten zwei vertrauensvolle Kinderaugen, die er aus seiner Knabenzeit wieder erkannte.
Nichts greift so tief wie eine Liebkosung von den Händen, die sich für einen abgemüht haben, und unter den tappenden gichtischen Fingern der kleinen verwelkten Frau brach Heinz zusammen. Jetzt erst begriff er zur Gänze, was der Schatten in seinem
Dasein gewesen war: wie schwer es gewesen war - nicht zum mindesten als Erwachsener-, ohne Mutter zu sein.
Das kleine alte Mütterchen lächelte bloß, während sie über ihren Jungen hintastete, der so groß und so vornehm geworden war, und behutsam umfing sie ihn mit ihren versagenden Augen Nichts auf der Welt konnte sie noch überraschen, und dass der da zurückkommen würde, hatte sie ja immer gewusst. Er war sie alle drei hinausgezogen, und nun war er wieder hier!
„Nun wird Vater froh werden!" sagte sie, und das alte Haupt zitterte. Und das war ihr erstes Willkommenswort an ihn.
1915

 

DER HOFSÄNGER

Wer liebte nicht die Singvögel? Und wenn es die Obrigkeit ist: sie schützt sie und wacht darüber, dass ihnen kein Leid geschieht. Und alle tun wir, was uns möglich ist, damit sie bei unseren Häusern nisten und uns was vorsingen. Lässt sich eine Nachtigall in einem Garten nieder, dann empfindet es der Besitzer als ein Liebeszeichen aus der Hand der Natur.
Der Hofsänger aber ist etwas für sich. Im Gegensatz zu allen anderen Singvögeln hat er sich die Hauptstadt zum Aufenthaltsort erwählt und ist nur dort anzutreffen — und nur in den Armeleutevierteln. Und während zum Beispiel die Nachtigall einen Park dem Garten des kleinen Mannes vorzieht, rückt der Hofsänger aus seiner Gegend aus, sobald sie anfängt vornehm zu werden.
Der Hofsänger ist der Singvogel der armen Leute. Er tritt erst gegen Winter auf, wenn alle anderen Singvögel längst verstummt sind, und meist verschwindet er wieder, sobald die Luft frühjahrsmäßig wird. Hunger und Kälte sind es, die die Töne aus seiner Kehle hervorlocken und die Hinterhöfe der Hauptstadt in gewaltige, bebende Vogelkäfige verwandeln.
Noch vor zehn Jahren war in Kopenhagen der Hofsänger etwas ziemlich Alltägliches. Aber unter den Einwohnern der Stadt hatte er nur die Armen zu Freunden — alle anderen wurden wütend von seinem Gesang. Und dieselbe Obrigkeit, die die Lerche und andere Singvögel schützt, war ihm aus irgendwelchen Gründen feindlich gesinnt und legte ihm Schlingen aus. Und heute ist er so gut wie ausgerottet. In den düsteren Hinterhöfen der Großstadt darf kein Lied erklingen.
Hier folgt ein kleiner Bericht, wie einer der letzten Hofsänger gehetzt und zur Strecke gebracht wurde.
Der Maschinenarbeiter Vang war von gleicher Herkunft wie nicht wenige weltberühmte Tenöre — und singen konnte er. Fast alle großen Sänger und Sängerinnen stammen aus der Welt des armen Mannes; sie bedeuten einen seiner vielen Versuche, sich auf Erden Gehör zu verschaffen, sein Optimismus bringt sie hervor.
Vang besaß eine großartige Stimme, und oft genug habe ich darüber nachgedacht, wie weit er es wohl hätte bringen können, wenn...
Doch jedes „wenn" und „falls" war im Grunde genommen überflüssig, da er nun einmal Maschinenarbeiter war und Frau und Kinder hatte. Überdies gefiel ihm sein Beruf sehr gut.
Er sang seinem Weibchen und seinen Jungen vor, wie es sich für einen richtigen Singvogel gehört; und um die Zeit, da er abends von der Arbeit nach Hause kam, pflegten die Bewohner des Vorderhauses ihre Fenster nach dem Hofe hin aufzuschlagen, damit sie von dem Gesang ein wenig abbekämen. Er wohnte im Hinterhaus.
Ich hatte eine kleine Dachkammer nach dem Hofe zu, und manchen Abend ging ich überhaupt nicht fort, sondern saß im Dunkeln und träumte bei diesem unermüdlichen Gesang zum Preis des eigenen Nestes vor mich hin; er schien — wie bei der Lerche — aus unerschöpflichen Quellen hervorzubrechen. Das war nach einem schweren Arbeitstag ein herrliches Ausruhen — und eine wunderbare Linderung für einen, der nicht ganz aus freien Stücken Einsiedler war.
Eines Abends sang er nicht. Es kam ja ab und zu vor, dass er und seine Frau ausgingen, auf Besuch oder dergleichen; man nahm es hin als etwas, das nun einmal dazugehörte — als Sängerlaune, und tröstete sich damit, dass es nicht allzu oft vorkäme. Aber an diesem Abend war die Stille von anderer, gleichsam aufdringlicher Art; irgend etwas Unfassbares brachte mich zu der Überzeugung, dass in dem kleinen Nest im dritten Stock des Hinterhauses etwas vorgefallen wäre.
Auch an den folgenden Abenden ließ er sich nicht hören. Ich
erkundigte mich im Hause und erfuhr, dass er arbeitslos geworden sei. Mehr wurde nicht gesagt, und mehr war auch nicht nötig. Dieses einzige verfluchte Wort enthielt alles.
Den Bewohnern der Arbeiterviertel ist Arbeitslosigkeit zur Winterszeit wie eine verheerende Pest oder Cholera — keiner weiß, ob er den morgigen Tag erleben wird. Wenn sie in dem Stadtteil erst einmal ausgebrochen ist, spukt sie in allen Gesichtern — macht sie blau und grau und unangenehm gespannt. Wo sich zwei begegnen, sagt ihr starrender Blick: „Was — lebst du noch?" Jederzeit kann sich einem die Erde unter den Füßen auftun; niemand weiß, wann er an der Reihe ist, vom Dasein ausgeschlossen zu werden. Sooft sich zwei Menschen voneinander verabschieden, geschieht das mit dem heimlichen Gedanken: „Wer von uns beiden wird wohl zuerst drankommen?" Niemand kennt die Stunde seiner Heimsuchung; man geht ruhig und vergnügt ins Bett — und wenn der Tag graut, ist der Engel des Hungers dagewesen und hat einem sein graues Kreuz an die Tür gemalt. Es kann nicht unheimlicher klingen, wenn die schwarzen Leichenträger der Pest an die Türe pochen und es flüsternd von Mund zu Mund geht: „Sie holen Petersen!", als wenn es wie ein Seufzer durchs Haus geht, dass der und der arbeitslos geworden sei.
Bisher war unser Haus seltsam verschont geblieben. Weihnachten war glücklich vorübergegangen, der Januar mit seinem Optimismus hatte angefangen. Das neue Jahr bedeutet für die kleinen Leute nicht nur strengere Kälte, sondern auch mehr Lebensmut — es geht wieder aufwärts, dem Lichte entgegen! Man atmete schon auf und meinte, für diesen Winter sei das Schlimmste überstanden — und da traf es die Familie Vang!
Von meinem Fenster aus konnte ich gerade in die kleine Wohnung im dritten Stock hineinsehen. Auf einem Tisch dicht an dem anderthalb Fach breiten großen Fenster stand die Nähmaschine; vormittags, wenn die Sonne schien, saß hier häufig die lustige kleine Frau Vang. Über ihrem Kopf hing der Kanarienvogel, der zu dem Rattern der Nähmaschine ständig wie besessen trillerte, und am Tischende saß mit seinem Spielzeug ein kleiner Knirps von drei, vier Jahren. Wie mochte es der kleinen Familie, die immer so froh beisammen gewesen war, jetzt gehen? Zu kleinen Leuten kommt die Not selten später als ein oder zwei Tage nach der Arbeitslosigkeit.
Ja, wie ging es ihnen wohl? Ständig waren die Vorhänge zugezogen; die Fenster wirkten wie geschlossene Augen. In das, was dahinter vorging, sollte niemand Einblick haben. Die lustige Familie hatte sich in sich selbst zurückgezogen.
Ich versuchte eine Annäherung, wurde aber abgewiesen; hatte ich mich in ihren guten Zeiten nicht bei ihnen gezeigt, konnte ich auch jetzt getrost meine Nase für mich behalten. Ab und zu begegnete ich dem Mann oder der Frau im Haustor; sie trugen das eine oder andere unterm Arm und waren wahrscheinlich auf dem Wege zum Leihhaus. Kein Mensch im Haus erfuhr, wie sie sich durchschlugen; aber es ließ sich ja ahnen, dass es auf Kosten des Hausrats geschah.
Eines Tages waren die Vorhänge verschwunden und durch Zeitungen und einen alten Schal ersetzt — Dinge, die trostlos die Leere verrieten, die sie verbergen sollten. An diesem und den folgenden Tagen dachte ich mehr an die Familie Vang als nützlich ist, wenn man mit dem Leben auf gutem Fuß stehen will; ihr Schicksal konnte einen wohl dazu bringen, mit diesem oder jenem ins Gericht zu gehen.
Eines Vormittags aber wurde ich auf die schönste Art aus meinen finsteren Gedanken aufgerüttelt. Eine bekannte helle Stimme stieg plötzlich aus der Tiefe des Hofes empor und schwebte in der kalten Winterluft hoch über dem Hofraum, trillernd wie eine Lerche, die an ihren Flügeln hängt. Es versteht sich, dass mein Fenster mit Schwung aufflog.
Mitten auf dem Hof stand der Maschinenarbeiter und sang, den Kopf entblößt und das Gesicht hinauf zu den Fenstern gerichtet. Er sang Tycho Brahes Abschied, und seine Stimme schwang bewegt zwischen den starken Mauern. An allen Fenstern waren Zuhörer; sie klatschten Beifall und warfen ihm in Papier eingewickeltes Geld hinunter. Ein zehnjähriger Bursche, sein ältester Junge, sprang auf dem Beton hin und her und sammelte auf.
Als ich kurz darauf fortging, begegnete ich Vang und dem Jungen vor dem Haustor; sie waren auf dem Weg in einen anderen Hof. Vangs Augen leuchteten, als er mich sah; er grüßte wie einer, der den Sprung gewagt und Glück gehabt hat.
„Passen Sie auf", sagte ich. „Sie wissen doch, dass es verboten ist, auf den Höfen zu singen."
„Verboten, ja! — Möchten Sie mir sagen, was in diesem nasskalten Lande nicht verboten ist? Ich bin zwei Jahre mit einem deutschen Monteur gereist; wir waren überall in allen Städten Europas und haben Maschinen aufgestellt, und überall durften die Leute auf der Straße singen und spielen, so viel sie wollten
— sogar in Berlin. Bloß hier zu Hause sind wir solche Griesgrame, sehen Sie! Na, das Verbrechen gehört wohl nicht zu den allerschwersten, und sollte ein Bulle kommen, dann steht ja mein Junge hier draußen vor dem Tor und wird mich warnen. Es wird schon gelingen!"
Und es schien ihm wirklich zu gelingen. Es machte richtig Spaß zu sehen, wie es mit ihm und der Frau wieder bergauf ging und sie ihr altes, fröhliches Lächeln zurückgewannen. Die hässliche Fensterverkleidung verschwand, die Vorhänge kamen wieder auf ihren alten Platz. Oftmals begegnete ich ihnen auf dem Weg nach Hause; stets trugen sie das eine oder andere unterm Arm
— wahrscheinlich aus dem Leihhaus.
Aufstieg ist immer erfreulich, und doppelt erfreulich ist es Menschen zu sehen, die aus eigener Kraft das schwere Rad des Schicksals wenden. In allen Höfen war Vang ein gern gesehener Gast; das Viertel gab ihm den Spitznamen Herold (Anm.: Herold: ein berühmter dänischer Opernsänger. Die Red.) der Armen.
Ich traf ihn häufig in unserem Viertel, und bald wurden wir gute Freunde.
Eines Abends kam er zu mir in mein Kämmerchen, um mich in einer sehr wichtigen Angelegenheit um Rat zu fragen. In jenen Jahren tauchte gerade ein neuer Gesangsstern, ein Tenor
am Himmel auf; ein italienischer Droschkenkutscher war durch reinen Zufall von einem der Professoren am Konservatorium in Mailand entdeckt und unter kundiger Leitung ausgebildet worden. Nun zog er von einer Hauptstadt in die andere und zwang die ganze Welt vor seine Füße. Sein Ruhm war natürlich auch zu uns gedrungen, und eine Zeitlang wurde viel darüber geredet und geschrieben, ihn auch hierher kommen zu lassen. Das scheiterte aber an seinen ungeheuren Honorarforderungen.
Vang hatte die Laufbahn des Sängers in den Zeitungen verfolgt und war von seinem märchenhaften Schicksal stark mitgenommen. Ich hatte Mal für Mal bemerkt, dass er sich mit dem Italiener — dem ehemaligen Droschkenkutscher! — verglich und aus dem Vergleich gewisse Schlüsse zog. Und Stimme besaß er, ohne Zweifel. Wieweit sie ausreichte, eine Zukunft darauf aufzubauen, konnte ich natürlich nicht entscheiden. Und da ich weder für Vang noch für die Welt einen Gewinn darin sah, wenn er und seine Familie aus ihrem bescheiden glücklichen Dasein herausgerissen würden und es dafür vielleicht einen reisenden Tenor mehr gäbe, wich ich jedes Mal aus, wenn die Unterhaltung auf seine künstlerischen Aspirationen überzugleiten drohte.
Aber heute ging er stracks auf die Sache los. Die Sache war die, dass der italienische Sänger doch hierher kommen sollte, und das in allernächster Zeit. Die Zeitungen wussten nämlich zu berichten, dass es einem der größten Grundbesitzer des Landes unter großen finanziellen Opfern gelungen sei, sich für die Soiree, die er, wie bisher jeden Winter, auch in diesem Jahr veranstalten würde, um seine Übersiedlung vom Lande in sein Palais in der Bredgade zu feiern, ein Auftreten des Sängers zu sichern.
„Was meinen Sie — sollte ich nicht den Italiener aufsuchen und ihn bitten, meine Stimme zu prüfen?" fragte Vang mit vor Erwartung glühenden Wangen.
„Warum gerade ihn? Wir haben doch einheimische Kapazitäten genug!" antwortete ich.
Vang verzog die Mundwinkel: „Den Menschen hier fällt es so schwer, in einem, der von unten kommt, Fähigkeiten zu erkennen; aber der hat doch selber der Unterklasse angehört. Wenn er also meinte..." Vang versank in seine eigenen, sicherlich sehr ausschweifenden Gedanken; sein Gesicht glitt fort in Träumereien.
„So eine Ausbildung ist eine kostspielige Geschichte", versuchte ich mich von neuem. „Sie dauert Jahre — und die Familie muss doch auch leben."
„Gewiss, das ist richtig. Aber mit meiner Hofsingerei verdiene ich ja auch allerlei."
„Solange es dauert. Es ist polizeilich verboten, und früher oder später..."
„Es ist doch bisher gut gegangen." „Der Krug geht solange zum Brunnen..." „Ich glaube nicht, dass mir die Polizei was tun wird. Die Polizisten hier in unserem Viertel haben mich oft genug gesehen. Und warum sollte man sich denn auch da hineinmischen? Der Italiener singt in der Bredgade dem Grafen und seinen Gästen vor — vielleicht kommt sogar der Hof und hört ihm zu. Er soll zehntausend dafür kriegen! Na, er kriegt sie natürlich nicht in Zeitungspapier zugeworfen, und er singt in einem eleganten Saal. Trotzdem sehe ich da keinen großen Unterschied; arme Leute haben ja keinen anderen Konzertsaal als den Hinterhof! Man verbietet den Vögeln doch auch nicht, auf kopenhagenschem Grund und Boden zu singen — oder den Menschen, ihnen zum Dank für ihr Singen Krumen hinzustreuen. Und wenn es ihnen einmal Vergnügen macht, mich zu hören!"
Er war von seiner Idee nicht abzubringen, und ich musste versprechen, ihm behilflich zu sein, einen deutschen Brief an den Sänger zu schreiben, wenn es so weit wäre.
Wir brauchten beinahe einen ganzen Sonntag dazu; Vang konnte ihn nicht gründlich genug haben. „Es kommt darauf an, den richtigen Eindruck zu erwecken — so einer kriegt wahrscheinlich einen Haufen Zuschriften", sagte er in einem Ton, als sei er stolz auf den Italiener.
Der Brief wurde so zeitig abgeschickt, dass ihn der Sänger gleich bei seiner Ankunft in Händen haben musste; soviel ich weiß, ist nie eine Antwort darauf eingetroffen. Trotzdem wurde der große Sänger Vang zum Schicksal — wenn auch auf traurigere Weise, als sich irgendwer von uns vorgestellt hatte.
Es war am Tage der Soiree. Die beiden Polizisten, die an diesem Abend vor dem Palais patrouillieren, für geregelten Autoverkehr und so weiter sorgen sollten, wurden schon mittags aus dem Wachlokal entlassen, damit sie sich ein wenig ausruhen und ihre Galauniform nachsehen könnten. Sie wohnten beide draußen am Jagtvej, und auf dem Heimweg unterhielten sie sich über den seltenen Singvogel, der abends auftreten sollte. „Wenn man ihn doch auch hören könnte", sagte der eine. „Aber so was ist ja nichts für unsereins."
Ob nun eine Gedankenverbindung — ausgelöst durch den Sänger — oder der reine Diensteifer schuld daran war: jedenfalls kamen sie überein, den Nachmittag gemeinsam zu verbringen und auf Nörrebro nach Hofsängern und anderen „Bettlern" auf die Jagd zu gehen. Sie gingen nach Hause, zogen altes Zivilzeug an, um besser auf Schussweite an das Wild heranzukommen, und trafen sich auf dem Nörrebro-Rundteil von neuem. Von hier aus nahmen sie sich die dicht bewohnten Seitenstraßen mit den nordischen Götternamen vor und suchten eine nach der anderen ab, wobei der Schnelligkeit halber jeder von ihnen eine Straßenseite übernahm.
Vang war gerade auf einem Hof der Aegirsgade und sang, sein Junge stand im Tor Wache. Vang war mitten in Es war ein Samstagabend, als ihn ein Individuum, das der Kleidung nach am ehesten ein Lumpensammler zu sein schien, beim Kragen packte und für verhaftet erklärte.
Vang drehte sich rasch um. In der Hand des schäbigen Kerls, der vor einem Augenblick zum Tor hereingeschlichen war und in dem Müllkasten herumgestochert hatte, sah er das Polizeischild blinken — und wurde rasend. Das war doch ein bisschen zu gemein — sich verkleiden und hinterrücks die Leute anfallen! Er schlug den Polizisten zu Boden, und während er durch das Tor ging, um den Jungen zu schnappen und sich mit ihm davonzumachen, machte er seinem Ekel ausgiebig Luft. So ein Lump -pfui Teufel!
Aufgeregt wie er war, überhörte er den scharfen Pfiff der Polizeipfeife; draußen vor dem Tor lief er dem anderen Polizisten gerade in die Arme. Er drehte um und rannte durch das Tor zurück, lief seinen ersten Angreifer über den Haufen und setzte über einen Bretterzaun, die Polizisten ihm dicht auf den Fersen. Er landete auf einem Lagerplatz und fand da nicht hinaus; und dort wurde er gestellt und nach kurzem, blutigem Kampf überwältigt.
Wir im Hause erfuhren es gegen Abend — eher hatte sich der Junge nicht nach Hause getraut, und wir wussten sogleich, was das zu bedeuten hatte. Das sinnloseste von allem hatte er begangen: er, der ordentliche Vang, der gutmütigste Mensch von der Welt, hatte sich an der Polizei vergriffen! Jeder von uns war sich völlig klar darüber, dass nicht das geringste geschehen wäre, wenn die beiden Polizisten in Uniform aufgetreten wären. Der Zorn war mit ihm durchgegangen, Winkelzüge und Hinterlist konnte er nicht ertragen. Aber was half das? Er hatte eine Heiligtumsschändung begangen und selbst das beste Zeugnis würde ihn nicht retten.
Die beiden Polizisten erschienen an diesem Abend nicht in Galauniform vor dem Palais; sie waren einem Paar Schmiedefäusten ausgesetzt gewesen und nicht präsentabel — um so schlimmer für Vang! Er erhielt ein Jahr Zuchthaus für diese Geschichte.
Irgendwelchen größeren Seelenschaden hat er dadurch nicht erlitten. Er ist einer der wenigen — wenn nicht der einzige —, die ich aus der Strafanstalt kommen sah, ohne dass sie verdorben gewesen wären. Er ist nur sehr still geworden. Und seine Stimme hat er verloren. „Das kommt von den feuchten Mauern", sagt er selbst. Aber andere Gründe sind vielleicht ebenso sehr schuld daran.
1916

 

DER STARKE HANS UND DIE ROTE FAHNE
Das Märchen vom ersten Mai

Über seinen Ursprung ist nicht sehr viel bekannt, aber eine alte Überlieferung erzählt, er sei dadurch gezeugt worden, dass seine Mutter in einem Torweg im Durchzug stand und an einem Eiszapfen lutschte. Sicher ist, dass bei seiner Empfängnis keinerlei Wärme verschwendet wurde, und als er das Licht erblickte, wurde auch nicht viel Wesens von ihm gemacht. Er kam auf der feuchten Erde zwischen zwei Reihen Rüben zur Welt; aus dieser Veranlassung zeigte sich kein neuer Stern am Himmel.
Desto mehr des Aufhebens machte dafür er selber vom Dasein. Jedes noch so geringe Ding erfüllte ihn mit Dankbarkeit. Ansprüche stellte er keine, sondern gedieh von allem, und wenn es Hunger und Kälte und blanke Schläge waren; er wurde groß und stark davon — und gutmütig obendrein. So stark wurde er, dass seine Holzschuhe platzten, wenn er richtig loslegte; und so albern gutmütig, dass jeder mit ihm davonrennen konnte.
Es war keine Welt erster Klasse, worin er auftauchte, wenn sie auch von autoritativer Seite für sehr gut erklärt worden war. Sie wurde von einem mächtigen Riesen beherrscht, der schielte und sich deshalb leicht an Dingen versah, die anderen gehörten. Kurzsichtig war der Riese auch und ließ deshalb nur eben das ausrichten, was ihm und den Seinen zugute kam. Daher gab es also für den starken Hans genug zu ordnen.
Sobald er herangewachsen war, machte er sich daran zu roden und zu pflügen, zu pflanzen und zu bauen. Er trocknete Sümpfe aus, grub Gräben und Kanäle, schied Wasser und Land. Es juckte ihm förmlich in den Händen, zu roden und zu räumen; und war die eine Gegend bewohnbar und schön geworden, zog er woanders hin und fing da von vorne an.
Nach und nach war man es so sehr gewohnt, den starken Hans sich mit der Unfruchtbarkeit abplacken zu sehen, dass man ihn und die Armut gleichsetzte. Es war so bequem, von ihm etwas zu übernehmen; man brauchte ihm nur ein neues Stück Ödland anzuweisen, sogleich zog er dahin und machte sich an die Arbeit. „Er fühlt sich so am glücklichsten", sagte man; „er gedeiht nur da, wo es so richtig armselig und kläglich ist." Und wenn er kam und sich nach seinem Kampf mit der Wüste ausruhen wollte, sperrte man vor ihm zu. „Deine Hände sind zu grob und deine Kleider sind schmutzig", sagten sie; „du störst in unserer Welt der Schönheit!" Das brachte er nicht übers Herz, er hatte sie ja selber erschaffen; und so trabte er in die armseligen, unfruchtbaren Gegenden zurück.
Nach und nach hatte er einen großen Teil des Bestehenden umgeformt und es behaglich und angenehm gemacht. Und damit er nicht in "Wohlbefinden versinke, wurde durch Gesetz beschlossen, unfruchtbare, kärgliche Landstrecken als eine Art Reservate oder Naturparke als Aufenthaltsort für den starken Hans und sein Geschlecht ödliegen zu lassen. Er ließ sich auch das gefallen.
Das Geschlecht des starken Hans gedieh, es wurden viel mehr geboren, als nützlich zu verwenden waren. Totschlagen konnte man sie nicht gut, sie waren zu zahlreich und zu stark — und schließlich waren sie ja auch eine Art Mensch. Aber es gab nicht sehr vieles, was schlecht genug für sie gewesen wäre; ihre fleißigen Hände hatten die Erde beinahe zu gut gemacht. Sie mussten sich besondere schlechte Wohnungen bauen, und obwohl das Land zu einem großen Butterklumpen geworden war, mussten sie für sich selber ein Zeugs zusammenrühren, das Kunstbutter genannt wurde — ein öliges Geschmier, das weder Kraft noch Saft hatte.
Den Hansen wurde es beinah zu viel des Guten; nicht so sehr um ihrer willen, sondern deshalb, weil es ihrem Wesen zuwider war, die Dinge zu verschleiern. Der Pfarrer musste sich mit ihnen abgeben.
„Denk daran, dass es Wichtigeres als dieses irdische Leben gibt", sagte er. „Wie willst du den Sprung in den Himmel tun, wenn dir alle Herrlichkeiten der Welt an den Beinen hängen? Du bist doch auserwählt, zualleroberst zu sitzen." „Bin ich das?" sagte Hans und sah auf seine schwieligen Hände.
„Ja, du sollst zur Seite Gott Vaters sitzen. Das hat er in seiner Allgüte schon beschlossen: dass jene, die hier unten die Letzten sind, im Himmel die Ersten sein sollen — und umgekehrt."
Der starke Hans war gerührt. So wie der Pfarrer den lieben Gott schilderte, musste es doch mit ihm auszuhalten sein, selbst wenn die Ewigkeit bestimmt eine verflucht lange Zeit war, sie zu bewältigen. Das schlimmste war sicherlich das Problem, womit man sich da oben beschäftigen sollte, wenn da alles so ordentlich und sauber war.
So fanden sich die Hansen auch noch damit ab, schleppten das öde Land in Leib und Kleidern mit sich herum und richteten sich in der schönen Welt in Hundehöhlen ein. Häufig war das schwierig genug, denn ihre Aufenthaltsstätten sollten nicht unangenehm auffallen, und anderseits sollten sie zur Hand sein, wenn es nötig war; sie sollten am liebsten beides sein: unsichtbar und allgegenwärtig. Der ganze Betrieb hing doch von ihren groben Händen ab. Und sie hielten diesen Betrieb prächtig in Ordnung und trollten sich nach beendeter Arbeit nach Hause in ihr Loch und zu ihrer Margarine.
Der starken Hanse wurden immer mehr, und da sie von Natur aus so eingerichtet waren, dass sie mehr hervorbrachten als sie selber verbrauchten, wurde die Welt immer reicher. Mit ihnen selber aber geschah nur wenig Veränderung, und ihre jämmerlichen Lebensbedingungen stachen allmählich so grell gegen den Überfluss ab, dass sie es selbst zu merken begannen. Es entwickelte sich zu so etwas wie einem Fluch: sie verloren die Freude an der Arbeit, und der eine und andere begann böse zu murren, dass sie den Teufel auf dem Buckel hätten. Aber sie bauten unentwegt schöne, luftige Häuser für die anderen und wohnten selber in Kellern und Baracken; oder sie bestellten für den Gutsbesitzer den Boden und schliefen selber in einem Loch hinter dem Kuhstall. Gemeinsam waren ihnen nach wie vor die schaffenden Hände, die Kräfte und ihre alberne Gutmütigkeit; irgendwelches Talent, auf Kosten anderer ihren eigenen Kuchen zu backen, besaßen sie selten. Unter sich waren sie freigebig und einträchtig; wenn der eine etwas hatte, hatten die anderen auch etwas!
Zu Beginn unserer Tage tritt etwas ein, was verschieden ausgelegt wird, aber von allen, ob sie Freunde oder Feinde des Geschlechtes Hans sind, einmütig als von verhängnisvoller Bedeutung bezeichnet wird: das Geschlecht Hans verschreibt sich dem Branntwein. Einige meinen, sie täten es aus Verzweiflung; andere sagen, es wäre der Pfarrer, der ihnen — da sich das Geschlecht nicht länger mit einer Anweisung auf den Himmel begnügen will — das himmlische Feuer in Form von Feuerwasser auf die Erde holte.
Jedenfalls kommt nun Licht in das Leben der Hansen, dass es eine Art hat. Großzügig wie sie sind, brauen sie Branntwein genug, um die ganze Welt darin zu ertränken, schlürfen ihn mit Löffeln und trinken ihn aus Literkrügen. Und der Rausch gibt ihnen ein ganz anderes Auge für die Dinge. Die Herrenklasse, die sie selber großgezogen und verhätschelt haben, verwandelt sich ihnen recht und schlecht in Schmarotzergesindel, und in ihrem Suff faseln sie davon, sie totzuschlagen und ihr alles wieder wegzunehmen. Wenn sie nüchtern geworden sind, bereuen sie es und legen sich noch härter ins Geschirr.
Zu diesem Zeitpunkt lernte ich das Geschlecht der Hanse gründlich kennen, indem ich als einer seiner Abkömmlinge das Licht der Welt erblickte. Der Branntwein hatte ihr Blut verdünnt, ihm aber auch einen Schuss Teufelei beigemischt; man war nicht mehr so erpicht darauf, anderen den Erstertrag seiner Arbeit zu überlassen und selber mit dem Abfall vorliebzunehmen. Man schuftete wohl immer noch für die anderen, hatte aber keine Freude mehr daran. Die Unzufriedenheit äußerte sich darin, dass man ständig bereit war, aufzubrechen.
Besonders zur Frühjahrszeit war es schlimm. Wenn der Saft in die Bäume und Sträucher stieg, stieg in die Hanse die Rastlosigkeit; sie hielten es bei der Arbeit nicht aus, sondern zogen zechend von Ort zu Ort. Es gab eine alte Weissagung, die besagte, dass die Welt nicht lange mehr bestehen würde, wenn die Hanse das Erlösungsfest Weihnachten verwürfen und sich dafür den Frühlingsanfang als Symbol erwählten. Und Weihnachten hatten sie hinter sich; sie machten sich nichts aus einer guten Zeit, die ihnen für ein anderes Dasein versprochen wurde, sondern wollten sie gleich hier auf Erden genießen. Licht und Freude sollte das Erdenleben sein, aber trotz seines ganzen Lichteraufgebots war Weihnachten ein Lichtzerstörer. Am liebsten träumten sie sich Licht und Freude in den Werktag; es war die alte Freude an der Arbeit an sich, die ständig in ihnen herumspukte.
Vorläufig erreichten sie es also mit Hilfe des Branntweins, und den Ziehtag — den letzten April — erwählten sie zu ihrem großen Jahressymbol. Dann hält alles Alte Abrechnung und alle Teufel toben sich aus. Das Geschlecht Hans zechte und schlug alles kurz und klein, sagte sich von der Arbeit los und machte nach allen Seiten hin reinen Tisch! Und wenn der erste Mai heraufzog, gingen sie mit verkatertem Kopf herum und sammelten die Trümmer auf, packten sie in ein Bündel und zogen davon, um sich neue Arbeitsstellen zu suchen. Von einem Frühlingssymbol war nicht
sehr viel an ihnen.
Doch an einem Lenztag meiner frühesten Jugend geschah etwas, was eine Zeitenwende bedeutete. Es war Ziehtag. Von früh an waren die Straßen voll von Menschen: Gesinde und Landarbeiter beiderlei Geschlechts, Leute, die einen neuen Dienst antreten wollten oder den alten verlassen hatten, ohne schon etwas anderes zu haben. In die Stadt mussten sie alle, um über die Stränge zu hauen, die Widerwärtigkeiten von sich abzuschütteln und auf alle Herrlichkeiten, die in der Zukunft auf sie warteten, Vorschuss zu nehmen!
Den ganzen Tag über war die Straße voll von Menschen: Gelegenheitsarbeiter, krummgeschuftete Jungen und noch krummere
Greise, stramme Kerle in langen Schaftstiefeln und wacklige Viehknechte in hohen Holzschuhen, deren Schlaufen wie Schweinsohren abstanden. Die Angehörigen des Geschlechts Hans waren allmählich ein vielfältig bunter Menschenschwarm geworden; sie kannten einer den anderen nicht mehr, und oft war es schwer zu erkennen, dass sie derselben Sippe angehörten. Es waren Leute dabei, die ihre ganze Habe in einem Bündel unterm Arm trugen, und andere, die zwei Mann hoch mit einer großen Kiste angeschleppt kamen. Zu denen hielten sich die Mädchen, wenn sie aufs Heiraten ausgingen; zum Tanz im Wirtshaus aber ließen sie sich lieber von denen einladen, die ihren Besitz in ein gewürfeltes Tuch einbanden.
Sie gingen in Haufen zusammen, die Mädchen, und warteten darauf, zu einem Kaffee oder einem süßen Schnaps eingeladen zu werden. Ihre Gesichter unter den kreuzweise gebundenen Kopftüchern leuchteten vor Erwartung und vor Unsicherheit — denn mit wem sollte man gehen? Mit dem, der bis gestern beim selben Bauern gewesen war, oder mit jenem, der von morgen an im gleichen Dienst sein würde? Die patriarchalische Etikette gab dem Dienstgenossen den Vorrang, aber hier war ein Interregnum, das davon nicht gedeckt wurde und deshalb auf offener Straße zu gewaltigen Prügeleien führte! Das Gestern und das Morgen rauften sich um die Gegenwart, dass Blut floss.
Es ging hoch her mit Johlen und Gesang, mit Gebrüll von Betrunkenen und dem Kreischen von Mädchen, wenn ein besoffener Kerl zu ihnen hintorkelte. Und mit eins wurde es totenstill.
Aus der Stille erklang ein Lied, etwas fern und dünn, aber an Kraft und Sicherheit gewinnend. Was sangen die denn da? Verdammte dieser Erde — Heer der Sklaven! Da sollte doch — meinten sie etwa uns? Es wurde unruhig in dem Menschenstrom, man begann, sich zusammenzudrängen und den Hals zu recken. Oben, wo die Straße zu Ende ging, vom Markte her, kam ein kleines Häuflein Männer; über ihren Köpfen wehte eine große, blutrote Fahne!
Eine einzige Frau war dabei, eine bucklichte kleine Näherin mit einer Stimme, die wie eine Lerche zitternd über den Häusern schwebte und Worte und Triller einem kalt über den Rücken hinunterlaufen ließ. Die Männer waren auch nicht besonders groß; als Hanse waren sie überhaupt ein bisschen schief. Ihre Augen hatten einen besonderen Ausdruck, ihre Haltung übrigens auch, einen Ausdruck, als wären sie Menschen, die sich mit etwas Unnatürlichem abgäben, etwa mit Denken. „Jetzt kommen die Verrückten!" ging es flüsternd von Mund zu Mund. Im Nu war der Fahrdamm geräumt; zu beiden Seiten stand man dicht an die Häuser gedrängt, hielt sich schutzsuchend aneinander und glotzte die kleine Schar gaffend an.
Zwanzig Mann waren allerhöchstens in der Prozession, aber wie sie sangen! Und wie die rote Fahne leuchtete - von Flamme, von Herzblut! Da wurde aber der vorher so zügellos johlende Schwarm ganz stille; versuchte ein Mädchen zu kichern, bekam es einen harten Ellbogen in die Rippen. Hier lachte man nicht -ebensowenig wie in der Kirche; dies hier war tödlicher Ernst! Die rote Fahne flammte vor der grauen Luft wie ein Loch in eine glühheiße Welt - in Himmel oder Hölle, was es nun war! Entweder war die singende kleine Schar von Gott oder vom Leibhaftigen selber besessen - vielleicht von allen beiden, was die Sache aber nicht weniger feierlich machte. Selbst der am meisten betrunkene Kumpan bemühte sich, geradezustehen und nüchtern aus den Augen zu sehen.
Wem oder was sich die kleine Schar verschrieben hatte, so unerschrocken sie ihrer Bahn folgte - unter dem Schutz höherer Mächte stand sie offenbar. Denn als sie sich dem Gasthaus näherte, trat der einäugige Riese Bergendal, der Anführer der Hanse, Saufund Raufbold von Gottes Gnaden, auf die hohe Treppe des Gasthauses hinaus. Alle hielten vor Spannung den Atem an - jetzt würde etwas geschehen! Bergendal stammte in gerader Linie vom starken Hans ab; er hatte ebenso viel Kraft, ermangelte aber der albernen Gutmütigkeit, sie zu zügeln. Er war nicht zu bändigen, und wenn er getrunken hatte, krakeelten zehn Teufel in ihm.
Jetzt würde er bestimmt mit der kleinen Schar seinen Spaß treiben, dass es eine Art hatte — ihnen die Fahne wegnehmen!
Er stand auf den Zehen droben auf der Treppe, reckte sich in sprachloser Überraschung und starrte sie mit seinem einen Auge an. Das andere hatte er wahrscheinlich dem Bösen in Pfand gegeben und dafür die vielen Kräfte bekommen — vielleicht hatte er es auch in einer Rauferei verloren! Jedenfalls glotzte er wie ein Irrer mit seinem Auge, reckte sich in die Höhe und hob die Arme hoch über den Kopf, als wäre er Zeuge eines unvorstellbaren Wunders. Und auf einmal lief ein breites Grinsen über sein kräftiges Gesicht, das durch Alkohol und alle Sorten Wetter wie Blut und Bronze war. „He, du brennender Teufel", rief er dem Fahnenträger zu, „du schleppst dich ja mit der Fahne, als hättest du die Schwindsucht! Her damit, du! Bergendal wird sie tragen, dass sie den Himmel selbst in Brand steckt!"
Als der Zug keine Miene machte anzuhalten, sprang der große Steinmetz gleich von der hohen Treppe hinunter, um sich ihm entgegenzustellen. Der Sprung aber landete auf dem losen Ende des Gossenbretts; es schlug in die Höhe und traf ihn an der Schläfe, dass er wie ein gefällter Baum zur Erde stürzte. Es rann ein schauderndes Flüstern durch die Menge, ein Frostschauer, wie er durch den Wald geht, wenn der Morgen heranbricht. Und die kleine Schar marschierte weiter dem Wäldchen zu, wo zum ersten Mal der erste Mai gefeiert werden sollte; unaufhörlich sangen sie von Sklavenschlaf und Erwachen, als wäre gar nichts vorgefallen. Dieser und jener trat aus der Menge heraus und schlüpfte ein wenig verlegen in die Reihen des Zuges.
Hinter ihnen hing ein großes Fragezeichen in der Luft. Was hatten sie vor? Was wollten sie? Den Reichtum wollten sie abschaffen, meinten einige; ja, und vom König und vom Pfarrer wollten sie auch nichts wissen! Jemand behauptete, sie wollten sogar, dass jedes Dienstmädchen Klavierspielen lerne.
Merkwürdige Leute waren sie jedenfalls; bestimmt standen sie mit Kräften in Verbindung, von denen gewöhnliche Menschen nichts wussten. Es war bekannt, dass der Riese Bergendal seit dem
Schlag an den Kopf ein anderer Mensch geworden war. Während der ganzen Zeit seines Fiebers phantasierte er von der roten Fahne, und als er sich wieder erholt hatte und genesen war, schloss er sich der kleinen Gruppe an. Er wurde ihr Fahnenträger, und es muss anerkannt werden, dass er die Fahne hochhielt. Schnaps rührte er nie mehr an.
Seinen Fußtapfen folgten viele andere, die kleine Gruppe wurde ein gewaltiges Heer. Und das tat auch Not; es gab vieles, was danach drängte, auf seinen rechten Platz gerückt zu werden. Und es gab viele Gegner, die meinten, dass die Hanse in früheren Zeiten, als sie sich alles gefallen ließen, viel sympathischer gewesen wären.
Aber der eigentliche Feind saß ihnen in ihren eigenen Herzen; ihre alberne Gutmütigkeit ließ sich nicht so auf den Stutz unterkriegen. Die große Mehrheit des starken Geschlechts der Hanse lässt sich noch immer leicht beschwatzen; eine leere Phrase kann sie immer noch dazu bewegen, unter das Joch zu kriechen. Es ist nicht leicht, immer wach und auf dem Posten zu sein; trotz der roten Fahne bleiben die Hanse gern zurück.
Bergendal glücklicherweise nicht. Er ist ständig wach und auf dem Posten, wes auch immer die Luft voll ist. Aber er hat ja auch diesen Schlag an den Kopf bekommen, klar!
um 1938

 

DIE FEE DER FREIHEIT II

Es wird von unserer Zeit so viel Schlechtes gesagt, dass ich vorweg bemerken möchte: mir kommt es so vor, als lebten wir in einer ganz herrlichen Zeit. Gibt es etwas Frischeres als den Frühlingssturm oder die breit strömenden Tauwasser im Lenz? In der Natur draußen öffnet sich jede Pflanze beizeiten dem Lenz und hält sich bereit, die Säfte zu empfangen, wenn sie aus dem Grunde emporsteigen. Der Mensch aber ist ein seltsam querköpfiges Wesen, er scheint nie zu wissen, wann die Zeit seiner Heimsuchung da ist. Er feiert seine längst abgeschiedenen Fortschrittsmänner und trauert über das Schicksal, das sie erlitten haben, aber gleichzeitig schleift er die Fortschrittsmänner von heute auf den Scheiterhaufen. Unsere Zeit ist eine Zeit der Umwälzung, vielleicht der tiefstgreifenden, die unsere Geschichte aufzuweisen hat; wir stehen mitten in der Weltrevolution, ständig schreitet es unter unseren Füßen fort. Wir selber aber ahnen nicht viel von dem, was vor sich geht; die meisten fühlen es nur als eine Art Unbehagen, vielleicht Unsicherheit: das Bett steht nicht mehr so festgemauert an seinem Platz wie früher, der Jahre hindurch ausgetretene Pfad zum Futtertrog wird hin und wieder durch die von der Umwälzung herrührenden Verlagerungen im Erdreich gesperrt und muss neu ausgetreten werden. Richtig gemein ist das! Und auf welchem Friedhof wird man wohl zur Ruhe kommen? Nicht einmal das weiß man noch mit Bestimmtheit.
Deshalb ist es albern zu sagen, dass die Menschen Revolution machen. Die vollzieht sich unvermeidlich und sehr gegen unseren Willen, und unser Verhältnis dazu besteht im wesentlichen darin, auf sie zu schimpfen und sie überall ans Kreuz zu schlagen, wo wir die eine oder andere ihrer Verkörperungen zu fassen kriegen. So sind wir nun einmal, die meisten von uns! In hundert Jahren - ja dann! Dann werden unsere Nachkommen friedlich und gemütlich von der großen Naturkatastrophe lesen, die ihrem Dasein die Grundlage gab. Und sie werden uns beneiden, dass es uns vergönnt war, die große Zeit mitzuerleben — ohne zu ahnen, dass es unser größter Wunsch gewesen war, in Ruhe essen, trinken und schlafen zu dürfen.
Geistig gehört der Mensch zu den Aaskäfern. Nur solange er Kind ist, steht er dem Leben frei und frisch als Empfangender gegenüber; deshalb ist es das Kind, das einen stets aufs neue mit dem Dasein versöhnen muss - das Kind und jene vereinzelten anderen, die es vermögen, das Kind in sich zu bewahren und das ganze Leben hindurch alles, was ihnen begegnet, frisch und offen anzusehen.
So seltsam verkehrt ist der Mensch eingerichtet, dass er alle wirklichkeitsfremde Utopisten nennt, die die Heimsuchungszeit der Menschheit erkennen und sich dem großen Gedanken der Zeit verschrieben haben. Große Kinder werden sie nachsichtig genannt, naive Idealisten! Wenn sie überhaupt Nachsicht erfahren; die meisten machen freudig mit, sie aufzuhängen und zu verbrennen. Wenn wir in Berichten über die Vergangenheit von ihnen lesen, ja, dann wissen wir sehr gut, dass sie es waren, die den Zeitgedanken richtig erfasst hatten; aber wenn wir ihnen auf der Straße begegnen, erkennen wir sie nicht wieder.
Von der Begegnung mit zweien solcher Naivlinge, mit zweien von den Geschöpfen, die dem Herzen des Lebens am nächsten sind, will ich heute erzählen.
Mein Erlebnis beginnt in Konstanz. Ich war von München dorthinunter gefahren, um den schönen und uns Nordländern ziemlich unbekannten Bodensee kennenzulernen. Ich ging umher und fühlte mich recht wohl in den engen, ruhigen Straßen der alten Konzilstadt, wo die Gegenwart die Waffen gestreckt zu haben schien, während dafür die Vergangenheit um so lebendiger Zeugnis ablegte: von Johann Hus, der hier den Scheiterhaufen besteigen musste; von Barbarossa; von den Kämpfen und Umwälzungen des Mittelalters. Es tat geradezu wohl, das Gemüt ein wenig zu recken und sorglos zu atmen nach dem monatelangen Aufenthalt in dem nervenbebenden München, wo alt und neu bis an die Zähne bewaffnet einander gegenüberstanden und die Luft Tag und Nacht vor Hochspannung zitterte. Hier in Konstanz, wo vor einem halben Jahrtausend das Neue gebraten wurde wie man Gänse brät, schien man heute ketzerischen Anschauungen gegenüber völlig gleichgültig zu sein. Man begnügte sich damit festzustellen, dass sich der Ausländer sicherlich dazu hier aufhielte, um zwei Kisten russisches Gold in die Schweiz zu bringen — und überließ ihn im Übrigen sich selbst. Oh, dieses mystische russische Gold! Wie gut hätte man damals für ein paar Handvoll davon Verwendung gehabt!
Eines Tages ging ich in ein Parfümeriegeschäft an der Marktstätte, um mir ein Stück Seife zu kaufen. Es war schon ein Kunde im Laden — was damals eine Seltenheit war; der Weltkrieg und die Revolution hatten alles Geschäft zum Stillstand gebracht.
Es war eine junge Frau; sie stand über den Ladentisch gebeugt und sah sich Parfüme an. Sie war recht ärmlich gekleidet — wie hier unten alle zu damaliger Zeit, unterernährt und von grauem Teint. Die von Not und Entbehrung geschärften Gesichtszüge verliehen ihrer Schönheit einen phantastischen, überirdischen Zug; es war, als wollte ihre Seele aus dem misshandelten Gehäuse heraustreten, um von ungeahnten Tiefen des Leidens und Grauens zu zeugen. Es ist viel über den Weltkrieg geschrieben und gesagt worden, nur die deutsche Frau hat bis jetzt geschwiegen. An dem Tag aber, wo sie von dem allem so weit Abstand genommen hat, dass sie daran zu denken vermag, wird die Welt eine Vorstellung davon erhalten, was Gräuel und Seelengröße sind.
Um jene Zeit begannen wieder Waren aufzutauchen, und man konnte die Menschen scharenweise von einem Ladenfenster zum anderen schlendern sehen; sie genossen den Anblick der Waren, zum Kaufen hatte keiner Geld. Die Frau hier hatte den Weg bis an den Tresen gewagt und sich ordentlich auftischen lassen; alles, was der Laden an Parfümen besaß, lag ausgebreitet vor ihr.
Sie genoss es, einen Flakon in die Hand zu nehmen, seinen Duft einzuschnuppern und ihn wieder hinzulegen; sie schwelgte förmlich in dem Anblick der merkwürdig geformten Fläschchen. Doch irgendetwas sagte mir, dass auch sie kein Geld zum Kaufen besäße, und die Ungeduld der Bedienung deutete darauf hin, dass sie derselben Auffassung war. Das störte sie aber nicht, sie war von ihrer Sache völlig in Anspruch genommen.
Man hätte geglaubt, dieser jungen Frau wäre alles andere eher nötig gewesen als Parfüm. Ihre Stiefel waren ausgetreten und die Sohle entlang in der Naht gerissen — ein Paar richtige Trittlinge oder Kindersärge von der Sorte, worauf vor dem Kriege die Ritter der Landstraße ein Monopol hatten. Der Mantel war längst für den Lumpensammler reif. Seine Taschen gähnten gefräßig, ich konnte bis auf den Grund in sie hineinsehen, sie waren unheimlich leer. Nun, solche Kleidung fiel in diesem verheerten Lande niemandem auf, sie war für alle einigermaßen gleich. Was mochte sie sein, da sie mitten in der härtesten Wirklichkeit sich in Heliotrop und andere exotische Düfte weit fortträumte? Eine Tochter des Volkes, deren Vorstellungen die Revolution umgekrempelt hatte? Oder Kind einer der Hunderttausende von Oberklassefamilien, die die Entwicklung ins Lumpenproletariat hinabgestoßen hatte? Es war unmöglich zu entscheiden.
Ich hatte — vielleicht von ihrer Inbrunst angesteckt - auch angefangen, mir die Parfüme anzusehen, und ließ mir eins davon einpacken, ein sonderbar geformtes Fläschchen, das sie lange zögernd in der Hand gehalten hatte. Ich tat, als steckte ich es zu mir - und fand die Gelegenheit, es in ihre gähnende Manteltasche hinabgleiten zu lassen. Dann wählte ich meine Seife und verschiedene andere Sachen aus und wollte bezahlen. Der Verkäufer nahm seinen Block hervor und begann aufzuschreiben, bei dem Parfüm aber stockte er. „Ja, wie war denn nun der Preis?" sagte er nachdenklich. „Wir haben es nämlich gerade hereinbekommen. Würde der Herr so freundlich sein, mich die Kartonnummer sehen zu lassen?"
Da stand ich nun, ratlos und erschlagen! Was jetzt? Das Fläschchen aus der Manteltasche der fremden Dame wieder herausholen war ja nicht gut möglich. Glücklicherweise dauerte es nur einen Augenblick, bis ich wieder Herr der heiklen Lage war. „Die Ware wieder herausholen? — Nein, das tu ich weiß Gott nicht!" sagte ich lachend. „Sie ist eingepackt und in der Tasche, und da bleibt sie. Es ist Ihre Sache zu wissen, was die Dinge kosten."
Der Ladeninhaber kam herbeigesprungen. „Ja natürlich", sagte er hastig zu dem Verkäufer, „natürlich, Mann! Sie brauchen doch nur in der Rechnung nachzusehen." Die junge Frau richtete ein Paar tiefernste Augen auf den unhöflichen Ausländer, und ich sputete mich durch die Tür mit dem Gefühl, nicht besonders glücklich gewesen zu sein. Jedenfalls aber war die Situation gerettet.
Etwas besonders Merkwürdiges wäre ja an diesem Vorfall nicht gewesen, wenn nicht eben die Begegnung mit der jungen Frau angefangen hätte, in mir herumzuspuken. Überall wo ich ging und stand, fühlte ich die schönen Augen voller Verwunderung und Vorwurf auf mir ruhen. Nach und nach verwischte sich die Gestalt, ja, auch die Gesichtszüge verwischten sich; zurück blieb ein tief trauriger Blick, der mir aus Not und Elend entgegenstarrte, wohin ich mich auch wandte.
Schließlich verschwanden auch der Blick und der vage Traum, den er in mir nährte; die harte Wirklichkeit nahm den Tag wieder ganz in Besitz. Und als ich dann nach fast einem Jahr die Begegnung mit der jungen Frau ganz vergessen hatte, führte uns ein freundliches Geschick wieder zusammen.
Es geschieht einem allerhand zwischen Jahr und Tag. Ja, wenn ich zurückdenke, erscheint mir mein ganzes Leben häufig voll der merkwürdigsten Mystik. Es gibt Tage, wo einem alles, selbst das Atmen, seltsam rätselhaft ist. Die Wirklichkeit vermag märchenhaft zu sein, wunderbarer als das sonderbarste Märchen; und das Märchen zu erleben, kann einem hinwiederum so selbstverständlich erscheinen, als wäre es bloß aus dem Alltag herausgegriffen. Es ist oft schwer zu sagen, wo das eine aufhört und das andere anfängt; aber das ist im Übrigen kein Schade.
Ich war längst wieder nach München zurückgekehrt und wohnte in der weiteren Umgebung der Stadt, an dem herben Ammersee. Ich ging dort spazieren, flickte an meiner ziemlich ramponierten Gesundheit herum und kümmerte mich klüglicherweise nur um mich selbst. Nach München kam ich selten, und noch seltener kam jemand aus München zu mir. Es waren Zeiten, wo man in dem früher so freien Bayern vorsichtig sein musste; selbst die unschuldigste Handlung konnte für einen Fremden verhängnisvolle Folgen haben.
Aber ich besitze die glückliche Eigenschaft, das Gras wachsen zu hören, und wusste ziemlich genau, was los war. Es war eine schwere, eine spannende Zeit. Die Reaktion hatte gesiegt und setzte dem Volk den Fuß auf den Nacken; die Stadt stand unter der Diktatur von Söldnertruppen, Korpsstudenten und Gymnasiasten. In bewaffneten Banden zogen sie durch die Straßen, und wo zwei Arbeiter zusammenstanden und miteinander sprachen, wurden sie mit Gummiknüppeln auseinander getrieben. Sie wagten nicht, aufzumucken; ein Grünschnabel mit Studentenmütze genügte, die früher so festen, zielbewussten Münchener Arbeiter ins Mauseloch zu jagen.
Aber unter der Oberfläche entwickelte sich üppig die neue proletarische Jugend. War die organisierte alte Arbeiterschaft müde und mutlos geworden und beinahe bereit, ihr Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht zu verkaufen — mit ihren Abkömmlingen geschahen Wunder. Diese Jugend, die während des Krieges und auf dem nackten Pflaster aufgewachsen war — ausgehungert, verwahrlost, vaterlos und ohne Schulunterricht, die sprang nun zu und stemmte der hinsinkenden Tradition die Schulter entgegen. In den Gewerkschaften war es der eine oder andere Halbstarke, kaum sehr ausgelernt, der sagte, was zu sagen war, während die erprobten alten Praktikusse ratlos dabeisaßen und die Schnauze hängen ließen. Von dieser Jugend wurde behauptet, dass sie ein richtiges Kriegsgezücht sei: zigarettenbesessen, tanzwütig, genusssüchtig — ruchlos. Diesen schlechten Ruf nutzte sie beherzt dazu aus, die so genannten „Vergnügungsvereine" zu gründen, denen die Polizei eine Zeitlang allerlei nachsah, weil sie meinte, es sei besser, dass sich die jungen Leute gegen das Lustbarkeitsverbot vergingen als dass sie sich mit Politik abgäben.
Ich hatte von dieser Jugend genug Gutes wie Schlechtes gehört, um Lust zu fühlen, selber ihre „Vergnügungen" kennenzulernen. Aber obgleich ich von dieser Seite zu wiederholten Malen kameradschaftliche Lebenszeichen erhielt, gelang es mir niemals, in ihre Versammlungen hineinzugelangen. Es war, als lege mir eine unsichtbare Hand freundlich, aber bestimmt Schwierigkeiten in den Weg. Da gab ich es auf — nicht wenig verärgert. Erst später wurde mir klar, wie fürsorglich man gehandelt hatte, indem man den Ausländer, der kurzen Prozess zu befürchten hatte, fernhielt.
An einem warmen Sonntag saß ich im Englischen Garten, dem großen Münchener Park, auf einer Bank und döste vor mich hin; ich saß auf der Bank, zeichnete mit meinem Stock im Sande und ließ mir so richtig die Sonne auf meinen gebrechlichen Rücken brennen. Jemand setzte sich neben mich auf die Bank, ohne dass ich weiter darauf achtete, weil mich andere Dinge beschäftigten. Plötzlich wurde mir ein Gegenstand unter die Nase gehalten — ein sonderbar geformter Flakon; ein Duft von Heliotrop umwehte mich.
Ich sah verwundert auf, mehr träumend als wachend. Der große forschende Blick — die Seele — die Seele! Ja, es war doch sie! Aber das Gesicht war voller und in der Farbe gesünder, auch die Kleidung war besser. Sie hatte die Fortschritte des vergangenen Jahres mitgemacht.
Sie lachte über meine Verblüffung. „Endlich!" sagte sie nur.
„Ja?" rief ich froh überrascht, „haben Sie also auch...? Sie haben also auch gehofft, dass wir uns wieder begegnen möchten?" Der alte Traum in mir war mit eins wieder zum Leben erwacht; er jagte mir in heftigen Stößen das Blut zum Herzen und wieder in den Leib, mir wurde abwechselnd heiß und kalt.
Sie lächelte still in die Ferne. „Ich weiß jemand, der sich sehr freuen wird, dich kennen zu lernen", sagte sie ruhig. Vielleicht spürte sie Enttäuschung in meinem Blick, denn sie fügte hinzu: „Nun, mir tut es ja auch nicht gerade leid, dich wieder zu sehen."
Das vertrauliche Du sagte mir, dass sie der Unterklasse angehörte und mich kannte — aber woher? Und wer war sie überhaupt, wessen Auftrag führte sie aus?
Ich bestürmte sie mit Fragen, aber sie antwortete nur mit einem warnenden Blick. „Es ist besser, wir gehen", sagte sie gedämpft:. „Es braucht niemand zu wissen, dass wir uns kennen. Begleite mich nach Hause! Mein Mann liegt krank — es wird ihn freuen, dich zu begrüßen." Sie stand auf, ihre Augen blickten unruhig.
Ich fuhr unwillkürlich zusammen, irgendwo in meinem Innern tat es weh. Er war also verheiratet, mein Traum! Ganz banal verheiratet, verheiratet recht und schlecht! Hatte vielleicht sogar das Nest voller Gören. „Haben Sie auch Kinder?" stammelte ich. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, das kameradschaftliche
Du anzuwenden.
„Ja, Genosse", antwortete sie und strahlte plötzlich auf, „einen Jungen!" Sie hatte mit einem mal alle Vorsicht vergessen. „Und rate mal, wie er heißt. Pelle heißt er — Glückspeter! Aber jetzt müssen wir nach Hause — Jakob wartet auf uns. Geh zum Haupteingang und nimm die Linie II, ich steige dann weiter unten auf. Und wenn du mich abspringen siehst, dann steigst du an der nächsten Haltestelle aus."
Ich tat, wie sie sagte, begriff aber nicht sehr viel von alledem. Froh war mir auch nicht dabei, irgendetwas wurmte mich. Wir fuhren lange, durch den Arbeitervorort Schwabing und noch weiter hinaus, an Bauplätzen und Feldern vorbei. Zwischen letzter Haltestelle und Endstation sprang sie während der Fahrt ab. Der Schaffner schimpfte ihr in heftiger Bauernsprache hinterher.
Sie war zwischen Feldern, die mit Küchenkräutern bepflanzt waren, in einen Pfad eingebogen, und ich folgte ihr mit Abstand. Jung, von vollendeter Figur und bezaubernd schön lief sie vor mir her, ohne sich ein einziges Mal umzusehen; setzte über einen Graben, verschwand in einen unfertigen Mietskasernenblock, lief in einen Torweg hinein und weiter durch zwei, drei Hinterhöfe.
Ich hielt mich in gebührendem Abstand, folgte ihr fast widerwillig nach und verlor sie im Wirrwarr des Hinterhofes mehrmals aus den Augen.
Auf einem düsteren Treppenflur, ganz oben unter dem Dach einer ungeheuren Mietskaserne blieb sie endlich stehen und wartete auf mich. „So, jetzt sind wir im trocknen", sagte sie leise, „jetzt brauchen wir nur noch über den Boden." Sie reichte mir eine weiche, warme Hand und leitete mich an dunklen Polterkammern vorbei--ah, diese Hand!
Am Ende des Ganges war eine Tür mit einem Hängeschloss davor, eine richtige Polterkammer, aber hinter der Tür verbarg sich die herrlichste Dachstube, hell, ja voll des Himmelslichts, wie nur eine Dachstube es sein kann, und mit einer Aussicht über die Großstadt hin wie von einem Gebirgsgipfel. Es war ein Giebelzimmer, nach beiden Seiten hin schräg; unter der einen Schrägwand stand ein Bett, unter der anderen ein Diwan; und auf dem Diwan lag ein vierzig-, fünfzigjähriger Mann und starrte uns gespannt entgegen. Er war halb angezogen und ausgezehrt; sein Blick brannte wie verzehrendes Feuer aus dem totenbleichen Gesicht; es sah aus, als fresse sich die Glut der Augen langsam durch seinen Kopf; so tief lagen sie.
„Hier bringe ich ihn dir endlich, Jakob", sagte meine Begleiterin und umfasste ihn mit einem Blick voll grenzenloser Liebe.
Der Kranke lag auf den Ellbogen gestützt, die Hand in seiner schwarzen Mähne begraben; er betrachtete mich lange, unverwandt, als stünde ihm eine weite Reise bevor und müsste er sich meine Züge genau einprägen. Dann nahm er meine rechte Hand zwischen seine mageren heißen Hände und hielt sie fest. „Danke, dass du gekommen bist", sagte er leise und eindringlich. Es war eine Liebkosung, bis in die Herzwurzeln drang sie mir. Ich hatte das herrlichste Gefühl von allen: unbewusst einem anderen Menschen etwas gewesen zu sein.
Die junge Frau hatte mit dem Ausdruck tiefsten Glücks dabeigestanden; mit einem verliebten Lächeln, das uns beiden galt, genoss sie unsere Begegnung. Jetzt trat sie herzu, nahm meine freie
Hand in die ihrige und strich mit der andern dem Kranken übers Haar. „Das ist also mein Mann", sagte sie mit besonderer Betonung und sah mich an mit Augen, die vor Stolz leuchteten.
„Und der Junge?" fragte ich und sah mich in dem Zimmer um.
Mit einer unsäglich schönen Geste legte sie die Hand auf ihren Leib. Einen kurzen Augenblick stand sie mit geschlossenen Augen da, als hätte sie sich plötzlich von uns beiden weggeträumt -dann riss sie sich los. „Nun, ich will gehen und euch allein lassen", sagte sie rasch. „Ich muss hinunter und einige Besorgungen machen."
Die Augen des Kranken hingen an ihr, bis sie aus der Tür war. Dann drehte er sich mit einem Seufzer zu mir her, entdeckte aber etwas Bestimmtes in meinem Ausdruck und musste lächeln. „Ja", sagte er leise, „wir sind alle in sie verliebt, alle, die... Und ist es ein Wunder? Wer möchte nicht im Licht ihres Wesens leben!" Er strich sich übers Gesicht, als wollte er etwas wegwischen. „Komm, setz dich her."
Er räumte die Zeitungen von dem Stuhl am Kopfende und lag still und hielt meine Hand. „Ihr seid einander schon früher begegnet", flüsterte er in leiser Freude; „weißt du, wie wir das entdeckt haben? Durch das Bild in einem deiner Bücher. Und durch die Genossen erfuhren wir, dass du dich in München aufhieltest. Es ist schön, dass du nun hier bist."
„Ja, es war in Konstanz, in einem Parfümeriegeschäft; eine seltsame Begegnung übrigens."
„Wieso?" fragte er mit einem Ausdruck, als sei ihm nichts in der Welt seltsam.
„Ja, sie - sie ist kein gewöhnliches Proletarierkind."
Er lachte über den Ausdruck.
„Nein, in der Unterklasse geboren ist sie nicht - sie ist sogar aus altem Adel. Aber Proletarier ist sie mehr als einer von uns beiden. Das ist doch gerade das Schöne an unserer Bewegung, dass sie nicht mehr Ausdruck einer einzigen Klasse ist, sondern ins Allgemeinmenschliche emporgehoben ist - dass die Entwicklung sie zur führenden Weltanschauung gemacht hat."
„Aus altem Adel?" fragte ich verwundert.
„Ja, sie ist die Tochter des Generals S. — eines der hohen Herren, die den Weltkrieg verloren und sich hinterher an uns revanchiert haben. Du kennst ihn bestimmt."
„General S. der Henker?"
„Jawohl, Hochverehrter! Sie ist der beste Mensch auf dieser geschändeten Erde und dabei die Tochter des schlimmsten aller Teufel; muss man da nicht Optimist werden? Übrigens war er es, der in Anwendung auf die Unterklassebewegung den Begriff Säuberung erfunden hat und in die Verfolgung System brachte. Der Plan läuft schlechtweg darauf hinaus, das revolutionäre Proletariat zu köpfen. Ich war einer der ersten, die an der Reihe waren, als man sich von dem Revolutionsschreck wieder erholt hatte; irgend etwas Handgreifliches, mich um die Ecke zu bringen, lag eigentlich nicht vor, ich war im allgemeinen gefährlich. Einer schönen Nacht wurde ich also aus dem Bett geholt, der Apparat wurde auf mich losgelassen. Die Prozessverhandlungen an sich waren nicht besonders gefährlich, ich hatte verhältnismäßig anständige Richter; es bestand sogar die Möglichkeit, dass ich freigesprochen würde. Aber gerade hierin lag die Gefahr; die Reaktion war hinter mir her — ich sollte unschädlich gemacht werden. Wie gern hätte ich nicht eine Verurteilung zu zwei, drei Jahren hingenommen; nun musste ich darauf gefasst sein, in aller Stille um die Ecke gebracht zu werden, auf der Flucht, wie man es nannte, oder auf ähnliche Weise erschossen zu werden. Wir hatten ja rein faschistische Zustände hier, und jede Nacht erwartete ich, dass traditionsgemäß Offiziere in meine Zelle eindringen und meine Auslieferung fordern würden — um dann bei Nacht und Nebel kurzen Prozess mit mir zu machen.
Wartezeiten sind immer lang, und besonders in einem Fall wie dem meinen. Deshalb empfand ich es beinahe als eine Befreiung, als sie eines Nachts endlich kamen, die Wächter mit dem Revolver bedrohten und mich ausgeliefert erhielten. Ich wurde in ein Automobil geschleppt und weit hinaus vor die Stadt gefahren. Ich war mir klar darüber, dass es nun mit mir vorbei wäre, ohne dass ich es mir im übrigen besonders zu Herzen nahm. Wir Revolutionäre sind ja Tote auf Urlaub, wie Leviné so schön sagt. Aber anstatt mich zu ermorden, übergaben sie mich einer jungen Dame und verschwanden.
Das war nun nicht das angenehmste, was mir passieren konnte; ich bin mir nicht sicher, ob ich es nicht vorgezogen hätte, Angesicht zu Angesicht ein paar Söldlingen mit scharfgeladenen Revolvern gegenüberzustehen. Wie merkwürdig es mir heute vorkommt, so hatte ich mich damals trotz meiner vierzig Jahre noch nie besonders für Frauen interessiert; die Bewegung hatte alle Kräfte und Fähigkeiten in mir mit Beschlag belegt. Und da stand ich denn nun." Er hielt inne und rang nach Atem.
„Und dann?" Ich war so gespannt, dass ich gar nicht merkte, wie erschöpft er war.
„Ja, wie du siehst. Jetzt teilen Johanna und ich das Leben miteinander und sind die glücklichsten Menschen von der Welt."
„Ja, eben! Aber wie ging das eigentlich zu? Ich versteh nicht richtig..."
„Das war ganz einfach, du! Johanna hatte - vor allem wohl aus Neugier — den Wunsch geäußert, mal so einen richtig ruchlosen Gesellschaftsfeind zu sehen und zu hören, und ihr Vater, der General, nahm sie denn mit in den Gerichtssaal, an dem Tag, wo ich meine Verteidigungsrede hielt; die ging natürlich nicht darauf aus, mich zu verteidigen, sondern die gesellschaftlichen Zustände anzuprangern. Und da - ja, da sah sie denn hinterher die Dinge mit anderen Augen an. Und konsequent wie sie ist, entschloss sie sich sogleich, mich zu befreien. Sie stahl ein paar von Vaters Mänteln und bestach zwei seiner Landsknechte, ins Gefängnis einzudringen und mich unter dem Vorwand, ich solle nächtlicherweile zum Verhör, herauszuholen. Sie traten ja auch als Offiziere auf - und machten es im übrigen gut."
„Und seitdem hast du dich verbergen können?"
„Bisher ist es erstaunlich gut gegangen, obwohl wir nicht viel Rücksicht auf uns genommen haben; bei den Behörden und bei den Schwarzen hat man wirklich geglaubt, ich wäre aus dem
Dasein hinausspediert worden. Aber jetzt sind auf irgendwelche Weise Zweifel aufgetaucht, und die Jagd nach mir ist von neuem im Gange. Lange wird es nicht dauern, bis man mir auf der Spur ist, und heute hat auch die legale Gerechtigkeit genug, woran sie sich halten kann."
„Du musst so rasch wie möglich über die Grenze. Kann ich nicht..."
„Ja, siehst du", er trommelte verlegen auf dem Keilkissen, „das war es gerade, worüber ich mit dir sprechen wollte. Reisen und umherirren, das kann ich nicht mehr — ich habe Unterleibskrebs. Und zurück ins Gefängnis kann ich ebenso wenig nach dem schönen Jahr, das ich hinter mir habe."
„Du willst sterben?" Ich fürchte, ich sagte es ziemlich erschreckt.
Er nickte. „Johanna und ich sind uns einig, dass es so am schönsten wäre — auch für den Jungen. Den Tod habe ich nie gefürchtet, und mein Leben ist reich genug gewesen, dass ich es jetzt abschließen kann. Es ist eine harte Zeit, worin wir leben; sie verbraucht ihre Menschen rasch. Ich bin müde — das macht wohl die Krankheit - und sterbe gern, nur nicht durch Henkershände. Willst du mir einen großen Dienst erweisen?"
„Ja", antwortete ich ein bisschen kleinlaut.
Er lächelte. „Nein, daran denke ich nicht; das werde ich schon allein ordnen. Warum übrigens diese Angst vor dem Blut? Das Blut aller Revolutionen ist doch nichts gegenüber dem Blut, das in diesem Weltkrieg vergossen wurde. Und das Blut dieses Krieges war Blut des Brudermordes, während das der Revolution Blut ist, das bei jeder Geburt fließen muss."
Er trocknete sich den Schweiß von der Stirn; man sah es ihm an, dass er große Schmerzen hatte.
„Nein, aber wovon ich abkam: willst du dich Johannas und des Kindes annehmen, das sie trägt?"
Ich nickte, es war mir nicht möglich, ein Wort hervorzubringen.
Er nahm meine Hände.
„Weißt du auch, was ich dir mit ihnen anvertraue? Es ist das Teuerste, was du und ich und wir alle besitzen - es ist die Fee der Freiheit selbst! Als wir in der dunklen Nacht über die Felder gingen, die Generalstochter und ich, sagte sie zu mir: ,Nein, ich habe nicht dich gerettet; du hast mir das Leben gerettet! In acht Tagen soll ich mich mit einem dieser blutbesudelten Säbelrassler, mit einem Grafen verheiraten; ich will ihm aber nicht mein Bestes geben. Nimm mich, du! Nimm mich und mach mir einen Jungen - dann können die anderen den Rest gern haben!' - Sie stand vor mir, flammend und desperat, und ich begriff, dass es nicht eine gewöhnliche Frau war, die verzweifelt an ihren Ketten zerrte, sondern dass die Göttin der Revolution selber zu mir auf die Erde herabgestiegen war. Und als sie dann hinterher in den Reichtum und in die sterile Gesellschaft nicht zurückkehren
konnte - lieber, lieber Freund!--Ich habe mein Leben mehr
unter als über der Erde gelebt, und auf meinem Wege bin ich im Ernst nur einer einzigen Frau begegnet. Aber dort unten eröffnete sich mir eine neue Welt; es wächst da unten, Genosse - oft auf seltsame Weise. Die Mysterien sind dort zu Haus - und das verborgene Werden. Dort in der Tiefe, unter dem klopfenden Herzen des Lebens, liegt die Zukunft, wohlig sich dehnend wie die träumende warme Frucht im Mutterleib.
Und sieh, wie sie sich begegnen, meine unterirdische Welt und meine Johanna! Deshalb gebe ich sie und den Jungen in deine Hände! - Und jetzt geh, ich bin müde!"
Er ließ meine Hand fahren und drehte sich zur Wand.
1925

 

MUSTAFA
Das Märchen von der neuen Welt

Wo kam er her? Wo gehörte er hin? In diesem bunten Menschengewimmel mit seinem unerschöpflichen Vorrat von immer neuen Rassen, Typen, Sprachen und Nationalitäten, gegen welche sich die Völkerschaften Westeuropas wie Mitglieder eines und desselben engen Familienkreises ausnehmen, war es unmöglich zu entscheiden. Auf seinem bläulichen, kantigen Schädel, der an das erste rohe Stadium einer Billardkugel erinnerte, saßen die Reste eines gestickten Fes, der, wie meine Begleiterin meinte, auf Turkestan hindeutete. Die übrige Bekleidung aber, ein zerlumpter Überrock, der wie ein Bademantel um ihn hing und durch ein Ende Strick zusammengehalten wurde, konnte sehr wohl aus Skandinavien stammen. Seine Ecken schleiften auf der Erde, wenn der Bursche ging, größer war er nicht. Aber wohin er auch gehören mochte, der Kopf war international; man hätte ihm in jedem beliebigen Elendsviertel der Welt auch begegnen können: wachsame große Ohren, graubleiche stockige Haut, kurzgeschorener beuliger Schädel, Gesichtszüge, die das Leben mit harten Fingern herausmodelliert hatte, und kalt schimmernde kluge Augen. In ihnen stand zu lesen, dass alles Unglück und alle Plagen, dass alle Laster mit ihm gerungen hatten, ohne ihn doch besiegen zu können. Er gehörte jener internationalen Millionenarmee an, die mit dem Sensenmann von Geburt an auf Grußfuß steht und mit der deshalb weder Hunger noch Seuche fertig werden können. Vielleicht verdankte er dem Kriege seine Entstehung: ein brünstiger Soldat und eine vor Schrecken von Sinnen und Verstand geratene Frau. Er konnte aber auch in einem der Millionen Nester auf der Welt erzeugt worden sein, wo Sorge zur Entbehrung und Hunger zur Unterernährung gelegt ein Wesen mehr ins Nest ergibt.
„Bemerkten Sie, Frau Vilm, wie aus seinen Augen die Warnung leuchtete, eine Drohung mit dem Gerichtstag? Er hat den Sensenmann zum Vater!"
„Ja, und das Leben zur Mutter", antwortete meine Begleiterin. „Ich las in seinen Augen auch die Verheißung künftiger Erhöhung. Es ist merkwürdig, wie vieles Armut und Lumpen unserer Zeit zu sagen haben!"
Beunruhigend war der Bursche; es fiel einem schwer, ihn nicht anzusehen. Ständig kehrte das Gespräch zu ihm zurück.
Wir rasteten vor einer Art Herberge oder Reisestall und tranken Narzanwasser zu unserem mitgebrachten Brot; ringsum waren die Felsen rot von dem wundertätigen Wasser, das in großen Güssen aus der Erde hervorquoll und über den Berghang hinunterströmte. Tief unter uns lag die Grusinische Heerstraße, die wohl die wildeste Gebirgsstraße Europas ist und nicht weniger dadurch interessant wird, dass sie in Tiflis ausmündet. Zu beiden Seiten dehnte sich das zerklüftete kaukasische Bergland: alle Erdschichten hochkant nach einer gewaltigen Pressung. Nur die weißen Zwillingsbrüste des Elbrus zeichneten sich in erhabener Ruhe vor dem Himmel ab. Wir waren nahe der Wasserscheide zwischen Europa und Asien, dem Höhenzug, wo das Wasser zwischen den beiden Erdteilen zu wählen hat, und die Frage war, ob wir hier übernachten und am nächsten Tag weiterziehen oder ob wir umkehren sollten. Betten gab es nicht. „Aber auf dem Fußboden braucht ihr nicht zu schlafen", sagte die Wirtin, eine kräftige georgische Frau auf kurzen Beinen. „Wir können Türen ausheben und auf Stühle legen."
Ein wenig weiter weg saß der Junge auf der Kante eines Felsens, der einmal von oben herabgerollt und durch die Laune des Zufalls mitten auf der grünen Schräge hängen geblieben war. Er hielt einen Knust Brot in den Händen; ihm zu Füßen saß ein Hund und verfolgte jede seiner Bewegungen mit Augen, die vor Hunger schrieen. Äußerlich glichen sie einander: gleich abgezehrt, gleich schäbig, aber der Ausdruck ihrer Augen legte eine Welt zwischen sie. Der Hund bettelte mit den Augen, mit den schlottrigen Flanken, den unruhig trippelnden Pfoten, dem Schwanz; sein ganzes Benehmen war ein einziges Flehen, sich über den Brotknust werfen, ihn verschlingen - sich daran verschlucken zu dürfen. Der Junge genoss das Brot mit Händen und Seele; sein Blick war ruhig, beinahe übernatürlich ruhig, seine Bewegungen feierlich. Er hatte sich das Stück Brot bei uns geholt, ohne eigentlich darum zu bitten, geschweige denn zu betteln — mit einer Miene, die am ehesten besagte, dass er Manns genug wäre, es sich selber zu nehmen, wenn wir es ihm nicht freiwillig gäben. Jetzt beachtete er uns überhaupt nicht, wir waren nicht mehr da für ihn. Das Brot beschäftigte ihn ganz; er hob es mit beiden — gefalteten — Händen zu seinem Gesicht empor, drückte den Mund dagegen, senkte und hob es wieder wie in Andacht. Der Hund trippelte vor Verlangen, wedelte mit dem Schweif und drängte seine ganze Gier in seinem Blick zusammen; jedes Mal, wenn der Junge das Brot an die Lippen führte, rann dem Hund ein Beben durchs Knochengerüst, die räudigen Flanken flogen hin und her, als ob er schluchzte.
„Nein, es ist nicht auszuhalten", brach es aus meiner Begleiterin hervor. „Er ist ja auch kurzgeschoren; er muss aus einem Kinderheim geflüchtet sein, vielleicht aus Samara. Er ist bestimmt eine Waise aus den Hungerdistrikten; trotz allem, was wir tun, sind Wälder und Wildnis ständig voll von ihnen. Es ist doch ihretwegen, dass alles unternommen worden ist, und trotzdem ist es, als wollten sie sich an uns rächen, weil wir ihnen eine geordnete Gesellschaft hinbauen wollen. Überall tauchen sie auf wie ein lebender Protest, formieren Banden, stehlen und morden. Fangen wir sie ein, flüchten sie wieder; es ist nicht mit ihnen fertigzuwerden."
Ich kannte den Typ von den Kinderheimen in Samara her: dieselbe fahlgraue Haut und derselbe kantige Schädel, dieselbe unergründliche Flamme im Blick, der alles mögliche zu verheißen schien — unauslöschbaren Hass auf alle oder heißes, vielleicht genial leuchtendes Mitgefühl.
„Sie sind der schwerste Rückschlag für uns, diese Besprisorni", setzte meine Führerin traurig fort. „Es hat hier ja auch früher
Hungersnöte gegeben, fast jedes Jahr, und Hunderttausende von Kindern verwaisten! Sie legten sich einfach hin und starben. Das haben sie jetzt nicht nötig, wir teilen alle unser Brot mit ihnen. Aber diese hier sind Kinder des Krieges und der Revolution; sie fordern zu leben — und am liebsten, das Leben gefährlich zu leben."
Wir waren mit unserem Brot fertig, aber der Bursche hatte mit seinem noch nicht begonnen. Wie sehr heruntergekommen mussten die beiden sein! Der Hunger saß ihnen tief in den Knochen, die dünn wie Pfeifenstiele waren. „Sehen Sie", rief meine Begleiterin mit bebender Stimme, „er liebkost das Brot. Er ist ein echter Russe!"
Sonderbar, fast unheimlich war es, dass er — ausgehungert, wie er war — doch nicht drauflos aß. Mit seliger Miene führte er das Brot an den Mund, als hätte er nun endlich alle Zeremonien hinter sich und dürfte einhauen; der Hund fasste es auch so auf und winselte jämmerlich. Und mit eins riss er das Brot von seinen Lippen, atmete tief auf — und gab es dem Hund, mit abgewandtem Gesicht. Meine Begleiterin brach in Tränen aus.
Mit Hilfe eines neuen Stücks Brot lockten wir den Jungen zu uns; es war nicht ganz einfach, er war scheu und misstrauisch wie ein Tier des Waldes. Seine Eltern waren bei der großen Hungersnot vor zwei Jahren im Distrikt Samara gestorben; das war alles, was wir aus ihm herausbekamen. Aber sein Leben ließ sich von den Narben und Schmutzkrusten auf seinem Leibe, von dem Ungeziefer, das auf seiner Kopfhaut Wunden verursacht hatte, leicht ablesen. Waden und Schienbeine waren von Narben weißgesprenkelt, eine lange Schramme lief von seinem Hals über die Brust hinab und verlor sich unter seiner Jacke. Frau Vilm schlug sie zur Seite, um die Schramme weiter zu verfolgen; innen im Wams stak ein Messer mit breiter Klinge, die von Blut rostig war. Sie schauerte zusammen.
„Bemerken Sie den Wolfsfunken in seinen Augen, weil ich sein Messer anrührte", sagte Frau Vilm auf deutsch. „Ich möchte ihm ungern in seinem Revier begegnen."
„Er ist so klein und schmächtig — höchstens zehn Jahre alt", wandte ich ein.
„Ja, aber sie treten in Rudeln auf, wie die Wölfe; selbst der Stärkste unterliegt, wenn sie sich auf ihn werfen. Neulich haben sie zwei bewaffnete Rotgardisten, die unterwegs waren, um sie einzufangen, in Stücke gerissen." Sie sah ihn an mit einem Blick, der doch mehr Wärme als Grauen enthielt.
Sie hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und wiegte ihn leise hin und her, während sie zu ihm sprach. So scheu er war, machte er sich doch nicht frei von ihr; er wurde nur ein wenig rot um die Augen, aus Verlegenheit wahrscheinlich. „Komm in die Großstadt", sagte sie plötzlich, drehte ihn zu sich herum und sah ihm in die Augen. „Da wirst du was lernen und ein tüchtiger Mensch werden. Du wirst lernen, ein Auto zu fahren und ein Flugzeug zu steuern — vielleicht auch ein ganzes Land zu steuern."
Der kleine Bursche bekam einen spöttischen Glanz in die Augen; mit einem plötzlichen Ruck machte er sich von ihrem Arm los und zog sich ein wenig von uns zurück. Es hatte den Anschein, als wolle er davonrennen. Aber dann kam er zögernd zu uns zurück. „Kriege ich dann auch Lenin zu sehen?" fragte er und sah von uns weg.
„Das wirst du ganz sicher. Und wenn du tüchtig bist, darfst du auch mit ihm sprechen."
Zu meiner Verwunderung schien diese Aussicht für ihn bestimmend zu sein. Aber Frau Vilm war nicht verwundert. „Der Name ist auch für die Kinder der Wildnis ein Zauberwort", sagte sie; „selbst der verstockte Verbrecher wird ein anderer, wenn dieser Name genannt wird. Er ist wahrscheinlich der einzige auf der Welt, der bis auf den Grund durchdringt."
Ihn mitzunehmen, war uns nicht möglich; wir hatten allerlei vor uns und mussten noch zwei, drei Wochen unterwegs sein. Aber Frau Vilm wusste Rat. „Ich habe einen Freund, der in Tiflis Flickschuster ist; der kann sich solange des Jungen annehmen", sagte sie und holte Schreibmaterial aus der Mappe. Ich sah gewiss ein bisschen dumm drein, denn während sie den Brief zuklebte, sagte sie lachend: „Er ist übrigens nicht nur Flickschuster; er ist ein alter Veteran und hat mehrere Jahre in Sibirien zugebracht. - Bist du in Tiflis gewesen?" fragte sie den Jungen. Er nickte schwach, fast unmerklich, als hätte er Angst, in eine Falle zu geraten. „Dann beeil dich gleich dahin und gib dem Flickschuster am Westtor diesen Brief von mir ab — du weißt doch, der, von dem sie das Lied gedichtet haben: ,Holla Veteran, heisa Partisan!' Er wohnt gleich vor dem Tor. Aber gib gut acht auf den Brief, sonst kriegt statt deiner wer anders Lenin zu sehen."
Ich war skeptisch; mir schien die ganze Sache mehr mit Romantik als mit Wirklichkeit zu tun zu haben. „Ist es nicht ein bisschen weit, um sich mit einem Brief ,gleich dahin zu beeilen'?" meinte ich. „Es müssen von hier bis Tiflis mindestens zweihundert Kilometer sein. Die Adresse erscheint mir ebenfalls ein wenig mangelhaft."
Meine Begleiterin lachte: „Der Flickschuster in Tiflis ist der berühmteste Mann in ganz Georgien, jedes Kind kennt ihn. Er stand doch an der Spitze, als sie die Berge hier säuberten und das Neue fest gründeten. Ich sehe es dem Jungen an, dass er stolz darauf ist, dem Veteran Partisan einen Brief zu überbringen. Außerdem ist er ganz andere Entfernungen gewöhnt; diesmal hat er ein Ziel vor sich."
Trotzdem blieb ich nicht wenig skeptisch. Aber als ich auf der Rückreise einige Monate später durch Petrograd kam, wie die Stadt damals hieß, und Frau Vilm aufsuchte, um ihr für gute Führerschaft zu danken, war Mustafa, unser Findelkind, bei ihr und benahm sich schon ganz wie ein kleiner Einheimischer. Er war vor einem Monat mit dem Zuge angekommen. „Da war allerhand von ihm herunterzuscheuern, können Sie mir glauben", erzählte Frau Vilm, „Schmutz und Ungeziefer und schlechte Angewohnheiten auch. Aber nun ist er ein richtiges kleines Kulturwesen, nicht wahr?"
Er sah gut aus; die Russenbluse kleidete ihn, und der sonderbare Schädel leuchtete vor Menschenverstand. Er hatte angefangen, in die Schule zu gehen, und die Lehrer lobten seinen Lerneifer ebenso wie seine Ordnungsliebe. Die Familie Vilm behandelte er mit der Nachsicht eines Erwachsenen; selbst Babuschka, die alte Großmutter, war in seinen Augen ein Kind. „Ihr habt ja keine Ahnung vom Leben", sagte er zu Frau Vilm. „Du gehst auf Arbeit, dein Mann geht auf Arbeit, Babuschka geht zum Einkaufen auf den Markt — und mich lasst ihr allein zu Hause und schließt nicht einmal die Schubladen ab. Ich könnte mich doch mit allem davonmachen — was seid ihr doch für Kinder!"
„Du bist aber nicht davongelaufen!" sagte Frau Vilm.
„Nein, aber wenn ich es nun täte! Ich bin doch ein Dieb."
Er war zuverlässig genug, verursachte keinerlei Unordnung, sondern war im Gegenteil behilflich, den Haushalt in Ordnung zu halten. In der Schule machte er gute Fortschritte, er war wohlbegabt, und alle hatten ihn gern. So verging der Winter auf beste Art.
Aber zu Anbruch des Frühjahrs erhielt ich die Nachricht, dass Mustafa durchgebrannt sei. Vielleicht hatte er auf dem Schulweg alte Kameraden getroffen, vielleicht war es die Natur selber, die ihn rief; weg war er! Vilm selber machte mir Mitteilung davon, er war sehr niedergeschlagen. Sie hätten den Jungen suchen lassen können, das wollten sie aber nicht.
Weit weg konnte er übrigens nicht sein; sie spürten ihn auf die verschiedenste Weise. Es war deutlich zu merken, dass er ihr Tun und Lassen ziemlich genau verfolgte, während er sich selbst verborgen hielt. „Es ist seltsam", schrieb Frau Vilm, „er weiß alles, was uns geschieht, wie wenn er in der Luft um uns zugegen wäre. Kürzlich war mir im Theater meine Tasche abhanden gekommen, und ein paar Tage später, als wir von der Arbeit nach Hause kamen, lag sie in der Stube auf dem Tisch. Mustafa muss hier gewesen sein und sie gebracht haben; der Junge versteht ja nicht nur Herzen, sondern auch Türen zu öffnen. Vielleicht hat er bei seinen Kameraden die Tasche gefunden."
Er war ihr ein und alles geworden, dieser vom Schicksal misshandelte Junge. Ihre Briefe handelten nur von ihm, von ihrer Bewunderung und Liebe - und ihrer Trauer darüber, dass er fort war. Es fiel ihnen schwer, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass er nie mehr zurückkehren würde.
Aber als sich der erste Schnee auf die grünen Kupferdächer Leningrads senkte, erhielt ich die freudestrahlende Nachricht, dass Mustafa wieder aufgetaucht wäre, schmutzig und voll von Ungeziefer, dass es ein Grauen gewesen. Frau Vilm nahm ihn auf, als wäre er nur ein paar Stunden weg gewesen, badete ihn und kleidete ihn ein. Auch in der Schule empfingen sie ihn wie selbstverständlich, niemand fragte ihn, wo er sich aufgehalten hätte.
Das war klug gehandelt von ihnen, denn Mustafa zeigte ein unvorstellbares Gefühl der Solidarität, wenn es seine andere Welt galt; niemals verriet er mit einem Wort, was die Kameraden anging. Er schleppte auch nichts von da draußen ein, was ich für früher oder später befürchtet hatte. Er verstand es, die beiden Leben scharf voneinander getrennt zu halten; sie schienen auch einander aufzuwiegen, so dass keins die Oberhand bekam. Der sechs-, siebenmonatige Aufenthalt in dem behaglichen, ordentlichen Heim hatte ihn nicht für die Gesellschaft gewinnen können, aber das lockere, vogelfreie Sommerleben hatte ebenso nicht mehr Gewalt über ihn, als dass er zurückkehrte, wenn die Kälte einsetzte. Dieses Wechselspiel zwischen wild und zahm wiederholte sich mehrere Jahre.
Ich konnte das alles nur aus der Ferne verfolgen, aber auch in meinem Dasein machte sich Mustafa, dieser schäbige Bursche, geltend, war sozusagen ständig unsichtbarlich zugegen. Dies zugleich unheimlich erfahrene und kindlich unberührte Menschenwesen, das bis auf den tiefsten Grund des Daseins hinabgestiegen war und sich doch das Wesentliche bewahrt hatte, war auf besondere Weise bei allem, was ich unternahm, gegenwärtig. Es war, als ob in seinem Schicksal Leben und Tod auf der Waagschale lägen, als ob die Zukunft selber davon abhinge, welche Richtung er nähme - ob auf Abkehr und Krieg gegen die Gesellschaft oder auf ein Leben des fruchtbaren Aufbaus.
Es waren, wie gesagt, mehrere Jahre vergangen, ehe mich die
Umstände von neuem nach Leningrad führten. Dieses Mal musste ich Mustafa sehen; ich trat die Reise frühzeitig an, um sicher zu sein, ihn noch bei der Familie Vilm anzutreffen.
Ich ging vom Hotel geradenwegs zu dem Büro, wo Frau Vilm arbeitete. Sie empfing mich mit der betrüblichen Mitteilung, dass Mustafa bereits ausgeflogen wäre. „Es ist viel früher als sonst; wenn ihn das Draußen nur nicht ganz einfängt", sagte sie.
„Vielleicht braucht er ein stärkeres Gegengewicht gegen das Vagabundenleben, als ihr ihm bieten könnt. So gut ihr auch zu ihm seid, ich glaube, es ist ihm bei euch nicht spannend genug. Ob wir nicht versuchen sollten, ihn in einer der GPU-Siedlungen unterzubringen? Die Leute dort scheinen auf Burschen seiner Art eine besondere Gewalt auszuüben."
„Und wo fassen wir ihn? Einen ganzen Apparat in Gang setzen, um ihn zu suchen, ist nicht angebracht. Wenn ihm nur von ferne schwant, dass er hinter einen Zaun soll, sehen wir ihn niemals wieder."
Am nächsten Morgen rief Frau Vilm mich an. „Er ist hier", teilte sie mir mit vor Freude jubelnder Stimme mit. „Er kam eben an - sicherlich, um Sie zu sehen. Er wusste, dass Sie hier sind."
Ich wollte gleich hinausfahren, aber sie bat mich, bis Mittag zu warten. „Dann habe ich ihn ein bisschen hergerichtet - und sonst noch was; Sie wissen schon! Er ist ganz verwildert."
Er freute sich außerordentlich, mich zu sehen, der Bursche, so wenig Anteil ich auch an ihm und seinem Schicksal hatte; er sprang mir in die Arme wie ein großer junger Hund. Aber woher er wusste, dass ich in der Stadt war, wollte er nicht sagen. „Das weiß man eben", antwortete er und lachte. Später wurde dieses und vieles andere von seinem mysteriösen Wissen aufgeklärt. Vor Frau Vilms Büro ist ein kleiner Platz, mittendrauf steht eine Litfasssäule, und in deren Hohlraum hatte er sich eine kleine Zufluchtsstätte eingerichtet. Hier hielt er sich auf, wenn er vor den Kameraden Ruhe haben wollte und das Bedürfnis fühlte, seine Pflegemutter zu sehen. Es war ihm also doch nicht ganz gelungen, draußen in der Freiheit das Heim von sich abzuschütteln.
Ich suchte die GPU-Abteilung für Entgleiste und Waisen auf und erklärte ihnen die Sache. „Morgen Nachmittag schicken wir einen von unseren Lassomännern zu Ihnen", antwortete man mir. „Sorgen Sie dafür, dass der Junge zu Hause ist."
Ich hatte mich zeitig bei Vilms eingestellt, ein GPU-Mann erschien aber nicht. Mustafa, in seinem Winterdasein ein eifriger Briefmarkensammler, war damit beschäftigt, allerlei Marken, die ich ihm mitgebracht hatte, in sein Album zu kleben; wir anderen saßen dabei und sahen einander an. Die Spannung macht uns wortarm; wie würde er es aufnehmen? Würde er davonrennen oder freiwillig mitgehen? Er ahnte nicht im geringsten, was wir mit ihm vorhatten; sorglos saß er da, hantierte mit den Marken und erzählte Babuschka, was er von Skandinavien wusste. Aber jeden Augenblick mochte er alles das beiseitefegen und sich in die Heimatlosigkeit hinausbegeben, die Sommersaison hatte sich ja schon bei ihm gemeldet. Und es kam immer noch kein Fürsorgemann.
Ein wettergebräunter junger Mann kam von der Straße herauf und fragte, ob hier ein Mechaniker wohne. „Nein", antwortete Herr Vilm abweisend, „Mechaniker pflegen nicht im dritten Stock zu wohnen!" Der Mann entschuldigte sich; seine Maschine sei nicht in Ordnung und man hätte ihn hierhergewiesen. „Ja, ich bin allerdings Ingenieur", sagte Vilm etwas liebenswürdiger, „aber von Motorfahrzeugen habe ich keine Ahnung. Nehmen Sie doch Platz und trinken Sie eine Tasse Tee, dann können wir darüber reden."
„Wenn der Russe keinen anderen Ausweg sieht, trinkt er Tee!" Der junge Motorfahrer lachte ausgelassen. „Leider habe ich keine Zeit - also vielen Dank. Überlassen Sie mir lieber den Jungen dort, damit er auf die Maschine Acht gibt, während ich einen Mechaniker suche. Er sieht mir ganz so aus, als ob er die Allesbefummler fernhalten könnte!"
Das war etwas für Mustafa: einem zur Hand gehen, der von
Kopf bis Fuß in Leder steckte und hoch auf der Stirn eine Staubbrille trug; von den Jungen auf der Straße beneidet werden, weil man mit einem richtigen Helden, mit einem braungebrannten Ledermann zusammenarbeitete! Er hatte dagesessen und den jungen Motorfahrer mit den Augen verschlungen, hatte ihn mit allen Sinnen in sich aufgenommen; mit einem Sprung war er auf den Beinen und vorneweg die Treppen hinunter.
Vom Fenster aus sahen wir sie am Parkgitter drüben auf der anderen Straßenseite an dem Motorrad herumbasteln. Sie hatten keinen Mechaniker geholt, sondern machten sich selber daran; und als sie sich mit der Maschine eine Zeitlang abgemüht hatten, setzten sie sich drauf und fuhren los, Mustafa im Rücksitz. „Wisst ihr was? Ich glaube, das ist der Lassomann", sagte Frau Vilm plötzlich.
Es vergingen ein paar Stunden, dann hörten wir es auf der Straße knattern; der Ledermann kam herauf, gefolgt von Mustafa, der rote Wangen hatte — vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben — und Augen, die von dem Erlebnis glühten. „Besten Dank für den Jungen", sagte der Motormann. „Er ist ein tüchtiger Bursche, er kann beinahe schon die Maschine fahren. Es kann ein guter Fahrer aus ihm werden, vielleicht sogar ein Flieger! Aber er muss mehr lernen; morgen komme ich und hole ihn. Mechaniker muss er lernen!"
Diesmal hatte Mustafa hinsichtlich seines Ausflugs keine Geheimnisse vor uns. Sie waren auf den Inseln gewesen, waren auf allen Straßen dahin gebraust, dass er sich kaum festzuhalten vermochte, und hatten einen Pionierklub besucht, wo ihn die Jungen mit Hurra begrüßten. „Das ist doch etwas anderes, als an den Puffern hängen und die Kameraden unter die Räder fallen sehen", sagte er und lüftete unversehens einen Zipfel von seinem zweiten Dasein.
Der Motormann holte ihn jeden Tag ab. Eines Tages brachte er ihn nicht wieder zurück, sondern setzte ihn draußen in Bolschewo ab, in dieser bemerkenswerten Kolonie, wo fünftausend Entwurzelte vom Schlage Mustafas nicht nur Wurzeln geschlagen haben, sondern eine neue Gemeinschaft aufbauen und sich in den Kopf gesetzt haben, dass sie alle anderen Gemeinschaften übertreffen soll.
Dort habe ich das eine und andere Jahr Gelegenheit, ihn zu besuchen. Er läuft nicht davon, dafür ist das Leben in der Kolonie das ganze Jahr hindurch viel zu spannend. Mechaniker ist er nicht, die Maschine war nur ein Köder gewesen, ihn ins Gehege zu holen; jetzt ist er einer der anderthalb Hundert Schüler an der Kunstakademie von Bolschewo. Er ist derjenige, der die Ausschmückung des neuen großen Theaters der Siedlung unter sich hat.
Ein kräftiger junger Mann ist er jetzt, gesammelt in Ausdruck und Wesen, stetig und zielbewusst. Er kann etwas verbissen aussehen, wenn er den im Verhältnis zu seiner Jugend und seinen frühen Lebensumständen unfassbar großen Aufgaben gegenübersteht. Aber sein Blick und seine ganze Erscheinung strahlen einen eigenen Glanz aus, einen lichten Schein, der in meinem Bewusstsein stets mit der Vorstellung der Zukunft verbunden ist. Er ist den Weg ins Leben gegangen, hinunter der bodenlosen Tiefe zu und wieder hinauf — einer neuen Welt entgegen!
1936