Meine Mutter war siebenundvierzig Jahre alt, als ich zur Welt kam. Für mich war sie stets die Mutter, eine Frau, bei der es nicht auf Schönheit ankommt, sondern nur auf Güte, Wärme, auf die Hand, die Schnitten verteilt. Ich war ihr Dreizehntes. Mir kam sie immer wie eine Sechzigjährige vor, so wie alle alten Frauen des Dorfes, die rüstigen und tätigen Mütter; niemals hätte ich sie den zahnlosen, mürrischen Großmüttern gleichgestellt, die den lieben langen Tag mit ihren knotigen Händen im Schoß dasaßen.
Im Dorf sprach man von einer Frau, die Kinder hatte, nie als von „Madame" Soundso, sondern als von „Mutter" Soundso. Alle Mütter glichen einander. Es waren Frauen mit Runzeln und Tränen. Ihre ledernen Hände rochen nach Knoblauch. Meine Mutter hatte viel geweint, hinter ihren Brillengläsern standen Tränenseen; der übrige Teil ihres Gesichtes aber, von der Stirn bis zum Mund, lächelte weiter, auch ihre Stimme.
Wenn die Mütter einander begegneten, draußen an der Kreuzung eines Weinbergweges und der zum Wald aufsteigenden Straße, vergossen sie immer einige Tränen; sie trockneten sie mit einem großen karierten Taschentuch, während die eine ihren Schubkarren, die andere ihren Korb absetzte.
Sie alle trauerten um tote Kinder. Meine Mutter hatte fünf zu beweinen, große und kleine, die ich nie gekannt hatte.
Niemals gingen wir hinaus aufs Feld — ich um Johannisbeeren zu essen, sie um Bohnen zu stützen —, ohne ein paar Frauen des Dorfes zu begegnen. Das summende und heitere Geplauder über das Vergnügen, an einem schönen Tage im Freien zu sein, glitt bald hinüber in Klagen über Krankheit und Tote. Wenn meine Mutter ausgeweint hatte, wischte sie ihre Brille am Schürzenzipfel oder am Taschentuch trocken, und ich konnte ihre beiden armen Augen besser sehen.
Ich weiß nicht, wie sie noch die Zeit fand, das Haus in Ordnung zu halten und die Mahlzeiten zu kochen; so oft war sie im Wald und auf dem Feld oder wusch ihre und anderer Leute Wäsche.
Sie sah immer ruhig aus. Niemals schien sie in Hast. Ihre Arbeit hielt sie nicht davon ab, lange Gespräche mit Nachbarinnen zu führen, während ich ihr voller Ungeduld in Hände und Arme biss, bis zu denen ich gerade hinaufreichte.
Ich sah sie den Teig kneten und im gemeinsamen Backofen des Hauses Brot für die Woche backen, sah sie Mirabellen, Erbsen, grüne Bohnen als Wintervorrat in Gläser füllen.
Das Haus war sauber, der Holzfußboden wurde oft aufgewischt. Das war die Regel in allen Häusern des Dorfes, deren einziger Luxus ihre Sauberkeit war. Es gab keine Sessel und keine Spiegelschränke, keine schönen Fliesen und keinen gebohnerten Fußboden in diesen Häusern.
Bei uns lag die ganze Wäsche der Familie ordentlich
aufgestapelt in einer einzigen großen Truhe, über der in Reih und Glied Marmeladentöpfe standen. Schon in der Frühe waren alle Betten gemacht.
Meine drei großen Schwestern konnten Mutter nur am Sonntag helfen. Es waren drei heiratsfähige Mädchen, die in der Woche frühmorgens mit dem Zug nach Pagny-sur-Moselle fuhren. Sie arbeiteten dort in der Fabrik und kamen spät am Abend zurück. Sonntags bügelten sie die großen Betttücher, flickten sie und legten sie zu zweit zusammen; dabei sangen sie unter ihrem keck aufragenden Dutt die romantischen Schlager jener Zeit. Die Älteste wusch die beiden Kleinen, meine jüngste Schwester und mich; sie zog uns die Kleider an, zu deren Anschaffung die drei Großen zusammengelegt hatten. Mit blankgeriebenen Ohren und von der Seife noch brennenden Augen gingen meine kleine Schwester und ich zur Messe.
Wir wohnten nicht allein im Hause. Unsere Fenster lagen nach der Straße zu. Die der Familie Reny, unserer Flurnachbarn, gingen auf den umzäunten Garten hinaus. Vater Reny ging selten aus; hüstelnd blieb er am Feuer und rauchte seine Pfeife bei einer Zeitung, die er vom Morgen bis zum Abend immer wieder von neuem las. Er trug einen langen, weißen Bart und war Veteran von 1870. Seit der Belagerung von Metz, wo es ihn „erwischt" hatte, hustete er.
Mutter Reny war eine noch flinke Frau, sie quälte sich nicht so ab wie meine Mutter. Ihre beiden großen Kinder arbeiteten in den Büros der Fabrik in Pont-a-Mousson. Ich ging selten zu ihnen.
Wenn ich hereinkam, sah ich Vater Reny, seine Pfeife, die Zeitung, Leonies Nähmaschine und Marcels
Mandoline. Auch bei ihnen war es sehr sauber. Der summende Wasserkessel über dem Feuer, das Ticken einer großen Uhr und jene Mischung von Mus- und Gemüsegeruch, die man den Duft der Ehrbarkeit nennen möchte, verbreiteten eine warme Behaglichkeit.
Unsere anderen Nachbarn, die Familie Marion, waren so alt und so stumm, dass ich mich nur noch an die Ölfunzel erinnere, mit der sie ihr Zimmer beleuchteten, auch als bei uns schon der Glanz des Gaslichts die stille Traulichkeit der Petroleumlampe verdrängt hatte.
Ihre Tochter, eine Witwe, hatte im Erdgeschoß ein Kolonialwarengeschäft. Die meisten Häuser des Dorfes hatten nur ein Stockwerk. Über den Wohnungen der Leute hatten die Schwalben am Dachgesims zahlreiche Nester gebaut.
Das Töchterchen der Krämerin, das von Geburt blind war, tastete sich an den Wänden entlang zu ihren Großeltern hinauf; ihre Bekannten identifizierte sie, indem sie schnüffelnd die Luft einsog und sich dann an ihre Schürzen klammerte.
Im Winter ging meine Mutter zur Nachbarin Dassonville hinüber, deren Bildung sie bewunderte, und ließ sich von ihr den Zeitungsroman vorlesen. Die Handlung packte sie, und sie wartete gespannt auf den Ausgang: Heirat oder Verrat. Das abenteuerreiche Leben der vornehmen Welt, von dem sie da hörte, war ihr wie eine Offenbarung; sie glaubte, das Leben zu verstehen. Von der Wohnung im Erdgeschoß sah man zwischen den seitlich gerafften Vorhängen hindurch die Dorfbewohner vorbeigehen. War die Lektüre beendet, begann eine lebhafte Unterhaltung. Von einigen Tassen Kaffee angeregt, scherzten die Frauen und machten sich in drolligen und derben Ausrufen Luft. Das waren die schönsten Augenblicke ihres Tages, diese Kaffeestunde um drei Uhr nachmittags im Winter, wenn der Schnee fiel.
Meine Mutter bezog aus dem Zeitungsroman ihre Aufklärung über das Leben mit jenem Schuss von Wunderbarem, dessen jedermann bedarf. Während eine kleine Tabakdose von Hand zu Hand ging, lauschte ich mit geheuchelter Unschuld der Unterhaltung.
Als ich so alt war, dass ich gerade den Namen unserer Straße auf dem Emailschild lesen konnte, wusste ich schon, dass die Kinder nicht vom Himmel fallen oder vom Storch gebracht werden, obwohl meine Mutter und ihre Nachbarinnen sehr darauf bedacht waren, von den „kleinen Ohren" nicht verstanden zu werden.
Nach ihrer Heirat mit meinem Vater war sie aus ihrer Normandie nach Lothringen gekommen. Mein Vater war Jäger zu Fuß gewesen und schloss nach seiner Rückkehr aus Algerien seine Dienstzeit in Alencon ab. Ich fragte sie, ob ihr Vater nett zu ihr gewesen sei, warum sie ihre Mutter seit dem Abschied von da oben nicht wieder gesehen habe, ob sie 1870 die Preußen gesehen habe, wie alt sie zur Zeit dieses Krieges gewesen sei, und ob die Preußen böse gewesen seien.
„Ich war zwölf", hatte sie mir geantwortet.
Ich dachte mir, dass die stolzen Dragoner mit dem Messinghelm und dem Pferdeschweif daran, die sonntags durchs Dorf zogen und den Kindern erlaubten, hinter ihnen herzugehen und ihre schweren Säbel anzuheben, uns sicher vor einer neuen Invasion schützen könnten. In der Woche ritten sie auf ihren großen Pferden an unseren Fenstern vorbei. Die Hufe klapperten, und die Trompeten schmetterten.
Mein Vater war der Sohn eines Winzers von Pagny-sur-Moselle. Er war frühzeitig Waise geworden und arbeitete schon mit sechzehn Jahren auf den großen Bauernhöfen des flachen Landes. Ein hartes Leben für einen kleinen Kerl. Mit achtzehn war er zum Militär gegangen. Die beste Zeit seines Lebens, diese fünf Soldatenjahre in Algerien. Während seiner Dienstzeit hatte er lesen gelernt. So konnte er dann und wann die Zeitung lesen, wobei er wie ein Kind Silbe für Silbe buchstabierte. Meine Mutter kannte nicht das Abc.
Beide waren bäuerlicher Herkunft, aber wir besaßen kein Land mehr. Als mein Vater aus der Armee ausgeschieden war, wurde er Hilfsarbeiter in den Gießereien von Pont-a-Mousson. Die meisten Männer des Dorfes Maidieres, wo wir wohnten, arbeiteten ebenfalls in der Fabrik. Einige hatten das Werk entstehen sehen, das unter ihren Augen immer weiter anwuchs. Es hatte die Bauernsöhne ohne Grund und Boden und die durch die Reblaus ruinierten Winzer an sich gezogen.
Die blühende Fabrik sicherte ihnen aber trotz der zehn- und sogar zwölfstündigen Arbeitstage ihren Lebensunterhalt nicht. Ein für allemal waren sie der Welt des großindustriellen Proletariats anheim gefallen. Zu einem Viertel blieben sie Bauern, da sie am Sonntag ein Stück Land bebauen mussten, um ein wenig besser leben zu können. Sie benötigten den Gemüsezuschuss der Felder, die sie gepachtet hatten. Auf dem Stückchen Erde, das wir gepachtet hatten, machte sich meine Mutter zu schaffen.
Abends im Bett, wenn mein Vater die Lampe ausgeblasen hatte, fragte er Mutter aus und erkundigte sich lang und breit nach allem möglichen. Waren die Erbsen aufgegangen, hatte sie die Kartoffeln gehäufelt und die Bohnen gestützt? Die Fragen mischten sich mit Betrachtungen über das Wetter. Es regnete nicht genug oder es hatte zuviel geregnet. Er war nicht immer zufrieden mit der Arbeit der Mutter.
Im Frühjahr halfen meine großen Schwestern und ihre Verlobten dem Vater oder den Brüdern sonntags morgens beim Umgraben.
Ich selbst tat, was ich konnte, halb als Spiel.
Die jungen Leute hätten wohl lieber andere Zerstreuungen für ihre Sonntage gehabt, als den Spaten oder die Schubkarre mit Mist. Der älteste meiner Brüder war zur Zeit meiner Geburt schon verheiratet. Die Spannung wegen der Feldarbeit war zwischen meinem Vater und den beiden anderen immer ziemlich stark, bis es ihnen unerträglich wurde, länger im Haus zu bleiben. Selten waren Familienväter mit der Hilfe ihrer Söhne zufrieden. Der Vater nannte seine voller Bitterkeit: „Meine Stromer". Rene war knapp dreizehn, als er zum ersten Mal ausriss. Drei Monate später sah ich ihn wiederkommen; er war auf einen Karren geklettert, hatte eine schöne, grüne Strickweste, neue Schuhe und lange Hosen an und strahlte vor Glück, als habe er keine Ahnung von der Tracht Prügel, der er entgegenfuhr.
Er kam aus Belgien; dort war er in der Welt des Zirkus und der Jahrmärkte untergetaucht.
Meine Mutter hatte eine lockere Hand. Nach den Ohrfeigen gab es Brot und ein Stück Speck. Es brauchte schon ein paar Tage, bis sich der Vater an den Gedanken seiner Rückkehr gewöhnt hatte. Rene schlief auf dem Dachboden. Eines Abends kam er zur Essenszeit
leise herein, behutsam wie eine Maus — aber schon schüttelte ihn der Vater und schlug ihn mit einem Seil. Rene gelang es, unters Bett zu schlüpfen, wo ihn der Vater mit einem Hackenstiel in die Rippen puffte. Meine jüngere Schwester und ich versuchten erschrocken, ihn daran zu hindern, indem wir laut schrieen und uns an seinen Armen festklammerten. Wenn Rene damals nicht kurz und klein geschlagen wurde, so nur deshalb, weil es ihm gelang, plötzlich durch das Fenster zu springen.
Mit mir war mein Vater zärtlicher. Ich war der Jüngste. Wenn er am Sonntagmorgen aus dem Garten kam, lag auf seiner Schubkarre in einem Korb ein großes Kohlblatt voll Erdbeeren, die seine groben Hände mir reichten. An den Zahltagen brachte er mir Erdnüsse oder Apfelsinen mit. Bis zu meinem siebenten Jahr ließ er mich sonntags morgens im Winter, wenn er länger liegen bleiben konnte, im großen elterlichen Bett auf seinem Bauch herumtanzen. Er sagte mir arabische Worte und versprach mir, an Abd-el-Kader zu schreiben, der mir einen Apfelschimmel schicken würde. Mittags, wenn das Essen fertig war, fand ich ihn im Sonntagsstaat, vom Barbier kommend, frisch rasiert und mit gezwirbelten Schnurrbartspitzen, im Cafe vor einem Absinth. Ich trank ein wenig aus seinem Glase, während ich auf mein Glas Himbeerlimonade wartete.
Ich fand ihn dort in Gesellschaft meines ältesten Bruders, der bereits Familienvater war. Er war mit seinem Töchterchen, einem Mädchen in meinem Alter, oder mit einem meiner jungen Neffen über die Felder gekommen, die sein Dorf von unserem trennten, um uns zu besuchen. Manchmal saß am Tisch des Vaters auch der
eine meiner zukünftigen Schwäger, der schon seit Jahren im Hause aufgenommen war, ein schöner Infanteriesergeant mit goldenen Tressen, roten Achselstücken und roten Hosen, der mir stets erlaubte, sein Käppi aufzusetzen. Der Vater sagte gern und immer wieder, dass ich die Stütze seines Alters sein werde. Zwischen Adrien, meinem großen Bruder, und Camille, dem künftigen Schwager, machte ich keinen Unterschied. Er war mein Pate: er kannte mich von meiner Geburt an.
Camille hatte mir aus einer Seifenkiste und zwei Rädern einen Karren angefertigt, mit dem ich die Rossäpfel auf der Straße sammelte, wenn Dragonerabteilungen vorbeigeritten waren. Wenn der Misthaufen während der Ferien anwuchs, war mein Vater mit mir zufrieden.
Seine Töchter liebte er mehr als seine Söhne. Doch er sprach mit Rührung von einem meiner Brüder, einem Jungen von achtzehn Jahren, den die Schwindsucht hinweggerafft hatte. Er war ein kleiner, tapferer Kerl gewesen; zu früh war er in der Fabrik unter die Gießereiarbeiter geraten, die mit den Jungen, ihren Handlangern, rau umgingen und ihnen Maulschellen und Fußtritte in den Hintern austeilten, um sie für ihre Arbeit abzuhärten.
Meine Mutter ging sonntags nicht zur Messe. Sie hatte keine Zeit. Aber sie war fest davon überzeugt, dass es den lieben Gott gibt. Wenn wir zum Wald gingen und an dem großen Missionskreuz vorüberkamen, bekreuzigte sie sich schweigend. Ich machte es ihr nach.
Bei den gefällten großen Eichen schlug sie mit einer Hippe aus den Ästen, die die Holzfäller liegen gelassen hatten, Stangen für Bohnen und Erbsen zurecht, und auch das Holz für den Wintervorrat. Wenn die Zeit des wilden Spargels, der Brombeeren, Erdbeeren, Pilze und Haselnüsse kam, gingen wir zusammen in den Wald. Mit ihr war ich immer im Freien. Während sie mit der Hippe hackte, schlief ich oft ein. Der Wald macht schläfrig. Erschrocken erwachte ich dann, das hohe, grüne Gewölbe über mir. Wenn Gewitter uns überraschte und wir hinter einem Baum vor dem Regen Schutz suchten, bekreuzigte sie sich bei jedem Blitz. Nach dem Regen gurrten Tauben in einem Tannengehölz. Es roch herrlich nach modrigem Boden, Maiblumen und zerdrückten Erdbeeren. Auch ich glaubte an den lieben Gott.
Ich suchte, Schritt für Schritt, die Entfernung abzuschätzen, die die Erde vom Paradiese trennte. Zweimal die Höhe einer Eiche oder unseres Kirchturms schien mir an den unsichtbaren Sitz der Engel zu grenzen. Ich sprach zu niemandem darüber. Für meine Mutter war es vielleicht ein wenig höher.
Niemals habe ich sie bei der Arbeit verdrießlich oder mürrisch gesehen. Wenn sie mit einem schwer beladenen Schubkarren vom Walde herunterkam, sagte die erste Frau, der sie beim Dorfeingang begegnete: „Mutter Navel, Sie sind ein wahres Pferd."
Während sie ihre Brille trockenrieb und sich die Stirn abwischte, strahlte sie. Wir kamen am Garten des Bürgermeisters vorbei, aus dem Hopfenstangen aufragten. Meine Mutter begegnete niemandem, ohne ihren Karren abzustellen, guten Tag zu sagen und einen Dorfschwatz anzuknüpfen; sie begann ihn mit den Wetteraussichten, für die es im Schwalbenflug und im Verhalten der Hühner genügend Anzeichen gab, und ließ ihn in Rührung über das Unglück der anderen ausklingen; mit großer Ehrfurcht lauschte sie den Worten des Bürgermeisters. Der schon ziemlich bejahrte Mann war groß, hager und knochig. Auf dem Kopf trug er eine Mütze mit Ohrenklappen, die ihm zusammen mit seinen Ledergamaschen das Aussehen eines ehemaligen Offiziers verliehen. In unseren Augen war er ein reicher Mann. Er besaß ein paar Felder und ein Pferd. Man schlug sich damals gerade auf dem Balkan und in Marokko. Meine Mutter erwartete von ihm, dem gebildeten Mann, einen Einblick in die Ereignisse; denn schon drohte der Weltkrieg.
Ganz verwandelt, honigsüß geradezu, erschien sie mir, wenn sie einem alten Fräulein aus besserer, provinzbürgerlicher Familie begegnete. Diese Dame in tiefer Trauer, mit den wehmütigen Augen und der langsamen und sanften Art zu sprechen, schien ihr nicht aus demselben Zeug geschaffen wie sie und ihre Nachbarinnen. Es war, als glitte eine Gestalt aus einem Kirchenfenster vorbei. Wenn sie sich selbst auch vom Morgen bis zum Abend abrackerte, begegnete sie doch ganz gern jemandem, der von einem kleinen Vermögen lebte und dabei seinen toten Angehörigen oder einem alten Liebeskummer nachtrauerte. Meine Mutter mochte die Reichen und ihre Vornehmheit gefühlsmäßig gern, gerade so wie sie die vom Bläuen und vom Seifenwasser schneeweiß gewordene Wäsche liebte.
Der Geistliche, dem wir begegneten, war ein Bauernsohn des Hochlandes, aus der Gegend von Verdun. Von dort hatte er seine derbe Sprache. „Saubande" nannte er die Kinder in der Religionsstunde. Ich mochte ihn nicht; er hatte mich geschlagen. Seit meinem achten Jahr wartete ich darauf, alt genug zu sein, um ihn wieder-
schlagen zu können. Für immer hatte ich aufgehört, zur Messe zu gehen.
Drei Nonnen mit gestärkten weißen Hauben wohnten im Dorf. Sie waren beliebt. Sie hatten eine Unmenge von Heilmitteln und kurierten die Brand- und Schnittwunden der Kinder, ihre Quetschungen und die Nagelgeschwüre der Erwachsenen. Es waren sanfte Geschöpfe von unbestimmbarem Alter. Eine tiefe und stille Heiterkeit hatte sich ihren Gesichtern eingeprägt.
Um die moralische Wirkung ihres Daseins zu ersetzen, hätte eine lange Reihe das ganze Jahr über blühender Lindenbäume nicht gereicht.
Am Fronleichnamstag oder zum Fest der Jeanne d'Arc brachten die Männer — auch die, die nicht zur Kirche gingen — Zweige herbei, um den Altar zu schmücken, zu dem die Prozession führte. Hinter dem Geistlichen schritten Kinder und streuten Blütenblätter aus Körbchen, die sie an ganz neuen oder frisch gebügelten Bändern trugen.
Die Kirchenfeste wurden nicht nur eingehalten, sondern sie zeichneten sich auch durch Belustigungen aus. Alle zogen sich besser an, niemand ging zur Feldarbeit, und die Stunde des Aperitifs war von Glockengeläut begleitet. Die Mirabellentorten und der Pflaumenkuchen fielen größer aus, und zu Hause waren um den großen Festtagstisch mehr Gäste als sonst.
Wenn mein Vater zur Stadt hinunterging, brachte er aus Anhänglichkeit zu seiner ehemaligen Waffengattung einen unbekannten Rekruten vom Jägerregiment als Gast mit, den die ganze Familie freundlich aufnahm. Jahrelang, bis zum Kriege von 1914, brachte mir die Mutter jeden Tag um 12 Uhr nach Schulschluss einen Korb mit dem Mittagessen für den Vater. Ich trug ihn zur Fabrik, das heißt vor die Fabrik, zum „Schutthügel". Dieser, eine hohe Pyramide, wurde immer größer von all den Schlacken, die eine winzige Lokomotive mit kleinen Loren heranbrachte. Das mit Staub und Schlackenstücken vermischte Gusseisen wurde hier Schaufel für Schaufel in einem Wasserlauf von Schlacken freigeschlämmt. Dort traf ich meinen Vater mit einem halben Dutzend Männer, die ich mit Namen kannte.
Auf zwei Ziegelsteinen sitzend, den Rücken an dicke dort gelagerte Rohre angelehnt, saß ich neben ihm mit dem Trupp der Wäscher. Im Winter aßen wir in einer kleinen Baracke. Ein mit Koks gefüllter Schmelzofen wärmte den Raum und strömte einen starken Fabrikgeruch aus.
Ich fand meinen Vater immer still, selten heiter, oft kummervoll. Er war über sechzig Jahre alt. Seit fast vierzig Jahren arbeitete er in der Fabrik. Man hatte ihm schon die Medaille für dreißigjährige treue Dienste gegeben. Wenn er gar nicht mehr könnte, würde ihm das Werk eine Rente aussetzen; das waren damals zehn Sous am Tage, gerade genug, um sich einen Liter Wein oder ein Päckchen Tabak zu kaufen.
Oft genug hatte man ihn beglückwünscht, weil er ein kinderreicher Familienvater, ein treuer Arbeiter war. Er war ein guter Soldat gewesen, und er wunderte sich darüber, dass man ihn zur Belohnung für sein ehrbares Leben auf einen so harten Posten gestellt hatte. Die feinen Herren der Fabrik und der Republik schienen ihm nicht so anständig im Handeln zu sein wie im Reden. Manchmal fand ich meinen Vater nicht am gewohnten Arbeitsplatz. Ein Kollege sagte mir: „Er ist
am Carnot." Die Abteilungen des Werks trugen im allgemeinen Namen von Kolonien. Eine nannte man Tongking. Die Gusshitze brannte dort ebenso unbarmherzig wie die Sonne Indochinas.
Ich stieg über schmale Gleise. Dabei mied ich die von Pferden gezogenen Loren mit Koks und Erz und andere von kleinen Lokomotiven gezogene Züge mit flüssigem Gusseisen. Ich ging die riesenhafte Anlage der tosenden und zischenden Gaserzeuger entlang. Die Fabrik machte mir keine Angst.
Sobald ich die Carnot-Öfen erreicht hatte, stand ich vor einem Abwässerschacht. Ein Kollege meines Vaters zog an einem Tau große, mit grünem Schlamm gefüllte Kübel aus der Tiefe herauf, die einen erstickenden Geruch ausströmten. Laut, damit es mein Vater unten hörte, rief er: „Vater Navel, es ist bald Mittag, dein Kleiner ist da."
Mein Vater kam aber erst dann herauf, wenn die Sirene, von den Arbeitern „Großschnauze" genannt, ihren unheimlichen Schrei ausgestoßen hatte.
Von Schlamm bedeckt und bleich kam er aus seinem Loch heraus. Andere Kameraden folgten ihm. Sie sahen ähnlich aus. Er aß ohne Appetit und atmete schwer und fast zornig.
Wenn ich um vier Uhr aus der Schule kam und meine Mutter wieder sah, sagte ich zu ihr: „Der Vater arbeitet am Carnot." Wir waren betrübt, von Unruhe bedrückt. Wenn er um sieben Uhr noch nicht heimgekommen war, gingen wir ihm entgegen: meine Mutter, meine jüngste Schwester und ich, alle drei in der Erwartung des Unglücks. Entweder war der Vater tot — an den Carnot-Öfen waren Fälle von Erstickungen vorgekommen —, oder er war betrunken. Wenn er da herauskam, genügte ein Schoppen billigen Rotweins, um ihn zu beschwipsen.
Wir gingen die große Dorfstraße hinunter. Es war grauenvoll. Helene, meine jüngere Schwester, ein nervöses, mageres Mädchen, gab mir die Hand. Sie zitterte. Wenn der Vater taumelnd und singend herankam, weinten wir vor Scham. Er trank nur nach schwerer Arbeit. An einem Sonn- oder Feiertagsabend hörte ich ihn nie ungereimtes Zeug reden. Er trank mit Maß. Vom Ausruhen bekam er keinen Durst. An den plötzlichen Anfällen von Trunksucht der Metallarbeiter hatte die Erschöpfung durch die langen Arbeitstage ihren Anteil. Die Männer flößten mir Furcht ein.
Die schönste Zeit im Leben dieser Männer, die älter oder bald so alt wie mein Vater waren, war ihre Jugend gewesen, ihre Dienstzeit in der Armee. Alle Geschichten, die sie sich in der Kneipe erzählten, hatten sich während ihrer Soldatenzeit ereignet.
Wenn mein Vater seine Erschöpfung nicht durch ein Glas Wein aufgemuntert hatte, saß er schwer atmend und durch die Nase schnaufend zu Hause, presste die Kiefer fest aufeinander und trommelte mit den Fingern. Sein Manchesteranzug, seine Schnürstiefel, sein Schweiß rochen nach dem Staub der Gießerei. Ich fand ihn ein wenig unheimlich. Die Wut kochte in ihm. Seine Stimme war eher klagend als böse. Die Müdigkeit verbitterte ihn. Seine Söhne, die Fabrik, die Republik, alles hatte ihn enttäuscht.
Ich habe nie Hunger gehabt in meiner Jugend. Es gab immer reichlich zu essen. Wein war nur für den Vater da. Zu teuer, und wir hatten keinen Weinberg.
Wir hatten immer ein Schwein im Pökelfass. Ein zweites war zusammen mit den Hühnern und einigen Kaninchenfamilien im Stall. Trotzdem konnte meine Mutter die rückständige Miete und die Schulden bei der Krämerin nur mit Mühe und Not abzahlen. Seit der Heirat meiner großen Schwestern reichte der Lohn des Vaters, der seiner Arbeit regelmäßig nachging, nicht mehr aus, um die Haushaltskosten zu bestreiten. Sowie mein Vater seinen Zweiwochenlohn bekam, versuchte die Hausbesitzerin, eine Abschlagszahlung zu erhalten, solange meine Mutter noch über etwas Bargeld verfügte.
Mein Vater erhielt nie seinen ganzen Lohn ausgezahlt. Die Fabrik machte ihre Abzüge für die Anzahlungen, die er in kupfernen Marken erhalten hatte. Für dieses Werksgeld verkaufte uns der Betriebskonsum Kolonialwaren oder den groben Rotwein, den mein Vater nach der Arbeit in der Kantine trank.
Meine Mutter hätte einer bedürftigen Nachbarin schwerlich die kleine Summe geliehen, die damals einem halben Tagelohn entsprach — die Frauen des Dorfes waren untereinander sehr hilfsbereit —, aber einen Korb Möhren oder Kartoffeln oder ein Stück Speck konnte sie ihr geben. Wenn ich auch mit sieben Jahren das Wort Armut in seiner ganzen Bedeutung kannte, habe ich doch niemals erlebt, dass meine Mutter in der Klemme saß und sich den Kopf darüber zerbrach, wie sie Mann und Kinder sattkriegen könnte, so wie ich das bei manchen Frauen von Hilfsarbeitern gesehen hatte.
Mein Vater war verbittert, aber resigniert. Immer von neuem wiederholte er meinem Bruder Lucien, der mehrmals von zu Hause ausgerissen war, Nancy und Paris kennen gelernt hatte und mit achtzehn Jahren syndikalistischer Revolutionär geworden war: „Nie wird der irdene Topf den eisernen zerbrechen."
Aufgeputscht von ihren Frauen, die das ewige Geleier des Krämers und Bäckers satthatten — „Das ist das letzte Mal, dass ich anschreibe. Sie sind mir schon zu lange Geld schuldig" —, waren die Arbeiter eines Tages in den Streik getreten. In ihrer lebenslangen Unterwerfung war der Streik das historische Ereignis.
Von Nancy waren Dragoner gekommen und auf die Menge der sich wacker verteidigenden Frauen und Kinder losgegangen. Trotz ihrer Säbel hatten ein paar Reiter ins Gras beißen müssen. Man redete oft davon zu Hause. Wenn mein Vater mit über sechzig Jahren noch immer auf dem „Schutthaufen" und an den Carnot-Öfen arbeitete, so darum, weil er während des Streiks, wenn auch keiner von den Heftigsten, so doch auch kein „Gelber" gewesen war. — Ab und zu kam ein Arbeiter zu uns, der aus der Fabrik entlassen worden war. Er hatte die rote Fahne getragen. Weil das Werk ihn nicht mehr beschäftigen wollte, war er nach dem einzigen Streik, dem von 1905, Kaffeehändler geworden. In der Freude, mit der die Meinen ihn aufnahmen, schien bei jedem Besuch jener vergangene stolze Augenblick in ihnen wieder aufzuleben.
Mutter Marion, unsere Hausbesitzerin, war sehr alt, aber groß und aufrecht wie ein Husar. Sie kam ins Haus und setzte meiner Mutter mit ihren Geldforderungen zu. Ihr Mann, ein gebrochener Greis, ging gekrümmt umher, als wäre er beim Hacken auf seinem Weinberg. Es war, als hätte die alte Frau ihn ausgedörrt und bis zum Grab zur Arbeit verdammt.
Mit ihr schlich der Geiz über die Schwelle. Zunächst sprach sie vom Wetter. Das Aufeinandertreffen mit meiner Mutter glich dem Kampf zwischen Spinne und Fliege. Meine Mutter gab ihr eine Abschlagszahlung auf das rückständige Quartal. Unsere Schulden waren mein Alpdruck. Mit Unruhe hatten die Leute nach dem Drama von Sarajewo den Gang der Ereignisse verfolgt, die zum Kriege drängten.
Eines Abends gingen alle Männer bei Einbruch der Nacht zum Bürgermeisteramt. Ich drückte allen, die abfuhren, die Hand. Ich wurde nun bald zehn Jahre alt und wäre gern mit ihnen gegangen. Mit der fiebrigen Aufregung der Leute flutete eine mächtige Woge der Freundschaft durch das Dorf. Die Häuser rückten einander näher. Kaum sah ich noch meinen Bruder Lucien, der zum Abschiednehmen gekommen war und neben meinem Vater herging; dieser war glücklich, dass sich sein antimilitaristischer Sohn freiwillig gemeldet hatte.
Die großen Ferien hatten begonnen. Als ich am folgenden Tage vor unserer Tür Holz sägte und die alte Hausbesitzerin vorbeikam, rief ich voller Freude:
„Es ist Krieg! Jetzt wird nichts mehr bezahlt, morgen sind die Franzosen in Metz!"
Einen Monat später waren die Deutschen bei uns und aßen unsere Mirabellen. Oben auf den Feldern verfaulten die Getreidegarben, die schöne Ernte des Jahres 1914.
Meine Jugend war nicht unglücklich, ich hatte nie Hunger. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Vater und Mutter mich je geschlagen hätten. Wirklich gelitten habe ich nur unter der Schule, im Kindergarten und auch in der Volksschule. Wie alle bekam ich einige Ohrfeigen oder einmal eins mit dem Lineal auf die Finger, aber ohne Übertreibung. Diese Schläge prägten sich nicht in die Erinnerung ein und waren wirklich kein Grund, um in mir Hassgefühle gegen das ältliche Fräulein zurückzulassen, das den kleinen Kerlen das Abc beibrachte, und auch nicht gegen den Lehrer, der sich allein um eine Klasse von sechzig sieben- bis dreizehnjährigen Jungen zu kümmern hatte.
Ich habe in der Schule unter dem Eingesperrtsein gelitten, und ich habe nichts gelernt, weder Rechtschreibung, noch Grammatik, noch rechnen, nicht einmal, mich in den Pausen zu vergnügen, denn meistens bin ich im Schulhof herumgeschlichen, weil ich fast immer eine Strafe zu verbüßen hatte. Vergebens hat man mich geschlagen, damit ich ein guter Schüler werde, die Schule lieb gewinne und sie regelmäßig besuche, vergeblich auch hat man mich mit der Eselsmütze der Dummen geschreckt. Obwohl ich regelmäßig zur Schule ging, konnte ich doch mit zehn Jahren keinen Deut mehr als gerade etwas zusammenzählen, fließend lesen und schreiben, wobei ein paar große Buchstaben noch viel Mühe machten.
Aus den Büchern der Schulbibliothek, Jules Verne und Erckmann-Chatrian, die mir unser Lehrer, Herr Joly, auslieh, habe ich mehr gelernt als auf den Bänken seiner Klasse. Bei der Lektüre lernte ich wenigstens die Rechtschreibung und die Bedeutung der Worte — zwar unzureichend, aber doch besser, als wenn ich bis zum Abschlusszeugnis ein guter Schüler gewesen wäre. Um mir wenig beizubringen, hat man mich vergebens während der besten Stunden des Tages von der Welt abgeschnitten, in der ich mit meiner Mutter lebte: von den Feldern und Gärten, wo ich mich körperlich entwickeln konnte, und gab mir dafür eine andere Welt, in der ich mich auf einer Bank zusammengekauert langweilte.
Man raubte mir die Welt, in der meine Träume reizvollere Anregungen fanden als die, welche das Schönschreiben einer Seite mit E oder I bietet. Nichts ist mir geblieben von diesem unverdaulichen Futter, von den Geschichtsstunden, der Physik oder der Grammatik, selbst wenn ich mich bisweilen zur Aufmerksamkeit zwang, nichts von all den Worten, die ich vernahm und die doch nichts bedeuten, wenn sie nicht auf ein höheres Wissen hinführen, wenn sie der Herangewachsene nicht durch das Studium oder eine lang betriebene persönliche Weiterbildung vervollständigt. Und es wäre auch nichts in mir haften geblieben, wenn ich alles gelernt hätte, was Herr Joly sagte. Allerdings, wenn ich alles gelernt hätte, was er uns beibringen wollte, wenn ich, das Abgangszeugnis in der Tasche, mit einer guten Rechtschreibung und einer schönen Schrift seine Schule verlassen hätte, wäre ich in der Lage gewesen, mit dreizehn Jahren eine Laufbahn als Federfuchser in der Fabrik zu beginnen. Zum ersten Mal fällt mir das ein.
Ich will ja nicht bezweifeln, dass sie alle, die Lehrer, meine Eltern, die Gesellschaft, die Gendarmen und mein Schwager Camille, der mein Pate war, ihre guten Gründe hatten, wenn sie mir eine Tracht Prügel verabreichten, um mich zum besseren Schreiben zu ermutigen. Alle haben ihre guten Gründe, den Kindern etwas beizubringen. Jeder beliebige Beruf, den man
wählt, wird durch eine gute Ausbildung erleichtert, wenn diese auch oft den meisten Leuten zu nichts anderem nützt als dazu, die Namen von Laden- und Straßenschildern oder das, was in der Zeitung steht, zu lesen und bestenfalls das genaue Datum der Entdeckung Amerikas oder der Erfindung der Buchdruckerkunst anzugeben.
Diese Schule hat mich überaus gelangweilt und gepeinigt. Ich möchte über meinen ganzen kindlichen Groll, über die volle Frische meines kindlichen Leidens verfügen, um zu sagen, wie sehr ich gelitten habe. Wie alle Kinder hatte ich mehr Fragen zu untersuchen, mit mir abzumachen, mehr Probleme auch, als es deren im Grammatik-, Erdkunde- oder Rechenunterricht gab. Dass ich sie vergessen habe, ist am bedauerlichsten.
Es muss anerkannt werden, dass ich von all dem, was man mir beibringen wollte, immerhin ein bisschen lesen und schreiben gelernt habe. Das ist wenig für ein Jahr Kindergarten und drei Jahre Volksschule, wenig vor allem für so viel Kummer. Auf eine andere Weise hätte ich ebensoviel und mehr lernen können.
Sehr spät erst glaubte ich, eine Quelle des Glücks im Denken, Nachsinnen, Träumen, Überlegen zu entdecken — oder wie immer man diese Tätigkeit des Geistes, dieses schöpferische Schaffen, dieses Auf-sich-wirken-lassen des Lebens nennen mag, die ein jeder vollzieht, der für sich allein und still umhergeht. Meine Mutter war glücklich, wenn sie Löwenzahn suchte. Sie freute sich am Wald und an den Feldern und einfach daran, dass sie selbst da war. Was mir sehr spät und deutlich bewusst wurde, als ich im träumerischen Umherstreifen eine Glücksquelle entdeckte, das ahnte ich schon dunkel,
als ich das Schwänzen der Schule des Lehrers vorzog, die mich bilden wollte und unwillkürlich nur dazu beitrug, Quellen zu verschütten, die glücklich machen.
Ich bestreite nicht die Nützlichkeit des wenigen, das ich in der Schule gelernt habe. Aber mit mehr Glück habe ich mich spielend im Garten mit der Landarbeit vertraut gemacht. Mit neun Jahren konnte ich ganz ordentlich umgraben, und was ich dort gelernt habe, gestattete mir, meine Kartoffeln selbst anzubauen, als man in den Läden keine mehr bekam. Und noch andere Dinge lernte ich, die weder sichtbar noch messbar sind.
Herr Joly war ein sehr braver Mann, gefällig in seiner Eigenschaft als Gemeindeschreiber und gewissenhaft in seinem Lehramt, korpulent und beweglich, ehrwürdig wie ein Minister, mit guten Manieren und gepflegter Sprache. Seine Klasse mit ihren nahezu sechzig Schülern aller Jahrgänge war ein hartes Stück Arbeit. Sein Bart, seine Korpulenz sowie ein paar Linealhiebe hielten die Schüler in Zucht. Man ließ ihn mit so viel Kindern zweifellos nur deshalb allein, weil man höheren Ortes dem Schulwesen nicht allzu viel Bedeutung beimaß. Ich habe diese Schule verabscheut wie alle anderen Orte, in denen ich eingesperrt leben musste: Schule, Fabrik, Kaserne.
Ich habe mich immer satt gegessen. Oft genug bekam ich von einem meiner Brüder oder einer meiner Schwestern eine Tracht Prügel. Nichts, was eine Kindheit zeichnet. Man hatte mich gern. Am schwersten gelitten habe ich unter der Schule und in gewissen Augenblicken unter dem Gefühl unserer Armut: dass meine Mutter wegen ihrer Schulden in Sorge war, unter jenen dunklen und oft gerechtfertigten Ahnungen von dem, was das noch unbekannte Leben bringen kann, unter jenen lichten Augenblicken, die Kinder und Erwachsene haben können, und unter jener tiefen Düsterkeit, die der betrunken nach Hause kommende Vater in mir verursachte. Unglücklich aber bin ich nicht gewesen.
In Lyon wohnten wir in einer ehrbaren Straße am Rande eines anrüchigen Viertels. Fette Huren in schwarzer Schürze und hohen, gelben Stiefeln lauerten auf Araber, Schwarze, Annamiten, Chinesen, auf betrunkene Männer. Sie rackerten sich ab am Tage der Lohnzahlung, wenn die Rüstungsfabriken ihr Kolonialpersonal ausspieen. Geduldig standen die Farbigen vor den Absteigequartieren Schlange und warteten, bis sie an die Reihe kamen. Wenn mich die Neugier trieb, wagte ich mich auch einmal durch das Viertel, gab aber gut acht, dass ich nicht von der Mitte der Straße abwich und dass meine Blicke nicht die teuflisch angemalten Gesichter der Bordellmütter trafen. Etwas verängstigt ging ich hindurch und stillte so den Hunger nach Phantasiebildern und Erregungen, den Jungens nun einmal haben. Manchmal floss auch Blut, aber ich kam immer erst mit der Menschenmenge und der Polizei, nach den Axthieben und Messerstichen.
Aus Maidieres war ich mit einem Kindertransport evakuiert worden. Ich kam nach Algerien und war enttäuscht, weil ich dort weder Löwen, noch Wilde, noch Kokospalmen sah. Sobald ich erfuhr, dass meine Eltern in Lyon waren, ließ ich mich wieder heimschicken.
Bei der Ankunft holten mich meine Mutter und meine Schwester Helene am Bahnhof ab. Auf dem roten Samt der ersten Klasse sitzend, machten wir eine herrliche Straßenbahnfahrt. Über dem Entzücken, das mir der Lichterglanz der Straßen, der Läden bereitete, und über der ersten Berührung mit der Großstadt, in das sich das Glück über das Wiedersehen mit den Meinen mischte, versäumte ich nicht, die neue Lage genau zu untersuchen. Diese Fahrt auf roten Samtpolstern beunruhigte mich. Helene hatte mir geantwortet, es koste nicht viel, und wir seien nicht mehr so arm wie in Maidieres.
In unserer biederen Straße lebten wir in einem möblierten Hause, das hauptsächlich von Flüchtlingen aus dem Norden und Osten bewohnt war. Familien wie die unsrige waren in einem oder zwei Zimmern zusammengepfercht. Von der Straße aus gelangte man durch einen dunklen Flur in den Hof. Man stieg unter freiem Himmel eine Holztreppe hinauf, auf der immer Wäsche auf der Leine trocknete. Straßenhunde, Katzen, Müllkästen und die Senkgrube verpesteten den Korridor. Wenn die Grube überlief, schickte der Hausbesitzerverein seine Dampfpumpe, Schläuche und Kübel.
Die Hausbesitzerin, der die Miete Monat für Monat im voraus gezahlt wurde, lebte in gutem Einvernehmen mit uns. Es war eine brave rundliche Frau mit dicken Armen, einem Flaum unter der Nase und Haaren unter dem Kinn. Sie kehrte häufig den kleinen Hof, in den die Mieter zum Wasserholen hinunterstiegen. Im Erdgeschoß unterhielt sie einen Kramladen. Ihr Mann war Maurermeister, wie viele Söhne der Auvergne. Die ältere ihrer beiden Töchter küsste mich manchmal auf der Kellertreppe, wo es nach Katzenpipi, Kohle und fauligem Wintergemüse roch. Die nasse Wäsche tröpfelte uns auf den Kopf. Ich hielt mich nicht lange damit auf, der Spaß war mir schon verleidet, wenn ich daran dachte, dass Angele bald soviel Bart haben würde wie ihre Mutter. Ich war erst elf Jahre alt und noch weit entfernt von der verzehrenden Macht der Liebe.
Wir wohnten in einer verkommenen Mietskaserne, aber die Sorgfalt, mit der die Frauen aus Lille und Reims ihren Haushalt führten, gab ihrem Heim eine gewisse ländliche Ruhe. Ich vergaß rasch, dass wir möbliert wohnten.
Wir waren noch nicht alle beisammen in Lyon. Jeanne, eine meiner großen Schwestern, die nicht geheiratet hatte, lebte bei uns. Sie arbeitete in der Sprengstoffabteilung des Artillerieparks. Die Jüngste, Helene, war Lehrmädchen bei einer Putzmacherin. Mein Vater arbeitete in einer Brauerei. Die drei Löhne sicherten uns ein sorgenfreies Leben. Ohne Wehmut zog meine Mutter auf dem Markt die großen Scheine aus ihrer Geldbörse. Sie bummelte da mit so viel Freude einher wie früher auf dem Feld. Wie schön, dieser Überfluss, die frische Ware, die Erbsen, die grünen Bohnen, die Johannisbeeren! Wohl über einen Kilometer lang reihten sich auf den schattigen Rhoneufern die Stände mit Butter, Geflügel, Gemüse und Obst aneinander. Und das mitten im Krieg!
Wenn wir am Gitter der Präfektur vorüberkamen, las ich meiner Mutter vom schwarzen Brett am Portal mit lauter Stimme den Heeresbericht vor. Die Bäckersfrau unterhielt sich mit ihren Kunden; ihr Mann kämpfte vor Verdun. Wenn die Nachrichten ausblieben, suchten die Frauen sich gegenseitig zu beruhigen. Der Krieg würde nur noch drei Monate dauern und im Frühjahr mit der neuen Großoffensive zu Ende gehen. Noch jahrelang hörte man die gleiche Leier.
Der Krieg hatte uns entwurzelt. Trotzdem schien mir das Leben in Lyon heiterer als in Maidieres oder in Pont-à-Mousson. Ich spürte, dass wir nicht mehr so arm waren und freier, und dass mein Vater nicht mehr auf die Fabrik angewiesen war. Die Leute waren besser gekleidet als zu Hause. Es gab verhältnismäßig weniger Betrunkene, und die Sprache war nicht so rau. Unsere Straße mit den auf und ab spazierenden Soldaten in Horizontblau machte keinen traurigen Eindruck. Sie wurde oft von den städtischen Sprengwagen gereinigt und gespritzt. Kleine, rote Straßenbahnwagen fuhren vorüber und erfüllten die Luft mit Eisengerassel. In den Kurven stöhnten sie lange. Es war wie ein Klagelied, das die anderen Geräusche übertönte.
Wenn wir vom Markt heimgingen, kamen wir an einem großen Kolonialwarengeschäft vorbei. Vor den Auslagen notierten junge Leute in weißen Blusen, sauber wie Apotheker, die Bestellungen der schönen Bürgersfrauen. Seit den Dragonern der Vorkriegszeit hatte ich nichts so Vornehmes gesehen wie einen glattrasierten oder bärtigen Kolonialwaren-Verkäufer. Meine Mutter ging sehr selten in dieses Geschäft. Im Vorübergehen sog ich eine angenehm duftende Mischung von Lebkuchen und gutem Kaffee ein.
Ein paar Monate nach meiner Rückkehr war mein Bruder Rene aufgetaucht. Er kam aus einer Fabrik in den Vogesen. Meine Mutter hatte für uns beide ein kleines zusätzliches Zimmer gemietet. Groß und stark war er wiedergekommen, nur hatte er von einer Drüsenentzündung einen geschwollenen Hals. Er ließ sich operieren und behandeln, und unser kleines Zimmer roch stets nach dem Äther seiner Verbände. Sonntags morgens setzte er sich bei schönem Wetter in die Sonne und ließ durch ein Loch in einer Heftseite einen Sonnenstrahl auf seine "Wunde fallen, um ihre Vernarbung zu beschleunigen. Während er sich so kurierte, pfiff er außerordentlich schön vor sich hin.
Ein Jahr nach meiner Rückkehr trat ich aus eigenem Antrieb in die Werkstatt ein, in der er arbeitete. Die konfessionelle Schule, in die meine Mutter mich gebracht hatte, hatte ich nie gemocht. Die Unterrichtsstunden im Katechismus und in der biblischen Geschichte erdrückten die anderen Stoffgebiete. Zu viele Stunden brachte ich eingesperrt zu. Mit meinem Eintritt in eine Werkstatt lernte ich das Leben schneller kennen.
Rene entbeulte mit dem Klöppelhammer Stahlhelme, die von der Front kamen. Frauen lösten den ledernen Futtereinsatz heraus und reinigten ihn von Schweiß und Blut. Nach ein paar Pinselstrichen mit horizontblauer Farbe waren die Helme wieder nagelneu für die Rückkehr nach Verdun.
Ich war beim Verzinnen der Feldflaschen. Auch hierbei handelte es sich um die Wiederinstandsetzung gebrauchten Materials. Der dunkle Raum stank nach Säure. Die schönen Farben des Zinnbades waren eine Zerstreuung für mich. Der Verzinner reichte mir die Flaschen, und ich trocknete sie in einem Becken mit Sägespänen. Ich war noch nicht reif für die Härte, für die Grobheit der Erwachsenen. Der Gedanke an ein Leben in der Fabrik „für immer" begann mir Angst zu machen. Ich fragte mich, ob es noch weit sei bis zum Sterben, und ob man gezwungen sei, bis zum Ende durchzuhalten. In Algerien war mir das Leben schöner erschienen. Später würde ich dorthin zurückgehen, ich verzweifelte nicht.
Es war Winter. Die Straßen waren von Schneemassen verstopft, die man nicht mehr wegräumen konnte. Eis, Dreck und Schnee. Das Aussehen der Leute wurde elender. Morgens war es stockdunkel. Das war besser so. Man sah nur Lichter und weniger die Hässlichkeit der kleinen, von Ödland eingefassten Straßen. Mittags war es am trostlosesten. Eine neue Menschenrasse war aufgetaucht: die grüne Rasse der Melinitarbeiter und -arbeiterinnen. Das Leben der Erwachsenen begann, mich wirklich zu beunruhigen. Ich befragte Rene. Ich dachte an die Gefahr von Unglücksfällen in allen Berufen, an die Abstürze der Maurer, an die Sägewerke, in denen beinahe alle Arbeiter, die ich gesehen hatte, verstümmelte Hände hatten. Ich fragte Rene, welches der beste Beruf sei.
„Rentier", antwortete er mir.
Es war kurz vor dem Waffenstillstand von 1918. Während des Sommers hatte ich mit Maurern am Ufer eines Rhone-Kanals gearbeitet. Meine Mutter packte mir das Essen in einen Brotbeutel. Ich ging früh los, um spät am Abend zurückzukommen.
Von Müdigkeit überwältigt, schlief ich morgens und abends während der ganzen Fahrt und mittags im Schatten, sowie ich gegessen hatte. Sobald ich die Schaufel aus der Hand legte, verwandelte ich mich in ein Krokodil auf einer Sandbank. Ich hätte auch auf einem Steinhaufen geschlafen. Die Sonne brannte unbarmherzig. Nur während der elf Stunden Arbeit auf der Baustelle war ich munter. Ich wurde braun und fühlte mit Befriedigung, wie meine Kräfte anwuchsen. Ich hatte darauf bestanden und einen leichten Druck auf den alten Maurermeister ausgeübt, dass er mich auf der Baustelle zulasse. Ich hielt durch, aber nur mit knapper Not. Im Baufach verdiente ich soviel wie mein Vater, der in einer Brauerei Gerste rührte. Ich machte den Beton fertig und schleppte ihn Trog für Trog die Leiter hinauf. Die Muskeln wurden hart, aber die Seele blieb zu empfindlich für die Schimpfworte. Wenn ich meinem Maurer nicht schnell genug die Kelle, das Brett oder die Zwinge reichte, die er verlangt hatte, schnauzte er mich an, nicht zornig, aber mit gemeinen Schimpfworten. Wenn ich ihm brummend drohte, ich würde meinen Bruder holen, der ihn verhauen würde, war er überrascht. Ein junger Handlanger, der zwei Jahre älter war als ich und ziemlich stark für seine sechzehn Jahre, fiel über mich her und stieß mich in den Sand. Am Boden wehrte ich mich mit den Füßen. Er wollte zu oft seine Kraft zeigen. Von dem Maurer und diesem Hilfsarbeiter zur Verzweiflung getrieben, verließ ich eines Tages weinend die Baustelle.
Ich war in eine Werkstatt eingetreten. Um mich als Fünfzehnjährigen auszugeben, hatte ich in meinem Arbeitsbuch herumradiert. Man hatte mich angenommen. Am Schraubstock verputzte ich Gusseisenteile für den Kriegsbedarf. Wenn ich am Schraubstock meine Feilen handhabte, glaubte ich, auf dem Wege zu sein, das Handwerk des Mechanikers zu lernen. Auch hier hatte ich einen guten Lohn. Ich dachte nicht an die Schwierigkeiten, auf die junge Proleten stoßen, die ein Handwerk lernen müssen. Mein gesunder Menschenverstand und der Zufall allein leiteten mich. Ich war nicht aufsässig, hatte mich dem Arbeiterleben angepasst, war glücklich, weil ich stark wurde, glücklich, weil ich an Geschicklichkeit zunahm. Ein guter Arbeiter machte großen Eindruck auf mich. Die Reichen waren nur ein sagenhafter Begriff. Vielleicht hatte ich mal welche beim Vorbeigehen in den Cafes im Zentrum gesehen, in die unsereiner nie hineinging. Was ich vom bürgerlichen Leben wusste, kannte ich aus dem Kino, wo ich auch die „Drei Musketiere" gesehen hatte. Im wirklichen Leben imponierten mir als Wesen einer höheren Rasse die Herren mit der Melone, die kleinen Fabrikbesitzer, bei denen ich gearbeitet hatte, die Werkmeister mit Bluse und steifem Kragen. Sie sprachen und kleideten sich besser als wir; sie wussten alles, was in der Schule gelehrt wird. Ich hielt sie für Verwandte von Ministern, Generalen und jenen gebildeten Leuten, die die Welt regieren. Ich glaubte, dass es auf der Welt gerecht und anständig zuginge, und dass alles wahr sei, was die Zeitungen schreiben. 1917 hatte ich Umzüge von Streikenden mit Plakaten und roten Fahnen gesehen. Sie wollten den Frieden. Von dem Kampf der Generale mit den schwer auszusprechenden Namen in Russland verstand ich nichts.
Mein Bruder Lucien, dienstuntauglich erklärt, war zu uns zurückgekommen. Eines Abends ging ich mit ihm in eine Gewerkschafterversammlung, auf der sich eine Handvoll aktiver Mitglieder traf. Sie sprachen gut; sie waren herzlich, ohne Geringschätzung für den Lausbuben, der ich noch war. Nun begriff ich den Sinn des Streiks von 1917, der Meutereien in der Champagne und des Kampfes, der in Russland weiterging. Werkmeister und kleine Besitzer verloren an Ansehen. Der
Umgang mit den gewerkschaftlichen Kämpfern brachte mir auch den Glauben bei, dass nichts einen Menschen daran hindert, Mensch zu sein. Die Klasse kam mir nicht mehr wie eine Grenze vor, in der man abgesondert lebt. Niemals vorher hatten Arbeiter auf mich einen so tiefen Eindruck gemacht. Lucien antwortete mir auf meine Fragen, aber seine Antworten nahmen mir die Illusionen, in denen ich gelebt hatte, bevor ich mich ihm anschloss. Ich hatte geglaubt, dass alle Erwachsenen, auch die primitivsten, intelligent seien, und dass sie alle besser als ich wüssten, was sie in ihrem Leben zu tun hätten; der Köhler wüsste, warum er Köhler war, das Straßenmädchen, warum sie Hure wurde, der Arbeiter, warum er arbeitete, der Soldat, warum er kämpfte.
Ich hatte geglaubt, dass die Unwissenheit ein Vorrecht der Jugend sei, und dass alle Erwachsenen, sogar mein Vater, in einer Welt lebten, die klar vor ihren Augen lag. Um zu wissen, genüge ein bestimmtes Alter. Was schlecht war, war das Leben. Man musste auf den Fortschritt warten und hatte es eben bisher nicht besser machen können. Niemand war verantwortlich. Lucien ließ mich nun eine dunklere Welt sehen und stellte die Masse der Menschen als eine Masse gefügiger Toren dar, die kapitalistische Weltordnung, die bürgerliche Gesellschaft als eine gegen die Arbeiter verschworene Organisation. Der Krieg hatte kein anderes Ziel, als die Kanonenkönige Gewinne einheimsen zu lassen, die Armee war nur dazu da, die Arbeiter zu bändigen, die Presse zum Lügen und um die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zum Nutzen der Kapitalisten zu verewigen.
Bei der Arbeit wollte ich mich nicht als Sklave fühlen, als Soldat wollte ich nicht die Meinen verraten und mich Kanonenfutter nennen. In der Wirklichkeit der Welt, die Lucien mir enthüllte, konnte ich nicht mehr leben. Die Hässlichkeit der Straßen kam mir deutlicher zum Bewusstsein. Das Haus schien mir abstoßend. Wir hatten keine Dusche. Ich litt unter der Katzenwäsche, mit der ich mich begnügen musste. Ich hatte den Eindruck, einer Klasse anzugehören, die als Vieh angesehen wurde, die zusammengepfercht hauste und missachtet war. Ich hatte es eiliger als die Erwachsenen, mit denen Lucien verkehrte, als alle jene sympathischen Kämpfer, die übrigens von dem Leben ihrer Klasse keine so einfache Vorstellung hatten. Ich hatte genug von der Werkstatt und ihren Betriebsvorschriften. Ich wollte unverzüglich ein besseres und würdigeres Dasein: ein Leben, in dem ich nicht mehr Arbeiter sein würde, in einem Lande, in dem es nur weite Horizonte gäbe und keine Industrie, und ich beschloss, nach Algerien aufzubrechen, ohne die Revolution abzuwarten.
An der Seite eines älteren Gefährten landete ich eines Tages in Marseille. Wir hatten ein bisschen Geld, jeder seinen Lohn. Wir wollten als blinde Passagiere aufs Schiff gehen. Morgens waren wir angekommen. In einer Kaschemme am Alten Hafen hatten wir gefrühstückt und unsere Koffer abgestellt. Wir mussten nun ein Hotel suchen. Die Nacht brach an.
An jenem Abend kam ich ins Krankenhaus. Ich blieb dort zwei Monate. Beim Aufspringen auf eine Straßenbahn, in die mein Kamerad soeben gestiegen war, fiel ich hin. Ich glaubte, beide Beine seien futsch, aber ich hatte nur eine Fußquetschung und ein paar Abschürfungen. Ich wurde in eine Droschke geladen und kam
auf dem Operationstisch des Krankenhauses wieder zu mir. Ich hatte noch Zeit gefunden, meinem Kameraden meinen Geldbeutel zuzustecken: ich habe ihn nie wieder gesehen. Zwei Tage lang flossen meine Tränen unaufhörlich, weniger aus Schmerz als aus Kummer. Ich konnte nicht mehr nach Algerien fahren. Ich schrieb meinen ersten Reuebrief. Von zu Hause kam Antwort und dazu eine kleine Geldanweisung. Man hatte mir verziehen.
Ich war noch bettlägerig, als ich erfuhr, dass Waffenstillstand sei. Ich war in einem Saal zusammen mit sehr lustigen jungen Burschen. Einem jungen Fuhrmann hatte ein scheues Pferd das Bein gebrochen. Ein Lehrling war vom Gerüst gestürzt. Mit knapper Not war er einer Schädeloperation entgangen. Anderen hatte man die Beine amputiert. Am Abend gaben alle abwechselnd ein Lied zum besten. Ich weinte nicht mehr, ich gewöhnte mich an das Krankenhaus. Als ich aufstehen und auf einem Bein herumhumpeln konnte, kostete ich die Milde des Marseiller Winters aus. Dann befand ich mich eines Abends wieder daheim bei der Lampe, vor der dampfenden Suppe.
Nachdem der Waffenstillstand unterzeichnet war, hatten die Rüstungsbetriebe ihr Personal entlassen. Die Friedensindustrie nahm ihre Produktion nicht gleich wieder auf. Meine beiden großen Brüder arbeiteten zu sehr niedrigen Löhnen für die amerikanische Armee, die ihre Bestände in Ordnung bringen ließ, um sie vor dem Abzug zu verschleudern. Für meine Mutter war das eine schwere Zeit.
Jeden Abend ging ich mit Lucien los. Mit fünfundzwanzig Jahren hatte er — von Beruf Former — die Robustheit, die die Gießereiarbeiter brauchen; er war groß, kräftig und ein wenig gebeugt. Auf der Straße ging er nicht, sondern er raste, als stürze er einem Ereignis entgegen. Er sprach immer sehr laut, in jener ermüdenden Art, die Redner haben, und unterstrich die Worte, als stünde er vor einer Versammlung. Ich ging mit ihm zum Gewerkschaftsverband, zu den sozialistischen Versammlungen und zu den Diskussionsabenden der kleinen Anarchistengruppe. Überall redeten die Leute, auf die wir stießen, von der russischen Revolution. Wir gingen oft aus, jeden Abend. Um Mitternacht kamen wir heim und standen um sechs Uhr früh wieder auf. Dem Vater, der erheblich früher zu Bett ging, missfiel mein dauerndes Ausgehen. Der kurze Schlaf, die hastigen Mahlzeiten, die Diskussionen und das Lesen hielten mich in einem Fieberzustand. In den Versammlungen, bei den Demonstrationen drückte ich den Kameraden die Hand, soviel Hände wie möglich. Jeder Händedruck eine Gewissheit. Es war ein Winter ohne Trübsal, ich merkte nichts von der schlechten Jahreszeit. Unter meiner Windjacke zitterte ich einzig und allein vor Begeisterung.
Nach Russland hatte die Revolution auch Deutschland und Ungarn erreicht. Die Namen Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Lenin leuchteten vor mir auf. Der Muschik mit dem Messer zwischen den Zähnen war auf den Plakaten aufgetaucht. Die Presse trieb mit unklaren Worten ihr Spiel, so mit der Lautverwandtschaft zwischen Boche und Bolschewismus. Der Mann mit dem Messer zwischen den Zähnen stellte die ehrlichen Genossen dar, jene ergebenen Kämpfer, denen ich die Hand drückte — alle diejenigen, die durch die Hoffnung, eine bessere Gesellschaft zu errichten, verbunden waren.
Als ich nach meiner Flucht von Marseille zurückgekommen war, hatte ich gleich Arbeit gefunden. Ich wurde Laufbursche und zog einen Handwagen hinter mir her, um die kleinen Modesalons der Innenstadt mit Garn zu beliefern. Ich war immer froh, wenn ich herauskam. In der Werkstatt spulte ich Rollen mit Eisendraht auf eine Trommel um. Langeweile kannte ich nicht. Ich arbeitete mechanisch und dachte dabei unaufhörlich über die Probleme der zukünftigen Gesellschaft nach. In Marseille hatte ich meine alten Klamotten verloren. Eine Jacke von Rene und eine Hose von Lucien passten mir recht und schlecht. Wenn ich in die Werkstatt kam, stießen sich die beiden Arbeiterinnen mit den Ellbogen an und kicherten. Es war eine kleine, ganz ruhige Werkstatt. Der Chef, ein kleines, etwa fünfzigjähriges Onkelchen von schwächlicher Gesundheit, fleißig und erfinderisch, bastelte ständig herum. Es ging mir da nicht schlecht. Nach Arbeitsschluss versuchte ich, den beiden Arbeiterinnen, während sie unter einem Regenschirm auf die Straßenbahn warteten, meine Ideen einzutrichtern. Sie waren über Vierzig, die Hübschere hatte schöne dunkle Augen und hörte mir zu, ohne mich ernst zu nehmen. Ich gab mir Mühe, die Märchen des „Petit Parisien" zu widerlegen. Ich sah wohl, dass sie mich komisch und ein bisschen verrückt fanden. Von 1919 habe ich mich nie kuriert.
Mein Vater ging auf die Siebzig zu und arbeitete immer noch, aber in der Nähe unserer Wohnung, um die Unannehmlichkeit einer Straßenbahnfahrt oder die
Mühe des Fußweges zu vermeiden. Wenn ich durch die Straße ging, sah ich ihn in einer Gruppe rostfarbener alter Männer. Sie luden Bleche und gebündelte Eisenstäbe ab. Ich sah sie in einem großen Schuppen hin und her gehen. Lastwagen und Pferdefuhrwerke hielten vor dem großen Tor, um Material auf- oder abzuladen.
Ich war über fünfzehn. Seit mehr als drei Jahren machte ich als Hilfsarbeiter allerlei durcheinander. Ich wollte so bald als möglich ein Handwerk erlernen. Mein Vater sagte mir:
„Ich bin mein Leben lang Hilfsarbeiter gewesen, warum du nicht?"
Meine Mutter aber meinte: „Mir soll's recht sein, mein Junge, wenn du nur etwas verdienst."
Durch eine List gelang es mir, in die Lehre zu kommen, indem ich mich als Hilfsmechaniker ausgab. Rene und Lucien hatten — der eine um Kupferschmied, der andere um Former zu werden — einen Dreh gefunden, ohne eine ordnungsmäßige Lehre zu durchlaufen.
Wenn ich ein Handwerk lernte, musste ich mir dabei auch meinen Lebensunterhalt verdienen. Lucien hatte geheiratet. Rene, von der Nachtarbeit in den Rüstungsfabriken ausgelaugt, hatte in ein Sanatorium gehen müssen. Helene war nach wie vor zu schwach zum Arbeiten. Die Familie lebte also von den Löhnen eines alten Mannes, einer Frau und eines Lehrlings. Ich musste schon etwas verdienen.
Im allgemeinen waren die revolutionären Arbeiter, die von der Presse Rädelsführer genannt und dabei als Wahnwitzige oder Banditen dargestellt wurden, ausgezeichnete Fachkräfte. Sie gehörten zur Elite der Arbeiterschaft. In Lyon kannten sich alle untereinander.
Seit 1918, als mich mein Bruder in seinen kleinen Kreis von Gewerkschaftlern eingeführt hatte, stand ich mich gut mit einem, der älter war als ich. Er war ein Kamerad, ein Freund. Im Gewerkschaftshaus sprach er bei den Aninestiekundgebungen oder in den Streikversammlungen. Durch ihn kam ich in die Werkstatt, in der er Vorarbeiter war. Man setzte hier alte Drehbänke instand, mit denen früher Granaten gedreht worden waren; es war Material aus den Rüstungsfabriken, das der Staat abstieß. Es wurde in altmodischem Stil, mit handwerklichen Mitteln gearbeitet, fast ohne Maschinen. Ich lernte die Feile geradeführen. Bald war ich außer zum Fegen und zu Botengängen zu wirklichen Leistungen fähig. Nury fertigte sein Werkzeug an und überholte das abgenutzte Material. Schöne Stunden verbrachte ich beim Bedienen des Ventilators vor der Schmiede. Wenn es Not tat, arbeitete ich auch mit dem Schmiedehammer. Ich beobachtete die Bewegungen des Kollegen, der mich anlernte. Wenn das Stück Stahl auf Rotglut erhitzt war, ergriff er es mit der Zange und machte mit ein paar Hammerschlägen daraus einen Meißel oder einen Lochbohrer. Je nach dem Verwendungszweck härtete er es, wenn es „strohgelb" oder „taubenhalsfarbig" geworden war. Ich war stolz darauf, den blauen Lehrlingskittel zu tragen. Ein Jahr verging. Das Scheitern eines Generalstreiks war das Anzeichen für den Abstieg der Arbeiterbewegung nach den revolutionären Stürmen der Nachkriegszeit. Die fiebernde Erregung von 1919 lag weit zurück. Ich war niedergeschlagen. Zu früh war ich in das bewusste Leben eingetreten, ich hatte zuviel gelesen und war zuviel herumgekommen. Die dunkle und schlecht gelüftete Werkstatt bedrückte mich auch sehr. Am Schraubstock gab ich mich düsteren. Grübeleien hin. Ich war von Zweifeln gepackt. Ich vermochte nicht mehr an die mögliche Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft in eine anarchistische zu glauben. Wenn ich mir auch immer wieder sagte, dass die Kirche mit einer Handvoll Apostel angefangen hatte, so empfand ich doch schmerzlich die Schwäche der kleinen Gruppe, der ich nahe stand, und die Tatsache, dass die anarchistische Propaganda nur eine sehr kleine Anzahl von Menschen erreichte. Ich sah für die sterbende, bürgerliche Gesellschaft noch einen ganz schönen Lebensabend voraus. Aber lieber wollte ich sterben, als resigniert leben und die Existenz meines Vaters nachahmen.
Jetzt war ich wissend geworden.
An einem Märzabend, nachdem ich mir eine Stelle ausgesucht hatte, an der das Wasser tief genug zu sein schien, stieg ich entschlossen über die Brüstung einer Rhone-Brücke und sprang hinab. Die Kais, die schmale Brücke waren menschenleer. Niemand hatte mich gesehen. Ich sah noch die Nacht, die elektrischen Lampen. Aus der Traum ... Noch nicht ganz. Plötzlich war ich in einem Leben, das schneller vorüberzog als die mich fortreißende Strömung, Zeuge, Opfer und Gerichtshof zugleich. Es war nur ein Augenblick, in dem ich Maidieres noch einmal sah und mich des Mordes an dem Lehrling anklagte. Bis zum Bauch im Wasser stehend, kam ich wieder zu mir. Ich hätte bis zum Morgen auf die Feuerwehr warten können: Lieber riskierte ich es, sofort allein das Ufer zu erreichen.
Zwei Monate später, als ich die Werkstatt verlassen musste, gab es wenig Arbeit. Ich war zum Arbeitsnachweis gegangen. Bis ich meine Lehre fortsetzen konnte, nahm ich eine Stelle auf dem Lande an. Das Leben war wieder gut geworden. Ich war auf der Weide, hütete fünf Kühe. Alles machte mir Spaß. Ein deckelloser Strohhut, zu kurze Hosen und ein Paar gähnende Latschen hatten mich in eine Vogelscheuche verwandelt. Es war eine flache Landschaft mit Hecken und Pappeln rings um ein verschlafenes Dorf. Morgens nach dem Kaffee zog ich mit einer Schnitte Brot und Käse hinaus und trieb meine Kühe auf den Wegen zu einem entfernten Weideplatz vor mir her. Ein Hund half mit dabei. Wir blieben bis zu den heißen Stunden dort. Laut schreiend trieb ich die Herde zurück, belustigt durch die aus meiner Kehle dringenden Laute. Ich überließ mich ganz dem Leben, biss herzhaft in mein Brot, gab mich dem Glück der lauen Luft hin und war selig, wenn mich die Sonne bräunte. Die Luft roch würzig nach Lilien, Geißblatt und Pappeln. Die Tage waren sehr lang: Die wechselreichen Stunden lösten einander ab, und nichts ereignete sich. Ich wollte jetzt gern ein alter Mann werden, ein Bauer, der auf einer Steinbank sitzt und seine Pfeife raucht, wie der, dem ich abends begegnete, wenn ich meine Kühe heimtrieb, der Sonne zu, die die Ebene vergoldete und sogar den Staub schöner machte. Ich wollte gern jeden Tag zur gleichen Stunde am gleichen Ort sitzen in einem Leben, in dem ein Tag dem andern gleicht.
Ich hatte wieder in der Werkstatt unterkommen können. Rene war fast geheilt aus einem Sanatorium entlassen worden. Helene aber ging es nicht gut. Sie war ein hübsches Geschöpf, blieb aber zart und schwächlich. Mein Vater hatte jetzt ganz aufgehört zu arbeiten. Für die Möbeleinrichtung, die während des Krieges in Maidieres zerstört oder geplündert worden war, hatten wir eine Entschädigung bekommen. Mein Vater glaubte, von dieser kleinen Summe jahrelang leben zu können. Meine Mutter aber nahm von Zeit zu Zeit, wenn sie in Verlegenheit war, einen 100-Frank-Schein davon. Das Kapital nahm zwar nicht sehr rasch ab, aber es nahm ab. Mein Vater zeigte sich hierüber beunruhigt. Er hätte seinen kleinen Schatz gern gerettet. Wir waren nun schon alle groß, dennoch war es für meine Mutter hart, daran zu denken, dass sie uns auf Wunsch des Vaters bald verlassen würde, um mit ihm in Luneville bei meiner älteren Schwester zu leben.
Die Eltern ließen uns allein. Mein Vater zog es vor, bei seiner Tochter und seinen Enkeln zu leben. Er würde Kaninchen haben, einen Garten, ein Schwein und — so glaubte er — ein ruhiges und sorgloses Alter. Unser Widerspruchsgeist war ihm lästig. Er hatte die Ideen, die Lucien bei uns eingeführt hatte, nie geliebt.
Eines Tages zogen die Eltern fort. Helene nahm die Stelle der Mutter ein. Solange sie da war, erschien mir das Haus nicht allzu trostlos. Was von der Kinderschar übrig blieb, hatte weiter ein Nest. Ich war nun Geselle geworden und fing an, mehr Geld zu verdienen. Jeanne und Rene hatten Arbeit. Ich fuhr fort, mich mit Lektüre voll zu stopfen. Auf diese Weise lebte ich wie im Traum. Das mich umgebende Leben schien mir das wahre Leben noch nicht. Ich hatte den Glauben, nur in einem Provisorium eingesperrt zu sein. Ich hegte die Hoffnung, auf Reisen zu gehen, ein anderes, das wahre
Leben kennen zu lernen und die industrialisierten Länder zu verlassen. Inzwischen beschränkte sich das Leben auf die Sonn- und Feiertage, auf die Fahrten der anarchistischen Jugend. Jungen und Mädchen, Bruder und Schwester oder Kamerad zogen zusammen hinaus, den Rucksack auf dem Rücken, Sandalen an den Füßen, und erregten Neugier in der Öffentlichkeit. Zeltlager waren noch nicht zum allgemeinen Bedürfnis der städtischen Jugend geworden. Wenn wir im Freien umhergetollt und barfuss gewandert waren, wenn wir gespielt und die Waldluft geatmet hatten, was für eine Bitterkeit überfiel uns dann am Sonntagabend auf dem Heimweg in das gewöhnliche Alltagsleben!
Die jungen Mädchen, die ich dort traf, kannte ich allzu gut. Es waren Freundinnen von Helene, die selbst auch mit uns hinausging. Mochten sie auch sehr schön sein, ich hätte mich nicht in sie verlieben können. Sie hatten nichts Jungenhaftes an sich, weckten aber trotzdem in mir nur kameradschaftliche Gefühle. Ich schätzte sie sehr, aber sie waren mir zu vertraut, als dass ich auf ihren Körper neugierig gewesen wäre. Ich wartete auf die eine, mit der ich noch nie gesprochen haben dürfte, die ich zum ersten Mal sehen würde. Eines Tages kam sie und ging mit uns auf Fahrt. Sie war blond, schlank, ziemlich groß, ihr Gesicht mit den herben Zügen schien mir nicht aufregend schön. Ich schaute sie verstohlen an. Sofort liebte ich ihren anmutigen Gang, ihre Schultern, die Wölbung ihres Nackens, ihre straffen Brüste, ihre ein wenig raue Stimme und ihr unbändiges Wesen. Instinktiv vermied ich, mit ihr ins Gespräch zu kommen, was uns einander näher bringen und zu Kameraden machen könnte, einen dem anderen alltäglich.
Während der Woche dachte ich nur an sie. Sie ging wieder mit uns auf Fahrt. Wir zogen am Samstagabend hinaus und übernachteten im Freien, im Zelt oder Gezweig. Die Mädchen schliefen für sich, wo es am bequemsten war.
Den ganzen Tag über hatte ich keine Gelegenheit, mit Henriette allein zu sein. Ich war verzweifelt. Ich wollte nicht sprechen, sondern sie in meine Arme drücken; ich wünschte, dass sie von sich aus begriffe, dass ich mit ihr allein sein wollte. Wir spielten zu mehreren. Plötzlich lief sie weit weg, denn sie wusste, dass ich ihr folgte. Wir waren in ein Tal voller Bäume und Farnkraut gelangt. Dort fand ich sie unter Haselnusssträuchern verborgen. Ich setzte mich neben sie, die noch vom Laufen zitterte, in Erwartung des Augenblicks, da ich die Kraft aufbringen würde, dieses wunderbare Schweigen zu brechen und ihr zu sagen: „Ich liebe Sie", oder sie bei den Händen zu fassen. In der Ferne rief man nach uns. Sie antwortete nicht. Sie nahm einen langen Grashalm in den Mund; ich nahm das andere Ende und kaute langsam daran, bis wir Lippe an Lippe waren. Ich fühlte, wie mich ihre sanfte Wärme durchdrang, und in meinen Händen spürte ich die Wölbung ihrer biegsamen Hüften, entzückt von dieser ersten Berührung mit dem Weib. Ich Narr! Ich hatte einmal sterben wollen. Das Leben hält mehr, als es verspricht. Es machte mich überglücklich. Ich nahm Henriette in die Arme, ich küsste sie, ich sog ihren Atem ein, aufgewühlt, fiebrig — aber ohne Hast, das Liebesspiel weiterzutreiben.
Man rief uns. Wir waren zum Lagerplatz zurückgegangen. Helene sah mich forschend an. Ich gab mir Mühe, mein Glück zu verbergen. Ich hatte neben einem Kameraden unter einem kleinen Zweigdach geschlafen, das wir an einen Holzstoß angelehnt hatten. Am Morgen nieselte es. Henriette war aus ihrem Zelt gekommen, um unter unser zerbrechliches Zeltdach zu kriechen. Trotz eines Lodenmantels regnete es uns auf Rock und Knie. Der Wald roch gut in dem Regen, Henriettes Haar aber noch besser. Wir mussten uns trennen, uns in einem Bauernhof an ein Feuer setzen und uns trocknen. Ich hatte keine Eile, sie zu besitzen, trotz des Aufruhrs in meinem Blut. Ich fürchtete, sie durch meine Überstürzung zu erschrecken; ich war aber auch ängstlich, zu schnell bei dem Liebesspiel anzugelangen, das mir von einem ersten Kontakt mit der Prostitution als etwas Abstoßendes in Erinnerung war.
Bei der nächsten Fahrt schmollte Henriette und wich meiner Annäherung aus. Ich habe nie erfahren, warum. Vielleicht hatte man ihr weisgemacht, ich sei schwindsüchtig, wie Rene oder Helene, die auf unsere Ausflüge mitkamen. Ich dachte nicht daran. Sie mied mich. Ich war todunglücklich, ich hätte sterben mögen.
Ich arbeitete in einer dunklen und stinkigen Werkstatt. Eine gute Stelle. Ich verdiente gut. Es war leichte Arbeit: Ich gab das notwendige Werkzeug gegen Marken an die Arbeitskameraden aus. Am Schleifstein schärfte ich die Werkzeuge, und um meine Hand nicht der Feile zu entwöhnen, richtete ich mir ein paar Winkeleisen zu, kleines Gerät, das ich brauchen würde. Es war Sommer. Die Stadt war schweflig und voll Ruß, die Luft stählern, die Hitze bleiern. Am Schraubstock würgte ich an meinem Kummer, wie ein Schlafwandler in meine Träumereien versunken. Stur richtete ich mir meine Winkeleisen zurecht und sagte mir immer wieder: „Ich muss sterben." Der Körper ist nicht so töricht wie der Geist: Meine Hände waren weiter in meinem Leben tätig, das mich nicht mehr trug.
Rene arbeitete auf dem Land. Helene war zur Erholung in den Süden gefahren. Das Nest wurde leer. An meinem kleinen Tisch, in meinem kleinen Zimmer, dessen Fenster auf einen kleinen übel riechenden Hof hinausging, mit einem Ausblick auf die schwarzen Dächer, schrieb ich Briefe an Henriette. Straße, Werkstatt, Nachttisch und eisernes Bett: alles passte harmonisch zu meinem Weltschmerz. Ich war achtzehn Jahre alt. Das ist das philosophische Alter. Man verlangt nach dem Sinn des Lebens. Ich hatte an die Heiligen geglaubt, an den lieben Gott und die Jungfrau Maria, an die Revolution, den Anarchismus und an einen Weltplan, den der „Fortschritt der Menschheit" einhält. Jetzt wurde ich Nihilist, düsteren Gedanken ausgesetzt, und ich erhob mich bis zu den philosophischen Höhen des Weltschmerzes, hartnäckig vor mein Nichts gestellt, weil ein kleines Mädchen mir zu schnell ihre Liebe entzogen hatte.
Ich kam mir widerlich, hässlich, abgespannt vor. Nach der Dusche in der öffentlichen Badeanstalt schien mir mein Körper nur noch ein Sack aus elender Haut, der ekelhafte Funktionen verhüllte. Und dieses Scheusal wollte geliebt sein. Auch bei den Kröten gibt es die Liebe. Ich sah mich in der Gestalt eines ameisengroßen Männchens auf einem Erdball, der kaum größer als eine Kokosnuss war: Es zeigte sich entzückt, bewunderte Erhöhungen und Tiefen darauf, jede Falte und den Wuchs der Vegetation — ein kleiner Mann, zum Leben in der Illusion verurteilt, grotesk, dazu verdammt, alles schöner zu sehen, was um ihn ist, damit er seine unsinnige Gegenwart ertragen kann. Ein sinnloses Leben.
Aus dem Leben scheiden, das ist ein ernster Schritt. Ich wollte nachdenken und nur solchen Gründen nachgeben, die außerhalb meines Kummers herangereift waren. Allen Ernstes wollte ich die Sachlage untersuchen. Wo aber die notwendige Konzentration finden? Vor Angst schwitzend, hatte ich nur noch flatterige, flüchtige Gedanken. Niemals war ich so empfindlich für die Scheußlichkeit des Stadtbildes, für das Trostlose der kleinen Fabrikstraßen.
Wenn ich Hirt wäre, so träumte ich, würde meine Zeit ruhig dahinfließen, mein Denken wäre weniger zerrissen. In Algier wollte ich es sein. Ich hatte ein Ziel, ich war geheilt.
In Marseille durchdrang mich die tönende Stimme des Dampfers, die machtvoll und weit, aber auch traurig verhallte — wie das Gebrüll einer Kuh, die ihr Junges verloren hat. Meine Zwischendeckkarte in der Tasche, einen Koffer zu meinen Füßen, erfüllte mich jene unbestimmte Melancholie des Auswanderers, der ohne Gefährten nach Amerika fährt. Das Reisen wühlte mich auf. Eine süße Schwermut war es, von Erinnerungen voll. Ich würde die braven Siedler wieder sehen, die mich als Flüchtling aufgenommen hatten, meine Lehrerin mit den schönen dunklen Augen, die Schulkameraden und in Yusuf den Kranz der Maulbeerbäume, die blauen Hügel und die weite, sonnenglühende Ebene. In allen Lebensaltern sind wir voll wichtiger Erinnerungen, die wir unterwegs wieder verlieren. Die Nacht war angebrochen. Der Mond erhellte das Schiff, das verlassene Deck, schön wie ein Gespensterschiff mit seinen Masten, kam mir wie das weiße Skelett eines großen Vogels vor. Als Zwischendeckpassagier hatte ich mich auf meinen Koffer gesetzt, um so die Nacht zu verbringen.
Sturzwellen spülten herauf. Ich fühlte mich nicht wohl und gab mir Mühe, gleichmütig und ruhig zu bleiben. Ich war glücklich wie ein afrikanischer Soldat, der aus Frankreich zurückkommt und nun eines Morgens die Düfte der algerischen Erde tief in sich einatmet.
In Yusuf erfuhr ich, dass die arabischen Hirten nur ein Stück Brot und eine Handvoll Feigen verdienten. Das Jahr hatte Dürre gebracht, die Eingeborenen litten Hunger. Posten, in ihren Burnus gekauert, standen Wache, um die Ihren, die hungernden Beduinen, daran zu hindern, den Siedlern bei Nacht Hühner oder Schafe zu stehlen.
Ich wurde kein Hirt. Mit der Bimmelbahn fuhr ich nach Bone zurück. Ich wurde in einer Reparaturwerkstatt für Waggons und Loren eingestellt. Der Arbeitstag hatte zehn Stunden. Mein Meister ließ mich in einer Pension zu mäßigen Preisen unterbringen. Schlafsaal mit Abtrittkübel, und bei Nacht machten die Pensionsgäste im Hemd und bei Kerzenlicht Jagd auf Wanzen. Andere hatten es aufgegeben. Wenn ich beim Essen zufällig mit der Hand unter den Tisch fuhr, stieß ich auf vertrocknete Käsekrusten, die andere vom Messer gewischt hatten.
Ich musste sehen, anderswo unterzukommen. Aber schon die nächstbessere Pension verschlang mehr als meinen Lohn. Ich konnte nicht bleiben. Damals, mit zehn Jahren, hatte ich nur die Landschaft, die Eukalyptusbäume, den Oleander und die Sonne gesehen. Ich war an dem Elend der Araber vorbeigegangen, ohne es zu
ahnen. Jetzt sah ich im Hafen die Eingeborenen aus den Bergen in Lumpen gehüllt Phosphatschiffe beladen. Sie lebten auf ihrem Arbeitsplatz, Eingeweide und Hammelköpfe waren ihre Nahrung. Ich wusste, was sie verdienten: Nichts — oder so gut wie nichts für einen Franzosen. Von der Werkstatt aus sah ich den Strand, das weite Meer, sah die Wellen herankommen und die Brandung. In den sonnigen Ländern ist es noch härter, eingesperrt zu sein.
Bald kehrte ich nach Frankreich zurück.
Ich hatte nicht nur das Elend der Eingeborenen gesehen, sondern auch die Schönheit der arabischen Welt, die rassigen Musiker in den maurischen Cafes, die hoheitsvollen Kaufleute des Mohab, schön wie Kaids, edel wie Prinzen, ruhig wie Löwen. Man könnte meinen, sie seien im Besitz aller Weisheit der Welt. Ihre geringsten Bewegungen sind von äußerster Vornehmheit, ob sie den Kif rauchen, Tee trinken oder einen Freund empfangen. Sie sind der Inbegriff verklärter Ausgeglichenheit.
Wieder in Lyon angelangt, trat ich in die Berlietwerke zu Venissieux ein. Nach den kleinen Reparaturwerkstätten war dies meine erste Bekanntschaft mit dem Großbetrieb.
Die großen Maschinenbaufabriken, in denen die mechanischen Vorrichtungen den Einsatz einer Menge rasch geschulter und spezialisierter Arbeitskräfte zulässt, haben immer Bedarf an gelernten Fachleuten. Wenn eine Masse von Menschen zu Automaten der Arbeit am laufenden Band geworden ist, muss eine Minderheit von Maschinenspezialisten und Werkzeugschlossern unablässig ihr Leistungsniveau zu steigern suchen, um den Anforderungen des modernen Arbeitsverfahrens zu genügen. Meine Lehrzeit in der veralteten Werkstatt hatte mich nicht mit dem Umgang der Maschine vertraut gemacht. Das war meine schwache Seite. Dafür fand ich aber in der Werkzeugschlosserei, wo man mich nach einer Probearbeit eingestellt hatte, gute Kameraden, die bereit waren, mir im Notfalle zu helfen. Zur reinen Handarbeit taugte ich besser; mit Feile und Metallsäge arbeitete ich leichter als an Maschinen, die mehr Aufmerksamkeit verlangen. Sie waren mir ein wenig unheimlich. Ich fand keinen rechten Geschmack an der Mechanik; nur in ihrem handwerklichen Teil behagte sie mir. Es gelang mir beim besten Willen nicht, mich genügend auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Ich träumte zu viel. Ich hätte mir zuerst einmal alle Gedanken aus dem Kopf schlagen müssen.
Mein Vorarbeiter war geduldig und väterlich wohlwollend, aber ein wenig kühl. Ich hätte mehr Sympathie gebraucht. An Gewandtheit fehlte es mir nicht, sondern an Aufmerksamkeit. Und so musste ich mich oft vor ihm wegen einer schlecht ausgeführten Arbeit schämen.
Um nicht Hilfsarbeiter zu bleiben, hatte ich aufs Geratewohl ein Handwerk gewählt, für das ich vielleicht nicht die notwendigen Fähigkeiten besaß, vor allem aber hatte ich nicht von der Pike auf gelernt.
Es war eine schöne Fabrik, erst vor kurzem errichtet und gut durchdacht. Sie hatte den Ruf, ein Zuchthaus zu sein. Das stimmte so ziemlich, wenn man von der noch bevorzugten Stellung der Werkzeugmechaniker absah. Vor allem wegen der Rationalisierung. Die Fräser, Bohrer, gelernten Dreher oder qualifizierten Hilfsarbeiter — alle, die man Roboter nennen kann und deren Serienarbeit von trostloser Eintönigkeit ist — mussten ihr Letztes hergeben, um die ihnen als Normalproduktion vorgeschriebene Stückzahl fertig zu stellen. Ihre ganze Arbeit wurde mit der Stoppuhr gemessen. Zeitabnehmer und Vorarbeiter kämpften gegen den Arbeiter. Während der Zeitabnehmer mit der Uhr in der Hand ihn bei der Arbeit beobachtete, schien er loyal die Zeit zu messen, die zur Bearbeitung eines Stückes notwendig war. Danach setzte er die für die ganze Serie gültige Zeit fest. Waren die Handgriffe eines Arbeiters verkehrt oder zu langsam, musste ihm der Vorarbeiter die Sache beibringen. Die Stückzeit des Vorarbeiters oder des geschicktesten, des routiniertesten Arbeiters galt als Grundlage. Es war die Anwendung des wohlbekannten Taylor-Systems. Unmenschlich und unsinnig würde es, auf den Sport angewandt, vom ersten besten verlangen, dass er beim Springen, beim Schwimmen oder Diskuswerfen die Meisterschaftsrekorde erreicht. Dies war es zunächst, was dem Betrieb den Ruf eines Zuchthauses eingebracht hatte; dann die übertrieben hohe Zahl von Antreibern mit Dienstmützen, die unablässig durchs Werk streiften und sogar die Türen der Klosette aufstießen oder einen Blick über die Verschläge warfen, um sich zu vergewissern, dass die dort hockenden Arbeiter nicht gerade rauchten. Das war strengstens verboten, sogar da, wo keine Feuersgefahr bestand.
Die Fabrik war weiträumig: eine Reihe großer, heller Hallen mit breiten Gängen, die großstädtischen Verkehrsadern ähnelten. Das Innere der Hallen war in seinen Dimensionen mit der Höhe und Leichtigkeit der Stahlkonstruktion nicht ohne Schönheit. Dämpfe stiegen empor. Wenn die Sonne eindrang, spielte sie auf dem verschieden getönten Blau der Arbeitskleider. Der Maschinenlärm wirkte nicht allzu betäubend. Mit etwas Phantasie hätte man ihn vielleicht gar wie Musik empfinden können.
Was traurig war, das war diese Trostlosigkeit, die scheinbar zwangsläufig der Großindustrie anhaftet. Traurig waren am frühen Morgen diese dichten Arbeiterkolonnen auf dem Wege zum Werk, seine Mauern entlang, zum Tor hin. Traurig im Regen. Das Wasser rieselt auf Mäntel und Schirme; die zahllosen Füße, im Dreck watend, riechen nach Zeitungspapier; diese Masse ist ebenso traurig wie die Kriminalrubrik, die sie eben gelesen hat. Traurig auch bei schönem Wetter, weil sie sich nun einsperren muss. Traurig im Winter, weil es dunkel ist, wenn sie morgens in die Fabrik kommt, und dunkel, wenn sie abends herausströmt. Traurig im Sommer, in einer Vorstadtfabrik eingesperrt zu sein, die ans flache Land grenzt. Im Frühzug, den man nehmen musste, roch es nach Kippen, Schnaps, Milchkaffee und feuchten Schuhen. Im Dunkel des Abteils holte ich, von erstarrten Schatten umgeben, noch ein wenig Schlaf nach. Der Zug rollte durch die Vorstadt mit ihren chemischen Fabriken. Dann und wann war es schön, wenn der Zug an den grell erleuchteten Fenstern einer Gießerei vorbeifuhr.
In der Fabrik sah ich oft einen ergrauten, hageren und gebeugten Mann mit Mütze und langem grauem Kittel eiligen Schrittes vorbeigehen; mit seinem herabhängenden Schnurrbart glich er einem alten, emsig betriebsamen Eisenwarenhändler. Er blieb stehen und verhandelte mit dem Werkmeister über die Herstellung eines Stückes, das er in der Hand hielt. Man fühlte, dass er es eilig hatte, weiterzurasen. Mein Kamerad hatte mich mit dem Ellenbogen angestoßen und ihn mir gezeigt:
„Schau, das ist Berliet."
Es war einer der beiden Brüder. Ich weiß nicht mehr, welcher.
Lieber sah ich, mitten durch die „Werkstatt" — einen rechteckigen, von der übrigen Halle durch eine Gitterwand abgesonderten Raum — den Meister der Werkzeugschlosserei in grauem Kittel auf seinen schmerzenden Füßen einhergewatschelt kommen. Die Kollegen nannten ihn „Bouboule", weil er klein, rund und beleibt war. Er war ein gutmütiger Dicker.
Die Arbeit in der Werkzeugschlosserei war nicht taylorisiert. Sie war vielseitig, abwechslungsreich. Mehr als auf die Herstellungszeit musste man auf die Qualität der Ausführung achten. Montagen, Schablonen und Muster waren ihrerseits für die Qualität der ganzen Serie ausschlaggebend.
Bouboule wusste, was er von jedem Kollegen und von den Besten unter ihnen erwarten konnte, und wem er, als dem Tüchtigsten unter den Tüchtigen, eine besonders schwierige oder knifflige Arbeit anvertrauen konnte. Zwischen ihm und den Kollegen bestand ein kameradschaftliches Verhältnis, das auf gegenseitiger Gewöhnung und beruflicher Achtung beruhte. Es kam selten vor, dass ein Kollege von der Werkzeugschlosserei kündigte und sich anderswo einstellen ließ.
Ich hatte einen Dreher zum Freund, den Bouboule und alle Kollegen sehr schätzten. Er hatte mich in den Betrieb gebracht. Erst sechsundzwanzig Jahre war er alt, schien aber älter. Er war kräftig, hatte ein ernstes Gesicht und eine männliche Stimme mit dem harten Akzent der Kumpels von der Loire. Seine Erscheinung und seine Leistungen bei der Arbeit nahmen für ihn ein. Der Metallarbeiterverband war zum Schatten einer Gewerkschaft geworden, aber gewisse Kollegen wussten, dass mein Freund Vacheron im Leben der Gewerkschaft und im Betriebsrat während der letzten großen Streiks vor einigen Jahren eine aktive Rolle gespielt hatte. Das war für sie ein Grund mehr, ihn zu schätzen. Weil ich sein Freund war, hatte man mich mit größerer Sympathie in der Werkstatt aufgenommen. Vacheron war ein Mann, während ich noch ein grüner Junge war. Er wurde mein Berater. Ich bewunderte sehr, wie er unser Leben, das mir so düster, so automatenhaft vorkam, ertragen konnte, ohne abgestumpft oder verzweifelt zu sein. Es war Winter. Die ganze Jahreszeit über würde ich unglücklich sein. Vacheron besaß eine seelische Kraft, die ich nie erreichen würde. Ich war nicht stark genug, um allein zu leben. Die Enttäuschung mit Henriette hatte bei mir Spuren hinterlassen. Ich fand mein Gleichgewicht nicht wieder. An manchem Morgen, wenn der Wecker läutete, stand ich nicht auf. Meine Wirtin, die eine große Tasse Milchkaffee vorbereitet hatte, beunruhigte sich und klopfte an meine Tür. Ich erwiderte irgend etwas, blieb in meinem Halbschlummer liegen und zauberte mir irgendwelche Landschaften vor. Was ich auch dagegen unternahm, nach einem Monat geregelten Lebens nagte die Traurigkeit von neuem an mir. Ich langweilte mich so, dass ich sterben wollte. Ich war entschlossen. Als ich aber mein Todesurteil unterzeichnet hatte, ging ich nicht zur Arbeit — und schon war ich gesund. Wenn ich zwei oder drei Tage lang meine geistigen Kräfte durch Lesen oder Spazierengehen aus ihrer Erstarrung befreit hatte, war ich von neuem arbeitsfähig, frisch und munter. Dann konnte ich wieder zur Fabrik gehen, der ich für immer entflohen zu sein glaubte.
Bouboule machte mir niemals Schwierigkeiten. Jedes Mal kam ich zurück und dachte, ich würde entlassen werden. Er nahm mein Bummeln hin. Ich wollte nicht lügen, aber es war zu schwer, die Wahrheit zu erklären. Auf seine Frage: „Warum bist du nicht gekommen?" antwortete ich ein wenig verwirrt und allgemein: „Es ging nicht."
Das stimmte genau. Wenn ich schlapp machte, tat ich es nie zum Vergnügen, sondern weil ich am Ende war mit meinem nutzlosen Widerstand gegen das Übel, das an mir nagte: das Übel der schwierigen Jugend. Viele jungen Leute scheinen darum herumzukommen. Meine erwachsenen Bekannten schienen es nicht gekannt zu haben. Mit ihnen konnte ich mich nicht aussprechen. Die Medizin hat einen Begriff dafür: Neurasthenie, die Umgangssprache einen anderen: Weltschmerz. Beide sind sehr verschwommen. Der eine ist dem anderen ähnlich, der letztere wiegt nicht so schwer. Es ist ein vorübergehender Zustand. Wenn ein Mann in den Kolonien das heulende Elend bekommt, trinkt er einen, kommt todbesoffen heim und ist am anderen Tage kuriert. Anderen genügt es, ins Kino zu gehen und einen Film zu sehen, der sie auf andere Gedanken bringt und ihrer Phantasie Nahrung gibt.
Mein Elend schleppte ich lange mit mir herum. Wenn ich schlapp machte, war ich am Ende und wollte sterben. Ich hatte die Fabrikmauern zu lange gesehen. Jeder Tag erneuerte die gleichen Qualen. Nicht mit meinem Schweiß bezahlte ich das Brot, das ich aß, sondern mit Traurigkeit und Langeweile. Mehr noch als in der Schule litt ich in der Fabrik darunter, eingesperrt zu sein.
Das Stück Brot, den Teller Linsen oder Bohnen, die ich in der Werksküche aß, meine Kleider, mein Zimmer, das alles bezahlte ich mit der Freiheit. Was für ein graues Leben! Jeden Tag das gleiche. Der Frühzug, beim Aussteigen das Wogen der Rücken im Dämmerlicht, immer derselbe Geruch im Umkleideraum, ein wenig muffig, nach nassen Handtüchern, schwarzer Seife und Arbeitskitteln, das gleiche Geräusch der kleinen eisernen Türen, wenn die Kollegen ihr Spind wieder zuschlossen. Die ausgemergelte Gestalt des alten Hilfsarbeiters, der ausfegte. Die Halle, der Schraubstock, die Schublade, ein mechanisch getauschter Händedruck: „Tag, wie geht's?" — „Danke, gut." Die Motoren laufen an. Man ist im gleichen Tageslauf wie gestern und morgen. Ich winkte den Kumpels von der Lehrenabteilung, die durch ein Gitter abgesondert war, einen Gruß hinüber. Sie alle waren Feinmechaniker und rieben das Metall und die Lehren aus gehärtetem Stahl mit einem kleinen Stein, den sie in Petroleum tauchten, wenn er Schmutz angesetzt hatte. Ihre Hände machten nur eine winzige Radierbewegung. Ihre Arbeit verlangte äußerste Präzision. Die Lehren waren für die Dreher und Nachschleifer bestimmt, die mit ihnen die serienweise hergestellten Stücke kontrollierten.
Auch ich würde später hinter diesem Gitter stehen und ihnen gleichen, wie sie einander glichen, große und kleine. Alle Gesichter waren intelligent, aber die Körper waren leblos und durch die schlaffe Arbeit aufgeschwemmt. Sie schienen gesund, aber traurig. Die Dicken hatten einen Bauch, die Wangen der Mageren waren von dem gleichen fahlen Fett gedunsen. In allen ihren Bewegungen — denn seit langem forderte die Arbeit keine Anspannung von ihnen — lag etwas Verdrießliches, aber ein hingenommener, ein überwundener Verdruss. Keiner von ihnen hatte Lust, Erdarbeiter zu werden, um seinen Körper neu zu beleben.
Ich sah es ihnen an. Im gewöhnlichen Leben ist man mit Zutraulichkeiten zurückhaltend. Wer redet über sein Leben? Niemand. Man sagt: „Es geht gut", selbst wenn es nicht gut geht. „Es geht gut" kommt nach „Guten Tag". Ich sah ziemlich oft zu den Leuten von der Lehrenabteilung hinüber: Der eine oder andere erwiderte meinen Blick mit einem Lächeln der Sympathie. Ohne es zu wollen, lächelte man sich so zwanzig- oder fünfzigmal am Tage an, ganz flüchtig, mitten im Schaffen.
Im Laufe des Vormittags aßen die Kollegen verstohlen einen Bissen, den sie aus der Schublade nahmen, ohne die Arbeit zu unterbrechen. Dazu tranken sie einen Schluck Wein. Der Rauchsüchtige ging zu den Aborten, drehte sich dort eine Zigarette und las die Lokalnachrichten in seiner Zeitung, um Gedanken zu finden, mit denen er sich beschäftigen könnte.
Ich konnte mich nicht so leicht mit dem Stumpfsinn
abfinden. Im allgemeinen waren die Arbeiter der Werkzeugmacherei, ausgenommen die von der Lehrenabteilung, einigermaßen durch das wechselnde Interesse ihrer Aufgabe in Anspruch genommen; aber auch sie brauchten die heimliche Zigarette, die Lektüre ihrer Zeitung und ein paar Minuten Unterhaltung auf dem Abort.
In der Glashalle hörte man den Lärm der Fabrik nicht so stark. Ohne es zu merken, kam man dort wieder zu sich nach dem betäubenden Surren. Der Lärm macht trunken und stumpfsinnig; ganz dem äußeren Leben ausgeliefert, ohne sich selbst und ohne die Hilfe seiner Träume kann der Mensch nicht leben. Außerdem ist er auch ein Tier, er muss herumgehen, muss sich von Zeit zu Zeit von dem reglosen Stillstehen vor Schraubstock oder Maschine befreien, muss die Beine bewegen, den Klang seiner eigenen Stimme oder der eines anderen hören, muss sprechen, selbst wenn er nichts zu sagen hat; aber er muss das Spinngewebe seines eigenen Schweigens zerreißen.
Die gebräuchlichen Hilfsmittel befreiten mich nicht, im Gegenteil: Ich hätte rauchen sollen wie alle. Gewisse Gifte braucht man im zivilisierten Leben. Ich war Nichtraucher. Ich hätte Wein trinken oder ein Beefsteak essen sollen. Aber ich war Vegetarier und trank nur Wasser wie mein Freund Vacheron. Ihn hinderte das aber nicht, sich in der Fabrik wohlzufühlen.
Sogar Vacheron konnte ich mich nicht anvertrauen. Zu sagen, was mit mir los war, schien mir zu schwierig, mir selbst zu verwirrt. Schlimmstenfalls hätte ich sagen können: „Das Leben ist mir zu dreckig, ich habe keine Lust zu leben." Ich bewunderte ihn, weil er sich immer gleich blieb, weil er durch und durch anständig war und kein Schwätzer, eher ernst als heiter. Wenn ich einmal nicht in der Fabrik gewesen war und Vacheron wieder sah — er war mein Führer und auch mein Richter —, schämte ich mich. „Na, bist nicht gekommen. Bist nicht ernst zu nehmen."
Kein weiterer Vorwurf. Ihm war es ein Glaubensartikel, dass jeder tun könne, was ihm gefiele. Wie vorher Bouboule, antwortete ich auch ihm: „Es ging nicht."
Ich wäre ihm gern ähnlich gewesen und war mir selbst gram, dass das nicht ging; ich verachtete mich.
Von seiner Jugend wusste ich nur wenig. Ohne Zweifel war sie friedlicher gewesen. Eines Tages hatte er zu mir gesagt:
„Deine Eltern sind weggefahren, es muss doch öde sein zu Hause. Du solltest nicht in deiner kleinen Bude in der Rue de la Part-Dieu bleiben. Meine Freundin kommt zurück. Ich will umziehen. Das Zimmer, das ich räume, ist ganz nett; es würde für dich passen. Man soll nicht im Muff leben. Das ist deprimierend."
Er hatte mich seiner Wirtin vorgestellt. Sie trauerte ihrem Mieter nach, der so pünktlich, ordentlich und akkurat war. Ich putzte mir die Schuhe nicht so gut und kam oft spät nach Hause. Sie befürchtete, eines Tages beim Lesen der Lokalrubrik meinen Namen zu finden.
Das Zimmer hatte mich nicht verwandelt. Vacheron ging abends nur aus, um die beruflichen Fortbildungskurse — Zeichnen und Gerätekunde — zu besuchen. In der Bahn lernte er Trigonometrie.
„Man muss im Betrieb ein guter Spezialarbeiter sein, man verteidigt so besser seine Menschenwürde", sagte er zu mir.
Trotzdem war er von dem Wunsche beherrscht, aus dem Fabrikleben herauszukommen. Aber wie? Er wusste, dass er es schaffen würde. Später, wenn sein Leben in günstigeren materiellen Verhältnissen gesichert wäre, würde er Muße finden, viel zu lesen. Bis dahin würde er sich damit begnügen, zu lernen, was ihm in seinem Beruf nützlich sein könnte. Auf seine Art war er ein Träumer. In fortschrittlichen Kreisen hatte er eine Art Sehnsucht nach Wissen und Geist bekommen. Für ihn war es ein weiterer Glaubensartikel, dass alles, was ein Mensch lernen könne, ihn in seinem Denken und seinem Charakter fördere. Er liebte die Namen der großen Männer, von Sokrates bis Tolstoi, ohne ihre Werke zu kennen; er hatte nicht die Zeit gehabt, sie zu lesen. Es bekümmerte ihn, dass seine Kollegen im Betrieb und die Arbeiter, abgesehen von ein paar Sonderlingen, nicht das gleiche Bestreben hatten wie er, jene inbrünstige Leidenschaft für Bildung, Weisheit, Aufklärung, von denen doch der soziale Fortschritt abhing.
Dieser Sohn eines Bergmannes, dieser Vorkämpfer in den Streiks von 1920 glaubte nicht mehr an die Revolution, nicht mehr an den Anarchismus; er glaubte nur noch an die Schulung. Jetzt wollte er seinen Weg machen, sich eine Position schaffen.
Zur Zeit war er der beste Werkzeugdreher im Betrieb. Er bezog den Höchstlohn. Im Beruf sind die Kollegen nicht aufeinander neidisch; sie greifen sich unter die Arme. Wenn ein anderer Spezialarbeiter wegen eines Auftrages, den er zu erledigen hatte, oder einer Berechnung in Verlegenheit war, wandte er sich an Vacheron. Seine Stücke, die die Drehbank oder die Schleifmaschine verließen, waren immer von einer tadel-
losen Präzision. Wenn er an seiner Drehbank stand, war in ihm, in seinem herzhaften Händedruck nicht Freude — das wäre zuviel gesagt —, aber die Befriedigung des guten Arbeiters, dessen Geist bei der Arbeit nicht untätig bleibt.
Er war ein Individualist, aber nicht auf anderer Leute Kosten. Er wollte seinen Weg machen, aber er hätte, auch wenn persönliche Vorteile damit verbunden gewesen wären, niemals die Stelle eines Zeitabnehmers oder eines Vorarbeiters angenommen, die beide zu einer gewissen Härte im Umgang mit den Arbeitern gezwungen sind.
Im Zuge brachte mir Vacheron Geometrie bei. Ich besaß ein kleines Lehrbuch und ein paar Hefte, in denen er mir Aufgaben stellte. In meinem Zimmer war es dann meine Abendbeschäftigung, zu lernen und die Aufgaben zu lösen. Morgens präsentierte ich ihm meine Hefte. Diese kalte Geistesnahrung, diese vernünftige Beschäftigung verwandelten mich ebenso wenig.
Der einzelne ist sich selbst kein Ziel. Ist schon das Leben eines Mannes, wenn es mit dem einer Frau verknüpft ist, bisweilen schwierig, so gibt das Leben ohne Liebe und ohne Frau dem Mann das Gefühl, dass sein Dasein sinnlos ist. Das Grauen der Fabrik muss jemandem zugute kommen, den man liebt: der Mutter, den Kindern oder der Frau. Ein Leben voller Leiden ist unerträglich, wenn man nur für sich selbst leidet. Um ohne Frau zu leben und ein Fabrikdasein zu fristen, braucht man mehr als Arbeit, Arbeitskameradschaft oder Freundschaft; man braucht das Zusammengehörigkeitsgefühl eines lebendigen Ideals, jene Kameradschaft aktiver Kämpfer in Zeiten revolutionären Aufschwungs,
vereint mit der Gewissheit, dass ein durch Hoffen und Kampf bestimmtes Dasein einen Sinn hat und keiner Rechtfertigung bedarf.
Die Arbeit allein rechtfertigt nichts. Die Arbeit rechtfertigt den Wagenbauer in einem Dorf. Unbestreitbar sieht er den Nutzen dessen, was er leistet. Sie rechtfertigt den Handwerker, den Schreiner, den Klempner, den Tischler, die ihre Kunden zu Gesicht bekommen. Die Arbeit rechtfertigt aber nicht den Arbeiter der Großindustrie, der für den Krieg oder die Luxusbedürfnisse der privilegierten Klasse arbeitet, der ein Stück herstellt, ohne zu wissen, wohin es in der zusammengebauten Maschine gelangt.
Man kann ein Leben ohne Rechtfertigung ertragen, aber nicht allein. Das ist zu qualvoll. Man braucht eine Mutter, eine Frau, Kinder, man braucht Bindungen, man muss aufhören zu grübeln. Die sentimentale Einsamkeit taugt nur für den verbrauchten Menschen.
Die Männer, in deren Gesellschaft ich lebte, waren zumeist verheiratet. Alle übrigen hatten mehr oder weniger zahlreiche Liebschaften. Eine Frau lieben oder mit ihr schlafen ist stets eine sehr wichtige Angelegenheit, selbst wenn es Gewohnheit oder Banalität geworden ist.
Vacheron war ein stattlicher Bursche. Er war ziemlich groß, breit und kräftig. Der Sport hatte seine Entwicklung gefördert. Er propagierte ihn. Aber dieser stattliche Bursche hatte sich in eine Prostituierte verliebt, die er vor ein paar Jahren aus ihrem Bordell herausgeholt hatte, um mit ihr in guter Kameradschaft zusammen zu leben. Es war vielleicht ein Rettungsversuch. Er war misslungen. Die Frau hatte ihr früheres Leben wieder aufgenommen. Dann war sie wieder zu ihm gekommen. War wieder auf und davon. Und wieder zurückgekommen. Sie versprach, ihren Lebenswandel endgültig zu ändern. Er fiel darauf herein. Und wieder ging sie fort. Man merkte ihm nichts von seinen Enttäuschungen an. Im Zug las er Epiktet. Vielleicht um härter zu werden.
Ich hatte sie nur ein einziges Mal gesehen, als sie ihn eines Abends vom Zuge aus Venissieux abholte. Zwei Rücken, ein Regenschirm. Auch er konnte nicht als trübseliger Junggeselle leben; doch er ertrug es mit offensichtlichem Gleichmut.
Ich war in der Fabrik wie ein Hund, den man im Alter überschwänglicher Lebenslust eingesperrt hat. Der sexuelle Hunger sitzt nicht nur in den Lenden, sondern er erfasst den ganzen Körper. Ich war ganz meinem Trieb preisgegeben, ich war wie im Käfig. Ich hätte weglaufen mögen, frei sein, bis ich die Frau gefunden hätte, die ich lieben würde. Meine Arbeit interessierte mich nicht, sie war nicht das Wesentliche. Es gelang mir nicht, mich und meinen Trieb mit ihr zu täuschen. Es gelang mir nicht, mich mit der käuflichen Liebe zu täuschen, mit dem Weib, das nach anderen riecht, nach der Berufsschminke und nach billiger Seife. Die Liebe wurde etwas Schmutziges, und ich bekam noch ein wenig mehr Ekel vor mir selbst. Aber das war noch nicht alles. Der Gedanke, mir ein Auskommen zu sichern und eine Position zu schaffen, fesselte mich nicht. Man muss wirklich und lange Hunger im Bauch gehabt haben, um sich damit abzufinden, in einer qualvollen und öden Existenz sein Leben zu verdienen. Jene Jahre von 1919 und 1920, die Jahre des übertriebenen Vertrauens und
der zu weit gespannten Hoffnungen, hatten mich gezeichnet. Ich hatte zuviel von der kommenden Gesellschaft geträumt; in der heutigen verstand ich nicht mehr zu leben. Nachdem ich erst einmal zu zweifeln begonnen hatte, waren mir die anarchistischen Illusionen jäh vergangen. Ich blieb durchdrungen von der Gerechtigkeit der revolutionären Ziele, aber ich glaubte nicht mehr an ihre Verwirklichung.
Ein Rentier kann Skeptiker sein; ein Industrieller kann Realist und überzeugt sein von der absoluten Notwendigkeit der Lohnarbeit, der Scheidung der Gesellschaft in Klassen und Nationen, der Existenz stehender Heere und periodisch ausbrechender Kriege. Der Arbeiter aber, der überzeugt ist, dass die Lohnarbeit, die moderne Arbeitsweise, ein Äquivalent der antiken Sklaverei ist, fühlt sich in seiner Menschenwürde schwer getroffen. Er kann seine Lage nur mit einem tiefen Glauben an den sozialen Fortschritt oder an die Revolution hinnehmen.
Mein Vater hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden. Nach seiner Meinung ließ die Fabrik es in der Behandlung der alten Arbeiter an Gerechtigkeit fehlen. Seine Vorgesetzten hatten ihn verärgert. Er hatte viel unkomplizierter das Leben eines braven Mannes gelebt: ein bisschen verbittert, aber ohne jede Auflehnung. Er hatte den lieben Gott nicht gebraucht, um sicher seines Weges zu gehen. In den Augenblicken des Zweifels oder der Erschöpfung ein bisschen mehr trinken, das hatte ihm an solchen Tagen genügt. Ach, wie hätte ich meinem Vater gleichen mögen!
Luciens Ideen hatten mich auf einen Weg geführt und zu einer gedanklichen Tätigkeit veranlasst, die viele junge Leute um ihrer Ruhe willen nicht auf sich nehmen. Wie Vacheron hatte ich an Wissen und Geist geglaubt und glaubte noch daran. Ich wusste wenig, aber doch genug, um zu entdecken, dass Denken Leid bedeutet, da meine Gedanken mich quälten.
Vacherons Ratschläge, denen ich gefolgt war — ein anderes Zimmer zu nehmen, Geometrie zu lernen und Sport zu treiben —, blieben ohne Erfolg. Es war Winter: Regen und Nebel drückten auf die Stimmung. In regelmäßigen Abständen überfiel mich der Weltschmerz. Ich hielt mich, ich klammerte mich an die Geometrie, an die Lektüre des Epiktet; aber es kam der Augenblick, da ich mich, des unfruchtbaren Ringens müde, von diesem sinnlosen Leben befreien wollte. Eines Morgens stand ich nicht auf. Mit geschlossenen Augen träumte ich von der Natur. Am Nachmittag schloss ich mich in einer großen Bibliothek ein. Der Jean-Christophe belebte mich mit Poesie. Am folgenden Morgen lief ich zwanzig oder dreißig Kilometer zu Fuß. Und bald danach nahm ich die Arbeit wieder auf und meldete mich bei Bouboule. Kuriert und befreit.
Vacheron war nicht mehr in der Werkzeugmacherei. Es hatte sich ihm eine Chance geboten. Was kann aus einem gelernten Arbeiter der Großindustrie werden, wenn er seinem Handwerk treu bleibt? Zeitabnehmer, Maschineneinsteller, Vorarbeiter, seltener auch Werkmeister. Wenn er nicht ein paar Jahre höhere Schule hinter sich hat, werden ihm die beruflichen Abendkurse nur selten die ausreichende Fortbildung vermitteln. Er kann ein bisschen mehr verdienen, wenn er Meister wird.
Vacheron hatte außerordentliches Glück: man hatte ihm vorgeschlagen, nach Kairo zu gehen und die Firma Berliet dort in einem Garagenbetrieb zu vertreten. Vorher musste er noch alle Abteilungen des Werks durchmachen: Gießerei, Fertigung, Reparaturen, Versuchsstrecke; er musste alle Einzelheiten der Produktion kennen und perfekt fahren lernen. So kam er auf dem Wege weiter, den er sich vorgezeichnet hatte. Ich war froh für ihn; es war ein verdientes Glück.
Ostern war ich mit einem Kameraden in der lieben Aprilsonne auf Fahrt gegangen. Wir zogen mit nackten Oberkörpern einher, sangen und johlten nach Herzenslust, streiften mit bloßen Füßen durch das Moos und das Wasser der Bäche, sahen die blütentragenden Bäume und die Wolken. Ein zweitägiger Rausch. Ich war sogar Henriette über den Weg gelaufen, die mit ihrer Schwester und einer Gruppe von Freunden spazierenging, und hatte die dürren Zweige und den Holzhaufen wieder gesehen, wo ich im Regen den Duft ihres feuchten Haares geatmet hatte. Ich war kuriert und wollte es sein — von ihr und von der Liebe. Das würde mir nicht noch einmal passieren. Ich würde stark und breitschultrig werden, Erdarbeiter oder Hafenarbeiter sein, würde die Welt durchqueren. Das Leben schien mir voller Möglichkeiten. Ich hatte es satt, „wertherisiert" zu sein. Die Liebe, die mich gequält hatte, hatte mich für die Poesie empfänglicher gemacht. Die Schönheit der Nacht ist nicht so gefährlich wie die der Frau. Ich berauschte mich daran, die Insekten summen, jede Erdscholle beben zu hören. Ich begann sogar, die bis dahin für mich widerspenstigen Kunstregeln der dichterischen Sprache — Gedichte, Verlaine — zu begreifen. In der Bibliothek hatte ich die „Romanze ohne Worte" abgeschrieben und das Porträt des Dichters
nachgezeichnet. Sehr stolz hatte ich beides eines Tages Vacheron gezeigt. Seit Ostern war ich entschlossen, fortzugehen und die Fabrik in Venissieux, die Stadt Lyon zu verlassen. Wie aber es Vacheron erklären und ihm meine Pläne in vernünftigem Licht darstellen? Mit meinem Weggehen gab ich die Möglichkeit auf, hier ein guter Werkzeugschlosser zu werden. Er sagte es mir.
Ich fuhr nach Paris. Vacheron riet mir noch, wenn ich schon keinen Geschmack an der mechanischen Arbeit fände, dann sollte ich zeichnen und malen lernen und mir dabei ebensoviel Mühe geben, wie er es in seinem Beruf tat.
Ich war abgefahren.
Vacheron machte auf der Versuchsstrecke eine Probefahrt mit einem Fahrzeug ohne Karosserie, das mit Eisenblöcken beladen war. Die Bahn war nass: der Wagen überschlug sich. Vacheron war sofort tot. Die Eisenblöcke hatten ihn erschlagen. So schrieb mir acht Tage später ein Kollege aus der Werkstatt.
Mein Bruder Adrien, unser Ältester, war fünfundzwanzig Jahre älter als ich. Zur Zeit meiner Geburt war er schon verheiratet. In Maidieres hatte ich ihn immer sonntags gesehen, wenn er meine Eltern besuchte.
Er kam von Bozeville, einer kleinen Arbeitersiedlung mit einförmigen Backsteinhäusern. Er brauchte nur über ein paar Felder zu gehen, und schon war er bei uns. Er kam immer mit seinen beiden Töchtern an, die eine an der Hand, die andere auf dem Rücken. Er war
Familienvater, soweit ich zurückdenken kann. Seine große Tochter war so alt wie ich. Meine Mutter nannte ihn „unser Dicker".
Im Kriege von 1914 hatte ich ihn nur noch auf Bildern gesehen, vor einem Unterstand, neben einer Gulaschkanone, mitten unter bärtigen Reservisten. Er sah nicht gerade unglücklich aus. Nach dem Kriege war er an seinen Arbeitsplatz im Werk von Pont-à-Mousson zurückgekehrt. Wir hatten noch nie zusammen gelebt. Zehn Jahre lang hatte ich ihn fast nicht gesehen.
Mit leicht ergrauten Schnurrbartspitzen sah ich ihn wieder, den „Vater Friedlich" von damals. Die Nichten und Neffen waren um einen Meter und mehr aufgeschossen. Ich fragte mich, ob Adrien mich noch für seinen Bruder halten könnte, da ich mich mehr verändert hatte als er.
Ich war bei ihm, er lächelte mir zu, als wenn er mich gestern Abend erst verlassen hätte. Ich war bei ihm, war zu Hause, dumpf eingewiegt von der alten Zeit, von einem Tonfall, vertrauten Redewendungen, Erinnerungen an Maidieres, als hätte ich nie aufgehört, das Ticken der gleichen Uhr zu vernehmen.
Wie friedlich war doch das Leben bei Adrien! Ich blieb einige Monate bei ihm, ich hätte immer dableiben können.
Ich war in das Werk eingetreten, in dem mein Vater mehr als vierzig, Adrien schon mehr als dreißig Jahre und alle meine Brüder auch einige Jahre gearbeitet hatten. Auch zwei von Adriens Söhnen waren dort beschäftigt.
Ich arbeitete in der Reparaturwerkstatt als Mechaniker. Es war eine gute Stelle. Das Werk zahlte aber schlecht. Ich verdiente weniger als die Hälfte des in Lyon und Paris geltenden Tarifes, doch ebensoviel wie Adrien als Hilfsarbeiter und Vater von fünf Kindern. Wenn ich meiner Schwägerin das sehr bescheidene Kostgeld gezahlt hatte, blieb mir nur ein bisschen Taschengeld. Eine Dusche, einmal Haarschneiden, ein Buch, und weg war mein Vermögen.
Unsere Arbeit war schmutzig, nicht mühsam, ungebunden. In Gruppen zu dritt montierten wir in der einen oder anderen Halle eine Maschine ab und gingen, mit einem Flaschenzug und einer Werkzeugtasche beladen, durch das ganze Werk. Da die Hallen sehr weit auseinander lagen, waren wir oft im Freien, in einem Gelände, das einem Rangierbahnhof ähnlich sah. Ich schaute nicht, wohin ich meine Füße setzte, sondern blickte nach den Hügeln und ihren Kämmen, wo der Wald beginnt, und beobachtete, wie die Wolken zerflossen. In unserer Gegend ist der Himmel sehr wechselnd. Wie alle Gießereiarbeiter waren wir von Kopf bis Fuß verdreckt.
Dann und wann besuchte ich Adrien, wenn ich in seine Nähe kam. In seiner Ecke war es nicht warm, wenn der Nordwind blies und an den Blechen seines Schuppens rüttelte. Sein Schnurrbart schaute aus dem Schal hervor, in den er seine Ohren hüllte. Strickwesten und ein Sweater blähten seine Jacke auf. Das brauchte er schon, um es in dieser Zugluft auszuhalten. Wirbelwind jagte den Staub auf. Man bekam die Augen voll davon. Er legte ein Stück auf die Platte seiner Bohrmaschine, setzte sie in Gang und ließ sie laufen. Die Augenlider zur Abwehr der Staubwolken zusammengekniffen, im Rücken die Glut eines Schmelzofens, schwatzten wir. Ich stellte meine Werkzeugtasche ab. Er bot mir seinen Tabaksbeutel an, der sich in der Tasche schwarz- und blankgescheuert hatte. Dann zog er ein Luntenfeuerzeug hervor und sah belustigt zu, wie ich mir eine Zigarette drehte. Mir fehlte die Übung, das merkte man. Ich wunderte mich selbst, dass auch ich mir nun, allzu früh, diese Mannessitte angeeignet hatte. Gestern war ich noch der Kleine und hatte meinem Vater die Suppe gebracht, heute überragte ich Adrien um einen Kopf. Ich war mit einem Schlage groß geworden und stand in der Fabrik, enttäuscht darüber, dass ich schon in der harten und illusionslosen Welt der Erwachsenen gelandet war. Ich wusste jetzt, dass man nur dazu auf der Erde ist, sein Brot zu verdienen, dass das Leben dieser Erwartung des Wunders nicht entspricht, die den Kindern Sehnsucht danach gibt, schnell groß zu werden. Ich rauchte das herbe Rauschgift, die Zigarette aus schwarzem Tabak, und dachte, dass auch ich dabei die Resignation der Kollegen, das Lächeln und die Ruhe Adriens finden würde.
Er war ein anständiger Kerl. Jeder musste ihn gern haben. Uns verband die Mutter, sie fand ich bei ihm wieder. Ich mochte seine Stimme gern, seine gedehnte Sprechweise, seine stillvergnügte gute Laune, all das, was seinen Kollegen, einen Polen, sagen ließ: Adrien, das ist ein guter Kumpel." Das war er, in einem Dasein, in dem die guten Kumpel nicht viel Gutes und die großen Bösewichter auch nicht viel Böses anrichten, in einem Dasein, in dem sich die Menschen nicht wegen der einander geleisteten Dienste lieben, sondern wegen ihres Charakters oder aus Zuneigung und Wohlwollen, die sie einander bezeugen, oder aus tiefster innerer Verwandtschaft, aus unmittelbarer Gemeinsamkeit ihrer Träumereien, oder wegen ihres tagtäglichen Mutes dem Leben gegenüber. Vergangenes, nicht einmal zusammen Erlebtes verband uns doch. Die Macht des gemeinsamen Blutes überraschte mich. Jedes Mal, wenn ich ihn verließ, hatten mich die wenigen zusammen verbrachten Minuten wieder aufgeheitert.
Eines Tages ließ Adrien seine Bohrmaschine stehen und führte mich zur neuesten Sehenswürdigkeit des Werkes, einer amerikanischen Maschine. Sie ersetzte die Hände von fünfzig Mann. Sie goss dicke Wasser- und Gasrohre, wie man sie geteert in den Kanalisationsgräben der Städte sieht. Es war eine große Anlage. Ein Kran verteilte, soweit er reichte, aus einem mächtigen Kübel das flüssige Eisen in die aufrechtstehenden Formen. Von seinem Höllenplatz aus im Staub des Sandgebläses, in der Hitze, leitete ein Mann in der Mitte der Anlage den Arbeitsvorgang.
Adrien hatte mir gesagt:
„Siehst du, bald braucht das Werk unsere Hände nicht mehr. Das ist der Fortschritt."
Ein Wort, das er nicht mochte. Dieser „Fortschritt" hatte den Fluss vergiftet, in den sich die schmutzigen Abwässer der Fabrik ergossen, und alle Fische darin waren krepiert. Streng ging er mit dem Fortschritt ins Gericht.
Auf dem Hügel bei Mousson stand eine alte, ganz verfallene Ritterburg, ein Schloss aus der Zeit der Adligen, wie man dort sagt. Wenn ich mich umdrehte, sah ich es von der Fabrik aus und fragte mich manchmal, ob es uns in jenen Zeiten nicht besser gegangen wäre. Für ein Paar Schnürschuhe an den Füßen, einen Überzieher, einige Hemden, ein Paar bessere Sonntagsschuhe, um ein Unterkommen zu haben und Kohlsuppe mit Speck oder Linsen essen, ein wenig Wein trinken zu können und auch noch Kinder großzuziehen, die das gleiche Leben führen würden: dafür schufteten die Männer des Feuers, der Hochöfen, die schwarzen Teufel, die Former und Gießer zum Nutzen der Schlotbarone, unserer neuen Herren, härter als die Leibeigenen der Vergangenheit. Der Lebensmut eines ganzen Sklavengeschlechtes, von dem ich ein Glied war, endete in diesem Fabrikdasein, alles Blut der Familie war Fabrikblut, und Adriens Kinder setzten in der Fabrik das Leben ihres Vaters und ihres Großvaters fort. Nie wollte ich den Mut aufbringen, Blut für die Fabrik zu zeugen, dachte ich, als ich im Freien bei grimmiger Kälte eine Maschine demontierte und mir die eiskalten Schraubenschlüssel oder Hebel in den Fingern brannten. Der Winter ist hart bei uns.
Ich gewöhnte mich jedoch an die Fabrik, weil ich mich bei Adrien wohlfühlte. Die Landschaft hatte mein Gemüt beruhigt. Ich fehlte jetzt nie mehr, ging sogar sonntags morgens zur Arbeit, wenn man es von uns verlangte. Ich fühlte mich wohler im Kreise der Familie. Die abendliche Petroleumlampe, die Gegenwart der Kinder, die wohltuende Wärme des Herdes, wenn es draußen schneite: alles war so anheimelnd. So war es früher zu Hause gewesen. Adrien in seiner Marinemütze mit Lederschirm, den Manchesterhosen und der grauen Jacke — der Arbeitskleidung der Woche — glich in seiner bärenhaften Korpulenz sogar ein wenig dem Vater. Er aber war abends heiter; heiter, ohne etwas zu sagen, heiter, wenn er sich die letzte Zigarette
vor dem Schlafengehen drehte. Er hatte die glückliche Veranlagung eines Anglers, im Grunde immer friedlich, immer ruhig, gleich jenen Leuten, die im Sommer mit ihrem Leinenhut auf dem Kopf am Flussufer sitzen und denen das Angeln und die Ruhe, die man dabei bewahren muss, wichtiger sind als die Fische. Ein Vorwand, reglos zu sein und dem Fließen des Wassers zuzusehen, während die Pappeln ihnen leichte Flocken auf die Schultern streuen. Nur um ihren Hang zur Beschaulichkeit und ihr geliebtes Träumen am Wasser zu rechtfertigen, fangen sie bisweilen einen Hecht oder einen Karpfen, wenn es nicht bloß ein Gründling ist.
Im Winter durchlebte Adrien noch einmal die Freuden, die der Sommer ihm beschert hatte, ein paar Sonntage mit seinen Buben an der Mosel, eine Flasche Bier im Wasser kühlgestellt. Auch der Garten half ihm, die Fabrik und den langen Winter zu ertragen. Er wusste immer, dass das schöne Wetter wiederkommt. Alles geht vorüber, und nach Dezember kommt schnell der Mai. Zu seinem Leben gehörten ein paar Bäume, die er selbst gepflanzt und im vorigen Frühjahr gepfropft hatte, und die nun wie seine Kinder in die Höhe schossen. Wenn meine Landsleute von einem Kirsch- oder einem Mirabellenbaum reden, werden sie zärtlich. Die Industrie hat sie nicht von der Erde getrennt, sie wissen noch, wie man den Garten pflegt, zu welcher Zeit man Weizen säen kann und wann die Amsel ihr Nest baut.
Wenn Adrien und seine Familie schlafen gegangen waren, blieb ich noch einige Augenblicke allein bei der Lampe. Ich nahm ein Buch oder schrieb einige Briefe. Der Schlaf übermannte mich. Behutsam stand ich von meinem Stuhl auf. Der Ofen strahlte noch immer seine Wärme aus, leise knisterte es in der Glut. Ich hörte das Ticken des Weckers und den Atem der Schlafenden. Das war nicht die traurige Einsamkeit des Gasthofes oder der kleinen möblierten Zimmer. Ich öffnete die Tür, um die Sterne zu betrachten und nach dem Wetter des nächsten Tages zu sehen. Es schneite. Der Schnee hatte die letzten Fußtapfen zugedeckt und die Siedlung mit den Backsteinhäusern war nun so schön wie irgendwo anders, in Norwegen vielleicht ein Holzfällerdorf. Der Winter ist lang, aber ich dachte nur noch an den Frühling. Am schönsten ist er, wenn man noch ganz jung ist. Ich hätte noch einmal einen Frühling von damals erleben mögen. Mehr als an die Frauen und an die Liebe dachte ich an die Kirschbäume auf den Hängen, an den Duft der Wälder. Die Kindheit, soweit ich sie nicht in der Schule verbrachte, war wie ein Fest gewesen. Ich würde noch einmal im Walde von Maidieres den Zauberdorn" suchen gehen, jenen Strauch, der schon blüht, wenn die Haselnusssträucher erst Kätzchen haben und die Buchen noch nicht ihre roten Knospen mit den winzigen Blüten. Nicht besonders schön, mag sein, aber so stark duftend, dass man die Fenster offen lassen muss, wenn ein Strauß davon im Zimmer steht. Den ganzen Wald findet man in diesem Duft, mit all dem Moos, dem Humus und den Maiglöckchen. Der Frühling ist darin aufgebrochen, ohne auf das Ende der Fröste zu warten, und er hat eine andere Kraft als in den sonnigen Ländern, wo die Jahreszeiten ineinander fließen.
Wenn ich mir so den Frühling versprach, wurde ich ruhig wie Adrien. Ich nahm mir sogar vor, ein Sonntagsmaler zu werden, Kühe zu malen, Wiesen und Wolken, wenn ich es könnte. Ich würde zwei gänzlich voneinander verschiedene Leben führen: das innere und das praktische. Im Werk würde ich nur als Schattenbild umhergehen. Das wäre zu ertragen. Schon war ich die Landschaft selbst geworden mit ihrem grauen Licht, dem Gewoge ihrer Wolken, ihren Hügeln, die der Wald verschlang. Der Himmel hatte eine große Bedeutung für mich, selbst seit er von all denen entvölkert war, die ich früher, als ich noch kurze Hosen trug, von Leben erfüllt in den Fenstern unserer Kirche entdeckt hatte: den heiligen Joseph, die Mutter Maria, die Apostel und die Engel. So sehr ich mir einmal gewünscht hatte, schnell voranzukommen und Wissen zu erwerben, so gern wäre ich jetzt zu einem Leben zurückgekehrt, das immer sich gleich bleiben würde und in dem die Eltern, die einem gegeben sind, nicht altern würden.
Die Woche über war die Fabrik mit dem Hin und Her im Freien zu ertragen. Nur sonntags war ich ein wenig traurig, ein paar Minuten lang, wenn ich durch Maidieres ging und all die Dinge sah, die sich nicht verändert hatten, wenn ich sie sah, als wäre es ein Traum. An unserem Hause prangte noch immer rot auf weiß das Reklameschild der Maggi-Würfel. Es tat mir weh, dass ich nicht mehr in unser Haus gehen konnte. Was war wohl aus der kleinen Blinden geworden, die sich beim Treppensteigen an den Wänden entlanggetastet hatte? Unsere Nachbarn, die alten Renys, waren tot. Meine Schwestern, die hier einmal ihre romantischen Schlager gesungen hatten, hatten sich sehr verändert. Meine Mutter war eine kleine, alte Frau geworden. Wir waren nicht mehr da. Bedrückt vom Wissen um Tod, Alter und Trennung schritt ich durch ein Leben, das nicht wirklich war, sondern wie ein Traumleben.
Eines Sonntags, als ich in das gegenüberliegende Haus ging, sah ich einen Burschen in meinem Alter, in grauer Jacke und Manchesterhosen, wie Adrien sie wochentags trug, an einem Tisch sitzen, mit einem Liter Rotwein, einem Glas und einem Päckchen schwarzen Tabak vor sich (er glich jetzt allen seinen großen Brüdern); ich sagte zu ihm:
„Paul, bist du's? Ich bin der Georges, erinnerst du dich?"
Uns hatten Schule, Raufereien, Kreisel und Murmeln verbunden. Er war mein bester Freund gewesen. Jetzt stand ich als Fremder vor einem erwachsenen Manne, der verheiratet und wie sein Vater Former war. Zwischen uns war nichts mehr als ein paar Familienneuigkeiten. Auf seiner Seite viele Tote, und dazu noch sein eigener: der des Kindes im Erwachsenen. Ich war ihm abhanden gekommen wie eine alte Zeitung. Wir hatten uns nichts mehr zu sagen.
Mit Adrien hatte die Zeit mehr Bestand. Viele Familien waren nicht mehr in das während des Krieges geräumte Dorf zurückgekehrt. Dafür waren Familien aus Luxemburg und Polen gekommen. Aber nun, da ich schon nicht mehr glaubte, noch jemand wieder zu erkennen — sie waren alle tot, die brummeligen Alten —, begegnete ich einer rüstigen Achtzigjährigen, die ihrem Alter zum Trotz noch die gleiche war: aufrecht und rührig, die gleiche Schürze vorgebunden und noch die gleichen Spitzenvorhänge vor ihren Fenstern, auf dem Tisch neben der Zeitung die gleiche Brille, wie sie meine Mutter trug, der sie früher die Zeitung vorgelesen hatte.
Ich stieg zum Wald hinauf. Erstaunt, wie schnell es ging. Die Entfernungen waren zusammengeschrumpft, da mein Schritt größer geworden war. Um die wirkliche Entfernung festzustellen, drehte ich mich um. Was für eine winzige Welt war doch mein Universum von damals! Eine Wiese, die schwarzen Kirchhoftannen, der Glockenturm, die Dächer von Pont-à-Mousson und die Türme der Gaserzeuger des Werks, die hohen Schlote und die Mosel.
Der „Priesterwald" war nur noch ein Geflecht von Lauf- und Schützengräben. Zwischen den zersplitterten Stämmen war das Unterholz nachgewachsen. Nichts mehr als ein paar Buchen, Maschinengewehrgurte, verrostete Konservenbüchsen. Und vor dieser stummen Verzweiflung, grau in der winterlichen Landschaft, das weite Viereck eines Soldatenfriedhofes mit all seinen Kreuzen und Namen.
Der Wald von Maidieres dagegen, ganz in der Nähe, hatte nicht so sehr gelitten. Einige Kratzer auf den Baumrinden, Splitter, verirrte Kugeln: das war alles. Aber man sah kaum noch Hasen laufen, und die Rehe waren ganz verschwunden.
Ich ging in die Unterstände hinein, gut erhaltene Rettungs- und Befehlsstellen. Die Beklemmung der ausgestorbenen Stätten umfing mich. Ich wollte mich nur über die Bauweise unterrichten, um mir später einmal mit der Axt ein Blockhaus zimmern zu können, falls es mir in den Sinn kommen sollte, im Walde zu leben. Das Leben aller mir bekannten Soldaten, der Matrosen und Artilleristen war dahin. Ich wusste noch Namen, erinnerte mich an Stimmen, an Stellen aus ihren Liedern. Ich ging in eine Holzfällerhütte. Ich fror ein wenig an den Fingerspitzen, ich war allein mit meinem Atem und seinem weißen Hauch.
Ich dachte nun nicht mehr daran, die Schritte zu zählen, die die Erde vom Paradiese trennen; dafür sagte mir das Ächzen der Bäume und der flüsternde Wind im toten Laub, dass der Wald eine Seele habe. Wenn sich der hüpfende Zaunkönig in einen Schneemann verwandelt hätte, wäre ich nicht überrascht gewesen. Jeden Augenblick konnte das Leben von damals wieder beginnen, der Wald von neuem grünen, meine Mutter ihre Pflöcke zurechtschneiden. Krieg, Tod, Fabrik, hätte der Zaunkönig mir sagen können, das war nicht Wirklichkeit.
Auf dem Bahnsteig schlendern ein paar Reisende in Mänteln auf und ab, Männer und Frauen, sorgfältig für die Reise, nach der Jahreszeit gekleidet: Zivilisten in Herbstuniform.
Heiterkeit eines klaren Tages, beschwingt schreitende Menschen, der Morgen kühl, aber voller Licht. Aus den Kastanienbäumen fallen Blätter, der Rauch der Zigaretten bleibt in der Luft hängen, jeder Zug für sich, als sei er glücklich und habe keine Eile, zu verfliegen.
Ich werfe einen letzten Blick auf die rötlichen Ränder der Hügel. Vor dem Kriege war der kleine Bahnhof von Thionville Grenzstation. Deutsche Beamte und Zöllner stolzierten damals in ihren schmucken Uniformen umher; in der Korrektheit der Zivilisten, die hier auf und ab gehen, die Männer rauchend und lachend, die Frauen einander musternd, ist etwas von der preußischen Zucht erhalten geblieben.
Der Pariser Zug kommt aus Deutschland. Er kommt überfüllt an. Ich laufe an den Abteilen der dritten Klasse entlang, aber es zeigt sich, dass kein Platz mehr ist, und dass mir nichts anderes übrig bleibt, als in einen Wagen erster oder zweiter zu steigen. Das tue ich denn auch zusammen mit einigen anderen Reisenden, vor den Augen des Schaffners, der einverstanden scheint.
Die letzte Nacht habe ich im Zelt zugebracht, an der Mauer eines winzigen Gehöfts. Kein Hund hat gekläfft. Früher kamen die Kinder von Maidieres in Scharen dorthin, pflückten die ersten Veilchen und plünderten das letzte Obst. Seit langem schon sind die Veilchen für mich nicht mehr so schön, der Schatz der kindlichen Poesie ist verflogen. Ein Wunder ist es, auf dieser Erde unter der schönen Decke einer Sternennacht zu schlafen.
Am Morgen bin ich den Hang hinabgestiegen und habe da und dort saure Weintrauben an den mageren Rebstöcken gepickt. Das also war das ganze Paradies der Kindheit! Ich habe einen Frühzug genommen, auf den Anschluss gewartet, und jetzt fährt der Zug nach Paris ab. Ich bin ganz verblüfft, dass ich nun nicht mehr gehen muss, um vorwärts zu kommen, und dass ich plötzlich der Heimat, die noch gestern ihr Spiel mit mir trieb, entrissen bin.
Ich habe trotz allem ein Gefühl der Rangordnung; der Wagen erster Klasse schüchtert mich ein. Die Abkehr vom Straßenstaub ist zu unvermittelt; da bin ich plötzlich in den Komfort geschleudert und habe einen Teppich unter den Füßen. Ich fühle mich durchaus nicht wohl, wie ein Bohemien es wäre. Rasch fahre ich mir mit den Fingern durch das Haar, damit ich anständig aussehe.
Trotzdem bin ich in so ein Abteil feiner Herren hineingegangen, durch eine Wolke der Vornehmheit
hindurch, bin der Armee in Gestalt eines parfümierten Leutnants über die Füße gestolpert und sitze nun neben einer rundlichen Persönlichkeit, welche die Industrie oder das Bankwesen zu vertreten scheint.
Die feinen Herren übersehen meine Ankunft, wie ich ihre Anwesenheit scheinbar übersehe. Da sitze ich nun plötzlich unter lauter Spiegeln. Meine Gegenwart passt nicht in die Kulisse. Mein linker Ellbogen bemüht sich, nicht an den rechten Ellbogen der Industrie zu stoßen. Ist er ein Franzose, ein Deutscher? Er ist die Hauptperson des Abteils. Ich kann es nicht erraten. Es ist ebenso schwer, als wollte man die Staatsangehörigkeit eines Geldschrankes ohne Firmenschild erkennen. Er trägt eine Brille. Wenn ich nach der Wichtigkeit, die ihn aufbläht, urteilen soll, dann hat er die Polizei, das Telefon, eine Armee von Arbeitern und ganze Täler von Fabriken in der Hand. In ein Notizbuch, das er hervorgezogen hat, schreibt er mit seinem Drehbleistift einige Zahlen. Ich sitze neben dem Goldenen Kalb. In Wirklichkeit ist er aber eher rund und kurz wie ein Ferkelchen — nichts von der guten Laune amerikanischer Schweinehändler, im Gegenteil: eine geradezu schweißtriefende Anspannung, um respektabel, imponierend und vornehm zu wirken. Ein Baby aus einer Seifenreklame mit dem runden und traurigen Gesicht eines engelreinen Buchhalters.
Schau, diese Tiergattung gibt es also wirklich! Wenn ich mich doch nur dazu aufraffen könnte, ihnen ins Gesicht zu lachen, sie aus der Rolle zu bringen, sie am Bart zu kitzeln: Heda! Wacht auf! Ihr seid Ausgeburten des Bankkontos, werdet doch endlich Menschen!
Beim ersten Halt habe ich die zu mir passende Umgebung wieder aufgesucht: den Wagen dritter Klasse. Ich finde Paris wieder, meinen Betrieb, die Vorstadt, die Natur hinter Gittern, den kleinen verhätschelten Köter, der den ganzen Sonntag über kläfft, das Benzin und die U-Bahn.
Aber ich komme stärker und als besserer Kamerad zurück. Das weiß ich. Wenn mich die Kollegen fragen: „Wo bist du gewesen?", kann ich ihnen nur Unwesentliches sagen: „Ich bin mit dem Zug gefahren, hier und da hingegangen, nach Verdun und in meine Heimat..."
Die Pariser Straßen werden nach Herbst riechen. Der Zug rollt dem riesenhaften Menschenschwarm entgegen. Nach der mageren Natur glaube ich die Stadt besser zu begreifen: das Universum des Menschen, die zweite Natur, den Lichterstrom der Stadt, wenn Schnee und Nacht über den Kohlfeldern herrschen.
Mit Schrecken betrat ich zum ersten Mal die Halle des Citroen-Werks in Saint-Ouen. Als ich in den ohrenbetäubenden Lärm trat, sagte ich mir: „Alter Freund, du wirst leiden. Wirst du durchhalten können in diesem Höllenspektakel?"
Ich sah die anderen, zunächst die Vorzeichner, deren Arbeit Ruhe und Konzentration verlangt. Vor großen Marmorplatten stehend, handhabten sie das Streichmaß: ein Strich, dann hielten sie inne und lasen auf großen, blauen Blättern — den Zeichnungen — ein neues Maß ab, das zu übertragen war. Das schien mir in dem Lärm eine erstaunliche Leistung, und ich wunderte mich darüber, dass eine so geräuschvolle, so unruhige Halle eine Zurichtewerkstatt sein könne. Wie stellten sie es nur an, die Fräser, die Dreher, die Feinmechaniker, dass sie nicht völlig den Kopf verloren?
Sie mussten wohl aus besonderem Holz geschnitzt sein, industrietauglich. Ich würde mir Mühe geben, zu werden wie sie.
Der ganze Raum vom Boden bis zur Decke der Halle war vom Getriebe der Maschinen angefüllt, zerhackt, durchfurcht. Über den Werkbänken rollten Laufkräne. Auf dem Boden versperrten kleine Elektrokarren in engen Gängen einander den Weg. Nicht einmal für den Rauch war noch Platz. Im Hintergrund der Halle stanzten riesenhafte Pressen mit explosionsähnlichem Lärm Längsträger, Hauben und Kotflügel zurecht. Dazwischen übertönte das Maschinengewehrgeknatter der Revolverhämmer aus der Schmiede den Höllenlärm der Maschinen.
Ich wiederholte mir: „Armer Kerl, wirst du hier leben können, wirst du so stark sein wie die anderen?" und ich drückte das Paket mit den eigenen Werkzeugen und dem in Zeitungspapier eingewickelten Frühstücksbrot unter dem Arm fest an mich. Ich fand es recht sauer verdient, dieses Brot, das nach Eisen schmecken würde.
Die Gruppen der Werkzeugschlosser setzten Schablonen ein, die die großen Pressen zum Schneiden und Ausbauchen der Teile brauchten.
Bei der Arbeit wurden die Gruppen zu Rivalen. Die Kollegen stritten sich um den Gebrauch der Laufkräne und um die Benutzung der kleinen Pressluftschleifsteine, die mehr Metall verschlangen als die gröbsten Feilen. Es gab nicht genug Bohrmaschinen, und das Kleingerät
fehlte ganz. Die Schablonen, die wir zusammensetzten, wogen oft mehr als eine Tonne. Wenn es soweit war, sie auszuprobieren, wurden die Laufkräne, die sie heben sollten, an allen Ecken zugleich benötigt.
Man brüllte in das Getöse hinein, um den Kranführer in seiner Kabine zu verlocken; man versuchte, seine Verzweiflung und seinen Unwillen durch wilde Gebärden auszudrücken: „Hierher, Dicker. Wir sind dran. Du denkst immer nur an die anderen."
Bei jeder Gruppe drängte die Fertigstellung der Schablonen, an der Werkzeugschlosser arbeiteten.
Die mächtigen Pressen brauchten sie, um ihre Kiefer in Bewegung zu halten. Ihr Stillstand würde verschiedene Abteilungen des Werkes lähmen. Die Fahrzeuge, ein neues Modell, würden nicht zur vorgesehenen Zeit herauskommen. Und das bedeutete einen großen Geldverlust für Citroen. Drängend, schmeichelnd, anfeuernd setzten die Chefs in den weißen Kitteln den Vorarbeitern zu und hielten uns in Atem, spornten uns an und taten immer herzlich dabei. Wenn man sich beeilte, schien man ihnen einen persönlichen Gefallen zu tun. Drohungen gab es nie, ihre freundliche Beharrlichkeit genügte, uns immer unter Druck zu halten und die Arbeit in fieberhafter Hast so schnell wie möglich voranzutreiben. Um einen Pressluftschleifstein wiederzubekommen, den uns die Nachbargruppe am Abend vorher geklaut hatte, wurde man unterwürfig, jovial, einschmeichelnd, wechselte übereilt einige entscheidende Worte und ein Lächeln — und kam siegreich mit dem Schleifstein zurück.
Man erreichte in seinen Handgriffen eine erstaunliche Geschwindigkeit. Eine Schublade aufziehen, sie durch-
kramen, ein Werkzeug herausnehmen, sie wieder zustoßen, war Sache eines Augenblicks. Schon stand man wieder an der Bohrmaschine. Man bewegte sich wie in den grotesken Filmen, in denen die Bilder mit überstürzter Schnelligkeit aufeinander folgen. Man gewann Zeit. Man verlor sie wieder mit dem Warten auf Schleifstein, Bohrer oder Laufkran. Zu häufig war man durch den Mangel an Kleinwerkzeugen gehemmt. Diese Löcher in der Organisation einer Fabrik, die angeblich nach amerikanischem Verfahren arbeitete, waren ermüdend für uns.
Mehr noch als die Eindringlichkeit der Abteilungschefs beschleunigte der ungeheure Lärm der Maschinen unsere Bewegungen und spannte unseren Willen zur Eile an. Das Herz versuchte, sich der Geschwindigkeit der klatschenden Treibriemen anzupassen. Auch draußen verfolgte mich die Fabrik. Sie war in mich gefahren. In meinen Träumen war ich eine Maschine. Die ganze Erde war nur noch eine riesenhafte Fabrik. Ich drehte mich, ein Rädchen des Getriebes.
Die Zeit in der Halle verflog schnell. Wenn es Mittag war, verschlangen die Kollegen in einer Viertelstunde, während sie auf der Straße Luft schöpften, mit hastig kauenden Kinnbacken ihr Frühstücksbrot. Dann wurde bis halb drei wieder gearbeitet. Sowie das Sirenenzeichen ertönte, leerte sich die Werkstatt. Im Umkleideraum nahm sich jeder ein bisschen schwarze Seife, vermischte sie mit Sägespänen, wusch sich in Hast, trocknete sich schnell ab und zog schnell den blauen Arbeitskittel aus. Geschwind entflohen die Kollegen, schlossen ihr Spind und eilten, die Mütze aufs Ohr gezogen, mit ihrem kleinen Pappkoffer in der Hand um die nächste Straßen-
ecke zur U-Bahn. Nur rasch ausschreiten, andere Luft atmen, sich von der Fabrik befreien!
Beim Abschied drückte ich immer hastig die Hände einer stets wechselnden Menge. Zerstreutes, mechanisches Händedrücken. Das Werk stellte Arbeiter ein. Neue Gesichter tauchten auf. Alte verschwanden. Nach Arbeitsschluss glichen sie einander. Es waren die gleichen fahlen und grauen Gesichter, als ob uns das Werk fabriziert und mit seinen großen Pressen aus der gleichen Industrie-Knetmasse gestanzt hätte.
Meine Gruppe war mit einer vierzehntägigen Nachtschicht an der Reihe. Tages- und Nachtschichten folgten rasch aufeinander. Zeitbegriff und Jahreszeiten gab es nicht mehr. Bei Nacht war die Arbeit nicht so fieberhaft, die Laufkräne und die Eidechsen nicht so munter. In großen, dunklen Raumteilen schliefen viele Maschinen, die mächtigen Pressen arbeiteten häufig langsamer. In der Kesselschmiede zischten Schweißbrenner und warfen ein blaues Wetterleuchten in die Halle. Schön war es in der Nacht: Die Helle, die Schatten, die vereinzelten Lichter, da und dort ein Mann allein vor seiner Maschine. Das Leben ging langsamer, die Kameraden empfanden mehr füreinander, sahen sich. Wir wurden wieder menschliche Wesen dabei. Trotz der Glasfenster und Mauern war die Halle eins mit der Nacht, mit der großen Ruhe der Erde. Besser als am Tage wusste ich, dass ich auf der Erde, dass ich ganz und gar gegenwärtig war. Ich empfand eine gewisse Zärtlichkeit bei dem Gedanken an den Tod, ich war voll von wiedererwachenden Erinnerungen und doch in enger Verbundenheit mit dem Augenblick. Die Schönheit oder die Fremdartigkeit des Lebens wurde mir bewusst. Ich genoss die Bewegungen
meines Körpers und durch ihn das Glück zu leben, hier, an meiner Bohrmaschine, beim Geräusch des Bohrers, der sich in das Gusseisen einfraß und beim Drehen grauen Staub heraustrieb, gelenkt von meiner Hand, die das glänzende Handrad der Bohrmaschine hielt — ich war glücklich darüber, wach zu sein, ein Körper zu sein, der arbeitet und nachdenkt.
Dann kam die Müdigkeit. Gegen zwei Uhr morgens ließen meine Kräfte nach. Ein paar Stunden später kam die neue Schicht mit frischen Stimmen und von der Morgenluft geröteten Wangen; ausgepumpt, ein wenig benommen, schüttelte ich Hände wie im Traum.
Ich wohnte in Menilmontant im Gasthof, in einem sehr ruhigen Zimmer. Nach einer langen Fahrt in der U-Bahn lief ich ein Stück, ohne etwas von der Straße zu sehen: ein Nachtwandler im schon angebrochenen Tag. Ich ging in zwei Läden, um Brot und Milch zu kaufen, versteckte Brot und Flasche unter meiner Jacke und schmuggelte sie in den Gasthof hinein. Mit der Unfehlbarkeit eines Automaten zählte ich mein Geld nach. Ein Mechanismus in meiner Kehle sagte: „Danke."
Ich war am Ende meiner Rolle angelangt, am Ende der Arbeit, der gesellschaftlichen Pantomime, erledigt und von Müdigkeit betäubt. Wenn ich die Tür meines Zimmers aufstieß, begann die Liebe, das wahre Leben, jenes, wofür ich die Fabrik ertrug. Ich war der Einsamkeit entronnen.
Anna hatte noch geschlafen. Sie stand auf und öffnete mir. Als ich sie umarmte, schlief ich im Stehen, der Kopf war mir schwer, der Nacken schmerzte. Anna umschlang mich. Ich überließ mich der Erschöpfung und glitt für einen Augenblick in mich selbst hinein wie in einen ausgedehnten Nebelfleck, der meinen Körper in sich aufnahm. An Leib, an Brust und Armen drang Annas süße Wärme in mich ein. Einen Augenblick lang versank ich in tiefe Vergessenheit, jenseits von Welt und Alter, wie ein Verwundeter, den man trägt, und der sich dem gondelnden Wiegen einer Tragbahre hingibt. Ich öffnete die Augen, als hätte ich plötzlich die beiden Läden eines dunklen Zimmers aufgestoßen, um das Morgenlicht einzulassen; und ich sah das zarte und schöne Gesicht Annas mir zulächeln; ich atmete ihren Duft tief ein, als schritte ich zum ersten Mal im Frühling über Gebirgswiesen. Ich wunderte mich immer, auf ihren noch schlafwarmen, aber frischen Wangen einen linden, kaum wahrnehmbaren Geruch zu entdecken, der mich an den Geschmack von Zuckerwerk erinnerte. Ich liebte nicht nur Annas Gestalt, die noch schöner war, wenn ich die Augen geschlossen hielt und nur meine Hände ihre Formen nachtasteten, schöner noch in den wirklicheren Bildern der Berührung. Ich liebte nicht nur die geschmeidige Fülle ihres Fleisches, das meine Hände streichelten oder sanft kneteten, nicht nur das Gefühl von Samt und Seide an meinem Leib, meinen Beinen und der Brust, nicht nur die weiten, meerhaften Flächen, sondern auch ihre süße Wärme liebte ich, den Duft ihrer flandrischen Haut. Ihr Duft war schön. Anna trug ein Wollkleid, an dem noch die Zeit haftete, in der sie mit ihrer Mutter zusammengelebt hatte; es roch nach Truhe und ländlicher Wäsche, nach einem ordentlichen und wohleingerichteten Leben. Der Geruch rührte mich nur durch die Erinnerung an die schon weit zurückliegende Zeit des Anfangs unserer Verbindung, als wir noch „Sie" zueinander sagten.
Während Anna Brot schnitt und eine Tasse (unseren einzigen Hausrat) aus dem Schrank nahm, wusch ich mir mein Gesicht, das von Feilspänen grau war. Wenn ich mich abgerieben hatte, war ich wie neugeboren. Wir frühstückten. Der Schlaf wich von mir.
Obwohl der Gasthof ruhig war, schlief ich nur schwer ein. Anna legte sich noch einmal nieder. Endlich schlief ich neben ihr in einer Glückseligkeit von Blättern, Lianen, Meer und Sonnenländern, aber oft quälte ich mich wieder im Wirbel mit der Fabrik.
Anna wusste noch besser als ich, wie der Schlaf eines Fabrikkumpels ausarten kann. Ich hätte nie mehr aufstehen, jahrhundertelang neben ihr schlafen und in einer anderen Welt ohne U-Bahn, ohne Fabrik wieder erwachen mögen. Trotzdem musste ich, wenn der Abend kam, wenn die Lichter in den Läden aufflammten, mein nacktes Fell wieder bekleiden, einen schlechten Konfektionsanzug und Schuhe anziehen, den billigen Pappkoffer nehmen — und weggehen.
Die ganze frühere Zeit, in der ich Anna nicht gekannt hatte, fehlte mir jetzt. Jeden Tag musste ich mich losreißen, um zur Arbeit zu gehen. Ich war sicher, dass ich sie von jeher gesucht hatte. Ich „erkannte" sie wieder, ich hatte sie „gesehen", wir waren „füreinander bestimmt". Seit der Entstehung der Erde bis zur Zeit Fords hatte ich Hunderte von Pflanzen- oder Tierexistenzen durchlaufen, um zu ihr zu gelangen. Jetzt war unsere Zeit knapp bemessen, denn die Arbeit trennte uns, und am Ende stand der Tod. Das Dasein war zu kurz, als dass ich Anna ohne Ergriffenheit hätte betrachten können. Die wahre Welt war die Liebe; durch die Welt des Eisens wurde sie noch notwendiger. Die Hände, die Maschinen und Stahl packen, sind noch hungriger nach der Berührung mit dem Fleisch.
Wenn man mich fragte, ob ich verheiratet sei, fand ich keine rechte Antwort. Nur schiefe Worte. Man fand für mich die Antwort: „Du lebst in wilder Ehe."
Die Arbeit am Tage ließ mich trotz der größeren Anstrengung gegenüber der Nachtschicht in besserer Verfassung. Manchmal, wenn ich aus der U-Bahn herauskam, fand ich aus dem maschinenhaften Zustand heraus; ich sah die Straße, atmete sie: den Geruch des Wassers, des regennassen Gehsteigs, der Blätter und des Rauchs — berauschend nach dem U-Bahnschacht. Unvermittelt war der Frühling da. Die Knospen hatten sich in kleinen hellgrünen Blättern aufgetan, wie ein Wunder aus den dürren, von Asphalt eingefassten Bäumen hervorgesprossen, rührend durch soviel guten Willen. Losgelöst aus ihrer Umgebung grauer, schiefergedeckter Häuser ragten weiß verputzte Hausfassaden wie Bettlaken hoch gegen das azurblau gelichtete Grau des Himmels auf. An anderen Tagen sah ich die Straße nur, soweit ich mit der Nase darauf stieß, von dem einzigen Willen beseelt, dem dichten Gewühl der plumpen Autobusse zu entkommen, und ich hätte gelebt, ohne die Jahreszeiten wahrzunehmen, fest davon überzeugt, dass es keine Wälder, keine Felder mehr gab, dass Industrie und Großstadt die ganze Erde verschlungen hätten, wären mir nicht in den Schaufenstern Kirschen und Trauben zu Gesicht gekommen oder rötliches Laub im Kiosk einer Blumenhändlerin. Mein Herz weitete sich bei dem Gedanken, dass die Stadt nicht alles überschwemmte. Und doch liebte ich diesen Stadtteil von Paris, den absteigenden Boulevard Gambetta, der am Friedhof Pere Lachaise vorbeiführt, liebte die Mauern, den Efeu, den Gedanken an das große Ausruhen nebenan und auch jene lebendige Menge, die Gemüsehändler, Klempner und Anstreicher, all die Leute jenes Viertels, die vertrauensselig, mit einer gewissen Heiterkeit und in klugem Einvernehmen zu leben schienen. Die Vergangenheit war mir nicht nachgefolgt, und wenn ich mich in Paris auch auskannte, so fühlte ich mich doch im Grunde etwas verloren, beinahe so verwirrt, als wäre ich soeben in London gelandet. Nur Anna füllte mich aus. Sie hatte geglaubt, dass wir uns auf dem Montparnasse besser fühlen würden, näher dem heitersten und lebendigsten Treiben von Paris. Wir könnten uns die Gemäldegalerien ansehen, die Bibliothek Sainte-Genevieve besuchen, bei den Buchhändlern in Büchern herumblättern, könnten uns in die großen Cafes setzen und sogar im Luxembourg-Park spielen; wir könnten in dem Paris, dessen Entdeckung sie in Begeisterung versetzte, ein gescheites Leben führen. Alles hätte schön und durchführbar sein können, wäre nur die Müdigkeit nicht gewesen. Wenn ich abends im Cafe, wohin ihre Neugierde mich trieb, verwundert die Gesichter einer Jugend betrachtete, die aus aller Herren Länder gekommen war, wurde ich zu schnell müde von dem Tabaksqualm und von der Aufmerksamkeit, die ich aufwenden musste und deren Gegenstand ich wurde. Wir gingen wieder ins Freie. In Paris sieht man nicht viel von den Sternen, die Straßen sind zu hell erleuchtet. Die Nacht war sternenlos. Ich schritt neben Anna her und passte das Maß meiner Schritte dem Wiegen ihrer Hüften an. Ich hätte auch meinen Atem dem ihren angeglichen, wenn ich gekonnt hätte.
Selten fand ich Vergnügen an unseren Ausgängen.
Die Blumenbeete des Luxembourg ließen mich kalt. Ich wurde nur noch wach, wenn mich der Höllenlärm der Fabrik aufnahm, auch draußen verfolgte er mich. Ich war ein Stück Fabrik für alle Ewigkeit. Ihr Dreck klebte an meinen Stadtkleidern. Wenn ich auf einer Bank im Luxembourg saß, fühlte ich mich nicht dahingehörig, mehr schon im Arbeiterviertel Menilmontant. Dabei hätte ich lieber mit wachen Sinnen gelebt, wäre lieber beim Anblick von Blumen glücklich gewesen und hätte lieber an der Fröhlichkeit Annas, die mich grauen Schatten ertrug, teilgenommen.
Im Kino hatte ich in einem Kulturfilm ein Rudel Kongoneger gesehen, die auf einem Fluss in Booten Fische fingen und sie dann ihren Frauen ins Dorf brachten, hatte gesehen, wie der ganze Stamm Maniok anbaute und erntete, und wie die Frauen ihn in Flaschenkürbisse stampften. Das war für mich das wahre Leben; ich hätte am liebsten direkt die Nahrung erzeugt, mit dem Wasser Berührung gehabt und fast nackt wie sie gelebt. Ich war zu weit von der Natur entfernt, ich verdorrte.
Der unabsehbare Raum, Meeresblau und Azur des Himmels, ist in seiner ganzen Weite, seiner Tiefe, seiner Höhe wie ein leuchtendes Aufatmen. In ebener Flucht wird das Meer eins mit dem sich neigenden Himmelsgewölbe.
Der Himmel liebkost das Land unten, den düsteren, in Hügeln, Schluchten und Wäldern dampfenden Körper, der sich vom Fuß des Gebirges bis zum Meer hin ausstreckt, und lässt über die schlafende Erde den leichten blauen Odem eines frühlingshaften Hauchs gleiten. Liebeshauch über der Erde, allgegenwärtig wie eine Erscheinung, die zur Vermählung von Himmel und Meer gehört.
Der Küste entlang treibt eine Gebirgskette in angespannter und zäher Verkrampfung ihre Landspitzen, ihre Kaps und ihre Ausläufer ins Meer. Landeinwärts zieht sich eine Herde von welligen Bergen ins Unendliche hin, bis zu dem milchigen Himmel, über den höchsten Lämmerwolken.
Hier, auf der getigerten Flanke des Gebirges, auf den Felsen, dem Geröll und der Erde hat das Licht, in dem Pflanzen, Gesträuch und Gestein baden, die Farbe der Sonne, die Farbe lodernden Holzes. Es riecht nach Raubtierfell, Pfeffer und Lavendel, nach der Haut Afrikas, nach Thymian und verbrannter Erde, und lässt das Getier alle Gerüche der Wildnis ausschwitzen.
Hart ist der Boden, auf dem meine Füße ruhen. Die Erde um mich her ist kein Scheingebilde, sie ist eine gewaltige Gegenwart. Und ich in meiner Menschenhaut bin ein Schatten auf dem Gestein.
Die letzten verstreuten Gebirgskiefern spreizen ihr Geäst, ihre Nadeln funkeln, sonnenumstrahlt, blau umrändert. Dicht über dem Boden ist alles fast flammenfarbig, nahe dran, in der Sonne aufzugehen, und die Sonne hüllt mich ein, und ich weiß nicht mehr, was sie ist und was ich bin, weiß nicht mehr, was in meinen Gliedern Fleisch ist und was Sonne.
Hart ist der Boden unter meinen Füßen, meine Hände spüren die schneidende Schärfe des Kiesels, und ich erkenne meine Schwäche auf dieser riesigen Masse von Schweigen, Stein und Sonne. Aber die Anstrengung des Steigens hat mich belebt, und ich fühle mein Leben wie einen Vogel in der Hand, so leicht.
He, Bruder, verlier dich nicht, du bist Arbeit suchen gekommen. Nicht der Berge wegen bist du hier. Schön ist es, das alte Herz unten gelassen zu haben und nun ein neues zu besitzen, wie man ein neues Messer hat. Das Gestein ist gefühllos, und der Himmel hat nichts von einer Mutterbrust. Man lebt nicht vom Licht. Schlepp dich acht Tage ohne Essen durchs Gebirge, und du wirst ein ausgedörrter Wurm sein.
Ein herabrollender Stein verscheucht eine Schar Eichhörnchen. Geschwind raschelt es in den Linden. Drüben fliegen Rebhühner kreischend aus dem Gesträuch auf. Das sind die einzigen Geräusche, während ich auf einem flachen Pfad zwischen zwei Büschen honiggelb blühenden Ginsters voranschreite.
Und jäh war die Schönheit des Gebirges dahin. Ich stand vor der Schäferei, große Hunde kamen heran und beschnupperten mich. Michel, der Verwalter, hob den Kopf. Besorgt wegen das Eindrucks, den ich auf ihn machte, bedauerte ich plötzlich, dass ich in Leinensandalen gekommen war, um nach Arbeit zu fragen.
Der Verwalter und seine drei Hirten machten sich mitten unter den Tieren zu schaffen; abseits weideten Ziegen unbewacht an einer Hecke. Schwarz und weiß gefleckte Zicklein tollten rings um die Herde herum, sprangen eine kleine Mauer herab und hüpften neben mir auf dem Pfad hin und her.
Lämmer, die das Glück hatten, erst seit dem Abend vorher am Leben zu sein, standen zart und schwankend auf ihren eintägigen Beinen und saugten, heftig mit den Köpfen zustoßend, an zufriedenen Mutterschafen. Andere Schafe, eingekeilt in die Menge der wogenden Rücken, blökten unaufhörlich und riefen nach den Lämmern, die eben von den vier Männern kastriert wurden.
Inmitten der triefäugigen Schafe mit der langen, grünlichen, kotbesudelten Wolle schienen die Hirten mit ihren abgestumpften, verhärmten Gesichtern, ihren zerlumpten Klamotten, struppig und borstig, weniger der Gattung Mensch als vielmehr einer höheren Hunderasse anzugehören. Das Haus, vor dem sie krummbeinig und in Holzschuhen durch den Mist stapften, sah weniger nach einer menschlichen Wohnstätte aus als nach der Höhle einer Art vorsintflutlichen Getiers. Drei Türen — drei schwarze Schlünde — unterbrachen die Vorderfront dieser gedeckten Höhle. Dort ließ der Verwalter seine armen Teufel hausen, die er unter den Einfaltspinseln zum Zwecke einer ertragreichen Ausbeutung des Gebirges ausgesucht hatte.
Während sie Michel beim Kastrieren der Lämmer zur Hand gingen, dachte ich, dass auch bei ihnen durch eine allmähliche Operation das verstümmelt war, was man die Menschenwürde nennen kann. Ich fühlte mich bedroht, dem gleichen Zustand zu verfallen, wenn ich das Leben dieser arglosen, verdreckten und schon beinahe der Sprache unkundig gewordenen Männer teilte.
Groß und hager, mit dem Gang eines Fabrikarbeiters, war ich eben vor den Augen des Verwalters aufgetaucht. Nachdem er meinen Gruß erwidert und mir durch ein Zeichen bedeutet hatte, zu warten, bis er fertig sei, beschäftigte er sich weiter mit den am Boden liegenden und an den Beinen gefesselten Lämmern. Die Hirten,
die das Messer oder einen Bindfaden zum Abbinden der Geschlechtsteile hielten, trugen die jungen Tiere heran und reichten sie von Hand zu Hand wie Holzsohlen für Pantinen.
In sauberem Manchester, mit glattrasierten Wangen und einem dünnen braunen Schnurrbart stach Michel von seinen Hirten ab. Er war ganz der Typ eines Zigeuners, der Pferde verkauft, hatte die Verschlagenheit und die Intelligenz eines südlichen Roßtäuschers, dürr, olivenfarben, mit regem Blick. Mit seinen fünfzig Jahren war seine Energie schon ein wenig schlaff und abgespannt.
Er gehörte zu den Leuten, in denen das menschliche Mitgefühl abgestorben, deren Blick für die Schönheit der Welt getrübt ist, und die nach beendeter Jugend im alten Trott so weiterleben, als würden sie eine Art Strafarbeit bis zum Ende ausführen — was sie freilich nicht hindert, den Kampf um ihre Interessen erbittert auszufechten. Das ist sogar der einzige Sinn ihres Daseins, da ihnen die Selbstsucht alle übrigen Bindungen des Menschen an seine Existenz ersetzt. Im Grunde war er der landläufige Typ des Verwalters oder Grundbesitzers, ein Automat, wie es deren viele gibt. Die Berge hatten ihn hart gemacht, ohne seine Schlauheit zu schwächen, während sie die Hirten, die kaum von da oben herunterkamen, in einen an Verblödung grenzenden Zustand versetzten. Für einen solchen Menschen existiert man nicht, bestenfalls ist man wie ein Stein, wenn er gerade einen braucht, um einen Pfahl einzuschlagen.
Nachdem Michel zunächst ein saures Gesicht gezogen und ein kurzes Zögern markiert hatte, stellte er mich für die Heuernte ein. Zwanzig Frank pro Tag ohne Verpflegung. Ich protestierte heftig, aber er sagte, er könne bei der gegenwärtigen Krise unten haufenweise Leute finden, die zufrieden wären, wenn sie für den mir gebotenen Lohn Arbeit bekämen. Mit meinen zehn Frank in der Tasche und angesichts der Schwierigkeiten, die ich unten kennen gelernt hatte, blieb mir keine Wahl. Ich nahm an.
Der Verwalter konnte mir als Unterkunft nur das frische Heu der Scheune anbieten, und so hatte ich es vorgezogen, mein Zelt aufzuschlagen. Mitten in der Nacht brach das Zelt zusammen, und ich sah mich bei strömendem Regen gezwungen, in einem Karren unter einem Schuppen Schutz zu suchen.
Am nächsten Tage schickte mich der Verwalter mit dem Maulesel zu dem kleinen Bahnhof in der Schlucht, um Lebensmittel zu holen. Die Sonne brannte auf das Gestein, auf die kupferne Erde, auf die riesige Felswand gegenüber, die mit ihren Schattenfalten, ihren Lichtflächen einer Wagenplane im Feuerschein glich. Alles war Sonne, Hitze, Aufruhr, kraftstrotzendes Gestein.
Wir, der Maulesel und ich, stiegen in das Chaos dieser amerikanischen Gebirgslandschaft hinab, zwei verschwommene Schatten, flüchtige Gestalten, mit Blut wie dickflüssiger Wein, und ich vergaß den Verwalter und die Nacht, die ich in Erwartung des anbrechenden Tages verbracht hatte.
Mäher, in Manchester gekleidet, mit schweren Schuhen, mit Regenschirm unter dem Arm und der Sense über der Schulter, waren von einem der Dörfer des Tales heraufgekommen. Es waren gute Kerle, offen und ehrlich, mitteilsame Männer, die sich unterhalten konnten, ohne erst die Leute lange zu kennen. Jedes Jahr zogen sie zur Heu-, Getreide- oder Lavendelernte in die Niederalpen oder nach Vaucluse. Dieses Jahr waren sie in der Nähe ihrer Heimat in den Alpes-Maritimes geblieben. Sie versicherten mir, dass alles schlecht stünde, ohne mir aber Einzelheiten über ihre Abmachungen mit Michel zu verraten, der in der Nähe stand und sie hätte hören können. Da sie die Verhältnisse besser kannten, waren sie vielleicht weniger „reingefallen" als ich.
Auf einer Mauer vor der Schäferei aßen wir zusammen unser Frühstück.
„Du brauchst was Feuchtes zu deinem Brot! Iß doch nicht Brot mit Käse, das ist trocken. Nimm lieber Büchsenfleisch. Hier, trink einen Schluck, da hast du die Flasche!"
So sprach zu mir ein kräftiger Alter mit dem guten Gesicht eines Mannes, der im Freien lebt und Familienvater ist.
Später sah ich die Mäher nicht mehr: Sie arbeiteten auf den Wiesen des Hanges, der in weiten, natürlichen Terrassen stufenförmig abfiel. Ich war oben allein mit Michel beim Heumachen, hantierte mit der hölzernen Heugabel und mit dem Rechen.
Das Jahr war regnerisch. Vom Meer stiegen Wolken auf und durchnässten uns; ein Wolkenmeer zog sich um den Gipfel zusammen. Als Michel einen baldigen Platzregen voraussagte, schichteten wir das Heu in aller Eile auf.
Von dem unendlichen Horizont, den man da oben bei schönem Wetter überschauen konnte, hatte ich den Blick auf meine Arbeit gerichtet und ging völlig auf in der silbern glänzenden Wiese, in dem Heuhaufen, dem Heuduft, dem ausgebreiteten Heu, dem Heu auf meiner Gabel, oben silbern und unten grün, in dem leisen, unaufhörlichen Rascheln meines Rechens in den dürren Halmen: ich schwitzte Heu. Michels Anwesenheit war das einzig Zweifelhafte in der Seligkeit, dazusein, emsig und still.
Der Schatten großer Wolken, weitgespannten Flügeln gleich, zog schweigend über uns hinweg. Träge Nebel krochen über dem Boden herauf und überzogen den Rücken des Gebirges.
Die Hände wurden kühl, die Augenbrauen feucht; man wurde selber Nebel, als besäße der Nebel, der Gegenstände verwischt und Bäume in Schatten verwandelt, eine eigenartige Seele, die die Phantasie ansprechen und ein Leben ferner Erinnerungen neu erwecken könnte, wie die Kindheit in einem Erwachsenen wieder lebendig wird, wenn ihm eine mütterliche Hand übers Haar streicht. Es wurde einem nordisch zumute, als streiche man durch London.
Der Himmel klärte sich auf, und vom weiten Horizont umgeben, wurde man wieder Gebirgsrücken, Duft, Rascheln der Gräser. Alle Verwandlungen des Himmels setzten sich in Träumereien um, in eine Filmvision, in Bilder und Gedanken, die man wieder vergisst und die eine Stimmung stiller Heiterkeit, Lebensfreude, strahlende Gesundheit hervorrufen. Man war wie ein Bach, über dem eine Pappel ihre Blätter schüttelt und der auf seinem Wege sein Murmeln mit den Bildern der Landschaft vermischt. Man war gleichsam Wind und Schilfrohr, und dieser Mensch, der Michel, der dort mit einer Gabel auf der Wiese arbeitete und dessen Nähe ich ohne die mindeste Zuneigung spürte, störte mich wenig.
An den Regentagen schlief oder las ich in meinem Zelt. Michel war mit mir zufrieden, er konnte mich gut gebrauchen, obgleich er nicht geglaubt hatte, dass ich mit einer Heugabel umzugehen wüsste, als er mich mit meinem Städtergesicht hatte kommen sehen. Er verkaufte mir alle Lebensmittel, die ich brauchte: Reis, Nudeln, Wein und Konserven. An den Regentagen verdiente ich nichts.
Trotz der magischen Kraft des Gebirges mit seinem raschen Übergang von Regen und Nebel zu strahlendem Licht fing ich schließlich doch an, trübsinnige kleine Berechnungen anzustellen und Michel schief anzuschauen, der ein doppeltes Geschäft mit mir machte: lange Arbeitstage, niedrige Löhne und Lebensmittel zu Wucherpreisen.
Ich arbeitete mit Schwung, ich war mehr wert. Was konnte ich gegen diesen langfingrigen Automaten unternehmen?
Mit der Absicht, ihn ganz sachte auf den Arm zu nehmen, habe ich zu ihm gesagt:
„Herr Michel, ich muss Sie verlassen. Mit dem Lohn, den Regentagen dazwischen und den Lebensmitteln, die ich Ihnen abkaufe, werde ich Ihnen bald Geld schulden, wenn ich weiter für Sie arbeite. Ich müsste Sie anpumpen, das wäre schade ..."
Er hat meine Höflichkeitsformeln wortwörtlich genommen. Er hat mir zwei Frank mehr pro Tag geboten, die er fürs Öl oder für die Kartoffeln rasch wieder hereingeholt hätte, und ich habe den alten Verwalter mit den krummen Fingern nach diesen ruhigen Worten verlassen, um unten, wo die Krise wütete, eine fragwürdige Arbeit zu suchen.
Der Autobus rollt durch eine Berglandschaft. Heiser, als habe sie sich im Regen erkältet, stößt die Hupe ihre Warnungsrufe in die zahlreichen Kurven hinaus. Nizza 50 km. Kilometerlang nichts als nackte Felsen. Der Regen webt ein Band vom Fels zur Straße, von der Landschaft zum Wagen — alles liegt im gleichen Dunst. Dann und wann versperrt frisch herabgestürztes Geröll die Straße. In den Schluchten fährt der Wagen unter Wasserfällen dahin.
Ich habe Nizza mit zwanzig Frank verlassen, fünfzehn kostet der Autobus. Wenn es klappt, wird es da oben Kost und Logis geben und Kredit in der Kantine. An der Küste ist keine Arbeit mehr zu finden, außerdem habe ich keine Lust, mich unter den Augen von Müßiggängern abzurackern.
In der Tasche habe ich einen Einstellungsschein für eine Baustelle zur Straßenerweiterung in den Schluchten. Es wird hart werden. Man muss zupacken. Es wurden „gute Erdarbeiter" gesucht. Ein Kamerad hat mich gewarnt: Blutsauger haben den öffentlichen Auftrag mit einem Preisnachlass von 40 Prozent übernommen: zehn Stunden Arbeit, häufige Unfälle und Steinschläge.
Es regnet nicht mehr. Die Sonne prallt auf die Blätter der Feigenbäume. Der Autobus hält vor einer Gastwirtschaft im Tal, am Fuß eines Dorfes, das wie ein grünender Käfig oben am Fels klebt und mit seinen Häusern in der Farbe von Schwalbennestern auf uns herabblickt, eine Oase zwischen Kilometern nackter Felsen. Das Land lächelt im Schmuck seiner Feigenbäume und seiner blühenden Kartoffelfelder. Menschen haben sich dort angesiedelt, aber ein Käfig ist es doch, aus dem man nur auf der dem Tal zugekehrten Seite herauskommen kann.
Der Autobus fährt weiter. Nach einer Kurve biegt er aus dem Tal in die Schlucht ein. Über ihr bleibt vom Himmel nur ein sich schlängelndes Band. Die schmale Straße führt zwischen zwei schroff abstürzenden Felswänden an einem Wildbach entlang. Oh, liebliche Schöpfung, wie ist das Fleisch doch zart neben dem Felsen! Nur schnell heraus da, zurück zürn freien Horizont! Erdarbeiter schaffen auf der engen Straße; sie drücken sich an die Felswand, um den Autobus vorüberzulassen. Da irgendwo muss die Baustelle liegen; die Kantine kann nicht mehr weit sein.
Vor einer lang gestreckten Holzbaracke hält der Autobus an. Hunderte von Metern ragen vorn und hinten Felsen über sie hinaus. Es ist weit vom Dorf. Da also wird man abends leben müssen, dicht aufeinander, bei einem Liter Rotwein. Ich gehe hinein. Das könnte Argentinien sein: An die hundert Erdarbeiter, rot wie der Fels hierzulande, warten auf das Abendessen. Am anderen Ende der Baracke sehe ich die Betten in Reih und Glied. Na ja: Zwangsarbeit und abends Kaserne.
Ich habe meinen Einstellungszettel dem Kantinenwirt gegeben, der ihn in ein kleines Büro zu den Chefs hineingibt. Es riecht nach Sägespänen, nach Regen und Weinresten. Es riecht nach Resignation. Ganz gleich, welche Lebensbedingungen man ihnen bietet, die von der Krise gehetzten Burschen nehmen sie hin.
„Franzose?" fragt der Kantinenwirt. „Ja, Franzose." Schlecht, Franzose zu sein. Ich gehöre zu den Arbeitskräften, die Ansprüche stellen. Die primitiven Piemontesen sind für die Unternehmer, die 40 Prozent Preisnachlass gewähren, bequemer ... Vielleicht deshalb beschnüffelt man mich so, betrachten mich die Leute mit bedrückender Aufmerksamkeit ... Ich hatte von meinen Arbeitsbrüdern einen anderen Empfang erwartet. Die Burschen sind gegen Gefühle gepanzert: So oft gibt es Unfälle, Explosionen, Steinschläge, Tote und Verwundete. Schließlich bin ich in ihren Augen bloß ein Stück Arbeitsvieh.
„Gut. Sei morgen um sechs Uhr da", hat der Kantinenwirt gesagt.
„Und wie ist es mit dem Schlafen?"
„Bah, heute abend ist kein Platz. Ich habe keine Betten mehr, sieh zu, wo du bleibst, fahr mit dem Autobus zurück ... und sei morgen früh um sechs hier!"
Ich möchte etwas essen. Ich habe kein Geld für Gasthof und Essen. Ich schlage dem Kantinenwirt vor, auf dem Tisch zu schlafen und hier zu essen, da ich kein Geld habe. Kredit ist in den Kantinen üblich: Der Kantinenwirt bekommt sein Geld alle vierzehn Tage.
„Wenn du kein Geld hast, bekommst du nichts", antwortet der Kantinenwirt, „hilf dir selbst."
Und in der Tat, ich ziehe vor, mir „selbst zu helfen". Im Grunde bin ich froh, der Sklavenhalterbude noch für einen Abend zu entwischen.
In zahlreichen Windungen erreicht die Straße das Hochland. Gras überwuchert den roten Fels. Aus mit Argentinien, jetzt fängt die Schweiz an.
Oben tauchen aus dem Nebel die Dächer einzelner Sennhütten zwischen den Lärchen auf; dann kommt das Dorf zum Vorschein, von Weiden und grünen Haferfeldern umgeben. Von neuem erwacht das Leben in einer weiten silbrig glänzenden Landschaft.
In dieser Gegend herrscht eine andere Jahreszeit: Es ist kalt. Es ist kalt, wenn man aus dem Autobus aussteigt. Die herumlungernden Bauernburschen, die auf dem Dorfplatz Läden und Kunden angaffen, tragen Gamaschen und sind winterlich angezogen. Die Häuser sind noch grau wie dreckiger Schnee, und die Bauern sind noch winterlich.
Es ist ein kleines, düsteres und schmutziges Dorf. Ich fürchte, ich habe mich auch hier in eine ungastliche Gegend verirrt. Das Zelt in meinem Rucksack kann mir keinerlei Hilfe sein.
Ich bin in den Tabakladen gegangen. Aus meinem Rucksack habe ich eine Jacke und schwere Schuhe herausgenommen, alles, was man gegen die passive Feindschaft des Bodens und der Bauern braucht. Der kleine, verdrießliche Budiker hat mir nach ein paar Einkäufen erlaubt, meinen Rucksack unter die Bank zu stellen, und seiner angeborenen Unfreundlichkeit habe ich die Kenntnis entlockt, dass eine große Baufirma, die sich hier niedergelassen hat, im Dorfe einige Kantinen betreibt.
Alle sind Steinmetzen, Zimmerleute, ungelernte Arbeiter oder Maurer. Kurz vor dem Essen sind ungefähr zwanzig Mann in der Kantine. Sie kommen von überall her, Portugiesen sind darunter und Italiener. Der französische Akzent beim Französisch-Sprechen sollte sie eigentlich nicht verwundern, aber jeder Neuankömmling ist ein Fremder.
Niemand fragt: „Wo kommst du her?"
„Es wird niemand gebraucht", sagt der Werkmeister.
„Erdarbeiter müssen sich an Zangotti wenden, früh vor sechs Uhr, sonst ist er weg zur Baustelle."
„Und wenn ich heute abend mit ihm sprechen würde?"
„Das wäre sicherer. Aber die Kantine ist im nächsten Dorf, ein paar Kilometer von hier."
Ein Werkmeister hat mir geantwortet, aber von den Kumpels fragt keiner: „Wo wirst du schlafen?"
Ü ber eine aufgeweichte Landstraße tipple ich zum Dorf. Der Abend bricht an.
Dumpf graut es mir vor Regen, Frost, Obdachlosigkeit und vor jener kalten Indifferenz, die vom Felsen dort unten auf die Menschen hier übergreift.
Zugleich aber finde ich den grenzenlosen Horizont wieder, möchte gern hier oben arbeiten. Die Kantine ist noch weiter, aber nicht mehr sehr weit. Es ist dunkel. Unter dem endlosen Himmel scheinen die niedrigen Häuser sich wie versprengte Tiere einer Herde zusammengeschart zu haben. Aus einer anderen Gruppe von Hütten dringen Lampenlichter, verirrten Sternen gleich, in die Nacht hinaus. In den Ställen bimmeln die Kühe mit ihren Glocken wie aus weiter Ferne. Das Leben zieht in schweigendem Rauch dahin.
Vom plötzlichen Licht geblendet, kann ich nur mühsam in der verrauchten Kantine die Gesellschaft erkennen, die sich dort lärmend aufhält. Ich trete ein wie ein Mann mit Elefantenhaut, durch die keine Sorge dringt: rundlich, brav, gutmütig, der die Arbeit liebt und alle Tage frühzeitig und wohlgelaunt beim ersten Hahnenschrei aufsteht.
„Zangotti?"
„Das bin ich!"
Da sitzt ein kleiner Kerl mit negroiden Zügen und Chamäleonsaugen und antwortet mir:
„Ich habe mit den Einstellungen nichts zu tun, aber komm morgen früh ins Büro. Du bist Franzose? Du wirst eingestellt. Wenn nicht, gehe ich mit dir hin."
„Sie müssen ihn nehmen, bun diu!" sagt der kleine Portugiese.
„Du wirst eingestellt, Franzose", sagt Francois, der Korse.
„Es wäre allerhand, wenn er nicht genommen würde", sagt Martinez, der Spanier.
„Scheint ein bravo ragazzo", sagt der paduanische Steinmetz.
Ich habe das Gefühl, in der Schenke des barmherzigen Samariters zu sitzen. Martinez, der Spanier, bietet eine Zigarette an, ich spendiere eine Flasche. Meine Ankunft und die Einstellung werden endlos erörtert. Alle sind fröhlich an diesem Abend. Der kleine Portugiese mit dem langen Schnurrbart rollt die Worte, als seien es Schubkarren in nassem Lehm. Es fallen Worte, immer die gleichen, wie Steine von einem herabkippenden Lastwagen. Was gibt's? Immer noch geht es um meine Einstellung. Ich denke nicht mehr daran. Meine Hände, die nicht grob genug sind, und meine zu raschen Gedanken hemmen mich. Zangotti hört nicht auf, mich zu beobachten.
„Ach so, du bist also in der Schlucht gewesen? Warst du im voraus eingestellt? Hast du unten nicht gearbeitet? Du wärst sowieso nicht dageblieben."
Ich versichere ihm:
„Oh, ich habe schon schwerere Arbeiten gemacht."
„Das ist die Hölle", sagt Gringo und zeigt seine vom
Steinschlag aufgerissenen Unterarme. „Ich habe unten gearbeitet, aber ich wäre beinahe draufgegangen. Hier wirst du im Stroh schlafen müssen, in der Scheune, wie die Wilden, wie wir", fügt er hinzu.
„Meine Decken sind unten im Rucksack."
„Das macht nichts, ich borge dir welche, und mit meinem Mantel wirst du schon nicht frieren", sagt Martinez.
Der Radau geht wieder los in der Bude.
„Sing, bun diu, Francois!" sagt der Portugiese mit dem langen Schnauzbart.
Francois singt ein Lied:
„Ri-ki-ki, tru-la-la, morgen ist noch einmal Festtag, ri-ki-ki, tru-la-la, morgen machen wir noch blau!"
Der kleine Portugiese bricht in ein Gelächter aus, selig wie ein Kind.
„Sing, bun diu, Francois!" Und er schlägt mit der Faust auf den Tisch.
Nicht alle Abende sind so ausgelassen.
„Povere ragazzo!" sagt der paduanische Steinmetz.
„Ein junger Araber ist auf der Baustelle umgekommen", sagt Zangotti.
„Er hat nicht achtgegeben", sagt Martinez.
„Wie ist es denn passiert?"
„Er war zum Wasserholen in die Schlucht hinabgestiegen, ohne Bescheid zu sagen. Die anderen oben ahnten nicht, dass er unten war, und schoben einen Felsblock von der Straße herunter. Plötzlich ist der Block ins Rollen gekommen. Er hat ihn unten kommen sehen. Er ist in eine andere Richtung gesprungen und hat sich unter einen Felsvorsprung gestellt, aber der Block ist noch einmal abgeprallt. Wir sind alle mit Hebebäumen hinuntergegangen. Sein Kopf war eingeklemmt, aber nicht zermalmt. Er stöhnte. Es war schwer, ihn herauszubekommen, er lebte noch. Schließlich ist es gelungen. Im Spital ist er gestorben."
„Povero!" sagt der kleine Portugiese noch einmal.
Zangotti fährt sich mit der Hand über die Stirn.
„In einem Tunnel habe ich einmal einem Kameraden die Beine absägen müssen, um ihn herauszuholen. Ja; die Beine waren zerquetscht. Nur so konnten wir ihn freibekommen."
Und ich sehe den Erdarbeiter Zangotti mit seinen Chamäleonsaugen und den afrikanischen Zügen, wie er schaufelt, egal ob Erde oder Fleisch.
„Sing, bun diu, Francois!" sagt der kleine Portugiese.
„Los, sing, Francois!" sagt Gringo.
Und Francois stimmt an:
„Ri-ki-ki, tru-la-la, morgen ist noch einmal Festtag, ri-ki-ki, tru-la-la, morgen machen wir noch blau!"
Und dann:
„Sie haben mir dein Bild geklaut, dein liebes Bild, Mama, sie haben alles mir geklaut, die bösen Boches, Mama."
Es ist spät. „Gehen wir schlafen", sagt Martinez.
„Bisogno lavorare!" sagt Zangotti.
Morgen gibt's schönes Wetter, hat Gringo gesagt. Der Himmel ist hoch und hell. Ein halbes Dutzend von uns schläft in der Scheune. Martinez schläft nebenan im Erdgeschoß, Francois weiter oben in einer anderen Scheune.
Gringo steckt eine Kerze an, dann macht jeder stillschweigend sein Strohlager zurecht.
„Saluti! Buona sera!"
Gegen Mitternacht kommt ein Schatten herein und flucht: „Herrgott noch mal! Ich komm hierher, unmöglich da oben zu schlafen! Ich schlitze ihm noch den Bauch auf, diesem Gauner. Arbeiten und dann nicht schlafen können!"
Oben im Schlafraum sang Francois weiter.
Jahrhundertelang haben die wilden Einwohner dieses Landstrichs von den Erzeugnissen ihres Bodens gelebt, von ihren Weiden und ihren Kartoffeln. Ihr Dorf war durch den Mangel an Verkehrswegen von der Ebene und der Küste abgeschnitten.
Es gibt eine Kirche in diesem Eskimodorf. Auch ein paar Gasthöfe, ein paar Läden. Die Wildheit ist geschäftstüchtig geworden. Touristen kommen, Verkehrsmittel werden eingeführt, die Straße wird breiter, der Eingeborene setzt seine Erzeugnisse gut ab.
Ich bin eingestellt. Es ist Sonnabend. Zangotti hat mir gesagt, es sei besser, Montag anzufangen. Macht nichts, ich habe jetzt Kredit in der Kantine und esse dort.
Es nieselt. Von Zeit zu Zeit kommt die Sonne durch. Es ist mild. Mit all seinen Bäumen, dem sehr zarten, und grünen Gras ist das Plateau wie ein großer, verlassener Park ohne Schloss und Schlossherrin.
Die Kuhjungen erschrecken vor mir. Die Bauern, denen ich über den Weg laufe, haben die Traurigkeit von Schäferhunden, und es sieht aus, als würde unter ihrem Schnauzbart jeden Augenblick ein Hundegebell losbrechen. Mein Gruß klingt ihnen wie eine Drohung. Sie erwidern ihn nicht.
Auf meinem neuen Planeten setzt mir die Höhenluft eigentümlich zu. Ich bin eine Schlafmütze geworden und muss bei jedem Baum fünf Minuten dösen. Unter dem Idyll dieses bald lachenden, bald weinenden Himmels erwarte ich Reigen von Elfen und Sonnenschirmen, das Erscheinen melancholischer und lächelnder Mädchen aus dem Norden. Der Grasgeruch steigt mir zu Kopf. Als Begleiter habe ich ein Päckchen Zigaretten, das meinem erregten Gemütszustand zum Opfer fällt.
Am Morgen wandern wir, Martinez, Gringo, Joseph, der Kapitän, Rundhut, Marco und andere, im Gänsemarsch durch das milchige Dämmerlicht.
Ich reibe meine kalten Finger, Martinez reibt seine kalten Finger, und jeder von uns, wie ein wohlausgeruhtes Tier, bläst eine Nebelwolke vor sich her.
Ich habe meine eigenen Träume, große Träume, in der Nacht entstanden, die ich jeden Morgen weiterspinne, und die mich erwärmen. Am häufigsten träume ich, dass ich mit einem Esel und einem Sack Korn von einem Ende der Welt zum anderen ziehe und von Zeit zu Zeit arbeite, so wie hier.
Die Baustelle zieht sich an einer Schlucht entlang. Durch den Wald führt ein Weg bis zur Quelle, deren Wasser durch Kanalrohre zum Dorf geleitet wird.
Tief unten in der Schlucht verläuft der frühere Weg. Jeden Morgen kommt hier eine alte Frau auf ihrem Maulesel vorüber und strickt, als ob sie auf einem Stuhl säße.
Die Musiker eines Regiments, das zu Geländeübungen in der Gegend ist, kommen auch in die Schlucht und bringen Morgenständchen, Konzerte voll himmlischer Motive. Das Gequake der Blasinstrumente findet ein unerwartetes Echo: unsere Axtschläge an den Lärchen.
Zangotti stellt alle fünf Meter einen Mann auf, dann geht er mit seinem Hund tiefer in den Wald hinein. Der Pfad ist vorgezeichnet; es genügt, ihn zu erweitern und dabei die festgesetzte Höhe einzuhalten.
Wenn es regnet, suchen wir unter einem Baum Deckung. Schnell ist ein Feuer angezündet. Die wach bleiben, unterhalten es, die anderen schlafen, so wie die Hunde, die uns vom Dorf her nachgelaufen sind, ohne dass einer sie gerufen hätte.
Der Regen geht vorüber, der Nebel steigt auf, und die Sonne kommt wieder zum Vorschein. Wir gehen wieder an die Arbeit.
Die Tage bestehen nur noch aus dem Wetter, der körperlichen Anstrengung, der Jahreszeit, dem Licht und all den Gerüchen der Erde. Es ist ein Leben von Bäumen, ein Heiligenleben ohne Ereignisse.
Es ist schön geworden. Nach dem Essen kommt ein Mittagsschläfchen auf der Erde oder im Moos, mit einer Jacke unter dem Kopf. Die Insekten summen, die im Walde schwebenden Gerüche scheinen zu schlummern, und auch wir würden ohne das Hornsignal zur Wiederaufnahme der Arbeit stundenlang weiterschlafen.
Benommen steht man auf, herausgerissen aus der Behaglichkeit des Eidechsenlebens, zurück in die menschliche Welt der Arbeit. Alle seufzen: Sempre lavorare! Immer arbeiten!
Die Zehnstundentage sind lang. Man trinkt einen Schluck Wein aus der Feldflasche, macht ein paar Züge an der Zigarette. Die Jacke und der Wein liegen beim Nachbarn auf der Böschung. Man wechselt ein paar Worte, dann kann man wieder zur Picke greifen. Die Müdigkeit, wie eine Ausgeburt der Langeweile, ist mit dieser verflogen.
Die Gesundheit ist nicht anspruchsvoll. Tollpatschig, in meinen plumpen Arbeitsschuhen wie ein schwerfälliger Brummer, brülle ich vor lauter Ausgelassenheit wie ein junges Kalb. Aus vollem Halse rufe ich:
„Gringoo! Gringoo! Va bene? Salutti! ...", und Gringo, zwanzig Meter weiter, antwortet: „Turisto! Turistooo! ..." Und wir grinsen mit aufgerissenen Mäulern.
„Zangotti ist mit dir zufrieden, bravo ragazzo, du schwatzt nicht zu viel", hat mir der paduanische Steinmetz gesagt.
Gringo stammt aus San Remo. Ich nenne ihn so, seitdem er mir eine Geschichte erzählt hat. Er hat als italienischer Auswanderer in Argentinien gelebt und dort auf dem Lande gearbeitet. Ein Fremder also, eben ein „gringo", wie sie da drüben sagen ...: „Ich suche mit niemand Streit, aber wer mit mir anbinden will, der erlebt was. Eines Tages, als ich da in einem Cafe saß, bekam ich von einem Argentinier, der Billard spielte, eins mit dem Billardstock ins Gesicht. Es tat weh. Ich habe gesagt: ,Oh, Senor, geben Sie acht, Sie haben mir weh getan.' Der andere antwortet, ohne sich zu entschuldigen: ,Que hay, gringo?'!! An der Tür habe ich ihn abgepasst. Es war ganz finster. Der andere pinkelte an einen Baum. Ich habe den Senor übern Haufen geschossen. — ,Mama, Mama!'"
Gringo ist der Typ eines Bergarbeiters, stämmig, knochig, hartgesotten. Ich kenne ihn nur vom Ansehen, wie ein Tier das andere kennt. In der Scheune, wo wir
schlafen, habe ich meinen Strohhaufen mit ein paar Bohlen von seinem abgegrenzt. Alle machen sich lustig über meinen Luxus, aber auf diese Weise kann Gringo, der überall mit der größten Unbefangenheit Tabak kaut und spuckt, nicht mein Lager treffen.
Zangotti kommt mit seinem Jagdhund und einem Korb voll Pilzen zurück. Hinter einem Baum versteckt, hat er von weitem die Baustelle beobachtet. Um sechs wirft er wortlos einen Blick auf das geschaffte Pensum.
Während er fort ist, arbeiten wir in einem bäuerlichen Tempo, das durch zehn Stunden durchhalten und jeden Tag von neuem wieder anfangen muss. Jeder geht mit seinen Kräften sparsam um, und trotzdem sind wir abends todmüde.
Die schweren, ausgetretenen Schuhe stoßen wie Hufe von müden Tieren an die Kiesel auf dem Wege, der beim Heimgehen endlos scheint.
Martinez, der Spanier, humpelt und watschelt wie eine Ente. Seinen Stock in der Hand, sein Reisigbündel auf der Schulter, sieht er aus wie ein uralter Erdarbeiter. Marco watschelt noch mehr als er, aber er ist weniger erschöpft als wir alle und trödelt, Pilze suchend, hinterdrein.
Der Kapitän lässt einen fahren und schwingt seinen Stock voraus. Er horcht auf den hohlen Klang seiner leeren Feldflasche, und sein Kirmesgesicht runzelt sich vor Lachen.
Rundhut, der Kesse, kramt in seiner Tasche herum, findet eine Kippe und steckt sie sich an.
Milde liegt in der Luft, Müdigkeit in allen Gliedern.
Auf dem Heimweg tut es gut, von weitem die Häuser und die Kantine zu sehen.
„Grüß Gott, Francois!"
„Guten Tag, Franzose!"
Francois, der Korse, kommt von einer Baustelle in der Nähe des Dorfes zurück. Er ist Steinmetz.
Nach der Ankunft waschen wir uns an der Tränke. Kühe kommen, saufen und begeifern uns die nackten Oberkörper. Ich vertreibe sie mit einem Klaps in die Flanke, aber mit den Geizkragen, die sie hüten, tauscht man kaum ein „Guten Abend".
Nach dem Essen, dem Wein und ein paar Zigaretten löst eine angenehme Benommenheit die Erschöpfung ab. Man fühlt sich wohl darin, wie eine Zitronenscheibe im Glühwein.
Francois, der Korse, trinkt und singt nicht mehr: er hat Magenschmerzen.
„Hör mal, Franzose, schreib mir einen Brief. Meine Frau müsste mir mal ein Mittel schicken, das ich immer in solchen Fällen nehme."
Für Marco gibt es gefühlvolle Briefe zu schreiben. Ans Ende eines korrekten und schüchternen Briefes an, die Auserwählte seiner erkauften Liebschaften setze ich einen Gruß für die Madame und für die Negerin.
Martinez ruht sich in Pantoffeln aus. Wir rauchen am Straßenrand eine Zigarette miteinander. Wir alle hier sind von ein und derselben Rasse, alle sind wir eines Tages aus einem Dorf auf und davon, um durch die Welt zu streifen. Diesem Martinez aber, mit seinem Städtergesicht und dem trübseligen Aussehen einer Familienmutter, bin ich näher als den anderen. Ich behalte seinen guten Empfang vom ersten Abend im Gedächtnis.
„Dreißig Jahre, Martinez, und schon weiße Haare?"
„Ja, mein Unfall hat mich alt gemacht. Ich bin nicht mehr so stark. Drei Monate lang habe ich halb gelähmt im Spital gelegen. In den Taucherglocken kommst du dir wie ein Akrobat vor, als wärst du aus Gummi. Sechs Frank pro Stunde bekam ich, bloß riskierst du eben, gelähmt zu bleiben, wenn der Druck steigt. Marseille wird mich so bald nicht wieder sehen ..."
Auf dem Wege unterhalten wir uns über den Achtstundentag, denn hier wollen die Kollegen auch sonntags arbeiten. Wir tauschen unsere Meinungen aus.
„Weißt du, an einem Sonntag gehen wir früh um vier Uhr los und klettern auf den Gipfel da drüben", sagt Martinez zu mir.
Martinez ist der einzige hier, der zu mir sagt: wir wollen sonntags durch die Berge streifen. Aber wir werden nie losgehen ... Am Sonntag überfällt uns die Müdigkeit. Am Ende werden wir von der Gegend nichts kennen als das Dorf und den Weg von und zur Baustelle.
Der Nationalfeiertag ist nicht mehr fern. Francois feiert ihn auf Biegen oder Brechen.
Ich mache die Kantinentür auf: Francois klettert auf den Tisch und springt wieder auf den Fußboden, um den Franzosen ans Herz zu drücken. Der Franzose bin ich, und ich bin nur noch der Kumpel von Francois, der langsam verblödet.
Wenn er nicht betrunken ist, ist er ein ungeschlachter und sympathischer Brummbär. Betrunken ist er ein Scheusal im Delirium, einem Delirium, das er festen Fußes erträgt.
„Sie haben mir dein Bild geklaut, dein liebes Bild, Mama, sie haben alles mir geklaut, die bösen Boches, Mama!"
Rasend schlägt er sich an die Brust; alte Händel kommen ihm wieder in den Sinn, und er verfällt in den Ton der korsischen Ehre. Er improvisiert ein Spottlied auf die Italiener am Nebentisch.
Der kleine Portugiese, der für gewöhnlich gutmütig ist wie ein Kind, verbindlich und unterwürfig gegen Francois, steht auf und zwirbelt seinen langen Schnurrbart.
Gringo, der bei Verdun gekämpft hat, geht in die Scheune, seinen Militärpass und seine Tapferkeitsbeweise zu holen. Aber Francois lässt sich überhaupt nicht darauf ein, die Papiere anzusehen, und brüllt weiter seine Stegreifverse.
Manchmal, wenn Francois sich so heftig an die Brust schlägt und sein Maul, in dem Brot und Wein sich miteinander vermengen, zu weit aufreißt, glaube ich schon, dass mein befreundeter und französischer Schädel nicht weit davon entfernt ist, mit einer als Keule benutzten Bierflasche Bekanntschaft zu machen.
In dieser heiklen Situation erscheint der Kapitän, der auch zu singen anfängt.
Am Sonntagmorgen vergessen Martinez und ich, in die Berge zu gehen.
Ich gehe zur Schlucht, Wäsche waschen. Die Bauern sind schon in der Kirche, der Ort ist abgelegen, ich kann im Wildbach baden und dann, während die Wäsche trocknet, eine Zigarette rauchen oder schlafen.
Ich habe Blei in den Lidern und eine Schwere in den Gelenken, die ich wochentags nicht spüre.
In der Kantine sind Rundhut und der Kapitän, der Kapitän mit seiner guten Laune und Rundhut mit seinen Kainskindern, zwei oder drei rotznäsigen Galgengesichtern. Sie haben ihre Hütte verlassen, um auf der Trift nach Schnecken zu suchen, und nun kommen sie zur Weißweinmesse, in ihren Bacchus-Tempel, der schöner ist als die Wiese.
„Als ich von Chile zurückkam, haben sie mich wegen einer Schmugglergeschichte abgesetzt", sagt der bretonische Kapitän, „aber ich erwarte jetzt den Dreimaster, auf dem ich als Zweiter Offizier in See gehen werde! Stimmt nicht? ... Da, schau, sieh dir meine Papiere an!..."
Und wutschnaubend hält der Kapitän der misstrauischen Gesellschaft seine Papiere unter die Nase. Das Schiffsbuch bestätigt eindeutig, dass der Kapitän ein guter Seemann ist.
„Da siehst du es", sagt er und lacht wie alle anderen.
In der Kantine und im Dorf triumphiert die aufdringliche und großmäulige Kraftmeierei. Die Kantine ist voll von Landsern, die die hochnäsige Tochter des Kantinenwirts mit Notzuchtsträumen umlungern.
„Papa! Sie haben Hure zu mir gesagt!"
Gehen wir.
In der Scheune schlummert es sich behaglich. Ein Lichtstrahl dringt durch die Bretter des Daches, und in seiner Milchstraße tanzen die Stäubchen. Ich erwache so glücklich wie der im Sonnenlicht glänzende Staub der Scheune.
In den Wäldern und um die Seen herrscht die romantische Natur, menschenleer: Landschaften von Watteau ohne lebende Wesen. Ich gehe hin, den Berg hinauf.
Vor mir ein Lärchenhain, ruhig wie ein Friedhof, still wie eine Kapelle; im Dämmerlicht der Bäume treibt dichtes Moos. Diesen Hain habe ich anderswo gesehen ... in der Kindheit oder im Traum. Ich werde wach wie eine Katze, die einen Vogel entdeckt.
Weiter fort auf einem kleinen Hügel wachsen Champignons unter den jungen Lärchen. Schweigen herrscht, kein Vogel, kein Insekt. Ich vergesse das Dorf.
Eine Herde von Kühen biegt in einen Hohlweg. Eine von ihnen kommt heran, das Mahlen der Lefzen nähert sich, und plötzlich sehe ich das prähistorische Ungetüm, den freundlichen Schabernack der Natur, wie ein bis auf diesen Tag unbekanntes Tier.
Kuh und Herde entfernen sich; aber durch eine einfache Bewegung zur Seite, die ein neues Blickfeld freigibt, sehe ich nun zum ersten Mal, gleichsam wie in einer Sondervorstellung am ersten Tage, die Gegenwart des Menschen, meine Gegenwart auf dem Hügel, die Gegenwart des Himmels und der Erde. Weithin erstreckt sich die Erde, Bergesgipfel schließen sie ab. Hinter ihnen die Wand des Himmels. Baum, Wiese und Mensch erstehen vor meinem Blick wie eine frischfunkelnde Seifenblase auf einem Strohhalm.
Ich kann wieder hinuntergehen in die Kantine, die Soldaten schreien hören und meine Ellenbogen in verschüttetem Wein scheuern. Mit meinem unaussprechlichen ' Liebesgeheimnis in der Brust bin ich trunkener und leutseliger als sie alle.
Zwei Zivilisten kommen auf die Baustelle, bleiben stehen, gehen hin und her. Zangotti umkreist sie wie ein Hund.
Einer von beiden kommt gönnerhaft heran und fragt mich — wie ein Europäer einen Eingeborenen:
„Wo kommst du her?"
„Ich komme von X ...."
„Aber vorher, wo warst du vorher?"
„Ich war in Z ...."
„Du bist also nicht aus dem Süden?"
Der bärtige Vogel beugt sich über den Graben, den ich aushebe. Und wenn ich ihn nun auch duzte? Das entspräche wohl nicht den Spielregeln und den guten Sitten; es wäre grob. Lächelnd frage ich:
„Und Sie, wer sind Sie denn?"
„Ich? Der Direktor!"
„Ah, selbstverständlich!"
„Bist du verheiratet? Wie kommt es, dass du hier gelandet bist? Du hast wohl was ausgefressen da unten? Natürlich hat er was ausgefressen, sonst wäre er ja nicht hier, hä? Hast du was ausgefressen?"
Ich antworte mit einem Lächeln auf die Höflichkeiten, die sich über mich ergießen.
„Zangotti, ist der Mann gut? Arbeitet er? Ist er schon lange da?"
„Ja, seit einem Monat", antwortet Zangotti.
„Gut, in Ordnung, du bist ein Kerl!" Und seine Reitgerte senkt sich herab, um dem Tier unten übers Kreuz zu streicheln, aber sie wird aufgehalten.
Ich bin völlig durcheinander. Dieses Schwein hat mich geduzt. Ich arbeite: Ich habe ihn nicht geduzt, ich bin ein Sklave ... Nimm nicht alles so tragisch; es ist doch gut gemeint, dieses Duzen.
Am Abend verdaut Zangotti vor einer Flasche den Besuch des Direktors. Joseph, Marco und Martinez sitzen in ihrer Stube auf Ziegelsteinen um einen Tisch.
„Er ist kein schlechter Kerl, der Direktor", sagt Zangotti, „aber er will nicht haben, dass auf der Baustelle geraucht wird. Er hat recht: Wenn einer raucht, geht er zu seiner Jacke: macht eine Minute; er dreht sich seine Zigarette: macht zwei Minuten; zehnmal am Tage macht es zwanzig Minuten! Der Direktor will keinen auf der Baustelle mit Leinensandalen. Recht hat er. Ein Kerl in Leinensandalen ist nicht so stark, nicht so sicher. Der Direktor will nicht haben, dass man Wein trinkt. Und da hat er unrecht! Denn wer Wein trinkt, hat Kraft..."
Joseph, Marco und Martinez hören dem Wachhund Zangotti respektvoll zu.
Nachts friert es nicht mehr; kein Reif mehr des Morgens. Die verspäteten Regenfälle haben aufgehört, das Heu ist trocken. Der Bauer braucht die Scheune, in der wir schlafen, um sein Heu darin unterzubringen.
Ich arbeite auf der Baustelle, ich bin bekannt und brauche nun meine Eigenheiten nicht mehr zu verbergen. Also habe ich mein Zelt auf der Terrasse aufgeschlagen. Ich habe eine weiße Stube, in der ich schlafen gehen kann, wann ich will. Ein verspätet aus der Kantine heimkehrender Kartenspieler wird mich nicht mehr aus dem Schlaf wecken.
Gringo und die Kameraden drücken sich nebenan in einer anderen Scheune zusammen. Alle amüsieren sich, wenn sie mein Haus sehen.
Ich esse nicht mehr in der Kantine. Aber dadurch, dass ich Milch dem Wein und Pellkartoffeln den Nudeln in Tomatensauce vorziehe, bringe ich mich um meine Beliebtheit.
Der Bauer, der mir die Kartoffeln verkauft, begaunert mich offensichtlich beim Wiegen, und hinter meinem Rücken regt er sich über meine Absonderlichkeiten auf, der Pfennigfuchser; Martinez und einigen Kameraden hat er ein elendes Loch für teures Geld vermietet. Ich gehöre zur verdächtigen Rasse derer, die sich nicht prellen lassen. Über diesem Fleckchen Erde, frisch der Wildnis entrissen, herrscht die gierige Sucht, den Nächsten auszupressen. Jetzt muss ich dreimal guten Abend sagen, bis man mir antwortet.
Dem vertierten Urwaldleben, das wir hier führen, möchte ich einen wirtschaftlichen Sinn geben, um später mit goldgefülltem Beutel durch die Welt zu streifen. Noch ein Traum ...
Nach vier Uhr wird es angenehm. Die große Hitze ist vorüber. Rundhut scheint seit ein paar Tagen unruhig. Augenblicklich ist er damit beschäftigt, eine Lärche abzuästen, die er entwurzelt hat; dann kommen wir alle mit den Hebebäumen und schieben die mächtige Leiche vom Weg herunter.
Gendarmen kommen herauf.
„Ist Durand da?" fragt der Wachtmeister.
„Hier! Guten Tag, meine Herren!" antwortet Rundhut lächelnd.
„Wir nehmen Sie mit."
„Schade. Man hätte noch ein bisschen warten können, bis zum Herbst, wenn die schlechte Jahreszeit kommt."
Das ist eine undurchsichtige Geschichte. In seiner Wohnung an der Küste wurde Dynamit gefunden. Was wollte er damit? Fische fangen vielleicht, oder Bäume entwurzeln.
„Macht's gut, alle! Auf Wiedersehen, du!" Er schüttelt jedem lau die Hand und geht zwischen den beiden Gendarmen fort, mit der Miene, die er allabendlich hat.
Die Arbeit geht weiter.
„Na, Kapitän, jetzt hast du den Buddel Weißwein für dich allein!"
Die Leitungsrohre für das Wasser der Quelle sind da. Die Arbeit ist schon fortgeschritten. Wenn wir in der Frühe ankommen, nehmen zwei Mann ein Rohr auf und tragen es auf der Schulter bis oben zur Straße, jedes Mal um eine Rohrlänge weiter.
Es ist eine harte Arbeit, die man nicht den ganzen Tag über leisten kann. Indem man jeden Morgen ein paar Rohre schleppt, werden sie mit weniger Mühe gelegt.
Es ist Viertel nach sechs. Alle Kollegen sind unten in der Schlucht angekommen.
Der Kapitän zieht seine Uhr heraus:
„Noch eine Viertelstunde."
Zangottis Hund taucht auf, Zangotti ist also nicht mehr weit.
„Los! Vorwärts!" sagt er beim Kommen.
„Es ist noch nicht soweit."
„Mir wurscht, ihr könnt euch oben ausruhen. Ein paar von euch haben sich's gestern bequem gemacht. Ich bin im Bilde", sagt er und legt den Zeigefinger ans Augenlid. „Die kriegen heut noch 'ne Wucht!"
'ne Wucht?" sagt Marco und lacht.
„Ja, was denn sonst? Ein paar davon gehen mir heute aufs Büro!"
Also los! Ich nehme ein Rohr mit dem Kapitän, Martinez eins mit Joseph, und so weiter.
Ich habe genug Geld in der Kasse, um mir Gefühle leisten zu können. Indem ich beim Klettern keuche, schäume ich vor Wut. Wie einfach wäre es doch, diesem schnoddrigen Kerl, diesem Antreiber, eine Abreibung zu geben!
Außer Atem kommen wir an.
Zangotti bläst die Ruhepause, mit der jeder rechnet, gleich wieder ab.
„Los! Du, Franzose, nimm die Drahtrolle da. Du gehst zur Quelle rauf."
„Soll ich die Schaufel und die Hacke nehmen?"
„Na klar! Du gehst ja nicht zum Apotheker!"
So, jetzt kriegt er sie, seine Abreibung. Heftiger als ein Dienstmädchen, das seiner Herrschaft den Dienst aufsagt, schmeiße ich Zangotti die Drahtrolle vor die Füße: „Da, fang!"
Das Chamäleonsauge regt sich ein bisschen, das Tier bezähmt sich. Das Machtgefühl siegt über die viehische Rachsucht: „Geh aufs Büro!"
„Schön. Und du, kommandier dein Lastvieh!"
An der Biegung eines Pfades esse ich mein Frühstücksbrot und sinne über das ewige Aufbrechen nach. „O Touristo!" „O Gringo! ..."
„Ich hau ab! Was für eine bruta bestia!" „Bravo! Wir gehen zusammen hinunter."
Das Meer geht über in schmutziges Moorland. Der Druck schwüler Hitze lastet auf den toten Gewässern der Teiche und Kanäle, öde Stunde, bleiernes Licht, alle Dinge verwischen sich in dem Flimmern verdorrter Gräser.
Die Hitze riecht nach Schlamm, nach Schweigen, nach fauligem Wasser. Sie dehnt die Abstände zwischen den vereinzelt stehenden Baracken mit roten Ziegeldächern und den Feigenbäumen, die hie und da aus dem Unkraut eines riesigen Industriegeländes hervorschießen.
Eine Telefonleitung mit langen, dünnen Pfosten flieht in die Ferne auf eine Bauminsel zu, in der sich ein Fischerdorf versteckt.
Mitten in den Sümpfen eine Gruppe weißer Pyramiden: die Salzhügel. In einem weißen Feld schreiten menschliche Schatten hin und her, schweigsam wie ein Zug schwarzer Ameisen.
Das ganze Moorland ist mit großen, grasbenagten Strichen gezeichnet: fliehende Linien der Kanäle, ebene Flucht viereckiger Teiche. Weit draußen, auf offener See, hinter den Pyramiden, der unendliche Strich des Horizontes. Auf dem unsichtbaren Meeresstreifen zeichnen sich stahlgrau die Schlachtschiffe des Mittelmeergeschwaders ab.
Obgleich symmetrisch von Menschenhand zurechtgeschnitten, scheint der Sumpf doch in verlassenem Zustand, räudig, von Unkraut zerfressen. Die gewaltige Faust der Natur macht ihre Rechte geltend. Mit mächtigem Aufwand an Raum, Wasser und Himmel zermalmt sie das Geschaffene. Ihre blinde Kraft gibt dem Menschen seine Schwäche zu spüren.
Wir sind an die hundert Mann von überallher: Landarbeiter aus der Gegend von der Londe und von Hyeres, das unstete Arbeitervolk vom Baufach: Franzosen aus allen Himmelsrichtungen, Italiener, Deutsche, Russen, Araber. Sogar ein Neger ist dabei.
Zu den entschlossenen Kumpels, die mit Vorliebe auf die Walze gehen, um von Baustelle zu Baustelle die Welt zu sehen, gesellen sich ehemalige Zuchthäusler mit blautätowiertem Oberkörper und Landstreicher: Strandgut, das sich von der Baustelle zum Spital, vom Spital zum Gefängnis treiben lässt.
In der Pause glänzen an die hundert rote, braungebrannte, schweißtriefende Oberkörper in der Sonne. Gierig suchen die Männer die Kühle irgendeines Schattens, einer Kiste oder einer Lore, wo sie während der Fünfminutenpause Zuflucht finden können. In die staubtrockenen Kehlen fließt das Bier in Strömen. Ein paar Kumpels ziehen ihre dreckigen Leinensandalen aus, untersuchen ihre schmerzenden Hautabschürfungen, wickeln Bandagen um ihre Füße, um die entstehenden Blasen vor dem beißenden Salz zu schützen.
Mit den ausgefransten Kleidern und halbnackten Beinen, den wettergebräunten Muskeln, den sehnigen Kniekehlen von Ringkämpfern, den abgehärteten Gesichtszügen und den müde glotzenden Augen mutet unser ausgepumptes Lumpengewimmel an wie aus dem Mittelalter oder von einem Seeräuberschiff entsprungen.
Das Salz ist ohne Unterlass gegenwärtig: flimmernde Felder, rote Gewässer, salziger Schmerz der Wunden, Durst, Erschöpfung, schmerzhaft grelles Licht, ätzende Schärfe in allem, was uns umgibt.
Unter all den Kumpels fühlt man sich selber als Salzkumpel, durch dieselbe Mühsal mit den anderen verbunden, ein gutes, geschundenes Arbeitstier, mit den anderen verbunden durch die gleiche Zähigkeit bei der Arbeit, ein Urmensch, der Mensch, der schuftet, der Mensch, der für die Erntezeit da ist, ein Bündel von schmerzenden Muskeln und Sonnenbrand, ein Fleischklumpen, der glücklich ist während der Pause, ein Schlund, den ein heruntergespülter Schoppen Bier glücklich macht: der Salzarbeiter.
Um sechs Uhr früh beginnt die Arbeit. Träge zerreißen die Nebel über den Teichen. In der Ferne picken Möwen im Sumpf herum, Vogelschwärme beleben die Luft mit ihrem Geschrei. Die Arbeiter kommen an, zu Fuß oder auf dem Fahrrad. Dort unten, hinter den Erdstreifen, welche die Teiche einfassen, geht die Sonne auf. Sie beleuchtet das Meer, die roten Gewässer der Teichbecken, die Salzfelder, die taufeuchten Halme, den Nebel. In der Frische, in der reinen Morgenluft, im Zauberglanz der aufgehenden Sonne beginnt die Arbeit.
Die Schaufeln stecken zwischen Salzkruste und Bassinboden und warten auf die Arbeiter, die ankommen und mit einem Satz über den Graben hinwegspringen, der das Viereck einsäumt. Aus dem Haufen Schubkarren findet jeder seine heraus. Die Kräfte sind frisch; im Vorbeigehen begrüßen sich die Leute in der ungezwungenen Art, die im Freien üblich ist, mit lautem Zuruf oder einem Schulterklopfen.
In der Schaufelreihe findet jeder seinen Platz vom vorigen Tage wieder. Hastig wird geladen, von weitem werden Grüße gewechselt. Von Nebenmann zu Nebenmann tauscht man ein paar Worte aus, den Anfang einer Geschichte.
Beinahe Seite an Seite stehen die Karren in einer Reihe. Es tut wohl, neben einem lustigen Burschen oder einem dicken, sympathischen Brummbär die Müdigkeit zu überwinden, sie zu vergessen: darum sind die Karren nach den gegenseitigen Sympathien der Arbeitskameraden aufgestellt.
Im Gänsemarsch schieben die Kumpels auf einem engen Brettersteg schnell ihre Ladung vor sich her. Der ganze Körper ist von dem Kraftaufwand angespannt. Hastig schreitet man aus, um sobald als möglich die Last loszuwerden. Starr sind die Augen auf den Brettersteg gerichtet: Der schmale Streifen wird kürzer, ein Aufwärtsschnellen aus den Hüften, um die Plattform des Aufzuges zu erreichen, und der Karren wird mit einem Ruck in eine Art Becken geleert. Ein breiter Gummiriemen trägt eine Ladung nach der anderen. Er befördert das Salz in leichter Steigung empor und lässt es dann aus etwa acht Meter Höhe in einem weißen Strom herunterrinnen, der fortgesetzt aus dem kreuzförmigen, eisernen Hebebaum fließt und allmählich eine Pyramide bildet.
Wenn einer von uns beim Ausleeren zu langsam oder ungeschickt ist, hält er hinter sich alle anderen auf, die nach langem Weg mit ihrer Last ankommen. Das ist hart, und die ganze Reihe fängt an, wild zu fluchen.
Nach dem Abladen entspannt sich der Körper. Obwohl auch der leere Karren allerhand wiegt: jetzt erscheint er federleicht. Schwerfällig wie ein Zugochse kehrt jeder zu seiner Schaufel zurück, eine neue Ladung holen, und so fort ...
Von neuem löst die Schaufel die Salzkruste ab, möglichst ohne den schwarzen Schlamm — den Sumpfboden — mitzufassen. Man watet in weichem Boden.
Vor uns Milliarden Sterne, grell blendend wie Magnesiumfeuer, wie Flammenstreifen von Bogenlampen. Der Kristallteppich glitzert um so heller, je mehr die Sonne ansteigt. Die Lider schmerzen, man kneift die Augen zu. Sonnenbrillen werden aus den Taschen gezogen.
In der romantischen Morgenstimmung sind die ersten Karren leicht gewesen, doch werden sie schwerer und schwerer. Die Kräfte schwinden. Man muss sich zusammenreißen, sich ausradieren, darf nicht zu wach, nicht allzu sehr der Müdigkeit bewusst sein, muss wie eine Maschine weiterlaufen. Schaufel, Karren, Schaufel, Karren, und durch die Brille Schatten auf der Feuerkruste.
Wir arbeiten alle im gleichen Tempo. Die Arbeit wird im allgemeinen nach der vollbrachten Gesamtleistung bezahlt. Wenn das Tempo nachlässt, geht der Aufseher, der angeblich die Interessen aller vertritt, in Wirklichkeit aber hauptsächlich die der Firma, von einem zum anderen und treibt die Müdegewordenen mit schallendem und herzlichem, manchmal auch wütendem Gebrüll an: „Mut! Vorwärts, Kinder!" Die Kräftigen, die Tüchtigen und Erfahrenen lässt er in Ruhe. An ihnen hängt sein Blick mit einem Ausdruck achtungsvoller Zuneigung. Er liebt unsere Kraft wie ein Fuhrmann die seines Pferdes.
Die Schwachen und Schlappen werden unbarmherzig durch das Arbeitstempo ausgestoßen. Nicht alle können diese Hölle in erträgliche Arbeit verwandeln. Der ehemalige Zuchthäusler schmeißt die Arbeit hin. Der Landstreicher verkommt. Betrunken und verbittert findet man ihn wieder. Die allzu Erschöpften ruhen sich aus, und die, die keinen Frieden finden, suchen ihn im Alkohol, im bleiernen Schlaf des Rausches.
Die meisten versuchen durchzuhalten. Mit der Gewohnheit wird alles möglich, aber der Weg zur Gewohnheit ist hart.
Sonnenverbrannt, verwittert, ausgeschmort, zerfressen, ist man froh, der Müdigkeit zu entfliehen, ihr zu trotzen und mit elastischem Schritt, hartem Griff und geschmeidigem Rücken die Arbeit spielend zu bewältigen. Die Kräfte nehmen zu, und der Arbeitstag ist nicht mehr so verzweifelt lang wie zu Anfang.
In den Pausen erscheint der Kantinenwirt und schiebt ein Wägelchen mit Bier, Suppe, Tomaten und anderen undefinierbaren Esswaren vor sich her. Das ist unsere Stärkung.
Die Salzgewinnung ist nun nicht mehr die Begegnung eines Verdammten mit seiner Hölle, sondern die eines Arbeiters mit einer Aufgabe und mit Kameraden, die man Jahr für Jahr wieder findet. Für den Anfänger aber ist sie Galeerenarbeit. Die Qual des Anfangs ist schwer zu überstehen. Vom frühen Morgen an muss man seine ganze Widerstandskraft einsetzen. Lange bevor der Tag zu Ende geht, sind die Kräfte erschöpft. Der Pausenpfiff wird sehnsüchtig erwartet. Den Schubkarren und seine schwere Ladung in den Händen fühlt man sich unter der Geißel der Sonne wie ein alter Klepper auf steil ansteigendem Weg. Die Frühstückspause im Schatten eines entfernten Baumes unterbricht die Qual. Den Körper ausgestreckt, den Kopf im Schatten, nach hastig verzehrter Mahlzeit, kommt man in völligem Vergessen und süßem Hinübergleiten in Traum und Wohlbefinden wieder zu Kräften.
Bald aber ertönt das Stimmengewirr der Arbeitsaufnahme. Nach einem Schlaf, der aus allen Tiefen der Erde gekommen zu sein scheint, wie die tiefe Ruhe der Natur im Sommer, wird man zurückversetzt in die menschliche Welt der Arbeit, in weißen Alpdruck und ins grelle Licht.
Mit müden und schmerzenden Gliedern, schwerem Kopf und ausgepumpten Kräften nimmt man eine Arbeit wieder auf, die ein Übermaß an Kraft verlangt, um ertragen zu werden. Man fühlt sich verdammt und für immer aus der Gemeinschaft der Lebenden ausgestoßen, Seele und Leib sind von der Tortur der Arbeit ausgedörrt.
Wie zum Spott werden in der Nähe Unsummen verpulvert, während man sich hier so hart abquält, um nur sein nacktes Dasein zu erkämpfen: betäubender Motorenlärm, dumpfe Detonationen schwerer Geschütze der Schlachtschiffe während ihrer Schießübungen, knatterndes Gewehrfeuer der Marine-Infanterie, die ganz in der Nähe im Sumpf Manöver durchführt.
Man träumt davon, zu sterben, im glückhaften Schweigen eines nahen Gehölzes zu krepieren. Man fühlt, dass man in einer Welt ohne Sinn und Verstand lebt, als sei der Mensch ins Leben hineingeworfen wie in einen Sumpf, als könne er nur bestehen, wenn er sein Gewissen verstümmelt, wenn er seiner Vernunft entsagt.
Auf der Arbeitsstätte ist nichts für uns eingerichtet. Wir werden wie Vieh behandelt, wie stahlhartes Menschenmaterial. Nicht ein einziger schattiger Winkel ist für die Pause vorgesehen.
Mittags und abends essen die meisten in der Kantine, einer geteerten Baracke mit Lehmboden, die nach Weinresten und Schweiß riecht, dem Geruch der Männer vom Salz. Zum Schlafen suchen sie ihr Strohlager in anderen Baracken auf, und wenn ein Besoffener Lärm macht, schlafen sie manchmal lieber draußen.
Ich bin jetzt soweit, dass ich hier kommen und gehen kann, als gehörte ich dazu. Die Landschaft frisst nicht mehr an mir mit ihrer ätzenden Größe. Ich sehe sie mit anderen Augen als im ersten Jahre; auch ich habe die Leiden des Anfangs überstanden.
Im Dorf begegne ich Arbeitskameraden und Fischern; alte Bekannte. Ich entdecke plötzlich, dass ich nun schon ganz das Leben der Salinen lebe.
Es ist ein schöner Septembertag. Der Meerwind weht, Fischer kommen herein, um einen Schluck zu trinken, und machen sich scherzend an ihren Kuttern zu schaffen. Grammophone plärren die neuesten Schlager für Seeleute, die über den Platz kommen. Kleine Kriegsschiffe im Hafen haben die Wimpel aufgezogen, die wie Bänder im Winde flattern.
Sanftes Licht umspült alle Dinge, die Männer, ihre Trikots, die ärmliche Verkommenheit der Boote. Es ist schon ein nachsommerliches Licht. Das Meer lockt zur Reise. Ferne Welten drängen sich der Phantasie auf.
Stiller Genuss einer Tasse Kaffee, einer Zigarette. Stilles Glück, mit gelösten Gliedern dazusitzen, in einer unbekannten Welt zu leben, mit Dingen und Menschen auf du und du. Eine schwere Hand fällt auf meine Schulter nieder. Die Hand eines Kameraden.
Vom Dorf bis zu meinem Schlupfwinkel unter den Bäumen sind es gut vierzig Minuten zu Fuß. Den Strand entlang verhüllt ein Schilfschleier die Sicht der Teiche. Nur der Wind ist hörbar, der die schmalen Tangstreifen und den Sand aufpeitscht. Nichts als Tang unter den Füßen, Tang, einem toten Schafsfell gleich, Sand, Fischbein, das Meer, der Gedanke an Tod und Verwehen, sonnentrunkene Abwesenheit. Freude am Dasein inmitten der stummen Dinge, Freude, zu sehen, zu träumen, auf zwei Beinen zu stehen: Lebensgefühl.
Ich bin am Kiefernwald, meinem Schlupfwinkel, angelangt.
Unter den Kumpels der Belegschaft, die auseinander läuft, pulsiert fiebernde Unternehmungslust zum Guten und zum Schlechten.
Schon gärt es im Blut. Wenn wir gleich bei der Lohnzahlung nicht auf unsere Rechnung kommen, werden unsere Schultern in einem Block die Baracke hochgehen lassen.
Die Rechnung stimmt. Die letzten Tage kommen auf achtundfünfzig Frank, unser Schweiß ist zum üblichen Tarif bezahlt. Der Aufseher zahlt aus, aber der Kantinenwirt behält leider einen erheblichen Teil der Lohnsumme zurück. Zu guter Letzt ist man überrascht, so wenig verdient zu haben: Zulagen an Fleisch, Bier und ein paar Runden, die man vor Müdigkeit vergessen hat. Das Kostgeld ist hoch, die Geschäfte am Ort behandeln uns wie Touristen. Einen nennenswerten Überschuss bringt die ganze Schufterei fast nur den Kumpels, die hier in der Gegend, in Londe und in Hyeres, bei ihren Familien wohnen, und allenfalls noch den Arabern, die sich in Gruppen zu fünft oder sechst zusammentun. Alle anderen sind gefoppt.
Schon weht der Herbstwind. Das Ende der Salzarbeit fällt mit der Weinlese zusammen. Schon lastet auf den Tippelbrüdern, den Habenichtsen die Angst vor dem Winter, vor der langen Reihe der arbeitslosen Tage.
Wir sitzen vor der dunklen Baracke, spucken in den Kanal und trinken noch einen. Das ist unser letztes Zusammensein. Alle wieder frei, mit freien Händen, freien Kräften, in einer Stimmung brüderlicher Verbundenheit.
Bekannt, anerkannt und geachtet von ihresgleichen, fühlen sich die Einsamen wie im Familienkreis. Ein Vorname, gemeinsame Mühsal und gegenseitige Achtung verknüpfen uns mit anderen Vornamen, mit Händen, deren fester Druck uns vertraut war.
Und jetzt zerstreut der Wind unsere Gemeinschaft, jeden in eine andere Richtung, aufs Geratewohl, wie fallende Blätter. Mit dem Ende der Salzarbeit verfliegt unsere Welt wie eine wirbelnde Staubwolke.
Seit sechs Monaten habe ich in keinem Bett mehr geschlafen. Den ganzen Sommer habe ich schwer geschuftet. Ich habe Neues gesehen und, ohne es eigentlich zu wollen, die Bekanntschaft mit Altem wieder aufgefrischt.
Ich habe auf nackter Erde gelebt, ob ich schlief oder aß.
Die Arbeit hat mich hierhin und dorthin geführt, ihrer Fährte bin ich nachgegangen. Alte Fährten und neue Fährten, Arbeit ist ein seltenes Wild geworden. Wird es mir jetzt entwischen?
Im Flachland habe ich Lindenblüten gepflückt und im Gebirge Heu gemacht. Allerhand Kleinkram, der nichts eingebracht hat.
Im Hochgebirge habe ich beim Straßenbau gearbeitet, in den Niederalpen bei der Lavendelernte und in den Salzgärten von Hyeres bei der Salzgewinnung.
Während meiner Treibjagd auf das Tier Arbeit tat ich mein Bestes, um mit meiner Beute sparsam umzugehen. Ich habe mich so haushälterisch ernährt, wie das nur möglich ist, ohne Speisehaus und Hotel. Ich trug mein Speisehaus-Hotel mit mir herum: meinen Ranzen, den Kochtopf, das Zelt und die Decken.
Nicht meinen Launen habe ich nachgejagt, sondern dem Wild Arbeit.
Zum Herbst wollte ich in Spanien sein. Um dort hinzukommen, musste ich mir etwas zurücklegen. Da unten hätte ich sicher Arbeit bei der Apfelsinenernte in der Gegend von Valencia gefunden.
Das Jahr war regnerisch. Die Zeitungen haben Überschwemmungen gemeldet. Bei den Salinen von Hyeres bin ich zu der Zeit angekommen, in der normalerweise die Salzgewinnung beginnt. Die Salinendirektion hat gemeint, man müsse noch warten, günstigeres Wetter würde eine reichlichere Ernte ermöglichen. Vierzehn Tage, ein Monat Wartezeit, womit ich nicht gerechnet hatte.
Anfänglich war ich voller Unruhe. Ich habe anderswo Arbeit gesucht, es gab keine. Auch die Weinlese sollte mit bedeutender Verspätung beginnen. Was konnte ich sonst tun?
Dann wurde das Warten angenehm. Ich schlug mein Lager unter Kiefern auf, in der Nähe des Strandes. Das Wetter wurde schön; ein warmes Licht dringt ins Unterholz, liegt über den Teichen.
In den Bäumen jagte ich mir meine Nahrung zusammen: In den Pinien gibt es Kienäpfel. Um die winzigen Mandeln herauszubekommen, habe ich die Früchte zwischen zwei Steinen zerquetscht; man braucht eine Engelsgeduld dazu, und man tut gut daran, gleich serienmäßig zu arbeiten. Man muss auf die Bäume klettern — erst einen Baum herausfinden, der sich ersteigen lässt —, sich Schrammen holen und mit einem belaubten Zweig die Bremsen verjagen.
In den Kanälen der Sümpfe habe ich Krabben gefangen. Aber trotz aller Beutezüge musste ich in die Läden von Hyeres gehen, um Speck und Nudeln zu kaufen. Von dem Geld, das ich bei der Lavendelernte verdient hatte, war nichts übrig geblieben, als es mit dem Salz losging.
Ungewollt habe ich einen Monat Ferien gemacht, einen Monat des Vergessens in halbnacktem Zustand. Bücher, Briefe, Baden; die Zeit verflog.
Dann hat die Salzarbeit begonnen. Ich habe ohne Mühe durchgehalten. Eine mir altbekannte Strecke der Ermüdung. Ich bin gewöhnt an Schaufel, Schubkarren, schwere Lasten und an den Schneeglanz der Salzfelder.
Alles ging gut, aber der Regen hat wieder angefangen, verlorene Arbeitstage. Dann ist das Wetter umgeschlagen, ist zum Sturm geworden, und während der Nacht wurde der Sturm zur Sintflut.
Unter dem wackligen Schutz des Zeltes fühlte ich mich in dem Unwetter nicht eben wohl in meiner Haut. Die Bäume krachten. Würde der Wind die leichte Zeltbahn fortreißen? Ein fahles Feuerwerk, ein Hagel von Blitzen im Getobe des Windes und der Wogen.
Am Morgen ist es zu Ende. Die Natur schöpft wieder Atem. Sie ist ermattet. Weithin dehnt sich eine schmutziggraue Flut.
Die Berechnungen der Salinendirektion waren schlecht; der verspätete Beginn der Salzgewinnung wird zur Katastrophe. Für mich bedeutet das vierzehn Tage Arbeit an Stelle von vierzig, nach einem Monat Wartezeit.
Ich muss auf die Fahrt nach Spanien verzichten.
Jetzt habe ich ein Bett, einen Tisch und ein paar Stühle im Hause von Canard Moue. Das rettet mich vor dem Hotel.
Im Herbst ist es frisch um acht Uhr früh, wenn der Tag auch schön zu werden verspricht. Ich zögere sogar ein wenig, mich am Bach zu waschen. Es gibt da eine kleine Schleuse und ein Gefälle, unter dem Canard Moue seine Dusche nimmt.
Im Hause ist es nicht warm. Es ist ein zugiges Haus. Es hat ein Dach, aber keine Zimmerdecke, und der Fußboden ist aus Zement. Es ist nicht fertig geworden. Nebenan befindet sich ein Brunnen im Bau.
Der Bach fließt durch ein Tal mit Gemüsegärten, Wiesen und Baumreihen. Auf dem schlammigen Pfad, der zum Bach führt, liegen Äpfel, die vom Baum gefallen sind. Ein Bauer bringt seine Kürbisse ein, bevor der Frost beginnt. „Grüß Gott!"
Das mittelalterliche Dorf auf dem Hügel, halb wucherndes Grün, halb Stein, liegt da wie eine graue Eidechse in der Sonne. In weiter Ferne, jenseits des Tales, heben sich blaue Berge gegen den Horizont ab. Es riecht nach reifem Obst und nach frischer Erde. Noch haben die Feigenbäume nicht all ihre Früchte verloren; nicht weit blühen Nelkenfelder, in den terrassenförmigen Obstgärten des Dorfes sind Apfelsinenbäume angepflanzt.
Ein Wirrwarr von Düften. Im Bach rinnt das helle Blut der morgendlichen Erde. Die Erde atmet Herbstlicht.
Das Tal birgt Gehöfte und Bauern, die mit der ganzen Familie ihr Land bestellen und ihre Erzeugnisse in Nizza auf dem Markt verkaufen, wenn nicht gerade ein Zwischenhändler vorüberkommt.
„Oh, die schönen Kürbisse!" sagt Canard Moue zum Bauern, „sind die fürs Pferd?"
„Nein, die sind nicht fürs Pferd", sagt der Bauer.
„Ich habe mir auch gedacht, die wären zu schade fürs Pferd. Was kosten sie denn, wenn sie nicht fürs Pferd sind?"
Canard Moue wiegt den Kürbis in der Hand und nimmt ihn für ein paar Groschen mit. Er versteht zu kaufen und zu verkaufen.
Aus der Zeit, in der er noch sein Kleinvieh, seine Hühner und seine stummen Enten auf den Markt brachte, hat er mir selbst eine Geschichte von stummen Entlein erzählt, die er für einen Batzen Geld an Engländer verkauft hat.
Für kleine, für kleinste Dinge entfaltet er ungeheure Arglist, bedient er sich der ausgeklügelten Tricks normannischer Pferdehändler.
„Ach, Sie gehen ins Dorf?" (Canard Moue duzt mich nicht.) „Ich hätte eine Taschenlampe und Streichhölzer nötig ..."
Die Gastfreundschaft unter seinem Dach erfordert schon ein paar Gegenleistungen. Natürlich werde ich nachher mit einer großzügigen Geste — die er ja erwartet — das Geld für diese Kleinigkeiten ablehnen. So sind unsere Beziehungen den lieben langen Tag winzige Komödien.
Er ist ein stämmiger Kerl, stark und flink, und steht fest auf seinen Beinen. Während er seinen Kürbis zubereitet, fallen ihm spanische Kehrreime ein.
„Vengo de l´Ombri-i-i-i-ia de mercar mo-o-o-o-o-o-ras ..."
Das ganze Leben macht ihm Spaß. Er singt und zappelt dabei wie Zigeunerinnen herum; sonnige und naive Lieder singt er.
Er hat eine lustige Vorstellung von den Menschen. Alle sind in seinen Augen drollige Nummern. Er spricht von einem Kumpel aus unserem Bekanntenkreis und lacht auf.
Er lebt abseits von den Menschen, weil er in seiner Jugend unter dem Gespött der Gassenjungen gelitten hat; er hat ein Muttermal im Gesicht. Einmal hat er wegen dieses Fleckes einen Jungen totgeprügelt; das war in seiner Heimat, unten in Spanien.
Es ist etwas ganz Außergewöhnliches, dass er mir Gastfreundschaft gewährt. Wie kommt das? In seinen Augen bin ich vielleicht amüsanter und närrischer als die andern, denen er begegnet ist, oder ich komme ihm gebildeter vor, oder ich höre seinen Geschichten besser zu, oder aber er fühlt sich als Caballero mit einem Gast unter seinem Dach; vielleicht ist es auch deshalb, weil er auf einer seiner letzten Radtouren so sehr gelitten hat, als er eine ganze Nacht hindurch vor einem Bauernhaus im Regen flehte, dass man ihm aufmache, und trotz der Drohung mit der Flinte die ganze Nacht unter dem Torbogen blieb ...
Er kocht seinen Kürbis, schneidet ihn dann in kleine Scheiben und setzt sich an den Tisch, um langsam und bedächtig zu essen, wie wohl ein Bauer aus Valencia isst, der der Nahrung durchaus ihre wichtige Rolle zubilligt.
Ich mache mir Reis. Wenn er gar ist, werde ich ihm etwas davon anbieten, und er wird es wohl zurückweisen. In seinen Augen wäre es beschämend, wenn sein Gast ihn ernährte ... und er mag wohl auch fürchten, dass er dann verpflichtet wäre, seinen Gast zu ernähren.
Auch er schwimmt nicht im Gelde. Das Haus hat er sich mit eigenen Händen gebaut. Auch in der Hühnerzucht hat er sich versucht. Zuletzt war er Hilfsarbeiter. In der Fabrik werden Entlassungen vorgenommen. Er ist ohne Arbeit und bereitet sich darauf vor, zur Apfelsinenernte nach Spanien zu gehen. Seine Mutter lebt da unten.
„Ich muss", sagt er gewichtig nach einem Niesen, „diese leichte Verkältung wegtreiben."
" Warum auch läuft er immer mit seinen großen Füßen barfuss auf dem Zementboden seiner Behausung umher? Ich sehe ihn mir an: Er wird mit dem Rad nach Spanien fahren; während der ganzen Fahrt wird er kaum viel zu beißen haben, und doch wird er ohne viel Mühe ankommen. Ich könnte das nicht; ich habe nicht seine Brustweite.
Noch während er isst, greift er nach einem Heft und müht sich ab, den geheimnisvollen Sinn des Textes zu entziffern, der in Französisch, Spanisch oder Esperanto verfasst ist. Canard Moue hat ganz allein lesen gelernt. Er hat einen ungeheuren Durst nach Erkenntnis und nach der moralischen Schönheit, die das Wissen vermittelt. Doch er ist vom Leben gehetzt, von der Arbeit gehetzt, er hat keinen Ratgeber. Arzt, Lehrer, Dolmetscher sein: wie schön! ... Vielleicht wird er an seinem Lebensende bis zur Hälfte des steilen Weges gelangen ...
Die Vorstellungen seines Dorfes hat er schon hinter sich gelassen: Er glaubt nicht mehr an den lieben Gott, er weiß, dass die Erde rund ist, und kennt die äußeren und inneren Teile des menschlichen Körpers.
Das Haus ist mit einer Fayencetafel geschmückt, auf der ein prächtiger Esperantostern prangt. Canard Moue hat seinem Adel ein Wappen geschaffen.
Der Stern bekommt seltsame Dinge zu sehen. Er sieht seinen Schützling mit der klapperdürren Hündin einen Stierkampf aufführen, er sieht ihn barfuss herumtanzen. Er sieht ihn sich am Kopf kratzen, hört ihn ein geheimnisvolles Wort murmeln, die Hacke wegwerfen, um zum Wörterbuch zu rennen.
Dieser Esperantostern ist das Firmenschild des Canard Moue, sein Firmenschild und seine Poesie. Ob er Bauer, Geflügelzüchter oder Hilfsarbeiter ist, all das zählt nicht. Der Lebensinhalt eines Menschen liegt in dem, was er erstrebt, und nicht in den Rollen, die das Leben ihm aufdrängt. Dieser Stern versinnbildlicht die Liebe zur Menschheit.
Wenn er von der „banda" spricht, kann er mit einem Achselzucken sagen: „Was tun die schon für die Menschheit?"
Die „banda" haust in einem Heuschober im Dorf. Ob sie zu sechst sind oder zu dritt, ob Franzosen, Spanier oder Deutsche, ob die Zusammensetzung der „banda" wechselt, ob die einen kommen und die anderen gehen, die „banda" bleibt immer die „banda".
„Que banda!" sagt Canard Moue, wenn er auf die verschiedenen Typen junger Vagabunden zu sprechen kommt. Und er lacht. Aber er verachtet sie.
Es kommt vor, dass zur „banda" ein Esperantist gehört. Dann steigt das Ansehen der Gesellschaft für einige Zeit in seinen Augen.
Die „banda" hat uns besucht, drei oder vier Burschen mit Radrennerallüren. Sie sind gut gelaunt. Mit einem breiten Lächeln auf den Gesichtern kommen sie herein, nur so zum Spaß, um diesen seltsamen Anblick zu genießen: Canard Moue, der einem Kumpel Unterkunft gibt. Ist denn das möglich?!
Was kann ich der „banda" nur anbieten? Da sind die Äpfel, die ich gestern bei einem Bauern gekauft habe.
Was für eine Überraschung! Zu essen bekommen im Hause von Canard Moue! Die „banda" lacht. Ist das möglich?
Die „banda" bezieht ihr Winterquartier im Dorf. Sie strotzt vor Gesundheit und Wohlergehen in neuen Trikots und Radfahrerhosen. Alle haben sich seit einigen Jahren auf Saisonarbeit spezialisiert. Der Turnus der Obsternten bringt sie ins Var-Gebiet, an die Rhonemündung, nach Vaucluse. Die Materie ihrer Arbeit — Kirschen, Pfirsiche, Melonen, Trauben, Feigen — trägt weitgehend zu ihrer Ernährung bei.
Ein Lebensablauf, der sich Jahr für Jahr wiederholt. Wenn nichts Unvorhergesehenes dazwischenkommt, gibt es immer wieder bei denselben Chefs Arbeit für sie. Auch die „banda" hat ein Ideal, eine Lebensauffassung: ihre Lungen vor dem Fabrikstaub zu bewahren, mit wenigem auszukommen, gerade so viel zu arbeiten, wie notwendig ist, bis zu dem Tage, da sie sich der Ausbeutung durch Arbeitgeber vollends entziehen werden, indem sie sich auf einem Fleckchen Erde niederlassen, wo sie ihr Haus bauen wie Canard Moue. Alles Pläne, die verteufeltes Haushalten erfordern und einen recht derben Trieb zur Sparsamkeit.
Wenn Canard Moue von ihnen spricht, nennt er sie die „banda". Aber die drei Burschen sind ganz zufällig beieinander, ihre übereinstimmende Lebensauffassung und das Hausen unter einem Dach haben sie vereint. Die „banda" entsteht und vergeht.
Ja, das stimmt, für die Menschheit tut die „banda" nichts.
Es gibt keine Arbeit mehr bei den Bauern im Tal, sonst würde Canard Moue für sie arbeiten. Auch ich weiß nicht, worauf ich setzen soll: auf den Zufall, die Gärtnerei oder die Erdarbeit.
Im allgemeinen werden hier die zugewanderten, die gefügigen Arbeitskräfte bevorzugt, die Analphabeten aus Piemont, die die Weltanschauung ihres Heimatdorfes beibehalten haben: Es hat immer Reiche und Arme gegeben, wir gehören leider zu den Armen. Nicht wir befehlen, befehlen tut der maestro, der padrone ...
Arbeitskräfte, die sonntags arbeiten, neun oder zehn Stunden schaffen, ohne sich darum zu kümmern, ob es Arbeitslose gibt. Denen, die nicht so denken, begegnet man hier nicht mehr; die sind anderswo, ausgewiesen.
Ich möchte gern eines Tages auf einer Baustelle arbeiten, wo die Kumpels sich Achtung zu verschaffen wissen. Muss man dazu in die Pyrenäen gehen, zu den spanischen Erdarbeitern? Jedenfalls nicht hier bleiben, in der Nähe dieser Grenze. Die Kerle lassen sich anschnauzen und machen regelmäßig Überstunden. Mit ihnen habe ich wiehernd gelacht, aber darauf beschränkt sich unsere Zusammengehörigkeit.
„Wo kommst du her?"
„Warum bist du weg aus Paris?"
„Gibt's denn in Paris keine Arbeit?"
„Du bist Franzose? Da müsstest du doch in einem Büro arbeiten!"
„Ach, wenn ich gut französisch sprechen könnte!"
Beinahe auf allen Baustellen war ich „der Franzose". Bei schwerer Arbeit hat mir das Leben gefallen, aber oft habe ich mich nach dem Achtstundentag gesehnt und meine Leidensgenossen wegen ihrer Unterwürfigkeit, wegen ihrer Laschheit verachtet. Dann bin ich eingewanderten Gewerkschaftlern begegnet, echten Männern, die aber hierzulande ohnmächtig waren mit ihrem Fremdenpass. Man muss älter werden, um die Menschen lieben zu lernen. In der Arbeit habe ich vor allem die Natur geliebt, die uns umgab, das Licht im Gebirge, die Kiefern und die Lärchen.
Ein Hektar Pflanzen, allerlei Sträucher, Treibhausblumen. Tropische Stille im Garten, das Klirren eines Geräts. Einer begießt die Pflanzen. Wenn der Chef da ist, dann ist er im Büro; wenn er nicht da ist, dann wird er bald kommen.
Man sucht Gartenbautechniker. Ich bin keiner, und jedes Gewächs stellt mich vor das Wunder seines Wachstums. Aber ich bin Gärtner gewesen, Gärtner geworden. Ich habe sogar als Beweis ein gutes Zeugnis über zwei Jahre. Es ist ein richtiges Zeugnis, und ein gutes dazu. Ich habe Rasen mit dem Spaten umgegraben, Gras gesät, schnörkelreiche Blumenbeete gepflegt, Alleen gejätet, Kies geharkt. Ich kann meinen Mann stehen und werde mich schon einarbeiten.
Der Chef hat die Augenbrauen hochgezogen, denn mein Zeugnis stammt nicht von hier, und wenn ich auch Gärtner bin, so besagt es doch nicht, dass ich Kunstgärtner sei. Er schien zu zögern und stellte mir eine Frage. Ich war nicht auf Bluff eingestellt und habe irgend etwas gefaselt; er hat es nicht gemerkt.
„Kommen Sie morgen früh um sieben her!"
Ich habe Glück. Erst drei Tage bin ich hier, und schon habe ich Arbeit.
Aber vom Hause Canard Moue ist es weit bis zum Dorf, das Dorf ist weit von Nizza und die Gärtnerei weit vom Zentrum der Stadt. Macht nichts, ich bin sehr froh. Nach der Lohnzahlung werde ich eben umziehen, wenn es geht.
Der Wecker neben Canard Moues Bett hat geläutet. Er hat mich gerufen. Ich habe ein Stück Brot, Äpfel und getrocknete Feigen für den Tag mitgenommen. Auf der Landstraße bin ich in den Autobus gestiegen. Ich komme nicht zu spät, der Wecker ging vor.
Sterne schimmern. Es ist halb sechs. Bauern steigen mit Körben voll Gemüse und Spaliertrauben ein. Nach der Ankunft in Nizza habe ich noch eine halbe Stunde Fußweg. Der morgendliche Gang tut gut, aber ich bin noch schläfrig.
Kollegen kommen an, die Alten sicher im Auftreten, die Neueingestellten schüchtern und zurückhaltend. Auch der Chef kommt. Er wohnt nebenan.
In Gruppen zu dreien oder sechsen ziehen die Leute ab mit ihren Karren voll junger Pflanzen und Gerät.
Nicht sehr gesprächig die Burschen. Der Chef ist da.
Der Chef selbst hat mich in den Park einer Villa geführt. Ich werde allein arbeiten. Er gibt mir eine einfache Arbeit auf: die Alleen ausharken, den Rasen unter den Palmen sprengen und die Beete jäten. Dann verschwindet er und lässt mich da. Aber ich bin nicht ganz allein: Im Erdgeschoß der mächtigen Villa im Stil einer spanischen Burg wohnt eine Pförtnerfamilie.
Bäcker und Milchmann läuten am Gittertor. Eine Frau macht ihnen auf, sie kommen herein. Dann verschwinden sie wieder, der Park versinkt von neuem in Schlaf. Auf der Straße gehen Leute vorüber, ich höre ihre Stimmen. Ein Auto fährt vorbei.
Der ganze Hügel, die Höhen von Cimiez sind von Parks und unbewohnten Villen übersät. Villen in allen Stilen: im Zwingerstil, im Rokokostil, im modernen Stil, im Stil normannischer Landhäuschen, im Haremsstil, im maurischen Stil, im protzigen Stil, im Stil eitler Zwecklosigkeit.
In den bewohnten Villen ziehen alte Leute ihr Dasein in die Länge, indem sie über Scharen uniformierter Diener herrschen. Das Geld setzt alles in Trab, stutzt alles zurecht. Selbst die Natur ist hier zurechtgestutzt, sie ist grotesk.
Doch die meisten Villen sind nur zwei Monate im Jahr bewohnt. Während der übrigen Zeit dämmern sie hinter der Schutzwehr von Mauern und Gittern, hinter einem schönen Vorhang grüner Vegetation, die die Mauern überwuchert.
In der Altstadt, dem alten Nizza, wohnen im Labyrinth der engen Gassen die Maurer. Man sagt, das alte Nizza müsse abgerissen werden, es stinke, es sei eine Brutstätte der Tuberkulose, die Kinder seien kränklich, die Häuser ohne Tageslicht, die Läden müssten am hellen Tage elektrisches Licht brennen.
Das ist das Nizza der Proletarier, das menschlichste Viertel und das lebendigste. Voller Kindergeschrei, ein Gettogewimmel. Der Blick wird von den Schaufensterauslagen angezogen, von den bluttriefenden Rinderseiten, von den bunten Flecken der Wäsche, die zum Trocknen vor den Fenstern hängt, von einer jähen Sonnenflut in einer Querstraße, vom Gewühl einer altitalienischen Stadt.
Es gibt keine Fremdheit zwischen den Leuten, die sich begegnen. Tritt in ein Kellerlokal, wo man an der Theke Wein trinkt, und sprich mit dem Wirt; er wird dir antworten wie einem alten Bekannten, und die Leute, die mit dir anstoßen, werden dir in fünf Minuten ihr ganzes Leben erzählen. Die schönen, die eleganten Viertel sind tote Viertel.
Ich jäte die Wege rund um die geschnörkelten Beete. Mauern, Gitter, Zäune. Es fällt mir schwer, den Geschmack der Villenbesitzer zu begreifen.
Nach der Weite der Felder und des sommerlichen Lebens fällt es mir schwer, den Geschmack zu begreifen, den diese zivilisierten Affen am Besitz unbewohnter Villen und an einer lächerlich hinter Gittern und Riegeln zurechtgestutzten Natur finden. Die Neurasthenie steht in Blüte, der Mensch ist des Menschen Feind.
Mit dem Schweigen als Gefährten verbringe ich mein emsiges Schattendasein bis zur Essenszeit. Es ist spärlich, das Essen. Glücklicherweise steht ein Feigenbaum im Garten.
In einem Mittagsschläfchen finde ich zum Zustand tierhafter Unschuld zurück. Nichts existiert mehr von der Welt der Affen. Dann nehme ich meine Tätigkeit wieder auf; sie fällt mir nicht schwer. Doch schwer fällt es mir, in dieser fremden Welt hier zu sein und ringsumher, auf dem weit auslaufenden Hügel und in der Stadt, ein nach dem Geschmack dieser Affen eingerichtetes Universum zu spüren, in dem jedes Stück Natur, die ganze Erde in kleine Schnipsel zerlegt und von Mauern eingefasst ist, und dann zu denken, dass es den Besitzenden so ganz natürlich scheint und dass sie damit vollauf zufrieden sind.
Aus dem Leben im Freien bringe ich eine Mohikanerseele mit, die Gemütsverfassung eines staunenden Hungerleiders. Ich stochere mit meinen Geräten im Erdboden herum und finde es tröstlich, an die Ewigkeit zu denken und daran, dass die Erde wieder zu ihrem Recht kommen und diese ganze künstliche Welt zu Staub versinken wird.
Das Leben ist ein Traum, ein Alpdruck — ich aber stelle mir eine gesündere und edlere Welt vor, die Welt jener Maurer der Altstadt. Keine Gitter, keine Sklaven. Ich beneide die Herren nicht um ihre Lächerlichkeit. Einem Garten lese ich die Gesellschaftsordnung ab, seinen Mauern die Barbarei. Sie verschanzen sich, sie diktieren ihr Gesetz, sie befehlen und bilden sich ein, so ihr Leben zu bereichern. Und ich jäte ihre Anlagen, weil ich Geld brauche zum Essen. Seltsam. Eine ernsthafte Arbeit ist das nicht. Mit einem Gartenschlauch lasse ich einen glänzenden Regen, ein Wasser-Feuerwerk, die Milchstraße eines Sprühregens auf den jungen Rasen unter den hohen Palmen niedergehen.
Eines Tages werden große Landschaftsarchitekten kommen und riesige Parks und Mauern und Gitter für die freien Menschen der Zukunftsstadt errichten, für die Menschen, deren Blick ins Weite strebt, für die Maurer der Altstadt.
Ein sanftes, schwermütiges Licht schwebt über den blauen Hügeln, die sich bis ans Meer hinziehen. Ich hebe den Kopf. Die Erde, schöner als der Mensch, scheint zu träumen; als müsste ich meinen Geist der erblickten Schönheit anpassen, verjage ich die zornigen Gedanken.
Kulissenwechsel. Ich habe die spanische Burg mit einem normannischen Landhäuschen vertauscht.
Eine ganze Kolonne geht an die Arbeit. Im Handumdrehen ist der Garten verwandelt. Die Beete, die Rondells, die Rabatten sind umgegraben, geharkt und besät, die Rosensträucher verschnitten.
Meine Erfahrung im Gartenbau ist völlig zureichend, zumal da die kniffligen Arbeiten von einem alteingesessenen Hausgärtner besorgt werden.
Die Arbeit geht vorwärts, aber da kommt der Chef und fuchtelt stundenlang hinter uns herum. Dem einen reißt er den Rechen aus der Hand und erteilt wütend Anschauungsunterricht. Kein falscher Handgriff entgeht ihm. Höchstpersönlich streut er den Mist aus. Seiner Meinung nach sind alle unbrauchbar. Jeden brüllt er an. Wir sind acht Kumpels zwischen Zwanzig und Dreißig, Italiener, Schweizer, Dänen, Franzosen.
Am liebsten würde ich ihm in die Fresse schlagen, wenn das ohne Komplikationen ginge. Aber schließlich ist er krank, er leidet an Verstopfung, der kleine schwarze Kerl. Überall schnüffelt der arme Teufel herum mit seinem Früchtchen hinter sich, einem jungen Idioten im wahrsten Sinne des Wortes, der speichelsabbernd seinem Vater auf den Fersen sitzt.
Die beste Taktik besteht für jeden von uns darin, die Worte sprudeln zu lassen. Das fließt dahin und tut nicht weh. Die Kumpels lassen den Kerl ruhig meckern.
Die Arbeit zu mehreren ist nicht langweilig. Sie geht schneller voran. Der Tüchtigste wird mit den kompliziertesten Arbeiten betraut. Es gibt viele ganz gewöhnliche Arbeiten zu verrichten. Da ich kein richtiger Gartenbautechniker bin, helfe ich bei den gröberen Arbeiten mit.
Mir ist das ganz recht, außer wenn wir aus Mangel an Forken die Zweige der verschnittenen Rosenstöcke mit den Händen aufsammeln müssen: die Rosen haben nämlich Dornen. Dann werde ich zimperlich, nehme einen Rechen und eine Mistgabel, um das Zeug fortzuschaffen.
Nachdem andere ihren Anschnauzer weghaben, macht sich die schwarze Ameise über mich her. Ich werde keinen Skandal machen, ich bin auf die Arbeit angewiesen. Ich werde nicht auffahren für so ein heiseres Gekrächze. Man muss die Arbeit mit all ihrem Ärger hinnehmen, so ist das Leben.
Das Männchen schreit, aber der Garten steht in Blüte. Er liegt auf einer Anhöhe, von der aus man eine weite Sicht hat.
Ein paar Tage sind vergangen, ich habe schon einige Anschnauzer verwunden. Aber ich fürchte, der Kerl täuscht sich in mir und macht mich zu seinem Prügelknaben, wenn ich nichts sage. Ich werd's ihm zeigen.
„Sehen Sie nicht, wie idiotisch das ist, die Zweige mit einem Rechen aufzusammeln?"
„Es sind keine Forken da."
„Ach, und mit den Händen können Sie sie nicht nehmen? Sie glauben wohl, Sie sind hier auf einem Spaziergang?"
Da habe ich das Maul aufgesperrt und ohne Aufregung, mit lauter Stimme, ganz ruhig meine Antwort vorgetragen:
„Wenn ich hier bin, um zu arbeiten, so nicht, um mir Dornen in die Hände zu drücken wie Jesus Christus!"
Der Kleine ist verstummt und hat mich nicht vor die Tür gesetzt. Vielleicht habe ich mir jetzt Ruhe errungen? Die Arbeit gefällt mir.
Ich höre, dass die Leute auch am Sonntag arbeiten, dass die Arbeit drängt, weil andere Villen auf unseren Besuch warten. Sie nehmen es hin, die Löhne sind niedrig. Neun Stunden am Tag, vierundzwanzig Frank. Als Mittagessen ein simples Frühstücksbrot — die Arbeit ist nicht allzu mühsam —, es herrscht Arbeitslosigkeit, die Leute geben sich zufrieden und finden sich damit ab. Besser das als gar nichts.
Wenn ich am Abend den Garten verlasse, gehe ich mit dem Schweizer und dem Dänen zusammen los. Sie sind viel herumgereist, um zu lernen, um Kenntnisse zu sammeln und sich in ihrem Handwerk zu vervollkommnen. Jeder von ihnen hat in Nizza sein kleines Zimmer, und sie haben keine anderen Beziehungen als die zur Wirtin und zum Arbeitgeber. Abends lesen sie. Es sind die einzigen sympathischen Kumpels der Belegschaft, die einzigen, die selbständig denken, und die meinen, dass die Welt anders werden muss.
Ich gehe den Hügel hinunter. Parks, Hotels, große erleuchtete Fensterflächen und gleitende Schatten dahinter. Eine geheimnisvolle Welt von Gärten ohne Geheimnisse, leichter Nebel in den Bäumen, eine gewisse herbstliche Farbe im Licht der elektrischen Straßenlaternen.
Nach einem langen Tag, an dem man wenig spricht, hat man abends den Kopf voller Träume.
Ich erreiche die von Lichtbächen weithin belebten Straßen. Die Angestellten strömen aus den Büros und aus den Läden. Eine jugendliche Menge, die glücklich ist, weil sie der Straße zurückgegeben ist. Es ist der Augenblick des größten Verkehrs und des grellen Lichtes wie in allen Großstädten.
Ich treibe durch die Straßen dahin. Ein Gesang aus voller Brust dringt aus einem Haus; ich trete ein, es ist die Synagoge. Ich bleibe ein paar Minuten drin. So lasse ich mich von allem beeindrucken, glücklich, wieder frei zu sein und mich treiben zu lassen. Vielleicht, wenn ich lange so weiterginge, würde ich ein Wunder erleben. In den engen Gassen der Altstadt schlendere ich zwischen den beiden Ladenreihen einher: Kneipen, Fleischerläden, Kellergeschäfte mit ihrer Fülle von Esswaren. Wie ein Bienenschwarm summt es in den Straßen von Kindergeschrei, von Stimmen, Rufen, von Licht, von Menschenvolk.
Aber ich habe Hunger. Ich steige in den Autobus und verlasse die Lichter, das Summen, jene eigentümliche Traumstimmung, die in dieser Jahreszeit in den Städten aufkommt, und kehre in die Umgebung zurück, zurück in das wirkliche Leben.
Der Autobus setzt mich auf der Landstraße neben einigen spärlich beleuchteten Läden am Dorfeingang ab. Über dem Abend liegt bäuerliche Luft, der Geruch von Nelken und Gemüse: die Welt der Arbeit. Ein Weg zwischen Gärten, Kühle, fast Kälte, der sammetweiche Schatten der Hügel, ein paar Lichter über dem Dorf, das bald einschlummern wird, und der Friede eines gestirnten Himmels.
Ich erreiche mein Quartier: Das Haus von Canard Moue.
Die Anstreicherkolonne arbeitet in einer Villa. Vor der Villa ist ein winziger Park, eine Art kleiner Vorgarten mit einem Baum, zu dem ein paar Vögel fliegen. Es heißt, dass ein solches Landhäuschen mit Park in, Auteuil dreißigtausend Frank Miete kostet.
Eine äußerst vornehme junge Frau sitzt im Park unter dem einzigen Baum, in dem die Vögel singen, träumt vor sich hin und liest Kriminalromane, während sie mit seltener Anmut die Asche ihrer Zigarette aus orientalischem Tabak abschüttelt.
Drei Leute stehen zu ihrer Bedienung bereit; das Hausmädchen, die Köchin und der Hausmeister, der eben einen Wagen blank putzt. Drei Personen zu ihrer Bedienung, zwei Wagen: die Lektüre der Kriminalromane ist kostspieliger als beim gewöhnlichen Volk. Der Lebensstandard der so schönen jungen Frau und ihres Mannes entspricht meiner Schätzung nach einem Einkommen von mindestens hunderttausend Frank. Denn sie hat einen Mann, und das ist beinahe schade. Er muss die Wörterbücher der Gaunersprache und die Romane von Eugene Sue lesen. Wenn er ungeduldig wird, spricht er mit bewundernswerter Geläufigkeit den Unterweltsjargon.
Im Hof steht ein kleiner Kübel. Ein Anstreicher hat ihn soeben mit schönen Farben bemalt, aber der Herr ist nicht zufrieden. Er läuft rot an: „Was ist das für eine Saubande, die den Zement da reingewichst hat!" Der Zement ist drin, damit der Boden des Kübels hält. „Macht Kleinholz draus! Ich will nur neue Sachen!"
Nebenan stehen Arbeitslose. Sie warten auf den Beginn der Volksspeisungen im Stadtteil Auteuil. Sie appellieren — mit wie viel Demut — an das Mitgefühl der Vorübergehenden.
Unsere Kolonne wechselt den Arbeitsplatz. Diesmal ist es wirklich ein Park und eine erheblich größere Villa. Sehr angenehm ist der Park, wenn die Affen nicht da sind. Das erinnert mich wahrhaftig ans flache Land, aber diesmal sind es dreihunderttausend Frank Einkommen. Korbsessel, Tauben: die wahre Ruhe, die ich in Paris vergeblich suche.
Nebenan der Pferdestall. Pferde für einen Spazierritt durch den Bois de Boulogne. Rennpferde, das ist überflüssig: zu hohe Unterhaltungskosten — ein Dienstbursche mehr mit seiner Familie zu ihrer Wartung.
Wie viel arme Schlucker arbeiten, um euch zu pflegen, dich, Azur, dich, Tartempion, und dich, Pferd der gnädigen Frau ...! Allein, das gehört zum guten Ruf ... So, hoch zu Ross, fühlt das Großbürgertum, wie es im, Bois de Boulogne zu einem neuen Feudaladel wird. Das ist schon sehr „Oberschicht". Ein Bauer, der auf seiner Schindmähre vom Felde heimkommt, hat wirklich keine Ahnung von dem Vergnügen eines Ausritts in Paris.
Die Anstreicher sind die Aristokratie des Bauhandwerks. Zwischen all den schönen Kulissen schlendern sie in Pantoffeln umher, alles scheint ihnen natürlich, überall sind sie zu Hause. Die wertvollen Nippsachen können ruhig schlafen.
Doch einmal habe ich mit den Kameraden einen Blick in die Bibliothek geworfen. Bibliothek für Leute von Welt, immerhin mit Geschmack gewählt: Lawrence, Katherine Mansfield ... Da lässt sich nichts gegen sagen, das Gymnasium hat seine Früchte getragen.
Ein Auftrag hat mich zum Prinzen von X. geführt...
Ein „building", aber geschmackvoll. Stil der Zukunft, der Zukunft aller.
Zwei Eingänge gibt es: einen für die Herrschaften und den anderen, den ich benutze, den Aufgang für Dienstboten, der in allen Stockwerken nach Lakaien riecht, nach gestärkter Hemdbrust, tiefem Bückling und komplizierten Küchen.
Ein schöner Groom, gekleidet wie ein englischer General, hat mir geöffnet; er ist durchdrungen von der Wichtigkeit des Hauses, das er repräsentiert, und geschmeichelt, einem edlen Ritter zu dienen.
Die Küche sieht sauber und hygienisch aus, die Köchin reif und angenehm. Ach, und meine Proletarierfüße müssen auf den dicken, cremefarbenen Teppichen des Flurs und der Salons herumtrampeln. Es ist märchenhaft hier. Schnee, Schlagsahne, eine sanfte Wärme, alles ist weiß und hell, ein Bild unbefleckter Empfängnis. Das ist Geschmack, wirklich guter Geschmack. Wenn ich zu lange hier bleibe, werden mir Flügel wachsen. Der Teppich ist weicher als das Moos der Bäume, sanfter als die Natur.
Ich stoße auf den edlen Ritter. Der edle Ritter summt vor sich hin, er ist klein. Eigentlich könnte er Senf verkaufen, aber er verfügt über artige Gesten, so dass er mit der Prinzessin, seiner Frau, „Graf und Gräfin" spielen kann. Er macht keine Umstände, mein Chef steht anscheinend auf gutem Fuß mit ihm.
Es klingelt. Der „englische General" stürzt hinaus, um aufzumachen; auf Zehenspitzen schwebt die Prinzessin heran. Eine Freundin der gnädigen Frau ist gekommen. Sie begrüßen einander wie zwei Seelen im Paradiese, zwei schattenhafte Wesen. „Teure Freundin, stoßen Sie sich nicht, um des Himmels willen!" Vom Vestibül bis zum Salon überschüttet die Prinzessin ihre Freundin mit Aufmerksamkeiten und Höflichkeitsbezeigungen und schützt sie in umherwirbelndem Eifer gegen unsichtbare Feinde. Ein Louis-Seize-Sessel streckt der Angekommenen seine Arme und den makellosen Sitz hin.
Der edle Ritter summt, liebkosende Blicke schweifen über die Gegenstände ringsum. Ich trage eine Chinavase hinaus, hinter mir bleibt Besorgnis zurück. Wird die Vase entzweigehen?
Ich komme wieder auf die Straße; da ist das Pflaster, die Natur, der unwirsche Himmel, die knorrigen Bäume ... Ein Arbeitsloser haut mich um hundert Sous an. Er ist ein ehemaliger Landarbeiter, der vom Dorf kommt und die Volksküche sucht. Er hat nichts von einem gewerbsmäßigen Vagabunden an sich.
In der Etage, die mir noch im Kopf herumgeht, in der Wohnung der aristokratischen Schmetterlinge geht das Leben weiter, delikat.
Samstag, auf der Baustelle ist Schluss. Der Angestellte ist gekommen, um die Löhne auszuzahlen, es herrscht eine Ungewisse Unruhe unter den Arbeitern.
Ich persönlich mache mir keine Sorgen. Wie immer es um die Arbeitslage bestellt sein mag, ich bin in unserer Bude unabkömmlich. Man wird mich immer für Botengänge, zum Aufräumen und zum Überpinseln von irgendwelchem alten Krimskrams brauchen.
Es stehen andere Bauarbeiten in Aussicht, aber es ist nicht sicher, ob unser Meister den Auftrag bekommt. Felicien macht sich Sorgen. Er ist der beste Kollege, er ist der Älteste. Ivan ist gleichfalls in Sorge, er ist der Jüngste von allen, und er ist nicht vom Fach. Ein Kamerad, unser Baustellenleiter, hat ihn in den Arbeitsplatz hineingeschmuggelt und ihn dadurch vor der Arbeitslosigkeit bewahrt. Ohne Arbeit sein, das bedeutet für ihn die Einsamkeit, die Rückkehr in seine kleine Bude in Barbes und die magere Arbeitslosenunterstützung als einzigen Unterhalt.
Wir sind sechs Mann, jeder wägt und grübelt. Schließlich wird Felicien abgebaut. „Na ja, nun ist's soweit, ich bin zu alt, man rangiert mich aus!"
Wenn die Arbeit schon für alle Anstreicher knapp ist, so ist sie für die älteren Anstreicher noch knapper. Die Unternehmer sehen, wohl aus Mitleid, nicht gern die alten Leute auf den Gerüsten sterben. Felicien ist kein alter Mann; er nähert sich erst den Sechzig, aber er ist verbraucht, was ihn freilich nicht hindert, auf dem Bau noch seinen Mann zu stehen.
Scherzend rekapituliert er sein Leben:
„Da, siehst du meine Klamotten? Nach mehr als vierzig Jahren Arbeit ist das mein einziges Kapital!"
Er übertreibt, er hat noch Kleidung zum Wechseln, und er kommt immer sehr sauber zur Arbeit, wie alle Kollegen in Paris.
Felicien wurde am Samstag entlassen. Am folgenden Dienstag sah ich ihn wiederkommen:
„Alter Freund, du bist jetzt mein Gehilfe, und ich bin dein Chef, nimm die Leitern in ein Taxi. Wir gehen auf die andere Baustelle." — Ich sage:
„Wie denn? Was ist denn das für eine Geschichte?"
Er lacht wie ein alter Säugling, glücklich über sein Abenteuer.
„Du wirst schon verstehen! Ich bin aufs Büro gegangen, um ein Zeugnis zu holen. Der Angestellte sagte
zu mir: ,Treten Sie näher, Herr Felicien!' Der Chef sagte: ,Setzen Sie sich, Felicien!' Er hat mit mir geredet, so wie ich mit dir rede ... Ich habe mich in den Sessel gesetzt, und er hat mir eine Zigarre angeboten."
Das ist es also, und das findet der Felicien nun schön, dass der Chef mit ihm geredet hat, „wie ich jetzt mit dir rede".
Felicien wird Baustellenleiter und ich seine rechte Hand. Auf seinen Wink gehe ich einen Liter Rotwein oder Zinkweiß holen. Geheiligt durch das Büro, bei dem ich jeden Morgen vorbeigehe, bin ich in seinen Augen eine Autorität, ich aber erkenne die seine durchaus an.
Wenn die Kollegen Durst haben, sause ich los und hole Wein; ich mache mich nützlich, indem ich seine Anweisungen befolge. Sobald ich den Besen wegstelle und der Bau sauber ist, befasst er sich damit, mich das Handwerk zu lehren: kalken und verkitten.
Felicien mag mich gut leiden, weil ich mit dem Herzen bei der Arbeit bin. Für ihn ist die Arbeit alles. Schlösser, Villen, die Wohnungen der Reichen sind nur dazu da, dass die Maler darin „saubere Arbeit" verrichten, und dass sie, mit dem Handrücken über eine gestrichene Fläche fahrend, bei der Berührung mit der sanften Gleichmäßigkeit sagen können: In Ordnung. Felicien sehnt sich nach der schönen Arbeit von früher mit dem giftigen Bleiweiß zurück ...
Felicien ist ganz stolz, der Bau ist ein beträchtliches Objekt. Wir sind zu zwölft; die Wohnung ist grandios. Um es den Anstreichern, denen er begegnet, ja richtig zu beschreiben, geht Felicien so weit, die Zahl der Zimmer und Bäder zu übertreiben. „Es ist nahe am Bois de Boulogne, für einen großen ausländischen Bankier!" ...
Väterlich leitet er die Arbeit. Wir sind ein Dutzend von der Gewerkschaft überwiesene Leute, alte Arbeitskollegen. Es herrscht ein guter Geist; Bücklinge gibt es nicht. Ein Maler, der gerade singt, hört nicht auf, wenn der Pomadenhengst, unser Chef, ankommt oder wenn eine parfümierte und vornehme Gesellschaft — Kunden oder Besucher — die Baustelle besichtigt.
Es geht lebhaft zu auf dem Bauplatz: Klempner, Steinmetzen, Parkettleger, Bauarbeiter. Auf die Gipswand habe ich eine schöne Sichel und einen Hammer gezeichnet. Die Besucher gehen vorbei und sagen nichts, auch Felicien kommt vorüber, und um der feinen Welt nicht weh zu tun, wischt er unser Erkennungszeichen aus.
Auf der Baustelle des Invalidenplatzes hoben die Erdarbeiter der Ausstellung von 1937 ein Grabennetz für Abflussrohre aus, die an die städtische Kanalanlage angeschlossen werden sollten.
Ich war in eine starke Arbeitskolonne von Kumpels aus dem Anjou, aus der Bretagne und der Pikardie eingetreten. Es war die charakteristische Zusammensetzung einer Gruppe Pariser Erdarbeiter, die in ihrer großen Mehrheit bäuerlicher Abstammung sind.
Sie tragen ihre Heimat mit sich. Ihr Schnabel bleibt bäuerlich. Sie sprechen langsam. Die Namen der Dinge erhalten in ihrem Munde eine unmittelbare, anschauliche Kraft. Was sie auch sagen mögen: Straße, Wein, Brot, Flasche, alles, was sie nennen, wird greifbar. Selbst wenn sie der Mundart ihrer Heimat nicht treu bleiben, tönt aus ihren Worten noch ein Widerhall ihrer Heimat. Mit ihnen steht man auf bezwungenem, gepflegtem, aufgeteiltem Boden, der zu bäuerlichem Land, zu Feldern, zu Wiesen wurde, in einer Welt, wo der Mensch wie ein Gärtner in seinem Gehege leben kann. Mag ihr Klang auch verschieden sein: die Stimmen dieser Männer, die auf einem Weizen-, einem Kartoffel- oder einem Rübenacker sprechen gelernt haben, wirken doch immer beruhigend.
Die Pariser Erdarbeiter verbinden die bäuerliche Gesundheit mit der Großherzigkeit des Arbeiters. Sie sind herzlich und sogar brüderlich. Mitten im Frieden sind ihre Umgangsformen die von Männern im Kriege, von Männern des gleichen Schützengrabens: von Kameraden. Auf allen Baustellen findet man rasch kameradschaftlichen Anschluss.
Nicht durch Zufall wird man Erdarbeiter, das Handwerk lockt unabhängige Naturen. Ein Erdarbeiter wird eingestellt, ohne vor einem Portal demütig Schlange zu stehen. Er braucht keine Zeugnisse zu sammeln, um sie im Büro eines Personalchefs vorzulegen. Er wird eingestellt, ohne die Mütze abzunehmen. Wenn er sich vorstellt, sagt er nicht: „Verzeihung, bitte, würden Sie ..." Der Meister ist auch Kumpel wie er, nur meistens älter, dicker, röter im Gesicht. Gewöhnlich hat er selbst früher den Spaten in der Hand gehabt. Er hat breite Schultern und trägt auch Bluse und Joppe. Die beiden Männer betrachten einander prüfend. Rasch haben sie sich gegenseitig durchschaut.
„Ich wollte mal fragen, ob du Leute einstellst", sagt der Erdarbeiter mit trockenster Stimme.
Er bittet nicht um Arbeit wie ein Bettler um Almosen.
Er bückt sich nur bei der Arbeit, nicht vor dem Menschen. Je aufrechter er sich hält, um so besser arbeitet er. Wenn der Meister Leute braucht, und wenn sein Urteil günstig ausfällt, antwortet er:
„Wenn du willst, mein Junge, kannst du morgen kommen. Bring deine Gewerkschaftskarte mit, damit die Kumpels dich arbeiten lassen."
So ungefähr ist es, wenn es Arbeit gibt. Der Beruf lockt stolze und derbe Naturen. In vielen anderen Berufen verdient man mehr, selbst wenn man nicht so stark und auch nicht schlauer ist. Aber in jenen Berufen ist man weniger stolz als ein Erdarbeiter.
Diese Bauernsöhne haben ein Bedürfnis nach Kraftentfaltung, nach Freiheit und frischer Luft, das sie von der Arbeit im Büro oder in der Fabrik zurückhält. In der heutigen Zeit sind sie eine Rasse für sich. Eine Rasse, die nicht eingesperrt leben kann. Wie die Kolonialarmee oder die Marine zieht die Erdarbeit jene Abenteuerlustigen an, die das Bedürfnis nach ständig neuen Horizonten haben. Fast in jedem Erdarbeiter steckt ein Mensch, der nicht von der Natur getrennt leben kann, nicht leben kann, ohne herumzuziehen. Früher waren die Erdarbeiter noch mehr unterwegs, zu Fuß auf der Landstraße, mit Schaufel und Spitzhacke über der Schulter und ihrem Bündel an einem Stiel — einen Tag hier, acht Tage dort. Sie lernten Frankreich, die Niederlande und das Elend besser kennen. Sie waren Habenichtse. Wollte man in der Welt der Arbeit nach einer echt proletarischen Geisteshaltung suchen, würde man sie nirgendwo reiner als bei den Erdarbeitern finden. Sie können nicht die gleiche Lebensauffassung haben wie Beamte, wie kleine Besitzer, seien es Bauern oder Handwerksmeister. Sie entstammen dem verarmten Bauernstande, den kinderreichen Familien von Häuslern und kleinen Pächtern. Sie haben nichts, sie besitzen nichts, sie werden nie etwas haben. Sie sind nicht so töricht, ans Sparen zu denken. Ein Missgeschick, Unfall oder kurze Arbeitslosigkeit, können sie aushalten. Die Zukunft scheint ihnen vorgezeichnet wie Notenpapier. Sie werden bis zur Erschöpfung ihrer Kräfte arbeiten, ohne wie der Krämer vom Geldmachen für den Bau eines Häuschens auf dem Land zu träumen.
Beinahe alle müssen Vorschuss nehmen auf den vierzehntägig ausgezahlten Lohn. Manche holen sich Tag für Tag ihr Geld. Der Lohn eines Bauarbeiters ist nicht gleichmäßig, besonders im Winter. Sie verdienen nicht genug, um das Geld zu lieben und es beiseite zu legen. Viele von ihnen sind freigebig. Sie versagen sich nie der Solidarität. Es sind gute Kerle. Das erklärt sich aus ihrer Herkunft, aus der Unsicherheit ihrer Lebensbedingungen, aus der Arbeit im Freien und der brüderlich geteilten Mühsal. Wie aber könnte man den Geist kennzeichnen, der ihnen eigen ist, der sie von den Notaren, den Krämern und sogar von den Fabrikarbeitern unterscheidet? In ihrem Herzen finden sie, was sie nicht aus den Büchern gelernt haben. Die Welt hat sich verändert, sie aber gehören noch dem Mittelalter an, Söhne von Leibeigenen, echte Bauernrebellen.
Sie waren die ersten, die sich gewerkschaftlich zusammengeschlossen haben, die dem Ruf der ersten Arbeiterinternationale gefolgt sind. Sie brauchten keinen Geistesballast abzuwerfen, um den revolutionären Gedanken zu begreifen. Sie trugen ihn in sich. Für sie war er kein System, keine Theorie. Er entsprach ihrem Streben. Sie sind immer sprungbereit. Man kann nicht den Stolz eines einzigen antasten, ohne dass die ganze Gruppe wie eine Feder losschnellt. Sie trinken gern Wein, doch während der Streiks halten sie bis zum Ende durch und trinken Wasser. Was für ein Opfer!
Ich bewunderte die Kumpels meiner Kolonne, ihre Geschicklichkeit im Verschalen der tiefen Gräben. Sie verstanden es, sie mit Brettern und Balken so zu festigen, dass sie nicht einstürzten. Die Wände fielen lotrecht ab. Sie gruben kleine Nischen hinein, um darin ein Feuerzeug, ein Päckchen Zigaretten abzulegen, die ihre Taschen beschwerten.
In ihrem Benehmen fiel mir oft wohlbedachte Lebensart auf. Ein sturer Kerl — in jeder Menschengruppe gibt es Kroppzeug — nahm seine Schaufel, um sie als Deckung zu benutzen, während er in den Graben pinkelte. Das war unerwartetes Feingefühl.
In Paris ist die Schaufel breit, die Spitzhacke ist lang, schwerer als im Süden. Ich fragte mich ein wenig besorgt, ob meine Kräfte ausreichen würden. Die Erdarbeiter sind hier stattlichere Kerle als die in der Provinz. Sie richten sich nicht oft auf, um sich zu verpusten. Ich hielt mich nicht für stark genug, um es ihnen gleichzutun. Ich rechnete mit kritischen Bemerkungen, mit mürrischen Anrempeleien, mit Grobheiten von Seiten der Kräftigsten. Doch ganz im Gegenteil, sie waren die gutmütigsten, zartesten und jungenhaftesten Kerle, die vor ihrer Mutter Angst hatten wie Schulkinder — gute Söhne, die noch nicht geheiratet hatten, um die Ernährer ihrer „Alten" zu bleiben.
Alle stecken sie voller Geschichten, die sie nicht erzählen. Einer aus der Bretagne, ein ehemaliger Seemann, der neben mir die Spitzhacke schwang, sagte zu
mir:
„Ich habe alles erlebt, mir fehlen nur noch zehn Jahre Zuchthaus, um das Leben von Grund auf zu kennen."
Auf der Baustelle kennt man seinesgleichen besser als in der Fabrik. Die einzelnen Charaktere treten stärker hervor, sind vielfältiger. Die Erdarbeiter haben ein erlebnisreiches Leben. Viele sind weitgereist. Es sind auch genug solche darunter, die aus Militärstrafanstalten kommen, Aufsässige aus Prinzip oder aus Starrsinn. Ihre Zunft ist ein wenig das Freikorps der Arbeiterbataillone. Sie haben kein Talent zum Kuschen.
Wenn ich nach Verlassen der Baustelle nicht mehr unter Erdarbeitern, Maurern und Zimmerleuten war, fühlte ich mich entwurzelt in einer unbeteiligten, steifen, abweisenden, verschlossenen und farblosen Menge. Mir waren zufällige Bekanntschaften auf der Baustelle lieber, Bekanntschaften mit Kumpels in klobigen Stiefeln und Holzschuhen, in Joppe, in Kittel, in schwarzer oder weißer Leinenjacke, Bekanntschaften mit Erdarbeitern, Anstreichern und Mauerleuten. Man tauscht einen Gruß aus, drückt einander die Hand und spricht einander an, ohne sich jemals gesehen zu haben. Ich fühlte mich wie in einer Familie, in einer Gemeinschaft tätiger Hände und lockerer, spaßiger, gutmütiger Zungen. Ich war in meiner wahren Welt, einer Welt, die vielleicht die zukünftigen Formen der menschlichen Beziehungen in sich trug und bereits sichtbar werden ließ. Die Straße, die steifen Menschen, die Sakkoanzüge und die starren Gesichter — das alles war nicht so lustig wie die Baustelle.
Auch mein Vorarbeiter war aus der Bretagne. Er sprach ein gewähltes Französisch. Er war Priesterschüler gewesen. Von Beruf Dreher, war er seit der Krise Erdarbeiter und fühlte sich jetzt auf der Baustelle wohler als in der Fabrik. Wenn er seinen blauen Monteuranzug ausgezogen hatte und den Umkleideraum des Betriebes in Mantel, Kragen und Hut verließ, war er der saubere Arbeiter, der sich vom Angestellten nicht unterscheidet. Die Erdarbeiter sind stolz auf ihren Beruf. Sie tragen gern zur Schau, dass sie vom Bau sind. Im Umkleideraum wechselten sie ihre Pluderhosen, die so bequem für ihre Art von Arbeit sind: weit über den Knien und eng am Knöchel anliegend, mit kleinen Taschen für den Zollstock und den flachgepreßten Löffel zum Abkratzen der Schaufel. Den blauen Arbeitsanzug oder den schwarzen Kittel vertauschten sie mit einem schönen Manchester von gleichem Schnitt, darum wickelten sie den breiten, wollenen Zuavengürtel, den schönen roten oder blauen Gürtel, der Bauch und Kreuz bei der Arbeit schützt. Sie wechselten die schweren Stiefel gegen Halbschuhe. Das kleine schwarze Wams über den Pullover gezogen, gingen sie davon, und ihre schönen Gestalten schmückten Omnibus, Bürgersteig und U-Bahn, wenn sie mit tönender, voller, unbefangener Stimme in Gruppen auftraten. Urwüchsige Burschen. Pierrot, mein Vorarbeiter, der sich in Kleidung und Sprache dem bürgerlichen Typ näherte, verlor bestimmt dadurch, dass er sich von den Erdarbeitern abhob, um dem amerikanischen Arbeiter oder dem gesichtslosen Angestellten in einer gesichtslosen Menge zu ähneln. Ich bewunderte die Erdarbeiter, die so stolz auf ihren Beruf waren, dass sie ihre Tracht auf der Straße trugen. Aus der Tasche ihres Wamses schaute eine Zeitung hervor, meistens die „Humanite", der „Populaire" oder der „Libertaire".
Die meisten von ihnen wohnten in den Vororten, weil man dort billiger lebt als in Paris und weil sie dort ein Stück Garten haben konnten, drei Kohlköpfe, zwei Hühner, einen Kaninchenstall. Sie kamen aus dem Roten Gürtel, der Paris umgibt. Sie wählen kommunistische Bürgermeister und Abgeordnete, die sie beim Vornamen nennen. Ihre Vertreter sind für sie nicht Vorgesetzte, sondern Genossen. Ihre Neigung, bewundernd aufzublicken, verbindet sich mit ihrem Hang zur Gleichheit. Ich wüsste nicht, vor wem unser Vertrauensmann, ein ehemaliger Matrose, die Augen niedergeschlagen hätte. Den Papst hätte er geduzt, wenn er ihm begegnet wäre. Sie sind zutiefst davon durchdrungen, dass der Mensch immer nur ein Mensch ist, gleich in welchem Kleid. Schöne Sätze und Reden blenden sie, sie sind nicht unempfindlich für die Musik der Worte. Wenn sich aber einer zuviel darauf einbildet und sich für mehr hält als sie, dann finden sie sich zu ihrer Grundhaltung zurück. Sie wissen, dass auch sie mit höherer Schulbildung eine vorteilhaftere Figur in der Welt hätten abgeben können. Sie fühlen sich nicht gedemütigt. Wer ihnen mit Verachtung begegnet, dem können sie mit gleicher Münze heimzahlen. Zu ihrem Arbeitstag kommen die ermüdenden Untergrund- und Stadtbahnfahrten hinzu. Viele aßen aus Sparsamkeit nicht im Restaurant, sondern brachten sich ihre Mahlzeiten in einem Brotbeutel mit. Andere aßen zwar im Restaurant, mäßigten aber, gleichfalls um zu sparen, ihren Appetit. Der Liter Wein glich die Spärlichkeit der Fleischration aus.
Der Lärm der Stadt in den verkehrsreichen Vierteln, das Getöse der Maschinen auf den großen Baustellen, die langen Fahrten, das Fehlen einer etwas ausgedehnteren Mittagspause, des Mittagsschläfchens, das sich alle im Freien arbeitenden Menschen gönnen, machen das Dasein des Erdarbeiters in Paris härter als in der Provinz. Es hat schon seinen guten Grund, dass die Erdarbeiter den Wein lieben und ihn vertragen, damit sie sich in der Kneipe an der Ecke etwas aufmuntern können.
Das Handwerk ist ermüdend, aber weder blöde noch stumpfsinnig. Man muss geschmeidig arbeiten, seine Bewegungen überwachen. Nur wenn man die Spitzhacke gut kennt, handhabt man sie richtig. Die Erdarbeiter bedienen sich ihrer mit sparsamem Kraftaufwand. Ihre Bewegungen sind überlegt und wohlbemessen. Es verlangt Geschicklichkeit, die Schaufel ohne übermäßige Anstrengung zu handhaben und täglich das gleiche Arbeitspensum zu schaffen. Wenn aus einem sehr tiefen Graben Erde herausgeschleudert wird, dann gibt es keinen Erdarbeiter, der sich nicht am Schwung seiner Schaufel freut. Aus der Wiederholung der gleichen kraftvollen Bewegung entsteht ein Rhythmus, ein Takt, der dem Körper sein Vollgefühl verleiht. Es ist nicht leichter, seine Schaufel richtig zu schwingen, als einen Diskus zu werfen. Wenn die Erde gut ist, schön rutscht und auf der Schaufel singt, gibt es, bevor die Ermüdung einsetzt, wenigstens eine Stunde am Tag, in der sich der Körper glücklich fühlt.
Das Handwerk ist hart, härter als das der Bauern. Es ist härter, in einem Graben zu schaffen, als hinter einem Pferde den Pflug zu führen. Trotzdem haben die Erdarbeiter ein inneres Leben. Sie leben wie die Bauern, sind wie diese jedem Wechsel der Witterung ausgesetzt. Ihr Wesen ändert sich mit der Jahreszeit, der Stunde, dem Licht, dem Wetter. Aber ihr Denken ist nicht von den praktischen Sorgen erfüllt, mit denen sich die Bauern herumplagen. Es ist philosophischer. Ihre Lebensweisheit ist großzügiger. "Wenn sie hacken, bewegen sie Ewiges. Wie die Bauern sprechen sie schwerfällig, können sie nur ihre einfachsten Gedanken, das Unwesentlichste ihres Wesens ausdrücken. Das Handwerk packt seinen Mann an der Kehle und lässt nur den Gliedern Bewegungsfreiheit. Viele dieser wortkargen Träumer, die man auf der Baustelle trifft, haben nicht mehr Worte für ihre Träumereien als für die Begebenheiten ihres Lebens. Nur ihr Schweigen und bei einigen eine gewisse herbe Schönheit des Gesichts sprechen für sie.
Und doch haben sie erstaunlicherweise einige feurige Redner, die ihren großen Versammlungen Schwung geben. Bei allen hochherzigen Protestbewegungen sind sie vorne an. Sie verteidigen nicht nur ihre Löhne. Das Herz des arbeitenden Paris schlägt stark in ihnen, stärker als irgendwo sonst.
Schrille Pfiffe übertönen das lärmende Durcheinander. Auf das Kommando eines Riesenburschen mit der Signalpfeife im Mund ziehen Erdarbeiter in einem Graben ruckweise an einem Kabel, um es von einer Trommel abzurollen; wie eine schwere schwarze und erdige Schlange windet sich das Kabel den Graben entlang.
Obwohl der Kerl, der da kommandiert, breitschultrig, rotbackig und ganz ruhig ist, klingen seine Pfiffe vorwurfsvoll, unzufrieden und ungeduldig; es ist, als wiederhole er unablässig: „Na los da unten, zieht, zum Donnerwetter! Meint ihr, ich seh euch nicht?"
Die Pfiffe mit dem tadelnden Beiklang tragen ihr erregtes „Hau ruck!" in die Weite. Alle Kumpels der Baustelle — auch die, die nichts mit dem Abwickeln des Kabels zu tun haben — fühlen sich gestochen von dieser unermüdlichen Pfeiftarantel und schimpfen: „Wird er endlich Ruhe geben, der Riesenkaffer, er zerreißt einem ja die Ohren mit seinem Tüt-Tüt!"
Das ganze lärmende Treiben von Paris braust durch die Luft der Baustelle. Geblöke, Gewimmel, Geächze, unentwirrbares Geräuschknäuel der ganzen Autoherde, die in einer endlosen Häuserwüste umherhetzt.
Die letzten reglosen Fäserchen der Luft sind vom Sturm der Maschinen aufgesogen; Kompressoren, Betonmaschinen, Presslufthämmer und Sägemaschinen kauen und zermalmen die zermürbte Luft. Die Männer, halbe Schattenwesen, scheinen nicht mehr aus Fleisch und Knochen zu sein, und in dem Getöse haben ihre winzigen Handwerkszeuge keine eigene Stimme mehr. Alle ihre Bewegungen wirken geräuschlos. Das Kratzen der Kelle in einem Holzkübel oder das Zerspringen eines Ziegelsteines unter dem Hammerschlag hört man nur aus der nächsten Nähe. Der ganze Krach, den man vernimmt, stammt von den Maschinen, von den Riesengeräten, und wird nur von den schrillen Pfiffen des großen Teufels übertönt.
Geräusche, Gerüche: ein einziges Gewimmel. Der Odem von Paris, der nach dem Schlund der U-Bahn riecht, nach Zelluloid und nach verbranntem Gummi, frischt sich auf mit den Gerüchen der Baustelle, dem gesunden Duft nach Gips, Sand und Kalk — Gerüche, die robust sind wie die Arbeiter.
Sogar an Regentagen bergen die roten Backsteine
noch Sonne, und der Sand ist Land und Natur, Flussbett und Stille.
Man spürt in diesem Getöse kaum, dass man existiert. Sogar mit einer Spitzhacke in der Hand besinnt man sich fast nicht auf sich selbst. Am Abend, in der jähen Stille der Vorstadt, sobald man die Lichter des Autobusses oder der Kneipe hinter sich gelassen hat, findet man seine Menschenseele wieder. Hier aber ist man nur Arbeitstier, zwei Hände aus dem Riesenheer von Händen, mit dem Gefühl, dass man die nötige Muskel- und Willenskraft besitzt, um die Arbeit zu leisten.
Die Arbeit weckt auch menschliches Empfinden. Anstatt vom Lärm spricht der Sand leise von der Ferne. Ohne besonders darauf zu achten, weiß man es. Die Erde von Paris auf der Schaufel des bretonischen Erdarbeiters ruft ländliche Erinnerungen wach, und die ganze Erde scheint nun nicht mehr ausschließlich und überall das Bereich wild rasender Menschen und Maschinen. Man erträgt den Lärm besser, wenn man weiß, dass es anderswo Orte gibt, über denen Ruhe herrscht.
In einem gewaltigen Durcheinander von Material, Gerüsten und halbfertigen Gebäuden steht neben einem Graben, den die Bauarbeiter ausheben, ein alter Mann. Er ist dabei, die Erde, die man ihm von unten heraufwirft, zur Seite zu schaufeln. Gebrechlich und krumm, mit seinen Rockschößen, die ihm spitz über die Knie hinabhängen, erinnert er an einen regennassen Spatzen.
Während der Alte mit unsicheren Füßen den Gang auf ein quer über den Graben gelegtes Brett wagt, ruft er: „Herrgott, ich weiß nicht, ob ich heute morgen hinüberkomme, ich hab ganz steife Beine!"
Das Hindernis ist nicht groß, der Graben ist achtzig breit, ein Schritt über das Brett, und man wäre drüben. per kleine Alte macht nutzlose Anstrengungen, um sein zitterndes Gerippe auf die andere Seite hinüberzuschieben.
Unten stellt ein Erdarbeiter seine Schaufel gegen die Verschalung seines Grabens.
„Warte, Väterchen, brich dir nicht das Kreuz. So, jetzt geh, ich helf dir!"
Sicherer geworden, schafft der arme Alte mit der Schaufel als Stütze den Übergang über den Graben.
„Ja, so geht's, wenn man alt wird!" sagt der Greis. „Dreiundsiebzig bin ich jetzt", fügt er stolz hinzu.
Der lange Rothaarige, der ihm geholfen hat, zieht seinen Tabaksbeutel heraus und hält ihn dem Alten hin, der sich mit seinen welken Fingern eine Zigarette dreht. Er hat jenen naiven Gesichtsausdruck, den die härtesten Männer annehmen, wenn sie alt werden, zwei blaue Augen, einen hellen Blick, der noch an so manchen kleinen Dingen seine Freude haben könnte.
„Ja, ja, Alterchen, das will ich meinen, so alt wie du werden nicht alle", sagt der Rothaarige zu ihm und zieht genießerisch an der ersten Morgenzigarette.
Er raucht, als wolle er sich gegen eine aufkommende Mutlosigkeit wehren, und blickt dabei den Alten mit einem Ausdruck an, der zu besagen scheint: „Das Leben ist schon eine derbe Posse, aber wir sind stärker als diese Posse, wir halten durch."
Von Zeit zu Zeit entwischt ein Erdarbeiter dem Bann der Arbeit, dem Rhythmus seines Gerätes; mit einem Blick umfängt er die Baustelle, entdeckt neben sich den Greis, den gebeugten, von den Jahren verbrauchten Erdarbeiter, der da mit den schwachen Kräften eines Kindes sein Brot verdient. Es ist, wenn sich nichts ändert, sein eigenes Schicksal, das er da erblickt in diesem armen Teufel, der sich auf seine alten Tage damit abquält, der Gesellschaft sein Recht auf Leben zu entreißen.
Die Fensterläden sind wegen der Mücken geschlossen. Ein Lichtstreifen durchschneidet das große dunkle Zimmer. Auch durch den Kamin dringt der Tag, graublau fällt sein Licht auf die Asche.
In ein Betttuch eingerollt, auf einer Matratze ausgestreckt, die auf den Fliesen liegt, lasse ich die Nachtruhe ausklingen. Die Tagesarbeit beginnt früh und endet spät. Eine kurze Ruhepause zum Frühstück um acht Uhr und mittags ein winziges Nickerchen im warmen und hellen Schatten eines Olivenbaums auf dem Weinberg.
Schon höre ich den Schritt meines Arbeitgebers, des dicken Felix. Er wird mich rufen mit seiner ulkigen, dünnen Stimme, der Stimme eines Säuglings, der im Fett erstickt.
Es tut gut, so ausgestreckt liegenzubleiben, wenn man am Tage zuvor tüchtig gearbeitet hat, jede Minute Ruhe wird ausgekostet. Abends nach der Suppe fühlt man sich vor Müdigkeit gelähmt, wie in einen schweren Holzklotz verwandelt. Der beste Augenblick des Tages ist das Wachwerden. Neue Kraft durchströmt die Glieder; während ich mich recke, fühle ich mich wie in geschmeidiges Gummi gehüllt, jenes Gummis, aus dem man Steinschleudern macht.
Es ist Weinlese. Auf der Straße rufen die Leute einander an; herzliche, morgenfrische Stimmen, beschwingte Stimmen, von Sonne und kühlem Tau durchtränkt. Der Kaffee hat sie so munter gemacht oder der Tropfen Schnaps darin, oder es ist einfach deshalb, weil die Bauern während der Lese froh sind, wenn das Wetter klar bleibt.
Das dumpfe Trappeln der Stiefel und der Pferdehufe auf dem Kies wünscht dem Erdboden einen guten Morgen.
Das Gerüttel der Fässer auf dem vorüberfahrenden Karren ist lauter als die Hufe des Pferdes, das ihn zieht; die Räder knirschen im Kies; sie drehen sich langsam, zögernd wie Kühe, die sich dem Brunnen nähern. Der Karren knarrt. Die Holzbütten stoßen mit dem Klang aufgeschlagener Fässer gegeneinander. Der Fuhrmann schreit ein barbarisches „Hühoo", das fast ein Gewieher ist. Man muss sich stark fühlen, wenn man diese Sprache spricht. Sie zerkratzt die Kehle, es ist eine Pferdesprache. Der Karren beschleunigt seinen polternden Rhythmus. Das Pferd wird seinen Kot heute nicht unterm Fenster fallen lassen, und ich werde die Spatzen nicht wie sonst darauf herumpicken sehen.
Das ganze Land riecht nach Weinlese. Wenn ich das Fenster öffne, dringt ihr Atem auf mich ein, ein Duft nach Weinkeller, Rum, altem Fassholz. Das riecht wie nach altem afrikanischem Segelschiff. Es ist der Geruch des Morgens und der reifen Erde. Eine elektrische Lampe brennt noch, sinnlos: die Sonne ist aufgegangen.
Wenn ich durch das fast finstere Kelterhaus gehe — das Tor ist noch zu —, begrüßt mich allemal ein schöner Hund. Er jault, springt mich an, umklammert mich mit seinen Pfoten. Wie mager er ist! Vielleicht ist er deshalb so liebevoll zu den Fremden. Augustine füttert ihn schlecht. Sie hat mich kommen hören und ruft mich in die Küche. So ist es jeden Morgen. Mit singender Stimme lädt sie mich ein, Kaffee trinken zu kommen. Im gleichen Choralston antworte ich, dass ich mich zuerst ein bisschen waschen will.
Sie drückt ihre Bewegungen in Worten aus, in kleinen unregelmäßigen Verszeilen, mit großer eindringlicher Sanftheit, in einem von der Mutter auf die Tochter vererbten Tonfall:
„Hier Ihr Napf, und hier der Zucker, der Kaffee steht im Topf auf dem Feuer. Nehmen Sie sich, Georges ..."
Es ist die Stimme eines zelebrierenden Priesters, es ist die Messe des Morgenkaffees.
Das Reisigfeuer, ein wohlbemessenes Feuer, nicht mehr als nötig ist, erleuchtet die Küche. Zwei Katzen, fast wie aus Porzellan, beschnüffeln vorsichtig die Flamme. Es ist noch ein wenig kühl.
Augustines Kaffee ist Zichorie. Er ist warm; schön schimmert der junge Tag durch den Sackleinenvorhang der Haustür. Es ist doch ein guter Kaffee ...
Während Augustine den Korb mit fast andächtigen Bewegungen fertigmacht, fährt sie in ihrer morgendlichen Kantilene fort:
„Wir werden schöne Linsen essen, eine schöne Linsensuppe, Linsen mögen Sie doch? Und morgen wird es schönen Schellfisch geben mit schönem Bohnensalat, und eine Dose Thunfisch um acht Uhr, Salat dazu, Tomaten und Zwiebeln ..."
Ich weiß, dass in der schönen Abendsuppe ranziger Speck sein wird. Bevor sie das Brot in Scheiben schneidet, das sie zum Mitnehmen in den Korb legt, macht sie mit der Messerspitze rasch das Zeichen des Kreuzes darauf, hüllt es in eine saubere Serviette und reibt Gläser, Gabeln und Messer ab. Alles ist heilig, was zur Nahrung gehört.
Langsam und betriebsam zugleich pendelt sie zwischen Schrank und Tisch hin und her. Sie erschrickt: beinahe hätte sie das Salz vergessen! Mein Gott, was würde Felix sagen. Jetzt ist alles da: Öl, Essig, Senf, die Teller und die kleinen Töpfe.
Breit und stark wie ein Marseiller Fischweib, hat sie die würdige Haltung der Wirtschafterin eines vornehmen Hauses, das strenge Gesicht eines Römerweibes, die Nase der alten Bourbonenkönige Frankreichs, die weiten Augen einer Statue, die niemals lächeln, und «die Traurigkeit eines Generals, der alle seine Schlachten verloren hat. Ihre Tragödie ist die Teuerung des Knoblauchs und des Salats, denn in einer wasserarmen Gegend müssen die Winzer all ihr Gemüse kaufen. Ich gehe, bevor ich den Preis des Mieders erfahren habe, das Augustine seit sieben Jahren auf dem Leibe trägt.
Felix habe ich lieber. Er sitzt auf der steinernen Türschwelle und raucht seine erste Zigarette. Er hat schon Kaffee getrunken und wartet auf unseren Karren und seinen Knecht. Herzhaft begrüßen wir uns. Mit übertriebener, zuversichtlicher Stimme beteuere ich, dass ich gut
geschlafen habe. Es ist eine mit Pferdestimmen des frühen Morgens geschmetterte Begrüßung. Alles ist wie neu: die Hühner, das Pferd, die Schwalben; alles hat den frischen Glanz des ersten Morgens der Schöpfung. Es ist halb sechs nach der alten Zeit.
Die Karren holpern die steilen Straßen hinab. Die Weinleser stehen vor den Kelterhäusern. Es gibt nicht viele Einwohner in diesem kleinen Dorf des Departements Herault, aber alles ist auf den Beinen. Man kommt sich vor wie in einer größeren Ortschaft an einem Kirmesoder Markttag. Überall das Knarren und Quietschen der Bauernwagen und das Gebell der Jagdhunde, die hinter ihnen herlaufen. Es ist wie ein Hafen bei der Ankunft zahlreicher großer Schiffe. Und über all diesem Treiben so viele Schwalben!
Man macht sich auf für einen großen Tag. Es wird sich viel tun heute. Mit vollen, warmen Stimmen werden Zurufe ausgetauscht. Die Luft macht sich einen Spaß daraus, Lautsprecher zu spielen. Alles wirkt überlebensgroß: die Pferde, ihre Kraft, ihre Munterkeit, ihre Geschirre mit den roten Quasten und das Geklingel der Schellen. Mit Mühe sind die alten Weiber auf die Karren geklettert. Die jüngeren lachen, wenn ihre Röcke an den Bütten hängen bleiben. Die Kinder quetschen sich zwischen die Fässer.
Auch unser Karren fährt los. Die Straße führt den Hang hinunter, durchquert die Ebene und verliert sich hinter einem Hügel; sie ist staubig und riecht nach Mehl. Einzeln biegen die Karren in die Feldwege ab.
Auf unserem sind wir nur zu viert. Ich sitze hinten und lasse die Beine baumeln, die holpernde Bewegung wiegt mich ein. Im Rhythmus des Pferdeschrittes entfernt sich das Dorf, schaukelt es auf seinem Hang am Rand der Heide. Alles ist weit, auch der Himmel, ein Himmel, dessen Wolken schon an den Herbst gemahnen.
Auf den Karren hinter uns sitzen alte Weiber; ihre Gesichter sind kaum zu sehen unter den schwarzen Hüten, deren Krempen mit Kopftüchern herabgebunden sind. Jetzt hört man keinen Laut mehr, sie sind still geworden. Ich frage mich, woran sie wohl denken. Das übersprudelnde Kraftgefühl des Morgens ist vergangen; was bleibt, ist dies milde Licht um uns, eine stumme Verzauberung. Ich sehe ihre langen, verwitterten Hände. Ich sehe die alten Frauen mit ihren verklärten Gesichtern und frage mich, woran sie wohl denken.
Wenn ich am Abend, mein Fahrrad an der Hand, den Berg wieder hinanstieg und mich immer weiter von den Lichtern des Dorfes entfernte, fragte ich mich mehr denn je, warum ich mich so hartnäckig ans Leben klammerte.
Wäre ich nicht so erschöpft gewesen, hätte ich der Einsamkeit fröhlicher standgehalten. Dreckig und abgerissen steckte ich in meinen alten Klamotten und schlürfte mit abgelatschten Stiefeln die Asphaltstraße zwischen zwei steilen, struppigen Hügeln entlang. In ratloser Verwirrung dachte ich an verschwommene ferne Zeiten, an das Zusammentreffen vergessener Umstände, aus denen ich hervorgegangen war, um nun dieser arme Kauz von einem Erdarbeiter zu werden. Ich wusste
nicht mehr recht, wie der Zeitenlauf es mit sich gebracht hatte, dass ich nun hier war.
Je weiter ich kam, um so wilder wurde die Landschaft an der menschenleeren Straße. Das Chaos. Ein Chaos ohne Größe: Gestrüpp, Felsen und kahlgebrannter Wald in einer Gegend, in der die Pinien im Sommer wie Zündhölzer aufflammen.
Vom Dorf bis zu meinem Haus waren es sechs Kilometer, und wenn ich ankam, war es wie das Ende der Welt. Im März kam ich gerade zur Dämmerung heim. Im Haus war kein Licht, und die Läden waren geschlossen, wie am Morgen, als ich weggegangen war. In solchen Lebensumständen hat man immer einen Hund. Meiner sprang mir mit klagendem Jaulen entgegen. Ohne Gefährten, mit Ausnahme eines hie und da zufällig vorüberkommenden Hundes, hatte er kein schönes Leben, und er wusste es.
Ich zündete die Petroleumlampe an und machte im Kamin ein mächtiges Feuer, dann putzte ich das Gemüse für die Abendsuppe und für die Mahlzeit zum Mitnehmen auf die Baustelle. Nach der Suppe verließ mich meine Traurigkeit. Nicht immer. Sie wich, wenn ich einen Brief unter die Tür gesteckt fand.
Am Ende eines toten Tages schwankte ich, vor dem Feuer sitzend, zwischen der Zuflucht zum Gebet und dem Zuspruch zum Wein, zur Flasche des schweren Algeriers, die ich noch nicht ausgetrunken hatte. Ein Liter genügte, um mir den Kopf zu verdrehen, aber vor dem Trinken war ich nahe daran, ein Kreuz zu schlagen und zu sagen: „Allmächtiger Gott, ich bin Staub, der Staub braucht sich nicht zu quälen, das Leben geht vorüber." Dem Verstand gehorchend, trank ich lieber.
Ich trank den Wein aus. Mit klarem Kopf und schwankenden Beinen spürte ich in meinen Gliedern einen Feuerstrom des Glückes. Jetzt war alles schöner: das Feuer, die Gegenstände, die Lampe. Wenn ich die Tür aufstieß und in einem wirbelnden und wankenden Himmel die Sterne mit dem Glanz des ersten Schöpfungstages leuchten sah, war ich überzeugt, dass die Erde sich drehe.
Wenn ich am Tage nicht genug lebte, gelang es mir, im Schlaf zu leben. Der Wein erfüllte mich von neuem mit Träumen, mit unendlich fernen Erinnerungen, mit lebendigen Erscheinungen.
Am Morgen war ich wieder auf dem Posten.
Dann, eines Tages, wirkte der Wein nicht mehr. Vom Morgen bis zum Abend dämmerte ich in einem Zustand düsterer Teilnahmslosigkeit hin, die anhielt und mich nicht mehr verlassen wollte. Die Verzweiflung hatte mich versteinert. Jeder Schritt, jede Bewegung fiel mir schwer. Ich hatte zu nichts mehr Lust, weder meine Schuhe am Morgen zuzuschnüren, noch während des Tages die Schaufel zu führen. Ich musste mir Gewalt antun, um vorwärtszukommen. Und das hörte nicht auf, das dauerte und dauerte, wie ein Nagelgeschwür. Ich wartete auf den Augenblick, an dem ich aus diesem Eise auftauen würde. Ich konnte nichts dazu tun, es sei denn auf und davon gehen, um ein anderes Leben zu beginnen, aufhören, allein zu sein.
Ich hatte früher Erdarbeiter werden wollen, um stark zu werden und durch die Welt zu ziehen. Ich war es wirklich geworden, ein für allemal, und kam nicht vom Fleck. Aber das Handwerk, das mich immer befriedigt hatte, stumpfte mich jetzt so ab wie die Eintönigkeit der Fabrik. Ich sah vor mir eine öde Strecke von Jahren, die ich mit der gleichen Bürde beladen zurücklegen musste. Was für Anstrengungen hatte ich gemacht, Anstrengungen aller Art, um das Leben schön zu finden. Aber jetzt musste ich mich geschlagen geben. Die Erschöpfung, die mich jeden Abend niederwarf, hatte mir auf die Dauer auch die Kraft genommen, mich aufzuraffen zu dem mechanischen Tagewerk, das immer wieder begann. Vom Morgen bis zum Abend war ich traurig; es war die Traurigkeit von Sträflingen, die alle Hoffnung, zu entkommen, aufgegeben haben, ohne dass sie sich schon mit der lebenslänglichen Haft abgefunden hätten. Ich war zu traurig, das war schon anormal, und ich sagte mir: „Herrgott, was ist denn los mit dir?" Es war ein Weltschmerz von heftiger und neuartiger Bitterkeit, wie ich ihn weder früher noch später jemals verspürt habe. Es waren nicht die Nerven, es war die Seele, kein Zusammenbruch, sondern das Gefühl, dass sie unter den ständigen Püffen zusammen mit dem erschöpften Körper auf den Hund gekommen war, dass sie ins Alltägliche verstrickt und gar nicht frei, gar nicht weltoffen, gar nicht beschwingt war. Und doch waren es auch die Nerven; die Müdigkeit wirkt sich verschieden aus, je nach der Kraft und der Gesundheit, über die man verfügt. Ich brauchte eine doppelte Gesundheit, ich wollte auch nach der Arbeit leben, ein freier Mensch sein. Es war mir nicht gelungen.
Schön war das Wetter, ein langwährendes, strahlendes, herausforderndes Sonnenfest, zu dem ich nicht zugelassen war. Niemals hatte ich in Dissonanz mit dem Licht gelebt. Wenn ich nach Tagesende von der Baustelle kam und mein Fahrrad an einen Ahornbaum gestellt hatte, war ich nicht mehr imstande, die Terrasse des Cafes zu verlassen, wo ich mich niedergesetzt hatte. Mir graute davor, in meine Hütte da oben zurückzukehren. Die Tage wurden länger, der Abend senkte sich langsam herab. Der Ring der Hügel, die den Horizont versperrten, wechselte sein Kleid. Ich hätte allerlei nähen und flicken müssen, an meinem Kittel gab es Risse und abgeschabte Stellen auszubessern. Ich sah das deutlicher vor mir als das ganze übrige Bild, als diese Ansichtskarte „Frühlingsabend" mit den blauen oder malvenfarbenen Hügeln im Hintergrund und davor im Schutz der Mole an die zwanzig weiße Boote, die das Meer sanft hin und her wippte. Früher hatte ich die Landschaft in mich aufgenommen, ich fühlte mich nicht von ihr getrennt. Jetzt ließ mich die Hand, die mich an der Gurgel gepackt hatte, nicht mehr los und lenkte mich von allem ab, außer von der Angst. Das Blut gefror mir in den Adern, wie von einem Gift zersetzt.
Ich bin mein eigener Arzt geworden. Ich verordnete mir, nach Feierabend sofort heimzugehen, ohne noch beim Postamt vorbeizuschauen, das mir lange als Zauberkasten gegolten hatte, von dem ich allabendlich etwas Außergewöhnliches erwartete, obwohl es mir nur alle acht Tage einen Brief von Anna bescherte. Je erschöpfter ich war, um so krampfhafter erwartete ich etwas Ungewöhnliches, eine Überraschung, ein unvorhergesehenes Ereignis.
Mir wurde plötzlich klar, dass mir die Langeweile überallhin, in die verschiedenartigsten Lebenslagen gefolgt war, in die Fabriken und auf die Baustellen, mit oder ohne Anna. Wohin ich auch gehen würde, es würde keinen Zweck haben, vor ihr zu fliehen; sie würde mir in der Betriebsamkeit der Arbeitstage auf den Fersen sein, wie auch in den Tagen unfreiwilliger Muße; es wurde mir klar, dass die Langeweile, der Zustand innerer Leere, mehr noch als der Hunger das wirkliche Übel ist, an dem die Menschen leiden, dass die Qual der Arbeit, außer in den harten Berufen am Feuerkessel, nicht der Schmerz der Muskeln, sondern die Langeweile ist, dass im modernen Arbeitsprozess Tausende von Menschen als Roboter der Serienfabrikation und des laufenden Bandes sich mit mehr oder weniger Geduld langweilen. Langeweile überall, es sei denn, man ist verliebt — oder ist Philosoph, Gelehrter, Künstler, Tatenmensch oder Geschäftsmann oder ein in sein Stück Land oder sein Geld vernarrter Bauer. Langeweile überall, außer da, wo Menschen von hochherzigen Bestrebungen erfüllt sind und ein gemeinsames Ziel haben. Ich dachte an Russland, an dieses große Erwachen eines Bauernvolkes. Der Mensch modelte sich um und gab sich ein neues, größeres Format. Es sollte ihn nicht am Gehen hindern. Diese Bauernsöhne verschlangen alle Bücher. Das Leben tat sich auf vor ihnen. Eines Tages fand man sie als Ärzte, Ingenieure, Erfinder und Werkleiter wieder. Ich hatte die Mauern des Klassengefängnisses, das vielleicht nicht das einzige Gefängnis des Menschen ist, lange genug abgetastet, um zu wissen, dass es keinen Ausgang gibt.
Trotz meines Grauens vor der Leere ging ich früh heim, ohne mich aufzuhalten. Ich achtete morgens darauf, mein Haus sauber und in gefälliger Ordnung zurückzulassen. Das Heimkommen wurde leichter, wenn der rote Fliesenboden auf gewaschen war und die Kaffeemühle abgestaubt. Ich brauchte mich nicht mehr an der starrenden häuslichen Unordnung zu stoßen. Um alle Müdigkeit loszuwerden und mich mit einem morgendlich frischen Körper zu wappnen, genügt es mir, mich mit der Gießkanne warm oder kalt abzubrausen. Diese Dusche, fünf Minuten Freiübungen — und meine Muskeln vergaßen die Mühsal des Tages. Ich bewegte mich auf munteren Beinen und mit klarem Kopf.
Es fiel mir nicht mehr schwer, das Essen zuzubereiten, Kartoffeln zu schälen. Im Gegenteil, ich fand darin eine Art stillen Glückes, ein Wohlbehagen der Hände. Wenn man allein lebt, belauscht man oft zu sehr sein eigenes Leben. Ich widmete meinem ganzen Tun — auch den geringsten Bewegungen — eine konzentrierte Aufmerksamkeit. Das Schweigen wuchs an, doch ich entdeckte, dass das physische Leben durchaus nicht schmerzlich ist, solange der Körper nicht von Ermüdung heimgesucht ist. Nur beim Schaffen, und sei es noch so bescheiden, spürt man, dass man lebt. Ich war glücklich, meinen Händen befehlen zu können und sie meinen Befehlen gefügig zu finden.
Abgestoßen, fast erdrückt von den Dingen, hatte ich gelebt; jetzt empfand ich die Gegenstände in meinen Händen als Freunde, sogar die Gießkanne, die ich am Brunnen füllte. Es bereitete mir keinen Schmerz, wenn ich mich bückte, um sie zu füllen und sie dann heimzutragen. Ich gab mir Mühe, gewissenhaft zu handeln, ununterbrochen ohne Ablenkung und ohne Hast bei der Sache zu sein. Ich begann zu glauben — man hatte es mich gelehrt —, dass es nur eine Form der Freiheit gibt: die, seine Gedanken bewusst zu lenken, und dass alles andere Abhängigkeit bedeutet. So strengte ich mich an, Aufwallungen der Traurigkeit zu verjagen.
Es schien mir, dass es noch ein anderes Leben gäbe als diese Überspannung und diese Unzufriedenheit, in denen ich oftmals lebte, wenn ich dabei auch häufig glücklicher war als viele Menschen. Ich versuchte, vorzudringen in jenen friedlichen Bereich der guten Hausfrauen, die von der Poesie ihres Haushaltes erfüllt sind. Ich war zärtlich mit der Lampe, ich putzte sie, wischte ihren Zylinder, damit sie wirklich Lampe sei. Ich hatte das Kupfergeschirr blank gerieben. Ich war auch zärtlich mit meinem Gesicht, ich rasierte mich täglich. Tasse, Schale, Teller, Messer waren befreundete Gegenstände. Ich dachte an die gänzliche Mittellosigkeit der Menschen der Vorzeit, um mir damit zu beweisen, dass ich mit einem Messer reich war, dass die Prüfung des Lebens mit einem Teller und guten Stiefeln unendlich leichter war als früher.
Ich hatte kein Gefühl für meine Reichtümer gehabt, ich musste es bekommen. Ich versauerte auf meinen Schätzen. Ich empfand nicht mehr stark genug das Vergnügen, unter einem guten Ziegeldach zu schlafen, ein Streichholz anzuzünden, ein gutes Feuer und Fensterscheiben zu haben. Alles war mir viel zu selbstverständlich vorgekommen, Brot und Wein auf dem Tisch, Kartoffeln und Salz, Öl, soviel ich wollte. Es fiel mir nicht schwer, mich davon zu überzeugen, dass der Mensch in der Schöpfung einen bevorzugten Platz einnimmt und dass das menschliche Abenteuer noch niemals so wenig Mut gefordert hatte. Und wenn ich mich an das Öl erinnerte, so vergaß ich dabei doch nicht das Denkvermögen, das Bewusstsein, die moralischen Kräfte, die Phantasie. Ich klagte mich an, nicht lebhaft genug diese Privilegien göttlichen Wesens empfunden zu haben, über die der Mensch in etwas reicherem Ausmaß verfügt als die übrigen Lebewesen.
Mit behutsamem Zartgefühl öffnete ich die Tür des Wandschrankes, um das Salzfass herauszunehmen; wunderbar erschien mir die Hand, die sich nun für eine Wahrnehmung nach der anderen empfindlich zeigte, für das Holz des Wandschrankes, das Eisen seines Riegels, das Glas des Salzfasses und die Prise Salz, die sie herausnahm. Ich war erstaunt, in der einfachen Haut der Finger soviel Erkenntniskraft zu entdecken. Ich bemühte mich, völlig wach zu leben, jedes Augenblickes, jedes Gegenstandes, jeder Bewegung bewusst. Nur die Kindheit lebt in ewigem Entdecken. Der Erwachsene lebt verschlafen in seinen Gewohnheiten. Es ist immer schön, das Leben zu lernen, und mit einemmal lernte ich in unmittelbarem Kontakt mit dem grünenden Baum. Nur das Leben, in dem man sich immer von neuem wundert, verlohnt sich, gelebt zu werden.
Während ich die Kristallkörner der Prise Salz in den Fingern hielt, wusste ich meine Hand der Hand aller Großmütter der Erde ähnlich, wenn sie den Kochtopf aufdecken, um die Suppe zu salzen. Ich hatte es meine Mutter tun sehen, und in traumhafter Flüchtigkeit hielt ich mit ihr Zwiesprache: „Ich salze meine Suppe, meine Hand ist deine Hand, du bist nicht tot."
Aber nicht nur meiner Mutter, aller Toten, aller vergangenen Gestalten war ich eingedenk, die mir diese Hand gegeben hatten, allen Händen ähnlich. Der Mensch lebt mit seinen Händen. Meine hatte Generationen von Leibeigenen angehört. Auf dem Stiel einer Axt in verschneiten Wäldern, an der Glut eines Pfeifenkopfes hatte sie oft nach der Arbeit ihr Alleinsein ausgefüllt. Das Leben ist, was man mit der Hand berührt; die gleichen Empfindungen rufen immer die gleichen Träume hervor. Die Holzhacker, die Winzer, die Bauern, die mir ihre Hand vermachten, hatten mir auch vermacht, was ihnen durch den Kopf gegangen war, durch ihren rothaarigen oder flachsblonden Kopf.
Ich tat Salz in meine Suppe. Das Kaminfeuer, mehr noch als die ebenfalls brennende Petroleumlampe, beleuchtete die Küche mit dem weniger bleichen, tanzenden Lichtschein der Flammen. Auch das Träumen erfüllte mich mit seinem Schimmer, doch ohne dass ich auch nur einen Augenblick versäumte, in aufgeschlossener Beziehung zu den Dingen zu bleiben. Ich achtete darauf, nicht in automatische Betriebsamkeit zu verfallen. Aus dem Anteilnehmen an diesen häuslichen Beschäftigungen schöpfte ich Träume oder Betrachtungen. Mit äußerster Aufmerksamkeit führte ich meine Handlungen aus und schaute ich meinem Leben zu. Ich hatte mich davon überzeugt, dass die Bewusstheit und die Selbstzucht der erstrebenswerte Zustand waren.
Meine Träumerei floss nicht dahin wie ein Traum. Ich sah und war deutlich zugegen, und die Phantasie wirkte noch lebhafter auf mein Empfindungsvermögen als das Feuer des Kamins auf meine Pupillen.
An einem Morgen hatte das begonnen. Eines Sonntags war ich sehr früh aufgestanden, noch vor dem Morgengrauen. Ich wollte meine Hose flicken. Zu lange schon ging ich in Fetzen umher. Das Nähen war mir zuwider; alle Frauenarbeiten waren mir zuwider. Ich hatte mir mehrere große blaue Flicken zurechtgeschmtten, und lange hatte ich die Nadel geführt. Die Lampe hatte mir geleuchtet, dann war es Tag geworden. Vor seinem Anbrach hatte ich eine unermessliche Zeit verbracht. Nun war er da, und meine Hausarbeit war schon getan. Aber es war kein gewöhnlicher Tag mehr, ich hatte sein Entstehen miterlebt. Für die ganze Dauer des Tages war ich ein Mensch des Morgens. Ich hatte die Sterne verlöschen sehen, ich wusste sie im Azur verborgen, die große Bewegung der Nacht blieb mir gegenwärtig.
An diesem Morgen hatte ich alles getan, was ich am Tage vorher geplant hatte. Es ist eine Form der Befriedigung, zu tun, was man beschlossen hat. Mehr als gewöhnlich war ich dem Licht des Tages gleichgestimmt: Vom ersten Schimmer der Morgenröte bis zum hellen Tagesschein war ich durch die Augen und in der Tiefe meiner Träume von der Farbtönung des Tages durchdrungen. Am meisten aber hatte das Führen der Nähnadel auf mich gewirkt. Die Arbeit mit der Nadel, die Lampe, das Tageslicht. Um mir Beharrlichkeit beizubringen, hatte ich meiner Hand gut zugeredet: „Du leidest nicht, du lebst" — und auch ich, mit Nahen beschäftigt, fühlte mich nicht unglücklich. Ich nähte mit großen Stichen, so gut ich konnte. Die Nadel verlangte nur eine leichte Anstrengung meiner Finger. In diese stille Beschäftigung versunken, war ich plötzlich ganz wach geworden und erlebte die Zeit, wie sie die Frauen in ihrer Innenwelt erleben, wenn sie allein sind und nähen. Ich hatte an ihre Liebe zum Schönen gedacht, an ihren tiefen, von Fragen unbeschwerten Frieden. Ich dachte an die Frauen, die Kirchen mit Blumen schmücken, ihr Heim zieren, Spitzen häkeln und ihre Kinder so hübsch wie möglich kleiden; ich dachte an ihr Zartgefühl und den Schönheitskult, den sie treiben, obwohl sie mit ihrem Leibe Kinder zeugen. Ich hatte mir die sinnlose Frage gestellt: „"Was mag sie wohl suchen, die Seele des Menschen, die Seele der Frau?" Und ich glaubte beinahe an den lieben Gott, weil ich seit vier Uhr früh meine Hose geflickt hatte.
Das Leben auf der Baustelle fiel mir jetzt leicht. Ich trank kräftig und aß tüchtig; abends las ich ein wenig. Nichts vermag einen Menschen abzustumpfen, der nicht dem Stumpfsinn verfallen will. Ich stand früh auf, um vor der Arbeit meine Stube aufzuräumen und ein wenig zu lesen. Um früh aus dem Bett zu kommen, hatte ich mein Lager durch eine Holzunterlage hart gemacht. Ein hartes Lager ist gesund. Die Unbequemlichkeit weckte mich des Nachts aus dem Schlaf. Durch das offene Fenster funkelten die Sterne in das schweigende Haus. Ich schrie nicht mehr „Anna" oder „Mutter", von Grauen gepackt vor der Leere, mitten in einem schweren Traum. Ich bejahte das Leben, ich wollte wissen — sogar mehrmals jede Nacht —, dass ich auf der Welt war.
Wenn ich zur Baustelle ging, hatte ich den Tag schon genossen. Ich wollte die Wirklichkeit lieben, ihr nicht ausweichen. Es gibt keine andere Welt. Meine Wirklichkeit war die Arbeit. Einverstanden. Für die Gesellschaft arbeiten und nicht für irgendeinen Parasiten, das hätte mir gefallen. Inzwischen wollte ich aus der Arbeit nicht eine Buße oder einen Fluch machen. Lieber wollte ich vergessen, dass ich wenig verdiente und wie schlecht die Gesellschaft eingerichtet ist. Letzten Endes war mir die Arbeit, wenn sie vernünftig bemessen war, nicht unangenehm. Der da gesagt hatte: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen", hatte nicht alles gesagt. Man konnte den Fehdehandschuh aufnehmen und aus der Arbeit eine Freude machen.
Wir hatten auf dem Grundstück eines Großindustriellen aus Paris oder der Auvergne Löcher von zwei mal zwei Meter ausgehoben, um mächtige Orangenbäume umzupflanzen, die mit der anhaftenden Erde und in Kübeln herangescharft wurden.
Es war ein heikles Stück Arbeit, sie vom Lastwagen herunterzubekommen. Die Bohlen konnten rutschen und fünfhundert Kilo Erde den Leib eines Mannes zerquetschen. Bevor der Baum den Boden berührte, wurde er aufgerichtet, um das Knicken der Äste zu verhüten; dann schob man ihn auf andere Bohlen mit Walzen darunter.
Ich trug meinen Teil zur Arbeit bei, ohne Murren, ohne mich zu drücken und ohne mich ablenken zu lassen; ich gab im Gegenteil alles, was ich an Geistesgegenwart, gutem Willen und Aufmerksamkeit aufbringen konnte. Vielleicht hatte ich beim Suppekochen gelernt, dass unsere Bewegungen glücklicher sind, wenn sie vom Verstand geleitet werden und das Bewusstsein an ihnen teilnimmt. Die größte Ermüdung kommt daher, dass man abwesend ist und ohne Interesse für das, was man tut. Die Arbeit konnte ein Spiel sein, ein Komplex von Schwierigkeiten, die durch wohlüberlegte Bewegungen zu überwinden sind.
Wenn der Baum bis an den Rand der ausgehobenen Grube befördert war, stellten wir aus Erde eine schiefe Ebene her, auf der er langsam hinabglitt. Ich hatte mit einer Brechstange die Walzen voranbewegt, eine nach der anderen untergelegt, doch dabei immer meine Bewegungen überwacht. In dem wachen Leben fand ich ein Vergnügen, das beim stumpfen Schaffen immer fehlt. Es gab eine Welt, in der ich nicht Müller und nicht Schulze war, sondern nur ein Mensch mit Geschick vor einer Aufgabe, und darin fand ich mehr Freude als beim Sport oder beim Spiel.
Wenn der Baum hinuntergeglitten war, schafften wir ihn zu viert durch Hin- und Herdrehen in die Mitte der Grube. Dabei ging es etwas durcheinander. Jeder zerrte in die Kreuz und in die Quer und schrie dabei: „Hierher!" Ich wunderte mich, dass Männer, die doch an diese Arbeit gewöhnt waren, noch keine dem „Backbord" und „Steuerbord" entsprechenden Ausdrücke gefunden hatten, um ihren Anstrengungen die gleiche Richtung zu geben. Man schaffte es dennoch. Es schien mir. dass die Menschen nicht einmal bei der Arbeit ganz wach sind.
Der Baum war aus seinem Kübel heraus, das Loch zugeschüttet. Reichlich begossen, brauchte er jetzt nur noch dem Mistral und dem Ostwind zu trotzen, in einer Gegend, die weniger begünstigt war als die Seealpen, aus denen er stammte.
Der Frühling war gekommen, der Frühling der Küste, ein ganz anderer Frühling als der bei uns zu Hause, der, unter dem Schnee gärt und nach der Schneeschmelze den Erdgeruch ausströmt, in Blumen und Grün ausbricht und den Menschen mit seiner Umgebung verjüngt. Hier war es der seit Januar dem Winter beigemischte Frühling inmitten der immergrünen Pinien und Korkeichen. Ein sicheres Anzeichen: die zunehmenden Tage und der knospende Weinstock.
Die kleine Gruppe, drei Piemontesen und ein Spanier, arbeitete mit nacktem Oberkörper. Man fühlte sich wohl: den Rücken im Schatten oder noch besser in der Sonne, die Glieder von der Kleidung befreit, die Augen voll vom Blau des Himmels, sobald man den Kopf hob. Am Fuß des Abhanges breitete sich das Meer aus. Selbst beim Schwingen der Spitzhacke fühlte ich mich leicht, kaum von dieser Welt.
Der Schatten der Zweige zeichnete gleichsam Tätowierungen auf unsere nackte Haut. Von Zeit zu Zeit sagte einer zum anderen: „Schönes Wetter, was?", darin lag alles. Ich war glücklich, wie es die Tiere sind, Hund, Vogel, Krokodil, wenn der Hunger sie nicht quält, und es nichts gibt, worunter sie leiden.
Ich wohnte im „Weißen Rößl". Eine kleine Hütte zwischen Kirschbäumen ist oftmals besser als ein Bett im Gasthaus. Man bleibt in der Jahreszeit, mitten im Duft des unabsehbaren Obstgartens, wo im Monat Mai, wenn man schon die Kirschen pflückt, Apfelbäume, Oliven und Weinreben blühen.
Die auf der engen Straße Toulon—Nizza vorbeifahrenden Lastkraftwagen schüttelten mich zu jeder Nachtstunde in meinem Eisenbett.
Eine Hütte ist auch etwas ganz anderes als eine Spelunke. Am Abend kocht sich der Saisonarbeiter auf einem Reisigfeuer in einem kleinen irdenen Topf eine Handvoll Bohnen, Erbsen und neue Kartoffeln, während er dabei die Zeitung liest oder Radieschen knabbert.
In die Spelunke kommen jeden Abend die Gendarmen und fragen nach den Papieren der durchkommenden Gäste, die zur Kirschenzeit von überall her zusammenströmen.
Mein Arbeitgeber hatte mir keine Unterkunft gegeben. Saisonarbeiter sind bescheidene Arbeitskräfte. Die italienischen Auswanderer überwiegen. Mein Arbeitgeber war ein reicher Kauz, ein Fürst in seinem Dorf, der Sekretär des Arbeitgeberverbandes. Drei Jahre vorher hatte er den Versuch der Landarbeiter des Dorfes, sich zu einer Gewerkschaft zusammenzuschließen, vereitelt. Ich wusste das nicht.
In dieser Gegend sind die sozialen Unterschiede im Frühling nicht sehr schroff. Die Sonne scheint für alle. Mit einem Arbeitsanzug, einem sauberen Trikot, ein Paar guten Bastschuhen und glattrasierten Backen fühlt man sich neugeboren, tatenlustig.
Schön sind die späten Abende auf dem Dorfplatz mit seinen großen Bäumen und dem Brunnen. Über den Kugelspielern wimmelt es von Schwalben. Die letzten Sonnenstrahlen fallen auf die Kirchenfront. Es ist Marienmonat.
Frauen kommen vom Gebet. Der Staub riecht nach blühendem Wein, und sogar die Hunde scheinen glücklich, diese Stunde zu erleben.
Nach dem Abendessen, wenn es dunkel geworden ist, kommen Bauern, meistens ältere, setzen sich vor das Gasthaus, um frische Luft zu schöpfen. Es sind Landwirte, die kaum mehr Spaten und Pflug anrühren, sondern als Rentner leben. In Strohhut und Leinenjacke trinken sie ihre allabendliche Tasse Lindenblütentee und spielen ohne Leidenschaft Karten. Der Mond geht auf. Sie gehen schlafen.
Mein Arbeitgeber hatte meine Ausweise verlangt, um einen Blick hineinzuwerfen; das war üblich. Ein bisschen zu launig hatte ich geantwortet:
„Ich habe alles, was ich brauche, Militärpass und sogar ein Gewerkschaftsbuch!"
Der Antwort mangelte es an Unterwürfigkeit. Die zugewanderten Piemontesen haben zu viel davon. Man nimmt sie lieber. Am Samstag wurde ich entlassen. Wenn man sich allzu fest im Sattel fühlt, geht's manchmal schief. Am nächsten Tag pflückte ich für einen anderen.
Warum kommt man zur Ernte? Kirschenpflücken, das wird schlecht bezahlt. Treue zur Jahreszeit. Es ist ein Stelldichein mit alten Freunden. Heugeruch, Mailicht, Träume.
Ich kannte einen alten Bäcker, der seit fünfundzwanzig Jahren jedes Jahr seinen Backtrog stehen ließ, um Ende April hierher zu kommen. Man kommt verändert zurück, das Fell ist dicker geworden, man begeistert sich nicht mehr, fühlt sich nicht so stark mit der Jahreszeit verbunden. Dann ist man wieder von Frische durchdrungen, in einen seligen Zustand versetzt. Einmal war ich wegen des Ginsterduftes wiedergekommen, ein andermal, weil ich im Sprühregen eines Maimorgens einen Bauern unter seinem großen blauen Regenschirm am Wege stehen sah.
Man weiß nicht, warum man wiederkommt. Kirschen essen, sich weniger abschinden als auf einer Baustelle? Auch das. Man kommt hierher, damit in der Zahl der Jahre dieses Jahr zählt, um einen Frühling mehr erlebt und sich beim Einzug des Mai erdverbunden gefühlt zu haben. Es ist ein Fest, das der Saisonarbeiter sich gönnt. Einen guten Monat lang erntet er den Frühling.
Nirgends spürt man ihn so gut, wie auf einem Kirschbaum sitzend, die nackten Füße auf den Ästen, den nackten Rücken im Winde, eine Schulter im Schatten und die andere in der Sonne, der echten, der provenzalischen. Das Klettern gibt dem Pflücker sportliche Gewandtheit. Wenn er vom Boden aus die niedrigen Zweige abpflückt, spürt er unter seinen bloßen Füßen das Gras. Den Winter über hat man in schweren Schuhen einen lebendigen Leichnam herumgeschleppt, einen bleichen Mann, der lustlos umherging.
Beim Kirschenpflücken wird man wieder Urwaldneger, Zigeuner, und das Gehen wird den Hüften zur Lust. Nicht nur den Hüften, jede Fiber, jeder Muskel wird schmiegsam wie Seide. Wie lange hatte man nicht mehr geatmet oder doch nur teilnahmslos wie im Schlaf. Jetzt atmet man wieder wie mit einer Hundenase. Man atmet nicht, man trinkt die Luft in kleinen Schlucken und großen Zügen mit weit aufgesperrten Nasenflügeln. Immer wieder fühlt man sich von Leben erfüllt, der Welt aufgeschlossen.
Ich zwang mich, beim Pflücken stets ganz wach und gegenwärtig zu sein, niemals in unbewussten Automatismus zu verfallen. Das Leben ist ein Geschenk. Ich wollte die ganze Zeit beim Fest dabei sein. Ich bemühte mich, meinen Händen das Höchstmaß an Geschicklichkeit zu geben und keinen Handgriff zu tun, ohne dass die Aufmerksamkeit daran teilhatte. Wenn sie entschlüpfen wollte, packte ich sie wieder beim Wickel. Ich hängte meinen Korb bequem vor mir auf, um mühelos eine Handvoll Kirschen nach der anderen hineinfallen zu lassen. Ich schaute auf die Anordnung der Büschel an den Zweigen und beobachtete, was die Finger tun, um sie abzupflücken; so entdeckte ich die Rolle des Tast - und des Gesichtssinnes. So spielte ich und erreichte dabei, dass ich flinker war, als ich es sonst bei einer Arbeit gewesen wäre, die ich nicht alle Jahre tat. Aber vor allem fand ich in meinem Staunen über die Intelligenz der menschlichen Hand Anlass zu Träumereien, die den Tag im Fluge vergehen ließen.
Mittags brannte die Sonne. Ich ging zu einem Bach, warf mich hinein, berührte mit meinen Füßen den Sand. Keine Worte, keine Phrasen mehr, kein schwacher Abglanz. Das ist der Augenblick, da Himmel und Erde eins sind. Das Licht strahlt nicht mehr, es verzehrt. Die Feigenblätter glänzen, vergoldet, vom Licht verschlungen. Das Blau des Himmels tanzt auf der roten Erde. Von Glut durchdrungen, spürt man noch seine räumliche Gegenwart durch die Fußsohlen und das Knirschen der trockenen Erde. Wie weit ist die Welt der Ausweispapiere! Kaum ist man noch eine Person.
Wenn ich mein Frühstück verschlungen hatte, schlief ich, den Kopf im Schatten, einen tiefen Schlaf. Beim Erwachen fuhr ich auf und wusste nicht, ob ich eine Stunde oder fünf Minuten geschlafen, ob die Arbeit schon wieder begonnen hatte. Es war ein so tiefes Ausruhen, dass ich eines Tages um dreißig Jahre jünger erwachte. Ich wusste nicht mehr, wo ich war. Ich hatte von Maidieres geträumt. Als ich wach wurde, war ich allein, einige Sekunden lang völlig verstört von der weißflimmernden Glut der Sonne eines unbekannten Universums. Ich betrachtete meinen Kittel, die klobigen Schuhe, die ich wieder anzog, so erstaunt, als sei ich eine Grille gewesen und nun als dicker Posaunenbläser erwacht. Dreißig Jahre hatte ich im Bruchteil einer Sekunde wieder einzuholen, um zu wissen, was ich so plötzlich verwandelt und fern den Röcken meiner Mutter hier machte. Wenn ich auch beim Wachwerden nicht genau wusste, wie spät es war, bis ich es am Schatten abgelesen hatte, so fühlte ich mich gewöhnlich doch nicht aus der Wirklichkeit gerissen. Selbst im tiefen Schlaf hatte ich das Bewusstsein meiner Pflichten bewahrt; es ließ mich plötzlich auffahren. Ich war fast verlegen, wenn ich zu spät kam, weil ich zu lange geschlafen hatte. Die Nachmittagsarbeit schloss sich ganz natürlich an die des Vormittags an. Wenn ich die Augen auftat und aus einem Schlaf erwachte, der dem Schlaf von Erdschollen glich, fand ich mich ohne Überraschung in einer Menschenhaut wieder. Diesmal aber hatte mich der Schlaf in eine zu weite Vergangenheit entrückt; ebenso stark wie das gegenwärtige Leben hatte ich eben das vergangene noch einmal durchlebt. Ich war zu Hause gewesen, in Maidieres. Im Augenblick, in dem ich wach wurde, blitzten wieder vergessene Geschehnisse in mir auf. ,Sie sind tot.' Ich war erstaunt, hier zu sein, ohne sie den Traum fortzuspinnen, der uns verknüpft hatte, erstaunt zu leben.
Bevor ich völlig wach war, während das Denken noch nicht über Worte, sondern über Visionen, die Werkzeuge des Traumes, verfügte, hatte ich mit einem Schwindelgefühl ein ganzes Leben in der kurzen Zeitspanne eines Schreies sich abzeichnen sehen. Es kam mir komisch vor, dieses Dasein in einer noch nicht abgelaufenen Zeit, ein Lebender zu sein, die Zeit nach Stunden zählen zu müssen und aufzustehen, um einen Stundenlohn zu verdienen. Ich raffte mich auf, um meine Schnürriemen zuzubinden. Belustigt rührte ich erst einen Fuß, dann den anderen. Es gefiel mir, ins Seltsame abzuschweifen und über die prallende Sonne die Sonne des Todes zu stellen.
Ich kam zur rechten Zeit, die Kumpels standen noch nicht auf den Leitern. Niemals schienen mir die Kirschen so schön, wie an diesem Nachmittag unter jener Sonne.
Es war nicht das erste Mal, dass ich zur Pfirsichernte nach Frejus kam. Ich hatte den Weg eingeschlagen, der über den Truppenübungsplatz in die verkümmerten Kiefernwälder hineinführt. Die Schwarzen, denen man begegnet, verstärken noch den Phantasierausch der Lichtfülle und der Hitze. Man glaubt in Afrika zu sein.
Neben einer Baracke drehte ein großer Neger nachlässig, unbefangen, glückselig die Kurbel eines Kaffeerösters und sang vor sich hin. Zur Erwiderung meines Grußes hatte er die Hand bis zu seinem Marokkanerfes erhoben und ließ sie wieder sinken, federleicht. Eine Geste, die zu ihm passte, beschwingt wie die Luft und wie aufgelöst in der Hitze. Ein Stück weiter war ich einem Trupp Senegalschützen beim Steintragen begegnet; sie schritten dahin, ohne Luft zu verdrängen, so ruhig bei der Arbeit wie Schilf in der Brise.
Als ich nach diesem Stück Afrika von der Straße abbog, lagen vor mir die Weinberge und die Pfirsichpflanzung, in der ich schon früher bei der Ernte gearbeitet hatte.
Dort ist der Himmel im Juni Seide und Glut. Der Boden flimmert. Die Pfirsichbäume und die Rebstöcke strahlen mehr Licht aus als Grün. Man weiß nicht mehr, in welchem Lande man lebt, wie alt die Welt ist, und ob es Zeitungen gibt. Während der Ernte, auch in den heißesten Stunden des Tages, wenn die Sonne weiß auf die Blätter knallt, fühlt man sich unter den Bäumen im irdischen Paradies. Die halbnackten Pflücker, die Haut der Früchte, alles ist Farbe, sogar der Schatten. Es tut wohl, barfuss zu gehen, trotz der Erdklumpen. Es ist ein Garten, der den Pflückern mit ihren kupferroten Rücken Schönheit verleiht. Über den Bäumen ist alles weißer Glanz, Licht der Sahara; unten die Oase. Ein sandiger Strand mit Badenden und Sonnenschirmen ist nicht so schön. Der Wind fühlt sich wohler unter den Pfirsichbäumen.
Leise beben die Blätter, flittern durcheinander. Der Schatten ist schöner so, wenn er belebt ist. Die Sonne tänzelt unentwegt. Es ist so heiß, dass die Frucht zusehends zu reifen scheint. Mit Körben und einer kleinen Leiter, um die höchsten Zweige zu erreichen, schreiten die Pflücker zu zweit in jeder Reihe voran. Man wählt die zu pflückende Frucht aus. Ist sie zu grün, kann sie noch größer werden. Doch es ist nicht nur eine Frage der Größe, sondern auch des Geschmacks. Die zu früh gepflückte Frucht ist nicht so gut. Hat man sie gepflückt, muss sie die Reise bis zu den Pariser oder Londoner Märkten überstehen und doch schon die Anzeichen naher Reife aufweisen. Wenn man Übung hat, erkennt man es leicht, ohne sie mit den Fingern zu berühren. Von zwei roten Pfirsichen pflückt man den richtigen, der fast reif ist. Der andere kann noch acht Tage am Baum bleiben. Das Rot des richtigen ist weniger weinrot, sein Flaum verschieden, seine Haut matter. Ein Blick genügt, wenn man den Baum absucht. Mit der Innenfläche der Hand fasst man die Frucht zart an und dreht sie leicht, ohne die Finger dabei zu schließen. Sie löst sich. Das Gefühl ist angenehmer, als wenn man eine Kartoffel oder einen Axtstiel in die Hand nimmt. Gegen den Durst ist der Pfirsich besser als das Lakritzenwasser in den Krügen auf der Baustelle.
Die vergessene Frucht, die man zu reif werden ließ, geht nicht verloren. Ihre Farbe und ihre samtene Zartheit verwandeln sich in Wohlgeschmack. Es gibt nichts Besseres als diese „May Flowers", als diese Frühlingspfirsiche der südlichen Länder. Der Pflücker, der zuviel davon isst, wird undankbar und sagt von den schönsten, allzu saftigen Pfirsichen: „Das ist ja Wasser."
Die mehr als zehnstündige Arbeit, das Gehen auf den harten Erdklumpen, immer mit erhobenem Kopf, so dass man schließlich einen steifen Hals bekommt, all das wäre noch härter, wenn nicht die erfrischenden, Vollreifen Pfirsiche die Kraft und Geschmeidigkeit der Bewegungen erhalten würden. Die vollen Körbe, die man ans Ende der langen Baumreihen trägt, sind schwer, und es ist heiß..
Während der Nacht hat man mit den Flöhen auf dem Stroh geschlafen. Das ist der Komfort für Saisonarbeiter. Abends wurde man von den Mücken aufgefressen, mittags von den Fliegen, und beim Frühstück im Schatten der Korkeiche, die man sich ausgesucht hatte, überfielen die Ameisen das Brot, den Käse und die Sardinendose.
Wir waren an die zwanzig Pflücker auf dieser Pflanzung; alle hausten wir in derselben Scheune; ein paar Araber und die anderen, junge Burschen aus der Gegend. Abends gingen sie in eine Kaschemme des Negerlagers und tanzten dort nach einer Viola.
Bei der Arbeit überwachte uns ein großer Bulle, der Aufseher; durch seine Anwesenheit oder indem er sich hinter Weinstöcken verbarg, brachte er unsere Gespräche zum Verstummen.
Der Besitzer hatte seine Ernte nach Gewicht einem Spediteur verkauft. Auf dem Hof ließ er in dessen Gegenwart die aus der Pflanzung ankommenden Körbe wiegen. Von Zeit zu Zeit kam er zu uns. Man hörte ihn mit männlicher und lauter Stimme ein Soldatenlied singen, bevor seine kurzen Hosen und sein Tropenhelm zum Vorschein kamen. Er rief uns zu:
„Na, Jungens, alles in Ordnung?"
Er war von gutem Schlag, der Baustellenleiter. Seine Herzlichkeit war nicht gekünstelt, nicht die eines Arbeitgebers, der sich beliebt machen will; sie war echt. Er hatte mir gleich gefallen. Sympathische Grundbesitzer sind selten.
Anfangs waren wir zahlreich genug, um die Plantage in drei Tagen durchzuackern. Dann drängte es mit dem Pflücken. Wir arbeiteten zehn Stunden. Der Aufseher kam an und sagte, ohne uns nach unserer Meinung zu fragen oder die üblichen Vergütungen für zusätzliche Arbeit anzubieten:
„Heute abend macht ihr zwei Stunden länger."
Das passte niemandem. In zehn Jahren war alles doppelt so teuer geworden, die Pfirsiche einbegriffen, aber der Lohn war der gleiche geblieben. Das lockte niemanden mehr, mit Ausnahme der Arbeitslosen, die auf der Straße lagen. Ich bekam langsam genug von der Saisonarbeit. Die Arbeitszeit wird nicht eingehalten. Ich schlief im Stroh und verdiente weniger als ein Landarbeiter, der sich tageweise an Ort und Stelle verdingt.
Abends gab es ein paar Stunden, in denen ich keine Lust mehr hatte, mich ohne absolute Notwendigkeit zu niedrigem Preis an rücksichtslose Ausbeuter zu verkaufen. Schließlich ist man kein Pferd. Dies „Ihr bleibt!", das, an unserem Einverständnis nicht zu zweifeln schien, gefiel mir nicht. Das ließ uns keine Zeit mehr, uns zu waschen, zu einem Bach mit gutem, lauem Wasser zu gehen, um Schweiß und Müdigkeit loszuwerden. Die Ruhestunden nach der Arbeit sind zu kostbar, um verkauft zu werden.
Mein Kamerad war der erste, der wütend wurde. Der Aufseher schrie ihn an:
„Hauen Sie ab, wenn es Ihnen nicht passt!"
Er ließ seine Körbe stehen und ging. Ich bin ihm nachgelaufen:
„So nicht, alle zusammen!"
Ich wandte mich zur Belegschaft, um die Kumpels dazu zu bewegen, mit uns zum Chef zu kommen. Erfolglos. Es waren Burschen ohne Arbeitertradition. Der Chef neben seiner Waage war schon von dem Zwischenfall unterrichtet; er behandelte uns sehr von oben herab und duzte uns:
„So, ihr seid also die kommunistischen Hetzer, die auf meinen Hof gekommen sind, um zu stänkern? Bist du wohl, der Große da, der Klamauk macht?"
Mein Kumpel duzte ihn seinerseits:
„Keine Rede von Klamauk oder Stänkerei. Sei höflich! Wenn du uns Überstunden machen lässt, dann bezahl gefälligst dementsprechend! Wir sind genau wie du, wir arbeiten nicht umsonst."
Er war verwirrt und fühlte, dass die Unterhaltung eine schlechte Wendung für ihn nahm. Er verlor sein Ansehen vor den Frauen und vor dem Personal seines Exporteurs. Am nächsten Tage waren wir woanders eingestellt.
Für gewöhnlich arbeiten die Schnitter bei der Lavendelernte im Akkord. Darum trachtet man danach, sich höchste Gewandtheit im Spiel seiner Hände anzueignen, mit der gleichen Behändigkeit die Sichel zu handhaben und die Büschel der geschnittenen Ähren zu ergreifen. Selbst dann noch, wenn man die Arbeit ordentlich beherrscht und die Fertigkeit eines guten Schnitters hat, bemerkt man, dass die Aufmerksamkeit weiter angespannt bleibt und dass die Vollkommenheit eine unendliche Größe darstellt, von der man immer noch weit entfernt ist. Ununterbrochen empfängt man aus seinen Handgriffen Beweise dafür, dass die Aufmerksamkeit bemüht ist, sie zu korrigieren, um sie vollkommener, geschmeidiger, wirksamer zu machen. Hände und Beine werden zu Werkzeugen im Dienst der Aufmerksamkeit, die man auch die Arbeitsintelligenz nennen könnte. Wenn man bewusst, mit wachen Sinnen lebt und sich bei der Arbeit beobachtet, entdeckt man, dass die Aufmerksamkeit jeder Bewegung innewohnt, dass sie dauernde Gegenwart ist, dass sie dem Lavendelschnitter beim Mähen der Ähren wirklich Gesellschaft leistet. Ohne sie wäre alles eintönig, lang wären die Stunden in der Sonne, im Schweiß, auf dem Felsgestein am Hang des Gebirges.
Schön ist er nicht, so ein Lavendelschnitter. Er schwitzt, ist schlecht rasiert und schleppt, während er beinahe auf allen vieren vorankriecht, einen Ballen auf dem Rücken, der ihn einer Schnecke ähnlich macht. Er kriecht voran, zwei Pfoten hinten und zwei vorne, deren eine mit ihrer Heuschreckensichel alle Blumen vor sich wegschneidet. Jeder einzelne, gekrümmt und bepackt: ein Insekt.
Ein großer Vorzug dieses Saisonhandwerks besteht darin, dass man sich vor der Augustsonne nicht zu fürchten braucht und noch weniger vor Kreuzschmerzen. Es geht also, sobald die Hände geschickt genug zur Arbeit sind und man die notwendige Ausdauer erreicht hat. Selten kommt man um eine Schnittwunde von der Sichel herum. Alle Schnitter tragen Verbände an den Händen; aber alle Wunden heilen rasch und entzünden sich nie; auch nur selten fordert ein Schnitter einen Krankenschein oder verlässt wegen eines mehr oder weniger schlimmen Wehwehs den Arbeitsplatz.
Die kräftigsten Schnitter, die auch die höchsten Löhne erreichen und den größten Ertrag schaffen, sind im allgemeinen die Piemontesen. Schon in ihrer frühesten Jugend haben sie in ihrer Heimat mit der Sichel Gras für Kaninchen und sogar Getreide gemäht. Es gibt auch ein paar Spanier, die mit ihrem hitzigen Temperament echter Südländer Wunder tun.
Es ist eine ziemlich harte Arbeit, aber man fühlt sich frei und froh dabei, selbst wenn man alle Kräfte hergibt. Man arbeitet im Akkord, der Ertrag allein zählt, und man hat weder Chefs noch Aufseher auf den Fersen. Man verschnauft, wann immer man Lust hat. Man hebt den Kopf, wann immer man will, ohne so tun zu müssen, als spuckte man sich in die Hände, kratze seine Schaufel ab oder rücke sich seinen Gürtel zurecht, wie das der Erdarbeiter tut, wenn er sich von einem Aufseher beobachtet fühlt. Und außerdem ist man in der unverfälschten Natur. Man steht mit den Morgensternen auf, sieht die abendlichen Sterne, wenn man bis in die Nacht hinein arbeitet. Während des Tages hat man das nötige Mittagsschläfchen gemacht. Es ist das Leben auf dem Lande, im Gebirge, ohne dass man Bauer oder Knecht wäre.
Auf diesen Bergen der Niederalpen und im Vaucluse sind Nächte und Sterne schöner als irgendwo anders, ist die Abendzigarette beim Feuer unter dem Kochtopf ein größerer Genuss. Man fühlt sich hoch oben. Immerfort atmet man den Duft des Lavendels, er findet sich wieder im Duft des Strohs, der Korngarben und der Herden. Es ist, als steige der Duft der Erde bis zu den Sternen auf. Kommt man bei Nacht ins Hochland, in ein verlorenes Dorf, einen Weiler, und jenseits des "Weilers in ein weitabgelegenes Gehöft, sagt man sich, je höher man hinaufklettert: „Wenn ich da einen Monat bleibe, werde ich beim Hinuntersteigen nicht mehr derselbe sein." Mit jedem Meter wird man ein wenig heiterer und zufriedener. Man wird dem Unermesslichen, dem Ruhevollen gleich, das einen umgibt. Wenn man allein ist, hat man Lust, wie ein Insekt still vor sich hin zu singen, nur Liebe, nur Sommer zu sein.
In einem Bauernhof, wo ich beköstigt wurde (das ist eine Ausnahme; im allgemeinen sorgt man selber für seine Verpflegung), war der schönste Augenblick für mich der Morgenimbiss: mit der Arbeitsgruppe im Schatten eines der wenigen Bäume des Plateaus zu frühstücken. In diesem trockenen und dürren Landstrich hatte die Nahrung auch in ihrer schlichtesten Form etwas Wunderbares. Die Tomate, das gekochte Ei, die Scheibe Schinken, die Zwiebel und das Glas Wein sind in den fetten Ebenen gewöhnliche Dinge. Es ist ganz natürlich, sie vor sich zu sehen. Da oben aber, dieses Geröll vor Augen, in dem nur Roggen und Lavendel wachsen, angesichts dieser Dürre des August, hätte ich den unbekannten Vorfahren umarmen mögen, der das Huhn zum Haustier gemacht, der versucht hatte, Schweine aufzuziehen, und den ersten Gärtner, der die Tomate gepflanzt hatte. Die Nahrung schien mir wie eine Errungenschaft, ein Sieg der Gattung. Der Baum, eine hohe Buche, war schön, sein Schatten gut, und der Geschmack der Speisen war durchdrungen von diesem kerzengerade in die Sonne aufragenden Baum und von der unendlichen Weite, die ich vor Augen hatte. Das machte mein Glück aus. Auch das der Kolonne, und unser Vorteil war ein ebenso kräftiger wie dankbarer Appetit. Die Zeit der Mahlzeit war der einzige Augenblick wahrer Freundschaft zwischen uns. Bei der Arbeit waren wir mehr oder weniger scharfe, mehr oder weniger anständige Rivalen. Unter dem Dutzend Schnecken, die wir am Abhang des Gebirges verstreut waren, schnappten wir um die Wette in das Arbeitsfeld des Nebenmannes hinein und schnitten ihm, ohne mit den Wimpern zu zucken, die schönsten Lavendelbüsche vor der Nase weg, um schneller das Gewicht unserer Ernte zu steigern, indem wir dem anderen die mageren Büschel ließen. Bei der Arbeit blinzelte man verstohlen einander an und überwachte das Vorankommen der Nachbarn, um nicht allzu sehr geprellt zu werden und nur das kleinste und unansehnlichste Büschel zu schneiden. Manchmal kommt es auch vor, dass es in einer Gruppe ehrlicher zugeht, und dass die Nachbarn auf ihrem Platz bleiben. Im angebauten Lavendel, der in Reihen gepflanzt wird, geht man ohne Konkurrenten geradeaus vorwärts; am Berg aber, im Wildwuchs, geht es darum, wer sich am schnellsten auf die schönsten Pflanzen stürzt. Darum zieht man letzten Endes die Zusammenarbeit zu zweit oder zu dritt vor, die vielleicht ebenso anstrengend, aber friedlicher ist. Man konzentriert sich mehr auf das Spiel seiner Hände.
Wenn ich mich aufrichtete und den Ballen, der auf meinen Schultern lastete, auf ein großes Segeltuch zu einem Haufen aufschüttete, oder meine Sichel mit dem Wetzstein schärfte, sah ich den schönen Umriss des Mont Ventoux mit seinem. Gipfel dicht unter den Wolken. Einer meiner Kameraden fand, die Erde sähe dort aus, als rauchte sie ihre Pfeife. Wenn wir an Ort und Stelle fünf Minuten Pause machten, blickten wir stets zum Mont Ventoux hinüber. Wenn der Blick hinweggeschweift war über die ganze, von Kalkgestein und Lavendelblüten weiße und blaue Landschaft, die seltsam reglos und ohne jeglichen Vogelsang dalag, blieb er dort hinten an dem Gebirge und seinem Pfeifenqualm stiller Wolken haften, und um nicht dem Gestein zu ähneln oder den von starken Winden in eine Richtung gewundenen und geneigten Mandelbäumen, setzte man sich wieder in Bewegung. Diese Landschaft erweckte wieder in uns das beglückende Gefühl, Menschen, bewegliche Wesen zu sein.
Immer wieder beobachtete ich das Spiel meiner Hände. Ich hatte mich kein einziges Mal geschnitten. Dabei waren die Halme kurz. Im Frühjahr hatte es nicht genug geregnet. Ich hatte eine gute Sichel, deren Eisen ich morgens und mittags auf einem kleinen Amboss dengelte. Sie schnitt wie ein Rasiermesser. Mühelos ließ ich sie mit der Spitze nach unten durch die Halme gleiten. Während die linke Hand die Stängel in entgegengesetzter Richtung aufrichtete. Ein Büschel kam zum anderen. Beide Hände kreuzten sich unaufhörlich bis zu dem Augenblick, da die überfüllte linke das starke Bündel Halme, das sie nicht mehr halten konnte, in den Ballen stopfte.
Vater Leorat, ein alter Kollege, der alles konnte, notfalls auch eine Kugel aus dem Schenkel eines Mannes herausholen oder ihn von einem schweren Sonnenstich kurieren, einen Baum pflanzen, ihn verschneiden, ein Häuschen bauen genau so wie eine Gartenbank zimmern oder einen Korb aus Weidenruten flechten, hatte sich bemüht, mir das Mähen und das Dengeln einer Sense beizubringen. Um noch ein Wort über ihn zu sagen: Er war Siedler in Chile gewesen; ein Alter mit klarem Kopf, jung im Herzen mit seinen über fünfundsiebzig Jahren und noch imstande, ein Stück Garten mit der Spitzhacke zu bearbeiten, indem er seine letzten Kräfte mit Verstand einsetzte. Nicht hochmütig. Alles, was er konnte, schien ihm leicht zu lehren. Seine ständige Redensart war: „Ich zeig's dir mal." Eine Haltung, der man selten begegnet. Gewöhnlich fühlen sich die Menschen, gleichgültig in welchem Beruf, um die ganze Dauer ihrer Erfahrung erhaben über die, die ihren Beruf nicht kennen. Man könnte meinen, sie hätten selber keine Lehrzeit durchgemacht, und nach ihnen werde es keine Anstreicher und Stuhlflechter mehr geben; gerade so, als hätten sie ihr berufliches Können wie eine Gottesgnade empfangen. Für Vater Leorat war alles einfach und mitteilbar. Wenn ich damals gewollt hätte, hätte er mir das Pfropfen beigebracht.
Als ich aber nach Jahren einmal eine Sense in die Hand nahm, war das ein klappriges Unding, eine uralte, verbogene, rissige Klinge, die ich in meinem Schuppen gefunden hatte. Als ich mit diesem Instrument eine Wiese abmähen wollte, war das trotz der guten Lehre bei Vater Leorat recht schwierig.
Ich gab mir Mühe, sie so gut zu dengeln wie einstmals meine Lavendelsichel, so wie er es mir gezeigt hatte. Auf der Wiese kratzte die Klinge, aber sie schnitt nicht; auch nicht, nachdem ich sie mit dem Wetzstein bearbeitet hatte. Ich hatte sie schlecht auf dem behelfsmäßigen Stiel festgemacht, in einem zu stumpfen Winkel. In weicherem Gras schnitt sie gelegentlich einigermaßen. Ich fragte mich, ob ich den Stiel nicht zu fest anpackte, ob ich mich nicht zu tief bückte. Ich versuchte, mir die Sense als eine große Sichel mit Stiel vorzustellen. Ich wusste nicht recht, ob das schlechte Schneiden an mir oder am Werkzeug lag. Ich wetzte sie, dengelte sie. In zwei Stunden hatte ich nicht einmal zehn Quadratmeter gemäht. Ich bearbeitete sie noch einmal mit dem Wetzstein.
Die Klinge schnitt von Zeit zu Zeit. Meine Hand aber war jetzt mit dem Werkzeug vertraut geworden, energischer wetzte ich mit dem Stein: ich hatte den Kontakt mit der Schneide gefunden.
Mein Werkzeug schnitt, es war in Ordnung, die Sense arbeitete ohne Widerstand. Ich bahnte durch die Wiese einen breiten Weg, ließ mich von der fast gewichtlos gewordenen Sense führen, wach wie ein Jäger auf der Lauer; meine Sinne waren mit der Sense verbunden, als liefen Nerven von der Klinge zu meinen Händen.
Als ich die Maschinenarbeit vor ungefähr zehn Jahren aufgab, glaubte ich nicht, dass ich jemals wieder zu ihr zurückkehren würde. Ich hatte die schöne Schieblehre aufbewahrt, die ich als Lehrling gekauft hatte, dazu ein paar mit viel Geduld hergestellte Winkelmaße, einen kleinen Werkzeughammer und einen Körner — nur meine Zeugnisse nicht. Ich wusste nicht, dass ich das Handwerk noch einmal brauchen würde, das ich mit gutem Willen aber nur durch Zufall erlernt hatte, als ich mit fünfzehn Jahren nicht länger Hilfsarbeiter bleiben wollte.
Nun überdachte ich meine Lage. Wieder wollte ich nicht länger Tagelöhner, Saisonarbeiter, Landarbeiter oder Erdarbeiter sein. Zunächst einmal, um mehr zu verdienen. Ich würde neue Verpflichtungen auf mich nehmen, nicht mehr so frei sein. Ich hatte alle Möglichkeiten, mir außerhalb meines Berufes mein Brot zu verdienen, erschöpft. Nun war ich ein fertiger Mann, ich brauchte mich nicht mehr durch mühselige Arbeiten im Freien zu stählen. Die Anforderungen meines Berufes als Werkzeugschlosser würden mir eine bessere, glücklichere und intensivere Nutzung meiner Fähigkeiten gestatten. Ich sehnte mich nach schwierigen Aufgaben.
Ich hatte keine Zeugnisse mehr, um mich, wieder in Paris, einstellen zu lassen. Ich hatte Vertrauen zu meinen Händen. Ein übertriebenes Vertrauen: der Beruf verlangt nicht nur Kenntnisse, sondern auch Übung. Ich würde mich völlig absondern. Ich würde mich ganz und gar meiner Arbeit widmen. Ich spürte eine imaginäre Feile in meinen Händen. Man würde mich einen Versuch machen lassen. Ich hatte Vertrauen. Ich kannte nicht die Schranke der Zeugniskontrolle.
Die Zeugnisse sind das „freie" Frankreich. In Amerika soll kein Mensch danach fragen. Ford stellt den eben aus Sing-Sing Entlassenen ein, ohne Rechenschaft darüber zu fordern, wo er seine Zeit zugebracht hat. Bei uns dagegen will man verwurzelte Leute. Die Fragen, die einem in den Einstellungsbüros der Industrie und des Handels gestellt werden, sind schon geradezu Polizeiverhöre. Man sieht im Menschen nur ein Werkzeug, das von Geburt bis zum Verschleiß spezialisiert bleiben muss.
Mit fünfzig Jahren weiß ein Arbeiter, dass sein Alter ihm nicht mehr erlaubt, den Arbeitgeber zu wechseln. Die Industrie will nur junge Leute, deren Jugend von der Welt nichts als die Maschinen sehen will. Man muss beweisen, dass man weder zu neugierig noch zu unstet ist. Die Strenge der Einstellungsbüros verschärft sich. Man fürchtet sich nicht, einen unfähigen Facharbeiter einzustellen, wohl aber einen Kommunisten, einen Aufrührer. Da liegt der Haken. Immer gut Acht geben, dass ein ehemaliger Betriebsrat, der entlassen wurde und für sechs Monate oder ein Jahr boykottiert wird, sich nicht mit falschen Zeugnissen oder unter einem anderen Namen einstellen lasst.
Ein größeres Maß an Freiheit würde indessen nur von Nutzen sein. Früher hatten in allen Berufen die Männer, die sich Gesellen nannten, ihre Wanderschaft durch Frankreich oder gar durch Europa hinter sich. Wenn ein Mensch dadurch einbüßt, dass er sich mit anderen Arbeiten als denen seines Berufes abgibt, so gewinnt er doch dabei an Lebenserfahrung und Gewandtheit. Krisen treffen ihn nicht unvorbereitet, er ist imstande, sich einer Tätigkeit zuzuwenden, die ihm geläufig ist und braucht nicht die Stempelstellen heimzusuchen. Land und Leute kennen lernen ist auch eine Form, sich zu bilden.
Das ist freilich nicht der Standpunkt der Personalchefs. Nicht einmal ungelernte Arbeiter dürfen nach Belieben vom Baugewerbe zur Industrie hinüberwechseln. Gibt es beim Bau keine Arbeit, weist man sie in den Fabriken zurück, wenn sie nicht schlau genug sind, falsche Zeugnisse vorzuzeigen, was allerdings immer schwieriger wird.
Ich sah mich gezwungen, eine List anzuwenden. Meine Geldmittel gingen zur Neige, die Wirtin drängte. Die Personalchefs sind Beamte. Die Direktoren sind anderweitig beschäftigt und können nicht damit belästigt werden, eine Entscheidung zugunsten eines Arbeiters ohne Zeugnisse zu treffen.
Selbst wenn der erste Eindruck günstig war, gelang es mir nicht durchzusetzen, dass man mich eine Probearbeit machen ließ. Blieb also die List. Nach wohlgelungener Tarnungsprozedur wurde ich bei Citroen vorstellig.
Lange musste ich in einer Schlange vor einem Tor warten, dann stand ich vor dem Personalchef, der die Einstellungen vornahm. Er saß vor einem kleinen Tisch in seiner Wachtstube, seinem Leichenschauhaus, seinem Gefängnis, seinem Friedhof, seinem Gestapo-Vorzimmer. Gleich würde ich verhört, dann aufgehängt werden von diesem stämmigen Kerl, einem grauhaarigen und gesetzten Angestellten, der kälter als ein Möbelstück war, ein Polizeiinspektor im Ruhestand, der hier offensichtlich sein früheres Handwerk weiter ausübte. Er hatte mit mir geredet, ohne den Kopf zu heben. Dann hob er ihn bei jeder neuen Frage und durchbohrte mich mit seinen Blicken. Ich fühlte mich schuldig. Schuldig, keinen Kühler, keinen Anlasser im Herzen zu haben und nicht mit Benzin getrieben zu werden, sondern ein lebendiges Wesen mit Gems- und Spatzenblut unter der Haut zu sein, schuldig, Schaufel, Sonne und Moos geliebt zu haben.
Von meinem ältesten Zeugnis hatte ich den Briefkopf genommen und ihn mit einem Klebestreifen auf neues Papier geklebt — eine ausgesprochene Antiquararbeit, bei der ich die Wirkung des Alters dadurch hervorrief, dass ich das neue Papier mit nackten Füßen auf dem gebohnerten Fußboden des Gasthofes hin und her rieb. Dieses Zeugnis schien ihm in Ordnung, aber wertlos, da es von einer Provinzfirma stammte. Das andere, neuere untersuchte er, indem er es gegen das Licht hielt; eine leichte Radierung erschien ihm verdächtig. Fiasko. Ich sollte die Papiere beglaubigen lassen.
Ein schwerer Schlag für einen, der so weit ist, dass er seine Mittagsmahlzeit durch eine Tasse Milchkaffee und ein Hörnchen ersetzen muss. Mehr Glück hatte ich einige Tage später in einer Flugzeugfabrik.
Es gibt ein Angstgefühl bei der Arbeitssuche, das dem des Landstreichers gleicht, der bei anbrechender Dunkelheit ein Obdach sucht, oder dem des Bauern, wenn im Frühling die Trockenheit zu lange anhält. Auch im Besitz gültiger Papiere entgeht ihm kein Arbeiter. Mit dem Zusammenschrumpfen des Geldbeutels sinkt sein Herz. Arbeiter oder Bauer, vor Nahrungssorgen unterscheiden die Menschen sich kaum. Geld ist Macht, aber wer von uns kann Ersparnisse machen? Mögen doch die, die mir nicht glauben, einmal versuchen, ein paar Jahre unser Dasein zu leben.
Das riesige Pariser Weichbild wirkt deprimierend in den Vierteln, in die man zum ersten Male den Fuß setzt. Man zieht einen Stadtplan hervor, um sich zurechtzufinden. Die von Fabriken gesäumten Seine-Ufer speien öligen Schmutz aus. Die Luft riecht schlecht, sie ist von den hohen Schornsteinen verpestet. Man fühlt sich elend inmitten der industriellen Hässlichkeit.
Angst vor der Not. Der Arbeiter auf Stellungssuche — häufig vergebliches Herumlaufen — empfindet, dass nichts ihm gehört. Er hat nur seine Kleider. Das Dach überm Kopf, seine Nahrung, alles kann zum Teufel gehen. Er ist sogar erstaunt darüber, dass er am Leben hängt, da er, um es zu bewahren, um Fabriktore und -mauern herumstreichen muss. Er fühlt seine ganze Ohnmacht und die Unsicherheit seiner Lage. Das ist bedrückend und fast eine Offenbarung. Von Zeit zu Zeit verjagt er mit einem gezwungenen Lächeln oder mit einem Zucken seines Augenlids die Trübsal, die ihn überkommt — wie man Fliegen verjagt.
Ein Bauer kann sich auch in einem schlechten Jahr angesichts seines Ackers stark fühlen. Feld und Haus sind sein Eigentum. Wenn er Pächter ist, hat er einen Pachtvertrag; er hat immer die Gewähr, das Nötigste zu produzieren. Das Geld kann ihm ausgehen, nicht aber, was er zum Leben braucht.
Für den Arbeiter dagegen wird es tragisch, sobald er Arbeit sucht. Rasch ist er am Ende seiner Ersparnisse, wenn sich die Suche ein wenig in die Länge zieht.
Erst bei der Arbeit wird er wieder stark, wieder sicher erst, wenn er von neuem mit Menschen in Berührung ist, die wie er ihre Arme verdingen, um leben zu können, wenn es ihm nach dem Alleinsein von neuem erlaubt ist, sich im Kreise wieder gefundener Kameraden sein Leben zu verdienen, wenn er frei geworden ist in dem Gefängnis, an dessen Mauern er entlangstrich.
Vor der Einstellung — meine Zeugnisse waren in Ordnung befunden worden — musste ich eine Probearbeit machen. Ich merkte rasch, dass ich an Geschicklichkeit verloren hatte.
Ein Kollege in meinem Alter suchte mich am Schraubstock auf. Er hätte mich übersehen, in seine Arbeit vertieft bleiben können, aber er unterbrach sich, um sich zu vergewissern, ob ich auch alle notwendigen Werkzeuge hätte. Er brachte mir ein paar Feilen und eine elektrische Birne. Während meiner Arbeit kam er noch einmal, um zu sehen, ob mein Probestück gut ausfallen würde.
Fürs erste nur das. Ich merkte, dass sich die Atmosphäre in den Fabriken seit 1936 geändert hatte. Es war, als empfingen mich alle Arbeiter mit den Worten: „Du gehörst zu uns."
Wieder war ich in der Welt des Metalls: Viel Rauch, wenig Luft und jenes beklemmende Gefühl, schmerzlich für die Menschen, die an das Leben im Freien gewöhnt sind. Die Lunge leidet, der Blick sucht einen Fetzen Himmel und stößt gegen die blaugestrichenen Glasscheiben der wie Sägeblätter gezackten Dächer. Sobald man aber die Hand eines Kameraden gedrückt hat, sobald sich ein Unbekannter als Mensch erweist, sagt man sich: ,Ich kann es hier aushalten wie die anderen, wie er, wie alle, die da am Schraubstock oder an den Maschinen stehen.'
Was in der Fabrikwelt von der Natur übrig bleibt, ist der Mensch, der Gefährte, das Ebenbild, der Mitmensch. Für sich allein würde man darin krepieren. Keine Bäume, keine Pflanzen, keine Hunde mehr, eine ganz und gar künstliche Welt, die menschliche Emsigkeit erbaut hat. Nichts als harte, dichte Materie. Der Stoff, aus dem Hände gemacht sind, ist recht zerbrechlich daneben. In der kalten Welt des Metalls wirkt es beruhigend, einem Kameraden zu begegnen.
Die Halle war von einem Klirren erfüllt, als zerschlüge man überall in gleichmäßigem, scharfem, tönendem Rhythmus zahllose Flaschen. Mittags, wenn alles stillstand, empfanden die Ohren mit Behagen die entstandene Leere. Es war ein erträglicher Lärm.
Ich hatte zwölf Stunden zu meiner Probearbeit gebraucht, die zugestandene Frist überschritten. Unruhig packte ich mein Werkzeug zusammen, beschämt, dass ich es nicht besser gekonnt hatte. Der Betriebsvertrauensmann war zu mir gekommen, um mich zu beruhigen: Es fehlte der Fabrik an gelernten Arbeitern, man konnte mich in einer einfacheren Produktionsstufe beschäftigen; er würde sich dafür einsetzen. Man atmet freier in einer Fabrik, in der die Arbeiter organisiert sind und sich solidarisch fühlen. Zu anderen Zeiten, ohne unseren Vertrauensmann, hätte ich wieder auf der Straße gelegen. Ich trat als Fabrikationsschlosser in die Abteilung Kurbelstangen und -zapfen ein. Wir waren etwa zu fünfzig in einer Ecke der Halle, auf mehrere Werkbankreihen verteilt.
Die Industrie verlangt viel. Das Auge ist nicht imstande, die Präzisionsarbeit der Hände auf ein hundertstel Millimeter zu kontrollieren. Ein Zimmermann sieht genau, wenn er beim Sägen von seinem blauen Strich auf einem Sparren abkommt, ebenso wie ein Maurer leicht feststellt, ob die Mauer, die er errichtet, senkrecht ansteigt. Bei unserer Arbeit an den Kolbenstangen spielte der Tastsinn die Hauptrolle.
Die Stangen kamen maschinenfertig zu uns herüber. Um ein vollkommenes Ineinanderpassen der Kolbenstangen und ihres Kopfes zu erreichen, musste ein gleichmäßig verteiltes Reiben mit der Feile genügen. Aber die Art der Arbeit gestattete nicht den Gebrauch eines Messinstruments. Die Hand arbeitete blind; um sie zu leiten, hätten die Augen die Schärfe eines Mikroskops haben müssen.
Trotz der Präzision der Maschinen fiel kein Stück genau so aus wie das andere. Man prüfte die Teile, indem man mit der feinfühligen Behutsamkeit eines Blinden die Kolbenstange in ihren Kopf einpasste und dabei den Grad des Klemmens feststellte, oder indem man das Stück mit ausgestrecktem Arm vors Auge hielt, um sich zu vergewissern, ob die ineinander geschobenen Teile lichtundurchlässig blieben, ob das Licht nicht hindurchdrang, wie zwischen zwei Fensterläden. Das eine Auge zugekniffen, das andere weit aufgerissen, schnitten fünfzig Mann vor ihrer Lampe die gleiche Grimasse, die Augen geblendet vom grellen Lampenlicht.
Die Arbeit verlangte frische Kräfte, eine Art Bereitschaft der Nerven für die Anspannung, welche sie vom Tast- und Gesichtssinn forderte. Um das Metall zu formen, musste man eins mit ihm werden, sich ihm vermählen, nur noch mit ihm leben, in dauernder Beziehung mit dem Geknabber der kleinen Feile stehen, es in sich aufnehmen und in seinem Innern messen. Man möchte fast sagen, dass die Präzisionsarbeit, die Mechanik, ein gedankliches Doppelleben im Menschen nicht zulässt, sondern von ihm ein völliges Einswerden mit seiner Arbeit verlangt. Vor lauter Aufmerksamkeit fühlte ich meine eigene Schwere nicht mehr, obwohl mir der gebeugte Rücken weh tat und ich das Bedürfnis hatte, mich einmal zu recken und tief Atem zu holen. Trotz des Gefühls, so leer zu sein wie eine Trommel, freute ich mich bei meiner stets schwierigen Arbeit, ein Mensch zu sein, Kräfte und Fähigkeiten vereint im Kampf gegen die widerspenstige Materie.
Wenn die Kurbelstangen mit ihren scharfen Gussnähten öltriefend ankamen, musste man ein paar Mal ordentlich über den Grat feilen und sie abwischen, um sie ohne Widerstreben und ohne sich zu verletzen in die Hand nehmen zu können. Wenn sie nach unserer Arbeit vom Polieren zurückkamen, waren es prächtige Stücke. Nickel und Kupfer blitzten und fühlten sich so glatt an wie ein Feuerzeug.
Die Arbeit an den Kurbelzapfen war angenehmer. Jeder Zapfen kam in zwei Teilen an. Das war klare, mess- und kontrollierbare Präzisionsarbeit. Ein kleines Messinstrument orientierte uns bei der Arbeit.
Um schnell und gut zu schaffen, kämpften wir mit der Zeit wie Läufer, die einen Rekord um ein paar Sekunden überflügeln wollen. Man gab uns sehr wenig Zeit für jedes Stück. Es war eine Notwendigkeit, sich zu beeilen, es war aber auch ein Spiel. Auf der Platte eines kleinen, gusseisernen Tisches stand ein kleines Messinstrument. Zu ihm kehrte man rasch zurück, sobald die Feile ein paar Hundertstel heruntergeschliffen hatte. Noch einmal spannte man das Stück sachte und flink in den Schraubstock, strich ein paar Mal behutsam mit der Feile darüber und kam so an das vorgeschriebene Maß heran. Hin und her zwischen Schraubstock und Messapparat, in jedem Handgriff Präzision und Gewandtheit. Man prüfte mit äußerster Sorgfalt. Der letzte Schliff wurde auf einem über die Tischplatte gespannten Schmirgelpapier gegeben; dabei war die Aufmerksamkeit auf das Spiel der Finger gerichtet, um den Reibedruck gleichmäßig über das ganze Stück zu verteilen. Es war eine rhythmische; unmittelbar von der Intelligenz gelenkte Arbeit. Ich hätte sie jedem beliebigen Spiel vorgezogen. Was nicht hinderte, dass ich mich nach Feierabend, wenn die Anspannung vorüber war, erschöpfter fühlte als sonst.
Beim Aufheulen der Sirene um halb drei Uhr verließ die Gruppe der Schlosser wie ein Spatzenschwarm die Werkbänke. Jeder hatte es eilig, dem Lärm zu entkommen, die Straße wieder zu sehen. Die Ablösung stand schon an unseren Schraubstöcken. Die Pariser Arbeiter haben oft mehr als eine Stunde Fahrt, um von ihrer Wohnung zur Arbeit zu gelangen. Ich war vor fünf Uhr auf den Beinen, um die erste Untergrundbahn in der Frühe zu bekommen. Ich schritt durch stille Straßen. Das Wasser plätscherte in den Abflussrinnen wie Quellen, die hervorbrechen möchten. Es war ein großes, ruhiges Murmeln, das Gehen tat gut. An der Haltestelle der Untergrundbahn wartete ich, bis das Gitter geöffnet wurde. Der Angestellte, der mir meine Fahrkarte aushändigte, gab mir das Kleingeld zurück mit einem Lächeln, das einen Morgengruß unter Frühaufstehern bedeutete, zu einer Stunde, da sie noch nicht zahlreich sind.
Eine halbe Stunde Fahrt, dann ein anderer Zug, der sich zwischen Abstellgleisen und Häuserreihen hindurchschlängelte, die Seine überquerte, an einem Friedhof vorüber, durch eine Fabriklandschaft und neue Stadtteile rollte. Ein paar Minuten zu Fuß in der frischen Luft, bevor man eingesperrt wird. Und manchmal ein Wunder, ein Windstoß, ein weither kommender Duft, ein Vogelruf, der aus vergangenen Zeiten zu mir drang, aus der Zeit unter freiem Himmel.
Wenn ich um halb drei nach achtstündiger Schicht die Fabrik verließ, landete ich dreiviertel Stunden später im Gewühl des Bahnhofs Saint-Lazare und war ebenso müde, als hätte ich eine Nacht im Zuge von Marseille nach Paris verbracht. Im Autobus, der mich vom rechten aufs linke Seine-Ufer beförderte, schlief ich ein.
Acht Stunden Fabrik genügen, um die Energie eines Menschen zu erschöpfen. Was er der Arbeit gibt, ist nicht nur seine Zeit, sondern sein Leben, die ganze Frische seiner Kraft. Auch wenn er bei der Arbeit selbst nicht unglücklich war, nicht unter der Eintönigkeit, unter Überanstrengung gelitten hat, kommt er verbraucht, geschwächt und abgestumpft aus der Fabrik, seine Phantasie ist tot. Nur das Kino kann ihm noch aus seiner Müdigkeit den Auftrieb geben, den ihm das Innenleben versagt. Ich war nicht mehr das glückliche Lebewesen, das ich im Süden unter freiem Himmel zu sein vermochte.
In Paris verdiente ich meinen Lebensunterhalt besser als anderswo. Und Verdienen ist wichtig. Die Vierzigstundenwoche, die dank der Gewerkschaftseinheit erkämpft worden war, hatte das Dasein des Arbeiters erträglicher gemacht. Trotz der drohenden Kriegsgefahr und der wiederholten Mobilmachungsängste brachte Paris seit 1936 mehr Kinder zur Welt. Die Arbeiter hatten Vertrauen in die Zukunft. Die Welt würde nicht immer sinnlos bleiben. Die Jugend in den Fabriken war schöner, intelligenter, lebendiger als früher, sie erholte sich dank der Vierzigstundenwoche durch Freiluftspiele und in Zeltlagern von der körperlichen Zerrüttung durch die Arbeit in geschlossenen Räumen. Trotz der Erschöpfung bei Arbeitsschluss schien mir die Fabrik schon einer neuen, einer fröhlicheren Welt anzugehören. Eines Tages würde die Fabrik uns gehören. Wir würden nicht mehr für den Krieg arbeiten. Ich fühlte mich mit den Menschen um mich her durch gemeinsames Hoffen verbunden. Sie waren aus ihrer Gleichgültigkeit, ihrer Passivität herausgetreten. Wie niemals vorher fühlte ich mich endlich unter meinesgleichen, unter Arbeitern, die bewusst geworden waren. Es gibt eine spezifische Traurigkeit des Arbeiterdaseins, von der man nur durch die Teilnahme an der Politik geheilt werden kann. Im Herzen war ich mit meiner Klasse im Einklang.